Das Ueberſetzungsrecht bleibt vorbehalten.
In einer unſerer erſten Unterhaltungen entwickelte ich Ihnen den Plan dieſes Buches, welches ich damals noch als Kritik der hiſtoriſchen Vernunft zu bezeichnen wagte. In den ſchönen Jahren ſeitdem habe ich des einzigen Glückes genoſſen, auf der Grundlage der Verwandtſchaft der Ueberzeugungen in oft täglichem Geſpräch gemeinſam zu philoſophiren. Wie könnte ich ausſondern wollen, was der Gedankenzuſammenhang, welchen ich vorlege, Ihnen verdankt? Nehmen Sie, da wir nun räum - lich getrennt worden ſind, dies Werk als ein Zeichen unwandel - barer Geſinnung. Der ſchönſte Lohn der langen Arbeit, in welcher es entſtand, wird mir der Beifall des Freundes ſein.
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Erſtes einleitendes Buch.
Ueberſicht über den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes, in welcher die Nothwendigkeit einer grundlegenden Wiſſenſchaft dargethan wird.
Zweites Buch.
Metaphyſik als Grundlage der Geiſteswiſſenſchaften. Ihre Herrſchaft und ihr Verfall.
Erſter Abſchnitt.
Das mythiſche Vorſtellen und die Entſtehung der Wiſſenſchaft in Europa.
Zweiter Abſchnitt.
Metaphyſiſches Stadium in der Entwicklung der alten Völker.
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Dritter Abſchnitt.
Metaphyſiſches Stadium der neueren Völker.
Vierter Abſchnitt.
Die Auflöſung der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen zur Wirklichkeit.
S. 206 Zeile 12. Es iſt mir werthvoll, in den memoires de l’in - stitut Bd. XXIX S. 176 ff., Martin, hypothèses astronomiques des plus anciens philosophes de la Grèce étrangers à la notion de la sphéricité de la terre dieſe Kombination, welche ich ſeit einer Reihe von Jahren in meinen Vorleſungen vorgetragen, zu finden.
S. 347 Anm. Z. 4 lies et ſtatt Et.
Das Buch, deſſen erſte Hälfte ich hier veröffentliche, verknüpft ein hiſtoriſches mit einem ſyſtematiſchen Verfahren, um die Frage nach den philoſophiſchen Grundlagen der Geiſteswiſſenſchaften mit dem höchſten mir erreichbaren Grad von Gewißheit zu löſen. Das hiſtoriſche Verfahren folgt dem Gang der Entwicklung, in welcher die Philoſophie bisher nach einer ſolchen Begründung gerungen hat; es ſucht den geſchichtlichen Ort der einzelnen Theorien innerhalb dieſer Entwicklung zu beſtimmen und über den vom hiſto - riſchen Zuſammenhang bedingten Werth derſelben zu orientiren; ja aus der Verſenkung in dieſen Zuſammenhang der bisherigen Entwicklung will es ein Urtheil über den innerſten Antrieb der gegenwärtigen wiſſenſchaftlichen Bewegung gewinnen. So bereitet die geſchichtliche Darſtellung die erkenntnißtheoretiſche Grundlegung vor, welche Gegenſtand der anderen Hälfte dieſes Verſuchs ſein wird.
Da hiſtoriſche und ſyſtematiſche Darlegung ſo einander er - gänzen ſollen, erleichtert es wol die Lektüre des geſchichtlichen Theils, wenn ich den ſyſtematiſchen Grundgedanken andeute.
Am Ausgang des Mittelalters begann die Emanzipation der Einzelwiſſenſchaften. Doch blieben unter ihnen die der Geſellſchaft und Geſchichte noch lange, bis tief in das vorige Jahrhundert hinein, in der alten Dienſtbarkeit der Metaphyſik. Ja die an - wachſende Macht der Naturerkenntniß hatte für ſie ein neuesXIVVorrede.Unterwürfigkeitsverhältniß zur Folge, das nicht weniger drückend war als das alte. Erſt die hiſtoriſche Schule — dies Wort in einem um - faſſenderen Sinne genommen — vollbrachte die Emanzipation des geſchichtlichen Bewußtſeins und der geſchichtlichen Wiſſenſchaft. In derſelben Zeit da in Frankreich das im ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhundert entwickelte Syſtem der geſellſchaftlichen Ideen als Na - turrecht, natürliche Religion, abſtrakte Staatslehre und abſtrakte po - litiſche Oekonomie in der Revolution ſeine praktiſchen Schlüſſe zog, da die Armeen dieſer Revolution das alte, ſonderbar verbaute und vom Hauch tauſendjähriger Geſchichte umwitterte Gebäude des deutſchen Reiches beſetzten und zerſtörten, hatte ſich in unſerem Vaterlande eine Anſchauung von geſchichtlichem Wachsthum, als dem Vorgang in dem alle geiſtigen Thatſachen entſtehen, ausge - bildet, welche die Unwahrheit jenes ganzen Syſtems geſellſchaft - licher Ideen erwies. Sie reichte von Winkelmann und Herder durch die romantiſche Schule bis auf Niebuhr, Jakob Grimm, Savigny und Böckh. Sie wurde durch den Rückſchlag gegen die Revolution verſtärkt. Sie verbreitete ſich in England durch Burke, in Frankreich durch Guizot und Tocqueville. Sie traf in den Kämpfen der europäiſchen Geſellſchaft, mochten ſie Recht, Staat oder Religion angehen, überall mit den Ideen des achtzehnten Jahrhunderts feindlich zuſammen. Eine rein empiriſche Betrach - tungsweiſe lebte in dieſer Schule, liebevolle Vertiefung in die Beſonderheit des geſchichtlichen Vorgangs, ein univerſaler Geiſt der Geſchichtsbetrachtung, welcher den Werth des einzelnen That - beſtandes allein aus dem Zuſammenhang der Entwicklung be - ſtimmen will, und ein geſchichtlicher Geiſt der Geſellſchaftslehre, welcher für das Leben der Gegenwart Erklärung und Regel im Studium der Vergangenheit ſucht und dem ſchließlich geiſtiges Leben an jedem Punkte geſchichtliches iſt. Von ihr iſt ein Strom neuer Ideen durch unzählige Kanäle allen Einzelwiſſenſchaften zu - gefloſſen.
Aber die hiſtoriſche Schule hat bis heute die inneren SchrankenXVVorrede.nicht durchbrochen, welche ihre theoretiſche Ausbildung wie ihren Einfluß auf das Leben hemmen mußten. Ihrem Studium und ihrer Verwerthung der geſchichtlichen Erſcheinungen fehlte der Zu - ſammenhang mit der Analyſis der Thatſachen des Bewußtſeins, ſonach Begründung auf das einzige in letzter Inſtanz ſichere Wiſſen, kurz eine philoſophiſche Grundlegung. Es fehlte ein geſundes Verhältniß zu Erkenntnißtheorie und Pſychologie. Daher kam ſie auch nicht zu einer erklärenden Methode, und doch vermögen ge - ſchichtliches Anſchauen und vergleichendes Verfahren für ſich weder einen ſelbſtändigen Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften aufzu - richten noch auf das Leben Einfluß zu gewinnen. So verblieb es, als nun Comte, St. Mill, Buckle von Neuem das Räthſel der geſchichtlichen Welt durch Uebertragung naturwiſſenſchaftlicher Prinzipien und Methoden zu löſen verſuchten, bei dem unwirkſamen Proteſt einer lebendigeren und tieferen Anſchauung, die ſich weder zu entwickeln noch zu begründen vermochte, gegen eine dürftige und niedere, die aber der Analyſe Herr war. Die Oppoſition eines Carlyle und anderer lebensvoller Geiſter gegen die exakte Wiſſenſchaft war in der Stärke des Haſſes wie in der Gebundenheit der Zunge und Sprache ein Zeichen dieſer Lage. Und in ſolcher Unſicher - heit über die Grundlagen der Geiſteswiſſenſchaften zogen ſich die Einzelforſcher bald auf bloße Deſkription zurück, bald fanden ſie in ſubjektiver geiſtreicher Auffaſſung Genüge, bald warfen ſie ſich wieder einer Metaphyſik in die Arme, welche dem Vertrauensvollen Sätze verſpricht, die das praktiſche Leben umzugeſtalten die Kraft haben.
Aus dem Gefühl dieſes Zuſtandes der Geiſteswiſſenſchaften iſt mir der Verſuch entſtanden, das Prinzip der hiſtoriſchen Schule und die Arbeit der durch ſie gegenwärtig durchgehends beſtimmten Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft philoſophiſch zu begründen und ſo den Streit zwiſchen dieſer hiſtoriſchen Schule und den ab - ſtrakten Theorien zu ſchlichten. Mich quälten bei meinen Arbeiten Fragen, die wol jeder nachdenkliche Hiſtoriker, Juriſt oder Poli -XVIVorrede.tiker auf dem Herzen hat. So erwuchſen in mir von ſelber Be - dürfniß und Plan einer Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften. Welcher iſt der Zuſammenhang von Sätzen, der gleicherweiſe dem Urtheil des Geſchichtsſchreibers, den Schlüſſen des Nationalöko - nomen, den Begriffen des Juriſten zu Grunde liegt und deren Sicherheit zu beſtimmen ermöglicht? Reicht derſelbe in die Me - taphyſik zurück? Giebt es etwa eine von metaphyſiſchen Begriffen getragene Philoſophie der Geſchichte oder ein ſolches Naturrecht? Wenn das aber widerlegt werden kann: wo iſt der feſte Rückhalt für einen Zuſammenhang der Sätze, der den Einzelwiſſenſchaften Verknüpfung und Gewißheit giebt?
Die Antworten Comte’s und der Poſitiviſten, St. Mill’s und der Empiriſten auf dieſe Fragen ſchienen mir die geſchicht - liche Wirklichkeit zu verſtümmeln, um ſie den Begriffen und Me - thoden der Naturwiſſenſchaften anzupaſſen. Die Reaktion hiergegen, deren geniale Vertretung der Mikrokosmos Lotzes iſt, ſchien mir die berechtigte Selbſtändigkeit der Einzelwiſſenſchaften, die frucht - bare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der Grundlegung einer ſentimentaliſchen Stimmung zu opfern, welche die für immer verlorene Befriedigung des Gemüths durch die Wiſſenſchaft ſehnſüchtig zurückzurufen begehrt. Ausſchließlich in der inneren Erfahrung, in den Thatſachen des Bewußtſeins fand ich einen feſten Ankergrund für mein Denken, und ich habe guten Muth, daß kein Lefer ſich der Beweisführung in dieſem Punkte entziehen wird. Alle Wiſſenſchaft iſt Erfahrungswiſſenſchaft, aber alle Erfahrung hat ihren urſprünglichen Zuſammenhang und ihre hierdurch beſtimmte Geltung in den Bedingungen unſeres Be - wußtſeins, innerhalb deſſen ſie auftritt, in dem Ganzen unſerer Natur. Wir bezeichnen dieſen Standpunkt, der folgerecht die Un - möglichkeit einſieht, hinter dieſe Bedingungen zurückzugehen, gleich - ſam ohne Auge zu ſehen oder den Blick des Erkennens hinter das Auge ſelber zu richten, als den erkenntnißtheoretiſchen; die moderne Wiſſenſchaft kann keinen anderen anerkennen. Nun aber zeigte ſichXVIIVorrede.mir weiter, daß die Selbſtändigkeit der Geiſteswiſſenſchaften eben von dieſem Standpunkte aus eine Begründung findet, wie die hiſtoriſche Schule ſie bedarf. Denn auf ihm erweiſt ſich unſer Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten, den eine uns ver - borgene Wirklichkeit wirft, dagegen Realität wie ſie iſt beſitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Thatſachen des Bewußtſeins. Die Analyſis dieſer Thatſachen iſt das Centrum der Geiſteswiſſenſchaften, und ſo verbleibt, dem Geiſte der hiſto - riſchen Schule entſprechend, die Erkenntniß der Prinzipien der geiſtigen Welt in dem Bereich dieſer ſelber, und die Geiſtes - wiſſenſchaften bilden ein in ſich ſelbſtändiges Syſtem.
Fand ich mich in ſolchen Punkten vielfach in Uebereinſtimmung mit der erkenntnißtheoretiſchen Schule von Locke, Hume und Kant, ſo mußte ich doch eben den Zuſammenhang der Thatſachen des Bewußtſeins, in dem wir gemeinſam das ganze Fundament der Philoſophie erkennen, anders faſſen, als es dieſe Schule gethan hat. Wenn man von wenigen und nicht zur wiſſenſchaftlichen Ausbil - dung gelangten Anſätzen, wie denen Herder’s und Wilhelm von Humboldt’s abſieht, ſo hat die bisherige Erkenntnißtheorie, die empiriſtiſche wie die Kant’s, die Erfahrung und die Erkenntniß aus einem dem bloßen Vorſtellen angehörigen Thatbeſtand erklärt. In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konſtruirten, rinnt nicht wirkliches Blut, ſondern der ver - dünnte Saft von Vernunft als bloßer Denkthätigkeit. Mich führte aber hiſtoriſche wie pſychologiſche Beſchäftigung mit dem ganzen Menſchen dahin, dieſen, in der Mannichfaltigkeit ſeiner Kräfte, dies wollend fühlend vorſtellende Weſen auch der Erklärung der Erkenntniß und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Subſtanz, Urſache) zu Grunde zu legen, ob die Erkenntniß gleich dieſe ihre Begriffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmen, Vorſtellen und Denken zu weben ſcheint. Die Methode des folgenden Verſuchs iſt daher dieſe: jeden Beſtandtheil des gegenwärtigen abſtrakten, wiſſen - ſchaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menſchennatur, wieXVIIIVorrede.Erfahrung, Studium der Sprache und der Geſchichte ſie erweiſen und ſuche ihren Zuſammenhang. Und ſo ergiebt ſich: die wichtigſten Beſtandtheile unſeres Bildes und unſerer Erkenntniß der Wirk - lichkeit, wie eben perſönliche Lebenseinheit, Außenwelt, Individuen außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechſelwirkung, ſie alle können aus dieſer ganzen Menſchennatur erklärt werden, deren realer Lebensprozeß am Wollen, Fühlen und Vorſtellen nur ſeine verſchiedenen Seiten hat. Nicht die Annahme eines ſtarren a priori unſeres Erkenntnißvermögens, ſondern allein Entwicklungsgeſchichte, welche von der Totalität unſeres Weſens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philoſophie zu richten haben.
Hier ſcheint ſich das hartnäckigſte aller Räthſel dieſer Grund - legung, die Frage nach Urſprung und Recht unſerer Ueberzeugung von der Realität der Außenwelt zu löſen. Dem bloßen Vorſtellen bleibt die Außenwelt immer nur Phänomen, dagegen in unſerem ganzen wollend fühlend vorſtellenden Weſen iſt uns mit unſerem Selbſt zugleich und ſo ſicher als dieſes äußere Wirklichkeit (d. h. ein von uns unabhängiges Andere, ganz abgeſehen von ſeinen räumlichen Beſtimmungen) gegeben; ſonach als Leben, nicht als bloßes Vorſtellen. Wir wiſſen von dieſer Außenwelt nicht kraft eines Schluſſes von Wirkungen auf Urſachen oder eines dieſem Schluß entſprechenden Vorganges, vielmehr ſind dieſe Vorſtellungen von Wirkung und Urſache ſelber nur Abſtraktionen aus dem Leben unſeres Willens. So erweitert ſich der Horizont der Er - fahrung, die zunächſt nur von unſren eigenen inneren Zuſtänden Kunde zu geben ſchien; mit unſerer Lebenseinheit zugleich iſt uns eine Außenwelt gegeben, ſind andere Lebenseinheiten vorhanden. Doch wieweit ich dies erweiſen kann und wieweit es dann ferner überhaupt gelingt, von dem oben bezeichneten Standpunkte aus einen geſicherten Zuſammenhang der Erkenntniſſe von der Geſellſchaft und Geſchichte herzuſtellen, muß dem ſpäteren Urtheil des Leſers über die Grundlegung ſelber anheimgegeben bleiben.
Ich habe nun eine gewiſſe Umſtändlichkeit nicht geſcheut, umXIXVorrede.den Hauptgedanken und die Hauptſätze dieſer erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften mit den verſchiedenen Seiten des wiſſenſchaftlichen Denkens der Gegenwart in Beziehung zu ſetzen und dadurch mehrfach zu begründen. So geht dieſer Verſuch zuerſt von der Ueberſicht über die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes aus, da in ihnen der breite Stoff und das Motiv dieſer ganzen Arbeit liegt, und er ſchließt von ihnen rückwärts (erſtes Buch). Dann führt der vorliegende Band die Geſchichte des philoſophiſchen Denkens, das nach feſten Grundlagen des Wiſſens ſucht, durch den Zeitraum hindurch, in welchem ſich das Schickſal der meta - phyſiſchen Grundlegung entſchied (zweites Buch). Der Beweis wird verſucht, daß eine allgemein anerkannte Metaphyſik durch eine Lage der Wiſſenſchaften bedingt war, die wir hinter uns gelaſſen haben, und ſonach die Zeit der metaphyſiſchen Begründung der Geiſtes - wiſſenſchaften ganz vorüber iſt. Der zweite Band wird zunächſt dem geſchichtlichen Verlauf in das Stadium der Einzelwiſſen - ſchaften und der Erkenntnißtheorie nachgehen und die erkenntniß - theoretiſchen Arbeiten bis zur Gegenwart darſtellen und beurtheilen (drittes Buch). Er wird dann eine eigene erkenntnißtheoretiſche Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften verſuchen (viertes und fünftes Buch). Die Ausführlichkeit des hiſtoriſchen Theils iſt nicht nur aus dem praktiſchen Bedürfniß einer Einleitung, ſondern auch aus meiner Ueberzeugung von dem Werth der geſchichtlichen Selbſtbe - ſinnung neben der erkenntnißtheoretiſchen hervorgegangen. Dieſelbe Ueberzeugung ſpricht ſich aus in der ſeit mehreren Generationen anhaltenden Vorliebe für die Geſchichte der Philoſophie ſowie in Hegel’s, des ſpäteren Schelling und Comte’s Verſuchen, ihr Syſtem hiſtoriſch zu begründen. Die Berechtigung dieſer Ueberzeugung wird auf dem entwicklungsgeſchichtlichen Standpunkt noch augen - ſcheinlicher. Denn die Geſchichte der intellektuellen Entwicklung zeigt das Wachsthum deſſelben Baumes im hellen Lichte der Sonne, deſſen Wurzeln unter der Erde die erkenntnißtheoretiſche Grund - legung aufzuſuchen hat.
XXVorrede.Meine Aufgabe führte mich durch ſehr verſchiedene Felder des Wiſſens, ſo wird mancher Irrthum mir nachgeſehen werden müſſen. Möchte das Werk auch nur einigermaßen ſeiner Aufgabe entſprechen können, den Inbegriff von geſchichtlichen und ſyſte - matiſchen Einſichten zu vereinigen, deren der Juriſt und der Po - litiker, der Theologe und der geſchichtliche Forſcher als Grundlage für ein fruchtbares Studium ihrer Einzelwiſſenſchaften bedürfen.
Dieſer Verſuch erſcheint, bevor ich eine alte Schuld durch die Vollendung der Biographie Schleiermacher’s abgetragen habe. Nach dem Abſchluß der Vorarbeiten für die zweite Hälfte der - ſelben ergab ſich bei der Ausarbeitung, daß die Darſtellung und Kritik des Syſtems von Schleiermacher überall Erörterungen über die letzten Fragen der Philoſophie vorausſetzten. So wurde die Biographie bis zum Erſcheinen des gegenwärtigen Buches zurückge - legt, welches mir dann ſolche Erörterungen erſparen wird.
Berlin, Oſtern 1883.
Wilhelm Dilthey.
Ueberſicht über den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes, in welcher die Nothwendigkeit einer grundlegenden Wiſſenſchaft dargethan wird.
‚ Uebrigens hat ſich bisher die Wirklichkeit der treu ihren Geſetzen nachforſchenden Wiſſenſchaft immer noch viel erhabener und reicher enthüllt, als die äußerſten Anſtrengungen mythiſcher Phantaſie und metaphyſiſcher Speculation ſie auszumalen wußten.’
Seit Bacon’s berühmtem Werke ſind Schriften, welche Grund - lage und Methode der Naturwiſſenſchaften erörtern und ſo in das Studium derſelben einführen, insbeſondere von Naturforſchern verfaßt worden, die bekannteſte unter ihnen die von Sir John Herſchel. Es erſchien als ein Bedürfniß, denen, welche ſich mit der Geſchichte, der Politik, Jurisprudenz oder politiſchen Oekonomie, der Theologie, Literatur oder Kunſt beſchäftigen, einen ähnlichen Dienſt zu leiſten. Von den praktiſchen Bedürfniſſen der Geſell - ſchaft, von dem Zweck einer Berufsbildung aus, welche der Geſellſchaft ihre leitenden Organe mit den für ihre Aufgabe nothwendigen Kenntniſſen ausrüſtet, pflegen diejenigen, welche ſich den bezeichneten Wiſſenſchaften widmen, an ſie heranzutreten. Doch wird dieſe Berufsbildung nur in dem Verhältniß den Ein - zelnen zu hervorragenderen Leiſtungen befähigen, als ſie das Maß einer techniſchen Abrichtung überſchreitet. Die Geſellſchaft iſt einem großen Maſchinenbetrieb vergleichbar, welcher durch die Dienſte unzähliger Perſonen in Gang erhalten wird: der mit der iſolirten Technik ſeines Einzelberufs innerhalb ihrer Ausgerüſtete iſt, wie vortrefflich er auch dieſe Technik inne habe, in der Lage eines Arbeiters, der ein Leben hindurch an einem einzelnen Punkte dieſes Betriebs beſchäftigt iſt, ohne die Kräfte zu kennen, welche ihn in Bewegung ſetzen, ja ohne von den anderen Theilen dieſes Betriebs und ihrem Zuſammenwirken zu dem Zweck des Ganzen eine Vorſtellung zu haben. Er iſt ein dienendes Werkzeug der Geſellſchaft, nicht ihr bewußt mitgeſtaltendes Organ. Dieſe Ein -1*4Erſtes einleitendes Buch.leitung möchte dem Politiker und Juriſten, dem Theologen und Pädagogen die Aufgabe erleichtern, die Stellung der Sätze und Regeln, welche ihn leiten, zu der umfaſſenden Wirklichkeit der menſchlichen Geſellſchaft kennen zu lernen, welcher doch, an dem Punkte, an welchem er eingreift, ſchließlich die Arbeit ſeines Lebens gewidmet iſt.
Es liegt in der Natur des Gegenſtandes, daß die Einſichten, deren es zur Löſung dieſer Aufgabe bedarf, in die Wahrheiten zurückreichen, welche der Erkenntniß ſowol der Natur als der geſchichtlich geſellſchaftlichen Welt zu Grunde gelegt werden müſſen. So gefaßt begegnet ſich dieſe Aufgabe, die in den Bedürfniſſen des praktiſchen Lebens gegründet iſt, mit einem Problem, welches der Zuſtand der reinen Theorie ſtellt.
Die Wiſſenſchaften, welche die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirk - lichkeit zu ihrem Gegenſtand haben, ſuchen angeſtrengter als je zuvor geſchah ihren Zuſammenhang untereinander und ihre Be - gründung. Urſachen, die in dem Zuſtande der einzelnen poſitiven Wiſſenſchaften liegen, wirken in dieſer Richtung zuſammen mit den mächtigeren Antrieben, die aus den Erſchütterungen der Geſellſchaft ſeit der franzöſiſchen Revolution entſpringen. Die Erkenntniß der Kräfte, welche in der Geſellſchaft walten, der Urſachen, welche ihre Erſchütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines ge - ſunden Fortſchritts, die in ihr vorhanden ſind, iſt zu einer Lebens - frage für unſere Civiliſation geworden. Daher wächſt die Be - deutung der Wiſſenſchaften der Geſellſchaft gegenüber denen der Natur; in den großen Dimenſionen unſeres modernen Lebens vollzieht ſich eine Umänderung der wiſſenſchaftlichen Intereſſen, welche der in den kleinen griechiſchen Politien im 5. und 4. Jahr - hundert vor Chriſto ähnlich iſt, als die Umwälzungen in dieſer Staatengeſellſchaft die negativen Theorien des ſophiſtiſchen Natur - rechts und ihnen gegenüber die Arbeiten der ſokratiſchen Schulen über den Staat hervorbrachten.
Das Ganze der Wiſſenſchaften, welche die geſchichtlich-geſell - ſchaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtande haben, wird in dieſem Werke unter dem Namen der Geiſteswiſſenſchaften zuſammengefaßt. Der Begriff dieſer Wiſſenſchaften, vermöge deſſen ſie ein Ganzes bilden, die Abgrenzung dieſes Ganzen gegen die Naturwiſſenſchaft kann endgültig erſt in dem Werke ſelber aufgeklärt und begründet werden; hier an ſeinem Beginn ſtellen wir nur die Bedeutung feſt, in welcher wir den Ausdruck gebrauchen werden und deuten vorläufig auf den Thatſacheninbegriff hin, in welchem die Ab - grenzung eines ſolchen einheitlichen Ganzen der Geiſteswiſſenſchaften von den Wiſſenſchaften der Natur gegründet iſt.
Unter Wiſſenſchaft verſteht der Sprachgebrauch einen Inbegriff von Sätzen, deſſen Elemente Begriffe d. h. vollkommen beſtimmt, im ganzen Denkzuſammenhang conſtant und allgemeingültig, deſſen Verbindungen begründet, in dem endlich die Theile zum Zweck der Mittheilung zu einem Ganzen verbunden ſind, weil entweder ein Beſtandtheil der Wirklichkeit durch dieſe Verbindung von Sätzen in ſeiner Vollſtändigkeit gedacht oder ein Zweig der menſchlichen Thätigkeit durch ſie geregelt wird. Wir bezeichnen daher hier mit dem Ausdruck Wiſſenſchaft jeden Inbegriff geiſtiger Thatſachen, an welchem die genannten Merkmale ſich vorfinden und auf den ſonach insgemein der Name der Wiſſenſchaft ange - wendet wird: wir ſtellen dem entſprechend den Umfang unſerer Aufgabe vorläufig vor. Dieſe geiſtigen Thatſachen, welche ſich geſchichtlich in der Menſchheit entwickelt haben, und auf die nach einem gemeinſamen Sprachgebrauch die Bezeichnung von Wiſſen - ſchaften des Menſchen, der Geſchichte, der Geſellſchaft übertragen worden iſt, bilden die Wirklichkeit, welche wir nicht meiſtern, ſondern zunächſt begreifen wollen. Die empiriſche Methode fordert, daß an dieſem Beſtande der Wiſſenſchaften ſelber der Werth der einzelnen Verfahrungsweiſen, deren das Denken ſich hier zur6Erſtes einleitendes Buch.Löſung ſeiner Aufgaben bedient, hiſtoriſch-kritiſch entwickelt, daß an der Anſchauung dieſes großen Vorganges, deſſen Subjekt die Menſchheit ſelber iſt, die Natur des Wiſſens und Erkennens auf dieſem Gebiet aufgeklärt werde. Eine ſolche Methode ſteht in Gegenſatz zu einer neuerdings nur zu häufig gerade von den ſo - genannten Poſitiviſten geübten, welche aus einer meiſt in natur - wiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen erwachſenen Begriffsbeſtimmung des Wiſſens den Inhalt des Begriffes Wiſſenſchaft ableitet, und von ihm aus darüber entſcheidet, welchen intellektuellen Beſchäf - tigungen der Name und Rang einer Wiſſenſchaft zukomme. So haben die Einen, von einem willkürlichen Begriff des Wiſſens aus, der Geſchichtſchreibung, wie ſie große Meiſter geübt haben, kurzſichtig und dünkelhaft den Rang der Wiſſenſchaft abgeſprochen; die Anderen haben die Wiſſenſchaften, welche Imperative zu ihrer Grundlage haben, gar nicht Urtheile über Wirklichkeit, in Erkennt - niß der Wirklichkeit umbilden zu müſſen geglaubt.
Der Inbegriff der geiſtigen Thatſachen, welche unter dieſen Begriff von Wiſſenſchaft fallen, pflegt in zwei Glieder getheilt zu werden, von denen das eine durch den Namen der Naturwiſſenſchaft bezeichnet wird; für das andere iſt, merkwürdig genug, eine all - gemein anerkannte Bezeichnung nicht vorhanden. Ich ſchließe mich an den Sprachgebrauch derjenigen Denker an, welche dieſe andere Hälfte des globus intellectualis als Geiſteswiſſenſchaften bezeichnen. Einmal iſt dieſe Bezeichnung, nicht am wenigſten durch die weite Verbreitung der Logik J. St. Mill’s, eine gewohnte und allge - mein verſtändliche geworden. Alsdann erſcheint ſie, verglichen mit all den anderen unangemeſſenen Bezeichnungen, zwiſchen denen die Wahl iſt, als die mindeſt unangemeſſene. Sie drückt höchſt unvollkommen den Gegenſtand dieſes Studiums aus. Denn in dieſem ſelber ſind die Thatſachen des geiſtigen Lebens nicht von der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit der Menſchennatur getrennt. Eine Theorie, welche die geſellſchaftlich-geſchichtlichen Thatſachen beſchreiben und analyſiren will, kann nicht von dieſer Totalität der Menſchennatur abſehen und ſich auf das Geiſtige einſchränken. Aber der Ausdruck theilt dieſen Mangel mit jedem anderen, der7Die Geiſteswiſſenſchaften ein ſelbſtändiges Ganze.angewandt worden iſt; Geſellſchaftswiſſenſchaft (Sociologie), mora - liſche, geſchichtliche, Cultur-Wiſſenſchaften: alle dieſe Bezeich - nungen leiden an demſelben Fehler, zu eng zu ſein in Bezug auf den Gegenſtand, den ſie ausdrücken ſollen. Und der hier gewählte Name hat wenigſtens den Vorzug, den centralen Thatſachenkreis angemeſſen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die Einheit dieſer Wiſſenſchaften geſehen, ihr Umfang entworfen, ihre Abgrenzung gegen die Naturwiſſenſchaften, wenn auch noch ſo unvollkommen, vollzogen worden iſt.
Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit aus - gegangen iſt, dieſe Wiſſenſchaften als eine Einheit von denen der Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des menſch - lichen Selbſtbewußtſeins. Unangerührt noch von Unterſuchungen über den Urſprung des Geiſtigen, findet der Menſch in dieſem Selbſtbewußtſein eine Souveränität des Willens, eine Verant - wortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, Alles dem Gedanken zu unterwerfen und Allem innerhalb der Burgfreiheit ſeiner Perſon zu widerſtehen, durch welche er ſich von der ganzen Natur abſondert. Er findet ſich in dieſer Natur in der That, einen Aus - druck Spinoza’s zu gebrauchen, als imperium in imperio1)Sehr genial drückt Pascal dies Lebensgefühl aus: Pensées Art. I. ‚ Toutes ces misères — prouvent sa grandeur. Ce sont misères de grand seigneur, misères d’un roi dépossédé. (3) Nous avons une si grande idée de l’âme de l’homme, que nous ne pouvons souffrir d’en être méprisés, et de n’être pas dans l’estime d’une âme‘ (5) [Oeuvres Paris 1866 I, 248, 249). . Und da für ihn nur das beſteht, was Thatſache ſeines Bewußtſeins iſt, ſo liegt in dieſer ſelbſtändig in ihm wirkenden geiſtigen Welt jeder Werth, jeder Zweck des Lebens, in der Herſtellung geiſtiger Thatbeſtände jedes Ziel ſeiner Handlungen. So ſondert er von dem Reich der Natur ein Reich der Geſchichte, in welchem, mitten in dem Zuſammenhang einer objektiven Nothwendigkeit, welcher Natur iſt, Freiheit an unzähligen Punkten dieſes Ganzen aufblitzt; hier bringen die Thaten des Willens, im Gegenſatz zu dem mechaniſchen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im Anſatz Alles was in ihm erfolgt ſchon enthält, durch ihren Kraft -8Erſtes einleitendes Buch.aufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung des Individuum ja in ſeiner Erfahrung gegenwärtig beſitzt, wirklich etwas her - vor, erarbeiten Entwicklung, in der Perſon und in der Menſch - heit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf im Bewußtſein hinaus, in deren Vorſtellung als einem Ideal geſchichtlichen Fortſchritts die Götzenanbeter der intellektuellen Ent - wickelung ſchwelgen.
Vergeblich freilich hat die metaphyſiſche Epoche, für welche dieſe Verſchiedenheit der Erklärungsgründe ſich ſofort als eine ſubſtantiale Verſchiedenheit in der objektiven Gliederung des Welt - zuſammenhangs darſtellte, gerungen, Formeln für die objektive Grundlage dieſes Unterſchieds der Thatſachen des geiſtigen Lebens von denen des Naturlaufs feſtzuſtellen und zu begründen. Unter allen Veränderungen, welche die Metaphyſik der Alten bei den mittelalterlichen Denkern erfahren hat, iſt keine folgenreicher ge - weſen, als daß nunmehr, im Zuſammenhang mit den alles be - herrſchenden religiöſen und theologiſchen Bewegungen, inmitten deren dieſe Denker ſtanden, die Beſtimmung der Verſchiedenheit zwiſchen der Welt der Geiſter und der Welt der Körper, alsdann der Beziehung dieſer beiden Welten zu der Gottheit, in den Mittel - punkt des Syſtems trat. Das metaphyſiſche Hauptwerk des Mittel - alters, die Summa de veritate catholicae fidei des Thomas, entwirft von ſeinem zweiten Buche ab eine Gliederung der ge - ſchaffenen Welt, in welcher die Weſenheit (eessentia quidditas) von dem Sein (esse) unterſchieden iſt, während in Gott ſelber dieſe beiden eins ſind1)Summa c. gent. (cura Uccellii, Romae 1878) I, c. 22. vgl. II, c. 54.; in der Hierarchie der geſchaffenen Weſen weiſt es als ein oberſtes nothwendiges Glied die geiſtigen Sub - ſtanzen nach, welche nicht aus Materie und Form zuſammenge - ſetzt, ſondern per se körperlos ſind: die Engel; von ihnen ſcheidet es die intellektuellen Subſtanzen oder unkörperlichen ſubſiſtirenden Formen, welche zur Completirung ihrer Species (nämlich der Spe - cies: Menſch) der Körper bedürfen, und entwickelt an dieſem Punkte eine Metaphyſik des Menſchengeiſtes, im Kampf gegen die arabiſchen9Metaphyſiſche Begründung ihrer Selbſtändigkeit.Philoſophen, deren Einwirkung bis auf die letzten metaphyſiſchen Schriftſteller unſerer Tage verfolgt werden kann1)Lib. II, c. 46 sq. ; von dieſer Welt unvergänglicher Subſtanzen grenzt es den Theil des Geſchaffenen ab, welcher in der Verbindung von Form und Materie ſein Weſen hat. Dieſe Metaphyſik des Geiſtes (rationale Pſychologie) wurde dann, als die mechaniſche Auffaſſung des Naturzuſammenhangs und die Corpuscularphiloſophie zur Herrſchaft gelangten, von anderen hervorragenden Metaphyſikern zu derſelben in Beziehung geſetzt. Aber jeder Verſuch ſcheiterte, auf dem Grunde dieſer Subſtanzenlehre mit den Mitteln der neuen Auffaſſung der Natur eine haltbare Vorſtellung des Verhältniſſes von Geiſt und Körper auszubilden. Entwickelte Descartes auf der Grundlage der klaren und deutlichen Eigenſchaften der Körper als von Raum - größen ſeine Vorſtellung der Natur als eines ungeheuren Mechanis - mus, betrachtete er die in dieſem Ganzen vorhandene Bewegungs - größe als conſtant: ſo trat mit der Annahme, daß auch nur eine einzige Seele von außen in dieſem materiellen Syſtem eine Be - wegung erzeuge, der Widerſpruch in das Syſtem. Und die Un - vorſtellbarkeit einer Einwirkung unräumlicher Subſtanzen auf dies ausgedehnte Syſtem wurde dadurch um nichts verringert, daß er die räumliche Stelle ſolcher Wechſelwirkung in Einen Punkt zuſammen - zog: als könne er die Schwierigkeit damit verſchwinden machen. Die Abenteuerlichkeit der Anſicht, daß die Gottheit durch immer ſich wiederholende Eingriffe dies Spiel der Wechſelwirkungen unterhalte, der anderen Anſicht, daß vielmehr Gott als der geſchickteſte Künſtler die beiden Uhren des materiellen Syſtems und der Geiſterwelt von Anfang an ſo geſtellt, daß ein Vorgang der Natur eine Em - pfindung hervorzurufen, ein Willensakt eine Veränderung der Außenwelt zu bewirken ſcheine, erwieſen ſo deutlich als möglich die Unverträglichkeit der neuen Metaphyſik der Natur mit der über - lieferten Metaphyſik geiſtiger Subſtanzen. So wirkte dieſes Pro - blem als ein beſtändig reizender Stachel zur Auflöſung des metaphyſiſchen Standpunktes überhaupt. Dieſe Auflöſung wird ſich10Erſtes einleitendes Buch.vollſtändig in der ſpäter zu entwickelnden Erkenntniß vollziehen, daß das Erlebniß des Selbſtbewußtſeins der Ausgangspunkt des Subſtanzbegriffes iſt, daß dieſer Begriff aus der Anpaſſung dieſes Erlebniſſes an die äußeren Erfahrungen, welche das nach dem Satze vom Grunde fortſchreitende Erkennen vollzogen hat, ent - ſpringt und ſo dieſe Lehre von den geiſtigen Subſtanzen nichts als eine Rückübertragung des in einer ſolchen Metamorphoſe aus - gebildeten Begriffs auf das Erlebniß iſt, in welchem ſein Anſatz urſprünglich gegeben war.
An die Stelle des Gegenſatzes von materiellen und geiſtigen Subſtanzen trat der Gegenſatz der Außenwelt, als des in der äußeren Wahrnehmung (sensation) durch die Sinne Gegebenen, zu der Innenwelt, als dem primär durch die innere Auffaſſung der pſychiſchen Ereigniſſe und Thätigkeiten (reflection) Dargebotenen. Das Problem empfängt ſo eine beſcheidenere, aber die Möglichkeit empiriſcher Behandlung einſchließende Faſſung. Und es machen ſich nun angeſichts der neuen beſſeren Methoden dieſelben Erleb - niſſe geltend, welche in der Subſtanzenlehre der rationalen Pſycho - logie einen wiſſenſchaftlich unhaltbaren Ausdruck gefunden hatten.
Zunächſt genügt für die ſelbſtändige Conſtituirung der Geiſtes - wiſſenſchaften, daß auf dieſem kritiſchen Standpunkt von den - jenigen Vorgängen, die aus dem Material des in den Sinnen Gegebenen, und nur aus dieſem, durch denkende Verknüpfung ge - bildet werden, ſich die anderen als ein beſonderer Umkreis von Thatſachen abſondern, welche primär in der inneren Erfahrung, ſonach ohne jede Mitwirkung der Sinne, gegeben ſind, und welche alsdann aus dem ſo primär gegebenen Material innerer Erfahrung auf Anlaß äußerer Naturvorgänge formirt werden, um dieſen durch ein gewiſſes dem Analogieſchluß in der Leiſtung gleich - werthiges Verfahren untergelegt zu werden. So entſteht ein eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebniß ſeinen ſelbſtändigen Urſprung und ſein Material hat, und das demnach naturgemäß Gegenſtand einer beſonderen Erfahrungs - wiſſenſchaft iſt. Und ſo lange nicht Jemand behauptet, daß er den Inbegriff von Leidenſchaft, dichteriſchem Geſtalten, denkendem11Auflöſung derſelben. Kritiſche Begründung.Erſinnen, welchen wir als Göthe’s Leben bezeichnen, aus dem Bau ſeines Gehirns, den Eigenſchaften ſeines Körpers abzuleiten und ſo beſſer erkennbar zu machen im Stande iſt, wird auch die ſelbſtändige Stellung einer ſolchen Wiſſenſchaft nicht beſtritten werden. Da nun was für uns da iſt, vermöge dieſer inneren Erfahrung beſteht, was für uns Werth hat oder Zweck iſt, nur in dem Erlebniß unſres Gefühls und unſres Willens uns ſo gegeben iſt: ſo liegen in dieſer Wiſſenſchaft die Prinzipien unſers Erkennens, welche darüber beſtimmen, wiefern Natur für uns exiſtiren kann, die Prinzipien unſeres Handelns, welche das Vorhandenſein von Zwecken, Gütern, Werthen erklären, in dem aller praktiſche Ver - kehr mit der Natur gegründet iſt.
Die tiefere Begründung der ſelbſtändigen Stellung der Geiſteswiſſenſchaften neben den Naturwiſſenſchaften, welche Stellung den Mittelpunkt der Conſtruktion der Geiſteswiſſenſchaften in dieſem Werke bildet, vollzieht ſich in dieſem ſelber ſchrittweiſe, indem die Analyſis des Geſammterlebniſſes der geiſtigen Welt, in ſeiner Unvergleichbarkeit mit aller Sinnenerfahrung über die Natur, in ihm durchgeführt wird. Ich verdeutliche hier nur dies Problem, indem ich auf den zweifachen Sinn hinweiſe, in welchem die Un - vergleichbarkeit dieſer beiden Thatſachenkreiſe behauptet werden kann: entſprechend empfängt auch der Begriff von Grenzen des Naturerkennens eine zweifache Bedeutung.
Einer unſrer erſten Naturforſcher hat dieſe Grenzen in einer vielbeſprochenen Abhandlung zu beſtimmen unternommen, und ſo - eben dieſe Grenzbeſtimmung ſeiner Wiſſenſchaft näher erläutert1)Emil Du Bois-Reymond, über die Grenzen des Naturerkennens. 1872. Vgl.: Die ſieben Welträthſel. 1881.. Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Be - wegungen von Atomen aufgelöſt, die durch deren conſtante Cen - tralkräfte bewirkt wären, ſo würde das Weltall naturwiſſenſchaftlich erkannt. „ Ein Geiſt “— von dieſer Vorſtellung von Laplace geht er aus —, „ der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche in der Natur wirkſam ſind, und die gegenſeitige Lage der12Erſtes einleitendes Buch.Weſen, aus denen ſie beſteht, wenn ſonſt er umfaſſend genug wäre, um dieſe Angaben der Analyſis zu unterwerfen, würde in der - ſelben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des leichteſten Atoms begreifen “1)Laplace, Essai sur les probabilités. Paris 1814. p. 3. . Da die menſchliche Intelligenz in der aſtronomiſchen Wiſſenſchaft ein „ ſchwaches Abbild eines ſolchen Geiſtes “iſt, bezeichnet Du Bois-Reymond die von Laplace vorge - ſtellte Kenntniß eines materiellen Syſtems als eine aſtronomiſche. Von dieſer Vorſtellung aus gelangt man in der That zu einer ſehr deutlichen Auffaſſung der Grenzen, in welche die Tendenz des naturwiſſenſchaftlichen Geiſtes eingeſchloſſen iſt.
Es ſei geſtattet eine Unterſcheidung in Bezug auf den Begriff der Grenze des Naturerkennens in dieſe Betrachtungsweiſe einzu - führen. Da uns die Wirklichkeit, als das Correlat der Erfahrung, in dem Zuſammenwirken einer Gliederung unſerer Sinne mit der inneren Erfahrung gegeben iſt, entſpringt aus der hierdurch be - dingten Verſchiedenheit der Provenienz ihrer Beſtandtheile eine Unvergleichbarkeit innerhalb der Elemente unſerer wiſſenſchaftlichen Rechnung. Sie ſchließt die Ableitung von Thatſächlichkeit einer beſtimmten Provenienz aus der einer anderen aus. So gelangen wir von den Eigenſchaften des Räumlichen doch nur vermittelſt der Fakticität der Taſtempfindung, in welcher Widerſtand erfahren wird, zu der Vorſtellung der Materie; ein jeder der Sinne iſt in einen ihm eigenen Qualitätenkreis eingeſchloſſen; und wir müſſen von der Sinnesempfindung zu dem Gewahren innerer Zu - ſtände übergehen, ſollen wir eine Bewußtſeinslage in einem ge - gebenen Moment auffaſſen. Wir können ſonach die Data in der Unvergleichlichkeit, in welcher ſie in Folge ihrer verſchiedenen Pro - venienz auftreten, eben nur hinnehmen; ihre Thatſächlichkeit iſt für uns unergründlich; all unſer Erkennen iſt auf die Feſtſtellung der Gleichförmigkeiten in Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit einge - ſchränkt, gemäß denen ſie nach unſrer Erfahrung in Beziehungen zu einander ſtehen. Dies ſind Grenzen, welche in den Bedingungen unſeres Erfahrens ſelber gelegen ſind, Grenzen, die an jedem13Beſtimmung der Aufgabe derſelben.Punkte der Naturwiſſenſchaft beſtehen: nicht äußere Schranken, an welche das Naturerkennen ſtößt, ſondern dem Erfahren ſelber immanente Bedingungen deſſelben. Das Vorhandenſein dieſer im - manenten Schranken der Erkenntniß bildet nun durchaus kein Hinderniß für die Funktion des Erkennens. Bezeichnet man mit Begreifen eine völlige Durchſichtigkeit in der Auffaſſung eines Zuſammenhangs, ſo haben wir es hier mit Schranken zu thun, an welche das Begreifen anſtößt. Aber, gleichviel ob die Wiſſen - ſchaft ihrer Rechnung, welche die Veränderungen in der Wirklich - keit auf die Bewegungen von Atomen zurückführt, Qualitäten unterordne oder Bewußtſeinsthatſachen: falls dieſe ſich ihr nur unterwerfen laſſen, bildet die Thatſache der Unableitbarkeit kein Hinderniß ihrer Operationen; ich vermag ſo wenig einen Ueber - gang von der bloßen mathematiſchen Beſtimmtheit oder der Be - wegungsgröße zu einer Farbe oder einem Ton als zu einem Be - wußtſeinsvorgang zu finden; das blaue Licht wird von mir durch die entſprechende Schwingungszahl ſo wenig erklärt, als das ver - neinende Urtheil durch einen Vorgang im Gehirn. Indem die Phyſik es der Phyſiologie überläßt, die Sinnesqualität blau zu erklären, dieſe aber, welche in der Bewegung materieller Theile eben auch kein Mittel beſitzt, das Blau hervorzuzaubern, es der Pſychologie übergiebt, bleibt es ſchließlich, wie in einem Vexirſpiel, bei der Pſychologie ſitzen. An ſich aber iſt die Hypotheſe, welche Qualitäten in dem Vorgang der Empfindung entſtehen läßt, zu - nächſt nur ein Hilfsmittel für die Rechnung, welche die Verände - rungen in der Wirklichkeit, wie ſie in meiner Erfahrung gegeben ſind, auf eine gewiſſe Claſſe von Veränderungen innerhalb der - ſelben, welche einen Theilinhalt meiner Erfahrung bildet, radicirt, um ſie für den Zweck der Erkenntniß gewiſſermaßen auf Eine Fläche zu bringen. Wäre es möglich, beſtimmt definirten That - ſachen, welche in dem Zuſammenhang der mechaniſchen Naturbe - trachtung eine feſte Stelle einnehmen, conſtant und beſtimmt definirte Bewußtſeinsthatſachen zu ſubſtituiren und nunmehr gemäß dem Syſtem von Gleichförmigkeiten, in welchem die erſteren Thatſachen ſich befinden, das Eintreten der Bewußtſeinsvorgänge ganz im14Erſtes einleitendes Buch.Einklang mit der Erfahrung zu beſtimmen: alsdann wären dieſe Bewußtſeinsthatſachen ſo gut dem Zuſammenhang des Natur - erkennens eingeordnet, als es irgend Ton oder Farbe ſind.
Gerade hier macht ſich aber die Unvergleichbarkeit ma - terieller und geiſtiger Vorgänge in einem ganz anderen Verſtande geltend und zieht dem Naturerkennen Grenzen von einem durchaus anderen Charakter. Die Unmöglichkeit der Ableitung von geiſtigen Thatſachen aus denen der mechaniſchen Naturordnung, welche in der Verſchiedenheit ihrer Provenienz gegründet iſt, hindert nicht die Einordnung der erſteren in das Syſtem der letzteren. Erſt wenn die Beziehungen zwiſchen den Thatſachen der geiſtigen Welt ſich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geiſtigen That - ſachen unter die, welche die mechaniſche Naturerkenntniß feſtgeſtellt hat, ausgeſchloſſen wird: dann erſt ſind nicht immanente Schranken des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, ſondern Grenzen, an denen Naturerkenntniß endigt und eine ſelbſtändige, aus ihrem eigenen Mittelpunkte ſich geſtaltende Geiſteswiſſenſchaft beginnt. Das Grundproblem liegt ſonach in der Feſtſtellung der beſtimmten Art von Unvergleichbarkeit zwiſchen den Beziehungen geiſtiger That - ſachen und den Gleichförmigkeiten materieller Vorgänge, welche eine Einordnung der erſteren, eine Auffaſſung von ihnen als von Eigen - ſchaften oder Seiten der Materie ausſchließt und welche ſonach ganz anderer Art ſein muß als die Verſchiedenheit, die zwiſchen den einzelnen Kreiſen von Geſetzen der Materie beſteht, wie ſie Mathematik, Phyſik, Chemie und Phyſiologie in einem ſich immer folgerichtiger entwickelnden Verhältniß von Unterordnung dar - legen. Eine Ausſchließung der Thatſachen des Geiſtes aus dem Zuſammenhang der Materie, ihrer Eigenſchaften und Geſetze wird immer einen Widerſpruch vorausſetzen, der zwiſchen den Be - ziehungen der Thatſachen auf dem einen und denen der Thatſachen auf dem andern Gebiet bei dem Verſuch einer ſolchen Unterord - nung eintritt. Und dies iſt in der That die Meinung, wenn die Unvergleichbarkeit des geiſtigen Lebens an den Thatſachen des Selbſtbewußtſeins und der mit ihm zuſammenhängenden Ein -15Der wahre Begriff der Grenzen der Naturerkenntniß.heit des Bewußtſeins, an der Freiheit und den mit ihr verbundenen Thatſachen des ſittlichen Lebens aufgezeigt wird, im Gegenſatz gegen die räumliche Gliederung und Theilbarkeit der Materie ſowie gegen die mechaniſche Nothwendigkeit, unter welcher die Leiſtung des einzelnen Theils derſelben ſteht. So alt beinahe, als das ſtrengere Nachdenken über die Stellung des Geiſtes zur Natur, ſind die Verſuche einer Formulirung dieſer Art von Unvergleich - barkeit des Geiſtigen mit aller Naturordnung, auf Grund der That - ſachen von Einheit des Bewußtſeins und Spontaneität des Willens.
Indem dieſe Unterſcheidung von immanenten Schranken des Erfahrens einerſeits, von Grenzen der Unterordnung von That - ſachen unter den Zuſammenhang der Naturerkenntniß andrerſeits in die Darlegung des berühmten Naturforſchers eingeführt wird, empfangen die Begriffe von Grenze und Unerklärbarkeit einen genau definirbaren Sinn, und damit ſchwinden Schwierigkeiten, welche in dem von dieſer Schrift hervorgerufenen Streit über die Grenzen der Naturerkenntniß ſich ſehr bemerkbar gemacht haben. Die Exiſtenz immanenter Schranken des Erfahrens entſcheidet in keiner Weiſe über die Frage nach der Unterordnung von geiſtigen Thatſachen unter den Zuſammenhang der Erkenntniß der Materie. Wird, wie von Häckel und anderen Forſchern geſchieht, ein Ver - ſuch vorgelegt, durch die Annahme eines pſychiſchen Lebens in den Beſtandtheilen, aus denen der Organismus ſich aufbaut, eine ſolche Einordnung der geiſtigen Thatſachen unter den Natur - zuſammenhang herzuſtellen, dann beſteht zwiſchen einem ſolchen Verſuch und der Erkenntniß der immanenten Schranken alles Er - fahrens ſchlechterdings kein Verhältniß von Ausſchließung; über ihn entſcheidet nur die zweite Art von Unterſuchung der Grenzen des Naturerkennens. Daher iſt auch Du Bois-R. zu dieſer zweiten Unterſuchung fortgegangen, und hat ſich in ſeiner Beweis - führung ſowol des Arguments von der Einheit des Bewußtſeins als des anderen von der Spontaneität des Willens bedient. Sein Beweis, „ daß die geiſtigen Vorgänge aus ihren materiellen Be - dingungen nie zu begreifen ſind “1)Er beginnt: über die Grenzen, Aufl. 4. S. 28., wird folgendermaßen geführt. 16Erſtes einleitendes Buch.Bei vollendeter Kenntniß aller Theile des materiellen Syſtems, ihrer gegenſeitigen Lage und ihrer Bewegung bleibt es doch durch - aus unbegreiflich, wie einer Anzahl von Kohlenſtoff -, Waſſerſtoff -, Stickſtoff -, Sauerſtoff-Atomen nicht ſollte gleichgiltig ſein, wie ſie liegen und ſich bewegen. Dieſe Unerklärbarkeit des Geiſtigen bleibt ganz ebenſo beſtehen, wenn man dieſe Elemente nach Art der Monaden ſchon einzeln mit Bewußtſein ausſtattet, und von dieſer Annahme aus kann das einheitliche Bewußtſein des Individuums nicht erklärt werden1)a. a. O. 29. 30. vgl. Räthſel 7. Dieſe Argumentation iſt übrigens nur ſchlußkräftig, wenn der atomiſtiſchen Mechanik ſozuſagen metaphyſiſche Giltigkeit beigelegt wird. Zu ihrer von Du Bois-R. berührten Geſchichte kann auch die Formulirung bei dem Claſſiker der rationalen Pſychologie, Mendelsſohn, verglichen werden. Z. B. Schriften (Leipzig 1880) I, 277: 1) „ Alles was der menſchliche Körper vom Marmorblock Verſchiedenes hat, läßt ſich auf Bewegung zurückführen. Nun iſt die Bewegung nichts Anderes, als die Veränderung des Orts oder der Lage. Es leuchtet in die Augen, daß durch alle möglichen Ortsveränderungen in der Welt, ſie mögen noch ſo zuſammengeſetzt ſein, kein Wahrnehmen dieſer Ortsveränderungen zu er - halten ſei. “ 2) „ Alle Materie beſteht aus mehreren Theilen. Wenn die ein - zelnen Vorſtellungen ſo in den Theilen der Seele iſolirt wären wie die Gegenſtände in der Natur, ſo wäre das Ganze nirgends anzutreffen. Wir würden die Eindrücke verſchiedener Sinne nicht vergleichen, die Vorſtellungen nicht gegeneinanderhalten, keine Verhältniſſe wahrnehmen, keine Beziehungen erkennen können. Hieraus iſt klar, daß nicht nur zum Denken, ſondern zum Empfinden Vieles in Einem zuſammenkommen muß. Da aber die Materie niemals ein einziges Subjekt wird u. ſ. w. “ Kant entwickelt dieſen „ Achilles aller dialektiſchen Schlüſſe der reinen Seelenlehre “als zweiten Paralogismus der transſcendentalen Pſychologie. Bei Lotze wurden dieſe „ Thaten des beziehenden Wiſſens “als „ nicht zu überwältigender Grund, auf welchem die Ueberzeugung von der Selbſtändigkeit eines Seelen - weſens ſicher beruhen kann “, in mehreren Schriften (zuletzt Metaphyſik 476) ent - wickelt und bilden die Grundlage dieſes Theils ſeines metaphyſiſchen Syſtems.. Schon ſein zu beweiſender Satz enthält in dem „ nie zu begreifen “einen Doppelſinn, und dieſer hat im Beweis ſelber ein Hervortreten zweier Argumente von ganz ver - ſchiedener Tragweite neben einander zur Folge. Er behauptet ein - mal, daß der Verſuch, aus materiellen Veränderungen geiſtige Thatſachen abzuleiten (der gegenwärtig als roher Materialismus verſchollen iſt, und nur noch in der Weiſe der Aufnahme pſychi - ſcher Eigenſchaften in die Elemente gemacht wird), die immanente17Verhältniß dieſes Ganzen zu dem der Naturwiſſenſchaften.Schranke alles Erfahrens nicht aufzuheben vermag: was ſicher iſt, aber nichts gegen die Unterordnung des Geiſtes unter das Natur - erkennen entſcheidet. Und er behauptet alsdann, daß dieſer Verſuch an dem Widerſpruch ſcheitern muß, welcher zwiſchen unſerer Vor - ſtellung der Materie und der Eigenſchaft der Einheit, die un - ſerem Bewußtſein zukommt, beſteht. In ſeiner ſpäteren Polemik gegen Häckel fügt er dieſem Argument das andere hinzu, daß unter ſolcher Annahme ein weiterer Widerſpruch zwiſchen der Art, wie ein materieller Beſtandtheil im Naturzuſammenhang mechaniſch bedingt iſt, und dem Erlebniß der Spontaneität des Willens entſteht; ein „ Wille “(in den Beſtandtheilen der Materie), der „ wollen ſoll, er mag wollen oder nicht und das im geraden Verhältniß des Produktes der Maſſen und im umgekehrten des Quadrates der Entfernungen “iſt eine contradictio in adjecto1)Welt-Räthſel S. 8..
Jedoch in einem weiten Umfang faſſen die Geiſteswiſſen - ſchaften Naturthatſachen in ſich, haben Naturerkenntniß zur Grundlage.
Dächte man ſich rein geiſtige Weſen in einem aus ſolchen allein beſtehenden Perſonenreich, ſo würde ihr Hervortreten, ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Verſchwinden (welche Vorſtellungen man auch von dem Hintergrund ſich bilde, aus welchem ſie hervorträten und in den ſie wieder zurücktreten wür - den), an Bedingungen geiſtiger Art gebunden ſein; ihr Wohlſein wäre in ihrer Lage zur geiſtigen Welt gegründet; ihre Verbindung untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden ſich durch rein geiſtige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer Handlungen würden rein geiſtiger Art ſein; ſelbſt ihr Zurück -Dilthey, Einleitung. 218Erſtes einleitendes Buch.treten aus dem Reich der Perſonen würde in dem Geiſtigen ſeinen Grund haben. Das Syſtem ſolcher Individuen würde in reinen Geiſteswiſſenſchaften erkannt werden. In Wirklichkeit entſteht ein Individuum, wird erhalten und entwickelt ſich auf Grund der Funktionen des thieriſchen Organismus und ihrer Beziehungen zu dem umgebenden Naturlauf; ſein Lebensgefühl iſt wenigſtens theilweiſe in dieſen Funktionen gegründet; ſeine Eindrücke ſind von den Sinnesorganen und ihren Affektionen ſeitens der Außen - welt bedingt; den Reichthum und die Beweglichkeit ſeiner Vor - ſtellungen und die Stärke ſowie die Richtung ſeiner Willensakte finden wir vielfach von Veränderungen in ſeinem Nervenſyſtem abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfaſern zur Ver - kürzung und ſo iſt ſein Wirken nach außen an Veränderungen in den Lageverhältniſſen der Maſſentheilchen des Organismus ge - bunden; dauernde Erfolge ſeiner Willenshandlungen exiſtiren nur in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt. So iſt das geiſtige Leben eines Menſchen ein nur durch Abſtrak - tion loslösbarer Theil der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit, als welche ein Menſchendaſein und Menſchenleben ſich darſtellt. Das Syſtem dieſer Lebenseinheiten iſt die Wirklichkeit, welche den Gegen - ſtand der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften ausmacht.
Und zwar iſt der Menſch als Lebenseinheit, vermöge des doppelten Standpunktes unſerer Auffaſſung (gleichviel welcher der metaphyſiſche Thatbeſtand ſei), ſo weit inneres Gewahrwerden reicht, als ein Zuſammenhang geiſtiger Thatſachen, ſo weit wir dagegen mit den Sinnen auffaſſen, als ein körperliches Ganze für uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffaſſung finden niemals in demſelben Akte ſtatt und daher iſt uns die Thatſache des geiſtigen Lebens nie mit der unſeres Körpers zugleich gegeben. Hieraus ergeben ſich mit Nothwendigkeit zwei verſchiedene, nicht in einander aufhebbare Standpunkte für die wiſſenſchaftliche Auffaſſung, welche die geiſtigen Thatſachen und die Körperwelt in ihrem Zu - ſammenhang, deſſen Ausdruck die pſycho-phyſiſche Lebenseinheit iſt, erfaſſen will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, ſo finde ich die geſammte Außenwelt in meinem Bewußtſein gegeben,19Die pſycho-phyſiſche Lebenseinheit.die Geſetze dieſes Naturganzen unter den Bedingungen meines Bewußtſeins ſtehend und ſonach von ihnen abhängig. Dies iſt der Standpunkt, welchen die deutſche Philoſophie an der Grenze des achtzehnten und unſeres Jahrhunderts als Transſcendental - Philoſophie bezeichnete. Nehme ich dagegen den Naturzuſammenhang, ſo wie er als Realität vor mir in meinem natürlichen Auffaſſen ſteht, und gewahre in die zeitliche Abfolge dieſer Außenwelt ſowie in ihre räumliche Vertheilung pſychiſche Thatſachen mit eingeordnet, finde ich von dem Eingriff, welchen die Natur ſelber oder das Experiment macht und welcher in materiellen Veränderungen be - ſteht, wann dieſe an das Nervenſyſtem herandringen, Veränderungen des geiſtigen Lebens abhängig, erweitert Beobachtung der Lebens - entwicklung und der krankhaften Zuſtände dieſe Erfahrungen zu dem umfaſſenden Bilde der Bedingtheit des Geiſtigen durch das Körperliche: dann entſteht die Auffaſſung des Naturforſchers, welcher von außen nach innen, von der materiellen Veränderung zur geiſtigen Veränderung vorandringt. So iſt der Antagonismus zwiſchen dem Philoſophen und dem Naturforſcher durch den Gegenſatz ihrer Ausgangspunkte bedingt.
Wir nehmen nun unſeren Ausgangspunkt in der Betrach - tungsweiſe der Naturwiſſenſchaft. Sofern dieſe Betrachtungsweiſe ſich ihrer Grenzen bewußt bleibt, ſind ihre Ergebniſſe unbeſtreitbar. Sie empfangen nur von dem Standpunkt der inneren Erfahrung aus die nähere Beſtimmung ihres Erkenntnißwerthes. Die Natur - wiſſenſchaft zergliedert den urſächlichen Zuſammenhang des Natur - laufes. Wo dieſe Zergliederung die Punkte erreicht hat, an welchen ein materieller Thatbeſtand oder eine materielle Veränderung regel - mäßig mit einem pſychiſchen Thatbeſtand oder einer pſychiſchen Veränderung verbunden iſt, ohne daß zwiſchen ihnen ein weiteres Zwiſchenglied auffindbar wäre: da kann eben nur dieſe regelmäßige Beziehung ſelber feſtgeſtellt werden, das Verhältniß von Urſache und Wirkung kann aber auf dieſe Beziehung nicht angewandt werden. Wir finden Gleichförmigkeiten des einen Lebenskreiſes regelmäßig mit ſolchen des anderen verknüpft und der mathematiſche Begriff der Funktion iſt der Ausdruck dieſes Verhältniſſes. Eine Auffaſſung2*20Erſtes einleitendes Buch.deſſelben, vermöge deren der Ablauf der geiſtigen neben dem der körperlichen Veränderungen mit dem Gange von zwei gleichgeſtellten Uhren vergleichbar wäre, iſt mit der Erfahrung ſo gut im Einklang als eine Auffaſſung, welche nur Ein Uhrwerk als Erklärungsgrund annimmt, unbildlich, welche beide Erfahrungskreiſe als verſchiedene Erſcheinungen Eines Grundes betrachtet. Abhängigkeit des Geiſtigen vom Naturzuſammenhang iſt alſo das Verhältniß, welchem gemäß der allgemeine Naturzuſammenhang diejenigen materiellen That - beſtände und Veränderungen urſächlich bedingt, welche für uns regelmäßig und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit geiſtigen Thatbeſtänden und Veränderungen verbunden ſind. So ſieht das Naturerkennen die Verkettung der Urſachen bis zu dem pſycho-phyſiſchen Leben hin wirken: hier entſteht eine Veränderung, an welcher die Beziehung des Materiellen und Phyſiſchen ſich der urſächlichen Auffaſſung entzieht, und dieſe Veränderung ruft rück - wärts in der materiellen Welt eine Veränderung hervor. In dieſem Zuſammenhang ſchließt ſich dem Experiment des Phyſiologen die Bedeutung der Struktur des Nervenſyſtems auf. Die verwirrenden Erſcheinungen des Lebens werden in eine klare Vorſtellung der Ab - hängigkeiten zerlegt, in deren Verfolg der Naturlauf Veränderungen bis an den Menſchen heran führt, dieſe alsdann durch die Pforten der Sinnesorgane in das Nervenſyſtem dringen, Empfindung, Vor - ſtellen, Gefühl, Begehren entſtehen und auf den Naturlauf zurück - wirken. Die Lebenseinheit ſelbſt, welche mit dem unmittelbaren Ge - fühl unſeres ungetheilten Daſeins uns erfüllt, wird in ein Syſtem von Beziehungen aufgelöſt, die zwiſchen den Thatſachen unſeres Be - wußtſeins und der Struktur ſowie den Funktionen des Nerven - ſyſtems empiriſch feſtgeſtellt werden können: denn jede pſychiſche Aktion zeigt ſich nur vermittelſt des Nervenſyſtems mit einer Veränderung innerhalb unſeres Körpers verbunden, und eine ſolche iſt ihrerſeits nur vermittelſt ihrer Wirkung auf das Nerven - ſyſtem von einem Wechſel unſerer pſychiſchen Zuſtände begleitet.
Aus dieſer Zergliederung der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten entſpringt nun eine deutlichere Vorſtellung der Abhängigkeit der - ſelben von dem ganzen Zuſammenhang der Natur, innerhalb deſſen21Die Zerlegung derſelben.ſie auftreten, wirken und aus dem ſie wieder zurücktreten, und ſomit auch des Studiums der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklich - keit von der Naturerkenntniß. Hiernach kann der Grad von Be - rechtigung feſtgeſtellt werden, der den Theorien von Comte und Herbert Spencer über die Stellung dieſer Wiſſenſchaften in der von ihnen aufgeſtellten Hierarchie der Geſammtwiſſenſchaft zu - kommt. Wie dieſe Schrift die relative Selbſtändigkeit der Geiſteswiſſenſchaften zu begründen verſuchen wird, ſo hat ſie als die andere Seite der Stellung derſelben im wiſſenſchaftlichen Geſammtganzen das Syſtem von Abhängigkeiten zu entwickeln, vermöge deſſen ſie durch die Naturerkenntniß bedingt ſind, und ſonach in dem Aufbau, welcher in der mathematiſchen Grund - legung anhebt, das letzte und höchſte Glied bilden. Thatſachen des Geiſtes ſind die oberſte Grenze der Thatſachen der Natur, die Thatſachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geiſtigen Lebens. Eben weil das Reich der Perſonen oder die menſchliche Geſellſchaft und Geſchichte die höchſte unter den Erſcheinungen der irdiſchen Erfahrungswelt iſt, bedarf ſeine Erkenntniß an unzähligen Punkten die des Syſtems von Vorausſetzungen, welche für ſeine Entwicklung in dem Naturganzen gelegen ſind.
Und zwar iſt der Menſch, gemäß ſeiner ſo dargelegten Stellung im cauſalen Zuſammenhang der Natur, von dieſer in einer zwiefachen Beziehung bedingt.
Die pſycho-phyſiſche Einheit, ſo ſahen wir, empfängt, vermittelt durch das Nervenſyſtem, beſtändig Einwirkungen aus dem all - gemeinen Naturlauf und ſie wirkt wieder auf ihn zurück. Nun liegt es aber in ihrer Natur, daß die Wirkungen, welche von ihr ausgehen, vornehmlich als ein Handeln auftreten, welches von Zwecken geleitet wird. Für dieſe pſycho-phyſiſche Einheit kann alſo einerſeits der Naturlauf und ſeine Beſchaffenheit in Bezug auf die Geſtaltung der Zwecke ſelber leitend ſein, andrerſeits iſt er für dieſelbe als ein Syſtem von Mitteln zur Erreichung dieſer Zwecke mitbeſtimmend. Und ſo ſind wir ſelbſt da, wo wir wollen, wo wir auf die Natur wirken, eben weil wir nicht blinde Kräfte ſind, ſondern Willen, welche ihre Zwecke überlegend feſtſtellen,22Erſtes einleitendes Buch.von dem Naturzuſammenhang abhängig. Demnach befinden ſich die pſycho-phyſiſchen Einheiten in einer doppelten Abhängigkeit dem Naturlauf gegenüber. Dieſer bedingt einerſeits von der Stellung der Erde im kosmiſchen Ganzen ab als ein Syſtem von Urſachen die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit, und das große Problem des Verhältniſſes von Naturzuſammenhang und Freiheit in dieſer Wirklichkeit zerlegt ſich für den empiriſchen Forſcher in unzählige Einzelfragen, welche das Verhältniß zwiſchen Thatſachen des Geiſtes und Einwirkungen der Natur betreffen. Andrerſeits aber entſpringen aus den Zwecken dieſes Perſonenreiches Rück - wirkungen auf die Natur, auf die Erde, welche der Menſch in dieſem Sinne als ſein Wohnhaus betrachtet, in dem ſich ein - zurichten er thätig iſt, und auch dieſe Rückwirkungen ſind an die Benutzung des naturgeſetzlichen Zuſammenhanges gebunden. Alle Zwecke liegen dem Menſchen ausſchließlich innerhalb des geiſtigen Vorgangs ſelber, da ja nur in dieſem etwas für ihn da iſt; aber der Zweck ſucht ſeine Mittel in dem Zuſammenhang der Natur. Wie unſcheinbar iſt oft die Veränderung, welche die ſchöpferiſche Macht des Geiſtes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und doch ruht in dieſer allein die Vermittlung, durch welche der ſo geſchaffene Werth auch für Andere da iſt. So ſind die wenigen Blätter, welche, als ein materieller Rückſtand tiefſter Gedanken - arbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung der Erde, in die Hand des Copernikus kamen, der Ausgangspunkt einer Revolution in unſrer Weltanſicht geworden.
An dieſem Punkte kann eingeſehen werden, wie relativ die Abgrenzung dieſer beiden Claſſen von Wiſſenſchaften von einander iſt. Streitigkeiten, wie ſie über die Stellung der allgemeinen Sprachwiſſenſchaft geführt wurden, ſind unfruchtbar. An den beiden Uebergangsſtellen, welche von dem Studium der Natur zu dem des Geiſtigen führen, an den Punkten, an welchen der Naturzuſammenhang auf die Entwicklung des Geiſtigen einwirkt, und an den anderen Punkten, an welchen derſelbe von dem Geiſtigen Einwirkung empfängt oder auch die Durchgangsſtelle für die Einwirkung auf anderes Geiſtige bildet, vermiſchen ſich23Auf ſie gegründete Beſtimmung des Verhältniſſes.überall Erkenntniſſe beider Claſſen. Erkenntniſſe der Naturwiſſen - ſchaften vermiſchen ſich mit denen der Geiſteswiſſenſchaften. Und zwar verwebt ſich in dieſem Zuſammenhang, gemäß der zwie - fachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geiſtige Leben bedingt, die Erkenntniß der bildenden Einwirkung der Natur häufig mit der Feſtſtellung des Einfluſſes, welchen dieſelbe als Material des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntniß der Natur - geſetze der Tonbildung ein wichtiger Theil der Grammatik und der muſikaliſchen Theorie abgeleitet, und wiederum iſt das Genie der Sprache oder Muſik an dieſe Naturgeſetze gebunden, und das Studium ſeiner Leiſtungen iſt daher bedingt durch das Verſtändniß dieſer Abhängigkeit.
Es kann an dieſem Punkte weiter eingeſehen werden, daß die Erkenntniß der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von der Naturwiſſenſchaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang die Grundlage für das Studium der geiſtigen Thatſachen bilden. Wie die Entwicklung des einzelnen Menſchen, ſo iſt auch die Aus - breitung des Menſchengeſchlechts über das Erdganze und die Ge - ſtaltung ſeiner Schickſale in der Geſchichte durch den ganzen kosmiſchen Zuſammenhang bedingt. Kriege bilden z. B. einen Hauptbeſtandtheil aller Geſchichte, da dieſe als politiſche es mit dem Willen von Staaten zu thun hat, dieſer aber in Waffen auftritt und ſich durch dieſelben durchſetzt. Die Theorie des Kriegs hängt aber in erſter Linie von der Erkenntniß des Phyſiſchen ab, welches für die ſtreitenden Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln der phyſiſchen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feinde unſeren Willen aufzuzwingen. Dies ſchließt in ſich, daß der Gegner auf der Linie bis zur Wehrloſigkeit, welche das theoretiſche Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zu dem Punkte hingezwungen werde, an welchem ſeine Lage nach - theiliger iſt als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur mit einer nachtheiligeren vertauſcht werden kann. In dieſer großen Rechnung ſind alſo die für die Wiſſenſchaft wichtigſten, ſie zumeiſt beſchäftigenden Zahlen die phyſiſchen Bedingungen und Mittel, während über die pſychiſchen Faktoren ſehr wenig zu ſagen iſt.
24Erſtes einleitendes Buch.Und zwar haben die Wiſſenſchaften des Menſchen, der Geſellſchaft und der Geſchichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage, ſofern die pſycho-phyſiſchen Einheiten ſelber nur mit Hilfe der Biologie ſtudirt werden können, alsdann aber, ſofern das Mittel, in dem ihre Entwicklung und ihre Zweckthätigkeit ſtattfindet, auf deſſen Beherr - ſchung alſo dieſe letztere ſich zu einem großen Theile bezieht, die Natur iſt. In der erſteren Rückſicht bilden die Wiſſenſchaften des Organis - mus ihre Grundlage, in der zweiten vorwiegend die der anorganiſchen Natur. Und zwar beſteht der ſo aufzuklärende Zuſammenhang ein - mal darin, daß dieſe Naturbedingungen Entwicklung und Vertheilung des geiſtigen Lebens auf der Erdoberfläche beſtimmen, alsdann darin, daß die Zweckthätigkeit des Menſchen an die Geſetze der Natur gebunden und ſo durch ihre Erkenntniß und Benutzung bedingt iſt. Daher zeigt das erſtere Verhältniß nur Abhängigkeit des Menſchen von der Natur, das zweite aber enthält dieſe Abhängig - keit nur als die andere Seite der Geſchichte ſeiner zunehmenden Herrſchaft über das Erdganze. Derjenige Theil des erſteren Verhält - niſſes, welcher die Beziehungen des Menſchen zu der umgebenden Natur einſchließt, iſt von Ritter einer vergleichenden Methode unterworfen worden. Glänzende Blicke, wie beſonders ſeine vergleichende Schätzung der Erdtheile nach der Gliederung ihrer Umriſſe, ließen eine in den Raumverhältniſſen des Erdganzen feſtgelegte Prädeſtination der Univerſalgeſchichte ahnen. Die folgenden Arbeiten haben dieſe bei Ritter als Teleologie der Univerſalgeſchichte gedachte, von einem Buckle in den Dienſt des Naturalismus gezogene Anſchauung doch nicht beſtätigt: an die Stelle der Vorſtellung einer gleichmäßigen Abhängigkeit des Menſchen von den Naturbedingungen tritt die vorſichtigere Vorſtellung, daß das Ringen der geiſtig-ſittlichen Kräfte mit den Bedingungen der todten Räumlichkeit bei den ge - ſchichtlichen Völkern, im Gegenſatz zu den geſchichtsloſen, das Verhältniß von Abhängigkeit beſtändig vermindert hat. Und ſo hat auch hier eine ſelbſtändige, die Naturbedingungen zur Er - klärung benutzende Wiſſenſchaft der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit ſich behauptet. Das andere Verhältniß aber zeigt mit der Abhängigkeit, welche durch die Anpaſſung an die Bedingungen25Abhängigkeit und Herrſchaft des Menſchen.gegeben iſt, die Bewältigung der Räumlichkeit durch den wiſſen - ſchaftlichen Gedanken und die Technik ſo verbunden, daß die Menſchheit in ihrer Geſchichte eben vermittelſt der Unterordnung die Herrſchaft erringt. Natura enim non nisi parendo vincitur1)Baconis aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis. Aph. 3. .
Das Problem des Verhältniſſes der Geiſteswiſſenſchaften zu der Naturerkenntniß kann jedoch erſt als gelöſt gelten, wenn jener Gegenſatz, von dem wir ausgingen, zwiſchen dem trans - ſcendentalen Standpunkt, für welchen die Natur unter den Be - dingungen des Bewußtſeins ſteht, und dem objektiv empiriſchen Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geiſtigen unter den Bedingungen des Naturganzen ſteht, aufgelöſt ſein wird. Dieſe Aufgabe bildet eine Seite des Erkenntnißproblems. Iſolirt man dies Problem für die Geiſteswiſſenſchaften, ſo erſcheint eine für Alle überzeugende Auflöſung nicht unmöglich. Die Bedingungen derſelben würden ſein: Nachweis der objektiven Realität der inneren Erfahrung; Bewahrheitung der Exiſtenz einer Außenwelt; alsdann ſind in dieſer Außenwelt geiſtige Thatſachen und geiſtige Weſen kraft eines Vorgangs von Uebertragung unſeres Inneren in dieſelbe da; wie das geblendete Auge, das in die Sonne geblickt hat, ihr Bild in den verſchiedenſten Farben, an den verſchiedenſten Stellen im Raume wiederholt: ſo vervielfältigt unſre Auffaſſung das Bild unſres Innenlebens und verſetzt es in mannigfachen Abwandlungen an verſchiedene Stellen des uns um - gebenden Naturganzen; dieſer Vorgang läßt ſich aber logiſch als ein Analogieſchluß von dieſem originaliter uns allein un - mittelbar gegebenen Innenleben, vermittelſt der Vorſtellungen von den mit ihm verketteten Aeußerungen, auf ein verwandten Er - ſcheinungen der Außenwelt entſprechend Verwandtes, zu Grunde Liegendes darſtellen und rechtfertigen. Was immer die Natur an ſich ſelber ſein mag, das Studium der Urſachen des Geiſtigen kann ſich daran genügen laſſen, daß jedenfalls ihre Erſcheinungen als Zeichen des Wirklichen, daß die Gleichförmigkeiten in ihrem Zu - ſammenſein und ihrer Folge als ein Zeichen ſolcher Gleichförmig -26Erſtes einleitendes Buch.keiten in dem Wirklichen aufgefaßt und benutzt werden können. Tritt man aber in die Welt des Geiſtes und unterſucht die Natur, ſofern ſie Inhalt des Geiſtes, ſofern ſie als Zweck oder Mittel in den Willen eingewoben iſt: für den Geiſt iſt ſie eben, was ſie in ihm iſt, und was ſie an ſich ſein mag, iſt hier ganz gleich - gültig. Genug daß er ſo, wie ſie ihm gegeben iſt, auf ihre Geſetz - mäßigkeit in ſeinen Handlungen rechnen und den ſchönen Schein ihres Daſeins genießen kann.
Es muß verſucht werden, dem, welcher in das vorliegende Werk über die Geiſteswiſſenſchaften eintritt, einen vorläufigen Ueberblick über den Umfang dieſer anderen Hälfte des globus intellectualis zu geben, und vermittelſt deſſelben die Aufgabe des Werkes zu beſtimmen.
Die Wiſſenſchaften des Geiſtes ſind noch nicht als ein Ganzes conſtituirt; noch vermögen ſie nicht einen Zuſammenhang aufzu - ſtellen, in welchem die einzelnen Wahrheiten nach ihren Abhängig - keitsverhältniſſen von anderen Wahrheiten und von der Erfahrung geordnet wären.
Dieſe Wiſſenſchaften ſind in der Praxis des Lebens ſelber er - wachſen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und die Syſtematik der dieſer Berufsbildung dienenden Fakultäten iſt daher die naturgewachſene Form des Zuſammenhangs derſelben. Wurden doch ihre erſten Begriffe und Regeln zumeiſt in der Aus - übung der geſellſchaftlichen Funktionen ſelber gefunden. Ihering hat nachgewieſen, wie juriſtiſches Denken durch eine im Rechts - leben ſelber ſich vollbringende bewußte geiſtige Arbeit die Grund - begriffe des römiſchen Rechts geſchaffen hat. So zeigt auch die Analyſe der älteren griechiſchen Verfaſſungen in ihnen die Nieder - ſchläge einer bewundernswürdigen Kraft bewußten politiſchen27Die Encyklopädien der Berufswiſſenſchaften.Denkens auf Grund klarer Begriffe und Sätze. Der Grundgedanke, welchem gemäß die Freiheit des Individuums in ſeinem Antheil an der politiſchen Gewalt gelegen iſt, dieſer Antheil aber gemäß der Leiſtung des Individuums für das Ganze durch die ſtaatliche Ordnung geregelt wird, iſt zuerſt für die politiſche Kunſt ſelber leitend geweſen, danach von den großen Theoretikern der ſokratiſchen Schule nur in wiſſenſchaftlichem Zuſammenhang entwickelt wor - den. Der Fortgang zu umfaſſenden wiſſenſchaftlichen Theorien lehnte ſich dann vorwiegend an das Bedürfniß einer Berufsbildung der leitenden Stände an. So entſprangen ſchon in Griechenland aus den Aufgaben eines höheren politiſchen Unterrichts in dem Zeit - alter der Sophiſten Rhetorik und Politik, und die Geſchichte der meiſten Geiſteswiſſenſchaften bei den neueren Völkern zeigt den herrſchenden Einfluß deſſelben Grundverhältniſſes. Die Literatur der Römer über ihr Gemeinweſen empfing ihre älteſte Gliederung dadurch, daß ſie in Inſtruktionen für die Prieſterthümer und die einzelnen Magiſtrate ſich entwickelte1)Mommſen, röm. Staatsrecht I, 3 ff.. Daher iſt ſchließlich die Syſtematik derjenigen Wiſſenſchaften des Geiſtes, welche die Grund - lage der Berufsbildung der leitenden Organe der Geſellſchaft ent - halten, ſowie die Darſtellung dieſer Syſtematik in Encyklopädien aus dem Bedürfniß der Ueberſicht über das für ſolche Vorbildung Erforderliche hervorgegangen, und die natürlichſte Form dieſer Encyklopädien wird, wie Schleiermacher meiſterhaft an der Theo - logie gezeigt hat, immer die ſein, welche mit Bewußtſein von dieſem Zwecke aus den Zuſammenhang gliedert. Unter dieſen ein - ſchränkenden Bedingungen wird der in die Geiſteswiſſenſchaften Eintretende in ſolchen encyklopädiſchen Werken einen Ueberblick über einzelne hervorragende Gruppen dieſer Wiſſenſchaften finden2)Für den Zweck einer ſo bedingten Ueberſicht über einzelne Gebiete der Geiſteswiſſenſchaften kann auf folgende Encyklopädien verwieſen werden: Mohl, Encyklopädie der Staatswiſſenſchaften, Tübingen 1859. Zweite um - gearbeitete Aufl. 1872 (dritte 1881 Titelaufl.). Vergl. dazu Ueberſicht und Beurtheilung anderer Encyklopädien in ſeiner Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaften Bd. I, 111 — 164. Warnkönig, juriſtiſche Encyklopädie oder organiſche Darſtellung der Rechtswiſſenſchaft. 1853. Schleiermacher,.
28Erſtes einleitendes Buch.Verſuche, ſolche Leiſtungen überſchreitend, die Geſammt - gliederung der Wiſſenſchaften zu entdecken, welche die geſchichtlich - geſellſchaftliche Wirklichkeit zum Gegenſtande haben, ſind von der Philoſophie ausgegangen. Sofern ſie von metaphyſiſchen Prinzipien her dieſen Zuſammenhang abzuleiten verſuchten, ſind ſie dem Schickſal aller Metaphyſik anheimgefallen. Einer beſſeren Methode bediente ſich ſchon Bacon, indem er mit dem Problem einer Er - kenntniß der Wirklichkeit durch Erfahrung die vorhandenen Wiſſen - ſchaften des Geiſtes in Beziehung ſetzte und ihre Leiſtungen wie ihre Mängel an der Aufgabe maß. Comenius beabſichtigte in ſeiner Panſophia aus dem Verhältniß der inneren Abhängigkeit der Wahrheiten von einander die Stufenfolge, in welcher ſie im Unter - richt auftreten müſſen, abzuleiten, und wie er ſo im Gegenſatz gegen den falſchen Begriff der formalen Bildung den Grundgedanken eines künftigen Unterrichtsweſens (das leider auch heute noch Zu - kunft iſt) entdeckte, hat er durch das Prinzip der Abhängigkeit der Wahrheiten von einander eine angemeſſene Gliederung der Wiſſen - ſchaften vorbereitet. Indem Comte die Beziehung zwiſchen dieſem logiſchen Verhältniß von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zu einander ſtehen, und dem geſchichtlichen Verhältniß der Abfolge, in welchem ſie auftreten, der Unterſuchung unterwarf: ſchuf er die Grundlage für eine wahre Philoſophie der Wiſſenſchaften. Die Con - ſtitution der Wiſſenſchaften der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklich - keit betrachtete er als das Ziel ſeiner großen Arbeit und in der That brachte ſein Werk eine ſtarke Bewegung in dieſer Richtung hervor; Mill, Littré, Herbert Spencer haben das Problem des Zuſammen - hangs der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften aufgenommen1)Eine Ueberſicht der Probleme der Geiſteswiſſenſchaften nach dem inneren Zuſammenhang, in welchem ſie methodiſch zu einander ſtehen, und in welchem folgerecht ihre Auflöſung herbeigeführt werden kann, findet man entworfen in: Auguste Comte, Cours de philosophie positive 1830 — 1842, vom vierten bis ſechſten Bande. Seine ſpäteren Werke, welche einen veränderten Standpunkt enthalten, können einem ſolchen Zweck nicht dienen.. 2)kurze Darſtellung des theologiſchen Studiums. Zuerſt Berlin 1810. Zweite umgearbeitete Ausg. 1830. Böckh, Encyklopädie und Methodologie der philo - logiſchen Wiſſenſchaften, herausgegeben von Bratuſchek. 1877.29Gliederungen nach dem Verhältniß der Abhängigkeit der Wahrheiten.Dieſe Arbeiten gewähren dem in die Geiſteswiſſenſchaften Eintre - tenden eine ganz andere Art von Ueberblick als die Syſtematik der Berufsſtudien. Sie ſtellen die Geiſteswiſſenſchaften in den Zuſammenhang der Erkenntniß, ſie faſſen das Problem der - ſelben in ſeinem ganzen Umfang, und nehmen die Löſung in einer die ganze geſchichtlich - geſellſchaftliche Wirklichkeit umfaſſen - den wiſſenſchaftlichen Conſtruktion in Angriff. Jedoch, erfüllt von der unter den Engländern und Franzoſen heute herrſchenden ver - wegenen wiſſenſchaftlichen Bauluſt, ohne das intime Gefühl der geſchichtlichen Wirklichkeit, welches nur aus einer vieljährigen Be - ſchäftigung mit derſelben in Einzelforſchung ſich bildet, haben dieſe Poſitiviſten gerade denjenigen Ausgangspunkt für ihre Arbeiten nicht gefunden, welcher ihrem Prinzip der Verknüpfung der Einzel - wiſſenſchaften entſprochen hätte. Sie hätten ihre Arbeit damit be - ginnen müſſen, die Architektonik des ungeheuren, durch Anfügung beſtändig erweiterten, von innen immer wieder veränderten, durch Jahrtauſende allmälig entſtandenen Gebäudes der poſitiven Geiſtes - wiſſenſchaften zu ergründen, durch Vertiefung in den Bauplan ſich verſtändlich zu machen, und ſo der Vielſeitigkeit, in welcher dieſe Wiſſenſchaften ſich thatſächlich entwickelt haben, mit geſundem Blick für die Vernunft der Geſchichte gerecht zu werden. Sie haben1)Der bedeutendſte Gegenentwurf des Syſtems der Wiſſenſchaften iſt von Herbert Spencer. Dem erſten Angriff auf Comte in Spencer, Essays, first series, 1858 folgte die genauere Darlegung in: the classification of the sciences, 1864 (vergl. die Vertheidigung Comte’s in Littré, Auguste Comte et la philosophie positive). Die ausgeführte Darſtellung der Gliederung der Geiſteswiſſenſchaften giebt nunmehr ſein Syſtem der ſynthetiſchen Phi - loſophie, von welchem die Prinzipien der Pſychologie zuerſt 1855 erſchienen, die der Sociologie ſeit 1876 hervortreten (mit Beziehung auf das Werk: De - scriptive Sociology), der abſchließende Theil, die Prinzipien der Ethik (von welchem er ſelber erklärt, daß er ihn „ für denjenigen halte, für welchen alle vorhergehenden nur die Grundlage bilden ſollen “) in einem erſten Bande 1879 die „ Thatſachen der Ethik “behandelt. Neben dieſem Verſuch einer Conſtitution der Theorie der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit iſt noch der von John Stuart Mill bemerkenswerth; er iſt enthalten im ſechſten Buch der Logik, das von der Logik der Geiſteswiſſenſchaften oder der moraliſchen Wiſſenſchaften handelt, und in der Schrift: Mill, Auguste Comte and Positivism. 1865.30Erſtes einleitendes Buch.einen Nothbau errichtet, der nicht haltbarer iſt, als die verwegenen Speculationen eines Schelling und Oken über die Natur. Und ſo iſt es gekommen, daß die aus einem metaphyſiſchen Prinzip ent - wickelten Geiſtesphiloſophien Deutſchlands, von Hegel, Schleiermacher und dem ſpäteren Schelling, den Erwerb der poſitiven Geiſtes - wiſſenſchaften mit tieferem Blick verwerthen, als die Arbeiten dieſer poſitiven Philoſophen es thun.
Andere Verſuche einer umfaſſenden Gliederung auf dem Gebiet der Geiſteswiſſenſchaften ſind in Deutſchland von der Ver - tiefung in die Aufgaben der Staatswiſſenſchaften ausgegangen, wodurch freilich eine Einſeitigkeit des Geſichtspunktes bedingt iſt1)Den Ausgangspunkt bildeten die Discuſſionen über den Begriff der Geſellſchaft und die Aufgabe der Geſellſchaftswiſſenſchaften, in denen eine Ergänzung der Staatswiſſenſchaften geſucht wurde. Den Anſtoß gaben L. Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich, zweite Aufl. 1848, und R. Mohl, Tüb. Zeitſchr. für Staatsw. 1851. Fortgeführt in ſeiner Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaften Bd. I, 1855 S. 67 ff. : Die Staatswiſſenſchaften und die Geſellſchafts - wiſſenſchaften. Wir heben zwei Verſuche der Gliederung als beſonders bemerkenswerth hervor: Stein, Syſtem der Staatswiſſenſchaft, 1852, und Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers, 1875 ff..
Die Geiſteswiſſenſchaften bilden nicht ein Ganzes von einer logiſchen Conſtitution, welche der Gliederung des Naturerkennens analog wäre; ihr Zuſammenhang hat ſich anders entwickelt und muß wie er geſchichtlich gewachſen iſt nunmehr betrachtet werden.
Das Material dieſer Wiſſenſchaften bildet die geſchichtlich-ge - ſellſchaftliche Wirklichkeit, ſo weit ſie als geſchichtliche Kunde im Bewußtſein der Menſchheit ſich erhalten hat, als geſellſchaftliche, über den gegenwärtigen Zuſtand ſich erſtreckende Kunde der Wiſſenſchaft zugänglich gemacht worden iſt. So unermeßlich dieſes Material iſt, ſo iſt doch ſeine Unvollkommenheit augen -31Natur des Materials der Geiſteswiſſenſchaften.ſcheinlich. Intereſſen, welche dem Bedürfniß der Wiſſenſchaft keineswegs entſprechen, Bedingungen der Ueberlieferung, welche in keiner Beziehung zu dieſem Bedürfniß ſtehen, haben den Beſtand unſerer geſchichtlichen Kunde beſtimmt. Von der Zeit ab, in welcher, um das Lagerfeuer verſammelt, Stammes - und Kriegs - genoſſen von den Thaten ihrer Helden und dem göttlichen Ur - ſprung ihres Stammes erzählten, hat das ſtarke Intereſſe der Mitlebenden aus dem dunklen Fluſſe des gewöhnlichen menſchlichen Lebens Thatſachen emporgehoben und bewahrt. Das Intereſſe einer ſpäteren Zeit und geſchichtliche Fügung haben darüber ent - ſchieden, was von dieſen Thatſachen auf uns gelangen ſollte. Geſchichtſchreibung, als eine freie Kunſt der Darſtellung, faßt einen einzelnen Theil dieſes unermeßlichen Ganzen zuſammen, der des Intereſſes unter irgend einem Geſichtspunkt werth erſcheint. Dazu kommt: die heutige Geſellſchaft lebt ſozuſagen auf den Schichten und Trümmern der Vergangenheit; die Niederſchläge der Kulturarbeit in Sprache und Aberglaube, in Sitte und Recht, wie andererſeits in materiellen Veränderungen, die über Auf - zeichnungen hinausgehen, enthalten eine Ueberlieferung, welche in unſchätzbarer Weiſe die Aufzeichnungen unterſtützt. Auch über ihre Erhaltung hat doch die Hand der geſchichtlichen Fügung entſchieden. Nur an zwei Punkten beſteht ein den Anforderungen der Wiſſen - ſchaft entſprechender Zuſtand des Materials. Der Verlauf der geiſtigen Bewegungen in dem neueren Europa iſt in den Schriften, welche ſeine Beſtandtheile ſind, mit einer zureichenden Vollſtändig - keit erhalten. Und die Arbeiten der Statiſtik geſtatten für den engen Zeitraum und den engen Bezirk von Ländern, innerhalb deren ſie zur Anwendung gekommen ſind, einen zahlenmäßig feſt - geſtellten Einblick in die von ihnen umfaßten Thatſachen der Ge - ſellſchaft: ſie ermöglichen, der Kunde des gegenwärtigen Zuſtandes der Geſellſchaft eine exakte Grundlage zu geben.
Die Unanſchaulichkeit in dem Zuſammenhang dieſes uner - meßlichen Materials kommt zu dieſer Lückenhaftigkeit, ja hat nicht wenig dazu beigetragen, die letztere zu ſteigern. Als der menſch - liche Geiſt die Wirklichkeit ſeinen Gedanken zu unterwerfen begann,32Erſtes einleitendes Buch.wandte er ſich zuerſt, von Staunen angezogen, dem Himmel ent - gegen; dieſe Wölbung über uns, die auf dem Rund des Horizontes zu ruhen ſcheint, beſchäftigte ihn: ein in ſich verbundenes räum - liches, den Menſchen ſtets und überall umgebendes Ganze; ſo war die Orientirung im Weltgebäude der Ausgangspunkt wiſſen - ſchaftlicher Forſchung, in den öſtlichen Ländern wie in Europa. Der Kosmos der geiſtigen Thatſachen iſt nicht dem Auge in ſeiner Unermeßlichkeit ſichtbar, ſondern nur dem ſammelnden Geiſte des Forſchers; in irgend einem einzelnen Theile tritt er hervor, wo ein Gelehrter Thatſachen verbindet, und prüft und feſtſtellt: im Inneren des Gemüthes baut er ſich dann auf. Eine kritiſche Sichtung der Ueberlieferungen, Feſtſtellung der Thatſachen, Samm - lung derſelben bildet daher eine erſte umfaſſende Arbeit der Geiſtes - wiſſenſchaften. Nachdem die Philologie eine muſtergiltige Technik an dem ſchwierigſten und ſchönſten Stoff der Geſchichte, dem claſ - ſiſchen Alterthum, herausgebildet hat, wird dieſe Arbeit theils in unzähligen Einzelforſchungen geleiſtet, theils bildet ſie einen Beſtandtheil von weiter reichenden Unterſuchungen. Der Zu - ſammenhang dieſer reinen Deſcription der geſchichtlich-geſellſchaft - lichen Wirklichkeit, wie er auf dem Grunde der Phyſik der Erde, angelehnt an die Geographie, die Vertheilung des Geiſtigen und ſeiner Unterſchiede auf dem Erdganzen in Zeit und Raum zu beſchreiben zum Ziel hat, kann ſeine Anſchaulichkeit immer nur durch Zurückführung auf klare räumliche Maße, Zahlenverhältniſſe, Zeitbeſtimmungen, durch die Hilfsmittel graphiſcher Darſtellung empfangen. Bloße Sammlung und Sichtung des Materials geht hier in eine gedankenmäßige Bearbeitung und Gliederung deſſelben allmälig über.
Die Geiſteswiſſenſchaften, wie ſie ſind und wirken, kraft der Vernunft der Sache, die in ihrer Geſchichte thätig war (nicht wie die kühnen Architekten, die ſie neu bauen wollen, wünſchen), ver -33Drei Claſſen von Ausſagen in den Geiſteswiſſenſchaften.knüpfen in ſich drei unterſchiedene Claſſen von Ausſagen. Die einen von ihnen ſprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahr - nehmung gegeben iſt; ſie enthalten den hiſtoriſchen Beſtandtheil der Erkenntniß. Die anderen entwickeln das gleichförmige Ver - halten von Theilinhalten dieſer Wirklichkeit, welche durch Abſtrak - tion ausgeſondert ſind: ſie bilden den theoretiſchen Beſtandtheil derſelben. Die letzten drücken Werthurtheile aus und ſchreiben Regeln vor: in ihnen iſt der praktiſche Beſtandtheil der Geiſtes - wiſſenſchaften befaßt. Thatſachen, Theoreme, Werthurtheile und Regeln: aus dieſen drei Claſſen von Sätzen beſtehen die Geiſtes - wiſſenſchaften. Und die Beziehung zwiſchen der hiſtoriſchen Richtung in der Auffaſſung, der abſtrakt-theoretiſchen und der praktiſchen geht als ein gemeinſames Grundverhältniß durch die Geiſteswiſſen - ſchaften. Die Auffaſſung des Singularen, Individualen bildet in ihnen (da ſie die beſtändige Widerlegung des Satzes von Spinoza: omnis determinatio est negatio ſind) ſo gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abſtrakter Gleichförmigkeiten. Von der erſten Wurzel im Bewußtſein bis zur höchſten Spitze iſt der Zuſammenhang der Werthurtheile und Imperative unabhängig von dem der zwei erſten Claſſen. Die Beziehung dieſer drei Aufgaben zu einander im denkenden Bewußtſein kann erſt im Verlauf der erkenntniß - theoretiſchen Analyſis (umfaſſender: der Selbſtbeſinnung) ent - wickelt werden. Jedenfalls bleiben Ausſagen über Wirklichkeit von Werthurtheilen und Imperativen auch in der Wurzel geſondert: ſo entſtehen zwei Arten von Sätzen, die primär verſchieden ſind. Und zugleich muß anerkannt werden, daß dieſe Verſchiedenheit innerhalb der Geiſteswiſſenſchaften einen doppelten Zuſammenhang in denſelben zur Folge hat. Wie ſie gewachſen ſind enthalten die Geiſteswiſſen - ſchaften neben der Erkenntniß deſſen was iſt das Bewußtſein des Zu - ſammenhangs der Werthurtheile und Imperative, als in welchem Werthe, Ideale, Regeln, die Richtung auf Geſtaltung der Zukunft verbunden ſind. Ein politiſches Urtheil, das eine Inſtitution verwirft, iſt nicht wahr oder falſch, ſondern richtig oder un - richtig, inſofern ſeine Richtung, ſein Ziel abgeſchätzt wird; wahr oder falſch kann dagegen ein politiſches Urtheil ſein, welchesDilthey, Einleitung. 334Erſtes einleitendes Buch.die Beziehungen dieſer Inſtitution zu anderen Inſtitutionen erörtert. Erſt indem dieſe Einſicht für die Theorie von Satz, Ausſage, Urtheil leitend wird, entſteht eine erkenntniß-theoretiſche Grundlage, die den Thatbeſtand der Geiſteswiſſenſchaften nicht in die Enge einer Erkenntniß von Gleichförmigkeiten nach Analogie der Naturwiſſen - ſchaft zuſammendrängt und ſolchergeſtalt verſtümmelt, ſondern wie ſie gewachſen ſind, begreift und begründet.
Die Zwecke der Geiſteswiſſenſchaften, das Singulare, In - dividuale der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit zu erfaſſen, die in ſeiner Geſtaltung wirkſamen Gleichförmigkeiten zu erkennen, Ziele und Regeln ſeiner Fortgeſtaltung feſtzuſtellen, können nur vermittelſt der Kunſtgriffe des Denkens, vermittelſt der Analyſis und der Abſtraktion erreicht werden. Der abſtrakte Ausdruck, in welchem von beſtimmten Seiten des Thatbeſtandes abgeſehen wird, andere aber entwickelt werden, iſt nicht das ausſchließliche letzte Ziel dieſer Wiſſenſchaften, aber ihr unentbehrliches Hilfsmittel. Wie das abſtrahirende Erkennen nicht die Selbſtändigkeit der anderen Zwecke dieſer Wiſſenſchaften in ſich auflöſen darf: ſo kann weder die geſchichtliche, die theoretiſche Erkenntniß noch die Ent - wicklung der die Geſellſchaft thatſächlich leitenden Regeln dieſes abſtrahirenden Erkennens entrathen. Der Streit zwiſchen der hiſtoriſchen und der abſtrakten Schule entſtand, indem die ab - ſtrakte Schule den erſten, die hiſtoriſche den anderen Fehler be - ging. Jede Einzelwiſſenſchaft entſteht nur durch den Kunſtgriff der Herauslöſung eines Theilinhaltes aus der geſchichtlich-geſell - ſchaftlichen Wirklichkeit. Selbſt die Geſchichte ſieht von den Zügen im Leben der einzelnen Menſchen und der Geſellſchaft, welche in der von ihr darzuſtellenden Epoche denen aller anderen Epochen35Ausſonderung der Einzelwiſſenſchaften.gleich ſind, ab; ihr Blick iſt auf das Unterſcheidende und Singulare gerichtet. Hierüber kann ſich der einzelne Geſchichtſchreiber täuſchen, da aus einer ſolchen Richtung des Blickes ſchon die Auswahl der Züge in ſeinen Quellen entſpringt; aber wer die wirkliche Leiſtung deſſelben mit dem ganzen Thatbeſtand der geſellſchaftlich - geſchichtlichen Wirklichkeit vergleicht, muß es anerkennen. Hieraus ergiebt ſich der wichtige Satz, daß jede einzelne Wiſſenſchaft des Geiſtes nur relativ, in ihrer Beziehung zu den anderen Wiſſen - ſchaften des Geiſtes mit Bewußtſein erfaßt, die geſellſchaftlich - geſchichtliche Wirklichkeit erkennt. Die Gliederung dieſer Wiſſen - ſchaften, ihr geſundes Wachsthum in ihrer Beſonderung iſt ſonach an die Einſicht in die Beziehung jeder ihrer Wahrheiten auf das Ganze der Wirklichkeit, in der ſie enthalten ſind, ſowie an das ſtete Bewußtſein der Abſtraktion, vermöge deren dieſe Wahrheiten da ſind, und des begränzten Erkenntnißwerthes, der ihnen gemäß ihrem abſtrakten Charakter zukommt, gebunden.
Nun kann vorgeſtellt werden, welche die fundamentalen Zer - legungen ſind, vermöge deren die einzelnen Wiſſenſchaften des Geiſtes ihren ungeheuren Gegenſtand zu bewältigen verſucht haben.
Die Analyſis findet in den Lebenseinheiten, den pſycho - phyſiſchen Individuis die Elemente, aus welchen Geſellſchaft und Geſchichte ſich aufbauen, und das Studium dieſer Lebenseinheiten bildet die am meiſten fundamentale Gruppe von Wiſſenſchaften des Geiſtes. Den Naturwiſſenſchaften iſt der Sinnenſchein von Körpern verſchiedener Größe, die ſich im Raume bewegen, ſich ausdehnen und erweitern, zuſammenziehen und verringern, in welchen Veränderungen der Beſchaffenheiten vorgehen, als Ausgangs - punkt ihrer Unterſuchungen gegeben. Sie haben ſich nur langſam3*36Erſtes einleitendes Buch.richtigeren Anſichten über die Conſtitution der Materie genähert. In dieſem Punkte beſteht ein viel günſtigeres Verhältniß zwiſchen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit und der Intelligenz. Dieſer iſt in ihr ſelber die Einheit unmittelbar gegeben, welche das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Geſellſchaft iſt, während daſſelbe in den Naturwiſſenſchaften erſchloſſen werden muß. Die Subjecte, an welche das Denken die Prädicirungen, durch die alles Erkennen ſtattfindet, nach ſeinem unweigerlichen Geſetz heftet, ſind in den Naturwiſſenſchaften Elemente, welche durch eine Zertheilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerſchlagen, Zerſplittern der Dinge nur hypothetiſch gewonnen ſind; in den Geiſteswiſſenſchaften ſind es reale, in der inneren Er - fahrung als Thatſachen gegebene Einheiten. Die Naturwiſſenſchaft baut die Materie aus kleinen, keiner ſelbſtändigen Exiſtenz mehr fähigen, nur noch als Beſtandtheile der Molecüle denkbaren Elementartheilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar verſchlungenen Ganzen der Geſchichte und der Geſellſchaft aufeinander wirken, ſind Individua, pſycho-phyſiſche Ganze, deren jedes von jedem anderen unterſchieden, deren jedes eine Welt iſt. Iſt doch die Welt nirgend anders als eben in der Vorſtellung eines ſolchen Individuums. Dieſe Unermeßlichkeit eines pſycho-phyſiſchen Ganzen, in der ſchließlich die Unermeßlichkeit der Natur nur enthalten iſt, läßt ſich an der Analyſis der Vorſtellungswelt verdeutlichen, als in welcher aus Empfindungen und Vorſtellungen eine Einzel - anſchauung ſich aufbaut, dann aber, aus welcher Fülle von Ele - menten ſie auch beſtehe, als ein Element in die bewußte Ver - knüpfung und Trennung der Vorſtellungen eintritt. Und dieſe Singularität eines jeden ſolchen einzelnen Individuums, das an irgend einem Punkte des unermeßlichen geiſtigen Kosmos wirkt, läßt ſich, gemäß dem Satz: individuum est ineffabile, in ſeine einzelnen Beſtandtheile verfolgen, wodurch ſie erſt in ihrer ganzen Bedeutung erkannt wird.
Die Theorie dieſer pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten iſt die Anthropologie und Pſychologie. Ihr Material bildet die ganze Geſchichte und Lebenserfahrung und gerade die Schlüſſe aus dem37Die Wiſſenſchaften des Einzelmenſchen.Studium der pſychiſchen Maſſenbewegungen werden in ihr eine ſtets wachſende Bedeutung erlangen. Die Verwerthung des ganzen Reichthums der Thatſachen, welche den Stoff der Geiſteswiſſenſchaften überhaupt bilden, iſt der wahren Pſychologie ſowohl mit den Theorien, von denen demnächſt zu ſprechen ſein wird, als mit der Geſchichte gemeinſam. Alsdann aber iſt feſt - zuhalten: außerhalb der pſychiſchen Einheiten, welche den Gegen - ſtand der Pſychologie bilden, giebt es überhaupt keine geiſtige Thatſache für unſere Erfahrung. Da nun die Pſychologie keines - wegs alle Thatſachen in ſich ſchließt, welche Gegenſtand der Geiſteswiſſenſchaften ſind, oder (was daſſelbe iſt) welche die Erfahrung uns an pſychiſchen Einheiten auffaſſen läßt: ſo ergiebt ſich hieraus, daß die Pſychologie nur einen Theilinhalt deſſen, was in jedem einzelnen Individuum vorgeht, zum Gegenſtande hat. Sie kann daher nur durch eine Abſtraction von der Ge - ſammtwiſſenſchaft der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit aus - geſondert und nur in beſtändiger Beziehung auf ſie entwickelt werden. Wohl iſt die pſycho-phyſiſche Einheit dadurch in ſich ge - ſchloſſen, daß für ſie nur Zweck ſein kann, was in ihrem eigenen Willen geſetzt iſt, nur werthvoll, was in ihrem Gefühl ſo gegeben iſt, nur wirklich und wahr, was als gewiß, als evident vor ihrem Bewußtſein ſich bewährt. Aber dieſes ſo geſchloſſene, im Selbſt - bewußtſein ſeiner Einheit gewiſſe Ganze iſt andrerſeits nur in dem Zuſammenhang der geſellſchaftlichen Wirklichkeit hervorgetreten; ſeine Organiſation zeigt es als von außen Einwirkung empfangend und nach außen zurückwirkend; ſeine ganze Inhaltlichkeit iſt nur eine inmitten der umfaſſenden Inhaltlichkeit des Geiſtes in der Geſchichte und Geſellſchaft vorübergehend auftretende einzelne Ge - ſtalt; ja der höchſte Zug ſeines Weſens iſt es, vermöge deſſen es in etwas lebt, das nicht es ſelber iſt. Der Gegenſtand der Pſycho - logie iſt alſo jederzeit nur das Individuum, welches aus dem lebendigen Zuſammenhang der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk - lichkeit ausgeſondert iſt, und ſie iſt darauf angewieſen, die all - gemeinen Eigenſchaften, welche pſychiſche Einzelweſen in dieſem Zuſammenhang entwickeln, durch einen Vorgang von Abſtraktion38Erſtes einleitendes Buch.feſtzuſtellen. Den Menſchen, wie er, abgeſehen von der Wechſel - wirkung in der Geſellſchaft, gleichſam vor ihr iſt, findet ſie weder in der Erfahrung noch vermag ſie ihn zu erſchließen: wäre das der Fall, ſo würde der Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften ſich un - gleich einfacher geſtaltet haben. Selbſt der ganz enge Umkreis unbeſtimmt ausdrückbarer Grundzüge, welche wir geneigt ſind dem Menſchen an und für ſich zuzuſchreiben, unterliegt dem un - geſchlichteten Streit hart aneinanderſtoßender Hypotheſen.
Hier kann alſo ſofort ein Verfahren abgewieſen werden, welches den Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften unſicher macht, indem es in die Grundmauern Hypotheſen einfügt. Das Verhältniß der Individualeinheiten zur Geſellſchaft iſt von zwei entgegengeſetzten Hypotheſen aus konſtruktiv behandelt worden. Seitdem dem Naturrecht der Sophiſten Plato’s Auffaſſung des Staats als des Menſchen im Großen gegenübertrat, befehden ſich dieſe beiden Theorien, ähnlich wie die atomiſtiſche und die dynamiſche, in Be - zug auf die Conſtruktion der Geſellſchaft. Wol nähern ſie ſich einander in ihrer Fortbildung, aber die Auflöſung des Gegenſatzes iſt erſt möglich, wenn die conſtruktive Methode, die ihn hervor - brachte, verlaſſen wird, wenn die einzelnen Wiſſenſchaften der geſellſchaftlichen Wirklichkeit als Theile eines umfaſſenden analy - tiſchen Verfahrens, die einzelnen Wahrheiten als Ausſagen über Theilinhalte dieſer Wirklichkeit aufgefaßt werden. In dieſem analytiſchen Gang der Unterſuchung kann die Pſychologie nicht, wie durch die erſte dieſer Hypotheſen geſchieht, als Darſtellung der anfänglichen Ausſtattung eines von dem geſchichtlichen Stamme der Geſellſchaft losgelöſten Individuums entwickelt werden. Haben doch z. B. die Grundverhältniſſe des Willens wol den Schauplatz des Wirkens in den Individuen, aber nicht den Erklärungsgrund. Eine ſolche Iſolirung und dann eine mechaniſche Zuſammenſetzung von Individuen, als Methode der Conſtruktion der Geſellſchaft, war der Grundfehler der alten naturrechtlichen Schule. Die Einſeitig - keit dieſer Richtung iſt immer wieder bekämpft worden durch eine entgegengeſetzte Einſeitigkeit. Dieſe hat, gegenüber einer mechaniſchen Zuſammenſetzung der Geſellſchaft, Formeln entworfen, welche die39Anthropologie und Pſychologie.Einheit des geſellſchaftlichen Körpers ausdrücken und ſo der an - deren Hälfte des Thatbeſtandes genugthun ſollten. Eine ſolche Formel iſt die Unterordnung des Verhältniſſes des Einzelnen zum Staat unter das Verhältniß des Theils zum Ganzen, welches vor dem Theil iſt, in der Staatslehre des Ariſtoteles; iſt die Durchführung der Vorſtellung vom Staat als einem wohlgeord - neten thieriſchen Organismus bei den Publiciſten des Mittelalters, welche von bedeutenden gegenwärtigen Schriftſtellern vertheidigt und näher ausgebildet wird; iſt der Begriff einer Volksſeele oder eines Volksgeiſtes. Nur durch den geſchichtlichen Gegenſatz haben dieſe Verſuche, die Einheit der Individuen in der Geſellſchaft einem Begriff unterzuordnen, eine vorübergehende Berechtigung. Der Volksſeele fehlt die Einheit des Selbſtbewußtſeins und Wirkens, welche wir im Begriff der Seele ausdrücken. Der Begriff des Organismus ſubſtituirt für ein gegebenes Problem ein anderes, und zwar wird vielleicht, wie ſchon J. St. Mill bemerkt hat, die Auflöſung des Problems der Geſellſchaft früher und vollſtändiger gelingen als die des Problems des thieriſchen Organismus; ſchon jetzt aber kann die außerordentliche Verſchiedenheit dieſer beiden Arten von Syſtemen, in denen zu einer Geſammtleiſtung einander gegenſeitig bedingende Funktionen zuſammengreifen, gezeigt werden. Das Verhältniß der pſychiſchen Einheiten zur Geſellſchaft darf ſo - nach überhaupt keiner Conſtruktion unterworfen werden. Kate - gorien, wie Einheit und Vielheit, Ganzes und Theil, ſind für eine Conſtruktion nicht benutzbar: ſelbſt wo die Darſtellung ihrer nicht entbehren kann, darf nie vergeſſen werden, daß ſie in der Erfahrung des Individuums von ſich ſelber ihren lebendigen Ur - ſprung gehabt haben, daß ſonach durch keine Rückanwendung mehr an dem Erlebniß, welches das Individuum ſich ſelber in der Geſellſchaft iſt, aufgeklärt werden kann, als die Erfahrung für ſich zu ſagen im Stande iſt.
Der Menſch als eine der Geſchichte und Geſellſchaft vorauf - gehende Thatſache iſt eine Fiction der genetiſchen Erklärung; der - jenige Menſch, den geſunde analytiſche Wiſſenſchaft zum Object hat, iſt das Individuum als ein Beſtandtheil der Geſellſchaft. Das40Erſtes einleitendes Buch.ſchwierige Problem, welches Pſychologie aufzulöſen hat, iſt: analy - tiſche Erkenntniß der allgemeinen Eigenſchaften dieſes Menſchen.
So aufgefaßt, iſt Anthropologie und Pſychologie die Grund - lage aller Erkenntniß des geſchichtlichen Lebens, wie aller Regeln der Leitung und Fortbildung der Geſellſchaft. Sie iſt nicht nur Vertiefung des Menſchen in die Betrachtung ſeiner ſelbſt. Ein Typus der Menſchennatur ſteht immer zwiſchen dem Geſchicht - ſchreiber und ſeinen Quellen, aus denen er Geſtalten zu pul - ſirendem Leben erwecken will; er ſteht nicht minder zwiſchen dem politiſchen Denker und der Wirklichkeit der Geſellſchaft, welcher dieſer Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will. Die Wiſſenſchaft will nur dieſem ſubjektiven Typus Richtigkeit und Fruchtbarkeit geben. Sie will allgemeine Sätze entwickeln, deren Subject dieſe Individualeinheit iſt, deren Prädikate alle Ausſagen über ſie ſind, welche für das Verſtändniß der Geſellſchaft und der Geſchichte fruchtbar werden können. Dieſe Aufgabe der Pſychologie und An - thropologie ſchließt aber in ſich eine Erweiterung ihres Umfangs. Ueber die bisherige Erforſchung der Gleichförmigkeiten des geiſtigen Lebens hinaus muß ſie typiſche Unterſchiede deſſelben erkennen, die Einbildungskraft des Künſtlers, das Naturell des handelnden Menſchen der Beſchreibung und Analyſis unterwerfen und das Studium der Formen des geiſtigen Lebens durch die Deſcription der Realität ſeines Verlaufs, ſowie ſeines Inhaltes ergänzen. Hierdurch wird die Lücke ausgefüllt, welche in den bisherigen Syſtemen der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit zwiſchen der Pſychologie einerſeits, der Aeſthetik, Ethik, den Wiſſenſchaften der politiſchen Körper ſowie der Geſchichtswiſſenſchaft andrerſeits exiſtirt: ein Platz, der bisher nur von den ungenauen Generali - ſationen der Lebenserfahrung, den Schöpfungen der Dichter, Darſtellungen der Weltmänner von Charakteren und Schickſalen, unbeſtimmten allgemeinen Wahrheiten, welche der Geſchichtſchreiber in ſeine Erzählung verwebt, eingenommen war.
Die Aufgaben einer ſolchen grundlegenden Wiſſenſchaft kann die Pſychologie nur löſen, indem ſie ſich in den Grenzen einer deſcriptiven Wiſſenſchaft hält, welche Thatſachen und Gleichförmig -41Die Biographie.keiten an Thatſachen feſtſtellt, dagegen die erklärende Pſychologie, welche den ganzen Zuſammenhang des geiſtigen Lebens durch gewiſſe Annahmen ableitbar machen will, von ſich reinlich unter - ſcheidet. Nur durch dieſes Verfahren kann für die letztere ein ge - naues, unbefangen feſtgeſtelltes Material gewonnen werden, welches eine Verification der pſychologiſchen Hypotheſen geſtattet. Vor Allem aber: nur ſo können endlich die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes eine Grundlegung erhalten, die ſelber feſt iſt, während jetzt auch die beſten Darſtellungen der Pſychologie Hypotheſen auf Hypotheſen bauen.
Wir ziehen das Ergebniß für den Zuſammenhang dieſer Darlegung. Der einfachſte Befund, welchen die Analyſis der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag, liegt in der Pſychologie vor; ſie iſt demnach die erſte und elementarſte unter den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes; dem entſprechend bilden ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaues. Aber ihre Wahrheiten enthalten nur einen aus dieſer Wirklichkeit ausgelöſten Theilinhalt und haben daher die Beziehung auf dieſe zur Voraus - ſetzung. Demnach kann nur vermittelſt einer erkenntniß-theoretiſchen Grundlegung die Beziehung der pſychologiſchen Wiſſenſchaft zu den anderen Wiſſenſchaften des Geiſtes und zu der Wirklichkeit ſelber, deren Theilinhalte ſie ſind, aufgeklärt werden. Für die Pſycho - logie ſelber aber ergiebt ſich aus ihrer Stellung im Zuſammen - hang der Geiſteswiſſenſchaften, daß ſie als deſcriptive Wiſſenſchaft (ein in der Grundlegung näher zu entwickelnder Begriff) ſich unterſcheiden muß von der erklärenden Wiſſenſchaft, welche, ihrer Natur nach hypothetiſch, einfachen Annahmen die Thatſachen des geiſtigen Lebens zu unterwerfen unternimmt.
Die Darſtellung der einzelnen pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit iſt die Biographie. Das Gedächtniß der Menſchheit hat ſehr viele Individualexiſtenzen des Intereſſes und der Aufbewahrung würdig befunden. Carlyle ſagt einmal von der Geſchichte: „ weiſes Erinnern und weiſes Vergeſſen, darin liegt Alles “. Das Singulare des Menſchendaſeins ergreift eben, nach der Gewalt, mit der das Individuum die Anſchauung und die Liebe anderer Individuen42Erſtes einleitendes Buch.zu ſich hinreißt, ſtärker als irgend ein anderes Object oder irgend eine Generaliſation. Die Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft entſpricht der Stellung der An - thropologie innerhalb der theoretiſchen Wiſſenſchaften der geſchichtlich - geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortſchritt der Anthropologie und die wachſende Erkenntniß ihrer grundlegenden Stellung auch die Einſicht vermitteln, daß die Erfaſſung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaſeins, ſeine Naturbeſchreibung in ſeinem geſchichtlichen milieu, ein Höchſtes von Geſchichtſchreibung iſt, gleichwerthig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geſchichtlichen Darſtellung, die aus breiterem Stoff geſtaltet. Der Wille eines Menſchen, in ſeinem Verlauf und ſeinem Schickſal, wird hier in ſeiner Würde als Selbſtzweck erfaßt, und der Biograph ſoll den Menſchen sub specie aeterni erblicken, wie er ſelbſt ſich in Momenten fühlt, in welchen zwiſchen ihm und der Gottheit Alles Hülle, Gewand und Mittel iſt und er ſich dem Sternen - himmel ſo nahe fühlt, als irgend einem Theil der Erde. Die Biographie ſtellt ſo die fundamentale geſchichtliche Thatſache rein, ganz, in ihrer Wirklichkeit dar. Und nur der Hiſtoriker, der ſo - zuſagen von dieſen Lebenseinheiten aus die Geſchichte aufbaut, der durch den Begriff von Typus und Repräſentation ſich der Auf - faſſung von Ständen, von geſellſchaftlichen Verbänden über - haupt, von Zeitaltern zu nähern ſucht, der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinander kettet, wird die Wirklichkeit eines geſchichtlichen Ganzen erfaſſen, im Gegenſatz zu den todten Abſtraktionen, die zumeiſt aus den Archiven entnommen werden.
Iſt die Biographie ein wichtiges Hilfsmittel für die weitere Entwicklung einer wahren Realpſychologie, ſo hat ſie andrerſeits in dem dermaligen Zuſtande dieſer Wiſſenſchaft ihre Grundlage. Man kann das wahre Verfahren des Biographen als Anwendung der Wiſſenſchaft der Anthropologie und Pſychologie auf das Problem, eine Lebenseinheit, ihre Entwicklung und ihr Schickſal lebendig und verſtändlich zu machen, bezeichnen.
Regeln perſönlicher Lebensführung haben zu allen Zeiten einen weiteren Zweig der Literatur gebildet; einige der ſchönſten43Die phyſiologiſche Pſychologie.und tiefſten Schriften aller Literatur ſind dieſem Gegenſtande ge - widmet. Sollen ſie aber den Charakter der Wiſſenſchaft erlangen: ſo führt eine ſolche Beſtrebung zurück in die Selbſtbeſinnung über den Zuſammenhang zwiſchen unſerer Erkenntniß von der Wirk - lichkeit der Lebenseinheit und unſerem Bewußtſein von den Beziehungen der Werthe zu einander, welche unſer Wille und unſer Gefühl im Leben finden.
An der Grenze der Naturwiſſenſchaften und der Pſychologie hat ſich ein Gebiet von Unterſuchungen ausgeſondert, welches von ſeinem erſten genialen Bearbeiter als Pſychophyſik bezeichnet wor - den iſt und welches ſich durch das Zuſammenwirken hervorragender Forſcher zu dem Entwurf einer phyſiologiſchen Pſychologie er - weitert hat. Dieſe Wiſſenſchaft ging davon aus, ohne Rückſicht auf den metaphyſiſchen Streit über Körper und Seele die that - ſächlichen Beziehungen zwiſchen dieſen beiden Erſcheinungsgebieten möglichſt genau feſtſtellen zu wollen. Der neutrale, in der äußerſten hier denkbaren Abſtraktion verbleibende Begriff der Funktion in ſeiner mathematiſchen Bedeutung wurde hierbei von Fechner zu Grunde gelegt, und Feſtſtellung der beſtehenden ſo in zwei Rich - tungen darſtellbaren Abhängigkeiten als das Ziel dieſer Wiſſen - ſchaft feſtgehalten. Den Mittelpunkt ſeiner Unterſuchungen bildete das Funktionsverhältniß zwiſchen Reiz und Empfindung. Will jedoch dieſe Wiſſenſchaft die Lücke, welche zwiſchen Phyſiologie und Pſychologie beſteht, vollſtändig ausfüllen, will ſie alle Berührungs - punkte des körperlichen und pſychiſchen Lebens umfaſſen und zwiſchen Phyſiologie und Pſychologie die Verbindung ſo voll - ſtändig und wirkſam als möglich herſtellen: dann findet ſie ſich genöthigt, dieſe Beziehung in die umfaſſende Vorſtellung des urſächlichen Zuſammenhangs der geſammten Wirklichkeit einzu - ordnen. Und zwar bildet die einſeitige Dependenz pſychiſcher That - ſachen und Veränderungen von phyſiologiſchen den Hauptgegenſtand einer ſolchen phyſiologiſchen Pſychologie. Sie entwickelt die Ab - hängigkeit des geiſtigen Lebens von ſeiner körperlichen Unterlage; unterſucht die Grenzen, innerhalb deren eine ſolche Abhängigkeit nachweisbar iſt; ſtellt alsdann auch die Rückwirkungen dar, welche44Erſtes einleitendes Buch.von den geiſtigen Veränderungen zu den körperlichen gehen. So verfolgt ſie das geiſtige Leben, von den Beziehungen, welche zwiſchen der phyſiologiſchen Leiſtung der Sinnesorgane und dem pſychiſchen Vorgang von Empfindung und Wahrnehmung ob - walten, zu denen zwiſchen dem Auftreten, Verſchwinden, der Ver - kettung der Vorſtellungen einerſeits, der Struktur und den Funk - tionen des Gehirns andrerſeits, bis zu denen, welche zwiſchen dem Reflexmechanismus und motoriſchen Syſtem und entſprechend der Lautbildung, Sprache und geregelten Bewegung beſtehen.
Von dieſer Zergliederung der einzelnen pſycho-phyſiſchen Ein - heiten iſt diejenige unterſchieden, welche das Ganze der geſchichtlich - geſellſchaftlichen Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtande hat. Franzoſen und Engländer haben den Begriff einer die Theorie dieſes Ganzen entwickelnden Geſammtwiſſenſchaft entworfen und dieſelbe als Sociologie bezeichnet. In der That kann die Erkenntniß der Ent - wicklung der Geſellſchaft nicht von der Erkenntniß ihres gegen - wärtigen status getrennt werden. Beide Claſſen von Thatſachen bilden Einen Zuſammenhang. Der gegenwärtige Zuſtand, in welchem die Geſellſchaft ſich befindet, iſt das Ergebniß des früheren und er iſt zugleich die Bedingung des nächſten. Der ermittelte status deſſelben in dem jetzigen Moment gehört im nächſten be - reits der Geſchichte an. Jeder Durchſchnitt, der den status der Geſellſchaft in einem gegebenen Augenblick darſtellt, iſt daher, ſo - bald man ſich über den Moment erhebt, als ein geſchichtlicher Zuſtand zu betrachten. Der Begriff der Geſellſchaft kann ſonach gebraucht werden, dieſes ſich entwickelnde Ganze zu bezeichnen1)Der Begriff der Sociologie oder Geſellſchaftswiſſenſchaft, wie Comte, Spencer u. a. ihn faſſen, muß ganz unterſchieden werden von dem Begriff, den Geſellſchaft und Geſellſchaftswiſſenſchaft bei den deutſchen Staatsrechts -.
45Stellung des Erkennens zur Geſellſchaft.Viel verſchlungener noch, räthſelhafter als unſer eigener Organismus, als ſeine am meiſten räthſelhaften Theile, wie das Gehirn, ſteht dieſe Geſellſchaft, d. h. die ganze geſchichtlich-geſell - ſchaftliche Wirklichkeit, dem Individuum als ein Objekt der Be - trachtung gegenüber. Der Strom des Geſchehens in ihr fließt unaufhaltſam voran, während die einzelnen Individua, aus denen er beſteht, auf dem Schauplatz des Lebens erſcheinen und von ihm wieder abtreten. So findet das Individuum ſich in ihm vor, als ein Element, mit anderen Elementen in Wechſelwirkung. Es hat dies Ganze nicht gebaut, in das es hineingeboren iſt. Es kennt von den Geſetzen, in denen hier Individuen auf einander wirken, nur wenige und unbeſtimmt gefaßte. Wohl ſind es dieſelben Vorgänge, die in ihm, vermöge innerer Wahrnehmung, ihrem ganzen Gehalt nach bewußt ſind, und welche außer ihm dieſes Ganze gebaut haben; aber ihre Verwickelung iſt ſo groß, die Bedingungen der Natur, unter denen ſie auftreten, ſind ſo mannigfaltig, die Mittel der Meſſung und des Verſuchs ſind ſo eng begrenzt, daß die Erkenntniß dieſes Baues der Geſellſchaft durch kaum überwindlich erſcheinende Schwierigkeiten aufgehalten worden iſt. Hieraus entſpringt die Verſchiedenheit zwiſchen un - ſerem Verhältniß zur Geſellſchaft und dem zur Natur. Die That - beſtände in der Geſellſchaft ſind uns von innen verſtändlich, wir können ſie in uns, auf Grund der Wahrnehmung unſerer eigenen Zuſtände, bis auf einen gewiſſen Punkt nachbilden, und mit Liebe und Haß, mit leidenſchaftlicher Freude, mit dem ganzen Spiel unſerer Affekte begleiten wir anſchauend die Vorſtellung der geſchichtlichen Welt. Die Natur iſt uns ſtumm. Nur die Macht unſerer Imagination ergießt einen Schimmer von Leben und Innerlichkeit über ſie. Denn ſofern wir ein mit ihr in Wechſelwirkung ſtehen - des Syſtem körperlicher Elemente ſind, begleitet kein inneres Ge - wahrwerden das Spiel dieſer Wechſelwirkung. Darum kann auch1)lehrern erhalten haben, welche in dem status einer gegebenen Zeit Geſellſchaft und Staat unterſcheiden, ausgehend von dem Bedürfniß, die äußere Organi - ſation des Zuſammenlebens zu bezeichnen, welche die Vorausſetzung und Grundlage des Staats bildet.46Erſtes einleitendes Buch.die Natur für uns den Ausdruck erhabener Ruhe haben. Dieſer Aus - druck ſchwände, wenn wir daſſelbe wechſelnde Spiel inneren Lebens in ihren Elementen gewahrten oder in ihnen vorzuſtellen ge - zwungen wären, welches die Geſellſchaft für uns erfüllt. Die Natur iſt uns fremd. Denn ſie iſt uns nur ein Außen, kein Inneres. Die Geſellſchaft iſt unſere Welt. Das Spiel der Wechſelwirkungen in ihr erleben wir mit, in aller Kraft unſeres ganzen Weſens, da wir in uns ſelber von innen, in lebendigſter Unruhe, die Zuſtände und Kräfte gewahren, aus denen ihr Syſtem ſich aufbaut. Das Bild ihres Zuſtandes ſind wir genöthigt in immer regſamen Werthurtheilen zu meiſtern, mit nie ruhendem Antrieb des Willens wenigſtens in der Vorſtellung umzugeſtalten.
Dies Alles prägt dem Studium der Geſellſchaft gewiſſe Grundzüge auf, welche es durchgreifend von dem der Natur unter - ſcheiden. Die Gleichförmigkeiten, welche auf dem Gebiet der Geſellſchaft feſtgeſtellt werden können, ſtehen nach Zahl, Bedeu - tung und Beſtimmtheit der Faſſung ſehr zurück hinter den Geſetzen, welche auf der ſicheren Grundlage der Beziehungen im Raum und der Eigenſchaften der Bewegung über die Natur aufgeſtellt werden konnten. Die Bewegungen der Geſtirne, nicht nur unſeres Pla - netenſyſtems, ſondern von Sternen, deren Licht erſt nach Jahren unſer Auge trifft, können als dem ſo einfachen Gravitationsgeſetz unterworfen aufgezeigt und auf lange Zeiträume voraus berechnet werden. Eine ſolche Befriedigung des Verſtandes vermögen die Wiſſenſchaften der Geſellſchaft nicht zu gewähren. Die Schwierig - keiten der Erkenntniß einer einzelnen pſychiſchen Einheit werden vervielfacht durch die große Verſchiedenartigkeit und Singularität dieſer Einheiten, wie ſie in der Geſellſchaft zuſammenwirken, durch die Verwicklung der Naturbedingungen, unter denen ſie verbunden ſind, durch die Summirung der Wechſelwirkungen, welche in der Aufeinanderfolge vieler Generationen ſich vollzieht und die es nicht geſtattet, aus der menſchlichen Natur, wie wir ſie heute kennen, die Zuſtände früherer Zeiten direkt abzuleiten oder die heutigen Zuſtände aus einem allgemeinen Typus der menſchlichen Natur zu folgern. Und doch wird dieſes Alles mehr als aufgewogen47Grundzüge ihres Studiums.durch die Thatſache, daß ich ſelber, der ich mich von innen erlebe und kenne, ein Beſtandtheil dieſes geſellſchaftlichen Körpers bin, und daß die anderen Beſtandtheile mir gleichartig und ſonach für mich ebenfalls in ihrem Inneren auffaßbar ſind. Ich verſtehe das Leben der Geſellſchaft. Das Individuum iſt einerſeits ein Element in den Wechſelwirkungen der Geſellſchaft, ein Kreuzungs - punkt der verſchiedenen Syſteme dieſer Wechſelwirkungen, in be - wußter Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen derſelben reagirend, und es iſt zugleich die dieſes Alles anſchauende und erforſchende Intelligenz. Das Spiel der für uns ſeelenloſen wirkenden Urſachen wird hier abgelöſt von dem der Vorſtellungen, Gefühle und Beweggründe. Und grenzenlos iſt die Singularität, der Reichthum im Spiel der Wechſelwirkung, die hier ſich auf - thun. Der Waſſerſturz ſetzt ſich aus homogenen ſtoßenden Waſſer - theilchen zuſammen; aber ein einziger Satz, der doch nur ein Hauch des Mundes iſt, erſchüttert die ganze beſeelte Geſellſchaft eines Welttheils durch ein Spiel von Motiven in lauter indivi - duellen Einheiten: ſo verſchieden iſt die hier auftretende Wechſel - wirkung, nämlich das in der Vorſtellung entſpringende Motiv, von jeder anderen Art von Urſache. Andere unterſcheidende Grundzüge folgen hieraus. Das auffaſſende Vermögen, welches in den Geiſtes - wiſſenſchaften wirkt, iſt der ganze Menſch; große Leiſtungen in ihnen gehen nicht von der bloßen Stärke der Intelligenz aus, ſondern von einer Mächtigkeit des perſönlichen Lebens. Dieſe geiſtige Thätigkeit findet ſich, ohne jeden weiteren Zweck einer Erkenntniß des Totalzuſammenhangs von dem Singularen und Thatſäch - lichen in dieſer geiſtigen Welt angezogen und befriedigt, und mit dem Auffaſſen iſt für ſie praktiſche Tendenz in Beurtheilung, Ideal, Regel verbunden.
Aus dieſen Grundverhältniſſen ergiebt ſich für das Individuum der Geſellſchaft gegenüber ein doppelter Anſatzpunkt ſeines Nach - denkens. Es vollbringt ſeine Thätigkeit an dieſem Ganzen mit Be - wußtſein, bildet Regeln derſelben, ſucht Bedingungen derſelben in dem Zuſammenhang der geiſtigen Welt. Andrerſeits aber verhält es ſich als anſchauende Intelligenz und möchte in ſeiner Er -48Erſtes einleitendes Buch.kenntniß dies Ganze erfaſſen. So ſind die Wiſſenſchaften der Geſellſchaft einerſeits von dem Bewußtſein des Individuums über ſeine eigene Thätigkeit und deren Bedingungen ausgegangen; auf dieſe Weiſe bildeten ſich Grammatik, Rhetorik, Logik, Aeſthetik, Ethik, Jurisprudenz zunächſt aus; und hier iſt begründet, daß ihre Stellung im Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften zwiſchen Analyſis und Regelgebung, deren Objekt die Einzelthätigkeit des Individuums iſt, und ſolcher, die ein ganzes geſellſchaftliches Syſtem zum Gegenſtande hat, in unſicherer Mitte bleibt. Hatte die Politik ebenfalls, wenigſtens Anfangs vorwiegend, dies Intereſſe: ſo verband es ſich doch in ihr bereits mit dem einer Ueberſicht über die politiſchen Körper. Ausſchließlich aus ſolchem Bedürfniß eines freien, anſchauenden, von dem Intereſſe am Menſchlichen innerlich bewegten Ueberblicks entſtand dann die Geſchichtſchreibung. Indem aber die Berufsarten innerhalb der Geſellſchaft ſich immer mannig - facher gliederten, die techniſche Vorbildung für dieſelben immer mehr Theorie entwickelte und in ſich faßte: drangen dieſe tech - niſchen Theorien von ihrem praktiſchen Bedürfniß aus immer tiefer in das Weſen der Geſellſchaft ein; das Intereſſe der Er - kenntniß geſtaltete ſie allgemach zu wirklichen Wiſſenſchaften um, welche neben ihrer praktiſchen Abzweckung an der Aufgabe einer Erkenntniß der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit mit - arbeiteten.
Die Ausſonderung der Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft vollzog ſich ſonach nicht durch einen Kunſtgriff des theoretiſchen Verſtandes, welcher das Problem der Thatſache der geſchichtlich - geſellſchaftlichen Welt durch eine methodiſche Zerlegung des zu unter - ſuchenden Objektes zu löſen unternommen hätte: das Leben ſelber vollbrachte ſie. So oft die Ausſcheidung eines geſellſchaftlichen Wirkungskreiſes eintrat und dieſer eine Anordnung von Thatſachen hervorbrachte, auf welche die Thätigkeit des Individuums ſich be - zog, waren die Bedingungen da, unter denen eine Theorie ent - ſtehen konnte. So trug der große Differenzirungsproceß der Geſellſchaft, in welchem ihr wunderbar verſchlungener Bau ent - ſtanden iſt, in ſich ſelber die Bedingungen und zugleich die49Es vollzieht ſich in Einzelwiſſenſchaften.Bedürfniſſe, vermöge deren die Abſpiegelung eines jeden relativ ſelbſtändig gewordenen Lebenskreiſes derſelben in einer Theorie ſich vollzog. Und ſo ſtellt ſich ſchließlich die Geſellſchaft, in welcher, gleichſam der mächtigſten aller Maſchinen, jedes dieſer Räder, dieſer Walzen nach ſeinen Eigenſchaften wirkt und doch in dem Ganzen ſeine Funktion hat, in dem Nebeneinanderbeſtehen und Ineinander - greifen ſo mannichfacher Theorien bis zu einem gewiſſen Grade vollſtändig dar.
Auch machte ſich zunächſt innerhalb der poſitiven Wiſſen - ſchaften des Geiſtes kein Bedürfniß geltend, die Beziehungen dieſer einzelnen Theorien zu einander und zu dem umfaſſenden Zuſammen - hang der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit, deſſen Theil - inhalte ſie ausgeſondert betrachteten, feſtzuſtellen. Spät und ver - einzelt ſind in dieſe Lücke die Philoſophie des Geiſtes, der Ge - ſchichte, der Geſellſchaft eingetreten, und wir werden die Gründe aufzeigen, aus welchen ſie den Beſtand ſtätig und ſicher ſich entwickelnder Wiſſenſchaften nicht gewonnen haben. So heben ſich die wirklichen und durchgebildeten Wiſſenſchaften einzeln und in leichten Verknüpfungen von dem weiten Hintergrunde der großen Thatſache der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit ab. Nur durch die Beziehung auf dieſe lebendige Thatſache und ihre deſkriptive Darſtellung, nicht aber durch die Beziehung auf eine allgemeine Wiſſenſchaft iſt ihre Stelle beſtimmt.
Dieſe deſkriptive Darſtellung, die man als Geſchichts - und Geſellſchaftskunde im weiteſten Verſtande bezeichnen kann, umfaßt die complexen Thatſachen der geiſtigen Welt in ihrem Zuſammen - hang, wie derſelbe in der Kunſt der Geſchichtſchreibung und in der Statiſtik der Gegenwart erfaßt wird. Wir ſahen früher (S. 30),Dilthey, Einleitung. 450Erſtes einleitendes Buch.wie die bloße Sammlung und Sichtung des Materials in einer bunten Mannichfaltigkeit von Arbeiten allmälig, in continuirlicher Steigerung der denkenden Bearbeitung, in Wiſſenſchaft übergeht. Die Stellung der Geſchichtſchreibung in dieſem Zuſammenhang, zwiſchen der Sammlung der Thatſachen und der Ausſcheidung des Gleichartigen aus ihnen in einer einzelnen Theorie, ward in ihrer ſelbſtändigen Bedeutung nachdrücklich hervorgehoben. Sie war uns eine Kunſt, weil in ihr, wie in der Phantaſie des Künſtlers ſelber, das All - gemeine in dem Beſonderen angeſchaut, noch nicht durch Abſtraktion von ihm geſondert und für ſich dargeſtellt wird, was erſt in der Theorie geſchieht. Das Beſondere iſt hier nur von der Idee im Geiſte des Geſchichtſchreibers geſättigt und geſtaltet, und wo eine Generaliſation auftritt, beleuchtet ſie nur blitzartig die Thatſachen und entbindet auf einen Moment das abſtrakte Denken. So dient ja auch dem Dichter die Generaliſation, indem ſie aus dem Unge - ſtüm, den Leiden und Affekten, welche er darſtellt, einen Augenblick die Seele ſeines Zuhörers in die freie Region der Gedanken erhebt.
Aus dieſem genialen Ueberblick des Geſchichtſchreibers, der ſich über das mannichfaltige Leben der Menſchheit verbreitet, löſt ſich nun aber eine erſte deſkriptive Zuſammenordnung von Gleichartigem aus. Sie ſchließt ſich naturgemäß an die An - thropologie des Einzelmenſchen. Entwickelte dieſe den allge - meinen menſchlichen Typus, die allgemeinen Geſetze des Lebens der pſychophyſiſchen Einheiten, die in dieſen Geſetzen angelegten Differenzen von Einzeltypen: ſo geht die Ethnologie oder vergleichende Anthropologie von hier aus weiter; ihren Gegen - ſtand bilden Gleichartigkeiten engeren Umfangs, durch welche Gruppen innerhalb der Geſammtheit ſich abgrenzen und als Ein - zelglieder der Menſchheit ſich darſtellen: die natürliche Gliederung des Menſchengeſchlechts und die durch ſie unter den Bedingungen des Erdganzen entſtehende Vertheilung des geiſtigen Lebens und ſeiner Unterſchiede auf der Oberfläche der Erde. Dieſe Völkerkunde erforſcht alſo, wie auf der Grundlage des Familienverbandes und der Verwandtſchaft, in durch den Grad der Abſtammung gebildeten51Studium der natürlichen Gliederung der Menſchheit.concentriſchen Kreiſen, das Menſchengeſchlecht natürlich gegliedert iſt, d. h. wie in jedem engeren Kreiſe zuſammenhängend mit näherer Verwandtſchaft neue gemeinſame Merkmale auftreten. Von der Frage nach der Einheit der Abſtammung und Art, nach dem älteſten Wohnſitze, dem Alter und den gemeinſamen Merkmalen des Menſchengeſchlechts wendet dieſe Wiſſenſchaft ſich zur Abgren - zung der einzelnen Racen und der Beſtimmung ihrer Merkmale, zu den Gruppen, welche jede dieſer Racen in ſich faßt; auf der Grundlage der Geographie entwickelt ſie die Vertheilung des geiſtigen Lebens und ſeiner Unterſchiede auf der Oberfläche der Erde: man ſieht den Strom der Bevölkerung ſich verbreiten, der Richtung der leichteſten Befriedigung folgend, wie das Waſſernetz ſich den Be - dingungen des Bodens anſchmiegt.
Mit dieſer genealogiſchen Gliederung verweben ſich geſchicht - liche That und geſchichtliches Schickſal, und ſo bilden ſich die Völker, lebendige und relativ ſelbſtändige Centren der Kultur in dem geſellſchaftlichen Zuſammenhang einer Zeit, Träger der geſchichtlichen Bewegung. Wohl hat das Volk in dem genea - logiſchen Naturzuſammenhang ſeine Grundlage, die ſich auch leiblich zu erkennen giebt; aber während verwandte Völker eine Verwandtſchaft des körperlichen Typus zeigen, der ſich mit wunder - barer Feſtigkeit erhält, geſtaltet ſich ihre geſchichtliche geiſtige Phy - ſiognomie zu immer feiner verzweigten Unterſchieden auf allen ver - ſchiedenen Gebieten des Volkslebens.
Dieſe individuelle Lebenseinheit in einem Volke, die ſich in der Verwandtſchaft aller ſeiner Lebensäußerungen, wie ſeines Rechts, ſeiner Sprache, ſeines religiöſen Inneren, untereinander kundgiebt, wird myſtiſch durch Begriffe wie Volksſeele, Nation, Volksgeiſt, Organismus ausgedrückt. Dieſe Begriffe ſind ſo un - brauchbar für die Geſchichte, als der von Lebenskraft für die Phyſio - logie. Was der Ausdruck: Volk bedeute, kann nur analytiſch aufgeklärt werden (innerhalb gewiſſer Grenzen), mit Hilfe von Un - terſuchungen, welche in dem methodologiſchen Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften als Theorien zweiter Ordnung bezeichnet werden können. Dieſe haben die Wahrheiten der Anthropologie zu ihrer4*52Erſtes einleitendes Buch.Vorausſetzung, ſie wenden dieſe Wahrheiten auf die Wechſelwirkung von Individuen unter den Bedingungen des Naturzuſammenhangs an, und ſo entſtehen die Wiſſenſchaften der Syſteme der Kultur und ihrer Geſtaltungen, der äußeren Organiſation der Geſellſchaft und der einzelnen Verbände innerhalb derſelben. An ſich findet die Wiſſenſchaft zwiſchen dem Individuum und dem verwickelten Verlauf der Geſchichte drei große Claſſen von Objekten, die dem Studium zu unterwerfen ſind: die äußere Organiſation der Ge - ſellſchaft, die Syſteme der Kultur in ihr und die Einzelvölker: dauernde Thatbeſtände, unter denen der von Volksganzen der am meiſten complexe und ſchwierige iſt. Wie ſie alle drei nur Theil - inhalte des wirklichen Lebens ſind, ſo kann keiner ohne die Be - ziehung auf das wiſſenſchaftliche Studium des anderen hiſtoriſch aufgefaßt oder theoretiſch behandelt werden. Jedoch iſt, dem Ver - hältniß der Verwicklung entſprechend, die Thatſache des Einzel - volkes nur mit Hilfe der Analyſis der beiden anderen Thatſachen bearbeitet worden. Was durch den Ausdruck Volksſeele, Volks - geiſt, Nation und nationale Kultur bezeichnet werde, das kann nur dadurch anſchaulich vorgeſtellt und analyſirt werden, daß man zu - nächſt die verſchiedenen Seiten des Volkslebens, z. B. Sprache, Religion, Kunſt, in ihrer Wechſelwirkung auffaßt. Dies nöthigt zu dem nächſten Schritt in der Analyſis der geſchichtlich-geſell - ſchaftlichen Wirklichkeit.
Wer die Erſcheinungen der Geſchichte und Geſellſchaft ſtudirt, dem treten abſtrakte Weſenheiten überall gegenüber, dergleichen Kunſt, Wiſſenſchaft, Staat, Geſellſchaft, Religion ſind. Sie gleichen zuſammengeballten Nebeln, die den Blick hindern, zum Wirklichen zu dringen, und die ſich doch nicht greifen laſſen. Wie einſt die53Zwei weitere Claſſen von Einzelwiſſenſchaften.ſubſtantialen Formen, die Geſtirngeiſter und Eſſenzen zwiſchen dem Auge des Forſchers und den Geſetzen ſtanden, welche unter den Atomen und Molekülen walten, ſo verſchleiern dieſe Weſenheiten die Wirklichkeit des geſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens, die Wechſel - wirkung der pſychophyſiſchen Lebenseinheiten unter den Bedingungen des Naturganzen und ihrer naturgeborenen genealogiſchen Glie - derung. Ich möchte dieſe Wirklichkeit ſehen lehren — eine Kunſt, die lange geübt ſein will wie die der Anſchauung von räumlichen Gebilden — und dieſe Nebel und Phantome verſcheuchen.
In der unermeßlichen Mannichfaltigkeit von kleinen, ſchein - bar verſchwindenden Wirkungen, die von Individuum zu Indivi - duum durch das Medium materieller Vorgänge ausſtrahlen, geht ſo wenig eine Wirkung verloren, als ein Sonnenſtrahl in der phyſiſchen Welt. Aber wer vermöchte, dem Lauf der Wirkungen dieſes Sonnenſtrahls zu folgen? Nur wo gleichartige Effekte in der geſellſchaftlichen Welt ſich vereinigen, entſtehen die That - beſtände, welche eine deutliche und ſtarke Sprache zu uns reden. Von dieſen entſpringen einige aus einer gleichartigen, aber vor - übergehenden Spannung der Kräfte in einer beſtimmten Richtung oder auch durch die ſingulare Gewalt einer einzigen mächtigen Willenskraft, welche doch immer nur in der Richtung ſolcher in der Geſchichte und Geſellſchaft angeſammelten Spannkräfte große Wirkungen hervorbringen kann. So brechen in der Geſchichte plötzliche gewaltige Erſchütterungen, wie Revolutionen und Kriege, hervor, und gehen vorüber. Dauernde Wirkungen entſtehen aus ihnen nur, indem ſie in einem ſchon vorhandenen conſtanten ge - ſellſchaftlichen Gebilde eine Modifikation hervorbringen: ſo wirkte die Epoche des Sturms und Drangs von der mächtigen Perſon Rouſſeau’s aus auf die angeſammelten Spannkräfte in unſerm Volksleben und gab unſrer Dichtung eine andere Geſtalt. Eben dieſe conſtanten Gebilde ſind der andere in der geſellſchaft - lichen Wirklichkeit ſtark hervortretende Thatbeſtand, ſie entſpringen aber aus dauernden Beziehungen der Individuen, und ſie allein haben bisher eine wirklich wiſſenſchaftliche theoretiſche Bearbeitung gefunden.
54Erſtes einleitendes Buch.Wir ſahen, die Naturgrundlage der geſellſchaftlichen Glie - derung, welche in das tiefſte metaphyſiſche Geheimniß zurückreicht und von dort her in geſchlechtlicher Liebe, Kindesliebe, Liebe zum mütterlichen Boden mit ſtarken dunklen Banden naturgewaltiger Gefühle uns zuſammenhält, bringt in den Grundverhältniſſen der genealogiſchen Gliederung und der Niederlaſſung Gleichartigkeit kleinerer und größerer Gruppen und Gemeinſchaft zwiſchen ihnen hervor; das geſchichtliche Leben entwickelt dieſe Gleichartigkeit, ver - möge deren insbeſondere die einzelnen Völker ſich dem Studium als abgegrenzte Einheiten darbieten. Hierüber hinaus entſtehen nun dauernde Gebilde, Gegenſtände der geſellſchaftlichen Analyſe, wenn entweder ein auf einem Beſtandtheil der Menſchennatur be - ruhender, und darum andauernder Zweck pſychiſche Akte in den einzelnen Individuen in Beziehung zu einander ſetzt und ſo zu einem Zweckzuſammenhang verknüpft, oder wenn dauernde Ur - ſachen Willen zu einer Bindung in einem Ganzen vereinen, mögen nun dieſe Urſachen in der natürlichen Gliederung oder in den Zwecken, welche die Menſchennatur bewegen, gelegen ſein. Inſo - fern wir jenen erſteren Thatbeſtand auffaſſen, unterſcheiden wir in der Geſellſchaft die Syſteme der Kultur; inſofern wir dieſen letz - teren betrachten, wird die äußere Organiſation ſichtbar, welche ſich die Menſchheit gegeben hat: Staaten, Verbände, und, wenn man weiter greift, das Gefüge dauernder Bindungen der Willen, nach den Grundverhältniſſen von Herrſchaft, Abhängigkeit, Eigenthum, Gemeinſchaft, welches neuerdings in einem engeren Verſtande als Geſellſchaft im Gegenſatz zum Staat bezeichnet worden iſt.
Die Einzelnen ſind in der Wechſelwirkung des geſchichtlich - geſellſchaftlichen Lebens thätig, indem ſie in dem lebendigen Spiel ihrer Energien eine Mannichfaltigkeit von Zwecken zu verwirklichen ſuchen. Die Bedürfniſſe, welche in der menſchlichen Natur ange - legt ſind, werden in Folge der Eingeſchränktheit des Menſchenda - ſeins nicht von der iſolirten Thätigkeit des Einzelnen befriedigt, ſondern in der Theilung der menſchlichen Arbeit und in dem Erb - gang der Generationen. Dies wird möglich durch die Gleichartig - keit der Menſchennatur und die im Dienſt dieſer Zwecke ſtehende55Einzelwiſſenſchaften der Syſteme der Kultur.überſchauende Vernunft in ihr. Aus dieſen Eigenſchaften ent - ſpringt die Anpaſſung des Handelns an den Ertrag der Arbeit des Vorlebens, an die Mitwirkung der Thätigkeit der Gleichzeitigen. So greifen die weſenhaften Lebenszwecke des Menſchen durch Ge - ſchichte und Geſellſchaft hindurch.
Die Wiſſenſchaft unternimmt nun, nach dem Satze vom Grunde, welcher allem Erkennen zu Grunde liegt, die Abhängig - keiten feſtzuſtellen, welche innerhalb eines ſolchen auf einem Be - ſtandtheil der Menſchennatur beruhenden, über das Individuum hinausgreifenden Zweckzuſammenhangs zwiſchen den einzelnen pſy - chiſchen oder pſychophyſiſchen Elementen beſtehen, die ihn bilden, ſowie die Abhängigkeiten, welche zwiſchen ihren Eigenſchaften ſtatt - finden. Sie beſtimmt, wie Ein Element das andere in dieſem Zweckzuſammenhang bedingt, von dem Auftreten Einer Eigenſchaft in ihm das einer anderen abhängig iſt. Da dieſe Elemente bewußt ſind, können ſie in gewiſſen Grenzen in Worten ausgedrückt werden. Daher bildet ſich dieſer Zuſammenhang in einem Ganzen von Sätzen ab. Jedoch ſind dieſe Sätze ſehr verſchiedener Natur; je nachdem die pſychiſchen Elemente, welche in dem Zweckzuſammen - hang verbunden ſind, vorwiegend dem Denken oder dem Fühlen oder dem Willen angehören, treten Wahrheiten, Gefühlsausſagen, Regeln auseinander. Und dieſer Verſchiedenheit ihrer Natur ent - ſpricht die ihrer Verbindung, folgerichtig der Abhängigkeiten, welche die Wiſſenſchaft zwiſchen ihnen findet. Schon an dieſem Punkte kann eingeſehen werden, daß es einer der größten Fehler der ab - ſtrakten Schule war, alle dieſe Verbindungen gleichmäßig als logiſche aufzufaſſen, und ſonach ſchließlich alle dieſe geiſtigen Zweck - thätigkeiten in Vernunft und Denken aufzulöſen. Ich wähle für einen ſolchen Zweckzuſammenhang den Ausdruck: Syſtem.
Die Abhängigkeiten, die ſolchergeſtalt in Beziehung auf den Zweckzuſammenhang von pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Ele - menten innerhalb eines einzelnen Syſtems beſtehen, exiſtiren zu - nächſt in Bezug auf diejenigen Grundverhältniſſe deſſelben, welche ihm an allen Punkten gleichförmig eigen ſind. Solche bilden die allgemeine Theorie eines Syſtems. Abhängigkeiten dieſer56Erſtes einleitendes Buch.allgemeinſten Art hat Schleiermacher innerhalb des Syſtems der Religion zwiſchen der Thatſache des religiöſen Gefühls und den Thatſachen der Dogmatik und philoſophiſchen Weltanſchauung, zwiſchen der Thatſache dieſes Gefühls und denen des Cultus ſowie der religiöſen Geſelligkeit aufgeſtellt. Das Thünen’ſche Ge - ſetz drückt das Verhältniß aus, in welchem die Entfernung vom Markte, indem ſie die Verwerthung der Bodenprodukte beeinflußt, die Intenſität der Landwirthſchaft bedingt. Solche Abhängigkeiten werden naturgemäß gefunden und dargeſtellt in dem Zuſammen - wirken der Analyſe des Syſtems mit dem Schluß aus der Natur der Wechſelwirkung der in ihm verbundenen pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Elemente ſowie der Bedingungen von Natur und Geſellſchaft, unter denen ſie ſtattfindet. Alsdann beſtehen Ab - hängigkeiten engeren Umfangs zwiſchen den Modifikationen dieſer allgemeinen Eigenſchaften eines Syſtems, welche eine Einzelge - ſtalt deſſelben bilden. So iſt ein Dogma innerhalb eines religiöſen Einzelſyſtems nicht unabhängig von den anderen, welche in dem - ſelben mit ihm vereinigt ſind; ja die Hauptaufgabe der Dogmenge - ſchichte und Dogmatik, wie ſie durch Schleiermachers tiefere Analyſe der Religion zu klarem Bewußtſein gelangte, wird darin liegen, an die Stelle eines untergeſchobenen logiſchen Verhältniſſes von Ab - hängigkeit, vermöge deſſen nur ein Lehrſyſtem entſteht, in beiden Wiſſenſchaften die Art von Abhängigkeit der Dogmen untereinander zu ſetzen, welche in der Natur der Religion, insbeſondere des Chriſtenthums gegründet iſt.
Und zwar beruhen dieſe Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur auf pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Inhalten, und dieſen entſprechen Begriffe, welche von denen, die von der Individualpſychologie benutzt werden, ſpecifiſch verſchieden ſind und verglichen mit ihnen als Begriffe zweiter Ordnung im Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften bezeichnet werden können. Denn die Inhaltlichkeit, wie ſie in dem Beſtandtheil der Menſchen - natur angelegt iſt, auf welchem der Zweckzuſammenhang eines Syſtems beruht, bringt in der Wechſelwirkung der Indivi - duen unter den Bedingungen des Naturganzen, in geſchichtlicher57Sie weiſen auf Pſychologie und Erkenntnißtheorie zurück.Steigerung zuſammengeſetzte Thatſachen hervor, welche ſich von der in der Pſychologie entwickelten zu Grunde liegenden Inhalt - lichkeit ſelber unterſcheiden und die Grundlage der Analyſis des Syſtems bilden. So beherrſcht der Begriff der wiſſenſchaftlichen Ge - wißheit in ſeinen verſchiedenen Geſtalten, als Ueberzeugung von Wirk - lichkeit im Wahrnehmen, als Evidenz im Denken, als Bewußtſein von Nothwendigkeit gemäß dem Satz vom Grunde im Erkennen die ganze Theorie der Wiſſenſchaft. So bilden die pſychophyſiſchen Begriffe von Bedürfniß, Wirthſchaftlichkeit, Arbeit, Werth u. a. die nothwendige Grundlage für die von der politiſchen Oekonomie zu vollziehende Analyſis. Und wie zwiſchen den Begriffen, ſo be - ſteht (gemäß der Begriffe mit Sätzen verknüpfenden Beziehung) zwiſchen den fundamentalen Sätzen dieſer Wiſſenſchaften und den Ergebniſſen der Anthropologie ebenfalls ein Verhältniß, nach welchem ſie als Wahrheiten zweiter Ordnung in dem aufſteigenden Zuſammenhang der Geiſteswiſſenſchaften bezeichnet werden können.
Wir können dem Zuſammenhang der Argumentation, welchem dieſe Analyſe der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes gewidmet iſt, nunmehr ein weiteres Glied einfügen. Die Thatſachen, welche die Syſteme der Kultur bilden, können nur vermittelſt der That - ſachen, welche die pſychologiſche Analyſe erkennt, ſtudirt werden. Die Begriffe und Sätze, welche die Grundlage der Erkenntniß dieſer Syſteme ausmachen, ſtehen in einem Verhältniß von Ab - hängigkeit zu den Begriffen und Sätzen, welche die Pſychologie entwickelt. Aber dies Verhältniß iſt ſo verwickelt, daß nur eine zuſammenhängende erkenntniß-theoretiſche und logiſche Grundlegung, welche von der beſonderen Stellung des Erkennens zu der ge - ſchichtlichen, der geſellſchaftlichen Wirklichkeit ausgeht, die Lücke ausfüllen kann, welche zwiſchen den Einzelwiſſenſchaften der pſycho - phyſiſchen Einheiten und denen der politiſchen Oekonomie, des Rechts, der Religion u. a. bis heute beſteht. Dieſe Lücke wird von jedem Einzelforſcher gefühlt. Die engliſch-franzöſiſche Wiſſen - ſchaftslehre, welche auch hier ein bloßes Verhältniß der deduktiven und der induktiven Operation ſieht, und daher auf dem rein logiſchen Wege durch Unterſuchung der Tragweite dieſer beiden58Erſtes einleitendes Buch.Operationen die ſchwierige Frage zu löſen glaubt, hat ihre Un - fruchtbarkeit nirgend deutlicher als in den weitläufigen Debatten über dieſen Punkt dargethan. Die methodologiſchen Vorausſetzungen dieſer Debatten ſind irrig. Die Frage iſt nicht, wie dieſe Forſcher ſie ſtellen, ob ſolche Wiſſenſchaften einer deduktiven Entwickelung fähig ſeien, welche dann einer induktiven Verifikation und An - paſſung an die complexen Verhältniſſe des thatſächlichen Lebens unterliege, oder ob ſie induktiv zu entwickeln und dann durch eine Deduktion aus der menſchlichen Natur zu beſtätigen ſeien. Dieſe Frageſtellung ſelber iſt in der Uebertragung eines abſtrakten Schema’s aus den Naturwiſſenſchaften gegründet. Nur das Studium der Arbeit des Erkennens, welche unter den Bedingungen der beſonderen Aufgabe der Geiſteswiſſenſchaften ſteht, kann das Problem des hier beſtehenden Zuſammenhangs auflöſen.
Man könnte ſich nun vorſtellen, es gebe Weſen, deren Wechſel - wirkung nur in einem ſolchen Ineinandergreifen pſychiſcher Akte in Einem oder einer Mehrheit von Syſtemen verliefe. Man dächte ſich dann alle Wirkungen ſolcher Weſen als fähig in einen ſolchen Zweckzuſammenhang einzugreifen und ſchränkte ihr ganzes Verhältniß zu einander auf dieſe Fähigkeit ihre Zweckthätigkeit einem oder mehreren ſolcher Zuſammenhänge anzupaſſen ein. Ob gleich ein jedes dieſer Weſen ſein Thun dem der vor oder neben ihm befindlichen anpaſſte, um es zweckmäßig einzurichten, verbliebe jedes derſelben für ſich, nur die Intelligenz ſtiftete zwiſchen ihnen einen Zuſammenhang, ſie rechneten auf einander, aber kein lebendiges Gefühl von Gemeinſchaft beſtünde zwiſchen ihnen; ſie vollzögen ſo pünktlich und vollſtändig, gleich bewußten Atomen, die Aufgaben ihrer Zweckzuſammenhänge, daß kein Zwang und kein Verband zwiſchen ihnen nothwendig wäre.
Der Menſch iſt nicht ein Weſen ſolcher Art. Es beſtehen andere Eigenſchaften ſeiner Natur, welche in der Wechſelwirkung dieſer pſychiſchen Atome zu den dargelegten noch andere conſtante Beziehungen hinzufügen, deren am meiſten in’s Auge fallenden von uns als Staat bezeichnet werden. Es beſteht in Folge hiervon eine andere theoretiſche Betrachtung des geſellſchaftlichen Lebens,59Wiſſenſchaften der äußeren Organiſation der Geſellſchaft.welche in den Staatswiſſenſchaften ihren Mittelpunkt hat. Die regelloſe Gewalt ſeiner Leidenſchaften ſo gut als ſein inniges Bedürfniß und Gefühl von Gemeinſchaft machen den Menſchen, wie er Beſtandtheil in dem Gefüge dieſer Syſteme iſt, ſo zu einem Glied in deräußeren Organiſation der Menſchheit. Von der Struktur, welche ein Zuſammenhang pſychiſcher Elemente in dem Zweckganzen eines Syſtems zeigt, von der Analyſis derſelben, welche die Beziehungen in einem ſolchen Syſtem unterſucht, unterſcheiden wir die Struktur, welche in dem Verbande von Willenseinheiten entſteht, und die Analyſis der Eigenſchaften der äußeren Organiſation der Geſell - ſchaft, der Gemeinſamkeiten, der Verbände, des Gefüges, das in Herrſchaftsverhältniſſen und äußerer Bindung vom Willen entſteht.
Die Grundlage, auf welcher dieſe andere Form dauernder Beziehungen in der Wechſelwirkung beruht, reicht eben ſo tief, als die, welche die Thatſache der Syſteme hervorbringt. Sie liegt zu - nächſt in der Eigenſchaft des Menſchen, vermöge deren er ein ge - ſelliges Weſen iſt. Mit dem Naturzuſammenhang, in welchem der Menſch ſteht, den Gleichartigkeiten, die ſo entſpringen, den dauern - den Beziehungen von pſychiſchen Akten in Einem Menſchenweſen auf ſolche in einem anderen ſind dauernde Gefühle von Zuſammen - gehörigkeit verbunden, nicht nur ein kaltes Vorſtellen dieſer Ver - hältniſſe. Andere gewaltſamer wirkende Kräfte nöthigen die Willen zum Verbande zuſammen: Intereſſe und Zwang. Wirken dieſe beiden Arten von Kräften nebeneinander: ſo kann die uralte Streitfrage, welchen Antheil jede von ihnen an der Ent - ſtehung des Verbands, des Staates habe, nur durch hiſtoriſche Analyſis von Fall zu Fall aufgelöſt werden.
Natur und Umfang der Wiſſenſchaften, welche ſo ent - ſtehen, ergiebt ſich erſt näher aus der Erörterung der Kulturſyſteme und ihrer Wiſſenſchaften. Bevor wir in dieſe eintreten, ziehen wir zwei weitere Folgerungen in dem Zuſammenhang der Beweisführung, welche durch dieſe Analyſe der Geiſteswiſſenſchaften hindurch geht.
Augenſcheinlich beſteht daſſelbe Verhältniß, vermöge deſſen Begriffe und Sätze der Wiſſenſchaften der Kultur von denen der Anthropologie abhängig waren, auch auf dieſem Gebiet der60Erſtes einleitendes Buch.Wiſſenſchaften von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Die Thatſachen zweiter Ordnung, welche hier die Grundlage bilden, werden an einem ſpäteren Punkt erörtert werden, da ſie erſt nach einer näheren Analyſis der Syſteme der Kultur mit hinreichender Deutlichkeit geſehen werden können. Aber wie wir ſie auch be - ſtimmen werden, ſie müſſen daſſelbe Problem einſchließen, deſſen Vorhandenſein Beweis für die Nothwendigkeit einer Wiſſenſchaft iſt, welche unter den allgemeinen Bedingungen menſchlichen Er - kennens die Geſtaltung des auf die geſchichtliche und geſellſchaft - liche Wirklichkeit gerichteten Erkenntnißproceſſes unterſucht, ſeine Grenzen, ſeine Mittel, den Zuſammenhang der Wahrheiten dar - legt, in welchem voran zu ſchreiten der Wille der Erkenntniß in der Menſchheit auf dieſem Gebiet gebunden iſt. Die Lücke im Zuſammenhang des wiſſenſchaftlichen Denkens hat ſich den Staats - wiſſenſchaften ſo fühlbar gemacht, als denen der Religion oder politiſchen Oekonomie.
Faßt man alsdann das Verhältniß dieſer beiden Claſſen von Wiſſenſchaften zu einander in’s Auge, ſo entſteht hier für den Logiker eine Forderung an methodiſches Bewußtſein über den Zuſammenhang des Erkenntnißvorgangs, in dem dieſe Einzel - wiſſenſchaften entſtanden ſind, welche noch weiter führt. Die Wiſſenſchaften einer jeden dieſer beiden Claſſen können gemäß der Natur des Vorgangs von Zerlegung, in welchem ſie ſich ſchieden, nur in der beſtändigen Relation ihrer Wahrheiten auf die in der anderen Claſſe gefundenen entwickelt werden. Und innerhalb einer jeden dieſer Claſſen beſteht daſſelbe Verhältniß, oder wie könnten die Wahrheiten der Wiſſenſchaft der Aeſthetik ohne die Beziehung zu denen der Moral wie zu denen der Re - ligion entwickelt werden, da doch der Urſprung der Kunſt, die Thatſache des Ideals, in dieſen lebendigen Zuſammenhang zurück - weiſt? Wir erkennen auch hier, indem wir analyſiren und den Theilinhalt abſtrakt entwickeln; aber Bewußtſein über dieſen Zuſammenhang und Verwerthung deſſelben: das iſt die große methodologiſche Anforderung, welche aus dieſem That - beſtand entſpringt; nie darf die Beziehung des ſo gewiſſermaßen61Sie weiſen auf Pſychologie und Erkenntnißtheorie zurück.herauspräparirten Theilinhaltes auf den Organismus der Wirk - lichkeit, in welchem allein das Leben ſelber pulſirt, vergeſſen werden, vielmehr kann das Erkennen nur von dieſer Beziehung aus den Begriffen und Sätzen ihre genaue Form geben und ihren angemeſſenen Erkenntnißwerth zutheilen. Es war der Grundfehler der abſtrakten Schule, die Beziehung des abſtrahirten Theilinhaltes auf das lebendige Ganze außer Acht zu laſſen und ſchließlich dieſe Abſtraktionen als Realitäten zu behandeln. Es war der com - plementäre, aber nicht minder verhängnißvolle Irrthum der hiſtoriſchen Schule, in dem tiefen Gefühl der lebendigen, irrational gewaltigen, alles Erkennen nach dem Satze vom Grunde über - ſchreitenden Wirklichkeit aus der Welt der Abſtraktion zu flüchten.
Den Ausgangspunkt für das Verſtändniß des Begriffs von Syſtemen des geſellſchaftlichen Lebens bildet der Lebensreichthum des einzelnen Individuums ſelber, das als Beſtandtheil der Geſell - ſchaft Gegenſtand der erſten Gruppe von Wiſſenſchaften iſt. Denken wir uns einmal dieſen Lebensreichthum in einem gegebenen Individuum als gänzlich unvergleichbar mit dem in einem anderen und auf daſſelbe nicht übertragbar. Alsdann könnten dieſe Individua einander durch phyſiſche Gewalt bewältigen und unterjochen, allein ſie beſäßen keinen gemeinſamen Inhalt, jedes wäre in ſich ſelber verſchloſſen gegen alle anderen. In der That giebt es in jedem Individuum einen Punkt, an welchem es ſich ſchlechterdings nicht einordnet in eine ſolche Coordination ſeiner Thätigkeiten mit an - deren. Was von dieſem Punkte aus in der Lebensfülle des Individuums bedingt iſt, das geht in keines der Syſteme des geſellſchaftlichen Lebens ein. Die Gleichartigkeit der Individuen iſt die Bedingung dafür, daß eine Gemeinſamkeit ihres Lebens - inhaltes da iſt. — Denken wir uns dann das Leben in einem jeden62Erſtes einleitendes Buch.dieſer Individua wohl vergleichbar und übertragbar, aber einfach und unzerleglich, alsdann würde die Thätigkeit der Geſellſchaft Ein einziges Syſtem bilden. Wir machen uns die einfachſten Eigen - ſchaften eines ſolchen Grundſyſtems klar. Daſſelbe beruht zunächſt auf der Wechſelwirkung der Individuen in der Geſellſchaft, ſofern ſie, auf der Grundlage eines denſelben gemeinſamen Beſtand - theils der Menſchennatur, ein Ineinandergreifen der Thätigkeiten zur Folge hat, in welchem dieſer Beſtandtheil der Menſchennatur zu ſeiner Befriedigung gelangt. Hierdurch unterſcheidet ſich ein ſolches Grundſyſtem von jeder Veranſtaltung, welche nur ein Syſtem von Mitteln für die Bedürfniſſe der Geſellſchaft in ſich faßt. Geht man von der Wechſelwirkung von Individuen aus, ſo unterſcheidet ſich die direkte, in welcher ein Individuum A ſeine Wirkung auf B C D erſtreckt und von ihnen Einwirkung em - pfängt, von den indirekten, welche auf den Fortwirkungen der Veränderung in B auf R Z beruhen. Vermöge der erſteren ent - ſteht ein Horizont direkter Wechſelwirkungen der einzelnen Indi - viduen und dieſer iſt für ſie ein ſehr verſchiedener. Die indirekten ſind in der Geſellſchaft nur begrenzt durch die ſie ver - mittelnden Bedingungen der Außenwelt. Ein ſolches Syſtem, wie es auf den direkten und indirekten Wechſelwirkungen von In - dividuen in der Geſellſchaft beruht, hat nothwendig die Eigen - ſchaften der Steigerung und Entwicklung. Denn zu den Geſetzen der pſychiſchen Lebenseinheit, welche Steigerung und Entwicklung bedingen, tritt das entſprechende Grundverhältniß ihrer Wechſel - wirkungen, welchem gemäß Empfindungen, Gefühle, Vorſtellungen bei ihrer Uebertragung von dem Individuum A auf das B in A mit ihrer alten Stärke verbleiben, während ſie auf B über - gehen. — Beſtünde nun ein einziges ſolches Syſtem, ſo würde es das ganze Leben der Geſellſchaft ausmachen; der Vorgang der Uebertragung in ihm und ſein Inhalt wären eins und einfach. In Wirklichkeit iſt der Lebensreichthum des Individuums in Wahr - nehmungen und Gedanken, in Gefühle, in Willensakte geſchieden. Gleichviel alſo, welche Sonderungen und Verbindungen in ihm ſonſt noch ſtattfinden, ſchon hierdurch, vermöge der natürlichen63Die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur.Gliederung des pſychiſchen Lebens, ermöglicht dieſer Lebensinhalt eine Verſchiedenheit der Syſteme im Leben der Geſellſchaft.
Dieſe Syſteme beharren, während die einzelnen Individuen ſelber auf dem Schauplatz des Lebens erſcheinen und von dem - ſelben wieder abtreten. Denn jedes iſt auf einen beſtimmten, in Modifikationen wiederkehrenden Beſtandtheil der Perſon gegründet. Die Religion, die Kunſt, das Recht ſind unvergänglich, während die Individua, in denen ſie leben, wechſeln. So ſtrömt in jeder Generation neu die Inhaltlichkeit und der Reichthum der Menſchen - natur, ſofern ſie in einem Beſtandtheil derſelben gegenwärtig oder mit ihm in Beziehung ſind, in das auf dieſen gegründete Syſtem ein. Iſt auch z. B. die Kunſt auf das Vermögen der Phantaſie, als einen einzelnen Beſtandtheil der Menſchennatur, gegründet: ſo iſt doch in ihren Schöpfungen der ganze Reichtum der Menſchen - natur gegenwärtig. Seine volle Realität, Objektivität empfängt das Syſtem aber erſt dadurch, daß die Außenwelt Einwirkungen von Individuen, die raſch vergänglich ſind, auf eine mehr dauernde oder ſich wiedererzeugende Weiſe aufzubewahren und zu vermitteln die Fähigkeit hat. Dieſe Verbindung von werthvoll nach dem Zweck eines ſolchen Syſtems geſtalteten Beſtandtheilen der Außenwelt mit der lebendigen, aber vorübergehenden Thätigkeit der Perſonen, erzeugt eine von den Individuen ſelber unabhängige äußere Dauer und den Charakter von maſſiver Objektivität dieſer Syſteme. Und ſo geſtaltet ſich jedes derſelben als eine auf einem Beſtandtheil der Natur der Perſonen beruhende, von ihm aus mannichfach ent - wickelte Thätigkeitsweiſe, welche im Ganzen der Geſellſchaft einem Zweck derſelben genügt, und die mit denjenigen in der Außenwelt hergeſtellten dauernden oder im Zuſammenhang mit der Thätigkeit ſich erneuenden Mitteln ausgeſtattet iſt, welche dem Zweck dieſer Thätigkeit dienen.
Das einzelne Individuum iſt ein Kreuzungspunkt einer Mehr - heit von Syſtemen, welche ſich im Verlauf der fortſchreitenden Kultur immer feiner ſpecialiſiren. Ja derſelbe Lebensakt eines Individuums kann dieſe Vielſeitigkeit zeigen. Indem ein Gelehrter ein Werk abfaßt, kann dieſer Vorgang ein Glied in der Verbin -64Erſtes einleitendes Buch.dung von Wahrheiten bilden, welche die Wiſſenſchaft ausmachen; zugleich iſt derſelbe das wichtigſte Glied des ökonomiſchen Vor - gangs, der in Anfertigung und Verkauf der Exemplare ſich voll - zieht; derſelbe hat weiter als Ausführung eines Vertrags eine rechtliche Seite, und er kann ein Beſtandtheil der in den Ver - waltungszuſammenhang eingeordneten Berufsfunktionen des Ge - lehrten ſein. Das Niederſchreiben eines jeden Buchſtabens dieſes Werkes iſt ſo ein Beſtandtheil all dieſer Syſteme.
Die abſtrakte Wiſſenſchaft ſtellt nunmehr dieſe ſo in der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit verwebten Syſteme neben - einander. Wird doch der Einzelne in ſie hineingeboren und findet ſie daher als eine Objektivität ſich gegenüber, die vor ihm war, nach ihm verbleibt und mit ihren Veranſtaltungen auf ihn wirkt. So ſtellen ſie ſich der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft als auf ſich ſelber beruhende Objektivitäten dar. Nicht nur die Wirth - ſchaftsordnung oder die Religion, ſelbſt die Wiſſenſchaft ſteht als eine ſolche bildlich vor uns. Der umfaſſende Schluß von der erſcheinenden Himmelskugel, von der täglichen und jährlichen Be - wegung der Sonne, den theilweiſe ſo verſchlungenen Bewegungen der Geſtirne an ihr auf die wirklichen Stellungen, Maſſen, Be - wegungsformen, Geſchwindigkeiten der Körper im Weltraume exiſtirt in ſeinen Gliedern für den heutigen Menſchen als ein ob - jektiver Thatbeſtand, Theil des umfaſſenderen der Naturwiſſenſchaft, ganz losgelöſt von den Perſonen, in denen er ſich vollzieht: ein Thatbeſtand, zu welchem ſich der Einzelne als zu einer geiſtigen Wirklichkeit verhält.
Indem ſo dieſe Syſteme nebeneinander der Analyſis unterworfen werden, können ſolche Unterſuchungen nur in ſteter Beziehung auf die andere Claſſe von Unterſuchungen angeſtellt werden, welche die Ge - meinſamkeiten und Verbände innerhalb der geſchichtlich-geſellſchaft - lichen Welt zu ihrem Gegenſtande haben. Im Hinblick auf dieſe Beziehung tritt ein für die Conſtitution dieſer Wiſſenſchaften folgen - reicher Unterſchied zwiſchen den einzelnen Syſtemen hervor.
Ein jedes derſelben entwickelt ſich innerhalb des Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Denn jedes iſt das Er -65Ihr Studium m. dem d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft verbunden.zeugniß eines Beſtandtheils der menſchlichen Natur, einer in ihm angelegten, durch den Zweckzuſammenhang des geſellſchaftlichen Lebens näher beſtimmten Thätigkeit. Es iſt in dieſer der Geſell - ſchaft aller Zeiten gemeinſamen Grundlage angelegt, wenn es auch erſt auf einer höheren Kulturſtufe zu abgeſonderter und innerlich reicher Entfaltung gelangt. In einem ſtärkeren oder geringeren Grade ſtehen nun dieſe Syſteme mit der äußeren Organiſation der Geſellſchaft in Beziehung, und dies Verhältniß bedingt ihre nähere Geſtaltung. Insbeſondere kann das Studium der Syſteme, in welche das praktiſche Handeln der Geſellſchaft ſich zerlegt hat, von dem Studium des politiſchen Körpers nicht getrennt werden, da ſein Wille alle äußeren Handlungen der ihm unterworfenen In - dividuen beeinflußt.
Das vorige Kapitel war der Darlegung des Unterſchieds zwiſchen den Syſtemen der Kultur und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft gewidmet. Das Kapitel, in welchem der Leſer ſich befindet und das die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur behandelt, hat zunächſt auf der Grundlage dieſer Darlegung den Begriff eines Syſtems der Kultur entwickelt. Von der Auffaſſung des Unterſchieds zwiſchen den Syſtemen der Kultur und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft wenden wir uns nun zu der Auffaſſung der Beziehungen zwiſchen ihnen.
Goethe hat in ſeiner reifen Epoche, in welcher ſeine natur - wiſſenſchaftliche Betrachtungsweiſe durch den Fortgang zur Zer - gliederung der geſchichtlichen Welt erſt zu einer Weltanſicht ſich erweiterte, nach dem Tode ſeines Freundes Karl Auguſt, aus der Einſamkeit von Dornburg (Juli 1828), ſeine Anſicht der ge - ſchichtlichen Welt folgendermaßen ausgedrückt. Er geht von dem Blick auf das Schloß und die Gegend unter ihm aus; ſo entſteht ihm ein anſchauliches Bild für die abſtrakte Wahrheit: „ die ver - nünftige Welt ſei von Geſchlecht zu Geſchlecht auf ein folgerechtesDilthey, Einleitung. 566Erſtes einleitendes Buch.Thun entſchieden angewieſen. “ Die Anſicht der geſellſchaftlich-ge - ſchichtlichen Wirklichkeit, welche ſich hieraus ergiebt, faßt er in dem „ hohen Wort eines Weiſen “zuſammen: „ die vernünftige Welt iſt als ein großes unſterbliches Individuum zu betrachten, welches unaufhaltſam das Nothwendige bewirkt und dadurch ſich ſogar über das Zufällige zum Herrn erhebt. “ Dieſer Satz begreift wie in einer Formel das in ſich, was die hier verſuchte Ueberſicht über die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit und ihre Wiſſen - ſchaften auf dem Wege einer allmäligen Zergliederung, welche von den Individuen als den Elementen der geſellſchaftlich-geſchicht - lichen Wirklichkeit ausgeht, gewonnen hat und noch gewinnen wird. Die Wechſelwirkung der Individuen ſcheint zufällig und unzuſammenhängend; Geburt und Tod und die ganze Zufälligkeit des Schickſals, die Leidenſchaften und der beſchränkte Egoismus, welche ſich im Vordergrund der Bühne des Lebens ſo breit machen: dies Alles ſcheint die Anſicht der Menſchenkenner zu beſtätigen, welche in dem Leben der Geſellſchaft nur Spiel und Widerſpiel von Intereſſen der Individuen unter der Einwirkung des Zufalls erblicken, die Anſicht des pragmatiſchen Hiſtorikers, für welchen der Verlauf der Geſchichte ſich ebenfalls in das Spiel der perſön - lichen Kräfte auflöſt. Aber in Wirklichkeit wird eben vermittelſt dieſer Wechſelwirkung der einzelnen Individuen, ihrer Leidenſchaften, ihrer Eitelkeiten, ihrer Intereſſen der noth - wendige Zweckzuſammenhang der Geſchichte der Menſchheit verwirklicht. Der pragmatiſche Hiſtoriker und Hegel verſtehen einander nicht, da ſie wie von der feſten Erde zu luftigen Höhen miteinander reden. Einen Theil der Wahrheit be - ſitzt doch jeder von beiden. Denn Alles was in dieſer geſchichtlich - geſellſchaftlichen Wirklichkeit vom Menſchen bewirkt wird, geſchieht vermittelſt der Sprungfeder des Willens: in dieſem aber wirkt der Zweck als Motiv. Es iſt ſeine Beſchaffenheit, es iſt das Allgemeingiltige und über das Einzelleben Hinausgreifende in ihm, gleichviel in welcher Formel man es faſſe, auf welchem der Zweck - zuſammenhang beruht, der durch die Willen hindurchgreift. In dieſem Zweckzuſammenhang vollbringt das gewöhnliche Treiben67Der Zweckzuſammenhang in der Geſellſchaft.der Menſchen, das nur mit ſich ſelber beſchäftigt iſt, doch was es muß. Und ſelbſt von den Handlungen ihrer Helden läßt die Geſchichte dasjenige erfolglos verſinken, was ſich dieſem Zweckzu - ſammenhang nicht einordnet. Dieſer große Zweckzuſammenhang verfügt aber in erſter Linie über zwei Mittel. Das erſte iſt das folgerichtige Ineinandergreifen der einzelnen Handlungen der verſchiedenen Individuen, aus welchem die Syſteme der Kultur hervorgehen. Das andere iſt die Macht der großen Willensein - heiten in der Geſchichte, welche ein folgerichtiges Thun innerhalb der Geſellſchaft vermittelſt der ihnen unterworfenen Einzelwillen herſtellen. Beide wirken Zweckzuſammenhang, ja beide ſind leben - diger Zweckzuſammenhang. Aber dieſer verwirklicht ſich dort durch das Thun ſelbſtändiger vermöge der Natur der Sache einander in ihrem Thun angepaßter Individuen, hier durch die Macht, welche eine Willenseinheit über die durch ſie gebundenen Individuen übt. Freies Thun und Regulirung der Thätigkeit, Fürſichſein und Gemeinſchaft ſtehen ſich hier einander gegenüber. Aber dieſe beiden großen Thatbeſtände ſtehen, wie Alles in der lebendigen Geſchichte, miteinander in Beziehung. Die ſelbſtändige folge - richtige Thätigkeit der Einzelnen geſtaltet bald Verbände zur Be - förderung ihrer Ziele, bald ſucht und findet ſie Stützpunkte in der vorhandenen Organiſation der Geſellſchaft oder ſie wird dieſer Organiſation auch gegen ihren Willen unterworfen. Ueberall aber ſteht ſie überhaupt unter der allgemeinen Bedingung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft, welche dem ſelbſtändigen und folge - richtigen Thun der Einzelnen einen Spielraum ſichert und eingrenzt.
So weiſen die Beziehungen, in denen die Syſteme der Kultur und die äußere Organiſation der Geſellſchaft in dem lebendigen Zweckzuſammenhang der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Welt zu ein - ander ſtehen, auf eine Thatſache zurück, welche die Bedingung alles folgerichtigen Thuns der Einzelnen bildet und in welcher noch Beides, Syſteme der Kultur und äußere Organiſation der Geſell - ſchaft ungeſchieden zuſammen iſt. Dieſe Thatſache iſt das Recht. In ihm iſt in ungeſonderter Einheit, was dann in Syſteme der5*68Erſtes einleitendes Buch.Kultur und äußere Organiſation der Geſellſchaft auseinandergeht: ſo klärt die Thatſache des Rechts die Natur der Sonderung, die hier ſtattfindet, und der mannigfachen Beziehungen des Geſonder - ten auf.
In der Thatſache des Rechts ſind, als an der Wurzel des geſellſchaftlichen Zuſammenlebens der Menſchen, die Syſteme der Kultur noch nicht von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft getrennt. Das Merkmal dieſes Thatbeſtandes iſt, daß jeder Rechts - begriff das Moment der äußeren Organiſation der Geſellſchaft in ſich enthält. An dieſem Punkte erklärt ſich ein Theil der Schwierig - keiten, welche ſich dem entgegenſtellen, der aus der Wirklichkeit des Rechts einen allgemeinen Begriff deſſelben abzuleiten beabſichtigt. Es erklärt ſich zugleich, wie der Neigung eines Theils der po - ſitiven Forſcher, die Eine der beiden Seiten in der Thatſache des Rechts herauszuheben, ſtets die Neigung eines anderen Theils gegenübertritt, welcher dann die von jenem vernachläſſigte Seite geltend macht.
Das Recht iſt ein auf das Rechtsbewußtſein als eine be - ſtändig wirkende pſychologiſche Thatſache gegründeter Zweckzu - ſammenhang. Wer dies beſtreitet, tritt in Widerſpruch mit dem realen Befund der Rechtsgeſchichte, in welchem der Glaube an eine höhere Ordnung, das Rechtsbewußtſein und das poſitive Recht in einem inneren Zuſammenhang mit einander ſtehen. Er tritt in Widerſpruch mit dem realen Befund der lebendigen Macht des Rechtsbewußtſeins, welches über das poſitive Recht übergreift, ja ſich demſelben entgegenſtellt. Er verſtümmelt die Wirklichkeit des Rechts (wie ſie z. B. in der hiſtoriſchen Stellung des Gewohn - heitsrechtes erſcheint), um ſie in ſeinen Vorſtellungskreis aufnehmen zu können. So opfert hier der ſyſtematiſche Geiſt, welcher ſich in den Geiſteswiſſenſchaften ſo ſelten der Grenzen ſeiner Leiſtung bewußt iſt, die volle Wirklichkeit der abſtrakten Anforderung an Einfachheit der Gedankenentwicklung.
Aber dieſer Zweckzuſammenhang des Rechts iſt auf eine äußere Bindung der Willen in einer feſten und allgemeingültigen Abmeſſung gerichtet, durch welche die Machtſphären der Individuen69Die Natur des Rechts.in ihrer Beziehung auf einander und die Welt der Sachen, ſowie auf die Geſammtwillen beſtimmt werden. Das Recht exiſtirt nur in dieſer Funktion. Selbſt das Rechtsbewußtſein iſt nicht ein theoretiſcher Thatbeſtand, ſondern ein Willensthatbeſtand.
Schon äußerlich angeſehn iſt der Zweckzuſammenhang des Rechts correlativ zu der Thatſache der äußeren Organiſation der Geſellſchaft: die beiden Thatſachen beſtehen jederzeit nur neben - einander, miteinander, und zwar ſind ſie nicht als Urſache und Wirkung miteinander verbunden, ſondern jede hat die andere zur Bedingung ihres Daſeins. Dies Verhältniß iſt eine der ſchwierig - ſten und wichtigſten Formen cauſaler Beziehung; es kann nur in einer erkenntnißtheoretiſchen und logiſchen Grundlegung der Geiſtes - wiſſenſchaften aufgeklärt werden; und ſo fügt ſich hier wieder ein Glied in die Kette unſerer Beweisführung, welche zeigt, wie die poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes gerade an den für ihre ſtrengere wiſſenſchaftliche Geſtaltung entſcheidenden Punkten zurückführen in eine grundlegende Wiſſenſchaft. Die poſitiven Forſcher, welche Klarheit ſuchen, aber ſie nicht durch Flachheit erkaufen wollen, finden ſich beſtändig auf eine ſolche grundlegende Wiſſenſchaft zu - rückgewieſen. Inſofern nun dies correlative Verhältniß zwiſchen dem Zweckzuſammenhang des Rechts und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft beſteht, hat das Recht, als Zweckzuſammenhang, in welchem das Rechtsbewußtſein wirkſam iſt, den Geſammtwillen d. h. den einheitlichen Willen der Geſammtheit und ſeine Herr - ſchaft über einen abgegrenzten Theil der Sachen zur Vorausſetzung. Der theoretiſche Satz, daß der Zweckzuſammenhang des Rechts, wenn man ihn hypothetiſch zuſammen mit der Abweſenheit jeder Art von Geſammtwillen vorſtellt, die Entſtehung eines ſolchen Geſammt - willens zur Folge haben müßte, enthält keinen benutzbaren Inhalt. Er ſagt nur aus, daß in der menſchlichen Natur Kräfte wirkſam ſind und mit dem Zweckzuſammenhang, der vom Rechtsbewußt - ſein ausgeht, in Verbindung ſtehen, welche dieſer Zweckzuſammen - hang alsdann mitzuergreifen vermögen würde, um ſich ſo die Vorausſetzungen ſeiner Wirkſamkeit zu ſchaffen. Weil dieſe Kräfte vorhanden ſind, weil ſie als Sprungfedern des geiſtigen Lebens70Erſtes einleitendes Buch.in Wirkſamkeit ſind: darum iſt eben, wo menſchliche Natur iſt, auch äußere Organiſation der Geſellſchaft da und hat nicht auf die Bedürfniſſe der Rechtsordnung zu warten. Und eben ſo wahr als dieſer Satz würde, entſprechend der angegebenen Zweiſeitigkeit in der Thatſache des Rechts, welche ſich bis auf jeden Rechtsbe - griff erſtreckt, der correſpondirende Satz ſein, welcher von der andern Seite in der Thatſache des Rechts ausginge. Denkt man ſich die äußere Organiſation der Geſellſchaft, etwa als Familien - verband oder als Staat, allein funktionirend: alsdann würde die - ſelbe die Beſtandtheile der Menſchennatur ergreifen, welche im Rechtsbewußtſein wirkſam ſind, der Verband würde in ſich eine Rechtsordnung entwickeln, er würde in den feſten und allgemein - giltigen Abmeſſungen des Rechts die Machtſphären der ihm Unter - worfenen gegen einander, in Bezug auf die Sachen, im Verhältniß zu ihm ſelber ordnen.
Alſo die beiden Thatſachen des Zweckzuſammenhangs im Recht und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft ſind correlativ. Aber auch dieſe Einſicht erſchöpft nicht die wahre Natur ihres Zuſammenhangs.
Das Recht tritt nur auf in der Form von Imperativen, hinter welchen ein Wille ſteht, der die Abſicht hat, ſie durchzu - ſetzen. Dieſer Wille iſt nun ein Geſammtwille d. h. der einheitliche Wille einer Geſammtheit; er hat in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft ſeinen Sitz: ſo in der Gemeinde, dem Staat, der Kirche. Je mehr wir nämlich auf die älteſten Zuſtände der Ge - ſellſchaft zurückgehn und uns ihrer genealogiſchen Gliederung nähern, um ſo deutlicher finden wir den Thatbeſtand: die Macht - ſphären der Individuen in Bezug auf einander und in Bezug auf die Sachen ſind im Zuſammenhang mit den Funktionen dieſer Individuen in der Geſellſchaft, ſonach mit der äußeren Organi - ſation dieſer Geſellſchaft abgemeſſen. Die Verſelbſtändlichung des Privatrechts gegenüber den Funktionen der Individuen und ihres Beſitzes in der Geſellſchaft bezeichnet ein ſpätes Stadium, in welchem der anwachſende Individualismus die Rechtsentwicklung beſtimmt, und ſie bleibt immer nur relativ. Da ſo der Geſammt -71Die Natur des Rechts.wille unter Berückſichtigung der Funktion der Einzelnen innerhalb der Organiſation, welche er beherrſcht, die Rechte derſelben abmißt, ſo hat die Rechtsbildung in dieſem Geſammtwillen ihren Sitz. Dem entſprechend iſt es auch dieſer Geſammtwille, welcher die von ihm aufgeſtellten Imperative aufrecht erhält und ihre Ver - letzung zu ahnden den Antrieb ſelbſtverſtändlich in ſich enthält. Und zwar beſteht dieſer Antrieb und ſtrebt ſich durchzuſetzen, mögen dem Geſammtwillen beſondere regelmäßige Organe für die Formulirung und Promulgation ſowie für die Vollziehung ſeiner Imperative zu Gebote ſtehen oder mögen dieſe fehlen. Wie ſie ja z. B. nach der einen Richtung im Gewohnheitsrecht, nach der anderen im Völkerrecht wie hinſichtlich der den Souverän ſelber betreffenden Sätze im Staatsrecht nicht vorhanden ſind.
Sonach wirken in der Rechtsbildung der Geſammtwille, welcher Träger des Rechtes iſt, und das Rechtsbewußtſein der Einzelnen zuſammen. Dieſe Einzelnen ſind und verbleiben leben - dige rechtsbildende Kräfte; auf ihrem Rechtsbewußtſein beruht die Geſtaltung des Rechtes einerſeits, während ſie andrerſeits von der Willenseinheit, die ſich in der äußeren Organiſation der Geſell - ſchaft gebildet hat, abhängt. Das Recht hat daher weder voll - ſtändig die Eigenſchaften einer Funktion des Geſammtwillens noch vollſtändig die eines Syſtems der Kultur. Es vereinigt weſent - liche Eigenſchaften beider Claſſen von geſellſchaftlichen Thatſachen in ſich.
Jenſeit deſſelben treten das auf einander bezogene Thun der Einzelnen, in welchem ein Syſtem der Kultur ſich ausbildet, und die Leiſtungen von Geſammtwillen, welche Glieder der äußeren Organiſation der Geſellſchaft ſind, in zunehmen - der Sonderung auseinander.
Das Syſtem, welches die politiſche Oekonomie analyſirt, hat zwar ſeine Anordnung nicht durch den Staatswillen erhalten, aber es iſt durch die ganze Gliederung des geſchichtlich-geſellſchaft - lichen Ganzen ſehr beeinflußt und durch Anordnungen ſeitens des Staatswillens innerhalb der einzelnen politiſchen Körper erheblich mitbeſtimmt. So ſtellt es ſich unter dem einen Geſichtspunkt als72Erſtes einleitendes Buch.Gegenſtand einer allgemeinen Theorie, der Wirthſchaftslehre dar, unter dem anderen als Inbegriff von Einzelgeſtalten, von Volks - wirthſchaftsganzen, deren jedes wie durch alles, was alle Volks - genoſſen zuſammen beeinflußt, ſo auch durch den Staatswillen und die Rechtsordnung bedingt iſt. Das Studium der allgemeinen Eigen - ſchaften des Syſtems, welche aus dem Beſtandtheil der Natur des Menſchen, in welchem es gegründet iſt, und den allgemeinen Be - dingungen der Natur und der Geſellſchaft, unter denen es wirkt, herfließen, wird hier ergänzt durch das Studium des Einfluſſes, welchen die nationale Organiſation und die regelnde Einwirkung des Staatswillens ausüben.
In der Sittlichkeit löſt ſich ſchon auf dem Gebiet des prak - tiſchen Handelns die innere Kultur von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft los. Wenn wir die Syſteme, in welche das prak - tiſche Handeln der Geſellſchaft ſich zerlegt hat, verlaſſen, finden wir dieſe Abſonderung überall. Sprache und Religion haben unter dem Einfluß der Gliederung der Menſchheit, der Strömungen der Geſchichte, der Bedingungen der äußeren Natur, ſich zu mehreren abgegrenzten Ganzen entwickelt, innerhalb deren der Beſtandtheil und Zweck des geiſtigen Wirkens, der in ſeiner Gleichartigkeit durch das eine und das andere Syſtem hindurchgeht, ſich zu einer Viel - heit beſonderer Geſtalten der Anordnung entfaltet. Kunſt und Wiſſenſchaft ſind Weltthatſachen, die von keiner Schranke der Staaten oder der Völker oder der Religionen aufgehalten werden, ſo mächtig auch dieſe Abgrenzungen des geſellſchaftlichen Kosmos auf ſie eingewirkt haben und obwol ſie in hohem Grade noch heute auf ſie einwirken. Das Syſtem der Kunſt wie das der Wiſſenſchaft können in den Grundzügen entwickelt werden, ohne daß die Einführung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft in die Unterſuchung für die Entwicklung dieſer Grundzüge erforderlich wäre. Weder die Grundlagen der Aeſthetik noch die der Wiſſen - ſchaftslehre ſchließen den Einfluß des nationalen Charakters auf Kunſt und Wiſſenſchaft oder die Wirkung von Staat und Ge - noſſenſchaften auf dieſelben ein.
Von der Erörterung der Beziehung, in welcher die Syſteme73Die Erkenntniß der Syſteme der Kultur.der Kultur, um deren Erkenntniß es ſich hier handelt, zu der äußern Organiſation der Geſellſchaft ſtehen, wenden wir uns nun - mehr zu den allgemeinen Eigenſchaften der Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur ſowie zu den Fragen über die Abgrenzung des Umfangs dieſer Wiſſenſchaften.
Die Erkenntniß eines einzelnen Syſtems vollzieht ſich in einem Zuſammenhang methodiſcher Operationen, welche durch die Stellung deſſelben innerhalb der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit bedingt iſt. Ihre Hilfsmittel ſind mannigfach: Zergliederung des Syſtems, Vergleichung der Einzelgeſtalten, welche es in ſich faßt, Verwerthung der Beziehungen, in welchen dies Unterſuchungs - gebiet einerſeits zu der pſychologiſchen Erkenntniß der Lebens - einheiten ſteht, welche die Elemente der das Syſtem bildenden Wechſelwirkungen ſind, andrerſeits zu dem geſchichtlich-geſellſchaft - lichen Zuſammenhang, aus welchem es für die Unterſuchung aus - geſondert iſt. Aber der Erkenntnißvorgang ſelber iſt nur Einer. Die Unhaltbarkeit der Sonderung philoſophiſcher und poſi - tiver Unterſuchung ergiebt ſich einfach daraus, daß die Begriffe, deren ſich dieſe Erkenntniſſe bedienen (z. B. im Recht der Wille, die Zurechnungsfähigkeit etc., in der Kunſt die Einbildungskraft, das Ideal etc.), ſowie die elementaren Sätze, zu welchen ſie gelangen oder von denen ſie ausgehen (z. B. das Prinzip der Wirthſchaftlichkeit in der politiſchen Oekonomie, das Prinzip der Metamorphoſe der Vorſtellungen unter dem Einfluß des Gemüthslebens in der Aeſthetik, die Denkgeſetze in der Wiſſenſchaftslehre), nur unter Mit - wirkung der Pſychologie zureichend feſtgeſtellt werden können. Ja die großen Gegenſätze ſelber, welche die poſitiven Forſcher in Be - zug auf die Auffaſſung dieſer Syſteme trennen, können nur mit Hilfe einer wahrhaft deſcriptiven Pſychologie eine Löſung finden, weil ſie in der Verſchiedenheit des typiſchen Bildes der menſch - lichen Natur, das den Forſchern vorſchwebte, mitbegründet waren. 74Erſtes einleitendes Buch.Ich erläutere dieſen wichtigen Punkt an einem hervorragenden Beiſpiel. Die Ableitung der Sprache, der Sitten, des Rechts aus verſtandesmäßiger Erfindung hat lange auch die poſitiven Wiſſen - ſchaften dieſer Syſteme beherrſcht; dieſe pſychologiſche Theorie wurde abgelöſt durch die großartige Anſchauung eines unbewußt in der Weiſe des künſtleriſchen Genius ſchaffenden Volksgeiſtes, eines organiſchen Wachsthums ſeiner Hauptlebensäußerungen. Dieſe Theorie, getragen durch die metaphyſiſche Formel eines unbewußt ſchaffenden Weltgeiſtes, verkannte aber, mit derſelben pſychologiſchen Einſeitigkeit als jene ältere, den Unterſchied zwiſchen den Schöpfungen, welche auf einem geſteigerten Vermögen der Anſchauung beruhen, und denen, welche die harte Arbeit des Verſtandes und die Be - rechnung hervorbringt. Jene wirkt unbewußt in der geſetzmäßigen Entfaltung ihrer Bilder, wie man dies ſchon an den von Johannes Müller zuerſt aufgedeckten elementaren Proceſſen ſtudiren kann: von pſychologiſchen Unterſuchungen in dieſer Richtung wird das Verſtändniß der Geſtaltungen im Syſtem der Kunſt mitbedingt1)Joh. Müller zuerſt in ſeiner Schrift über die phantaſtiſchen Geſichts - erſcheinungen. Coblenz. 1826. Ich habe einen Verſuch gemacht, die Ein - bildungskraft des Dichters durch eine Verknüpfung der hiſtoriſchen mit den pſychologiſchen und pſychophyſiſchen Thatſachen aufzuklären: über die Ein - bildungskraft der Dichter, Zeitſchrift für Völkerpſychologie und Sprachwiſſen - ſchaft. Bd. X, 1878. S. 42 — 104.. Verſtand, der in Begriffen, Formeln und Inſtitutionen arbeitet, iſt anderer Art. So hat Ihering den Nachweis unternommen, daß die Begriffe und Formeln des älteren römiſchen Rechts das Er - gebniß bewußter, verſtandesmäßig geſchulter juriſtiſcher Kunſt ſind, harter Arbeit juriſtiſchen Denkens, welcher Vorgang freilich nicht in ſeiner urſprünglichen flüſſigen Geſtalt erhalten iſt, ſondern „ ob - jektivirt und comprimirt auf kleinſtem Raume, d. h. in Geſtalt von Rechtsbegriffen “. Die juriſtiſche Methode als die des zer - legenden Verſtandes, gegenüber ihrem Material, den realen Lebens - verhältniſſen, wird von Ihering zuerſt an der Struktur des älteren römiſchen Proceſſes und des Rechtsgeſchäftes aufgezeigt, alsdann an der Struktur der materiellen Rechtsbegriffe dieſer älteren75Die Erkenntniß der Syſteme der Kultur.römiſchen Jurisprudenz. Faßt man dieſes Problem für das Syſtem des Rechts allgemein und vergleichend, ſo kann die Mit - wirkung der Pſychologie nicht entbehrt werden, und Ihering ſelber hat, indem er von ſeinem Geiſt des römiſchen Rechts zu dem Werke über den Zweck im Recht vorandrang und den Nachweis unternahm, daß „ der Zweck die Grundlage des ganzen Rechts - ſyſtems ſei “, ſich entſchließen müſſen, „ auf ſeinem Gebiet Philo - ſophie zu treiben “d. h. eine pſychologiſche Grundlegung zu ſuchen.
Dieſe einzelnen Syſteme und ihr Zuſammenhang im Leben der Geſellſchaft können nur in dem Zuſammenhang der Unter - ſuchungen ſelber, an deren Eingang wir uns befinden, aufgefunden werden. Inzwiſchen ſtehen dieſelben vor der Betrachtung wie anſchauliche mächtige objektive Thatſachen. Der menſchliche Geiſt hat ſie zu ſolchen geſtaltet, bevor er ſie wiſſenſchaftlich be - trachtet hat. Es giebt ein Stadium in der Entwicklung dieſer Syſteme, in welchem das theoretiſche Nachdenken von dem prak - tiſchen Wirken und Bilden noch ungeſchieden iſt. So war der - ſelbe Verſtand, welcher ſich ſpäter der bloß theoretiſchen Begrün - dung und Erklärung des Rechts, des wirthſchaftlichen Lebens zuwandte, zunächſt mit der Geſtaltung dieſer Syſteme beſchäftigt. Einige unter dieſen mächtigen Realitäten (als ſolche erſcheinen ſie wenigſtens der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft), wie die Religion und das Recht, haben ſich zu ſehr umfangreichen Syſtemen von Wiſſenſchaften ausgebildet.
So viel ich ſehe, ſcheint nur die Betrachtung der Gebiete des Rechts und der Sittlichkeit Schwierigkeiten darbieten zu können, wenn man die hier dargelegte Auffaſſung von Grundſyſtemen der Geſellſchaft auf den Beſtand der poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes anwendet. — Dieſe Schwierigkeiten ſind in Bezug auf das Recht ganz andere als in Bezug auf die Sittlichkeit und ſie ſind in dem Vorhergehenden aufzulöſen verſucht worden. Die Wiſſen - ſchaften des Rechts können dem Entwickelten zufolge von denen der äußeren Organiſation der Geſellſchaft nur in einer unvoll - kommenen Weiſe getrennt werden; denn in dem Recht iſt der Charakter eines Syſtems der Kultur von dem eines Beſtandtheils76Erſtes einleitendes Buch.der äußeren Organiſation nicht geſchieden und es vereinigt weſent - liche Eigenſchaften beider Claſſen von geſellſchaftlichen Thatſachen in ſich. — Ein Bedenken ganz anderer Art ſcheint ſich zu erheben, wenn man die Sittlichkeit als ein ſolches Syſtem auffaßt, das auch eine Funktion in dem geſellſchaftlichen Leben hat, die Sittenlehre als eine Wiſſenſchaft eines ſolchen Syſtems der Kultur. Nicht als eine ſolche Objektivität, ſondern als ein Im - perativ des perſönlichen Lebens iſt ſie gerade von einigen ſehr tiefen Forſchern aufgefaßt worden. Selbſt ein Philoſoph von der Richtung Herbert Spencer’s hat in dem Plan ſeines Rieſenwerkes die Ethik, „ die Theorie über das rechtſchaffene Leben “als den Schlußtheil deſſelben von der Sociologie getrennt. So iſt unum - gänglich, dieſe Inſtanz gegen die vorliegende Vorſtellung in’s Auge zu faſſen.
In der That exiſtirt ein Syſtem der Sittlichkeit, mannig - fach abgeſtuft, in langer geſchichtlicher Entwicklung erwachſen, örtlich vielfach ſelbſtändig geartet, in einer Vielfachheit von Formen aus - geprägt: eine nicht minder mächtige und wahrhafte Realität als Religion oder Recht. Sitte, als die Regel, das Wiederkehrende, die Form des Stetigen und Allgemeinen in Handlungen, bildet nur die neutrale Grundlage, die ſowohl den Erwerb aufgefundener Zweckmäßigkeit des Handelns, das unter möglichſt geringem Widerſtand ſein Ziel erreichen will, in ſich faßt, als den an - geſammelten Reichthum von Maximen der Sittlichkeit, ſelbſt eine Seite des Gewohnheitsrechts, nach welcher es den Inbegriff ge - meinſamer Rechtsüberzeugungen umfaßt, ſofern ſie durch Uebung ſich als beherrſchende Macht über die Einzelnen manifeſtiren. Wie denn Ulpian die mores definirt als tacitus consensus po - puli, longa consuetudine inveteratus1)Ulpiani fragm. princ. § 4 [Huschke]. . Die Sitte grenzt ſich nach Völkern und Staaten deutlich ab. Dagegen bildet die Sitt - lichkeit ein einziges Idealſyſtem, das durch den Unterſchied von Gliederungen, Gemeinſchaften, Verbänden nur modificirt wird. Die Erforſchung dieſes Idealſyſtems vollzieht ſich in der77Sittlichkeit ein Syſtem der Kultur.Verbindung pſychologiſcher Selbſtbeſinnung mit der Vergleichung ſeiner Modifikationen bei verſchiedenen Völkern, für welche von allen Geſchichtſchreibern Jakob Burckhardt den tiefſten Blick ge - zeigt hat.
Dieſes Syſtem der Sittlichkeit beſteht nicht in Handlungen der Menſchen, ja kann nicht einmal an dieſen zunächſt ſtudirt werden, ſondern es beſteht in einer beſtimmten Gruppe von Thatſachen des Bewußtſeins und demjenigen Beſtandtheil der menſchlichen Handlungen, welcher durch ſie hervorgebracht wird. Wir ſuchen zunächſt dieſe Thatſachen des Bewußtſeins in ihrer Vollſtändigkeit aufzufaſſen. Das Sittliche iſt in einer doppelten Form vorhanden, und die beiden Geſtalten, in denen es erſcheint, wurden Ausgangspunkte für zwei einſeitige Schulen der Moral. Es iſt da als Urtheil des Zuſchauers über Handlungen und als ein Beſtandtheil in den Motiven, welcher ihnen einen von dem Erfolg der Handlungen in der Außenwelt (ſonach der Zweck - mäßigkeit derſelben) unabhängigen Gehalt giebt. Es iſt in beiden Geſtalten daſſelbe. In der einen erſcheint es als in der Motivation lebendige Kraft, in der anderen als von außen gegen die Hand - lungen anderer Individuen in unparteiiſcher Billigung oder Miß - billigung reagirende Kraft. Dieſer wichtige Satz kann folgender - maßen bewieſen werden. In jedem Fall, in welchem ich mich als Handelnder unter der Nöthigung einer moraliſchen Verbind - lichkeit befinde, läßt ſich dieſe in demſelben Satz ausdrücken, welcher meinem Urtheil als Zuſchauer zu Grunde liegt. Indem die Ethik bisher immer eine von beiden Geſtalten zu Grunde legte, Kant und Fichte das Sittliche als in der Motivation lebendige Kraft, die hervorragenden engliſchen Moraliſten und Herbart als eine von außen gegen die Handlungen Anderer reagirende Kraft: gingen ſie der allſeitigen, ganz gründlichen Einſicht verluſtig. Denn Bei - fall und Mißfallen des Zuſchauers enthalten das Sittliche zwar ungeſondert (ein unſchätzbarer Vortheil), aber in abgeblaßter Form. Zumal die innere Verbindung des Beweggrundes mit dem ganzen Inhalt des Geiſtes, wie ſie in den ſittlichen Kämpfen des Han - delnden mit ſolcher Gewalt an das Licht gebracht wird, iſt hier78Erſtes einleitendes Buch.ganz abgeſchwächt. Wo andrerſeits das Sittliche in der Motivation ſelber zum Gegenſtand der Unterſuchung gemacht wird, iſt die Analyſe ſehr ſchwierig. Denn nur der Zuſammenhang zwiſchen Motiv und Handlung iſt uns in klarem Bewußtſein gegeben; die Motive aber treten auf eine uns räthſelhafte Weiſe hervor. Daher iſt der Charakter des Menſchen dieſem ſelber ein Geheimniß, welches ihm nur ſeine Handlungsweiſe theilweiſe ſichtbar macht. Durch - ſichtigkeit des Zuſammenhangs von Charakter, Motiv und Hand - lung eignet den Geſtalten des Dichters, nicht der Anſchauung des wirklichen Lebens, und ſo liegt auch das Aeſthetiſche in der Er - ſcheinung des wirklichen Menſchen darin, daß über ſeinen Hand - lungen noch ein Abglanz der hervorbringenden Seele leuchtender als über denen der anderen Menſchen liegt.
In dieſer Doppelgeſtalt durchwirkt nun das ſittliche Bewußt - ſein in einem unendlich verzweigten Spiel von Wirkungen und Reaktionen die ganze beſeelte Geſellſchaft. Dem Entwickelten ent - ſprechend kann das Bewegende in ihm in zwei Formen von Kräften zerlegt werden. Es wirkt zunächſt direkt, als Ausbildung eines moraliſchen Bewußtſeins und unter ſeinem Antrieb ſtehende Regelung der Handlungen. Alles was das Leben für den Menſchen lebenswerth macht, ruhet auf dem Grunde des Gewiſſens: denn wer Gefühl ſeiner Würde hat und darum dem, was ſonſt ſich wandeln kann, gefaßt in’s Auge blickt, bedarf doch dieſes Fun - damentes nicht nur bei ſich, ſondern auch bei denen, die er liebt, um leben zu können. Die andere Form von pſychologiſcher Kraft, durch welche das ſittliche Bewußtſein in der Geſellſchaft wirkt, iſt indirekt. Das moraliſche Bewußtſein, das ſich in der Geſellſchaft ausbildet, wirkt als ein Druck auf den Einzelnen. Gerade hierauf iſt es gegründet, daß Sittlichkeit als ein Syſtem über den weiteſten Umkreis der Geſellſchaft herrſcht und ſich die mannigfachſten Be - weggründe in ihr unterwirft. Sklaven gleich, dienen gezwungen dieſer Macht des ſittlichen Syſtems auch die niedrigſten Motive. Die öffentliche Meinung, das Urtheil der anderen Menſchen, die Ehre: dieſe ſind die ſtarken Bänder, welche die Geſellſchaft da zu - ſammenhalten, wo der Zwang, den das Recht übt, verſagt. Und79Sittlichkeit ein Syſtem der Kultur.wenn ein Menſch auch ganz überzeugt wäre, daß die Mehrzahl der ihn Verurtheilenden ganz ſo handeln würde, als er ſelber gehandelt hat, falls ſie nur dem Urtheil der Welt ſich dabei zu entziehen vermöchten: auch dies hebt den Bann nicht auf, unter dem ſeine Seele ſteht, wie das Raubthier unter dem Bann der Augen eines muthigen Menſchen, wie der Verbrecher unter dem Bann der hundert Augen des Geſetzes. Will er dieſer Totalmaſſe der öffentlichen ſittlichen Meinung ſich wirklich entziehen, ſo erträgt er nur dann die Wucht ihres Anpralls, wenn er zuſammenſteht mit Anderen, in einer anderen Atmosphäre von öffentlicher Mei - nung, welche ihn trägt. Dieſe regulirende Gewalt des ſittlichen Geſammtgewiſſens bewirkt andrerſeits im Beginn der perſönlichen Entwicklung, ſowie für die nicht ſittlich ſelbſtändig Fühlenden, ja im Einzelnen ſchließlich auch für die ſittlich Höchſtſtehenden die Uebertragung des Geſammtergebniſſes der ſittlichen Kultur, welches Niemand in jedem Moment des bewegten Lebens ganz ſelbſtändig in ſeinen mannigfachen Verzweigungen in ſich hervorzubringen vermöchte.
So bildet ſich in der Geſellſchaft ein ſelbſtändiges Syſtem der Sittlichkeit aus. Neben dem des Rechtes, das auf den äußeren Zwang angewieſen iſt, regulirt es mit einer Art von innerem Zwang das Handeln. Und die Moral hat ſonach in den Geiſteswiſſenſchaften nicht ihre Stelle als bloßer Inbegriff von Imperativen, der das Leben des Einzelnen regelt, ſondern ihr Gegenſtand iſt eines der großen Syſteme, welche im Leben der Geſellſchaft ihre Funktion haben.
An den Zuſammenhang dieſer Syſteme, welche in direkter Weiſe Zwecke verwirklichen, die in den Beſtandtheilen der menſchlichen Natur angelegt ſind, ſchließen ſich die Syſteme von Mitteln, welche in dem Dienſte der direkten Zwecke des geſellſchaftlichen Lebens ſtehen. Ein ſolches Syſtem von Mitteln iſt die Erziehung. Aus den Be - dürfniſſen der Geſellſchaft entſtanden die einzelnen Schulkörper, als Leiſtung von Privatperſonen ſowie von Verbänden, aus un - ſcheinbaren Anfängen: differenzirten ſich, traten in Verbindung untereinander, und nur allmälig, nur theilweiſe wurde das80Erſtes einleitendes Buch.Erziehungsweſen in den Zuſammenhang der Staatsverwaltung ſelber aufgenommen.
Dieſe Syſteme erlangen in der Geſellſchaft vermöge der beſtändigen Anpaſſung Einer Einzelthätigkeit in ihnen an die andere, ſowie vermöge der einheitlichen Zweckthätigkeit der zu ihnen gehörigen Verbände eine allgemeine Anpaſſung ihrer Funk - tionen und Leiſtungen aneinander, welche ihrer inneren Beziehung gewiſſe Eigenſchaften eines Organismus giebt. Die menſchlichen Lebenszwecke ſind Bildungskräfte der Geſellſchaft, und wie ver - mittelſt ihrer Gliederung die Syſteme auseinandertreten: bilden dieſe Syſteme untereinander eine entſprechende Gliederung höherer Ordnung. Der letzte Regulator dieſer vernünftigen Zweckthätig - keit in der Geſellſchaft iſt der Staat.
Von dieſen Wiſſenſchaften, welche die Syſteme der Kultur ſowie die in dieſen Syſtemen ausgebildete Inhaltlichkeit zum Objekte haben, ſie in geſchichtlichem Erfaſſen, in Theorie und Regelgebung erforſchen, trennte ein überall gleichförmig durch - geführter Vorgang von Abſtraktion die anderen Wiſſenſchaften, deren Gegenſtand die äußere Organiſation der Geſellſchaft iſt. In den Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur werden die pſychiſchen Elemente in verſchiedenen Individuen zunächſt nur als in einem Zweckzuſammenhang geordnet aufgefaßt. Es giebt eine hiervon verſchiedene Betrachtungsweiſe, welche die äußere Organiſation der Geſellſchaft betrachtet, ſonach die Verhältniſſe von Gemeinſchaft, äußerer Bindung, Herrſchaft, Unterordnung der Willen in der Geſellſchaft. Dieſelbe Richtung der Abſtraktion81Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.iſt wirkſam, wenn die politiſche Geſchichte von der Kulturgeſchichte unterſchieden wird. Insbeſondere die dauernden Geſtaltungen, welche in dem Leben der Menſchheit, auf der Baſis der Gliede - rung derſelben in Völker, auftreten und welche vor Allem die Träger ihres Fortſchritts ſind, fallen unter dieſen doppelten Geſichtspunkt von Beziehungen pſychiſcher Elemente in verſchiedenen Individuen innerhalb eines Zweckzuſammenhangs zu einem Kulturſyſtem, und von Bindung der Willen nach den Grundverhältniſſen von Ge - meinſchaft und Abhängigkeit zu einer äußeren Organiſation der Geſellſchaft.
Ich erläutere dieſen Begriff der äußeren Organiſation. Das Erlebniß, vom Subjekt aus angeſehen, iſt, daß daſſelbe ſeinen Willen in einem Zuſammenhang äußerer Bindungen, in Herrſchafts - und Abhängigkeitsverhältniſſen gegenüber Perſonen und Sachen, in Gemeinſchaftsbeziehungen findet. Dieſelbe ungetheilte Perſon iſt zugleich Glied einer Familie, Leiter einer Unternehmung, Gemeindeglied, Staatsbürger, in einem kirchlichen Verbande, dazu etwa Genoſſe eines Gegenſeitigkeitsvereines, eines politiſchen Ver - eines. Der Wille der Perſon kann ſo auf höchſt vielfache Weiſe verwoben ſein, und wirkt dann in jeder dieſer Verwebungen nur vermittelſt des Verbandes, in welchem er ſich befindet. Dieſer That - beſtand, zuſammengeſetzt wie er iſt, hat eine Miſchung von Macht - gefühl und Druck, von Gefühl der Gemeinſchaft und des Fürſich - ſeins, von äußerer Bindung und Freiheit zur Folge, welche einen weſentlichen Beſtandtheil unſeres Selbſtgefühls bildet. Objektiv angeſehen, finden wir in der Geſellſchaft die Individuen nicht nur durch Correſpondenz ihrer Thätigkeiten aufeinander bezogen, nicht als nur in ſich ruhende oder auch in der freien ſittlichen Tiefe ihres Weſens einander hingegebene Einzelweſen, ſondern dieſe Ge - ſellſchaft bildet einen Zuſammenhang von Verhältniſſen der Ge - meinſchaft und Bindung, in welchen die Willen der Individuen eingefügt ſind, gleichſam eingebunden. Und zwar zeigt uns ein Blick auf die Geſellſchaft zunächſt eine unermeßliche Anzahl ver - ſchwindend kleiner, raſch vorübergehender Beziehungen, in welchen Willen vereinigt und in Bindungsverhältniß erſcheinen. AlsdannDilthey, Einleitung. 682Erſtes einleitendes Buch.entſpringen dauernde Verhältniſſe dieſer Art aus dem wirthſchaft - lichen Leben und den anderen Kulturſyſtemen. Vor Allem aber: in Familie, Staat und Kirche, in Körperſchaften und in Anſtalten ſind Willen zu Verbänden zuſammengefügt, durch welche eine theil - weiſe Einheit derſelben entſteht: dies ſind conſtante Gebilde von freilich ſehr verſchiedener Lebensdauer, welche beharren, während Individuen ein - und austreten, wie ein Organismus beharrt trotz des Eintritts und Austritts der Molecüle und Atome, aus denen er beſteht. Wie viele Geſchlechter der Menſchen, wie viele Geſtal - tungen der Geſellſchaft hat die mächtigſte Organiſation, welche der Boden dieſer Erde bisher getragen hat, die katholiſche Kirche, kommen und gehen ſehen, von der Zeit, in welcher Sklaven neben ihren Herren zu den unterirdiſchen Grüften der Märtyrer ſchlichen, zu der Zeit, in welcher in ihren mächtigen Domen der adlige Grund - herr und der leibeigene Mann, dazwiſchen ein freier Bauer, der Innungsgenoſſe aus der Stadt und der Mönch vereinigt waren, bis zu dem heutigen Tag, an dem dieſe bunte Gliederung in dem modernen Staat großentheils untergegangen iſt! So ſind in der Geſchichte Verbände der verſchiedenſten Lebensdauer ineinanderver - flochten. Indem das Verbandsleben der Menſchheit eine Generation mit der anderen in einem ſie überdauernden Gebilde verknüpft, ſammelt ſich in der feſteren Form, die ſo entſteht, ſichrer, behüte - ter, wie unter einer ſchützenden Bedeckung, der durch die Arbeit des Menſchengeſchlechtes innerhalb der Kulturſyſteme wach - ſende Erwerb. So iſt Aſſociation eines der mächtigſten Hilfsmittel des geſchichtlichen Fortſchritts. Indem ſie die Gegenwärtigen mit denen vor ihnen und nach ihnen verknüpft, entſtehen willensmächtige Einheiten, deren Spiel und Widerſpiel das große Welttheater der Geſchichte erfüllt. Keine Phantaſie kann die Fruchtbarkeit dieſes Prinzips in der künftigen Geſtaltung der Geſellſchaft ausdenken. Vermochte doch die Menſchenbeobachtung eines Kant das Traum - bild vor ſeiner Seele nicht zu verſcheuchen, welches zu dem Gefühl von Verwandtſchaft, das die Menſchheit einſchließt, zu der Coordi - nation unſrer Thätigkeiten und unſerer Zwecke, zu der örtlichen Vereinigung auf dieſer Erde, als unſrem gemeinſamen Wohnhauſe,83Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.auch die äußere Verbindung hinzudachte: eine das ganze Menſchen - geſchlecht umſpannende Aſſociation.
Zwei pſychiſche Thatſachen liegen dieſer äußeren Organiſation der Menſchheit überall zu Grunde. Sie gehören ſonach zu den pſychiſchen Thatſachen zweiter Ordnung, welche für dieſe theore - tiſchen Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft grundlegend ſind.
Eine von ihnen iſt in jeder Art von Gemeinſchaft und Be - wußtſein von Gemeinſchaft vorliegend. Wird ſie mit dem Ausdruck: Gemeinſinn oder Geſelligkeitstrieb bezeichnet, ſo muß, wie bei der Unterſcheidung von Vermögen rückſichtlich der pſychi - ſchen Thatſachen erſter Ordnung, feſtgehalten werden, daß dies nur ein zuſammenfaſſender Ausdruck für das dieſer Thatſache zu Grunde liegende x iſt; daſſelbe kann ebenſogut eine Mehrheit von Faktoren enthalten als eine einheitliche Grundlage. — Die That - ſache ſelber aber iſt dieſe: mit ſehr verſchiedenen pſychiſchen Be - ziehungen zwiſchen Individuen, mit dem Bewußtſein gemeinſamer Abſtammung, mit örtlichem Zuſammenwohnen, mit der Gleich - artigkeit der Individuen, die in ſolchen Verhältniſſen gegründet iſt (denn Ungleichheit iſt nicht als ſolche ein Band von Gemeinſchaft, ſondern nur ſofern ſie ein Ineinandergreifen der Verſchiedenen zu einer Leiſtung ermöglicht, ſei ſie auch nur die eines geiſtreichen Geſprächs oder eines erfriſchenden Eindrucks in der Einförmig - keit des Lebens), mit der mannigfachen Zuſammenordnung durch die im pſychiſchen Leben angelegten Aufgaben und Zwecke, mit dem Thatbeſtand von Verband iſt in irgend einem Grade ein Gemein - ſchaftsgefühl verknüpft, wofern es nicht durch eine entgegenſtehende pſychiſche Einwirkung aufgehoben wird. So iſt mit der Zweck - vorſtellung eines Thuns und den ihr verbundenen Antrieben in A, welche auf den entſprechenden mitwirkenden Vorgang in B und C rechnen, in A ein Gefühl von Zuſammengehörigkeit und Gemein - ſchaft verwebt: eine Solidarität der Intereſſen. Wir können die beiden pſychiſchen Thatbeſtände, das Verhältniß, das zu Grunde liegt, und das Gemeinſchaftsgefühl, vermöge deſſen es ſich gewiſſer - maßen im Gefühlsleben reflektirt, von einander deutlich ſondern. — Jeder Kunſt der Analyſe ſpottet nun die außerordentliche Mannig -6*84Erſtes einleitendes Buch.faltigkeit, die Feinheit der Unterſchiede, in welcher dies für das geſchichtlich-geſellſchaftliche Leben ſo wichtige Gefühl die äußere Organiſation der Menſchheit durchzittert und mit ſeiner Innigkeit belebt. Die Analyſe deſſelben bildet daher eines der fundamentalen Probleme dieſer Einzeltheorien der Geſellſchaft. Auch an dieſem Punkte ſteht der verſchleiernde Nebel einer Abſtraktion, eines Triebs oder Sinns, der als eine Weſenheit in den Staatswiſſenſchaften und der Geſchichte aufzutreten pflegt, zwiſchen dem Beobachter und der Mannigfaltigkeit des Phänomens. Es bedarf der Einzel - analyſen. Wie außerordentlich war die Wirkung jener Einzel - analyſe auf die theologiſche Wiſſenſchaft, in welcher Schleiermachers berühmte vierte Rede über Religion aus den Eigenſchaften des re - ligiöſen Gefühlslebens das Bedürfniß religiöſer Geſelligkeit und die Eigenſchaften des Gemeindebewußtſeins in ihrer ſpecifiſchen Diffe - renz von anderen Formen dieſes allgemeinen Gemeinſchaftsgefühls abzuleiten, und ſo die Beziehungen zwiſchen dem wichtigſten Kul - turſyſtem und der aus ihm entſpringenden äußeren Organiſation aufzuzeigen unternahm. Sein Verſuch zeigt beſonders deutlich, daß es hier zunächſt eine Vertiefung in das Erlebniß ſelber giebt, welche der Selbſtbeobachtung in der Einzelpſychologie entſpricht, und die von der vergleichenden Unterſuchung der geſchichtlichen Erſcheinungen wie von der pſychologiſchen Analyſis geſondert auf - treten kann, wenn dies auch naturgemäß Einſeitigkeit des Ergeb - niſſes zur Folge hat.
Die andere dieſer beiden für das Verſtändniß der äußeren Organiſation der Geſellſchaft fundamentalen pſychiſchen und pſycho - phyſiſchen Thatſachen wird durch das Verhältniß von Herrſchaft und Abhängigkeit zwiſchen Willen gebildet. Auch dies Verhält - niß iſt, wie das der Gemeinſchaft, nur relativ; folgerecht iſt auch jeder Verband nur relativ. Auch die größte Steigerung der Intenſität eines äußeren Machtverhältniſſes iſt begrenzt und kann unter Um - ſtänden von einer Gegenwirkung überboten werden. Man kann einen Widerſtrebenden von einem Ort zum anderen bewegen; aber ihn zwingen ſich an dieſen Ort zu begeben, das können wir nur, indem wir ein Motiv in ihm in Bewegung ſetzen, das ſtärker85Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.wirkt als die Motive, welche ihn zu bleiben beſtimmen. Das Quantitative in dieſem Verhältniß der Intenſitäten, deſſen Ergeb - niß die äußere Bindung eines Willens in einer Steigerung bis zu dem Punkte, daß kein gegenwirkendes Motiv Ausſicht auf Er - folg hat, d. h. der äußere Zwang iſt, der Zuſammenhang dieſer quan - titativen Beziehungen mit dem Begriff einer Mechanik der Geſell - ſchaft machen dieſe Begriffsreihe zu einer der fruchtbarſten in der von uns als Begriffe zweiter Ordnung bezeichneten Claſſe. — So - fern ein Wille nicht äußerlich gebunden iſt, nennen wir ſeinen Zuſtand Freiheit.
Hier nehmen wir die Folgerungen wieder auf, welche zu der Einſicht in die Beſchaffenheit der Grundlegung für die Geiſtes - wiſſenſchaften hinleiten. Es ſtand zu vermuthen, daß den Wiſſen - ſchaften von der äußeren Organiſation der Menſchheit Begriffe von pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Thatſachen und Sätze über ſie zu Grunde liegen würden, welche denen entſprechen, auf denen die Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur gegründet ſind. Gemeingefühl, Gefühl des Fürſichſeins (eine Thatſache, für die wir kein Wort haben), Herrſchaft, Abhängigkeit, Freiheit, Zwang: das ſind ſolche pſychiſche und pſychophyſiſche Thatſachen zweiter Ordnung, deren Erkenntniß in Begriffen und Sätzen dem Studium der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zu Grunde liegt. Hier fragt ſich zunächſt, welches das Verhältniß dieſer Thatſachen zu einander ſei. Iſt z. B. Gefühl der Gemeinſchaft nicht auflösbar in das gegenſeitiger Abhängigkeit? Es fragt ſich dann, in welchem Um - fang die Analyſis dieſer Thatſachen, ihre Zurückführung auf die pſychiſchen Thatſachen erſter Ordnung möglich ſei. So ſchließen wir nunmehr: den beiden Claſſen der theoretiſchen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft liegen Thatſachen zu Grunde, welche nur vermittelſt der pſychologiſchen Begriffe und Sätze analyſirt werden können. Das Centrum aller Probleme einer ſolchen Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaft iſt ſonach: die Möglichkeit einer Erkenntniß der pſychiſchen Lebenseinheiten und die Grenzen einer ſolchen Erkennt - niß; es handelt ſich dann um die Beziehung der pſychologiſchen Erkenntniß zu den Thatſachen zweiter Ordnung, durch welche über86Erſtes einleitendes Buch.die Natur dieſer theoretiſchen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ent - ſchieden wird.
Die dargeſtellten pſychiſchen Thatſachen von Gemeinſchaft einer - ſeits, von Herrſchaft und Abhängigkeit andrerſeits (gegenſeitige Ab - hängigkeit natürlich mit einbegriffen) durchſtrömen wie Herzblut in dem feinſten Aderſyſtem die äußere Organiſation der Geſellſchaft. Alle Verbandsverhältniſſe ſind, pſychologiſch angeſehen, aus ihnen zuſammengeſetzt. Und zwar iſt das Vorhandenſein dieſer Gefühle keineswegs immer an das eines Verbands geknüpft, ſondern dieſe pſychiſchen und pſychophyſiſchen Beſtandtheile alles Verbandslebens erſtrecken ſich viel weiter als dieſes ſelber in der Geſellſchaft. — So finden wir in der naturgewachſenen Gliederung der Geſellſchaft, welche der genealogiſche Zuſammenhang zunächſt beſtimmt, nach den Grundverhältniſſen von Abſtammung und Verwandtſchaft größere Gruppen immer die kleineren umfaſſend, dieſe nach ihrer Verwandtſchaft aneinandergereiht: die an der größeren feſtſtellbare durchgehende Modifikation der menſchlichen Natur iſt ſtets in dem Umfang der kleineren Gruppe durch neue Züge einer engeren Gleichförmigkeit näher beſtimmt: und auf dieſer Natur - grundlage verbindet nun eine intimere Wechſelwirkung und ein be - ſtimmter Grad von Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit nach Gleich - artigkeit ſowie nach Erinnerung von Abſtammung und Verwandt - ſchaft eine jede ſolche Gruppe zu einem relativen Ganzen. Auch wo kein Verband mit ihnen verknüpft iſt, beſtehen dieſe Gemein - ſchaften. — Mit der Niederlaſſung entſteht eine neue Gliederung, welche von der genealogiſchen unterſchieden iſt, ein neues Gefühl von Gemeinſchaft, welches durch Heimathlichkeit, durch gemeinſamen Boden und gemeinſame Arbeit bedingt iſt, und auch dieſe Ge - meinſchaft iſt von dem Beſtand eines Verbandes unabhängig. — Geſchichtliche Macht großer Perſönlichkeiten, geſchichtliches Eingreifen großer Völkeraktionen ändern, zerbrechen, verknüpfen anders und näher, was ſo durch die Naturgliederung des genealogiſchen Zu - ſammenhangs der Menſchheit ſowie des Bodens, auf dem derſelbe ſich ausbreitet, als ineinandergreifende Kreiſe von Gemeinſchaften gegeben ſein würde. Vor Allem die Völker haben ſich durch welt -87Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.geſchichtliche That gebildet, welche die Naturgliederung durchbricht. Aber wenn ſie auch das volle Gefühl von Zuſammengehörigkeit in der Regel (nicht immer, wie das Beiſpiel der durch National - gefühl verbundenen griechiſchen Politien zeigt) durch Zuſammen - faſſung zur Staatseinheit erhalten haben: dieſe nationale Gemein - ſchaft, die ſich als Nationalgefühl im Gefühlsleben der zu der Gruppe gehörigen Individuen reflektirt, vermag den Beſtand des Staates lange zu überleben, und ſo iſt auch hier Gemeinſchaft nicht abhängig vom Beſtand eines Verbandes. — Mit dieſen Kreiſen von Gemeinſchaft, welche in genealogiſcher Gliederung und Nieder - laſſung gegründet ſind, kreutzen ſich nun weiter die Gemeinſam - keiten und Abhängigkeitsverhältniſſe dauernder Art, welche auf dem Grunde der Kulturſyſteme der Menſchheit entſtehen. Gemeinſam - keit der Sprache ſchließt ſich an die genealogiſche Gliederung und das nationale Leben; Verwandtſchaft der Geburtsſtellung, des Be - ſitzes und des Berufs bringt die Zuſammengehörigkeit des Standes hervor; Gleichheit der wirthſchaftlichen Beſitzverhältniſſe, der durch ſie bedingten ſocialen Lage und Bildung verbindet die Individuen zu einer Claſſe, die ſich zuſammengehörig fühlt und ihre Intereſſen denen der anderen Claſſen gegenüberſtellt; Gleichartigkeit der Ueber - zeugung und thätigen Richtung begründet politiſche und kirchliche Parteien: Gemeinſamkeiten, deren keine an und für ſich einen Ver - band einſchließt. Andererſeits entſpringen aus dem Zweckzuſammen - hang in den Syſtemen Verhältniſſe von Abhängigkeit, welche der Staat ebenfalls nicht direkt hervorbringt, ſondern welche von jenen Kulturſyſtemen her in ihm ſich geltend machen. Ihr Verhältniß zu der Zwangsgewalt, welche vom Staat ſelber ausgeht, bildet eines der Hauptprobleme einer Mechanik der Geſellſchaft. Die zwei wirkſamſten Arten von Abhängigkeit dieſer Art ſind die aus dem Wirthſchaftsleben und dem kirchlichen Leben entſpringenden.
So bilden dieſe beiden pſychiſchen Grundverhältniſſe das ganze Gewebe der äußeren Organiſation der Menſchheit. Das Willens - verhältniß von Herrſchaft und Abhängigkeit findet ſeine Grenze an der Sphäre der äußern Freiheit; das der Gemeinſchaft an der, in welcher ein Individuum nur für ſich da iſt. Ausdrücklich88Erſtes einleitendes Buch.kann der Deutlichkeit wegen hervorgehoben werden: gänzlich ver - ſchieden von all dieſen äußeren Willensverhältniſſen iſt der aus den Tiefen der menſchlichen Freiheit entſpringende Vorgang, in welchem ein Wille ſich ſelber theilweiſe oder ganz aufopfert, nicht ſich als Willen mit einem anderen Willen vereinigt, ſondern ſich als Willen theilweiſe dahin giebt. Dieſe Seite in einer Handlung oder einem Verhältniß macht ſie zu einem ſittlichen.
Unter einem Verband verſtehen wir eine dauernde auf einen Zweckzuſammenhang gegründete Willenseinheit mehrerer Perſonen. Wie vielfach auch die Formen von Verbänden ſich geſtaltet haben, ihnen allen iſt eigen: die Einheit in ihnen geht über das formloſe Bewußtſein von Zuſammengehörigkeit und Gemeinſchaft, über die dem Einzelvorgang überlaſſene intimere Wechſelwirkung innerhalb einer Gruppe hinaus: eine ſolche Willenseinheit hat eine Struktur: die Willen ſind in einer beſtimmten Form zum Zuſammenwirken verbunden. Zwiſchen dieſen Merkmalen eines jeden Verbands be - ſteht aber eine ſehr einfache Beziehung. Schon das kann als tautologiſch angeſprochen werden, daß die Willenseinheit zwiſchen mehreren Perſonen auf einen Zweckzuſammenhang gegründet ſei. Denn welchen Einfluß auch die Gewalt auf die Geſtaltung einer ſolchen Willenseinheit habe: Gewalt iſt doch nur eine Art und Weiſe, in welcher die Zuſammenordnung des Gefüges ſich voll - ziehen kann: den Arm der Gewalt ſetzt ein Wille in Bewegung, der von einem Zweck geleitet wird, und er hält den Unterworfenen feſt, weil derſelbe ein Mittel für einen von ihm herzuſtellenden Zweckzuſammenhang iſt. Daher behält Ariſtoteles Recht, der am Be - ginn ſeiner Politik dem Sinne nach ſagt: πᾶσα κοινωνία ἀγαϑοῦ τινός ἕνεκα συνέστηκεν. Die Gewalt unterwarf, auch geſchichtlich ange - ſehen, nur, um die Geknechteten in den Zweckzuſammenhang des eignen Thuns einzuordnen. Ein dauernder Zweckzuſammenhang aber bringt in der Anordnung der Individuen, die ihm unterworfen ſind, alsdann der Güter, deren er bedarf, eine Struktur hervor:89Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.ſo iſt von dem Merkmal des Zweckzuſammenhangs wieder das der Struktur bedingt: der Zweckzuſammenhang wirkt als Bildungs - geſetz für die Geſtaltung des Verbandes. Welch merkwürdige That - ſache! die Beziehung von Zweck, Funktion und Struktur, welche im Reich der organiſchen Weſen nur als ein hypothetiſch einge - führtes Hilfsmittel der Erkenntniß die Forſchung leitet, iſt hier erlebte, geſchichtlich aufweisbare, geſellſchaftlicher Erfahrung zugäng - liche Thatſache. Und welche Umdrehung des Verhältniſſes alſo, den Begriff des Organismus, wie er in den Thatſachen der or - ganiſchen Natur feſtgeſtellt werden kann, in denen er dunkel und hypothetiſch iſt, als Leitfaden für die durch dieſe Beziehung in der Geſellſchaft entſtehenden Verhältniſſe gebrauchen zu wollen, welche erlebt und klar ſind.
Daher iſt es viel naturgemäßer, wenn die Naturforſchung ſich der Analogie mit den geſellſchaftlichen Thatſachen jetzt gern bedient, ſo oft ſie vom thieriſchen Organismus ſpricht. Nur entſteht ſo die Gefahr, daß ein neues naturphiloſophiſches Spiel mit dem Leben in der Materie durch dieſe Bilderſprache ſanft eingänglich gemacht werde. Für die Staatswiſſenſchaften iſt jedenfalls die Auf - gabe klar vorgezeichnet in dieſer Rückſicht. Da die Naturwiſſenſchaften an einem Sinnlichen eine anſchauliche Vorlage haben, da ſie eine anſchauliche ja eindringliche Terminologie entwickelt haben, durch welche die Lücken in der Terminologie der Wiſſenſchaften von der Geſellſchaft auszufüllen ſehr verlockend iſt: ſo gilt es, klare und eigentliche Ausdrücke in den Geiſteswiſſenſchaften feſtzuſtellen, welche die vorhandenen Lücken ergänzen, und ſo einen reinen und in ſich folgerichtigen Sprachgebrauch auszubilden, welcher die Geiſteswiſſenſchaften vor der Sprachmiſchung mit den Naturwiſſen - ſchaften ſchützt und die Entwicklung feſter und allgemeingiltiger Begriffe auf dem Gebiet geiſtiger Thatſachen auch von der Seite der Terminologie aus fördert.
Die Grenze, welche den Verband von anderen Formen des Zuſammenwirkens in der Geſellſchaft trennt, kann nicht in ein - deutiger und doch für alle Rechtsordnungen gleichmäßig giltiger Weiſe in Begriffen feſtgeſtellt werden.
90Erſtes einleitendes Buch.Das Merkmal der Dauer unterſcheidet den Verband von vor - übergehenden Beziehungen der Willen in einem Zweckzuſammen - hang, insbeſondere im Vertrag, nur inſofern, als es in der Natur des Vertrags an und für ſich nicht liegt, dauernde Verhältniſſe herbeizuführen. Dieſes Merkmal iſt außerdem in ſich unbeſtimmt, und ſteht es auch mit dem Zweckzuſammenhang in Beziehung, deſſen Natur auf die Dauer der Verbindung wirkt, ſo ermöglicht doch dieſe Beziehung nicht eine klare Abgrenzung des Verbandes von mehr vorübergehenden Formen der Willenseinigung. Denn zunächſt bringt nicht jeder Zweck einen Verband hervor. Viele unſrer Lebens - äußerungen, ob ſie gleich zweckmäßig ſind, greifen gar nicht in das zweckmäßige Handeln andrer Perſonen ein. Wo dies alsdann der Fall iſt, kann oftmals der Zweck durch eine Coordination von Einzel - thätigkeiten nach - und nebeneinander wirkender Perſonen erreicht werden. So liegt es im Weſen des künſtleriſchen Schaffens, daß ihm ſeine Geſtalten aus der einſamen Tiefe des Gemüths empor - ſteigen, und dann doch in das Reich der Schatten, welche die Phantaſie der Menſchheit erfüllen, an einer beſtimmten Stelle eintreten und in dieſem ſtillen Reich nach einem höheren über den Künſtler hinausreichenden Zweckzuſammenhang einen Platz ausfüllen. Wo ſchließlich ein ſolcher Zweckzuſammenhang auf andere Perſonen rechnet, reicht dann wieder meiſt der Vertrag aus, ſofern er eine Einigung über ein einzelnes Geſchäft oder eine Reihe von Geſchäften bewirkt. Von ihm führt zum Ver - band ein Fortgang, innerhalb deſſen unmöglich auf eine für die Lebensverhältniſſe und Rechtsordnungen der verſchiedenſten Kultur - ſtufen gleichmäßig gültige Weiſe der Einſchnitt des Begriffs vollzogen werden kann. Denn dieſe Grenze zwiſchen einem Ver - trag, der ſich auf ein einzelnes Geſchäft oder eine Reihe von Geſchäften bezieht, und der Begründung eines Verbands wird durch das Recht fixirt; ſonach kann ſie ihrer Natur nach nur juriſtiſch auf eindeutige Weiſe ausgedrückt werden; und da nun die Rechtsordnungen verſchieden ſind, ſo iſt z. B. eine Con - ſtruktion, welche aus dem römiſchen Gegenſatz von societas und universitas die Beſtimmung des Punktes ableitet, an dem91Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.Vertragsverhältniſſe in Verbandsverhältniſſe übergehen, doch offen - bar unbrauchbar, den Punkt im deutſchen Recht zu bezeichnen, an welchem irgend eine Form von Verband auftritt.
So wenig als der Grenzpunkt, kann eine Eintheilung der Verbände auf eine für alle Rechtsordnungen gültige Weiſe in be - grifflicher Faſſung feſtgeſtellt werden.
Der Begriff, welcher dieſe Abgrenzungen conſtruirt, gehört als Rechtsbegriff nothwendig irgend einer einzelnen Rechtsord - nung an. Daher kann nur die Funktion, welche ein ſolcher Begriff in einer beſtimmten Rechtsordnung hat, verglichen werden mit der, welche in einer anderen einem entſprechenden Begriff zukommt. So kann die Funktion, welche den Begriffen von municipium, collegium, societas publicanorum in der römiſchen Rechtsordnung zukommt, mit der Funktion verglichen werden, welche im deutſchen Recht die Begriffe Gemeinde, Gilde, Er - werbsgenoſſenſchaft haben. Thatſachen, wie die Familie und der Staat, können aber, wie uns die erkenntniß-theoretiſche Grund - legung zeigen wird, überhaupt einer wirklichen Conſtruktion durch den Begriff nicht unterworfen werden. Jedes Verfahren, welches ſich dieſe Aufgabe ſtellt, ſetzt einen Mechanismus zuſammen. Immer wieder erneuert ſich in anderen Formen der fundamen - tale Fehler des Naturrechts, welches, von der richtigen Erkennt - niß aus, daß das Recht ein in einem Beſtandtheil der menſch - lichen Natur gegründetes, daher nicht aus dem Belieben des Staates entſprungenes Syſtem ſei, nunmehr ſeinerſeits zur Conſtruktion des Staates aus dem Recht fortſchritt: eine verhängnißvolle Ver - kennung der anderen Seite des Thatbeſtandes, der gewaltigen Ur - ſprünglichkeit des menſchlichen Verbandslebens. Das Verfahren einer zuſammenſetzenden Conſtruktion iſt ſehr fruchtbar für die Ab - leitung der Rechtsverhältniſſe innerhalb eines in ſeinen Elementen beſtimmten Rechtsſyſtemes; aber es hat hier ſeine Grenze. Dieſe große geſchichtliche Wirklichkeit kann nur als ſolche, kann nur in ihrem hiſtoriſchen Zuſammenhang verſtanden werden, und deſſen Grundgeſetz iſt: das Verbandsleben der Menſchheit hat ſich nicht auf dem Wege der Zuſammenſetzung gebildet, ſondern es hat ſich92Erſtes einleitendes Buch.aus der Einheit des Familienverbands differenzirt und entfaltet. All unſer Erkennen vermag nur, rückſchreitend von der Gliederung dieſes Verbandslebens, wie wir es auf uns zugänglichen den pri - mären Zuſtänden möglichſt nahen Stufen der äußeren geſellſchaft - lichen Organiſation vorfinden, die Reſte zu interpretiren, welche ein Licht auf den großen geſchichtlichen Vorgang werfen, in welchem von der lebens - und machtvollen Einheit des Familienverbandes aus die äußere Organiſation der Geſellſchaft ſich differenzirt hat, und Verbandsleben, Ver - bandsentwicklung bei den verſchiedenen Völkerfamilien und Völkern einem vergleichenden Verfahren zu unterwerfen. Es iſt die außerordentliche Bedeutung der germaniſchen Verbandsentwick - lung für eine ſolche vergleichende Unterſuchung, daß auf eine verhältnißmäßig ſehr frühe Stufe einer Verbandsentwicklung, welche zu einer außerordentlich reichen Entfaltung genoſſenſchaft - lichen Daſeins beſtimmt war, ein ausreichendes geſchichtliches Licht fällt. 1)Vgl. die Darſtellung Gierke’s im erſten Bande ſeines Werkes über das Deutſche Genoſſenſchaftsrecht (Berlin 1868).Auf dem Gebiet der äußeren Organiſation der Menſch - heit iſt das umfaſſende Grundgeſetz des geſchichtlichen Lebens in ſeiner Wirkſamkeit noch deutlich fühlbar, nach welchem, wie ich zeigen werde, auch die Totalität des inneren Zwecklebens ſich nur allmälig zu den einzelnen Kulturſyſtemen differenzirt hat, und nach welchem dieſe Kulturſyſteme erſt allmälig zu ihrer vollen Selbſtändigkeit und Einzelausbildung gelangt ſind.
Die Familie iſt der fruchtbare Schooß aller menſchlicher Ord - nung, alles Verbandslebens: Opfergemeinſchaft, wirthſchaftliche Ein - heit, Schutzverband, auf dem Grunde der naturmächtigen Bande von Liebe und Pietät, enthält ſie das, was ihre bleibende Funktion iſt, in noch nicht differenzirter Einheit mit Recht, Staat, religiöſem Ver - band in einander gewachſen. Doch iſt auch dieſe concentrirteſte Form von Willenseinheit unter Individuen, die in der Welt iſt, nur relativ; die Individuen, aus denen ſie ſich zuſammenfügt, gehen nicht gänzlich in ſie ein; das Individuum iſt in ſeiner letzten Tiefe für ſich ſelber. Wenn die Auffaſſung, welche die menſch -93Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.liche Freiheit und That in das Naturleben des Organismus ver - ſenkt, die Familie als „ ſociale Gewebezelle “1)Schäffle, Bau und Leben des organiſchen Körpers I, 213 ff. betrachtet: ſo wird in einem ſolchen Begriff gleich im Beginn der Wiſſenſchaft von der Geſellſchaft das freie Fürſichſein des Individuums ſchon im Familienverbande eliminirt, und wer mit dem zellenhaften Leben der Familie beginnt, kann nur mit der ſocialiſtiſchen Geſtaltung der Geſellſchaft endigen.
Indem dann weiter Familien die Verbände der Geſchlechter - ordnung bilden, dieſe in Verbände anderer Struktur, wie die von Niederlaſſung ſind, eintreten, oder von einem weiteren Verbande umfaßt werden, muß, gemäß der Grundfunktion des Staates, Macht zu ſein, welche die Souveränität zu ſeinem ſpecifiſchen Merkmal macht, die Staatsfunktion jedesmal in dem weiteſten Verbande ihren Sitz haben; ſo ſondern ſich Familienverband und Staatsverband von einander. Wo die Germanen in die Geſchichte eintreten, finden wir dieſe Trennung lange vollzogen, den deut - ſchen Hausverband für ſich geſtaltet, von der Zeit, in welcher die Sippe einſt die Familien zu einem ſelbſtändigen Verbande ver - knüpft haben mag, nur noch Reſte, und Volksgemeinden als ſelb - ſtändige ſtaatliche Gemeinweſen. Die Stadien, welche hier von keinem Beobachter wahrgenommen durchlaufen worden ſind, ehe ein Cäſar oder Tacitus aufzeichneten, was in der nördlichen Wild - niß geſchah, ſind nur theilweiſe zugänglich in den Berichten der Reiſenden von dem Verbandsleben der Naturvölker. Aber während die Reſte des älteſten germaniſchen Verbandslebens darauf deuten, daß die patriarchaliſche Gewalt (mundium), die im Hausverbande waltete, nicht conſtitutiv für den Geſchlechtsverband wurde, be - gegnen wir nun hier bei vielen Stämmen einer aus der patriar - chaliſchen Hausordnung erwachſenden Häuptlingsverfaſſung. So iſt der Vorgang der Differenzirung, welcher die äußere geſellſchaft - liche Organiſation bei den verſchiedenen Völkerfamilien und Völkern hervorbringt, gleich in ſeinem Anſatz verſchieden. Dies zieht einem vergleichenden Verfahren, welches ſich der Zuſtände von Natur -94Erſtes einleitendes Buch.völkern zur Aufhellung älterer Zuſtände der jetzigen europäiſchen Nationen bedient, feſte Grenzen.
Es entfaltet ſich aber die äußere Organiſation der Geſellſchaft in Familie, Geſchlechterordnung, örtlichem Verband, in jedem herr - ſchaftlichen Verbande, in Kirche und anderem Religionsverband, in den mannigfachen Modifikationen dieſer Formen mit einer natur - mächtigen Urſprünglichkeit und Unermeßlichkeit, Biegſamkeit und Anpaſſung, welcher gemäß jeder dieſer Verbände eine unbeſtimmte und wechſelnde Mannigfaltigkeit von Zwecken in ſich hegt, dieſen Zweckzuſammenhang fallen läßt und jenen aufnimmt, ja nur für heute einen Zweck fallen läßt, um ihn dann morgen wieder auf - zunehmen und ſubſidiär jedes Gemeinbedürfniß zu befriedigen die Tendenz hat. So beſteht wohl im Verbandsleben der Menſch - heit der am meiſten gleichmäßig durchgreifende Unterſchied zwiſchen dieſen Verbänden und den anderen, welche durch einen beſtimmten Akt bewußter Willensvereinigung, für einen mit Bewußtſein ge - ſetzten und begrenzten Zweck conſtituirt worden ſind und welche daher naturgemäß einem ſpäteren Stadium des Verbandslebens bei einem jeden Volke angehören.
Ueberblickt man das Ganze der äußeren Organiſation, das ſo die Menſchheit ſich geſchaffen hat, ſo iſt der Reichthum der Formen unermeßlich. In allen dieſen Formen iſt es die Beziehung zwiſchen Zweck, Funktion und Struktur, welche ihr Bildungsgeſetz und daher die Ausgangspunkte für die Methode der Vergleichung darbietet. Und in irgend einem geſchichtlichen Durchſchnitt findet das Studium des Verbandslebens der Menſchheit beinahe jeden Grad von Umfang des Zweckzuſammenhangs irgend einem Verbande zu Grunde liegend, von der Lebensgemeinſchaft der Familie bis zu der gegen - ſeitigen Verſicherungsgeſellſchaft gegen Hagelſchaden: ſie findet bei - nahe jede Form von Struktur, von den Despotenſtaaten im Herzen von Afrika bis zu der modernen Aktiengeſellſchaft, in welcher jeder Theilnehmer ſeine Einzelperſönlichkeit voll behauptet und nur vertragsmäßig einen genau begrenzten Theil ſeines Vermögens dem gemeinſamen Zwecke widmet.
Die bisherige Erörterung hat die fundamentalen pſychiſchen Thatſachen beſtimmt, welche dem ganzen Gewebe der äußeren Or - ganiſation der Geſellſchaft überall gleichförmig, überall irgendwie mit einander verbunden zu Grunde liegen. Sie hat das auf ſie gebaute Verbandsleben der Menſchheit, unter Verwerfung einer begrifflichen Abgrenzung und Eintheilung deſſelben, in einer ge - ſchichtlichen Anſchauung umſchrieben. Von hier aus kann nun wenigſtens das Problem ſichtbar gemacht werden, welches in dieſem geſchichtlichen Ganzen für die Theorie liegt. Zwei Fragen ſind für die Stellung und den Aufbau der einzelnen Wiſſenſchaften, in welche dieſe Theorie der äußeren Organiſation der Geſellſchaft ſich zerlegt, beſonders wichtig. Die Eine von ihnen betrifft die Stellung der äußeren Organiſation, insbeſondere des Staats zum Recht; die andere das Verhältniß des Staats zur Geſellſchaft.
Indem zunächſt die Frage nach der Stellung des Rechts zu der äußeren Organiſation der Geſellſchaft be - handelt wird, gilt es den Ertrag der bisherigen Erörterungen über das Recht1)S. 65 ff. mit dem nunmehr entwickelten Begriff der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zu verbinden.
Nicht jeder Zweck, ſo ſahen wir2)S. 61 ff. 67. 90., bringt einen Verband hervor; viele unſerer Lebensäußerungen greifen in die anderer Perſonen überhaupt nicht zu einem Zweckzuſammenhang ein; wo dann ein ſolcher auftritt, kann er durch die bloße Coordination von Ein - zelthätigkeiten, ohne die Unterſtützung eines Verbandes, in vielen Fällen erreicht werden; es giebt aber Zwecke, welche beſſer von einem Verbande erreicht oder welche nur von einem ſolchen erreicht werden können. Hieraus ergiebt ſich das Verhältniß, welches zwiſchen der Lebensthätigkeit der Individuen, den Syſtemen der Kultur und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft beſteht. Die Einen dieſer Lebensäußerungen ſtellen keinen dauernden Zuſammenhang96Erſtes einleitendes Buch.zwiſchen den pſycho-phyſiſchen Lebenseinheiten her; die Anderen haben einen ſolchen Zweckzuſammenhang zur Folge und ſtellen ſich dem entſprechend in einem Syſtem dar, und zwar wird die Aufgabe, welche in ihnen wirkſam iſt, in einigen Fällen durch eine bloße Coordination der Perſonen im Zweckzuſammenhang vollbracht, während in anderen Fällen die Erfüllung der Auf - gabe von der Willenseinheit des Verbandes getragen iſt.
In den Wurzeln der menſchlichen Exiſtenz und des geſellſchaft - lichen Zuſammenlebens ſind Syſteme und äußere Organiſation ſo ineinandergewachſen, daß nur die Verſchiedenheit der Betrachtungs - weiſe ſie ſondert. Die am meiſten vitalen Intereſſen des Menſchen ſind die Unterwerfung der zur Befriedigung ſeiner Bedürfniſſe dienenden Mittel oder Güter unter ſeinen Willen und ihre Um - änderung gemäß dieſen Bedürfniſſen, zugleich aber die Sicherung ſeiner Perſon und des ſo entſtandenen Eigenthums. Hier iſt die Beziehung zwiſchen dem Recht und dem Staat angelegt Den Unbilden der Natur mag der Körper des Menſchen lange widerſtehen: aber ſein Leben und was er bedarf, um zu leben, iſt ſtündlich von ſeines Gleichen bedroht. Daher war die Betrachtung der Verknüpfung pſychiſcher Elemente in mehreren Perſonen unter einem Zweckzuſammenhang zu einem Syſtem eine Abſtraktion. Die regelloſe Gewalt der Leidenſchaften geſtattet den Menſchen nicht, ſich in die Ordnung eines ſolchen Zweckzuſammenhangs in klarer Selbſtbeſchränkung einzufügen: eine ſtarke Hand hält jeden in ſeinen Grenzen: der Verband, der dieſe Aufgabe vollbringt, der alſo jeder Macht auf dem Gebiet, über das ſeine ſtarke Hand ſich erſtreckt, überlegen ſein und daher mit dem Attribut der Sou - veränität ausgeſtattet ſein muß, iſt Staat, gleichviel ob er noch in Familieneinheit oder Geſchlechterverein oder Gemeinde beſchloſſen iſt, oder ob ſeine Funktionen ſich ſchon von denen dieſer Verbände geſondert haben. Der Staat erfüllt nicht etwa durch ſeine Willens - einheit eine Aufgabe, die ſonſt weniger gut durch Coordination von Einzelthätigkeiten beſorgt würde: er iſt die Bedingung jeder ſolchen Coordination. Dieſe Funktion des Schutzes wendet ſich nach außen in der Vertheidigung der Unterthanen; nach innen in97Verhältniß zwiſchen Rechts - und Staatswiſſenſchaften.der Aufſtellung und zwangsweiſen Aufrechterhaltung von Regeln des Rechts.
Sonach iſt das Recht eine Funktion der äußeren Or - ganiſation der Geſellſchaft. Es hat in den Geſammtwillen innerhalb dieſer Organiſation ſeinen Sitz. Es mißt die Macht - ſphären der Individuen im Zuſammenhang mit der Aufgabe ab, welche ſie innerhalb dieſer äußeren Organiſation gemäß ihrer Stellung in ihr haben. Es iſt die Bedingung alles folgerichtigen Thuns der Einzelnen in den Syſtemen der Kultur1)S. 67 ff. —.
Dennoch hat das Recht eine andere Seite, durch welche es den Syſtemen der Kultur verwandt iſt2)S. 68. 71.. Es iſt ein Zweckzu - ſammenhang. Einen ſolchen bringt jeder Wille hervor, ſonach auch der Staatswille, in jeder ſeiner Aeußerungen, mag er Wege bauen, Heere organiſiren oder Recht ſchaffen. Auch iſt dieſer Staatswille auf die Mitwirkung der ihm Unterworfenen in jeder ſeiner Aeußerungen ſo gut als im Recht angewieſen. Aber der Zweck - zuſammenhang des Rechts hat beſondere Eigenſchaften, die aus dem Verhältniß des Rechtsbewußtſeins zur Rechtsordnung fließen.
Der Staat ſchafft nicht durch ſeinen nackten Willen dieſen Zuſammenhang, weder in abstracto, wie er in allen Rechtsord - nungen gleichförmig wiederkehrt, noch den concreten Zuſammen - hang in einer einzelnen Rechtsordnung. Das Recht wird in dieſer Rückſicht nicht gemacht, ſondern gefunden. So paradox es lautet: Dies iſt der tiefe Gedanke des Naturrechts. Der älteſte Glaube, welchem gemäß die Rechtsordnung des ein - zelnen Staats von Göttern ſtammte, ſetzte ſich in dem Fortgang des griechiſchen Denkens in den Satz um, daß ein göttliches Welt - geſetz der hervorbringende Grund aller Staats - und Rechtsord - nung ſei3)Dieſes Stadium des griechiſchen Denkens über Recht und Staat iſt noch erhalten in dem Fragment des Heraklit: τϱέφονται γὰϱ πάντες οἱ ἀνϑϱώπινοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ ϑείου κϱατέει γὰϱ τοσοῦτον ὁκόσον ἐϑέλει καὶ ἐξαϱκέει πᾶσι καὶ πεϱιγίνεται (Stob. flor. III, 84), ſo - wie in den verwandten Stellen des Aeſchylos und Pindar. Die Stelle des letzteren: κατὰ φύσιν νόμος ὁ πάντων βασιλεύς etc. (fr. XI, 48) iſt für die. Dies war die älteſte Form der Annahme einesDilthey, Einleitung. 798Erſtes einleitendes Buch.natürlichen Rechtes in Europa. Sie faßte daſſelbe noch als die Grundlage jeder einzelnen poſitiven Geſetzgebung auf. Als die erſten Theoretiker, welche die Geſetzgebung der Natur zu den po - ſitiven Geſetzen des einzelnen Staats in Gegenſatz ſtellten, und ſo das Naturrecht verſelbſtändigten, treten in den Trümmern des älteren griechiſchen Naturrechts Archelaos und Hippias hervor; es war die geſchichtliche Bedeutung des letzteren, daß er, offenbar im Zuſammenhang mit ſeinen archäologiſchen Studien, die un - geſchriebenen Geſetze, welche ſich gleichmäßig bei den verſchiedenſten, durch ihre Sprachen getrennten Völkern finden und die daher nicht durch Reception von Einem zum Anderen gebracht ſein können, als Naturrecht von dem poſitiven Rechte ſchied und dem letzteren die Verbindlichkeit abſprach1)Den Einfluß ſeiner archäologiſchen Studien auf eine ſolche ver - gleichende Sammlung finde ich Clemens Strom. VI, 624. Die Relation über das Geſpräch zwiſchen Hippias und Sokrates (Xenoph. Memorabil. 4, 4) iſt zweifellos echt, aber entſtellt und verworren, da die Anſicht des Hippias ſicher bei dem Beginn des Geſprächs in ihm ausgebildet war, wie ja auch der Eingang uns beweiſt, ſonach die Geſprächführung dem entſpre - chend anders vorgeſtellt werden muß.. Ein bedeutſames Denkmal dieſes Stadiums des Naturrechts bilden die Tragödien des Sophokles, welche dieſen Gegenſatz der ungeſchriebenen Normen des Rechtes und der poſitiven Geſetzgebung zweifellos aus den Debatten jener Zeit aufnahmen, ihm aber einen claſſiſchen Ausdruck gaben. Bildete ſo das Naturrecht den Gedanken eines Zweckzuſammen - hanges im Rechte aus, welchem gemäß daſſelbe ein Syſtem iſt — mochte es nun dieſen als einen göttlichen oder einen natür - lichen Zuſammenhang faſſen —, ſo unterſchied es von ihm natur - gemäß das, was der Wille des Verbandes hinzugefügt hat. So ſtellen die mittelalterlichen Naturrechtslehrer dem natürlichen Syſtem das aus der Gewalt des Verbands entſprungene poſitive Recht gegenüber2)Um Mißverſtändniſſe zu verhüten, merke ich an: Von dieſer natur -.
Auf dem Thatbeſtand, den das Naturrecht ſo auszudrücken verſuchte, beruht die Eine Seite des Verhältniſſes zwiſchen Rechts - und Staatswiſſenſchaften: die relative Selbſtändigkeit der erſteren. Das Recht iſt Selbſtzweck. Das Rechtsbewußtſein wirkt im Vor - gang der Entſtehung und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung mit den organiſirten Geſammtwillen zuſammen. Denn es iſt Willensinhalt, deſſen Macht in die Tiefe der Perſönlichkeit und des religiöſen Erlebniſſes zurückreicht.
Die Conception des Naturrechts wurde dadurch fehlerhaft, daß dieſer Zweckzuſammenhang im Recht losgelöſt von ſeinen Be - ziehungen, insbeſondere denen zum Wirthſchaftsleben ſowie zur äußeren Organiſation der Geſellſchaft, betrachtet und in eine Region jenſeit der geſchichtlichen Entwicklung verſetzt wurde. So nahmen Abſtraktionen den Platz der Wirklichkeiten ein; die Mehrheit der Geſtaltungen der Rechtsordnung blieb der Erklärung unzugänglich.
Der Kern dieſer abſtrakten Theorien kann nur durch die Me - thode, welche allen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft gemeinſam iſt, nämlich Verbindung geſchichtlicher mit pſychologiſcher Analyſis, eine wiſſenſchaftliche Bearbeitung empfangen. An dieſem Punkte iſt ein weiterer Schluß in der Verkettung der Gedanken möglich, welche in die Stellung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes zu ihrer Grund - legung zurückführen. Dies Problem, welches ſich das Natur - recht ſtellte, iſt nur lösbar im Zuſammenhang der poſitiven Wiſſenſchaften des Rechts. Dieſe ihrerſeits können ein klares Bewußtſein der Stellung der Abſtraktionen, durch welche ſie erkennen, zu der Wirklichkeit nur vermittelſt einer grund - legenden erkenntniß-theoretiſchen Wiſſenſchaft, vermittelſt der Feſt - ſtellung der Beziehung der Begriffe und Sätze, deren ſie ſich bedienen, zu den pſychologiſchen und pſychophyſiſchen erhalten. Hieraus folgt, daß es eine beſondere Philoſophie des Rechts nicht giebt,2)rechtlichen Theorie muß die andere ganz abgetrennt werden, welche in der negativen Schule der Theoretiker der Gewalt und der Intereſſen ſich ent - wickelt hat, deren Hauptvertreter im Alterthum Thraſymachos war und von der uns Plato eine ſyſtematiſche Darſtellung hinterlaſſen hat.7*100Erſtes einleitendes Buch.daß vielmehr ihre Aufgabe dem philoſophiſch begründeten Zuſammen - hang der poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes wird anheimfallen müſſen. Dies ſchließt nicht aus, daß Arbeitstheilung und Schul - betrieb es nützlich erſcheinen laſſen, daß die Aufgabe der allge - meinen Rechtswiſſenſchaft auch in der Form des Naturrechts immer wieder einmal gelöſt werde; aber es beſtimmt den methodiſchen Zuſammenhang, in dem ſchlechterdings die Löſung einer ſolchen Aufgabe ſtehen muß.
Und wie könnte nun dieſe allgemeine Rechtswiſſenſchaft das Recht anders als in ſeinem lebendigen Zuſammenhang mit den Ge - ſammtwillen innerhalb der Organiſation der Geſellſchaft erkennen? Die Tragweite der Thatſachen der Rechtsüberzeugungen und der mit ihnen verbundenen elementaren pſychiſchen Regungen, des Ge - wohnheitsrechtes, des Völkerrechts kann nur ſo weit reichen, die Exiſtenz eines Beſtandtheils in der menſchlichen Natur zu erweiſen, auf welchem der Charakter des Rechts als eines Selbſtzweckes beruht. Dieſe Beweisführung wird eine wichtige Ergänzung durch die hiſtoriſche Erörterung der Beziehungen von Rechtsbegriffen und Rechtsinſtituten zu religiöſen Ideen erhalten, welche wir an den auffaßbaren Anfängen unſerer Kultur gewahren. Aber — das iſt die andere Seite dieſes Verhältniſſes von Recht und Staat — keine Argumentation kann die Tragweite haben, die Exiſtenz eines von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft unabhängigen that - ſächlichen Rechtes zu erweiſen. Die Rechtsordnung iſt die Ordnung der Zwecke der Geſellſchaft, welche von der äußeren Organiſation derſelben durch Zwang aufrecht erhalten wird. Und zwar (S. 96. 97) bildet der Zwang des Staats (das Wort in dem (S. 96) ent - wickelten allgemeinen Verſtande genommen) den entſcheidenden Rück - halt der Rechtsordnung; aber äußere Bindung der Willen ſahen wir durch die ganze organiſirte Geſellſchaft verbreitet (S. 84 ff. ), und ſo erklärt ſich, daß in dieſer auch andere Geſammtwillen neben dem Staat Recht bilden und aufrecht erhalten. Jeder Rechtsbegriff enthält alſo das Moment der äußeren Organiſation der Geſell - ſchaft in ſich. Andrerſeits kann jeder Verband nur in Rechts - begriffen conſtruirt werden. Dies iſt eben ſo wahr, als daß101Verhältniß zwiſchen Rechts - und Staatswiſſenſchaften.das Verbandsleben der Menſchheit nicht aus dem Bedürfniß der Rechtsordnung erwachſen iſt und daß der Staatswille nicht erſt mit ſeinen Rechtsordnungen das Rechtsbewußtſein geſchaffen hat.
So wird die andre Seite des Verhältniſſes zwiſchen Rechts - und Staatswiſſenſchaften ſichtbar: jeder Begriff in jenen kann nur vermittelſt der Begriffe in dieſen entwickelt werden und um - gekehrt.
Die Unterſuchung der beiden Seiten des Rechts in der all - gemeinen Rechtswiſſenſchaft führt zu einem noch allgemeineren Problem, welches über das Recht hinausgreift. Der Zweck - zuſammenhang, welchen das Recht enthält, hat ſich vermittelſt der einzelnen Geſammtwillen, in der Arbeit der einzelnen Völker, ſonach geſchichtlich entwickelt. Der Gegenſatz des 18. Jahrhunderts, welches die geſchichtlich geſellſchaftliche Wirklichkeit in einen Inbegriff von natürlichen Syſtemen auflöſte, die den Einwirkungen des ge - ſchichtlichen Pragmatismus unterliegen, und der hiſtoriſchen Schule des 19. Jahrhunderts, welche ſich dieſer Abſtraktion entgegenſetzte, aber, trotz ihres höheren Standpunktes, in Folge des Mangels einer wahrhaft empiriſchen Philoſophie eine in Begriffen und Sätzen klare und ſo verwerthbare Erkenntniß der geſchichtlich-ge - ſellſchaftlichen Wirklichkeit nicht erreichte, kann nur in einer Grund - legung der Geiſteswiſſenſchaften aufgehoben werden, welche den Standpunkt der Erfahrung, der unbefangenen Empirie auch gegen - über dem Empirismus durchführt. Von einer ſolchen Grund - legung aus können die Probleme, die am Recht hervortraten, ſich einer Auflöſung nähern: Fragen, die mit der Menſchheit ſelber herangewachſen ſind, welche ſchon im 5. Jahrhundert vor Chriſto die Geiſter beſchäftigt haben und noch gegenwärtig die Jurisprudenz in verſchiedene Heerlager theilen, andere Fragen, welche heute zwiſchen dem Geiſte des 18. und dem des 19. Jahrhunderts ſchweben.
Jenſeit dieſer Wurzeln der menſchlichen Exiſtenz und des geſellſchaftlichen Zuſammenlebens treten dann Syſteme und Verbände deutlicher auseinander. Die Religion, als ein Syſtem des Glaubens, iſt in ſolchem Grade von dem Verbande ablösbar, in welchem ſie wohnt, daß ein hervorragen -102Erſtes einleitendes Buch.der und gläubiger Theologe der letzten Generation die Ange - meſſenheit von kirchlichen Verbänden an unſer gegenwärtiges chriſtliches Leben in Abrede ſtellen konnte. In Wiſſen - ſchaft und Kunſt erreicht aber die Coordination von ſelb - ſtändigen Einzelthätigkeiten einen ſolchen Grad von Ausbildung, daß hinter ihrer Bedeutung die der Verbände, welche ſich zur Ver - wirklichung der künſtleriſchen und wiſſenſchaftlichen Zwecke gebildet haben, ganz zurücktritt; dem entſprechend entwickeln die Wiſſen - ſchaften, welche dieſe Syſteme zum Gegenſtand haben, Aeſthetik und Wiſſenſchaftslehre, ihr Objekt, ohne je ſolcher Verbände zu gedenken.
Solchergeſtalt hat eine ihrer ſelbſt unbewußte Kunſt der Ab - ſtraktion mit zunehmender Klarheit dieſe beiden Claſſen von Wiſſen - ſchaften von einander geſondert. Dies that ſie, obwohl naturgemäß die Vorbildung des Einzelnen, ſeine Thätigkeit an den Verbänden das Studium des Syſtems mit dem des Verbandes verknüpfte.
Aus dieſen Darlegungen über das Verhältniß des Verbands zum Syſtem entſpringt ſchließlich eine methodiſch wichtige Folgerung in Bezug auf die Natur der Wiſſenſchaften, welche die äußere Organiſation der Menſchheit zu ihrem Objekt haben.
Die Wiſſenſchaften der äußeren Organiſation der Geſellſchaft haben ſo wenig als die von den Syſtemen der Kultur die concrete Wirklichkeit ſelber zu ihrem Gegenſtande. Alle Theorie erfaßt nur Theilinhalte der complexen Wirklichkeit; die Theorien des ge - ſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens ſcheiden die unermeßlich verwickelte Thatſächlichkeit, der ſie ſich nähern, um in ſie einzudringen. So hebt die Wiſſenſchaft auch aus der Wirklichkeit des Lebens den Verband als Gegenſtand heraus. Eine Gruppe von Individuen, die in einem Verbande verknüpft iſt, geht niemals in dieſem gänz - lich auf. In dem modernen Leben iſt in der Regel ein Menſch Mitglied mehrerer Verbände, welche einander nicht einfach unter - geordnet ſind. Aber auch wenn ein Menſch nur Einem Verbande angehörte: ſein ganzes Weſen geht doch in denſelben nicht ein. Denkt man ſich den älteſten Familienverband, ſo hat man den ele - mentaren ſocialen Körper vor ſich, die concentrirteſte Form von Willenseinheit, die unter Menſchen denkbar iſt. Und doch iſt103Staat nicht ein Ausſchnitt der Wirklichkeit, ſondern ein Theilinhalt.auch in ihr die Vereinigung der Willen nur relativ; die Indivi - duen, aus denen ſie ſich zuſammenfügt, gehen nicht gänzlich in ſie als in ihre Einheit auf. Das, was die Anſchauung als Land, Volk und Staat unwillkürlich räumlich abgrenzt, und ſo als eine volle Wirklichkeit bei dem Namen Deutſchland oder Frankreich vorſtellt, iſt nicht der Staat, iſt nicht der Gegenſtand der Staats - wiſſenſchaften. So tief auch die ſtarke Hand des Staats in die Lebenseinheit des Individuums, dieſes an ſich reißend, greift: der Staat verbindet und unterwirft die Individuen nur theilweiſe, nur relativ: Etwas in ihnen iſt, das nur in der Hand Gottes iſt. So vieles auch die Staatswiſſenſchaften von den Bedingungen dieſer Willenseinheit einbegreifen: direkt haben ſie es nur mit einer in der Abſtraktion allein darſtellbaren Theilthatſache zu thun, und von der Realität, welche die auf einem Territorium lebenden Menſchen bilden, laſſen ſie einen Rückſtand von ſehr großer Er - heblichkeit zurück. Die Staatsgewalt ſelber umfaßt nur ein be - ſtimmtes dem Staatszweck unterworfenes Quantum der geſammten Volkskraft, das freilich größer ſein muß als irgend eine andere Kraft auf ſeinem Territorium, welches aber das ihm nothwendige Machtübergewicht nur durch ſeine Organiſation und durch die Mitwirkung von pſychologiſchen Motiven empfängt1)Dieſe Auffaſſung, welche von der im Begriff des Staats vollzogenen Abſtraktion ausgeht, findet ſich in Uebereinſtimmung mit der aus beſonnener Empirie, wie ſie ihm eigen war, geſchöpften Begriffsbeſtimmung Mohls: „ Der Staat iſt ein dauernder einheitlicher Organismus derjenigen Ein - richtungen, welche, geleitet durch einen Geſammtwillen, ſowie auf - rechterhalten und durchgeführt durch eine Geſammtkraft, die Aufgabe haben, die jeweiligen erlaubten Lebenszwecke eines beſtimmten und räumlich abgeſchloſſenen Volkes, und zwar vom Einzelnen bis zur Geſellſchaft, zu fördern, ſoweit von den Betreffenden nicht dieſelben mit eigenen Kräften befriedigt werden können und ſie Gegenſtand eines gemeinſamen Bedürfniſſes ſind. “ Aus dieſer Definition folgt, daß die Staatswiſſenſchaft den Theil - inhalt der Wirklichkeit, welchen ſie zum Gegenſtand hat, nur in der Bezieh - ung auf dieſe Wirklichkeit auffaſſen kann..
Innerhalb der äußeren Organiſation iſt neuerdings vom Staat die Geſellſchaft (das Wort in einem engeren Ver - ſtande gefaßt) unterſchieden worden.
104Erſtes einleitendes Buch.Das Studium der äußeren Organiſation der Geſellſchaft hat, ſeitdem es in Europa auftrat, ſeinen Mittelpunkt in der Staats - wiſſenſchaft. In der Abenddämmerung des Lebens der griechiſchen Politien treten die zwei großen Staatstheoretiker hervor, welche das Fundament dieſer Wiſſenſchaft gelegt haben. Wohl beſtanden damals noch die Phylen und Phratrien einerſeits, die Demen andrerſeits, als die Reſte der alten Geſchlechter - und Gemeinde - ordnungen, beſaßen Rechtsperſönlichkeit und Vermögen, neben ihnen beſtanden auch freie Genoſſenſchaften. Aber im poſitiven Rechte Athens ſcheint1)Vgl. das Solon zugeſchriebene Geſetz Corp. jur. l. 4 Dig. de coll. 47, 22. zwiſchen dem Beſchluß einer Corporation und der Abrede für eine gemeinſame Handelsunternehmung kein Unterſchied beſtanden zu haben. Unter dem allgemeinen Begriff von κοινωνία wurde das ganze Verbandsleben befaßt und eine Unterſcheidung wie die römiſche zwiſchen universitas und societas hatte ſich nicht herausgebildet. Ariſtoteles formulirt daher nur das Ergebniß der griechiſchen Verbandsentwicklung, wenn er von dem Begriff der κοινωνία in ſeiner Politik ausgeht, das genetiſche Verhält - niß entwickelt, das von dem Familienverband zu dem Dorfverband (κώμη), von dieſem zum Stadtſtaat (πόλις) führt, alsdann aber den Dorfverband, als ein Stadium von nur geſchichtlichem In - tereſſe in ſeiner politiſchen Theorie ſelber verſchwinden läßt und den freien Genoſſenſchaften keine Stelle in ſeinem Staate zutheilt. War doch im griechiſchen Leben in der Herrſchaftsordnung des Stadtſtaates alles Verbandsleben untergegangen. — Es entwickelten ſich dann weitere Beſtandtheile einer Theorie der äußeren Organi - ſation der Geſellſchaft in der Rechtswiſſenſchaft, in der kirchlichen Wiſſenſchaft: am hellen Tage der Geſchichte ſehen wir den größten Verband, den Europa hervorgebracht hat, die katholiſche Kirche, heranwachſen und in theoretiſchen Formeln ſeine Natur ausſprechen, aus ihr heraus ſeine Rechtsordnung ſich ſchaffen.
Die europäiſche Geſellſchaft zeigte nach der franzöſiſchen Re - volution ein ganz neues Phänomen, als ſozuſagen die Hemmungs - apparate, welche in ihrer früheren äußeren Organiſation zwiſchen den ſtarken Leidenſchaften der arbeitenden Claſſen und der die105Die Geſellſchaftswiſſenſchaft.Eigenthums - und Rechtsordnung aufrecht erhaltenden Staatsmacht beſtanden hatten, nunmehr größtentheils weggefallen waren, und das rapide Wachsthum der Induſtrie und der Verkehrsverbindungen eine täglich anwachſende Maſſe von Arbeitern, durch Intereſſenge - meinſchaft über die Grenzen der Einzelſtaaten hinaus verbunden, durch den Fortſchritt der Aufklärung ihrer Intereſſen immer deut - licher bewußt, der Staatsmacht gegenüberſtellte. Aus der Auffaſſung dieſer neuen Thatſache entſprang der Verſuch einer neuen Theorie, der Geſellſchaftswiſſenſchaft. In Frankreich bedeutete Sociologie die Ausführung der gigantiſchen Traumidee, aus der Verknüpfung aller von der Wiſſenſchaft gefundenen Wahrheiten die Erkenntniß der wahren Natur der Geſellſchaft abzuleiten, auf Grund dieſer Erkenntniß eine neue den herrſchenden Thatſachen der Wiſſenſchaft und Induſtrie entſprechende äußere Organiſation der Geſellſchaft zu entwerfen, ſowie vermittelſt dieſer Erkenntniß die neue Geſellſchaft zu leiten. In dieſem Verſtande hat während der gewaltthätigen Kriſen in der Wende des Jahrhunderts der Graf Saint-Simon den Begriff der Sociologie entwickelt. Sein Schüler Comte hat die angeſtrengte Arbeit eines ganzen Lebens mit folgerichtiger Beharrlichkeit dem ſyſtematiſchen Aufbau dieſer Wiſſenſchaft gewidmet.
In der Rückwirkung auf dieſe Arbeiten, unter dem Einfluß derſelben Lage der Geſellſchaft entſtand in Deutſchland der Begriff und Verſuch einer Geſellſchaftslehre1)Zu der gründlichen Ueberſicht der Literatur in Mohls Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaften I, 1855 S. 67 ff. bemerke ich, daß der erſte (und fruchtbarſte) Entwurf (was Mohl S. 101 nicht hervorgehoben) hinter 1850 zurückgeht und in Steins Socialismus Frankreichs 2. Aufl. 1848 S. 14 ff. ſich findet.. In geſundem, wiſſenſchaft - lich poſitivem Sinn, unternahm ſie nicht, die Staatswiſſenſchaften durch ein Ganzes von ungeheuren Dimenſionen zu erſetzen: ſie wollte ſie ergänzen. Das Unzureichende des abſtrakten Staatsbe - griffs war, ſeit den erſten Blicken von Schlözer, durch die hiſtoriſche Schule immer deutlicher zum Bewußtſein gekommen, dieſe hatte die Thatſache des Volkes durch ihre Arbeiten in einer ganz neuen106Erſtes einleitendes Buch.Tiefe geſehen. Hegel, Herbart, Krauſe wirkten in derſelben Richtung. Es kann nicht beſtritten werden, daß man, von dem Einzelleben der Individuen zur Staatsmacht fortſchreitend, zwiſchen beiden ein weites Reich von Thatſachen antrifft, welche dauernde Beziehungen dieſer Individuen aufeinander und die Welt der Güter enthalten. Der Staatsmacht ſtehen die Individuen nicht als iſolirte Atome gegenüber, ſondern als ein Zuſammenhang. Im Sinne unſerer bisherigen Darlegungen wird man weiter an - erkennen müſſen, daß auf der Grundlage der natürlichen Familien - gliederung und der Niederlaſſung, im Ineinandergreifen der Thätig - keiten des Kulturlebens in ihren Beziehungen auf die Güter eine Organiſation entſteht, welche der Staat von Anfang an trägt und ermöglicht, welche aber nicht ganz, wie ſie iſt, in den Zuſammen - hang der Staatsgewalt eingegliedert wird. Die Ausdrücke Volk und Geſellſchaft haben zu dieſer Thatſache eine augenſcheinliche Beziehung.
Die Frage nach der Exiſtenzberechtigung einer beſonderen Geſellſchaftswiſſenſchaft iſt nicht die über die Exiſtenz dieſer That - ſache, ſondern über die Zweckmäßigkeit, ſie zum Gegenſtand einer beſonderen Wiſſenſchaft zu machen. — Im Ganzen gleicht die Frage, ob irgend ein Theilinhalt der Wirklichkeit geeignet ſei, von ihm aus bewieſene und fruchtbare Sätze zu entwickeln, der Frage, ob ein Meſſer das vor mir liegt ſcharf ſei. Man muß ſchneiden. Eine neue Wiſſenſchaft wird conſtituirt durch die Entdeckung wich - tiger Wahrheiten, aber nicht durch die Abſteckung eines noch nicht occupirten Terrains in der weiten Welt von Thatſachen. Das muß gegen den Entwurf Robert von Mohl’s Bedenken erregen. Dieſer geht davon aus, daß zwiſchen Einzelperſon, Familie, Stamm und Gemeinde1)So nachdem er auf Grund der Einwendungen Treitſchke’s (Ge - ſellſchaftswiſſenſchaft 1859) die Gemeinde aus ſeiner Geſellſchaftslehre ausge - ſchieden hatte. Vgl. darüber Enchklopädie der Staatswiſſenſchaften. Aufl. 2. 1872, S. 51 f. einerſeits, dem Staat andrerſeits, gleich - förmige Beziehungen und in Folge deſſen bleibende Geſtaltungen einzelner Beſtandtheile der Bevölkerung ſich befinden: ſolche werden107Die Geſellſchaftswiſſenſchaft.durch die Gemeinſchaft der Abſtammung von bevorzugten Familien, die Gemeinſchaft der perſönlichen Bedeutung, der Verhältniſſe des Beſitzes und Erwerbs ſowie der Religion gebildet. Ob auf Grund dieſer Abgrenzung eines Thatbeſtandes eine „ allgemeine Geſell - ſchaftslehre d. h. Begründung des Begriffs und der allgemeinen Geſetze “1)Mohl, Staatswiſſenſchaften, S. 51. der Geſellſchaft nothwendig ſei, würde nur durch die Auffindung dieſer Geſetze bewieſen werden können. Jede andere Art von Erörterung ſcheint kein Ergebniß zu verſprechen. — In vieljähriger Arbeit hat Lorenz von Stein verſucht, einen ſolchen Zuſammenhang von Wahrheiten zu entwickeln; was er anſtrebt iſt eine wirkliche erklärende Theorie, welche zwiſchen die Güterlehre2)Stein, Socialismus 1848. S. 24., in der letzten Faſſung: zwiſchen die Erkenntniß der wirthſchaft - lichen Thätigkeit, der Arbeit des Gottesbewußtſeins und der Arbeit des Wiſſens3)Stein, Volkswirthſchaftslehre. 2. Auflage. Wien 1878. S. 465. einerſeits und die Staatswiſſenſchaft andrerſeits treten ſoll. Uebertragen wir das in den hier entwickelten Zu - ſammenhang, ſo wäre dieſe Wiſſenſchaft das Bindeglied zwiſchen den Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur und der Staats - wiſſenſchaft. Die Geſellſchaft iſt ihm, dem entſprechend, eine dauernde und allgemeine Seite in allen Zuſtänden der menſchlichen Gemeinſchaft, ein weſentliches und machtvolles Element der ganzen Weltgeſchichte4)Stein, Geſellſchaftslehre. Abth. I, S. 269.. Erſt wenn wir an einer ſpäteren Stelle ſeine tiefgedachte Theorie einer logiſchen Prüfung unterwerfen, kann die Frage entſchieden werden, ob die von ihm entwickelten Wahrheiten zur Abſonderung einer Geſellſchaftslehre berechtigen.
Auch an dieſem Punkte tritt die Nothwendigkeit einer erkennt - nißtheoretiſchen und logiſchen Grundlegung hervor, welche das Verhältniß der abſtrahirten Begriffe zu der geſellſchaftlich-geſchicht - lichen Wirklichkeit, deren Theilinhalte ſie ſind, aufklärt. Denn bei den Staatsgelehrten macht ſich die Neigung bemerkbar, die Ge - ſellſchaft als eine für ſich beſtehende Wirklichkeit zu betrachten. Will doch Mohl die Geſellſchaft geradezu als „ ein wirkliches Leben,108Erſtes einleitendes Buch.einen außer dem Staate ſtehenden Organismus “1)Mohl, Lit. d. Staatswiſſ. 1, 1855 S. 82. verſtanden wiſſen, als ob irgend einer ihrer Lebenskreiſe außerhalb der Alles erhaltenden Staatsgewalt, außerhalb der vom Staat ge - ſchaffenen Rechtsordnung die Dauer haben könne, welche nach ihm ſelber zu ihren Merkmalen gehört. Stein conſtruirt geſellſchaftliche Ordnungen und Verbände und läßt dann über ſie im Staat ſich die Einheit in abſoluter Selbſtbeſtimmung zur höchſten Form all - gemeiner Perſönlichkeit erheben. Sieht man bei ihm Geſellſchaft und Staat einander als Mächte gegenübertreten, ſo kann der Em - piriker dem doch nur die Unterſcheidung der zu einer gegebenen Zeit beſtehenden Staatsmacht und der in ihrer Herrſchaftsſphäre befindlichen, aber nicht von ihr gebundenen, ſondern in einem eigenen Syſtem von Beziehungen ſtehenden freien Kräfte unter - legen. In einer theoretiſchen Betrachtung über die Kräfteverhält - niſſe im politiſchen Leben kann man ſo gut als das Kräfteverhält - niß zwiſchen Staatseinheiten auch das zwiſchen der Staatsmacht und den freien Kräften in’s Auge faſſen. Aber Geſellſchaft in dieſem Verſtande faßt auch Reſte älterer ſtaatlicher Ordnungen in ſich ſie ſetzt ſich nicht wie die Geſellſchaft Steins aus Beziehungen von einer beſtimmten Provenienz zuſammen.
Wir ſtehen an der Grenze der bisher zur Ausbildung ge - langten Einzelwiſſenſchaften der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk - lichkeit. Dieſe haben zunächſt Bau und Funktionen der wichtigſten dauernden Thatbeſtände in der Welt der pſychophyſiſchen Wechſel - wirkungen zwiſchen Individuen innerhalb des Naturganzen erforſcht. Es bedarf anhaltender Uebung, um dieſe übereinander ſich lagernden, einander ſich ſchneidenden engeren Zuſammenhänge von Wechſel -109Philoſophie der Geſchichte und Sociologie keine Wiſſenſchaften.wirkung, die ſich in ihren Trägern, den Individuen, kreuzen, gleichzeitig als Theilinhalte der Wirklichkeit, nicht als Abſtraktionen, vorzuſtellen. Verſchiedene Perſonen ſind in jedem von uns, das Familienglied, der Bürger, der Berufsgenoſſe; wir finden uns im Zuſammenhang ſittlicher Verpflichtungen, in einer Rechtsordnung, in einem Zweckzuſammenhang des Lebens, der auf Befriedigung gerichtet iſt: nur in der Selbſtbeſinnung finden wir die Lebens - einheit und ihre Continuität in uns, welche alle dieſe Beziehungen trägt und hält. So hat auch die menſchliche Geſellſchaft ihr Leben in der Hervorbringung und Geſtaltung, Beſonderung und Ver - knüpfung dieſer dauernden Thatbeſtände, ohne daß ſie oder eines der ſie mittragenden Individuen darum ein Bewußtſein von dem Zuſammenhang derſelben beſäße. Welch ein Vorgang von Diffe - renzirung, in welchem das römiſche Recht die Privatrechtsſphäre abſonderte, die mittelalterliche Kirche der religiöſen Sphäre zu voller Selbſtändigkeit verhalf! Von den Veranſtaltungen ab, welche der Herrſchaft des Menſchen über die Natur dienen, bis zu den höchſten Gebilden der Religion und Kunſt arbeitet ſo der Geiſt beſtändig an Scheidung, Geſtaltung dieſer Syſteme, an der Entwicklung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Ein Bild, nicht weniger erhaben als jedes, das Naturforſchen von Entſtehung und Bau des Kosmos entwerfen kann: während die Individuen kommen und gehen, iſt doch jedes von ihnen Träger und Mitbildner an dieſem ungeheuren Bau der geſchichtlich-geſell - ſchaftlichen Wirklichkeit.
Löſt nun aber die Einzelwiſſenſchaft dieſe dauernden Zuſtände aus dem raſtloſen, wirbelnden Spiel von Veränderungen los, welches die geſchichtlich-geſellſchaftliche Welt erfüllt: ſo haben ſie doch Entſtehung und Nahrung nur in dem gemeinſchaftlichen Boden dieſer Wirklichkeit; ihr Leben verläuft in den Beziehungen zu dem Ganzen, aus welchem ſie abſtrahirt ſind, zu den Indivi - duen, welche ihre Träger und Bildner ſind, zu den anderen dauern - den Geſtaltungen, welche die Geſellſchaft umfaßt. Das Problem des Verhältniſſes der Leiſtungen dieſer Syſteme zu einander im Haushalt der geſellſchaftlichen Wirklichkeit tritt hervor. Dieſe Wirk -110Erſtes einleitendes Buch.lichkeit ſelber, als ein lebendiges Ganze, möchten wir erkennen. Und ſo werden wir unaufhaltſam dem allgemeinſten und letzten Problem der Geiſteswiſſenſchaften entgegengetrieben: giebt es eine Erkennt - niß dieſes Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit?
Die wiſſenſchaftliche Bearbeitung der Thatſachen, welche irgend eine der Einzelwiſſenſchaften vollbringt, führt den Gelehrten in der That in mehrere Zuſammenhänge, deren Enden von ihm ſelber weder aufgefunden noch verknüpft werden zu können ſcheinen. Ich verdeutliche dies an dem Beiſpiel des Studiums poetiſcher Werke. — Die mannichfaltige Welt der Dichtungen, in der Auf - einanderfolge ihrer Erſcheinungen, kann zunächſt nur in und aus der umfaſſenden Wirklichkeit des Kulturzuſammenhangs verſtanden werden. Denn Fabel, Motiv, Charaktere eines großen dichteriſchen Werkes ſind durch das Lebensideal, die Weltanſicht, ſowie die ge - ſellſchaftliche Wirklichkeit der Zeit bedingt, in der es entſtand, rück - wärts durch die weltgeſchichtliche Uebertragung und Entwicklung dichteriſcher Stoffe, Motive und Charaktere. — Andrerſeits führt die Analyſe eines dichteriſchen Werkes und ſeiner Wirkungen zurück auf die allgemeinen Geſetze, welche dieſem Theil des in der Kunſt vorliegenden Syſtems der Kultur zu Grunde liegen. Denn die wichtigſten Begriffe, durch welche ein dichteriſches Werk erkannt wird, die Geſetze, welche in ſeiner Geſtaltung wirken, ſind in der Phantaſie des Dichters und ihrer Stellung zur Welt der Erfahrungen begründet und können nur durch ihre Zergliederung gewonnen werden. Die Phantaſie aber, welche uns als ein Wunder, als ein vom Alltagsleben der Menſchen ganz verſchie - denes Phänomen zunächſt gegenübertritt, iſt für die Analyſis nur die mächtigere Organiſation beſtimmter Menſchen, welche in der ausnahmsweiſen Stärke beſtimmter Vorgänge gegründet iſt. So - nach baut ſich das geiſtige Leben ſeinen allgemeinen Geſetzen ge - mäß in dieſen mächtigen Organiſationen zu einem Ganzen von Form und Leiſtung auf, welches von der Natur der Durchſchnitts - menſchen ganz abweicht und doch nur in denſelben Geſetzen ge - gründet iſt. Wir werden alſo in die Anthropologie zurückgeführt. Die Correlatthatſache der Phantaſie bildet die äſthetiſche Empfäng -111Dreifache Verbind. j. Unterſ. m. d. Ganzen d. geſch. -geſ. Wirklichkeit.lichkeit. Sie verhalten ſich zu einander wie das ſittliche Urtheil zu den Beweggründen des Handelns. Auch dieſe Thatſache, welche die Wirkung von Dichtungen, die auf die Berechnung dieſer Wir - kungen gegründete Technik, die Uebertragung äſthetiſcher Stimmungen auf ein Zeitalter erklärt, iſt eine Folgethatſache der allgemeinen Geſetze des geiſtigen Lebens. — Sonach iſt das Studium der Ge - ſchichte dichteriſcher Werke und der nationalen Literaturen an zwei Punkten von dem des geiſtigen Lebens überhaupt bedingt. Ein - mal fanden wir es nämlich abhängig von der Erkenntniß des Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Der concrete urſächliche Zuſammenhang iſt hineinverwebt in den der menſchlichen Kultur überhaupt. Wir fanden aber zweitens: die Natur geiſtiger Thätigkeit, welche dieſe Schöpfungen hervorgebracht hat, wirkt nach den Geſetzen, welche das geiſtige Leben überhaupt beherrſchen. Daher muß eine wahre Poetik, welche Grundlage für das Studium der ſchönen Literatur und ihrer Geſchichte ſein ſoll, ihre Begriffe und Sätze aus der Verknüpfung geſchichtlicher Forſchung mit dieſem allgemeinen Studium der menſchlichen Natur gewinnen. — Unverächtlich iſt endlich die alte Aufgabe einer ſolchen Poetik, Regeln für die Hervorbringung und die Beurtheilung von dich - teriſchen Werken zu entwerfen. Die zwei claſſiſchen Arbeiten Leſſings haben gezeigt, wie klare Regeln aus den Bedingungen, unter die unſere äſthetiſche Empfänglichkeit vermöge der allgemeinen Natur einer beſtimmten künſtleriſchen Aufgabe tritt, abgeleitet werden können. Den Hintergrund einer allgemeinen Methode von Abſchätzung deſſen, was den Eindruck dichteriſcher Werke beſtimmt, hat freilich Leſſing abſichtlich, nach der ihm eigenen Strategie der Theilung von Fragen und Ausſonderung der zur Zeit ihm auf - lösbaren Einzelprobleme, in ſeinem Dunkel gelaſſen; aber es iſt klar, daß die Behandlung dieſes ſolchergeſtalt allgemein gefaßten Problems vermittelſt der Analyſe der äſthetiſchen Wirkungen auf die allge - meinſten Eigenſchaften der menſchlichen Natur zurückgeführt haben würde. Wir können alſo das äſthetiſche Urtheil nicht auslöſen aus der Auffaſſung dieſes Theils der Geſchichte; ſchon dem In - tereſſe, das aus dem Strom des Gleichgiltigen ein Werk zur Be -112Erſtes einleitendes Buch.trachtung heraushebt, liegt dies Urtheil zu Grunde. Wir können nicht eine exakte Cauſalerkenntniß, welche die Beurtheilung aus - ſchlöſſe, herſtellen. Dieſe iſt von der geſchichtlichen Erkenntniß durch keine Art von geiſtiger Chemie abzuſcheiden, ſolange der Erkennende ein ganzer Menſch iſt. Und doch bilden andrerſeits Beurtheilung, Regel, wie ſie in den Zuſammenhang dieſer Erkenntniß verwebt ſind, eine dritte ſelbſtändige Claſſe von Sätzen, die nicht aus den beiden anderen abgeleitet werden kann. Dies trat uns ſchon am Beginn dieſes Ueberblicks entgegen. Nur in der pſychologiſchen Wurzel mag ein ſolcher Zuſammenhang beſtehen: zu dieſer aber dringt nur die über die Einzelwiſſenſchaften hinausgehende Selbſt - beſinnung.
Dieſe dreifache Verbindung jeder Einzelunterſuchung, jeder Einzelwiſſenſchaft mit dem Ganzen der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit und ihrer Erkenntniß kann an jedem anderen Punkte nachgewieſen werden: Verbindung mit dem concreten Cauſalzu - ſammenhange aller Thatſachen und Veränderungen dieſer Wirklich - keit mit den allgemeinen Geſetzen, unter denen dieſe Wirklichkeit ſteht, und mit dem Syſtem der Werthe und Imperative, das in dem Verhältniß des Menſchen zu dem Zuſammenhang ſeiner Aufgaben angelegt iſt. Giebt es, ſo fragen wir nun genauer, eine Wiſſen - ſchaft, welche dieſen dreifachen die Einzelwiſſenſchaften überſchreitenden Zuſammenhang erkennt, die Beziehungen erfaßt, welche zwiſchen der geſchichtlichen Thatſache, dem Geſetz und der das Urtheil leitenden Regel beſtehen?
Zwei Wiſſenſchaften von ſtolzem Titel, die Philoſophie der Geſchichte in Deutſchland, die Sociologie in England und Frankreich beanſpruchen eine Erkenntniß dieſer Art zu ſein.
Der Urſprung der einen dieſer Wiſſenſchaften lag in dem chriſtlichen Gedanken eines inneren Zuſammenhangs fortſchreiten - der Erziehung in der Geſchichte der Menſchheit. Clemens und Auguſtinus bereiteten ſie vor, Vico, Leſſing, Herder, Humboldt, Hegel führten ſie aus. Unter dem mächtigen Antrieb, den ſie in dem chriſtlichen Gedanken einer gemeinſamen Erziehung aller Nationen durch die Vorſehung, eines ſich ſo verwirklichenden Reiches113Philoſophie d. Geſchichte u. Sociologie beanſpruchen ſie zu erkennen.Gottes empfangen hat, ſteht ſie noch heute. Der Urſprung der anderen lag in den Erſchütterungen der europäiſchen Geſellſchaft ſeit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts; eine neue Organi - ſation der Geſellſchaft ſollte unter der Leitung des im 18. Jahr - hundert mächtig herangewachſenen wiſſenſchaftlichen Geiſtes ſich vollziehen; von dieſem Bedürfniß aus ſollte der Zuſammenhang des ganzen Syſtems der wiſſenſchaftlichen Wahrheiten, von der Mathematik aufwärts, feſtgeſtellt und als ihr letztes Glied die neue erlöſende Wiſſenſchaft der Geſellſchaft begründet werden; Condorcet und Saint-Simon waren die Vorläufer, Comte der Begründer dieſer umfaſſenden Wiſſenſchaft der Geſellſchaft, Stuart Mill ihr Logiker, in Herbert Spencers ausführlicher Darſtellung beginnt ſie die Phantaſien, welche ihre ungeſtüme Jugend bewegt haben, abzuthun1)Von Saint-Simon können mit Sicherheit folgende Gedanken in der Sociologie Comte’s abgeleitet werden: der Begriff der Geſellſchaft, im Unterſchied von dem des Staates, als einer von den Grenzen der Staaten nicht eingeſchränkten Gemeinſchaft; vgl. ſeine Schrift: Réorganisation de la société européenne, ou de la nécessité et des moyens de rassembler les peuples de l’Europe en un seul corps politique, en conservant à chacun sa nationalité (in Gemeinſchaft mit Auguſtin Thierry verfaßt) 1814; dann der Gedanke einer nach der Zerſetzung der Geſellſchaft nunmehr nothwendigen Organiſation derſelben, vermittelſt einer leitenden geiſtigen Macht, welche als Philoſophie der poſitiven Wiſſenſchaften die Verkettung der Wahrheiten in dieſen Wiſſenſchaften aufzufinden und aus ihr die Socialwiſſenſchaften abzu - leiten habe; vgl. Nouvelle Encyclopédie 1810, ſowie das Memoire über dieſelbe etc.; endlich iſt der Plan, nach welchem er ſeit 1797 zuerſt die mathe - matiſch-phyſikaliſchen Wiſſenſchaften in der polytechniſchen Schule ſtudirte, dann die biologiſchen in der mediciniſchen Schule von ſeinem Mitarbeiter und Schüler Comte dann wirklich in wiſſenſchaftlichem Geiſte durchgeführt worden. Comte verband mit dieſer Grundlage Turgot’s ſeit 1750 ent - wickelte Theorie von den drei Stadien der Intelligenz und de Maiſtre’s Theorie von der Nothwendigkeit einer im Gegenſatz zu der zerſetzenden Tendenz des Proteſtantismus die Geſellſchaft zuſammenhaltenden geiſtlichen Gewalt..
Gewiß, ein armſeliger Glaube wäre es, die Weiſe, in der es der Kunſt des Geſchichtſchreibers (wie wir ſahen) gegeben iſt, das Allgemeine des Zuſammenhangs menſchlicher Dinge im Be - ſonderen zu ſchauen, ſei die einzige und ausſchließliche Form. in welcher der Zuſammenhang dieſer unermeßlichen geſchichtlich-geſell -Dilthey, Einleitung. 8114Erſtes einleitendes Buch.ſchaftlichen Welt für uns da iſt. — Immer wird in dieſer künſtle - riſchen Darſtellung eine große Aufgabe der Geſchicht - ſchreibung beſtehen, welche durch die Generaliſationswuth einiger neueren engliſchen und franzöſiſchen Forſcher nicht entwerthet werden kann. Denn wir wollen Wirklichkeit gewahr werden, und der Verlauf der erkenntnißtheoretiſchen Unterſuchung wird zeigen, daß ſie, wie ſie iſt, in ihrer durch kein Medium veränderten That - ſächlichkeit, nur in dieſer Welt des Geiſtes für uns beſteht. Und zwar liegt für unſer Anſchauen in allem Menſchlichen ein Intereſſe nicht des Vorſtellens allein, ſondern des Gemüths, der Mitempfin - dung, des Enthuſiasmus, in welchem Goethe mit Recht die ſchönſte Frucht geſchichtlicher Betrachtung ſah. Hingebung macht das Innere des wahren congenialen Hiſtorikers zu einem Univerſum, welches die ganze geſchichtliche Welt abſpiegelt. In dieſem Univerſum ſittlicher Kräfte hat das Einmalige und Singulare eine ganz andere Bedeu - tung als in der äußeren Natur. Seine Erfaſſung iſt nicht Mittel, ſondern Selbſtzweck: denn das Bedürfniß, auf dem ſie beruht, iſt unvertilgbar und mit dem Höchſten in unſerem Weſen gegeben. Daher haftet auch der Blick des Geſchichtſchreibers mit einer natür - lichen Vorliebe an dem Außerordentlichen. Ohne es zu wollen, ja oft ohne es zu wiſſen vollzieht auch Er beſtändig eine Abſtrak - tion. Denn das Auge deſſelben verliert für die Theile des That - beſtandes, welche in allen geſchichtlichen Erſcheinungen wieder - kehren, die friſche Empfänglichkeit, wie die Wirkung eines Ein - druckes, der eine beſtimmte Stelle der Netzhaut anhaltend trifft, ſich abſtumpft. Es bedurfte der philanthropiſchen Beweggründe des 18. Jahrhunderts, um das Alltägliche, allen Gemeinſame in einem Zeitalter, die „ Sitten “, wie ſich Voltaire ausdrückt, ſowie die Veränderungen, welche in Bezug auf dieſes ſtattfinden, neben dem Außerordentlichen, den Handlungen der Könige und den Schick - ſalen der Staaten, wieder recht ſichtbar zu machen. Und der Untergrund des zu allen Zeiten Gleichen in der menſchlichen Natur und dem Weltleben tritt überhaupt nicht in die künſtleriſche Ge - ſchichtsdarſtellung. Auch ſie alſo beruht auf einer Abſtraktion. Aber dieſelbe iſt unwillkürlich, und da ſie aus den ſtärkſten Be -115Anſchauung dieſes Zuſammenh. i. d. künſtleriſchen Geſchichtſchreibung.weggründen der Menſchennatur entſpringt, ſo werden wir ihrer gewöhnlich gar nicht inne. Indem wir ein Vergangenes miterleben, durch die Kunſt geſchichtlicher Vergegenwärtigung, werden wir be - lehrt, wie durch das Schauſpiel des Lebens ſelber; ja unſer Weſen erweitert ſich, und pſychiſche Kräfte, die mächtiger ſind als unſre eigenen, ſteigern unſer Daſein.
Daher ſind die ſociologiſchen und geſchichtsphiloſophiſchen Theorien falſch, welche in der Darſtellung des Singularen einen bloßen Rohſtoff für ihre Abſtraktionen erblicken. Dieſer Aberglaube, welcher die Arbeiten der Geſchichtſchreiber einem geheimnißvollen Proceß unterwirft, um den bei ihnen vorgefundenen Stoff des Singularen alchymiſtiſch in das lautere Gold der Abſtraktion zu verwandeln und die Geſchichte zu zwingen ihr letztes Geheimniß zu verrathen, iſt genau ſo abenteuerlich, als je der Traum eines alchymiſtiſchen Naturphiloſophen war, welcher das große Wort der Natur ihr zu entlocken gedachte. Es giebt ſo wenig ein ſolches letztes und einfaches Wort der Geſchichte, das ihren wahren Sinn ausſpräche, als die Natur ein ſolches zu verrathen hat. Und ganz ſo irrig als dieſer Aberglaube iſt das Verfahren, welches gewöhnlich mit ihm verbunden iſt. Dieſes Verfahren will die von den Geſchichtſchreibern ſchon formirten Anſchauungen vereinigen. Aber der Denker, welcher die geſchichtliche Welt zum Objekt hat, muß in direkter Verbindung mit dem unmittelbaren Rohmaterial der Geſchichte und all ihrer Methoden mächtig ſein. Er muß ſich demſelben Geſetz harter Arbeit an dem Rohſtoff unterwerfen, unter dem der Geſchichtſchreiber ſteht. Den Stoff, der durch das Auge und die Arbeit des Geſchichtſchreibers ſchon zu einem künſtleriſchen Ganzen verbunden iſt, ſei es mit pſychologiſchen ſei es metaphy - ſiſchen Sätzen in Zuſammenhang bringen: dieſe Operation wird immer mit Unfruchtbarkeit behaftet bleiben. Spricht man von einer Philoſophie der Geſchichte, ſo kann ſie nur hiſtoriſche Forſchung in philoſophiſcher Abſicht und mit philoſophiſchen Hilfsmitteln ſein.
Aber dies iſt nun die andere Seite der Sache. Das Band zwiſchen dem Singularen und Allgemeinen, das in der genialen Anſchauung des Geſchichtſchreibers liegt, wird durch die8*116Erſtes einleitendes Buch.Analyſis zerriſſen, welche einen einzelnen Beſtandtheil dieſes Ganzen der theoretiſchen Betrachtung unterwirft; jede Theorie, welche ſo in den Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft, die wir erörtert haben, entſteht, iſt ein weiterer Schritt in der Loslöſung eines all - gemeinen erklärenden Zuſammenhangs von dem Gewebe der That - ſachen; und dieſen Vorgang hält nichts auf: der Geſammtzu - ſammenhang, welchen die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit ausmacht, muß Gegenſtand einer theoretiſchen Betrachtung werden, welche auf das Erklärbare in dieſem Zuſammenhang gerichtet iſt.
Aber iſt nun die Philoſophie der Geſchichte oder die Socio - logie dieſe theoretiſche Betrachtung? Der Zuſammenhang dieſer ganzen Darlegung enthält die Prämiſſen, aus welchen dieſe Frage verneint werden muß.
Es beſteht ein unlösbarer Widerſpruch zwiſchen der Aufgabe, welche dieſe beiden Wiſſenſchaften ſich geſtellt haben, und den Hilfs - mitteln, welche ihnen zur Löſung derſelben zur Verfügung ſtehen.
Unter Philoſophie der Geſchichte verſtehe ich eine Theorie, welche den Zuſammenhang der geſchichtlichen Wirklichkeit durch einen entſprechenden Zuſammenhang zu einer Einheit ver - bundener Sätze zu erkennen unternimmt. Dieſes Merkmal der Einheit des Gedankens iſt von einer Theorie unabtrennbar, welche eben in der Erkenntniß vom Zuſammenhang des Ganzen ihre unterſcheidende Aufgabe hat. Daher hat die Philoſophie der Ge - ſchichte bald in einem Plan des geſchichtlichen Verlaufs dieſe Ein - heit gefunden, bald in einem Grundgedanken (einer Idee), bald in einer Formel oder einer Verbindung von Formeln, welche das Geſetz der Entwicklung ausdrücken. Die Sociologie (ich ſpreche117Relat. Erkenntniß d. Zuſammenh. d. d. fortſchr. Geſchichtswiſſenſchaft.hier nur von der franzöſiſchen Schule derſelben) ſteigert noch dieſen Anſpruch der Erkenntniß, indem ſie vermöge der Erfaſſung dieſes Zuſammenhangs eine wiſſenſchaftliche Leitung der Geſellſchaft herbeizuführen hofft.
Nun ging uns aus der Vertiefung in den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes die folgende Einſicht hervor. In dieſen Wiſſenſchaften hat die Weisheit vieler Jahrhunderte eine Zerlegung des Geſammtproblems der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit in Einzelprobleme vollbracht; in denſelben ſind dieſe Einzelprobleme einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Behandlung unter - worfen worden; der in ihnen durch dieſe beharrliche Arbeit ge - ſchaffene Kern von wirklicher Erkenntniß iſt in langſamem, aber beſtändigem Wachsthum begriffen. — Wol iſt nothwendig, daß dieſe Wiſſenſchaften ſich des Verhältniſſes ihrer Wahrheiten zu der Wirklichkeit, von welcher ſie doch nur Theilinhalte darſtellen, folgerecht der Beziehungen, in welchen ſie zu den aus derſelben Wirklichkeit durch Abſtraktion ausgeſonderten anderen Wiſſenſchaften ſtehen, bewußt werden; gerade dieß iſt das Bedürfniß, daß aus der Natur der Aufgabe, welche dieſe Wirklichkeit dem menſchlichen Wiſſen und Erkennen ſtellt, die Kunſtgriffe, vermöge deren das - ſelbe ſich in ſie eingräbt, ſie zerſpaltet, zerſetzt, verſtanden werden; was das Erkennen mit ſeinen Werkzeugen bewältigen kann, was als unzerſetzbare Thatſache widerſteht und zurückbleibt, das muß ſich hier zeigen: kurz einer Erkenntnißtheorie der Geiſteswiſſen - ſchaften, oder tiefer: der Selbſtbeſinnung bedarf es, welche den Begriffen und Sätzen derſelben ihr Verhältniß zur Wirklichkeit, ihre Evidenz, ihr Verhältniß zu einander ſichert. Sie vollendet erſt die echt wiſſenſchaftliche Richtung dieſer poſitiven Arbeiten auf klar begränzte und in ſich ſichere Wahrheiten. Sie legt erſt die Grundlagen für das Zuſammenwirken der Einzelwiſſenſchaften in der Richtung auf die Erkenntniß des Ganzen. — Aber wie ſolchergeſtalt dieſe Einzelwiſſenſchaften, bewußter in ſich geworden durch eine ſolche Erkenntnißtheorie, ihres Werthes und ihrer Grenzen ſicher, ihre Beziehungen in ihre Rechnung aufnehmend, nach allen Seiten voranſchreiten: ſo ſind ſie die einzigen118Erſtes einleitendes Buch.Hilfsmittel der Erklärung der Geſchichte, und es hat keinen vorſtellbaren Sinn, außerhalb ihrer eine Löſung des Problems vom Zuſammenhang der Geſchichte ſich vorzuſtellen. Denn dieſen Zu - ſammenhang erkennen heißt ihn, ein unermeßlich Zuſammengeſetztes, in ſeine Beſtandtheile auflöſen, an dem Einfacheren Gleichförmig - keiten aufſuchen, vermöge ihrer dann dem Verwickelteren ſich nähern. Daher findet die Anwendung der bisher dargeſtellten Einzelwiſſenſchaften zur Erklärung des Zuſammenhangs der Ge - ſchichte in der fortſchreitenden Geſchichtswiſſenſchaft ſelber in immer höherem Grade ſtatt. Das Verſtändniß jedes Theils von Geſchichte fordert die Anwendung der vereinten Hilfsmittel ver - ſchiedener Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes, von der Anthropologie aufwärts. Wenn Ranke einmal ausſpricht, er möchte ſein Selbſt aus - löſchen, um die Dinge zu ſehen, wie ſie geweſen ſind, ſo drückt dies das tiefe Verlangen des wahren Geſchichtſchreibers nach der objektiven Wirklichkeit ſehr ſchön und kräftig aus. Aber dies Verlangen muß ſich mit der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß der pſychiſchen Einheiten, aus denen dieſe Wirklichkeit beſteht, der dauernden Geſtaltungen, die in der Wechſelwirkung derſelben ſich entwickeln und Träger des ge - ſchichtlichen Fortſchritts ſind, ausrüſten: ſonſt wird es dieſe Wirklich - keit nicht erobern, die nun einmal in bloßem Blicken, Gewahren nicht ergriffen wird, ſondern nur durch Analyſis, Zerlegung. Giebt es etwas, was als Wahrheitskern hinter der Hoffnung einer Phi - loſophie der Geſchichte verborgen iſt, dann iſt es dieſes; geſchicht - liche Forſchung auf dem Grunde einer möglichſt umfaſſenden Beherrſchung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes. Wie Phyſik und Chemie die Hilfsmittel des Studiums des organiſchen Lebens ſind, ſo Anthropologie, Rechtswiſſenſchaft, Staatswiſſenſchaften die Hilfsmittel des Studiums des Verlaufs der Geſchichte.
Dieſer klare Zuſammenhang kann methodiſch ſo ausgedrückt werden: die höchſt zuſammengeſetzte Wirklichkeit der Geſchichte kann nur vermittelſt der Wiſſenſchaften erkannt werden, welche die Gleich - förmigkeiten der einfacheren Thatſachen erforſchen, in die wir dieſe Wirklichkeit zerlegen können. Und ſo beantworten wir die oben geſtellte Frage zunächſt dahin: die Erkenntniß des Ganzen der119Relat. Erkenntniß d. Zuſammenh. d. d. fortſchr. Geſchichtswiſſenſchaft.geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit, welcher wir uns als dem allgemeinſten und letzten Problem der Geiſteswiſſenſchaften entgegen getrieben fanden, verwirklicht ſich ſucceſſive in einem auf erkenntniß-theoretiſcher Selbſtbeſinnung beruhenden Zuſammen - hang von Wahrheiten, in welchem auf die Theorie des Menſchen die Einzeltheorien der geſellſchaftlichen Wirklichkeit ſich aufbauen, dieſe aber in einer wahren fortſchreitenden Geſchichtswiſſenſchaft angewandt werden, um immer Mehreres von der thatſächlichen, in der Wechſelwirkung der Individuen verbundenen geſchichtlichen Wirklichkeit zu erklären. In dieſem Zuſammenhang von Wahr - heiten wird die Beziehung zwiſchen Thatſache, Geſetz und Regel vermittelſt der Selbſtbeſinnung erkannt. In ihm ergiebt ſich auch, wie weit wir noch von jeder abſehbaren Möglichkeit einer allgemeinen Theorie des geſchichtlichen Verlaufs entfernt ſind, in welchem beſcheidenen Sinn überhaupt von einer ſolchen die Rede ſein kann. Univerſalgeſchichte, ſofern ſie nicht etwas Uebermenſch - liches iſt, würde den Abſchluß dieſes Ganzen der Geiſteswiſſen - ſchaften bilden1)Ausführlich habe ich über Univerſalgeſchichte gehandelt in meiner Abhandlung über Schloſſer, Preußiſche Jahrbücher April 1862..
Ein ſolches Verfahren vermag freilich nicht den geſchichtlichen Verlauf auf die Einheit einer Formel oder eines Prin - zips zurückzuführen, ſo wenig als die Phyſiologie das Leben. Die Wiſſenſchaft kann ſich der Auffindung einfacher Erklärungs - prinzipien durch die Analyſis und die Handhabung der Mehr - heit von Erklärungsgründen nur nähern. Die Philoſophie der Geſchichte müßte ſonach ihre Anſprüche aufgeben, wollte ſie des Verfahrens, an welches ſchlechterdings alle wirkliche Erkenntniß des geſchichtlichen Verlaufs gebunden iſt, ſich bedienen. So wie ſie iſt, quält ſie ſich an der Quadratur des Cirkels ab. Daher denn auch für den Logiker ihr Kunſtgriff durchſichtig genug iſt. — Ich kann, wenn ich mich an die Erſcheinung eines Zuſammen - hanges von Wirklichkeit halte, die meiner Anſchauung ſich dar - bietenden Züge in einer ſie zuſammenhaltenden Abſtraktion ver - knüpfen, in welcher, als in einer Art von Allgemeinvorſtellung,120Erſtes einleitendes Buch.das Bildungsgeſetz dieſes Zuſammenhangs enthalten iſt. Irgend eine wenn auch noch ſo ſchwankende und verworrene Allgemein - vorſtellung der geſchichtlichen Wirklichkeit entſteht in Jedem, der ſich mit ihr beſchäftigt hat und nun den Zuſammenhang dieſer Wirklichkeit in einem geiſtigen Bilde vereinigt. Solche Abſtrak - tionen gehen auf allen Gebieten der Arbeit der Analyſis voran. Eine Weſenheit dieſer Art war die geheimnißvolle vollkommene Kreisbewegung, welche die alte Aſtronomie zu Grunde legte, ſowie die Lebenskraft, in welcher die Biologie vergangener Tage die Urſache der Haupteigenſchaften des organiſchen Lebens ausdrückte. Und jede Formel, welche Hegel, Schleiermacher oder Comte aufgeſtellt haben, das Geſetz der Geſchichte auszudrücken, gehört dieſem natür - lichen Denken an, das überall der Analyſis vorausgeht und eben — Metaphyſik iſt. Dieſe anſpruchsvollen Allgemeinbegriffe der Phi - loſophie der Geſchichte ſind nichts als die notiones universales, welche Spinoza ſo meiſterhaft in ihrem natürlichen Urſprung und ihrer verhängnißvollen Wirkung auf das wiſſenſchaftliche Denken geſchildert hat1)Scholion zu prop. 40 des zweiten Buchs der Ethik, ſowie de in - tellectus emendatione. . — Natürlich heben dieſe Abſtraktionen, welche den Verlauf der Geſchichte ausdrücken, aus dieſem, der mit dem Bewußtſein unermeßlichen Reichthums die Seele bewegt, ſtets nur Eine Seite heraus, und ſo ſondert jede Philoſophie eine etwas andere Abſtraktion aus dieſem Gewaltigen, Wirklichen aus2)Ex gr. qui saepius cum admiratione hominum staturam con - templati sunt, sub nomine hominis intelligunt animal erectae staturae; qui vero aliud assueti sunt contemplari, aliam hominum communem imaginem formabunt etc. . Wollte man aus des Ariſtoteles Stufenfolge von Naturkräften bis zum Menſchen ein Prinzip der Philoſophie der Geſchichte ab - leiten, ſo würde es von dem Comte’s in Rückſicht ſeines eigentlichen Gehalts ſich etwa ſo unterſcheiden, wie der Blick auf dieſelbe Stadt von verſchiedenen Höhen aus, ebenſo dieſes von der Humanität Herders3)Vgl. das vierte und fünfte Buch der Ideen, an welches dann das fünfzehnte anknüpft, ſowie den von Joh. Müller mitgetheilten Entwurf des letzten Bandes gegen den Schluß., dem Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur121Allgemeinvorſtellungen als Gegenſtand der Geſchichtsphiloſophie.bei Schleiermacher, oder Hegels Fortſchritt im Bewußtſein der Freiheit. — Und wie zu weite Definitionen als Sätze wahr ſind und nur als Definitionen falſch, ſo pflegt auch das was in dem faltigen Gewand dieſer Formeln ſich birgt nicht unrichtig zu ſein, nur ein ärmlicher und unzureichender Ausdruck der machtvollen Wirklichkeit, deren Gehalt auszudrücken es beanſprucht.
Da nun Philoſophie der Geſchichte in ihrer Formel die ganze Weſenheit des Weltlaufs auszudrücken beanſprucht, ſo will ſie in der - ſelben zugleich mit dem Cauſalzuſammenhang auch den Sinn des geſchichtlichen Verlaufs d. h. ſeinen Werth und ſein Ziel aus - ſprechen, ſofern ſie einen ſolchen neben dem Cauſalzuſammenhang anerkennt. Die Enden unſeres Bewußtſeins, Wiſſen von Wirk - lichkeit und Bewußtſein von Werth und Regel, ſind in ihrer Allgemeinvorſtellung in eins gebunden: ſei es nun daß nach ihr in dem metaphyſiſchen Weltgrunde dieſe Einheit angelegt iſt, als eine Verwirklichung des Weltzweckes vermöge des Syſtems der wirken - den Urſachen, oder daß die Zwecke welche der Menſch ſich ſetzt, die Werthe die er den Thatſachen der Wirklichkeit giebt, mit Spinoza und den Naturaliſten als eine ephemere Form inneren Lebens in gewiſſen Erzeugniſſen der Natur angeſehen werden, welche nicht in deren blinde Macht zurückreichen. Sei alſo Geſchichtsphiloſophie teleologiſch oder naturaliſtiſch: ihr weiteres Merkmal iſt, daß in ihrer Formel des Weltlaufs auch der Sinn, Zweck, Werth, welchen ſie in der Welt verwirklicht ſieht, vertreten iſt. Negativ ausge - drückt, ſie begnügt ſich nicht mit der Erforſchung des zugänglichen Cauſalzuſammenhangs, indem ſie das Gefühl vom Werthe des Weltlaufs, wie es in unſerem Bewußtſein als Thatſache auftritt, walten läßt, ohne es weder zu verſtümmeln noch vorwitzig in die Forſchung zu miſchen. Das thut der wahre Einzelforſcher. Sie geht auch nicht von den Werthen und Regeln zurück zu dem Punkte im Selbſtbewußtſein, an welchem dieſe mit dem Vorſtellen und Denken verknüpft ſind. Das thut der kritiſche Denker. Sonſt würde ſie erkennen, daß Werth und Regel nur in der Beziehung auf unſer Syſtem der Energien da ſind und daß ſie ohne Be - ziehung auf ein ſolches Syſtem keinen vorſtellbaren Sinn mehr122Erſtes einleitendes Buch.haben. Ein Arrangement der Wirklichkeit kann nie an ſich, ſondern immer nur in ſeiner Beziehung zu einem Syſtem von Energien Werth haben. Hieraus ergiebt ſich weiter: naturgemäß finden wir, was im Syſtem unſerer Energien als Werth empfunden, als Regel dem Willen vorgeſtellt wird, im geſchichtlichen Weltlauf als den werth - und ſinnvollen Gehalt deſſelben wieder; jede Formel, in der wir den Sinn der Geſchichte ausdrücken, iſt nur ein Reflex unſeres eigenen belebten Inneren; ſelbſt die Macht, welche der Be - griff von Fortſchritt hat, liegt weniger in dem Gedanken eines Zieles, als in der Selbſterfahrung unſeres ringenden Willens, unſerer Lebensarbeit und des frohen Bewußtſeins von Energie in ihr: welche Selbſterfahrung ſich in dem Bilde eines allge - meinen Fortſchreitens auch dann projiciren würde, wenn in der Wirklichkeit des geſchichtlichen Weltlaufs ein ſolcher Fortſchritt ſich keineswegs ganz klar aufzeigen ließe. So beruht auf dieſem That - beſtand das unvertilgbare Gefühl von dem Werth und Sinn des geſchichtlichen Weltlebens. Und ein Schriftſteller wie Herder iſt mit ſeiner Allgemeinvorſtellung der Humanität niemals über das verworrene Bewußtſein dieſes Reichthums des Menſchendaſeins, dieſer Fülle ſeiner freudigen Entfaltungen hinaus gegangen. Hieraus aber würde Philoſophie der Geſchichte, noch weiter in der Selbſtbeſinnung fortſchreitend, haben folgern müſſen: aus einer un - ermeßlichen Mannichfaltigkeit einzelner Werthe baut ſich der Sinn der geſchichtlichen Wirklichkeit auf, wie aus derſelben Mannichfaltig - keit von Wechſelwirkungen ſein Cauſalzuſammenhang. Der Sinn der Geſchichte iſt alſo ein außerordentlich Zuſammengeſetztes. So hätte auch hier wieder dieſelbe Aufgabe ſich ergeben, Selbſtbeſinnung, welche im Gemüthsleben den Urſprung von Werth und Regel und ihre Beziehung zu Sein und Wirklichkeit erforſcht, und allmälige, langſame Analyſis, welche dieſe Seite des verwickelten geſchichtlichen Ganzen zerlegt. Denn was dem Menſchen werthvoll ſei und welche Regeln das Thun der Geſellſchaft leiten ſollen, das kann nur mit Hilfe der geſchichtlichen Forſchung mit irgend einer Aus - ſicht auf allgemeingültige Faſſung unterſucht werden. Und ſo ſtehen wir wieder vor demſelben Grundverhältniß: die Philoſophie123Ihre Unfähigkeit den Werth des geſchichtlichen Verlaufs zu beſtimmen.der Geſchichte, anſtatt ſich der Methoden der geſchichtlichen Ana - lyſis und der Selbſtbeſinnung zu bedienen (welche ihrer Natur nach ebenfalls analytiſch iſt), verbleibt in Allgemeinvorſtellungen, welche entweder den Totaleindruck des geſchichtlichen Weltlaufs in einer Abbreviatur wie eine Weſenheit hinſtellen, oder dieſes zu - ſammengezogene Bild von einem allgemeinen metaphyſiſchen Prin - zip aus entwerfen.
Mit ſo einfacher Deutlichkeit als von keinem anderen Beſtandtheil der Metaphyſik kann nun von dieſer Philoſophie der Geſchichte ge - zeigt werden, daß in dem religiöſen Erlebniß ihre Wurzeln liegen, und daß ſie, von dieſem Zuſammenhang losgelöſt, vertrocknet und verweſt. Der Gedanke eines einheitlichen Plans der Menſchenge - ſchichte, einer Erziehungsidee Gottes in ihr iſt von der Theologie geſchaffen worden. Ihr waren in Beginn und Ende aller Ge - ſchichte feſte Punkte für eine ſolche Conſtruktion gegeben: ſo ent - ſtand eine wirklich auflösbare Aufgabe, zwiſchen Sündenfall und letztem Gericht die verbindenden Fäden durch den geſchichtlichen Weltlauf zu ziehen. — In der mächtigen Schrift de civitate dei hat Auguſtinus aus der metaphyſiſchen Welt den Geſchichtsver - lauf auf dieſer Erde entſpringen laſſen und ihn dann wieder in dieſe metaphyſiſche Welt aufgelöſt. Denn nach ihm hebt ſchon in den Regionen der Geiſterwelt der Kampf zwiſchen dem himmliſchen und dem irdiſchen Staate an; Dämonen treten den Engeln gegen - über; Kain als der civis hujus seculi dem Abel als dem pere - grinus in seculo; die Weltmonarchie Babylon, und Rom, welches es in der Weltherrſchaft ablöſt, das zweite Babylon treten dem Gottes - ſtaat gegenüber, der im jüdiſchen Volke ſich entwickelt, im Erſcheinen Chriſti den Mittelpunkt ſeiner Geſchichte hat, und ſeitdem als eine Art von metaphyſiſcher Weſenheit, ein myſtiſcher Körper, auf dieſer Erde ſich entwickelt. Bis dann das Ringen der Dämonen und der ſie anbetenden irdiſchen civitas mit dem Gottesſtaate auf dieſer Erde im Weltgericht endet und Alles in die metaphyſiſche Welt wiederum zurückkehrt. — Dieſe Philoſophie der Geſchichte bildet den Mittelpunkt der mittelalterlichen Metaphyſik des Geiſtes. Sie empfing durch die Theorie von den geiſtigen Subſtanzen, welche124Erſtes einleitendes Buch.die allgemeine Metaphyſik des Mittelalters entwickelt hat, eine Grundlage von ſtrengerer metaphyſiſcher Haltung; in der Aus - geſtaltung der Papſtkirche und ihrem Kampf mit dem Kaiſerthum erhielt ſie eine gewaltige Actualität und einleuchtende Gegenwärtig - keit; in der kanoniſtiſchen Theorie von der rechtlichen Natur dieſes myſtiſchen Körpers gelangte ſie zu den einſchneidendſten Folgerungen für die Auffaſſung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Die harten Realitäten, mit denen ſie operirt, geſtatten, ſo lange ſie in Geltung bleiben, keinem der Zweifel Eingang, die ſonſt jeden Verſuch den Sinn der Geſchichte in einem formelhaften Zuſammenhang aus - zudrücken belaſten. Niemand kann fragen, warum das mühſame Auf - wärtsklimmen der Menſchheit nothwendig war, da der Sündenfall vor ſeinen Augen liegt. Niemand kann fragen, warum der Segen der Geſchichte nur einer Minderheit zu Gute komme, da der Rath - ſchluß Gottes und der böſe Wille die Antwort in der einen oder anderen Wendung in ſich ſchließen. Auch kann der Zuſammen - hang dieſer Geſchichte, vermöge deren der Weltlauf einen einheit - lichen Sinn hat und die Menſchheit eine reale Einheit iſt, von Niemandem in Frage geſtellt werden: da nach der maſſiven Vor - ſtellung des Traditionalismus (verſtärkt durch die Auffaſſung der Zeugung als eines Actes der böſen Luſt) das verderbte Blut Adams jedes Element dieſes Ganzen durchſtrömt und mit ſeiner dunkelen Farbe tingirt, und da andrerſeits in dem myſtiſchen Körper der Kirche von oben her eine eben ſolche reale Leitung der Gnade ſtattfindet. — Die Literatur, welche in den Grundlinien, die Auguſtin gezogen, verharrt, erſtreckt ſich bis auf Boſſuets Dis - cours sur l’histoire universelle, und indem der Biſchof von Meaux eine ſtrengere Vorſtellung von Cauſalzuſammenhang ſowie einen Begriff von nationalem Geſammtgeiſt einfügt, bildet er das Zwiſchenglied zwiſchen dieſer theologiſchen Philoſophie der Geſchichte und den Verſuchen des 18. Jahrhunderts. Turgot’s Plan einer Univerſalgeſchichte entfaltete ſich an dem Gedanken, die von Boſſuet behandelte Aufgabe rational zu löſen: er hat die Philoſophie der Geſchichte ſeculariſirt. Vico’s principj di scienza nuova laſſen die äußeren Umriſſe der theologiſchen Philoſophie125Sie ſubſtituirt nur d. Realitäten d. Theologie abſtrakte Weſenheiten.der Geſchichte ſtehen: innerhalb dieſes ungeheuren Gebäudes hat ſeine poſitive Arbeit, wirkliche hiſtoriſche Forſchung in philo - ſophiſcher Abſicht, ſich in der alten Völkergeſchichte angeſiedelt und das Problem der Entwicklungsgeſchichte der Völker, der allen Völkern gemeinſamen Epochen dieſer Entwicklungsgeſchichte verfolgt.
Der Gedanke eines einheitlichen Planes in dem geſchichtlichen Weltlauf wandelt ſich, indem er im 18. Jahrhundert von den feſten Prämiſſen des theologiſchen Syſtems losgelöſt feſtgehalten wird: aus ſeiner maſſiven Realität wird ein metaphyſiſches Schattenſpiel. Aus dem Dunkel eines unbekannten Anfangs treten nunmehr die räthſelhaft verwickelten Vorgänge des geſchichtlichen Weltlaufs hervor, um ſich in daſſelbe Dunkel nach vorwärts zu verlieren. Wozu dies mühſame Emporklimmen der Menſchheit? Wozu das Weltelend? Wozu die Beſchränkung des Fortſchreitens auf eine Minderzahl? Vom Standpunkt des Auguſtin Alles wohl zu begreifen, auf dem Standpunkt des 18. Jahrhunderts Räthſel, für deren Auflöſung jeder klare Anhaltspunkt fehlt. Da - her iſt jeder Verſuch des 18. Jahrhunderts, den Plan und Sinn in der Menſchengeſchichte aufzuzeigen, nur Transformation des alten Syſtems: Leſſings Erziehung des Menſchengeſchlechtes, Hegels Selbſtentwicklung Gottes, Comte’s Umwandlung der hierarchiſchen Organiſation ſind nichts Anderes. Da der myſtiſche Körper, welcher im Mittelalter den Zuſammenhang der Weltgeſchichte in ſich ſchloß, ſich in der Denkart des 18. Jahrhunderts in Indi - viduen auflöſt: muß ein Erſatz gefunden werden in einer Vor - ſtellung, welche dieſe Einheit der Menſchheit aufrecht erhält. Zwei Wendungen treten ein, welche beide zu dieſem Zweck die Meta - phyſik zu Hilfe rufen und beide jede wirklich wiſſenſchaftliche Behandlung des Problems ausſchließen.
Die Eine derſelben ſubſtituirt metaphyſiſche Weſen - heiten, wie die allgemeine Vernunft, der Weltgeiſt ſolche ſind, und betrachtet die Geſchichte als Entwicklung von dieſen. Gewiß macht ſich auch hier wieder geltend, daß ſolche Formeln eine Wahr - heit bergen. Die Verbindung des Individuums mit der Menſchheit iſt Realität. Iſt doch eben dies das tiefſte pſychologiſche Problem,126Erſtes einleitendes Buch.das Geſchichte uns aufgiebt, wie das Mittel des Fortſchreitens in ihr in letzter Inſtanz die aufopfernde Hingebung des Individuums iſt, an Perſonen die es liebt, an den Zweckzuſammenhang eines Syſtems der Cultur, welchem ſein innerer Beruf eingeordnet iſt, an das Geſammtleben der Verbände, als deren Glied es ſich fühlt, ja an eine ihm unbekannte Zukunft, der ſeine Arbeit dient: Sittlichkeit alſo; denn dieſe hat eben kein anderes Merkmal als Selbſtauf - opferung. Aber die Formeln vom Zuſammenhang des Einzelnen mit dem geſchichtlichen Ganzen, wahr in dem was ſie vom per - ſönlichen Gefühle dieſes Zuſammenhangs ausſagen, treten in Widerſpruch mit jedem geſunden Empfinden, indem ſie alle Werthe des Lebens in eine metaphyſiſche Einheit, welche ſich in der Ge - ſchichte entfaltet, verſenken. Was ein Menſch in ſeiner einſamen Seele, mit dem Schickſal ringend, in der Tiefe ſeines Gewiſſens durchlebt, das iſt für ihn da, nicht für den Weltproceß und nicht für irgend einen Organismus der menſchlichen Geſellſchaft. Aber dieſer Metaphyſik iſt die ergreifende Wirklichkeit des Lebens nur in einem Schattenriß ſichtbar.
Auch ändert es hieran nichts, wenn, ſozuſagen in einer weiteren Verflüchtigung, dieſer allgemeinen Vernunft die Geſell - ſchaft als eine Einheit ſubſtituirt wird. Das Band, das ſie zur Einheit macht, aus dem Erlebniß in eine Formel umgewandelt, iſt ein metaphyſiſches. Es war daher nicht eine willkürliche Wendung im Geiſte Comte’s, die aus den Begebenheiten ſeines Lebens oder gar aus dem Verfall ſeiner Intelligenz hervorge - gangen wäre, ſondern ein Schickſal, das in dem urſprünglichen Widerſpruch zwiſchen ſeiner Formel des einheitlichen Zuſammen - hangs in der Geſchichte ſowie der in ihr gegründeten Tendenz auf Organiſation der Geſellſchaft vermittelſt einer geiſtigen Macht und ſeiner poſitiven Methode gelegen war, wenn er von ſeiner philo - sophie positive und ihrer Methode zu einer Art von Religion als Grundlage der künftigen Geſellſchaft fortſchritt. Der Zwieſpalt ſeiner Anhänger, der hierüber entſtand, verdeutlicht nur dieſen Widerſpruch eines Syſtems, welches aus den Geſetzen des Natur -127Sie ſubſtituirt nur d. Realitäten d. Theologie abſtrakte Weſenheiten.zuſammenhangs den Imperativ für die Geſellſchaft abzuleiten unternahm.
Der deutſche Individualismus war gezwungen eine andere Wendung des Gedankens zu verſuchen: auch ſie führte ihn auf Metaphyſik. Die unendliche Entwicklung des Individuums, in ihrem Verhältniß zur Entwicklung des Menſchengeſchlechts, wurde ihm das Hilfsmittel einer Löſung des geſchichts-philoſophiſchen Problems. Aber die Metaphyſik kämpft hier ſchon mit dem kritiſchen Bewußtſein der Grenzen geſchichtlichen Erkennens, und dieſer Kampf zieht ſich durch die ganze Gedankenarbeit dieſer Richtung.
Kant ſelber fand in dem Plan der Vorſehung den Zu - ſammenhang der Geſchichte. Denn „ das Mittel deſſen ſich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, iſt der Antagonismus derſelben in der Geſellſchaft “— die „ ungeſellige Geſelligkeit “1)Kant Werke Roſenkr. Bd. 7, S. 321. des Menſchen. Seine Hypotheſe ſchränkt ſich auf die Unterſuchung ein, wie in der Geſchichte das Problem der Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Geſellſchaft aufgelöſt wird. „ Befremdend bleibt es aber immer hierbei: daß die älteren Generationen nur ſcheinen um der ſpäteren willen ihr mühſeliges Geſchäft zu treiben, um nämlich dieſen eine Stufe zu bereiten, von der dieſe das Bau - werk, welches die Natur zur Abſicht hat, höher bringen könnten; und daß doch nur die ſpäteſten das Glück haben ſollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (freilich ohne ihre Abſicht) gearbeitet hatten, ohne doch ſelbſt an dem Glück, das ſie vorbereiteten, Antheil nehmen zu können. Allein ſo räthſelhaft dieſes auch iſt, ſo nothwendig iſt es doch zu - gleich, wenn man einmal annimmt: eine Thiergattung ſoll Ver - nunft haben, und als Claſſe vernünftiger Weſen, die insgeſammt ſterben, deren Gattung aber unſterblich iſt, dennoch zu einer Vollſtändigkeit der Entwicklung dieſer Anlagen gelangen “2)ebendaſ. 320 f..
Leſſing hatte dieſe Schwierigkeit durch den Gedanken der Seelen - wanderung gelöſt. „ Wie? Wenn es nun gar ſo gut als ausgemacht128Erſtes einleitendes Buch.wäre, daß das große langſame Rad, welches das Geſchlecht ſeiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere ſchnellere Räder in Bewegung geſetzt würde, deren jedes ſein Einzelnes eben dahin liefert? Nicht Anders! Eben die Bahn, auf welcher das Ge - ſchlecht zu ſeiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Menſch erſt durchlaufen haben “1)Leſſing, Erziehung des Menſchen § 92, 93. Für meine nähere An - ſicht über den Zuſammenhang der Seelenwanderungslehre mit Leſſings Syſtem verweiſe ich auf meine Unterſuchungen in: Leſſing, preuß. Jahrbücher 1867, nebſt den Erörterungen von Conſt. Rößler ebendaſelbſt, und meiner Ent - gegnung..
Herder verhält ſich realiſtiſcher, kritiſcher als beide. Ob er gleich ſein Werk als Ideen zu einer Philoſophie der Geſchichte bezeichnete, ſo hat er doch den Ausdruck, deſſen ſich ſchon Voltaire bedient, in anderem Verſtande genommen und eine Formel über den Sinn der Geſchichte nicht aufgeſtellt. Seine große und bleibende Leiſtung entſprang aus einer Combination der poſitiven Wiſſenſchaften in philoſophiſchem d. h. zuſammenfaſſen - dem Geiſte. Mit dem Griff des Genie’s verband er die Natur - kunde jener Zeit mit dem Gedanken einer Univerſalgeſchichte, wie er vor dem Geiſte eines Turgot ſtand, von Voltaire aufgefaßt, in Deutſchland aber von Schlözer in ſeiner merkwürdigen „ Vorſtellung der Univerſalhiſtorie “aufgenommen worden war. Vermöge dieſer Verbindung erwuchſen aus den ſchon im Alterthum werthgehaltenen Beobachtungen über den Zuſammenhang der Naturbedingungen mit dem geſchichtlichen Leben nun jene leitenden Ideen, die Ritters allge - meiner Geographie zu Grunde liegen. Er verknüpfte weiter mit Be - trachtungen über die aufſteigende Reihe der Organiſationen bis zum Menſchen, die er mit Goethe theilte und die auf die Naturphiloſophie gewirkt haben, einen Schluß der Analogie auf höhere Stufen des geiſtigen Reiches und von dieſen auf Unſterblichkeit: an dieſem Schluß hat ſchon Kant getadelt, daß er höchſtens auf die Exiſtenz andrer höherer Weſen deuten könne. Von dieſem Punkte ab jedoch iſt ſeine Arbeit weſentlich die des Univerſalhiſtorikers. Im Zuſammenwirken der beiden Faktoren der Naturbedingungen und des Menſchen -129Oder einen unbeweisbaren Zuſammenhang.weſens will er die Menſchengeſchichte in ſtrengem Cauſalzuſammen - hang entwickeln. Iſt er doch ein Schüler von Leibnitz und durch Spinoza nur noch härter gegen die äußeren Endzwecke geſtimmt1)Ideen, Buch 14, 6: „ Die Philoſophie der Endzwecke hat der Natur - geſchichte keinen Vortheil gebracht, ſondern ihre Liebhaber vielmehr ſtatt der Unterſuchung mit ſcheinbarem Wahne befriedigt; wie viel mehr die tauſendzweckige, in einander greifende Menſchengeſchichte. “. Die Zweckmäßigkeit, die in der Weltgeſchichte wie im Naturreich waltet, vollzieht ſich nach ihm nur in der Form des Cauſalzuſammen - hangs. Dieſer weiſen Zurückhaltung entſpricht nun, daß er zwar das Problem Leſſings anerkannte — aber es als transſcendent zurück ließ. „ Wenn Jemand ſagte, daß nicht der einzelne Menſch, ſondern das Geſchlecht erzogen werde, ſo ſpräche er für mich un - verſtändlich, da Geſchlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe ſind, außer, inſofern ſie in einzelnen Weſen exiſtiren — als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit im Allgemeinen ſpräche. “ Er verwirft das ausdrücklich als mittelalterliche Metaphyſik, und er ſteht alſo mit Leſſing auf dem geſunden Boden des Realismus, der nur Individuen kennt, ſonach als Sinn des Weltlaufs auch nur Ent - wicklung der Individuen. Aber in Bezug auf jede Vorſtellung von der Art dieſer Entwicklung der Individuen bemerkt er, mit deutlichem Wink auf Leſſing: „ Auf welchen Wegen dies geſchehen werde — welche Philoſophie der Erde wäre es, die hierüber Gewißheit gäbe? “
Ich entwickle nicht wie nahe Lotze’s Auffaſſung der Philo - ſophie der Geſchichte ſich mit der von Herder berührt, ſowol in Bezug auf die Verknüpfung von cauſaler mit teleologiſcher Be - trachtung als in Bezug auf den Realismus, der nur Indivi - duen und was ihrer Entwicklung dient anerkennt. An dieſem Punkte hat Lotze doch über Herder hinausgehen zu müſſen ge - glaubt. Er thut das indem er ſozuſagen die Methode, in welcher Kant den Glauben an Gott und die Unſterblichkeit begründete, auf den planvollen Zuſammenhang der Geſchichte anwendet und ſo als Bedingung deſſelben einen Antheil der Abgeſchiednen an dem Fortſchritt der Geſchichte aufzu - zeigen ſucht. „ Keine Erziehung der Menſchheit iſt denkbar, ohneDilthey, Einleitung. 9130Erſtes einleitendes Buch.daß ihre Endergebniſſe einſt Gemeingut derer werden, die in dieſer irdiſchen Laufbahn auf verſchiedenen Punkten zurückgeblieben ſind; keine Entwicklung einer Idee hat Bedeutung, wenn nicht zuletzt allen offenbar wird, was ſie zuvor ohne ihr Wiſſen als Träger dieſer Entwicklung erlitten1)Lotze, Mikrokosmos 3, 52 (erſte Auflage).. Gefühl gegen Gefühl (denn in ein ſolches verſchwimmt nun hier ſchließlich die Betrachtung des Plans der Geſchichte, die einſt in Auguſtinus mit ſo harten Reali - täten begann, und ſcheint ſich ſo ſelber in einen feinen Nebel auf - zulöſen): dieſe elegiſche Vorſtellung von einem beſchaulichen Antheil der Abgeſchiedenen an dem, was wir hier durchkämpfen, welche an die Engelsköpfe erinnert, die auf alten Bildern aus dem Himmelsgewölk den Märtyrern zuſehn, wie ſie ſich noch plagen müſſen, erſcheint uns in den Stunden nüchterner Kritik als zu viel, in träumenden aber als zu wenig, da das Endergebniß der Ent - wicklung der Menſchheit nur im Erlebniß beſeſſen werden kann, nicht in müßiger Betrachtung.
Iſt ſonach die Aufgabe, welche dieſe Wiſſenſchaften ſich ſtellten, an ſich unlösbar, ſo ſind ferner die Methoden derſelben wohl dazu verwerthbar, durch Generaliſationen zu blenden, aber nicht dazu, eine bleibende Erweiterung der Erkenntniß herbeizuführen.
Die Methode der deutſchen Philoſophie der Geſchichte entſprang einer Bewegung, welche im Gegenſatz gegen das vom 18. Jahrhundert geſchaffene natürliche Syſtem der Geiſteswiſſen - ſchaften ſich in die Thatſächlichkeit des Geſchichtlichen verſenkte. Die Träger dieſer Bewegung waren Winckelmann, Herder, die Schlegel, W. v. Humboldt. Sie bedienten ſich eines Verfahrens, welches ich als das der genialen Anſchauung bezeichne. Es war dies Verfahren keine beſondere Methode, ſondern der Proceß der131Die Methoden der Philoſophie der Geſchichte ſind falſch.fruchtbaren Gährung ſelber, in der die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes in einander arbeiteten: eine werdende Welt. Dieſe geniale Anſchau - ung iſt durch die metaphyſiſche Schule auf ein Princip zurückgeführt worden. Wohl empfing durch dieſe Concentration der Gehalt der genialen Anſchauung auf kurze Zeit eine ungewöhnliche Energie der Wirkung; aber dieſe Concentration kam nur zu Stande, indem nun die notiones universales ihr graues Netz über die geſchichtliche Welt ausbreiteten. Der „ Geiſt “Hegels, welcher in der Geſchichte zum Bewußtſein ſeiner Freiheit kommt oder die „ Vernunft “Schleier - machers, welche die Natur durchdringt und geſtaltet, dies iſt eine abſtrakte Weſenheit, welche in einer farbloſen Abſtraktion den geſchichtlichen Weltlauf zuſammenfaßt, ein Subjekt ohne Ort und ohne Zeit, den Müttern vergleichbar, zu denen Fauſt hinabſteigt. Aus der Anſchauung abſtrahirte Allgemeinvorſtellungen ſind dann die univerſalgeſchichtlichen Epochen Hegels, und zwar iſt die Ab - ſtraktion, die ſie gewinnt, durch das metaphyſiſche Prinzip geleitet; denn die Weltgeſchichte iſt ihm „ eine Reihe von Beſtimmungen der Freiheit, welche aus dem Begriff der Freiheit hervorgehen “. Aus der Anſchauung abſtrahirte Allgemeinvorſtellungen ſind die Grundgeſtalten des Handelns der Vernunft, welche Schleiermacher ent - wirft, in denen dieſes Handeln „ als ein Mannichfaltiges, abgeſehen von den Beſtimmungen durch Raum und Zeit, geſondert durch Be - griffsbeſtimmungen “erkannt wird. Hegel, der von der Geſchichte ausging, ordnet dieſe Allgemeinvorſtellungen in einer Zeitreihe, Schleiermacher, der von dem Erlebniß in der gegenwärtigen Geſell - ſchaft ausgeht, breitet ſie nebeneinander aus, wie ein anderes Naturreich.
Die Methoden, deren ſich die Sociologie bedient hat, treten freilich mit dem Anſpruch auf, daß durch ſie die metaphyſiſche Epoche abgethan, die der poſitiven Philoſophie eröffnet ſei. Doch hat der Begründer dieſer Philoſophie, Comte, nur eine naturaliſtiſche Metaphyſik der Geſchichte geſchaffen, welche als ſolche den Thatſachen des geſchichtlichen Verlaufs viel weniger angemeſſen war als die von Hegel oder Schleiermacher. Daher ſind auch ſeine Allgemeinbe - griffe viel unfruchtbarer. Brach Stuart Mill mit den gröberen Irr -9*132Erſtes einleitendes Buch.thümern Comte’s, ſo wirken doch die feineren in ihm fort. Aus der Unterordnung der geſchichtlichen Welt unter das Syſtem der Natur - erkenntniß war im Geiſte der franzöſiſchen Philoſophie des 18. Jahrhunderts die Sociologie Comte’s entſtanden; die Unter - ordnung der Methode des Studiums geiſtiger Thatſachen unter die Methoden der Naturwiſſenſchaft hat wenigſtens Stuart Mill feſtgehalten und vertheidigt.
Die Auffaſſung Comte’s betrachtet das Studium des menſch - lichen Geiſtes als abhängig von der Wiſſenſchaft der Biologie, das was von Gleichförmigkeiten in der Folge geiſtiger Zuſtände wahrgenommen werden kann, als den Effekt der Gleichförmigkeiten in den Zuſtänden des Körpers, und ſo leugnet ſie, daß Geſetz - mäßigkeit in pſychiſchen Zuſtänden für ſich ſtudirt werden könne. Dieſem logiſchen Verhältniß der Abhängigkeit unter den Wiſſen - ſchaften entſpricht dann nach ihm die hiſtoriſche Ordnung in der Abfolge, durch welche den Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ihr hiſtoriſcher Ort beſtimmt iſt. Da die Sociologie die Wahrheiten aller Naturwiſſenſchaften zu ihrer Vorausſetzung hat, gelangt ſie erſt nach ihnen allen in das Stadium der Reife d. h. zur Feſt - ſtellung der Sätze, welche die gefundenen Einzelwahrheiten zu einem wiſſenſchaftlichen Ganzen verknüpfen. Die Chemie trat in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit Lavoiſier in dieſes Stadium; die Phyſiologie erſt im Beginn unſres Jahrhunderts mit der Gewebelehre von Bichat: ſo ſchien es Comte, daß die Conſtituirung der geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften als der höchſten Claſſe wiſſenſchaftlicher Arbeiten ihm ſelber zufalle1)Dieſer Zuſammenhang ausdrücklich als entſcheidend für die Ent - wicklung der Sociologie anerkannt: philosophie positive 4, 225.. — Allerdings erkennt er an (trotz ſeiner Neigung zu einförmiger Reglementirung der Wiſſenſchaft), daß zwiſchen der Sociologie und den ihr vorauf - gehenden Wiſſenſchaften, insbeſondere der Biologie, welche auch unſere geringe Kenntniß pſychiſcher Zuſtände in ſich faßt, ein anderes Verhältniß beſtehe, als dasjenige, das zwiſchen irgend einer der früheren Wiſſenſchaften und den ſie bedingenden Wahrheiten ſich findet; das Verhältniß der Deduktion und Induktion iſt an dieſem133Die Methode der Sociologie Comte’s iſt falſch.höchſten Punkte der Wiſſenſchaften umgekehrt; die Generaliſation aus dem in der Geſchichte gegebenen Stoff iſt der Schwerpunkt des Verfahrens der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft und die Deduktion aus den Ergebniſſen der Biologie dient nur zur Verificirung der ſo gefundenen Geſetze. — Dieſer Einordnung der geiſtigen Er - ſcheinungen unter den Zuſammenhang der Naturerkenntniß liegen zwei Annahmen zu Grunde, von denen die eine unbeweisbar, die andere augenſcheinlich falſch iſt. Die Annahme der ausſchließlichen Bedingtheit pſychiſcher Zuſtände durch phyſiologiſche iſt ein vor - eiliger Schluß aus Thatbeſtänden, welche nach dem Urtheil der unbefangenen phyſiologiſchen Forſcher ſelber durchaus keine Ent - ſcheidung geſtatten1)So auch wieder Hitzig in den Unterſuchungen über das Gehirn. S. 56 u. a. a. O., wozu vgl. Wundts Phyſiol. Pſychologie. Sechſter Ab - ſchnitt des zweiten Bandes. Aufl. 2. 1880.. Die Behauptung, innere Wahrnehmung ſei in ſich unmöglich und unfruchtbar, „ ein Unternehmen, das unſere Nachkommen einmal zu ihrer Beluſtigung auf die Bühne gebracht ſehen werden “, iſt aus einer Entſtellung des Wahrnehmungsvor - gangs in irriger Weiſe gefolgert, und wird ausführlich widerlegt werden.
In dieſem Zuſammenhang der Hierarchie der Wiſſenſchaften entwickelt Comte „ die nothwendige Richtung des Geſammtzuſammen - hangs der menſchheitlichen Entwicklung “2)4, 631., welche ihm alsdann als Prinzip für die Leitung der Geſellſchaft dient, aus der Anſchauung des geſchichtlichen Weltlaufs und verificirt ſie durch die Biologie. — In der biologiſchen Verification berühren wir augenſcheinlich den Lebensknoten ſeiner Sociologie. Welche iſt alſo die biologiſche Grundlage, deren Herſtellung erſt die Schöpf - ung der Sociologie ermöglichte? Comte erklärt: die Methode, deren die Sociologie ſich bedient, mußte erſt auf dem Gebiet der Naturforſchung ausgebildet werden. Das Mittel (milieu), in dem der Menſch ſich befindet, mußte erſt in den Wiſſenſchaften der anorganiſchen Natur erkannt werden. Sei das, wir ver - langen aber einen Zuſammenhang, der in den Mittelpunkt der Sociologie ſelber hineinreicht. Es iſt ſchwer, ein Lächeln zurück -134Erſtes einleitendes Buch.zuhalten: er beſteht darin, daß die Conſtanz der äußeren bio - logiſchen Organiſation die Conſtanz einer gewiſſen pſychiſchen Grundſtruktur darthut, dann aber — doch wir geben ſeine Worte — nous avons reconnu, que le sens général de l’évolution humaine consiste surtout à diminuer de plus en plus l’iné - vitable prépondérance, nécessairement toujours fondamentale, mais d’abord excessive, de la vie affective sur la vie in - tellectuelle, ou suivant la formule anatomique, de la région postérieure du cerveau sur la région frontale1)philos. pos. 5, 45.. Derbe naturaliſtiſche Metaphyſik — das iſt die wirkliche Grundlage ſeiner Sociologie. — Andrerſeits iſt der „ allgemeine Sinn der menſchheitlichen Entwicklung “, wie er ihn der Anſchauung des geſchichtlichen Weltlaufs abgewinnt, wieder nichts als eine notio universalis, eine verworrene und unbeſtimmte Allgemeinvor - ſtellung, welche aus dem bloßen Ueberblick über den geſchichtlichen Zuſammenhang abſtrahirt iſt. Eine unwiſſenſchaftliche Abſtraktion, unter deren weitem Mantel die wachſende Herrſchaft des Menſchen über die Natur, der wachſende Einfluß der höheren Fähigkeiten über die niederen, der Intelligenz über die Affekte, unſrer ſocialen über unſere egoiſtiſchen Neigungen ſich zuſammenfinden2)philos. pos. 4, 623 ff.. Dieſe abſtrakten Bilder der Geſchichtsphiloſophen ſtellen den geſchicht - lichen Weltlauf nur in immer anderen Verkürzungen dar.
Geht man zur Ausführung über, vermittelſt deren der Schüler de Maiſtre’s ſein Papſtthum der naturwiſſenſchaftlichen Intelligenz begründet, ſo bildet dieſe eine merkwürdige Beſtätigung unſerer Sätze. Das Geſetz, das Comte wirklich gefunden hat, welches die Beziehungen der logiſchen Abhängigkeit von Wahrheiten unter - einander zu ihrer geſchichtlichen Abfolge ausdrückt (wenn es auch noch unvollkommen bei ihm formulirt iſt) gehört einer Einzel - wiſſenſchaft des Geiſtes an, und es wurde von ihm vermöge einer anhaltenden und tiefeindringenden Beſchäftigung mit dieſem Kreiſe der geſellſchaftlichen Wirklichkeit gefunden. Die Generaliſation von den drei Epochen iſt in ihren wahren Grundzügen von135Die Methode der Sociologie Comte’s iſt falſch.Turgot feſtgeſtellt worden, und die Ausführung Comte’s mißlang, da ihm das Detail der Geſchichte der Theologie und Meta - phyſik nicht bekannt war. So vermag ſeine Sociologie die Stellung nicht zu erſchüttern, welche das poſitive Studium des geſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens ſtets behauptet hat: als die Eine Hälfte des Kosmos der Wiſſenſchaften, ruhend auf ihren eigenthümlichen und unabhängigen Erkenntnißbedingungen, an - wachſend aus eigenen Erkenntnißmitteln in erſter Linie, dabei mitbeſtimmt durch den Fortſchritt der Wiſſenſchaften vom Erd - ganzen und von den Bedingungen und Formen des Lebens auf ihm.
Brachte ſo Comte ſeine Sociologie in eine blendende, aber falſche Beziehung zu den Naturwiſſenſchaften, ſo hat er andrer - ſeits das wahre und fruchtbare Verhältniß jeder geſchichtlichen Betrachtung zu den Einzelwiſſenſchaften des Menſchen und der Geſellſchaft nicht erkannt und nicht benutzt. Im Widerſpruch mit ſeinem Prinzip der poſitiven Philoſophie, hat er ſeine ungeſtümen Generaliſationen außer Zuſammenhang mit der methodiſchen Ver - werthung der poſitiven Wiſſenſchaften des Geiſtes abgeleitet, aus - genommen ſeine Theorie über den Zuſammenhang der Entwick - lung der Intelligenz.
Als eine Abſchwächung dieſes Prinzips der Unterordnung der geſchichtlichen Erſcheinungen unter die Naturwiſſenſchaften, wie es in Comte vorliegt, muß die Art von Unterordnung betrachtet werden, welche Stuart Mill in ſeinem berühmten Capitel über die Logik der Geiſteswiſſenſchaften vertritt. Kehrt er dem Meta - phyſiſchen in Comte den Rücken und hätte demnach wohl eine geſundere Richtung in der Betrachtung der Geſchichte vorbereiten können, ſo wirkt doch in ſeiner Methode die Unterordnung der Geiſteswiſſenſchaften unter die der Natur in verhängnißvoller Weiſe nach. Er unterſcheidet ſich von Comte, wie ſich das auf Pſychologie gegründete natürliche Syſtem der geſellſchaftlichen Funktionen und Lebensſphären, welches die Engländer im 18. Jahr - hundert aufgeſtellt hatten, von dem auf die Naturwiſſenſchaften gegründeten unterſcheidet, welches die franzöſiſchen Materialiſten des 18. Jahrhunderts vertheidigt hatten. Er erkennt die Selbſtändig -136Erſtes einleitendes Buch.keit der Erklärungsgründe der Geiſteswiſſenſchaften vollſtändig an. Aber er ordnet ihre Methoden zu ſehr dem Schema unter, welches er aus dem Studium der Naturwiſſenſchaften entwickelt hat. „ Wenn “, ſo ſagt er in dieſer Beziehung, „ einige Gegenſtände Reſul - tate ergaben, denen zuletzt alle auf den Beweis Achtenden ein - ſtimmig beiſtimmten, wenn man in Beziehung auf andere weniger glücklich war und die ſcharfſinnigſten Geiſter ſich von der früheſten Zeit an mit denſelben beſchäftigten, ohne daß es ihnen gelungen wäre, ein anſehnliches, gegen Zweifel oder Einwürfe geſichertes Syſtem von Wahrheiten zu begründen, ſo dürfen wir dieſen Fleck vom Antlitz der Wiſſenſchaft dadurch zu entfernen hoffen, daß wir die bei den erſteren Unterſuchungen ſo glücklich befolgten Methoden verallgemeinern und ſie den letzteren anpaſſen1)Mill, Logik 2, 436.. “ So anfechtbar dieſer Schluß iſt, ſo unfruchtbar iſt die „ Anpaſſung “der Me - thoden der Geiſteswiſſenſchaften geweſen, welche durch ihn be - gründet wird. Bei Mill beſonders vernimmt man das einförmige und ermüdende Geklapper der Worte Induktion und Deduktion, welches jetzt aus allen uns umgebenden Ländern zu uns herübertönt. Die ganze Geſchichte der Geiſteswiſſenſchaften iſt ein Gegenbeweis gegen den Gedanken einer ſolchen „ Anpaſſung “. Dieſe Wiſſen - ſchaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die der Natur. Ihr Objekt ſetzt ſich aus gegebenen, nicht erſchloſſenen Einheiten, welche uns von innen verſtändlich ſind, zuſammen; wir wiſſen, verſtehen hier zuerſt, um allmälig zu erkennen. Fort - ſchreitende Analyſis eines von uns in unmittelbarem Wiſſen und in Verſtändniß von vorn herein beſeſſenen Ganzen: das iſt daher der Charakter der Geſchichte dieſer Wiſſenſchaften. Die Theorie der Staaten oder der Dichtung, wie ſie die Griechen zu Alexanders Zeit beſaßen, verhält ſich zu unſerer Staatswiſſenſchaft oder Aeſthetik ganz anders als naturwiſſenſchaftliche Vorſtellungen jener Epoche zu den unſeren. Und es iſt eine eigene Art von Erfahrung die hier ſtattfindet: das Objekt baut ſich ſelber erſt vor den Augen der fortſchreitenden Wiſſenſchaft nach und nach auf; Individuen137Die Methode der Sociologie Stuart Mill’s iſt falſch.und Thaten ſind die Elemente dieſer Erfahrung, Verſenkung aller Gemüthskräfte in den Gegenſtand iſt ihre Natur. Dieſe Andeutungen zeigen hinlänglich, daß, im Gegenſatz gegen die gewiſſermaßen von außen an die Geiſteswiſſenſchaften herantretenden Methoden eines Mill und Buckle, die Aufgabe gelöſt werden muß: durch eine Er - kenntnißtheorie die Geiſteswiſſenſchaften zu begründen, ihre ſelb - ſtändige Geſtaltung zu rechtfertigen und zu ſtützen ſowie die Unter - ordnung ihrer Prinzipien wie ihrer Methoden unter die der Natur - wiſſenſchaften definitiv zu beſeitigen.
Mit dieſen Irrthümern über Aufgabe und Methode ſteht die falſche Stellung dieſer Träume von Wiſſenſchaften zu den wirklich exiſtenten Einzelwiſſenſchaften im nächſten Zuſammenhang. Die - ſelben erwarten von ihren tumultuariſchen Beſtrebungen, was ſtets nur das Werk der anhaltenden Arbeit vieler Generationen ſein kann. Daher gleichen alle dieſe iſolirten Entwürfe Backſteinbauten, welche durch Tünche die Blöcke, Säulen und Verzierungen in Granit nachahmen, die nur in der geduldigen und langſamen Bearbeitung eines ſpröden Stoffes entſtehen.
In den unzähligen Abſtufungen der Verſchiedenheit von in - dividuellen Einheiten, in dem unermeßlich vertheilten und veränder - lichen Spiel von Urſachen, Wirkungen, Wechſelwirkungen zwiſchen ihnen, als der Wirklichkeit der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Welt, faßt die Wiſſenſchaft, will ſie dieſe Wirklichkeit auch nur auffaſſen, das Gleichartige der Thatſachen, das Gleichförmige der Beziehungen einerſeits in dem Nacheinander der Thatbeſtände und Verände - rungen, andrerſeits in dem Nebeneinander derſelben zuſammen.
Die Eine Seite des Problems vom allgemeinen Zuſammen - hang in dieſer Wirklichkeit bildet alſo das höchſt complexe Ganze138Erſtes einleitendes Buch.des Fortgangs der Geſellſchaft von ſeinem Lebensſtande (status societatis) in einem beſtimmten Durchſchnitt zu dem in einem beſtimmten anderen, ſchließlich von ihrem erſten für uns auffaß - baren Lebensſtande zu dem, welcher die Geſellſchaft der Gegenwart ausmacht (ein status deſſen Auffaſſung den früheren Begriff von Statiſtik bildete). Dieſe Seite des Problems hat, als die Theorie des geſchichtlichen Fortſchritts, von Anfang das Centrum der Philoſophie der Geſchichte gebildet: Comte bezeichnet ſie als Dynamik der Geſellſchaft. — Nie hat nun die Philoſophie der Geſchichte vermocht, ein allgemeines Geſetz dieſes Fortſchritts von hinlänglicher Beſtimmtheit aus der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit direkt abzuleiten. Eine ſolche Theorie müßte entweder die Beziehung zwiſchen Formeln enthalten, deren jede einzeln den Inbegriff eines beſtimmten status societatis ausdrückte und deren Vergleichung ſonach das Geſetz des Geſammtfortſchritts ergeben würde; oder eine ſolche Theorie müßte in einer Formel den Inbe - griff aller Cauſalbeziehungen ausdrücken, welche die Veränderungen innerhalb des Totalzuſammenhangs der Geſellſchaft hervorbringen. Es braucht nicht entwickelt zu werden, daß die Ableitung einer Formel der einen wie der anderen Art aus der Geſammtanſchau - ung der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit die menſchliche Anſchauungskraft gänzlich überſteigt.
Soll der Zuſammenhang des geſchichtlich - geſellſchaftlichen Lebens, nach der Seite der Abfolge der in ihm enthaltenen Zu - ſtände angeſehen, der Methode der Erfahrung unterworfen werden, dann muß das Ganze deſſelben in Einzelzuſammenhänge auf - gelöſt werden, welche überſichtlicher und einfacher ſind. Das - ſelbe Verfahren muß angewandt werden, vermöge deſſen die Naturwiſſenſchaften ihr umfaſſendes Problem des Zuſammenhangs der äußeren Natur zerlegt und in der Lehre von Gleichge - wicht und Bewegung der Körper, von Schall, Licht, Wärme, Magnetismus und Elektricität, ſowie vom chemiſchen Verhalten der Körper einzelne Syſteme von Naturgeſetzen conſtituirt haben, vermittelſt deren ſie ſich alsdann der Auflöſung ihres allgemeinen Problems nähern. — Nun exiſtiren aber Einzelwiſſenſchaften, welche139Das Problem des geſchichtlichen Fortſchritts.dies Verfahren angewandt haben. Der einzig mögliche Weg einer Erforſchung des geſchichtlichen Zuſammenhangs: Zerlegung deſſelben in Einzelzuſammenhänge, iſt in den Einzeltheorien der Syſteme der Kultur und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft längſt eingeſchlagen worden. Das Studium des Individuums als der Lebenseinheit in der Zuſammenſetzung der Geſellſchaft iſt die Bedingung für die Erforſchung der Thatbeſtände, die aus der Wechſelwirkung dieſer Lebenseinheiten in der Geſellſchaft durch Abſtraktion ausgelöſt werden können; nur auf dieſer Grundlage der Ergebniſſe der Anthropologie, vermittelſt der theoretiſchen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft in ihren drei Hauptclaſſen, der Ethnologie, der Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur ſowie derer von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft kann das Pro - blem des Zuſammenhangs unter den auf einander folgenden Zu - ſtänden der Geſellſchaft allmälig einer Löſung näher geführt werden. — Auch ſind thatſächlich auf dieſem Weg alle exakten und fruchtbaren Geſetze gefunden worden, zu denen die Geiſteswiſſen - ſchaften bisher gelangt ſind, wie das Grimm’ſche Geſetz in der Sprachwiſſenſchaft, das Thünen’ſche in der politiſchen Oekonomie, die Verallgemeinerungen über Struktur, Entwicklungsgeſchichte und Störungen des Staatslebens ſeit Ariſtoteles, die Sätze welche Winckelmann, Heyne, die Schlegel über die Entwicklungsgeſchichte der Künſte gewonnen haben, das Comte’ſche Geſetz der Beziehung zwiſchen der logiſchen Abhängigkeit der Wiſſenſchaften von einander und ihrer geſchichtlichen Abfolge.
Die andere Seite dieſes Problems von dem allgemeinen Zuſammenhang in der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit, das Studium der Beziehungen zwiſchen den gleichzeitigen Thatſachen und Veränderungen, fordert ebenfalls Zer - legung des complexen Thatbeſtandes eines ſolchen status socie - tatis. Die Beziehungen von Abhängigkeit und Verwandtſchaft, wie ſie zwiſchen den Erſcheinungen eines Zeitalters ſtattfinden und in der Störung ſich kundgeben, die bei Abänderungen in Einem Beſtandtheil des geſellſchaftlichen Geſammtzuſtandes in anderen auftritt, können mit dem Verhältniß, welches zwiſchen den Beſtand -140Erſtes einleitendes Buch.theilen, zwiſchen den Funktionen eines Organismus ſtattfindet, ver - glichen werden. Sie liegen dem Begriff der Kultur eines Zeitalters oder einer Epoche zu Grunde und jede kulturgeſchichtliche Schilderung geht von ihnen aus. Hegel erfaßte ſie höchſt energiſch; es war ſein Kunſtgriff, literariſche Erzeugniſſe eines Zeitalters zu benutzen, um auf die Geiſtesverfaſſung deſſelben von ihnen aus ein Licht zu werfen, wie denn hierauf ſeine irrige Theorie von dem für den ganzen Geiſt eine Zeit repräſentativen Charakter philoſophiſcher Syſteme gegründet war. Die franzöſiſchen und engliſchen Socio - logen faſſen dieſe Beziehungen in dem Begriff des Conſenſus zwiſchen gleichzeitigen geſellſchaftlichen Erſcheinungen zuſammen. Aber ein genauer Ausdruck für die Verwandtſchaft zwiſchen den verſchiedenartigen Beſtandtheilen, für die Abhängigkeit des einen vom anderen ſetzt auch hier augenſcheinlich die Unterſcheidung der einzelnen Glieder und Syſteme voraus, welche den status socie - tatis bilden; ſchon eine Ueberſicht über den Charakter der Kultur in einer Epoche muß zeigen, wie in der Verſchiedenheit der Glieder und Syſteme der Geſellſchaft gleichartige Grundverhältniſſe ſich als Verwandtſchaft äußern.
Dieſem Verhältniß, welches die Methodologie der Geiſtes - wiſſenſchaften tiefer zu entwickeln haben wird, entſpricht der thatſäch - liche Beſtand der allgemeinen Wahrheiten in der Philoſo - phie der Geſchichte und der Sociologie. Vico, Turgot, Condorcet, Herder waren in erſter Linie Univerſalhiſtoriker in philoſophiſcher Abſicht. Der umfaſſende Blick, durch welchen ſie Wiſſenſchaften miteinander combinirten, wie Vico Jurisprudenz und Philologie, Herder Naturkunde und Geſchichte, Turgot politiſche Oekonomie, Naturwiſſenſchaften und Geſchichte hat der modernen Geſchichts - wiſſenſchaft erſt ihre Wege gebahnt. Der Name der Philoſophie der Geſchichte, ja nicht ſelten daſſelbe Werk umfaßt aber mit dieſen Arbeiten, welche fruchtbare Combinationen in der Richtung einer wahren Univerſalgeſchichte vollzogen, zugleich Theorien ganz anderer Art, welche der Gemeinſchaft mit jenen Arbeiten den größten Theil ihres Anſehns verdanken. Aus dieſen Formeln, welche den Sinn der Geſchichte auszuſprechen beanſpruchen, iſt141Das Problem des Conſenſus gleichzeitiger Thatſachen.keine fruchtbare Wahrheit gefloſſen. Alles metaphyſiſcher Nebel. Bei keinem iſt er dichter als bei Comte, der den Katholicismus de Maiſtre’s in das Schattenbild einer hierarchiſchen Leitung der Geſellſchaft durch die Wiſſenſchaften wandelte1)Comte, phil. pos. 4, 683 ff.. Und wo irgend aus dieſen Nebeln klarere Gedanken auftauchen, da ſind es Sätze über Funktion, Struktur und Entwicklungsgeſchichte der einzelnen Völker, Religionen, Staaten, Wiſſenſchaften, Künſte oder über die Beziehungen zwiſchen dieſen im Zuſammenhang der geſchichtlichen Welt. Aus dieſen Sätzen über das Leben der Glieder und Syſteme der Menſchheit ſetzt ſich jedes genauere Bild zuſammen, durch welches irgend eine Philoſophie der Geſchichte ihrem ſchatten - haften Grundgedanken etwas von Fleiſch und Blut giebt2)Beſonders deutlich in Schleiermachers[ſo] großartiger Ethik, da hier das „ Handeln der Vernunft auf die Natur, auf der Baſis ihres In - ander, wie es als ein begrifflich Mannichfaltiges conſtruirt wird “(§ 75 ff), erſt ſeinen Inhalt durch die Beziehung auf die Syſteme, welche das Leben der Geſellſchaft bilden, und die Ergebniſſe der Einzelwiſſenſchaften über ſie empfängt..
Inzwiſchen unterwerfen ſich die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes immer neue Gruppen von Thatſachen, ſie erhalten durch vergleichende Methode und pſychologiſche Grundlegung immer mehr den Charakter allgemeiner Theorien, und wenn ſie ſich der Beziehungen zu ein - ander in der Wirklichkeit immer deutlicher bewußt werden: ſo muß wohl klar werden, daß in ihrem Zuſammenhang allmälig die - jenigen unter den Problemen der Sociologie, der Philoſophie des Geiſtes oder der Geſchichte einer Löſung ſich nähern, die einer ſolchen überhaupt zugänglich ſind.
Wir ſahen, wie dieſe Einzelwiſſenſchaften aus dem Totalzu -142Erſtes einleitendes Buch.ſammenhang durch einen Vorgang von Analyſis und Abſtraktion ausgeſondert worden ſind. Nur in der Beziehung auf die Wirk - lichkeit, in der ihre abſtrakten Sätze enthalten ſind, liegt ihre Wahrheit. Nur indem dieſe Beziehung in ihre Sätze mit au[f]ge - nommen wird, gelten dieſelben von dieſer Wirklichkeit. In der Los - löſung von dieſem Zuſammenhang entſprangen die verhängniß - vollen Irrthümer, welche als abſtraktes Naturrecht, abſtrakte poli - tiſche Oekonomie, als Syſtem der natürlichen Religion, kurz als das natürliche Syſtem des 17. und 18. Jahrhunderts die Wiſſen - ſchaften verdorben und die Geſellſchaft geſchädigt haben. Indem die Einzelwiſſenſchaften von einem erkenntnißtheoretiſchen Bewußtſein aus die Stellung ihrer Sätze zu der Wirklichkeit, aus der ſie ab - ſtrahirt ſind, feſthalten, erhalten dieſe Sätze, wie abſtrakt ſie auch ſeien, das Maß ihrer Geltung an der Wirklichkeit. — Wir ſahen aber ferner, daß uns keine Erkenntniß des concreten Totalzuſammen - hangs der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit vergönnt iſt, als welche durch Zergliederung deſſelben in Einzelzuſammenhänge, ſo - nach vermittelſt dieſer Einzelwiſſenſchaften erreicht wird. In letzter Inſtanz iſt unſre Erkenntniß dieſes Zuſammenhangs nur ein ſich ganz Klar -, ganz Bewußtmachen des logiſchen Zuſammen - hangs, in welchem die Einzelwiſſenſchaften ihn beſitzen oder ihn zu erkennen geſtatten. Dagegen müſſen die iſolirten Einzelwiſſen - ſchaften des Geiſtes der todten Abſtraktion verfallen; die iſolirte Philoſophie des Geiſtes iſt ein Geſpenſt; die Sonderung der philo - ſophiſchen Betrachtungsweiſe der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk - lichkeit von der poſitiven iſt die verderbliche Erbſchaft der Metaphyſik.
Die Entwicklung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes zeigt einen Fortſchritt, welcher hiermit in Uebereinſtimmung iſt. Un - befangene, von den Abſtraktionen vergangener Tage freie Analyſen einzelner Geſtaltungen aus dem Gebiet der äußeren Organiſation der Geſellſchaft oder der Syſteme der Kultur, wie wir ſeit Toque - ville’s glorreichen Arbeiten deren eine ganze Anzahl erhalten haben, legen den inneren Zuſammenhang von geſchichtlichen Ge - bilden bloß. Das Verfahren der Vergleichung hat in der Sprach - wiſſenſchaft ſeine Probe beſtanden, hat ſich ſiegreich auf die Mytho -143Wachſende Ausdehnung u. Vervollkommnung d. Geiſteswiſſenſchaft.logie ausgedehnt, und es verſpricht, allmälig allen Einzelwiſſen - ſchaften des Geiſtes den Charakter von wirklichen Theorien zu geben. Der Zuſammenhang mit der Anthropologie wird von keinem der poſitiven Forſcher mehr vernachläſſigt.
Die Wiſſenſchaften der Syſteme der Kultur und der äußeren Organiſation der Geſellſchaft ſtehen aber mit der Anthropologie hauptſächlich durch jene pſychiſchen und pſychophyſiſchen Thatſachen in Verbindung, welche ich als ſolche zweiter Ordnung bezeichnet habe. Die Analyſis dieſer Thatſachen, welche in der Wechſel - wirkung der Individuen in der Geſellſchaft ſich bilden und keines - wegs in die der Anthropologie völlig auflöslich ſind, bedingt in einem erheblichen Grade die theoretiſche Strenge der Einzelwiſſen - ſchaften, denen ſie zu Grunde liegen. Die Thatſachen von Bedürfniß, Arbeit, Herrſchaft, Befriedigung ſind pſychophyſiſcher Natur; ſie ſind Beſtandtheile der Grundlagen der politiſchen Oekonomie, der Staats - und Rechtswiſſenſchaft, und ihre Zergliederung geſtattet, ſozuſagen in die Mechanik der Geſellſchaft einzudringen. Man könnte ſich eine allgemeine Betrachtungsweiſe denken, gewiſſermaßen eine Pſychophyſik der Geſellſchaft, welche die Beziehungen zwiſchen der Vertheilung der veränderlichen Geſammtmaſſe des pſychiſchen Lebens auf der Erdoberfläche und der Vertheilung derjenigen Kräfte zum Gegenſtande hätte, die in der Natur bereit liegen, in den Dienſt dieſer Geſammtmaſſe gebracht ſind und durch deren Leiſtungen dieſe ſchließlich ihre Bedürfniſſe befriedigt. Andere wichtige pſychiſche Thatſachen liegen den Syſtemen der höheren geiſtigen Kultur zu Grunde, ſo die Thatſache der Uebertragung und der in ihr ſich vollziehenden Umbildung. In der Uebertragung verbleibt ein Zu - ſtand in A während er auf B übergeht; hierauf gründen ſich die quantitativen Beziehungen in jedem Syſtem einer geiſtigen Be - wegung. Geht man davon aus, daß in der Wiſſenſchaft eine vollſtändige Uebertragbarkeit der Begriffe und Sätze von dem Denker der ſie aufgefunden auf den deſſen Faſſungskraft der Auf - gabe ihres Verſtändniſſes angemeſſen iſt übergeht: ſo entſteht das intereſſante Problem, die Urſachen der Störungen zu erforſchen,144Erſtes einleitendes Buch.welche einen ſolchen regelmäßigen Fortgang in der Geſchichte des Wiſſens verhindert haben.
Es giebt innerhalb der geſchichtlichen Welt, die ja, dem Meere gleich, immer in Wellen bewegt iſt, neben den dauernden Thatbeſtänden, welche, Theilinhalte der pſychophyſiſchen Wechſel - wirkung wie ſie ſind, als Religionen, Staaten, Künſte dauernde Gebilde darſtellen und als ſolche von den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes erforſcht werden, auch umfangreiche und in ſich zuſammen - hängende Vorgänge von einer mehr vorübergehenden Art, die innerhalb der geſchichtlichen Wechſelwirkung auftreten, wachſen und ſich ausbreiten, um dann bald wieder zu verſchwinden. Revolu - tionen, Epochen, Bewegungen: das ſind Namen für dieſe geſchicht - lichen Phänomene, welche weit ſchwerer faßbar ſind als die dauern - den Geſtaltungen, welche die äußere Organiſation der Geſellſchaft oder die Syſteme der Kultur hervorbringen. Schon Ariſtoteles hat den Revolutionen eine ſcharfſinnige Unterſuchung gewidmet. Es ſind aber beſonders die geiſtigen Bewegungen, welche mit der Zeit einer ſehr exakten Behandlung zugänglich werden müſſen, da ſie quantitative Beſtimmungen geſtatten. Von der Epoche der Geſchichte ab, in welcher der Bücherdruck auftritt und eine hinlängliche Beweg - lichkeit erlangt hat, ſind wir durch Anwendung der ſtatiſtiſchen Methode auf den Beſtand der Bibliotheken im Stande, die In - tenſität geiſtiger Bewegungen, die Vertheilung des Intereſſes in einem beſtimmten Zeitpunkt der Geſellſchaft zu meſſen; ſo werden wir in Stand geſetzt, den ganzen Vorgang, von den Bedingungen eines Kulturkreiſes ab, dem Grad von Spannung und Intereſſe in ihm, durch die erſten taſtenden Verſuche, bis zu einer genialen Schöpfung vorſtellig zu machen. Die Darſtellung der Ergebniſſe einer ſolchen Statiſtik wird durch graphiſche Darſtellung ſehr an Anſchaulichkeit gewinnen.
So wird die poſitive Wiſſenſchaft auch die mehr vorüber - gehenden Zuſammenhänge inmitten der allgemeinen Wechſelwirkung der Individuen in der Geſellſchaft der theoretiſchen Behandlung zu unterwerfen bemüht ſein. Doch wir ſind an der Grenze an - gelangt, an welcher das Erreichte zu künftigen Aufgaben hinüber - leitet — von der aus wir zu fernen Küſten hinüberblicken.
Alle Fäden der bisherigen Erwägungen laufen in der folgen - den Einſicht zuſammen. Das Erkennen der geſchichtlich-geſellſchaft - lichen Wirklichkeit vollzieht ſich in den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes. Dieſe aber bedürfen ein Bewußtſein über das Verhält - niß ihrer Wahrheiten zu der Wirklichkeit, deren Theilinhalte ſie ſind, ſowie zu den anderen Wahrheiten, die gleich ihnen aus dieſer Wirklichkeit abſtrahirt ſind, und nur ein ſolches Bewußtſein kann ihren Begriffen die volle Klarheit, ihren Sätzen die volle Evidenz gewähren.
Aus dieſen Prämiſſen ergiebt ſich die Aufgabe, eine er - kenntnißtheoretiſche Grundlegung der Geiſteswiſſen - ſchaften zu entwickeln, alsdann das in einer ſolchen geſchaffene Hilfsmittel zu gebrauchen, um den inneren Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes, die Grenzen, innerhalb deren ein Erkennen in ihnen möglich iſt, ſowie das Verhältniß ihrer Wahr - heiten zu einander zu beſtimmen. Die Löſung dieſer Aufgabe könnte als Kritik der hiſtoriſchen Vernunft d. h. des Vermögens des Menſchen, ſich ſelber und die von ihm geſchaffene Geſellſchaft und Geſchichte zu erkennen, bezeichnet werden.
Eine ſolche Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften muß ſich, wenn ſie ihr Ziel erreichen will, in zwei Punkten von den bis - herigen Arbeiten verwandter Art unterſcheiden. Sie verknüpft Erkenntnißtheorie und Logik mit einander und bereitet ſo die Löſung der Aufgabe vor, welche im Schulbetrieb als Encyklopädie und Methodologie bezeichnet wird. Aber ſie ſchränkt andrerſeits ihr Problem auf das Gebiet der Geiſtes - wiſſenſchaften ein.
Die Logik als Methodenlehre zu geſtalten, iſt die gemein - ſame Richtung aller hervorragenden logiſchen Arbeiten unſeres Jahr -Dilthey, Einleitung. 10146Erſtes einleitendes Buch.hunderts. Aber das Problem der Methodenlehre empfängt durch den Zuſammenhang, in welchem es in der neueren deutſchen Philo - ſophie auftritt, eine beſondere Form. Dieſe Form der Aufgabe iſt in dem ganzen Zuſammenhang unſerer Philoſophie objektiv ange - legt und muß jede Methodenlehre, die unter uns auftritt, unter - ſcheiden von den Arbeiten eines Stuart Mill, Whewell oder Jevons.
Die Analyſis der Bedingungen des Bewußtſeins hat die un - mittelbare Gewißheit der Außenwelt, die objektive Wahrheit der Wahrnehmung, alsdann der Sätze, welche die Eigenſchaften des Räumlichen ausdrücken, ſowie der Begriffe von Subſtanz und Ur - ſache, welche die Natur des Wirklichen ausſprechen, aufgelöſt, und zwar wurde ſie theils getragen, theils beſtätigt durch die Er - gebniſſe der Phyſik und Phyſiologie: ſo entſteht die Aufgabe, die einzelnen Wiſſenſchaften mit dieſem kritiſchen Bewußtſein zu er - füllen. Den Anforderungen an Evidenz, in welchen die poſitiven Wiſſenſchaften der früheren Zeit zuſammentrafen mit der formalen Logik jener Tage, wurde genuggethan, indem die im Bewußtſein als unmittelbar gewiß auftretenden Thatſachen und Sätze unter die Geſetze des diskurſiven Denkens geſtellt wurden. Nunmehr aber, vom kritiſchen Standpunkte aus, ſind an die Geſtaltung eines ſeiner Sicherheit klar bewußten Denkzuſammenhangs inner - halb der einzelnen Wiſſenſchaften andere Anforderungen zu ſtellen. Hieraus entſpringt für die Logik die Aufgabe, dieſe Anforderungen zu entwickeln, wie ſie der kritiſche Standpunkt an die Geſtaltung eines ſeiner Sicherheit klar bewußten Denkzuſammenhangs innerhalb der einzelnen Wiſſenſchaften machen muß.
Eine Logik, welche dieſe Anforderungen erfüllt, bildet das Mittelglied zwiſchen dem Standpunkt, welchen die kritiſche Philo - ſophie errungen hat, und den fundamentalen Begriffen und Sätzen der einzelnen Wiſſenſchaften. Denn die Regeln, welche dieſe Logik entwirft, wollen die Sicherheit von Sätzen der Einzelwiſſenſchaften durch einen Zuſammenhang gewährleiſten, welcher auf die Elemente gegründet iſt, bis zu denen die Analyſis des Bewußtſeins die Sicherheit des Wiſſens zurückführt. Es iſt auch hier die nicht aufzuhaltende Bewegung in der Wiſſenſchaft unſeres Jahrhunderts,147Sie ſoll Erkenntnißtheorie und Logik verknüpfen.die Grenzen niederzureißen, welche ein eingeſchränkter Fachbetrieb zwiſchen der Philoſophie und den Einzelwiſſenſchaften errichtet hat.
Den Anforderungen des kritiſchen Bewußtſeins vermag aber die Logik nur zu entſprechen, indem ſie ihr Gebiet über die Ana - lyſis des diskurſiven Denkens hinaus erweitert. Die formale Logik ſchränkt ſich auf die Geſetze des diskurſiven Denkens ein, welche aus dem Ueberzeugungsgefühl abſtrahirt werden konnten, das unſer im Bewußtſein verlaufendes Urtheilen und Schließen begleitet. Dieſe Logik dagegen, welche die Konſequenz des kritiſchen Stand - punktes zieht, nimmt die von Kant als transcendentale Aeſthetik und Analytik bezeichneten Unterſuchungen in ſich auf, d. h. den Zuſammenhang der dem diskurſiven Denken zu Grunde liegenden Vorgänge; ſie dringt alſo rückwärts in die Natur und den Er - kenntnißwerth von Prozeſſen ein, deren Ergebniſſe unſere früheſte Erinnerung ſchon vorfindet. Und zwar kann ſie dem ſo ent - ſtehenden, den inneren und äußeren Wahrnehmungsvorgang ſowie das diskurſive Denken umfaſſenden Zuſammenhang ein Prinzip der Aequivalenz zu Grunde legen, welchem gemäß die Leiſtung, durch welche der Wahrnehmungsvorgang über das ihm Gegebene hinausgeht, dem diskurſiven Denken gleichwerthig iſt. In der Richtung einer ſolchen Erweiterung der Logik liegt der von Helm - holtz entworfene tiefe Begriff der unbewußten Schlüſſe1)Vgl. die letzte Faſſung, Thatſachen in der Wahrnehmung (1879) S. 27.. Dieſe Er - weiterung muß alsdann auf die Formeln zurückwirken, in welchen die Beſtandtheile und Normen des diskurſiven Denkens dargeſtellt werden. Das logiſche Ideal ſelber ändert ſich. Sigwart hat von dieſem Standpunkt aus die Formeln der Logik umge - bildet und ſo eine Methodenlehre unter kritiſchem Geſichtspunkt begründet2)1873 im erſten Band ſeiner Logik, dem dann 1878 im zweiten die Methodenlehre folgte.. Nachdem einmal das kritiſche Bewußtſein da iſt, kann es unmöglich eine Evidenz erſter und zweiter Klaſſe oder Wiſſende erſter und zweiter Rangordnung geben; nur derjenige Begriff iſt nunmehr vollkommen in logiſcher Rückſicht, welcher ein10*148Erſtes einleitendes Buch.Bewußtſein ſeiner Provenienz in ſich enthält; nur derjenige Satz beſitzt Sicherheit, deſſen Begründung in ein unanfechtbares Wiſſen zurückreicht. Die logiſchen Anforderungen an den Begriff ſind vom kritiſchen Standpunkt aus erſt dann erfüllt, wenn im Zu - ſammenhang der Erkenntniß, in welchem er auftritt, ein Bewußt - ſein des Erkenntnißvorganges ſelber, durch den er gebildet wird, vorhanden, und ihm durch dieſes ſein Ort in dem Syſtem der Zeichen, welche ſich auf die Wirklichkeit beziehen, eindeutig beſtimmt iſt. Den logiſchen Anforderungen an ein Urtheil iſt erſt dann entſprochen, wenn das Bewußtſein ſeines logiſchen Grundes in dem Zuſammenhang der Erkenntniß, in welchem es auftritt, die erkenntnißtheoretiſche Klarheit über Gültigkeit und Tragweite des ganzen Zuſammenhangs pſychiſcher Akte einſchließt, welche dieſen Grund ausmachen. Daher führen die Anforderungen der Logik an Begriffe und Sätze bis in das Hauptproblem aller Erkenntnißtheorie zurück: Natur des unmittelbaren Wiſſens um die Thatſachen des Bewußtſeins und Verhältniß deſſelben zu dem nach dem Satze vom Grunde fortſchreitenden Erkennen.
Dieſe Erweiterung des Geſichtskreiſes der Logik iſt in Uebereinſtimmung mit der Richtung der poſitiven Wiſſenſchaften ſelber. Indem das naturwiſſenſchaftliche Denken über die natür - liche Beziehung unſerer Empfindungen auf Einzeldinge in Raum und Zeit hinausgeht, findet es ſich überall auf die genaue Be - ſtimmung dieſer Empfindungen ſelber zurückgeführt, ſonach auf die Beſtimmung ihrer Abfolge nach einem allgemeingültigen Zeitmaß, auf allgemeingültige Orts - und Größenbeſtimmungen ſowie Elimi - nirung der Beobachtungsfehler, kurz auf Methoden, durch welche die Bildung der Wahrnehmungsurtheile ſelber zu logiſcher Vollkommen - heit geführt werden kann. In Bezug auf die Geiſteswiſſenſchaften aber zeigte ſich uns, daß pſychiſche und pſychophyſiſche Thatſachen die Grundlage der Theorie nicht nur vom Individuum, ſondern ebenſo von den Syſtemen der Kultur ſowie von der äußeren Or - ganiſation der Geſellſchaft bilden, und daß dieſelben der hiſtoriſchen Anſchauung und Analyſis in jedem ihrer Stadien zu Grunde liegen. Daher die erkenntnißtheoretiſche Unterſuchung über die Art,149Und ihr Problem a. d. Grundlegung d. Geiſteswiſſenſchaften einſchränken.wie ſie uns gegeben ſind, und die Evidenz, die ihnen zukommt, allein wirkliche Methodenlehre der Geiſteswiſſenſchaften begründen kann.
So tritt zwiſchen die erkenntnißtheoretiſche Grundlegung und die Einzelwiſſenſchaften die Logik als Mittelglied; damit entſteht derjenige innere Zuſammenhang der modernen Wiſſen - ſchaft, welcher an die Stelle des alten metaphyſiſchen Zuſammen - hangs unſerer Erkenntniß treten muß.
Die zweite Eigenthümlichkeit in Beſtimmung der Aufgabe dieſer Einleitung liegt in der Einſchränkung derſelben auf die Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften1)S. 25.. — Wären die Bedingungen, unter denen das Erkennen der Natur ſteht, in demſelben Sinn grundlegend für den Aufbau der Geiſteswiſſen - ſchaften, wären alle Verfahrungsweiſen, vermittelſt deren unter dieſen Bedingungen Naturerkennen erreicht wird, auf das Studium des Geiſtes anwendbar, und zwar keine als ſie, wäre endlich die Art von Abhängigkeit der Wahrheiten von einander ſowie von Beziehung der Wiſſenſchaften aufeinander dieſelbe hier wie dort: alsdann wäre die Sonderung der Grundlegung der Geiſtes - wiſſenſchaften von der für die Wiſſenſchaften der Natur ohne Nutzen. — In Wirklichkeit ſind gerade die am meiſten umſtrittenen von den Bedingungen, unter denen naturwiſſenſchaftliches Erkennen ſteht, nämlich räumliche Anordnung und die Bewegung in der Außenwelt, auf die Evidenz der Geiſteswiſſenſchaften ohne Ein - fluß, da2)S. 25. die bloße Thatſache, daß ſolche Phänomene beſtehen und Zeichen eines Realen ſind, für die Konſtruktion ihrer Sätze ausreicht. Tritt man alſo auf dieſe engere Grundlage, ſo eröffnet ſich die Möglichkeit, für den Zuſammenhang der Wahrheiten in den Wiſſenſchaften vom Menſchen, der Geſellſchaft und Geſchichte eine Sicherheit zu gewinnen, zu welcher die Naturwiſſenſchaften, ſofern ſie mehr als Beſchreibung von Phänomenen ſein wollen, niemals gelangen können. — In Wirklichkeit ſind ferner die Ver - fahrungsweiſen der Geiſteswiſſenſchaften, als in denen ihr Objekt150Erſtes einleitendes Buch.verſtanden iſt, noch bevor es erkannt wird1)S. 114 f., und zwar in der Totalität des Gemüthes2)S. 122., ſehr verſchieden von denen der Natur - wiſſenſchaften3)S. 136 f.. Und man braucht nur die Stellung zu erwägen, welche hier die Auffaſſung der Thatſache als ſolcher hat4)S. 41., als - dann ihr Hindurchgehen durch verſchiedene Grade von Bearbeitung unter dem Einfluß der Analyſis5)S. 30 f., 49 f., 116 ff., um die ganz andere Struktur des Zuſammenhangs in dieſen Wiſſenſchaften zu erkennen. — Endlich ſtehen hier Thatſache, Geſetz, Werthgefühl und Regel in einem inneren Zuſammenhang, welcher innerhalb der Naturwiſſen - ſchaften ſo nicht ſtattfindet. Dieſer Zuſammenhang kann nur in der Selbſtbeſinnung erkannt werden6)S. 112., und ſo hat dieſelbe auch hier ein beſonderes Problem der Geiſteswiſſenſchaften zu löſen, welches, wie wir ſahen, auf dem metaphyſiſchen Standpunkte der Philoſophie der Geſchichte ſeine Auflöſung nicht fand.
Daher eine ſolche abgeſonderte Behandlung die wahre Natur der Geiſteswiſſenſchaften für ſich heraustreten läßt und ſo viel - leicht dazu beiträgt, die Feſſeln zu brechen, in denen die ältere und ſtärkere Schweſter dieſe jüngere gehalten hat, von der Zeit ab in welcher Descartes, Spinoza und Hobbes ihre an Mathematik und Naturwiſſenſchaften gereiften Methoden auf dieſe zurückgeblie - benen Wiſſenſchaften übertrugen.
Metaphyſik als Grundlage der Geiſteswiſſenſchaften. Ihre Herrſchaft und ihr Verfall.
Göttinnen thronen hehr in Einſamkeit, Um ſie kein Ort, noch wen’ger eine Zeit; Von ihnen ſprechen iſt Verlegenheit. Fauſt: Wohin der Weg? Kein Weg. Ins Unbetretene, Nicht zu Betretende.(Goethe.)[152][153]
Das erſte einleitende Buch hat zunächſt das Objekt dieſes Werkes in einem Ueberblick dargeſtellt: die geſchichtlich-geſellſchaft - liche Wirklichkeit, in dem Zuſammenhang, in welchem ſie innerhalb der natürlichen Gliederung des Menſchengeſchlechts aus Individual - einheiten ſich aufbaut, ſowie die Wiſſenſchaften von dieſer Wirk - lichkeit d. h. die Geiſteswiſſenſchaften, in der Sonderung und den inneren Beziehungen, in welchen ſie aus dem Ringen des Erkennens mit dieſer Wirklichkeit entſtanden ſind: damit der in dieſe Ein - leitung Eintretende zuvörderſt das Objekt ſelber in ſeiner Realität gewahr werde.
Dies war durch den leitenden wiſſenſchaftlichen Gedanken des vorliegenden Werkes geboten. Denn in demſelben iſt jede von den bisherigen Ergebniſſen des philoſophiſchen Nachdenkens abweichende Erkenntniß ein Ausfluß des Einen Grundgedankens, die Philo - ſophie ſei zunächſt eine Anleitung, die Realität, die Wirklichkeit in reiner Erfahrung zu erfaſſen und in den Grenzen, welche die Kritik des Erkennens vorſchreibt, zu zergliedern. Dem mit den Geiſteswiſſen - ſchaften Beſchäftigten will daſſelbe ſonach gleichſam die Organe für die Erfahrung der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Welt ausbilden. Denn dies iſt die gewaltige Seele der gegenwärtigen Wiſſenſchaft:154Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.ein unerſättliches Verlangen nach Realität, welches ſich, nachdem es die Naturwiſſenſchaften umgeſtaltet hat, nunmehr der geſchicht - lich-geſellſchaftlichen Welt bemächtigen will, um, wenn möglich, das Ganze der Welt zu umfaſſen und die Mittel zu gewinnen, in den Gang der menſchlichen Geſellſchaft einzugreifen.
Dieſe ganze, volle, unverſtümmelte Erfahrung iſt aber bisher noch niemals dem Philoſophiren zu Grunde gelegt worden. Viel - mehr iſt der Empirismus nicht minder abſtrakt, als die Spekulation. Der Menſch, welchen einflußreiche empiriſtiſche Schulen aus Empfindungen und Vorſtellungen, wie aus Atomen, zuſammen - ſetzen, ſteht mit der inneren Erfahrung, aus deren Elementen doch die Vorſtellung vom Menſchen gewonnen iſt, in Widerſpruch: dieſe Maſchine hätte nicht für Einen Tag die Fähigkeit ſich in der Welt zu erhalten. Der Zuſammenhang der Geſellſchaft, welcher aus dieſer empiriſtiſchen Auffaſſung gefolgert wird, iſt nicht minder, als der, den die ſpekulativen Schulen aufgeſtellt haben, eine von abſtrakten Elementen aus entworfene Konſtruktion. Die wirkliche Geſellſchaft iſt weder ein Mechanismus noch, wie andere ſie vor - nehmer vorſtellen, ein Organismus. Nur zwei verſchiedene Seiten deſſelben Standpunktes der Erfahrung ſind die den ſtrengen An - forderungen der Wiſſenſchaft entſprechende Analyſis der Wirklich - keit und das Anerkenntniß der über dieſe Analyſis hinausreichenden Realität der Wirklichkeit. „ Im Betrachten wie im Handeln “, be - merkt Goethe, „ iſt das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu unterſcheiden; ohne dies läßt ſich im Leben wie in der Wiſſen - ſchaft wenig leiſten. “
Im Gegenſatz gegen den herrſchenden Empirismus wie gegen die Spekulation mußte alſo zunächſt die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit in ihrer vollen Realität ſichtbar gemacht werden; auf dieſe Wirklichkeit beziehen ſich alle folgenden Unterſuchungen. Im Gegenſatz gegen die Entwürfe einer den ganzen Zuſammenhang dieſer Wirklichkeit umſpannenden Wiſſenſchaft mußte das Ineinander - greifen der Leiſtungen der geſchichtlich gewordenen, fruchtbaren Einzelwiſſenſchaften gezeigt werden; in ihnen vollzieht ſich der große Prozeß einer zwar relativen, aber fortſchreitenden Erkennt -155Aufgabe der folgenden Grundlegung.niß des geſellſchaftlichen Lebens. Und da wir den Leſer mit den Einzelwiſſenſchaften beſchäftigt oder in der mit ihnen verknüpften Technik des Berufslebens thätig vorfinden, ſo mußte, im Gegenſatz gegen dieſe Vereinzelung, die Nothwendigkeit einer grundlegenden Wiſſenſchaft nachgewieſen werden, welche die Beziehungen der Einzel - wiſſenſchaften zu dem fortſchreitenden Erkenntnißvorgang entwickelt; in eine ſolche Grundlegung führen alle Geiſteswiſſenſchaften zurück.
Zu dieſer Grundlegung ſelber wenden wir uns nunmehr. Sie entnimmt für ihren Aufbau aus dem Bisherigen nur den Be - weis der Nothwendigkeit einer die Geiſteswiſſenſchaften begründen - den allgemeinen Wiſſenſchaft. Dagegen muß ſie für die im erſten Buch entwickelte Anſchauung der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk - lichkeit und des Vorgangs, in welchem deren Erkenntniß ſtattfindet, ſoweit dieſe Anſchauung mehr als eine Zuſammenordnung von Thatſachen iſt, nun erſt die ſtrenge Begründung darlegen.
Wir finden nun in der Literatur der Geiſteswiſſenſchaften zwei unterſchiedene Geſtalten einer ſolchen Grundlegung. Während die Begründung der Geiſteswiſſenſchaften auf die Selbſt - beſinnung, ſomit auf Erkenntnißtheorie und Pſychologie bisher in einer geringen Anzahl von Arbeiten verſucht worden iſt, welche erſt durch die kritiſche Philoſophie des 18. Jahrhunderts hervorgerufen wurden, beſteht ſeit mehr als zweitauſend Jahren ihre Begründung auf Metaphyſik. Denn ſeit einer ſo langen Zeit wurde die Erkenntniß der geiſtigen Welt auf die Erkenntniß Gottes als ihres Urhebers und auf die Wiſſenſchaft von dem allgemeinen inneren Zuſammenhang der Wirklichkeit als von dem Grunde der Natur ſowie des Geiſtes zurückgeführt. Insbeſondere bis in das 15. Jahrhundert hat die Metaphyſik (den Zeitraum von der Be - gründung der alexandriniſchen Wiſſenſchaft bis zum Aufbau der chriſtlichen Metaphyſik ausgenommen) über die einzelnen Wiſſen - ſchaften gleich einer Königin geherrſcht. Ordnet dieſelbe ſich doch, ihrem Begriff nach nothwendig, alle einzelnen Wiſſenſchaften unter, wenn ſie überhaupt anerkannt wird. Dieſe Anerkennung aber war ſo lange ſelbſtverſtändlich, als der Geiſt den inneren und all - gemeinen Zuſammenhang der Wirklichkeit zu erkennen gewiß war. 156Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.Denn Metaphyſik iſt eben das natürliche Syſtem, welches aus der Unterordnung der Wirklichkeit unter das Geſetz des Erkennens entſpringt. Metaphyſik iſt alſo überhaupt die Verfaſſung der Wiſſenſchaft, unter deren Herrſchaft das Studium des Menſchen und der Geſellſchaft ſich entwickelt haben und unter deren Einfluß ſie noch heute, wenn auch in vermindertem Umfang und Grade, ſtehn.
An der Pforte der Geiſteswiſſenſchaften tritt uns daher die Metaphyſik gegenüber, begleitet von dem Skepticismus, der von ihr unzertrennlich iſt, gleichſam ihr Schatten. Der Beweis ihrer Un - haltbarkeit bildet den negativen Theil der Grundlegung der einzelnen Geiſteswiſſenſchaften, welche wir im erſten Buch als nothwendig erkannt haben. Und zwar verſuchen wir die abſtrakte Beweis - führung des 18. Jahrhunderts durch die hiſtoriſche Erkenntniß dieſes großen Phänomens zu ergänzen. Wol hat das 18. Jahr - hundert die Metaphyſik widerlegt. Aber der deutſche Geiſt lebt, unterſchieden von dem engliſchen und franzöſiſchen, in dem hiſtoriſchen Bewußtſein der Kontinuität, deren Faden bei uns im 16. und 17. Jahrhundert nicht abriß; hierauf beruht ſeine hiſtoriſche Tiefe, in welcher das Vergangene einen Moment des gegenwärtigen geſchichtlichen Bewußtſeins bildet. So hat die Liebe zum großen Alterthum einerſeits die gebrochene Metaphyſik bei uns in edlen Geiſtern auch im 19. Jahrhundert geſtützt; aber eben durch dieſelbe gründliche Verſenkung in den Geiſt des Vergangenen, in die Erforſchung der Geſchichte des Gedankens haben wir nun andrerſeits die Mittel erworben, die Metaphyſik in ihrem Urſprung, ihrer Macht und ihrem Verfall geſchichtlich zu erkennen. Denn die Menſchheit wird dieſe große geiſtige Thatſache, wie jede andere, welche ſich überlebt hat, welche aber ihre Tradition mit ſich fortſchleppt, nur völlig überwinden, indem ſie dieſelbe begreift.
Indem aber der Leſer dieſer Darſtellung folgt, wird er ge - ſchichtlich für die erkenntnißtheoretiſche Grundlegung vorbereitet. Die Metaphyſik, als das natürliche Syſtem, war, wie die folgende Darſtellung begründen wird, ein nothwendiges Stadium in der geiſtigen Entwicklung der europäiſchen Völker. Daher157Metaphyſik als Grundlegung der Geiſteswiſſenſchaften.kann der Standpunkt der Metaphyſik von dem, welcher in die Wiſſenſchaften eintritt, gar nicht durch bloße Argumente zur Seite geſchoben, ſondern er muß von ihm wo nicht durchlebt, doch ganz durchgedacht und ſolchergeſtalt aufgelöſt werden. Seine Folgen erſtrecken ſich durch den ganzen Zuſammenhang der modernen Begriffe; die Litteratur der Religion und des Staats, des Rechts wie der Geſchichte iſt zum größten Theil unter ſeiner Herrſchaft entſtanden, und auch der übrigbleibende Theil befindet ſich meiſt, ſelbſt gegen ſeinen Willen, unter ſeinem Einfluß. Nur wer dieſen Standpunkt in ſeiner ganzen Kraft ſich klar gemacht d. h. das Bedürfniß deſſelben, das in der unveränderlichen Natur des Menſchen wurzelt, geſchichtlich verſtanden, ſeine lang währende Macht in ihren Gründen erkannt und ſeine Folgen ſich entwickelt hat, vermag ſeine eigene Denkart von dieſem metaphyſiſchen Boden ganz loszulöſen und die Wirkungen der Metaphyſik in der ihm vorliegenden Litteratur der Geiſteswiſſenſchaften zu erkennen ſowie zu eliminiren. Hat doch die Menſchheit ſelber dieſen Gang ge - nommen. Alsdann nur wer die einfache und harte Form der prima philosophia an ihrer Geſchichte erkannt hat, wird die Un - haltbarkeit der gegenwärtig herrſchenden Metaphyſik durchſchauen, welche mit den Erfahrungswiſſenſchaften verbunden oder ihnen an - gepaßt iſt: der Philoſophie der naturphiloſophiſchen Moniſten, Schopenhauers und ſeiner Schüler ſowie Lotzes. Endlich nur wer die Gründe der Sonderung von philoſophiſchen und empiriſchen Geiſtes - wiſſenſchaften, welche in eben dieſer Metaphyſik gelegen ſind, erkannt, ſowie die Folgen dieſer Sonderung in der Geſchichte der Metaphyſik verfolgt hat, wird in dieſer Sonderung in rationale und empiriſche Wiſſenſchaften das ſtehen gebliebene Gehäuſe des metaphyſiſchen Geiſtes erkennen und es entſchloſſen wegräumen, um dem geſunden Verſtändniß des Zuſammenhangs der Geiſteswiſſenſchaften freien Boden zu ſchaffen.
Die Betrachtung der geſchichtlichen Welt gab uns eine ſchwere Frage auf. Die Wechſelwirkung der Individualeinheiten, ihrer Freiheit, ja ihrer Willkür (dieſe Worte in dem Verſtande von Namen für das Erlebniß, nicht für eine Theorie genommen), die Verſchiedenheit der nationalen Charaktere und der Individualitäten, endlich die aus dem Naturzuſammenhang, in welchem dies Alles auftritt, ſtammenden Schickſale: dieſer ganze Pragmatismus der Geſchichte bewirkt einen zuſammengeſetzten weltgeſchicht - lichen Zweckzuſammenhang, vermittelſt der Gleichartigkeit der Menſchennatur ſowie vermittelſt anderer Züge in ihr, welche eine Mitarbeit des Einzelnen an einem über ihn ſelber Hinaus - reichenden ermöglichen, in den großen Formen der auf freies Ineinandergreifen der Kräfte gegründeten Syſteme ſowie der äußeren Organiſation der Menſchheit: in Staat und Recht, wirth - ſchaftlichem Leben, Sprache und Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft. So entſtehen Einheit, Nothwendigkeit und Geſetz in der Geſchichte unſeres Geſchlechts. Mag der pragmatiſche Geſchichtſchreiber im Spiel der einzelnen Kräfte, in den Wirkungen der Natur und des Geſchicks oder auch einer höheren Hand ſchwelgen, mag der Metaphyſiker ſeine abſtrakten Formeln dieſen wirkenden Kräften ſubſtituiren, als ob ſie gleich den Geſtirngeiſtern der eben - falls durch metaphyſiſche Vorſtellungen genährten Aſtrologie dem Menſchengeſchlecht ſeine Bahn vorſchrieben: beide reichen nicht ein - mal an dieſe Frage ſelber heran. Das Geheimniß der Geſchichte und der Menſchheit iſt tiefſinniger als die Einen und die Anderen. Sein Schleier lüftet ſich, wo man den mit ſich ſelber beſchäftigten Willen des Menſchen, gegen ſeine Abſicht, an einem über ihn hinausreichenden Zweckzuſammenhang wirken oder wo man ſeine eingeſchränkte Intelligenz an dieſem Zuſammenhang etwas voll - bringen ſieht, deſſen dieſer bedarf, das aber von der einzelnen In - telligenz weder beabſichtigt noch vorausgeſehen war. Der blinde Fauſt159Die intellektuelle Entwicklung ein Zweckzuſammenhang.in der letzten täuſchenden Arbeit ſeines Lebens iſt das Symbol aller Helden der Geſchichte, ſo gut als Fauſt, der mit Auge und Hand des Herrſchers Natur und Geſellſchaft geſtaltet.
Innerhalb dieſes lebendigen Zweckzuſammenhangs, welcher in der Totalität der Menſchennatur gegründet iſt, hat ſich allmälig die intellektuelle Entwicklung des Menſchengeſchlechts in der Wiſſenſchaft abgeſondert. — Sie bildet einen vernünftigen Zuſammen - hang, der über das Individuum hinausreicht. Die Zweckthätigkeit der einzelnen Menſchen, die Schleiermacher als „ Wiſſenwollen “, andere als „ Wiſſenstrieb “bezeichnen (Namen für eine Thatſache des Bewußtſeins, nicht aber Erklärung dieſer Thatſache), muß auf die entſprechende Zweckthätigkeit anderer Menſchen rechnen, dieſelbe aufnehmen und in ſie hinübergreifen. Und zwar ſind gerade Vor - ſtellungen, Begriffe, Sätze einfach übertragbar. Darum findet in dieſem Zuſammenhang oder Syſtem eine ſo ſtätige Fortentwicklung ſtatt, als auf keinem anderen Felde menſchlichen Thuns. Obwohl dieſer Zweckzuſammenhang der wiſſenſchaftlichen Arbeit nicht durch einen Geſammtwillen geleitet wird, ſondern er vollzieht ſich in der freien Thätigkeit der einzelnen Individuen. — Die allgemeine Theorie dieſes Syſtems iſt Erkenntnißtheorie und Logik. Sie hat das Verhältniß der Elemente in dieſem vernünftigen Zuſammen - hang des im Menſchengeſchlecht ſich vollziehenden Erkenntnißpro - zeſſes zu einander, ſofern es einer allgemeinen Faſſung fähig iſt, zu ihrem Gegenſtande1)Vergl. S. 55.. Somit ſucht ſie in dem über das In - dividuum hinausreichenden Zuſammenhang dieſes Erkenntnißvor - gangs Nothwendigkeit, Gleichförmigkeit und Geſetz. Ihr Material iſt die Geſchichte der menſchlichen Erkenntniß als Thatſache und ihren Schlußpunkt bildet das zuſammengeſetzte Bildungsgeſetz in dieſer Geſchichte der Erkenntniß. — Denn obgleich die Geſchichte der Wiſſenſchaft theilweiſe durch ſehr mächtige, zum Theil höchſt eigenwillige Individuen gemacht wird, obgleich die verſchiedenen Anlagen der Nationen auf dieſe Geſchichte einwirken, das milieu der Geſellſchaft, in welchem dieſer Erkenntnißvorgang ſich vollzieht, überall ihn mitbeſtimmt: dennoch zeigt die Geſchichte des wiſſen -160Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.ſchaftlichen Geiſtes eine über ſolchen Pragmatismus hinausreichende folgerichtige Einheit. Pascal betrachtet das Menſchengeſchlecht als ein einziges Individuum, welches immerfort lernt. Goethe vergleicht die Geſchichte der Wiſſenſchaften mit einer großen Fuge, in welcher die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorſchein kommen.
In dieſem Zweckzuſammenhang der Geſchichte der Wiſſen - ſchaften tritt an einem beſtimmten Punkte, im 5. Jahrhundert v. Chr. bei den europäiſchen Völkern die Metaphyſik hervor, beherrſcht in zwei großen Zeiträumen den wiſſenſchaftlichen Geiſt Europas und iſt alsdann ſeit mehreren Jahrhunderten in einen allmäligen Auflöſungsprozeß eingetreten.
Der Ausdruck Metaphyſik wird in ſo verſchiedenem Verſtande gebraucht, daß der Inbegriff von Thatſachen, welcher hier mit dieſem Namen bezeichnet wird, zunächſt hiſtoriſch einigermaßen abgegrenzt werden muß.
Es iſt bekannt, daß der Ausdruck urſprünglich nur die Stellung der „ erſten Philoſophie “des Ariſtoteles hinter ſeinen naturwiſſenſchaftlichen Schriften bezeichnete, daß derſelbe aber als - dann, der Zeitrichtung entſprechend, auf eine Wiſſenſchaft deſſen, was über die Natur hinausgeht, gedeutet wurde1)Bonitz, Aristotelis Metaphysica II, p. 3 sq. erörtert erſchöpfend, daß Ariſtoteles dieſe Wiſſenſchaft als πϱώτη φιλοσοφία bezeichnete, daß der Ausdruck μετὰ τὰ φυσικά für dieſen Theil der Schriften des Ariſtoteles im Zeitalter des Auguſtus zuerſt auftritt (wahrſcheinlich auf Andronikus zurück - zuführen) und zunächſt den Schrifteninbegriff bedeutet, welcher auf den natur - wiſſenſchaftlichen in der Sammlung und in dem von Ariſtoteles hinreichend angedeuteten ſyſtematiſchen Zuſammenhang folgte, alsdann aber, der Zeitrich - tung entſprechend, auf eine Wiſſenſchaft des Transſcendenten gedeutet wurde..
Was Ariſtoteles unter erſter Philoſophie verſtand, wird da - rum der Beſtimmung dieſes Begriffs am zweckmäßigſten zu Grunde gelegt, weil dieſe Wiſſenſchaft durch Ariſtoteles ihre ſelbſtändige von den Einzelwiſſenſchaften klar unterſchiedene Geſtalt empfangen hat, und weil der Begriff der Metaphyſik, wie derſelbe im Zu - ſammenhang hiermit von Ariſtoteles geprägt wurde, in dem folge - richtigen Verlauf des Erkenntnißvorgangs angelegt war. Das was hiſtoriſch hier auftrat, kann zugleich als das was in dem161Der Begriff der Metaphyſik durch Ariſtoteles beſtimmt.Zweckzuſammenhang der Geſchichte der Wiſſenſchaften bedingt war, erwieſen werden. — Von der Erfahrung unterſcheidet ſich nach Ariſtoteles die Wiſſenſchaft dadurch, daß ſie den Grund erkennt, welcher in der wirkenden Urſache gelegen iſt. Von der Einzel - wiſſenſchaft unterſcheidet ſich die Weisheit, in welcher der Wiſſens - trieb ſeine in ihm ſelber gelegene Befriedigung findet (das Wort Weisheit hier in ſeinem engſten, höchſten Verſtande genommen, ſonach die erſte Weisheit), dadurch, daß ſie die erſten Gründe, welche ganz allgemein die ganze Wirklichkeit begründen, erkennt. Sie enthält alle Gründe für die beſonderen Erfahrungskreiſe und ſie beherrſcht vermittelſt dieſer Gründe das geſammte Handeln. Dieſe erſte vollkommene Weisheit iſt eben die erſte Philoſophie. Während die Einzelwiſſenſchaften, z. B. die Mathematik, einzelne Gebiete des Seienden zu ihrem Gegenſtand haben, hat dieſe erſte Philoſophie das ganze Seiende oder das Seiende als Seiendes d. h. die gemeinſamen Beſtimmungen des Seienden zu ihrem Gegenſtand. Und während jede Einzelwiſſenſchaft, entſprechend dieſer Aufgabe, ein beſtimmtes Gebiet des Seienden zu erkennen, in der Feſtſtellung der Gründe nur bis zu einem gewiſſen Punkte zurückgeht welcher ſelber im Zuſammenhang der Erkenntniß rück - wärts bedingt iſt, hat die erſte Philoſophie die nicht weiter im Erkenntnißvorgang bedingten Gründe alles Seienden zu ihrem Gegenſtand. 1)Dieſe Begriffsbeſtimmung der πϱώτη φιλοσοφία des Ariſtoteles iſt vermittelſt der Verbindung von insbeſondere Metaph. I, 1. 2. III, 1 ff. VI, 1 abgeleitet. In Betreff des Verhältniſſes der Begriffe von σοφία, πϱώτη σοφία, ὅλως σοφός zu πϱώτη φιλοσοφία verweiſe ich auf Schweg - lers Commentar zur Metaphyſik S. 14 und den Index von Bonitz s. v. σοφία.
Dieſe Begriffsbeſtimmung der erſten Philoſophie oder Meta - phyſik, welche Ariſtoteles entwarf, wird von den am meiſten her - vorragenden Metaphyſikern des Mittelalters feſtgehalten. 2)Thomae Aquinatis summa de veritate I. I, c. 1. In der neueren Philoſophie überwiegt immer mehr die am meiſten abſtrakte unter den Formeln des Ariſtoteles, welche die Meta - phyſik als Wiſſenſchaft der nicht weiter im Erkenntnißvorgang be -Dilthey, Einleitung. 11162Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.dingten Gründe beſtimmt. So definirt Baumgarten die Metaphyſik als die Wiſſenſchaft der erſten Erkenntnißgründe. Und auch Kant beſtimmt ganz übereinſtimmend mit Ariſtoteles den Begriff der - jenigen Wiſſenſchaft, welche er als die dogmatiſche Metaphyſik be - zeichnet und deren Auflöſung zu vollbringen er unternahm. Er knüpft in ſeiner Kritik der Vernunft genau an den Ariſtoteliſchen Begriff von Gründen, welche ſelber nicht mehr bedingt ſind, an. Jeder allgemeine Satz (ſagt Kant), inſofern er als Oberſatz in einem Vernunftſchluß dienen kann, iſt ein Prinzip, nach welchem das - jenige erkannt wird, was unter die Bedingung deſſelben ſubſumirt wird. Dieſe allgemeinen Sätze als ſolche ſind nur comparative Prinzipien. Die Vernunft unterwirft nun aber alle Verſtandes - regeln ihrer Einheit; zu den bedingten Erkenntniſſen des Ver - ſtandes ſucht ſie das Unbedingte. Hierbei wird ſie von ihrem ſynthetiſchen Prinzip geleitet: iſt das Bedingte gegeben, ſo iſt auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mit - hin ſelber unbedingt iſt, gegeben. Dies Prinzip iſt nach Kant das der dogmatiſchen Metaphyſik, und dieſelbe iſt ihm ein noth - wendiges Stadium in der Entwicklung der menſchlichen Intelli - genz. 1)Kant’s Werke (Roſenkr. ) 2, 63 ff. 341 ff. — 1, 486 ff.— Alsdann ſtimmen mit der Begriffsbeſtimmung des Ariſtoteles die meiſten philoſophiſchen Schriftſteller der letzten Generation überein. 2)Trendelenburg, log. Unterſuchungen (dritte Aufl. ) 1, 6 ff. Ueber - weg, Logik (dritte Aufl.) S. 9 ff. Schelling, der in ſeinen letzten Arbeiten ebenfalls auf Ariſtoteles zurückgeht, Philoſophie der Offenbarung, W. W. II, 3, 38. Lotze, Metaphyſik S. 6 ff.In dieſem Verſtande iſt der Materialis - mus oder der naturwiſſenſchaftliche Monismus ſo gut Metaphyſik, als die Ideenlehre Platos; denn auch in jenen handelt es ſich um die allgemeinen nothwendigen Beſtimmungen des Seienden.
Aus der Ariſtoteliſchen Begriffsbeſtimmung der Metaphyſik ergiebt ſich vermittelſt der ſicheren Einſichten der kritiſchen Philo - ſophie ein Merkmal der Metaphyſik, welches ebenfalls einem Streit nicht unterliegen kann. Kant hat dies Merkmal richtig heraus - gehoben. Alle Metaphyſik überſchreitet die Erfahrung. Sie ergänzt163Unhaltbarkeit abweichender Beſtimmungen des Begriffs Metaphyſik.das in der Erfahrung Gegebene durch einen objek - tiven und allgemeinen inneren Zuſammenhang, welcher nur in der Bearbeitung der Erfahrung unter den Bedin - gungen des Bewußtſeins entſteht. Herbart hat dieſen wahren Charakter aller Metaphyſik, wie er ſich aus der Betrachtung ihrer Geſchichte unter dem Geſichtspunkt eines kritiſchen Denkens ergiebt, meiſterhaft dargelegt. Jede Atomenlehre, welche das Atom nicht blos als einen methodiſchen Hilfsbegriff betrachtet, ergänzt die Erfahrung durch Begriffe, welche in der Bearbeitung dieſer Erfahrung unter den Bedingungen des Bewußtſeins entſprungen ſind. Der naturwiſſenſchaftliche Monismus fügt eine in keiner Erfahrung liegende, dieſe vielmehr ebenfalls ergänzende Beziehung zwiſchen materiellen und pſychiſchen Vorgängen zu dem Erfahrenen hinzu, welcher gemäß in den Beſtandtheilen der Materie entweder überall pſychiſches Leben verbreitet iſt oder in den allgemeinen Eigenſchaften dieſer Beſtandtheile die Gründe des Auftretens von pſychiſchem Leben liegen.
Einige Schriftſteller gebrauchen den Ausdruck Metaphyſik in einem von dieſem herrſchenden Sprachgebrauch abweichenden Sinne, weil ſie einzelne Beziehungen verfolgen, in welche natur - gemäß die ſo geſchichtlich aufgefaßte Thatſache der Metaphyſik tritt.
Kant’s Begriff von der dogmatiſchen Metaphyſik ſchien in ſeinen elementaren Beſtimmungen nur den des Ariſtoteles auf - zunehmen und weiterzudenken. Dies iſt darin gegründet: das Erkennen, auf ſeinem natürlichen Standpunkte, bewegt ſich ſeinem Weſen gemäß in der Richtung von den gefundenen bedingten Wahrheiten auf ihren letzten, unbedingten Zuſammenhang; aus dieſer Richtung des Erkennens entſprang die Metaphyſik des Ariſto - teles als geſchichtliche Thatſache, ſowie der Begriff von rückwärts nicht weiter bedingten Gründen, durch den ſozuſagen die Sprung - feder im Zweckzuſammenhang des Denkens blosgelegt wird, welcher dieſe metaphyſiſche Geiſtesrichtung in Bewegung ſetzt; und dieſelbe Nothwendigkeit im Grunde der Bedingungen des Bewußtſeins er - faßte auch der tiefe Blick Kant’s. Er, auf ſeinem kritiſchen Stand - punkt, ſo ſahen wir weiter, durchſchaute auch die erkenntnißtheoretiſche11*164Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.Vorausſetzung, welche in dieſer dogmatiſchen Metaphyſik enthalten war. — Aber hier beginnt ſeine Abweichung von Ariſtoteles. Seinem erkenntnißtheoretiſchen Standpunkt gemäß will er den Begriff der Metaphyſik aus ihrem Urſprung im Erkennen entwerfen. Nun denkt er aber unter der unbeweisbaren Vorausſetzung, allgemeine und nothwendige Wahrheiten hätten eine Erkenntnißart a priori zu ihrer Bedingung. Daher erhält für ihn Metaphyſik als die Wiſſenſchaft, welche die höchſte uns mögliche Vernunfteinheit in unſere Erkenntniß zu bringen ſtrebt,1)Kant 2, 350. folgerecht das Merkmal, Syſtem der reinen Vernunft zu ſein d. h. „ philoſophiſche Er - kenntniß aus reiner Vernunft in ſyſtematiſchem Zuſammenhang. “ 2)Kant 2, 648. — 1, 490.Und ſo iſt ihm Metaphyſik durch ihren Urſprung in der reinen Ver - nunft beſtimmt, welcher allein philoſophiſches, apodiktiſches Wiſſen ermöglicht. Von der dogmatiſchen unterſcheidet er ſein eigenes Syſtem als kritiſche Metaphyſik; biegt er doch die Ausdrücke der alten Schule auch ſonſt in das Erkenntnißtheoretiſche um. Seine Faſſung des Begriffs Metaphyſik ging auf ſeine Schule über. 3)Apelt, Metaphyſik S. 21 ff.Aber dieſe Abweichung von dem hiſtoriſchen Sprachgebrauch ver - wickelt Kant in Widerſprüche, da ſelbſt die Metaphyſik des Ariſto - teles eine ſolche reine Vernunftwiſſenſchaft nicht iſt, und ſie bringt in ſeine Terminologie eine auch von ſeinen Verehrern bemerkte Dunkelheit.
Ein anderer Sprachgebrauch hebt eine Beziehung an der Metaphyſik hervor, welche für die allgemeine Vorſtellung der Ge - bildeten am meiſten in den Vordergrund tritt, und dieſer Sprach - gebrauch iſt daher im Leben ſehr verbreitet. Wol ſind auch die moniſtiſchen Syſteme der Naturphiloſophie Metaphyſik. Aber der Schwerpunkt der großen geſchichtlichen Maſſe von Metaphyſik liegt den gewaltigen Speculationen näher, welche nicht nur die Er - fahrung überſchreiten, ſondern ein von allem Sinnfälligen unter - ſchiedenes Reich von geiſtigen Weſenheiten annehmen. Dieſe Speculationen blicken alſo in ein hinter der Sinnenwelt Verborgenes, Weſenhaftes: eine zweite Welt. Die Vor -165Unhaltbarkeit abweichender Beſtimmungen des Begriffs Metaphyſik.ſtellung findet ſich daher bei dem Namen Metaphyſik am ſtärkſten zu der Gedankenwelt eines Plato oder Ariſtoteles, Thomas von Aquino oder Leibniz hingezogen. Und dieſe Idee von Metaphyſik wird durch den Namen ſelber unterſtützt, den auch Kant auf ein Objekt bezog, welches trans physicam gelegen ſei1)Kant 1, 558.. Auch hier wird eine einzelne Beziehung der Metaphyſik einſeitig herausgehoben; in die Welt des Glaubens reichen einige der tiefſten Wurzeln der bezeichneten Klaſſe metaphyſiſcher Syſteme, und aus dieſen ſogen dieſelben einen Theil ihrer Kraft, das Gemüth ganzer Zeitalter zu beherrſchen.
Endlich bezeichnen Schriftſteller jeden Zuſtand von Ueber - zeugung über den allgemeinen objektiven Zuſammenhang der Wirk - lichkeit oder enger über das die Wirklichkeit Ueberſchreitende als Metaphyſik, und ſo ſprechen ſie von einer naturwüchſigen, einer Volksmetaphyſik. Sie drücken richtig eine Verwandtſchaft aus, welche zwiſchen dieſen Ueberzeugungen und der Metaphyſik als Wiſſenſchaft beſteht, aber das Bewußtſein dieſer Verwandtſchaft wird angemeſſener durch eine Anwendung der bezeichneten Aus - drücke in einem übertragenen Sinn bezeichnet, als durch eine ſolche Erweiterung des Wortſinns von Metaphyſik, welche die geſchichtliche Einſchränkung deſſelben auf Wiſſenſchaft aufhebt.
Wir gebrauchen alſo den Ausdruck: Metaphyſik in dem entwickelten von Ariſtoteles geprägten Verſtande. Während nun Wiſſenſchaft überhaupt nur mit der Menſchheit ſelber wieder unter - gehen kann, iſt innerhalb ihres Syſtems dieſe Metaphyſik eine geſchichtlich begrenzte Erſcheinung. Andere Thatſachen des geiſtigen Lebens gehen ihr innerhalb des Zweckzuſammenhangs unſerer intellektuellen Entwicklung voraus, ſie iſt von anderen be - gleitet und wird von ihnen in der Herrſchaft abgelöſt. Der ge - ſchichtliche Verlauf zeigt als ſolche andere Thatſachen: die Religion, den Mythos, die Theologie, die Einzelwiſſenſchaften der Natur und der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit, endlich die Selbſt - beſinnung und die in ihr entſpringende Erkenntnißtheorie. So empfängt das Problem, das uns beſchäftigt, auch die Geſtalt:166Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.welche ſind die Beziehungen der Metaphyſik zu dem Zweckzu - ſammenhang der intellektuellen Entwicklung und den dieſen aus - machenden, anderen großen Thatſachen des geiſtigen Lebens?
Comte hat verſucht, dieſe Beziehungen in einem einfachen Geſetz auszudrücken, welchem gemäß in der intellektuellen Entwick - lung des Menſchengeſchlechts ein Stadium der Theologie abgelöſt worden ſei von einem der Metaphyſik, und dieſes von einem der poſitiven Wiſſenſchaften. Metaphyſik iſt alſo auch für ihn und ſeine weitverbreitete Schule ein vorübergehendes Phänomen in der Geſchichte des fortſchreitenden wiſſenſchaftlichen Geiſtes, wie ſie es für Kant und ſeine Schule in Deutſchland und für John Stuart Mill in England iſt.
Auch Kant hat ſich geſchichtlich mit der Metaphyſik aus - einandergeſetzt, und dieſer tiefſinnigſte Geiſt, den die neueren euro - päiſchen Völker hervorgebracht haben, hat bereits erkannt, daß in der Geſchichte der Intelligenz ein nothwendiger, in der Natur des menſchlichen Erkenntnißvermögens ſelber begründeter Zuſammenhang beſtehe. Der menſchliche Geiſt durchlief drei Stadien; „ das erſte war das Stadium des Dogmatism “(in den gewöhnlichen Sprach - gebrauch übertragen: der Metaphyſik), „ das zweite das des Skep - ticism, das dritte das des Kriticism der reinen[Vernunft]; dieſe Zeitordnung iſt in der Natur des menſchlichen Erkenntnißvermögens gegründet. “ 1)Kant 1, 493.Der Knoten in dieſem Drama des Erkenntnißvor - gangs liegt nach Kant in der oben2)S. 163 f. entwickelten Natur der Ver - nunft, aus ihr entſpringt eine natürliche und unvermeidliche Illuſion, und ſo wird der menſchliche Geiſt in den dialektiſchen Widerſtreit zwiſchen Dogmatism (Metaphyſik) und Skepticism verwickelt, die Auflöſung dieſes Widerſtreits durch Erkenntnißtheorie iſt aber der Kriticism. 3)Kant 2, 241 ff.
Sowohl dieſe Theorie von Kant als die von Comte enthalten eine einſeitige Auffaſſung des Thatbeſtandes. Comte hat die hiſto - riſchen Beziehungen der Metaphyſik zu demjenigen wichtigen Theil der intellektuellen Bewegung, welchen Skepticismus, Selbſtbeſinnung und Erkenntnißtheorie bilden, gar nicht unterſucht; er hat167Problem ihres Verhältniſſes zu den nächſtverwandten Erſcheinungen.die Beziehungen der Metaphyſik zu Religion, Mythos und Theologie ohne die hier nothwendige Zerlegung des zuſammenge - ſetzten Thatbeſtandes behandelt, und ſeine Theorie tritt daher in Widerſpruch mit den Thatſachen der Geſchichte und der Ge - ſellſchaft. Ja ſeine Auffaſſung der Metaphyſik ſelber entbehrt der geſchichtlichen Einſicht in die wahren Grundlagen der Macht derſelben. Kant ſeinerſeits giebt eine Konſtruktion, nicht eine geſchichtliche Darlegung, und dieſe Konſtruktion iſt von ſeinem erkenntnißtheo - retiſchen Standpunkt, innerhalb deſſelben von ſeiner Ableitung alles apodiktiſchen Wiſſens aus den Bedingungen des Bewußtſeins, ein - ſeitig beſtimmt. Die nachfolgende Darlegung analyſirt nur den geſchichtlichen Thatbeſtand; an ſpäterer Stelle kann ihm das Er - gebniß aus der Analyſis des Bewußtſeins zur Beſtätigung dienen.
Niemand kann bezweifeln, daß der Entſtehung der Wiſſen - ſchaften in Europa eine Zeit vorausgegangen iſt, in welcher die intellektuelle Entwicklung ſich in der Sprache, Dichtung und im mythiſchen Vorſtellen ſowie im Fortſchritt der Erfahrungen des praktiſchen Lebens vollzog, dagegen eine Metaphyſik oder Wiſſen - ſchaft noch nicht beſtand1)Turgot hat zuerſt verſucht das Geſetzmäßige in der Entwicklung der Intelligenz zu entwickeln, da Vico’s scienza nuova (1725) ſich auf die Entwicklung der Nationen bezieht. Er geht richtig von der Sprache aus; das mythiſche Vorſtellen bezeichnet ihm dann die erſte Stufe des auf die Urſachen gerichteten Forſchens. „ La pauvreté des langues et la nécessité des métaphores, qui résultoient de cette pauvreté, firent qu’on employa les allégories et les fables pour expliquer les phénomènes physiques. Elles sont les premiers pas de la philosophie. [Oeuvres 2, 272 (Paris 1808) aus den Papieren Turgot’s, die auf ſeine Reden über die Geſchichte von 1750 ſich bezogen.] Les hommes, frappés des phénomènes sensibles, supposèrent que tous les effets indépendans de leur action êtoient produits par des êtres semblables à eux, mais invisibles et plus puissans [2, p. 63]. . — Wir treffen die europäiſche Menſch -168Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.heit, ungeſondert von den kleinaſiatiſchen Griechen, in intimer Wechſelwirkung mit den umgebenden Kulturländern, ſechs Jahr - hunderte v. Chr. im Uebergang zu dem Stadium der Wiſſenſchaft vom Kosmos ſowie der Metaphyſik an. Dieſelben entſtanden alſo in Europa in einer feſtſtellbaren, ja in ihrem Charakter der For - ſchung zugänglichen Zeit, nachdem das mythiſche Vorſtellen eine unabſehbare Zeit hindurch, welche ſich in gänzliches Dunkel ver - liert, geherrſcht hatte. Dieſe lange und dunkle Epoche empfängt nur in ihrem letzten Stadium ein direktes Licht durch erhaltene dichteriſche Werke und durch Ueberlieferungen, welche eine theil - weiſe Rekonſtruktion der verlorenen geſtatten. Was in ihr dieſen Denkmälern vorausliegt, iſt einer vergleichenden Kulturgeſchichte allein zugänglich. Und zwar kann dieſe wol für die indogermaniſchen Völker an der Hand der Sprache Etappen ihrer äußeren Lage, der ſteigenden äußeren Civiliſation, ja vielleicht der Entwicklung der Vorſtellungen erſchließen; ſie kann an der Hand der ver - gleichenden Mythologie die Metamorphoſen von indogermaniſchen Grundmythen aufzeigen, Grundzüge der äußeren Organiſation und des Rechtes errathen. Aber das Innere der Menſchen ſelber in jenem Zeitraum, welchen man im Unterſchied von dem prähiſtoriſchen den prälitterariſchen nennen könnte, d. h. einem Zeitraum, in welchem dichteriſche Werke hinter uns zurückbleiben, entzieht ſich einer hiſto - riſchen Wiederherſtellung. Wenn Lubbock zu erſchließen verſucht, daß alle Völker ein Stadium des Atheismus d. h. der vollſtändigen Ab - weſenheit jeder Art von religiöſer Vorſtellung durchlaufen haben,1)Lubbock, Entſtehung der Civiliſation. Deutſche Ausg. 1875. S. 172 vergl. 170. oder Herbert Spencer, daß aus Ideen von den Todten alle Reli - gion erwachſen ſei2)Spencer, Syſtem der Philoſophie, Bd. VI, zuſammengefaßt S. 504 ff.: ſo ſind dies die Orgien eines die Grenzen des Erkennens mißachtenden Empirismus. An den Grenzpunkten der Geſchichte kann man eben auch nur dichten, wie an jedem andern Grenzpunkt der Erfahrung. Wir ſchränken uns alſo zu - nächſt auf den Zeitraum ein, innerhalb deſſen litterariſche Denkmale das Innere des Menſchen erblicken laſſen.
169Unterſcheidung der Religion vom mythiſchen Vorſtellen.Indem wir dieſe Grenzen des hiſtoriſchen Erkennens ein - halten, iſt uns innerhalb ihrer zunächſt durch das Verhältniß von Nebeneinanderbeſtehen und Aufeinanderfolge der großen Thatſachen des geiſtigen Lebens eine Unterſcheidung von Mythos und Religion gegeben. Der Mangel derſelben iſt der erſte Grund der Fehlerhaftigkeit des Comte’ſchen Geſetzes. Das religiöſe Erlebniß ſteht zu dem Mythos und der Theologie, der Metaphyſik und der Selbſtbeſinnung in einem viel verwickelteren Verhältniß, als Comte angenommen hat. Hievon überzeugt uns die Betrachtung des gegen - wärtigen geiſtigen Zuſtandes; mußte doch Comte an ſeinem eignen Syſtem im 19. Jahrhundert die Erfahrung machen, daß daſſelbe über die zweite Stufe der Metaphyſik in den Geiſteswiſſenſchaften nicht hinauskam, ſchließlich aber durch eine Art von wiſſenſchaft - lichem Atavismus auf die erſte, die theologiſche Stufe zurückſank. Deutlicher noch ſpricht die Geſchichte gegen Comte. Der Zeitraum der Alleinherrſchaft mythiſchen Vorſtellens ging bei den griechiſchen Stämmen vorüber; aber das religiöſe Leben blieb und fuhr fort wirkſam zu ſein. Die Wiſſenſchaft erwachte langſam; das my - thiſche Vorſtellen beſtand neben ihr fort, und, wo das religiöſe Leben den herrſchenden Mittelpunkt der Intereſſen bildete, bediente es ſich mancher von der Wiſſenſchaft entwickelter Sätze. Ja jetzt geſchah es, daß das religiöſe Leben in tief von ihm bewegten Naturen, wie Xenophanes, Heraklit, Parmenides waren, an dem metaphyſiſchen Denken eine neue Sprache fand. Es überlebte aber auch dieſe Art ſeines Ausdrucks. Denn auch die Meta - phyſik iſt vergänglich, und die Selbſtbeſinnung, welche die Me - taphyſik auflöſt, findet in ihrer Tiefe abermals — das religiöſe Erlebniß.
So zeigt das empiriſche Verhältniß von Zuſammenbeſtehen und Aufeinanderfolge der großen Thatſachen, die in der Geſchichte der Intelligenz verwebt ſind: das religiöſe Leben iſt ein Thatbeſtand, welcher gleicherweiſe mit dem mythiſchen Vorſtellen wie mit der Metaphyſik und mit der Selbſt - beſinnung verbunden iſt. Daſſelbe muß, wie eng auch die Art ſeiner Verbindung mit dieſen letzteren Erſcheinungen ſein mag,170Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.von denſelben als ein Thatbeſtand viel umfaſſenderer Verbreitung abgeſondert werden. Und zwar findet ſich nicht nur in dem - ſelben Zeitalter, ſondern in demſelben Kopf, ohne Widerſpruch, religiöſes Leben, mythiſches Vorſtellen und metaphyſiſches Denken vereinigt; dies war bei vielen griechiſchen Denkern der Fall; mit grandioſem Ernſt ringen ein Heraklit, Parmenides und Plato, die Mythenſprache ihrer Gedankenwelt gemäß zu geſtalten. Es findet ſich in demſelben Kopf mit der Metaphyſik auch Theo - logie und religiöſes Erleben verbunden, dies war bei vielen mittel - alterlichen Denkern der Fall. Nur kann nicht dieſelbe Thatſache zugleich mythiſch vorgeſtellt und gedankenmäßig erklärt werden. Dieſe Verhältniſſe ſondern noch deutlicher religiöſes Leben von mythiſchem Vorſtellen.
Für den vorliegenden Zweck einer erfahrungsmäßigen Dar - legung würde eine Beſtimmung des Begriffs von religiöſem Leben uns leicht dem Verdacht einer Konſtruktion ausſetzen: es genügt, den vorhandenen Thatbeſtand deſſelben zu umſchreiben und zu bezeichnen. Das Vorhandenſein von Erlebniß, von innerer Erfahrung überhaupt kann nicht geleugnet werden. Denn dieſes unmittelbare Wiſſen iſt der Erfahrungsinhalt, deſſen Analyſis alsdann Kenntniß und Wiſſenſchaft der geiſtigen Welt iſt. Dieſe Wiſſenſchaft beſtünde nicht, wenn inneres Er - lebniß, innere Erfahrung nicht vorhanden wären. Nun ſind Er - fahrungen ſolcher Art die Freiheit des Menſchen, Gewiſſen und Schuld, alsdann der alle Gebiete des inneren Lebens durchziehende Gegenſatz des Unvollkommenen und Vollkommenen, des Vergäng - lichen und Ewigen ſowie die Sehnſucht des Menſchen nach dem letzteren. Und zwar ſind dieſe inneren Erfahrungen Beſtandtheile des religiöſen Lebens. Daſſelbe umfaßt aber zugleich das Bewußt - ſein einer unbedingten Abhängigkeit des Subjekts. Schleiermacher hat den Urſprung dieſes Bewußtſeins im Erlebniß aufgezeigt. Neuerdings hat Max Müller dieſer Theorie eine feſtere empiriſche Grundlage zu geben verſucht. „ Wenn es uns zu kühn klingt, zu ſagen, daß der Menſch wirklich das Unſichtbare ſieht, ſo ſagen wir, daß er den Druck des Unſichtbaren merkt, und dieſes Unſichtbare iſt eben171Der Thatbeſtand des religiöſen Lebens.nur ein beſonderer Name für das Unendliche, mit dem der Natur - menſch ſo ſeine erſte Fühlung gewinnt. “ 1)Max Müller, Urſprung und Entwickelung der Religion. S. 41.Und ſo führt die Be - trachtung religiöſer Gemüthszuſtände überall auf die Verwebung der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von der Natur unabhängigen Lebens zurück.
Das Merkmal des religiöſen Lebens iſt, daß es ſich kraft einer anderen Art von Ueberzeugung behauptet, als die wiſſenſchaftliche Evidenz iſt. Der religiöſe Glaube verweiſt allen Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das Gemüth noch gegenwärtig in ſich erleben kann, und das, was ihm geſchichtlich widerfahren iſt. Er iſt weder vom Raiſonnement ge - tragen noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entſpringt in der Totalität aller Gemüthskräfte, und auch nachdem der Differenzirungs - prozeß des geiſtigen Lebens die Poeſie, die Metaphyſik, wie die Wiſſenſchaften zu relativ ſelbſtändigen Formen dieſes geiſtigen Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöſe Erlebniß in der Tiefe des Gemüths fortbeſtehen und wirkt auf dieſe Formen. Denn nie wird das Erkennen, welches in den Wiſſenſchaften thätig iſt, des urſprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wiſſen dem Gemüth gegenwärtig iſt. Das Erkennen arbeitet an dieſem Erlebniß ſozuſagen von außen nach innen. Aber mag es auch immer neue Thatſachen dem Gedanken und der Nothwendigkeit unterwerfen — und das iſt ſeine Funktion —: mit zäher Kraft des Widerſtandes erhalten ſich ihm gegenüber im Bewußtſein freier Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: ſie bleiben ſtehen, ob ſie gleich dem nothwendigen Zuſammenhang in dem Erkennen widerſprechend ſind. Wol muß das Erkennen dem in ihm liegenden Geſetz gemäß ſeinen Gegenſtand der Nothwendigkeit unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum Alles Gegenſtand werden, muß oder kann Alles von ihm erkannt werden?
Dieſe Einſicht, daß das religiöſe Leben der dauernde Untergrund der intellektuellen Entwick - lung iſt, nicht eine vorübergehende Phaſe im Sinnen der Menſch -172Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.heit, wird ſpäter durch die pſychologiſche Zergliederung vervoll - ſtändigt werden. Hiſtoriſch iſt dieſes Verhältniß für die be - reits abgelaufene Entwicklung nur innerhalb eines begrenzten Zeit - raums nachweisbar. Es kann nicht hiſtoriſch dargethan werden, daß das religiöſe Leben, wie wir es ſolchergeſtalt als den Untergrund des geſchichtlichen Lebens in Europa feſtſtellen können, zu jeder Zeit einen Beſtandtheil der menſchlichen Natur gebildet habe. Nur ſo viel ergiebt ſich aus dem bisher Entwickelten: wenn die Thatſachen uns zwängen, an irgend einem Punkte der ſich rück - wärts erſtreckenden Linie des geſchichtlichen Verlaufs einen reli - gionsloſen Zuſtand (Religion in dem Sinne des urſprünglichen religiöſen Erlebniſſes genommen, in welchem ſie das Bewußtſein von gut und böſe und die Beziehung hiervon auf einen Zu - ſammenhang, von dem der Menſch abhängig iſt, bereits ent - hält) anzunehmen — was jedoch nicht der Fall iſt ‒, alsdann würde dieſer Punkt zugleich ein Grenzpunkt des hiſtoriſchen Verſtehens ſein. Wir könnten über eine ſolche Zeit wol hiſtoriſche Notizen haben, aber dieſelbe läge jenſeit der Grenzen unſeres hiſto - riſchen Verſtändniſſes. Denn wir verſtehen nur vermittelſt der Uebertragung unſerer inneren Erfahrung auf eine an ſich todte äußere Thatſächlichkeit. Wo nun unableitbare Beſtandtheile der inneren Erfahrung, durch welche der Zuſammenhang dieſer Er - fahrung in unſerem Bewußtſein erſt möglich iſt, in einem hiſto - riſchen Zuſtande als abweſend aufgefaßt werden ſollen, da ſind wir eben an der Grenze des hiſtoriſchen Auffaſſens ſelber an - gelangt. Hiermit iſt nicht ausgeſchloſſen, daß ein ſolcher Zuſtand beſtanden habe. Es wäre möglich, daß Beſtandtheile der inneren Erfahrung, ob ſie gleich für uns nicht ableitbar ſind, dennoch nicht primär wären, und die Erkenntnißtheorie hat eine ſolche Möglich - keit zu prüfen. Aber das iſt ausgeſchloſſen, daß wir ihn verſtehen und von ihm aus einen Zuſtand, in welchem dieſer unableitbare Beſtandtheil alsdann auftritt, verſtändlich machen könnten; aus - geſchloſſen alſo iſt das hiſtoriſche Verſtändniß eines religionsloſen Zuſtandes und der Entſtehung des religiöſen Zuſtandes aus ihm. Hervorragende neuere empiriſtiſche Schriften über die Anfänge der173Das religiöſe Leben als beſtändige Unterlage der Kultur.Kultur in England und bei uns verfallen daher in den folgenden Widerſpruch. Sie finden unableitbare Thatſachen der inneren Er - fahrung in dem primären Zuſtande der Menſchheit noch nicht vorhanden, aber ſie wollen weder darauf verzichten, dieſen Zuſtand hiſtoriſch zu verſtehen, noch darauf, den folgenden aus ihm ab - zuleiten.
So weit alſo überhaupt die Verbindung nackter Fakta zu geſellſchaftlicher Erfahrung reicht, gab es keine Zeit, in welcher nicht das Individuum, wie es ſich fand, ſich nur als fortbeſtehend, rückwärts beſtimmt, ſonach unbedingt abhängig gefunden hätte, alsdann den Horizont der Welt ſelber nach allen Seiten, ſinn - lich geſehn, urſächlich aufgefaßt, als in die Unendlichkeit zer - fließend1)Den Ausgangspunkt dieſes pſychologiſchen Thatbeſtandes hat Schleiermacher auf unanfechtbare Weiſe feſtgelegt. Dies bildet ſein un - vergängliches Verdienſt; er hat die intellektualiſtiſche Begründung der Religion auf Raiſonnement des Verſtandes, welches an der Hand der Begriffe Urſache, Verſtand und Zweck geht, als ſecundär aufgezeigt; er hat gezeigt, wie das Selbſtbewußtſein Thatſachen enthält, welche den Anſatzpunkt alles religiöſen Lebens bilden. Dogmatik § 36, 1. (3. Aufl.) „ Wir finden uns ſelbſt immer nur im Fortbeſtehen, unſer Daſein iſt immer ſchon im Verlauf begriffen; mithin kann auch unſer Selbſtbewußtſein, ſofern wir von allem anderen abgeſehen uns nur als endliches Sein ſetzen, dieſes nur in ſeinem Fortbeſtehen repräſentiren. In dieſem aber auch ſo vollſtändig — weil nämlich das ſchlechthinige Abhängigkeitsgefühl ein ſo allgemeiner Be - ſtandtheil unſeres Selbſtbewußtſeins iſt — daß wir ſagen können, in welcher Art des Geſammtſeins und in welchen Zeitpunkt wir auch möchten geſtellt ſein, wir würden in jeder vollſtändigen Beſinnung uns immer nur ſo finden, und daß wir dieſes auch immer auf das geſammte endliche Sein über - tragen. “ Sein Fehler lag darin, daß dieſer tiefe Blick ihn nicht beſtimmte, nunmehr mit der intellektualiſtiſchen Metaphyſik zu brechen und der Phi - loſophie eine ſeinem Ausgangspunkt entſprechende, pſychologiſche Grundlage zu geben. So verfiel er dem Platonismus und der mächtigen Zeitſtrömung der Naturphiloſophie.. Es gab keine Zeit, in welcher nicht die freie Spontaneität des Menſchen mit dem Anderen, deſſen Druck ihn umgab, gerungen hätte, und auch die mythiſchen Vorſtellungen haben in dem Willen ihre ſtarken Wurzeln. Keine Zeit beſtand, in welcher der Menſch nicht im Gegenſatz zu ſeinem armen Leben Bilder von etwas Reinerem und Vollkommnerem beſaß. Und174Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.Alles, was der Menſch wirkend fand, zeigte dem Gemüth, das Luſt und Wehe empfindet, hofft und fürchtet, dem Willen, der liebt und haßt, ein doppeltes Angeſicht. Dies Alles iſt Leben, nicht ſchließendes Erkennen. Sobald dieſe unableitbaren Beſtandtheile meines eigenen Lebens, meiner inneren Erfahrung ſich mit den hiſtoriſchen Thatſachen, und zwar den durch ſichere Schlüſſe verbürgten Thatſachen, nicht mehr zu geſchichtlichem Ver - ſtändniß zuſammenſchließen, bin ich an der Grenze des geſchicht - lichen Verfahrens angelangt. An dieſem Punkte beginnt das Reich des geſchichtlich Transſcendenten. Denn auch das geſchichtliche Ver - fahren hat eine innere, im Bewußtſeinsvorgang ſelber liegende und darum unverrückbare Grenze, ſo gut, als die naturwiſſenſchaft - liche Erkenntniß eine ſolche hat. Da es in dem gegenwärtigen Be - wußtſein vermittelſt der geſchichtlichen Fakten die Schatten der Ver - gangenheit erſcheinen läßt, ſo vermag es nur aus dem Leben und der Realität dieſes Bewußtſeins ihnen ihre Wirklichkeit mitzutheilen.
So weit konnte hier, vor der pſychologiſchen Analyſis, der wichtige Satz feſtgeſtellt werden, welchem gemäß das religiöſe Leben der beſtändige Untergrund der uns geſchichtlich bekannten intellektuellen Entwicklung iſt. Wir finden nun das religiöſe Leben mit dem mythiſchen Vorſtellen in dem Zeitraume von der uns erhaltenen epiſchen Dichtung der Griechen ab bis zu dem Auftreten der Wiſſenſchaft in einer beſtimmten Weiſe verbunden. Aus dem, was über die Art dieſer Verbindung noch feſtgeſtellt werden kann, entnehmen wir wenige und ganz allgemeine Züge, welche für die Anſchauung des Zweckzuſammen - hangs der intellektuellen Geſchichte nothwendig ſind.
Das mythiſche Vorſtellen geſtaltet einen realen und lebendigen Zuſammenhang der den Menſchen jener Tage be - ſonders bedeutſamen Phänomene. Hiermit leiſtet es etwas, was das Wahrnehmen, Vorſtellen, Wirken, welche mit den Objekten in täg - lichem Verkehr ſtehen, ſowie die Sprache nicht leiſten. Wol ver - knüpfen Wahrnehmen und Vorſtellen überall die Eindrücke zu Dingen, welchen Eigenſchaften, Zuſtände, Thätigkeiten zukommen; zwiſchen175D. mythiſche Vorſtellen bringt einen realen Zuſammenh. d. Phän. hervor.dieſen ſetzen ſie Verhältniſſe, insbeſondere das von Urſache und Wir - kung. So nachdrücklich als möglich muß man ſich gegen Auffaſſungen verwahren, welche dieſe aus dem täglichen Kleinverkehr mit den Ob - jekten entſpringenden Züge unſerer Vorſtellungsweiſe in der Zeit der Mythenbildung in eine allgemeine Lebendigkeit des Welt - zuſammenhangs aufgelöſt vorſtellen. Wol iſt ferner das frühe Be - wußtſein der ſo entſtehenden Beziehungen in der Sprache aus - gedrückt worden. Das Wurzelverhältniß, die Sonderung der Wort - arten, der Caſus, Tempora etc., die ſyntaktiſche Gliederung, die Unterordnung von Thatſachen unter Namen von Allgemeinvor - ſtellungen: dies Alles bildet Beziehungen ab, welche an der Wirklichkeit aufgefaßt und unterſchieden worden ſind. Das ſpätere philoſophiſche Denken knüpft in vielen Punkten an die Sprache an; das mythiſche Vorſtellen iſt mit ihr in tiefen Bezügen ver - webt. Dennoch iſt, was hier geleiſtet wird, gänzlich verſchieden von der Herſtellung des realen und allgemeinen Zuſammen - hangs zwiſchen den für die Menſchen jener Tage bedeutſamen Phänomenen, welche im mythiſchen Vorſtellen vollbracht wird. Die Funktion des mythiſchen Vorſtellens iſt daher in dieſer Zeit der analog, welche die Metaphyſik für einen ſpäteren Zeitraum hat. Nicht die Religion, nicht das in ihr geſetzte Bewußtſein Gottes bezeichnet ein ſolches erſtes Stadium, daher auch nicht die Vorſtellung des Supranaturalen: ſie bilden vielmehr die beſtändige Bedingung des geiſtigen Lebens der Menſchheit. Comte’s Theorem von dem erſten Stadium der geiſtigen Entwicklung, das er als das theologiſche bezeichnet, iſt daher unhaltbar, weil es die Funktion des mythiſchen Vorſtellens im Zuſammenhang der geiſtigen Ent - wicklung nicht von der Stellung der Religion in dieſem Zu - ſammenhang ſondert. Und die Annahme von dem beſtändig in der Geſchichte abnehmenden und allmälig vor der Wiſſenſchaft verſchwindenden Einfluß religiöſer Vorſtellungen auf die euro - päiſche Geſellſchaft iſt von dem Verlauf der Geſchichte nicht be - ſtätigt worden.
Und zwar zeigt das mythiſche Vorſtellen eine relative Selbſtändigkeit dem religiöſen Leben gegenüber. 176Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.Zwar ruht der reale Zuſammenhang von Phänomenen, welchen es geſtaltet, auf dem religiöſen Leben: dieſes iſt in ihm die alles Sichtbare überſchreitende Lebensmacht. Aber dieſer Zuſammenhang iſt nicht in der religiöſen Erfahrung allein gegründet. Er iſt eben - ſo bedingt durch die Art, wie den Menſchen jener Tage die Wirk - lichkeit gegeben iſt. Dieſe iſt für ſie als Leben da, bleibt ihnen Leben, wird nicht durch Erkennen zu einem Objekt des Verſtandes. Daher iſt ſie an allen Punkten Wille, Fakticität, Geſchichte, d. h. lebendige urſprüngliche Realität. Da ſie für den ganzen leben - digen Menſchen da iſt und noch keiner verſtandesmäßigen Ana - lyſis und Abſtraktion, ſonach Verdünnung unterworfen wird: ſo iſt ſie entſprechend ſelber Leben. Und wie ſolchergeſtalt der Zuſammenhang, welchen das mythiſche Vorſtellen bildet, nicht allein aus dem religiöſen Leben entſpringt, ſo kann auch der Inhalt des letzteren nie ganz in der Vorſtellungsform der Mythen ſich erſchöpfen. Leben geht nie in Vorſtellung auf. Das religiöſe Erlebniß bleibt vielmehr das ewig Innere; in keinem Mythos und keiner Vorſtellung eines Gottes findet es daher einen adäquaten Ausdruck. Wie denn daſſelbe Verhältniß auf einer höheren Stufe zwiſchen der Religion und der Metaphyſik ſtattfindet.
So hat die Mythenſprache für die vorwiſſenſchaftliche Zeit z. B. der griechiſchen Stämme eine über den Ausdruck des religiöſen Lebens hinausreichende Bedeutung. Die Grundmythen der indogermaniſchen Völker, wie ſie die vergleichende Mythologie feſtzuſtellen bemüht iſt, gleichen hierin den Wurzeln ihrer Sprachen, daß ſie relativ ſelbſtändige Mittel des Ausdrucks ſind, welche ſich in dem Wechſel der religiöſen Zuſtände als konſtante Dar - ſtellungsmittel erhalten. Sie dauern in immer neuen Metamor - phoſen (deren Geſetze aus denen der Phantaſie fließen), welchen Wechſel auch die Vorſtellungen von den Göttern und das ihnen zu Grunde liegende religiöſe Bewußtſein erfahren. Sie walten ſo ſelbſtändig in der Phantaſie dieſer Völker, daß ſie in derſelben nicht erlöſchen, auch wenn der Glaube erliſcht, der in ihnen ſich ausdrückte.
Sie dienen in relativer Selbſtändigkeit einem über das reli - giöſe Bewußtſein hinausreichenden Bedürfniß, die Phänomene der177Relative Selbſtändigkeit des Mythus gegenüber der Religion.Natur ſowohl als der Geſellſchaft in Zuſammenhang zu bringen und eine erſte Art von Erklärung derſelben zu geben. Hier tritt uns die älteſte Form des allgemeinen Verhältniſſes entgegen, in welchem der religiöſe Untergrund der intellektuellen Entwicklung Europas zu der in ihr wirkſamen Richtung auf eine zuſammen - hängende Verknüpfung und Erklärung der Phänomene ſteht. Die Art der Erklärung iſt höchſt unvollkommen; der Zuſammenhang der Phänomene wird als ein Willenszuſammenhang, ein In - einandergreifen lebendiger Regungen und Handlungen erfahren und angeſchaut. Sie vermochte daher nur eine abgegrenzte Zeit hindurch die intellektuelle Entwicklung dieſer jugendſtarken Stämme in ſich zu faſſen: alsdann zerſprengte die Richtung auf Erklärung die unvollkommene Hülle.
Der geſchichtliche Verlauf, in welchem dies geſchah, in welchem aus mythiſchem Vorſtellen die wiſſenſchaftliche Erklärung des Kosmos entſtand, iſt uns nach ſeinem urſächlichen Zuſammenhang nur ſehr unvollkommen bekannt. Mindeſtens über drei Jahrhunderte liegen zwiſchen den homeriſchen Gedichten, nach den Anſätzen der namhafteſten Forſcher der alexandriniſchen Zeit, und der Ge - burt des erſten, welcher nach der Ueberlieferung eine wiſſen - ſchaftliche Erklärung der Welt verſuchte: des Thales. Ein Zeit - genoſſe des Solon, lebte er in der zweiten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts und in der erſten Zeit des ſechſten vor Chriſtus. In dieſem langen und dunklen Zeitraum von den homeriſchen Gedichten bis auf Thales ſchritt, ſoviel können wir urtheilen, die Entwicklung des aufklärenden Geiſtes in zwei Rich - tungen voran.
Die Erfahrung, welche in den Aufgaben des Lebens, ins - beſondere der Induſtrie und dem Handel erwuchs, unterwarf einen immer zunehmenden, räumlichen Bezirk der Erde undDilthey, Einleitung. 12178Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.innerhalb deſſelben einen immer anwachſenden Kreis von Thatſachen ihrer Herrſchaft, d. h. der Einwirkung, der Vor - ausſage ſowie der Einſicht in die Nothwendigkeit des Zu - ſammenhangs. Und ſie benutzte hierbei den Erwerb von Völkern älterer Kultur, mit welchen die Griechen in Verbindung ſtanden. Die Frage iſt transſcendent, ob es je eine Zeit gab, in welcher nicht in irgend einem Umfange, irgend einer Geſtalt die Abſon - derung eines Bezirks von Erfahrung von dem des mythiſchen Vorſtellens ſtattfand. Aber der Fortſchritt iſt eine feſtſtellbare That - ſache, welcher in dem weiteren Verlauf des mythiſchen Vorſtellens ſichtbar iſt und einerſeits die Wiſſenſchaft vorbereitete, andrerſeits die mythiſche Welt in ihrem Inneren umgeſtaltete: die lebendigen Kräfte, welche der affektiv bewegte Menſch als die Hand des Un - endlichen auf ihm empfand, fürchtete, liebte, wurden immer mehr an den Horizont des ſich erweiternden Umkreiſes von natürlichem Geſchehen gedrängt; von wo ſie ſich in das Dunkel verloren.
Schon in der homeriſchen Dichtung finden wir die mythiſche Welt im Zurückweichen begriffen. Die göttlichen Gewalten bilden eine Ordnung für ſich, einen göttlichen Familienzuſammenhang mit ſtaatlichem Gefüge der Willensverhältniſſe; ihre eigentlichen Sitze ſind von dem Bezirk der gewöhnlichen Arbeit eines da - maligen Griechen in Ackerbau, Induſtrie und Handel getrennt; ſie verweilen nur zeitweilig in dieſem Bezirk, vornemlich in vor - übergehendem Beſuch in ihren Tempeln, und ihre Einwirkung auf das dem Erfahren und dem Gedanken unterworfene Gebiet wird zum ſupranaturalen Eingriff. Auch werden keine Vermählungen zwiſchen den olympiſchen Göttern und den Menſchen mehr aus der Zeit der troiſchen und nachtroiſchen Ereigniſſe in den homeriſchen Dichtungen berichtet. Ja es findet ſich in dieſen Dichtungen ein beſtimmtes Bewußtſein über die Abnahme des Verkehrs zwiſchen Göttern und Menſchen. So breitete die fortſchreitende Aufklärung den Umkreis, den die natürliche Erklärung beherrſcht, immer weiter aus und machte die Geiſter immer mehr ſkeptiſch gegenüber der Annahme von ſupranaturalen Eingriffen.
Und zwar ſteht dieſer Fortgang in Zuſammenhang mit einer179Zwei Richtungen des über den Mythus hinausſchreitenden Geiſtes.Veränderung des Lebensgefühls. Die Lebensordnung des heroiſchen Königthums verfiel, die epiſche Dichtung, die ihr Ausdruck ge - weſen war, erſtarrte. Das Lebensgefühl, welches den veränderten politiſchen und ſocialen Ordnungen entſprach, verkündete ſich in der Elegie und dem Jambus mit freier Macht: das bewegte Innere der Perſon wurde zum Mittelpunkt des Intereſſes. In der lyriſchen Dichtung ſind, wenigſtens aus der Zeit des Thales, ſo - gar Spuren, welche das Vertrauen auf die Götter zurücktretend hinter dieſem ſelbſtändigen Lebensgefühl zeigen1)Mimnermus fragm. 2. Bergk II 4, 26.. Und an die Blüthe der Gefühlsdichtung ſchloß ſich die Sittenbetrachtung, in welcher der Geiſt den Bezirk der ſittlichen Erfahrungen ſich unterwarf.
Die andere Richtung, in welcher der erklärende Geiſt voranſchritt, iſt noch in den Ueberreſten der Litteratur von Theo - gonien ſichtbar. Die uns erhaltene Theogonie des Heſiod, unter ihnen die wichtigſte, lag, mindeſtens in ihrem Kern, ſchon den erſten Philoſophen vor. Die erklärende Richtung geſtaltete in dieſen Theogonien aus dem Stoff des mythiſchen Vorſtellungs - kreiſes einen inneren, durch Zeugungen voranſchreitenden Zu - ſammenhang des Weltprozeſſes. Und zwar ſpielt ſich dieſer Welt - prozeß weder als eine bloße Beziehung von Willensgewalten noch als ein aus allgemeinen Naturvorſtellungen geknüpfter Zuſammen - hang ab. Nacht, Himmel, Erde, Eros ſind Vorſtellungen, welche zwiſchen Naturthatſache und perſönlicher Macht in dämmern - dem Zwielicht ſtehen. Aus dem Perſönlichen wanden allgemeine Vorſtellungen von einem natürlichen Zuſammenhang ſich los.
Dieſe beiden Richtungen des Geiſtes zerſtörten den Zuſammenhang der Welt, welchen das mythiſche Denken entworfen hatte. Das Andere, welches wir unſerem Selbſt als Natur gegenüberſtellen, empfängt ſeinen lebendigen Zuſammenhang aus dem Selbſtbewußtſein, in welchem es da iſt. Dieſer Zuſammen - hang wird in voller Lebendigkeit von dem mythiſchen Denken erfaßt, aber vor dem Gedanken hält ſeine Wahrheit nicht Stand;12*180Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung der Stoffe, in der Abfolge der Weltzuſtände, in dem Spiel der Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu - ſammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der Willen von Perſonen gelegen iſt, wird nothwendig. Und ſo be - ginnt die Arbeit, dieſen Zuſammenhang gedankenmäßig, der Wirk - lichkeit entſprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge - bunden, Bewegung im Raum: dies Alles iſt der Anſchauung gegeben, und es ſoll nun in ſeinem Zuſammenhang erkannt werden.
Ein langer und mühſamer Weg erfahrenden und verſuchen - den Denkens beginnt, und, an ſeinem Ende angekommen, werden wir ſagen: Dies Andere, welches Natur iſt, kann ſo wenig in Gedankenelemente aufgelöſt und durch ſie gänzlich erkannt werden, als es im mythiſchen Vorſtellen durchdrungen wurde. Es bleibt undurchdringbar, da es eine in der Totalität unſerer Gemüthskräfte gegebene Thatſächlichkeit iſt. Es giebt keine metaphyſiſche Erkenntniß der Natur.
Dies Alles ſtand bevor; aber wir verfolgen zunächſt, wie, durch die beiden bezeichneten Richtungen allmälig vorbereitet, nun - mehr die große Thatſache einer wiſſenſchaftlichen Erklärung des Kosmos hervortrat. Im ſechſten Jahr - hundert iſt dieſe Thatſache entſtanden, indem in den joniſchen und italiſchen Kolonien der Griechen zu dieſer Zeit elementare mathe - matiſche und aſtronomiſche Einſichten und Verfahrungsweiſen auf das Problem angewandt wurden, welches auch das mythiſche Vorſtellen beſchäftigt hatte: die Entſtehung des Kosmos. Die joniſchen Kolo - nialſtädte waren in rapider Entwicklung zu demokratiſchen Ver - faſſungen und zur Entfeſſelung aller Kräfte vorangeſchritten. Durch die Organiſation ihres Kultusrechtes war die geiſtige Bewegung in ihnen weniger von dem Prieſterthum abhängig, als in den ſie um - gebenden, alten orientaliſchen Kulturſtaaten. Und nun gab der in ihnen aufgehäufte Reichthum unabhängigen Männern die Muße und die Mittel der Forſchung. Denn die ſelbſtändige Entwicklung der einzelnen Zweckzuſammenhänge in der menſchlichen Geſellſchaft iſt181Entſtehung der Wiſſenſchaft.an die Verwirklichung derſelben durch eine beſondere Klaſſe von Perſonen gebunden. Nun war aber erſt mit dem Anwachſen des Reichthums die Bedingung dafür geſchaffen, daß einzelne Perſonen ſich ganz und in geſchichtlicher Kontinuität dem Erkennen der Natur widmeten. Dieſen unabhängigen, weltbewanderten Männern öffneten ſich durch eine weltgeſchichtliche Fügung ſeltenſter Art zu derſelben Zeit die uralten Stätten der Kultur im Orient, insbeſondere während der zweiten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts Egypten. Die Geo - metrie, wie ſie ſich als eine praktiſche Kunſt und eine Summe einzelner Sätze in Egypten entwickelt hatte, und die Tradition langer aſtro - nomiſcher Beobachtung und Aufzeichnung, wie ſie auf den Stern - warten des Oſtens beſtand, wurden nun von ihnen zu einer Orientirung in dem Weltraume benutzt, deſſen Bild das mythiſche Vorſtellen überliefert hatte.
Damit traten die Griechen in eine geiſtige Bewegung ein, deren größerer, in den Orient zurückreichender Zuſammenhang uns bis jetzt unzureichend bekannt iſt. Sie iſt aber durch den Zweckzuſammenhang des Erkennens bedingt. Die Wirklichkeit kann nur durch Ausſonderung einzelner Theilinhalte ſowie durch die abgeſonderte Erkenntniß derſelben dem Gedanken unterworfen werden; denn in ihrer komplexen Form iſt ſie für denſelben nicht anfaßbar. Die erſte Wiſſenſchaft, welche durch dies Verfahren entſtand, iſt die Mathematik geweſen. Raum und Zahl ſind von der Wirklichkeit früh abgeſondert worden, und ſie ſind einer rationalen Behandlung ganz zugänglich. Die Betrachtung begrenzter Flächen und Körper wird leicht aus der Anſchauung der wirklichen Dinge abſtrahirt; von ſolchen abgeſchloſſenen Gebilden ging die geometriſche Unterſuchung aus; Geometrie und Zahlenlehre waren gemäß der Natur ihres Gegenſtandes die erſten Wiſſenſchaften, welche zu klaren Wahrheiten gelangten. Dieſer Gang der Analyſis der Wirklichkeit war vor dem Eintreten der Griechen in den Zuſammenhang des Erkennens ſchon eingeſchlagen, nun kam ihm die Eigenthümlichkeit des griechiſchen Geiſtes entgegen. Anſchauungskraft und Formſinn bildeten die auszeichnenden Eigenthümlichkeiten dieſes Geiſtes; dies zeigt ſich182Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.höchſt auffallend in dem anſchaulich klaren und folgerichtigen Bilde des Weltalls, das bereits die homeriſchen Epen enthalten. So löſte nun die beginnende griechiſche Wiſſenſchaft, insbeſondere in der pythagoreiſchen Schule, die Unterſuchung der räumlichen und Zahlen-Verhältniſſe ganz los von den praktiſchen Aufgaben und unterſuchte dieſelben ohne jede Rückſicht auf Anwendbarkeit. Entſprechend ging die beginnende Aſtronomie von der Kon - ſtruktion der Weltkugel aus und begann Linien auf ihr zu ziehen. Mathematik, insbeſondere Geometrie ſowie deſkriptive Aſtronomie, in einem ſpäteren Zeitraum hinzutretend Logik, als Theorien, welche gewiſſermaßen in der Region reiner und angewandter Formen anſchauend verweilen, bilden die vollkommenſten intellektuellen Leiſtungen des griechiſchen Geiſtes.
Hundert Jahre dieſer fortſchreitenden Entwicklung der grie - chiſchen Wiſſenſchaft verfloſſen, bevor dieſe Phyſiker die Natur der erſten Urſachen, aus denen ſie den Kosmos ableiteten, einer ſtrengeren und allgemeineren Betrachtung unterwarfen. Und dies war doch die Bedingung für die Entſtehung einer abgeſonderten Wiſſenſchaft der Metaphyſik. Finden wir Thales im erſten Drittel des ſechſten Jahrhunderts auf der Höhe ſeiner Thätigkeit, ſo reichen Leben und Wirkſamkeit des Heraklit und Parmenides, welche dieſen Fortſchritt machten, eine geraume Zeit in das fünfte Jahrhundert hinein.
Dieſe hundert Jahre hindurch ſteht die fortſchreitende Orien - tirung im Weltall durch die Hilfsmittel von Mathematik und Aſtronomie im Vordergrund der Intereſſen; an ſie ſchließen ſich Verſuche, einen Anfangszuſtand und Realgrund deſſelben feſt - zuſtellen. Das umblickende Auge des Menſchen findet ſich, zumal wo die See weite Ausſicht gewährt, auf einer im Kreis des Horizontes ſich abſchließenden Ebene, über welcher die Halbkugel des183Die älteſte griech. Wiſſenſchaft geht von der Orientirung im Weltraum aus.Himmels ſich wölbt. Geographiſche Kunde beſtimmt die Aus - dehnung dieſes Erdkreiſes und die Vertheilung von Waſſer und Land auf demſelben. Schon gemäß einer Anſchauung der auf der See heimiſchen Griechen homeriſcher Zeit wurde nun als die Geburtsſtätte von Allem das Waſſer, das Meer angeſehen. — Hier knüpfte Thales an. Der die Erdſcheibe umfließende Okeanos Homers dehnte ſich in ſeiner Anſchauung aus: auf dem Waſſer ſchwimmt dieſe Erdſcheibe, aus ihm iſt Alles hervorgetreten. Vor Allem wurde das Werk der Orientirung in dieſem kosmiſchen Raume von Thales gefördert, und hier lag der weſenhafte Kern deſſen, was geſchah. Anaximander ſetzte dieſes Werk fort, entwarf eine Erdtafel, führte den Gebrauch des Gnomon ein, welcher zu jener Zeit das wichtigſte Hilfsmittel der Aſtronomie war. Von dem Zuſtande einer allgemeinen Fluth, in deſſen Annahme er mit Thales überein - ſtimmte, ging er auf ein zeitlich dieſem Zuſtande vorausgehendes Un - endliches zurück; aus ihm hat ſich alles Beſtimmte und Begrenzte ausgeſchieden, und, unvergänglich, umfaßt es dieſes Alles räum - lich und lenkt es. Und zwar hat er nach gutem Zeugniß dieſes Unendliche, Alllebendige, Unſterbliche als Prinzip1)ἀϱχή. Simplic. in phys. f. 6 r 36 — 54. — Hippolyt. Refut. haer. I, 6. — Auf Theophraſt zurückgehend, vgl. Diels doxographi 133, 476; Zeller I 4 203. bezeichnet, und ſo dieſen dem metaphyſiſchen Denken ſo wichtigen Ausdruck (zunächſt wol im Sinne von Anfang und Urſache) eingeführt. Dieſer Ausdruck bezeichnete, daß nunmehr das Erkennen ſeiner Aufgabe ſich bewußt war, und daher ſich die Wiſſenſchaft abſonderte.
Die Phänomene der bewegten Atmoſphäre enthalten auch für die weiteren kosmologiſchen Verſuche der joniſchen Phy - ſiker die Mittel der Erklärung. Wie in dieſer feuchter Niederſchlag, Wärme, bewegte Luft miteinander verbunden ſind, ſcheint für dieſe primitiven Erklärungsverſuche bald aus der Luft Alles hervor - zutreten, bald aus dem Feuer, bald aus dem Waſſer.
Auch die Wiſſenſchaft der unteritaliſchen Kolonien, welche in dem Verbande der Pythagoreer gepflegt wurde, hatte ihren Ausgangspunkt, ihr weſenhaftes Intereſſe und ihre Be -184Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.deutung für die intellektuelle Entwicklung in der fortſchreitenden Orientirung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der Mathematik und der Aſtronomie. In dieſer Schule entwickelte ſich eine von dem Zweck der Benutzung losgelöſte Betrachtung der Verhältniſſe von Zahlen, von Raumgebilden, ſonach reine mathematiſche Wiſſenſchaft. Ja ihre Unterſuchungen hatten bereits die Beziehungen zwiſchen Zahlen und Raumgrößen zum Gegen - ſtande, ſo entſtand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Ge - biete der Mathematik. Auch ihr Schema des Kosmos war aſtronomiſch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Ge - ſtaltende, welches ihnen im ſchönſten griechiſchen Geiſte das Gött - liche iſt; indem es das Grenzenloſe an ſich zieht, entſteht die zahlenmäßige Ordnung des Kosmos.
Alle dieſe Erklärungen des Weltganzen, ob ſie gleich als Er - klärungen an der allmäligen Auflöſung des mythiſchen Vorſtellens arbeiteten, waren noch mit einem ſehr erheblichen Beſtand - theil von mythiſchem Glauben vermiſcht. Das Prinzip, aus welchem dieſe erſten Forſcher ableiteten, hatte noch viele Eigen - ſchaften des mythiſchen Zuſammenhangs. Es enthielt in ſich eine den mythiſchen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Um - wandlung, Zweckmäßigkeit, gleichſam die Fußſpuren der Götter in ſeinem Wirken. So war es auch mit einem von dieſen Phyſikern feſtgehaltenen mythiſchen Götterglauben in für uns kaum ſichtbaren Wurzeln verſchlungen. Die Ueberzeugung des Thales, daß das Weltall von Gottheiten erfüllt ſei, darf nicht in einen modernen Pantheismus umgedeutet werden. Der mythiſche Glaube des Anaxi - mander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht ihres Sonderdaſeins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras ſo ſicher zu - geſchrieben werden, als die von der Seelenwanderung, und der von ihm geſtiftete Verband hing am Apollokultus und an religiöſen Riten mit konſervativer Feſtigkeit. Vorſtellungen des Vollkommnen beſtimmen das kosmiſche Bild der unteritaliſchen Schulen. Und zwar tritt hier der für den griechiſchen Geiſt ſo bezeichnende Gedanke hervor, daß das Begrenzte das Göttliche ſei — wogegen man den185Fortbeſtand mythiſcher Elemente. Der weltgeſchichtliche Fortſchritt.Satz Spinoza’s halte: omnis determinatio est negatio. So iſt dieſe alterthümliche Weltanſicht keineswegs, wie ſeit Schleiermacher oft geſchieht, einfach auf eine primitive Form des Pantheismus zurückzuführen.
So langſam, allmälig hat, auch nachdem eine erklärende Wiſſenſchaft ſich losgerungen hatte, dieſe die Macht der mythiſchen Erklärungsgründe, des mythiſchen Zuſammenhangs zerſetzt. In ſo harter Arbeit hat ſich aus der erſten Gebundenheit des geiſtigen Geſammtlebens, in welcher dem Menſchen die Wirklich - keit gegeben iſt und immer gegeben bleibt, der Zweckzuſammenhang des Erkennens in der Wiſſenſchaft zur Selbſtändigkeit herausgearbeitet. So ſchwierig war dieſer Wiſſenſchaft der Erſatz der urſprünglichen Vorſtellungen durch ſolche von einer größeren Angemeſſenheit an ihren Gegenſtand. Denn der Zuſammenhang der Dinge iſt urſprüng - lich von der Totalität der Gemüthskräfte hervorgebracht worden; nur ſchrittweiſe hat dann das Erkennen das rein Gedankenmäßige aus ihm herausgelöſt. Leben iſt das Erſte und immer Gegenwärtige, die Abſtraktionen des Erkennens ſind das zweite und beziehen ſich nur auf das Leben. So entſpringen wichtige Grundzüge des alterthümlichen Denkens. Es beginnt nicht mit dem Relativen, ſondern mit dem Abſoluten, und zwar faßt es daſſelbe mit den Beſtimmungen auf, welche aus dem religiöſen Erlebniß ſtammen; das Wirkliche iſt ihm ein Lebendiges; der Zuſammenhang der Er - ſcheinungen iſt ihm ein Pſychiſches oder doch ein dem Pſychiſchen Analoges.
Dennoch hat die menſchliche Intelligenz zu keiner Zeit einen größeren Fortſchritt gemacht, als in dem Jahrhundert, das nun - mehr abgelaufen war, als Heraklit und dann Parmenides auftraten. Die Wiſſenſchaft war nun vorhanden. Die Phänomene wurden in ihrer Regelmäßigkeit und ihrem Zuſammenhang überwiegend aus natürlichen Urſachen abgeleitet. Das Korrelat der nun ein - getretenen Selbſtändigkeit der griechiſchen Wiſſenſchaft iſt der Aus - druck: Kosmos. Er wird von den Alten auf Pythagoras zurück - geführt: „ Pythagoras zuerſt nannte das Weltall Kosmos, wegen186Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.der in ihm herrſchenden Ordnung. “ 1)Ps. Plutarch, de plac. II, 1. Stob. ecl. I, 21 p. 450 Heer. — Diels 327. Dieſes Wort iſt gleichſam der Spiegel der in die gedankenmäßige Regelmäßigkeit und den harmoniſchen Zuſammenhang der Verhältniſſe und Bewegungen des Weltalls vertieften griechiſchen Intelligenz. In ihm ſpricht ſich der äſthetiſche Charakter des griechiſchen Geiſtes ſo urſprünglich und tief aus, als in den Körpern, welche Phidias und Praxiteles bildeten. Nun wird nicht mehr in der Natur die Spur eines will - kürlichen, eingreifenden Gottes verfolgt; die Götter walten in dem ſchönen, regelmäßigen Formenzuſammenhang des Kosmos. In demſelben Sinne werden von der durch den Gedanken zu regel - mäßig wirkenden Formen geordneten Geſellſchaft auf die Ver - hältniſſe des Weltalls die Ausdrücke Geſetz und vernünftige Rede übertragen2)νόμος. λόγος..
Aber die Art und Weiſe der Ableitung von Phä - nomenen, wie ſie in dieſer Wiſſenſchaft vom Weltall beſtand, konnte den fortſchreitenden Anforderungen des Er - kennens nicht genügen. Wird irgend einem Beſtandtheil des Naturganzen Leben, Fähigkeit, ſich in andere Beſtandtheile umzuwandeln, ſich auszudehnen und zuſammenzuziehen, zu - geſchrieben, alsdann iſt es gleichgültig, von welchem dieſer Beſtandtheile die Erklärung ausgeht; denn Alles kann ſo aus Allem abgeleitet werden. Und hatten nicht dieſe Phyſiker wech - ſelnd, aber mit gleicher Leichtigkeit, von Waſſer, Feuer, Luft aus die anderen Theile des Naturzuſammenhangs durch Um - wandlung erklärt? In Heraklit entwickelt die Spekulation dieſe Anſchauung einer inneren Wandlungsfähigkeit als der allgemeinen Eigenſchaft jedes Zuſtandes im Weltall; in Parmenides ſtellt ſie dieſem endloſen Wechſel die Anforderungen des Gedankens gegenüber. So entſprang Metaphyſik im engeren Verſtande.
In dem Zweckzuſammenhang der Erkenntniß wird eine neue Stufe erreicht; der fortſchreitende Geiſt ſucht, in der Generation des Heraklit und Parmenides, die allgemeine Beſchaffenheit des Zuſammenhangs im Kosmos ſowie die eines Prinzips dieſes Zu - ſammenhangs zu beſtimmen. Er entwickelt die Eigenſchaften eines Prinzips, die es zur Erklärung von Naturphänomenen benutzbar machen. Dies ſetzt voraus, daß er ſich nunmehr ſeine bisherigen Verſuche, die Erſcheinungen des Kosmos abzuleiten, gegenſtänd - lich macht.
Ein Jahrhundert hindurch hatte die neuentſtandene Wiſſen - ſchaft vermittelſt der Anſchauungen von Umwandlung und Be - wegung die Phänomene der Außenwelt zu verbinden und zu er - klären geſucht. Sie hatte hierzu den Begriff des Prinzips ausgebildet, d. h. eines Erſten, welches zeitlicher Anfangszuſtand und erſte Urſache der Phänomene iſt, und von welchem dieſelben abgeleitet werden können. Dieſer Begriff war der Ausdruck des Willens der Erkenntniß ſelber. Viele Urſachen drängten nunmehr zum Nachdenken über die allgemeinſten Eigenſchaften eines ſolchen Prinzips, überhaupt aber des Weltzuſammen - hangs: der Wechſel in den Prinzipien, die Unmöglichkeit eines dieſer Prinzipien zu beweiſen, die Schwierigkeiten in der Anſchauung von Umwandlung, welche dem bisherigen Verfahren zu Grunde gelegen hatte, die nicht minder großen Schwierigkeiten in den einzelnen Vorſtellungen, wie ſie eine ſolche Erklärung zu ihrer Verwendung hatte. Wir nennen das Nachdenken, welches ſolcher - geſtalt einzelne Erklärungen zur Vorausſetzung hat und die all -188Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.gemeinen Beſtimmungen eines jeden aufſtellbaren Weltzuſammen - hangs ableitet, ein metaphyſiſches.
Dies metaphyſiſche Nachdenken zergliederte an der Außenwelt den Zuſammenhang der Wirklichkeit. Wol war dieſer Zuſammen - hang in letzter Inſtanz im Bewußtſein begründet, er bildete mit der geſchichtlichen Welt erſt das Ganze der Wirklichkeit, jedoch hat das metaphyſiſche Denken der Griechen dieſen Zuſammenhang an dem Studium der Außenwelt aufgefaßt. Dies hatte zur Folge, daß die metaphyſiſchen Begriffe an die räumliche Anſchauung gebunden blieben. Das vernunftmäßig bildende Prinzip war ſchon den Pythagoreern ein Begrenzendes, es hat bei den Eleaten und Plato einen analogen Charakter. Die Erklärung des Kosmos löſte Alles, bis in den höchſten Begriff, zu welchem der griechiſche Geiſt gelangte, den des unbewegten Bewegers, in Bewegungen und Erſcheinungen im Raume auf.
Vermögen wir nun das innere Geſetz auszudrücken, welches in dieſem Stadium von Erkenntniß der Zergliederung des Zuſammenhangs von Wirklichkeit die Richtung gab? — Die Welt zeigte zunächſt dem beginnenden wiſſenſchaftlichen Denken eine Vielheit einzelner Dinge, in Thun und Leiden veränderlich verbunden, im Raume beweglich, wachſend und abnehmend, ja entſtehend und vergehend. Die Hellenen, dies bemerkte einer der neu auftretenden Metaphyſiker, ſprachen irrthümlich von Entſtehen und Vergehen. In der That beweiſt ſchon die Sprache, daß dieſe Vorſtellungen die einfache Naturauffaſſung be - herrſchten. Wolken ſcheinen ſich zu bilden und in der Luft zu zergehen, ſo die einzelnen Dinge. Selbſt die Götter des griechiſchen Mythos waren in der Zeit entſtanden. — Das abgelaufene Jahr - hundert griechiſcher Wiſſenſchaft hatte nun durch die Vorſtellung eines erſten bildungskräftigen Stoffes und ſeiner Umwandlungen, in Unteritalien durch den Gegenſatz der begrenzenden, bildenden Kraft und des Unbegrenzten, einen Zuſammenhang unter dieſen Anſchauungen hergeſtellt. Wir können die intellektuelle Verfaſſung eines gebildeten Griechen jener Tage, welcher an den Göttern zu zweifeln begann und ſich nun in dieſem Wirbel der Stoffumwand -189Das Erkennen iſt auf die Subſtanz und das höchſte Gut gerichtet.lungen ſah, ſchwer nachfühlen. Denn Religion und poſitive Wiſſenſchaft geben einem heutigen Menſchen feſte Anhaltspunkte für ſeine Weltvorſtellung. In dem Spiel der Phänomene beſaß ein Grieche jener Zeit nunmehr keinen feſten Punkt. Weder die mythiſche Religion konnte ihm einen ſolchen gewähren, noch beſtand poſitive Wiſſenſchaft, welche ihm Haltpunkte darbieten konnte. — Nun wird der Menſch jeder Zeit inne, daß ſeine Handlungen und Zuſtände in ſeinem Ich gegründet ſind. Er kann ſich nicht vor - ſtellen, daß dies Ich Zuſtand oder Thun von etwas ſei, das hinter dem Ich liege. Das iſt ſein Lebensgefühl. Und das Andere, das Außen, welches er ſeinem Willen gegenüber findet, iſt ihm ebenſo in allen Veränderungen Zuſtand und Aeußerung einer Unterlage, welche nicht ſelber wieder Zuſtand oder Thun von etwas hinter ihr iſt. Gleichviel ob dieſe ſelbſtändige Unterlage an dem einzelnen Ding gefunden wird oder an der Einen Spinoziſti - ſchen Subſtanz oder an den Atomen: das Außen, das uns im Selbſtbewußtſein gegeben iſt, hat unweigerlich dieſen Charakter. Definiren wir Subſtanz als das, was Subjekt für alle prädikativiſchen Beſtimmungen, Unterlage für alle Zuſtände und Thätigkeiten iſt, ſo blickt der Menſch ſozuſagen durch den Wirbel und das Farbenſpiel der Phänomene in das Subſtanziale, was dahinter iſt; er kann nicht anders. Auch die Vorſtellung des Wirkens, der Begriff der Kauſalität wird dieſem Subſtanzialen untergeordnet. Und in ſich, in dem Wechſel ſeiner Antriebe, Regungen, Zwecke muß er ebenfalls nach einem feſten Punkte ſuchen, der ſein Handeln regele. So ſind in ihm und in dem, was außer ihm ſeiner Perſon gegenübertritt, dies die beiden feſten Punkte, welche die natürlichen Ziele ſeines Nachdenkens bilden: die ſubſtanziale Unterlage des Außen und in ſeinem Handeln der Zweck, der nicht Mittel iſt, das höchſte Gut ſeines Willens.
Dieſer Thatbeſtand erklärt, warum für die Philoſophie der Alten das wahrhafte Sein und das höchſte Gut die beiden centralen Fragen bilden. Dieſe Fragen ſind nicht abgeleitet. Nicht die ſubjektive Feſtigkeit der Ausſage, die Nothwendigkeit der Ge -190Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.danken iſt es, was das menſchliche Erkennen zuerſt ſucht. Dieſe Feſtigkeit des Ausſagens iſt ſozuſagen die ſubjektive, logiſche Seite der objektiven Feſtigkeit des Zweckes in uns ſelber, der Subſtanz außer uns. Dies zeigt ſich geſchichtlich darin, daß erſt die Un - ſicherheit und der Zweifel, welche die Denkgewißheit ſtören, die Frage nach dem logiſchen Zuſammenhang von Grund und Folge, nach dem Grunde, der in ſich feſt iſt, hervorgetrieben haben.
Und zwar ringt ſich in dem Vorgang, den wir nunmehr darzuſtellen haben, das Erkennen der Weltſubſtanz auch jetzt noch nicht los von dem Zuſammenhang, welcher vordem in der Totalität der menſchlichen Gemüthskräfte das Erkennen gleichſam gebunden hielt. Die Götter hatten in der Welt der joniſchen Phyſiker ſowie der Pythagoreer noch Platz gefunden. Indem nun der Zuſammenhang des Kosmos nach ſeinen allgemeinſten Eigen - ſchaften beſtimmt wurde, fand ſich in demſelben für ſie im Grunde keine Stelle mehr. Xenophanes, Heraklit, Parmenides, Anaxagoras, die leitenden Geiſter der neuen Zeit, entwickelten einen Welt - zuſammenhang, welcher durch das klare Bewußtſein ſeines all - gemeinen Charakters, ſeines alle Phänomene einſchließenden Um - fangs gleichſam das ganze Terrain der Wirklichkeit occupirte. Das war in der Welt des Anaximander oder Pythagoras noch nicht der Fall geweſen. Auch war es für die ſo eintretende Ver - änderung gleichgiltig, daß die Götter in dem perſönlichen Be - dürfniß des einen oder anderen dieſer Männer noch fortbeſtanden, wie dies z. B. augenſcheinlich bei Xenophanes der Fall war. Aber was war nun die Folge dieſer Veränderung für die meta - phyſiſche Conception der Weltordnung? Der ganze Inbegriff der höheren Gefühle, das religiöſe Leben, das ſittliche Bewußtſein, das Gefühl der Schönheit und des unendlichen Werthes der Welt waren nun in dieſem Weltzuſammenhang ſelber gegenwärtig. Alle Eigenſchaften, welche das religiöſe und ſittliche Leben den Göttern zugeſchrieben hatte, fielen nun in dieſe kosmiſche Ordnung. Das höchſte Gut ſelber, der Zweck, der kein Mittel mehr iſt, wurden auf ihn zurückgeführt. So lag in dieſem die Erſcheinungen Zu - ſammenhaltenden das Vollkommne, Gute, Schöne, dem Unzu -191Xenophanes. Heraklit.reichenden der Wirklichkeit gegenüber das Vollendete, ihrer Unreife gegenüber das Feſte und innen Selige.
Xenophanes beſtimmt das Eine Sein, das ihm dieſer Zuſammen - hang iſt, theologiſch. Das Geſetz, das nach Heraklit im Fluß der Erſcheinungen herrſcht, iſt nicht nur durch die Gegenſätze oder den Weg aufwärts und abwärts beſtimmt, ſondern es hat einen tief religiöſen Hintergrund. Der Beginn des Parmenideiſchen Lehr - gedichts kündigt in alterthümlicher Erhabenheit eine mit dem reli - giöſen Glauben zuſammenhängende Wahrheit an. Die Pythagoreer zeigen denſelben Charakter.
So entſpricht es dem Zuſammenhang der intellektuellen Ent - wicklung ſowie dem Geiſte dieſer alterthümlichen Zeit, daß die tiefere Beſinnung über das Prinzip des Kosmos aus dem reli - giöſen Leben kam und dem entſprechend ſich als Anforderung an den Gedanken der Gottheit geltend machte. — In der pytha - goreiſchen Schule war die Trennung zwiſchen dem in der Wahrnehmung Gegebenen und einer metaphyſiſchen Weltordnung vorbereitet. Der Kosmos wurde in zwei Erklärungsgründe in Be - zug auf ſeinen Urſprung zerlegt; dem Unbegrenzten trat das, was Geſtalt iſt und geſtaltet, gegenüber, das Prinzip der Form; dieſes wurde von den Pythagoreern mathematiſch gefaßt, in den Be - ziehungen zwiſchen Zahl und Raumgröße dargeſtellt, in die reale Welt der Töne ſowie in die harmoniſchen Verhältniſſe der kosmiſchen Maſſen verfolgt. — Xenophanes erwies aus dem religiöſen Be - wußtſein das Prinzip des Einen Seins. Die Vorſtellung vom Tode der Götter iſt unfromm; was aber in der Zeit entſtanden iſt, das iſt auch vergänglich; daher iſt der Gottheit ewiger und unver - änderlicher Beſtand zuzuſchreiben. Ebenſo iſt mit dem Bewußtſein von der Macht und Vollkommenheit der Gottheit eine Mehrheit von Göttern nicht verträglich; die ewige Gottheit iſt alſo Eine. So iſt in Xenophanes mit der Beſinnung über die Eigenſchaften des Prinzips des Weltalls der Beginn einer durchgreifenden Polemik gegen das mythiſche Vorſtellen verbunden, das eine Vielheit von Göttern annimmt, die geboren werden und ſterben; er bereits192Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.durchſchaut das Anthropomorphiſtiſche im Götterglauben und deſſen Unhaltbarkeit.
Die ſtrengere Entwicklung dieſes Prinzips des All-Einen ſcheint dadurch gefördert worden zu ſein, daß Heraklit aus der Naturanſchauung der joniſchen Phyſiker, abſchließend, als die Grund - lage derſelben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ab - leitete. — Das Bewußtſein des Unterſchieds des ihm aufgehenden metaphyſiſchen Bewußtſeins von aller bisherigen Forſchung er - füllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Dieſes metaphyſiſche Bewußtſein bezieht ſich nach der tiefen Einſicht des Heraklit gerade auf das, was den Menſchen beſtändig umgiebt, was er beſtändig hört und ſieht: während der gewöhnliche Zu - ſtand des Menſchen iſt, da und doch nicht dabei zu ſein, faßt dieſe metaphyſiſche Beſonnenheit eben das überall Wiederkehrende in wachem Bewußtſein auf und ſpricht es aus. Und ſo tritt ſie wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch zu der Empirie in Gegenſatz, welche ſich in einzelner Kunde und Orientirung über den Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn nicht belehrt, zu der falſchen Kunſt, deren Typen ihm Pythagoras, Xenophanes, Hekatäos unter ſeinen Zeitgenoſſen und Vorgängern ſind. — Dieſem metaphyſiſchen Bewußtſein geht nun das Welt - geſetz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All gleichmäßig wirkſam iſt. Das ſich abwandelnde All-Eine iſt nicht nur als daſſelbe in den Gegenſätzen gegenwärtig, in jeder ein - zelnen Erſcheinung ſelber iſt ſchon ihr Gegenſatz enthalten, in unſrem Leben iſt der Tod, in unſrem Tod das Leben. — In dieſen Gedanken, die alles Sein auflöſen, lag dann der Grund für die Abwendung Heraklits von der poſitiven Wiſſenſchaft der Zeit. Heraklit hat auch ſeine Phyſik dem Grundgedanken der Abwand - lung unterworfen, und er hat ſelbſt die Sonne in ſeine Rhythmik des Umſatzes hineingezogen: täglich ſollte ſie neu entſtehen.
Dieſer Gedanke, welchem gemäß Konſtanz nur in dem Geſetz der Veränderungen beſteht, enthielt zweifellos einen wichtigen An - ſatzpunkt wahrer Einſichten; aber in der damaligen Lage der Wiſſenſchaften mußte Heraklit dem Gedanken wie den Thatſachen193Parmenides.Gewalt anthun, und ſeine Schule, die Geſellſchaft der „ Fließenden “, verfiel naturgemäß dem Skepticismus. Denn beſteht nur der Fluß der Dinge d. h. der Umſatz eines Zuſtandes der Materie in den andern, fällt ſonach die Konſtanz nur in das Geſetz dieſes Umſatzes: alsdann kann ein Prinzip, welches Träger dieſer Um - ſatzbewegung wäre, nicht unterſchieden werden. Wenn alſo Hera - klit auch nur ſymboliſch das Feuer als ein ſolches Prinzip be - zeichnete, ſo verfiel ſein Syſtem damit dem inneren Widerſpruch. Auch wurden ferner die regelmäßigen und konſtanten Kreisbe - wegungen der Geſtirne einer Erklärung aus dem Prinzip der Umwandlung unterworfen, und hierbei mußte ſich zeigen, daß die ſtätige, unveränderliche Urſache, welche ſie fordern, mit der Rhythmik der Umſätze in Widerſpruch ſteht. So gerieth Heraklit mit den aſtronomiſchen Vorſtellungen ſeiner Zeit nothwendig in Streit; ſo gelangte er zu ſeinen eigenen, paradoxen aſtronomiſchen Behauptungen, die nur als ein Rückſchritt gedeutet werden können.
An dem Gegenſatz gegen die Formeln des Heraklit hat wahr - ſcheinlich Parmenides den Gedanken des Xenophanes zu voller metaphyſiſcher Klarheit entwickelt. Er arbeitet, wie Heraklit, ſich den Gehalt der Weltvorſtellung tiefer bewußt zu machen. Auch er will nicht mehr in erſter Linie ſich im Weltall orientiren oder den thatſächlichen Zuſammenhang der Bewegungen ſeiner großen Maſſen feſtſtellen. Wol war Parmenides der erſte, der die große Entdeckung von der Kugelgeſtalt der Erde als Schriftſteller vertrat, wenn er auch nicht als der Entdecker ſelber bezeichnet werden kann; denn es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß er dieſe in der Aſtronomie epochemachende Einſicht in ſeiner unteritaliſchen Heimath ſchon bei den Pythagoreern vorfand. Aber der Anfang ſeines Lehrgedichts zeigt, daß eine metaphyſiſche Beſinnung über die allgemeinſten Eigenſchaften des Weltzuſammenhangs auch ihm als die große Aufgabe ſeines Lebens erſchien. Derſelbe Anfang macht zugleich ſichtbar, daß dieſer Weltzuſammenhang für ihn allen religiöſen Tiefſinn des mythiſchen Zeitalters in ſich ſchloß, ganz wie dies auch bei Heraklit der Fall war. Aller Glanz der mythiſchen Welt, der Sitz der Gottheiten undDilthey, Einleitung. 13194Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.ihre ſtrahlenden Geſtalten ſind nun in dieſe metaphyſiſche Welt zuſammengegangen. So iſt es auch ein göttlicher Mund, der an dieſem Beginne ſeines Gedichts den ganzen Gegenſatz von Wahr - heit und Irrthum in folgenden Sätzen zuſammenfaßt: das Seiende iſt, das Nichtſeiende iſt nicht; der Irrthum iſt in der entgegen - geſetzten Annahme begründet, daß das Nichtſeiende Exiſtenz habe, daß das Sein nicht beſtehe.
Die Fragmente ſind nicht ausreichend, den genauen Sinn feſtzuſtellen, welchen ſeine Erläuterung und Begründung dieſes ſeines Hauptſatzes gehabt hat1)Nach der Beſchaffenheit unſerer Nachrichten über Parmenides kann die Erörterung ſeiner hervorragenden Stellung in der Geſchichte der Meta - phyſik leider nur vermittelſt einer Art von ſubjektiver Reproduktion ſtatt - finden, die ſonſt nicht geſtattet ſein würde.. Es iſt zweifellos, daß er dieſen Satz dadurch begründete, daß das Sein nicht von dem Denken getrennt zu werden vermag; das Nichtſeiende kann weder erkannt noch ausgeſprochen werden. Dieſe Beweisführung enthält augen - ſcheinlich in ſich, daß das Vorſtellen, in welchem die Wirklichkeit gegenwärtig iſt, nicht mehr übrig bleibt, ſobald man die in ihm gegebene Wirklichkeit aufhebt. Doch iſt ein ſolcher moderner Aus - druck freilich in Gefahr, nicht den einfachen und ganzen Sinn dieſes alterthümlichen Denkens aufzufaſſen. Etwas einfacher und dem Sprachgebrauch des Parmenides näher ſagen wir: iſt das Sein nicht da (eine abſtrakte Bezeichnung für das „ iſt “, welches die im Vorſtellen gegebene Gegenſtändlichkeit ausdrückt), alsdann kann ja auch kein Denken vorhanden ſein. — Da alſo nichts Anderes außer dem Sein exiſtirt, ſo iſt auch das Denken gar nicht etwas von dem Sein Unterſchiedenes. Denn außer dem Sein iſt überhaupt Nichts; es iſt gleichſam der Ort, in welchem auch die Ausſage ſtattfindet. Denken und Sein ſind darum daſſelbe. Nicht - ſeiendes iſt alſo ein Ungedanke, ein Nonſens in ſtrengſtem Ver - ſtande2)So erklärt ſich wol der Sinn des viel discutirten Satzes: τὸ γὰϱ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι (bei Mullach fr. phil. graec. I. 118, v. 40). Wenn Zeller (I4, 512) ἔστιν lieſt und überſetzt: „ denn daſſelbe kann gedacht werden und ſein “, ſo wäre νοεῖσϑαι zu erwarten, das „ Können “entſpricht.
195Parmenides.Dieſe Sätze enthalten allerdings das Denkgeſetz des Wider - ſpruchs in metaphyſiſcher Faſſung im Keime; aber ihre Tragweite reicht hierüber hinaus. In ihnen iſt der Befund des Bewußt - ſeinszuſammenhangs, in welchem mit dem Subjekt das Objekt untrennbar verbunden iſt und das Objekt den Charakter ſubſtan - tialer Feſtigkeit beſitzt, in unentwickeltem Tiefſinn ausgeſprochen.
Und ſo ſind dieſe Sätze einerſeits die zureichende Grund - lage für Wahrheiten, welche nun das griechiſche Denken zu - nächſt den mathematiſchen hinzufügte und welche den Uebergang von den letzteren zu einer wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Kos - mos ermöglichten; ſie ſind andrerſeits in der Dunkelheit, in welcher ſie dem Bewußtſein zuerſt aufgehen, der Ausgangs - punkt für überſpannte Anforderungen des Denkens an die allgemeinſten Eigenſchaften des Weltzuſammenhangs.
Dieſe in den oben angegebenen Sätzen des Parmenides im - plicite enthaltenen Wahrheiten ſind einfach. Die erſte liegt in der Auffaſſung der Eigenſchaft unſres Bewußtſeinszuſammen - hangs, welche Ariſtoteles in ſeiner Formel vom Satze des Widerſpruchs in eine genauer beſtimmte und dadurch halt - bar gewordene Geſtalt brachte. Die andere liegt in dem phyſiſchen Satze: es giebt kein Entſtehen und keinen Unter - gang1)Wir verzeichnen die älteſte Faſſung dieſes Gedankens, welcher für die Naturwiſſenſchaft ſo wichtig wurde, Parmenides v. 77 (bei Mullach fr. phil. graec. I, 121) τὼς γένεσις μὲν ἀπέσβεσται καὶ ἄπιστος ὄλεϑϱος. und v. 69 τοὔνεκεν οὔτε γενέσϑαι οὔτ̕ ὄλλυσϑαι ἀνῆκε δίκη.; von dem wahrhaft Seienden iſt Entſtehen und Unter - gang auszuſchließen; denn aus dem Nichtſeienden kann Sein nicht entſtehen, da daſſelbe eben nicht iſt, das Seiende aber würde nichts Anderes als ſich ſelber erzeugen. Auch dieſer Satz hat erſt ſpäter, zunächſt durch Anaxagoras und Demokrit, eine genauer eingeſchränkte, haltbare Geſtalt empfangen. Die beiden Sätze, von der Unbeſtimmtheit und den Uebertreibungen befreit, die ihnen bei2)aber auch kaum dem Gedanken des Parmenides. Und der Sinn des Aus - ſpruchs wird ſichergeſtellt durch v. 94 τωὐτὸν δ̕ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκέν ἐστι νόημα und die ſich anſchließende Begründung.13*196Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Parmenides anhaften, traten zu den Wahrheiten der Mathematik und ermöglichten ſo einen feſten Anſatz für die Erkenntniß der Natur.
Jedoch gelangte Parmenides von dieſen Wahrheiten, in Folge der unvollkommenen, unbeſtimmten Art, in welcher er ſie auf - faßte, zu Folgerungen, welche auch dieſe Weltanſicht unbenutzbar für poſitive Forſchung machten und ihr darum ſchließlich nur Anwendbarkeit für die Beweisführungen des Skepticismus übrig ließen. Die moderne Naturwiſſenſchaft, indem ſie von der Erhaltung des Stoffs und der Kraft ausgeht, verlegt die ganze Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit der Prädikate in die Rela - tionen. Parmenides überſpannt die Tragweite des als Grundſatz des Naturerkennens gültigen ex nihilo nihil fit und konſtruirt ein ewiges, kontinuirlich im Raume ſich erſtreckendes, jede Veränderung und Bewegung ausſchließendes Sein, in welches ihm alle Voll - kommenheit der göttlichen Weltordnung aufgeht. Er verneint von ihm aus die wirkliche, veränderliche, mannigfaltige Welt, und ſo wird ihm dann ſelbſt ihr Schein unerklärlich.
So hoben denn Parmenides, Zeno, Meliſſus die ganze Welterklärung aus den Angeln, welche die ihnen vorausgegangene phyſiſche Wiſſenſchaft geſchaffen hatte. Dieſe ältere Phyſik hatte den Kosmos von einem bildenden Prinzip aus, welches eine un - beſtimmte Veränderlichkeit in ſich hat, mit den Hilfsmitteln der Vorſtellungen von Bewegung des Stoffes im Raume, qualitativer Veränderung, Entſtehung des Vielen aus dem Einen erklärt. Nun wurden alle konſtruktiven Prinzipien, mit welchen dieſe Phyſik arbeitete, in Frage geſtellt. — Was eine Größe hat, iſt theilbar; ſo gelange ich nie zu dem Einfachen, aus welchem das Zuſammengeſetzte beſteht, wenn ich nicht das Gebiet des Räumlichen verlaſſe. Verlaſſe ich aber dieſes, ſo kann ich aus unräumlich Einfachem nie das Räum - liche zuſammenſetzen. Entſprechend kann jeder Zwiſchenraum zwiſchen zwei räumlichen Größen in’s Unendliche getheilt werden. — Andrerſeits wird jede Raumgröße von einer anderen um - faßt. — Der Weg, den ein bewegter Körper durchläuft, iſt in’s Unendliche theilbar.
197Negative Wirkung ſeiner Schule. Leukipp, Empedocles, Anaxagoras.In der That ſind die Schwierigkeiten, welche dieſe Denker ſolchergeſtalt an dem Raume, der Bewegung, dem Vielen auf - zeigten, innerhalb der Metaphyſik ſelber unüberwindlich; nur der erkenntnißtheoretiſche Standpunkt, welcher auf den Urſprung der Begriffe zurückgeht, kann dieſe Widerſprüche auflöſen. Er erkennt, wie die Wirklichkeit in der Anſchauung gegeben iſt, und wie die unendliche Freiheit des Willens dieſe Wirklichkeit beliebig theilen und zuſammenſetzen, wie ſie vermittelſt der Abſtraktion das reale Kontinuum und die Bewegung durch Punkte, durch Zerlegung der Bahn der Bewegung in ſolche Punkte nachbilden kann, ohne damit doch jemals die Realität der Anſchauungsthat - ſache ſelber zu erreichen.
Jedem metaphyſiſchen Theorem folgt als ſein Schatten das Bewußtſein des dunklen Reſtes von aus ihm nicht ableitbaren Thatſachen. Heraklit’s Werden widerſprach ſeiner Konception von dem Feuer als lebendigem Subſtrat, an welchem das Werden haftet; dem Sein des Parmenides widerſprach die veränderliche Welt. Der Fortgang der Metaphyſik iſt naturgemäß der zu immer komplicirteren Annahmen, welche in demſelben Verhältniß geeigneter ſind, die Thatſachen zu erklären, andrerſeits aber auch eine wachſende Zahl von inneren Schwierigkeiten enthalten.
Neben Zeno und Meliſſus, welche ſo von der neu gewonne - nen Grundlage aus ihre vernichtende Dialektik gegen alle Hilfsmittel der phyſiſchen Welterklärung richteten, treten Leukipp, Empe - docles, Anaxagoras auf, welche auf dieſem Boden die phyſiſche Welterklärung umgeſtalteten. In derſelben Generation ſtehen jene ſkeptiſche und dieſe fortſchreitende Richtung neben einander. 198Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Schon damals bewährte ſich, daß denen in der Wiſſenſchaft die nütz - liche Wirkung gehört, welche nicht etwa die Wahrheit gegenüber dem Irrthum beſitzen, ſondern welche, vom Glauben an die Erkenntniß vorangetrieben, einen neuen Verſuch machen, ſich ihr anzunähern, auch indem ſie Vorausſetzungen hierbei verwenden, welche für den Ver - ſtand zur Zeit nicht widerſpruchsfrei ausgebildet werden können. So wurden damals Bewegung und leerer Raum zur Erklärung be - nutzt, obwohl ohne Zweifel keiner der Forſcher, welche von dieſen Vorſtellungen Gebrauch machten, die Schwierigkeiten aus ihnen zu entfernen im Stande war. Denn dies iſt der Zweckzuſammen - hang der menſchlichen Wiſſenſchaft: an die Wirklichkeit tritt Ver - ſuch auf Verſuch, ſich ihr anzunähern und ihren Thatbeſtand er - klärbar zu machen; die vollkommenen überleben die unvollkommenen. So entſtand nun damals der neue metaphyſiſche Grundbegriff des Elements, der genauer ausgebildete des Atoms. Die Folgerungen, welche aus den beiden dargelegten Prinzipien für den Begriff des Seins in der eleatiſchen Schule gezogen wurden, waren über das in dieſen Prinzipien Gelegene hinaus - gegangen; übergewaltig waren zuerſt die negativen Konſequenzen aufgetreten: die Weltanſicht des All-Einen Seienden vernichtete den mannigfaltigen Kosmos. Daher ſchritt nun der Wille der Erkenntniß über ſie hinweg; Leukipp, Empedocles, Demokrit ver - ſuchten, das Prinzip des Seins der Aufgabe einer Erklärung der veränderlichen, mannigfaltigen Welt anzupaſſen.
Ihr fundamentales Theorem ſetzte alſo in Parmenides ein. Es giebt weder Entſtehen noch Vergehen, ſondern — ſo fahren ſie fort — nur Verbindung und Trennung von Maſſen - theilchen vermittelſt der Bewegung im Weltraum. Dies Theorem tritt bei ihnen ganz gleichförmig auf. — Daß es aus der eleatiſchen Schule hervorging, kann nachgewieſen werden1)Simpl. in phys. f. 7r 6 ff. (Diels Doxogr. 483), wol aus Theophraſt geſchöpft: Λεύκιππος δὲ ὁ Ἐλεάτης ἢ Μιλήσιος … κοινωνήσας Παϱμενίδῃ τῆς φιλοσοφίας οὐ τὴν αὐτὴν ἐβάδισε Παϱμενίδῃ καὶ Ξενοφάνει πεϱὶ τῶν ὄντων ὁδόν. Zwar können die hiſtoriſchen Bezüge, in welchen dieſe Männer199Die Theoretiker der Maſſentheilchen.augenſcheinlich unter einander ſtanden, nicht mehr feſtgeſtellt werden. Auch kennen wir leider nicht die Art von Argumentation, vermöge deren Leukipp, Empedocles, Anaxagoras, Demokrit ihre Theorie der unveränderlichen Maſſentheilchen gegenüber dem Einen eleati - ſchen Sein gerechtfertigt haben. Wie dem ſei, nun wurde im Aufbau der europäiſchen Metaphyſik von dem Begriff des Seienden aus Eine von den mehreren vorhandenen Möglichkeiten entwickelt und zwar die nächſtliegende: Zerſchlagung der Wirklichkeit in Elemente, welche einerſeits den Anforderungen des Denkens an unveränderliche Anhaltspunkte ſeiner Rechnung genugthaten, andrer - ſeits eine Erklärung von Veränderung, Vielheit und Bewegung nicht ausſchloſſen. Damit vollzog ſich ein bedeutender Fortſchritt. An die Stelle einer in unbeſtimmter Umwandlung wirkſamen Kraft oder der Beziehung einer ſolchen auf einen grenzenloſen Stoff (Pytha - goreer) traten ſich ſelbſt gleiche, unveränderliche Elemente. Aus jener Kraft konnte Alles erklärt werden, dieſe Elemente ermög - lichten eine klare, überſichtliche Rechnung in der Welterklärung.
Damit tritt in die Erklärung des Kosmos eine neue Art von Begriffen. Solche waren das Atom des Leukipp, die Samen der Dinge des Anaxagoras, die Elemente des Empedocles ſowie die mathematiſchen Figuren, aus denen Plato die Körper - welt konſtruirte. Die erſte Urſache als Erklärungsgrund (ἀϱχή) war eine metaphyſiſche Kategorie, welche der ganzen Wirklichkeit als in ihr gleichmäßig überall gegebener Theilinhalt untergelegt werden konnte. Der Begriff des Elements oder Maſſentheilchens (Atoms) iſt an der äußeren Natur entwickelt worden und hat, vermöge ſeines Merkmals ſtarrer Unveränderlichkeit, nur für ſie Geltung. Auch iſt er nicht ein Beſtandtheil der Naturwirk - lichkeit d. h. ein in ihr enthaltener einfacher Begriff; ſolche ſind Bewegung, Geſchwindigkeit, Kraft, Maſſe. Vielmehr iſt er eine konſtruktive Schöpfung zur Erklärung von Naturer - ſcheinungen, ganz wie der Begriff der platoniſchen Idee.
Indem der Begriff des Elements als metaphyſiſche Realität auftrat und behandelt wurde, entſtanden Schwierigkeiten, welche unter dieſen Bedingungen unüberwindlich waren. —200Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Eine ſolche Schwierigkeit lag in der ſchon Leukipp zugeſchriebenen Annahme, neben dem Seienden komme auch Exiſtenz dem Nichtſeienden zu d. h. dem leeren Raume. Und doch war ohne dieſe Annahme Bewegung nicht möglich. Anaxagoras leugnet, ja bekämpft den leeren Raum1)Ariſt. Phys. IV, 6. , aber er vermag dann freilich das Ausweichen ſeiner Maſſentheilchen nicht zu erklären. — Eine weitere Schwierigkeit lag in der Annahme der Untheilbarkeit von kleinen Körpern, dergleichen die Atomiſten lehrten. Hiergegen richtete, wie es ſcheint, Anaxagoras ſeine tiefſinnige Lehre von der Relativität der Größe2)Simpl. in phys. f. 35 r. (Mullach I, 251 fr. 15). Dazu vgl. den einleuchtenden Nachweis Zeller’s, Anaxagoras habe in ſeiner Schrift ſich auf Leukipp polemiſch bezogen (I4, 920 f).. — Endlich lag eine Schwierigkeit in der Unerklärbarkeit der qualitativen Veränderung aus Atomen; ihr gegenüber entwickelte Anaxagoras eine ſehr zuſammengeſetzte Theorie, und an dieſem Punkte bemerkt man, welche Bedeutung für die Fortentwicklung der Atomiſtik das Auftreten des Protagoras hatte. Denn Protagoras ſteht zwiſchen Leukipp und Anaxagoras einerſeits und der Vollendung des atomiſtiſchen Syſtems andrerſeits. Seine Theorie der Sinneswahrnehmung ermöglichte erſt die wiſſenſchaft - lich begründete Ablöſung der Vorſtellungen des Qualitativen von den Atomen, und daß ſich Demokrit, vielleicht in einer beſonderen Schrift, mit Protagoras auseinandergeſetzt habe, wird ausdrück - lich überliefert3)Plut. adv. Colot. c. 4. p. 1109 A. Vgl. Sext. Empir. adv. Math. VII, 389. . — Die Atomtheorie des Demokrit, von ſo viel Schwierigkeiten umgeben, durch Protagoras mit der Skepſis ver - bunden, erhielt durch Metrodor und Nauſiphanes eine noch ſkep - tiſchere Haltung; ſo gelangte ſie durch Nauſiphanes zu Epikur4)Zeller daſ. 857 ff.; ſie erhielt ſich, allen Schwierigkeiten trotzend, weil ſie, wie der weitere Verlauf zeigen wird, ein berechtigter Beſtandtheil der Na - turerklärung iſt.
War ſchon der Begriff von Maſſentheilchen ein konſtruktiver201Der Charakter des Anaxagoras und ſeine Leiſtung.metaphyſiſcher Begriff: ſo entſtand für dieſe Theoretiker der Maſſentheilchen nun das konſtruktive Problem, ob aus ihnen allein der Kosmos erklärt werden könne.
An dieſem Punkte der Entwicklung, es war in der ſchönſten Zeit Athens, trat nun im Zuſammenhang mit der Lage der Wiſſenſchaften diejenige Konſtruktion des Kosmos in erſtem groß gedachten Wurf hervor, welche der europäiſchen Metaphyſik ihre lang dauernde Macht über den Geiſt unſres Welttheils verſchafft hat. Dies iſt die Lehre von einer vom Kosmos ſelber unterſchiedenen Weltvernunft, welche als erſter Beweger die Urſache des regel - mäßigen, ja zweckmäßigen Zuſammenhangs im Kosmos iſt.
Der Monotheismus d. h. der Gedanke des Einen Gottes, welcher, von der Natur nicht nur im Begriff, ſondern als That - ſächlichkeit gänzlich unterſchieden, als eine rein geiſtige Macht die Welt regiert, entſtand in dem Abendlande im Zuſammenhang mit den aſtronomiſchen Unterſuchungen; er iſt daſelbſt zwei Jahr - tauſende lang durch ein Raiſonnement getragen worden, welches in der Auffaſſung des Weltgebäudes ſeinen Rückhalt hatte. Mit Ehrfurcht nähere ich mich dem Manne, welcher zuerſt dieſen ein - fachen Zuſammenhang der regelmäßigen Bewegungen der Geſtirne mit einem erſten Beweger erſann. Seine Perſon erſchien dem Alterthum als repräſentativ für eine Richtung des Geiſtes auf das Wiſſenswerthe, mit Vernachläſſigung deſſen, was Klugheit für den eigenen Nutzen ſucht. „ Anaxagoras ſoll einem, der ihn befragte, weswegen doch Jemand das Sein dem Nichtſein vorziehe, geantwortet haben: wegen der Betrachtung des Himmels ſowie der über den ganzen Kosmos verbreiteten Ordnung “1)Eth. Eudem. I, 5; vgl. Eth. N. X, 9. . Dieſe Stelle verdeutlicht den Zuſammenhang, in welchem die Alten den Geiſt ſeiner aſtronomiſchen Forſchungen mit ſeiner monotheiſtiſchen Meta - phyſik erblickten. Von da ergoß ſich über ſein ganzes Weſen der Charakter von gefaßter Würde, ja Erhabenheit, den er nach der Auf - faſſung guter Berichterſtatter ſeinem Freunde Pericles mittheilte2)Außer den bekannten Stellen Plutarch’s vgl. den Phädrus Platos p. 270 A. .
202Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Die Trümmer ſeines Werkes über die Natur athmen dieſelbe einfache Majeſtät. Man hält unwillkürlich den Anfang deſſelben mit der großen Urkunde des Monotheismus der Iſraeliten, der Schöpfungsgeſchichte, zuſammen. „ Zuſammt waren alle Dinge, unermeßlich an Menge und Kleinheit; denn auch das Kleine war ein Unermeßliches. Und da Alles zuſammt war, war nichts deutlich hervortretend, wegen der Kleinheit “1)Simplic. in phys. f. 33 v. (Mullach I, 248 fr. 1.). Anaxagoras zer - gliederte aber den Anfangszuſtand der Materie mit den Hilfs - mitteln der unteritaliſchen Metaphyſik. Die älteſte Vorſtellung von einer in ſelbſtthätiger Umwandlung begriffenen Materie, welche Alles abzuleiten geſtattete und ſonach im Grunde Nichts, war in dieſer unteritaliſchen Metaphyſik beſeitigt worden. Ihr folgend und mit Empedocles und Demokrit hierin einig, legte Anaxagoras ſeinem Denken den folgenden Satz zu Grunde: „ Die Hellenen ſprechen nicht mit Recht von Entſtehung und Untergang. Denn kein Ding entſteht, noch geht es zu Grunde “2)Simplic. in phys. f. 34 v. (Mullach I, 251 fr. 17.). Verbindung und Trennung, ſonach Bewegung der Subſtanzen im Raume, trat an die Stelle von Entſtehung und Untergang. Dieſe Maſſentheilchen, welche Anaxagoras, Leukipp und Demokrit zu Grunde legten, ſind die Baſis jeder Theorie über den Naturzuſammenhang geblieben, welche einen feſten, der Rechnung zugänglichen Anſatz fordert. In mehreren Punkten unterſchieden ſich nun die „ Samen der Dinge “3)Simplic. in phys. f. 35 v. (Mullach I, 248 fr. 3.): σπέϱματα πάντων χϱημάτων., auch kurzweg „ Dinge “des Anaxagoras (ſozuſagen die Dinge im Kleinen) von den Atomen des Demokrit. Anaxagoras, nach der Lage der Forſchung zu ſeiner Zeit, entwickelte den denkbar härteſten Realismus. In ſeinen Maſſentheilchen iſt jede Abſtufung von Qualität, welche die ſinnliche Wahrnehmung irgendwo darbietet, gegeben. Und da ihm nun jede Vorſtellung des chemiſchen Pro - zeſſes fehlte, mußte er zu zwei Hilfsſätzen greifen, deren Paradoxie die Tradition nicht mehr aus dem Zuſammenhang verſtanden hat. In jedem Naturobjekt ſind alle Samen der Dinge enthalten; aber203Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie.unſere Sinne haben enge Grenzen der Empfindungsfähigkeit: hier - aus erklärte er den täuſchenden Schein qualitativer Veränderungen1)Es iſt bemerkenswerth, daß das älteſte Experiment über Sinnes - täuſchungen, über das Nachricht auf uns gekommen iſt, von ihm in dieſem Zuſammenhang zum Beweis verwandt wurde. Setzt man dem Weiß tropfenweiſe eine dunkelfarbige Flüſſigkeit zu, ſo vermag unſere Sinnesempfindung die ſchrittweiſen Veränderungen der Färbung nicht zu unterſcheiden, obgleich in der Wirklichkeit dieſe Veränderungen ſtattfinden. Seine Paradoxie vom ſchwarzen Schnee gehört demſelben Zuſammenhang an. — Andere Experimente des Anaxagoras Ariſt. Phys. IV, 6. . Alsdann aber findet ſich ſchon bei Anaxagoras das Theorem von der Relativität der Größe, das die ſophiſtiſche Epoche in negativem Sinne ausgebeutet hat, und deſſen Tragweite ſpäter Hobbes ſelb - ſtändig entwickelte. Es ſcheint, daß Anaxagoras im Zuſammen - hang hiermit annahm, jeder für uns vorſtellbare kleinſte Theil ſei wiederum als ein Syſtem zu betrachten, das eine Vielheit von Theilen in ſich faſſe. Verſchiedene Experimente werden von ihm überliefert, durch welche er phyſikaliſche Grundvorſtellungen zu befeſtigen unternahm. Als Phyſiker in eminentem Sinne wurde er von der Tradition bezeichnet.
Vermittelſt einer gewagten Induktion übertrug er nun die Phyſik der Erde auf das Himmelsgewölbe.
Am hellen Tage fand bei Aegos Potamoi der Fall eines ſehr großen Meteorſteines Statt. Anaxagoras ging davon aus, daß derſelbe aus der Geſtirnwelt ſtamme, und er ſchloß ſo aus dem Falle dieſes Meteorſteines auf die phyſiſche Gleichartigkeit des ganzen Weltgebäudes2)Dieſer Schluß des Anaxagoras aus Silenus erhalten bei Diogenes Laert. II, 11 f. Zu dem Folgenden ſei bemerkt, daß gemäß dem Zweck der Darlegung davon abgeſehen iſt, ob Anaxagoras alle dieſe Theorien zuerſt aufge - ſtellt hat.. Da er den Umlauf des Mondes um die Erde dieſer näher als den Umlauf der Sonne anſetzte und ent - ſprechend die Sonnenfinſterniſſe aus dem Zwiſchentreten des Mondes zwiſchen Erde und Sonne ableitete, ſo wird er auch aus den Sonnenfinſterniſſen geſchloſſen haben, daß der Mond eine große, dichte Maſſe ſein müſſe3)Hippol. philos. VIII, 9 (Diels 562): und zwar verbindet Hipp.. Die Schlüſſe können nicht mehr204Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.auf einleuchtende Weiſe hergeſtellt werden, vermöge deren er nun Stellungen, Größen und Urſachen des Leuchtens für die einzelnen Geſtirne beſtimmte. Die Mondfinſterniſſe erklärte er theils aus dem Erdſchatten, theils aus zwiſchen Erde und Mond befindlichen, dunklen Körpern. — Die der Erde nächſte Bahn unter den uns bekannten Geſtirnen beſchreibt der Mond, offenbar da er in den Sonnenfinſterniſſen zwiſchen Erde und Sonne tritt. Anaxagoras ſtellte eine Theorie der Mondphaſen auf und, wie Plato als ſeine Aufſehen machende Behauptung hervorhob1)Vergl. indeß Parmenides v. 144 (Mullach I, 128)., leitete er das Licht des Mondes (mindeſtens theilweiſe) aus der Be - ſtrahlung deſſelben durch die Sonne ab; „ indem die Sonne im Kreiſe um ihn herumgeht, wirft ſie immer neues Licht auf ihn (den Mond) “2)Im Cratylus 409 A. . In Zuſammenhang hiermit hielt er den Mond mit ſeinen Schluchten und Bergen für bewohnt; es erinnert an den Meteorſtein, wenn er die Fabel, daß der nemeiſche Löwe vom Himmel gefallen ſei, dahin interpretirte: derſelbe möge wol aus dem Monde gefallen ſein. — Die Sonne dachte er als eine glühende Steinmaſſe, in einer entfernteren Region des Himmels um - laufend; indem er wol ihre Größe mit der des Mondes verglich, erklärte er ſie für viel größer, als den Peloponnes, welchem er den Mond gleich ſetzte. — Auch die Sterne waren ihm ſolche glühende Maſſen, deren Wärme wir nur wegen der Entfernung nicht empfinden.
Dieſe Erkenntniß der phyſiſchen Gleichartigkeit in der Be - ſchaffenheit aller Körper diente ihm als Lehrſatz, um, auf Grund der den Unterſatz bildenden Thatſache der Umdrehung der Geſtirne, ſeinen großen metaphyſiſchen Schluß zu vollziehen. Denn in dem Theorem von der phyſiſchen Gleichartigkeit aller Weltkörper war auch die Einſicht enthalten, daß die Schwerkraft in ihnen allen wirke. Hieraus ergab ſich die Nothwendigkeit der Annahme einer3)in ſeinem Bericht miteinander: Anaxagoras habe Finſterniſſe und Mond - phaſen zuerſt genau beſtimmt, und: er habe den Mond für einen erdartigen Körper erklärt ſowie Berge und Thäler auf ihm angenommen.205Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie.ihr entgegenwirkenden Kraft von außerordentlicher Stärke, welche den Kreisumſchwung dieſer ſchweren und mächtigen Körper her - vorgebracht hat und erhält. An den Fall des genannten großen Meteorſteins knüpfte Anaxagoras die Erklärung: die ganze Stern - welt beſtehe aus Steinen: würde der gewaltige Umſchwung nach - laſſen, dann müßte ſie abwärts ſtürzen1)Diogenes a. a. O.. Die Ueberlieferung vergleicht, ohne dem Anaxagoras dieſen Vergleich zuzuſchreiben, dieſes dem Umſchwung der Geſtirne zu Grunde liegende Verhältniß zwiſchen der Schwerkraft, welche die Weltkörper abwärts zieht, und der den Umſchwung hervorbringenden Kraft, welche ihren Fall hindert, mit dem, vermöge deſſen der Stein nicht aus der Schleuder tritt, das Waſſer in einer Schale beim Umſchwung derſelben, wenn dieſer ſchneller als die Bewegung des Waſſers nach unten iſt, nicht ausgegoſſen wird2)Humboldt, Kosmos (erſte Ausg.) II, 348. 501 vgl. I, 139 u. a. a. O. nach Jacobis handſchriftlichen Aufzeichnungen über das mathematiſche Wiſſen der Griechen, welche Aufzeichnungen Humboldt erwähnt, die aber verloren ſind oder irgendwo verborgen ruhen. Plut. de facie in orbe Lunae c. 6. p. 923 c. Ideler, Meteorologia Graec. 1832 p. 6. .
Mit dieſem Schluß verknüpfte ſich nun an dem jetzt erreichten Punkte ein zweiter, deſſen Glieder vielleicht noch auf überzeugende Weiſe ergänzt werden können. Vermöge deſſelben beſtimmte er dieſe Kraft, welche die Drehungen der Geſtirne im Weltraum hervorbringe, als Eine beſtändig und zweckmäßig wirkende, welche von Außen, von der Weltmaterie ganz getrennt, den Umlauf der Geſtirne hervorrufe und erhalte. So tritt das Weltprinzip der Vernunft (des νοῦς), getragen von einem aſtronomiſchen Raiſonnement, in die Geſchichte.
Die Drehung nämlich, welche Anaxagoras auf die der Schwer - kraft entgegenwirkende Kraft zurückführt, wird von ihm mit der Drehung (πεϱιχώϱησις) ausdrücklich in eins geſetzt, „ in welcher ſich Geſtirne, Sonne und Mond, Luft und Aether gegenwärtig um - drehen “3)Simplic. in phys. f. 33 v. 35 r. (Mullach I, 249 fr. 6).. — Dieſe letztere iſt natürlich die ſcheinbare, in welcher ſich der ganze Himmel mit allen ſeinen Geſtirnen täglich einmal206Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.von Oſt gegen Weſt um unſere Erde bewegt. Anaxagoras kannte die Drehung der ganzen Himmelskugel um ihre Axe, wenn auch dieſer Begriff der Axe noch nicht in ſeiner mathematiſchen Strenge von ihm gedacht wurde. Verfolgte er nun die parallelen Kreiſe, in welchen einige Geſtirne theilweiſe über dem Horizonte um - laufen, andere ganz, bis zu den kleinſten Kreiſen der Bären oder des dem Pole damals zunächſt ſtehenden Sterns β des kleinen Bären: ſo mußte er eine, wenn auch noch ſo unvollkommene Vor - ſtellung des nördlichen Endpunktes dieſer Axe ſich bilden1)Womit die Art übereinſtimmt, in welcher in dem Artikel des Diogenes über Anaxagoras der Pol erwähnt wird: Diog. II, 9. War doch der Theil des Himmels, an welchem dieſe Stelle ſich befindet, ſeit den Zeiten Homer’s beſonders wichtig: „ die Bärin, die ſonſt der Himmelswagen genannt wird, welche ſich an derſelben Stelle umdreht … und allein niemals in Okeanos’ Bad ſich hinabtaucht. “ Aratus bemerkt (phaen. 37 sq.), daß die Griechen bei ihrer Schifffahrt den großen Bären brauchen, weil er heller iſt und leichter bei dem Einbruch der Nacht geſehen werden kann. Die Phönicier halten ſich an den kleinen Bären, der zwar dunkler, aber den Schiffern nützlicher iſt, weil er einen kleineren Kreis beſchreibt.. — Hier erſcheint eine Kombination der Nachrichten unausweichlich, durch welche man erſt den Zuſammenhang derſelben unter einander und mit der damaligen Lage der Aſtronomie herzuſtellen vermag. Dieſe Stelle, welche den nördlichen Endpunkt eines Stabes bilden würde, um welchen wir die Drehung etwa ſtattfindend dächten, iſt der kosmiſche Punkt, von welchem aus der Nus (die Weltvernunft) die Drehungsbewegung in der Materie begann, und von welchem aus ſie noch gegenwärtig bewirkt wird. Der Nus fing mit dem Kleinen an; die Stelle, an welcher das geſchah, war der Pol. Dieſer war ſonach die Stelle, an welcher die Drehung begann; von ihr aus hat ſich dann die Drehung immer weiter verbreitet und wird ſich verbreiten, und von ihr aus wurde mit der Drehung zugleich die Scheidung der Maſſentheilchen bewirkt. Die Wiederherſtellung der Grundanſicht des Anaxagoras in ſolchem Sinne iſt nur die deutlichere Vor - ſtellung des in folgenden Sätzen Enthaltenen: die von dem Nus hervorgebrachte Drehung iſt identiſch mit der gegenwärtigen Drehung207Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie.der Himmelskugel, der Nus aber hat dieſe Drehung von einer kleinen Angriffsſtelle aus hervorgebracht, und von dieſer aus hat die Drehung ſich immer weiter ausgebreitet. Denn dieſe Sätze führen auf einen Anfangspunkt, an welchem der kleinſte Kreis an der Himmelskugel beſchrieben wird.
Geht man nun von dieſer Grundvorſtellung aus, ſo über - ſieht man, wie Anaxagoras ſeinen Monotheismus erſchloß. War er von der Verbreitung der Wirkung der Schwerkraft in allen Himmelskörpern ausgegangen und hatte eine entgegenwirkende Kraft poſtulirt, ſo ſchloß er jetzt näher, auf Grund der gemein - ſamen Drehung aller Stellen der Himmelskugel, (indem er für die Eigenbewegungen von Sonne, Mond und Planeten einen beſon - deren mechaniſchen Erklärungsgrund ſich vorbehielt) auf Eine von der Materie dieſer Körper unabhängige, zweck - mäßig, ſonach intelligent wirkende Kraft. „ Das Andere hat einen Theil von Allem mit ſich verbunden. Der Nus aber iſt ein Unermeßliches und Selbſtherrliches und er iſt mit keinem Dinge1)Anaxagoras ſagt: keinem χϱήματι, Maſſentheilchen. gemiſcht, ſondern allein für ſich ruhet er auf ſich ſelber “2)Simplic. daſ. f. 33 v. (Mullach I, 249 fr. 6).. — Zuerſt: der Nus muß von der Materie geſondert ſein; denn wäre er dem Anderen beigemiſcht, ſo würde das mit ihm Zuſammengemiſchte ihn hindern, ſo daß er kein Ding ſo zu beherrſchen vermöchte, wie er nun vermag, da er auf ſich ſelber ruht3)Ebendaſelbſt.. Und zwar wurde eine ſolche ſelbſtändige Kraft, welche die gemeinſame Drehung hervorbringt, überhaupt am einfachſten von der Weltkugel räumlich getrennt und von einer Angriffsſtelle außerhalb derſelben die Drehung und Weltbildung bewirkend ge - dacht; für Anaxagoras, welchem der Nus das „ Leichteſte “und „ Reinſte “aller „ Dinge “, ſonach ein verfeinertes Stoffliches oder doch an der Grenze von Stofflichkeit noch befindlich geweſen iſt, war dieſe Vorſtellung unvermeidlich. — Alsdann: die Er - kenntniß der gemeinſamen Bewegungen an der ganzen Himmels - kugel vervollſtändigte dieſen Schluß dahin, daß dieſe von außen208Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.wirkende Kraft Eine ſei. — Endlich: die Betrachtung der inneren Zweckmäßigkeit des Weltgebäudes wie der einzelnen Organiſationen der Erde ließ dieſen erſten Beweger als einen nach innerer Zweck - mäßigkeit wirkenden Nus erkennen. Dieſe Zweckmäßigkeit des Weltalls iſt aber nicht ſeine Angemeſſenheit für die Zwecke des Menſchen, ſondern die immanente, deren Ausdruck die Schönheit, deren Folgethatſache der einheitliche Zuſammenhang für einen Ver - ſtand iſt, welche daher auf Einen ordnenden, aber ſozuſagen un - perſönlichen Verſtand zurückweiſt1)Ariſt. de anima I, 2 p. 404 b 1 von Anaxagoras: πολλαχοῦ μὲν γὰϱ τὸ αἴτιον τοῦ καλῶς καὶ ὀϱϑῶς τὸν νοῦν λέγει. Anaxagoras ſelbſt (Mullach I, 249 fr. 6): καὶ ὁκοῖα ἔμελλε ἔσεσϑαι καὶ ὁκοῖα ἦν καὶ ἅσσα νῦν ἔστι καὶ ὁκοῖα ἔσται, πάντα διεκόσμησε νόος..
So entſprang in der ſchönſten Epoche der griechiſchen Ge - ſchichte aus der Wiſſenſchaft vom Kosmos, insbeſondere aus der aſtronomiſchen Forſchung, der griechiſche Monotheismus d. h. der Gedanke von dem bewußten Zweck als Leiter des einheitlichen und zweckmäßigen Bewegungsinbegriffs im Kosmos und von der Ver - nunft als dem ſelbſtändigen, zweckmäßig wirkenden Beweger. Der Mann, der ihn entwarf, ward von der atheniſchen Bevölkerung jener Tage mit einer Miſchung von Bewußtſein ſeiner fremdartigen Erhabenheit und von Scherz der Nus genannt. Den Kreis von Ana - xagoras, Pericles und Phidias umgab dieſe große Lehre mit einer Fremdartigkeit, die von dem altgläubigen Volke ſtark empfunden wurde und ihn unpopulär machte. In dem Zeus des Phidias empfing dieſer Gedanke ſeinen künſtleriſchen Ausdruck.
Es iſt hier nicht der Ort, darzulegen, wie Anaxagoras die Schwierigkeiten überwand, welche die Durchführung ſeines großen Gedankens im Einzelnen darbot. — Den erſten Schritt in ſeiner genaueren Konſtruktion der Weltentſtehung nöthigte ihm eine eingebildete Schwierigkeit ab. Die Sache iſt ſehr bezeichnend für das Vorherrſchen der Vorſtellungen von geo - metriſcher Regelmäßigkeit im griechiſchen Geiſte. Die ſchiefe Stellung des Pols und der parallelen Kreiſe der Geſtirne zum Horizont beſtimmte ihn zu der Annahme, urſprünglich habe die Drehung209Anaxagoras begründet den Monotheismus auf Aſtronomie.der Geſtirne parallel dem Horizont von Oſt nach Weſt ſtatt - gefunden, ſonach habe die Drehungsaxe der Weltkugel ſenkrecht zu der oberen Fläche der Erde geſtanden (welcher er die Geſtalt einer flachen Walze gab); der Endpunkt dieſer Axe trifft die über dem Horizont ſo ſich erhebende Kuppel in der Mitte (im Zenith). Indem ſich dann die Erdoberfläche gegen Süden neigte, erhielt der Pol ſeine jetzige Stellung; und zwar geſchah es gleich nach dem Auftreten des organiſchen Lebens auf der Erdoberfläche. Die Berichterſtatter ſetzen dies in Beziehung zu dem Entſtehen ver - ſchiedener Klimate und bewohnter im Gegenſatz zu unbewohnbaren Erdſtrichen1)Diels 337 f. die parallelen Stellen des Plutarch und Stobäus, vgl. Tiog. II, 9. Daß die Erde nach Anaxagoras ſich gegen Süden geneigt habe, nicht umgekehrt Himmelsaxe und Pol eine Neigung ausführten, muß nach dem Wortlaut der parallelen Stellen und den Angaben über die entſprechende Theorie der Atomiſten angenommen werden. Humboldt, Kosmos 3, 451 ſcheint die Stelle auf die Schiefe der Ekliptik zu beziehen. „ Das griechiſche Alterthum “, ſagt er, „ iſt viel mit der Schiefe der Ekliptik beſchäftigt geweſen … nach Plutarch plac. II, 8 glaubte Anaxagoras: „ daß die Welt, nachdem ſie entſtanden und lebende Weſen aus ihrem Schooße hervorgebracht, ſich von ſelbſt gegen die Mittagsſeite geneigt habe “… „ Die Entſtehung der Schiefe der Ekliptik dachte man ſich wie eine kosmiſche Begebenheit. “ Dies Mißverſtändniß iſt wol durch die Beziehung dieſer Neigung der Erdfläche auf die Entſtehung der Klimate entſtanden..
Die Vorſtellung des Anaxagoras, wie nun durch den Um - ſchwung, welchen der Nus in der Weltmaterie hervorbrachte, die Geſtirne und ihre Bahnen entſtanden, iſt ſehr unvollkommen. Man ſieht auch hier, wie in der Atomiſtik: aus einzelnen Prämiſſen, welche der modernen Wiſſenſchaft konform ſind, entſpringen noch keine entſprechenden Ergebniſſe, da andere nothwendige Prämiſſen fehlen und falſche aus dem Sinnenſchein abſtrahirte phyſikaliſche Vorſtellungen dafür eingeſetzt werden. — Das im Anfangszuſtande des Anaxagoras Gebundene wird durch die Umdrehung aus - einandergeriſſen, und ſeiner Natur folgend, ſteigt nun das Warme, Glänzende, Feuerartige, das Anaxagoras als Aether bezeichnet, aufwärts; aus der Atmoſphäre ſetzt ſich niederwärts das Flüſſige ab, aus dieſem das Feſte, welches nach einer weiteren Grund -Dilthey, Einleitung. 14210Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.vorſtellung dem Ruhezuſtand zuſtrebt. Von dieſem Sinkenden reißt der Umſchwung Theile ab, welche nun als Geſtirne rotiren.
Nun tritt aber erſt die Lebensfrage dieſer Kosmogonie hervor. Anaxagoras hatte vor Allem die Aufgabe zu löſen, die ihm be - kannten Bewegungen am Himmel zu erklären, welche ſich der täg - lichen allgemeinen Drehung nicht unterordnen laſſen: ſo die jährliche Bewegung der Sonne, die Mondbahn, die ſo unregel - mäßigen ſcheinbaren Bewegungen der anderen ihm bekannten Wandelſterne. Er erklärte dieſe Bewegungen mechaniſch, indem er in dem Gegendruck der durch den Umſchwung dieſer Geſtirne zu - ſammengepreßten Luft eine dritte kosmiſche Urſache einführte1)Dies iſt von Sonne und Mond überliefert. Es darf aber wol angenommen werden, daß er auch die anderen von ihm wahrgenommenen unregelmäßigen Bewegungen am Himmel auf dieſelbe Urſache zurückführte, welche er in Bezug auf Sonne und Mond annahm. Planeten als ihren Ort wechſelnde Geſtirne unterſchieden er und ſeine Zeitgenoſſen, Ariſt. meteorol. I, 6 p. 342 b 27, und aus ihrem Zuſammentreten erklärte er die Kometen. Aber noch Demokrit kannte ihre Zahl und ihre Bewegungen nicht genauer, Seneca nat. quaest. 7, 3. Vgl. Schaubach Anax. fr. p. 166 f..
Hier war der Punkt, welcher dieſe groß gedachte Kosmogonie des Anaxagoras ſchon im Zeitalter Platos nicht mehr möglich erſcheinen ließ. Die genauere Kenntniß der ſcheinbaren Bahnen der fünf mit bloßem Auge ſichtbaren Planeten, deren Zahl in Platos Zeit ſchon beſtimmt iſt, ließ die Erklärung aus dem Gegen - druck der Luft als ganz unzureichend erſcheinen. Und ſo erfuhr die monotheiſtiſche Metaphyſik des Anaxagoras eine bemerkens - werthe Umgeſtaltung.
Die eine Richtung ſchied von der Eigenbewegung der Planeten die gemeinſame tägliche Bewegung des ganzen Himmels in der Ebene des Aequators als eine ſcheinbare aus und führte dieſelbe auf eine tägliche Bewegung der Erde zurück. In Folge hiervon brauchte ſie nicht dieſe Eigenbewegungen der Planeten einer ge - meinſamen Drehung einzuordnen. Die andere Richtung erſann einen ungeheuren Mechanismus, vermittelſt deſſen innerhalb der gemeinſamen Bewegung des Himmels die zuſammengeſetzte Be -211Urſachen der Veränderung dieſer Theorie.wegung der Wandelſterne hervorgebracht würde, und ſie gab dem entſprechend die Annahme einer einzigen und einfachen Kraft für die Erklärung dieſes Syſtems von Bewegungen auf. Das erſtere thaten Pythagoreer zuerſt; in den Fragmenten des Philolaus haben wir dieſe kosmiſche Anſicht vor uns. Das zweite that die aſtronomiſche Schule, an welche ſich Ariſtoteles anſchloß, und theils auf dieſe theils auf den neuen Verſuch des Hipparch und Ptolemäus ſtützte ſich dann die das Mittelalter beherrſchende Metaphyſik. So wurde alſo dieſe herrſchende europäiſche Metaphyſik weiter in der Ausbildung ihrer Vorſtellung von der die Geſtirn - welt bewegenden Kraft durch Zerlegung der verwickelteren Bahnen der Planeten geleitet. Dieſe Zerlegung geſchah nach der Regel der aſtronomiſchen Forſchung, die ſchon Plato formulirte: geht man von den Bahnen aus, welche die Wandelſterne am Himmel be - ſchreiben, ſo ſind die gleichmäßigen und regelmäßigen Bewegungen zu ſuchen, welche die gegebenen Bahnen erklären, ohne den That - ſachen Gewalt anzuthun1)Bericht des Soſigenes bei Simplic. zu de caelo Schol. p. 498 b 2 τίνων ὑποτεϑεισῶν ὁμαλῶν καὶ τεταγμένων κινήσεων διασωϑῇ τὰ πεϱὶ τὰς κινήσεις τῶν πλανωμένων φαινόμενα.. Die Formel der Aufgabe ſchließt die richtige Faſſung von Problem und Methode, zugleich aber auch jene willkürliche Vorausſetzung über die Bewegungen in ſich, welche die alte Aſtronomie an die Zurückführung auf Kreisbewegungen feſtnagelte. Indem dieſe Formel angewandt wurde, wandelte ſich die anaxagoreiſche Lehre vom weltbewegenden Nus um in die ariſtoteliſche von einer Geiſterwelt, in welcher unter dem erſten die vollkommene Bewegung der Fixſternſphäre unmittelbar bewir - kenden, unbewegten Beweger die Drehung der anderen zahlreichen Sphären von eben ſo viel ewigen und unkörperlichen Weſen her - vorgebracht wird.
Vergeblich ſtellte ſich damals dieſer großen Lehre von der das Weltall zweckmäßig bewegenden Vernunft die atomiſtiſche Welt - anſicht in den Weg, welche Leukipp und Demokrit begründet haben, und die durch Epikur und Lukrez zu Gaſſendi und den modernen Theorien einer bloßen Mechanik von Maſſentheilchen hinüberreicht. Unter den Gründen, welche dem Einfluß des Demokrit in ſeiner Zeit entgegenſtanden, befand ſich gewiß in erſter Linie, daß von ſeinen Prämiſſen aus damals eine genauere Erklärung der Bewe - gungen der Weltkörper ganz unmöglich war.
Es iſt dargelegt worden, wie mit der allgemeinen Lage der griechiſchen Wiſſenſchaft nach dem Auftreten der parmenideiſchen Metaphyſik die Theorie der Maſſentheilchen entſtand; ſie war re - präſentirt von Empedocles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit1)S. 197 ff.. Auch kann noch feſtgeſtellt werden, wie die atomiſtiſche Theorie der zwei letztgenannten Denker zunächſt in metaphyſiſchen Betrach - tungen begründet war. Denn Leukipp und Demokrit beweiſen ihre Theorie, unter der Vorausſetzung der Realität von Bewegung und Theilung, aus dem eleatiſchen Begriff von dem Sein als einer untheilbaren Einheit ſowie aus der mit ihm verbundenen Leugnung von Entſtehen und Vergehen2)S. 195 Anm.: ſo leiten ſie das Atom und den leeren Raum ab.
Wir ſuchen die Bedeutung der atomiſtiſchen Theorie in ihrer damals von Leukipp und Demokrit erfundenen Geſtalt uns deutlich zu machen. Wir ſehen dabei ganz von ihrer eben hervorgehobenen metaphyſiſchen Begründung ab und ſondern die Betrachtung ihres allgemeinen wiſſenſchaftlichen Werthes von der ihrer Benutzbarkeit in der damaligen Lage der Wiſſenſchaft. 213Dauernde Bedeutung der Atomiſtik.Dieſe atomiſtiſche Theorie, wie ſie nun Leukipp und Demokrit begründen, iſt, nach der ſcientifiſchen Brauchbarkeit be - meſſen, die bedeutendſte metaphyſiſche Theorie des ganzen Alterthums. Sie iſt der einfache Ausdruck der Anforde - rung des Erkennens an ſeinen Gegenſtand, für das Spiel der Veränderungen, des Entſtehens und Vergehens ſtätige, ſtand - haltende Subſtrate zu haben. Dies erreicht die atomiſtiſche Theorie, indem ſie mit natürlichem Sinne den Vorgängen von Theilung und Zuſammenſetzung der Einzeldinge, von ſcheinbarem Verſchwin - den eines Dinges im Wechſel des Aggregatzuſtandes und dem Wieder - ſichtbarwerden desſelben folgt; ſo gelangt ſie zu kleinen Dingen, Subſtanzen, welche als ſtätig raumerfüllend untheilbare Ganze ſind. Denn wenn die Zerreißung eines Dinges als darum möglich vorgeſtellt wird, weil dies Ding aus diskreten Theilen beſteht, ſo bilden die Grenze dieſer Zerlegung Theile, welche darum nicht mehr trennbar ſind, weil ſie nicht mehr aus diskreten Theilen zuſammengeſetzt ſind. Die atomiſtiſche Theorie kann alsdann die untrennbaren Einheiten als unveränderlich beſtimmen, gleich - ſam als die wahren parmenideiſchen Subſtanzen; denn Ver - änderung iſt ihr nur durch Verſchiebung von Theilen erklärbar. Sie kann endlich, was der wahre Sinn aller ächten Atomiſtik iſt, das anſchauliche Bild von Bewegungen im Raume, Entfernungen, Ausdehnungen, Maſſen auf dieſe Welt des Kleinen, welche ſich der Sichtbarkeit entzieht, über - tragen. Zu den Beſtandtheilen dieſes anſchaulichen Bildes gehört auch der leere Raum; denn bevor wir von der At - moſphäre zureichende Begriffe ausbilden, glauben wir die Dinge in ihn ausweichen zu ſehen, und auch nach Berichtigung dieſer Vorſtellung können wir Bewegung nur vermittelſt dieſes Hilfs - begriffs eines Leeren denken, in welches die Objekte ausweichen. Dieſe einfache Anſchaulichkeit vollendet ſich durch zwei weitere Theoreme: jede Wirkung, die im Kosmos ſtattfindet, wird auf Berührung, Druck und Stoß zurückgeführt; dem entſprechend wird jede Veränderung auf die Bewegung der ſich gleichbleibenden Atome im Raume reducirt, und ſonach werden alle Eindrücke von214Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Qualitäten außer Dichtigkeit, Härte und Schwere der Sinnes - empfindung zugewieſen und den Objekten abgeſprochen1)An dieſem wichtigen Punkte kam Protagoras der genaueren Be - gründung der Atomiſtik zu Hilfe.. Eine ſolche Betrachtungsweiſe mußte dem mit den ſinnlichen Objekten beſchäftigten Verſtande zuſagen, wenn ſie auch zunächſt nur den Werth einer Metaphyſik hatte, ſo lange ihre Anwendbarkeit auf die Probleme der Naturwiſſenſchaft noch eine ſo geringe war. Daher iſt ſie, nachdem ſie einmal da war, dem griechiſchen Denken nicht wieder verloren gegangen.
Aber dieſe atomiſtiſche Theorie konnte andrerſeits zu der Zeit des Leukipp und Demokrit nicht zur Herrſchaft gelangen, da die Bedingungen für ihre Verwerthung zur Erklärung der Phänomene fehlten. Die Bewegungen der Maſſen im Weltraum bildeten das Hauptproblem der Naturwiſſenſchaft jener Tage, und ſeit dem Auftreten des Anaxagoras war immer mehr die Unterſuchung der Planeten in den Vordergrund getreten. Trotzdem lehnt ſich Demokrit in entſcheidenden Punkten der aſtronomiſchen Konſtruktion noch an Anaxagoras an, deſſen Theorie ſich doch als nicht ausreichend erweiſen mußte. Ja Demokrit beſaß überhaupt in ſeinen Vorausſetzungen keine Mittel aſtrono - miſcher Erklärung.
Nimmt man an2)So Zeller I3 779. 791, deſſen Auffaſſung beſtimmend geweſen iſt (z. B. Lange, Geſchichte des Materialismus I2, 38 ff.). Ich kann nur andeuten, warum ſeine Gründe mich nicht überzeugen. Die Stellen Ariſt. de caelo IV, 2 p. 308 b 35, Theophraſt de sensibus 61. 71 (Diels 516 ff. ) erweiſen nur die im Text angegebenen Sätze über Atomverbindungen. Aber man iſt nicht berechtigt, Gewicht und ſenkrechten Fall von dieſen zuſammenge - ſetzten Körpern auf das Verhalten der im δῖνος kreiſenden Atome zu übertragen. Vermeidet man dies, ſo ſind ſolche Stellen in Einklang mit denen, welche den ſenkrechten Fall der Atome als Anfangszuſtand aus - ſchließen und als ſolchen den δῖνος ſtatuiren: Ariſt. de caelo III, 2 p. 300 b 8. Metaph. I, 4 p. 985 b 19. Theophraſt bei Simplic. in phys. f. 7 r 6 ff. (Diels 483 f.) Diogenes Laert. IX, 44. 45. Plutarch plac. I, 23 mit Parallelſt. (Tiels 319) Epicur. ep. 2 bei Diogen. Laert. X, 90. Cicero de fato 20, 46. , er habe den Fall der Atome im leeren Raume von oben nach unten in Folge ihrer Schwere und215Geringe Benutzbarkeit in der damaligen Lage der Wiſſenſchaft.das proportionale Verhältniß der Geſchwindigkeit dieſer ihrer Fallbewegung zu ihrer Maſſe als Vorausſetzungen für die Er - klärung des Kosmos betrachtet, demnach eine. zuſammenhängende mechaniſche Anſicht entworfen: dann erſcheinen die von ihm be - nutzten Erklärungsgründe als ganz unzureichend; das Mißver - hältniß dieſer Theorie zu der Erklärung des gedankenmäßig ge - ordneten Kosmos konnte in dieſem Falle doch kaum etwas Anderes als Lächeln in der mathematiſchen Schule Platos hervorrufen. Schon die Bahn eines geworfenen Körpers konnte zeigen, wie vorübergehend die Wirkung der einzelnen Anſtöße von einander treffenden Atomen gegenüber der beſtändig abwärts ziehenden Schwere ſei.
Jedoch iſt dieſe Auffaſſung der Nachrichten über Demokrit kaum haltbar. Demokrit blieb dabei ſtehen, die ewige Bewegung der Atome im leeren Raume ſei durch ihre Beziehung zu dieſem bedingt. Den erſten Bewegungszuſtand dachte er als eine kreiſende Bewegung aller Atome, als δῖνος. In dieſem Dinos ſtoßen die Atome aneinander, verbinden ſich und aus ihrer Anhäufung bildet ſich ein Kosmos, der dann ſchließlich durch einen aus mächtigeren Maſſen beſtehenden zertrümmert wird. Wo nun eine einzelne Atomverbindung entſteht, exiſtirt innerhalb derſelben ein beſtimmtes quantitatives Verhältniß der Atommaſſe zu dem in der Verbindung enthaltenen leeren Raume; hierdurch iſt die Ver - ſchiedenheit des Gewichts bei gleicher Größe bedingt, das Auf - ſteigen der einen Atomverbindungen, das Fallen der anderen von oben nach unten, und zwar mit entſprechend verſchiedener Ge - ſchwindigkeit. Die Unbeſtimmtheit und Fehlerhaftigkeit dieſer Grund - vorſtellungen mußte eine ſolche Bewegung der Atome als ganz werthlos für die Welterklärung erſcheinen laſſen.
Nicht anders verhält es ſich auf dem biologiſchen Gebiet, auf welchem ein originaler Fortſchritt Demokrit’s in Bezug auf Naturerkenntniß noch aus den Quellen erkennbar iſt: iſt hier doch Demokrit augenſcheinlich der einzige namhafte Vorgänger des Ari - ſtoteles. Soviel der hier noch ſo ungeſichtete Zuſtand der Frag - mente und Nachrichten erkennen läßt, beſtand das Verdienſt Demo -216Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.krit’s in der Ausbildung ſorgfältiger beſchreibender Wiſſenſchaft, ja er verſchmäht hier ſogar nicht, den Thatbeſtand durch Vorſtellung eines Verhältniſſes von Zweckmäßigkeit zwiſchen den Organen des thieriſchen Körpers und den Aufgaben ſeines Lebens verſtändlich zu machen.
Hieraus verſtehen wir, was ſich nun ereignete. Die mono - theiſtiſche Metaphyſik Europas hat nicht nur die pantheiſtiſchen Elemente der alten Zeit, die in Diogenes von Apollonia fort - wirkten, ſondern auch die mechaniſche Welterklärung als unge - nügende Konſtruktionen zur Seite geſchoben. Jedoch hat ſie nicht vermocht, dieſelben zu vernichten. Die mechaniſche Weltanſicht ſprach eine dem Verſtande entſprechende Möglichkeit aus und blieb aufrecht, mit ſtarkem Bewußtſein ihrer im Rechnen mit den ſinnlichen Thatſachen wurzelnden Kraft; der Tag ihres Sieges brach freilich erſt an, als die experimentellen Methoden ſich ihrer bemächtigten. Die pantheiſtiſche Weltanſicht entſprach einer Gemüthslage, welche bald in der ſtoiſchen Schule ihre Erneuerung bewirkte. Aber ſtärker als dieſe beiden metaphyſiſchen Grundanſichten war der ſkeptiſche Geiſt. Er hatte in der eleatiſchen Schule Widerſprüche in den Grundvorſtellungen der Phyſik des Kosmos entwickelt, welche von keiner Metapyſik auf - gelöſt werden konnten. Er hatte aus der Schule Heraklit’s vermittelſt des Widerſpruchs im Werden einen Tummelplatz des Skepticismus gemacht. Dieſer ſkeptiſche Geiſt war mit jedem neuen metaphyſiſchen Verſuche gewachſen und über - fluthete nun die ganze griechiſche Wiſſenſchaft. Er wurde be - günſtigt durch die Veränderungen in dem ſozialen und politiſchen Leben von Athen, das ſeit Anaxagoras die griechiſche Wiſſenſchaft centraliſirte. Er wurde gefördert durch eine Umänderung der wiſſenſchaftlichen Intereſſen, welche die Beſchäftigung mit geiſtigen Thatſachen, mit Sprache, Redekunſt, Staat in den Vordergrund rückte. Der Wiſſenſchaft vom Kosmos trat unter dieſen Umſtänden der Anfang einer Erkenntnißtheorie gegenüber.
Blicken wir voraus. Welches wird unter dieſen Umſtänden das Schickſal der monotheiſtiſchen Weltanſicht ſein? 217Sieg der monotheiſtiſchen Metaphyſik.Die monotheiſtiſche Metaphyſik iſt auch von der ſkeptiſchen Be - wegung nicht geſtört worden; ſie war unabhängig von den ein - zelnen metaphyſiſchen Poſitionen in der Anſchauung des gedanken - mäßigen Zuſammenhangs des Kosmos begründet; zudem war ſie getragen von einer inneren Entwicklung des religiöſen Lebens; ſo wird ſie auf der neuen von den Sophiſten und Socrates ge - ſchaffenen Grundlage durch Plato und Ariſtoteles vollendet werden. Es entſteht der höchſte Ausdruck, den der griechiſche Geiſt für den Zuſammenhang der Welt gefunden hat, welcher in der Anſchauung als ſchön, vor dem Erkennen als gedankenmäßig ſich darſtellt.
Das wird geſchehen, indem ſich der monotheiſtiſche Grundge - danke mit einer neuen Beſtimmung über das Weſenhafte ver - bindet, in welchem der Zuſammenhang des Kosmos gefunden werden kann. Sucht man das wahrhaft Seiende, ſo bietet ſich ein doppelter Weg. Die veränderliche Welt kann einerſeits in konſtante Beſtandtheile zerlegt werden, deren Relationen ſich ändern, andrerſeits kann die Konſtanz in der Gleichförmigkeit geſucht werden, welche das Denken in dem Wechſel ſelber auffaßt. Und zwar wird zunächſt dieſe Gleichförmigkeit in den Inhalten ge - funden, wie ſie in der Wirklichkeit wiederkehren. Lange Zeiten werden vergehen, in welchen die menſchliche Intelligenz vorwiegend auf dieſer Stufe des Erkennens verharrt. Dann erſt, in Folge einer tiefer greifenden Zerlegung der Erſcheinungen, findet ſie die Regel der Veränderungen in dem Geſetz, und damit iſt die Möglichkeit gegeben, für dieſes Geſetz in den konſtanten Beſtandtheilen Angriffs - punkte zu finden.
Aber was auch geſchieht, jeder Geſtalt des europäiſchen Denkens folgt das ſkeptiſche Bewußtſein der Schwierigkeiten und Wider - ſprüche in den grundlegenden Vorausſetzungen. Immer wieder beginnt die Metaphyſik, unermüdlich, an einem tiefer gelegenen Punkte der Abſtraktion von Neuem die Arbeit des Aufbaus. Werden nicht auch da jedesmal die Schwierigkeiten und Wider - ſprüche, welche die Metaphyſik begleiten, nur in einer noch ver - wickelteren Weiſe wiederkehren?
Seit etwa der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chriſtus fand eine intellektuelle Umwälzung in Griechenland ſtatt, welche die Geiſter ſo tief bewegte, wie keine Veränderung der Ideen ſeit dem Vorgang der Entſtehung der Wiſſenſchaft ſelber.
Mit jedem neuen metaphyſiſchen Entwurf war der ſkeptiſche Geiſt gewachſen und machte ſich nun mit ſouveränem Bewußtſein geltend. Die ſozialen und politiſchen Veränderungen verſtärkten das Gefühl der Independenz in den Individuen. Sie bewirkten einen Wechſel in der Richtung der Intereſſen, durch welchen die Technik der mit dem Staatsleben zuſammenhängenden Thätigkeit innerhalb der geſellſchaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund trat. Sie riefen eine glänzende, die Aufmerkſamkeit von ganz Griechen - land wie durch Zauber auf ſich ziehende Berufsklaſſe in das Leben, die Sophiſten, welche dem neu entſtandenen Bedürfniß durch einen höheren Unterricht für die politiſchen Geſchäfte entſprachen. Die geiſtige Welt begann den Griechen neben der Natur aufzu - gehen.
Im Beginn dieſer Erſchütterung aller wiſſenſchaftlichen Be - griffe ſprach Protagoras, der leitende Kopf dieſer neuen Berufs - klaſſe vor Gorgias, die Formel der Zeit aus. Der Relativismus, welchem dieſe Formel Ausdruck gab, enthielt den erſten Anſatz einer Erkenntnißtheorie.
Der Menſch iſt „ das Maß aller Dinge, der ſeienden, wie ſie ſind, der nichtſeienden, wie ſie nicht ſind “; ſo lautete es in dem berühmten Anfang ſeiner philoſophiſchen Hauptſchrift. Was einem jeden erſcheint, iſt auch für ihn. — Aber dieſe Sätze des Pro - togoras müſſen in Bezug auf die Grenzen genau aufgefaßt werden, in denen ſie mit Sicherheit aus den dürftigen Reſten nachgewieſen werden können. Sie ſind nicht der Ausdruck einer allgemeinen Theorie des Bewußtſeins, welcher jede in demſelben gegebene219Protagoras.Thatſache untergeordnet wurde. Sie enthalten daher nicht unſeren heutigen, kritiſchen Standpunkt. Vielmehr ſind ſie nur die Formel für ſeine geniale Wahrnehmungslehre, die ſich augenſcheinlich unter dem Eindruck der mediciniſchen Betrachtungen ſeiner Zeit entwickelt hatte, und ſie beſchränken ſich im Zuſammenhang derſelben auf die prädikativen Beſtimmungen über die Außenwelt, dagegen ſtellen ſie nicht die Realität einer ſolchen in Frage. — Wir erläutern das näher. Der Oberſatz des Schluſſes, welcher zu ſeiner Formel führte, war: Wiſſen iſt äußeres Wahrnehmen. Wir können nicht mehr feſtſtellen, ob dieſer Oberſatz die von ihm nicht aus - drücklich zum Bewußtſein gebrachte Vorausſetzung ſeines Stand - punktes war oder ob derſelbe von ihm in bewußter Klarheit hingeſtellt wurde. Der Unterſatz zeigte an dem Vorgang der Wahrnehmung, daß dieſe von ihrem Gegenſtand nicht getrennt werden könne, der Gegenſtand nicht von ihr d. h. das wahr - genommene Objekt nicht von dem wahrnehmenden Subjekt, für welches es da iſt. So iſt Protagoras der Begründer der Theorie des Relativismus, welche nachher von den Skeptikern fort - gebildet worden iſt1)Schon Sextus Empiricus bezeichnet ihn als Relativiſten, adv. Math. VII, 60: φησὶ … τῶν πϱός τι εἶναι τὴν ἀλήϑειαν.. — Aber dieſer ſein Relativismus behauptete zwar von den Qualitäten der Dinge, daß ſie nur in der Relation beſtünden, dagegen nicht von der Dinglichkeit ſelber. Süß, wenn man das Subjekt wegdenkt, welches die Süßigkeit ſchmeckt, iſt nichts mehr; es beſteht nur in der Relation auf die Em - pfindung. Daß ihm aber mit dieſer Empfindung des Süßen nicht das Objekt ſelber verſchwand, zeigt ſeine nähere Theorie der Wahrnehmung. Berührt ein Objekt das Sinnesorgan und ver - hält ſich ſo jenes thätig, dieſes leidend: ſo entſteht einerſeits in dieſem Sinnesorgan Sehen, Hören, die beſtimmte ſinnliche Em - pfindung, andrerſeits erſcheint nunmehr das Objekt als farbig, tönend, kurz in verſchiedenen ſinnlichen Qualitäten. Dieſe Er - klärung des Vorgangs ermöglichte dem Relativismus des Prota - goras erſt eine Theorie der Wahrnehmung, und man ſieht wol,220Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.er konnte nicht die Realität der Bewegung außerhalb des Subjektes, durch welche die Wahrnehmung ihm entſtand, zugleich wieder da - durch aufheben, daß er alle Dinglichkeit ſelber in Frage ſtellte1)Die Beziehung der Wahrnehmungslehre des Protagoras auf Hera - klit und die Erklärung der Wahrnehmung durch ein Zuſammentreffen der Bewegungen, ſonach eine Berührung, erſcheint ſchon dadurch geſichert, daß Protagoras ſeinem Theorem nur durch ein Eingehen in den Wahrnehmungs - vorgang Anſchaulichkeit geben konnte, die Möglichkeit aber ausgeſchloſſen iſt, daß er eine ſolche gegeben, Plato ihm aber eine ganz andere untergeſchoben hätte. Sie wird beſtätigt durch die Darſtellung des Sextus Empir. hypot. I, 216 f. adv. Math. VII, 60 ff., welche nicht auf Plato als ausſchließliche Quelle zurückgeführt werden kann (Zeller I 4, 984). Von dieſer Differenz abgeſehen verweiſe ich auch auf die Darſtellung bei Laas, Idealismus und Poſitivismus I, 1879.. — Er entwickelte alsdann die verſchiedenen Zuſtände des empfinden - den Subjekts und zeigte ſo die Bedingtheit der Qualitäten des erſcheinenden Objekts durch dieſe Zuſtände. So ging aus ſeiner Wahrnehmungslehre die Paradoxie hervor, die Wahr - nehmungen ſeien in Widerſpruch miteinander, jedoch alle gleich wahr2)Ariſt. Metaph. IV, 4 p. 1007 b 22. .
Dieſer Relativismus hat in Verbindung mit dem Skepti - cismus der Eleaten und Herakliteer Plato beſtimmt, die Erkenntniß jenſeit der veränderlichen Phänomene aufzuſuchen; er konnte von Ariſtoteles muthig weggedrängt, doch nicht widerlegt werden; er behielt ſeine Anhänger und erſcheint nach Ariſtoteles in der für die griechiſche Metaphyſik des Kosmos undurchdringlichen Rüſtung der ſkeptiſchen Schule.
Viel geringer waren die Schriften von Sophiſten, welche aus der negativen Richtung der eleatiſchen Schule ſkeptiſche Konſequenzen zogen. Eine ſolche war die nihiliſtiſche Brandſchrift des Gorgias „ über das Nichtſeiende oder die Natur “. Sie bezeichnet den äußerſten Punkt, zu welchem eine gehaltloſe Skepſis fortging. Aber es iſt wichtig feſtzuſtellen, daß die Vorausſetzungen der Me - taphyſik der Alten auch an dieſem Punkte nicht überſchritten wurden. Wir haben keine Andeutung, daß Gorgias die Phänome - nalität der Außenwelt behauptet hätte. Dies hat kein Grieche221Gorgias. Socrates.gethan; denn dies hätte in ſich geſchloſſen, daß er von dem objek - tiven Standpunkt auf den des Selbſtbewußtſeins über - getreten wäre. Vielmehr ſetzt der Streitſatz des Gorgias eben voraus, daß ein anderes Sein als das der Außenwelt nicht beſtehe. Er hebt — ächt griechiſch — das Sein auf, indem er zeigt, daß die Außenwelt durch die Begriffe, welche in ihr ent - halten ſind, nicht gedacht werden kann. Und zwar thut er dies ver - mittelſt einer Vorausſetzung über das Sein, welche ihn in der objek - tiven Wiſſenſchaft vom Kosmos ganz befangen zeigt. Er zerſtört nämlich die Möglichkeit, daß das Sein als anfangslos und Eines gedacht würde, welche die Eleaten übrig gelaſſen hatten, durch Folgerungen aus der Räumlichkeit des Seienden. So erſcheint dieſe Räumlichkeit des Seins als die Vorausſetzung ſeines Denkens1)Pſ. Ariſt. de Melisso etc. p. 979 b 21 ff.. Dem entſpricht, daß er allem Seienden zumuthet, entweder be - wegt oder ruhend zu ſein, Bewegung aber dann in dem Sinne faßt, daß ſie Theilung einſchließt. Der Gedanke liegt gar nicht in ſeinem Geſichtskreis, daß nach der Zerſtörung der Begriffe, durch welche die Außenwelt gedacht werden kann, das Subjekt, in welchem wahrgenommen und gedacht wird, als Realität zurückbleibe. So ſieht man den Skepticismus in dieſem Kopfe an die Schranken des griechiſchen Geiſtes anſtoßen: er durchbricht ſie nicht.
Denn bevor die Selbſtbeſinnung in dem Subjekt ſelber eine keinem Zweifel unterworfene Realität aufdeckte, ward Realität nur in der Vertiefung in den Naturzuſammenhang aufgeſucht. Wo daher Realität im Alterthum geleugnet wurde, war dieſe Leugnung entweder mit dem tragiſchen Bewußtſein der Trennung des Er - kennens von ſeinem Objekte verbunden oder mit dem frivolen Bewußtſein, welches mit dem Schein ſpielte und ſich in ihm ſonnte2)Langes Auffaſſung des Zuſammenhangs der griechiſchen intellek - tuellen Entwicklung gelangt zu der Antitheſe: „ wir haben oben gezeigt, wie abſtrakt genommen, der Standpunkt der Sophiſten hätte weiter ent - wickelt werden können, aber wenn wir die treibenden Kräfte hätten nach - weiſen ſollen, welche vielleicht ohne Dazwiſchenkunft der ſokratiſchen Reaktion ſolches geleiſtet hätten, ſo würden wir in Verlegenheit gerathen. “ Geſch..
222Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.In der mächtigen intellektuellen Organiſation des Socrates1)Die kritiſchen Schwierigkeiten, welche aus der Verſchiedenheit zwiſchen der Relation des Xenophon und dem platoniſchen Bilde entſpringen, löſen ſich nicht zureichend vermittelſt des von Schleiermacher aufgeſtellten und ſeitdem von der Forſchung meiſt acceptirten Kanons (vgl. nebſt Litt. bei Zeller II 3 85 ff. ), ſondern indem man Platos Apologie des Socrates zur kritiſchen Entſcheidung zwiſchen jener Relation und den anderen plato - niſchen Schriften verwerthet. Die Vertheidigung hatte nur dann einen Sinn, wenn ſie ein treues Bild des Socrates, mindeſtens in Bezug auf die Gegenſtände der Anklage, gab. Dieſe Treue der Tarſtellung iſt alſo hier gewährleiſtet, während ſie in allen andren Werken Platos nur durch eine der Diskuſſion mehr ausgeſetzte Unterſuchung feſtgeſtellt werden kann. vollzog ſich eine tiefe und anhaltende Gedankenarbeit, durch welche im Zweckzuſammenhang des Erkennens eine neue Stufe erreicht wurde. Er fand in der Sophiſtik das prüfende, zweifelnde Sub - jekt vor, welchem gegenüber die vorhandene Metaphyſik nicht Stand hielt. In der ungeheuren Erſchütterung aller Vorſtellungen ſuchte er einen Halt; durch dieſes Poſitive in ſeiner großen wahrheits - durſtigen Natur ſchied er ſich von den Sophiſten. Er zuerſt wandte beharrlich die Methode an, von dem vorhandenen Wiſſen und Glauben der Zeit auf den Rechtsgrund jedes Satzes zurückzugehen2)Ueber dieſen fundamentalen Thatbeſtand beſteht Einigkeit zwiſchen der direkten Darſtellung in der Apologie, der ganzen Stellung die Plato ſeinem Socrates giebt, und der Hauptſtelle des Xenophon über das Ver - fahren des Socrates Memorab. IV, 6, vgl. beſ. daſelbſt § 13 ἐπὶ τὴν ὑπόϑεσιν ἐπανῆγεν ἂν πάντα τὸν λόγον und 14 οὕτω δὲ τῶν λόγων ἐπαναγομένων καὶ τοῖς ἀντιλέγουσιν αὐτοῖς φανεϱὸν ἐγίγνετο τἀληϑές. Er ſuchte ἀσφάλειαν λόγου (§ 15).. Er ſetzte alſo an die Stelle eines aus genialen Aufſtellungen ableitenden Verfahrens eine Methode, welche jede Aufſtellung auf ihre logiſche Begründung zurückführte. — Und zwar, wie in dieſem griechiſchen Volke auch das wiſſenſchaftliche Leben ein öffentliches war, mußte die ein - fachſte, nächſtliegende Form von Unterſuchung des Rechtsgrundes für die umherſchwirrenden Meinungen die Frage nach dieſem Rechts - grunde ſein, welche den Gefragten nicht losließ, bis er das Letzte2)d. Materialismus I, 43. So wären nach Lange die Prämiſſen der modernen Erkenntnißtheorie im fünften Jahrhundert vor Chriſtus dageweſen: nur die Perſonen fehlten, welche die Konſequenz gezogen hätten!223Socrates geht auf den Erkenntnißgrund zurück.geſagt hatte: das ſokratiſche Geſpräch1)Dieſer Zuſammenhang mit ſokratiſcher Ironie vorgetragen Plat. Apol. p. 21 b f., vgl. Xenoph. Mem. IV, 5 § 12.. In ihm wurde das analytiſche, auf den letzten Erkenntnißgrund des wiſſenſchaft - lichen Beſtandes, ſchließlich der wiſſenſchaftlichen Ueberzeugung überhaupt zurückgehende Verfahren in der Geſchichte der Intelli - genz entbunden. Und daher ward dies Geſpräch, nachdem der unermüdliche Frager durch ſeine Richter zum Schweigen gebracht worden, zur Kunſtform der Philoſophie ſeiner Schule. — Indem er ſo die vorhandene Wiſſenſchaft, die vorhandenen Ueberzeu - gungen auf ihren Rechtsgrund prüfte, wies er nach, daß eine Wiſſenſchaft noch nicht vorhanden ſei und zwar auf keinem Gebiet2)Plat. Apol. 22 — 24.. Von der ganzen Wiſſenſchaft des Kosmos hielt vor ſeiner Methode nur die Zurückführung des zweckmäßigen Zu - ſammenhangs im Kosmos auf eine weltbildende Vernunft Stand. Er fand aber auch kein deutliches Bewußtſein der wiſſenſchaft - lichen Nothwendigkeit auf dem Gebiet des ſittlichen, des geſell - ſchaftlichen Lebens. Er ſah das Handeln des Staatsmanns, das Verfahren des Dichters ohne Klarheit über ſeinen Rechtsgrund und daher unvermögend, ſich vor dem Gedanken zu rechtfertigen. Aber er entdeckte zugleich, daß gerecht und ungerecht, gut und böſe, ſchön und häßlich einen unwandelbaren, dem Streit der Meinungen enthobenen Sinn haben.
Hier auf dem Gebiete des Handelns gelangte die Macht der Selbſtbeſinnung, welche mit ihm in die Geſchichte trat, zu poſitiven Ergebniſſen. Der Erkenntnißgrund der Sätze und Begriffe auf dieſem Gebiet liegt zunächſt im ſittlichen Bewußtſein. Indem Socrates von den Allgemeinvorſtellungen, die galten, den Sätzen, die herrſchend waren, ausging, prüfte er dieſelben an einzelnen Fällen und dem Verhalten des ſittlichen Bewußtſeins zu denſelben und ſo, durch ent - gegenſtehende Inſtanzen hindurch ſchreitend, entwarf er ſittliche Begriffe. Sein Verfahren beſtimmte ſich daher hier näher dahin, das ſittliche Bewußtſein zu befragen, um an ihm als dem Er - kenntnißgrunde aus den Allgemeinvorſtellungen Begriffe zu ent -224Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.wickeln und zu rechtfertigen, welche das klare Maß für das handelnde Leben ſein konnten1)Vgl. Xenophon’s Relation der einzelnen Geſpräche ſowie die unbe - holfene, aber wahrhafte Charakteriſtik des Verfahrens von Socrates IV, 6, nach welcher er ſittliche und politiſche Fragen durch Zurückführung auf Begriffe, welche an dem Erkenntnißgrund des ſittlichen Bewußtſeins erwieſen wurden, zur Entſcheidung brachte. Hierbei iſt die beſondere Natur dieſer Werthbegriffe, welche Sätze in ſich ſchließen, zu erwägen. Vgl. weiter Ari - ſtoteles (Stellen b. Bonitz ind. Arist. p. 741); wenn dieſer Metaph. XIII, 4 p. 1078 b 27, dem Socrates Induktion und Begriffsbeſtimmung (nicht nur die letztere) zuſchreibt, ſo muß berückſichtigt werden, daß derſelbe ein analytiſches Verfahren als Beſtandtheil der logiſchen Operation nicht kennt und darum das ganze Verfahren des Socrates der Induktion unterordnen muß..
Hat nun Socrates die Grenzen überſchritten, welche wir als die des griechiſchen Menſchen überhaupt bezeichnet haben? Auch der Selbſtbeſinnung des Socrates geht nicht auf, daß die Außen - welt Phänomen des Selbſtbewußtſeins, daß uns aber in dieſem ſelber ein Sein, eine Wirklichkeit gegeben ſei, deren Erkenntniß uns allererſt eine unanfechtbare Realität aufdeckt. Wol iſt dieſe Selbſtbeſin - nung der tiefſte Punkt, den der griechiſche Menſch in dem Rückgang auf die wahre Poſitivität erreichte, wie das frivole Nichts des Gorgias die äußerſte Grenze bezeichnet, zu welcher ſein ſkeptiſches Verhalten gelangte. Sie iſt aber nur der Rückgang in den Erkenntnißgrund des Wiſſens; daher entſpringt aus ihr Logik als Wiſſenſchaftslehre, wie ſie Plato als Möglichkeit ſah und Ariſtoteles ausführte. Im Zu - ſammenhang hiermit ſteht dann die Aufſuchung des Erkenntnißgrun - des für ſittliche Sätze im Bewußtſein: und aus ihr entſpringt die platoniſch-ariſtoteliſche Ethik. Daher iſt dieſe Selbſtbeſinnung logiſch und ethiſch; ſie entwirft Regeln für die Beziehung des Denkens zum äußeren Sein in der Erkenntniß der Außenwelt, für die Be - ziehung des Willens zu ihm im Handeln; aber noch iſt in ihr keine Ahnung, daß im Selbſtbewußtſein eine mächtige Realität auf - gehe, ja die einzige, deren wir unmittelbar inne werden, noch weniger davon, daß alle Realität nur in unſerem Erlebniß gegeben ſei. Denn dieſe Realität wird für die metaphyſiſche Beſinnung erſt vorhanden ſein, wo der Wille in ihren Horizont tritt.
Vermittelſt der neuen Methode des Socrates geſtaltete Plato die Wiſſenſchaft vom Kosmos, von ſeinem gedankenmäßigen Zu - ſammenhang und ſeiner vernünftigen einheitlichen Urſache fort. So entſtand die dem wiſſenſchaftlichen Ergebniß des Socrates entſprechende Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft. Nur dieſen Fortſchritt in dem Erkenntnißzuſammenhang heben wir aus ſeinen Schriften heraus, dem Zauber derſelben hier widerſtehend, der gerade aus der Verſchmelzung ſolcher Sätze mit den Empfindungen eines von der Schönheit der griechiſchen Welt geſättigten Genius entſpringt.
Der Fortſchritt iſt in der ſokratiſchen Schule vollzogen; Wiſſenſchaft, damals ſagte man: Philoſophie, iſt nun nicht mehr Ableitung von Erſcheinungen aus einem Prinzip, ſondern ein Gedankenzuſammenhang, in welchem der Satz durch ſeinen Er - kenntnißgrund gewährleiſtet iſt. Dieſem logiſchen Be - mußtſein Platos erſcheinen alle Denker vor Socrates wie Märchen - erzähler. „ Jeder, ſcheint es, hat uns ſein Geſchichtchen erzählt, wie Kindern. Der Eine: dreierlei wäre das Seiende, bisweilen Einiges davon unter einander im Streit, dann wieder Alles ſich befreundet, da es dann Hochzeiten giebt und Zeugungen und Auf - erziehen des Erzeugten. Ein anderer nimmt der Dinge zwei an, feucht und trocken oder warm und kalt, macht ihnen ein gemein - ſames Bett und verheirathet ſie. Unſer eleatiſches Volk aber vom Xenophanes und noch früher her trägt ſeine Geſchichte ſo vor, als ob das, was wir Alles nennen, nur Eines wäre “1)Plato, Sophiſtes 242 c d. Vgl. die verwandte Schilderung Theätet 180 f. und den entſprechenden Uebergang zu der Aufgabe, von den Behauptungen der älteren Schulen auf die Erkenntnißgründe derſelben zurückzugehen.. ImDilthey, Einleitung. 15226Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Gegenſatz hierzu iſt dem Schüler des Socrates das Merkmal wirklicher Erkenntniß der Zuſammenhang des Satzes mit dem Erkenntnißgrund und die durch ihn bedingte Denknoth - wendigkeit1)Timäus 51 e. Meno 97 f. Politie VI, 506.. Dieſer Erkenntnißzuſammenhang nach Grund und Folge gelangt daher nun als das die Wiſſenſchaft Kon - ſtituirende zum Bewußtſein. Und zwar richtet der organiſa - toriſche Geiſt Platos nicht wie Socrates an die, welche er auf dem Markte findet, ſondern an die Märchenerzähler der vergangenen Tage insgemein, „ als ob ſie ſelbſt zugegen wären “, die ſokratiſche Frage nach dem Zuſammenhang der von ihnen behaupteten Sätze mit dem in dem Bewußtſein Feſtſtehenden2)Sophiſtes 243 ff. Theätet 181 ff.. Er fragt kraft der ſokratiſchen Methode: der Dialog iſt daher ſeine Kunſtform, die Dialektik ſeine Methode; Socrates iſt der Führer des Geſprächs, den ſeine Feinde tödteten, um ſeine Fragen verſtummen zu machen, und den nun Plato an dieſen Feinden rächt.
Ja indem dieſer organiſatoriſche Geiſt die Mathematik der Zeit in ſeiner Schule zuſammenfaßt und dieſe Schule zu einem Mittelpunkt der mathematiſchen Gedankenarbeit macht, indem er die mathematiſche Naturwiſſenſchaft, insbeſondere die Aſtronomie in Be - zug auf ihren theoretiſchen Werth und ihre Evidenz prüft: bringt der Begriff einer Rechenſchaft über unſer Wiſſen die erſte Einſicht in die zuſammenhängende Organiſation der Wiſſenſchaften vom Kosmos hervor. Die Philoſophie empfängt nun die Auf - gabe, von den Vorausſetzungen, welche in jenen Wiſſenſchaften noch ohne Rechenſchaft über ihre Giltigkeit eingeführt werden, zu den erſten Erkenntnißgründen zurückzugehen, welche dieſe Rechenſchaft enthalten3)Politie VI, 511 entwirft, zum erſten Mal in der Geſchichte der Wiſſenſchaften, dieſes Problem der Wiſſenſchaftslehre; alsdann wird Politie VII, 523 — 534 eine Ueberſicht dieſer poſitiven Wiſſenſchaften gegeben, und aus ihr das Problem der Dialektik abgeleitet: „ die dialektiſche Methode allein geht, die Vorausſetzungen (ὑποϑέσεις) aufhebend, gerade zum Anfang ſelbſt, damit dieſer feſt werde “(533 c.).. Und ſo entſteht in Plato ein klares Bewußtſein über das Problem, deſſen Löſung nach der formalen Seite die griechiſche227Dieſer Fortſchritt beſteht i. d. methodiſchen Schluß auf Bedingungen.Wiſſenſchaftslehre, nach der realen die griechiſche Metaphyſik geweſen iſt. Dieſe beiden grundlegenden philoſophiſchen Wiſſenſchaften ſind in dem Geiſte Platos noch ungetrennt, und ſie ſind auch für Ariſtoteles nur zwei Seiten deſſelben Erkenntnißzuſammenhangs. Plato bezeichnet dieſen Erkenntnißzuſammenhang als Dialektik.
So tritt dieſe Rechenſchaft über das Wiſſen in die bisherige Forſchung ein, welche auf die erſten Urſachen gerichtet war. Das Erkennen ſucht die thatſächlichen Bedingungen, unter deren Annahme das Sein wie das Wiſſen, der Kosmos wie das ſittliche Wollen gedacht werden können. Dieſe Be - dingungen liegen für Plato in den Ideen und ihren Be - ziehungen zu einander; die Ideen ſtehen nicht unter der Rela - tivität der ſinnlichen Wahrnehmung und werden nicht von den Schwierigkeiten einer Erkenntniß der veränderlichen Welt berührt; ſie treten vielmehr neben die Erkenntniß der ruhen - den, ſich immer gleichen und typiſchen räumlichen Gebilde und ihrer Beziehungen ſowie der Zahlen und ihrer Ver - hältniſſe. Gleich ihnen werden ſie in der Veränderlichkeit der Welt nirgend als einzelne äußere Objekte geſehen, ſind aber in ihrem typiſchen Beſtande die für den Verſtand darſtellbaren, einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Behandlung zugänglichen Bedingungen, welche Daſein und gleicherweiſe Erkenntniß der Welt möglich machen1)Politie VII, 527 b wird die Meßkunſt als eine „ Wiſſenſchaft des immer Seienden “bezeichnet und dem entſprechend neben die Entwicklung der Ideen geſtellt. Die rein theoretiſche Gedankenarbeit Platos iſt von der Mathematik als der damals ſchon konſtituirten Wiſſenſchaft geleitet. Iſt ihm zunächſt die Zahl das ſinnliche Schema des rein Begrifflichen, ſo drängte die Konſequenz ſeines Syſtems zu einer Unterordnung der mathe - matiſchen Größen und der Ideen unter einen gemeinſamen Begriff, welcher dann der allgemeinſte Ausdruck der Bedingungen für die Denkbarkeit der Welt wäre. Dieſen fand er ſpäter in einem abſtrakteren Begriff von Zahl: dem entſprechend unterſchied er zwiſchen Zahlen im engeren Verſtande, welche aus gleichartigen Einheiten beſtehen, ſo daß jede dieſer Zahlen von der anderen nur der Größe nach verſchieden iſt, und den Idealzahlen, deren jede von der anderen der Art nach unterſchieden iſt..
Die revolutionäre Erſchütterung der europäiſchen Wiſſen - ſchaft hat ſo zu einer höheren Stufe des methodiſchen15*228Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Denkens geführt; wir bezeichnen das Verhältniß dieſer Stufe zu den älteren Verſuchen, welche wir nunmehr hinter uns laſſen.
Die Mittel zu den bisherigen intellektuellen Fortſchritten lagen, wie die Entwicklung ſeit Thales zeigt, in der Erweiterung der Erfahrung und der Anpaſſung von Erklärungen an deren Thatbeſtand. Das Verfahren des Denkens, welches die Geſchichte der Wiſſenſchaften hierbei gewahren läßt, iſt ein Einſetzen von Vorausſetzungen (Subſtitution), alsdann eine verſuchsweiſe Be - nutzung derſelben; unvollkommene Erklärungen gehen beſtändig in großer Zahl zu Grunde, wie wir denn dieſe Grauſamkeit des Zweckzuſammenhangs gegenüber der mühſamen Arbeit der Indi - viduen beſtändig um uns ausgeübt ſehen und ſelber von ihr be - droht ſind; lebensfähige dagegen paſſen ſich den Anforderungen an Erkenntniß der Wirklichkeit ſchrittweiſe an und bilden ſich ſo fort. So haben ſich die Atomtheorie und die Lehre von den ſubſtan - tialen Formen allmälig entwickelt. Und als Grundlage dieſer Einordnung der Erfahrungen unter lebensfähige Erklärungen wird, wenn auch noch in beſcheidenem Umfang, die Mathematik bereits benutzt. — Nun beſtehen die Erklärungen der Wiſſenſchaft bis zu der in Plato vollzogenen Umwälzung nur in einem unmethodiſchen Schlußverfahren auf Urſachen, auf einen urſächlichen kosmiſchen Zuſammenhang. Von Plato ab iſt Erklärung der methodiſche Rückgang auf die Bedingungen, unter welchen eine Wiſſen - ſchaft vom Kosmos möglich iſt. Dieſe Methode geht von der Korre - ſpondenz des Erkenntnißzuſammenhangs mit dem realen Zuſammen - hang im Kosmos aus. Daher ſie, auf der Baſis der natürlichen An - ſicht, dieſe Bedingungen zugleich in irgend einer Weiſe als Urſachen (ſonach als Vorausſetzungen, Prinzipien) betrachtet. — Wird dieſe Form des wiſſenſchaftlichen Verfahrens für ſich dargeſtellt, ſo ſondert ſich die Logik von dem metaphyſiſchen Syſtem ſelber, wenn auch beide vermittelſt der Vorausſetzung der Korreſpondenz mit einander in innerer Verbindung bleiben. Dieſen Schritt ſollte erſt Ariſtoteles thun, und damit verſchaffte er dieſer auf dem Boden der natürlichen Weltanſicht errichteten Metaphyſik erſt volle Klarheit über ihr Ver - fahren. Seine Logik iſt demgemäß nur die Darſtellung der Form der eben dargelegten vollkommneren Methode der Metaphyſik.
Und welches ſind nun die Prinzipien, welche dieſe Rechen - ſchaft über unſer Wiſſen auffindet und deren Entwicklung das letzte Ziel der platoniſchen Wiſſenſchaft iſt?
Die Metaphyſik Europas thut nun auch in Rückſicht ihres Inhaltes einen weiteren entſcheidenden Schritt. Die konſtanten Bedingungen der veränderlichen Welt konnten in der damaligen Lage der Wiſſenſchaft, in welcher Vorſtellungen, wie die von der Urſprünglichkeit und Vollkommenheit kreisförmiger Bewegungen am Himmel oder von dem Streben jedes durch Stoß bewegten Körpers auf der Erde nach ſeinem Ruhezuſtand noch nicht durch eine beharrliche, vom Verſuch unterſtützte Arbeit der Zerlegung komplexer Zuſammenhänge in die einzelnen Verhältniſſe von Abhängigkeit verbeſſert worden waren, keineswegs mit wirklichem Nutzen für die Erkenntniß in Atomen und deren Eigen - ſchaften aufgeſucht werden. Denn zwiſchen dieſen Atomen und dem Formzuſammenhang des Kosmos fehlte jede Verbindung. In dem Syſtem der Formen ſelber und in demſelben ent - ſprechenden pſychiſchen Urſachen mußte der europäiſche Geiſt den metaphyſiſchen Zuſammenhang der Welt ſehen, welcher ihren letzten Erklärungsgrund enthalte.
Wer empfände nicht in dem beſtrickenden Glanz der ſchönſten Werke Platos, daß die Ideen nicht nur als Bedingungen für das Gegebene in ſeiner reichen dichteriſchen, ethiſch gewaltigen Seele Beſtand hatten. Seine Ausgangspunkte ſind die ſittliche Perſon, der Enthuſiasmus, die Liebe, die ſchöne, gedankenmäßige, in Maßen geordnete Welt, ſein Ideal iſt das wahrhaft Seiende, welches alle Vollkommenheit in ſich ſchließt, die ſeine erhabene Geiſtes - richtung forderte. Er ſchaute die Ideen in dieſem Thatbeſtand, dachte ſie nicht nur als die Bedingungen deſſelben. An dieſer Stelle muß aber jede Erörterung ausgeſchloſſen bleiben, welche den Urſprung dieſer großen Lehre zum Gegenſtande hat. Wir haben230Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.es mit dem Zuſammenhang ſeiner Gedanken zu thun, ſofern dieſer in der Beweisführung auftritt und in dieſer ſyſtematiſchen Form den weiteren Fortgang der europäiſchen Metaphyſik beſtimmte.
Das Seiende, welches dem Werden und Vergehen entnommen iſt, findet die von Plato ausgehende Richtung des meta - phyſiſchen Geiſtes in dem Hintergrund der in Raum und Zeit auftretenden Erſcheinungen, den unſere Allgemeinvorſtellungen ausdrücken oder zu dem ſie doch emporleiten. Die Metaphyſik ſetzt damit nur fort, was die Sprache begonnen hat. Dieſe bereits hat in den Namen für Allgemeinvorſtellungen, insbeſondere für die Gattungen und Arten, Weſenheiten aus den einzelnen Er - ſcheinungen herausgehoben. Die Anwendung der Worte führt unvermeidlich mit ſich, daß dies immer Wiederkehrende, welches das Vorſtellen als einen Typus an die Dinge heranbringt, wie eine Macht über ſie empfunden wird, welche die Dinge ein Geſetz zu verwirklichen zwingt. Die Allgemeinvorſtellung, welche in dem Sprachzeichen einen abgeſchloſſenen Ausdruck empfängt, enthält ſchon ein Wiſſen von dem ſich Gleichbleibenden im Kommen und Gehn der Eindrücke, ſoweit dieſes ohne Ana - lyſis der Erſcheinungen, ſonach aus der bloßen Anſchauung derſelben hergeſtellt werden kann. Jedoch vollzieht ſich in der Sprache dieſer Vorgang ohne Bewußtſein des Werthes ſeiner Er - zeugniſſe für die Erkenntniß des Zuſammenhangs der Erſcheinungen. Indem nun das Bewußtſein hiervon aufgeht, ſonach dieſe Allgemeinvorſtellungen in ihrer Beziehung zu den Thatſachen, welche durch ſie vorgeſtellt werden, ſowie zu den anderen neben -, über - oder untergeordneten Allgemeinvorſtellungen beſtimmt, be - richtigt und definirt werden, entſteht der Begriff und der Zuſammenhang der Begriffe. Und indem die Philoſophie den Inhalt und den Zuſammenhang der Welt in dem Syſtem dieſer Begriffe feſtzuſtellen unternimmt, entſteht diejenige Form der Me - taphyſik, welche als Begriffsphiloſophie bezeichnet werden kann; dieſelbe hat ſo lange das europäiſche Denken beherrſcht, bis ſozu - ſagen von der tiefer liegenden Gleichförmigkeit des Weltzuſammen - hangs der Vorhang weggezogen worden iſt.
231D. Lehre v. d. ſubſtantial. Formen e. nothw. Stadium d. Metaphyſik.Dieſe Metaphyſik der ſubſtantialen Formen drückte aus, was das unbewaffnete Auge der Erkenntniß erblickt. Das, was das Spiel der Kräfte im Kosmos ſtets neu hervorbringt, bildet einen erkennbaren, immer gleichen Inhalt der Welt. Das, was im Wechſel der Orte, Bedingungen und Zeiten ſtets wiederkehrt, nein vielmehr immer da iſt und niemals ſchwindet, bildet einen Zuſammenhang der Ideen, dem Unvergänglichkeit zukommt. Während der einzelne Menſch an einer einzelnen Stelle in Raum und Zeit auftritt und verſchwindet: verharrt doch, was in dem Begriff des Menſchen ausgedrückt iſt. Auch denken wir an nichts anderes zunächſt, wenn wir den Gehalt der Welt uns vorzuſtellen bemüht ſind. Wir denken an die Gattungen und Arten, Eigenſchaften und Thätigkeiten, welche die Buchſtaben der Schrift dieſer Welt bilden. Dieſe ſind, in ihren Beziehungen zu einander aufgefaßt, für das natürliche Vorſtellen der unveränderliche Beſtand der Welt, welchen dies Vorſtellen fertig vorfindet, an dem es gar nichts zu ändern vermag und der ihm daher als objektiver zeitloſer Beſtand gegenüberſteht. Wie ſie dann zu Begriffen in der Wiſſenſchaft geprägt worden ſind, enthielten ſie ſo lange unſere Erkenntniß des Weltinhaltes, als wir nicht die Erſcheinungen aufzulöſen und durch Zergliederung auf Zuſammenwirken von Geſetzen zurückzuführen vermochten. Während dieſer ganzen Zeit war die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen das letzte Wort der europäiſchen Erkenntniß. Und auch nachher fand das metaphyſiſche Denken in der Beziehung des Naturmechanismus zu dieſem ideellen und in Zuſammenhang hiermit teleologiſch aufgefaßten Gehalt des Weltlaufs ein neues Problem.
Jedoch konnte auf dem Standpunkt des natürlichen Syſtems unſerer Vorſtellungen, welchen die Metaphyſik einnimmt, das Verhältniß dieſer Ideen, wie ſie den konſtanten Inhalt des Weltlaufs bilden, zu dieſem ſelber, zu der Wirklichkeit, nicht auf angemeſſene Weiſe beſtimmt werden. Einerſeits hat erſt die Erkenntnißtheorie, indem ſie das, was im Denken als Erklärungs - grund gegeben iſt, nach ſeinem Urſprung und ſeiner durch den -232Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.ſelben bedingten Geltung von dem ſondert, was in der Wahr - nehmung als Wirklichkeit gegeben iſt, das Verhältniß des Dinges zur Idee richtig auszudrücken vermocht. Daher ſehen wir jede metaphyſiſche Theorie dieſes Verhältniſſes an ihren Widerſprüchen zu Grunde gehen; jede ſcheiterte an der Unmöglichkeit, das Ver - hältniß der Ideen zu den Dingen inhaltlich in Begriffen auszu - drücken. Andrerſeits hat erſt die poſitive Wiſſenſchaft, welche das Allgemeine in dem Geſetz des Veränderlichen aufſuchte, die wahr - haft wiſſenſchaftliche Grundlage geſchaffen, durch welche für dieſe Typen der Wirklichkeit die Grenzen ihrer Geltung und die Unter - lage ihres Beſtandes feſtgeſtellt wurden.
Dies war im Allgemeinen die geſchichtliche Stellung der Metaphyſik der ſubſtantialen Formen, deren Schöpfer Plato ge - weſen iſt, innerhalb des Zuſammenhangs der intellektuellen Ent - wicklung.
Innerhalb dieſer Metaphyſik der ſubſtantialen Formen ent - wickelte nun aber Plato nur eine der Möglichkeiten, das Verhältniß dieſer Ideen zu der Wirklichkeit und den Einzel - dingen auszudrücken, alſo ein reales Sein der Ideen mit dem realen Sein der Einzeldinge in einen inneren objektiven Zu - ſammenhang zu bringen. Platos Idee iſt der Gegenſtand des begrifflichen Denkens; wie dieſes an den Dingen die Idee heraus - hebt als urbildlich, nur in dem Gedanken auffaßbar, vollkommen, ſo beſteht dieſelbe, abgeſondert von den Einzeldingen, welche zwar Theil an ihr haben, aber hinter ihr zurückbleiben: eine ſelb - ſtändige Weſenheit. Das Reich dieſer ungewordenen, unvergäng - lichen, unſichtbaren Ideen erſcheint wie durch goldene Fäden mit dem mythiſchen Glauben im griechiſchen Geiſte verbunden. Wir bereiten die Darlegung der Beweisführung für die Ideenlehre vor, indem wir einige einfache Beſtandtheile ihres Zuſammenhangs herausheben, auf welche die offen daliegenden Schriften überall zurückführen.
Die Kritik der ſinnlichen Wahrnehmung ſowie der in ihr gegebenen Wirklichkeit hatte zu unwiderleglichen Ergebniſſen ge - führt; ſo fand ſich Plato auf das Denken und eine in dieſem233Die Ideenlehre Platos als eine einzelne Geſtalt dieſer Lehre.gegebene Wahrheit verwieſen. In dieſem Zuſammenhang ſondert er nun das Objekt des Denkens von dem der Wahrnehmung. Denn er erkennt die Subjektivität der Sinneseindrücke vollſtändig an, dringt jedoch nicht zu der Einſicht vor, daß die Thatſache des Seins ſelber in dieſen Eindrücken, in der Erfahrung mitenthalten iſt, und ſo erfaßt er nicht in dieſer durch Erfahrung gegebenen Wirklichkeit zugleich das Objekt des Denkens, betrachtet nicht das Denken in ſeiner natürlichen Beziehung zum Wahrnehmen; viel - mehr iſt das Denken ihm Erfaſſen einer beſonderen Realität, eben des Seins. Hierdurch vermied er zwar den inneren Widerſpruch, in welchen der Objektivismus des Ariſto - teles ſpäter durch Annahme eines allgemeinen Realen in dem Einzelnen gerieth, verfiel aber freilich in Schwierigkeiten anderer Natur. — Alsdann nahm in Plato mit den Jahren die Richtung auf die Ausbildung einer ſtrengen Wiſſenſchaft von den Be - ziehungen dieſer Ideen zu. Dem Griechen jener Zeit ſtand der Vorgang noch nahe genug, in welchem die Mathematik ſich von den praktiſchen Aufgaben als Wiſſenſchaft losgelöſt und ihre Sätze miteinander in Verbindung gebracht hatte; Plato wollte in ſeiner Schule neben, ja über der Mathematik nun auch die Wiſſen - ſchaft von den Beziehungen der Begriffe konſtituiren. — Wie erheblich aber auch dieſe theoretiſchen Beweggründe der Ideen - lehre waren, dieſelbe hatte für Plato einen weiter zurückliegenden Halt in anderen Beweggründen, welche über das Erkennen hinaus - reichen. Auch nachdem der mythiſche Zuſammenhang dem wiſſen - ſchaftlichen Denken Platz gemacht hatte, finden wir etwas, was aus der Totalität des Seelenlebens ſtammt, als den unauflöslichen Hintergrund in allen gedankenmäßigen Erfindungen: in dem Welt - geſetz Heraklit’s wie in dem ewigen Sein der Eleaten; es bildet den Hintergrund in den Zahlen der Pythagoreer wie in der Liebe und dem Haſſe des Empedocles und in der Vernunft des Anaxagoras, ja ſelbſt in dem durch die Welt verbreiteten Seeliſchen des De - mokrit. Das Erlebte, Erfahrene wurde nun durch Socrates und Plato noch in weiterem Umfang zu philoſophiſcher Beſinnung gebracht. Die methodiſche Selbſtbeſinnung ließ die großen ethiſchen234Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Thatſachen hervortreten, welche vordem eben ſo da, aber gewiſſer - maßen unter dem Horizont der philoſophiſchen Beſinnung ge - blieben waren. Man kann die Frage aufwerfen, ob nicht die Ideenlehre in der erſten Konception, wie ſie der Phädrus zeigt, noch auf ſittliche Ideen beſchränkt war. Gleichviel welche Be - antwortung dieſe Frage finde: das Typiſche, Urbildliche in den Ideen beweiſt, welchen Antheil die erhabene Stimmung des pla - toniſchen Geiſtes, das Sittliche und Aeſthetiſche an der Ausbil - dung ſeiner Ideenwelt hatte.
Dies alſo war es, was der jugendliche Plato aus den Be - griffsbeſtimmungen ſeines Lehrers mit dem Blick des Genius herauslas. Das wahre, ewige Sein kann in dem Syſtem der Begriffe, welche das im Wechſel Beharrende erfaſſen, dargeſtellt werden. Dieſe in Begriffen darſtellbaren Beſtandtheile, die Ideen, und ihre Beziehungen zueinander bilden die denknothwendigen Bedingungen des Gegebenen. Plato bezeichnet in dieſem Zu - ſammenhang die Ideenlehre geradezu als „ ſichere Hypotheſis “1)Phädo 100 f.. Die Wiſſenſchaft dieſer Ideen, ſeine Wiſſenſchaft, iſt daher, wie man richtig geſagt hat, ontologiſch, nicht genetiſch.
Das aber, was der Begriff an der Wirklichkeit nicht erfaßt, was ſonach nicht aus der Idee begreiflich gemacht werden kann — iſt die Materie. Eine geſtaltloſe, unbegrenzte Weſenheit, Urſache und Erklärungsgrund (ſofern ſie überhaupt etwas erklärt) für den Wechſel und die Unvollkommenheit der Phänomene, der dunkle Reſt, welchen die Wiſſenſchaft des Plato von der Wirklichkeit als ge - dankenlos, ſchließlich unfaßbar zurückläßt, ein Wort für einen Un - begriff d. h. für das x, deſſen nähere Erwägung dieſe ganze Formenlehre ſpäter vernichten ſollte.
Und welches ſind nun die Glieder der Beweisführung, vermittelſt deren Plato die Ideen, welche er in dem ethiſch mächtigen Menſchengeiſte, in dem ſchönheiterfüllten, gedankenmäßigen Kosmos235D. Exiſtenz v. d. Ding. geſond. Ideen a. Thatſ. d. Wiſſens bewieſen.ſchaute, als die Bedingungen des Gegebenen nachwies? vermittelſt deren er ihre Beſtimmungen ableitete und die Wiſſenſchaft ihrer Beziehungen entwarf?
Es entſprach dem Zuſammenhang der großen Bewegung, die er zum Stehen brachte, daß die Anforderung, die Möglichkeit des Wiſſens aufzuweiſen, ihm im Vordergrund ſtand. Dieſe Möglichkeit ſah er rings von den Sophiſten beſtritten; durch eine Erweiterung der philoſophiſchen Beſinnung war ſie eben von Socrates vertheidigt worden; ihr war das intellektuelle Intereſſe zugewandt.
Die Beweisführung Platos aus dem Wiſſen iſt indirekt. Sie ſchließt die Möglichkeit aus, daß das Wiſſen aus der äußeren Wahrnehmung entſpringe und folgert ſo, daß daſſelbe einem von der Wahrnehmung unterſchiedenen, ſelbſtändigen Denkvermögen angehöre. Sie korreſpondirt der anderen Beweisführung, daß das höchſte Gut nicht in der Luſt beſtehe, die Gerechtigkeit nicht aus dem Kampf der Intereſſen ſinnlicher Weſen entſpringe, ſonach das Handeln des Einzelnen wie des Staates in einem von unſerem ſinnlichen Weſen unabhängigen Beweggrund angelegt ſein müſſe. Beiden Beweisführungen liegt als Oberſatz eine Disjunktion zu Grunde, deren Unvollſtändigkeit Platos Begründung unzureichend macht. Zuſammen ſondern ſie ein höheres Vermögen der Ver - nunſt von der Sinnlichkeit. Von dieſem aus erſchließt dann Plato die Exiſtenz der Ideen als ſelbſtändiger Weſenheiten auf folgende Weiſe.
Unabhängig von der äußeren ſinnlichen Erfahrung trägt nach Plato der Menſch die ideale Welt in ſich. Die Selbſtbeſinnung des Socrates iſt in Platos mächtiger Perſönlichkeit erweitert, ge - ſteigert. In der künſtleriſchen Darſtellung, welche Plato in ſeinen Schriften von Socrates giebt, der höchſten Schöpfung des dich - teriſchen Vermögens der Athener, iſt dieſe Selbſtbeſinnung gleichſam Perſon geworden. Plato zeigt alsdann analytiſch die Inhaltlichkeit der Menſchennatur in dem Dichter, in dem religiöſen Vorgang, in dem Enthuſiasmus. Er entnimmt endlich einen ſtrengen Be - weis für das Vorhandenſein eines Wiſſensinhaltes236Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.im Menſchen, welcher unabhängig von der Erfahrung in ihm ſei, aus der Wiſſenſchaft ſeiner Zeit und ſeiner Schule, der Mathematik, und auch in dieſem Punkte iſt er der Vorgänger Kant’s. Draſtiſch zeigt der Dialog Meno, wie mathematiſche Wahrheit nicht erworben, ſondern in ihr nur eine vorhandene innere Anſchauung entwickelt wird1)Meno 82 ff. vgl. Phädo 72 ff.. Die Bedingung dieſes Thatbeſtandes iſt für Plato die transſcendente Berührung der Seele mit den Ideen, und dieſe Lehre Platos tritt als Verſuch der Erklärung für den von der äußeren Wahrnehmung unabhängigen Inhalt unſeres geiſtigen Lebens, hier zunächſt unſerer Intelligenz, neben die Theorie von Kant.
Der Thatbeſtand, um welchen es ſich handelt, wird von Kant auf eine Form des Geiſtes, der Intelligenz wie des Willens zu - rückgeführt. Dies iſt im Grunde gar nicht vorſtellbar. Aus einer bloßen Form des Denkens kann eine inhaltliche Beſtimmung unmöglich entſtehen; die Urſache, das Gute ſind aber augenſchein - lich ſolche inhaltliche Beſtimmungen. Und wäre die Verhältniß - vorſtellung der Kauſalität oder der Subſtanz in einer Form unſerer Intelligenz gegründet, wie etwa die von Gleichheit oder Verſchiedenheit iſt, ſo müßte ſie ebenſo eindeutig beſtimmt und der Intelligenz durchſichtig als dieſe ſein Daher enthält Platos Lehre zunächſt eine auch Kant gegenüber haltbare Wahrheit.
Hier aber tritt andrerſeits die Grenze des griechiſchen Geiſtes her - vor. Die wahre Natur der inneren Erfahrung war noch nicht in ſeinem Geſichtskreis. Für den griechiſchen Geiſt iſt alles Erkennen eine Art von Erblicken; für ihn beziehen ſich theoretiſches wie praktiſches Verhalten auf ein der Anſchauung gegenüberſtehendes Sein und haben daſſelbe zur Vorausſetzung; ihm iſt ſonach das Erkennen ſo gut als das Handeln Berührung der Intelligenz mit etwas außer ihr, und zwar das Erkennen eine Aufnahme dieſes ihm Gegenüberſtehenden.
Und hierbei iſt es gleich, ob die Stellung des Subjekts eine ſkeptiſche oder dogmatiſche iſt: der griechiſche Geiſt faßt Erkennen237Vorausſetzung dieſes Beweiſes in der Auffaſſung des Wiſſens.und Handeln als Arten der Beziehung dieſes Subjektes zu einem Sein. Der Skepticismus behauptet nur die Unfähigkeit des auf - faſſenden Vermögens, das Objekt zu erfaſſen, wie es iſt; er lehrt daher nur die theoretiſche wie praktiſche Zurückziehung des Subjekts auf ſich ſelber, die Enthaltung, ſeine Einſamkeit inmitten des Seienden. Dagegen geht das dogmatiſche Verhalten der griechiſchen Denker von dem ſicheren Gefühl der Verwandtſchaft mit dem Naturganzen aus; ſo iſt es ſchließlich in der griechiſchen Naturreligion be - gründet; ſo drückt es ſich in dem Satze aus, der den älteren dog - matiſchen Theorien der Wahrnehmung wie des Denkens zu Grunde liegt: Gleiches wird durch Gleiches erkannt. Aus dieſer griechiſchen Denkweiſe entſpringt Platos Schluß: der Inhalt, welchen die Seele in ſich findet, jedoch nicht in der Erfahrung während ihres dies - ſeitigen Lebens erworben hat, muß vor demſelben erworben ſein; unſer Wiſſen iſt Erinnerung, die Ideen, welche wir in uns finden, haben wir geſchaut. Selbſt unſere ſittlichen Ideen ſind nach Plato vermöge einer ſolchen Anſchauung für uns da. Geht man von der frühen Entſtehung des Phädrus aus, ſo liegt hier die fundamen - tale Begründung der Lehre von der Transſcendenz der Ideen1)Die Grenze des Mythiſchen und Scientifiſchen in dieſer Beweis - führung Platos kann allerdings der Natur der Sache nach nicht genau feſtgeſtellt werden. Schleiermacher, Geſchichte der Philoſ. S. 101 hat die - ſelbe daher dahin umgedeutet: „ Plato nannte dieſes zeitloſe, vom urſprüng - lichen Schauen abgeleitete Einwohnen eine μνήμη “. Die Vorausſetzung der Ideenlehre bleibt aber auch in der Region der Zeitloſigkeit Beziehung eines überall und immer ſich ſelber gleichen Wiſſens auf ein ſein reales Objekt bildendes zeitloſes und überall ſich ſelber gleiches Sein. Im Uebrigen vgl. Zeller, II, 1 3, S. 555 ff..
Alle anderen einigermaßen ſtrengen Schlüſſe Platos aus dem Wiſſen auf die Ideenlehre als ſeine Bedingung beruhen auf den - ſelben Grundlagen. Das Wiſſen iſt nicht aus Wahrnehmen und Vorſtellen ableitbar, ſondern von ihm geſondert und ihm gegenüber ſelbſtändig; dem ſo geſonderten Wiſſen muß auch ein für ſich beſtehender Gegenſtand entſprechen. — So ſchließt Plato: dem unveränderlichen Wiſſen muß nach ſeinem Unterſchied von der veränderlichen Wahrnehmung ein unveränder -238Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.licher Gegenſtand zukommen; bleibt doch der Begriff in der Seele, während das Ding untergeht, ſonach muß ihm ein bleibender Gegenſtand entſprechen. — Oder er folgert mit Zu - hilfenahme der eleatiſchen Sätze: ein Nichtſeiendes iſt nicht erkenn - bar, und da die Vorſtellung ſich auf das bezieht, was Sein und Nichtſein in ſich vereinigt, ſo iſt die Vorſtellung nur theilweiſe Erkenntniß; da nun im Begriff ein wahres Wiſſen gegeben iſt, ſo muß derſelbe ein von dem Objekt der Vorſtellung unterſchiedenes Objekt haben. — Derſelbe Zuſammenhang von Wiſſen und Sein wird dann auch von dem Begriff des Seins aus entwickelt: das Ding ſtellt das, was in ſeinem Begriff enthalten iſt, nicht rein dar, ſondern ſeine Prädikate ſind relativ und wechſelnd; alſo hat es keine volle Wirklichkeit, ſondern dieſe kommt nur dem zu, was der Begriff ausdrückt; dieſer aber kann aus keiner Wahr - nehmung der Dinge abſtrahirt werden.
So ſteht innerhalb des Umkreiſes der Selbſtbeſinnung, welche mit der ſokratiſchen Schule in die Metaphyſik eintrat und ihren Horizont erweiterte, gerade die Beſinnung über das Wiſſen im Vordergrund, indem vom Wiſſen aus auf ſeine Bedingung, die Ideen geſchloſſen wird. Jedoch verbindet ſich mit dieſem Schluß der aus dem Sittlichen. Denn die ganze Inhalt - lichkeit der Menſchennatur, wie dieſer Geiſt von gewaltiger Realität ſie in ſich erfuhr, iſt ihm, als aus der Sinnlichkeit nicht ableitbar, ein Beweis für ihren Zuſammenhang mit einer höheren Welt.
Demgemäß hat der zweite Beſtandtheil des für Platos Syſtem grundlegenden disjunktiven Schluſſes auf die Selbſtändig - keit der Vernunft zu ſeinem Oberſatz die Disjunktion: das Ziel des Handelns für den Einzelnen iſt entweder aus der Luſt ab - zuleiten oder aus einem von ihrer Vergänglichkeit abgeſonderten, ſelbſtändigen Grunde des Sittlichen; das Ziel des Staatswillens iſt entweder durch die einander bekämpfenden ſelbſt - ſüchtigen, auf Luſt gerichteten Intereſſen entſtanden oder in einem von ihnen unabhängigen Weſenhaften gegründet. Platos Polemik gegen die Sophiſtik ſchließt das erſte Glied der Dis - junktion aus, und dieſe Ausſchließung bildet den Unterſatz ſeines239Der Beweis aus dem ſittlichen Bewußtſein hat dieſelbe Vorausſetzung.Schluſſes. Seine Erörterungen hierüber entwickeln wahrhaft tief - ſinnig den Gehalt unſeres ſittlichen Bewußtſeins; ſo wird ein neuer Kreis der wichtigſten Erfahrungen (vorbereitet von der ſo - kratiſchen Schule) über den Horizont der philoſophiſchen Beſinnung erhoben und bleibt fortan im Bewußtſein der Menſchheit. — Aber wie in Socrates, ſtoßen wir an dieſer Stelle auch in Plato wieder an die der griechiſchen Geiſtesart eigenthümlichen Schranken. Auch wo dieſem gleichſam dem Kosmos eingeordneten Bewußt - ſein die Selbſtbeſinnung aufgeht, findet dieſelbe nicht in unmittel - barem Innewerden die Realität der Realitäten gegeben, das willenerfüllte Ich, in welchem die ganze Welt erſt da iſt, nein: Anſchauung, welche ja nur in der Hingabe an das Angeſchaute exiſtirt, bildende Kraft, welche das Geſchaute an dem Stoffe der Wirklichkeit geſtaltet, das iſt das Schema, unter welchem dieſe Selbſtbeſinnung das Geiſtige und ſeinen Inhalt erblickt. Und wo der ſkeptiſche Geiſt auf dieſes Verhältniß zum Objekt verzichtet, bleibt ihm nur „ Enthaltung “. Daher begreift Plato den ſelb - ſtändigen Grund des Sittlichen nur als ein Anſchauen der Urbilder des Schönen und Guten. So ordnet ſich der Schluß aus dem ſittlichen Bewußtſein auf Grund der angegebenen Disjunktion zuletzt der Folgerung aus dem Wiſſen unter. Dieſer Schluß hat zunächſt das Daſein des von der Luſt unabhängigen weſenhaften Sittlichen abgeleitet, und von dieſem Ergebniß aus erweiſt er alsdann, daß die Thatſache des Sittlichen die Urbilder des Schönen und Guten zu ihrer Bedingung hat, auf welche ſchauend wir handeln1)Es könnte gezeigt werden, wie jede ſtrengere Begründung der Ideen - lehre ſolchergeſtalt die Vorſtellung der Berührung mit dem Gegenſtande (den unſinnlichen Ideen) in dem[anſchaulichen] Denken vorausſetzt. Und mit dieſem inneren Zuſammenhang ihrer Begründung iſt in Ueberein - ſtimmung, daß der Phädrus aus ganz anderen, nämlich literarhiſtoriſchen Gründen, welche von Schleiermacher, Spengel und Uſener entwickelt worden ſind, als eine frühe Schrift Platos anerkannt werden muß, gerade dieſen Zuſammenhang der Ideenlehre aber in einem erſten Wurfe enthält, und zwar ausgehend von der Zurückführung des ſittlichen Bewußtſeins auf eine ſolche Berührung..
240Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.In einem grandioſen Gleichniß iſt dieſer Zuſammenhang von Plato dargeſtellt worden. Die Idee des Guten iſt die Königin der geiſtigen Welt, wie die Sonne die der ſichtbaren. Der Geſichts - ſinn für ſich ermöglicht nicht das Wirkliche zu ſehen, ſondern das Licht, das von der Sonne ausſtrömt, muß daſſelbe offenbaren; daher ſind der Geſichtsſinn und das Wahrnehmbare durch das Band des Lichtes zum Sehen miteinander verbunden; dieſelbe Sonne gewährt dem Sichtbaren auch ſeine Entſtehung und ſein Wachs - thum. So iſt die Idee des Guten das geheimnißvolle, aber reale Band des Kosmos. In dieſem Gleichniß iſt der Zuſammenhang ausgedrückt, in welchem die Metaphyſik den letzten Grund des Erkennens mit der letzten Urſache der Wirklichkeit verknüpft.
Und hier nehmen wir den Faden der Geſchichte des meta - phyſiſchen Schlußverfahrens aus aſtronomiſchen Thatſachen wieder auf. Dieſes Schlußverfahren vermittelt in Platos Syſtem eine Vorſtellung vom Wirken der Ideenwelt, welche freilich nur den Werth eines Mythus hat. Mathematik und Aſtronomie ſind noch für Plato die einzigen Wiſſenſchaften des Kosmos, und auch er ſchließt in erſter Linie aus der gedankenmäßigen An - ordnung der Geſtirnwelt, deren Ausdruck ihre Schönheit iſt, auf die vernünftige Urſache derſelben. „ Zu ſagen aber, daß Vernunft Alles anordnete, ziemt dem, der die Welt und Sonne, Mond und Sterne und den ganzen Umſchwung anſchaut “1)Plato Philebus 28 e vgl. 30 und beſonders Timäus ſowie Geſetze an verſchiedenen Stellen.. Seinen näheren Schlüſſen legt er folgende Theorie zu Grunde. Jede durch Stoß mitgetheilte Bewegung geht in Ruhe - zuſtand über. Dies wurde damals irrthümlich aus der Erfahrung von den Bewegungen geſtoßener Körper abſtrahirt; man ſah jeden Körper auf der Erde nach einem einzelnen Anſtoß in den Ruhe - ſtand zurückkehren und hatte noch von Reibung und Luftwider - ſtand keine Vorſtellung. So wird allein der Seele die Fähigkeit zugeſchrieben, von innen und daher dauernd zu bewegen, die Be - wegung bloßer Körper wird als mitgetheilt betrachtet und jede mit -241Die Transſcendenz Platos und die des Chriſtenthums.getheilte Bewegung als vorübergehend. Das ſind Vorausſetzungen, welche ſchon der Phädrus entwickelt, und dieſer Pſychismus ſtimmt mit dem mythiſchen Vorſtellen überein. Hieraus ergiebt ſich dann der Schluß von den regelmäßigen und konſtanten Bewegungen der Geſtirne auf konſtant wirkende pſychiſche Weſenheiten als Ur - ſachen dieſer Bewegungen. Solche intelligente Urſachen müſſen andrerſeits aus den harmoniſchen mathematiſchen Verhältniſſen der Sphärendrehungen gefolgert werden, in welche ſich die Bahnen der Wandelſterne zerlegen laſſen. Denn die Verhältniſſe der Dre - hungen nach Umfang, Richtung und Geſchwindigkeit, die ſich da - mals der mechaniſchen Betrachtung gänzlich entzogen, werden als Verhältniſſe pſychiſcher Weſenheiten zu einander aufgefaßt und begreiflich gemacht. Und hierüber hinaus liegt überhaupt auf dem ganzen Kosmos der Wiederſchein der Ideen.
Die Transſcendenz dieſer platoniſchen Ideenordnung hat ſich ſpäter mit der Transſcendenz der unſichtbaren Welt des Chriſten - thums verſchmolzen. In ihrem innerſten Charakter ſind beide durchaus verſchieden. Wol hat Plato die irdiſche Welt als ein ihm Fremdes empfunden; aber nur inſofern ſie nicht der reine Ausdruck weſenhafter Formen iſt. Er flüchtet in das Reich dieſer vollkommenen Formen, und ſo bleibt der höchſte Aufſchwung ſeiner Seele an den Kosmos gebunden. Die Beziehungen dieſer transſcen - denten Weſenheiten zu einander ſind ihm nur gedankenmäßige, ja ſie werden, wie die Beziehungen geometriſcher Gebilde, durch Ver - gleichung, Feſtſtellung von Verſchiedenheit ſowie von theilweiſer Gemeinſchaft erkannt. Und indem er den wirklichen Kosmos von ihnen aus unter Vermittlung der Idee des Guten zu erklären unternimmt, iſt es, in allem mythiſchen Glanze, der ſeine Dar - ſtellung umgiebt, ein von den äußeren kosmiſchen Bewegungs - zuſammenhängen entnommenes Schema, unter welchem er das Wirken der Gottheit ſelber vorſtellt: ein Weltbildner, welcher eine Materie formt.
Dilthey, Einleitung. 16Ariſtoteles hat die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen vollendet. In dieſer ſuchte die Wiſſenſchaft das im Wechſel und der Veränderung Gleichförmige, fand aber zunächſt dies Standhaltende und darum der Erkenntniß Zugängliche in dem, was die All - gemeinvorſtellung, der Begriff umfaßt. Dieſe Metaphyſik entſprach einer Naturforſchung, welche in der Zerlegung vorzüglich auf der Intelligenz entſprechende, gedankenmäßige Naturformen zurück - ging; hiermit war die Erklärung ſolcher Naturformen aus pſychiſchen Urſachen verbunden, welche von Gedanken geleitet gedacht wurden; ein Beſtandtheil des mythiſchen Vorſtellens dauerte in dieſer Annahme pſychiſcher Urſachen für den Naturlauf fort. Und zwar wurde in Ariſtoteles dieſe Metaphyſik der ſubſtantialen Formen zum Mittel, die Wirklichkeit dem Erkennen zu unterwerfen, während Plato in den wirklichen Objekten nur die gigantiſchen Schatten ſah, welche die Ideen werfen. Platos Anſchauung einer unver - änderlichen Ideenordnung ſetzt ſich bei Ariſtoteles um in die An - ſchauung einer ungewordenen ewigen wirklichen Welt, in welcher die Formen in unwandelbarer Gleichheit mit ſich ſelber, auch inmitten des Wandels von Anlage, Entfaltung und Untergang auf dieſer Erde, ſich erhalten. So bezeichnet Ariſtoteles eine wichtige Stelle in der geſchichtlichen Verkettung der Gedanken, welche die Entwicklung des europäiſchen Denkens bildet.
Ariſtoteles denkt unter der Vorausſetzung, daß der geiſtige Vorgang ſich des Seienden außer uns bemäch - tige1)Vgl. S. 236 ff.; dieſer Standpunkt kann als Dogmatismus oder als Objek - tivismus bezeichnet werden. Und zwar wird von Ariſtoteles die243Vorausſ. d. Ariſt., daß d. geiſt. Vorgang ſich d. Seienden bemächtige.Vorſtellung von der Erkenntniß des Gleichartigen durch Gleichartiges, welche die Form dieſer Vorausſetzung für den unter dem Einfluß ſeiner Naturreligion und Mythologie ſtehenden griechiſchen Geiſt iſt, in einem abſchließenden Theorem entwickelt; daſſelbe hat auch eine einflußreiche Schule der neueren Metaphyſik geleitet.
Von welcher Bedeutung der Satz, daß Gleichartiges nur durch Gleichartiges erkannt werde, für das Nachdenken der älteren griechiſchen Philoſophen war, hat Ariſtoteles ſelber hervorgehoben1)Ariſt. de anima I, 2 p. 403 b f.. Nach Heraklit wird das Bewegte durch das Bewegte erkannt. Von Empedocles erwähnt Ariſtoteles bei dieſer Gelegenheit folgende Verſe:
Ebenſo ging Parmenides davon aus, daß Verwandtes das Verwandte empfinde2)Vgl. Theophraſt de sensibus 3 bei Diels p. 499.; Philolaus entwickelt, die Zahl füge die Dinge harmoniſch der Seele. Und denſelben Satz, daß Gleiches durch Gleiches erkannt werde, findet ſchließlich Ariſtoteles bei ſeinem Lehrer Plato wieder3)Ariſt. de anima I, 2 p. 404 b 17 γινώσκεσϑαι γὰϱ τῷ ὁμοίῳ τὸ ὅμοιον. Er beruft ſich hierfür auf den Timäus und auf eine Schrift πεϱὶ φιλοσοφίας, in welcher über Platos Lehre auf Grund der mündlichen Vorträge deſſelben berichtet wurde. Vgl. zur ganzen Stelle Trendelenburg zu Ariſt. de anima 1877 Ausg. 2, S. 181 ff..
Dieſe Entwicklung ſchließt Ariſtoteles durch das folgende Theorem ab. Der Nus, die göttliche Vernunft, iſt das Prinzip, der Zweck, durch welchen das Vernunftmäßige an den Dingen wenigſtens mittelbar in jedem Punkte bedingt iſt, und ſo kann durch die der göttlichen verwandte menſchliche Vernunft der Kosmos, ſofern er vernünftig iſt, erkannt werden4)Die Faſſung iſt vorſichtig gewählt worden wegen der bekannten Schwierigkeiten in Bezug auf die Stellung des göttlichen νοῦς zu den ſub - ſtantialen Formen und zu den Geſtirngeiſtern.. Metaphyſik, Vernunftwiſſenſchaft iſt vermöge dieſes Entſprechens möglich.
16*244Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Führte nun Plato den Vorgang, in welchem wir den ideellen Gehalt des Kosmos gleichſam von ihm ableſen, vorzugsweiſe auf den angeborenen Beſitz dieſes Gehaltes zurück und ließ gegen dieſen urſprünglichen Beſitz den anderen Faktor des Vorgangs, die Erfahrung, zurücktreten, ja grenzte ihren Antheil nirgend klar ab: ſo erhalten hingegen bei Ariſtoteles äußere Wahrnehmung und Erfahrung eine hervorragende und äußerlich feſte Stellung. Das Theorem des Entſprechens erſtreckt ſich bei ihm auch auf das Verhältniß der Wahrnehmung zu dem Wahrnehmbaren. Sonach mußte er die nun entſtehende Schwierigkeit aufzulöſen ſuchen, daß die menſchliche Vernunft den Grund des Wiſſens von der Vernunftmäßigkeit des Kosmos in ſich trägt, jedoch dies Wiſſen ſelber erſt durch die Erfahrung erwirbt. Er beſteht darauf, daß wir nicht ein Wiſſen von den Ideen beſitzen können, ohne ein Bewußtſein dieſes Wiſſens zu haben1)So in der Polemik gegen die Ideenlehre Metaph. I, 9 p. 993 a 1., und verſucht die ſo auftretende Frage im Zuſammenhang ſeiner Metaphyſik durch den Begriff der Entwicklung zu löſen. In dem menſchlichen Denken iſt vor dem Erkenntnißvorgang die Möglichkeit (Dynamis) des unmittelbaren Wiſſens von den höchſten Prinzipien und ſie gelangt in dem Erkenntnißvorgang ſelber zur Wirklichkeit2)Vgl. die Stellen ſowie die nähere Darlegung bei Zeller II, 2 3, 188 ff.. Die Aus - führung dieſer erkenntniß-theoretiſchen Grundanſchauung, ſo tiefe Blicke ſie enthält, vermag den von Plato im Dunkel gelaſſenen Punkt, die Stellung der in der menſchlichen Vernunft (dem Nus) gegebenen Bedingung der Erkenntniß zu der anderen in der Erfahrung liegenden nicht zu erhellen. Der einzelne Sinn entſpricht den Gegenſtänden einer einzelnen Gattung; das Wahrnehmungsfähige iſt (gemäß dem obigen allgemeinen Löſungsverfahren) der Möglich - keit nach ſo beſchaffen, wie es der Wahrnehmungsgegenſtand der Wirklichkeit nach iſt3)τὸ δ̛ αἰσϑητικὸν δυνάμει ἐστὶν οἷον τὸ αἰσϑητὸν ἤδη ἐντελεχείᾳ de anima II, 5 p. 418 a 3.; innerhalb ſeiner Objektsſphäre gewahrt daher das geſunde Sinnesorgan das Wahre. Ja Ariſtoteles legt245Was der geiſtige Vorgang am Kosmos auffaßt.dar, daß wir alle überhaupt möglichen Sinne beſitzen1)de anima III, 1 p. 424 b 22., ſonach die geſammte Realität auch durch unſere Sinne aufgefaßt wird, und dieſe Ueberzeugung kann als der Schlußſtein ſeines objektiven Realismus betrachtet werden. Wie das Sinnesorgan zum Wahr - nehmbaren, ſo verhält ſich alsdann die Vernunft, der Nus, zum Denkbaren. Dem entſprechend erfaßt auch die Vernunft die Prin - zipien durch eine unmittelbare Anſchauung, welche jeden Irrthum ausſchließt2)Vgl. den Schluß der in den beiden Analytiken uns vorliegenden logiſchen Hauptſchrift Analyt. post. II, 19 p. 100 b.; ein ſolches Prinzip iſt das Denkgeſetz vom Wider - ſpruch. Aber weder der Umfang der im Nus angelegten Prinzi - pien der Erkenntniß noch die Stellung des von den Wahrnehmungen zurückſchreitenden, induktiven Vorgangs zu den urſprünglichen im Nus angelegten Begriffen und Axiomen gelangt ſchließlich zur Klarheit.
Dieſer objektive Standpunkt des Ariſtoteles repräſentirt die natürliche Stellung der Intelligenz des Menſchen zum Kosmos. Und zwar war es nun zweitens durch das Stadium, in welchem zu der Zeit des Ariſtoteles die Wiſſenſchaft ſich befand, be - dingt, was die Intelligenz an dem Kosmos damals erkannte.
Zwar hatte die Wiſſenſchaft des Kosmos von den Objekten die Betrachtung der allgemeinen Beziehungen losgelöſt, welche zwiſchen Zahlen, Raumgebilden herrſchen3)Vgl. S. 181 f.; dagegen beſtand noch kein von den Objekten abſtrahirendes, abgeſondertes und in ſich zuſammen - hängendes Studium anderer Eigenſchaften derſelben, wie etwa der Bewegung, der Schwere oder des Lichtes. Die Schulen des Anaxa - goras, Leukipp und Demokrit neigten ſich einer theilweiſe oder ganz mechaniſchen Betrachtungsweiſe zu, doch haben auch ſie nur höchſt unbeſtimmte, unzuſammenhängende und theilweiſe irrige Vorſtellungen von Bewegung, Druck, Schwere etc. für ihre Er - klärung des Kosmos angewandt, und wir erkannten hierin den Grund, aus dem die mechaniſche Betrachtungsweiſe im Kampf mit derjenigen unterlag, welche die Formen mit pſychiſchen Weſen -246Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.heiten in Beziehung ſetzte1)Vgl. die beachtenswerthen Bemerkungen des Simplicius zu de caelo Schol. p. 491 b 3.. Begegnen wir doch zuerſt bei Archi - medes einigen angemeſſenen und beſtimmten Vorſtellungen über Mechanik. Unter ſolchen Umſtänden überwog immer noch in der griechiſchen Naturwiſſenſchaft die Betrachtung der Bewegungen der Geſtirne, welche ſich in Folge der großen Entfernung derſelben dem menſchlichen Geiſte von ſelber losgelöſt von den anderen Eigenſchaften dieſer Körper darboten, alsdann die vergleichende Betrachtung der intereſſanteren Objekte auf der Erde, und unter dieſen zogen naturgemäß die organiſchen Körper beſonders die Auf - merkſamkeit auf ſich.
Dieſem Stadium der poſitiven Wiſſenſchaften entſprach am beſten eine Metaphyſik, welche die Formen der Wirklichkeit, wie ſie ſich in Allgemeinvorſtellungen ausdrücken, und die Beziehungen zwiſchen dieſen Formen in Begriffen darſtellte ſowie als meta - phyſiſche Weſenheiten der Erklärung der Wirklichkeit zu Grunde legte. Dagegen war die Atomiſtik dieſem Stadium weniger angemeſſen. War ſie doch in jener Zeit ebenfalls nur ein meta - phyſiſches Theorem, nicht eine Handhabe für Experiment und Rechnung. Ihre Maſſentheilchen waren begrifflich feſtgeſtellte Sub - jekte des Naturzuſammenhangs, und zwar erwieſen ſich dieſelben als unfruchtbar für die Erklärung des Kosmos. Denn die Zwiſchen - glieder zwiſchen ihnen und den Naturformen fehlten: angemeſſene und beſtimmte Vorſtellungen über Bewegung, Schwere, Druck etc. ſowie zuſammenhängende Entwicklung ſolcher Vorſtellungen in abſtrakten Wiſſenſchaften.
Der Herrſchergeiſt des Ariſtoteles, durch welchen er ſich zwei Jahrtauſende unterwarf, lag nun darin, wie er dieſe dargelegten wiſſenſchaftlichen Bedingungen verknüpfte, wie er demnach die natürliche Stellung der Intelligenz zum Kosmos in ein Syſtem brachte, das jeder Anforderung genügte, die innerhalb dieſes Stadiums der Wiſſenſchaften gemacht werden konnte. Er war aller poſitiven Wiſſenſchaften ſeiner Zeit mächtig (von der Mathematik wiſſen wir es am wenigſten); in den meiſten derſelben247Die hierdurch bedingte Bedeutung der ariſtoteliſchen Metaphyſik.war er bahnbrechend. In Folge hiervon verkürzte er ihre Vorausſetzungen an keinem Punkte, ſo daß es erforderlich geweſen wäre, über ſeine metaphyſiſche Grundlegung hinauszugehen; der Wahrnehmung wahrte er ihr Recht; er erkannte im Werden, der Bewegung, der Veränderung und dem Vielen Wirklichkeit, die nicht durch unfruchtbares Raiſonnement geleugnet, ſondern erklärt werden muß; ihm hatte das Einzelding, das Einzelweſen die vollſte Realität, die uns gegeben iſt. So kommt es, daß ſeine einzelnen Gedankenwendungen der Diskuſſion in den folgenden Jahrhunderten unterlagen, daß aber die Grundlagen ſeines Syſtems feſtſtanden, ſo lange das bezeichnete Stadium der Wiſſenſchaften fort - dauerte. Während dieſer ganzen Zeit hat man ſeine Metaphyſik zwar erweitert, aber ihre vorhandenen Vorausſetzungen aufrecht erhalten.
Unter dieſen Vorausſetzungen entſtand als abgeſonderte Wiſſen - ſchaft Metaphyſik, die Königin der Wiſſenſchaften. Die Leiſtung des Ariſtoteles, welche dies zunächſt ermöglichte, war die abge - ſonderte Behandlung der Logik. Ariſtoteles hat den denknoth - wendigen Zuſammenhang, welchen die Erkenntniß bildet, einer theoretiſchen Betrachtung unterworfen. Er ſtellte eine erſte Theorie der Formen und Geſetze der wiſſenſchaftlichen Beweisführung auf.
Wir knüpfen an die Darlegung über die beiden Klaſſen der unmittelbaren Wahrheiten: Wahrnehmungen und Prinzipien an. Zwiſchen beiden bewegt ſich alle andere Erkenntniß, als ver - mitteltes Wiſſen. Denn jeder wiſſenſchaftliche Schluß führt vermittelſt ſeiner Prämiſſen ſchließlich auf ein unmittelbar Gewiſſes, und ein ſolches iſt entweder die Wahrnehmung als das für uns Erſte oder die unmittelbare Vernunftanſchauung als das an ſich Erſte. Mit dem Hinweis auf die letztere als den tiefſten Grund des vermittelnden Denkens oder des Raiſonnements ſchließt die ariſtoteliſche Analytik1)Analyt. post. II, 19 p. 100 b 14 εἰ οὖν μηδὲν ἄλλο παϱ̕ ἐπιστή -.
248Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Die weltgeſchichtliche Bedeutung der ariſtoteliſchen Logik liegt nun darin, daß in ihr die Formen dieſes vermittelnden Denkens zuerſt in folgerechter Vollſtändigkeit abgelöſt betrachtet wurden, und zwar mit einem logiſchen Verſtande erſten Ranges. So entſtand die Schlußlehre1)Dies erklärt er ſelber mit berechtigtem Selbſtgefühl Elench. soph. 33 p. 183 b 34 p. 184 b 1.. Für jene Zeit bot dieſe Logik zunächſt einen Schlüſſel zur Auflöſung der Streitſätze der Sophiſten und beendete daher die lange revolutionäre Bewegung, welche die Periode der Sophiſten, des Socrates, Antiſthenes, ſowie der Megariker erfüllt hatte. Alsdann enthielt dieſelbe die Hilfsmittel für die formale Durchbildung der Einzelwiſſenſchaften. Wie die Mathematik dem Ariſtoteles das bedeutendſte Beiſpiel logiſcher Entwicklungen in jener Zeit darbieten mußte, ſo hat ſein logiſches Geſetzbuch auch wieder rückwärts die Mittel gewährt, der Geometrie als Wiſſen - ſchaft die einfach ſtrenge, muſtergiltige Form zu geben, welche das Elementarwerk des Euklid zeigt, und dieſe Form iſt dann das Vorbild mathematiſcher Entwicklungen für alle Folgezeit ge - worden2)Proclus in ſeinem Kommentar zu Euklid (p. 70 Friedl. ) berichtet, daß Euklid eine beſondere Schrift über die Trugſchlüſſe verfaßte, was ſeine eingehende Beſchäftigung mit der logiſchen Theorie beweiſt..
Die Grenzen der ariſtoteliſchen Logik waren durch die zu enge Beziehung derſelben zu der Metaphyſik bedingt. In Bezug auf das Einfache iſt Wahrheit ein Erfaſſen in Ge - danken, eine Art von Berührung (ϑιγγάνειν), wie dieſelbe die letzte Vorausſetzung dieſes griechiſchen Objektivismus bildet; in Bezug auf das Zuſammengeſetzte iſt Wahrheit diejenige Zuſammen - fügung im Denken, welche der im Seienden entſprechend iſt, Irr - thum aber iſt die andere, welche ihr widerſpricht3)Ariſt. Metaph. IX, 10 p. 1051 a 34 vgl. IV, 7 p. 1011 b 23.. Sonach haben wir das Verhältniß der Korreſpondenz auch auf das Gebiet des vermittelnden Denkens auszudehnen; die Formen dieſes Denkens und die Beziehungen im Seienden entſprechen einander. 1)μην γένος ἔχομεν ἀληϑές, νοῦς ἂν εἴη ἐπιστήμης ἀϱχή. καὶ ἡ μὲν ἀϱχὴ τῆς ἀϱχῆς εἴη ἄν, ἡ δὲ πᾶσα ὁμοίως ἔχει πϱὸς τὸ ἅπαν πϱᾶγμα.249Die Sonderung d. Logik v. d. Metaphyſik u. ihre Beziehung auf dieſelbe.So iſt der Begriff der Ausdruck des Weſens; ſo verknüpft das wahre bejahende Urtheil, was in den Dingen verknüpft iſt, und das entſprechende verneinende trennt, was in ihnen getrennt iſt; ſo entſpricht der Mittelbegriff in dem vollkommenen Zuſammen - hang des ſyllogiſtiſchen Schluſſes der Urſache in dem Zuſammen - hang der Wirklichkeit. Und wie man endlich die Stellung der Arten der Ausſage über das Seiende (γένη τῶν κατηγοϱιῶν), der Kategorierr, zu dem Denkzuſammenhang bei Ariſtoteles auffaſſe: dieſe Kategorien entſprechen ebenfalls Formen des Seins1)Arist. Metaph. V, 7 p. 1017 a 23 ὁσαχῶς γὰϱ λέγεται, τοσαυ - ταχῶς τὸ εἶναι σημαίνει..
Und zwar behält dieſe Faſſung des Verhältniſſes, wie wir ſie bei Ariſtoteles finden, ſo lange ihre Berechtigung und ihre Macht, als die logiſchen Formen, welche das diskurſive Denken bietet, nicht aufgelöſt und die Beziehungen zwiſchen dem Denken und ſeinem Gegenſtand nicht hinter das fertige Objekt zurückverfolgt werden. Auch in dieſem Punkte erweiſt ſich Ariſtoteles als ein Metaphyſiker, welcher bei den Formen der Wirklichkeit ſtehen bleibt. Seine Zergliederung der Wiſſenſchaft verbleibt innerhalb der Zerlegung von Formen in Formen und zeigt ſo dieſelbe Grenze wie die aſtronomiſche Zergliederung des Weltgebäudes durch die Alten. Was die Rede, das diskurſive Denken als Zuſammenhang darbietet, wird in eine Beziehung von Formen zu einander aufgelöſt, und dieſe werden zu den Formen der Wirklichkeit in das Ver - hältniß des Abbildens geſetzt. Schleiermacher mit ſeiner Theorie der Korreſpondenz, Trendelenburg, Ueberweg haben, welches auch im Einzelnen die Verſchiedenheiten von Ariſtoteles ſind, dieſen ob - jektiviſtiſchen Standpunkt feſtgehalten.
Der Begriff des Entſprechens, der Korreſpondenz zwiſchen Wahrnehmung und Denken einerſeits, Wirklichkeit und Sein andrerſeits, auf welchen hiernach die ganze Grundlegung dieſes natürlichen Syſtems zurückgeht, iſt vollſtändig dunkel. Wie ein Gedachtes einem draußen wirklich Exiſtirenden entſprechen könne, davon kann ſich Niemand eine Vorſtellung machen. Was Aehn -250Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.lichkeit in mathematiſchem Verſtande ſei, kann definirt werden; hier wird aber eine Aehnlichkeit behauptet, die ganz unbeſtimmt iſt. Ja man kann ſagen, beſtänden nicht die Phänomene von Abſpiegelung in der Natur ſowie von Nachbildung in der Kunſt des Menſchen: eine ſolche Vorſtellung hätte kaum entſtehen können.
Der nähere Zuſammenhang des logiſchen Denkens, wie ihn die Lehre des Ariſtoteles von Schluß und Beweis entwickelt, iſt ein Gegenbild des von ihm angenommenen metaphyſiſchen Zu - ſammenhangs. Dies ergiebt ſich aus der angegebenen Vorſtellung von Entſprechen. Sigwart ſagt zutreffend: „ Indem Ariſtoteles ein objektives Begriffsſyſtem vorausſetzt, das ſich in der realen Welt verwirklicht, ſo daß der Begriff überall als das das Weſen der Dinge Konſtituirende und als die Urſache ihrer einzelnen Be - ſtimmungen erſcheint, ſtellen ſich ihm alle Urtheile, die ein wahres Wiſſen enthalten, als Ausdruck der nothwendigen Begriffsverhält - niſſe dar, und der Syllogismus iſt dazu da, die ganze Macht und Tragweite jedes einzelnen Begriffs der Erkenntniß zu offenbaren, in - dem er die einzelnen Urtheile verknüpft und durch die begriffliche Einheit von einander abhängig macht; und der ſprachliche Ausdruck dieſer Begriffsverhältniſſe ergiebt ſich daraus, daß ſie immer zu - gleich als das Weſen des einzelnen Seienden erſcheinen, dieſes alſo in ſeiner begrifflichen Beſtimmtheit das eigentliche Subjekt des Urtheilens iſt, das Verhältniß der Begriffe alſo in dem allgemeinen oder partikularen, bejahenden oder verneinenden Urtheil zu Tage tritt1)Sigwart, Logik I, 394.. “ Hieraus ergeben ſich die Stellung des kategoriſchen Urtheils, die Bedeutung der erſten Figur und die Zurückführung der anderen Figuren auf dieſelbe, die Stellung des Mittelbegriffs, welcher der Urſache entſprechen ſoll: kurz die Haupteigenthümlichkeiten der ariſtoteliſchen Analytik.
Sonach ſtand die Syllogiſtik des Ariſtoteles ſo lange feſt, als die Vorausſetzung eines objektiven, im Kosmos realiſirten Begriffsſyſtems feſtgehalten wurde. Seitdem die Logik dieſe Vor - ausſetzung aufgab, bedurfte ſie einer neuen Grundlegung. Und251Aufſtellung einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft der Metaphyſik.wenn ſie trotzdem die logiſche Formenlehre des Ariſtoteles feſtzu - halten bemüht war, ſuchte ſie den Schatten von etwas zu ſchützen, deſſen Weſen dahin war1)Die Beziehung der Logik des Ariſtoteles zu ſeiner Metaphyſik und folgerecht den rechten Sinn der ariſtoteliſchen Logik zuerſt in ausführlicher Gründlichkeit dargelegt zu haben iſt ein großes Verdienſt von Prantl. Sigwart hat dann von hier aus die Grenzen des Werthes der ariſtote - liſchen Syllogiſtik kritiſch gezeigt..
So hat Ariſtoteles zuerſt den logiſchen Zuſammenhang in dem Denkenden für ſich betrachtet, abgeſondert von dem realen Zuſammenhang in der Wirklichkeit, aber in Beziehung auf ihn; dem entſprechend hat er klarer den Begriff des Grundes von dem der Urſache2)ἀϱχή der beides umfaſſende Ausdruck. Metaph. V, 1 p. 1013 a 17 die Eintheilung: „ Allem, was ἀϱχή iſt, iſt alſo dies gemeinſam, das Erſte zu ſein, woraus etwas iſt oder wird oder erkannt wird. “geſchieden: er hat von der Logik die Metaphyſik abgetrennt. Dieſe Sonderung war ein wichtiger Fortſchritt inner - halb des natürlichen Syſtems, ſonach in den Schranken des Objektivismus, verglichen mit der früheren Einheit von Meta - phyſik und Logik. Auch wird die Bedeutung dieſer Sonderung für das Stadium, welches wir darſtellen, dadurch nicht gemindert, daß dieſe Selbſtändigkeit der Metaphyſik auf dem kritiſchen Stand - punkt in Frage geſtellt werden wird, weil der reale Zuſammen - hang ja nur in dem Bewußtſein, für und durch daſſelbe vorhanden und jeder Beſtandtheil dieſes Zuſammenhangs, welchen die Meta - phyſik analyſirt, wie die Subſtanz, das Quantum, die Zeit nur Thatſache des Bewußtſeins iſt.
Und wie Ariſtoteles ſeine erſte Philoſophie von der Logik ſchied, ſo trennte er dieſelbe andrerſeits von der Mathe - matik und Phyſik. Die Einzelwiſſenſchaften, wie die Mathe - matik, haben beſondere Gebiete des Seienden zu ihrem Gegenſtande, die erſte Philoſophie aber die gemeinſamen Beſtimmungen des Seienden. Die Einzelwiſſenſchaften gehen in der Feſtſtellung der Gründe nur bis zu einem gewiſſen Punkte zurück, die Metaphyſik252Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.aber bis zu den im Erkenntnißvorgang nicht weiter bedingten Gründen. Sie iſt die Wiſſenſchaft der allgemeinen und unver - änderlichen Prinzipien1)Vergl. S. 160 ff.. Und zwar geht Ariſtoteles von dem im Kosmos Gegebenen rückwärts zu den Prinzipien. Wenn auch die Rückverweiſungen auf die phyſiſchen Schriften nichts beweiſen, ſo wird dieſer Zuſammenhang doch daraus deutlich, daß die Metaphyſik die Aufzeigung der erſten Urſachen von der Phyſik empfängt und ſelber zunächſt nur durch eine hiſtoriſch-kritiſche Muſterung die Vollſtändigkeit der in der Phyſik gefundenen Prinzipien beſtätigt2)Metaph. I, 3 und 10, womit die ſchrittweiſe Ableitung der Prinzi - pien in der Phyſik (beſ. Buch I und II) zu vergleichen.. — In erſter Linie folgert dieſer Zuſammen - hang aus der Anerkennung und Betrachtung der Bewegung. „ Uns aber ſtehe der Grundſatz feſt, daß das von Natur Exiſtirende, alles oder doch einiges in Bewegung iſt; und zwar iſt dies durch Schluß aus der Erfahrung klar3)Ariſt. Phys. I, 2 p. 185 a 12.. “ Die eleatiſche Leugnung der Bewegung iſt dem entſprechend für Ariſtoteles, welcher in der Aufgabe der Erklärung der Natur lebt, nur die unfruchtbare Negation aller Wiſſenſchaft des Kosmos. Von den ſtätigen und vollkommenen Bewegungen der Geſtirne, von dem Spiele der Veränderungen unter dem Monde geht die Erkennt - niß zu den erſten Urſachen zurück, welche zugleich die erſten Erklärungsgründe enthalten. So wird der reale Zuſammenhang des Kosmos, welcher Gegenſtand der ſtrengen Wiſſenſchaft iſt, durch eine Analyſe erkannt, die von ihm, als dem uns gegebenen Zuſammengeſetzten, auf die Prinzipien zurückſchließt, als auf die wahren Subjekte des Naturzuſammenhangs4)Ariſt. Phys. I, 1 p. 184 a 21 ἔστι δ̛ἡμῖν πϱῶτον δῆλα καὶ σαφῆ τὰ συγκεχυμένα μᾶλλον ὕστεϱον δ̛ἐκ τούτων γίνεται γνώϱιμα τὰ στοιχεῖα..
Auf der ſelbſtändigen metaphyſiſchen Wiſſenſchaft beruhte, ſo lange eine erkenntnißtheoretiſche Grundlegung nicht beſtand, zur einen Hälfte die Möglichkeit, die poſitiven Wiſſenſchaften einer formalen Vollendung entgegenzuführen, wie ſie zur anderen in253Der metaphyſiſche Zuſammenhang der Welt.der logiſchen Selbſtbeſinnung begründet war. So iſt die Meta - phyſik die nothwendige Grundlage der Wiſſenſchaften des Kosmos geworden und ſie zuerſt hat ihnen verſtandesmäßig präparirte Grundbegriffe geliehen. In dem Inneren dieſer Metaphyſik be - reitete ſich alsdann der kritiſche Standpunkt vor; denn erſt die verſtandesmäßige Zergliederung der allgemeinen Beſtandtheile des Wirklichen ermöglichte, in ihnen Bewußtſeinsthatſachen aufzufaſſen. In ihrem Schooße hat ſich auch vorbereitet, was die Erkenntniß - theorie vielleicht über Kant hinausführen kann. Denn wenn die Unmöglichkeit ſich herausſtellen ſollte, dieſen Beſtandtheilen der Wirklichkeit eine logiſch klare Form zu geben, dann öffnete ſich unſerer geſchichtlichen und pſychologiſchen Betrachtung der Blick in einen Urſprung derſelben, welcher nicht in dem abſtrakten Verſtande liegen könnte.
Dieſe metaphyſiſche Analyſis vollbringt als erſte große Leiſtung die Auffindung und gedankenmäßige Darſtellung der allgemeinen Beſtandtheile der Wirklichkeit, wie dieſelben der Unter - ſuchung des Ariſtoteles ſich ergaben. Solche Elemente oder Prinzipien, welche im realen Zuſammenhang des Kosmos überall wiedergefunden werden, bieten ſich dem gewöhnlichen Vorſtellen ſchon in der Realität, dem Ding und ſeinen Eigenſchaften, dem Wirken und Leiden dar. Ariſtoteles hat dieſe allgemeinen Be - ſtandtheile, welche in den Kosmos verwebt ſind, zuerſt iſolirt und wie einfache Körper darzuſtellen verſucht. Wir ſind hier nicht genöthigt, das ſehr dunkle und ſchwierige Verhältniß zu unter - ſuchen, in welchem die von ihm aufgefundenen Kategorien zu ſeinen metaphyſiſchen Prinzipien ſtehen; uns genügt der klare Thatbeſtand ſeiner Ergebniſſe.
Das tragiſche Schickſal dieſer großen und immer fortgehenden Arbeit der Metaphyſik, welche unabläſſig darauf gerichtet iſt, die allgemeinen Beſtandtheile der Wirklichkeit ſo zu entwickeln, daß eine reale und objektive Erkenntniß des Weltzuſammenhangs mög - lich ſei, beginnt, ſich nunmehr Akt auf Akt vor uns zu enthüllen! 254Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Die Sinnesqualitäten, Raum, Zeit, Bewegung und Ruhe, Ding und Eigenſchaft, Urſache und Wirkung, Form und Materie: dies ſind alles allgemeine Beſtandtheile, welche wir an jedem Punkte der Außenwelt antreffen und die alſo in unſerem Bewußtſein von äußerer Wirklichkeit überhaupt enthalten ſind. Un - abhängig von dem Unterſchied philoſophiſcher Standpunkte ergiebt ſich nun hieraus die Frage: wird die Klarheit über dieſe Elemente, iſolirt von der Unterſuchung des Bewußt - ſeins und der in ihm gegebenen allgemeinen Bedingungen aller Wirklichkeit, erreicht werden können? Der Verlauf der Geſchichte der Metaphyſik ſelber mag allmählich auf dieſe Frage antworten. Zunächſt ſtellen ſich einer ſolchen Erwägung die einfachen Begriffe von Sein und Subſtanz dar.
1. Die metaphyſiſche Analyſis des Ariſtoteles findet überall Subſtanzen mit ihren Zuſtänden, die in Beziehungen zu einander ſtehen1)Ueber dieſe Dreitheilung in οὐσία, πάϑος und πϱός τι ſ. Prantl Geſch. der Logik I, 190.; hier ſind wir im Mittelpunkt der metaphyſiſchen Schriften des Ariſtoteles.
„ Eine Wiſſenſchaft exiſtirt, welche das Seiende als Seien - des (τὸ ὂν ᾗ ὄν) und deſſen grundweſentliche Eigenſchaften unter - ſucht. Sie iſt nicht mit irgend einer der Fachwiſſenſchaften iden - tiſch; denn keine von dieſen anderen Wiſſenſchaften ſtellt im allge - meinen Unterſuchungen über das Seiende als Seiendes an, ſondern indem ſie einen Theil deſſelben abſchneiden, unterſuchen ſie deſſen beſondere Beſchaffenheit2)Ariſt. Metaph. IV, 1 p. 1003 a 21.. “ Die Mathematik hat das Seiende als Zahl, Linie oder Fläche, die Phyſik als Bewegung, Element zum Gegenſtande; die erſte Philoſophie betrachtet es, wie es überall daſſelbe iſt: das Seiende als ſolches.
Nun wird dieſer Begriff des Seienden (des Gegenſtandes der Metaphyſik) in mehrfacher Bedeutung gebraucht; die Sub - ſtanz (οὐσία) wird ſo gut mit dieſem Namen bezeichnet wie die Qualität einer ſolchen. Immer aber ſteht der Begriff des Seienden255Die Analyſis des Subſtanzbegriffs bei Ariſtoteles.zu dem der Subſtanz in Beziehung1)Ebendaſelbſt IV, 2 p. 1003 a f.. Denn was außer der Subſtanz als ſeiend bezeichnet werden kann, iſt dies, weil es einer ſolchen und zwar einer Einzelſubſtanz zukommt. Daher iſt die erſte Bedeutung, in welcher von einem Seienden die Rede iſt, die von Einzelſubſtanz: alles Uebrige wird darum als ſeiend be - zeichnet, weil es die Quantität, Qualität oder Eigenſchaft etc. eines ſolchen Seienden iſt2)Metaph. VII, 1 p. 1028 a 11, 18..
Die Metaphyſik iſt ſonach in erſter Linie die Wiſſen - ſchaft von den Subſtanzen, und es wird ſich zeigen, daß der höchſte Punkt, welchen ſie erreicht, Erkenntniß der göttlichen Subſtanz iſt. Nur in uneigentlichem Sinne darf man ſagen, daß ſie das Seiende in ſeinen weiteren Bedeutungen zum Gegenſtande habe, mag es als Qualitatives, Quantitatives oder als andere prädikative Beſtimmung auftreten3)Vgl. VII, 1 p. 1028 a 13 p. 1028 b 6, IX, 1 p. 1045 b 27, XII, 1 p. 1069 a 18.. Näher unter - ſcheiden ſich die folgenden einfachen Beſtandtheile der Ausſage und der ihr entſprechenden Wirklichkeit: die Subſtanz iſt ein meßbares Quantum von eigenſchaftlicher Beſtimmtheit ſowie in Re - lation ſtehend, und zwar in den Verhältniſſen von Ort und Zeit, Thun und Leiden4)Hierzu kommen in der vollſtändigen Aufzählung der zehn Kategorien noch ἔχειν und κεῖσϑαι, vgl. die Ueberſicht in Prantl’s Geſchichte der Logik I, 207.. So bildet die Subſtanz den Mittelpunkt der Metaphyſik des Ariſtoteles, wie ſie ihn in der Metaphyſik der Atomiker und Platos gebildet hatte. Erſt mit dem Auftreten der beſonderen Erfahrungswiſſenſchaften tritt der Begriff der Kauſalität in den Vordergrund, welcher mit dem Begriff des Geſetzes in Beziehung ſteht. Kann nun die Metaphyſik des Ariſtoteles dieſen ihren Grundbegriff der Subſtanz zu verſtandes - mäßiger Klarheit bringen?
Eine Definition, welche in dem platoniſchen Sophiſtes erwähnt wird5)Plato Sophiſtes 247 d e. , beſtimmt das Wahrhaft-Seiende (ὄντως ὄν) 256Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.als das, was das Vermögen zu wirken und zu leiden beſitzt, und nach anderen hat Leibniz dieſe Definition wieder auf - genommen2)ipsam rerum substantiam in agendi patiendique vi consistere Leibn. opp. I, 156. Erdm. . Dieſelbe führt den Begriff der Subſtanz in den der Kraft, der urſächlichen Beziehung zurück und löſt ihn in dieſen auf. Eine ſolche Begriffsbeſtimmung konnte ſich in dem ſpäteren Stadium, in dem Leibniz auftrat, nützlich erweiſen, um der Subſtanzvor - ſtellung einen Begriff von größerer Verwerthbarkeit für die natur - wiſſenſchaftliche Betrachtung zu ſubſtituiren. Aber ſie drückt nicht das aus, was in dem Thatbeſtand des Dinges von uns vorge - ſtellt iſt und was folgerecht die dem Erkennen dienende Unter - ſcheidung der Subſtanz und des ihr Inhärirenden abgrenzen will. Der realiſtiſche Geiſt des Ariſtoteles war bemüht, dies direkt zu bezeichnen.
Ariſtoteles beſtimmt einerſeits, was wir in dem realen Zuſammenhang der Wirklichkeit unter Subſtanz uns vorſtellen. Sie iſt das, was nicht Accidens von einem Anderen iſt, von dem vielmehr Anderes Accidens iſt; wo von der Einzel - ſubſtanz und ihrem Subſtratum die Rede iſt, drückt dies Ariſtoteles durch eine bildliche, räumliche Vorſtellung aus. Er ſtellt andrer - ſeits feſt, was wir in dem Denkzuſammenhang unter Subſtanz vorſtellen. In dieſem iſt die Subſtanz Subjekt; ſie bezeichnet das, was im Urtheil Träger von prädikativen Beſtimmungen iſt; daher werden alle anderen Formen der Ausſage (Kategorien) von der Subſtanz prädicirt3)κατηγοϱοῦνται κατὰ τῶν οὐσιῶν. Vgl. Bonitz ind. Ar. unter οὐσία..
Verknüpft man dieſe letztere Beſtimmung mit den früheren: ſo ſucht Ariſtoteles in der Metaphyſik das Subjekt oder die Subjekte für alle Eigenſchaften und Veränderungen, die uns am Kosmos entgegentreten. Dies iſt die Beſchaffenheit aller meta - phyſiſchen Geiſtesrichtung: dieſelbe iſt nicht auf den Zuſammen - hang gerichtet, in welchem Zuſtände und Veränderungen mit ein - ander verbunden ſind, ſondern geht geradenweges auf das da - hinterliegende Subjekt oder die dahinter liegenden Subjekte.
257Die Analyſis der Kauſalität bei Ariſtoteles.Aber die Metaphyſik des Ariſtoteles arbeitet, indem ſie das objektive Verhältniß der Subſtanz zum Accidens erkennen will, wie es an dieſen Subjekten beſteht, mit Beziehungen, welche ſie nicht auf - zuhellen vermag. Was heißt in ſich, in einem Anderen ſein? Die Subſtanz im Gegenſatz zum Accidens wird noch von Spinoza durch das Merkmal von in se esse ausgedrückt; das Accidens iſt in der Subſtanz. Dieſe räumliche Vorſtellung iſt nur ein Bild. Was mit dem Bilde gemeint ſei, iſt nicht, wie Gleichheit oder Verſchiedenheit, dem Verſtande durchſichtig und kann an keiner äußeren Erfahrung aufgezeigt werden. In Wirklichkeit iſt dieſes In-ſich-ſein in der Erfahrung der Selbſtändigkeit, im Selbſtbewußtſein gegeben, und wir verſtehen es, weil wir es erleben. Und kann wohl weiter, ohne daß hinter die logiſche Form der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat zurückgegangen wird, das Verhältniß dieſes meta - phyſiſchen zu dem logiſchen Ausdruck der in der Subſtanz gelegenen Beziehung aufgehellt werden?
In dem vorliegenden Zuſammenhang hat der verſchiedene Sinn kein Intereſſe, in welchem ſich Ariſtoteles dann im Einzelnen des Ausdrucks Subſtanz bedient; derſelbe entſpringt daraus, daß Ariſtoteles von den verſchiedenen Subjekten, auf welche ſeine Meta - phyſik zurückgeht, ſpricht: von Materie als Grundlage (ὑποκείμε - νον), von dem Weſen, das dem Begriff entſpricht (ἡ κατὰ τὸν λόγον οὐσία), von dem Einzelding (τόδε τι). Insbeſondere an das Einzelding als die erſte Subſtanz lehnen ſich Beſtimmungen1)Categ. 5 p. 2 a 11., die ſo unvollkommen durchgebildet ſind, daß wir von ihnen abſehen.
Unter den anderen Klaſſenbegriffen der Ausſage, den Kate - gorien, haben Thun und Leiden für die Metaphyſik die größte Bedeutung. Der Begriff der Kauſalität tritt in der neueren Metaphyſik neben den der Subſtanz, ja das Streben beſteht, die Subſtanz in die Kraft aufzulöſen. Es iſt bezeichnend für die Metaphyſik der Alten, daß die Unterſuchung der in dieſem Begriff gelegenen Probleme noch zurücktritt; die Subſtanzen, ihre Be - wegungen im Raume, die Formen bilden den Geſichtskreis ihrerDilthey, Einleitung. 17258Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Phyſik und ſonach ihrer Metaphyſik; Thun und Leiden werden in dieſem Zuſammenhang der anſchaulich klaren Vorſtellung der Bewegung untergeordnet1)Phys. III, 3 p. 202 a 25 ἐπεὶ οὖν ἄμφω κινήσεις vgl. de gen. et corr. I, 7 p. 324 a 24 Metaph. VII, 4 p. 1029 b 22. In letzterer Stelle wird κίνησις als Kategorie an die Stelle von ποιεῖν und πάσχειν eingeſetzt.. Und zwar führt in dem Zuſammen - hang der Welterklärung die Thatſache der Bewegung an den Sub - ſtanzen zurück in die letzten erklärenden Begriffe des ariſtoteliſchen Syſtems, welche in demſelben eine gründliche Kauſalvorſtellung und die Erkenntniß der Geſetze der Bewegung, der Veränderung erſetzen müſſen; hier wird uns ſpäter der die Zergliederung der Wirklichkeit abſchließende, aber unhaltbare Begriff von Vermögen (δύναμις) begegnen. — Im Einzelnen ſah dann Ariſtoteles wol die Schwierigkeit, den Unterſchied von Thun und Leiden durchweg feſtzuhalten; ſo iſt die Wahrnehmung ein Leiden, und dennoch verwirklicht der Geſichtsſinn thätig im Sehen ſeine Natur2)de anima II, 5 p. 416 b 33.. Auch bemerkt er die andere Schwierigkeit, Einwirkung des Wirkenden auf das Leidende vorſtellig zu machen, aber wie unzureichend iſt doch die von ihm gefundene Löſung, daß auf dem Boden des Gemeinſamen das Verſchiedene aufeinander wirke und das Thätige ſich das Leidende ähnlich mache3)Ariſt. de gener. et corr. I, 7 p. 323 b. .
2. So ringt Ariſtoteles vergeblich, Begriffe wie Subſtanz und Urſache wirklich faßbar zu machen; die Schwierigkeiten aber häufen ſich, indem er nunmehr die platoniſche Lehre von den ſubſtan - ialen Formen zur Aufklärung des Weltzuſammenhangs benutzt. Wol widerlegt er die Lehre Platos von der getrennten Exiſtenz der Ideen ſiegreich; aber wird er ein anderes objektives Verhältniß der Ideen zu den Dingen zur Klarheit bringen können?
Ariſtoteles erkennt der Einzelſubſtanz allein Wirklichkeit in ſtrengem Verſtande zu. Aber mit dieſer Einſicht, welche dem Naturforſcher, dem geſunden Empiriker in ihm entſpricht, iſt das, was er von der Ideenlehre beibehält, auf dem Standpunkt des natürlichen Syſtems der Metaphyſik nicht verträglich. — Auch er259Neuer Verſ., d. Verhältn. d. ſubſtantialen Formen z. d. Dingen z. beſtimmen.findet nur da Wiſſen, wo durch den allgemeinen Begriff er - kannt wird; nur ſo weit die Fackel der allgemeinen Begriffe in die Einzelſubſtanz hineinleuchtet, vermag dieſe erhellt zu werden. Der allgemeine Begriff macht die Weſensbeſtimmung oder Form des Dings ſichtbar; dieſe bildet ſeine Subſtanz in einem ſekundären Sinne, ſo nämlich, wie ſie für den Verſtand da iſt (ἡ κατὰ τὸν λόγον οὐσία). Der Grund dieſer Sätze über das Wiſſen liegt in der Vorausſetzung, welche die Wurzel aller meta - phyſiſchen Abſtraktion iſt; das unmittelbare Wiſſen und Erfahren, in welchem das Einzelne für uns da iſt, wird für geringer und unvollkommener gehalten, als der allgemeine Begriff oder Satz. Dieſer Vorausſetzung entſpricht die metaphyſiſche Annahme: das Werthvolle an den Einzelſubſtanzen und das dieſelben mit der Gottheit Verknüpfende ſei das Gedankenmäßige in ihnen. — In dem Wider - ſpruch zwiſchen dieſen Vorausſetzungen und der geſunden Einſicht des Ariſtoteles über die Einzelſubſtanz zeigt ſich von neuem die Unmöglichkeit, auf dem Standpunkt der Metaphyſik das Verhältniß des Einzeldinges zu dem, was die allgemeinen Begriffe als den Inhalt der Welt ausdrücken, zu beſtimmen. Das einzelne Ding hat nach Ariſtoteles allein volle Realität, aber es giebt nur von der allgemeinen Weſensbeſtimmung, an welcher es theilnimmt, ein Wiſſen; hieraus ergeben ſich zwei Schwierigkeiten. Es widerſpricht dem Grundgedanken von der Erkennbarkeit des Kosmos, daß das an ihm wahrhaft Reale unerkennbar bleibt. So - dann wird nach den allgemeinen Vorausſetzungen der Ideenlehre, dem Wiſſen von den allgemeinen Weſensbeſtimmungen entſprechend, eine Realität der Formen angenommen, und dieſe Annahme führt nun zu dem halben und unglücklichen Begriff einer Subſtanz, welche doch nicht die Wirklichkeit der Einzelſubſtanz hat. Kann dieſe Verwirrung, welche in dem doppelten Sinne von Sein, von Subſtanz liegt, gelöſt werden, bevor die Erkenntnißtheorie die einfache Wahrheit entwickelt, daß die Art, in welcher das Denken das Allgemeine ſetzt, keine Vergleichbarkeit hat mit der Art, wie die Wahrnehmung die Wirklichkeit des Einzelnen erfährt? bevor17*260Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.demnach die falſche, metaphyſiſche Beziehung durch eine haltbare, erkenntnißtheoretiſche erſetzt wird1)Aus derſelben metaphyſiſchen Behandlungsweiſe des Problems ent - ſpringt die unſelige, nicht aufzulöſende Frage, ob die Subſtanz in der Form oder dem Stoff oder dem Einzelding zu ſuchen ſei. Vgl. Ariſt. Metaph. VII, 3 p. 1028 b 33 und die zutreffende Ausführung bei Zeller a. a. O. 309 ff. 344 ff.?
Innerhalb der Einzelwiſſenſchaften hat dieſe Metaphyſik der ſubſtantialen Formen noch auffälligere Konſequenzen. Die mit ihr verbundene Wiſſenſchaft verzichtet auf die Erkenntniß des Veränderlichen an ihrem Gegenſtande, denn ſie faßt nur die bleibenden Formen auf. Sie giebt die Erkenntniß des Zu - fälligen auf, denn ſie iſt allein auf die Weſensbeſtimmungen gerichtet. Wenige Minuten nur fehlten Kepler, um welche ſeine Berechnung des Mars von der Beobachtung abwich, aber ſie ließen ihn nicht ruhen und wurden der Antrieb ſeiner großen Entdeckung. Dieſe Metaphyſik dagegen ſchob den ganzen ihr uner - klärbaren Reſt, wie ſie ihn an den veränderlichen Erſcheinungen zurückließ, in die Materie. So erklärte Ariſtoteles ausdrücklich, daß die individuellen Verſchiedenheiten innerhalb einer Art, wie die Farbe der Augen, die Höhe der Stimme für die Erklärung aus dem Zwecke gleichgiltig ſeien: ſie wurden den Einwirkungen des Stoffes zugewieſen2)de gen. anim. V, 1 p. 778 a 30.. Erſt als man die Abweichungen vom Typus, die Zwiſchenglieder zwiſchen einem Typus und einem anderen, die Veränderungen in die Rechnung aufnahm, durchbrach die Wiſſenſchaft dieſe Schranken der ariſtoteliſchen Metaphyſik, und die Erkenntniß durch das Geſetz des Veränderlichen ſowie durch die Entwicklungsgeſchichte trat hervor.
3. Indem Ariſtoteles ſo die Realität der Ideen in die wirkliche Welt verlegte, entſtand die Zerlegung dieſer Wirklichkeit in die vier Prinzipien: Stoff, Form, Zweck und wirkende Urſache, und es traten als die letzten und die Zergliederung der Wirklichkeit abſchließenden Begriffe ſeines Syſtems die von Dynamis (Ver - mögen) und Energie hervor.
Das Denken hebt am Kosmos als das Unveränderliche261Verhältniß von Bewegung, Zweck und Materie.die Form heraus, die Tochter der platoniſchen Idee. Dieſe enthält das Weſen der Einzelſubſtanzen in ſich. Da die unver - änderlichen Formen in dem Entſtehen und Vergehen enthalten ſind, ihr Wechſel aber einen Träger fordert, ſondern wir an dem Kosmos als ein zweites ihn konſtituirendes Prinzip die Materie ab. In dem Naturlauf iſt dann die Form ſowohl der Zweck, deſſen Realiſation derſelbe zuſtrebt, als die bewegende Ur - ſache, welche von innen aus das Ding, gleichſam als ſeine Seele1)Ariſt. de gen. animal. III, 11 p. 762 a 18., in Bewegung ſetzt oder von außen ſeine Bewegung bewirkt. So - nach leitet dieſe Betrachtungsweiſe das, was im Naturlauf auf - tritt, nicht aus ſeinen Bedingungen in dieſem ab, welche nach Geſetzen zuſammenwirken, ſondern an die Stelle eines Zuſammen - wirkens von Urſachen tritt der Begriff der Dynamis, des Ver - mögens, und ihm entſpricht der Begriff der zweckmäßigen Wirk - lichkeit oder Energie.
In dieſen Begriffen beſteht der Zuſammenhang der Wiſſen - ſchaft des Ariſtoteles, ſie werden ſchon in den erſten Büchern der Metaphyſik als die Mittel der Naturauffaſſung entwickelt und führen durch das Bewegungsſyſtem des Kosmos bis zum unbe - wegten Beweger. Denn dies iſt die Seele der ariſtoteliſchen Naturauffaſſung: nicht die Sonderung von bewegender Urſache, Zweck und Form — dieſelbe iſt nur analytiſches Hilfsmittel —, viel - mehr die Ineinsſetzung des Zweckes, welcher Form iſt, mit der bewegenden Urſache ſowie die Sonderung dieſes dreifach-einen realen Faktors von dem realen, wenn auch im Kosmos nicht iſolirt vorkommenden Faktor: der Materie. Und hier entſcheidet ſich auch der Charakter ſeiner Naturwiſſenſchaft. Im neueren Denken iſt das Studium der Bewegungen losgelöſt von der Auf - faſſung des Zweckes; die Bewegung wird durch ihr allein eigene Elemente beſtimmt; ſo iſt die Konſequenz der neueren Naturauf - faſſung, daß ſie, wenn ſie von der metaphyſiſchen Verwerthung der Ideen nicht laſſen will, dieſelbe von der mechaniſchen Betrach - tungsweiſe ſcheidet, wie Leibniz gethan hat. Bei Ariſtoteles da - gegen verbleibt der Begriff der Bewegung an die Formen des262Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Kosmos gebunden; er wird von ihnen nicht wirklich losgelöſt, ſo wenig, wie die Analyſis des Denkens in der Logik des Ariſto - teles hinter die Formen deſſelben zurückgeht. So entſpringt ſeine Unterſcheidung der vollkommenen, in ſich zurückkehrenden Kreis - bewegung von einer gradlinigen, welche in ihrem Endpunkt erliſcht. Dieſer Auffaſſung iſt das Gedankenmäßige der Kreisbewegung ein Urſprüngliches, ja in der Gottheit unmittelbar Bedingtes. Sie hat den verhängnißvollen Gegenſatz der Naturformen unter dem Monde von denen jenſeit deſſelben begründet, und ſo lange er die Ge - müther beherrſchte, beſtand keine Möglichkeit einer Mechanik des Himmels. Dies iſt das Bezeichnende gerade der erfolgreichen Richtungen des griechiſchen Naturſtudiums: es bleibt an die An - ſchauung mathematiſcher Schönheit und innerer Zweckmäßigkeit in den kosmiſchen Formen gebunden. Zwar zerlegt es die zuſammengeſetzten Formen der Bewegung in einfachere, aber in dieſen einfacheren bleibt der zweckmäßige, äſthetiſche Charakter der Form erhalten.
So will Ariſtoteles zwar die Bewegung im Weltall (welcher er in ächt griechiſchem Geiſte auch die qualitative Veränderung einordnet) auf ihre Urſachen zurückführen; da aber alle bewegende Kraft ihm zweckmäßige Aktion iſt, welche die Form realiſirt, ja ihm in der Form die Urſache der Bewegung liegt: ſo iſt immer nur die in der Form enthaltene Kraft, welche Entwicklung her - vorbringt, Urſache einer ihr gleichartigen Form. Daher iſt dieſe Erklärung in einen Zauberkreis gebannt, innerhalb deſſen die Formen immer ſchon da ſind, um deren Erklärung es ſich eigentlich handelt: ſie ſind die Kräfte, welche das Leben im Weltall hervorbringen: ſie führen folgerichtig auf eine erſte, be - wegende Kraft zurück.
Die Leiſtungen einer ſolchen Naturerklärung ſind durch dieſen ihren Charakter beſtimmt. Wie die platoniſche Schule ein Mittel - punkt für mathematiſche Forſchung war, ſo wurde es nun die ariſtoteliſche für die beſchreibenden und vergleichenden Wiſſenſchaften. Gerade weil die Bedeutung dieſer ariſtote - liſchen Schule für den Fortſchritt der Wiſſenſchaften ſo unermeß -263Die ariſtoteliſche Metaphyſik und die Naturwiſſenſchaft.lich, der in ihr lebende Geiſt wiſſenſchaftlicher Betrachtung, em - piriſcher Forſchung ſo hoch entwickelt geweſen iſt, hat die Frage ein lebhaftes Intereſſe erregt, warum auch dieſe Schule ſich mit unbeſtimmten, vereinzelten und theilweiſe irrigen Vorſtellungen von Bewegung, Druck, Schwere etc. genügen ließ, warum ſie nicht zu geſunderen mechaniſchen und phyſikaliſchen Vorſtellungen fort - ging. Man fragt nach den Urſachen der Einſchränkung der erfolg - reichen griechiſchen Einzelforſchung auf die formalen Wiſſenſchaften der Mathemathik und der Logik ſowie auf die beſchreibenden und vergleichenden Wiſſenſchaften innerhalb eines ſo langen Zeitraums. Dieſe Frage ſteht augenſcheinlich mit der anderen in Zuſammen - hang, wodurch die Herrſchaft der Metaphyſik der ſubſtantialen Formen bedingt war. Der formale und deſkriptive Cha - rakter der Wiſſenſchaften und die Metaphyſik der Formen ſind korrelative geſchichtliche Thatſachen. Man bewegt ſich nun im Zirkel, wenn man die Metaphyſik als die Ur - ſache betrachtet, welche den Fortſchritt des wiſſenſchaftlichen Geiſtes über dieſe ſeine damaligen Schranken hinaus gehemmt habe; denn alsdann muß die Macht dieſer Metaphyſik erklärt werden. Dies deutet darauf, daß beides, ſowol der Charakter der Wiſſenſchaften in dieſem Stadium als die Herrſchaft der Metaphyſik, in gemein - ſamen tiefer zurückliegenden Urſachen gegründet ſei.
Es fehlte den Alten nicht an Sinn für Thatſachen und Be - obachtung; ja auch das Experiment ward von ihnen in größerem Umfang, als man gewöhnlich annimmt, angewandt, wenn auch die ſozialen Verhältniſſe hier hinderlich waren: der Gegenſatz einer regierenden Bürgerſchaft, welche zugleich die Wiſſenſchaft pflegte, zu dem Sklavenſtande, welchem die Arbeit mit der Hand zufiel, ver - bunden damit die Mißachtung der körperlichen Arbeit. Das Genie der Beobachtung in Ariſtoteles, die Ausbreitung deſſelben über ein ungeheures Gebiet haben in immer zunehmendem Grade die Bewunderung der poſitiven Forſcher in der neueren Zeit erregt. Wenn Ariſtoteles nicht ſelten das, was Beobachtungen darbieten und was durch Schluß, insbeſondere durch Analogie, aus ihnen abgeleitet iſt, verwechſelt, ſo macht ſich hierin allerdings das Vor -264Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.herrſchen des Raiſonnements im griechiſchen Geiſte nachtheilig geltend. Ferner findet ſich in den Schriften des Ariſtoteles eine große Anzahl von Experimenten erwähnt, die theils von Anderen vor ihm angeſtellt waren, theils von ihm ſelber gemacht worden ſind. Aber hier fällt nun die Ungenauigkeit in der Wiedergabe derſelben auf, der Mangel jeder Art von quantitativen Beſtimmungen, beſonders aber die Unfruchtbarkeit des Experimen - tirens bei Ariſtoteles und ſeinen Zeitgenoſſen für wirkliche Auf - löſung theoretiſcher Fragen. Es beſtand nicht eine Abneigung gegen das Experiment, wol aber eine Unfähigkeit, von demſelben den richtigen Gebrauch zu machen. Auch kann dieſe nicht in dem Mangel an Inſtrumenten, welche quantitative Beſtimmungen er - möglichten, gelegen haben. Erſt wo die Fragen an die Natur ſolche fordern, werden dieſelben erfunden, und ſelbſt der Mangel einer von wiſſenſchaftlich Gebildeten betriebenen Induſtrie hätte das Hervortreten ſolcher Erfindungen doch nur erſchweren können.
Zunächſt kann nun die Thatſache nicht beſtritten werden, daß die kontemplative Verfaſſung des griechiſchen Geiſtes, welcher den gedankenmäßigen und äſthetiſchen Charakter der Formen auffaßte, das wiſſenſchaftliche Nachdenken in der Betrachtung feſthielt und die Verifikation der Ideen an der Natur erſchwerte. Das Menſchen - geſchlecht beginnt nicht mit vorausſetzungsloſen methodiſchen Unter - ſuchungen der Natur, ſondern mit inhaltlich erfüllter Anſchauung, religiöſer zuerſt, dann mit der kontemplativen Betrachtung des Kos - mos, in welcher der Zweckzuſammenhang der Natur fortdauernd feſt - gehalten wird. Orientirung, Auffaſſung der Formen und Zahlen - verhältniſſe im Weltall iſt das Erſte; die Ordnung des Himmels wird mit religiöſer Scheu und kontemplativer Seligkeit in ihrer Vollkommenheit angeſchaut; die Geſchlechter der Organismen laſſen eine aufſteigende, von pſychiſchem Leben erfüllte Zweckmäßig - keit gewahren und ermöglichen vermittelſt ihrer eine deſkriptive Wiſſenſchaft. So wendet ſich die Betrachtung, welche der ältere Glaube direkt auf den Himmel gerichtet hatte, der Einzelforſchung über die Naturkörper auf der Erde zu, wird aber auch hier länger durch eine in der Naturreligion gegründete fromme Scheu von Zer -265Die ariſtoteliſche Metaphyſik und die Naturwiſſenſchaft.gliederung des Lebendigen zurückgehalten. Dieſer Zauberkreis der Anſchauung eines idealen Zuſammenhangs ſchließt ſich in ſich, ſcheint nirgend eine Lücke zu zeigen, und es iſt der Triumph der Metaphyſik, ihm alle Thatſachen, welche die Erfahrung darbietet, einzuordnen. — Dieſer geſchichtliche Thatbeſtand kann keinem Zweifel unterliegen, und es kann ſich nur fragen, welche Tragweite er als Erklärungsgrund habe. Es ſei jedoch geſtattet, einen zweiten Er - klärungsgrund von mehr hypothetiſchem Charakter einzuführen. Die abgeſonderte Betrachtung eines Kreiſes zuſammengehöriger Theil - inhalte. wie ſie Mechanik, Optik, Akuſtik darbieten, ſetzt einen hohen Grad von Abſtraktion in dem Forſcher voraus, welcher nur das Ergebniß langer techniſcher Ausbildung der iſolirten Wiſſenſchaft iſt. In der Mathematik war eine ſolche Abſtraktion durch ſpäter zu erörternde pſychologiſche Verhältniſſe von Anfang an vorbereitet. In der Aſtronomie wurde in Folge der Entfernung der Geſtirne die Betrachtung ihrer Bewegungen von der ihrer übrigen Eigenſchaften losgelöſt. Aber auf keinem anderen Gebiet iſt vor der alexandriniſchen Schule eine Anzahl verwandter, zuſammen - gehöriger Theilinhalte der Naturerſcheinungen einer beſtimmten und ihnen angemeſſenen erklärenden Vorſtellung unterworfen worden. Geniale Aperçus wie das der pythagoreiſchen Schule über die Tonverhältniſſe hatten keine durchgreifenden Folgen. Die beſchrei - bende und vergleichende Naturwiſſenſchaft bedurfte ſolcher Ab - ſtraktion nicht, ſie hatte in der Vorſtellung des Zweckes einen Leitfaden und führte vorläufig auf pſychiſche Urſachen zurück. So erklärt ſich die Verbindung der glänzenden Leiſtungen der ariſto - teliſchen Schule auf dieſem Gebiet mit dem gänzlichen Mangel geſunder mechaniſcher und phyſikaliſcher Vorſtellungen in derſelben.
Den Schlußpunkt der Metaphyſik des Ariſtoteles bildet ſeine Theologie. In ihr vollzieht ſich erſt die vollſtändige Verknüpfung des anaxagoreiſchen Monotheismus mit der Lehre von den ſubſtantialen Formen.
266Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Seit Anaxagoras iſt die herrſchende europäiſche Metaphyſik Begründung der Lehre von einer letzten, intelligenten und der Welt gegenüber ſelbſtändigen Urſache derſelben. Dieſe Lehre tritt aber hier unter veränderte Bedingungen der metaphyſiſchen Be - griffe und der allgemeinwiſſenſchaftlichen Lage. So erfährt ſie eine Reihe von Umgeſtaltungen während des auf Anaxagoras folgenden zweitauſendjährigen Lebens der Metaphyſik. Die Umgeſtaltungen liegen in den Schriften von Plato, Ariſtoteles und den Philoſophen des Mittelalters mit zureichender Klarheit vor und erfordern daher keine eingehende Erörterung des Thatbeſtandes. Der Zuſammenhang dieſer Geſchichte verlangt nur den Nachweis, daß die Metaphyſik fortdauernd an aſtronomiſchen Schlüſſen einen poſitiven, wiſſenſchaftlichen Rückhalt hatte, welcher ihr unerſchütterliche Sicherheit gab. Dieſe Schlüſſe, unterſtützt durch ſolche aus der Zweckmäßigkeit der Organismen, haben erheblich dazu beigetragen, daß die Metaphyſik zweitauſend Jahre den Charakter einer Weltmacht behielt: königliche Gewalt, nicht in dem engen Kreiſe von Gelehrten, ſondern über die Gemüther aller Gebildeten, wodurch auch die ungebildeten Maſſen ihr untergeordnet blieben. Das religiöſe Erlebniß, welches für den Glauben an Gott die tiefſte und unzer - ſtörbare Grundlage enthält, wird nur bei einer Minderheit der Menſchen in der von dem Wirbel der egoiſtiſchen Intereſſen nicht geſtörten Beſonnenheit eines gläubigen Herzens verſtanden. Die Autorität der Kirche iſt im Mittelalter oft beſtritten worden. Die äußeren Mittel des kirchlichen Gehorſams und des kirchlichen Strafſyſtems haben beſtändige gährende Bewegungen und die ſchließliche Zerſpaltung der Kirche nicht aufhalten können. Aber unerſchüttert ſteht in dieſen zweitauſend Jahren die auf die Lage der europäiſchen Wiſſenſchaft gegründete Metaphyſik der intelligen - ten Welturſache.
Ariſtoteles hat auch an dieſem Punkte die Geſtalt der euro - päiſchen Metaphyſik weſentlich durch die Art, wie er die wichtigſten Thatſachen und Schlüſſe zuſammenfaßte, beſtimmt. Die Gottheit iſt der Beweger, durch welchen ſchließlich alle Bewegungen inner - halb des Kosmos (wenn auch auf vermittelte Weiſe) bedingt ſind;267Bedeutung der Aſtronomie für die Lehre des Ariſtoteles von Gott.und zwar ſind die Bewegungen der Geſtirne in ihrer Gedanken - mäßigkeit ein Ausdruck der im Zwecke liegenden Bewegungskraft; die Aſtronomie iſt die der Philoſophie nächſtverwandte mathematiſche Wiſſenſchaft1)Ariſt. Metaph. XII, 8 p. 1073 b 4. . Dieſe Gedanken ſchreiten in der von Anaxagoras zuerſt betretenen Bahn fort, und ein Zug der Ideen wirkt von ihnen weiter bis auf die von dem gedankenmäßigen, harmoniſchen Charakter der Welt getragenen Forſchungen Kepler’s, nach welchen in Abmeſſungen und Zahlen die Vollkommenheit Gottes ſich ab - ſpiegelt.
Die Theologie des Ariſtoteles liegt in der Abhandlung vor, welche als zwölftes Buch der Sammlung der metaphyſiſchen Schriften eingefügt iſt. Sie enthält den Höhepunkt derſelben; denn ſie erweiſt das Daſein der Einzelſubſtanz, welche immateriell und veränderungslos iſt und von Anfang an als das eigentliche Objekt der erſten Philoſophie von Ariſtoteles bezeichnet worden iſt2)Ariſt. Metaph. VI, 1 p. 1026 a 10. . Die Abhandlung ſteht einerſeits mit dem Schluß der Phyſik ſowie der Schrift über das Himmelsgebäude, andrerſeits mit den Grund - beſtimmungen der metaphyſiſchen Schriften in Beziehung.
Dieſe ariſtoteliſche Theologie beherrſcht das ganze Mittelalter. Jedoch übernahm in der ſpäteren philoſophiſchen Entwicklung die erſtgeſchaffene Intelligenz die Stelle des Bewegers des Fixſternhimmels, und aus den göttlichen Subſtanzen, durch welche Ariſtoteles die zuſammengeſetzen Bewegungen der anderen Welt - körper hervorbringen läßt, wurde ein phantaſtiſches Reich von Geſtirngeiſtern. Der Gegenſatz der Welt des Aethers und der Kreisbewegung zu der Welt der vier andern Elemente und der gradlinigen Bewegungen, ſonach des Bezirks des Ewigen zu dem des Entſtehens und Vergehens wurde nun zum räumlichen Rahmen eines aus der inneren Welt ſtammenden Gegenſatzes. So entſtand jene Vorſtellung, welche Dantes unſterbliches Gedicht verewigt hat.
Der Schluß des Ariſtoteles auf den unbewegten Beweger hat zwei Seiten.
268Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Die erſte Seite dieſer Beweisführung zeigt beſonders deutlich, wie innerhalb dieſer Metaphyſik für den Willen, welcher von innen anfängt, keine Stelle iſt, ja daß diejenige Transſcendenz, deren Weſen iſt, von der Natur auf den Willen zurückzugehen, für ſie noch nicht da iſt. Ariſtoteles alſo lehrt Folgendes. — Die Be - wegung iſt ewig, ein zeitlicher Anfang derſelben kann nicht ge - dacht werden. Das Syſtem der Bewegungen im Kosmos kann nun nicht ſo vorgeſtellt werden, daß jede Bewegung rückwärts eine weitere Bewegungsurſache habe und dieſe Kette der Bewegungsurſachen in das Unendliche verlaufe; denn ſo kämen wir nie zu einer wahrhaft wirkenden, erſten Urſache, ohne welche doch ſchließlich alle Wirkungen unerklärt bleiben würden. Sonach muß ein letzter Haltpunkt angenommen werden. — Und zwar muß dieſe erſte Urſache als unbewegt beſtimmt werden. Wenn ſie ſich ſelber bewegt, ſo muß in ihr das, was bewegt wird, von dem, was be - wegt und welchem ſonach Bewegtwerden nicht zukommt, unter - ſchieden werden. Da die Bewegung kontinuirlich iſt, kann ſie nicht auf einen veränderlichen Willen nach Art der Willen in den be - ſeelten Weſen zurückgeführt werden, ſondern muß in Eine erſte unbewegte Urſache zurückgehn. So gelangen wir zu dem unbe - wegten Beweger als der reinen Aktivität oder dem actus purus ſowie zu der metaphyſiſchen Konſtruktion der erſten Bewegung als Kreisbewegung. 1)Dieſe Argumentation iſt mit meiſterhafter Strenge im achten Buche der Phyſik durchgeführt, welches ſo in die Metaphyſik überführt.
Die andere Seite des Beweiſes benutzt die Betrachtung der gedankenmäßigen Formen, welche ſich in den Bewegungen des Kosmos verwirklichen. Bewegung erſcheint in dieſem Zuſammen - hang als ein Beſtimmtwerden der Materie durch die Form. Da die Bewegung in der Geſtirnwelt unwandelbar ſich ſelber gleich und in ſich zurückkehrend iſt, ſo muß die Energie, welche ſie hervorbringt, als unkörperliche Form oder reine Energie gedacht werden. In dieſer fällt der letzte Zweck mit der bewegenden Kraft der Welt zuſammen2)Metaph. XII, 7, populär und ohne Benutzung der metaphyſiſchen. „ Dieſen oberſten Zweck zu erreichen iſt269Der Schluß des Ariſtoteles auf die Gottheit.für Alle das Beſte; “derſelbe „ bewegt wie etwas, das geliebt wird1)Ariſt. de caelo II, 12 p. 292 b 18 Metaph. XII, 7 p. 1072 b 3. . “— Dieſer Seite der Beweisführung des Monotheismus gehört die bei Cicero erhaltene erhabene Darſtellung an. Der Ge - danke des Anaxagoras iſt hier von Ariſtoteles zu dem umfaſſenden Beweis des Daſeins Gottes aus der Zweckmäßigkeit der Welt ent - faltet, und das ganze Syſtem des Ariſtoteles kann ja ſchließlich zu einem ſolchen Beweis zuſammengeordnet werden. „ Man denke ſich Menſchen von jeher unter der Erde wohnen in guten und hellen Häuſern, welche mit Bildſäulen und Gemälden ausgeziert und mit allen Dingen verſehen wären, an denen die Ueberfluß haben, welche für glücklich gehalten werden. Aber ſie wären niemals an die Oberfläche der Erde heraufgekommen, hätten nur durch eine dunkle Sage vernommen, eine Gottheit exiſtire und Macht der Götter. Thäte ſich nun dieſen Menſchen einmal die Erde auf, vermöchten ſie dann aus ihren verborgenen Sitzen zu den von uns bewohnten Orten emporzuſteigen und nun hinauszu - treten; ſähen ſie dann plötzlich die Erde, die Meere und den Himmel, nähmen die Wolkenmaſſen wahr und die Gewalt der Winde; blickten zur Sonne auf, erkännten ihre Größe und Schön - heit und auch ihre Wirkung, daß ſie es iſt, welche den Tag ſchafft, indem ſie ihr Licht über den ganzen Himmel ergießt; erblickten dann, nachdem Nacht die Erde beſchattete, den ganzen Himmel mit Sternen beſetzt und geſchmückt und betrachteten das wechſelnde Mondlicht in ſeinem Wachſen und Schwinden, aller dieſer Himmels - körper Auf - und Untergang und ihre ewigen, unveränderlichen Bahnen: dann würden ſie gewiß überzeugt ſein, daß Götter exiſtiren, und dieſe gewaltigen Werke von Göttern ausgehen2)Cicero de natura deorum II, 37, 95. . “ Auch dieſe dichteriſche Darſtellung ſucht in der Schönheit und Gedankenmäßigkeit der Bahnen der Himmelskörper eine Stütze für den Monotheismus.
Aber der monotheiſtiſche Grundgedanke nimmt in Ariſtoteles, wie in Plato, die Annahme von mehreren nicht aus Gott ſtammen - den Urſachen in ſich auf.
Das aſtronomiſche Problem war viel komplizirter geworden, die Bahnen der Planeten bildeten die Hauptfrage. Es ward ver - ſucht, die ſcheinbaren Bahnen auf Drehungen von Sphären, verſchieden nach Zeitdauer, Richtung und Umkreis, zurückzuführen, und die Drehung ſolcher Sphären, an welchen die Geſtirne befeſtigt ſind, legte nun auch Ariſtoteles zu Grunde. Somit lagen die Vorausſetzungen dieſer aſtronomiſchen Theorie in dem In - einandergreifen dieſer verſchiedenen Drehungen. Weder Ariſtoteles noch ein anderer Denker des Jahrtauſends, das auf ihn folgte, hat dieſe Vorausſetzungen in den Zuſammenhang einer mecha - niſchen Vorſtellung gebracht. Und ſo faßt denn Ariſtoteles das Verhältniß dieſer Bewegungen zu einander mythiſch als innere Beziehung von pſychiſchen Kräften, von Geſtirngeiſtern zu einander auf; jede dieſer pſychiſchen Kräfte verwirklicht gleich - ſam eine beſtimmte Idee von Kreisbewegung; fünf und fünfzig Sphären (dieſe Hypotheſe bevorzugt er als die wahrſcheinlichere)1)a. a. O. p. 1073 b 16. außer dem Fixſternhimmel greifen mit ihren Drehungen in einander. Ungeworden, unvergänglich ſtehen demnach neben der höchſten Vernunft dieſe fünf und fünfzig Geſtirngeiſter, welche die Drehung der Sphären bewirken, alsdann die Formen der Wirklichkeit, endlich die mit den menſchlichen Seelen verbundenen unſterblichen Geiſter, die ebenfalls als Vernunft bezeichnet werden. Und die Materie iſt ebenſo eine letzte, unabhängige Thatſache.
Die Gottheit ſteht nach Ariſtoteles zu dieſen Prinzipien in einem pſychiſchen Verhältniß; ſie bilden einen in ihr den Abſchluß findenden Zweckzuſammenhang. So herrſcht die Gottheit, wie der Feldherr im Heere d. h. durch die Kraft, vermöge deren eine Seele die andere beſtimmt. Hieraus allein erklärt ſich der ge - dankenmäßige Zuſammenhang des Weltalls unter ihr als dem Haupte, während ſie doch nicht die hervorbringende Urſache des -271Der Zweckzuſammenhang der letzten Prinzipien geht in Gott zurück.ſelben iſt. Der reine Geiſt, das Denken des Denkens, denkt nur ſich ſelber in unwandelbarem, ſeligem Leben und bewegt, indem er als höchſter Zweck anzieht, nicht indem er das im Zwecke An - gelegte ſelber zu vollbringen thätig iſt: wie eine Seele alſo auf andere geringere Seelen wirkt. So iſt das letzte Wort der grie - chiſchen Metaphyſik das zwiſchen pſychiſchen Weſenheiten ſtatt - findende Verhältniß als Erklärungsgrund des Kosmos, wie es im Götterſtaate Homer’s ſchon angeſchaut worden war.
Das Verhältniß der Intelligenz zu der geſellſchaftlich-geſchicht - lichen Wirklichkeit hat ſich uns ganz verſchieden von dem gezeigt, welches zwiſchen ihr und der Natur beſteht. Nicht nur beein - fluſſen die Intereſſen, die Kämpfe der Parteien, die ſozialen Ge - fühle und Leidenſchaften hier die Theorie in einem viel höheren Grade. Nicht nur iſt die aktuelle Wirkung der Theorie hier von ihrem Verhältniß zu dieſen Intereſſen und Gemüthsbe - wegungen innerhalb der Geſellſchaft beſtimmt. Auch wenn man den Zuſammenhang, welchen die Entwicklung der Geiſteswiſſen - ſchaften bildet, betrachtet, ſofern er nicht durch das Mittel der Intereſſen und Leidenſchaften der Geſellſchaft, in welchem er ſtattfindet, bedingt iſt, zeigt derſelbe ein anderes Verhältniß zu ſeinem Gegenſtande, als es innerhalb der wiſſenſchaftlichen Erkennt - niß der Natur obwaltet.
Dies iſt in dem erſten Buche erörtert worden. Die Geſchichte der Geiſteswiſſenſchaften bildet in Folge dieſes Grundverhältniſſes ein relativ ſelbſtändiges Ganze, das in Koordination mit dem Fort -272Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.ſchritt der Naturwiſſenſchaften ſich entwickelt hat; dieſe Entwicklung ſteht unter eigenen Bedingungen, in Betreff deren auf das erſte Buch zurückverwieſen wird. Und dieſelben beſtimmen nun zunächſt das Verhältniß, in welchem die griechiſche Metaphyſik zu dem Studium der geiſtigen Thatſachen ſteht.
Der Erfahrungskreis der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit hat ſich in den Generationen ſelber erſt aufgebaut, welche über ihn reflektirten. Die Natur ſtand der Schule von Milet ſo gut als ein abgeſchloſſenes Ganze gegenüber, wie einem heutigen Forſcher: es galt nur, die vorhandene zu erkennen. Dagegen ent - ſtand erſt zu der Zeit, in welcher die griechiſche Wiſſenſchaft auftrat, allmählich der umfaſſendere geſchichtlich-geſellſchaftliche Erfahrungs - kreis, welcher der Gegenſtand der Geiſteswiſſenſchaften iſt. Die Zuſtände der umliegenden, uralten Kulturſtaaten waren den grie - chiſchen Stämmen zu wenig bekannt und zu fremdartig, als daß ſie Gegenſtand einer wirklich fruchtbaren Forſchung hätten werden können. Und zwar ſtoßen wir hier wieder an eine Grenze des griechiſchen Geiſtes, welche in dem tiefſten Lebensgefühl des grie - chiſchen Menſchen begründet iſt. Ein energiſches Intereſſe der Auffaſſung zeigt der Grieche nur für den Griechen und in zweiter Linie für den verwandten Italiker. Wol beweiſt der Sagenkreis, der das Haupt des Solon als des großen Repräſentanten maßvoller griechiſcher Lebens - und Staatskunſt umgiebt, den lebendigen An - theil an den großen Kataſtrophen jener Kulturländer. Die Ge - ſchichtſchreibung des Herodot macht die regſame Neubegier grie - chiſcher Forſcher ſichtbar in Bezug auf fremde Länder und Völker. Die Kyropädie erweiſt, wie die Leiſtungsfähigkeit monarchiſcher Einrichtungen die Bürger dieſer freien, aber politiſch und militäriſch unzureichend geſchützten Stadtſtaaten beſchäftigte. Aber der griechiſche Forſcher zeigt kein Bedürfniß, vermittelſt der Sprachen fremder Völker in ihre Literatur einzudringen, um ſich den Quellpunkten ihres geiſtigen Lebens zu nähern. Er empfindet die centralen Aeußerungen des Lebens dieſer Völker als ein Fremdes. Ihm liegt ihre wirkliche Kultur an den Grenzen deſſen, was ſeine ge - ſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit ausmacht. Andrerſeits bauten273Schranken des griechiſchen Studiums der Geſellſchaft.ſich die Kultur ſeines eigenen Volkes und deſſen politiſches Leben, ſoweit ſie Gegenſtand geſchichtlichen Wiſſens ſind, in der Zeit, in welcher die griechiſche Wiſſenſchaft anhebt, erſt allmählich auf. Sonach war die geſchichtlich-geſellſchaftliche Welt, wie ſie das Menſchengeſchlecht und deſſen Gliederung umfaßt, für den griechiſchen Geiſt noch unter dem Horizonte.
Mit dieſer engen Begrenzung finden wir einen poſitiven Irrthum verbunden, der aus derſelben entſprang. Die griechiſchen Theorien empfingen ihre vollendete Geſtalt zu einer Zeit, in welcher gerade die höchſtſtehenden Politien rein griechiſcher Abkunft ſchon ihren Höhe - punkt überſchritten hatten. Welche Achtung auch noch Plato für das Staatsleben der Spartaner hatte und wie große Hoffnungen er an eine Konſtitution noch knüpfen mochte, welche die geſpannte einheitliche Kraft dieſer Staatsordnung in edlerer Richtung nachbildete: für Ariſtoteles gab es kein Beiſpiel eines ächt grie - chiſchen Staates mehr, der dem Schickſal des Sinkens entnommen geweſen wäre. So entſteht an der Erfahrung ſelber die Vor - ſtellung von einem Kreislauf der menſchlichen Dinge, der geſell - ſchaftlichen wie der politiſchen Zuſtände, oder die noch mehr düſtere von ihrem allmählichen Sinken. Und dieſe völlige Ab - weſenheit jeder Vorſtellung von Fortſchreiten und Entwicklung verbindet ſich mit der dargelegten Einſchränkung des unterſuchen - den Geiſtes auf den griechiſchen Menſchen. Der griechiſche Er - forſcher der geſellſchaftlichen und hiſtoriſchen Wirklichkeit hatte ſo noch kein geſchichtliches Bewußtſein von einer inneren fort - ſchreitenden Entwicklung, und er näherte ſich der Empfindung ſeines realen Zuſammenhangs mit dem ganzen Menſchengeſchlecht nur ſpät und allmählich durch die Vermittelung des macedoniſchen Reiches und des römiſchen Imperium ſowie durch die Einwirkung des Orients.
Dieſer Schranke des griechiſchen Geiſtes, welche ſich auf den Umfang ſeines geſchichtlichen Geſichtskreiſes bezieht, entſpricht eine andere, welche die Stellung der Perſon zu der Geſellſchaft betrifft. Und auch dieſe Grenze iſt im innerſten Seelenleben des grie - chiſchen Menſchen angelegt. Die Hingabe an das GedankenmäßigeDilthey, Einleitung. 18274Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.der Welt iſt mit einem Mangel an Vertiefung in die Geheimniſſe des Seelenlebens, an Erfaſſung der freien Perſon im Gegenſatz zu Allem, was Natur iſt, verbunden. Erſt in einer ſpäteren Zeit wird der Wille, welcher ſich als Selbſtzweck von unendlichem Werthe findet, wenn er zur metaphyſiſchen Beſinnung kommt, die Stellung des Menſchen zu der Natur und zu der Geſellſchaft ab - ändern. Aber für den damaligen griechiſchen Menſchen hat der Einzelwille noch nicht um ſeiner ſelbſt willen den Anſpruch auf eine Sphäre ſeiner Herrſchaft, welche ihm der Staat zu ſchützen beſtimmt iſt und nicht rauben darf. Das Recht hat noch nicht die Aufgabe, dem Individuum dieſe Sphäre ſeiner Freiheit zu ſichern, innerhalb deren es ſchalte. Die Freiheit hat noch nicht die Bedeutung ungehemmter Entfaltung und Bewegung des Willens innerhalb dieſer Sphäre. Vielmehr iſt der Staat ein Herrſchafts - verhältniß, und die Freiheit beſteht in dem Antheil an dieſer Herr - ſchaft. Die griechiſche Seele bedarf noch nicht einer Sphäre ihres Lebens, welche jenſeit aller geſellſchaftlichen Ordnung liegt. Skla - verei, Tödtung verkrüppelter oder ſchwächlicher Neugeborener, Oſtracismus bezeichnen dieſe unvollkommene Werthſchätzung des Menſchen. Der unabläſſige Kampf um den Antheil an der politiſchen Herrſchaft bezeichnet die Wirkung derſelben auf die Geſellſchaft.
Innerhalb dieſer Grenzen durchlief die Anſchauung der Völker des Mittelmeeres über die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit dieſelben Stadien, welche in größerem Maßſtab, modificirt durch die veränderten Umſtände, auch die Anſchauung der neueren Völker durchmeſſen hat.
In dem erſten dieſer Stadien, während der Herrſchaft des mythiſchen Vorſtellens, wird die Ordnung der Geſellſchaft auf göttliche Stiftung zurückgeführt. Dieſe Vorſtellung des Urſprungs der geſellſchaftlichen Ordnung theilen die Griechen mit den umliegenden großen aſiatiſchen Staaten, wie verſchieden auch die näheren Beſtimmungen der Vorſtellung bei den Griechen von der bei den Orientalen ſind. Sie bleibt ſo lange275Stadium d. Zurückführung d. geſellſchaftl. Ordnung auf göttl. Stiftung.herrſchend, als die heroiſche Zeit dauert. Alle Macht war in dieſer Zeit perſönlich. Der heroiſche König hatte kein phyſiſches Machtmittel, den Gehorſam eines ewig widerſprechenden Adels zu erzwingen; es gab keine geſchriebene Verfaſſung, die einen Rechts - anſpruch begründet hätte. So ſind alle Vorſtellungen und Ge - fühle jener Tage in das Element des Perſönlichen getaucht. Die Poeſie war Heldengeſang; das Heroiſche der Gegenwart an ein Höheres der Vergangenheit zu knüpfen und dieſes bis zu den perſönlichen Gewalten der Götter zurückzuleiten, in den Bildern des Götterſtaates die Motive des eigenen Lebens in mächtigerem Pulsſchlag zu empfinden und zu genießen: war ein Grundzug der ſozialen Gefühle und Vorſtellungen jener Tage.
Die Vorſtellung von dem Zuſammenhang der geſellſchaftlichen Ordnung mit den perſönlichen Kräften einer höheren Welt iſt dann ein lebendiger Beſtandtheil griechiſcher Ueberzeugungen geblieben1)Die fortdauernde Macht dieſer Vorſtellungen kann, neben dem Be - weis aus den bekannten Stellen, auch daraus erſchloſſen werden, daß die ſophiſtiſche Aufklärung die Religion als eine Erfindung der Staatskunſt auffaſſen konnte (Critias bei Sextus Empiricus adv. Math. IX, 54, Plato Geſetze X, 889 e).. Centralgriechenland, nördlich wie durch breite Querriegel des Ge - birges vom Kontinent iſolirt, gliedert ſich durch die Veräſtelung der Gebirge zu einer Anzahl von Kantonen, die von Bergen mit hohen und engen Zugängen in ihrer Selbſtändigkeit geſchützt ſind: zugleich öffnet es ſich dem Meere, das ſchützt und verbindet. Ueber die milde See leiten Inſeln, den Pfeilern einer Brücke gleich. In vielen dieſer Kantone erhielt ſich lange mit zäher Ge - walt die Macht der mythiſchen Vorſtellungen. Denn die Wurzeln des mythiſchen Glaubens lagen für dieſe abgeſchloſſenen Gemein - ſchaften in den lokalen Kulten, wie aus dem ſpäten Bericht des Pauſanias noch erſehen werden kann.
Dieſelben geographiſchen Bedingungen haben zugleich auf die Entwicklung kleiner Politien hingewirkt, in denen mit regſamer intellektueller Entwicklung verbunden politiſche Freiheit ſich ent - faltete. Daher fand die politiſche Freiheit in den Schriften der18*276Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Griechen zuerſt einen dauernden, künſtleriſch mächtigen, wiſſen - ſchaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde ſie erſt für die europäiſche politiſche Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb. Dieſe Bedeutung der politiſchen Literatur der Griechen iſt unzer - ſtörbar. Sie wird nur ſehr vermindert durch eine Einſeitigkeit ihrer politiſchen Auffaſſung, welche wir bald erörtern werden und die ſich ebenfalls auf das neuere politiſche Leben übertragen hat.
Die erſten Anfänge dieſer Literatur gewahren wir in den großen Seeſtädten, deren politiſche, ſoziale und intellektuelle Ent - wicklung ſehr raſch verlief. Hier entſtand das Bedürfniß, den mythiſchen Glauben an die geſellſchaftliche Ordnung durch eine metaphyſiſche Begründung zu erſetzen. Und zwar begann eine ſolche erſte theoretiſche Betrachtung der Geſellſchaft, indem die ſoziale Ordnung als ſolche mit dem metaphyſiſchen Zuſammen - hang des Weltganzen in Beziehung geſetzt wurde. Heraklit iſt der mächtigſte Repräſentant dieſer metaphyſiſchen Begründung der ge - ſellſchaftlichen Ordnung; aber auch die Reſte der pythagoreiſchen Ideen deuten auf eine ſolche, obwohl dieſelbe augenſcheinlich mit mythiſchen Beſtandtheilen ſehr verſetzt war.
Die griechiſche Auffaſſung der geſellſchaftlichen Ordnung trat in ein neues Stadium in dem Zeitalter der Sophiſten. Das Auftreten von Protagoras und Gorgias bildet den Anfangspunkt dieſer großen intellektuellen Umwälzung. Indeſſen wäre es irrig, den Stand der Sophiſten (mit welchem Namen zunächſt ein verändertes Unterrichtsſyſtem in Griechenland, nicht eine Ver - änderung der Philoſophie bezeichnet wurde) für den Wechſel in den politiſchen Vorſtellungen, welcher nun eintrat, verantwortlich zu machen. Die Theorien der Sophiſten folgen nur einer gänz - lichen Veränderung der ſozialen Gefühle und ſind ihr Ausdruck. Dieſe wurde hervorgerufen durch die allmähliche Zerſtörung der alten Geſchlechterverfaſſung, in welcher das Individuum noch als Beſtandtheil einer Gliederung der Geſellſchaft ſich gefühlt hatte und von der es nach ſeinen weſentlichen Lebensbeziehungen umfaßt worden war. Noch die Tragödie des Aeſchylus geſtaltete darum277Das Naturrecht der Sophiſten.ſo tief die Mythen einer vergangenen Zeit, weil ſie noch die dieſen zu Grunde liegenden Verhältniſſe und Gefühle nachempfand. Nun wurde eine individualiſtiſche Richtung in den Intereſſen, den Ge - fühlen wie den Vorſtellungen herrſchend. Athen ward der Mittel - punkt dieſer Veränderung der ſozialen Gefühle. Die ſo eintretende Umwälzung wurde allerdings mächtig befördert durch die Centrali - ſation der intellektuellen Bewegung in dieſer Stadt und den in ihr um ſich greifenden ſkeptiſchen Geiſt. Anaxagoras ſchuf in Athen eine herrſchende Macht intellektueller Aufklärung im fünften Jahr - hundert; es darf angenommen werden, daß dann Zeno dort er - ſchien und durch ſeine ſkeptiſche Geiſtesrichtung Einfluß gewann; das Auftreten des Protagoras ſowie des Gorgias beförderte weiter den - ſelben Geiſt ſkeptiſcher Aufklärung in der Stadt. Waren die Sophiſten auch nicht die Urheber der Umwälzung, welche ſich im Leben und Denken der griechiſchen Geſellſchaft jener Tage vollzog: dieſelbe ward doch außerordentlich unterſtützt, als, dem Bedürfniß einer Zeit entſprechend, in welcher die Rede zum mächtigſten Mittel geworden war, Einfluß und Reichthum zu erringen, dieſer neue Stand von Vertretern eines höheren Unterrichts die atheniſche Jugend an ſich zog. Ein Ideal von perſönlicher Ausbildung ent - ſtand, in deſſen Sinne ſpäter ein Cicero im Redner das Lebens - ideal eines römiſchen Mannes ſah: der Humanismus hat in der Folgezeit nicht nur die Kultur der Alten, ſondern auch dies ihr Bildungsideal erneuert und dadurch die unſelige Vorherrſchaft einer formalen Bildung unter uns herbeigeführt. In der Lehr - thätigkeit der Sophiſten iſt von dieſem Allen die Wurzel; von ihr ging der Geiſt der Rhetorenſchulen aus, die ſich über die alte Welt verbreiteten. Vergeblich haben Plato und Ariſtoteles im Kampfe gegen die Sophiſten, im Gegenſatz zu dem armſeligen Rhetor Iſo - crates dieſe Krankheit des griechiſchen Lebens bekämpft; vergeblich, weil die Sophiſten nur in dem Privatunterrichtsſyſtem der griechi - ſchen Politien, in welchem die Schule der freien Konkurrenz anheim - fiel, gerade das geboten haben, was den herrſchenden Neigungen entſprach. Ein Privatunterrichtsſyſtem kann eben nie beſſer ſein als der Durchſchnittsgeiſt einer Zeit. So floß denn nun in unzähligen278Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Kanälen der individualiſtiſche und ſkeptiſche Geiſt, wie er ſich ſeit der Mitte des fünften Jahrhunderts entwickelt hatte, abwärts dem Niveau der Maſſen entgegen, um ſich dort zu vertheilen, ver - mittelſt der Volksverſammlungen, der Theater, des neuen ſophi - ſtiſchen Unterrichts, zunächſt in Athen und dann von dieſem Centrum aus über ganz Griechenland.
Jedoch zeigt die erſte Generation der Sophiſten noch keine entſchiedene und klare negative Stellung der beſtehenden geſell - ſchaftlichen Ordnung gegenüber. In dem Relativismus des Pro - tagoras lagen die Prämiſſen einer ſolchen negativen Haltung. Auch war Protagoras nicht der Kopf, ihre Tragweite zu überſehen1)Vgl. Platos Theätet 167. 172 A. Protagoras 334.. Aber hätte er die Konſequenzen dieſes Relativismus bereits wirk - lich entwickelt, ſo wäre der Mythus, welchen Plato in ſeinem Namen in dem nach ihm bezeichneten Dialog vortrug, unerklärlich. Gorgias, ein Genie der Sprache, von einem weiſen Verhältniß zum Leben, eine neutrale und in Bezug auf die ſittlichen und geſellſchaftlichen Probleme von keinem ſtarken Affekt bewegte Vir - tuoſennatur, ließ die ſittlichen Ideale des Lebens in ihrer mannig - fachen Thatſächlichkeit beſtehen2)Vgl. Ariſt. Polit. I, 13. 1260 a 24 mit Platos Meno.; ſie bildeten ihm die Voraus - ſetzung ſeiner Technik, welche nur die Kraft und Kunſt, Glauben hervorzurufen, zum Gegenſtand hatte.
Dennoch lag in der Bewegung, welche die Sophiſten der erſten Generation hervorriefen, der Ausgangspunkt einer negativen Philoſophie der Geſellſchaft. Die ungeheure Wandlung der geiſtigen Intereſſen, wie ſie in dieſem Zeitalter ſtattfand und das große Werk der Sophiſten iſt, an die in dieſer Rückſicht Socrates ſich anſchloß, läßt nunmehr geiſtige Thatſachen, Sprache, Denken, Be - redſamkeit, Staatsleben, Sittlichkeit als Gegenſtand von wiſſen - ſchaftlicher Forſchung in den Vordergrund treten. An dieſen geiſtigen Thatſachen und ihrer Betrachtung ging erſt im Gegen - ſatz zu den materiellen Vorſtellungen von Seele ein Bild deſſen auf, was im Geiſte vollbracht wird. Dieſelbe Wendung der intellek -279Unterſcheidung der erſten und zweiten Generation der Sophiſten.tuellen Entwicklung ſtellte andrerſeits jedes Phänomen unter den Geſichtspunkt der Relativität. Und ſo mußte die kluge Mäßigung der erſten Generation der Sophiſten gegenüber der geſellſchaftlichen Ordnung Griechenlands und den religiöſen Grundlagen derſelben ſchrittweiſe einer radikaleren Haltung Platz machen.
Zwiſchen der erſten und zweiten Generation der Sophiſten ſteht Hippias. Auch in ſeiner Perſon ſpürt man, in einer anderen Modifikation als in der des Protagoras oder Gorgias, die Luft einer ganz veränderten Zeit. Virtuoſe Vielſeitigkeit, deren intellektueller Ehrgeiz über die kleinen Politien hinausgewachſen iſt, ſonnt ſich im Glanze einer Zeit, in welcher die Kunſt weltlich und ein Ausdruck ſchönen Lebensbedürfniſſes, jedes wiſſenſchaftliche Problem Gegenſtand radikaler Debatten geworden iſt und in welcher Reichthum und Ruhm auf dem weiten Theater der griechiſch redenden Völker in ganz neuem Maßſtab zu erwerben waren. Ich habe dargelegt, daß der Gegenſatz zwiſchen dem gött - lichen, ungeſchriebenen Geſetz und der menſchlichen Satzung, welcher von Sophocles mit der eindringlichen Gewalt des Dichters aus - geſprochen worden iſt, durch Archelaus und Hippias eine wiſſen - ſchaftliche Formulirung erhalten hat1)S. 97 ff.. Das göttliche Weltgeſetz, welches für die Metaphyſik eines Heraklit der hervorbringende Grund aller geſellſchaftlichen Ordnung der einzelnen Staaten ge - weſen war, wird von Hippias zu dieſen Einzelordnungen in Gegenſatz geſtellt. Geſetz der Natur und Satzung des einzelnen Staates ſind die Schlagworte der Zeit, und dieſer Gegenſatz wird von nun an in den ganz verſchiedenen Erſcheinungen des geiſtigen Lebens aufgeſucht.
Doch war ein weit radikaleres Verhältniß zu der geſellſchaft - lichen Ordnung in dem Relativismus eines Protagoras angelegt, und es wurde in der zweiten Generation der Sophiſten entwickelt. Nun wird die geſellſchaftliche Ordnung aus dem Spiele des Egoismus von Individuen abgeleitet, wie in der Schule Leukipp’s die Ordnung des Kosmos aus dem Spiele der Atome. 280Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Es entſteht eine metaphyſiſche Kosmogonie der ſittlichen und geſellſchaftlichen Ordnung. Die ganze metaphyſiſche Maſchinerie dieſes radikalen Naturrechts, wie ſie uns in Hobbes und Spinoza wieder begegnet, findet ſich in dieſer Kosmogonie der Geſellſchaft ſchon angewandt: der Kampf ſtarker, den Thieren vergleichbarer Individuen unter einander in einem geſetzloſen Leben um Daſein und Macht; der Vertrag, in welchem eine geſetzliche Ordnung entſteht und Ordnung nunmehr zwar vor dem Schlimmſten der Vergewaltigung ſchützt, jedoch zugleich den Weg zu dem höchſten Glück ſchrankenloſer Herrſchaft verſperrt; die Entſtehung von Sittlichkeit und Religion als einer Ergänzung der Staatsgeſetze im Intereſſe der Vielen oder der Starken; end - lich die Fortdauer des egoiſtiſchen Intereſſes in den Individuen als des wahren Hebels der geſellſchaftlichen Be - wegungen1)Die Stellen Platos müſſen nach dem Kanon benutzt werden, daß, wo Konſequenzen von ihm ſelber gezogen werden, dies durch die Art, wie ſie aus dem Gegner durch Folgern herausgelockt werden, angedeutet iſt, da - gegen wo die Sätze, wie von Thraſymachus und Glauco im erſten und zweiten Buch der Politie geſchieht, dem Socrates entgegengebracht werden, ein Bericht über die fremde Theorie vorliegt. Was die Darlegung der Theorie durch Glauco betrifft, ſo hätte Plato ſie nicht einem Jüngling in den Mund gelegt, wäre ſie eine ſelbſtändige Fortbildung.. Euripides iſt der dichteriſche Vertreter dieſer neuen individualiſtiſchen Zeiten und er hat in ſeinen Schauſpielen ſolche radikale Theoreme als Grundlage der Handlungen beſtimmter Perſonen mit einer Energie hingeſtellt, welche ſein perſönliches Intereſſe durchblicken läßt. Ariſtophanes hat in einer berühmten Wechſelrede den Satz, daß es kein der Gewalt gegenüber ſelbſtändig begründetes Recht gebe, als einen Streitſatz ſeiner Tage verſpottet. Und wie auf dem Theater, ſo ließ ſich dies radikale Naturrecht auch in den politiſchen Verſammlungen vernehmen; ſoviel wenigſtens kann aus den Reden des Thucydides geſchloſſen werden, welches auch der Grad ihrer Authenticität in jedem einzelnen Falle ſein mag2)Vgl. beſonders die Erörterung zwiſchen den Meliern und den atheniſchen Geſandten bei Thucydides V, 85 ff. aus dem Jahre 416..
281Bedeutung und Grenzen des Naturrechts der Sophiſten.Die Grenzen dieſes Naturrechts ſind bedingt durch die dargelegten Schranken des griechiſchen Menſchen und der griechiſchen Geſellſchaft. Nirgend handelt es ſich im griechiſchen Naturrecht um die ſubjektiven Rechtsſphären der in der Geſell - ſchaft zuſammenwirkenden Individuen; nirgend iſt das Ziel dieſes Naturrechts die Freiheit in ſolchem Verſtande. Das Streben des Individuums iſt nach dieſen radikalen Schriften nur auf den An - theil der geſellſchaftlichen Atome an der Macht und dem Nutzen der ſo entſtehenden Ordnung gerichtet. So ſtützten ſie hier die Tyrannis dort den Gedanken einer demokratiſchen Gleichwerthig - keit dieſer geſellſchaftlichen Atome in der Staatsordnung, und hier wie dort iſt ihr letztes Wort die Sklaverei jedes höheren und idealen Willens. Andrerſeits iſt dieſe naturrechtliche Meta - phyſik in der gemäßigten Schule, die Hippias repräſentirt, nur auf die Sonderung einer objektiven Ordnung der Natur von der Satzung des einzelnen Staates gerichtet. An dieſe Schranken ſtößt die cyniſche und ſtoiſche Staatslehre, aber durchbricht ſie nicht. Sie verhält ſich auf dieſem Gebiet zu unſerer modernen Rechts - anſchauung ganz ſo, wie ſich der ſophiſtiſche und ſkeptiſche Relati - vismus zu der modernen Erkenntnißtheorie verhält.
So lagen in dieſer Bewegung die Keime zu den verſchie - denen Richtungen derjenigen Theorie der Geſellſchaft, welche als Naturrecht bezeichnet wird. Das Naturrecht iſt, nachdem es nunmehr ausgebildet war, in verhältnißmäßig ſtetiger Suc - ceſſion von den alten Völkern auf die neueren übergegangen. Es iſt auch im Mittelalter in einer breiten Literatur gepflegt worden. Aber ſeine Herrſchaft und ſeine praktiſche Wirkſamkeit war auch bei den neueren Völkern durch das Eintreten des - jenigen Stadiums der geſellſchaftlichen Entwicklung bedingt, in welchem es bei den alten Völkern entſtanden war. Erſt mit dem Niedergang der feudalen Ordnungen bei dieſer zweiten Generation europäiſcher Völker erhebt ſich das Naturrecht derſelben zu einer leitenden Stellung in der Geſchichte der Geſellſchaft. Es vollbrachte nun ſein negatives Werk, als deſſen Beſchluß die Wir - kung eines Rouſſeau auf die Revolution, eines Pufendorf, Kant und282Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Fichte auf die deutſche Reformarbeit angeſehen werden muß. Denn ſeinen Ausgangspunkt bildet eben das Einzelindividuum, der abſtrakte Menſch, durch Merkmale beſtimmt, welche zu allen Zeiten gleich - mäßig ihm zukommen, in abſtrakten Beziehungen, welche aus dieſen Merkmalen auf einem gleichſam abſtrakten Boden folgen. Aus ſolchen Prämiſſen folgert das Naturrecht allgemeine Be - ſtimmungen einer jeden geſellſchaftlichen Ordnung. Dieſe werden ihm der Maßſtab für die Kritik der alten europäiſchen Geſellſchaft und für die Neuordnung einer künftigen. So erhielt dieſe Be - griffsdichtung in der Revolution und ihrem Verſuch eines Aufbaus der Geſellſchaft auf die abſtrakten Menſchenatome eine furchtbare Realität.
Das Naturrecht kann als eine Metaphyſik der Geſell - ſchaft bezeichnet werden, wenn der Ausdruck Metaphyſik in dieſem engeren Sinne geſtattet wird, in welchem er eine Wiſſen - ſchaft ausdrücken würde, die den ganzen objektiven, inneren Zu - ſammenhang der geſellſchaftlichen Thatſachen in einer Theorie dar - ſtellt. Von Metaphyſik in vollem Verſtande unterſcheidet ſich das Naturrecht eben dadurch, daß ſeine Abſicht nur auf die Konſtruk - tion des inneren Zuſammenhangs der Geſellſchaft gerichtet iſt; daher es gerade in ſeiner vollkommenſten Geſtalt nicht einen ob - jektiven inneren Zuſammenhang aller Erſcheinungen dem Studium der Geſellſchaft zu Grunde legt, ſondern dieſen Gegenſtand ſelb - ſtändig behandelt. In dieſen Grenzen hat es die Eigenſchaften einer Metaphyſik. Es analyſirt nicht die Wirklichkeit, ſondern ſetzt ſie aus abſtrakten Theilinhalten von Individuen als aus veris causis zuſammen und betrachtet den ſo entſtehenden Zu - ſammenhang als die reale Urſache der geſellſchaftlichen Ordnung1)Vgl. S. 99 ff..
Hat ſich nun dieſer ſoziale Atomismus in der damaligen Lage der Wiſſenſchaft fruchtbarer für die Specialerklärung der geſellſchaftlichen Phänomene erwieſen, als der naturwiſſenſchaft - liche für die Erſcheinungen des Kosmos? Die erhaltenen Trümmer des damaligen Naturrechts erlauben kein ganz ausreichendes Ur -283D. Naturr. e. Metaph. d. Geſellſch. ; d. Einzelwiſſenſch. d. Geſellſch. fehlen.theil. Doch können wir auch hier ein Verhältniß noch feſtſtellen, welches dem an der Naturwiſſenſchaft derſelben Zeit beobachteten analog iſt1)Vgl. S. 212 ff. 245.. Das Naturrecht ging von den pſychiſchen Ein - heiten aus und beabſichtigte eine Erklärung der bürgerlichen Geſellſchaft, wie eine einzelne πόλις ſie umſchließt; denn dieſer konkrete politiſche Körper bildet den Gegenſtand der griechiſchen politiſchen Wiſſenſchaft. Nun ſind die pſychologiſchen Grundvor - ſtellungen von Intereſſe, Befriedigung, Nutzen, deren ſich das ſophi - ſtiſche Naturrecht bedient, höchſt unvollkommen. Zwiſchen den pſychologiſchen Grundvorſtellungen und der komplexen Thatſache dieſes politiſchen Ganzen liegen alsdann Zwiſchenglieder, wie Arbeitstheilung, Nationalreichthum, Stufen des wiſſenſchaftlichen Lebens, Formen des Familienrechts und der Eigenthumsordnung, religiöſer Glaube und ſeine ſelbſtändige Kraft etc., deren wiſſenſchaft - liche Bearbeitung erſt das exakt wiſſenſchaftliche Studium des kom - plexen politiſchen Ganzen bedingt. Dieſe Thatſachen können aber nur durch abſtrakte Wiſſenſchaften bearbeitet werden, welche verwandte Theilinhalte des pſychiſchen Lebens, wie ſie die Geſellſchaft enthält, zuſammenordnen; dies iſt im erſten Buche gezeigt worden. Während nun die entſprechenden abſtrakten Wiſſenſchaften innerhalb der Natur - forſchung erſt in der alexandriniſchen Zeit in ſehr vereinzelten An - ſätzen ſich zu bilden begannen, beſtanden die techniſchen Theorien der Grammatik, Logik, Rhetorik, Poetik, Nationalökonomie, juriſtiſchen Technik ſchon früh; das Bedürfniß der Geſellſchaft hatte ſie hervor - gebracht, wie auch dies das erſte Buch gezeigt hat. Trotzdem haben die Vorſtellungen der Griechen über Arbeitstheilung, über die Faktoren des Nationalreichthums, über das Geld niemals eine erheblich höhere Stufe erreicht als die über Druck, Bewegung und Schwere, und die Griechen haben innerhalb dieſer Spekulationen, ſo weit wir ſehen, niemals von exakten juriſtiſchen Begriffen Gebrauch gemacht. Daher war ihre naturrechtliche Konſtruktion der Geſell - ſchaft ganz ebenſo zu einer verhältnißmäßigen Unfruchtbarkeit ver - urtheilt wie ihre atomiſtiſche Konſtruktion des Kosmos. Auch auf284Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.dieſem Gebiet fiel der ſokratiſchen Schule, der Metaphyſik der ſubſtantialen Formen der Sieg für lange Jahrhunderte zu gegen - über der Metaphyſik geſellſchaftlicher Atome.
Die ſokratiſche Schule war aus dem Bedürfniß ent - ſprungen, inmitten der relativen Wahrheiten, welche die Sophiſtik übrig ließ, einen feſten Punkt zu entdecken. Ein ſolcher kann innerhalb des griechiſchen Vorſtellungsſchemas entweder in der Richtung der Abbildung des objektiven Seins im Denken oder in der Richtung der Beſtimmung des Seins durch das Handeln geſucht werden. Er iſt gegeben als Subſtanz in der Wirklichkeit oder als höchſtes Gut in der Welt des Willens und Handelns, ſei es der Einzelnen oder der Gemeinſchaften. Socrates ließ die Mög - lichkeit eines feſten Punktes für die Welterkenntniß fallen; er fand dagegen einen ſolchen für das Handeln, nämlich in den ſittlichen Begriffen. Dieſe Sonderung der theoretiſchen und praktiſchen Philoſophie bezeichnet eine Grenze, welche aus der des griechiſchen Geiſtes überhaupt folgt. Daß im Inneren, im Innewerden der feſte Punkt für alle Erkenntniß, auch der objektiven Welt, liege: dieſer Gedanke liegt ſelbſt außerhalb des Geſichtskreiſes des Socrates. Erſt wann dieſe klare Einſicht vorhanden iſt, tritt die ſittliche Welt, der feſte Punkt alles Handelns in ihr, in den umfaſſenden Zuſammenhang der menſchlichen Wiſſenſchaft. Mit ihr iſt erſt die falſche Sonderung der theoretiſchen und praktiſchen Wiſſenſchaften überwunden, und die wahre Sonderung der Natur - wiſſenſchaften von den Geiſteswiſſenſchaften kann begründet werden.
Indem Socrates in den ſittlichen Begriffen ein Unveränder - liches entdeckt, empfängt auch die politiſche Wiſſenſchaft ein klares Ziel. Das Ziel des Staates entſteht nun nicht aus dem Spiele der denſelben bildenden Atome. Vielmehr iſt für Socrates im Wiſſen unverrückbar feſt Ein Punkt gegeben, um welchen die Individuen gravitiren: das Gute. Das Gute iſt nicht relativ, ſondern unbedingt gewiß. Dies Ziel ordnet ſich alſo als der die Gliederung des Staates beherrſchende Gedanke die Einzelnen unter. Dieſe politiſche Auffaſſung des Socrates tritt285Die Staatswiſſenſchaft der ſokratiſchen Schule.in Gegenſatz zu der herrſchenden Demokratie und zu der Gleich - berechtigung jedes geſellſchaftlichen Atoms in Bezug auf die Leitung des Staates, welche dieſe Demokratie am ſchroffſten in der Zu - theilung von Staatsämtern durch das Loos ausdrückte. Das Wiſſen macht zum Herrſcher; es iſt die Vorbedingung des An - theiles an der Staatsleitung.
Platos großer organiſatoriſcher Geiſt konſtruirt von dieſem Gedanken aus den idealen Staat als ein Gegenbild des äußeren Kosmos, den Staat als Kunſtwerk. Er fand die atheniſche Geſellſchaft in ſoziale Atome aufgelöſt; ſo faßte er den Gedanken, die Beziehung zwiſchen politiſchem Wiſſen und Können und dem Antheil an der Staatsleitung nicht in das vorhandene politiſche Gefüge einzuordnen, ſondern von dieſem abſtrakten Ver - hältniß aus den Staat zu konſtruiren; bei den neueren Völkern hat dann dieſer Gedanke auf die vorhandene Realität der Staats - ordnungen fortbildend eingewirkt, und ſo erſcheint Plato als weis - ſagender Genius in Bezug auf weſentliche Züge des modernen Beamtenſtaates. Er fand alsdann, umgeben vom Ringen der Politien um die Herrſchaft und vom Kampf der Intereſſen, die höchſte Koncentration aller Einzelintereſſen und Einzelkräfte in dem von ihm entworfenen einſichtigen, einheitlichen Staatswillen noth - wendig; daher ſtattete er ſeinen idealen Staat mit den äußerſten Mitteln aus, welche in dem Bereich des ohnehin mit dem Eigen - thum wie mit der Freiheit in künſtleriſcher Machtvollkommenheit ſchaltenden griechiſchen Staates lagen, um dieſe Unterordnung der Einzelwillen, der Einzelintereſſen unter die leitende Vernunft her - zuſtellen. So entſteht eine Gliederung, in welcher die Einſichtigen regieren, die Starken ſie unterſtützen, die im Erwerb verſunkene Maſſe gehorcht: ein Abbild der Pſyche. Die Tugenden der Theile der Seele ſind die der Stände des Staates. Wie das Streben nach dem Guten in der Beziehung der Pſyche zu der Ideenwelt gegründet iſt, ſo geſtaltet daſſelbe auch im Zuſammenhang mit der Ideenwelt das Ideal eines geſellſchaftlichen Kosmos, den Staat, als eine zwar entſtandene, aber durch die Abmeſſung der Kräfte in den Seelen unzerreißbar gefügte Einheit. Die politiſche Kunſt ge -286Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.ſtaltet nach den Ideen der Gerechtigkeit ſowie der anderen Tugen - den aus dem Stoffe der Seelen den geſellſchaftlichen Kosmos, wie der gute Gott den äußeren Kosmos gebildet hat. So entſteht der Menſch im Großen: eine reale Einheit wie der Einzelmenſch.
Die innere Unhaltbarkeit dieſer Art von Metaphyſik der Ge - ſellſchaft iſt augenſcheinlich. Die Analogie des Menſchen im Großen verſchiebt nur das Problem, wie aus Einzelwillen ein Geſammtwille d. h. ein Gefüge der Willen, welches einheitlich wirkt, entſtehe. Plato hat ſeine Aufgabe weder für die Einzelſeele noch für den Staat gelöſt. Vielmehr bilden ſeine Seelentheile ſo wenig eine wirkliche pſychiſche Einheit, als ſeine drei Stände eine einheitliche Geſellſchaft ausmachen können.
Da Plato nicht von den Intereſſen der Individuen ausging, von der Realität der menſchlichen Natur, wie ſie einmal iſt1)Die Ableitung der πόλις aus der Arbeitstheilung und dem Ver - kehr in Politie 369 ff. beſtätigt dies nur. Denn ſie zeigt, daß Plato die Tragweite der einzelnen Intereſſen für das Gemeinleben erwog, jedoch die Einheit des Willens in ſeinem Staate nicht auf ſie gründen zu können glaubte., entſtand ihm nicht das Gefüge der Intereſſengemeinſchaft, welches die Unterlage des wirklichen Staates bildet; vielmehr hat er dieſes als das Niedrige mißachtet und Arbeit, Gewerbe, Handel keiner Unter - ſuchung unterzogen. Die hier zu Grunde liegende falſch vor - nehme Richtung iſt derjenigen verwandt, welche die Griechen auf dem Gebiet der Naturerkenntniß überall zeigen. So bleiben Ge - danke und phyſiſche Gewalt, den Staat zuſammen zu halten, da - gegen gehen die Intereſſen der Stände in ihm auseinander und müſſen ihn zerreißen. Mit einer Art von Abſolutismus des Ge - dankens werden die realen Intereſſen der Individuen als bloßes widerſtrebendes Material für den politiſchen Künſtler behandelt, anſtatt daß das Gefüge von Abhängigkeit und Gemeinſchaft, welches als ein Staatswille ſich darſtellt, als die Wirkung der Intereſſenvereinigung erkannt worden wäre. So wird hier ein Staat in die Luft gebaut. Es entſteht eine koncentrirteſte, aber zugleich dem Spiele der Intereſſen gegenüber ohnmächtige Einheit. 287Platos Staatsbegriff eine unhaltbare Abſtraktion.Dieſer Menſch im Großen iſt ein Tropus; die in dieſem Tropus behauptete reale Einheit des Staates iſt nicht nur unfaßbar — das bleibt ſie immer und überall, da ſie eben Metaphyſik iſt —, es wird auch nicht verſucht, den Tropus durch Begriffe aufzuklären. So folgenſchwere inhaltliche Mängel verknüpfen ſich mit einem allgemeineren Fehler methodiſcher Art. Der Staat ſoll verſtanden werden, bevor die Intereſſen und Zweckzuſammenhänge analyſirt ſind, welche ſeine Realität im Menſchen bilden, vermöge deren er lebt und Kraft hat. Dieſer Fehler hat zur Folge, daß an die Stelle des Zuſammenhangs von Thatſachen (Zweckzuſammen - hängen, Intereſſen) das metaphyſiſche Fabelweſen des Menſchen im Großen tritt1)Vgl. Darlegung deſſelben Fehlers in der Philoſophie der Geſchichte S. 137 ff..
Ariſtoteles hat verſucht, eine Formel an die Stelle dieſes Tropus zu ſetzen. Er will den Begriff der realen Einheit, welche Staat iſt, entwerfen. Seine Staatslehre iſt gerade dadurch auch hier ſo belehrend, daß ſie zeigt, wie dieſer fundamentale Begriff der ſozialen Metaphyſik mit den anderen metaphyſiſchen Haupt - begriffen die Eigenſchaft theilt, der vollſtändigen Auflöſung in einfach klare Gedankenelemente zu widerſtehen.
Es iſt dargelegt, daß die Subjekte für Ausſagen über die geſellſchaftliche Wirklichkeit in den Individuen gegeben ſind. Die Subjekte der Ausſagen über die Natur ſind uns unzugänglich, dagegen die des geſellſchaftlichen Lebens, des Thuns und Leidens wie der Zuſtände in demſelben ſind in der inneren Erfahrung ent - halten2)S. 135 ff.. Ariſtoteles hat nun die vernünftigen Einzel - weſen als Subſtanzen beſtimmt. Er hat andrerſeits im Zuſammenhang ſeiner Metaphyſik den Staat, welcher aus ſolchen Einzelweſen beſteht, als eine Einheit angeſehen, die nicht eine nachträgliche Zuſammenfügung derſelben iſt. Zwar hat er den Begriff des Staates ſeiner Metaphyſik nicht eingeordnet, da dieſe vor der praktiſchen Welt, ſonach gerade vor dem großen Problem288Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.des Willens endigt und in ſeinem Syſtem das Gebiet der prak - tiſchen Vernunft von dem der theoretiſchen Wiſſenſchaft geſondert iſt. Aber die Prämiſſen ſeiner Auffaſſung von der Einheit des Staates ſind die folgenden. Der teleologiſche Zuſammen - hang zeigt in dem Reiche der organiſchen Weſen eine Steigerung der Funktionen; ſie entſpricht der Steigerung des Pſychiſchen. Die Gattung des Menſchen iſt ſo die höchſte der ſubſtantialen Formen in der Stufenreihe der organiſchen Weſen. Die Einzel - weſen in dieſer menſchlichen Gattung ſind aber noch auf andere Weiſe verbunden als dadurch, daß ſie eine ſubſtantiale Form verwirklichen. Die einzelnen Menſchen befinden ſich in geſell - ſchaftlichen Ganzen, innerhalb deren die Individuen ſich wie Theile verhalten. Solche Ganze bilden ſchon Bienen und andere herdenweiſe lebende Thiere, in einem viel engeren Verbande aber der mit Sprache und Verſtand zu dieſem Zwecke von der Natur begabte Menſch, welcher das Vermögen der Unterſcheidung von Recht und Unrecht beſitzt. Dieſe Gemeinſchaft (Koinonie) iſt als Familie untrennbar mit Menſchendaſein überhaupt gegeben, und indem dieſe zur Dorfgemeinde, weiter zur Polis ſich ausdehnt, erreicht in der letzteren das in der Natur angelegte Ge - meinſchaftsſtreben das Endziel der Autarkie d. h. des völligen Selbſt - genügens; die Polis iſt der Zweck der mehr elementaren Formen von Gemeinſchaft, der in den weniger zuſammengeſetzten ſchon wirk - ſam iſt. In dieſem Zuſammenhang tritt die Formel des Ari - ſtoteles auf, daß der Staat ein Ganzes bilde, welches vor den Familien und Individuen als ſeinen Theilen ſei1)Vgl. näher Ariſt. Polit. I, 2 p. 1252b 30 p. 1253a 19.. Dieſe Formel drückt aus, daß der Staat nicht ein Werk menſchlicher Willkür ſei, ſondern ein in der Phyſis begründetes Syſtem. In der Phyſis, in welcher der Zweck wirkt, iſt ein Zu - ſammenhang von Beſtimmungen angelegt, welche nur durch die einzelnen Individuen und in ihnen ſich verwirklichen, welche aber dieſe Individuen der Zuſammenordnung (τάξις) in einer Politie zuführen, da erſt in dieſer das Ziel der Eudämonie auf ſelbſt -289Der ariſtoteliſche Begriff des Staates.genugſame Weiſe erreicht wird. Solche Beſtimmungen ſind z. B. die Ungleichheit der Individuen, der Gegenſatz der Herrſchenden und Beherrſchten, die Proportion von Leiſtung und politiſcher Macht. Sie beſitzen die Nothwendigkeit des Zweckes. Und zwar beſteht das Syſtem (σύστημα), zu welchem die Menge (πλῆϑος) durch den Zweck in der Politie geordnet iſt, aus ungleichartigen Beſtandtheilen. Auch geht das Individuum in dieſem Zweck nicht ganz auf. Das Zuſammenwirken von ungleichartigen Einzelnen als von Theilen zu einem Ganzen kann mit dem der Theile inner - halb eines Organismus verglichen werden. Der einzelne Menſch verhält ſich zum Staatsganzen wie Fuß oder Hand zu einem Körper.
So bereitet ſich in Ariſtoteles die Auffaſſung des Staates als eines Organismus vor, welche eine ſo verhängniß - volle Rolle in der Geſchichte der politiſchen Wiſſenſchaften geſpielt hat. Der Begriff des Organismus iſt in ſeiner Art das letzte Wort dieſer Metaphyſik des Staates. Und zwar iſt derſelbe, wie jeder Begriff der Staatseinheit, welcher dieſe nicht ana - lytiſch aus der Wirklichkeit des Staatslebens bis zu einem ge - wiſſen Punkte aufklärt, ſondern als eine Formel zum Zwecke der Ableitung auftritt, eine metaphyſiſche Begriffsdichtung. Was im ſozialen Leben erfahren wird, kann die Analyſis in einem gewiſſen Umfang zerlegen, aber nie vermag ſie, in einer Formel den Reich - thum des Lebens auszudrücken1)Vgl. S. 119 ff.. Daher iſt die Realität des Staates nicht in einer beſtimmten Zahl begrifflicher Elemente dar - ſtellbar. Dies zeigt ſich ſchon hier, bei Ariſtoteles, in der Dun - kelheit des von ihm gebildeten Gedankens des Staates als eines or - ganiſchen Ganzen, und dieſe Dunkelheit als in der Sache ſelber liegend iſt nie überwunden worden2)Vgl. S. 88 ff..
Dennoch hat die Betrachtungsweiſe des Ariſtoteles, welche den Staat als einen realen Zweckzuſammenhang dachte, ſich für ein vergleichendes Studium des Staates höchſt fruchtbar erwieſen. Sie hat auf dem Gebiet des Geiſtes eine nahezu ebenſoDilthey, Einleitung. 19290Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.eingreifende Arbeit für das Studium des Staates vollbracht, als die Zweckbetrachtung des Ariſtoteles auf dem der Natur für die biologiſchen Wiſſenſchaften geleiſtet hat. Ja auf dem politiſchen Gebiet hatte dieſe Betrachtungsweiſe ein noch höheres Recht. Zwar kann der Staat nicht als die Realiſirung eines einheitlichen Zweck - gedankens aufgefaßt werden; ſelbſt der von Ariſtoteles ſo geſund entwickelte Zweckbegriff der Eudämonie1)Der Zweck des Staates iſt die Verwirklichung der Eudämonie, des εὖ ζῆν oder auch der ζωῆς τελείας καὶ αὐτάϱκους. iſt nur eine abſtrakte Formel. Aber in Wirklichkeit bilden doch Wille, Intereſſen und Zwecke das Gefüge des Staates, und daher darf die von Ariſtoteles in der Geſellſchaft angenommene Richtung auf Ver - wirklichung der Eudämonie wenigſtens als eine unvollkommene Abbreviatur des Thatbeſtandes angeſehen werden. Die Betrachtung aus dem Zwecke, die Ariſtoteles anwendet, gelangt daher hier auf den Boden der Thatſächlichkeit. So konnte ſie durch eine kom - parative Analyſe der Staaten die Grundzüge ihrer Struktur feſt - ſtellen und die Hauptformen des politiſchen Lebens beſtimmen. Und ſie hat dieſe Leiſtung mit ſolcher Vollendung ausgeführt, daß die ſo geſchaffenen Begriffe ihren Werth bis heute behauptet haben. Dieſe Arbeit des Ariſtoteles und ſeiner Schule war die Vor - bedingung erklärender Methoden auf dem Gebiet der Staatswiſſen - ſchaften, wie ſie dieſelbe auf dem der Biologie geweſen iſt.
So hat auch hier die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen ſich in einem Stadium der Wiſſenſchaft fruchtbar erwieſen, in welchem die Mittel einer Zerlegung in den Zuſammen - hang der Vorgänge nach Geſetzen noch nicht vorhanden waren.
Alle Verbandsverhältniſſe, dies zeigte unſere eigene theoretiſche Erörterung2)S. 86 ff., folgerecht auch der Staat, ſind, pſychologiſch angeſehen, aus Verhältniſſen der Abhängigkeit und Gemeinſchaft zuſammenge - ſetzt. Aus dieſem Syſtem der paſſiven und aktiven Willensbeſtim - mungen entſpringt das pſychologiſche Verhältniß von Befehlen und Gehorchen, von Obrigkeit und Unterthan, auf welchem die Willens - einheit des Staates begründet iſt. Aber dieſes Syſtem von Abhängig -291Die ihm entſprechende Aufgabe einer vergl. Zergliederung d. Staatsverf.keiten und Gemeinſamkeiten iſt nur die Außenſeite der realen Be - ziehungen der Intereſſen unter einander. Die inhaltlichen Faktoren des Staatslebens liegen insbeſondere in den Zwecken und Intereſſen, welche nicht durch das freie Ineinandergreifen der Handlungen der In - dividuen zur Befriedigung gelangen. Hier gewahren wir die reale Seite deſſen, was, nach den bloßen Willensverhältniſſen betrachtet, als Me - chanik der Geſellſchaft und des Staatslebens ſich darſtellt und in der Exiſtenz eines herrſchenden Staatswillens ſeinen Abſchluß findet. Dieſen status der äußeren Willensverhältniſſe in einem Staate können wir als Staatsform oder auch als Verfaſſung bezeichnen.
Dieſem Thatbeſtand entſpricht, daß die politiſche Wiſſenſchaft in Ariſtoteles zunächſt durch Anwendung der vergleichenden Methode die äußeren Formen oder die Verfaſſungen beſtimmt hat. Das reale Leben des Staates iſt ſo außerordentlich komplex, daß ſelbſt die moderne, wahrhaft analytiſche Wiſſenſchaft noch am Anfang ſeiner wiſſenſchaftlichen Behandlung ſteht. Das Alterthum beſaß aber die Bedingungen eines ſolchen wahrhaft analytiſchen Verfahrens noch gar nicht. Ihm fehlten eine entwickelte Pſycho - logie und die zwiſchen ihr und der Politik ſtehenden Einzelwiſſen - ſchaften. Der Zuſammenſetzung der realen Zwecke im Leben des Staates gegenüber war es ſo an einer fruchtbaren Analyſis ge - hindert, welche erſt ſehr ſpät Wiſſenſchaften wie die politiſche Oekonomie und Schriftſteller wie Niebuhr, Tocqueville zu voll - bringen begonnen haben.
Sonach war die griechiſche Staatswiſſenſchaft auf ihrem Höhepunkt in Ariſtoteles vorzugsweiſe Zergliederung der Verfaſſungen. Durch dieſe Einſchränkung der Betrachtungsweiſe iſt bedingt, daß dem Ariſtoteles der Staat ein anderer wird, wenn die Staatsverfaſſung ſich ändert. Der Staat (πόλις) iſt eine Gemeinſchaft (κοινωνία), das Weſen dieſer Gemeinſchaft (κοινωνία πολιτῶν) wird durch die Verfaſſung (πολιτεία) bezeichnet; ſo - nach ändert ſich mit der Verfaſſung der Staat. Die Perſonen bleiben dabei dieſelben, wie ja dieſelben Perſonen den tragiſchen Chor bilden und aus ihm in den Chor der Komödie eintreten. Ariſtoteles gewahrt nicht hinter dem Wechſel der Staatsform die dauernde19*292Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Intereſſengemeinſchaft des Volkes, welche das den politiſchen Zuſammenhang Konſtituirende iſt, ſondern ihm iſt die Staats - verfaſſung das Weſenhafte, welches den Staat ausmacht1)Ariſt. Polit. III, 3 p. 1276b 1.. Dem entſpricht, daß ſich ihm der Politiker zu den Staatsbürgern ver - hält, wie der Künſtler zu ſeinem Stoffe. Die Maſſe bildet das Material für den Aufbau des Staates2)Ariſt. Polit. VII, 4 p. 1325b 40.. So ſubſtituirt Ariſtoteles einen falſchen Gegenſatz von Stoff und Form dem realen Zuſammen - hang der Geſellſchaft, und dieſer Gegenſatz iſt auf dem Gebiet der Staatswiſſenſchaft eben ſo verhängnißvoll für ihn geweſen, wie auf dem der Naturwiſſenſchaften. In Wirklichkeit ſind im Staate überall bildende Kraft, Zweckzuſammenhang, Intereſſenbezieh - ungen, und überall Stoff: denn überall iſt Perſon. In den Lebenszwecken des Volkes, welches ihn ausmacht, iſt auch das Leben des Staates gegründet. Hier aber verſchwindet, wie in ge - wiſſem Grade für den griechiſchen Menſchen überhaupt, das hiſto - riſche Bewußtſein von Naturwachsthum ganz hinter dem Macht - gefühl des politiſchen Menſchen, der den Staat wie ein bildender Künſtler zu kneten beanſprucht. Und zugleich tritt das Bewußtſein von Rechtskontinuität zurück; wie denn Ariſtoteles in obigem Zu - ſammenhang die weitere Frage aufwirft, inwiefern nach Verände - rung der Staatsverfaſſung die Verbindlichkeiten, welche der frühere Staat eingegangen iſt, fortbeſtehen oder ebenfalls aufhören.
Und ſo beſtätigt ſich auf überraſchende Weiſe auch innerhalb der Geiſteswiſſenſchaften das von uns aufgeſtellte Geſetz der Entwicklung der europäiſchen Wiſſenſchaft. Dieſelbe ſucht zu - nächſt die ſo ſehr zuſammengeſetzte Wirklichkeit direkt zu erkennen, be - ſchreibt, vergleicht und geht auf vermuthete oder von der Metaphyſik untergelegte Urſachen zurück. Allmälig erſt ſondert ſie einzelne Kreiſe von Theilinhalten der Wirklichkeit ab und unterwirft ſie einer beharrlichen und abſtrakten Kauſalunterſuchung. Die Phäno - mene der Bewegung z. B. bilden einen ſolchen Kreis, die des wirth - ſchaftlichen Lebens einen anderen. Der Gang der Erkenntniß ent - wickelt nun in abſtrakten Wiſſenſchaften die Grundeigenſchaften der293Dieſe Aufgabe entſpr. d. Stadium d. Metaphyſik d. ſubſtantialen Formen.innerhalb der einzelnen Kreiſe zuſammengehörigen Theilinhalte und erſetzt z. B. Zweckvorſtellungen, wie Ariſtoteles ſie als Erklärungs - gründe benutzte, durch angemeſſene Begriffe. Metaphyſik in ihrer herrſchenden Stellung innerhalb der Wiſſenſchaften iſt eine dem erſteren Stadium der Betrachtung korrelative Thatſache geweſen.
Die äußere Organiſation der Geſellſchaft in Staaten hat am ſtärkſten die Blicke der Forſcher auf ſich gezogen, welche die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtand machten. Denn hier bot ſich das merkwürdige Phänomen einer über die einzelnen Willen ſich erhebenden Willenseinheit. Dies Phänomen mußte den Griechen noch weit erſtaunlicher als den monarchiſchen Völkern des Oſtens erſcheinen. Denn letzteren ſtellte ſich die Willenseinheit in ihren Königen auf eine perſönliche Weiſe dar, dagegen war ſie in dieſen griechiſchen Politien gleichſam körper - los. Dies Problem der Willenseinheit im Staate beſchäftigte die als Sophiſten bezeichneten Schriftſteller. Mit einander ringende Staaten bilden das Objekt der großen griechiſchen Hiſtoriker. Noch war der Durchſchnittsmenſch, wie er in einer gegebenen Zeit lebt, arbeitet, genießt und leidet, der Geſchichte ſo wenig ſichtbar als die Menſchheit. Daſſelbe Problem beſchäftigte die ſokratiſche Schule in erſter Linie und es ward Gegenſtand einer Theorie der Geſell - ſchaft, welche dem metaphyſiſchen Standpunkt des europäiſchen Denkens entſprach. In der nun geſchaffenen, vergleichenden Wiſſen - ſchaft von Struktur und Formen der Staaten tritt die Korre - ſpondenz zwiſchen einem ſehr glücklichen deſkriptiven Studium der politiſchen Formen und der Metaphyſik hervor.
Dieſe vergleichende Wiſſenſchaft der Staaten geht, gemäß dem Dargelegten, von der Betrachtung des Herrſchaftsverhält - niſſes aus, wie es in der Verfaſſung ſeinen Ausdruck gewinnt. Verfaſſung iſt für Ariſtoteles die Ordnung des Staates in Bezug auf das Regiment der obrigkeitlichen Gewalten, insbeſondere der über ihnen allen ſtehenden ſouveränen Gewalt1)Ariſt. Polit. III, 6 p. 1278b 8.. Bürger iſt ihm294Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.dem entſprechend derjenige, welcher an den Funktionen der Staats - verwaltung und Rechtspflege theilnimmt1)Ariſt. Polit. III, 1 p. 1275a 22.. Und zwar legt Ari - ſtoteles der Zergliederung der Verfaſſung in ihre Formbeſtandtheile (die zu unterſcheiden iſt von der Erkenntniß aus den Faktoren des Staates als einer Realität) ſowie der Aufſuchung der Haupt - formen von Staatsverfaſſungen den in der ſokratiſchen Schule entwickelten Begriff der Beziehung zwiſchen der politiſchen Leiſtung und dem Antheil an der Herrſchaft ſowie den Gütern zu Grunde. Ariſtoteles erweitert dieſen Begriff der Leiſtung mit unbefangen realiſtiſchem, Thatſachen vergleichendem Geiſte. — Die Leiſtung ſteht in Beziehung zu dem Zweck des politiſchen Ganzen, um deſſen Leben und Wirken es ſich handelt. Dieſer Zweck iſt in ſeinem Syſtem durch die aufſteigende Reihe der die Arten der Lebeweſen unterſcheidenden Funktionen beſtimmt und beſteht in der Eudämonie des Ganzen und ſeiner Theile, der einzelnen Bürger. Der Staat iſt ſonach einem lebenden, zweckmäßig wirkenden Weſen zu vergleichen. Die Verſchiedenheit der Art von Eudämonie, welche das lebendige politiſche Ganze gemäß ſeinen Lebensbedingungen ſucht, beſtimmt die Verſchiedenheit in der Schätzung der Leiſtungen, und dies wirkt auf den Anſatz der Proportion zwiſchen Leiſtungen und Antheilen an der Herrſchaft ſowie an dem Nutzen. — Dieſe Beziehungen konſtituiren die Struktur eines politiſchen Ganzen. Das Bild dieſer Struktur eines lebendigen Weſens vollendet ſich, indem Ariſtoteles rückwärts die Beziehungen zwiſchen den Leiſtungen und den ſie begründenden Lebensverhältniſſen und Lebensbedingungen verfolgt. So entſtehen die Grundlagen für eine morphologiſche, vergleichende Betrachtung der Staaten ſowie für die geniale Theorie von den Störungen der Proportion und der Geneſis der Revolutionen.
Die vergleichende Staatswiſſenſchaft des Ariſtoteles hat ihre Schranke darin, daß ſie für die Zergliederung nicht Kauſalbegriffe aus ausgebildeten, weiter zurückliegenden Wiſſenſchaften benutzen295Leiſtungen d. Ariſtoteles u. ſeiner Schule f. das Studium d. Geſellſchaft.kann, ſondern in der Hauptſache auf unvollkommene Zweckvor - ſtellungen angewieſen iſt. So ſchloß Ariſtoteles voreilig auf die Naturnothwendigkeit der Sklaverei, weil er eine in der Phyſis an - gelegte Ungleichheit der Menſchen annahm, ohne ihren Urſprung in geſchichtlichen Verhältniſſen und die hierdurch gegebene Mög - lichkeit einer Ueberwindung derſelben zu erwägen. So hat er die Sonderung des natürlich Vollkommenen, dem Zweckzuſammenhang Entſprechenden von den Abweichungen, wie dieſelbe in ſeiner Phyſik ſo viel Unheil anrichtete, auch in die Politik hinein fort - geführt; ſeine Sonderung der vollkommenen von den entarteten Verfaſſungen muß als willkürliche Konſtruktion einer Wirklichkeit, die nur Grade zeigt, verworfen werden. Aber am meiſten verhäng - nißvoll wirkte die Einſeitigkeit, mit welcher er in der Verfaſſung den Staat ſah. Der politiſche Formalismus des Ariſtoteles iſt für die realiſtiſche Staatsbetrachtung in hohem Grade hindernd geweſen.
Ariſtoteles und die ariſtoteliſche Schule bilden aber weiter den Mittelpunkt für eine unvergleichliche Thätigkeit von Samm - lung, Geſchichtſchreibung und Theorie, welche über die Staats - wiſſenſchaft hinausreicht. Neben den Theorien über Dichtung, Beredſamkeit, wiſſenſchaftliches Denken und ſittliches Leben finden wir Geſchichtſchreibung der Wiſſenſchaften, der Kunſtthätigkeit, der religiöſen Vorſtellungen in der ariſtoteliſchen Schule. Ja Dikäarch geht in ſeinem βίος Ἑλλάδος ſchon zu einer kulturgeſchichtlichen Betrachtungsweiſe fort; er ſondert das fabelhafte goldene Zeitalter eines mäßigen friedlichen Naturzuſtandes, das Auftreten des Nomadenlebens und als eine weitere geſchichtliche Stufe die Seß - haftigkeit, welche der Ackerbau hervorbringt; an die Naturbedin - gungen Griechenlands knüpft er ein Bild des griechiſchen Lebens, in welchem Sitten, Lebensgenuß, Feſte und Verfaſſungen in einer inneren Verbindung geſehen werden. So ſtehen die Leiſtungen der ariſtoteliſchen Schule für die Geiſteswiſſenſchaften in keiner Weiſe hinter denen für die Naturwiſſenſchaften zurück.
Bezeichnen wir ſchließlich die Stellung des Studiums der menſchlichen Geſellſchaft innerhalb des Zuſammen - hangs der Wiſſenſchaft in dem durchlaufenen Zeitraum. Wie296Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.die einzelnen Theorien über die Syſteme der Kultur und über die äußere Organiſation der Geſellſchaft aus der Aufgabe techniſcher Anweiſungen für das Berufsleben hervorgegangen waren, ſo haben ſie dieſen praktiſchen Charakter behalten, der auch der Politik die Richtung auf die beſte Verfaſſung gab. Die theoretiſche Wiſſenſchaft in ſtrengem Verſtande endigt im Ganzen für dieſe Philoſophen, wo der Wille ſein Reich aufzubauen beginnt. Schon aus dieſer Betrachtungsweiſe ergiebt ſich, daß dieſe Zeit das Problem noch nicht ſah, wie Freiheit des Willens mit der Unterordnung aller Erſcheinungen unter das Kauſalgeſetz verträglich ſei. Aber dauernder als eine ſolche Einſchränkung der Metaphyſik, welche nur vorübergehend ſein ſollte, wirkte in dieſer Richtung das allgemeine und bleibende Verhältniß der ganzen Metaphyſik der ſubſtantialen Formen zum Problem der Freiheit. Dieſe Metaphyſik unterwarf dem Zuſammenhang des Erkennens nur die allgemeinen Formen der Wirklichkeit, von dieſen wurde aber die Freiheit des Individuums nicht berührt. Mit beneidens - werther Sicherheit des in der inneren Erfahrung gegebenen Frei - heitsbewußtſeins, ungeſtört noch von der Frage nach der Stellung deſſelben zu dem Kauſalzuſammenhang, welche die Wiſſenſchaft auf - ſtellt, ſpricht es Ariſtoteles aus, daß Handeln wie Unterlaſſen, Tugend wie Laſter in unſerer Gewalt ſei1)Eth. Nic. III, 7 p. 1113b 6. Näher Trendelenburg hiſt. Beiträge II, 149 ff..
Die Stellung, welche Ariſtoteles der Erkenntniß zur Wirklich - keit giebt, iſt die, welche die Metaphyſik ſelber ihr vorſchreibt. Die erklärende Geſchichte der Metaphyſik hat daher nunmehr ihr Hauptwerk gethan; nur Fortbildung der Metaphyſik liegt noch vor ihr.
297Die griechiſche Wiſſenſchaft tritt in das Stadium d. Einzelwiſſenſchaften.Inzwiſchen hatte ſeit dem Zeitalter der Sophiſten der Skepti - cismus fortbeſtanden. Unmittelbar nach Ariſtoteles tritt Pyrrho auf, der Begründer der ſkeptiſchen Schule. Die Debatten dieſer Schule, insbeſondere aber der neueren, ſkeptiſch gerichteten Akademie erfüllen das 3. und 2. Jahrhundert vor Chriſtus und erhalten ihren Abſchluß in der Zuſammenfaſſung der Beweisführungen gegen alle Wiſſenſchaften durch Sextus Empiricus. Sie zeigen, verglichen mit dem Relativismus des Protagoras, einen Fortſchritt des ſkep - tiſchen Gedankens, indem ſie auf Grund der nun geſchaffenen Logik und Metaphyſik von den Unterſchieden der Wahrnehmung und des Denkens, des Phänomens und des dem Phänomen objektiv zu Grunde Liegenden, des Syllogismus und der Induktion etc. für die Durch - führung des ſkeptiſchen Grundgedankens Gebrauch machen. Hier - durch trat zwar noch deutlicher die Schranke heraus, welche durch den griechiſchen Geiſt dem Skepticismus gezogen war; innerhalb der Vorausſetzungen der alten Völker erwies ſich nun aber dieſer Skepticismus als ganz unwiderleglich. Er blieb Sieger auf dem weiten Kampfplatz der griechiſchen Metaphyſik.
Welche ſind die Grenzen in der Beweisführung der ſkeptiſchen Schulen des Alterthums? Lieſt man, was übrig ge - blieben iſt, ſo wird es nur verſtändlich, wenn wir von unſerem höheren Standpunkt aus den Skeptikern zu Hilfe kommen, wenn wir gleichſam heraufheben, was nach ihrem Standort unter ihrem Horizont lag. So zeigt ſich, wie dieſelben ſolchergeſtalt nur beſtritten und aufgelöſt haben, was ihr Geſichtskreis enthielt: die objek - tive Welterkenntniß des Alterthums, daß jedoch dieſe ihre Kritik Anderes gar nicht erblickte — und darum nicht traf. Das Nicht-Wiſſen des Socrates war mit dem Affekt des Wahrheitsge - fühls der Zukunft zugewandt. Pyrrho ſteht in ſich gekehrt an der Grenze des Griechenthums. Er ſtellt ruhig feſt, daß alle Meta - phyſik, alle poſitive Erkenntniß, welche der griechiſche Geiſt zu er - blicken vermocht hatte, objektive Wahrheit nicht iſt. Die Zeit ſtand bevor, in welcher von einem höheren Standort aus Anderes geſehen298Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.wurde, das die Skeptiker von Pyrrho bis Sextus Empiricus nicht zu gewahren vermocht haben. Ihr Endurtheil über die ganze Poſition des Metaphyſikers iſt in Geltung geblieben, ſie haben die Metaphyſik zerſetzt: aber die Wahrheit iſt eben nicht Metaphyſik.
Alſo wir ergänzen durch unſere Einſicht, um die Skeptiker von Grund aus zu verſtehen. Sie ſprechen von einem Wahr - nehmungszuſtand, den der Menſch erleidet1)Diogenes IX, 103: πεϱὶ μὲν ὧν ὡς ἄνϑϱωποι πάσχομεν, ὁμολογοῦμεν., und unterſcheiden dieſen vom Erkennen2)ebdſ.. Aber keine Ahnung iſt in ihnen, daß das Innewerden eines ſolchen Zuſtandes, welches ſie nicht beſtreiten, eben ſelber ein Wiſſen und zwar das ſicherſte Wiſſen iſt, von welchem jede Erkenntniß ihre Gewißheit zu Lehen tragen muß. Viel - mehr ſuchen ſie gemäß dem metaphyſiſchen Standpunkt die Wahrheit ausſchließlich in dem, was als objektive Grundlage dem in der äußeren Wahrnehmung gegebenen Phänomen vom Denken unterge - legt wird3)Sextus Empir. hypotyp. I, 19 f.. Sie erkennen daher zwar das Sehen, das Denken als einen zweifelloſen Thatbeſtand an; aber derſelbe ſchließt für ſie nicht ein werthvolles Wiſſen, nämlich von den Thatſachen des Be - wußtſeins, in ſich. In Folge davon entwickeln ſie nicht klar, daß die Außenwelt nur Phänomen für das Bewußtſein ſei, und gelangen ſonach nicht zu einer folgerichtigen Anſchauung der Außenwelt in dieſem Sinne4)ebdſ. ſowie Diogenes a. a. O., ſondern ſie fragen nur, ob der im Bewußtſein gegebene Sinneseindruck als ein Zeichen von der objektiven Grund - lage ſolcher Phänomene benutzt werden kann. Und ſie leugnen das mit Recht. Sie verneinen richtig jede Art von Erkenntniß dieſer objektiven Unterlage der Phänomene: des Kant’ſchen Dinges an ſich5)καὶ γὰϱ ὅτι ἡμέϱα ἐστὶ καὶ ὅτι ζῶμεν καὶ ἄλλα πολλὰ τῶν ἐν τῷ βίῳ φαινομένων διαγινώσκομεν· πεϱὶ δ̕ὧν οἱ δογματικοὶ διαβε - βαιοῦνται τῷ λόγῳ, φάμενοι κατειλῆφϑαι, πεϱὶ τούτων ἐπέχομεν ὡς ἀδήλων, μόνα δὲ τὰ πάϑη γινώσκομεν. Diogenes IX, 103.. Alſo nur darin irren ſie, daß ſie auf Grund hiervon die Möglichkeit des Wiſſens beſtreiten.
299Die Schranken des antiken Skepticismus.So erklärt Sextus Empiricus ausdrücklich: der Skeptiker hebt das Erſcheinende nicht auf; er erkennt den paſſiven Zuſtand, in dem er ſich in der Wahrnehmung findet, an und bezweifelt nur jede Be - hauptung über das dieſem Zuſtand objektiv zu Grunde Liegende1)Sextus, hypotyp. I, 13. 20.. Bei Diogenes Laertius findet man damit übereinſtimmend die Grenzen des Skepticismus angegeben, wie ſie von den Skeptikern gegenüber den Entſtellungen der Metaphyſiker feſtgeſtellt wurden. Zuſtände, die wir erleben, Phänomene (τὰ φαινόμενα), werden nicht bezweifelt, wol aber jede Erkenntniß deſſen, was wahrhaft iſt, deſſen nämlich, was in der Außenwelt ihnen zu Grunde liegt2)Diogenes IX, 102 — 108.. Dieſe ausdrücklichen Erklärungen zeigen, daß den Skeptikern die richtige Verwerthung der von ihnen anerkannten Phänomene des Bewußtſeins für das Problem des Wiſſens durchaus fehlt. Daher leugnen ſie jedes Wiſſen von etwas wahrhaft Seiendem, während ſie im Grunde nur eine Erkenntniß der Außenwelt wider - legt haben. Am deutlichſten wird dieſe Grenze ihres Denkens durch einen ſonderbaren Streit. Sagen die Skeptiker: Alles iſt falſch, ſo erklären die Metaphyſiker: alſo auch dieſe Behauptung, und ſonach hebt ſie ſich ſelber auf. Die gründlichſte Erwiderung der Skeptiker hierauf iſt: der Skeptiker drückt mit ſolchen Worten nur ſeinen eigenen Zuſtand aus, anſichtslos, ohne über das außer - halb ſeiner den Phänomenen Unterliegende irgend etwas auszuſagen3)Sextus, hypotyp. I, 15.. Da muß denn der Erkenntnißtheoretiker hinzutreten, um den Streit zu ſchlichten, und muß erklären: eben in dieſem Zuſtand iſt ein wahrhaftes Wiſſen gegeben, und in ihm liegt der Ausgangspunkt aller Philoſophie.
Nachdem wir uns dieſe Schranken des Skepticismus klar ge - macht haben, verweiſen wir nunmehr mit Entſchiedenheit jeden, welcher eine Erkenntniß der objektiven Unterlage des in unſeren Eindrücken Erſcheinenden für möglich hält, auf die definitive Be - ſeitigung jedes Verſuchs ſolcher Art, wie ſie in den auf uns ge - kommenen Ueberreſten der vortrefflichen ſkeptiſchen Schule enthalten300Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.iſt. Der Relativismus der modernen Philoſophen iſt von dem des Sextus Empiricus in keinem Punkte unterſchieden, ſoweit er ſich auf den Nachweis der Unmöglichkeit aller Metaphyſik bezieht. Er geht nur über ihn hinaus in Bezug auf die Herſtellung einer Theorie vom Zuſammenhang der Phänomene in den Schranken der Einſicht von ihrer Relativität. Obwol die Wahrſcheinlichkeitslehre des berühmteſten aller Skeptiker, des Carneades, doch auch ſchon entwickelt, daß nach Verzicht auf die Wahrheit die Herſtellung eines widerſpruchsloſen Zuſammenhangs der Phänomene zum Zwecke der Feſtſtellung des Werthes eines einzelnen Eindrucks möglich bleibe.
Der Relativismus der Skeptiker erweiſt die Unmöglich - keit, den objektiven Zuſammenhang der Außenwelt zu erkennen, durch die Kritik der Wahrnehmung ſowie durch die des Denkens. So bereitet er die große Beweisführung vor, welche das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert gegeben hat, indem die empiriſtiſche Schule ſeit Locke die Wahrnehmung zergliederte, um in ihr die Möglichkeit einer objektiven Erkenntniß zu finden, zugleich aber die rationale Schule zu demſelben Zwecke das Denken zer - gliederte: wobei ſich dann unwiderſprechlich herausſtellte, daß weder hier noch dort eine Quelle metaphyſiſcher Erkenntniß des objektiven Zuſammenhangs der Erſcheinungen zu entdecken ſei.
Die erſte Frage iſt ſonach: Welcher iſt der Erkenntnißwerth des in der ſinnlichen Wahrnehmung Gegebenen? Die Erſcheinungsbilder ſind zunächſt bedingt durch die Sinnes - organe. Die protagoreiſche Begründung des Relativismus durch Beobachtungen über die Sinne iſt nunmehr vermittelſt eines vor - geſchrittenen biologiſchen Studiums vertieft. — Die Sehwerkzeuge der lebenden Weſen ſind ſehr verſchieden und zwingen uns, auf eine Verſchiedenheit der durch ſie bedingten Geſichtsbilder zu ſchließen. Hier wendet dieſe Schule die Methode an, ſubjektive Sinneserſcheinungen zu beobachten und die Bedingungen, unter denen ſie auftreten, als Analogien zu benutzen, um ſich über die Abweichungen der Geſichtsbilder der Thiere von den normalen menſchlichen Geſichtseindrücken eine Vorſtellung zu bilden. Daſſelbe Verfahren wird auch durch die anderen Sinnesorgane hindurch ver -301Er erweiſt die Unmöglichkeit einer metaphyſiſchen Erkenntniß.folgt. Bei trockner Zunge in der Fieberhitze haben wir andere Ge - ſchmacksempfindungen als in normalem Zuſtande, und ſo kann an - genommen werden, daß auch die entſprechenden Verſchiedenheiten in der thieriſchen Organiſation von einer Verſchiedenheit der Ge - ſchmacksempfindungen begleitet ſind. Das Ergebniß wird in folgen - dem ſchönen Bilde zuſammengefaßt: wie der Druck derſelben Hand auf die Leier bald einen tiefen Ton bald einen hohen bewirkt, ſo bringt das Spiel derſelben wirkenden Objekte in Folge der in dem Bau lebender Weſen liegenden feinen und mannigfachen Abſtim - mung der Empfindungen ganz verſchiedene Phänomene hervor. — Dieſelbe Verſchiedenheit kann alsdann innerhalb der Men - ſchenwelt feſtgeſtellt werden; die phantaſtiſchen Geſichtserſchei - nungen ſowie die großen Differenzen in der Reaktion auf Ein - drücke durch Luſt und Unluſt ſind hiefür Belege. — Nun ſind aber weiter die Objekte uns in fünf Arten von Sinnes - wahrnehmungen gegeben; ſo iſt derſelbe Apfel als glatt, wohlriechend, ſüß, gelb für uns da. Wer kann nun ſagen, ob er nur Eine Beſchaffenheit hat, nach der verſchiedenen Einrich - tung der Sinnesorgane aber verſchieden erſcheint? Das obige Bild von dem Drucke derſelben Hand auf die Leier kann dieſe Möglichkeit veranſchaulichen. Und kann nicht eben ſo gut der Apfel die fünf verſchiedenen, ja noch mehrere uns unbekannte Eigenſchaften haben? Ein zugleich Blind - und Taubgeborener nimmt an, daß nur drei Eigenſchaftsklaſſen der Objekte vorhanden ſind. Dazu aber ſind wir nicht berechtigt, ſolchen Bedenken gegen - über die Natur zu Hilfe zu rufen, welche unſere Sinnesorgane ihren Gegenſtänden korreſpondirend mache. — Ja ſelbſt innerhalb des einzelnen Sinnesorgans ſind die Eindrücke von dem Wechſel ſeiner Zuſtände abhängig. Daſſelbe Waſſer ſcheint, auf entzündete Stellen gegoſſen, ſiedend zu ſein, welches von dem normalen Temperaturgefühl der Haut als lau empfunden wird. — So nahe rückt die ſkeptiſche Lehre an die Theorie der Sinnes - energien, wie Johannes Müller ſie begründet hat, heran1)Die vier erſten Tropen des Sextus, hypotyp. I, 40 — 117 ſind in dieſem Abſatz zuſammengefaßt..
302Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Die Einſicht in die Relativität der Sinnesbilder erweitert ſich, indem wir gewahren, wie die wechſelnden äußeren Um - ſtände, unter denen ein Objekt gegeben iſt, eine Verſchiedenheit der Eindrücke bedingen. Dieſelbe objektive Urſache des Tons bringt in dünner Luft einen anderen Eindruck als in dicker hervor; ſchabt man das Horn der Ziege, das in dem Beſtand des Ganzen ſchwarz erſcheint, ſo ändert ſich der Sinneseindruck in Weiß; ein einzelnes Sandkorn erſcheint hart, ein Sandhaufen weich1)Ebenſo fünfter bis ſiebenter Tropus a. a. O. 118 — 134..
So gewinnt der Skeptiker die allgemeine Formel von der Relativität jedes Wahrnehmungsbildes oder Sinnes - eindrucks. Alle von ihm aufgeſtellten Tropen erweiſen ſich ſchließ - lich als Specifikationen des Einen umfaſſenden Theorems von der Relativität der Eindrücke2)Zum achten Tropus 135 ff. vgl. 39 ſowie Gellius, N. A. XI, 5, 7: omnes omnino res, quae sensus hominum movent, τῶν πϱός τι esse dicunt.. Dieſe Eindrücke ſind durch das Subjekt ſowie durch die äußeren Bedingungen, unter denen das Objektive auftritt, bedingt; und ſo kann man im Gegenſatz zu aller Meta - phyſik, welche zum Weſenhaften hindurch zu dringen behauptet, ausſprechen, daß die Wahrnehmungen nur Relationen des Ob - jektiven ausdrücken können.
Und der Verſtand? das Denken? Die Widerlegung der objektiven Naturerkenntniß durch die Skeptiker iſt an dieſem Punkte weit unvollkommener als in der Unterſuchung über den Erkennt - nißwerth der ſinnlichen Wahrnehmung. — Die Vernunftwiſſenſchaft von Plato und Ariſtoteles war in Mißkredit gerathen. Carneades geht davon aus, daß der Verſtand ſeinen Stoff aus der Wahr - nehmung ſchöpfen muß. Bleiben wir daher zunächſt innerhalb dieſer Vorausſetzung. Das Problem empfängt hier ſeine all - gemeinſte Faſſung durch den Begriff des Kriteriums. Es iſt klar, daß die Wahrnehmungen nicht ein Kriterium in ſich tragen, welches die falſchen von den wahren ſchiede. Wir vermögen nicht jene von dieſen nach einem inneren Kennzeichen, das ſie an ſich haben, zu ſondern. Das Kriterium muß alſo im Denken, im303Er erweiſt die Unmöglichkeit einer metaphyſiſchen Erkenntniß.Verſtande geſucht werden. Das Denken iſt hier nun aber in der - ſelben Lage wie Jemand, der das Portrait einer ihm unbekannten Perſon vor ſich ſieht und aufgefordert wird, die Aehnlichkeit dieſes Portraits aus demſelben allein zu beurtheilen; unſer Verſtand kann aus den Bildern in den Sinnen auf das Unbekannte, das ihnen zu Grunde liegt, nicht ſchließen. — Nehmen wir dagegen mit Plato und Ariſtoteles an, das Denken habe einen eigenen Gehalt, ſo können wir das Verhältniß deſſelben zu der Realität nicht feſt - ſtellen. Der Verſtand im Innern des Menſchen enthält in ſich kein Datum zur Feſtſtellung deſſen, was draußen iſt. Auch ver - mag das Schlußverfahren nicht in ſolchen Schwierigkeiten zu Hilfe zu kommen. Die Skeptiker erkennen ſchon vollſtändig: ſoll der Oberſatz eines Syllogismus ſicher ſein, ohne aus anderen Syllo - gismen nur abgeleitet zu ſein, ſo muß er durch eine vollſtändige Induktion erwieſen werden, und in dieſem Falle iſt das im Schluß - ſatz ſcheinbar Gewonnene ſchon in dem Oberſatz enthalten; ſonach entſteht im Schluß nicht eine neue Wahrheit. Jedes Schluß - verfahren ſetzt alſo eine Wahrheit letzter Inſtanz ſchon voraus, welche aber für den Menſchen weder in der Wahrnehmung noch im Verſtande vorhanden iſt.
Dieſe Beweiſe von der Unmöglichkeit einer Erkenntniß des Objektiven ſind durchweg ſiegreich gegenüber jeder Meta - phyſik, da dieſelbe einen objektiven Zuſammenhang der Welt außer uns nachzuweiſen beanſprucht. Sie widerlegen nur nicht Erkenntniß überhaupt. Ueberſehen ſie doch, daß in uns ſelber eine Realität gegeben iſt, welche nicht abgewieſen werden kann. Die Disjunktion: entweder äußere Wahrnehmung oder Denken, hat eine Lücke. Dies verkannten die Skeptiker, und noch Kant hat es nicht geſehn.
Der Skepticismus deckt aber auch die Schwierigkeiten in den realen Begriffen auf, welche die Bänder jeder meta - phyſiſchen Konſtruktion der Welt ſind, und zwar ſind dieſe Schwierigkeiten theilweiſe unbeſieglich. — So ſieht er richtig, daß der Begriff der Urſache nicht eine Realität, ſondern eine bloße Relation ausdrückt; als ſolche Relation hat aber die Urſache keine304Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.reale Exiſtenz, ſondern wird nur zu dem Wirklichen hinzuge - dacht1)Sextus, adv. Math. IX, 204 sq.. Er bemerkt, daß die Urſache weder als der Wirkung vorausgehend noch als ihr gleichzeitig gedacht werden kann. Ja ihm zeigt ſich, daß jeder Verſuch, das Verhältniß von Urſache und Wirkung in ſeinen einzelnen Beſtandtheilen klar zu denken, unausführbar iſt. Demgemäß erfuhr die Denkbarkeit des Verhält - niſſes von Urſache und Wirkung von Seiten des Skepticismus bereits Angriffe, welchen gegenüber es keine Vertheidigung giebt. — Der Begriff Gottes als der Welturſache wird von Carneades dem Zweifel unterworfen, in einer ſehr flachen Beſtreitung der flachen im Menſchen den Naturzweck erblickenden Teleologie, als - dann aber vermittelſt einer Aufdeckung der Antinomie zwiſchen den Eigenſchaften eines perſönlichen Weſens und der Natur des Vollkommenen und Unendlichen2)Jedoch hat auch Carneades das Daſein der Götter nicht leugnen wollen. Cicero, N. D. III, 17, 44. Haec Carneades aiebat, non ut deos tolleret, sed ut Stoicos nihil de diis explicare convinceret.. — Ebenſo werden in den mathe - matiſchen und phyſikaliſchen Grundbegriffen von Körper, Aus - dehnung, Bewegung, Miſchung die bekannten Schwierigkeiten für den zerlegenden Verſtand nachgewieſen.
Der Gegenſatz der ſkeptiſchen Schulen zu der praktiſchen Philoſophie der Metaphyſiker koncentrirte ſich in der Beſtreitung der fundamentalen Theorie vom höchſten Gute. Auch dieſe Polemik zeigt den ſchwachen Punkt in ihrer Poſition ſehr deutlich. Ihr ſcharfſinnigſtes Argument iſt dieſes. Ein Streben des Willens nach dem Gutem als ſeinem Objekt ſetzt voraus, daß nicht in dieſem Streben ſelber ſchon das Gute gelegen ſei, da wir ja aus dem Zuſtande des Strebens heraustreten wollen, ſondern in ſeinem Ziele. Nun kann dieſes Ziel nicht ein Thatbeſtand außer uns, ſondern muß unſer eigener Zuſtand, unſere Gemüthsverfaſſung ſein; auch ein körperlicher Zuſtand iſt nur in der Gemüthsver - faſſung für uns als Gut vorhanden. Soweit iſt die Darlegung vortrefflich. Aber nun tritt wieder die beſtändig wirkende Ver - wechſelung des unmittelbaren Wiſſens mit abſtrakter Erkenntniß305Fortg. d. Differenz. d. Wiſſenſch. u. Abſond. d. Einzelwiſſenſchaften.ein. Wir können nicht erkennen, welche Gemüthsverfaſſung für uns das Gute ſei, da wir nicht einmal wiſſen, ob und was die Seele iſt, um deren Verfaſſung es ſich handelt. Ein grober Trugſchluß des Skepticismus!
Die Philoſophie war die organiſatoriſche Macht geweſen, welche noch zuletzt in der ariſtoteliſchen Schule den ganzen Inbegriff der wiſſenſchaftlichen Forſchungen geleitet hatte, wie in der platoniſchen Schule die mathematiſche und aſtronomiſche. Die Geſchichte des ſkeptiſchen Geiſtes, wie wir ihn geſchildert haben, zeigt aber, daß auch die Vollendung der Metaphyſik in Ariſtoteles nicht vermocht hatte, den negativen erkenntnißtheoretiſchen Standpunkt, welcher in den Sophiſten zunächſt einer unvollkommneren Metaphyſik gegen - übergetreten war, zu überwinden. Andrerſeits war nunmehr eine Aenderung dadurch vorbereitet, daß unter dem organiſatoriſchen Ein - fluß der metaphyſiſchen Philoſophie Natur - und Geiſteswiſſen - ſchaften herangewachſen waren. So vollzog ſich in dem großen Differenzirungsproceß des europäiſchen Geiſtes eine weitere Sonderung. Von der Metaphyſik, der Naturphiloſophie und der praktiſchen Philoſophie löſten ſich nunmehr die Einzelwiſſen - ſchaften bis zu einem gewiſſen Grade los. Jedoch geſchah dieſe Abtrennung noch nicht ſo folgerichtig als in der neueren Zeit. Viele der bedeutendſten poſitiven Forſcher blieben in einem Schulver - band oder doch in innerer Beziehung zu einer der metaphyſiſchen Schulen. Dieſem Gange der Entwicklung entſprach, daß zugleich neue metaphyſiſche Sekten entſtanden, welche ſich in den Dienſt der perſönlichen Befriedigung des Gemüths begaben.
So ſondern ſich eine Metaphyſik, welche die Leitung der wiſſenſchaftlichen Bewegung aufgiebt, und Einzelwiſſenſchaften, die ſich poſitiv, von Empirie und Vergleichung aus, entwickeln. Stoiſche, epikureiſche, eklektiſche Metaphyſik waren Mächte der Kultur, der großen gebildeten Geſellſchaft; die EinzelwiſſenſchaftDilthey, Einleitung. 20306Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.dagegen ſtützte ſich ausſchließlich auf Erfahrung und trat in den Dienſt jener Civiliſation, welche der Herrſchaft über die Erde zuſtrebt.
Die bezeichneten metaphyſiſchen Syſteme haben auf ein - fachere Weiſe Ergebniſſe zuſammengefaßt und erlernbar gemacht; ſie haben dieſelben möglichſt den Angriffen der Skeptiker durch geringere Anforderungen an Strenge des Beweisverfahrens entzogen und dem anwachſenden empiriſchen Geiſte angenähert. So liegt ihr Ziel in einer Gemüthsverfaſſung, ihr Zuſammenhang in der allgemeinen Kultur, ihre Darſtellungsform in der Vereinfachung. Der Ato - mismus iſt durch die Epikureer nicht fruchtbarer für die Er - klärung der komplexen Thatſachen der Natur geworden, als er in dem Syſtem des Demokrit geweſen war. Denn die Annahme der Epikureer, daß die Atome im leeren Raume von oben nach unten kraft ihrer Schwere fallen, und zwar mit gleicher Geſchwindigkeit und einer Abweichung von der ſenkrechten Linie, war ſo augenſchein - lich ungeeignet zur Erklärung des Kosmos, daß nur der Leichtſinn der Schule und ihre rückſtändigen aſtronomiſchen Anſichten dieſen Theil des Syſtems erklärlich machen. Der Monotheismus hat, wenn auch die Stoa ihn nun dem Empirismus nähert oder pantheiſtiſch färbt, den Gegenſatz einer bewegenden, die Formen in ſich faſſenden Kraft und des Stoffes nicht überwunden.
Die Geſchichte hat nur zu verzeichnen, daß von dem Auf - treten des Leukipp ab der Gegenſatz einer mechaniſchen, atomiſtiſchen Erklärung der Natur und einer theiſtiſchen, teleologiſchen fortbeſtanden hat, ſo lange die alten Völker lebten. Die atomiſtiſche Gedankenarbeit war keinen Tag unterbrochen. Ihr iſt der Kosmos ein bloßes Aggregat; die Theile ſtehen in ihm ein jeder für ſich, als gäbe es keine anderen. Der Anfangszuſtand der Welt, von dem ſie ausgeht, iſt dem erſten Zuſtand der Ge - ſellſchaft, den die naturrechtlichen Theoretiker erſannen, zu ver - gleichen, nach welchem Individuen in die Welt geworfen ſind, die nur an ſich denken und nun in der Enge derſelben aneinander - prallen. Und zwar bildet ſich mit immer klarerer Einſeitigkeit dieſe Richtung aus, welche das ganze Problem eliminirt: wie können307Subjektiver Charakter der nachariſtoteliſchen Metaphyſik.Einzeldinge unter gemeinſamen Geſetzen ſtehen und auf einander wirken? So pflanzt ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht der Kampf fort zwiſchen der Klarheit, welche nur das ſinnlich Vorſtellbare anerkennt, und der Tiefe, welche das Unfaßbare und doch That - ſächliche eines Zuſammenhangs ausdrücken möchte, der in keinem einzelnen ſinnlichen Element wohnen kann. Goethe nennt das einmal den Kampf des Unglaubens und des Glaubens und erklärt dieſen Gegenſatz für den tiefſten in aller Geſchichte. Die mecha - niſche Philoſophie ſowie andrerſeits die ſkeptiſche haben innerhalb der alten Welt ſich der Zurückführung der beſonders an der Geſtirnwelt angeſchauten Naturordnung auf eine intellektuelle Ur - ſache entzogen. Der Skepticismus leugnete in Folge ſeiner un - fruchtbaren, rein negativen Stellung zu den Phänomenen die Er - kennbarkeit des Seienden überhaupt. Die Philoſophie der Atomiſten erhielt wenigſtens dasjenige Problem rege, deſſen wiſſenſchaftliche Behandlung bei den neueren Völkern dann die Metaphyſik der intellektuellen Urſache in Frage geſtellt hat: das Problem einer mechaniſchen Erklärung des Kosmos.
An Einem Punkte findet eine Veränderung ſtatt, welche ſich von der Metaphyſik zu den großen Fragen der Einzelwiſſenſchaften erſtreckt und für die weitere intellektuelle Entwicklung von außer - ordentlich bedeutenden Folgen iſt. Die Bedingungen, unter denen die national-griechiſche Staatswiſſenſchaft geſtanden hatte, ſind nun vorüber. In der Zeit ihrer Herrſchaft galt es, den Einzelſtaat zu einem Athleten zu bilden; die Freiheit, welche in dieſen Staaten beſtand, war ein Antheil an der Herrſchaft geweſen, und ein moderner Menſch würde den Zuſtand eines atheniſchen Bürgers in der Zeit von Kleon in vieler Rückſicht als Sklaverei empfunden haben. Wol hatte ſich ſchon mitten in der Zeit nationaler Entwicklung hiergegen ein Widerſpruch geregt. Die politiſchen Schriften des immer noch nicht genug gewürdigten Antiſthenes ſowie des Diogenes, von denen der eine nicht Vollbürger, der andere ein Verbannter war, haben die innere Freiheit des Weiſen gegenüber dem Drucke des Staates, ja ein Gefühl von Fremdheit des inneren Lebens gegenüber dem ganzen Lärme des äußeren politiſchen20*308Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Apparats geltend gemacht. Wie die national-griechiſche Entwicklung zu Ende gegangen iſt, wie die Züge Alexander’s den Oſten er - ſchließen und alsdann ſpäter das römiſche Imperium ſeine welt - geſchichtliche Miſſion einer Vereinigung aller kultivirten Nationen unter Einem Rechte und Einem Haupte zu vollbringen ſich anſchickt: verändert ſich allmälig das Lebensgefühl des Menſchen, der den Griechen und Italiker mit dem dunkel gefärbten Bewohner der öſtlichen Länder tagtäglich vergleicht und das gemeinſam Menſchliche fühlt; das Band, das den Orientalen, der in Griechenland lebt und lehrt, den Nationalgriechen, der unter einem macedoniſchen Fürſten oder ſpäter unter römiſchen Optimaten ſteht, mit dem Staate verbindet, iſt von gänzlich anderer Art als das, welches einen Socrates mit dem Rechte ſeiner Heimathſtadt verbunden hatte. So entſteht eine gänzlich veränderte politiſche Philoſophie.
Die Literatur über den Staat iſt in beſtändigem Wachsthum begriffen. Cicero ſpricht mit Bewunderung von der großen Zahl und der geiſtigen Bedeutung der politiſchen Werke aus der Schule von Plato und Ariſtoteles; wir kennen die Titel der politiſchen Schriften von Speuſipp aus Athen, von Xenocrates aus Chal - cedo, von Heraclides aus dem pontiſchen Heraclea, dann die von Theophraſt aus Ereſus (eine große Zahl), von Demetrius aus Phalerum, von Dikäarch aus Meſſana. Neben die augenſcheinlich geringe Zahl von politiſchen oder vielmehr gegen das politiſche Leben gerichteten Schriften der Epikureer tritt eine reiche ſtoiſche politiſche Literatur, Schriften des Zeno aus Citium, des Cleanthes aus Aſſus, des Herill aus Karthago, Perſäus aus Citium, Chry - ſipp aus Soli, Sphärus vom Bosporus, Diogenes aus Seleucia, Panätius aus Rhodus. Man bemerkt, daß in der ſtoiſchen Schule die Herkunft aus Barbarenländern bedeutend überwiegt. Zeno wird als ein Phönicier bezeichnet; Perſäus ſoll zunächſt Sklave Zenos geweſen ſein. Indem die Stoa die Barbarenvölker zu ſich heranzieht, indem alsdann die Uebertragung der griechiſchen Spekulationen über Staat und Recht auf die Römer ſtattfindet, vollzieht ſich eine Verbindung der politiſchen Wiſſenſchaft, ins - beſondere der ſtoiſchen, mit den Monarchien, die auf Alexander309Die politiſche Wiſſenſchaft der metaphyſiſchen Schulen.folgen, und ihren Lebensbedürfniſſen, alsdann mit dem römiſchen Staatsleben. Die ſtoiſche Schule verknüpft nun eine verein - fachte teleologiſche Metaphyſik mit dem Gedanken des Rechtes der Natur, und in dieſer dem praktiſchen Bedürfniß angepaßten Zuſammenfaſſung lag ein Hauptmoment ihrer Wirkung. Durch die Römer vollzieht ſich dann die epochemachende Ver - bindung der Spekulationen über das Naturrecht mit der poſitiven Jurisprudenz.
Und in dieſer Literatur arbeitet ſich nun ein verändertes geſellſchaftliches Gefühl des Menſchen der letzten Jahrhunderte vor Chriſtus durch. Dies iſt ſchon in der Art bemerkbar, in welcher der ſelbſtſüchtige Quietismus der Epikureer das Naturrecht der älteren nationalen Zeit umformt. Der Staat iſt nach dieſer Schule auf einen Sicherheitsvertrag gegründet, der von dem Intereſſe diktirt wird; ſo iſt der Privatmenſch und deſſen Intereſſe der Maßſtab ſeines Werthes. Das veränderte geſellſchaftliche Gefühl findet aber einen würdigeren Ausdruck in der politiſchen Wiſſenſchaft der ſtoiſchen Schule. Die monotheiſtiſche Metaphyſik entwickelt hier Folgerungen, welche durch den nationalgriechiſchen Geiſt und ſeine Inſtitutionen vorher gehemmt waren. Nun wird die Ge - ſammtheit aller vernünftigen Weſen als Ein Staat betrachtet, in welchem die Einzelſtaaten enthalten ſind, wie Häuſer in einer Stadt. Dieſer Staat lebt unter Einem Geſetz, das als allgemeines Naturgeſetz über allen einzelnen politiſchen Rechtsordnungen ſteht. Die einzelnen Bürger dieſes Staates ſind mit gewiſſen Rechten aus - geſtattet, die auf jenem allgemeinen Geſetz beruhen. Der Wirkungs - bereich des Weiſen iſt dieſer Weltſtaat.
Zugleich traten nun die alten Völker, wie erwähnt, in das Stadium der Einzelwiſſenſchaften. Intellektuelle Veränderungen ſo durchgreifender Art pflegen mit Abänderungen in der Stellung der Perſonen, welche ihre Träger ſind, ſowie der Einrichtung der wiſſen - ſchaftlichen Anſtalten verbunden zu ſein. Neben die Philoſophen -310Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.ſchulen traten nun die von Fürſten und Staaten gegründeten wiſſen - ſchaftlichen Anſtalten. Alexandrien wurde durch die Schöpfungen einer großherzigen und weiſen Politik Mittelpunkt der neuen geiſtigen Bewegung; die intellektuelle Herrſchaft ging damit von Athen dorthin über. Denn es bedurfte von jetzt ab der Obſervatorien mit einem immer reicheren Apparat von Inſtrumenten, der zoologiſchen und botaniſchen Gärten, der Anatomien und unge - heuren Bibliotheken, um an der Spitze dieſer poſitiven Wiſſen - ſchaften zu bleiben. Was nun geſchah, iſt nicht geringer, als was die metaphyſiſche Bewegung bisher geſchaffen hatte. Wenn das Eintreten der neueren europäiſchen Völker in das Stadium der poſitiven Wiſſenſchaften vom fünfzehnten Jahrhundert ab Renaiſſance iſt, ſo werden in dieſer die poſitiven Forſchungen da aufgenommen, wo die Einzelwiſſenſchaften der Alten den Faden ihrer Arbeit hatten fallen laſſen müſſen, und niemand glaube, daß die Epiſode des italieniſchen Platonismus oder die Erneuerung des reinen Ariſtoteles in Italien und Deutſchland den Kern der euro - päiſchen Renaiſſance, ſofern ſie intellektuelle Entwicklung iſt, ge - bildet habe.
Jedoch bildete der Erwerb des metaphyſiſchen Sta - diums der alten Völker die Grundlage für die Leiſtungen dieſer folgenden Zeit, in welcher das Schwergewicht des intellektuellen Fortſchritts in den Einzelwiſſenſchaften lag. — Die erſte Bedingung dieſes Fortſchritts ſind die erworbenen Begriffe. So hatte die griechiſche Metaphyſik die Begriffe von Subſtanz und Atom hervor - gebracht, die von Urſache und Bedingung oder Grund unterſchieden und den Begriff von Form auf den einzelnen Gebieten durchgeführt. Sie hatte Grundverhältniſſe, wie die Beziehung zwiſchen Struktur, Funktion und Zweck in einem Organismus oder zwiſchen Leiſtung und Antheil an Herrſchaft und Gütern in einem politiſchen Ganzen aufgezeigt. — Die zweite Bedingung lag in der Entwicklung von grundlegenden, wenn auch an Evidenz ungleichen Sätzen. Solche waren: es giebt keinen Uebergang aus dem Nichts zum Sein oder aus dieſem zurück in das Nichts; es kann nicht daſſelbe in derſelben Beziehung behauptet und verneint werden; räumliche Be -311D. Erkennen d. alt. Völker tritt i. d. Stadium d. Einzelwiſſenſchaften.wegung hat den leeren Raum zur Vorausſetzung. — Endlich lag eine wichtige Bedingung in dem logiſchen Bewußtſein. Die Arbeit an der Unterwerfung des Wirklichen unter die Erkenntniß hatte die griechiſchen Geiſter während der ſophiſtiſchen Epoche in eine revolutionäre Bewegung gebracht, in deren Strudel einmal die ganze griechiſche Wiſſenſchaft unterzugehen drohte. Die wiſſenſchaft - liche Geſetzgebung der ariſtoteliſchen Logik überwand dieſe Revolution und ermöglichte erſt den ruhigen Fortſchritt der poſitiven Wiſſen - ſchaften. In ihr lag die Vorausſetzung für den Aufbau der mathe - matiſchen Wiſſenſchaften, wie ſie ein Euklid zeigt. Nur ihrer Hilfe verdankte man es, daß zu derſelben Zeit, in welcher Metaphyſiker und Phyſiker über die Möglichkeit eines Kriteriums der Wahrheit ſtritten, das Elementarwerk des Euklid hervortreten konnte, welches in der unangreifbaren Verkettung ſeiner Beweiſe den Widerſpruch der ganzen Welt herauszufordern ſchien und das klaſſiſche Vorbild von Evidenz geworden iſt.
Die Schranken dieſer Metaphyſik machten ſich folgerecht auch in dieſem Stadium der Einzelwiſſenſchaften geltend; die neuen Richtungen, welche die Einzelwiſſenſchaften theilweiſe einſchlugen, wurden nicht gleichmäßig feſtgehalten. In der Mathematik wurde das Werkzeug für exakte Wiſſenſchaft entwickelt, das den Arabern und den germaniſch-romaniſchen Völkern die Aufſchließung der Natur ermöglichen ſollte. Auch nahm die Anwendung von Inſtrumenten, welche eine Meſſung ermöglichen, ſowie des Experiments, welches Erſcheinungen nicht nur beobachtet, ſondern unter veränderten Bedingungen willkürlich hervorruft, beſtändig zu. Einen hervor - ragenden Fall von zuſammenhängender experimenteller Behand - lung eines Problems bilden die Unterſuchungen des Ptolemäus über die Brechung der Lichtſtrahlen bei ihrem Durchgang durch Mittel ungleicher Dichtigkeit; hier werden die Strahlen von der Luft in Waſſer und Glas, von Waſſer in Glas unter verſchiedenen Einfallswinkeln geleitet. Die am meiſten fundamentalen Vor - ſtellungen, zu denen nun die Wiſſenſchaften von der Natur ge - langten, ſind in den ſtatiſchen Arbeiten des Archimedes enthalten. Er entwickelte auf vorherrſchend mathematiſchem Wege, von dem312Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Satze aus, daß gleich ſchwere Körper, die in gleicher Entfernung wirken, ſich im Gleichgewicht befinden, das allgemeine Hebel - prinzip und legte den Grund zu der Hydroſtatik. Aber dem Archimedes blieb die Dynamik ganz fremd, und er fand im Alter - thum keine Nachfolger1)Vergl. die ausgezeichnete Darlegung in den recherches historiques sur le principe d’Archimède par M. Ch. Thurot (revue archéol. 1868 — 69). . Nicht minder charakteriſtiſch iſt die gänzliche Abweſenheit von chemiſcher Wiſſenſchaft in dieſem Stadium der Einzelwiſſenſchaften bei den alten Völkern. Die ariſtoteliſche Lehre von den vier ſogenannten Elementen iſt abgeleitet aus der mehr fundamentalen von vier Grundeigenſchaften, wenn auch die vier Elemente ſelber eine Erbſchaft aus älterer Zeit waren. Der Gegenſtand dieſer Theorie waren alſo nur prädikative Be - ſtimmungen und ihre Kombinationen; ſie zerlegt nicht in Subjekt - einheiten d. h. Subſtanzen. So wirkte ſie nicht direkt auf experi - mentelle Arbeiten hin, welche die gegebenen Objekte aufzulöſen verſucht hätten. Die Atomenlehre hatte nur eine ideelle Zer - legung der Materie vollzogen, und ihre Vorſtellung von einander qualitativ gleichen Einheiten mußte in Bezug auf die Entſtehung chemiſcher Grundvorſtellungen zunächſt eher hindernd wirken. Aus den Bedürfniſſen der mediciniſchen Kunſt erwuchs der Verſuch des Asclepiades von Bithynien, die Vorſtellung von Korpuskeln der Betrachtung des Organismus anzunähern2)Ueber Asclepiades vgl. Laſſwitz, Vierteljahrsſchrift für wiſſenſch. Philoſ. III, 425 ff., ſowie die An - weiſung zur Herſtellung einiger chemiſcher Präparate, deren die Aerzte ſich bedienten, wie ſie bei Dioscorides vorliegt. Im Gegen - ſatz zu ſo vereinzelten Anfängen machten die Naturwiſſenſchaften, welche von geometriſcher Konſtruktion oder von Zweckvorſtellungen geleitet wurden, wie Aſtronomie, Geographie und Biologie regel - mäßige Fortſchritte.
So entſtand ſchon den alten Völkern in dieſer Epoche der Einzel - wiſſenſchaften ein Bild des Kosmos von einer unermeßlichen Weite und doch zugleich von wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, welches das Gerüſt für ihr Studium der Geiſteswiſſenſchaften bildete. 313D. Bild d. Kosmos, welch. Ergebn. d. Einzelwiſſenſch. d. alt. Völker iſt.Eratoſthenes, Hipparch, Ptolemäus umfaſſen die kreiſenden Maſſen der Geſtirne und die Erdkugel. Ein erſter Verſuch der Gradmeſſung iſt bemüht, den Umfang der Erde annähernd zu beſtimmen; Eratoſthenes begründet die Geographie als Wiſſenſchaft. Die Ueberſicht über die Pflanzenbedeckung der Erde und die Thierwelt auf ihr, wie ſie Ariſtoteles und Theophraſt erreicht hatten, wird nun durch Fortſchritte in der Zergliederung des thieriſchen und menſchlichen Körpers ergänzt, welche beſonders tief in die Erkenntniß der Gefäße eindringen.
Die Kenntniß von der Vertheilung des Menſchengeſchlechts auf der Erde ſowie den Verſchiedenheiten deſſelben war durch den Eroberungszug Alexander’s und die Ausbreitung des römiſchen Imperium nunmehr außerordentlich erweitert. In Folge hiervon wird der Einfluß von Boden und Klima auf die geiſtigen und ſittlichen Verſchiedenheiten der Menſchheit in den Kreis der Unter - ſuchung gezogen. Das Material der Geiſteswiſſenſchaften wird in den Grenzen des nun der Geſchichte anheimgefallenen griechiſchen Lebens mit kritiſchem Bewußtſein unterſucht und geſammelt. Einzelne Syſteme der Kultur, vor Allem die Sprache, werden einer Zergliederung unterworfen. Die vergleichende Betrachtung der Staaten iſt zum feſten Beſitz der Wiſſenſchaft geworden. Auf ſie geſtützt, unternimmt Polybius, das große weltgeſchichtliche Phänomen, welches den Horizont ſeiner Zeit erfüllt, Rom’s Auf - ſteigen zur Weltherrſchaft, der Erklärung zu unterwerfen. In ſeinem Werke liegt ein Verſuch vor, die politiſche Wiſſenſchaft, wie wir ſie an Ariſtoteles in ihrer Stärke und ihren Grenzen charakteriſirt haben, zur Grundlage einer erklärenden Geſchichtswiſſenſchaft zu machen. Seine vergleichende Zer - gliederung der Verfaſſungen (wie ſie in den Fragmenten des 6. Buches erhalten iſt) findet in der gemiſchten römiſchen Ver - faſſung ein Gleichgewicht der Gewalten verwirklicht, vermöge deſſen jede einzelne dieſer Gewalten unter der Kontrole der anderen ſteht und ſo in ihren Ueberſchreitungen gehemmt wird. Hierzu treten ihm als erklärende Gründe der römiſchen Machtentfaltung eine glückliche Organiſation des Staates in Bezug auf materielle314Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.Mittel, durch die Rom erreicht, was z. B. Sparta trotz ſeiner ebenfalls gemiſchten Verfaſſung nicht erreichen konnte, ſowie ein auf Verehrung der Götter gegründeter Rechtsſinn. Die Welt - beſchreibung des Plinius kann wenigſtens in Rückſicht ihres Planes, bei großer Oberflächlichkeit der Ausführung, als der Ab - ſchluß der großen Arbeit der alten Völker Europas gelten, den Kosmos von den Bewegungen der Maſſen im Weltraum bis zu der Verbreitung und dem geiſtigen Leben des Menſchengeſchlechts auf der Erde zu umfaſſen. Und zwar verfolgt er beſonders gern die Wirkung des Naturzuſammenhangs auf die menſchliche Kultur. In der Morgendämmerung griechiſchen Geiſteslebens war der Begriff des Kosmos aufgegangen; nun war in den großen Arbeiten eines Eratoſthenes, Hipparch und Ptolemäus, von deren um - faſſendem Geiſte wir noch einen Hauch in dem Plan des Plinius empfinden, den Jugendträumen dieſer Völker im Alter die Erfüllung geworden.
Jedoch die Kultur der alten Welt zerbrach, ohne daß die Einzelwiſſenſchaften zu einem Ganzen ſich verknüpft hätten, welches wirklich die Stelle der Metaphyſik hätte ausfüllen können. Es gab wol Skepticismus, aber es gab keine Erkenntnißtheorie, welche doch erſt den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften neu zu organiſiren vermag, wann die große Illuſion der metaphyſiſchen Grundlegung der Wiſſenſchaften ſich aufgelöſt hat. Was der Geiſt auf ſeinem Eroberungszug durch die ganze Welt nicht zu erringen vermocht hatte, ſichere Begründung ſeiner Gedanken wie ſeines Handelns, das findet er nun, zurückgekehrt, in ſich ſelber.
Man denkt ſich wol den Menſchen der älteſten Zeiten unſeres Geſchlechtes, wie er, von der Höhle beſchützt, von Nacht und Ge - fahr umgeben, den Morgen erwartete; brach dann der Tag an, und ſuchten ihn die erſten Strahlen der aufgehenden Sonne: wie fühlte er das Herannahen einer erlöſenden Macht! So haben die Bevölkerungen der alten Welt empfunden, als die Strahlen des aufſteigenden Lichtes aus einer reinen Welt im Chriſtenthum ſie trafen. Wenn ſie ſo fühlten, ſo war dies doch nicht allein die Folge davon, daß der Chriſtenglaube die feſte Ueberzeugung von einer ſeligen Unſterblichkeit mittheilte, ſowie daß er eine neue Gemeinſchaft, ja eine neue bürgerliche Geſellſchaft inmitten der Zerrüttung der antiken Staaten darbot1)So Jakob Burckhardt, welcher in ſeinem Werk über die Zeit Kon - ſtantin’s des Großen die erſten Jahrhunderte nach Chriſti Geburt am tief - ſten dargeſtellt hat, ebdſ. S. 140 ff.. Das eine wie das andere war ein wichtiger Beſtandtheil der Stärke der neuen Religion. Jedoch war beides nur Folge einer tieferen Veränderung im Seelenleben.
Dieſe Veränderung allein und auch ſie nur nach der Seite, welche ſie der Entwicklung des Zweckzuſammenhangs der Erkennt - niß zukehrt, kann in dieſem Zuſammenhang berührt werden. Eine herbe Kritik des chriſtlichen Bewußtſeins zieht ſich durch Spinozas Ethik; ihr liegt zu Grunde, daß für Spinoza ſelber Vollkommenheit nur Macht iſt, Lebensfreude der Ausdruck dieſer wachſenden Vollkommenheit, aller Schmerz dagegen nichts als Ausdruck der Unvollkommenheit und Ohnmacht. Das tiefe316Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.chriſtliche Seelenleben hat die Verbindung der Vorſtellungen von Vollkommenheit mit denen von Glanz, Macht und Glück des Lebens zerriſſen. Ja die Verbindung des Gottesbewußt - ſeins mit der gedankenmäßigen Schönheit des Weltalls tritt zurück hinter den Zuſammenhang dieſes erhabenſten menſchlichen Gefühls, das ſich von keinem Raume einſchränken läßt, mit den Erfahrungen des ärmſten unruhevoll in engem Kreiſe durch die Natur ſeines Daſeins bewegten Menſchenherzens. Auf jener Ver - bindung beruhte vordem die Anſchauung, welche die griechiſche Wiſſenſchaft vom Kosmos hatte, und der künſtleriſche Aufbau eines Gegenbildes dieſes Kosmos in der ſittlich-geſellſchaftlichen Welt, wie ihn die Staatswiſſenſchaft der Alten entwarf. Nun ſoll die Vollkommenheit der Gottheit ſelber mit Knechtsgeſtalt und Leiden zuſammengedacht werden oder vielmehr nicht gedacht: ſie ſind im religiöſen Erlebniß eins. Das Vollkommene hat nicht nöthig, im Glanz der Geſtirnwelt zu ſtrahlen und in Glück und Macht ſich zu ſonnen. Gottes Reich iſt nicht von dieſer Welt. So hat der Wille nun nicht mehr ſein Genüge in der Herſtellung eines objektiven Thatbeſtandes, in dem ſichtbaren ſittlichen Kunſtwerk der Politik oder des vollendeten Staatsmannes und Redners. Vielmehr geht er hinter dieſes Alles als bloße Geſtalt der Welt, in ſich ſelber zurück. Der Wille, welcher objektive Thatbeſtände in der Welt geſtaltet, verbleibt in der Region des Weltbewußtſeins, der ſeine Ziele angehören. Im Chriſtenthum erfährt der Wille ſeinen eigenen meta phyſiſchen Charakter. Damit berühren wir die Gränze unſerer hier dem Menſchlichen, Geſchichtlichen allein zugewandten Betrachtungsweiſe.
Dieſe tiefe Veränderung im menſchlichen Seelenleben ſchließt die Bedingungen in ſich, unter welchen die Schranken der antiken Wiſſenſchaft durchbrochen werden konnten und allmählich durchbrochen worden ſind.
Wiſſen war für den griechiſchen Geiſt Abbilden eines Objek - tiven in der Intelligenz. Nunmehr wird das Erlebniß zum Mittel - punkt aller Intereſſen der neuen Gemeinden; dieſes iſt aber ein einfaches Innewerden deſſen, was in der Perſon, im Selbſt -317D. Selbſtgew. d. inneren Erfahr. durchbr. d. Schrank. d. antik. Wiſſenſch.bewußtſein gegeben iſt; dieſes Innewerden iſt von einer Sicher - heit erfüllt, welche jeden Zweifel ausſchließt; die Erfahrungen des Willens und des Herzens verſchlingen mit ihrem ungeheuren Intereſſe jeden anderen Gegenſtand des Wiſſens, ſie erweiſen ſich in ihrer Selbſtgewißheit allmächtig gegenüber jedem Ergebniß der Betrachtung des Kosmos ſowie gegenüber jedem Zweifel, der aus Erwägungen über das Verhältniß der Intelligenz zu den von ihr abzubildenden Gegenſtänden ſtammte. Hätte gleich damals dieſer Glaube der Gemeinden eine ihm ganz entſprechende Wiſſenſchaft entwickelt: ſo hätte dieſe in einer auf die innere Erfahrung zurückgehenden Grundlegung beſtehen müſſen.
Aber dieſer innere Zuſammenhang, welcher in Bezug auf die Begründung der Wiſſenſchaft zwiſchen dem Chriſtenthum und einer von der inneren Erfahrung ausgehenden Erkenntniß beſteht, hat im Mittelalter eine entſprechende Grundlegung der Wiſſenſchaft nicht hervorgebracht. Dies war in der Uebermacht der antiken Kultur begründet, innerhalb deren das Chriſtenthum nun langſam ſich geltend zu machen begann. Alsdann wirkte von innen in derſelben Richtung das Verhältniß der religiöſen Erfahrung zu dem Vorſtellen. Findet doch auch das innigſte religiöſe Seelenleben nur in einem Vorſtellungszuſammenhang ſeinen Ausdruck. Schleiermacher ſagt einmal: „ die Entwicklung des Chriſtenthums im Abendlande hat eine große Maſſe des ob - jektiven Bewußtſeins zum Rückhalt; genauer genommen können wir aber dieſe Maſſe des objektiven Bewußtſeins nur als ein Verſtändigungsmittel anſehen1)Schleiermacher, Pſychologie S. 195.. “
Die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrungen des Willens und des Herzens, alsdann der Inhalt dieſer Erfahrungen, ſonach die Veränderung des tiefſten Seelenlebens: dies Alles enthielt nun aber nicht nur die Anforderung einer auf die innere Erfahrung zurückgehenden Grundlegung in ſich, ſondern es wirkte auch in anderer Beziehung auf die fernere intellektuelle Entwicklung, und zwar ſowol in Bezug auf die Naturerkenntniß als auf die Geiſtes - wiſſenſchaften.
318Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Einerſeits trat eine Abwendung von der bloßen Gedanken - mäßigkeit des Kosmos ein. Nicht in dieſer in Allgemein - begriffen darſtellbaren ebenmäßigen Schönheit lag dem Chriſten der Zweck des Weltganzen; nicht in ihrer Betrachtung beſtand ihm das, worin die menſchliche Vernunft ihre Verwandtſchaft mit der göttlichen genießt: die Stellung des Menſchen zur Natur hat ſich ihm umgeändert, und die Vorſtellung der Schöpfung aus Nichts, der Gegenſatz von Geiſt und Fleiſch laſſen den Umfang dieſer Veränderung ermeſſen. Andrerſeits bewirkte der veränderte Stand des Seelenlebens eine ganz neue Stellung des metaphy - ſiſchen Bewußtſeins zu der geiſtigen Welt. In dem erhabenſten Gedanken, der über den Zuſammenhang dieſer geiſtigen Welt je gedacht worden iſt, verknüpften ſich die einfach großen Vorſtellungen von dem Reiche Gottes, der Brüderlichkeit der Menſchen und ihrer Independenz in ihrem höchſten Verhältniſſe von allen natürlichen Bedingungen ihres Daſeins; derſelbe begann jetzt ſeinen Siegeslauf. Ihn verwirklichte die geſellſchaftliche Ord - nung der Chriſtengemeinde, die auf Aufopferung gegründet war und in welcher ſich der einzelne Chriſt wie in einem ſchützenden Boote auf der wilden See des Lebens wol behütet fühlte. Zwar war das Bewußtſein der inneren Freiheit des Menſchen, die Auf - hebung der Ungleichheiten und nationalen Schranken zwiſchen dieſen Freien auch in dem weiteren Verlauf der antiken Philoſophie, insbeſondere bei den Stoikern, vorhanden, aber dieſe innere Freiheit war nur für den Weiſen erreichbar, hier dagegen war ſie jedem durch den Glauben zugänglich. Dem Allen entſprachen die Vor - ſtellungen von einem genealogiſchen Zuſammenhang in der Ge - ſchichte des Menſchengeſchlechts und einem metaphyſiſchen Bande, das die menſchliche Geſellſchaft zuſammenhält.
Das Alles lag in dem Erlebniß des Chriſtenthums. Die erſten wiſſenſchaftlichen Darſtellungen deſſelben ent - ſtanden in einer Epoche des Ringens zwiſchen den alten Religionen und den chriſtlichen Gemeinden, in den erſten Jahrhunderten nach Chriſtus. Offenbarung, Religion und der Kampf der Religionen: das war in dieſen Jahrhunderten die große Angelegenheit der319Andere im Chriſtenthum gelegene Keime einer veränderten Wiſſenſchaft.Menſchheit. Die Philoſophie des helleniſtiſchen Judenthums, wie ſie Philo ausgebildet hat, die Gnoſis, der Neuplatonismus als die philoſophiſche Reſtauration des Götterglaubens und die Philo - ſophie der Kirchenväter haben die Grundzüge einer Weltformel gemeinſam, welcher noch Spinozas und Schopenhauer’s Syſtem die einfache Geſchloſſenheit ihres Aufbaus verdanken. In dieſer Formel verſchlingen ſich bereits Natur und Geſchichte. Aus der Gottheit leitet dieſelbe die Entſtehung des Endlichen als eines Unvollkommenen und der Veränderlichkeit Anheimgegebenen ab und zeigt alsdann die Rückkehr dieſes Endlichen in Gott. So iſt der Ausgangspunkt dieſer Metaphyſik die im religiöſen Er - lebniß ergriffene Gottheit, ihr Problem iſt der Hervorgang des Endlichen in ſeinem angegebenen Charakter; dieſer Hervorgang erſcheint als ein lebendiger pſychiſcher Proceß, in welchem dann auch die arme Gebrechlichkeit des Menſchenlebens entſpringt: bis in einem gleichſam inverſen Verlauf die Rückkehr in die Gottheit ſich vollzieht.
Die Philoſophie des Judenthums entwickelte ſich zuerſt, die des Heidenthums folgte: über beide erhob ſich ſiegreich die Philo - ſophie des Chriſtenthums. Denn ſie trug eine macht - volle geſchichtliche Realität in ſich; eine Realität, die ſich mit dem innerſten Kerne jeder Wirklichkeit, die geſchichtlich vorher da war, im Seelenleben berührte und ſie in ihrem innern Rapport zu ſich empfand. Vor dieſer verwehten die Ekſtaſen und Schau - ungen wie Sommerfäden im Winde. Indem das Chriſtenthum um den Sieg rang, ward in dem Kampfe der Religionen das Dogma zu der abſchließenden Faſſung gebracht, daß Gott, im Gegenſatz zu allen partialen Offenbarungen, welche Juden und Heiden in Anſpruch nahmen, ganz und ohne Reſt in die Offen - barung durch Chriſtus mit ſeinem Weſen eingegangen ſei. Sonach wurden alle früheren Offenbarungen dieſer als Vorſtufen unter - geordnet. Damit ward nun Gottes Weſen, im Gegenſatz gegen ſeine Faſſung in dem in ſich geſchloſſenen Subſtanzbegriff des Alter - thums, in geſchichtlicher Lebendigkeit ergriffen. Und ſo entſtand,320Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.das Wort im höchſten Verſtande genommen, nun erſt das ge - ſchichtliche Bewußtſein.
Wir verſtehen, indem wir aus unſerem eigenen tiefen Leben dem Staube des Vergangenen Leben und Athem wiedergeben. Es bedarf gleichſam der Verſetzung unſeres Selbſt von einem Stand - ort auf den andern, wenn wir den Fortgang der geſchichtlichen Entwicklung von innen und in ſeinem centralen Zuſammenhang verſtehen ſollen. Die allgemeine pſychologiſche Bedingung hier - für iſt immer in der Phantaſie vorhanden; aber erſt wenn der geſchichtliche Fortgang an den tiefſten Punkten, an welchen ein Fortrücken ſtattfindet, von der Phantaſie nacherlebt wird, entſteht ein gründliches Verſtändniß der geſchichtlichen Entwicklung. Als in einem Paulus in den Kämpfen des Gewiſſens das jüdiſche Geſetz, das heidniſche Weltbewußtſein und der Chriſtenglaube an - einanderſtießen, als in ſeinem Erlebniß Geſetzesglaube und Chriſtenglaube als zwei lebendige Erfahrungen in innerſtem Verſtehen aneinandergehalten wurden, und zwar von der Er - fahrung des lebendigen Gottes aus: da waren in dieſem Be - wußtſein eine große geſchichtliche Vergangenheit und eine große geſchichtliche Gegenwart zuſammen gegenwärtig, beide in ihrer tiefſten, der religiöſen Grundlage erfaßt, ein innerer Uebergang wurde erlebt, und ſo ging das volle Bewußtſein von einer ge - ſchichtlichen Entwicklung des ganzen Seelenlebens auf. Denn nur was in dem Reichthum des Gemüthes nacherlebt wird von den Thatſächlichkeiten der Geſchichte, wird verſtanden. Und in dem Maße, als das Erleben in die tiefe und centrale Grundlage der Kultur hinabreicht, vermittelt es dies Verſtändniß; wenn wir auch alle nur theilweiſe verſtehen, was vergangen iſt. Die höchſte Lebendigkeit der Phantaſie, der größte vitale Reichthum des Inneren reichen nicht aus, wo nicht das Seelenleben ſelber in dieſem Sinne geſchichtlich iſt. So geht von hier zu dem Gedanken der Erziehung des Menſchengeſchlechtes in Clemens, von dieſem zu dem Gottes - ſtaat des Auguſtinus und von dieſem Buch zu jedem neueren Ver - ſuch, den inneren Zuſammenhang der Menſchheitsgeſchichte zu er - faſſen, Eine Linie. Das Ringen der Religionen unter einander in321Das Chriſtenthum und das geſchichtliche Bewußtſein.dem von geſchichtlicher Realität erfüllten chriſtlichen Seelenleben hat das hiſtoriſche Bewußtſein einer Entwicklung des ganzen Seelenlebens hervorgebracht. Denn das vollkommene ſittliche Leben war der Chriſtengemeinde nicht in der Formel eines Sittengeſetzes oder höchſten Gutes gedankenmäßig darſtellbar: als ein unergründlich Lebendiges wurde es von ihr in dem Leben Chriſti und in dem Ringen des eigenen Willens erfahren; ſo trat es nicht zu anderen Sätzen in Beziehung, ſondern zu anderen Geſtalten des ſittlich - religiöſen Lebens, die vor ihm beſtanden und unter denen es nun erſchien. Und dies hiſtoriſche Bewußtſein fand ein feſtes äußeres Gerüſt in dem genealogiſchen Zuſammenhang der Geſchichte der Menſchheit, welcher innerhalb des Judenthums geſchaffen worden war.
So waren für die intellektuelle Entwicklung der europäiſchen Menſchheit ganz veränderte Bedingungen erwachſen. Die Züge des Willens waren aus der Stille des Einzellebens in den Vorder - grund der Weltgeſchichte getreten, welche ihn von dem ganzen Naturzuſammenhang abſcheiden: Aufopferung des Selbſt, Aner - kennen des Göttlichen im Schmerz und in der Niedrigkeit, auf - richtige Verneinung deſſen, was er an ſich verwerfen muß. Die Beziehung der Perſonen auf einander in dieſem ihren weſenhaften Kern, der über ihren ganzen Werth entſcheidet, konſtituirte ein Reich Gottes, innerhalb deſſen jeder Unterſchied der Völker, der Kulte und der Bildung aufgehoben war, das ſonach von jeder Art politiſchen Verbandes ſich loslöſte. Und ſollte die Metaphyſik, welche das griechiſche Alterthum geſchaffen hatte, fortbeſtehen, ſo mußte ſie zu dieſer neuen Welt des Willens und der Geſchichte ein Verhältniß gewinnen. Auch lagen ſchon in der geiſtigen Bil - dung der ſinkenden alten Völker wie in dem Schickſal des religiöſen Vorgangs Bedingungen, welche über die Richtung entſchieden, in der das geſchah1)Vgl. S. 224..
Dilthey, Einleitung. 21Die chriſtlichen Gemeinden waren die Träger der wirkſamſten unter einer Mehrheit verwandter Bewegungen, welche dem geiſtigen Leben der alternden Völker während der römiſchen Kaiſerzeit ſein unterſcheidendes Gepräge gaben.
Ein veränderter Gemüthsſtand ſpiegelt ſich in der Literatur der erſten Jahrhunderte nach Chriſtus. Wir ſahen denſelben vor - bereitet in der römiſch-griechiſchen Geſellſchaft; immer mehr über - wogen zuerſt bei den Griechen, dann bei den Römern die In - tereſſen des Privatmenſchen, und ſo löſte ſich in der alexan - driniſchen Literatur und ihren römiſchen Nachbildungen die Dar - ſtellung des Seelenlebens von dem Zuſammenhang der ſittlichen und politiſchen Ordnung der Geſellſchaft ab. Die Innerlichkeit des Chriſtenthums fand im Seelenleben den Mittelpunkt der Auffaſſung und Behandlung der ganzen Wirklichkeit, ja den Eingang in die ge - heimnißvolle metaphyſiſche Welt. Pſychologiſche Gemälde zogen in beſonderem Grade das Intereſſe der Leſer in den erſten Jahrhunder - ten nach Chriſtus an ſich; Erörterungen der religiöſen Erlebniſſe und Gemüthszuſtände nahmen einen breiten Raum ein; der Roman, die Meditation, welche das Innere darſtellt, die Legende, welche vielfach auf romanhafte Motive zurückgreift und das Be - dürfniß der Phantaſie in chriſtlichen Kreiſen befriedigt, Predigt, Epiſtel und Erörterung der Fragen, welche das Weſen des Menſchen und ſein Geſchick betreffen, ſtanden im Vordergrund der Literatur. — Auch ſtellte die Philoſophie immer ausſchließlicher die erlangte Erkenntniß des Kosmos in den Dienſt der Geſtaltung des Charakters und der Herſtellung eines in ſich verſöhnten Ge - müthszuſtandes. Hatte der Werth der Naturwiſſenſchaften ſchon für Epikur hauptſächlich in der Befreiung des Gemüthes von falſchen Vorſtellungen gelegen, das Ziel der Philoſophie für die Stoiker in der Bildung des Charakters: jetzt miſchten ſich in den Jahrhunderten von dem Zeitalter Chriſti bis zum Untergang der323Der Offenbarungsglaube der alternden Völker.alten Kultur die Aufgaben der philoſophiſchen Wiſſenſchaft ganz mit den Bedürfniſſen des religiös-ſittlichen Lebens. Unter dem gemein - ſamen Dache des römiſchen Imperiums zuſammenwohnend, paßten Griechen ihre Gedanken den Vorſtellungen und Symbolen der Orien - talen über das Leben an, und Egypter, Juden etc. formten noch kräftiger das griechiſche Bild der Welt um. In der ſo vielfach unbefriedigten und bedrohten Geſellſchaft jener Tage ſiegte die Richtung auf das Jenſeitige. „ Aus unerforſchlichen Tiefen, “ſagt Jakob Burckhardt, „ pflegt ſolchen neuen Richtungen ihre weſentliche Kraft zu kommen, durch bloße Folgerungen aus vorhergegangenen Zuſtänden ſind ſie nicht zu deduciren. “— In das religiöſe Leben, welchem in den inneren Erfahrungen des Willens Gott als Wille, Perſon zu Perſon, gegeben iſt, finden wir überall den Offen - barungsglauben verwoben. Die ſchwere Aufgabe einer Analyſis des Inhaltes der monotheiſtiſchen Religion kann hier auch nicht angerührt werden; aber das tiefſte Geheimniß dieſer Religion liegt in der Beziehung der Erfahrung eigener Zuſtände zu dem Wirken Gottes im Gemüth und Schickſal, hier hat das religiöſe Leben ſein der allgemeingiltigen Erkenntniß, ja der Vorſtellbarkeit über - haupt entzogenes Reich. In dieſen Zeiten drang nun, wie aus unſichtbaren Tiefen, aus dem Untergrund des religiöſen Lebens der Offenbarungsglaube in die Wiſſenſchaft der Metaphyſik, in der er immer fremd bleibt und verwirrend wirken muß. So erſchien in der Metaphyſik ein Satz, der ein ganz neues Prinzip derſelben würde enthalten haben, läge er nicht überhaupt jenſeit der Grenzen wiſſenſchaftlichen Denkens. Dieſer Satz behauptete, daß eine unmittelbare Mittheilung von Gott an die Menſchenſeele ergehe, daß ſie ſeine Offenbarung unmittelbar vernehme. So wies Philo, im Zeitalter Chriſti, geſtützt auf die Beweisführung der Skepſis1)Die Hauptſtelle in Philo de ebrietate p.382 — 388 (Mangey)., die Möglichkeit einer wiſſenſchaftlichen Erkenntniß des Kosmos ab; zugleich machte er gegen die innere Erfahrung, ähnlich wie ſpäter die Poſitiviſten, geltend: das Auge gewahre zwar die Objekte außer ſich, doch nicht ſich ſelber, ſo könne auch21 *324Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.die Vernunft nicht ſich ſelber begreifen1)Philo legum allegor. I p. 62 M.; ſomit ergab ſich ihm die Nothwendigkeit einer Erleuchtung durch göttliche Offenbarung. In den Kreiſen des Heidenthums vertheidigte ein ſo glänzender und wirkſamer Schriftſteller wie Plutarch Mittheilungen aus einer Welt höherer Kräfte. Und Plotin fügte den Glauben an einen ekſtatiſchen Zuſtand, in dem die Seele ſich eins mit der Gottheit findet, dem Beſtand einer ſtrengeren Metaphyſik ein. Ein fremdes Element überfluthete die Grenzen allgemeingiltiger Wiſſenſchaft: denn Erfahrungen, die von jedem kontrolirt werden können, ſind nur in den Wahrnehmungen über die Welt und den Thatſachen des Bewußtſeins gegeben. — Nun entſtand auch die emanatiſtiſche Metaphyſik, indem die Phantaſie, beflügelt von orientaliſchem Fabelweſen, das Geheimniß der Nähe und Ferne Gottes zu be - wältigen rang und es doch nur in der Bilderſchrift des Natur - wiſſens auszudrücken im Stande war: ein unfruchtbares Zwitter - gebilde aus der Ehe von Religion und Philoſophie, Dichten und Denken, Orient und Occident: keine Geſtalt des Gedankens, mit welcher eine Geſchichte der Metaphyſik ernſthaft zu rechnen hätte, obgleich ihre Nachwirkungen durch das ganze Mittelalter hindurch bis in die neuere Zeit reichen.
Inmitten dieſer geiſtigen Bewegungen war die alte Kirche bemüht, den Gehalt der chriſtlichen Erfahrung zu vollem Bewußt - ſein und zu erſchöpfender Darſtellung in Formeln zu bringen, ſowie einen Beweis der Allgemeingiltigkeit des Chriſtenthums zu geben, wie er das Korrelat für den Anſpruch deſſelben auf Welt - herrſchaft war. Die Löſung der bezeichneten Aufgabe in den Schriften der Väter und Deklarationen der Koncilien erfüllt die Jahrhunderte vom Schluß des apoſtoliſchen Zeitalters bis zu Gregor dem Großen und dem Ende des ſechſten Jahrhunderts. Dieſe Zeit gehört noch der Kultur der alten Völker, welche zunächſt auch nach dem Untergang des weſtrömiſchen Reiches allein wiſſenſchaft - liche Schriftſteller hervorbrachten. Und zwar konnten die Väter in einer doppelten Richtung die Löſung ihrer Aufgabe unternehmen. —325Die Väter.Sollte die Bedeutung der chriſtlichen Erfahrung und ihres In - haltes feſtgeſtellt werden, ſo führte das in eine Analyſis der That - ſachen des Bewußtſeins zurück. Denn im chriſtlichen Bewußtſeins - ſtande war zuerſt eine Geiſtesverfaſſung gegeben, welche eine er - kenntnißtheoretiſche Grundlegung mit dem poſitiven Ziele, die Realität der inneren Welt zu begründen, möglich machte. Und das Intereſſe einer wirkſamen Vertheidigung des Chriſtenthums machte eine ſolche Grundlegung nothwendig. Wie tief die Ge - dankenarbeit der Väter in dieſer Richtung reichte, werden wir an dem größten derſelben feſtſtellen. — Doch überwog die andere Richtung. Es iſt das tragiſche Schickſal des Chriſtenthums ge - weſen, die heiligſten Erfahrungen des Menſchenherzens aus der Stille des Einzellebens heraus und unter die Triebkräfte der welt - geſchichtlichen Maſſenbewegungen einzuführen, hierdurch aber einen Mechanismus des Sittlichen und eine hierarchiſche Heuchelei her - vorzurufen; auf dem theoretiſchen Gebiet verfiel es einem nicht minder ſchwer auf ſeiner weiteren Entwicklung laſtenden Geſchick. Wenn es den Gehalt ſeiner Erfahrung zu klarem Bewußtſein bringen wollte, mußte es ihn in den Vorſtellungszuſammenhang der Außenwelt aufnehmen, welchem derſelbe nach den Beziehungen von Raum, Zeit, Subſtanz und Kauſalität eingeordnet wurde. So war die Entwicklung dieſes Gehaltes im Dogma zugleich ſeine Veräußer - lichung. War doch auch in dem Offenbarungsglauben die Möglich - keit gegeben, das Dogma als ein autoritatives Syſtem von dem Willen Gottes ausgehend zu entwickeln, und ein ſolches Syſtem entſprach dem römiſchen Geiſte, welcher ſeine Rechtsformeln bis in das Innere der chriſtlichen Glaubenslehre hineinführte. Aus dem griechiſchen Genius entſprang eine andere Art von Veräußerlichung; in den kos - miſchen Begriffen des Logos, der Ausſtrahlung aus Gott, der Er - langung eines Antheils an ihm und an ſeiner Unſterblichkeit entſtand eine großartige, doch dem Mythus verwandte Symbolik als Sprache des Chriſtenglaubens. So wirkte nur zu Vieles dahin, daß der Ge - halt des Chriſtenthums in einem objektiven, von Gott aus ableitenden Syſtem dargeſtellt wurde. Ein Gegenbild der antiken Metaphyſik entſtand. Wir ſtellen den Zuſammenhang, welcher ſo ſich bildete326Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.und von der Tiefe der Selbſtbeſinnung in die transſcendente Welt emporreicht, an demjenigen Schriftſteller dar, welcher die äußerſten Grenzen des in dieſem Zeitraum Errungenen bezeichnet.
Wir beginnen ſonach mit der folgenden Frage. Wie weit iſt in dieſer Zeit der Väter das Recht der neuen Selbſtgewißheit des Glaubens und des Herzens gegenüber der antiken Philoſophie, insbe - ſondere gegenüber dem Skepticismus als ihrem letzten Worte, wiſſen - ſchaftlich geltend gemacht worden? Der tiefſte Denker dieſes neuen Zeitraums der Metaphyſik, zugleich der mächtigſte Menſch unter den Schriftſtellern der ganzen älteren chriſtlichen Welt iſt Au - guſtinus geweſen, und es ſchien, als ob er zu einer der großen Realität des Chriſtenthums entſprechenden Grundlegung der chriſt - lichen Erkenntniß hindurchdringen werde. Was des Origenes milder Geiſt, von anderen wiſſenſchaftlich geringeren griechiſchen Vätern zu ſchweigen, verſucht hatte, erreichte die ſtürmiſche Seele des Auguſtinus für lange Jahrhunderte: er verdrängte und über - bot die antike Weltanſchauung durch ein umfaſſendes Lehrge - bäude der chriſtlichen Wiſſenſchaft. Und wie weit gelangte nun Auguſtinus?
Dieſem in das religiöſe Erleben vertieften Menſchen ſind die Probleme des Kosmos ganz gleichgiltig geworden. „ Was willſt Du alſo erkennen? “ So redet die Vernunft im Selbſt - geſpräch die Seele an. „ Gott und die Seele will ich erkennen. “ „ Und nichts weiter? “ „ Gar nichts weiter. “ Selbſtbeſinnung iſt daher der Mittelpunkt der erſten Schriften des Auguſtinus, welche wie in einem ſtarken Strome von innen, darum innerlich zuſammenhängend, ſeit dem Jahre 386 hervorbrachen.
Die Selbſtbeſinnung findet ſich aber des inneren Lebens allein vollkommen ſicher. Wol iſt ihr auch die Welt gewiß, aber als das, was dem Selbſt erſcheint, als ſein Phänomen. Aller Zweifel der Akademie richtet ſich alſo nach Auguſtinus nur da - gegen, daß das, was dem Selbſt erſcheint, ſo iſt, wie es erſcheint; jedoch kann keinem Zweifel unterworfen werden, daß ihm etwas erſcheine. Ich nenne nun, fährt er fort, dies Ganze, welches327Ausgangspunkt des Auguſtinus in der Selbſtbeſinnung.meinen Augen ſich darſtellt, Welt1)Auguſtinus contra Academ. III c. 11.. Der Ausdruck Welt be - deutet ihm ſonach ein Phänomen des Bewußtſeins. Und der Fortgang in der Erkenntniß der Phänomenalität der Welt, welcher in Auguſtinus vorliegt, iſt dadurch bedingt, daß ihm die geſammte Außenwelt nur Intereſſe hat, ſofern ſie für das Seelen - leben etwas bedeutet.
Von dieſer Selbſtgewißheit des Ich aus iſt zunächſt die Widerlegung der Akademie geſchrieben. In die Tiefen des Inneren führen alsdann die Soliloquien, welche dort die Un - ſterblichkeit der Seele und die Exiſtenz Gottes entdecken: eine jener Meditationen, deren Form ſchon das mit ſich ſelber beſchäftigte Seelenleben gewahren läßt. Dann ſucht der Dialog über den freien Willen in demſelben Inneren die Entſcheidung über eine der größten Streitfragen der Zeit. Und in der Schrift über die wahre Religion wird der Glaubensinhalt von der Selbſtgewißheit des Subjektes aus entwickelt, das zweifelnd, denkend, lebend ſeiner inne wird. Ueberall iſt hier der Ausgangspunkt derſelbe: er liegt in der Entdeckung der Realität im eigenen Inneren. „ Du, der Du Dich erkennen willſt, weißt Du, daß Du biſt? “ „ Ich weiß es. “ „ Und woher? “ „ Ich weiß es nicht. “ „ Fühlſt Du Dich einfach oder vielfach? “ „ Ich weiß es nicht. “ „ Weißt Du, daß Du Dich bewegſt? “ „ Ich weiß es nicht. “ „ Weißt Du, daß Du denkſt? “ „ Ich weiß es. “ „ Alſo iſt es wahr, daß Du denkſt? “ „ Es iſt wahr. “ Und zwar knüpft Auguſtinus, wie ſpäter Descartes, die Selbſtgewißheit an den Zweifel ſelber. In demſelben werde ich inne, daß ich denke, mich erinnere. Dieſes Innewerden umfaßt nicht nur das Denken, ſondern die Totalität des Menſchen; als Leben bezeichnet er mit einem tiefen, wahren Ausdruck den Gegenſtand der Selbſtgewiß - heit. Auch das reifſte Werk des Auguſtinus, die Schrift „ vom Gottesſtaate, “enthält denſelben Gedanken, in vollendetem Ausdruck. Daß wir ſind, daß wir wiſſen, daß wir unſer Sein und Wiſſen lieben, iſt uns gewiß. „ Denn dies berühren wir nicht, wie die328Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.äußeren Objekte, durch irgend ein Sinnesorgan unſeres Körpers, wie die Farben durch den Geſichtsſinn, die Töne durch das Gehör etc., ſondern unabhängig von täuſchenden Phantaſievorſtellungen oder Einbildungen iſt es mir ganz gewiß, daß ich bin, davon weiß und das im Gefühl der Liebe umfaſſe. Auch fürchte ich in Bezug auf dieſe Wahrheiten die Gründe der akademiſchen Skeptiker nicht, welche die Möglichkeit ausſprechen, daß ich mich täuſche. Denn wenn ich mich täuſche, ſo bin. ich. Wer nicht iſt, kann ſich nicht täuſchen1)Auguſtinus de civ. Dei XI c. 26.. “
Die Selbſtbeſinnung, welche hier, nach verwandten An - ſätzen der Neuplatoniker, in Auguſtinus auftritt, iſt von der des Socrates und der Sokratiker durchaus verſchieden. Hier endlich geht im Selbſtbewußtſein eine mächtige Realität auf, und dieſe Erkenntniß verſchlingt alles Intereſſe an dem Studium des Kosmos. Dieſe Selbſtbeſinnung iſt daher nicht Rückgang auf den Erkenntnißgrund des Wiſſens allein, und aus ihr entſpringt ſomit nicht nur Wiſſenſchaftslehre2)Vgl. S. 224. 321.. In dieſer Beſinnung geht dem Menſchen das Weſen ſeiner Selbſt auf, der Ueberzeugung von der Realität der Welt wird wenigſtens ihre Stelle beſtimmt, vor Allem wird in ihr das Weſen Gottes aufgefaßt, wie denn ſogar das Geheimniß der Dreieinigkeit durch ſie halb entſchleiert zu werden ſcheint. Die drei Fragen der alten Logik, Phyſik und Ethik: was iſt der Grund der Gewißheit im Denken, was die Urſache der Welt und worin beſteht das höchſte Gut3)Dieſe Eintheilung der philoſophiſchen Probleme benutzt Auguſtinus de civ. Dei XI c. 25 vgl. VIII c. 6 — 8.? führen auf Eine gemeinſame Bedingung, unter welcher das Wiſſen, die Natur und das prak - tiſche Leben ſtehen, auf die Idee Gottes4)Ebdſ. XI c. 25.; zwei von dieſen Fragen entſtehen aber in der Selbſtbeſinnung und finden in ihr Beant - wortung. Und zwar gelangt dieſe Selbſtbeſinnung erſt zu ihrem vollen Ergebniß, wo der religiös-ſittliche Vorgang des Glaubens alle Tiefen der Seele aufgeſchloſſen hat. Das berühmte crede ut329Fortgang zur Metaphyſik der veritates aeternae.intelligas beſagt zunächſt, daß die volle Erfahrung für die Analyſis da ſein muß, ſoll dieſe erſchöpfend ſein. Das Unterſcheidende des Inhaltes dieſer chriſtlichen Erfahrung liegt vor Allem in der Demuth, welche in dem Ernſt des richtenden Gewiſſens begrün - det iſt1)Auguſtinus ep. 118 c. 3, de civ. Dei II c. 7..
Die Selbſtbeſinnung des Auguſtinus, wie ſie in dieſen Grund - zügen ſich von jedem früheren verwandten wiſſenſchaftlichen Ver - ſuch unterſcheidet, unterwirft zunächſt das Wiſſen ſelber der Analyſis; eine der drei Hauptfragen war die nach dem Grunde der Gewiß - heit für das Denken. Und dennoch geht eine erkenntniß - theoretiſche Grundlegung auch aus dieſer Selbſtbeſinnung nicht hervor. Die chriſtliche Wiſſenſchaft, welche von dieſem Ausgangspunkte aus entworfen wird, löſt ihre Aufgabe nicht in angemeſſener Weiſe. Warum das nicht geſchah? In den Jahren, in welchen der Gedanke einer ſolchen Grundlegung den Auguſtinus beſchäftigte, verharrten ſeine Gedanken noch in der ihm von den Neuplatonikern gegebenen Richtung; ſpäter, als auch das für ihn abgethan war, wurden die objektiven Gewalten der katholiſchen Kirche und des katholiſchen Dogma zu übermächtig in ſeinem Bewußtſein, auch nahmen die Intereſſen der großen kirchlichen und dogma - tiſchen Kämpfe Tag für Tag ihn in Anſpruch; als entſcheidend wird ſich uns aber die in ſeiner Natur ſelber liegende Grenze ergeben.
So entſpringt aus ſeiner Selbſtbeſinnung zunächſt ver - mittelſt des platoniſirenden Begriffs der veritates aeternae wieder Metaphyſik.
In jener Stelle des Gottesſtaates ſagt er weiterhin: „ Ich, der ſich täuſchte, würde doch exiſtiren, auch wenn ich mich täuſchte; darum täuſche ich mich ohne Zweifel darin nicht, daß ich erkenne: ich bin. Hieraus folgt aber, daß ich mich auch darin nicht täuſche: ich weiß, daß ich weiß. Denn ganz ſo wie ich weiß, daß ich bin, weiß ich auch, daß ich weiß2)De civ. Dei XI c. 26.. “ An dieſe Idee des Wiſſens ſchließt ſich in dem Syſtem des Auguſtinus unmittelbar die Lehre330Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.von den an ſich gewiſſen Wahrheiten, ganz ähnlich wie ſpäter in dem des Descartes. Und zwar iſt dieſer Fortgang von der Selbſtgewißheit zu den an ſich gewiſſen Wahrheiten in den erſten grundlegenden Schriften ausführlich dargeſtellt. — Wir entwickeln zunächſt das erſte Glied des dort vorliegenden Schlußverfahrens. Ich finde in meinem Zweifel ſelbſt einen Maßſtab, vermittelſt deſſen ich Wahres von Falſchem unterſcheide. Der deutlichſte Fall von Anwendung eines ſolches Maßſtabs iſt das Denkgeſetz des Widerſpruchs. Und zwar iſt dies Geſetz ein Glied aus einem Syſtem von Geſetzen der Wahrheit. Dieſes Syſtem, welches als „ Wahrheit “bezeichnet werden kann, iſt un - veränderlich. Ihm gehören die Zahlen und ihre Verhältniſſe an, alsdann Gleichheit und Aehnlichkeit, vor Allem die Einheit; denn die Einheit kann in keiner ſinnlichen Wahrnehmung gegeben ſein, ſie findet ſich nicht an den Körpern, ſondern wird vielmehr von unſerem Denken ihnen abgeſprochen, ſonach iſt ſie dem Denken eigen. — Obwol dieſes erſte Glied des Schlußverfahrens von der Erfahrung der Realität in uns ausgeht, zeigt es doch bereits die Macht der vererbten insbeſondere neuplatoniſchen Gedanken - maſſen über das ſtürmiſche und ungleiche Genie des Auguſtinus. Denn es benutzt die pſychiſche Realität, die lebendige Erfahrung nur als Ausgangspunkt, um die aprioriſchen Abſtrakta zu erreichen, welche die metaphyſiſche Vernunftwiſſenſchaft entwickelt hatte. Die verhängnißvolle Verkehrung des wahren Thatbeſtandes dauert fort, nach welcher dies Abſtrakte das im Geiſte Erſte iſt, und ſonach iſt nicht zu vermeiden, daß es auch in dem aufzuſtellenden objektiven Zuſammenhang das Erſte ſein wird. — Von dieſem erſten Gliede gelangen wir zu dem zweiten der Beweisführung. Auguſtinus denkt weiter mit den Platonikern. Dieſes Syſtem der Wahrheiten wird von der Vernunftthätigkeit aufgefaßt, welche ein Er - blicken rein geiſtiger Art iſt. Die Seele erſchaut durch ſich, nicht vermittelſt des Körpers und ſeiner Sinnesorgane, das Wahre. Es beſteht eine „ Verbindung des erſchauenden Geiſtes und des Wahren, welches er erſchaut. “ Wir ſind wieder mitten in der Metaphyſik Platos, die wir hinter uns gelaſſen zu haben glaubten. 331Fortgang zur Metaphyſik des Willens.Alles Wiſſen iſt ein Abſpiegeln eines Objekts, das außerhalb des Spiegels iſt. Und der Gegenſtand dieſes Wiſſens iſt die un - wandelbare Ordnung der Wahrheiten, welche über das Kommen und Gehen der Individuen, ihre Irrthümer und ihre Vergäng - lichkeit hinausreicht: ſie iſt in Gott. Auguſtinus acceptirt auch in ſeinen ſpäteren Schriften die intelligible Welt Platos mit der Erweiterung der neuplatoniſchen Schule, daß Gott das metaphyſiſche Subjekt iſt, in welchem dieſe Ideenwelt enthalten iſt1)Auguſtinus de div. quaest. LXXXIII, quaest. 46 definirt den Begriff der Idee, wie er nun in das Mittelalter überging: sunt ideae principales formae quaedam vel rationes [wobei er ausdrücklich bemerkt, daß dieſer Begriff die urſprüngliche Ideenlehre überſchreite] rerum stabiles atque in - commutabiles, quae ipsae formatae non sunt, ac per hoc aeternae ac semper eodem modo sese habentes, quae in divina intelligentia continentur. . — Dieſe ganze Beweisführung enthält nur in einer neuen Verſchiebung den Schluß aus dem menſchlichen Denken auf ein göttliches als ſeine Bedingung und ſie gewinnt nur den Begriff eines logiſchen Weltzuſammenhangs, nicht den Gottes. An ſie lehnt ſich der Schluß aus dem Charakter der Welt, ihrer zweckmäßigen Schön - heit und zugleich ihrer Veränderlichkeit, auf Gott.
In der inneren Erfahrung des Auguſtinus ſind andrer - ſeits Elemente gegenwärtig, welche über dieſen plato - niſirenden Zuſammenhang zwiſchen dem Intellekt des Menſchen, der Welt und Gott in den veritates aeternae hin - ausreichen. Aber auch dieſe Elemente drängen Auguſtinus aus der Selbſtbeſinnung in eine objektive Metaphyſik. Daher bilden ſie neben dem eben dargelegten Beſtandtheil der neuen theologiſchen Metaphyſik, welcher aus dem Alterthum, beſonders dem Neuplatonismus ſtammt, einen zweiten Beſtandtheil derſelben, welcher über das Denken des Alterthums hinausreicht. Der Fort - gang von dem Prinzip der Selbſtgewißheit zu einer objektiven Metaphyſik iſt in ihnen der folgende.
In der inneren Erfahrung bin ich mir direkt gegenwärtig; alles Andere iſt dem Geiſte ein Abweſendes, ein ihm Fremdes. Da - her fordert Auguſtinus, daß der Geiſt ſich nicht durch einen Denkvorgang zu erkennen ſuche, welcher Phantaſiebilder äußerer332Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Objekte benutzt, wie die Elemente des Naturlaufs: vielmehr „ ſoll der Geiſt ſich nicht wie etwas ihm Fremdes ſuchen, ſondern die Intention des Willens, mit der er unter den Außendingen umherirrte, auf ſich ſelbſt richten. “ „ Und er wolle ſich nicht er - kennen wie etwas, von dem er nicht weiß, ſondern unterſcheide ſich nur von dem, was er als das Andere kennt. “ Der Geiſt beſitzt und weiß ſich ganz, und auch indem er ſich zu erkennen ſucht, weiß er ſich ſchon ganz. Dies ſein Wiſſen von ihm ſelber entſpricht mehr den An - forderungen an wiſſenſchaftliche Wahrheit als das von der äußeren Natur. — Die in dieſen Sätzen enthaltene, tiefe erkenntnißtheoretiſche Wahrheit wird nun von Auguſtinus zu folgendem Schluß benutzt. Wir werden unſer ſelber inne, indem wir Denken, Erinnern, Wollen als unſere Akte auffaſſen, und in dem Gewahrwerden derſelben haben wir ein wahres Wiſſen über uns. Nun heißt, ein wahres Wiſſen von etwas haben, deſſen Subſtanz erkennen. Sonach er - kennen wir die Subſtanz der Seele1)Die wichtigſten Stellen finden ſich im zehnten Buche der Schrift de trinitate. Vgl. de Genesi ad litt. VII c. 21.. — Liegt in der Einführung des Begriffs der Subſtanz eine unhaltbare und in dieſem Zu - ſammenhang unnöthige Benutzung der Metaphyſik, ſo wird andrer - ſeits von ihm der Nachweis, daß dieſes Seelenleben nicht als eine Leiſtung der Materie betrachtet werden könne, nach richtiger Me - thode geführt. Aus der Analyſis des Seelenlebens wird abge - leitet, daß die Eigenſchaften deſſelben auf körperliche Elemente nicht zurückgeführt werden dürfen2)De Gen. ad litt. VII c. 20. 21; de vera religione c. 29; de libero arbitrio II c. 3 ff.. Nur daß auch hier ſofort der dogmatiſche Begriff der Seelenſubſtanz ſich einſtellt. — Aus der Verkettung dieſer Schlüſſe ergiebt ſich endlich: die Seele kann nicht auf die materielle Naturordnung zurückgeführt werden, je - doch muß ſie als veränderlich einen unveränderlichen Grund haben, ſonach iſt Gott die Urſache der Seele wie der veränderlichen Welt überhaupt, die Seele iſt von Gott geſchaffen; denn was nicht ſeine Unveränderlichkeit theilt, kann nicht ein Theil der Sub - ſtanz Gottes ſein3)Sermo 241 c. 2, epist. 166 c. 2, de vera relig. c. 30. 31..
333Gott als Wahrheit und Gott als höchſtes Gut.Insbeſondere aber aus der Selbſtbeſinnung über die That - ſachen des Willens hat Auguſtinus ſeine metaphyſiſche Ordnung gefolgert. Hinter dieſe Erfahrungen des Willens iſt ihm das theoretiſche Verhalten des Menſchen immer mehr zurückgetreten. Indem er in dem Urtheil das Element der Zuſtimmung des Willens heraushebt, ordnet er das Wiſſen ſelber dem Willen unter1)Auguſtinus de trinitate XI c. 6., das Wiſſen iſt in dieſem Verſtande Glaube. Durch einen ſolchen Glauben ſind wir zunächſt der Außenwelt gewiß, inſofern wir uns praktiſch verhalten2)De civ. Dei XIX c. 18: civitas Dei talem dubitationem tanquam dementiam detestatur … creditque sensibus in rei cuiusque evidentia, qui - bus per corpus animus utitur, quoniam miserabilius fallitur, qui nunquam putat eis esse credendum. ; dann finden wir uns in demſelben Zuſammen - hang des praktiſchen Verhaltens, in der Richtung auf ein höchſtes Gut, dasſelbe iſt als ein unſichtbares nur im Glauben, als ein nichtgegenwärtiges in der Hoffnung für uns da3)Vgl. die ſchöne Darſtellung der Lehre vom höchſten Gut de civ. Dei XIX c. 3 und 4.. War in dem oben entwickelten Zuſammenhang Gott als der Ort der veritates aeternae gewiß, ſo iſt er es hier als das höchſte Gut4)Zu der zuletzt angezogenen Stelle ebdſ. VIII c. 8.. Daher ſind wir in dieſem Glauben derjenigen Realität der Welt wie der Gottes ſicher.
So iſt die Selbſtbeſinnung des Auguſtinus nur der Ausgangspunkt für eine neue Metaphyſik. Und in dem Inneren dieſer Metaphyſik iſt ſchon der Kampf zwiſchen den veritates aeternae, in welchen der Intellekt die Gedanken - mäßigkeit der Welt beſitzt, und dem Willen Gottes, der dem praktiſchen Verhalten des Menſchen gewiß iſt. Denn wo Wille iſt, da iſt eine Reihe von Veränderungen, welche durch ein Ziel beſtimmt iſt. Auguſtinus möchte das lebendige Verhältniß Gottes zur Menſchheit, ſeinen Plan in der Geſchichte ergründen5)De civ. Dei V c. 10 und 11. und doch zugleich die Unveränderlichkeit Gottes feſthalten: erfüllt von dem antiken Gedanken, daß alle Veränderlichkeit Vergänglichkeit einſchließt.
334Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Geſchichtliche Lage und Art der perſönlichen Genialität be - dingen ſo die Stellung des Auguſtinus zwiſchen Er - kenntnißtheorie und Metaphyſik. Haben ſie dem Philo - ſophen die Konſequenz verſagt, ſo haben ſie dafür den Schrift - ſteller durch eine weltgeſchichtliche Wirkung entſchädigt. Denn in - dem er die volle und ausſchließliche Realität der Thatſachen des Bewußtſeins erkannte, dieſe Thatſachen aber nicht einer zuſammen - hängenden Zergliederung unterwarf, ſondern denſelben in ſeiner Imagination, im Weben der reichſten Seelenkräfte gleichſam unter - lag: machte ihn dies zwar zu einem fragmentariſchen Philo - ſophen, aber zugleich zu einem der größten Schriftſteller aller Zeiten.
Die griechiſche Wiſſenſchaft hatte eine Erkenntniß des Kosmos geſucht und im Skepticismus mit der Einſicht geendigt, daß jede Erkenntniß von der objektiven Unterlage der Phänomene unmög - lich ſei. Hieraus hatten die Skeptiker voreilig die Unmöglichkeit alles Wiſſens erſchloſſen. Zwar leugneten ſie nicht die Wahrheit der Zuſtände, welche wir in uns vorfinden; aber ſie vernach - läſſigten dieſelbe als etwas für uns Werthloſes. Auguſtinus zog aus der Veränderung der Richtung der Intereſſen, welche das Chriſtenthum durchgeſetzt hatte, die erkenntnißtheoretiſche Kon - ſequenz. Weder die Einfälle Tertullian’s noch der einer neu - platoniſchen Zeitbildung hingegebene Synkretismus des Clemens oder Origenes hatten das vermocht. Und in Folge hiervon bildet Auguſtinus ein ſelbſtändiges Glied in dem ſo langſamen und ſchweren geſchichtlichen Fortgang von der objektiven Metaphyſik zu der Erkenntnißtheorie.
Aber er verdankt die Stellung, welche er ſo einnimmt, nicht ſeinem zergliedernden Vermögen, ſondern der Genialität ſeines per - ſönlichen Lebensgefühls. Und dieſer Thatbeſtand macht ſich in einer doppelten Richtung geltend.
Auguſtinus iſt gänzlich frei von der Neigung der Metaphy - ſiker, der Wirklichkeit die Nothwendigkeit des Gedankens zu ſub - ſtituiren, der vollen pſychiſchen Thatſache den in ihr enthaltenen Vorſtellungsbeſtandtheil. Er verbleibt in dem Gefühl und der335Macht d. Darſtellung innerer Erfahr. u. Mangel ihrer Zergliederung.Imagination des vollen Lebens. So bezeichnet er, was dem Zweifel als unantaſtbar zurückbleibt, nicht ausſchließlich als Denken, ſondern auch als Leben. Hierin drückt ſich ſeine Natur im Unterſchied von der eines Descartes aus. Er möchte aus - ſprechen, was in dem Lebensdrang, von welchem ſeine affektive Natur bewegt iſt, enthalten ſei. Er zuerſt hatte das Bedürfniß und die Kühnheit, ſeine Geſchichte, wie ſie aus dieſem Lebens - drang entſprungen iſt und das innere Schickſal deſſelben abſpiegelt, hinzuſtellen. Wie ein ungebundenes mächtiges Naturelement war er durch die Welt gegangen, unaufgehalten von konventionellen Ein - ſchränkungen, ein gewaltiger Menſch: er hatte immer gelebt, was er gedacht hatte. Die Konfeſſionen haben dem Mittelalter ſein Bild eingeprägt: ein glühendes Herz, das in Gott allein Ruhe findet. Er rang andrerſeits, in einer allgemeinen pſychologiſchen Deſkrip - tion den dunklen Trieb nach Glückſeligkeit in ſeinen weſenhaften Zügen auszudrücken, er ging ihm nach durch die Dämmerung des Bewußtſeins, in welcher er webt, in das Reich der Illuſionen, die hieraus entſpringen, bis dieſer Drang ſich an die ſchöne Ge - ſtaltenwelt Gottes verliert, doch immer von dem Bewußtſein be - gleitet, daß der Wechſel der ſo entſtehenden Zuſtände nicht das erreichte höchſte Gut iſt1)Vgl. den Exkurs in ſeiner Selbſtbiographie confess. VII c. 10 — 15.. Endlich kehren ſeine Schriften im Einzelnen immer wieder zum Nachempfinden und Grübeln über Seelenzuſtände zurück. Sie haben tiefſinnig dem Zuſammenhang von pſychiſchen Thatſachen, welche bis dahin vorwiegend aus dem Vorſtellungsleben erklärt worden waren, mit dem Willen, mit dem ganzen Menſchen nachgeſpürt; man vergleiche ſeine feinſinnigen Erörterungen über die Sinne2)Auguſtinus de libero arbitrio II c. 3 ff., über das dunkle Leben des Willens im Kinde3)Confess. I c. 6., ſeine Beobachtungen und Spekulationen über die durchgreifende Bedeutung des Rhythmus im geiſtigen Leben4)De musica, beſonders im ſechſten Buche.. Dem entſprechend haben ſeine Schriften ferner Begriffe, welche bis dahin in der Metaphyſik abſtrakt behandelt und in Vorſtellungs -336Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.elemente zerlegt worden waren, auf ihre Grundlagen in der Totalität des Seelenlebens zurückgeführt; hierfür werden z. B. ſeine Unterſuchungen über die Zeit immer muſterhaft bleiben1)Auguſtinus confess. XI c. 11 — 30..
Aber dieſer genialen Gewalt der Vergegenwärtigung war ſein Vermögen der Zergliederung nicht gewachſen. Kann das Wun - der nehmen? Dieſes naturmächtige Gemüth, dem nichts als Gott genugthun konnte, war nicht zu gewöhnen, der Zerlegung der Begriffe ein Leben zu widmen. Zwar vermochte Auguſtinus, wie keiner der Jahrhunderte nach Paulus, die Gedankenmächte, die er vorfand, in großem Sinne zu ſchätzen, und in Folge hiervon begriff er, umgeben von den Trümmern der antiken Spekula - tion, richtig die Wahrheit des griechiſchen Skepticismus gegenüber der objektiven Weltanſicht. Er vermochte dann, den entſcheidenden Punkt zu finden, in welchem die chriſtliche Erfahrung den antiken Skepticismus aufhebt, und ſo konnte er einen dem kritiſchen ver - wandten Standpunkt erfaſſen. Aber ihn durchzuführen vermochte er nicht; er entbehrte der analytiſchen Kraft, ihm die Wiſſenſchaft der äußeren Wirklichkeit unterzuordnen, die der inneren Wirk - lichkeit von ihm aus aufzubauen ſowie die falſchen Begriffe aufzulöfen, welche beanſpruchen, die geiſtigen und die Natur - thatſachen in einem objektiven Ganzen zuſammenzuhalten. Was ſo entſtand, war kein Syſtem. Man wird Auguſtinus in ſeiner wahren Größe als Schriftſteller erſt erkennen, wenn man den pſychologiſchen Zuſammenhang, welcher in ihm iſt, entwickelt und auf den ſyſtematiſchen verzichtet, welcher nicht bei ihm zu finden iſt.
Und weiter als Auguſtinus hat kein mittelalterlicher Menſch geſehen. So bildete ſich anſtatt einer erkenntnißtheoretiſch begrün - deten Darſtellung der religiöſen Erfahrung und ihres Aus - druckes in Vorſtellungen eine objektive Syſtematik. Es entſtand in der Theologie eine zweite Klaſſe von Metaphyſik, tiefer im Ausgangspunkt, aber gemäß ihrem Verhältniß zu den praktiſchen Lebensaufgaben in unreiner Miſchung mit poſitiven, in Autorität gegründeten Beſtandtheilen: eine in jeder Rückſicht un -337Begründung der theologiſchen Metaphyſik.kritiſche Metaphyſik des Willens. Bald ſtreitend bald in äußerer Ausgleichung gehen nun Auguſtinus, der Repräſentant der Metaphyſik des Willens, und Ariſtoteles, das Haupt der Metaphyſiker des Kosmos, durch das Mittelalter. Und zwar lebt Auguſtinus nicht nur mit Plato und Ariſtoteles vereint in der Scholaſtik fort, ſondern ſofern er das in unmittelbarem Wiſſen Gegebene nicht den an der Außenwelt früher gefundenen Begriffen unterordnen will, findet er ſeine Nachfolger in den Myſtikern. Schon die literariſchen Formen, in welchen die Myſtik ſich aus - ſprach, zeigen dieſen Zuſammenhang mit Auguſtinus1)Bedeutender als die äußeren literariſchen (confessiones, soliloquia) iſt die innere ſchriftſtelleriſche Form; Auguſtinus wechſelt zwiſchen Mono - log, Gebet und Anſprache, und die hinreißende Gewalt ſeiner Schriften beruht mit auf dieſer lebendigen Beziehung bald zu ſich ſelber, bald zu der Gemüthserfahrung Anderer, bald zu Gott. Hand in Hand damit geht ſein Mangel an Kompoſitionstalent für größere Werke.. Auch hat die Myſtik in Bezug auf erkenntnißtheoretiſche Begründung ihres Gegenſatzes zu der Metaphyſik keinen Schritt über Auguſtinus hinaus gethan, ſie hat ſich nur reiner in dem Element der inneren Erfahrung abgeſchloſſen. Daher erhielt ſie ſich nicht kraft ihrer wiſſenſchaftlichen Grundlegung, ſondern ihr inneres Leben hat ſie getragen. Die Independenz des perſönlichen Glaubens - lebens wurde ſo von ihr durch Blüthe und Untergang der mittel - alterlichen Metaphyſik hindurch gerettet, bis dieſe Independenz in Kant und Schleiermacher eine wiſſenſchaftliche Begründung erhielt.
Dilthey, Einleitung. 22Mehr als ein Jahrtauſend liegt zwiſchen Auguſtinus und den Zeiten von Copernicus, Luther, Galilei, Descartes, Hugo de Groot. In den Mittelmeerſtaaten des Alterthums hatte ſich die bisher dargelegte Metaphyſik entwickelt; eine Metaphyſik als Grundlegung der Wiſſenſchaften iſt nun auch der neuen Generation von Völkern überliefert worden, welche in die Erbſchaft der älteren eintrat.
Auguſtinus erlebte, daß die Germanen als Herren in der Stadt Rom ſchalteten, ihnen fiel im Occident die Herrſchaft zu, im Morgenlande erhoben ſich die Araber. Wie dieſe Völker bis dahin vorwiegend in religiöſen Vorſtellungen den Gehalt ihres intellektuellen Lebens beſeſſen hatten, war es naturgemäß, daß die theologiſchen und metapyſiſchen Probleme ſie mächtig er - griffen. Eine parallele Entwicklung vollzog ſich bei den Völkern des Islam und in der Chriſtenheit; auffallende Analogien dieſer Entwicklung treten in dem langen Zeitraum theologiſcher Metaphyſik hervor. Doch machte ſich ſchon darin ein tiefer Gegenſatz bemerkbar: die Araber nahmen neben der Metaphyſik der Griechen deren mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Arbeiten auf; die Metaphyſik des Abendlandes erarbeitete eine tiefere Auffaſſung der menſchlich-geſchichtlichen Welt, im Zuſammen - hang mit der ſelbſtändigen Aktivität der germaniſch-romaniſchen Völker im politiſchen Leben.
Die Gedankenarbeit der Araber begann in der theologiſchen Bewegung und dieſe bildet die erſte Epoche ihres Geiſteslebens. Die Mutaziliten, die arabiſchen Rationaliſten, haben die Probleme behandelt, welche unabhängig von jedem Studium der Außenwelt da entſpringen, wo die Erfahrungen des ſittlich-religiöſen Lebens einen klar abgegrenzten Ausdruck in beſtimmten Vorſtellungen ſuchen. So oft innerhalb eines monotheiſtiſchen Glaubens ein ſolcher Ausdruck hingeſtellt wird, treten die im religiöſen Vor -339Die Völker des Islam.ſtellen unabänderlich gelegenen Antinomien zwiſchen dem freien Willen und der Prädeſtination, der Einheit Gottes und ſeinen Eigenſchaften hervor. So erhoben ſich hier im Orient dieſelben Fragen, welche vorher und gleichzeitig das chriſtliche Abendland bewegt haben. Und zwar lag hier wie dort der Antrieb in dem religiöſen Leben ſelber, und die Bekanntſchaft mit dem antiken Denken gewährte nur dieſer Bewegung Nahrung. Der Verſuch der „ lauteren Brüder “, jenes merkwürdigen Geheimbundes im Dienſte der freien Forſchung, Ariſtoteles, Neuplatonismus und Islam zur Einheit eines encyklopädiſchen Zuſammenhangs zu verknüpfen, bildet ein weiteres Stadium dieſer Gedankenentwicklung. Auch dieſer Verſuch mißlang. „ Sie ermüden — äußerte ſich der Scheich Sagaſtani —, aber befriedigen nicht; ſie ſchweifen herum, aber gelangen nicht an; ſie ſingen, aber ſie erheitern nicht; ſie weben, aber in dünnen Fäden; ſie kämmen, aber machen kraus; ſie wähnen was nicht iſt und nicht ſein kann “1)Vgl. Flügel in der Zeitſchrift der deutſchen morgenländiſchen Ge - ſellſchaft Bd. XIII S. 26.. Jenſeit der Theologie ſetzte die geiſtig regſame, ſcharfſinnig beobachtende, aber der Tiefe und der ſittlichen Selbſtändigkeit entbehrende Na - tion, unterſtützt von der Begabung der unterworfenen Völker, die mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Arbeit der Griechen fort. Und die Metaphyſik der Araber, eine Erneuerung des Ariſtoteles mit neuplatoniſchen Interpolationen, ließ gegen den einen, noth - wendigen und gedankenmäßig allgemeinen Zuſammenhang das Element des Willens zurücktreten, ja gelangte in einigen ihrer be - deutendſten Vertreter, wie Ibn Badja und Ibn Roſchd, von ſolchen Vorausſetzungen zur Leugnung der perſönlichen Unſterblichkeit. Die Ergebniſſe der naturwiſſenſchaftlichen und metaphyſiſchen Forſchung der Araber gingen auf das Abendland über; wogegen der Sieg der orthodoxen Schule der Aſchariten über die Philo - ſophen, welcher ſich ſchon im zwölften Jahrhundert entſchied, zuſammen mit dem todten Despotismus der politiſchen Verfaſſung, alles innere Leben im Islam ſelber verſiechen machte.
22*340Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.In dem Entwicklungsgang der romaniſch-germaniſchen Völker, wie ſie den Zuſammenhang der europäiſchen Chriſten - heit bildeten, hat ſich die Metaphyſik weit langſamer ausgelebt, ſie war der lange Jugendtraum dieſer Nationen. Denn dieſelben befanden ſich, als ſie in die Erbſchaft der Metaphyſik ein - traten, noch in ihrem Heldenzeitalter. Sie ſtanden unter der Leitung der Kirche und der Theologie. Die Vorſtellungen von pſychiſchen Kräften, welche das Weltall durchwalten, waren für ſie, wie einſt für die Griechen, der natürliche Ausdruck ihres der mythiſchen Epoche des Vorſtellens kaum entwachſenen Geiſtes. Innerhalb der ihnen überlieferten Theologie bildeten ſie ſich aus den Reſten ihres mythiſchen Fühlens und Denkens und verwandten Beſtandtheilen, die ſie bei den Alten fanden, eine reiche und phantaſtiſche Welt, die von Heiligen, Wundergeſchichten, böſem Zauber, Geiſtern aller Art erfüllt war. Schwer lebten ſie ſich in die vorhandene Metaphyſik ein, wie ſie in Ariſtoteles ihren Abſchluß gefunden hatte. Mit der Zeit erweiterte ſich ihre Kenntniß des Ariſtoteles; allmälig wuchſen ihnen die Kräfte abſtrakten Denkens. So entſtand ein Ganzes, welches mit königlicher Gewalt über die Gemüther herrſchte. Zu keiner Zeit war die Macht der Metaphyſik ſo groß als in dieſen Jahrhunderten, in denen ſie mit der Theo - logie und der Kirche verbunden war. Und in dieſer Entwicklung erlitt die ariſtoteliſche Metaphyſik eine weſentliche Umgeſtaltung. Elemente traten in der neuen Metaphyſik hervor, die ihre Herr - ſchaft unter den modernen Völkern lange behauptet haben und in vielen Punkten ſowie innerhalb weiter Strecken der europäiſchen Bevölkerung noch heute behaupten. Denn die geſchichtliche Lage dieſer neuen Völker gab ihnen neben vielen Nachtheilen auch große Vortheile gegenüber den Alten. Die europäiſche Menſchheit hat nunmehr eine Vergangenheit hinter ſich, die abgeſchloſſen iſt. Ganze Völker und Staaten haben ausgelebt auf dem Boden, wo eine neue Welt ſich eingerichtet hat. Sie haben in derſelben römiſchen Sprache, die noch herrſcht, geſprochen, und in die Literatur dieſer Sprache iſt auch das Wichtigſte der griechiſchen Entwicklung gerettet. Andrerſeits aber fanden ſich dieſe jungen germaniſch -341Fortſchritt der Metaphyſik bei den romaniſch-germaniſchen Völkern.romaniſchen Völker im Kampfe mit dem vom Islam mächtig er - regten Morgenlande. Der politiſche und militäriſche Gegenſatz wurde zugleich als ein ſolcher der beiden großen Weltreligionen empfunden, die um die Herrſchaft rangen, und ſetzte ſich bis in das Gebiet der Metaphyſik fort. Die Metaphyſiker der Chriſten - heit fanden ſich ſcharfſinnigen Syſtemen gegenüber, welche aus dem Islam hervorgegangen und dem Chriſtenthum innerlich feindſelig waren. Dies Alles gab der Metaphyſik der neueren europäiſchen Völker ein Uebergewicht über die der Alten in zwei Punkten.
Die veränderte Lage ermöglichte den Metaphyſikern einerſeits, zu einer Abſtraktion fortzugehen, welche den Griechen in ihrem natürlichen nationalen Wachsthum nicht möglich war. Sie ge - langten zu Abſtraktionen äußerſten Grades. Denn die Metaphyſik ſo gut als die Religionswahrheiten, Rechtsſätze und politiſchen Theorien der Vergangenheit wurden nunmehr einer Reflexion unterworfen, welche trotz der bitterſten Mängel in der Erkenntniß und Auffaſſung des Geſchichtlichen doch die Reſte dieſer Vergangenheit als Stoff vor ſich hatte. Und zwar war die metaphyſiſche Reflexion in Bezug auf die Frage, welche Be - weiſe vor dem Verſtande ſich zu behaupten vermöchten und welche Begriffe in verſtandesmäßige Elemente aufgelöſt werden könnten, zunächſt von der kirchlichen Autorität nicht gebunden. Wie ver - hängnißvoll auch für die nur in der Unabhängigkeit gedeihende Philoſophie der Einfluß kirchlicher Vorſtellungen und kirchlicher Macht auf die Gemüther der mittelalterlichen Menſchen war: dieſe Frage, was an den gegebenen Inhalten überlieferter Meta - phyſik und geltenden Glaubens dem Verſtande entſprechend und zugänglich ſei, war noch von der Kirche freigelaſſen.
Andrerſeits ermöglichte die veränderte Lage den Metaphyſikern, ihr Syſtem, welches aus der wiſſenſchaftlichen Erforſchung der Natur hervorgegangen war, auf die geſchichtliche Welt aus - zudehnen. Dieſe breitete ſich nun als eine umfangreiche Realität vor ihren Blicken aus. Sie ſtand vermittelſt der chriſtlichen Wiſſenſchaft mit den tiefſten Prinzipien der metaphyſiſchen Welt342Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.in einer inneren Verbindung und bildete vermöge der Beziehung zu dieſen Prinzipien ein in ſich zuſammenhängendes Ganges. Zu - gleich ſonderte der chriſtliche Dualismus von Geiſt und Fleiſch ſchärfer von der ganzen Natur dieſes Reich des Geiſtes, als einen in dem Transſcendenten begründeten Zuſammenhang. Die mittel - alterliche Metaphyſik hat ſo eine Erweiterung erfahren, durch welche erſt die geiſtigen Thatſachen und die geſchichtlich-geſell - ſchaftliche Wirklichkeit als ein der Natur und Naturerkenntniß ebenbürtiges Glied ihr eingeordnet wurden.
Zum zweiten Male begann ſo die Gedankenarbeit der Metaphyſik. Der Wille zu erkennen fuhr fort, die Subjekte, deren Thun und Eigenſchaften in Natur, Selbſterfahrung und Ge - ſchichte ſich offenbaren, mit dem Gedanken durchdringen zu wollen, und das Leben, welches dieſem Willen der Erkenntniß vorlag, reichte nun in Tiefen, welche der metaphyſiſchen Beſinnung des Alter - thums nicht erreichbar geweſen waren. Es liegt außerhalb des Kreiſes unſerer Erörterung zu betrachten, wie die metaphyſiſche Gedankenarbeit Trinität, Gottmenſchheit in klare und beweisbare Beſtandtheile aufzulöſen den Verſuch machte und die Unlöslichkeit des chriſtlichen Dogma für den Verſtand ſchließlich erkennen mußte. Aber der menſchliche Geiſt erfuhr ferner zum zweiten Male, daß überhaupt ein natürliches metaphyſiſches Syſtem unmöglich ſei. Die Metaphyſik ſchmolz vor der Verſtandeskritik zuſammen wie Schnee bei ſteigender Sonnenwärme. Und ſo endigte das zweite metaphyſiſche Stadium in dieſer Rückſicht wie das erſte, ſo viel inhaltvoller auch der Rückſtand war, den es zurückließ.
Dieſer Vorgang geſtattet, wieder tiefer in das Weſen der Metaphyſik ſowie in die Unmöglichkeit ihres dauernden Be - ſtandes zu blicken; denn was die großen inhaltlichen Thatſachen des Geiſtes in ihrem Weſen enthalten, ſagt uns nur die Geſchichte. Die mittelalterliche Metaphyſik ſchloß eine Erweiterung der Welt - anſchauung in ſich, welche in gewiſſen Grenzen noch heute fort - beſteht. Sie enthielt ein tieferes Seelenleben, als das des Alter - thums geweſen war. Und je angeſtrengter ſie ſich bemühte, was nun innerhalb des Horizontes der metaphyſiſchen Beſinnung ſich befand,343Das negative Ergebniß dieſes metaphyſiſchen Stadiums.verſtandesmäßig zu begreifen, deſto deutlicher wurde die Unmög - lichkeit hiervon. Viel wird der unvollkommenen intellektuellen Ausbildung der Schriftſteller zugeſchrieben werden müſſen, welche dieſe Metaphyſik geſchaffen haben. Die Aufgabe, die großen Rea - litäten des Chriſtenthums und die Vorſtellungen, in welchen dieſe ausgedrückt waren, mit der griechiſchen, insbeſondere ariſtoteliſchen Metaphyſik zu vereinigen, iſt von ihnen äußerlich gefaßt worden, weil ihnen die tieferen wiſſenſchaftlichen Beweggründe der griechi - ſchen Metaphyſik unzugänglich waren. Wie dieſe Beweggründe aus der Arbeit der wirklichen Wiſſenſchaft hervorgegangen waren, ſo konnten ſie und die von ihnen aus entſtandenen Begriffe und Sätze nur von ſolchen verſtanden werden, welche an derſelben Arbeit die Hand hatten. Die Begriffe der ſubſtantialen Form, der Ewigkeit der Welt, des unbewegten Bewegers waren unter den Anforderungen des Erkennens, welches den Kosmos erklären wollte, entſtanden, gerade ſo wie der Begriff des Atoms oder der des leeren Raumes. Andere Begriffe waren bedingt durch die poſitive, naturwiſſenſchaftliche Forſchung. Daher die Begriffe der Alten bei den Scholaſtikern den aus ihrem Boden geriſſenen Pflanzen in einem Herbarium gleichen, deren Standort und Lebens - bedingungen unbekannt ſind. Dieſe Begriffe wurden nun mit ganz unverträglichen verbunden, ohne ſonderlichen Widerſtand zu leiſten. So findet man Schöpfung aus Nichts, lebendige That und Per - ſönlichkeit Gottes verbunden mit den Begriffen, welche von der Unveränderlichkeit der erſten Subſtanz oder von dem ariſtoteliſchen Begriff der Bewegung ausgehen. Aber wie ſehr auch dieſer Mangel an wirklich wiſſenſchaftlichem Geiſt die Löſung der bezeichneten Auf - gabe, das Leben des Chriſtenthums mit der Wiſſenſchaft vom Kosmos zu Einem Syſtem zu vereinigen, erſchweren mußte: dennoch erklärt derſelbe nicht den gänzlichen Zuſammenbruch dieſer Metaphyſik als Wiſſenſchaft, welcher das Ende des metaphyſiſchen Stadiums der neueren Völker und den Eintritt in das der wirklichen Wiſſenſchaften bezeichnet; vielmehr tritt die innere Unmöglichkeit der Aufgabe ſelber hervor. Indem dieſe Metaphyſik in erſter Linie von dem In - tereſſe an den Erfahrungen des Willens und des Herzens aus -344Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.geht, macht ſich tiefer als vordem geltend, daß, was wir im Leben beſitzen, nicht von dem Verſtande in einen Zuſammenhang ganz durchſichtiger Begriffe aufgelöſt werden kann. Indem die Bedingungen der Natur mit denen der geſchichtlichen Welt in Einem objektiven Zuſammenhang verknüpft werden ſollen, tritt der tiefe Widerſpruch zwiſchen der Nothwendigkeit, die dem Gedankenmäßigen eigen iſt, und der Freiheit, welche die Erfahrung des Willens iſt, in den Mittelpunkt der Metaphyſik: er zerreißt ihr Gewebe.
Doch vollzog dieſe zweite Epoche der Metaphyſik zugleich einen bleibenden poſitiven Fortſchritt in der euro - päiſchen intellektuellen Entwicklung, welcher dem modernen Men - ſchen und der freien Verbindung von Erkenntnißtheorie, Einzel - wiſſenſchaft und religiöſem Glauben erhalten bleibt. Zu dem ſchon Erwähnten tritt Folgendes hinzu. Im Alterthum hatte ſich die Wiſſenſchaft als ein unabhängiger Zweckzuſammenhang ab - geſondert und war zur Selbſtändigkeit gelangt. In den großen In - ſtituten von Alexandria, in den anderen wiſſenſchaftlichen Sammel - punkten des ſpäteren Alterthums hatte ſie auch eine äußere Or - ganiſation erhalten, durch welche die Kontinuität poſitiver Leiſtungen ermöglicht wurde. So trat die Wiſſenſchaft als ein die Völker umſpannender Zuſammenhang dem wechſelnden und zerſtückelten Staatsleben gegenüber. Die Macht und Souveränetät des chriſt - lichen Bewußtſeins verkörperte ſich nun während des Mittelalters in dem ſelbſtändigen Aufbau der katholiſchen Kirche, auf welche viele politiſche Ergebniſſe des römiſchen Imperiums übertragen wurden. Wenn ihr die individuelle Freiheit des chriſtlichen Bewußtſeins zur Zeit geopfert wurde, ſo bereiteten doch die großen korporativen Ordnungen des Glaubens und Wiſſens eine Zukunft vor, in der bei innerer Freiheit des Seelenlebens die Differenzirung und äußere Gliederung der einzelnen Zweckzu - ſammenhänge durchgeführt werden kann: eine Zukunft, die auch wir heute nur in unſicheren Umriſſen erblicken. Alsdann unter - hielten das religiöſe Leben und die Schulen der Myſtik das Be - wußtſein, daß das meta-phyſiſche Weſen des Menſchen in der345Der poſitive Fortſchritt.inneren Erfahrung, als Leben, auf eine individuelle, einen allge - meingültigen wiſſenſchaftlichen Ausdruck ausſchließende Weiſe ge - geben iſt. Die Metaphyſik fügte dem Begriffszuſammenhang, der an der Außenwelt entwickelt war, den hinzu, welcher aus dem religiöſen Leben ſtammte: Schöpfung aus Nichts, innere Lebendig - keit und gleichſam Geſchichtlichkeit Gottes, Schickſal des Willens. Und als an dem inneren Widerſpruch, der ſo entſprang, die Metaphyſik des Mittelalters zu Grunde ging, da war und ver - blieb das perſönliche, keiner allgemeingültigen wiſſenſchaftlichen Begründung fähige Bewußtſein unſerer meta-phyſiſchen Natur das Herz der europäiſchen Geſellſchaft; ſein Schlag ward empfunden in den Myſtikern, in der Reformation, in jenem gewaltigen Puritanismus, der in Kant oder Fichte ſo gut lebt als in Milton oder Carlyle und welcher einen Theil der Zukunft in ſich ſchließt.
Den Ausgangspunkt der Gedankenarbeit des Mittelalters bildeten die Probleme der drei monotheiſtiſchen Religionen. Wir beginnen mit dem Einfachſten. Judenthum, Chriſtenthum wie Islam haben ihren Mittelpunkt in einem Willensverhältniß des Menſchen zu Gott. Daher ſchließen ſie eine Reihe von Elementen in ſich, welche der inneren Erfahrung angehören. Da aber unſer Vorſtellen an die Bilder der äußeren Erfahrung gebunden iſt, ſo kann, was dem Erlebniß angehört, nur in dem Zuſammen - hang unſeres Bildes der Außenwelt vorgeſtellt werden. Den einfachſten Beweis hierfür liefert das Mißlingen jedes Verſuchs, Gott ohne ein Bild des räumlichen Außereinander von dem eigenen Selbſt zu ſondern, ihn in Beziehung zu dieſem Selbſt ohne ein Element des räumlichen Verhaltens und Einwirkens zu denken, oder etwa die Vorſtellung der Schöpfung ohne Bilder eines346Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.wenn auch noch ſo beſchleunigten Hervortretens und zeitlichen Geſtaltens zu vollziehen. Daher ſtellt ſich das religiöſe Erleben in den monotheiſtiſchen Religionen eben ſo in einer Vorſtellungs - welt dar, welche nur Gewand und Hülle, gleichſam Verſinn - lichung der inneren Erfahrungen iſt, wie dies in den indogermaniſchen Religionen der Fall geweſen iſt, aus deren my - thiſchem Vorſtellen der Welt wir die griechiſche Metaphyſik her - vorwachſen ſahen1)S. 169 ff.. Und das Denken ſtrebt nothwendiger Weiſe, dieſe die religiöſe Erfahrung verſinnlichenden Vorſtellungen aufzu - klären, zu zergliedern und widerſpruchslos zu ver - binden.
Hierbei trifft das dogmatiſche Denken überall auf Vorſtellungs - beſtandtheile, welche dem Bilde der Außenwelt angehören. Und da Chriſtenthum, Heidenthum und Islam die Bearbeitung dieſer Elemente durch die erklärende Wiſſenſchaft des Kosmos vor ſich hatten, miſchten ſich Begriffe aus dieſer erklärenden Wiſſenſchaft in ihre Theologie ein. Daher hat ſich die Entwicklung der Formeln, welche die religiöſe Erfahrung in einer Verknüpfung von Vor - ſtellungen abgrenzen und gegen andere Formeln innerhalb der - ſelben Religion wie gegen andere Religionen rechtfertigen ſollten, nicht folgerecht aus der im Chriſtenthum gegebenen Selbſtgewiß - heit innerer Erfahrung vollzogen2)Wie an Auguſtinus S. 326 ff. gezeigt iſt.. Vielmehr mündete der ge - waltige und friſche Fluß dieſer inneren Erfahrungen in den breiten, trüben, Elemente verſchiedenſter Art mit ſich führenden Strom der abendländiſchen Metaphyſik. Ein Synkretismus in der Me - taphyſik, wie er der Niederſchlag der langen Entwicklung grie - chiſch-römiſchen Denkens war, ſchien dem religiöſen Vorſtellen die Mittel darzubieten, ſich in einem Syſtem zu formiren und als ſolches zu behaupten. So entſtand die chriſtliche und ähnlich bildete ſich die jüdiſche und muhamedaniſche Theologie.
Und zwar ſtand die Aufgabe der Theologie nur eine einge - ſchränkte Zeit hindurch bei den neueren Völkern in dem Mittel -347Bearbeitung des Glaubensinhaltes in der Theologie.punkt alles ſyſtematiſchen Denkens. Im chriſtlichen Abendlande währte dieſe Zeit länger als bei den Völkern des Islam; von Alcuin und dem achten Jahrhundert reichte ſie hier bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts.
Während dieſer vier Jahrhunderte machten ſich die möglichen Stellungen des Glaubensinhaltes zum Verſtande gel - tend, wie ſie bis heute fortdauern. Die in der Hierarchie herrſchende Partei betrachtete den Glaubensinhalt als eine der Vernunft un - erreichbare und unſerer verderbten Natur in der Offenbarung autori - tativ gegenübertretende Thatſächlichkeit. Gemäß der dargelegten Beziehung zwiſchen dem Offenbarungsglauben und der inneren Er - fahrung verband ſich dieſer Standpunkt mit dem zweiten, welcher die im Chriſtenthum angelegte Erkenntniß entwickelte, daß die inneren religiöſen Erfahrungen in einem verſtandesmäßigen Zu - ſammenhang nicht dargeſtellt werden können1)[Dieſe] Verbindung der beiden Standpunkte (für deren erſteren Belege überflüſſig ſind) findet man in dem bekannten Worte des Bernhard von Clairvaux: „ quid enim magis contra rationem, quam ratione rationem conari transcendere? Et quid magis contra fidem, quam credere nolle, quicquid non possis ratione attingere? “— Zur zweiten Partei vgl. z. B. Hugo von St. Viktor de sacram. I pars 10 c. 2.. Doch trat dieſe zweite Stellung zum Glaubensinhalt auch mehr losgelöſt vom Autoritätsprinzip auf, insbeſondere in den myſtiſchen Schulen. Eine dritte Partei hatte ihren wichtigſten Repräſentanten während dieſes Zeitraums in Anſelm. Die Vorausſetzungen derſelben lagen ebenfalls in Auguſtinus. Sie vereinigte in ſchwer zu faſſendem Tiefſinn die beiden Seiten des mittelalterlichen Denkens: in jedem, auch dem tiefſten Geheimniß des Glaubens iſt ein Ver - nunftzuſammenhang, und er könnte der göttlichen Vernunft nach - gedacht werden, wenn die Gedanken der Menſchen den Gottes zu erreichen die Kraft hätten; aber dieſer Zuſammenhang wird allein unter der Vorausſetzung des Glaubens erblickt2)Anſelm de fide trinitatis praefatio und c. 1. 2; de concordia praescientiae Dei cum libero arbitrio, qu. III c. 6. Die Löſung der ſchein - baren Widerſprüche liegt bei Anſelm in der Vorausſetzung, daß auch das unerreichbare Glaubensgeheimniß in Gott Vernunftzuſammenhang iſt. Wie Anſelm hierdurch ſich von den Myſtikern ſondert, berührt er ſich andrerſeits hierin mit Scotus Erigena und Abälard. Vgl. Eadmer Vita S. Anselmi I c. 9.. Die letzte unter348Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.dieſen Parteien betrachtete den menſchlichen Verſtand als Maß - ſtab des Glaubensinhaltes, und die Unterſchiede in ihr waren vorzugsweiſe durch den Grad von Selbſtvertrauen bedingt, mit welchem dieſer Verſtand auftrat. So kann ſie als Rationalismus bezeichnet werden. Sie empfing ihre Macht nicht allein aus dem Trieb des Erkennens, welcher zumal im zwölften Jahrhundert zur Leidenſchaft anwuchs; auch der Zwieſpalt der Autoritäten über die Glaubensgeheimniſſe konnte von Abälard in ſeiner Schrift „ Ja und Nein “kühn und geſchickt zu Gunſten der Entſcheidung von Glaubens - fragen durch den Verſtand verwerthet werden, und der Streit einer Mehrheit monotheiſtiſcher Religionen machte die ſchließliche Geltung derſelben von dem Richterſpruch des Denkens abhängig, die Ge - ſpräche zwiſchen den Repräſentanten der verſchiedenen Religionen, wie der Kuſari und der Abälard’ſche Dialog zwiſchen einem Philoſophen, einem Juden und einem Chriſten, laſſen die Macht dieſes thatſäch - lichen Verhältniſſes erkennen. So konnte der Vervollſtändigung des Materials für die Kenntniß der ariſtoteliſchen Logik eine dialek - tiſche Bewegung folgen, deren negative Ergebniſſe viele Zeitgenoſſen erſchreckten1)Für die angegebene Bedeutung der Schrift Sic et non von Abälard iſt der Schluß des Prologs entſcheidend. Im Uebrigen vgl. die aus Johann von Salisbury, Richard von St. Viktor, Abälard u. a. entnommene Schil - derung der rationaliſtiſchen Fraktionen bei Reuter, Geſchichte der Auf - klärung I, 168 ff.. Der Glaubensinhalt wurde ſchon als eine Anticipation der Vernunfterkenntniß angeſehen2)Dies war die Conſequenz der zuletzt erwähnten Richtung. Sie kann aus der bekannten Formel des Scotus Erigena de divisione I c. 66 p. 511 B (Floß) abgeleitet werden. Doch iſt weder der Rationalismus des Scotus Erigena noch der Abälard’s unbeſchränkt. Die Theorie, welche ſich bei beiden findet und welche die Beziehung der Begriffe und Urtheile des Verſtandes auf die endliche Wirklichkeit einſchränkt, die zu bezeichnen ſie beſtimmt ſeien, (wie denn der Satz in dem unentbehrlichen Verbum die Zeitlichkeit als Schranke einſchließe), iſt ein Verſuch, die wirkliche Transſcendenz Gottes gegen die Rationaliſten zu vertheidigen. Vgl. Abälard theologia christ. l. III, p. 1246 B. 1247 B (Migne) nebſt der Parallelſtelle der introductio und Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. 463 B. c. 73 p. 518 B., und die Frage trat auf: wenn die Lehrſätze des Chriſtenthums einer rationalen Behandlung zu - gänglich ſind, warum bedurfte es der Offenbarung?
349Dialektik als Werkzeug der Theologie.Die Erfaſſung des Glaubensinhaltes durch die Vernunft, nach welcher ſo in dieſen Jahrhunderten gerungen wird, hat in der Dialektik (Logik) ihr Werkzeug. — Es iſt überzeugend nachge - wieſen worden, wie der Zuſtand dieſes Werkzeugs durch die elende urſprüngliche Ueberlieferung des logiſchen Materials und die lang - ſame Erweiterung der Kenntniß echter ariſtoteliſcher Logik bedingt geweſen iſt1)Couſin, Jourdain, Hauréau und Prantl haben das Hauptverdienſt dieſes geſchichtlichen Nachweiſes.. Aber die Dialektik dieſer Jahrhunderte erſcheint in einem günſtigeren Lichte, wenn die andere Seite ihrer damaligen Geſchichte, ihre Beziehung zu den Aufgaben der Theologie, auf - gefaßt und die Abhängigkeit ihrer wichtigſten Züge von dieſer Aufgabe erkannt wird. Wie die Logik des Ariſtoteles von der Lage und Aufgabe der Metaphyſik des Kosmos bedingt iſt, ſo die Dialektik des Mittelalters durch die der Theologie, als deren Wiſſenſchaftslehre. — Dieſem Verhältniß entſprechend war die mittel - alterliche Logik mit ſehr lebhaften Erörterungen über die Beziehung der Formen des Denkens zu der in Gott angelegten Gedanken - mäßigkeit der Wirklichkeit verbunden. Die Sätze der platoniſch - ariſtoteliſchen Metaphyſik über dieſen Punkt, wie ſie von den Neuplatonikern fortgebildet worden waren, bildeten die Grundlage der Theologie der meiſten Kirchenväter, insbeſondere des Auguſtinus. Zugleich befand ſich in dem überlieferten logiſchen Material eine dürftige Mittheilung, welche wie durch einen engen Spalt in die ſonſt der Kenntniß damals entzogenen Kämpfe des Alterthums einen Blick geſtattete2)Vgl. Hauréau histoire de la philos. scolast. I, 42 ff., Prantl über Porphyrius in der Geſchichte der Logik I, 626 ff., über Boethius 679 ff., über die Streitfrage II, 1 ff. 35 ff.. In der Mannichfaltigkeit der Richtungen, die eine Löſung des nun leidenſchaftlich beſprochenen Problems verſucht haben, ſondern ſich drei Klaſſen, wenn man die uns allein angehende metaphyſiſche Bedeutung des Problems ins Auge faßt. Die allgemeine Bedingung dieſer Parteibildung lag darin, daß das metaphyſiſche Stadium der Wiſſenſchaft einen gedankenmäßigen Zuſammenhang der Erſcheinungen nur als Syſtem von Formen,350Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.die ſich in Allgemeinbegriffen darſtellen, beſeſſen hat. Die Einen nahmen nun einen realen Vorgang logiſcher Specifikation in der Subſtanz der Dinge an, mochten ſie dieſe nach der Formel einer Emanation, wie Scotus Erigena, oder nach der einer Schöpfung vorſtellen. So treten nach Wilhelm von Champeaux zu dem in ſich gleichen Stoff zuerſt Formen der oberſten Gattungen, innerhalb jeder derſelben ſolche, welche die Gattung zu Arten gliedern, abwärts bis Individuen entſtehen1)Scotus Erigena z. B. de divisione naturae I c. 29 ff. p. 475 B, IV c. 4 p. 748; Wilhelm von Champeaux nach dem Bericht in der Schrift de generibus (ouvrages inédits d’Abélard p. Cousin) p. 513 f. und in Abälard’s epist. I c. 2 p. 119.. Die Anderen verwarfen einen ſolchen realen Proceß logiſcher Specifikation und begnügten ſich mit der Annahme einer realen Beziehung zwiſchen dem göttlichen Verſtande, in welchem die Formen wohnen, der Wirklichkeit, der ſie durch ihn eingebildet ſind, und dem menſchlichen Verſtande, durch den ſie an den Dingen herausgehoben werden können2)Zu ihnen gehörte Abälard, vgl. introductio ad theolog. II c. 13 p. 1070.. Der Nomina - lismus bildete den gemeinſamen Charakter einer dritten Klaſſe von Dialektikern. — Das Schickſal dieſer drei Richtungen war weſentlich bedingt durch ihr Verhältniß zur Aufgabe der Theologie. Die erſte mußte, wie ihr Abälard’s Scharfſinn nachwies, folgerecht auf die weſenhafte Einheit derſelben Subſtanz und damit auf den Pan - theismus führen3)In den glossulae super Porphyrium nach dem Auszug von Rémuſat Abälard II p. 98. Dazu trat die logiſche Unhaltbarkeit dieſes Realismus, welche de generibus p. 514 ff. entwickelt iſt.. Die letzte derſelben, die nominaliſtiſche Theorie, erwies ſich als ganz unfähig, der Theologie als Grundlage zu dienen, bis ſie in einem ſpäteren Stadium zu der inneren Er - fahrung in Beziehung geſetzt wurde. Das war der Grund, aus welchem ſie in dieſem erſten Zeitraum des mittelalterlichen Denkens ſich nicht behaupten konnte. Sprach doch der Nominalismus des Roſcellinus nicht nur der Beziehung des Einzeldings zur Gattung, ſondern auch der des Theils zum Ganzen jede objektive Geltung ab. Nun beruhte aber auf dieſem letzteren Verhältniß der ganze Zuſammenhang des göttlichen Heilsplanes, wie er die Grundlage351Parteiung über den metaphyſiſchen Werth der Begriffe.der Kirche ausmachte. Das Sündigen in Adam, das Erlöſtwer - den in Chriſtus, die Verbindung des Einzelnen mit der Kirche waren ohne dieſen Zuſammenhang von Theilen in einem Ganzen nicht denkbar. Ebenſo ſchien die Dreieinigkeitslehre eine reale Be - ziehung des Einzelnen zu dem übergeordneten Begriff vorauszu - ſetzen. So gelangte die mittlere Anſicht, wie ſie zunächſt Abälard mit Glück vertreten hatte, zum Siege: ſie entſprach der Aufgabe der mittelalterlichen Metaphyſik am beſten; bis dann der Nomina - lismus in der Theorie der inneren Erfahrung und des in ihr gegebenen Willens ein tieferes Recht gewann.
Wurde ſo in dieſem Ringen des Verſtandes mit dem Glaubens - inhalt während der bezeichneten vier Jahrhunderte zunächſt eine dialektiſche Grundlegung angeſtrebt, ſo war das doch nur Vor - bereitung für die Theologie. Und zwar lag die nächſte Auf - gabe in der Fortentwicklung der Beweisführung für die Exiſtenz einer transſcendenten Welt; indeß bilden in der Geſchichte der Begründung der transſcendenten Welt auf Vernunftbeweis die Leiſtungen dieſer Jahrhunderte einen Beſtandtheil, den iſolirt zu betrachten kein Intereſſe für uns beſteht. Ferner ſuchte ſich der Verſtand in der transſcendenten Welt zu orientiren und den Zu - ſammenhang des Glaubensinhaltes gedankenmäßig zu entwickeln. Hierbei entſchied ſich in dieſem Zeitraum ein Schick - ſal des mit dieſer Aufgabe beſchäftigten Verſtandes, welches tiefer in die Lebensbedingungen des metaphyſiſchen Denkens blicken läßt. An den wichtigſten Punkten ergaben ſich anſtatt der Dar - ſtellung in einer dem Verſtande genügenden Formel Widerſprüche auf Widerſprüche, und dies Verhältniß trat nicht nur innerhalb der ſpecifiſchen Dogmen der einzelnen monotheiſtiſchen Religionen hervor, auch in den Sätzen, welche dieſen gemeinſam ſind und ſonach zur Metaphyſik in einem näheren Verhältniß ſtehen, ward es ſichtbar.
Ein Widerſpruch ſtellt ſich in zwei Sätzen dar, deren einer den anderen ausſchließt; er beſteht alſo in einem Verhältniß der Prädikate deſſelben Subjektes, vermöge deſſen ſie ſich in ihrer Be - ziehung auf daſſelbe gegenſeitig ausſchließen oder aufheben. Ein352Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.ſolcher Widerſpruch zweier Sätze iſt eine Antinomie, wenn die beiden Sätze unvermeidlich ſind, und Antinomien ſind daher Sätze, welche von demſelben Subjekt mit gleicher Nothwendigkeit Wider - ſprechendes ausſagen. Das Alterthum hatte zunächſt die Antino - mien entwickelt, welche in unſerer Auffaſſung der Außenwelt ent - halten ſind; dieſelben haben ihre Wurzel im Verhältniß des Er - kennens zu den äußeren Wahrnehmungen. Die zweite Hälfte aller Antinomien entſpringt, indem die inneren Erfahrungen dem äußeren Vorſtellungszuſammenhang eingeordnet werden und das Erkennen ſie ſeinem Geſetz zu unterwerfen thätig iſt. Innerhalb dieſer Klaſſe traten geſchichtlich zuerſt die Antinomien des religiöſen Vorſtellens, der Theologie und der die religiöſe Erfahrung in ſich aufnehmenden Metaphyſik hervor; der Kampfplatz derſelben waren Theologie ſowie Metaphyſik des Mittelalters, und ſie wirkten eben ſo zerſetzend in der altproteſtantiſchen Dogmatik. Von dieſen Antinomien gelangten zunächſt in der Zeit der Kirchen - väter und dem früheren Mittelalter diejenigen zu klaſſiſcher Aus - bildung, welche die Wiſſenſchaft vom Kosmos noch nicht vor - ausſetzten, ſondern aus dem Verhältniß der religiöſen Erfahrung zum Vorſtellen und zur logiſchen Reflexion hervorgingen.
Da das religiöſe Leben genöthigt iſt, ſich in einem Vor - ſtellungszuſammenhang auszudrücken und dieſem Vorſtellungsin - begriff als ſolchem die Antinomien anhaften, ſo treten dieſelben in parallelen Formen neben einander in der Theologie des Chriſtenthums, des Judenthums wie des Islam auf. Und zwar gehört das Bewußtſein dieſer Antinomien keineswegs erſt der Zeit der Auflöſung der Dogmen an; vielmehr ringt das religiöſe Vorſtellen und Denken von Anfang an mit denſelben, ſie bilden ein mächtiges Agens in der Dogmenbildung ſelber und verewigen die Parteien und den Streit innerhalb der einzelnen Religionen. Aber die Religion iſt nicht Wiſſenſchaft, ja was wichtiger zu ſagen iſt, ſie iſt auch nicht Vorſtellen. Die Antinomien der religiöſen Vorſtellung löſen die religiöſe Erfahrung nicht auf. So wenig die Antinomien in unſerer Raumvorſtellung uns beſtimmen können, auf unſer räumliches Sehen zu verzichten, ſo wenig vermögen die353Erſte Antinomie zwiſchen der religiöſen Erfahrung und dem Vorſtellen.dem religiöſen Vorſtellen anhaftenden Widerſprüche, das religiöſe Leben in uns zu vermindern oder in ſeiner Bedeutung für unſer Geſammtleben herabzuſetzen. Der Maler wird nicht von den Anti - nomien der Raumvorſtellung geſtört, denn ſie verwirren ihm nicht ſeine Raumbilder. Genau ſo hindern die religiöſen Antinomien nicht die freie Bewegung des religiöſen Lebens ſelber. Aber ſie machen allerdings die konſequente Durchbildung des religiöſen Vorſtellens, ſeine Zergliederung und die Verknüpfung der ſo ent - ſtehenden Begriffe zur Einheit eines Syſtems, wie noch Schleier - macher ſie verſuchte, unmöglich.
Die erſte und am meiſten fundamentale Antinomie des religiöſen Bewußtſeins iſt darin gegründet, daß das Subjekt ſich in jedem gegebenen Moment nach rückwärts ſchlechthin bedingt und abhängig findet, zugleich aber ſich frei weiß. Dieſes Doppel - verhältniß iſt, wie das die Deſkription des religiöſen Lebens zeigt, gleichſam die Springfeder der beſtändigen Arbeit des religiöſen Geiſtes, in welcher die Gottesidee erſt volle Ausbildung gewinnt. So erſcheint innerhalb des religiöſen Vorſtellungslebens eine Antinomie, welche keine Formel zu bewältigen vermocht hat. Gott iſt einmal Subjekt der Prädikate Güte, Allmacht, Allwiſſen - heit, andrerſeits erſcheinen alle dieſe Prädikate in ihm durch die Willensfreiheit und Verantwortlichkeit des Menſchen eingeſchränkt, und ihre Einſchränkung iſt ihre Aufhebung. Vielleicht hat keine Frage das Nachdenken einer größeren Zahl von Menſchen unſerer Erde beſchäftigt und keine in gewaltigeren Naturen gearbeitet als dieſe, welche die Vorſtellungswelt des Islam erſchüttert und Paulus, Auguſtinus, Luther, Calvin, Cromwell bewegt hat. Wenn wir über das weite Trümmerfeld der Sekten und Schriften ſchreiten, welche dies Problem hervorrief, empfinden wir ſtärker als ſonſt, wie ganz abgethan hinter uns die Dogmatik liegt. Denn keine dieſer Streitfragen oder Diſtinktionen bewegt heute noch dieDilthey, Einleitung. 23354Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Herzen der Menſchen. Ihre Zeit iſt vergangen. Und das Schweigen des Todes ruht heute auf dem weiten Raum dieſer Ruinen.
Das chriſtliche Abendland, um Allzubekanntes nur zu berühren, rang von den Vätern ab vergeblich mit den Antinomien zwiſchen der Unveränderlichkeit Gottes und der Rückwirkung der menſchlichen Handlungen auf den göttlichen Willen, zwiſchen dem Vorherwiſſen der Handlungen in Gott und der Freiheit des Menſchen, ſie zu thun und zu laſſen, zwiſchen der Allmacht und dem menſchlichen Willen1)Nach dem Streit, in welchem Gottſchalk vermittelſt des Begriffs der Unveränderlichkeit Gottes die Freiheit des Menſchen aufhob, Scotus Erigena ſie mit der Nothwendigkeit in eins ſetzte, hat Anſelm dies Problem in den zwei Schriften de libero arbitrio und de concordia praescientiae et praedestinationis cum libero arbitrio am tiefſten behandelt.. Lange war im Abendlande das Ge - tümmel des pelagianiſchen Streites verhallt und die Willensfrei - heit, die Verantwortlichkeit des Menſchen, damit ſeine Selbſtän - digkeit, waren der Tendenz der katholiſchen Kirche, alles Gute in der Menſchenwelt von Gott durch die Organe der Kirche herabfließend vorzuſtellen, bis auf einen ungenügenden Reſt zum Opfer gefallen, als in den Ländern des Islam derſelbe Streit ausbrach. Die Rationaliſten des Islam, die Mutaziliten2)Mutazila bezeichnet eine von einer größeren Geſammtheit ſich ab - trennende Schaar, eine Sekte. Der Name wurde auf die bedeutendſte unter den Sekten des Islam übertragen. Vgl. Steiner, die Mutaziliten S. 24 ff. Nach dem Inhalte des Streites angeſehen, wurden die Vertheidiger der menſchlichen Willensfreiheit Kadarija genannt. Vgl. ebdſ. 26 ff. und Munk Mélanges de philosophie juive et arabe p. 310. Bericht über ſie in Schahraſtanis Religionsparteien und Philoſophenſchulen, überſetzt von Haar - brücker I, 12 ff. 40 ff. 84 ff. II, 386 ff. 393 ff., gingen von den inneren Problemen der Religion aus, wenn ſie auch alsdann für deren Löſung die griechiſche Wiſſenſchaft zu Hilfe nahmen, ja viel - leicht von der Theologie und den Sekten der Chriſten mit beeinflußt waren3)Die Vergleichung des Sektenlebens hüben und drüben drängt dieſe Anſicht auf und die hiſtoriſchen Verhältniſſe machen ſie wahrſcheinlich. Munk Mélanges p. 312. . Durch den Koran zieht ſich der Widerſpruch zwiſchen355Die Theol. d. Judenth., Chriſtenth. u. Islam ringen vergebens mit ihr.einer ſtarren Prädeſtinationslehre, nach welcher Gott ſelber eine An - zahl der Menſchen als unfähig, ſeine Wahrheit zu vernehmen, für die Hölle erſchaffen hat, und dem praktiſchen Glauben an die Willens - freiheit, auf dem die Verantwortlichkeit des Menſchen beruht. Nun machen die Mutaziliten zunächſt die eine Seite der Antinomie, die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrung von der Freiheit, geltend. Der menſchliche Wille wird nach ihnen als ein ſelbſtthätiges Prinzip erlebt, welches den Körper wie ein Werkzeug zu Bewegungen in Thätigkeit ſetzt, und ſeine Freiheit ſchließt ein, daß ihm ein Urtheil über gut und böſe beiwohne1)Schahraſtani I, 55, 59. Die Unterſchiede der Parteien innerhalb der Mutazila kommen hier nicht in Betracht.. Von hier aus entwickeln ſie Sätze, welche ſich ausſchließend gegenüber der Lehre von Allmacht und Allwiſſenheit Gottes für ein konſequentes Vorſtellen verhalten. Das Böſe kann nicht auf Gott als Urſache deſſelben zurückgeführt werden; denn das Böſe iſt ein weſentliches Attribut des böſen Weſens (im Gegenſatz zu der Anſicht, nach welcher dieſes Attribut innerhalb des ganzen Zuſammenhanges der Weltordnung ſchwindet); wäre nun Gott die Urſache des Böſen, ſo würde dadurch ſeine Güte aufge - hoben2)Ebdſ. I, 53 f.. Die Freiheit kann nicht verneint werden; denn mit ihr wird die Verantwortlichkeit und folgerecht die Uebung der Ge - rechtigkeit Gottes in Bezug auf Lohn und Strafe verneint. Während ſo die Mutaziliten die Freiheit auf Koſten der Allmacht Gottes ſchützen, haben andrerſeits diejenigen Sekten, welche den ſtärkeren Antrieb im Islam konſequent entwickelten, die Prädeſtination auf Koſten der Freiheit vertheidigt. Die Djabarija leugneten einfach, daß die Handlungen des Menſchen ihm angehören, und führten ſie auf Gott zurück. Nur darin ſonderten ſie ſich, daß die einen dem Menſchen das Vermögen zu Handlungen voll - ſtändig und ganz abſprachen, die andern aber dieſem anerſchaffe - nen Vermögen gar keinen Einfluß zuſchrieben3)Ebdſ. I, 88 ff.. Unter den Frei - denkern hat Amr al Gahiz die Nothwendigkeit der Handlungen behauptet, und er unterſchied den Entſchluß nur dadurch von23 *356Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.inſtinktiven Handlungen, daß wir bei jenem bewußt denken1)Schahraſtani I, 77; vgl. Steiner’s Wiedergabe des Inhaltes der ſchwer faßbaren Stelle S. 70.. Zwiſchen den Schwierigkeiten, welche ſo gleicherweiſe entſtehen, wenn mit der Freiheit oder mit der Prädeſtination Ernſt gemacht wird, ſchlüpft al Aſchari mit einer Halbheit durch. Einerſeits iſt noch ein Unterſchied zwiſchen unwillkürlichen Bewegungen und will - kürlichen Handlungen in der inneren Erfahrung mit Sicherheit gegeben; andrerſeits iſt dieſelbe Handlung, von Gott aus angeſehen, ein Hervorbringen, Bewirken durch Gott, vom Menſchen aus be - trachtet, ein „ Aneignen “deſſen, was Gott bewirkt2)Schahraſtani I, 98 ff., beſonders 102 ff., wozu Steiner S. 86.. Dafür iſt dann al Aſchari Grundlage der ſpäteren orthodoxen Scholaſtik des Islam geworden, welche in dürren und doch halben Formeln erſtarrte.
Die Antinomie, welche in dieſem Ringen der theologiſchen Sekten zum Vorſchein kommt, hat ſpäter Ibn Roſchd in abſchließender Verſtandesklarheit folgendermaßen ausgeſprochen. Die Beweiſe ſind in dieſer Frage, einer der ſchwierigſten der Religion, einander entgegengeſetzt, und „ des - wegen haben ſich die Moslimen in zwei Parteien getrennt; die eine Partei glaubt, daß das Verdienſt des Menſchen Urſache des Laſters und der Tugend ſei und dieſe für ihn Belohnung und Beſtrafung zur Folge haben. Dies ſind die Mutazila. Die andere Partei glaubt das Gegentheil, nämlich daß der Menſch zu ſeinen Handlungen gezwungen und gedrängt ſei. “ Der „ Widerſpruch der aus dem Verſtande hergenommenen Beweiſe in dieſer Frage “läßt ſich in folgenden beiden Gliedern darſtellen, deren jedes zugleich nothwendig und unmöglich iſt. Theſis: „ Wenn wir annehmen, daß der Menſch ſeine Handlungen hervor - bringt und ſchafft, ſo iſt es nothwendig, daß es Handlungen giebt, welche nicht nach dem Willen Gottes und ſeiner freien Entſchließung geſchehen, und dann gäbe es einen Schöpfer außer Gott. Nun aber ſind alle Moslimen darin einverſtanden, daß es keinen Schöpfer außer Gott giebt “(und die Einzigkeit Gottes iſt von Ibn Roſchd357Formeln dieſer Antinomie.an einer anderen Stelle metaphyſiſch aus der Einheitlichkeit in der Welt bewieſen1)In ſeiner ſpekulativen Dogmatik, vergl. Philoſophie und Theo - logie des Averroes, überſetzt von Müller S. 45; ich citire unter dieſem Titel und der Seitenzahl die beiden in der Uebertragung vereinten Abhand - lungen: Harmonie der Religion und Philoſophie, und ſpekulative Dogmatik.. Antitheſis: „ Wenn wir aber annehmen, daß der Menſch ſeine Handlungen nicht erwirbt, ſo iſt nothwendig, daß er zu ihnen gezwungen iſt: denn es giebt kein Mittleres zwiſchen Zwang und Erwerb; und wenn der Menſch zu ſeinen Handlungen gezwungen iſt, ſo gehört die Verantwortlichkeit in die Kategorie des unmöglich zu Leiſtenden2)Philoſophie und Theologie des Averroes, überſ. v. Müller S. 98 ff.. “ Unter den chriſt - lichen Theologen des erſten Zeitraumes mittelalterlichen Denkens hat Anſelm unſere Antinomie in den folgenden zwei Widerſprüchen dargeſtellt. Erſter Widerſpruch: „ Vorauswiſſen Gottes und freier Wille ſcheinen ſich zu widerſprechen. Denn dasjenige was Gott vorausſieht, muß nothwendig in Zukunft eintreten, was aber durch den freien Willen geſchieht, erfolgt mit keiner Nothwendig - keit. “ Zweiter Widerſpruch: „ Was Gott vorausbeſtimmt, muß in der Zukunft eintreten. Wenn ſonach Gott das Gute und Böſe was geſchieht, vorausbeſtimmt, ſo geſchieht nichts durch den freien Willen; “ſo heben ſich freier Wille und Vorausbeſtimmung gegenſeitig auf3)Anſelm de concordia, quaest. I: Anfang; II: Anfang. Opp. p. 507 A. 519 C (Migne). — Dazu Sätze und Gegenſätze in Abälard, sic et non c. 26 — 38. Opp. p. 1386 C ff. (Migne)..
Welche Diſtinktionen die theologiſche Metaphyſik auch in Morgen - und Abendland gegen dieſe Antinomie aufgeboten hat: innerhalb des Vorſtellungsſchemas und ſeiner Zerlegung und Zuſammenſetzung durch den Verſtand giebt es kein Entrinnen. Jedes freie Subjekt tritt als eine nicht bedingte Macht neben die Macht Gottes. Wann alſo der Gedanke eines allmächtigen Willens im Bewußtſein aufgeht, dann erlöſchen vor ihm, wie Sterne vor der aufgehenden Sonne, alle Einzelwillen. In jedem Augenblick und an jedem Punkte bedingt die Allmacht Gottes das Daſein und den Beſtand des einzelnen Willens, und wo ſie zurückträte, da358Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.ſänke auch der Wille ganz oder in ſeinem entſprechenden Beſtand oder Theil in ſich zuſammen. Dies tritt beſonders deutlich in der Formel der chriſtlichen Scholaſtik hervor, nach welcher die Erhaltung eine bloße Fortſetzung der Schöpfung iſt1)Die Erhaltung der Welt wird von älteren Scholaſtikern einfach zur Schöpfung gerechnet; der oben entwickelte Satz iſt bei Thomas überzeugend in der summa theol. p. I qu. 103. 104 de gubernatione rerum etc., beſonders quaest. 104 art. 1 dargelegt: conservatio rerum a Deo non est per aliquam novam actionem, sed per continuationem actionis, qua dat esse; quae quidem actio est sine motu et tempore, sicut etiam conservatio luminis in aere est per continuatum influxum a sole. . Da Gott in der Schöpfung allein Alles wirkt, ſo iſt er folgerichtig auch für den menſchlichen Willen in jedem Moment und gleichſam an jedem Punkte deſſelben die wirkende, im Erhalten hervorbringende Urſache.
Dieſe Region des in die Widerſprüche des Vorſtellens verwickelten Verſtandes, ſeiner Ausflüchte und Diſtinktionen, wird verlaſſen, wenn im Reiche der Myſtik, der Sufis, der Viktoriner und ihrer Nachfolger die gedankenklare Unter - ſcheidung der einander gegenüberſtehenden Willen Gottes und des Menſchen untergeht in dem Abgrunde der Gottheit. Aber auch die Myſtik und die ſich an ſie anſchließende pantheiſtiſche Speku - lation finden in der dunklen Tiefe eines lebendigen, den menſch - lichen Willen einſchließenden göttlichen Weltgrundes das uralte Problem ungelöſt wieder vor. Denn wenn dieſer Weltgrund in ſeiner freien quellenden Einheit den menſchlichen Willen mitum - ſchließt, dann iſt zwar die Freiheit als ein Akt in Gott gerettet, aber um ſo ſicherer fällt die Schuld des Böſen in die Gott - heit2)Daher auf dieſem Standpunkt im Widerſpruch mit dem ſittlichen Bewußtſein das Böſe als relativ, die ganze Wirklichkeit als gut betrachtet werden muß. Worte dürfen hier nicht täuſchen. So lehren Scotus Eri - gena (Abweichendes iſt ſicher Akkommodation), die bedeutendſten der Sufis ſowie der Myſtiker des chriſtlichen Mittelalters und ſehr ſchön Jakob Böhme: „ In ſolcher hohen Betrachtung findet man, daß dieſes Alles von und aus Gott ſelber herkomme, und daß es ſeines eigenen Weſens ſei, das er ſelber iſt, und er ſelber aus ſich alſo geſchaffen habe; und gehöret, um ſo unbegreiflicher wird das Gefühl der Selbſtändigkeit des Individuums.
359Erſte Ausrede des theologiſchen Verſtandes.Daher denn ſchließlich nur eine Auflöſung von erkenntniß - theoretiſchem Standpunkt aus möglich bleibt. Was nicht in einen objektiven Zuſammenhang hineingedacht werden kann, das kann vielleicht, als von verſchiedener pſychiſcher Provenienz, in ſeiner unaufhebbaren Verſchiedenheit anerkannt und in eine zwar äußerliche, aber geſetzmäßige Beziehung zu einander gebracht werden. So iſt die Antinomie der antiken Metaphyſik des Kosmos zwiſchen dem Stätigen der Anſchauung und dem Diskreten der Ver - ſtandeserkenntniß, der Veränderung am Wirklichen und der Zu - ſammenſetzung von unveränderlichen Theilinhalten im Verſtande, innerhalb dieſes natürlichen metaphyſiſchen Syſtems unüberwind - lich geweſen; aber die erkenntnißtheoretiſche Einſicht und die zwar äußerliche, doch geſetzmäßige Beziehung dieſer pſychiſchen Elemente, die von verſchiedener Provenienz ſind und daher nicht auf einander zurückgeführt werden können, müſſen uns genügen.
Was für Schutt und Trümmer wären nun zu durchwandern, wollte ich die einzelnen Ausreden des theologiſchen Verſtandes gegenüber dieſer Antinomie darlegen. Die Methode iſt überall dieſelbe. Das Wirken Gottes wird ſo nahe und ſo vielſeitig als möglich an die Punkte der Welt gleichſam räumlich herangebracht, an welchen der freie Wille auftritt: es umſpinnt und umgiebt ſie ganz. Ferner werden an dieſen Punkten durch Begriffsbeſtimmungen das urſächliche Wirken Gottes in den Handlungen der Menſchen und die freie Wahl einander inhaltlich ſo ſehr als es irgend geſchehen kann angenähert. Aber wie eng im Weltzuſammenhang das Wirken Gottes die Freiheit umwindet: an jedem Punkte, an dem ſie zu - ſammenwirkend gedacht werden, verbleibt ein Widerſpruch. Und wie ſehr dieſe alchemiſtiſche Kunſt beſtrebt iſt, die Eigenſchaften der Freiheit denen der Nothwendigkeit anzunähern und dieſe ſchließ - lich in jene zu wandeln: ſie bleiben ſpröde außer einander.
Die erſte dieſer beiden Methoden, die Härte des Widerſpruchs wenigſtens herabzumindern, iſt im engen Anſchluß an ſeine ara -2)das Böſe zur Bildung und Beweglichkeit und das Gute zur Liebe etc. “ Beſchreibung der drei Prinzipien Vorr. § 14. 360Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.biſchen Vorgänger von Ibn Roſchd ſo zuſammengefaßt worden. Gott hat die Willenskraft geſchaffen, welche entgegengeſetzte Dinge zu erwerben vermögend iſt, aber auch einen Zuſammenhang von Urſachen, durch deren Vermittlung allein der Wille an die äußeren Dinge herandringen kann, welche er erreichen will, und zugleich iſt dieſer Wille auch innerlich an den Kauſalzuſammenhang ge - bunden, weil das Setzen des Ziels durch das objektive Verhältniß der Auffaſſung zu den Gegenſtänden bedingt iſt1)Averroes a. a. O. S. 99.. Derſelben Me - thode bedienen ſich neben den arabiſchen die jüdiſchen Philoſophen; ſie theilen den formalen Scharfſinn und die ſinnliche Flachheit dieſer Darlegung, werden aber durchgreifender als die Denker des Islam von dem Freiheitsbewußtſein geleitet2)So im Kuſari S. 414 (überſ. von Caſſel): „ Die Natur des Mög - lichen wird nur von dem hartnäckigen Heuchler geleugnet, der ſpricht, woran er nicht glaubt. Aus ſeiner Vorbereitung auf das, was er hofft oder fürchtet, kannſt du erſehen, daß (er glaubt daß) die Sache möglich, alſo die Vorbereitung von Nutzen iſt. “ Maimonides, More Nebochim Th. III, 102 (überſ. von Scheyer): „ Es iſt ein Grundſatz der Geſetze unſeres Lehrers Moſes und aller, die ihm anhängen, daß der Menſch vollkommene Freiheit habe d. h. daß er vermöge ſeiner Natur mit freier Wahl und Selbſtbe - ſtimmung Alles thue, was er zu thun vermag, ohne daß hierzu etwas Neues in ihm hervorgebracht wird. Auf gleiche Weiſe bewegen ſich alle Gattungen der unvernünftigen Thiere nach ihrer Willkür. So wollte es die Gottheit … Daß dieſem Grundſatz von Männern unſerer Nation und unſres Glaubens je widerſprochen wurde, iſt nie gehört worden. “. So geht der Kuſari des berühmten jüdiſchen Dichters Jehuda Halevi von dem in Gott gegründeten Syſtem der Urſachen aus; Veränderungen werden in dieſem Syſtem entweder direkt oder durch Mittelurſachen von Gott aus bewirkt, in dieſer Verkettung treten die Wahlhandlungen des Menſchen auf, und wo ſie erſcheinen, iſt der Uebergang aus dieſer nothwendigen Verkettung zur Freiheit. „ Die Wahl hat Gründe, die in einer Verkettung bis zur erſten Urſache zurück - führen, aber dieſe Verkettung iſt ohne Zwang, weil die Seele ſich zwiſchen einem Entſchluß und deſſen Gegentheil befindet und thun kann, was ſie will3)Kuſari S. 416.. “ Und die chriſtlichen Theologen des361Zweite Ausrede des theologiſchen Verſtandes.Mittelalters haben das Verdienſt, in der Kooperation des Wirkens Gottes mit der menſchlichen Freiheit bei jedem Willensakte einen Mechanismus hergeſtellt zu haben, in welchem ein a und ein non a freundnachbarlich nebeneinander als Springfedern wirken.
Die andere Methode, die Schärfe der Antinomie zu mildern, beſteht darin, durch Begriffsbeſtimmungen die Vorſtellung von der Abhängigkeit innerhalb des in Gott gegründeten urſächlichen Syſtems der von der Freiheit anzunähern. Bald wird verſucht die Kau - ſalität Gottes in Bezug auf die Handlungen der Menſchen abzu - ſchwächen, bald die Freiheit des Menſchen zu verdünnen und zu verflüchtigen; ſolche Begriffsbeſtimmungen gehen von der Lehre der Aſcharija bis zu den proteſtantiſchen Dogmatikern. So ſieht man Anſelm den menſchlichen Willen verflüchtigen bis auf den arm - ſeligen Reſt einer Fähigkeit, die ihm von Gott gegebene Richtung feſtzuhalten1)Anſelm dialog. de casu diaboli c. 4 Opp. t. I p. 332 B f.; de con - cordia etc. quaest. III c. 2 ff. Opp. t. I p. 522 ff., und in dieſem Reſt iſt doch eine Grenze des gött - lichen Willens und die abſolute Macht eines Geſchöpfes enthalten. So führt Thomas die Realität in der menſchlichen Handlung auf Gott als Urſache zurück, wogegen er den Defekt in ihr, auf Grund deſſen ſie böſe iſt, dem Geſchöpf zuſchreibt2)Thomas summa theol. p. I quaest. 49 art. 2: effectus causae secundae deficientis reducitur in causam primam non deficientem, quan - tum ad id, quod habet entitatis et perfectionis, non autem quantum ad id, quod habet de defectu … quicquid est entitatis et actionis in actione mala, reducitur in Deum sicut in causam; sed quod est ibi defectus, non causatur a Deo, sed ex causa secunda deficiente; womit altpro - teſtantiſche Dogmatiker übereinſtimmen.; als ob der Impuls zum Böſen nicht etwas Poſitives wäre! Und da die Dinge mit Gott gemäß ihrer Natur zuſammenwirken, die Natur des menſchlichen Willens aber Freiheit ſei, findet er Gottes Willen mit der Freiheit des Menſchen in Einklang3)Thomas summa theol. p. II, 1 quaest. 10 art. 4. . Anderer Schutt der Arbeit an dieſen Widerſprüchen wird ſichtbar, wenn Gottes Vorausſicht von Anſelm als ein ewiges und unwandelbares Wiſſen auch des Wandelbaren beſtimmt wird, und ſo der Verſtand die362Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Form ſeines eigenen Vorſtellens in der Zeit zu durchbrechen ſtrebt1)Anſelm de concordia etc., quaest. I. ; oder wenn Andere Gottes Vorſehung nur auf das All - gemeine bezogen denken wollen und der Verſtand ſo den Glaubens - inhalt vernichtet, indem er ihn zu retten bemüht iſt.
Der Ausgang des Ringens mit dieſer Klaſſe von Antinomien im Mittelalter war verſchieden bei den Theologen des Islam und denen des Chriſtenthums. Während ſich der Islam dem Unter - gang aller individuellen Freiheit in der göttlichen Macht zuneigt, dem Gott des Despotismus und der flachen Wüſte, erhebt ſich in der Chriſtenheit immer mächtiger das Bewußtſein der perſön - lichen Freiheit des Individuums. Es hat ſeinen Sitz in der Franciscanerſchule, Duns Scotus hat die erſte gründliche Theorie des Willens in ſeinem Verhältniß zum Verſtande geſchaffen2)Beſonders in der Darlegung des Duns Scotus in sent. II dist. 42, 1 ff., und in Occam tritt der erkenntnißtheoretiſche Gegenſatz zwiſchen unmittelbarem Wiſſen und dem an der Hand des Satzes vom Grunde fortſchreitenden Erkennen auf, die Bedingung für das Verſtändniß der Freiheit. Non potest probari (libertas volun - tatis) per aliquam rationem. Potest tamen evidenter cog - nosci per experientiam, per hoc, quod homo experitur, quod, quantumcunque ratio dictet aliquid, potest tamen voluntas hoc velle vel nolle3)Occam quodlibeta septem, I qu. 16. .
Eine zweite Klaſſe von Antinomien entſpringt, indem die re - ligiöſen Erfahrungen, wie ſie der Gottesidee zu Grunde liegen, in Einem Vorſtellungszuſammenhang ausgedrückt werden. Die Idee Gottes muß in die Ordnung der Vorſtellungen eintreten, in welcher auch unſer Selbſt und die Welt ihren Platz haben, und doch kann den Anforderungen, welche an dieſe Idee das religiöſe363Zweite Antinomie zwiſchen der religiöſen Erfahrung und dem Vorſtellen.Leben ſtellt, kein Syſtem im Vorſtellen entworfener Formeln ent - ſprechen. Zwiſchen der Idee Gottes, wie ſie in der religiöſen Erfahrung gegeben iſt, und den Bedingungen des Vor - ſtellens beſteht eine innere Heterogeneität, und dieſe bringt die Antinomie in der Vorſtellung des höchſten Weſens hervor. Der Nachweis dieſes Thatbeſtandes liegt zunächſt in der Dar - legung der fruchtloſen Verſtandesarbeit, welche ſeit dem Mittelalter vollbracht worden iſt, und wird ſpäter durch pſychologiſche Be - trachtung ergänzt werden können.
Das geſammte Mittelalter ringt auch mit dieſer zweiten Klaſſe von Antinomien, und eine vergleichende Betrachtung kann dieſelben durch die theologiſche Metaphyſik des Judenthums, des Chriſten - thums und des Islam hindurch verfolgen. — Und zwar findet eine Antinomie ſtatt zwiſchen der Idee Gottes und ihrer Dar - ſtellung in den Formeln des Vorſtellens durch Eigen - ſchaften. Die Theſis wird durch die Ausſagen über Eigen - ſchaften Gottes gebildet, dieſe Ausſagen ſind innerhalb des Vor - ſtellens nothwendig, und werden ſie aufgehoben, ſo wird die Vorſtellung Gottes ſelber mit ihnen aufgehoben. Die Antitheſis beſteht in den Sätzen: da in Gott Subjekt und Prädikat nicht geſondert ſind, Eigenſchaften Gottes aber Prädikate deſſelben ſein würden, ſo müſſen Gott Eigenſchaften abgeſprochen werden; da Gott einfach iſt, die Verſchiedenheit der Eigenſchaften aber in ihm ein Mehrfaches ſetzen würde, ſo können auch aus dieſem Grunde von Gott Eigenſchaften nicht ausgeſagt werden; und da Gott Vollkommenheit iſt, jede Eigenſchaft aber ein Begrenztes ausdrücken würde, ſo ergiebt ſich noch einmal die Unangemeſſen - heit der Annahme von Eigenſchaften Gottes1)Die Theſis wird ſo oft ausgeſprochen, daß Belege überflüſſig ſind, die Antitheſis ging beſonders aus der neuplatoniſchen Schule vermittelſt des Areopagiten Dionyſius auf Scotus Erigena und andere ältere mittelalter - liche Schriftſteller über, vgl. Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. p. 463 B c. 73 ff. p. 518 A. Abälard theolog. christ. lib. III p. 1241 B ff. Anſelm Monolog. c. 17 p. 166 A. — Die Antinomie wird aus dem älteren Material ſehr klar formulirt von Thomas, summa theol. p. I quaest. 13 art. 12. . — Eine Reihe364Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.anderer Antinomien entſteht durch die Beziehungen, welche inhaltlich zwiſchen den einzelnen Beſtandtheilen der Vor - ſtellung Gottes auftreten. Unſer Vorſtellen Gottes in ſeiner Be - ziehung zur Welt und uns ſelber iſt an die Bedingungen räum - licher und zeitlicher Beziehungen gebunden, unter welchen die Welt und wir ſelber ſtehen, aber die Idee Gottes ſchließt räumliche und zeitliche Beſtimmungen aus. Unſer religiöſes Leben beſitzt Gott als einen Willen, wir können jedoch einen Willen nur als Perſon und dieſe nur als von anderen Perſonen eingeſchränkt vorſtellen. Endlich iſt die unbedingte Kauſalität Gottes d. h. ſeine Allmacht, welche auch die Urſache der Uebel in der Welt iſt, mit dem ſittlichen Ideal in ihm d. h. ſeiner Güte in Widerſpruch, und ſo entſpringt das unauflösbare Problem der Theodicee1)Vgl. neben den nachfolgenden Stellen Abälard sic et non c. 31 — 38 p. 1389 c ff..
Auch dieſe ganze Klaſſe von Antinomien iſt, wie die früher behandelten, mit dem religiöſen Vorſtellen zugleich gegeben und wird ſchon bei der Arbeit, es in Formeln auszudrücken, em - pfunden ſowie aufzulöſen verſucht. Auguſtinus hat mit der ihm eigenen Energie des Ausdruckes dies Antinomiſche der Gottes - vorſtellung ausgeſprochen: „ groß ohne quantitative Beſtimmung, allgegenwärtig ohne einen Ort einzunehmen, Kauſalität der Ver - änderungen ohne Veränderung in ſich etc.2)Auguſtinus de trinitate V c. 1: ut sic intelligamus Deum, si possu - mus, quantum possumus, sine qualitate bonum, sine quantitate magnum, sine indigentia creatorem, sine situ praesidentem, sine habitu omnia continentem, sine loco ubique totum, sine tempore sempiternum, sine ulla sui mutatione mutabilia facientem …. “ Das Bewußtſein dieſer Widerſprüche tritt im Islam bei den Mutaziliten in großer Klarheit auf und hat ſie zur Leugnung der Eigenſchaften Gottes geführt3)Schahraſtani I, 13: „ die Mutazila übertreiben aber bei der Behaup - tung der Einheit ſo viel, daß ſie durch die Beſtreitung der Eigenſchaften zur gänzlichen Leermachung gelangen. “. Ja von einem Mitglied dieſer Schule, welches freilich in der Aufhebung von Eigenſchaften in Gott weiter ging als die anderen, wurde Gott das Wiſſen abgeſprochen; denn entweder365Die Theol. d. Judenth., Chriſtenth. u. Islam ringen vergebens mit ihr.hätte daſſelbe Gott zum Gegenſtande, wodurch dann in Gott eine Trennung von Wiſſendem und Gewußtem, ſonach die Aufhebung ſeiner vollen vom Islam ſo ſtreng gefaßten Einheit geſetzt würde, oder es hätte einen Gegenſtand außer ihm, und dann wäre Gott in Rückſicht dieſer ſeiner Eigenſchaft von der Exiſtenz dieſes Gegen - ſtandes außer ihm bedingt1)So berichtet mit lebhaftem Ausdruck der Mißbilligung Schahraſtani I, 69 f.. Dann ſtellten die Mutaziliten die Oertlichkeit Gottes, wie ſie dem Vorſtellen unvermeidlich iſt, ja überhaupt die dem Vorſtellen anhaftenden ſinnlichen Züge in Frage2)Vgl. die Auseinanderſetzung des Ibn Roſchd mit den Mutazila hierüber in der „ Abhandlung über die Gegend “in ſeiner ſpekulativen Dog - matik, Philoſophie und Theologie S. 62 ff. und Schahraſtani I 43.. Und die arabiſchen Philoſophen ſchloſſen: jede Vor - ſtellung vollzieht ſich in der Unterſcheidung eines Subjektes, das erkannt werden ſoll, von Prädikaten, durch welche erkannt werden ſoll; aber ein Unterſchied eines Trägers von Eigenſchaften und dieſer Eigenſchaften ſelber, einer Subſtanz und der Attribute, wie er damit eintreten würde, hebt die Einfachheit Gottes auf3)Averroes’ Philoſophie und Theologie S. 53 f. Die entſprechende Darlegung Maimunis bei Kaufmann, Geſchichte der Attributenlehre S. 431 ff., nach dieſer kann nur Gottes Exiſtenz erkannt werden, aber nicht ſeine Eſſenz, da ſich der Begriff jedes Gegenſtandes aus Gattung und artbilden - dem Unterſchied zuſammenſetzt, dieſe aber für Gott nicht exiſtiren; ebenſo ſind Accidenzen von Gott ausgeſchloſſen., ſo - nach iſt das Weſen Gottes unerkennbar. Mit den Sekten des Islam finden wir dann die chriſtlichen Theologen des frühen Mittelalters auch in Bezug auf dieſe Antinomie in einer merk - würdigen Uebereinſtimmung. Scotus Erigena und Abälard zeigen die Unmöglichkeit jeder angemeſſenen Ausſage über Gott; da eine ſolche aus Begriffen beſtehen würde, dieſe aber nur zur Bezeich - nung der relativen und endlichen Dinge gefunden ſind; da ſie unter Kategorien ſtehen würde, aber ſelbſt die Kategorie der Sub - ſtanz Accidenzen von ſich ausſchließt, alſo Gott begrenzt; da ſie aus Begriffen zuſammenſetzen würde, Gott aber einfach iſt; da ſie366Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.endlich im Zeitwort eine Bewegung einſchließen würde, Gott aber jenſeit des Gegenſatzes von Bewegung und Ruhe iſt1)Vgl. S. 363 Anm. 1..
Mit dieſer Kritik der Eigenſchaften Gottes verband ſich früh Nachdenken über den Urſprung unſerer Begriffe von ihnen, und dieſes führte ebenfalls zu negativen Ergebniſſen. Einſicht in den Ur - ſprung der Beſtimmungen über Gott mußte eine Entſcheidung letzter Inſtanz darüber gewähren, welcher Erkenntnißwerth dieſen Be - ſtimmungen zukomme. Die Theologie der Araber unterſchied relative und negative Attribute Gottes, die jüdiſche ſonderte mit einer nicht erheblichen Abweichung zuweilen auch ſolche der Thätigkeit2)Die Zweitheilung bei Maimuni I c. 58 (Munk le guide des égarés I, 245); wogegen Jehuda Halevi eine Dreitheilung anwendet, die freilich ſehr unvollkommen iſt, vgl. Kaufmann Attributenlehre S. 141 ff., ebenſo Kuſari (überſ. von Caſſel) S. 80 ff. ; der arab. ähnlich die Zweitheilung in Emunah Ramah von Abraham ben David (überſ. von Weil) S. 65 ff., und die chriſtliche Theologie ſtellte, einer ſchon im zweiten Jahrhundert und von da an oft bei den Neuplatonikern auftretenden Unter - ſcheidung folgend3)Freudenthal, helleniſtiſche Studien III, 285 f., die „ drei Wege “neben einander, auf welchen man zu den Eigenſchaften Gottes gelangt: viam eminentiae, causalitatis und remotionis oder, wie dieſer dann häufiger ge - nannt wurde, negationis4)Durandus in Lombardi I dist. 3 p. 1 qu. 1: triplex est via investi - gandi Deum ex creaturis: scilicet via eminentiae, quantum ad primum; via causalitatis, quantum ad secundum; via remotionis, quantum ad tertium.. Die letztere Unterſcheidung kann ſich gegenüber der Zweitheilung der Methoden, zu der Idee Gottes auf - zuſteigen, nicht behaupten; hat doch die Entſchränkung nur ihre andere Seite an der Verneinung, ſonach kann die via eminen - tiae von der via negationis nicht getrennt werden. Führt man, ſie berichtigend, die Eigenſchaften Gottes auf ſolche zurück, in welchen die Verneinung das Endliche an dem religiöſen Ideal aufhebt, und ſolche, in denen Gott durch ſein ſchaffendes Welt - wirken vorſtellig gemacht wird: alsdann leitet auch dieſe Unter - ſuchung des Urſprungs der Vorſtellungen von Eigenſchaften Gottes367Die Theol. d. Judenth., Chriſtenth. u. Islam ringen vergebens mit ihr.auf die Erkenntniß ihrer Unangemeſſenheit. Denn wo iſt dann die Grenze im Vorgang der Aufhebung? und wo iſt dann das Recht, von dem, was wir an der Welt gewahren, auf die Be - ſchaffenheit ihrer Urſache zu ſchließen, da dieſe Urſache der Welt ganz heterogen ſein kann?
So endigt die Arbeit des Mittelalters, das Weſen Gottes durch ſeine Eigenſchaften beſtimmen zu wollen, mit der gründlichen Einſicht in die Unangemeſſenheit dieſer Vorſtellung über Gott an das reli - giöſe Ideal. Jede Ausflucht iſt auch hier vergeblich. Die Aufgabe iſt unlösbar, den Gehalt des Ideals in uns feſtzuhalten und doch menſchliche, endliche Form und Mannigfaltigkeit aufzu - heben. Spinozas hartes Wort in Bezug auf jeden ſolchen Verſuch, Intellekt und Wille Gottes ſeien dem unſrigen nicht ähnlicher, als das Geſtirn des Hundes dem bellenden Thiere, entwickelt nur Sätze der Theologie des Judenthums. So erklärt Abraham ben David: „ Der Wille Gottes iſt von dem unſrigen ſpezifiſch ver - ſchieden; denn unſer Wille gründet ſich auf ein Begehren, und dieſes beſteht in dem Wunſche, etwas zu beſitzen was man nicht hat. Gott aber bedarf nichts, ſondern alle Dinge bedürfen ſeiner, und ſein Wille iſt dem Zwecke nach gerade das Entgegengeſetzte von dem, was wir uns unter unſerem Willen vorſtellen1)Emunah Ramah übſ. von Weil S. 70.. “ Und Maimuni geht bis zu der Frage: „ Findet denn zwiſchen unſerem und Gottes Wiſſen eine andere Gleichheit als die des Namens ſtatt2)Maimuni, More Nebochim übſ. von Scheyer Bd. III, 130.? “ Wenn in Bezug auf eine weitere Schwierig - keit Kirchenväter und Scholaſtiker erklären, die Eigenſchaften in Gott ſeien untereinander identiſch3)So ſchon bei Auguſtinus de trinitate VI c. 7: Deus multipliciter quidem dicitur magnus, bonus, sapiens, beatus, verus: sed eadem magni - tudo ejus est, quae sapientia etc. , ſo iſt dieſe Identität des Unterſchiedenen ein hölzernes Eiſen. Wenn Thomas ſagt, daß das Mehrfache der Eigenſchaften, durch welche wir Gott erkennen, in der Abſpiegelung Gottes in der Welt ſowie in der Auf - faſſung vermittelſt unſeres Intellektes gegründet ſei, und nun368Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.im Zuſammenhang ſeiner theologiſchen Metaphyſik die mannig - faltige Vollkommenheit der Kreaturen in dem einfachen Weſen Gottes enthalten gedacht werden ſoll: dann wird anerkannt, daß jeder Ausdruck nur inadäquat ſei, ja der Ergänzung durch die anderen bedürfe, und doch wird nicht auf Erkenntniß Gottes verzichtet1)Die widerſpruchsvolle Stellung des Thomas in dieſer Frage tritt am deutlichſten hervor in der summa theol. p. I quaest. 3 und quaest. 13, ſowie in der Schrift contra gentiles I c. 31 — 36; vgl. beſonders in der erſteren Schrift quaest. 13 art. 12.. Hebt Thomas tiefblickend hervor, daß der Inhalt der Ausſage nicht abhängig von der Art ſei, wie wir ausſagen, ſonach durch die Unterſcheidung im Satze kein Unterſchied in Gott geſetzt werde2)Contra gentil. I c. 36. Summa theol. p. I quaest. 13 art. 12. : ſo ergiebt ſich hieraus um ſo klarer die Un - möglichkeit, den durch Unterſcheidung aufgefaßten Inhalt einfach vorzuſtellen. So führt keine Diſtinktion der mittelalterlichen theo - logiſchen Metaphyſik über die nur ſymboliſche Bedeutung der Gottesvorſtellung hinaus: damit iſt aber eine dem Gegenſtande entſprechende Erkenntniß der Eigenſchaften Gottes aufgegeben, und alle endlichen relativen Beſtimmungen behalten nur den Sinn einer Bilderſchrift für das Ueber-Endliche und über alle Re - lationen Hinausreichende3)Occam quodlibeta septem III quaest. 2: attributa (divina) non sunt nisi quaedam praedicabilia mentalia, vocalia vel scripta, nata sig - nificare et supponere pro Deo, quae possunt naturali ratione investigari et concludi de Deo..
Die Theologie war von ihrem Urſprung ab mit Be - ſtandtheilen der antiken Wiſſenſchaft vom Kosmos verwoben. Sie benutzte dieſe Beſtandtheile für die Auflöſung ihrer Probleme, gleichviel ob ſie aus der platoniſchen, ariſtoteliſchen oder ſtoiſchen Philoſophie ſtammten, wie man in die Kirchen jener Tage Mar - mortrümmer fügte, wo man ſie fand. Formel, Vertheidigung, Verſuch des Beweiſes und der dialektiſchen Behandlung lagen innerhalb ihres Umkreiſes. Sie hatte ihre Aufklärer, ihre Frei - denker im Morgen - wie im Abendlande1)Ueber das zerſetzende Treiben ſkeptiſcher Sekten des Islam Renan Averroè 3 S. 103 f..
Aber in der Kontinuität der Wiſſenſchaft erhielt und ent - wickelte ſich die von den Griechen geſchaffene Erkenntniß des Kosmos als die andere von jener Theologie ganz unter - ſchiedene Hälfte des intellektuellen Lebens. Dieſe Wiſſenſchaft vom Kosmos, die Schöpfung der Griechen, traf mit der Theologie ſtreitend, ergänzend zuſammen: ſo entſtand erſt die metaphyſiſche Weltanſicht des Mittelalters. Und zwar hob bei den Arabern die Veränderung an, in welcher das Naturwiſſen ſich langſam durchkämpfte und die in der intellektuellen Entwicklung des Abend - landes im Mittelalter am meiſten durchgreifend geweſen iſt. Wir gehen ſonach von den Arabern aus.
Der Gegenſatz des metaphyſiſchen Denkens der Araber wie der Juden zu dem der klaſſiſchen Völker iſt ihnen ſelber zum Be - wußtſein gekommen. Die Ueberſicht der metaphyſiſchen und theo - logiſchen Anſichten des Menſchengeſchlechtes, wie ſie Schahraſtani verſucht, erwähnt an ihrem Beginn eine unter den Arabern ange - wandte Unterſcheidung, nach welcher die Griechen (nebſt den Per - ſern) vornehmlich der Beſtimmung der äußeren Natur der DingeDilthey, Einleitung. 24370Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.und der Beſchäftigung mit den körperlichen Objekten ſich widmeten, wogegen die Araber und Juden ſich den geiſtigen Dingen und der inneren Eigenthümlichkeit der Objekte zuwenden1)Schahraſtani I S. 3.. Und der Kuſari bemerkt dem entſprechend, daß die Griechen das, was nicht von der ſichtbaren Welt aus gefunden werden kann, ver - werfen, wogegen die Propheten in dem, „ was ſie mit dem gei - ſtigen Auge geſehen haben “, den Ausgangspunkt eines ſicheren Wiſſens beſaßen und nichtgriechiſche Philoſophen dieſe inneren Anſchauungen in den Kreis der Spekulation aufgenommen haben2)Jehuda Halevi, Kuſari S. 323 f.. Gleichviel wie es ſich mit der urſprünglichen oder der ſtätigen Richtung dieſer verſchiedenen Völker verhalte, ſolche Stellen be - zeichnen richtig den Gegenſatz zwiſchen der griechiſchen Wiſſenſchaft vom Kosmos und der herrſchenden Richtung einer theologiſchen Metaphyſik bei den Arabern und Juden, wie ſie bis zum Auf - treten der naturwiſſenſchaftlichen Forſchung und dann der ariſtote - liſchen Metaphyſik bei den Arabern dauerte, bei den Juden aber das ganze Mittelalter hindurch nicht unterbrochen wurde. Noch klarer iſt die Einſeitigkeit der kosmiſchen Wiſſenſchaft der Griechen im chriſtlichen Abendlande allmälig erkannt worden.
So hatte zunächſt innerhalb des eben durchlaufenen Zeitraums die Theologie (gewiſſermaßen eine Metaphyſik der religiöſen Er - fahrung) das vorherrſchende Intereſſe der Araber, Juden und abendländiſchen Völker in Anſpruch genommen. Wol war ſie vielfach auf die von den Griechen ausgebildeten Begriffe angewieſen, und die Mutazila ſo gut als Auguſtinus oder Scotus Erigena bedienten ſich dieſer in einem weiten Umfang; auch wurde dieſe theologiſche Vorſtellungswelt disciplinirt durch die antike Logik und Kategorienlehre. Jedoch geſtaltete ſich der ganze Gedankenkreis während dieſes Zeitraums um den Mittelpunkt der religiöſen Erfahrungen und Vorſtellungen; dieſes centrale Intereſſe zog die Bruchſtücke griechiſchen Wiſſens an ſich und ordnete dieſelben ſich unter. Eine Aenderung in dem intellektuellen Leben des Mittel -371Die Erneuerung der Naturwiſſenſchaften geht von den Arabern aus.alters trat erſt ein, als zunächſt die Araber in dem Natur - wiſſen der Griechen und in ihrer kosmiſchen Speku - lation ein zweites Centrum intellektueller Arbeit entdeckten und um dieſes ſich ein Kreis von Naturerkenntniß zu bilden begann.
Im Orient waren Ariſtoteles und einige wichtige mathe - matiſche, aſtronomiſche und mediciniſche Schriften der Griechen niemals verloren gegangen. Nach dem Untergange der griechiſchen Philoſophie waren die Schulen der chriſtlichen Syrer Hauptſitze der Kenntniß von griechiſcher Sprache, Metaphyſik und Natur - erkenntniß geworden; ſyriſche Uebertragungen griechiſcher Schriften vermittelten die Kenntniß derſelben und wurden vielfach Ueberſetzungen in das Arabiſche zu Grunde gelegt1)Munk Mélanges de philosophie juive et arabe p. 313 ff.. Und zwar war der ſyriſche Ariſtoteles, wie er zu den Arabern kam, ſchon von dem urſprüng - lichen gar ſehr verſchieden; freilich kann das nähere Verhältniß zwiſchen dem ſyriſchen Ariſtoteles und den Theorien der arabiſchen Philoſophen, wie ſie zuerſt bei al Kindi und al Farabi auf - traten, nach dem gegenwärtigen Stand unſerer Kenntniß noch nicht zureichend feſtgeſtellt werden2)Nur unbeſtimmte Vermuthungen bei Renan Averroès 3 p. 92 ff.. Mit der Verlegung der Reſidenz der Kalifen nach Bagdad, welches in der Mitte zwiſchen den beiden Sitzen des Naturwiſſens, Indien und den Schulen griechiſcher Wiſſenſchaft, lag, wurden die Araber Träger dieſer Tradition und ihrer Fortbildung. Nicht viel über hundert Jahre waren damals vergangen, ſeitdem dieſe arabiſchen Beduinen die Grenzen ihres Landes überſchritten und Paläſtinas und Syriens ſich bemächtigt hatten, und die Geſchichte hat kein zweites Beiſpiel eines ſo wunderbar raſchen Uebergangs aus einem verhältnißmäßig niedrigen geiſtigen Zuſtande in den einer raffinirten Civiliſation. Die Kunſt ſyriſcher Aerzte, welcher dieſe zur Herrſchaft über Aſien aufſteigenden Beduinen bedurften führte Hippocrates und Galen ein, und Naturwiſſen wie Theologie wieſen auf Ariſtoteles; Kultus und Verwaltung machten mathematiſche und aſtronomiſche Kenntniß nothwendig: eine edle wiſſenſchaftliche Neubegier bemäch -372Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.tigte ſich der Nation. Aus Konſtantinopel kam unter al Mamun (813 — 833) eine große Anzahl von griechiſchen Manuſkripten als Geſchenk des Kaiſers; eine von den Kalifen angeordnete geregelte Thätigkeit der Uebertragung erfüllte das neunte Jahrhundert und reichte in das zehnte hinein; Ueberſetzungen von Schriften des Ariſtoteles, Hippocrates, Galen, Dioscorides, Euklid, Apollonius Pergäus, Archimedes, Ptolemäus ſetzten die Araber in die Lage, die naturwiſſenſchaftliche Arbeit da wieder aufzunehmen, wo die Griechen ſie hatten fallen laſſen.
Die ſo entſtandene naturwiſſenſchaftliche Bewegung innerhalb des Islam hat die poſitiven Wiſſenſchaften fortgebildet, welche in Alexandrien beſtanden hatten, und die Differenzirung der Wiſſen - ſchaft aufrecht erhalten, wie ſie damals vollzogen war. Die Be - deutung der Araber für die Entwicklung dieſes poſitiven Natur - wiſſens kann zwar noch nicht mit zureichender Sicherheit feſt - geſtellt werden1)Sédillot Matériaux p. s. à l’histoire comparée des sciences mathématiques I, 236., doch iſt die Wichtigkeit der Vermittlung keinem Zweifel unterworfen, die ihnen nach ihrer geographiſchen Lage und ihrer Verbreitung über ein ſo weites Reich zufiel. So verdankt das Abendland ihrer Vermittlerrolle das indiſche Poſitionsſyſtem der Ziffern und die Erweiterung der griechiſchen Algebra2)Ueber die Uebertragung des als „ indiſch “ausdrücklich bei den Arabern bezeichneten Syſtems Wöpcke Mém. sur la propagation des chiffres in - diens. Journal asiatique 1863 I, 27; über die Möglichkeiten, die Her - kunft der Algebra zu beſtimmen, Hankel, Z. Geſch. d. Mathematik S. 259 ff. Cantor, Geſch. d. Mathematik I, 620 ff..
Und in einer zwiefachen Richtung haben ſie ohne Zweifel durch ſelbſtändige Fortſchritte die Entſtehung der modernen Na - turwiſſenſchaft vorbereitet.
Die Araber haben die alchemiſtiſche Kunſt mit anderer Wiſſenſchaft aus Alexandrien empfangen. Wir kennen leider den Zu - ſtand nicht ausreichend, in welchem dieſelbe auf ſie überging. Dieſe Kunſt, die auf Metallveredlung gerichtet war, verſelbſtändigte das chemiſche Experiment, welches vorher in dem Dienſte bald der Medicin bald der Technik geſtanden hatte. Sie entzündete ſo einen373Selbſtändige Fortſchritte der Araber in den Naturwiſſenſchaften.mächtigen Eifer für die reale Zerlegung der Naturobjekte, nachdem ſo lange die ideellen Zerlegungen der metaphyſiſchen Methoden die Menſchheit getäuſcht hatten. Sie nährte dieſe Leiden - ſchaft durch die geheimnißvolle auf die Theorie der Metallver - wandlung gegründete Hoffnung, das Präparat darzuſtellen, welches unedle Metalle in Silber und endlich in Gold überzuführen er - mögliche. So entwickelte ſie den Keim einer theoretiſchen Anſicht, welche nicht wie die ariſtoteliſche von den vier Elementen auf An - ſchauung und Spekulation, ſondern auf wirkliche Zerſpaltung ge - gründet war, in der Lehre von dem Mercurius und dem Sulphur. Unter dieſen Namen verſtand man nicht einfach Queckſilber und Schwefel, ſondern Subſtanzen, deren Verhalten gegenüber dem Experiment, insbeſondere der Einwirkung des Feuers, ſie der einen oder der andern dieſer beiden Klaſſen einordnete. Auf dieſem Wege entſtand erſt das wahre Problem, in den durch chemiſche Zerlegung dargeſtellten Stoffen die Komponenten der Materie zu entdecken. Und wie unvollkommen auch die Ergebniſſe dieſer erſten alchemiſtiſchen Epoche in theoretiſcher Hinſicht waren, ſo bereiteten ſie doch quantitative Unterſuchungen und eine angemeſſene Vor - ſtellung über die Konſtitution der Materie vor. Zugleich hat dieſe alchemiſtiſche Kunſt eine große Anzahl von Präparaten zuerſt hergeſtellt und auf neue chemiſche Manipulationen geführt1)Nähere Angaben über die praktiſchen Kenntniſſe der arabiſchen Chemiker bei Kopp, Geſchichte der Chemie I, 51 ff..
Die andere Richtung, in welcher die Araber durch ſelb - ſtändigen Fortſchritt die Entſtehung der modernen Naturerkennt - niß vorbereitet haben, beſtand in der Entwicklung und Be - nutzung der Mathematik als eines Werkzeugs zur Darſtellung quantitativer Beſtimmungen über die Natur. Erfinderiſcher Gebrauch meſſender Inſtrumente, unermüdliche Verbeſſerung der Hilfsmittel der griechiſchen Gradmeſſung, unterſtützt durch Er - weiterung der Kenntniß der Erde, dann das Zuſammenwirken reich ausgeſtatteter Sternwarten für die Verbeſſerung und Ver - vollſtändigung des aſtronomiſchen Materials und das Zuſammen -374Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.wirken vieler Forſcher und freigebig zugetheilter Mittel nach großem Plane haben ein Netz quantitativer Beſtimmungen auf der alexan - driniſchen Grundlage hergeſtellt, welches einer ſchöpferiſchen natur - wiſſenſchaftlichen Epoche unſchätzbare Dienſte leiſten ſollte. So iſt in die alphonſiniſchen Tafeln, welche die gemeinſame Arbeit mau - riſcher, jüdiſcher und chriſtlicher Aſtronomen im Dienſte des Königs Alphons von Kaſtilien (auch das ganz in der Art der Kalifen) hergeſtellt hat, der Ertrag der arabiſchen Aſtronomie überge - gangen, und dieſe Tafeln waren dann die Grundlage der aſtro - nomiſchen Studien1)Näheres über die Leiſtungen der Araber in der Mathematik bei Hankel, Z. Geſchichte der Mathematik S. 222 — 293; über ihre Leiſtungen in der mathemat. Geographie Reinaud Géographie d’Aboulféda, t. I intro - duction; über ihre Leiſtungen in der Aſtronomie Sédillot Matériaux p. s. à l’histoire comparée des sciences mathématiques chez les Grecs et les Orientaux, wozu in Bezug auf die von Sédillot behauptete Anti - cipation der tychoniſchen Entdeckung der Variation des Mondlaufs durch Abul Wefa die Einwendungen Biot’s zu berückſichtigen ſind..
So trat in die neue Generation von Völkern, welche unter einander in lebendigem Austauſch insbeſondere durch die Vermittelung der Juden ſtanden, Kenntniß des naturwiſſenſchaft - lichen Vermächtniſſes der Griechen und ſelbſtändige Vermehrung dieſes Erbes. Der inneren religiöſen Erfahrung und der Theologie ſtellte ſich Naturerkenntniß als ein zweiter unabhängiger Mittel - punkt intellektueller Arbeit und Befriedigung gegenüber. In dem Reiche des Islam ging dies Licht auf, verbreitete ſich über Spanien, und ſchon früh, wie die Geſtalt eines Gerbert zeigt, fielen ſeine Strahlen auch in das chriſtliche Abendland.
Doch war dieſe Naturerkenntniß der Araber ſo wenig als die der Alexandriner im Stande, den vorhandenen deſkriptiven und teleologiſchen Zuſammenhang des Wiſſens vom Kosmos durch einen, wenn auch noch ſo un - vollkommenen Verſuch der Kauſalerklärung zu erſetzen. — Der vorherrſchende Betrieb der formalen und der deſkriptiven Wiſſenſchaften und die Macht einer Metaphyſik der pſychiſchen375Auch ſie gelangen noch nicht zu Kauſalerklärung der Natur.Kräfte und ſubſtantialen Formen ſind von uns als korrelate geſchichtliche Thatſachen erkannt worden1)S. 263.. Die formalen Wiſſen - ſchaften der Mathematik und Logik, deſkriptive Aſtronomie und die Erdkunde, welche in die Grenzen der deſkriptiven Wiſſen - ſchaft eingeſchloſſen iſt: dies waren die Erkenntniſſe, welche bei den Arabern einen hohen Grad von Ausbildung erlangten und den Mittelpunkt der höheren intellektuellen Intereſſen bildeten. Der nächſte äußere Zuſammenhang dieſer Wiſſenſchaften beſtand in dem Geſammtbilde des Kosmos, welches ſchon Eratoſthenes, Hipparch und Ptolemäus angeſtrebt hatten. Daher iſt die ency - klopädiſche Richtung der alexandriniſchen Wiſſenſchaft in dem Wiſſen des Mittelalters naturgemäß in noch höherem Grade ſichtbar. Sie zeigt ſich in der Encyklopädie der lauteren Brüder wie in den abendländiſchen Arbeiten eines Beda, Iſidor, ja eines Albertus Magnus, in Verbindung mit metaphyſiſcher und theo - logiſcher Begründung. — Dagegen waren auch in der arabiſchen Naturerkenntniß Wiſſenſchaften wie Mechanik, Optik, Akuſtik, welche einen Kreis zuſammengehöriger Theilinhalte der Naturerfahrung abgeſondert behandeln und daher eine Ableitung der zuſammen - geſetzten Gleichförmigkeiten des Naturganzen ermöglichen, noch nicht ſo weit entwickelt, um den Verſuch einer Kauſalerklärung der Naturerſcheinungen aus Naturgeſetzen zu geſtatten. Ja die Aus - ſicht auf kauſale Naturerklärung, welche die Atome Demokrit’s einſt innerhalb eines engen Umkreiſes bekannter Naturthatſachen, bei Anwendung einer willkürlichen Methode2)Vgl. den Gegenſatz der Methoden zwiſchen dieſen Aelteren und Plato S. 225 ff., darzubieten ſchienen, mußte mit der wachſenden Erkenntniß der Verwicklung des Natur - gewebes zunächſt mehr zurücktreten; wir finden daher bei den Arabern ein Extrem von atomiſtiſcher Naturanſchauung im Dienſte der orthodoxen Mutakalimun. Die Grundwiſſenſchaft jeder er - klärenden Naturerkenntniß, die Mechanik, machte bei den Arabern keine Fortſchritte. Die Ideen über die Bewegung, den Druck376Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.und die Schwere etc. waren ſo wenig als bei den Alexandrinern ausreichend, die metaphyſiſchen Fiktionen der pſychiſchen Weſen - heiten und ſubſtantialen Formen zu erſetzen. Die Fortſchritte in der Optik über Ptolemäus hinaus, wie ſie das uns erhaltene Werk des al Hazen zeigt, hatten zunächſt keine Wirkung auf das Ganze der Naturanſicht. Die Leiſtungen der Chemie geſtatteten noch nicht, die Materie in ihre wirklichen Beſtandtheile aufzulöſen und deren Verhalten feſtzuſtellen, und ſo iſt wol bei Ibn Roſchd eine Neigung bemerkbar, die ariſtoteliſche Lehre von der Materie der des Anaxagoras anzunähern, aber dieſelbe kann noch nicht durch eine auf wirkliches Naturwiſſen begründete erſetzt werden. In der arabiſch-mauriſchen Aſtronomie treten Bedenken in Bezug auf die komplicirte epicykliſche Hypotheſe des Ptolemäus hervor1)Schon Gabir ben Ablah ſtellt ſich freier zu den Hypotheſen des Ptole - mäus; der von den Lateinern als Alpetragius bezeichnete Aſtronom be - kämpft dann die Epicyklentheorie des Ptolemäus (Delambre Histoire de l’astronomie du moyen âge p. 171 ff. ), und ebenſo Ibn Roſchd., doch hat noch kein Verſuch Erfolg, ſie durch eine angemeſſenere zu erſetzen. Endlich waren die organiſchen Formen, welche im Kommen und Gehen der Individuen auf der Erde unwandelbar ſich zu erhalten ſcheinen, weder durch die Paläontologie in ihrem vorübergehenden Charakter erkannt noch einer Kauſalbetrachtung unterworfen worden, ſondern immer noch waren ſie nur durch eine teleologiſche Betrachtung dem Verſtändniß zugänglich.
So machte die Lage der Naturwiſſenſchaften in der ganzen Zeit von ihrem Auftreten bei den Arabern bis zu dem Erlöſchen der wiſſenſchaftlichen Kultur dieſes Volkes die metaphyſiſchen Vor - ſtellungen von pſychiſchen Urſachen und deren Aeußerungen in den Formen des Naturganzen noch nicht für die Erklärung der Natur entbehrlich.
Und zwar entſprach die beſondere Geſtalt, welche dieſe teleo - logiſche Metaphyſik der pſychiſchen Urſachen in dem Syſtem und der Schule des Ariſtoteles erhalten hatte, andauernd der Lage der Naturerkenntniß. — Die Araber haben bei den ſyriſchen Chriſten die peripatetiſche Schule in Blüthe vorgefunden. Es iſt nutzlos zu377Dem entſpricht die Herrſchaft der ariſtoteliſchen Metaphyſik.fragen, ob dieſer äußere Umſtand über das Studium des Ariſtoteles bei ihnen entſchied1)Ueber dieſe Frage Renan Averroès3 p. 93., in der Stufe ihres Naturwiſſens lagen die poſitiven Urſachen, welche ihnen das Syſtem des Ariſtoteles als die angemeſſenſte Form der Wiſſenſchaft vom Kosmos erſcheinen ließen. Wol war die poſitive Naturwiſſenſchaft der Alexandriner und Araber nicht überall in Uebereinſtimmung mit dem Syſtem des Ariſtoteles. Wol floß ferner bei den Arabern die Ueberlieferung der mathematiſchen Naturwiſſenſchaft keineswegs überall mit der Entwicklung ihrer peripatetiſchen Schule zuſammen; Thurot hat die Fortdauer der relativen Sonderung der poſitiven Naturwiſſenſchaft von der Metaphyſik, wie ſie das Ergebniß der Entwicklung der antiken Wiſſenſchaft geweſen iſt, an einem her - vorragenden Falle nachgewieſen; das hydroſtatiſche Theorem, welches von ſeinem Entdecker den Namen Prinzip des Archimedes führt, iſt ſowol in der weiteren griechiſchen als in der arabiſchen Geſchichte der Wiſſenſchaft den Mathematikern bekannt und bleibt in ihrer Tradition erhalten, dagegen iſt es den Metaphyſikern nicht bekannt2)Thurot in der revue archéologique n. s. XIX, 111 ff. (recherches historiques sur le principe d’Archimède). . Doch taſtete auch die poſitive Wiſſenſchaft noch nicht die Metaphyſik des Ariſtoteles in ihrem Kern an, vielmehr beſtand zwiſchen den großen Zügen des Naturwiſſens und denen der ariſtoteliſchen Metaphyſik Uebereinſtimmung. Noch hatte das Fernrohr nicht Veränderungen auf den andern Himmelskörpern gezeigt, noch beſtand kein Anfang einer allgemeinen Phyſik des Weltgebäudes, und ſo erhielt ſich die ariſtoteliſche Lehre von einer doppelten Welt: der vollkommenen und unwandelbaren Ordnung der Geſtirne und dem Wechſel des Entſtehens und Vergehens unter dem Monde. Daher wurde die Gedankenmäßigkeit des Kosmos nicht durch eine pantheiſtiſch vorgeſtellte Weltvernunft ausgedrückt, vielmehr blieb die Welt der Geſtirne der Sitz einer bewußten Intelligenz, welche von hier ausſtrahlte und in einer niederen Welt ſich kundthat. Ja die theologiſche Metaphyſik, für378Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.welche dieſer Gegenſatz im Kosmos Symbol eines in der inneren Erfahrung gegebenen Gegenſatzes war, gab dieſem Schema eine gewaltigere Macht, als es in der alten Welt beſitzen konnte. Und der Zuſammenhang, welcher von der Geſtirnwelt zu der ver - änderlichen Erde, ihrer Pflanzendecke und ihren Bewohnern reicht, nahm in ſich als ihm völlig entſprechend die deſkriptive Wiſſen - ſchaft des Kosmos auf.
So ging neben der Aneignung des Naturwiſſens der Griechen die Uebertragung des Ariſtoteles her. Dieſelbe begann unter al Mamun, und während des neunten und zehnten Jahrhunderts wurden die Ueberſetzungen des Ariſtoteles beſtändig vervollſtändigt. Auf dieſer Grundlage, in Wechſelwirkung mit dem lebendigen Naturſtudium, erhielt die arabiſche Philoſophie in Ibn Sina und Ibn Roſchd ihre vollendete Geſtalt: als eine ſelbſtändige Fortſetzung der peripatetiſchen Schule.
Während die Araber ſo vom neunten Jahrhundert ab Natur - erkenntniß wie ariſtoteliſche Wiſſenſchaft neben der Theologie pflegten, hat im chriſtlichen Abendlande, wo ſich Alles in breiteren Maſſen entwickelte, die Theologie lange beinahe aus - ſchließlich geherrſcht. Encyklopädien überlieferten todte Notizen über die Natur. Gerbert bringt im zehnten Jahrhundert aus Spanien etwas von dem Licht des arabiſchen Naturwiſſens, dann kehrt Con - ſtantinus Africanus von ſeinen Orientreiſen mit mediciniſchen Schrif - ten zurück, Adelard von Bath gewinnt ebenfalls von den Arabern naturwiſſenſchaftliche Kenntniß; aldann folgen einander dichter Uebertragungen von Ariſtoteles, ſeinen Kommentatoren und arabi - ſchen Phyſikern1)Das Nähere bei Jourdain neben den recherches in ſeiner philo - sophie de Saint Thomas I, 40 ff.. Aber nur ſpärlich lichtet ſich die Finſterniß, die über dem Naturwiſſen liegt. Das intellektuelle Leben des Abendlandes pulſirte bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts in der Theologie und der ihr verbundenen metaphyſiſchen Betrach - tung der menſchlichen Geſchichte und Geſellſchaft. Auch änderte es hieran nichts, daß man die Logik des Ariſtoteles als ein mächtiges379Uebertragung der Naturwiſſenſchaft auf das Abendland.Hilfsmittel theologiſcher Dialektik benützte und in Abälard eine kühne Subjektivität die Rechte des Verſtandes ſcharfſinniger geltend machte, als je vorher geſchehen. Wol zerſetzte das negative Treiben der theologiſchen Dialektiker jener Tage den Beſtand der überlieferten Dogmatik; wie in den entſprechenden Erſcheinungen des Islam, entwickelte ſich aus den Antinomien der religiöſen Vorſtellung unwiderſtehlich der Zweifel bis zur Verzweiflung des Verſtandes, und vergebens ſuchten Bernhard von Clairvaux und die Viktoriner in der Myſtik den Frieden des Geiſtes. Aber erſt dann hörte die theologiſche Metaphyſik auf, Mittelpunkt des ganzen europäiſchen Denkens zu ſein, als nun das Naturwiſſen und die Naturphiloſophie der Alten und der Araber über den Horizont der abendländiſchen Chriſtenheit traten und allmälig ganz ſichtbar wurden. Dies iſt die größte Veränderung, welche im Verlauf der intellektuellen Entwicklung Europas während des Mittelalters ſtatt - gefunden hat.
Dieſe Veränderung im Abendlande wurde durch die wiederholten Verbote der naturwiſſenſchaftlichen und metaphyſiſchen Schriften des Ariſtoteles nicht aufgehalten. Schon im erſten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts iſt ſo ziemlich der ganze Körper der ariſtoteliſchen Schriften übertragen. Die Syſteme des Ibn Sina und Ibn Roſchd werden bekannt und bedrohen den chriſtlichen Glauben. Die abendländiſche Metaphyſik des Mittelalters entſteht zum Schutze dieſes Glaubens aus der Verknüpfung der Theologie des Chriſtenthums und der von ihr ausgehenden metaphyſiſchen Philoſophie der Geſchichte mit dem arabiſchen Ariſtoteles und der mit ſeinem Studium verbundenen Naturerkenntniß. Die Uni - verſität Paris wird, als Sitz dieſer Metaphyſik, zum Mittel - punkt der geiſtigen Bewegung Europas. Ein Jahrhundert hin - durch von der Mitte des dreizehnten ab, während Albert der Große und ſein Schüler vom Kölner Dominikanerkloſter, Thomas von Aquino, Duns Scotus und der kühnſte, gewaltigſte der Scholaſtiker, der papſtfeindliche Wilhelm von Occam, lehren, ſind die Augen von ganz Europa auf dieſe neue Vernunftwiſſenſchaft und ihr Schickſal gerichtet. — Zugleich iſt nun das Material380Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.für eine ſelbſtändige Fortarbeit der abendländiſchen Chriſten in den Naturwiſſenſchaften gegeben. Langſam, breit und tief ent - wickelte ſich dieſe Arbeit. Die äußeren Bedingungen, unter welchen die Wiſſenſchaften in den Klöſtern und an von der Kirche geleiteten Anſtalten ſich befanden, unterſtützten die Ueber - macht des theologiſch-metaphyſiſchen Intereſſes, und die Beſchäf - tigung des Hofes Friedrich’s des Zweiten mit den[Naturwiſſen - ſchaften], wie ſie durch das Vorbild der Kalifen hervorgerufen war, fand keine Nachfolge. Die politiſche Verfaſſung Europas gab den Problemen der Geſchichte und des Staates ſowie den Schriften hierüber ein Gewicht, welches ſie in den Despotenreichen des Islam nicht beſaßen. Der Gang der öffentlichen Ange - legenheiten im Abendlande war ſchon damals von Ideen mächtig beeinflußt, und dieſe zogen das öffentliche Intereſſe beſonders auf ſich. Die ſelbſtändige, ja geniale Fortarbeit des chriſtlichen Abendlandes in dem Einzelwiſſen lag daher zunächſt während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts auf dem Gebiete der Geiſteswiſſenſchaften. So wurde die Erweiterung des Natur - wiſſens in erſter Linie benützt, eine von Metaphyſik getragene encyklopädiſche Einheit des Wiſſens herzuſtellen. Dieſer Richtung des Geiſtes entſprachen die Schrift über die Natur der Dinge des Thomas von Cantiprato, der Naturſpiegel des Vincenz von Beauvais, das Buch der Natur von Konrad von Megenberg, das Weltbild von Pierre d’Ailly, und die Geſammtthätigkeit des Albertus Magnus war von ihr beſtimmt. Es kann noch nicht genügend beurtheilt werden, was von den Einzelergebniſſen, welche uns zuerſt bei Albertus begegnen, einem ſelbſtändigen Natur - ſtudium entſprungen war; jedoch kann Förderung der beſchrei - benden Naturwiſſenſchaft in eigener Beobachtung und Unterſuchung ihm nicht abgeſprochen werden. Alsdann trat in Roger Ba - con das Bewußtſein von der Bedeutung der Mathematik als des „ Alphabets der Philoſophie “und der experimentalen Wiſſenſchaft als der „ Herrin der ſpekulativen Wiſſenſchaften “hervor. Er ahnte die Macht einer auf Erfahrung gegründeten Erkenntniß der wirken - den Urſachen im Gegenſatz zu ſyllogiſtiſcher Scheinwiſſenſchaft,381Richtung a. d. Herſtellung e. Deſkription d. Kosmos i. Abendlande.und ſeine mächtige Einbildungskraft eilte den Ergebniſſen ſeiner Arbeit voraus in ſeltſamen Anticipationen künftiger Entdeckungen. Andrerſeits traten im Abendlande allmälig die theils herüber - gebrachten theils ſelbſtändig gemachten Erfindungen auf, welche das Zeitalter der Entdeckungen vorbereiteten1)Näheres in den grundlegenden Unterſuchungen von Libri, Histoire des sciencesmathématiques t. II. .
Von der Uebertragung des arabiſchen Naturwiſſens und der ariſtoteliſchen Philoſophie hebt das neue Stadium des mittelalter - lichen Denkens an und dauert bis zum Ausgang des Mittelalters. Der frühere Zeitraum hatte eine Dialektik als Grundlage der Theo - logie geſchaffen, den von den Vätern, insbeſondere von Auguſtinus entworfenen Beweis für das Daſein einer transſcendenten Ord - nung immaterieller Weſenheiten fortgebildet und die Aufgabe, einen verſtandesmäßigen Zuſammenhang des Glaubensinhaltes zu ge - winnen, in einer Theologie gelöſt, welche jedoch das dem Denken Erfaßbare noch nicht methodiſch von dem Unerfaßlichen ſchied. Schon dieſe Aufgaben ſelber empfingen nun unter den neuen Be - dingungen eine reifere Faſſung. Die Vergleichung von Chriſten - thum, Islam und Judenthum verbreitete ihre Helle über das Ge - biet der Theologie; die Vergleichung der Vernunftwiſſenſchaft des Ariſtoteles mit der Theologie der Religionen erleuchtete die Grenzen des Beweisbaren und des religiöſen Geheimniſſes; die Verbindung des Naturwiſſens mit der Theologie erweiterte den Horizont der Vernunftwiſſenſchaft. Wie wurden nun unter den neuen Be - dingungen die Aufgaben, welche wir im vorigen Zeitraum ſon - derten, gefaßt und zu löſen verſucht?
382Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Indem jetzt mit der Theologie der monotheiſtiſchen Religionen die Wiſſenſchaft vom Kosmos verknüpft wurde, entſprangen zwar weitere unlösbare Schwierigkeiten, welche die Zerſetzung der mittel - alterlichen Metaphyſik herbeigeführt haben, jedoch ſo lange ſie ver - deckt werden konnten und das Gute des Willens mit dem Ver - nünftigen des Denkens, das Chriſtliche mit der griechiſchen Ver - nunftwiſſenſchaft in eins geſetzt wurden, ergab ſich hieraus die Geltung einer glänzenden Formel, welche die bisherige Meta - phyſik zu ſyſtematiſcher Einheit abſchloß.
Zunächſt ſubſtituirte man den analytiſchen Ergebniſſen des Plato und Ariſtoteles, welche letzte Vorausſetzungen des Kosmos enthalten, den konſtruktiven philoniſch-neuplatoniſchen Gedanken. Nach demſelben haben die Ideen in Gott ihren Ort, und von dieſer intelligiblen Welt ſtrahlen die das All durchwirkenden Kräfte aus. Dieſen Gedanken hatte Auguſtinus, wie es andere Kirchen - väter gethan, in die Philoſophie des Chriſtenthums aufgenommen1)Auguſtinus Retractat. I c. 3. Nec Plato quidem in hoc erravit, quia esse mundum intelligibilem dixit, si non vocabulum, quod ecclesiasticae consuetudini in re illa non usitatum est, sed ipsam rem velimus atten - dere. mundum quippe ille intelligibilem nuncupavit ipsam rationem sempiternam atque incommutabilem, qua fecit Deus mundum. quam qui esse negat, sequitur ut dicat, irrationabiliter Deum fecisse quod fecit, aut cum faceret, vel antequam faceret, nescisse quid faceret, si apud eum ratio faciendi non erat. si vero erat, sicut erat, ipsam videtur Plato vocasse intelligibilem mundum. Vgl. weiter die S. 331 citirte Stelle. Dazu vgl. Leibniz’ Monadologie § 43. 44: die „ ewigen Wahrheiten oder die Ideen, von denen ſie abhängen “, müſſen in einem Reellen, Exiſtiren - den ihre Grundlage haben. und mit der Schöpfungslehre in Verbindung geſetzt. Die Dinge ſind nach ihm von der Gottheit als Ausdruck der in ihr be - ſtehenden intelligiblen Welt unveränderlicher Ideen geſchaffen; ſo empfängt die Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft nun eine ein - fachere und mehr ſyſtematiſche Faſſung ihres Zuſammenhangs: die intelligible Welt in Gott iſt der Schöpfung einge -383Die abſchließende metaphyſiſche Formel.bildet, und die dieſem objektiven Zuſammenhang entſprechen - den Prinzipien ſind in den von Gott geſchaffenen Einzel - geiſt hineingelegt1)Vgl. S. 243 ff..
So bildete ſich auf der Höhe dieſer Entwicklung folgende Theorie, die Thomas von Aquino feinſinnig entwickelt hat. Plato nahm nach ihm irrthümlich an, das Objekt der Erkennt - niß müſſe in ſich ſo exiſtiren, wie in unſerem Wiſſen, ſo - nach immateriell und unbeweglich. In Wirklichkeit vermag die Abſtraktion das, was in dem Objekt ungeſondert iſt, zu ſondern und einen Beſtandtheil in ihm, abſehend von den anderen, für ſich zu betrachten. Der Beſtandtheil, welchen unſer Denken im Allgemeinbegriff am Gegenſtande heraushebt, iſt ſonach real, aber er iſt nur ein Theil der Realität deſſelben. Daher iſt eine den Allgemeinbegriffen entſprechende Realität nur in den Einzeldingen gegeben; „ die Univerſalia ſind nicht für ſich be - ſtehende Dinge, ſondern haben ihr Sein allein in dem Ein - zelnen “. Jedoch wird andrerſeits in den Univerſalien etwas Weſenhaftes ausgeſondert von dem menſchlichen Intellekt, denn ſie ſind in dem göttlichen Intellekt enthalten und von ihm den Objekten eingebildet. So kann Thomas ſich einer den Streit über die Univerſalien ſcheinbar beendenden Formel bedienen. Die Univerſalien ſind vor den einzelnen Dingen, in ihnen und nach ihnen. Sie ſind vor denſelben im göttlichen, vorbildlichen Verſtande; ſie ſind in den Dingen als Theilinhalte derſelben, welche ihre allgemeine Weſenheit ausmachen; und ſie ſind nach den - ſelben als Begriffe, welche durch den abſtrahirenden Verſtand her - vorgebracht ſind. Dieſe Formel kann alsdann leicht im Sinne der modernen Wiſſenſchaft erweitert werden, und eine ſolche Erweiterung hat ſtattgefunden; ſie iſt ſchon im Mittelalter vorbereitet: in Gott ſind nicht nur die allgemeinen Begriffe, ſondern die allgemeinen Wahrheiten, die Geſetze der Veränderungen des Weltlaufs2)Ueber die Entſtehung dieſer Formel nach ihrer logiſchen Seite aus - führlich Prantl, Geſchichte der Logik II, 305 f. 347 ff. III, 94 ff. — Ueber die.
384Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft empfing in dieſen Sätzen die vollkommenſte Form, welche ihr während des Mittelalters gegeben worden iſt. Dieſe Vernunftwiſſenſchaft will das Ge - dankenmäßige des Weltalls deutlich und begreiflich machen; ihr Problem iſt die Natur dieſer Gedankenmäßigkeit, der Urſprung derſelben in der Welt und der des Wiſſens von ihr im Bewußt - ſein. Die Löſung des Problems wird auch in dieſer Formel in ein Transſcendentes hineingeſchoben; denn ſie enthält eine Relation zwiſchen drei Gliedern, in deren jedem daſſelbe x, die unaufgelöſte, allgemeine Form der Einzeldinge, wiederkehrt. Die Intelligenz, der Weltzuſammenhang und Gott ſind dieſe Glieder. Und zwar iſt Gott nicht nur bewegende und Zweckurſache der Welt, ſondern auch vorbildliche Urſache derſelben. Oder wie Scotus Gott als die letzte Bedingung eines inneren und nothwendigen Weltzuſammenhangs aufzeigt: der Weltzuſammenhang enthält eine Verkettung der Urſachen, eine Ordnung der Zwecke, eine Stufen - reihe der Vollkommenheit; alle drei Reihen führen auf einen An - fangspunkt, der nicht durch ein weiter zurückliegendes Glied der - ſelben Reihe bedingt iſt, und zwar in derſelben Weſenheit: denn, ebenſo wie ſpäter Spinoza folgert, das necesse esse ex se kann nur Einer Weſenheit zukommen. So iſt Gott in dieſem metaphy - ſiſchen Zuſammenhang die nothwendige Urſache1)Duns Scotus in sentent. I dist. 2 quaest. 2 und 3..
Die Zahl der Wahrheiten, welche dieſe Vernunftwiſſenſchaft feſtſtellen zu können glaubte, verringerte ſich ihr beſtändig während ihrer Arbeit; bis in dem Zeitalter Occam’s die Formel ſelber, nach welcher in Gott die Welt in Allgemeinbegriffen angelegt iſt, aufgelöſt wurde und die Erfahrung des Singularen ihr Recht geltend machte, nicht nur in Rückſicht auf die Außenwelt, ſondern ſowol bei Roger Bacon als bei Occam auch in Bezug auf die innere.
Da im Gottesbewußtſein der Mittelpunkt der mittelalterlichen Metaphyſik lag und man von Gott aus die Welt und den Menſchen erblickte, hat dieſe Vernunftwiſſenſchaft während des zweiten Zeit - raums der abendländiſchen Philoſophie, ihrem Streben gemäß, Alles der Denknothwendigkeit zu unterwerfen, das Daſein Gottes zu - nächſt feſtzuſtellen verſucht, Gottes Eigenſchaften entwickelt und von ihm aus ſich über die geſchaffenen geiſtigen Weſen verbreitet. Dies hatte zur Folge, daß Einzelbeweiſe für das Daſein Gottes an die Spitze der Metaphyſik traten und ſolche für den Beſtand eines Geiſterreiches, welchem auch die Menſchen angehören, feſt - geſtellt wurden. Die abſtrakte Metaphyſik der wolffiſchen Schule hat auf der Baſis der Ontologie die rationale Theologie, Kosmo - logie und Pſychologie als die drei Theile der metaphyſiſchen Wiſſen - ſchaft gleichwerthig behandelt, und Kant hat entſprechend aus dem einen Weſen der Vernunft die Ideen auf dieſen drei Gebieten abzuleiten unternommen. Die geſchichtliche Betrachtung des Mittel - alters zeigt, daß die rationale Theologie und Pſychologie, als in eine transſcendente Welt des Glaubens mit ihren Schlüſſen zurückgreifend, eine ganz andere Stelle im menſchlichen Denkzu - ſammenhang einnehmen wie die Kosmologie, welche nur die Be - griffe von der Wirklichkeit zu vollenden ſtrebt.
Wir betrachten zunächſt die Beweiſe für das Daſein Gottes, die rationale Theologie.
Das Chriſtenthum hatte in dem monotheiſtiſchen Ergebniß der antiken Wiſſenſchaft des Kosmos ſeine geſchichtliche Voraus - ſetzung1)Römerbrief 1, 19 ff. Apoſtelgeſchichte 14, 15 ff. 17, 22 ff., und die Väter haben den Schluß auf Gott aus dem Charakter der Welt, welcher zweckmäßige Schönheit und doch zugleich Veränderlichkeit iſt, als bindend betrachtet. Während der langen Jahrhunderte des Mittelalters iſt die Zurück - führung der Welt auf Gott, beſonders der Schluß von derDilthey, Einleitung. 25386Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Drehung der Himmelskugel auf einen erſten Beweger derſelben von keinem ernſthaften Forſcher verworfen worden, wenn auch der Grad ſeiner Evidenz der Unterſuchung unterzogen wurde; alle anderen Glaubenswahrheiten dagegen verfielen mehr oder minder der Diskuſſion. — Seit dem Jahre 1240 war De - zennien hindurch die kirchliche Autorität im Kampfe mit einer Partei der pariſer Univerſität, welche extreme Folgerungen der averroi - ſtiſchen Lehre ausbreitete. So wurde innerhalb der Univerſität die Ewigkeit der Welt vertheidigt, da der „ erſte Anfang “als ein Mirakel den nothwendigen Zuſammenhang der Wiſſenſchaft durch - brach; die Schöpfung aus Nichts wurde angegriffen als mit den Anforderungen der Wiſſenſchaft unverträglich; die Annahme eines erſten elternloſen Menſchen wurde verworfen, und mit dem erſten leugnete man auch die letzten Menſchen und ſonach das jüngſte Gericht. Der Mittelpunkt dieſer ſkeptiſchen Bewegung lag in der Beſtreitung der Fortdauer der Einzelſeele, da dieſelbe aus der Lehre von den ſubſtantialen Formen nicht gefolgert werden kann. Aus dieſen Vorausſetzungen folgte dann das kecke Wort: quod sermones theologi sunt fundati in fabulis, und ihm entſprach ein anderes: quod sapientes mundi sunt philosophi tantum. Aber unter allen Sätzen, welche damals unter Studenten und Lehrern der pariſer Univerſität umliefen und der kirchlichen Cenſur unterworfen wurden, findet ſich keiner, welcher das Daſein Gottes in Frage gezogen hätte. — Ein zweiter Herd des ſkeptiſchen Geiſtes war während des dreizehnten Jahrhunderts1)Die Chronica Fr. Salimbene Parmensis (Parmae 1857) ſpricht p. 169 von der destructio credulitatis Friderici et sapientum suorum, qui credi - derunt, quod non esset alia vita, nisi praesens, ut liberius carnalitatibus suis et miseriis vacare possent. ideo fuerunt epycurei … der Hof Friedrichs des Zweiten im Süden. Der abergläubiſche Sinn des niederen Volkes umgab die gedankenmächtige Geſtalt des großen Kaiſers mit Erzählungen, in welchen als das Auffälligſte ſein Skepticismus und ſeine Neigung zu experimenteller Beantwortung ſolcher Fragen hervortritt, die man ſyllogiſtiſchen Erörterungen zu überlaſſen ge - wohnt war. Wollte man doch wiſſen, er habe Menſchen den387Der Schluß vom Kosmos auf Gott wird noch allgemein anerkannt.Leib öffnen laſſen, zum Zwecke des Studiums der Verdauung; er habe Kinder von dem Verkehr abgeſondert aufnähren laſſen wollen, um die Frage nach der Urſprache zu löſen; ein ſolcher Verſuch erinnert an den philoſophiſchen Roman des Ibn Tophail, welcher im dreizehnten Jahrhundert verbreitet war und die natür - liche Entwicklung eines Menſchen zum Gegenſtande hatte. Die Schriftſtücke, die im Kampfe der Kurie gegen den Kaiſer ausge - arbeitet wurden, und die öffentliche Meinung beſchuldigten ihn der Leugnung der Unſterblichkeit, und fanden den letzten Beweggrund ſeiner Schreckensherrſchaft im ſicilianiſchen Reiche in dieſer ma - terialiſtiſchen Verwerfung jeder Vorſtellung eines jenſeitigen Lebens. Zwar das furchtbare Wort von den drei Betrügern, den Be - gründern der drei Religionen des Abendlandes, kann nicht auf den Kaiſer zurückgeführt werden; aber der Gedanke, daß die philo - ſophiſche Wahrheit in allen drei Religionen von Fabeln verhüllt ſei, muß als ein Gemeingut der Aufgeklärten an dieſem bunten, bald im Morgen - bald im Abendlande unter religiös gemiſchten Bevölkerungen reſidirenden Hofe betrachtet werden. Und doch wird uns unter allen Witzworten, welche damals von Friedrich um - gingen, keines überliefert, welches den Schluß auf Gott als die Welturſache angetaſtet hätte1)In der ſchönen auf perſönlicher Anſchauung beruhenden Schilderung der erwähnten Chronik p. 166 heißt es von Friedrich dem Zweiten: de fide Dei nihil habebat, aber dieſe fides Dei iſt augenſcheinlich im Sinne des Gottesglaubens eines Chriſten zu verſtehen.. — Unterſucht man die Aeußerungen von Skepticismus aus anderen Kreiſen, ſo ſetzen widrige und rohe Verhöhnungen Gottes wie die von Alberich von Romano be - richtete, durchaus das Daſein Gottes voraus2)Ebdſ. p. 182.. Auch gingen die Zweifel der Nominaliſten gegen jeden Punkt einer rationalen reli - giöſen Wiſſenſchaft zwar bei Occam dazu fort, die Gründe für das Daſein Gottes einer ſcharfen Kritik zu unterwerfen, ja dieſer ſprach ſchon kühn die Möglichkeit aus, daß die Welt ſich ſelbſt bewege; aber auch er erkannte doch die überwiegende Kraft der Beweisführungen für das Daſein Gottes an3)Zu den ſcholaſtiſchen Debatten über das Daſein Gottes in den.
25*388Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Der Grund dieſer Thatſache, daß der metaphyſiſche Geiſt des Mittelalters an der Evidenz des Daſeins Gottes einen unerſchütterlichen Stützpunkt hatte, während keine andere Glau - benswahrheit von dem Zweifel unberührt blieb, kann nicht in der Macht religiöſer Ueberzeugungen gefunden werden; denn dieſe waren, wie wir eben ſahen, vielfach erſchüttert. Er lag nicht in der Tradition des Zuſammenhangs der Weltgeſchichte, die an Gott mit ihrem Beginn und Schluß gebunden war; denn ſo wichtig dieſe für das Lebensgefühl und die Denkart des mittel - alterlichen Menſchen geweſen iſt, ſo ward ſie doch von kühnen Geiſtern wenigſtens dem Zweifel, wenn auch noch nicht der Unter - ſuchung unterworfen. Am wenigſten können wir ihn in dem ontologiſchen Argumente finden; denn die Kraft deſſelben wurde von den hervorragendſten gläubigen Forſchern beſtritten. Er lag in dem Schluß, welcher auf Grund des damaligen Standes des Naturwiſſens von den regelmäßigen, harmoniſch ineinandergreifen - den Bahnen der Geſtirne ſowie von der die Formen der Natur durchwaltenden Zweckmäßigkeit auf Gott zurückging. Dieſer Schluß tritt nicht als ein einzelnes Argument auf, ſondern bildet, wie bei Ariſtoteles, den Zuſammenhang der ganzen Naturanſicht. Wol haben die Scholaſtiker dieſes Zeitraums zuerſt eine geſchloſſene Zahl von einander unabhängiger Einzelbeweiſe für das Daſein Gottes aufgeſtellt, auch hat ſich wenigſtens die Unterſcheidung des kosmo - logiſchen und des teleologiſchen (phyſiko-theologiſchen) Beweiſes in der Schulmetaphyſik erhalten; doch nicht in dieſer zerſplitterten ſchulmäßigen Faſſung lag die Macht der Gründe, die von der Welt auf Gott ſchließen, über den mittelalterlichen Geiſt1)An der Spitze der summa theologiae des Thomas ſteht p. I quaest. 2 de Deo, an Deus sit (quaest. 1 behandelt nur den Begriff der chriſtlichen Wiſſenſchaft); im dritten Artikel derſelben werden fünf Einzelbeweiſe geſondert: aus der Bewegung, aus der Verkettung der Urſachen und Wirkungen, aus.
Die Phyſik der Erde war in den erſten Anfängen geblieben und wurde nicht auf die Erklärung der Phänomene der Geſtirn - welt angewandt, weder die Hilfsmittel der Rechnung noch die Kunſt des Inſtruments ſchlugen eine Brücke von den Ereigniſſen auf der Erde zu denen jenſeits im Weltraum, die Schwere wurde als eine terreſtriſche Thatſache aufgefaßt, Veränderungen waren noch an keinem Punkte als jenſeits der irdiſchen Atmoſphäre im Weltraum vorhanden nachgewieſen, und dieſe Sonderung der Welt himm - liſcher Körper von der unter dem Monde wurde zu einer vor - ſtellungsmäßigen, räumlichen Vergegenwärtigung des großen Ge - genſatzes benutzt, in welchem das Chriſtenthum allen irdiſchen Wandel und alle irdiſche Unvollkommenheit dem gegenüber erblickt, was nicht von dieſer Welt iſt. Die Bedeutung dieſer aſtrono - miſchen Transſcendenz für den Geiſt des mittelalterlichen Menſchen zeigt Dantes kosmiſches Gedicht, deſſen drei Theile nicht zufällig, ein jeder in anderer Wendung, mit einem anderen Ausblick auf den Sternenhimmel ſchließen, der letzte mit den berühmten Worten: l’amor che muove il sole e l’altre stelle.
Der Schluß ſelber ging von der Gleichförmigkeit der Be - wegungen am Himmel und ihrer Zweckmäßigkeit, vermittelſt deren der ganze Haushalt der irdiſchen Welt bis zum Menſchen hinauf geregelt wird, auf eine vollkommene und geiſtige Weſenheit. Er beruhte bei den meiſten Scholaſtikern auf der aſtronomi - ſchen Konſtruktion, die ſie in ihrem Ariſtoteles fanden, ſeltener auf der, welche ſie aus Ptolemäus ſchöpften. Bald bediente dieſer Schluß ſich des Hilfsſatzes, den Anaxagoras, Plato und Ariſtoteles anwandten, daß jede Bewegung eines Körpers im Raume eine Bewegungsurſache außerhalb deſſelben vorausſetze, bald der Unterſcheidung der Bewegungen auf der Erde, welche gradlinig ſind und in einem Ziele zur Ruhe kommen, von denen1)dem Verhältniß des Möglichen, das ſein kann, doch nicht zu ſein braucht, entſteht, ſich verändert und vergeht, zu dem Nothwendigen (der ſpätere Be - weis a contingentia mundi), aus dem Verhältniß der Grade in den Dingen zu einem Abſoluten, aus der Zweckmäßigkeit. Hiermit vgl. Duns Scotus in sent. I dist. 2 quaest. 2.390Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.am Himmel, die kreisförmig und kontinuirlich ſind und ſonach auf ein intelligentes Prinzip von unendlicher Kraft zurückweiſen. Er kann ſo gut bei Albertus Magnus als bei Thomas, bei Bona - ventura als bei Duns Scotus gefunden werden1)Albertus Magnus de causis et processu universitatis lib. I tract. 4 c. 7. 8. lib. II tract. 2 c. 35 — 40. Thomas contra gentil. III c. 23 sq. Bonaventura in lib. II sententiarum, beſonders dist. 14. p. 1 (die Vor - ausſetzungen des Schluſſes am deutlichſten art. 3 quaest. 2: an motus coeli sit a propria forma vel ab intelligentia). Duns Scotus qu. subt. in met. Arist. lib. XII q. 16 — 21.. Während ihm ſtrenge Evidenz zugeſchrieben wurde, iſt von den meiſten Theologen Probabilität für die Annahme in Anſpruch genommen worden, daß die Gottheit durch geſchaffene Geiſter übermenſchlicher Art dieſe Bewegungen am Himmel bewirke, und die Zahl der bewegenden Engel durch die der bewegten Sphären beſtimmt werden könne. Die Engellehre wurde auf Grund der ariſtoteliſchen Theorie mit der aſtronomiſchen Weltanſicht verknüpft, und es waren daher auch hier ſchließlich pſychiſche Beziehungen, welche ſtatt eines mechaniſchen Naturzuſammenhangs den letzten Erklärungsgrund für die Bewegungen im Kosmos darboten. Die herrſchende europäiſche Metaphyſik fuhr fort, einen mythiſchen Willenszuſammenhang pſychiſcher Kräfte als letzten Er - klärungsgrund des äußeren Weltzuſammenhangs feſtzuhalten.
Auf der Erde wurde an den organiſchen Weſen eine Zweck - mäßigkeit nachgewieſen, welche auf Gott zurückleitete. Dieſen Schluß ſtattete Albertus Magnus, welcher auch hierin dem Ariſto - teles beſonders nahe ſtand, mit dem größten Beweismaterial aus. „ Durch die Weiſe und das Maß ſeines Seins, durch das ſpezi - fiſche Weſen, das ihm in der Reihe der übrigen Geſchöpfe die be - ſtimmte Stelle anweiſt, durch das Gewicht oder die Ordnung, in welcher es nach ſeiner Verwerthung mit den anderen in Harmonie iſt und auf die Verwirklichung des Weltzwecks Einfluß übt, be - weiſt das Geſchaffene ſichtlich die Macht eines mächtigen, weiſen und gütigen Urhebers “2)Albertus summa theol. II tract. 1 qu. 3 m. 3 art. 4 part. 1 p. 28a..
391D. beſond. Form d. Schluſſes entſpr. d. Naturbegriffen jed. Zeitalters.Der Beweis für das Daſein Gottes aus dem gedanken - mäßigen Zuſammenhang der Vorgänge im Weltganzen hat uns von Anaxagoras ab begleitet. Und zwar haben die Mittelglieder gewechſelt, durch welche in ihm aus der Anſchauung der Welt auf die Idee Gottes geſchloſſen wird. Denn ſie wurden in einem jeden Zeitalter durch diejenigen Begriffe von dem Zuſammenhang der Natur gebildet, welche der Stand der poſitiven Wiſſenſchaften entwickelt hatte. Die Funktion dieſes Beweiſes in dem Körper der Metaphyſik einer Epoche iſt alſo abhängig von der zu derſelben Zeit entwickelten Naturanſicht. Dieſes Grundverhältniß hat Kant’s ungeſchichtlicher Geiſt verkannt, wie er denn überhaupt den ver - geblichen Verſuch machte, eine Metaphyſik an ſich aus den Syſtemen zu ziehen, dabei aber in der Regel ſich begnügte, die wolffiſchen Kompendien durch Machtſpruch für dieſe Metaphyſik an ſich zu erklären. In Wirklichkeit hat jede Form des vom Kosmos auf deſſen Bedingung zurückgehenden Beweiſes für eine vernünftige Welturſache nur einen relativen Erkenntnißwerth, nämlich in ihrer Relation zu den anderen Naturbegriffen eines Zeitalters; und auch die vollſtändige Begründung, welche nur im Zuſammenhang des Syſtems ſelber ſich vollzieht und welche den für ſich ganz unzureichenden kosmologiſchen Schulbeweis mit dem phyſiko-theo - logiſchen verbindet, hat keine hierüber hinausreichende Tragweite. Sie kann nur zeigen, daß unter Vorausſetzung der Begriffe, welche der Erklärung der Wirklichkeit in einer gegebenen Zeit zu Grunde gelegt werden, der Rückgang auf eine erſte, zweckmäßig wirkende Urſache nothwendig iſt. Der Begriff Gottes iſt in ihr nur ein Glied in dem Syſtem der Bedingungen, welches den Phänomenen zu ihrer Erklärung auf einer beſtimmten Stufe der Erkenntniß zu Grunde gelegt wird, und die Unentbehrlichkeit dieſes Gliedes iſt abhängig von der Beziehung der Annahme auf andere ſchon vorhandene Annahmen. So bedurfte Newton neben der Gravitation eines Anſtoßes, er bedurfte eines Grundes für die Zweckmäßigkeit in den Abmeſſungen der Verhältniſſe der Planeten - bahnen; hierbei war die Gravitation nur ein Ausdruck für einen Theil der Bedingungen, und der Gott, deſſen er neben ihr zu be -392Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.dürfen erklärte, war ebenſo nur der Ausdruck für einen anderen Theil dieſer Bedingungen, die unter Annahme von Materie, Raum, Zeit, Urſache, Subſtanz zur Erklärung der Wirklichkeit ihm noth - wendig erſchienen. Sonach iſt ein ſtrenger Beweis für das Daſein Gottes von dem Kosmos aus ſo lange unmög - lich, als nicht die objektive Gültigkeit eines abgeſchloſſenen Syſtems von Naturbegriffen ihm zu Grunde gelegt werden kann. — Wir heben einzelne Bedenken noch beſonders hervor. Ein ſolcher Beweis ſtünde unter der Vorausſetzung der Anwendbarkeit des Kauſalbegriffs auf den Weltzuſammenhang; wie ſchon mittel - alterliche Philoſophen feſtſtellten, würde er nicht geſtatten, auf einen Weltſchöpfer zu ſchließen, ſondern nur, nach Kant’s Aus - druck, „ auf einen Weltbaumeiſter, der durch die Tauglichkeit des Stoffes, den er bearbeitet, immer ſehr eingeſchränkt wäre “; er würde nicht über eine der erkannten gedankenmäßigen Einheit proportionale Urſache hinausführen, und Schritt für Schritt haben ſich in der neueren Zeit die Naturbegriffe über dieſe gedankenmäßige Einheit ſo geändert, daß der Zwang des Schluſſes auf ein ſelbſtändiges, von der Welt unterſchiedenes perſönliches Weſen aufhörte.
Von jedem ſolchen einzelnen Beweis verſchieden iſt das ihnen allen zu Grunde liegende Bewußtſein von Gedankenmäßigkeit, welches mit der Betrachtung der Bahnen und Abmeſſungen der Geſtirne, ſo - wie der Formen der organiſchen Welt verknüpft iſt: dieſes drückt nur aus, daß wir über uns hinaus in ein dem menſchlichen Gedanken Analoges, ihm in der Welt Entſprechendes blicken. Es iſt die eine Seite des unvertilgbaren Gottesbewußtſeins der Menſchheit, und wie es die einzelnen Beweiſe hervorbringt, bleibt es beſtehen, nachdem ſie aufgelöſt ſind, aber für ſich enthält es nicht die Ge - wißheit eines von der Welt unterſchiedenen perſönlichen Weſens1)Die Vorausſetzung der Schlüſſe aus der Welt auf einen von ihr unterſchiedenen Gott, daß ein regressus in infinitum unmöglich ſei, iſt von Occam aufgelöſt worden..
Es giebt neben dieſer Schlußart nur Eine andere, welche wir als die pſychologiſche bezeichnen. Sie hat in der Analyſis der inneren Erfahrung ihren Ausgangspunkt; hier findet ſie pſy -393Die andere Schlußart iſt die aus der inneren Erfahrung.chologiſche Beſtandtheile zu einer lebendigen und perſönlichen Ueber - zeugung verbunden, welche unabhängig von aller Naturerkenntniß den Frommen des Daſeins Gottes verſichern. So führt die freie und der Aufopferung des eignen Selbſt fähige Moralität eines Weſens, welches ſich doch nicht als ſeinen eigenen Schöpfer zu betrachten vermag, daſſelbe über alle Naturbegriffe hinaus und ſetzt als ihre Bedingung einen göttlichen Willen. Die Art, wie wir die Vergänglichkeit in uns fühlen, alsdann den Irrthum ſowie die Unvollkommenheit deſſen, was wir ſind, ſchließt, pſychologiſch angeſehen, in ſich, daß ein Maßſtab für uns da iſt, welcher über dies Alles hinausreicht; käme dieſem Maßſtab keine Realität zu, dann wäre das Gefühl von Unvollkommenheit und Schuld eine leere Sentimentalität, die die Wirklichkeit an unwirk - lichen Gedankenbildern meſſen würde. Das lebendige Bewußt - ſein der ſittlichen Werthe fordert, daß ſie nicht als Nebenerfolg des Naturzuſammenhangs im Bewußtſein aufgefaßt werden, ſondern als eine machtvolle Realität, auf welche die Geſtaltung der Welt hingerichtet und welcher in der Weltordnung der Sieg geſichert iſt. Hatte das antike Denken die in dem Beweis aus der einheitlichen Gedankenmäßigkeit des Kosmos entwickelte Seite unſerer meta - phyſiſchen Beſinnung zur Darſtellung gebracht, ſo richtete ſich das chriſtliche vornehmlich auf dieſe andere Seite derſelben, die Tiefen unſeres Selbſt durchmeſſend und die Erfahrungen des Willens aufrichtig im Innern zu vernehmen bemüht. Wol hat das Chriſten - thum in dem monotheiſtiſchen Ergebniß der antiken Wiſſenſchaft des Kosmos ſeine geſchichtliche Vorausſetzung und in dem Bewußt - ſein der Gedankenmäßigkeit des Weltganzen einen bleibenden Be - ſtandtheil ſeines Gottesgedankens; aber die Gewißheit Gottes, der für es mehr als eine intelligente Urſache iſt, liegt ihm in erſter Linie in den Erfahrungen des Gemüths und des Willens, und die ganze Literatur der Väter und des Mittelalters iſt von Schlüſſen aus dieſen inneren Erfahrungen auf das Daſein Gottes durchzogen, unter denen die drei oben angegebenen beſonders hervortreten1)Aus dem großen Material können keine einzelnen Belege heraus - gehoben werden. Thomas verweiſt ausdrücklich dieſe Begründung nur darum. 394Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Wie ſo Vieles im Mittelalter ſymboliſch iſt, war damals dieſer Zuſammenhang der ſittlichen Ordnung in Gott an der Hierarchie ſichtbar, in welcher Gnade und Gewalt von Gott abwärts floßen; jedes Meßopfer ließ die Gegenwart Gottes im Dieſſeits gewahren.
Was ſo dem Frommen auf ſubjektive und perſönliche Weiſe gewiß war und Kirchenväter wie mittelalterliche Schriftſteller in unzähligen Formen frei und perſönlich ausgeſprochen haben, das wollte die chriſtliche Metaphyſik auf einen für Alle zwingenden Schluß bringen. Und zwar hat dieſe pſycholo - giſche Begründung die am meiſten abſtrakte begriffliche Faſſung in dem ontologiſchen Beweis erhalten. Anſelm ſetzte ſich die tief - gedachte Aufgabe, eine Begründung Gottes zu finden, welche die Exiſtenz und Beſchaffenheit der Welt nicht zur Vorausſetzung habe. Er leitete aus dem Begriff Gottes durch logiſche Analyſis die Einſicht in ſein Daſein ab. Die Unhaltbarkeit des ſo entſtehenden ontologiſchen Beweiſes iſt von Gaunilo bis Thomas von Aquino und von dieſem bis Kant überzeugend gezeigt worden; nicht in dem abſtrakten Begriff Gottes, ſondern in dem lebendigen Zuſammenhang des Gottesgedankens mit der Totalität des pſychiſchen Lebens iſt eine von der Wiſſenſchaft des Kosmos un - abhängige Gewißheit Gottes begründet. Dieſer lebendige und natürliche Zuſammenhang iſt in dem früheren Beweis Anſelms angemeſſener ausgedrückt; hier wird als Grundlage unſeres Be - wußtſeins von verſchiedenen Graden des Guten und Vollkommenen das eines höchſten Gutes, einer unbedingten Vollkommenheit auf - gezeigt. So wird auf Gott als das höchſte Gut geſchloſſen, im Unterſchied von dem Schluß auf ihn als intelligente Urſache1)Die Vorausſetzung des ontologiſchen Beweiſes, welcher aus dem esse in intellectu für das Weſen, quo majus cogitari non potest, das esse. 1)aus ſeiner Beweisführung, weil ſie keine allgemeingültige Faſſung geſtattet, summa theol. p. I quaest. 2 art. 1. Der Fortgang vom Streben nach dem höchſten Gut zu der Befriedigung in Gott wird in der Regel im Mittel - alter nach Auguſtinus (vgl. S. 333) dargeſtellt; an ihn ſchließen ſich die Myſtiker, unter denen ſchon Hugo von St. Viktor den Beweis aus der Welt von der Begründung aus dem religiöſen Erlebniß unterſcheidet.395Ration. Pſychologie zweiter Beſtandth. d. Begründ. d. transſc. Welt.Dem moraliſchen Beweis hat bekanntlich Raymund von Sabunde eine zwingende Form zu geben verſucht.
Doch waren alle Verſuche, dem Zuſammenhang der inneren, beſonders ſittlichen Erfahrungen mit dem Gottesglauben die Form eines metaphyſiſchen Beweisverfahrens zu geben, von einer ebenſo vorübergehenden Bedeutung, als das Unternehmen, aus dem Kos - mos einen perſönlichen Gott zu erſchließen. Denn die Elemente der inneren Erfahrung, aus deren Analyſis dieſe Verſuche folgerten, ſind einer allgemeingültigen Darſtellung nicht fähig. Ihr Gegenſtand iſt eben praktiſche Religion, und dieſe iſt perſönliches Leben. Ja dieſer praktiſche Glaube iſt ſo unabhängig von ſeiner theoretiſchen Darſtellung, daß ein Menſch Gott gleichſam zu leben vermag, deſſen intellektuelle Lage ihm das Schickſal, Gott zu bezweifeln, auferlegt hat. Daher erkannte der praktiſche Glaube erſt im Proteſtantismus, als die Metaphyſik des Mittelalters ſich aufgelöſt hatte, die wahre Beſchaffenheit ſeiner Gewißheit.
Von der rationalen Theologie, dem Mittelpunkte des mittelalter - lichen Denkens überhaupt, wenden wir uns zur rationalen Pſychologie.
Sie empfing bereits von den Metaphyſikern aus der Zeit des Kampfes zwiſchen Chriſtenthum, Judenthum und griechiſch-römiſchem Götterglauben ihre dauernde ſyſtematiſche Geſtalt. Es iſt dargelegt, wie die Erfahrungen des Herzens, das Studium des Seelenlebens in den erſten Jahr - hunderten nach Chriſtus in den Vordergrund traten. Schon das Ueberwiegen des Privatlebens wirkte in dieſer Richtung. Als - dann lenkte die Imperatorenherrſchaft alle Blicke der römiſchen Geſellſchaft mit athemloſer Spannung auf Einen Mann, und man1)et in re erſchließt, iſt am deutlichſten in Anſelms apologeticus c. 1 u. 3. — In dem früheren Beweis Anſelms iſt beſonders der Satz im monologium c. 1 beachtenswerth: quaecunque justa dicuntur ad invicem, sive pariter sive magis vel minus, non possunt intelligi justa nisi per justitiam, quae non est aliud et aliud in diversis. An dies frühere Be - weisverfahren Anſelm’s ſchließt ſich der vierte Beweisgrund des Thomas summa theol. p. I quaest. 2 art. 3.396Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.bemerkt an Tacitus, welche Veränderung nunmehr das hiſtoriſche Sehen erfuhr; ſeine Seelengemälde der Kaiſer ſind der Ausdruck der veränderten Intereſſen der Geſellſchaft. Tiefere Beweggründe traten hinzu; die Sehnſucht nach der Unſterblichkeit iſt der Grund - zug des alternden Heidenthums. Die Grabinſchriften jener Zeit zeigen, daß die Vorſtellung eines kraftloſen Traumlebens in der Unterwelt nun gänzlich zurücktrat hinter die Erwartung eines höheren Lebens. „ Ihr hochgelobten Seelen der Frommen, “heißt es in einer ſolchen Grabinſchrift, „ führet die ſchuldloſe Magnilla durch die elyſiſchen Haine und Gefilde in eure Wohnungen. “ Das Märchen von Amor und Pſyche, die beliebt werdende Dar - ſtellung der Pſyche unter dem Symbol des Schmetterlings ſind Sinnbilder dieſer Sehnſucht. Myſteriendienſte wieſen die Wege, auf welchen dies inbrünſtige Verlangen das Herz der Gottheit ſuchte. Boëtius’ ſchönes Werk „ über den Troſt der Philoſophie “hat den letzten Ausblick in der Zuverſicht: wenn die Seele guten Gewiſſens, aus dem irdiſchen Gefängniß erlöſt, nun frei dem Himmel zuſtrebe, dann werde alles irdiſche Thun ihr als Nichts erſcheinen, vor dem Genuß der Freuden des Himmels. Das Herz der chriſtlichen Literatur der erſten Jahrhunderte iſt das Gefühl von dem unendlichen Werthe der moraliſchen Perſon vor Gott. Die Grundlegung der Lehre von einem Reiche ewiger individueller Seelenſubſtanzen iſt nur der wiſſenſchaft - liche Ausdruck dieſer Veränderung des Seelenlebens. Nun erhebt ſich über den Horizont der metaphyſiſchen Beſinnung die Geiſterwelt und ihr Reich. Der literariſche Ausdruck dieſer Thatſache liegt in den Stylformen von Meditationen, Soliloquien, Monologien, und der einſame Verkehr des Geiſtes mit ſich ſelber iſt nun der tiefe Quellpunkt des wiſſenſchaftlichen Denkens.
Plotin, der reinſte und edelſte Vertheidiger des mit dem Chriſtenthum im Todeskampfe ringenden Heidenthums, zeigt in ſeinem Syſtem die Gemüthsverfaſſung der neuen, dem ächten griechiſchen und römiſchen Leben ganz fremden Zeit. War doch Ammonius, ſein Lehrer, in dem neuen Seelenleben der chriſtlichen Gemeinden aufgewachſen. Wenn nun die unſichere Ueberlieferung397Der einzige ſtrenge Beweis einer Seelenſubſtanz von Plotin entwickelt.noch erkennen läßt, daß ſchon Ammonius die Immaterialität der Seele zu erweiſen unternahm1)Nemeſius de natura hominis c. 2. 3., ſo finden wir bei Plotin dieſen Beweis zu einer vollſtändigen Metaphyſik des Seelenlebens ent - wickelt, welche ſich gegen die Theorien der Epikureer und Stoiker wendet. Mit ihm berührt ſich an manchen Punkten Origenes in ſeiner Schrift über die Prinzipien, er löſt für die im Kampfe mit den Gnoſtikern begriffenen chriſtlichen Gemeinden dieſelbe Auf - gabe, wie Plotin für die heidniſche Welt.
Plotin erweiſt durch eine lange Reihe von Gründen, daß die Seele als ein immaterielles Weſen exiſtirt. — Wir heben zunächſt das folgende Argument hervor: das Erkennen iſt außer Stande, aus den Verhältniſſen körperlicher Elemente zu einander einen geiſtigen Thatbeſtand abzuleiten, keine Zuſammenſetzung macht das Hervortreten von Bewußtſein, das in den Komponenten nicht vor - handen war, erklärlich; dem Vernunftloſen kann durch keine Kunſt Vernunft abgewonnen werden2)Plotinus Enn. IV 1. 7 p. 456 ff., gegen die Epikureer (p. 457), einige Peripatetiker (p. 458) und die Stoiker (p. 458 f.) gerichtet und ein vortrefflicher Nachweis der Unmöglichkeit einer Ableitung pſychiſcher Thatſachen, wenn dieſelben nicht ſchon in den Erklärungsgründen vorausgeſetzt ſind.. Dieſe Beweisführung hat nur die Tragweite, pſychiſches Leben als eine für unſer Erkennen von dem materiellen Thatbeſtand ganz unterſchiedene, nie auf ihn zu - rückzuführende Thatſache aufzuzeigen3)Vgl. S. 11 ff.. — Aber Plotin geht in dieſem Zuſammenhang zu demjenigen Beweis fort, welcher in der europäiſchen Metaphyſik die erſte Stelle behauptet hat. Er war bei Plato und Ariſtoteles vorbereitet. Plato hatte mit tiefem Blicke hervorgehoben: wenn wir im Stande ſind, das in verſchiedenen Sinnen Gegebene zu vergleichen, Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit auszuſprechen, dann kann das nur in einem von den Sinnesorganen Verſchiedenen, in der Seele ſelber geſchehen4)Plato Theaet. 185 ff.. Dann hatte Ariſtoteles erkannt, daß ein Urtheil: ſüß iſt nicht weiß, unmöglich iſt, wenn dieſe Empfindungen an ver -398Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.ſchiedne Subjekte vertheilt werden und nicht vielmehr in demſelben Subjekt zuſammen beſtehen1)Ariſtoteles de anima III, 2 p. 426b 15.. Plotin unternimmt allgemein zu beweiſen: wäre die Seele materiell, alsdann könnte weder Wahr - nehmung noch Denken oder Wiſſen oder das Sittliche und Schöne vorhanden ſein. Soll etwas, ſo ſchließt er hierbei, ein anderes wahrnehmen, ſo muß es eine Einheit ſein; wenn die ein - tretenden Bilder, vermöge der Mehrheit der Sinnesorgane, ein Mannichfaches ſind, ja innerhalb des Empfindungskreiſes Eines Sinnesorgans ein Mannichfaltiges in ſich ſchließen, ſo müſſen ſie durch eine mit ſich ſelbſt identiſche Einheit zum Gegen - ſtand verbunden werden; die Sinneseindrücke müſſen in einer untheilbaren Einheit ſich begegnen. Er drückt es in einem zu - treffenden Bilde ſo aus: die Wahrnehmungen müſſen von der ganzen Peripherie des Sinneslebens her wie Radien eines Kreiſes in dem untheilbaren Mittelpunkt des Seelenlebens zuſammentreffen. Andern Falles würden innerlich viele Wahrnehmungen neben ein - ander entſtehen; denn Theil A der materiellen und ausgedehnten Seele würde ſeine Eindrücke für ſich haben, ebenſo B und C; dies wäre alſo ſchließlich ſo, als ob ein Individuum A und neben ihm ein Individuum B wahrnähme. Sind wir ferner im Stande, zwei Eindrücke unter einander zu vergleichen, von einander zu unterſcheiden, dann ſetzt dies voraus, daß ſie in einer Ein - heit aneinandergehalten werden. In dieſem wie in an - deren mehr untergeordneten Beweiſen iſt der große Satz von der Unvergleichbarkeit der Leiſtung des Bewußtſeins mit dem, was wir als Vorgang den Veränderungen in der Außenwelt zu Grunde legen, von Plotin ganz vollſtändig durchgedacht worden. Dieſer Satz hatte freilich irrthümlicher Weiſe für ihn eine poſitive metaphyſiſche Beweiskraft; aber eine ſolche iſt demſelben auch in der ganzen weiteren Entwicklung bis auf Leibniz, Wolff, Mendelsſohn, ja Lotze hin beigelegt werden; während er in Wirklichkeit nur einen negativen Werth, gegenüber jeder Art von materialiſtiſcher oder ſogenannter moniſtiſcher Metaphyſik hat2)Plotinus Enn. IV 1. 7 p. 461 ff. Bemerkenswerth auch das parallele.
399Auguſtinus fügt eine erkenntnißtheoretiſche Unterlage hinzu.Dieſe Begründung der Lehre von ſeeliſchen Subſtanzen iſt von Auguſtinus durch ſeinen erkenntnißtheoretiſchen Geſichtspunkt vertieft und befeſtigt worden. Er erklärt: „ ich wage zu behaupten, daß ich in Bezug auf die Immaterialität der Seele nicht nur glaube, ſondern ein ſtrenges Wiſſen habe “1)Auguſtinus de Gen. ad litt. XII c. 33.. Sein Wiſſen ſahen wir2)S. 331 f. darin gegründet, daß die ganze Erkenntniß der Außenwelt dem Skepticismus, der auf dieſe Erkenntniß ſich bezieht, erliegen muß, dagegen die Selbſtgewißheit in der inneren Erfahrung aufgeht. Innere Erfahrung wird von ihm als ein Wiſſen erkannt, in dem uns bereits das ganze Seelenleben gegeben iſt, wann die Abſicht auftritt, deſſen Weſen zu erkennen. Der ſpezifiſche Unter - ſchied dieſer inneren Erfahrung von aller Erkenntniß des äußeren Naturlaufs wird ausgeſprochen und die Inferiorität dieſer letzteren für den Erkenntnißzuſammenhang wird durchſchaut. — Und zwar zeigt der Inhalt der inneren Erfahrung auch dem Auguſtinus die Unvergleichlichkeit des geiſtigen Lebens mit dem Naturlauf und ſonach die Unmöglichkeit einer Zurückführung der geiſtigen auf materielle Vorgänge. Das geiſtige Leben kann nicht als Qualität an dem Subjekt Körper aufgefaßt werden, denn man kann nicht die Leiſtungen des geiſtigen Lebens auf die eines materiellen Ganzen zurückführen. Insbeſondere unterſcheidet den Geiſt, daß er in jedem Punkte des Körpers ganz gegenwärtig iſt und die Empfindungen der Sinne zum Gegenſtande des Bewußtſeins, der Vergleichung und des Urtheils zu machen vermag3)Belegſtellen aus Auguſtinus habe ich S. 332 angegeben, die Haupt - darlegung war im erſten Buche de libero arbitrio..
Die von den Neuplatonikern und dem an ſie ſich anſchließen - den Auguſtinus begründete Metaphyſik der Seelenſubſtanzen iſt2)Argument aus dem ſinnlichen Gefühl p. 462. Denkt man ſich die einzelne Stelle, an welche ich den Schmerz verlege, ihn empfindend und eine Mitthei - lung dieſes Zuſtandes ſtattfindend, dann würden wir den Schmerz aller in Mitleidenſchaft gezogenen Stellen, alſo ein Vielfaches, fühlen. Geringer die Beweisführung aus dem Denken, der Tugend etc. — Ueber den nur nega - tiven Werth des Schluſſes vgl. S. 11 ff. 487 f.400Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.dann von den mittelalterlichen Philoſophen ausge - baut worden. Dieſelben ſchließen ſich an neuplatoniſch gefärbte Quellen ſowie an Auguſtinus an und folgern aus der Beſchaffen - heit geiſtiger Vorgänge, daß dieſe nicht aus der Materie abgeleitet oder in irgend einem Sinne als materiell aufgefaßt werden können1)Thomas contra gentil. II c. 49 ff. p. 197 ff.. Sie gehen in allen ſtrengeren Beweiſen für die Un - ſterblichkeit von der Vergleichung der Leiſtungen des pſychiſchen Lebens mit den Eigenſchaften eines Räumlichen und Körperlichen aus, folgern ſo den Beſtand einer Seelenſubſtanz, und aus dieſem erſchließen ſie die Unſterblichkeit. Wird die Beweisführung insbe - ſondere durch die arabiſchen Peripatetiker ſeiner und mannig - faltiger entwickelt, ſo wird doch zugleich ihr Ausgangspunkt auf eine für die Beweiskraft nachtheilige Weiſe verſchoben. Man geht nicht von den Thatſachen des Wahrnehmens und Vergleichens, ſondern von denen einer abſtrakten Wiſſenſchaft und der in ihr gegebenen all - gemeinen Begriffe aus. Dies kann an den wichtigſten der arabiſchen Beweiſe feſtgeſtellt werden, welche in der ausgezeichneten Darſtellung der Destructio destructionum bei Ibn Roſchd zuſammengeſtellt ſind. Der Hauptgrund iſt hier: die abſtrakte Wiſſenſchaft iſt untheilbare Einheit und kann ſonach nur einem Subjekt zukommen, das ebenfalls untheilbare Einheit iſt2)Averroes destructio destructionum II disputatio 2 und 3 fol. 135 H ff. 145 c ff. (Ven. 1562). Das Hauptargument in der ihm von Ibn Sina gegebenen Geſtalt findet ſich in den Gegenbemerkungen des Ibn Roſchd zu der ratio prima für die immaterielle Seelenſubſtanz be - ſonders angegeben. Weitere Beweiſe ſchließen aus der Undenkbarkeit deſſen, was aus der Annahme folgen würde, ein Körperorgan z. B. das Gehirn denke; alsdann wäre z. B. ein Wiſſen von unſrem Wiſſen unmöglich. — Eine ſehr korrumpirte Zuſammenſtellung der bei den Arabern gewöhnlichen Be - weiſe findet ſich in dem Brief des Ibn Sab’in an den Kaiſer Friedrich den Zweiten, der auch Fragen des Kaiſers über Unſterblichkeit beantwortet.. Im Abendlande kehren dieſelben Gründe wieder, es muß eine untheilbare Seelenſubſtanz geben, das Untheilbare iſt aber unzerſtörbar3)So Thomas contra gentil. II c. 49 — 55 p. 197 ff.. Sie wurden dann durch ſolche von einem anderen Charakter ergänzt4)Dieſe Klaſſe von Argumenten gut zuſammgeſaßt bei Bonaventura in lib. II sententiarum dist. 19 art. 1 quaest. 1.. Die ſittliche401Das Mittelalter bildet ihn fort.Ordnung fordert Strafen, dieſe treten aber im Dieſſeits nicht regelmäßig ein; wir finden in uns ein natürliches Streben nach Glückſeligkeit und dieſes muß zur Befriedigung gelangen; aus dem teleologiſchen Zuſammenhang der Welt in Gott folgt, daß die Schöpfung in ihr Prinzip zurückkehren muß, und wie ſie von dem göttlichen Intellekt ausging, erreicht ſie in geiſtigen Weſen ihren Abſchluß1)Thomas contra gentil. II c. 46 p. 192a..
Die Beweiskraft des Schluſſes auf den Beſtand immaterieller Subſtanzen iſt während des Mittelalters unerſchüttert geblieben. Denn die dogmatiſchen Naturbegriffe der mittelalterlichen Meta - phyſiker boten ein Fundament für die Folgerung auf ein von der Natur unterſchiedenes Geiſtige. Dagegen iſt der weitere Schluß auf die individuelle Fortdauer der Einzelſeelen ſchon von mittelalter - lichen Denkern als unhaltbar erkannt worden. Wie im Morgen - lande Ibn Roſchd die individuelle Unſterblichkeit in Frage ſtellte, ſo gingen auch im chriſtlichen Abendlande Amalrich von Bena und David von Dinanto, wahrſcheinlich unter dem Einfluß arabiſcher Lehren, zur Leugnung der perſönlichen Fortdauer fort. Und zwar zogen ſie die Konſequenz der Vernunftwiſſenſchaft, wenn ſie in dem Sein, das dem höchſten Begriff entſpricht, die Diffe - renzen der Gattungen, Arten und Individuen gleichſam nur ein - gezeichnet vorſtellten und ſo jedes Einzeldaſein ihnen nur die vor - übergehende Modifikation derſelben Subſtanz war. Und Duns Scotus bedient ſich zwar einer der oben dargelegten verwandten Betrachtungsweiſe, um jede Art materialiſtiſcher Vorſtellung abzu - wehren, aber er erkennt bereits nicht mehr an, daß die individuelle Fortdauer aus ihr folge2)Ueber Amalrich von Bena und David von Dinanto Hauréau histoire d. l. phil. scol. II, 1 p. 73 ff., vgl. oben S. 386 f. — Die wichtige Beſtreitung der Beweisbarkeit perſönlicher Fortdauer, wie ſie Duns Scotus in die chriſtliche Scholaſtik einführte, vgl. bei Duns Scotus reportata Paris. l. IV dist. 43 und die entſprechende Darſtellung in sent..
Das Mittelalter hat, entſprechend ſeinem geringeren Intereſſe für die wiſſenſchaftliche Durchbildung der Begriffe von der Wirk -Dilthey, Einleitung. 26402Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.lichkeit, das Syſtem der kosmologiſchen Sätze nur höchſt un - vollkommen entwickelt, und was es dem Erwerb des Alter - thums zufügte, war ein aus dem Intereſſe an der transſcendenten Welt ſtammendes Problem. Denn die Antinomien, welche die Kritik der Eleaten, Sophiſten und Skeptiker in der Weltvor - ſtellung aufgezeigt hatte, wie räumliche Endlichkeit und räumliche Unendlichkeit, Stätigkeit der äußeren Wirklichkeit und Zerlegbarkeit in diskrete Theile, wurden nun vergeſſen oder die Schärfe ihrer Begriffe wurde abgeſtumpft. Dagegen trat diejenige hervor, welche den Angelpunkt aller Kämpfe des ſpäteren Mittelalters um die verſtandesmäßige Begründung der chriſtlichen Gottesidee bildet. Dies iſt die Antinomie zwiſchen dem Theorem von der Ewigkeit der Welt und dem von der Schöpfung d. h. dem Urſprung der Welt in der Zeit aus dem bloßen Willen Gottes. Die Folge - richtigkeit des Weltzuſammenhangs nach den der Außenwelt an - gehörigen Verhältniſſen der Bewegungen zu einander, deren Re - präſentanten Ariſtoteles und Ibn Roſchd, der Ariſtoteles der Araber, waren, fand ſich in Widerſpruch mit der chriſtlichen Glaubenswelt, und dies war der wichtigſte Theil des ſogenannten Kampfes zwiſchen Glaube und Unglaube im Mittelalter.
Aus der Vereinigung zweier Ströme, deren einer in Europa entſprungen war, der andere im Morgenlande, iſt die mittelalter - liche Metaphyſik hervorgegangen. Indem ſie in dieſem Stadium ihre Aufgabe vollſtändiger umfaßte, machte ſich in ihr die An - tinomie zwiſchen der inneren Erfahrung und dem Vorſtellen, dem Erkennen viel gründlicher als vorher geltend. Dieſe Antinomie erſcheint nun als Widerſpruch zwiſchen dem Zuſammenhang der Natur, deren Begriff von der äußeren Wahrnehmung aus feſt - geſtellt wird, und der moraliſch-religiöſen Weltordnung, deren403Charakter der mittelalterlichen Metaphyſik.Gewißheit von den inneren Erfahrungen des Willens aus in der Menſchheit entſtanden iſt und unzerſtörbar aus ihnen immer neu hervorwächſt. Die Antinomie war auf dem Standpunkt der natür - lichen Weltanſicht, wie ihn Ariſtoteles begründet hatte und die Scholaſtik einnahm, nach welchem die eine wie die andere Welt - ordnung ein objektiver Zuſammenhang iſt, unauflösbar. Bald bewirkte ſie die Ausbildung von Satz und Gegenſatz in den ver - ſchiedenen Schulen, bald arbeitete ſie in den einzelnen Syſtemen ſelber, dieſelben durch Widerſprüche zerſetzend. Sie geſellte ſich nun zu den Widerſprüchen, an denen die Wiſſenſchaft vom Kosmos und die Theologie bereits litten, und ſo trat der allgemeine durch An - tinomien beſtimmte Charakter der mittelalterlichen Metaphyſik immer klarer hervor. Er äußerte ſich in der Form ihrer Darſtellung und löſte jedes Syſtem in Quäſtionen auf, in denen Satz und Gegenſatz ſich an allen Stellen bekämpften. Und der Hauptwiderſpruch kam an ganz verſchiedenen Punkten des mittelalterlichen Syſtems wie ein geheimer Schaden im Blute zum Vorſchein, in dem Streit zwiſchen dem Willen Gottes und ſeinem Verſtande, zwiſchen der ewigen Welt und der Schöpfung aus Nichts, zwiſchen den ewigen Wahrheiten und der Oekonomie des Heils. Ja er erſtreckte ſich in ſeinen Wirkungen ſchließlich in die Konſtruktion des großen geſellſchaftlichen Dualismus der mittel - alterlichen Welt.
Die Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft, wie ſie in Ariſto - teles ihren Abſchluß gefunden, hatte die Gottheit als „ Denken des Denkens “beſtimmt. In Ariſtoteles verkörperte ſich für das Mittelalter die Theſis, nach welcher die Welt, wie ſie in der äußeren Erfahrung gegeben iſt, einen dem Denken angemeſſenen Zuſammenhang bildet, welcher als Gedankenmäßigkeit, Zuſammen - ſtimmung, Zweckmäßigkeit erkannt und auf eine höchſte Intelligenz zurückgeführt wird.
26*404Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Die Peripatetiker des Islam ſtanden, wie wir ſahen, in Zuſammenhang mit der älteren peripatetiſchen Schule und unter dem Eindruck der fortſchreitenden Naturerkenntniß. Sie zogen aus der Art, wie vom Studium der Außenwelt aus der meta - phyſiſche Zuſammenhang erſcheint, eine Folgerung, welche die Ver - nunftwiſſenſchaft des Ariſtoteles einen Schritt weiter, Spinoza und dem modernen intellektualiſtiſchen Pantheismus entgegen führte1)Das dritte Buch der Pſychologie des Ariſtoteles wurde der Aus - gangspunkt für die Lehre vom einheitlichen Intellekt: Alexander von Aphro - diſias, Themiſtius, die pſeudoariſtoteliſche Theologie entwickelten ſie, und die arabiſchen Peripatetiker benutzten die Theorien vom leidenden und thätigen Verſtande bei Alexander und Themiſtius.. Verbleibt man innerhalb des Studiums der äußeren Wirklich - keit, ſo gilt das: ex nihilo nihil fit2)Die eingeſchränkte Geltung des Satzes ex nihilo nihil fit hat ſchon Thomas von Aquino erkannt: der Satz hat keine Geltung für die trans - ſcendente Urſache, contra gentil. II c. 10. 16. 17. 37. . Von dieſer Voraus - ſetzung aus hält Ibn Roſchd an der ariſtoteliſchen Ewigkeit der Welt feſt. Der gedankenmäßige Zuſammenhang dieſer ewigen Welt ſteht nun mit dem Verſtande Gottes und zugleich mit dem menſchlichen Intellekt in Beziehung. Dies für die Vernunftwiſſen - ſchaft grundlegende Verhältniß empfängt bei den arabiſchen Peripa - tetikern, insbeſondere bei Ibn Roſchd eine geänderte Faſſung, indem der letztere nach dem Vorgang des Ibn Badja die menſchlichen Einzelintelligenzen nicht von einander trennt, ſondern als in dem univerſellen Verſtande enthalten betrachtet. So entſteht die erſte Formel deſſen, was dann als unendlicher Intellekt Gottes bei Spinoza, als Weltvernunft in der deutſchen Spekulation erſcheint.
Dieſe Einheit des in der reinen Erkenntniß wirkſamen Intellekts erſcheint unter einem beſtimmten Geſichtspunkt als berechtigte Konſequenz der ariſtoteliſchen Vernunftwiſſenſchaft.
Abſtrahirt man von den Erfahrungen des Willens, ſo liegt in dem iſolirt betrachteten Intellekt thatſächlich ein über das In - dividuum hinausreichender Zuſammenhang, vermöge deſſen die Prämiſſen des Denkens von Ariſtoteles in das Denken des Plato405Die arabiſchen Peripatetiker u. d. Theorie vom einheitlichen Verſtande.und weiter des Parmenides etc. zurückreichen, und die Allgemein - gültigkeit der Sätze das Individuelle aufzuheben ſtrebt. Dies Un - perſönliche des Denkens erhält in dem Maße für die metaphyſiſche Weltanſicht größeres Gewicht, als das Syſtem der allgemeinen Begriffe und Wahrheiten im Geiſte verſelbſtändigt wird. Wird das Weſen des Menſchengeiſtes im Denken gefunden, ſo fehlt ein Prinzip, welches dem Einzelgeiſte ſeinen ſelbſtändigen Mittelpunkt ſicherte; denn ein ſolches liegt nur in dem Lebensgefühl und dem Willen.
Wenden wir dieſe allgemeinen Sätze an. Der Intellektualis - mus der arabiſchen Peripatetiker, wie er in Ibn Roſchd ſeinen Höhepunkt erreicht hat, findet in Vorgängen des Wiſſens das Band des Weltzuſammenhangs, und ſelbſt die Vereinigung der Seele mit Gott vollzieht ſich ihm in der Wiſſenſchaft. Ihm fehlt da - her, in folgerichtigem Zuſammenhang mit dem Grundgedanken der ariſtoteliſchen Vernunftwiſſenſchaft, für die geiſtige Welt ein Prinzip der Individuation1)Averroes destructio destructionum II disp. 3 fol. 145 (Venet. 1562): nam plurificatio numeralis individualis provenit ex materia. ; da in der Materie ein ſolches nur für die ſinnlichen Einzelexiſtenzen gegeben iſt. Ja Ibn Roſchd iſt ſich der Eigenſchaften des Denkens, welche die Akte deſſelben in verſchiedenen Individuen innerlich zu Einem Vernunftzuſammenhang verbinden, ſehr klar bewußt. Er ſchließt daraus, daß das Denken das Unveränderliche zu ſeinem Gegenſtande hat, es müſſe ſelber ewig ſein2)Averroes de animae beatitudine c. 3 fol. 150 ff.. In dem über Entſtehung und Untergang der Individuen hinausgreifen - den Zuſammenhang der Wiſſenſchaft iſt das Auftreten dieſes oder jenes Denkers nur zufällig, der Verſtand ſelber iſt ewig3)Destructio destructionum II disp. 2 fol. 144 K, Averroes zu der ratio decima: igitur necesse est ut sit non generabilis, nec cor - ruptibilis, nec deperditur, cum deperdatur aliquod individuorum, in quibus invenitur ille. et ideo scientiae sunt aeternae et nec generabiles nec corruptibiles, nisi per accidens, scilicet ex copulatione earum Socrati et Platoni .. quoniam intellectui nihil est individuitatis. . 406Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Der einheitliche Verſtand entſpricht der Selbigkeit der Vernunft - wahrheit in den vielen Individuen1)Destr. destr. I disp. 1 fol. 20 M: et anima quidem Socratis et Platonis sunt eaedem aliquo modo et multae aliquo modo: ac si diceres sunt eaedem ex parte formae, et multae ex parte subjecti earum ... anima autem prae caeteris assimilatur lumini, et sicut lumen dividitur ad divi - sionem corporum illuminatorum, deinde fit unum in ablatione corporum, sic est res in animabus cum corporibus. . Nur ſo iſt erklärbar, daß der Intellekt das Allgemeine, und zwar nicht im Verhält - niß einer durch die Materie ihm zufallenden endlichen Stellung in der Körperwelt, zu erkennen vermag2)Albertus Magnus de unitate intellectus contra Averroem c. 4. — Die Argumente ſind im Text frei wiedergegeben, da ſie in ihrer genauen Faſſung die Spezialitäten der averroiſtiſchen Metaphyſik vorausſetzen. — Vgl. übrigens Leibniz, Considérations sur la doctrine d’un esprit uni - versel, welche ſchon Averroes zu Spinoza in Beziehung ſetzen.. Daher iſt die menſch - liche Wiſſenſchaft als in ſich zuſammenhängendes Ganze ein in Gott gegründeter, nothwendiger und ewiger Beſtandtheil der Weltordnung. Sie iſt unabhängig von dem Leben des einzelnen Menſchen. Ex necessitate est, ut sit aliquis philosophus in specie humana3)Averroes de anim. beat. c. 2 fol. 149 G.. — Innerhalb dieſer panlogiſtiſchen Ver - faſſung des Syſtems tritt von Neuem bei Ibn Roſchd die pantheiſtiſche Konſequenz derjenigen Vernunftwiſſenſchaft hervor, welche die Gedankenmäßigkeit der Welt in dem realen Zuſammen - hang der Gattungen und Arten ſieht. Ibn Roſchd’s Lehre von dem ewigen und univerſellen Verſtande entſprang näher aus der ariſtoteliſchen Anſicht von den Prinzipien der Individuation. Das Einzelweſen beſteht aus Stoff und Form; nun iſt Stoff den Geiſtern oder Seelen nicht beizulegen, ihre Form oder Weſenheit aber iſt identiſch; ſonach müſſen ſie ſelber identiſch ſein4)Averroes destr. II disp. 3 fol. 145 ff.. — Und dem entſpricht die Verſchiebung des Ausgangspunktes der Beweiſe für die Unſterblichkeit, die wir in ſeiner Darlegung derſelben her - aushoben. In der Vereinigung mit dem von Gott ausſtrahlenden „ wirkenden Geiſte “beſteht diejenige Unſterblichkeit des Menſchen -407Emanatiſtiſche Form des Panlogismus.geiſtes, welche Ibn Roſchd als in der Vernunftwiſſenſchaft begründet anerkennt1)Das Nähere hierüber bei Renan Averroès 3 p. 152 ff. und exakter bei Munk, Le guide des égarés, traité de théologie et de philosophie t. I p.434 Note 4. — Die Verſchiebung der Beweiſe, nach welcher Ibn Roſchd hauptſächlich von der Thatſache der abſtrakten Wiſſenſchaft ausgeht, iſt angedeutet und belegt S. 400..
Was trennt dieſe Theorie noch von Spinozas unendlichem göttlichen Intellekt oder von dem Panlogismus der deutſchen Identitätsphiloſophie? Innerhalb des naturwiſſenſchaftlichen Den - kens iſt es die aſtronomiſche Konſtruktion der Welt, welche Gott räumlich von der Welt ſondert und den Bezirk der vollkommenen, unveränderlichen Bewegungen noch von dem der Veränderlich - keit, des Entſtehens und Vergehens ſcheidet. So entſteht bei den arabiſchen Peripatetikern die emanatiſtiſche Form des Pan - logismus, welche der pantheiſtiſchen vorausgeht. Das Schema entſpringt, nach welchem einerſeits ein Bewegungsſyſtem ſich ab - wärts in der Welt abſtuft, andrerſeits ein Wiſſen. Von der Wiſſenſchaft Gottes ſtrahlt das Wiſſen aus und, dem Lichte gleich, das in die trübe Atmoſphäre hineinſcheint, zerſtreut es ſich und ſchwächt ſich ab, indem es von einem Weltkreiſe der Bewegung zum andern ſich fortpflanzt. So trennen ſich in der emanatiſti - ſchen Vorſtellung des Ibn Roſchd Intelligenzen von einander, bis zu dem ſeparaten Intellekt abwärts, der im menſchlichen Denken ſich der Seele verbindet. Das iſt der ganz vergängliche Theil der berühmten Theorie des Ibn Roſchd vom geſonderten einheit - lichen Intellekt, welche ſo viele Federn im chriſtlichen Abendlande in Bewegung ſetzte.
Zwiſchen dieſer Wiſſenſchaft von dem gedanken - mäßigen Zuſammenhang des Kosmos und der Lehre von einem wirklichen Willen in Gott beſteht ein unauflösbarer Widerſpruch. Der unerbittliche Scharfſinn des Ibn Roſchd hat ihn erkannt und ſchließt den freien Willen in Gott durch folgende Beweisführung aus2)Philoſophie und Theologie des Averroes (Müller) S. 79 ff.. Die Welt iſt entweder möglich in dem408Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Sinne, daß aus der Wahl Gottes auch andere Eigenſchaften der Dinge hätten hervorgehen können, oder in ihr iſt ein höchſter Zweck vermöge der angemeſſenen Mittel und in einem Zuſammenhang, der nicht anders gedacht werden kann, verwirklicht. Nur in dem letzteren Falle exiſtirt für uns ein vernünftiger Zuſammenhang, der auf ein erſtes Denken führt. „ Wenn man nicht einſieht, daß es zwiſchen den Anfängen und den Zielpunkten in den hervor - gebrachten Dingen Mittelglieder giebt, auf welche die Exiſtenz der Zielpunkte gebaut iſt, ſo giebt es keine Ordnung und Reihenfolge, und wenn es dieſe nicht giebt, ſo exiſtirt kein Beweis, daß dieſe Weſen ein wollendes, wiſſendes Agens haben. Denn die Ordnung und Anreihung und das Gegründetſein der Urſachen auf die Wirkungen beweiſt, daß ſie von einem Wiſſen und einer Weisheit abſtammen. “ Den gedankenmäßigen Zuſammenhang bis zu ſeinem erſten Prinzip erkennen, iſt ihm hiernach, Gott erkennen, und die Dinge als zufällig betrachten, heißt ihm Gott leugnen. Auch ergiebt ſich die Unmöglichkeit der Wahlfreiheit in Gott daraus, daß ſie in ihm einen Mangel, einen leidenden Zuſtand, eine Veränderung vorausſetzen würde. Daher bedeutet der Wille in Gott, daß die Vorſtellung des vollkommenſten Zweckes einen nothwendigen Zuſammenhang der Verurſachung in Gott in Be - wegung ſetzt. Und dies nennt Ibn Roſchd die Güte Gottes!
Stellt Thomas von Aquino hier wie überall nur ein künſtliches Gleichgewicht zwiſchen den Sätzen und Gegenſätzen her, mit welchen die Scholaſtik ringt1)Thomas von Aquino verbleibt in der Auffaſſung des Willens unter dem Banne des Intellektualismus; vergl. contra gentil. I c. 82 f. p. 112 a. Er verlegt aber die Antinomie in den Willen Gottes ſelber, indem er die Nothwendigkeit, mit welcher dieſer ſeinen eigenen Inhalt als Zweck will, von der Freiheit unterſcheidet, mit welcher er deſſen Mittel in der zufälligen Welt will, da er doch auch ohne dieſe Mittel ſeine Vollkommen - heit beſitzen könnte; vergl. summa theol. p. I qu. 19 art. 3. Und zwar enthält nach ihm ein ſolcher Wille keine Unvollkommenheit, weil er ſein Objekt ſtets in ſich ſelber hat; vergl. ebdſ. art. 2. So will Gott ewig was er will, nämlich ſeine eigene Vollkommenheit, ſonach auf nothwendige Weiſe; ebdſ. art. 3. Hiernach iſt augenſcheinlich Gottes Wille nach Thomas in ſeinem Kern nothwendig, wie ſein Wiſſen., ſo hat dagegen Duns409Duns Scotus und die Antinomie zwiſchen Intellekt und Wille in Gott.Scotus1)Ich benutze beſonders Duns Scotus in sent. I dist. 1 und 2; dist. 8 quaest. 5; dist. 39 beſonders quaest. 5; II dist. 25. 29. 43. dieſe Antinomie mit klarem Bewußtſein aufgefaßt, und er ſuchte ſie nicht wie Ibn Roſchd wegzuſchaffen, indem er den Willen bei Seite brachte, ſondern ſein Syſtem bezeichnet den Punkt im mittelalterlichen Denken, an welchem mit derſelben energiſchen Schärfe des Geiſtes der verſtandesmäßige Zuſammenhang in der Welt und das dem Verſtande ſich entziehende Walten der Freiheit anerkannt werden. Daher iſt ſein Syſtem von dieſem Wider - ſpruch in der Mitte zerriſſen. Der Beſtandtheil der Weltauffaſſung, welcher einen gedankenmäßigen nothwendigen Zuſammenhang er - kennt und ihn auf eine denkende Urſache zurückführt, iſt gänzlich ge - trennt von dem anderen, welcher eine unableitbare Thatſächlichkeit, die eben ſo gut anders ſein, und einen freien Willen, der wollen oder nicht wollen kann, feſtſtellt und Beides auf ein Prinzip des Willens zurückführt. Hiervon war die Bedingung, daß er eine erſte gründliche Analyſe der Willensfreiheit vornahm; die - ſelbe zieht ſich durch ſeine ganze ſchriftſtelleriſche Thätigkeit hin - durch. Er ſtellt ſich dem Ariſtoteles ſelbſtändig gegenüber, welcher das Problem des Unterſchieds von Wille und Denken nicht zu - reichend behandelt habe2)Duns Scotus in sent. I dist. 2 quaest. 7., und thut den Schritt zu klarem Erfaſſen der ſich ſelbſt beſtimmenden Spontaneität3)Vgl. mit Ariſtoteles S. 268 Duns Scotus in sent. II dist. 25 quaest. 1.. Dieſe iſt eine unmittelbar gegebene Thatſächlichkeit4)Duns Scotus in sent. I dist. 8 quaest. 5: et si quaeras, quare igitur voluntas divina magis determinatur ad unum contradictoriorum, quam ad alterum, respondeo: indisciplinati est, quaerere omnium causas et demonstrationem .. principii enim demonstrationis non est demonstratio: immediatum autem principium est, voluntatem velle hoc.. Dieſelbe kann nicht geleugnet werden; denn die Zufälligkeit des Weltlaufs iſt augenſcheinlich, wer ſie beſtreitet, müßte gemartert werden, bis er zugeſteht, es ſei auch möglich, daß er nicht gemartert würde; dieſe Zufälligkeit weiſt aber auf eine freie Urſache. Die Thatſache des freien Willens kann andrerſeits nicht erklärt werden; denn410Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.daß ſie der Auflöſung in Vernunftzuſammenhang unzugänglich iſt, macht eben ihren Charakter aus. Sonach ſind das Denken in Gott und der Wille in ihm zwei letzte Erklärungsgründe, deren keiner auf den anderen zurückgeführt zu werden vermag1)Duns Scotus in sent. I dist. 2.. Zwar iſt der Intellekt die Bedingung des Willens, aber dieſer letztere kann das was der Intellekt vorſtellt, wollen oder nicht wollen, ganz unabhängig von jenem. So iſt in dem Syſtem des Duns Scotus Dualismus der Ausdruck der Antinomie, von welcher es bewegt iſt. Er hat dieſe Antinomie ſo durchſchaut, daß ſeine Begriffe nur in das Pſychologiſche und Erkenntnißtheoretiſche umgedacht zu werden brauchen. Denn der Verſtand iſt nach ihm eine natürliche und nach dem Geſetze der Nothwendigkeit wirkende Kraft, in dem Willen, aber nur in ihm allein, wird der nothwendige Naturzuſammenhang überſchritten, und zwar iſt der Wille eben frei, ſofern hier das Aufſuchen einer ratio endet2)In sent. II dist. 1 qu. 2: sicut non est ratio, quare voluit naturam humanam in hoc individuo esse et esse possibile et contingens: ita non est ratio, quare hoc voluit nunc et non tunc esse, sed tantum quia voluit hoc esse, ideo bonum fuit illud esse. Vgl. hierzu und zur ganzen Lehre vom Willen Duns Scotus quaestiones quodlibetales, quaest. 16.. Schließlich hat Duns Scotus die Annahme der vom Verſtande getrennten Frei - heit in Gott bis zu dem Satze verfolgt, daß auch ſittliche Geſetze ihm in dieſem Willkürakte Gottes allein begründet ſchienen.
So erkennt das Denken des Mittelalters die Unmöglichkeit, ein inneres Verhältniß von Wille und Intellekt in dieſem höchſten göttlichen Weſen (dem Abbilde des Gegenſatzes unſeres wiſſen - ſchaftlichen Denkens des Kosmos und unſerer Willenserfahrungen in ungeheurem Maßſtabe) zu entwerfen; denn es kann weder Wille in Gott noch Verſtand in ihm leugnen, es vermag auch nicht eins dem andern unterzuordnen und am wenigſten kann es ſie koordinirt nebeneinander ſtellen, als letzte objektive und einander heterogene Thatſachen, wie Duns Scotus gethan hatte.
Und wie in Ibn Roſchd die eine Seite dieſer antinomiſchen Weltordnung einſeitig entwickelt worden war, ſo finden wir in411Occam und die Theorie des Willens.dem Fortgang der Metaphyſik des chriſtlichen Abendlandes ins - beſondere durch Occam die andere in ihre letzten Konſequenzen fortgeführt1)Die parallele Erſcheinung im Morgenlande fehlt auch hier nicht. Die Mutakalimun ſubſtituirten dem Kauſalzuſammenhang der Natur un - mittelbare Einzelakte Gottes und führten ſo den Weltlauf als zufällig auf den göttlichen Willen zurück.. Jene mußte im weiteren Verlauf in dem Panlo - gismus endigen, dieſe mußte die Metaphyſik zerſtören und der inneren Erfahrung ſowie dem in ihr gegebenen Willen Raum machen. Iene führt zu Spinoza und Hegel, dieſe zu den Myſtikern und Reformatoren. Indem aber in der Metaphyſik ſelber das Prinzip des Willens, ja der Willkür geltend gemacht wird, zerſetzt der hierin liegende Widerſpruch zwiſchen der Form und dem Inhalt die Metaphyſik, deren Weſen deduktive Folge - richtigkeit iſt, und er erſcheint in Occam und ſeinen Schülern als Frivolität und als Flucht in ein ſupranaturales asylum ignoran - tiae, während zugleich ein tiefer Ernſt in der Behauptung des großen Prinzips der Willensperſönlichkeit und ihrer freien Macht gegenüber aller Autorität und aller leeren Abſtraktion in Occam ſich geltend macht.
Indem Occam ſo die Antitheſis der Antinomie ebenſo ein - ſeitig entwickelte, wie Ibn Roſchd die Theſis ausgebildet hatte, empfing nunmehr der Nominalismus einen Lebens - gehalt. Dieſer hatte in Roscellinus mit unfruchtbarer Negativität die Begriffe, welche ein Allgemeines oder ein Ganzes ausſprechen, verneint, während gerade auf den letzteren die ganze theologiſche Dogmatik als Lehre von der Oekonomie des Heils beruhte. Jetzt wirkte das Prinzip der Erfahrung, welches bisher nur eine unfruchtbare Erinnerung des Alterthums und ein todtes Spiel des Verſtandes geweſen war, poſitiv und aufbauend. Es hat in Roger Bacon das Studium der Außenwelt, in Occam die ſelb - ſtändige Betrachtung der inneren Erfahrung begründet. Occam iſt die mächtigſte Denkerperſönlichkeit des Mittelalters ſeit Au - guſtinus. Wie er die Independenz des Willens verkündete, ſo hat er ſie auch kämpfend in ſeinem Leben dargeſtellt. Ihn be -412Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.ſeelt das moderne Prinzip der unabhängigen Willensmacht der Perſon. Das Objekt des Wiſſens ſind die Einzeldinge; die allge - meinen Begriffe Zeichen; das Band zwiſchen ihnen und dem gött - lichen Intellekt, das alle Vernunftwiſſenſchaft zuſammengehalten hatte, iſt zerriſſen; und die praktiſche Theologie ſelber wird zerſetzt von dem Gegenſatz der ſcholaſtiſchen Verſtandeserörterung als ihrer Form, und der Willenserfahrung als ihres Inhaltes.
Als Luther, ein eifriger Leſer Occam’s, die Independenz der Erfahrungen des Willens ausſprach und den perſönlichen Glauben von aller Metaphyſik auch in Bezug auf die Form ſon - derte, da war die Metaphyſik des Mittelalters durch eine freiere Geſtalt des Bewußtſeins abgelöſt. Aber ſo langſam arbeitet die Wahrheit in der Geſchichte, daß die altproteſtantiſche Dogmatik wie in einem Schattenſpiel die Begriffe der mittelalterlichen theo - logiſchen Metaphyſik wieder erſcheinen ließ. Die Gedankenmäßigkeit der äußeren Welt iſt die Grundvorausſetzung der Wiſſenſchaft, und das Syſtem der Erſcheinungen nach dem Satze vom Grunde iſt ihr Ideal; wo aber die Erfahrungen des Willens und des Ge - müths beginnen, hat eine ſolche Erkenntniß keine Stelle mehr.
Die Antinomie, welche die mittelalterliche Metaphyſik im Inner - ſten zerreißt, ſetzt ſich in die Auffaſſung des Verhältniſſes Gottes zur Welt fort. Der Wiſſenſchaft vom Kosmos iſt die Welt ewig, der Erfahrung des Willens Schöpfung aus Nichts in der Zeit. Die arabiſchen Peripatetiker ſind die Repräſentanten der erſteren Lehre, und wie die Leugnung der Unſterblichkeit hat die Ueberzeugung von der Ewigkeit der Welt und der Unabhängigkeit der Materie dem abendländiſchen Mittelalter die Geſtalt des Ibn Roſchd zu einem Typus des metaphyſiſchen Unglaubens gemacht. Von Albertus ab bekämpft die abendländiſche Metaphyſik dieſe Ueberzeugung mit einleuchtenden Gründen. Sie verſucht ihrerſeits vergeblich, die413Ewigkeit der Welt und Schöpfung aus Nichts.Schöpfung der Welt aus Nichts in der Zeit vorſtellig zu machen und in einer Wiſſenſchaft vom Kosmos ihr einen Platz zu be - ſtimmen.
Die Lehre von der Ewigkeit der Welt war innerhalb der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft nothwendig1)Vgl. S. 268.. Es giebt innerhalb der kosmiſchen Anſchauung von dem Syſtem der Bewegungen keinen Weg zu dem Gedanken eines bewegungsloſen Zuſtandes oder gar zu dem einer Abweſenheit der Materie: dieſes Syſtem muß als ewig gedacht werden. Der Satz: aus Nichts wird Nichts fordert die Ewigkeit der Welt und ſchließt jede Schöpfungslehre aus2)Renan (Averroès 3 108 ff. ) giebt eine Erörterung des Ibn Roſchd aus dem großen Kommentar deſſelben zur Metaphyſik des Ariſtoteles (Buch XII) in Uebertragung, welche über dieſe Theſis ſich zureichend aus - ſpricht..
Die chriſtliche Schöpfungslehre war der vorſtellungs - mäßige Ausdruck für die innere Erfahrung der Transſcendenz des Willens gegenüber der Naturordnung, wie ſie in dem Vermögen, ſein Selbſt aufzuopfern, ihre höchſte Erfahrung hat. Sie ver - neinte den Naturprozeß als Welterklärung, mochte er emanatiſtiſch oder naturaliſtiſch gedacht werden3)Thomas contra gentil. I c. 81 sq. p. 111 a; IV c. 13 p. 540 a: Deus res in esse producit non naturali necessitate, sed quasi per intel - lectum et voluntatem agens., ſowie die Einſchränkung des göttlichen Vermögens durch eine Materie. Aber ſie vermochte ihren poſitiven Gehalt nur durch die für die Vorſtellung unvollziehbaren Formeln: „ ex nihilo “, „ nicht aus dem Weſen Gottes “, „ in der Zeit “auszudrücken4)Die Formel ex nihilo iſt die Ueberiragung von 2 Makk. VII, 28; in der Stelle war möglicherweiſe das Nichtſeiende in platoniſchem Sinne zu verſtehen; ſchon Hermas mandatum 1 (Pastor, herausgeg. v. Gebh. u. Harn. p. 70): ὁ ποιήσας ἐκ τοῦ μὴ ὄντος εἰς τὸ εἶναι τὰ πάντα. — Die Begründung der Antitheſis, nämlich der Schöpfungslehre z. B. Thomas contra gentil. II c. 16 p. 145 a..
Aus dem Gegenſatz dieſer beiden Begriffe entſteht eine Antinomie, ſofern das religiöſe Bewußtſein die Beziehung Gottes414Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.zur Welt irgendwie zu erkennen ſich auf dem unkritiſchen Stand - punkt genöthigt findet. Denn unter den Bedingungen des Vor - ſtellens und Erkennens muß die Welt entweder ewig oder in der Zeit entſtanden und entweder aus der Materie geformt oder aus Nichts geſchaffen gedacht werden. Und zwar kann jedes dieſer beiden Glieder durch Aufhebung des anderen geſetzt werden.
Das Ringen des Mittelalters mit dieſer Anti - nomie ſtellt ſich darin dar, daß Satz wie Gegenſatz durch ent - ſcheidende Gründe vernichtet werden, aber die Verſuche einer befriedigenden poſitiven Aufſtellung vergeblich ſind. Dieſer Streit beſteht ſeit dem Anfang des achten Jahrhunderts zwiſchen den arabiſchen Theologen und Philoſophen, aber insbeſondere die Epoche von Ibn Roſchd, Albertus Magnus und Thomas von Aquino iſt erfüllt von ihm. — Einerſeits wird die Exiſtenz der Materie und die Ewigkeit der Welt von der chriſtlichen Phi - loſophie widerlegt. Langſam war die Lehre von der Formung der Materie ſeit Ibn Sina bei den arabiſchen Peripatetikern her - angewachſen; in Ibn Roſchd empfing ſie ihre härteſte Form, da nach ihm in der Materie die Formen keimartig liegen und durch die Gottheit hervorgezogen werden (extrahuntur), und wie dieſe Lehren in’s Abendland dringen, nimmt Albertus den Kampf gegen ſie auf. Die Unmöglichkeit der Ewigkeit der Welt wird von Albertus daraus erwieſen, daß von dem gegenwärtigen Zeitmoment ab rückwärts nicht eine unendliche Zeit verfloſſen ſein kann, da ſonſt dieſer Zeitmoment nicht eintreten konnte1)Albertus Magnus summa theol. II tract. 1 qu. 4 m. 2 art. 5 part. 1 p. 55 a ff. Vgl. Kant 2, 338 ff. (Roſenkr.). Eine gute Darſtellung im Kuſari, wo der erſte Lehrſatz der Medabberim (das heißt der philoſophirenden arabiſchen Theologen) ſo gefaßt iſt: „ Zuerſt muß man die Erſchaffenheit der Welt feſtſtellen und dies durch Widerlegung des Glaubens an die Nichter - ſchaffenheit beſtätigen. Wäre die Zeit ohne Anfang, ſo wäre die Zahl der in dieſer Zeit bis jetzt beſtandenen Individuen unendlich; was unendlich iſt, tritt aber nicht in die Wirklichkeit, und wie ſind jene Individuen in die Wirklichkeit getreten, da ſie ja der Zahl nach unendlich ſind? “.... „ was in die Wirklichkeit tritt, muß endlich ſein, was aber unendlich iſt, kann nicht in die Wirklichkeit treten. “ Alſo hat die Welt einen Anfang. Kuſari überſ. von Caſſel 2 S. 402. Ebenſo beſtimmt ſchon bei Saadja. 415Das Ringen mit dieſer Antinomie.Und die Unmöglichkeit einer Materie neben Gott wird daraus gezeigt, daß ſie Gott einſchränken und ſonach ſeine Idee aufheben würde. — Andrerſeits weiſen die Araber nach, daß in dem Zu - ſammenhang der natürlichen Weltanſicht die Schöpfung nicht ge - dacht werden kann. Denn, wie Ibn Roſchd richtig folgert, die Entſtehung aus Nichts in der Zeit hebt den Grundſatz der Wiſſen - ſchaft: ex nihilo nihil fit auf. Eine Veränderung, für welche von außen ein Grund nicht vorliegt und die von innen nicht aus einer anderen Veränderung folgt, kann nicht gedacht werden1)Averroes destruct. destr. I disp. 1 fol. 15 ff.. Vertheidigen ſich Albertus und Thomas hiergegen durch die Unterſcheidung des natürlichen Bewegungsſyſtems und der trans - ſcendenten Urſache2)Beſonders Thomas contra gentil. II c. 10. p. 140 b; c. 16 sq. p. 145 a; c. 37 p. 177 a und summa theol. I qu. 45 art. 2: antiqui philosophi non consideraverunt nisi emanationem effectuum particularium a causis par - ticularibus, quas necesse est praesupponere aliquid in sua actione. et secundum hoc erat eorum communis opinio, ex nihilo nihil fieri. sed tamen hoc locum non habet in prima emanatione ab universali rerum principio. : ſo ſind wir hier bei einem Uebergang aus dem Ueberſinnlichen zu den Naturvorgängen angekommen, welcher ſich der Vorſtellbarkeit entzieht. Daher denn ſchon von Thomas ab die Schöpfung dem Glauben überlaſſen und von der Metaphyſik ausgeſchloſſen wurde.
Eine andere Antinomie iſt mit dieſer verknüpft, führt aber bereits in die metaphyſiſche Behandlung der Geiſteswiſſenſchaften. In Gottes Verſtande iſt die Wirklichkeit in ewigen Wahrheiten und in der Form des Allgemeinen gegeben, in ſeinem Willen als Geſchichte, und in dem Zuſammenhang derſelben iſt es gerade die einzelne Perſon, auf welche der göttliche Wille ſich bezieht.
So entſteht der innerlich widerſpruchsvolle Charakter der mittelalterlichen Metaphyſik. Der objektive und denknothwendige1)Emunot, überſ. v. Fürſt S. 122, und anders gewendet bei Maimuni, More Nebochim I c. 74, 2 (Munk I, 422).416Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Zuſammenhang der Welt findet ſich gegenüber den freien Willen in Gott, deſſen Ausdruck die geſchichtliche Welt, die Schöpfung aus Nichts und die moraliſch-religiöſe Ordnung der Geſellſchaft ſind. Hier begegnen wir der erſten, noch unvollkommenen Form eines Gegenſatzes, welcher die Metaphyſik von innen zerſtören und eine ſelbſtändige Geiſteswiſſenſchaft der Naturwiſſenſchaft gegenüber - ſtellen mußte. Ja Kant’s Kritik der Metaphyſik empfing ihre Richtung durch dieſe Aufgabe, den nothwendigen Kauſalzuſammen - hang mit der moraliſchen Welt zuſammenzudenken.
Oder wie ſollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzel - thatſachen vorhergehenden und ihre Bedeutung zeitlos ausdrücken - den Ideenzuſammenhangs in einem Willen Beſtand haben, der lebendige Geſchichte iſt, deſſen Vorſehung auf das Einzelne ſich richtet und deſſen Thaten Einzelrealität ſind? Mit formaler Ge - ſchicklichkeit haben Albert der Große und Thomas einen Vertrag dieſer Begriffe miteinander errichtet. Duns Scotus zerreißt ihn. Er erkennt neben dem Intellekt einen freien Willen in Gott an, welcher auch eine ganz andere Welt hätte hervorbringen können1)Duns Scotus in sent. I. dist. 8 qu. 4. 5. Die voluntas iſt eben da - durch voluntas, daß eine ratio für den Zuſammenhang, aus welchem der Willensakt hervorgeht, nicht aufgeſtellt werden kann, vgl. ebdſ. II dist. 1 qu. 2. Die Unterſcheidung eines erſten und zweiten Verſtandes in Gott (ebdſ. I dist. 39) löſt die ſo entſtehende Antinomie nicht auf., und da - mit iſt der denknothwendige metaphyſiſche Zuſammenhang ſo weit aufgehoben, als dieſer freie Wille reicht, welcher den rationalen Zu - ſammenhang ausſchließt. — Und entſteht weiter die Aufgabe, Ver - ſtand und Willen in Gott, dieſe ſich befehdenden Abſtraktionen, in einen pſychologiſchen Zuſammenhang zu ſetzen, ſo finden wir eine ſolche Vorſtellung natürlich insgeheim durch die ungeeignete Analogie des menſchlichen Bewußtſeins geleitet; romanhafte Spiegel - bilder unſeres eigenen Seelenlebens, auseinandergezogen in’s Große, treten uns gegenüber. So gewiß die Perſönlichkeit Gottes in unſerem Leben als Realität gegeben iſt, weil wir uns ſelbſt ge - geben ſind, ſo gewiß können wir doch nur durch eine ſpielende Uebertragung in die Gottheit uns verſetzen, wobei dann der Wider -417Die Widerſprüche der mittelalterlichen Metaphyſik ſind unauflöslich.ſpruch zwiſchen einem ſolchen von uns erſonnenen Weſen und dem Schöpfer Himmels und der Erde hervortritt. Eitle Träume! — Occam läßt für den rationalen Zuſammenhang keinen Schlupf - winkel in Gott übrig.
Wie ſollte, nachdem die Allgemeinbegriffe als Schöpfungen der Abſtraktion anerkannt ſind, ein Daſein derſelben in Gottes Verſtande abgeſondert von dem Willen, als dem Erklärungsgrund der einzelnen Dinge, gedacht werden können? Eine ſolche An - nahme wiederholt nur den Irrthum von einem Syſtem der Ge - ſetze und Ideen, welches, der Wirklichkeit vorausgehend, dieſer ſeine Gebote auflege. Geſetze ſind nur abſtrakte Ausdrücke für eine Regel der Veränderungen, Allgemeinbegriffe Ausdrücke für das im Kommen und Gehen der Objekte Verharrende. Verlegt man dagegen den Urſprung dieſes Syſtems von Ideen und Geſetzen in die That Gottes, ſo entſteht der andere Widerſinn, daß der Wille Wahrheiten ſchafft. Es giebt eben hier keine metaphyſiſche, ſondern nur eine erkenntnißtheoretiſche Auflöſung. Die Provenienz deſſen, was ich Ding, Wirklichkeit nenne, iſt eine andere als die Pro - venienz deſſen, was ich als Begriffe und Geſetze, ſonach als Wahr - heiten im Denken entwickle, zu dem Zwecke entwickle, dieſe Wirk - lichkeit zu erklären. Indem ich von dieſer Verſchiedenheit des pſy - chologiſchen Urſprungs ausgehe, kann ich zwar die Schwierig - keiten nicht auflöſen, aber ihre Unauflösbarkeit erklären und die Frageſtellung, in der ſie entſtanden, als eine unrichtige nachweiſen.
Wie ſollte der Streit, ob Gott die Welt, wie ſie iſt, ge - ſchaffen, weil ſie ſo gut iſt, oder ob ſie gut iſt, weil er ſie ſo ſchuf, geſchlichtet werden können? Jede Erörterung dieſer Fragen ſetzt einen Gott, der will, aber in dem das Gute noch nicht iſt, oder einen ſolchen, in dem die intelligible Welt des Guten iſt, der aber noch nicht will. Weder jener noch dieſer iſt ein wirk - licher Gott, und ſo iſt dieſe Metaphyſik nur ein Spiel der Ab - ſtraktionen.
Dilthey, Einleitung. 27Die Metaphyſik des Mittelalters erwies in ihrer klaſſiſchen Zeit, daß die menſchlichen Seelen immaterielle unſterbliche Sub - ſtanzen ſind. Als dann mit Duns Scotus die Beweisbarkeit der Unſterblichkeit beſtritten zu werden begann, blieb die Erörterung hierüber eine Streitfrage der Schulen und gewann auf die Ueber - zeugungen keinen Einfluß; die Leugnung individueller Fortdauer iſt nur in dem engen Kreiſe radikaler Aufklärung aufgetreten, welcher vorwiegend unter arabiſchem Einfluß ſtand. So ſind im - materielle Subſtanzen verſchiedener Art für den mittelalterlichen Menſchen ein metaphyſiſches Reich; Engel, böſe Geiſter und Menſchen. Sie bilden unter Gott als ihrem Haupte eine Hie - rarchie der Geiſter, deren Rangordnung ſich in der vor der Mitte des ſechſten Jahrhunderts unter dem Namen des Dionyſius Areo - pagita aufgetauchten Schrift von der himmliſchen Hierarchie mit Reinlichkeit beſchrieben und feſtgeſtellt fand. Dieſe Hierarchie er - ſtreckt ſich von dem Throne Gottes bis zu der letzten Hütte und bildet die ungeheure für den mittelalterlichen Geiſt greifbare Rea - lität, welche allen metaphyſiſchen Spekulationen über die Geſchichte und die Geſellſchaft zu Grunde lag.
Es beſtand kein Bedenken mehr, die metaphyſiſche Be - weisführung auf dieſe geiſtige und geſellſchaftliche Welt auszudehnen. Thomas von Aquino erwies vermittelſt der von den Neuplatonikern zuerſt ausgeführten Gründe, umfaſſender aus dem teleologiſchen Zuſammenhang der Welt in Gott, daß ein Reich endlicher Geiſter beſteht und die Schöpfung in ihm zu ihrem Prinzip zurückkehrt: wie ſie von dem göttlichen Intellekt ausging, ſo muß ſie in geiſtigen Weſen ihren Abſchluß erreichen1)Thomas contra gentil. II c. 46 p. 192 a; c. 49 ff. p. 197. 198.. Ja er leitet durch ein weiteres metaphyſiſches Schlußverfahren die419Das metaphyſiſche Reich immaterieller Subſtanzen.Gliederung der Geiſterwelt ab, nach welcher Gott getrennt iſt vom Reiche der Engel, dieſes von dem der menſchlichen Seelen1)In demſelben Zuſammenhang der Argumentation ebendaſelbſt vo p. 199b ab entwickelt.. Und ſo hat die mittelalterliche Philoſophie eine vollſtändige Metaphyſik der geiſtigen Subſtanzen geſchaffen, die lange in dem Denken der europäiſchen Völker ihre Macht behauptet hat, auch nachdem ſeit Duns Scotus die Angriffe gegen ſie beſtändig an Ausdehnung und Gewicht zunahmen.
Wir nähern uns der erhabenen Konception des Mittelalters, welche nun der Metaphyſik der Natur als der Schöpfung des griechiſchen Geiſtes zur Seite trat. Sie beſteht in der auf die Lehre von den geiſtigen Subſtanzen gegründeten Philoſophie der Geſchichte und Geſellſchaft. Wie vielfach auch das mittelalter - liche Denken von dem der alten Völker abhängig geweſen iſt: hier iſt es ſchöpferiſch, und die am meiſten auffälligen Züge in der politiſchen Thätigkeit des mittelalterlichen Menſchen ſind durch dieſes Syſtem von Vorſtellungen mitbedingt; mag man nun den theo - kratiſchen Charakter der mittelalterlichen Geſellſchaft betrachten oder die Macht der Kaiſeridee in derſelben oder die der Einheit der Chriſtenheit, wie ſie am gewaltigſten in den Kreuzzügen hervor - tritt. So zeigt ſich von neuem, wie bedeutend die Funktion geweſen iſt, welche die Metaphyſik innerhalb der europäiſchen Geſellſchaft auszuüben hatte. Es wird zugleich ſichtbar, wie vor ihr, während ſie voranſchritt, eine unlösbare Antinomie nach der anderen ſich aufthat, da ſie doch keine wirklich gelöſt hinter ſich zurückließ. Sie gleicht den ſagenhaften Helden, welche, je mehr ſie ringen, um ſo feſter ſich in Banden verſtrickt finden.
Die geiſtigen Subſtanzen, welche das Reich Gottes bilden, werden von dieſer Metaphyſik in ihrem Mittelpunkt, als Willen, gefaßt und ſo beſteht nach ihr das menſchliche und geſchichtliche Leben in dem Zuſammenwirken des Wollens dieſer ge - ſchaffenen Subſtanzen mit der göttlichen Providenz, welche in ihrer Willensmacht ſie alle ihrem Ziele entgegenführt. 27*420Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Dieſes Schema des Lebens iſt von der Betrachtungsweiſe der Alten ganz verſchieden. Dieſelben hatten an dem Kosmos ihre Auf - faſſung der Gottheit gebildet, und ſelbſt ihre teleologiſchen Syſteme kannten nur eine Gedankenmäßigkeit des Weltzuſammenhangs. Hier tritt Gott in die Geſchichte und lenkt die Herzen zur Verwirklichung ſeines Zweckes. Daher wird hier der Begriff der Gedankenmäßig - keit der Welt durch den der Verwirklichung eines Planes in ihr erſetzt, für welchen jene ganze Gedankenmäßigkeit nur Mittel, nur Apparat iſt. Ein Ziel der Entwicklung ſteht feſt und ſo empfängt der Gedanke des Zweckes einen neuen Sinn.
Indem dieſer Plan Gottes mit der Freiheit des Menſchen zuſammengedacht werden ſoll, tritt in den Mittelpunkt der chriſt - lichen Metaphyſik der Geſchichte das Problem, welches durch die Antinomie der Freiheit und eines objektiven den Menſchen beſtimmenden Weltzuſammenhangs gebildet wird. Daſſelbe entſpricht innerhalb der realen geſchichtlichen Welt dem, welches wir während des Mittelalters in der Vorſtellung Gottes aus der Antinomie zwiſchen dem denknothwendigen Zuſammenhang und dem freien Willen hervortreten ſahen1)S. 403 ff.. Es hat von dem Gegen - ſatz der griechiſchen und lateiniſchen Väter und dem pelagianiſchen Streite ab mannichfache Formen angenommen. Aber ſo wenig einſt das Verhältniß des Beſtandes der Ideen zu dem Daſein der Einzeldinge hatte widerſpruchslos gedacht werden können, war nun die innere Beziehung des ſchaffenden, erhaltenden und leiten - den göttlichen Willens zu Freiheit, Schuld und Unglück menſchlicher Willen der Aufklärung durch irgend eine begriffliche Zauberformel fähig. Wie es dort unmöglich war, ein objektives und wider - ſpruchsloſes Syſtem auf dem Begriff der Subſtanz aufzubauen, ſo gelang es hier nicht, eine reale innere Beziehung zwiſchen den Beſtandtheilen des Syſtems von Urſachen und Wirkungen, welche für den Willen Raum gelaſſen hätte, dem Begriff der Kauſalität abzugewinnen. Die Formel, zu welcher an dieſem Punkte das metaphyſiſche Denken des Mittelalters gelangte, war die folgende. 421Die Antinomie in demſelben.Alles Wirken eines endlichen Subjektes, ſei es ein Naturding oder ein Wille, empfängt in jedem Augenblicke die Kraft zu ſeiner Leiſtung von der erſten Urſache. Doch verhält ſich das Wirken der endlichen Subſtanzen zu dem der erſten Urſache nicht einfach wie das mittlere Glied einer Verkettung von Urſachen rückwärts zur erſten Urſache oder Subſtanz. Die Wirkung, welche ein endliches Geſchaffenes, ſonach auch der Wille, hervorbringt, iſt ganz bedingt durch ſeine Beſchaffenheit und ebenſo ganz durch die der erſten Ur - ſache. Das endliche Reale iſt in der teleologiſchen Ordnung gleich - ſam ein Inſtrument in der Hand Gottes, und dieſer verwendet es der Natur dieſes Realen gemäß, wenn auch in ſeinem Zweckzu - ſammenhang. So gebraucht Gott den Willen des Menſchen ge - mäß der Beſchaffenheit deſſelben, welche Freiheit einſchließt, und in der Richtung ſeines letzten Ziels, welches die Aehnlichkeit mit ihm ſelber, ſonach wiederum die Freiheit in ſich faßt1)Thomas contra gentil. III c. 66 — 73, beſonders p. 364 a, 367 a, 371 a, 375 a.. Aber vergeblich verſuchen nun die Formeln, welche Thomas entwarf, ſich hindurchzuwinden zwiſchen dem Deismus, welcher für Gott etwa die Vollkommenheit der Leiſtung beanſprucht, welche dem Erbauer einer Maſchine zukommt, ſodaß ſeine Welt nicht be - ſtändiger Nachhilfe bedarf, und dem Pantheismus, nach welchem aus der beſtändigen Erhaltung des geſammten Einzelweſens auch die gänzliche Verurſachung aller von ihm ausgehenden Wirkungen folgt. Widerſprüche quellen überall hervor, ſobald man anſtatt erkenntnißtheoretiſch den Urſprung dieſer verſchiedenen Beſtandtheile unſerer Vorſtellung vom Leben aufzuzeigen und ſo die blos pſychologiſche Bedeutung dieſer Antinomie klarzulegen, das Unvereinbare durch künſtliche Veranſtaltungen in Harmonie bringen will. Kauſalzuſammenhang können wir nicht denken, wo wir Freiheit denken. Eben ſo wenig können wir beide äußerlich von einander abgrenzen. Und welche Art ſolcher äußerlichen Ab - grenzung wir verſuchen mögen, dieſelbe vermag nicht die Schöpfung der endlichen Weſen durch Gott in ſolcher Weiſe faßbar zu machen,422Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.daß Gott von der Urheberſchaft des Böſen freigeſprochen werden könnte; ſie vermag nicht den Widerſpruch zwiſchen dem göttlichen Vorherwiſſen und der Freiheit des Menſchen aufzulöſen.
Die veränderte Anſchauung des Reiches der Geiſter ſpiegelt ſich in der von den chriſtlich gewordenen romaniſch-germaniſchen Völkern geſchaffenen Dichtung des Mittelalters, in den ritterlichen Epen ſo gut als in Dantes göttlicher Komödie. Nicht mehr in ſich geſchloſſene Typen allein, welche gegeneinander in Wirkſamkeit treten, erſcheinen in dieſer Dichtung, ſondern Geſchichte des Seelen - lebens, insbeſondere des Willens, wie denn Auguſtinus ſagt: immo omnes nihil aliud quam voluntates sunt, alsdann Auf - faſſung dieſer Geſchichte des Willens nach ihren Beziehungen zu dem providentiellen Willen Gottes; in dieſer Auffaſſung iſt aber ein ungelöſter Zwieſpalt zwiſchen der inneren freien Entwicklung und dem dunklen Hintergrund von Kräften aller Art, die ihn beeinfluſſen.
Das Reich der Einzelgeiſter verwirklicht nun einen metaphyſiſchen Zweckzuſammenhang, welcher in der Offenbarung ausgeſprochen iſt. Hierin ſtimmt das ganze europäiſche Mittelalter überein, und nur die Frage, wie viel von dieſem Inhalt aller Geſchichte in Begriffen erkannt werden kann, wird ungleich entſchieden.
Die Metaphyſik des Verlaufs der Geſchichte und der Or - ganiſation der Geſellſchaft hat während des Mittelalters ihre letzten Gründe in dem Bewußtſein, daß der ideale Gehalt dieſes Verlaufs und dieſer Organiſation in Gott angelegt, in ſeiner Offenbarung verkündigt und nach ſeinem Plane in der Geſchichte der Menſchheit verwirklicht iſt und ſich weiter ver - wirklichen wird. Hiermit war gegenüber dem Alterthum ein Fort - ſchritt von großer Bedeutung vollzogen. Das Zweckleben der Menſchheit, wie es in den Syſtemen der Kultur ſich entfaltet und durch die äußere Organiſation der Geſellſchaft wirkt, wurde als ein einheitliches Syſtem erkannt und auf ein erklärendes Prinzip zurückgeführt. So erlangte die Erkenntniß des inneren Zuſammen - hangs in den Vorgängen der menſchlichen Geſellſchaft ein In -423Der Eine Idealgehalt in ihm.tereſſe, das von der Abſicht techniſcher Anweiſung für das Be - rufsleben ganz unabhängig war1)Vgl. S. 295 f.. Dieſe Erkenntniß wurde jetzt bald in der Zelle des Mönchs durch vertiefte Verſenkung in den Gedanken von der Vorſehung Gottes geſucht, bald von den Publiziſten der Kurie wie des kaiſerlichen Hofes im Dienſte der Parteien verwerthet.
Aber war ſchon die Methode der ariſtoteliſchen Staats - wiſſenſchaft darin ungenügend geweſen, daß ſie für die Zerglie - derung nicht Kauſalbegriffe aus durchgebildeten weiter zurückliegenden Wiſſenſchaften benutzen, ſonach die einzelnen Zweckzuſammen - hänge, wie Wirthſchaftsleben, Recht, Religion etc. nicht durch analytiſche Erkenntniß ſondern nur durch unvollkommene Vor - ſtellungen von einer in der Phyſis angelegten Zweckmäßigkeit er - klären konnte2)Vgl. S. 292 ff.: das Mittelalter war noch viel weniger geneigt, die Zuſammenhänge, wie ſie in den einzelnen Kulturſyſtemen ſich darſtellen und ſchließlich der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zu Grunde liegen, methodiſch zu zergliedern und die ſo gewonnenen Theilinhalte der geſellſchaftlichen Wirklichkeit für die Erklärung zu verwerthen. Zudem enthielt die geſellſchaftliche Wirklichkeit, wie ſie ſich ihm darbot, die Inhaltlichkeit des geſchichtlichen Lebens noch auf einer niederen Stufe von Diffe - renzirung. Das Auge des Betrachters ſah damals in jedem geiſtigen Inhalt den Zuſammenhang mit dem Geſetze Gottes oder den Widerſtreit gegen daſſelbe. Religion, wiſſenſchaftliche Wahr - heit, Sittlichkeit und Recht wurden nicht als relativ ſelbſtändige Zweckzuſammenhänge vom mittelalterlichen Denken aufgefaßt, ſon - dern für dieſes war Ein Idealgehalt in ihnen, und erſt ſeine Verwirklichung unter den Bedingungen der Natur und That des Menſchen ſchien die Verſchiedenheit dieſer Lebensformen hervorzu - bringen. So ſah man in Gott, ſofern er das Vernunftideal in ſich enthält, den Quell des Naturrechtes, welches als eine bindende Norm, und zwar die höchſte, folglich als wirkliches Recht aufgefaßt424Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.wurde1)Am klarſten entwickelt in Thomas von Aquino summa theol. II, 1 quaest. 90 ff. (wo ſeine Rechtsphiloſophie beginnt): 1) lex = quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata (quaest. 90 art. 4); 2) lex aeterna = (da Gott als Monarch die Welt regiert) ratio gubernationis rerum in Deo sicut in principe universitatis existens (quaest. 91 art. 1); dieſe lex aeterna iſt bindende Norm oberſter Art und Urſprung jeder anderen binden - den Norm; 3) lex naturalis = participatio legis aeternae in rationali creatura; durch eine Participation des Menſchen an dem ewigen Geſetz ent - ſteht aus der lex aeterna in Gott die lex naturalis, welche die überall gleiche Norm der menſchlichen Handlungen bildet (quaest. 91 art. 2).. Daher wurde die ideale Inhaltlichkeit des geſchicht - lichen Lebens nicht wie ſie in dieſem wirklich da iſt, als Recht, Sittlichkeit, Kunſt etc. analyſirt und dargeſtellt, ſondern ſie wurde in einförmiger und erhabener Unbeſtimmtheit in Gott aufgeſucht, und alle nähere Erklärung wurde dem Syſtem von Bedingungen anheimgegeben, unter welchen dieſer ideale Gehalt auf dem Schau - platz der Erde ſich verwirklicht. So hat dieſe mittelalterliche Me - taphyſik der Geſellſchaft das Problem der Geiſteswiſſenſchaften in weltumſpannendem Geiſt geſtellt, aber anſtatt ſeiner methodiſchen Auflöſung nur ein grandioſes theologiſches Schema der Gliederung geſchichtlichen Lebens entworfen.
Daher beſitzt das Mittelalter kein anderes Studium der allgemeinen Eigenſchaften des Rechts, der Sittlich - keit etc. als dies metaphyſiſche. Und wie die Grundlegung der Metaphyſik von dem Widerſpruch zwiſchen dem Willen Gottes und dem nothwendigen Zuſammenhang des Kosmos in ſeinem Verſtande, zwiſchen der Oekonomie des Heils und den ewigen Wahrheiten innerlich zerriſſen wird, ſo ſetzt ſich derſelbe in die Metaphyſik der Geſellſchaft fort. Die ſo entſtehende Antinomie tritt zu der zwiſchen der menſchlichen Freiheit und der göttlichen Providenz. Willensgebot und Willensakt in Gott, durch ſie geſetzte Inſtitution und Thatſächlichkeit ſind in bald verſchwiegenem bald laut ausbrechendem Widerſtreit mit der Konſtruktion aus der Noth - wendigkeit des Gedankens. Das Nachfolgende wird zeigen, daß Wille und Plan Gottes der mächtigere Theil dieſer theologiſchen Metaphyſik waren; wie ſie denn auch das letzte Wort behielten.
425Keine analytiſche Methode und keine Kauſalerkenntniß.Von dem durch die Offenbarung vermittelten Bewußtſein des Idealgehaltes von Weltlauf und Geſchichte geht nun das Licht aus, welches dieſer mittelalterlichen Metaphyſik der Geſellſchaft den inneren Zuſammenhang der Weltgeſchichte erleuchtet.
Die Einheit der Weltgeſchichte liegt in dem Plane Gottes. „ Es iſt nicht zu glauben “, ſagt Auguſtinus, „ daß Gott, der nicht allein Himmel und Erde, nicht allein den Engel und den Menſchen, ſondern auch das Innere des kleinen ſo leicht miß - achteten Thieres, das Flügelchen des Vogels, die kleine Blüthe des Graſes und das Blatt des Baumes ohne eine Angemeſſenheit ihrer Theile und gleichſam eine friedliche Harmonie nicht hat laſſen wollen, die Reiche der Menſchen, ihre Herrſchafts - und ihre Ab - hängigkeitsverhältniſſe von der Geſetzgebung ſeiner Providenz hätte ausſchließen wollen “1)Auguſtinus de civ. Dei V c. 11 vgl. Origenes c. Cels. II c. 30. In Auguſtinus de civ. Dei kehrt dieſer leitende Gedanke immer wieder z. B. IV c. 33; V c. 21.. Dieſer Zuſammenhang des Planes der Vorſehung iſt in Anfang, Mitte und Ende durch die Offenbarung feſtgeſtellt. Der Stammvater der Menſchen, in welchem alle fün - digten, Chriſtus, in dem alle erlöſt wurden, und die Wiederkunft, in der über alle gerichtet wird, ſind ſolche feſte Punkte, zwiſchen denen nun die Deutung der Thatſachen der Geſchichte ihre Fäden zieht. Dieſe Deutung iſt ausſchließlich teleologiſch. Die Glieder des geſchichtlichen Verlaufs werden nicht als die einer Kauſal - reihe, ſondern als die eines Planes betrachtet. Die Frage, welche folgerecht an die einzelne geſchichtliche Thatſache geſtellt wird, iſt nicht die nach ihrer urſächlichen Beziehung zu anderen Thatſachen oder allgemeineren Verhältniſſen, ſondern die nach ihrer Zweck - beziehung zu dieſem Plan. Daher bedienen ſich die mittelalter - lichen Geſchichtſchreiber zwar des Pragmatismus zur Erklärung der Handlungen der einzelnen Perſonen, aber die geſchichtlichen Maſſenerſcheinungen treten ihnen niemals in einen kau - ſalen Zuſammenhang. Dieſe Metaphyſik der Weltgeſchichte ſucht in ihr als Erklärung ihres Zuſammenhanges einen Sinn, wie wir einen ſolchen in dem Epos eines Dichters ſuchen.
426Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Und zwar fand ſich das chriſtliche Nachdenken zunächſt zu einer ſolchen teleologiſchen Deutung der Geſchichte durch die Ein - wendungen der Gegner genöthigt. Daher entſtand dieſe Metaphyſik der Geſchichte ſchon in der Epoche der Väter und des Ringens zwiſchen Chriſtenthum, antikem Götterglauben und Judenthum durch die Gewalt der Dinge und wurde vom Mittelalter nur fort - gebildet. Warum, ſo fragten die Gegner des Chriſtenthums, mußte das von Gott durch Moſes gegebene Geſetz verbeſſert werden, da man doch nur verbeſſert, was ſchlecht gemacht worden iſt1)Anfrage des Marcellinus an Auguſtinus, in deſſen Briefwechſel, epist. 136.? Warum ſoll der Römer die religiöſen Ueberzeugungen, auf welchen die Geſellſchaft beruht, und die gemeinſame Bildung, welche die zur Humanität Erzogenen verbindet, verlaſſen2)So vielfach z. B. Celſus bei Origenes contra Cels. V c. 35 ff.? Warum, ſo fragten Celſus und Porphyrius in ihren Streitſchriften gegen das Chriſtenthum gemeinſam, iſt es Gott erſt nach ſo langem Verlauf der Geſchichte eingefallen, die Menſchen zu erlöſen3)Celſus bei Origenes contra Cels. IV c. 8, Porphyrius bei Auguſtinus epist. 102 (sex quaestiones contra paganos expositae, quaest. 2: de tempore christianae religionis).? Und ſeitdem die Barbaren das römiſche Imperium zu bedrängen begannen, ja die chriſtlichen Gothen Rom erobert und verwüſtet hatten, entſtand die noch tiefer in die Deutung der weltlichen Ge - ſchichte hineinführende Frage: iſt nicht das Chriſtenthum die Ur - ſache aller neueſten Unglücksfälle des Imperiums, oder wie kann, im Gegenſatz gegen die dahinzielenden Vorwürfe, dieſe ungeheure politiſche Kriſis gedeutet werden4)Gegen dieſen Vorwurf iſt Auguſtins Hauptwerk de civitate Dei gerichtet, vgl. lib. I u. lib. II, c. 2. Ebenſo beziehen ſich auf ihn die ſieben Bücher historiarum adversum paganos von Oroſius. Vgl. I prol. : er entſpreche der Vorſchrift des Auguſtin, die Vorſtellung einer Zerrüttung der Welt und der menſchlichen Geſellſchaft in Folge des Chriſtenthums zu bekämpfen; daher ſchleppt er alle Unglücksfälle[ zuſammen]. praeceperas ergo, ut ex omnibus, qui haberi ad praesens possunt, historiarum atque annalium fastis, quaecumque aut bellis gravia aut corrupta morbis aut fame tristia aut terrarum motibus terribilia aut inundationibus aquarum insolita aut eruptionibus ignium metuenda aut ictibus ful -? Die erſten dieſer Fragen riefen427Der einheitliche Zuſammenhang der Geſchichte.eine Deutung der inneren Geſchichte der religiöſen und philoſo - phiſchen Ideen hervor, welche in dem geſchichtlichen chriſtlichen Bewußtſein ſchon angelegt war1)S. 319 ff.. Die letzte Frage zwang, das römiſche Imperium in den Kreis dieſer metaphyſiſchen Betrach - tung der Geſchichte zu ziehen, und zu ihrer Beantwortung traten die erſten Entwürfe einer umfaſſenden Philoſophie der Geſchichte, die Schrift des Auguſtinus über den Gottesſtaat und die Hiſtorien ſeines Schülers Oroſius, hervor.
Ueber dieſen Räthſeln ſann der chriſtliche Geiſt, geſchichtlich in ſeinem Weſen, zurückblickend auf nunmehr abgeſchloſſene Ge - ſtalten des geiſtigen Lebens, die innerlich vergangen waren, und zu univerſalhiſtoriſcher Betrachtung aufgeregt, da die Nacht der Barbarenherrſchaft über das Imperium Romanum hereinzubrechen ſchien. So entſtand die Löſung dieſer Räthſel durch den Ge - danken einer inneren Entwicklung des Menſchenge - ſchlechtes als einer Einheit in einer Stufenfolge, in welcher jede frühere Stufe die nothwendige Bedingung der ſpä - teren iſt. Die Stufen ſind nicht im Kauſalzuſammenhang als Wirkungen bedingt, ſondern in dem Plane Gottes als Beſtand - theile angelegt. Und der Gedanke des Fortgangs durch ſie ver - bleibt in den Grenzen eines Schema, nach welchem der Fortſchritt durch eine Anpaſſung der göttlichen Erziehung an die Zuſtände des Menſchengeſchlechts bewirkt wird. — Tertullian betrachtet das Menſchengeſchlecht in Rückſicht ſeiner religiöſen Erziehung als einen einzelnen Menſchen, welcher in verſchiedenen Lebensaltern lernend und voranſchreitend die nothwendigen Stufen ſeiner Entwicklung durch - läuft. Der religiöſe Fortgang im Menſchengeſchlecht zeigt nach ihm ein organiſches Wachsthum. Das Bild des Organismus, welches als Leitfaden für das Verſtändniß des Verhältniſſes der Theile zum Ganzen in der Geſellſchaft verwandt worden war, wird von4)minum plagisque grandinum saeva vel etiam parricidiis flagitiisque misera, per transacta retro saecula repperissem, ordinato breviter voluminis textu explicarem. Das war ein unheilvolles Vorbild für die Geſchicht - ſchreibung des Mittelalters.428Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.ihm gebraucht, um die Art, wie hier das Frühere das Spätere trägt und bedingt, aufzuklären1)Tertullian de virginibus velandis c. 1.. Dieſem Stufengang der Er - ziehung hat Clemens vermittelſt ſeiner Lehre vom Logos auch die griechiſche Philoſophie eingeordnet2)Clemens stromat. I c. 5 p. 122 (Sylb. ) von der Philoſophie: ἐπαιδαγώγει γὰϱ καὶ αὐτὴ τὸ Ἑλληνικόν, ὡς ὁ νόμος τοὺς Ἑβϱαίους εἰς Χϱιστόν.; jedoch hat eine ſo weit - herzige Lehre keine Folgen für den nächſten Verlauf der Metaphyſik der Geſchichte gehabt. Und Auguſtinus findet die Verände - rungen, welche innerhalb der Offenbarungsreligion ſtattfinden, be - dingt durch eine Entwicklung der Menſchheit, welche der Stufen - folge der Lebensalter vergleichbar iſt3)Auguſtinus ep. 138 c. 1, zur Auflöſung des von Marcellinus (S. 424 Anm. 1) geſtellten Probíems: quoties nostrae variantur aetates! adoles - centiae pueritia non reditura cedit; juventus adolescentiae non mansura succedit; finiens juventutem senectus morte finitur. haec omnia mutantur, nec mutatur divinae providentiae ratio, qua fit ut ista mutentur .. aliud magister adolescenti, quam puero solebat, impos.. — So beherrſcht dieſe und andere Kirchenväter dieſelbe Auffaſſung. Die Menſchheit iſt eine Einheit, gleichſam Ein Individuum, welches eine Lebensent - wicklung durchlaufen muß, dem aber, als einem Zögling, die Regel dieſer Entwicklung vorherrſchend von dem planmäßig wirkenden Erzieher kommt. Neben dieſer tieferen Gliederung der Geſchichte der Menſchheit geht die mehr äußerliche Eintheilung her, welche dieſelbe in den Schöpfungstagen entſprechende Weltalter zerlegt.
Dieſe Idee von dem inneren Zuſammenhang der Geſchichte der Menſchheit, welche flüchtig und unfaßbar wie ſie war zwiſchen den harten Thatſachen der Geſchichte ſchien zerfließen zu müſſen, empfing feſten Umriß und Körperlichkeit durch den Zuſammen - hang religiöſer und weltlicher Vorſtellungen, in welchen ſie eintrat. In der Unabhängigkeit der religiöſen Er - fahrung und des auf ſie begründeten religiöſen Gemeinlebens, welches auch gegenüber der römiſchen Weltherrſchaft ſich aufrecht erhielt und ſich im Gefühl ſeiner Unbeſiegbarkeit behauptete, war die Trennung der religiöſen Sphäre der Geſellſchaft429Kirche und Weltreich.von der weltlichen begründet. Sie war zuerſt in der Entſchei - dung Chriſti ausgeſprochen worden: gebet dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt, und Gott was Gottes iſt. Durch dieſe Trennung wurden Geſetz und Staat Gottes, die das letzte Wort der alten Philoſophie in der ſtoiſchen Schule geweſen waren, in eine weltliche Ordnung der Geſellſchaft und einen religiöſen Zuſammen - hang zerlegt. Dem entſprechend lehnte ſich nun die nähere Vor - ſtellung von dem Zuſammenhang der Hiſtorie und der Geſell - ſchaft an zwei geſchichtliche Vorſtellungskreiſe, deren einer die Kirche, der andere das römiſche Weltreich, ſeine Vorläufer und ſein Schickſal zum Gegenſtande hatte. Da dieſe Geſellſchaftslehre von dem Willen und Plane Gottes ausging, konnte ſie nicht rein aus einem Vernunftgehalt den Zuſammenhang der Geſchichte deduciren, ſondern mußte aus den großen geſchicht - lichen Bezeigungen dieſes Willens den Plan Gottes deuten. Die ſpekulative Konſtruktion trat nur nachträglich zu dieſer religiöſen Deutung hinzu, wie ihre Lücken zeigen. Dieſe Deutung arbeitete aber mit einem elenden Material. Der unwiſſenſchaftliche Charakter des mittelalterlichen Geiſtes und die Herrſchaft des Aberglaubens über denſelben kann nur aus ſeiner Stellung zu den geſchichtlichen Thatſachen und zu der geſchichtlichen Tradition verſtanden werden. Denn ihm ſtand eine abgekürzte und verfälſchte Ueberlieferung über die alte Welt als Autorität gegenüber, gleichviel welche die Ur - ſachen waren, die ihn zu einem ſo unkritiſchen Verhalten beſtimmt haben. Und indem dieſe ſeine Lage gegenüber den hiſtoriſchen Wiſſenſchaften mit dem Zuſtande ſeines naturwiſſenſchaftlichen Denkens zuſammentraf, breiteten ſich von hier aus tiefe Schatten und fabelhafte Weſen über die Erde aus.
Unter den Elementen, aus welchen die Erklärung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft im Mittelalter ſich zuſammenſetzt, war das wichtigſte die Anſchauung der Kirche. Dieſe beſtimmte den theokratiſchen Charakter der mittelalterlichen geſellſchaftlichen Auffaſſung. Die geiſtigen Subſtanzen aller Rangordnungen ſind in der Kirche zu einem myſtiſchen Körper verbunden, der von der Dreieinigkeit und den Engeln, die ihr zunächſt ſtehen, hinabreicht430Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.bis zu dem Bettler an den Pforten der Kirchenthür und dem leibeigenen Mann, der demüthig in dem letzten Winkel der Kirche knieend das Opfer der Meſſe empfängt.
Der ſchöpferiſche Keim dieſer Anſchauung liegt in den Briefen des Apoſtel Paulus. Paulus bezeichnet die einzelnen Chriſten als Glieder des Leibes Chriſti; unter Chriſtus als dem Haupte ſind die einzelnen Gemeindeglieder durch die Einheit des Geiſtes zu einem Organismus verknüpft. Innerhalb dieſes Organismus haben die einzelnen Gemeindeglieder verſchiedene, aber dem Leben des Ganzen nothwendige Funktionen. Daher leiden mit jedem Glied alle anderen Glieder mit. In dieſer pauliniſchen Anſchau - ung des chriſtlichen Gemeindelebens iſt die Uebertragung des Be - griffs eines Organismus ein Tropus, und nie hat Paulus daran gedacht, den Zuſammenhang des religiös ſittlichen Lebens der Gemeinde in die Naturgebundenheit des organiſchen Lebens herabzumindern. Aber dieſer Tropus drückt hier den That - beſtand einer Einheit aus, welche ganz anderer Natur iſt, als die in einem politiſchen Ganzen. Denn das Pneuma iſt in der Gemeinde eine reale Einheit, ein reales Band, wie die Pſyche in einem menſchlichen Körper. Und daher empfängt in dieſer Anwendung der Tropus des Organismus einen genaueren Sinn.
Indem nun aus den Gemeinden, auf welche die tiefſinnige Anſchauung des Paulus ſich bezog, die rechtliche und politiſche Organiſation der katholiſchen Kirche erwuchs, entſtand ein Begriff, in welchem dieſer Staat Gottes vorgeſtellt wurde als zuſammen - gehalten durch ein reales Band, dem gleichſam neben und zwiſchen den Individuen eine Art von Exiſtenz zukam. Wir können die Momente erkennen, welche dieſen Begriff geſtaltet haben. Der Gedanke der Kirche als eines durch den einheitlichen Geiſt Gottes be - ſeelten Körpers empfängt zunächſt eine Stütze in der Auffaſſung des Abendmahls, welche in demſelben das Sakrament der Einverleibung in die Kirche ſieht. Dieſe Auffaſſung, wie ſie bei Auguſtinus ab - geſchloſſen vorliegt, iſt dadurch vermittelt, daß unter dem Körper Chriſti die Kirche verſtanden wird; daher in dem Abendmahl die Theilnahme an dieſem Körper Chriſti, der alleinſeligmachenden431Das reale Band der kirchlichen Organiſation.Kirche, die Inkorporation des Einzelnen in die Kirche ſtattfindet1)Nach Aelteren Auguſtinus serm. 57 c. 7; serm. 227 und 272; de civ. Dei XXI c. 19 ff.. Eine weitere Unterſtützung empfängt die Idee von dem realen Bande, welches die Kirche zuſammenhält, durch die Vorſtellung von einer Uebertragung thatſächlicher Art, vermöge deren in den Weihen Kräfte der überſinnlichen Welt auf den Klerus von oben übergehen, ja gleichſam in Stufen abwärts ſtrömen; ſo entſpringt mit der Ordination die von den Laien unterſcheidende geiſtliche Befähigung, vermöge deren der Kleriker ſeine Funktionen übt. Auf dieſe Weiſe empfängt die Idee der Kirche als des corpus mysti - cum Christi eine ſinnliche Vorſtellbarkeit. Da aber zugleich dieſe Kirche zu einer civitas Dei, einem ſtaatähnlichen Ganzen wird, welches Träger ausgedehnter Machtbefugniſſe iſt, wird der Begriff der Einheit des kirchlichen Organismus nun auf dieſen politiſchen Körper übertragen. Dies hat zur Folge, daß der von oben wirkende Geiſt als Träger von Machtbefugniſſen erſcheint, welche durch ſeinen Körper in der Kirche ausgeübt werden. Das dem Kleriker durch die Weihen übertragene Amt enthält nach dieſer Seite das Recht und die Pflicht, die Kirchengewalt in einem be - ſtimmten materiellen Umfang und innerhalb eines beſtimmten räumlichen Bezirks auf Grund des ſtändig ertheilten Auftrags auszuüben. Die Machtbefugniſſe der Kirche innerhalb der Ge - ſellſchaft ſind einerſeits, als Machtbefugniſſe, durch Rechtsſätze darſtellbar und demgemäß in einer Rechtsordnung, dem kanoniſchen Rechte, gegliedert, und andrerſeits haben ſie, als von Gott ſtammend, die höchſte Geltung in der menſchlichen Geſellſchaft. So entſtand die Anſchauung der aus Haupt und Gliedern be - ſtehenden Geſammtheit der Kirche, in welcher, als ihrem Körper, die aus der transſcendenten Welt auf ſie übertragene, eine gött - liche Heilsordnung vollziehende Einheit wohnt: als Seele dieſes Körpers verwirklicht ſie den höchſten Zweck mit den höchſten Machtbefugniſſen; wie mit dieſem Zweck verglichen alle die In -432Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.tereſſen, welchen die politiſchen Ordnungen leben, nur Mittel ſind, ſo ſind alle politiſchen Ordnungen ihr unterthan.
Dies iſt der Grundgedanke der theokratiſchen Geſellſchafts - ordnung des Mittelalters. — Die Theologen, vor allen Au - guſtinus, haben dieſen Grundgedanken theoretiſch dargeſtellt. Indem ſie ſich an die durch die Stoiker geſchaffene Verknüpfung des Naturrechts mit einer teleologiſchen Metaphyſik anſchloſſen1)Vgl. S. 309., fiel ihnen weiter mit dem göttlichen Recht, deſſen Träger die Kirche iſt, das natürliche zuſammen, und ſo ſtellten ſie das kirchliche Recht als ein aus Gottes ewigem Heilsplan erfließendes, darum an ſich und unveränderlich gültiges, den menſchlichen Satzungen gegenüber2)Auguſtinus tract. VI, 25 ad c. 1 Joann. v. 32: divinum jus in scripturis divinis habemus, humanum jus in legibus regum; ep. 93 c. 12. Vgl. Iſidor Etymol. V c. 2: omnes autem leges aut divinae sunt aut humanae. divinae natura, humanae moribus constant; ideoque hae discrepant, quoniam aliae aliis gentibus placent. — Für den Begriff der lex naturalis, welche als Geſetzgebung Gottes das ſittliche wie das rechtliche Gebiet umfaßt, iſt zwiſchen Auguſtinus und Thomas von Aquino beſonders wichtig Abälard in ſeinem dialogus inter philosophum, Judaeum et Christianum.. Sie betrachteten die gegen die kirchlichen Geſetze ver - ſtoßenden Anordnungen und Geſetze des Staats als unverbindlich3)Auguſtinus ep. 105 c. 2; sermo 62 c. 5. — Ueber den Begriff des Naturrechts bei Thomas von Aquino und ſeine Unterſcheidung von lex aeterna und lex naturalis vgl. S. 424.. Sie ordneten im Zuſammenhang mit der ganzen eben dargelegten chriſtlichen Teleologie den Staat dem myſtiſchen Körper Chriſti oder der Kirche als Mittel, als dienendes Inſtrument unter4)Innerhalb der Darlegung des Auguſtinus in Buch XIX de civ. Dei beſonders c. 14: das Ziel der terrena civitas iſt die pax terrena, das der coelestis civitas dagegen iſt die pax aeterna, und der Zweck des Menſchen liegt in der letzteren.. — Aber während die Theologen dieſe Theorie entwickelten, hat die monar - chiſche Staatsgewalt des römiſchen Imperiums an den Grund - lagen des überkommenen römiſchen Rechtes feſtgehalten; nur allmälig drangen die chriſtlich-kirchlichen Ideen in das Rechts - leben ein, und erſt die Kanoniſten haben ſie in den wiſſen -433Die Kirche und die theokratiſche Geſellſchaftsordnung.ſchaftlichen Zuſammenhang der poſitiven Jurisprudenz mit ſchöpferi - ſcher Kraft eingeführt. Wir heben nur den Grundgedanken heraus. Die Korporation der Kirche beruht auf unmittelbarer göttlicher Einſetzung; ſie wird von dem himmliſchen König regiert; von dieſem transſcendenten Willen aus durchſtrömt ſie der Geiſt Gottes; und zwar iſt die Art wie er in der Kirche wirkt durch die gött - liche Einſetzung feſtgeſtellt, daher in rechtlichen Formen beſtimmt, an welche die Heilsmittheilung wie die in ihr begründete Macht - befugniß der Kirche gebunden iſt; die Form dieſer Verfaſſung iſt der rechtliche Ausdruck der Thatſache, daß in ihr der göttliche Wille aus der transſcendenten Welt in die irdiſche, und innerhalb dieſer von dem Stellvertreter Chriſti in Stufen abwärts geleitet wird. Man gewahrt hier, daß dem Syſtem der Hierarchie innerlich eine emanatiſtiſche Vorſtellungsweiſe ent - ſpricht, wie denn die Darſtellung der himmliſchen und irdiſchen Hierarchie durch den Areopagiten und die Wirkung dieſer Dar - ſtellung im Mittelalter einen ſolchen Zuſammenhang beſtätigt; die Idee Gottes iſt in einen lebendigen Fluß und Prozeß aufge - löſt; von Gott aus erſtreckt ſich ein Willenszuſammenhang in den Naturzuſammenhang.
Dieſe theokratiſche Geſellſchaftsordnung des Mittelalters ſetzt an die Stelle der bisherigen politiſchen Prinzipien des Abendlandes das der Autorität, die von Gott ſtammt. Die in ihr wirkende Anſchauung hat die ganze Auffaſſung der Geſellſchaft im Mittel - alter umgeſtaltet. In der Jurisprudenz entſtand nun ein Begriff der Korporation, welchem gemäß die natürlichen Individuen, die in ihr verbunden ſind, nur das wirkliche Rechtsſubjekt repräſentiren, das als unleiblich und unſichtbar allein durch ſeine Glieder zu handeln vermag; die wichtigen ſtaatsrechtlichen Begriffe der Reprä - ſentation und des perſönlichen Amtes bildeten ſich aus. In der politiſchen Wiſſenſchaft entſtand die theologiſche Begründung der Begriffe vom Staat und, verbunden mit ihr, eine erſte Metaphyſik der Geſellſchaft, welche in der allgemeinen Metaphyſik gegründet war und die ganze damals bekannte Wirklichkeit der geſchichtlichen und geſellſchaftlichen Phänomene umfaßte.
Dilthey, Einleitung. 28434Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Aber das gerade gab und erhielt dieſer theokratiſchen Geſell - ſchaftslehre ihre Macht, wie ihr Grundgedanke ſich mit den mannig - fachſten Elementen verband; vom Alterthum her mit den Begriffen der griechiſchen Philoſophie und des römiſchen Rechts ſowie der Thatſache des römiſchen Kaiſerthums; von dem Leben der ger - maniſchen Völker her mit rechtlichen und politiſchen Ideen und Inſtitutionen. Hier war ein weltlicher Vorſtellungskreis begründet, welcher theils von dem theokratiſchen Syſtem unter - worfen wurde und ſo mit ihm verſchmolz, theils demſelben ent - gegenwirkte.
Als das römiſche Imperium noch aufrecht ſtand, wenn auch von den anſtürmenden germaniſchen Barbaren bereits er - ſchüttert, ſchrieb Auguſtinus ſein Werk über den Staat Gottes, in welchem er den weltlichen Staat dem Gottes gegenüber ſtellte. Nach dieſem Werke iſt das römiſche Weltreich eine Repräſentation der civitas terrena in ihrem letzten und mächtigſten Stadium. Die Römer haben von Gott die Weltherrſchaft empfangen, weil ſie den höchſten irdiſchen Leidenſchaften, vor allem der Begierde des Nachruhms, „ durch welchen ſie auch nach dem Tode gleich - ſam fortleben wollten “, alle niederen Leidenſchaften unterordneten; ihre Aufopferung für den irdiſchen Staat iſt den Chriſten ein Vorbild der Aufopferung, welche ſie dem himmliſchen ſchuldig ſind1)Auguſtinus de civ. Dei V c. 12 ff.. Der Gedanke des römiſchen Weltreiches war nach den ſtaatsphiloſophiſchen Erörterungen des Polybius in der geſchicht - lichen Literatur der Kaiſerzeit ſelbſt durch die dürftigen Hand - bücher eines Florus und Eutrop befeſtigt worden; Auguſtinus beſtimmte nun in ſeiner Konſtruktion die Bedeutung, die dem römiſchen Weltreich im Plan der Vorſehung zukomme, und zu - gleich deren Grenze, wie er ſie vom Standpunkte des Chriſtenthums aus einzuſehen glaubte. Als dann die Kirche die kaiſerliche Krone dem großen Germanenkönig auf das Haupt ſetzte, trat der Gedanke der römiſchen Weltmonarchie in ein näheres Verhältniß zu dem Begriff einer von der Kirche umfaßten einheitlichen Chriſtenheit. 435Das Weltreich.Wenige Jahre danach (829) haben zwei Koncilien zu Paris und zu Worms auf Grund der Lehre von dem Einen Körper der Chriſtenheit entwickelt, daß dieſer Körper einerſeits vom Prieſter - thum, andererſeits vom Königthum regiert werde1)Concil. Parisiense 829 (Mansi t. XIV p. 537 f.). Const. Worm. (Monum. Germ. Legum I p. 333 rescr. c. 2. 3 ): 2. Quod universalis sancta Dei ecclesia unum corpus ejusque caput Christus sit. Dies wird durch die S. 430 berührten Stellen des Paulus erwieſen. 3. Quod ejusdem ecclesiae corpus in duabus principaliter dividatur eximiis personis. principaliter itaque totius sanctae Dei ecclesiae corpus in duas eximias personas, in sacerdotalem videlicet et regalem, sicut a sanctis patribus traditum accepimus, divisum esse novimus. . Eine That - ſache und ein begrifflicher Zuſammenhang begegneten ſich ſo in der Konſtruktion der Weltmonarchie. Und rückwärts verfolgte man den Gedanken derſelben unter dem Einfluß der Stelle im Buche Daniel über die vier Reiche in das Morgenland: fabel - umgebene Bilder von den vier Weltmonarchien wurden das Schema der politiſchen Geſchichte.
Dieſe geſchichtlichen und politiſchen Realitäten, vermiſcht mit Fabeln von ſolchen, erhielten in dem theokratiſchen Syſtem ihren Platz und eine mit deſſen tiefſten Prinzipien zuſammenhängende Deutung. Schon die Stoiker hatten die Monarchie Gottes mit dem römiſchen Univerſalſtaat in Beziehung gebracht; nun wird aus dem einheitlichen Plane Gottes und der Einheit des Menſchen - geſchlechtes als ſeines Gegenſtandes die Monarchie in Dantes Verſtande d. h. der Weltſtaat gefolgert, entſprechend dem geiſt - lichen Einheitsſtaate der Kirche. Dante hat dieſen Zuſammen - hang am eindringlichſten dargeſtellt, in einer Mehrzahl von Ar - gumenten, deren Nerv derſelbe iſt. Das Menſchengeſchlecht, ein Theil des von Gott geleiteten Univerſums, hat einen einheitlichen Zweck, welcher in dem Auswirken aller intellektuellen und prak - tiſchen Kräfte der Menſchennatur beſteht. Nun wird eine Vielheit zu Einem Zweck am ſicherſten durch eine einheitliche Kraft gelenkt, wie die Vernunft alle Kräfte der Menſchennatur leitet, das Familien - haupt ſein Haus, der Einzelfürſt ſeinen Staat und ſchließlich Gott die Welt, in welcher das Menſchengeſchlecht enthalten iſt. So28*436Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.allein wird der Friede unter den Menſchen verwirklicht und die Aehnlichkeit mit dem Vollkommenſten, der Herrſchaft Gottes über die Welt, hergeſtellt. So allein wird die äußere Bedingung für die Herſtellung der Gerechtigkeit erfüllt, da ein Syſtem ſtreitender Staaten keine höchſte Inſtanz zur Entſcheidung nach dem Rechte beſäße. So allein wird endlich die innere Vorausſetzung, deren die Gerechtigkeit bedarf, geſchaffen, da der Kaiſer allein, deſſen Jurisdiktion nur an dem Ocean ſeine Schranken hat, keinen Wunſch mehr haben kann und ſo keine Begierde in ihm die Ge - rechtigkeit hemmt. Mit allem Aufwand des ſyllogiſtiſchen Hand - werks jener Tage erſchließt der große Dichter, daß nur das Kaiſerthum als Weltſtaat einen befriedigenden Zuſtand des Menſchengeſchlechtes herbeiführen könne1)Dante widmet das ganze erſte Buch ſeiner Schrift de monarchia der Entwicklung dieſer Sätze. — Auch hier findet man bei Occam eine ſcharfſinnige Abwägung von Gründen und Gegengründen, welche die logiſche Folgerichtigkeit der metaphyſiſchen Konſtruktion nicht mehr anerkennt, Occam dialogus p. III tract. 2 1. 1 c. 1 — 9.. Wie alle Deduktionen der mittelalterlichen Metaphyſik der Geſellſchaft, konnte auch dieſe von entgegenſtehenden Intereſſen leicht bekämpft und durch andere erſetzt werden. Die Vertheidiger des Rechtes der Einzelmonarchien durften den Willen Gottes aus der Verſchiedenheit der Lebens - bedingungen, der Sitten wie des Rechtes der Einzelvölker im Sinne des Nationalitätsgedankens deuten2)Auch Thomas von Aquino hebt in ſeinem Kommentar zur ariſtote - liſchen Politik lib. VII lect. 3 hervor, daß ein mäßiger Umfang des Staates für die Ordnung in ihm erforderlich ſei; vgl. Johannes Pariſienſis de po - testate regia et papali c. 3 (in Goldaſt monarchia II p. 111) und die am meiſten allſeitige Behandlung des Problems durch Occam dialogus p. III tract. 2 l. 1 c. 1 ff. ; Occam verwirft jede metaphyſiſche Auflöſung des Problems und geſtattet nur eine nach der hiſtoriſchen Lage c. 5..
Die nähere Einordnung des Staates in den dargelegten theo - kratiſchen Zuſammenhang iſt eine verſchiedene geweſen, je nach der wechſelnden Werthung des Imperiums, des Staatslebens über - haupt. Drei verſchiedene Arten, den Werth des weltlichen Staates zu beſtimmen, können hier unterſchieden werden.
437Drei verſchiedene Werthungen des weltlichen Staates.Auguſtinus betrachtete allein den „ Staat, deſſen König Chriſtus iſt, “d. h. die Kirche, als Stiftung Gottes und als Aus - druck der in ihm gegründeten ſittlichen Weltordnung, dagegen leitete er Eigenthum und Herrſchaftsverhältniſſe aus dem Sündenfall ab. Daher war ihm der weltliche Staat, wenn er nicht in den Dienſt des himmliſchen tritt, eine Schöpfung der Selbſtſucht: civitas dia - boli1)Auguſtinus de civ. Dei XIV c. 28, XV c. 1 — 5, XVI c. 3. 4. XIX c. 15 — 23. — Die Vergleichung des Staates mit einem wilden Thiere, wie ſie Plato und Hobbes gebrauchen, wird auch von Auguſtinus, anknüpfend an die Apokalypſe angewandt, de civ. Dei 20 c. 9. . So begründete er die hierarchiſche Auffaſſung des Staats - lebens, für welche der Staat ein an ſich werthloſes Inſtrument im Dienſte der Kirche zum Schutze des wahren Glaubens und zur Bekämpfung der Ungläubigen geweſen iſt. Gregor VII. und Vertreter ſeiner päpſtlichen Politik haben denſelben Stand - punkt feſtgehalten2)Gregor VII. in Jaffés bibliotheca II (1865) lib. VIII ep. 21 a. 1081 p. 457: quis nesciat, reges et duces ab iis habuisse principium, qui, deum ignorantes, superbia rapinis perfidia homicidiis, postremo universis paene sceleribus, mundi principe diabolo videlicet agitante, super pares, scilicet homines, dominari caeca cupidine et intolerabili prae - sumptione affectaverunt? , und in der extremen päpſtlichen Partei hatte er während des ganzen Mittelalters ſeine Vertreter. Aber bei den hervorragendſten politiſchen Metaphyſikern des Mittel - alters beſteht im Zuſammenhang mit dem Studium des Ariſtoteles eine andere Werthung des ſtaatlichen Lebens. Thomas von Aquino und Dante bezeichnen den Höhepunkt dieſer politiſchen Me - taphyſik; ſie ſind beide von dem Standpunkt des Auguſtinus weit entfernt; ſo verſchieden ſie ſich auch ſelber in dieſer Frage ver - halten, beide weiſen die Ableitung des ſtaatlichen Lebens aus dem Sündenfall ab und finden daſſelbe vielmehr in der ſittlichen Natur des Menſchen begründet.
Und zwar iſt Thomas von Aquino der Hauptver - treter der zweiten Richtung in Bezug auf die Werthung des Staatslebens. Er beſtimmte deſſen Aufgabe dahin, daß es das Syſtem von Bedingungen verwirkliche, an welche der438Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.religiöſe Zweck des menſchlichen Daſeins gebunden iſt. Dieſe Auffaſſung entſpricht der allgemeineren mittelalterlichen Auffaſſung des weltlichen Lebens, als eines Mittels und einer Grundlage für die Verwirklichung des religiöſen, wie ſie in der Ethik Albert’s des Großen und des Thomas von Aquino ihren klaſſi - ſchen Ausdruck gefunden hat. Der letzte Zweck der menſchlichen Geſellſchaft iſt nach der Schrift des Thomas über das Fürſtenre - giment, durch tugendhaftes Leben zu dem Genuſſe Gottes zu kommen. Dies Ziel kann nicht durch die Kräfte der menſchlichen Natur er - reicht werden, ſondern nur durch die Gnade Gottes. Daher iſt die Verwirklichung des tugendhaften Lebens in der ſtaatlichen Gemein - ſchaft das Mittel für die Erreichung eines Zweckes, welcher jenſeit des vom Staate zu Leiſtenden liegt und von dem göttlichen Könige ſelber ſowie durch Uebertragung von dem Prieſterthum ver - wirklicht wird. Alſo iſt dieſer Hierarchie die weltliche Herr - ſchaft untergeordnet1)Thomas de regimine principum I c. 15. Hiermit übereinſtimmend summa theol. II, 1 qu. 93 beſ. art. 3 und 6.. Einen ſchon aus der Zeit der Kirchen - väter herrührenden, von den mittelalterlichen Denkern vielfach an - gewandten Vergleich aufnehmend, findet Thomas im Verhältniß des weltlichen Staates zur Kirche ein Abbild des Verhältniſſes des Leibes zur Seele2)So ſchon in den apoſtoliſchen Konſtitutionen II c. 34 p. 681 C (Migne) und in der orat. 17 des Gregor von Nazianz c. 8 p. 976 B (Migne), alsdann bei vielen mittelalterlichen Schriftſtellern, und auch bei Thomas, summa theol. II, 2 qu. 60 art. 6: potestas saecularis subditur spirituali, sicut corpus animae.. Dieſe Werthbeſtimmung des ſtaatlichen Lebens war unter den mittelalterlichen Schriftſtellern die am meiſten verbreitete, und Thomas, der weiſeſte aller Vermittler, hat auch hier die ausgleichende Formel glücklich ausgeſprochen.
Ein dritter Standpunkt entſprang aus einer höheren Werth - ſchätzung des Staatslebens. Er betrachtet das imperium und das sacerdotium als zwei gleich unmittelbar von Gott ſtammende Ge - walten, von denen jede eine ſelbſtändige Funktion in der ſittlichen Welt ausübte. Er erkennt alſo dem Staate und der Kirche die439Drei verſchiedene Werthungen des weltlichen Staates.gleiche Souveränität zu. Dieſe Werthſchätzung des imperium wird von den literariſchen Vertretern der kaiſerlichen Anſprüche ſeit Heinrich IV. zu begründen verſucht1)Stellen bei Gierke, Deutſches Genoſſenſchaftsrecht III, 534.. Sie wird tiefſinnig von Dante in ſeiner Schrift über die Monarchie entwickelt, aus Sätzen des Ariſtoteles und Thomas, aber wie in gewaltigerer Sprache, ſo auch in größerem Stil des Denkens, als Thomas ihn zeigt. Der Zweck jedes Theiles der Schöpfung liegt in der ihm eigenthümlichen Thätigkeit. Nun vermag nicht ein einzelner Menſch das im Ver - nunftvermögen Enthaltene zu verwirklichen, ſondern das Menſchen - geſchlecht allein kann das theoretiſche und in zweiter Linie das praktiſche Vernunftvermögen ganz auswirken. Die Bedingung für die Erreichung dieſes Zieles liegt in dem allgemeinen Frieden, und dieſen ſichert die Monarchie; ſie hält die Gerechtigkeit aufrecht und richtet das Wirken der Einzelnen auf das Eine Ziel2)Dante de monarchia I c. 1 ff.. So tritt die Monarchie zu der theokratiſchen Ordnung der Geſellſchaft in folgendes Verhältniß. Unter allem, was exiſtirt, ſteht der Menſch allein in der Mitte zwiſchen der vergänglichen und einer unvergänglichen Welt. Daher hat er, ſofern er vergänglich iſt, ein anderes Endziel, als ſofern er unvergänglich iſt. Die uner - ſchöpflich tiefe Providenz hat ihm in der Seligkeit dieſes Lebens, welche in dem Auswirken der ihm eigenen Tugend beſteht, das eine und in der Seligkeit des ewigen Lebens, die in dem Genuß der Anſchauung Gottes beſteht, das andere Ziel gegeben. Wir gelangen zum erſteren Ziele auf dem Wege philoſophiſcher Einſicht vermittelſt unſerer intellektuellen und moraliſchen Tugenden, und wir erreichen den anderen Endzweck auf dem Wege der Offen - barung vermittelſt der theologiſchen Tugenden. Die Leitung des Strebens nach dem erſteren Ziele ſteht dem Kaiſer zu und die nach dem anderen dem Papſte. Das Kaiſerthum lenkt vermittelſt der philoſophiſchen Einſicht das Menſchengeſchlecht zu ſeiner zeit - lichen Glückſeligkeit, der Papſt führt es vermittelſt der Offen - barungswahrheiten zum ewigen Leben3)Ebdf. im dritten Buche.. — Dieſe ſelbſtändige Werth -440Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.ſchätzung des Staates, wie ſie uns in Dante entgegentritt, führte in einem Kopfe wie Marſilius von Padua weiter dahin, gemäß dem Bedürfniß, ſolchen Dualismus zu überwinden, das sacerdotium als einen Beſtandtheil und eine Funktion des Staates anzuſehen. Marſilius zieht die Konſequenzen des antiken Staats - begriffs, er bekämpft im Grunde den Fortſchritt, welcher in dem Ausſpruch Chriſti über das Recht des Kaiſers und das Recht Gottes enthalten war1)Marſilius von Padua defensor pacis I c. 4: die Beſtimmung der Aufgabe des Staates nach Ariſtoteles’ Politik; dann c. 5. 6 : Einfügung des sacerdotium nach chriſtlicher Beſtimmung in den Staat; daſſelbe wird als eine pars eivitatis bezeichnet..
Dieſe Vertheilung der Werthgebung zwiſchen geiſtlicher und weltlicher Macht hat ihren Ausdruck in den rechtsgeſchicht - lichen Fabeln von der Uebertragung der göttlichen Macht, wie ſie einen wichtigen Beſtandtheil der geſchichtlichen Metaphyſik des Mittelalters ausmachen. Denn wo der Wille Gottes mit denen der Menſchen zu der Verwirklichung eines von der Vorſehung überwachten Planes zuſammenwirkt, entſteht der Begriff der In - ſtitution, welche in einem beſonderen göttlichen Akte begründet iſt und in der ein Theil der Aufgabe der Weltregierung einer irdiſchen Perſon als dem Stellvertreter Gottes übertragen wird. Die Hierarchie gründet ihre Befugniſſe auf die Vollmacht des Statthalters Chriſti. Ebenſo wird das Königthum vorherr - ſchend im Mittelalter als ein von Gott übertragenes Amt be - trachtet. Und die Frage entſteht dann, ob die Staatsgewalt ihre Vollmacht direkt von oben beſitze oder durch eine Uebertragung, die von der geiſtlichen Gewalt ausgegangen iſt. Aus den bekannten Erörterungen hierüber ragt Dantes Beweis des legitimen Ur - ſprungs der römiſchen Weltmonarchie darum hervor, weil er einer hiſtoriſchen Begründung der Legitimität ganz beſonders nahe kommt. Dieſer Beweis findet die Legitimität in dem Willen Gottes gegründet, ſucht aber dieſen Willen nicht in theokratiſchen Einzelakten auf, ſondern, wie der Wille eines Menſchen von außen441Begründ. d. Inſtitution a. d. Willen Gottes. Staat als Organismus.nur aus Zeichen erkannt werden kann, ſo legt Dante die Ge - ſchichte als ein Syſtem von Zeichen des Willens Gottes aus1)Dante de monarchia im Beginn des zweiten Buches..
Wie das theokratiſche Syſtem dem Staate ſeine Stellung in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zumaß, ebenſo gewährte es einen Anhalt, die Natur des Staates zu beſtimmen. Von dem myſtiſchen Leibe der Kirche wurde die Vorſtellung des Organis - mus in einem neuen, über Ariſtoteles hinausgehenden Sinne auf den Staat übertragen. Die wol älteſte uns noch zugängliche Durchführung der Vergleichung zwiſchen den Gliedern des Körpers und den Theilen des Staates unter der Vorausſetzung, daß die Grundzüge der organiſchen Struktur wirklich im Staate wieder - kehren, war in einer dem Plutarch untergeſchobenen Institutio Trajani enthalten, die wir in dem merkwürdigen Polycraticus des Johannes von Salisbury noch theilweiſe wiederzuerkennen ver - mögen2)Vgl. beſonders Buch V. Dort c. 2: est autem res publica, sicut Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio ani - matur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine rationis. ea vero quae cultum religionis in nobis instituunt et infor - mant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tra - dunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent. Hier gewahrt man direkt die Uebertragung von dem Begriff der Kirche her.. Dieſe Harmonie des Weltganzen, nach welcher die Struktur des Staates als eines corpus morale et politicum ſich in der ſeiner Theile, der Individuen, widerſpiegelt, bildet den Hintergrund des mittelalterlichen organiſchen Staatsbegriffs. Und ſchon die Schriftſteller jener Zeit verwenden geiſtvoll Beziehungen, die wir am organiſchen Körper gewahren, zur Aufklärung des politiſchen Organismus.
Jenſeit dieſer ganzen theokratiſchen Auffaſſung von Geſchichte und geſellſchaftlicher Ordnung trat im Fortſchreiten des Mittelalters immer mächtiger eine ganz entgegengeſetzte hervor, welche aus den freien Stadtgemeinden des Alterthums ſtammte: die Ableitung der politiſchen Willenseinheit und des Rechtes der Herr - ſchaft aus den Einzelwillen der zu einer Organiſation ver - bundenen Perſonen. Dieſe Theorie erklärte die Entſtehung von442Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Willenseinheit in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft nicht aus Uebertragung des göttlichen Herrſchaftsrechtes, ſondern durch ein von den Einzelwillen ausgehendes pactum subjectionis, ſo - nach durch eine Konſtruktion von unten, von den Elementen des Staatslebens aus. Sie führte den Grundgedanken des griechiſchen Naturrechtes fort. Aber wenn dieſes das Problem einer mechaniſchen Erklärung der politiſchen Willenseinheiten aus der Anarchie der geſellſchaftlichen Atome ganz allgemein vorgeſtellt hatte und wir es ſo als eine Metaphyſik der Geſellſchaft bezeichnen konnten, ſo verfolgte das Mittelalter das ſchon von den Römern eingeſchlagene Verfahren, dieſe griechiſchen Spekulationen mit der poſitiven Jurisprudenz in Beziehung zu ſetzen. Unter der Hand der Kano - niſten und Legiſten war der Begriff der Korporation zu dem herrſchenden auf dem Gebiet der äußeren Organiſation der Geſell - ſchaft geworden und wurde auf Staat wie Kirche angewandt. Die juriſtiſche Konſtruktion dieſes Begriffs ließ aus einem kon - ſtituirenden Akte die einheitliche Rechtsſubjektivität der Korporation, vermöge deren ſie Perſon iſt, entſpringen. So wurde die Kon - ſtruktion der Willenseinheit in einem politiſchen Ganzen durch einen ſolchen Akt Mittelpunkt jeder publiziſtiſchen Theorie, und die Mitwirkung oder die ausſchließliche Wirkſamkeit der ver - einigten Willen in dem Akte, durch welchen der Staat entſteht, gaben dieſem den Charakter eines Vertrags. Grundvorſtellungen des älteren deutſchen Rechtes, dann die Rechtsfabel von einem konſtitu - irenden Akte, in welchem das römiſche Volk die Herrſchaft auf den Imperator übertragen habe, weiter die Einwirkung der griechiſchen Theorien, endlich das Selbſtregiment freier Kommunen in Italien, dem wichtigſten Lande für die politiſche Theorie jener Zeit: dies Alles ließ die naturrechtliche Strömung anwachſen. Von der Wende des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts ab formirte ſich ſyſtematiſch die juriſtiſche Konſtruktion aus den Einzelwillen und ihrem Vertrag. Geſellſchaftsvertrag, Souveränität des Volkes, Einſchränkung des poſitiven Rechtes durch das Naturrecht traten in das öffentliche Recht ein. Dieſe poſitiv-rechtliche Fortent - wicklung des Naturrechts verſtärkte ſeine revolutionäre Kraft für443Naturrechtliche Konſtruktion des Staats von den Einzelwillen aus.eine künftige Zeit, zunächſt aber hatte ſie während des Mittelalters die Anpaſſung deſſelben an die anderen geſellſchaftlichen Ideen der Zeit zur Folge. Erſt in einem Marſilius von Padua löſt dieſer radikale Standpunkt ſich von den anderen geſellſchaftlichen Ideen des Mittelalters los und das bezeichnet die Morgendämmerung der modernen politiſchen Ideen. Die volle Machtentfaltung des Naturrechts begann dann bei den neueren Völkern mit dem Niedergang der feudalen Ordnungen. Nun war der Punkt in der Entwicklung der neueren Geſellſchaft erreicht, an welchem mit der Souveränität der Individuen Ernſt gemacht werden konnte, entſprechend dem Punkte in der Entwicklung der griechiſchen Geſellſchaft, an dem das Naturrecht der Sophiſten ſich Geltung verſchafft hatte1)Von dieſer zweiten geſchichtlichen Formation des Natur - rechts, der mittelalterlichen, haben wir eine erſte gründliche Dar - ſtellung und Belegſtellen in Gierkes Genoſſenſchaftsrecht erhalten, III 627 ff., und in deſſen Althuſius S. 77 ff. S. 92 ff. S. 123 ff..
So fand die theokratiſche Geſellſchaftslehre in der naturrecht - lichen ihre Grenze, und dieſe letztere ihrerſeits entbehrte noch der generellen Faſſung und der Hilfsmittel der Analyſis, welche ihr eine zureichende Erklärung der Geſellſchaft ermöglicht hätten.
Wir überblicken und prüfen ſchließlich die Verbindung der entwickelten Sätze in dieſer theokratiſchen Metaphyſik der Geſell - ſchaft. — Dieſe Theorie war jeder früheren darin überlegen, daß ſie von dem umfaſſenden Zuſammenhang des geſellſchaftlichen Lebens der Menſchheit ausging und jeder Satz über die Befugniſſe einer politiſchen Gewalt ſo gut als jede Behauptung über den Begriff einer Tugend oder einer Pflicht durch dieſen Zuſammenhang be - dingt war. — Aber die zuſammengeſetzten Thatſachen, welche ſich der Geſchichtskunde und der politiſchen Beobachtung darbieten, ſind von den mittelalterlichen Denkern nicht in einfachere Einzelzuſammen - hänge zerlegt worden, vielmehr wurden ſie durch teleologiſche Deutung zu einem Ganzen verbunden. Hieraus hätte nun nichts als ein willkürliches Spiel entſtehen können, wenn nicht für dieſe Chiffern der Geſchichte und der Geſellſchaft der Schlüſſel in der444Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.Offenbarung zur Hand geweſen wäre: ſie legte Anfang, Mitte und Ende des Lebenslaufs der Menſchheit feſt und beſtimmte deſſen Gehalt. Daher bildete den Grundzug dieſer Metaphyſik der Geſellſchaft: jede Konſtruktion in Begriffen iſt nur der nach - trägliche Verſuch, das, was Tradition und religiöſer Tiefſinn be - ſitzen, in Begriffen darzuſtellen und zu beweiſen. — Und zwar iſt die herrſchende mittelalterliche Geſellſchaftslehre ein theokratiſches Syſtem, jedoch galt dieſes nicht ohne Widerſpruch. Das Leben der Korporationen enthielt ein anderes Element, ein Recht der Ge - ſammtheit, welches auf ein Vertragsverhältniß zurückzuweiſen ſchien. Dieſer Beſtandtheil wurde von der theokratiſchen Geſellſchaftslehre nicht erklärt, und wie die naturrechtliche Geſellſchaftslehre ſich ent - wickelte, bezeichnete ſie für das theokratiſche Syſtem eine Schranke ſeiner Brauchbarkeit und eine Lücke in ſeinen Prämiſſen. — Inner - lich iſt dieſe theokratiſche Metaphyſik der Geſellſchaft von den Antinomien zerriſſen, welche aus der metaphyſiſchen Prinzipien - lehre in die Philoſophie der Geſellſchaft hineinreichen. Die tiefſte dieſer Antinomien wirkt in der Geſellſchaftslehre als der Wider - ſpruch zwiſchen der Auffaſſung Gottes als eines Intellekts, für welchen nur das Ewige und Allgemeine iſt, und als eines Willens, welcher Veränderungen zu einem Ziele hin durchläuft, in zeitlichen Akten ſich kundthut und von den Thaten freier Willen zu Gegen - wirkungen angeregt wird. Die ewigen Wahrheiten haben als Prinzipien der geſellſchaftlichen Ordnung für das Alterthum innerhalb der Menſchenwelt dieſelbe Bedeu - tung wie die ſubſtantialen Formen innerhalb der Natur. Als Ariſtoteles die platoniſchen Ideen in die Welt ſelber ver - legte, ſtattete er dieſe Welt mit Ewigkeit ſowol in Rückſicht ihres Beſtandes als ihrer Formen aus. In unveränderlicher Selbſt - gleichheit entſteht innerhalb derſelben aus dem organiſchen Keime das lebendige Weſen und der Keim ſelber rückwärts aus dem Leben. Der Verlauf der Geſchichte erringt nach Ariſtoteles der Seele und der von ihr verwirklichen Eudämonie keinen tieferen Inhalt. Ein feſtes Gefüge von Begriffen, welches das ſich ſtets gleiche Geſetz des Staatslebens enthält, wird von ſeiner deſkrip -445Logiſcher Zuſammenhang dieſer Metaphyſik der Geſellſchaft.tiven Wiſſenſchaft der Politik entwickelt und hat an den verän - derlichen Lebensbedingungen der Geſellſchaft nur ſeinen wechſeln - den Stoff. So tief Ariſtoteles das Verhältniß der Lebens - bedingungen der Staaten zu den politiſchen Formen aufgefaßt hat: die Entwicklung der Zweckzuſammenhänge des menſchlichen Lebens bedarf nach ihm nicht einen immer neuen, dem veränderten Gehalt entſprechenden Ausdruck in den politiſchen Verfaſſungen, ſondern die Bedingungen der Geſellſchaft ermöglichen, gleichſam als die Materie der Staatenbildung, hier eine geringere, dort eine höhere Ausgeſtaltung der Einen Idealform. Dem Chriſten - thum wird Gott geſchichtlich. Die vom Chriſtenthum getragene mittelalterliche Geſellſchaftslehre benutzt zuerſt die Idee eines gött - lichen Willens, welcher eine aufſteigende Reihe von Veränderungen als Zweck enthält und in der Zeitreihe einzelner Willensakte, in Wechſelwirkung mit anderen Willen, dieſen Zweck verwirklicht. Die Gottheit tritt in die Zeit ein. So oft nun die mittelalterliche Meta - phyſik das griechiſche Syſtem ewiger Wahrheiten mit dem Plane Gottes vereinigen will, zeigt ſich die Unauflösbarkeit des Wider - ſpruchs. Denn die lebendige perſönliche Erfahrung des Willens, welcher Bedürfniß und Veränderung einſchließt, kann nicht in Einklang gebracht werden mit der unveränderlichen Welt ewiger Gedanken, in denen der Intellekt die nothwendige und allgemein - gültige Wahrheit beſitzt1)Auguſtinus de civ. Dei XI c. 10: neque enim multae sed una sapientia est, in qua sunt immensi quidam atque infiniti thesauri rerum intelligibilium, in quibus sunt omnes invisibiles atque incommutabiles rationes rerum etiam visibilium et mutabilium; de trinitate IV c. 1: quia igitur unum verbum dei est, per quod facta sunt omnia, quod est in - commutabilis veritas, ibi principaliter et incommutabiliter sunt omnia simul. Auflöſung ſucht Auguſtinus vergebens in dem Satz de trinitate II c. 5: ordo temporum in aeterna Dei sapientia sine tempore est.. — Erkenntnißtheoretiſch widerſpricht die ſpekulative Konſtruktion aus Begriffen der willkürlichen That - ſächlichkeit, die den Entſcheidungen eines freien göttlichen Willens eigen iſt. Daher löſte die Willenslehre Occam’s die objektive Me - taphyſik des Mittelalters auf, und war der Nominalismus in ſeinem erſten Stadium an ſeiner unfruchtbaren Negativität gegen -446Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.über den Aufgaben des mittelalterlichen Denkens zu Grunde gegangen: in der mächtigen Realität des Willens fand er nun auch hier innerhalb der Geſellſchaftslehre ſeine höhere Berechtigung. Die geiſtesgewaltigen kirchenpolitiſchen Schriften Occam’s zer - ſtörten in weitläufiger Darlegung von Gründen und Gegen - gründen jeden Theil des rationalen Zuſammenhangs einer Philo - ſophie der Geſchichte und der Geſellſchaft1)Das Prinzip Occam’s, welches die ſittliche Ordnung mit dem Willen in ſein pſychologiſches Verhältniß ſetzte, das was dem Willen werthvoll iſt von dem klar ſonderte, was dem Verſtande wahr iſt, und ſo jede Meta - phyſik der ſittlichen Welt aufhob, trat freilich zunächſt in überſpannter Faſſung auf z. B. in sent. II quaest. 19: ea est boni et mali moralis natura ut, cum a liberrima Dei voluntate sancita sit et definita, ab eadem facile possit emoveri et refigi: adeo ut mutata ea voluntate, quod sanctum et justum est possit evadere injustum. Hierdurch war dann der extreme Supranaturalismus Occam’s bedingt.. Und mit Recht; denn wirklich iſt die Demonſtration unfähig geweſen, die mittel - alterliche Geſellſchaftslehre einigermaßen zu begründen. Die Folge - richtigkeit des Schluſſes verſagt, wo aus dem theokratiſchen Prin - zip der Dualismus von Staat und Kirche abgeleitet oder über Streitfragen, wie das Verhältniß von Staat und Kirche, von Weltmonarchie und Einzelſtaat durch Syllogismen entſchieden werden ſoll.
Die zweite Generation der europäiſchen Völker erfuhr nun eine Umwandlung, welche der ähnlich iſt, die in Griechenland aus der Auflöſung der alten Geſchlechterverfaſſung hervorging. Indem die feudalen Ordnungen, die Gliederung der Chriſtenheit447Der moderne Menſch.unter Papſt und Kaiſer, ſich löſten, entſtand die neuere euro - päiſche Geſellſchaft und inmitten ihrer der moderne Menſch. Dieſer iſt das Erzeugniß der allmäligen inneren Entwicklung, welche in der Jugendzeit dieſer zweiten Generation der europäiſchen Völker oder dem Mittelalter ſtattfand. Was wir in ihm ſuchen, iſt unſer eigener Herzſchlag, verglichen mit dem, was wir in den Seelen der Menſchen älterer Zeiten zu leſen vermögen und das uns fremd iſt. Nichts iſt daher relativer, mag man auf die All - mäligkeit ſehen, mit welcher es ſich geltend macht, oder auf die Verſchiedenheit des perſönlichen Gefühls im Geſchichtsſchreiber, von welchem aus ein ſolcher hiſtoriſcher Typus beſtimmt wird. Dennoch ſieht der Geſchichtſchreiber Wirklichkeit, wenn er erſte Bei - ſpiele des modernen Menſchen an beſtimmten Stellen auftreten ſieht; mitten in einer kontinuirlichen Entwicklung faßt er das Er - gebniß in anſchaulich darſtellbaren geſchichtlichen Erſcheinungen auf und hält es feſt. Auch hindert ihn hieran nicht, daß der Punkt, an welchem in der Entwicklungsbahn des einen Volkes ein ſolcher Typus auftritt, der Zeit nach weit abliegt von dem Punkte, an welchem dies bei einem anderen ſtattfindet. Es beirrt ihn nicht, daß die beſonderen Züge dieſer Form bei dem einen Volke ſehr abweichen von denen bei dem anderen. Ein ſolcher Typus iſt augenſcheinlich Petrarca, der mit Recht als der erſte Repräſentant des modernen Menſchen, wie er ſchon im vierzehnten Jahr - hundert in klaren Zügen hervortritt, aufgefaßt wird. Es iſt nicht leicht, denſelben Typus in dem modernen Menſchen des Nordens wiederzufinden, in Luther und ſeiner Independenz des Gewiſſens, in Erasmus und jener perſönlichen Freiheit des unterſuchenden Geiſtes, welcher in einem grenzenloſen Meere von Tradition, nach Aufklärung verlangend, vorwärts dringt. Dennoch iſt hier wie dort etwas die ganze Weſenheit dieſer Menſchen Beſtimmendes, was wir mit ihnen theilen und was ſie von Allem abſondert, das früher gewollt, gefühlt oder gedacht wurde.
Aus dem Zuſammenhang deſſen, was den modernen Menſchen ausmacht, heben wir einen Zug heraus, welchen wir im Ver - lauf der intellektuellen Geſchichte langſam und mühſelig ſich ent -448Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.falten ſahen, und der nun für die Entſtehung wie das Recht des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in ſeinem Gegenſatz zu der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen entſcheidend iſt. — Der Zweckzuſammenhang der Erkenntniß in Europa hat ſich in der Wiſſenſchaft von ſeiner Grundlage in der Totalität der Menſchennatur abgelöſt, wie neben ihm die Kunſt oder in anderer Art das Recht. Auf dieſer Differenzirung beruht nicht nur die techniſche Vollendung der großen Zweckſyſteme der menſchlichen Geſellſchaft, ſondern, als innerſter Kern des Vorgangs, das Freiwerden aller Kräfte in der Einzelſeele aus ihrer anfäng - lichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und in genauer und ſicherer Abmeſſung auf die Wirkung zu benutzen. Die urſprüngliche Bindung der Seelenkräfte löſt ſich durch die Arbeit der Geſchichte. Denn erſt vermittelſt der Kunſt beſitzt das Gefühl ſein mannichfaches, wechſelndes und reiches Leben; die Werke der Künſtler ſtrahlen ihm wie in einem Wunderſpiegel in Bildern, Wahrnehmungen, Vorſtellungen ſeine innere Welt erhöht zurück. In der Arbeit der Wiſſenſchaft erkennt erſt der Intellekt ſeine Mittel und deren Tragweite, ſeine Methode und deren Macht und gebraucht nun mit der techniſchen Virtuoſität gleichſam des logiſchen Athleten die in ihm liegenden Kräfte.
Der mittelalterliche Menſch hatte die in der alten Welt erreichte Differenzirung nur unvollkommen feſtgehalten. Wol hatte er die chriſtliche Erfahrung tiefſinnig entfaltet. In dem katho - liſchen Kirchenſyſtem hatte er die ſelbſtändige Macht des religiöſen Lebens und des ihm verbundenen geſellſchaftlichen Bewußtſeins, das alle Völker verknüpft, befeſtigt und vertheidigt, wenn auch mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider auch der Gewalt dieſes Kirchenſyſtems erwuchs der Zweckzu - ſammenhang der Wiſſenſchaft in den Univerſitäten ebenfalls zu einer größeren Organiſation, und inmitten des korporativen Lebens des Mittelalters rang auch er nach einer rechtlichen Selbſtändig - keitsſphäre. Aber die Herrſchaft der Religion, welche allen höheren449Sein Unterſchied vom mittelalterlichen Menſchen.Gefühlen und Ideen eine ſeltene Sicherheit und Tiefe im Mittel - alter gab, hat doch alle ſelbſtändigen Zweckzuſammenhänge bis zu einem gewiſſen Grade gebunden. Die Legirung des Chriſtenthums mit der antiken Wiſſenſchaft hat die Lauterkeit der religiöſen Er - fahrung beeinträchtigt. Die korporative und autoritative Bindung der Individuen hat die freie Beziehung der Thätigkeiten von Per - ſonen auf einander in Gebieten, welche wie Wiſſenſchaft und Religion in der Freiheit ihren Lebensathem haben, gehemmt. So haben die Lebensbedingungen des Mittelalters den Reichthum höheren Daſeins zu einem von der Kirche geleiteten Zuſammen - hang verwebt, in dem das Chriſtenthum ſich an eine metaphyſiſche Wiſſenſchaft verlor, Wiſſenſchaft und Kunſt innerlich und äußer - lich gefeſſelt waren. Dieſer Zuſammenhang der Bildung hatte in der äußeren Organiſation der Kirche ſeinen Körper. Ihm gegenüber war Alles, was ſonſt im mittelalterlichen Menſchen ſich regte, Weltlichkeit, die vernichtet oder unterworfen werden mußte. So ging durch ſeine Seele derſelbe Zwieſpalt, welcher die Geſellſchaft jener Tage in die kaiſerliche und kirchliche Gewalt auseinanderriß. Naturwuchs des Staatslebens, Verharren der Individuen in den urſprünglichen Beziehungen zum Boden, Be - ſonderheit, perſönliches Verhältniß und perſönlicher Verband, unter Zurücktreten allgemeiner Rechtsregeln, dazu ein jugendliches Un - geſtüm in der germaniſchen Race und den durch ſie mit neuem Blute erfüllten älteren Völkern: dies Alles hatte in dem Men - ſchen jener Zeit ungebändigtes Leben der Sinne und des Willens zur Folge. Aber in ſeiner Seele kämpfte hiergegen der Glaube an ein transſcendentes Reich, welches durch die Kirche, den Kleriker und das Sakrament in das Diesſeits herüberwirkt und aus dem göttliche Kräfte beſtändig ausſtrahlen. Die Macht dieſes objektiven Syſtems wurde geſteigert durch die Ordnung der mittelalterlichen Geſellſchaft. In dieſer war das Individuum ganz in Verbände eingegliedert, von denen die Kirche und die feudale Ordnung nur die gewaltigſten waren. Die Zweckinhalte der Geſellſchaft, welche am meiſten der Freiheit zu bedürfen ſcheinen, waren von der Autorität und der Korporation getragenDilthey, Einleitung. 29450Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.und gebunden. Dieſe Abhängigkeit des mittelalterlichen Menſchen wurde vermehrt durch ſeine Stellung zu der geſammten hiſtori - ſchen Ueberlieferung, welche ſein Denken wie in einem dichten Walde von Traditionen feſthielt. Und nicht der geringſte unter den Gründen, welche Selbſtthätigkeit der Individuen und un - abhängige Entfaltung der einzelnen Lebenszwecke in der Geſell - ſchaft hinderten, beſtand in einer Metaphyſik, welche nach der Lage der Wiſſenſchaften in ihren Grundzügen ſiegreich ſich be - hauptete und der von der Kirche vertheidigten transſcendenten Ord - nung einen feſten Stützpunkt gewährte. So erſcheinen auch die intellektuell gewaltigſten mittelalterlichen Denker nur als Re - präſentanten dieſer Weltanſicht und Lebensordnung, vergleichbar den großen feudalen und hierarchiſchen Häuptern der Geſellſchaft jener Tage. Was in ihnen individuell war, ordnete ſich dieſem Syſtem unter, und darin war gegründet, daß der Denker eine Weltmacht war. Wie einſam und verdüſtert auch ein Dante ſeinen Weg ging, ſeine ganze große Seele war dieſem objektiven Zu - ſammenhang hingegeben, ſo gut als die eines Anſelmus, Albertus oder Thomas. Hierdurch wurde er zu der „ Stimme zehn ſchweigender Jahrhunderte “.
Die weſenhafte Veränderung, die wir als Auftreten des modernen Menſchen bezeichnen, iſt das Ergebniß eines zu - ſammengeſetzten Bildungsprozeſſes, und ihre Erklärung würde eine umfaſſende Unterſuchung erfordern. — Hier, wo es ſich um Ent - ſtehung und Recht des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins handelt, iſt zunächſt das Wichtigſte, daß die vorher von den Völkern der alten Welt vereinzelt erreichte Differenzirung und Ver - ſelbſtändigung der Zweckzuſammenhänge der Geſellſchaft innerhalb der neuen Generation der europäiſchen Völker verwirklicht wird. Die geiſtige Bildung dieſer Völker ruht auf der Selbſtgewißheit der religiöſen Erfahrung, der Selbſtändigkeit der Wiſſenſchaft, der Befreiung der Phantaſie in der Kunſt; im Gegenſatz zu der früheren religiöſen Gebundenheit. Eine ſolche neue Verfaſſung des inneren Zuſammenhangs der Kultur iſt eine höhere Stufe in der Entwicklung der neuen Generation europäiſcher Völker, da dieſe Na -451Wie in ihm das moderne wiſſenſchaftliche Bewußtſein entſteht.tionen in der Gebundenheit der Seelenkräfte naturgemäß begonnen hatten. Sie iſt aber zugleich eine Wiederherſtellung des von den Griechen Erarbeiteten und im Chriſtenthum Gewonnenen, und daher ſind Humanismus und Reformation hervorragende Beſtandtheile des Vorganges, in welchem unſer modernes Bewußtſein entſtand. — Zu dieſer Differenzirung trat als eine andere Seite der geſchichtlichen Bewegung, welche dem modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſein das Leben gab, die Veränderung in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft, welche alle individuellen Kräfte löſte und das In - dividuum verſelbſtändigte. Innerhalb der Städte vollzog ſich zuerſt dieſe ſoziale und politiſche Umgeſtaltung. In den Zuſammen - hang unſerer Darlegung fügt ſich harmoniſch das klaſſiſche Ge - mälde ein, welches Jakob Burckhardt von dem erſten Auftreten des modernen Menſchen in dem Italien der Renaiſſance entworfen hat. „ Im Mittelalter, ſagt er, lagen die beiden Seiten des Be - wußtſeins — nach der Welt hin und nach dem Inneren des Menſchen ſelbſt — wie unter einem gemeinſamen Schleier, träumend oder halbwach. In Italien zuerſt verweht dieſer Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Be - handlung des Staats und der ſämmtlichen Dinge dieſer Welt überhaupt; daneben aber erhebt ſich mit voller Macht das Sub - jektive; der Menſch wird geiſtiges Individuum und erkennt ſich als ſolches. “ Was hier als objektive Behandlung bezeichnet wird, iſt zunächſt durch die relative Verſelbſtändigung der einzel - nen Kreiſe der Exiſtenz bedingt; indem die Wiſſenſchaft die Unter - ordnung unter das mittelalterliche Schema des religiöſen Vorſtellens aufgiebt, zerreißt das Band zwiſchen den religiöſen Ideen als Mitteln der Konſtruktion und der Wirklichkeit; man wird in un - befangener Auffaſſung dieſer gewahr, und ſo entſteht objektive Be - trachtung und poſitive Wiſſenſchaft, wo ehedem metaphy - ſiſche Ableitung das Phänomen mit dem Tiefſten des geiſtigen Geſammtlebens verbunden gehalten hatte. Andrerſeits bewirkte die veränderte Lage des Individuums in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft eine Befreiung der individuellen Kräfte und des individuellen Selbſtgefühls. So entſtand eine neue Stellung29*452Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit. Endlich nahm mit dem Wachsthum des individuellen Selbſtgefühls und der Ausbildung der objektiven Betrachtung eine freie Mannig - faltigkeit der Weltanſicht zu. In metaphyſiſchem Denken wie in poetiſchem Sinnen wurden alle Möglichkeiten der Weltbe - trachtung durchgebildet. — Traf das volle Licht dieſer neuen Zeit zuerſt Italien, ſo war doch ſchon das erſte Aufdämmern derſelben im Norden ein mächtigeres Phänomen. In Occam finden wir eine tiefere Grundlage des modernen Bewußtſeins, als in ſeinem jüngeren Zeitgenoſſen Petrarca: die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrung. Gegenüber der Autorität, der Wortbeweisführung, den die Erfahrung überſchreitenden Syllogismen wird hier im Willen eine mächtige Realität, aufrichtige und wahrhaftige Weſen - heit wahrgenommen.
So erweiſen ſich Veränderungen in dem ganzen status ho - minis auch innerhalb der relativ ſelbſtändigen intellektuellen Ent - wicklung als einwirkend, ja beſtimmend. Es iſt eine äußerliche Betrachtung, wenn man die Umänderung des wiſſenſchaftlichen Geiſtes ſeit dem vierzehnten Jahrhundert auf den Humanismus zurückführt. Durch das ganze Mittelalter geht das Anwachſen der Kenntniß von Büchern und Hilfsmitteln des Alterthums1)Prantl hat in ſeiner Geſchichte der Logik im Abendlande 1855 ff. für einen einzelnen Zweig der wiſſenſchaftlichen Literatur den Beweis dieſes wichtigen Satzes erſchöpfend geführt.. Trat nun inneres Wiederverſtändniß des Geiſtes der alten Schrift - ſteller zuerſt im vierzehnten Jahrhundert in Italien, ſpäter bei den anderen Völkern hervor, ſo war dies die Folge tiefer liegender Urſachen. Es bildeten ſich bei den neueren Völkern, insbeſondere in den Städten, ſoziale und politiſche Zuſtände, welche denen in den alten Stadtſtaaten analog waren; dies hatte ein perſön - liches Lebensgefühl, Stimmungen, Intereſſen, Vorſtellungen zur Folge, welche durch ihre Verwandtſchaft mit denen der antiken Völker ein Wiederverſtändniß der alten Welt möglich gemacht haben. Denn der Menſch, welcher in ſich das Vergangene erneuern453Der moderne Menſch und die Metaphyſik.ſoll, muß durch eine innere Wahlverwandtſchaft hierzu vorbe - reitet ſein.
Dieſe veränderte Verfaſſung der geiſtigen Bildung, wie ſie in der zunehmenden Selbſtändigkeit der Religion, Wiſſenſchaft und Kunſt und der wachſenden Freiheit des Individuums gegenüber dem Verbandsleben der Menſchheit erſcheint, iſt der tiefſte, in der pſychiſchen Verfaſſung des modernen Menſchen ſelber liegende Grund dafür, daß jetzt die Metaphyſik ihre bisherige ge - ſchichtliche Rolle ausgeſpielt hat. Die chriſtliche Religion, wie Luther und Zwingli ſie auf die innere Erfahrung ſtellten, die Kunſt, wie nun Lionardo ſie den geheimnißvollen Tiefſinn der Wirklichkeit erfaſſen lehrte, die Wiſſenſchaft, wie ſie Galilei auf die Analyſis der Erfahrung verwies, konſtituirten das moderne Bewußtſein in der Freiheit ſeiner Lebensäußerungen.
Metaphyſik, als Theologie, war das reale Band geweſen, welches im Mittelalter Religion, Wiſſenſchaft und Kunſt, die ver - ſchiedenen Seiten des geiſtigen Lebens, zuſammengehalten hatte: nun wurde dies Band geſprengt. Das intellektuelle Leben der neuen Völker war ſo weit herangewachſen und ihr Verſtand durch die Scholaſtik ſo disciplinirt für die Forſchung um der Forſchung willen, daß eingeſchränktere Aufgaben vermittelſt ſtrengerer Methoden geſtellt und auch gelöſt zu werden begannen. Die Zeit ſelbſtändiger Entwicklung der Einzelwiſſenſchaften war gekommen. Die Ergebniſſe der poſitiven Epoche der alten Welt konnten aufgenommen werden. Wo ein Archimedes, Hipparch und Galen den Faden poſitiven Forſchens fallen gelaſſen, konnte er wieder angeknüpft werden. Alterthum und Mittelalter haben in der Wiſſenſchaft die Antwort auf das Räthſel der Welt, in der Wirklichkeit die Verkörperung der höchſten Ideen geſucht; ſo war die Betrachtung der idealen Bedeutung der Erſcheinungen mit der Zergliederung ihres urſächlichen Zuſammenhangs vermiſcht worden. Indem jetzt die Wiſſenſchaft ſich von der Religion loslöſte, ohne ſie erſetzen zu wollen, trat die kauſale Forſchung aus dieſer falſchen Verknüpfung und näherte ſich den Bedürfniſſen des Lebens. Man war des abſtrakten Schließens auf transſcendente Objekte, der454Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.metaphyſiſchen Spinngewebe, welche vom Diesſeits zum Jenſeits gezogen worden waren, ſatt, und doch dauerte das aufrichtige Ringen nach der Wahrheit hinter den Erſcheinungen fort. So wandte ſich nun der Romane den Erfahrungen der äußeren Natur und des Weltlebens, der nordiſche Menſch zunächſt der lebendigen religiöſen Erfahrung zu.
Und jetzt erſchien auch an dieſer Wende der intellektuellen Entwicklung als Träger der neuen Richtung eine neue Klaſſe von Perſonen: der Kleriker machte dem Literaten, dem Schrift - ſteller oder auch dem Profeſſor an einer der von Städten oder aufgeklärten Fürſten gegründeten oder neugeſtalteten Univerſitäten Platz. In den Städten, in welchen dieſe Männer auftraten, be - ſtand nicht der Unterſchied zwiſchen einer großen thätigen aber ununterrichteten Sklavenmaſſe und einer kleinen Zahl freier Bürger, welche jede Art von körperlicher Arbeit als ihrer unwürdig an - ſahen. Während dies Verhältniß in den griechiſchen Städten den Fortſchritt der Erfindungen in hohem Grade gehindert hatte, ent - ſtanden im Zuſammenhang mit der Induſtrie in den modernen Städten Erfindungen von großer Tragweite. Der weite Schau - platz unſeres Erdtheils und die ungeheuren Mittel dieſer modernen Welt brachten einen ununterbrochenen Zuſammenhang vieler Ar - beiter hervor. Dieſen aber ſtand die Natur nicht als ein in ſich göttliches Gewächs gegenüber: die Hand des Menſchen griff durch ſie hindurch, hinter ihren Formen die Kräfte zu erfaſſen. In dieſer Bewegung entſtand der Charakter der modernen Wiſſen - ſchaft: Studium der Wirklichkeit, wie ſie in der Erfahrung ge - geben iſt, vermittelſt der Aufſuchung des kauſalen Zuſammenhangs, ſonach durch Zerlegung der zuſammengeſetzten Wirklichkeit in ihre Faktoren, beſonders durch das Experiment. Die Aufgabe, das Konſtante in den Veränderungen der Natur feſtzuſtellen, wurde durch die Aufſuchung von Naturgeſetzen gelöſt. Das Naturgeſetz verzichtet darauf, das Weſen der Dinge auszudrücken, und indem ſo Grenzen der poſitiven Wiſſenſchaft hervortraten, wurde das Studium der Wirklichkeit ergänzt durch eine Erkenntniß - theorie, welche das Feld der Wiſſenſchaften abmaß.
455Die Funktion der Metaphyſik in der Geſellſchaft ändert ſich.So entſtanden, als die eigenthümlichen Erzeugniſſe der modernen Wiſſenſchaft, Erforſchung der Kauſalgeſetze der Wirk - lichkeit auf dem Gebiete der Natur wie der geſellſchaftlich-geſchicht - lichen Welt und Theorie der Erkenntniß. Dieſe beiden führen ſeitdem den Vernichtungskrieg gegen die Metaphyſik, und jetzt iſt ihre Tendenz, auf der Grundlage der Erkenntnißtheorie einen Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften der Wirklichkeit herzuſtellen.
Und hat ſich nun in dieſer modernen Welt, an deren Ein - gang wir ſtehen, Metaphyſik zu vertheidigen verſucht, ſo ändert ſich doch allmälig ihr Charakter und ihre Lage. — Die Stelle, die ſie im Zuſammenhang der Wiſſen - ſchaften zu behaupten verſucht, iſt eine andere. Denn indem die poſitiven Wiſſenſchaften die Wirklichkeit analyſiren und die allgemeinſten Bedingungen derſelben in einem Syſtem von Ele - menten und Geſetzen feſtzuſtellen ſtreben, indem ſie ſich der Stellung dieſer Sätze zur Wirklichkeit wie zum Bewußtſein kritiſch bewußt werden: verliert die Metaphyſik ihren Platz als Grund - lage der Erklärung der Wirklichkeit in den Einzelwiſſenſchaften, und ihr bleibt nur als mögliche Aufgabe, die Ergebniſſe der poſi - tiven Wiſſenſchaften in einer allgemeinen Weltanſicht abzuſchließen. Der Grad von Wahrſcheinlichkeit, der einem ſolchen Verſuche erreichbar iſt, kann nur ein beſcheidener ſein. — Ebenſo ändert ſich die Funktion ſolcher metaphyſiſchen Syſteme in der Ge - ſellſchaft. Ueberall wo Metaphyſik fortbeſtand, wandelte ſie ſich in ein bloßes Privatſyſtem ihres Urhebers und derjenigen Perſonen, welche ſich vermöge einer gleichen Verfaſſung der Seele von dieſem Privatſyſtem angezogen fanden. Dies war durch die veränderte Lage bedingt. Dieſelbe hat die Macht einer einheitlichen mono - theiſtiſchen Metaphyſik gebrochen. Die veränderten phyſikaliſchen und aſtronomiſchen Grundbegriffe haben die Schlüſſe der mono - theiſtiſchen Metaphyſik zerſtört. Eine freie Mannigfaltigkeit von metaphyſiſchen Syſtemen, deren keines erweisbar iſt, hat ſich nun gebildet. So blieb der Metaphyſik nur die Aufgabe, Centren zu ſchaffen, in welchen die Ergebniſſe der poſitiven Wiſſen - ſchaften ſich zu einem befriedigenden allgemeinen Zuſammenhang456Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.der Erſcheinungen in einer Faſſung von relativem Werthe ſammeln konnten. Die poſitive Wiſſenſchaft bringt nach der Anſicht der Meta - phyſiker nur die einzelnen Worte und die Regeln der Verknüpfung derſelben hervor, welche dann erſt unter ihren Händen zum Gedicht werden. Aber ein Gedicht hat keine allgemeingültige Wahrheit. Man hat ungefähr in derſelben Zeit neben einander Schelling ſeine Offen - barungsphiloſophie, Hegel ſeine Weltvernunft, Schopenhauer ſeinen Weltwillen, die Materialiſten ihre Anarchie der Atome beweiſen hören; alle mit gleich guten oder ſchlechten Gründen. Handelt es ſich etwa darum, unter dieſen Syſtemen das wahre auszuſuchen? Das wäre ein ſonderbarer Aberglaube; ſo vernehmlich als möglich lehrt dieſe metaphyſiſche Anarchie die Relativität aller metaphy - ſiſchen Syſteme. Ein jedes von ihnen repräſentirt ſo viel, als es in ſich faßt. Es hat ſo viel Wahrheit als eingegrenzte That - ſachen und Wahrheiten ſeinen grenzenloſen Verallgemeinerungen zu Grunde liegen. Es iſt ein Organ, ſehen zu machen, die Individuen durch den Gedanken zu vertiefen und zu dem unſichtbaren Zu - ſammenhang in Beziehung zu erhalten. Dieſes und vieles Ver - wandte bildet die neue Funktion der Metaphyſik in der modernen Geſellſchaft. Daher ſind dieſe Syſteme der Aus - druck bedeutender und in ihren Gedanken weit um ſich greifender Perſonen. Die wahren Metaphyſiker haben gelebt, was ſie ſchrieben. Descartes, Spinoza, Hobbes, Leibniz ſind von neueren Geſchichts - ſchreibern der Philoſophie immer mehr als centrale Individuali - täten aufgefaßt worden, in deren weiter Seele eine Lage der wiſſenſchaftlichen Gedanken ſich auf relative Weiſe abſpiegelt. Eben dieſer ihr repräſentativer Charakter beweiſt die Relativität des Wahrheitsgehaltes in ihren Syſtemen. Die Wahrheit iſt nicht etwas Repräſentatives.
Aber ſelbſt dieſe Funktion der metaphyſiſchen Syſteme in der modernen Geſellſchaft kann nur vorübergehend ſein. Denn dieſe ſchimmernden Zauberſchlöſſer der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft können, nachdem die Relativität ihres Wahrheitsgehaltes erkannt iſt, das ernüchterte Auge nicht mehr täuſchen. Und gleichviel wie lange noch ein Einfluß auf die Kreiſe der Gebildeten von meta -457Beſtändige Abnahme der Bedeutung der Metaphyſik.phyſiſchen Syſtemen geübt werden mag, die Möglichkeit, daß ein ſolches Syſtem von relativer Wahrheit, das neben vielen anderen von demſelben Wahrheitsgehalt ſteht, als Grundlage für die Wiſſenſchaften benutzt werde, iſt unwiederbringlich dahin.
In dem dargelegten allgemeinen Zuſammenhang entſtand die moderne Naturwiſſenſchaft. Der Geiſt der neueren Völker war in den wiſſenſchaftlichen Korporationen des Mittelalters dis - ciplinirt worden. Die Wiſſenſchaft, als Beruf, der ſich in großen Körperſchaften vererbte, betrieben, ſteigerte ihre Anforderungen an techniſche Vollendung und ſchränkte ſich auf dasjenige ein, was ſie zu beherrſchen vermochte. Und zwar ſah ſie ſich hierbei durch kräftige Impulſe gefördert, welche ſie in der Geſellſchaft vor - fand. In demſelben Maße, in welchem ſie von der Unter - ſuchung der letzten Gründe ſich loslöſte, empfing ſie von den fort - ſchreitenden praktiſchen Zwecken der Geſellſchaft, dem Handel, der Medizin, der Induſtrie ihre Aufgaben. Der erfindende Geiſt in dem arbeitſamen, die Handgriffe mit ſinnendem Nachdenken ver - einigenden Bürgerthum ſchuf der experimentellen und meſſenden Wiſſenſchaft Hilfsmittel von unberechenbarer Bedeutung. Und von dem Chriſtenthum her lebte in dieſen romaniſchen und germa - niſchen Völkern ein mächtiges Gefühl, daß dem Geiſt die Herr - ſchaft über die Natur gebühre, wie es Francis Bacon ausgedrückt hat. So löſt ſich eine ihrer eingeſchränkten Ziele ſichere poſitive Wiſſenſchaft der Natur immer klarer von dem Ganzen der geiſtigen Bildung, welche als Metaphyſik aus der Totalität der Gemüths - kräfte ihre Nahrung gezogen hatte. Das Naturerkennen ſcheidet ſich von dem ſeeliſchen Geſammtleben ab. Immer mehrere von den Vorausſetzungen, welche in dieſer Totalität gegeben ſind, werden von dem Naturerkennen eliminirt. Seine Grundlagen458Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung Gegebene immer genauer eingeſchränkt. Die Naturwiſſenſchaft des ſechzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phantaſien von pſychi - ſchen Verhältniſſen in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes begannen den erfolgreichen Kampf gegen dieſe überlebenden Vor - ſtellungen aus der metaphyſiſchen Zeit. Und allmälig wurden ſelbſt Subſtanz, Urſache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Löſung der methodiſchen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung gegebenen Erſcheinungen die Bedingungen zu ſuchen, unter welchen ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen vorausgeſagt werden kann.
Dieſe moderne Naturwiſſenſchaft hat allmälig die Meta - phyſik der ſubſtantialen Formen zerſetzt.
Der denknothwendige Zuſammenhang, den die moderne Na - turwiſſenſchaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit ſucht, gemäß dem in der Metaphyſik entwickelten und von der - ſelben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntniß, hat zu ſeinem Material die ebenfalls in der Metaphyſik aus dem Erlebniß der vollen Menſchennatur abſtrahirten und wiſſenſchaftlich entwickelten Begriffe der Subſtanz und der Kauſalität (wirkenden Urſache). Als die Begriffe von Erkenntnißgrund oder Denknothwendigkeit in der Entwicklung der Metaphyſik auftraten, fanden ſie dieſe beiden Grundvorſtellungen vor, als welche das menſchliche Denken vom Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dem entſprechend ſehen wir die Naturforſchung bemüht, das anſchauliche Bild der Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Ver - kettung von Urſachen und Wirkungen aufzulöſen, die Regelmäßig - keiten in ihnen zu erfaſſen, durch welche ſie für den Gedanken beherrſchbar werden, und als Träger dieſes Vorgangs Subſtanzen zu konſtruiren, welche nicht wie ſinnliche Objekte dem Entſtehen und Vergehen unterworfen ſind. Soweit unterſcheidet ſich die Gedankenarbeit der modernen Naturwiſſenſchaft gar nicht von der Arbeit der Griechen, die erſten Gründe des gegebenen Weltalls aufzuſuchen. Worin beſteht nun das die Erforſchung der Natur bei den neueren Völkern am meiſten Unterſcheidende, worin der459Naturwiſſenſchaft zerſetzt Metaphyſik der ſubſtantialen Formen.Kunſtgriff, vermittelſt deſſen ſie das alte Lehrgebäude vom Kos - mos zerſtört haben?
Schon in der Alchemie macht ſich die Richtung auf die wahren Faktoren der Natur geltend. Die ariſtoteliſche Elementen - lehre hatte Eigenſchaften, welche ſich der einfachen Wahrnehmung darbieten, Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit, zu Grunde ge - legt. Das Stadium der Chemie, wie es Paracelſus repräſentirt, bedient ſich der chemiſchen Analyſe, um hinter dieſe deſkriptive Be - trachtungsweiſe zu den wirklichen Faktoren, aus denen die Materie ſich zuſammenſetzt, zu dringen. Es unterſcheidet daher drei Grundkörper (tres primas substantias), das was brennt: Sul - phur, das was raucht und ſich ſublimirt: Mercurius, das was als unverbrennliche Aſche zurückbleibt: Sal. Aus dieſen Grund - körpern, welche zwar nicht iſolirt dargeſtellt, aber von der chemiſchen Kunſt am Verbrennungsvorgang unterſchieden werden können, leitet Paracelſus erſt die ariſtoteliſchen Elemente ab. So war der Weg beſchritten, durch die thatſächliche Zerlegung der Materie im Experiment ſich den chemiſchen Elementen zu nähern; eben der Verbrennungsprozeß, von welchem Paracelſus ausging, ſollte Lavoiſier den Eintritt in die quantitative Unterſuchungsweiſe ver - mitteln. Jedoch lange Zeit bevor die Chemie zu einer ſicheren Grund - legung gelangte, wurde die Mechanik durch Galilei exakte Wiſſen - ſchaft. Lagrange hat in Bezug auf dieſe Leiſtung Galileis hervorge - hoben, es habe, um die Jupitertrabanten, Venusphaſen und Sonnen - flecken zu finden, nur des Teleſkops und des Fleißes bedurft, wo - gegen nur ein außerordentlicher Geiſt die Geſetze der Natur in Er - ſcheinungen, welche man ſtets vor Augen gehabt, aber bis dahin nicht hatte erklären können, zu entwirren vermocht habe. Die einfachen, begrifflich wie quantitativ beſtimmten Vorſtellungen, welche er zu Grunde legte, ſetzten eine Zerlegung des Bewegungs - vorgangs in abſtrakte Komponenten voraus, und ſie ermöglichten gerade durch die Einfachheit der fundamentalen Beziehungen die Unterordnung der Bewegungen unter die Mathematik. Das ſcheinbar ſo ſelbſtverſtändliche Prinzip der Trägheit durchſchnitt die ganze von uns dargelegte metaphyſiſche Theorie, nach welcher460Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.eine Bewegung nur durch das Fortwirken der ſie hervorbringenden Urſache ſich forterhält, ſonach den gleichförmig fortdauernden Be - wegungen eine gleichförmig wirkende Urſache zu Grunde gelegt werden mußte. Auf dieſe Theorie, welche der Sinnenſchein von geſtoßenen und in Ruhezuſtand zurückkehrenden Körpern empfahl, war die Annahme von pſychiſchen Weſenheiten als Urſachen eines weiten Kreiſes von Veränderungen in der Natur einerſeits be - gründet worden, wie ſie andrerſeits aus der Gedankenmäßigkeit der Bewegungen ihre mehr dauernde Kraft empfing. Nunmehr zeigte das Prinzip Galileis den Grund der Fortdauer einer Be - wegung in der Nothwendigkeit des Beharrens des Objektes ſelber in ſeinem Bewegungszuſtande; dieſer Nothwendigkeit gemäß durch - läuft das Objekt jedes folgende Differential ſeiner Bahn, weil es das vorangehende durchlaufen hat. Die Grundlage der meta - phyſiſchen Naturbetrachtung war vernichtet.
Die erſte Anwendung der Mechanik auf ein verwickeltes Syſtem von Thatſachen, zugleich die glänzendſte und erhabenſte, deren ſie fähig iſt, war die auf die großen Bewegungen der Maſſen im Weltraum. So entſtand die Mechanik des Himmels. Sie wurde ermöglicht durch die Fortſchritte der Mathematik in analytiſcher Geometrie und Differentialrechnung. Nun wurde das verwickelte Getriebe der im Weltraum kreiſenden Geſtirne durch die Theorie von der Gravitation, als dem unſichtbaren Bande der Sternen - welt, der mechaniſchen Betrachtungsweiſe untergeordnet. Damit ſanken die Geſtirngeiſter der metaphyſiſchen Naturauffaſſung dahin und wurden zu Märchen einer verklungenen Zeit.
Die unermeßliche Veränderung der menſchlichen Weltanſicht, welche ſich ſo vollzog, begann, indem Copernicus, anknüpfend an die Forſchungen der Griechen, welche daſſelbe verſucht, die Sonne in die Mitte der Welt ſtellte. „ Denn wer könnte wohl “, ſo ſagt er, „ in dem herrlichen Naturtempel dieſer Fackel einen anderen Ort anweiſen wollen. “ Die drei Kepler’ſchen Geſetze entwarfen deſkriptiv die Figuren und Zahlenverhältniſſe der heliocentriſchen Planetenbewegungen, in welchen Kepler, den Spuren der pytha - goreiſchen Schule nachgehend, die Harmonie des Himmels an -461Naturwiſſenſchaft zerſetzt Metaphyſik der ſubſtantialen Formen.ſchaute. Newton ſuchte die Erklärung für die ſo ihrer Form nach beſtimmten Bewegungen. Und zwar erklärte er ſie durch eine Zerlegung in zwei Faktoren. Der eine Faktor liegt in einem Anſtoß, welchen die Planeten in der Richtung einer Tangente an ihre gegenwärtige Bahn erhalten haben, der andere in der Gravi - tation; ſo kann die Krümmung ihrer Bahnen abgeleitet werden. Auf ſolche Weiſe tritt an die Stelle der geiſtigen Weſen, deren vorſtellende Kraft und innere geiſtige Beziehung zu einander der Erklärungsgrund der verwickelten Formen der ſcheinbaren Bahnen und ihrer mechaniſch zuſammenhangsloſen Räderwerke geweſen waren, nachdem einmal durch den heliocentriſchen Standpunkt des Copernicus das Problem eine einfachere, durch Kepler eine genau präciſirte Faſſung erhalten hatte, der Mechanismus, dem Triebwerk Einer ungeheuren Uhr vergleichbar. Und das Mittel war die Zerlegung, die auf das Zuſammenwirken von Faktoren, welche der Erklärung dienen, die Form zurückführte, während dieſe bis dahin Gegenſtand einer äſthetiſchen und teleologiſch deſkriptiven Betrachtung geweſen war.
Wir verfolgen nicht die Bedeutung der fortſchreitenden Chemie und Phyſik für die gänzliche Veränderung der bisherigen Meta - phyſik; insbeſondere in der Chemie ſchien nun das analytiſche Verfahren experimentell die Auffindung der Subſtanzen be - wirken zu wollen, die im Kosmos vereinigt ſind; aber die Formen des organiſchen Lebens waren der zweite Hauptſtützpunkt für die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen, und auch dieſen ſollte ſie nun verlieren. Die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen widerſtand vermittelſt des Begriffs einer Lebensſeele, der anima vegetativa, noch eine Zeit lang der Anforderung, die organiſchen Formen und Leiſtungen als das am meiſten komplexe aller Phä - nomene der Natur ebenfalls auf den phyſikaliſchen und chemiſchen Mechanismus zurückzuführen. Dann wies die Biologie dieſer Lebens - ſeele wenigſtens die Benutzung der chemiſchen und phyſikaliſchen Kräfte zu: bis ſchließlich die Mehrzahl der Biologen, insbeſondere in Deutſchland, den Begriff von Lebensſeele, Lebenskraft als für den Fortſchritt der Forſchung unfruchtbar zurückſtellte und ganz zu462Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.eliminiren bemüht war. Auch hier war es wiederum die Zer - legung der vordem als ein lebendiges, von Einem Pſychiſchen aus entwickeltes Ganzes betrachteten forma naturae, was die alte Metaphyſik ſtürzte. — So drang das analytiſche Verfahren, nicht die bloße Zerlegung in Gedanken, ſondern die thatſäch - lich eingreifende, den erſten Natururſachen entgegen und löſte pſychiſche Weſenheiten ſowie ſubſtantiale Formen auf.
Hatte die monotheiſtiſche Lehre den Mittelpunkt der biſ - herigen Metaphyſik gebildet und beſaß ſie innerhalb der ſtrengen Wiſſenſchaft ihren Hauptſtützpunkt an dem Schluß aus den Thatſachen der Aſtronomie, ſo wurde nun auch die Strin - genz dieſes Schluſſes zerſetzt.
Noch Kepler war durch ſeine Entdeckungen nur dahin ge - führt worden, die göttliche Kraft, welche die Bewegungen der Pla - neten hervorbringt, in die Sonne als den Mittelpunkt aller ihrer Bahnen zu verlegen und ſo bereits eine Centralkraft in der Sonne anzunehmen. „ Wir müſſen eins von beiden vorausſetzen: entweder, daß die bewegenden Geiſter, je weiter ſie von der Sonne entfernt ſind, um ſo ſchwächer werden, oder daß es Einen bewegenden Geiſt in dem Mittelpunkte aller dieſer Bahnen, nämlich in der Sonne, gebe, der jeden Himmelskörper in eine um ſo ſchnellere Bewegung verſetzt, je näher ihm dieſer iſt, bei den entfernteren aber wegen der Erſtreckung und Herabminderung der Kraft gleich - ſam ermattet1)Kepler Mysterium cosmographicum c. 20.. “
Alsdann fiel auch noch für Newton nur Ein Erklärungs - grund der Form der Planetenbewegungen in den Bereich der Materie; er bedurfte neben ihm der Annahme, daß der Planet durch einen Stoß in eine gewiſſe Richtung mit einer gewiſſen Ge - ſchwindigkeit geworfen ſei. So war der erſte Beweger, wenn auch zu einem untergeordneten Geſchäft, immer noch erforderlich. Ja mehr, Newton erklärt, daß Planeten und Kometen zwar nach den Geſetzen der Schwere in ihren Bahnen verharren, aber die urſprüngliche und regelmäßige Lage derſelben nicht durch dieſe463Auflöſung des Schluſſes aus den Thatſachen der Aſtronomie.Geſetze erlangen konnten. „ Dies vollkommene Gefüge der Sonne, der Planeten und Kometen hat nur aus dem Rathſchluß und der Herrſchaft eines einſichtigen und mächtigen Weſens hervorgehen können1)Aus der berühmten allgemeinen Anmerkung zu dem dritten Buche von Newton’s mathematiſchen Prinzipien.. “ Seine geiſtige Subſtanz iſt Trägerin der Wechſel - wirkung der Theile im Weltall. So dauerte eine Zeit hindurch, wenn auch abgeſchwächt, die Macht des aſtronomiſchen Theils des kosmologiſchen Beweiſes für das Daſein Gottes fort. Eine Anzahl von bedeutenden Köpfen, welche ſonſt einen leidenſchaftlichen Kampf gegen den Kirchenglauben führten, fand ſich auch von dieſem ſo abgeſchwächten Argument überzeugt. Indem aber die mechaniſche Theorie von Kant und Laplace dazu angewendet wurde, die Entſtehung des Planetenſyſtems zu erklären, trat in der neuen Hypotheſe der Mechanismus an die Stelle der Gottheit.
Die metaphyſiſche Beweisführung, welche uns durch die ganze Geſchichte der Metaphyſik begleitet hat, iſt als ſolche von jetzt an zerſtört. Zudem iſt die Unterſcheidung einer höheren un - veränderlichen Welt von der des Wechſels unter dem Monde nun - mehr durch die Entdeckungen über die Veränderungen auf den Geſtirnen ſowie durch die Mechanik und Phyſik des Himmels aufgehoben. Was zurückbleibt iſt die metaphyſiſche Stim - mung, iſt jenes metaphyſiſche Grundgefühl des Menſchen, welches dieſen durch die lange Zeit ſeiner Geſchichte begleitet hat, von der Zeit ab, da die Hirtenvölker des Oſtens zu den Sternen aufblickten, da die Prieſter auf den Sternwarten der Tempel des Orients den Dienſt der Geſtirne und ihre Betrachtung verbanden. Dieſes metaphyſiſche Grundgefühl iſt in dem menſchlichen Bewußt - ſein mit dem pſychologiſchen Urſprunge des Gottesglaubens über - all verwoben; es beruht auf der Unermeßlichkeit des Raumes, welcher ein Symbol der Unendlichkeit iſt, auf dem reinen Lichte der Geſtirne, das auf eine höhere Welt zu deuten ſcheint, vor Allem aber auf der gedankenmäßigen Ordnung, welche auch die einfache Bahn, die ein Geſtirn am Himmel beſchreibt, zu unſerer geo -464Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.metriſchen Raumanſchauung in eine geheimnißvolle aber lebendig empfundene Beziehung ſetzt. Dies Alles iſt in Einer Stimmung verbunden, die Seele findet ſich erweitert, ein gedankenmäßiger göttlicher Zuſammenhang breitet ſich rings um ſie in das Un - ermeßliche aus. Dies Gefühl iſt nicht fähig, in irgend eine De - monſtration aufgelöſt zu werden. Die Metaphyſik verſtummt. Aber von den Sternen her klingt, wenn die Stille der Nacht kommt, auch zu uns noch jene Harmonie der Sphären, von welcher die Pythagoreer ſagten, daß nur das Geräuſch der Welt ſie übertäube; eine unauflösliche metaphyſiſche Stimmung, welche jeder Beweisführung zu Grunde lag und ſie alle überleben wird.
Wenn nun ſolchergeſtalt die moderne Naturwiſſenſchaft die ganze bisher dargeſtellte Metaphyſik der ſubſtantialen Formen und der pſychiſchen Weſenheiten aufgelöſt hat bis in den innerſten Kern, den die einheitliche geiſtige Welturſache ausmacht, ſo entſteht die Frage: in was hat ſie dieſelbe aufgelöſt?
Was ſetzte nun die Zerlegung der zuſammgeſetzten Formen der Natur an die Stelle dieſer formae substantiales, welche einſt der Gegenſtand einer deſkriptiven Auffaſſung und Zurückführung auf geiſtähnliche Weſenheiten geweſen waren? Man hat wol geſagt: eine neue Metaphyſik. Und in der That ſo weit ein Standpunkt reicht, wie ihn neuerdings Fechner als die Nachtanſicht geſchildert hat, ein Standpunkt, für welchen Atome und Gravitation meta - phyſiſche Entitäten ſind, wie ſie vorher die ſubſtantialen Formen waren, iſt natürlich nur eine alte mit einer neuen Metaphyſik ver - tauſcht worden, und man kann nicht einmal ſagen: eine ſchlechtere mit einer beſſeren. Der Materialismus war eine ſolche neue Metaphyſik, und eben darum iſt der gegenwärtige naturwiſſen - ſchaftliche Monismus ſein Sohn und Erbe, weil auch ihm Atome, Moleküle, Gravitation Entitäten ſind, Wirklichkeiten, ſo gut als irgend ein Objekt, das geſehen und betaſtet werden kann. Aber das Verhältniß der wahrhaft poſitiven Forſcher zu den Begriffen, durch welche ſie die Natur erkennen, iſt ein anderes, als das der metaphyſiſchen Moniſten. Newton ſelber ſah in der anziehenden Kraft nur einen Hilfsbegriff für die Formel des Geſetzes, nicht465Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.die Erkenntniß einer phyſiſchen Urſache1)Newton Principia def. VIII: Voces autem attractionis, impulsus vel propensionis cujuscunque in centrum, indifferenter et pro se mutuo promiscue usurpo; has vires non physice, sed mathematice tantum con - siderando. Unde caveat lector, ne per hujusmodi voces cogitet me spe - ciem vel modum actionis causamve aut rationem physicam alicubi de - finire vel centris (quae sunt puncta mathematica) vires vere et physice tribuere, si forte aut centra trahere, aut vires centrorum esse dixero.. Solche Begriffe, wie Kraft, Atom, Molekül ſind für die meiſten hervorragenden Natur - forſcher ein Syſtem von Hilfskonſtruktionen, vermittelſt deren wir die Bedingungen für das Gegebene zu einem für die Vor - ſtellung klaren und für das Leben benutzbaren Zuſammenhang entwickeln. Und dies entſpricht dem Sachverhalt.
Ding und Urſache können nicht als Beſtandtheile der Wahr - nehmungen in den Sinnen aufgezeigt werden. Sie ergeben ſich auch nicht aus der formalen Anforderung eines denknothwendigen Zuſammenhangs zwiſchen den Wahrnehmungselementen, noch weniger aus den bloßen Beziehungen derſelben in Koexiſtenz und Succeſſion. Für den Naturforſcher mangelt ihnen daher die Legi - timität des Urſprungs. Sie bilden die inhaltlichen im Erlebniß gegründeten Vorſtellungen, durch welche Zuſammenhang unter unſeren Empfindungen beſteht, und zwar treten ſie in einer vor der bewußten Erinnerung liegenden Entwicklung auf.
Aus ihnen ſahen wir im Verlauf dieſes geſchichtlichen Ueber - blicks die abſtrakten Begriffe von Subſtanz und Kauſalität hervorgehen. Nun beſtimmt die Unterſcheidung des Dings von Wirken, Leiden und Zuſtand nebſt den aus ihr rechtmäßig vom Erkennen abgeleiteten Unterſcheidungen, welche mit den Be - griffen der Subſtanz und der Kauſalität gegeben ſind, die Form des Urtheils. Alſo können wir dieſe Begriffe wol im Wort, nicht im wirklichen Vorſtellen eliminiren, und die Naturforſchung kann nur darauf gerichtet ſein, vermittelſt dieſer Vorſtellungen und Begriffe, welche den einzigen uns möglichen, unſerem Bewußt - ſein eigenen Zuſammenhang in ſich ſchließen, ein zureichendes undDilthey, Einleitung. 30466Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.in ſich geſchloſſenes Syſtem der Bedingungen für die Erklärung der Natur zu konſtruiren.
Wir ziehen wieder nur einen Schluß aus der hiſtoriſchen Ueberſicht, wenn wir zunächſt weiter behaupten: der Begriff der Subſtanz und der von ihm ausgehende konſtruktive Begriff des Atoms ſind aus den Anforderungen des Erkennens an das, was in der Veränderlichkeit des Dinges als ein zu Grunde liegendes Feſtes zu ſetzen ſei, entſtanden; ſie ſind geſchichtliche Erzeugniſſe des mit den Gegenſtänden ringenden logiſchen Geiſtes; ſie ſind alſo nicht Weſenheiten von einer höheren Dignität als das einzelne Ding, ſondern Geſchöpfe der Logik, welche das Ding denkbar machen ſollen und deren Erkenntnißwerth unter der Bedingung des Erlebens und Anſchauens ſteht, in denen das Ding gegeben iſt. Dem Schema dieſer Begriffe haben ſich die großen Entdeckungen ein - geordnet, welche in den Grenzen unſerer chemiſchen Erfahrungen die Unveränderlichkeit der Stoffe nach Maſſe und Eigenſchaften mitten in dem Wechſel der chemiſchen Verbindungen und Tren - nungen erweiſen. So entſteht die Möglichkeit, an welche alle fruchtbare Naturforſchung gebunden iſt, die in der Anſchauung gegebenen Thatbeſtände und Beziehungen rückwärts dem zu Grunde zu legen, was der Anſchauung entzogen iſt, und ſolchergeſtalt eine einheitliche Naturanſicht durchzuführen. Die klaren Vor - ſtellungen von Maſſe, Gewicht, Bewegung, Geſchwindigkeit, Ab - ſtand, welche an den größeren ſichtbaren Körpern gebildet ſind und an dem Studium der Maſſen im Weltraum ſich bewährt haben, werden auch da benutzt, wo die Sinne durch die Vor - ſtellungskraft erſetzt werden müſſen. Daher iſt auch der Verſuch des deutſchen Idealismus, dieſe Grundvorſtellung von der Kon - ſtitution der Materie zu verdrängen, eine unfruchtbare Epiſode geblieben, während die Atomiſtik in ihrer Entwicklung ſtätig, wenn auch zuweilen durch ſehr barocke Vorſtellungen von den Maſſen - theilchen, voranſchreitet. Dieſe barocken Vorſtellungen wollen zwar unſeren idealen Anforderungen an die erſten Gründe des Kosmos nicht entſprechen, ſind aber den ſichtbaren Erſcheinungen gleichartig, und ermöglichen den nach der Lage der Wiſſenſchaft zur Zeit für467Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.die Erklärung dieſer Erſcheinungen am meiſten geeigneten Begriffs - zuſammenhang. Wogegen die Vorſtellungen der idealiſtiſchen Naturphiloſophie zwar durch ihre Verwandtſchaft mit dem geiſtigen Leben höchſt würdig erſchienen, den Ausgangspunkt der Erklärung der Natur zu bilden, aber indem ſie eine den ſichtbaren Objekten heterogene Innerlichkeit hinter dieſen dichteten, waren ſie andrer - ſeits unfähig, dieſe ſichtbaren Objekte wirklich zu erklären, und darum gänzlich unfruchtbar1)Vgl. Fechner über die phyſikaliſche und philoſophiſche Atomenlehre 2 Leipzig 1864..
Dieſelbe Folgerung ergiebt ſich alsdann in Bezug auf den Er - kenntnißwerth des Begriffes der Kraft und der ihm benachbarten von Kauſalität und Geſetz. Während der Begriff der Subſtanz im Alterthum ausgebildet wurde, hat der Begriff der Kraft ſeine gegenwärtige Geſtaltung erſt im Zuſammenhang mit der neueren Wiſſenſchaft empfangen. Wiederum blicken wir rückwärts; den Urſprung dieſes Begriffs erfaßten wir noch im mythiſchen Vor - ſtellen als Erlebniß. Die Natur dieſes Erlebniſſes wird ſpäter Gegenſtand der erkenntnißtheoretiſchen Unterſuchung ſein. Hier ſei nur herausgehoben: wie wir in unſerem Erlebniß finden, kann der Wille die Vorſtellungen lenken, die Glieder in Bewegung ſetzen, und dieſe Fähigkeit wohnt ihm bei, wenn er auch nicht immer von ihr Gebrauch macht; ja im Falle äußerer Hemmung kann ſie zwar durch eine gleiche oder größere Kraft in Ruheſtand gehalten werden, wird jedoch als vorhanden gefühlt. So faſſen wir die Vorſtellung einer Wirkensfähigkeit (oder eines Vermögens), welche dem einzelnen Akt von Wirken voraufgeht; aus einer Art von Reſervoir wirkender Kraft entfließen die einzelnen Willensakte und Handlungen. Die erſte wiſſenſchaftliche Entwicklung dieſer Vorſtellung haben wir in der ariſtoteliſchen Begriffsreihe von Dynamis, Energie und Entelechie vorgefunden. Jedoch war die hervorbringende Kraft in dem Syſtem des Ariſtoteles noch nicht von dem Grunde der zweckmäßigen Form ihrer Leiſtung geſondert, und wir erkannten gerade hierin ein charakteriſtiſches Merkmal und eine Grenze der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft. Erſt dieſe Son -30*468Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.derung ermöglichte die mechaniſche Weltanſicht. Dieſelbe trennte den abſtrakten Begriff von Quantität der Kraft (Energie, Arbeit) von den konkreten Naturphänomenen ab. Jede Maſchine zeigt eine meßbare Triebkraft, deren Quantum von der Form verſchieden iſt, in welcher die Kraft auftritt, und ſie zeigt zugleich, wie durch die Leiſtung Triebkraft verbraucht wird; vis agendo consumitur. Das Ideal eines objektiven dem Gedanken faßbaren Zuſammen - hangs der Bedingungen für das Gegebene iſt in dieſer Richtung durch die Entdeckung des mechaniſchen Aequivalents der Wärme und die Aufſtellung des Geſetzes von der Erhaltung der Kraft verwirklicht. Auch hier haben wir kein aprioriſches Geſetz vor uns, vielmehr haben poſitive Entdeckungen die Naturwiſſenſchaft dem angegebenen Ideal angenähert. Indem eine Naturkraft nach der anderen in Bewegung aufgelöſt, dieſe aber dem umfaſſenden Geſetz untergeordnet wird, daß jedes Wirken Effekt eines früheren gleich großen, jeder Effekt Urſache eines weiteren gleich großen Effektes ſei: ſchließt ſich der Zuſammenhang ab. So hat das Geſetz von der Erhaltung der Kraft in Bezug auf die Benutzung der Vorſtellung von Kraft dieſelbe Funktion als der Satz von der Unveränderlichkeit der Maſſe im Weltall in Bezug auf den Stoff. Zuſammen ſondern ſie, auf dem Wege der Erfahrung, das Konſtante in den Veränderungen des Weltalls aus, welches aufzufaſſen die metaphyſiſche Epoche vergebens bemüht war.
So viel iſt klar: man kann die mechaniſche Naturerklärung, wie ſie nun das Ergebniß der bewundernswerthen Arbeit des naturforſchenden Geiſtes in Europa ſeit dem Ausgang des Mittel - alters iſt, nicht gröber mißverſtehen, als indem man ſie als eine neue Art von Metaphyſik, etwa eine ſolche auf induktiver Grund - lage, auffaßt. Freilich ſonderte ſich nur allmälig und langſam von der Metaphyſik das Ideal von erklärender Erkenntniß des Naturzuſammenhangs ab, und erſt die erkenntnißtheoretiſche For - ſchung klärt den ganzen Gegenſatz auf, der zwiſchen dem metaphyſiſchen Geiſt und der Arbeit der modernen Naturwiſſenſchaft beſteht. Sie mag ihn vorläufig, vor der Darlegung unſerer Erkenntnißtheorie, folgendermaßen beſtimmen.
469Mechan. Naturerkl. darf nicht als neue Metaphyſik angeſehen werden.1. Die äußere Wirklichkeit iſt in der Totalität unſeres Selbſtbewußtſeins nicht als bloßes Phänomen gegeben, ſondern als Wirklichkeit, indem ſie wirkt, dem Willen widerſteht und dem Gefühl in Luſt und Wehe da iſt. In dem Willensanſtoß und Willenswiderſtand werden wir innerhalb unſeres Vorſtellungszu - ſammenhangs eines Selbſt inne, und geſondert von ihm eines Anderen. Aber dies Andere iſt nur mit ſeinen prädikativen Be - ſtimmungen für unſer Bewußtſein da, und die prädikativen Be - ſtimmungen erhellen nur Relationen zu unſeren Sinnen und unſerem Bewußtſein: das Subjekt oder die Subjekte ſelber ſind nicht in unſeren Sinneseindrücken. So wiſſen wir vielleicht, daß dies Subjekt da ſei, doch ſicher nicht, was es ſei.
2. Für dieſes Phänomen der äußeren Wirklichkeit ſucht nun die mechaniſche Naturerklärung denknothwendige Be - dingungen. Und zwar iſt die äußere Wirklichkeit jederzeit, weil ſie uns als ein Wirkendes gegeben war, Gegenſtand der Unterſuchung in Bezug auf ihre Subſtanz und die ihr unterliegende Urſächlichkeit für den Menſchen geweſen. Auch verbleibt das Denken durch das Urtheil als ſeine Funktion an die Unterſcheidung von Subſtanz einerſeits und Thun, Leiden, Eigenſchaft, Kauſalität, ſchließlich Geſetz andrerſeits gebunden. Die Unterſcheidung der zwei Klaſſen von Begriffen, welche das Urtheil trennt und ver - knüpft, kann nur mit dem Urtheilen, ſonach dem Denken ſelber aufgehoben werden. Aber eben darum können für das Studium der Außenwelt die unter dieſen Bedingungen entwickelten Begriffe nur Zeichen ſein, welche, als Hilfsmittel des Zuſammenhangs im Bewußtſein, zur Löſung der Aufgabe der Erkenntniß in das Syſtem der Wahrnehmungen eingeſetzt werden. Denn das Er - kennen vermag nicht an die Stelle von Erlebniß eine von ihm unabhängige Realität zu ſetzen. Es vermag nur, das in Erleben und Erfahren Gegebene auf einen Zuſammenhang von Bedingungen zurückzuführen, in welchem es begreiflich wird. Es kann die konſtanten Beziehungen von Theilinhalten feſtſtellen, welche in den mannichfachen Geſtalten des Naturlebens wiederkehren. Verläßt man daher den Erfahrungsbezirk ſelber, ſo hat man es nur mit470Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die Atome ſind unter dieſem Geſichtspunkte, wenn ſie Entitäten zu ſein beanſpruchen, nicht beſſer als die ſubſtantialen Formen: ſie ſind Geſchöpfe des wiſſenſchaftlichen Verſtandes.
3. Die Bedingungen, welche die mechaniſche Na - turerklärung ſucht, erklären nur einen Theilinhalt der äußeren Wirklichkeit. Dieſe intelligible Welt der Atome, des Aethers, der Vibrationen iſt nur eine abſichtliche und höchſt kunſtvolle Abſtraktion aus dem in Erlebniß und Erfahrung Ge - gebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu konſtruiren, welche die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Be - ſtimmungen abzuleiten und ſonach künftige Eindrücke vorauszu - ſagen geſtatten. Das Syſtem der Bewegungen von Elementen, in welchem dieſe Aufgabe gelöſt wird, iſt nur ein Ausſchnitt der Realität. Denn ſchon der Anſatz unveränderlicher qualitätsloſer Subſtanzen iſt eine bloße Abſtraktion, ein Kunſtgriff der Wiſſen - ſchaft. Er iſt dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung aus der Außenwelt in das Bewußtſein hinübergeſchoben wird, wodurch denn die Außenwelt von den läſtigen Veränderungen der ſinnlichen Eigenſchaften befreit wird. Das Medium von Klar - heit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung, Geſetz, Element ſchweben, iſt nur die Folge davon, daß die That - beſtände durch Abſtraktion von Allem befreit ſind, was der Maß - beſtimmung unzugänglich iſt. Und daher iſt dieſer mechaniſche Naturzuſammenhang zunächſt ſicher ein nothwendiges und frucht - bares Symbol, das in Quantitäts - und Bewegungsverhältniſſen den Zuſammenhang des geſammten Geſchehens in der Natur aus - drückt, aber was ſie mehr ſei als dies, darüber kann kein Natur - forſcher etwas ausſagen, will er nicht den Boden der ſtrengen Wiſſenſchaft verlaſſen.
4. Der Zuſammenhang der Bedingungen, welchen die mechaniſche Naturerklärung auſſtellt, kann vorläufig noch nicht an allen Punkten der äußeren Wirklichkeit auf - gezeigt werden. Der organiſche Körper bildet eine ſolche Grenze der mechaniſchen Naturerklärung. Der Vitalismus mußte aner -471Gegenſatz des metaph. Geiſtes u. der modernen Naturwiſſenſchaft.kennen, daß die phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetze nicht an der Grenze des organiſchen Körpers wirkſam zu ſein aufhören. Hat ſich aber die Naturforſchung das umfaſſende Problem geſtellt, unter Eliminirung der Lebenskraft aus dem mechaniſchen Naturzuſammen - hang die Prozeſſe des Lebens, ſeine organiſche Form, ſeine Bil - dungsgeſetze und ſeine Entwicklung, endlich die Art der Speziali - ſirung des Organiſchen in Typen abzuleiten, ſo iſt dies Problem heute noch ungelöſt.
5. Aus der Natur dieſes Verfahrens der Aufſuchung von Bedingungen für die äußere Wirklichkeit ergiebt ſich eine weitere Folge. Man kann ſich nicht verſichern, ob nicht noch weitere Bedingungen in den Thatſachen verſteckt ſind, deren Kenntniß eine ganz andere Konſtruktion erforderlich machen würde. Ja wenn wir einen weiteren Kreis von Erfahrungen beſäßen, ſo würden vielleicht dieſe von uns konſtruirten Ge - dankendinge durch ſolche von einer weiter zurückliegenden, gleich - ſam mehr primären Beſchaffenheit erſetzt werden. Hierauf leitet ſogar poſitiv der noch unerklärte Reſt, welcher die Meta - phyſiker beſtimmt hat, von dem Ganzen, von der Idee auszugehen. Denn betrachtet man die Elemente als Urdata, ſo muß die Betrachtung in einen Abgrund von Bedenken ſtürzen, daß dieſe Elemente auf einander wirken, gemeinſames Verhalten zeigen und vermittelſt deſſelben zum Aufbau zweckmäßig ſich be - wegender Organismen zuſammenwirken. Die mechaniſche Natur - erklärung kann die urſprüngliche Anordnung, aus welcher dieſer gedankenmäßige Zuſammenhang hervorgeht, vorläufig nur als zu - fällig anſehen. Der Zufall iſt aber die Aufhebung der Denk - nothwendigkeit, welche zu finden der Wille der Erkenntniß ſich in der Naturwiſſenſchaft in Bewegung ſetzt.
6. Die Naturwiſſenſchaft gelangt ſo nicht zu einem ein - heitlichen Zuſammenhang der Bedingungen des Ge - gebenen, welchen aufzuſuchen ſie doch ausgegangen war. Denn die Geſetze der Natur, unter denen alle Stoffelemente gemeinſam ſtehen, können nicht dadurch erklärt werden, daß ſie dem einzelnen Stoffelement als ſein Verhalten zugeſchrieben werden. Die Ana -472Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.lyſis iſt zu den beiden Endpunkten, dem Atom und dem Geſetz, gelangt, und wie das Atom im naturwiſſenſchaftlichen Denken als Einzelgröße benutzt wird, liegt in ihm nichts, was mit dem Syſtem von Gleichförmigkeiten in der Natur in einen Erkennt - nißzuſammenhang gebracht werden könnte. Daß ein Maſſentheil - chen im Syſtem der Relationen daſſelbe Verhalten als ein anderes zeigt, iſt aus ſeinem Charakter als Einzelgröße nicht erklärlich, ja erſcheint von ihm aus als ſchwer faßbar. Und wie zwiſchen unveränderlichen Einzelgrößen ein Kauſalzuſammenhang ſtattſinden ſoll, iſt nun gar vollſtändig unvorſtellbar. Unſer Verſtand muß die Welt wie eine Maſchine auseinandernehmen, um zu erkennen; er zerlegt ſie in Atome; daß aber die Welt ein Ganzes iſt, kann er aus dieſen Atomen nicht ableiten. Wir ziehen wiederum eine Folgerung aus der geſchichtlichen Darlegung. Dieſer letzte Befund der Analyſis der Natur in der modernen Naturwiſſenſchaft iſt demjenigen analog, zu welchem wir die Metaphyſik der Natur bei den Griechen gelangen ſahen: den ſubſtantialen Formen und der Materie. Das Naturgeſetz korreſpondirt der ſubſtantialen Form, das Maſſentheilchen der Materie. Und zwar ſtellt ſich in dieſen iſolirten Befunden ſchließlich nur der Unterſchied von Eigenſchaften dar, welche für die Einheit des Bewußt - ſeins in Gleichförmigkeiten ſich aufſchließen, und dem, was ihnen als einzelne Poſitivität zu Grunde liegt, kurz die Natur des Urtheils, ſonach des Denkens.
So iſt ſelbſt für die iſolirte Naturbetrachtung der Monismus nur ein Arrangement, in welchem die Beziehung von Eigen - ſchaften und Verhalten auf das, was ſich verhält, nothwendig iſt, da ſie aus der Natur des Bewußtſeinsphänomens Wirklichkeit richtig geſchöpft wird, aber die Herſtellung dieſer Beziehung bindet nur an einander, was innerlich nicht zuſammengehört: die einzelne Atomgröße und den gedankenmäßigen, gleichförmigen Zuſammen - hang, der für unſer Bewußtſein ſtets auf eine Einheit zurückweiſt. Ueberſchreitet jedoch der naturwiſſenſchaftliche Monismus die Grenzen der Außenwelt und zieht auch das Geiſtige in den Be - reich ſeiner Erklärung, alsdann hebt die Naturforſchung ihre eigene473Gegenſatz des metaph. Geiſtes u. der modernen Naturwiſſenſchaft.Bedingung und Vorausſetzung auf; aus dem Willen der Erkennt - niß ſchöpft ſie ihre Kraft, ihre Erklärungen aber können dieſen in ſeiner vollen Realität nur verneinen.
Der Rückſtand der ſo der wiſſenſchaftlichen Erklärung zurück - bleibt, iſt thatſächlich in dem Bewußtſein verbunden mit dem ganzen Verhältniß zur Natur, welches in der Totalität unſeres geiſtigen Lebens gegründet iſt und aus welchem ſich die moderne wiſſenſchaftliche Naturbetrachtung differenzirt und verſelbſtändigt hat. Wir haben nachgewieſen, daß in dem Geiſt von Plato oder Ariſtoteles, von Auguſtinus oder Thomas von Aquino dieſe Diffe - renzirung noch nicht beſtand; in ihre Betrachtung der Naturformen war noch das Bewußtſein von Vollkommenheit, von gedanken - mäßiger Schönheit des Weltalls untrennbar verwebt. Die Son - derung der mechaniſchen Naturerklärung aus dieſem Zuſammen - hang des Lebens, in welchem uns die Natur gegeben iſt, hat erſt den Zweckgedanken aus der Naturwiſſenſchaft ausgeſtoßen. Er bleibt jedoch in dem Zuſammenhang des Lebens, welchem die Natur gegeben iſt, enthalten, und wenn man die Teleologie im Sinne der Griechen als dies Bewußtſein von dem gedanken - mäßigen, unſerem inneren Leben entſprechenden ſchönen Zuſammen - hang erkennt, iſt dieſe Idee von Zweckmäßigkeit im Menſchen - geſchlechte unzerſtörbar. In den Formen, Gattungen und Arten der Natur bleibt ein Ausdruck dieſer immanenten Zweckmäßigkeit enthalten und wird ſelbſt von dem Darwiniſten nur weiter zu - rückgeſchoben. Auch ſteht dieſes Bewußtſein der Zweckmäßigkeit in einem inneren Verhältniß zu der Erkenntniß der Gedankenmäßig - keit der Natur, kraft welcher in ihr nach Geſetzen Typen hervor - gebracht werden. Dieſe Gedankenmäßigkeit iſt aber ſtreng beweis - bar. Denn gleichviel wovon unſere Eindrücke Zeichen ſind, der Verlauf unſeres Naturwiſſens vermag, die Koexiſtenz und Succeſſion dieſer Zeichen, welche in einem feſten Verhältniß zu dem im Willen gegebenen Anderen ſtehen, in ein Syſtem aufzulöſen, welches den Eigenſchaften unſeres Erkennens entſpricht.
Mit der Macht einer unwiderſtehlichen Naturerſcheinung hat ſich zugleich mit der Durchführung der mechaniſchen Naturer -474Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.klärung das tiefe Bewußtſein des Lebens in der Natur, wie es in der Totalität unſeres eigenen Lebens gegeben iſt, in der Poeſie ausgeſprochen; nicht als eine Art von ſchönem Schein oder von Form (wie Vertreter der formalen Aeſthetik annehmen würden), ſondern als gewaltiges Lebensgefühl; zunächſt in der Naturempfin - dung von Rouſſeau, deſſen Lieblingsneigungen naturwiſſenſchaftliche waren, alsdann aber in Goethes Poeſie und Naturphiloſophie. Dieſer bekämpfte mit leidenſchaftlichem Schmerz, vergebens, ohne die Hilfsmittel klarer Auseinanderſetzung, die ſicheren Reſultate der Newton’ſchen mechaniſchen Naturerklärung, indem er dieſe als Naturphiloſophie betrachtete, nicht als das, was ſie war: Entwick - lung eines in der Natur gegebenen Theilzuſammenhangs als ab - ſtraktes Hilfsmittel der Erkenntniß und Benutzung der Natur. Ja ſelbſt Schiller hat der wiſſenſchaftlichen Analyſis, welche zer - legt und tödtet, die Syntheſis künſtleriſcher Betrachtung gegenüber - geſtellt, als ein Verfahren von einem höheren Grad gleichſam metaphyſiſcher Wahrheit, und hat dem entſprechend in ſeiner Aeſthetik die Erfaſſung des ſelbſtändigen Lebens in der Natur dem Künſtler zugeſchrieben. So iſt in dem Differenzirungsprozeß des Seelenlebens und der Geſellſchaft das Heilige, Unverletzliche, Allgewaltige, was als Natur unſerem Leben thatſächlich gegeben iſt, von Dichtern und Künſtlern geliebt und dargeſtellt worden, während es einer wiſſenſchaftlichen Behandlung nicht zugänglich iſt. Und hier iſt weder der Dichter zu ſchmähen, der von dem erfüllt iſt, was für die Wiſſenſchaft gar nicht da ſein kann, noch der Forſcher, der von dem nichts weiß, was dem Dichter die glücklichſte Wahrheit iſt. In der Differenzirung des Lebens der Geſellſchaft hat ein Syſtem wie die Poeſie ſeine Funktion ſtets modificirt. Die Dichtung hat ſeit der Herſtellung der mechaniſchen Naturauffaſſung das in ſich verſchloſſene, keiner Erklärung zugäng - liche große Gefühl des Lebens in der Natur aufrechterhalten, wie ſie überall ſchützt, was erlebt wird, aber nicht begriffen werden kann, daß es nicht in den zerlegenden Operationen der abſtrakten Wiſſenſchaft ſich verflüchtige. In dieſem Sinne iſt was Carlyle und Emerſon geſchrieben haben eine geſtaltloſe Poeſie. Während475Das Bewußtſein des Lebens in der Natur.daher jene populären Darſtellungen der Natur, welche in die harten klaren Vorſtellungen des das Sinnliche zerlegenden Ver - ſtandes ein täuſchendes Spiel von innerer Lebendigkeit ſentimental hineinverlegen, eine verwerfliche Zwitterbildung ſind; während die deutſche Naturphiloſophie eine Verwirrung der Naturerkenntniß durch Hineintragung des Geiſtes und eine Herabminderung des Geiſtigen durch Verſenkung in die Natur war, behält die Dich - tung ihre unſterbliche Aufgabe.
Aus der Metaphyſik löſte ſich ein zweiter Zuſammenhang von Wiſſenſchaften, der ebenfalls eine in unſerer Erfahrung ge - gebene Wirklichkeit zum Gegenſtande hat und dieſelbe aus ihr allein erklärt. Auch hier hat die Analyſis für immer die Begriffe zer - ſtört, durch welche die metaphyſiſche Epoche die Thatſachen ge - deutet hatte. So iſt die metaphyſiſche Konſtruktion der Geſellſchaft und Geſchichte, welche das Mittelalter geſchaffen hatte, nicht nur an den dargelegten Widerſprüchen und Lücken der Beweisführung zu Grunde gegangen, ſondern indem ihre Allgemeinvorſtellungen durch eine wirkliche Zerlegung in den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes erſetzt zu werden begannen.
476Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.Zwiſchen der Schöpfung Adam’s und dem Weltuntergang hatte dieſe Metaphyſik die Fäden ihres Netzes von Allgemein - vorſtellungen ausgeſpannt. In der humaniſtiſchen Epoche be - gann Herſtellung eines ausreichenden geſchichtlichen Materials, Kritik der Quellen, Arbeit nach philologiſcher Methode. So wurde das wirkliche Leben der Griechen vermittelſt ihrer Dichter und Ge - ſchichtſchreiber wieder ſichtbar. Ja wie wir emporſteigend immer entfernter liegende Landſchaften und Städte gewahr werden, ſo hat ſich der geſchichtliche Ueberblick den aufwärts ſchreitenden neueren Völkern immer mehr erweitert, und der mythiſche Anfang des Menſchengeſchlechts verſchwand nun vor einer Forſchung, welche den geſchichtlichen Zügen in der älteſten Ueberlieferung nachging. Hierzu trat die Erweiterung des räumlichen, geographiſchen Hori - zontes der geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Schon den Abenteurern, welche in die neuen Welttheile jenſeit des Oceans vorandrangen, traten Völker von niederer Kulturſtufe und von abweichendem Typus entgegen. Unter der Gewalt dieſer neuen Eindrücke hat man gelegentlich einen ſchwarzen, einen rothen und einen weißen Adam unterſchieden. Das hiſtoriſche Gerüſt der Metaphyſik der Geſchichte brach zuſammen. Ueberall hat die hiſtoriſche Kritik das Gewebe der Sagen, Mythen und Rechtsfabeln zerſtört, durch welche die theokratiſche Geſellſchaftslehre die Inſtitutionen mit dem Willen Gottes verknüpfte.
Blieb aber nicht eine metaphyſiſche Konſtruktion übrig, welche die nunmehr von der Arbeit philologiſcher und hiſto - riſcher Kritik reinlich feſtgeſtellten Thatſachen zu einem ſinnvollen Ganzen verknüpfen würde? Die mittelalter - liche Vorſtellung hatte die Einheit des Menſchengeſchlechtes durch ein reales Band erklärt, wie ein ſolches als Seele die Theile eines Organismus vereinige, und eine ſolche Vorſtellung wurde nicht durch die hiſtoriſche Kritik zerſtört wie die von der Schenkung Konſtantin’s. Sie hatte von ihrem theokratiſchen Gedanken aus den Zuſammenhang der Geſchichte einer teleologiſchen Deutung unterworfen, und auch dieſe wurde von den Ergebniſſen der Kritik nicht direkt vernichtet. Aber nachdem einmal die feſten Prämiſſen477Zerſtörung des hiſtoriſchen Gerüſts der Metaphyſik der Geſchichte.dieſer teleologiſchen Deutung in der hiſtoriſchen Tradition von Anfang, Mitte und Ende der Geſchichte ſowie in der poſitiv theo - logiſchen Beſtimmung ihres Sinns ſich aufgelöſt hatten, trat nun die gränzenloſe Vieldeutigkeit des geſchichtlichen Stoffes hervor. Hierdurch wurde die Unbrauchbarkeit eines teleo - logiſchen Prinzips der Geſchichtserkenntniß nachgewieſen. Wie denn veraltete Dogmen zumeiſt weniger dem direkten Argument erliegen als dem Gefühl der Nichtübereinſtimmung mit dem auf anderen Gebieten des Wiſſens Erworbenen. Die Kauſalunterſuchung und das Geſetz wurden von der Naturforſchung auf die Geiſtes - wiſſenſchaften übertragen, ſo wurde der ganze Unterſchied des Er - kenntnißwerthes von teleologiſchen Ausdeutungen und von wirk - lichen Erklärungen beſſer als durch jedes Argument deutlich, als man die Entdeckungen von Galilei und Newton mit den Be - hauptungen von Boſſuet verglich. Und im Einzelnen hat die Anwendung der Analyſis auf die zuſammengeſetzten geiſtigen Erſcheinungen und die aus ihnen abſtrahirten Allgemeinvor - ſtellungen ſchrittweiſe dieſe Allgemeinvorſtellungen und die aus ihnen gewebte Metaphyſik der Geiſteswiſſenſchaften aufgelöſt.
Aber der Gang dieſer Auflöſung der metaphyſiſchen Vorſtel - lungen und der Herſtellung eines ſelbſtändigen Zuſammenhangs der auf unbefangene Erfahrung gegründeten Kauſalerkenntniß iſt auf dem Gebiet der Geiſteswiſſenſchaften ein viel langſamerer geweſen als auf dem der Naturwiſſenſchaften, und es muß dar - gelegt werden, wodurch dies bedingt war. Das Verhältniß der geiſtigen Thatſachen zur Natur legte den Verſuch einer Unterord - nung insbeſondere der Pſychologie unter die mechaniſche Natur - wiſſenſchaft nahe. Und das berechtigte Streben, Geſellſchaft und Geſchichte als ein Ganzes aufzufaſſen, hat ſich nur langſam und ſchwer von den aus dem Mittelalter ſtammenden metaphyſiſchen Hilfsmitteln zur Löſung dieſer Aufgabe getrennt. Dies beides erläutern die folgenden geſchichtlichen Thatſachen, aber ſie zeigen zugleich, wie neben einander fortſchreitend das Studium des Menſchen, das der Geſellſchaft und das der Geſchichte die Schemen478Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.metaphyſiſcher Erkenntniſſe zerſtört und überall lebensvolles, wir - kungskräftiges Wiſſen an ihre Stelle zu ſetzen begonnen haben.
Der Analyſis der menſchlichen Geſellſchaft iſt der Menſch ſelber als lebendige Einheit gegeben1)S. 18 ff. 35 ff. 44 ff., und die Zergliederung dieſer Lebenseinheit bildet daher ihr fundamentales Problem2)S. 35 ff.. Die Betrachtungsweiſe der älteren Metaphyſik wird zunächſt auf dieſem Gebiet dadurch beſeitigt, daß hinter die teleologiſche Gruppirung allgemeiner Formen des geiſtigen Lebens zurückgegangen wird auf erklärende Geſetze.
Die neuere Pſychologie ſtrebte alſo, die Gleichförmigkeiten zu erkennen, nach welchen ein Vorgang im pſychiſchen Leben von anderen bedingt iſt. Hierdurch erwies ſie die untergeordnete Bedeutung der in der metaphyſiſchen Epoche ausgebildeten Pſy - chologie, welche für die einzelnen Vorgänge Klaſſenbegriffe auf - geſucht, und dieſen Vermögen oder Kräfte untergelegt hatte. Es iſt höchſt intereſſant, in dem zweiten Drittel des ſiebzehnten Jahrhunderts zwiſchen den unzähligen klaſſificirenden Werken dieſe neue Pſychologie ſich erheben zu ſehen. Und zwar ſtand ſie naturgemäß zunächſt unter dem Einfluß der herrſchenden Natur - erklärung, innerhalb deren eine fruchtbare Methode zuerſt durchge - führt worden war. Der Einführung der mechaniſchen Natur - erklärung durch Galilei und Descartes folgte daher unmittelbar die Ausdehnung dieſer Erklärungsweiſe auf den Men - ſchen und den Staat durch Hobbes und danach durch Spinoza.
Spinozas Satz: mens conatur in suo esse perseverare indefinita quadam duratione et hujus sui conatus est conscia3)Dieſen Urſprung von Eth. III prop. 6 — 9 zeigt deutlich die Be - gründung in prop. 4: nulla res nisi a causa externa potest destrui, ein Satz der nur von Einfachen gelten kann, ſonach nicht ohne Weiteres auf die mens übertragbar iſt und nur durch Uebertragung von dem Logiſchen auf das Metaphyſiſche gemäß Spinozas falſcher Grundvorausſetzung be - wieſen iſt. ſtammt aus den Prinzipien der mechaniſchen Schule; er ordnet479Auffindung von Geſetzen des geiſtigen Lebens.augenſcheinlich dem Naturbegriff der Trägheit das Lebendige des um ſich greifenden Willens unter. Nach denſelben Prinzipien iſt der weitere Aufbau einer Mechanik der pſychiſchen Totalzuſtände (affectus) bei Spinoza durchgeführt. Er zieht Geſetze hinzu, denen gemäß pſychiſche Totalzuſtände auf ihre Urſachen zurückbezogen, nach Gleichartigkeit und Aehnlichkeit zurückgerufen und fremde Gemüthszuſtände in der Sympathie auf das Eigenleben übertragen werden. Wol war dieſe Theorie höchſt unvollkommen. Der todte und ſtarre Begriff der Selbſterhaltung drückt den Lebensdrang nicht zureichend aus; wenn wir die Theorie durch den Satz er - gänzen, daß die Gefühle ein Innewerden der Zuſtände des Willens ſind, ſo kann nur ein Theil der Gefühlszuſtände dieſer Voraus - ſetzung untergeordnet werden; und die Sympathie wird nur durch einen Trugſchluß aus der Selbſterhaltung abgeleitet1)Spinoza Eth. III prop. 16 und 27. Aber die außerordentliche Bedeutung von Spinozas Theorie lag darin, daß ſie im Geiſte der großen Entdeckungen der Mechanik und Aſtronomie die ſcheinbar regelloſen und von Willkür geleiteten Totalzuſtände des pſychiſchen Lebens dem einfachen Geſetz der Selbſterhaltung unterzuordnen den Verſuch machte. Dies geſchieht, indem die Lebens - einheit, der Modus Menſch, welcher ſich zu erhalten ſtrebt, in das Syſtem der Bedingungen gleichſam hineingezeichnet wird, welches ſein Milieu bildet. Dadurch daß für die Selbſterhaltung För - derungen von außen und Hemmungen in dieſem Zuſammenhang abgeleitet und die ſo entſtehenden Affektionen unter Grundgeſetze der Verkettung pſychiſcher Zuſtände geſtellt werden, entſteht ein Schema des Kauſalſyſtems der pſychiſchen Zuſtände. Feſte Stellen werden bezeichnet, an welchen in den ſo entworfenen mechaniſchen Zuſammenhang die einzelnen pſychiſchen Erlebniſſe eingeſetzt werden. Die Definitionen der Totalzuſtände ſind nur ſolche Beſtimmungen der Stelle derſelben in der Konſtruktion des Mechanismus der Selbſterhaltung, und ihnen fehlte nur die quantitative Be - ſtimmung, um äußerlich den Anforderungen einer Erklärung zu entſprechen.
480Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.David Hume, welcher über zwei Generationen nach Spi - noza deſſen Werk fortſetzte, verhält ſich zu Newton genau ſo wie Spinoza zu Galilei und Descartes. Seine Aſſoziationstheorie iſt ein Verſuch, nach dem Vorbild der Gravitationslehre Geſetze des Aneinanderhaftens von Vorſtellungen zu entwerfen. „ Die Aſtro - nomen “, ſo erklärt er, „ hatten ſich lange begnügt, aus den ſichtbaren Erſcheinungen die wahren Bewegungen, die wahre Ord - nung und Größe der Himmelskörper zu beweiſen, bis ſich endlich ein Philoſoph erhob, welcher durch ein glückliches Nachdenken auch die Geſetze und Kräfte beſtimmt zu haben ſcheint, durch welche der Lauf der Planeten beherrſcht und geleitet wird. Das Gleiche iſt auf anderen Gebieten der Natur vollbracht worden. Und man hat keinen Grund, an einem gleichen Erfolg bei den Unterſuchungen der Kräfte und der Einrichtung der Seele zu verzweifeln, wenn dieſelben mit gleicher Fähigkeit und Vorſicht angeſtellt werden. Es iſt wahrſcheinlich, daß die eine Kraft und der eine Vorgang in der Seele von dem andern abhängt1)Hume, inquiry conc. human understanding, sect. 1. . “
So begann die erklärende Pſychologie in der Unterordnung der geiſtigen Thatſachen unter den mechaniſchen Naturzuſammen - hang, und dieſe Unterordnung wirkte bis in die Gegenwart. Zwei Theoreme haben die Grundlage des Verſuchs gebildet, einen Mechanismus des geiſtigen Lebens zu entwerfen. Die Vor - ſtellungen, welche von den Eindrücken zurückbleiben, werden als feſte Größen behandelt, die immer neue Verbindungen eingehen, aber in ihnen dieſelben bleiben, und Geſetze ihres Verhaltens zu einander werden aufgeſtellt, aus denen die pſychiſchen Thatſachen von Wahrnehmung, Phantaſie etc. abzuleiten die Aufgabe iſt. Hierdurch wird eine Art von pſychiſcher Atomiſtik ermöglicht. Jedoch werden wir zeigen, daß die eine wie die andere dieſer beiden Vorausſetzungen falſch iſt. So wenig als der neue Früh - ling die alten Blätter auf den Bäumen nur wieder ſichtbar macht, werden die Vorſtellungen des geſtrigen Tages am heutigen, nur etwa dunkler, wiedererweckt; vielmehr baut ſich die erneuerte481Hierdurch wird die metaphyſiſche Pſychologie beſeitigt.Vorſtellung von einem beſtimmten inneren Geſichtspunkte aus auf, wie die Wahrnehmung von einem äußeren. Und die Geſetze der Reproduktion von Vorſtellungen bezeichnen zwar die Bedingungen, unter welchen das pſychiſche Leben wirkt, doch iſt unmöglich, aus dieſen den Hintergrund unſeres pſychiſchen Lebens bildenden Pro - zeſſen einen Schlußvorgang oder einen Willensakt abzuleiten. Die pſychiſche Mechanik opfert das, deſſen wir in innerer Wahr - nehmung inne werden, einem mit den Analogien der äußeren Natur ſpielenden Räſonnement auf. Und ſo hat die von der Naturwiſſenſchaft geleitete erklärende Pſychologie, in deren Bahnen ſich ſpäter auch Herbart bewegte, die klaſſificirende der älteren metaphyſiſchen Schulen zerſtört und die wahre Aufgabe der Seelen - lehre im Sinne der modernen Wiſſenſchaft gezeigt; wo ſie aber ſelber von der Metaphyſik der Naturwiſſenſchaften beeinflußt wurde, vermag ſie nicht, ihre Behauptungen aufrecht zu erhalten. Auch auf dieſem Gebiet vernichtet die Wiſſenſchaft die Metaphyſik, die alte wie die neue.
Das nächſte Problem der Geiſteswiſſenſchaften bilden die Syſteme der Kultur, welche in der Geſellſchaft unter einander ver - woben ſind, ſowie die äußere Organiſation derſelben, ſonach Er - klärung und Leitung der Geſellſchaft.
Die Wiſſenſchaften, welche dieſes Problem behandeln, begreifen ganz verſchiedene Klaſſen von Ausſagen in ſich: Urtheile, welche die Wirklichkeit ausſprechen, und Imperative ſowie Ideale, welche die Geſellſchaft leiten wollen. Das Denken über die Geſellſchaft hat ſeine tiefſte Aufgabe in der Verknüpfung der einen Klaſſe von Ausſagen mit der anderen. Die metaphyſiſchen und theologiſchen Prinzipien des Mittelalters hatten eine ſolche ermöglicht, vermittelſt des Bandes, durch welches die Gottheit und das ihr einwohnende Geſetz mit dem Organismus des Staates, dem myſtiſchen Körper der Chriſtenheit verbunden war. Der zeitige Zuſtand der Ge - ſellſchaft, die Summe der Traditionen, die in ihr angeſammelt war, und das Gefühl von Autorität höherer Abkunft, das ſie durchdrang, ſtanden in dieſer Metaphyſik mit dem Gedanken Gottes in wohlgefügter Verbindung. Dieſer Verband wurde nunDilthey, Einleitung. 31482Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.ſchrittweiſe gelockert. Das geſchah auch hier, indem die Analyſis hinter den äußeren teleologiſchen Zuſammenhang nach Formbegriffen jetzt zurückging und einen Zuſammen - hang nach Geſetzen aufſuchte. Es wurde ermöglicht durch Anwendung der erklärenden Pſychologie und Ausbildung der ab - ſtrakten Wiſſenſchaften, welche die Grundeigenſchaften der innerhalb der einzelnen Lebenskreiſe (Recht, Religion, Kunſt etc.) zuſammen - gehörigen Theilinhalte entwickeln. So wurden die Zweckvorſtel - lungen des Ariſtoteles und der Scholaſtiker durch angemeſſene Kauſalbegriffe, die allgemeinen Formen durch Geſetze, die trans - ſcendente Begründung durch eine immanente und im Studium der menſchlichen Natur gewonnene erſetzt. Damit war die Stellung der älteren Metaphyſik zu den Thatſachen der Geſellſchaft und Ge - ſchichte überwunden.
Indem wir erläutern, wie die moderne Wiſſenſchaft die theologiſche und metaphyſiſche Auffaſſung der Geſellſchaft zerſetzt hat, ſchränken wir uns auf die erſte Phaſe ein, die mit dem achtzehnten Jahrhundert abgeſchloſſen hinter uns liegt. Zunächſt ent - ſtand nämlich das natürliche Syſtem1)Mit dieſem Namen bezeichnen wir die als Naturrecht, natürliche Theologie, natürliche Religion etc. ſich ankündigenden Theorien, deren gemein - ſames Merkmal die Ableitung der geſellſchaftlichen Erſcheinungen aus dem Kauſalzuſammenhang im Menſchen war, gleichviel ob der Menſch nach pſychologiſcher Methode ſtudirt oder biologiſch aus dem Naturzuſammen - hang erklärt wurde. der Erkenntniß der menſch - lichen Geſellſchaft, ihrer Zweckzuſammenhänge wie ihrer äußeren Organiſation, wie es das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert aus - gebildet haben: eine nicht minder großartige, wenn auch weniger haltbare Schöpfung als die Begründung der Naturwiſſenſchaft.
Denn dieſes natürliche Syſtem bedeutet, daß die Geſell - ſchaft hinfort aus der menſchlichen Natur verſtanden werden wird, aus der ſie entſprungen iſt. In dieſem Syſtem haben die Wiſſen - ſchaften des Geiſtes zuerſt ihr eigenes Centrum gefunden — die menſchliche Natur. Insbeſondere ging nun die Analyſis auf die pſychologiſchen Wahrheiten zweiter Ordnung (wie wir ſie ge -483Auflöſung der Metaphyſik der Geſellſchaft durch wirkliche Analyſis.nannt haben) zurück. Sie entdeckte in dem Seelenleben des In - dividuums auch die Triebfedern des praktiſchen Verhaltens und überwand ſo den alten Gegenſatz zwiſchen theoretiſcher und prak - tiſcher Philoſophie. Der Ausdruck dieſer wiſſenſchaftlichen Um - wälzung in der ſyſtematiſchen Gliederung iſt, daß an die Stelle des Gegenſatzes der theoretiſchen und praktiſchen Philoſophie der einer Grundlegung für die Wiſſenſchaften der Natur und einer ſolchen für die Wiſſenſchaften des Geiſtes tritt. In der letzteren iſt das Studium der Erklärungsgründe für Urtheile über Wirklichkeit verbunden mit dem der Erklärungsgründe für Werth - ausſagen und Imperative, wie ſie das Leben des Einzelnen und der Geſellſchaft zu regeln beſtimmt ſind.
Die Methode, nach welcher das natürliche Syſtem Re - ligion, Recht, Sittlichkeit, Staat behandelte, war unvoll - kommen. Sie war vorherrſchend von dem mathematiſchen Verfahren beſtimmt, welches für die mechaniſche Naturerklärung ſo außerordentliche Ergebniſſe gehabt hatte. Condorcet war der Ueberzeugung, daß die Menſchenrechte durch ein eben ſo ſicheres Verfahren entdeckt worden ſeien, als das der Mechanik iſt. Sieyès glaubte die Politik als Wiſſenſchaft vollendet zu haben. Die Grundlage des Verfahrens bildete ein abſtraktes Schema der Menſchennatur, welches in wenigen und allgemeinen pſy - chiſchen Theilinhalten den Erklärungsgrund für die Thatſachen des geſchichtlichen Lebens der Menſchheit aufſtellte. So war noch eine falſche metaphyſiſche Methode mit den Anſätzen einer fruchtbaren Zergliederung vermiſcht. Aber ſo arm dieſes natür - liche Syſtem uns heute erſcheinen mag, das metaphyſiſche Stadium der Erkenntniß der Geſellſchaft wurde de - finitiv durch dieſe dürftigen Sätze der natürlichen Theologie über die Religion, der Theoretiker des moraliſchen Sinns über Sitt - lichkeit, der phyſiokratiſchen Schule über das Wirthſchaftsleben etc. überwunden. Denn dieſe Sätze entwickeln die Grundeigen - ſchaften der innerhalb dieſer Syſteme der Geſellſchaft zuſammen - gehörigen Theilinhalte, ſetzen dieſe Grundeigenſchaften mit der menſchlichen Natur in Beziehung, und ſo eröffnen dieſelben in31 *484Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.das innere Wirken der Faktoren des geſellſchaftlichen Lebens einen erſten Einblick.
Das letzte und am meiſten verwickelte Problem der Geiſtes - wiſſenſchaften bildet die Geſchichte. Die im natürlichen Syſtem enthaltenen Analyſen wurden nun auf den geſchichtlichen Verlauf angewandt. Indem derſelbe dem entſprechend in den verſchiedenen relativ ſelbſtändigen Lebensſphären verfolgt wurde, ſchwand die theologiſche Einſeitigkeit und der rohe Dualismus des Mittelalters. Indem die Antriebe der geſchichtlichen Bewegung in der Menſch - heit ſelber aufgeſucht wurden, endete die transſcendente Geſchichts - auffaſſung. Eine freiere umfaſſendere Betrachtung trat hervor. Aus der mittelalterlichen Metaphyſik der Geſchichte löſte ſich durch die Arbeit der Geiſteswiſſenſchaften im achtzehnten Jahrhundert eine univerſalhiſtoriſche Anſicht, deren Kern der Ent - wicklungsgedanke iſt.
Die Seele des achtzehnten Jahrhunderts iſt, untrennbar ver - bunden, Aufklärung, Fortſchritt des Menſchengeſchlechts und Idee von Humanität. In dieſen Begriffen iſt dieſelbe Realität, wie ſie das achtzehnte Jahrhundert beſeelt, von verſchiedenen Seiten angeſehen und ausgedrückt. — Die Macht des Bewußtſeins vom Zuſammenhang des Menſchengeſchlechts, wie das Mittel - alter es metaphyſiſch ausgeſprochen hatte, dauert fort. Im ſiebzehnten Jahrhundert war das Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit des Menſchengeſchlechtes noch vorwiegend religiös begründet und wurde nur auf die wiſſenſchaftliche Gemeinſchaft ausgedehnt, dagegen galt auf weltlichem Gebiet das homo homini lupus, wie dieſer Gegen - ſatz durch Spinozas Syſtem ſo ſonderbar hindurchgeht; nun er - wuchs, insbeſondere getragen von der Schule der Oekonomiſten und dem gemeinſamen Intereſſe der Aufklärung und Toleranz, in den verſchiedenen Ländern eine Solidarität auch der weltlichen Intereſſen. So ſetzte ſich die metaphyſiſche Begründung des Zu - ſammenhangs im Menſchengeſchlecht in die allmälig anwachſende Erkenntniß der realen Verbindungen um, welche Individuum an485Anwendung der Einzelwiſſenſchaften der Geſellſchaft auf die Geſchichte.Individuum ketten1)Als Condorcet 1782 in die franzöſiſche Akademie eintrat, erklärte er: „ Le véritable intérêt d’une nation n’est jamais séparé de l’intérêt général du genre humain, la nature n’a pu vouloir fonder le bonheur d’un peuple sur le malheur de ses voisins, ni opposer l’une à l’autre deux vertus qu’elle inspire également; l’amour de la patrie et celui de l’humanité. “ (Condorcet, Discours de réception à l’académie française 1782 Oeuvres VII, 113.). — Andrerſeits bildete ſich das geſchichtliche Bewußtſein fort. Der Gedanke vom Fortſchritt des Men - ſchengeſchlechtes beherrſchte das Jahrhundert. Auch er war in dem geſchichtlichen Bewußtſein des Mittelalters angelegt, welches einen inneren und centralen Fortgang in dem status hominis erkannt hatte. Aber es bedurfte erheblicher Veränderungen in den Vorſtellungen und Gefühlen, damit er ſich frei entfaltete. Schon im ſiebzehnten Jahrhundert wurde die Vorſtellung von einem hiſtoriſchen Zuſtand der Vollkommenheit am Anfang der Menſchheitsgeſchichte verworfen. Damals wurde, zuſammenhängend mit dem Fortſchritt zu einer ſelbſtändigen Literatur und Wiſſen - ſchaft, im Gegenſatz gegen die Zeit der Renaiſſance, der Gedanke lebhaft erörtert, daß die modernen Völker der alten Welt in Bezug auf die Wiſſenſchaften und die Literatur überlegen ſeien. Nun geſchah das Wichtigſte: dem mittelalterlichen Kirchenglauben und in vermindertem Grade dem altproteſtantiſchen waren die erhabenſten Gefühle des Menſchen, der Kreis ſeiner Vorſtellungen von den höchſten Dingen, ſeine Lebensordnung etwas in ſich Fertiges, Abgeſchloſſenes geweſen; indem dieſer Glaube zurücktrat, war es als ob ein Vorhang weggezogen würde, der den Blick auf die Zukunft des Menſchengeſchlechtes bis dahin gehindert hätte; das gewaltige und fortreißende Gefühl einer unermeßlichen Ent - wicklung des Menſchengeſchlechtes trat hervor. Wol beſaßen die Alten ſchon ein klares Bewußtſein des geſchichtlichen Fortſchritts der Menſchheit in Bezug auf Wiſſenſchaften und Künſte1)Παϱὰ μὲν γὰϱ ἐνίων παϱειλήφαμέν τινας δόξας, οἱ δὲ τοῦ γενέσϑαι τούτους αἴτιοι γεγόνασιν. So Pſeudo-Ariſtoteles Metaph. II (α), 1 p. 993b 18, vgl. das ganze Kapitel.. Bacon iſt von demſelben erfüllt und hebt hervor, daß das Menſchenge -486Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.ſchlecht nunmehr in ein Alter von Reife und Erfahrung getreten und daher die Wiſſenſchaft der Neueren der des Alterthums über - legen ſei1)Bacon, novum organum I, 84. . Pascal hatte dieſe Stelle Bacon’s vor Augen, als er ſchrieb: „ der Menſch unterrichtet ſich unaufhörlich in ſeinem Fort - ſchreiten; denn er zieht nicht nur aus ſeiner eigenen Erfahrung Vortheil, ſondern auch aus der ſeiner Vorgänger. Alle Menſchen insgeſammt bilden in den Wiſſenſchaften einen einzigen fort - ſchreitenden Zuſammenhang, derart, daß die ganze Abfolge der Menſchen während des Verlaufs von ſoviel Jahrhunderten als ein einziger Menſch angeſehen werden muß, der immer beſteht und beſtändig lernt. “ Turgot und Condorcet erweiterten nun aber dieſe Gedanken, indem ſie die Wiſſenſchaft als die leitende Macht in der Geſchichte betrachteten und mit ihrem Fortgang den der Aufklärung und des Gefühls von Gemeinſchaft in Zuſammenhang ſetzten. Und in Deutſchland wurde endlich der Punkt erreicht, an welchem die Auffaſſung der Geſellſchaft nach dem natürlichen Syſtem in ein wahres geſchichtliches Bewußtſein überging. Herder fand in der Verfaſſung des Einzelmenſchen dasjenige, was ſich ändert und den geſchichtlichen Fortſchritt ausmacht; das Organ, durch welches die Natur dieſes Fortſchritts in Deutſchland ſtudirt wurde, war die Kunſt, insbeſondere die Poeſie; und das ſo entſtehende Schema hat ſich im Geiſte Hegel’s zu einer univerſellen Betrachtung der Kulturentwicklung erweitert.
So geht der Fortſchritt der Geiſteswiſſenſchaften durch das natürliche Syſtem zur entwicklungsgeſchichtlichen Anſicht. „ Will man, ſagt Diderot, eine kurze Geſchichte faſt unſeres ganzen Elends kennen? Hier iſt ſie; es gab einen natürlichen Menſchen; in deſſen Inneres führte man einen künſtlichen Men - ſchen ein. Hierauf entbrannte zwiſchen beiden ein Bürgerkrieg und dieſer dauert bis zum Tode. “ Eine ſolche Entgegenſetzung des Natürlichen und Geſchichtlichen zeigt die Schranken der konſtruk - tiven Methode des natürlichen Syſtems in greller Beleuchtung. Und wenn Voltaire ſchrieb: il faudra bouleverser la terre pour487Dieſe zerſtört die metaphyſiſche Behandlung der Geſchichte.la mettre sous l’empire de la philosophie, ſo entfaltet in ihm die Einſeitigkeit des ungeſchichtlichen Verſtandes, in welcher das na - türliche Syſtem der Wirklichkeit gegenübergeſtellt wurde, ihre zer - ſtörenden Folgen. Aber daſſelbe natürliche Syſtem hat zuerſt das große Objekt der geiſtigen Welt einer Analyſis unterworfen, die auf die Faktoren gerichtet war. Es ging über die Klaſſenbegriffe durch eine wahre Zerlegung hinaus, wie dies am deutlichſten die Analyſis der Vorſtellung des Nationalreichthums in der politiſchen Oekonomie zeigt. Und die Zerlegung hat den wiſſenſchaftlichen Geiſt von ſelber über die Schranken des natürlichen Syſtems hin - ausgeführt und das moderne geſchichtliche Bewußtſein vorbereitet.
Der metaphyſiſche Geiſt umſpinnt freilich die Thatſachen der Geſchichte und der Geſellſchaft an unzähligen Punkten mit noch weit feineren Fäden: dieſe ſtammen aus dem natürlichen Vor - ſtellen und Denken. Denn im Studium der Geſellſchaft wieder - holt ſich daſſelbe Verhältniß, welches wir in dem der Natur ge - wahrt haben. Die Analyſis trifft einerſeits auf Individuen als Subjekte, andrerſeits auf prädikative Beſtimmungen, welche als ſolche allgemein ſein müſſen. Daher erſcheint, was in den letzteren enthalten iſt, als eine Weſenheit zwiſchen und hinter den Individuen und wird als ſolche in Begriffen wie Recht, Religion, Kunſt ſub - ſtantiirt. Dieſe feineren und unvermeidlichen Täuſchungen des natürlichen Denkens löſt erſt die Erkenntnißtheorie völlig auf. Sie wird zeigen: das Verhältniß der Subjekte zu den allgemeinen prädikativen Beſtimmungen iſt hier, wo wir in unſerem Selbſtbe - wußtſein dieſer Subjekte und ihrer Selbſtändigkeit gewiß ſind, ja die Kräfte kennen, die den prädikativen Beſtimmungen zu Grunde liegen, verſchieden von dem Verhältniß, das in der Naturwiſſen - ſchaft zwiſchen Elementen und Geſetzen beſteht; die Begriffe, die hier aus prädikativen Beſtimmungen gebildet werden, ſind anderer Beſchaffenheit als die der Naturwiſſenſchaften.
Es bleibt, wenn das graue Geſpinnſt abſtrakter, ſubſtantialer Weſenheiten zerriſſen iſt, hinter ihm übrig — der Menſch, in verſchiedenen Lagen einer zum anderen, innerhalb des Mittels der Natur. Jede Schrift, jede Reihe von Handlungen iſt für uns in488Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.der Peripherie eines Menſchen gelegen, und wir ſuchen zum Cen - trum zu dringen. Ich nehme an, dieſer Menſch ſei Schleiermacher und ſeine Dialektik liege vor mir. Welche Gedanken dieſes Buch auch im Einzelnen enthalte, ich finde in ihm den Satz von der Gegenwart des Gottesgefühls in allen pſychiſchen Akten, und an dieſem tiefſten Punkte berührt ſich die Dialektik mit den Reden über Religion. So gehe ich von Werk zu Werk, ich kann das Centrum zwar nicht erkennen, auf welches alle dieſe peripheriſchen Aeußerungen hinweiſen, aber ich kann es verſtehen. — Nun finde ich, daß Schleiermacher einer Gruppe angehört, in der Schelling, Friedrich Schlegel, Novalis u. a. ſich befinden. Eine ſolche Gruppe verhält ſich analog, wie eine Klaſſe von Organismen; ändert ſich in einer ſolchen Klaſſe ein Organ, ſo ändern ſich auch die korreſpondirenden, ſteigert ſich eines, ſo verkümmern andere. Ich ſchreite von Gruppe zu Gruppe, zu immer weiteren Kreiſen. — Das Seelenleben hat ſich in Kunſt, Religion u. ſ. w. differenzirt, und nun entſteht die Aufgabe, die pſychologiſche Grundlage dieſes Vorgangs zu finden und dann ſowol den Verlauf in der Seele als den in der Geſellſchaft aufzufaſſen, in welchem dieſe Differen - zirung ſich vollzieht. — Weiter kann ich in einem Durchſchnitt durch die menſchliche Geſchichte die Geſellſchaft einer beſtimmten Zeit allgemein oder bei einem einzelnen Volk ſtudiren. Ich kann ſolche Durchſchnitte an einander halten und den Menſchen aus der Zeit des Perikles mit dem aus der Zeit Leo des Zehnten ver - gleichen. Hier nähere ich mich dem tiefſten Problem, dem was am Menſchenweſen in der Geſchichte veränderlich iſt. — Ueberall jedoch, in all dieſen Wendungen der Methode iſt es immer der Menſch, welcher das Objekt der Unterſuchung bildet, bald als ein Ganzes, bald in ſeinen Theilinhalten ſowie in ſeinen Beziehungen. Indem dieſer Standpunkt durchgeführt werden wird, werden Geſell - ſchaft und Geſchichte zu der Behandlung gelangen, welche auf dieſem ſelbſtändigen Gebiet der mechaniſchen Erklärung innerhalb des Studiums von Naturerſcheinungen entſpricht. Dann iſt die Metaphyſik der Geſellſchaft und Geſchichte wirklich vergangen.
Finden nun vielleicht die Geiſteswiſſenſchaften, welche die489Der Menſch bleibt als ausſchließliches Objekt der Geiſtesw. zurück.Metaphyſik eines Geiſterreiches durch analytiſche Unterſuchung ver - drängt haben, in dem Menſchen, dem Anfangs - und End - punkte ihrer Analyſis, den Eingang in eine neue Meta - phyſik? Oder iſt eine Metaphyſik der geiſtigen Thatſachen in jeder Form unmöglich geworden?
Metaphyſik als Wiſſenſchaft, ja. Denn der Verlauf der intellektuellen Entwicklung zeigte, daß die Begriffe Subſtanz und Kauſalität ſich allmälig aus den lebendigen Erfahrungen unter den Anforderungen einer Erkenntniß der Außenwelt entwickelt haben. Daher können ſie dem, der in der Welt der inneren Erfahrung heimiſch iſt, nicht mehr über dieſe ſagen, als was aus ihnen ſelber geſchöpft iſt: was ſie mehr ſagen, iſt eine Hilfskonſtruktion für die Erkenntniß der Außenwelt und darum auf das Pſychiſche nicht anwendbar. Auch kann der Satz der metaphyſiſchen Pſycho - logie, welcher den ſelbſtändigen ſubſtantialen und unzerſtörbaren Beſtand der Seele behauptet, weder bewieſen noch widerlegt werden, vielmehr hat der Beweis aus der Einheit des Bewußtſeins nur eine negative Tragweite. Einheit des Bewußtſeins liegt jedem Vergleichungsurtheil zu Grunde, da wir in ihm verſchiedene Empfindungen, z. B. zwei Nüancen von Roth, zugleich und in der - ſelben untheilbaren Einheit beſitzen müſſen: wie könnten wir des Unterſchiedes ſonſt inne werden? Nun kann aus der Konſtruktion der Welt, wie ſie die mechaniſche Naturwiſſenſchaft erſchließt, dieſe Thatſache der Bewußtſeinseinheit nicht abgeleitet werden. Dächte man ſich ſelbſt die Maſſentheilchen der Materie mit pſy - chiſchem Leben ausgeſtattet, ſo könnte für das Ganze eines zu - ſammengeſetzten Körpers aus dieſem Thatbeſtand ein einheitliches Bewußtſein nicht hervorgehen. Sonach ergiebt ſich, daß die mecha - niſche Naturwiſſenſchaft die Einheit der Seele als ein ihr gegenüber Selbſtändiges betrachten muß, aber es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß ein hinter dieſen für die Erſcheinungswelt gebildeten Hilfsbe - griffen beſtehender Zuſammenhang der Natur den Urſprung der Ein - heit der Seele in ſich enthalte: das ſind ganz transſcendente Fragen.
Aber das Meta-Phyſiſche unſeres Lebens als perſönliche Er - fahrung d. h. als moraliſch-religiöſe Wahrheit bleibt übrig. Die490Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.Metaphyſik — hier dürfen wir einen lang geſponnenen Faden zu Ende führen —, welche das Leben des Menſchen in eine höhere Ordnung zurückführte, hatte ihre Macht nicht, wie Kant in ſeiner abſtrakten und ungeſchichtlichen Denkweiſe annahm, kraft der Schlüſſe einer theoretiſchen Vernunft beſeſſen. Nie würde aus dieſen die Idee der Seele oder der perſönlichen Gottheit hervorgegangen ſein. Vielmehr waren dieſe Ideen in der inneren Erfahrung be - gründet, mit ihr und der Beſinnung über ſie haben ſie ſich ent - wickelt, und gerade der Denknothwendigkeit zum Trotz, welche nur einen Gedankenzuſammenhang kennt, ſonach höchſtens zu einem Panlogismus gelangen kann, haben ſie ſich erhalten. — Nun entziehen ſich aber die Erfahrungen des Willens in der Perſon einer allgemeingültigen Darſtellung, welche für jeden anderen In - tellekt zwingend und verbindlich wäre. Dies iſt eine Thatſache, welche die Geſchichte mit tauſend Zungen predigt. Sonach können ſie auch nicht zu zwingenden metaphyſiſchen Schlüſſen verwandt werden. Während die pſychologiſche Wiſſenſchaft vergleichend Ge - meinſamkeiten des Seelenlebens an den pſychiſchen Einheiten feſt - ſtellen kann, verbleibt doch die Inhaltlichkeit des menſchlichen Willens in der Burgfreiheit der Perſon. Hierin hat keine Me - taphyſik etwas ändern können, vielmehr hat jede mit dem Pro - teſt der hierin klaren religiöſen Erfahrung zu kämpfen gehabt, von den erſten chriſtlichen Myſtikern ab, welche ſich der mittelalterlichen Metaphyſik gegenüberſtellten und darum nicht ſchlechtere Chriſten waren, bis auf Tauler und Luther. Nicht durch logiſche Folge - richtigkeit gezwungen, nehmen wir einen höheren Zuſammenhang an, in den unſer Leben und Sterben verwebt iſt; es wird ſich uns demnächſt zeigen, wohin dieſe logiſche Folgerichtigkeit führt, wenn ſie auf einen ſolchen Zuſammenhang ausgedehnt wird; viel - mehr entſpringt aus der Tiefe der Selbſtbeſinnung, die das Er - leben der Hingabe, der freien Verneinung unſerer Egoität vorfindet und ſo unſere Freiheit vom Naturzuſammenhang erweiſt, das Bewußtſein, daß dieſer Wille nicht bedingt ſein kann durch die Naturordnung, deren Geſetze ſein Leben nicht entſpricht, ſondern nur durch etwas, was dieſelbe hinter ſich zurückläßt. Dieſe Er -491Jenſeits der Wiſſenſchaft das Meta-Phyſiſche des Lebens.fahrungen aber ſind ſo perſönlich, ſo dem Willen eigen, daß der Atheiſt dies Meta-Phyſiſche zu leben vermag, während die Gottesvorſtellung in einem Ueberzeugten eine bloße werth - loſe Hülſe ſein kann. Der Ausdruck dieſes Thatbeſtandes iſt die Befreiung des religiöſen Glaubens aus ſeiner metaphyſiſchen Gebundenheit durch die Reformation. In ihr erlangte das re - ligiöſe Leben ſeine Selbſtſtändigkeit.
Und ſo bleibt neben dem Blick in den unermeßlichen Raum der Geſtirne, welcher die Gedankenmäßigkeit des Kosmos zeigt, der in die Tiefe des eigenen Herzens. Wie weit hier die Ana - lyſis mit Sicherheit zu dringen vermöge, werden die folgenden Bücher zeigen. Jedoch wie dem ſei, wo ein Menſch in ſeinem Willen den Zuſammenhang von Wahrnehmung, Luſt, Antrieb und Genuß durchbricht, wo er nicht ſich mehr will: da iſt das Meta-Phyſiſche, welches ſich in der dargelegten Geſchichte der Me - taphyſik nur in unzähligen Bildern ſpiegelte. Denn die metaphy - ſiſche Wiſſenſchaft iſt ein hiſtoriſch begränztes Phänomen, das meta-phyſiſche Bewußtſein der Perſon iſt ewig.
Wir verſuchen an dieſem Schluß der Geſchichte der meta - phyſiſchen Stellung des Geiſtes, der Geſchichte einer noch nicht durch die erkenntnißtheoretiſche Stellung deſſelben gebrochenen meta - phyſiſchen Wiſſenſchaft die in ihr allmälig hervorgetretenen That - ſachen durch eine allgemeine Betrachtung zu vereinigen.
In der Einheit des menſchlichen Bewußtſeins iſt es gegründet, daß die Erfahrungen, welche dieſes enthält, durch den Zuſammen -492Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.hang bedingt ſind, in dem ſie auftreten. Hieraus ergiebt ſich das allgemeine Geſetz der Relativität, unter welchem unſere Erfahrungen über die äußere Wirklichkeit ſtehen. Eine Geſchmacksempfindung iſt augenſcheinlich durch diejenige bedingt, welche ihr voraufging, das Bild eines räumlichen Objektes iſt von der Stellung des Sehenden im Raum abhängig. Daher ent - ſpringt die Aufgabe, dieſe relativen Data durch einen Zuſammen - hang zu beſtimmen, der in ſich gegründet und feſt iſt. Für die anhebende Wiſſenſchaft war dieſe Aufgabe gleichſam eingehüllt in die von Orientirung in Raum und Zeit ſowie von Aufſuchung einer erſten Urſache und verwoben mit den ethiſch-religiöſen An - trieben. So befaßte der Ausdruck Prinzip (ἀϱχή) die erſte Ur - ſache und den Erklärungsgrund der Erſcheinungen ungeſchieden in ſich. Geht man von dem Gegebenen zu ſeinen Urſachen, ſo kann ein ſolcher Rückgang ſeine Sicherheit nur aus der Denknothwendig - keit des Schlußverfahrens empfangen, daher war mit der wiſſen - ſchaftlichen Aufſuchung von Urſachen irgend ein Grad von logiſchem Bewußtſein des Grundes immer verbunden. Erſt der Zweifel der Sophiſten hatte ein logiſches Bewußtſein der Methode, Urſachen oder Subſtanzen zu finden, zur Folge, und dieſe Methode wurde nun als Rückgang von dem Gegebenen zu den denknothwendigen Bedingungen deſſelben beſtimmt. Da ſonach die Erkenntniß von Urſachen an den Schluß und die in ihm liegende Denknoth - wendigkeit gebunden iſt, ſo ſetzt dieſe Erkenntniß voraus, daß im Naturzuſammenhang eine logiſche Nothwendigkeit obwalte, ohne welche das Erkennen keinen Angriffspunkt hätte. Demnach ent - ſpricht dem unbefangenen Glauben an die Erkenntniß der Urſachen, welcher aller Metaphyſik zu Grunde liegt, ein Theorem von dem logiſchen Zuſammenhang in der Natur. Die Ent - wicklung dieſes Theorems kann, ſo lange die logiſche Form zwar in einzelne Formbeſtandtheile als ihre Komponenten aufgelöſt wird, aber nicht durch eine wahrhaft analytiſche Unterſuchung hinter dieſe zurückverfolgt wird, nur in der Darſtellung einer äußeren Be - ziehung zwiſchen der Form des logiſchen Denkens und der des Naturzuſammenhangs beſtehen.
493Der logiſche Weltzuſammenhang.So wurde in der monotheiſtiſchen Metaphyſik der Alten und des Mittelalters der Logismus in der Natur als ein Gegebenes, und die menſchliche Logik als ein zweites Gegebenes be - trachtet, das dritte Datum bildete die Korreſpondenz dieſer beiden. Für dieſen Geſammtthatbeſtand war dann eine Bedingung in einem ſie verknüpfenden Zuſammenhang aufzufinden. Dies leiſtete die ſchon von Ariſtoteles in ihren Grundzügen entworfene An - ſicht, nach welcher die göttliche Vernunft den Zuſammenhang zwiſchen dem in ihr gegründeten Logismus der Natur und der ihr ent - ſprungenen menſchlichen Logik hervorbringt.
Als die Lage des Naturwiſſens die zwingende Kraft der theiſtiſchen Begründung immer mehr auflöſte, entſtand die ein - fachere Formel Spinozas, welche die göttliche Vernunft als Mittelglied eliminirte. Die Grundlage der Metaphyſik Spinozas iſt die reine Selbſtgewißheit des logiſchen Geiſtes, welcher ſich mit methodiſchem Bewußtſein die Wirklichkeit erkennend unterwirft, wie ſie in Descartes das erſte Stadium einer neuen Stellung des Subjektes zur Wirklichkeit bezeichnet. Inhaltlich angeſehen trat hier die Konception des Descartes vom mechaniſchen Zuſammenhang des Naturganzen in eine pantheiſtiſche Weltanſicht, und ſo wandelte ſich eine allgemeine Beſeelung der Natur in die Identität der räumlichen Bewegungen mit den pſychiſchen Vorgängen. Erkennt - nißtheoretiſch betrachtet, wurde hier das Wiſſen aus der Identität des mechaniſchen Naturzuſammenhangs mit der logiſchen Ge - dankenverbindung erklärt. Daher enthält dieſe Identitätslehre weiter die Erklärung der pſychiſchen Vorgänge nach einem me - chaniſchen, ſonach logiſchen Zuſammenhang in ſich: die objektive und univerſelle metaphyſiſche Bedeutung des Logismus. In dieſer Rückſicht drückt die Attributenlehre die unmittel - bare Identität des Kauſalzuſammenhangs in der Natur mit der logiſchen Verknüpfung der Wahrheiten im menſchlichen Geiſte aus. Das Mittelglied dieſer Verbindung, welches vordem ein von der Welt unterſchiedener Gott gebildet hatte, iſt ausgeſtoßen: ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio494Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.rerum1)Spinoza Eth. II prop. 7.. In ſcharfer Anſpannung dieſer Identität wird ſogar die Richtung der Abfolge in beiden Reihen als korreſpondirend aufgefaßt: effectus cognitio a cognitione causae dependet et eandem involvit2)ebdſ. I axiom. 4.. Ein Zuſammenhang von Axiomen und De - finitionen wird entworfen, aus welchem der Weltzuſammenhang konſtruirt werden kann. Dies geſchieht durch auffällige Trug - ſchlüſſe; denn eine Vielheit ſelbſtändiger Weſenheiten kann aus den Vorausſetzungen Spinozas ebenſo gut gefolgert werden, als die Einheit in der göttlichen Subſtanz. Sind doch die Einheit des Weltzuſammenhangs und die Vielheit feſter ihm zu Grunde gelegter Ding-Atome nur die beiden Seiten deſſelben mechaniſchen d. h. logiſchen Weltzuſammenhangs. Spinoza mußte ſeinen Pan - theismus alſo mitbringen, um ihn folgern zu können. Gleichviel, in dieſem Zuſammenhange tritt die Konſequenz des metaphyſiſchen Satzes vom Grunde in einer Vollſtändigkeit heraus, die bei den Alten ſich noch nicht fand. Hatten dieſe den menſchlichen Willen als ein imperium in imperio gelten laſſen, ſo hebt die Formel des Panlogismus nun dieſe Souveränität des geiſtigen Lebens auf. In rerum natura nullum datur contingens; sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum et operandum3)ebdſ. I prop. 29..
Die Metaphyſik hat durch Leibniz in dem Satz von Grunde eine Formel entworfen, welche den nothwendigen Zu - ſammenhang in der Natur als das Prinzip des Denkens aus - ſpricht. In der Aufſtellung dieſes Prinzips hat die Metaphyſik ihren formalen Abſchluß erreicht. Denn der Satz iſt nicht ein logiſches ſondern ein metaphyſiſches Prinzip d. h. er drückt nicht ein bloßes Geſetz des Denkens, ſondern zugleich ein Geſetz des Zuſammenhangs der Wirklichkeit und damit auch die Regel der Beziehung zwiſchen Denken und Sein aus. Iſt doch ſeine letzte und vollkommenſte Formel diejenige, welche in dem Briefwechſel mit495Sein ſchematiſcher Abriß in Spinozas Syſtem.Clarke vorkam, nicht lange vor dem Tode von Leibniz. ‚ Ce principe est celui du besoin d’une raison suffisante, pour qu’une chose existe, qu’un événement arrive, qu’une vérité ait lieu1)Im fünften Briefe von Leibniz an Clarke § 125. Unvollſtändigere Faſſungen finden ſich Théodicée § 44 und Monadologie § 31 ff.. ‘ Dies Prinzip tritt bei Leibniz ſtets neben dem des Widerſpruchs auf, und zwar begründet der Satz des Widerſpruchs die noth - wendigen Wahrheiten, dagegen der des Grundes die Thatſachen und thatſächlichen Wahrheiten. Eben hier aber zeigt ſich die metaphyſiſche Bedeutung dieſes Satzes. Obwohl die thatſächlichen Wahrheiten auf den Willen Gottes zurückgehen, ſo iſt dieſer Wille ſelber doch nach Leibniz ſchließlich von dem Intellekt geleitet. Und ſo tritt hinter dem Willen wiederum das Antlitz eines logiſchen Weltgrundes hervor. Dies drückt Leibniz ganz deutlich ſo aus: ‚ Il est vrai, dit on, qu’il n’y a rien sans une raison suffi - sante pourquoi il est, et pourquoi il est ainsi plutôt q’autre - ment. Mais on ajoute, que cette raison suffisante est souvent la simple volonté de Dieu; comme lorsqu’on demande pour - quoi la matière n’a pas été placée autrement dans l’espace, les mêmes situations entre les corps demeurant gardées. Mais c’est justement soutenir que Dieu veut quelque chose, sans qu’il y ait aucune raison suffisante de sa volonté, contre l’axiome ou la règle générale de tout ce qui arrive’2)Dritter Brief an Clarke § 7. Und zwar verwirft Leibniz ausdrück - lich die Annahme, daß in dem bloßen Willen Gottes die Urſache eines Thatbeſtandes in der Welt gefunden werde. „ On m’objecte qu’en n’ad - mettant point cette simple volonté, ce seroit ôter à Dieu le pouvoir de choisir et tomber dans la fatalité. Mais c’est tout le contraire: on soutient en Dieu le pouvoir de choisir, puisqu’on le fonde sur la raison du choix conforme à sa sagesse. Et ce n’est pas cette fatalité (qui n’est autre chose que l’ordre le plus sage de la Providence), mais une fatalité ou nécessité brute, qu’il faut éviter, ou il n’y a ni sagesse, ni choix “(§ 8). Berief ſich Clarke ihm gegenüber darauf, daß der Wille ſelber ja als zureichender Grund angeſehen werden könne, ſo antwortet Leibniz peremptoriſch: „ une simple volonté sans aucun motif (a mere will), est une fiction non-seulement contraire à la perfection de Dieu, mais encore chimérique, contradictoire, incompatible avec la définition de la volonté. Hiernach be -496Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.deutet der Satz des zureichenden Grundes die Behauptung von einem lückenloſen, logiſchen Zuſammenhang, der jede Thatſache und entſprechend jeden Satz in ſich faßt; er iſt die Formel für das von Ariſtoteles in engerem Umfang aufgeſtellte Prinzip der Metaphy - ſik1)S. 242 ff., welches nunmehr nicht nur den Zuſammenhang des Kosmos in Begriffen d. h. ewigen Formen, ſondern den Grund jeder Ver - änderung und zwar auch in der geiſtigen Welt in ſich faßt.
Chriſtian Wolff hat dieſen Satz darauf zurückgeführt, daß nicht aus Nichts ein Etwas entſtehen könne, ſonach auf das Prin - zip des Erkennens, aus dem wir ſeit Parmenides die Metaphyſik ihre Sätze ableiten ſahen. „ Wenn ein Ding A etwas in ſich ent - hält, daraus man verſtehen kann, warum B iſt, B mag entweder etwas in A oder außer A ſein, ſo nennet man dasjenige, was in A anzutreffen iſt, den Grund von B; A ſelbſt heißet die Urſache, und von B ſaget man, es ſei in A gegründet. Nemlich der Grund iſt dasjenige, wodurch man verſtehen kann, warum etwas iſt, und die Urſache iſt ein Ding, welches den Grund von einem anderen in ſich enthält. “— „ Wo etwas vorhanden iſt, woraus man begreifen kann, warum es iſt, das hat einen zureichenden Grund. Derowegen wo keiner vorhanden iſt, da iſt nichts, woraus man begreifen kann, warum etwas iſt, nemlich warum es wirklich werden kann, und alſo muß es aus Nichts entſtehen. Was dem - nach nicht aus Nichts entſtehen kann, muß einen zureichenden Grund haben, warum es iſt, als es muß an ſich möglich ſein und eine Urſache haben, die es zur Wirklichkeit bringen kann, wenn wir von Dingen reden, die nicht nothwendig ſind. Da nun unmöglich iſt, daß aus Nichts etwas werden kann, ſo muß auch Alles, was iſt, ſeinen zureichenden Grund haben warum es iſt “. So erkennen wir nun rückwärts im Satze vom Grunde den Ausdruck des Prinzips, welches das metaphyſiſche Erkennen von ſeinem Beginn geleitet hat2)Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott u. ſ. w. § 29 u. 30..
Und blicken wir von Leibniz und Wolff vorwärts, ſo iſt die im Satze vom Grunde enthaltene Vorausſetzung über den logiſchen Weltzuſammenhang ſchließlich in dem Syſtem von Hegel mit Verachtung jeder Furcht vor der Paradoxie als Realprinzip der ganzen Wirklichkeit entwickelt worden. Es hat nicht an Per - ſonen gefehlt, welche dieſe Vorausſetzung in Frage ſtellen, dagegen eine Metaphyſik beibehalten wollen; ſo that dies Schopenhauer in ſeiner Lehre vom Willen als dem Weltgrunde. Aber jede Metaphyſik dieſer Art iſt von vorn herein durch einen inneren Widerſpruch in ihrer Grundlage gerichtet. Das über unſere Er - fahrung Hinausliegende kann nicht einmal durch Analogie ein - leuchtend gemacht, geſchweige denn bewieſen werden, wenn dem Mittel der Begründung und des Beweiſes, dem logiſchen Zu - ſammenhang, die ontologiſche Gültigkeit und Tragweite genommen wird.
Das „ große Prinzip “vom Grunde (ſo bezeichnet es wiederholt Leibniz), die letzte Formel der metaphyſiſchen Erkennt - niß, iſt nun aber kein Denkgeſetz, unter welchem unſer Intellekt als unter ſeinem Fatum ſtünde. Indem die Metaphyſik ihre Anforderung einer Erkenntniß von dem Subjekt des Welt - laufs in dieſem Satz bis zu ihrer erſten Vorausſetzung ver - folgt, erweiſt ſie ihre eigene Unmöglichkeit.
Der Satz vom Grunde, in dem Sinne von Leibniz, iſt nicht ein Denkgeſetz, er kann nicht neben das Denkgeſetz des Widerſpruchs geſtellt werden. Denn das Denkgeſetz des Wider - ſpruchs iſt an jedem Punkte unſeres Wiſſens in Geltung; wo wir etwas behaupten, muß es mit ihm in Einklang ſein, und finden wir eine Behauptung mit ihm in Widerſtreit, ſo iſt ſie damit für uns aufgehoben. Sonach ſteht alles Wiſſen und alle Gewißheit unter der Controle dieſes Denkgeſetzes. Es handelt ſich für uns nie darum, ob wir es anwenden wollen oder nicht, ſondern ſoDilthey, Einleitung. 32498Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.ſicher als wir etwas behaupten, unterwerfen wir ihm dieſe Be - hauptung. Es kann geſchehen, daß wir an einem Punkte nicht den Widerſpruch einer Behauptung mit dem Denkgeſetz des Wider - ſpruchs bemerken; jedoch, ſobald auch der ganz Ungebildete auf dieſen Widerſpruch aufmerkſam gemacht wird, entzieht er ſich nicht der Konſequenz, daß von Behauptungen, welche ſolchergeſtalt in Widerſpruch miteinander treten, nur Eine wahr ſein kann, Eine falſch ſein muß. Der Satz vom Grunde dagegen, im Sinne von Leibniz und Wolff gefaßt, hat augenſcheinlich nicht dieſelbe Stellung in unſrem Denken, und es war daher nicht richtig, wenn Leibniz beide Sätze als gleichwerthige Prinzipien nebeneinander ſtellte. Dies hat ſich uns aus der ganzen Geſchichte des menſchlichen Denkens ergeben. Der Menſch in der Epoche mythiſchen Vor - ſtellens ſetzte ſich Willensmächte gegenüber, welche mit unbe - rechenbarer Freiheit ſchalteten. Es wäre unnütz geweſen, wenn ein Logiker zu dieſem im mythiſchen Vorſtellen befangenen Menſchen getreten wäre und ihm deutlich gemacht hätte: der nothwendige Zuſammenhang des Weltlaufs iſt da aufgehoben, wo deine Götter walten. Eine ſolche Einſicht hätte jenem niemals die Ueberzeug - ungen von ſeinen Göttern geſtört, vielmehr würde ſie nur das über den logiſchen Zuſammenhang der Welt Hinausreichende ihm klarer gemacht haben, was in ſolchem Glauben als gewaltige Kraft mitenthalten war. Der Menſch in der Morgendämmerung der Wiſſenſchaft ſuchte dann einen inneren Zuſammenhang im Kosmos, aber der Glaube an die freie Macht der Götter inmitten deſſelben verharrte in ihm. Der griechiſche Menſch in der Blüthezeit der Metaphyſik betrachtete ſeinen Willen als frei. Was ihm hier in lebendigem und unmittelbarem Wiſſen gegeben war, wurde ihm nicht dadurch unſicher, daß das Bewußtſein der Denknothwendig - keit in ihm ebenfalls vorhanden war; vielmehr erſchien ihm mit dieſem logiſchen Bewußtſein das Feſthalten deſſen verträglich, was er in unmittelbarem Wiſſen als Freiheit beſaß. Der mittelalter - liche Menſch zeigt eine übertriebene Neigung zu logiſchen Betrach - tungen, doch hat ihn dieſe nicht beſtimmt, die religiös-geſchichtliche Welt, in der er lebte und die überall denknothwendigen Zuſammen -499Der Satz vom Grunde iſt kein Denkgeſetz.hang vermiſſen ließ, aufzugeben. — Und die Erfahrungen des täglichen Lebens beſtätigen, was die Geſchichte zeigte. Der menſch - liche Geiſt findet es nicht unerträglich, den logiſchen Zuſammen - hang, vermittelſt deſſen er über das unmittelbar Gegebene hin - ausgeht, da unterbrochen zu ſehen, wo er in lebendigem und un - mittelbarem Wiſſen freie Geſtaltung und Willensmacht erfährt.
Wenn der Satz vom Grunde, in der Faſſung von Leibniz, nicht die unbedingte Gültigkeit eines Denkgeſetzes hat: wie ver - mögen wir ſeine Stelle im Zuſammenhang des intellektuellen Lebens zu beſtimmen? Indem wir ſeinen Ort aufſuchen, wird der Rechtsboden jeder wirklich folgerichtigen Metaphyſik geprüft.
Unterſcheiden wir den logiſchen Grund vom Realgrunde, den logiſchen Zuſammenhang vom realen, ſo kann die Thatſache des logiſchen Zuſammenhangs in unſerem Denken, welches im Schließen ſich darſtellt, durch den Satz ausgedrückt werden: mit dem Grund iſt die Folge geſetzt und mit der Folge iſt der Grund aufgehoben. Dieſe Nothwendigkeit der Verknüpfung findet ſich thatſächlich in jedem Syllogismus. Nun kann gezeigt werden, daß wir die Natur nur auffaſſen und vorſtellen können, indem wir dieſen Zu - ſammenhang der Denknothwendigkeit in ihr auf - ſuchen. Wir können die Außenwelt nicht einmal vorſtellen, es ſei denn erkennen, ohne einen denknothwendigen Zuſammhang ſchließend in ihr aufzuſuchen. Denn wir können die einzelnen Ein - drücke, die einzelnen Bilder, die das Gegebene bilden, nicht für ſich als objektive Wirklichkeit anerkennen. Sie ſind in dem that - ſächlichen Zuſammenhang, in dem ſie im Bewußtſein kraft ſeiner Einheit ſtehen, relativ, und können ſonach nur in dieſem Zu - ſammenhang benutzt werden, um einen äußeren Thatbeſtand oder eine Natururſache feſtzuſtellen. Jedes Raumbild iſt auf die Stellung des Auges wie der faſſenden Hand bezogen, für welche es da iſt. Jeder zeitliche Eindruck iſt auf das Maß der Eindrücke in dem Auffaſſenden und den Zuſammenhang derſelben bezogen. Die Qualitäten der Empfindung ſind durch die Beziehung bedingt, in welcher die Reize der Außenwelt zu unſeren Sinnen ſtehen. 32*500Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.Die Intenſitäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu beurtheilen und in Zahlenwerthen auszudrücken, ſondern wir be - zeichnen nur die Beziehung einer Empfindungsſtärke zu einer anderen. So iſt die Herſtellung eines Zuſammenhangs nicht ein Vorgang, welcher auf die Erfaſſung der Wirklichkeit folgt, ſondern Niemand faßt ein Augenblicksbild iſolirt als Wirklichkeit, wir be - ſitzen es in einem Zuſammenhang, vermittelſt deſſen wir, noch vor aller wiſſenſchaftlichen Beſchäftigung, Wirklichkeit feſtzuſtellen ſuchen.
Die wiſſenſchaftliche Beſchäftigung bringt Methode in dieſes Verfahren. Aus dem beweglichen veränderlichen Ich verſetzt ſie den Mittelpunkt für das Syſtem von Beſtimmungen, dem die Eindrücke eingeordnet werden, in dies Syſtem ſelber. Sie ent - wickelt einen objektiven Raum, innerhalb deſſen die einzelne In - telligenz ſich an einer beſtimmten Stelle findet, eine objektive Zeit, in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt ein - nimmt, ſowie einen objektiven Kauſalzuſammenhang und feſte Elementeinheiten, zwiſchen denen er ſtattfindet. Die ganze Rich - tung der Wiſſenſchaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicks - bilder, in welchen Mannichfaches aneinandergerathen iſt, vermittelſt der vom Denken verfolgten Relationen, in denen dieſe Bilder im Bewußtſein ſich befanden, objektive Realität und objektiven Zuſammenhang zu ſetzen. Und jedes Urtheil über Exiſtenz und Beſchaffenheit eines äußeren Gegenſtandes iſt ſchließlich durch den Denkzuſammenhang bedingt, in welchem dieſe Exiſtenz oder Be - ſchaffenheit als nothwendig geſetzt iſt. Das zufällige Zuſammen von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den Ausgangspunkt für die Konſtruktion einer allgemeingültigen Wirk - lichkeit.
Sonach beherrſcht der Satz, jedes Gegebene ſtehe in einem denknothwendigen Zuſammenhang, in welchem es bedingt ſei und ſelber bedinge, zunächſt die Löſung der Aufgabe, allgemeingültige und feſte Urtheile über die Außenwelt feſtzuſtellen. Die Re - lativität, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt, wird von der wiſſenſchaftlichen Analyſis in dem Bewußtſein der Relationen, welche das Gegebene in der Wahrnehmung501Vorſtell. u. Erkenntn. d. Außenwelt vollziehen ſich nach Satz v. Grunde.bedingen, zur Darſtellung gebracht. So ſteht ſchon jede Auf - faſſung der Objekte der Außenwelt unter dem Satze des Grundes.
Dies iſt die eine Seite der Sache. Andrerſeits aber muß die kritiſche Anwendung des Satzes vom Grunde auf eine metaphyſiſche Erkenntniß verzichten und ſich mit der Auffaſſung äußerer Verhältniſſe von Abhängigkeit innerhalb der Außenwelt genügen laſſen. Denn die Beſtandtheile des Gegebenen ſind vermöge ihrer verſchiedenen Herkunft ungleichartig d. h. unvergleichbar. Sonach können ſie nicht auf einander zurückgeführt werden. Eine Farbe kann mit einem Tone oder mit dem Eindruck von Dichtigkeit nicht in einen direkten inneren Zuſammenhang gebracht werden. Daher muß das Studium der Außenwelt das innere Verhältniß des in der Natur Gegebenen unaufgelöſt laſſen und ſich mit der Aufſtellung eines auf Raum, Zeit und Bewegung gegründeten Zuſammenhangs begnügen, welcher die Erfahrungen zu einem Syſtem verbindet. So ſteht zwar die Auffaſſung und Erkenntniß der Außenwelt unter dem Geſetz: jedes in ſinnlicher Wahrnehmung Gegebene findet ſich in einem denk - nothwendigen Zuſammenhang, in welchem es bedingt iſt und ſelber bedingt, und nur in dieſem dient es der Auffaſſung des Exiſtirenden. Aber die Verwerthung dieſes Geſetzes iſt durch die Bedingungen des Bewußtſeins auf die bloße Herſtellung eines äußeren Zuſammen - hangs von Beziehungen eingeſchränkt worden, durch welche den Thatſachen ihr Platz im Syſtem der Erfahrungen beſtimmt wird. Eben das Bedürfniß der Wiſſenſchaft, einen ſolchen denknothwen - digen Zuſammenhang herzuſtellen, hat dahin geführt, von dem inneren weſenhaften Zuſammenhang der Welt abzuſehen. Dieſem iſt ein Zuſammenhang mathematiſch-mechaniſcher Natur ſubſtituirt worden, und hierdurch erſt wurden die Wiſſenſchaften der Außen - welt poſitiv. So wurde aus dem inneren Bedürfniß dieſer Wiſſen - ſchaften heraus die Metaphyſik als unfruchtbar zurückgeſchoben, noch bevor die erkenntnißtheoretiſche Bewegung in Locke, Hume und Kant ſich gegen ſie wandte.
Und nun iſt die Stellung des Erkenntnißgeſetzes vom Grunde zu den Geiſteswiſſenſchaften eine andere,502Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.als die zu den Wiſſenſchaften der Außenwelt: auch dies macht eine Unterordnung der ganzen Wirklichkeit unter einen metaphy - ſiſchen Zuſammenhang unmöglich. Das, deſſen ich inne werde, iſt als Zuſtand meiner ſelbſt nicht relativ, wie ein äußerer Gegenſtand. Eine Wahrheit des äußeren Gegenſtandes als Ueber - einſtimmung des Bildes mit einer Realität beſteht nicht, denn dieſe Realität iſt in keinem Bewußtſein gegeben und entzieht ſich alſo der Vergleichung. Wie das Objekt ausſieht, wenn Niemand es in ſein Bewußtſein aufnimmt, kann man nicht wiſſen wollen. Dagegen iſt das, was ich in mir erlebe, als Thatſache des Be - wußtſeins darum für mich da, weil ich deſſelben inne werde: Thatſache des Bewußtſeins iſt nichts Anderes als das, deſſen ich inne werde. Unſer Hoffen und Trachten, unſer Wünſchen und Wollen, dieſe innere Welt iſt als ſolche die Sache ſelber. Gleich - viel welche Anſicht jemand hegen mag über die Beſtandtheile dieſer pſychiſchen Thatſachen — und Kant’s ganze Theorie des inneren Sinnes kann nur als ſolche Anſicht logiſch gerechtfertigt erſcheinen —: daß ſolche Bewußtſeinsthatſachen beſtehen, wird dadurch nicht be - rührt1)Kant K. d. r. V. I, 1 § 7 „ die Zeit iſt allerdings etwas Wirk - liches, nämlich die wirkliche Form der inneren Anſchauung. Sie hat alſo ſubjektive Realität in Anſehung der inneren Erfahrung, d. i. ich habe wirk - lich die Vorſtellung von der Zeit und meinen Beſtimmungen in ihr “. In dieſen Sätzen wird das, was ich oben zunächſt behaupte, anerkannt, nur in Verbindung mit einer Theorie über die Komponenten der inneren Wahr - nehmung.. Daher iſt uns das, deſſen wir inne werden, als Zu - ſtand unſerer ſelbſt nicht relativ gegeben, wie der äußere Gegen - ſtand. Erſt wenn wir dies unmittelbare Wiſſen uns zu deutlicher Erkenntniß bringen oder anderen mittheilen wollen, entſteht die Frage, wiefern wir hierdurch über das in der inneren Wahr - nehmung Enthaltene hinausgehen. Die Urtheile, welche wir aus - ſagen, ſind nur gültig unter der Bedingung, daß die Denkakte die innere Wahrnehmung nicht abändern, daß dies Zerlegen und Ver - knüpfen, Urtheilen und Schließen die Thatſachen unter den neuen Bedingungen des Bewußtſeins als dieſelben erhält. Daher hat der Satz vom Grunde, nach welchem jedes Gegebene in einem503Andere Stellung des Geiſtigen.denknothwendigen Zuſammenhang ſteht, in dem es bedingt iſt und bedingt, zu dem Umkreis der geiſtigen Thatſachen nie dieſelbe Stellung gehabt, welche er der Außenwelt gegenüber in Anſpruch nehmen darf. Er iſt hier nicht das Geſetz, unter welchem jede Vorſtellung von Wirklichkeit ſteht. Nur ſofern die Individuen einen Raum in der Außenwelt einnehmen, an einem Zeitpunkt auftreten und ſinnfällige Wirkungen in der Außenwelt hervor - bringen, werden ſie in das Netz dieſes Zuſammenhangs mit ein - gefügt. So ſetzt zwar die vollſtändige Vorſtellung der geiſtigen Thatſachen ihre äußere Einordnung in den von der Naturwiſſen - ſchaft geſchaffenen Zuſammenhang voraus, aber unabhängig von dieſem Zuſammenhang ſind die geiſtigen Thatſachen als Wirklich - keit da und haben die volle Realität derſelben.
So haben wir in dem Satze vom Grunde die logiſche Wurzel aller folgerichtigen Metaphyſik d. h. der Vernunftwiſſenſchaft und in dem Verhältniß des ſo entſtehenden logiſchen Ideals zur Wirk - lichkeit den Urſprung der Schwierigkeiten dieſer Vernunftwiſſen - ſchaft erkannt. Dieſes Verhältniß macht uns nunmehr einen großen Theil der bisher dargelegten Phänomene der Metaphyſik unter einem allgemeinſten Geſichtspunkt begreiflich. Folgerichtig iſt nur die Metaphyſik, welche ihrer Form nach Ver - nunftwiſſenſchaft iſt d. h. einen logiſchen Weltzuſammenhang auf - zuzeigen ſucht. Vernunftwiſſenſchaft war daher gleichſam das Rückgrat der europäiſchen Metaphyſik. Aber das Gefühl des Lebens in dem wahrhaftigen, natürlich ſtarken Menſchen und der ihm gegebene Gehalt der Welt ließen ſich nicht in dem logiſchen Zuſammenhang einer allgemeingültigen Wiſſenſchaft erſchöpfen. Die einzelnen Inhalte der Erfahrung, die in ihrer Herkunft von einander getrennt ſind, ließen ſich nicht durch Denken einer in den anderen überführen. Jeder Verſuch aber, einen anderen als einen logiſchen Zuſammenhang in der Wirklichkeit aufzuzeigen, hob die Form der Wiſſenſchaft zu Gunſten des Gehaltes auf.
Die ganze Phänomenologie der Metaphyſik hat gezeigt, daß die metaphyſiſchen Begriffe und Sätze nicht aus der reinen Stellung des Erkennens zur Wahrnehmung entſprangen, ſondern aus der504Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.Arbeit deſſelben an einem durch die Totalität des Gemüthes ge - ſchaffenen Zuſammenhang. In dieſer Totalität iſt zugleich mit dem Ich ein Anderes, ein von ihm Unabhängiges gegeben: dem Willen, welchem es widerſteht und der die Eindrücke nicht ändern kann, dem Gefühl, das von ihm leidet: unmittelbar alſo, nicht durch einen Schluß, ſondern als Leben. Dieſes Subjekt uns gegen - über, dieſe wirkende Urſache möchte der Wille der Erkenntniß auf dem natürlichen Standpunkte durchdringen und bewältigen. Er iſt ſich zunächſt des Zuſammenhangs des Subjektes des Natur - laufs mit dem Selbſtbewußtſein nicht bewußt. Selbſtändig ſteht ihm dieſes in der äußeren Wahrnehmung gegenüber, und er ſtrebt, es nun mit den ihm gegebenen Mitteln von Begriff, Urtheil, Schluß, ſonach als denknothwendigen Zuſammenhang, zu begreifen. Aber was in der Totalität unſeres Weſens gegeben iſt, kann nie ganz in Gedanken aufgelöſt werden. Entweder wurde der Gehalt der Metaphyſik unzureichend für die Anforderungen der lebensvollen Menſchennatur, oder die Beweiſe erwieſen ſich als unzureichend, indem ſie das, was der Verſtand an der Erfahrung feſtzuſtellen vermag, zu überſchreiten ſtrebten. So wurde die Metaphyſik ein Tummelplatz von Trugſchlüſſen.
Was in dem Gegebenen von ſelbſtändiger Provenienz iſt, hat einen für die Erkenntniß unauflöslichen Kern, und Inhalte der Erfahrung, die durch ihre Herkunft von einander getrennt ſind, laſſen ſich nicht einer in den anderen überführen. Daher iſt die Metaphyſik von falſchen Ableitungen und von Antinomien erfüllt ge - weſen. So entſprangen zunächſt die Antinomien zwiſchen dem mit endlichen Größen rechnenden Intellekt und der Anſchauung, welche der Erkenntniß der äußeren Natur angehören. Ihr Kampfplatz war ſchon die Metaphyſik des Alterthums. Das Stätige in Raum, Zeit und Bewegung kann durch die Konſtruktion in Begriffen nicht erreicht werden. Die Einheit der Welt und ihr Ausdruck in dem gedankenmäßigen Zuſammenhang allgemeiner Formen und Geſetze kann durch eine Analyſis, welche in Elemente zerlegt, und eine Syntheſis, die aus dieſen Elementen zuſammenſetzt, nicht erklärlich gemacht werden. Das Abgeſchloſſene des Anſchauungsbildes wird505Allgemeinſter Geſichtspunkt für die Schwierigkeiten der Metaphyſik.durch die Unbegrenztheit des über daſſelbe hinausſchreitenden Willens der Erkenntniß überall wieder aufgehoben. Dazu treten andere Antinomien, indem das Vorſtellen die in den Weltlauf verflochtenen pſychiſchen Lebenseinheiten in ſeinen Zuſammenhang aufnehmen und das Erkennen ſie ſeinem Syſtem unterwerfen will. So entſtanden zunächſt die theologiſchen und metaphyſiſchen An - tinomien des Mittelalters, und als die neuere Zeit das pſychiſche Geſchehen ſelber in ſeinem Kauſalzuſammenhang zu erkennen unter - nahm, traten die Widerſprüche zwiſchen dem rechnenden Denken und der inneren Erfahrung innerhalb der metaphyſiſchen Behand - lung der Pſychologie hinzu. Dieſe Antinomien können nicht auf - gelöſt werden. Für die poſitive Wiſſenſchaft ſind ſie nicht da, und für die Erkenntnißtheorie iſt ihr ſubjektiver Urſprung durchſichtig. Daher ſtören ſie die Harmonie unſeres geiſtigen Lebens nicht. Aber ſie haben die Metaphyſik zerrieben.
Will das metaphyſiſche Denken, ſolchen Widerſprüchen trotzend, das Subjekt der Welt wirklich erkennen: ſo kann dies nichts Anderes für es ſein als — Logismus. Jede Metaphyſik, welche das Subjekt des Weltlaufs erkennen zu wollen beanſprucht, in ihm aber etwas Anderes als Denknothwendigkeit ſucht, geräth in einen augenſcheinlichen Widerſpruch zwiſchen ihrem Ziel und ihren Hilfsmitteln. Das Denken kann einen anderen als logiſchen Zuſammenhang in der Wirklichkeit nicht finden. Denn da uns nur der Befund unſeres Selbſtbewußtſeins unmittel - bar gegeben iſt und wir ſonach in das Innere der Natur nicht direkt hineinblicken, ſo ſind wir, wenn wir unabhängig vom Logismus über dieſes eine Vorſtellung bilden wollen, auf eine Uebertragung unſeres eigenen Inneren auf die Natur angewieſen. Dieſe kann aber nur ein poetiſches Spiel analogiſchen Vorſtellens ſein, welches bald die Abgründe und dunkelen Gewalten unſeres Seelenlebens, bald die ruhige Harmonie deſſelben, den hellen freien Willen, die bildende Phantaſie in das Subjekt des Natur - laufs hineinträgt. Die metaphyſiſchen Syſteme dieſer Richtung haben ſonach, ernſtlich wiſſenſchaftlich genommen, nur den Werth eines Proteſtes gegen den denknothwendigen Zuſammenhang. So506Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.bereiten ſie die Einſicht vor, daß in der Welt mehr und anderes als dieſer enthalten iſt. Darin allein lag die vorübergehende Bedeutung der Metaphyſik Schopenhauers und ihm verwandter Schriftſteller. Sie iſt im Grunde eine Myſtik des neunzehnten Jahrhunderts und ein lebens -, willenskräftiger Proteſt gegen alle Metaphyſik als folgerichtige Wiſſenſchaft. Wann dagegen das Er - kennen nach dem Satze vom Grunde ſich des Subjektes des Welt - laufs zu bemächtigen entſchloſſen iſt, entdeckt es nur Denknoth - wendigkeit als den Kern der Welt, daher beſteht für daſſelbe weder der Gott der Religion noch die Erfahrung der Freiheit.
Wir gehen weiter. Die Metaphyſik vermag die Verkettung der inneren und äußeren Erfahrungen nur durch Vorſtellungen über einen inneren inhaltlichen Zuſammenhang herzuſtellen. Und wenn wir dieſe Vorſtellungen in’s Auge faſſen, ergiebt ſich die Unmöglichkeit der Metaphyſik. Denn dieſe Vorſtellungen ſind einer klaren eindeutigen Beſtimmung unzugänglich.
Der Differenzirungsproceß, in welchem die Wiſſenſchaft ſich von den anderen Syſtemen der Kultur ſondert, zeigte ſich uns als beſtändig fortſchreitend. Nicht mit einem Male löſte ſich aus der Gebundenheit aller Gemüthskräfte der Zweckzuſammenhang der Erkenntniß. Wie viel Aehnlichkeit hatte doch noch die Natur, welche aus einem inneren Zuſtand in den anderen nach einer inneren Lebendigkeit übergeht, oder das begrenzende Princip im Mittelpunkt der Welt, das die Materie an ſich zieht und geſtaltet, mit den göttlichen Kräften der heſiodeiſchen Theogonie. Und wie lange blieb dann die Anſicht herrſchend, welche die gedankenmäßige Ordnung des Weltalls auf ein Syſtem pſychiſcher Weſenheiten zurückführte. Mühſam löſte ſich der Intellekt von dieſem inneren Zuſammen los. Allmälich gewöhnte er ſich, mit immer weniger Leben und Seele in der Natur hauszuhalten und auf immer507Die Begriffe Subſtanz und Kauſalität nicht eindeutig beſtimmbar.einfachere Formen der inneren Verbindung den Zuſammenhang des Weltlaufs zurückzuführen. Zuletzt wurde auch die Zweck - mäßigkeit als Form eines inneren inhaltlichen Zuſammenhangs in Frage geſtellt. Als die beiden inneren Bänder, welche den Weltlauf in all ſeinen Theilen zuſammenhalten, blieben Sub - ſtanz und Kauſalität zurück.
Judem wir uns das Schickſal der Begriffe Subſtanz und Kauſalität zurückrufen, ergiebt ſich: Metaphyſik als Wiſſenſchaft iſt unmöglich.
Der denknothwendige Zuſammenhang ſetzt Subſtanz und Kau - ſalität als feſte Größen in die Verkettung aufeinanderfolgender und nebeneinander beſtehender Eindrücke ein. Nun erfährt die Metaphyſik ein Wunderbares. Sie iſt in dieſer Zeit ihrer von Erkenntnißtheorie noch nicht gebrochenen Zuverſicht überzeugt, zu wiſſen, was unter Subſtanz und unter Kauſalität zu denken ſei. In Wirklichkeit zeigt ihre Geſchichte beſtändigen Wechſel in der Beſtimmung dieſer Begriffe und vergebliche Verſuche, ſie zu widerſpruchsloſer Klarheit zu entwickeln.
Schon unſere Vorſtellung des Dinges kann nicht zur Klar - heit gebracht werden. Wie kann die Einheit, welcher mannichfache Eigenſchaften, Zuſtände, Wirken und Leiden inhäriren, von dieſen letzteren abgegränzt werden? Das Beharrliche von den Ver - änderungen? Oder wie vermag ich feſtzuſtellen, wann eine Ver - wandlung deſſelben Dinges noch ſtattfindet und wann es vielmehr aufhört zu ſein? Wie vermag ich das in ihm was bleibt von dem abzuſondern was wechſelt? Wie kann endlich dieſe beharr - liche Einheit als in einem räumlichen Außereinander irgendwo ſitzend gedacht werden? Alles Räumliche iſt theilbar, enthält alſo nirgend eine zuſammenhaltende untheilbare Einheit, und andrer - ſeits ſchwinden mit dem Raume, wenn ich ihn hinwegdenke, alle ſinnlichen Qualitäten des Dinges. Dennoch kann dieſe Einheit nicht aus dem bloßen Zuſammengerathen verſchiedener Ein - drücke (in Wahrnehmung und Aſſociation) erklärt werden; denn eben im Gegenſatz hierzu drückt ſie ein inneres Zuſammenge - hören aus.
508Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.Von dieſen Schwierigkeiten hervorgetrieben, tritt der Sub - ſtanzbegriff auf. Wie wir geſchichtlich nachwieſen, iſt er aus dem Bedürfniß entſtanden, das Feſte, welches wir in jedem Dinge als beharrliche Einheit annahmen, gedankenmäßig zu er - faſſen und zur Löſung der Aufgabe zu verwerthen, die wechſeln - den Eindrücke auf ein Bleibendes, in dem ſie verbunden ſind, zu beziehen. Aber da er nichts als die wiſſenſchaftliche Bearbeitung der Dingvorſtellung iſt, ſo entfaltet er die in dieſer gelegenen Schwierigkeiten nur deutlicher. Selbſt das metaphyſiſche Genie des Ariſtoteles ſahen wir vergebens ringen, dieſe aufzulöſen. Auch iſt es umſonſt, wenn nun die Subſtanz in das Atom verlegt wird. Denn mit ihr werden auch ihre Widerſprüche in dieſes untheilbare Räumliche, dieſes Ding im Kleinen verlegt, und die Naturwiſſenſchaft muß ſich begnügen, ſofern ſie den Begriff von etwas bildet, das in unſrem Naturlauf nicht weiter zerlegt werden kann, dieſe Schwierigkeiten nur von ſich auszuſchließen: auf ihre Löſung verzichtet ſie. So wandelt ſich der metaphyſiſche Begriff des Atoms in einen bloßen Hilfsbegriff zur Beherrſchung der Er - fahrungen. Eben ſo wenig werden die Schwierigkeiten gelöſt, wenn die Subſtanz der Dinge in ihre Form verlegt wird. Vergeblich ſahen wir die ganze Metaphyſik der ſubſtantialen Formen mit den Schwierigkeiten dieſes Begriffes ringen, und die Wiſſen - ſchaft muß ſich auch hier ſchließlich, ihre Grenzen gegen das Un - erforſchliche wahrend, damit begnügen, dieſen Begriff als ein bloßes Symbol für einen Thatbeſtand zu behandeln, welcher ſich dem Erkennen, wenn es den Zuſammenhang der Thatſachen aufſucht, als objektive Einheit in denſelben darbietet, jedoch in ſeinem realen Gehalt unauflöslich iſt.
Und im Kern des Subſtanzbegriffs ſelber, mag man ihn auf Atome oder auf Naturformen beziehen, bleibt eine nicht zu be - wältigende Schwierigkeit. Die Wiſſenſchaft von einem denknoth - wendigen Zuſammenhang der Außenwelt drängt dahin, die Subſtanz als eine feſte Größe zu behandeln und ſonach Wechſel, Werden und Veränderung in die Relationen dieſer Elemente zu verlegen. Aber ſobald dies Verfahren mehr als Hilfskonſtruktion der Bedingungen509Die Begriffe Subſtanz und Kauſalität nicht eindeutig beſtimmbar.für die Denkbarkeit des Naturzuſammenhangs ſein, ſobald eine Be - ſtimmung über das metaphyſiſche Weſen des Subſtantialen da - raus entnommen werden ſoll, tritt eine Art von Vexirſpiel ein. Die innere Veränderung iſt nun in das pſychiſche Geſchehen hin - übergeſchoben, hier blitzt jetzt die Farbe auf, erklingt der Ton. Dann haben wir nur die Wahl, einem ſtarren Mechanismus der Natur die innerliche Lebendigkeit pſychiſchen Geſchehens gegen - überzuſetzen und ſo die metaphyſiſche Einheit des Weltzuſammen - hangs, die wir ſuchten, aufzugeben oder die unveränderlichen Ele - mente in ihrem wahren Werthe als bloße Hilfsbegriffe aufzufaſſen.
Es würde ermüden, wollten wir nun zeigen, wie der Begriff der Kauſalität ähnlichen Schwierigkeiten unterliegt. Auch hier kann bloße Aſſociation die Vorſtellung des inneren Bandes nicht erklären, und doch kann der Verſtand nicht eine Formel entwerfen, in welcher aus ſinnlich oder verſtandesmäßig klaren Elementen ein Begriff zuſammengeſetzt würde, der den Inhalt der Kauſal - vorſtellung darſtellte. Und ſo wird die Kauſalität ebenfalls aus einem metaphyſiſchen Begriff zu einem bloßen Hilfsmittel für die Beherrſchung der äußeren Erfahrungen. Denn die Naturwiſſen - ſchaft kann nur dasjenige, was durch Elemente der äußeren Wahr - nehmung und Operationen des Denkens mit denſelben belegt werden kann, als Beſtandtheile ihres Erkenntnißzuſammenhangs anerkennen.
Können ſo Subſtanz und Kauſalität nicht als objektive Formen des Naturlaufs aufgefaßt werden, ſo läge der mit ab - ſtrakten verſtandesmäßig präparirten Elementen arbeitenden Wiſſen - ſchaft am nächſten, in ihnen wenigſtens aprioriſche Formen der Intelligenz feſtzuhalten. Die Erkenntnißtheorie Kant’s, welche die Abſtraktionen der Metaphyſik in erkenntnißtheoretiſcher Abſicht benutzte, glaubte hierbei ſtehen bleiben zu können. Alsdann würden dieſe Begriffe wenigſtens einen feſten obzwar ſubjektiven Zuſammenhang der Erſcheinungen ermöglichen.
Wären ſie ſolche Formen der Intelligenz ſelber, dann müßten ſie als ſolche dieſer gänzlich durchſichtig ſein. Fälle ſolcher Durchſichtigkeit ſind das Verhältniß des Ganzen zu den Theilen, der Begriff von Gleichheit und Unterſchied; in ihnen beſteht über510Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.die Interpretation der Begriffe kein Streit: B kann unter dem Begriffe von Gleichheit nur daſſelbe als A denken. Die Begriffe von Kauſalität und Subſtanz ſind augenſcheinlich nicht von ſolcher Art. Sie haben einen dunklen Kern einer nicht in ſinnliche oder Ver - ſtandeselemente auflösbaren Thatſächlichkeit. Sie können nicht wie Zahlbegriffe in ihre Elemente eindeutig zerlegt werden; hat ihre Analyſis doch zu endloſem Streit geführt. Oder wie kann etwa eine bleibende Unterlage, an welcher Eigenſchaften und Thätigkeiten wechſeln, ohne daß dieſes Thätige ſelber in ſich Veränderungen erführe, vorgeſtellt, wie für den Verſtand faßbar gemacht werden?
Wären Subſtanz und Kauſalität ſolche Formen der Intelli - genz a priori, ſonach mit der Intelligenz ſelber gegeben, alsdann könnten keine Beſtandtheile dieſer Denkformen aufgegeben und mit anderen vertauſcht werden. In Wirklichkeit nahm das mythiſche Vorſtellen, wie wir ſahen, in den Urſachen eine freie Lebendig - keit und ſeeliſche Kraft an, welche in unſerem Begriff einer Urſache im Naturlauf nicht mehr anzutreffen iſt. Die Elemente, welche urſprünglich in der Urſache vorgeſtellt wurden, haben eine beſtän - dige Minderung erfahren, und andere ſind in einem Vorgang von Anpaſſung der urſprünglichen Vorſtellung an die Außenwelt in ihre Stelle eingetreten. Dieſe Begriffe haben eine Entwicklungs - geſchichte.
Der Grund ſelber, aus welchem die Vorſtellungen von Sub - ſtanz und Kauſalität ſich einer eindeutigen klaren Beſtimmung nicht fähig erweiſen, kann innerhalb dieſer phänomenologiſchen Betrach - tung der Metaphyſik nur als eine Möglichkeit vorgelegt werden, die dann die Erkenntnißtheorie zu erweiſen hat. In der Tota - lität unſerer Gemüthskräfte, in dem erfüllten lebendigen Selbſt - bewußtſein, welches das Wirken eines Anderen erfährt, liegt der lebendige Urſprung dieſer beiden Begriffe. Nicht eine nachkommende Uebertragung aus dem Selbſtbewußtſein auf die an ſich lebloſe Außenwelt, durch welche dieſe letztere in mythiſchem Vorſtellen Leben empfinge, braucht hierbei angenommen zu werden. Das Andere kann im Selbſtbewußtſein ſo urſprünglich wie das Selbſt als lebendige wirkſame Realität gegeben ſein. Was aber in der Tota -511Subſtanz und Kauſalität ſind nicht Verſtandesformen.lität der Gemüthskräfte gegeben iſt, das kann nie von der Intel - ligenz ganz aufgeklärt werden. Der Differenzirungsprozeß der Erkenntniß in der fortſchreitenden Wiſſenſchaft kann daher als Vorgang der Abſtraktion von immer mehr Elementen dieſes Le - bendigen abſehen: jedoch der unlösliche Kern bleibt. So erklären ſich alle Eigenſchaften, welche dieſe beiden Begriffe von Sub - ſtanz und Kauſalität im Verlauf der Metaphyſik gezeigt haben, und es kann eingeſehen werden, daß auch künftig jeder Kunſt - griff des Verſtandes dieſen Eigenſchaften gegenüber machtlos ſein wird. Daher wird ächte Naturwiſſenſchaft dieſe Begriffe als bloße Zeichen für ein x, welches ihre Rechnung bedarf, behandeln. Die Ergänzung dieſes Verfahrens liegt dann in der Analyſis des Be - wußtſeins, welche den urſprünglichen Werth dieſer Zeichen und die Gründe, aus welchen ſie in der naturwiſſenſchaftlichen Rech - nung erforderlich ſind, aufzeigt.
Ganz anders ſtehen zu dieſen Begriffen die Geiſteswiſſen - ſchaften. Sie behalten von den Begriffen Subſtanz und Kauſali - tät nur das rechtmäßiger Weiſe, was im Selbſtbewußtſein und der inneren Erfahrung gegeben war, und ſie geben Alles auf, was in ihnen aus der Anpaſſung an die Außenwelt ſtammte. Sie dürfen daher von dieſen Begriffen keinen direkten Gebrauch zur Bezeichnung ihrer Gegenſtände machen. Ein ſolcher hat ihnen oft geſchadet und nie an irgend einem Punkte genützt. Denn nie haben dieſe abſtrakten Begriffe dem Erforſcher der menſchlichen Natur über dieſe mehr ſagen können, als in dem Selbſtbewußt - ſein gegeben war, aus welchem ſie hervorgegangen ſind. Selbſt wenn der Begriff von Subſtanz auf die Seele anwendbar wäre, vermöchte er nicht einmal die Unſterblichkeit in einer religiöſen Ordnung der Vorſtellungen zu begründen. Führt man die Ent - ſtehung der Seele auf Gott zurück, ſo kann was entſtanden iſt auch untergehen, oder was ſich in einem Vorgang von Emana - tion ausgeſondert hat in die Einheit zurücktreten. Schließt man aber die Annahme einer Schöpfung oder Ausſtrahlung von Seelen - ſubſtanzen aus Gott aus, ſo fordert die ſeeliſche Subſtanz eine atheiſtiſche Weltordnung: die Seelen ſind dann, gleichviel ob allein ohne Gott oder unabhängig neben Gott, ungewordene Götter.
Indem die Metaphyſik ihre Aufgabe weiter verfolgt, ent - ſpringen aus den Bedingungen derſelben neue Schwierigkeiten, welche eine Löſung der Aufgabe unmöglich machen. Ein be - ſtimmter innerer objektiver Zuſammenhang der Wirk - lichkeit, unter Ausſchluß der möglichen übrigen, iſt nicht erweisbar. An einem weiteren Punkte ſtellen wir daher feſt: Metaphyſik als Wiſſenſchaft iſt unmöglich.
Denn entweder wird dieſer Zuſammenhang aus aprioriſchen Wahrheiten abgeleitet, oder er wird an dem Gegebenen aufgezeigt. — Eine Ableitung a priori iſt unmöglich. Kant hat die letzte Konſequenz der Metaphyſik in der Richtung fortſchreitender Ab - ſtraktion gezogen, indem er ein Syſtem aprioriſcher Begriffe und Wahrheiten, wie es ſchon dem Geiſte des Ariſtoteles und dem von Descartes vorſchwebte, wirklich entwickelte. Er hat aber un - widerleglich bewieſen, daß auch unter dieſer Bedingung „ der Ge - brauch unſerer Vernunft nur auf Gegenſtände möglicher Erfahrung reicht “. Doch ſteht vielleicht die Sache der Metaphyſik nicht ein - mal ſo günſtig als Kant annahm. Sind Kauſalität und Subſtanz gar nicht eindeutig beſtimmbare Begriffe, ſondern der Ausdruck unauflöslicher Thatſachen des Bewußtſeins, dann entziehen dieſelben ſich gänzlich der Benutzung für die denknothwendige Ableitung eines Weltzuſammenhangs. — Oder die Metaphyſik geht von dem Gegebenen zu ſeinen Bedingungen rückwärts, dann beſteht, wenn man von den willkürlichen Einfällen der deutſchen Naturphiloſophie abſieht, in Bezug auf den Naturlauf darüber Einſtimmigkeit, daß die Analyſis deſſelben auf Maſſentheilchen, welche nach Geſetzen auf einander wirken, als auf letzte der Natur - wiſſenſchaft nothwendige Bedingungen zurückführt. Nun erkannten wir, daß zwiſchen dem Beſtand dieſer Atome und den Thatſachen ihrer Wechſelwirkung, des Naturgeſetzes und der Naturformen für uns keine Art von Verbindung vorhanden iſt. Wir ſahen, daß513Unerweisbarkeit einer inhaltlichen Vorſtellung d. Weltzuſammenhangs.keine Aehnlichkeit zwiſchen ſolchen Atomen und den pſychiſchen Einheiten, welche als unvergleichbare Individuen in den Weltlauf eintreten, in ihm lebendig innere Veränderungen erfahren und wieder aus ihm verſchwinden, ſtattfindet. Sonach enthalten die letzten Begriffe, zu denen die Wiſſenſchaften des Wirklichen gelangen, nicht die Einheit des Weltlaufs. — Sind doch auch weder Atome noch Geſetze reale Subjekte des Naturvorgangs. Denn die Sub - jekte, welche die Geſellſchaft bilden, ſind uns gegeben, dagegen das Subjekt der Natur oder die Mehrheit von Subjekten der - ſelben nicht, ſondern wir beſitzen nur das Bild des Naturlaufs und die Erkenntniß ſeines äußeren Zuſammenhangs. Nun iſt aber dieſer Naturlauf ſelber ſammt ſeinem Zuſammenhang nur Phänomen für unſer Bewußtſein. Die Subjekte, die wir ihm als Maſſentheilchen unterlegen, gehören alſo ebenfalls der Phänomena - lität an. Sie ſind nur Hilfsbegriffe für die Vorſtellung des Zuſammenhangs in einem Syſtem der prädikativen Beſtimmungen, welche die Natur ausmachen: der Eigenſchaften, Beziehungen, Veränderungen, Bewegungen. Sie ſind daher nur ein Theil des Syſtems prädikativer Beſtimmungen, deren reales Subjekt unbe - kannt bleibt.
Eine Metaphyſik, welche zu verzichten weiß und nur die letzten Begriffe, zu welchen die Erfahrungswiſſen - ſchaften gelangen, zu einem vorſtellbaren Ganzen ver - knüpfen will, kann weder die Relativität des Erfahrungskreiſes, den dieſe Begriffe darſtellen, noch die des Standorts und der Ver - faſſung der Intelligenz, welche die Erfahrungen zu einem Ganzen vereinigt, jemals überwinden. Indem wir dies erweiſen, zeigt ſich von zwei neuen Seiten: Metaphyſik als Wiſſenſchaft iſt unmöglich.
Die Metaphyſik überwindet nicht die Relativität des Erfahrungskreiſes, aus dem ihre Begriffe gewonnen ſind. In den letzten Begriffen der Wiſſenſchaften werden für die be - ſtimmte Zahl gegebener phänomenaler Thatbeſtände, welche das Syſtem unſerer Erfahrung bilden, Bedingungen ihrer Denkbarkeit aufgeſtellt. Nun hat die Vorſtellung von dieſen Bedingungen ſich mit der Zunahme unſerer Erfahrungen geändert. So war einDilthey, Einleitung. 33514Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.Zuſammenhang der Veränderungen nach Geſetzen, der heute die Erfahrungen zu einem Syſtem verbindet, dem Alterthum nicht bekannt. Daher hat eine ſolche Vorſtellung von Bedingungen immer nur eine relative Wahrheit, d. h. ſie bezeichnet nicht eine Realität, ſondern entia rationis, Gedankendinge, welche die Herr - ſchaft des Gedankens und des Eingreifens über einen gegebenen eingeſchränkten Zuſammenhang von Phänomenen ermöglichen. Stellt man ſich eine plötzliche Erweiterung menſchlicher Erfahrung vor, dann würden die entia rationis, welche die Bedingungen dieſer Erfahrungen ausdrücken ſollen, ſich ihrer Erweiterung anpaſſen müſſen; wer kann ſagen, wie weit dann die Veränderung greifen würde? Und ſucht man nun für dieſe letzten Begriffe einen ver - einigenden Zuſammenhang, ſo kann der Erkenntnißwerth der ſo ent - ſtehenden Hypotheſe nicht ein größerer ſein, als der ihrer Grund - lage iſt. Die metaphyſiſche Welt, die hinter den Hilfsbegriffen der Naturwiſſenſchaft ſich aufthut, iſt alſo gleichſam in der zweiten Potenz — ein ens rationis. Wird das nicht durch die ganze Ge - ſchichte der neueren Metaphyſik beſtätigt? Die Subſtanz Spinozas, die Atome der Moniſten, die Monaden von Leibniz, die Realen von Herbart verwirren die Naturwiſſenſchaften, indem ſie aus dem inneren pſychiſchen Leben Elemente in den Naturlauf tragen, und ſie mindern das geiſtige Leben herab, indem ſie einen Naturzu - ſammenhang in dem Willen ſuchen. Sie vermögen nicht, die durch die Geſchichte der Metaphyſik hindurchgehende Dualität der mechaniſch-atomiſtiſchen und der von dem Ganzen ausgehenden Weltanſicht aufzuheben.
Die Metaphyſik überwindet ebenſo wenig die einge - ſchränkte Subjektivität des Seelenlebens, welches jeder metaphyſiſchen Verknüpfung der letzten wiſſenſchaftlichen Begriffe zu Grunde liegt. Dieſe Behauptung enthält zwei Sätze in ſich. Eine einheitliche Vorſtellung vom Subjekte des Weltlaufs kommt nur durch die Vermittlung deſſen, was das Seelenleben hinein - giebt, zu Stande. Dieſes Seelenleben iſt aber in beſtändiger Ent - wicklung, unberechenbar in ſeinen weiteren Entfaltungen, an jedem Punkte geſchichtlich relativ und eingeſchränkt und daher unfähig,515Metaphyſiſcher Abſchluß der Erfahrungswiſſenſchaft unmöglich.die letzten Begriffe der Einzelwiſſenſchaften in einer objektiven und endgültigen Weiſe zu verknüpfen.
Denn was bedeutet die Vorſtellbarkeit oder Denkbarkeit jener letzten Thatbeſtände, zu welchen die Einzelwiſſenſchaften vor - dringen, wie die Metaphyſik ſie herzuſtellen ſtrebt? Wenn die Meta - phyſik dieſe Thatbeſtände in einer faßbaren Vorſtellung vereinigen will, ſo ſteht ihr zu dieſem Zweck zunächſt nur der Satz des Widerſpruchs zur Verfügung. Wo aber zwiſchen zwei Beding - ungen des Syſtems der Erfahrungen ein Widerſpruch beſteht, da bedarf es eines poſitiven Prinzips, um zwiſchen den wider - ſprechenden Sätzen zu entſcheiden. Wenn ein Metaphyſiker be - hauptet, nur auf Grund dieſes Satzes des Widerſpruchs die letzten Thatſachen, zu denen Wiſſenſchaft gelangt, zur Denkbarkeit zu verknüpfen, dann laſſen ſich ſtets poſitive Gedanken nachweiſen, welche insgeheim ſeine Entſcheidungen leiten. Denkbarkeit muß alſo hier mehr bedeuten als Widerſpruchsloſigkeit. Auch ſtellen in der That die metaphyſiſchen Syſteme ihren Zuſammenhang durch Mittel von einer ganz andern inhaltlichen Mächtigkeit her. Denkbarkeit iſt hier nur ein abſtrakter Ausdruck für Vorſtell - barkeit, dieſe aber enthält nichts anderes, als daß das Denken, wenn es den feſten Boden der Wirklichkeit und der Analyſis verläßt, trotzdem von Reſiduen des in ihr Enthal - tenen geleitet wird. Innerhalb dieſes Umkreiſes der Vor - ſtellbarkeit erſcheint dann vielfach das Entgegengeſetzte als gleich möglich, ja zwingend. Ein bekanntes Wort von Leibniz lautet: Die Monaden ſeien ohne Fenſter, Lotze bemerkt hierzu mit Recht: „ Ich würde mich nicht wundern, wenn Leibniz mit dem gleichen bildlichen Ausdruck im Gegentheil gelehrt hätte, die Monaden hätten Fenſter, durch die ihre inneren Zuſtände mit einander in Gemeinſchaft träten, und dieſe Behauptung würde ungefähr gleichviel Grund und vielleicht beſſeren Grund gehabt haben, als die, welche er vorzog. “ 1)Lotze, Syſtem der Philoſaphie II, 125.Die einen Metaphyſiker halten ihre Maſſentheilchen, jedes für ſich, für fähig einzuwirken oder33*516Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.Einwirkung zu erleiden, die anderen glauben, daß Wechſelwirkung unter gemeinſamen Geſetzen nur in einem alle Einzelweſen ver - bindenden Bewußtſein denkbar ſei. Ueberall hat hier die Meta - phyſik, als die Königin über ein Schattenreich, nur mit Schatten ehemaliger Wahrheiten zu thun, von denen die einen ihr verwehren etwas zu denken, die anderen es ihr aber gebieten. Dieſe Schatten von Weſenheiten, welche insgeheim die Vorſtellung leiten und die Vorſtellbarkeit ermöglichen, ſind entweder Bilder aus der in den Sinnen gegebenen Materie oder Vorſtellungen aus dem in der inneren Erfahrung gegebenen pſychiſchen Leben. Die erſteren ſind in ihrem phänomenalen Charakter von der modernen Wiſſenſchaft anerkannt, und daher iſt die materialiſtiſche Metapyſik, als ſolche, in Abnahme gerathen. Wo es ſich wirklich um das Subjekt der Natur handelt und nicht bloß um prädikative Beſtimmungen, wie Bewegung und ſinnliche Qualitäten ſie darbieten, da entſcheiden zumeiſt insgeheim oder bewußt die Vorſtellungen des pſychi - ſchen Lebens über das, was als metaphyſiſcher Zuſammenhang denkbar ſei oder nicht. Gleichviel, mag Hegel die Weltvernunft zu dem Subjekt der Natur machen oder Schopenhauer einen blinden Willen oder Leibniz vorſtellende Monaden oder Lotze ein alle Wechſelwirkung vermittelndes umfaſſendes Bewußtſein, oder mögen die neueſten Moniſten pſychiſches Leben in jedem Atom aufblitzen laſſen: Bilder des eigenen Selbſt, Bilder des pſychiſchen Lebens ſind es, welche den Metaphyſiker geleitet haben, als er über Denk - barkeit entſchied und deren insgeheim wirkende Gewalt ihm die Welt umwandelte in eine ungeheure phantaſtiſche Spiegelung ſeines eigenen Selbſt. Denn das iſt das Ende: der metaphyſiſche Geiſt gewahrt ſich ſelber in phantaſtiſcher Vergrößerung, gleichſam in einem zweiten Geſicht.
So trifft die Metaphyſik am Endpunkte ihrer Bahn mit der Erkenntnißtheorie zuſammen, welche das auffaſſende Subjekt ſelber zu ihrem Gegenſtand hat. Die Verwandlung der Welt in das auffaſſende Subjekt durch dieſe modernen Syſteme iſt gleich - ſam die Euthanaſie der Metaphyſik. Novalis erzählt ein Märchen von einem Jüngling, den die Sehnſucht nach den Geheimniſſen517Metaphyſik und Erkenntnißtheorie.der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert viele Länder, um die große Göttin Iſis zu finden und ihr wunderbares Antlitz zu ſchauen. Endlich ſteht er vor der Göttin der Natur, er hebt den leichten glänzenden Schleier und — die Geliebte ſinkt in ſeine Arme. Wenn der Seele zu gelingen ſcheint, das Subjekt des Naturlaufs ſelber ledig der Hüllen und des Schleiers zu ge - wahren, dann findet ſie in dieſem — ſich ſelbſt. Dies iſt in der That das letzte Wort aller Metaphyſik, und man kann ſagen, nach - dem daſſelbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald des Verſtandes, bald der Leidenſchaft, bald des tiefſten Gemüthes ausgeſprochen iſt, ſcheint es, daß die Metaphyſik auch in dieſer Rückſicht nichts Erhebliches mehr zu ſagen habe.
Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieſer perſönliche Gehalt des Seelenlebens iſt nun in einer beſtändigen geſchichtlichen Wandlung, unberechenbar, relativ, eingeſchränkt, und kann daher nicht eine allgemeingültige Einheit der Erfahrungen er - möglichen. Das iſt die tiefſte Einſicht, zu welcher unſere Phäno - menologie der Metaphyſik gelangte, im Gegenſatz gegen die Kon - ſtruktionen der Epochen der Menſchheit. Jedes metaphyſiſche Syſtem iſt nur für die Lage repräſentativ, in welcher eine Seele das Welträthſel erblickt hat. Es hat die Gewalt, dieſe Lage und Zeit, den Zuſtand der Seele, die Art, wie die Menſchen die Natur und ſich erblickten, uns wieder zu vergegenwärtigen. Es thut das gründlicher und allſeitiger als dichteriſche Werke, in welchen das Gemüthsleben nach ſeinem Geſetz mit Perſonen und Dingen ſchaltet. Jedoch mit der geſchichtlichen Lage des Seelenlebens ändert ſich der geiſtige Gehalt, welcher einem metaphyſiſchen Syſtem Ein - heit und Leben giebt. Wir können dieſe Aenderung weder nach ihren Gränzen beſtimmen noch in ihrer Richtung vorausberechnen.
Der Grieche in der Zeit des Plato oder Ariſtoteles war an eine beſtimmte Vorſtellungsweiſe der erſten Urſachen gebunden; die chriſtliche Weltanſicht entwickelte ſich, und es war nun gleich - ſam eine Wand weggezogen, hinter welcher man eine neue Art, die erſte Urſache der Welt vorzuſtellen erblickte. Für einen mittel - alterlichen Kopf war die Erkenntniß der göttlichen und menſch -518Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.lichen Dinge in ihren Grundzügen abgeſchloſſen, und eine Vor - ſtellung davon, daß die auf Erfahrung gegründete Wiſſenſchaft beſtimmt ſei, die Welt umzugeſtalten, beſaß kein Menſch während des elften Jahrhunderts in Europa; dann aber geſchah, was Nie - mand hatte ahnen können, und die moderne Erfahrungswiſſenſchaft entſtand. So müſſen auch wir uns ſagen, daß wir nicht wiſſen, was hinter den Wänden ſich befindet, die uns heute umgeben. Das Seelenleben ſelber verändert ſich in der Geſchichte der Menſch - heit, nicht nur dieſe oder jene Vorſtellung. Und dieſes Bewußt - ſein der Schranken unſerer Erkenntniß, wie es aus dem geſchicht - lichen Blick in die Entwicklung des Seelenlebens folgt, iſt ein anderes und tieferes, als das, welches Kant hatte, für den im Geiſte des achtzehnten Jahrhunderts das metaphyſiſche Bewußt - ſein ohne Geſchichte war.
Der Skepticismus, welcher die Metaphyſik als ihr Schatten begleitete, hatte den Nachweis erbracht, daß wir in unſere Eindrücke gleichſam eingeſchloſſen ſind, ſonach die Urſache derſelben nicht erkennen und über die reale Beſchaffenheit der Außenwelt nichts ausſagen können. Alle Sinnesempfindungen ſind relativ und ge - ſtatten keinen Schluß auf das, was ſie hervorbringt. Selbſt der Begriff der Urſache iſt eine von uns in die Dinge getragene Re - lation, für deren Anwendung auf die Außenwelt ein Rechtsgrund nicht vorliegt. Dazu hat die Geſchichte der Metaphyſik gezeigt, daß unter einer Beziehung zwiſchen dem Denken und den Ob - jekten nichts Klares gedacht werden kann, mag dieſelbe als Iden - tität oder Parallelismus, als Entſprechen oder Korreſpondenz be - zeichnet werden. Denn eine Vorſtellung kann einem Ding, ſofern dieſes als von ihr unabhängige Realität aufgefaßt wird, nie gleich ſein. Sie iſt nicht das in die Seele geſchobene Ding und kann nicht mit einem Gegenſtand zur Deckung gebracht werden. Schwächt man den Begriff der Gleichheit zu dem der Aehnlichkeit ab, ſo kann auch dieſer Begriff in ſeinem genauen Verſtande hier nicht519Metaphyſik und Erkenntnißtheorie.angewandt werden: die Vorſtellung von Uebereinſtimmung ent - weicht ſo in das Unbeſtimmte. Der Rechtsnachfolger des Step - tikers iſt der Erkenntnißtheoretiker. Hier ſind wir an der Grenze angelangt, an welcher das nächſte Buch anheben wird: vor dem erkenntnißtheoretiſchen Standpunkte der Menſchheit. Denn das moderne wiſſenſchaftliche Bewußtſein iſt einerſeits bedingt durch die Thatſache der relativ ſelbſtändigen Einzelwiſſenſchaften, anderer - ſeits durch die erkenntnißtheoretiſche Stellung des Menſchen zu ſeinen Objekten. Der Poſitivismus hat vorwiegend auf die erſtere Seite deſſelben ſeine philoſophiſche Grundlegung aufgebaut, die Tranſcendentalphiloſophie auf die andere. An dem Punkte der intellektuellen Geſchichte, an welchem die metaphyſiſche Stellung des Menſchen endigt, wird das folgende Buch anſetzen und die Geſchichte des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in ſeiner Beziehung zu den Geiſteswiſſenſchaften darlegen, wie es durch die erkenntnißtheoretiſche Stellung zu den Objekten bedingt iſt. Dieſe hiſtoriſche Darſtellung wird noch zu zeigen haben, wie die Rück - ſtände der metaphyſiſchen Epoche nur langſam überwunden und ſo die Konſequenzen der erkenntnißtheoretiſchen Stellung nur ſehr all - mälig gezogen wurden. Sie wird ſichtbar machen, wie innerhalb der erkenntnißtheoretiſchen Grundlegung ſelber die Abſtraktionen, welche die dargelegte Geſchichte der Metaphyſik hinterlaſſen hat, nur ſpät und bis heute noch ſehr unvollſtändig weggeräumt worden ſind. So ſoll ſie zu dem pſychologiſchen Standpunkte hinführen, welcher nicht von der Abſtraktion einer iſolirten Intelligenz, ſondern von dem Ganzen der Thatſachen des Bewußtſeins aus das Pro - blein der Erkenntniß aufzulöſen unternimmt. Denn in Kant voll - zog ſich nur die Selbſtzerſetzung der Abſtraktionen, welche die von uns geſchilderte Geſchichte der Metaphyſik geſchaffen hat; nun gilt es, die Wirklichkeit des inneren Lebens unbefangen gewahr zu werden und, von ihr ausgehend, feſtzuſtellen, was Natur und Geſchichte dieſem inneren Leben ſind.
Pierer’ſche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
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