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Der religiöſe Wahnſinn, erlaͤutert durch Krankengeſchichten.
Ein Beitrag zur Geſchichte der religiöſen Wirren der Gegenwart.
Halle,C. A. Schwetſchke und Sohn. 1847.
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Einleitung.

Das freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬ charakter des Menſchen, wendet ſich ſeiner Natur nach einer uͤberſinnlichen Welt zu, da es mit den zahlloſen Beſchraͤn¬ kungen der ſinnlichen Wirklichheit uͤberall in den ſchroffſten Widerſtreit tritt, und dadurch mehr oder weniger ſeiner Be¬ friedigung verluſtig geht. Das religioͤſe Bewußtſein, in wel¬ chem jene uͤberſinnliche Welt zur deutlichen Vorſtellung gelan¬ gen ſoll, muß daher auch als der aus dem innerſten Weſen des Menſchen entſpringende Urtrieb, als die Grundbedingung ſeines Denkens und Wollens, als das Geſetz angeſehen wer¬ den, durch deſſen Erfuͤllung allein ſeine Geſammtthaͤtigkeit das Ziel ihrer Beſtimmung erreichen kann. Denn indem das re¬ ligioͤſe Bewußtſein dem Menſchen eine hoͤhere und vollkomm¬ nere Weltordnung, als ſeinen Sinnen ſich darſtellt, offenbart, und ihm ſein Buͤrgerrecht in derſelben verheißt, fordert ſie ihn mit dem ſtaͤrkſten Machtgebot auf, ſich dieſes herrlichen Berufes wuͤrdig zu bezeigen, indem er letzterem ſeine welt¬ lichen Intereſſen dergeſtalt unterordnet, daß ſie ihn demſelben nicht abtruͤnnig machen koͤnnen. In dieſem Sinne iſt daher je¬ nes Bewußtſein die Quelle aller Pflichtbegriffe, naͤmlich der nothwendigen Vorſchriften, durch deren treue Befolgung er allein des durch die Religion ihm feierlich verheißenen hoͤchſten Gutes theilhaftig werden, und ſonach mit den Forderungen ſeiner geiſtigen Natur in Uebereinſtimmung treten kann. End¬ lich ſchließen die religioͤſen Vorſtellungen den Grundbegriff eines goͤttlichen Weſens in ſich, welches der Menſch als den Urhe¬ ber und Geſetzgeber der Welt anerkennen muß, um der abſo¬ luten Heiligkeit und Nothwendigkeit ſeiner Gebote ſtets mit tiefſter Ehrfurcht und feſteſter Ueberzeugung inne zu werden.

Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 12

Indeß gelangt der Menſch wegen der beſchraͤnkten Ein¬ richtung ſeines Denkvermoͤgens im religioͤſen Bewußtſein nicht zu einer unmittelbaren Anſchauung des Unendlichen, und nicht zu einer deutlichen Erkenntniß deſſelben, welche er mit Huͤlfe ſtreng wiſſenſchaftlicher Beweiſe Anderen aufdringen koͤnnte; ſondern jenes Bewußtſein geſtaltet ſich in jedem Einzelnen ganz nach der geiſtigen Eigenthuͤmlichkeit deſſelben, daher denn die individuellen Verſchiedenheiten der Menſchen nirgends deutli¬ cher zu Tage kommen, als in den unzaͤhlig verſchiedenen Denk¬ weiſen, mit denen ſie das Goͤttliche auffaſſen. Die Religions¬ geſchichte, welche einerſeits den unwiderlegbaren Beweis fuͤhrt, daß die Voͤlker aller Zeiten und Orte die Anbetung Gottes und die Befolgung ſeiner Gebote an die Spitze ihrer Angele¬ genheiten ſtellten, lehrt andrerſeits eben ſo unwiderſprechlich, daß ſie ihr religioͤſes Bewußtſein in dem Maaße verunſtalte¬ ten, als ſie ſich der urſpruͤnglichen Beſtimmung deſſelben ent¬ fremdeten, ihnen den Weg zur geiſtig ſittlichen Vervollkomm¬ nung zu bahnen. Denn niemals erfolgt die Entwickelung je¬ nes Bewußtſeins in einer voͤlligen Abgeſchloſſenheit von den uͤbrigen Intereſſen des Lebens, ſondern da es letztere als das Princip ihrer fortſchreitenden Veredlung innig durchdringen ſoll, ſo muß es in ſeiner eigenen Ausbildung um ſo groͤßere Hinder¬ niſſe erfahren, je mehr jene Intereſſen in ſinnlicher, geiſtloſer Rohheit und in der Zwietracht der Leidenſchaften von ihrer ur¬ ſpruͤnglichen Bedeutung ausgeartet ſind. Eine große Wahr¬ heit liegt daher in den Worten: ſo wie der Menſch, ſo iſt auch ſein Gott, woraus ſich wohl mit voller Befug¬ niß die Folgerung ableiten laͤßt, daß nicht zwei Menſchen in ihren religioͤſen Begriffen durchaus uͤbereinſtimmen, weil letz¬ tere den hoͤchſten und vergeiſtigſten Ausdruck der ganzen Denk¬ weiſe und Geſinnung darſtellen, und daher den zahlloſen Ab¬ weichungen derſelben von einander unterworfen ſind.

Iſt es alſo wahr, daß die Religion den weſentlichen Beruf des Menſchen, oder das Geſetz offenbart, dem er mit unverbruͤchlichem Gehorſam nachleben muß, wenn er mit ſich in Uebereinſtimmung kommen, und dadurch die unendliche Fuͤlle der ihm verliehenen Kraͤfte zur wirklichen Erſcheinung und raſtlos fortſchreitenden Entwickelung bringen ſoll; ſo liegt3 hierin fuͤr ihn zugleich die ſtaͤrkſte Aufforderung zu einer gruͤnd¬ lichen Erforſchung der Hinderniſſe, welche ſich der Ausbildung ſeines religioͤſen Bewußtſeins entgegenſtellen, und ihn durch eine Verunſtaltung deſſelben in das tiefſte Elend ſtuͤrzen. Die Geſchichte der chriſtlichen Kirche als der großen und allgemei¬ nen Erziehungsanſtalt, in welcher alle Voͤlker fuͤr ihre wahre Beſtimmung ausgebildet werden ſollen, enthuͤllt vor unſerm Blick eine unermeßliche Schilderung der verderblichſten Ver¬ irrungen als nothwendiger Folgen einer entarteten Froͤmmig¬ keit, welche als unerſchoͤpfliche Quelle der Schwaͤrmerei und des Fanatismus laͤngſt das Evangelium, die Urkunde des goͤttlichen Geſetzes, auf der ganzen Erde vertilgt haͤtte, wenn nicht ſeine heilige, ewige Wahrheit immer von neuem in ed¬ leren Gemuͤthern wieder auflebte, um durch ſie ein Zeugniß von ſich zu geben. Große Geſchichtsforſcher, durchdrungen von der Nothwendigkeit, die weſentlichen Urſachen aufzudecken, wel¬ che in Religionskriegen, Inquiſitionen, Hexenproceſſen und zahlloſen anderen Gewaltthaten der Hierarchie unermeßliches Unheil uͤber eine lange Reihe von Jahrhunderten ausſchuͤtte¬ ten, und noch jetzt einer freien Entwickelung des Volkslebens maͤchtig[entgegen] arbeiten, haben den reichſten Schatz prag¬ matiſcher Erkenntniß zu Tage gefoͤrdert, durch welche das hell¬ ſte Licht auf den Urſprung der Schwaͤrmerei und des Fana¬ tismus geworfen wird. Nur einer Art der frommen Verir¬ rungen, naͤmlich dem religioͤſen Wahnſinn, widmeten ſie weni¬ ger ihre Aufmerkſamkeit, weil derſelbe allerdings ein ganz ei¬ genthuͤmliches Studium erheiſcht, zu welchem allein das prak¬ tiſche Wirken der pſychiſchen Aerzte in den Irrenheilanſtalten eine guͤnſtige Gelegenheit darbietet. Jenen Aerzten liegt es daher vorzugsweiſe ob, die Erſcheinungen des religioͤſen Wahn¬ ſinnes einer ſorgfaͤltigen Pruͤfung zu unterwerfen, um Rechen¬ ſchaft von ſeinen Urſachen und Entwickelungsgeſetzen zu ge¬ ben, und dadurch den Beweis zu fuͤhren, daß ſeine gruͤndli¬ che Kenntniß tief in die heiligſten Angelegenheiten der Voͤl¬ ker eingreift.

Es duͤrfte mir ſehr ſchwer, wenn nicht unmoͤglich wer¬ den, dieſen Beweis in gedraͤngter Kuͤrze einleuchtend zu ma¬ chen, da ihm die noch weit verbreiteten Vorurtheile uͤber die1 *4Natur der Geiſteskrankheiten das ſtaͤrkſte Hinderniß entgegen¬ ſtellen. An ſich iſt der Wahnſinn ſchon eine ſo grauenvolle Erſcheinung, daß er faſt wie ein Meduſenhaupt den Blick zu¬ ruͤckſchreckt. Denn unſre tief gegruͤndete Ueberzeugung, daß die Vernunft als der Spiegel Gottes in uns die Urkunde unſ¬ rer Abſtammung von ihm ausſtellt, erzeugt ein wahres Ent¬ ſetzen vor einem Menſchen, deſſen ganze Erſcheinung die Ver¬ nunft als das Geſetz alles Denkens und ſittlichen Handelns verleugnet. Kann irgend Jemand ſo vollſtaͤndig von ſeiner Natur und Beſtimmung abfallen, wer ſteht uns dafuͤr, daß uns nicht daſſelbe Loos betreffen werde? Iſt uͤberhaupt der Beweis gegeben, daß der Menſch den Tod ſeines Geiſtes uͤberleben koͤnne, wo giebt es dann noch eine Buͤrgſchaft fuͤr ſeine Unſterblichkeit? Alle dieſe marternden Vorſtellungen ſind oft genug ausgeſprochen worden, und aus ihnen erklaͤrt ſich hinlaͤnglich die Scheu, mit welcher faſt Jeder es ſorgfaͤltig ver¬ meidet, dem Wahnſinn ſein Nachdenken zu widmen, um nicht ein daͤmoniſches Geſpenſt aus Grabesnacht in ſein Bewußt¬ ſein heraufzubeſchwoͤren, und nicht letzteres dem Hauche des Todes auszuſetzen. Indem man daher der kleinen Schaar der pſychiſchen Aerzte allein die Sorge fuͤr die ungluͤcklichen Geiſteskranken bereitwillig uͤberließ, pflegte man erſtere tief zu beklagen, daß ihr Beruf ſie gleichſam auf einen verlorenen Poſten geſtellt habe, wo ſie im ſteten Kampfe mit den grau¬ ſigſten Schreckniſſen jeder reinen Lebensfreude verluſtig gehen muͤßten. Selbſt den meiſten Irrenaͤrzten blieb der Begriff eines wirklichen Erkranktſeins des Geiſtes, alſo der ſchein¬ baren Gefahr ſeiner weſentlichen Vernichtung ſo unertraͤglich, daß ſie denſelben gaͤnzlich verwarfen, und eine Menge von hypothetiſchen Deutungen erkuͤnſtelten, nach denen der Geiſt bei den Verirrungen und Zerruͤttungen des Bewußtſeins im Wahnſinn unmittelbar gar nicht betheiligt, ſondern dieſelben nur Wirkungen koͤrperlicher Leiden ſein ſollten, welche in Ner¬ venfiebern, Entzuͤndungen, Kraͤmpfen und dgl. oft genug das Irrereden als die dem Wahnſinn zunaͤchſt verwandte Erſchei¬ nung hervorrufen, und nach ihrem Ablauf das geregelte Wir¬ ken der Seele ohne den geringſten Abbruch wieder hervortre¬ ten laſſen. Damit war nun freilich jede Angſt vor einem5 Erkranken des Geiſtes beſchwichtigt, zugleich aber auch jedes Intereſſe zerſtoͤrt, welches tiefere Denker an der Lehre vom Wahnſinn haͤtten nehmen koͤnnen, da dieſelbe als ein Labyrinth willkuͤrlicher und ſubjectiver Anſichten durch deren endloſe Widerſpruͤche jede wiſſenſchaftliche Befriedigung unmoͤg¬ lich machte.

Es wiederholt ſich hier wie uͤberall die Erfahrung, daß die tief verborgene Wahrheit ſich mit unzaͤhligen Hinderniſſen umgiebt, um den forſchenden Geiſt zur hoͤchſten Anſtrengung in Ueberwindung derſelben herauszufordern; denn ſie will aus¬ ſchließlich der Preis eines Muthes ſein, welcher das Leben ſelbſt in die Schanze ſchlaͤgt, um ſeinen Zweck zu erreichen. Alle jene grauſigen Nebenvorſtellungen, welche ſich an den Begriff einer urſpruͤnglichen Geiſteskrankheit knuͤpfen, entſpringen aus einer ganz irrthuͤmlichen Auffaſſung deſſelben, und zerfallen alſo mit ſeiner Berichtigung in ſich ſelbſt. Ich kann mich hier freilich nicht auf eine Kritik jener grundfalſchen Anſicht einlaſſen, welche in allen Krankheiten nur Zerſtoͤrungsproceſſe, alſo Vernichtung der Lebensgeſetze, Aufruhr der Natur ſieht, als ob ſie die Ewige und Unwandelbare je in Zwieſpalt mit ſich gerathen, ihren vollkommenen Werken den Charakter der Nichtigkeit einpraͤgen koͤnne. Nur daruͤber darf ich mir einige Bemerkungen erlauben, daß auch im Wahnſinn das innere und urſpruͤngliche Geſetz der Seele noch in ſeiner ganzen we¬ ſentlichen Bedeutung waltet, daß nach demſelben ihre ſchoͤpfe¬ riſche Kraft raſtlos thaͤtig iſt, und daß ſie nur von einigen nothwendigen Bedingungen ihres Wirkens abweicht, und des¬ halb mit ſich ſelbſt in Widerſpruch geraͤth, deſſen Erſcheinung, weit entfernt einen auf Selbſtzerſtoͤrung hinarbeitenden Geiſt zu verrathen, vielmehr ſein ſtetiges Streben nach unendlicher Entwickelung des Bewußtſeins, wenn auch unter mannigfa¬ cher Hemmung und Verkuͤmmerung zu erkennen giebt. Ich muß mich hier auf einige Andeutungen beſchraͤnken, welche eine unmittelbare Beziehung zu dem Inhalt dieſer Schrift haben.

Das Streben nach dem Unendlichen als der Grundcha¬ rakter des Menſchen offenbart ſich unmittelbar in einer nie zu ſtillenden Sehnſucht, welche ihn nach jeder ſcheinbaren und6 zeitweiligen Befriedigung ſeiner Wuͤnſche raſtlos weiter treibt, und ſelbſt am Grabesrande uͤber die Todesnacht in die Ewig¬ keit ſich hinuͤberſchwingend eben deshalb in ſich die Buͤrgſchaft der Unſterblichkeit traͤgt. Jenes Streben regt ſich um ſo maͤch¬ tiger, je harmoniſcher der Menſch in allen ſeinen Seelenkraͤf¬ ten durchgebildet, je mehr er in ihnen zur hoͤchſten Energie und Selbſtaͤndigkeit erſtarkt iſt, daher die ſatte Befriedigung aller Wuͤnſche als das ſicherſte Kennzeichen eines veroͤdeten, erſchoͤpften, blaſirten Geiſtes anzuſehen iſt. Alle Wuͤnſche entſpringen aus beſtimmten Neigungen, welche dem Menſchen angeboren, ihm den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben, in deren Ermanglung ſie eben die Sehnſucht erzeugen, deren ſcharfer Sporn ihn nicht raſten laͤßt, bis er mit verdoppelter Kraft ihr Ziel erreicht hat. Indem nun ſeinen Wuͤnſchen zahlloſe Hinderniſſe der Außenwelt entgegentreten, iſt ſein Leben ein ſteter Kampf mit denſelben, durch welchen er zu immer hoͤheren Kraftaͤußerungen erſtarken ſoll, in denen wie¬ derum ſeine Neigungen maͤchtiger hervortreten, um das Ziel ſeiner neu erwachenden Sehnſucht weiter hinaus zu ſtecken, ſo daß eben in dieſem ſteten Wechſel von errungener Befriedi¬ gung und den aus ihr mit verſtaͤrkter Kraft auftauchenden Wuͤnſchen der eigentliche Entwickelungsproceß des ins Unend¬ liche fortſchreitenden Seelenlebens enthalten iſt. Dieſer natur¬ gemaͤße Bildungsgang deſſelben ſetzt aber zwei Bedingungen nothwendig voraus, zunaͤchſt eine moͤglichſt große Ausbreitung des objectiven Denkens, naͤmlich der erfahrungsmaͤßigen Er¬ kenntniß von dem Verhaͤltniß des Menſchen zur Außenwelt, widrigenfalls er nicht die Mittel zur Erfuͤllung ſeines Zwecks richtig auswaͤhlen und ergreifen kann, und zweitens ein we¬ nigſtens relatives Gleichgewicht aller Neigungen, dergeſtalt daß ſie insgeſammt den Antrieb zu ihrer Befriedigung geben koͤn¬ nen. Denn herrſcht irgend eine Neigung in einem ſolchen Grade vor, daß ſie in Leidenſchaft entartend die uͤbrigen zu unterdruͤcken ſtrebt, um ihr Intereſſe allein im Bewußtſein geltend zu machen, und ihm daſſelbe als das ausſchließliche Geſetz aller Beſtrebungen vorzuſchreiben; ſo zwingt ſie dadurch den Menſchen, ihr das Opfer aller uͤbrigen Neigungen zu bringen, und dadurch ſeine Wohlfahrt zu Grunde zu richten,7 weil dieſe nur aus der gemeinſamen Pflege aller natuͤrlichen Neigungen oder Triebe entſtehen kann. Man braucht ſich nur die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leidenſchaften, z. B. des Ehrgeizes, der Herrſch - und Habſucht, der uͤbermaͤ¬ ßigen Geſchlechtsliebe u. ſ. w. lebhaft zu vergegenwaͤrtigen, um ſich davon zu uͤberzeugen, daß ſie Geiſt und Gemuͤth despotiſch beherrſchend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬ druͤckung der ihnen widerſtrebenden Neigungen hervorbringen.

In den Leidenſchaften hat ſich daher das Geſammtſtre¬ ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche nun den uͤberſchwenglichen Charakter derſelben am deutlichſten zur Schau traͤgt, waͤhrend bei der ganz naturgemaͤßen Ge¬ muͤthsverfaſſung die im Gleichgewichte ſtehenden Neigungen ſich gegenſeitig beſchraͤnken, maͤßigen, und dadurch ihrem uͤbereil¬ ten Wirken vorbeugen. Alſo indem die Leidenſchaft alle Zuͤgel von ſich wirft, welche die uͤbrigen Gemuͤthsintereſſen ihr an¬ legen ſollten, artet ihr Drang ſogleich ins Maaßloſe aus, ſo daß derſelbe in jeder theilweiſen Befriedigung nur den Zun¬ der zu einer noch groͤßeren Flamme der Begierden findet, etwa wie der Weinerregte immer durſtiger wird, je mehr Wein er trinkt. Nur deshalb, weil die Leidenſchaft ſich noch mit einem hinreichenden Grade von Beſonnenheit oder objectivem Verſtandesgebrauch paart, weil ſie der Nothwendigkeit einer richtigen Berechnung ihres Verhaͤltniſſes zur Außenwelt behufs der Erfuͤllung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erhaͤlt ſie ſich auch im fortwaͤhrenden Zuſammenhange mit derſelben; der von ihr Beherrſchte iſt noch ein Buͤrger der wirklichen Welt, ihren Geſetzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬ tretung ihn ins Verderben ſtuͤrzen muß. Ja er erkennt es, daß der praktiſche Verſtandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬ tel iſt, ſeine Zwecke in weiteſter Ausdehnung zu erfuͤllen, da¬ her denn die aͤchte Leidenſchaft ſich mit einem hohen Grade von Weltklugheit paart, und in der Geiſtesbildung eine große Mei¬ ſterſchaft erreichen wuͤrde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke im abſoluten Gegenſatze mit den Vernunftbegriffen ſtaͤnden, dadurch dem geſammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬ ſpruch einimpften, welcher ſelbſt von der dialektiſchen Virtuoſitaͤt der leidenſchaftlichen Sophiſtik nicht ganz verdeckt werden kann.

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So lange die Leidenſchaft noch irgend eine Moͤglichkeit zur Erreichung ihrer Zwecke vor ſich ſieht, arbeitet ſie auch gewiß auf dieſelbe hin, und ſchaͤrft daher den Verſtandesge¬ brauch, um nicht in den Mitteln fehl zu greifen. Sobald ſie aber zu einem ſolchen Grade der Entwickelung gediehen iſt, daß ihre Sehnſucht gar keine Befriedigung in der Wirklichkeit mehr finden kann, muß ſie auch in ihrem ganzen Wirken ei¬ nen voͤllig veraͤnderten Charakter annehmen. Sie ſollte ſich freilich maͤßigen, wenn ſie des abſoluten Widerſpruchs zwiſchen ihrer Sehnſucht und der Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung inne wird; aber eben als despotiſch herrſchendes Verlangen kennt ſie keine Grenzen ihres Strebens mehr, dem die unterdruͤckten uͤbrigen Neigungen keinen Einhalt thun koͤnnen. Sie ſtrebt alſo raſt¬ los weiter, und wendet ſich von der Wirklichkeit ab, in wel¬ cher ſie keinen Raum mehr findet, d. h. ſie muß aus dem Be¬ wußtſein alle Vorſtellungen verbannen, durch welche ſie an die wirkliche Welt erinnert wird, mit welcher ſie entſchieden gebrochen hat. Bliebe nun das Bewußtſein nach Vertilgung der objectiven Vorſtellungen von der wirklichen Welt eine in¬ haltsleere Oede, ſo wuͤrde die ungeſtillte Sehnſucht in dum¬ pfen Gefuͤhlen ſich abquaͤlen muͤſſen, welches mit dem raſtloſen Streben des Geiſtes nach beſtimmter Auspraͤgung und Geſtal¬ tung aller ſeiner Regungen durchaus unvereinbar iſt. Nach¬ dem alſo die unbefriedigte Leidenſchaft im Bewußtſein die wirkliche Welt in Truͤmmer zerſchlagen hat, muß ſie in dem¬ ſelben eine neue erſchaffen, deren Geſetz eben ihr Intereſſe iſt, welches ſie in den rieſenhaften Bildern einer gluͤhenden Phan¬ taſie ſich vergegenwaͤrtigt, und mit den Trugbegriffen eines irregeleiteten Verſtandes vor ſich zu rechtfertigen ſucht. Gleich¬ wie jede Dichtung nicht mit uranfaͤnglicher Schoͤpfungskraft ganz neue Elemente der Dinge hervorbringen, ſondern ſie nur zu einem idealen Gebilde zuſammenſetzen kann; eben ſo muß die von der unbefriedigten Leidenſchaft neugeborene Welt, ob¬ gleich mit der Wirklichkeit uͤberall im grellſten Widerſtreit, doch von ihr den Bildungsſtoff entlehnen, den ſie nur nach ganz anderen Geſetzen und Verhaͤltniſſen zu neuen Formen geſtaltet. Dies iſt der weſentliche Urſprung des Wahnſinns, welcher frei¬ lich in ſo tauſendfaͤltigen Verſchiedenheiten auftritt, daß ich9 hier auch nicht im Entfernteſten die Bedingungen aufzaͤhlen kann, durch welche die Eigenthuͤmlichkeit ſeiner verſchiedenen Arten hervorgerufen wird. Eben ſo muß ich es mir auch ver¬ ſagen, die pathologiſchen Bildungsgeſetze naͤher zu eroͤrtern, nach welchen im Wahnſinn alle Vorſtellungen von den ſinn¬ lichen Anſchauungen bis hinauf zu den Vernunftbegriffen auf die eigenthuͤmlichſte Weiſe umgeſtaltet werden, woraus ſich das charakteriſtiſche Gepraͤge des irren Bewußtſeins leicht erklaͤren laͤßt. Nur einer der auffallendſten Erſcheinungen des Wahn¬ ſinns erlaube ich mir beſonders zu gedenken, naͤmlich der Sin¬ nestaͤuſchungen, durch welche den Geiſteskranken Bilder von nicht vorhandenen Gegenſtaͤnden, mit derſelben Klarheit, Deut¬ lichkeit, Lebendigkeit und Staͤrke vorgeſpiegelt werden, als wenn ſich ihrer Anſchauung wirklich gegenwaͤrtige Dinge dar¬ boͤten. Dieſe Sinnestaͤuſchungen, welche Viſionen heißen, wenn ſie den Sinn des Geſichts betreffen, ſtellen meiſtentheils die Objecte der herrſchenden Leidenſchaft dar, namentlich ſchweben dem religioͤſen Schwaͤrmer oft Geſtalten vor Augen, welche er fuͤr die Perſon Gottes, des Heilandes, des heiligen Geiſtes, fuͤr Engel und Schaaren ſeeliger Geiſter, umgeben von der Herrlichkeit des Paradieſes haͤlt, oder er erblickt den Teufel unter allen jenen fuͤrchterlichen Bildern, welche der Aberglaube ihm andichtet, die Hoͤlle mit ihren Flammen und den Quaalen der Verdammten. Faſt noch haͤufiger hoͤrt der fromme Wahn¬ ſinnige Stimmen, welche ihm die Gebote, Strafen, Beloh¬ nungen, Verheißungen Gottes zurufen, oder welche ihm aus der Hoͤlle als Hohngelaͤchter des Teufels, als Gotteslaͤſterun¬ gen, als die Donnerworte ewiger Verdammniß u. ſ. w. zu kommen ſcheinen. Ohne die Mannigfaltigkeit dieſer Erſchei¬ nungen aufzuzaͤhlen, begnuͤge ich mich zu ihrer Erklaͤrung die Bemerkung hinzuzufuͤgen, daß der herrſchende Grundgedanke von der innen gluͤhenden Leidenſchaft gleichſam nach außen bildlich projectirt wird, welches wir uns am leichteſten, durch das Spiel einer Zauberlaterne verſinnlichen koͤnnen, welche aus ih¬ rem Innern ein Bild mit ſolcher Lebendigkeit auf rauchige Duͤnſte im Zimmer wirft, daß daſſelbe ſich zu einer wirklichen Koͤrpergeſtalt objectivirt, und dadurch den Unkundigen in Stau¬ nen verſetzt, da er deſſen taͤuſchende Urſache nicht ahnt. Gleich10 dem unwiſſenden Zuſchauer jener magiſchen Gaukelei iſt der Wahnſinnige, welcher den Mechanismus des ihn bethoͤrenden Blendwerks der Phantaſie nicht kennt, voͤllig von der Wirk¬ lichkeit der aus ſeinem Innern nach außen reflectirten Trug¬ bilder uͤberzeugt, und er wird durch ſie ganz in dieſelben Ge¬ muͤthsbewegungen verſetzt, wie wenn ſie Erſcheinungen wirkli¬ cher Weſen waͤren.

Iſt alſo der Wahnſinn in ſeiner weiteſten Bedeutung der Untergang des Bewußtſeins der wirklichen Welt in einer unendli¬ chen Sehnſucht, welche ſich eine neue Welt in Bildern und Be¬ griffen erſchafft, in denen ſie ſich zu befriedigen ſtrebt; ſo er¬ hellt daraus ſchon, daß durch ihn die geſammte Seelenthaͤtig¬ keit ſowohl in Bezug auf die Vorſtellungen als Willensan¬ triebe in die hoͤchſte Spannung verſetzt wird, welche ſomit den unmittelbaren Gegenſatz zu jener irrthuͤmlichen Anſicht von einem paſſiven Verhalten der Seele waͤhrend des erſteren aus¬ ſpricht. Oft freilich ſind die Mißverhaͤltniſſe, in welche der Geiſt durch ſein gaͤnzliches Losreißen von ſeinen bisherigen durch die Wirklichkeit bedingten Vorſtellungen verſetzt wird, zu groß, als daß er ſich unter den Truͤmmern der in ſeinem Be¬ wußtſein zuſammengeſtuͤrzten Weltordnung zurecht finden koͤnnte. Denn brauchte ſein natuͤrlicher Entwickelungsgang ſchon eine lange Reihe von Jahren, um aus einzelnen Anſchauungen, Erfahrungen und objectiven Begriffen ein Bild des Weltgan¬ zen in ſich zuſammenzuſetzen, deſſen Bewußtſein die Grund¬ lage ſeines fortſchreitenden Denkens und Handelns ausmacht: woher ſoll er nun in aller Eile, nachdem Alles fuͤr ihn un¬ wahr, widerſinnig geworden, ja in ein Chaos zerfallen iſt, den Stoff zu einer neuen Welt hernehmen? Indeß wenn auch viele Wahnſinnige an ihrem bisherigen Leben ſo vollſtaͤndig irre werden, daß ſie nur in faſelnder, ſinnloſer Rede noch ihre Verlegenheit und Unbeholfenheit ausſprechen koͤnnen, welche nothwendig, aus einer ſo gaͤnzlichen Verwuͤſtung ihrer Denk¬ weiſe entſpringen muß; ſo arbeiten doch die meiſten ſo unab¬ laͤſſig und angeſtrengt an einer Reorganiſation ihres Bewußt¬ ſeins, natuͤrlich im Sinne der ſie beherrſchenden maaßloſen Sehnſucht, daß ſie dabei oft eine logiſch dialektiſche Meiſter¬ ſchaft, ein bis zum wahren Dichtertalent geſteigertes Wirken11 der Phantaſie beurkunden, und mit Huͤlfe beider ein Zauber¬ reich von Vorſtellungen hervorrufen, deſſen kuͤhnen Verhaͤlt¬ niſſen, großartiger Bedeutung, ja idealer Verklaͤrung man ſeine Bewunderung nicht verſagen kann. Ja es ereignet ſich zu¬ weilen, daß Perſonen, deren Geiſt in fruͤherer Lebensbeſchraͤn¬ kung es nur bis zu einer duͤrftigen Entwickelung bringen konnte, im Wahn die Feſſeln derſelben abſchuͤtteln, und in ſchwunghafte Thaͤtigkeit verſetzt, mit einer Fuͤlle der großar¬ tigſten Vorſtellungen uͤberraſchen.

Gewiß, es eroͤffnet ſich auf dieſem Standpunkte der Be¬ trachtung die Ausſicht auf ein ganz unermeßliches Gebiet der pſychologiſchen Forſchung, wo unzaͤhlige Probleme von der wich¬ tigſten Bedeutung ſich an einander reihen, und weit entfernt, daß der Wahnſinn das troſtloſe Bild eines ſich ſelbſt vernich¬ tenden Geiſtes gewaͤhren ſollte, beurkundet er vielmehr das durch Nichts zu verwuͤſtende ſchoͤpferiſche Vermoͤgen deſſelben, immer aufs Neue Welten von Vorſtellungen aus ſich zu er¬ zeugen, nachdem die fruͤheren in ſich zerfallen ſind. Erwaͤgt man nun noch, daß der Urſprung des Wahns aus dem fruͤ¬ heren Leben die innerſten Entwickelungsvorgaͤnge, den weſent¬ lich urſachlichen Zuſammenhang ſeiner auf einander folgenden Zuſtaͤnde aufdeckt, und dadurch das geheime Werden und Wach¬ ſen der in den tiefſten Grund der Seele gelegten Keime, alſo ihr innerſtes und urſpruͤnglichſtes Leben zur unmittelbaren An¬ ſchauung bringt, aus welcher ſodann auch die Bedingungen der Heilung klar werden muͤſſen; ſo begreift es ſich leicht, daß dem Menſchenforſcher gerade im Gebiete der Geiſteskrankheiten der tiefſte Schacht der Erkenntniß eroͤffnet wird, deſſen Reich¬ thum ſich noch gar nicht ahnen laͤßt.

Wir duͤrfen bei dieſen Betrachtungen nicht laͤnger verweilen, da ſie nur dazu dienen ſollten, die hochwichtige Bedeutung des religioͤſen Wahns etwas naͤher zu bezeichnen, um ihm ein allgemeineres Intereſſe zuzuwenden. Iſt derſelbe naͤmlich im Sinne des bisher Geſagten nichts Anderes, als die Wirkung einer ſo grenzenloſen Sehnſucht nach dem Goͤttlichen, daß die¬ ſelbe jede andere Neigung ſich unterordnet, oder geradezu un¬ terdruͤckt, ſo ſtellt er ſich deshalb als eine der großartigſten und maͤchtigſten Erſcheinungen des Lebens dar. Denn zuvoͤr¬12 derſt verkuͤndet er mit furchtbarem Ernſte die ſtrenge Wahrheit, daß der Menſch auch in ſeinem heiligſten Intereſſe Maaß halten ſoll, daß er ungeachtet der Ueberſchwenglichkeit ſeines Weſens an einen allmaͤhlig fortſchreitenden Entwickelungsgang gebunden iſt, den er nicht im eigenmaͤchtigen Ungeſtuͤm uͤber¬ ſpringen darf, und daß er ſich daher das gemeſſene Walten der Natur zum Muſter nehmen muß, welche ihre Welten er¬ zeugende Schoͤpferkraft nie aus den Schranken des Geſetzes heraustreten laͤßt, und gerade ihre Vollkommenheit in der un¬ bedingteſten Uebereinſtimmung mit ſich ſelbſt offenbart. Frei¬ lich predigen Schwaͤrmerei und Fanatismus ganz dieſelbe Lehre, und ihr Reich breitet ſich ſo weit uͤber die Erde aus, daß man die Verirrungen des religioͤſen Bewußtſeins nicht erſt in Ir¬ renhaͤuſern aufzuſuchen braucht. Aber letztere bieten doch den unſchaͤtzbaren Vortheil dar, daß in ihnen die wiſſenſchaftliche Forſchung ſich mannigfacher wichtiger Huͤlfsmittel bedienen kann, welche das oͤffentliche Leben ihr ſchlechthin verweigert. Denn wer darf ſich in den buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen unterſtehen, diejenigen zur ſtrengen Rechenſchaft uͤber die geheime Geſchichte ihrer Gedanken und Gefuͤhle zu ziehen, welche durch auffal¬ lende Oſtentation ihrer Froͤmmigkeit die allgemeine Aufmerk¬ ſamkeit auf ſich ziehen? Wie oft ſchwangt daher das Urtheil der beſten Beobachter, ob das Gepraͤge des religioͤſen Eifers aͤcht, oder ob es ein Blendwerk ſei, hinter welchem die Heu¬ chelei ganz andere Motive oft ſo geſchickt verbirgt, daß die Entlarvung des Betruges entweder voͤllig mißlingt, oder nur zum Theil bewirkt werden kann. Selbſt wenn uͤber die Lau¬ terkeit der Geſinnung kein Zweifel entſtehen kann, bleibt doch ihre ganze Erſcheinungsweiſe zuweilen raͤthſelhaft, da ſich in ihr Gewebe ſo manche fremdartige Faͤden heimlich hineinflech¬ ten, deren Urſprung man nicht kennt. Daher muß der Beobach¬ ter Vieles hinzudenken und interpretiren, und ſeine Auffaſſung merkwuͤrdiger Charaktere iſt oft in einem ſo hohen Grade ſub¬ jectiv gehalten, daß ſich daraus die zahlloſen Widerſpruͤche un¬ ter den verſchiedenen Geſchichtsforſchern zur Genuͤge erklaͤren. Die pſychiſchen Aerzte koͤnnen dieſe Klippe wenigſtens großen¬ theils vermeiden, da ihnen die beſte Gelegenheit zu Gebote ſteht, das fruͤhere und gegenwaͤrtige Leben der Geiſteskranken13 ſorgfaͤltig zu erforſchen, und die weſentlichen Thatſachen aus¬ zumitteln, deren organiſche Verbindung den urſpruͤnglichen Ent¬ wickelungsproceß des Wahnſinns zur unmittelbaren Darſtellung bringt. Sie duͤrfen ſich freilich noch keiner fehlerfreien Me¬ thode der Beobachtung ruͤhmen, welche jede Moͤglichkeit der ſubjectiven Taͤuſchung ausſchloͤſſe; iſt indeß nur erſt der An¬ fang damit gemacht, und dadurch wenigſtens in einzelnen Faͤl¬ len der Beweis gefuͤhrt worden, daß im Wahnſinn die inner¬ ſte Seelenverfaſſung zur aͤußeren, objectiv erkennbaren Erſchei¬ nung gelangt, ſo wird das dadurch eroberte neue Gebiet der Wiſſenſchaft ſeine hochwichtige Bedeutung ſchon von ſelbſt gel¬ tend machen.

Einen vorzuͤglichen Werth erlangt der Wahnſinn als hoͤch¬ ſte Entwickelungsſtufe der Leidenſchaften auch dadurch, daß er ihre weſentliche Beſchaffenheit und ihre pſychologiſchen Verhaͤlt¬ niſſe im allergroͤßten Maaßſtabe zur Anſchauung bringt, und dadurch ihre Erkenntniß ungemein erleichtert. Dieſer Vortheil muß unſtreitig ſehr hoch angeſchlagen werden, da die Leiden¬ ſchaften wegen ihres verſteckten, hinterliſtigen Charakters mit Recht uͤbel beruͤchtigt ſind, und eben deshalb einer gruͤndli¬ chen Forſchung ſich bisher ſo ſehr entzogen haben, daß uͤber ſie noch die willkuͤrlichſten Anſichten herrſchen, deren Wider¬ ſtreit bisher durch keine aͤcht wiſſenſchaftliche Darſtellung aus¬ geglichen werden konnte. Denn jede Leidenſchaft ſtrebt ihre uͤberſchwenglichen Zwecke auf Koſten aller uͤbrigen Intereſſen zu erreichen, und ſie geraͤth dadurch in einen unvermeidlichen Kampf mit Allen, deren Wohlfahrt ſie feindlich entgegentritt. Leidenſchaftliche Menſchen bemuͤhen ſich daher, ihren wahren Charakter ſorgfaͤltig hinter einer erkuͤnſtelten Geſinnung zu ver¬ bergen, um der Gegenwirkung Anderer moͤglichſt auszuweichen, und ihre ganze zur Schau getragene Denk - und Handlungs¬ weiſe wird dadurch zu einem Luͤgengewebe, in welchem das Aechte vom Falſchen zu unterſcheiden oft dem ſcharfſinnigſten Menſchenkenner nicht gelingt. Je groͤßer die hieraus unver¬ meidlich entſpringenden Irrungen ſind, weil ein Jahr¬ hundert, ein Volk, ja jedes Individuum den uͤbrigen mehr oder weniger zum Raͤthſel wird, um ſo willkommener muß uns die Gelegenheit ſein, tiefe Blicke in die Geheimniſſe der14 Menſchenbruſt zu werfen, und die wahre Bedeutung der in ihnen waltenden Vorgaͤnge zu erkennen. Eine ſolche Gelegen¬ heit bietet uns der Wahnſinn dar, welcher den Schleier der wahren Geſinnung luͤftend, ſie noch dazu in ſo ſtarken Zuͤ¬ gen hervortreten laͤßt, daß ihr weſentlicher Charakter nicht laͤn¬ ger zweifelhaft bleiben kann. Denn der Geiſteskranke, wel¬ cher mit der Flucht aus dem wirklichen Leben auch die Mo¬ tive der in ihr herrſchenden Verſtellung vergeſſen hat, und ſich in eine Traumwelt verſetzt, wo kein aͤußerer Zwang ſeinem maͤchtigen Gefuͤhlsdrange angethan wird, giebt daher denſelben auch in den unzweideutigſten Aeußerungen durch Wort, That und Betragen vollſtaͤndig kund; er ſpricht Alles aus, was in ihm vorgeht, ſein Hoffen und Fuͤrchten, ſein Lieben und Haſ¬ ſen, ſein Denken und Begehren, daher es nur der aufmerk¬ ſamen Beobachtung bedarf, um den Schluͤſſel zu allen Er¬ ſcheinungen zu finden. Zwar wirken auch auf ihn haͤufig ge¬ nug Beweggruͤnde zur Verſtellung, wohin namentlich ſeine Verſetzung in eine Irrenanſtalt zu rechnen iſt, uͤber deren Zweck, in ſofern er dadurch zu einer Sinnesaͤnderung bewogen wer¬ den ſoll, er meiſtentheils bald genug hinreichend ins Klare kommt, um den ihn beherrſchenden Wahn moͤglichſt zu ver¬ hehlen, und eine ſcheinbare Beſonnenheit zu affectiren, mit welcher er das Recht der Entlaſſung aus der Heilanſtalt gel¬ tend zu machen ſucht. Wer indeß nur einigermaaßen mit den Eigenthuͤmlichkeiten der Geiſteskrankheiten durch laͤngere auf¬ merkſame Beobachtung ſich vertraut gemacht hat, durchſchaut dieſe Verſtellung gewoͤhnlich bald, und weiß den Wahnſinni¬ gen zu beſtimmen, ſeine eigentliche Denkweiſe hervortreten zu laſſen.

Die Anwendung dieſer Bemerkungen auf den frommen Wahn laͤßt uns die hohe Wichtigkeit ſeines Studiums fuͤr die richtige Beurtheilung unſrer heiligſten Angelegenheiten deutlich erkennen. Jede Epoche allgemein verbreiteter religioͤſer Aufre¬ gung muß als eine hoͤhere Entwickelungsſtufe des Volksthums angeſehen werden, welches in ſeiner durch fortſchreitende Civi¬ liſation erweiterten Lebensanſchauung zu dem Bewußtſein der Nothwendigkeit ihrer tieferen Begruͤndung durch eine gelaͤuterte und veredelte religioͤſe Denkweiſe zu gelangen ſtrebt. Denn15 es giebt keinen verderblicheren Widerſpruch in der innerſten Grundlage des Volkslebens, als wenn letzteres in allen uͤbri¬ gen Angelegenheiten eine groͤßere Ausbildung gewonnen hat, aber mit ſeinen Glaubensformen auf der Stufe fruͤherer Jahrhun¬ derte ſtehen geblieben iſt, zu deren Zeit dieſelben im voͤllig¬ ſten Einklange mit einer auf die rohen Anfaͤnge beſchraͤnkten Cultur ſtanden, deren geringe Beduͤrfniſſe in ſchlichteren ſocia¬ len Verhaͤltniſſen auch in einem wenig entwickelten religioͤſen Bewußtſein volle Befriedigung finden konnten. Soll die Re¬ ligion zur Wahrheit werden, ſo ſetzt dies nothwendig voraus, daß ſie als hoͤchſtes Lebensprincip alle menſchlichen Angelegen¬ heiten innig durchdringe, daß ſie in der Wiſſenſchaft, der Kunſt und den praktiſchen Verhaͤltniſſen, als den nothwendigen Ele¬ menten menſchlichen Strebens und Wirkens die Widerſpruͤche mit dem goͤttlichen Geſetz im unvermeidlichen Kampfe zuletzt uͤberwinde. Eine Religion, welche in beharrlich feſtgehaltenen Formeln abgeſchloſſen, nicht in ſich mehr jenes ſchoͤpferiſche Vermoͤgen findet, mit welchem ſie ſich, unbeſchadet ihrer goͤtt¬ lichen Wahrheit zu immer freieren Begriffen geſtalten, und in ungehinderter Entwickelung derſelben das raſtloſe Fortſchreiten aller menſchlichen Beſtrebungen einholen, ja uͤberfluͤgeln kann, eine ſolche Religion muß eine Kirche außerhalb der wirklichen Welt ſtiften, und ihren maͤchtigen Einfluß auf die hoͤchſte Ver¬ edlung des Lebens um ſo gewiſſer einbuͤßen, je mehr letzteres durch den rieſenhaften Wetteifer zahlloſer Intereſſen ein Kampf¬ platz titaniſcher Kraͤfte geworden iſt.

Wenn nun ein Volk daruͤber zur Erkenntniß gelangt iſt, daß es die verſaͤumte Entwickelung ſeines religioͤſen Bewußt¬ ſeins nachholen muͤſſe, um daſſelbe in wahrhafte Uebereinſtim¬ mung mit ſeinen maͤchtigen Fortſchritten in allen uͤbrigen Cul¬ turzweigen zu bringen; ſo beurkundet es dadurch eben ſo ge¬ wiß ſeine voͤllige Reife fuͤr eine veredelte und vervollkommnete Freiheit ſeines Geſammtlebens, ſeine Erhebung zu einer hoͤ¬ heren Stufe der welthiſtoriſchen Bedeutung, als es durch das Gegentheil unfehlbar in die geiſtloſe Rohheit grob materieller Intereſſen verſinkt; und unter ihrer despotiſchen Alleinherrſchaft immer groͤßeren Abbruch an ſeinen geiſtig ſittlichen Guͤtern er¬ leidet, bis es des wahren Lebensprincips voͤllig beraubt, in16 ſich zu Grunde gehen muß. Aber das hiſtoriſche Recht, kraft deſſen die ausgelebten Glaubensformeln ſich behaupten, ſetzt der freien Entwickelung des religioͤſen Bewußtſeins ein ſchwer zu uͤberwindendes Hinderniß entgegen, und ein heftiger Kampf entbrennt zwiſchen den Partheien des Stabilismus und des Fortſchritts, deren jede ihr heiligſtes Intereſſe durch die Geg¬ ner mit Vernichtung bedroht ſieht. Daß in dieſem Kampfe um die hoͤchſten und theuerſten Guͤter die Leidenſchaften den aͤußerſten Grad der Heftigkeit erreichen, und oft genug den zerſtoͤrendſten Charakter annehmen, lehrt nicht nur die Geſchichte aller Zeiten und Voͤlker, ſondern liegt auch in der Natur der Sache, da es ſich hierbei um nichts Geringeres handelt, als um das Geltendmachen der urſpruͤnglichen Grundſaͤtze, in wel¬ chen das Leben nach allen ſeinen Beziehungen gedacht und ge¬ ſtaltet werden ſoll. In dieſem Sinne erlangen daher auch die religioͤſen Leidenſchaften eine edlere Bedeutung, da nur in dem Zuſammenſtoß der ſchroffſten Gegenſaͤtze die Gemuͤthskraͤfte zu ihrer hoͤchſten Energie ſich ſteigern, und ſomit ein wirklich ſchoͤpferiſches Vermoͤgen gewinnen koͤnnen, um eine neue Ord¬ nung der Dinge hervorzurufen und zu begruͤnden, waͤhrend die laue, ja indifferente Geſinnung, welche nur mit den Gegen¬ ſaͤtzen ein loſes Spiel treibt, deſſelben bald uͤberdruͤſſig wird, da aus ihm nichts Bleibendes hervorgehen kann. Je mehr alſo die Geiſter auf einander platzen, je heißer der Kampf zwiſchen den Partheien entbrennt, um ſo mehr legen ſie das Zeugniß ihres heiligen Ernſtes ab, und wenn es ihnen auch nicht immer beſchieden iſt, die Fruͤchte davon zu ernten, ſo hatten ſie doch wenigſtens auf dem nothwendigen Entwicke¬ lungsgange der Menſchheit eine hoͤhere Stufe erreicht, welche den Weg zu weiteren Fortſchritten bezeichnet.

Indeß wenn auch dieſe welthiſtoriſche Bedeutung der Glaubensſtreitigkeiten Troſt gewaͤhren kann fuͤr die durch re¬ ligioͤſe Leidenſchaften angerichteten Verwuͤſtungen menſchlicher Wohlfahrt, ſo muͤſſen doch letztere den entſetzlichſten Schickſa¬ len beigemeſſen werden, von denen unſer Erdenloos betroffen werden kann. Nur die Ueberzeugung, daß die edelſten Ideen zuletzt immer ſiegreich aus allen Verheerungen des Fanatismus hervorgehen, und daß letzterer ein nothwendiges Element im17 Bildungsgange des Menſchengeſchlechts war, kann den Muth einfloͤßen, die Schrecken ſeiner Herrſchaft kaltbluͤtig mit dem Auge des wiſſenſchaftlichen Forſchers zu betrachten. Endlich aber hat derſelbe Blut genug vergoſſen, und den freien Ent¬ wickelungstrieb hochherziger Voͤlker, vor allen der Spanier, lange genug darniedergehalten. Soll unſre Zeit ihren reformatori¬ ſchen Charakter im edelſten Sinne bewaͤhren, nicht ihren ho¬ hen Beruf dadurch herabwuͤrdigen, daß ſie fuͤr die Herrſchaft engherziger Intereſſen ſtreitet; ſo iſt dazu vor Allem erforder¬ lich, daß ſie den Sieg der Religion erringt, indem ſie Frie¬ den unter den entzweiten Beſtrebungen der Voͤlker ſtiftet, daß ſie nicht mehr die frommen Leidenſchaften als treuloſe Bun¬ desgenoſſen zu Huͤlfe ruft, um ihre großartigen Zwecke zu er¬ reichen. Wollte man den zelotiſchen Eiferern Glauben beimeſ¬ ſen, ſo waͤre die religioͤſe Wiedergeburt eines in Selbſtſucht und Materialismus geiſtig erſtorbenen Volks nur von der Fa¬ natiſirung deſſelben zu hoffen, daher denn erſtere ein kuͤnſtlich organiſirtes Syſtem von Huͤlfsmitteln erſonnen haben, um durch Stiftung ſchwaͤrmeriſcher Secten, durch Befoͤrderung des My¬ ſticismus in pietiſtiſchen Conventikeln, in der Verbreitung einer Fluth von vernunftbethoͤrenden Traktaͤtlein, durch Verketzerung der Glaubens - und Gewiſſensfreiheit im Bunde mit der Wiſ¬ ſenſchaft, ja durch Erregung wirklicher Epidemieen ſchwindel¬ hafter Schwaͤrmerei die tiefſte Finſterniß uͤber alle Geiſter aus¬ zugießen, weil in derſelben nach ihrer Ueberzeugung die Reli¬ gion allein ihr Gedeihen finden kann. Aber gleichwie das Son¬ nenlicht (einige unbedeutende Ausnahmen abgerechnet) ein ab¬ ſolut nothwendiges Lebens-Element aller organiſchen Geſchoͤpfe iſt, welche dem heilſamen Einfluſſe deſſelben entzogen zu Mi߬ geſtalten entarten; eben ſo muß auch das Licht der Vernunft als die unerlaͤßliche Bedingung der geiſtigen Entwickelung an¬ geſehen werden, welche derſelben beraubt nur noch Monſtro¬ ſitaͤten des Charakters erzeugen kann. In einem thatkraͤftigen, geſinnungstuͤchtigen Volke wird der religioͤſe Obſcurantismus ſeine verderblichen Wirkungen nur in einem beſchraͤnkten Maaße hervorbringen koͤnnen, daher letztere dann leicht der Beobach¬ tung ſich entziehen. Bemaͤchtigt ſich derſelbe aber ſchwacher Gemuͤther, denen jede Faͤhigkeit der freien SelbſtbeſtimmungIdeler uͤber d. rel. Wahnſinn. 218mangelt, mit welcher ſie ſich einer ihnen gegebenen verderb¬ lichen Richtung eigenmaͤchtig entreißen koͤnnten; dann bringt er jene gaͤnzliche Verdumpfung des religioͤſen Bewußtſeins her¬ vor, welche eben ſo leicht einerſeits in zerſtoͤrende Leidenſchaf¬ ten umſchlagen, als andrerſeits einen voͤlligen Geiſtestod zur Folge haben kann. Da die Religion die hoͤchſte Vergeiſtigung des Menſchen zu ihrem weſentlichſten Zwecke hat, ſo verlieren ihre Lehren voͤllig ihre urſpruͤngliche Bedeutung, wenn ſie die¬ ſem Zwecke geradezu entgegenarbeiten, und weit entfernt, noch das Entwickelungsprincip der Seele darzuſtellen, beguͤnſtigen ſie ein uͤppiges Wuchern ſinnlicher Begierden und ſelbſtſuͤchtiger Leidenſchaften, welche die Erfahrung noch immer als unzer¬ trennliche Begleiter des Obſcurantismus kennen gelehrt hat. Wollen wir auch nicht das Zeugniß der Kirchengeſchichte auf¬ rufen, ſo brauchen wir nur an die Tagesblaͤtter der Gegen¬ wart zu erinnern, welche unzaͤhlige Male die grauſenerregen¬ den Folgen eines irre geleiteten frommen Eifers in den man¬ nigfachſten Thatſachen geſchildert, und dadurch einen Schatten auf die heilverkuͤndende religioͤſe Aufregung unſrer Tage ge¬ worfen haben.

Nun ſind auch die pſychiſchen Aerzte weſentlich dabei be¬ theiligt, die eigentlichen Bedingungen zu erforſchen, unter de¬ nen jene beklagenswerthen Verirrungen zu Tage kamen. Denn es genuͤgt dabei keineswegs, einzelne Urſachen derſelben her¬ vorzuheben, z. B. den myſtiſch zelotiſchen Charakter der all¬ zuſehr gehaͤuften Andachtsuͤbungen, die Verſaͤumniß ſtrenger Pflichterfuͤllung in einem bequem beſchaulichen Leben, die Er¬ ſchlaffung des Charakters in Ueppigkeit, weil das unertraͤgliche Gefuͤhl der Blaſirtheit den ſtaͤrkſten Antrieb zu einem ſchwaͤr¬ meriſchen Rauſche froͤmmelnder Einbildungskraft geben kann, oder andrerſeits das Erlahmen aller Gemuͤthskraͤfte unter dem fortdauernden Druck ſchwerer Leiden und harter Entbehrungen, die Verzweiflung eines ſchuldbeladenen, oder die grundloſe Selbſt¬ peinigung eines allzu zarten Gewiſſens, Ueberbildung oder Rohheit des Geiſtes u. ſ. w. Die Kenntniß dieſer und un¬ zaͤhliger anderer Urſachen der religioͤſen Verirrungen erklaͤrt noch keinesweges vollſtaͤndig ihren wahren Urſprung, weil die¬ ſer in der Regel ein Zuſammentreffen vielfacher unguͤnſtiger19 Bedingungen vorausſetzt, und dabei an eigenthuͤmliche Entwicke¬ lungsgeſetze gebunden iſt, welche bei der ſorgfaͤltigen Erforſchung der Geiſteskrankheiten am deutlichſten hervortreten. Ja es kommt da¬ bei oft weit weniger auf grell in die Augen ſpringende Thatſa¬ chen, ſondern haͤufig weit mehr auf ein leiſes Zuſammenwir¬ ken von Einfluͤſſen an, welche ihres geringfuͤgigen Anſcheins wegen nicht beachtet werden, obgleich gerade ſie durch ihr be¬ harrlich fortgeſetztes Wirken dem Gemuͤth eine durchaus falſche Richtung geben, in welcher es unmerklich von einer klaren Be¬ ſonnenheit zu einer gaͤnzlichen Verblendung und Selbſtbethoͤ¬ rung abgeleitet, und dadurch ins Verderben geſtuͤrzt werden kann. Im geiſtigen Leben iſt Nichts unbedeutend, ſondern das Groͤßte kann aus dem Kleinſten entſpringen, wenn Gleiches ſich zu Gleichem geſellt, ſo wie die Lawine aus einem Haͤuf¬ lein Schnee entſteht, welches von einem Felſen herabrollend immer neue Schneemaſſen an ſich zieht, und dadurch zur un¬ geheuerſten Wucht anwaͤchſt, welche mit zermalmender Gewalt in die Tiefe ſtuͤrzt.

Mit einem Worte, wir beduͤrfen einer pſychologiſchen Ent¬ wickelungsgeſchichte der religioͤſen Verirrungen, wenn wir eine richtige Einſicht erlangen ſollen, auf welche allein wirkſame Weiſe die Quellen derſelben verſtopft werden ſollen. Um aber die Elemente einer ſolchen Entwickelungsgeſchichte auffinden zu koͤnnen, muß man ſie in vielen einzelnen Faͤllen ſorgfaͤltig ſtudirt haben, um einen Begriff von dem inneren organi¬ ſchen Zuſammenhange zu bekommen, in welchem die verſchie¬ denen Thatſachen ſich an einander reihen. Denn die weſent¬ liche Bedeutung der letzteren kann nur in ihrer wiſſenſchaft¬ lichen Verbindung aufgefunden werden, dagegen ihre verein¬ zelte Betrachtung zu den verkehrteſten Urtheilen verleitet. Wie wahr dies ſei, davon kann man ſich leicht aus den voͤllig wi¬ derſprechenden Anſichten uͤberzeugen, welche uͤber ſie herrſchen. Zwar die Erſcheinungen eines in den ſtaͤrkſten Zuͤgen ausge¬ ſprochenen frommen Wahns werden von allen Partheien als ſolche erkannt; aber daß jene Zuͤge ihrem weſentlichen Charak¬ ter, ihrem Urſprunge, ihrer inneren Bedeutung nach durchaus uͤbereinſtimmen mit den Aeußerungen, in denen ſich eine uͤber¬ triebene Froͤmmigkeit kund giebt, dagegen ſtraͤuben ſich natuͤr¬2 *20lich alle Glaubenseiferer, welche raſtlos und methodiſch auf eine Ueberſpannung des religioͤſen Bewußtſeins hinarbeiten, und dadurch nur allzu haͤufig zur Entſtehung des frommen Wahn¬ ſinns Veranlaſſung geben, indem ſie eine geiſtig ſittliche Wie¬ dergeburt des Menſchengeſchlechts allein auf jene Weiſe hervor¬ bringen zu koͤnnen glauben. Da nun der religioͤſe Wahnſinn im koloſſalen Maaßſtabe alle Mißverhaͤltniſſe eines im falſchen Glaubenseifer irre geleiteten Gemuͤths, und alle daraus ent¬ ſpringenden verderblichen und zerruͤttenden Folgen zur Anſchauung bringt; ſo iſt ſeine gruͤndliche Kenntniß gleichſam das Mikro¬ ſkop, mit welchem der pſychologiſche Forſcher ſich das zarte und innig verflochtene Grundgewebe der frommen Leidenſchaften deutlich machen kann; ſie haͤlt uns einen rieſenhaften Spiegel vor Augen, in welchem das lebendigſte und naturwahrſte Bild alles unſaͤglichen Elends erſcheint, welches die Menſchen im blinden Glaubenseifer uͤber ſich gebracht haben. Denn in letz¬ terem iſt vorzugsweiſe die furchtbare Gewalt enthalten, welche dem Menſchen alle Segnungen des Himmels, den aͤchten Glau¬ ben, die Liebe und Hoffnung raubt, ſeine Anſchauung Gottes in fratzenhafte Wahngebilde verkehrt, ihn mit Verzweiflung, Raſerei oder aberwitziger Selbſtbethoͤrung erfuͤllt, indem er der Gnade Gottes verluſtig gegangen zu ſein glaubt, oder mit fa¬ natiſchem Grimme das ganze Menſchengeſchlecht vor das Blut¬ gericht der Inquiſition ſtellen, oder ſelbſt den Thron der Welt¬ regierung einnehmen will, damit auf allen Altaͤren die Andacht ihm ihre Opfer bringe. Giebt es im ganzen Gebiete des von zahlloſen Widerſpruͤchen zerriſſenen Lebens eine ſchneidendere Ironie, eine verderblichere Selbſttaͤuſchung, ein unvermeidliche¬ rer Untergang, wo Alles ſich vereinigt, was dem Menſchen ſein Daſein, ſein Streben zur abſoluten Luͤge machen kann? Gott allein weiß es, welche zelotiſche Eiferer ihr Herz von jeder Selbſt¬ ſucht frei erhalten haben, und nur im Antriebe einer uͤberſpann¬ ten Froͤmmigkeit handeln, zum Unterſchiede von jenen, welche vom Glauben ganz denſelben Gebrauch machen, wie die Chi¬ neſen vom Opium, deſſen Duͤnſte ſie heimlich in ein Zimmer leiten, um die Bewohner deſſelben zu betaͤuben, und ſie dann bequem zu berauben. Um letztere uͤber ihr Treiben zur Be¬ ſinnung zu bringen, gaͤbe es meines Erachtens kein wirkſame¬21 res Mittel, als ſie zu noͤthigen, in Irrenhaͤuſern die taͤglichen Augenzeugen all des unausſprechlichen Jammers und Wehes zu ſein, welches ſie durch myſtiſche Verdumpfung des Geiſtes in den von ihnen Bethoͤrten hervorgebracht haben. Gewiß wuͤr¬ den ſie dann, wenn irgend noch menſchliches Gefuͤhl in ihnen ſich regte, reuig an ihre Bruſt ſchlagen, und von ihrer pha¬ riſaͤiſchen Selbſtverblendung zuruͤckkommen.

Nach dieſen Bemerkungen bedarf es wohl keines weite¬ ren Beweiſes der hochwichtigen Bedeutung, welche eine pſycho¬ logiſche Entwickelungsgeſchichte des religioͤſen Wahnſinns fuͤr die Cultur der Voͤlker hat, da letztere nur unter der Bedingung fortſchreiten kann, daß ihr innerſtes Lebensprincip, der Glau¬ be, zur vollen Reinheit gelaͤutert werde, dagegen die Ent¬ artung deſſelben in falſchen Begriffen wie ein zerſtoͤrendes Gift, deſſen Wirkungsweiſe jene Entwickelungsgeſchichte zur objectiven Erkenntniß bringen ſoll, ſich durch die ganze Organiſation der Seele verbreitet. Wie weit wir aber noch von dem Beſitz jener ſo hoͤchſt nothwendigen Wiſſenſchaft entfernt ſind, laͤßt ſich am deutlichſten aus den Anſichten der meiſten pſychiſchen Aerzte ermeſſen. Denn ſie behandeln den religioͤſen Wahnſinn als eine ſo aͤußere und unweſentliche Erſcheinung, daß ſie ſeine Deutung mit Blutwallungen, Nervenverſtimmungen und an¬ deren grob materiellen Krankheitszuſtaͤnden des Gehirns abfer¬ tigen, in deſſen verſtoͤrter Thaͤtigkeit ſich die herrſchenden Zeit¬ beſtrebungen eben ſo verzerrt reflectiren ſollen, wie ein truͤber, geborſtener Spiegel ein falſches Bild der Außenwelt zuruͤckwirft. Iſt denn aber das Bewußtſein des Menſchen nichts Anderes, als eine katoptriſche Erſcheinung, welche zufaͤllig entſteht, wenn die einander voͤllig fremden Elemente der Lichtausſtrahlungen aͤußerer Gegenſtaͤnde und der polirten Oberflaͤche eines Glaſes oder Metalls gelegentlich zuſammentreffen, ſo daß jener Erſchei¬ nung jede innere Nothwendigkeit ihres eigenmaͤchtigen und ſelbſt¬ ſtaͤndigen Urſprungs fehlt? Oder mit anderen Worten, iſt der religioͤſe Wahnſinn eine der fruͤheren Gemuͤthsverfaſſung ſo ſchlechthin von außen aufgedrungene Erſcheinung, von welcher man in ihr ſelbſt nicht den geringſten Erklaͤrungsgrund findet? Unſere reformatoriſche Zeit, deren Geiſt wenigſtens in dem tief¬ ſinnigen und gedankenreichen Deutſchland daruͤber zur Erkennt¬22 niß gekommen iſt, daß er vor Allem aus dem religioͤſen Be¬ wußtſein die Weihe und die Kraft zur Vollbringung ſeines großen Werks ſchoͤpfen muß, erheiſcht daher auch eine tiefere Erforſchung des frommen Wahnſinns, um alle verborgenen Quellen aufzufinden, aus denen er wie ein verfinſternder Ne¬ bel aufſteigt, um in der Nacht des Myſticismus die Voͤlker von der Bahn zur geiſtig ſittlichen Freiheit abzulenken, indem er ſie mit dem verderblichen Irrthum bethoͤrt, daß das Feuer¬ zeichen des Fanatismus die flammende Wolke ſei, welche Is¬ rael durch die Wuͤſte fuͤhrte. Da jene Forſchung, wie ſchon bemerkt, beſonders die Aufgabe der pſychiſchen Aerzte ſein muß, ſo darf mich das Gefuͤhl unzureichender Kraͤfte nicht von einem Verſuch dazu abſchrecken, nachdem ich waͤhrend der langen Zeit meines Wirkens an einer großen Irrenheilanſtalt der taͤgliche Augenzeuge der furchtbaren Seelenleiden geweſen bin, welche aus einer falſch verſtandenen Froͤmmigkeit ent¬ ſpringen. Wer die außerordentlichen Schwierigkeiten kennt, welche mit der Eroͤffnung einer neuen Bahn wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen unzertrennlich verbunden ſind, muß auch den Muth der Selbſtverleugnung beſitzen, um auf die Gefahr eines Mißlingens ſeiner Bemuͤhungen gefaßt zu ſein. Denn jede noch zu entdeckende Wahrheit iſt ein tief im Schooße der Erde geborgener Erzgang, zu welchem man einen Stollen hinabtrei¬ ben muß, ohne mit Sicherheit vorher zu wiſſen, ob man jenen treffen, oder ganz in ſeiner Naͤhe nur auf taubes Geſtein ſtoßen werde, welches zu Tage gefoͤrdert der angeſtrengten Arbeit keinen weiteren Lohn, als das Zeugniß der verlorenen Muͤhe bringt. Seit Jahren mit Vorliebe dem Studium des religioͤſen Wahnſinns ergeben, deſſen hochwichtige Bedeutung mir immer lebendiger entgegentrat, ging ich lange mit mir daruͤber zu Rathe, in welcher Form ich am ſchicklichſten die Ergebniſſe deſſelben veroͤffentlichen koͤnnte. Die zweckmaͤßigſte Weiſe ſchien mir die zu ſein, zuvoͤrderſt eine Reihe von eige¬ nen Beobachtungen mitzutheilen, weil die Pſychologie als Er¬ fahrungswiſſenſchaft vor Allem den weſentlichen Thatbeſtand ermitteln, und aus ihm auf inductivem Wege die wiſ¬ ſenſchaftlichen Begriffe entwickeln muß. Jener Thatbeſtand wird aber, ſo weit er den religioͤſen Wahnſinn betrifft, in23 der Kirchen - und Weltgeſchichte nur bruchſtuͤcksweiſe gegeben, da derſelbe wie ein aus Grabesnacht auftauchendes Geſpenſt in den Reihen thatkraͤftiger Geſtalten, welche uͤberall den Vor¬ dergrund der Geſchichte einnehmen muͤſſen, zur bedeutungsloſen, kaum bemerkten Erſcheinung wird, von welcher der Hiſtoriker ſich mit Grauen abwendet. Um ihn ganz kennen zu lernen, muß man ſich voͤllig in ihn hineinleben, indem man ſich ſo viel als moͤglich in das verduͤſterte und zerriſſene Bewußtſein ſeiner Opfer verſetzt, um durch fortgeſetzte Betrachtung ſeiner Mißverhaͤltniſſe in ihnen die innere Nothwendigkeit ſeiner Ent¬ ſtehung zu erſpaͤhen. Erſt nachdem ſich das geiſtige Auge lange an die in der irren Seele herrſchende Finſterniß gewoͤhnt hat, erblickt es in ihr das geheimnißvolle Walten ihrer unverbruͤch¬ lichen Geſetze, welche auch noch den chaotiſchen Traͤumen des Wahns eine tiefverhuͤllte organiſche Geſtalt verleihen, und ſie dadurch zum Gegenſtande der Wiſſenſchaft machen. Iſt auf dieſe Weiſe der Schluͤſſel zur Deutung des Wahnſinns gefun¬ den, dann werden auch die verſtuͤmmelten Thatſachen verſtaͤnd¬ lich, welche in den hiſtoriſchen Urkunden enthalten ſind, und man darf alsdann hoffen, aus ihnen eine vollſtaͤndige Theorie zu entwickeln, deren Licht eine unerwartete Aufklaͤrung in zahlreiche unaufgeloͤſete Raͤthſel des Lebens werfen wird, welche als Glaubenszweifel auch die ſtaͤrkſten und friſcheſten Gemuͤther verſtoͤren muͤſſen.

Indem ich daher zunaͤchſt eine Sammlung von eigenen Beobachtungen des religioͤſen Wahnſinns der Oeffentlichkeit uͤber¬ gebe, erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich mich dabei faſt ausſchließlich auf eine rein hiſtoriſche Schilderung beſchraͤnkt, und nur ſelten einige reflectirende Betrachtungen eingeflochten habe. In der Gruppirung der Thatſachen muß ſchon die An¬ deutung ihres Entwickelungsgeſetzes enthalten ſein, deſſen wiſ¬ ſenſchaftliche Darſtellung eine viel zu umfaſſende Aufgabe iſt, als daß ſie beilaͤufig in einzelne Krankheitsgeſchichten aufge¬ nommen werden koͤnnte. Den Verſuch einer Theorie des reli¬ gioͤſen Wahnſinns muß ich mir auf eine ſpaͤtere Schrift vor¬ behalten, von welcher die vorliegende nur eine thatſaͤchliche Einleitung ſein ſoll, und den mannigfachen Einwuͤrfen, welche dieſem Buche wahrſcheinlich entgegentreten werden, kann ich24 jetzt nur mit der Bezugnahme auf meinen Grundriß der See¬ lenheilkunde antworten, in welchem ich meine Anſichten von den Geiſteskrankheiten ausfuͤhrlich eroͤrtert habe. Was die Aus¬ wahl der einzelnen Faͤlle aus einer ſehr großen Zahl von Be¬ obachtungen betrifft, ſo kam es mir dabei vorzuͤglich auf ihre Mannigfaltigkeit an, um die proteusartigen Formen zu ſchil¬ dern, unter denen der religioͤſe Wahnſinn erſcheint. Daher habe ich auch mehrere Beiſpiele aufgenommen, wo derſelbe keinesweges aus einer im fruͤheren Leben vorherrſchenden my¬ ſtiſchen Froͤmmigkeit ſich entwickelte, ſondern gerade im Wider¬ ſpruch mit einer frivolen Geſinnung und zuͤgelloſen Ausſchwei¬ fungen entſtand, ohne daß er deshalb ſeine weſentliche Bedeu¬ tung verleugnete. Gerade hierin ſpricht ſich die tiefe Noth¬ wendigkeit des religioͤſen Bewußtſeyns aus, welches in unzer¬ ſtoͤrbarer Anlage des Gemuͤths gegruͤndet, in allen Zerruͤttun¬ gen deſſelben durch Leidenſchaften immer wieder zur Entwicke¬ lung zu kommen ſtrebt, welche freilich in einer entarteten Ver¬ faſſung der Seele mehr oder weniger mißlingen muß, und dann nur in Zerrbildern ſeine Heiligkeit erſcheinen laͤßt. Be¬ trachtungen dieſer Art duͤrften ſich vorzugsweiſe dazu eignen, ein helleres Licht auf die hochwichtige Thatſache zu werfen, daß Denker, welche durch die eigenthuͤmliche Richtung ihres Geiſtes ſich ganz dem religioͤſen Intereſſe entfremdeten, und alle ihre Begriffe in einem demſelben widerſprechenden Sinne auspraͤgten, dennoch fruͤher oder ſpaͤter durch eine unwider¬ ſtehliche Noͤthigung zu demſelben ſich hingezogen fuͤhlen. Wenn z. B. Voltaire, deſſen ganzes Leben dem Bekaͤmpfen des Chriſtenthums geweiht war, dennoch in Krankheiten, und na¬ mentlich auf dem Todtenbette, das Beduͤrfniß nach einer Aus¬ ſoͤhnung mit der katholiſchen Kirche gefuͤhlt haben ſoll; ſo heißt es jenem unleugbar großen Denker einen ſehr ſchlechten Dienſt erweiſen, wenn man dieſe Thatſache mit der oberflaͤchlichen Bemerkung des Widerſpruchs im menſchlichen Gemuͤthe buͤndig abgefertigt zu haben glaubt. Was heißt denn Widerſtreit im Charakter anders, als Gegenſatz unter ſeinen Elementen, von denen dasjenige, welches durch die ſyſtematiſchen Beſtrebungen eines langen Lebens, durch die ſchaͤrfſten Waffen eines bis jetzt noch unuͤbertroffenen dialektiſchen Witzes, durch den gluͤhend¬25 ſten litterariſchen Ehrgeiz nicht niedergekaͤmpft werden konnte, ſondern immer wieder, und zuletzt noch am Grabesrande maͤch¬ tig hervortrat, gewiß nicht das ſchwaͤchſte war. Liegt da nicht die Erklaͤrung naͤher, daß Voltaire neben allen Antrieben eines ſelbſtſuͤchtigen Gemuͤths, denen ſeine glaͤnzenden Geiſtesgaben eine uͤberreichliche Befriedigung verſchafften, doch auch ein tief empfundenes religioͤſes Beduͤrfniß hegte, dem er aber bei der Verderbtheit, und namentlich bei der Glaubensfaͤulniß der da¬ maligen Zeit ſo wenig eine Befriedigung zu verſchaffen wußte, daß er ſich daruͤber in der vollſtaͤndigſten Taͤuſchung befand? War nicht ſein erbitterter Kampf gegen die damalige katholi¬ ſche Geiſtlichkeit, mit deren verlornen Sache er leider auch die von ihm verkannte chriſtliche Religion identificirte, in tieferer Bedeutung ein Ausbruch der Verzweiflung, daß durch ihre Satzungen ihm der Seelenfriede geraubt wurde, welchen an einem andern Orte wiederzufinden ſeine einmal eingeſchlagene und eifrigſt verfolgte Geiſtesrichtung ihm unmoͤglich machte? Sei es, daß eine Menge unedler, ja niedriger Motive ihm den giftigen Hohn gegen das Chriſtenthum in ſeine ſatyriſche Feder floͤßte; derſelbe Mann hat allzuviele Beweiſe von hoch¬ herziger Denkweiſe gegeben, als daß nicht in ſeinem Innern ein hoͤheres Geſetz gewaltet haͤtte, welches freilich nur in einem aͤcht religioͤſen Sinne zum deutlichen und vollſtaͤndigen Be¬ wußtſein kommen kann. Verſetzen wir denſelben Voltaire in ganz entgegengeſetzte Verhaͤltniſſe, wo er fern von der Heu¬ chelei unter dem Regimente der Frau von Maintenon, und von der unter dem Herzog von Orleans und der Marquiſe von Pompadour herrſchenden moraliſchen Verweſung, einer harmo¬ niſchen Durchbildung ſeiner außerordentlichen Geiſtes - und Ge¬ muͤthsgaben theilhaftig geworden waͤre, welch einen ganz an¬ deren, vielleicht weniger glaͤnzenden, aber dafuͤr weit gediege¬ neren Charakter wuͤrde er ſich dann angeeignet haben.

Auch uͤber den ſcheinbaren Widerſpruch habe ich mich mit wenigen Worten zu erklaͤren, in welchem mehrere der mitge¬ theilten Beobachtungen mit dem oben ausgeſprochenen Grund¬ ſatze ſtehen, daß der Wahnſinn die Wirkung einer unbefrie¬ digten uͤberſchwenglichen Sehnſucht ſei. In Bezug auf die Quaalen eines tief verletzten Gewiſſens koͤnnte man es mir26 ſchon eher zugeben, daß gerade ſie das hoͤchſte Maaß eines heißen Verlangens nach dem verlorenen Seelenfrieden bezeich¬ nen, welche Erklaͤrung insbeſondere darin ihre Rechtfertigung findet, daß gewoͤhnlich gutgeartete Menſchen in irrſinniger Bethoͤrung ſich mit falſchen Selbſtanklagen uͤberhaͤufen, eben weil ihr zartes Gewiſſen am tiefſten durch Gemuͤthsleiden er¬ ſchuͤttert wird. Aber weniger deutlich duͤrfte es auf den erſten Anblick ſein, wie der Teufelswahn der unmittelbare Ausdruck einer ungeſtillten maaßloſen Sehnſucht ſein koͤnne. Eine aus¬ fuͤhrliche Erklaͤrung hieruͤber muß ich mir fuͤr die Zukunft ver¬ ſparen, weil ſich nicht mit wenigen Worten eine deutliche Be¬ zeichnung dafuͤr geben laͤßt, daß der Glaube an den Teufel ſelbſt ſchon eine Entartung der Ehrfurcht vor dem goͤttlichen Geſetz iſt, in ſofern naͤmlich dem unaufgeklaͤrten religioͤſen Be¬ wußtſeyn die Gerechtigkeit der goͤttlichen Weltordnung als ein hochnothpeinliches Halsgericht nach dem Muſter der Constitu¬ tio Criminalis Carolina erſcheint, bei welchem der Teufel das Amt eines Schergen, Buͤttels oder Folterknechts verſieht. In ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung iſt die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des goͤttlichen Geſetzes die Sehnſucht nach der nie vollſtaͤndig zu erreichenden Erfuͤllung deſſelben, weil der Menſch im tiefſten Selbſtbewußtſein die durch die Majeſtaͤt des Ge¬ wiſſens bekraͤftigte Nothwendigkeit erkennt, das Geſetz Gottes als urſpruͤngliche Bedingung der geiſtig ſittlichen Vervollkomm¬ nung, als die ewige Grundlage ſeines freien Strebens nach dem Unendlichen zu erfuͤllen. In dieſer weſentlichen Bedeu¬ tung kann das goͤttliche Geſetz nur der aufgeklaͤrten Froͤmmig¬ keit erſcheinen, welche demſelben als der Quelle alles Heils einen liebenden Gehorſam weiht; aber der im Aberglauben berauſchte Geiſt wird durch den verduͤſternden Schwindel ſeiner Gedanken dergeſtalt bethoͤrt, daß er nur die fratzenhaften Zerr¬ bilder der Hoͤlle erblickt, wo vor dem klaren Blick des kindlich frohen Glaubens die Schoͤnheit der goͤttlichen Weltordnung im reinſten Glanze des Himmels ſtrahlt.

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1.

R., im Jahre 1813 geboren, der Sohn eines Zimmer¬ manns in Potsdam, wurde ſeit ſeiner fruͤheſten Kindheit durch ein hartnaͤckiges Skrofelleiden, welches namentlich auch eine bis in das 16te Jahr fortdauernde Augenentzuͤndung zur Folge hatte, dergeſtalt in ſeiner Lebensentwickelung zuruͤckge¬ halten, daß er ſich ſtets ſchwach und elend fuͤhlte, niemals zum Frohſinn und kindlichen Spielen aufgelegt war, ſondern ſtets ernſt und ſchwermuͤthig geſtimmt blieb. Der Vater, ein Trunkenbold, mißhandelte haͤufig die Kinder, und entzweite ſich daruͤber mit ſeiner Ehefrau, welche aus ſtetem Aerger und Kummer in Epilepſie verfiel, deren oft widerkehrende Anfaͤlle zuletzt ihren Verſtand zerruͤtteten, und nach 16jaͤhrigen Lei¬ den ihrem Leben ein Ziel ſetzten. Durch das langjaͤhrige Augenuͤbel meiſtentheils vom Schulbeſuche zuruͤckgehalten, konnte R. ſich nur die nothwendigſten Elementarkenntniſſe aneignen; einen tiefen Eindruck machte jedoch der Religionsunterricht auf ſeinen weichen und empfaͤnglichen Sinn, ſo daß er na¬ mentlich die Unſittlichkeit anderer Knaben, welche den Pre¬ diger heimlich verhoͤhnten und nachaͤfften, mit lebhaftem Un¬ willen empfand, und bei den haͤufig wiederkehrenden ſchweren Leiden ſeiner Mutter in inbruͤnſtigem Gebet Gott um ihre Beſſerung von denſelben anflehte. Alles dies wirkte zuſam¬ men, ihm eine immer mehr zunehmende Schuͤchternheit und Aengſtlichkeit einzufloͤßen, wozu unſtreitig ein taͤglich wieder¬ kehrendes, oft bedeutendes Naſenbluten weſentlich beitrug, welches vom 16. bis zum 25. Jahre anhielt, haͤufig von hef¬ tigem Herzklopfen begleitet war, zumal bei Gemuͤthsbewegun¬ gen, und zuweilen mit Kopfſchmerzen abwechſelte. Er fuͤhlte ſich oft ſo ſchwach, daß er auf der Straße hinzufallen fuͤrch¬ tete, wurde bei Todesanzeigen von Zittern und Furcht vor ſeinem nahen Ende befallen, und in ſtets truͤber und ver¬28 zagter Stimmung beim Anblick ſo vieler haͤuslichen Leiden befangen, mied er nicht nur jede Gelegenheit zur Aufheite¬ rung, ſondern beſtaͤrkte ſich auch in der reſignirenden Vor¬ ſtellung, daß Gott ihn zum Dulden beſtimmt habe. Oft brach er uͤber ſein Ungluͤck in Thraͤnen aus, ja beim Anblick der Sonne fragte er ſich bisweilen, ob er werth ſei, daß ſie ihn beſcheine.

Durch entſchiedene Vorliebe fuͤr das Gewerbe ſeines Va¬ ters ließ er ſich beſtimmen, im 18. Jahre bei einem Zimmer¬ meiſter in die Lehre zu treten. Er verhehlte ſich zwar die mit dieſem Geſchaͤft verbundene Lebensgefahr nicht, welche auf ſeinen furchtſamen Sinn ſchon im Voraus einen tiefen Ein¬ druck machte, aber troͤſtete ſich mit der Zuverſicht, es koͤnne ihm gegen den goͤttlichen Rathſchluß nichts Schlimmes be¬ gegnen. Dennoch wurde er jedesmal von Todesfurcht befal¬ len, wenn er in gefaͤhrlichen Lagen ſich befand, und von ſtar¬ kem Schwindel ergriffen, wagte er nicht, uͤber freiſchwebende Balken zu gehen, ſondern kroch uͤber ſie hinweg, und ſuchte ſich uͤberhaupt mit jeder erdenklichen Vorſicht zu ſchuͤtzen. Als er nach beendigter vierjaͤhriger Lehrzeit bei einem anderen Meiſter in Dienſt getreten war, erſchuͤtterte deſſen ploͤtzlicher Tod ihn tief, da die Beſorgniß immerfort in ihm er¬ wachte, daß auch er leicht ein ſchnelles Ende finden koͤnne. Anfangs war es nur die Liebe zum Leben, welche ſich in ihm gegen dieſe Vorſtellung empoͤrte; ſpaͤter geſellte ſich aber noch die Beſorgniß hinzu, daß der Tod ihn unvorbereitet er¬ eilen koͤnne, und er alsdann der ewigen Seeligkeit verluſtig gehen muͤſſe.

Im 22. Jahre ſiedelte er ſich nach Berlin uͤber, wo¬ ſelbſt er, durch Fleiß, Tuͤchtigkeit und gute Auffuͤhrung aus¬ gezeichnet, ſtets eine hinreichende Beſchaͤftigung fand, in wel¬ cher er ſich durch mannigfache koͤrperliche Beſchwerden nicht ſtoͤren ließ. An die Stelle des oben erwaͤhnten Naſenblutens traten naͤmlich haͤufig wiederkehrende Erſcheinungen eines hef¬ tigen Blutandranges nach dem Kopfe und der Bruſt, ſtarkes Herzklopfen, heftiges Kopfweh, Schwindel und Flimmern vor den Augen, wovon ihn weder widerholte Aderlaͤſſe noch andere Heilmittel gruͤndlich befreiten. Seine Plagen wurden noch29 dadurch verſchlimmert, daß er, durch den ſchlechten Rath ande¬ rer Geſellen verleitet, im wolluͤſtigen Umgange mit feilen Dirnen eine Befreiung von ſeinen Beſchwerden zu erlangen ſuchte, wor¬ uͤber er die bitterſte Reue empfand, welche ihn zum haͤufigen Ge¬ nuß des heiligen Abendmahls antrieb. Noch muͤſſen wir hier einer pathologiſchen Erſcheinung gedenken, welche vielleicht als Wirkung einer durch das Skrofelleiden veranlaßten Reizbarkeit der Nerven anzuſehen, bereits im 7. Jahre hervortrat, in der Folge durch den haͤufigen Blutandrang nach dem Kopfe unterhalten wurde, und mit geringen Unterbrechungen durch ſein ſpaͤteres Leben fortdauerten. Anfangs hatte er, wenn er in einer finſtern Kammer zu Bette gegangen war, Viſionen von menſchlichen Geſtalten, deren Rumpf wohlgeformt, aber deren Geſicht gleich Larven auf die mannigfachſte Weiſe verzerrt war. Meiſtens wa¬ ren die Naſen ſehr lang, die Augen groß, der Mund weit auf¬ geriſſen: gewoͤhnlich ſah er 4 6 ſolcher Geſtalten, welche theils blieben, theils wechſelten, meiſt ihm unbekannte Perſonen, zu¬ weilen auch bekannte darſtellten, und nach 5 Minuten ſpurlos verſchwanden. In fruͤherer Zeit waren jene Phantome regungs¬ los, in der Folgezeit bewegten ſie ſich, machten fuͤrchterliche Gri¬ maſſen, indem ſie den Mund weit aufſperrten, die Augen umher¬ rollten. In den ſpaͤteren Jahren hatte er dieſe Viſionen auch bei Tage, zumal waͤhrend der Sommerhitze, beim Heben ſchwerer La¬ ſten, oder wenn aus Furcht Flimmern vor den Augen, Schwin¬ del und Herzklopfen ſich einſtellten: nur nach den Aderlaͤſſen blieb er auf einige Zeit von ihnen verſchont. Da dieſe Viſionen ſchon in ſeinem fruͤheſten Alter auftraten, wo das Kind noch keine Re¬ flexionen anſtellt, ſo machten ſie auch keinen tiefen Eindruck auf ihn, und nur gelegentlich empfand er eine Anwandlung von Furcht, wenn entweder die Larven ein ſehr abſchreckendes Anſe¬ hen annahmen, oder wenn das Anhoͤren von Geſpenſtergeſchichten ihm ein aberglaͤubiges Grauen eingefloͤßt hatte. Indeß durch ihre haͤufige Wiederkehr wurden ſie ihm dergeſtalt zur Gewohnheit und dadurch gleichguͤltig, daß er wortkarg und ſchuͤchtern gegen Nie¬ manden ſich daruͤber aͤußerte, und als er bei zunehmender Ver¬ ſtandesreife einer freieren Reflexion faͤhig wurde, ſagte er ſich ſelbſt, daß Alles nur ein Spuk der Einbildungskraft ſei. Erſt dann erlangte derſelbe fuͤr ihn eine ſchwere Bedeutung, als dar¬30 aus unter zunehmender religioͤſer Bangigkeit Teufelsviſionen her¬ vorgingen. Durch dieſe anhaltende krankhafte Erregung hatte jedoch ſeine Phantaſie zuletzt eine ſo große Lebendigkeit erlangt, daß er ſich das Bild abweſender Perſonen, z. B. ſeiner laͤngſt verſtorbenen Mutter, mit der groͤßten Anſchaulichkeit vor Augen ſtellen konnte.

Eine Reihe von Jahren verſtrich fuͤr ihn ohne bemerkens¬ werthe Ereigniſſe, und er haͤtte unter guͤnſtigen Verhaͤltniſſen ſei¬ nes Lebens froh werden koͤnnen, wenn nicht ſeine durch aͤngſt¬ liche Gewiſſenhaftigkeit und haͤufig wiederkehrende Todesfurcht erzeugte truͤbe Gemuͤthsſtimmung immer mehr die Energie ſeines Charakters untergraben haͤtte. Geringfuͤgige Veranlaſſungen er¬ regten in ihm die peinlichſten Gewiſſensſcrupel, z. B. kleine Aus¬ gaben bei feſtlichen Gelegenheiten, worin er leichtſinnige Ver¬ ſchwendung ſeines Geldes ſah, welches er den Armen oder ſei¬ nem huͤlfsbeduͤrftigen Vater haͤtte geben ſollen. Seine fort¬ dauernden Koͤrperbeſchwerden drangen ihm die Ueberzeugung auf, daß Gott ſie ihm als Strafe fuͤr ſeine vielen Suͤnden auferlegt habe. Er war Taufzeuge bei dem Sohne ſeiner Schweſter gewe¬ ſen, und als Jemand es als einen Uebelſtand ruͤgte, daß das Kind von einem maͤnnlichen Pathen uͤber die Taufe gehalten wor¬ den ſei, da nach einer aberglaͤubigen Meinung ein weibliches In¬ dividuum dieſen Liebesdienſt haͤtte thun muͤſſen, ſtimmte er in das Gelaͤchter Anderer uͤber dieſe Albernheit ein. Dies bereute er aber in der Folge tief, als das Kind an Abzehrung geſtorben war, wovon er ſich die Schuld durch frivoles Entweihen der Taufe beimaaß. Fortan ſah er nur Suͤndhaftigkeit und Laſter in der Welt, namentlich glaubte er, daß beim Bauen der Haͤuſer die aͤrgſten Betruͤgereien veruͤbt wuͤrden, und bald kam es mit ihm ſo weit, daß er das Hereinbrechen des goͤttlichen Strafgerichts uͤber das in Suͤnden verſunkene Menſchengeſchlecht fuͤr nahe bevorſte¬ hend hielt. Indeß ſein milder, gutgearteter Sinn bildete einen zu ſtarken Gegenſatz gegen jede fanatiſche Regung, als daß er in Haß gegen andere Menſchen haͤtte entbrennen ſollen, welches nur jenen zelotiſchen Egoiſten zu begegnen pflegt, welche ſich ſelbſt eine um ſo groͤßere Froͤmmigkeit anmaaßen, je erbarmungsloſer ſie die Schwaͤchen anderer Menſchen als die verworfenſten Frevel verdammen. Vielmehr hielt er es nun fuͤr ſeine Pflicht, durch31 eifrige Andachtsuͤbungen, namentlich durch fleißigen Kirchenbeſuch die Gnade Gottes zur Vergebung ſeiner Suͤnden zu erflehen. Aber ſchon hatte ihn eine zu tiefe Schwermuth niedergedruͤckt, als daß er ſich im kindlich freudigen Glauben an das liebende Erbarmen des himmliſchen Vaters haͤtte aufrichten koͤnnen; immer ſchwerer laſtete auf ihm die falſche Selbſtanklage, welche bald den letzten Reſt des Frohſinns von ihm verſcheuchte. Er mied nun alle Ver¬ gnuͤgungen, und konnte nur in eifriger Thaͤtigkeit noch eine leid¬ liche Haltung ſich erringen.

Sein Bruder, mit welchem er bei einer hier verheiratheten Schweſter zuſammenwohnte, war, ohne ausſchweifend zu ſein, doch dem Vergnuͤgen ergeben, und vertheidigte ſich gegen die von ſeinem Bruder ihm gemachte Zurechtweiſung mit der Entſchuldi¬ gung, ſo lange man jung ſei, muͤſſe man das Leben genießen. R. ließ aber nicht ab, mit frommen Ermahnungen in ihn zu drin¬ gen, und bewog ihn endlich, am Charfreitage 1845 mit ihm das heilige Abendmahl zu genießen. Von myſtiſchen Vorſtellungen erfuͤllt, wuſch R. ſich vorher die Fuͤße, weil Chriſtus daſſelbe bei ſeinen Juͤngern vor der Einſetzung des Abendmahls gethan, und er haͤtte auch gern ſeinen Bruder dazu bewogen, wenn dieſer nicht ſchon angekleidet geweſen waͤre. Zu ſeiner großen Freude erfuhr er von demſelben, daß der Gottesdienſt auf ihn einen tiefen Ein¬ druck gemacht habe, daß er Reue uͤber ſeinen bisherigen Leicht¬ ſinn empfinde, und daß er eifriger die Kirche beſuchen wolle, wel¬ ches er auch that. Hieraus ſchoͤpfte R. die Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, ſeine drei Schweſtern zu einer Sinnesaͤnderung zu bewegen. Dies lag ihm um ſo mehr am Herzen, als zwi¬ ſchen letzteren oft Streitigkeiten ausgebrochen waren, wozu vor¬ zuͤglich der Plan des R. Veranlaſſung gab, die ganze Familie in einer Wohnung zu vereinigen, und dadurch das Loos ſeines ver¬ armten Vaters zu erleichtern, welcher von den Geldunterſtuͤtzun¬ gen ſeiner Soͤhne lebte. Jene Zwiſtigkeiten waren ohne alle Be¬ deutung, da es durchaus zu keinen ſchlimmen Auftritten kam; dennoch betruͤbte R. ſich hieruͤber tief, weil er bei ſeinen Schwe¬ ſtern einen Mangel an chriſtlicher Geſinnung wahrzunehmen glaub¬ te, welche ſich nach ſeiner Ueberzeugung durch einen lebendigen Wetteifer in gegenſeitigen Liebesdienſten und Aufopferungen zu erkennen geben ſollte. Beſonders kraͤnkte ihn das Benehmen32 ſeiner hieſigen Schweſter, welche an einen Fuhrmann verheirathet und Mutter mehrerer Kinder ſeiner Meinung nach ihre Pflichten als Hausfrau vernachlaͤſſigte. Nur gelegentlich wagte er es, ihr hieruͤber Vorwuͤrfe zu machen; deſto ernſtlicher drang er aber in ſie, daß ſie ſich gleichfalls zu einem froͤmmeren Lebenswandel be¬ kehren, und namentlich mit den Schweſtern ausſoͤhnen ſolle, weil außerdem der noch immer feſtgehaltene Plan, die ganze Familie zu vereinigen, nicht in Ausfuͤhrung gebracht werden konnte. Zu dieſem Zwecke verlangte er, daß die Schweſtern gemeinſchaftlich mit dem Vater an einem der naͤchſten Sonntage das heilige Abend¬ mahl genießen ſollten, um den geſchloſſenen Frieden zu beſiegeln. Sie nahm dieſe Ermahnungen mit muͤrriſchem Schweigen auf, gab ihm inzwiſchen immer neue Gelegenheit zur Unzufriedenheit durch Vernachlaͤſſigung ſeiner haͤuslichen Beduͤrfniſſe, und ver¬ anlaßte dadurch bei ihm eine ſo anhaltende Gemuͤthsverſtimmung, daß er ſchon des Nachts nicht mehr ruhig ſchlafen konnte, und eine ſteigende Bangigkeit, ja Angſt empfand, von welcher er ſich bei ſeiner paſſiven Gemuͤthsart nicht mehr befreien konnte.

Da er ſeinem beduͤrftigen Vater wiederholte Baarſendun¬ gen zuſchickte, ſo entbloͤßte er ſich oft ſo ſehr von Geld, daß er kleine Anleihen bei ſeiner Schweſter machen mußte. Dies ge¬ ſchah auch an einem Morgen, wo ihre Weigerung, ihm auch nur noch 8 Groſchen vorzuſtrecken, ihn mit großem Unwillen gegen ſie erfuͤllte. Als er ſchon das Zimmer verlaſſen hatte, oͤffnete ſie die Thuͤre, um ihm das verlangte Geld dennoch zu reichen, machte ihm aber dabei ein ſo boͤſes Geſicht, daß er ſich daruͤber entſetzte. Zugleich bemerkte er einen alten, an die Wand gelehnten Beſen, welcher, nach einem verbreiteten Aberglauben am Morgen in den Weg gelegt, Ungluͤck bedeuten, ja ſelbſt den Teufel herbeirufen ſoll. Wie ein Wetterſtrahl traf ihn der Gedanke, daß ſeine Schweſter der Teufel ſelbſt ſei, welcher ihm das Geld gege¬ ben habe, um ihn zum Boͤſen zu verlocken, und obgleich er waͤh¬ rend der Arbeit ſich noch daruͤber beſann, daß ſie wirklich ſeine Schweſter ſei, ſo hatte doch die Vorſtellung des Teufels ihn ſo maͤchtig ergriffen, daß er das empfangene Geld fuͤr eine Gabe deſſelben hielt. Da ihm zugleich der Unfall begegnete, daß ein Glasſcherben durch den einen Stiefel ihm bis in den Fuß eindrang, ſo hielt er die unbedeutende Verletzung deſſelben fuͤr einen neuen33 Angriff des Teufels, welcher ihm uͤberall in den Weg trete. Von raſtloſer Quaal gefoltert, hatte er nach der Ruͤckkehr von der Ar¬ beit nichts Eiligeres zu thun, als die erhaltenen 8 Groſchen in den zerriſſenen Stiefel zu ſtecken, und letzteren an einem entfernten Orte ins Waſſer zu werfen. Das Entſetzen uͤber die Verſuchungen des Teufels machte in ihm die Empfindung rege, als ob dieſer ihn in Stuͤcke zerreißen wollte, weshalb er im ſchnel¬ len Laufe nach der Wohnung zuruͤckkehrte, um alle Gegenſtaͤnde, welche ſeiner Meinung nach irgend vom Teufel beruͤhrt ſein konn¬ ten, ſorgfaͤltig abzuwaſchen. Eifriges Flehen zu Gott um Schutz gegen den Boͤſen und fleißiges Bibelleſen wurden ihm nun zum Beduͤrfniß, konnten aber nur dazu dienen, ſeiner ſchon in Wahn¬ witz ausgearteten Schwaͤrmerei neue Nahrung zu geben.

Nachdem der zur Ausſoͤhnung ſeiner Familie bei der Abend¬ mahlsfeier von ihm beſtimmte Sonntag verſtrichen war, ohne ſeine ſehnliche Hoffnung in Erfuͤllung zu bringen, betete er in¬ bruͤnſtig zu Gott, daß er durch ſeine Gnade die Ausſoͤhnung der Entzweiten bewirken wolle, wobei er eifrig in der Bibel las, um aus ihr Troſt zu ſchoͤpfen. Vorzuͤglich wurde ſeine Aufmerk¬ ſamkeit gefeſſelt durch das 10. Kapitel der Apoſtelgeſchichte, wo die von Petrus an dem Hauptmann Cornelius vollzogene Taufe erzaͤhlt, und zugleich berichtet wird, daß letzterer 4 Tage faſtete und betete, worauf ein Mann in hellem Kleide mit den Worten auf ihn zutrat: Corneli, dein Gebet iſt erhoͤrt, und deiner Almoſen iſt gedacht vor Gott. R. glaubte hieraus folgern zu duͤrfen, daß man durch Faſten Gott zur Erhoͤrung inbruͤnſtiger Gebete bewegen koͤnne, und ſogleich ſtand ſein Entſchluß feſt, ſich dieſes Mittels zu bedienen. Er enthielt ſich daher von naͤch¬ ſter Mittwoche an aller Nahrung gaͤnzlich, wollte dies zuerſt nur bis zum Donnerstage fortſetzen, weil an demſelben eine Wochen¬ communion gehalten wurde, fuͤhrte aber ſeinen Vorſatz, da ſeine Familie an letzterer nicht Theil nahm, bis zum naͤchſten Montage, wo ſeine Verſetzung in die Charité erfolgte, beharrlich durch, in der feſten Ueberzeugung, daß Gott ſein inbruͤnſtiges Flehen er¬ hoͤren werde. Er verſichert, in dieſer ganzen Zeit nicht den ge¬ ringſten Hunger, und erſt am Sonntage einigen Durſt empfun¬ den zu haben, wurde aber zu aller Arbeit unfaͤhig, und beſchaͤf¬ tigte ſich nur mit anhaltendem Bibelleſen bei verſchloſſener Thuͤre,Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn. 334indem er allen Aufforderungen zum Genuß von Speiſen den hart¬ naͤckigſten Widerſtand entgegenſtellte. Die Naͤchte brachte er meiſt ſchlaflos zu, und die fruͤher ſchon bemerkten Viſionen geſtalteten ſich ihm nun zu voͤlligen Teufelsfratzen, ſo daß er aus ſeiner Furcht vor dem Satan gar nicht herauskam.

Vorzuͤglich folterte ihn letzterer bei folgender Gelegenheit. Er pflegte in dieſen Tagen zu ſeiner Erbauung Verſe aus der Bibel abzuſchreiben, wobei er gewiſſenhaft die Stunde von 12 1 Uhr Mittags vermied, weil in dieſer Zeit ſein Schwa¬ ger zum Eſſen nach Hauſe kam, dabei mit ſeiner Frau haͤufig in Streit gerieth, und beſonders ihn, den R., zum Genuß von Speiſen noͤthigen wollte. In ſeiner damaligen Stimmung konnte er hierin nur eine Verlockung des Satans ſehen, indem er glaubte, daß letzterem jene Stunde geweiht ſei. Ohne Kennt¬ niß der Zeit glaubte er am Freitage, daß jene boͤſe Stunde ſchon verſtrichen ſei, weshalb er wieder Verſe abzuſchreiben anfing. Als aber in der Nebenſtube die Uhr Eins ſchlug, uͤberfiel ihn eine große Angſt, daß der Teufel ihn zur boͤſen Zeit zum Abſchreiben aus der Bibel verfuͤhrt, und ihm dazu das Papier hingelegt habe, daher er voll Entſetzen das Papier in Stuͤcke zerriß, waͤhrend es ihm vorkam, daß die Fenſterſcheiben von einem lauten Knall er¬ droͤhnten. Als er voll Abſcheu jene Papierſtuͤcke auf das Dach vor ſeinem Fenſter geworfen hatte, fiel es ihm ein, daß er den Namen Gottes auf dieſelben geſchrieben, und durch das Zerrei¬ ßen gleichſam mit Fuͤßen getreten habe. Deshalb bediente er ſich einiger zangenartig zuſammengefaßten Holzſtaͤbe, um die beſchrie¬ benen Papierſtuͤcke zuruͤckzuholen, und ſie als geheiligte Zeichen in die Bibel zu legen. Die unbeſchriebenen Papierſtuͤcke hielt er dagegen fuͤr ein Eigenthum des Teufels, welcher ſich nicht nur darauf vor ſeinem Fenſter lagerte, ſondern auch faſt ununterbro¬ chen als ein geſtaltloſer Schein ihn umſchwebte. Da die Holz¬ ſtaͤbe, mit denen er das beſchriebene Papier heraufgeholt hatte, durch die Beruͤhrung deſſelben geheiligt waren, ſo glaubte er ſie nicht zur Entfernung des teufliſchen Papiers gebrauchen zu duͤr¬ fen, weshalb er drei Spazierſtoͤcke hervorſuchte, um damit jenen boͤſen Talisman hereinzuholen. Dies Papier nebſt den Stoͤcken, einem Raſiermeſſer und einer Waſſerflaſche, welche ſeiner Mei¬ nung nach durch teufliſche Beruͤhrung unheilſtiftend geworden wa¬35 ren, band er zuſammen, und warf am Abend dies Buͤndel an derſelben Stelle weg, wo er ſich des Stiefels entledigt hatte. Dann ging es an ein fleißiges Abwaſchen der Wohnung, welches er in den naͤchſten Tagen wiederholte, und da auch dies ihm noch nicht als Desinfection von dem hoͤlliſchen Miasma genuͤgte, ſo zog er fortwaͤhrend Kreiſe um ſich, um den Satan von ſich abzu¬ halten. Aber die Furcht vor demſelben erfuͤllte ihn dergeſtalt, daß er ſchon ganz von ihm verunreinigt zu ſein glaubte, und des¬ halb ſeinen Bruder bat, als ein durch die Abendmahlsfeier Ge¬ heiligter mit den geweihten Holzſtaͤben unter die Betten zu fah¬ ren, um den Teufel aus ſeinem Verſteck unter denſelben zu ver¬ ſcheuchen. Dies muͤſſe demſelben, meinte er, gelingen, da der fromme Glaube Berge verſetzen koͤnne. Aus bruͤderlicher Liebe duldete er denſelben auch des Nachts nicht in der gemeinſchaftli¬ chen Schlafkammer, da er von Teufelsviſionen geaͤngſtigt, jenen wenigſtens von gleicher Noth befreien wollte.

In der Meinung, daß der Boͤſe Schuld an allen Zerwuͤrf¬ niſſen in der Familie ſei, und ſich deshalb unter der Geſtalt einer zaͤnkiſchen Nachbarin zu ſeiner Schweſter geſchlichen habe, um ſie gegen ihre Verwandten aufzuhetzen, hielt er es fuͤr ſeine Pflicht, dagegen anzukaͤmpfen. Zu dieſem Zweck nahm er am Sonntag fruͤh zuvoͤrderſt wieder das Beſprengen und Abwaſchen der Woh¬ nung zum Vertreiben des Teufels vor, und las hierauf ſeiner Schweſter die Kapitel aus der Bibel vor, welche er durch das Einlegen der geheiligten Papierſtreifen als die dazu paſſenden be¬ zeichnet hatte. Um nicht geſtoͤrt zu werden, hatte er die Thuͤre verriegelt, und da einige inzwiſchen angelangte Vettern eingelaſ¬ ſen zu werden forderten, ſo fuͤhrte dies zu einem heftigen Auf¬ tritt. Jene Vettern hatten naͤmlich mehrmals uͤber ſeinen Wahn¬ ſinn mit verletzendem Hohn geſpottet, und ihn mit Ungeſtuͤm zum Eſſen aufgefordert, eben dadurch aber in der Ueberzeugung be¬ ſtaͤrkt, daß ſie vom Teufel beſeſſen, ihn zum Boͤſen verfuͤhren und deshalb gewaltſam eindringen wollten. Als daher die Thuͤre ſeines Straͤubens ungeachtet geoͤffnet wurde, fluͤchtete er ſich in ſeine Kammer, wo er ſich wieder fleißig mit Bibelleſen beſchaͤf¬ tigte, und namentlich die Verkuͤndigung Chriſti von der Zerſtoͤ¬ rung Jeruſalems ſich zu Herzen nahm. Denn da er von der Verderbtheit der Menſchen uͤberzeugt, den baldigen Untergang3 *36der Welt erwartete, ſo machte er ſich darauf gefaßt, daß das Strafgericht Gottes demnaͤchſt uͤber Berlin hereinbrechen, und letzteres in Flammen aufgehen werde.

Dieſe Vorſtellung beherrſchte ihn beſonders am Nachmittage, als er einen Rock verkaufen wollte, um mit dem Erloͤs die Ueber¬ ſiedelung ſeines Vaters nach Berlin zu bewirken. Durchdrun¬ gen von dem Wunſche, ſeine Freunde von dem drohenden Ver¬ derben zu erretten, griff er in ſeine Rocktaſche, und fand darin ein Stuͤck von den geweihten Staͤben, welches er als ein Amulet bei ſich trug. Mit dieſem Hoͤlzchen glaubte er das Haus eines Freundes ſegnen, und dadurch vor der Zerſtoͤrung ſchuͤtzen zu koͤn¬ nen; er nahm es daher in die Hand, ſchritt am Hauſe voruͤber, und murmelte dabei die Worte: Im Namen Gottes des Va¬ ters, des Sohnes und des heiligen Geiſtes, Amen; dies brachte ihn ganz einfach auf den Gedanken, auch andere Haͤuſer auf gleiche Weiſe gegen den Untergang zu ſichern, weshalb er zunaͤchſt einige Kirchen mit jenem Spruch glaͤubig umwandelte, und hierauf nach der Charite 'ſich begab, welche wegen der vielen Kranken und Nothleidenden in ihr ſeine Theilnahme erweckte. Hier betete er ein Vaterunſer, trank von Durſt gequaͤlt aus einem Brunnen, welchen er gleichfalls ſegnete, weihte hierauf das Invalidenhaus, um die betagten Krieger in demſelben von dem Feuertode zu ret¬ ten, und vollzog noch eine Menge aͤhnlicher Weihen an mehreren oͤffentlichen Gebaͤuden und Privatwohnungen, worauf er um 10 Uhr in ſeine Wohnung zuruͤckkehrte.

Am naͤchſten Tage erfolgte ſeine Aufnahme in die Charite ', woſelbſt er zuvoͤrderſt in die Abtheilung fuͤr innere Kranke ge¬ bracht wurde, weil in der Eile keine aͤrztlichen Zeugniſſe, wie ſie fuͤr die Reception in die Irrenabtheilung geſetzlich erforderlich ſind, hatten herbeigeſchafft werden koͤnnen. Auch hier weigerte er ſich hartnaͤckig, Speiſen zu genießen, indem er glaubte, daß der liebe Gott, welcher die Herzen lenke, ihm andere und beſſere Speiſen geben werde, in welchem Glauben er ſich noch vollkommen kraͤf¬ tig und immer noch bis oben an voll fuͤhlte. Selbſt ein herbei¬ gerufener Prediger, welcher durch Ermahnungen ihn zu einer Sinnesaͤnderung zu bewegen ſuchte, richtete Nichts aus, und es mußte daher die in ſolchen Faͤllen allein uͤbrig bleibende Huͤlſe in Anwendung kommen, ihm wiederholt eine elaſtiſche Roͤhre37 durch den Mund bis in den Schlund einzufuͤhren, und ihm durch dieſelbe eine hinreichende Menge von kraͤftiger Fleiſchbruͤhe einzu¬ floͤßen, um ihn gegen den Hungertod zu ſchuͤtzen. Es kraͤnkte ihn tief, daß auf dieſe Weiſe ſein Vorſatz, bis zur Ausſoͤhnung ſeiner Geſchwiſter zu faſten, vereitelt wurde, ja er glaubte ſelbſt darin einen neuen Angriff des Teufels, welcher ihm uͤberall mit Gewalt entgegentrat, erblicken zu muͤſſen; indeß theils meinte er, wie Chriſtus viele Leiden und Anfechtungen erdulden zu muͤſſen, theils troͤſtete er ſich, daß die erzwungene Uebertretung ſeiner ver¬ meintlichen Pflicht ihm nicht zur Schuld angerechnet werden koͤnne, da ihm die Nahrung aufgedrungen werde. Immer noch mit der Vorſtellung von dem nahen Untergange Berlins beſchaͤftigt, glaubte er in der naͤchſten Nacht Feuerlaͤrm zu hoͤren, welches ihm die Furcht einfloͤßte, daß auch die Charité bald von den Flammen werde ergriffen werden, weshalb er inbruͤnſtig zu Gott um Erret¬ tung der Kranken flehte, damit dieſelben nicht unvorbereitet den Tod der Suͤnder im Feuer ſtuͤrben, und der ewigen Verdammniß anheimfielen. Uebrigens fand er ſich bald in ſeine neue Lage, uͤberzeugt, daß dieſelbe eine Schickung von Gott ſei.

Nachdem durch hinreichende Beobachtung ſein Gemuͤthslei¬ den beſtaͤtigt worden war, erfolgte ſeine Verſetzung in die Irren¬ abtheilung, woſelbſt er ganz in ſich gekehrt und hoͤchſt wortkarg nur ſehr mangelhafte, einſylbige Antworten gab, durch welche blos das eigentliche Motiv ſeiner immer noch hartnaͤckigen Weige¬ rung, Speiſen zu genießen, ermittelt werden konnte. Es mußte natuͤrlich mit dem Einfloͤßen von Fleiſchbruͤhe durch eine elaſtiſche Roͤhre in den naͤchſten Tagen fortgefahren werden; als ihm in¬ deß die Nachricht gebracht wurde, daß ſeine Familie zum gemein¬ ſamen Genuß des Abendmahls bewogen, und dadurch ihre Ver¬ ſoͤhnung zu Stande gebracht worden ſei, glaubte er ſein Geluͤbde treu erfuͤllt, dadurch die Erhoͤrung ſeines Gebets von Gott er¬ langt zu haben, und fing daher an, freiwillig die ihm dargebo¬ tenen Speiſen zu genießen, obgleich er immer noch einen Wider¬ willen dagegen empfand. Ungeachtet meiner dringendſten Ge¬ genvorſtellungen nahm ſein Vater, nicht unwahrſcheinlich aus Ei¬ gennutz, ihn zu ſich zuruͤck, und geſtattete ihm, ſchon nach we¬ nigen Tagen wieder in ſeine fruͤheren Verhaͤltniſſe zuruͤckzutreten. Mehrere Tage arbeitete er auch wirklich recht eifrig, indeß die haͤu¬38 fige Lectuͤre der Bibel fachte ſeinen Teufelswahn bald wieder an. Um ſich haͤuslich einzurichten, hatte er bei einem Troͤdler mehre¬ res altes Geraͤth eingekauft, welches er aber, da der Teufel ſeiner Meinung nach in dieſem Kram ſtecke, gegen neues vertauſchte, damit der Boͤſe nicht wieder ins Haus gebracht werde, und aber¬ mals Unfrieden ſtifte. Bei ſeinem oben erwaͤhnten Weihen der Haͤuſer hatte er nur die linke Seite einer Straße ſeiner Meinung nach von dem Einfluß des Teufels befreit, daher er es ſehr be¬ dauerte, in jener Reihe keine Wohnung finden zu koͤnnen, und genoͤthigt zu ſein, eine ſolche auf der andern nicht geweihten, dem Teufel preis gegebenen Seite miethen zu muͤſſen. In dieſen dia¬ boliſchen Vorſtellungen wurde er noch beſtaͤrkt, als er in der neuen Wohnung eine Menge von Schmutz, faules Stroh, verkehrt ein¬ gehaͤngte Thuͤren und andere Unordnungen antraf, welche ſeiner Ueberzeugung nach vom Teufel herruͤhrten. Tief bekuͤmmert, demſelben uͤberall zu begegnen, und gegen ihn nirgends durch die Gnade Gottes geſchuͤtzt zu ſein, ſchritt er ſogleich zum Exorciſiren der Wohnung; er ſprengte uͤberall geweihtes Waſſer aus, wel¬ ches er in einem dazu neu angekauften Topfe von einem fruͤher geſegneten Brunnen holte, verbrannte einen von Rauch geſchwaͤrz¬ ten papiernen Vorhang des Kuͤchenheerdes, welcher vom Boͤſen herruͤhren ſollte, und ſchuͤttete die Aſche nebſt alten Naͤgeln, denen er denſelben Urſprung beilegte, in einen Topf, welchen er mit einem Stein beſchweren und ins Waſſer werfen wollte, damit der darin gefangene Satan nicht wieder ans Tageslicht komme, und nicht wie das erſte Mal mit dem weggeworfenen Raſiermeſſer aus den ihm angelegten Banden ſich befreien koͤnne. Indeß weil er mit den teufliſchen Sachen auch geweihtes Waſſer in den Topf geſchuͤttet hatte, uͤberfiel ihn dabei ein ſolches Entſetzen, daß er ſeinen Entſchluß diesmal nicht ausfuͤhren konnte, und es ihm nur bei einer andern Gelegenheit gelang, ein mit dem Teufel behaf¬ tetes Geraͤth an einen Stein zu befeſtigen, aus dem Thore zu tra¬ gen und in die Spree zu werfen.

Am ſtaͤrkſten kam aber ſein Teufelswahn bei folgender Ver¬ anlaſſung wieder zum Ausbruch. Er wollte ſeinem Vater zur Unterſtuͤtzung 3 Thaler zuſenden, und bat ſeine Schweſter, ihm dieſelben gegen Kaſſenanweiſungen umzuwechſeln, welche er be¬ quem in einen Brief einſchließen koͤnne. Als er letztere erhalten,39 mit einem Couvert verſehen hatte, und eben das 5te Siegel auf¬ druͤcken wollte, hoͤrte er einen ſtarken Knall, woruͤber er in ein heftiges Zittern verfiel, indem er glaubte, daß der Teu¬ fel von neuem uͤber ihn Gewalt bekomme, weil er ſich zum Siegel eines Petſchaftes bediente, welches er aus einer fruͤ¬ heren Wohnung einmal weggenommen hatte. Eiligſt riß er das Couvert wieder auf, noͤthigte ſeine Schweſter, die Kaſ¬ ſenanweiſungen bei dem Kaufmann, von welchem ſie dieſel¬ ben geholt hatte, wieder in Courant umzuſetzen. Nun ſtieg ſeine Noth auf den hoͤchſten Grad, denn der Teufel war mit den Kaſſenanweiſungen zu dem Kaufmanne gewandert, um alle ſeine Waaren zu verderben, zugleich war derſelbe aber auch mit dem Gelde zu R. zuruͤckgekehrt, welcher daſſelbe nicht an ſeinen huͤlfsbeduͤrftigen Vater ſenden durfte, um ihn nicht dem zeitlichen und ewigen Untergange preis zu geben. Mit einem Worte, der herrſchende Teufelsgedanke wurde der Rahmen, welcher alle ſeine Vorſtellungen umſchloß, und ihn dadurch in Verzweiflung ſtuͤrzte. In dieſer grenzenloſen Be¬ draͤngniß flehte R. zu Gott um Huͤlfe, und es erklaͤrt ſich leicht aus ſeiner damaligen Gemuͤthsverfaſſung, daß er wieder den Vorſatz faßte, ſich aller Nahrung zu enthalten, um Gott zur Erhoͤrung ſeines Gebets und zur Offenbarung eines ret¬ tenden Gedankens zu bewegen.

Wirklich fuͤhrte er dieſen Entſchluß mit derſelben zaͤhen Hartnaͤckigkeit aus, welche er das erſte Mal gezeigt hatte, wie es denn uͤberhaupt charakteriſtiſch iſt, daß paſſive Gemuͤ¬ ther, welche zu keiner reſoluten Handlung faͤhig ſind, eine negative Standhaftigkeit im Erdulden der hoͤchſten Leiden und in freiwillig uͤbernommenen Bußuͤbungen entwickeln koͤnnen, woran die entſchloſſenſte Energie Thatkraͤftiger oft ſcheitern wuͤrde. Ein auffallendes Beiſpiel davon im Großen bieten uns die hindoſtaniſchen Schwaͤrmer dar, welche bei aller Feig¬ heit des Nationalcharakters unter Selbſtpeinigungen der grau¬ ſamſten Art eine Reihe von Jahren zubringen. R. faſtete wiederum eine ganze Woche, ehe ſich ſeine Angehoͤrigen ent¬ ſchloſſen, ihn nach der Charité zuruͤckzubringen, und da er nur zuweilen ſeinen brennenden Durſt mit etwas Waſſer ſtillte, ſo mußten nach ſo vielen Stuͤrmen auf Gemuͤth und Koͤrper40 diesmal weit ſchlimmere Folgen hieraus hervorgehen, wie fruͤ¬ her. Daher wurden die Teufelsviſionen in den ſchlafloſen Naͤchten ſchrecklicher und anhaltender, als je, fortwaͤhrend ſah er ſich von fratzenhaften Koͤpfen mit Hoͤrnern, feurigen, rol¬ lenden Augen, langen Naſen, weit aufgeriſſenen Maͤulern, aus denen eine blutrothe Zunge weit heraushing, umgeben; ihre Zahl nahm immer mehr zu, je eifriger er durch Beten und durch Sprengen mit geweihtem Waſſer ſie zu vertreiben ſuchte. Zugleich umziſchte und umſauſte es ihn, wie unſicht¬ bare Geſpenſter, niemals aber hoͤrte er deutliche Worte. Von fuͤrchterlicher Angſt bis zur Erſchoͤpfung gefoltert, warf er ſich zuweilen aufs Bette, wurde indeß bald wieder aus ſeiner Betaͤubung durch neue Wahnbilder aufgeſchreckt. Zuletzt konnte er es im Dunkeln nicht mehr aushalten, indeß auch ein bren¬ nendes Licht brachte ihm keine große Erleichterung. Daß er nun eifriger als je Andachtsuͤbungen, Sprengen mit Waſſer, Hinausſcheuchen der Teufel aus allen Ecken vornahm, welche uͤberall in Schaaren auf ihn einſtuͤrmten, begreift ſich leicht. Schon fruͤher hatte er mit dem groͤßten Mißfallen bemerkt, daß Kaufleute Blaͤtter aus der Bibel und aus Andachtsbuͤ¬ chern zum Einpacken von Waaren benutzten, durch welche das goͤttliche Wort herabgewuͤrdigt werde; noch mehr empoͤrte es ihn, wenn die Kinder ſeiner Schweſter ſolche Blaͤtter zerriſ¬ ſen und auf die Erde warfen, wo es dann nicht ausbleiben konnte, daß der Name Gottes mit Fuͤßen getreten wurde. Vergebens ſuchte er dieſem, in ſeinen Augen gotteslaͤſterlichen Unfug zu ſteuern, und nur dadurch wußte er ſich zu helfen, daß er alle ſolche Blaͤtter, auch wenn ſie noch ſo ſehr be¬ ſchmutzt waren, ſorgfaͤltig in einem Spinde aufhob. In letz¬ terem lagen aber auch einige luſtige Lieder, welche er fuͤr teufliſche erklaͤrte, weshalb er in ſeiner damaligen Aufregung es fuͤr ſeine Pflicht hielt, eine Sonderung vorzunehmen. Vor¬ naͤmlich machte ihm dabei eine Sammlung von geiſtlichen und weltlichen Liedern zu ſchaffen, wobei er ſich nicht anders zu helfen wußte, als daß er die frommen Lieder herausriß, um die uͤbrigen nebſt den anderen vom Satan inficirten Sachen aus dem Hauſe zu ſchaffen. Hiermit beſchaͤftigt, waͤhnte er, einen betaͤubenden Donnerſchlag zu hoͤren, und einen auf das41 Haus niederzuckenden Blitzſtrahl zu ſehen. Entſetzt glaubte er, die Zeit ſei gekommen, wo Berlin in Flammen aufgehen werde, und er warf ſich auf die Kniee, um das goͤttliche Erbarmen fuͤr alle Glaͤubige anzuflehen. Bei einer anderen Gelegenheit riß er ſich in ſeiner Angſt die Kleider vom Leibe, und als er zugleich ein ſtetes Klopfen hoͤrte, war er uͤber¬ zeugt, daß der Teufel vor dem Hauſe ein Geruͤſt aufrichte, um ihn durch daſſelbe am Entfliehen zu verhindern und zu zerreißen. In großer Beſtuͤrzung kleidete er ſich eilig wieder an, und verlangte ſogar von ſeinem Bruder, daß derſelbe ſich gemeinſchaftlich mit ihm in dieſelben Kleider ſtecken ſolle.

Nach ſeiner am 12. Juli 1845 erfolgten Wiederauf¬ nahme in die Charité war er in ein tiefes und regungsloſes Schweigen verſunken, welches jede Unterredung mit ihm un¬ moͤglich machte; er achtete weder auf die ihm vorgelegten Fra¬ gen, noch auf ſeine Umgebungen, ſondern ſtierte in voͤlliger Geiſtesabweſenheit vor ſich hin. Es war dies der Zuſtand von gaͤnzlicher Concentration der geſammten Geiſtesthaͤtigkeit auf Einen Gegenſtand, wie er bei den Anachoreten und ſpaͤ¬ teren Einſiedlern oft genug vorgekommen iſt, welche, ganz in ihre religioͤſen Contemplationen vertieft, der Außenwelt ſo voͤl¬ lig mit ihrem Bewußtſein entfremdet waren, daß ſie auf Nichts um ſich her achteten. Zuvoͤrderſt mußte durch das Ein¬ floͤßen von Bouillon mit Huͤlfe einer elaſtiſchen Roͤhre der Ge¬ fahr eines Hungertodes vorgebeugt werden, und es war dieſe erzwungene Ernaͤhrung 6 Tage hindurch erforderlich, ehe er ſich zum freiwilligen Genuß der Speiſen bequemte. Theils glaubte er, man wolle ihn erſticken, weil durch das Einbrin¬ gen der Roͤhre in den Schlund das Athemholen ein wenig beeintraͤchtigt wurde, in welche Vorſtellung er ſich jedoch mit Ergebung in den Willen Gottes fuͤgte, nach welchem er in die Charité zuruͤckgebracht worden ſei; theils ſetzte er aber auch voraus, der Teufel habe den Aerzten befohlen, ihn durch Einfloͤßen von Nahrung zum Bruch ſeines Geluͤbdes zu zwin¬ gen, in welchem er ſich durch den Spruch zu beſtaͤrken ſuchte, daß er Berge verſetzen koͤnne, wenn er den rechten Glauben habe. Zugleich war es aber dringend nothwendig, durch eine heilſame Erſchuͤtterung des Nervenſyſtems mit Huͤlfe der42 Douche ihn aus der Welt des Wahns in die Wirklichkeit zu¬ ruͤckzurufen, ihn gleichſam aus ſeinem wachen Traum aufzu¬ wecken. Es geſchah dies auch mit ſo guͤnſtigem Erfolge, daß er bald die innere Angſt verlor, und ſich uͤber ſeine Lage zu beſinnen anfing, indem ſich zugleich ein ruhiger Schlaf ein¬ ſtellte. Er bezog dieſe heilſame Veraͤnderung ſelbſt ſo be¬ ſtimmt auf die Douche, daß er in ſpaͤterer Zeit wiederholt um ihre Anwendung bat, wenn er von Viſionen ſehr belaͤ¬ ſtigt wurde, welches beſonders dann der Fall war, wenn er reichlich Speiſen genoſſen hatte, deren Menge zu beſchraͤnken er dann ſelbſt fuͤr nothwendig hielt.

Schon nach 3 Wochen war ſeine Beſſerung ſo weit fort¬ geſchritten, daß er durch freiwilligen Genuß der dargebotenen Nahrung ſeine durch Faſten, leidenſchaftliche Aufregung und Schlafloſigkeit erſchoͤpften Kraͤfte voͤllig wiedererlangte, und ſomit in den Stand geſetzt wurde, mit den uͤbrigen reconva¬ leſcirenden Geiſteskranken an den uͤblichen geiſtigen und koͤr¬ perlichen Beſchaͤftigungen Theil zu nehmen. Die Vorzuͤge ſei¬ nes ſittlichen Charakters bewaͤhrten ſich auch jetzt durch ſein muſterhaftes Betragen, namentlich durch ſeine Bereitwilligkeit, ſich daruͤber aufklaͤren zu laſſen, daß das Uebermaaß ſeiner durch uͤbertriebene Andachtsuͤbungen erhitzten Froͤmmigkeit die weſentliche Urſache ſeiner Seelenleiden geworden war, deren verderbliche Folgen auch ihm einleuchteten. Weniger gelang es mir indeß, ihm begreiflich zu machen, daß er wohl daran thun werde, ſich mit der Erklaͤrung der Bibel, wie ſie ihm in den Predigten aufgeklaͤrter Geiſtlichen dargeboten werde, zu begnuͤgen, und ſich alles Forſchens in derſelben zu ent¬ halten, wobei er leicht wieder auf ſchlimme Abwege gerathen koͤnne; die Ueberzeugung, daß das Leſen der Bibel heilige Pflicht eines jeden Chriſten ſei, war bei ihm zu tief gewur¬ zelt, als daß er ſich davon haͤtte losſagen wollen. Auch die naͤchtlichen Hallucinationen gehoͤrten gewiſſermaaßen zu ſeinem Naturell, deſſen gaͤnzliche Umwandlung binnen einiger Mo¬ nate nicht zu Stande gebracht werden konnte; indeß verloren ſie ganz ihren beunruhigenden Charakter, ſo daß er nicht wei¬ ter auf ſie achtete. Nach Ablauf von 8 Monaten forderte ſein Vater abermals ſeine Entlaſſung, welche geſetzlich nicht ver¬43 weigert werden durfte; auch konnte er in ſofern fuͤr geheilt erklaͤrt werden, als er ſchon ſeit einer Reihe von Monaten von ſeinem Wahn gaͤnzlich befreit und in eine geiſtige und koͤrperliche Verfaſſung verſetzt war, welche ihn zum Betriebe ſeines Handwerks vollſtaͤndig befaͤhigte. Ob aber bei der vor¬ herrſchenden Paſſivitaͤt ſeines Charakters und ſeiner immer noch zur Schwaͤrmerei ſehr hinneigenden Froͤmmigkeit ſeine Heilung eine fuͤr das ganze Leben andauernde ſein werde, muß die Folgezeit lehren.

2.

W., 45 Jahre alt, der Sohn eines Schuhmachers in Stadt am Hof, erhielt von ihm eine angemeſſene Erziehung, erlernte nach der Einſegnung das Schneiderhandwerk, und trat hierauf ſeine Wanderſchaft an, welche ihn zuletzt nach Ber¬ lin fuͤhrte, woſelbſt er ſich vor 23 Jahren anſiedelte, zuerſt als Geſelle arbeitete, ſpaͤter als Meiſter ſich einrichtete, und nachdem ſeine erſte Frau, welche ihm in mehrjaͤhriger gluͤckli¬ cher Ehe 4 Kinder geboren hatte, geſtorben war, ſich mit einer Jugendfreundin verheirathete, mit welcher er in gleich¬ falls gluͤcklicher, kinderloſer Ehe lebte. Wir uͤberſpringen alle dieſe Verhaͤltniſſe, weil ſie zur Entwickelung ſeines ſpaͤteren religioͤſen Wahns nichts beitrugen, mit der Bemerkung, daß er ſtets geſund, heiter und kraͤftig von Gemuͤth war, und daß er ſeiner ganzen Erſcheinung nach jenen ehrbaren, fleißi¬ gen und redlichen Handwerkern angehoͤrt, welche in der Be¬ ſchraͤnktheit kleinbuͤrgerlicher Verhaͤltniſſe eine hinreichende Be¬ friedigung gemaͤßigter Wuͤnſche finden, um mit jedem An¬ triebe maͤchtiger Leidenſchaft fuͤr immer verſchont zu bleiben, wenn ihnen dieſelben nicht im Widerſpruch mit ihrem Natu¬ rell eingeimpft werden. Zur religioͤſen Schwaͤrmerei neigte er ſo wenig hin, daß er nur ſelten am Gottesdienſte Theil nahm, und ſich auch außerdem nicht vielen Andachtsuͤbungen hingab.

Im Jahre 1842 theilte ihm ein Mitglied der hier be¬ ſtehenden Secte der Wiedertaͤufer mehrere Miſſionsblaͤtter und Traktaͤtchen mit, wodurch er ſich beſtimmen ließ, den gottes¬44 dienſtlichen Verſammlungen derſelben zuerſt ſeltener, dann haͤufiger beizuwohnen. Indeß dauerte es doch lange, ehe W. der neuen Secte ſeine innere Ueberzeugung und ſein ganzes Herz zuwandte. Schon der allzu ſehr gehaͤufte Gottesdienſt, welcher an den Sonntagen zweimal und außerdem noch an mehreren Wochenabenden gehalten wurde, uͤberbot ſeine Faſ¬ ſungsgabe ſo ſehr, daß er an manchen Tagen nicht mehr wußte, was er gehoͤrt hatte, und er ſeinen Kopf mit einem von Speiſen uͤberfuͤllten Magen verglich. Noch mehr wurde ſein Mißfallen erregt durch das zelotiſche Eifern gegen den als Suͤnde verſchrieenen Beſuch erlaubter Vergnuͤgungsorte, durch die in der Gemeinde haͤufig ausbrechenden Streitigkei¬ ten uͤber die richtige Auslegung der Bibel, am meiſten aber durch die oft gehoͤrte Behauptung, daß die anderen Chriſten nicht ſeelig werden koͤnnten, weil ſie nicht die wahre Taufe empfangen haͤtten, und deshalb nicht nach dem Evangelium lebten. W. fuͤhlte ſich dadurch ſo ſehr zuruͤckgeſtoßen, daß er nur um ſo eifriger den verpoͤnten Beſuch der Kirchen fort¬ ſetzte, und wahrſcheinlich wuͤrde ſein damals noch geſundes Ur¬ theil ihn gegen die hereinbrechende Gefahr des Wahnſinns ge¬ ſchuͤtzt haben, wenn nicht die zu jedem fanatiſchen Sectengeiſte ſich hinzugeſellende religioͤſe Schwaͤrmerei auch in ſein Ge¬ muͤth ſich heimlich eingeſchlichen und daſſelbe zuletzt beherrſcht haͤtte. So geſchah es, daß er aller urſpruͤnglichen Abneigung gegen die Wiedertaͤufer ungeachtet dennoch zuletzt durch einen unwiderſtehlichen Drang zu ihnen ſich hingezogen fuͤhlte und ihren Lehren nun ein offenes Ohr lieh, zumal da oft genug Emiſſaire an ihn abgeſchickt wurden, um ihn zu bearbeiten. Immer noch machte er dieſen genug zu ſchaffen, denn wie oft ſie ihm auch begreiflich zu machen ſuchten, daß der Ritus der Taufe, wie ſie an Chriſtus im Jordan vollzogen worden, das Vorbild zur Wiederholung dieſes Sacraments an Erwach¬ ſenen werden muͤſſe, welche nur dadurch, ſo wie durch den rechten Glauben ſeelig werden, außerdem aber der Verdamm¬ niß nicht entgehen koͤnnten; ſo wollte ihm dies doch keines¬ weges einleuchten, da er ſtandhaft ſeine alte Ueberzeugung vertheidigte, daß ein rechtſchaffener Wandel die Hauptbedin¬ gung zur Seeligkeit, und ohne ihn der Glaube nur Heuchelei ſei.

45

Indeß eine ungewohnte ſtarke Erregung des religioͤſen Gefuͤhls, welches eben dadurch in den Vordergrund des Be¬ wußtſeins tritt, und ſich an allen uͤbrigen Vorſtellungen und Gefuͤhlen reflectirt, hat meiſtentheils die Wirkung, daß der Menſch, indem er ſein ganzes Innere und alle Außenverhaͤlt¬ niſſe anhaltend vom religioͤſen Standpunkte uͤberſchaut, Alles in einer voͤllig veraͤnderten Bedeutung erblickt, und deshalb leicht einen gaͤnzlichen Umſchwung der Geſinnung und Denk¬ weiſe erfaͤhrt. Indem naͤmlich das religioͤſe Bewußtſein in praktiſcher Beziehung ſich als Gewiſſen darſtellt, muß auch ſeine erhoͤhte Lebendigkeit den inneren Richter zu einer weit groͤßeren Strenge und Schaͤrfe des Urtheils veranlaſſen, ſo daß eine Menge von Gefuͤhlen und Handlungen, welche fruͤ¬ her fuͤr erlaubt gehalten wurden, jetzt als verdaͤchtig, tadelns¬ werth, ja verdammlich erſcheinen. Der Menſch wird dann im Handeln zaghaft und unentſchloſſen, weil er uͤberall auf Gewiſſensſcrupel ſtoͤßt, welche ihm bisher unbekannt geblieben waren, und zieht ſich daher mehr in ein beſchauliches Leben zuruͤck, wo er dem unvermeidlichen Widerſtreit im Praktiſchen ausweichen zu koͤnnen hofft, aber um ſo mehr in allen Ge¬ fuͤhlen zur hoͤchſten Reizbarkeit ſich ſteigert, ſo daß ſein fruͤ¬ heres Leben ihm nur tadelnswerth erſcheint, und ihm bittere Reue bringt. Hieraus erklaͤrt es ſich, daß W. durch die Tribulationen ſeiner neuen Glaubensgenoſſen zuletzt in eine Beaͤngſtigung verſetzt wurde, als ob ſein Gewiſſen ihn mit ſchweren Anklagen belaſte, und ihm dadurch ein neues Heils¬ mittel zum dringenden Beduͤrfniß mache. Um ſich daruͤber weiter aufzuklaͤren, las er ſelbſt waͤhrend der Arbeit fleißig in der Bibel, welches ihm von den Sectenmitgliedern nicht nur zur Pflicht gemacht, ſondern woruͤber er noch oft von ihnen controlirt wurde. Von Zweifeln noch immer bewegt, vergeblich nach Klarheit ringend, gerieth er allmaͤhlig in eine ſolche Bangigkeit, daß er ſeine Arbeit nicht geregelt betreiben konnte, und ſelbſt waͤhrend der Naͤchte keine erquickende Ruhe fand, ſondern durch aͤngſtliche Traͤume von finſteren Larven und haͤßlichen alten Weibern aus dem Schlafe aufgeſchreckt wurde. Endlich glaubte er in der Bibel die Beſtaͤtigung da¬ fuͤr zu finden, daß er fuͤr die vielen von ihm begangenen46 Suͤnden der Gnade Gottes und der geiſtlichen Wiedergeburt durch eine erneuerte Taufe in einem beſonders hohen Grade beduͤrftig ſei, und ſo bewarb er ſich um die Aufnahme in die Gemeinde der Wiedertaͤufer, als an einem Abende diejenigen aufgerufen wurden, welche dazu bereitwillig waren. Sie alle, 14 an der Zahl, mußten Reue uͤber ihre Suͤnden bezeugen, und es ſollen Viele unter ihnen geweint, geſeufzt, laut auf¬ geſchrieen und ihr Bedauern ausgeſprochen haben, daß ſie ſich nicht von Jugend auf an Gottes Wort gehalten haͤtten.

Am 29. April 1842, fruͤh um 6 Uhr, begab er ſich mit den uͤbrigen Taͤuflingen an den ¼ Meile von Berlin entfernten Rummelsburger See, an deſſen Ufer zwei Zelte zum Auskleiden fuͤr beide Geſchlechter aufgeſchlagen waren. Jeder mußte ſeine Kleider bis aufs Hemde ablegen, uͤber welches ein anderes in Form einer Blouſe angelegt und mit einem Guͤrtel befeſtigt wurde. Vor der Taufhandlung wurde ein Gebet abgehalten, ein Kirchenlied geſungen und ein Text aus dem neuen Teſtamente vorgeleſen, an welchen der Red¬ ner eine Ermahnung knuͤpfte, und in letzterer die aufgehende Sonne als Symbol der Gnadenſonne Chriſti benutzte, welche ihrem Geiſte leuchten, und die in der freien Natur als dem Tempel Gottes zu vollziehende Taufe heiligen ſolle. Hierauf wurde jeder Taͤufling in den See gefuͤhrt, woſelbſt der Red¬ ner ihn mit der linken Hand am Guͤrtel ergriff, und mit ſeiner Rechten den Kopf unter das Waſſer druͤckte, indem er die Worte ausſprach: ich ich taufe dich im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geiſtes. Die ganze Handlung war indeß weit entfernt, einen erheben¬ den Eindruck auf W. zu machen, da ein Gemiſch der wi¬ derſtreitendſten Gefuͤhle ſich ſeiner bemaͤchtigte. Das Schluch¬ zen und Schreien der Weiber, unter denen auch ſeine 15jaͤh¬ rige Tochter war, ſtoͤrte eben ſo ſehr ſeine Andacht, als das Schaamgefuͤhl, ſich oͤffentlich entkleiden zu muͤſſen, und dem Gaffen vieler neugierigen Zuſchauer ausgeſetzt zu ſein; dabei klapperten ihm die Zaͤhne vor Froſt, und erſt als er in ſeine Wohnung zuruͤckgekehrt am Tiſche niederkniete, um Gott fuͤr die Wiedergeburt in der Taufe zu danken, fuͤhlte47 er ſich gluͤcklich in der Ueberzeugung, durch ſie nunmehr der Seeligkeit gewiß geworden zu ſein.

Jedoch es ſollte ihm nicht ſo wohl werden, ſich lange Zeit des vermeintlich gewonnenen Heils erfreuen zu koͤnnen. Seine uͤbertriebenen Andachtsuͤbungen, zumal ein haͤufiges Bibelleſen waͤhrend der Arbeit, erhielten ihn in einer uͤberaus reizbaren Stimmung, welche oft in uͤble Laune uͤberging, wenn ſeine neuen Glaubensgenoſſen ihn beſuchten, um ihn uͤber ſeine Fortſchritte in der Froͤmmigkeit auszuforſchen, und ihn aufforderten, reuig in ſich zu gehen, um jede noch uͤbrig gebliebene Herzenshaͤrtigkeit aufzuſpuͤren und zu vertilgen. Daß es dabei nicht ohne Streit, animoſe Anſpielungen und mannigfache Retorſionen abging, laͤßt ſich leicht denken, da eine ſittliche Cenſur, wenn ſie von gewoͤhnlichen Menſchen ausgeuͤbt wird, welche ſich ſelbſt viel zu wenig kennen, als daß ſie die Moralitaͤt Anderer richtig beurtheilen koͤnnten, nur allzuleicht gehaͤſſige, egoiſtiſche Nebenabſichten in ſich ſchließt, und dadurch im hoͤchſten Grade kraͤnken, erbittern, verletzen muß. Vorzuͤglich kam es aber zum Bruch zwiſchen W. und ſeinen Glaubensgenoſſen, als er der unter ihnen beſtehenden Sitte gemaͤß die kranke Ehefrau eines gewiſſen K. beſuchte, um ihr Troſt einzuſprechen und ihr ſeine Theilnahme zu be¬ zeugen. Dabei knuͤpfte er mit dem K. ein Geſpraͤch uͤber Bibelſtellen an, und berief ſich unter anderem auf einen Vers, in welchem Chriſtus von dem durch ihn dem Men¬ ſchengeſchlecht verliehenen Frieden ſpricht. K. verneinte die Guͤltigkeit dieſes Ausſpruchs mit Hindeutung auf die aus¬ druͤckliche Erklaͤrung Chriſti, daß er das Schwert in die Welt gebracht habe, und erzuͤrnte dadurch den W. dergeſtalt, daß dieſer ausrief: Sie luͤgen, von jenem aber die richtige Ge¬ genbemerkung hoͤren mußte: Lieber Bruder, haben Sie denn den Frieden? Hoͤchſt aufgebracht entfernte ſich W., und ein¬ gedenk, daß Chriſtus ſeinen Juͤngern rieth, ſie ſollten den Staub von den Fuͤßen ſchuͤtteln, wenn ſie irgendwo uͤbel auf¬ genommen wuͤrden, that er das Gleiche beim Weggehen, und fuͤhlte ſich dadurch in ſeinem Innern erleichtert und beruhigt. Hierauf theilte er den ganzen Vorgang dem Vorſteher der Gemeinde mit, welcher ihm einen derben Verweis ertheilte,48 ihm die Theilnahme an der naͤchſten Abendmahlsfeier verſagte (alſo eine wahre Ercommunication), und ihn vor der darauf folgenden Communion aufforderte, ſich zuvor mit dem K. aus¬ zuſoͤhnen. Dazu war indeß W. nicht zu bewegen, welcher weit entfernt, ſein Benehmen zu bereuen, daſſelbe vielmehr mit Berufung auf Bibelſtellen zu rechtfertigen ſuchte, und es durchzuſetzen wußte, daß er, ohne nachgeben zu muͤſſen, an dem Abendmahl Theil nehmen konnte.

Was iſt uͤberhaupt fuͤr einen mehr heißen als erleuchte¬ ten Kopf leichter, als uͤber die Bibel in einen endloſen und erbitterten Streit zu gerathen, da ſie das ganze Leben mit ſeinem unendlichen Reichthum an Gegenſaͤtzen umfaſſend, ſie oft nur mit orakelartiger Kuͤrze beruͤhren kann, weshalb jene Gegenſaͤtze, wenn ſie nicht von einem tuͤchtigen Denker in ih¬ rem inneren organiſchen Zuſammenhange ergriffen werden, in ihrem Widerſpruche ſtehen bleiben, und deshalb die Einſeiti¬ gen zu dem grimmigſten Hader verfeinden. Da W. nicht aus innerer Noͤthigung eines urſpruͤnglichen Glaubensbeduͤrf¬ niſſes zu den Wiedertaͤufern uͤbergetreten, ſondern nur durch eine erzwungene Aufregung myſtiſcher Gefuͤhle faſt gewaltſam zu ihnen hingezogen war; ſo ſchloß ſein Bund mit ihnen ſchon von vorn herein alle Elemente der Zwietracht in ſich, welche durch taͤgliche Zaͤnkereien noch mehr genaͤhrt wurden, und ihn zu einer Streitſucht herausforderten, welche bei den mannigfachſten Gelegenheiten zum Ausbruch kam. Es war ihm unſtreitig Ernſt mit ſeinem Glaubenseifer, da ſein ent¬ ſchiedener Charakter Nichts nur zur Haͤlfte ergreift; daher for¬ derte er, daß dem Evangelium im rigoriſtiſchem Sinne nach¬ gelebt werden ſolle; z. B. verlangte er, daß das Brot beim Abendmahl nicht geſchnitten, ſondern gebrochen werden muͤſſe, weil Chriſtus es ſo gethan habe; daß die Ceremonie des Fu߬ waſchens eingefuͤhrt werde, da Chriſtus zu Petrus geſagt habe: So nun Ich, Euer Herr und Meiſter, Euch die Fuͤße ge¬ waſchen habe, ſo ſollt Ihr auch Euch unter einander die Fuͤße waſchen. (Evang. Joh. 13, V. 14.). Natuͤrlich ſetzte dieſe buchſtaͤbliche Bibelauslegung wieder tuͤchtigen Streit, welcher faſt gar kein Ende nahm.

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Mehr als alles Uebrige erregte es aber ſein Befremden, daß den Predigten beinahe niemals Texte aus den Evangelien und Epiſteln, ſondern faſt nur aus dem alten Teſtamente und der Offenbarung Johannis zum Grunde gelegt wurden, um durch die moſaiſche Lehre von dem ſtarken und eifrigen Gotte, wel¬ cher die Juden fuͤr ihren Goͤtzendienſt zuͤchtigte, und durch die Vergleichung des ſiebenkoͤpfigen Thiers in der Apokalypſe mit dem auf 7 Huͤgeln erbauten Rom Gelegenheit zum zelotiſchen Eifern gegen alle Diejenigen zu geben, welche von dem (al¬ lein) ſeligmachenden Glauben der Wiedertaͤufer abwichen. Es fehlte nicht an wiederholten Anſpielungen, daß der Beſuch an¬ derer Kirchen den Weg zum Verderben bahne, wogegen daher dringend gewarnt wurde. Dadurch beſtaͤrkte W. ſich immer mehr in der Ueberzeugung, daß die Secte der Wiedertaͤufer voͤllig vom Chriſtenthume abgewichen, und zum juͤdiſchen Glau¬ ben uͤbergetreten ſei, und er nahm davon Veranlaſſung, an den Vorſtand der Gemeinde einen Brief voll der heftigſten Vor¬ wuͤrfe zu richten, und in ihm eine offene Erklaͤrung des Glau¬ bensbekenntniſſes zu fordern. Da er keine Antwort erhielt, ſo griff er, auf Ausſpruͤche der Bibel geſtuͤtzt, ſeine neuen Gegner mit einer ſolchen Erbitterung an, daß ſie ihm wiederholt zu¬ riefen: Du haſt den Teufel! Es liegt im Weſen des Arg¬ wohns, gehaͤſſigen Vorausſetzungen eine moͤglichſt große Aus¬ dehnung zu geben, und ſo kam W. bald dahin, die Stiftung der neuen Secte aus den niedrigſten Motiven des Eigennutzes abzuleiten, und das Erheben einer woͤchentlichen Abgabe von durchſchnittlich 5 Silbergroſchen, welche jedes Mitglied zur Be¬ ſtreitung der Koſten des Gottesdienſtes entrichten mußte, fuͤr eine habſuͤchtige Beſteuerung im Namen der Religion zu halten.

Kein Wunder daher, daß er ſich allmaͤhlig immer mehr den Wiedertaͤufern entfremdete, und in die evangeliſche Kirche zuruͤckkehrte, wo die gehaltvollen und durchdachten Predigten ausgezeichneter Kanzelredner, mit denen die von den Wieder¬ taͤufern gehaltenen Vortraͤge auch in ſeinem Urtheile nicht den entfernteſten Vergleich aushalten konnten, ihn bald zur Beſin¬ nung brachten. Als es ſo weit mit ihm gekommen war, em¬ pfand er bittere Reue uͤber ſeinen Uebertritt zu ihnen, welcherIdeler uͤber d. rel. Wahnſinn. 450ihm als Abfall vom wahren Glauben erſcheinen mußte, und da ſeine Selbſtanklagen noch geſchaͤrft wurden durch bittere Vorwuͤrfe uͤber ſeinen Religionswechſel von hieſigen Freunden und von Verwandten in der Heimath, ſo ließ er ſich weder durch Liebkoſungen einiger Gemeindemitglieder, welche ſich ihn gern erhalten wollten, noch durch Anſpielungen in den Ver¬ ſammlungen auf ihn als einen abtruͤnnigen Judas laͤnger irre machen, ſondern riß ſich entſchieden und auf immer von ihnen los. Das Bibelleſen war ihm ſchon zum Beduͤrfniß gewor¬ den, und mit ſich in ſeinen religioͤſen Begriffen uneins, hielt er eine eifrige Fortſetzung deſſelben fuͤr ſeine dringendſte Pflicht, um durch fortgeſetztes Forſchen in der Schrift zur wahren Got¬ teserkenntniß und zum richtigen Urtheil uͤber ſeine bisherigen, von ihm verkannten Irrthuͤmer zu gelangen. Zwar vernach¬ laͤſſigte er ſeine Erwerbsthaͤtigkeit noch nicht, aber ſein Sinn hatte ſich doch ſchon den Weltverhaͤltniſſen zu ſehr entfremdet, als daß die Reflexion uͤber dieſelben ihn noch gegen den all¬ maͤhlig aufkeimenden Wahn haͤtte ſchuͤtzen koͤnnen. Denn es fehlte ſeinem Geiſte ſchon durchaus jene Klarheit, welche das Licht der religioͤſen Wahrheiten haͤtte ungetruͤbt in ſich aufneh¬ men koͤnnen; ſein von Zweifeln und inneren Widerſpruͤchen zerriſſenes Denken war zur folgerichtigen Entwickelung jener Wahrheiten zu uͤbereinſtimmenden praktiſchen Begriffen voͤllig unfaͤhig geworden.

Das Ebengeſagte ſprach ſich beſonders in einigen ſchrift¬ lichen Aufſaͤtzen aus, welche W. waͤhrend der letzten Monate vor dem Ausbruche ſeines Wahnſinns verfaßte. Nicht zufrie¬ den, den Inhalt der Bibel durch unablaͤſſiges Leſen derſelben ſich anzueignen, wollte er ihn auch zu beſtimmten Begriffen auspraͤgen, und er benutzte deshalb mannigfache aͤußere Ver¬ anlaſſungen, welche ſein religioͤſes Intereſſe erregend, ihn zu verſchiedenartigen, oft ſehr ausfuͤhrlichen Betrachtungen daruͤber herausforderten. Insbeſondere machte die Ausſtellung des hei¬ ligen Rocks in Trier einen ſo tiefen Eindruck auf ihn, daß er als Schriftſteller dagegen auftreten, und nicht blos Artikel in Zeitungen einruͤcken laſſen, ſondern auch ſelbſtſtaͤndige Schrif¬ ten daruͤber in Druck geben wollte. Eben ſo empoͤrte es ihn tief, als die Nachricht von dem Attentat auf Se. Majeſtaͤt den51 Koͤnig ihm bekannt wurde, weil ſeine ſtreng religioͤſe Denk¬ weiſe die Groͤße des Frevels hinreichend begriff. Er machte ſeinem Gefuͤhle in einer Reihe von Gedichten Luft, wie er denn auch bei anderen Gelegenheiten, z. B. beim Jahreswechſel Ge¬ dichte verfertigte, denen meiſtens ſchon aller innere Gedanken¬ zuſammenhang fehlte. Wer wollte die Geſinnung des W. nicht loben, welcher nach deutlichen Vorſtellungen rang, nachdem er im unſeeligen Zwieſpalt ſeines religioͤſen Gefuͤhls die Klarheit und Ordnung ſeiner Begriffe verloren hatte; wer ihn nicht aufrichtig beklagen, daß er daruͤber ſeinen naͤchſten Beruf gaͤnzlich vergaß, fuͤr die Wohlfahrt ſeiner Familie zu ſorgen? Denn ſchon war es dahin gekommen, daß er ſeinen Erwerb vernachlaͤſſigte, um die meiſte Zeit dem Abfaſſen von Aufſaͤtzen zu widmen, und wenn es ihm damit nicht gelingen wollte, viele Kapitel aus der Bibel bis tief in die Nacht abzuſchrei¬ ben. Er lebte in der Taͤuſchung, welche ſo oft der unklaren, aber leidenſchaftlich aufgeregten Koͤpfe ſich bemaͤchtigt, daß das Ungewohnte lebhafte Aufſprudeln ſelbſt der verworrenſten Vor¬ ſtellungen ſchon die Befaͤhigung anzeige, uͤber die großen und allgemeinen Angelegenheiten ein Wort mitzureden. Daher wollte er ſeine Aufſaͤtze, welche er groͤßtentheils von einem ihm ver¬ ſchuldeten Schreiber corrigiren und mundiren ließ, drucken laſſen. Vergebens ſtellte ihm ſeine Frau vor, daß ihm alle Erforder¬ niſſe eines Schriftſtellers abgingen, und daß er fuͤr die Sei¬ nigen, namentlich fuͤr den bald faͤlligen Miethzins ſorgen ſolle. Anſtatt ihn zur Beſinnung zu bringen, floͤßte ſie ihm einen heftigen Haß gegen ſich ein, ſo daß er oft es ausſprach, er Wolle ſie verſtoßen, ungeachtet ſie ihn kuͤmmerlich mit Hand¬ arbeiten ernaͤhren mußte.

In die heftigſte Aufregung wurde aber W. verſetzt, als etwa 6 Wochen vor ſeiner Aufnahme in die Charité ein Wie¬ dertaͤufer nochmals den Verſuch machte, ihn zur Ruͤckkehr zu der verlaſſenen Secte zu bewegen. Es kam dabei zu einem erbitterten Streit, indem jener die Behauptung ausgeſprochen haben ſoll, daß die Vorſteher jener Secte die Schluͤſſel zum Himmelreich fuͤhren, worauf W. mit der groͤßten Entruͤſtung erwiederte, daß Chriſtus allein dieſe Schluͤſſel habe. Dieſer Streit veranlaßte ihn, einen heftigen Brief an den Vorſtand4 *52der Wiedertaͤufer zu ſchreiben, welcher ihm den Beſcheid er¬ theilte, daß er nunmehr definitiv aus der Secte ausgeſtoßen ſei. Daß ſein Gemuͤthszuſtand durch die nochmalige Aufregung aller ihm ſo verderblich gewordenen religioͤſen Controverſen und nach allem Vorhergegangenen nun gaͤnzlich aus den Fugen wei¬ chen mußte, begreift ſich leicht, daher denn auch