PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Leute von Seldwyla.
Erzählungen
Braunſchweig,Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.1856.
Die Leute von Seldwyla.

Inhalt.

  • Pankraz, der Schmoller9
  • Frau Regel Amrain und ihr Jüngſter113
  • Romeo und Julia auf dem Dorfe209
  • Die drei gerechten Kammmacher360
  • Spiegel, das Kätzchen447
[1]

Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und ſonnigen Ort, und ſo iſt auch in der That das kleine Städtchen dieſes Namens gelegen irgendwo in der Schweiz. Es ſteckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Thürmen, wie vor dreihundert Jahren, und iſt alſo immer das gleiche Neſt; daß dies aber ein tiefer urſprünglicher Plan war, beweiſ't der Um¬ ſtand, daß die Gründer der Stadt dieſelbe eine gute halbe Stunde von einem ſchiffbaren Fluſſe angelegt, zum deutlichen Zeichen, daß nichts dar¬ aus werden ſolle. Aber ſchön iſt ſie gelegen mit¬ ten in grünen Bergen, die nach der Mittagſeite zu offen ſind, ſo daß wohl die Sonne herein kann, aber kein rauhes Lüftchen. Deswegen ge¬ deiht auch ein ziemlich guter Wein rings um die alte Stadtmauer, während höher hinauf an den Bergen unabſehbare Waldungen ſich hinziehen,Keller, die Leute von Seldwyla. I. 12welche das Vermögen der Stadt ausmachen; denn dies iſt das Wahrzeichen und ſonderbare Schickſal derſelben, daß die Gemeinde reich iſt und die Bürgerſchaft arm, und zwar ſo, daß kein Menſch zu Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wo¬ von ſie ſeit Jahrhunderten eigentlich leben. Und ſie leben ſehr luſtig und guter Dinge, halten die Gemüthlichkeit für ihre beſondere Kunſt und wenn ſie irgendwo hinkommen, wo man anderes Holz brennt, ſo kritiſiren ſie zuerſt die dortige Ge¬ müthlichkeit und meinen, ihnen thue es doch nie¬ mand zuvor in dieſer Handtierung.

Der Kern und der Glanz des Volkes beſteht aus den jungen Leuten von etwa zwanzig bis fünf, ſechs und dreißig Jahren, und dieſe ſind es, welche den Ton angeben, die Stange halten und die Herrlichkeit von Seldwyla darſtellen. Denn während dieſes Alters üben ſie das Ge¬ ſchäft, das Handwerk, den Vortheil oder was ſie ſonſt gelernt haben, d. h. ſie laſſen, ſo lange es geht, fremde Leute für ſich arbeiten und benutzen ihre Profeſſion zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehres, der eben die Grundlage der Macht, Herrlichkeit und Gemüthlichkeit der Herren3 von Seldwyl bildet und mit einer ausgezeichneten Gegenſeitigkeit und Verſtändnißinnigkeit gewahrt wird; aber wohlgemerkt, nur unter dieſer Ariſto¬ kratie der Jugend. Denn ſo wie Einer die Grenze der beſagten blühenden Jahre erreicht, wo die Männer anderer Städtlein etwa anfangen erſt recht in ſich zu gehen und zu erſtarken, ſo iſt er in Seldwyla fertig; er muß fallen laſſen und hält ſich, wenn er ein ganz gewöhnlicher Seld¬ wyler iſt, ferner am Orte auf als ein Entkräft¬ teter und aus dem Paradies des Credites Ver¬ ſtoßener, oder wenn noch etwas in ihm ſteckt, das noch nicht verbraucht iſt, ſo geht er in fremde Kriegsdienſte und lernt dort für einen fremden Tyrannen, was er für ſich ſelbſt zu üben ver¬ ſchmäht hat, ſich einzuknöpfen und ſteif aufrecht zu halten. Dieſe kehren als tüchtige Kriegs¬ männer nach einer Reihe von Jahren zurück und gehören dann zu den beſten Exerziermeiſtern der Schweiz, welche die junge Mannſchaft zu erziehen wiſſen, daß es eine Luſt iſt. Andere ziehen noch anderwärts auf Abenteuer aus gegen das vier¬ zigſte Jahr hin, und in den verſchiedenſten Welt¬ theilen kann man Seldwyler treffen, die ſich alle1 *4dadurch auszeichnen, daß ſie ſehr geſchickt Fiſche zu eſſen verſtehen, in Auſtralien, in Californien, in Texas, wie in Paris oder Konſtantinopel.

Was aber zurückbleibt und am Orte alt wird, das lernt dann nachträglich arbeiten, und zwar jene krabbelige Arbeit von tauſend kleinen Din¬ gen, die man eigentlich nicht gelernt, für den täglichen Kreuzer, und die alternden verarmten Seldwyler mit ihren Weibern und Kindern ſind die emſigſten Leutchen von der Welt, nachdem ſie das erlernte Handwerk aufgegeben, und es iſt rührend anzuſehen, wie thätig ſie dahinter her ſind, ſich die Mittelchen zu einem guten Stückchen Fleiſch von ehedem zu erwerben. Holz haben alle Bürger die Fülle und die Gemeinde verkauft jährlich noch einen guten Theil, woraus die große Armuth unterſtützt und genährt wird, und ſo ſteht das alte Städtchen in unveränderlichem Kreislauf der Dinge bis heute. Aber immer ſind ſie im Ganzen zufrieden und munter, und wenn je ein Schatten ihre Seele trübt, wenn etwa eine allzuhartnäckige Geldklemme über der Stadt weilt, ſo vertreiben ſie ſich die Zeit und ermuntern ſich durch ihre große politiſche Beweg¬5 lichkeit, welche ein weiterer Charakterzug der Seldwyler iſt. Sie ſind nämlich leidenſchaftliche Parteileute, Verfaſſungsreviſoren und Antragſtel¬ ler, und wenn ſie eine recht verrückte Motion ausgeheckt haben und durch ihr Großrathsmitglied ſtellen laſſen, oder wenn der Ruf nach Verfaſ¬ ſungsänderung in Seldwyla ausgeht, ſo weiß man im Lande, daß im Augenblicke dort kein Geld zirkulirt. Dabei lieben ſie die Abwechſelung der Meinung und Grundſätze und ſind ſtets den Tag darauf, nachdem eine Regierung gewählt iſt, in der Oppoſition gegen dieſelbe. Iſt es ein radi¬ kales Regiment, ſo ſchaaren ſie ſich, um es zu ärgern, um den konſervativen frömmlichen Stadt¬ pfarrer, den ſie noch geſtern gehänſelt, und ma¬ chen ihm den Hof, indem ſie ſich mit verſtellter Begeiſterung in ſeine Kirche drängen, ſeine Pre¬ digten preiſen und mit großem Geräuſch ſeine gedruckten Tractätchen und Berichte der Baſeler - Miſſionsgeſellſchaft umherbieten, natürlich ohne ihm einen Pfennig beizuſteuern. Iſt aber ein Regiment am Ruder, welches nur halbwegs kon¬ ſervativ ausſieht, ſtracks drängen ſie ſich um die vier Volkslehrer des Städtchens und der Pfarrer6 hat genug an den Glaſer zu zahlen für einge¬ worfene Scheiben. Beſteht hingegen die Regie¬ rung aus liberalen Juriſten, die viel auf die Form halten, und aus häcklichen Geldmännern, ſo laufen ſie flugs dem nächſt wohnenden So¬ zialiſten zu und ärgern die Regierung, indem ſie denſelben in den Rath wählen mit dem Feld¬ geſchrei: Es ſei nun genug des politiſchen For¬ menweſens, und die materiellen Intereſſen ſeien es, welche allein das Volk noch kümmern könnten. Heute wollen ſie das Veto haben und ſogar die unmittelbarſte Selbſtregierung mit permanenter Volksverſammlung, wozu freilich die Seldwyler am meiſten Zeit hätten, morgen ſtellen ſie ſich übermüdet und blaſirt in öffentlichen Dingen und laſſen ein halbes Dutzend alte Stillſtänder, die vor dreißig Jahren fallirt und ſich ſeither ſtill¬ ſchweigend rehabilitirt haben, die Wahlen beſorgen; alsdann ſehen ſie behaglich hinter den Wirths¬ hausfenſtern hervor die Stillſtänder in die Kirche ſchleichen und lachen ſich in die Fauſt, wie jener Knabe, welcher ſagte: Es geſchieht meinem Vater ſchon recht, wenn ich mir die Hände verfriere, warum kauft er mir keine Handſchuhe! Geſtern7 ſchwärmten ſie allein für das eidgenöſſiſche Bun¬ desleben und waren höchlich empört, daß man Anno 48 nicht gänzliche Einheit hergeſtellt habe; heute ſind ſie ganz verſeſſen auf die Kantonal¬ ſouveränetät und haben nicht mehr in den Na¬ tionalrath gewählt.

Wenn aber eine ihrer Aufregungen und Mo¬ tionen der Landesmehrheit ſtörend und unbequem wird, ſo ſchickt ihnen die Regierung gewöhn¬ lich als Beruhigungsmittel eine Unterſuchungs¬ kommiſſion auf den Hals, welche die Verwaltung des Seldwyler Gemeindegutes reguliren ſoll; dann haben ſie vollauf mit ſich ſelbſt zu thun und die Gefahr iſt abgeleitet.

Alles dies macht ihnen tauſend Spaß, der nur überboten wird, wenn ſie allherbſtlich ihren jungen Wein trinken, den gährenden Moſt, den ſie Sauſer nennen; wenn er gut iſt, ſo iſt man des Lebens nicht ſicher unter ihnen, und ſie ma¬ chen einen Höllenlärm; die ganze Stadt duftet nach jungem Wein und die Seldwyler taugen dann auch gar nichts. Je weniger aber ein Seldwyler zu Hauſe was taugt, um ſo beſſer hält er ſich ſonderbarer Weiſe, wenn er ausrückt,8 und ob ſie einzeln oder in Kompagnie ausziehen, wie z. B. in früheren Kriegen, ſo haben ſie ſich doch immer gut gehalten. Auch als Spekulant und Geſchäftsmann hat ſchon mancher ſich rüſtig umgethan, wenn er nur erſt aus dem warmen ſonnigen Thale herauskam, wo er nicht gedieh.

In einer ſo luſtigen und ſeltſamen Stadt kann es an allerhand ſeltſamen Geſchichten und Lebensläufen nicht fehlen, da Müſſiggang aller Laſter Anfang iſt. Doch nicht ſolche Geſchichten, wie ſie in dem beſchriebenen Charakter von Seld¬ wyla liegen, will ich eigentlich in dieſem Büchlein erzählen, ſondern einige ſonderbare Abfällſel, die ſo zwiſchen durch paſſirten, gewiſſermaßen aus¬ nahmsweiſe, und doch auch gerade nur zu Seld¬ wyla vor ſich gehen konnten.

9

Pankraz, der Schmoller.

Auf einem ſtillen Seitenplätzchen, nahe an der Stadtmauer, lebte die Wittwe eines Seld¬ wylers, der ſchon lange fertig geworden und unter dem Boden war. Dieſer war keiner von den ſchlimmſten geweſen, vielmehr fühlte er eine ſo ſtarke Sehnſucht, ein ordentlicher und feſter Mann zu ſein, daß ihn der herrſchende Ton, dem er als junger Menſch nicht entgehen konnte, angriff, und als ſeine Glanzzeit vorüber war und er der Sitte gemäß abtreten mußte von dem Schauplatze der Thaten, da kam ihm alles wie ein wüſter Traum und wie ein Betrug um das Leben vor, und er bekam davon die Aus¬ zehrung und ſtarb unverweilt.

Er hinterließ ſeiner Wittwe ein kleines baufälliges Häuschen, einen Kartoffelacker vor dem Thore und zwei Kinder, einen Sohn und10 eine Tochter. Mit dem Spinnrocken verdiente ſie Milch und Butter, um die Kartoffeln zu kochen, die ſie pflanzte, und ein kleiner Wittwen¬ gehalt, den der Armenpfleger jährlich auszahlte, nachdem er ihn jedesmal einige Wochen über den Termin hinaus in ſeinem Geſchäfte benutzt, reichte gerade zu dem Kleiderbedarf und einigen anderen kleinen Ausgaben hin. Dieſes Geld wurde immer mit Schmerzen erwartet, indem die ärmlichen Gewänder der Kinder gerade um jene verlängerten Wochen zu früh gänzlich ſchadhaft waren und der Buttertopf überall ſeinen Grund durchblicken ließ. Dieſes Durchblicken des grünen Topfbodens war eine ſo regelmäßige jährliche Erſcheinung, wie irgend eine am Himmel, und verwandelte eben ſo regelmäßig eine Zeit lang die kühle, kümmerlich-ſtille Zufriedenheit der Fa¬ milie in eine wirkliche Unzufriedenheit. Die Kinder plagten die Mutter um beſſeres und reichlicheres Eſſen; denn ſie hielten ſie in ihrem Unverſtande für mächtig genug dazu, weil ſie ihr Ein und Alles, ihr einziger Schutz und ihre einzige Oberbehörde war. Die Mutter war unzu¬ frieden, daß die Kinder nicht entweder mehr11 Verſtand, oder mehr zu eſſen, oder beides zu¬ ſammen erhielten.

Beſagte Kinder aber zeigten verſchiedene Ei¬ genſchaften. Der Sohn war ein unanſehnlicher Knabe von vierzehn Jahren, mit grauen Augen und ernſthaften Geſichtszügen, welcher des Mor¬ gens lang im Bette lag, dann ein wenig in einem zerriſſenen Geſchichts - und Geographiebuche las, und alle Abend, Sommers wie Winters, auf den Berg lief, um dem Sonnenuntergang beizu¬ wohnen, welches die einzige glänzende und pomp¬ hafte Begebenheit war, welche ſich für ihn zu¬ trug. Sie ſchien für ihn etwa das zu ſein, was für die Kaufleute der Mittag auf der Börſe; wenigſtens kam er mit eben ſo abwech¬ ſelnder Stimmung von dieſem Vorgang zurück, und wenn es recht rothes und gelbes Gewölk gegeben hatte, welches gleich großen Schlacht¬ heeren in Blut und Feuer geſtanden und maje¬ ſtätiſch manövrirte, ſo war er eigentlich vergnügt zu nennen.

Dann und wann, jedoch nur ſelten, beſchrieb er ein Blatt Papier mit ſeltſamen Liſten und Zahlen, welches er dann zu einem kleinen Bün¬12 del legte, das durch ein Endchen alte Goldtreſſe zuſammengehalten wurde. In dieſem Bündelchen ſtack hauptſächlich ein kleines Heft, aus einem zuſammengefalteten Bogen Goldpapier gefertigt, deſſen weiße Rückſeiten mit allerlei Linien, Fi¬ guren und aufgereihten Punkten, dazwiſchen Rauch¬ wolken und fliegende Bomben, gefüllt und be¬ ſchrieben waren. Dies Büchlein betrachtete er oft mit großer Befriedigung und brachte neue Zeich¬ nungen darin an, meiſtens um die Zeit, wenn das Kartoffelfeld in voller Blüthe ſtand. Er lag dann im blühenden Kraut unter dem blauen Himmel, und wenn er eine weiße beſchriebene Seite betrachtet hatte, ſo ſchaute er drei Mal ſo lange in das gegenüberſtehende glänzende Goldblatt, in welchem ſich die Sonne brach. Im Übrigen war es ein eigenſinniger und zum Schmol¬ len geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt nichts that oder lernte.

Seine Schweſter war zwölf Jahre alt und ein bildſchönes Kind mit langem und dickem braunen Haar, großen braunen Augen und der allerweißeſten Hautfarbe. Dies Mädchen war ſanft und ſtill, ließ ſich vieles gefallen und13 murrte weit ſeltener als ſein Bruder. Es beſaß eine helle Stimme und ſang gleich einer Nach¬ tigall; doch obgleich es mit alle dieſem freund¬ licher und lieblicher war, als der Knabe, ſo gab die Mutter doch dieſem ſcheinbar den Vorzug und begünſtigte ihn in ſeinem Weſen, weil ſie Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts lernen und es ihm wahrſcheinlicher Weiſe einmal recht ſchlecht ergehen konnte, während nach ihrer An¬ ſicht das Mädchen nicht viel brauchte und ſchon deshalb unterkommen würde.

Dieſes mußte daher unaufhörlich ſpinnen, damit das Söhnlein deſto mehr zu eſſen bekäme und recht mit Muße ſein einſtiges Unheil erwar¬ ten könne. Der Junge nahm dies ohne Wei¬ teres an und geberdete ſich wie ein kleiner In¬ dianer, der die Weiber arbeiten läßt, und auch ſeine Schweſter empfand hiervon keinen Verdruß und glaubte das müſſe ſo ſein.

Die einzige Entſchädigung und Rache nahm ſie ſich durch eine allerdings arge Unzukömmlich¬ keit, welche ſie ſich beim Eſſen mit Liſt oder Gewalt immer wieder erlaubte. Die Mutter kochte nämlich jeden Mittag einen dicken Kartof¬14 felbrei, über welchen ſie eine fette Milch oder eine Brühe von ſchöner brauner Butter goß. Dieſen Kartoffelbrei aßen ſie Alle zuſammen aus der Schüſſel mit ihren Blechlöffeln, indem Jeder vor ſich eine Vertiefung in das feſte Kartoffel¬ gebirge hinein grub. Das Söhnlein, welches bei aller Seltſamkeit in Eßangelegenheiten einen ſtrengen Sinn für militairiſche Regelmäßigkeit beurkundete und ſtreng darauf hielt, daß Jeder nicht mehr noch weniger nahm, als was ihm zukomme, ſah ſtets darauf, daß die Milch oder die gelbe Butter, welche am Rande der Schüſſel umherfloß, gleichmäßig in die abgetheilten Gru¬ ben laufe; das Schweſterchen hingegen, welches viel harmloſer war, ſuchte, ſobald ihre Quellen verſiegt waren, durch allerhand künſtliche Stollen und Abzugsgräben die wohlſchmeckenden Bächlein auf ihre Seite zu leiten, und wie ſehr ſich auch der Bruder dem widerſetzte und eben ſo künſt¬ liche Dämme aufbaute und überall verſtopfte, wo ſich ein verdächtiges Loch zeigen wollte, ſo wußte ſie doch immer wieder eine geheime Ader des Breies zu eröffnen oder langte kurzweg in offenem Friedensbruch mit ihrem Löffel und mit15 lachenden Augen in des Bruders gefüllte Grube. Alsdann warf er den Löffel weg, lamentirte und ſchmollte, bis die gute Mutter die Schüſſel zur Seite neigte und ihre eigene Brühe voll in das Labyrinth der Kanäle und Dämme ihrer Kinder ſtrömen ließ.

So lebte die kleine Familie einen Tag wie den andern, und indem dies immer ſo blieb, während doch die Kinder ſich auswuchſen, ohne daß ſich eine günſtige Gelegenheit zeigte, die Welt zu erfaſſen und irgend etwas zu werden, fühlten ſich Alle immer unbehaglicher und küm¬ merlicher in ihrem Zuſammenſein. Pankraz, der Sohn, that und lernte fortwährend nichts, als eine ſehr ausgebildete und künſtliche Art zu ſchmollen, mit welcher er ſeine Mutter, ſeine Schweſter und ſich ſelbſt quälte. Es ward dies eine ordentliche und intereſſante Beſchäftigung für ihn, bei welcher er die müſſigen Seelenkräfte fleißig übte im Erfinden von hundert kleinen häuslichen Trauerſpielen, die er veranlaßte und in welchen er behende und meiſterlich den ſteten Unrechtleider zu ſpielen wußte. Eſtherchen, die Schweſter, wurde dadurch zu reichlichem Weinen16 gebracht, durch welches aber die Sonne ihrer Heiterkeit ſchnell wieder hervorſtrahlte. Dieſe Oberflächlichkeit ärgerte und kränkte dann der Pankraz ſo, daß er immer längere Zeiträume hindurch ſchmollte und aus ſelbſtgeſchaffenem Ärger ſelbſt heimlich weinte.

Doch nahm er bei dieſer Lebensart merklich zu an Geſundheit und Kräften und als er dieſe in ſeinen Gliedern anwachſen fühlte, erweiterte er ſeinen Wirkungskreis und ſtrich mit einer tüchtigen Baumwurzel oder einem Beſenſtiel in der Hand durch Feld und Wald, um zu ſehen, wie er irgendwo ein tüchtiges Unrecht auftreiben und erleiden könne. Sobald ſich ein ſolches zur Noth dargeſtellt und entwickelt, prügelte er un¬ verweilt ſeine Widerſacher auf das Jämmerlichſte durch, und er erwarb ſich und bewies in dieſer ſeltſamen Thätigkeit eine ſolche Gewandtheit, Energie und feine Taktik, ſowohl im Ausſpüren und Aufbringen des Feindes, als im Kampfe, daß er ſowohl einzelne ihm an Stärke weit überlegene Jünglinge und Bauern, als ganze Trupps derſelben entweder beſiegte, oder wenig¬ ſtens einen ungeſtraften Rückzug ausführte.

17

War er von einem ſolchen wohlgelungenen Abenteuer zurückgekommen, ſo ſchmeckte ihm das Eſſen doppelt gut und die Seinigen erfreuten ſich dann einer heitern Stimmung. Eines Tages aber war es ihm doch begegnet, daß er, ſtatt welche auszutheilen, beträchtliche Schläge ſelbſt geärntet hatte, und als er voll Scham, Ver¬ druß und Wuth nach Hauſe kam, hatte Eſther¬ chen, welche den ganzen Tag geſponnen, dem Gelüſte nicht widerſtehen können und ſich noch einmal über das für Pankraz aufgehobene Eſſen hergemacht und davon einen Theil gegeſſen, und zwar, wie es ihm vorkam, den beſten. Traurig und wehmüthig, mit kaum verhaltenen Thränen in den Augen, beſah er das unanſehnliche kalt gewordene Reſtchen, während die ſchlimme Schwe¬ ſter, welche ſchon wieder am Spinnrädchen ſaß, unmäßig lachte.

Das war zu viel und nun mußte etwas Gründliches geſchehen. Ohne zu eſſen ging Pan¬ kraz hungrig in ſeine Kammer, und als ihn am Morgen ſeine Mutter wecken wollte, daß er doch zum Frühſtück käme, war er verſchwunden und nirgends zu finden. Der Tag verging, ohneKeller, die Leute von Seldwyla. I. 218daß er kam, und eben ſo der zweite und dritte Tag. Die Mutter und Eſtherchen geriethen in große Angſt und Noth; ſie ſahen wohl, daß er vorſätzlich davon gegangen, indem er ſeine Hab¬ ſeligkeiten mitgenommen. Sie weinten und klag¬ ten unaufhörlich, wenn alle Bemühungen frucht¬ los blieben, eine Spur von ihm zu entdecken, und als nach Verlauf eines halben Jahrs Pan¬ krazius verſchwunden war und blieb, ergaben ſie ſich mit trauriger Seele in ihr Schickſal, das ihnen nun doppelt einſam und arm erſchien.

Wie lang wird nicht eine Woche, ja nur ein Tag, wenn man nicht weiß, wo diejenigen, die man liebt, jetzt ſtehn und gehn, wenn eine ſolche Stille darüber durch die Welt herrſcht, daß allnirgends auch nur der leiſeſte Hauch von ihrem Namen ergeht, und man weiß doch, ſie ſind da und athmen irgendwo.

So erging es der Mutter und dem Eſther¬ lein fünf Jahre, zehn Jahre und funfzehn Jahre, einen Tag wie den andern, und ſie wußten nicht, ob ihr Pankrazius todt oder lebendig ſei. Das war ein langes und gründliches Schmollen und Eſtherchen, welches eine ſchöne Jungfrau19 geworden, wurde darüber zu einer hübſchen und feinen alten Jungfer, welche nicht nur aus Kin¬ destreue bei der alternden Mutter blieb, ſondern eben ſowohl aus Neugierde, um ja in dem Augenblicke da zu ſein, wo der Bruder ſich end¬ lich zeigen würde, und zu ſehen, wie die Sache eigentlich verlaufe. Denn ſie war guter Dinge und glaubte feſt, daß er eines Tages wiederkäme und daß es dann etwas Rechtes auszulachen gäbe. Übrigens fiel es ihr nicht ſchwer, ledig zu bleiben, da ſie klug war und wohl ſah, wie bei den Seldwylern nicht viel dahinterſteckte von dauerhaftem Lebensglücke, und ſie dagegen mit ihrer Mutter unveränderlich in einem kleinen Wohlſtändchen lebte, ruhig und ohne Sorgen; denn ſie hatten ja einen tüchtigen Eſſer weniger und brauchten für ſich faſt gar nichts.

Da war es einſt ein heller ſchöner Sommer¬ nachmittag, mitten in der Woche, wo man ſo an gar nichts denkt und die Leute in den kleinen Städten fleißig arbeiten. Der Glanz von Seld¬ wyla befand ſich ſämmtlich mit dem Sonnenſchein auf den übergrünten Kegelbahnen vor dem Thore oder auch in kühlen Schenkſtuben in der Stadt. 20Die Falliten und Alten aber hämmerten, nähe¬ ten, ſchuſterten, klebten, ſchnitzelten und päſchelten gar emſig darauf los, um den langen Tag zu benutzen und einen vergnügten Abend zu erwer¬ ben, den ſie nunmehr zu würdigen verſtanden. Auf dem kleinen Platze, wo die Wittwe wohnte, war nichts als die ſtille Sommerſonne auf dem begraſten Pflaſter zu ſehen, an den offenen Fen¬ ſtern aber arbeiteten ringsum die alten Leute und ſpielten die Kinder. Hinter einem blühenden Rosmariengärtchen auf einem Brette ſaß die Wittwe und ſpann und ihr gegenüber Eſtherchen und nähete. Es waren ſchon einige Stunden ſeit dem Eſſen verfloſſen und noch hatte Nie¬ mand eine Zwieſprache gehalten von der ganzen Nachbarſchaft. Da fand der Schuhmacher wahr¬ ſcheinlich, daß es Zeit ſei, eine kleine Erholungs¬ pauſe zu eröffnen und nieſ'te ſo laut und muth¬ willig: Hupſchi! daß alle Fenſter zitterten und der Buchbinder gegenüber, der eigentlich kein Buchbinder war, ſondern nur ſo aus dem Steg¬ reif allerhand Pappkäſtchen zuſammenleimte und an der Thüre ein verwittertes Glaskäſtchen hängen hatte, in welchem eine Stange Siegellack an der21 Sonne krumm wurde, dieſer Buchbinder rief: Zur Geſundheit! und alle Nachbarsleute lachten. Einer nach dem andern ſteckte den Kopf durch das Fenſter, einige traten ſogar vor die Thüre und gaben ſich Priſen, und ſo war das Zeichen gegeben zu einer kleinen Nachmittagsunterhaltung und zu einem fröhlichen Gelächter während des Vesperkaffee's, der ſchon aus allen Häuſern duf¬ tete und zichorirte. Dieſe hatten endlich gelernt, ſich an wenigem einen Spaß zu machen. Da kam in dies Vergnügen herein ein fremder Leier¬ mann mit einem ſchön polirten Orgelkaſten, was in der Schweiz eine ziemliche Seltenheit iſt, da ſie keine eingeborene Leiermänner beſitzt. Er ſpielte ein ſehnſüchtiges Lied von der Ferne und ihren Dingen, welches die Leute über die Maßen ſchön dünkte und beſonders der Wittwe Thränen entlockte, da ſie ihres Pankräzchens gedachte, das nun ſchon funfzehn Jahre verſchwunden war. Der Schuhmacher gab dem Manne einen Kreuzer, er zog ab und das Plätzchen wurde wieder ſtill. Aber nicht lange nachher kam ein anderer Her¬ umtreiber mit einem großen fremden Vogel in einem Käfig, den er unaufhörlich zwiſchen dem22 Gitter durch mit einem Stäbchen anſtach und erklärte, ſo daß der traurige Vogel keine Ruhe hatte. Es war ein Adler aus Amerika; und die fernen blaueſten Länder, über denen er in ſeiner Freiheit geſchwebt, kamen der Wittwe in den Sinn und machten ſie um ſo trauriger, als ſie den Teufel wußte, was das für Länder wären, noch wo ihr Söhnchen ſei. Um den Vogel zu ſehen, hatten die Nachbaren auf das Plätzchen hinaustreten müſſen, und als er nun fort war, bildeten ſie eine Gruppe, ſteckten die Naſen in die Luft und lauerten auf noch mehr Merkwür¬ digkeiten, da ſie nun doch die Luſt ankam, den übrigen Tag zu vertrödeln.

Dieſe Luſt wurde denn auch erfüllt und es dauerte nicht lange bis das allergrößte Spek¬ takel ſich mit großem Lärm näherte unter dem Zulauf aller Kinder des Städtchens. Denn ein mächtiges Kameel ſchwankte auf den Platz, von mehreren Affen bewohnt; ein großer Bär wurde an ſeinem Naſenringe herbeigeführt; zwei oder drei Männer waren dabei, kurz ein ganzer Bä¬ rentanz führte ſich auf und der Bär tanzte und machte ſeine poſſierlichen Künſte, indem er von23 Zeit zu Zeit unwirſch brummte, daß die friedlichen Leute ſich fürchteten und in ſcheuer Entfernung dem wilden Weſen zuſchauten. Eſtherchen lachte und freute ſich unbändig über den Bären, wie er ſo zierlich umherwatſchelte mit ſeinem Stecken, über das Kameel mit ſeinem ſelbſtvergnügten Geſicht, und über die Affen. Die Mutter da¬ gegen mußte fortwährend weinen; denn der böſe Bär erbarmte ſie, und ſie mußte wiederum ihres verſchollenen Sohnes gedenken.

Als endlich auch dieſer Aufzug wieder ver¬ ſchwunden und es wieder ſtill geworden, indem die aufgeregten Nachbaren ſich mit ſeinem Gefolge ebenfalls aus dem Staube gemacht, um da oder dort zu einem Abendſchöppchen unterzukommen, ſagte Eſtherchen: » Mir iſt es nun zu Muthe, als ob der Pankraz ganz gewiß heute noch kommen würde, da ſchon ſo viele unerwartete Dinge ge¬ ſchehen und ſolche Kameele, Affen und Bären dageweſen ſind! « Die Mutter ward böſe darüber, daß ſie den armen Pankraz mit dieſen Beſtien ſozuſagen zuſammenzählte und auslachte, und hieß ſie ſchweigen, ſich nicht inne werdend, daß ſie ja ſelbſt das gleiche gethan in ihren Gedanken. 24Dann ſagte ſie ſeufzend: » Ich werde es nicht erleben, daß er wiederkommt! «

Indem ſie dies ſagte, begab ſich die größte Merkwürdigkeit dieſes Tages und ein offener Reiſewagen mit einem Extrapoſtillon fuhr mit Macht auf das ſtille Plätzchen, das von der Abendſonne noch halb beſtreift war. In dem Wagen ſaß ein Mann, der eine Mütze trug wie die franzöſiſchen Officiere ſie tragen, und eben ſo trug er einen Schnurr - und Kinnbart und ein gänzlich gebräuntes und ausgedörrtes Geſicht zur Schau, das überdies einige Spuren von Kugeln und Säbelhieben zeigte. Auch war er in einen Burnus gehüllt, alles dies, wie es franzöſiſche Militairs aus Afrika mitzubringen pflegen, und die Füße ſtemmte er gegen eine koloſſale Löwen¬ haut, welche auf dem Boden des Wagens lag; auf dem Rückſitze vor ihm lag ein Säbel und eine halblange arabiſche Pfeife neben andern fremdartigen Gegenſtänden.

Dieſer Mann ſperrte ungeachtet des ernſten Geſichtes, das er machte, die Augen weit auf und ſuchte mit denſelben rings auf dem Platze ein Haus, wie Einer der aus einem ſchweren25 Traume erwacht. Beinahe taumelnd ſprang er aus dem Wagen, der von ungefähr auf der Mitte des Plätzchens ſtill hielt; doch ergriff er die Löwenhaut und ſeinen Säbel und ging ſo¬ gleich ſicheren Schrittes in das Häuschen der Wittwe, als ob er erſt vor einer Stunde aus demſelben gegangen wäre. Die Mutter und Eſtherchen ſahen dies voll Verwunderung und Neugierde und horchten auf, ob der Fremde die Treppe herauf käme; denn obgleich ſie kaum noch von Pankrazius geſprochen, hatten ſie in dieſem Augenblick keine Ahnung, daß er es ſein könnte und ihre Gedanken waren von der über¬ raſchten Neugierde himmelweit von ihm weg¬ geführt. Doch urplötzlich erkannten ſie ihn an der Art, wie er die oberſten Stufen überſprang und über den kurzen Flur weg faſt gleichzeitig die Klinke der Stubenthüre ergriff, nachdem er wie der Blitz vorher den loſe ſteckenden Stuben¬ ſchlüſſel feſter in's Schloß geſtoßen, was ſonſt immer die Art des Verſchwundenen geweſen, der in ſeinem Müſſiggange eine ſeltſame Ordnungs¬ liebe bewährt hatte. Sie ſchrieen laut auf und ſtanden feſtgebannt vor ihren Stühlen, mit offe¬2 *26nem Munde nach der aufgehenden Thüre ſehend. Unter dieſer ſtand der fremde Pankrazius mit dem dürren und harten Ernſte eines fremden Kriegsmannes, nur zuckte es ihm ſeltſam um die Augen, indeſſen die Mutter erzitterte bei ſei¬ nem Anblick und ſich nicht zu helfen wußte und ſelbſt Eſtherchen zum erſten Mal gänzlich ver¬ blüfft war und ſich nicht zu regen wagte. Doch alles dies dauerte nur einen Augenblick; der Herr Oberſt, denn nichts Geringeres war der verlorne Sohn, nahm mit der Höflichkeit und Achtung, welche ihn die wilde Noth des Lebens gelehrt, ſogleich die Mütze ab, was er nie ge¬ than, wenn er früher in die Stube getreten; eine unausſprechliche Freundlichkeit, wenigſtens wie es den Frauen vorkam, die ihn nie freund¬ lich geſehen noch alſo denken konnten, verbreitete ſich über das gefurchte und doch noch nicht alte Soldatengeſicht und ließ ſchneeweiße Zähne ſehen, als er auf ſie zueilte und beide mit ausbrechen¬ dem Herzensweh in die Arme ſchloß.

Hatte die Mutter erſt vor dem martialiſchen und vermeintlich immer noch böſen Sohne ſon¬ derbar gezittert, ſo zitterte ſie jetzt erſt recht in27 ſcheuer Seligkeit, da ſie ſich in den Armen dieſes wiedergekehrten Sohnes fühlte, deſſen ach¬ tungsvolles Mützenabnehmen und deſſen aufleuch¬ tende nie geſehene Anmuth, wie ſie nur die Rührung und die Reue giebt, ſie ſchon wie mit einem Zauberſchlage berührt hatten. Denn noch ehe das Bürſchchen ſieben Jahre alt geweſen, hatte es ſchon angefangen ſich ihren Liebkoſungen zu entziehen und ſeither hatte Pankraz in bitte¬ rer Sprödigkeit und Verſtockung ſich gehütet, ſeine Mutter auch nur mit der Hand zu berüh¬ ren, abgeſehen davon, daß er unzählige Male ſchmollend zu Bett gegangen war ohne Gute¬ nacht zu ſagen. Daher bedünkte es ſie nun ein unbegreiflicher und wunderſamer Augenblick, in welchem ein ganzes Leben lag, als ſie jetzt nach wohl dreißig Jahren ſozuſagen zum erſten Mal ſich von dem Sohne umfangen ſah. Aber auch Eſtherchen bedünkte dieſes veränderte Weſen ſo ernſthaft und wichtig, daß ſie, die den Schmol¬ lenden tauſendmal ausgelacht hatte, jetzt nicht im mindeſten den bekehrten Freundlichen anzu¬ lachen vermochte, ſondern mit klaren Thränen in28 den Augen nach ihrem Seſſelchen ging und den Bruder unverwandt anblickte.

Pankraz war der Erſte, der ſich nach meh¬ reren Minuten wieder zuſammen nahm und als ein guter Soldat einen Übergang und Ausweg dadurch bewerkſtelligte, daß er ſein Gepäck herauf beförderte. Die Mutter wollte mit Eſt¬ herchen helfen; aber er führte ſie äußerſt hold¬ ſelig zu ihrem Sitze zurück, und duldete nur, daß Eſtherchen zum Wagen herunterkam und ſich mit einigen leichten Sachen belud. Den weite¬ ren Verlauf führte indeſſen Eſtherchen herbei, welche bald ihren guten Humor wiedergewann und nicht länger unterlaſſen konnte, die Löwen¬ haut an dem langen gewaltigen Schwanze zu packen und auf dem Boden herumzuziehen, in¬ dem ſie ſich krank lachen wollte und einmal über das andere rief: Was iſt dies nur für ein Pelz? Was iſt dies für ein Ungeheuer?

» Dies iſt, ſagte Pankraz, ſeinen Fuß auf das Fell ſtoßend, vor drei Monaten noch ein lebendiger Löwe geweſen, den ich getödtet habe. Dieſer Burſche war mein Lehrer und Bekehrer und hat mir zwölf Stunden lang ſo eindringlich29 gepredigt, daß ich armer Kerl endlich von allem Schmollen und Bösſein für immer geheilt wurde. Zum Andenken ſoll ſeine Haut nicht mehr aus meiner Hand kommen. Das war eine ſchöne Geſchichte! « ſetzte er mit einem Seufzer hinzu?

In der Vorausſicht, daß ſeine Leutchen, im Fall er ſie noch lebendig anträfe, jedenfalls nicht viel Koſtbares im Hauſe hätten, hatte er in der letzten größeren Stadt, wo er durchgereiſt, einen Korb guten Weines eingekauft, ſowie einen Korb mit verſchiedenen kalten Speiſen, damit in Seld¬ wyla kein Gelaufe entſtehen ſollte und er in aller Stille mit der Mutter und der Schweſter ein gutes Abendbrot einnehmen konnte. So brauchte die Mutter nur den Tiſch zu decken, und Pan¬ kraz trug auf, einige gebratene Hühner, eine herrliche Sülzpaſtete und ein Packet feiner kleiner Kuchen; ja noch mehr! Auf dem Wege hatte er bedacht, wie dunkel einſt das armſelige Thran¬ lämpchen gebrannt und wie oft er ſich über die kümmerliche Beleuchtung geärgert, wobei er kaum ſeine müſſigen Siebenſachen handtieren gekonnt, ungeachtet die Mutter, die doch ältere Augen hatte, ihm immer das Lämpchen vor die Naſe30 geſchoben, wiederum zum großen Ergötzen Eſther¬ chens, die bei jeder Gelegenheit ihm die Leuchte wieder wegzupraktiziren verſtanden. Ach, ein¬ mal hatte er ſie zornig weinend ausgelöſcht, und als die Mutter ſie bekümmert wieder angezündet, blies ſie Eſtherchen lachend wieder aus, worauf er zerriſſenen Herzens in's Bett rannte. Dies und noch anderes war ihm auf dem Wege ein¬ gefallen, und indem er ſchmerzlich und bang kaum erleben mochte, ob er die Verlaſſenen wieder¬ ſehen würde, kaufte er auch noch einige Wachs¬ kerzen ein, und zündete jetzo zwei derſelben an, ſo daß die Frauensleute ſich nicht zu laſſen wußten vor Verwunderung ob all' der Herr¬ lichkeit.

Dergeſtalt ging es wie auf einer kleinen Hoch¬ zeit in dem Häuschen der Wittwe, nur viel ſtiller, und Pankraz benutzte das helle Licht der Kerzen, die gealterten Geſichter ſeiner Mutter und Schwe¬ ſter zu ſehen und dies Sehen rührte ihn ſtärker, als alle Gefahren, denen er in's Geſicht ge¬ ſchaut. Er verfiel in ein tiefes trauriges Sin¬ nen über die menſchliche Art und das menſch¬ liche Leben, und wie gerade unſere kleineren31 Eigenſchaften, als wie eine freundliche oder herbe Gemüthsart, nicht nur unſer Schickſal und Glück machen, ſondern auch dasjenige der uns Umgebenden und uns zu dieſen in ein ſtren¬ ges Schuldverhältniß zu bringen vermögen, ohne daß wir wiſſen wie es zugegangen, da wir uns ja unſer Gemüth nicht ſelbſt gegeben. In die¬ ſen Betrachtungen ward er jedoch geſtört durch die Nachbaren, welche jetzt ihre Neugierde nicht länger unterdrücken konnten und Einer nach dem Andern in die Stube drangen, um das Wun¬ derthier zu ſehen, da ſich ſchon in dem ganzen Städtchen das Gerücht verbreitet hatte, der ver¬ ſchollene Pankrazius ſei erſchienen, und zwar als ein franzöſiſcher General in einem vierſpännigen Wagen.

Dies war nun ein höchſt verwickelter Fall für die in ihren Vergnügungslokalen verſammel¬ ten Seldwyler, ſowol für die Jungen als wie für die Alten, und ſie kratzten ſich verdutzt hin¬ ter den Ohren. Denn dies war gänzlich wider die Ordnung und wider den Strich zu Seldwyl, daß da Einer wie vom Himmel geſchneit als ein gemachter Mann und General herkommen32 ſollte gerade in dem Alter, wo man zu Seldwyl ſonſt fertig war. Was wollte der denn nun beginnen? Wollte er wirklich am Orte bleiben, ohne ein Herabgekommener zu ſein die übrige Zeit ſeines Lebens hindurch, beſonders wenn er etwa alt würde? Und wie hatte er es an¬ gefangen? Was zum Teufel hatte der unbe¬ achtete und unſcheinbare junge Menſch betrieben die lange Jugend hindurch, ohne ſich aufzubrau¬ chen? Das war die Frage, die alle Gemüther bewegte, und ſie fanden durchaus keinen Schlüſ¬ ſel, das Räthſel zu löſen, weil ihre Menſchen - oder Seelenkunde zu klein war, um zu wiſſen, daß gerade die herbe und bittere Gemüthsart, welche ihm und ſeinen Angehörigen ſo bittere Schmerzen bereitet, ſein Weſen im Übrigen wohl¬ konſervirt, wie der ſcharfe Kampher einen Schmet¬ terling, und ihm über das gefährliche Seldwyler Glanzalter hinweggeholfen hatte. Um die Frage zu löſen, ſtellte man überhaupt die Wahrheit des Ereigniſſes in Frage und beſtritt deſſen Mög¬ lichkeit, und um dieſe Auffaſſung zu beſtätigen, wurden verſchiedene alte Falliten nach dem Plätz¬ chen abgeſandt, ſo daß Pankraz, deſſen ſchon33 verſammelte Nachbaren ohnehin dieſem Stande angehörten, ſich von einer ganzen Verſammlung neugieriger und gemüthlicher Falliten umgeben ſah, wie ein alter Heros in der Unterwelt von den herbeieilenden Schatten.

Er zündete nun ſeine türkiſche Pfeife an und erfüllte das Zimmer mit dem fremden Wohl¬ geruch des morgenländiſchen Tabacks; die Schat¬ ten oder Falliten witterten immer neugieriger in den blauen Duftwolken umher, und Eſtherchen und die Mutter beſtaunten unaufhörlich die Leut¬ ſeligkeit und Geſchicklichkeit des Pankraz, mit welcher er die Leute unterhielt, und zuletzt die freundliche, aber ſichere Gewandtheit, mit welcher er die Verſammlung endlich entließ, als es ihm Zeit dazu ſchien.

Da aber die Freuden, welche auf dem Fa¬ milienglück und auf frohen Ereigniſſen unter Blutsverwandten beruhen, auch nach den läng¬ ſten Leiden die Betheiligten plötzlich immer jung und munter machen, ſtatt ſie zu erſchöpfen, wie die Aufregungen der weitern Welt es thun, ſo verſpürte die alte Mutter noch nicht die ge¬ ringſte Müdigkeit und Schlafluſt, ſo wenig alsKeller, die Leute von Seldwyla. I. 334ihre Kinder, und von dem guten Weine erwärmt, den ſie mit Zufriedenheit genoſſen, verlangte ſie endlich mit ihrer noch viel unge¬ duldigeren Tochter etwas Näheres von Pankra¬ zens Schickſal zu wiſſen.

» Ausführlich, erwiederte dieſer, kann ich jetzt meine trübſelige Geſchichte nicht mehr beginnen und es findet ſich wohl die Zeit, wo ich Euch nach und nach meine Erlebniſſe im Einzelnen vorſagen werde. Für heute will ich Euch aber nur einige Umriſſe angeben, ſo viel als nöthig iſt, um auf den Schluß zu kommen, nämlich auf meine Wiederkehr und die Art, wie dieſe veranlaßt wurde, da ſie eigentlich das rechte Seitenſtück bildet zu meiner ehemaligen Flucht und aus dem gleichen Grundtone geht. Als ich damals auf ſo ſchnöde Weiſe entwich, war ich von einem unvertilgbaren Groll und Weh er¬ füllt; doch nicht gegen Euch, ſondern gegen mich ſelbſt, gegen dieſe Gegend hier, dieſe unnütze Stadt, gegen meine ganze Jugend. Dies iſt mir ſeither erſt deutlich geworden. Wenn ich hauptſächlich immer des Eſſens wegen bös wurde und ſchmollte, ſo war der geheime Grund hier¬35 von das nagende Gefühl, daß ich mein Eſſen nicht verdiente, weil ich nichts lernte und nichts that, ja weil mich gar nichts reizte zu irgend einer Beſchäftigung und alſo keine Hoffnung war, daß es je anders würde; denn Alles was ich Andere thun ſah, kam mir erbärmlich und albern vor; ſelbſt Euer ewiges Spinnen war mir unerträglich und machte mir Kopfweh, ob¬ gleich es mich Müſſigen erhielt. So rannte ich davon in einer Nacht in der bitterſten Herzens¬ qual und lief bis zum Morgen, wohl ſieben Stun¬ den weit von hier. Wie die Sonne aufging, ſah ich Leute, die auf einer großen Wieſe Heu machten; ohne ein Wort zu ſagen oder zu fragen, legte ich mein Bündel an den Rand, ergriff einen Rechen oder eine Heugabel und arbeitete wie ein Beſeſſener mit den Leuten und mit der größten Geſchicklichkeit; denn ich hatte mir wäh¬ rend meines Herumlungerns hier alle Handgriffe und Übungen derjenigen, welche arbeiteten, wohl gemerkt, ſogar öfter dabei gedacht, wie ſie dies und jenes ungeſchickt in die Hand nähmen und wie man eigentlich die Hände ganz anders müßte3 *36fliegen laſſen, wenn man erſt einmal ein Arbeiter heißen wolle. «

» Die Leute ſahen mir erſtaunt zu und Nie¬ mand hinderte mich an meiner Arbeit; als ſie das Morgenbrot aßen, wurde ich dazu eingeladen; dieſes hatte ich bezweckt und ſo arbeitete ich weiter, bis das Mittagseſſen kam, welches ich ebenfalls mit großem Appetit einnahm. Doch nun erſtaun¬ ten die Bauersleute noch vielmehr und ſandten mir ein verdutztes Gelächter nach, als ich, anſtatt die Heugabel wieder zu ergreifen, plötzlich den Mund wiſchte, mein Bündelchen wieder aufgriff und ohne ein Wort weiter zu verlieren, meines Weges weiter zog. In einem dichten kühlen Buchenwäldchen legte ich mich hin und ſchlief bis zur Abenddämmerung; dann ſprang ich auf, ging aus dem Wäldchen hervor und guckte am Himmel hin und her, an welchem die Sterne hervorzu¬ treten begannen. Die Stellung der Sterne ge¬ hörte auch zu den wenigen Dingen, die ich wäh¬ rend meines Müſſigganges gemerkt, und da ich darin eine große Ordnung und Pünktlichkeit ge¬ funden, ſo hatte ſie mir immer wohlgefallen, und zwar um ſo mehr, als dieſe glänzenden Geſchöpfe37 ſolche Pünktlichkeit nicht um Tagelohn und um eine Portion Kartoffelſuppe zu üben ſchienen, ſondern damit nur thaten, was ſie nicht laſſen konnten, wie zu ihrem Vergnügen und dabei wohl beſtan¬ den. Da ich nun durch das allmälige Auswendig¬ lernen unſres Geographiebuches, ſo einfach dieſes war, auch auf dem Erdboden Beſcheid wußte, ſo verſtand ich meine Richtung wohl zu nehmen und beſchloß in dieſem Augenblick, nordwärts durch ganz Deutſchland zu laufen, bis ich das Meer erreichte. Alſo lief ich die Nacht hindurch wieder acht gute Stunden und kam mit der Morgen¬ ſonne an eine wilde und entlegene Stelle am Rhein, wo eben vor meinen Augen ein mit Korn¬ ſäcken beladenes Schiff an einer Untiefe aufſtieß, indeſſen doch das Waſſer über einen Theil der Ladung wegſtrömte. Da ſich nur drei Männer bei dem Schiffe befanden und weit und breit in dieſer Frühe und in dieſer Wildniß Niemand zu erſehen war, ſo kam ich ſehr willkommen, als ich ſogleich Hand anlegte und den Schiffern die ſchwere Ladung an's Ufer bringen und das Fahrzeug wie¬ der flott machen half. Was von dem Korne naß geworden, ſchütteten wir auf Bretter, die wir an38 die Sonne legten, und wandten es fleißig um, und zuletzt beluden wir das Schiff wieder. Doch nahm dies alles den größten Theil des Tages weg, und ich fand dabei Gelegenheit, mit den Schiffsleuten unterſchiedliche tüchtige Mahlzeiten zu theilen; ja, als wir fertig waren, gaben ſie mir ſogar noch etwas Geld und ſetzten mich auf mein Verlangen an das andere Ufer über mit¬ telſt des kleinen Kähnchens, das ſie hinter dem großen Kahne angebunden hatten. «

» Drüben befand ich mich in einem großen Bergwald und ſchlief ſofort bis es Nacht wurde, worauf ich mich abermals auf die Füße machte und bis zum Tagesanbruch lief. Mit wenig Worten zu ſagen: auf dieſe nämliche Art ge¬ langte ich in wenig mehr als zwei Monaten nach Hamburg, indem ich, ohne je viel mit den Leu¬ ten zu ſprechen, überall des Tages zugriff, wo ſich eine Arbeit zeigte, und davon ging, ſobald ich geſättigt war, um die Nacht hindurch wie¬ derum zu wandern. Meine Art überraſchte die Leute immer, ſo daß ich niemals einen Wider¬ ſpruch fand, und bis ſie ſich etwa widerhaarig oder neugierig zeigen wollten, war ich ſchon wie¬39 der weg. Da ich zugleich die Städte vermied und meinen Arbeitsverkehr immer im freien Felde, auf Bergen und in Wäldern betrieb, wo nur urſprüngliche und einfache Menſchen waren, ſo reiſete ich wirklich wie zu der Zeit der Patriar¬ chen. Ich ſah nie eine Spur von dem Regiment der Staaten, über deren Boden ich hinlief, und mein einziges Denken war, über eben dieſen Boden wegzukommen, ohne zu betteln oder für meine nöthige Leibesnahrung Jemandem verpflich¬ tet ſein zu müſſen, im Übrigen aber zu thun, was ich wollte, und insbeſondere zu ruhen, wenn es mir gefiel, und zu wandern, wenn es mir beliebte. Später habe ich freilich auch gelernt, mich an eine feſte außer mir liegende Ordnung und an eine regelmäßige Ausdauer zu halten, und wie ich erſt urplötzlich arbeiten gelernt, lernte ich auch dies ſogleich ohne weitere Anſtrengung, ſobald ich nur einmal eine erkleckliche Nothwen¬ digkeit einſah. «

» Übrigens bekam mir dies Leben in der freien Luft, bei der ſteten Abwechslung von ſchwerer Arbeit, tüchtigem Eſſen und ſorgloſer Ruhe vor¬ trefflich und meine Glieder wurden ſo geübt, daß40 ich als ein wahrer Teufelskerl an Stärke und Rührigkeit in der Seeſtadt Hamburg anlangte, wo ich alsbald dem Waſſer zulief und mich unter die Seeleute miſchte, welche ſich da umtrieben und mit dem Befrachten ihrer Schiffe beſchäftigt waren. Da ich überall zugriff und ohne alber¬ nes Gaffen doch aufmerkſam war, ohne ein Wort dabei zu ſprechen, noch je den Mund zu ver¬ ziehen, ſo duldeten die einſilbigen derben Geſellen mich bald unter ſich und ich brachte eine Woche unter ihnen zu, worauf ſie mich auf einem engli¬ ſchen Kauffahrer einſchmuggelten, deſſen Kapitän mich aufnahm unter der Bedingung, daß ich ihm in ſeinem Privatgeſchäfte helfe, das er während ſeiner Fahrten betrieb. Dieſes beſtand nämlich im Zuſammenſetzen und Herſtellen von allerhand Feuerwaffen und Piſtolen aus alten abgenutzten Beſtandtheilen, die er in großer Menge zuſam¬ menkaufte, wenn er in der alten Welt vor Anker ging. Es waren ſeltſame und fabelhafte Todes¬ werkzeuge, die er ſo mit ſchrecklicher Leidenſchaft zuſammenfügte und dann bei Gelegenheit an wil¬ den Küſten gegen werthvolle Friedensprodukte und ſanfte Naturgegenſtände austauſchte. Ich hielt41 mich ſtill zu der Arbeit, übte mich ein und war bald über und über mit Öl, Schmirgel und Fei¬ lenſtaub beſchmiert als ein wilder Büchſenmacher, und wenn ein ſolches Piſtolengeſchütz nothdürftig zuſammenhielt, ſo wurde es mit einem ſtarken Knall probirt; doch nie zum zweiten Mal, dieſes wurde dem rothhäutigen oder ſchwarzen Käufer überlaſſen auf den entlegenen Eilanden. Diesmal fuhr er aber nur nach Neuyork und von da nach England zurück, wo ich, der Büchſenmacherei nun genugſam kundig, mich von ihm entfernte und ſogleich in ein Regiment anwerben ließ, das nach Oſtindien abgehen ſollte. «

» In Neuyork hatte ich zwar den Fuß an das Land geſetzt und auf einige Stunden dies amerikaniſche Leben beſehen, welches mir eigentlich nun recht hätte zuſagen müſſen, da hier Jeder that, was er wollte, und ſich gänzlich nach Be¬ dürfniß und Laune rührte, von einer Beſchäfti¬ gung zur andern abſpringend, wie es ihm eben beſſer ſchien, ohne ſich irgend einer Arbeit zu ſchämen oder die eine für edler zu halten, als die andre. Doch weiß ich nicht wie es kam, daß ich mich ſchleunig wieder auf unſer Schiff42 ſputete und ſo, ſtatt in der neuen Welt zu blei¬ ben, in den älteſten träumeriſchen Theil unſrer Welt gerieth, in das uralte heiße Indien, und zwar in einem rothen Rocke, als ein ſtiller eng¬ liſcher Soldat. Und ich kann nicht ſagen, daß mir das neue Leben mißfiel, das ſchon auf dem großen Linienſchiffe begann, auf welchem das Re¬ giment ſich befand. Schon der Umſtand, daß wir Alle, ſo viel wir waren, mit der größten Pünktlichkeit und Abgemeſſenheit ernährt wurden, indem Jeder ſeine Ration ſo ſicher bekam, wie die Sterne am Himmel gehen, keiner mehr noch minder, als der andre, und ohne daß einer den andern beeinträchtigen konnte, behagte mir außer¬ ordentlich und um ſo mehr, als keiner dafür zu danken brauchte und alles nur unſerm bloßen wohlgeordneten Daſein gebührte. Wenn wir Re¬ kruten auch ſchon auf dem Schiffe eingeſchult wurden und täglich exerziren mußten, ſo gefiel mir doch dieſe Beſchäftigung über die Maßen, da wir nicht das Bajonet herumſchwenken mußten, um etwa mit Gewandtheit eine Kartoffel daran zu ſpießen, ſondern es war lediglich eine reine Übung, welche mit dem Eſſen zunächſt gar nicht43 zuſammenhing, und man brauchte nichts als pünktlich und aufmerkſam beim einen und dem andern zu ſein und ſich um weiter nichts zu kümmern. Schon am zweiten Tage unſrer Fahrt ſah ich einen Soldaten prügeln, der wider einen Vorgeſetzten gemurrt, nachdem er ſchon verſchie¬ dene Unregelmäßigkeiten begangen. Sogleich nahm ich mir vor, daß dies mir nie widerfahren ſolle, und nun kam mir mein Schmollweſen ſehr gut zu ſtatten, indem es mir eine vortreffliche laut¬ loſe Pünktlichkeit und Aufmerkſamkeit erleichterte und es mir fortwährend möglich machte, mir in keiner Weiſe etwas zu vergeben. «

» So wurde ich ein ganz ordentlicher und brauchbarer Soldat; es machte mir Freude, alles recht zu begreifen und ſo zu thun, wie es als muſtergültig vorgeſchrieben war, und da es mir gelang, ſo fühlte ich mich endlich ziemlich zufrie¬ den, ohne jedoch mehr Worte zu verlieren als bisher. Nur ſelten wurde ich beinahe ein wenig luſtig und beging etwa einen närriſchen halben Spaß, was mir vollends den Anſtrich eines Sol¬ daten gab, wie er ſein ſoll, und zugleich verhin¬ derte, daß man mich nicht leiden konnte, und ſo44 war kaum ein Jahr vergangen in dem heißen ſeltſamen Lande, als ich anfing vorzurücken und zuletzt ein anſehnlicher Unteroffizier wurde. Nach einem Verlauf von Jahren war ich ein großes Thier in meiner Art, war meiſtentheils in den Büreaus des Regimentskommandeurs beſchäftigt und hatte mich als ein guter Verwalter heraus¬ geſtellt, indem ich die nothwendigen Künſte, die Schreibereien und Rechnereien aus dem Gange der Dinge mir augenblicklich aneignete ohne wei¬ teres Kopfzerbrechen. Es ging mir jetzt alles nach der Schnur und ich ſchien mir ſelbſt zufrie¬ den zu ſein, da ich ohne Mühe und Sorgen da ſein konnte unter dem warmen blauen Himmel; denn was ich zu verrichten hatte, geſchah wie von ſelbſt, und ich fühlte keinen Unterſchied, ob ich in Geſchäften oder müſſig umherging. Das Eſſen war mir jetzt nichts Wichtiges mehr, und ich beachtete kaum, wann und was ich . Zweimal während dieſer Zeit hatte ich Nachricht an Euch abgeſandt nebſt einigen erſparten Geld¬ mitteln; allein beide Schiffe gingen ſonderbarer Weiſe mit Mann und Maus zu Grunde und ich gab die Sache auf, ärgerlich darüber, und45 nahm mir vor, ſobald als thunlich ſelber heim¬ zukehren und meine erworbene Arbeitsfähigkeit und feſte Lebensart in der Heimath zu verwenden. Denn ich gedachte damit etwas Beſſeres nach Seldwyla zu bringen, als wenn ich eine Million dahin brächte, und malte mir ſchon aus, wie ich die Haſelanten und Fiſcheſſer da anfahren wollte, wenn ſie mir über den Weg liefen. «

» Doch damit hatte es noch gute Wege und ich ſollte erſt noch ſolche Dinge erfahren und ſo in meinem Weſen verändert und aufgerüttelt wer¬ den, daß mir die Luſt verging, andere Leute anfah¬ ren zu wollen. Der Kommandeur hatte mich gänzlich zu ſeinem Factotum gemacht und ich mußte faſt die ganze Zeit bei ihm zubringen. Es war ein ſeltſamer Mann von etwa fünfzig Jahren, deſſen Gattin in Irland lebte auf einem alten Thurm, da ſie wo möglich noch wunder¬ licher ſein mußte, als er; ſo lange ſie zuſammen¬ gelebt, hatten ſie ſich fortwährend angeknurrt, wie zwei wilde Katzen, und ſie litten Beide an der fixen Idee, daß ſie ſich gegenſeitig in einander getäuſcht hätten, obwohl Niemand beſſer für ein¬ ander geſchaffen war. Auch waren ſie geſund46 und munter und lebten behaglich in dieſer Ein¬ bildung, ohne welche keines mehr hätte die Zeit verbringen können, und wenn ſie weit aus ein¬ ander waren, ſo ſorgte Eines für das Andere mit rührender Aufmerkſamkeit. Die einzige Toch¬ ter, die ſie hatten, und die Lydia heißt, lebte dagegen meiſtentheils bei dem Vater und war ihm ergeben und zugethan, da der Unterſchied des Geſchlechtes ſelbſt zwiſchen Vater und Tochter dieſe mehr zärtliches Mitleid für den Vater em¬ pfinden ließ, als für die Mutter, obgleich dieſe eben ſo wenig oder ſo viel taugen mochte als jener in dem vermeintlich unglücklichen Ver¬ hältniß. «

» Der Kommandeur hatte eine reizvolle luf¬ tige Wohnung bezogen, die außerhalb der Stadt in einem ganz mit Palmen, Cypreſſen, Syko¬ moren und anderen Bäumen angefüllten Thale lag. Unter dieſen Bäumen, rings um das leichte weiße Haus herum, waren Gärten angelegt, in denen theils jederzeit friſches Gemüſe, theils eine Menge Blumen gezogen wurden, welche zwar hier in allen Ecken wild wuchſen, die aber der Alte liebte beiſammen zu haben in nächſter Nähe47 und in möglichſter Menge, ſo daß in dem grü¬ nen Schatten der Bäume es ordentlich leuchtete von großen purpurrothen und weißen Blumen. Wenn es nun im Dienſte nichts mehr zu thun gab, ſo mußte ich als ein militäriſcher zuver¬ läſſiger Vertrauensmann dieſe Gärten in Ordnung halten, oder um darüber nicht etwa zu verweich¬ lichen, mit dem Oberſt auf die Jagd gehen, und ich wurde darüber zu einem gewandten Jäger; denn gleich hinter dem Thale begann eine wilde unfruchtbare Landſchaft, welche zuletzt gänzlich in eine Gebirgswildniß verlief, die nicht nur Schwärme und Schaaren unſchuldigeren Gewil¬ des, ſondern auch von Zeit zu Zeit reißende Thiere, beſonders große Tiger beherbergte. Wenn ein ſolcher ſich ſpüren ließ, ſo gab es einen gro¬ ßen Auszug gegen ihn, und ich lernte bei dieſen Gelegenheiten die Gefahr lange kennen, ehe ich in das Gefecht mit Menſchen kam. War aber weiter gar nichts zu thun, ſo mußte ich mit dem alten Herrn Schach ſpielen und dadurch ſeine Tochter Lydia erſetzen, welche, da ſie gar keinen Sinn und kein Geſchick dazu beſaß und ganz kindiſch ſpielte, ihm zu wenig Vergnügen verſchaffte. 48Ich hingegen hatte mich bald ſo weit eingeübt, daß ich ihm einigermaßen die Stange halten konnte, ohne ihn des öfteren Sieges zu berau¬ ben, und wenn mein Kopf nicht durch andere Dinge verwirrt worden wäre, ſo würde ich dem grimmigen Alten bald überlegen geworden ſein. «

» Dergeſtalt war ich nun das merkwürdigſte Inſtitut von der Welt; ich ging unter dieſen Palmen einher gravitätiſch und wortlos in mei¬ ner Scharlachuniform, ein leichtes Schilfſtöckchen in der Hand und über dem Kopfe ein weißes Tuch zum Schutze gegen die heiße Sonne. Ich war Soldat, Verwaltungsmann, Gärtner, Jäger, Hausfreund und Zeitvertreiber, und zwar ein ganz ſonderbarer, da ich nie ein Wort ſprach; denn obgleich ich jetzt nicht mehr ſchmollte und leidlich zufrieden war, ſo hatte ich mir das Schweigen doch ſo angewöhnt, daß meine Zunge durch nichts zu bewegen war, als etwa durch ein Kommando¬ wort oder einen Fluch gegen unordentliche Sol¬ daten. Doch diente gerade dieſe Weiſe dem Kommandeur, ich blieb ſo an die fünf Jahre bei ihm einen Tag wie den andern und konnte, wenn ich freie Zeit hatte, im Übrigen thun, was mir49 beliebte. Dieſe Zeit benutzte ich dazu, das Dutzend Bücher, ſo der alte Herr beſaß, immer wieder durchzuleſen und aus denſelben, da ſie alle dick¬ leibig waren, ein ſonderbares Stück von der Welt kennen zu lernen. Ich war ſo ein eifriger und ſtiller Leſer, der ſich eine Weisheit ausbildete, von der er nicht recht wußte, ob ſie in der Welt galt oder nicht galt, wie ich bald erfahren ſollte; denn obſchon ich bereits vieles geſehen und erfahren, ſo war dies doch nur gewiſſer¬ maßen ſtrichweiſe und das meiſte, was es gab, lag zur Seite des Striches, den ich paſſirt. «

» Mein Kommandeur wurde endlich zum Gou¬ verneur des ganzen Landſtriches ernannt, wo wir bisher geſtanden; er wünſchte mich in ſeiner Nähe zu behalten und veranlaßte meine Ver¬ ſetzung aus dem Regiment, welches wieder nach England zurückging, in dasjenige, welches dafür ankam, und ſo fand ſich wieder Gelegenheit, daß ich als Militairperſon ſowohl wie in allen übri¬ gen Eigenſchaften um ihn ſein konnte, was mir ganz recht war; denn ſo blieb ich ein auf mich ſelbſt geſtellter Menſch, der keinen andern Herrn, als ſeine Fahne über ſich hatte. «

Keller, die Leute von Seldwyla I. 450

» Um die gleiche Zeit kam auch die Tochter aus dem alten irländiſchen Thurme an, um von nun an bei ihrem Vater dem Gouverneur zu leben. Es war ein wohlgeſtaltetes Frauenzim¬ mer von großer Schönheit; doch war ſie nicht nur eine Schönheit, ſondern auch eine Perſon, die in ihren eigenen feinen Schuhen ſtand und ging und ſogleich den Eindruck machte, daß es für den, der ſich etwa in ſie verliebte, nicht leicht hinter jedem Hag einen Erſatz oder einen Troſt für dieſe gäbe, eben weil es eine ganze und ſelbſtſtändige Perſon ſchien, die ſo nicht zum zweiten Male vorkommt. Und zwar ſchien dieſe edle Selbſtſtändigkeit gepaart mit der einfachſten Kindlichkeit und Güte des Charakters und mit jener Lauterkeit und Rückhaltloſigkeit in dieſer Güte, welche, wenn ſie ſo mit Entſchiedenheit und Beſtimmtheit verbunden iſt, eine wahre Über¬ legenheit verleiht und dem, was im Grunde nur ein unbefangenes urſprüngliches Gemüths¬ weſen iſt, den Schein einer weihevollen und genialen Meiſterſchaft giebt. Indeſſen war ſie ſehr gebildet in allen ſchönen Dingen, da ſie nach Art ſolcher Geſchöpfe die Kindheit und bis¬51 herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen, was irgend wohl anſteht, und ſie kannte ſogar faſt alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, ſo daß unwiſſende Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene ſchreckliche Ver¬ legenheit geriethen, weniger zu verſtehen, als ein müſſiges Ziergewächs von Jungfräulein. Überhaupt ſchien ein geſunder und wohldurchge¬ bildeter Sinn in ihr ſich mehr dadurch zu zeigen, daß ſie die vorkommenden kleineren oder größeren Dinge, Vorfälle oder Gegenſtände durchaus zu¬ treffend beurtheilte und behandelte und dabei waren ihre Gedanken und Worte ſo einfach lieb¬ lich und beſtimmt, wie der Ton ihrer Stimme und die Bewegungen ihres Körpers. Und über alles dies war ſie, wie geſagt, ſo kindlich, ſo wenig durchtrieben, daß ſie nicht im Stande war, eine überlegte Partie Schach ſpielen zu lernen und dennoch mit der fröhlichſten Geduld am Brette ſaß, um ſich von ihrem Vater unaufhör¬ lich überrumpeln zu laſſen. So ward es Einem ſogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer Nähe; man dachte unverweilt, dieſe wäre der wahre Jakob unter den Weibern und keine Beſ¬4*52ſere gäbe es in der Welt. Ihre ſchönen blon¬ den Locken und die dunkelblauen Augen, die faſt immer ernſt und frei in die Welt ſahen, thaten freilich auch das ihrige dazu, ja um ſo mehr, als ihre Schönheit, ſo ſehr ſie imponirte, von echt weiblicher Beſcheidenheit und Sittſamkeit durchdrungen war und dabei gänzlich den Ein¬ druck von etwas Einzigem und Perſönlichem machte, es war eben kurz und abermals geſagt: eine Perſon. Das heißt, ich ſage es ſchien ſo, oder eigentlich, weiß Gott, ob es am Ende doch ſo war und es nur an mir lag, daß es ein ſolcher trügeriſcher Schein ſchien, kurz «

Pankrazius vergaß hier weiter zu reden und verfiel in ein ſchwermüthiges Nachdenken, wozu er ein ziemlich unkriegeriſches und beinahe ein¬ fältiges Geſicht machte. Die beiden Wachslichter waren über die Hälfte heruntergebrannt, die Mutter und die Schweſter hatten die Köpfe ge¬ ſenkt und nickten, ſchon nichts mehr ſehend noch hörend, ſchlaftrunken mit ihren Köpfen, denn ſchon ſeit Pankrazius die Schilderung ſeiner ver¬ muthlichen Geliebten begonnen, hatten ſie ange¬ fangen ſchläfrig zu werden, ließen ihn jetzt gänz¬53 lich im Stich und ſchliefen wirklich ein. Zum Glück für unſere Neugierde bemerkte der Oberſt dies nicht, hatte überhaupt vergeſſen, vor wem er erzählte und fuhr ohne die niedergeſchlagenen Augen zu erheben, fort, vor den ſchlafenden Frauen zu erzählen, wie Einer, der etwas lange Verſchwiegenes endlich mitzutheilen ſich nicht mehr enthalten kann.

» Ich hatte, ſagte er, bis zu dieſer Zeit noch kein Weib näher angeſehen und verſtand oder wußte von ihnen ungefähr ſo viel, wie ein Nas¬ horn vom Zitherſpiel. Nicht daß ich ſolche etwa nicht von jeher gern geſehen hätte, wenn ich unbemerkt und ohne Aufwand von Mühe nach ihnen ſchielen konnte; doch war es mir äußerſt zuwider, mit irgend Einer mich in den geringſten Wortwechſel einzulaſſen, da es mir von jeher ſchien, als ob es ſämmtlichen Weibern gar nicht um eine vernunftgemäße, klare und richtige Sache zu thun wäre, daß es ihnen unmöglich ſei, nur ſechs Worte lang in guter Ordnung bei der Stange zu bleiben, ſondern daß ſie einzig darauf ausgingen, wenn ſie in dieſem Augenblicke etwas Zweckmäßiges und Gutes geſagt haben, gleich54 darauf eine große Albernheit oder Verdrehtheit einzuwerfen, was ſie dann als ihre weibliche Anmuth und Beweglichkeit ausgäben, im Grunde aber eine Unredlichkeit ſei, und um ſo abſcheu¬ licher, als ſie halb und halb von bewußter Abſicht begleitet ſei, um hinter dieſem Durchein¬ ander allen ſchlechten Inſtinkten und Querköpfig¬ keiten deſto bequemer zu fröhnen. Deshalb ſchmollte und grollte ich von vornherein mit allem Weibervolk und würdigte keines eines offenkundigen Blickes. In Indien, als ich mehr zufrieden war und keinen Groll fürder hegte, gab es zwar viel Frauensleute, ſowohl indi¬ ſchen Geblütes, als auch eine Menge engliſcher, da viele Kaufleute, Officiere und Soldaten ihre Familie bei ſich hatten. Doch dieſe Indierinnen, die ſchön waren wie die Blumen und gut wie Zucker ausſahen und ſprachen, waren eben nichts weiter als dies und rührten mich nicht im min¬ deſten, da Schönheit und Güte ohne Salz und Wehrbarkeit mir langweilig vorkamen, und es war mir peinlich zu denken, wie eine ſolche Frau, wenn ſie mein wäre, ſich auf keine Weiſe gegen meine etwanigen ſchlimmen Launen zu wehren55 vermöchte. Die europäiſchen Weiber dagegen, die ich ſah, welche größtentheils aus Großbri¬ tannien herſtammten, ſchienen ſchon eher wehr¬ haft zu ſein, jedoch waren ſie weniger gut und ſelbſt wenn ſie es waren, ſo betrieben ſie die Güte und Ehrbarkeit wie ein abſcheulich nüch¬ ternes und hausbackenes Handwerk, und ſelbſt die edle Weiblichkeit, auf die ſich dieſe ſelbſtbe¬ wußten reſpektablen Weibchen ſo viel zu gut thaten, handhabten ſie eher als Würzkrämer, denn als Weiber. Hier wird ein Quentchen ausgewogen und dort ein Quentchen, ſorglich in die löſchpapierne Düte der Philiſterhaftigkeit ge¬ wickelt. Überdies war mir immer, als ob durch das Innerſte aller dieſer abendländiſchen Schönen und Unſchönen ein tiefer Zug von Gemeinheit zöge, die Krankheit unſerer Zeit, welche ſie zwar nur von unſerem Geſchlechte, von uns Herren Europäern, überkommen konnten, aber die gerade bei den anderen wieder zu einem neuen verdoppelten Übel wird. Denn es ſind üble Zeiten, wo die Geſchlechter ihre Krankheiten aus¬ tauſchen und eines dem anderen ſeine angeborenen Schwachheiten mittheilt. Dies waren ſo meine56 unwiſſenden hypochondriſchen Gedanken über die Weiber, welche meinem Verhalten gegen ſie zu Grunde lagen und mit welchen ich meiner Wege ging, ohne mich um Eine zu bekümmern. «

» Als nun die ſchöne Lydia bei uns anlangte und ich mich täglich in ihrer Nähe befand, er¬ hielt meine ganze Weisheit einen Stoß und fiel zuſammen. Es war mir gleich von Grund aus wohl zu Muthe, wenn ſie zugegen war, und ich wußte nicht, was ich hieraus machen ſollte. Höchlich verwundert war ich, weder Groll noch Verachtung gegen dieſe zu empfinden, weder Ge¬ ringſchätzung, noch jene Luſt, doch verſtohlen nach ihr hinzuſchielen; vielmehr freute ich mich ganz unbefangen über ihr Daſein und ſah ſie ohne Unbeſcheidenheit, aber frei und offen an, wenn ich in ihrer Nähe zu thun hatte. Dies fiel mir um ſo leichter, als ich in meiner Stellung als armer Soldat kein Wort an ſie zu richten brauchte, ohne gefragt zu werden und alſo kein anderes Benehmen zu beobachten hatte, als das¬ jenige eines ſich aufrecht haltenden ernſthaften Unterofficiers. Auch war mir das Schweigen, beſonders gegenüber den Weibern, ſo zur andern57 Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬ gen, daß ich beim beſten Willen jetzt nicht hätte eine Ausnahme machen können, auch wenn es ſich geſchickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬ ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für dieſe Perſon, war in meinem Herzen ſehr gut auf ſie zu ſprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich meine ſchlechten Anſichten von den Frauen und dachte mir, es müßte doch nicht ſo übel mit ihnen ſtehen, wenigſtens ſollten ſie um dieſer Einen willen von nun an mehr Gnade finden bei mir. Ich war ſehr froh, wenn Lydia zu¬ gegen war oder wenn ich Veranlaſſung fand, mich dahin zu verfügen, wo ſie eben war; doch that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬ mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬ chen Raume mit ihr befand, ohne einen beſtimm¬ ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte überhaupt eine ſolche Ruhe in mir, wie das kühle Meerwaſſer, wenn kein Wind ſich regt und die Sonne obenhin darauf ſcheint. «

» Dies verhielt ſich ſo ungefähr ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich58 weiß es nicht mehr genau; denn die ganze Zeit¬ rechnung von damals iſt mir verloren gegangen, der ganze Zeitraum ſchwebt mir nur noch wie ein ſchwüler von Träumen durchzogener Som¬ mertag vor. Während dieſes Anfanges nun, deſſen längere oder kürzere Dauer ich nicht mehr weiß, ging ſo alles gut und ruhig von Statten. Die Dame, obgleich ſie mich öfters ſehen mußte, hatte nicht beſonders viel mit mir zu verkehren oder zu ſprechen, wenn ſie es aber that, ſo war ſie außerordentlich freundlich und that es nie, ohne mit einem kindlichen harmloſen Lachen ihres ſchönen Geſichtes, was ich dann dankbarſt damit erwiederte, daß ich ein um ſo ehrbareres Geſicht machte und den Mund nicht verzog, indem ich ſagte: Sehr wohl, mein Fräulein! oder auch unbefangen widerſprach, wenn ſie ſich irrte, was indeß ſelten geſchah. War ſie aber nicht zugegen oder ich allein, ſo dachte ich wohl vielfältig an ſie, aber nicht im mindeſten wie ein Verliebter, ſondern wie ein guter Freund oder Verwandter, welcher aufrichtig um ſie bekümmert war, ihr alles Wohlergehen wünſchte und allerlei gute Dinge für ſie ausdachte. Kaum ging eine leiſe59 Veränderung dadurch mit mir vor, wenn ich mich recht entſinne, daß ich gegenüber dem Gouver¬ neur ein wenig mehr auf mich hielt, ein wenig mehr den Soldaten hervorkehrte, der nichts als ſeine Pflicht kennt, und in meinen übrigen Dienſt¬ leiſtungen mehr den Schein der Unabhängigkeit wahrte, wie ich denn auch in keinerlei Lohnver¬ hältniß zu ihm ſtand und nachdem die eigentliche Arbeit auf ſeinem Büreau gethan, wofür ich beſoldet war, alles übrige als ein guter Ver¬ trauter mitmachte und nur, da es die Gelegen¬ heit mit ſich brachte, etwa mit ihm und trank. Und ſo war ich, wie ſchon geſagt, vollkommen ruhig und zufrieden, was ſich freilich auf meine beſondere Weiſe ausnehmen mochte. «

» Da geſchah es eines Tages, als ich unter den ſchattigen Bäumen mir zu thun machte, daß die Lydia innerhalb einer kurzen Stunde drei Mal herkam, ohne daß ſie etwas da zu thun oder auszurichten hatte. Das erſte Mal ſetzte ſie ſich auf einen umgeſtürzten Korb und ein kleines Körbchen voll rother Kirſchen auf, indem ſie fortwährend mit mir plauderte und mich zum Reden veranlaßte. Das andere Mal kam ſie60 und rückte den Korb ganz nahe an das Roſen¬ bäumchen, das ich eben ſäuberte, ſetzte ſich aber¬ mals darauf und nähete ein weißes ſeidenes Band auf ein zierliches Nachthäubchen oder was es war; denn genau konnte ich es nicht unter¬ ſcheiden, da ich diesmal kaum hinſah und ihr nur wenig Beſcheid gab, indem ich etwas ver¬ legen wurde. Sie ging bald wieder fort und kam zum dritten Male mit einem feinen kunſtvoll in Elfenbein gearbeiteten Geduldſpiel aus China, packte den alten Korb und ſchleppte ihn wieder weg, indem ſie ſich in einiger Entfernung darauf ſetzte, mir den Rücken zuwendend, und ganz ſtill das Spiel zu löſen verſuchte. Ich blickte jetzt unverwandt nach ihr hin, bis ſie, das Spielzeug in die Taſche ſteckend, unverſehens ſich erhob und einen ſeltſamen wohllautenden Triller ſingend davon ging, ohne ſich wieder nach mir umzu¬ ſehen. Dies alles wollte mir nicht klar ſein noch einleuchten, und meine Seele rümpfte leiſe die Naſe zu dieſem Thun; aber von Stund an war ich verliebt in Lydia. «

» In der wunderbarſten gelinden Aufregung ließ ich mein Bäumchen ſtehen, holte die Dop¬61 pelbüchſe und ſtreifte in den Abend hinaus weit in die Wildniß. Viele Thiere ſah ich wohl, aber alle vergaß ich zu ſchießen; denn wie ich auf eines anſchlagen wollte, dachte ich wieder an das Benehmen dieſer Dame und verlor ſo das Thier aus den Augen. «

» Was will ſie von dir, dachte ich, und was ſoll das heißen? Indem ich aber hierüber hin - und herſann, entſtand und lohete ſchon eine große Dankbarkeit in mir für alles Mögliche und Unmögliche, was irgend in dem Vorfalle liegen mochte, wogegen mein Ordnungsſinn und das Bewußtſein meiner geringen und wenig an¬ muthigen Perſon den widerwärtigſten Streit erhob. Als ich hieraus nicht klug wurde, verfielen meine Gedanken plötzlich auf den Ausweg, daß dieſe ſcheinbar ſo ſchöne und tüchtige Frau am Ende ganz einfach ein leichtfertiges und verbuhltes Weſen ſei, das ſich zu ſchaffen mache, mit wem es ſei, und ſelbſt mit einem armen Unterofficier eine ſchlechte Geſchichte anzuheben nicht verſchmähe. Dieſe verwünſchte Anſicht that mir ſo weh und traf mich ſo unvermuthet, daß ich wuthentbrannt einen ungeheuren rauhen Eber niederſchoß, der62 eben durch die hohen Bergkräuter hergegrunzt kam, und meine Kugel ſaß faſt gleichzeitig und eben ſo unvermuthet und unwillkommen in ſeinem Gehirn, wie jener niederträchtige Gedanke in dem meinigen, und ſchon war mir zu Muthe, als ob das wilde Thier noch zu beneiden wäre um ſeine Errungenſchaft im Vergleich zu der meinigen. Ich ſetzte mich auf die todte Beſtie; vor meinen Gedanken ging die ſchöne Geſtalt vorüber und ich ſah ſie deutlich, wie ſie die drei Male gekommen war mit jeder ihrer Bewe¬ gungen und jedes Wort tönte noch nach. Aber merkwürdiger Weiſe ging dies gute Gedächtniß noch über dieſen Tag hinaus und zurück über¬ haupt bis auf den erſten Tag, wo ich ſie geſe¬ hen, den ganzen Zeitraum hindurch, wo ich doch gänzlich ruhig geweſen. Wie man bei ganz durchſichtiger Luft, wenn es Regen geben will, an entfernten Bergen viele Einzelnheiten deutlich ſieht, die man ſonſt nicht wahrnimmt, und in ſtiller Nacht die fernſten Glocken ſchlagen hört, ſo entdeckte ich jetzt mit Verwunderung, daß aus jenem ganzen Zeitraume jede Art und Wendung ihrer Erſcheinung, jedes einzelne Auftreten ſich63 ohne mein Wiſſen mir eingeprägt hatte, und faſt jedes ihrer Worte, ſelbſt das gleichgültigſte und vorübergehendſte, hörte ich mit klar vernehmlichem Ausdruck in der Stille dieſer Wildniß wieder tönen. Dieſe ſämmtliche Herrlichkeit hatte alſo gleichſam ſchlafend oder heimlicherweiſe ſich in mir aufgehalten und der heutige Vorgang hatte nur den Riegel davor weggeſchoben oder eine Fackel in ein Bund Stroh geworfen. Ich ver¬ gaß über dieſen Dingen wieder meinen ſchlechten Zorn und beſchäftigte mich rückhaltlos mit der Ausbeutung meines guten Gedächtniſſes und ſchenkte demſelben nicht den kleinſten Zug, den es mir von dem Bilde Lydias irgend liefern konnte. Auf dieſe Weiſe ſchlenderte ich denn auch wieder der Behauſung zu und überließ mich allem dieſen angenehmen Vorſtellungen; jedoch vermochte ich nun nicht mehr ſo unbefangen und ruhig in ihrer Nähe zu ſein, und da ich nichts anderes anzufangen wußte noch geſonnen war, ſo vermied ich möglichſt jeden Verkehr mit ihr, um deſto eifriger an ſie zu denken. So ver¬ gingen drei oder vier Wochen, ohne daß etwas Weiteres vorfiel, als daß ich bemerkte, daß ſie64 bei aller Zurückhaltung, die ſie nun beobachtete, dennoch keine Gelegenheit verſäumte, irgend etwas zu meinen Gunſten zu thun oder zu ſagen, und ſie fing an, mir völlig nach dem Munde oder zu Gefallen zu ſprechen, da ſie Ausdrücke brauchte, welche ich etwa gebraucht, und die Dinge ſo beurtheilte, wie ich es zu thun gewohnt war. Dies ſchien nun erſt nichts beſonderes, weil es mich eben von jeder angenehm dünkte, in ihr eben dieſelben Anſichten vom Zweckmäßigen oder vom Verkehrten zu entdecken, deren ich mich ſelber befleißigte; auch lachte ſie über dieſelben Dinge, über welche ich lachen mußte, oder ärgerte ſich über die nämlichen Unſchicklichkeiten, ſo etwa vor¬ fielen. Aber zuletzt ward es ſo auffällig, daß ſie mir, da ich kaum ein Wort mit ihr zu ſpre¬ chen hatte, zu Gefallen zu leben ſuchte und zwar nicht wie eine ſchelmiſche Kokette, ſondern wie ein einfaches argloſes Kind, daß ich in die größte Verwirrung gerieth und vollends nicht mehr wußte, wie ich mich ſtellen ſollte. So fand ich denn, um mich zu ſalviren, unverfäng¬ lich mein Heil in meiner alten wohlhergeſtellten Schmollkunſt und verhärtete mich vollkommen in65 derſelben, zumal ich mich nichts weniger als glücklich fühlte in dieſem ſonderbaren Verhältniß. Nun ſchien ſie wahrhaft bekümmert und nieder¬ geſchlagen, kleinlaut und ſchüchtern zu werden, was zu ihrem ſonſtigen reſoluten und tüchtigen Weſen eine verführeriſche Wirkung hervorbrachte, da man an den gewöhnlichen Weibern und je kleinlicher ſie ſind, deſto weniger gewohnt iſt, ſie durch ſolche ſchüchterne Beſcheidenheit glänzen und beſtechen zu ſehen. Vielmehr glauben ſie, nichts ſtehe ihnen beſſer zu Geſicht, als eine ſchreckliche Sicherheit und Unverſchämtheit. Da nun ſogar noch der alte Gouverneur anfing, in einer mir unverſtändlichen und wenig delikaten Laune zu ſticheln und zu ſcherzen und zehnmal des Tages ſagte: Wahrhaftig, Lydia, Du biſt verliebt in den Pankrazius! ſo ward mir das Ding zu bunt; denn ich hielt das für einen ſehr ſchlechten Spaß, in Betreff auf ſeine Tochter für geſchmacklos und vom ordinärſten Tone, in Be¬ zug auf mich aber für gewiſſenlos und roh, und ich war oft im Begriff, es ihm offen zu ſagen und mich den Teufel um ihn weiter zu kümmern. Letzteres that ich auch in ſofern, als ich michKeller, die Leute von Seldwyla. I. 566nun gänzlich zuſammen nahm und in mich ſelber verſchloß. Lydia wurde eintönig, ja ſie ſchien nun ſogar bleich und leidend zu werden, was mich tief bekümmerte, ohne daß ich daraus etwas Kluges zu machen wußte. Als ſie aber trotz meines Verhaltens ſogar wieder anfing, mir nachzugehen und ſich fortwährend zu ſchaffen machte, wo ich mich aufhielt, gerieth ich in Ver¬ zweiflung und in der Verzweiflung begann ich, abgebrochene und ungeſchickte Unterhaltungen mit ihr zu pflegen. Es war gar nichts, was wir ſprachen, ganz unartikulirtes jämmerliches Zeug, als ob wir beide blödſinnig wären; allein beide ſchienen gar nicht hieran zu denken, ſondern lachten uns an wie Kinder; denn auch ich ver¬ gaß darüber alles andere und war endlich froh, nur dieſe kurzen Reden mit ihr zu führen. Allein das Glück dauerte nie länger, als zwei Minuten, da wir den Faden aus Mangel an Ruhe und Beſonnenheit ſogleich wieder verloren und dann zwei Kindern glichen, die ein Perlenband aufge¬ zettelt haben und mit Betrübniß die ſchönen Perlen entgleiten ſehen. Alsdann dauerte es wieder wochenlang, bis eine dieſer großen Unter¬67 nehmungen wieder gelang, und nie that ich den erſten Schritt dazu, da ich gleich darauf wieder nur bedacht war, mir nichts zu vergeben und keine Dummheiten zu begehen bei dieſen etwas ungewöhnlichen Leuten. Hundertmal war ich entſchloſſen auf und davon zu gehen, allein die Zeit verging mir ſo eilig, daß ich die That im¬ mer wieder hinausſchieben mußte. Denn meine Gedanken waren jetzt ausſchließlich mit dieſer Sache beſchäftigt und es ging mir dabei äußerſt ſeltſam. «

» Mit den Büchern des Gouverneurs war ich endlich ſo ziemlich fertig geworden und wußte nichts mehr aus denſelben zu lernen. Lydia, welche mich ſo oft leſen ſah, benutzte dieſe Ge¬ legenheit und gab mir von den ihrigen. Dar¬ unter war ein dicker Band wie eine Handbibel und er ſah auch ganz geiſtlich aus; denn er war in ſchwarzes Leder gebunden und vergoldet. Es waren aber lauter Schauſpiele und Komödien darin mit der kleinſten engliſchen Schrift gedruckt. Dies Buch nannte man den Shakeſpeare, welches der Verfaſſer deſſelben und deſſen Kopf auch vorne drin zu ſehen war. Dieſer verführeriſche68 falſche Prophet führte mich ſchön in die Patſche. Er ſchildert nämlich die Welt nach allen Seiten hin durchaus einzig und wahr wie ſie iſt, aber nur wie ſie es in den ganzen Menſchen iſt, welche im Guten und im Schlechten das Metier ihres Daſeins und ihrer Neigungen vollſtändig und charakteriſtiſch betreiben und dabei durch¬ ſichtig wie Kryſtall, jeder vom reinſten Waſſer in ſeiner Art, ſo daß, wenn ſchlechte Skribenten die Welt der Mittelmäßigkeit und farbloſen Halb¬ heit beherrſchen und malen und dadurch Schwach¬ köpfe in die Irre führen und mit tauſend unbedeutenden Täuſchungen anfüllen, dieſer hin¬ gegen eben die Welt des Ganzen und Gelun¬ genen in ſeiner Art, d. h. wie es ſein ſoll, beherrſcht und dadurch gute Köpfe in die Irre führt, wenn ſie in der Welt dies weſentliche Leben zu ſehen und wiederzufinden glauben. Ach es iſt ſchon in der Welt, aber nur niemals da, wo wir eben ſind oder dann, wann wir leben. Es giebt noch verwegene ſchlimme Weiber genug, aber ohne den ſchönen Nachtwandel der Lady Macbeth und das bange Reiben der kleinen Hand. Die Giftmiſcherinnen, die wir treffen, ſind nur69 frech und reulos und ſchreiben gar noch ihre Geſchichte oder legen einen Kramladen an, wenn ſie ihre Strafe überſtanden. Es giebt noch Leute genug, die wähnen Hamlet zu ſein und ſie rüh¬ men ſich deſſen, ohne eine Ahnung zu haben von den großen Herzensgründen eines wahren Hamlet. Hier iſt ein Blutmenſch ohne Macbeths dämo¬ niſche und doch wieder ſo menſchliche Mannhaf¬ tigkeit und dort ein Richard der Dritte ohne deſſen Witz und Beredtſamkeit. Hier iſt eine Porzia, die nicht ſchön, dort eine, die nicht geiſt¬ reich, dort wieder eine die geiſtreich aber nicht klug iſt und wohl verſteht, Leute unglücklich zu machen, nicht aber ſich ſelbſt zu beglücken. Un¬ ſere Shyloks möchten uns wohl das Fleiſch aus¬ ſchneiden, aber ſie werden nun und nimmer eine Baarauslage zu dieſem Behuf wagen, und unſere Kaufleute von Venedig gerathen nicht wegen eines luſtigen Habenichts von Freund in Gefahr, ſondern wegen einfältigen Actienſchwindels und halten dann nicht im mindeſten ſo ſchöne melan¬ choliſche Reden, ſondern machen ein ganz dummes Geſicht dazu. Doch eigentlich ſind, wie geſagt, alle ſolche Leute wohl in der Welt, aber nicht70 ſo hübſch beiſammen, wie in jenen Gedichten; nie trifft ein ganzer Schurke auf einen ganzen wehrbaren Mann, nie ein vollſtändiger Narr auf einen unbedingt klugen Fröhlichen, ſo daß es zu keinem rechten Trauerſpiel und zu keiner guten Komödie kommen kann. «

» Ich aber las nun die ganze Nacht in die¬ ſem Buche und verfing mich ganz in demſelben, da es mir gar ſo gründlich und ſachgemäß ge¬ ſchrieben ſchien und mir außerdem eine ſolche Arbeit eben ſo neu als verdienſtlich vorkam. Weil nun alles übrige ſo trefflich, wahr und ganz erſchien und ich es für die eigentliche und richtige Welt hielt, ſo verließ ich mich insbeſon¬ dere auch bei den Weibern, die es vorbrachte, ganz auf ihn, verlockt und geleitet von dem ſchönen Sterne Lydia, und ich glaubte, hier ginge mir ein Licht auf und ſei die Löſung meiner zweifelvollen Verwirrung und Qual zu finden. «

» Gut! dachte ich, wenn ich dieſe ſchönen Bilder der Desdemona, der Helena, der Imogen und anderer ſah, die alle aus der hohen Selbſt¬ herrlichkeit ihres Frauenthums heraus ſo ſelt¬71 ſamen Käuzen nachgingen und anhingen, rück¬ haltlos wie unſchuldige Kinder, edel, ſtark und treu wie Helden, unwandelbar und treu wie die Sterne des Himmels: gut! hier haben wir un¬ ſeren Fall! Denn nichts anderes als ein ſol¬ ches feſtes, ſchöngebautes und gradausfahrendes Frauenfahrzeug iſt dieſe Lydia, die ihren Anker nur einmal und dann in eine unergründliche Tiefe auswirft und wohl weiß was ſie will. Dieſe Meinung ging gleich einer ſtrahlenden heißen Sonne in mir auf und in deren Licht ſah ich nun jede Bewegung und jede kleinſte Handlung, jedes Wort des ſchönen Geſchöpfes, und es dauerte nicht lange, ſo überbot ſie in meinen Augen alles, was der gute Dichter mit ſeiner mächtigen Einbildungskraft erfunden, da dies lebendige Gedicht im Lichte der Sonne um¬ herging in Fleiſch und Blut, mit wirklichen Herzſchlägen und einem thatſächlichen Nacken voll goldener Locken. «

» Das unheimliche Räthſel war nun gelöſt und ich hatte nichts weiter zu thun, als mich in dieſe mit dem Shakeſpeare in die Wette zu¬ ſammengedichtete Seligkeit zu finden und mit72 Mühe meine geringfügige und unliebliche Perſon für eine ſolche Laune des Schickſals oder des königlich großmüthigen Frauengemüthes einiger¬ maßen leidlich zurecht zu ſtutzen mittelſt hundert¬ facher Pläne und Ausſichten, welche ſich an das große ſchöne Luftſchloß anbaueten. Die unend¬ liche Dankbarkeit und Verehrung, welche ich ſol¬ chergeſtalt gegen die Geliebte empfand, hatte allerdings zum guten Theil ihren Grund in meiner ſich geſchmeichelt fühlenden Eigenliebe; aber gewiß auch zum noch größeren Theil darin, daß dieſe Erklärungsweiſe die einzige war, welche mir möglich ſchien, ohne dies theuerſte Weſen verachten und bemitleiden zu müſſen; denn eine hohe Achtung, die ich für ſie empfand, war mir zum Lebensbedürfniß geworden und mein Herz zitterte vor ihr, das noch vor keinem Menſchen und vor keinem wilden Thiere gezittert hatte. «

» So ging ich wohl ein halbes Jahr lang herum wie ein Nachtwandler, von Träumen ſo voll hängend, wie ein Baum voll Äpfel, alles, ohne mit Lydia um einen Schritt weiter zu kommen. Ich fürchtete mich vor dem kleinſten möglichen Ereigniß, etwa wie ein guter Chriſt73 vor dem Tode, den er zagend ſcheut, obgleich er durch ſelbigen in die ewige Seligkeit einzu¬ gehen gewiß iſt. Deſto bunter ging es in meinem Gehirn zu und die Ereigniſſe und auf¬ regendſten Geſchichten, alles aufs ſchönſte und unzweifelhafteſte ſich begebend, drängten und blüh¬ ten da durcheinander. Ich verſäumte meine Ge¬ ſchäfte und war zu nichts zu brauchen. Das Ärgſte war mir, wenn ich ſtundenlang mit dem Alten Schach ſpielen mußte, wo ich dann ge¬ zwungen war, meine Aufmerkſamkeit an das Spiel zu feſſeln, und die einzige Muße für meine ſchweren Liebesgedanken gewährte mir die kurze Zeit, wenn ein Spiel zu Ende war und die Figuren wieder aufgeſtellt wurden. Ich ließ mich daher ſobald als immer möglich, ohne daß es zu ſehr auffiel, matt machen und hielt mich ſo lange mit dem Aufſtellen des Königs und der Königin, der Läufer, Springer und Bauern auf und rückte ſo lange an den Thürmen hin und her, daß der Gouverneur glaubte, ich ſei kin¬ diſch geworden und tändle mit den Figürchen zu meinem Vergnügen. «

» Endlich aber drohete meine ganze Exiſtenz5 *74ſich in müſſige Traumſeligkeit aufzulöſen und ich lief Gefahr ein Tollhäusler zu werden. Zudem war ich trotz aller dieſer goldenen Luftſchlöſſer unſäglich kleinmüthig und traurig, da, ehe das letzte Wort geſprochen iſt, die ſolchen wuchernden Träumen gegenüber immer zurückſtehende Wirk¬ lichkeit niederſchlägt und die leibhafte Gegenwart etwas Abkühlendes und Abwehrendes behält. Es iſt das gewiſſermaßen die ſchützende Dornenrüſtung, womit ſich die ſchöne Roſe des körperlichen Le¬ bens umgiebt. Je freundlicher und zuthulicher Lydia war, deſto ungewiſſer und zweifelhafter wurde ich, weil ich an mir ſelbſt entnahm, wie ſchwer es Einem möglich wird, eine wirk¬ liche Liebe zu zeigen, ohne ſie ganz bei ihrem Namen zu nennen. Nur wenn ſie ſtreng, traurig und leidend ſchien, ſchöpfte ich wieder einen halben Grund zu einer vernünftigen Hoffnung, aber dies quälte mich alsdann noch viel tiefer und ich hielt mich nicht werth, daß ſie nur eine ſchlimme Minute um meinetwillen erleiden ſollte, der ich gern den Kopf unter ihre Füße gelegt hätte. Dann ärgerte ich mich wieder, daß ſie, um guter Dinge zu ſein, verlangte, ich ſollte75 etwa ausſehen wie ein verliebter närriſcher Schnei¬ der, da ich doch kein ſolcher war und ich auf meine Weiſe ſchon gedachte, beweglich zu werden zu ihrem Wohlgefallen. Kurz, ich ging einer gänzlichen Confuſion entgegen, war nicht mehr im Stande ein einziges Geſchäft ordnungsgemäß zu verrichten und lief Gefahr, als Militär rück¬ wärts zu kommen oder gar verabſchiedet zu wer¬ den, wenn ich nicht als ein abhängiger dienſtbarer Lückenbüßer, der zu weiter nichts zu brauchen, mich an das Haus des Gouverneurs hängen wollte. «

» Als daher die Engländer in bedenkliche Feindſeligkeiten mit indiſchen Völkern geriethen und ein Feldzug eröffnet wurde, der nachher ziemlich blutig für ſie ausfiel, entſchloß ich mich kurz und trat wieder in meine Compagnie als guter Combattant, vom Gouverneur meinen Ab¬ ſchied nehmend. Derſelbe wollte zwar nichts davon wiſſen, ſondern polterte, bat und ſchmei¬ chelte mir, daß ich bleiben möchte, wie alle ſolche Leute, die glauben, Alles ſtehe mit ſeinem Leib und Leben, mit ſeinem Wohl und Wehe nur zu ihrer Verfügung da, um ihnen die Zeit zu ver¬ treiben und zur Bequemlichkeit zu dienen. Lydia76 hingegen ließ ſich während der drei oder vier Tage, während welcher von meinem Abzug die Rede war, kaum ſehen. Geſchah es aber, ſo ſah ſie mich nicht an oder warf einen kurzen Blick voll Zornes auf mich, wie es ſchien; aber nur das Auge ſchien zornig, ihr Gang und ihre übrigen Bewegungen waren dabei ſo ſtill, edel und an ſich haltend, daß dieſer ſchöne Zorn mir das Herz zerriß. Auch hörte ich, daß ſie des Morgens ſehr ſpät zum Vorſchein käme und daß man ſich darüber den Kopf zerbräche; denn es deutete darauf, daß ſie des Nachts nicht ſchlafe, und als ich ſie am letzten Tage zufällig hinter ihrem Fenſter ſah, glaubte ich zu bemerken, daß ſie ganz verweinte Augen hatte; auch zog ſie ſich ſchnell zurück, als ich vorüberging. Nichts¬ deſtominder ſchritt ich meinen ſteifen Feldwebels¬ gang ruhig fort und verrichtete noch alles, we¬ der rechts noch links ſehend. So ging ich auch gegen Abend mit einem Burſchen noch einmal durch die Pflanzungen, um ihm die Obhut der¬ ſelben einigermaßen zu zeigen und ihn ſo gut es ging zu einem proviſoriſchen Gärtner zuzu¬ ſtutzen, bis ſich ein tauglicheres Subjekt zeigen77 würde. Wir ſtanden eben in einem ſchlanken hohen Roſenwäldchen, das ich gezogen hatte; die Bäumchen ſtanden juſt in der Höhe des Geſich¬ tes eines Menſchen, und ſo nahe, daß wenn man darin herum ging, die Roſen Einem an der Naſe ſtreiften, was ſehr artig und bequem war und wozu der Gouverneur ſehr gelacht hatte, da er ſich nun nicht mehr zu bücken brauchte um an den Roſen zu riechen. Als ich den Bur¬ ſchen meine Anweiſungen ertheilte, kam Lydia herbei und ſchickte ihn mit irgend einem Auftrage weg, und indem ſie gleich mitzugehen Willens ſchien, zögerte ſie doch eine kurze Zeit, einige Roſen brechend, bis der Diener weg war. Ich zerrte ebenfalls noch ein Weilchen an einem Zweige herum und wie ich mich umdrehte, um zu gehen, ſah ich, daß ihr Thränen aus den Augen fielen. Ich hatte Mühe mich zu bezwin¬ gen; doch that ich als ob ich nichts geſehen, und eilte hinweg. Doch kaum war ich zehn Schritte gegangen, als ich hörte und fühlte, wie ſie, bald laufend, bald ſtehen bleibend, hinter mir herkam, und ſo eine ganze Strecke weit. Ich hielt dies nicht mehr aus, wandte mich plötzlich78 um und ſagte zu ihr, die kaum noch drei Schritte von mir entfernt war: » Warum gehen Sie mir nach, Fräulein? «

» Sie ſtand ſtill, wie von einer Schlange er¬ ſchreckt, und wurde, den Blick zur Erde geſenkt, glühendroth im Geſicht; dann wurde ſie bleich und weiß und zitterte am ganzen Leibe, während ſie die großen blauen Augen zu mir aufſchlug und nicht ein Wort hervorbrachte. Endlich ſagte ſie mit einer Stimme, in welchen empör¬ ter Stolz mit gern ertragener Demüthigung rang: » Ich denke, ich kann in meinem Beſitzthume herumgehen, wo ich will! «

» Gewiß! « erwiederte ich kleinlaut und ſetzte meinen Weg fort. Sie war jetzt an meiner Seite und ging neben mir her. Ich ging aber in meiner heftigen Aufregung mit ſo langen und raſchen Schritten, daß ſie trotz ihrer kräftigen Bewegungen mir mit Mühe folgen konnte und doch that ſie es. Ich ſah ſie mehrmals groß an von der Seite und ſah, daß ihr die Augen wieder voll Waſſer ſtanden, indeſſen dieſelben wie kummervoll und demüthig auf den Boden gerichtet waren. Mir brannte es ebenfalls ſie¬79 dendheiß im Geſicht und meine Augen wurden auch naß. Die Sache ſtand jetzt dergeſtalt auf der Spitze, daß ich entweder eine Dummheit oder eine Gewiſſenloſigkeit zu begehen im Begriff war, wovon ich weder das Eine noch das Andere zu thun geſonnen war. Doch dachte ich, indem ich ſo neben ihr herſchritt, in meinen armen Gedan¬ ken: Wenn dies Weib dich liebt und du jemals mit Ehren an ihre Hand gelangeſt, ſo ſollſt du ihr auch dienen bis in den Tod, und wenn ſie der Teufel ſelbſt wäre!

» Indem erreichten wir eine Stätte, wo ein oder zwei Dutzend Orangenbäume ſtanden und die Luft mit Wohlgeruch erfüllten, während ein ſüßer friſcher Lufthauch durch die reinlichen edel¬ geformten Stämmchen wehte. Ich glaube dieſen bethörenden Hauch und Duft noch jetzt zu füh¬ len, wenn ich daran denke; wahrſcheinlich übte er eine ähnliche Wirkung auf das Geſchöpf, das neben mir ging, daß es ſeine wunderſame Lei¬ denſchaft, welche die Liebe zu ſich ſelbſt war, ſo auf's äußerſte empfand und darſtellte, als ob es eine wirkliche Liebe zu einem Manne wäre; denn ſie ließ ſich auf eine Bank unter den Orangen80 nieder und ſenkte das ſchöne Haupt auf die Hände; die goldenen Haare fielen darüber und reiche Thränen quollen durch ihre Finger.

» Ich ſtand vor ihr ſtill und ſagte mit ver¬ ſagender Stimme: » Was wollen Sie denn, was iſt Ihnen, Fräulein Lydia? «

» Was wollen Sie denn! « ſagte ſie » iſt es je erhört, eine ſchöne und feine Dame ſo zu quälen und zu mißhandeln! Aus welchem bar¬ bariſchen Lande kommen Sie denn? Was tra¬ gen Sie für ein Stück Holz in der Bruſt? «

» Wie quäle, wie mißhandle ich denn? « er¬ wiederte ich unſchlüſſig und betreten; denn ob¬ gleich ſie einen guten Sinn haben konnte, ſchien mir dieſe Sprache dennoch nicht die rechte zu ſein.

» Sie ſind ein grober und übermüthiger Menſch! « ſagte ſie, ohne aufzublicken.

Nun konnte ich nicht mehr an mich halten und erwiederte: » Sie würden dies nicht ſagen, mein Fräulein, wenn Sie wüßten, wie wenig grob und übermüthig ich in meinem Herzen gegen Sie geſinnt bin! Und es iſt gerade meine große Höflichkeit und Demuth, welche «

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» Sie blickte, als ich wieder verſtummte, auf, und das Geſicht mit einem ſchmerzlichen, bitten¬ den Lächeln aufgehellt, ſagte ſie haſtig: » Nun? « Wobei ſie mir einen Blick zuwarf, der mich jetzt um den letzten Reſt von Überlegung brachte. Ich, der ich es nie für möglich gehalten hätte, ſelbſt dem geliebteſten Weibe zu Füßen zu fallen, da ich ſolches für eine Thorheit und Ziererei hielt, ich wußte jetzt nicht, wie ich dazu kam, plötzlich vor ihr zu liegen und meinen Kopf ganz hingegeben und zerknirſcht in den Saum ihres Gewandes zu verbergen, den ich mit heißen Thränen benetzte. Sie ſtieß mich jedoch augen¬ blicklich zurück und hieß mich aufſtehen; doch als ich dies that, hatte ſich ihr Lächeln noch ver¬ mehrt und verſchönert und ich rief nun: Ja ſo will ich es Ihnen nur ſagen und ſo weiter und erzählte ihr meine ganze Geſchichte mit einer Beredtſamkeit, die ich mir kaum je zuge¬ traut. Sie horchte begierig auf, während ich ihr gar nichts verſchwieg vom Anfang bis zu dieſer Stunde und beſonders ihr auch aus über¬ ſtrömendem Herzen das Bild entwarf, das von ihr in meiner Seele lebte und wie ich es ſeitKeller, die Leute von Seldwyla. I. 682einem halben Jahre oder mehr ſo emſig und treu ausgearbeitet und vollendet. Sie lachte, vor ſich niederſehend und lauſchend die Hand unter das Kinn ſtützend, voll Zufriedenheit und ſah immer mehr einem ſeligen Kinde gleich, dem man ein gewünſchtes Zuckerzeug gegeben, als ſie hörte und vernahm, wie nicht einer ihrer Vor¬ züge und Reize, und nicht eines ihrer Worte bei mir verloren gegangen war. Dann reichte ſie mir die Hand hin und ſagte, freundlich er¬ röthend, doch mit zufriedener Sicherheit: » Ich danke Ihnen ſehr, mein Freund, für Ihre herz¬ liche Zuneigung! Glauben Sie, es ſchmerzt mich, daß Sie um meinetwillen ſo lange beſorgt und eingenommen waren; aber Sie ſind ein ganzer Mann und ich muß Sie achten, da Sie einer ſo ſchönen und tiefen Neigung fähig ſind! «

Dieſe ruhige Rede fiel zwar wie ein Stück Eis in mein heißes Blut; doch dachte ich ſo¬ gleich, es ihr wohl und von Herzen zu gönnen, wenn ſie jetzt die gefaßte und ſich zierende Dame machen wollte und mich in alles zu ergeben, was ſie auch vornehmen und welchen Ton ſie auch anſchlagen würde.

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Doch erwiederte ich bekümmert: » Wer ſpricht denn von mir, ſchöne, ſchöne Lydia! Was hat Alles, was ich leide oder nicht leide, erlitten habe oder noch erleiden werde, zu ſagen, gegen¬ über auch nur Einer unmuthigen oder gequälten Minute, die Sie erleiden? Wie kann ich un¬ werther und ungefügiger Geſelle eine ſolche je erſetzen oder vergüten? «

» Nun, « ſagte ſie, immer vor ſich nieder¬ bückend und immer noch lächelnd, doch ſchon in einer etwas veränderten Weiſe, » nun, ich muß allerdings geſtehen, daß mich Ihr ſchroffes und ungeſchicktes Benehmen ſehr geärgert und ſogar gequält hat; denn ich war an ſo etwas nicht gewöhnt, vielmehr daß ich überall, wo ich hin¬ kam, Artigkeit und Ergebenheit um mich ver¬ breitete. Ihre ſcheinbare grobe Fühlloſigkeit hat mich ganz ſchändlich geärgert, ſage ich Ihnen, und um ſo mehr, als mein Vater und ich viel auf Sie hielten. Um ſo lieber iſt es mir nun, zu ſehen, daß Sie doch auch ein bischen Gemüth haben, und beſonders, daß ich an mei¬ nem eigenen Werthe nicht länger zu zweifeln brauche; denn was mich am meiſten kränkte,6 *84war dieſer Zweifel an mir ſelbſt, an meinem perſönlichen Weſen, der in mir ſich zu regen begann. Übrigens, beſter Freund, empfinde ich keine Neigung zu Ihnen, ſo wenig als zu je¬ mand Anderm, und hoffe, daß Sie ſich mit aller Hingebung und Artigkeit, die Sie ſo eben beur¬ kundet, in das Unabänderliche fügen werden, ohne mir gram zu ſein! «

» Wenn ſie geglaubt, daß ich nach dieſer un¬ befangenen Eröffnung gänzlich rath - und wehrlos vor ihr darnieder liegen werde, ſo hatte ſie ſich getäuſcht. Vor dem vermeintlich guten und liebe¬ vollen Weibe hatte mein Herz gezittert, vor dem wilden Thiere dieſer falſchen gefährlichen Selbſt¬ ſucht zitterte ich ſo wenig mehr, als ich es vor Tigern und Schlangen zu thun gewohnt war. Im Gegentheil, anſtatt verwirrt und verzweifelt zu ſein und die Täuſchung nicht aufgeben zu wol¬ len, wie es ſonſt wohl geſchieht in dergleichen Auftritten, war ich plötzlich ſo kalt und beſonnen, wie nur ein Mann es ſein kann, der auf das ſchmählichſte beleidigt und beſchimpft worden iſt, oder wie ein Jäger es ſein kann, der ſtatt eines edlen ſcheuen Rehes urplötzlich eine wilde Sau85 vor ſich ſieht. Ein ſeltſam gemiſchtes, unheim¬ liches Gefühl von Kälte freilich, wenn ich bei alledem die Schönheit anſehen mußte, die da vor mir glänzte. Doch dieſes iſt das unheimliche Geheimniß der Schönheit. «

» Indeſſen, wäre ich nicht von der Sonne ganz braun gebrannt geweſen, ſo würde ich jetzt den¬ noch ſo weiß ausgeſehen haben, wie die Orange¬ blüthen über mir, als ich ihr nach einigem Schwei¬ gen erwiederte: » Und alſo um Ihren edlen Glau¬ ben an Ihre Perſönlichkeit herzuſtellen war es Ihnen möglich, alle Zeichen der reinen und tiefen Liebe und Selbſtentäußerung zu verwenden? Zu dieſem Zwecke gingen Sie mir nach, wie ein un¬ ſchuldiges Kind, das ſeine Mutter ſucht, redeten Sie mir fortwährend nach dem Munde, wurden Sie bleich und leidend, vergoſſen Sie Thränen und zeigten eine ſo goldene und rückhaltloſe Freude, wenn ich mit Ihnen nur ein Wort ſprach? «

» Wenn es ſo ausgeſehen hat, was ich that, « ſagte ſie noch immer ſelbſtzufrieden, » ſo wird es wohl ſo ſein. Sie ſind wohl ein wenig böſe, eitler Mann! daß Sie nun doch nicht der Ge¬86 genſtand einer gar ſo demuthvollen und gränzen¬ loſen weiblichen Hingebung ſind? daß ich Ärmſte nicht das ſehnlich blöckende Lämmlein bin, für das Sie mich in Ihrer Vergnügtheit gehalten? «

» Ich war nicht vergnügt, Fräulein! « erwie¬ derte ich. » Indeſſen wenn die Götter, wenn Chriſtus ſelbſt einer unendlichen Liebe zu den Menſchen vielfach ſich hingaben, und wenn die Menſchheit von jeher ihr höchſtes Glück darin fand, dieſer rückhaltloſen Liebe der Götter werth zu ſein und ihr nachzugehen: warum ſollte ich mich ſchämen, mich ähnlich geliebt gewähnt zu haben? Nein, Fräulein Lydia! ich rechne es mir ſogar zur Ehre an, daß ich mich von Ihnen fan¬ gen ließ, daß ich eher an die einfache Liebe und Güte eines unbefangenen Gemüthes glaubte, bei ſo klaren und entſchiedenen Zeichen, als daß ich verdorbener Weiſe nichts als eine einfältige Ko¬ mödie dahinter gefürchtet. Denn einfältig iſt die Geſchichte! Welche Garantie haben Sie denn nun für Ihren Glauben an ſich ſelbſt, da Sie ſolche Mittel angewendet, um nur den ärmſten und unanſehnlichſten aller Feldwebel zu gewinnen, Sie, die ſchöne und vornehme engliſche Dame? «

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» Welche Garantie? « antwortete Lydia, die nun allmälig blaß und verlegen wurde, » ei! Ihre verliebte Neigung, zu deren Erklärung ich Sie endlich gezwungen habe! Sie werden mir doch nicht läugnen wollen, daß Sie hingeriſſen waren und mir ſo eben erzählten, wie ich Ihnen von jeher gefallen? Warum ließen Sie das in Ihrer Grobheit nicht ein klein Weniges merken, ſo wie es dem ſchlichteſten und anſpruchloſeſten Menſchen wohl anſteht, und wenn er ein Schafhirt wäre, ſo würde uns dieſe ganze Komödie, wie Sie es nennen, erſpart worden ſein und ich hätte mich begnügt! «

» Hätten Sie mich in meiner Ruhe gelaſſen, meine Schöne, « erwiederte ich, » ſo hätten Sie mehr gewonnen. Denn Sie ſcheinen zu vergeſſen, daß dies Wohlgefallen ſich jetzt nothwendig in ſein Gegentheil verkehren muß, zu meinen eigenen Schmerzen! «

» Hilft Ihnen nichts, « ſagte ſie, » ich weiß einmal, daß ich Ihnen wohlgefallen habe und mithin im Blute ſtecke! Ich habe Ihr Ge¬ ſtändniß angehört und bin meiner Eroberung ver¬ ſichert. Alles übrige iſt gleichgültig; ſo geht es88 zu, beſter Herr Pankrazius, und ſo werden die¬ jenigen beſtraft, die ſich vergehen im Reiche der Königin Schönheit! «

» Das heißt, « ſagte ich, » es ſcheint dies Reich eher einer Zigeunerbande zu gleichen. Wie kön¬ nen Sie eine Feder auf den Hut ſtecken, die Sie geſtohlen haben, wie eine gemeine Ladendiebin? gegen den Willen des Eigenthümers? «

Sie antwortete: » Auf dieſem Felde, beſter Herr Eigenthümer, gereicht der Diebſtahl der Diebin zum Ruhm, und Ihr Zorn beweiſt nur auf's Neue, wie gut ich Sie getroffen habe! «

So zankten wir noch eine gute halbe Stunde herum in dem ſüßen Orangenhaine, aber mit bittern harten Worten, und ich ſuchte vergeblich ihr begreiflich zu machen, wie dieſe abgeſtohlene und erſchlichene Liebesgeſchichte durchaus nicht den Werth für ſie haben könnte, den ſie ihr beilegte. Ich führte dieſen Beweis wahrlich nicht aus phi¬ liſterhafter Verletztheit und Grobheit, ſondern um irgend einen Funken vom Gefühl ihres Unrechtes und der Unſittlichkeit ihrer Handlungsweiſe in ihr zu erwecken. Aber umſonſt! Sie wollte nicht einſehen, daß eine rechte Gemüthsverfaſſung89 erſt dann in der vollen und rückhaltloſen Liebe aufflammt, wenn ſie Grund zur Hoffnung zu haben glaubt, und daß alſo dieſen Grund zu geben, ohne etwas zu fühlen, immer ein grober und unſittlicher Betrug bleibt, und um ſo gewiſſenloſer, als der Betrogene einfacher, ehrlicher und argloſer Art iſt. Immer kam ſie auf das Faktum meiner Lie¬ beserklärung zurück, und zwar warf ſie, die ſonſt ein ſo geſundes und ſchönes Urtheil hatte, die unſinnigſten, kleinlichſten und unanſtändigſten Re¬ den und Argumente durcheinander und that einen wahren Kindskopf kund. Während der ganzen Jahre unſeres Zuſammenſeins hatte ich nicht ſo viel mit ihr geſprochen, wie in dieſer letzten zän¬ kiſchen Stunde, und nun ſah ich, o gerechter Gott! daß es ein Weib war von einem groß angelegten Weſen, mit den Manieren, Bewe¬ gungen und Kennzeichen eines wirklich noblen und ſeltenen Weibes, und bei alledem mit dem Ge¬ hirn einer ganz gewöhnlichen Soubrette, wie ich ſie nachmalen zu Dutzenden geſehen habe auf den Vaudevilletheatern zu Paris! Während die¬ ſes Zankes aber verſchlang ich ſie dennoch fort¬ während mit den Augen und ihre unbegreifliche90 grundloſe, ſo perſönlich ſcheinende Schönheit quälte mein Herz in die Wette mit dem Wortwechſel, den wir führten. Als ſie aber zuletzt ganz ſinn¬ loſe und unverſchämte Dinge ſagte, rief ich, in bittere Thränen ausbrechend: » O Fräulein! Sie ſind ja der größte Eſel, den ich je geſehen habe! «

Sie ſchüttelte heftig die Wucht ihrer Locken und ſah bleich und erſtaunt zu mir auf, wobei ein wilder ſchiefer Zug um ihren ſonſt ſo ſchönen Mund ſchwebte. Es ſollte wohl ein höhniſches Lächeln ſein, ward aber zu einem Zeichen ſelt¬ ſamer Verlegenheit.

» Ja, « ſagte ich, mit den Fäuſten meine Thrä¬ nen zerreibend, » nur wir Männer können ſonſt Eſel ſein, dies iſt unſer Vorrecht, und wenn ich Sie auch ſo nenne, ſo iſt es noch eine Art Aus¬ zeichnung und Ehre für Sie. Wären Sie nur ein Bischen gewöhnlicher und geringer, ſo würde ich Sie einfach eine ſchlechte Gans ſchelten! «

Mit dieſen Worten wandte ich mich endlich von ihr ab und ging, ohne ferner nach ihr hin¬ zublicken, aber mit dem Gefühle, daß ich das, was mir jemals in meinem Leben von reinem91 Glück beſchieden ſein mochte, jetzt für immer hinter mir laſſe, und daß es jetzt vorbei wäre mit mei¬ ner artigen Frömmigkeit in der Liebe.

» Das haſt du nun von deinem unglückſeligen Schmollweſen! « ſagte ich zu mir ſelbſt, » hätteſt du von Anbeginn zuweilen nur halb ſo lange mit ihr freundlich geſprochen, ſo hätte es dir nicht verborgen bleiben können, weß Geiſtes Kind ſie iſt, und du hätteſt dich nicht ſo gröblich getäuſcht! Fahr hin und zerfließe denn, du ſchönes Luft¬ ſchloß! «

Als ich mich nun mit zerriſſenen Gedanken vom Gouverneur verabſchiedete, ſah mich derſelbe vergnüglich und verſchmitzt an und blinzelte ſpöt¬ tiſch mit den Augen. Ich merkte, daß er mir meine Affaire anſah, überhaupt dieſelbe von jeher beobachtet hatte und eine Art von ſchadenfrohem Spaß daran empfand. Da er ſonſt ein ganz biederer und honetter Mann war, ſo konnte das nichts anderes ſein, als die einfältige Freude aller Philiſter an grauſamen und ſchlechten Bra¬ tenſpäßen. Im vorigen Jahrhundert beluſtigten ſich große Herren daran, ihre Narren, Zwerge und ſonſtigen Untergebenen betrunken zu machen92 und dann mit Waſſer zu begießen oder körperlich zu mißhandeln. Heutzutage wird dies bei den Gebildeten nicht mehr beliebt; dagegen unterhält man ſich mit Vorliebe damit, allerlei feine Ver¬ wirrungen anzuzetteln, und je weniger ſolche Phi¬ liſterſeelen ſelber einer flotten und gründlichen Leidenſchaft fähig ſind, deſto mehr fühlen ſie das Bedürfniß, dergleichen mit mehr oder weniger plumpen Mitteln in denen zu erwecken, die dazu tauglich ſind, in ſolche herzlos aufgeſtellten Mäuſe¬ fallen zu gerathen. Wenn nun der Gouverneur ſeinerſeits es nicht verſchmähte, ſeine eigene Toch¬ ter als ſolche Mäuſefalle zu verwenden, ſo war hiegegen nichts weiter zu ſagen, und ich nahm, obſchon noch ein guter Gepäckwagen abfuhr, eigen¬ ſinnig meinen ſchweren Torniſter und die Mus¬ quete auf den Rücken und führte einen zurück¬ gebliebenen Trupp in die Nacht hinaus dem Re¬ gimente nach, das ſchon in der Frühe abmar¬ ſchirt war. «

» Ich ſah mich nach einem mühſeligen und heißen Marſch nun in eine neue Welt verſetzt, als die Kampagne eröffnet war und die Truppen der oſtindiſchen Kompagnie ſich mit den wilden93 Bergſtämmen an der äußerſten Grenze des indo¬ brittiſchen Reiches herumſchlugen. Einzelne Kom¬ pagnieen unſers Regimentes waren fortwährend vorgeſchoben; eines Tages aber wurde die mei¬ nige ſo mörderlich umzingelt, daß wir uns mit¬ ten in einem Knäuel von banditenähnlichen Rei¬ tern, Elephanten und ſonderbaren bemalten und vergoldeten Wagen befanden, auf denen ſtille ſchöne hindoſtaniſche Scheinfürſten ſaßen, von den wilden Häuptlingen als Puppen mitgeführt. Un¬ ſere ſämmtlichen Offiziere fielen an dieſem Tage und die Kompagnie ſchmolz auf ein Drittel zu¬ ſammen. Da ich mich ordentlich hielt und einige Dienſte leiſtete, ſo erlangte ich das Patent des erſten Lieutenants der Kompagnie und nach Be¬ endigung des Feldzuges war ich deren Kapitän. «

» Als ſolcher hielt ich mit etwa hundert und funfzig Mann zwei Jahre lang einen kleinen Grenzbezirk beſetzt, welcher zur Arrondirung un¬ ſers Gebietes erobert worden, und war während dieſer Zeit der oberſte Machthaber in dieſer heid¬ niſchen Wildniß. Ich war nun ſo einſam, als ich je in meinem Leben geweſen, mißtrauiſch gegen alle Welt und ziemlich ſtreng in meinem Ge¬94 ſchäftsverkehr, ohne gerade böſe oder ungerecht zu ſein. Meine Hauptthätigkeit beſtand darin, chriſtliche Polizei einzuführen und unſern Reli¬ gionsleuten nachdrücklichen Schutz zu gewähren, damit ſie ungefährdet arbeiten konnten. Haupt¬ ſächlich aber hatte ich das Verbrennen der indi¬ ſchen Weiber zu verhüten, wenn ihre Männer geſtorben, und da die Leute eine förmliche Sucht hatten, unſerm engliſchen Verbote zu kontraveni¬ ren und einander bei lebendigem Leibe zu braten zu Ehren der Gattentreue, ſo mußten wir ſtets auf den Beinen ſein, um dergleichen zu verhüten. Sie waren dann eben ſo mürriſch und mißver¬ gnügt, wie wenn hierzulande die Polizei ein unerlaubtes Vergnügen ſtört. Einmal hatten ſie in einem entfernten Dorfe die Sache ganz ſchlau und heimlich ſo weit gebracht, daß der Scheiter¬ haufen ſchon lichterloh brannte, als ich athemlos herzugeritten kam und das Völkchen auseinander jagte. Auf dem Feuer lag die Leiche eines ur¬ alten gänzlich vertrockneten Gockelhahns, welcher ſchon ein wenig brenzelte. Neben ihm aber lag ein bildſchönes Weibchen von kaum ſechszehn Jahren, welches mit lächelndem Munde und ſil¬95 berner Stimme ſeine Gebete ſang. Glücklicher Weiſe hatte das Geſchöpfchen noch nicht Feuer gefangen und ich fand gerade noch Zeit, vom Pferde zu ſpringen und ſie bei den zierlichen Fü߬ chen zu packen und vom Holzſtoß zu ziehen. Sie geberdete ſich aber wie beſeſſen und wollte durch¬ aus verbrannt ſein mit ihrem alten Stänker, ſo daß ich die größte Mühe hatte, ſie zu bändigen und zu beſchwichtigen. Freilich gewannen dieſe armen Wittwen nicht viel durch ſolche Rettung; denn ſie fielen nach denſelben unter den Ihrigen der äußerſten Schande und Verlaſſenheit anheim, ohne daß das Gouvernement etwas dafür that, ihnen das gerettete Leben auch leicht zu machen. Dieſe Kleine gelang es mir indeſſen zu verſor¬ gen, indem ich ihr eine Ausſteuer verſchaffte und an einen getauften Hindu verheirathete, der bei uns diente, dem ſie auch mit reiner Treue und ganzem Blute anhing. «

» Allein dieſe wunderlichen Vorfälle beſchäf¬ tigten meine Gedanken und erweckten allmälig in mir den Wunſch nach dem Genuſſe ſolcher un¬ bedingten Treue, und da ich für dieſe Phantaſie kein Weib zu meiner Verfügung hatte, verfiel96 ich einer ganz weibiſchen Sehnſucht, ſelber ſo treu zu ſein, und damit zugleich einer heißen Sehnſucht nach Lydia. Da ich nun Rang und gute Aus¬ ſichten beſaß, ſchien es mir nicht unmöglich, bei einem klugen Benehmen die ſchöne Perſon, falls ſie noch zu haben wäre, dennoch erlangen zu können, und in dieſer tollen Idee beſtärkte mich noch der Umſtand, daß ſie ſich doch ſo viel auf¬ richtige und ſorgenvolle Mühe gegeben, mir den Kopf zu verdrehen. Irgend einen Werth mußt du doch, dachte ich, in ihren Augen gehabt haben, ſonſt hätte ſie gewiß nicht gar viel daran geſetzt. Alſo gedacht, gethan; nämlich ich gerieth jetzt auf die fixe Idee, die Lydia, wenn ſie mich möchte, zu heirathen, wie ſie eben wäre, und ihr um ihrer ſchönen Perſönlichkeit willen, für die es nichts Ähnliches gab, treu und ergeben zu ſein ohne Schranken noch Ziel, und ihre Verkehrtheit und ſchlimmen Eigenſchaften als eine Tugend zu be¬ trachten und dieſelben zu ertragen, als ob ſie das ſüßeſte Zuckerbrot wären. Ja, ich phantaſirte mich wieder ſo hinein, daß mir ihre Fehler, ſelbſt ihre theilweiſe Dummheit zum wünſchbarſten aller irdiſchen Güter wurden, und in tauſend erfun¬97 denen Variationen wandte ich dieſelben hin und her und malte mir ein Leben aus, wie ein kluger und geſchickter Mann die Verkehrtheiten und Män¬ gel einer liebenswürdigen Frau täglich und ſtünd¬ lich in eben ſo viel artige und erfreuliche Aben¬ teuer zu wandeln und ihren Dummheiten mittelſt einer von Liebe und Treue getränkten Einbildungs¬ kraft einen goldenen Werth zu verleihen weiß, ſo daß ſie lachend auf dieſelben ſich noch etwas zu gut thun kann. Der Teufel weiß, wo ich dieſe geſchäftige Einbildungskraft hernahm, wahr¬ ſcheinlich immer noch aus dem unglücklichen Shake¬ ſpeare, den mir die Hexe gegeben, und womit ſie mich doppelt vergiftet hatte. Es nimmt mich nur Wunder, ob ſie auch ſelbſt je mit Andacht darin geleſen hat! «

» Kurz, als ich hinlänglich wieder berauſcht war von meinen Träumen und von meinem ent¬ legenen Poſten zugleich abgelöſt wurde, nahm ich Urlaub und begab mich Hals über Kopf zu dem Gouverneur. Er lebte noch in den alten Verhältniſſen und empfing mich ganz gut und auch die Tochter war noch bei ihm und empfing mich freundlicher, als ich erwartet. Kaum hatteKeller, die Leute von Seldwyla. I. 798ich ſie wieder geſehen und einige Worte ſprechen gehört, ſo war ich wieder ganz in ſie vernarrt und in meiner fixen Idee vollends beſtärkt, und es ſchien mir unmöglich, ohne die Verwirklichung derſelben je froh zu werden. «

» Allein ſie betrieb nun das Geſchäft in krankhafter Überſpannung ganz offen und großartig und fröhnte ihrer unglücklichen Selbſtſucht ohne allen Rückhalt. Sie war nun umgeben von einer Schaar ziemlich roher und eitler Offiziere, die ihr auf ganz ordinäre Weiſe den Hof machten und ſagten, was ſie gern hören mochte, kam es auch heraus, wie es wollte. Es war eine voll¬ ſtändige Hetzjagd von Trivialitäten und hohlem Weſen und die derbſten Zudringlichkeiten wurden am liebſten angenommen, wenn ſie nur aus gänz¬ licher Ergebenheit herzurühren ſchienen und die Unglückliche in ihrem Glauben an ſich ſelbſt auf¬ recht erhielten. Außerdem hatte ſie zur Zeit einem armen Tambour mit einem einzigen Blicke den Kopf verdreht, der nun ganz aufgeblaſen umher¬ ging und ſich ihr überall in den Weg ſtellte; und einen Schuſter, der für ſie arbeitete, hatte ſie dermaßen bethört, daß er jedesmal, wenn er ihr99 Schuhe brachte, auf dem Hausflur auf das ſorg¬ fältigſte ſich ſeinen rothen Schnurrbart reinigte, da er zuverläſſig erwartete, es würde diesmal etwas vorgehen und er geküßt werden! Wenn man ihn kommen ſah, ſo begab ſich die ganze Geſellſchaft auf eine verdeckte Gallerie, um dem armen Teufel in ſeinem feierlichen Werke zuzu¬ ſehen. Das ſonderbarſte war, daß Niemand an dieſem Weſen ein Ärgerniß nahm, daß man alſo nichts beſſeres von Lydia zu erwarten ſchien, und ihre Aufführung ihrer würdig hielt, daß alſo ich der Einzige war, der ſo große Meinungen von ihr im Herzen trug, und mithin alle dieſe Hans¬ narren, die ich verachtete, die ſie aber nahmen, wie ſie war, klüger zu ſein ſchienen, als ich in meiner tiefſinnigen Leidenſchaft. Aber nein! rief ich, ſie iſt doch ſo, wie ich ſie denke, und eben weil das alles Strohköpfe ſind, ſind ſie ſo frech gegen ſie und wiſſen nicht, was an ihr iſt oder ſein könnte! Und ich zitterte darnach, ihr noch ein Mal den Spiegel vorzuhalten, aus dem ihr beſſe¬ res Bild zurückſtrahlte und alles Werthloſe um ſie her wegblendete. Allein der äußere Anſtand und die Haltung, welche ich auch bei aller Anſtrengung7 *100nicht aufgeben konnte, machten es mir unmöglich, mich unter dieſe Affenſchwänze zu miſchen und nur den kleinſten Schritt gegen Lydia zu thun. Ich ward abermals konfus, ungeduldig, nahm plötzlich meinen Abſchied aus der indiſchen Armee und machte mich davon, um heimzukehren und die Unſelige zu vergeſſen. «

» So gelangte ich nach Paris und hielt mich daſelbſt einige Wochen auf. Da ich eine große Menge ſchöner und kluger Weiber ſah, dachte ich, es wäre das beſte Mittel, meine unglückliche Ge¬ ſchichte los zu werden, in recht viel hübſche Frauengeſichter zu blicken, und ging daher von Theater zu Theater, und an alle Orte, wo der¬ gleichen beiſammen waren, ließ mich auch in ver¬ ſchiedene gute Häuſer und Geſellſchaften einführen. Ich ſah auch in der That viele tüchtige Geſtalten von edlem Schwung und Zuſchnitt und in deren Augen ſchöne Gedanken lagen, aber alles was ich ſah, führte mich nur auf Lydia zurück und diente zu deren Gunſten. Sie war nicht zu vergeſſen und ich war und blieb aufs Neue elend verliebt in ſie. Ich hatte das allerunheimlichſte ſonder¬ barſte Gefühl, wenn ich an ſie dachte. Es war101 mir zu Muthe, als ob nothwendiger Weiſe ein weibliches Weſen in der Welt ſein müßte, wel¬ ches genau das Äußere und die Manieren dieſer Lydia, kurz deren beſſere Hälfte beſäße, dazu aber auch die entſprechende andere Hälfte, und daß ich nur dann würde zur Ruhe kommen, wenn ich dieſe ganze Lydia fände; oder es war mir als ob ich verpflichtet wäre, die rechte Seele zu dieſem ſchönen halben Geſpenſte zu ſuchen, mit einem Worte, ich wurde abermals krank vor Sehnſucht nach ihr, und da es doch nicht anging, zurückzukehren, ſuchte ich neue Sonnengluth, Ge¬ fahr und Thätigkeit und nahm Dienſte in der franzöſiſch-afrikaniſchen Armee. Ich begab mich ſogleich nach Algier und befand mich bald am äußerſten Saume der afrikaniſchen Provinz, wo ich im Sonnenbrand und auf dem glühenden Sande mich herumtummelte und mit den Kabylen herumſchlug. «

Da in dieſem Augenblick das ſchlafende Eſtherchen, das immer einen Unfug machen mußte, träumte, es falle eine Treppe hinunter und demgemäß auf ſeinem Stuhle ein erſchrecktes Geräuſch erhob, blickte der erzählende Pankrazius102 endlich auf und bemerkte, daß ſeine Zuhörerinnen ſchliefen. Zugleich entdeckte er erſt jetzt, daß er denſelben eigentlich nichts als eine Liebesgeſchichte erzählt, ſchämte ſich deſſen und wünſchte, daß ſie gar nichts davon gehört haben möchten. Er weckte die Frauen auf und hieß ſie ins Bett gehen, und er ſelbſt ſuchte ebenfalls das Lager auf, wo er mit einem langen, aber gemüthlichen Seufzer einſchlief. Er lag wohl ſo lange im Bette, wie einſt, als er der faule und unnütze Pankräzlein geweſen, ſo daß ihn die Mutter wie ehedem wecken mußte. Als ſie nun zuſammen beim Frühſtück ſaßen und Kaffee tranken, ſagte er, mit ſeinem Bericht fortfahrend:

» Wenn Ihr nicht geſchlafen hättet, ſo würdet Ihr gehört haben, wie ich in Oſtindien im Be¬ griffe war, aus einem Murrkopf ein äußerſt zuthunlicher und wohlwollender Menſch zu werden um eines ſchönen Frauenzimmers willen, wie aber eben meine Schmollerei mir einen argen Streich geſpielt hat, da ſie mich verhinderte, beſagtes Frauenzimmer näher zu kennen und mich blindlings in ſelbe verlieben ließ; wie ich dann betrogen wurde und als ein neugeſtählter Schmol¬103 ler aus Indien nach Afrika ging zu den Fran¬ zoſen, um dort den Burnußträgern die lächerlichen thurmartigen Strohhüte herunter zu ſchlagen und ihnen die Köpfe zu zerbläuen, was ich auch mit ſo grimmigem Eifer that, daß ich auch bei den Franzoſen avancirte und Oberſt ward, was ich geblieben bin bis jetzt. «

» Ich war wieder ſo einſilbig und trübſelig als je und kannte nur zwei Arten, mich zu ver¬ gnügen: die Erfüllung meiner Pflicht als Soldat und die Löwenjagd. Letztere betrieb ich ganz allein, indem ich mit nichts als mit einer guten Büchſe bewaffnet zu Fuß ausging und das Thier aufſuchte, worauf es dann darauf ankam, daſ¬ ſelbe ſicher zu treffen, ſonſt war ich verloren. Die ſtete Wiederholung dieſer einen großen Ge¬ fahr und das mögliche Eintreffen eines endlichen Fehlſchuſſes ſagte meinem Weſen zu und nie war ich behaglicher, als wenn ich ſo ſeelenallein auf den heißen Höhen herumſtreifte und einem ſtarken wilden Burſchen auf der Spur war, der mich gar wohl bemerkte und ein ähnliches ſchmol¬ lendes Spiel trieb mit mir, wie ich mit ihm. So war vor jetzt ungefähr vier Monaten ein104 ungewöhnlich großer Löwe in der Gegend erſchienen, dieſer, deſſen Fell hier liegt, und lichtete den Be¬ duinen ihre Heerden, ohne daß man ihm bei¬ kommen konnte; denn er ſchien ein durchtriebener Geſelle zu ſein und machte täglich große Mär¬ ſche kreuz und quer, ſo daß ich bei meiner Weiſe, zu Fuß zu jagen, lange Zeit brauchte, bis ich ihn nur von Ferne zu Geſicht bekam. Als ich ihn zwei oder dreimal geſehen, ohne zum Schuß zu kommen, kannte er mich ſchon und merkte, daß ich gegen ihn etwas im Schilde führe. Er fing gewaltig an zu brüllen und verzog ſich, um mir an einer andern Stelle wieder zu begegnen, und wir gingen ſo um einander herum während mehrerer Tage wie zwei Kater, die ſich zauſen wollen, ich lautlos, wie das Grab, und er mit einem zeitweiligen wilden Geknurre. «

» Eines Tages war ich vor Sonnenaufgang aufgebrochen und nach einer noch nie eingeſchla¬ genen Richtung hingegangen; da der Löwe Tags vorher ſich auf der entgegengeſetzten Seite herum getrieben und einen vergeblichen Raubverſuch ge¬ macht; da die dortigen Leute mit ihren Thieren abgezogen waren, ſo vermuthete ich, der hung¬105 rige Herr werde vergangene Nacht wohl dieſen Weg eingeſchlagen haben, wie es ſich denn auch erwies. Als die Sonne aufging, ſchlenderte ich gemächlich über ein hügeliges goldgelbes Gefilde, deſſen Unebenheiten lange himmelblaue Schatten über den goldenen Boden hinſtreckten. Der Himmel war ſo dunkelblau wie Lydia's Augen, woran ich unverſehens dadurch erinnert wurde; in weiter Ferne zogen ſich blaue Berge hin, woran das arabiſche Städtchen lag, das ich be¬ wohnte, und am andern Rande der Ausſicht einige Wälder und grüne Fluren, auf denen man den Rauch und ſelbſt die Zelte der Be¬ duinen wie ſchwarze Punkte ſehen konnte. Es war todtenſtill überall und kein lebendes Weſen zu erſpähen. Da ſtieß ich an den Rand einer Schlucht, welche ſich durch die ganze ſteinige Gegend hinzog und nicht zu ſehen war, bis man dicht an ihr ſtand. Es floß ein kühler friſcher Bach auf ihrem Grunde, und wo ich eben ſtand, war die Vertiefung ganz mit blühendem Olean¬ dergebüſch angefüllt. Nichts war ſchöner zu ſehen, als das friſche Grün dieſer Sträucher und ihre tauſendfältigen roſenrothen Blüthen und zu un¬106 terſt das fließende klare Wäſſerlein. Der An¬ blick ließ eine verjährte Sehnſucht in mir auf¬ ſteigen und ich vergaß, warum ich hier herum¬ ſtrich. Ich wünſchte, in den Oleander hinabzu¬ ſteigen und aus dem Bach zu trinken, und in dieſen zerſtreuten Gedanken legte ich mein Gewehr auf den Boden und kletterte eiligſt in die Schlucht hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem Bache trank, mein Geſicht benetzte und dabei an die ſchöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo ſie wohl ſein möchte, wo ſie jetzt herumgehe und wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da hörte ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll ausſtoßen, daß der Boden zitterte. Wie beſeſſen ſprang ich auf und ſchwang mich den Abhang hinauf, blieb aber wie angenagelt oben ſtehen, als ich ſah, daß das große Thier, kaum zehn Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr an¬ gekommen war. Und wie ich da ſtand, ſo blieb ich auch ſtehen, die Augen auf die Beſtie ge¬ heftet. Denn als er mich erblickte kauerte er zum Sprunge nieder, gerade über meiner Dop¬ pelbüchſe, daß ſie quer unter ſeinem Bauche lag, und wenn ich mich nur gerührt hätte, ſo würde107 er geſprungen und mich unfehlbar zerriſſen haben. Aber ich ſtand und ſtand ſo zwölf lange Stun¬ den, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und ohne daß er eines von mir verwandte. Er legte ſich gemächlich nieder und betrachtete mich. Die Sonne ſtieg höher, aber während die furcht¬ barſte Hitze mich zu quälen anfing, verging die Zeit ſo langſam, wie die Ewigkeit der Hölle. Weiß Gott, was mir Alles durch den Kopf ging; ich verwünſchte die Lydia, deren bloßes Andenken mich abermals in dies Unheil gebracht, da ich darüber meine Waffe vergeſſen hatte. Hundertmal war ich verſucht, allem ein Ende zu machen und auf das wilde Thier loszuſpringen mit bloßen Händen; allein die Liebe zum Leben behielt die Oberhand und ich ſtand und ſtand wie das verſteinerte Weib des Loth, oder wie der Zeiger einer Sonnenuhr; denn mein Schat¬ ten ging mit den Stunden um mich herum, wurde ganz kurz und begann ſchon wieder ſich zu verlängern. Das war die bitterſte Schmol¬ lerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir vor und gelobte, wenn ich dieſer Gefahr ent¬ ränne, ſo wolle ich umgänglich und freundlich108 werden, nach Hauſe gehen und mir und andern das Leben ſo angenehm als möglich machen. Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte vor krampfhafter Anſtrengung, mich auf ſelbem Fleck unbeweglich aufrecht zu halten, leiſe an allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrock¬ neten Lippen bewegte, ſo richtete ſich der Löwe halb auf, wackelte mit ſeinem Hintergeſtell, fun¬ kelte mit den Augen und brüllte, ſo daß ich den Mund ſchnell wieder ſchloß und die Zähne auf einander biß. Indem ich aber ſo eine lange Minute um die andere abwickeln und erleben mußte, verſchwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, ſelbſt gegen den Löwen, und je ſchwächer ich wurde, deſto geſchickter ward ich in einer mich angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich alle Pein aushielt und tapfer ertrug. Es würde aber, als endlich der Nachmittag ſchon vorgerückt war, doch nicht mehr lange gegangen ſein, als eine unverhoffte Rettung ſich aufthat. Das Thier und ich waren ſo in einander vernarrt, daß kei¬ ner von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im Rücken des Löwen hermarſchirt kamen, bis ſie auf höchſtens dreißig Schritte nahe waren. Es109 war eine Patrouille, die ausgeſandt war mich zu ſuchen, da ſich Geſchäfte eingeſtellt hatten. Sie trugen ihre Ordonnanzgewehre auf der Schul¬ ter und ich ſah gleichzeitig dieſelben vor mir aufblitzen gleich einer himmliſchen Gnadenſonne, als auch mein Widerſacher ihre Schritte hörte in der Stille der Landſchaft; denn ſie hatten ſchon von weitem etwas bemerkt und waren ſo leiſe als möglich gegangen. Plötzlich ſchrieen ſie jetzt: Eh la canaille! quel drôle de canaille! Der Löwe wandte ſich um, ſprang empor, ſperrte wüthend den Rachen auf, erboßt wie ein Satan, und war einen Augenblick lang unſchlüſſig, auf wen er ſich zuerſt ſtürzen ſolle. Als aber die zwei Soldaten als brave luſtige Franzoſen ohne ſich zu beſinnen auf ihn zuſprangen, that er einen Satz gegen ſie. Im gleichen Augenblick lag auch der Eine unter ſeinen Tatzen und es wäre ihm ſchlecht ergangen, wenn nicht der an¬ dere im gleichen Augenblicke dem Thier das Ba¬ jonett ein halbes Dutzend mal in die Flanke geſtoßen hätte. Aber auch dieſem würde es ſchließlich ſchlimm ergangen ſein, wenn ich nicht endlich auf meine Büchſe zugeſprungen, auf den110 Kampfplatz getaumelt wäre und dem Löwen, ohne weitere Vorſicht, beide Kugeln in das Ohr ge¬ ſchoſſen hätte. Er ſtreckte ſich aus und ſprang wieder auf, es war noch ein Schuß aus einer der beiden Musketen nöthig, ihn abermals hin¬ zuſtrecken und endlich zerſchlugen wir alle drei unſere Kolben an dem Teufel, ſo zäh und wild war ſein Leben. Es hatte merkwürdiger Weiſe keiner Schaden genommen, ſelbſt der nicht, der unter dem Löwen gelegen, ausgenommen ſeinen zerriſſenen Rock und einige tüchtige Schrammen auf der Schulter. So war die Sache für das¬ mal glücklich abgelaufen und wir hatten obenein den lange geſuchten Löwen erlegt. Ein wenig Wein und Brod ſtellte meinen guten Muth vol¬ lends wieder her und ich lachte wie ein Narr mit den guten Soldaten, welche über die Freund¬ lichkeit und Geſprächigkeit ihres böſen Oberſten ſehr verwundert und erbaut waren. «

» Noch in ſelber Woche aber führte ich mein Gelübde aus, kam um meine Entlaſſung ein, und ſo bin ich nun hier! «

So lautete die Geſchichte von Pankrazens Leben und Bekehrung, und ſeine Leutchen waren111 höchlich verwundert über ſeine Meinungen und Thaten. Er verließ mit ihnen das Städtchen Seldwyla und zog in den Hauptort des Kan¬ tons, wo er Gelegenheit fand, mit ſeinen Er¬ fahrungen und Kenntniſſen ein dem Lande nütz¬ licher Mann zu ſein und zu bleiben, und er ward ſowohl dieſer Tüchtigkeit, als ſeiner unver¬ wüſtlichen ruhigen Freundlichkeit wegen geachtet und beliebt; denn nie mehr zeigte ſich ein Rück¬ fall in das frühere Weſen.

Nur ärgerten ſich Eſtherchen und die Mutter, daß ihnen die Geſchichte mit der Lydia entgan¬ gen war und wünſchten unaufhörlich deren Wie¬ derholung. Allein Pankraz ſagte, hätten ſie da¬ mals nicht geſchlafen, ſo hätten ſie dieſelbe erfah¬ ren; er habe ſie ein Mal erzählt und werde es nie wieder thun, es ſei das erſte und letzte Mal, daß er überhaupt gegen Jemanden von dieſem Liebeshandel geſprochen und damit Punk¬ tum. Nun wollten ſie wenigſtens den Namen jener Dame wiſſen, welcher ihnen wegen ſeiner Fremdartigkeit wieder entfallen war, und fragten unaufhörlich: Wie hieß ſie denn nur? Aber Pankraz erwiederte eben ſo unaufhörlich: Hättet112 Ihr aufgemerkt! Ich nenne dieſen Namen nicht mehr! Und er hielt Wort; Niemand hörte ihn jemals wieder das Wort ausſprechen und er ſchien es endlich ſelbſt vergeſſen zu haben.

113

Frau Regel Amrain und ihr Jüngſter.

Regula Amrain war die Frau eines abweſenden Seldwylers; dieſer hatte einen großen Stein¬ bruch hinter dem Städtchen beſeſſen und ſeine Zeitlang ausgebeutet und zwar auf Seldwyler Art. Das ganze Neſt war beinahe aus dem guten Sandſtein gebaut, aus welchem der Berg beſtand, aber das Schuldenweſen, das auf den Häuſern ruhte, hatte von jeher recht eigentlich ſchon mit den Steinen begonnen, aus denen ſie gebaut waren; denn nichts ſchien den Seldwy¬ lern ſo wohl geeignet als Stoff und Gegenſtand eines muntern Verkehrs, als ein ſolcher Stein¬ bruch, und derſelbe glich einer in Felſen gehauenen römiſchen Schaubühne, über welche die Beſitzer emſig hinwegliefen, einer den andern jagend.

Herr Amrain, ein anſehnlicher Mann, der eine anſehnliche Menge Fleiſch, Fiſche und WeinKeller, die Leute von Seldwyla. I. 8114verzehren mußte und mächtige Stücke Seidenzeug zu ſeinen breiten ſchönen Weſten brauchte, him¬ melblaue, kirſchrothe und großartig gewürfelte, war urſprünglich ein Knopfmacher geweſen und hatte auch die eine und andere Stunde des Ta¬ ges Knöpfe beſponnen. Als er aber mit den Jahren gar ſo feſt und breit wurde, ſagte ihm die ſitzende Lebensart nicht mehr zu, und als er überhaupt den rechten Phäaken - oder Schwaben¬ aufſchwung genommen: die rothe Sammetweſte, die goldene Uhrkette und den Siegelring, liqui¬ dirte er die Knopfmacherei und übernahm in einer wichtigen Hauptſitzung der Seldwyler Spe¬ kulanten jenen Steinbruch. Nun hatte er die angemeſſene bewegliche Lebensweiſe gefunden, in¬ dem er mit einer rothen Brieftaſche voll Papiere und einem eleganten Spazierſtock, auf welchem mit ſilbernen Stiften ein Zollmaß angebracht war, etwa in den Steinbruch hinaus luſtwan¬ delte wenn das Wetter lieblich war, und dort mit dem beſagten Stocke an den verpfändeten Steinlagern herumſtocherte, den Schweiß von der Stirn wiſchte, in die ſchöne Gegend hinaus¬ ſchaute und dann ſchleunigſt in die Stadt zurück¬115 kehrte, um den eigentlichen Geſchäften nachzu¬ gehen, dem Umſatz der verſchiedenen Papiere in der Brieftaſche, was in den kühlen Gaſtſtuben auf das Beſte vor ſich ging. Kurz er war ein vollkommener Seldwyler bis auf die politiſche Veränderlichkeit, welche aber die Urſache ſeines zu frühen Falles wurde. Denn ein konſervativer Kapitaliſt aus der Hauptſtadt, welcher keinen Spaß verſtand, hatte auf den Steinbruch einiges Geld hergegeben und damit geglaubt, einem wackern Parteigenoſſen unter die Arme zu greifen. Als daher Herr Amrain in einem Anfall gänz¬ licher Gedankenloſigkeit eines Tages höchſt ver¬ fängliche liberale Redensarten vernehmen ließ, welche ruchbar wurden, erzürnte ſich jener Herr mit Recht; denn nirgends iſt politiſche Geſin¬ nungsloſigkeit widerwärtiger, als an einem gro¬ ßen dicken Manne, der eine bunte Sammetweſte trägt! Der erboſ'te Gönner zog daher jählings ſein Geld zurück, als kein Menſch daran dachte, und trieb dadurch vor der Zeit den beſtürzten Amrain vom Steinbruch und in die Welt hinaus.

Man wird ſelten ſehen, daß es großen ſchwe¬ ren Männern ſchlecht ergeht, weil ſie eine durch¬116 greifende und überzeugende Gabe beſitzen, für ihren anſpruchsvollen Körperbau zu ſorgen, und die Nahrungsmittel können ſich demſelben nicht lange entziehen, ſondern werden von dem Mag¬ netgebirge des Bauches mächtig angezogen. So fraß ſich der landflüchtige Amrain auch glücklich durch die Fernen, und obgleich er nichts Großes mehr wurde, und trank er doch irgendwo in der Fremde ſo weidlich wie zu Hauſe.

Doch den Seldwylern, welche jetzt rathſchlag¬ ten, welcher von ihnen nun am tauglichſten wäre, eine Zeitlang die Honneurs am Steinbruch zu machen, wurde abermals ein Strich durch die Rechnung gezogen, als die zurückgebliebene Ehe¬ frau des Herrn Amrain unerwartet ihren Fuß auf den Sandſtein ſetzte und kraft ihres herzu¬ gebrachten Weibergutes den Steinbruch an ſich zog und erklärte, das Geſchäft fortſetzen und möglicherweiſe die Gläubiger ihres Mannes be¬ friedigen zu wollen. Sie that dies erſt, als derſelbe ſchon jenſeits des atlantiſchen Weltmeers war und nicht mehr zurückkommen konnte. Man ſuchte ſie auf jede Weiſe von dieſem Vorhaben abzubringen und zu hindern; allein ſie zeigte117 eine ſolche Entſchloſſenheit, Rührigkeit und Be¬ ſonnenheit, daß nichts gegen ſie auszurichten war und ſie wirklich die Beſitzerin des Steinbruches wurde. Sie ließ fleißig und ordentlich darin arbeiten unter der Leitung eines guten fremden Werkführers und gründete zum erſten Mal die Unternehmung, ſtatt auf den Scheinverkehr, auf wirkliche Produktion. Hieran wollte man ſie nun erſt recht behindern, allein es war nicht gegen ſie aufzukommen, da ſie als Frau und ſparſame Mutter keine Ausgaben hatte im Ver¬ gleich zu den Herren von Seldwyla und daher auf die einfachſte Weiſe im Stande war, alle Stürme abzuſchlagen und alle begründeten For¬ derungen zu bezahlen. Aber dennoch hielt es ſchwer und ſie mußte Tag und Nacht mit Muth, Liſt und Kraft bei der Hand ſein, ſinnen und ſorgen, um ſich zu behaupten.

Frau Regel hatte von auswärts in das Städtchen geheirathet und war eine ſehr friſche, große und handfeſte Dame mit kräftigen ſchwar¬ zen Haarflechten und einem feſten dunklen Blick. Von ihrem Manne hatte ſie drei Buben von ungefähr zehn, acht und fünf Jahren, welche ſie118 oftmals aufmerkſam und ernſthaft betrachtete und darüber ſann, ob dieſelben auch werth ſeien, daß ſie das Haus für ſie aufrecht halte, da ſie ja doch Seldwyler wären und bleiben würden. Doch weil die Burſche einmal ihre Kinder waren, ſo ließ die Eigenliebe und die Mut¬ terliebe ſie immer wieder einen guten Muth faſſen, und ſie traute ſich zu, auch in dieſer Sache das Steuer am Ende anders zu lenken, als es zu Seldwyl Mode war.

In ſolche Gedanken verſunken ſaß ſie einſt nach dem Nachteſſen am Tiſche und hatte das Geſchäftsbuch und eine Menge Rechnungen vor ſich liegen. Die Buben lagen im Bette und ſchliefen in der Kammer, deren Thüre offen ſtand, und ſie hatte eben die drei ſchlafenden kleinen Geſellen mit der Lampe in der Hand betrachtet und beſonders den kleinſten Kerl in's Auge ge¬ faßt, der ihr am wenigſten glich. Er war blond, hatte ein keckes Stumpfnäschen, während ſie eine ernſthafte gerade lange Naſe beſaß, und ſtatt ihres ſtreng geſchnittenen Mundes zeigte der kleine Fritz trotzig aufgeworfene Lippen, ſelbſt wenn er ſchlief. Dies hatte er alles vom Vater119 und es war an dieſem geweſen, was ihr eben ſo wohl gefallen hatte, als ſie ihn heirathete, was ihr jetzt auch an dem kleinen Burſchen ſo wohl gefiel und doch ſo ſchwere Sorgen machte. Wenn eine Geſichtsart Einem einmal wohlgefällt, ſo hilft hiegegen kein Kraut; deswegen war Frau Amrain froh, daß der Alte weg war und ſie ihn nicht mehr ſah; aber er hatte ihr in dem jüngſten Kinde ein treues Abbild ſeiner äußeren Art hinterlaſſen, welches ſie nie genug anſehen konnte.

Über dieſen Sorgen traf ſie der Werkführer oder oberſte Arbeiter, der jetzt eintrat, um mit ihr die Angelegenheiten und den Beſtand der Geſchäfte durchzuſehen und manche wichtige Dinge zu beſprechen. Es war ein hübſcher und unter¬ nehmender Burſche von ſchlankem kräftigem Kör¬ perbau, mäßig in ſeiner Lebensweiſe, fleißig und ausdauernd und dabei in ſeinen Gedanken von einer gewiſſen einfachen Schlauheit, welche zu¬ ſammen mit den erklecklichen Eigenſchaften ſeiner Meiſterin eben das Geſchäft in gutem Gange erhielt und die gedankenloſen Spitzfindigkeiten der Seldwyler zu Schanden werden ließ. In¬120 zwiſchen war er aber ein Menſch und dachte daher vor Allem an ſich ſelber und in dieſem Denken hatte er es nicht übel gefunden, ſelber der Herr und Meiſter hier zu ſein und ſich eine blei¬ bende Stätte zu gründen, daher auch in aller Ehrerbietung der Frau Regula wiederholt nahe gelegt, eine geſetzliche Scheidung von ihrem ab¬ weſenden Manne herbeizuführen.

Sie hatte ihn wohl verſtanden; doch wider¬ ſtrebte es ihrem Stolz, ſich öffentlich und mit ſchimpflichen Beweisgründen von einem Manne zu trennen, der ihr einmal Wohlgefallen, mit dem ſie gelebt und von dem ſie drei Kinder hatte, und in der Sorge für dieſe Kinder wollte ſie auch keinen fremden Mann über das Haus ſetzen und wenigſtens die äußere Einheit des¬ ſelben bewahren, bis die Söhne herangewachſen und ein unzerſplittertes Erbe aus ihrer Hand empfingen; denn ein ſolches gedachte ſie trotz aller Schwierigkeiten zuſammenzubringen und den Hieſigen zu zeigen, was da Brauch ſei, wo ſie hergekommen. Sie hielt daher den Werkführer knapp im Zügel und brachte ſich dadurch nur in größere Verlegenheit; denn als derſelbe ihren121 Widerſtand und ihren feſten Charakter erſah, verliebte er ſich förmlich in ſie und gedachte erſt recht ſeine Wünſche zu erreichen. So veränderte ſich ſein Benehmen, daß er, ſtatt wie bis anher ehrbar um ihre Hand als Meiſterin ſich zu be¬ werben, nun um ihre Perſon ſchmachtete, wo ſie war, und ſie ſtets mit verliebten Augen anſah, wo es immer thunlich war. Dies war für ihn eine zweckdienliche Veränderung, da die eigentliche Verliebtheit in die Perſon eines Menſchen den¬ ſelben vielmehr beſticht und bezwingt, als alle noch ſo ehrbaren Heirathsabſichten. Wenn nun Frau Regel auch nicht die Haltung verlor und ſich in ihn wieder verliebte, ſo wurde es doch ſchwerer für ſie, ihn abzuwehren, ohne mit ihm zu brechen und ihn zu verlieren, und es iſt bekannt¬ lich eine Hauptliebhaberei der Frauen, ſich nütz¬ liche Freunde und Parteigänger zu erhalten, wenn es immer geſchehen kann ohne große Opfer.

Als der Werkführer in die Stube trat, fun¬ kelten ſeine Augen mit ungewöhnlichem Glanze, denn er hatte im Verkehr mit einigen Geſchäfts¬ leuten, mit denen er ſich zum Vortheil der Frau8 *122wacker herumgeſchlagen, eine Flaſche kräftigen Wein getrunken. Während er ihr Bericht er¬ ſtattete und dann in den Papieren mit ihr rech¬ nete, blickte er ſie oftmals unverſehens an und wurde zerſtreut und aufgeregt, wie Einer, der etwas vor hat. Sie rückte mit ihrem Seſſel etwas zur Seite und begann ſich in Acht zu nehmen, dabei kaum ein feines Lächeln unter¬ drückend, wie aus Spott über die plötzliche Un¬ ternehmungsluſt des jungen Mannes. Dieſer aber faßte allerdings plötzlich ihre beiden Hände und ſuchte die hübſche Frau an ſich zu ziehen, indem er zugleich im gleichen halblauten Tone, in welchem ſie der ſchlafenden Kinder wegen die ganze Verhandlung geführt hatten, ſo heftig und feurig anfing zu ſchmeicheln und zuzureden, ihr Leben doch nicht ſo öde und unbenutzt entfliehen zu laſſen, ſondern klug zu ſein und ſich ſeiner treuen Ergebenheit zu erfreuen. Sie wagte keine raſche Bewegung und kein lautes Wort, aus Furcht, die Kinder zur Unzeit zu wecken; doch flüſterte ſie voll Zorn, er ſolle ihre Hände frei laſſen und augenblicklich hinausgehen. Er ließ ſie aber nicht frei, ſondern faßte ſie nur um ſo123 feſter und hielt ihr mit eindringlichen Worten ihre Jugend und ſchöne Geſtalt vor und ihre Thorheit, ſo gute Dinge ungenoſſen vergehen zu laſſen. Sie durchſchaute ihren Feind, deſſen Augen eben ſo ſtark von Schlauheit als von Lebensluſt glänzten, wohl und merkte, daß er auf dieſem leidenſchaftlich-ſinnlichen Wege nur beabſichtigte, ſie ſich zu unterwerfen und dienſtbar zu machen, alſo daß ihre Selbſtſtändigkeit ein ſchlimmes Ende nähme. Sie gab ihm dies auch mit höhniſchen Blicken zu verſtehen, während ſie fortfuhr, ſo ſtill als möglich ſich von ihm los zu machen, was er nur mit vermehrter Kraft und Eindringlichkeit erwiederte. Auf dieſe Weiſe rang ſie mit dem ſtarken Geſellen eine gute Weile hin und her, ohne daß es dem einen oder andern Theile gelang, weiter zu kommen, während nur zuweilen der erſchütterte Tiſch oder ein unterdrückter zorniger Ausruf oder ein Seufzer ein Geräuſch verurſachte, und ſo ſchwebte die brave Frau peinvoll zwiſchen ihrer in der Kam¬ mer dreifach ſchlafenden Sorge und zwiſchen dem heißen Anſtürmen des wachen Lebens. Sie war kaum dreißig Jahre alt und ſchon ſeit einigen124 Jahren von ihrem Manne verlaſſen und ihr Blut floß ſo raſch und warm, wie eines; was Wunder, daß ſie daher endlich einen Augenblick inne hielt und tief aufſeuzte, und daß ihr in dieſem Augenblick der Zweifel durch den Kopf ging, ob es ſich auch der Mühe lohne, ſo treu und ausdauernd in Entbehrung und Arbeit zu ſein, und ob nicht das eigene Leben am Ende die Hauptſache und es klüger ſei, zu thun wie die andern und, nicht dem verwegenen und fre¬ chen Andringling, ſondern ſich ſelbſt zu gewähren, was ihr Luſt und Erfriſchung bieten könne; die Dinge gingen zu Seldwyla vielleicht ſo oder ſo ihren Weg! Indem ſie einen Augenblick dies bedachte, zitterten ihre Hände in denjenigen des Werkführers und nicht ſobald fühlte dieſer ſolche liebliche Änderung des Wetters, als er ſeine Anſtrengungen erneuerte und vielleicht trotz der erneueten Gegenwehr der tapfern Frau geſiegt haben würde, wenn nicht jetzt eine unerwartete Hülfe erſchienen wäre.

Denn mit dem bangen zornigen Ausruf: Mutter! Es iſt ein Dieb da! ſprang der jüngſte Knabe, der kleine Fritzchen, in die Stube und125 glich vollſtändig einem kleinen Sankt Georg. Seine goldenen Ringellocken flogen um das vom Schlafe geröthete Geſicht, feurig blickten aber die blauen Augen in lieblichem Zorn und muthig warf ſich der trotzige Mund auf. Das kurze ſchneeige Hemdchen flatterte wie die Tunika eines Kreuzfahrers und in den nackten Ärmchen ſchwang der kleine Rittersmann eine lange Gardinen¬ ſtange mit dickem vergoldetem Knopf, den er auch mit aller erdenklichen Kraft dem aufſpringenden Werkmeiſter auf den Kopf ſchlug, daß ſich dieſer die entſtehende Beule verlegen rieb und ihm ordentlich die Augen übergingen. Frau Amrain aber hielt den Knaben auf, tief erröthend und rief: » Was iſt Dir denn Fritzchen? Es iſt ja nur der Florian und thut uns nichts! « Der Knabe fing bitterlich an zu weinen, ſich voll Verlegenheit an die Kniee der Mutter klammernd; dieſe hob ihn auf den Arm und das Kind an ſich drückend entließ ſie mit einem kaum verhal¬ tenen Lachen den verblüfften Florian, der, obgleich er den Kleinen gern geohrfeigt hätte, gute Miene zum böſen Spiel machte und ſich verlegen zurück¬ zog. Sie riegelte die Thüre raſch hinter ihm126 zu; dann ſtand ſie tief aufathmend und nach¬ denklich, mitten in der Stube, das tapfere Kind auf dem Arm, welches das linke Ärmchen um ihren Hals ſchlang und mit dem rechten Händ¬ chen die lange Stange mit dem glänzenden Knopf, die es noch immer umfaßt hielt, gegen den Bo¬ den ſtemmte. Dann ſah ſie aufmerkſam in das nahe Geſicht des Kindes und bedeckte es mit Küſſen, und endlich ergriff ſie abermals die Lampe und ging in die Kammer, um nach den beiden älteſten Knaben zu ſehen. Dieſelben ſchliefen wie Murmelthiere und hatten von allem nichts gehört. Alſo ſchienen ſie Nachtmützen zu ſein, obſchon ſie ihr ſelbſt glichen; der Jüngſte aber, der dem Vater glich, hatte ſich als wachſam, feinfühlend und muthvoll erwieſen und ſchien das werden zu wollen, was der Alte eigentlich ſein ſollte und was ſie einſt auch hinter ihm geſucht. Indem ſie über dieſes geheimnißvolle Spiel der Natur nachdachte und nicht wußte, ob ſie froh ſein ſollte, daß das Abbild des einſt geliebten Mannes beſſer ſchien, als ihre eigenen ſo träge daliegenden Bilder, legte ſie das Kind in ſein Bettchen zurück, deckte es zu und beſchloß,127 von Stund an alle ihre Treue und Hoffnung auf den kleinen Sankt Georg zu ſetzen und ihm ſeine junge Ritterlichkeit zu vergelten. » Wenn die zwei Schlafkappen, dachte ſie, welche nichts deſto minder meine Kinder ſind, dann auch mit¬ gehen wollen auf einem guten Wege, ſo mögen ſie es thun. «

Am nächſten Morgen ſchien Fritzchen den Vorfall ſchon vergeſſen zu haben, und ſo alt auch die Mutter und der Sohn wurden, ſo ward doch nie mehr mit einer Silbe deſſelben erwähnt zwiſchen ihnen. Der Sohn behielt ihn nichts deſto weniger in deutlicher Erinnerung, obgleich er viel ſpätere Erlebniſſe mit der Zeit gänzlich vergaß. Er erinnerte ſich genau, ſchon bei dem Eintritte des Werkführers erwacht zu ſein, da er trotz eines geſunden Schlafes alles hörte und ein wachſames Bürſchchen war. Er hatte ſodann jedes Wort der Unterredung, bis ſie bedenklich wurde, gehört, und ohne etwas davon zu ver¬ ſtehen, doch etwas Gefährliches und Ungehöriges geahnt und war in eine heftige Angſt um ſeine Mutter verfallen, ſo daß er, als er das leiſe Ringen mehr fühlte als hörte, aufſprang um ihr128 zu helfen. Und dann, wer verfolgt die geheimen Wege der Fähigkeiten, wie ſie im Menſchenkind ſich verlieren? als er den Werkführer recht wohl erkannt: wer lehrte den kleinen Bold die unbewußte blitzſchnelle Heuchelei des Zartgefühles, mit der er ſich ſtellte, als ob er einen Dieb ſähe und die ihn ſo unbefangen den Widerſacher vor den Kopf ſchlagen ließ?

Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog ihn ſo, daß er ein braver Mann wurde in Seld¬ wyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht blieben, ſo lange ſie lebten. Wie ſie dies eigent¬ lich anfing und bewirkte, wäre ſchwer zu ſagen; denn ſie erzog eigentlich ſo wenig als möglich und das Werk beſtand faſt lediglich darin, daß das junge Bäumchen, ſo vom gleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und ſich nach ihr richtete. Tüchtige und wohlgeartete Leute haben immer weit weniger Mühe, ihre Kinder ordentlich zu ziehen, ſo wie es einem Tölpel, der ſelbſt nicht leſen kann, ſchwer fallen wird, ein Kind leſen zu lehren. Im Ganzen beſtand das Geheimniß ihrer Erziehungskunſt darin, daß ſie das Söhnchen ohne Empfindſam¬129 keit merken ließ, wie ſehr ſie es liebte und dadurch deſſen Bedürfniß, ihr immer zu gefallen, erweckte und erreichte, daß es bei jeder Gele¬ genheit an ſie dachte. Ohne deſſen freie Bewe¬ gungen einzeln zu hindern, hatte ſie den Kleinen viel um ſich, ſo daß er ihre Manieren und ihre Denkungsart annahm und bald von ſelbſt nichts that, was nicht im Geſchmacke der Mutter lag. Sie hielt ihn ſtets einfach, aber gut und mit einem gewiſſen gewählten Geſchmack in der Klei¬ dung; dadurch fühlte er ſich ſicher, bequem und zufrieden in ſeinem Anzuge und wurde nie ver¬ anlaßt, an denſelben zu denken, wurde mithin nicht eitel und lernte gar nie die Sucht kennen, ſich beſſer oder anders zu kleiden, als er eben war. Ähnlich hielt ſie es mit dem Eſſen; ſie erfüllte alle billigen und unſchädlichen Wünſche aller drei Kinder und Niemand bekam in ihrem Hauſe etwas zu eſſen, wovon dieſe nicht auch ihren Theil erhielten; aber trotz aller Regelmä¬ ßigkeit und Ausgiebigkeit behandelte ſie die Nah¬ rungsmittel mit ſolcher Leichtigkeit und Gering¬ ſchätzung, daß Fritzchen abermals von ſelbſt lernte, kein beſonderes Gewicht auf dieſelben zu legenKeller, die Leute von Seldwyla. I. 9130und, wenn er ſatt war, nicht von Neuem an etwas unerhört Gutes zu denken. Nur die entſetzliche Wichtigthuerei und Breitſpurigkeit, mit welcher die meiſten guten Frauen die Lebens¬ mittel und deren Bereitung behandeln, erweckt gewöhnlich in den Kindern jene Gelüſtigkeit und Tellerleckerei, die, wenn ſie groß werden, zum Hang nach Wohlleben und zur Verſchwendung wird. Sonderbarer Weiſe gilt durch den ganzen germaniſchen Völkerſtrich diejenige für die beſte und tugendhafteſte Hausfrau, welche am meiſten Geräuſch macht mit ihren Schüſſeln und Pfannen und nie zu ſehen iſt, ohne daß ſie etwas Eßbares zwiſchen den Fingern herumzerrt; was Wunder, daß die Herren Germanen dabei die größten Eſſer werden, das ganze Lebensglück auf eine wohlbeſtellte Küche gegründet wird und man ganz vergißt, welche Nebenſache eigentlich das Eſſen auf dieſer ſchnellen Lebensfahrt ſei. Ebenſo verfuhr ſie mit dem, was ſonſt von den Ältern mit einer ſchrecklich ungeſchickten Heiligkeit be¬ handelt wird, mit dem Gelde. Sobald als thunlich ließ ſie ihren Sohn ihren Vermögens¬ ſtand mitwiſſen, für ſie Geldſummen zählen und131 in das Behältniß legen, und ſobald er nur im Stande war, die Münzen zu unterſcheiden, ließ ſie ihm eine kleine Sparbüchſe zu gänzlich freier Verfügung. Wenn er nun eine Dummheit machte oder eine arge Naſcherei beging, ſo behandelte ſie das nicht wie ein Criminalverbrechen, ſondern wies ihm mit wenig Worten die Lächerlichkeit und Unzweckmäßigkeit nach. Wenn er etwas entwendete oder ſich aneignete was ihm nicht zukam, oder einen jener heimlichen Ankäufe machte, welche die Eltern ſo ſehr erſchrecken, machte ſie keine Kataſtrophe daraus, ſondern beſchämte ihn einfach und offen als einen thörichten und gedan¬ kenloſen Burſchen. Deſto ſtrenger war ſie gegen ihn, wenn er in Worten oder Geberden ſich unedel und kleinlich betrug, was zwar nur ſelten vorkam; aber dann las ſie ihm hart und ſcho¬ nungslos den Text und gab ihm ſo derbe Ohr¬ feigen, daß er die leidige Begebenheit nie vergaß. Dies Alles pflegt ſonſt entgegengeſetzt behandelt zu werden. Wenn ein Kind mit Geld ſich ver¬ geht oder gar etwas irgendwo wegnimmt, ſo befällt die Ältern und Lehrer eine ganz ſonder¬ bare Furcht vor einer verbrecheriſchen Zukunft,9 *132als ob ſie ſelbſt wüßten, wie ſchwierig es ſei, kein Dieb oder Betrüger zu werden! Was unter hundert Fällen in neun und neunzig nur die momentan unerklärlichen Einfälle und Gelüſte des träumeriſch wachſenden Kindes ſind, ganz ähnlich den Launen ſchwangerer Frauen, das wird zum Gegenſtande eines furchtbaren Straf¬ gerichtes gemacht und von nichts als Galgen und Zuchthaus geſprochen. Als ob alle dieſe lieben Pflänzchen bei erwachender Vernunft nicht von ſelbſt durch die menſchliche Selbſtliebe, ſogar bloß durch die Eitelkeit, davor geſichert würden, Diebe und Schelme ſein zu wollen. Dagegen wie milde und freundſchaftlich werden da tauſend kleinere Züge und Zeichen des Neides, der Mi߬ gunſt, der Eitelkeit, der Anmaßung, der mora¬ liſchen Selbſtſucht und Selbſtgefälligkeit behandelt und gehätſchelt! Wie ſchwer merken die wackern Erziehungsleute ein früh verlogenes und ver¬ blümtes inneres Weſen an einem Kinde, wäh¬ rend ſie mit hölliſchem Zeter über ein anderes herfahren, das aus Übermuth oder Verlegenheit ganz naiv eine vereinzelte derbe Lüge geſagt hat. Denn hier haben ſie eine greifliche bequeme133 Handhabe, um ihr donnerndes: Du ſollſt nicht lügen! dem kleinen erſtaunten Erfindungsgenie in die Ohren zu ſchreien. Wenn Fritzchen eine ſolche derbe Lüge vorbrachte, ſo ſagte Frau Regel einfach, indem ſie ihn groß anſah: » Was ſoll denn das heißen, Du Affe? Warum lügſt Du ſolche Dummheiten? Glaubſt Du die großen Leute zum Narren halten zu können? Sei Du froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß der¬ gleichen Späße! « Wenn er eine Nothlüge vor¬ brachte, um eine begangene Sünde zu vertuſchen, zeigte ſie ihm mit ernſten aber liebevollen Wor¬ ten, daß die Sache deswegen nicht ungeſchehen ſei und wußte ihm klar zu machen, daß er ſich beſſer befinde, wenn er offen und ehrlich einen begangenen Fehler eingeſtehe; aber ſie bauete keinen neuen Strafproceß auf die Lüge, ſondern behandelte die Sache ganz abgeſehen davon, ob er gelogen oder nicht gelogen habe, ſo daß er das Zweckloſe und Kleinliche des Herauslügens bald fühlte und zu ſtolz wurde dazu. Wenn er dagegen nur die leiſeſte Neigung verrieth, ſich irgend Eigenſchaften beizulegen, die er nicht beſaß, oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu134 ſtehen ſchien, oder ſich mit etwas zu zieren, wozu er das Zeug nicht hatte, ſo tadelte ſie ihn mit ſchneidenden harten Worten und verſetzte ihm ſelbſt einige Knüffe, wenn ihr die Sache zu arg und widerlich war. Ebenſo, wenn ſie be¬ merkte, daß er andere Kinder beim Spielen belog, um ſich kleine Vortheile zu erwerben, ſtrafte ſie ihn härter, als wenn er ein erkleckliches Ver¬ gehen abgeläugnet hätte.

Dieſe ganze Erzieherei koſtete indeſſen kaum ſo viel Worte, als hier gebraucht wurden, um ſie zu ſchildern, und ſie beruhte allerdings mehr im Charakter der Frau Amrain, als in einem vorbedachten oder gar angeleſenen Syſtem. Daher wird ein Theil ihres Verfahrens von Leuten, die nicht ihren Charakter beſitzen, nicht befolgt werden können, während ein anderer Theil, wie z. B. ihr Verhalten mit den Kleidern, mit der Nahrung und mit dem Gelde, von ganz armen Leuten nicht kann angewendet werden. Denn wo z. B. gar nichts zu eſſen iſt, da wird dieſes natürlich jeden Augenblick zur nächſten Haupt¬ ſache, und Kindern, unter ſolchen Umſtänden erzogen, wird man ſchwer die Gelüſtigkeit abge¬135 wöhnen können, da alles Sinnen und Trachten des Hauſes nach dem Eſſen gerichtet iſt.

Beſonders während der kleineren Jugend des Knaben war die Erziehungsmühe ſeiner Mutter ſehr gering, da ſie, wie geſagt, weniger mit der Zunge, als mit ihrer ganzen Perſon erzog, wie ſie leibte und lebte und es alſo in Einem zu ging mit ihrem ſonſtigen Daſein. Sollte man fragen, worin denn bei dieſer leichten Art und Müheloſigkeit ihre beſondere Treue und ihr Vorſatz beſtand? ſo wäre zu antworten: lediglich in der zugewandten Liebe, mit welcher ſich das Weſen ihrer Perſon dem ſeinigen einprägte und ſie ihre Inſtinkte die ſeinigen werden ließ.

Doch blieb die Zeit nicht aus, wo ſie aller¬ dings einige vorſätzliche und kräftige Erziehungs¬ maßregeln anwenden mußte, und das war die Zeit, wo der gute Fritz herangewachſen war und ſich für allbereits erzogen hielt, wo aber die Mutter erſt recht auf der Wacht ſtand, da es ſich nun entſcheiden mußte, ob er in das gute oder ſchlechte Fahrwaſſer einlaufen würde. Es waren nur wenige Momente, wo ſie etwas Entſcheidendes und Energiſches gegen ſeine junge136 Selbſtſtändigkeit unternahm, aber jedesmal zur rechten Zeit und ſo plötzlich, einleuchtend und bedeutſam, daß es nie ſeiner bleibenden Wirkung ermangelte.

Als Fritz bald achtzehn Jahre zählte, war er ein ſchönes junges Bürſchchen, fein anzuſehen mit ſeinem blonden Haare und ſeinen blauen Augen, und von einer großen Selbſtſtändigkeit und Sicherheit in allem was er that. Er hatte bereits die Leitung des Geſchäftes übernommen, was die Arbeit im Freien betraf, nachdem er ſchon vom vierzehnten Jahre an im Steinbruch tüchtig gearbeitet. Er machte ein ernſthaftes und kluges Geſicht und war dennoch aufgeräumt und guter Dinge, und was ſeiner Mutter am beſten gefiel, war ſeine Fähigkeit mit allen Leu¬ ten umzugehen, ohne ihre Art anzunehmen. Sie hielt ihn nicht ab, wenn es ihm langweilig war zu Hauſe, auszugehen und mit anderen jungen Burſchen zu verkehren; aber die ſcharf Aufmer¬ kende ſah mit Vergnügen, daß er an der Weiſe der jungen Seldwyler, mit denen er abwechſelnd verkehrte, bald mit dieſem, bald mit jenem, keinen ſonderlichen Geſchmack gewann, ſie überſchaute137 und nur etwas ſich mit ihnen die Zeit vertrieb, wie und ſo lange er es für gut fand. Mit Vergnügen ſah ſie auch, daß er ſich nicht lumpen ließ und bei Gelagen manche Flaſche zum Beſten gab, ohne je für ſich ſelbſt ſchlimme Folgen davon zu tragen, und daß er nicht in Einen ſchlimmen oder ſchimpflichen Handel verwickelt wurde, ob¬ gleich er überall ſich zu ſchaffen machte und wußte, wie es zugegangen, ohne daß er im mindeſten ein Duckmäuſer und Aufpaſſer war. Auch hielt er was auf ſich, ohne hochmüthig zu ſein, und wußte ſich zu wehren, wenn es galt. Frau Regula war daher guten Muthes und dachte, das wäre gerade die rechte Weiſe und ihr Söhnchen ſei nicht auf den Kopf gefallen.

Da bemerkte ſie, daß er anfing zu erröthen, wenn ſchöne Mädchen ihm in den Weg kamen, daß er ſelbſt häßliche Mädchen aufmerkſam und kritiſch betrachtete und daß er verlegen wurde, wenn eine hübſche runde und muntere Frau in der Stube war, während er dieſelbe doch heim¬ licher Weiſe mit den Augen verſchlang. Aus dieſen drei Zeichen entnahm ſie zwei Dinge: erſtens, daß noch nichts an ihm verdorben ſei,138 zweitens aber, daß wenn eine Gefahr für ihn vorhanden wäre, auf den breiten Weg der Stadt zu tölpeln, dieſe Gefahr nur von Seiten der Damen von Seldwyla herkommen könne, und ſie ſagte ſogleich in ihrem Herzen: Alſo da willſt Du hinaus, Du Schuft?

Die Schönen dieſer Stadt waren nicht ſchlim¬ mer geſinnt als ihre Männer und ſie hielten, wenn ſie erſt zu Jahren kamen, noch manches zuſammen, was dieſe lieber auch noch zerſtreut hätten. Allein da die Männer ſich gern luſtig machten, ſo wollten ſie, ſo lange es ihnen gut erging, auch nicht zurückbleiben, und bei dem ſchönen Geſchlechte laufen bekanntlich alle Abir¬ rungen und Unzukömmlichkeiten zuletzt nur auf ein und daſſelbe Ende hinaus, jene alte Ge¬ ſchichte, welche vielfältige Rückwirkungen auf das Wohl oder Weh der Herren Mitſchuldigen mit ſich führt. Sonach ging es auch in dieſer Hin¬ ſicht zu Seldwyla etwas luſtiger zu, als an anderen Orten.

Wie nun Frau Amrain ihre ſchwarzen Augen offen hielt und mit zorniger Bangigkeit auf¬ merkte, wann und wie man etwa ihr Kind ver¬139 derben wolle, ergab ſich bald eine Gelegenheit für ihr mütterliches Einſchreiten. Es wurde eine große Hochzeit gefeiert auf dem Rathhauſe und das neu vermählte Paar gehörte den geräuſch¬ vollſten und luſtigſten Kreiſen an, die gerade im Flor waren. Wie an anderen Orten der Schweiz, giebt es an den Hochzeiten zu Seldwyl, wenn Bankett und Ball am Abend Statt finden, zwei¬ erlei Gäſte: die eigentlichen geladenen Hochzeitgäſte und dann die Freunde oder Verwandten dieſer, welche denſelben ſcherzhafte Hochzeit - oder Tafel¬ geſchenke überbringen mit allerlei Witzen, Ge¬ dichten und Anſpielungen. Sie verkleiden ſich zu dieſem Ende hin in allerhand luſtige Trachten, welche dem zu überbringenden Geſchenke entſprechen und ſind maskirt, indem jeder ſeinen Freund oder ſeine Verwandte aufſucht, ſich hinter deren Stuhl ſtellt, ſeine Gabe überreicht und ſeine Rede hält. Fritz Amrain hatte ſich ſchon vorgenommen, einem kleinen Bäschen einige Geſchenke zu bringen und die Mutter nichts dagegen gehabt, da das Mädchen noch ſehr jung und ſonſt wohlgeartet war. Allein weniger das Bäſchen lockte ihn, als ein dunkles Verlangen, ſich unter den luſtigen Damen von140 Seldwyl einmal recht herumzutummeln, deren Fröhlichkeit, wenn Viele beiſammen waren, ihm ſchon oft ſehr anmuthig geſchildert worden. Er war nur noch unſchlüſſig, welche Verkleidung er wählen ſollte, um auf der Hochzeit zu erſcheinen, und erſt am Abend entſchloß er ſich auf den Rath einiger Bekannten, ſich als Frauenzimmer zu kleiden. Seine Mutter war eben ausgegan¬ gen, als er mit dieſem luſtigen Vorſatz nach Hauſe gelaufen kam und denſelben ſogleich in's Werk ſetzte. Ohne Schlimmes zu ahnen, gerieth er über den Kleiderſchrank ſeiner Mutter und warf da ſo lange Alles durcheinander, von einem lachenden Dienſtmädchen unterſtützt, bis er die beſten und bunteſten Toilettenſtücke zuſammen¬ geſucht und ſich angeeignet hatte. Er zog das ſchönſte und beſte Kleid der Mutter an, das ſie ſelbſt nur bei feierlichen Gelegenheiten trug, und wühlte dazu aus den reichlichen Schachteln Krau¬ ſen, Bänder und ſonſtigen Putz hervor. Zum Überfluß hing er ſich noch die Halskette der Mutter um und zog ſo, aus dem Gröbſten ge¬ putzt, zu ſeinen Genoſſen, die ſich inzwiſchen ebenfalls angekleidet. Dort vollendeten zwei141 muntere Schweſtern ſeinen Anzug, indem ſie vor¬ nehmlich ſeinen blonden Kopf auf das Zierlichſte friſirten und ſeine Bruſt mit einem ſachgemäßen Frauenbuſen ausſchmückten. Indem er ſo auf ſeinem Stuhle ſaß und dieſe Bemühungen der wenig ſchüchternen Mädchen um ſich geſchehen ließ, erröthete er ein Mal um das andere und das Herz klopfte ihm vor erwartungsvollem Ver¬ gnügen, während zugleich das böſe Gewiſſen ſich regte und ihm anfing zuzuflüſtern, die Sache möchte doch nicht ſo recht in der Ordnung ſein. Als er daher mit ſeiner Geſellſchaft dem Rath¬ hauſe zuzog, ein Körbchen mit den Geſchenken tragend, ſah er ſo verſchämt und verwirrt aus, wie ein wirkliches Mädchen und ſchlug die Augen nieder und als er ſo auf der Hochzeit erſchien, erregte er den allgemeinen Beifall beſonders der verſammelten Frauen.

Während der Zeit war aber ſeine Mutter nach Hauſe zurückgekehrt und ſah ihren offen ſtehenden Kleiderſchrank ſowie die Verwüſtung, die er in Schachteln und Käſtchen angerichtet. Als ſie vollends vernahm, zu welchem Ende hin dies geſchehen und daß ihre Hoffnung in Weiber¬142 kleidern, und dazu noch in ihren beſten, ausge¬ zogen ſei, überfiel ſie erſt ein großer Zorn, dann aber eine noch größere Unruhe; denn nichts ſchien ihr geeigneter einen jungen Menſchen in das Lotterleben zu bringen, als wenn er in Weiberkleidern auf eine Seldwyler Hochzeit ging. Sie ließ daher ihr Abendeſſen ungenoſſen ſtehen und ging eine Stunde lang in der größten Un¬ ruhe umher, nicht wiſſend, wie ſie ihren Sohn den drohenden Gefahren entreißen ſolle. Es widerſtrebte ihr, ihn kurzweg abrufen zu laſſen und dadurch zu beſchämen; auch fürchtete ſie nicht mit Unrecht, daß er würde zurückgehalten werden oder aus eigenem Willen nicht kommen dürfte. Und dennoch fühlte ſie wohl, wie er durch dieſe einzige Nacht auf eine entſcheidende Weiſe auf die ſchlechte Seite verſchlagen werden könne. Sie entſchloß ſich endlich kurz, da es ihr nicht Ruhe ließ, ihren Sohn ſelbſt wegzu¬ holen, und da ſie mannichfacher Beziehungen wegen einen halben Vorwand hatte, ſelbſt etwa ein Stündchen auf der Hochzeit zu erſcheinen, kleidete ſie ſich raſch um und wählte einen Anzug, ein wenig beſſer als der alltägliche und doch143 nicht feſtlich genug, um etwa zu hohe Achtung vor der luſtigen Verſammlung zu verrathen. So begab ſie ſich alſo nach dem Rathhaus nur von dem Dienſtmädchen begleitet, welches ihr eine Laterne voran trug. Sie betrat zuerſt den Speiſeſaal; allein die erſte Tafel und die Luſt¬ barkeit mit den Geſchenken war ſchon vorüber und die Überbringer derſelben hatten ihre Mas¬ ken abgenommen und ſich unter die übrigen Gäſte gemiſcht. In dem Saale war nichts zu ſehen als einige Herrengeſellſchaften, die theils Karten ſpielten, theils zechten, und ſo ſtieg ſie die Treppe nach einer alterthümlichen Gallerie hinauf, von wo man den Saal überſehen konnte, in welchem getanzt wurde. Dieſe Gallerie war mit allerlei Volk angefüllt, das nicht im Flor war und hier dem Tanze zuſehen durfte wie etwa die Ein¬ wohner einer Reſidenz einer Fürſtenhochzeit. Frau Regula konnte daher unbemerkt den Ball über¬ ſehen, der ſo ziemlich feierlich vor ſich ging und die allgemeine Lüſternheit und Begehrlichkeit mit ſeinem ſteifen und lächerlichen Ceremoniell zur Noth verdeckte. Denn dies hätten die Seld¬ wyler nicht anders gethan; ſie huldigten vielmehr144 dem Spruch: Alles zu ſeiner Zeit! und wenn ſie mit wenig Mühe das Schauſpiel eines nach ihren Begriffen noblen Balles geben und ge¬ nießen konnten, warum ſollten ſie es unterlaſſen?

Fritzchen Amrain war aber unter den Tan¬ zenden nicht zu erblicken und je länger ihn ſeine Mutter mit den Augen ſuchte, deſto weniger fand ſie ihn. Je länger ſie ihn aber nicht fand, deſto mehr wünſchte ſie ihn zu ſehen, nicht allein mehr aus Beſorgniß, ſondern auch um wirklich zu ſehen, wie er ſich eigentlich ausnähme und ob er in ſeiner Dummheit nicht noch die Lächer¬ lichkeit zum Leichtſinn hinzugefügt habe, indem er als eine ungeſchickt angezogene ſchlottrige Weibs¬ perſon ſich weiß Gott wo herumtreibe? In dieſen Unterſuchungen gerieth ſie auf einen Sei¬ tengang der hohen Gallerie, welcher mit einem Fenſter endigte, das mit einem Vorhang verſehen und beſtimmt war, Licht in eben dieſen Gang einzulaſſen. Das Fenſter aber ging in das klei¬ nere Rathszimmer, ein altes gothiſches Gemach, und war hoch an deſſen Wand zu ſehen. Wie ſie nun jenen Vorhang ein wenig lüftete und in das tiefe Gemach hinunter ſchaute, welches145 durch einen ſeltſamen Firlefanz von Kronleuchtern ziemlich ſchwach erleuchtet war, erblickte ſie eine kleinere Geſellſchaft, die da in aller Stille und Fröhlichkeit ſich zu unterhalten ſchien. Als Frau Regel genauer hinſah, erkannte ſie ſieben bis acht verheirathete Frauen, deren Männer ſie ſchon in dem Speiſeſaal hatte ſpielen ſehen zu einem hohen und prahleriſchen Satze. Dieſe Frauen ſaßen in einem engen Halbkreiſe und vor ihnen eben ſo viel junge Männer, die ihnen den Hof machten. Unter dieſen war Fritz abermals nicht zu finden und ſeine Mutter hierüber ſehr froh, da der Kreis dieſer Damen nichts weniger als beruhigend anzuſehen war. Denn als ſie die¬ ſelben einzeln muſterte, waren es lauter jüngere Frauen, welche jede auf ihre Weiſe für gefähr¬ lich galt und in der Stadt, wenn auch nicht eines ſchlimmen, doch eines geheimnißvollen Rufes genoß, was bei der herrſchenden Duldſamkeit immer noch genug war. Da ſaß erſtens die nicht häßliche Adele Anderau, welche üppig und verlockend anzuſehen war, ohne daß man recht wußte, woran es lag, und welche alle jungen Leute jezuweilen mit halbgeſchloſſenen Augen ſoKeller, die Leute von Seldwyla. I. 10146anzublicken wußte in einem windſtillen Augen¬ blicke, daß ſie einen ſeltſamen Funken von hoff¬ nungsreichem Verlangen in ihr Herz ſchleuderte. Aber zehn derſelben ließ ſie ſchonungslos und mit Aufſehen abziehen, um deſto regelmäßiger den elften in einer ſichern Stunde zu beglücken. Da war ferner die leidenſchaftliche Julie Hai¬ der, welche ihren Mann öffentlich und vor ſo vielen Zeugen als möglich ſtürmiſch liebkoſ'te, die glühendſte Eiferſucht auf ihn an den Tag legte und fortwährend der Untreue anklagte, dies alles ſo lange bis irgend ein Dritter den fühl¬ loſen Gatten beneidete und ſolcher Leidenſchaft¬ lichkeit theilhaftig zu werden trachtete. Da trau¬ erte auch die ſanfte Emmeline Ackerſtein, welche eine Dulderin war und von ihrem Manne mi߬ handelt wurde, weil ſie gar nichts gelernt hatte und das Hausweſen vernachläſſigte; dieſe ſah bleich und ſchmachtend aus und ſank mit Thränen dem in die Arme, der ſie tröſten mochte. Auch die ſchlimme Lieschen Aufdermaur war da, welche ſo lange Klatſchereien und Zänkereien anrichtete, bis irgend ein Aufgebrachter, den ſie verläumdet, ſie unter vier Augen in die Klemme brachte und147 ſich an ihr rächte. Dann folgte, außer zwei oder drei aufgeweckten Weſen, welche ohne wei¬ tere Begründungen ſchlechtweg thaten was ſie mochten, die ſtille Thereſa Gut, welche äußerſt theilnahmlos weder rechts noch links ſah, Nie¬ mandem entgegen kam und kaum antwortete, wenn man ſie anredete, welche aber, zufällig in ein Abenteuer verwickelt und angegriffen, uner¬ warteter Weiſe lachte wie eine Närrin und alles geſchehen ließ. Endlich ſaß auch dort das leicht¬ ſinnige Käthchen Amhag, welches immer eine Menge heimlicher Schulden zu tragen hatte.

Als Frau Amrain die Beſchaffenheit dieſes weiblichen Kreiſes erkannte, wollte ſie eben Gott danken, daß ihr Sohn wenigſtens auch da nicht zu erblicken ſei, als ſie noch eine weibliche Ge¬ ſtalt zwiſchen ihnen entdeckte, die ſie im erſten Augenblicke nicht kannte, obgleich ſie dieſelbe ſchon geſehen zu haben glaubte. Es war ein großes prächtig gewachſenes Weſen von amazo¬ nenhafter Haltung und mit einem kecken blonden Lockenkopfe, das aber hold verſchämt und ver¬ liebt unter den luſtigen Frauen ſaß und von ihnen ſehr aufmerkſam behandelt wurde. Beim10 *148zweiten Blick erkannte ſie jedoch ihren Sohn und ihr violettes Seidenkleid zugleich und ſah, wie trefflich ihm daſſelbe ſaß und mußte ſich auch geſtehen, daß er ganz geſchickt und reizend ausgeputzt ſei. Aber im gleichen Augenblicke ſah ſie auch, wie ihn ſeine eine Nachbarin küßte, in Folge irgend eines Unterhaltungsſpieles, das die fröhliche Geſellſchaft eben beſchäftigte, und wie er gleicherzeit die andere Nachbarin küßte, und nun hielt ſie den Zeitpunkt für gekommen, wo ſie ihrem Sohne den Dienſt, welchen er ihr als fünfjähriges Knäblein geleiſtet, erwiedern konnte.

Sie ſtieg ungeſäumt die Treppe hinunter und trat in das Zimmer, die überraſchte Geſell¬ ſchaft beſcheiden und höflich begrüßend. Alles erhob ſich verlegen, denn obgleich ſie ſattſam durchgehechelt wurde in der Stadt, ſo flößte ſie doch Achtung ein, wo ſie erſchien. Die jungen Männer grüßten ſie mit aufrichtig verlegener Ehrerbietung, und um ſo aufrichtiger je wilder ſie ſonſt waren; von den Frauen aber wollte keine ſcheinen, als ob ſie mit der achtbarſten Frau der Stadt etwa ſchlecht ſtände und nicht mit ihr149 umzugehen wüßte, weshalb ſie ſich mit großem Geräuſch um ſie drängten, als ſie ſich von ihrer Überraſchung etwas erholt. Am verblüffteſten war jedoch Fritz, welcher nicht mehr wußte, wie er ſich in dem Kleide ſeiner Mutter zu geber¬ den habe; denn dies war jetzt plötzlich ſein erſter Schrecken und er bezog den ernſten Blick, den ſie einſtweilen auf ihn geworfen, nur auf die gute Seide dieſes Kleides. Andere Bedenken waren noch nicht ernſtlich in ihm aufgeſtiegen, da in der allgemeinen Luſt der Scherz zu gewöhnlich und erlaubt ſchien. Als Alle ſich wieder geſetzt hatten und nachdem ſich Frau Amrain ein Viertelſtündchen freundlich mit den jungen Leuten unterhalten, winkte ſie ihren Sohn zu ſich und ſagte ihm, er möchte ſie nach Hauſe begleiten, da ſie gehen wolle. Als er ſich dazu ganz bereit erklärte, flüſterte ſie ihm aber mit ſtrengem Tone zu: Wenn ich von einem Weibe will begleitet ſein, ſo konnte ich die Grete hier behalten, die mir hergeleuchtet hat! Du wirſt ſo gut ſein und erſt heim laufen, um Kleider anzuziehen, die Dir beſſer ſtehen, als dieſe hier!

Erſt jetzt merkte er, daß die Sache nicht150 richtig ſei; tief erröthend machte er ſich fort, und als er über die Straße eilte und das rau¬ ſchende Kleid ihm ſo ungewohnt gegen die Füße ſchlug, während der Nachtwächter ihm verdächtig nachſah, merkte er erſt recht, daß das eine unge¬ eignete Tracht wäre für einen jungen Republi¬ kaner, in der man Niemandem in's Geſicht ſehen dürfe. Als er aber zu Hauſe angekommen ſich haſtig umkleidete, fiel es ihm ein, daß nun die Mutter allein unter dem Volke auf dem Rath¬ hauſe ſitze, und dieſer Gedanke machte ihn plötz¬ lich und ſonderbarer Weiſe ſo zornig und beſorgt um ihre Ehre, daß er ſich beeilte nur wieder hinzukommen und ſie abzuholen. Auch glaubte er ihr einen rechten Ritterdienſt damit zu erwei¬ ſen, daß er ſo pünktlich wieder erſchien, und alle etwaigen Unebenheiten dadurch auf's Schönſte ausgeglichen. Frau Amrain aber empfahl ſich der Geſellſchaft und ging ernſt und ſchweigſam neben ihrem Sohne nach Hauſe. Dort ſetzte ſie ſich ſeufzend auf ihren gewohnten Seſſel und ſchwieg eine Weile; dann aber ſtand ſie auf, ergriff das daliegende Staatskleid und zerriß es151 in Stücken, indem ſie ſagte: das kann ich nun wegwerfen, denn tragen werde ich es nie mehr!

» Warum denn? « ſagte Fritz erſtaunt und wieder kleinlaut. » Wie werde ich, erwiederte ſie, ein Kleid ferner tragen, in welchem mein Sohn unter liederlichen Weibern geſeſſen hat, ſelber einem gleichſehend? « Und ſie brach in Thränen aus und hieß ihn zu Bette gehen. » Hoho, ſagte er, als er ging, das wird denn doch nicht ſo gefährlich ſein. « Er konnte aber nicht einſchlafen, da ſein Kopf ſowohl von der unterbrochenen Luſtbarkeit als von den Worten der Mutter aufgeregt war, ſo fand er alſo Muße, über die Sache nachzudenken und fand, daß die Mutter einigermaßen Recht habe; aber er fand dies nur inſofern, als er ſelbſt die Leute verachtete, mit denen er ſich eben vergnügt hatte. Auch fühlte er ſich durch dieſe Auslegung eher geſchmeichelt in ſeinem Stolze, und erſt, als die Mutter am Morgen und die folgenden Tage ernſt und traurig blieb, kam er dem Grunde der Sache näher. Es wurde kein Wort mehr dar¬ über geſprochen, aber Fritz war für einmal geret¬152 tet, denn er ſchämte ſich vor ſeiner Mutter mehr, als vor der ganzen übrigen Welt.

Während einiger Monate fand ſie keine Ur¬ ſache neue Beſorgniſſe zu hegen, bis eines Ta¬ ges, als ein blühendes junges Landmädchen ſich einfand, um den Dienſt bei ihr nachzuſuchen, Fritz daſſelbe unverwandt betrachtete und endlich auf es zutrat und, alles andere vergeſſend, ihm die Wan¬ gen ſtreichelte. Er erſchrak ſogleich ſelbſt darüber und ging hinaus; die Mutter erſchrak auch und das Mädchen wurde roth und zornig und wandte ſich, ohne weitern Aufenthalt zu gehen. Als Frau Amrain dies ſah, hielt ſie es zurück und nahm es mit einiger Überredung in ihren Dienſt. Nun muß es biegen oder brechen, dachte ſie und fühlte gleichzeitig, daß auf dem bisherigen, blos verneinenden Wege dies Blut ſich nicht länger meiſtern ließ. Sie näherte ſich deshalb noch am ſelben Tage ihrem Sohne, als er mit ſeinem Vesperbrode ſich unter ein ſchattiges Rebenſpalier geſetzt hatte, hinter dem Hauſe, von wo man zum Thal hinaus in die Ferne ſah nach blauen Höhenſtrichen, wo andre Leute wohnten. Sie legte ihren Arm um ſeine Schultern, ſah ihm153 freundlich in die Augen und ſagte: » Lieber Fritz! Sei mir jetzt nur noch zwei oder drei Jährchen brav und gehorſam, und ich will Dir das ſchönſte und beſte Frauchen verſchaffen aus meinem Ort, daß Du dir was darauf einbilden kannſt! «

Fritz ſchlug erröthend die Augen nieder, wurde ganz verlegen und erwiederte mürriſch: » Wer ſagt denn, daß ich eine Frau haben wolle? « » Du ſollſt aber Eine haben! « ver¬ ſetzte ſie, und, wie ich ſage, eine von guter und ſchöner Art; aber nur wenn Du ſie verdienſt, denn ich werde mich vorſehen, eine rechtſchaffene Tochter hierher in's Elend zu bringen! « Damit küßte ſie ihren Sohn, wie ſie ſeit undenklicher Zeit nicht gethan, und ging in's Haus zurück.

Es ward ihm aber auf einmal ganz ſeltſam zu Muthe und von Stund an waren ſeine Ge¬ danken auf eine ſolche gute und ſchöne Frau gerichtet, und dieſe Gedanken ſchmeichelten ihm ſo ſehr und beſchäftigten ihn ſo anhaltend, daß er darüber keine Frauensperſon in Seldwyla mehr anſah. Die Zärtlichkeit, mit welcher die Mutter ihm ſolche Ideen beigebracht, gab ſeinen Wünſchen eine innigere und edlere Richtung und154 er fühlte ſich wohlgeborgen, da man es ſo gut mit ihm meine. Er wartete aber die zwei Jahre und die Anſtalten ſeiner Mutter nicht ab, ſon¬ dern fing ſchon in der nächſten Zeit an, an ſchönen Sonntagen in's Land hinaus zu gehen und insbeſondere in der Heimath der Mutter herumzukreuzen. Er war bis jetzt kaum einmal dort geweſen und wurde von den Verwandten und Freunden ſeiner Mutter um ſo freundlicher aufgenommen, als ſie großes Wohlgefallen an dem hübſchen Jüngling fanden und er zudem eine Art Merkwürdigkeit war als ein wohlge¬ rathener, feſter und nicht prahleriſcher Seldwyler. Er machte ſich ordentlich heimiſch in jenen Ge¬ genden, was ſeine Mutter wohl merkte und geſchehen ließ; aber ſie ahnte nicht, daß er, ehe ſie es vermuthete, ſchon in beſter Form einen Schatz hatte, der ihm allen von der Mutter ihm gemachten Vorſpiegelungen vollkommen zu ent¬ ſprechen ſchien. Als ſie davon erfuhr, machte ſie ſich dahinter her, voll Beſorgniß, wer es ſein möchte, und fand zu ihrer frohen Verwun¬ derung, daß er nun gänzlich auf einem guten Wege ſei; denn ſie mußte den Geſchmack und155 das Urtheil des Sohnes nur loben und ebenſo deſſen ungetrübte Treue und Fröhlichkeit, mit welcher er dem erwählten Mädchen anhing, ſo daß ſie ſich aller weitern Zucht und aller Liſten endlich enthoben ſah.

Dieſe Klippe war unterdeſſen kaum glücklich umſchifft, als ſich eine andere zeigte, welche noch gefährlicher zu werden drohte und der Frau Re¬ gula abermals Gelegenheit gab, ihre Klugheit zu erproben. Denn die Zeit war nun da, wo Fritz, der Sohn, anfing zu politiſiren und damit mehr als durch alles Andere in die Gemeinſchaft ſeiner Mitbürger gezogen wurde. Er war ein liberaler Geſell, wegen ſeiner Jugend, ſeines Verſtandes, ſeines ruhigen Gewiſſens in Hinſicht ſeiner perſönlichen Pflichterfüllung und aus aner¬ erbtem Mutterwitz. Obgleich man nach gewöhn¬ licher oberflächlicher Anſchauungsweiſe etwa hätte meinen können, Frau Amrain wäre ariſtokrati¬ ſcher Geſinnung geweſen, weil ſie die meiſten Leute verachten mußte, unter denen ſie lebte, ſo war dem doch nicht alſo; denn höher und feiner als die Verachtung iſt die Achtung vor der Welt im Ganzen. Wer freiſinnig iſt, traut ſich und156 der Welt etwas Gutes zu und weiß mannhaft von nichts Anderem, als daß man hiefür einzu¬ ſtehen vermöge, während der Unfreiſinn oder der Konſervatismus auf Zaghaftigkeit und Be¬ ſchränktheit gegründet iſt. Dieſe laſſen ſich aber ſchwer mit wahrer Männlichkeit vereinigen. Vor tauſend Jahren begann die Zeit, da nur derje¬ nige für einen vollkommenen Helden und Rit¬ tersmann galt, der zugleich ein frommer Chriſt war; denn im Chriſtenthum lag damals die Menſchlichkeit und Aufklärung. Heute kann man ſagen: ſei Einer ſo tapfer und reſolut, als er wolle, wenn er nicht vermag freiſinnig zu ſein, ſo iſt er kein ganzer Mann. Und die Frau Regula hatte, nachdem ſie ſich einmal an ihrem Eheherren ſo getäuſcht, zu ſtrenge Regeln in ihrem Geſchmack betreffs der Mannestugend an¬ genommen, als daß ſie eine feſte und ſichere Freiſinnigkeit daran vermiſſen wollte. Übrigens, als ihr Mann um ſie geworben, hatte er in allem Flor eines jugendlichen Radikalismus ge¬ glänzt, welchen er freilich mehr in der Weiſe handhabte, wie ein Lehrling die erſte ſilberne Sackuhr.

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Außer dieſen Geſchmacksgründen aber war ſie aus einem Orte gebürtig, wo ſeit unvor¬ denklichen Zeiten jedermann freiſinnig war und der im Laufe der Zeit bei jeder Gelegenheit ſich als ein entſchloſſenes, thatkräftiges und ſich gleich bleibendes Bürgerneſt hervorgethan, ſo daß, wenn es hieß: die von So und So haben dies geſagt oder jenes gethan! ſie gleich einen ganzen Land¬ ſtrich mitnahmen und einen kräftigen Anſtoß ga¬ ben. Wenn alſo Frau Amrain in den Fall kam, ihre Meinung über einen Streit feſtzuſtellen, ſo hörte ſie nicht auf das, was die Seldwyler, ſon¬ dern auf das, was die Leute ihrer Jugendhei¬ math ſagten und richtete ihre Gedanken dorthin.

Alles das waren Gründe genug für Fritz, ein guter Liberaler zu ſein, ohne abſonderliche Studien gemacht zu haben. Was nun die nächſte Gefahr anbelangt, welche da, wo das Wort und die rechtlichen Handlungen frei ſind und die Leute ſich das Wetter ſelbſt machen, für einen politiſch Aufgeregten entſteht, nämlich die Gefahr ein Müſſiggänger und Schenkeläufer zu werden, ſo war dieſelbe zu Seldwyla allerdings noch grö¬ ßer, als an andern Schweizerorten, welche mit158 der ganzen alten Welt noch an der gemüthlichen oſtländiſchen Weiſe feſthalten, das Wichtigſte in breiter halbträumender Ruhe an den Quellen des Getränkes oder bei irgend einem Genuſſe zu verhandeln und immer wieder zu verhandeln. Und doch ſollte das nicht ſo ſein; denn ein gutes Glas in fröhlicher Ruhe zu trinken, iſt ein Zweck, ein Lohn oder eine Frucht, und, wenn man das in einem tiefern Sinne nimmt, das Ausüben politiſcher Rechte blos ein Mittel dazu zu gelangen. Indeſſen war für Fritz dieſe Gefahr nicht beträcht¬ lich, weil er ſchon zu ſehr an Ordnung und Arbeit gewöhnt war und es ihn grade zu Seld¬ wyla nicht reizte, den andern nachzufahren. Größer war ſchon die Gefahr für ihn, ein Schwätzer und Prahler zu werden, der immer das Gleiche ſagt und ſich ſelbſt gern reden hört; denn in ſolcher Jugend verführt nichts ſo leicht dazu, als das lebendige Empfinden von Grund¬ ſätzen und Meinungen, welche man zur Schau ſtellen darf ohne Rückhalt, da ſie gemeinnützig ſind und das Wohl Aller betreffen.

Als er aber wirklich begann, Tag und Nacht von Politik zu ſprechen, ein und dieſelbe Sache159 ewig herumzerrte und jene kindiſche Manier an¬ nahm, durch blindes Behaupten ſich ſelbſt zu betäuben und zu thun, als ob es wirklich ſo gehen müſſe, wie man wünſcht und behauptet, da ſagte ſeine Mutter ein einziges Mal, als er eben im ſchönſten Eifer war, ganz unerwartet: » Was iſt denn das für ein ewiges Schwatzen und Kannegießern? Ich mag das nicht hören! Wenn Du es nicht laſſen kannſt, ſo geh 'auf die Gaſſe oder in's Wirthshaus, hier in der Stube will ich den Lärm nicht haben! «

Dies war ein Wort zur rechten Zeit geſpro¬ chen; Fritz blieb mit ſeiner alſo durchſchnittenen Rede ganz verblüfft ſtecken und wußte gar nichts zu ſagen. Er ging hinaus und indem er über dies wunderliche Ereigniß nachgrübelte, fing er an ſich zu ſchämen, ſo daß er erſt eine gute halbe Stunde nachher roth wurde bis hinter die Ohren, von Stund an geheilt war und ſeine Politik mit weniger Worten und mehr Gedanken abzumachen ſich gewöhnte. So gut traf ihn der einmalige Vorwurf aus Frauenmund, ein Schwä¬ tzer und Kannegießer zu ſein.

Um ſo größer erwies ſich nun die dritte,160 entgegengeſetzte Gefahr, an übel gewendeter That¬ kraft zu verderben. So wetterwendiſch nämlich ſonſt die Seldwyler in ihren politiſchen Stimmun¬ gen waren, ſo beharrlich blieben ſie in der Theil¬ nahme an allem Freiſchaaren - und Zuzügerweſen, und wenn irgendwo in der Nachbarſchaft es galt, gewaltſam ein widerſtehendes Regiment zu ſpren¬ gen, eine ſchwache Mehrheit einzuſchüchtern oder einer trotzigen ungefügigen Minderheit bewaffnet beizuſpringen, ſo zog jedesmal, mochte nun die herrſchende Stimmung ſein welche ſie wollte, von Seldwyla ein Trupp bewaffneter Leute aus nach dem aufgeregten Punkte hin, bald bei Nacht und Nebel auf Seitenwegen, bald am hellen Tage auf offener Landſtraße, je nachdem ihnen die Luft ſicher ſchien. Denn nichts dünkte ſie ſo ergötzlich, als bei ſchönem Wetter einige Tage im Lande herumzuſtreichen, zu ſechzig oder ſiebenzig, wohlbe¬ waffnet mit feinen Zielgewehren, verſehen mit gewichtigen drohenden Bleikugeln und ſilbernen Thalern, mittelſt letzterer ſich in den beſetzten Wirthshäuſern gütlich zu thun und mit tüchtigem Hallo, das Glas in der Hand, auf andere Zu¬ züge zu ſtoßen, denen es ebenfalls mehr oder161 minder Ernſt war. Da nun das Geſetzliche und das Leidenſchaftliche, das Vertragsmäßige und das urſprünglich Naturwüchſige, der Beſtand und das Revolutionaire zuſammen erſt das Leben ausmachen und es vorwärts bringen, ſo war hie¬ gegen nichts zu ſagen, als: ſeht euch vor, was ihr ausrichtet! Nun aber erfuhren die Seld¬ wyler den eigenen Unſtern, daß ſie bei ihren Auszügen immerdar entweder zu früh oder zu ſpät und am unrechten Orte eintrafen und gar nicht zum Schuſſe kamen, wenn ſie nicht auf dem Heimwege, der dann nach mannigfachem Hin - und Herreden und genugſamem Trinken eingeſchlagen wurde, zum Vergnügen wenigſtens einige Patronen in die Luft ſchoſſen. Doch dies genügte ihnen, ſie waren gewiſſermaßen dabei geweſen und es hieß im Lande, die Seldwyler ſeien auch ausgerückt in ſchöner Haltung, lauter Männer mit gezogenen Büchſen und goldenen Uhren in der Taſche.

Als es das erſte Mal begegnete, daß Fritz Amrain von einem ſolchen Ausrücken hörte und zugleich ſeines Alters halber fähig war mitzuge¬ hen, lief er, da es ſoweit eine gute Sache betraf,Keller, die Leute von Seldwyla. I. 11162ſogleich nach Hauſe, denn es war eben die höchſte Zeit und der Trupp im Begriff aufzubrechen. Zu Hauſe zog er ſeine beſten Kleider an, ſteckte genugſam Geld zu ſich, hing ſeine Patrontaſche um und ergriff ſein wohl im Stand gehaltenes Infanteriegewehr, denn da er bereits ein ordent¬ licher und handfeſter junger Flügelmann war, dachte er nicht daran, mit einer koſtbaren Schüt¬ zenwaffe zu prahlen, die er nicht zu handhaben verſtand, ſondern aufrichtig und emſig ſein leich¬ tes Gewehr zu laden und loszubrennen, ſobald er irgend vor den Mann kommen würde; und er ſah ſehnſüchtig im Geiſte ſchon nichts anderes mehr, als den letzten Hügel, die letzte Straßen¬ ecke, um welche herumbiegend man den verha߬ ten Gegner erblicken und es losgehen würde mit Puffen und Knallen.

Er nahm nicht das geringſte Gepäck mit und verabſchiedete ſich kaum bei der Mutter, die ihm aufgebracht und mit klopfendem Herzen aber ſchweigend zuſah. » Adieu! ſagte er, morgen oder übermorgen früh ſpäteſtens ſind wir wieder hier! « und ging weg, ohne ihr nur die Hand zu geben, als ob er nur in den Steinbruch hin¬163 ausginge, um die Arbeiter anzutreiben. So ließ ſie ihn auch gehen ohne Einwendung, da es ihr widerſtand, den hübſchen jungen Burſchen von ſolcher erſten Muthesäußerung abzuhalten, ehe die Zeit und die Erfahrung ihn ſelber belehrt. Vielmehr ſah ſie ihm durch das Fenſter wohlge¬ fällig nach, als er ſo leicht und froh dahinſchritt. Doch ging ſie nicht einmal ganz an das Fenſter, ſondern blieb in der Mitte der Stube ſtehen und ſchaute von da aus hin. Übrigens war ſie ſelbſt muthigen Charakters und hegte nicht ſonderliche Sorgen, zumal ſie wohl wußte, wie dieſe Aus¬ züge von Seldwyla abzulaufen pflegten.

Fritz kam denn auch richtig ſchon am andern Morgen ganz in der Frühe wieder an und ſtahl ſich ziemlich verſchämt in das Haus. Er war ermüdet, überwacht, von vielem Weintrinken ab¬ geſpannt und ſchlechter Laune und hatte nicht das Mindeſte erlebt oder ausgerichtet, außer daß er ſeinen feinen Rock verdorben durch das Her¬ umlungern und ſein Geldbeutel geleert war.

Als ſeine Mutter dies bemerkte und als ſie überdies ſah, daß er nicht wie die Andern, die inzwiſchen auch gruppenweiſe zurückgeſchlendert164 kamen, nur die Kleider wechſelte, neues Geld zu ſich ſteckte und nach dem Wirthshauſe eilte, um da den mißlungenen Feldzug aus einander zu ſetzen und ſich nach den ermüdenden Nicht¬ thaten zu ſtärken, ſondern daß er eine Stunde lang ſchlief und dann ſchweigend an ſeine Ge¬ ſchäfte ging, da ward ſie in ihrem Herzen froh und dachte, dieſer merke von ſelber, was die Glocke geſchlagen.

Indeſſen dauerte es kaum ein halbes Jahr, als ſich eine neue Gelegenheit zeigte, auszuzie¬ hen nach einer andern Seite hin, und die Seld¬ wyler auch wirklich wieder auszogen. Eine benachbarte Regierung ſollte geſtürzt werden, welche ſich auf eine ganz kleine Mehrheit ei¬ nes andächtigen gutkatholiſchen Landvolkes ſtützte. Da aber dies Landvolk ſeine andächtige Geſin¬ nung und politiſche Meinung eben ſo handlich, munter und leidenſchaftlich betrieb und bei den Wahlvorgängen eben ſo geſchloſſen und prügel¬ fertig zuſammenhielt, wie die aufgeklärten Geg¬ ner, ſo empfanden dieſe einen heftigen und unge¬ duldigen Verdruß, und es wurde beſchloſſen, jenen vernagelten Dummköpfen durch einen muthigen165 Handſtreich zu zeigen, wer Meiſter im Lande ſei, und zahlreiche Parteigenoſſen umliegender Kantone hatten ihren Zuzug zugeſagt, als ob ein Häring zu einem Lachs würde, wenn man ihm den Kopf abbeißt und ſagt: dies ſoll ein Lachs ſein! Aber in Zeiten des Umſchwunges, wenn ein neuer Geiſt umgeht, hat die alte Schale des gewohnten Rechtes keinen Werth mehr, da der Kern heraus iſt, und ein neues Rechtsbewußtſein muß erſt erlernt und angewöhnt werden, damit » rechtlich am längſten währe «, das heißt, ſo lange der neue Geiſt lebt und währt, bis er wiederum veraltet iſt und das Auslegen und Zanken um die Schale des Rech¬ tes von neuem angeht. Als gewohnter Weiſe wieder einige Dutzend Seldwyler beiſammen wa¬ ren, um als ein tapferes Häuflein auszurücken und der verhaßten Nachbarregierung vom Amte zu helfen, war Frau Regel Amrain guter Laune, indem ſie dachte, dieſe bewaffneten Kannegießer wären diesmal recht angeführt, wenn ſie glaub¬ ten, daß ihr Sohn mitginge; denn nach ihren bisherigen Erfahrungen, laut welchen das wackere Blut ſtets durch eine einmalige Lehre ſich ge¬166 beſſert, mußte es ihm jetzt nicht einfallen mit¬ zugehen. Aber ſiehe da! Fritz erſchien unver¬ ſehens, als ſie ihn bei ſeinen Geſchäften glaubte, im Hauſe, bürſtete ſeine ſtarken Werkeltagskleider wohl aus, und ſteckte die Bürſte nebſt anderen Ausrüſtungsgegenſtänden und einiger Wäſche in eine Reiſetaſche, welche er umhing, kreuzweis mit der wohlgefüllten Patrontaſche, und ergriff abermals ſein Gewehr und ſenkte es zum Ge¬ hen, nachdem er mit dem Daumen einige Male den Hahn hin und hergezogen, um die Feder¬ kraft des Schloſſes zu erproben.

» Diesmal, « ſagte er, » wollen wir die Sache anders angreifen, adieu! « und ſo zog er ab, ungehindert von der Mutter, welcher es aber¬ mals unmöglich war, ihn von ſeinem Thun ab¬ zuhalten, da ſie wohl ſah, daß es ihm Ernſt war. Um ſo beſorgter war ſie jetzt plötzlich und ſie erbleichte einen Augenblick lang, während ſie abermals mit Wohlgefallen ſeine Entſchloſſen¬ heit bemerkte. Die Seldwyler Schaar kehrte am nächſten Tage ganz in der alten Weiſe zurück, ohne noch zu wiſſen, wie es auf dem Kampf¬ platze ergangen; denn da ſie die Grenze ein167 Bischen überſchritten hatten, fanden ſie das daſige Ländchen ſehr aufgeregt und die Bauern darüber erboſ't, daß man ſolchergeſtalt auf ihrem Terri¬ torium erſcheine, wie zu den Zeiten des Fauſt¬ rechtes. Sie ſtellten jedoch kein Hinderniß ent¬ gegen, ſondern ſtanden nur mit ſpöttiſchen Ge¬ ſichtern an den Wegen, welche zu ſagen ſchienen, daß ſie die Eindringlinge einſtweilen vorwärts¬ ſpazieren laſſen aber auf dem Rückwege dann näher anſehen wollten. Dies kam den Seld¬ wylern gar nicht geheuer vor und ſie beſchloſſen deshalb, das verſprochene Eintreffen anderer Zu¬ züge abzuwarten, ehe ſie weiter gingen. Als dieſe aber nicht kamen und ein Gerücht ſich ver¬ breitete, der Putſch ſei ſchon vorüber und günſtig abgelaufen, machten ſie ſich endlich wieder auf den Rückweg mit Ausnahme des Fritz Amrain, welcher ſeelenallein und trotzig verwegen ſich von ihnen trennte und mitten durch das gegne¬ riſche Gebiet wegmarſchirte auf deſſen Hauptſtadt zu. Denn er hatte, indem er ſeine Gefährten zechen und ſchwatzen ließ, ſich erkundigt und ver¬ nommen, daß ein Häuflein Burſche aus dem Geburtsorte ſeiner Mutter einige Stunden von168 da eintreffen würde, und zu dieſen gedachte er zu ſtoßen. Er erreichte ſie auch ohne Gefährde, weil er raſch und unbekümmert ſeinen Weg ging, und drang mit ihnen ungeſäumt vorwärts. Allein die Sache ſchlug fehl, jene ſchwankhafte Regie¬ rung behauptete ſich für dies Mal wieder durch einige günſtige Zufälle, und ſobald dieſe ſich deutlich entwickelt, that ſich das Landvolk zuſam¬ men, ſtrömte der Hauptſtadt zu in die Wette mit den Freizügern und verſperrt dieſen die Wege, ſo daß Fritz und ſeine Genoſſen, noch ehe ſie die Stadt erreichten, zwiſchen zwei große Haufen bewaffneter Bauern geriethen, und, da ſie ſich mannlich durchzuſchlagen gedachten, ein Gefecht ſich unverweilt entſpann. So ſah ſich denn Fritz angeſichts fremder Dorfſchaften und Kirchthürme ladend, ſchießend und wieder ladend, indeſſen die Glocken ſtürmten und heulten über den verwegenen Einbruch und den Verdruß des beleidigten Bodens auszuklagen ſchienen. Wo ſich die kleine Schaar hinwandte, wichen die Landleute mit großem Lärm etwas zurück; denn ihre junge Mannſchaft war im Soldatenrock ſchon nach der Stadt gezogen worden, und was ſich169 hier den Angreifern entgegenſtellte, beſtand mehr aus alten und ganz jungen unerwachſenen Leuten, von Prieſtern, Küſtern und ſelbſt Weibern ange¬ feuert. Aber ſie zogen ſich dennoch immer dichter zuſammen und nachdem erſt einige unter ihnen verwundet waren, ſtellte gerade dieſer dunkle Saum erſchreckter alter Menſchen, Weiber und Prieſter, die ſich zuſammen den Landſturm nann¬ ten, das aufgebrachte und beleidigte Gebiet vor und die Glocken ſchrieen den Zorn über alles Getöſe hinweg weit in das Land hinaus. Aber der drohende Saum zog ſich immer enger und enger um die fechtenden Parteigänger, einige entſchloſſene und erfahrene Alte gingen voran und es dauerte nicht mehr lange, ſo waren die Freiſchärler gefangen. Sie ergaben ſich ohne Weiteres, als ſie ſahen, daß ſie Alles gegen ſich hatten, was hier wohnte. Wenn man im offenen Kriege vom Reichsfeind gefangen wird, ſo iſt das ein Unſtern wie ein anderer und kränkt den Mann nicht tiefer; aber von ſeinen Mitbürgern als ein gewaltthätiger politiſcher Widerſacher ge¬ fangen zu werden, iſt ſo demüthigend und krän¬ kend, als irgend etwas auf Erden ſein kann. 11*170Kaum waren ſie entwaffnet und von dem Volke umringt, als alle möglichen Ehrentitel auf ſie niederregneten: Landfriedenbrecher, Freiſchärler, Räuber, Buben waren noch die mildeſten Aus¬ rufe, die ſie zu hören bekamen. Zudem wurden ſie von vorn und hinten betrachtet wie wilde Thiere und je ſolider ſie in ihrer Tracht und Haltung ausſahen, deſto erboſter ſchienen die Bauern darüber zu werden, daß ſolche Leute ſolche Streiche machten.

So hatten ſie nun nichts weiter zu thun, als zu ſtehen oder zu gehen, wo und wie man ihnen befahl, hierhin, dorthin, wie es dem viel¬ köpfigen Souverain beliebte, welchem ſie ſein Recht hatten nehmen wollen. Und er übte es jetzt in reichlichem Maße aus und es fehlte nicht an Knüffen und Püffen, wenn die Herren Ge¬ fangenen ſich trotzig zeigten oder nicht gehorchen wollten. Jeder ſchrie ihnen eine gute Lehre zu: » Wäret Ihr zu Hauſe geblieben, ſo brauchtet Ihr uns nicht zu gehorchen! Wer hat Euch hergerufen? Da Ihr uns regieren wolltet, ſo wollen wir nun Euch auch regieren, Ihr Spitz¬ buben! Was bezieht Ihr für Gehalt für Euer171 Geſchäft, was für Sold für Euer Kriegsweſen? Wo habt Ihr Eure Kriegskaſſe und wo Euren General? Pflegt Ihr oft auszuziehen ohne Trompeter, ſo in der Stille? Oder habt Ihr den Trompeter heimgeſchickt, um Euren Sieg zu verkünden? Glaubtet Ihr, die Luft in unſerm Gebiet ſei ſchlechter als Eure, da Ihr kamet, ſie mit Bleikugeln zu peitſchen? Habt Ihr ſchon gefrühſtückt, Ihr Herren? Oder wollt Ihr in's Gras beißen? Verdienen würdet Ihr es wohl! Habt Ihr geglaubt, wir hätten hier keinen ordentlichen Staat, wir ſtellten gar nichts vor in unſerm Ländchen, daß Ihr da rottenweiſe herumſtreicht ohne Erlaubniß? Wolltet Ihr Füchſe fangen oder Kaninchen? Schöne Bun¬ desgenoſſen, die uns mit dem Schießprügel in der Hand unſer gutes Recht ſtehlen wollen! Ihr könnt Euch bei denen bedanken, die Euch herge¬ rufen; denn man wird Euch eine ſchöne Mahl¬ zeit anrichten! Ihr dürfet einſtweilen unſere Zuchthauskoſt verſuchen; es iſt eine ganz ent¬ ſchiedene Majorität von geſunden Erbſen, ge¬ würzt mit dem Salze eines handlichen Straf¬ geſetzes gegen Hochverrath, und wenn Ihr Jahr172 und Tag geſeſſen habt, ſo wird man Euch er¬ lauben, zur Feier Eures glorreichen Einzuges auch eine kleine Minorität von Speck zu über¬ wältigen, aber beißt Euch alsdann die Zähne nicht daran aus! Es geht allerdings nichts über einen guten Spaziergang und iſt zuträglich für die Geſundheit, insbeſondere wenn man keine regelmäßige Arbeit und Bewegung zu haben ſcheint; aber man muß ſich doch immer in Acht nehmen, wo man ſpazieren geht und es iſt un¬ höflich, mit dem Hut auf dem Kopf in eine Kirche und mit dem Gewehr in der Hand in ein friedfertiges Staatsweſen herein zu ſpazieren! Oder habt Ihr geglaubt, wir ſtellen keinen Staat vor, weil wir noch Religion haben und unſere Pfaffen zu ehren belieben? Dieſes gefällt uns einmal ſo, und wir wohnen gerade ſo lang im Lande, als Ihr, Ihr Maulaffen, die Ihr nun daſteht und Euch nicht zu helfen wißt! «

So tönte es unaufhörlich um ſie her, und die Beredtſamkeit der Sieger war um ſo uner¬ ſchöpflicher, als ſie das Gleiche, deſſen ſie ihre Gegner nun anklagten, entweder ſelbſt ſchon ge¬ than oder es jeden Augenblick zu thun bereit173 waren, wenn die Umſtände und die perſönliche Rüſtigkeit es erlaubten, gleich wie ein Dieb die beredteſte Entrüſtung verlauten läßt, wenn ein Kleinod, das er ſelbſt geſtohlen, ihm abermals entfremdet wird. Denn der Menſch trägt die unbefangene Schamloſigkeit des Thieres gerade¬ wegs in das moraliſche Gebiet hinüber und ge¬ berdet ſich da im guten Glauben an das nütz¬ liche Recht ſeiner Willkür ſo naiv, wie die Hünd¬ lein auf den Gaſſen. Die gefangenen Frei¬ ſchärler mußten indeſſen alles über ſich ergehen laſſen und waren nur bedacht, durch keinerlei Herausforderung eine körperliche Mißhandlung zu veranlaſſen. Dies war das Einzige, was ſie thun konnten, und die Älteren und Erfahrenern unter ihnen ertrugen das Übel mit möglichſtem Humor, da ſie vorausſahen, daß die Sache nicht ſo gefährlich abliefe, als ſie ſchien. Der Eine oder Andere merkte ſich ein ſchimpfendes Bäuer¬ lein, das in ſeinem Laden etwa eine Senſe oder ein Maß Kleeſamen gekauft und ſchuldig geblie¬ ben war und gedachte, demſelben ſeiner Zeit ſeine beißenden Anmerkungen mit Zinſen zurückzugeben, und wenn ein ſolches Bäuerlein ſolchen Blick174 bemerkte und den Abſender erkannte, ſo hörte es darum nicht plötzlich auf zu ſchelten, aber richtete unvermerkt ſeine Augen und ſeine Worte anders¬ wohin in den Haufen und verzog ſich allmälig hinter die Front; ſo gemüthlich und ſeltſamlich ſpielen die Menſchlichkeiten durcheinander. Fritz Amrain aber war im höchſten Grade niederge¬ ſchlagen und troſtlos. Zwei oder drei ſeiner Gefährten waren gefallen und lagen noch da, andere waren verwundet und er ſah den Boden um ſich her mit Blut gefärbt; ſein Gewehr und ſeine Taſchen waren ihm abgenommen, rings¬ um erblickte er drohende Geſichter, und ſo war er plötzlich aus ſeiner bedachtloſen und fieberhaf¬ ten Aufregung erwacht, der Sonnenſchein des luſtigen Kampftages war verwiſcht und verdun¬ kelt, das luſtige Knallen der Schüſſe und die angenehme Muſik des kurzen Gefechtlärmens verklungen, und als nun gar endlich die Be¬ hörden oder Landesautoritäten ſich hervorthaten aus dem Wirrſal und eine trockene geſchäftliche Eintheilung und Abführung der Gefangenen be¬ gann, war es ihm zu Muthe, wie einem Schul¬ knaben, welcher aus einer muthwilligen Herrlich¬175 keit, die ihm für die Ewigkeit gegründet und höchſt rechtmäßig ſchien, unverſehens von dem häßlichſten Schulmeiſter aufgerüttelt und beige¬ ſteckt wird, und der nun in ſeinem Gram alles verloren und das Ende der Welt herbeigekommen wähnt. Er ſchämte ſich, ohne zu wiſſen vor wem, er verachtete ſeine Feinde und war doch in ihrer Hand. Er war begeiſtert geweſen, gegen ſie auszuziehen, und doch waren ſie jetzt in jeder Hinſicht in ihrem Rechte; denn ſelbſt ihre Beſchränktheit oder ihre Dummheit war ihr gutes rechtliches Eigenthum und es gab kein Mandat dagegen, als dasjenige des Erfolges, der nun leider ausgeblieben war. Die leiden¬ ſchaftlich erboſ'ten Geſichter aller dieſer bejahrten und gefurchten Landleute, welche auf ihren ge¬ fundenen Sieg trotzten, traten ihm in ſeiner helldunklen Troſtloſigkeit mit einer ſeltſamen Deut¬ lichkeit vor die Augen; überall, wo er durchge¬ führt wurde, gab es neue Geſichter, die er nie geſehen, die er nicht einzeln und nicht mit Willen anſah, und die ſich ihm dennoch ſcharf und treff¬ lich beleuchtet einprägten als eben ſo viele Vor¬ würfe, Beleidigungen und Strafgerichte. Je176 näher der Zug der Gefangenen der Stadt kam, deſto lebendiger wurde es; die Stadt ſelbſt war mit Soldaten und bewaffneten Landleuten ange¬ füllt, welche ſich um die neu befeſtigte Regierung ſchaarten, und die Gefangenen wurden im Triumphe durchgeführt. Von der Oppoſition, welche geſtern noch ſo mächtig geweſen, daß ſie um die Herr¬ ſchaft ringen konnte und ſich bewegte, wie es ihr gefiel, war nicht die leiſeſte Spur mehr zu er¬ blicken, es war eine ganz andere grobe und wider¬ ſtehende Welt, als ſich Fritz gedacht hatte, welche ſich für unzweifelhaft und auf's Beſte begründet ausgab, und nur verwundert ſchien, wie man ſie irgend habe in Frage ſtellen und angreifen kön¬ nen. Denn Jeder tanzt, wenn ſeine Geige ge¬ ſtrichen wird, und wenn viele Menſchen zuſam¬ men ſich was einbilden, ſo blähet ſich eine Un¬ endlichkeit in dieſer Einbildung. Endlich aber waren die Gefangenen in Thürmen und andern Baulichkeiten untergebracht, die alle ſchon beſetzt waren mit ähnlichen Unternehmungsluſtigen, und ſo befand ſich auch Fritz hinter Schloß und Rie¬ gel und war es erklärlich, daß er nicht mit den Seldwylern zurückgekehrt war.

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Dieſe rächten ſich für ihren mißlungenen Zug dadurch, daß ſie den ſieghaften Gegnern auf der Stelle die abſcheulichſte und rückſichts¬ loſeſte Rachſucht zuſchrieben und daß Jeder, der entkommen war, es als für gewiß annahm, die Gefangenen würden erſchoſſen werden. Es gab Leute, die ſonſt nicht ganz unklug waren, welche allen Ernſtes glaubten und wieder ſagten, daß die fanatiſirten Bauern gefangene Freiſchärler zwiſchen zwei Bretter gebunden und entzweige¬ ſägt, oder auch etliche derſelben gekreuziget hätten.

Sobald Frau Regula dieſe Übertreibungen und dies unmäßige Mißtrauen vernahm, verlor ſie die Hälfte des Schreckens, welchen ſie zuerſt empfunden, da die Thorheit der Leute ihren Ein¬ fluß auf die Wohlbeſtellten immer ſelbſt regulirt und unſchädlich macht. Denn hätten die Seld¬ wyler nur etwa die Befürchtung ausgeſprochen, die Gefangenen könnten vielleicht wohl erſchoſſen werden nach dem Standrecht, ſo wäre ſie in tödtlicher Beſorgniß geblieben; als man aber ſagte, ſie ſeien entzweigeſägt und gekreuzigt, glaubte ſie auch jenes nicht mehr. Dagegen erhielt ſie bald einen kurzen Brief von ihremKeller, die Leute von Seldwyla. 12178Sohne, laut welchem er wirklich eingethürmt war und ſie um die ſofortige Erlegung einer Geldbürgſchaft bat, gegen welche er entlaſſen würde. Mehrere Kameraden ſeien ſchon auf dieſe Weiſe frei gegeben worden. Denn die ſieghafte Regierung war in großen Geldnöthen und ver¬ ſchaffte ſich auf dieſe Weiſe einige willkommene außerordentliche Einkünfte, da ſie nachher nur die hinterlegten Summen in eben ſo viele Geld¬ bußen zu verwandeln brauchte. Frau Amrain ſteckte den Brief ganz vergnügt in ihren Buſen und begann gemächlich und ohne ſich zu über¬ eilen, die erforderlichen Geldmittel beizubringen und zurecht zu legen, ſo daß wohl acht Tage vergingen, ehe ſie Anſtalt machte, damit abzu¬ reiſen. Da kam ein zweiter Brief, welchen der Sohn Gelegenheit gefunden heimlich abzuſchicken und worin er ſie beſchwor, ſich ja zu eilen, da es ganz unerträglich ſei, ſeinen Leib dergeſtalt in der Gewalt verhaßter Menſchen zu ſehen. Sie wären eingeſperrt wie wilde Thiere, ohne friſche Luft und Bewegung und müßten Haber¬ muß und Erbſenkoſt aus einer hölzernen Bütte gemeinſchaftlich eſſen mit hölzernen Löffeln. Da179 ſchob ſie lächelnd ihre Abreiſe noch um einige Tage auf, und erſt als der eingepferchte That¬ kräftige volle vierzehn Tage geſeſſen, nahm ſie ein Gefährt, packte die Erlöſungsgelder nebſt friſcher Wäſche und guten Kleidern ein und begab ſich auf den Weg. Als ſie aber ankam, ver¬ nahm ſie, daß eheſtens eine Amneſtie ausgeſpro¬ chen würde über alle, die nicht ausgezeichnete Rädelsführer ſeien, und beſonders über die Frem¬ den, da man dieſe nicht unnütz zu füttern ge¬ dachte und jetzt keine eingehenden Gelder mehr erwartete. Da wartete ſie noch zwei oder drei Tage in einem Gaſthofe, bereit ihren Sohn jeden Augenblick zu erlöſen, der übrigens ſeiner Ju¬ gend wegen nicht ſehr beachtet wurde. Die Amneſtie wurde auch wirklich verkündet, da dies¬ mal die ſiegende Partei aus Sparſamkeit die wahre Weiſe befolgte: im Siege ſelbſt, und nicht in der Rache oder Strafe, ihr Bewußtſein und ihre Genugthuung zu finden. So fand denn der verzweifelte Fritz ſeine Mutter an der Pforte des Gefängniſſes ſeiner harrend. Sie ſpeiſ'te und tränkte ihn, gab ihm neue Kleider und fuhr mit ihm nebſt der geretteten Bürgſchaft von dannen.

12 *180

Als er ſich nun wohlgeborgen und geſtärkt neben ſeiner Mutter ſah, fragte er ſie, warum ſie ihn denn ſo lange habe ſitzen laſſen? Sie erwiederte kurz und ziemlich vergnügt, wie ihm ſchien, daß das Geld eben nicht früher wäre aufzutreiben geweſen. Er kannte aber den Stand ihrer Angelegenheiten nur zu wohl und wußte genau, wo die Mittel zu ſuchen und zu beziehen waren. Er ließ alſo dieſe Ausflucht nicht gelten und fragte abermals. Sie meinte, er möchte ſich nur zufrieden geben, da er durch ſein Sitzen in dem Thurme ein gutes Stück Geld verdient und überdies Gelegenheit erhalten, eine ſchöne Erfah¬ rung zu machen. Gewiß habe er dieſen oder jenen vernünftigen Gedanken zu faſſen die Muße gehabt. » Du haſt mich am Ende abſichtlich ſtecken laſſen, « erwiederte er und ſah ſie groß an, » und haſt mir in Deinem mütterlichen Sinne das Gefängniß förmlich zuerkannt? « Hierauf antwortete ſie nichts, ſondern lachte laut und luſtig in dem rollenden Wagen, wie er ſie noch nie lachen geſehen. Als er hierauf nicht wußte, welches Geſicht er machen ſollte und ſeltſam die Naſe rümpfte, umhalſ'te ſie ihn noch lauter181 lachend und gab ihm einen Kuß. Er ſagte aber kein Wort mehr, und es zeigte ſich von nun an, daß er in dem Gefängniß in der That etwas gelernt habe.

Denn er hielt ſich in ſeinem Weſen jetzt viel ernſter und geſchloſſener zuſammen und ge¬ rieth nie wieder in Verſuchung, durch eine unrechtmäßige oder leichtſinnige Thatluſt eine Ge¬ walt herauszufordern und ſeine Perſon in ihre Hand zu geben zu ſeiner Schmach und niemand zum Nutzen. Er nahm ſich nicht gerade vor, nie mehr auszuziehen, da die Ereigniſſe nicht zum Voraus gezählt werden können und Niemand ſeinem Blut gebieten kann, ſtille zu ſtehn, wenn es raſcher fließt, aber er war nun ſicher vor jeder nur äußerlichen und unbedachten Kampfluſt. Dieſe Erfahrung wirkte überhaupt dermaßen auf den jungen Mann, daß er mit verdoppeltem Fortſchritt an Tüchtigkeit in allen Dingen zuzu¬ nehmen ſchien, und den Dingen ſchon mit voller Männlichkeit vorſtand, als er kaum zwanzig Jahre alt war. Frau Amrain gab ihm desnahen nun die junge Frau, welche er wünſchte, und nach Verlauf eines Jahres, als er bereits ein kleines182 hübſches Söhnchen beſaß, war er zwar immer wohlgemuth, aber um ſo ernſthafter und gemeſ¬ ſener in ſeinen fleißigen Geſchäften, als ſeine Frau luſtig, voll Gelächter und guter Dinge war; denn es gefiel ihr über die Maßen in dieſem Hauſe und ſie kam vortrefflich mit ihrer Schwiegermutter aus, obgleich ſie von dieſer ver¬ ſchieden und wieder eine andere Art von gutem Charakter war.

So ſchien nun das Erziehungswerk der Frau Regula auf das beſte gekrönt und der Zukunft mit Ruhe entgegen zu ſehen; denn auch die beiden älteren Söhne, welche zwar trägen We¬ ſens aber ſonſt gutartig waren, hatte ſie hinter dem wackeren Fritz her leidlich durchgeſchleppt und als dieſelben herangewachſen, die Vorſicht gebraucht, ſie in anderen Städten in die Lehre zu geben, wo ſie denn auch blieben und ihr ferneres Leben begründeten als ziemlich bequem¬ liche aber ſonſt ordentliche Menſchen, von denen nachher ſo wenig zu ſagen war, wie vorher.

Fritz aber, da er bereits ein würdiger Fa¬ milienvater war, mußte doch noch ein Mal in die Schule genommen werden von der Mutter, und183 zwar in einer Sache, um die ſich manche Mutter vom gemeinen Schlage wenig bekümmert hätte. Der Sohn war ungefähr zwei Jahre ſchon ver¬ heirathet, als das Ländchen, welchem Seldwyla angehörte, ſeinen oberſten maßgebenden Rath neu zu beſtellen und deshalben die vierjährigen Wah¬ len vorzunehmen hatte, in Folge deren denn auch die verwaltenden und richterlichen Behörden beſtellt wurden. Bei den letzten Hauptwahlen war Fritz noch nicht ſtimmfähig geweſen und es war jetzt das erſte Mal, wo er dergleichen bei¬ wohnen ſollte. Es war aber eine große Stille im Lande. Die Gegenſätze hatten ſich einiger¬ maßen ausgeglichen und die Parteien an einander abgeſchliffen; es wurde in allen Ecken fleißig gearbeitet, man lichtete die alten Winkeleien in der Geſetzſammlung und machte fleißig neue, gute und ſchlechte, bauete öffentliche Werke, übte ſich in einer geſchickten Verwaltung ohne Unbe¬ ſonnenheit, doch auch ohne Zopf, und ging dar¬ auf aus, Jeden an ſeiner Stelle zu verwenden, die er verſtand und treulich verſah, und endlich gegen Jedermann artig und gerecht zu ſein, der es in ſeiner Weiſe gut meinte und ſelbſt kein184 Zwinger und Haſſer war. Dies alles war nun den Seldwylern höchſt langweilig, da bei ſolcher ſtillgewordenen Entwickelung keine Aufregung Statt fand. Denn Wahlen ohne Aufregung, ohne Vorverſammlungen, Zechgelage, Reden, Auf¬ rufe, ohne Umtriebe und heftige ſchwankende Kri¬ ſen, waren ihnen ſo gut wie gar keine Wahlen, und ſo war es diesmal entſchieden ſchlechter Ton zu Seldwyla, von den Wahlen nur zu ſprechen, wogegen ſie ſehr beſchäftigt thaten mit Errichtung einer großen Aktienbierbrauerei und Anlegung einer Aktienhopfenpflanzung, da ſie plötzlich auf den Gedanken gekommen waren, eine ſolche ſtatt¬ liche Bieranſtalt mit weitläufigen guten Kelle¬ reien, Trinkhallen und Terraſſen würde der Stadt einen neuen Aufſchwung geben und dieſelbe be¬ rühmt und vielbeſucht machen. Fritz Amrain nahm an dieſen Beſtrebungen eben keinen An¬ theil, allein er kümmerte ſich auch wenig um die Wahlen, ſo ſehr er ſich vor vier Jahren geſehnt hatte, daran Theil zu nehmen. Er dachte ſich, da alles gut ginge im Lande, ſo ſei kein Grund, den öffentlichen Dingen nachzugehen, und die Maſchine würde deswegen nicht ſtille ſtehen, wenn185 er ſchon nicht wähle. Es war ihm unbequem, an dem ſchönen Tage in der Kirche zu ſitzen mit einigen alten Leuten, und, wenn man es recht betrachtete, ſchien ſogar ein Anflug von philiſter¬ hafter Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen Wahlen, da ſie eine gar ſo ſtille und regelmäßige Pflichterfüllung waren. Fritz ſcheuete die Pflicht nicht, wohl aber haßte er nach Art aller jungen Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen, den beſſeren Hut zu nehmen und uns an einen höchſt langweiligen oder trübſeligen Ort hinzu¬ begeben, als wie ein Taufſtein, ein Kirchhof oder ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt gerade dieſe Weiſe der Seldwyler, die ſie nun angenommen, für unerträglich und unverſchämt, und eben weil Niemand hinging, ſo wünſchte ſie doppelt, daß ihr Sohn es thäte. Sie ſteckte es daher hinter ſeine Frau und trug dieſer auf, ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordent¬ lich in die Verſammlung ginge und einem tüch¬ tigen Manne ſeine Stimme gäbe, und wenn er auch ganz allein ſtände mit derſelben. Allein mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige186 Beredtſamkeit beſitzen in einer Sache, die es ſel¬ ber nicht viel kümmerte, oder mochte der junge Mann nicht geſonnen ſein, ſich in ihr eine neue Erzieherin zu nähren und groß zu ziehen, genug er ging an dem betreffenden Morgen in aller Frühe in ſeinen Steinbruch hinaus und ſchaffte dort in der warmen Maiſonne ſo eifrig und ernſthaft herum, als ob an dieſem einen Tage noch alle Arbeit der Welt abgethan werden müßte und nie wieder die Sonne aufginge hernach. Da ward ſeine Mutter ungehalten und ſetzte ihren Kopf darauf, daß er dennoch in die Kirche gehen müſſe; und ſie band ihre immer noch glänzend ſchwarzen Zöpfe auf, nahm einen brei¬ ten Strohhut darüber und Fritzens Rock und Hut an den Arm und wanderte raſch hinter das Städtchen hinaus, wo der weitläufige Steinbruch an der Höhe lag. Als ſie den langen krummen Fahrweg hinan ſtieg, auf welchem die Steinlaſten herabgebracht wurden, bemerkte ſie, wie tief der Bruch ſeit zwanzig Jahren in den Berg hinein gegangen, und überſchlug das unzweifelhafte gute Erbthum, das ſie erworben und zuſammengehal¬ ten. Auf verſchiedenen Abſtufungen hämmerten187 zahlreiche Arbeiter, welchen Fritz längſt ohne Werkführer vorſtand, und zu oberſt, wo grünes Buchenholz die friſchen weißen Brüche krönte, erkannte ſie ihn jetzt ſelbſt an ſeinem weißeren Hemde, da er Weſte und Jacke weggeworfen, wie er mit einem Trüppchen Leute die Köpfe zuſammenſteckte über einem Punkte. Gleichzeitig aber ſah man ſie und rief ihr zu, ſich in Acht zu nehmen. Sie duckte ſich unter einen Felſen, worauf in der Höhe nach einer klei¬ nen Stille ein ſtarker Schlag erfolgte und eine Menge kleiner Steine und Erde rings her¬ nieder regneten. » Da glaubt er nun, ſagte ſie zu ſich ſelbſt, was er für Heldenwerk verrichtet, wenn er hier Steine gen Himmel ſprengt, ſtatt ſeine Pflicht als Bürger zu thun! « Als ſie oben ankam und verſchnaufte, ſchien er, nachdem er flüchtig auf den Rock und Hut geſchielt, den ſie trug, ſie nicht zu bemerken, ſondern unter¬ ſuchte eifrig die Löcher, die er eben geſprengt, und fuhr mit dem Zollſtock an den Steinen herum. Als er ſie aber nicht mehr vermeiden konnte, ſagte er: » Guten Tag, Mutter! Spa¬ ziereſt ein wenig? Schön iſt das Wetter dazu! «188 und wollte ſich wieder wegmachen. Sie ergriff ihn aber bei der Hand und führte ihn etwas zur Seite, indem ſie ſagte: » Hier habe ich Dir Rock und Hut gebracht, nun thu 'mir den Ge¬ fallen und geh' zu den Wahlen! Es iſt ein wahrer Skandal, wenn Niemand geht aus der Stadt! «

» Das fehlte auch noch, erwiederte Fritz un¬ geduldig, jetzt abermals bei dieſem Wetter, in der langweiligen Kirche zu ſitzen und Stimm¬ zettel umherzubieten. Natürlich wirſt Du dann für den Nachmittag ſchon irgend ein Leichenbe¬ gängniß in Bereitſchaft haben, wo ich wieder mithumpeln ſoll, damit der Tag ja ganz ver¬ ſchleudert werde! Daß ihr Weibsleute Unſer¬ einen immer an Begräbniſſe und Kindertaufen hinſpedirt, iſt begreiflich; daß ihr euch aber ſo ſehr um die Politik bekümmert, iſt mir ganz etwas Neues! «

» Schande genug, ſagte ſie, daß die Frauen euch vermahnen ſollen, zu thun, was ſich gebührt und was eine verſchworne Pflicht und Schul¬ digkeit iſt! «

» Ei ſo thue doch nicht ſo, erwiederte Fritz,189 ſeit wann wird denn der Staat ſtille ſtehn, wenn Einer mehr oder weniger mitgeht, und ſeit wann iſt es denn nöthig, daß ich gerade überall dabei bin?

» Dies iſt keine Beſcheidenheit, die dies ſagt, antwortete die Mutter, dies iſt vielmehr ver¬ borgener Hochmuth! denn ihr glaubt wohl, daß ihr müßt dabei ſein, wenn es irgend darauf ankäme, und nur weil ihr den gewohnten ſtillen Gang der Dinge verachtet, ſo haltet ihr euch für zu gut, dabei zu ſein! «

» Es iſt aber in der That lächerlich, allein dahin zu gehen, ſagte Fritz, jedermann ſieht Ei¬ nen hingehen, wo dann niemand als die Kir¬ chenmaus zu ſehen iſt. «

Frau Amrain ließ aber nicht nach und er¬ wiederte: » Es genügt nicht, daß Du unterlaſſeſt, was Du an den Seldwylern lächerlich findeſt! Du mußt außerdem noch thun grade, was ſie für lächerlich halten; denn was dieſen Eſeln ſo vorkommt, iſt gewiß etwas Gutes und Vernünf¬ tiges! Man kennt die Vögel an den Federn, ſo die Seldwyler an dem, was ſie für lächerlich halten. Bei allen kleinen Angelegenheiten, bei190 allen ſchlechten Geſchichten, eitlen Vergnügungen und Dummheiten, bei allem Gevatter - und Ge¬ ſchnatterweſen befleißigt man ſich der größten Pünktlichkeit; aber alle vier Jahre ein Mal ſich pünktlich und vollzählig zu einer Wahlhandlung einzufinden, welche die Grundlage unſers ganzen öffentlichen Weſens und Regimentes iſt, das ſoll langweilig, unausſtehlich und lächerlich ſein! das ſoll in dem Belieben und in der Bequem¬ lichkeit jedes Einzelnen ſtehen, der immer nach ſeinem Rechte ſchreit, aber ſobald dies Recht nur ein Bischen auch nach Pflicht riecht, ſein Recht darin ſucht, keines zu üben! Wie, ihr wollt einen freien Staat vorſtellen und ſeid zu faul, alle vier Jahre einen halben Tag zu opfern, einige Aufmerkſamkeit zu bezeigen und eure Zu¬ friedenheit oder Unzufriedenheit mit dem Regi¬ ment, das ihr vertragsmäßig eingeſetzt, zu offen¬ baren? Sagt nicht, daß ihr immer da wäret, wenn es ſein müßte! Wer nur da iſt, wenn es ihn beluſtigt und ſeine Leidenſchaft kitzelt, der wird einmal ausbleiben und ſich eine Naſe dre¬ hen laſſen, grade wenn er am wenigſten daran denkt.

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» Jeder Arbeiter iſt ſeines Lohnes werth, und ſo auch der, welcher für das Wohl des Landes arbeitet und deſſen öffentliche Dinge be¬ ſorgt, die in jedem Hauſe in Einrichtungen und Geſetzen auf das Tiefſte eingreifen. Schon die alleräußerlichſte Artigkeit und Höflichkeit gegen die betrauten Männer erforderte es, wenigſtens an dieſem Tage ſich vollzählig einzufinden, damit ſie ſehen, daß ſie nicht in der Luft ſtehen. Der Anſtand vor den Nachbaren und das Beiſpiel für die Kinder verlangen es ebenfalls, daß dieſe Handlung mit Kraft und Würde begangen wird, und da finden es dieſe Helden unbequem und lächerlich, die gleichen, welche täglich die größte Pünktlichkeit inne halten, um einer Kegelpartie oder einer nichtsſagenden aberwitzigen Geſchichte beizuwohnen.

» Wie, wenn nun die ſämmtlichen Behörden, über ſolche Unhöflichkeit erbittert, euch den Sack vor die Thür würfen und auf einmal abtreten würden? Sag 'nicht, daß dies nie geſchehen werde! Es wäre doch immer möglich, und als¬ dann würde eure Selbſtherrlichkeit daſtehen, wie die Butter an der Sonne; denn nur durch gute192 Gewöhnung, Ordnung und regelrechte Ablöſung oder kräftige Beſtätigung iſt in Friedenszeiten dieſe Selbſtherrlichkeit zu brauchen und bemerk¬ lich zu machen. Wenigſtens iſt es die allerver¬ kehrteſte Anwendung oder Offenbarung derſelben, ſich gar nicht zu zeigen, warum? weil es ihr ſo beliebt! «

» Nimm mir nicht übel, das ſind Kindesge¬ danken und Weibernücken; wenn ihr glaubt, daß ſolche Aufführung euch wohl anſtehe, ſo ſeid ihr im Irrthum. Aber ihr beneidet euch ſelbſt um die Ruhe und um den Frieden, und damit die Dinge, obgleich ihr nichts dagegen einzuwenden wißt, und nur auf alle Fälle hin, ſo in's Blaue hinein ſchlecht begründet erſcheinen, ſo wählt ihr nicht oder überlaßt die Handlung den Nacht¬ wächtern, damit, wie geſagt, vorkommenden Falls von eurem Neſte Seldwyl ausgeſchrieen werden könne, die öffentliche Gewalt habe keinen feſten Fuß im Volke. Bübiſch iſt aber dieſes und es iſt gut, daß eure Macht nicht weiter reicht, als eure lotterige Stadtmauer! «

» Ihr und immer Ihr! ſagte Fritz ungehal¬ ten, was hab 'ich denn mit dieſen Leuten zu193 ſchaffen? Wenn dieſelben ſolche elende Launen und Beweggründe haben, was geht das mich an? «

» Gut denn, rief Frau Regel, ſo benimm Dich auch anders als ſie in dieſer Sache und geh 'zu den Wahlen! «

» Damit, wandte ihr Sohn lächelnd ein, man außerhalb ſage, der einzige Seldwyler, wel¬ cher denſelben beigewohnt, ſei noch von den Weibern hingeſchickt worden? «

Frau Amrain legte ihre Hand auf ſeine Schulter und ſagte: » Wenn es heißt, daß Deine Mutter Dich hingeſchickt habe, ſo bringt Dir dies keine Schande und mir bringt es Ehre, wenn ein ſolcher tüchtiger Geſell ſich von ſeiner Mutter ſchicken läßt! Ich würde wahrhaftig ſtolz darauf ſein und Du kannſt mir am Ende den kleinen Gefallen zu meinem Vergnügen er¬ weiſen, nicht ſo? «

Fritz wußte hiergegen nichts mehr vorzubrin¬ gen und zog den Rock an und ſetzte den Bür¬ gerhut auf. Als er mit der trefflichen Frau den Berg hinunterging, ſagte er: » Ich habe Dich in meinem Leben nie ſo viel politiſirenKeller, die Leute von Seldwyla. 13194hören, wie ſo eben, Mutter! Ich habe Dir ſo lange Reden gar nicht zugetraut! «

Sie lachte, erwiederte dann aber ernſthaft: Was ich geſagt, iſt eigentlich weniger politiſch ge¬ meint, als gut hausmütterlich. Wenn Du nicht be¬ reits Frau und Kind hätteſt, ſo würde es mir vielleicht nicht eingefallen ſein, Dich zu überreden; ſo aber, da ich ein wohl erhaltenes Haus von meinem Geblüte in Ausſicht ſehe, ſo halte ich es für ein gutes Erbtheil ſolchen Hauſes, wenn darin in allen Dingen das rechte Maß gehalten wird. Wenn die Söhne eines Hauſes bei Zei¬ ten ſehen und lernen, wie die öffentlichen Dinge auf rechte Weiſe zu ehren ſind, ſo bewahrt ſie vielleicht grade dies vor unrechten und unbeſon¬ nenen Dingen. Ferner, wenn ſie das Eine ehren und zuverläſſig thun, ſo werden ſie es auch mit dem Andern ſo halten, und ſo ſiehſt Du, habe ich am Ende nur als fürſichtige häusliche Gro߬ mutter gehandelt, während man ſagen wird, ich ſei die ärgſte alte Kannegießerin! «

In der Kirche fand Fritz ſtatt einer Zahl von ſechs oder ſieben hundert Männern kaum deren vier Dutzend, und dieſe waren beinahe195 ausſchließlich Landleute aus umliegenden Gehöf¬ ten, welche mit den Seldwylern zu wählen hat¬ ten. Dieſe Landleute hätten zwar auch eine ſechs mal ſtärkere Zahl zu ſtellen gehabt; aber da die Ausgebliebenen wirklich im Schweiße ihres Angeſichts auf den Feldern arbeiteten, ſo war ihr Wegbleiben mehr eine harmloſe Gedanken¬ loſigkeit und ein bäuerlicher Geiz mit dem ſchö¬ nen Wetter, und da ſie einen weiten Weg zu machen hatten, erſchien das Daſein der Anwe¬ ſenden um ſo löblicher. Aus der Stadt ſelbſt war Niemand da als der Gemeindepräſident, die Wahlen zu leiten, der Gemeindeſchreiber, das Protokoll zu führen, dann der Nachtwächter und zwei oder drei arme Teufel, welche kein Geld hatten, um mit den lachenden Seldwylern den Frühſchoppen zu trinken. Der Herr Präſident aber war ein Gaſtwirth, welcher vor Jahren ſchon fallirt hatte und ſeither die Wirthſchaft auf Rechnung ſeiner Frau fortbetrieb. Hierin wurde er von ſeinen Mitbürgern reichlich unter¬ ſtützt, da er ganz ihr Mann war, das große Wort zu führen wußte und bei allen Händeln als ein erfahrner Wirth auf dem Poſten war13 *196Daß er aber in Amt und Würden ſtand und hier den Wahlen präſidirte, gehörte zu jenen Sünden der Seldwyler, die ſich zeitweiſe ſo lange anhäuften, bis ihnen die Regierung mit einer Unterſuchung auf den Leib rückte. Die Landleute wußten theilweiſe wohl, daß es nicht ganz richtig war mit dieſem Präſidenten, allein ſie waren viel zu langſam und zu häcklich, als daß ſie etwas gegen ihn unternommen hätten, und ſo hatte er ſich bereits in einem Handum¬ drehen mit ſeinen drei oder vier Mitbürgern das Geſchäft des Tages zugeeignet, als Fritz ankam. Dieſer, als er das Häuflein rechtlicher Landleute ſah, freute ſich, wenigſtens nicht ganz allein da zu ſein, und es fuhr plötzlich ein un¬ ternehmender Geiſt in ihn, daß er unverſehens das Wort verlangte und gegen den Präſidenten proteſtirte, da derſelbe fallirt und bürgerlich todt ſei.

Dies war ein Donnerſchlag aus heiterm Himmel. Der anſehnliche Gaſtwirth machte ein Geſicht, wie Einer der tauſend Jahre begraben lag und wieder auferſtanden iſt; jedermann ſah ſich nach dem kühnen Redner um; aber die Sache197 war ſo kindlich einfach, daß auch nicht ein Laut dagegen ertönen konnte, in keiner Weiſe; nicht die leiſeſte Diskuſſion ließ ſich eröffnen. Je unerhörter und unverhoffter das Ereigniß war, um ſo begreiflicher und natürlicher erſchien es jetzt, und je begreiflicher es erſchien, um ſo zor¬ niger und empörter waren die paar Seldwyler grade über dieſe Begreiflichkeit, über ſich ſelbſt, über den jungen Amrain, über die heimtückiſche Trivialität der Welt, welche das unſcheinbarſte und naheliegendſte ergreift, um Große zu ſtür¬ zen und die Verhältniſſe umzukehren. Der Herr Präſident Uſurpator ſagte nach einer minutenlan¬ gen Verblüffung, nach welcher er wieder ſo klug wie zu Anfang war, gar nichts, als: Wenn wenn man gegen meine Perſon Einwendungen allerdings, ich werde mich nicht aufdringen, ſo erſuche ich die geehrte Verſammlung, zu einer neuen Wahl des Präſidenten zu ſchreiten und die Stimmenzähler, die betreffenden Stimmzettel auszutheilen.

» Ihr habt überhaupt weder etwas vorzu¬ ſchlagen hier, noch den Stimmenzählern etwas aufzutragen! « rief Fritz Amrain, und dem großen198 Magnaten und Gaſtwirth blieb nichts anders übrig, als das Unerhörte abermals ſo begreiflich zu finden, daß es an's Triviale gränzte, und ohne ein Wort weiter zu ſagen verließ er die Kirche, gefolgt von dem beſtürzten Nachtwächter und den andern Lumpen. Nur der Schreiber blieb, um das Protokoll weiter zu führen und Fritz Am¬ rain begab ſich in deſſen Nähe und ſah ihm auf die Finger. Die Bauern aber erholten ſich endlich aus ihrer Verwunderung und benutzten die Gelegenheit, das Wahlgeſchäft raſch zu been¬ den und ſtatt der bisherigen zwei Mitglieder zwei tüchtige Männer aus ihrer Gegend zu wählen, die ſie ſchon lange gerne im Rathe geſehen, wenn die Seldwyler ihnen irgend Raum gegönnt hät¬ ten. Dies lag nun am wenigſten im Plane der nichterſchienenen Seldwyler, denn ſie hatten ſich doch gedacht, daß ihr Präſident und der Nachtwächter unfehlbar die alten zwei Popanze wählen würden, wie es auch ausgemacht war in einer flüchtigen Viertelſtunde in irgend einem Hinterſtübchen. Wie erſtaunten ſie daher, als ſie nun, durch den heimgeſchickten falſchen Präſi¬ denten aufgeſchreckt, in hellen Haufen daher199 gerannt kamen und das Protokoll rechtskräftig geſchloſſen fanden ſammt deſſen Reſultat. Ruhig lächelnd gingen die Landleute auseinander; Fritz Amrain aber, welcher nach ſeiner Behauſung ſchritt, wurde von den Bürgern aufgebracht, verlegen und wild höhniſch betrachtet, mit hal¬ bem Blicke oder mit weit aufgeſperrten Augen. Der Eine rief ein abgebrochenes Ha! der Andere ein Ho! Fritz fühlte, daß er jetzt zum erſten Male wirkliche Feinde habe, und zwar gefähr¬ licher als jene, gegen welche er einſt mit Blei und Pulver ausgezogen. Auch wußte er, da er ſo unerbittlich über einen Mann gerichtet, der zwanzig Jahre älter war als er, daß er ſich nun doppelt wehren müſſe, ſelber nicht in die Grube zu fallen und ſo hatte das Leben nun wieder ein ganz anderes Geſicht für ihn, als es noch vor zwei Stunden gehabt. Mit ernſten Gedanken trat er in ſein Haus und gedachte, um ſich aufzuheitern, ſeine Mutter zu prüfen, ob ihr dieſe Wendung der Dinge auch genehm ſei, da ſie ihn allein veranlaßt hatte, ſich in die Gefahr zu begeben.

Allein da er den Hausflur betrat, kam ihm200 ſeine Mutter entgegen, fiel ihm weinend um den Hals und ſagte nichts, als: Dein Vater iſt wiedergekommen! Da ſie aber ſah, daß ihn die¬ ſer Bericht noch verlegener und ungewiſſer machte, als ſie ſelbſt war, faßte ſie ſich, nachdem ſie den Sohn an ſich gedrückt, und ſagte: Nun, er ſoll uns nichts anhaben! Sei nur freundlich gegen ihn, wie es einem Kinde zukommt! So hatten ſich in der That die Dinge abermals verändert; noch vor wenig Augenblicken, da er auf der Straße ging, ſchien es ihm höchſt bedenklich, ſich eine ganze Stadt verfeindet zu wiſſen, und jetzt, was war dies Bedenken gegen die Lage, urplötz¬ lich ſich einem Vater gegenüber zu ſehen, den er nie gekannt, von dem er nur wußte, daß er ein eitler, wilder und leichtſinniger Mann war, der zudem die ganze Welt durchzogen während zwan¬ zig Jahren und nun weiß der Himmel welch 'ein fremdartiger und erſchrecklicher Cumpan ſein mochte. » Wo kommt er denn her? was will er, wie ſieht er denn aus, was will er denn? ſagte Fritz, und die Mutter erwiederte: » Er ſcheint irgend ein Glück gemacht und was erſchnappt zu haben und nun kommt er mit Geberden201 dahergefahren, als ob er uns in Gnaden auf¬ freſſen wollte! Fremd und wild ſieht er aus, aber er iſt der Alte, das hab' ich gleich geſehen. « Fritz war aber jetzt doch neugierig und ging feſten Schrittes die Treppe hinauf und auf die Wohnſtube zu, während die Mutter in die Küche huſchte und auf einem andern Wege faſt gleich¬ zeitig in die Stube trat; denn das dünkte ſie nun der beſte Lohn und Triumph für alle Müh¬ ſal, zu ſehen, wie ihrem Manne der eigne Sohn, den ſie erzogen, entgegentrat. Als Fritz die Thür öffnete und eintrat, ſah er einen großen ſchweren Mann am Tiſche ſitzen, der ihm wohl er ſelbſt zu ſein ſchien, wenn er zwanzig Jahre älter wäre. Der Fremde war fein aber unor¬ dentlich gekleidet, hatte etwas Ruhigtrotziges in ſeinem Weſen und doch etwas Unſtätes in ſei¬ nem Blicke, als er jetzt aufſtand und ganz er¬ ſchrocken ſein junges Ebenbild eintreten ſah, hoch aufgerichtet und nicht um eine Linie kürzer, als er ſelbſt. Aber um das Haupt des Jungen wehten ſtarke goldne Locken, und während ſein Angeſicht eben ſo ruhig trotzig drein ſah, wie das des Alten, erröthete er bei aller Kraft doch202 in Unſchuld und Beſcheidenheit. Als der Alte ihn mit der verlegenen Unverſchämtheit der Zer¬ fahrenen anſah und ſagte: So wirſt Du alſo mein Sohn ſein? ſchlug der Junge die Augen nieder und ſagte: Ja, und Ihr ſeid alſo mein Vater? Es freut mich, Euch endlich zu ſehen! Dann ſchaute er neugierig empor und betrachtete gutmüthig den Alten; als dieſer aber ihm nun die Hand gab und die ſeinige mit einem prah¬ leriſchen Druck ſchüttelte, um ihm ſeine große Kraft und Gewalt anzukünden, erwiederte der Sohn unverweilt dieſen Druck, ſo daß die Ge¬ walt wie ein Blitz in den Arm des Alten zu¬ rückſtrömte und den ganzen Mann gelinde er¬ ſchütterte. Als aber vollends der Junge nun mit ruhigem Anſtand den Alten zu ſeinem Stuhle zurückführte und ihn mit freundlicher Beſtimmt¬ heit zu ſitzen nöthigte, da ward es dem Zurück¬ gekehrten ganz wunderlich zu Muth, ein ſolch wohlgerathenes Ebenbild vor ſich zu ſehen, das er ſelbſt und doch wieder ganz ein anderer war. Frau Regula ſprach beinahe kein Wort und er¬ griff den klugen Ausweg, den Mann auf ſeine Weiſe zu ehren, indem ſie ihn reichlich bewirthete203 und ſich mit dem Vorweiſen und Einſchenken ihres beſten Weines zu ſchaffen machte. Dadurch wurde ſeine Verlegenheit, als er ſo zwiſchen ſeiner Frau und ſeinem Sohne ſaß, etwas ge¬ mildert, und das Loben des guten Weines gab ihm Veranlaſſung, die Vermuthung auszuſprechen, daß es alſo mit ihnen gut ſtehen müſſe, wie er zu ſeiner Befriedigung erſehe, was denn den beſten Übergang gab zu der Auseinanderſetzung ihrer Verhältniſſe Frau und Sohn ſuchten nun nicht ängſtlich zurückzuhalten und heimlich zu thun, ſondern ſie legten ihm offen den Stand ihres Hauſes und ihres Vermögens dar; Fritz holte die Bücher und Papiere herbei und wies ihm die Dinge mit ſolchem Verſtand und Klar¬ heit nach, daß er erſtaunt die Augen aufſperrte über die gute Geſchäftsführung und über die Wohlhabenheit ſeiner Familie. Indeſſen reckte er ſich empor und ſprach: Da ſteht Ihr ja herrlich im Zeuge und habt Euch gut gehalten, was mir lieb iſt. Ich komme aber auch nicht mit leeren Händen und habe mir einen Pfennig erworben, durch Fleiß und Rührigkeit! Und er zog einige Wechſelbriefe hervor, ſo wie einen mit204 Gold angefüllten Gurt, was er alles auf den Tiſch warf, und es waren allerdings einige tau¬ ſend Gulden oder Thaler. Allein er hatte ſie nicht nach und nach erworben und verſchwieg weislich, daß er dieſe Habe auf einmal durch irgend einen Glücksfall erwiſcht, nachdem er ſich lange genug ärmlich herumgetrieben in allen nordamerikaniſchen Staaten. » Dies wollen wir, ſagte er, nun ſogleich in das Geſchäft ſtecken und mit vereinten Kräften weiter ſchaffen; denn ich habe eine ordentliche Luſt, hier, da es nun geht, wieder an's Zeug zu gehen und den Hun¬ den etwas vorzuſpielen, die mich damals fortge¬ trieben. « Sein Sohn ſchenkte ihm aber ruhig ein anderes Glas Wein ein und ſagte: Vater, ich wollte Euch rathen, daß Ihr vor der Hand Euch ausruhet und es Euch wohl ſein laſſet. Eure Schulden ſind längſt bezahlt und ſo könnet Ihr Euer Geldchen gebrauchen wie es Euch gut dünkt und ohne dies ſoll es Euch an nichts bei uns fehlen! Was aber das Geſchäft betrifft, ſo habe ich ſelbiges von Jugend auf gelernt und weiß nun, woran es lag, daß es Euch damals mißlang. Ich muß aber freie Hand darin ha¬205 ben, wenn es nicht abermals rückwärts gehen ſoll. Wenn es Euch Luſt macht hie und da ein wenig mitzuhelfen und Euch die Sache anzuſehen, ſo iſt es zu Eurem Zeitvertreib hinreichend, daß Ihr es thut. Wenn Ihr aber nicht nur mein Vater, ſondern ſogar ein Engel vom Himmel wäret, ſo würde ich Euch nicht zum förmlichen Antheilhaber annehmen, weil Ihr das Werk nicht gelernt habt und, verzeiht mir meine Un¬ höflichkeit, nicht verſteht! « Der Alte wurde durch dieſe Rede höchſt verſtimmt und verlegen, wußte aber nichts darauf zu erwiedern, da ſie mit großer Beſtimmtheit geſprochen war, und er ſah, daß ſein Sohn wußte was er wollte. Er packte ſeine Reichthümer zuſammen und ging aus, ſich in der Stadt umzuſehen. Er ging in ver¬ ſchiedene Wirthshäuſer, allein er fand da ein neues Geſchlecht an der Tagesordnung und ſeine alten Genoſſen waren alle längſt in die Dunkel¬ heit zurückgetreten. Zudem hatte er in Amerika doch etwas andere Manieren bekommen. Er hatte ſich gewöhnen müſſen, ſein Gläschen ſte¬ hend zu trinken, um unverweilt dem Drange206 und der einſilbigen Jagd des Lebens wieder nach¬ zugeben; er hatte ein tüchtiges raſtloſes Arbeiten wenigſtens mit angeſehen und ſich unter den Amerikanern ein wenig abgerieben, ſo daß ihm dieſe ewige Sitzerei und Schwatzerei nun ſelbſt nicht mehr zuſagte. Er fühlte, daß er in ſei¬ nem wohlbeſtellten Hauſe doch beſſer aufgehoben wäre, als in dieſen Wirthshäuſern und kehrte unwillkürlich dahin zurück, ohne zu wiſſen, ob er dort bleiben oder wieder fortgeben ſolle? So ging er in die Stube die man ihm einge¬ räumt; dort warf der alternde Mann ſeine Baar¬ ſchaft unmuthig in einen Winkel, ſetzte ſich ritt¬ lings auf einen Stuhl, ſenkte den großen be¬ trübten Kopf auf die Lehne und fing ganz bit¬ terlich an zu weinen. Da trat ſeine Frau her¬ ein, ſah, daß er ſich elend fühlte und mußte ſein Elend achten. So wie ſie aber wieder et¬ was an ihm achten konnte, kehrte ihre Liebe au¬ genblicklich zurück. Sie ſprach nicht mit ihm, blieb aber den übrigen Theil des Tages in der Kammer, ordnete erſt dies und jenes zu ſeiner Bequemlichkeit und ſetzte ſich endlich mit ihrem207 Strickzeug ſchweigend an's Fenſter, indem ſich erſt nach und nach ein Geſpräch zwiſchen den lange getrennten Eheleuten entwickelte. Was ſie geſprochen, wäre ſchwer zu ſchildern, aber es ward Beiden wohler zu Muth und der alte Herr ließ ſich von da an von ſeinem wohlerzo¬ genen Sohne nachträglich noch ein Bischen er¬ ziehen und leiten ohne Widerrede und ohne daß der Sohn ſich eine Unkindlichkeit zu Schulden kommen ließ. Aber der ſeltſame Kurſus dauerte nicht einmal ſehr lange, und der Alte ward doch noch ein gelaſſener und zuverläſſiger Theilnehmer an der Arbeit, mit manchen Ruhepunkten und kleinen Abſchweifungen, aber ohne dem blühenden Hausſtande Nachtheile oder Unehre zu bringen. Sie lebten alle zufrieden und wohlbegütert und das Geblüt der Frau Regula Amrain wucherte ſo kräftig in dieſem Hauſe, daß auch die zahl¬ reichen Kinder des Fritz vor dem Untergang ge¬ ſichert blieben. Sie ſelbſt ſtreckte ſich, als ſie ſtarb, im Tode noch ſtolz aus, und noch nie ward ein ſo langer Frauenſarg in die Kirche getragen und der eine ſo edle Leiche barg zu208 Seldwyla. Das Beſte an ihrem Charakter, von ihren Meinungen und Reden aber iſt, daß die¬ ſelben durchaus nicht etwa[erfunden], ſondern in einer wirklich lebendigen Frau begründet gewe¬ ſen ſind.

209

Romeo und Julia auf dem Dorfe.

Auch dieſe Geſchichte zu erzählen, würde eine müſſige Erfindung ſein, wenn ſie nicht auf einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweiſe, wie tief im Menſchenleben jede der ſchönen Fa¬ beln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk gegründet iſt. Die Zahl ſolcher Fabeln iſt mäßig, gleich der Zahl der Metalle, aber ſie ereignen ſich immer wieder auf's Neue mit veränderten Umſtänden und in der wunderlichſten Verkleidung.

An dem ſchönen Fluſſe, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt ſich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert ſich, ſelber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält und über die ſanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtigeKeller, die Leute von Seldwyla. 14210lange Äcker weithingeſtreckt, gleich drei rieſigen Bändern nebeneinander. An einem ſonnigen Sep¬ tembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieſer Äcker, und zwar auf jedem der beiden äußerſten; der mittlere ſchien ſeit langen Jahren brach und wüſt zu liegen, denn er war mit Steinen und hohem Unkraut bedeckt und eine Welt von geflügelten Thierchen ſummte ungeſtört über ihm. Die Bauern aber, welche zu beiden Seiten hinter ihrem Pfluge gingen, waren lange knochige Männer von ungefähr vierzig Jahren und verkündeten auf den erſten Blick den ſichern gutbeſorgten Bauersmann. Sie trugen kurze Kniehoſen von ſtarkem Zwillich, an dem jede Falte ihre unveränderliche Lage hatte und wie in Stein gemeißelt ausſah. Wenn ſie, auf ein Hinderniß ſtoßend, den Pflug feſter faßten, ſo zitterten die groben Hemdärmel von der leichten Erſchütterung, indeſſen die wohlraſirten Geſichter ruhig und aufmerkſam, aber ein wenig blinzelnd in den Sonnenſchein vor ſich hinſchauten, die Furche bemaßen oder auch wohl zuweilen ſich umſahen, wenn ein fernes Geräuſch die Stille des Landes unterbrach. Langſam und mit211 einer gewiſſen natürlichen Zierlichkeit ſetzten ſie einen Fuß um den andern vorwärts und keiner ſprach ein Wort, außer wenn er etwa dem Knechte, der die vier ſtattlichen Pferde an¬ trieb, eine Anweiſung gab. So glichen ſie ein¬ ander vollkommen in einiger Entfernung, denn ſie ſtellten die urſprüngliche Art dieſer Gegend dar, und man hätte ſie auf den erſten Blick nur daran unterſcheiden können, daß der Eine den Zipfel ſeiner weißen Kappe nach vorn trug, der Andere aber hinten im Nacken hängen hatte. Aber das wechſelte zwiſchen ihnen ab, indem ſie in der entgegengeſetzten Richtung pflügten; denn wenn ſie oben auf der Höhe zuſammentrafen und an einander vorüberkamen, ſo ſchlug dem, welcher gegen den friſchen Oſtwind ging, die Zipfelkappe nach hinten über, während ſie bei dem Andern, der den Wind im Rücken hatte, ſich nach vorne ſträubte. Es gab auch jedesmal einen mittleren Augenblick, wo die ſchimmernden Mützen aufrecht in der Luft ſchwankten und wie zwei weiße Flammen gen Himmel züngelten. So pflügten Beide ruhevoll und es war ſchön anzu¬ ſehen in der ſtillen goldenen Septembergegend,212 wenn ſie ſo auf der Höhe an einander vorbei¬ zogen, ſtill und langſam und ſich mälig von einander entfernten, immer weiter auseinander, bis Beide wie zwei untergehende Geſtirne hinter die Wölbung des Hügels hinabgingen und ver¬ ſchwanden, um eine gute Weile darauf wieder zu erſcheinen. Wenn ſie einen Stein in ihren Furchen fanden, ſo warfen ſie denſelben auf den wüſten Acker in der Mitte mit läſſig kräftigem Schwunge, was aber nur ſelten geſchah, da der¬ ſelbe ſchon faſt mit allen Steinen belaſtet war, welche überhaupt auf den Nachbaräckern zu fin¬ den geweſen. So war der lange Morgen zum Theil vergangen, als von dem Dorfe her ein kleines artiges Fuhrwerklein ſich näherte, welches kaum zu ſehen war, als es begann, die gelinde Höhe heran zu kommen. Das war ein grün bemaltes Kinderwägelchen, in welchem die Kinder der beiden Pflüger, ein Knabe und ein kleines Ding von Mädchen, gemeinſchaftlich den Vor¬ mittagsimbiß heranfuhren. Für jeden Theil lag ein ſchönes Brod, in eine Serviette gewickelt, eine Kanne Wein mit Gläſern und noch irgend ein Zuthätchen in dem Wagen, welches die zärt¬213 liche Bäuerin für den fleißigen Meiſter mitge¬ ſandt, und außerdem waren da noch verpackt allerlei ſeltſam geſtaltete angebiſſene Äpfel und Birnen, welche die Kinder am Wege aufgeleſen, und eine völlig nackte Puppe mit nur einem Bein und einem verſchmierten Geſicht, welche wie ein Fräulein zwiſchen den Broden ſaß und ſich behaglich fahren ließ. Dies Fuhrwerk hielt nach manchem Anſtoß und Aufenthalt endlich auf der Höhe im Schatten eines jungen Lindenge¬ büſches, welches da am Rande des Feldes ſtand, und nun konnte man die beiden Fuhrleute näher betrachten. Es war ein Junge von ſieben Jah¬ ren und ein Dirnchen von fünfen, beide geſund und munter und weiter war nichts Auffälliges an ihnen, als daß beide ſehr hübſche Augen hatten und das Mädchen dazu noch eine bräun¬ liche Geſichtsfarbe und ganz krauſe dunkle Haare, welche ihm ein feuriges und treuherziges Anſe¬ hen gaben. Die Pflüger waren jetzt auch wie¬ der oben angekommen, ſteckten den Pferden et¬ was Klee vor und ließen die Pflüge in der halb vollendeten Furche ſtehen, während ſie als gute Nachbaren ſich zu dem gemeinſchaftlichen Imbiß214 begaben und ſich da zuerſt begrüßten; denn bis¬ lang hatten ſie ſich noch nicht geſprochen an die¬ ſem Tage.

Wie nun die Männer mit Behagen ihr Frühſtück einnahmen und mit zufriedenem Wohl¬ wollen den Kindern mittheilten, die nicht von der Stelle wichen, ſo lange gegeſſen und getrun¬ ken wurde, ließen ſie ihre Blicke in der Nähe und Ferne herumſchweifen und ſahen das Städt¬ chen räucherig glänzend in ſeinen Bergen liegen; denn das reichliche Mittagsmahl, welches die Seldwyler alle Tage bereiteten, pflegte ein weit¬ hin ſcheinendes Silbergewölk über ihre Dächer emporzutragen, welches lachend an ihren Bergen hinſchwebte.

» Die Lumpenhunde zu Seldwyl kochen wie¬ der gut! « ſagte Manz, der eine der Bauern, und Marti, der andere erwiederte: » Geſtern war Einer bei mir wegen des Ackers hier. « » Aus dem Bezirksrath? bei mir iſt er auch ge¬ weſen! « ſagte Manz. » So? und meinte wahr¬ ſcheinlich auch, du ſollteſt das Land benutzen und den Herren die Pacht zahlen? « » Ja, bis es ſich entſchieden habe, wem der Acker gehöre und215 was mit ihm anzufangen ſei. Ich habe mich aber bedankt, das verwilderte Weſen für einen Andern herzuſtellen und ſagte, ſie ſollten den Acker nur verkaufen und den Ertrag aufheben, bis ſich ein Eigenthümer herausgeſtellt, was wohl nie geſchehen wird, denn was einmal auf der Kanzlei zu Seldwyl liegt, hat da gute Weile und überdem iſt die Sache ſchwer zu entſcheiden. Die Lumpen möchten indeſſen gar zu gern etwas zu naſchen bekommen durch den Pachtzins, was ſie freilich mit der Verkaufsſumme auch thun könnten; allein wir würden uns hüten, daſſelbe zu hoch hinauf zu treiben und wir wüßten dann doch was wir hätten und wem das Land ge¬ hört! «

» Ganz ſo meine ich auch und habe dem Steckleinſpringer eine ähnliche Antwort gegeben! «

Sie ſchwiegen eine Weile, dann fing Manz wiederum an: » Schad 'iſt es aber doch, daß der gute Boden ſo daliegen muß, es iſt nicht zum Anſehen, das geht nun ſchon in die zwan¬ zig Jahre ſo und keine Seele fragt darnach; denn hier im Dorf iſt Niemand, der irgend ei¬ nen Anſpruch auf den Acker hat, und Niemand216 weiß auch, wo die Kinder des verdorbenen Trom¬ peters hingekommen ſind. «

» Hm! ſagte Marti, das wäre ſo eine Sache! Wenn ich den ſchwarzen Geiger anſehe, der ſich bald bei den Heimatloſen aufhält, bald in den Dörfern zum Tanz aufſpielt, ſo möchte ich dar¬ auf ſchwören, daß er ein Enkel des Trompeters iſt, der freilich nicht weiß, daß er noch einen Acker hat. Was thäte er aber damit? Einen Monat lang ſich beſaufen und dann nach wie vor! Zudem, wer dürfte da einen Wink geben, da man es doch nicht ſicher wiſſen kann! «

» Da könnte man eine ſchöne Geſchichte an¬ richten! antwortete Manz, wir haben ſo genug zu thun, dieſem Geiger das Heimatsrecht in un¬ ſerer Gemeinde abzuſtreiten, da man uns den Fetzel fortwährend aufhalſen will. Haben ſich ſeine Ältern einmal unter die Heimatloſen bege¬ ben, ſo mag er auch dableiben und dem Keſſel¬ volk das Geigelein ſtreichen. Wie in aller Welt können wir wiſſen, daß er des Trompeters Soh¬ nesſohn iſt? Was mich betrifft, wenn ich den Alten auch in dem dunklen Geſicht vollkommen zu erkennen glaube, ſo ſage ich: irren iſt menſch¬217 lich, und das geringſte Fetzchen Papier, ein Stücklein von einem Taufſchein würde meinem Gewiſſen beſſer thun, als zehn ſündhafte Men¬ ſchengeſichter! «

» Eia, ſicherlich! ſagte Marti, er ſagt zwar, er ſei nicht Schuld, daß man ihn nicht getauft habe! Aber ſollen wir unſern Taufſtein tragbar machen und in den Wäldern herumtragen? Nein, er ſteht feſt in der Kirche und dafür iſt die Todtenbahre tragbar, die draußen an der Mauer hängt. Wir ſind ſchon übervölkert im Dorf und brauchen bald zwei Schulmeiſter! «

Hiemit war die Mahlzeit und das Zwiege¬ ſpräch der Bauern geendet und ſie erhoben ſich, den Reſt ihrer heutigen Vormittagsarbeit zu voll¬ bringen. Die beiden Kinder hingegen, welche ſchon den Plan entworfen hatten, mit den Vä¬ tern nach Hauſe zu ziehen, zogen ihr Fuhrwerk unter den Schutz der jungen Linden und begaben ſich dann auf einen Streifzug in dem wilden Acker, da derſelbe mit ſeinen Unkräutern, Stau¬ den und Steinhaufen eine ungewohnte und merk¬ würdige Wildniß darſtellte. Nachdem ſie in der Mitte dieſer grünen Wildniß einige Zeit hinge¬14 *218wandert, Hand in Hand, und ſich daran be¬ luſtigt, die verſchlungenen Hände über die hohen Diſtelſtauden zu ſchwingen, ließen ſie ſich endlich im Schatten einer ſolchen nieder und das Mäd¬ chen begann, ſeine Puppe mit den langen Blät¬ tern des Wegekrautes zu bekleiden, ſo daß ſie einen ſchönen grünen und ausgezackten Rock be¬ kam; eine einſame rothe Mohnblume, die da noch blühte, wurde ihr als Haube über den Kopf gezogen und mit einem Graſe feſtgebun¬ den, und nun ſah die kleine Perſon aus wie eine Zauberfrau, beſonders nachdem ſie noch ein Halsband und einen Gürtel von kleinen rothen Beerchen erhalten. Dann wurde ſie hoch in die Stengel der Diſtel geſetzt und eine Weile mit vereinten Blicken angeſchaut, bis der Knabe ſie genugſam beſehen und mit einem Steine herun¬ terwarf. Dadurch gerieth aber ihr Putz in Un¬ ordnung und das Mädchen entkleidete ſie ſchleu¬ nigſt, um ſie aufs Neue zu ſchmücken; doch als die Puppe eben wieder nackt und blos war und nur noch der rothen Haube ſich erfreuete, entriß der wilde Junge ſeiner Gefährtin, das Spielzeug und warf es hoch in die Luft. Das Mädchen219 ſprang klagend darnach, allein der Knabe fing die Puppe zuerſt wieder auf, warf ſie auf's Neue empor und indem das Mädchen ſie ver¬ geblich zu haſchen bemühte, neckte er es auf dieſe Weiſe eine gute Zeit. Unter ſeinen Händen aber nahm die fliegende Puppe Schaden und zwar am Knie ihres einzigen Beines, allwo ein kleines Loch einige Kleikörner durchſickern ließ. Kaum bemerkte der Peiniger dies Loch, ſo ver¬ hielt er ſich mäuschenſtill und war mit offenem Munde eifrig befliſſen, das Loch mit ſeinen Nä¬ geln zu vergrößern und dem Urſprung der Kleie nachzuſpüren. Seine Stille erſchien dem armen Mädchen höchſt verdächtig und es drängte ſich herzu und mußte mit Schrecken ſein böſes Be¬ ginnen gewahren. » Sieh mal! « rief er und ſchlenkerte ihr das Bein vor der Naſe herum, daß ihr die Kleie in's Geſicht flog, und wie ſie danach langen wollte und ſchrie und flehte, ſprang er wieder fort und ruhte nicht eher, bis das ganze Bein dürr und leer herabhing als eine traurige Hülſe. Dann warf er das mißhandelte Spielzeug hin und ſtellte ſich höchſt frech und gleichgültig, als die Kleine ſich weinend auf die220 Puppe warf und dieſelbe in ihre Schürze hüllte. Sie nahm ſie aber wieder hervor und betrachtete wehſelig die Ärmſte und als ſie das Bein ſah, fing ſie abermals an laut zu weinen, denn das¬ ſelbe hing an dem Rumpfe nicht anders, denn das Schwänzchen an einem Molche. Als ſie gar ſo unbändig weinte, ward es dem Übelthä¬ ter endlich etwas übel zu Muth und er ſtand in Angſt und Reue vor der Klagenden, und als ſie dies merkte, hörte ſie plötzlich auf und ſchlug ihn einigemal mit der Puppe und er that als ob es ihm weh thäte und ſchrie au! ſo natür¬ lich, daß ſie zufrieden war und nun mit ihm gemeinſchaftlich die Zerſtörung und Zerlegung fortſetzte. Sie bohrten Loch auf Loch in den Marterleib und ließen aller Enden die Kleie ent¬ ſtrömen, welche ſie ſorgfältig auf einem flachen Steine zu einem Häufchen ſammelten, umrührten und aufmerkſam betrachteten. Das einzige Feſte, was noch an der Puppe beſtand, war der Kopf und mußte jetzt vorzüglich die Aufmerkſamkeit der Kinder erregen; ſie trennten ihn ſorgfältig los von dem ausgequetſchten Leichnam und guck¬ ten erſtaunt in ſein hohles Innere. Als ſie die221 bedenkliche Höhlung ſahen und auch die Kleie ſahen, war es der nächſte und natürlichſte Ge¬ dankenſprung, den Kopf mit der Kleie auszu¬ füllen, und ſo waren die Fingerchen der Kinder nun beſchäftigt, um die Wette Kleie in den Kopf zu thun, ſo daß zum erſten Mal in ſeinem Le¬ ben etwas in ihm ſteckte. Der Knabe mochte es aber immer noch für ein todtes Wiſſen hal¬ ten, weil er plötzlich eine große blaue Fliege fing und, die ſummende zwiſchen beiden hohlen Händen haltend, dem Mädchen gebot, den Kopf von der Kleie zu entleeren. Hierauf wurde die Fliege hineingeſperrt und das Loch mit Gras verſtopft. Die Kinder hielten den Kopf an die Ohren und ſetzten ihn dann feierlich auf einen Stein; da er noch mit der rothen Mohnblume bedeckt war, ſo glich der Tönende jetzt einem weißſagenden Haupte und die Kinder lauſchten in tiefer Stille ſeinen Kunden und Mährchen, indeſſen ſie ſich umſchlungen hielten. Aber jeder Prophet erweckt Grauen und Undank, das we¬ nige Leben in dem dürftig geformten Bilde er¬ weckte die menſchliche Grauſamkeit in den Kin¬ dern und es wurde beſchloſſen, das Haupt zu222 begraben. So machten ſie ein Grab und legten den Kopf, ohne die gefangene Fliege um ihre Meinung zu befragen, hinein, und errichteten über dem Grabe ein anſehnliches Denkmal von Feldſteinen. Dann empfanden ſie einiges Grauen, da ſie etwas Geformtes und Belebtes begraben hatten, und entfernten ſich ein gutes Stück von der unheimlichen Stätte. Auf einem ganz mit grünen Kräutern bedeckten Plätzchen legte ſich das Dirnchen auf den Rücken, da es müde war, und begann in eintöniger Weiſe einige Worte zu ſingen, immer die nämlichen, und der Junge kauerte daneben und half, indem er nicht wußte, ob er auch vollends umfallen ſolle, ſo läſſig und müſſig war er. Die Sonne ſchien dem ſingenden Mädchen in den geöffneten Mund, beleuchtete deſſen blendendweiße Zähnchen und durchſchimmerte die runden Purpurlippen. Der Knabe ſah die Zähne und dem Mädchen den Kopf haltend und deſſen Zähnchen neugierig unterſuchend, rief er: Rathe, wie viele Zähne hat man? das Mädchen beſann ſich einen Augenblick, als ob es reiflich nachzählte, und ſagte dann auf Gerathe¬ wohl: Hundert! » Nein, zwei und dreißig! « rief223 er, » wart, ich will einmal zählen! « da zählte er die Zähne des Kindes und weil er nicht zwei und dreißig herausbrachte, ſo fing er immer wie¬ der von Neuem an. Das Mädchen hielt lange ſtill, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende kam, raffte es ſich auf und rief: » nun will ich Deine zählen! « Nun legte ſich der Burſche hin in's Kraut, das Mädchen über ihn, um¬ ſchlang ſeinen Kopf, er ſperrte das Maul auf, und es zählte: Eins, zwei, ſieben, fünf, zwei, eins; denn die kleine Schöne konnte noch nicht zählen. Der Junge verbeſſerte ſie und gab ihr Anweiſung, wie ſie zählen ſolle, und ſo fing auch ſie unzählige Mal von Neuem an und das Spiel ſchien ihnen am beſten zu gefallen von allem, was ſie heut unternommen. Endlich aber ſank das Mädchen ganz auf den kleinen Rechen¬ meiſter nieder und die Kinder ſchliefen ein in der hellen Mittagsſonne.

Inzwiſchen hatten die Väter ihre Äcker fertig gepflügt und in friſchduftende braune Fläche um¬ gewandelt. Als nun, mit der letzten Furche zu Ende gekommen, der Knecht des Einen halten wollte, rief ſein Meiſter: Was hältſt Du? Kehr '224noch einmal um! » Wir ſind ja fertig! « ſagte der Knecht. » Halt's Maul und thu' wie ich dir ſage! « der Meiſter. Und ſie kehrten um und riſſen eine tüchtige Furche in den mittleren her¬ renloſen Acker hinein, daß Kraut und Steine flogen. Der Bauer hielt ſich aber nicht mit der Beſeitigung derſelben auf, er mochte denken, hiezu ſei noch Zeit genug vorhanden, und er begnügte ſich, für heute die Sache nur aus dem Gröbſten zu thun. So ging es raſch die Höhe empor in ſanftem Bogen, und als man oben angelangt und das liebliche Windeswehen eben wieder den Kappenzipfel des Mannes zurück¬ warf, pflügte auf der anderen Seite der Nach¬ bar vorüber mit dem Zipfel nach vorn und ſchnitt ebenfalls eine anſehnliche Furche vom mittleren Acker, daß die Schollen nur ſo zur Seite flogen. Jeder ſah wohl, was der andere that, aber keiner ſchien es zu ſehen und ſie ent¬ ſchwanden ſich wieder, indem jedes Sternbild ſtill am andern vorüberging und hinter dieſe runde Welt hinabtauchte. So gehen die Weber¬ ſchiffchen des Geſchickes an einander vorbei und » was er webt, das weiß kein Weber! «

225

Es kam eine Ernte um die andere und jede ſah die Kinder größer und ſchöner und den herrenloſen Acker ſchmäler zwiſchen ſeinen breit¬ gewordenen Nachbaren. Mit jedem Pflügen wurde ihm hüben und drüben eine Furche abge¬ riſſen, ohne daß ein Wort darüber geſprochen wurde und ohne daß ein Menſchenauge den Fre¬ vel zu ſehen ſchien. Die Steine wurden immer mehr zuſammengedrängt und bildeten ſchon einen ordentlichen Grat der ganzen Länge des Ackers nach, und das wilde Gewächs darauf war ſchon ſo hoch, daß die Kinder, obgleich ſie gewachſen waren, ſich nicht mehr ſehen konnten, wenn eines dies - und das andere jenſeits ging. Denn ſie gingen nun nicht mehr gemeinſchaftlich auf das Feld, da der zehnjährige Salomon oder Sali, wie er genannt wurde, ſich ſchon wacker auf Seite der größeren Burſchen und der Männer hielt, und das braune Vrenchen, obgleich es ein feuriges Dirnchen war, mußte bereits unter der Obhut ſeines Geſchlechts gehen, ſonſt wäre es von den andern als ein Bubenmädchen ausge¬ lacht worden. Dennoch nahmen ſie während je¬ der Ernte, wenn alles auf den Äckern war, ein¬Keller, die Leute von Seldwyla. 15226mal Gelegenheit, den wilden Steinkamm, der ſie trennte, zu beſteigen und ſich gegenſeitig von demſelben herunterzuſtoßen. Wenn ſie auch ſonſt keinen Verkehr mehr mit einander hatten, ſo ſchien dieſe jährliche Ceremonie um ſo ſorglicher gewahrt zu werden, als ſonſt nirgends die Fel¬ der ihrer Väter zuſammenſtießen.

Indeſſen ſollte der Acker doch endlich ver¬ kauft und der Erlös einſtweilen gerichtlich auf¬ gehoben werden. Die Verſteigerung fand an Ort und Stelle ſtatt, wo ſich aber nur einige Gaffer einfanden außer den Bauern Manz und Marti, da Niemand Luſt hatte, das ſeltſame Stückchen zu erſtehen und zwiſchen den zwei Nachbaren zu bebauen. Denn obgleich dieſe zu den beſten Bauern des Dorfes gehörten und nichts weiter gethan hatten, als was zwei Drit¬ tel der Übrigen unter dieſen Umſtänden auch gethan haben würden, ſo ſah man ſie doch jetzt ſtillſchweigend darum an und Niemand wollte zwiſchen ihnen eingeklemmt ſein mit dem geſchmä¬ lerten Waiſenfelde. Die meiſten Menſchen ſind fähig oder bereit, ein in den Lüften umgehendes Unrecht zu verüben, wenn ſie mit der Naſe dar¬227 auf ſtoßen; ſo wie es aber von Einem began¬ gen iſt, ſind die Übrigen froh, daß ſie es doch nicht geweſen ſind, daß die Verſuchung nicht ſie betroffen hat, und ſie machen nun den Auserwähl¬ ten zu dem Schlechtigkeitsmeſſer ihrer Eigenſchaf¬ ten und behandeln ihn mit zarter Scheu als einen Ableiter des Übels, der von den Göttern gezeichnet iſt, während ihnen zugleich noch der Mund wäſſert nach den Vortheilen, die er dabei genoſſen. Manz und Marti waren alſo die ein¬ zigen, welche ernſtlich auf den Acker boten, und nach einem ziemlich hartnäckigen Überbieten erſtand ihn Manz und er wurde ihm zugeſchlagen. Die Beamten und die Gaffer verloren ſich vom Felde, die beiden Bauern, welche ſich auf ihren Äckern noch zu ſchaffen gemacht, trafen beim Weggehen wieder zuſammen und Marti ſagte: » Du wirſt nun dein Land, das alte und das neue, wohl zuſammenſchlagen und in zwei gleiche Stücke theilen? Ich hätte es wenigſtens ſo gemacht, wenn ich das Ding bekommen hätte. « » Ich werde es allerdings auch thun « antwortete Manz, » denn als Ein Acker würde mir das Stück zu groß ſein. Doch was ich ſagen wollte: Ich15 *228habe bemerkt, daß Du neulich noch am untern Ende dieſes Ackers, der jetzt mir gehört, ſchräg hineingefahren biſt und ein gutes Dreieck abge¬ ſchnitten haſt. Du haſt es vielleicht gethan in der Meinung, Du werdeſt das ganze Stück an Dich bringen und es ſei dann ſo wie ſo Dein. Da es nun aber mir gehört, ſo wirſt Du wohl einſehen, daß ich eine ſolche ungehörige Ein¬ krümmung nicht brauchen noch dulden kann, und wirſt nichts dagegen haben, wenn ich den Strich wieder grad mache! Streit wird das nicht abgeben ſollen! «

Marti erwiederte eben ſo kaltblütig, als ihn Manz angeredet hatte: » Ich ſehe auch nicht wo Streit herkommen ſoll! Ich denke, Du haſt den Acker gekauft, wie er da iſt, wir haben ihn alle gemeinſchaftlich beſehen und er hat ſich ſeit einer Stunde nicht um ein Haar verändert! «

» Larifari! ſagte Manz, was früher geſche¬ hen wollen wir nicht aufrühren! Was aber zu viel iſt, iſt zu viel und alles muß zuletzt eine ordentliche grade Art haben; dieſe drei Äcker ſind von jeher ſo grade neben einander gelegen, wie nach dem Richtſcheit gezeichnet, es iſt ein ganz229 abſonderlicher Spaß von Dir, wenn Du nun einen ſolchen lächerlichen und unvernünftigen Schnörkel dazwiſchen bringen willſt und wir beide würden einen Übernamen bekommen, wenn wir den krummen Zipfel da beſtehen laſſen. Er muß durchaus weg! «

Marti lachte und ſagte: » Du haſt ja auf einmal eine merkwürdige Furcht vor dem Ge¬ ſpötte der Leute! das läßt ſich aber ja wohl machen; mich genirt das Krumme gar nicht; genirt es Dich, gut, ſo machen wir es grad, aber nicht auf meiner Seite, das geb 'ich Dir ſchriftlich, wenn Du willſt! «

» Rede doch nicht ſo ſpaßhaft, ſagte Manz, es wird wohl grad gemacht, und zwar auf Dei¬ ner Seite, darauf kannſt Du Gift nehmen! «

» Das werden wir ja ſehen und erleben! « ſagte Marti, und beide Männer gingen ausein¬ ander, ohne ſich weiter anzublicken, vielmehr ſtarrten ſie nach verſchiedener Richtung in's Blaue hinaus, als ob ſie da Wunder was für Merk¬ würdigkeiten im Auge hätten, die ſie betrachten müßten mit Aufbietung aller ihrer Geiſteskräfte.

Schon am nächſten Tage ſchickte Manz einen230 Dienſtbuben, ein Tagelöhnermädchen und ſein eigenes Söhnchen Sali auf den Acker hin¬ aus, daß ſie das wilde Unkraut und Geſtrüpp auszögen und auf Haufen brächten, damit nach¬ her die Steine um ſo bequemer weggefahren werden könnten. Dies war eine Änderung in ſeinem Weſen, daß er den kaum eilfjährigen Jungen, der noch zu keiner Arbeit angehalten worden, nun mit hinausſandte, gegen die Ein¬ ſprache der Mutter. Es ſchien, da er es mit ernſthaften und geſalbten Worten that, als ob er mit dieſer Arbeitsſtrenge gegen ſein eigenes Blut das Unrecht betäuben wollte, in dem er lebte, und welches nun begann, ſeine Folgen ruhig zu entfalten. Das ausgeſandte Völklein jätete inzwiſchen luſtig an dem Unkraut und hackte mit Vergnügen an den wunderlichen Stau¬ den und Pflanzen aller Art, die da ſeit Jahren wucherten. Denn da es eine außerordentliche gleichſam wilde Arbeit war, bei der keine Regel und keine Sorgfalt erheiſcht wurde, ſo galt ſie als eine Luſt. Das wilde Zeug, an der Sonne gedörrt, wurde aufgehäuft und mit großem Ju¬ bel verbrannt, daß der Qualm weithin ſich ver¬231 breitete und die jungen Leutchen darin herum¬ ſprangen, wie beſeſſen. Dies war das letzte Freudenfeſt auf dem Unglücksfelde, und das junge Vrenchen, Martis Tochter, kam auch hinausgeſchli¬ chen und half tapfer mit. Das Ungewöhnliche dieſer Begebenheit und die luſtige Aufregung gaben einen guten Anlaß, ſich ſeinem kleinen Jugend¬ geſpielen wieder einmal zu nähern, und die Kin¬ der waren recht glücklich und munter bei ihrem Feuer. Es kamen noch andere Kinder hinzu und es ſammelte ſich eine ganze vergnügte Ge¬ ſellſchaft; doch immer, ſobald ſie getrennt wur¬ den, ſuchte Sali alſobald wieder neben Vrenchen zu gelangen, und dieſes wußte desgleichen immer vergnügt lächelnd zu ihm zu ſchlüpfen, und es war beiden Kreaturen, wie wenn dieſer herrliche Tag nie enden müßte und könnte. Doch der alte Manz kam gegen Abend herbei, um zu ſehen, was ſie ausgerichtet, und obgleich ſie fer¬ tig waren, ſo ſchalt er doch ob dieſer Luſtbar¬ keit, und ſcheuchte die Geſellſchaft auseinander. Zugleich zeigte ſich Marti auf ſeinem Grund und Boden und, ſeine Tochter gewahrend, pfiff er derſelben ſchrill und gebieteriſch durch den232 Finger, daß ſie erſchrocken hineilte, und er gab ihr, ohne zu wiſſen warum, einige Ohrfeigen, alſo daß beide Kinder in großer Traurigkeit und weinend nach Hauſe gingen, und ſie wußten jetzt eigentlich ſo wenig warum ſie ſo traurig waren, als warum ſie vorhin ſo vergnügt geweſen; denn die Rauheit der Väter, an ſich ziemlich neu, war von den argloſen Geſchöpfen noch nicht begriffen und konnte ſie nicht tiefer bewegen.

Die nächſten Tage war es ſchon eine här¬ tere Arbeit, zu welcher Mannsleute gehörten, als Manz die Steine aufnehmen und wegfahren ließ. Es wollte kein Ende nehmen und alle Steine der Welt ſchienen da beiſammen zu ſein. Er ließ ſie aber nicht ganz vom Felde weg¬ bringen, ſondern jede Fuhre auf jenem ſtreitigen Dreiecke abwerfen, welches Marti ſchon ſäuber¬ lich umgepflügt hatte. Er hatte vorher einen graden Strich gezogen als Grenzſcheide und be¬ laſtete nun dies Fleckchen Erde mit allen Stei¬ nen, welche beide Männer ſeit unvordenklichen Zeiten herübergeworfen, ſo daß eine gewaltige Pyramide entſtand, welche wegzubringen Marti wohl bleiben laſſen würde, dachte er. Marti233 hatte dies am wenigſten erwartet; er glaubte, ſein Gegner werde nach alter Weiſe mit dem Pfluge zu Werke gehen wollen und hatte daher abgewartet, bis er ihn als Pflüger ausziehen ſähe. Erſt als die Sache ſchon beinahe fertig, hörte er von dem ſchönen Denkmal, welches Manz da errichtet, rannte voll Wuth hinaus, ſah die[Beſcherung], rannte zurück und holte den Gemeindeamman, um vorläufig gegen den Steinhaufen zu proteſtiren und den Fleck gericht¬ lich in Beſchlag nehmen zu laſſen, und von dieſem Tage an lagen die zwei Bauern in Proceß mit einander und ruhten nicht eher, bis ſie beide zu Grunde gerichtet waren.

Die Gedanken der ſonſt ſo wohlweiſen Män¬ ner waren nun ſo kurz geſchnitten wie Häckſel; der beſchränkteſte Rechtsſinn von der Welt er¬ füllte jeden von ihnen, indem keiner begreifen konnte noch wollte, wie der andere ſo offenbar unrechtmäßig und willkührlich den fraglichen un¬ bedeutenden Ackerzipfel an ſich reißen könne. Bei Manz kam noch ein wunderbarer Sinn für Sym¬ metrie und parallele Linien hinzu und er fühlte ſich wahrhaft gekränkt durch den aberwitzigen234 Eigenſinn, mit welchem Marti auf dem Daſein des unſinnigſten und muthwilligſten Schnörkels beharrte. Beide aber trafen zuſammen in der Überzeugung, daß der Andere, den Anderen ſo frech und plump übervortheilend, ihn nothwendig für einen verächtlichen Dummkopf halten müſſe, da man dergleichen etwa einem armen haltloſen Teufel, nicht aber einem aufrechten, klugen und wehrhaften Manne gegenüber ſich erlauben könne, und Jeder ſah ſich in ſeiner wunderlichen Ehre gekränkt und gab ſich rückhaltlos der Leidenſchaft des Streites und dem daraus erfolgenden Verfalle hin und ihr Leben glich fortan der träumeriſchen Qual zweier Verdammten, welche auf einem ſchma¬ len Brette einen dunkeln Strom hinabtreibend ſich befehden, in die Luft hauen und ſich ſelber an¬ packen und vernichten, in der Meinung, ſie hät¬ ten den Feind gefaßt. Da ſie eine faule Sache hatten, ſo geriethen beide in die allerſchlimmſten Hände von Tauſendkünſtlern, welche ihre ver¬ dorbene Phantaſie aufblieſen zu ungeheuren Bla¬ ſen, die mit den nichtsnutzigſten Dingen ange¬ füllt wurden. Vorzüglich waren es die Speku¬ lanten aus der Stadt Seldwyla, welchen dieſer235 Handel ein gefundenes Eſſen war, und bald hatte jeder der Streitenden einen Anhang von Unterhändlern, Zuträgern und Rathgebern hinter ſich, welche alles baare Geld auf hundert We¬ gen abzuziehen wußten. Denn das Fleckchen Erde mit dem Steinhaufen darüber, auf welchem bereits wieder ein Wald von Neſſeln und Di¬ ſteln blühte, war nur noch der erſte Keim oder der Grundſtein einer verworrenen Geſchichte und Lebensweiſe, in welcher die zwei Fünfzigjährigen noch andere Gewohnheiten und Sitten, Grund¬ ſätze und Hoffnungen annahmen, als ſie bisher geübt. Je mehr Geld ſie verloren, deſto ſehn¬ ſüchtiger wünſchten ſie welches zu haben, und je weniger ſie hatten, deſto hartnäckiger dachten ſie reich zu werden und es dem andern zuvorzuthun. Sie ließen ſich zu jedem Schwindel verleiten und ſetzten auch Jahr aus Jahr ein in alle deutſchen Lotterien, deren Looſe maſſenhaft in Seldwyla zirkulirten. Aber nie bekamen ſie ei¬ nen Thaler Gewinnſt zu Geſicht, ſondern hörten nur immer vom Gewinnen anderer Leute und wie ſie ſelbſt beinahe gewonnen hätten, indeſſen dieſe Leidenſchaft ein regelmäßiger Geldabfluß für236 ſie war. Bisweilen machten ſich die Seldwyler den Spaß, beide Bauern, ohne ihr Wiſſen, am gleichen Looſe Theil nehmen zu laſſen, ſo daß beide die Hoffnung auf Unterdrückung und Ver¬ nichtung des Andern auf ein und daſſelbe Loos ſetzten. Sie brachten die Hälfte ihrer Zeit in der Stadt zu, wo jeder in einer Spelunke ſein Hauptquartier hatte, ſich den Kopf aufblaſen und zu den lächerlichſten Ausgaben und einem elenden und ungeſchickten Schlemmen verleiten ließ, bei welchem ihm heimlich doch ſelber das Herz blutete, alſo daß Beide, welche eigentlich nur in dieſem Hader lebten, um für keine Dumm¬ köpfe zu gelten, nun ſolche von der beſten Sorte darſtellten und von Jedermann dafür angeſehen wurden. Die andere Hälfte der Zeit lagen ſie verdroſſen zu Hauſe oder gingen ihrer Arbeit nach, wobei ſie dann durch ein tolles böſes Über¬ haſten und Antreiben das Verſäumte einzuholen ſuchten und damit jeden ordentlichen und zuver¬ läſſigen Arbeiter verſcheuchten. So ging es ge¬ waltig rückwärts mit ihnen und ehe zehn Jahre vorüber, ſteckten ſie Beide von Grund aus in Schulden und ſtanden wie die Störche auf einem237 Beine auf der Schwelle ihrer Beſitzthümer, von der jeder Lufthauch ſie herunterwehte. Aber wie es ihnen auch erging, der Haß zwiſchen ihnen wurde täglich größer, da jeder den andern als den Urheber ſeines Unſterns betrachtete, als ſei¬ nen Erbfeind und ganz unvernünftigen Wider¬ ſacher, den der Teufel abſichtlich in die Welt geſetzt habe, um ihn zu verderben. Sie ſpieen aus, wenn ſie ſich nur von weitem ſahen, kein Glied ihres Hauſes durfte mit Frau, Kind oder Geſinde des andern ein Wort ſprechen, bei Ver¬ meidung der gröbſten Mißhandlung. Ihre Wei¬ ber verhielten ſich verſchieden bei dieſer Verar¬ mung und Verſchlechterung des ganzen Weſens. Die Frau des Marti, welche von guter Art war, hielt den Verfall nicht aus, härmte ſich ab und ſtarb, ehe ihre Tochter vierzehn Jahre alt war. Die Frau des Manz hingegen be¬ quemte ſich der veränderten Lebensweiſe und um ſich als eine ſchlechte Genoſſin zu entfalten, hatte ſie nichts zu thun, als einigen weiblichen Feh¬ lern, die ihr von jeher angehaftet, den Zügel ſchießen zu laſſen und dieſelben zu Laſtern aus¬ zubilden. Ihre Naſchhaftigkeit wurde zu wilder238 Begehrlichkeit, ihre Zungenfertigkeit zu einem grundfalſchen und verlogenen Schmeichel - und Verläumdungsweſen, mit welchem ſie jeden Au¬ genblick das Gegentheil von dem ſagte, was ſie dachte, alles hinter einander hetzte, und ihrem eigenen Manne ein X für ein U vormachte; ihre urſprüngliche Offenheit, mit der ſie ſich der un¬ ſchuldigeren Plauderei erfreut, ward nun zur abgehärteten Schamloſigkeit, mit der ſie jenes falſche Weſen betrieb, und ſo, ſtatt unter ihrem Manne zu leiden, drehte ſie ihm eine Naſe; wenn er es arg trieb, ſo machte ſie es bunt, ließ ſich nichts abgehen und gedieh zu der dick¬ ſten Blüthe einer Vorſteherin des zerfallenden Hauſes.

So war es nun ſchlimm beſtellt um die armen Kinder, welche weder eine gute Hoffnung für ihre Zukunft faſſen konnten, noch ſich auch nur einer lieblich frohen Jugend erfreuten, da überall nichts als Zank und Sorge war. Vren¬ chen hatte anſcheinend einen ſchlimmeren Stand, als Sali, da ſeine Mutter todt und es einſam in einem wüſten Hauſe der Tyrannei eines ver¬ wilderten Vaters anheimgegeben war. Als es239 ſechszehn Jahre zählte, war es ſchon ein ſchlank¬ gewachſenes ziervolles Mädchen; ſeine dunkel¬ braunen Haare ringelten ſich unabläſſig faſt bis über die blitzenden braunen Augen, dunkelrothes Blut durchſchimmerte die Wangen des bräunlichen Geſichtes und glänzte als tiefer Purpur auf den friſchen Lippen, wie man es ſelten ſah und was dem dunklen Kinde ein eigenthümliches Anſehen und Kennzeichen gab. Feurige Lebensluſt und Fröhlichkeit zitterte in jeder Fiber dieſes Weſens; es lachte und war aufgelegt zu Scherz und Spiel, wenn das Wetter nur im mindeſten lieb¬ lich war, d. h. wenn es nicht zu ſehr gequält wurde und nicht zu viel Sorgen hatte. Dieſe plagten es aber häufig genug; denn nicht nur hatte es den Kummer und das wachſende Elend des Hauſes mit zu tragen, ſondern es mußte noch ſich ſelber in Acht nehmen und mochte ſich gern halbwegs ordentlich und reinlich kleiden, ohne daß der Vater ihm die geringſten Mittel dazu geben wollte. So hatte Vrenchen die größte Noth, ſeine anmuthige Perſon einigermaßen aus¬ zuſtaffiren, ſich ein allerbeſcheidenſtes Sonntags¬ kleid zu erobern und einige bunte, faſt werth¬240 loſe Halstüchelchen zuſammenzuhalten. Darum war das ſchöne wohlgemuthe junge Blut in jeder Weiſe gedemüthigt und gehemmt und konnte am wenigſten der Hoffahrt anheimfallen. Überdies hatte es bei ſchon erwachendem Verſtande das Leiden und den Tod ſeiner Mutter geſehen und dies Andenken war ein weiterer Zügel, der ſei¬ nem luſtigen und feurigen Weſen angelegt war, ſo daß es nun höchſt lieblich, unbedenklich und rührend ſich anſah, wenn trotz alledem das gute Kind bei jedem Sonnenblick ſich ermunterte und zum Lächeln bereit war.

Sali erging es nicht ſo hart auf den erſten Anſchein; denn er war nun ein hübſcher und kräftiger junger Burſche, der ſich zu wehren wußte und deſſen äußere Haltung wenigſtens eine ſchlechte Behandlung von ſelbſt unzuläſſig machte. Er ſah wohl die üble Wirthſchaft ſeiner Ältern und glaubte ſich erinnern zu können, daß es einſt nicht ſo geweſen, ja er bewahrte noch das frühere Bild ſeines Vaters wohl in ſeinem Gedächtniſſe als eines feſten, klugen und ruhigen Bauers, deſſelben Mannes, den er jetzt als einen grauen Narren, Händelführer und Müſſiggänger241 vor ſich ſah, der mit Toben und Prahlen auf hundert thörichten und verfänglichen Wegen wan¬ delte und mit jeder Stunde rückwärts ruderte wie ein Krebs. Wenn ihm nun dies mißfiel und ihn oft mit Scham und Kummer erfüllte, während es ſeiner Unerfahrenheit nicht klar war, wie die Dinge ſo gekommen, ſo wurden ſeine Sorgen wieder be¬ täubt durch die Schmeichelei, mit der ihn die Mutter behandelte. Denn um in ihrem Unwe¬ ſen ungeſtörter zu ſein und einen guten Partei¬ gänger zu haben, auch um ihrer Großthuerei zu genügen, ließ ſie ihm zukommen was er wünſchte, kleidete ihn ſauber und prahleriſch und unterſtützte ihn in allem, was er zu ſeinem Ver¬ gnügen vornahm. Er ließ ſich dies gefallen ohne viel Dankbarkeit, da ihm die Mutter viel zu viel dazu ſchwatzte und log, und indem er ſo wenig Freude daran empfand, that er läſſig und ge¬ dankenlos, was ihm gefiel, ohne daß dies je¬ doch etwas Übles war, weil er für jetzt noch unbeſchädigt war von dem Beiſpiele der Alten und das jugendliche Bedürfniß fühlte, im Gan¬ zen einfach, ruhig und leidlich tüchtig zu ſein. Er war ziemlich genau ſo, wie ſein Vater inKeller, die Leute von Seldwyla. 16242dieſem Alter geweſen war, und dieſes flößte dem¬ ſelben eine unwillkürliche Achtung vor dem Sohne ein, in welchem er mit verwirrtem Gewiſſen und gepeinigter Erinnerung ſeine eigene Jugend achtete. Trotz dieſer Freiheit, welche Sali ge¬ noß, ward er ſeines Lebens doch nicht froh und fühlte wohl, wie er nichts Rechtes vor ſich hatte und eben ſo wenig etwas Rechtes lernte, da von einem zuſammenhängenden und vernunftge¬ mäßen Arbeiten in Manzens Hauſe längſt nicht mehr die Rede war. Sein einziger Troſt war daher, ſtolz auf ſeine Unabhängigkeit und einſt¬ weilige Unbeſcholtenheit zu ſein, und in dieſem Stolze ließ er die Tage trotzig verſtreichen und wandte die Augen von der Zukunft ab.

Der einzige Zwang, dem er unterworfen, war die Feindſchaft ſeines Vaters gegen Alles, was Marti hieß und an dieſen erinnerte. Doch wußte er nichts beſſeres, als daß Marti ſeinem Vater Schaden zugefügt und daß man in deſſen Hauſe eben ſo feindlich geſinnt ſei, und es fiel ihm daher nicht ſchwer, weder den Marti noch ſeine Tochter anzuſehen und ſeinerſeits auch einen angehenden ziemlich gleichgültigen Feind vorzu¬243 ſtellen. Vrenchen hingegen, welches mehr erdul¬ den mußte, als Sali, und in ſeinem Hauſe viel verlaſſener war, fühlte ſich weniger zu einer förmlichen Feindſchaft aufgelegt und glaubte ſich nur verachtet von dem wohlgekleideten und ſchein¬ bar glücklicheren Sali; deshalb verbarg ſie ſich vor ihm und wenn er irgendwo nur in der Nähe war, ſo entfernte ſie ſich eilig, ohne daß er ſich die Mühe gab ihr nachzublicken. So kam es, daß er das Mädchen ſchon ſeit ein paar Jahren nicht mehr in der Nähe geſehen und gar nicht wußte, wie es ausſah, ſeit es herange¬ wachſen. Und doch wunderte es ihn zuweilen ganz gewaltig und wenn überhaupt von den Martis geſprochen wurde, ſo dachte er unwill¬ kürlich nur an die Tochter, deren jetziges Aus¬ ſehen ihm nicht deutlich und deren Andenken ihm gar nicht verhaßt war.

Doch war ſein Vater Manz nun der Erſte von den beiden Feinden, der ſich nicht mehr halten konnte und von Haus und Hof ſpringen mußte. Dieſer Vortritt rührte daher, daß er eine Frau beſaß, die ihm geholfen und einen Sohn, der doch auch einiges mit brauchte, wäh¬16 *244rend Marti der einzige Verzehrer war in ſeinem wackeligen Königreich, und ſeine Tochter durfte wohl arbeiten wie ein Hausthierchen, aber nichts gebrauchen. Manz aber wußte nichts anderes anzufangen, als auf den Rath ſeiner Seldwyler Gönner in die Stadt zu ziehen und da ſich als Wirth aufzuthun. Dies iſt immer ein Elend anzuſehn, wenn ein ehemaliger Landmann, der auf dem Felde alt geworden iſt, mit den Trüm¬ mern ſeiner Habe in eine Stadt zieht und da eine Schenke oder Kneipe aufthut, um als letzten Rettungsanker den freundlichen und gewandten Wirth zu machen, während es ihm nichts weni¬ ger als freundlich zu Muth iſt. Als die Man¬ zen vom Hofe zogen, ſah man erſt, wie arm ſie bereits waren; denn ſie luden lauter alten und verfallenden Hausrath auf, dem man es anſah, daß ſeit vielen Jahren nichts erneuert und ange¬ ſchafft worden war. Die Frau legte aber nichts deſto minder ihren beſten Staat an, als ſie ſich oben auf die Gerümpelfuhre ſetzte und machte ein Geſicht voller Hoffnungen, als künftige Stadt¬ frau ſchon mit Verachtung auf die Dorfgenoſſen herabſehend, welche voll Mitleid hinter den Hecken245 hervor dem bedenklichen Zuge zuſahen. Denn ſie nahm ſich vor, mit ihrer Liebenswürdigkeit und Klugheit die ganze Stadt zu bezaubern, und was ihr verſimpelter Mann nicht machen könne, das wolle ſie ſchon ausrichten, wenn ſie nur erſt einmal als Frau Wirthin in einem ſtattlichen Gaſthofe ſäße. Dieſer Gaſthof beſtand aber in einer trübſeligen Winkelſchenke in einem abgele¬ genen ſchmalen Gäßchen, auf der eben ein An¬ derer zu Grunde gegangen war und welche die Seldwyler dem Manz verpachteten, da er noch einige hundert Thaler einzuziehen hatte. Sie verkauften ihm auch ein paar Fäßchen ſäuerlichen Weines und das Wirthſchaftsmobiliar, das aus einem Dutzend weißen geringen Flaſchen, ebenſo¬ viel Gläſern und einigen tannenen Tiſchen und Bänken beſtand, welche einſt blutroth angeſtrichen geweſen und jetzt vielfältig abgeſcheuert waren. Vor dem Fenſter knarrte ein eiſerner Reifen in einem Haken und in dem Reifen ſchenkte eine blecherne Hand Rothwein aus einem Schöppchen in ein Glas. Überdies hing ein verdorrter Buſch von Stechpalme über der Hausthüre, was Manz alles mit in die Pacht bekam. Um deswillen war246 er nicht ſo wohlgemuth wie ſeine Frau, ſondern trieb mit ſchlimmer Ahnung und voll Ingrimm die mageren Pferde an, welche er vom neuen Bau¬ ern geliehen. Das letzte ſchäbige Knechtchen, das er gehabt, hatte ihn ſchon ſeit einigen Wo¬ chen verlaſſen. Als er ſolcher Weiſe abfuhr, ſah er wohl, wie Marti voll Hohn und Schaden¬ freude ſich unfern der Straße zu ſchaffen machte, fluchte ihm und hielt denſelben für den alleini¬ gen Urheber ſeines Unglückes. Sali aber, ſobald das Fuhrwerk im Gange war, beſchleunigte ſeine Schritte, eilte voraus und ging allein auf Sei¬ tenwegen nach der Stadt.

» Da wären wir! « ſagte Manz, als die Fuhre vor dem Spelunkelein anhielt. Die Frau erſchrack darüber, denn das war in der That ein betrübter Gaſthof. Die Leute traten eilfer¬ tig unter die Fenſter und vor die Häuſer, um ſich den neuen Bauernwirth anzuſehen und mach¬ ten mit ihrer Seldwyler Überlegenheit mitleidig ſpöttiſche Geſichter. Zornig und mit naſſen Au¬ gen kletterte die Manzin vom Wagen herunter und lief, ihre Zunge vorläufig wetzend, in das Haus, um ſich heute vornehm nicht wieder blicken247 zu laſſen; denn ſie ſchämte ſich des ſchlechten Geräthes und der verdorbenen Betten, welche nun abgeladen wurden. Sali ſchämte ſich auch, aber er mußte helfen und machte mit ſeinem Vater einen ſeltſamen Verlag in dem Gäßchen, auf welchem alsbald die Kinder der Falliten herumſprangen und ſich über das verlumpete Bauernpack luſtig machten. Im Hauſe aber ſah es noch trübſeliger aus und es glich einer voll¬ kommenen Räuberhöhle. Die Wände waren ſchlecht geweißtes feuchtes Mauerwerk, außer der dunklen unfreundlichen Gaſtſtube mit ihren ehe¬ mals blutrothen Tiſchen waren nur noch ein paar ſchlechte Kämmerchen da, und überall hatte der ausgezogene Vorgänger den troſtloſeſten Schmutz und Kehricht zurückgelaſſen.

So war der Anfang und ſo ging es auch fort. Während der erſten Woche kamen, beſon¬ ders am Abend, wohl hin und wieder ein Tiſch voll Leute aus Neugierde, den Bauernwirth zu ſehen, und ob es da vielleicht einigen Spaß ab¬ ſetzte. Am Wirth hatten ſie nicht viel zu ſehen, denn Manz war ungelenk, ſtarr, unfreundlich und melancholiſch und wußte ſich gar nicht zu248 benehmen, wollte es auch nicht wiſſen. Er füllte langſam und ungeſchickt die Schöppchen, ſtellte ſie mürriſch vor die Gäſte und verſuchte etwas zu ſagen, brachte aber nichts heraus. Deſto eifriger warf ſich nun ſeine Frau in's Geſchirr und hielt die Leute wirklich einige Tage zuſam¬ men, aber in einem ganz andern Sinne, als ſie meinte. Die ziemlich dicke Frau hatte ſich eine eigene Haustracht zuſammengeſetzt, in der ſie unwiderſtehlich zu ſein glaubte. Zu einem lei¬ nenen naturfarbenen Landrock trug ſie einen alten grünſeidenen Spenſer, eine baumwollene Schürze und einen ſchlimmen weißen Halskragen. Von ihrem nicht mehr dichten Haar hatte ſie an den Schläfen poſſierliche Schnecken gewickelt und in das Zöpfchen hinten einen hohen Kamm ge¬ ſteckt. So ſchwänzelte und tänzelte ſie mit an¬ geſtrengter Anmuth herum, ſpitzte lächerlich das Maul, daß es ſüß ausſehen ſollte, hüpfte elaſtiſch an die Tiſche hin und, das Glas oder den Teller mit geſalzenem Käſe hinſetzend, ſagte ſie lächelnd: » So ſo? ſo ſoli! herrlich herrlich, ihr Herren! « und ſolches dummes Zeug mehr; denn obwohl ſie ſonſt eine geſchliffene Zunge hatte, ſo wußte249 ſie jetzt doch nichts Geſcheidtes vorzubringen, da ſie fremd war und die Leute nicht kannte. Die Seldwyler von der ſchlechteſten Sorte, die da hockten, hielten die Hand vor den Mund, woll¬ ten vor Lachen erſticken, ſtießen ſich unter dem Tiſch mit den Füßen und ſagten: » Potz tauſig! das iſt ja eine Herrliche! « » Eine Himmliſche! « ſagte ein Anderer » beim ewigen Hagel! es iſt der Mühe werth hieher zu kommen, ſo Eine haben wir lang nicht geſehen! « Ihr Mann bemerkte das wohl mit finſterem Blicke; er gab ihr einen Stoß in die Rippen und flüſterte: » Du alte Kuh! Was machſt Du denn? « » Störe mich nicht, ſagte ſie unwillig, Du alter Tol¬ patſch! ſiehſt Du nicht, wie ich mir Mühe gebe und mit den Leuten umzugehen weiß? Das ſind aber nur Lumpen von Deinem Anhang! Laß mich nur machen, ich will bald fürnehmere Kundſchaft hier haben! « Dies alles war be¬ leuchtet von einem oder zwei dünnen Talglich¬ ten; Sali, der Sohn, aber ging hinaus in die dunkle Küche, ſetzte ſich auf den Herd und weinte über Vater und Mutter.

Die Gäſte hatten aber das Schauſpiel bald250 ſatt, welches ihnen die gute Frau Manz ge¬ währte, und blieben wieder, wo es ihnen woh¬ ler war und ſie über die wunderliche Wirth¬ ſchaft lachen konnten; nur dann und wann er¬ ſchien ein Einzelner, der ein Glas trank und die Wände angähnte, oder es kam ausnahmsweiſe eine ganze Bande, die armen Leute mit einem vorübergehenden Trubel und Lärm zu täuſchen. Es ward ihnen angſt und bange in dem engen Mauerwinkel, wo ſie kaum die Sonne ſahen, und Manz, welcher ſonſt gewohnt war, Tage lang in der Stadt zu liegen, fand es jetzt un¬ erträglich zwiſchen dieſen Mauern. Wenn er an die freie Weite der Felder dachte, ſo ſtierte er finſter brütend an die Decke oder auf den Bo¬ den, lief unter die enge Hausthüre und wieder zurück, da die Nachbaren den böſen Wirth, wie ſie ihn ſchon nannten, angafften. Nun dauerte es aber nicht mehr lange und ſie verarmten gänz¬ lich und hatten gar nichts mehr in der Hand; ſie mußten, um etwas zu eſſen, warten bis Ei¬ ner kam und für wenig Geld etwas von dem noch vorhandenen Wein verzehrte, und wenn er eine Wurſt oder dergleichen begehrte, ſo hatten251 ſie oft die größte Angſt und Sorge, dieſelbe beizutreiben. Bald hatten ſie auch den Wein nur noch in einer großen Flaſche verborgen, die ſie heimlich in einer andern Kneipe füllen ließen, und ſo ſollten ſie nun die Wirthe machen ohne Wein und Brod und freundlich ſein, ohne or¬ dentlich gegeſſen zu haben. Sie waren beinahe froh, wenn nur Niemand kam, und hockten ſo in ihrem Kneipchen, ohne leben noch ſterben zu können. Als die Frau dieſe traurigen Erfah¬ rungen machte, zog ſie den grünen Spenſer wie¬ der aus und nahm abermals eine Veränderung vor, indem ſie nun, wie früher die Fehler, ſo nun einige weibliche Tugenden aufkommen ließ und mehr ausbildete, da Noth an den Mann ging. Sie übte Geduld und ſuchte den Alten aufrecht zu halten und den Jungen zum Guten anzuweiſen; ſie opferte ſich vielfältig in allerlei Dingen, kurz ſie übte in ihrer Weiſe eine Art von wohlthätigem Einfluß, der zwar nicht weit reichte und nicht viel beſſerte, aber immerhin beſſer war als gar nichts oder als das Gegen¬ theil und die Zeit wenigſtens verbringen half, welche ſonſt viel früher hätte brechen müſſen für252 dieſe Leute. Sie wußte manchen Rath zu ge¬ ben nunmehr in erbärmlichen Dingen, nach ih¬ rem Verſtande, und wenn der Rath nichts zu taugen ſchien und fehl ſchlug, ſo ertrug ſie willig den Grimm der Männer, kurzum, ſie that jetzt alles, da ſie alt war, was beſſer gedient hätte, wenn ſie es früher geübt.

Um wenigſtens etwas Beißbares zu erwer¬ ben und die Zeit zu verbringen, verlegten ſich Vater und Sohn auf die Fiſcherei, d. h. mit der Angelruthe, ſo weit es für jeden erlaubt war, ſie in den Fluß zu hängen. Dies war auch eine Hauptbeſchäftigung der Seldwyler, nach¬ dem ſie fallirt hatten. Bei günſtigem Wetter, wenn die Fiſche gern anbiſſen, ſah man ſie dutzendweiſe hinauswandern mit Ruthe und Kü¬ bel, und wenn man an den Ufern des Fluſſes wandelte, hockte alle Spanne lang Einer, der angelte, der Eine in einem langen braunen Bür¬ gerrock, die bloßen Füße im Waſſer, der andere in einem ſpitzen blauen Frack auf einer alten Weide ſtehend, den alten Filz ſchief auf dem Ohre; weiterhin angelte gar Einer im zerriſſe¬ nen großblumigen Schlafrock, da er keinen andern253 mehr beſaß, die lange Pfeife in der einen, die Ruthe in der andern Hand, und wenn man um eine Krümmung des Fluſſes bog, ſtand ein alter kahlköpfiger Dickbauch faſelnackt auf einem Stein und angelte; dieſer hatte, trotz des Aufenthaltes am Waſſer ſo ſchwarze Füße, daß man glaubte, er habe die Stiefel anbehalten. Jeder hatte ein Töpfchen oder ein Schächtelchen neben ſich, in welchem Regenwürmer wimmelten, nach welchen ſie zu anderen Stunden zu graben pflegten. Wenn der Himmel mit Wolken bezogen und es ein ſchwüles dämmeriges Wetter war, welches Regen verkündete, ſo ſtanden dieſe Geſtalten am zahlreichſten an dem ziehenden Strome, regungs¬ los gleich einer Gallerie von Heiligen - oder Prophetenbildern. Achtlos zogen die Landleute mit Vieh und Wagen an ihnen vorüber und die Schiffer auf dem Fluſſe ſahen ſie nicht an, wäh¬ rend ſie leiſe murrten über die Fiſche verſcheu¬ chenden Schiffe.

Wenn man Manz vor zwölf Jahren, als er mit einem ſchönen Geſpann pflügte auf dem Hügel über dem Ufer, damals geſagt hätte, er würde ſich einſt zu dieſen wunderlichen Heiligen254 geſellen und gleich ihnen Fiſche fangen, ſo hätte er einem in's Geſicht geſpieen. Auch eilte er jetzt haſtig an ihnen vorüber hinter ihren Rücken und eilte ſtromaufwärts gleich einem eigenſinnigen Schatten der Unterwelt, der ſich zu ſeiner Ver¬ dammniß ein bequemes einſames Plätzchen ſucht an den dunkeln Wäſſern. Mit der Angelruthe zu ſtehen hatten er und ſein Sohn indeſſen keine Geduld und ſie erinnerten ſich der Art, wie die Bauern auf manche andere Weiſe etwa Fiſche fangen, wenn ſie übermüthig ſind, beſonders mit den Händen in den Bächen; daher nahmen ſie die Ruthen nur zum Schein mit und gingen an den Borden der Bäche hinauf, wo ſie wußten, daß es theure und gute Forellen gab.

Dem auf dem Lande zurückgebliebenen Marti ging es inzwiſchen auch immer ſchlimmer und es war ihm höchſt langweilig dabei, ſo daß er, anſtatt auf ſeinem vernachläſſigten Felde zu ar¬ beiten, ebenfalls auf das Fiſchen verfiel und tagelang im Waſſer herumflotſchte. Vrenchen durfte nicht von ſeiner Seite und mußte ihm Eimer und Geräth nachtragen durch naſſe Wie¬ ſengründe, durch Bäche und Waſſertümpel aller255 Art, bei Regen und Sonnenſchein, indeſſen ſie das Nothwendigſte zu Hauſe liegen laſſen mußte. Denn es war ſonſt keine Seele mehr da und wurde auch keine gebraucht, da Marti das meiſte Land ſchon verloren hatte und nur noch wenige Äcker beſaß, die er mit ſeiner Tochter liederlich genug oder gar nicht bebaute.

So kam es, daß, als er eines Abends einen ziemlich tiefen und reißenden Bach entlang ging, in welchem die Forellen fleißig ſprangen, da der Himmel voll Gewitterwolken hing, er unver¬ hofft auf ſeinen Feind Manz traf, der an dem andern Ufer daherkam. Sobald er ihn ſah, ſtieg ein ſchrecklicher Groll und Hohn in ihm auf, ſie waren ſich ſeit Jahren nicht ſo nahe geweſen, ausgenommen vor den Gerichtsſchran¬ ken, wo ſie nicht ſchelten durften, und Marti rief jetzt voll Grimm: » Was thuſt Du hier, Du Hund? Kannſt Du nicht in Deinem Lotter¬ neſte bleiben, Du Seldwyler Lumpenhund? «

» Wirſt nächſtens wohl auch ankommen, Du Schelm! « rief Manz. » Fiſche fängſt Du ja auch ſchon und wirſt deshalb nicht viel mehr zu ver¬ ſäumen haben! «

256

» Schweig, Du Galgenhund! « ſchrie Marti, da hier die Wellen des Baches ſtärker rauſch¬ ten, » Du haſt mich in's Unglück gebracht! « Und da jetzt auch die Weiden am Bache gewal¬ tig zu rauſchen anfingen im aufgehenden Wet¬ terwind, ſo mußte Manz noch lauter ſchreien: » Wenn dem nur ſo wäre, ſo wollte ich mich freuen, Du elender Tropf! « » O Du Hund! « ſchrie Marti herüber und Manz hinüber: » O Du Kalb, wie dumm thuſt Du! « Und jener ſprang wie ein Tiger den Bach entlang und ſuchte herüber zu kommen. Der Grund, warum er der Wüthendere war, lag in ſeiner Meinung, daß Manz als Wirth wenigſtens genug zu eſſen und zu trinken hätte und gewiſſermaßen ein kurzweiliges Leben führe, während es ungerechter Weiſe ihm ſo langweilig wäre auf ſeinem zer¬ trümmerten Hofe. Manz ſchritt indeſſen auch grimmig genug an der andern Seite hin; hinter ihm ſein Sohn, welcher, ſtatt auf den böſen Streit zu hören, neugierig und verwundert nach Vrenchen hinüber ſah, welche hinter ihrem Vater ging, vor Scham in die Erde ſehend, daß ihr die braunen krauſen Haare in's Geſicht fielen. 257Sie trug einen hölzernen Fiſcheimer in der einen Hand, in der andern hatte ſie Schuh und Strümpfe getragen und ihr Kleid der Näſſe wegen aufgeſchürzt. Seit aber Sali auf der andern Seite ging, hatte ſie es ſchamhaft ſinken laſſen und war nun dreifach beläſtigt und ge¬ quält, da ſie alle das Zeug tragen, den Rock zuſammenhalten und des Streites wegen ſich grämen mußte. Hätte ſie aufgeſehen und nach Sali geblickt, ſo würde ſie entdeckt haben, daß er weder vornehm noch ſehr ſtolz mehr ausſah und ſelbſt bekümmert genug war. Während Vrenchen ſo ganz beſchämt und verwirrt auf die Erde ſah und Sali nur dieſe in allem Elende ſchlanke und anmuthige Geſtalt im Auge hatte, die ſo verlegen und demüthig dahin ſchritt, be¬ achteten ſie dabei nicht, wie ihre Väter ſtill geworden aber mit verſtärkter Wuth einem höl¬ zernen Stege zueilten, der in kleiner Entfernung über den Bach führte und eben ſichtbar wurde. Es fing an zu blitzen und erleuchtete ſeltſam die dunkle melancholiſche Waſſergegend, es don¬ nerte auch in den grauſchwarzen Wolken mit dumpfem Grolle und ſchwere Regentropfen fielen,Keller, die Leute von Seldwyla. 17258als die verwilderten Männer gleichzeitig auf die ſchmale, unter ihren Tritten ſchwankende Brücke ſtürzten, ſich gegenſeitig packten und die Fäuſte in die vor Zorn und ausbrechendem Kummer bleichen zitternden Geſichter ſchlugen. Es iſt nichts Anmuthiges und nichts weniger als artig, wenn ſonſt geſetzte Menſchen noch in den Fall kommen, aus Übermuth, Unbedacht oder Noth¬ wehr unter allerhand Volk, das ſie nicht näher berührt, Schläge auszutheilen oder welche zu be¬ kommen; allein dies iſt eine harmloſe Spielerei gegen das tiefe Elend, das zwei alte Menſchen überwältigt, die ſich wohl kennen und ſeit lange kennen, wenn dieſe aus innerſter Feindſchaft und aus dem Gange einer ganzen Lebensgeſchichte heraus ſich mit nackten Händen anfaſſen und mit Fäuſten ſchlagen. So thaten jetzt dieſe bei¬ den ergrauten Männer; vor vierzig Jahren vielleicht hatten ſie ſich als Buben zum letzten Mal gerauft, dann aber vierzig lange Jahre mit keiner Hand mehr berührt, ausgenommen in ihrer guten Zeit, wo ſie ſich etwa zum Gruße die Hände geſchüttelt und auch dies nur ſelten bei ihrem trockenen und ſicheren Weſen. Nach¬259 dem ſie ein oder zweimal geſchlagen, hielten ſie inne und rangen ſtill zitternd mit einander, nur zuweilen aufſtöhnend und elendiglich knirſchend, und Einer ſuchte den Andern über das knackende Geländer in's Waſſer zu werfen. Jetzt waren aber auch ihre Kinder nachgekommen und ſahen den erbärmlichen Auftritt. Sali ſprang eines Satzes heran, um ſeinem Vater beizuſtehen und ihm zu helfen, dem gehaßten Feinde den Garaus zu machen, der ohnehin der Schwächere ſchien und eben zu unterliegen drohte. Aber auch Vrenchen ſprang, alles wegwerfend, mit einem langen Aufſchrei herzu und umklammerte ihren Vater um ihn zu ſchützen, während ſie ihn da¬ durch nur hinderte und beſchwerte. Thränen ſtrömten aus ihren Augen und ſie ſah flehend den Sali an, der im Begriff war ihren Vater ebenfalls zu faſſen und vollends zu überwältigen. Unwillkürlich legte er aber ſeine Hand an ſei¬ nen eigenen Vater und ſuchte denſelben mit feſtem Arm von dem Gegner loszubringen und zu beruhigen, ſo daß der Kampf eine kleine Weile ruhte oder vielmehr die ganze Gruppe unruhig hin und her drängte, ohne aus einander260 zu kommen. Darüber waren die jungen Leute, ſich mehr zwiſchen die Alten ſchiebend, in dichte Berührung gekommen und in dieſem Augenblicke erhellte ein Wolkenriß, der den grellen Abend¬ ſchein durchließ, das nahe Geſicht des Mädchens und Sali ſah in dies ihm ſo wohlbekannte und doch ſo viel anders und ſchöner gewordene Ge¬ ſicht. Vrenchen ſah in dieſem Augenblicke auch ſein Erſtaunen und es lächelte ganz kurz und geſchwind mitten in ſeinem Schrecken und in ſeinen Thränen ihn an. Doch ermannte ſich Sali, geweckt durch die Anſtrengungen ſeines Vaters, ihn abzuſchütteln, und brachte ihn mit eindringlich bittenden Worten und feſter Haltung endlich ganz von ſeinem Feinde weg. Beide alte Geſellen athmeten hoch auf und begannen jetzt wieder zu ſchelten und zu ſchreien, ſich von einander abwendend; ihre Kinder aber athmeten kaum und waren ſtill wie der Tod, gaben ſich aber im Wegwenden und Trennen, ungeſehen von den Alten, ſchnell die Hände, welche vom Waſſer und von den Fiſchen feucht und kühl waren.

Als die grollenden Parteien ihrer Wege gin¬261 gen, hatten die Wolken ſich wieder geſchloſſen, es dunkelte mehr und mehr und der Regen goß nun in Bächen durch die Luft. Manz ſchlen¬ derte voraus auf den dunklen naſſen Wegen, er duckte ſich, beide Hände in den Taſchen, unter den Regengüſſen, zitterte noch in ſeinen Geſichts¬ zügen und mit den Zähnen und ungeſehene Thränen rieſelten ihm in den Stoppelbart, die er fließen ließ, um ſie durch das Wegwiſchen nicht zu verrathen. Sein Sohn hatte aber nichts geſehen, weil er in glückſeligen Bildern verloren daherging. Er merkte weder Regen noch Sturm, weder Dunkelheit noch Elend; ſon¬ dern leicht, hell und warm war es ihm innen und außen und er fühlte ſich ſo reich und wohl¬ geborgen, wie ein Königsſohn. Er ſah fort¬ während das ſekundenlange Lächeln des nahen ſchönen Geſichtes und erwiederte daſſelbe erſt jetzt, eine gute halbe Stunde nachher, indem er voll Liebe in Nacht und Wetter hineinlachte und das liebe Geſicht anlachte, das ihm allerwegen aus dem Dunkel entgegentrat, ſo daß er glaubte, Vrenchen müſſe auf ſeinen Wegen dies Lachen nothwendig ſehen und inne werden.

262

Sein Vater war des andern Tags wie zer¬ ſchlagen und wollte nicht aus dem Hauſe. Der Handel und das ganze vieljährige Elend nahm heute eine neue deutlichere Geſtalt an und nahm ſich bequemlich Platz in der drückenden Luft der Spelunke, alſo daß Mann und Frau matt und ſcheu um das Geſpenſt herumſchlichen, aus der Stube in die dunklen Kämmerchen, von da in die Küche und aus dieſer wieder ſich in die Stube ſchleppten, in welcher kein Gaſt ſich ſehen ließ. Zuletzt hockte jedes in einem Winkel und begann den Tag über ein müdes, halbtodtes Zanken und Vorhalten mit dem andern, wobei ſie zeitweiſe einſchliefen, von unruhigen Tag¬ träumen geplagt, welche aus dem Gewiſſen ka¬ men und ſie wieder weckten. Nur Sali ſah und hörte nichts davon, denn er dachte nur an Vrenchen. Es war ihm immer noch zu Muth, nicht nur als ob er unſäglich reich wäre, ſon¬ dern auch was Rechts gelernt hätte und unend¬ lich viel Schönes und Gutes wüßte, da er nun ſo deutlich und beſtimmt um das wußte, was er geſtern geſehen. Dieſe Wiſſenſchaft war ihm wie vom Himmel gefallen und er war in einer263 unaufhörlichen glücklichen Verwunderung darüber; und doch war es ihm, als ob er es eigentlich von jeher gewußt und gekannt hätte, was ihn jetzt mit ſo wunderſamer Süßigkeit erfüllte. Denn nichts gleicht dem Reichthum und der Unergründlichkeit eines Glückes, das an den Men¬ ſchen herantritt in einer ſo klaren und deutlichen Geſtalt, vom Pfäfflein getauft und wohl verſe¬ hen mit einem eigenen Namen, der nicht tönt wie andere Namen. Dieſes iſt eine feine Sache und in ihr ruht das Geheimniß oder die Offen¬ kunde von der Wohlfahrt des Lebens, von dem Aufbau der Familie und deſſen, was viele Fa¬ milien zuſammen ſind. Es iſt die Frühlings¬ blüthe, aus welcher die Frucht der guten Fa¬ milie erwächſt; manche Gewächſe müſſen zwei bis drei oder gar vier Mal blühen, bis eine Frucht gerathen will, und alsdann hat die Weis¬ heit der Natur oder der Götter es ſo einge¬ richtet, daß den Blühenden die letzte Blume immer die feinſte dünkt und ſie meinen, es ſei noch nie ſo ſchön geweſen. Und ob nun die Natur allein oder die Götter dies alſo geord¬ net, ſo iſt es wirklich ein gutes und zweckmäßi¬264 ges Ding. Viele blühen aber nur ein Mal und auch dieſe Blüthe zerſchlägt der Sturm, tödtet der Froſt oder erſäuft ein anhaltendes Regenwetter, und nie wird eine Frucht daraus; viele blühen in einer Wildniß oder in einem wüſten Sumpfe in der Einſamkeit und es wird auch nichts daraus, als zuweilen eine herbe verkrüppelte Holzfrucht; denn alle guten Früchte wachſen in großer Geſellſchaft, die Ähre ſteht neben der Ähre und die Traube hängt neben der Traube tauſendfältig. Aber Blumen ſind es immer ge¬ weſen, ob etwas daraus geworden oder nicht und ob ſie geſehen oder ungeſehen verblühten, und der Frühling iſt ſchön, was auch aus ihm wird.

Sali fühlte ſich an dieſem Tage weder müſ¬ ſig, noch unglücklich, weder arm noch hoffnungs¬ los; vielmehr war er vollauf beſchäftigt, ſich Vrenchens Geſicht und Geſtalt vorzuſtellen, un¬ aufhörlich, eine Stunde wie die andere; über dieſer aufgeregten Thätigkeit aber verſchwand ihm der Gegenſtand derſelben faſt vollſtändig, das heißt er bildete ſich endlich ein, nun doch nicht zu wiſſen, wie Vrenchen recht genau ausſehe,265 er habe wohl ein allgemeines Bild von ihr im Gedächtniß, aber wenn er ſie beſchreiben ſollte, ſo könnte er das nicht. Er ſah fortwährend dies Bild, als ob es vor ihm ſtände und fühlte ſeinen angenehmen Einfluß, und doch ſah er es nur, wie etwas, das man eben nur ein Mal geſehen, in deſſen Gewalt man liegt und das man doch noch nicht kennt. Er erinnerte ſich genau der Geſichtszüge, welche das kleine Dirn¬ chen einſt gehabt mit großem Wohlgefallen, aber nicht eigentlich derjenigen, welche er geſtern ge¬ ſehen. Hätte er Vrenchen nie wieder zu ſehen bekommen, ſo hätten ſich ſeine Erinnerungskräfte ſchon behelfen müſſen und das liebe Geſicht ſäu¬ berlich wieder zuſammengetragen, daß nicht ein Zug daran fehlte. Jetzt aber verſagten ſie ſchlau und hartnäckig ihren Dienſt, weil die Augen nach ihrem Recht und ihrer Luſt verlangten, und als am Nachmittage die Sonne warm und hell die oberen Stockwerke der ſchwarzen Häuſer be¬ ſchien, ſtrich Sali aus dem Thore und ſeiner alten Heimath zu, welche ihm jetzt erſt ein himmliſches Jeruſalem zu ſein ſchien mit zwölf17 *266glänzenden Pforten und die ſein Herz klopfen machte, als er ſich ihr näherte.

Er ſtieß auf dem Wege auf Vrenchens Va¬ ter, welcher nach der Stadt zu gehen ſchien. Der ſah ſehr wild und liederlich aus, ſein grau gewordener Bart war ſeit Wochen nicht geſchoren und er ſah aus wie ein recht böſer verlorener Bauersmann, der ſein Feld verſcherzt hat und nun geht, um Andern Übles zuzufügen. Dennoch ſah ihn Sali, als ſie ſich vorüber gingen, nicht mehr mit Haß, ſondern voll Furcht und Scheu an, als ob ſein Leben in deſſen Hand ſtände und er es lieber von ihm erflehen als ertrotzen möchte. Marti aber maß ihn mit einem böſen Blicke von oben bis unten und ging ſeines We¬ ges. Das war indeſſen dem Sali recht, welchem es nun, da er den Alten das Dorf verlaſſen ſah, deutlicher wurde, was er eigentlich da wolle, und er ſchlich ſich auf alt bekannten Pfaden ſo lange um das Dorf herum und durch deſſen verdeckte Gäßchen, bis er ſich Martis Haus und Hof gegenüber befand. Seit mehreren Jahren hatte er dieſe Stätte nicht mehr ſo nah geſehen; denn auch als ſie noch hier wohnten, hüteten ſich267 die verfeindeten Leute gegenſeitig, ſich in's Ge¬ häge zu kommen. Deshalb war er nun erſtaunt über das, was er doch an ſeinem eigenen Va¬ terhauſe erlebt, und ſtarrte voll Verwunderung in die Wüſtenei, die er vor ſich ſah. Dem Marti war ein Stück Ackerland um das andere abgepfändet worden, er beſaß nichts mehr als das Haus und den Platz davor nebſt etwas Garten und dem Acker auf der Höhe am Fluſſe, von welchem er hartnäckig am längſten nicht laſſen wollte.

Es war aber keine Rede mehr von einer ordentlichen Bebauung und auf dem Acker, der einſt ſo ſchön im gleichmäßigen Korne gewogt, wenn die Erndte kam, waren jetzt allerhand ab¬ fällige Samenreſte geſäet und aufgegangen, aus alten Schachteln und zerriſſenen Düten zuſam¬ mengekehrt, Rüben, Kraut und dergleichen und etwas Kartoffeln, ſo daß der Acker ausſah, wie ein recht übel gepflegter Gemüſeplatz und eine wunderliche Muſterkarte war, dazu angelegt, um von der Hand in den Mund zu leben, hier eine Hand voll Rüben auszureißen, wenn man Hun¬ ger hatte und nichts beſſeres wußte, dort eine268 Tracht Kartoffeln oder Kraut, und das übrige fortwuchern oder verfaulen zu laſſen, wie es mochte. Auch lief jedermann darin herum wie es ihm gefiel und das ſchöne breite Stück Feld ſah beinahe ſo aus, wie einſt der herrenloſe Acker, von dem alles Unheil herkam. Desnahen war um das Haus nicht eine Spur von Acker¬ wirthſchaft zu ſehen. Der Stall war leer, die Thüre hing nur in einer Angel und unzählige Kreuzſpinnen, den Sommer hindurch halb groß geworden, ließen ihre Fäden in der Sonne glän¬ zen vor dem dunklen Eingang. An dem offen ſtehenden Scheunenthor, wo einſt die Früchte des feſten Landes eingefahren, hing ſchlechtes Fiſcher¬ geräthe, zum Zeugniß der verkehrten Waſſer¬ pfuſcherei; auf dem Hofe war nicht ein Huhn und nicht eine Taube, weder Katze noch Hund zu ſehen, nur der Brunnen war noch als etwas Lebendiges da, aber er floß nicht mehr durch die Röhre, ſondern ſprang durch einen Riß nahe am Boden über dieſen hin und ſetzte überall kleine Tümpel an, ſo daß er das beſte Sinn¬ bild der Faulheit abgab. Denn während mit wenig Mühe des Vaters das Loch zu verſtopfen269 und die Röhre herzuſtellen geweſen wäre, mußte ſich Vrenchen nun abquälen, ſelbſt das lautere Waſſer dieſer Verkommenheit abzugewinnen und ſeine Wäſcherei in den ſeichten Sammlungen am Boden vorzunehmen, ſtatt in dem vertrockneten und zerſpällten Troge. Das Haus ſelbſt war ebenſo kläglich anzuſehen; die Fenſter waren vielfältig zerbrochen und mit Papier verklebt, aber doch waren ſie das Freundlichſte an dem Verfall; denn ſie waren, ſelbſt die zerbrochenen Scheiben, klar und ſauber gewaſchen, ja förmlich polirt und glänzten ſo hell, wie Vrenchens Au¬ gen, welche ihm in ſeiner Armuth ja auch allen übrigen Staat erſetzen mußten. Und wie die krauſen Haare und die rothgelben Kattunhals¬ tücher zu Vrenchens Augen, ſtand zu dieſen blin¬ kenden Fenſtern das wilde grüne Gewächs, was da durcheinander rankte um das Haus, flatternde Bohnenwäldchen und eine ganze duftende Wild¬ niß von rothgelbem Goldlack. Die Bohnen hiel¬ ten ſich, ſo gut ſie konnten, hier an einem Har¬ kenſtiel oder an einem verkehrt in die Erde ge¬ ſteckten Stumpfbeſen, dort an einer von Roſt zerfreſſenen Helbarte oder Sponton, wie man es270 nannte, als Vrenchens Großvater das Ding als Wachtmeiſter getragen, welches es jetzt aus Noth in die Bohnen gepflanzt hatte; dort kletterten ſie wieder luſtig eine verwitterte Leiter empor, die am Hauſe lehnte ſeit undenklichen Zeiten, und hingen von da in die klaren Fenſterchen hinunter wie Vrenchens Kräuſelhaare in ſeine Augen. Dieſer mehr maleriſche als wirthliche Hof lag etwas beiſeit und hatte keine näheren Nachbarhäuſer, auch ließ ſich in dieſem Augen¬ blicke nirgends eine lebendige Seele wahrneh¬ men; Sali lehnte daher in aller Sicherheit an einem alten Scheunchen, etwa dreißig Schritte entfernt und ſchaute unverwandt nach dem ſtillen wüſten Hauſe hinüber. Eine geraume Zeit lehnte und ſchaute er ſo, als Vrenchen unter die Hausthür kam und lange vor ſich hinblickte, wie mit allen ihren Gedanken an einem Gegen¬ ſtande hängend. Sali rührte ſich nicht und wandte kein Auge von ihr. Als ſie endlich zu¬ fällig in dieſer Richtung hinſah, fiel er ihr in die Augen. Sie ſahen ſich eine Weile an, her¬ über und hinüber, als ob ſie eine Lufterſchei¬ nung betrachteten, bis ſich Sali endlich aufrich¬271 tete und langſam über die Straße und über den Hof ging auf Vrenchen los. Als er dem Mädchen nahe war, ſtreckte es ſeine Hände ge¬ gen ihn aus und ſagte: Sali! Er ergriff die Hände und ſah ihr immerfort in's Geſicht. Thränen ſtürzten aus ihren Augen, während ſie unter ſeinen Blicken vollends dunkelroth wurde, und ſie ſagte: Was willſt Du hier? » Nur Dich ſehen! « erwiederte er, » wollen wir nicht wieder gute Freunde ſein? « » Und unſere Äl¬ tern? « fragte Vrenchen, ſein weinendes Geſicht zur Seite neigend, da es die Hände nicht frei hatte, um es zu bedecken. » Sind wir Schuld an dem, was ſie gethan und geworden ſind? « ſagte Sali, » vielleicht können wir das Elend nur gut machen, wenn wir zwei zuſammenhalten und uns recht lieb ſind! « » Es wird nie gut kommen, antwortete Vrenchen mit einem tiefen Seufzer, » geh in Gottes Namen Deiner Wege, Sali! « » Biſt Du allein? « fragte dieſer, » kann ich einen Augenblick hineinkommen? « » Der Vater iſt zur Stadt, wie er ſagte, um Deinem Vater irgend etwas anzuhängen; aber herein¬ kommen kannſt Du nicht, weil Du ſpäter viel¬272 leicht nicht ſo ungeſehen weggehen kannſt wie jetzt! Noch iſt alles ſtill und Niemand um den Weg, ich bitte Dich, geh jetzt! « » Nein, ſo geh 'ich nicht! ich mußte ſeit geſtern immer an Dich denken, und ich geh' nicht ſo fort, wir müſſen mit ein¬ ander reden, wenigſtens eine halbe Stunde lang oder eine Stunde, das wird uns gut thun! « Vrenchen beſann ſich ein Weilchen und ſagte dann: » Ich geh 'gegen Abend auf unſern Acker hinaus, Du weißt welchen, wir haben nur noch den, und hole etwas Gemüſe. Ich weiß, daß Niemand weiter dort ſein wird, weil die Leute anderswo ſchneiden; wenn Du willſt, ſo komm dort hin, aber jetzt geh' und nimm Dich in Acht, daß Dich Niemand ſieht! Wenn auch kein Menſch hier mehr mit uns umgeht, ſo würden ſie doch ein ſolches Gerede machen, daß es der Vater ſogleich vernähme. « Sie ließen ſich jetzt die Hände frei, ergriffen ſie aber auf der Stelle wieder und beide ſagten gleichzeitig: » Und wie geht es Dir auch? « Aber ſtatt ſich antworten fragten ſie das Gleiche auf's Neue und die Ant¬ wort lag nur in den beredten Augen, da ſie nach Art der Verliebten die Worte nicht mehr273 zu lenken wußten und ohne ſich weiter etwas zu ſagen, endlich halb ſelig und halb traurig aus einander huſchten. » Ich komme recht bald hinaus, geh 'nur gleich hin! « rief Vrenchen noch nach.

Sali ging auch alſobald auf die ſtille ſchöne Anhöhe hinaus, über welche die drei Äcker ſich erſtreckten, und die prächtige ſtille Juliſonne, die fahrenden weißen Wolken, welche über das reife wallende Kornfeld wegzogen, der glänzende weiße Fluß, der unten vorüberwallte, alles dies erfüllte ihn zum erſten Male ſeit langen Jahren wieder mit Glück und Zufriedenheit, ſtatt mit Kummer, und er warf ſich der Länge nach in den durchſichtigen Halbſchatten des Kornes, wo daſſelbe Martis wilden Acker begränzte, und guckte glückſelig in den Himmel.

Obgleich es kaum eine Viertelſtunde währte, bis Vrenchen nachkam und er an nichts anderes dachte, als an ſein Glück und deſſen Namen, ſtand es doch plötzlich und unverhofft vor ihm, auf ihn niederlächelnd, und froh erſchreckt ſprang er auf. » Vreeli! « rief er, und dieſes gab ihm ſtill und lächelnd beide Hände, und Hand inKeller, die Leute von Seldwyla. 18274Hand gingen ſie nun das flüſternde Korn ent¬ lang bis gegen den Fluß hinunter und wieder zurück, ohne viel zu reden; ſie legten zwei und drei Mal den Hin - und Herweg zurück, ſtill, glückſelig und ruhig, ſo daß dieſes einige Paar nun auch einem Sternbilde glich, welches über die ſonnige Rundung der Anhöhe und hinter derſelben niederging, wie einſt die ſicher gehen¬ den Pflugzüge ihrer Väter. Als ſie aber eins¬ mals die Augen von den blauen Kornblumen aufſchlugen, an denen ſie gehaftet, ſahen ſie plötzlich einen andern dunklen Stern vor ſich hergehen, einen ſchwärzlichen Kerl, von dem ſie nicht wußten, woher er ſo unverſehens gekom¬ men. Er mußte im Korne gelegen haben; Vrenchen zuckte zuſammen und Sali ſagte erſchreckt: Der ſchwarze Geiger! In der That trug der Kerl, der vor ihnen herſtrich, eine Geige mit dem Bogen unter dem Arm und ſah übrigens ſchwarz genug aus; außer einem ſchwar¬ zen Filzhütchen und einem ſchwarzen rußigen Kittel, den er trug, war auch ſein Haar pech¬ ſchwarz, ſo wie der ungeſchorene Bart, das Ge¬ ſicht und die Hände aber ebenfalls geſchwärzt;275 denn er trieb allerlei Handwerk, meiſtens Keſſel¬ flicken, half auch den Kohlenbrennern und Pech¬ ſiedern in den Wäldern, und ging mit der Geige nur auf einen guten Schick aus, wenn die Bau¬ ern irgendwo luſtig waren und ein Feſt feierten. Sali und Vrenchen gingen mäuschenſtill hinter ihm drein und dachten, er würde vom Felde gehen und verſchwinden, ohne ſich umzuſehen, und ſo ſchien es auch zu ſein, denn er that, als ob er nichts von ihnen merkte. Dazu wa¬ ren ſie in einem ſeltſamen Bann, daß ſie nicht wagten den ſchmalen Pfad zu verlaſſen und dem unheimlichen Geſellen unwillkürlich folgten, bis an das Ende des Feldes, wo jener ungerechte Steinhaufen lag, der das immer noch ſtreitige Ackerzipfelchen bedeckte. Eine zahlloſe Menge von Mohnblumen oder Klatſchroſen hatte ſich darauf angeſiedelt, weshalb der kleine Berg feuerroth ausſah zur Zeit. Plötzlich ſprang der ſchwarze Geiger mit einem Satze auf die roth bekleidete Steinmaſſe hinauf, kehrte ſich und ſah ringsum. Das Pärchen blieb ſtehen und ſah verlegen zu dem dunklen Burſchen hinauf; denn vorbei konnten ſie nicht gehen, weil der Weg in18 *276das Dorf führte und umkehren mochten ſie auch nicht vor ſeinen Augen. Er ſah ſie ſcharf an und rief! » Ich kenne Euch, Ihr ſeid die Kin¬ der derer, die mir den Boden hier geſtohlen haben! Es freut mich zu ſehen, wie gut Ihr gefahren ſeid und werde gewiß noch erleben, daß Ihr vor mir den Weg alles Fleiſches geht! Seht mich nur an, Ihr zwei Spatzen! Gefällt Euch meine Naſe, wie? « In der That beſaß er eine ſchreckbare Naſe, welche wie ein großes Winkelmaß aus dem dürren ſchwarzen Geſicht ragte oder eigentlich mehr einem tüchtigen Kne¬ bel oder Prügel glich, welcher in dies Geſicht geworfen worden war, und unter dem ein klei¬ nes rundes Löchelchen von einem Munde ſich ſeltſam ſtutzte und zuſammenzog, aus dem er unaufhörlich puſtete, pfiff und ziſchte. Dazu ſtand das kleine Filzhütchen ganz unheimlich, welches nicht rund und nicht eckig und ſo ſon¬ derlich geformt war, daß es alle Augenblicke ſeine Geſtalt zu verändern ſchien, obgleich es unbe¬ weglich ſaß, und von den Augen des Kerls war faſt nichts als das Weiße zu ſehen, da die Sterne unaufhörlich auf einer blitzſchnellen Wan¬277 derung begriffen waren und wie zwei Haſen im Zickzack umherſprangen. » Seht mich nur an «, fuhr er fort, » Eure Väter kennen mich wohl und jedermann in dieſem Dorfe weiß wer ich bin, wenn er nur meine Naſe anſieht. Da ha¬ ben ſie vor Jahren ausgeſchrieben, daß ein Stück Geld für den Erben dieſes Ackers bereit liege; ich habe mich[zwanzig] Mal gemeldet, aber ich habe keinen Taufſchein und keinen Heimathſchein und meine Freunde, die Heimathloſen, die meine Geburt geſehen, haben kein gültiges Zeugniß, und ſo iſt die Friſt längſt verlaufen und ich bin um den blutigen Pfennig gekommen mit dem ich hätte auswandern können! Ich habe Eure Vä¬ ter angefleht, daß ſie mir bezeugen möchten, ſie müßten mich nach ihrem Gewiſſen für den rech¬ ten Erben halten; aber ſie haben mich von ihren Höfen gejagt und nun ſind ſie ſelbſt zum Teufel gegangen! Item, das iſt der Welt Lauf, mir kann's recht ſein, ich will Euch doch geigen, wenn Ihr tanzen wollt! « Damit ſprang er auf der andern Seite von den Steinen hinun¬ ter und machte ſich dem Dorfe zu, wo gegen Abend der Ernteſegen eingebracht wurde und die278 Leute guter Dinge waren. Als er verſchwun¬ den, ließ ſich das Paar ganz muthlos und be¬ trübt auf die Steine nieder; ſie ließen ihre verſchlungenen Hände fahren und ſtützten die traurigen Köpfe darauf; denn die Erſcheinung des Geigers und ſeine Worte hatten ſie aus der glücklichen Vergeſſenheit geriſſen, in welcher ſie wie zwei Kinder auf und abgewandelt, und wie ſie nun auf dem harten Grund ihres Elen¬ des ſaßen, verdunkelte ſich das heitere Lebens¬ licht und ihre Gemüther wurden ſo ſchwer wie Steine.

Da erinnerte ſich Vrenchen unverſehens der wunderlichen Geſtalt und der Naſe des Gei¬ gers, es mußte plötzlich hell auflachen und rief: » Der arme Kerl ſieht gar zu ſpaßhaft aus! Was für eine Naſe! « und eine allerliebſte ſon¬ nenhelle Luſtigkeit verbreitete ſich über des Mäd¬ chens Geſicht, als ob ſie nur geharrt hätte, bis des Geigers Naſe die trüben Wolken wegſtieße. Sali ſah Vrenchen an und ſah dieſe Fröhlich¬ keit. Es hatte die Urſache aber ſchon wieder Vergeſſen und lachte nur noch auf eigene Rech¬ nung dem Sali in's Geſicht. Dieſer, verblüfft279 und erſtaunt, ſtarrte unwillkürlich mit lachendem Munde auf die Augen, gleich einem Hungrigen, der ein ſüßes Weizenbrod erblickt, und rief: » Bei Gott, Vreeli! wie ſchön biſt Du! « Vren¬ chen lachte ihn nur noch mehr an und hauchte dazu aus klangvoller Kehle einige kurze muth¬ willige Lachtöne, welche dem armen Sali nicht anders dünkten, als der Geſang einer Nachtigall. » O Du Hexe! rief er, wo haſt Du das ge¬ lernt? welche Teufelskünſte treibſt Du da? « » Ach Du lieber Gott! ſagte Vrenchen mit ſchmei¬ chelnder Stimme und nahm Sali's Hand, » das ſind keine Teufelskünſte! Wie lange hätte ich gern einmal gelacht! Ich habe wohl zuweilen, wenn ich ganz allein war, über irgend etwas lachen müſſen, aber es war nichts Rechts dabei; jetzt aber möchte ich Dich immer und ewig anlachen, wenn ich Dich ſehe, und ich möchte Dich wohl immer und ewig ſehen! Biſt Du mir auch ein bischen recht gut? » O Vreeli! ſagte er und ſah ihr ergeben und treuherzig in die Au¬ gen, ich habe noch nie ein Mädchen angeſehen, es war mir immer, als ob ich Dich einſt lieb haben müßte und ohne daß ich wollte oder wußte,280 haſt Du mir doch immer im Sinn gelegen! « » Und Du mir auch, ſagte Vrenchen, und das noch viel mehr; denn Du haſt mich nie ange¬ ſehen und wußteſt nicht, wie ich geworden bin; ich aber habe dich zu Zeiten aus der Ferne und ſogar heimlich aus der Nähe recht gut be¬ trachtet und wußte immer, wie Du ausſiehſt! Weißt Du noch, wie oft wir als Kinder hieher gekommen ſind? denkſt Du noch des kleinen Wagens? Wie kleine Leute ſind wir damals geweſen und wie lang iſt es her! Man ſollte denken wir wären recht alt? « » Wie alt biſt Du jetzt? « fragte Sali voll Vergnügen und Zufriedenheit, » Du mußt ungefähr ſiebzehn ſein? « » Siebzehn und ein halbes Jahr bin ich alt! « erwiederte Vrenchen, » und wie alt biſt Du? Ich weiß aber ſchon, Du biſt bald zwanzig! « » Woher weißt Du das? « fragte Sali. » Gelt, wenn ich es ſagen wollte! « » Du willſt es nicht ſagen? « » Nein! « » Gewiß nicht? « » Nein, nein! « » Du ſollſt es ſagen! « » Willſt Du mich etwa zwingen? « » Das wollen wir ſehen! « Dieſe einfältigen Worte führte Sali, um ſeine Hände zu beſchäftigen und mit unge¬281 ſchickten Liebkoſungen, welche wie eine Strafe ausſehen ſollten, das ſchöne Mädchen zu bedrän¬ gen. Sie führte auch, ſich wehrend, mit vieler Langmuth den albernen Wortwechſel fort, der trotz ſeiner Leerheit beide witzig und ſüß genug dünkte, bis Sali erboſt und kühn genug war, Vrenchens Hände zu bezwingen und es in die Mohnblumen zu drücken. Da lag es nun und zwinkerte in der Sonne mit den Augen, ſeine Wangen glühten wie Purpur und ſein Mund war halb geöffnet und ließ zwei Reihen weiße Zähnchen durchſchimmern. Fein und ſchön floſ¬ ſen die dunklen Augenbraunen in einander und die junge Bruſt hob und ſenkte ſich muthwillig unter ſämmtlichen vier Händen, welche ſich kun¬ terbunt darauf ſtreichelten und bekriegten. Sali wußte ſich nicht zu laſſen vor Freuden, das ſchlanke ſchöne Geſchöpf vor ſich zu ſehen, es ſein eigen zu wiſſen, und es dünkte ihm ein Königreich. » Alle Deine weißen Zähne haſt Du noch! lachte er, weißt Du noch, wie oft wir ſie einſt gezählt haben? Kannſt Du jetzt zäh¬ len? « » Das ſind ja nicht die gleichen, Du Löhli! ſagte Vrenchen, jene ſind längſt ausge¬282 fallen! « Sali wollte nun in ſeiner Einfalt jenes Spiel wieder erneuern und die glänzenden Zahnperlen zählen; aber Vrenchen verſchloß plötz¬ lich den rothen Mund, richtete ſich auf und be¬ gann einen Kranz von Mohnroſen zu winden, den es ſich auf den Kopf ſetzte. Der Kranz war voll und breit und gab der bräunlichen Dirne ein fabelhaftes reizendes Anſehen, und der arme Sali hielt in ſeinem Arm, was reiche Leute theuer bezahlt hätten, wenn ſie es nur gemalt an ihren Wänden hätten ſehen können. Jetzt ſprang ſie aber empor und rief: » Himmel, wie heiß iſt es hier! Da ſitzen wir wie die Narren und laſſen uns verſengen! Komm, mein Lieber! laß uns in's hohe Korn ſitzen! « Sie ſchlüpften hinein ſo geſchickt und ſachte, daß ſie kaum eine Spur zurückließen, und bauten ſich einen engen Kerker in den goldenen Ähren, die ihnen hoch über den Kopf ragten, als ſie drin ſaßen, ſo daß ſie nur den tiefblauen Himmel über ſich ſahen und ſonſt nichts von der Welt. Sie umhalſten ſich und küßten ſich unverweilt und ſo lange bis ſie einſtweilen müde waren, oder wie man es nennen will, wenn das Küſſen283 zweier Verliebter auf eine oder zwei Minuten ſich ſelbſt überlebt und die Vergänglichkeit alles Lebens mitten im Rauſche der Blüthezeit ahnen läßt. Sie hörten die Lerchen ſingen hoch über ſich und ſuchten dieſelben mit ihren ſcharfen Au¬ gen, und wenn ſie glaubten, flüchtig Eine in der Sonne aufblitzen zu ſehen, gleich einem plötz¬ lich aufleuchtenden oder hinſchießenden Stern am blauen Himmel, ſo küßten ſie ſich wieder zur Belohnung und ſuchten einander zu übervorthei¬ len und zu täuſchen, ſo viel ſie konnten. » Siehſt Du, dort blitzt Eine! « flüſterte Sali und Vren¬ chen erwiederte eben ſo leiſe: » Ich höre ſie wohl, aber ich ſehe ſie nicht! « » Doch, paß nur auf, dort wo das weiße Wölkchen ſteht ein we¬ nig rechts davon! « Und beide ſahen eifrig hin und ſperrten vorläufig ihre Schnäbel auf, wie die jungen Wachteln im Neſte, um ſie unver¬ züglich auf einander zu heften, wenn ſie ſich ein¬ bildeten, die Lerche geſehen zu haben. Auf ein¬ mal hielt Vrenchen inne und ſagte: » Dies iſt alſo eine ausgemachte Sache, daß Jedes von uns einen Schatz hat, dünkt es Dich nicht ſo? « » Ja, ſagte Sali, es ſcheint mir faſt auch! « 284» Wie gefällt Dir denn Dein Schätzchen, ſagte Vrenchen, was iſt es für ein Ding, was haſt Du von ihm zu melden? « » Es iſt ein gar feines Ding, ſagte Sali, es hat zwei braune Au¬ gen, einen rothen Mund und läuft auf zwei Füßen; aber ſeinen Sinn kenn ich weniger als den Pabſt zu Rom! und was kannſt Du von Deinem Schatz berichten? « » Er hat zwei braune Augen, einen nichtsnutzigen Mund und braucht zwei verwegene ſtarke Arme; aber ſeine Gedanken ſind mir unbekannter, als der türkiſche Kaiſer! « » Es iſt eigentlich wahr, ſagte Sali, daß wir uns weniger kennen, als wenn wir uns nie geſehen hätten, ſo fremd hat uns die lange Zeit gemacht, ſeit wir groß geworden ſind! Was iſt alles vorgegangen in Deinem Köpfchen, mein liebes Kind? « » Ach, nicht viel! tauſend Narrenſpoſſen haben ſich wollen regen, aber es iſt mir immer ſo trübſelig ergangen, daß ſie nicht aufkommen konnten! « » Du armes Schätz¬ chen! ſagte Sali, ich glaube aber Du haſt es hinter den Ohren, nicht? « » Das kannſt Du ja nach und nach erfahren, wenn Du mich recht lieb haſt! « » Wenn Du einſt meine Frau biſt? « 285Vrenchen zitterte leis bei dieſem letzten Worte und ſchmiegte ſich tiefer in Sali's Arme, ihn von Neuem lange und zärtlich küſſend. Es tra¬ ten ihr dabei Thränen in die Augen und beide wurden auf einmal traurig, da ihnen ihre hoff¬ nungsarme Zukunft in den Sinn kam und die Feindſchaft ihrer Ältern. Vrenchen ſeufzte und ſagte: Komm, ich muß nun gehen! und ſo er¬ hoben ſie ſich und gingen Hand in Hand aus dem Kornfeld, als ſie Vrenchens Vater ſpähend vor ſich ſahen. Mit dem kleinlichen Scharfſinn des müſſigen Elendes hatte dieſer, als er dem Sali begegnet, neugierig gegrübelt, was der wohl allein im Dorfe zu ſuchen ginge, und ſich des geſtrigen Vorfalles erinnernd, verfiel er, immer nach der Stadt zu ſchlendernd, endlich auf die richtige Spur, rein aus Groll und un¬ beſchäftigter Bosheit, und nicht ſo bald gewann der Verdacht eine beſtimmte Geſtalt, ſo kehrte er mitten in den Gaſſen von Seldwyla um und trollte wieder in das Dorf hinaus, wo er ſeine Tochter in Haus und Hof und rings in den Hecken vergeblich ſuchte. Mit wachſender Neu¬ gier rannte er auf den Acker hinaus, und als286 er da Vrenchens Korb liegen ſah, in welchem es die Früchte zu holen pflegte, das Mädchen ſelbſt aber nirgends erblickte, ſpähte er eben am Korne des Nachbars herum, als die erſchrockenen Kinder herauskamen.

Sie ſtanden wie verſteinert und Marti ſtand erſt auch da und beſchaute ſie mit böſen Blicken, bleich wie Blei; dann fing er fürchterlich an zu toben in Geberden und Schimpfworten und langte zugleich grimmig nach dem jungen Burſchen, um ihn zu würgen; Sali wich aus und floh einige Schritte zurück, entſetzt über den wilden Mann, ſprang aber ſogleich wieder zu, als er ſah, daß der Alte ſtatt ſeiner nun das zitternde Mädchen faßte, ihm eine Ohrfeige gab, daß der rothe Kranz herunterflog, und ſeine Haare um die Hand wickelte, um es mit ſich fort zu reißen und weiter zu mißhandeln. Ohne ſich zu beſin¬ nen, raffte er einen Stein auf und ſchlug mit demſelben den Alten gegen den Kopf, halb in Angſt um Vrenchen und halb im Jähzorn. Marti taumelte ein wenig und ſank dann bewußt¬ los auf den Steinhaufen nieder und zog das erbärmlich aufſchreiende Vrenchen mit. Sali287 befreite noch deſſen Haare aus der Hand des Bewußtloſen und richtete es auf; dann ſtand er da wie eine Bildſäule, rathlos und gedankenlos. Das Mädchen, als es den wie todt daliegenden Vater ſah, fuhr ſich mit den Händen über das erbleichende Geſicht, ſchüttelte ſich und ſagte: Haſt Du ihn erſchlagen? Sali nickte lautlos und Vrenchen ſchrie: O Gott, Du lieber Gott! Es iſt mein Vater! der arme Mann! und ſinn¬ los warf es ſich über ihn und hob ſeinen Kopf auf, an welchem indeſſen kein Blut floß. Es ließ ihn wieder ſinken, Sali ließ ſich auf der andern Seite des Mannes nieder und Beide ſchauten, ſtill wie das Grab und mit erlahmten regloſen Händen in das lebloſe Geſicht. Um nur etwas anzufangen, ſagte endlich Sali: » Er wird doch nicht gleich todt ſein müſſen? das iſt gar nicht ausgemacht! « Vrenchen riß ein Blatt von einer Klatſchroſe ab und legte es auf die erblaßten Lippen und es bewegte ſich ſchwach. » Er athmet noch, rief es, ſo lauf doch in's Dorf und hol 'Hülfe! « Als Sali aufſprang und laufen wollte, ſtreckte es ihm die Hand nach und rief ihn zurück: Komm aber nicht mit zurück288 und ſage nichts, wie es zugegangen, ich werde auch ſchweigen, man ſoll nichts aus mir heraus¬ bringen! ſagte es und ſein Geſicht, das es dem armen rathloſen Burſchen zuwandte, überfloß von ſchmerzlichen Thränen. » Komm, küß mich noch ein Mal! Nein, geh, mach Dich fort! Es iſt aus, es iſt ewig aus, wir können nicht zuſammenkommen! « Es ſtieß ihn fort und er lief willenlos dem Dorfe zu. Er begegnete ei¬ nem Knäbchen, das ihn nicht kannte; dieſem trug er auf, die nächſten Leute zu holen und beſchrieb ihm genau, wo die Hülfe nöthig ſei. Dann machte er ſich verzweifelt fort und irrte die ganze Nacht im Gehölze herum. Am Mor¬ gen ſchlich er in die Felder, um zu erſpähen, wie es gegangen ſei, und hörte von frühen Leu¬ ten, welche mit einander ſprachen, daß Marti noch lebe, aber nichts von ſich wiſſe, und wie das eine ſeltſame Sache ſei, da kein Menſch wiſſe, was ihm zugeſtoßen. Erſt jetzt ging er in die Stadt zurück und verbarg ſich in dem dunkeln Elend des Hauſes.

289

Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts aus ihm herauszufragen, als daß es ſelbſt den Vater ſo gefunden habe, und da er am andern Tage ſich wieder tüchtig regte und athmete, frei¬ lich ohne Bewußtſein, und überdies kein Kläger da war, ſo nahm man an, er ſei betrunken geweſen und auf die Steine gefallen und ließ die Sache auf ſich beruhen. Vrenchen pflegte ihn und ging nicht von ſeiner Seite, außer um die Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa für ſich ſelbſt eine ſchlechte Suppe zu kochen; denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es Tag und Nacht auf ſein mußte und Niemand ihm half. Es dauerte beinahe ſechs Wochen, bis der Kranke allmälig zu ſeinem Bewußtſein kam, obgleich er vorher ſchon wieder und in ſeinem Bette ziemlich munter war. Aber es war nicht das alte Bewußtſein, das er jetzt erlangte, ſondern es zeigte ſich immer deutlicher, je mehr er ſprach, daß er blödſinnig geworden, und zwar auf die wunderlichſte Weiſe. Er erinnerte ſich nur dunkel an das Geſchehene und wie an etwas ſehr luſtiges, was ihn nicht weiter berühre, lachte immer wie ein Narr und war ſehr guterKeller, die Leute von Seldwyla. 19290Dinge. Noch im Bette liegend brachte er hun¬ dert närriſche, ſinnlos muthwillige Redensarten und Einfälle zum Vorſchein, ſchnitt Geſichter und zog ſich die ſchwarzwollene Zipfelmütze in die Augen und über die Naſe herunter, daß dieſe ausſah, wie ein Sarg unter einem Bahrtuch. Das bleiche und abgehärmte Vrenchen hörte ihm geduldig zu, Thränen vergießend über das thö¬ richte Weſen, welches die arme Tochter noch mehr ängſtigte, als die frühere Bosheit; aber wenn der Alte zuweilen etwas gar zu drolliges an¬ ſtellte, ſo mußte es mitten in ſeiner Qual laut auflachen, da ſein unterdrücktes Weſen immer zur Luſt aufzuſpringen bereit war, wie ein ge¬ ſpannter Bogen, worauf aber eine um ſo tie¬ fere Betrübniß erfolgte. Als der Alte aber aufſtehen konnte, war gar nichts mehr mit ihm anzuſtellen, er machte nichts als Dummheiten, lachte und ſtöberte um das Haus herum, ſetzte ſich in die Sonne und ſtreckte die Zunge heraus oder hielt lange Reden in die Bohnen hinein.

Um die gleiche Zeit aber war es auch aus mit den letzten Überbleibſeln ſeines ehemaligen Beſitzes und die Unordnung ſo weit gediehen,291 daß auch ſein Haus und der letzte Acker, ſeit geraumer Zeit verpfändet, nun gerichtlich ver¬ kauft wurden. Denn der Bauer, welcher die zwei Äcker des Manz gekauft, benutzte die gänz¬ liche Verkommenheit Martis und ſeine Krankheit und führte den alten Streit wegen des ſtrittigen Steinfleckes kurz und entſchloſſen zu Ende und der verlorene Prozeß trieb Martis Faß vollends den Boden aus, indeſſen er in ſeinem Blödſinne nichts mehr von dieſen Dingen wußte. Die Verſteigerung fand ſtatt; Marti wurde von der Gemeinde in einer Stiftung für dergleichen arme Tröpfe auf öffentliche Koſten untergebracht; dieſe Anſtalt befand ſich in der Hauptſtadt des Länd¬ chens, der geſunde und eßbegierige Blödſinnige wurde noch gut gefüttert, dann auf ein mit Ochſen beſpanntes Wägelchen geladen, das ein ärmlicher Bauersmann nach der Stadt führte, um zugleich einen oder zwei Säcke Kartoffeln zu verkaufen, und Vrenchen ſetzte ſich zu dem Vater auf das Fuhrwerk, um ihn auf dieſem letzten Gange zu dem lebendigen Begräbniß zu begleiten. Es war eine traurige und bittere Fahrt, aber Vrenchen wachte ſorgfältig über ſei¬19*292nen Vater und ließ es ihm an nichts fehlen, und es ſah ſich nicht um und ward nicht unge¬ duldig, wenn durch die Capriolen des Unglück¬ lichen die Leute aufmerkſam wurden und dem Wägelchen nachliefen, wo ſie durchfuhren. End¬ lich erreichten ſie das weitläufige Gebäude in der Stadt, wo die langen Gänge, die Höfe und ein freundlicher Garten von einer Menge ähn¬ licher Tröpfe belebt waren, die alle in weiße Kittel gekleidet waren und dauerhafte Lederkäpp¬ chen auf den harten Köpfen trugen. Auch Marti wurde noch vor Vrenchens Augen in dieſe Tracht gekleidet, und er freuete ſich wie ein Kind darüber und tanzte ſingend umher. » Gott grüß euch, ihr geehrten Herren! « rief er ſeine neuen Genoſſen an, » ein ſchönes Haus habt ihr hier! Geh 'heim, Vrenggel! und ſag' der Mutter, ich komme nicht mehr nach Haus, hier gefällt's mir bei Gott! Juchhei! Es kreucht ein Igel über den Hag, ich hab 'ihn hören bellen! O Meitli küß kein' alten Knab, küß nur die jun¬ gen Geſellen! Alle die Wäſſerlein laufen in Rhein, die mit dem Pflaumenaug ', die muß es ſein! Gehſt Du ſchon, Vreeli? Du ſiehſt ja293 aus wie der Tod im Häfelein und geht es mir doch ſo erfreulich! Die Füchſinn ſchreit im Felde: Halleo, halleo! das Herz thut ihr weho! hoho! « Ein Aufſeher gebot ihm Ruhe und führte ihn zu einer leichten Arbeit, und Vrenchen ging das Fuhrwerk aufzuſuchen. Es ſetzte ſich auf den Wagen, zog ein Stückchen Brod hervor und daſſelbe; dann ſchlief es, bis der Bauer kam und mit ihm nach dem Dorfe zurückfuhr. Sie kamen erſt in der Nacht an. Vrenchen ging nach dem Hauſe, in dem es geboren und nur zwei Tage bleiben durfte, und es war jetzt zum erſten Mal in ſeinem Leben ganz allein darin. Es machte ein Feuer, um das letzte Reſtchen Kaffee zu kochen, das es noch beſaß, und ſetzte ſich auf den Heerd; denn es war ihm ganz elendiglich zu Muth. Es ſehnte ſich und härmte ſich ab, den Sali nur ein einziges Mal zu ſehen und dachte inbrünſtig an ihn; aber die Sorgen und der Kummer verbitterten ſeine Sehnſucht und dieſe machte die Sorgen wieder viel ſchwe¬ rer. So ſaß es und ſtützte den Kopf in die Hände, als Jemand durch die offenſtehende Thür hereinkam. » Sali! « rief Vrenchen, als es auf¬294 ſah, und fiel ihm um den Hals; dann ſahen ſich aber Beide erſchrocken an und riefen: » Wie ſiehſt Du elend aus! » Denn Sali ſah nicht minder als Vrenchen bleich und abgezehrt aus. Alles vergeſſend zog es ihn zu ſich auf den Heerd und ſagte: » Biſt Du krank geweſen, oder iſt es Dir auch ſo ſchlimm gegangen? « Sali antwortete: » Nein, ich bin gerade nicht krank, außer vor Heimweh nach Dir! Bei uns geht es jetzt hoch und herrlich zu; der Vater hat einen Einzug und Unterſchleif von auswärtigem Geſindel und ich glaube, ſo viel ich merke, iſt er ein Diebshehler geworden. Deshalb iſt jetzt einſtweilen Hülle und Fülle in unſerer Taverne, ſo lang es geht und bis es ein Ende mit Schre¬ cken nimmt. Die Mutter hilft dazu, aus bitter¬ licher Gier, nur etwas im Hauſe zu ſehen, und glaubt den Unfug noch durch eine gewiſſe Auf¬ ſicht und Ordnung annehmlich und nützlich zu machen! Mich fragt man nicht und ich konnte mich nicht viel darum kümmern; denn ich kann nur an Dich denken Tag und Nacht. Da aller¬ lei Landſtreicher bei uns einkehren, ſo haben wir alle Tage gehört, was bei euch vorgeht, worüber295 mein Vater ſich freut wie ein kleines Kind. Daß Dein Vater heute nach dem Spittel ge¬ bracht wurde, haben wir auch vernommen; ich habe gedacht, Du werdeſt jetzt allein ſein und bin gekommen, um Dich zu ſehen! « Vrenchen klagte ihm jetzt auch alles, was ſie drückte und was ſie erlitt, aber mit ſo leichter zutraulicher Zunge, als ob ſie ein großes Glück beſchriebe, weil ſie glücklich war, Sali neben ſich zu ſehen. Sie brachte inzwiſchen nothdürftig ein Becken voll warmen Kaffee zuſammen, welchen mit ihr zu theilen ſie den Geliebten zwang. » Alſo über¬ morgen mußt Du hier weg? « ſagte Sali, » was ſoll denn um's Himmelswillen werden? « » Das weiß ich nicht, « ſagte Vrenchen, » ich werde die¬ nen müſſen und in die Welt hinaus! Ich werde es aber nicht aushalten ohne Dich; und doch kann ich Dich nie bekommen, auch wenn alles andere nicht wäre, blos weil Du meinen Vater geſchlagen und um den Verſtand gebracht haſt! Dies würde immer ein ſchlechter Grundſtein un¬ ſerer Ehe ſein und wir beide nie ſorglos werden, nie! « Sali ſeufzte und ſagte: » Ich wollte auch ſchon hundert Mal Soldat werden oder mich in296 einer fremden Gegend als Knecht verdingen, aber ich kann noch nicht fortgehen, ſo lange Du hier biſt, und hernach wird es mich aufreiben. Ich glaube das Elend macht meine Liebe zu Dir ſtärker und ſchmerzhafter, ſo daß es um Leben und Tod geht! Ich habe von dergleichen keine Ahnung gehabt! « Vrenchen ſah ihn liebevoll lächelnd an; ſie lehnten ſich an die Wand zu¬ rück und ſprachen nichts mehr, ſondern gaben ſich ſchweigend der glückſeligen Empfindung hin, die ſich über allen Gram erhob, daß ſie ſich im größten Ernſte gut wären und geliebt wüßten. Darüber ſchliefen ſie friedlich ein auf dem unbe¬ quemen Heerde, ohne Kiſſen und Pfühl, und ſchliefen ſo ſanft und ruhig wie zwei Kinder in einer Wiege. Schon graute der Morgen, als Sali zuerſt erwachte; er weckte Vrenchen ſo ſacht er konnte; aber es duckte ſich immer wieder an ihn, ſchlaftrunken, und wollte ſich nicht ermuntern. Da küßte er es heftig auf den Mund und Vren¬ chen fuhr empor, machte die Augen weit auf und als es Sali erblickte, rief es: » Herrgott! ich habe eben noch von Dir geträumt! Es träumte mir, wir tanzten mit einander auf unſe¬297 rer Hochzeit, lange, lange Stunden! und waren ſo glücklich, ſauber geſchmückt und es fehlte uns an nichts. Da wollten wir uns endlich küſſen und dürſteten darnach, aber immer zog uns Et¬ was auseinander und nun biſt Du es ſelbſt ge¬ weſen, der uns geſtört und gehindert hat! Aber wie gut, daß Du gleich da biſt! « Gierig fiel es ihm um den Hals und küßte ihn, als ob es kein Ende nehmen ſollte. » Und was haſt Du denn geträumt? « fragte er und ſtreichelte ihm Wangen und Kinn. » Mir träumte, ich ginge endlos auf einer langen Straße durch einen Wald und Du in der Ferne immer vor mir her; zuweilen ſaheſt Du nach mir um, winkteſt mir und lachteſt und dann war ich wie im Him¬ mel. Das iſt Alles! « Sie traten unter die offengebliebene Küchenthüre, die unmittelbar in's Freie führte, und mußten lachen, als ſie ſich in's Geſicht ſahen. Denn die rechte Backe Vrenchens und die linke Salis, welche im Schlafe anein¬ ander gelehnt hatten, waren von dem Drucke ganz roth gefärbt, während die Bläſſe der an¬ dern durch die kühle Nachtluft noch erhöht war. Sie rieben ſich zärtlich die kalte bleiche Seite298 ihrer Geſichter, um ſie auch roth zu machen; die friſche Morgenluft, der thauige ſtille Frieden, der über der Gegend lag, das junge Morgenroth machten ſie fröhlich und ſelbſtvergeſſen und beſon¬ ders in Vrenchen ſchien ein freundlicher Geiſt der Sorgloſigkeit gefahren zu ſein. » Morgen Abend muß ich alſo aus dieſem Hauſe fort, « ſagte es, » und ein anderes Obdach ſuchen. Vor¬ her aber möchte ich Ein Mal, nur Ein Mal recht luſtig ſein, und zwar mit Dir; ich möchte recht herzlich und fleißig mit Dir tanzen irgendwo, denn das Tanzen aus dem Traume ſteckt mir immerfort im Sinn! « » Jedenfalls will ich dabei ſein und ſehen, wo Du unterkommſt, « ſagte Sali, » und tanzen wollte ich auch gerne mit Dir, Du herziges Kind! aber wo? « » Es iſt Morgen Kirchweih an zwei Orten nicht ſehr weit von hier, « erwiederte Vrenchen, » da kennt und be¬ achtet man uns weniger; draußen am Waſſer will ich auf Dich warten und dann können wir gehen, wohin es uns gefällt, um uns luſtig zu machen, einmal, Ein Mal nur! Aber je, wir haben ja gar kein Geld! « ſetzte es traurig hinzu, » da kann nichts daraus werden! « » Laß nur,299 ſagte Sali, ich will ſchon etwas mitbringen! « » Doch nicht von Deinem Vater, von von dem Geſtohlenen? « » Nein, ſei nur ruhig! ich habe noch meine ſilberne Uhr bewahrt bis dahin, die will ich verkaufen. « » Ich will Dir nicht abrathen, ſagte Vrenchen erröthend, denn ich glaube, ich müßte ſterben, wenn ich nicht morgen mit Dir tanzen könnte. « » Es wäre das Beſte, wir Beide könnten ſterben! « ſagte Sali, ſie um¬ armten ſich wehmüthig und ſchmerzlich zum Ab¬ ſchied, und als ſie von einander ließen, lachten ſie ſich doch freundlich an in der ſichern Hoff¬ nung auf den nächſten Tag. » Aber wann willſt Du denn kommen? « rief Vrenchen noch; » ſpä¬ teſtens um eilf Uhr Mittags, erwiederte er, wir wollen recht ordentlich zuſammen Mittag eſſen! « » Gut, gut! komm lieber um halb eilf ſchon! « Doch als Sali ſchon im Gehen war, rief ſie ihn noch einmal zurück und zeigte ein plötzlich verändertes verzweiflungsvolles Geſicht. » Es wird doch nichts daraus, ſagte ſie bitterlich wei¬ nend, ich habe keine Sonntagsſchuhe mehr! Schon geſtern habe ich dieſe groben hier anziehen müſ¬ ſen, um nach der Stadt zu kommen! Ich weiß300 keine Schuhe aufzubringen! « Sali ſtand rathlos und verblüfft. » Keine Schuhe! ſagte er, da mußt Du halt in dieſen kommen! « » Nein, nein, in denen kann ich nicht tanzen! « » Nun, ſo müſſen wir welche kaufen? » » Wo, mit was? « » Ei, in Seldwyl da giebt es Schuh¬ läden genug! Geld werde ich in minder als zwei Stunden haben. « » Aber ich kann doch nicht mit Dir in Seldwyl herumgehen, und dann wird das Geld nicht langen, auch noch Schuhe zu kaufen! « » Es muß! und ich will die Schuhe kaufen und morgen mitbringen! « » O Du Närr¬ chen, ſie werden ja nicht paſſen, die Du kaufſt! « » So gieb mir einen alten Schuh mit, oder halt, noch beſſer, ich will Dir das Maß nehmen, das wird doch kein Hexenwerk ſein! « » Das Maß nehmen? Wahrhaftig, daran hab' ich nicht ge¬ dacht! Komm, komm, ich will Dir ein Schnürchen ſuchen! « Sie ſetzte ſich wieder auf den Heerd, zog den Rock etwas zurück und ſtreifte den Schuh vom Fuße, der noch von der geſtrigen Reiſe her mit einem weißen Strumpfe bekleidet war. Sali kniete nieder und nahm ſo gut er es verſtand, das Maß, indem er den zierlichen301 Fuß der Länge und Breite nach umſpannte mit dem Schnürchen und ſorgfältig Knoten in das¬ ſelbe knüpfte. » Du Schuhmacher! « ſagte Vren¬ chen und lachte erröthend und freundſchaftlich zu ihm nieder. Sali wurde aber auch roth und hielt den Fuß feſt in ſeinen Händen, länger als nöthig war, ſo daß Vrenchen ihn noch tiefer erröthend zurückzog, den verwirrten Sali aber noch einmal ſtürmiſch umhalſte und küßte, dann aber fortſchickte.

Sobald er in der Stadt war, trug er ſeine Uhr zu einem Uhrmacher, der ihm ſechs oder ſieben Gulden dafür gab, für die ſilberne Kette bekam er auch einige Gulden, und er dünkte ſich nun reich genug; denn er hatte, ſeit er groß war, nie ſo viel Geld beſeſſen auf einmal. Wenn nur erſt der Tag vorüber und der Sonn¬ tag angebrochen wäre, um das Glück damit zu erkaufen, das er ſich von dem Tage verſprach, dachte er; denn wenn das Übermorgen auch um ſo dunkler und unbekannter hereinragte, ſo ge¬ wann die erſehnte Luſtbarkeit von Morgen nur einen ſeltſamern erhöhten Glanz und Schein. Indeſſen brachte er die Zeit noch leidlich hin,302 indem er ein Paar Schuhe für Vrenchen ſuchte, und dies war ihm das vergnügteſte Geſchäft, das er je betrieben. Er ging von einem Schuh¬ macher zum andern, ließ ſich alle Weiberſchuhe zeigen, die vorhanden waren, und endlich han¬ delte er ein leichtes und feines Paar ein, ſo hübſch, wie ſie Vrenchen noch nie getragen. Er verbarg die Schuhe unter ſeiner Weſte und that ſie die übrige Zeit des Tages nicht mehr von ſich; er nahm ſie ſogar mit in's Bett und legte ſie unter das Kopfkiſſen. Da er das Mädchen heute früh noch geſehen und morgen wieder ſehen ſollte, ſo ſchlief er feſt und ruhig, war aber in aller Frühe munter und begann ſeinen dürftigen Sonntagsſtaat zurecht zu machen und auszuputzen, ſo gut es gelingen wollte. Es fiel ſeiner Mutter auf und ſie fragte verwundert, was er vor habe, da er ſich ſchon lange nicht mehr ſo ſorglich angezogen. Er wolle einmal über Land gehen und ſich ein wenig umthun, erwiederte er, er werde ſonſt krank in dieſem Hauſe. » Das iſt mir die Zeit her ein merk¬ würdiges Leben, murrte der Vater, und ein Herumſchleichen! « » Laß ihn nur gehen, ſagte303 aber die Mutter, es thut ihm vielleicht gut, es iſt ja ein Elend, wie er ausſieht! « » Haſt Du Geld zum Spazierengehen? woher haſt Du es? « ſagte der Alte. » Ich brauche keines! « ſagte Sali. » Da haſt Du einen Gulden! « verſetzte der Alte und warf ihm denſelben hin. » Du kannſt im Dorf in's Wirthshaus gehen und ihn dort verzehren, damit ſie nicht glauben, wir ſeien hier ſo übel dran. « » Ich will nicht in's Dorf und brauche den Gulden nicht, behaltet ihn nur! « » So haſt Du ihn gehabt, es wäre Schad, wenn Du ihn haben müßteſt, Du Steck¬ kopf! « rief Manz und ſchob ſeinen Gulden wieder in die Taſche. Seine Frau aber, welche nicht wußte, warum ſie heute ihres Sohnes wegen ſo wehmüthig und gerührt war, brachte ihm ein großes ſchwarzes Mailänder Halstuch mit rothem Rande, das ſie nur ſelten getragen und er ſchon früher gern gehabt hätte. Er ſchlang es um den Hals und ließ die langen Zipfel fliegen, auch ſtellte er zum erſten Mal den Hemdkragen, den er ſonſt immer umgeſchla¬ gen, ehrbar und männlich in die Höhe, bis über die Ohren hinauf, in einer Anwandlung länd¬304 lichen Stolzes, und machte ſich dann, ſeine Schuhe in der Bruſttaſche des Rockes, ſchon nach ſieben Uhr auf den Weg. Als er die Stube verließ, drängte ihn ein ſeltſames Gefühl, Vater und Mutter die Hand zu geben und auf der Straße ſah er ſich noch einmal nach dem Hauſe um. » Ich glaube am Ende, ſagte Manz, der Burſche ſtreicht irgend einem Weibsbild nach, das hätten wir gerade noch nöthig! « Die Frau ſagte: » O wollte Gott! daß er vielleicht ein Glück machte! das thäte dem armen Buben gut! « » Richtig! ſagte der Mann, das fehlt nicht! das wird ein himmliſches Glück geben, wenn er nur erſt an eine ſolche Maultaſche zu gerathen das Unglück hat! das thäte dem armen Bübeli gut! natürlich! «

Sali richtete ſeinen Schritt erſt nach dem Fluſſe zu, wo er Vrenchen erwarten wollte; aber unterweges ward er anderen Sinnes und ging gradezu in's Dorf, um Vrenchen im Hauſe ſelbſt abzuholen, weil es ihm zu lang währte bis halb elf. » Was kümmern uns die Leute! « dachte er. » Niemand hilft uns und ich bin ehrlich und fürchte niemand! « So trat er un¬305 erwartet in Vrenchens Stube und eben ſo uner¬ wartet fand er es ſchon vollkommen angekleidet und geſchmückt daſitzen und der Zeit harren, wo es gehen könne, nur die Schuhe fehlten ihm noch. Aber Sali ſtand mit offenem Munde ſtill in der Mitte der Stube, als er das Mädchen erblickte, ſo ſchön ſah es aus. Es hatte nur ein einfaches Kleid an von blaugefärbter Lein¬ wand, aber daſſelbe war friſch und ſauber und ſaß ihm ſehr gut um den ſchlanken Leib. Dar¬ über trug es ein ſchneeweißes Mouſſelinehalstuch und dies war der ganze Anzug. Das braune gekräuſelte Haar hatte es wohl geordnet und die ſonſt ſo wilden Löckchen lagen nun fein und lieblich um den Kopf; da Vrenchen ſeit vielen Wochen faſt nicht aus dem Hauſe gekommen, ſo war ſeine Farbe zarter und durchſichtiger ge¬ worden, ſo wie auch vom Kummer; aber in dieſe Durchſichtigkeit goß jetzt die Liebe und die Freude ein Roth um das andere, und an der Bruſt trug es einen ſchönen Blumenſtrauß von Rosmarin, Roſen und prächtigen Aſtern. Es ſaß am offenen Fenſter und athmete ſtill und hold die friſch durchſonnte Morgenluft; wie esKeller, die Leute von Seldwyla. 20306aber Sali erſcheinen ſah, ſtreckte es ihm beide hübſche Arme entgegen, welche vom Ellbogen an bloß waren, und rief: » Wie Recht haſt Du, daß Du ſchon jetzt und hieher kommſt! Aber haſt Du mir Schuhe gebracht? Gewiß? Nun ſteh 'ich nicht auf, bis ich ſie an habe! « Er zog die Erſehnten aus der Taſche und gab ſie dem begierigen ſchönen Mädchen; es ſchleuderte die alten von ſich, ſchlüpfte in die neuen und ſie paßten ſehr gut. Erſt jetzt erhob es ſich vom Stuhl, wiegte ſich in den neuen Schuhen und ging eifrig einige Mal auf und nieder. Es zog das lange blaue Kleid etwas zurück und beſchaute wohlgefällig die rothen wollenen Schleifen, welche die Schuhe zierten, während Sali unaufhörlich die feine reizende Geſtalt be¬ trachtete, welche da in lieblicher Aufregung vor ihm ſich regte und freute. » Du beſchauſt meinen Strauß? ſagte Vrenchen, hab' ich nicht einen ſchönen zuſammengebracht? Du mußt wiſſen, dies ſind die letzten Blumen, die ich noch auf¬ gefunden in dieſer Wüſtenei. Hier war noch ein Röschen, dort eine Aſter, und wie ſie nun gebunden ſind, würde man es ihnen nicht anſe¬307 hen, daß ſie aus einem Untergange zuſammen¬ geſucht ſind! Nun iſt es aber Zeit, daß ich fortkomme, nicht ein Blümchen mehr im Garten und das Haus auch leer! « Sali ſah ſich um und bemerkte erſt jetzt, daß alle Fahrhabe, die noch da geweſen, weggebracht war. » Du armes Vreeli! « ſagte er, » haben ſie Dir ſchon Alles genommen? « » Geſtern, « erwiederte es, » haben ſie's weggeholt, was ſich von der Stelle bewegen ließ und mir kaum mehr mein Bett gelaſſen. Ich hab's aber auch gleich verkauft und hab 'jetzt auch Geld, ſieh! « Es holte einige neu glänzende Thalerſtücke aus der Taſche ſeines Kleides und zeigte ſie ihm. » Damit, « fuhr es fort, » ſagte der Waiſenvogt, der auch hier war, ſolle ich mir einen Dienſt ſuchen in einer Stadt und ich ſolle mich heute gleich auf den Weg machen! « » Da iſt aber auch gar nichts mehr vorhanden, « ſagte Sali, nachdem er in die Küche geguckt hatte, » ich ſehe kein Hölzchen, kein Pfänn¬ chen, kein Meſſer! Haſt Du denn auch nicht zu Morgen gegeſſen? « » Nichts! « ſagte Vrenchen, » ich hätte mir etwas holen können, aber ich dachte, ich wolle lieber hungrig bleiben, damit308 ich recht viel eſſen könne mit Dir zuſammen, denn ich freue mich ſo ſehr darauf, Du glaubſt nicht, wie ich mich freue! « » Wenn ich Dich nur anrühren dürfte, « ſagte Sali, » ſo wollte ich Dir zeigen, wie es mir iſt, Du ſchönes, ſchönes Ding! « » Du haſt Recht, Du würdeſt meinen ganzen Staat verderben, und wenn wir die Blumen ein bischen ſchonen, ſo kommt es zugleich meinem armen Kopf zu gut, den Du mir übel zuzurichten pflegſt! « » So komm, jetzt wollen wir ausrücken! « » Noch müſſen wir warten, bis das Bett abgeholt wird; denn nach¬ her ſchließe ich das leere Haus zu und gehe nicht mehr hieher zurück! Mein Bündelchen gebe ich der Frau aufzuheben, die das Bett gekauft hat. « Sie ſetzten ſich daher einander gegenüber und warteten; die Bäuerin kam bald, eine vier¬ ſchrötige Frau mit lautem Mundwerk, und hatte einen Burſchen bei ſich, welcher die Bettſtelle tragen ſollte. Als dieſe Frau Vrenchens Lieb¬ haber erblickte und das geputzte Mädchen ſelbſt, ſperrte ſie Maul und Augen auf, ſtemmte die Arme unter, und ſchrie: » Ei ſieh da, Vreeli! Du treibſt es ja ſchon gut! Haſt einen Beſucher309 und biſt gerüſtet wie eine Prinzeß? « » Gelt aber! « ſagte Vrenchen freundlich lachend, » wißt ihr auch, wer das iſt? « » Ei ich denke, das iſt wohl der Sali Manz? Berg und Thal kom¬ men nicht zuſammen, ſagt man, aber die Leute! Aber nimm Dich doch in Acht, Kind, und denk' wie es euren Ältern ergangen iſt! « » Ei, das hat ſich jetzt gewendet und alles iſt gut gewor¬ den « erwiederte Vrenchen lächelnd und freundlich mittheilſam, ja beinahe herablaſſend » ſeht, Sali iſt mein Hochzeiter! « » Dein Hochzeiter! was Du ſagſt! » » Ja und er iſt ein reicher Herr, er hat hunderttauſend Gulden in der Lotterie gewonnen! Denket einmal, Frau! « Dieſe that einen Sprung, ſchlug ganz erſchrocken die Hände zuſammen und ſchrie: » Hund hunderttauſend Gulden! « » Hunderttauſend Gulden! « verſicherte Vrenchen ernſthaft. » Herr Du meines Lebens! Es iſt aber nicht wahr, Du lügſt mich an, Kind! « » Nun, glaubt was ihr wollt! » » Aber wenn es wahr iſt und Du heiratheſt ihn, was wollt ihr denn machen mit dem Gelde? Willſt Du wirklich eine vornehme Frau werden? « » Verſteht ſich, in drei Wochen halten wir die310 Hochzeit! « » Geh 'mir weg, Du biſt eine hä߬ liche Lügnerin! « » Das ſchönſte Haus hat er ſchon gekauft in Seldwyl mit einem großen Garten und Weinberg; ihr müßt mich auch be¬ ſuchen, wenn wir eingerichtet ſind, ich zähle dar¬ auf! « » Allweg, Du Teufelshexlein, was Du biſt! « » Ihr werdet ſehen, wie ſchön es da iſt! einen herrlichen Kaffee werde ich machen und euch mit feinem Eierbrod aufwarten, mit Butter und Honig! « » Du Ketzerslösli! zähl' drauf, daß ich komme! « rief die Frau mit lüſternem Geſicht und der Mund wäſſerte ihr; » kommt ihr aber um die Mittagszeit und ſeit ermüdet vom Markt, ſo ſoll euch eine kräftige Fleiſchbrühe und ein Glas Wein immer parat ſtehen! » » Das wird mir baß thun! « » Und an etwas Zuckerwerk oder weißen Wecken für die lieben Kinder zu Hauſe ſoll es euch auch nicht fehlen! « » Es wird mir ganz ſchmachtend! « » Ein artiges Halstüchelchen oder ein Reſtchen Seidenzeug oder ein hübſches altes Band für euere Röcke, oder ein Stück Zeug zu einer neuen Schürze wird gewiß auch zu finden ſein, wenn wir meine Kiſten und Ka¬ ſten durchmuſtern in einer vertrauten Stunde! « 311Die Frau drehte ſich auf den Hacken herum und ſchüttelte jauchzend ihre Röcke. » Und wenn euer Mann ein vortheilhaftes Geſchäft machen könnte mit einem Land - oder Viehhandel, und er mangelt des Geldes, ſo wißt ihr, wo ihr anklopfen ſollt. Mein lieber Sali wird froh ſein, jederzeit ein Stück Baares ſicher und er¬ freulich anzulegen! Ich ſelbſt werde auch etwa einen Spaarpfennig haben, einer vertrauten Freundin auszuhelfen! « Jetzt war der Frau nicht mehr zu helfen, ſie ſagte gerührt: » Ich habe immer geſagt, Du ſeiſt ein braves und gutes und ſchönes Kind! Der Herr wolle es Dir wohl ergehen laſſen immer und ewiglich und es Dir geſegnen, was Du an mir thuſt! « » Dagegen verlange ich aber auch, daß ihr es gut mit mir meint! « » Allweg kannſt Du das verlangen! « » Und daß ihr jederzeit eure Waa¬ ren, ſei es Obſt, ſeien es Kartoffeln, ſei es Ge¬ müſe, erſt zu mir bringet und mir anbietet, ehe ihr auf den Markt gehet, damit ich ſicher ſei, eine rechte Bäuerin an der Hand zu haben, auf die ich mich verlaſſen kann! Was irgend Einer giebt für die Waare, werde ich gewiß auch geben312 mit tauſend Freuden, ihr kennt mich ja! Ach, es iſt nichts Schöneres, als wenn eine wohlha¬ bende Stadtfrau, die ſo rathlos in ihren Mauern ſitzt und doch ſo vieler Dinge benöthigt iſt, und eine rechtſchaffene ehrliche Landfrau, erfahren in allem Wichtigen und Nützlichen, eine gute und dauerhafte Freundſchaft zuſammen haben! Es kommt Einem zu gut in hundert Fällen, in Freud und Leid, bei Gevatterſchaften und Hochzeiten, wenn die Kinder unterrichtet werden, und konfir¬ mirt, wenn ſie in die Lehre kommen und wenn ſie in die Fremde ſollen! Bei Mißwachs und Überſchwemmungen, bei Feuersbrünſten und Hagel¬ ſchlag, wofür uns Gott behüte! « » Wofür uns Gott behüte! ſagte die gute Frau ſchluchzend und trocknete mit ihrer Schürze die Augen; » welch 'ein verſtändiges und tiefſinniges Bräut¬ lein biſt Du, ja, Dir wird es gut gehen, da müßte keine Gerechtigkeit in der Welt ſein! Schön, ſauber, klug und weiſe biſt Du, arbeit¬ ſam und geſchickt zu allen Dingen! Keine iſt feiner und beſſer als Du, in und außer dem Dorfe, und wer Dich hat, der muß meinen, er ſei im Himmelreich, oder er iſt ein Schelm und313 hat es mit mir zu thun. Hör' Sali! daß Du nur recht artlich biſt mit meinem Vreeli, oder ich will Dir den Meiſter zeigen, Du Glückskind, das Du biſt, ein ſolches Röslein zu brechen! « » So nehmt jetzt auch hier noch mein Bündel mit, wie ihr mir verſprochen habt, bis ich es abholen laſſen werde! Vielleicht komme ich aber ſelbſt in der Kutſche und hole es ab, wenn ihr nichts dagegen habt! Ein Töpfchen Milch werdet ihr mir nicht abſchlagen alsdann, und etwa eine ſchöne Mandeltorte dazu werde ich ſchon ſelbſt mitbringen! « » Tauſendskind! Gieb 'her den Bündel! « Vrenchen lud ihr auf das zuſammenge¬ bundene Bett, das ſie ſchon auf dem Kopfe trug, einen langen Sack, in welchen es ſein Plunder und Habſeliges geſtopft, ſo daß die arme Frau mit einem ſchwankenden Thurme auf dem Haupte daſtand. » Es wird mir doch faſt zu ſchwer auf einmal, ſagte ſie, könnte ich nicht zwei mal dran machen? « » Nein nein! wir müſſen jetzt augenblicklich gehen, denn wir haben einen weiten Weg, um vornehme Verwandte zu beſuchen, die ſich jetzt gezeigt haben, ſeit wir reich ſind! Ihr wißt ja, wie es geht! « » Weiß wohl! ſo behüt20 *314Dich Gott und denk 'an mich in Deiner Herr¬ lichkeit! «

Die Bäuerin zog ab mit ihrem Bündelthurme, mit Mühe das Gleichgewicht behauptend, und hinter ihr drein ging ihr Knechtchen, das ſich in Vrenchens einſt buntbemalte Bettſtatt hineinſtellte, den Kopf gegen den mit verblichenen Sternen bedeckten Himmel derſelben ſtemmte und, ein zweiter Simſon, die zwei vorderen zierlich ge¬ ſchnitzten Säulen faßte, welche dieſen Himmel trugen. Als Vrenchen, an Sali gelehnt, dem Zuge nachſchaute und den wandelnden Tempel zwiſchen den Gärten ſah, ſagte es: » Das gäbe noch ein artiges Gartenhäuschen oder eine Laube, wenn man's in einen Garten pflanzte, ein Tiſch¬ chen und ein Bänklein drein ſtellte und Winden drum herumſäete! Wollteſt Du mit darin ſitzen, Sali? « » Ja, Vreeli! beſonders wenn die Winden aufgewachſen wären! « » Was ſtehen wir noch? ſagte Vrenchen, nichts hält uns mehr zurück! « » So komm und ſchließ das Haus zu! « » Wem willſt Du denn den Schlüſſel übergeben? « Vrenchen ſah ſich um. » Hier an die Helbart wollen wir ihn hängen; ſie iſt über hundert Jahr315 in dieſem Hauſe geweſen, habe ich den Vater oft ſagen hören, nun ſteht ſie da als der letzte Wächter! « Sie hingen den roſtigen Hausſchlüſſel an einen roſtigen Schnörkel der alten Waffe, an welcher die Bohnen rankten, und gingen davon. Vrenchen wurde aber bleicher und verhüllte ein Weilchen die Augen, daß Sali es führen mußte, bis ſie ein Dutzend Schritte entfernt waren. Es ſah aber nicht zurück. » Wo gehen wir nun zuerſt hin? « fragte es. » Wir wollen ordentlich über Land gehen, erwiederte Sali, wo es uns freut den ganzen Tag, uns nicht übereilen, und ge¬ gen Abend werden wir dann ſchon einen Tanz¬ platz finden! « » Gut! « ſagte Vrenchen, » den ganzen Tag werden wir beiſammen ſein und gehn wo wir Luſt haben. Jetzt iſt mir aber elend, wir wollen gleich im andern Dorf einen Kaffee trinken! « » Verſteht ſich! « ſagte Sali, » mach nur, daß wir aus dieſem Dorf weg¬ kommen! «

Bald waren ſie auch im freien Felde und gingen ſtill neben einander durch die Fluren; es war ein ſchöner Sonntagmorgen im September, keine Wolke ſtand am Himmel, die Höhen und316 die Wälder waren mit einem zarten Duftgewebe bekleidet, welches die Gegend geheimnißvoller und feierlicher machte, und von allen Seiten tönten die Kirchenglocken herüber, hier das har¬ moniſche tiefe Geläute einer reichen Ortſchaft, dort die geſchwätzigen zwei Bimmelglöcklein eines kleinen armen Dörfchens. Das liebende Paar vergaß, was am Ende dieſes Tages werden ſollte, und gab ſich einzig der hoch aufathmen¬ den wortloſen Freude hin, ſauber gekleidet und frei, wie zwei Glückliche, die ſich von Rechts¬ wegen angehören, in den Sonntag hineinzuwan¬ deln. Jeder in der Sonntagsſtille verhallende Ton oder ferne Ruf klang ihnen erſchütternd durch die Seele; denn die Liebe iſt eine Glocke, welche das Entlegenſte und Gleichgültigſte wieder tönen läßt und in eine beſondere Muſik verwan¬ delt. Obgleich ſie hungrig waren, dünkte ſie die halbe Stunde Weges bis zum nächſten Dorfe nur ein Katzenſprung lang zu ſein und ſie be¬ traten zögernd das Wirthshaus am Eingang des Ortes. Sali beſtellte ein gutes Frühſtück und während es bereitet wurde, ſahen ſie mäuschen¬ ſtill der ſichern und freundlichen Wirthſchaft in317 der großen reinlichen Gaſtſtube zu. Der Wirth war zugleich ein Bäcker, das eben Gebackene durchduftete angenehm das ganze Haus und Brod aller Art wurde in gehäuften Körben herbeigetra¬ gen, da nach der Kirche die Leute hier ihr Wei߬ brod holten oder ihren Frühſchoppen tranken. Die Wirthin, eine artige und ſaubere Frau, putzte gelaſſen und freundlich ihre Kinder heraus, und ſo wie eines entlaſſen war, kam es zutrau¬ lich zu Vrenchen gelaufen, zeigte ihm ſeine Herr¬ lichkeiten und erzählte von allem, deſſen es ſich erfreute und rühmte. Wie nun der wohlduftende ſtarke Kaffee kam, ſetzten ſich die zwei Leutchen ſchüchtern an den Tiſch, als ob ſie da zu Gaſt gebeten wären. Sie ermunterten ſich jedoch bald und flüſterten beſcheiden, aber glückſelig mit ein¬ ander; ach wie ſchmeckte dem aufblühenden Vren¬ chen der gute Kaffee, der fette Rahm, die fri¬ ſchen noch warmen Brödchen, die ſchöne Butter und der Honig, der Eierkuchen und was alles noch für Leckerbiſſen da waren! ſie ſchmeckten ihm, weil es den Sali dazu anſah, und es ſo vergnügt, als ob es ein Jahr lang gefaſtet hätte. Dazu freute es ſich über das feine Ge¬318 ſchirr, über die ſilbernen Kaffeelöffelchen, denn die Wirthin ſchien ſie für rechtliche junge Leut¬ chen zu halten, die man anſtändig bedienen müſſe und ſetzte ſich auch ab und zu plaudernd zu ih¬ nen, und die Beiden gaben ihr verſtändigen Beſcheid, welches ihr gefiel. Es ward dem gu¬ ten Vrenchen ſo wählig zu Muth, daß es nicht wußte, mochte es lieber wieder ins Freie, um allein mit ſeinem Schatz herumzuſchweifen durch Auen und Wälder, oder mochte es lieber in der gaſtlichen Stube bleiben, um wenigſtens auf Stunden ſich an einem ſtattlichen Orte zu Hauſe zu träumen. Doch Sali erleichterte die Wahl, indem er ehrbar und geſchäftig zum Aufbruch mahnte, als ob ſie einen beſtimmten und wich¬ tigen Weg zu machen hätten. Die Wirthin und der Wirth begleiteten ſie bis vor das Haus und entließen ſie auf das Wohlwollendſte wegen ihres guten Benehmens trotz der durchſcheinenden Dürf¬ tigkeit, und das arme junge Blut verabſchiedete ſich mit den beſten Manieren von der Welt und wandelte ſittig und ehrbar von hinnen. Aber auch als ſie ſchon wieder im Freien waren und einen ſtundenlangen Eichwald betraten, gingen319 ſie noch in dieſer Weiſe neben einander her, in angenehme Träume vertieft, als ob ſie nicht aus zank - und elenderfüllten vernichteten Häuſern herkämen, ſondern guter Leute Kinder wären, welche in lieblicher Hoffnung wandelten. Vren¬ chen ſenkte das Köpfchen tiefſinnig gegen ſeine blumengeſchmückte Bruſt und ging, die Hände ſorglich an das Gewand gelegt, einher auf dem glatten feuchten Waldboden, Sali dagegen ſchritt ſchlank aufgerichtet, raſch und nachdenklich, die Augen auf die feſten Eichenſtämme geheftet wie ein Bauer, der überlegt, welche Bäume er am vortheilhafteſten fällen ſoll. Endlich erwachten ſie aus dieſen vergeblichen Träumen, ſahen ſich an und entdeckten, daß ſie immer noch in der Haltung gingen, in welcher ſie das Gaſthaus verlaſſen, errötheten und ließen traurig die Köpfe hängen. Aber Jugend hat keine Tugend, der Wald war grün, der Himmel blau und ſie allein in der weiten Welt, und ſie überließen ſich als¬ bald wieder dieſem Gefühle. Doch blieben ſie nicht lange mehr allein, da die ſchöne Waldſtraße ſich belebte mit luſtwandelnden Gruppen von jun¬ gen Leuten ſowie mit einzelnen Paaren, welche320 ſchäkernd und ſingend die Zeit nach der Kirche verbrachten. Denn die Landleute haben ſo gut ihre ausgeſuchten Promenaden und Luſtwälder, wie die Städter, nur mit dem Unterſchied, daß dieſelben keine Unterhaltung koſten und noch ſchö¬ ner ſind; ſie ſpazieren nicht nur mit einem be¬ ſondern Sinn des Sonntags durch ihre blühenden und reifenden Felder, ſondern ſie machen ſehr gewählte Gänge durch Gehölze und an grünen Halden entlang, ſetzen ſich hier auf eine anmu¬ thige fernſichtige Höhe, dort an einen Waldrand, laſſen ihre Lieder ertönen und die ſchöne Wild¬ niß ganz behaglich auf ſich einwirken; und da ſie dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz thun, ſondern zu ihrem Vergnügen, ſo iſt wohl anzu¬ nehmen, daß ſie Sinn für die Natur haben, auch abgeſehen von ihrer Nützlichkeit. Immer brechen ſie was Grünes ab, junge Burſche wie alte Mütterchen, welche die alten Wege ihrer Jugend aufſuchen, und ſelbſt ſteife Landmänner in den beſten Geſchäftsjahren, wenn ſie über Land gehen, ſchneiden ſich gern eine ſchlanke Gerte, ſobald ſie durch einen Wald gehen, und ſchälen die Blätter ab, von denen ſie nur oben ein321 grünes Büſchel ſtehen laſſen. Solche Ruthe tra¬ gen ſie wie ein Scepter vor ſich hin; wenn ſie in eine Amtsſtube oder Kanzlei treten, ſo ſtellen ſie die Gerte ehrerbietig in einen Winkel, ver¬ geſſen aber auch nach den ernſteſten Verhandlun¬ gen nie, dieſelbe ſäuberlich wieder mitzunehmen und unverſehrt nach Hauſe zu tragen, wo es erſt dem kleinſten Söhnchen geſtattet iſt, ſie zu Grunde zu richten. Warum thun ſie dies? Als Sali und Vrenchen die vielen Spaziergänger ſahen, lachten ſie in's Fäuſtchen und freuten ſich, auch gepaart zu ſein, ſchlüpften aber ſeitwärts auf engere Waldpfade, wo ſie ſich in tiefen Ein¬ ſamkeiten verloren. Sie hielten ſich auf, wo es ſie freute, eilten vorwärts und ruhten wieder, und wie keine Wolke am reinen Himmel ſtand, trübte auch keine Sorge in dieſen Stunden ihr Gemüth, ſie vergaßen woher ſie kamen und wo¬ hin ſie gingen und benahmen ſich ſo fein und ordentlich dabei, daß trotz aller frohen Erregung und Bewegung Vrenchens niedlicher einfacher Aufputz ſo friſch und unverſehrt blieb, wie er am Anfang geweſen war. Sali betrug ſich auf dieſem Wege nicht wie ein beinahe zwanzigjähri¬Keller, die Leute von Seldwyla. 21322ger Landburſche oder der Sohn eines verkomme¬ nen Schenkwirthes, ſondern wie wenn er einige Jahre jünger und ſehr wohl erzogen wäre und es war beinahe komiſch, wie er nur immer ſein feines luſtiges Vrenchen anſah, voll Zärtlichkeit, Sorgfalt und Achtung. Denn die armen Leutchen mußten an dieſem einen Tage, der ihnen ver¬ gönnt war, alle Manieren und Stimmungen der Liebe durchleben und ſowohl die verlorenen Tage der zarteren Zeit nachholen als das leidenſchaft¬ liche Ende vorausnehmen mit der Hingabe ihres Lebens.

So liefen ſie ſich wieder hungrig und wa¬ ren erfreut, von der Höhe eines ſchattenreichen Berges ein glänzendes Dorf vor ſich zu ſehen, wo ſie Mittag halten wollten. Sie ſtiegen raſch hinunter, betraten dann aber ebenſo ſittſam die¬ ſen Ort, wie ſie den vorigen verlaſſen. Es war Niemand um den Weg, der ſie erkannt hätte; denn beſonders Vrenchen war die letzten Jahre hindurch gar nicht unter die Leute und noch we¬ niger in andere Dörfer gekommen. Deshalb ſtellten ſie ein wohlgefälliges ehrſames Pärchen vor, das irgend einen angelegentlichen Gang323 thut. Sie gingen in's erſte Wirthshaus des Dorfes, wo Sali ein erkleckliches Mahl beſtellte; ein eigener Tiſch wurde ihnen ſonntäglich gedeckt und ſie ſaßen wieder ſtill und beſcheiden daran und beguckten die ſchön getäfelten Wände von gebohntem Nußbaumholz, das ländliche aber glän¬ zende und wohlhabende Büffet von gleichem Holze, und die klaren weißen Fenſtervorhänge. Die Wirthin trat zuthulich herzu und ſetzte ein Ge¬ ſchirr voll friſcher Blumen auf den Tiſch. » Bis die Suppe kommt, ſagte ſie, könnt ihr, wenn es euch gefällig iſt, einſtweilen die Augen ſättigen an dem Strauße. Allem Anſchein nach, wenn es erlaubt iſt zu fragen, ſeid ihr ein jun¬ ges Brautpaar, das gewiß nach der Stadt geht, um ſich morgen kopuliren zu laſſen? « Vrenchen wurde roth und wagte nicht aufzuſehen, Sali ſagte auch nichts und die Wirthin fuhr fort: » Nun, ihr ſeid freilich noch wohl jung beide, aber jung geheirathet lebt lang, ſagt man zu¬ weilen, und ihr ſeht wenigſtens hübſch und brav aus und braucht euch nicht zu verbergen. Or¬ dentliche Leute können etwas zuwege bringen, wenn ſie ſo jung zuſammen kommen und fleißig21 *324und treu ſind. Aber das muß man freilich ſein, denn die Zeit iſt kurz und doch lang und es kommen viele Tage, viele Tage! Je nun, ſchön genug ſind ſie und amüſant dazu, wenn man gut Haus hält damit! Nichts für ungut, aber es freut mich, euch anzuſehen, ſo ein ſchmuckes Pärchen ſeid ihr! « Die Kellnerin brachte die Suppe, und da ſie einen Theil dieſer Worte noch gehört und lieber ſelbſt geheirathet hätte, ſo ſah ſie Vrenchen mit ſcheelen Augen an, welches nach ihrer Meinung ſo gedeihliche Wege ging. In der Nebenſtube ließ die unliebliche Perſon ihren Unmuth frei und ſagte zur Wirthin, welche dort zu ſchaffen hatte, ſo laut, daß man es hö¬ ren konnte: » Das iſt wieder ein rechtes Hu¬ delvölkchen, das wie es geht und ſteht nach der Stadt läuft und ſich kopuliren läßt, ohne einen Pfennig, ohne Freunde, ohne Ausſteuer und ohne Ausſicht, als auf Armuth und Bettelei! Wo ſoll das noch hinaus, wenn ſolche Dinger hei¬ rathen, die die Jüppe noch nicht allein anziehen und keine Suppe kochen können? Ach der hüb¬ ſche junge Menſch kann mich nur dauern, der iſt ſchön petſchirt mit ſeiner jungen Gungeline! « 325» Bſcht! willſt Du wohl ſchweigen, Du häſſiges Ding! ſagte die Wirthin, denen laſſe ich nichts geſchehen! Das ſind gewiß zwei recht ordentliche Leutlein aus den Bergen, wo die Fabriken ſind; dürftig ſind ſie gekleidet, aber ſauber, und wenn ſie ſich nur gern haben und arbeitſam ſind, ſo werden ſie weiter kommen als Du mit Deinem böſen Maul! Du kannſt freilich noch lang war¬ ten, bis Dich Einer abholt, wenn Du nicht freundlicher biſt, Du Eſſighafen! «

So genoß Vrenchen alle Wonnen einer Braut, die zur Hochzeit reiſet: die wohlwollende An¬ ſprache und Aufmunterung einer ſehr vernünfti¬ gen Frau, den Neid einer heirathsluſtigen böſen Perſon, welche aus Ärger den Geliebten lobte und bedauerte, und ein leckeres Mittagsmahl an der Seite eben dieſes Geliebten. Es glühte im Geſicht, wie eine rothe Nelke, das Herz klopfte ihm, aber es und trank nichts deſto minder mit gutem Appetit und war mit der aufwarten¬ den Kellnerin nur um ſo artiger, konnte aber nicht unterlaſſen, dabei den Sali zärtlich anzu¬ ſehen und mit ihm zu lispeln, ſo daß es dieſem auch ganz kraus im Gemüth wurde. Sie ſaßen326 indeſſen lang und gemächlich am Tiſche, wie wenn ſie zögerten und ſich ſcheuten, aus der holden Täuſchung herauszugehen. Die Wirthin brachte zum Nachtiſch ſüßes Backwerk und Sali beſtellte feineren und ſtärkeren Wein dazu, welcher Vren¬ chen feurig durch die Adern rollte, als es ein wenig davon trank; aber es nahm ſich in Acht, nippte blos zuweilen und ſaß ſo züchtig und verſchämt da, wie eine wirkliche Braut. Halb ſpielte es aus Schalkheit dieſe Rolle und aus Luſt, zu verſuchen, wie es thue, halb war es ihm in der That ſo zu Muth und vor Bangig¬ keit und heißer Liebe wollte ihm das Herz bre¬ chen, ſo daß es ihm zu eng ward innerhalb der vier Wände und es zu gehen begehrte. Es war als ob ſie ſich ſcheuten, auf dem Wege wieder ſo abſeits und allein zu ſein, denn ſie gingen unverabredet auf der Hauptſtraße weiter, mitten durch die Leute und ſahen weder rechts noch links. Als ſie aber aus dem Dorfe waren und auf das nächſtgelegene zugingen, wo Kirchweih war, hing ſich Vrenchen an Sali's Arm und flüſterte mit zitternden Worten: » Sali! warum ſollen wir uns nicht haben und glücklich ſein! « 327» Ich weiß auch nicht warum! « erwiederte er und heftete ſeine Augen an den milden Herbſt¬ ſonnenſchein, der auf den Auen webte und er mußte ſich bezwingen und das Geſicht ganz ſon¬ derbar verziehen. Sie ſtanden ſtill, um ſich zu küſſen; aber es zeigten ſich Leute und ſie unter¬ ließen es und zogen weiter. Das große Kirch¬ dorf, in welchem Kirchweih war, war ſchon be¬ lebt von der Luſt des Volkes; aus dem ſtatt¬ lichen Gaſthofe tönte eine pomphafte Tanzmuſik, da die jungen Dörfler ſchon um Mittag den Tanz angehoben, und auf dem Platz vor dem Wirthshauſe war ein kleiner Markt aufgeſchla¬ gen, beſtehend aus einigen Tiſchen mit Süßig¬ keiten und Backwerk und ein paar Buden mit Flitterſtaat, um welche ſich die Kinder und das¬ jenige Volk drängten, welches ſich einſtweilen mehr mit Zuſehen begnügte. Sali und Vrenchen traten auch zu den Herrlichkeiten und ließen ihre Augen darüber fliegen; denn beide hatten zugleich die Hand in der Taſche und jedes wünſchte dem andern etwas zu ſchenken, da ſie zum erſten und einzigen Male mit einander zu Markt wa¬ ren; Sali kaufte ein Haus von Lebkuchen, wel¬328 ches mit Zuckerguß freundlich geweißt war, mit einem grünen Dach, auf welchem weiße Tauben ſaßen und aus deſſen Schornſtein ein Amörchen guckte als Kaminfeger; an den offenen Fenſtern umarmten ſich pausbäckige Leutchen mit winzig kleinen rothen Mündchen, die ſich recht eigentlich küßten, da der flüchtige praktiſche Maler mit einem Kleckschen gleich zwei Mündchen gemacht, die ſo in einander verfloſſen. Schwarze Pünkt¬ chen ſtellten muntere Äuglein vor. Auf der roſenrothen Hausthür aber waren dieſe Verſe zu leſen:

Tritt in mein Haus, o Liebſte!
Doch ſei Dir unverhehlt:
Drin wird allein nach Küſſen
Gerechnet und gezählt.
Die Liebſte ſprach: O Liebſter,
» Mich ſchrecket nichts zurück! «
» Hab 'Alles wohl erwogen: «
» In Dir nur lebt mein Glück! «
» Und wenn ich's recht bedenke, «
» Kam ich deswegen auch! «
Nun denn, ſpazier 'mit Segen
Herein und üb' den Brauch!
329

Ein Herr in einem blauen Frack und eine Dame mit einem ſehr hohen Buſen komplimen¬ tirten ſich dieſen Verſen gemäß in das Haus hinein, links und rechts an die Mauer gemalt. Vrenchen ſchenkte Sali dagegen ein Herz, auf deſſen einer Seite ein Zettelchen klebte mit den Worten:

Ein ſüßer Mandelkern ſteckt in dem Herze hier,
Doch ſüßer als der Mandelkern iſt meine Lieb 'zu Dir.

Und auf der andern Seite:

Wenn Du dies Herz gegeſſen vergiß dies Sprüchlein nicht:
Viel eh'r als meine Liebe mein braunes Auge bricht!

Sie laſen eifrig die Sprüche und nie iſt etwas Gereimtes und Gedrucktes ſchöner befun¬ den und tiefer empfunden worden, als dieſe Pfefferkuchenſprüche; ſie hielten, was ſie laſen, in beſonderer Abſicht auf ſich gemacht, ſo gut ſchien es ihnen zu paſſen. » Ach, ſeufzte Vren¬ chen, Du ſchenkſt mir ein Haus! Ich habe Dir auch eines und erſt das wahre geſchenkt; denn unſer Herz iſt jetzt unſer Haus, darin wir wohnen, und wir tragen ſo unſere Wohnung mit uns, wie die Schnecken! Andere haben wir330 nicht! « » Dann ſind wir aber zwei Schnecken, von denen jede das Häuschen der andern trägt! « ſagte Sali, und Vrenchen erwiederte: » Deſto weniger dürfen wir von einander gehen, damit jedes ſeiner Wohnung nah bleibt! « Doch wu߬ ten ſie nicht, daß ſie in ihren Reden eben ſo artige Witze machten, als auf den vielfach ge¬ formten Lebkuchen zu leſen waren, und fuhren fort, dieſe ſüße einfache Liebesliteratur zu ſtudi¬ ren, die da ausgebreitet lag und beſonders auf vielfach verzierte kleine und große Herzen ge¬ klebt war. Alles dünkte ſie ſchön und einzig zutreffend; als Vrenchen auf einem vergoldeten Herzen, das wie eine Lyra mit Saiten beſpannt war, las: Mein Herz iſt wie ein Zitherſpiel, rührt man es viel, ſo tönt es viel! ward ihm ſo muſikaliſch zu Muth, daß es glaubte, ſein eigenes Herz klingen zu hören. Ein Napoleons¬ bild war da, welches aber auch der Träger eines verliebten Spruches ſein mußte, denn es ſtand darunter geſchrieben: Groß war der Held Napoleon, ſein Schwert von Stahl, ſein Herz von Thon; meine Liebe trägt ein Röslein frei, doch iſt ihr Herz wie Stahl ſo treu! Wäh¬331 rend ſie aber beiderſeitig in das Leſen vertieft ſchienen, nahm jedes die Gelegenheit wahr, einen heimlichen Einkauf zu machen. Sali kaufte für Vrenchen ein vergoldetes Ringelchen mit einem grünen Glasſteinchen, und Vrenchen einen Ring von ſchwarzem Gemshorn, auf welchem ein gol¬ denes Vergißmeinnicht eingelegt war. Wahr¬ ſcheinlich hatten ſie den gleichen Gedanken, ſich dieſe armen Zeichen bei der Trennung zu geben.

Während ſie in dieſe Dinge ſich verſenkten, waren ſie ſo vergeſſen, daß ſie nicht bemerkten, wie nach und nach ein weiter Ring ſich um ſie gebildet hatte von Leuten, die ſie aufmerkſam und neugierig betrachteten. Denn da viele junge Burſche und Mädchen aus ihrem Dorfe hier waren, ſo waren ſie erkannt worden, und Alles ſtand jetzt in einiger Entfernung um ſie herum und ſah mit Verwunderung auf das wohlge¬ putzte Paar, welches in andächtiger Innigkeit die Welt um ſich her zu vergeſſen ſchien. » Ei ſeht! hieß es, das iſt ja wahrhaftig das Vren¬ chen Marti und der Sali aus der Stadt! Die haben ſich ja ſäuberlich gefunden und verbunden! Und welche Zärtlichkeit und Freundſchaft, ſeht332 doch, ſeht! Wo die wohl hinaus wollen? « Die Verwunderung dieſer Zuſchauer war ganz ſeltſam gemiſcht aus Mitleid mit dem Unglück, aus Ver¬ achtung der Verkommenheit und Schlechtigkeit der Ältern und aus Neid gegen das Glück und die Einigkeit des Paares, welches auf eine ganz ungewöhnliche und faſt vornehme Weiſe verliebt und aufgeregt ſchien und in dieſer rückhaltloſen Hingebung und Selbſtvergeſſenheit dem rohen Völkchen eben ſo fremd erſchien, wie in ſeiner Verlaſſenheit und Armuth. Als ſie daher endlich aufwachten und um ſich ſahen, erſchauten ſie nichts als gaffende Geſichter von allen Seiten, Niemand grüßte ſie und ſie wußten nicht, ſollten ſie Jemand grüßen und dieſe Verfremdung und Unfreundlichkeit war von beiden Seiten mehr Verlegenheit als Abſicht. Es wurde Vrenchen bang und heiß, es wurde bleich und roth, Sali nahm es aber bei der Hand und führte das arme Weſen hinweg, das ihm mit ſeinem Haus in der Hand willig folgte, obgleich die Trompe¬ ten im Wirthshauſe luſtig ſchmetterten und Vrenchen ſo gern tanzen wollte. » Hier können wir nicht tanzen! ſagte Sali, als ſie ſich etwas333 entfernt hatten, wir würden hier wenig Freude haben, wie es ſcheint! « » Jedenfalls « ſagte Vrenchen traurig, » es wird auch am beſten ſein, wir laſſen es ganz bleiben und ich ſehe, wo ich ein Unterkommen finde! « » Nein, « rief Sali, » Du ſollſt einmal tanzen, ich habe Dir darum Schuhe gebracht! Wir wollen gehen, wo das arme Volk ſich luſtig macht, zu dem wir jetzt auch gehören, da werden ſie uns nicht verachten; im Paradiesgärtchen wird jedesmal auch getanzt, wenn hier Kirchweih iſt, da es in die Kirchge¬ meinde gehört, und dorthin wollen wir gehen, dort kannſt Du zur Noth auch übernachten. « Vrenchen ſchauerte zuſammen bei dem Gedanken, nun zum erſten Mal an einem unbekannten Ort zu ſchlafen, doch folgte es willenlos ſeinem Füh¬ rer, der jetzt alles war, was es in der Welt hatte. Das Paradiesgärtlein war ein ſchön¬ gelegenes Wirthshaus an einer einſamen Berg¬ halde, das weit über das Land weg ſah, in welchem aber an ſolchen Vergnügungstagen nur das ärmere Volk, die Kinder der ganz kleinen Bauern und Tagelöhner und ſogar mancherlei fahrendes Geſinde verkehrte. Vor hundert Jah¬334 ren war es als ein kleines Landhaus von einem reichen Sonderling gebaut worden, nach welchem Niemand mehr da wohnen mochte, und da der Platz ſonſt zu nichts zu gebrauchen war, ſo ge¬ rieth der wunderliche Landſitz in Verfall und zuletzt in die Hände eines Wirthes, der da ſein Weſen trieb. Der Name und die demſelben entſprechende Bauart waren aber dem Hauſe geblieben. Es beſtand nur aus einem Erdge¬ ſchoß, über welchem ein offener Eſtrich gebaut war, deſſen Dach an den vier Ecken von Bil¬ dern aus Sandſtein getragen wurde, ſo die vier Erzengel vorſtellten und gänzlich verwittert wa¬ ren. Auf dem Geſimſe des Daches ſaßen rings herum kleine muſizirende Engel mit dicken Kö¬ pfen und Bäuchen, den Triangel, die Geige, die Flöte, Cimbel und Tamburin ſpielend, ebenfalls aus Sandſtein, und die Inſtrumente waren ur¬ ſprünglich vergoldet geweſen. Die Decke inwen¬ dig, ſowie die Bruſtwehr des Eſtrichs und das übrige Gemäuer des Hauſes waren mit ver¬ waſchenen Freskomalereien bedeckt, welche luſtige Engelſcharen, ſowie ſingende und tanzende Heilige darſtellten. Aber alles war verwiſcht und un¬335 deutlich wie ein Traum und überdies reichlich mit Weinreben überſponnen, und blaue reifende Trauben hingen überall in dem Laube. Um das Haus herum ſtanden verwilderte Kaſtanienbäume, und knorrige ſtarke Roſenbüſche, auf eigene Hand fortlebend, ſtanden da und dort ſo wild herum, wie anderswo die Hollunderbäume. Der Eſtrich diente zum Tanzſaal; als Sali mit Vrenchen daher kam, ſahen ſie ſchon von weitem die Paare unter dem offenen Dache ſich drehen, und rund um das Haus zechten und lärmten eine Menge luſtiger Gäſte. Vrenchen, welches andächtig und wehmüthig ſein Liebeshaus trug, glich einer hei¬ ligen Kirchenpatronin auf alten Bildern, welche das Modell eines Domes oder Kloſters auf der Hand hält, ſo ſie geſtiftet; aber aus der from¬ men Stiftung, die ihm im Sinne lag, konnte nichts werden. Als es aber die wilde Muſik hörte, welche vom Eſtrich ertönte, vergaß es ſein Leid und verlangte endlich nichts, als mit Sali zu tanzen. Sie drängten ſich durch die Gäſte, die vor dem Hauſe ſaßen und in der Stube, verlumpte Leute aus Seldwyla, die eine billige Landpartie machten, armes Volk von allen En¬336 den, und ſtiegen die Treppe hinauf und ſogleich drehten ſie ſich im Walzer herum, keinen Blick von einander abwendend. Erſt als der Walzer zu Ende, ſahen ſie ſich um; Vrenchen hatte ſein Haus zerdrückt und zerbrochen und wollte eben betrübt darüber werden, als es noch mehr er¬ ſchrak über den ſchwarzen Geiger, in deſſen Nähe ſie ſtanden. Er ſaß auf einer Bank, die auf einem Tiſche ſtand und ſah ſo ſchwarz aus wie gewöhnlich; nur hatte er heute einen grünen Tannenbuſch auf ſein Hütchen geſteckt, zu ſeinen Füßen hatte er eine Flaſche Rothwein und ein Glas ſtehen, welche er nie umſtieß, obgleich er fortwährend mit den Beinen ſtrampelte, wenn er geigte, und ſo eine Art von Eiertanz damit vollbrachte. Neben ihm ſaß noch ein ſchöner aber trauriger junger Menſch mit einem Wald¬ horn und ein Bucklicher ſtand an einer Baßgeige. Sali erſchrak auch, als er den Geiger erblickte; dieſer grüßte ſie aber auf das Freundlichſte und rief: » Ich habe doch gewußt, daß ich euch noch einmal aufſpielen werde! So macht euch nur recht luſtig, ihr Schätzchen und thut mir Be¬ ſcheid! « Er bot Sali das volle Glas und337 Sali trank und that ihm Beſcheid. Als der Geiger ſah, wie erſchrocken Vrenchen war, ſuchte er ihm freundlich zuzureden und machte einige faſt anmuthige Scherze, die es zum Lachen brach¬ ten. Es ermunterte ſich wieder und nun waren ſie froh, hier einen Bekannten zu haben und gewiſſermaßen unter dem beſonderen Schutze des Geigers zu ſtehen. Sie tanzten nun ohne Un¬ terlaß, ſich und die Welt vergeſſend in dem Drehen, Singen und Lärmen, welches in und außer dem Hauſe rumorte und vom Berge weit in die Gegend hinausſchallte, welche ſich allmälig in den ſilbernen Duft des Herbſtabends hüllte. Sie tanzten bis es dunkelte und der größere Theil der luſtigen Gäſte ſich ſchwankend und johlend nach allen Seiten entfernte. Was noch zurückblieb, war das eigentliche Hudelvölkchen, welches nirgends zu Hauſe war und ſich zum gu¬ ten Tag auch noch eine gute Nacht machen wollte. Unter dieſen waren einige, welche mit dem Gei¬ ger gut bekannt ſchienen und fremdartig ausſahen in ihrer zuſammengewürfelten Tracht. Beſonders ein junger Burſche fiel auf, der eine grüne Mancheſterjacke trug und einen zerknittertenKeller, die Leute von Seldwyla. 22338Strohhut, um den er einen Kranz von Eber¬ eſchen oder Vogelbeerbüſcheln gebunden hatte. Dieſer führte eine wilde Perſon mit ſich, die einen Rock von kirſchrothem weiß getüpfeltem Kattun trug und ſich einen Reifen von Reben¬ ſchoßen um den Kopf gebunden, ſo daß an jeder Schläfe eine blaue Traube hing. Dies Paar war das ausgelaſſenſte von allen, tanzte und ſang unermüdlich und war in allen Ecken zu¬ gleich. Dann war noch ein ſchlankes hübſches Mädchen da, welches ein ſchwarzſeidenes abge¬ ſchoſſenes Kleid trug und ein weißes Tuch um den Kopf, daß der Zipfel über den Rücken fiel. Das Tuch zeigte rothe, eingewobene Streifen, und war eine gute leinene Handzwehle oder Ser¬ viette. Darunter leuchteten aber ein paar veil¬ chenblaue Augen hervor. Um den Hals und auf der Bruſt hing eine ſechsfache Kette von Vogelbeeren auf einen Faden gezogen und erſetzte die ſchönſte Korallenſchnur. Dieſe Geſtalt tanzte fortwährend allein mit ſich ſelbſt und verweigerte hartnäckig mit einem der Geſellen zu tanzen. Nichts deſto minder bewegte ſie ſich anmuthig und leicht herum und lächelte jedesmal, wenn339 ſie ſich an dem traurigen Waldhornbläſer vor¬ überdrehte, wozu dieſer immer den Kopf ab¬ wandte. Noch einige andere vergnügte Frau¬ ensleute waren da mit ihren Beſchützern, alle von dürftigem Ausſehen, aber ſie waren um ſo luſtiger und in beſter Eintracht unter einander. Als es gänzlich dunkel war, wollte der Wirth keine Lichter anzünden, da er behauptete, der Wind löſche ſie aus, auch ginge der Vollmond ſogleich auf und für das, was ihm dieſe Herr¬ ſchaften einbrächten, ſei das Mondlicht gut genug. Dieſe Eröffnung wurde mit großem Wohlgefallen aufgenommen; die ganze Geſellſchaft ſtellte ſich an die Brüſtung des luſtigen Saales und ſah dem Aufgange des Geſtirnes entgegen, deſſen Röthe ſchon am Horizonte ſtand, und ſobald der Mond aufging und ſein Licht quer durch den Eſtrich des Paradiesgärtels warf, tanzten ſie im Mondſchein weiter, und zwar ſo ſtill, artig und ſeelenvergnügt, als ob ſie im Glanze von hun¬ dert Wachskerzen tanzten. Das ſeltſame Licht machte Alle vertrauter und ſo konnten Sali und Vrenchen nicht umhin, ſich unter die gemeinſame Luſtbarkeit zu miſchen und auch mit andern zu22 *340tanzen. Aber jedesmal, wenn ſie ein Weilchen getrennt geweſen, flogen ſie zuſammen und fei¬ erten ein Wiederſehen, als ob ſie ſich Jahre lang geſucht und endlich gefunden. Sali machte ein trauriges und unmuthiges Geſicht wenn er mit einer Andern tanzte und drehte fortwährend das Geſicht nach Vrenchen hin, welches ihn nicht anſah, wenn es vorüberdrehte, glühte wie eine Purpurroſe und überglücklich ſchien, mit wem es auch tanzte. » Biſt Du eiferſüchtig, Sali? « fragte es ihn, als die Muſikanten müde waren und aufhörten. » Gott bewahre! « ſagte er, » ich wüßte nicht, wie ich es anfangen ſollte! « » Warum biſt Du denn ſo bös, wenn ich mit Andern tanze? « » Ich bin nicht darüber bös, ſondern weil ich mit Andern tanzen muß! Ich kann kein anderes Mädchen ausſtehen, es iſt mir, als wenn ich ein Stück Holz im Arm habe, wenn Du es nicht biſt! « » Und Du? wie geht es Dir? « » O, ich bin immer wie im Himmel, wenn ich nur tanze und weiß, daß Du zugegen biſt! Aber ich glaube, ich würde ſo¬ gleich todt umfallen, wenn Du weggingeſt und mich da ließeſt! « Sie waren hinabgegangen341 und ſtanden vor dem Hauſe; Vrenchen umſchloß ihn mit beiden Armen, ſchmiegte ſeinen heißen zitternden Leib an ihn, drückte ſeine glühende Wange, die von heißen Thränen feucht war, an ſein Geſicht und ſagte ſchluchzend: » Wir können nicht zuſammen ſein und doch kann ich nicht von Dir laſſen, nicht einen Augenblick mehr, nicht eine Minute! « Sali umarmte und drückte das Mädchen heftig an ſich und bedeckte es mit Küſ¬ ſen. Seine verwirrten Gedanken rangen nach einem Ausweg, aber er ſah keinen. Wenn auch das Elend und die Hoffnungsloſigkeit ſeiner Her¬ kunft zu überwinden geweſen wären, ſo war ſeine Jugend und unerfahrene Leidenſchaft nicht be¬ ſchaffen, eine lange Zeit der Prüfung und Ent¬ ſagung vorzunehmen und zu überſehen, und dann wäre erſt noch Vrenchens Vater da geweſen, welchen er zeitlebens elend gemacht. Das Ge¬ fühl, in der bürgerlichen Welt nur in einer ganz ehrlichen und gewiſſenfreien Ehe glücklich ſein zu können, war in ihm eben ſo lebendig wie in Vrenchen und in beiden verlaſſenen Weſen war es die letzte Flamme der Ehre, die in früheren Zeiten in ihren Häuſern geherrſcht hatte und342 welche die ſich ſicher fühlenden Väter durch einen unſcheinbaren Mißgriff über den Haufen gewor¬ fen, als ſie, eben dieſe Ehre zu äufnen wähnend durch Vermehrung ihres Eigenthums, ſo gedan¬ kenlos ſich das Gut eines Verſchollenen aneig¬ neten, ganz gefahrlos, wie ſie meinten. Das geſchieht nun freilich alle Tage; aber zuweilen ſtellt das Schickſal ein Exempel auf und läßt zwei ſolche Äufner ihrer Hausehre und ihres Gutes zuſammentreffen, die ſich dann unfehlbar aufreiben und auffreſſen wie zwei wilde Thiere. Denn die Mehrer des Reiches verrechnen ſich nicht nur auf den Thronen, ſondern zuweilen auch in den niederſten Hütten und langen ganz am entgegengeſetzten Ende an, als wohin ſie zu kommen trachteten und der Schild der Ehre iſt im Umſehen eine Tafel der Schande. Sali und Vrenchen hatten aber noch die Ehre ihres Hau¬ ſes geſehen in zarten Kinderjahren und erinner¬ ten ſich, wie wohlgepflegte Kinderchen ſie gewe¬ ſen und wie ihre Väter ausgeſehen wie andere Männer, geachtet und ſicher. Dann waren ſie auf lange getrennt worden und als ſie ſich wie¬ derfanden, ſahen ſie in ſich zugleich das ver¬343 ſchwundene Glück des Hauſes und beider Nei¬ gung klammerte ſich nur um ſo heftiger in ein¬ ander. Sie mochten ſo gern fröhlich und glück¬ lich ſein, aber nur auf einem guten Grund und Boden, und dieſer ſchien ihnen unerreichbar, während ihr wallendes Blut am liebſten gleich zuſammengeſtrömt wäre. » Nun iſt es Nacht, rief Vrenchen, und wir ſollen uns trennen! « » Ich ſoll nach Hauſe gehen und Dich allein laſſen? « rief Sali, » nein, das kann ich nicht! « » Dann wird es Tag werden und nicht beſſer um uns ſtehen! «

» Ich will euch einen Rath geben, ihr när¬ riſchen Dinger! « tönte eine ſchrille Stimme hin¬ ter ihnen und der Geiger trat vor ſie hin. » Da ſteht ihr, ſagte er, und wißt nicht wo aus und hättet euch gern. Ich rathe euch, nehmt euch, wie ihr ſeid und ſäumet nicht. Kommt mit mir und meinen guten Freunden in die Berge, da brauchet ihr keinen Pfarrer, kein Geld, keine Schriften, keine Ehre, kein Bett, nichts als eueren guten Willen! Es iſt gar nicht ſo übel bei uns, geſunde Luft und genug zu eſſen, wenn man thätig iſt; die grünen Wälder ſind unſer344 Haus, wo wir uns lieb haben, wie es uns ge¬ fällt, und im Winter machen wir uns die wärm¬ ſten Schlupfwinkel oder kriechen den Bauern in's warme Heu. Alſo kurz entſchloſſen, haltet gleich hier Hochzeit und kommt mit uns, dann ſeid ihr aller Sorgen los und habt euch für immer und ewiglich, ſo lang es euch gefällt wenigſtens; denn alt werdet ihr bei unſerem freien Leben, das könnt ihr glauben! Denkt nicht etwa, daß ich euch nachtragen will, was eure Alten an mir gethan! Nein! es macht mir zwar Vergnügen, euch da angekommen zu ſehen, wo ihr ſeid; allein damit bin ich zufrieden, und werde euch behülf¬ lich und dienſtfertig ſein, wenn ihr mir folgt. « Er ſagte das wirklich in einem aufrichtigen und gemüthlichen Tone. » Nun, beſinnt euch ein bis¬ chen, aber folget mir, wenn ich euch gut zum Rath bin! Laßt fahren die Welt und nehmet euch und fraget Niemandem was nach! Denkt an das luftige Hochzeitbett im tiefen Wald oder auf einem Heuſtock, wenn es euch zu kalt iſt! « Damit ging er in's Haus. Vrenchen zitterte in Salis Armen und dieſer ſagte: » Was meinſt Du dazu? Mich dünkt, es wäre nicht übel,345 die ganze Welt in den Wind zu ſchlagen und uns dafür zu lieben ohne Hinderniß und Schran¬ ken! « Er ſagte es aber mehr als einen ver¬ zweifelten Scherz, denn im Ernſt. Vrenchen aber erwiederte ganz treuherzig und küßte ihn: » Nein, dahin möchte ich nicht gehen, denn da geht es auch nicht nach meinem Sinne zu. Der junge Menſch mit dem Waldhorn und das Mädchen in dem ſeidenen Rock gehören auch ſo zu einan¬ der und ſollen ſehr verliebt geweſen ſein. Nun ſei letzte Woche die Perſon ihm zum erſten Mal untreu geworden, was ihm nicht in den Kopf wolle und deshalb ſei er ſo traurig und ſchmolle mit ihr und mit den Andern, die ihn auslachen. Sie aber thut eine muthwillige Buße, indem ſie allein tanzt und mit Niemand ſpricht, und lacht ihn auch nur aus damit. Dem armen Muſi¬ kanten ſieht man es jedoch an, daß er ſich noch heute mit ihr verſöhnen wird. Wo es aber ſo hergeht, möchte ich nicht ſein, denn nie möcht 'ich Dir untreu werden, wenn ich auch ſonſt noch alles ertragen würde, um Dich zu beſitzen! « Indeſſen aber fieberte das arme Vrenchen immer heftiger an Salis Bruſt; denn ſchon ſeit dem346 Mittag, wo jene Wirthin es für eine Braut gehalten und es eine ſolche ohne Widerrede vor¬ geſtellt, lohte ihm das Brautweſen im Blute und je hoffnungsloſer es war, um ſo wilder und unbezwinglicher. Dem Sali erging es eben ſo ſchlimm, da die Reden des Geigers, ſo we¬ nig er ihnen folgen mochte, dennoch ſeinen Kopf verwirrten und er ſagte mit rathlos ſtockender Stimme: » Komm herein, wir müſſen wenig¬ ſtens noch was eſſen und trinken. Sie gingen in die Gaſtſtube, wo Niemand mehr war, als die kleine Geſellſchaft der Heimathloſen, welche bereits um einen Tiſch ſaß und eine ſpärliche Mahlzeit hielt. » Da kommt unſer Hochzeit¬ paar! « rief der Geiger, » jetzt ſeid luſtig und fröhlich und laßt euch zuſammengeben! « Sie wurden an den Tiſch genöthigt und flüchteten ſich vor ſich ſelbſt an denſelben hin; ſie waren froh, nur für den Augenblick unter Leuten zu ſein. Sali beſtellte Wein und reichlichere Spei¬ ſen, und es begann eine große Fröhlichkeit. Der Schmollende hatte ſich mit der Untreuen ver¬ ſöhnt und das Paar liebkoſte ſich in begieriger Seligkeit; das andere wilde Paar ſang und347 trank und ließ es ebenfalls nicht an Liebesbe¬ zeugungen fehlen, und der Geiger nebſt dem buckligen Baßgeiger lärmten in's Blaue hinein. Sali und Vrenchen waren ſtill und hielten ſich umſchlungen; auf einmal gebot der Geiger Stille und führte eine ſpaßhafte Ceremonie auf, welche eine Trauung vorſtellen ſollte. Sie mußten ſich die Hände geben und die Geſellſchaft ſtand auf und trat der Reihe nach zu ihnen, um ſie zu beglückwünſchen und in ihrer Verbrüderung will¬ kommen zu heißen. Sie ließen es geſchehen, ohne ein Wort zu ſagen, und betrachteten es als einen Spaß, während es ſie doch kalt und heiß durchſchauerte.

Die kleine Verſammlung wurde jetzt immer lauter und aufgeregter, angefeuert durch den ſtärkeren Wein, bis plötzlich der Geiger zum Aufbruch mahnte. » Wir haben weit, rief er, und Mitternacht iſt vorüber! Auf! wir wollen dem Brautpaar das Geleit geben und ich will vorausgeigen, daß es eine Art hat! « Da die rathloſen Verlaſſenen nichts beſſeres wußten und überhaupt ganz verwirrt waren, ließen ſie aber¬ mals geſchehen, daß man ſie voranſtellte und348 die übrigen zwei Paare einen Zug hinter ihnen formirten, welchen der Bucklige beſchloß mit ſei¬ ner Baßgeige auf dem Rücken. Der Schwarze zog voran und ſpielte auf ſeiner Geige wie be¬ ſeſſen den Berg hinunter, und die anderen lach¬ ten, ſangen und ſprangen hintendrein. So ſtrich der tolle nächtliche Zug durch die ſtillen Felder und durch das Heimathdorf Salis und Vrenchens, deſſen Bewohner längſt ſchliefen.

Als ſie durch die ſtillen Gaſſen kamen und an ihren verlorenen Vaterhäuſern vorüber, er¬ griff ſie eine ſchmerzhaft wilde Laune und ſie tanzten mit den Andern um die Wette hinter dem Geiger her, küßten ſich, lachten und wein¬ ten. Sie tanzten auch den Hügel hinauf, über welchen der Geiger ſie anführte, wo die drei Äcker lagen, und oben ſtrich der ſchwärzliche Kerl die Geige noch einmal ſo wild, ſprang und hüpfte wie ein Geſpenſt, und ſeine Gefährten blieben nicht zurück in der Ausgelaſſenheit, ſo daß es ein wahrer Blocksberg war auf der ſtil¬ len Höhe; ſelbſt der Bucklige ſprang keuchend mit ſeiner Laſt herum und keines ſchien mehr das andere zu ſehen. Sali faßte Vrenchen feſter349 in den Arm und zwang es ſtill zu ſtehen; denn er war zuerſt zu ſich gekommen. Er küßte es, damit es ſchweige, heftig auf den Mund, da es ſich ganz vergeſſen hatte und laut ſang. Es verſtand ihn endlich und ſie ſtanden ſtill und lauſchend, bis ihr tobendes Hochzeitgeleite das Feld entlang geraſt war und, ohne ſie zu ver¬ miſſen, am Ufer des Stromes hinauf ſich verzog. Die Geige, das Gelächter der Mädchen und die Jauchzer der Burſche tönten aber noch eine gute Zeit durch die Nacht, bis zuletzt alles verklang und ſtill wurde.

» Dieſen ſind wir entflohen, ſagte Sali, aber wie entfliehen wir uns ſelbſt? Wie meiden wir uns? «

Vrenchen war nicht im Stande zu antworten und lag hochaufathmend an ſeinem Halſe. » Soll ich Dich nicht lieber ins Dorf zurückbringen und Leute wecken, daß ſie Dich aufnehmen? Mor¬ gen kannſt Du ja dann Deines Weges ziehen und gewiß wird es Dir wohl gehen, Du kommſt überall fort! «

» Fortkommen, ohne Dich! «

» Du mußt mich vergeſſen! «

350

» Das werde ich nie! « Könnteſt denn Du es thun!

» Darauf kommt's nicht an, mein Herz! ſagte Sali und ſtreichelte ihm die heißen Wangen, je nachdem es ſie leidenſchaftlich an ſeiner Bruſt herumwarf, « es handelt ſich jetzt nur um Dich; Du biſt noch ſo ganz jung und es kann Dir noch auf allen Wegen gut gehen! «

» Und Dir nicht auch, Du alter Mann? «

» Komm! « ſagte Sali und zog es fort. Aber ſie gingen nur einige Schritte und ſtanden wie¬ der ſtill, um ſich bequemer zu umſchlingen und zu herzen. Die Stille der Welt ſang und mu¬ ſizirte ihnen durch die Seelen, man hörte nur den Fluß unten ſacht und lieblich rauſchen im langſamen Ziehen.

» Wie ſchön iſt es da rings herum! Hörſt Du nicht etwas tönen, wie ein ſchöner Geſang oder ein Geläute! «

» Es iſt das Waſſer das rauſcht! Sonſt iſt alles ſtill. «

Nein, es iſt noch etwas anderes, hier, dort hinaus, überall tönt's! «

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» Ich glaube, wir hören unſer eigenes Blut in unſern Ohren rauſchen! «

Sie horchten ein Weilchen auf dieſe ein¬ gebildeten oder wirklichen Töne, welche von der großen Stille herrührten oder welche ſie mit den magiſchen Wirkungen des Mondlichtes ver¬ wechſelten, welches nah und fern über die grauen Herbſtnebel wallte, welche tief auf den Gründen lagen. Plötzlich fiel Vrenchen etwas ein; es ſuchte in ſeinem Bruſtgewand und ſagte: » Ich habe Dir noch ein Andenken gekauft, das ich Dir geben wollte! « Und es gab ihm den einfachen Ring und ſteckte ihm denſelben ſelbſt an den Finger. Sali nahm ſein Ringlein auch hervor und ſteckte ihn an Vrenchens Hand, indem er ſagte: So haben wir die gleichen Ge¬ danken gehabt! Vrenchen hielt ſeine Hand in das bleiche Silberlicht und betrachtete den Ring. » Ei, wie ein feiner Ring! « ſagte es lachend; » nun ſind wir aber doch verlobt und verſprochen, Du biſt mein Mann und ich Deine Frau, wir wollen es einmal einen Augenblick lang denken, nur bis jener Nebelſtreif am Mond vorüber iſt352 oder bis wir zwölf gezählt haben! Küſſe mich zwölfmal! «

Sali liebte gewiß eben ſo ſtark als Vren¬ chen, aber die Heirathsfrage war in ihm doch nicht ſo leidenſchaftlich lebendig als ein beſtimm¬ tes Entweder oder, als ein unmittelbares Sein oder Nichtſein, wie in Vrenchen, welches nur das Eine zu fühlen fähig war und mit lei¬ denſchaftlicher Entſchiedenheit unmittelbar Tod oder Leben darin ſah. Aber jetzt ging ihm end¬ lich ein Licht auf und das weibliche Gefühl des jungen Mädchens ward in ihm auf der Stelle zu einem wilden und heißen Verlangen und eine glühende Klarheit erhellte ihm die Sinne. So heftig er Vrenchen ſchon umarmt und liebkoſ't hatte, that er es jetzt doch ganz anders und ſtürmiſcher und überſäete es mit Küſſen. Vren¬ chen fühlte trotz aller eigenen Leidenſchaft auf der Stelle dieſen Wechſel und ein heftiges Zit¬ tern durchfuhr ſein ganzes Weſen, aber ehe jener Nebelſtreif am Monde vorüber war, war es auch davon ergriffen. Im heftigen Schmeicheln und Ringen begegneten ſich ihre ringgeſchmückten Hände und faßten ſich feſt, wie von ſelbſt eine Trauung353 vollziehend, ohne den Befehl eines Willens. Sa¬ lis Herz klopfte bald wie mit Hämmern, bald ſtand es ſtill, er athmete ſchwer und ſagte leiſe: Es giebt Eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieſer Stunde und gehen dann aus der Welt dort iſt das tiefe Waſſer dort ſcheidet uns Niemand mehr und wir ſind zuſam¬ men geweſen ob kurz oder lang, das kann uns dann gleich ſein.

Vrenchen ſagte ſogleich: » Sali was Du da ſagſt, habe ich ſchon lang bei mir gedacht und ausgemacht, nämlich daß wir ſterben könn¬ ten und dann Alles vorbei wäre ſo ſchwör 'mir es, daß Du es mit mir thun willſt! «

» Es iſt ſchon ſo gut wie gethan, es nimmt Dich Niemand mehr aus meiner Hand, als der Tod! « rief Sali außer ſich. Vrenchen aber athmete hoch auf, Thränen der Freude entſtröm¬ ten ſeinen Augen; es raffte ſich auf und ſprang leicht wie ein Vogel über das Feld gegen den Fluß hinunter. Sali eilte ihm nach; denn er glaubte, es wolle ihm entfliehen, und Vrenchen glaubte er wolle es zurückhalten, ſo ſprangen ſie einander nach[und] Vrenchen lachte wie einKeller, die Leute von Seldwyla. 23354Kind, welches ſich nicht will fangen laſſen. » Reut es Dich ſchon? « rief Eines zum Andern, als ſie am Fluſſe angekommen waren und ſich ergriffen; » nein! es freut mich immer mehr! « erwiederte ein Jedes. Aller Sorgen ledig gingen ſie am Ufer hinunter und überholten die eilenden Waſſer, ſo haſtig ſuchten ſie eine Stätte, um ſich nieder¬ zulaſſen; denn ihre Leidenſchaft ſah jetzt nur den Rauſch der Seligkeit, der in ihrer Vereinigung lag, und der ganze Werth und Inhalt des übri¬ gen Lebens drängte ſich in dieſem zuſammen; was danach kam, Tod und Untergang, war ih¬ nen ein Hauch, ein Nichts, und ſie dachten we¬ niger daran, als ein Leichtſinniger denkt, wie er den andern Tag leben will, wenn er ſeine letzte Habe verzehrt.

» Meine Blumen gehen mir voraus, rief Vrenchen, ſieh, ſie ſind ganz dahin und ver¬ welkt! « Es nahm ſie von der Bruſt, warf ſie ins Waſſer und ſang laut dazu: » Doch ſüßer als ein Mandelkern iſt meine Lieb 'zu Dir! «

» Halt! rief Sali, hier iſt Dein Brautbett! «

Sie waren an einen Fahrweg gekommen, der vom Dorfe her an den Fluß führte, und355 hier war eine Landungsſtelle, wo ein großes Schiff, hoch mit Heu beladen, angebunden lag. In wilder Laune begann er unverweilt die ſtar¬ ken Seile loszubinden, Vrenchen fiel ihm lachend in den Arm und rief: » Was willſt Du thun? Wollen wir den Bauern ihr Heuſchiff ſtehlen zu guter Letzt? « » Das ſoll die Ausſteuer ſein, die ſie uns geben, eine ſchwimmende Bettſtelle und ein Bett, wie noch keine Braut gehabt! Sie werden überdies ihr Eigenthum unten wieder fin¬ den, wo es ja doch hin ſoll und werden es nicht wiſſen, was damit geſchehen iſt. Sieh, ſchon ſchwankt es und will hinaus! «

Das Schiff lag einige Schritte vom Ufer entfernt im tieferen Waſſer. Sali hob Vrenchen mit ſeinen Armen hoch empor und ſchritt durch das Waſſer gegen das Schiff; aber es liebkoſ'te ihn ſo heftig ungeberdig und zappelte wie ein Fiſch, daß er im ziehenden Waſſer keinen Stand halten konnte. Es ſtrebte Geſicht und Hände ins Waſſer zu tauchen und rief: » Ich will auch das kühle Waſſer verſuchen! Weißt Du noch, wie kalt und naß unſere Hände waren, als wir ſie uns zum erſten Mal gaben? Fiſche fingen356 wir damals, jetzt werden wir ſelber Fiſche ſein und zwei ſchöne große! « » Sei ruhig, Du lieber Teufel! « ſagte Sali, der Mühe hatte zwiſchen dem tobenden Liebchen und den Wellen ſich auf¬ recht zu halten, » es zieht mich ſonſt fort! « Er hob ſeine Laſt in das Schiff und ſchwang ſich nach; er hob ſie auf die hochgebettete weiche und duftende Ladung und ſchwang ſich auch hinauf, und als ſie oben ſaßen, trieb das Schiff allmälig in die Mitte des Stromes hinaus und ſchwamm dann, ſich langſam drehend, zu Thal.

Der Fluß zog bald durch hohe dunkle Wäl¬ der, die ihn überſchatteten, bald durch offenes Land; bald an ſtillen Dörfern vorbei, bald an einzelnen Hütten; hier gerieth er in eine Stille, daß er einem ruhigen See glich und das Schiff beinah ſtill hielt, dort ſtrömte er um Wäl¬ der und ließ die ſchlafenden Ufer ſchnell hin¬ ter ſich; und als die Morgenröthe aufſtieg, tauchte zugleich eine Stadt mit ihren Thürmen aus dem ſilbergrauen Strome. Der untergehende Mond, roth wie Gold, legte eine glänzende Bahn den Strom hinauf und auf dieſer kam das Schiff langſam überquer gefahren. Als es ſich der357 Stadt näherte, glitten im Froſte des Herbſtmor¬ gens zwei bleiche Geſtalten, die ſich feſt umwan¬ den, von der dunklen Maſſe herunter in die kalten Fluthen.

Das Schiff legte ſich eine Weile nachher unbeſchädigt an eine Brücke und blieb da ſtehen. Als man ſpäter unterhalb der Stadt die Leichen fand und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu leſen, zwei junge Leute, die Kinder zweier blutarmen zu Grunde gegangenen Familien, welche in unverſöhnlicher Feindſchaft lebten, hätten im Waſſer den Tod geſucht, nach¬ dem ſie einen ganzen Nachmittag herzlich mit einander getanzt und ſich beluſtigt auf einer Kirch¬ weih. Es ſei dies Ereigniß vermuthlich in Ver¬ bindung zu bringen mit einem Heuſchiff aus je¬ ner Gegend, welches ohne Schiffleute in der Stadt gelandet ſei, und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlaſſene Hoch¬ zeit zu halten, abermals ein Zeichen von der um ſich greifenden Entſittlichung und Verwilde¬ rung der Leidenſchaften.

Was die Sittlichkeit betrifft, ſo bezweckt dieſe358 Erzählung keineswegs, die That zu beſchönigen und zu verherrlichen; denn höher als dieſe ver¬ zweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entſa¬ gendes Zuſammenraffen und ein ſtilles Leben voll treuer Mühe und Arbeit geweſen, und da dieſe die mächtigſten Zauberer ſind in Verbindung mit der Zeit, ſo hätten ſie vielleicht noch alles möglich ge¬ macht; denn ſie verändern mit ihrem unmerklichen Einfluſſe die Dinge, vernichten die Vorurtheile, ſtellen die Ehre her und erneuen das Gewiſſen, ſo daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung iſt.

Was aber die Verwilderung der Leidenſchaf¬ ten angeht, ſo betrachten wir dieſen und ähnliche Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß dieſes allein es iſt, welches die Flamme der kräf¬ tigen Empfindung und Leidenſchaft nährt und wenigſtens die Fähigkeit des Sterbens für eine Herzensſache aufbewahrt, daß ſie zum Troſte der Romanzendichter nicht aus der Welt verſchwindet. Das gleichgültige Eingehen und Löſen von » Ver¬ hältniſſen « unter den gebildeten Ständen von heute, das ſelbſtſüchtige frivole Spiel mit den¬ ſelben, die große Leichtigkeit, mit welcher heut¬359 zutage junge Leutchen zu trennen und auseinan¬ der zu bringen ſind, wenn ihre Neigung irgend außer der Berechnung liegt, ſind zehnmal wider¬ wärtiger, als jene Unglücksfälle, welche jetzt die Protokolle der Polizeibehörden füllen und ehedem die Schreibtafeln der Balladenſänger füllten. Wir ſehen alle Tage etwa einen wohlgekleideten Herrn, der ſeine Frau oder Braut mitten auf der Straße plötzlich ſtehen läßt und auf die Seite ſpringt, weil irgend einem Schlächter eine alte Kuh entſprungen iſt und bedrohlich dahergerannt kommt. Höchſtens aus der Ferne, hinter einer Hausthür hervor, ſchwingt er ſein Stöckchen und macht: Bſcht! Bſcht! Solche Leute werden ſich allerdings nicht aus Eigenſinn und Leidenſchaft um's Leben bringen, wenn man ſie trennen will. Ebenſowenig diejenigen, welche in allen Zeitun¬ gen ihre » ſtattgefundene « Verlobung anzeigen und vierzehn Tage darauf einen Inſeratenkrieg führen, wo jeder Part ſich rühmt und behaup¬ tet, das » Verhältniß « zuerſt abgebrochen zu haben.

360

Die drei gerechten Kammmacher.

Die Leute von Seldwyla haben bewieſen, daß eine ganze Stadt von Ungerechten oder Leicht¬ ſinnigen zur Noth fortbeſtehen kann im Wechſel der Zeiten und des Verkehrs; die drei Kamm¬ macher aber, daß nicht drei Gerechte lang unter einem Dache leben können, ohne ſich in die Haare zu gerathen. Es iſt hier aber nicht die himm¬ liſche Gerechtigkeit gemeint oder die natürliche Gerechtigkeit des menſchlichen Gewiſſens, ſondern jene blutloſe Gerechtigkeit, welche aus dem Va¬ terunſer die Bitte geſtrichen hat: Und vergieb uns unſere Schulden, wie auch wir vergeben unſern Schuldnern! weil ſie keine Schulden macht und auch keine » ausſtehen « hat; welche Nie¬ mandem zu Leid lebt, aber auch Niemandem zu Gefallen, wohl arbeiten und erwerben, aber nichts361 ausgeben will und an der Arbeitstreue nur einen Nutzen, aber keine Freude findet. Solche Ge¬ rechte werfen keine Laternen ein, aber ſie zünden auch keine an und kein Licht geht von ihnen aus; ſie treiben allerlei Hanthierung und eine iſt ih¬ nen ſo gut wie die andere, wenn ſie nur mit keiner Fährlichkeit verbunden iſt; am liebſten ſie¬ deln ſie ſich dort an, wo recht viele Ungerechte in ihrem Sinne ſind; denn ſie unter einander, wenn keine ſolche zwiſchen ihnen wären, würden ſich bald abreiben, wie Mühlſteine, zwiſchen de¬ nen kein Korn liegt. Wenn dieſe ein Unglück betrifft, ſo ſind ſie höchſt verwundert und jam¬ mern, als ob ſie am Spieße ſtäcken, da ſie doch Niemandem was zu Leid gethan haben; denn ſie betrachten die Welt als eine große wohlge¬ ſicherte Polizeianſtalt, wo keiner eine Kontra¬ ventionsbuße zu fürchten braucht, wenn er vor ſeiner Thüre fleißig kehrt, keine Blumentöpfe unverwahrt vor das Fenſter ſtellt und kein Waſſer aus demſelben gießt.

Zu Seldwyl beſtand ein Kammmachergeſchäft, deſſen Inhaber gewohnterweiſe alle fünf bis ſechs Jahre wechſelten, obgleich es ein gutes Geſchäft23 *362war, wenn es fleißig betrieben wurde; denn die Krämer, welche die umliegenden Jahrmärkte beſuchten, holten da ihre Kammwaaren. Außer den nothwendigen Hornſtriegeln aller Art wurden auch die wunderbarſten Schmuckkämme für die Dorfſchönen und Dienſtmägde verfertigt aus ſchö¬ nem durchſichtigen Ochſenhorn, in welches die Kunſt der Geſellen (denn die Meiſter arbeiteten nie) ein tüchtiges braunrothes Schildpattgewölke beizte, je nach ihrer Phantaſie, ſo daß, wenn man die Kämme gegen das Licht hielt, man die herrlichſten Sonnenauf - und Niedergänge zu ſe¬ hen glaubte, rothe Schäfchenhimmel, Gewitter¬ ſtürme und andere geſprenkelte Naturerſcheinun¬ gen. Im Sommer, wenn die Geſellen gerne wanderten und rar waren, wurden ſie mit Höf¬ lichkeit behandelt und bekamen guten Lohn und gutes Eſſen; im Winter aber, wenn ſie ein Un¬ terkommen ſuchten und häufig zu haben waren, mußten ſie ſich ducken, Kämme machen, was das Zeug halten wollte, für geringen Lohn, die Meiſterin ſtellte einen Tag wie den andern eine Schüſſel Sauerkraut auf den Tiſch und der Mei¬ ſter ſagte: das ſind Fiſche! Wenn dann ein Ge¬363 ſelle zu ſagen wagte: bitt 'um Verzeihung, es iſt Sauerkraut! ſo bekam er auf der Stelle den Abſchied und mußte wandern in den Winter hin¬ aus. Sobald aber die Wieſen grün wurden und die Wege gangbar, ſagten ſie: Es iſt doch Sauerkraut! und ſchnürten ihr Bündel. Denn wenn dann auch die Meiſterin auf der Stelle einen Schinken auf das Kraut warf und der Meiſter ſagte: Meiner Seel! ich glaubte es wären Fiſche! Nun, dieſes iſt doch gewiß ein Schinken! ſo ſehnten ſie ſich doch hinaus, da alle drei Geſellen in einem zweiſchläfigen Bett ſchla¬ fen mußten und ſich den Winter durch herzlich ſatt bekamen wegen der Rippenſtöße und erfro¬ renen Seiten.

Einsmals kam aber ein ordentlicher und ſanf¬ ter Geſelle angereiſt aus irgend einem der ſächſiſchen Lande, der fügte ſich in Alles, arbei¬ tete wie ein Thierlein und war nicht zu ver¬ treiben, ſo daß er zuletzt ein bleibender Haus¬ rath wurde in dem Geſchäft und mehrmals den Meiſter wechſeln ſah, da es die Jahre her gerade etwas ſtürmiſcher herging als ſonſt. Jobſt ſtreckte ſich in dem Bette ſo ſteif er konnte und be¬364 hauptete ſeinen Platz zunächſt der Wand Winter und Sommer; er nahm das Sauerkraut willig für Fiſche und im Frühjahr mit beſcheidenem Dank ein Stückchen von dem Schinken. Den kleineren Lohn legte er ſo gut zur Seite, wie den größeren, denn er gab nichts aus, ſondern ſparte ſich alles auf. Er lebte nicht, wie an¬ dere Handwerksgeſellen, trank nie einen Schop¬ pen, verkehrte mit keinem Landsmann noch mit anderen jungen Geſellen, ſondern ſtellte ſich des Abends unter die Hausthüre und ſchäkerte mit den alten Weibern, hob ihnen die Waſſereimer auf den Kopf, wenn er beſonders freigebiger Laune war, und ging mit den Hühnern zu Bett, wenn nicht reichliche Arbeit da war, daß er für beſondere Rechnung die Nacht durcharbeiten konnte. Am Sonntag arbeitete er ebenfalls bis in den Nachmittag hinein, und wenn es das herrlichſte Wetter war; man denke aber nicht, daß er dies mit Frohſinn und Vergnügen that, wie Johann der muntere Seifenſieder; vielmehr war er bei dieſer freiwilligen Mühe niedergeſchlagen, und be¬ klagte ſich fortwährend über die Mühſeligkeit des Lebens. War dann der Sonntagnachmittag ge¬365 kommen, ſo ging er in ſeinem Arbeitsſchmutz und in den klappernden Pantoffeln über die Gaſſe und holte ſich bei der Wäſcherin das friſche Hemd und das geglättete Vorhemdchen, den Vatermör¬ der oder das beſſere Schnupftuch und trug dieſe Herrlichkeiten auf der flachen Hand mit elegantem Geſellenſchritt vor ſich her nach Hauſe. Denn im Arbeitsſchurz und in den Schlappſchuhen be¬ obachten manche Geſellen immer einen eigenthüm¬ lich gezierten Gang, als ob ſie in höheren Sphä¬ ren ſchwebten, beſonders die gebildeten Buchbin¬ der, die luſtigen Schuhmacher und die ſeltenen ſonderbaren Kammmacher. In ſeiner Kammer bedachte ſich Jobſt aber noch wohl, ob er das Hemd oder das Vorhemdchen auch wirklich an¬ ziehen wolle, denn er war bei aller Sanftmuth und Gerechtigkeit ein kleiner Schweinigel, oder ob es die alte Wäſche noch für eine Woche thun müſſe und er bei Hauſe bleiben und noch ein Bischen arbeiten wolle. In dieſem Falle ſetzte er ſich mit einem Seufzer über die Schwierigkeit und Mühſal der Welt von neuem dahinter und ſchnitt verdroſſen ſeine Zähne in die Kämme oder er wandelte das Horn in Schildkrötſchalen366 um, wobei er aber ſo nüchtern und phantaſielos verfuhr, daß er immer die gleichen drei troſtloſen Kleckſe darauf ſchmierte, denn wenn es nicht unzweifelhaft vorgeſchrieben war, ſo wandte er nicht die kleinſte Mühe an eine Sache. Ent¬ ſchloß er ſich aber zu einem Spaziergang, ſo putzte er ſich eine oder zwei Stunden lang pein¬ lich heraus, nahm ſein Spazierſtöckchen und wandelte ſteif ein wenig vor's Thor, wo er de¬ müthig und langweilig herumſtand und langwei¬ lige Geſpräche führte mit andern Herumſtändern, die auch nichts beſſeres zu thun wußten, etwa alte arme Seldwyler, welche nicht mehr in's Wirthshaus gehen konnten. Mit ſolchen ſtellte er ſich dann gern vor ein im Bau begriffenes Haus, vor ein Saatfeld, vor einen wetterbeſchä¬ digten Apfelbaum oder vor eine neue Zwirn¬ fabrik und düftelte auf das Angelegentlichſte über dieſe Dinge, deren Zweckmäßigkeit und den Koſtenpunkt, über die Jahrshoffnungen und den Stand der Feldfrüchte, von was allem er nicht den Teufel verſtand. Es war ihm auch nicht darum zu thun; aber die Zeit verging ihm ſo auf die billigſte und kurzweiligſte Weiſe nach367 ſeiner Art und die alten Leute nannten ihn nur den artigen und vernünftigen Sachſen, denn ſie verſtanden auch nichts. Als die Seldwyler eine große Aktienbrauerei anlegten, von der ſie ſich ein gewaltiges Leben verſprachen, und die weit¬ läufigen Fundamente aus dem Boden ragten, ſtöckerte er manchen Sonntag Abend darin herum, mit Kennerblicken und mit dem ſcheinbar leben¬ digſten Intereſſe die Fortſchritte des Baues un¬ terſuchend, wie wenn er ein alter Bauverſtän¬ diger und der größte Biertrinker wäre. » Aber nein! rief er ein Mal um das andere, des is ein fameſes Wergg! des giebt eine großartigte Anſtalt! Aber Geld koſten duhts, na das Geld! Aber Schade, hier mißte mir des Gewehlbe doch en Bisgen diefer ſein und die Mauer um eine Idee ſtärger! « Bei alle dem dachte er ſich gar nichts, als daß er noch recht zeitig zum Abendeſſen wolle, eh 'es dunkel werde; denn dieſes war der einzige Tort, den er ſeiner Frau Meiſterin anthat, daß er nie das Abendbrot ver¬ ſäumte am Sonntag, wie etwa die anderen Ge¬ ſellen, ſondern daß ſie ſeinetwegen allein zu Hauſe bleiben oder ſonſt wie Bedacht auf ihn nehmen368 mußte. Hatte er ſein Stückchen Braten oder Wurſt verſorgt, ſo wurmiſirte er noch ein Weil¬ chen in der Kammer herum und ging dann zu Bett, dies war dann ein vergnügter Sonntag für ihn geweſen.

Bei all' dieſem anſpruchloſen, ſanften und ehrbaren Weſen ging ihm aber nicht ein leiſer Zug von innerlicher Ironie ab, wie wenn er ſich heimlich über die Leichtſinnigkeit und Eitel¬ keit der Welt luſtig machte und er ſchien die Größe und Erheblichkeit der Dinge nicht undeut¬ lich zu bezweifeln und ſich eines viel tieferen Gedankenplanes bewußt zu ſein. In der That machte er auch zuweilen ein ſo kluges Geſicht, beſonders wenn er die ſachverſtändigen ſonntägli¬ chen Reden führte, daß man ihm wohl anſah, wie er heimlich viel wichtigere Dinge im Sinne trage, wogegen alles, was andere unternahmen, bauten und aufrichteten, nur ein Kinderſpiel wäre. Der große Plan, welchen er Tag und Nacht mit ſich herumtrug und welcher ſein ſtiller Leitſtern war die ganzen Jahre lang, während er in Seldwyl Geſelle war, beſtand darin, ſich ſo lange ſeinen Verdienſt aufzuſparen, bis er hinreiche, eines369 ſchönen Morgens das Geſchäft, wenn es gerade vakant würde, anzukaufen und ihn ſelbſt zum Inhaber und Meiſter zu machen. Dies lag all' ſeinem Thun und Trachten zu Grunde, da er wohl bemerkt hatte, wie ein fleißiger und ſpar¬ ſamer Mann allhier wohl gedeihen müßte, ein Mann, welcher ſeinen eigenen ſtillen Weg ginge und von der Sorgloſigkeit der Andern nur den Nutzen aber nicht die Nachtheile zu ziehen wüßte. Wenn er aber erſt Meiſter wäre, dann wollte er bald ſo viel erworben haben, um ſich auch einzubürgern, und dann erſt gedachte er ſo klug und zweckmäßig zu leben, wie noch nie ein Bür¬ ger in Seldwyl, ſich um gar nichts zu kümmern, was nicht ſeinen Wohlſtand mehre, nicht einen Deut auszugeben, aber deren ſo viele als möglich an ſich zu ziehen in dem leichtſinnigen Strudel dieſer Stadt. Dieſer Plan war eben ſo einfach als richtig und begreiflich, beſonders da er ihn auch ganz gut und ausdauernd durchführte; denn er hatte ſchon ein hübſches Sümmchen zurückge¬ legt, welches er ſorgfältig verwahrte und ſicherer Berechnung nach mit der Zeit groß genug wer¬ den mußte zur Erreichung dieſes Zieles. AberKeller, die Leute von Seldwyla. 24370das Unmenſchliche an dieſem ſo ſtillen und fried¬ fertigen Plane war nur, daß Jobſt ihn überhaupt gefaßt hatte; denn nichts in ſeinem Herzen zwang ihn, gerade in Seldwyla zu bleiben, weder eine Vorliebe für die Gegend, noch für die Leute, weder für die politiſche Verfaſſung dieſes Landes, noch für ſeine Sitten. Dies alles war ihm ſo gleichgültig, wie ſeine eigene Heimath, nach wel¬ cher er ſich gar nicht zurückſehnte; an hundert Orten in der Welt konnte er ſich mit ſeinem Fleiß und mit ſeiner Gerechtigkeit eben ſo wohl feſthalten, wie hier; aber er hatte keine freie Wahl und ergriff in ſeinem öden Sinne die erſte zufällige Hoffnungsfaſer, die ſich ihm bot, um ſich daran zu hängen und ſich daran groß zu ſaugen. Wo es mir wohl geht, da iſt mein Vaterland! heißt es ſonſt und dieſes Sprichwort ſoll unangetaſtet bleiben für diejenigen, welche auch wirklich eine beſſere und nothwendige Ur¬ ſache ihres Wohlergehens im neuen Vaterlande aufzuweiſen haben, welche in freiem Entſchluſſe in die Welt hinausgegangen, um ſich rüſtig einen Vortheil zu erringen und als geborgene Leute zurückzukehren, oder welche einem unwohnlichen371 Zuſtande in Schaaren entfliehen und dem Zuge der Zeit gehorchend, die neue Völkerwanderung über die Meere mit wandern; oder welche ir¬ gendwo treuere Freunde gefunden haben, als da¬ heim, oder ihren eigenſten Neigungen mehr ent¬ ſprechende Verhältniſſe oder durch irgend ein ſchöneres menſchliches Band feſtgebunden wurden. Aber auch das neue Land ihres Wohlergehens werden alle dieſe wenigſtens lieben müſſen, wo ſie eigentlich ſind und auch da zur Noth einen Menſchen vorſtellen. Aber Jobſt wußte kaum wo er war; die Einrichtungen und Gebräuche der Schweizer waren ihm unverſtändlich, und er ſagte blos zuweilen: » Ja, ja, die Schweizer ſind politiſche Leute! Es iſt gewißlich, wie ich glaube, eine ſchöne Sache um die Politik, wenn man Liebhaber davon iſt! Ich für meinen Theil bin kein Kenner davon, wo ich zu Haus bin, da iſt es nicht der Brauch geweſen. « Die Sitten der Seldwyler waren ihm zuwider und machten ihn ängſtlich, und wenn ſie einen Tumult oder Zug vorhatten, hockte er zitternd zuhinterſt in der Werkſtatt und fürchtete Mord und Todtſchlag. Und dennoch war es ſein einziges Denken und24 *372ſein großes Geheimniß, hier zu bleiben bis an das Ende ſeiner Tage. Auf alle Punkte der Erde ſind ſolche Gerechte hingeſtreut, die aus keinem anderen Grunde ſich dahin verkrümmelten, als weil ſie zufällig an ein Saugeröhrchen des guten Auskommens geriethen, und ſie ſaugen ſtill daran ohne Heimweh nach dem alten, ohne Liebe zu dem neuen Lande, ohne einen Blick in die Weite und ohne einen für die Nähe, und glei¬ chen daher weniger dem freien Menſchen, als je¬ nen niederen Organismen, wunderlichen Thierchen und Pflanzenſaamen, die durch Luft und Waſſer an die zufällige Stätte ihres Gedeihens getragen worden.

So lebte er ein Jährchen um das andere in Seldwyla und äufnete ſeinen heimlichen Schatz, welchen er unter einer Flieſe ſeines Kammer¬ bodens vergraben hielt. Noch konnte ſich kein Schneider rühmen, einen Batzen an ihm verdient zu haben, denn noch war der Sonntagsrock, mit dem er angereiſ't, im gleichen Zuſtande wie da¬ mals. Noch hatte kein Schuſter einen Pfennig von ihm gelöſt, denn noch waren nicht einmal die Stiefelſohlen durchgelaufen, die bei ſeiner373 Ankunft das Äußere ſeines Felleiſens geziert; denn das Jahr hat nur zwei und funfzig Sonn¬ tage, und von dieſen wurde nur die Hälfte zu einem kleinen Spaziergange verwandt. Niemand konnte ſich rühmen, je ein kleines oder großes Stück Geld in ſeiner Hand geſehen zu haben; denn wenn er ſeinen Lohn empfing, verſchwand dieſer auf der Stelle auf die geheimnißvollſte Weiſe, und ſelbſt wenn er vor das Thor ging, ſteckte er nicht einen Deut zu ſich, ſo daß es ihm gar nicht möglich war, etwas auszugeben. Wenn Weiber mit Kirſchen, Pflaumen oder Bir¬ nen in die Werkſtatt kamen und die anderen Arbeiter ihre Gelüſte befriedigten, hatte er auch tauſend und ein Gelüſte, welche er dadurch zu beruhigen wußte, daß er mit der größten Auf¬ merkſamkeit die Verhandlung mit führte, die hübſchen Kirſchen und Pflaumen ſtreichelte und betaſtete und zuletzt die Weiber, welche ihn für den eifrigſten Käufer genommen, verblüfft abziehen ließ, ſich ſeiner Enthaltſamkeit freuend, und mit zufriedenem Vergnügen, mit tauſend kleinen Rath¬ ſchlägen, wie ſie die gekauften Äpfel braten oder ſchälen ſollten, ſah er ſeine Mitgeſellen eſſen. 374Aber ſo wenig Jemand eine Münze von ihm zu beſehen kriegte, eben ſo wenig erhielt Jemand von ihm je ein barſches Wort, eine unbillige Zumuthung oder ein ſchiefes Geſicht; er wich vielmehr allen Händeln auf das ſorgfältigſte aus und nahm keinen Scherz übel, den man ſich mit ihm erlaubte; und ſo neugierig er war, den Verlauf von allerlei Klatſchereien und Streitig¬ keiten zu betrachten und zu beurtheilen, da ſolche jederzeit einen koſtenfreien Zeitvertreib gewährten, während andere Geſellen ihren rohen Gelagen nachgingen, ſo hütete er ſich wohl, ſich in etwas zu miſchen und über einer Unvorſichtigkeit betref¬ fen zu laſſen. Kurz er war die merkwürdigſte Miſchung von wahrhaft heroiſcher Weisheit und Ausdauer und von ſanfter ſchnöder Herz - und Gefühlloſigkeit.

Einſt war er ſchon ſeit vielen Wochen der einzige Geſelle in dem Geſchäft und es war ihm ſo wohl in dieſer Ungeſtörtheit wie einem Fiſch im Waſſer. Beſonders des Nachts freute er ſich des breiten Raumes im Bette und benutzte ſehr ökonomiſch dieſe ſchöne Zeit, ſich für die kommenden Tage zu entſchädigen und ſeine Per¬375 ſon gleichſam zu verdreifachen, indem er unauf¬ hörlich die Lage wechſelte und ſich vorſtellte, als ob drei zumal im Bette lägen, von denen zwei den dritten erſuchten, ſich doch nicht zu geniren und es ſich bequem zu machen. Dieſer Dritte war er ſelbſt und er wickelte ſich auf die Ein¬ ladung hin wollüſtig in die ganze Decke oder ſpreizte die Beine weit auseinander, legte ſich quer über das Bett oder ſchlug in harmloſer Luſt Purzelbäume darin. Eines Tages aber, als er noch beim Abendſcheine ſchon im Bette lag, kam unverhofft noch ein fremder Geſelle zugeſprochen und wurde von der Meiſterin in die Schlafkammer gewieſen. Jobſt lag eben in wähligem Behagen mit dem Kopfe am Fußende und mit den Füßen auf den Pfülmen, als der Fremde eintrat, ſein ſchweres Felleiſen abſtellte und unverweilt anfing, ſich auszuziehen, da er müde war. Jobſt ſchnellte blitzſchnell herum und ſtreckte ſich ſteif an ſeinen urſprünglichen Platz an der Wand, und er dachte: » Der wird bald wieder ausreißen, da es Sommer iſt und lieblich zu wandern! « In dieſer Hoffnung ergab er ſich mit ſtillen Seufzern in ſein Schickſal und376 war der nächtlichen Rippenſtöße und des Streites um die Decke gewärtig, die es nun abſetzen würde. Aber wie erſtaunt war er, als der Neuangekommene, obgleich es ein Baier war, ſich mit höflichem Gruße zu ihm ins Bett legte, ſich eben ſo friedlich und manierlich, wie er ſelbſt, am andern Ende des Bettes verhielt und ihn während der ganzen Nacht nicht im mindeſten beläſtigte. Dies unerhörte Abenteuer brachte ihn ſo um alle Ruhe, daß er, während der Baier wohlgemuth ſchlief, dieſe Nacht kein Auge zuthat. Am Morgen betrachtete er den wunderſamen Schlafgefährten mit äußerſt aufmerkſamen Mienen und ſah, daß es ein ebenfalls nicht mehr junger Geſelle war, der ſich mit anſtändigen Worten nach den Umſtänden und dem Leben hier erkundigte, ganz in der Weiſe, wie er es etwa ſelbſt gethan haben würde. Sobald er dies nur bemerkte, hielt er an ſich und verſchwieg die einfachſten Dinge, wie ein großes Geheimniß, trachtete aber dagegen das Geheimniß des Baiers zu ergrün¬ den; denn daß derſelbe ebenfalls eines beſaß, war ihm von weitem anzuſehen; wozu ſollte er ſonſt ein ſo verſtändiger, ſanftmüthiger und ge¬377 wiegter Menſch ſein, wenn er nicht irgend etwas heimliches, ſehr vortheilhaftes vorhatte? Nun ſuchten ſie ſich gegenſeitig die Würmer aus der Naſe zu ziehen, mit der größten Vorſicht und Friedfertigkeit, in halben Worten und auf an¬ muthigen Umwegen. Keiner gab eine vernünftige klare Antwort und doch wußte nach Verlauf einiger Stunden jeder, daß der Andere nichts mehr oder minder, als ſein vollkommner Doppel¬ gänger ſei. Als im Lauf des Tages Fridolin der Baier mehrmals nach der Kammer lief und ſich dort zu ſchaffen machte, nahm Jobſt die Gelegenheit wahr, auch einmal hinzuſchleichen, als jener bei der Arbeit ſaß, und durchmuſterte im Fluge die Habſeligkeiten Fridolins; er ent¬ deckte aber nichts weiter, als faſt die gleichen Siebenſächelchen, die er ſelbſt beſaß, bis auf die hölzerne Nadelbüchſe, welche aber hier einen Fiſch vorſtellte, während Jobſt ſcherzhafter Weiſe ein kleines Wickelkindchen beſaß, und ſtatt einer zer¬ riſſenen franzöſiſchen Sprachlehre für das Volk, welche Jobſt bisweilen durchblätterte, war bei dem Baier ein gut gebundenes Büchlein zu fin¬ den, betitelt: Die kalte und warme Küpe, ein378 unentbehrliches Handbuch für Blaufärber. Darin war aber mit Bleiſtift geſchrieben: Unterfand für die 3 Kreizer, welche ich dem Naſſauer geborgt. Hieraus ſchloß er, daß es ein Mann war, der das Seinige zuſammenhielt, und ſpähete unwill¬ kührlich am Boden herum, und bald entdeckte er eine Flieſe, die ihm gerade ſo vorkam, als ob ſie kürzlich herausgenommen wäre und unter der¬ ſelben lag auch richtig ein Schatz in ein altes halbes Schnupftuch und mit Zwirn umwickelt, faſt ganz ſo ſchwer wie der ſeinige, welcher zum Unterſchied in einem zugebundenen Socken ſteckte. Zitternd drückte er die Backſteinplatte wieder zurecht, zitternd aus Aufregung und Bewunderung der fremden Größe und aus tiefer Sorge um ſein Geheimniß. Stracks lief er hinunter in die Werk¬ ſtatt und arbeitete, als ob es gälte, die Welt mit Kämmen zu verſehen, und der Baier arbeitete, als ob der Himmel noch dazu gekämmt werden müßte. Die nächſten acht Tage beſtätigten durch¬ aus dieſe erſte gegenſeitige Auffaſſung; denn war Jobſt fleißig und genügſam, ſo war Fridolin thätig und enthaltſam mit den gleichen bedenkli¬ chen Seufzern über das Schwierige ſolcher Tu¬379 gend; war aber Jobſt heiter und weiſe, ſo zeigte ſich Fridolin ſpaßhaft und klug; war jener be¬ ſcheiden, ſo war dieſer demüthig, jener ſchlau und ironiſch, dieſer durchtrieben und beinahe ſatyriſch, und machte Jobſt ein friedlich einfältiges Geſicht zu einer Sache, die ihn ängſtigte, ſo ſah Frido¬ lin unübertrefflich wie ein Eſel aus. Es war nicht ſowohl ein Wettkampf, als die Übung wohl¬ bewußter Meiſterſchaft, die ſie beſeelte, wobei keiner verſchmähte, ſich den andern zum Vorbild zu nehmen und ihm die feinſten Züge eines voll¬ kommenen Lebenswandels, die ihm etwa noch fehlten, nachzuahmen. Sie ſahen ſogar ſo ein¬ trächtig und verſtändnißinnig aus, daß ſie eine gemeinſame Sache zu machen ſchienen, und glichen ſo zwei tüchtigen Helden, die ſich ritterlich ver¬ tragen und gegenſeitig ſtählen, ehe ſie ſich befeh¬ den. Aber nach kaum acht Tagen kam abermals einer zugereiſ't, ein Schwabe, Namens Dietrich, worüber die Beiden eine ſtillſchweigende Freude empfanden, wie über einen luſtigen Maßſtab, an welchem ihre ſtille Größe ſich meſſen konnte, und ſie gedachten das arme Schwäbchen, welches ge¬ wiß ein rechter Taugenichts war, in die Mitte380 zwiſchen ihre Tugenden zu nehmen, wie zwei Löwen ein Äffchen, mit dem ſie ſpielen.

Aber wer beſchreibt ihr Erſtaunen, als der Schwabe ſich gerade ſo benahm, wie ſie ſelbſt, und ſich die Erkennung, die zwiſchen ihnen vor¬ gegangen, noch einmal wiederholte zu Dritt, wodurch ſie nicht nur dem Dritten gegenüber in eine unverhoffte Stellung geriethen, ſondern ſie ſelbſt unter ſich in eine ganz veränderte Lage kamen.

Schon als ſie ihn im Bette zwiſchen ſich nahmen, zeigte ſich der Schwabe als vollkommen ebenbürtig und lag wie ein Schwefelholz ſo ſtrack und ruhig, ſo daß immer noch ein bischen Raum zwiſchen jedem der Geſellen blieb und das Deck¬ bett auf ihnen lag, wie ein Papier auf drei Häringen. Die Lage wurde nun ernſter und indem alle drei gleichmäßig ſich gegenüberſtanden, wie die Winkel eines gleichſeitigen Dreieckes, und kein vertrauliches Verhältniß mehr zwiſchen zweien möglich war, kein Waffenſtillſtand oder anmuthi¬ ger Wettſtreit, waren ſie allen Ernſtes befliſſen, einander aus dem Bett und dem Haus hinaus zu dulden. Als der Meiſter ſah, daß dieſe drei381 Käuze ſich alles gefallen ließen, um nur da zu bleiben, brach er ihnen an Lohn ab und gab ihnen geringere Koſt; aber deſto fleißiger arbei¬ teten ſie und ſetzten ihn in den Stand, große Vorräthe von billigen Waaren in Umlauf zu bringen und vermehrten Beſtellungen zu genügen, alſo daß er ein Heidengeld durch die ſtillen Ge¬ ſellen verdiente und eine wahre Goldgrube an ihnen beſaß. Er ſchnallte ſich den Gurt um einige Löcher weiter und ſpielte eine große Rolle in der Stadt, während die thörichten Arbeiter in der dunklen Werkſtatt Tag und Nacht ſich abmühten und ſich gegenſeitig hinausarbeiten woll¬ ten. Dietrich, der Schwabe, welcher der jüngſte war, erwies ſich als ganz vom gleichen Holze geſchnitten, wie die zwei andern, nur beſaß er noch keine Erſparniß, denn er war noch zu wenig gereiſt. Dies wäre ein bedenklicher Umſtand für ihn geweſen, da Jobſt und Fridolin einen zu großen Vorſprung gewannen, wenn er nicht als ein erfindungsreiches Schwäblein eine neue Zaubermacht heraufbeſchworen hätte, um den Vortheil der andern aufzuwiegen. Da ſein Ge¬ müth nämlich von jeglicher Leidenſchaft frei war,382 ſo frei wie dasjenige ſeiner Nebengeſellen, außer von der Leidenſchaft, gerade hier und nirgends anders ſich anzuſiedeln und den Vortheil wahr¬ zunehmen, ſo erfand er den Gedanken, ſich zu verlieben und um die Hand einer Perſon zu werben, welche ungefähr ſo viel beſaß, als der Sachſe und der Baier unter den Flieſen liegen hatten. Es gehörte zu den beſſeren Eigenthüm¬ lichkeiten der Seldwyler, daß ſie um einiger Mittel willen keine häßlichen oder unliebenswür¬ digen Frauen nahmen; in große Verſuchung geriethen ſie ohnehin nicht, da es in ihrer Stadt keine reichen Erbinnen gab, weder ſchöne noch unſchöne, und ſo behaupteten ſie wenigſtens die Tapferkeit, auch die kleineren Brocken zu verſchmä¬ hen und ſich lieber mit luſtigen und hübſchen Weſen zu verbinden, mit welchen ſie einige Jahre Staat machen konnten. Daher wurde es dem ausſpähenden Schwaben nicht ſchwer, ſich den Weg zu einer tugendhaften Jungfrau zu bahnen, welche in derſelben Straße wohnte und von der er, im klugen Geſpräche mit alten Weibern, in Erfahrung gebracht, daß ſie einen Gültbrief von ſiebenhundert Gulden ihr Eigenthum nenne. 383Dies war Züs Bünzlin, eine Tochter von acht und zwanzig Jahren, welche mit ihrer Mutter, der Wäſcherin, zuſammen lebte, aber über jenes väterliche Erbtheil unbeſchränkt herrſchte. Sie hatte den Brief in einer kleinen lackirten Lade liegen, wo ſie auch die Zinſen davon, ihren Taufzettel, ihren Confirmationsſchein und ein bemaltes und vergoldetes Oſterei bewahrte; fer¬ ner ein halbes Dutzend ſilberne Theelöffel, ein Vaterunſer mit Gold auf einen rothen durchſich¬ tigen Glasſtoff gedruckt, den ſie Menſchenhaut nannte, einen Kirſchkern, in welchen das Leiden Chriſti geſchnitten war und eine Büchſe aus durchbrochenem und mit rothem Tafft unterlegten Elfenbein, in welcher ein Spiegelchen war und ein ſilberner Fingerhut; ferner war darin ein anderer Kirſchkern, in welchem ein winziges Ke¬ gelſpiel klapperte, eine Nuß, worin eine kleine Muttergottes hinter Glas lag, wenn man ſie öffnete, ein ſilbernes Herz, worin ein Riech¬ ſchwämmchen ſteckte, und eine Bonbonbüchſe aus Zitronenſchaale, auf deren Deckel eine Erdbeere gemalt war, und in welcher eine goldene Steck¬ nadel auf Baumwolle lag, die ein Vergißmein¬384 nicht vorſtellte, und ein Medaillon mit einem Monument von Haaren; ferner ein Bündel ver¬ gilbter Papiere mit Recepten und Geheimniſſen, ein Fläſchchen mit Hoffmannstropfen, ein ande¬ res mit kölniſchem Waſſer und eine Büchſe mit Moſchus; eine andere, worin ein Endchen Mar¬ derdreck lag, und ein Körbchen aus wohlriechen¬ den Halmen geflochten, ſo wie eines, aus Glas¬ perlen und Gewürznägelein zuſammengeſetzt; end¬ lich ein kleines Buch, in himmelblaues geripptes Papier gebunden mit ſilbernem Schnitt, betitelt: Goldene Lebensregeln für die Jungfrau als Braut, Gattin und Mutter; und ein Traum¬ büchlein, ein Briefſteller, fünf oder ſechs Liebes¬ briefe und ein Schnepper zum Aderlaſſen; denn einſt hatte ſie ein Verhältniß mit einem Bar¬ biergeſellen oder Chirurgiegehülfen gepflogen, welchen ſie zu ehelichen gedachte, und da ſie eine geſchickte und überaus verſtändige Perſon war, ſo hatte ſie von ihrem Liebhaber gelernt, die Ader zu ſchlagen, Blutigel und Schröpfköpfe anzuſetzen und dergleichen mehr und konnte ihn ſelbſt ſogar ſchon raſiren. Allein er hatte ſich als ein unwürdiger Menſch gezeigt, bei welchem385 leichtlich ihr ganzes Lebensglück auf's Spiel geſetzt war, und ſo hatte ſie mit trauriger aber weiſer Entſchloſſenheit das Verhältniß gelöſ't. Die Geſchenke wurden von beiden Seiten zurück¬ gegeben mit Ausnahme des Schneppers; dieſen vorenthielt ſie als ein Unterpfand für einen Gul¬ den und acht und vierzig Kreuzer, welche ſie ihm einſt baar geliehen; der Unwürdige behauptete aber, ſolche nicht ſchuldig zu ſein, da ſie das Geld ihm bei Gelegenheit eines Balles in die Hand gegeben, um die Auslagen zu beſtrei¬ ten, und ſie hätte zweimal ſo viel verzehrt, als er. So behielt er den Gulden und die acht und vierzig Kreuzer und ſie den Schnepper, mit welchem ſie unter der Hand allen Frauen ihrer Bekanntſchaft Ader ließ und manchen ſchönen Batzen verdiente. Aber jedesmal, wenn ſie das Inſtrument gebrauchte, mußte ſie, mit Schmerzen der niedrigen Geſinnungsart deſſen gedenken, der ihr ſo nahe geſtanden und beinahe ihr Gemahl geworden wäre!

Dies Alles war in der lackirten Lade ent¬ halten, wohl verſchloſſen, und dieſe war wiederum in einem alten Nußbaumſchrank aufgehoben, deſſenKeller, die Leute von Seldwyla. 25386Schlüſſel die Züs Bünzlin allfort in der Taſche trug. Die Perſon ſelbſt hatte dünne röthliche Haare und waſſerblaue Augen, welche nicht ohne Reiz waren und zuweilen ſanft und weiſe zu blicken wußten; ſie beſaß eine große Menge Kleider, von denen ſie nur wenige und ſtets die älteſten trug, aber immer war ſie ſorgſam und reinlich angezogen, und eben ſo ſauber und auf¬ geräumt ſah es in der Stube aus. Sie war ſehr fleißig und half ihrer Mutter bei ihrer Wäſcherei, indem ſie die feineren Sachen plättete und die Hauben und Manſchetten der Seldwy¬ lerinnen wuſch, womit ſie einen ſchönen Pfennig gewann; von dieſer Thätigkeit mochte es auch kommen, daß ſie allwöchentlich die Tage hindurch, wo gewaſchen wurde, jene ſtrenge und gemeſſene Stimmung inne hielt, welche die Weiber immer während einer Wäſche befällt, und daß dieſe Stimmung ſich in ihr feſtſetzte ein für allemal an dieſen Tagen; erſt wenn das Glätten anging, griff eine größere Heiterkeit Platz, welche bei Züſi aber jederzeit mit Weisheit gewürzt war. Den gemeſſenen Geiſt beurkundete auch die Hauptzierde der Wohnung, ein Kranz von vier¬387 eckigen, genau abgezirkelten Seifenſtücken, welche rings auf das Geſimſe des Tannengetäfels gelegt waren zum Hartwerden, behufs beſſerer Nutznie¬ ßung. Dieſe Stücke zirkelte ab und ſchnitt aus den friſchen Tafeln mittelſt eines Meſſingdrahtes jederzeit Züs ſelbſt. Der Draht hatte zwei Queerhölzchen an den Enden zum bequemen Anfaſſen und Durchſchneiden der weichen Seife, einen ſchönen Zirkel aber zum Eintheilen hatte ihr ein Zeugſchmidtgeſell verfertigt und geſchenkt, mit welchem ſie einſt ſo gut wie verſprochen war. Von demſelben rührte auch ein blanker kleiner Gewürzmörſer her, welcher das Geſimſe ihres Schrankes zierte zwiſchen der blauen Thee¬ kanne und dem bemalten Blumenglas; ſchon lange war ein ſolches artiges Mörſerchen ihr Wunſch geweſen, und der aufmerkſame Zeug¬ ſchmied kam daher wie gerufen, als er an ihrem Namenstage damit erſchien und auch was zum Stoßen mitbrachte: eine Schachtel voll Zimmet, Zucker, Nägelein und Pfeffer. Den Mörſer hing er dazumal vor der Stubenthüre, ehe er eintrat, mit dem einen Henkel an den kleinen Finger, und hub mit dem Stößel ein ſchönes Geläute25 *388an, wie mit einer Glocke, ſo daß es ein fröhlicher Morgen ward. Aber kurz darauf entfloh der falſche Menſch aus der Gegend und ließ nie wieder von ſich hören. Sein Meiſter verlangte obenein noch den Mörſer zurück, da der Entflo¬ hene ihn ſeinem Laden entnommen aber nicht bezahlt habe. Aber Züs Bünzlin gab das werthe Andenken nicht heraus, ſondern führte einen tapfern und heftigen kleinen Proceß darum, den ſie ſelbſt vor Gericht vertheidigte auf Grund¬ lage einer Rechnung für gewaſchene Vorhemden des Entwichenen. Dies waren, als ſie den Streit um den Mörſer führen mußte, die bedeut¬ ſamſten und ſchmerzhafteſten Tage ihres Lebens, da ſie mit ihrem tiefen Verſtande die Dinge und beſonders das Erſcheinen vor Gericht um ſolch 'zarter Sache willen viel lebendiger begriff und empfand, als andere leichtere Leute. Doch erſtritt ſie den Sieg und behielt den Mörſer.

Wenn aber die zierliche Seifengallerie ihre Werkthätigkeit und ihren exacten Sinn verkün¬ dete, ſo pries nicht minder ihren erbaulichen und geſchulten Geiſt ein Häufchen unterſchiedlicher Bücher, welches am Fenſter ordentlich aufgeſchich¬389 tet lag und in denen ſie des Sonntags fleißig las. Sie beſaß noch alle ihre Schulbücher ſeit vielen Jahren her und hatte auch nicht Eines verloren, ſowie ſie auch noch die ganze kleine Gelehrſamkeit im Gedächtniß trug, und ſie wußte noch den Katechismus auswendig, wie das De¬ klinirbuch, das Rechenbuch, wie das Geographie¬ buch, die bibliſche Geſchichte und die weltlichen Leſebücher; auch beſaß ſie einige der hübſchen Geſchichten von Chriſtoph Schmid und deſſen kleine Erzählungen mit den artigen Spruchverſen am Ende, wenigſtens ein halbes Dutzend ver¬ ſchiedene Schatzkäſtlein und Roſengärtchen zum Aufſchlagen, eine Sammlung Kalender voll be¬ währter mannigfacher Erfahrung und Weisheit, einige merkwürdige Prophezeiungen, eine Anlei¬ tung zum Kartenſchlagen, ein Erbauungsbuch auf alle Tage des Jahres für denkende Jungfrauen und ein altes Exemplar von Schillers Räubern, welches ſie ſo oft las, als ſie glaubte es ge¬ nugſam vergeſſen zu haben, und jedesmal wurde ſie von Neuem gerührt, hielt aber ſehr verſtän¬ dige und ſichtende Reden darüber. Alles, was in dieſen Büchern ſtand, hatte ſie auch im Kopfe390 und wußte auf das Schönſte darüber und über noch viel mehr zu ſprechen. Wenn ſie zufrieden und nicht zu ſehr beſchäftigt war, ſo ertönten unaufhörliche Reden aus ihrem Munde und alle Dinge wußte ſie heimzuweiſen und zu beurtheilen und Jung und Alt, Hoch und Niedrig, Gelehrt und Ungelehrt mußte von ihr lernen und ſich ihrem Urtheile unterziehen, wenn ſie lächelnd oder ſinnig erſt ein Weilchen aufgemerkt hatte, worum es ſich handle; ſie ſprach zuweilen ſo viel und ſo ſalbungsvoll, wie eine gebildete Blinde, die nichts von der Welt ſieht und deren einziger Genuß iſt, ſich ſelbſt reden zu hören. Von der Stadtſchule her und aus dem Konfir¬ mationsunterrichte hatte ſie die Übung ununter¬ brochen beibehalten, Aufſätze und geiſtliche Me¬ morirungen und allerhand ſpruchweiſe Schemata zu ſchreiben, und ſo verfertigte ſie zuweilen an ſtillen Sonntagen die wunderbarſten Aufſätze, in¬ dem ſie an irgend einen wohlklingenden Titel, den ſie gehört oder geleſen, die ſonderbarſten und unſinnigſten Sätze anreihte, ganze Bogen voll, wie ſie ihrem ſeltſamen Gehirn entſprangen, wie z. B. Über das Nutzbringende eines Krankenbet¬391 tes, über den Tod, über die Heilſamkeit des Entſagens, über die Größe der ſichtbaren Welt und das Geheimnißvolle der unſichtbaren, über das Landleben und deſſen Freuden, über die Na¬ tur, über die Träume, über die Liebe, Einiges über das Erlöſungswerk Chriſti, drei Punkte über die Selbſtgerechtigkeit, Gedanken über die Un¬ ſterblichkeit. Sie las ihren Freunden und An¬ betern dieſe Arbeiten laut vor und wem ſie recht wohlwollte, dem ſchenkte ſie einen oder zwei ſolcher Aufſätze und der mußte ſie in die Bibel legen, wenn er eine hatte. Dieſe ihre geiſtige Seite hatte ihr einſt die tiefe und aufrichtige Neigung eines jungen Buchbindergeſellen zuge¬ zogen, welcher alle Bücher las, die er einband, und ein ſtrebſamer, gefühlvoller und unerfahre¬ ner Menſch war. Wenn er ſein Waſchbündel zu Züſis Mutter brachte, dünkte er im Himmel zu ſein, ſo wohl gefiel es ihm, ſolche herrliche Reden zu hören, die er ſich ſelbſt ſchon ſo oft idealiſch gedacht aber nicht auszuſtoßen getraut hatte. Schüchtern und ehrerbietig näherte er ſich der abwechſelnd ſtrengen und beredten Jung¬ frau, und ſie gewährte ihm ihren Umgang und392 band ihn an ſich während eines Jahres, aber nicht ohne ihn ganz in den Schranken klarer Hoffnungsloſigkeit zu halten, die ſie mit ſanfter, aber unerbittlicher Hand vorzeichnete. Denn da er neun Jahre jünger war als ſie, arm wie eine Maus und ungeſchickt zum Erwerb, der für einen Buchbinder in Seldwyla ohnehin nicht er¬ heblich war, weil die Leute da nicht laſen und wenig Bücher binden ließen, ſo verbarg ſie ſich keinen Augenblick die Unmöglichkeit einer Vereini¬ gung und ſuchte nur ſeinen Geiſt auf alle Weiſe an ihrer eigenen Entſagungsfähigkeit heranzubil¬ den und in einer Wolke von buntſcheckigen Phra¬ ſen einzubalſamiren. Er hörte ihr andächtig zu und wagte zuweilen ſelbſt einen ſchönen Ausſpruch, den ſie ihm aber, kaum geboren, todtmachte mit einem noch ſchöneren; dies war das geiſtigſte und edelſte ihrer Jahre, durch keinen gröberen Hauch getrübt, und der junge Menſch band ihr während derſelben alle ihre Bücher neu ein, und bauete überdies während vieler Nächte und vieler Feiertage ein kunſtreiches und koſtbares Denkmal ſeiner Verehrung. Es war ein großer chineſiſcher Tempel aus Papparbeit mit unzähligen Behältern393 und geheimen Fächern, den man in vielen Stücken auseinander nehmen konnte. Mit den feinſten farbigen und gepreßten Papieren war er beklebt und überall mit Goldbördchen geziert. Spiegel¬ wände und Säulen wechſelten ab und hob man ein Stück ab oder öffnete ein Gelaß, ſo erblickte man neue Spiegel und verborgene Bilderchen, Blumenbouquets und liebende Pärchen; an den ausgeſchweiften Spitzen der Dächer hingen all¬ wärts kleine Glöcklein. Auch ein Uhrgehäuſe für eine Damenuhr war angebracht mit ſchönen Häckchen an den Säulen, um die goldene Kette daran zu henken und an dem Gebäude hin und herzuſchlängeln; aber bisjetzt hatte ſich noch kein Uhrenmacher genähert, welcher eine Uhr, und kein Goldſchmied, welcher eine Kette auf dieſen Altar gelegt hätte. Eine unendliche Mühe und Kunſt¬ fertigkeit war an dieſem ſinnreichen Tempel ver¬ ſchwendet und der geometriſche Plan nicht min¬ der mühevoll, als die ſaubere genaue Arbeit. Als das Denkmal eines ſchön verlebten Jahrs fertig war, ermunterte Züs Bünzlin den guten Buchbinder, mit Bezwingung ihrer ſelbſt, ſich nun loszureißen und ſeinen Stab weiter zu ſetzen,394 da ihm die Welt offen ſtehe und ihm, nachdem er in ihrem Umgange, in ihrer Schule ſo ſehr ſein Herz veredelt habe, gewiß noch das ſchönſte Glück lachen werde, während ſie ihn nie ver¬ geſſen und ſich der Einſamkeit ergeben wolle. Er weinte wahrhaftige Thränen, als er ſich ſo ſchicken ließ und aus dem Städtlein zog. Sein Werk dagegen thronte ſeitdem auf Züſis altvä¬ teriſcher Komode, von einem meergrünen Gaze¬ ſchleier bedeckt, dem Staub und allen unwürdigen Blicken entzogen. Sie hielt es ſo heilig, daß ſie es ungebraucht und neu erhielt und gar nichts in die Behältniſſe ſteckte, auch nannte ſie den Urheber deſſelben in der Erinnerung Emanuel, während er Veit geheißen, und ſagte Jedermann, nur Emanuel habe ſie verſtanden und ihr Weſen erfaßt. Nur ihm ſelber hatte ſie das ſelten zu¬ geſtanden, ſondern ihn in ihrem ſtrengen Sinne kurz gehalten und zur höheren Anſpornung ihm häufig gezeigt, daß er ſie am wenigſten verſtehe, wenn er ſich am meiſten einbilde, es zu thun. Dagegen ſpielte er ihr auch einen Streich, und legte in einem doppelten Boden, auf dem inner¬ ſten Grunde des Tempels, den allerſchönſten395 Brief, von Thränen benetzt, worin er eine un¬ ſägliche Betrübniß, Liebe, Verehrung und ewige Treue ausſprach, und in ſo hübſchen und unbe¬ fangenen Worten, wie ſie nur das wahre Ge¬ fühl findet, welches ſich in eine Vexirgaſſe ver¬ rannt hat. So ſchöne Dinge hatte er gar nie ausgeſprochen, weil ſie ihn niemals zu Worte kommen ließ. Da ſie aber keine Ahnung hatte von dem verborgenen Schatze, ſo geſchah es hier, daß das Schickſal gerecht war und eine falſche Schöne das nicht zu Geſicht bekam, was ſie nicht zu ſehen verdiente. Auch war es ein Symbol, daß ſie es war, welche das thörichte, aber in¬ nige und aufrichtig gemeinte Weſen des Buch¬ binders nicht verſtanden.

Schon lange hatte ſie das Leben der drei Kammmacher gelobt und dieſelben drei gerechte und verſtändige Männer genannt; denn ſie hatte ſie wohl beobachtet. Als daher Dietrich der Schwabe begann, ſich länger bei ihr aufzuhalten, wenn er ſein Hemde brachte oder holte, und ihr den Hof zu machen, benahm ſie ſich freundſchaft¬ lich gegen ihn und hielt ihn mit trefflichen Ge¬ ſprächen ſtundenlang bei ſich feſt, und Dietrich396 redete ihr voll Bewunderung nach dem Munde, ſo ſtark er konnte; und ſie vermochte ein tüch¬ tiges Lob zu ertragen, ja ſie liebte den Pfeffer deſſelben um ſo mehr, je ſtärker er war, und wenn man ihre Weisheit pries, hielt ſie ſich möglichſt ſtill, bis man das Herz geleert, wor¬ auf ſie mit erhöhter Salbung den Faden auf¬ nahm und das Gemälde da und dort ergänzte, das man von ihr entworfen. Nicht lange war Dietrich bei Züs aus und eingegangen, ſo hatte ſie ihm auch ſchon den Gültbrief gezeigt, und er war voll guter Dinge und that gegen ſeine Gefährten ſo heimlich, wie Einer, der das Per¬ petuum mobile erfunden hat. Jobſt und Frido¬ lin kamen ihm jedoch bald auf die Spur und erſtaunten über ſeinen tiefen Geiſt und über ſeine Gewandtheit. Jobſt beſonders ſchlug ſich förm¬ lich vor den Kopf; denn ſchon ſeit Jahren ging er ja auch in das Haus und noch nie war ihm eingefallen, etwas anderes da zu ſuchen, als ſeine Wäſche; er haßte vielmehr die Leute beinahe, weil ſie die einzigen waren, bei welchen er ei¬ nige baare Pfennige herausklauben mußte all¬ wöchentlich. An eine eheliche Verbindung pflegte397 er nie zu denken, weil er unter einer Frau nichts anderes denken konnte, als ein Weſen, das et¬ was von ihm wollte, was er nicht ſchuldig ſei, und etwas von Einer ſelbſt zu wollen, was ihm nützlich ſein könnte, fiel ihm auch nicht ein, da er nur ſich ſelbſt vertraute und ſeine kurzen Ge¬ danken nicht über den nächſten und allerengſten Kreis ſeines Geheimniſſes hinausgingen. Aber jetzt galt es, dem Schwäbchen den Rang abzu¬ laufen, denn dieſes konnte mit den ſiebenhun¬ dert Gulden der Jungfer Züs ſchlimme Geſchich¬ ten aufſtellen, wenn es ſie erhielt, und die ſie¬ benhundert Gulden ſelbſt bekamen auf einmal einen verklärten Glanz und Schimmer in den Augen des Sachſen wie des Baiers. So hatte Dietrich, der erfindungsreiche, nur ein Land ent¬ deckt, welches alſobald Gemeingut wurde und theilte das herbe Schickſal aller Entdecker; denn die zwei andern folgten ſogleich ſeiner Fährte und ſtellten ſich ebenfalls bei Züs Bünzlin auf, und dieſe ſah ſich von einem ganzen Hof ver¬ ſtändiger und ehrbarer Kammmacher umgeben. Das gefiel ihr ausnehmend wohl; noch nie hatte ſie mehrere Verehrer auf einmal beſeſſen, wes¬398 halb es eine neue Geiſtesübung für ſie ward, dieſe drei mit der größten Klugheit und Unpar¬ teilichkeit zu behandeln und im Zaume zu halten und ſie ſo lange mit wunderbaren Reden zur Entſagung und Uneigennützigkeit aufzumuntern, bis der Himmel über das Unabänderliche etwas entſchiede. Denn da Jeder von ihnen ihr ins¬ beſondere ſein Geheimniß und ſeinen Plan ver¬ traut hatte, ſo entſchloß ſie ſich auf der Stelle, denjenigen zu beglücken, welcher ſein Ziel er¬ reiche und Inhaber des Geſchäftes würde. Den Schwaben, welcher es nur durch ſie werden konnte, ſchloß ſie aber davon aus und nahm ſich vor, dieſen jedenfalls nicht zu heirathen; weil er aber der jüngſte, klügſte und liebens¬ würdigſte der Geſellen war, ſo gab ſie ihm durch manche ſtille Zeichen noch am eheſten einige Hoff¬ nung und ſpornte durch die Freundlichkeit, mit welcher ſie ihn beſonders zu beaufſichtigen und zu regieren ſchien, die anderen zu größerem Eifer an, ſo daß dieſer arme Columbus, der das ſchöne Land erfunden hatte, vollſtändig der Narr im Spiele ward. Alle drei wetteiferten mit ein¬ ander in der Ergebenheit, Beſcheidenheit und399 Verſtändigkeit und in der anmuthigen Kunſt, ſich von der geſtrengen Jungfrau im Zaume halten zu laſſen und ſie ohne Eigennutz zu bewundern, und wenn die ganze Geſellſchaft bei einander war, glich ſie einem ſeltſamen Konventikel, in welchem die ſonderbarſten Reden geführt wurden. Trotz aller Frömmigkeit und Demuth geſchah es doch alle Augenblicke, daß Einer oder der An¬ dere, vom Lobpreiſen der gemeinſamen Herrin plötzlich abſpringend, ſich ſelbſt zu loben und herauszuſtreichen verſuchte und ſich, ſanft von ihr zurechtgewieſen, beſchämt unterbrochen ſah oder anhören mußte, wie ſie ihm die Tugenden der Übrigen entgegenhielt, die er eiligſt anerkannte und hervorhob.

Aber dies war ein ſtrenges Leben für die armen Kammmacher; ſo kühl ſie von Gemüth waren, gab es doch, ſeit einmal ein Weib im Spiele, ganz ungewohnte Erregungen der Eifer¬ ſucht, der Beſorgniß, der Furcht und der Hoff¬ nung; ſie rieben ſich in Arbeit und Sparſamkeit beinahe auf und magerten ſichtlich ab; ſie wur¬ den ſchwermüthig und während ſie vor den Leu¬ ten und beſonders bei Züs ſich der friedlichſten400 Beredtſamkeit befliſſen, ſprachen ſie, wenn ſie zuſammen bei der Arbeit oder in ihrer Schlaf¬ kammer ſaßen, kaum ein Wort mit einander und legten ſich ſeufzend in ihr gemeinſchaft¬ liches Bett, noch immer ſo ſtill und verträglich wie drei Bleiſtifte. Ein und derſelbe Traum ſchwebte allnächtlich über dem Kleblatt, bis er einſt ſo lebendig wurde, daß Jobſt an der Wand ſich herumwarf und den Dietrich anſtieß; Die¬ trich fuhr zurück und ſtieß den Fridolin, und nun brach in den ſchlummertrunkenen Geſellen ein wilder Groll aus und in dem Bette der ſchreck¬ barſte Kampf, indem ſie während drei Minuten ſich ſo heftig mit den Füßen ſtießen, traten und ausſchlugen, daß alle ſechs Beine ſich in einan¬ der verwickelten und der ganze Knäuel unter furchtbarem Geſchrei aus dem Bette purzelte. Sie glaubten, völlig erwachend, der Teufel wolle ſie holen, oder es ſeien Räuber in die Kammer gebrochen; ſie ſprangen ſchreiend auf, Jobſt ſtellte ſich auf ſeinen Stein, Fridolin eiligſt auf ſeinen und Dietrich auf denjenigen, unter welchem ſich bereits auch ſeine kleine Erſparniß angeſetzt hatte, und indem ſie ſo in einem Dreieck ſtanden, zit¬401 terten und mit den Armen vor ſich hin in die Luft ſchlugen, ſchrien ſie Zeter Mordio und rie¬ fen: Geh 'fort! Geh' fort! bis der erſchreckte Meiſter in die Kammer drang und die tollen Geſellen beruhigte. Zitternd vor Furcht, Groll und Scham zugleich krochen ſie endlich wieder ins Bett und lagen lautlos neben einander bis zum Morgen. Aber der nächtliche Spuck war nur ein Vorſpiel geweſen eines größeren Schreckens, der ſie jetzt erwartete, als der Meiſter ihnen beim Frühſtück eröffnete, daß er nicht mehr drei Arbeiter brauchen könne und daher zwei von ih¬ nen wandern müßten. Sie hatten nämlich des Guten zu viel gethan und ſo viel Waare zu¬ weg gebracht, daß ein Theil davon liegen blieb, indeß der Meiſter den vermehrten Erwerb dazu verwendet hatte, das Geſchäft, als es auf dem Gipfelpunkt ſtand, um ſo raſcher rückwärts zu bringen und ein ſolch luſtiges Leben führte, daß er bald doppelt ſo viel Schulden hatte, als er einnahm. Daher waren ihm die Geſellen, ſo fleißig und enthaltſam ſie auch waren, plötz¬ lich eine überflüſſige Laſt. Er ſagte ihnen zum Troſt, daß ſie ihm alle drei gleich lieb und werthKeller, die Leute von Seldwyla. 26402wären und es ihnen überließe, unter ſich aus¬ zumachen, welcher dableiben und welche wandern ſollten. Aber ſie machten nichts aus, ſondern ſtanden da bleich wie der Tod und lächelten ei¬ ner den andern an; dann geriethen ſie in eine furchtbare Aufregung, da dies die verhängni߬ vollſte Stunde war; denn die Ankündigung des Meiſters war ein ſicheres Zeichen, daß er es nicht lange mehr treiben und das Kammfabrikchen endlich wieder käuflich würde. Alſo war das Ziel, nachdem ſie Alle geſtrebt, nahe und glänzte wie ein himmliſches Jeruſalem, und zwei ſollten vor den Thoren deſſelben umkehren und ihm den Rücken wenden. Ohne alle fürdere Rückſicht erklärte Jeder, da bleiben zu wollen, und wenn er ganz umſonſt arbeiten müſſe. Der Meiſter konnte aber auch dies nicht brauchen und ver¬ ſicherte ſie, daß zwei von ihnen jedenfalls gehen müßten; ſie fielen ihm zu Füßen, ſie rangen die Hände, ſie beſchworen ihn und Jeder bat insbeſondere für ſich, daß er ihn behalten möchte, nur noch zwei Monate, nur noch vier Wochen. Allein er wußte wohl, worauf ſie ſpekulirten, ärgerte ſich darüber und machte ſich mit ihnen403 luſtig, indem er plötzlich einen ſpaßhaften Aus¬ weg vorſchlug, wie ſie die Sache entſcheiden ſollten. » Wenn ihr euch durchaus nicht einigen wollt, ſagte er, welche von euch den Abſchied wollen, ſo will ich euch die Weiſe angeben, wie ihr die Sache entſcheidet, und ſo ſoll es dann ſein und bleiben! Morgen iſt Sonntag, da zahle ich euch aus, ihr packt euer Felleiſen, ergreift euren Stab und wandert alle drei einträchtiglich zum Thore hinaus, eine gute halbe Stunde weit, auf welche Seite ihr wollt. Alsdann ruhet ihr euch aus und könnt auch einen Schoppen trin¬ ken, wenn ihr mögt, und habt ihr das gethan, ſo wandert ihr wieder in die Stadt herein und welcher dann der Erſte ſein wird, der mich von Neuem um Arbeit anſpricht, den werde ich be¬ halten; die anderen aber werden unausbleiblich gehen, wo es ihnen beliebt! « Sie fielen ihm abermals zu Füßen und baten ihn, von dieſem grauſamen Vorhaben abzuſtehen, aber umſonſt; er blieb feſt und unerbittlich. Unverſehens ſprang der Schwabe auf und rannte wie beſeſſen zum Hauſe hinaus und zu Züs Bünzlin hinüber; kaum gewahrten dies Jobſt und der Baier, ſo404 unterbrachen ſie ihr Lamentiren und rannten ihm nach, und die verzweifelte Szene war alſobald in die Wohnung der erſchrockenen Jungfrau ver¬ legt.

Dieſe war ſehr betroffen und bewegt durch das unerwartete Abenteuer; doch faßte ſie ſich zuerſt, und die Lage der Dinge überſchauend, beſchloß ſie, ihr eigenes Schickſal an des Mei¬ ſters wunderlichen Einfall zu knüpfen und be¬ trachtete dieſen als eine höhere Eingebung; ſie holte gerührt ein Schätzkäſtlein hervor und ſtach mit einer Nadel zwiſchen die Blätter, und der Spruch, welchen ſie aufſchlug, handelte vom un¬ entwegten Verfolgen eines guten Zieles. Dar¬ auf ließ ſie die aufgeregten Geſellen aufſchlagen, und alles, was dieſe aufſchlugen, handelte vom eifrigen Wandel auf dem ſchmalen Wege, vom Vorwärtsgehen ohne Rückſchauen, von einer Lauf¬ bahn, kurz vom Laufen und Rennen aller Art, ſo daß der morgende Wettlauf deutlich vom Him¬ mel vorgeſchrieben ſchien. Da ſie aber befürchtete, daß Dietrich als der Jüngſte leicht am beſten ſpringen und die Palme erringen könnte, beſchloß ſie, ſelbſt mit den drei Liebhabern auszuziehen405 und zu ſehen, was etwa zu ihrem Vortheil zu machen wäre; denn ſie wünſchte, daß nur einer der zwei ältern Sieger würde, und es war ihr ganz gleichgültig, welcher. Sie befahl daher den Wehklagenden und ſich Bezankenden Ruhe und Ergebung und ſagte: » Wiſſet, meine Freunde, daß Nichts ohne Bedeutung geſchieht, und ſo merkwürdig und ungewöhnlich die Zumuthung eures Meiſters iſt, ſo müſſen wir ſie doch als eine Fügung anſehen und uns mit einer höheren Weisheit, von welcher der muthwillige Mann nichts ahnt, dieſer jähen Entſcheidung unterwer¬ fen. Unſer friedliches und verſtändiges Zuſam¬ menleben iſt zu ſchön geweſen, als daß es noch lange ſo erbaulich ſtatt finden könnte; denn ach! alles Schöne und Erſprießliche iſt ja ſo vergäng¬ lich und vorübergehend, und nichts beſteht in die Länge, als das Übel, das Hartnäckige und die Einſamkeit der Seele, die wir alsdann mit unſerer frommen Vernünftigkeit betrachten und beobachten. Daher wollen wir, ehe ſich etwa ein böſer Dämon des Zwieſpaltes unter uns er¬ hebt, uns lieber vorher freiwillig trennen und auseinander ſcheiden, wie die lieben Frühlings¬406 lüftlein, wenn ſie ihren eilenden Lauf am Him¬ mel nehmen, ehe wir auseinander fahren wie der Sturmwind des Herbſtes. Ich ſelbſt will euch hinausbegleiten auf dem ſchweren Wege und zugegen ſein, wenn ihr den Prüfungslauf an¬ tretet, damit ihr einen fröhlichen Muth faſſet und einen ſchönen Antrieb hinter euch habt, wäh¬ rend vor euch das Ziel des Sieges winkt. Aber ſo wie der Sieger ſich ſeines Glückes nicht über¬ heben wird, ſo ſollen die, welche unterliegen, nicht verzagen und keinen Gram oder Groll von dannen nehmen, ſondern unſers liebevollen An¬ denkens gewärtig ſein und als vergnügte Wan¬ derjünglinge in die weite Welt ziehen; denn die Menſchen haben viele Städte gebauet, welche ſo ſchön oder noch ſchöner ſind, wie Seldwyla; Rom iſt eine große merkwürdige Stadt, allwo der heilige Vater wohnt, und Paris iſt eine gar mächtige Stadt mit vielen Seelen und herr¬ lichen Palläſten, und in Conſtantinopel herrſcht der Sultan, von türkiſchem Glauben, und Liſſa¬ bon, welches einſt durch ein Erdbeben verſchüttet ward, iſt deſto ſchöner wieder aufgebaut worden. Wien iſt die Hauptſtadt von Öſterreich und die407 Kaiſerſtadt genannt, und London iſt die reichſte Stadt der Welt, in Engelland gelegen, an ei¬ nem Fluß, der die Themſe benannt wird. Zwei Millionen Menſchen wohnen da! Petersburg aber iſt die Haupt - und Reſidenzſtadt von Rußland, ſo wie Neapel die Hauptſtadt des Königreiches gleichen Namens, mit dem feuerſpeienden Berg Veſuvius, auf welchem einſt einem engliſchen Schiffshauptmann eine verdammte Seele erſchie¬ nen iſt, wie ich in einer merkwürdigen Reiſe¬ beſchreibung geleſen habe, welche Seele einem gewiſſen John Smidt angehöret, der vor hun¬ dertundfunfzig Jahren ein gottloſer Mann ge¬ weſen und nun beſagtem Hauptmann einen Auf¬ trag ertheilte an ſeine Nachkommen in England, damit er erlöſt würde; denn der ganze Feuerberg iſt ein Aufenthalt der Verdammten, wie auch in des gelehrten Peter Haslers Traktatus über die muthmaßliche Gelegenheit der Hölle zu leſen iſt. Noch viele andere Städte giebt es, wovon ich nur noch Mailand, Venedig, das ganz im Waſſer gebaut iſt, Lyon, Marſeilingen, Stra߬ burg, Köllen und Amſterdam nennen will; Pa¬ ris hab 'ich ſchon geſagt, aber noch nicht Nürn¬408 berg, Augsburg und Frankfurt, Baſel, Bern und Genf, alles ſchöne Städte, ſo wie das ſchöne Zürich, und weiterhin noch eine Menge, mit deren Aufzählung ich nicht fertig würde. Denn Alles hat ſeine Grenzen, nur nicht die Erfindungsgabe der Menſchen, welche ſich all¬ wärts ausbreiten und alles unternehmen, was ihnen nützlich ſcheint. Wenn ſie gerecht ſind, ſo wird es ihnen gelingen, aber der Ungerechte ver¬ gehet wie das Gras der Felder und wie ein Rauch. Viele ſind erwählt, aber wenige ſind berufen. Aus allen dieſen Gründen, und in noch manch' anderer Hinſicht, die uns die Pflicht und die Tugend unſeres reinen Gewiſſens auferlegen, wollen wir uns dem Schickſalsrufe unterziehen. Darum gehet und bereitet euch zur Wanderſchaft, aber als gerechte und ſanftmüthige Männer, die ihren Werth in ſich tragen, wo ſie auch hinge¬ hen, und deren Stab überall Wurzel ſchlägt, welche, was ſie auch ergreifen mögen, ſich ſagen können: ich habe das beſſere Theil erwählt! «

Die Kammmacher wollten aber von Allem nichts hören, ſondern beſtürmten die kluge Züs, daß ſie Einen von ihnen auserwählen und da¬409 bleiben heißen ſolle, und Jeder meinte damit ſich ſelbſt. Aber ſie hütete ſich, eine Wahl zu treffen und kündigte ihnen ernſthaft und gebie¬ teriſch an, daß ſie ihr gehorchen müßten, an¬ ſonſt ſie ihnen ihre Freundſchaft auf immer ent¬ ziehen würde. Jetzt rannte Jobſt, der älteſte, wieder davon und in das Haus des Meiſters hinüber, und ſpornſtreichs rannten die anderen hinter ihm her, befürchtend, daß er dort etwas gegen ſie unternähme, und ſo ſchoſſen ſie den ganzen Tag umher, wie Sternſchnuppen und wurden ſich untereinander ſo zuwider wie drei Spinnen in einem Netz. Die halbe Stadt ſah dies ſeltſame Schauſpiel der verſtörten Kamm¬ macher, die bislang ſo ſtill und ruhig geweſen, und die alten Leute wurden darüber ängſtlich und hielten die Erſcheinung für ein unnatürliches Vorzeichen ſchwerer Begebenheiten. Gegen Abend wurden ſie matt und erſchöpft, ohne daß ſie ſich eines Beſſeren beſonnen und zu etwas entſchieden hatten, und legten ſich zähneklappernd in das alte Bett; Einer nach dem Anderen kroch unter die Decke und lag da, wie vom Tode hingeſtreckt, in verwirrten Gedanken, bis ein heilſamer Schlaf26*410ihn umfing. Jobſt war der erſte, welcher in aller Frühe erwachte und ſah, daß ein heiterer Frühlingsmorgen in die Kammer ſchien, in wel¬ cher er nun ſchon ſeit ſechs Jahren geſchlafen. So dürftig das Gemach ausſah, ſo erſchien es ihm doch wie ein Paradies, welches er verlaſſen ſollte und zwar ſo ungerechter Weiſe. Er ließ ſeine Augen umhergehen an den Wänden und zählte alle die vertrauten Spuren von den vielen Geſellen, die hier ſchon gewohnt kürzere oder längere Zeit; hier hatte der ſeinen Kopf zu rei¬ ben gepflegt und einen dunklen Fleck verfertigt, dort hatte jener einen Nagel eingeſchlagen, um ſeine Pfeife daran zu hängen, und das rothe Schnürchen hing noch daran. Welche gute Men¬ ſchen waren das geweſen, daß ſie ſo harmlos wieder davon gegangen, während dieſe, welche neben ihm lagen, durchaus nicht weichen wollten. Dann heftete er ſein Auge auf die Gegend zu¬ nächſt ſeinem Geſichte, und betrachtete da die kleineren Gegenſtände, welche er ſchon tauſend Mal betrachtet, wenn er des Morgens oder am Abend noch bei Tageshelle im Bette lag und ſich eines ſeligen, koſtenfreien Daſeins erfreute. 411Da war eine beſchädigte Stelle in dem Bewurf, welche wie ein Land ausſah mit Seen und Städten, und ein Häufchen von groben Sandkörnern ſtellte eine glückſelige Inſelgruppe vor; weiterhin er¬ ſtreckte ſich eine lange Schweinsborſte, welche aus dem Pinſel gefallen und in der blauen Tünche ſtecken geblieben war; denn Jobſt hatte im letzten Herbſt einmal ein kleines Reſtchen ſolcher Tünche gefunden und damit es nicht umkommen ſollte, eine Viertelswandſeite damit angeſtrichen, ſo weit es reichen wollte, und zwar hatte er die Stelle bemalt, wo er zunächſt im Bette lag. Jenſeits der Schweinsborſte aber ragte eine ganz geringe Erhöhung, wie ein kleines blaues Gebirge, wel¬ ches einen zarten Schlagſchatten über die Borſte weg nach den glückſeligen Inſeln hinüber warf. Über dies Gebirge hatte er ſchon den ganzen Winter gegrübelt, da es ihm dünkte, als ob es früher nicht dageweſen wäre. Wie er nun mit ſeinem traurigen, duſelnden Auge daſſelbe ſuchte und plötzlich vermißte, traute er ſeinen Sinnen kaum, als er ſtatt deſſelben einen kleinen kahlen Fleck an der Mauer fand, dagegen ſah, wie der winzige blaue Berg nicht weit davon412 ſich bewegte und zu wandeln ſchien. Erſtaunt fuhr Jobſt in die Höhe, als ob er ein blaues Wunder ſähe, und ſah, daß es eine Wanze war, welche er alſo im vorigen Herbſt achtlos mit der Farbe überſtrichen, als ſie ſchon in Erſtar¬ rung dageſeſſen hatte. Jetzt aber war ſie von der Frühlingswärme neu belebt, hatte ſich auf¬ gemacht und ſtieg eben in dieſem Augenblicke mit ihrem blauen Rücken unverdroſſen die Wand hinan. Er blickte ihr gerührt und voll Verwun¬ derung nach; ſo lange ſie im Blauen ging, war ſie kaum von der Wand zu unterſcheiden; als ſie aber aus dem geſtrichenen Bereich hinaus trat und die letzten vereinzelten Spritze hinter ſich hatte, wandelte das gute himmelblaue Thier¬ chen weithin ſichtbar ſeine Bahn durch die dunk¬ leren Bezirke. Wehmüthig ſank Jobſt in den Pfülmen zurück; ſo wenig er ſich ſonſt aus der¬ gleichen machte, rührte dieſe Erſcheinung doch jetzt ein Gefühl in ihm auf, als ob er doch auch endlich wieder wandern müßte, und es bedünkte ihm ein gutes Zeichen zu ſein, daß er ſich in das Unabänderliche ergeben und ſich wenigſtens mit gutem Willen auf den Weg machen ſolle. 413Durch dieſe ruhigeren Gedanken kehrte ſeine na¬ türliche Beſonnenheit und Weisheit zurück, und indem er die Sache näher überlegte, fand er, daß wenn er ſich ergebungsvoll und beſcheiden anſtelle, ſich dem ſchwierigen Werke unterziehe und dabei ſich zuſammennehme und klug verhalte, er noch am eheſten über ſeine Nebenbuhler ob¬ ſiegen könne. Sachte ſtieg er aus dem Bette und begann, ſeine Sachen zu ordnen und vor allem ſeinen Schatz zu heben und zu unterſt in das alte Felleiſen zu verpacken. Darüber er¬ wachten ſogleich ſeine Gefährten; wie dieſe ſa¬ hen, daß er ſo gelaſſen ſein Bündel ſchnürte, verwunderten ſie ſich ſehr und noch mehr, als Jobſt ſie mit verſöhnlichen Worten anredete und ihnen einen guten Morgen wünſchte. Weiter ließ er ſich aber nicht aus, ſondern fuhr in ſei¬ nem Geſchäfte ſtill und friedfertig fort. Sogleich, obſchon ſie nicht wußten, was er im Schilde führe, witterten ſie eine Kriegsliſt in ſeinem Benehmen und ahmten es auf der Stelle nach, höchſt aufmerkſam auf Alles, was er ferner be¬ ginnen würde. Hierbei war es ſeltſam, wie ſie alle drei zum erſten Mal offen ihre Schätze un¬414 ter den Flieſen hervorholten und dieſelben ohne ſie zu zählen, in die Ranzen verſorgten. Denn ſie wußten ſchon lange, daß Jeder das Geheim¬ niß der übrigen kannte, und nach alter ehrlicher Weiſe mißtrauten ſie ſich nicht in der Weiſe, daß ſie eine Verletzung des Eigenthums befürchteten und jeder wußte wohl, daß ihn die anderen nicht berauben würden, wie denn in den Schlafkam¬ mern der Handwerksgeſellen, Soldaten und der¬ gleichen kein Verſchluß und kein Mißtrauen be¬ ſteht.

So waren ſie unverſehens zum Aufbruch ge¬ rüſtet, der Meiſter zahlte ihnen den Lohn aus und gab ihnen ihre Wanderbücher, in welche von der Stadt und vom Meiſter die allerſchönſten Zeugniſſe geſchrieben waren über ihre gute an¬ dauernde Führung und Vortrefflichkeit, und ſie ſtanden wehmuthsvoll vor der Hausthüre der Züs Bünzlin, in lange braune Röcke gekleidet mit alten verwaſchenen Staubhemden darüber, und die Hüte, obgleich ſie verjährt und abge¬ bürſtet genug waren, ſorglich mit Wachsleinwand überzogen. Hinten auf dem Felleiſen hatte jeder ein kleines Wägelchen befeſtigt, um das Gepäck415 darauf zu ziehen, wenn es in's Weite ginge; ſie dachten aber die Räder nicht zu brauchen, und deßwegen ragten dieſelben hoch über ihrem Rücken. Jobſt ſtützte ſich auf einen ehrbaren Rohrſtock, Fridolin auf einen roth und ſchwarz geflammten und gemalten Eſchenſtab, und Die¬ trich auf ein abenteuerliches Stockungeheuer, um welches ſich ein wildes Geflecht von Zweigen wand. Er ſchämte ſich aber beinahe dieſes prah¬ leriſchen Dinges, da es noch aus der erſten Wanderzeit herſtammte, wo er bei weitem noch nicht ſo geſetzt und vernünftig geweſen wie jetzt. Viele Nachbaren und deren Kinder umſtanden die ernſten drei Männer und wünſchten ihnen Glück auf den Weg. Da erſchien Züs unter der Thüre, mit feierlicher Miene, und zog an der Spitze der Geſellen gefaßten Muthes aus dem Thore. Sie hatte ihnen zu Ehren einen ungewöhnlichen Staat angelegt, trug einen großen Hut mit mächtigen gelben Bändern, ein roſa¬ farbenes Indiennekleid mit verſchollenen Ausla¬ dungen und Verzierungen, eine ſchwarze Sam¬ metſchärpe mit einer Tombackſchnalle und rothe Saffianſchuhe mit Franſen beſetzt. Dazu trug416 ſie einen grün ſeidenen großen Ritikül, welchen ſie mit gedörrten Birnen und Pflaumen gefüllt hatte, und hielt ein Sonnenſchirmchen ausge¬ ſpannt, auf welchem oben eine große Lyra aus Elfenbein ſtand. Sie hatte auch ihr Medaillon mit dem blonden Haardenkmal umgehängt und das goldene Vergißmeinnicht vorgeſteckt und trug weiße geſtrickte Handſchuhe. Sie ſah freundlich und zart aus in all' dieſem Schmuck, ihr Ant¬ litz war leicht geröthet und ihr Buſen ſchien ſich höher als ſonſt zu heben, und die ausziehenden Nebenbuhler wußten ſich nicht zu laſſen vor Weh¬ muth und Betrübniß, denn die äußerſte Lage der Dinge, der ſchöne Frühlingstag, der ihren Auszug beſchien und Züſis Putz miſchten in ihre geſpannten Empfindungen faſt etwas von dem, was man wirklich Liebe nennt. Vor dem Thore ermahnte aber die freundliche Jungfrau ihre Lieb¬ haber, die Felleiſen auf die Räderchen zu ſtellen und zu ziehen, damit ſie ſich nicht unnöthiger Weiſe ermüdeten. Sie thaten es und als ſie hinter dem Städtlein hinaus die Berge hinan fuhren, war es faſt wie ein Artillerieweſen, das da hinauffuhrwerkte, um oben eine Batterie zu417 beſetzen. Als ſie eine gute halbe Stunde dahin gezogen, machten ſie Halt auf einer anmuthigen Anhöhe, über welche ein Kreuzweg ging, und ſetzten ſich unter eine Linde in einen Halbkreis, wo man eine weite Ausſicht genoß und über Wälder, Seen und Ortſchaften wegſah. Züs öffnete ihren Beutel und gab Jedem eine Hand¬ voll Birnen und Pflaumen, um ſich zu erfriſchen, und ſie ſaßen ſo eine geraume Weile ſchweigend und ernſt, nur mit den ſchnalzenden Zungen, wenn ſie die ſüßen Früchte damit zerdrückten, ein ſanftes Geräuſch erregend.

Dann begann Züs indem ſie einen Pflau¬ menkern fortwarf und die davon gefärbten Fin¬ gerſpitzen am jungen Graſe abwiſchte, zu ſprechen: » Lieben Freunde! Sehet, wie ſchön und weitläufig die Welt iſt, rings herum voll herrlicher Sachen und voll Wohnungen der Menſchen! Und dennoch wollte ich wetten, daß in dieſer feierlichen Stunde nirgends in dieſer weiten Welt vier ſo rechtfer¬ tige und gutartige Seelen bei einander verſammelt ſitzen, wie wir hier ſind, ſo ſinnreich und be¬ dachtſam von Gemüth, ſo zugethan allen arbeit¬ ſamen Übungen und Tugenden, der Eingezogenheit,Keller, die Leute von Seldwyla. 27418der Sparſamkeit, der Friedfertigkeit und der in¬ nigen Freundſchaft. Wie viele Blumen ſtehen hier um uns herum, von allen Arten, die der Frühling hervorbringt, beſonders die gelben Schlüſ¬ ſelblumen, welche einen wohlſchmeckenden und geſunden Thee geben; aber ſind ſie gerecht oder arbeitſam? ſparſam, vorſichtig und geſchickt zu klugen und lehrreichen Gedanken? Nein, es ſind unwiſſende und geiſtloſe Geſchöpfe, unbeſeelt und vernunftlos vergeuden ſie ihre Zeit, und ſo ſchön ſie ſind, wird ein todtes Heu daraus, während wir in unſerer Tugend ihnen ſo weit überlegen ſind und ihnen wahrlich an Zier der Geſtalt nichts nachgeben; denn Gott hat uns nach ſeinem Bilde geſchaffen und uns ſeinen göttlichen Odem eingeblaſen. O, könnten wir doch ewig hier ſo ſitzen in dieſem Paradieſe und in ſolcher Unſchuld; ja, meine Freunde, es iſt mir ſo, als wären wir ſämmtlich im Stande der Unſchuld, aber durch eine ſündenloſe Erkenntniß veredelt; denn wir alle können, Gott ſei Dank, leſen und ſchreiben und haben alle eine geſchickte Handtierung gelernt. Zu vielem hätte ich Geſchick und Anlagen und getraute mir wohl, Dinge zu verrichten, wie ſie419 das gelehrteſte Fräulein nicht kann, wenn ich über meinen Stand hinausgehen wollte; aber die Beſcheidenheit und die Demuth ſind die vor¬ nehmſte Tugend eines rechtſchaffenen Frauenzim¬ mers und es genügt mir zu wiſſen, daß mein Geiſt nicht werthlos und verachtet iſt vor einer höheren Einſicht. Schon Viele haben mein be¬ gehrt, die meiner nicht werth waren, und nun auf einmal ſehe ich drei würdige Junggeſellen um mich verſammelt, von denen ein Jeder gleich werth wäre, mich zu beſitzen! Bemeſſet darnach, wie mein Herz in dieſem wunderbaren Überfluſſe ſchmachten muß, und nehmet euch Jeder ein Bei¬ ſpiel an mir und denket euch, Jeder wäre von drei gleich werthen Jungfrauen umblühet, die ſein begehrten, und er könnte ſich um deswillen zu keiner hinneigen und gar keine bekommen! Stellt euch doch recht lebhaft vor, um Jeden von euch buhleten drei Jungfern Bünzlin, und ſäßen ſo um euch her, gekleidet wie ich und von gleichem Anſehen, ſo daß ich gleichſam verneun¬ facht hier vorhanden wäre und euch von allen Seiten anblickte und nach euch ſchmachtete! Thut ihr dies? «

27 *420

Die wackeren Geſellen hörten verwundert auf zu kauen und ſtudierten mit einfältigen Ge¬ ſichtern, die ſeltſame Aufgabe zu löſen. Das Schwäblein kam zuerſt damit zu Stande und rief mit lüſternem Geſicht: » Ja, wertheſte Jung¬ fer Züs! wenn Sie es denn gütigſt erlauben, ſo ſehe ich Sie nicht nur dreifach, ſondern ver¬ hundertfacht um mich herumſchweben und mich mit huldreichen Äuglein anblicken und mir tauſend Küßlein anbieten! «

» Nicht doch! « ſagte Züs unwillig verwei¬ ſend, » nicht in ſo ungehöriger und übertriebener Weiſe! Was fällt Ihnen denn ein, unbeſcheidener Dietrich? Nicht hundertfach und nicht Küßlein anbietend habe ich es erlaubt, ſondern nur drei¬ fach für Jeden und in züchtiger und ehrbarer Manier, daß mir nicht zu nahe geſchieht! «

» Ja, « rief jetzt endlich Jobſt und zeigte mit einem abgenagten Birnenſtiel um ſich her, » nur dreifach aber in größter Ehrbarkeit ſehe ich die liebſte Jungfer Bünzli um mich her ſpazieren und mir wohlwollend zuwinken, indem ſie die Hand auf's Herz legt! Ich danke ſehr, danke, danke ergebenſt! « ſagte er ſchmunzelnd, ſich nach421 drei Seiten verneigend, als ob er wirklich die Erſcheinungen ſähe. » So iſt's recht, « ſagte Züs lächelnd, » wenn irgend ein Unterſchied zwiſchen euch beſteht, ſo ſeid Ihr doch der Begabteſte, lieber Jobſt, wenigſtens der Verſtändigſte! « Der Baier Fridolin war immer noch nicht fertig mit ſeiner Vorſtellung, da er aber den Jobſt ſo loben hörte, wurde es ihm angſt und er rief eilig: » Ich ſehe auch die liebſte Jungfrau Bünzli dreifach um mich her ſpazieren in größter Ehrbar¬ keit und mir wollüſtig zuwinken, indem ſie die Hand auf

» Pfui, Baier! « ſchrie Züs und wandte das Geſicht ab, » nicht ein Wort weiter! Woher neh¬ men Sie den Muth, von mir in ſo wüſten Worten zu reden und ſich ſolche Sauereien ein¬ zubilden? Pfui, pfui! « Der arme Baier war wie vom Donner gerührt und wurde glühend roth, ohne zu wiſſen wofür; denn er hatte ſich gar nichts eingebildet und nur ungefähr dem Klänge nach geſagt, was er von Jobſten gehört, da er geſehen, wie dieſer für ſeine Rede belobt worden. Züs wandte ſich wieder zu Dietrich und ſagte: » Nun, lieber Dietrich, haben Sie's422 noch nicht auf eine etwas beſcheidenere Art zu¬ wege gebracht? « » Ja, mit Ihrer Erlaubniß, « erwiederte er, froh wieder angeredet zu werden, » ich erblicke Sie jetzt nur dreimal um mich her, freundlich aber anſtändig mich anſchauend und mir drei weiße Hände bietend, welche ich küſſe! «

» Gut denn! « ſagte Züs » und Sie Frido¬ lin? ſind Sie noch nicht von Ihrer Abirrung zurückgekehrt? Kann ſich Ihr ungeſtümes Blut noch nicht zu einer wohlanſtändigen Vorſtellung beruhigen? « » Um Vergebung! « ſagte Fridolin kleinlaut, » ich glaube jetzt drei Jungfern zu ſehen, die mir gedörrte Birnen anbieten und mir nicht abgeneigt ſcheinen. Es iſt keine ſchöner, als die andere, und die Wahl unter ihnen ſcheint mir ein bitteres Kraut zu ſein! «

» Nun alſo, « ſprach Züs, » da ihr in euerer Einbildungskraft von neun ſolchen ganz gleich werthen Perſonen umgeben ſeid und in dieſem liebreizenden Überfluſſe dennoch Mangel in euerem Herzen leidet, ermeſſet danach meinen eigenen Zuſtand; und wie ihr an mir ſahet, daß ich mich weiſen und beſcheidenen Herzens zu faſſen weiß, ſo nehmet doch ein Beiſpiel an meiner423 Stärke und gelobet mir und euch untereinander, euch ferner zu vertragen und, wie ich liebevoll von euch ſcheide, euch eben ſo liebevoll von ein¬ ander zu trennen, wie auch das Schickſal, das eurer wartet, entſcheiden möge! So leget denn alle eure Hände zuſammen in meine Hand und gelobt es! «

» Ja, wahrhaftig, « rief Jobſt, » ich will es wenigſtens thun, an mir ſoll's nicht fehlen! « und die andern zwei riefen eiligſt: » An mir auch nicht, an mir auch nicht! « und ſie legten alle die Hände zuſammen, wobei ſich jedoch Je¬ der vornahm, auf alle Fälle zu ſpringen, ſo gut er vermöchte. » An mir ſoll es wahrhaftig nicht fehlen! « wiederholte Jobſt, » denn ich bin von Jugend auf barmherziger und einträchtiger Natur geweſen. Noch nie habe ich einen Streit gehabt und konnte nie ein Thierlein leiden ſehen; wo ich noch geweſen bin, habe ich mich gut vertragen und das beſte Lob geerntet ob meines geruhſamen Betragens; denn obgleich ich gar manche Dinge auch ein bischen verſtehe und ein verſtändiger junger Mann bin, ſo hat man nie geſehen, daß ich mich in etwas miſchte, was mich nichts an¬424 ging, und habe ſtets meine Pflicht auf eine ein¬ ſichtsvolle Weiſe gethan. Ich kann arbeiten, ſo viel ich will, und es ſchadet mir nichts, da ich geſund und wohlauf bin und in den beſten Jah¬ ren! Alle meine Meiſterinnen haben noch geſagt, ich ſei ein Tauſendsmenſch, ein Ausbund, und mit mir ſei gut auskommen! Ach! ich glaube wirklich ſelbſt, ich könnte leben wie im Himmel mit Ihnen, allerliebſte Jungfer Züs! «

» Ei! « ſagte der Baier eifrig, » das glaub 'ich wohl, das wäre auch keine Kunſt, mit der Jungfer wie im Himmel zu leben! Das wollt' ich mir auch zutrauen, denn ich bin nicht auf den Kopf gefallen! Mein Handwerk verſteh 'ich aus dem Grund und weiß die Dinge in Ord¬ nung zu halten, ohne ein Unwort zu verlieren. Nirgends habe ich Händel bekommen, obgleich ich in den größten Städten gearbeitet habe, und niemals habe ich eine Katze geſchlagen oder eine Spinne getödtet. Ich bin mäßig und enthaltſam und mit jeder Nahrung zufrieden, und ich weiß mich am Geringfügigſten zu vergnügen und da¬ mit zufrieden zu ſein. Aber ich bin auch geſund und munter und kann etwas aushalten, ein gutes425 Gewiſſen iſt das beſte Lebenselixir, alle Thiere lieben mich und laufen mir nach, weil ſie mein gutes Gewiſſen wittern, denn bei einem unge¬ rechten Menſchen wollen ſie nicht bleiben. Ein Pudelhund iſt mir einſt drei Tage lang nachge¬ folgt, als ich aus der Stadt Ulm verreiſ'te, und ich mußte ihn endlich einem Bauersmann in Gewahrſam geben, da ich als ein demüthiger Handwerksgeſell kein ſolches Thier ernähren konnte, und als ich durch den Böhmerwald reiſ'te, ſind die Hirſche und Rehe auf zwanzig Schritt noch ſtehen geblieben und haben ſich nicht vor mir gefürchtet. Es iſt wunderbar, wie ſelbſt die wilden Thiere ſich bei den Menſchen auskennen und wiſſen, welche guten Herzens ſind! «

» Ja, das muß wahr ſein! « rief der Schwabe, » ſeht ihr nicht, wie dieſer Fink ſchon die ganze Zeit da vor mir herumfliegt und ſich mir zu nähern ſucht? Und jenes Eichhörnchen auf der Tanne ſieht ſich immerfort nach mir um, und hier kriecht ein kleiner Käfer allfort an meinem Beine und will ſich durchaus nicht vertreiben laſſen! Dem muß es gewiß recht wohl ſein bei mir, dem lieben guten Thierchen! «

426

Jetzt wurde aber Züs eiferſüchtig und ſagte etwas heftig: » Bei mir wollen alle Thiere gern bleiben! Einen Vogel hab 'ich acht Jahre ge¬ habt und er iſt ſehr ungern von mir wegge¬ ſtorben; unſere Katze ſtreicht mir nach, wo ich geh' und ſtehe, und des Nachbars Tauben drän¬ gen und zanken ſich vor meinem Fenſter, wenn ich ihnen Broſamen ſtreue! Wunderbare Eigen¬ ſchaften haben die Thiere je nach ihrer Art! Der Löwe folgt gern den Königen nach und den Helden, und der Elephant begleitet den Fürſten und den tapfern Krieger; das Kameel trägt den Kaufmann durch die Wüſte und bewahrt ihm friſches Waſſer in ſeinem Bauch, und der Hund begleitet ſeinen Herrn durch alle Gefahren und ſtürzt ſich für ihn in das Meer! Der Delphin liebet die Muſik und folgt den Schiffen, und der Adler den Kriegsheeren. Der Affe iſt ein menſchenähnliches Weſen und thut Alles, was er die Menſchen thun ſieht, und der Papagey verſteht unſere Sprache und plaudert mit uns, wie ein Alter! Selbſt die Schlangen laſſen ſich zähmen und tanzen auf der Spitze ihres Schwan¬ zes; das Krokodill weint menſchliche Thränen427 und wird von den Bürgern dort geachtet und verſchont; der Strauß läßt ſich ſatteln und rei¬ ten wie ein Roß; der wilde Büffel ziehet den Wagen des Menſchen und das gehörnte Rennthier ſeinen Schlitten. Das Einhorn liefert ihm das ſchneeweiße Elfenbein und die Schildkröte ihre durchſichtigen Knochen «

» Mit Verlaub, « ſagten alle drei Kammmacher zugleich, » hierin irren Sie ſich gewißlich, das Elfenbein wird aus den Elephantenzähnen ge¬ wonnen und die Schildpattkämme macht man aus der Schaale und nicht aus den Knochen der Schildkröte! «

Züs wurde feuerroth und ſagte: » Das iſt noch die Frage, denn ihr habt gewiß nicht ge¬ ſehen, wo man es hernimmt, ſondern verarbeitet nur die Stücke; ich irre mich ſonſt ſelten, doch ſei dem wie ihm wolle, ſo laſſet mich ausreden: nicht nur die Thiere haben ihre merkwürdigen von Gott eingepflanzten Beſonderheiten, ſondern ſelbſt das todte Geſtein, ſo aus den Bergen gegraben wird. Der Kriſtall iſt durchſichtig wie Glas, der Marmor aber hart und geädert, bald weiß und bald ſchwarz; der Bernſtein hat elec¬428 triſche Eigenſchaften und ziehet den Blitz an; aber dann verbrennt er und riecht wie Weih¬ rauch. Der Magnet zieht Eiſen an, auf die Schiefertafeln kann man ſchreiben, aber nicht auf den Diamant, denn dieſer iſt hart wie Stahl; auch gebraucht ihn der Glaſer zum Glasſchneiden, weil er klein und ſpitzig iſt. Ihr ſehet, liebe Freunde, daß ich auch ein Weniges von den Thieren zu ſagen weiß! Was aber mein Ver¬ hältniß zu ihnen betrifft, ſo iſt dies zu bemerken: Die Katze iſt ein ſchlaues und liſtiges Thier und iſt daher nur ſchlauen und liſtigen Menſchen anhänglich; die Taube aber iſt ein Sinnbild der Unſchuld und Einfalt und kann ſich nur von einfältigen, ſchuldloſen Seelen angezogen fühlen. Da mir nun Katzen und Tauben anhänglich ſind, ſo folgt hieraus, daß ich klug und einfältig, ſchlau und unſchuldig zugleich bin, wie es denn auch heißt: Seid klug wie die Schlangen und einfäl¬ tig wie die Tauben! Auf dieſe Weiſe können wir allerdings die Thiere und ihr Verhältniß zu uns würdigen und manches daraus lernen, wenn wir die Sache recht zu betrachten wiſſen. «

Die armen Geſellen wagten nicht ein Wort429 weiter zu ſagen; Züs hatte ſie gut zugedeckt und ſprach noch viele hochtrabende Dinge durch¬ einander, daß ihnen Hören und Sehen verging. Sie bewunderten aber Züſis Geiſt und Bered¬ ſamkeit, und in dieſer Bewunderung dünkte ſich keiner zu ſchlecht, dieſes Kleinod zu beſitzen, be¬ ſonders da dieſe Zierde eines Hauſes ſo wohlfeil war und nur in einer raſtloſen Zunge beſtand. Ob ſie ſelbſt deſſen, was ſie ſo hoch ſtellen, auch werth ſeien und etwas damit anzufangen wüßten, fragen ſich ſolche Schwachköpfe zu allerletzt oder auch gar nicht, ſondern ſie ſind wie die Kinder, welche nach Allem greifen, was ihnen in die Augen glänzt, von allen bunten Dingen die Farben abſchlecken und ein Schellenſpiel ganz in den Mund ſtecken wollen, ſtatt es blos an die Ohren zu halten. So erhitzten ſie ſich immer mehr in der Begierde und Einbildung, dieſe aus¬ gezeichnete Perſon zu erwerben, und je ſchnöder, herzloſer und eitler Züs unſinnige Phraſen wur¬ den, deſto gerührter und jämmerlicher waren die Kammmacher zuweg. Zugleich fühlten ſie einen heftigen Durſt von dem trockenen Obſte, welches ſie inzwiſchen aufgegeſſen; Jobſt und der Baier430 ſuchten im Gehölz nach Waſſer, fanden eine Quelle und tranken ſich voll kaltes Waſſer. Der Schwabe hingegen hatte liſtiger Weiſe ein Fläſch¬ chen mitgenommen, in welchem er Kirſchgeiſt mit Waſſer und Zucker gemiſcht, welches liebliche Getränk ihn ſtärken und ihm einen Vorſchub gewähren ſollte beim Laufen; denn er wußte, daß die Andern zu ſparſam waren, um etwas mitzunehmen oder eine Einkehr zu halten. Dies Fläſchchen zog er jetzt eilig hervor, während jene ſich mit Waſſer füllten, und bot es der Jungfer Züs an; ſie trank es halb aus, es ſchmeckte ihr vortrefflich und erquickte ſie und ſie ſah den Dietrich dabei überquer ganz holdſelig an, daß ihm der Reſt, welchen er ſelber trank, ſo lieblich ſchmeckte wie Cyperwein und ihn gewaltig ſtärkte. Er konnte ſich nicht enthalten, Züſis Hand zu ergreifen und ihr zierlich die Fingerſpitzen zu küſſen; ſie tippte ihm leicht mit dem Zeigefinger auf die Lippen und er that, als ob er darnach ſchnappen wollte und machte dazu ein Maul, wie ein lächelnder Karpfen; Züs ſchmunzelte falſch und freundlich, Dietrich ſchmunzelte ſchlau und ſüßlich; ſie ſaßen auf der Erde ſich gegen¬431 über und tätſchelten zuweilen mit den Schuhſoh¬ len gegeneinander, wie wenn ſie ſich mit den Füßen die Hände geben wollten. Züs beugte ſich ein wenig vornüber und legte die Hand auf ſeine Schulter, und Dietrich wollte eben dies holde Spiel erwiedern und fortſetzen, als der Sachſe und der Baier zurückkamen und bleich und ſtöhnend zuſchauten. Denn es war ihnen von dem vielen Waſſer, welches ſie an die ge¬ noſſenen Backbirnen geſchüttet, plötzlich elend ge¬ worden und das Herzeleid, welches ſie bei dem Anblicke des ſpielenden Paares empfanden, ver¬ einigte ſich mit dem öden Gefühle des Bauches, ſo daß ihnen der kalte Schweiß auf der Stirne ſtand. Züs verlor aber die Faſſung nicht, ſon¬ dern winkte ihnen überaus freundlich zu und rief: » Kommet, ihr Lieben, und ſetzet euch doch auch noch ein bischen zu mir her; daß wir noch ein Weilchen und zum letzten Mal unſere Eintracht und Freundſchaft genießen! « Jobſt und Fridolin drängten ſich haſtig herbei und ſtreckten ihre Beine aus; Züs ließ dem Schwaben die eine Hand, gab Jobſten die andere und berührte mit den Füßen Fridolins Stiefelſohlen, während ſie432 mit dem Angeſicht Einen nach dem Andern der Reihe nach anlächelte. So giebt es Virtuoſen, welche viele Inſtrumente zugleich ſpielen, auf dem Kopfe ein Glockenſpiel ſchütteln, mit dem Munde die Panspfeife blaſen, mit den Händen die Guitarre ſpielen, mit den Knieen die Cymbel ſchlagen, mit dem Fuß den Dreiangel und mit den Ellbogen eine Trommel, die ihnen auf dem Rücken hängt.

Dann aber erhob ſie ſich von der Erde, ſtrich ihr Kleid, welches ſie ſorgfältig aufgeſchürzt hatte, zurecht und ſagte: » Nun iſt es wohl Zeit, liebe Freunde! daß wir uns aufmachen und daß ihr euch zu jenem ernſthaften Gange rüſtet, welchen euch der Meiſter in ſeiner Thorheit auferlegt, wir aber als die Anordnung eines höheren Geſchickes anſehen! Tretet dieſen Weg an voll ſchönen Eifers aber ohne Feindſchaft noch Neid gegen einander und überlaſſet dem Sieger willig die Krone! «

Wie von einer Weſpe geſtochen ſprangen die Geſellen auf und ſtellten ſich auf die Beine. Da ſtanden ſie nun und ſollten mit denſelben einander den Rang ablaufen, mit denſelben guten433 Beinen, welche bislang nur in bedachtem ehr¬ barem Schritt gewandelt! Keiner wußte ſich mehr zu entſinnen, daß er je einmal geſprungen oder gelaufen wäre; am eheſten ſchien ſich noch der Schwabe zu trauen und mit den Füßen ſo¬ gar leiſe zu ſcharren und dieſelben ungeduldig zu heben. Sie ſahen ſich ganz ſonderbar und verdächtig an, waren bleich und ſchwitzten dabei, als ob ſie ſchon im heftigſten Laufen begriffen wären.

» Gebet euch, ſagte Züs, noch einmal die Hand! « Sie thaten es, aber ſo willenlos und läſſig, daß die drei Hände kalt von einander abglitten und abfielen wie Bleihände. » Sollen wir denn wirklich das Thorenwerk beginnen? « ſagte Jobſt und wiſchte ſich die Augen, welche anfingen zu träufeln. » Ja, verſetzte der Baier, ſollen wir wirklich laufen und ſpringen? « und begann zu weinen. » Und Sie, allerliebſte Jungfer Bünzlin? « ſagte Jobſt heulend, » wie werden Sie ſich denn verhalten? « » Mir geziemt, « antwortete ſie und hielt ſich das Schnupftuch vor die Augen, » mir geziemt zu ſchweigen, zu leiden und zuzuſehen! « Der Schwabe ſagteKeller, die Leute von Seldwyla 28434freundlich und liſtig: » Aber dann nachher, Jungfer Bäbi? « » O Dietrich! erwiederte ſie ſanft, wiſſen Sie nicht, daß es heißt, der Zug des Schickſals iſt des Herzens Stimme? « Und da¬ bei ſah ſie ihn von der Seite ſo verblümt an, daß er abermals die Beine hob und Luſt ver¬ ſpürte, ſogleich in Trab zu gerathen. Während die zwei Nebenbuhler ihre kleinen Felleiſenfuhr¬ werke in Ordnung brachten und Dietrich das Gleiche that, ſtreifte ſie mehrmals mit Nachdruck ſeinen Elbogen oder trat ihm auf den Fuß; auch wiſchte ſie ihm den Staub von dem Hute, lächelte aber gleichzeitig den Andern zu, wie wenn ſie den Schwaben auslachte, doch ſo, daß es dieſer nicht ſehen konnte. Alle drei blieſen jetzt mächtig die Backen auf und blieſen große Seufzer in die Luft. Sie ſahen ſich um nach allen Seiten, nahmen die Hüte ab, wiſchten ſich den Schweiß von der Stirn, ſtrichen die ſteif geklebten Haare und ſetzten die Hüte wieder auf. Nochmals ſchauten ſie nach allen Winden und ſchnappten nach Luft. Züs erbarmte ſich ihrer und war ſo gerührt, daß ſie ſelbſt weinte. » Hier ſind noch drei dürre Pflaumen, ſagte ſie,435 nehmt Jeder eine in den Mund und behaltet ſie darin, das wird euch erquicken! So ziehet denn dahin und kehret die Thorheit der Schlechten um in Weisheit der Gerechten! Was ſie zum Muthwillen ausgeſonnen, das verwandelt in ein erbauliches Werk der Prüfung und der Selbſt¬ beherrſchung, in eine ſinnreiche Schlußhandlung eines langjährigen Wohlverhaltens und Wett¬ laufes in der Tugend! « Jedem ſteckte ſie die Pflaume in den Mund, und er ſog daran. Jobſt drückte die Hand auf ſeinen Magen und rief: » Wenn es denn ſein muß, ſo ſei es in's Himmels Namen! « und plötzlich fing er, indem er den Stock erhob, mit ſtark gebogenen Knieen mächtig an auszuſchreiten und zog ſein Felleiſen an ſich. Kaum ſah dies Fridolin, ſo folgte er ihm nach mit langen Schritten, und ohne ſich ferner umzuſehen, eilten ſie ſchon ziemlich haſtig die Straße hinab. Der Schwabe war der letzte, der ſich aufmachte, und ging mit liſtig vergnügtem Geſicht und ſcheinbar ganz gemäch¬ lich neben Züs her, wie wenn er ſeiner Sache ſicher und edelmüthig ſeinen Gefährten einen Vorſprung gönnen wollte. Züs belobte ſeine28 *436freundliche Gelaſſenheit und hing ſich ver¬ traulich an ſeinen Arm. » Ach, es iſt doch ſchön, ſagte ſie mit einem Seufzer, eine feſte Stütze zu haben im Leben! Selbſt wenn man hinläng¬ lich begabt iſt mit Klugheit und Einſicht und einen tugendhaften Weg wandelt, ſo geht es ſich auf dieſem Wege doch viel gemüthlicher am vertrauten Freundesarme! « » Der Tauſend, ei ja wohl, das wollte ich wirklich meinen! « erwiederte Dietrich und ſtieß ihr den Elbogen tüchtig in die Seite, indem er zugleich nach ſeinen Nebenbuhlern ſpähte, ob der Vorſprung auch nicht zu groß würde, » ſehen Sie wohl, wertheſte Jungfer! Kommt es Ihnen allendlich? Merken Sie, wo Barthel den Moſt holt? « » O Dietrich, lieber Dietrich! ſagte ſie mit einem noch viel ſtärkeren Seufzer, » ich fühle mich oft recht einſam! « » Hopſele, ſo muß es kommen! « rief er und ſein Herz hüpfte wie ein Häschen im Weißkohl. » O Dietrich! « rief ſie und drückte ſich feſter an ihn; es ward ihm ſchwül und ſein Herz wollte zerſpringen vor pfiffigem Vergnügen; aber zugleich entdeckte er, daß ſeine Vorläufer nicht mehr ſichtbar, ſondern um eine437 Ecke herum verſchwunden waren. Sogleich wollte er ſich losreißen von Züſis Arm und jenen nachſpringen; aber ſie hielt ihn ſo feſt, daß es ihm nicht gelang, und klammerte ſich an, wie wenn ſie ſchwach würde. » Dietrich! flü¬ ſterte ſie, die Augen verdrehend, laſſen Sie mich jetzt nicht allein, ich vertraue auf Sie, ſtützen Sie mich! « » Den Teufel noch einmal, laſſen Sie mich los Jungfer! rief er ängſtlich, » oder ich komm 'zu ſpät und dann ade Zipfelmütze! « » Nein, nein! ſie dürfen mich nicht verlaſſen, ich fühle, mir wird übel! « jammerte ſie. » Übel oder nicht übel! « ſchrie er und riß ſich gewalt¬ ſam los; er ſprang auf eine Erhöhung und ſah ſich um und ſah die Läufer ſchon im vollen Rennen weit den Berg hinunter. Nun ſetzte er zum Sprung an, ſchaute ſich aber im ſelben Augenblick noch ein Mal nach Züs um. Da ſah er ſie, wie ſie am Eingange eines engen ſchattigen Waldpfades ſaß und lieblich lockend ihm mit den Händen winkte. Dieſem Anblicke konnte er nicht widerſtehen, ſondern eilte, ſtatt den Berg hinunter, wieder zu ihr hin. Als ſie ihn kommen ſah, ſtand ſie auf und ging438 tiefer in das Holz hinein, ſich nach ihm um¬ ſehend; denn ſie dachte ihn auf alle Weiſe vom Laufen abzuhalten und ſo lange zu veriren, bis er zu ſpät käme und nicht in Seldwyl bleiben könne.

Allein der erfindungsreiche Schwabe änderte zu ſelber Zeit ſeine Gedanken und nahm ſich vor, ſein Heil hier oben zu erkämpfen, und ſo ge¬ ſchah es, daß es ganz anders kam, als die liſtige Perſon es hoffte. Sobald er ſie erreicht und an einem verborgenen Plätzchen mit ihr allein war, fiel er ihr zu Füßen und beſtürmte ſie mit den feurigſten Liebeserklärungen, welche ein Kammmacher je gemacht hat. Erſt ſuchte ſie ihm Ruhe zu gebieten und, ohne ihn fortzu¬ ſcheuchen, auf gute Manier hinzuhalten, indem ſie alle ihre Weisheiten und Anmuthungen ſpie¬ len ließ. Als er ihr aber Himmel und Hölle vorſtellte, wozu ihm ſein aufgeregter und ge¬ ſpannter Unternehmungsgeiſt herrliche Zauber¬ worte lieh, als er ſie mit Zärtlichkeiten jeder Art überhäufte und bald ihrer Hände, bald ihrer Füße ſich zu bemächtigen ſuchte und ihren Leib und ihren Geiſt, alles was an ihr war, lobte439 und rühmte, daß der Himmel hätte grün wer¬ den mögen, als dazu die Witterung und der Wald ſo ſtill und lieblich waren, verlor Züs endlich den Compaß, als ein Weſen, deſſen Ge¬ danken am Ende doch ſo kurz ſind als ſeine Sinne, ihr Herz krabbelte ſo ängſtlich und wehr¬ los, wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt, und Dietrich beſiegte es in jeder Weiſe. Sie hatte ihn in dies Dickicht verlockt, um ihn zu verrathen und war im Handumdrehen von dem Schwäbchen erobert; dies geſchah nicht, weil ſie etwa eine beſonders verliebte Perſon war, ſon¬ dern weil ſie als eine kurze Natur trotz aller eingebildeten Weisheit doch nicht über ihre eigene Naſe weg ſah. Sie blieben wohl eine Stunde in dieſer kurzweiligen Einſamkeit, umarmten ſich immer auf's Neue und gaben ſich tauſend Kü߬ chen. Sie ſchwuren ſich ewige Treue und in aller Aufrichtigkeit und wurden einig, ſich zu heirathen auf alle Fälle.

Unterdeſſen hatte ſich in der Stadt die Kunde von dem ſeltſamen Unternehmen der drei Geſellen verbreitet und der Meiſter ſelbſt zu ſeiner Beluſtigung die Sache bekannt gemacht,440 deshalb freuten ſich die Seldwyler auf das unver¬ hoffte Schauſpiel und waren begierig, die gerechten und ehrbaren Kammmacher zu ihrem Spaße laufen und ankommen zu ſehen. Eine große Menſchenmenge zog vor das Thor und lagerte ſich zu beiden Seiten der Straße, wie wenn man einen Schnellläufer erwartet. Die Knaben kletterten auf die Bäume, die Alten und Rück¬ geſetzten ſaßen im Graſe und rauchten ihr Pfeifchen, vergnügt, daß ſich ihnen ein ſo wohlfeiles Ver¬ gnügen aufgethan. Selbſt die Herren waren ausgerückt, um den Hauptſpaß mit anzuſehen, ſaßen fröhlich diskurirend in den Gärten und Lauben der Wirthshäuſer und bereiteten eine Menge Wetten vor. In den Straßen, durch welche die Läufer kommen mußten, waren alle Fenſter geöffnet, die Frauen hatten in den Vi¬ ſitenſtuben rothe und weiße Kiſſen ausgelegt, die Arme darauf zu legen, und zahlreichen Damen¬ beſuch empfangen, ſo daß fröhliche Kaffeegeſell¬ ſchaften aus dem Stegreif entſtanden und die Mägde genug zu laufen hatten, um Kuchen und Zwieback zu holen. Vor dem Thore aber ſahen jetzt die Buben auf den höchſten Bäumen eine441 kleine Staubwolke ſich nähern und begannen zu rufen: Sie kommen, ſie kommen! Und nicht lange dauerte es, ſo kamen Fridolin und Jobſt wirklich wie ein Sturmwind herangeſauſ't, mitten auf der Straße, eine dicke Wolke Staubes auf¬ rührend. Mit der einen Hand zogen ſie die Felleiſen, welche wie toll über die Steine flogen, mit der andern hielten ſie die Hüte feſt, welche ihnen im Nacken ſaßen, und ihre langen Röcke flogen und wehten um die Wette. Beide waren von Schweiß und Staub bedeckt, ſie ſperrten den Mund auf und lechzten nach Athem, ſahen und hörten nichts, was um ſie her vorging und dicke Thränen rollten den armen Männern über die Geſichter, welche ſie nicht abzuwiſchen Zeit hatten. Sie liefen ſich dicht auf den Ferſen, doch war der Baier voraus um eine Spanne. Ein entſetzliches Geſchrei und Gelächter erhob ſich und dröhnte, ſo weit das Ohr reichte. Alles raffte ſich auf und drängte ſich dicht an den Weg, von allen Seiten rief es: So recht, ſo recht! Lauft, wehr 'Dich Sachs! halt Dich brav, Baier! Einer iſt ſchon abgefallen, es ſind nur noch zwei! Die Herren in den Gärten ſtanden442 auf den Tiſchen und wollten ſich ausſchütten vor Lachen. Ihr Gelächter dröhnte aber donnernd und feſt über den haltloſen Lärm der Menge weg, die auf der Straße lagerte und gab das Signal zu einem unerhörten Freudentage. Die Buben und das Geſindel ſtrömten hinter den zwei armen Geſellen zuſammen und ein wilder Haufen, eine furchtbare Wolke erregend, wälzte ſich mit ihnen dem Thore zu; ſelbſt Weiber und junge Gaſſenmädchen liefen mit und miſchten ihre hellen quiekenden Stimmen in das Geſchrei der Burſchen. Schon waren ſie dem Thore nah, deſſen Thürme von Neugierigen beſetzt wa¬ ren, die ihre Mützen ſchwenkten, die zwei rann¬ ten wie ſcheu gewordene Pferde, das Herz voll Qual und Angſt; da knieete ein Gaſſenjunge wie ein Kobold auf Jobſtens fahrendes Felleiſen und ließ ſich unter dem Beifallsgeſchrei der Menge mitfahren. Jobſt wandte ſich und flehte ihn an, loszulaſſen, auch ſchlug er mit dem Stocke nach ihm; aber der Junge duckte ſich und grinſte ihn an. Darüber gewann Fridolin einen grö¬ ßeren Vorſprung und wie Jobſt es merkte, warf er ihm den Stock zwiſchen die Füße, daß er443 hinſtürzte. Wie aber Jobſt über ihn wegſprin¬ gen wollte, erwiſchte ihn der Baier am Rock¬ ſchoß und zog ſich daran in die Höhe; Jobſt ſchlug ihm auf die Hände und ſchrie: Laß los, laß los! Fridolin ließ nicht los, Jobſt packte dafür ſeinen Rockſchoß und nun hielten ſie ſich gegenſeitig feſt und drehten ſich langſam zum Thore hinein, nur zuweilen einen Sprung ver¬ ſuchend, um einer dem andern zu entrinnen. Sie weinten, ſchluchzten und heulten wie Kinder und ſchrieen in unſäglicher Beklemmung: O Gott! laß los! Du lieber Heiland, laß los Jobſt! laß los Fridolin! laß los Du Satan! dazwiſchen ſchlugen ſie ſich fleißig auf die Hände, kamen aber immer um ein Weniges vorwärts. Hut und Stock hatten ſie verloren, zwei Buben trugen dieſelben, die Hüte auf die Stöcke geſteckt, voran und hinter ihnen her wälzte ſich der tobende Haufen; alle Fenſter waren von der Damenwelt beſetzt, welche ihr ſilbernes Gelächter in die unten toſende Brandung warf, und ſeit langer Zeit war man nicht mehr ſo fröhlich geſtimmt ge¬ weſen in dieſer Stadt. Das rauſchende Ver¬ gnügen ſchmeckte den Bewohnern ſo gut, daß444 kein Menſch den zwei Ringenden ihr Ziel zeigte, des Meiſters Haus, an welchem ſie endlich ange¬ langt. Sie ſelber ſahen es nicht, ſie ſahen überhaupt nichts, und ſo wälzte ſich der tolle Zug durch das ganze Städtchen und zum andern Thore wieder hinaus. Der Meiſter hatte lachend unter dem Fenſter gelegen, und nachdem er noch ein Stündchen auf den endlichen Sieger gewartet, wollte er eben weggehen, um die Früchte ſeines Schwankes zu genießen, als Dietrich und Züs ſtill und unverſehens bei ihm eintraten.

Dieſe hatten nämlich unterdeſſen ihre Ge¬ danken zuſammen gethan und berathen, daß der Kammmachermeiſter wohl geneigt ſein dürfte, da er doch nicht lang mehr machen würde, ſein Geſchäft gegen eine baare Summe zu verkaufen. Züs wollte ihren Gültbrief dazu hergeben und der Schwabe ſein Geldchen auch dazuthun, und dann wären ſie die Herren der Sachlage und könnten die andern zwei auslachen. Sie trugen ihre Vereinigung dem überraſchten Meiſter vor; die¬ ſem leuchtete es ſogleich ein, hinter dem Rücken ſeiner Gläubiger, ehe es zum Bruch kam, noch ſchnell den Handel abzuſchließen und unverhofft445 des baaren Kaufpreiſes habhaft zu werden. Raſch wurde Alles feſtgeſtellt und ehe die Sonne un¬ terging, war Jungfer Bünzlin die rechtmäßige Beſitzerin des Kammmachergeſchäfts und ihr Bräu¬ tigam der Miether des Hauſes, in welchem das¬ ſelbe lag, und ſo war Züs, ohne es am Mor¬ gen geahnt zu haben, endlich erobert und ge¬ bunden durch die Handlichkeit des Schwäbchens.

Halb todt vor Scham, Mattigkeit und Ärger lagen Jobſt und Fridolin in der Herberge, wo¬ hin man ſie geführt hatte, nachdem ſie auf dem freien Felde endlich umgefallen waren, ganz in einander verbiſſen. Die ganze Stadt, da ſie einmal aufgeregt war, hatte die Urſache ſchon vergeſſen und feierte eine luſtige Nacht. In vielen Häuſern wurde getanzt und in den Schenken wurde gezecht und geſungen, wie an den grö߬ ten Seldwylertagen; denn die Seldwyler brauch¬ ten nicht viel Zeug, um mit Meiſterhand eine Luſtbarkeit daraus zu formen. Als die beiden armen Teufel ſahen, wie ihre Tapferkeit, mit welcher ſie gedacht hatten, die Thorheit der Welt zu benutzen, nur dazu gedient hatte, dieſelbe triumphiren zu laſſen und ſich ſelbſt zum allge¬446 meinen Geſpött zu machen, wollte ihnen das Herz brechen; denn ſie hatten nicht nur den weiſen Plan mancher Jahre verfehlt und ver¬ nichtet, ſondern auch den Ruhm beſonnener und rechtlich ruhiger Leute eingebüßt.

Jobſt, der der älteſte war und ſieben Jahre hier geweſen, war ganz verloren und konnte ſich nicht zurecht finden. Ganz ſchwermüthig zog er vor Tag wieder aus der Stadt, und hing ſich an der Stelle, wo ſie Alle geſtern geſeſſen, an einen Baum. Als der Baier eine Stunde ſpäter da vorüber kam und ihn erblickte, faßte ihn ein ſolches Entſetzen, daß er wie wahnſinnig davon rannte, ſein ganzes Weſen veränderte und, wie man nachher hörte, ein liederlicher Menſch und alter Handwerksburſch wurde, der keines Menſchen Freund war.

Dietrich der Schwabe allein blieb ein Ge¬ rechter und hielt ſich oben in dem Städtchen; aber er hatte nicht viel Freude daran; denn Züs ließ ihm gar nicht den Ruhm davon, re¬ gierte und unterdrückte ihn und betrachtete ſich ſelbſt als die alleinige Quelle alles Guten.

447

Spiegel, das Kätzchen.

Ein Mährchen.

Wenn ein Seldwyler einen ſchlechten Handel gemacht hat oder angeführt worden iſt, ſo ſagt man zu Seldwyla: Er hat der Katze den Schmeer abgekauft! Dies Sprichwort iſt zwar auch ander¬ wärts gebräuchlich, aber nirgends hört man es ſo oft wie dort, was vielleicht daher rühren mag, daß es in dieſer Stadt eine alte Sage giebt über den Urſprung und die Bedeutung die¬ ſes Sprichwortes.

Vor mehreren hundert Jahren, heißt es, wohnte zu Seldwyla eine ältliche Perſon allein mit einem ſchönen, grau und ſchwarzen Kätzchen, welches in aller Vergnügtheit und Klugheit mit ihr lebte und Niemandem, der es ruhig ließ, etwas zu Leide that. Seine einzige Leidenſchaft448 war die Jagd, welche es jedoch mit Vernunft und Mäßigung befriedigte, ohne ſich durch den Umſtand, daß dieſe Leidenſchaft zugleich einen nützlichen Zweck hatte und ſeiner Herrin wohl¬ gefiel, beſchönigen zu wollen und allzuſehr zur Grauſamkeit hinreißen zu laſſen. Es fing und tödtete daher nur die zudringlichſten und frechſten Mäuſe, welche ſich in einem gewiſſen Umkreiſe des Hauſes betreten ließen, aber dieſe dann mit zuverläſſiger Geſchicklichkeit; nur ſelten verfolgte es eine beſonders pfiffige Maus, welche ſeinen Zorn gereizt hatte, über dieſen Umkreis hinaus und erbat ſich in dieſem Falle mit vieler Höf¬ lichkeit von den Herren Nachbaren die Erlaub¬ niß, in ihren Häuſern ein wenig mauſen zu dürfen, was ihm gerne gewährt wurde, da es die Milchtöpfe ſtehen ließ, nicht an die Schinken hinaufſprang, welche etwa an den Wänden hin¬ gen, ſondern ſeinem Geſchäfte ſtill und aufmerk¬ ſam oblag und, nachdem es dieſes verrichtet, ſich mit dem Mäuslein im Maule anſtändig entfernte. Auch war das Kätzchen gar nicht ſcheu und unartig, ſondern zutraulich gegen Jeder¬ mann und floh nicht vor vernünftigen Leuten;449 vielmehr ließ es ſich von ſolchen einen guten Spaß gefallen und ſelbſt ein bischen an den Ohren zupfen, ohne zu kratzen; dagegen ließ es ſich von einer Art dummer Menſchen, von wel¬ chen es behauptete, daß die Dummheit aus einem unreifen und nichtsnutzigen Herzen käme, nicht das Mindeſte gefallen und ging ihnen ent¬ weder aus dem Wege, oder verſetzte ihnen einen ausreichenden Hieb über die Hand, wenn ſie es mit einer Plumpheit moleſtirten.

Spiegel, ſo war der Name des Kätzchens wegen ſeines glatten und glänzenden Pelzes, lebte ſo ſeine Tage heiter, zierlich und beſchau¬ lich dahin, in anſtändiger Wohlhabenheit und ohne Überhebung. Er ſaß nicht zu oft auf der Schulter ſeiner freundlichen Gebieterin, um ihr die Biſſen von der Gabel wegzufangen, ſondern nur, wenn er merkte, daß ihr dieſer Spaß an¬ genehm war; auch lag und ſchlief er den Tag über ſelten auf ſeinem warmen Kiſſen hinter dem Ofen, ſondern hielt ſich munter und liebte es eher, auf einem ſchmalen Treppengeländer oder in der Dachrinne zu liegen und ſich philo¬ ſophiſchen Betrachtungen und der BeobachtungKeller, die Leute von Seldwyla. 29450der Welt zu überlaſſen. Nur jeden Frühling und Herbſt einmal wurde dies ruhige Leben eine Woche lang unterbrochen, wenn die Veilchen blühten oder die milde Wärme des Alteweiber¬ ſommers die Veilchenzeit nachäffte. Alsdann ging Spiegel ſeine eigenen Wege, ſtreifte in verliebter Begeiſterung über die fernſten Dächer und ſang die allerſchönſten Lieder. Als ein rechter Don Juan beſtand er bei Tag und Nacht die bedenklichſten Abenteuer, und wenn er ſich zur Seltenheit einmal im Hauſe ſehen ließ, ſo erſchien er mit einem ſo verwegenen, burſchikoſen, ja liederlichen und zerzauſ'ten Ausſehen, daß die ſtille Perſon, ſeine Gebieterin, faſt unwillig ausrief: » Aber Spiegel! Schämſt Du Dich denn nicht, ein ſolches Leben zu führen? « Wer ſich aber nicht ſchämte, war Spiegel; als ein Mann von Grundſätzen, der wohl wußte, was er ſich zur wohlthätigen Abwechslung erlauben durfte, beſchäftigte er ſich ganz ruhig damit, die Glätte ſeines Pelzes und die unſchuldige Mun¬ terkeit ſeines Ausſehens wieder herzuſtellen, und er fuhr ſich ſo unbefangen mit dem feuchten451 Pfötchen über die Naſe, als ob gar nichts geſchehen wäre.

Allein dies gleichmäßige Leben nahm plötz¬ lich ein trauriges Ende. Als das Kätzchen Spiegel eben in der Blüthe ſeiner Jahre ſtand, ſtarb die Herrin unverſehens an Altersſchwäche und ließ das ſchöne Kätzchen herrenlos und ver¬ waiſ’t zurück. Es war das erſte Unglück, wel¬ ches ihm widerfuhr, und mit jenen Klagetönen, welche ſo ſchneidend den bangen Zweifel an der wirklichen und rechtmäßigen Urſache eines großen Schmerzes ausdrücken, begleitete es die Leiche bis auf die Straße und ſtrich den ganzen übri¬ gen Tag rathlos im Hauſe und rings um das¬ ſelbe her. Doch ſeine gute Natur, ſeine Ver¬ nunft und Philoſophie geboten ihm bald, ſich zu faſſen, das Unabänderliche zu tragen und ſeine dankbare Anhänglichkeit an das Haus ſeiner todten Gebieterin dadurch zu beweiſen, daß er ihren lachenden Erben ſeine Dienſte anbot und ſich bereit machte, denſelben mit Rath und That beizuſtehen, die Mäuſe ferner im Zaume zu halten und überdies ihnen manche gute Mit¬ theilung zu machen, welche die Thörichten nicht452 verſchmäht hätten, wenn ſie eben nicht unver¬ nünftige Menſchen geweſen wären. Aber dieſe Leute ließen Spiegel gar nicht zu Worte kommen, ſondern warfen ihm die Pantoffeln und das artige Fu߬ ſchemelchen der Seligen an den Kopf, ſo oft er ſich blicken ließ, zankten ſich acht Tage lang unter einander, begannen endlich einen Prozeß und ſchloſſen das Haus bis auf Weiteres zu, ſo daß nun gar Niemand darin wohnte.

Da ſaß nun der arme Spiegel traurig und verlaſſen auf der ſteinernen Stufe vor der Haus¬ thüre und hatte Niemand, der ihn hinein ließ. Des Nachts begab er ſich wohl auf Umwegen unter das Dach des Hauſes, und im Anfang hielt er ſich einen großen Theil des Tages dort verborgen und ſuchte ſeinen Kummer zu ver¬ ſchlafen; doch der Hunger trieb ihn bald an das Licht und nöthigte ihn, an der warmen Sonne und unter den Leuten zu erſcheinen, um bei der Hand zu ſein und zu gewärtigen, wo ſich etwa ein Maul voll geringer Nahrung zei¬ gen möchte. Je ſeltener dies geſchah, deſto auf¬ merkſamer wurde der gute Spiegel, und alle ſeine moraliſchen Eigenſchaften gingen in dieſer453 Aufmerkſamkeit auf, ſo daß er ſehr bald ſich ſelber nicht mehr gleich ſah. Er machte zahlreiche Ausflüge von ſeiner Hausthüre aus und ſtahl ſich ſcheu und flüchtig über die Straße, um manch¬ mal mit einem ſchlechten unappetitlichen Biſſen, dergleichen er früher nie angeſehen, manchmal mit gar Nichts zurückzukehren. Er wurde von Tag zu Tag magerer und zerzauſ'ter, dabei gierig, kriechend und feig; all' ſein Muth, ſeine zierliche Katzenwürde, ſeine Vernunft und Philo¬ ſophie waren dahin. Wenn die Buben aus der Schule kamen, ſo kroch er in einen verborgenen Winkel, ſobald er ſie kommen hörte, und guckte nur hervor, um aufzupaſſen, welcher von ihnen etwa eine Brodrinde wegwürfe und merkte ſich den Ort, wo ſie hinfiel. Wenn der ſchlechteſte Köter von Weitem ankam, ſo ſprang er haſtig fort, während er früher gelaſſen der Gefahr in's Auge geſchaut und böſe Hunde oft tapfer ge¬ züchtigt hatte. Nur wenn ein grober und ein¬ fältiger Menſch daher kam, dergleichen er ſonſt klüglich gemieden, blieb er ſitzen, obgleich das arme Kätzchen mit dem Reſte ſeiner Menſchen¬ kenntniß den Lümmel recht gut erkannte; allein454 die Noth zwang Spiegelchen, ſich zu täuſchen und zu hoffen, daß der Schlimme ausnahmsweiſe einmal es freundlich ſtreicheln und ihm einen Biſſen darreichen werde. Und ſelbſt wenn er ſtatt deſſen nun doch geſchlagen oder in den Schwanz gekneift wurde, ſo kratzte er nicht, ſondern duckte ſich lautlos zur Seite und ſah dann noch verlangend nach der Hand, die es geſchlagen und gekneift, und welche nach Wurſt oder Häring roch.

Als der edle und kluge Spiegel ſo herunter¬ gekommen war, ſaß er eines Tages ganz mager und traurig auf ſeinem Steine und blinzelte in der Sonne. Da kam der Stadthexenmeiſter Pineiß des Weges, ſah das Kätzchen und ſtand vor ihm ſtill. Etwas Gutes hoffend, obgleich es den Unheimlichen wohl kannte, ſaß Spiegelchen demüthig auf dem Stein und erwartete, was der Herr Pineiß etwa thun oder ſagen würde. Als dieſer aber begann und ſagte: » Na, Katze! Soll ich Dir Deinen Schmeer abkaufen? « da verlor es die Hoffnung; denn es glaubte, der Stadthexenmeiſter wolle es ſeiner Magerkeit wegen verhöhnen. Doch erwiederte er beſcheiden455 und lächelnd, um es mit Niemand zu verderben: » Ach, der Herr Pineiß belieben zu ſcherzen! « » Mit Nichten! rief Pineiß, « es iſt mir voller Ernſt! Ich brauche Katzenſchmeer vorzüglich zur Hexerei; aber er muß mir vertragsmäßig und freiwillig von den werthen Herren Katzen abge¬ treten werden, ſonſt iſt er unwirkſam. Ich denke, wenn je ein wackeres Kätzlein in der Lage war, einen vortheilhaften Handel abzu¬ ſchließen, ſo biſt es Du! Begieb Dich in meinen Dienſt; ich füttere Dich herrlich heraus, mache Dich fett und kugelrund mit Würſtchen und ge¬ bratenen Wachteln. Auf dem ungeheuer hohen alten Dache meines Hauſes, welches nebenbei geſagt das köſtlichſte Dach von der Welt iſt für eine Katze, voll intereſſanter Gegenden und Winkel, wächſt auf den ſonnigſten Höhen treff¬ liches Spitzgras, grün wie Smaragd, ſchlank und fein in den Lüften ſchwankend, Dich ein¬ ladend, die zarteſten Spitzen abzubeißen und zu genießen, wenn Du Dir an meinen Leckerbiſſen eine leichte Unverdaulichkeit zugezogen haſt. So wirſt Du bei trefflicher Geſundheit bleiben und mir der¬ einſt einen kräftigen brauchbaren Schmeer liefern! «

456

Spiegel hatte ſchon längſt die Ohren ge¬ ſpitzt und mit wäſſerndem Mäulchen gelauſcht; doch war ſeinem geſchwächten Verſtande die Sache noch nicht klar, und er verſetzte daher: » das iſt soweit nicht übel, Herr Pineiß! Wenn ich nur wüßte, wie ich alsdann, wenn ich doch, um Euch meinen Schmeer abzutreten, mein Leben laſſen muß, des verabredeten Preiſes hab¬ haft werden und ihn genießen ſoll, da ich nicht mehr bin? « » Des Preiſes habhaft werden? « ſagte der Hexenmeiſter verwundert, » den Preis genießeſt Du ja eben in den reichlichen und üppigen Speiſen, womit ich Dich fett mache, das verſteht ſich von ſelber! doch will ich Dich zu dem Handel nicht zwingen! « Und er machte Miene, ſich von dannen begeben zu wollen. Aber Spiegel ſagte haſtig und ängſtlich: » Ihr müßt mir wenigſtens eine mäßige Friſt gewähren über die Zeit meiner höchſten erreichten Rund¬ heit und Fettigkeit hinaus, daß ich nicht ſo jäh¬ lings von hinnen gehen muß, wenn jener an¬ genehme und ach! ſo traurige Zeitpunkt heran¬ gekommen und entdeckt iſt! «

» Es ſei! « ſagte Herr Pineiß mit anſchei¬457 nender Gutmüthigkeit, » bis zum nächſten Voll¬ mond ſollſt Du Dich alsdann Deines angeneh¬ men Zuſtandes erfreuen dürfen, aber nicht län¬ ger! denn in den abnehmenden Mond hinein darf es nicht gehen, weil dieſer einen vermin¬ dernden Einfluß auf mein wohlerworbenes Ei¬ genthum ausüben würde. «

Das Kätzchen beeilte ſich zuzuſchlagen und unterzeichnete einen Vertrag, welchen der Hexen¬ meiſter im Vorrath bei ſich führte, mit ſeiner ſcharfen Handſchrift, welche ſein letztes Beſitzthum und Zeichen beſſerer Tage war.

» Du kannſt Dich nun zum Mittageſſen bei mir einfinden, Kater! « ſagte der Hexer, » Punkt zwölf Uhr wird gegeſſen! « » Ich werde ſo frei ſein, wenn Ihr's erlaubt! « ſagte Spiegel und fand ſich pünktlich um die Mittagsſtunde bei Herrn Pineiß ein. Dort begann nun während einiger Monate ein höchſt angenehmes Leben für das Kätzchen; denn es hatte auf der Welt wei¬ ter nichts zu thun, als die guten Dinge zu ver¬ zehren, die man ihm vorſetzte, dem Meiſter bei der Hexerei zuzuſchauen, wenn es mochte, und auf dem Dache ſpazieren zu gehen. Dies Dach29 *458glich einem ungeheuren ſchwarzen Nebelſpalter oder Dreiröhrenhut, wie man die großen Hüte der ſchwäbiſchen Bauern nennt, und wie ein ſolcher Hut ein Gehirn voller Nücken und Fin¬ ten überſchattet, ſo bedeckte dies Dach ein gro¬ ßes, dunkles und winkliges Haus voll Hexenwerk und Tauſendsgeſchichten. Herr Pineiß war ein Kann-Alles, welcher hundert Ämtchen verſah, Leute kurirte, Wanzen vertilgte, Zähne auszog und Geld auf Zinſen lieh; er war der Vor¬ münder aller Waiſen und Wittwen, ſchnitt in ſeinen Mußeſtunden Federn, das Dutzend für einen Pfennig, und machte ſchöne ſchwarze Dinte; er handelte mit Ingwer und Pfeffer, mit Wa¬ genſchmiere und Roſoli, mit Heftlein und Schuh¬ nägeln, er renovirte die Thurmuhr und machte jährlich den Kalender mit der Witterung, den Bauernregeln, und dem Aderlaßmännchen; er ver¬ richtete zehntauſend rechtliche Dinge am hellen Tag um mäßigen Lohn, und einige unrechtliche nur in der Finſterniß und aus Privatleidenſchaft, oder hing auch den rechtlichen, ehe er ſie aus ſeiner Hand entließ, ſchnell noch ein unrecht¬ liches Schwänzchen an, ſo klein wie die Schwänz¬459 chen der jungen Fröſche, gleichſam nur der Poſ¬ ſierlichkeit wegen. Überdies machte er das Wet¬ ter in ſchwierigen Zeiten, überwachte mit ſeiner Kunſt die Hexen, und wenn ſie reif waren, ließ er ſie verbrennen; für ſich trieb er die Hexerei nur als wiſſenſchaftlichen Verſuch und zum Haus¬ gebrauch, ſowie er auch die Stadtgeſetze, die er redigirte und ins Reine ſchrieb, unter der Hand probirte und verdrehte, um ihre Dauerhaftigkeit zu ergründen. Da die Seldwyler ſtets einen ſolchen Bürger brauchten, der alle unluſtigen kleinen und großen Dinge für ſie that, ſo war er zum Stadthexenmeiſter ernannt worden und bekleidete dies Amt ſchon ſeit vielen Jahren mit unermüdlicher Hingebung und Geſchicklichkeit, früh und ſpät. Daher war ſein Haus von unten bis oben vollgeſtopft mit allen erdenklichen Din¬ gen, und Spiegel hatte viel Kurzweil, Alles zu beſehen und zu beriechen.

Doch im Anfang gewann er keine Aufmerk¬ ſamkeit für andere Dinge, als für das Eſſen. Er ſchlang gierig alles hinunter, was Pineiß ihm darreichte, und mochte kaum von einer Zeit zur andern warten. Dabei überlud er ſich den460 Magen und mußte wirklich auf das Dach ge¬ hen, um dort von den grünen Gräſern abzu¬ beißen und ſich von allerhand Unwohlſein zu kuriren. Als der Meiſter dieſen Heißhunger bemerkte, freute er ſich und dachte, das Kätzchen würde ſolcherweiſe recht bald fett werden, und je beſſer er daran wende, deſto klüger verfahre und ſpare er im Ganzen. Er baute daher für Spiegel eine ordentliche Landſchaft in ſeiner Stube, indem er ein Wäldchen von Tannen¬ bäumchen aufſtellte, kleine Hügel von Steinen und Moos errichtete und einen kleinen See an¬ legte. Auf die Bäumchen ſetzte er duftig ge¬ bratene Lerchen, Finken, Meiſen und Sperlinge, je nach der Jahrszeit, ſo daß da Spiegel im¬ mer etwas herunter zu holen und zu knabbern vorfand. In die kleinen Berge verſteckte er in künſtlichen Mauslöchern herrliche Mäuſe, welche er ſorgfältig mit Waizenmehl gemäſtet, dann ausgeweidet, mit zarten Speckriemchen geſpickt und gebraten hatte. Einige dieſer Mäuſe konnte Spiegel mit der Hand hervorholen, andere wa¬ ren zur Erhöhung des Vergnügens tiefer ver¬ borgen, aber an einen Faden gebunden, an wel¬461 chem Spiegel ſie behutſam hervorziehen mußte, wenn er dieſe Luſtbarkeit einer nachgeahmten Jagd genießen wollte. Das Becken des See's aber füllte Pineiß alle Tage mit friſcher Milch, damit Spiegel in der ſüßen ſeinen Durſt löſche, und ließ gebratene Gründlinge darin ſchwimmen, da er wußte, daß Katzen zuweilen auch die Fi¬ ſcherei lieben. Aber da nun Spiegel ein ſo herrliches Leben führte, thun und laſſen, eſſen und trinken konnte, was ihm beliebte und wann es ihm einfiel, ſo gedieh er allerdings zuſehens an ſeinem Leibe; ſein Pelz wurde wieder glatt und glänzend und ſein Auge munter; aber zu¬ gleich nahm er, da ſich ſeine Geiſteskräfte in gleichem Maße wieder anſammelten, beſſere Sit¬ ten an, die wilde Gier legte ſich, und weil er jetzt eine traurige Erfahrung hinter ſich hatte, ſo wurde er nun klüger als zuvor. Er mäßigte ſich in ſeinen Gelüſten und fraß nicht mehr, als ihm zuträglich war, indem er zugleich wieder vernünftigen und tiefſinnigen Betrachtungen nach¬ ging und die Dinge wieder durchſchaute. So holte er eines Tages einen hübſchen Kramets¬ vogel von den Äſten herunter, und als er den¬462 ſelben nachdenklich zerlegte, fand er deſſen kleinen Magen ganz kugelrund angefüllt mit friſcher un¬ verſehrter Speiſe. Grüne Kräutchen, artig zu¬ ſammengerollt, ſchwarze und weiße Samenkörner und eine glänzend rothe Beere waren da ſo niedlich und dicht in einander gepfropft, als ob ein Mütterchen für ihren Sohn das Ränzchen zur Reiſe gepackt hätte. Als Spiegel den Vo¬ gel langſam verzehrt und das ſo vergnüglich gefüllte Mäglein an ſeine Klaue hing und phi¬ loſophiſch betrachtete, rührte ihn das Schickſal des armen Vogels, welcher nach ſo friedlich ver¬ brachtem Geſchäft ſo ſchnell ſein Leben laſſen mußte, daß er nicht einmal die eingepackten Sa¬ chen verdauen konnte. » Was hat er nun davon gehabt, der arme Kerl, ſagte Spiegel, daß er ſich ſo fleißig und eifrig genährt hat, daß dies kleine Säckchen ausſieht, wie ein wohl vollbrach¬ tes Tagewerk? Dieſe rothe Beere iſt es, die ihn aus dem freien Walde in die[Schlinge] des Vogelſtellers gelockt hat. Aber er dachte doch, ſeine Sache noch beſſer zu machen und ſein Le¬ ben an ſolchen Beeren zu friſten, während ich, der ich ſo eben den unglücklichen Vogel gegeſſen,463 daran mich nur um einen Schritt näher zum Tode gegeſſen habe! Kann man einen elenderen und feigeren Vertrag abſchließen, als ſein Leben noch ein Weilchen friſten zu laſſen, um es dann um dieſen Preis doch zu verlieren? Wäre nicht ein freiwilliger und ſchneller Tod vorzuziehen geweſen für einen entſchloſſenen Kater? Aber ich habe keine Gedanken gehabt, und nun da ich wieder ſolche habe, ſehe ich nichts vor mir, als das Schickſal dieſes Krametsvogels; wenn ich rund genug bin, ſo muß ich von hinnen, aus keinem andern Grunde, als weil ich rund bin. Ein ſchöner Grund für einen lebensluſtigen und gedankenreichen Katzmann! Ach, könnte ich aus dieſer Schlinge kommen! «

Er vertiefte ſich nun in vielfältige Grübe¬ leien, wie das gelingen möchte; aber da die Zeit der Gefahr noch nicht da war, ſo wurde es ihm nicht klar und er fand keinen Ausweg; aber als ein kluger Mann ergab er ſich bis dahin der Tugend und der Selbſtbeherrſchung, welches immer die beſte Vorſchule und Zeitver¬ wendung iſt, bis ſich etwas entſcheiden ſoll. Er verſchmähte das weiche Kiſſen, welches ihm Pi¬464 neiß zurechtgelegt hatte, damit er fleißig darauf ſchlafen und fett werden ſollte, und zog es vor, wieder auf ſchmalen Geſimſen und hohen ge¬ fährlichen Stellen zu liegen, wenn er ruhen wollte. Ebenſo verſchmähte er die gebratenen Vögel und die geſpickten Mäuſe und fing ſich lieber auf den Dächern, da er nun wieder ei¬ nen rechtmäßigen Jagdgrund hatte, mit Liſt und Gewandtheit einen ſchlichten lebendigen Sper¬ ling, oder auf den Speichern eine flinke Maus, und ſolche Beute ſchmeckte ihm vortrefflicher, als das gebratene Wild in Pineißens künſtlichem Gehäge, während ſie ihn nicht zu fett machte; auch die Bewegung und Tapferkeit, ſowie der wiedererlangte Gebrauch der Tugend und Phi¬ loſophie verhinderten ein zu ſchnelles Fettwerden, ſo daß Spiegel zwar geſund und glänzend aus¬ ſah, aber zu Pineißens Verwunderung auf einer gewiſſen Stufe der Beleibtheit ſtehen blieb, welche lange nicht das erreichte, was der Hexenmeiſter mit ſeiner freundlichen Mäſtung bezweckte; denn dieſer ſtellte ſich darunter ein kugelrundes, ſchwer¬ fälliges Thier vor, welches ſich nicht vom Ruhe¬ kiſſen bewegte und aus eitel Schmeer beſtand. 465Aber hierin hatte ſich ſeine Hexerei eben geirrt und er wußte bei aller Schlauheit nicht, daß wenn man einen Eſel füttert, derſelbe ein Eſel bleibt, wenn man aber einen Fuchſen ſpeiſet, derſelbe nichts anders wird, als ein Fuchs; denn jede Creatur wächſt ſich nach ihrer Weiſe aus. Als Herr Pineiß entdeckte, wie Spiegel immer auf demſelben Punkte einer wohlgenährten, aber geſchmeidigen und rüſtigen Schlankheit ſtehen blieb, ohne eine erkleckliche Fettigkeit anzuſetzen, ſtellte er ihn eines Abends plötzlich zur Rede und ſagte barſch: » Was iſt das, Spiegel? Wa¬ rum friſſeſt Du die guten Speiſen nicht, die ich Dir mit ſo viel Sorgfalt und Kunſt präparire und herſtelle? Warum fängſt Du die gebrate¬ nen Vögel nicht auf den Bäumen, warum ſuchſt Du die leckeren Mäuschen nicht in den Berghöhlen? Warum fiſcheſt Du nicht mehr in dem See? Warum pflegſt Du Dich nicht? Warum ſchläfſt Du nicht auf dem Kiſſen? Warum ſtrapazirſt Du Dich und wirſt mir nicht fett? « » Ei, Herr Pineiß! ſagte Spiegel, weil es mir wohler iſt auf dieſe Weiſe! Soll ich meine kurze Friſt nicht auf die Art verbringen, die mir am an¬Keller, die Leute von Seldwyla. 30466genehmſten iſt? « » Wie! rief Pineiß, Du ſollſt ſo leben, daß Du dick und rund wirſt und nicht Dich abjagen! Ich merke aber wohl, wo Du hinauswillſt! Du denkſt mich zu äffen und hin¬ zuhalten, daß ich Dich in Ewigkeit in dieſem Mittelzuſtande herumlaufen laſſe? Mit nichten ſoll Dir das gelingen! Es iſt Deine Pflicht, zu eſſen und zu trinken und Dich zu pflegen, auf daß Du dick werdeſt und Schmeer bekommſt! Auf der Stelle entſage daher dieſer hinterliſtigen und kontraktwidrigen Mäßigkeit, oder ich werde ein Wörtlein mit Dir ſprechen! «

Spiegel unterbrach ſein behagliches Spinnen, das er angefangen, um ſeine Faſſung zu be¬ haupten, und ſagte: » Ich weiß kein Sterbens¬ wörtchen davon, daß in dem Contrakt ſteht, ich ſolle der Mäßigkeit und einem geſunden Lebens¬ wandel entſagen! Wenn der Herr Stadthexenmeiſter darauf gerechnet hat, daß ich ein fauler Schlem¬ mer ſei, ſo iſt das nicht meine Schuld! Ihr thut tauſend rechtliche Dinge des Tages, ſo laſſet dieſes auch noch hinzukommen und uns beide hübſch in der Ordnung bleiben; denn Ihr wißt ja wohl, daß Euch mein Schmeer nur467 nützlich iſt, wenn er auf rechtliche Weiſe er¬ wachſen! « » Ei du Schwätzer! rief Pineiß er¬ boſ't, willſt Du mich belehren? Zeig 'her, wie weit biſt Du denn eigentlich gediehen, Du Müſ¬ ſiggänger? Vielleicht kann man Dich doch bald abthun! « Er griff dem Kätzchen an den Bauch; allein dieſes fühlte ſich dadurch unangenehm ge¬ kitzelt und hieb dem Hexenmeiſter einen ſcharfen Kratz über die Hand. Dieſen betrachtete Pi¬ neiß aufmerkſam, dann ſprach er: » Stehen wir ſo miteinander, du Beſtie? Wohlan, ſo erkläre ich Dich hiermit feierlich, kraft des Vertrages, für fett genug! Ich begnüge mich mit dem Er¬ gebniß und werde mich deſſelben zu verſichern wiſſen! In fünf Tagen iſt der Mond voll, und bis dahin magſt Du Dich noch Deines Lebens erfreuen, wie es geſchrieben ſteht, und nicht eine Minute länger! « Damit kehrte er ihm den Rücken und überließ ihn ſeinen Gedanken.

Dieſe waren jetzt ſehr bedenklich und düſter; ſo war denn die Stunde doch nahe, wo der gute Spiegel ſeine Haut laſſen ſollte? Und war mit aller Klugheit gar nichts mehr zu machen? Seufzend ſtieg er auf das hohe Dach, deſſen30 *468Firſte dunkel in den ſchönen Herbſtabendhimmel emporragten. Da ging der Mond über der Stadt auf und warf ſeinen Schein auf die ſchwarzen bemooſten Hohlziegel des alten Da¬ ches, ein lieblicher Geſang tönte in Spiegels Ohren und eine ſchneeweiße Kätzin wandelte glänzend über einen benachbarten Firſt weg. Sogleich vergaß Spiegel die Todesausſichten, in welchen er lebte, und erwiederte mit ſeinem ſchön¬ ſten Katerliede den Lobgeſang der Schönen. Er eilte ihr entgegen und war bald im hitzigen Gefecht mit drei fremden Katern begriffen, die er muthig und wild in die Flucht ſchlug. Dann machte er der Dame feurig und ergeben den Hof und brachte Tag und Nacht bei ihr zu, ohne an den Pineiß zu denken oder im Hauſe ſich ſehen zu laſſen. Er ſang wie eine Nach¬ tigall die ſchönen Mondnächte hindurch, jagte hinter der weißen Geliebten her über die Dä¬ cher, durch die Gärten, und rollte mehr als einmal im heftigen Minneſpiel oder im Kampfe mit den Rivalen über hohe Dächer hinunter und fiel auf die Straße; aber nur um ſich aufzu¬ raffen, das Fell zu ſchütteln und die wilde Jagd469 ſeiner Leidenſchaften von Neuem anzuheben. Stille und laute Stunden, ſüße Gefühle und zorniger Streit, anmuthiges Zwiegeſpräch, witziger Ge¬ dankenaustauſch, Ränke und Schwänke der Liebe und Eiferſucht, Liebkoſungen und Raufereien, die Gewalt des Glückes und die Leiden des Un¬ ſterns ließen den verliebten Spiegel nicht zu ſich ſelbſt kommen, und als die Scheibe des Mondes voll ward, war er von allen dieſen Aufregungen und Leidenſchaften ſo heruntergekommen, daß er jämmerlicher, magerer und zerzauſter ausſah, als je. Im ſelben Augenblicke rief ihm Pineiß aus einem Dachthürmchen: » Spiegelchen, Spie¬ gelchen! Wo biſt Du? Komm doch ein Bischen nach Hauſe! «

Da ſchied Spiegel von der weißen Freun¬ din, welche zufrieden und kühl miauend ihrer Wege ging und wandte ſich ſtolz ſeinem Henker zu. Dieſer ſtieg in die Küche hinunter, raſchelte mit dem Contract und ſagte: » Komm Spiegel¬ chen, komm Spiegelchen! « und Spiegel folgte ihm und ſetzte ſich in der Hexenküche trotzig vor den Meiſter hin in all' ſeiner Magerkeit und Zer¬ zauſ'theit. Als Herr Pineiß erblickte, wie er ſo470 ſchmählich um ſeinen Gewinn gebracht war, ſprang er wie beſeſſen in die Höhe und ſchrie wüthend: » Was ſeh 'ich? Du Schelm, Du gewiſſenloſer Spitzbube! Was haſt Du mir gethan? « Außer ſich vor Zorn griff er nach einem Beſen und wollte Spiegelein ſchlagen; aber dieſer krümmte den ſchwarzen Rücken, ließ die Haare empor ſtarren, daß ein fahler Schein darüber kniſterte, legte die Ohren zurück, pruſtete und funkelte den Alten ſo grimmig an, daß dieſer voll Furcht und Entſetzen drei Schritt zurück ſprang. Er begann zu fürchten, daß er einen Hexenmeiſter vor ſich habe, welcher ihn foppe und mehr könne, als er ſelbſt. Ungewiß und kleinlaut ſagte er: » Iſt der ehr¬ ſame Herr Spiegel vielleicht vom Handwerk? Sollte ein gelehrter Zaubermeiſter beliebt haben, ſich in dero äußere Geſtalt zu verkleiden, da er nach Gefallen über ſein Leibliches gebieten und genau ſo beleibt werden kann, als es ihm an¬ genehm dünkt, nicht zu wenig und nicht zu viel, oder unverſehens ſo mager wird, wie ein Ge¬ rippe, um dem Tode zu entſchlüpfen? «

Spiegel beruhigte ſich wieder und ſprach ehrlich: » Nein, ich bin kein Zauberer! Es iſt471 allein die ſüße Gewalt der Leidenſchaft, welche mich ſo heruntergebracht und zu meinem Ver¬ gnügen Euer Fett dahin genommen hat. Wenn wir übrigens jetzt unſer Geſchäft von Neuem beginnen wollen, ſo will ich tapfer dabei ſein und drein beißen! Setzt mir nur eine recht ſchöne und große Bratwurſt vor, denn ich bin ganz erſchöpft und hungrig! « Da packte Pi¬ neiß den Spiegel wüthend am Kragen, ſperrte ihn in den Gänſeſtall, der immer leer war, und ſchrie: » Da ſieh zu, ob Dir Deine ſüße Ge¬ walt der Leidenſchaft noch einmal heraushilft und ob ſie ſtärker iſt, als die Gewalt der Hexe¬ rei und meines rechtlichen Vertrages! Jetzt heißt's: Vogel friß und ſtirb! « Sogleich briet er eine lange Wurſt, die ſo lecker duftete, daß er ſich nicht enthalten konnte, ſelbſt ein Bischen an beiden Zipfeln zu ſchlecken, ehe er ſie durch das Gitter ſteckte. Spiegel fraß ſie von vorn bis hinten auf, und indem er ſich behaglich den Schnurrbart putzte und den Pelz leckte, ſagte er zu ſich ſelber: » Meiner Seel! es iſt doch eine ſchöne Sache um die Liebe! Die hat mich für diesmal wieder aus der Schlinge gezogen. Jetzt472 will ich mich ein wenig ausruhen und trachten, daß ich durch Beſchaulichkeit und gute Nahrung wieder zu vernünftigen Gedanken komme! Alles hat ſeine Zeit! Heute ein Bischen Leidenſchaft, morgen ein wenig Beſonnenheit und Ruhe, iſt jedes in ſeiner Weiſe gut. Dies Gefängniß iſt gar nicht ſo übel und es läßt ſich gewiß etwas Erſprießliches darin ausdenken! « Pineiß aber nahm ſich nun zuſammen und bereitete alle Tage mit aller ſeiner Kunſt ſolche Leckerbiſſen, und in ſolch reizender Abwechslung und Zuträg¬ lichkeit, daß der gefangene Spiegel denſelben nicht widerſtehen konnte; denn Pineißens Vor¬ rath an freiwilligem und rechtmäßigem Katzen¬ ſchmeer nahm alle Tage mehr ab und drohte nächſtens ganz auszugehen, und dann war der Hexer ohne dies Hauptmittel ein geſchlagener Mann. Aber der gute Hexenmeiſter nährte mit dem Leibe Spiegels deſſen Geiſt immer wieder mit, und es war durchaus nicht von dieſer un¬ bequemen Zuthat loszukommen, weshalb auch ſeine Hexerei ſich hier als lückenhaft erwies.

Als Spiegel in ſeinem Käfig ihm endlich fett genug dünkte, ſäumte er nicht länger, ſon¬473 dern ſtellte vor den Augen des aufmerkſamen Katers alle Geſchirre zurecht und machte ein helles Feuer auf dem Heerd, um den lang er¬ ſehnten Gewinn auszukochen. Dann wetzte er ein großes Meſſer, öffnete den Kerker, zog Spie¬ gelchen hervor, nachdem er die Küchenthüre wohl verſchloſſen, und ſagte wohlgemuth: » Komm, Du Sapperlöter! wir wollen Dir den Kopf abſchnei¬ den vor der Hand, und dann das Fell abzie¬ hen! Dieſes wird eine warme Mütze für mich geben, woran ich Einfältiger noch gar nicht ge¬ dacht habe! Oder ſoll ich Dir erſt das Fell ab¬ ziehen und dann den Kopf abſchneiden? « » Nein, wenn es Euch gefällig iſt, ſagte Spiegel de¬ müthig, lieber zuerſt den Kopf abſchneiden! « » Haſt Recht, Du armer Kerl! « ſagte Herr Pi¬ neiß, » wir wollen Dich nicht unnütz quälen! Alles was Recht iſt! « » Dies iſt ein wahres Wort! « ſagte Spiegel mit einem erbärmlichen Seufzer und legte das Haupt ergebungsvoll auf die Seite, » o hätt 'ich doch jederzeit gethan, was Recht iſt, und nicht eine ſo wichtige Sache leichtſinnig unterlaſſen, ſo könnte ich jetzt mit beſſerem Gewiſſen ſterben, denn ich ſterbe gern;474 aber ein Unrecht erſchwert mir den ſonſt ſo will¬ kommenen Tod, denn was bietet mir das Le¬ ben? Nichts als Furcht, Sorge und Armuth und zur Abwechslung einen Sturm verzehrender Leidenſchaft, die noch ſchlimmer iſt, als die ſtille zitternde Furcht! « » Ei, welches Unrecht, welche wichtige Sache? « fragte Pineiß neugierig. » Ach, was hilft das Reden jetzt noch, ſeufzte Spiegel, geſchehen iſt geſchehen und jetzt iſt Reue zu ſpät! « » Siehſt Du Sappermenter, was für ein Sünder Du biſt? « ſagte Pineiß, » und wie wohl Du Deinen Tod verdienſt? Aber was Tauſend haſt Du denn angeſtellt? Haſt Du mir vielleicht etwas entwendet, entfremdet, verdorben? Haſt Du mir ein himmelſchreiendes Unrecht gethan, von dem ich noch gar nichts weiß, ahne, vermuthe, Du Satan? Das ſind mir ſchöne Geſchichten! Gut, daß ich noch da¬ hinter komme! Auf der Stelle beichte mir, oder ich ſchinde und ſiede Dich lebendig aus? Wirſt Du ſprechen oder nicht? « » Ach nein! « ſagte Spiegel, » wegen Euch habe ich mir nichts vor¬ zuwerfen. Es betrifft die zehntauſend Goldgülden meiner ſeligen Gebieterin aber was hilft475 Reden! Zwar wenn ich bedenke und Euch anſehe, ſo möchte es vielleicht doch nicht ganz zu ſpät ſein wenn ich Euch betrachte, ſo ſehe ich, daß Ihr ein noch ganz ſchöner und rüſtiger Mann ſeid, in den beſten Jahren ſagt doch, Herr Pineiß! Habt Ihr noch nie etwa den Wunſch verſpürt, Euch zu verehlichen, ehr¬ bar und vortheilhaft? Aber was ſchwatze ich! Wie wird ein ſo kluger und kunſtreicher Mann auf dergleichen müſſige Gedanken kommen! Wie wird ein ſo nützlich beſchäftigter Meiſter an thö¬ richte Weiber denken! Zwar allerdings hat auch die Schlimmſte noch irgend was an ſich, was etwa nützlich für einen Mann iſt, das iſt nicht abzuleugnen! Und wenn ſie nur halbwegs was taugt, ſo iſt eine gute Hausfrau etwa weiß am Leibe, ſorgfältig im Sinne, zuthulich von Sitten, treu von Herzen, ſparſam im Verwalten, aber verſchwenderiſch in der Pflege ihres Mannes, kurzweilig in Worten und angenehm in ihren Thaten, einſchmeichelnd in ihren Handlungen! Sie küßt den Mann mit ihrem Munde und ſtreichelt ihm den Bart, ſie umſchließt ihn mit ihren Armen und kraut ihm hinter den Ohren,476 wie er es wünſcht, kurz, ſie thut tauſend Dinge, die nicht zu verwerfen ſind. Sie hält ſich ihm ganz nah zu oder in beſcheidener Entfernung, je nach ſeiner Stimmung, und wenn er ſeinen Ge¬ ſchäften nachgeht, ſo ſtört ſie ihn nicht, ſondern verbreitet unterdeſſen ſein Lob in und außer dem Hauſe; denn ſie läßt nichts an ihn kommen und rühmt Alles, was an ihm iſt! Aber das Anmuthigſte iſt die wunderbare Beſchaffenheit ihres zarten leiblichen Daſeins, welches die Na¬ tur ſo verſchieden gemacht hat von unſerm We¬ ſen bei anſcheinender Menſchenähnlichkeit, daß es ein fortwährendes Meerwunder in einer glück¬ haften Ehe bewirkt und eigentlich die allerdurch¬ triebenſte Hexerei in ſich birgt! Doch was ſchwatze ich da wie ein Thor an der Schwelle des To¬ des! Wie wird ein weiſer Mann auf dergleichen Eitelkeiten ſein Augenmerk richten! Verzeiht, Herr Pineiß, und ſchneidet mir den Kopf ab! «

Pineiß aber rief heftig: » So halt doch end¬ lich inne, Du Schwätzer! und ſage mir: Wo iſt eine Solche und hat ſie zehntauſend Gold¬ gülden? «

» Zehntauſend Goldgülden? « ſagte Spiegel.

477

» Nun ja, rief Pineiß ungeduldig, ſpracheſt Du nicht eben erſt davon? «

» Nein, antwortete Jener, das iſt eine an¬ dere Sache! Die liegen vergraben an einem Orte! «

» Und was thun ſie da, wem gehören ſie? « ſchrie Pineiß.

» Niemand gehören ſie, das iſt eben meine Gewiſſensbürde, doch ich hätte ſie unterbringen ſollen! Eigentlich gehören ſie Jenem, der eine ſolche Perſon heirathet, wie ich eben beſchrieben habe. Aber wie ſoll man drei ſolche Dinge zu¬ ſammenbringen in dieſer gottloſen Stadt. Zehn¬ tauſend Goldgülden, eine weiße, feine und gute Hausfrau, und einen weiſen rechtſchaffenen Mann? Daher iſt eigentlich meine Sünde nicht allzugroß, denn der Auftrag war zu ſchwer für eine arme Katze! «

» Wenn Du jetzt, rief Pineiß, nicht bei der Sache bleibſt, und ſie verſtändlich der Ordnung nach darthuſt, ſo ſchneide ich Dir vorläufig den Schwanz und beide Ohren ab! Jetzt fang an! «

» Da Ihr es befehlt, ſo muß ich die Sache wohl erzählen, « ſagte Spiegel und ſetzte ſich ge¬478 laſſen auf ſeine Hinterfüße, » obgleich dieſer Auf¬ ſchub meine Leiden nur vergrößert! « Pineiß ſteckte das ſcharfe Meſſer zwiſchen ſich und Spie¬ gel in die Diele und ſetzte ſich neugierig auf ein Fäßchen, um zuzuhören, und Spiegel fuhr fort:

» Ihr wiſſet doch, Herr Pineiß, daß die brave Perſon, meine ſelige Meiſterin, unverhei¬ rathet geſtorben iſt als eine alte Jungfer, die in aller Stille viel Gutes gethan und Nieman¬ den zuwider gelebt hat. Aber nicht immer war es um ſie her ſo ſtill und ruhig zugegangen, und obgleich ſie niemals von böſem Gemüth geweſen, ſo hatte ſie doch einſt viel Leid und Schaden angerichtet; denn in ihrer Jugend war ſie das ſchönſte Fräulein weit und breit, und was von jungen Herren und kecken Geſellen in der Gegend war oder des Weges kam, verliebte ſich in ſie und wollte ſie durchaus heirathen. Nun hatte ſie wohl große Luſt, zu heirathen, und einen hübſchen, ehrenfeſten und klugen Mann zu nehmen und ſie hatte die Auswahl, da ſich Einheimiſche und Fremde um ſie ſtritten und einander mehr als ein Mal die Degen in den479 Leib rannten, um den Vorrang zu gewinnen. Es bewarben ſich um ſie und verſammelten ſich kühne und verzagte, liſtige und treuherzige, reiche und arme Freier, ſolche mit einem guten und anſtändigen Geſchäft, und ſolche, welche als Ka¬ valiere zierlich von ihren Renten lebten; dieſer mit dieſen, jener mit jenen Vorzügen, beredt oder ſchweigſam, der Eine munter und liebens¬ würdig, und ein Anderer ſchien es mehr in ſich zu haben, wenn er auch etwas einfältig ausſah; kurz, das Fräulein hatte eine ſo vollkommene Auswahl, wie es ein mannbares Frauenzimmer ſich nur wünſchen kann. Allein ſie beſaß außer ihrer Schönheit ein ſchönes Vermögen von vie¬ len tauſend Goldgülden und dieſe waren die Urſache, daß ſie nie dazu kam, eine Wahl tref¬ fen und einen Mann nehmen zu können, denn ſie verwaltete ihr Gut mit trefflicher Umſicht und Klugheit und legte einen großen Werth auf daſſelbe, und da nun der Menſch immer von ſeinen eigenen Neigungen aus andere beurtheilt, ſo geſchah es, daß ſie, ſobald ſich ihr ein ach¬ tungswerther Freier genähert und ihr halbwegs gefiel, alſobald ſich einbildete, derſelbe begehre480 ſie nur um ihres Gutes willen. War einer reich, ſo glaubte ſie, er würde ſie doch nicht be¬ gehren, wenn ſie nicht auch reich wäre, und von den Unbemittelten nahm ſie vollends als gewiß an, daß ſie nur ihre Goldgülden im Auge hät¬ ten und ſich daran gedächten gütlich zu thun, und das arme Fräulein, welches doch ſelbſt ſo große Dinge auf den irdiſchen Beſitz hielt, war nicht im Stande, dieſe Liebe zu Geld und Gut an ihren Freiern von der Liebe zu ihr ſelbſt zu unterſcheiden, oder, wenn ſie wirklich etwa vorhanden war, dieſelbe nachzuſehen und zu verzeihen. Mehrere Male war ſie ſchon ſo gut wie verlobt und ihr Herz klopfte endlich ſtärker; aber plötzlich glaubte ſie aus irgend ei¬ nem Zuge zu entnehmen, daß ſie verrathen ſei und man einzig an ihr Vermögen denke, und ſie brach unverweilt die Geſchichte entzwei und zog ſich voll Schmerzen, aber unerbittlich zurück. Sie prüfte Alle, welche ihr nicht mißfielen, auf hundert Arten, ſo daß eine große Gewandtheit dazu gehörte, nicht in die Falle zu gehen, und zuletzt Keiner mehr ſich mit einiger Hoffnung nähern konnte, als wer ein durchaus geriebener481 und verſtellter Menſch war, ſo daß ſchon aus dieſen Gründen endlich die Wahl wirklich ſchwer wurde, weil ſolche Menſchen dann zuletzt doch eine unheimliche Unruhe erwecken und die peinlichſte Ungewißheit bei einer Schönen zurücklaſſen, je geriebener und geſchickter ſie ſind. Das Haupt¬ mittel, ihre Anbeter zu prüfen, war, daß ſie ihre Uneigennützigkeit auf die Probe ſtellte und ſie alle Tage zu großen Ausgaben, zu reichen Geſchenken und zu wohlthätigen Handlungen ver¬ anlaßte. Aber ſie mochten es machen, wie ſie wollten, ſo trafen ſie doch nie das Rechte; denn zeigten ſie ſich freigebig und aufopfernd, gaben ſie glänzende Feſte, brachten ſie ihr Geſchenke dar, oder anvertrauten ihr beträchtliche Gelder für die Armen, ſo ſagte ſie plötzlich, dies Alles geſchehe nur, um mit einem Würmchen den Lachs zu fangen, oder mit der Wurſt nach der Speck¬ ſeite zu werfen, wie man zu ſagen pflegt. Und ſie vergabte die Geſchenke ſowohl wie das an¬ vertraute Geld an Klöſter und milde Stiftungen und ſpeiſete die Armen; aber die betrogenen Freier wies ſie unbarmherzig ab. Bezeigten ſich dieſelben aber zurückhaltend oder gar knauſerig,Keller, die Leute von Seldwyla. 31482ſo war der Stab ſogleich über ſie gebrochen, da ſie das noch viel übler nahm und daran eine ſchnöde und nackte Rückſichtsloſigkeit und Ei¬ genliebe zu erkennen glaubte. So kam es, daß ſie, welche ein reines und nur ihrer Perſon hingegebenes Herz ſuchte, zuletzt von lauter ver¬ ſtellten, liſtigen und eigenſüchtigen Freiersleuten umgeben war, aus denen ſie nie klug wurde und die ihr das Leben verbitterten. Eines Ta¬ ges fühlte ſie ſich ſo mißmuthig und troſtlos, daß ſie ihren ganzen Hof aus dem Hauſe wies, daſſelbe zuſchloß und nach Mailand verreiſ’te, wo ſie eine Baſe hatte. Als ſie über den St. Gotthard ritt auf einem Eſelein, war ihre Ge¬ ſinnung ſo ſchwarz und ſchaurig, wie das wilde Geſtein, das ſich aus den Abgründen empor thürmte, und ſie fühlte die heftigſte Verſuchung, ſich von der Teufelsbrücke in die tobenden Ge¬ wäſſer der Reuß hinabzuſtürzen. Nur mit der größten Mühe gelang es den zwei Mägden, die ſie bei ſich hatte, und die ich ſelbſt noch gekannt habe, welche aber nun ſchon lange todt ſind, und dem Führer, ſie zu beruhigen und von der finſtern Anwandlung abzubringen. Doch483 langte ſie bleich und traurig in dem ſchönen Land Italien an, und ſo blau dort der Himmel war, wollten ſich ihre dunklen Gedanken doch nicht aufhellen. Aber als ſie einige Tage bei ihrer Baſe verweilt, ſollte unverhofft eine andere Melodie ertönen und ein Frühlingsanfang in ihr aufgehen, von dem ſie bis dato noch nicht viel gewußt. Denn es kam ein junger Landsmann in das Haus der Baſe, der ihr gleich beim er¬ ſten Anblick ſo wohl gefiel, daß man wohl ſagen kann, ſie verliebte ſich jetzt von ſelbſt und zum erſten Mal. Es war ein ſchöner Jüngling, von guter Erziehung und edlem Benehmen, nicht arm und nicht reich zur Zeit, denn er hatte nichts als zehntauſend Goldgulden, welche er von ſeinen verſtorbenen Ältern ererbt und wo¬ mit er, da er die Kaufmannſchaft erlernt hatte, in Mailand einen Handel mit Seide begründen wollte, denn er war unternehmend und klar von Gedanken und hatte eine glückliche Hand, wie es unbefangene und unſchuldige Leute oft haben; denn auch dies war der junge Mann; er ſchien, ſo wohlgelehrt er war, doch ſo arglos und un¬ ſchuldig wie ein Kind. Und obgleich er ein31*484Kaufmann war und ein ſo unbefangenes Ge¬ müth, was ſchon zuſammen eine köſtliche Sel¬ tenheit iſt, ſo war er doch feſt und ritterlich in ſeiner Haltung und trug ſein Schwert ſo keck zur Seite, wie nur ein geübter Kriegsmann es tragen kann. Dies Alles, ſowie ſeine friſche Schönheit und Jugend bezwängen das Herz des Fräuleins dermaßen, daß ſie kaum an ſich hal¬ ten konnte und ihn mit großer Freundlichkeit begegnete. Sie wurde wieder heiter und wenn ſie dazwiſchen auch traurig war, ſo geſchah dies in dem Wechſel der Liebesfurcht und Hoffnung, welche immerhin ein edleres und angenehmeres Gefühl war, als jene peinliche Verlegenheit in der Wahl, welche ſie früher unter den vielen Freiern empfunden. Jetzt kannte ſie nur eine Mühe und Beſorgniß, diejenige nämlich, dem ſchönen und guten Jüngling zu gefallen, und je ſchöner ſie ſelbſt war, deſto demüthiger und unſicherer war ſie jetzt, da ſie zum erſten Male eine wahre Neigung gefaßt hatte. Aber auch der junge Kaufmann hatte noch nie eine ſolche Schönheit geſehen, oder war wenigſtens noch keiner ſo nahe geweſen und von ihr ſo freund¬485 lich und artig behandelt worden. Da ſie nun, wie geſagt, nicht nur ſchön, ſondern auch gut von Herzen und fein von Sitten war, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß der offene und friſche Jüngling, deſſen Herz noch ganz frei und uner¬ fahren war, ſich ebenfalls in ſie verliebte und das mit aller Kraft und Rückhaltloſigkeit, die in ſeiner ganzen Natur lag. Aber vielleicht hätte das nie Jemand erfahren, wenn er in ſeiner Einfalt nicht aufgemuntert worden wäre durch des Fräuleins Zuthulichkeit, welche er mit heim¬ lichem Zittern und Zagen für eine Erwiederung ſeiner Liebe zu halten wagte, da er ſelber keine Ver¬ ſtellung kannte. Doch bezwang er ſich einige Wochen und glaubte die Sache zu verheimlichen; aber Jeder ſah ihm von Weitem an, daß er zum Sterben verliebt war, und wenn er irgend in die Nähe des Fräuleins gerieth oder ſie nur genannt wurde, ſo ſah man auch gleich, in wen er verliebt war. Er war aber nicht lange verliebt, ſondern begann wirklich zu lieben mit aller Heftigkeit ſeiner Jugend, ſo daß ihm das Fräulein das Höchſte und Beſte auf der Welt wurde, an welches er ein für allemal das Heil und den486 ganzen Werth ſeiner eigenen Perſon ſetzte. Dies gefiel ihr über die Maßen wohl; denn es war in allem, was er ſagte oder that, eine andere Art, als ſie bislang erfahren und dies beſtärkte und rührte ſie ſo tief, daß ſie nun gleichermaßen der ſtärkſten Liebe anheim fiel und nun nicht mehr von einer Wahl für ſie die Rede war. Jedermann ſah dieſe Geſchichte ſpielen und es wurde offen darüber geſprochen und vielfach geſcherzt. Dem Fräulein war es höchlich wohl dabei, und indem ihr das Herz vor banger Erwartung zerſpringen wollte, half ſie den Roman von ihrer Seite doch ein wenig verwickeln und ausſpinnen, um ihn recht aus¬ zukoſten und zu genießen. Denn der junge Mann beging in ſeiner Verwirrung ſo köſtliche und kindliche Dinge, dergleichen ſie niemals er¬ fahren, und für ſie ein Mal ſchmeichelhafter und angenehmer waren, als das andere. Er aber in ſeiner Gradheit und Ehrlichkeit konnte es nicht lange ſo aushalten; da Jeder darauf anſpielte und ſich einen Scherz erlaubte, ſo ſchien es ihm eine Komödie zu werden, als deren Gegenſtand ihm ſeine Geliebte viel zu gut und heilig war,487 und was ihr ausnehmend behagte, das machte ihn bekümmert, ungewiß und verlegen um ſie ſelber. Auch glaubte er ſie zu beleidigen und zu hintergehen, wenn er da lange eine ſo heftige Leidenſchaft zu ihr herumtrüge und unaufhörlich an ſie denke, ohne daß ſie eine Ahnung davon habe, was doch gar nicht ſchicklich ſei und ihm ſelber nicht recht! Daher ſah man ihm eines Morgens von Weitem an, daß er etwas vor¬ hatte und er bekannte ihr ſeine Liebe in einigen Worten, um es Ein Mal und nie zum zweiten Mal zu ſagen, wenn er nicht glücklich ſein ſollte. Denn er war nicht gewohnt zu denken, daß ein ſolches ſchönes und wohlbeſchaffenes Fräulein etwa nicht ihre wahre Meinung ſagen und nicht auch gleich zum erſten Mal ihr unwiderrufliches Ja oder Nein erwiedern ſollte. Er war eben ſo zart geſinnt, als heftig verliebt, eben ſo ſpröde als kindlich und eben ſo ſtolz als unbe¬ fangen, und bei ihm galt es gleich auf Tod und Leben, auf Ja oder Nein, Schlag um Schlag. In demſelben Augenblicke aber, in welchem das Fräulein ſein Geſtändniß anhörte, das ſie ſo ſehnlich erwartet, überfiel ſie ihr altes Mißtrauen488 und es fiel ihr zur unglücklichen Stunde ein, daß ihr Liebhaber ein Kaufmann ſei, welcher am Ende nur ihr Vermögen zu erlangen wün¬ ſche, um ſeine Unternehmungen zu erweitern. Wenn er daneben auch ein wenig in ihre Perſon verliebt ſein ſollte, ſo wäre ja das bei ihrer Schönheit kein ſonderliches Verdienſt und nur um ſo empörender, wenn ſie eine bloße wünſch¬ bare Zugabe zu ihrem Golde vorſtellen ſollte. Anſtatt ihm daher ihre Gegenliebe zu geſtehen und ihn wohl aufzunehmen, wie ſie am liebſten gethan hätte, erſann ſie auf der Stelle eine neue Liſt, um ſeine Hingebung zu prüfen, und nahm eine ernſte, faſt traurige Miene an, in¬ dem ſie ihm vertraute, wie ſie bereits mit einem jungen Mann verlobt ſei in ihrer Hei¬ mat, welchen ſie auf das Allerherzlichſte liebe. Sie habe ihm das ſchon mehrmals mittheilen wollen, da ſie ihn, den Kaufmann nämlich, als Freund ſehr lieb habe, wie er wohl habe ſehen können aus ihrem Benehmen, und ſie ver¬ traue ihm wie einem Bruder. Aber die unge¬ ſchickten Scherze, welche in der Geſellſchaft auf¬ gekommen ſeien, hätten ihr eine vertrauliche489 Unterhaltung erſchwert; da er nun aber ſelbſt ſie mit ſeinem braven und edlen Herzen über¬ raſcht und daſſelbe vor ihr aufgethan, ſo könne ſie ihm für ſeine Neigung nicht beſſer danken, als in dem ſie ihm eben ſo offen ſich anvertraue. Ja, fuhr ſie fort, nur demjenigen könne ſie an¬ gehören, welchen ſie einmal erwählt habe, und nie würde es ihr möglich ſein, ihr Herz einem anderen Mannesbilde zuzuwenden, dies ſtehe mit goldenem Feuer in ihrer Seele geſchrieben und der liebe Mann wiſſe ſelbſt nicht, wie lieb er ihr ſei, ſo wohl er ſie auch kenne! Aber ein trüber Unſtern hätte ſie betroffen; ihr Bräutigam ſei ein Kaufmann, aber ſo arm wie eine Maus; darum hätten ſie den Plan gefaßt, daß er aus den Mitteln der Braut einen Handel begründen ſolle; der Anfang ſei gemacht und Alles auf das Beſte eingeleitet, die Hochzeit ſollte in die¬ ſen Tagen gefeiert werden, da wollte ein un¬ verhofftes Mißgeſchick, daß ihr ganzes Vermögen plötzlich ihr angetaſtet und abgeſtritten wurde und vielleicht für immer verloren gehe, während der arme Bräutigam in nächſter Zeit ſeine erſten Zahlungen zu leiſten habe an die Mailänder490 und Venetianiſchen Kaufleute, worauf ſein ganzer Credit, ſein Gedeihen und ſeine Ehre beruhe, nicht zu ſprechen von ihrer Vereinigung und glücklichen Hochzeit! Sie ſei in der Eile nach Mailand gekommen, wo ſie begüterte Verwandte habe, um da Mittel und Auswege zu finden; aber zu einer ſchlimmen Stunde ſei ſie ge¬ kommen; denn nichts wolle ſich fügen und ſchicken, während der Tag immer näher rücke, und wenn ſie ihrem Geliebten nicht helfen könne, ſo müſſe ſie ſterben vor Traurigkeit. Denn es ſei der liebſte und beſte Menſch, den man ſich denken könne, und würde ſicherlich ein großer Kaufherr werden, wenn ihm geholfen würde, und ſie kenne kein anderes Glück mehr auf Erden, als dann deſſen Gemahlin zu ſein! Als ſie dieſe Erzählung beendet, hatte ſich der arme ſchöne Jüngling ſchon lange entfärbt und war bleich wie ein weißes Tuch. Aber er ließ keinen Laut der Klage vernehmen und ſprach nicht ein Sterbenswörtchen mehr von ſich ſelbſt und von ſeiner Liebe, ſondern fragte bloß traurig, auf wie viel ſich denn die eingegangenen Ver¬ pflichtungen des glücklich unglücklichen Bräutigams491 beliefen? Auf zehn tauſend Goldgulden! ant¬ wortete ſie noch viel trauriger. Der junge traurige Kaufherr ſtand auf, ermahnte das Fräu¬ lein, guten Muthes zu ſein, da ſich gewiß ein Ausweg zeigen werde, und entfernte ſich von ihr, ohne daß er ſie anzuſehen wagte, ſo ſehr fühlte er ſich betroffen und beſchämt, daß er ſein Auge auf eine Dame geworfen, die ſo treu und leidenſchaftlich einen Andern liebte. Denn der Arme glaubte jedes Wort von ihrer Er¬ zählung wie ein Evangelium. Dann begab er ſich ohne Säumniß zu ſeinen Handelsfreunden und brachte ſie durch Bitten und Einbüßung einer gewiſſen Summe dahin, ſeine Beſtellungen und Einkäufe wieder rückgängig zu machen, welche er ſelbſt in dieſen Tagen auch grad mit ſeinen zehntauſend Goldgulden[bezahlen] ſollte und worauf er ſeine ganze Laufbahn bauete, und ehe ſechs Stunden verfloſſen waren, erſchien er wieder bei dem Fräulein mit ſeinem ganzen Beſitzthum und bat ſie um Gotteswillen dieſe Aushülfe von ihm annehmen zu wollen. Ihre Augen funkelten vor freudiger Überraſchung und ihre Bruſt pochte wie ein Hammerwerk; ſie fragte ihn, wo er492 denn dies Capital hergenommen, und er erwiederte, er habe es auf ſeinen guten Namen geliehen und würde es, da ſeine Geſchäfte ſich glücklich wendeten, ohne Unbequemlichkeit zurückerſtatten können. Sie ſah ihm deutlich an, daß er log und daß es ſein einziges Vermögen und ganze Hoffnung war, welche er ihrem Glücke opferte; doch ſtellte ſie ſich, als glaubte ſie ſeinen Worten. Sie ließ ihren freudigen Empfindungen freien Lauf und that grauſamer Weiſe, als ob dieſe dem Glücke gälten, nun doch ihren Erwählten retten und heirathen zu dürfen, und ſie konnte nicht Worte finden, ihre Dankbarkeit auszudrücken. Doch plötzlich beſann ſie ſich und erklärte, nur unter Einer Bedingung die großmüthige That annehmen zu können, da ſonſt Alles Zureden unnütz wäre. Befragt, worin dieſe Bedingung beſtehe, verlangte ſie das heilige Verſprechen, daß er an einem beſtimmten Tage ſich bei ihr einfinden wolle, um ihrer Hochzeit beizuwohnen und der beſte Freund und Gönner ihres zu¬ künftigen Ehegemahls zu werden, ſowie der treuſte Freund, Schützer und Berather ihrer ſelbſt. Erröthend bat er ſie, von dieſem Be¬493 gehren abzuſtehen; aber umſonſt wandte er alle Gründe an, um ſie davon abzubringen, umſonſt ſtellte er ihr vor, daß ſeine Angelegenheiten jetzt nicht erlaubten, nach der Schweiz zurück¬ zureiſen, und daß er von einem ſolchen Abſtecher einen erheblichen Schaden erleiden würde. Sie beharrte entſchieden auf ihrem Verlangen und ſchob ihm ſogar ſein Gold wieder zu, da er ſich nicht dazu verſtehen wollte. Endlich verſprach er es, aber er mußte ihr die Hand darauf geben und es ihr bei ſeiner Ehre und Seligkeit beſchwören. Sie bezeichnete ihm genau den Tag und die Stunde, wann er eintreffen ſolle und alles dies mußte er bei ſeinem Chriſtenglauben und bei ſeiner Seligkeit beſchwören. Erſt dann nahm ſie ſein Opfer an und ließ den Schatz vergnügt in ihre Schlafkammer tragen, wo ſie ihn eigenhändig in ihrer Reiſetruhe verſchloß und den Schlüſſel in den Buſen ſteckte. Nun hielt ſie ſich nicht länger in Mailand auf, ſondern reiſte eben ſo fröhlich über den Sankt Gotthard zurück, als ſchwermüthig ſie hergekom¬ men war. Auf der Teufelsbrücke, wo ſie hatte hinabſpringen wollen, lachte ſie wie eine Unkluge494 und warf mit hellem Jauchzen ihrer wohlklin¬ genden Stimme einen Granatblüthenſtrauß in die Reuß, welchen ſie vor der Bruſt trug, kurz ihre Luſt war nicht zu bändigen, und es war die fröhlichſte Reiſe, die je gethan wurde. Heim¬ gekehrt, öffnete und lüftete ſie ihr Haus von oben bis unten und ſchmückte es, als ob ſie einen Prinzen erwartete. Aber zu Häupten ihres Bettes legte ſie den Sack mit den zehn¬ tauſend Goldgulden und legte des Nachts den Kopf ſo glückſelig auf den harten Klumpen und ſchlief darauf, wie wenn es das weichſte Flaumkiſſen geweſen wäre. Kaum konnte ſie den verabredeten Tag erwarten, wo ſie ihn ſicher kommen ſah, da ſie wußte, daß er nicht das einfachſte Verſprechen, geſchweige denn einen Schwur brechen würde, und wenn es ihm um das Leben ginge. Aber der Tag brach an und der Geliebte erſchien nicht und es vergingen viele Tage und Wochen, ohne daß er von ſich hören ließ. Da fing ſie an an allen Gliedern zu zittern und verfiel in die größte Angſt und Bangigkeit; ſie ſchickte Briefe über Briefe nach Mailand, aber Niemand wußte ihr zu ſagen,495 wo er geblieben ſei. Endlich aber ſtellte es ſich durch einen Zufall heraus, daß der junge Kauf¬ herr aus einem blutrothen Stück Seidendamaſt, welches er von ſeinem Handelsanfang her im Haus liegen und bereits bezahlt hatte, ſich ein Kriegskleid hatte anfertigen laſſen und unter die Schweizer gegangen war, welche damals eben im Solde des Königs Franz von Frankreich den Mailändiſchen Krieg mitſtritten. Nach der Schlacht bei Pavia, in welcher ſo viele Schweizer das Leben verloren, wurde er auf einem Haufen er¬ ſchlagener Spaniolen liegend gefunden von vielen tödtlichen Wunden zerriſſen und ſein rothes Sei¬ dengewand von unten bis oben zerſchlitzt und zerfetzt. Eh 'er den Geiſt aufgab, ſagte er einem neben ihm liegenden Seldwyler, der min¬ der übel zugerichtet war, folgende Botſchaft in's Gedächtniß und bat ihn, dieſelbe auszurichten, wenn er mit dem Leben davon käme! » Liebſtes Fräulein! Obgleich ich Euch bei meiner Ehre, bei meinem Chriſtenglauben und bei meiner Se¬ ligkeit geſchworen habe, auf Euerer Hochzeit zu erſcheinen, ſo iſt es mir dennoch nicht möglich geweſen, Euch nochmals zu ſehen und einen496 Andern des höchſten Glückes theilhaftig zu erblicken, das es für mich geben könnte. Dieſes habe ich erſt in Euerer Abweſenheit verſpürt und habe vor¬ her nicht gewußt, welch' eine ſtrenge und un¬ heimliche Sache es iſt um ſolche Liebe, wie ich zu Euch habe, ſonſt würde ich mich zweifelsohne beſſer davor gehütet haben. Da es aber ein¬ mal ſo iſt, ſo wollte ich lieber meiner weltlichen Ehre und meiner geiſtlichen Seligkeit verloren und in die ewige Verdammniß eingehen als ein Meineidiger, denn noch einmal in Euerer Nähe erſcheinen mit einem Feuer in der Bruſt, wel¬ ches ſtärker und unauslöſchlicher iſt, als das Höllenfeuer, und mich dieſes kaum wird verſpü¬ ren laſſen. Betet nicht etwa für mich, ſchönſtes Fräulein, denn ich kann und werde nie ſelig werden ohne Euch, ſei es hier oder dort, und ſomit lebt glücklich und ſeid gegrüßt! « So hatte in dieſer Schlacht, nach welcher König Franziskus ſagte: » Alles verloren, außer der Ehre! « der unglückliche Liebhaber alles verloren, die Hoffnung, die Ehre, das Leben und die ewige Seligkeit, nur die Liebe nicht, die ihn verzehrte. Der Seldwyler kam glücklich davon,497 und ſobald er ſich in etwas erholt und außer Gefahr ſah, ſchrieb er die Worte des Umgekom¬ menen getreu auf ſeine Schreibtafel, um ſie nicht zu vergeſſen, reiſ'te nach Hauſe, meldete ſich bei dem unglücklichen Fräulein und las ihr die Botſchaft ſo ſteif und kriegeriſch vor, wie er zu thun gewohnt war, wenn er ſonſt die Mannſchaft ſeines Fähnleins verlas; denn es war ein Feldlieutenant. Das Fräulein aber zerraufte ſich die Haare, zerriß ihre Kleider und begann ſo laut zu ſchreien und zu weinen, daß man es die Straße auf und nieder hörte und die Leute zuſammenliefen. Sie ſchleppte wie wahnſinnig die zehntauſend Goldgulden herbei, zerſtreute ſie auf dem Boden, warf ſich der Länge nach darauf hin und küßte die glänzenden Goldſtücke. Ganz von Sinnen, ſuchte ſie den umherrollenden Schatz zuſammen zu raffen und zu umarmen, als ob der verlorene Geliebte darin zugegen wäre. Sie lag Tag und Nacht auf dem Golde und wollte weder Speiſe noch Trank zu ſich nehmen; unaufhörlich liebkoſ'te und küßte ſie das kalte Metall, bis ſie mitten in einer Nacht plötzlich aufſtand, den Schatz emſig hinKeller, die Leute von Seldwyla. 32498und her eilend nach dem Garten trug und dort unter bitteren Thränen in den tiefen Brunnen warf und einen Fluch darüber ausſprach, daß er niemals Jemand anderm angehören ſolle. «

Als Spiegel ſoweit erzählt hatte, ſagte Pineiß: » Und liegt das ſchöne Geld noch in dem Brunnen? « » Ja, wo ſollte es ſonſt liegen? « antwortete Spiegel, » denn nur ich kann es herausbringen und habe es bis zur Stunde noch nicht gethan! « » Ei ja ſo, richtig! ſagte Pineiß, » ich habe es ganz vergeſſen über Deiner Ge¬ ſchichte! Du kannſt nicht übel erzählen, Du Sapperlöter! und es iſt mir ganz gelüſtig worden nach einem Weibchen, die ſo für mich eingenommen wäre; aber ſehr ſchön müßte ſie ſein! Doch erzähle jetzt ſchnell noch, wie die Sache eigentlich zuſammenhängt! « » Es dauerte manche Jahre, ſagte Spiegel, bis das Fräulein aus bittern Seelenleiden ſo weit zu ſich kam, daß ſie anfangen konnte, die ſtille alte Jungfer zu werden, als welche ich ſie kennen lernte. Ich darf mich berühmen, daß ich ihr einziger Troſt und ihr vertrauteſter Freund geworden bin in ihrem einſamen Leben bis an ihr ſtilles Ende. 499Als ſie aber dieſes herannahen ſah, vergegen¬ wärtigte ſie ſich noch ein Mal die Zeit ihrer fernen Jugend und Schönheit und erlitt noch einmal mit milderen ergebenen Gedanken erſt die ſüßen Erregungen und dann die bittern Leiden jener Zeit, und ſie weinte ſtill ſieben Tage und Nächte hindurch über die Liebe des Jünglings, deren Genuß ſie durch ihr Mißtrauen verloren hatte, ſo daß ihre alten Augen noch kurz vor dem Tode erblindeten. Dann bereute ſie den Fluch, wel¬ chen ſie über jenen Schatz ausgeſprochen und ſagte zu mir, indem ſie mich mit dieſer wichtigen Sache beauftragte: » Ich beſtimme nun anders, lieber Spiegel! und gebe Dir die Vollmacht, daß Du meine Verordnung vollzieheſt. Sieh 'Dich um und ſuche, bis Du eine bildſchöne, aber unbemittelte Frauensperſon findeſt, welcher es ihrer Armuth wegen an Freiern gebricht! Wenn ſich dann ein verſtändiger, rechtlicher und hübſcher Mann finden ſollte, der ſein gutes Auskommen hat, und die Jungfrau ungeachtet ihrer Armuth, nur allein von ihrer Schönheit be¬ wegt, zur Frau begehrt, ſo ſoll dieſer Mann mit den ſtärkſten Eiden ſich verpflichten, derſelben500 ſo treu, aufopfernd und unabänderlich ergeben zu ſein, wie es mein unglücklicher Liebſter ge¬ weſen iſt, und dieſer Frau ſein Leben lang in allen Dingen zu willfahren. Dann gieb der Braut die zehntauſend Goldgulden, welche im Brunnen liegen, zur Mitgift, daß ſie ihren Bräutigam am Hochzeitmorgen damit überraſche! So ſprach die Selige und ich habe meiner wi¬ drigen Geſchicke wegen verſäumt, dieſer Sache nachzugehen und muß nun befürchten, daß die Arme deswegen im Grabe noch beunruhigt ſei, was für mich eben auch nicht die angenehmſten Folgen haben kann! «

Pineiß ſah den Spiegel mißtrauiſch an und ſagte: » Wärſt Du wohl im Stande, Bürſchchen! mir den Schatz ein wenig nachzuweiſen und augenſcheinlich zu machen? «

» Zu jeder Stunde! « verſetzte Spiegel, » aber Ihr müßt wiſſen, Herr Stadthexenmeiſter! daß Ihr das Gold nicht etwa ſo ohne Weiteres herausfiſchen dürftet. Man würde Euch unfehl¬ bar das Genick umdrehen; denn es iſt nicht[g]anz geheuer in dem Brunnen, ich habe darüber501 beſtimmte Inzichten, welche ich aus Rückſichten nicht näher berühren darf! «

» Hei, wer ſpricht denn von Herausholen? « ſagte Pineiß etwas furchtſam, » führe mich ein¬ mal hin und zeige mir den Schatz! Oder viel¬ mehr will ich Dich führen an einem guten Schnürlein, damit Du mir nicht entwiſcheſt! «

» Wie Ihr wollt! « ſagte Spiegel, » aber nehmt auch eine andere lange Schnur mit und eine Blendlaterne, welche Ihr daran in den Brunnen hinablaſſen könnt; denn der iſt ſehr tief und dunkel! « Pineiß befolgte dieſen Rath und führte das muntere Kätzchen nach dem Garten jener Verſtorbenen. Sie überſtiegen mit einander die Mauer und Spiegel zeigte dem Hexer den Weg zu dem alten Brunnen, welcher unter verwildertem Gebüſche verborgen war. Dort ließ Pineiß ſein Laternchen hinunter, begierig nachblickend, während er den angebundenen Spiegel nicht von der Hand ließ. Aber richtig ſah er in der Tiefe das Gold funkeln unter dem grünlichen Waſſer und rief: » Wahrhaftig, ich ſeh's, es iſt wahr! Spiegel Du biſt ein Tauſendskerl! « Dann guckte er wieder eifrig hinunter und ſagte: » Mögen502 es auch zehntauſend ſein? « » Ja das iſt nun nicht zu ſchwören! ſagte Spiegel, ich bin nie da unten geweſen und hab's nicht gezählt! Iſt auch möglich, daß die Dame dazumal einige Stücke auf dem Wege verloren hat, als ſie den Schatz hieher trug, da ſie in einem ſehr auf¬ geregten Zuſtande war. « » Nun, ſeien es auch ein Dutzend oder mehr weniger! « ſagte Herr Pineiß, » es ſoll mir darauf nicht ankommen! « Er ſetzte ſich auf den Rand des Brunnens, Spiegel ſetzte ſich auch nieder und leckte ſich das Pfötchen. » Da wäre nun der Schatz! « ſagte Pineiß, indem er ſich hinter den Ohren kratzte, » und hier wäre auch der Mann dazu; fehlt nur noch das bildſchöne Weib! « » Wie? « ſagte Spiegel. » Ich meine, es fehlt nur noch die¬ jenige, welche die Zehntauſend als Mitgift be¬ kommen ſoll um mich damit zu überraſchen am Hochzeitmorgen, und welche alle jene angenehmen Tugenden hat, von denen Du geſprochen! « » Hm! verſetzte Spiegel, die Sache verhält ſich nicht ganz ſo, wie Ihr ſagt! Der Schatz iſt da, wie Ihr richtig einſeht; das ſchöne Weib habe ich, um es aufrichtig zu geſtehen, allbereits auch503 ſchon ausgeſpürt; aber mit dem Mann, der ſie unter dieſen ſchwierigen Umſtänden heirathen möchte, da hapert es eben; denn heutzutage muß die Schönheit obenein vergoldet ſein, wie die Weihnachtsnüſſe, und je hohler die Köpfe werden, deſto mehr ſind ſie beſtrebt, die Leere mit einigem Weibergut nachzufüllen, damit ſie die Zeit beſſer zu verbringen vermögen; da wird dann mit wichtigem Geſicht ein Pferd beſehen und ein Stück Sammet gekauft, mit Laufen und Rennen eine gute Armbruſt beſtellt, und der Büchſenſchmied kommt nicht aus dem Hauſe; da heißt es, ich muß meinen Wein einheimſen und meine Fäſſer putzen, meine Bäume putzen laſſen und mein Dach decken! ich muß meine Frau in's Bad ſchicken, ſie kränkelt und koſtet mich viel Geld, und muß mein Holz fahren laſſen und mein Ausſtehendes eintreiben; ich habe ein Paar Windſpiele gekauft und meine Bracken vertauſcht, ich habe einen ſchönen eiche¬ nen Ausziehtiſch eingehandelt und meine große Nußbaumlade dran gegeben; ich habe meine Bohnenſtangen geſchnitten, meinen Gärtner fort¬ gejagt, mein Heu verkauft und meinen Salat504 geſäet, immer mein und mein vom Morgen bis zu Abend. Manche ſagen ſogar: ich habe meine Wäſche die nächſte Woche, ich muß meine Bet¬ ten ſonnen, ich muß eine Magd dingen und einen neuen Metzger haben, denn den alten will ich abſchaffen; ich habe ein allerliebſtes Waffel¬ eiſen erſtanden, durch Zufall, und habe mein ſilbernes Zimmetbüchschen verkauft, es war mir ſo nichts nütze; alles das ſind wohlverſtanden die Sachen der Frau, und ſo verbringt ein ſol¬ cher Kerl die Zeit und ſtiehlt unſerm Herrgott den Tag ab, indem er alle dieſe Verrichtungen aufzählt, ohne einen Streich zu thun. Wenn es hoch kommt und ein ſolcher Patron ſich etwa ducken muß, ſo wird er vielleicht ſagen: unſere Kühe und unſere Schweine, aber « Pineiß riß den Spiegel an der Schnur, daß er miau! ſchrie, und rief: » Genug, Du Plappermaul! Sag 'jetzt unverzüglich: wo iſt ſie, von der Du weißt? « Denn die Aufzählung aller dieſer Herr¬ lichkeiten und Verrichtungen, die mit einem Weibergute verbunden ſind, hatte dem dürren Hexenmeiſter den Mund nur noch wäſſeriger gemacht. Spiegel ſagte erſtaunt: » Wollt Ihr505 denn wirklich das Ding unternehmen, Herr Pineiß? «

» Verſteht ſich will ich! Wer ſonſt als ich? Drum heraus damit: wo iſt Diejenige? «

» Damit Ihr hingehen und ſie freien könnt? «

» Ohne Zweifel! « » So wiſſet, die Sache geht nur durch meine Hand! mit mir müßt Ihr ſprechen, wenn Ihr Geld und Frau wollt! « ſagte Spiegel kaltblütig und gleichgültig und fuhr ſich mit den beiden Pfoten eifrig über die Ohren, nachdem er ſie jedesmal ein bischen naß gemacht. Pineiß beſann ſich ſorgfältig, ſtöhnte ein bischen und ſagte: » Ich merke, Du willſt unſern Kontrakt aufheben und Deinen Kopf ſalviren! «

» Schiene Euch das ſo uneben und unnatürlich? «

» Du betrügſt mich am Ende und belügſt mich, wie ein Schelm! «

» Dieß iſt auch möglich! « ſagte Spiegel. » Ich ſage Dir: Betrüge mich nicht! « rief Pineiß gebieteriſch.

» Gut, ſo betrüge ich Euch nicht! « ſagte Spiegel.

» Wenn Du's thuſt! «

32 *506

» So thu 'ich's. «

» Quäle mich nicht, Spiegelchen! « ſprach Pineiß beinahe weinerlich, und Spiegel erwiederte jetzt ernſthaft: » Ihr ſeid ein wunderbarer Menſch, Herr Pineiß! Da haltet Ihr mich an einer Schnur gefangen und zerrt daran, daß mir der Athem vergeht! Ihr laſſet das Schwert des Todes über mir ſchweben ſeit länger als zwei Stunden, was ſag 'ich! ſeit einem halben Jahre! und nun ſprecht Ihr: Quäle mich nicht, Spiegelchen!

Wenn Ihr erlaubt, ſo ſage ich Euch in Kürze: Es kann mir nur lieb ſein, jene Liebes¬ pflicht gegen die Todte doch noch zu erfüllen und für das bewußte Frauenzimmer einen taug¬ lichen Mann zu finden und Ihr ſcheint mir allerdings in aller Hinſicht zu genügen; es iſt keine Leichtig¬ keit, ein Weibſtück wohl unterzubringen, ſo ſehr dies auch ſcheint, und ich ſage noch einmal: ich bin froh, daß Ihr euch hierzu bereit finden laſſet! Aber umſonſt iſt der Tod! Eh 'ich ein Wort weiter ſpreche, einen Schritt thue, ja eh' ich nur den Mund noch einmal aufmache, will ich erſt meine Freiheit wieder haben und mein507 Leben verſichert! Daher nehmt dieſe Schnur weg und legt den Kontrakt hier auf den Brun¬ nen, hier auf dieſen Stein, oder ſchneidet mir den Kopf ab, Eins von Beiden! «

» Ei Du Tollhäusler und Obenhinaus! ſagte Pineiß, Du Hitzkopf! ſo ſtreng wird es nicht gemeint ſein? Das will ordentlich beſprochen ſein und muß jedenfalls ein neuer Vertrag ge¬ ſchloſſen werden! « Spiegel gab keine Antwort mehr und ſaß unbeweglich da, ein, zwei und drei Minuten. Da ward dem Meiſter bänglich, er zog ſeine Brieftaſche hervor, klaubte ſeufzend den Schein heraus, las ihn noch einmal durch und legte ihn dann zögernd vor Spiegel hin. Kaum lag das Papier dort, ſo ſchnappte es Spiegel auf und verſchlang es; und obgleich er heftig daran zu würgen hatte, ſo dünkte es ihn doch die beſte und gedeihlichſte Speiſe zu ſein, die er je genoſſen, und er hoffte, daß ſie ihm noch auf lange wohl bekommen und ihn rundlich und munter machen würde. Als er mit der angenehmen Mahlzeit fertig war, be¬ grüßte er den Hexenmeiſter höflich und ſagte: » Ihr werdet unfehlbar von mir hören, Herr508 Pineiß, und Weib und Geld ſollen Euch nicht entgehen. Dagegen macht Euch bereit, recht verliebt zu ſein, damit Ihr jene Bedingungen einer unverbrüchlichen Hingebung an die Lieb¬ koſungen Euerer Frau, die ſchon ſo gut wie Euer iſt, ja beſchwören und erfüllen könnt! Und hiermit bedanke ich mich des Vorläufigen für genoſſene Pflege und Beköſtigung und beur¬ laube mich! «

Somit ging Spiegel ſeines Weges und freute ſich über die Dummheit des Hexenmeiſters, welcher glaubte ſich ſelbſt und alle Welt betrü¬ gen zu können, indem er ja die gehoffte Braut nicht uneigennützig, aus bloßer Liebe zur Schön¬ heit ehelichen wollte, ſondern den Umſtand mit den zehntauſend Goldgulden vorher wußte. In¬ deſſen hatte er ſchon eine Perſon im Auge, welche er dem thörichten Hexenmeiſter aufzuhalſen gedachte für ſeine gebratenen Krametsvögel, Mäuſe und Würſtchen.

Dem Hauſe des Herrn Pineiß gegenüber war ein anderes Haus, deſſen vordere Seite auf das ſauberſte geweißt war und deſſen Fen¬ ſter immer friſch gewaſchen glänzten. Die be¬509 ſcheidenen Fenſtervorhänge waren immer ſchnee¬ weiß und wie ſo eben geplättet, und eben ſo weiß war der Habit und das Kopf - und Hals¬ tuch einer alten Beghine, welche in dem Hauſe wohnte, alſo daß ihr nonnenartiger Kopfputz, der ihre Bruſt bekleidete, immer wie aus Schreib¬ papier gefaltet ausſah, ſo daß man gleich darauf hätte ſchreiben mögen; das hätte man wenig¬ ſtens auf der Bruſt bequem thun können, da ſie ſo eben und ſo hart war wie ein Brett. So ſcharf die weißen Kanten und Ecken ihrer Klei¬ dung, ſo ſcharf war auch die lange Naſe und das Kinn der Beghine, ihre Zunge und der böſe Blick ihrer Augen; doch ſprach ſie nur we¬ nig mit der Zunge und blickte wenig mit den Augen, da ſie die Verſchwendung nicht liebte und Alles nur zur rechten Zeit und mit Be¬ dacht verwendete. Alle Tage ging ſie drei Mal in die Kirche, und wenn ſie in ihrem friſchen, weißen und knitternden Zeuge und mit ihrer weißen ſpitzigen Naſe über die Straße ging, liefen die Kinder furchtſam davon und ſelbſt er¬ wachſene Leute traten gern hinter die Haus¬ thüre, wenn es noch Zeit war. Sie ſtand aber510 wegen ihrer ſtrengen Frömmigkeit und Eingezo¬ genheit in großem Rufe und beſonders bei der Geiſtlichkeit in hohem Anſehen, aber ſelbſt die Pfaffen verkehrten lieber ſchriftlich mit ihr, als mündlich, und wenn ſie beichtete, ſo ſchoß der Pfarrer jedesmal ſo ſchweißtriefend aus dem Beichtſtuhl heraus, als ob er aus einem Back¬ ofen käme. So lebte die fromme Beghine, die keinen Spaß verſtand, in tiefem Frieden und blieb ungeſchoren. Sie machte ſich auch mit Niemand zu ſchaffen und ließ die Leute gehen, vorausgeſetzt, daß ſie ihr aus dem Wege gin¬ gen; nur auf ihren Nachbar Pineiß ſchien ſie einen beſondern Haß geworfen zu haben; denn ſo oft er ſich an ſeinem Fenſter blicken ließ, warf ſie ihm einen böſen Blick hinüber und zog augenblicklich ihre weißen Vorhänge vor, und Pineiß fürchtete ſie wie das Feuer, und wagte nur zuhinterſt in ſeinem Hauſe, wenn Alles gut verſchloſſen war, etwa einen Witz über ſie zu machen. So weiß und hell aber das Haus der Beghine nach der Straße zu ausſah, ſo ſchwarz und räucherig, unheimlich und ſeltſam ſah es von hinten aus, wo es jedoch faſt gar nicht511 geſehen werden konnte, als von den Vögeln des Himmels und den Katzen auf den Dächern, weil es in eine dunkle Winkelei von himmelhohen Brandmauern ohne Fenſter hinein gebaut war, wo nirgends ein menſchliches Geſicht ſich ſehen ließ. Unter dem Dache dort hingen alte zer¬ riſſene Unterröcke, Körbe und Kräuterſäcke, auf dem Dache wuchſen ordentliche Eibenbäumchen und Dornſträucher, und ein großer rußiger Schorn¬ ſtein ragte unheimlich in die Luft. Aus dieſem Schornſtein aber fuhr in der dunklen Nacht nicht ſelten eine Hexe auf ihrem Beſen in die Höhe, jung und ſchön und ſplitternackt, wie Gott die Weiber geſchaffen und der Teufel ſie gern ſieht. Wenn ſie aus dem Schornſtein fuhr, ſo ſchnupperte ſie mit dem feinſten Näschen und mit lächelnden Kirſchenlippen in der friſchen Nacht¬ luft und fuhr in dem weißen Scheine ihres Lei¬ bes dahin, indeß ihr langes rabenſchwarzes Haar wie eine Nachtfahne hinter ihr herflatterte. In einem Loch am Schornſtein ſaß ein alter Eulen¬ vogel und zu dieſem begab ſich jetzt der befreite Spiegel, eine fette Maus im Maule, die er un¬ terwegs gefangen.

512

» Wünſch 'guten Abend, liebe Frau Eule! Eifrig auf der Wacht? « ſagte er und die Eule erwiederte: » Muß wohl! Wünſch' gleichfalls gu¬ ten Abend! Ihr habt Euch lang nicht ſehen laſſen, Herr Spiegel! «

» Hat ſeine Gründe gehabt, werde Euch das erzählen. Hier habe ich Euch ein Mäuschen gebracht, ſchlecht und recht, wie es die Jahrszeit giebt, wenn Ihr's nicht verſchmähen wollt! Iſt die Meiſterin ausgeritten? «

» Noch nicht, ſie will erſt gegen Morgen auf ein Stündchen hinaus. Habt Dank für die ſchöne Maus! Seid doch immer der höfliche Spiegel! Habe hier einen ſchlechten Sperling zur Seite gelegt, der mir heut zu nahe flog; wenn Euch beliebt, ſo koſtet den Vogel! Und wie iſt es Euch denn ergangen? «

» Faſt wunderlich, erwiederte Spiegel, ſie wollten mir an den Kragen. Hört, wenn es Euch gefällig iſt. « Während ſie nun vergnüg¬ lich ihr Abendeſſen einnahmen, erzählte Spiegel der aufmerkſamen Eule Alles, was ihn betroffen und wie er ſich aus den Händen des Herrn Pineiß befreit habe. Die Eule ſagte: » Da513 wünſch ich tauſendmal Glück, nun ſeid Ihr wie¬ der ein gemachter Mann und könnt gehen, wo Ihr wollt, nachdem Ihr mancherlei erfahren! «

» Damit ſind wir noch nicht zu Ende, ſagte Spiegel, der Mann muß ſeine Frau und ſeine Goldgulden haben! «

» Seid Ihr von Sinnen, dem Schelm noch wohlzuthun, der Euch das Fell abziehen wollte? «

» Ei, er hat es doch rechtlich und vertrags¬ mäßig thun können, und da ich ihn in gleicher Münze wieder bedienen kann, warum ſollt 'ich es unterlaſſen? Wer ſagt denn, daß ich ihm wohl thun will? Jene Erzählung war eine reine Erfindung von mir, meine in Gott ruhende Meiſterin war eine ſimple Perſon, welche in ih¬ rem Leben nie verliebt, noch von Anbetern um¬ ringt war, und jener Schatz iſt ein ungerechtes Gut, das ſie einſt ererbt und in den Brunnen geworfen hat, damit ſie kein Unglück daran er¬ lebe. » Verflucht ſei, wer es da herausnimmt und verbraucht « ſagte ſie. » Es macht ſich alſo in Betreff des Wohlthuns? «

» Dann iſt die Sache freilich anders! Aber nun, wo wollt Ihr die entſprechende Frau her¬Keller, die Leute von Seldwyla. 33514nehmen? « » Hier aus dieſem Schornſtein! des¬ halb bin ich gekommen, um ein vernünftiges Wort mit Euch zu reden! Möchtet Ihr denn nicht einmal wieder frei werden aus den Ban¬ den dieſer Hexe? Sinnt nach, wie wir ſie fan¬ gen und mit dem alten Böſewicht verheirathen! «

» Spiegel, Ihr braucht Euch nur zu nähern, ſo weckt Ihr mir erſprießliche Gedanken. «

» Das wußt 'ich wohl, daß Ihr klug ſeid! Ich habe das Meinige gethan und es iſt beſſer, daß Ihr auch Euren Senf dazu gebt und neue Kräfte vorſpannt, ſo kann es gewiß nicht fehlen! «

» Da alle Dinge ſo ſchön zuſammentreffen, ſo brauche ich nicht lang zu ſinnen, mein Plan iſt längſt gemacht! « » Wie fangen wir ſie? « » Mit einem neuen Schnepfengarn aus guten ſtarken Hanfſchnüren; geflochten muß es ſein von einem zwanzigjährigen Jägersſohn, der noch kein Weib angeſehen hat, und es muß ſchon drei¬ mal der Nachtthau darauf gefallen ſein, ohne daß ſich eine Schnepfe gefangen; der Grund aber hiervon muß dreimal eine gute Handlung ſein. Ein ſolches Netz iſt ſtark genug, die Hexe zu fangen. «

515

» Nun bin ich neugierig, wo Ihr ein ſolches hernehmt, ſagte Spiegel, denn ich weiß, daß Ihr keine vergeblichen Worte ſchwatzt! «

» Es iſt auch ſchon gefunden, wie für uns gemacht; in einem Walde nicht weit von hier ſitzt ein zwanzigjähriger Jägersſohn, welcher noch kein Weib angeſehen hat; denn er iſt blind ge¬ boren. Deswegen iſt er auch zu Nichts zu ge¬ brauchen, als zum Garnflechten und hat vor einigen Tagen ein neues, ſehr ſchönes Schne¬ pfengarn zu Stande gebracht. Aber als der alte Jäger es zum erſten Male ausſpannen wollte, kam ein Weib daher, welches ihn zur Sünde verlocken wollte; es war aber ſo häßlich, daß der alte Mann voll Schreckens davon lief und das Garn am Boden liegen ließ. Darum iſt ein Thau darauf gefallen, ohne daß ſich eine Schnepfe fing, und war alſo eine gute Hand¬ lung daran Schuld. Als er des andern Tages hinging, um das Garn abermals auszuſpannen, kam eben ein Reiter daher, welcher einen ſchwe¬ ren Mantelſack hinter ſich hatte; in dieſem war ein Loch, aus welchem von Zeit zu Zeit ein Goldſtück auf die Erde fiel. Da ließ der Jä¬33 *516ger das Garn abermals liegen und lief eifrig hinter dem Reiter her und ſammelte die Gold¬ ſtücke in ſeinen Hut, bis der Reiter ſich um¬ kehrte, es ſah und voll Grimm ſeine Lanze auf ihn richtete. Da bückte der Jäger ſich erſchrok¬ ken, reichte ihm den Hut dar und ſagte: Er¬ laubt, gnädiger Herr, Ihr habt hier viel Gold verloren, das ich Euch ſorgfältig aufgeleſen! Dies war wiederum eine gute Handlung, indem das ehrliche Finden eine der ſchwierigſten und beſten iſt; er war aber ſo weit von dem Schne¬ pfengarn entfernt, daß er es die zweite Nacht im Walde liegen ließ und den nähern Weg nach Hauſe ging. Am dritten Tag endlich, welcher geſtern war, als er eben wieder auf dem Wege war, traf er eine hübſche Gevattersfrau an, die dem Alten um den Bart zu gehen pflegte und der er ſchon manches Häslein geſchenkt hat. Darüber vergaß er die Schnepfen gänzlich und ſagte am Morgen: Ich habe den armen Schnepf¬ lein des Leben geſchenkt; auch gegen Thiere muß man barmherzig ſein! Und um dieſer drei guten Handlungen willen fand er, daß er jetzt zu gut ſei für dieſe Welt, und iſt heute Vormittag bei517 Zeiten in ein Kloſter gegangen. So liegt das Garn noch ungebraucht im Walde und ich darf es nur holen. « » Holt es geſchwind! ſagte Spiegel, es wird gut ſein zu unſerm Zweck! « » Ich will es holen, ſagte die Eule, ſteht nur ſo lang Wache für mich in dieſem Loch, und wenn etwa die Meiſterin den Schornſtein hin¬ auf rufen ſollte, ob die Luft rein ſei? ſo ant¬ wortet, indem Ihr meine Stimme nachahmt: Nein, es ſtinkt noch nicht in der Fechtſchul '! Spiegel ſtellte ſich in die Niſche und die Eule flog ſtill über die Stadt weg nach dem Wald. Bald kam ſie mit dem Schnepfengarn zurück und fragte: Hat ſie ſchon gerufen? » Noch nicht! « ſagte Spiegel.

Da ſpannten ſie das Garn aus über den Schornſtein und ſetzten ſich daneben ſtill und klug; die Luft war dunkel und es ging ein leichtes Morgenwindchen, in welchem ein paar Sternbilder flackerten. » Ihr ſollt ſehen, flüſterte die Eule, wie geſchickt die durch den Schornſtein heraufzuſäuſeln verſteht, ohne ſich die blanken Schultern ſchwarz zu machen! « » Ich hab ſie518 noch nie ſo nah geſehen, erwiederte Spiegel leiſe, wenn ſie uns nur nicht zu faſſen kriegt! «

Da rief die Hexe von unten: Iſt die Luft rein? Die Eule rief: » Ganz rein, es ſtinkt herrlich in der Fechtſchul '! und alſobald kam die Hexe heraufgefahren und wurde in dem Garne gefangen, welches die Katze und die Eule eiligſt zuſammenzogen und verbanden. » Halt feſt! « ſagte Spiegel, und » Binde gut! « die Eule. Die Hexe zappelte und tobte mäuschenſtill, wie ein Fiſch im Netz; aber es half ihr nichts und das Garn bewährte ſich auf das Beſte. Nur der Stiel ihres Beſens ragte durch die Maſchen. Spiegel wollte ihn ſachte herausziehen, erhielt aber einen ſolchen Naſenſtüber, daß er beinahe in Ohnmacht fiel und einſah, wie man auch ei¬ ner Löwin im Netz nicht zu nahe kommen dürfe. Endlich hielt ſich die Hexe ſtill und ſagte: » Was wollt ihr denn von mir, ihr wunderlichen Thiere? «

» Ihr ſollt mich aus Eurem Dienſte entlaſ¬ ſen und meine Freiheit zurückgeben! « ſagte die Eule. » So viel Geſchrei und wenig Wolle! « ſagte die Hexe, » Du biſt frei, mach 'dieß[Garn] auf! « » Noch nicht! ſagte Spiegel, der immer519 noch ſeine Naſe rieb, Ihr müßt Euch verpflich¬ ten, den Stadthexenmeiſter Pineiß, Euren Nach¬ bar, zu heirathen auf die Weiſe, wie wir Euch ſagen werden, und ihn nicht mehr zu verlaſſen! « Da fing die Hexe wieder an zu zappeln und zu pruſten wie der Teufel, und die Eule ſagte: » Sie will nicht d'ran! « Spiegel aber ſagte: » Wenn Ihr nicht ruhig ſeid und Alles thut, was wir wünſchen, ſo hängen wir das Garn ſammt ſeinem Inhalte da vorn an den Dra¬ chenkopf der Dachtraufe, nach der Straße zu, daß man Euch morgen ſieht und die Hexe er¬ kennt! Sagt alſo: Wollt Ihr lieber unter dem Vorſitze des Herrn Pineiß gebraten werden, oder ihn braten, indem Ihr ihn heirathet? «

Da ſagte die Hexe mit einem Seufzer: » So ſprecht, wie meint Ihr die Sache? « Und Spie¬ gel ſetzte ihr Alles zierlich auseinander, wie es gemeint ſei und was ſie zu thun hätte. » Das iſt allenfalls noch auszuhalten, wenn es nicht anders ſein kann! « ſagte ſie und ergab ſich un¬ ter den ſtärkſten Formeln, die eine Hexe binden können. Da thaten die Thiere das Gefängniß auf und ließen ſie heraus. Sie beſtieg ſogleich520 den Beſen, die Eule ſetzte ſich hinter ſie auf den Stiel und Spiegel zuhinterſt auf das Reiſig¬ bündel und hielt ſich da feſt, und ſo ritten ſie nach dem Brunnen, in welchen die Hexe hinabfuhr, um den Schatz herauf zu holen.

Am Morgen erſchien Spiegel bei Herrn Pineiß und meldete ihm, daß er die bewußte Perſon anſehen und freien könne; ſie ſei aber allbereits ſo arm geworden, daß ſie, gänzlich verlaſſen und verſtoßen, vor dem Thore unter einem Baum ſitze und bitterlich weine. Sogleich kleidete ſich Herr Pineiß[in] ſein abgeſchabtes gelbes Sammtwämschen, das er nur bei feier¬ lichen Gelegenheiten trug, ſetzte die beſſere Pu¬ delmütze auf und umgürtete ſich mit ſeinem De¬ gen; in die Hand nahm er einen alten grünen Handſchuh, ein Balſamfläſchchen, worin einſt Bal¬ ſam geweſen und das noch ein Bischen roch, und eine papierne Nelke, worauf er mit Spie¬ gel vor das Thor ging, um zu freien. Dort traf er ein weinendes Frauenzimmer ſitzen unter einem Weidenbaum, von ſo großer Schönheit, wie er noch nie geſehen; aber ihr Gewand war ſo dürftig und zerriſſen, daß, ſie mochte ſich auch521 ſchamhaft geberden wie ſie wollte, immer da oder dort der ſchneeweiße Leib ein Bischen durch¬ ſchimmerte. Pineiß riß die Augen auf und konnte vor heftigem Entzücken kaum ſeine Be¬ werbung vorbringen. Da trocknete die Schöne ihre Thränen, gab ihm mit ſüßem Lächeln die Hand, dankte ihm mit einer himmliſchen Glok¬ kenſtimme für ſeine Großmuth und ſchwur, ihm ewig treu zu ſein. Aber im ſelben Augenblicke erfüllte ihn eine ſolche Eiferſucht und Neides¬ wuth auf ſeine Braut, daß er beſchloß, ſie vor keinem menſchlichen Auge jemals ſehen zu laſſen. Er ließ ſich bei einem uralten Einſiedler mit ihr trauen und feierte das Hochzeitmahl in ſeinem Hauſe, ohne andere Gäſte, als Spiegel und die Eule, welche erſterer mitzubringen ſich die Er¬ laubniß erbeten hatte. Die zehntauſend Gold¬ gulden ſtanden in einer Schüſſel auf dem Tiſch und Pineiß griff zuweilen hinein und wühlte in dem Golde; dann ſah er wieder die ſchöne Frau an, welche in einem meerblauen Sammetkleide daſaß, das Haar mit einem goldenen Netze um¬ flochten und mit Blumen geſchmückt, und den weißen Hals mit Perlen umgeben. Er wollte522 ſie fortwährend küſſen, aber ſie wußte verſchämt und züchtig ihn abzuhalten, mit einem verführe¬ riſchen Lächeln, und ſchwur, daß ſie dieſes vor Zeugen und vor Anbruch der Nacht nicht thun würde. Dies machte ihn nur noch verliebter und glückſeliger, und Spiegel würzte das Mahl mit lieblichen Geſprächen, welche die ſchöne Frau mit den angenehmſten, witzigſten und einſchmei¬ chelndſten Worten fortführte, ſo daß der Hexen¬ meiſter nicht wußte, wie ihm geſchah vor Zu¬ friedenheit. Als es aber dunkel geworden, be¬ urlaubten ſich die Eule und die Katze und ent¬ fernten ſich beſcheiden; Herr Pineiß begleitete ſie bis unter die Hausthüre mit einem Lichte und dankte dem Spiegel nochmals, indem er ihn ei¬ nen trefflichen und höflichen Mann nannte, und als er in die Stube zurückkehrte, ſaß die alte weiße Beghine, ſeine Nachbarin, am Tiſch und ſah ihn mit einem böſen Blick an. Entſetzt ließ Pineiß den Leuchter fallen und lehnte ſich zit¬ ternd an die Wand. Er hing die Zunge her¬ aus und ſein Geſicht war ſo fahl und ſpitzig geworden, wie das der Beghine. Dieſe aber ſtand auf, näherte ſich ihm und trieb ihn vor523 ſich her in die Hochzeitkammer, wo ſie mit höl¬ liſchen Künſten ihn auf eine Folter ſpannte, wie noch kein Sterblicher erlebt. So war er nun mit der Alten unauflöslich verehlicht, und in der Stadt hieß es, als es ruchbar wurde: Ei ſeht, wie ſtille Waſſer tief ſind! Wer hätte gedacht, daß die fromme Beghine und der Herr Stadt¬ hexenmeiſter ſich noch verheirathen würden! Nun, es iſt ein ehrbares und rechtliches Paar, wenn auch nicht ſehr liebenswürdig!

Herr Pineiß aber führte von nun an ein erbärmliches Leben; ſeine Gattin hatte ſich ſo¬ gleich in den Beſitz aller ſeiner Geheimniſſe ge¬ ſetzt und beherrſchte und unterdrückte ihn voll¬ ſtändig. Es war ihm nicht die geringſte Frei¬ heit und Erholung geſtattet, er mußte hexen vom Morgen bis zum Abend, was das Zeug halten wollte, und wenn Spiegel vorüberging und es ſah, ſagte er freundlich: » Immer fleißig, fleißig, Herr Pineiß? «

Seit dieſer Zeit ſagt man zu Seldwyla: Er hat der Katze den Schmeer abgekauft! be¬ ſonders wenn Einer eine böſe und widerwärtige Frau erhandelt hat.

About this transcription

TextDie Leute von Seldwyla
Author Gottfried Keller
Extent539 images; 89756 tokens; 14504 types; 598431 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Leute von Seldwyla Erzählungen Gottfried Keller. . [3] Bl., 523 S. ViewegBraunschweig1856.

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Novelle; core; ready; ocr

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