PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Leute von Seldwyla.
Erzählungen
Braunſchweig,Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.1856.
Die Leute von Seldwyla.

Inhalt.

  • Pankraz, der Schmoller9
  • Frau Regel Amrain und ihr Jüngſter113
  • Romeo und Julia auf dem Dorfe209
  • Die drei gerechten Kammmacher360
  • Spiegel, das Kätzchen447
[1]

Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und ſonnigen Ort, und ſo iſt auch in der That das kleine Städtchen dieſes Namens gelegen irgendwo in der Schweiz. Es ſteckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Thürmen, wie vor dreihundert Jahren, und iſt alſo immer das gleiche Neſt; daß dies aber ein tiefer urſprünglicher Plan war, beweiſ't der Um¬ ſtand, daß die Gründer der Stadt dieſelbe eine gute halbe Stunde von einem ſchiffbaren Fluſſe angelegt, zum deutlichen Zeichen, daß nichts dar¬ aus werden ſolle. Aber ſchön iſt ſie gelegen mit¬ ten in grünen Bergen, die nach der Mittagſeite zu offen ſind, ſo daß wohl die Sonne herein kann, aber kein rauhes Lüftchen. Deswegen ge¬ deiht auch ein ziemlich guter Wein rings um die alte Stadtmauer, während höher hinauf an den Bergen unabſehbare Waldungen ſich hinziehen,Keller, die Leute von Seldwyla. I. 12welche das Vermögen der Stadt ausmachen; denn dies iſt das Wahrzeichen und ſonderbare Schickſal derſelben, daß die Gemeinde reich iſt und die Bürgerſchaft arm, und zwar ſo, daß kein Menſch zu Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wo¬ von ſie ſeit Jahrhunderten eigentlich leben. Und ſie leben ſehr luſtig und guter Dinge, halten die Gemüthlichkeit für ihre beſondere Kunſt und wenn ſie irgendwo hinkommen, wo man anderes Holz brennt, ſo kritiſiren ſie zuerſt die dortige Ge¬ müthlichkeit und meinen, ihnen thue es doch nie¬ mand zuvor in dieſer Handtierung.

Der Kern und der Glanz des Volkes beſteht aus den jungen Leuten von etwa zwanzig bis fünf, ſechs und dreißig Jahren, und dieſe ſind es, welche den Ton angeben, die Stange halten und die Herrlichkeit von Seldwyla darſtellen. Denn während dieſes Alters üben ſie das Ge¬ ſchäft, das Handwerk, den Vortheil oder was ſie ſonſt gelernt haben, d. h. ſie laſſen, ſo lange es geht, fremde Leute für ſich arbeiten und benutzen ihre Profeſſion zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehres, der eben die Grundlage der Macht, Herrlichkeit und Gemüthlichkeit der Herren3 von Seldwyl bildet und mit einer ausgezeichneten Gegenſeitigkeit und Verſtändnißinnigkeit gewahrt wird; aber wohlgemerkt, nur unter dieſer Ariſto¬ kratie der Jugend. Denn ſo wie Einer die Grenze der beſagten blühenden Jahre erreicht, wo die Männer anderer Städtlein etwa anfangen erſt recht in ſich zu gehen und zu erſtarken, ſo iſt er in Seldwyla fertig; er muß fallen laſſen und hält ſich, wenn er ein ganz gewöhnlicher Seld¬ wyler iſt, ferner am Orte auf als ein Entkräft¬ teter und aus dem Paradies des Credites Ver¬ ſtoßener, oder wenn noch etwas in ihm ſteckt, das noch nicht verbraucht iſt, ſo geht er in fremde Kriegsdienſte und lernt dort für einen fremden Tyrannen, was er für ſich ſelbſt zu üben ver¬ ſchmäht hat, ſich einzuknöpfen und ſteif aufrecht zu halten. Dieſe kehren als tüchtige Kriegs¬ männer nach einer Reihe von Jahren zurück und gehören dann zu den beſten Exerziermeiſtern der Schweiz, welche die junge Mannſchaft zu erziehen wiſſen, daß es eine Luſt iſt. Andere ziehen noch anderwärts auf Abenteuer aus gegen das vier¬ zigſte Jahr hin, und in den verſchiedenſten Welt¬ theilen kann man Seldwyler treffen, die ſich alle1 *4dadurch auszeichnen, daß ſie ſehr geſchickt Fiſche zu eſſen verſtehen, in Auſtralien, in Californien, in Texas, wie in Paris oder Konſtantinopel.

Was aber zurückbleibt und am Orte alt wird, das lernt dann nachträglich arbeiten, und zwar jene krabbelige Arbeit von tauſend kleinen Din¬ gen, die man eigentlich nicht gelernt, für den täglichen Kreuzer, und die alternden verarmten Seldwyler mit ihren Weibern und Kindern ſind die emſigſten Leutchen von der Welt, nachdem ſie das erlernte Handwerk aufgegeben, und es iſt rührend anzuſehen, wie thätig ſie dahinter her ſind, ſich die Mittelchen zu einem guten Stückchen Fleiſch von ehedem zu erwerben. Holz haben alle Bürger die Fülle und die Gemeinde verkauft jährlich noch einen guten Theil, woraus die große Armuth unterſtützt und genährt wird, und ſo ſteht das alte Städtchen in unveränderlichem Kreislauf der Dinge bis heute. Aber immer ſind ſie im Ganzen zufrieden und munter, und wenn je ein Schatten ihre Seele trübt, wenn etwa eine allzuhartnäckige Geldklemme über der Stadt weilt, ſo vertreiben ſie ſich die Zeit und ermuntern ſich durch ihre große politiſche Beweg¬5 lichkeit, welche ein weiterer Charakterzug der Seldwyler iſt. Sie ſind nämlich leidenſchaftliche Parteileute, Verfaſſungsreviſoren und Antragſtel¬ ler, und wenn ſie eine recht verrückte Motion ausgeheckt haben und durch ihr Großrathsmitglied ſtellen laſſen, oder wenn der Ruf nach Verfaſ¬ ſungsänderung in Seldwyla ausgeht, ſo weiß man im Lande, daß im Augenblicke dort kein Geld zirkulirt. Dabei lieben ſie die Abwechſelung der Meinung und Grundſätze und ſind ſtets den Tag darauf, nachdem eine Regierung gewählt iſt, in der Oppoſition gegen dieſelbe. Iſt es ein radi¬ kales Regiment, ſo ſchaaren ſie ſich, um es zu ärgern, um den konſervativen frömmlichen Stadt¬ pfarrer, den ſie noch geſtern gehänſelt, und ma¬ chen ihm den Hof, indem ſie ſich mit verſtellter Begeiſterung in ſeine Kirche drängen, ſeine Pre¬ digten preiſen und mit großem Geräuſch ſeine gedruckten Tractätchen und Berichte der Baſeler - Miſſionsgeſellſchaft umherbieten, natürlich ohne ihm einen Pfennig beizuſteuern. Iſt aber ein Regiment am Ruder, welches nur halbwegs kon¬ ſervativ ausſieht, ſtracks drängen ſie ſich um die vier Volkslehrer des Städtchens und der Pfarrer6 hat genug an den Glaſer zu zahlen für einge¬ worfene Scheiben. Beſteht hingegen die Regie¬ rung aus liberalen Juriſten, die viel auf die Form halten, und aus häcklichen Geldmännern, ſo laufen ſie flugs dem nächſt wohnenden So¬ zialiſten zu und ärgern die Regierung, indem ſie denſelben in den Rath wählen mit dem Feld¬ geſchrei: Es ſei nun genug des politiſchen For¬ menweſens, und die materiellen Intereſſen ſeien es, welche allein das Volk noch kümmern könnten. Heute wollen ſie das Veto haben und ſogar die unmittelbarſte Selbſtregierung mit permanenter Volksverſammlung, wozu freilich die Seldwyler am meiſten Zeit hätten, morgen ſtellen ſie ſich übermüdet und blaſirt in öffentlichen Dingen und laſſen ein halbes Dutzend alte Stillſtänder, die vor dreißig Jahren fallirt und ſich ſeither ſtill¬ ſchweigend rehabilitirt haben, die Wahlen beſorgen; alsdann ſehen ſie behaglich hinter den Wirths¬ hausfenſtern hervor die Stillſtänder in die Kirche ſchleichen und lachen ſich in die Fauſt, wie jener Knabe, welcher ſagte: Es geſchieht meinem Vater ſchon recht, wenn ich mir die Hände verfriere, warum kauft er mir keine Handſchuhe! Geſtern7 ſchwärmten ſie allein für das eidgenöſſiſche Bun¬ desleben und waren höchlich empört, daß man Anno 48 nicht gänzliche Einheit hergeſtellt habe; heute ſind ſie ganz verſeſſen auf die Kantonal¬ ſouveränetät und haben nicht mehr in den Na¬ tionalrath gewählt.

Wenn aber eine ihrer Aufregungen und Mo¬ tionen der Landesmehrheit ſtörend und unbequem wird, ſo ſchickt ihnen die Regierung gewöhn¬ lich als Beruhigungsmittel eine Unterſuchungs¬ kommiſſion auf den Hals, welche die Verwaltung des Seldwyler Gemeindegutes reguliren ſoll; dann haben ſie vollauf mit ſich ſelbſt zu thun und die Gefahr iſt abgeleitet.

Alles dies macht ihnen tauſend Spaß, der nur überboten wird, wenn ſie allherbſtlich ihren jungen Wein trinken, den gährenden Moſt, den ſie Sauſer nennen; wenn er gut iſt, ſo iſt man des Lebens nicht ſicher unter ihnen, und ſie ma¬ chen einen Höllenlärm; die ganze Stadt duftet nach jungem Wein und die Seldwyler taugen dann auch gar nichts. Je weniger aber ein Seldwyler zu Hauſe was taugt, um ſo beſſer hält er ſich ſonderbarer Weiſe, wenn er ausrückt,8 und ob ſie einzeln oder in Kompagnie ausziehen, wie z. B. in früheren Kriegen, ſo haben ſie ſich doch immer gut gehalten. Auch als Spekulant und Geſchäftsmann hat ſchon mancher ſich rüſtig umgethan, wenn er nur erſt aus dem warmen ſonnigen Thale herauskam, wo er nicht gedieh.

In einer ſo luſtigen und ſeltſamen Stadt kann es an allerhand ſeltſamen Geſchichten und Lebensläufen nicht fehlen, da Müſſiggang aller Laſter Anfang iſt. Doch nicht ſolche Geſchichten, wie ſie in dem beſchriebenen Charakter von Seld¬ wyla liegen, will ich eigentlich in dieſem Büchlein erzählen, ſondern einige ſonderbare Abfällſel, die ſo zwiſchen durch paſſirten, gewiſſermaßen aus¬ nahmsweiſe, und doch auch gerade nur zu Seld¬ wyla vor ſich gehen konnten.

9

Pankraz, der Schmoller.

Auf einem ſtillen Seitenplätzchen, nahe an der Stadtmauer, lebte die Wittwe eines Seld¬ wylers, der ſchon lange fertig geworden und unter dem Boden war. Dieſer war keiner von den ſchlimmſten geweſen, vielmehr fühlte er eine ſo ſtarke Sehnſucht, ein ordentlicher und feſter Mann zu ſein, daß ihn der herrſchende Ton, dem er als junger Menſch nicht entgehen konnte, angriff, und als ſeine Glanzzeit vorüber war und er der Sitte gemäß abtreten mußte von dem Schauplatze der Thaten, da kam ihm alles wie ein wüſter Traum und wie ein Betrug um das Leben vor, und er bekam davon die Aus¬ zehrung und ſtarb unverweilt.

Er hinterließ ſeiner Wittwe ein kleines baufälliges Häuschen, einen Kartoffelacker vor dem Thore und zwei Kinder, einen Sohn und10 eine Tochter. Mit dem Spinnrocken verdiente ſie Milch und Butter, um die Kartoffeln zu kochen, die ſie pflanzte, und ein kleiner Wittwen¬ gehalt, den der Armenpfleger jährlich auszahlte, nachdem er ihn jedesmal einige Wochen über den Termin hinaus in ſeinem Geſchäfte benutzt, reichte gerade zu dem Kleiderbedarf und einigen anderen kleinen Ausgaben hin. Dieſes Geld wurde immer mit Schmerzen erwartet, indem die ärmlichen Gewänder der Kinder gerade um jene verlängerten Wochen zu früh gänzlich ſchadhaft waren und der Buttertopf überall ſeinen Grund durchblicken ließ. Dieſes Durchblicken des grünen Topfbodens war eine ſo regelmäßige jährliche Erſcheinung, wie irgend eine am Himmel, und verwandelte eben ſo regelmäßig eine Zeit lang die kühle, kümmerlich-ſtille Zufriedenheit der Fa¬ milie in eine wirkliche Unzufriedenheit. Die Kinder plagten die Mutter um beſſeres und reichlicheres Eſſen; denn ſie hielten ſie in ihrem Unverſtande für mächtig genug dazu, weil ſie ihr Ein und Alles, ihr einziger Schutz und ihre einzige Oberbehörde war. Die Mutter war unzu¬ frieden, daß die Kinder nicht entweder mehr11 Verſtand, oder mehr zu eſſen, oder beides zu¬ ſammen erhielten.

Beſagte Kinder aber zeigten verſchiedene Ei¬ genſchaften. Der Sohn war ein unanſehnlicher Knabe von vierzehn Jahren, mit grauen Augen und ernſthaften Geſichtszügen, welcher des Mor¬ gens lang im Bette lag, dann ein wenig in einem zerriſſenen Geſchichts - und Geographiebuche las, und alle Abend, Sommers wie Winters, auf den Berg lief, um dem Sonnenuntergang beizu¬ wohnen, welches die einzige glänzende und pomp¬ hafte Begebenheit war, welche ſich für ihn zu¬ trug. Sie ſchien für ihn etwa das zu ſein, was für die Kaufleute der Mittag auf der Börſe; wenigſtens kam er mit eben ſo abwech¬ ſelnder Stimmung von dieſem Vorgang zurück, und wenn es recht rothes und gelbes Gewölk gegeben hatte, welches gleich großen Schlacht¬ heeren in Blut und Feuer geſtanden und maje¬ ſtätiſch manövrirte, ſo war er eigentlich vergnügt zu nennen.

Dann und wann, jedoch nur ſelten, beſchrieb er ein Blatt Papier mit ſeltſamen Liſten und Zahlen, welches er dann zu einem kleinen Bün¬12 del legte, das durch ein Endchen alte Goldtreſſe zuſammengehalten wurde. In dieſem Bündelchen ſtack hauptſächlich ein kleines Heft, aus einem zuſammengefalteten Bogen Goldpapier gefertigt, deſſen weiße Rückſeiten mit allerlei Linien, Fi¬ guren und aufgereihten Punkten, dazwiſchen Rauch¬ wolken und fliegende Bomben, gefüllt und be¬ ſchrieben waren. Dies Büchlein betrachtete er oft mit großer Befriedigung und brachte neue Zeich¬ nungen darin an, meiſtens um die Zeit, wenn das Kartoffelfeld in voller Blüthe ſtand. Er lag dann im blühenden Kraut unter dem blauen Himmel, und wenn er eine weiße beſchriebene Seite betrachtet hatte, ſo ſchaute er drei Mal ſo lange in das gegenüberſtehende glänzende Goldblatt, in welchem ſich die Sonne brach. Im Übrigen war es ein eigenſinniger und zum Schmol¬ len geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt nichts that oder lernte.

Seine Schweſter war zwölf Jahre alt und ein bildſchönes Kind mit langem und dickem braunen Haar, großen braunen Augen und der allerweißeſten Hautfarbe. Dies Mädchen war ſanft und ſtill, ließ ſich vieles gefallen und13 murrte weit ſeltener als ſein Bruder. Es beſaß eine helle Stimme und ſang gleich einer Nach¬ tigall; doch obgleich es mit alle dieſem freund¬ licher und lieblicher war, als der Knabe, ſo gab die Mutter doch dieſem ſcheinbar den Vorzug und begünſtigte ihn in ſeinem Weſen, weil ſie Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts lernen und es ihm wahrſcheinlicher Weiſe einmal recht ſchlecht ergehen konnte, während nach ihrer An¬ ſicht das Mädchen nicht viel brauchte und ſchon deshalb unterkommen würde.

Dieſes mußte daher unaufhörlich ſpinnen, damit das Söhnlein deſto mehr zu eſſen bekäme und recht mit Muße ſein einſtiges Unheil erwar¬ ten könne. Der Junge nahm dies ohne Wei¬ teres an und geberdete ſich wie ein kleiner In¬ dianer, der die Weiber arbeiten läßt, und auch ſeine Schweſter empfand hiervon keinen Verdruß und glaubte das müſſe ſo ſein.

Die einzige Entſchädigung und Rache nahm ſie ſich durch eine allerdings arge Unzukömmlich¬ keit, welche ſie ſich beim Eſſen mit Liſt oder Gewalt immer wieder erlaubte. Die Mutter kochte nämlich jeden Mittag einen dicken Kartof¬14 felbrei, über welchen ſie eine fette Milch oder eine Brühe von ſchöner brauner Butter goß. Dieſen Kartoffelbrei aßen ſie Alle zuſammen aus der Schüſſel mit ihren Blechlöffeln, indem Jeder vor ſich eine Vertiefung in das feſte Kartoffel¬ gebirge hinein grub. Das Söhnlein, welches bei aller Seltſamkeit in Eßangelegenheiten einen ſtrengen Sinn für militairiſche Regelmäßigkeit beurkundete und ſtreng darauf hielt, daß Jeder nicht mehr noch weniger nahm, als was ihm zukomme, ſah ſtets darauf, daß die Milch oder die gelbe Butter, welche am Rande der Schüſſel umherfloß, gleichmäßig in die abgetheilten Gru¬ ben laufe; das Schweſterchen hingegen, welches viel harmloſer war, ſuchte, ſobald ihre Quellen verſiegt waren, durch allerhand künſtliche Stollen und Abzugsgräben die wohlſchmeckenden Bächlein auf ihre Seite zu leiten, und wie ſehr ſich auch der Bruder dem widerſetzte und eben ſo künſt¬ liche Dämme aufbaute und überall verſtopfte, wo ſich ein verdächtiges Loch zeigen wollte, ſo wußte ſie doch immer wieder eine geheime Ader des Breies zu eröffnen oder langte kurzweg in offenem Friedensbruch mit ihrem Löffel und mit15 lachenden Augen in des Bruders gefüllte Grube. Alsdann warf er den Löffel weg, lamentirte und ſchmollte, bis die gute Mutter die Schüſſel zur Seite neigte und ihre eigene Brühe voll in das Labyrinth der Kanäle und Dämme ihrer Kinder ſtrömen ließ.

So lebte die kleine Familie einen Tag wie den andern, und indem dies immer ſo blieb, während doch die Kinder ſich auswuchſen, ohne daß ſich eine günſtige Gelegenheit zeigte, die Welt zu erfaſſen und irgend etwas zu werden, fühlten ſich Alle immer unbehaglicher und küm¬ merlicher in ihrem Zuſammenſein. Pankraz, der Sohn, that und lernte fortwährend nichts, als eine ſehr ausgebildete und künſtliche Art zu ſchmollen, mit welcher er ſeine Mutter, ſeine Schweſter und ſich ſelbſt quälte. Es ward dies eine ordentliche und intereſſante Beſchäftigung für ihn, bei welcher er die müſſigen Seelenkräfte fleißig übte im Erfinden von hundert kleinen häuslichen Trauerſpielen, die er veranlaßte und in welchen er behende und meiſterlich den ſteten Unrechtleider zu ſpielen wußte. Eſtherchen, die Schweſter, wurde dadurch zu reichlichem Weinen16 gebracht, durch welches aber die Sonne ihrer Heiterkeit ſchnell wieder hervorſtrahlte. Dieſe Oberflächlichkeit ärgerte und kränkte dann der Pankraz ſo, daß er immer längere Zeiträume hindurch ſchmollte und aus ſelbſtgeſchaffenem Ärger ſelbſt heimlich weinte.

Doch nahm er bei dieſer Lebensart merklich zu an Geſundheit und Kräften und als er dieſe in ſeinen Gliedern anwachſen fühlte, erweiterte er ſeinen Wirkungskreis und ſtrich mit einer tüchtigen Baumwurzel oder einem Beſenſtiel in der Hand durch Feld und Wald, um zu ſehen, wie er irgendwo ein tüchtiges Unrecht auftreiben und erleiden könne. Sobald ſich ein ſolches zur Noth dargeſtellt und entwickelt, prügelte er un¬ verweilt ſeine Widerſacher auf das Jämmerlichſte durch, und er erwarb ſich und bewies in dieſer ſeltſamen Thätigkeit eine ſolche Gewandtheit, Energie und feine Taktik, ſowohl im Ausſpüren und Aufbringen des Feindes, als im Kampfe, daß er ſowohl einzelne ihm an Stärke weit überlegene Jünglinge und Bauern, als ganze Trupps derſelben entweder beſiegte, oder wenig¬ ſtens einen ungeſtraften Rückzug ausführte.

17

War er von einem ſolchen wohlgelungenen Abenteuer zurückgekommen, ſo ſchmeckte ihm das Eſſen doppelt gut und die Seinigen erfreuten ſich dann einer heitern Stimmung. Eines Tages aber war es ihm doch begegnet, daß er, ſtatt welche auszutheilen, beträchtliche Schläge ſelbſt geärntet hatte, und als er voll Scham, Ver¬ druß und Wuth nach Hauſe kam, hatte Eſther¬ chen, welche den ganzen Tag geſponnen, dem Gelüſte nicht widerſtehen können und ſich noch einmal über das für Pankraz aufgehobene Eſſen hergemacht und davon einen Theil gegeſſen, und zwar, wie es ihm vorkam, den beſten. Traurig und wehmüthig, mit kaum verhaltenen Thränen in den Augen, beſah er das unanſehnliche kalt gewordene Reſtchen, während die ſchlimme Schwe¬ ſter, welche ſchon wieder am Spinnrädchen ſaß, unmäßig lachte.

Das war zu viel und nun mußte etwas Gründliches geſchehen. Ohne zu eſſen ging Pan¬ kraz hungrig in ſeine Kammer, und als ihn am Morgen ſeine Mutter wecken wollte, daß er doch zum Frühſtück käme, war er verſchwunden und nirgends zu finden. Der Tag verging, ohneKeller, die Leute von Seldwyla. I. 218daß er kam, und eben ſo der zweite und dritte Tag. Die Mutter und Eſtherchen geriethen in große Angſt und Noth; ſie ſahen wohl, daß er vorſätzlich davon gegangen, indem er ſeine Hab¬ ſeligkeiten mitgenommen. Sie weinten und klag¬ ten unaufhörlich, wenn alle Bemühungen frucht¬ los blieben, eine Spur von ihm zu entdecken, und als nach Verlauf eines halben Jahrs Pan¬ krazius verſchwunden war und blieb, ergaben ſie ſich mit trauriger Seele in ihr Schickſal, das ihnen nun doppelt einſam und arm erſchien.

Wie lang wird nicht eine Woche, ja nur ein Tag, wenn man nicht weiß, wo diejenigen, die man liebt, jetzt ſtehn und gehn, wenn eine ſolche Stille darüber durch die Welt herrſcht, daß allnirgends auch nur der leiſeſte Hauch von ihrem Namen ergeht, und man weiß doch, ſie ſind da und athmen irgendwo.

So erging es der Mutter und dem Eſther¬ lein fünf Jahre, zehn Jahre und funfzehn Jahre, einen Tag wie den andern, und ſie wußten nicht, ob ihr Pankrazius todt oder lebendig ſei. Das war ein langes und gründliches Schmollen und Eſtherchen, welches eine ſchöne Jungfrau19 geworden, wurde darüber zu einer hübſchen und feinen alten Jungfer, welche nicht nur aus Kin¬ destreue bei der alternden Mutter blieb, ſondern eben ſowohl aus Neugierde, um ja in dem Augenblicke da zu ſein, wo der Bruder ſich end¬ lich zeigen würde, und zu ſehen, wie die Sache eigentlich verlaufe. Denn ſie war guter Dinge und glaubte feſt, daß er eines Tages wiederkäme und daß es dann etwas Rechtes auszulachen gäbe. Übrigens fiel es ihr nicht ſchwer, ledig zu bleiben, da ſie klug war und wohl ſah, wie bei den Seldwylern nicht viel dahinterſteckte von dauerhaftem Lebensglücke, und ſie dagegen mit ihrer Mutter unveränderlich in einem kleinen Wohlſtändchen lebte, ruhig und ohne Sorgen; denn ſie hatten ja einen tüchtigen Eſſer weniger und brauchten für ſich faſt gar nichts.

Da war es einſt ein heller ſchöner Sommer¬ nachmittag, mitten in der Woche, wo man ſo an gar nichts denkt und die Leute in den kleinen Städten fleißig arbeiten. Der Glanz von Seld¬ wyla befand ſich ſämmtlich mit dem Sonnenſchein auf den übergrünten Kegelbahnen vor dem Thore oder auch in kühlen Schenkſtuben in der Stadt. 20Die Falliten und Alten aber hämmerten, nähe¬ ten, ſchuſterten, klebten, ſchnitzelten und päſchelten gar emſig darauf los, um den langen Tag zu benutzen und einen vergnügten Abend zu erwer¬ ben, den ſie nunmehr zu würdigen verſtanden. Auf dem kleinen Platze, wo die Wittwe wohnte, war nichts als die ſtille Sommerſonne auf dem begraſten Pflaſter zu ſehen, an den offenen Fen¬ ſtern aber arbeiteten ringsum die alten Leute und ſpielten die Kinder. Hinter einem blühenden Rosmariengärtchen auf einem Brette ſaß die Wittwe und ſpann und ihr gegenüber Eſtherchen und nähete. Es waren ſchon einige Stunden ſeit dem Eſſen verfloſſen und noch hatte Nie¬ mand eine Zwieſprache gehalten von der ganzen Nachbarſchaft. Da fand der Schuhmacher wahr¬ ſcheinlich, daß es Zeit ſei, eine kleine Erholungs¬ pauſe zu eröffnen und nieſ'te ſo laut und muth¬ willig: Hupſchi! daß alle Fenſter zitterten und der Buchbinder gegenüber, der eigentlich kein Buchbinder war, ſondern nur ſo aus dem Steg¬ reif allerhand Pappkäſtchen zuſammenleimte und an der Thüre ein verwittertes Glaskäſtchen hängen hatte, in welchem eine Stange Siegellack an der21 Sonne krumm wurde, dieſer Buchbinder rief: Zur Geſundheit! und alle Nachbarsleute lachten. Einer nach dem andern ſteckte den Kopf durch das Fenſter, einige traten ſogar vor die Thüre und gaben ſich Priſen, und ſo war das Zeichen gegeben zu einer kleinen Nachmittagsunterhaltung und zu einem fröhlichen Gelächter während des Vesperkaffee's, der ſchon aus allen Häuſern duf¬ tete und zichorirte. Dieſe hatten endlich gelernt, ſich an wenigem einen Spaß zu machen. Da kam in dies Vergnügen herein ein fremder Leier¬ mann mit einem ſchön polirten Orgelkaſten, was in der Schweiz eine ziemliche Seltenheit iſt, da ſie keine eingeborene Leiermänner beſitzt. Er ſpielte ein ſehnſüchtiges Lied von der Ferne und ihren Dingen, welches die Leute über die Maßen ſchön dünkte und beſonders der Wittwe Thränen entlockte, da ſie ihres Pankräzchens gedachte, das nun ſchon funfzehn Jahre verſchwunden war. Der Schuhmacher gab dem Manne einen Kreuzer, er zog ab und das Plätzchen wurde wieder ſtill. Aber nicht lange nachher kam ein anderer Her¬ umtreiber mit einem großen fremden Vogel in einem Käfig, den er unaufhörlich zwiſchen dem22 Gitter durch mit einem Stäbchen anſtach und erklärte, ſo daß der traurige Vogel keine Ruhe hatte. Es war ein Adler aus Amerika; und die fernen blaueſten Länder, über denen er in ſeiner Freiheit geſchwebt, kamen der Wittwe in den Sinn und machten ſie um ſo trauriger, als ſie den Teufel wußte, was das für Länder wären, noch wo ihr Söhnchen ſei. Um den Vogel zu ſehen, hatten die Nachbaren auf das Plätzchen hinaustreten müſſen, und als er nun fort war, bildeten ſie eine Gruppe, ſteckten die Naſen in die Luft und lauerten auf noch mehr Merkwür¬ digkeiten, da ſie nun doch die Luſt ankam, den übrigen Tag zu vertrödeln.

Dieſe Luſt wurde denn auch erfüllt und es dauerte nicht lange bis das allergrößte Spek¬ takel ſich mit großem Lärm näherte unter dem Zulauf aller Kinder des Städtchens. Denn ein mächtiges Kameel ſchwankte auf den Platz, von mehreren Affen bewohnt; ein großer Bär wurde an ſeinem Naſenringe herbeigeführt; zwei oder drei Männer waren dabei, kurz ein ganzer Bä¬ rentanz führte ſich auf und der Bär tanzte und machte ſeine poſſierlichen Künſte, indem er von23 Zeit zu Zeit unwirſch brummte, daß die friedlichen Leute ſich fürchteten und in ſcheuer Entfernung dem wilden Weſen zuſchauten. Eſtherchen lachte und freute ſich unbändig über den Bären, wie er ſo zierlich umherwatſchelte mit ſeinem Stecken, über das Kameel mit ſeinem ſelbſtvergnügten Geſicht, und über die Affen. Die Mutter da¬ gegen mußte fortwährend weinen; denn der böſe Bär erbarmte ſie, und ſie mußte wiederum ihres verſchollenen Sohnes gedenken.

Als endlich auch dieſer Aufzug wieder ver¬ ſchwunden und es wieder ſtill geworden, indem die aufgeregten Nachbaren ſich mit ſeinem Gefolge ebenfalls aus dem Staube gemacht, um da oder dort zu einem Abendſchöppchen unterzukommen, ſagte Eſtherchen: » Mir iſt es nun zu Muthe, als ob der Pankraz ganz gewiß heute noch kommen würde, da ſchon ſo viele unerwartete Dinge ge¬ ſchehen und ſolche Kameele, Affen und Bären dageweſen ſind! « Die Mutter ward böſe darüber, daß ſie den armen Pankraz mit dieſen Beſtien ſozuſagen zuſammenzählte und auslachte, und hieß ſie ſchweigen, ſich nicht inne werdend, daß ſie ja ſelbſt das gleiche gethan in ihren Gedanken. 24Dann ſagte ſie ſeufzend: » Ich werde es nicht erleben, daß er wiederkommt! «

Indem ſie dies ſagte, begab ſich die größte Merkwürdigkeit dieſes Tages und ein offener Reiſewagen mit einem Extrapoſtillon fuhr mit Macht auf das ſtille Plätzchen, das von der Abendſonne noch halb beſtreift war. In dem Wagen ſaß ein Mann, der eine Mütze trug wie die franzöſiſchen Officiere ſie tragen, und eben ſo trug er einen Schnurr - und Kinnbart und ein gänzlich gebräuntes und ausgedörrtes Geſicht zur Schau, das überdies einige Spuren von Kugeln und Säbelhieben zeigte. Auch war er in einen Burnus gehüllt, alles dies, wie es franzöſiſche Militairs aus Afrika mitzubringen pflegen, und die Füße ſtemmte er gegen eine koloſſale Löwen¬ haut, welche auf dem Boden des Wagens lag; auf dem Rückſitze vor ihm lag ein Säbel und eine halblange arabiſche Pfeife neben andern fremdartigen Gegenſtänden.

Dieſer Mann ſperrte ungeachtet des ernſten Geſichtes, das er machte, die Augen weit auf und ſuchte mit denſelben rings auf dem Platze ein Haus, wie Einer der aus einem ſchweren25 Traume erwacht. Beinahe taumelnd ſprang er aus dem Wagen, der von ungefähr auf der Mitte des Plätzchens ſtill hielt; doch ergriff er die Löwenhaut und ſeinen Säbel und ging ſo¬ gleich ſicheren Schrittes in das Häuschen der Wittwe, als ob er erſt vor einer Stunde aus demſelben gegangen wäre. Die Mutter und Eſtherchen ſahen dies voll Verwunderung und Neugierde und horchten auf, ob der Fremde die Treppe herauf käme; denn obgleich ſie kaum noch von Pankrazius geſprochen, hatten ſie in dieſem Augenblick keine Ahnung, daß er es ſein könnte und ihre Gedanken waren von der über¬ raſchten Neugierde himmelweit von ihm weg¬ geführt. Doch urplötzlich erkannten ſie ihn an der Art, wie er die oberſten Stufen überſprang und über den kurzen Flur weg faſt gleichzeitig die Klinke der Stubenthüre ergriff, nachdem er wie der Blitz vorher den loſe ſteckenden Stuben¬ ſchlüſſel feſter in's Schloß geſtoßen, was ſonſt immer die Art des Verſchwundenen geweſen, der in ſeinem Müſſiggange eine ſeltſame Ordnungs¬ liebe bewährt hatte. Sie ſchrieen laut auf und ſtanden feſtgebannt vor ihren Stühlen, mit offe¬2 *26nem Munde nach der aufgehenden Thüre ſehend. Unter dieſer ſtand der fremde Pankrazius mit dem dürren und harten Ernſte eines fremden Kriegsmannes, nur zuckte es ihm ſeltſam um die Augen, indeſſen die Mutter erzitterte bei ſei¬ nem Anblick und ſich nicht zu helfen wußte und ſelbſt Eſtherchen zum erſten Mal gänzlich ver¬ blüfft war und ſich nicht zu regen wagte. Doch alles dies dauerte nur einen Augenblick; der Herr Oberſt, denn nichts Geringeres war der verlorne Sohn, nahm mit der Höflichkeit und Achtung, welche ihn die wilde Noth des Lebens gelehrt, ſogleich die Mütze ab, was er nie ge¬ than, wenn er früher in die Stube getreten; eine unausſprechliche Freundlichkeit, wenigſtens wie es den Frauen vorkam, die ihn nie freund¬ lich geſehen noch alſo denken konnten, verbreitete ſich über das gefurchte und doch noch nicht alte Soldatengeſicht und ließ ſchneeweiße Zähne ſehen, als er auf ſie zueilte und beide mit ausbrechen¬ dem Herzensweh in die Arme ſchloß.

Hatte die Mutter erſt vor dem martialiſchen und vermeintlich immer noch böſen Sohne ſon¬ derbar gezittert, ſo zitterte ſie jetzt erſt recht in27 ſcheuer Seligkeit, da ſie ſich in den Armen dieſes wiedergekehrten Sohnes fühlte, deſſen ach¬ tungsvolles Mützenabnehmen und deſſen aufleuch¬ tende nie geſehene Anmuth, wie ſie nur die Rührung und die Reue giebt, ſie ſchon wie mit einem Zauberſchlage berührt hatten. Denn noch ehe das Bürſchchen ſieben Jahre alt geweſen, hatte es ſchon angefangen ſich ihren Liebkoſungen zu entziehen und ſeither hatte Pankraz in bitte¬ rer Sprödigkeit und Verſtockung ſich gehütet, ſeine Mutter auch nur mit der Hand zu berüh¬ ren, abgeſehen davon, daß er unzählige Male ſchmollend zu Bett gegangen war ohne Gute¬ nacht zu ſagen. Daher bedünkte es ſie nun ein unbegreiflicher und wunderſamer Augenblick, in welchem ein ganzes Leben lag, als ſie jetzt nach wohl dreißig Jahren ſozuſagen zum erſten Mal ſich von dem Sohne umfangen ſah. Aber auch Eſtherchen bedünkte dieſes veränderte Weſen ſo ernſthaft und wichtig, daß ſie, die den Schmol¬ lenden tauſendmal ausgelacht hatte, jetzt nicht im mindeſten den bekehrten Freundlichen anzu¬ lachen vermochte, ſondern mit klaren Thränen in28 den Augen nach ihrem Seſſelchen ging und den Bruder unverwandt anblickte.

Pankraz war der Erſte, der ſich nach meh¬ reren Minuten wieder zuſammen nahm und als ein guter Soldat einen Übergang und Ausweg dadurch bewerkſtelligte, daß er ſein Gepäck herauf beförderte. Die Mutter wollte mit Eſt¬ herchen helfen; aber er führte ſie äußerſt hold¬ ſelig zu ihrem Sitze zurück, und duldete nur, daß Eſtherchen zum Wagen herunterkam und ſich mit einigen leichten Sachen belud. Den weite¬ ren Verlauf führte indeſſen Eſtherchen herbei, welche bald ihren guten Humor wiedergewann und nicht länger unterlaſſen konnte, die Löwen¬ haut an dem langen gewaltigen Schwanze zu packen und auf dem Boden herumzuziehen, in¬ dem ſie ſich krank lachen wollte und einmal über das andere rief: Was iſt dies nur für ein Pelz? Was iſt dies für ein Ungeheuer?

» Dies iſt, ſagte Pankraz, ſeinen Fuß auf das Fell ſtoßend, vor drei Monaten noch ein lebendiger Löwe geweſen, den ich getödtet habe. Dieſer Burſche war mein Lehrer und Bekehrer und hat mir zwölf Stunden lang ſo eindringlich29 gepredigt, daß ich armer Kerl endlich von allem Schmollen und Bösſein für immer geheilt wurde. Zum Andenken ſoll ſeine Haut nicht mehr aus meiner Hand kommen. Das war eine ſchöne Geſchichte! « ſetzte er mit einem Seufzer hinzu?

In der Vorausſicht, daß ſeine Leutchen, im Fall er ſie noch lebendig anträfe, jedenfalls nicht viel Koſtbares im Hauſe hätten, hatte er in der letzten größeren Stadt, wo er durchgereiſt, einen Korb guten Weines eingekauft, ſowie einen Korb mit verſchiedenen kalten Speiſen, damit in Seld¬ wyla kein Gelaufe entſtehen ſollte und er in aller Stille mit der Mutter und der Schweſter ein gutes Abendbrot einnehmen konnte. So brauchte die Mutter nur den Tiſch zu decken, und Pan¬ kraz trug auf, einige gebratene Hühner, eine herrliche Sülzpaſtete und ein Packet feiner kleiner Kuchen; ja noch mehr! Auf dem Wege hatte er bedacht, wie dunkel einſt das armſelige Thran¬ lämpchen gebrannt und wie oft er ſich über die kümmerliche Beleuchtung geärgert, wobei er kaum ſeine müſſigen Siebenſachen handtieren gekonnt, ungeachtet die Mutter, die doch ältere Augen hatte, ihm immer das Lämpchen vor die Naſe30 geſchoben, wiederum zum großen Ergötzen Eſther¬ chens, die bei jeder Gelegenheit ihm die Leuchte wieder wegzupraktiziren verſtanden. Ach, ein¬ mal hatte er ſie zornig weinend ausgelöſcht, und als die Mutter ſie bekümmert wieder angezündet, blies ſie Eſtherchen lachend wieder aus, worauf er zerriſſenen Herzens in's Bett rannte. Dies und noch anderes war ihm auf dem Wege ein¬ gefallen, und indem er ſchmerzlich und bang kaum erleben mochte, ob er die Verlaſſenen wieder¬ ſehen würde, kaufte er auch noch einige Wachs¬ kerzen ein, und zündete jetzo zwei derſelben an, ſo daß die Frauensleute ſich nicht zu laſſen wußten vor Verwunderung ob all' der Herr¬ lichkeit.

Dergeſtalt ging es wie auf einer kleinen Hoch¬ zeit in dem Häuschen der Wittwe, nur viel ſtiller, und Pankraz benutzte das helle Licht der Kerzen, die gealterten Geſichter ſeiner Mutter und Schwe¬ ſter zu ſehen und dies Sehen rührte ihn ſtärker, als alle Gefahren, denen er in's Geſicht ge¬ ſchaut. Er verfiel in ein tiefes trauriges Sin¬ nen über die menſchliche Art und das menſch¬ liche Leben, und wie gerade unſere kleineren31 Eigenſchaften, als wie eine freundliche oder herbe Gemüthsart, nicht nur unſer Schickſal und Glück machen, ſondern auch dasjenige der uns Umgebenden und uns zu dieſen in ein ſtren¬ ges Schuldverhältniß zu bringen vermögen, ohne daß wir wiſſen wie es zugegangen, da wir uns ja unſer Gemüth nicht ſelbſt gegeben. In die¬ ſen Betrachtungen ward er jedoch geſtört durch die Nachbaren, welche jetzt ihre Neugierde nicht länger unterdrücken konnten und Einer nach dem Andern in die Stube drangen, um das Wun¬ derthier zu ſehen, da ſich ſchon in dem ganzen Städtchen das Gerücht verbreitet hatte, der ver¬ ſchollene Pankrazius ſei erſchienen, und zwar als ein franzöſiſcher General in einem vierſpännigen Wagen.

Dies war nun ein höchſt verwickelter Fall für die in ihren Vergnügungslokalen verſammel¬ ten Seldwyler, ſowol für die Jungen als wie für die Alten, und ſie kratzten ſich verdutzt hin¬ ter den Ohren. Denn dies war gänzlich wider die Ordnung und wider den Strich zu Seldwyl, daß da Einer wie vom Himmel geſchneit als ein gemachter Mann und General herkommen32 ſollte gerade in dem Alter, wo man zu Seldwyl ſonſt fertig war. Was wollte der denn nun beginnen? Wollte er wirklich am Orte bleiben, ohne ein Herabgekommener zu ſein die übrige Zeit ſeines Lebens hindurch, beſonders wenn er etwa alt würde? Und wie hatte er es an¬ gefangen? Was zum Teufel hatte der unbe¬ achtete und unſcheinbare junge Menſch betrieben die lange Jugend hindurch, ohne ſich aufzubrau¬ chen? Das war die Frage, die alle Gemüther bewegte, und ſie fanden durchaus keinen Schlüſ¬ ſel, das Räthſel zu löſen, weil ihre Menſchen - oder Seelenkunde zu klein war, um zu wiſſen, daß gerade die herbe und bittere Gemüthsart, welche ihm und ſeinen Angehörigen ſo bittere Schmerzen bereitet, ſein Weſen im Übrigen wohl¬ konſervirt, wie der ſcharfe Kampher einen Schmet¬ terling, und ihm über das gefährliche Seldwyler Glanzalter hinweggeholfen hatte. Um die Frage zu löſen, ſtellte man überhaupt die Wahrheit des Ereigniſſes in Frage und beſtritt deſſen Mög¬ lichkeit, und um dieſe Auffaſſung zu beſtätigen, wurden verſchiedene alte Falliten nach dem Plätz¬ chen abgeſandt, ſo daß Pankraz, deſſen ſchon33 verſammelte Nachbaren ohnehin dieſem Stande angehörten, ſich von einer ganzen Verſammlung neugieriger und gemüthlicher Falliten umgeben ſah, wie ein alter Heros in der Unterwelt von den herbeieilenden Schatten.

Er zündete nun ſeine türkiſche Pfeife an und erfüllte das Zimmer mit dem fremden Wohl¬ geruch des morgenländiſchen Tabacks; die Schat¬ ten oder Falliten witterten immer neugieriger in den blauen Duftwolken umher, und Eſtherchen und die Mutter beſtaunten unaufhörlich die Leut¬ ſeligkeit und Geſchicklichkeit des Pankraz, mit welcher er die Leute unterhielt, und zuletzt die freundliche, aber ſichere Gewandtheit, mit welcher er die Verſammlung endlich entließ, als es ihm Zeit dazu ſchien.

Da aber die Freuden, welche auf dem Fa¬ milienglück und auf frohen Ereigniſſen unter Blutsverwandten beruhen, auch nach den läng¬ ſten Leiden die Betheiligten plötzlich immer jung und munter machen, ſtatt ſie zu erſchöpfen, wie die Aufregungen der weitern Welt es thun, ſo verſpürte die alte Mutter noch nicht die ge¬ ringſte Müdigkeit und Schlafluſt, ſo wenig alsKeller, die Leute von Seldwyla. I. 334ihre Kinder, und von dem guten Weine erwärmt, den ſie mit Zufriedenheit genoſſen, verlangte ſie endlich mit ihrer noch viel unge¬ duldigeren Tochter etwas Näheres von Pankra¬ zens Schickſal zu wiſſen.

» Ausführlich, erwiederte dieſer, kann ich jetzt meine trübſelige Geſchichte nicht mehr beginnen und es findet ſich wohl die Zeit, wo ich Euch nach und nach meine Erlebniſſe im Einzelnen vorſagen werde. Für heute will ich Euch aber nur einige Umriſſe angeben, ſo viel als nöthig iſt, um auf den Schluß zu kommen, nämlich auf meine Wiederkehr und die Art, wie dieſe veranlaßt wurde, da ſie eigentlich das rechte Seitenſtück bildet zu meiner ehemaligen Flucht und aus dem gleichen Grundtone geht. Als ich damals auf ſo ſchnöde Weiſe entwich, war ich von einem unvertilgbaren Groll und Weh er¬ füllt; doch nicht gegen Euch, ſondern gegen mich ſelbſt, gegen dieſe Gegend hier, dieſe unnütze Stadt, gegen meine ganze Jugend. Dies iſt mir ſeither erſt deutlich geworden. Wenn ich hauptſächlich immer des Eſſens wegen bös wurde und ſchmollte, ſo war der geheime Grund hier¬35 von das nagende Gefühl, daß ich mein Eſſen nicht verdiente, weil ich nichts lernte und nichts that, ja weil mich gar nichts reizte zu irgend einer Beſchäftigung und alſo keine Hoffnung war, daß es je anders würde; denn Alles was ich Andere thun ſah, kam mir erbärmlich und albern vor; ſelbſt Euer ewiges Spinnen war mir unerträglich und machte mir Kopfweh, ob¬ gleich es mich Müſſigen erhielt. So rannte ich davon in einer Nacht in der bitterſten Herzens¬ qual und lief bis zum Morgen, wohl ſieben Stun¬ den weit von hier. Wie die Sonne aufging, ſah ich Leute, die auf einer großen Wieſe Heu machten; ohne ein Wort zu ſagen oder zu fragen, legte ich mein Bündel an den Rand, ergriff einen Rechen oder eine Heugabel und arbeitete wie ein Beſeſſener mit den Leuten und mit der größten Geſchicklichkeit; denn ich hatte mir wäh¬ rend meines Herumlungerns hier alle Handgriffe und Übungen derjenigen, welche arbeiteten, wohl gemerkt, ſogar öfter dabei gedacht, wie ſie dies und jenes ungeſchickt in die Hand nähmen und wie man eigentlich die Hände ganz anders müßte3 *36fliegen laſſen, wenn man erſt einmal ein Arbeiter heißen wolle. «

» Die Leute ſahen mir erſtaunt zu und Nie¬ mand hinderte mich an meiner Arbeit; als ſie das Morgenbrot aßen, wurde ich dazu eingeladen; dieſes hatte ich bezweckt und ſo arbeitete ich weiter, bis das Mittagseſſen kam, welches ich ebenfalls mit großem Appetit einnahm. Doch nun erſtaun¬ ten die Bauersleute noch vielmehr und ſandten mir ein verdutztes Gelächter nach, als ich, anſtatt die Heugabel wieder zu ergreifen, plötzlich den Mund wiſchte, mein Bündelchen wieder aufgriff und ohne ein Wort weiter zu verlieren, meines Weges weiter zog. In einem dichten kühlen Buchenwäldchen legte ich mich hin und ſchlief bis zur Abenddämmerung; dann ſprang ich auf, ging aus dem Wäldchen hervor und guckte am Himmel hin und her, an welchem die Sterne hervorzu¬ treten begannen. Die Stellung der Sterne ge¬ hörte auch zu den wenigen Dingen, die ich wäh¬ rend meines Müſſigganges gemerkt, und da ich darin eine große Ordnung und Pünktlichkeit ge¬ funden, ſo hatte ſie mir immer wohlgefallen, und zwar um ſo mehr, als dieſe glänzenden Geſchöpfe37 ſolche Pünktlichkeit nicht um Tagelohn und um eine Portion Kartoffelſuppe zu üben ſchienen, ſondern damit nur thaten, was ſie nicht laſſen konnten, wie zu ihrem Vergnügen und dabei wohl beſtan¬ den. Da ich nun durch das allmälige Auswendig¬ lernen unſres Geographiebuches, ſo einfach dieſes war, auch auf dem Erdboden Beſcheid wußte, ſo verſtand ich meine Richtung wohl zu nehmen und beſchloß in dieſem Augenblick, nordwärts durch ganz Deutſchland zu laufen, bis ich das Meer erreichte. Alſo lief ich die Nacht hindurch wieder acht gute Stunden und kam mit der Morgen¬ ſonne an eine wilde und entlegene Stelle am Rhein, wo eben vor meinen Augen ein mit Korn¬ ſäcken beladenes Schiff an einer Untiefe aufſtieß, indeſſen doch das Waſſer über einen Theil der Ladung wegſtrömte. Da ſich nur drei Männer bei dem Schiffe befanden und weit und breit in dieſer Frühe und in dieſer Wildniß Niemand zu erſehen war, ſo kam ich ſehr willkommen, als ich ſogleich Hand anlegte und den Schiffern die ſchwere Ladung an's Ufer bringen und das Fahrzeug wie¬ der flott machen half. Was von dem Korne naß geworden, ſchütteten wir auf Bretter, die wir an38 die Sonne legten, und wandten es fleißig um, und zuletzt beluden wir das Schiff wieder. Doch nahm dies alles den größten Theil des Tages weg, und ich fand dabei Gelegenheit, mit den Schiffsleuten unterſchiedliche tüchtige Mahlzeiten zu theilen; ja, als wir fertig waren, gaben ſie mir ſogar noch etwas Geld und ſetzten mich auf mein Verlangen an das andere Ufer über mit¬ telſt des kleinen Kähnchens, das ſie hinter dem großen Kahne angebunden hatten. «

» Drüben befand ich mich in einem großen Bergwald und ſchlief ſofort bis es Nacht wurde, worauf ich mich abermals auf die Füße machte und bis zum Tagesanbruch lief. Mit wenig Worten zu ſagen: auf dieſe nämliche Art ge¬ langte ich in wenig mehr als zwei Monaten nach Hamburg, indem ich, ohne je viel mit den Leu¬ ten zu ſprechen, überall des Tages zugriff, wo ſich eine Arbeit zeigte, und davon ging, ſobald ich geſättigt war, um die Nacht hindurch wie¬ derum zu wandern. Meine Art überraſchte die Leute immer, ſo daß ich niemals einen Wider¬ ſpruch fand, und bis ſie ſich etwa widerhaarig oder neugierig zeigen wollten, war ich ſchon wie¬39 der weg. Da ich zugleich die Städte vermied und meinen Arbeitsverkehr immer im freien Felde, auf Bergen und in Wäldern betrieb, wo nur urſprüngliche und einfache Menſchen waren, ſo reiſete ich wirklich wie zu der Zeit der Patriar¬ chen. Ich ſah nie eine Spur von dem Regiment der Staaten, über deren Boden ich hinlief, und mein einziges Denken war, über eben dieſen Boden wegzukommen, ohne zu betteln oder für meine nöthige Leibesnahrung Jemandem verpflich¬ tet ſein zu müſſen, im Übrigen aber zu thun, was ich wollte, und insbeſondere zu ruhen, wenn es mir gefiel, und zu wandern, wenn es mir beliebte. Später habe ich freilich auch gelernt, mich an eine feſte außer mir liegende Ordnung und an eine regelmäßige Ausdauer zu halten, und wie ich erſt urplötzlich arbeiten gelernt, lernte ich auch dies ſogleich ohne weitere Anſtrengung, ſobald ich nur einmal eine erkleckliche Nothwen¬ digkeit einſah. «

» Übrigens bekam mir dies Leben in der freien Luft, bei der ſteten Abwechslung von ſchwerer Arbeit, tüchtigem Eſſen und ſorgloſer Ruhe vor¬ trefflich und meine Glieder wurden ſo geübt, daß40 ich als ein wahrer Teufelskerl an Stärke und Rührigkeit in der Seeſtadt Hamburg anlangte, wo ich alsbald dem Waſſer zulief und mich unter die Seeleute miſchte, welche ſich da umtrieben und mit dem Befrachten ihrer Schiffe beſchäftigt waren. Da ich überall zugriff und ohne alber¬ nes Gaffen doch aufmerkſam war, ohne ein Wort dabei zu ſprechen, noch je den Mund zu ver¬ ziehen, ſo duldeten die einſilbigen derben Geſellen mich bald unter ſich und ich brachte eine Woche unter ihnen zu, worauf ſie mich auf einem engli¬ ſchen Kauffahrer einſchmuggelten, deſſen Kapitän mich aufnahm unter der Bedingung, daß ich ihm in ſeinem Privatgeſchäfte helfe, das er während ſeiner Fahrten betrieb. Dieſes beſtand nämlich im Zuſammenſetzen und Herſtellen von allerhand Feuerwaffen und Piſtolen aus alten abgenutzten Beſtandtheilen, die er in großer Menge zuſam¬ menkaufte, wenn er in der alten Welt vor Anker ging. Es waren ſeltſame und fabelhafte Todes¬ werkzeuge, die er ſo mit ſchrecklicher Leidenſchaft zuſammenfügte und dann bei Gelegenheit an wil¬ den Küſten gegen werthvolle Friedensprodukte und ſanfte Naturgegenſtände austauſchte. Ich hielt41 mich ſtill zu der Arbeit, übte mich ein und war bald über und über mit Öl, Schmirgel und Fei¬ lenſtaub beſchmiert als ein wilder Büchſenmacher, und wenn ein ſolches Piſtolengeſchütz nothdürftig zuſammenhielt, ſo wurde es mit einem ſtarken Knall probirt; doch nie zum zweiten Mal, dieſes wurde dem rothhäutigen oder ſchwarzen Käufer überlaſſen auf den entlegenen Eilanden. Diesmal fuhr er aber nur nach Neuyork und von da nach England zurück, wo ich, der Büchſenmacherei nun genugſam kundig, mich von ihm entfernte und ſogleich in ein Regiment anwerben ließ, das nach Oſtindien abgehen ſollte. «

» In Neuyork hatte ich zwar den Fuß an das Land geſetzt und auf einige Stunden dies amerikaniſche Leben beſehen, welches mir eigentlich nun recht hätte zuſagen müſſen, da hier Jeder that, was er wollte, und ſich gänzlich nach Be¬ dürfniß und Laune rührte, von einer Beſchäfti¬ gung zur andern abſpringend, wie es ihm eben beſſer ſchien, ohne ſich irgend einer Arbeit zu ſchämen oder die eine für edler zu halten, als die andre. Doch weiß ich nicht wie es kam, daß ich mich ſchleunig wieder auf unſer Schiff42 ſputete und ſo, ſtatt in der neuen Welt zu blei¬ ben, in den älteſten träumeriſchen Theil unſrer Welt gerieth, in das uralte heiße Indien, und zwar in einem rothen Rocke, als ein ſtiller eng¬ liſcher Soldat. Und ich kann nicht ſagen, daß mir das neue Leben mißfiel, das ſchon auf dem großen Linienſchiffe begann, auf welchem das Re¬ giment ſich befand. Schon der Umſtand, daß wir Alle, ſo viel wir waren, mit der größten Pünktlichkeit und Abgemeſſenheit ernährt wurden, indem Jeder ſeine Ration ſo ſicher bekam, wie die Sterne am Himmel gehen, keiner mehr noch minder, als der andre, und ohne daß einer den andern beeinträchtigen konnte, behagte mir außer¬ ordentlich und um ſo mehr, als keiner dafür zu danken brauchte und alles nur unſerm bloßen wohlgeordneten Daſein gebührte. Wenn wir Re¬ kruten auch ſchon auf dem Schiffe eingeſchult wurden und täglich exerziren mußten, ſo gefiel mir doch dieſe Beſchäftigung über die Maßen, da wir nicht das Bajonet herumſchwenken mußten, um etwa mit Gewandtheit eine Kartoffel daran zu ſpießen, ſondern es war lediglich eine reine Übung, welche mit dem Eſſen zunächſt gar nicht43 zuſammenhing, und man brauchte nichts als pünktlich und aufmerkſam beim einen und dem andern zu ſein und ſich um weiter nichts zu kümmern. Schon am zweiten Tage unſrer Fahrt ſah ich einen Soldaten prügeln, der wider einen Vorgeſetzten gemurrt, nachdem er ſchon verſchie¬ dene Unregelmäßigkeiten begangen. Sogleich nahm ich mir vor, daß dies mir nie widerfahren ſolle, und nun kam mir mein Schmollweſen ſehr gut zu ſtatten, indem es mir eine vortreffliche laut¬ loſe Pünktlichkeit und Aufmerkſamkeit erleichterte und es mir fortwährend möglich machte, mir in keiner Weiſe etwas zu vergeben. «

» So wurde ich ein ganz ordentlicher und brauchbarer Soldat; es machte mir Freude, alles recht zu begreifen und ſo zu thun, wie es als muſtergültig vorgeſchrieben war, und da es mir gelang, ſo fühlte ich mich endlich ziemlich zufrie¬ den, ohne jedoch mehr Worte zu verlieren als bisher. Nur ſelten wurde ich beinahe ein wenig luſtig und beging etwa einen närriſchen halben Spaß, was mir vollends den Anſtrich eines Sol¬ daten gab, wie er ſein ſoll, und zugleich verhin¬ derte, daß man mich nicht leiden konnte, und ſo44 war kaum ein Jahr vergangen in dem heißen ſeltſamen Lande, als ich anfing vorzurücken und zuletzt ein anſehnlicher Unteroffizier wurde. Nach einem Verlauf von Jahren war ich ein großes Thier in meiner Art, war meiſtentheils in den Büreaus des Regimentskommandeurs beſchäftigt und hatte mich als ein guter Verwalter heraus¬ geſtellt, indem ich die nothwendigen Künſte, die Schreibereien und Rechnereien aus dem Gange der Dinge mir augenblicklich aneignete ohne wei¬ teres Kopfzerbrechen. Es ging mir jetzt alles nach der Schnur und ich ſchien mir ſelbſt zufrie¬ den zu ſein, da ich ohne Mühe und Sorgen da ſein konnte unter dem warmen blauen Himmel; denn was ich zu verrichten hatte, geſchah wie von ſelbſt, und ich fühlte keinen Unterſchied, ob ich in Geſchäften oder müſſig umherging. Das Eſſen war mir jetzt nichts Wichtiges mehr, und ich beachtete kaum, wann und was ich . Zweimal während dieſer Zeit hatte ich Nachricht an Euch abgeſandt nebſt einigen erſparten Geld¬ mitteln; allein beide Schiffe gingen ſonderbarer Weiſe mit Mann und Maus zu Grunde und ich gab die Sache auf, ärgerlich darüber, und45 nahm mir vor, ſobald als thunlich ſelber heim¬ zukehren und meine erworbene Arbeitsfähigkeit und feſte Lebensart in der Heimath zu verwenden. Denn ich gedachte damit etwas Beſſeres nach Seldwyla zu bringen, als wenn ich eine Million dahin brächte, und malte mir ſchon aus, wie ich die Haſelanten und Fiſcheſſer da anfahren wollte, wenn ſie mir über den Weg liefen. «

» Doch damit hatte es noch gute Wege und ich ſollte erſt noch ſolche Dinge erfahren und ſo in meinem Weſen verändert und aufgerüttelt wer¬ den, daß mir die Luſt verging, andere Leute anfah¬ ren zu wollen. Der Kommandeur hatte mich gänzlich zu ſeinem Factotum gemacht und ich mußte faſt die ganze Zeit bei ihm zubringen. Es war ein ſeltſamer Mann von etwa fünfzig Jahren, deſſen Gattin in Irland lebte auf einem alten Thurm, da ſie wo möglich noch wunder¬ licher ſein mußte, als er; ſo lange ſie zuſammen¬ gelebt, hatten ſie ſich fortwährend angeknurrt, wie zwei wilde Katzen, und ſie litten Beide an der fixen Idee, daß ſie ſich gegenſeitig in einander getäuſcht hätten, obwohl Niemand beſſer für ein¬ ander geſchaffen war. Auch waren ſie geſund46 und munter und lebten behaglich in dieſer Ein¬ bildung, ohne welche keines mehr hätte die Zeit verbringen können, und wenn ſie weit aus ein¬ ander waren, ſo ſorgte Eines für das Andere mit rührender Aufmerkſamkeit. Die einzige Toch¬ ter, die ſie hatten, und die Lydia heißt, lebte dagegen meiſtentheils bei dem Vater und war ihm ergeben und zugethan, da der Unterſchied des Geſchlechtes ſelbſt zwiſchen Vater und Tochter dieſe mehr zärtliches Mitleid für den Vater em¬ pfinden ließ, als für die Mutter, obgleich dieſe eben ſo wenig oder ſo viel taugen mochte als jener in dem vermeintlich unglücklichen Ver¬ hältniß. «

» Der Kommandeur hatte eine reizvolle luf¬ tige Wohnung bezogen, die außerhalb der Stadt in einem ganz mit Palmen, Cypreſſen, Syko¬ moren und anderen Bäumen angefüllten Thale lag. Unter dieſen Bäumen, rings um das leichte weiße Haus herum, waren Gärten angelegt, in denen theils jederzeit friſches Gemüſe, theils eine Menge Blumen gezogen wurden, welche zwar hier in allen Ecken wild wuchſen, die aber der Alte liebte beiſammen zu haben in nächſter Nähe47 und in möglichſter Menge, ſo daß in dem grü¬ nen Schatten der Bäume es ordentlich leuchtete von großen purpurrothen und weißen Blumen. Wenn es nun im Dienſte nichts mehr zu thun gab, ſo mußte ich als ein militäriſcher zuver¬ läſſiger Vertrauensmann dieſe Gärten in Ordnung halten, oder um darüber nicht etwa zu verweich¬ lichen, mit dem Oberſt auf die Jagd gehen, und ich wurde darüber zu einem gewandten Jäger; denn gleich hinter dem Thale begann eine wilde unfruchtbare Landſchaft, welche zuletzt gänzlich in eine Gebirgswildniß verlief, die nicht nur Schwärme und Schaaren unſchuldigeren Gewil¬ des, ſondern auch von Zeit zu Zeit reißende Thiere, beſonders große Tiger beherbergte. Wenn ein ſolcher ſich ſpüren ließ, ſo gab es einen gro¬ ßen Auszug gegen ihn, und ich lernte bei dieſen Gelegenheiten die Gefahr lange kennen, ehe ich in das Gefecht mit Menſchen kam. War aber weiter gar nichts zu thun, ſo mußte ich mit dem alten Herrn Schach ſpielen und dadurch ſeine Tochter Lydia erſetzen, welche, da ſie gar keinen Sinn und kein Geſchick dazu beſaß und ganz kindiſch ſpielte, ihm zu wenig Vergnügen verſchaffte. 48Ich hingegen hatte mich bald ſo weit eingeübt, daß ich ihm einigermaßen die Stange halten konnte, ohne ihn des öfteren Sieges zu berau¬ ben, und wenn mein Kopf nicht durch andere Dinge verwirrt worden wäre, ſo würde ich dem grimmigen Alten bald überlegen geworden ſein. «

» Dergeſtalt war ich nun das merkwürdigſte Inſtitut von der Welt; ich ging unter dieſen Palmen einher gravitätiſch und wortlos in mei¬ ner Scharlachuniform, ein leichtes Schilfſtöckchen in der Hand und über dem Kopfe ein weißes Tuch zum Schutze gegen die heiße Sonne. Ich war Soldat, Verwaltungsmann, Gärtner, Jäger, Hausfreund und Zeitvertreiber, und zwar ein ganz ſonderbarer, da ich nie ein Wort ſprach; denn obgleich ich jetzt nicht mehr ſchmollte und leidlich zufrieden war, ſo hatte ich mir das Schweigen doch ſo angewöhnt, daß meine Zunge durch nichts zu bewegen war, als etwa durch ein Kommando¬ wort oder einen Fluch gegen unordentliche Sol¬ daten. Doch diente gerade dieſe Weiſe dem Kommandeur, ich blieb ſo an die fünf Jahre bei ihm einen Tag wie den andern und konnte, wenn ich freie Zeit hatte, im Übrigen thun, was mir49 beliebte. Dieſe Zeit benutzte ich dazu, das Dutzend Bücher, ſo der alte Herr beſaß, immer wieder durchzuleſen und aus denſelben, da ſie alle dick¬ leibig waren, ein ſonderbares Stück von der Welt kennen zu lernen. Ich war ſo ein eifriger und ſtiller Leſer, der ſich eine Weisheit ausbildete, von der er nicht recht wußte, ob ſie in der Welt galt oder nicht galt, wie ich bald erfahren ſollte; denn obſchon ich bereits vieles geſehen und erfahren, ſo war dies doch nur gewiſſer¬ maßen ſtrichweiſe und das meiſte, was es gab, lag zur Seite des Striches, den ich paſſirt. «

» Mein Kommandeur wurde endlich zum Gou¬ verneur des ganzen Landſtriches ernannt, wo wir bisher geſtanden; er wünſchte mich in ſeiner Nähe zu behalten und veranlaßte meine Ver¬ ſetzung aus dem Regiment, welches wieder nach England zurückging, in dasjenige, welches dafür ankam, und ſo fand ſich wieder Gelegenheit, daß ich als Militairperſon ſowohl wie in allen übri¬ gen Eigenſchaften um ihn ſein konnte, was mir ganz recht war; denn ſo blieb ich ein auf mich ſelbſt geſtellter Menſch, der keinen andern Herrn, als ſeine Fahne über ſich hatte. «

Keller, die Leute von Seldwyla I. 450

» Um die gleiche Zeit kam auch die Tochter aus dem alten irländiſchen Thurme an, um von nun an bei ihrem Vater dem Gouverneur zu leben. Es war ein wohlgeſtaltetes Frauenzim¬ mer von großer Schönheit; doch war ſie nicht nur eine Schönheit, ſondern auch eine Perſon, die in ihren eigenen feinen Schuhen ſtand und ging und ſogleich den Eindruck machte, daß es für den, der ſich etwa in ſie verliebte, nicht leicht hinter jedem Hag einen Erſatz oder einen Troſt für dieſe gäbe, eben weil es eine ganze und ſelbſtſtändige Perſon ſchien, die ſo nicht zum zweiten Male vorkommt. Und zwar ſchien dieſe edle Selbſtſtändigkeit gepaart mit der einfachſten Kindlichkeit und Güte des Charakters und mit jener Lauterkeit und Rückhaltloſigkeit in dieſer Güte, welche, wenn ſie ſo mit Entſchiedenheit und Beſtimmtheit verbunden iſt, eine wahre Über¬ legenheit verleiht und dem, was im Grunde nur ein unbefangenes urſprüngliches Gemüths¬ weſen iſt, den Schein einer weihevollen und genialen Meiſterſchaft giebt. Indeſſen war ſie ſehr gebildet in allen ſchönen Dingen, da ſie nach Art ſolcher Geſchöpfe die Kindheit und bis¬51 herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen, was irgend wohl anſteht, und ſie kannte ſogar faſt alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, ſo daß unwiſſende Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene ſchreckliche Ver¬ legenheit geriethen, weniger zu verſtehen, als ein müſſiges Ziergewächs von Jungfräulein. Überhaupt ſchien ein geſunder und wohldurchge¬ bildeter Sinn in ihr ſich mehr dadurch zu zeigen, daß ſie die vorkommenden kleineren oder größeren Dinge, Vorfälle oder Gegenſtände durchaus zu¬ treffend beurtheilte und behandelte und dabei waren ihre Gedanken und Worte ſo einfach lieb¬ lich und beſtimmt, wie der Ton ihrer Stimme und die Bewegungen ihres Körpers. Und über alles dies war ſie, wie geſagt, ſo kindlich, ſo wenig durchtrieben, daß ſie nicht im Stande war, eine überlegte Partie Schach ſpielen zu lernen und dennoch mit der fröhlichſten Geduld am Brette ſaß, um ſich von ihrem Vater unaufhör¬ lich überrumpeln zu laſſen. So ward es Einem ſogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer Nähe; man dachte unverweilt, dieſe wäre der wahre Jakob unter den Weibern und keine Beſ¬4*52ſere gäbe es in der Welt. Ihre ſchönen blon¬ den Locken und die dunkelblauen Augen, die faſt immer ernſt und frei in die Welt ſahen, thaten freilich auch das ihrige dazu, ja um ſo mehr, als ihre Schönheit, ſo ſehr ſie imponirte, von echt weiblicher Beſcheidenheit und Sittſamkeit durchdrungen war und dabei gänzlich den Ein¬ druck von etwas Einzigem und Perſönlichem machte, es war eben kurz und abermals geſagt: eine Perſon. Das heißt, ich ſage es ſchien ſo, oder eigentlich, weiß Gott, ob es am Ende doch ſo war und es nur an mir lag, daß es ein ſolcher trügeriſcher Schein ſchien, kurz «

Pankrazius vergaß hier weiter zu reden und verfiel in ein ſchwermüthiges Nachdenken, wozu er ein ziemlich unkriegeriſches und beinahe ein¬ fältiges Geſicht machte. Die beiden Wachslichter waren über die Hälfte heruntergebrannt, die Mutter und die Schweſter hatten die Köpfe ge¬ ſenkt und nickten, ſchon nichts mehr ſehend noch hörend, ſchlaftrunken mit ihren Köpfen, denn ſchon ſeit Pankrazius die Schilderung ſeiner ver¬ muthlichen Geliebten begonnen, hatten ſie ange¬ fangen ſchläfrig zu werden, ließen ihn jetzt gänz¬53 lich im Stich und ſchliefen wirklich ein. Zum Glück für unſere Neugierde bemerkte der Oberſt dies nicht, hatte überhaupt vergeſſen, vor wem er erzählte und fuhr ohne die niedergeſchlagenen Augen zu erheben, fort, vor den ſchlafenden Frauen zu erzählen, wie Einer, der etwas lange Verſchwiegenes endlich mitzutheilen ſich nicht mehr enthalten kann.

» Ich hatte, ſagte er, bis zu dieſer Zeit noch kein Weib näher angeſehen und verſtand oder wußte von ihnen ungefähr ſo viel, wie ein Nas¬ horn vom Zitherſpiel. Nicht daß ich ſolche etwa nicht von jeher gern geſehen hätte, wenn ich unbemerkt und ohne Aufwand von Mühe nach ihnen ſchielen konnte; doch war es mir äußerſt zuwider, mit irgend Einer mich in den geringſten Wortwechſel einzulaſſen, da es mir von jeher ſchien, als ob es ſämmtlichen Weibern gar nicht um eine vernunftgemäße, klare und richtige Sache zu thun wäre, daß es ihnen unmöglich ſei, nur ſechs Worte lang in guter Ordnung bei der Stange zu bleiben, ſondern daß ſie einzig darauf ausgingen, wenn ſie in dieſem Augenblicke etwas Zweckmäßiges und Gutes geſagt haben, gleich54 darauf eine große Albernheit oder Verdrehtheit einzuwerfen, was ſie dann als ihre weibliche Anmuth und Beweglichkeit ausgäben, im Grunde aber eine Unredlichkeit ſei, und um ſo abſcheu¬ licher, als ſie halb und halb von bewußter Abſicht begleitet ſei, um hinter dieſem Durchein¬ ander allen ſchlechten Inſtinkten und Querköpfig¬ keiten deſto bequemer zu fröhnen. Deshalb ſchmollte und grollte ich von vornherein mit allem Weibervolk und würdigte keines eines offenkundigen Blickes. In Indien, als ich mehr zufrieden war und keinen Groll fürder hegte, gab es zwar viel Frauensleute, ſowohl indi¬ ſchen Geblütes, als auch eine Menge engliſcher, da viele Kaufleute, Officiere und Soldaten ihre Familie bei ſich hatten. Doch dieſe Indierinnen, die ſchön waren wie die Blumen und gut wie Zucker ausſahen und ſprachen, waren eben nichts weiter als dies und rührten mich nicht im min¬ deſten, da Schönheit und Güte ohne Salz und Wehrbarkeit mir langweilig vorkamen, und es war mir peinlich zu denken, wie eine ſolche Frau, wenn ſie mein wäre, ſich auf keine Weiſe gegen meine etwanigen ſchlimmen Launen zu wehren55 vermöchte. Die europäiſchen Weiber dagegen, die ich ſah, welche größtentheils aus Großbri¬ tannien herſtammten, ſchienen ſchon eher wehr¬ haft zu ſein, jedoch waren ſie weniger gut und ſelbſt wenn ſie es waren, ſo betrieben ſie die Güte und Ehrbarkeit wie ein abſcheulich nüch¬ ternes und hausbackenes Handwerk, und ſelbſt die edle Weiblichkeit, auf die ſich dieſe ſelbſtbe¬ wußten reſpektablen Weibchen ſo viel zu gut thaten, handhabten ſie eher als Würzkrämer, denn als Weiber. Hier wird ein Quentchen ausgewogen und dort ein Quentchen, ſorglich in die löſchpapierne Düte der Philiſterhaftigkeit ge¬ wickelt. Überdies war mir immer, als ob durch das Innerſte aller dieſer abendländiſchen Schönen und Unſchönen ein tiefer Zug von Gemeinheit zöge, die Krankheit unſerer Zeit, welche ſie zwar nur von unſerem Geſchlechte, von uns Herren Europäern, überkommen konnten, aber die gerade bei den anderen wieder zu einem neuen verdoppelten Übel wird. Denn es ſind üble Zeiten, wo die Geſchlechter ihre Krankheiten aus¬ tauſchen und eines dem anderen ſeine angeborenen Schwachheiten mittheilt. Dies waren ſo meine56 unwiſſenden hypochondriſchen Gedanken über die Weiber, welche meinem Verhalten gegen ſie zu Grunde lagen und mit welchen ich meiner Wege ging, ohne mich um Eine zu bekümmern. «

» Als nun die ſchöne Lydia bei uns anlangte und ich mich täglich in ihrer Nähe befand, er¬ hielt meine ganze Weisheit einen Stoß und fiel zuſammen. Es war mir gleich von Grund aus wohl zu Muthe, wenn ſie zugegen war, und ich wußte nicht, was ich hieraus machen ſollte. Höchlich verwundert war ich, weder Groll noch Verachtung gegen dieſe zu empfinden, weder Ge¬ ringſchätzung, noch jene Luſt, doch verſtohlen nach ihr hinzuſchielen; vielmehr freute ich mich ganz unbefangen über ihr Daſein und ſah ſie ohne Unbeſcheidenheit, aber frei und offen an, wenn ich in ihrer Nähe zu thun hatte. Dies fiel mir um ſo leichter, als ich in meiner Stellung als armer Soldat kein Wort an ſie zu richten brauchte, ohne gefragt zu werden und alſo kein anderes Benehmen zu beobachten hatte, als das¬ jenige eines ſich aufrecht haltenden ernſthaften Unterofficiers. Auch war mir das Schweigen, beſonders gegenüber den Weibern, ſo zur andern57 Natur geworden durch das langjährige Kopfhän¬ gen, daß ich beim beſten Willen jetzt nicht hätte eine Ausnahme machen können, auch wenn es ſich geſchickt hätte. Dennoch fühlte ich ein gro¬ ßes und ungewöhnliches Wohlwollen für dieſe Perſon, war in meinem Herzen ſehr gut auf ſie zu ſprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich meine ſchlechten Anſichten von den Frauen und dachte mir, es müßte doch nicht ſo übel mit ihnen ſtehen, wenigſtens ſollten ſie um dieſer Einen willen von nun an mehr Gnade finden bei mir. Ich war ſehr froh, wenn Lydia zu¬ gegen war oder wenn ich Veranlaſſung fand, mich dahin zu verfügen, wo ſie eben war; doch that ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht ein¬ mal blickte oder ging ich, wenn ich mich im glei¬ chen Raume mit ihr befand, ohne einen beſtimm¬ ten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte überhaupt eine ſolche Ruhe in mir, wie das kühle Meerwaſſer, wenn kein Wind ſich regt und die Sonne obenhin darauf ſcheint. «

» Dies verhielt ſich ſo ungefähr ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch etwas darüber, ich58 weiß es nicht mehr genau; denn die ganze Zeit¬ rechnung von damals iſt mir verloren gegangen, der ganze Zeitraum ſchwebt mir nur noch wie ein ſchwüler von Träumen durchzogener Som¬ mertag vor. Während dieſes Anfanges nun, deſſen längere oder kürzere Dauer ich nicht mehr weiß, ging ſo alles gut und ruhig von Statten. Die Dame, obgleich ſie mich öfters ſehen mußte, hatte nicht beſonders viel mit mir zu verkehren oder zu ſprechen, wenn ſie es aber that, ſo war ſie außerordentlich freundlich und that es nie, ohne mit einem kindlichen harmloſen Lachen ihres ſchönen Geſichtes, was ich dann dankbarſt damit erwiederte, daß ich ein um ſo ehrbareres Geſicht machte und den Mund nicht verzog, indem ich ſagte: Sehr wohl, mein Fräulein! oder auch unbefangen widerſprach, wenn ſie ſich irrte, was indeß ſelten geſchah. War ſie aber nicht zugegen oder ich allein, ſo dachte ich wohl vielfältig an ſie, aber nicht im mindeſten wie ein Verliebter, ſondern wie ein guter Freund oder Verwandter, welcher aufrichtig um ſie bekümmert war, ihr alles Wohlergehen wünſchte und allerlei gute Dinge für ſie ausdachte. Kaum ging eine leiſe59 Veränderung dadurch mit mir vor, wenn ich mich recht entſinne, daß ich gegenüber dem Gouver¬ neur ein wenig mehr auf mich hielt, ein wenig mehr den Soldaten hervorkehrte, der nichts als ſeine Pflicht kennt, und in meinen übrigen Dienſt¬ leiſtungen mehr den Schein der Unabhängigkeit wahrte, wie ich denn auch in keinerlei Lohnver¬ hältniß zu ihm ſtand und nachdem die eigentliche Arbeit auf ſeinem Büreau gethan, wofür ich beſoldet war, alles übrige als ein guter Ver¬ trauter mitmachte und nur, da es die Gelegen¬ heit mit ſich brachte, etwa mit ihm und trank. Und ſo war ich, wie ſchon geſagt, vollkommen ruhig und zufrieden, was ſich freilich auf meine beſondere Weiſe ausnehmen mochte. «

» Da geſchah es eines Tages, als ich unter den ſchattigen Bäumen mir zu thun machte, daß die Lydia innerhalb einer kurzen Stunde drei Mal herkam, ohne daß ſie etwas da zu thun oder auszurichten hatte. Das erſte Mal ſetzte ſie ſich auf einen umgeſtürzten Korb und ein kleines Körbchen voll rother Kirſchen auf, indem ſie fortwährend mit mir plauderte und mich zum Reden veranlaßte. Das andere Mal kam ſie60 und rückte den Korb ganz nahe an das Roſen¬ bäumchen, das ich eben ſäuberte, ſetzte ſich aber¬ mals darauf und nähete ein weißes ſeidenes Band auf ein zierliches Nachthäubchen oder was es war; denn genau konnte ich es nicht unter¬ ſcheiden, da ich diesmal kaum hinſah und ihr nur wenig Beſcheid gab, indem ich etwas ver¬ legen wurde. Sie ging bald wieder fort und kam zum dritten Male mit einem feinen kunſtvoll in Elfenbein gearbeiteten Geduldſpiel aus China, packte den alten Korb und ſchleppte ihn wieder weg, indem ſie ſich in einiger Entfernung darauf ſetzte, mir den Rücken zuwendend, und ganz ſtill das Spiel zu löſen verſuchte. Ich blickte jetzt unverwandt nach ihr hin, bis ſie, das Spielzeug in die Taſche ſteckend, unverſehens ſich erhob und einen ſeltſamen wohllautenden Triller ſingend davon ging, ohne ſich wieder nach mir umzu¬ ſehen. Dies alles wollte mir nicht klar ſein noch einleuchten, und meine Seele rümpfte leiſe die Naſe zu dieſem Thun; aber von Stund an war ich verliebt in Lydia. «

» In der wunderbarſten gelinden Aufregung ließ ich mein Bäumchen ſtehen, holte die Dop¬61 pelbüchſe und ſtreifte in den Abend hinaus weit in die Wildniß. Viele Thiere ſah ich wohl, aber alle vergaß ich zu ſchießen; denn wie ich auf eines anſchlagen wollte, dachte ich wieder an das Benehmen dieſer Dame und verlor ſo das Thier aus den Augen. «

» Was will ſie von dir, dachte ich, und was ſoll das heißen? Indem ich aber hierüber hin - und herſann, entſtand und lohete ſchon eine große Dankbarkeit in mir für alles Mögliche und Unmögliche, was irgend in dem Vorfalle liegen mochte, wogegen mein Ordnungsſinn und das Bewußtſein meiner geringen und wenig an¬ muthigen Perſon den widerwärtigſten Streit erhob. Als ich hieraus nicht klug wurde, verfielen meine Gedanken plötzlich auf den Ausweg, daß dieſe ſcheinbar ſo ſchöne und tüchtige Frau am Ende ganz einfach ein leichtfertiges und verbuhltes Weſen ſei, das ſich zu ſchaffen mache, mit wem es ſei, und ſelbſt mit einem armen Unterofficier eine ſchlechte Geſchichte anzuheben nicht verſchmähe. Dieſe verwünſchte Anſicht that mir ſo weh und traf mich ſo unvermuthet, daß ich wuthentbrannt einen ungeheuren rauhen Eber niederſchoß, der62 eben durch die hohen Bergkräuter hergegrunzt kam, und meine Kugel ſaß faſt gleichzeitig und eben ſo unvermuthet und unwillkommen in ſeinem Gehirn, wie jener niederträchtige Gedanke in dem meinigen, und ſchon war mir zu Muthe, als ob das wilde Thier noch zu beneiden wäre um ſeine Errungenſchaft im Vergleich zu der meinigen. Ich ſetzte mich auf die todte Beſtie; vor meinen Gedanken ging die ſchöne Geſtalt vorüber und ich ſah ſie deutlich, wie ſie die drei Male gekommen war mit jeder ihrer Bewe¬ gungen und jedes Wort tönte noch nach. Aber merkwürdiger Weiſe ging dies gute Gedächtniß noch über dieſen Tag hinaus und zurück über¬ haupt bis auf den erſten Tag, wo ich ſie geſe¬ hen, den ganzen Zeitraum hindurch, wo ich doch gänzlich ruhig geweſen. Wie man bei ganz durchſichtiger Luft, wenn es Regen geben will, an entfernten Bergen viele Einzelnheiten deutlich ſieht, die man ſonſt nicht wahrnimmt, und in ſtiller Nacht die fernſten Glocken ſchlagen hört, ſo entdeckte ich jetzt mit Verwunderung, daß aus jenem ganzen Zeitraume jede Art und Wendung ihrer Erſcheinung, jedes einzelne Auftreten ſich63 ohne mein Wiſſen mir eingeprägt hatte, und faſt jedes ihrer Worte, ſelbſt das gleichgültigſte und vorübergehendſte, hörte ich mit klar vernehmlichem Ausdruck in der Stille dieſer Wildniß wieder tönen. Dieſe ſämmtliche Herrlichkeit hatte alſo gleichſam ſchlafend oder heimlicherweiſe ſich in mir aufgehalten und der heutige Vorgang hatte nur den Riegel davor weggeſchoben oder eine Fackel in ein Bund Stroh geworfen. Ich ver¬ gaß über dieſen Dingen wieder meinen ſchlechten Zorn und beſchäftigte mich rückhaltlos mit der Ausbeutung meines guten Gedächtniſſes und ſchenkte demſelben nicht den kleinſten Zug, den es mir von dem Bilde Lydias irgend liefern konnte. Auf dieſe Weiſe ſchlenderte ich denn auch wieder der Behauſung zu und überließ mich allem dieſen angenehmen Vorſtellungen; jedoch vermochte ich nun nicht mehr ſo unbefangen und ruhig in ihrer Nähe zu ſein, und da ich nichts anderes anzufangen wußte noch geſonnen war, ſo vermied ich möglichſt jeden Verkehr mit ihr, um deſto eifriger an ſie zu denken. So ver¬ gingen drei oder vier Wochen, ohne daß etwas Weiteres vorfiel, als daß ich bemerkte, daß ſie64 bei aller Zurückhaltung, die ſie nun beobachtete, dennoch keine Gelegenheit verſäumte, irgend etwas zu meinen Gunſten zu thun oder zu ſagen, und ſie fing an, mir völlig nach dem Munde oder zu Gefallen zu ſprechen, da ſie Ausdrücke brauchte, welche ich etwa gebraucht, und die Dinge ſo beurtheilte, wie ich es zu thun gewohnt war. Dies ſchien nun erſt nichts beſonderes, weil es mich eben von jeder angenehm dünkte, in ihr eben dieſelben Anſichten vom Zweckmäßigen oder vom Verkehrten zu entdecken, deren ich mich ſelber befleißigte; auch lachte ſie über dieſelben Dinge, über welche ich lachen mußte, oder ärgerte ſich über die nämlichen Unſchicklichkeiten, ſo etwa vor¬ fielen. Aber zuletzt ward es ſo auffällig, daß ſie mir, da ich kaum ein Wort mit ihr zu ſpre¬ chen hatte, zu Gefallen zu leben ſuchte und zwar nicht wie eine ſchelmiſche Kokette, ſondern wie ein einfaches argloſes Kind, daß ich in die größte Verwirrung gerieth und vollends nicht mehr wußte, wie ich mich ſtellen ſollte. So fand ich denn, um mich zu ſalviren, unverfäng¬ lich mein Heil in meiner alten wohlhergeſtellten Schmollkunſt und verhärtete mich vollkommen in65 derſelben, zumal ich mich nichts weniger als glücklich fühlte in dieſem ſonderbaren Verhältniß. Nun ſchien ſie wahrhaft bekümmert und nieder¬ geſchlagen, kleinlaut und ſchüchtern zu werden, was zu ihrem ſonſtigen reſoluten und tüchtigen Weſen eine verführeriſche Wirkung hervorbrachte, da man an den gewöhnlichen Weibern und je kleinlicher ſie ſind, deſto weniger gewohnt iſt, ſie durch ſolche ſchüchterne Beſcheidenheit glänzen und beſtechen zu ſehen. Vielmehr glauben ſie, nichts ſtehe ihnen beſſer zu Geſicht, als eine ſchreckliche Sicherheit und Unverſchämtheit. Da nun ſogar noch der alte Gouverneur anfing, in einer mir unverſtändlichen und wenig delikaten Laune zu ſticheln und zu ſcherzen und zehnmal des Tages ſagte: Wahrhaftig, Lydia, Du biſt verliebt in den Pankrazius! ſo ward mir das Ding zu bunt; denn ich hielt das für einen ſehr ſchlechten Spaß, in Betreff auf ſeine Tochter für geſchmacklos und vom ordinärſten Tone, in Be¬ zug auf mich aber für gewiſſenlos und roh, und ich war oft im Begriff, es ihm offen zu ſagen und mich den Teufel um ihn weiter zu kümmern. Letzteres that ich auch in ſofern, als ich michKeller, die Leute von Seldwyla. I. 566nun gänzlich zuſammen nahm und in mich ſelber verſchloß. Lydia wurde eintönig, ja ſie ſchien nun ſogar bleich und leidend zu werden, was mich tief bekümmerte, ohne daß ich daraus etwas Kluges zu machen wußte. Als ſie aber trotz meines Verhaltens ſogar wieder anfing, mir nachzugehen und ſich fortwährend zu ſchaffen machte, wo ich mich aufhielt, gerieth ich in Ver¬ zweiflung und in der Verzweiflung begann ich, abgebrochene und ungeſchickte Unterhaltungen mit ihr zu pflegen. Es war gar nichts, was wir ſprachen, ganz unartikulirtes jämmerliches Zeug, als ob wir beide blödſinnig wären; allein beide ſchienen gar nicht hieran zu denken, ſondern lachten uns an wie Kinder; denn auch ich ver¬ gaß darüber alles andere und war endlich froh, nur dieſe kurzen Reden mit ihr zu führen. Allein das Glück dauerte nie länger, als zwei Minuten, da wir den Faden aus Mangel an Ruhe und Beſonnenheit ſogleich wieder verloren und dann zwei Kindern glichen, die ein Perlenband aufge¬ zettelt haben und mit Betrübniß die ſchönen Perlen entgleiten ſehen. Alsdann dauerte es wieder wochenlang, bis eine dieſer großen Unter¬67 nehmungen wieder gelang, und nie that ich den erſten Schritt dazu, da ich gleich darauf wieder nur bedacht war, mir nichts zu vergeben und keine Dummheiten zu begehen bei dieſen etwas ungewöhnlichen Leuten. Hundertmal war ich entſchloſſen auf und davon zu gehen, allein die Zeit verging mir ſo eilig, daß ich die That im¬ mer wieder hinausſchieben mußte. Denn meine Gedanken waren jetzt ausſchließlich mit dieſer Sache beſchäftigt und es ging mir dabei äußerſt ſeltſam. «

» Mit den Büchern des Gouverneurs war ich endlich ſo ziemlich fertig geworden und wußte nichts mehr aus denſelben zu lernen. Lydia, welche mich ſo oft leſen ſah, benutzte dieſe Ge¬ legenheit und gab mir von den ihrigen. Dar¬ unter war ein dicker Band wie eine Handbibel und er ſah auch ganz geiſtlich aus; denn er war in ſchwarzes Leder gebunden und vergoldet. Es waren aber lauter Schauſpiele und Komödien darin mit der kleinſten engliſchen Schrift gedruckt. Dies Buch nannte man den Shakeſpeare, welches der Verfaſſer deſſelben und deſſen Kopf auch vorne drin zu ſehen war. Dieſer verführeriſche68 falſche Prophet führte mich ſchön in die Patſche. Er ſchildert nämlich die Welt nach allen Seiten hin durchaus einzig und wahr wie ſie iſt, aber nur wie ſie es in den ganzen Menſchen iſt, welche im Guten und im Schlechten das Metier ihres Daſeins und ihrer Neigungen vollſtändig und charakteriſtiſch betreiben und dabei durch¬ ſichtig wie Kryſtall, jeder vom reinſten Waſſer in ſeiner Art, ſo daß, wenn ſchlechte Skribenten die Welt der Mittelmäßigkeit und farbloſen Halb¬ heit beherrſchen und malen und dadurch Schwach¬ köpfe in die Irre führen und mit tauſend unbedeutenden Täuſchungen anfüllen, dieſer hin¬ gegen eben die Welt des Ganzen und Gelun¬ genen in ſeiner Art, d. h. wie es ſein ſoll, beherrſcht und dadurch gute Köpfe in die Irre führt, wenn ſie in der Welt dies weſentliche Leben zu ſehen und wiederzufinden glauben. Ach es iſt ſchon in der Welt, aber nur niemals da, wo wir eben ſind oder dann, wann wir leben. Es giebt noch verwegene ſchlimme Weiber genug, aber ohne den ſchönen Nachtwandel der Lady Macbeth und das bange Reiben der kleinen Hand. Die Giftmiſcherinnen, die wir treffen, ſind nur69 frech und reulos und ſchreiben gar noch ihre Geſchichte oder legen einen Kramladen an, wenn ſie ihre Strafe überſtanden. Es giebt noch Leute genug, die wähnen Hamlet zu ſein und ſie rüh¬ men ſich deſſen, ohne eine Ahnung zu haben von den großen Herzensgründen eines wahren Hamlet. Hier iſt ein Blutmenſch ohne Macbeths dämo¬ niſche und doch wieder ſo menſchliche Mannhaf¬ tigkeit und dort ein Richard der Dritte ohne deſſen Witz und Beredtſamkeit. Hier iſt eine Porzia, die nicht ſchön, dort eine, die nicht geiſt¬ reich, dort wieder eine die geiſtreich aber nicht klug iſt und wohl verſteht, Leute unglücklich zu machen, nicht aber ſich ſelbſt zu beglücken. Un¬ ſere Shyloks möchten uns wohl das Fleiſch aus¬ ſchneiden, aber ſie werden nun und nimmer eine Baarauslage zu dieſem Behuf wagen, und unſere Kaufleute von Venedig gerathen nicht wegen eines luſtigen Habenichts von Freund in Gefahr, ſondern wegen einfältigen Actienſchwindels und halten dann nicht im mindeſten ſo ſchöne melan¬ choliſche Reden, ſondern machen ein ganz dummes Geſicht dazu. Doch eigentlich ſind, wie geſagt, alle ſolche Leute wohl in der Welt, aber nicht70 ſo hübſch beiſammen, wie in jenen Gedichten; nie trifft ein ganzer Schurke auf einen ganzen wehrbaren Mann, nie ein vollſtändiger Narr auf einen unbedingt klugen Fröhlichen, ſo daß es zu keinem rechten Trauerſpiel und zu keiner guten Komödie kommen kann. «

» Ich aber las nun die ganze Nacht in die¬ ſem Buche und verfing mich ganz in demſelben, da es mir gar ſo gründlich und ſachgemäß ge¬ ſchrieben ſchien und mir außerdem eine ſolche Arbeit eben ſo neu als verdienſtlich vorkam. Weil nun alles übrige ſo trefflich, wahr und ganz erſchien und ich es für die eigentliche und richtige Welt hielt, ſo verließ ich mich insbeſon¬ dere auch bei den Weibern, die es vorbrachte, ganz auf ihn, verlockt und geleitet von dem ſchönen Sterne Lydia, und ich glaubte, hier ginge mir ein Licht auf und ſei die Löſung meiner zweifelvollen Verwirrung und Qual zu finden. «

» Gut! dachte ich, wenn ich dieſe ſchönen Bilder der Desdemona, der Helena, der Imogen und anderer ſah, die alle aus der hohen Selbſt¬ herrlichkeit ihres Frauenthums heraus ſo ſelt¬71 ſamen Käuzen nachgingen und anhingen, rück¬ haltlos wie unſchuldige Kinder, edel, ſtark und treu wie Helden, unwandelbar und treu wie die Sterne des Himmels: gut! hier haben wir un¬ ſeren Fall! Denn nichts anderes als ein ſol¬ ches feſtes, ſchöngebautes und gradausfahrendes Frauenfahrzeug iſt dieſe Lydia, die ihren Anker nur einmal und dann in eine unergründliche Tiefe auswirft und wohl weiß was ſie will. Dieſe Meinung ging gleich einer ſtrahlenden heißen Sonne in mir auf und in deren Licht ſah ich nun jede Bewegung und jede kleinſte Handlung, jedes Wort des ſchönen Geſchöpfes, und es dauerte nicht lange, ſo überbot ſie in meinen Augen alles, was der gute Dichter mit ſeiner mächtigen Einbildungskraft erfunden, da dies lebendige Gedicht im Lichte der Sonne um¬ herging in Fleiſch und Blut, mit wirklichen Herzſchlägen und einem thatſächlichen Nacken voll goldener Locken. «

» Das unheimliche Räthſel war nun gelöſt und ich hatte nichts weiter zu thun, als mich in dieſe mit dem Shakeſpeare in die Wette zu¬ ſammengedichtete Seligkeit zu finden und mit72 Mühe meine geringfügige und unliebliche Perſon für eine ſolche Laune des Schickſals oder des königlich großmüthigen Frauengemüthes einiger¬ maßen leidlich zurecht zu ſtutzen mittelſt hundert¬ facher Pläne und Ausſichten, welche ſich an das große ſchöne Luftſchloß anbaueten. Die unend¬ liche Dankbarkeit und Verehrung, welche ich ſol¬ chergeſtalt gegen die Geliebte empfand, hatte allerdings zum guten Theil ihren Grund in meiner ſich geſchmeichelt fühlenden Eigenliebe; aber gewiß auch zum noch größeren Theil darin, daß dieſe Erklärungsweiſe die einzige war, welche mir möglich ſchien, ohne dies theuerſte Weſen verachten und bemitleiden zu müſſen; denn eine hohe Achtung, die ich für ſie empfand, war mir zum Lebensbedürfniß geworden und mein Herz zitterte vor ihr, das noch vor keinem Menſchen und vor keinem wilden Thiere gezittert hatte. «

» So ging ich wohl ein halbes Jahr lang herum wie ein Nachtwandler, von Träumen ſo voll hängend, wie ein Baum voll Äpfel, alles, ohne mit Lydia um einen Schritt weiter zu kommen. Ich fürchtete mich vor dem kleinſten möglichen Ereigniß, etwa wie ein guter Chriſt73 vor dem Tode, den er zagend ſcheut, obgleich er durch ſelbigen in die ewige Seligkeit einzu¬ gehen gewiß iſt. Deſto bunter ging es in meinem Gehirn zu und die Ereigniſſe und auf¬ regendſten Geſchichten, alles aufs ſchönſte und unzweifelhafteſte ſich begebend, drängten und blüh¬ ten da durcheinander. Ich verſäumte meine Ge¬ ſchäfte und war zu nichts zu brauchen. Das Ärgſte war mir, wenn ich ſtundenlang mit dem Alten Schach ſpielen mußte, wo ich dann ge¬ zwungen war, meine Aufmerkſamkeit an das Spiel zu feſſeln, und die einzige Muße für meine ſchweren Liebesgedanken gewährte mir die kurze Zeit, wenn ein Spiel zu Ende war und die Figuren wieder aufgeſtellt wurden. Ich ließ mich daher ſobald als immer möglich, ohne daß es zu ſehr auffiel, matt machen und hielt mich ſo lange mit dem Aufſtellen des Königs und der Königin, der Läufer, Springer und Bauern auf und rückte ſo lange an den Thürmen hin und her, daß der Gouverneur glaubte, ich ſei kin¬ diſch geworden und tändle mit den Figürchen zu meinem Vergnügen. «

» Endlich aber drohete meine ganze Exiſtenz5 *74ſich in müſſige Traumſeligkeit aufzulöſen und ich lief Gefahr ein Tollhäusler zu werden. Zudem war ich trotz aller dieſer goldenen Luftſchlöſſer unſäglich kleinmüthig und traurig, da, ehe das letzte Wort geſprochen iſt, die ſolchen wuchernden Träumen gegenüber immer zurückſtehende Wirk¬ lichkeit niederſchlägt und die leibhafte Gegenwart etwas Abkühlendes und Abwehrendes behält. Es iſt das gewiſſermaßen die ſchützende Dornenrüſtung, womit ſich die ſchöne Roſe des körperlichen Le¬ bens umgiebt. Je freundlicher und zuthulicher Lydia war, deſto ungewiſſer und zweifelhafter wurde ich, weil ich an mir ſelbſt entnahm, wie ſchwer es Einem möglich wird, eine wirk¬ liche Liebe zu zeigen, ohne ſie ganz bei ihrem Namen zu nennen. Nur wenn ſie ſtreng, traurig und leidend ſchien, ſchöpfte ich wieder einen halben Grund zu einer vernünftigen Hoffnung, aber dies quälte mich alsdann noch viel tiefer und ich hielt mich nicht werth, daß ſie nur eine ſchlimme Minute um meinetwillen erleiden ſollte, der ich gern den Kopf unter ihre Füße gelegt hätte. Dann ärgerte ich mich wieder, daß ſie, um guter Dinge zu ſein, verlangte, ich ſollte75 etwa ausſehen wie ein verliebter närriſcher Schnei¬ der, da ich doch kein ſolcher war und ich auf meine Weiſe ſchon gedachte, beweglich zu werden zu ihrem Wohlgefallen. Kurz, ich ging einer gänzlichen Confuſion entgegen, war nicht mehr im Stande ein einziges Geſchäft ordnungsgemäß zu verrichten und lief Gefahr, als Militär rück¬ wärts zu kommen oder gar verabſchiedet zu wer¬ den, wenn ich nicht als ein abhängiger dienſtbarer Lückenbüßer, der zu weiter nichts zu brauchen, mich an das Haus des Gouverneurs hängen wollte. «

» Als daher die Engländer in bedenkliche Feindſeligkeiten mit indiſchen Völkern geriethen und ein Feldzug eröffnet wurde, der nachher ziemlich blutig für ſie ausfiel, entſchloß ich mich kurz und trat wieder in meine Compagnie als guter Combattant, vom Gouverneur meinen Ab¬ ſchied nehmend. Derſelbe wollte zwar nichts davon wiſſen, ſondern polterte, bat und ſchmei¬ chelte mir, daß ich bleiben möchte, wie alle ſolche Leute, die glauben, Alles ſtehe mit ſeinem Leib und Leben, mit ſeinem Wohl und Wehe nur zu ihrer Verfügung da, um ihnen die Zeit zu ver¬ treiben und zur Bequemlichkeit zu dienen. Lydia76 hingegen ließ ſich während der drei oder vier Tage, während welcher von meinem Abzug die Rede war, kaum ſehen. Geſchah es aber, ſo ſah ſie mich nicht an oder warf einen kurzen Blick voll Zornes auf mich, wie es ſchien; aber nur das Auge ſchien zornig, ihr Gang und ihre übrigen Bewegungen waren dabei ſo ſtill, edel und an ſich haltend, daß dieſer ſchöne Zorn mir das Herz zerriß. Auch hörte ich, daß ſie des Morgens ſehr ſpät zum Vorſchein käme und daß man ſich darüber den Kopf zerbräche; denn es deutete darauf, daß ſie des Nachts nicht ſchlafe, und als ich ſie am letzten Tage zufällig hinter ihrem Fenſter ſah, glaubte ich zu bemerken, daß ſie ganz verweinte Augen hatte; auch zog ſie ſich ſchnell zurück, als ich vorüberging. Nichts¬ deſtominder ſchritt ich meinen ſteifen Feldwebels¬ gang ruhig fort und verrichtete noch alles, we¬ der rechts noch links ſehend. So ging ich auch gegen Abend mit einem Burſchen noch einmal durch die Pflanzungen, um ihm die Obhut der¬ ſelben einigermaßen zu zeigen und ihn ſo gut es ging zu einem proviſoriſchen Gärtner zuzu¬ ſtutzen, bis ſich ein tauglicheres Subjekt zeigen77 würde. Wir ſtanden eben in einem ſchlanken hohen Roſenwäldchen, das ich gezogen hatte; die Bäumchen ſtanden juſt in der Höhe des Geſich¬ tes eines Menſchen, und ſo nahe, daß wenn man darin herum ging, die Roſen Einem an der Naſe ſtreiften, was ſehr artig und bequem war und wozu der Gouverneur ſehr gelacht hatte, da er ſich nun nicht mehr zu bücken brauchte um an den Roſen zu riechen. Als ich den Bur¬ ſchen meine Anweiſungen ertheilte, kam Lydia herbei und ſchickte ihn mit irgend einem Auftrage weg, und indem ſie gleich mitzugehen Willens ſchien, zögerte ſie doch eine kurze Zeit, einige Roſen brechend, bis der Diener weg war. Ich zerrte ebenfalls noch ein Weilchen an einem Zweige herum und wie ich mich umdrehte, um zu gehen, ſah ich, daß ihr Thränen aus den Augen fielen. Ich hatte Mühe mich zu bezwin¬ gen; doch that ich als ob ich nichts geſehen, und eilte hinweg. Doch kaum war ich zehn Schritte gegangen, als ich hörte und fühlte, wie ſie, bald laufend, bald ſtehen bleibend, hinter mir herkam, und ſo eine ganze Strecke weit. Ich hielt dies nicht mehr aus, wandte mich plötzlich78 um und ſagte zu ihr, die kaum noch drei Schritte von mir entfernt war: » Warum gehen Sie mir nach, Fräulein? «

» Sie ſtand ſtill, wie von einer Schlange er¬ ſchreckt, und wurde, den Blick zur Erde geſenkt, glühendroth im Geſicht; dann wurde ſie bleich und weiß und zitterte am ganzen Leibe, während ſie die großen blauen Augen zu mir aufſchlug und nicht ein Wort hervorbrachte. Endlich ſagte ſie mit einer Stimme, in welchen empör¬ ter Stolz mit gern ertragener Demüthigung rang: » Ich denke, ich kann in meinem Beſitzthume herumgehen, wo ich will! «

» Gewiß! « erwiederte ich kleinlaut und ſetzte meinen Weg fort. Sie war jetzt an meiner Seite und ging neben mir her. Ich ging aber in meiner heftigen Aufregung mit ſo langen und raſchen Schritten, daß ſie trotz ihrer kräftigen Bewegungen mir mit Mühe folgen konnte und doch that ſie es. Ich ſah ſie mehrmals groß an von der Seite und ſah, daß ihr die Augen wieder voll Waſſer ſtanden, indeſſen dieſelben wie kummervoll und demüthig auf den Boden gerichtet waren. Mir brannte es ebenfalls ſie¬79 dendheiß im Geſicht und meine Augen wurden auch naß. Die Sache ſtand jetzt dergeſtalt auf der Spitze, daß ich entweder eine Dummheit oder eine Gewiſſenloſigkeit zu begehen im Begriff war, wovon ich weder das Eine noch das Andere zu thun geſonnen war. Doch dachte ich, indem ich ſo neben ihr herſchritt, in meinen armen Gedan¬ ken: Wenn dies Weib dich liebt und du jemals mit Ehren an ihre Hand gelangeſt, ſo ſollſt du ihr auch dienen bis in den Tod, und wenn ſie der Teufel ſelbſt wäre!

» Indem erreichten wir eine Stätte, wo ein oder zwei Dutzend Orangenbäume ſtanden und die Luft mit Wohlgeruch erfüllten, während ein ſüßer friſcher Lufthauch durch die reinlichen edel¬ geformten Stämmchen wehte. Ich glaube dieſen bethörenden Hauch und Duft noch jetzt zu füh¬ len, wenn ich daran denke; wahrſcheinlich übte er eine ähnliche Wirkung auf das Geſchöpf, das neben mir ging, daß es ſeine wunderſame Lei¬ denſchaft, welche die Liebe zu ſich ſelbſt war, ſo auf's äußerſte empfand und darſtellte, als ob es eine wirkliche Liebe zu einem Manne wäre; denn ſie ließ ſich auf eine Bank unter den Orangen80 nieder und ſenkte das ſchöne Haupt auf die Hände; die goldenen Haare fielen darüber und reiche Thränen quollen durch ihre Finger.

» Ich ſtand vor ihr ſtill und ſagte mit ver¬ ſagender Stimme: » Was wollen Sie denn, was iſt Ihnen, Fräulein Lydia? «

» Was wollen Sie denn! « ſagte ſie » iſt es je erhört, eine ſchöne und feine Dame ſo zu quälen und zu mißhandeln! Aus welchem bar¬ bariſchen Lande kommen Sie denn? Was tra¬ gen Sie für ein Stück Holz in der Bruſt? «

» Wie quäle, wie mißhandle ich denn? « er¬ wiederte ich unſchlüſſig und betreten; denn ob¬ gleich ſie einen guten Sinn haben konnte, ſchien mir dieſe Sprache dennoch nicht die rechte zu ſein.

» Sie ſind ein grober und übermüthiger Menſch! « ſagte ſie, ohne aufzublicken.

Nun konnte ich nicht mehr an mich halten und erwiederte: » Sie würden dies nicht ſagen, mein Fräulein, wenn Sie wüßten, wie wenig grob und übermüthig ich in meinem Herzen gegen Sie geſinnt bin! Und es iſt gerade meine große Höflichkeit und Demuth, welche «

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» Sie blickte, als ich wieder verſtummte, auf, und das Geſicht mit einem ſchmerzlichen, bitten¬ den Lächeln aufgehellt, ſagte ſie haſtig: » Nun? « Wobei ſie mir einen Blick zuwarf, der mich jetzt um den letzten Reſt von Überlegung brachte. Ich, der ich es nie für möglich gehalten hätte, ſelbſt dem geliebteſten Weibe zu Füßen zu fallen, da ich ſolches für eine Thorheit und Ziererei hielt, ich wußte jetzt nicht, wie ich dazu kam, plötzlich vor ihr zu liegen und meinen Kopf ganz hingegeben und zerknirſcht in den Saum ihres Gewandes zu verbergen, den ich mit heißen Thränen benetzte. Sie ſtieß mich jedoch augen¬ blicklich zurück und hieß mich aufſtehen; doch als ich dies that, hatte ſich ihr Lächeln noch ver¬ mehrt und verſchönert und ich rief nun: Ja ſo will ich es Ihnen nur ſagen und ſo weiter und erzählte ihr meine ganze Geſchichte mit einer Beredtſamkeit, die ich mir kaum je zuge¬ traut. Sie horchte begierig auf, während ich ihr gar nichts verſchwieg vom Anfang bis zu dieſer Stunde und beſonders ihr auch aus über¬ ſtrömendem Herzen das Bild entwarf, das von ihr in meiner Seele lebte und wie ich es ſeitKeller, die Leute von Seldwyla. I. 682einem halben Jahre oder mehr ſo emſig und treu ausgearbeitet und vollendet. Sie lachte, vor ſich niederſehend und lauſchend die Hand unter das Kinn ſtützend, voll Zufriedenheit und ſah immer mehr einem ſeligen Kinde gleich, dem man ein gewünſchtes Zuckerzeug gegeben, als ſie hörte und vernahm, wie nicht einer ihrer Vor¬ züge und Reize, und nicht eines ihrer Worte bei mir verloren gegangen war. Dann reichte ſie mir die Hand hin und ſagte, freundlich er¬ röthend, doch mit zufriedener Sicherheit: » Ich danke Ihnen ſehr, mein Freund, für Ihre herz¬ liche Zuneigung! Glauben Sie, es ſchmerzt mich, daß Sie um meinetwillen ſo lange beſorgt und eingenommen waren; aber Sie ſind ein ganzer Mann und ich muß Sie achten, da Sie einer ſo ſchönen und tiefen Neigung fähig ſind! «

Dieſe ruhige Rede fiel zwar wie ein Stück Eis in mein heißes Blut; doch dachte ich ſo¬ gleich, es ihr wohl und von Herzen zu gönnen, wenn ſie jetzt die gefaßte und ſich zierende Dame machen wollte und mich in alles zu ergeben, was ſie auch vornehmen und welchen Ton ſie auch anſchlagen würde.

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Doch erwiederte ich bekümmert: » Wer ſpricht denn von mir, ſchöne, ſchöne Lydia! Was hat Alles, was ich leide oder nicht leide, erlitten habe oder noch erleiden werde, zu ſagen, gegen¬ über auch nur Einer unmuthigen oder gequälten Minute, die Sie erleiden? Wie kann ich un¬ werther und ungefügiger Geſelle eine ſolche je erſetzen oder vergüten? «

» Nun, « ſagte ſie, immer vor ſich nieder¬ bückend und immer noch lächelnd, doch ſchon in einer etwas veränderten Weiſe, » nun, ich muß allerdings geſtehen, daß mich Ihr ſchroffes und ungeſchicktes Benehmen ſehr geärgert und ſogar gequält hat; denn ich war an ſo etwas nicht gewöhnt, vielmehr daß ich überall, wo ich hin¬ kam, Artigkeit und Ergebenheit um mich ver¬ breitete. Ihre ſcheinbare grobe Fühlloſigkeit hat mich ganz ſchändlich geärgert, ſage ich Ihnen, und um ſo mehr, als mein Vater und ich viel auf Sie hielten. Um ſo lieber iſt es mir nun, zu ſehen, daß Sie doch auch ein bischen Gemüth haben, und beſonders, daß ich an mei¬ nem eigenen Werthe nicht länger zu zweifeln brauche; denn was mich am meiſten kränkte,6 *84war dieſer Zweifel an mir ſelbſt, an meinem perſönlichen Weſen, der in mir ſich zu regen begann. Übrigens, beſter Freund, empfinde ich keine Neigung zu Ihnen, ſo wenig als zu je¬ mand Anderm, und hoffe, daß Sie ſich mit aller Hingebung und Artigkeit, die Sie ſo eben beur¬ kundet, in das Unabänderliche fügen werden, ohne mir gram zu ſein! «

» Wenn ſie geglaubt, daß ich nach dieſer un¬ befangenen Eröffnung gänzlich rath - und wehrlos vor ihr darnieder liegen werde, ſo hatte ſie ſich getäuſcht. Vor dem vermeintlich guten und liebe¬ vollen Weibe hatte mein Herz gezittert, vor dem wilden Thiere dieſer falſchen gefährlichen Selbſt¬ ſucht zitterte ich ſo wenig mehr, als ich es vor Tigern und Schlangen zu thun gewohnt war. Im Gegentheil, anſtatt verwirrt und verzweifelt zu ſein und die Täuſchung nicht aufgeben zu wol¬ len, wie es ſonſt wohl geſchieht in dergleichen Auftritten, war ich plötzlich ſo kalt und beſonnen, wie nur ein Mann es ſein kann, der auf das ſchmählichſte beleidigt und beſchimpft worden iſt, oder wie ein Jäger es ſein kann, der ſtatt eines edlen ſcheuen Rehes urplötzlich eine wilde Sau85 vor ſich ſieht. Ein ſeltſam gemiſchtes, unheim¬ liches Gefühl von Kälte freilich, wenn ich bei alledem die Schönheit anſehen mußte, die da vor mir glänzte. Doch dieſes iſt das unheimliche Geheimniß der Schönheit. «

» Indeſſen, wäre ich nicht von der Sonne ganz braun gebrannt geweſen, ſo würde ich jetzt den¬ noch ſo weiß ausgeſehen haben, wie die Orange¬ blüthen über mir, als ich ihr nach einigem Schwei¬ gen erwiederte: » Und alſo um Ihren edlen Glau¬ ben an Ihre Perſönlichkeit herzuſtellen war es Ihnen möglich, alle Zeichen der reinen und tiefen Liebe und Selbſtentäußerung zu verwenden? Zu dieſem Zwecke gingen Sie mir nach, wie ein un¬ ſchuldiges Kind, das ſeine Mutter ſucht, redeten Sie mir fortwährend nach dem Munde, wurden Sie bleich und leidend, vergoſſen Sie Thränen und zeigten eine ſo goldene und rückhaltloſe Freude, wenn ich mit Ihnen nur ein Wort ſprach? «

» Wenn es ſo ausgeſehen hat, was ich that, « ſagte ſie noch immer ſelbſtzufrieden, » ſo wird es wohl ſo ſein. Sie ſind wohl ein wenig böſe, eitler Mann! daß Sie nun doch nicht der Ge¬86 genſtand einer gar ſo demuthvollen und gränzen¬ loſen weiblichen Hingebung ſind? daß ich Ärmſte nicht das ſehnlich blöckende Lämmlein bin, für das Sie mich in Ihrer Vergnügtheit gehalten? «

» Ich war nicht vergnügt, Fräulein! « erwie¬ derte ich. » Indeſſen wenn die Götter, wenn Chriſtus ſelbſt einer unendlichen Liebe zu den Menſchen vielfach ſich hingaben, und wenn die Menſchheit von jeher ihr höchſtes Glück darin fand, dieſer rückhaltloſen Liebe der Götter werth zu ſein und ihr nachzugehen: warum ſollte ich mich ſchämen, mich ähnlich geliebt gewähnt zu haben? Nein, Fräulein Lydia! ich rechne es mir ſogar zur Ehre an, daß ich mich von Ihnen fan¬ gen ließ, daß ich eher an die einfache Liebe und Güte eines unbefangenen Gemüthes glaubte, bei ſo klaren und entſchiedenen Zeichen, als daß ich verdorbener Weiſe nichts als eine einfältige Ko¬ mödie dahinter gefürchtet. Denn einfältig iſt die Geſchichte! Welche Garantie haben Sie denn nun für Ihren Glauben an ſich ſelbſt, da Sie ſolche Mittel angewendet, um nur den ärmſten und unanſehnlichſten aller Feldwebel zu gewinnen, Sie, die ſchöne und vornehme engliſche Dame? «

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» Welche Garantie? « antwortete Lydia, die nun allmälig blaß und verlegen wurde, » ei! Ihre verliebte Neigung, zu deren Erklärung ich Sie endlich gezwungen habe! Sie werden mir doch nicht läugnen wollen, daß Sie hingeriſſen waren und mir ſo eben erzählten, wie ich Ihnen von jeher gefallen? Warum ließen Sie das in Ihrer Grobheit nicht ein klein Weniges merken, ſo wie es dem ſchlichteſten und anſpruchloſeſten Menſchen wohl anſteht, und wenn er ein Schafhirt wäre, ſo würde uns dieſe ganze Komödie, wie Sie es nennen, erſpart worden ſein und ich hätte mich begnügt! «

» Hätten Sie mich in meiner Ruhe gelaſſen, meine Schöne, « erwiederte ich, » ſo hätten Sie mehr gewonnen. Denn Sie ſcheinen zu vergeſſen, daß dies Wohlgefallen ſich jetzt nothwendig in ſein Gegentheil verkehren muß, zu meinen eigenen Schmerzen! «

» Hilft Ihnen nichts, « ſagte ſie, » ich weiß einmal, daß ich Ihnen wohlgefallen habe und mithin im Blute ſtecke! Ich habe Ihr Ge¬ ſtändniß angehört und bin meiner Eroberung ver¬ ſichert. Alles übrige iſt gleichgültig; ſo geht es88 zu, beſter Herr Pankrazius, und ſo werden die¬ jenigen beſtraft, die ſich vergehen im Reiche der Königin Schönheit! «

» Das heißt, « ſagte ich, » es ſcheint dies Reich eher einer Zigeunerbande zu gleichen. Wie kön¬ nen Sie eine Feder auf den Hut ſtecken, die Sie geſtohlen haben, wie eine gemeine Ladendiebin? gegen den Willen des Eigenthümers? «

Sie antwortete: » Auf dieſem Felde, beſter Herr Eigenthümer, gereicht der Diebſtahl der Diebin zum Ruhm, und Ihr Zorn beweiſt nur auf's Neue, wie gut ich Sie getroffen habe! «

So zankten wir noch eine gute halbe Stunde herum in dem ſüßen Orangenhaine, aber mit bittern harten Worten, und ich ſuchte vergeblich ihr begreiflich zu machen, wie dieſe abgeſtohlene und erſchlichene Liebesgeſchichte durchaus nicht den Werth für ſie haben könnte, den ſie ihr beilegte. Ich führte dieſen Beweis wahrlich nicht aus phi¬ liſterhafter Verletztheit und Grobheit, ſondern um irgend einen Funken vom Gefühl ihres Unrechtes und der Unſittlichkeit ihrer Handlungsweiſe in ihr zu erwecken. Aber umſonſt! Sie wollte nicht einſehen, daß eine rechte Gemüthsverfaſſung89 erſt dann in der vollen und rückhaltloſen Liebe aufflammt, wenn ſie Grund zur Hoffnung zu haben glaubt, und daß alſo dieſen Grund zu geben, ohne etwas zu fühlen, immer ein grober und unſittlicher Betrug bleibt, und um ſo gewiſſenloſer, als der Betrogene einfacher, ehrlicher und argloſer Art iſt. Immer kam ſie auf das Faktum meiner Lie¬ beserklärung zurück, und zwar warf ſie, die ſonſt ein ſo geſundes und ſchönes Urtheil hatte, die unſinnigſten, kleinlichſten und unanſtändigſten Re¬ den und Argumente durcheinander und that einen wahren Kindskopf kund. Während der ganzen Jahre unſeres Zuſammenſeins hatte ich nicht ſo viel mit ihr geſprochen, wie in dieſer letzten zän¬ kiſchen Stunde, und nun ſah ich, o gerechter Gott! daß es ein Weib war von einem groß angelegten Weſen, mit den Manieren, Bewe¬ gungen und Kennzeichen eines wirklich noblen und ſeltenen Weibes, und bei alledem mit dem Ge¬ hirn einer ganz gewöhnlichen Soubrette, wie ich ſie nachmalen zu Dutzenden geſehen habe auf den Vaudevilletheatern zu Paris! Während die¬ ſes Zankes aber verſchlang ich ſie dennoch fort¬ während mit den Augen und ihre unbegreifliche90 grundloſe, ſo perſönlich ſcheinende Schönheit quälte mein Herz in die Wette mit dem Wortwechſel, den wir führten. Als ſie aber zuletzt ganz ſinn¬ loſe und unverſchämte Dinge ſagte, rief ich, in bittere Thränen ausbrechend: » O Fräulein! Sie ſind ja der größte Eſel, den ich je geſehen habe! «

Sie ſchüttelte heftig die Wucht ihrer Locken und ſah bleich und erſtaunt zu mir auf, wobei ein wilder ſchiefer Zug um ihren ſonſt ſo ſchönen Mund ſchwebte. Es ſollte wohl ein höhniſches Lächeln ſein, ward aber zu einem Zeichen ſelt¬ ſamer Verlegenheit.

» Ja, « ſagte ich, mit den Fäuſten meine Thrä¬ nen zerreibend, » nur wir Männer können ſonſt Eſel ſein, dies iſt unſer Vorrecht, und wenn ich Sie auch ſo nenne, ſo iſt es noch eine Art Aus¬ zeichnung und Ehre für Sie. Wären Sie nur ein Bischen gewöhnlicher und geringer, ſo würde ich Sie einfach eine ſchlechte Gans ſchelten! «

Mit dieſen Worten wandte ich mich endlich von ihr ab und ging, ohne ferner nach ihr hin¬ zublicken, aber mit dem Gefühle, daß ich das, was mir jemals in meinem Leben von reinem91 Glück beſchieden ſein mochte, jetzt für immer hinter mir laſſe, und daß es jetzt vorbei wäre mit mei¬ ner artigen Frömmigkeit in der Liebe.

» Das haſt du nun von deinem unglückſeligen Schmollweſen! « ſagte ich zu mir ſelbſt, » hätteſt du von Anbeginn zuweilen nur halb ſo lange mit ihr freundlich geſprochen, ſo hätte es dir nicht verborgen bleiben können, weß Geiſtes Kind ſie iſt, und du hätteſt dich nicht ſo gröblich getäuſcht! Fahr hin und zerfließe denn, du ſchönes Luft¬ ſchloß! «

Als ich mich nun mit zerriſſenen Gedanken vom Gouverneur verabſchiedete, ſah mich derſelbe vergnüglich und verſchmitzt an und blinzelte ſpöt¬ tiſch mit den Augen. Ich merkte, daß er mir meine Affaire anſah, überhaupt dieſelbe von jeher beobachtet hatte und eine Art von ſchadenfrohem Spaß daran empfand. Da er ſonſt ein ganz biederer und honetter Mann war, ſo konnte das nichts anderes ſein, als die einfältige Freude aller Philiſter an grauſamen und ſchlechten Bra¬ tenſpäßen. Im vorigen Jahrhundert beluſtigten ſich große Herren daran, ihre Narren, Zwerge und ſonſtigen Untergebenen betrunken zu machen92 und dann mit Waſſer zu begießen oder körperlich zu mißhandeln. Heutzutage wird dies bei den Gebildeten nicht mehr beliebt; dagegen unterhält man ſich mit Vorliebe damit, allerlei feine Ver¬ wirrungen anzuzetteln, und je weniger ſolche Phi¬ liſterſeelen ſelber einer flotten und gründlichen Leidenſchaft fähig ſind, deſto mehr fühlen ſie das Bedürfniß, dergleichen mit mehr oder weniger plumpen Mitteln in denen zu erwecken, die dazu tauglich ſind, in ſolche herzlos aufgeſtellten Mäuſe¬ fallen zu gerathen. Wenn nun der Gouverneur ſeinerſeits es nicht verſchmähte, ſeine eigene Toch¬ ter als ſolche Mäuſefalle zu verwenden, ſo war hiegegen nichts weiter zu ſagen, und ich nahm, obſchon noch ein guter Gepäckwagen abfuhr, eigen¬ ſinnig meinen ſchweren Torniſter und die Mus¬ quete auf den Rücken und führte einen zurück¬ gebliebenen Trupp in die Nacht hinaus dem Re¬ gimente nach, das ſchon in der Frühe abmar¬ ſchirt war. «

» Ich ſah mich nach einem mühſeligen und heißen Marſch nun in eine neue Welt verſetzt, als die Kampagne eröffnet war und die Truppen der oſtindiſchen Kompagnie ſich mit den wilden93 Bergſtämmen an der äußerſten Grenze des indo¬ brittiſchen Reiches herumſchlugen. Einzelne Kom¬ pagnieen unſers Regimentes waren fortwährend vorgeſchoben; eines Tages aber wurde die mei¬ nige ſo mörderlich umzingelt, daß wir uns mit¬ ten in einem Knäuel von banditenähnlichen Rei¬ tern, Elephanten und ſonderbaren bemalten und vergoldeten Wagen befanden, auf denen ſtille ſchöne hindoſtaniſche Scheinfürſten ſaßen, von den wilden Häuptlingen als Puppen mitgeführt. Un¬ ſere ſämmtlichen Offiziere fielen an dieſem Tage und die Kompagnie ſchmolz auf ein Drittel zu¬ ſammen. Da ich mich ordentlich hielt und einige Dienſte leiſtete, ſo erlangte ich das Patent des erſten Lieutenants der Kompagnie und nach Be¬ endigung des Feldzuges war ich deren Kapitän. «

» Als ſolcher hielt ich mit etwa hundert und funfzig Mann zwei Jahre lang einen kleinen Grenzbezirk beſetzt, welcher zur Arrondirung un¬ ſers Gebietes erobert worden, und war während dieſer Zeit der oberſte Machthaber in dieſer heid¬ niſchen Wildniß. Ich war nun ſo einſam, als ich je in meinem Leben geweſen, mißtrauiſch gegen alle Welt und ziemlich ſtreng in meinem Ge¬94 ſchäftsverkehr, ohne gerade böſe oder ungerecht zu ſein. Meine Hauptthätigkeit beſtand darin, chriſtliche Polizei einzuführen und unſern Reli¬ gionsleuten nachdrücklichen Schutz zu