Keiner Puppe, ſondern nur Einer ſchönen Kunſtfigur weihe ich dieſes Paradieschen, dieſe Rarität, dieſe Kunſt, dieſe verſpäteten Schmetterlinge, dieſes Adonisgärtchen, dieſes Mährchen;
Sie halte ihnen den Daumen, friſte ihnen das Leben, laße ſie welken und ſterben auf kindlichen Händen.
Liebſtes Großmuͤtterchen! Nimm nur Gockel, Hinkel und Gacke¬ leia freundlich bei dir auf. Demuͤthig all dein Lebtage verlaͤugneteſt du immer nur dich, nimmer aber mich, und ſo mag der Alektryo munter zwiſchen uns kraͤhen, ohne uns zu erſchrecken. Auch jetzt brauchſt du dich meiner nicht zu ſchaͤmen, denn erſt am Schluße dieſer hoͤchſt wahrhaften Geſchichte, als ſie ſelbſt zu einem Maͤhr¬ chen und alle darin verwickelten hohen und niedern Standesper¬ ſonen zn Kindern geworden, lege ich dir die ganze Beſcherung maͤhrchenhaft zu Fuͤßen, und kannſt du mich mit gutem Gewiſſen fuͤr dein Enkelchen halten. — Wie oft haſt du uns Kindern den Chriſtbaum geſchmuͤckt und mit Lichtern erleuchtet, und mit derIVHerzliche Zueignung. Schelle klingelnd, die Thore des verlornen Paradiesgaͤrtchens er¬ oͤffnet, daß wir unſchuldige Fruͤchte vom Baume des Lebens pfluͤck¬ ten. Nicht aus mir, ſondern nur aus Achtung vor den ehrwuͤrdigen Leuten, die aus ihren Urſachen die Welt verkehrt nennen, habe ich den Nuͤrnberger Bilderbogen von der verkehrten Welt genauer ſtudirt, und, um eine hoͤchſt wichtige Luͤcke in ihm zu ergaͤnzen, das feierliche Amt eines Enkels uͤbernommen, der ſeiner Großmutter ein Maͤhr¬ chen beſchert. — Vor Allem aber zuͤrne mir nicht, wenn du das Meiſte in dieſem Maͤhrchen als das Deine wieder erkenneſt; ach Gro߬ muͤtterchen! wo ſollte ich dann alle die artigen Verkleidungen und ſieben Saͤchelchen, die ganze Garderobe der Puppe — nein der nur allerſchoͤnſten Kunſtfigur her haben, als aus dem reizenden Glas¬ ſchraͤnkchen in deiner Stube, in dem alle die Alter - und Neuer¬ thuͤmer der Orden des Oſtereis, der Taͤndelei, der Kinderei und der freudigen frommen Kinder aus Gelnhauſen, Gockelsruh und Henne¬ gau und die heiligen Reichskleinodien des Laͤndchens Vadutz, wenn ich mich nicht irre, aufbewahrt ſind? — woher ſollte ich alle die kurioſen Kraͤuter und Blumen, alle die Hahnen - und Huͤnerpflanzen und das ganze Marienkloſtergaͤrtchen denn haben, als aus deinen botaniſchen Vorrathskammern und Trockenanſtalten zur Bekraͤnzung des menſch lichen Lebens? — ja du Kraͤnzewinderin, Kronenbinderin, Straͤußerkraͤus¬ lerin, aus deinen vielen getrockneten Blumenſammlungen habe ich geſtohlen, und von dir habe ich gelernt, mit jener Anhaͤnglichkeit, die aus dem Herzen des Lebensbaumes quillt, dieſe Blumen dir zur Er¬ heiterung um ein Maͤhrchen herum zu befeſtigen, wie du ſie deinen Freunden mit jenem Gummi, das aus der Rinde der arabiſchen Acacia vera quillt, um artige Bilder und Reime in ſchoͤner Anord¬ nung auf Papier zu heften pflegſt. Aus deiner großen Gallerie aus¬ geſchnittener Bildchen habe ich den groͤßten Theil der artigen Figuͤr¬ chen, welche ich hier, gleich dir, in ſcherz und ernſthafter Combina¬ tion zu einem Bilderbuche zuſammengeklebt habe, und zwar von dir fuͤr dich. Ach! wenn ich ſo recht in der Arbeit war, ſah ich oft nach der Gegend von Gockelsruh hin und dachte, dort herum ſitzt jetzt vielleicht auch ſchon das Großmuͤtterchen und klebt mir und den an¬ dern Kindern mit großer Geduld ein Bilderbuch zur Beſchauung zu¬ ſammen. — Wenn du alles das Deine nicht gleich wieder erkennſt, ſo mußt du bedenken, daß große Leute nicht mit den Fingern auf die kleinen Großmuͤtter deuten duͤrfen, und daß ich erſt am SchlußeVHerzliche Zueignung. des Maͤhrchens ein Kind geworden bin, um in dieſer Zueignung mit der Wahrheit herausplatzen zu duͤrfen. In vielen Zuͤgen jedoch wirſt du dich gewiß gern wiederfinden, z. B. in allen den Fahnen bei dem Leichenzuge des armen Kindes von Hennegau; denn ich ſelbſt habe ja ſchon ſolche Fahnen aus deinen Haͤnden den Armen gegeben. Auch der Name und Orden des armen Kindes von Hennegau muß deinem Herzen nahe liegen, denn liebes Großmuͤtterchen, wir ſind wohl beide arme Kinder, wenn gleich nicht von Hennegau. Die Ortsnamen wirſt du uͤberhaupt nicht zu ſtrenge nehmen, denn du weißt, daß alle hoͤchſt wichtigen, oder gar nothwendigen Begebenheiten, Gott ſey Dank, uͤberall geſchehen ſind. Du fragſt mich, was mich meine leibliche Großmutter oft gefragt: „ woher haſt du nur alle das wunderliche Zeug? “— ich antworte: „ ach, es iſt nicht weit her! “— die Grund¬ lage von dem Hahn und dem Ring hoͤrte ich als Knabe von einem waͤlſchen Chocolatemacher kraͤhend erzaͤhlen. — Gelnhauſen praͤgte ſich mir in der Jugend durch den Zettel an einer Bude mit Wachsfiguren ein, welcher lautete: „ wahrhafte Abbildung der beiden Gebruͤder Vatermoͤrder von Gelnhauſen “— als ſey dies eine Handlungsfirma. Spaͤter ein Mal durch dieſe Stadt fahrend, glaubte ich beſonders viele Baͤcker und Fleiſcherladen dort zu ſehen; waͤre aber dieſes nur ein Spiel der Phantaſie geweſen, ſo mahnt mich doch heut eine Fuͤgung, allen Lohn, den mir Gockel je zu Tage ſcharren wird, nach Gelnhauſen zu wenden. — In das Land Hennegau bin ich durch Gockel und Hinkel gerathen; das Laͤndchen Vadutz aber habe ich von Jugend auf ſeines kurioſen Namens wegen gar lieb ge¬ habt, ohne doch je zu wiſſen, wo es eigentlich liegt; ich habe auch nie darnach gefragt, um nicht aus einem jener Traͤume zu kommen, welche die Pillen der ſogenannten Wirklichkeit vergolden. Vadutz iſt mir noch jetzt das Land aller Schaͤtze, Geheimniſſe und Kleinodien und dort iſt mir das Thule, wo der Koͤnig den liebſten Be¬ cher, ehe er ſtarb, in die Fluth hinab geworfen. Da ich als ein Knabe in dem Comtoir den gelehrten Rabbi Gedalia Schnapper mit dem unvergleichlichen Abarbanel Meyer auf Tod und Leben, ſo daß man mehrmals Waſſer auf ſie gießen mußte, um ſie auseinan¬ der zu bringen, uͤber die Lage eines wunderbaren Landes disputiren hoͤrte, welches der Fluß Sabbathion umfließt, der die ganze Woche ein unzugaͤngliches Steinmeer iſt und nur am Sabbath ſeine Wogen bewegt, floh ich auf den Speicher in die Einſiedelei eines leeren Zu¬VIHerzliche Zueignung. ckerfaſſes und beweinte die Blindheit der Menſchen, welche nicht fuͤhl¬ ten, daß jenes Land nothwendig das Laͤndchen Vadutz ſeyn muͤſſe. Alle Wundergebirge der Geſchichte, Fabel - und Maͤhrchenwelt, Him¬ melaya, Meru, Albordi, Kaf, Ida, Olymp und der glaͤſerne Berg lagen mir im Laͤndchen Vadutz. Alle ſeltſamen, merkwuͤrdigen und artigen Dinge von den Reichskleinodien bis zum Nuͤrnberger Guck¬ glaͤschen à 4 kr., in dem Erbſen, Goldblaͤttchen und blauer Streu¬ ſand unter einem Vergroͤßerungsglas geſchuͤttelt, alle Schaͤtze der Welt darſtellen, ſchienen mir aus Vadutz zu ſeyn. In der ſogenannten Schachtelkammer des Hauſes voll abentheuerlichen Geruͤmpels war mir das Archiv von Vadutz, ja das goldne Zeichen uͤber unſerem Haus¬ thor ſelbſt ſchien mir aus dieſem gelobten Laͤndchen, als es in wirrer Zeit den Kopf verloren, zu uns emigrirt. Auf der Gallerie aber, einem ſchon vornehmeren Bewahrungsraum, war mir die Schatz - und Kunſtkammer. Hier war das Arſenal verfloſſener Chriſtfeſte, hier wurden die Dekorationen und Maſchinerien der Weihnachtskrip¬ pen bewahrt; hier ſtand eine Prozeſſion allerliebſter kleiner Wachs¬ puͤppchen, alle geiſtlichen Staͤnde, alle Moͤnche und Nonnen vom Pabſte bis zum Eremiten, nach der Wirklichkeit gekleidet, und gleich neben ihnen das Modell eines Kriegsſchiffes. O Schatzkammer von Vadutz, was botſt du Alles dar? Vor allem aber entzuͤckte mich ein kunſtreicher Beſatz von den Braut - und Feſtkleidern meiner Großmut¬ ter. Nie kann ich die Bauſchen und Puffen von Seide und Spitzen vergeſſen, gleich Berg und Thal eines Feenlandes, gleich den Zau¬ bergaͤrten der Armida von den Gewinden feiner, allerliebſter, bun¬ ter Seidenbluͤmchen labirinthiſch durchirrt. — Ich will dir es nur ge¬ ſtehen, liebes Großmuͤtterchen, oft, wenn ich ſo gluͤcklich war, den Gallerieſchluͤſſel zu erwiſchen, ſtellte ich mich krank, um Sonntags nicht mit den Eltern nach Gockelsruh oder auf die ſtille Muͤhle fah¬ ren zu muͤſſen, und ſperrte mich dann, wenn alle andern weg waren, zwiſchen dieſen Herrlichkeiten ein. Das Kriegsſchiff war mir zu hoͤl¬ zern, klapperig und wirr mit den vielen Stricken, Flaſchenzuͤgen und Segeln, und man konnte auch nicht zu dem Kapitaͤn in die Kajuͤte hinein, man ſah ihn nur durch ein Fenſterchen am Tiſch vor einer Landkarte und dem Kompaß unbeweglich ſitzen. Ich konnte nichts mit dem Schiffe anfangen, es war kein Waſſer da; — die Prozeſſion der geiſtlichen Wachspuͤppchen war ſo delikat und zerbrechlich, daß ich ſie kaum anzuſchauen wagte; waͤre ſie von buntem Zuckerwerke gewe¬VIIHerzliche Zueignung. ſen, ſo waͤre ſie vielleicht Gefahr gelaufen, durch meinen Geſchmack zu erbleichen, aber in ihrer jetzigen Beſchaffenheit ſtand ſie unter den Kanonen des Kriegsſchiffes ſicher vor mir. — Jene biegſamen, un¬ zerbrechlichen Zaubergaͤrten von Seidendrathbluͤmchen aber, welche ich hoͤchſtens ein wenig zerbog, legte ich um mich her, und ſaß da¬ zwiſchen, die drei Pomeranzen, das gruͤne Voͤgelchen, das tanzende Waſſer von Gozzi leſend, und glaubte mich ſelbſt einen verſchaͤferten Prinzen, der voll Sehnſucht ſeine Laͤmmer in den Thaͤlern dieſes Paradieſes weidete und nach Erloͤſung ſeufzte. Ich glaubte mich dann mit dieſen Zaubergaͤrten mitten in Vadutz, wo mir das Paradies, wie Lindaraxas Gaͤrtchen mitten in dem Alhambra eingeſchloſſen lag. — Da lebte ich eine Maͤhrchenwelt, die uͤber der Wirklichkeit, wie ein Sternhimmel uͤber einer Froſchpfuͤtze lag. Man nannte dieſe ungemein artigen Blumenverzierungen mit vollem Recht agréments, Anmuthigkeiten, Lieblichkeiten. Als man dieſe Anmuthigkeiten nicht mehr trug, benuͤtzte man ihre Ueberbleibſel, kleine Heiligen-Bilder oder Wachskindchen damit zu umgeben, und nannte dieſe unter einem Glaſe bewahrt, Paradieschen, welche die Kinder mit großer Luſt betrach¬ teten, ſich feſt einbildend, Adam und Eva ſeyen einſt mit allen Geſchoͤpfen in ſolcher Herrlichkeit herumſpaziert. Weil nun jeder Menſch wohl fuͤhlt, daß er das Paradies verloren hat, und ſich da¬ her irgend ein Surrogat erſchaffen, ſich mit irgend einem Schmuck, einer Krone u. dgl. verkleiden, verſchoͤnern moͤchte, machten ſich von je die Toͤchter der Menſchen, naiv genug, ſolche kleine Gaͤrten aus ver¬ gaͤnglichen Dingen, wozu aller Putz der Frauen und die kleinen Ado¬ nisgaͤrtchen gehoͤren, die bei dem Adonisfeſte um Sonnenwende prun¬ kend umher getragen und dann in den Strom geworfen wurden; ſo auch machen ſich gern die Kinder aus dergleichen Ueberreſten von Flittern irgend eine glitzernde Zuſammenſtellung unter einem Stuͤck¬ chen Glas, hinter einem Thuͤrchen von Papier, und zeigen ein¬ ander fuͤr eine Stecknadel dieſe Herrlichkeit. — Als ich ſpaͤter in Geſchaͤften der Akademie der Menſchenkenner eine große Reiſe mit dem gelehrten Wunderkind Monſieur Heinicke machte, theils um dem verlornen Paradies, theils um allen Raritaͤten und der Kunſt auf die Spur zu kommen, war das Reſultat unſers Reiſeberichts: „ Einige bunte Seidefloͤckchen mit Goldfaͤdchen, Flittern und andern Agre¬ ments mehr oder weniger fantaſtiſch verwirrt und hinter einem Qua¬ dratzoll weißen Glaſes auf Papier platt gedruͤckt, und das AllesVIIIHerzliche Zueignung. mit einem Thuͤrchen bedeckt, ließen uns an vielen Orten die Kinder um den Preis einer Stecknadel ſehen, weswegen wir der Akademie 12 kr. fuͤr einen Brief Stecknadeln berechnen. Ueberall war es ei¬ gentlich dasſelbe; mir ſchien uns merkwuͤrdig, daß in Koͤln ein Hei¬ ligenbildchen darin war und man es ein Paradies nannte, daß in Nuͤrnberg ein Spielpfennig darin war und man es eine Raritaͤt nannte, daß in Berlin ein Bischen Rauchpulver darin war und man es eine Kunſt nannte. Ueberall aber koſtete es nur eine Stecknadel. “
Laͤngere Zeit hielt ich mich und eine meiner Schweſtern fuͤr die privatiſirenden Beſitzer von Vadutz, und wir erzaͤhlten uns jeden Morgen die Tugenden, welche wir in den Traͤumen der letz¬ ten Nacht an Land und Leuten inkognito ausgeuͤbt hatten. Unſere Ver¬ dienſte haͤuften ſich dermaßen, daß wir ſie in Bataillone einthei¬ len und außer den Revuen in den Feldbau entlaſſen mußten. Es reicht hin, wenn ich ſage, daß wir die Akazienbaͤume, den Erd¬ mandel-Caffee, den Schluͤſſelblumen-Champagner, die Uebung des Koͤrpers durch Tanzen fuͤr alle drei chriſtlichen Religionspartheien, das Gichtpapier, die Toleranzpomade, die Beruhigungs-Schawls à 2 fl. 24 kr., die Kaͤppchen aus Freundſchaft à 12 kr. die Kuhpo¬ cken, die Kunſt ein guter Juͤngling, ein edles Maͤdchen zu werden, und Eliſe, das Weib, wie es ſeyn ſoll, und Alles, wie es ſeyn ſoll und nie ſeyn wird, und die waſſerdichten Lobzettel in Vadutz einfuͤhrten. Unſere Geldſorten ſchnitten wir aus Goldpapier. Unſre Gnadenge¬ ſchenke beſtanden aus Abſchnitten von Zuckerpapier, welches noch die Fußtapfen der darauf gebackenen Bisquits trug. — So machten wir Alles und vor Allem uns hoͤchſt gluͤcklich. — Da nun eine Kaiſer¬ kroͤnung nahte und oft von den Reichskleinodien und allerlei Beleh¬ nungen geſprochen wurde, dachten wir uns auch Reichskleinodien von Vadutz aus. Wir regierten inkognito, die Kleinodien mußten alſo verſteckt getragen werden. Nie hatte ich etwas blinkenderes geſehen, als die Epaulets eines ungariſchen Magnaten, und ſo verfertigte ich dann aus Goldpapier und allerlei Flittern Achſelbaͤnder, als die Reichskleinodien von Vadutz, die ich verſteckt unter meiner Weſte tragen konnte. Da nun alle Reichskleinodien eine ſehr alte Geſchichte haben, und ich keine aͤltere Geſchichte von Kleinodien wußte, als daß Abrahams Knecht der Rebecka Armringe angelegt, ſo ließ ich die Reichskleinodien von Vadutz, die Schulterbaͤnder der Rebecka ſeyn; und weil die aͤltern Geſchwiſter, wenn ich mich bei dem Bilder-An¬IXHerzliche Zueignung. ſchauen ihnen uͤber die Schultern lehnte, mehrmals geſagt: „ du meinſt wohl, du ſeyſt der Kaiſer, daß du mich belehnen willſt? “ſo nannte ich auch dieſe Schulterbaͤnder die Lehnskleinode von Vadutz. — Aber kein Gluͤck beſteht auf Erden! — und jetzt, liebes Groͤßmuͤtterchen, iſt endlich die Zeit gekommen, da ich dich mit dem Urſprung vieler Thraͤnen bekannt machen kann, welche ich aller Welt zum Raͤthſel ver¬ goſſen habe. — Ich traͤumeriſcher Knabe hielt mich bei der Kaiſer¬ kroͤnung fuͤr nichts mehr und nichts weniger, als den verkannten pri¬ vatiſirenden Regenten von Vadutz, und wuͤrde es nach jener groͤßten Ungerechtigkeit, daß der Hauptmann von Capernaum noch immer nicht Major geworden iſt, fuͤr die allergroͤßte gehalten haben, wenn beim Ritterſchlag nach der Frage: „ iſt kein Dalberg da? “nicht die Frage gefolgt ſeyn wuͤrde: „ iſt kein edler Dynaſt von Vadutz da, daß er das Lehnskleinod auf ſeine Schultern empfange? “— So ſtanden meine Hoffnungen, als nun am Vorabende ihrer Erfuͤllung mich ein alter Diener des Hauſes, Herr Schwab, der Buchhalter, an deſſen Originalitaͤts-Staketen alle Reben, Geisblatt - und Boh¬ nenlauben unſrer Fantaſie hinan gerankt waren, enttaͤuſchte. Dieſer ſeltne Mann ſetzte dem goldnen Kopf bald die Amalia, bald die Lie¬ ſel (ſo hießen ſeine zwei Haarbeutelperuͤcken) uͤber die Friſuren, á la Tau¬ benfluͤgel, Ninon, Sevigné, Rhinozeros, Elephant, Caglioſtro, Montgol¬ fier, Heloiſe, Siegwart, Werther, Titus, Caracalla und Incroyable, ohne irgend eine dieſer Pantomimen der Zeit, welche dem goldnen Kopf zugleich durch die Haare fuhren, zu ſtoͤren. Er beugte ſich wie der immer bluͤhende und fruchtende Chriſtbaum einer derben ſachlichen Vorzeit uͤber einen gaͤhnenden Abgrund und uͤber den von Seufzern zerriſſenen Zaun der Gegenwart bis zu der ſehnſuͤchtigen Jasmin¬ laube der Pfarrerstochter von Taubenheim hin, welche beſchaͤftigt war, den kaum verbleichten himmelblauen Frack Werthers und deſ¬ ſen ſtrohgelbe Beinkleider auf dem Grabe Siegwarts gegen Mot¬ tenfraß auszuklopfen und abwechſelnd den bei der Urne ſeiner Ge¬ liebten verfrorenen Kapuziner nach den Methoden des Miltenberger Noth - und Hilfbuͤchleins auf zu thauen, waͤhrend Karl Moor ſeine bleichgehaͤrmte Wange an einen Aſchenkrug lehnend ihr Mathiſons Elegie in den Ruinen eines alten Bergſchloſſes vorlas und ſeitwaͤrts ein Verbrecher aus Ehrſucht mit Lida Hand in Hand im Monden¬ ſchimmer am Unkenteich Irrlichter weidete und nimmer vergaß, was er alda empfand. — Ein ſo großes Stuͤck von der Geſchichtskarte**XHerzliche Zueignung. der Phantaſie umfaßte jener Herr Schwab, daß ich wohl ſagen kam: in den Zweigen dieſes Baumes plauderten noch die Legenden, Ge¬ penſtergeſchichten und Maͤhrchen in naͤchtlicher Rockenſtube, als ſchon Lenore ums Morgenroth aus ſchweren Traͤumen emporfuhr; — in ſeinen Zweigen hielten noch die aſiatiſchen Baniſen, die Simpliziſſimi, die Aventuͤriers, die Felſenbuͤrger, die Robinſonen, die Seeraͤuber, die Cartouche, die Finanziers und deren Jude, Suͤß Oppenheimer, Ge¬ ſpraͤche im Reich der Todten bis tief in die Sternennacht, da unter ſeinem Schatten Goͤtz von Berlichingen nebſt Suite vereint mit Schil¬ lers Raͤubern der Zukunft bereits auf den Dienſt lauerten, und dicht neben dieſen die heilige Vehme und alle geheimen Ordensritter bis zur Dya-Na-Sore Loge hielten. Es ward ein kunterbunter Polterabend der alten und neuen Zeit unter dieſem Baume gefeiert, da wetteiferte Theophraſtus Bombaſtus Paracelſus mit Caglioſtro in Theriack und Lebensaͤther, da lehrten Chriſtian Weiſens drei Erznarren den Natur¬ menſchen Baſedows Latein aus dem Orbis pictus Comenii, da ſperrte der hoͤfliche Schuͤler den Magiſter Philotecknos in das Ma¬ gasin des enfans der Frau von Beaumont, bis er Knigges Um¬ gang mit Menſchen auswendig konnte; da deklamirte Pater Cochem aus Eckartshauſens „ Gott iſt die reinſte Liebe “und meditirte der Letztere aus des Erſten vier letzten Dingen, da that Siegfried von Lindenberg die genealogiſche Frage „ was thuen die Fuͤrſten von Ho¬ henloh? “und antwortete Huͤbner: „ ſie theilen ſich in drei Linien. “— Da las Eulenſpiegel die Correkturbogen der neuen Heloiſe und ſang Donquixote: „ Freude ſchoͤner Goͤtterfunken, “und endlich — hier tanzte der Reifrock mit der chemise grecque den Cotillon auf der Hochzeit des Kehrauſes bei einem umfaſſenden Orcheſter von der alten Laute Scheidlers, der Glasharmonicka und Harfe der blinden Jungfer Pa¬ radies, einigen Maultrommeln, Papagenopfeifen und modernen Gui¬ tarren. — Ja um den Paradeplatz aller Leiſtungen unter dem Kom¬ mando des Herrn Schwab zu umſpannen, reichte kaum das Geſpinnſt der alten Baſe Cordula zu, deren reiner Faden doch von dem Tauf¬ hemde der Fraͤulein von Sternheim bis zur Jakobinermuͤze um die Spule gelaufen war. — Dieſer Janus, dieſer Proteus, dieſer Cen¬ taur von Scherz und Ernſt, dieſer mir ewig theure Herr Schwab alſo ſtellte mich bei der Kaiſer Kroͤnung ſehr ernſthaft zur Rede und ermahnte mich, im Stillen meine Anſpruͤche auf das Laͤnd¬ chen Vadutz fallen und Gras uͤber dieſe kahlen Phantaſien wach¬XIHerzliche Zueignung. ſen zu laſſen, wenn ich nicht wolle auf die Mehlwage geſetzt wer¬ den, denn unter den vielen bei der Kroͤnung anweſenden Potentaten ſey auch ein Fuͤrſt Lichtenſtein, und dieſer ſey der wahre Beſitzer des Laͤndchens Vadutz, welches nebſt der Herrſchaft Schellenberg ſeit 1719 das Fuͤrſtenthum Lichtenſtein ausmache. Er ermahne mich im Guten meine ſeltſamen Praͤtenſionen aufzugeben, denn das Fuͤrſtenthum muͤße jaͤhrlich einen Reichsmatrikularanſchlag von 19 fl. und 18 Rthl. 60 kr. zu einem Kammerziele bezahlen, da werde es um ſo ſchlechter mit meiner Sparbuͤchſe ausſehen, als ich ihm ja ohnedies noch 6 kr. Briefporto ſchuldig ſey. — Da dieſe Ermahnungen mich noch immer nicht zu einem ſchoͤnen Bilde der Reſignation machen konnten, mußte mir der groͤßte Geograph der Familie, den Artikel Vadutz aus Huͤb - ners Zeitungslexikon vorleſen, wo Alles Obige gedruckt ſtand; wo¬ bei es mich am tiefſten kraͤnkte, die Lage meiner Laͤndereien ſo veroͤf¬ fentlicht zu hoͤren. — Mir war, als einem, dem das Paradies und das Butterbrod mit der fetten Seite auf die Erde gefallen ſind. — Aber ich erkannte Alles nicht an — ich hielt mich zaͤh und kraus und erwiederte: „ das Papier iſt geduldig und laͤßt viel auf ſich drucken, was darum doch nicht wahr iſt. “— Meine Hartnaͤckigkeit machte den Geographen ſehr bedenklich, ſo daß er mir im Katechismus zeigte, der anerkannten Wahrheit hartnaͤckig zu wiederſtreben, ſey eine unverzeihliche Suͤnde. Das machte mich ſehr wirr, und ich war lange Zeit gar traurig, als habe ſich das Paradies in meinen Haͤn¬ den in ein goldenes Wart ein Weilchen und ein ſilbernes Nichtschen in einem niemaligen Buͤchschen verwandelt. — Da man mich nun oft mit dem Verluſt von Vadutz aufzog, und es mir ſogar unter den verlornen Sachen im Wochenblaͤttchen vorlas, ſagte die Hausfreun¬ din, die Frau Rath mir mitleidig ins Ohr: „ Laß dich nicht irr machen, glaub du mir, dein Vadutz iſt dein und liegt auf keiner Landkarte, und alle Frankfurter Stadtſoldaten und ſelbſt die Geleitsreiter mit dem Antichriſt an der Spitze koͤnnen dir es nicht wegnehmen; es liegt, wo dein Geiſt, dein Herz auf die Weide geht;
Dein Reich iſt in den Wolken und nicht von dieſer Erde, und ſo oft es ſich mit derſelben beruͤhrt, wird's Thraͤnen regnen. — Ich wuͤnſche einen geſegneten Regenbogen. Bis dahin baue deine Feen¬XIIHerzliche Zueignung. ſchloͤſſer nicht auf die ſchimmernden Hoͤhen unter den Gletſchern, denn die Lavinen werden ſie verſchuͤtten, nicht auf die wandelbaren Herzen der Menſchen unter den Klaͤtſchern, denn die Launen werden ſie ver¬ wuͤſten, nein, baue ſie auf die gefluͤgelten Schultern der Phantaſie. “— So war mir nun von meiner Herrſchaft in Vadutz nichts geblieben, als die Reichskleinodien auf den Schultern der Fantaſie, die mir wie Links und Rechts, bald Friede und Freude gaben, als ſey ich gluͤck¬ lich wie Salomo, bald ſo viel Kummer und Hunger, daß ich den Ugolino beneidete. — Endlich aber degradirte ſich die Phantaſie ſelbſt; weil ich ihr den Abſchied nicht geben wollte, riß ſie ſich die Epaulets vor der Fronte der Philiſter ſelbſt von den Schultern und warf ſie mir und ſo mit mich ſich vor die Fuͤße, nahm achſelzuckend all das Meine auf die leichte Achſel und kehrte mir den Ruͤcken, ohne gute Nacht, noch Abſchied zu geben oder zu nehmen. — Wer den Scha¬ den hat, darf fuͤr den Spott nicht ſorgen. — Da war es ganz um mein Reich geſchehen, und meine Trauer zappelte an Widerhacken. So iſt die Erfindung der Achſelbaͤnder von Vadutz entſtanden. — Als ich und meine Betruͤbniß ſo herangewachſen, daß die Frau Rath uns nicht mehr Du, ſondern Er nannte, ſagte ſie einſtens: „ wenn ich Ihn anſehe, geht mir es ſchier, wie jenem alten General, der ſah einmal einen hoͤchſt kummervollen Menſchen in den Schloßhof hereinſchleichen und als deſſen elendes Ausſehen ſein ſtarkes Herz ruͤhrte, zeigte er einem Be¬ dienten den Armen und ſprach; „ pruͤgle er mir den Menſchen dort vom Hofe hinweg, denn der Kerl erbarmt mich. “— Steht es denn ſo gar ſchlecht mit ſeinen Laͤndereien, Er ſieht ja drein, als ſey der Scepter von Juda gewichen und der Herrſcher von ſeinen Lenden. — Komme Er heute Abend mit mir, es ſoll Ihm das ſchoͤnſte Spektakel gezeigt werden, das je in Vadutz aufs Tapet gekommen iſt. “— Ich gieng mit und ich ſah etwas ganz Allerliebſtes, nehmlich, ein kleiner Harlekin kroch aus einem Ei und machte die zierlichſten Spruͤnge. „ Nicht wahr, “ſprach ſie, „ das thut ſeinen Effekt? “— Ich bejahte es, und ſchrieb nachher ein paar tauſend ernſthafter Verſe uͤber dieſe Begebenheit, die du auch kennſt. — „ Nu, “ſagte ſie, „ iſt Ihm das nicht eine ſaubere Beſcherung? “— „ Allerdings, “erwiederte ich, „ aber ſie iſt mir nicht beſchert, mir gebuͤhrt ein Steckenpferd, keine Puppe. “— Da ſprach die Frau Rath: „ er¬ ſtens iſt es auch keine Puppe, ſondern nur eine ſchoͤne Kunſtfigur, und wenn Er dann ſo gewiß meint, daß ſie Ihm nicht gebuͤhre, ſoXIIIHerzliche Zueignung. huͤte Er ſich vor allen Kunſtfiguren, denn ſie ſollen ihm als Ruthen beſchert werden, das prophezeihe ich Ihm. “— Sieh, liebes Gro߬ muͤtterchen, da haſt du nun auch die Quelle des ſo oft im Maͤhrchen wiederkehrenden Reims: „ Keine Puppe, ſondern nur eine ſchoͤne Kunſt¬ figur. “— Als ich der Frau Rath ſagte: „ Wenn der Oſterhaas ſol¬ che Eier legen wuͤrde, moͤchten die Haſen und die Eier gewaltig im Preiſe ſteigen, “erwiederte ſie: „ ja und wenn man mit den Eiern kippte, wuͤrde man behutſamer ſeyn, um dem Harlekin nicht ein Loch in das allerliebſte Koͤpfchen zu ſtoßen. Haͤtte nur Wolfgang dieſen Harlekin im Ei gekannt, was haͤtte der fuͤr ſchoͤne Maͤhrchen von ihm erzaͤhlt, denn, wenn er ſeine Kameraden am Oſterfeſt die Oſter¬ eier im Garten ſuchen ließ, bewirthete er ſie immer mit einem ganzen Eierkuchen von Maͤhrchen aus dem großen Weltei, das uͤber dem Bruͤten zerbrochen, ſo daß aus dem obern Theil der Schale der Himmel, aus dem untern die Erde entſtanden iſt. “— Hiemit weißt du nun auch, wie die vielen Eierhaͤndel und Eierorden in das Maͤhr¬ chen kommen, das iſt Alles mit dem Harlekin aus dem Weltei ge¬ krochen. — Danke du Gott, daß in der inkompleten Encyklopaͤdie von Kruͤnitz, welche ich aus der Verlaſſenſchaft des erlauchten Sala¬ thiel Salaboni, genannt Picktus, Salzgraf von Orbis erſtanden habe, unter andern acht und fuͤnfzig Baͤnden, auch der eilfte und alſo der Artikel Ei fehlt, ſonſt wuͤrde ich dir noch weit mehr Eierſpeiſen vorgeſetzt haben; — und ſomit habe ich dir auch eingeſtanden, woher ich meiſt Alles habe, was dieſes Maͤhrchen ſo langweilig macht, nehmlich aus Kruͤnitz Encyklopaͤdie, und wer es nicht darin findet, bedenke doch nur, daß alle Exemplare inkomplett ſind. — Vergebens wirſt du dich, auſſer in Schott¬ land, nach der großen breiten Schottlaͤnderin umſehen, welche am Schluße einen ſo derben Schatten uͤber alle die Artigkeiten wirft; eine etwas vollkommene Perſon hatte vor mir bedauert, daß die Erfindung durch dick und duͤnn mit mir davon gehe, da ich mir aber nur allzu fei¬ ner Zierlichkeiten bewußt war, ſetzte ich, damit jene Perſon Recht habe, dieſe breite Kounteß als Ballaſt in das Maͤhrchen und fuͤrchte ſchier, ihre Corpulenz ſey nur Contrebande von lauter Agrements und Anmuthigkeiten.
Nun muß ich dir noch eingeſtehen, daß ich außer dir auch dei¬ ner klugen, klaren und guten Freundin dieſes Maͤhrchen widmen wollte, welche einſt, da ich ihr in Gegenwart Anderer ſagte, wie ſehr ich ſie verehren muͤße, ſo anmuthig ſtrafend zu den UmſtehendenXIVHerzliche Zueignung. ſprach: „ Wir wiſſen Alle, welche artige Maͤhrchen dieſer Freund er¬ zaͤhlen kann. “— Ich wollte ſie nicht Luͤgen ſtrafen, ich widmete ihr das Maͤhrchen nicht. — Sollteſt du, die Blaͤtter aus dem Tagebuch der Ahnfrau am Schluſſe angehaͤngt finden, ſo wiſſe, daß ich einſt ein Fragment aus der Chronika eines fahrenden Schuͤlers bekannt machte, woran ſich allerlei Leute erfreuten, und daß jene Blaͤtter fluͤchtige Skizzen aus dem Umfange jener Chronika ſind, welche ich noch nicht in die harmoniſche Haltung mit dem Tone derſelben ge¬ bracht hatte, die ich aber zu meiner eignen Beluſtigung mit der Ge¬ ſchichte der Ahnfrau verwebte. — Nach Allem vergib mir, daß ich dieſes Maͤrchen bekannt machte, es war mein Wille nie, die andern Kinder drohten mir, weil Abſchriften da ſind, es ſelbſt drucken zu laſſen. — Ich willigte ein, mit dem innerſten Gefuͤhl, hoͤchſtens ein Mitleid dafuͤr zum Lohne zu erhalten, welches jenes des alten Generals noch hinter ſich zuruͤcklaͤßt; denn die Kinder dieſer Zeit, wenden mir den Ruͤcken wie die Phantaſie, und die Frau Rath, Gott troͤſte ſie, kann mich nicht mehr troͤſten, wie einſtens. — Alſo, vergib mir dieß Maͤhrchen, in dem Alles ein Maͤhrchen iſt, außer daß ich es gewiß nicht gern gethan, und es nicht wieder thun will. — Ja liebes Großmuͤtterchen, wenn ich darum verſpottet und gekraͤnkt werde, wenn ſie mich am Aermel zerren, aus dem ſie dieſes Alles geſchuͤttelt glauben, die nicht wiſſen, daß es aus dem Herzen iſt, welches ich in der Hand trage, dann nimm du es bei dir auf, dieſes Maͤhrchen und dieſes Herz! — Aber laſſe uns hier dieſe Dedikation zerbrechen, wie Kronovus und Gackeleia Bretzel und Bu¬ benſchenkel bei dem Eiertanz zerbrachen, als Meiſter Schelm nahte, und ſo wir dieſe Pfaͤnder wohlerhalten wieder aufweiſen koͤnnen, ſind wir treue Spielkameraden geweſen, bis dahin wollen wir uns mit einem Druckfehler dieſer Dedikation troͤſten, welchen ich hier ſchließend ver¬ beſſere, denn ſtatt „ herzliche Zueignung, “leſe uͤberall „ herzliche Zu¬ neigung, mit welcher ich verharre bis ans Ende — keiner Puppe, ſon¬ dern nur einer ſchoͤnen Kunſtfigur und eines theuerſten Großmuͤt¬ terchens gehorſamer Enkel.
In Deutſchland in einem wilden Wald, zwiſchen Gelnhau¬ ſen und Hanau, lebte ein ehrenfeſter bejahrter Mann, und der hieß Gockel. Gockel hatte ein Weib, und das hieß Hinkel. Gockel und Hinkel hatten ein Toͤchterchen, und das hieß Ga¬ ckeleia. Ihre Wohnung war in einem wuͤſten Schloß, woran nichts auszuſetzen war, denn es war nichts darin, aber viel einzuſetzen, naͤmlich Thuͤr und Thor und Fenſter. Mit fri¬ ſcher Luft und Sonnenſchein und allerlei Wetter war es wohl ausgeruͤſtet, denn das Dach war eingeſtuͤrzt und die Treppen und Decken und Boͤden waren nachgefolgt. Gras und Kraut und Buſch und Baum wuchſen aus allen Win¬ keln, und Voͤgel, vom Zaunkoͤnig bis zum Storch, niſteten in dem wuͤſten Haus. Es verſuchten zwar einigemal auch Geier, Habichte, Weihen, Falken, Eulen, Raben und ſolche verdaͤchtige Voͤgel ſich da anzuſiedeln, aber Gockel ſchlug es ihnen rund ab, wenn ſie ihm gleich allerlei Braten und Fi¬ ſche als Miethe bezahlen wollten.
Einſt aber ſprach ſein Weib Hinkel: „ mein lieber Gockel, es geht uns ſehr knapp, warum willſt du die vornehmen Voͤgel nicht hier wohnen laſſen? Wir koͤnnten die Miethe doch wohl brauchen, du laͤßt ja das ganze Schloß von allen moͤglichen Voͤgeln bewohnen, welche dir gar nichts dafuͤr be¬ zahlen. “— Da antwortete Gockel: „ o du unvernuͤnftiges Hinkel, vergißt du denn ganz und gar, wer wir ſind, ſchickt12es ſich auch wohl fuͤr Leute unſerer Herkunft, von der Miethe ſolches Raubgeſindels zu leben? — und geſetzt auch, Gott ſuchte uns mit ſolchem Elende heim, daß uns die Verzweiflung zu ſo unwuͤrdigen Hilfsmitteln triebe, — was doch nie geſchehen wird, denn eher wollte ich Hungers ſterben, — womit wuͤrden die raͤuberiſchen Einwohner uns vor Allem die Miethe be¬ zahlen? Gewiß wuͤrden ſie uns alle unſre lieben Gaſtfreunde erwuͤrgt in die Kuͤche werfen, und zwar auf ihre moͤrderiſche Art zerrupft und zerfleiſcht. Die freundlichen Singvoͤgel, welche mit ihrem unſchuldigen Gezwitſcher unſre wuͤſte Wohnung zu einem herzerfreuenden Aufenthalte machen, willſt du doch wohl lieber ſingen hoͤren, als ſie gebraten eſſen? Wuͤrde dir das Herz nicht brechen, die allerliebſte Frau Nachtigall, die trauliche Grasmuͤcke, den froͤhlichen Diſtelfink, oder gar das liebe treue Rothkehlchen in der Pfanne zu roͤſten, oder am Spieße zu braten, und dann zuletzt, wenn ſie alle die Miethe bezahlt haͤtten, nichts als das Geſchrei und Gekraͤchze der graͤulichen Raubvoͤgel zu hoͤren? Aber wenn auch alles dieſes zu uͤberwinden waͤre, bedenkſt du dann in deiner Blindheit nicht, daß dieſe Moͤrder allein ſo gern hier wohnen moͤchten, weil ſie wiſſen, daß wir uns von der Huͤhnerzucht naͤhren wollen? Haben wir nicht die ehrbare Stamm-Henne Gallina jetzt uͤber dreißig Eiern ſitzen, werden dieſe nicht dreißig Huͤhner werden, und kann nicht jedes wieder dreißig Eier legen, welche es wieder ausbruͤtet zu dreißig Huͤhnern, macht ſchon dreißig mal dreißig, alſo neunhundert Huͤhner, welchen wir entgegenſehen? O du un¬ vernuͤnftiges Hinkel! und zu dieſen willſt du dir Geier und Habichte ins Schloß ziehen? Haſt du denn gaͤnzlich vergeſſen, daß du ein edler Sproſſe aus dem hohen Stamme der Gra¬ fen von Hennegau biſt, und kannſt du ſolche Vorſchlaͤge ei¬ nem gebornen leider armen, leider verkannten Raugrafen von Hanau machen? Ich kenne dich nicht mehr! — O du ent¬ ſetzliche Armuth! iſt es denn alſo wahr, daß du auch die3 edelſten Herzen endlich mit der Laſt deines leeren und doch ſo ſchweren Bettelſackes zum Staube nieder druͤckeſt? “
Alſo redete der arme alte Raugraf Gockel von Hanau in edlem hohen Zorne, zu Hinkel von Hennegau ſeiner Gat¬ tin, welche ſo betruͤbt und beſchaͤmt und kuͤmmerlich vor ihm ſtand, als ob ſie den Zipf haͤtte. Aber ſchon ſammelte ſie ſich und wollte ſo eben ſprechen: „ die Raubvoͤgel bringen uns wohl auch manchmal junge Haſen “— doch da kraͤhte der ſchwarze Alektryo, der große Stammhahn ihres Mannes, der uͤber ihr auf einem Mauerrande ſaß, in demſelben Au¬ genblick ſo hell und ſcharf, daß er ihr das Wort wie mit einer Sichel vor dem[Munde] wegſchnitt, und als er dabei mit den Fluͤgeln ſchlug, und Graf Gockel von Hanau ſein zerriſſe¬ nes Maͤntelchen auch ungeduldig auf der Schulter hin und her warf, ſo ſagte die Frau Hinkel von Hennegau auch kein Piepswoͤrtchen mehr, denn ſie wußte den Alektryo und den Gockel zu ehren.
Sie wollte eben umwenden und weggehen, da ſagte Gockel: „ o Hinkel! ich brauche dir nichts mehr zu ſagen, der ritterliche Alektryo, der Herold, Wappenpruͤfer und Kreiswaͤrtel, Notarius Publikus und kaiſerlich gekroͤnte Poet meiner Vorfahren hat meine Rede unterkraͤhet, und ſomit dagegen proteſtirt, daß ſeinen Nachkommen, den zu erwar¬ tenden Huͤhnchen, die gefaͤhrlichen Raubvoͤgel zugeſellt wuͤr¬ den. “ Bei dieſen letzten Worten buͤckte ſich Frau Hinkel be¬ reits unter der niedrigen Thuͤre und verſchwand mit einem tiefen Seufzer im Huͤhnerſtall.
Im Huͤhnerſtall? Ja — denn im wunderbaren, kunſtrei¬ chen, im neben -, durch - und hintereinandrigen Stil der Urwelt, Mitwelt und Nachwelt erbauten Huͤhnerſtall wohnten Gockel von Hanau, Hinkel von Hennegau und Gackeleia, ihre Fraͤu¬ lein Tochter, und in der Ecke ſtand in einem alten Schilde das auf gothiſche Weiſe von Stroh geflochtene Raugraf Gockelſche Erbhuͤhnerneſt, in welchem die Glucke Gallina1 *4uͤber den dreißig Eiern bruͤtete, und von einer Wand zur an¬ dern ruhte eine alte Lanze in zwei Mauerloͤchern, auf wel¬ cher ſitzend der ſchwarze Alektryo Nachts zu ſchlafen pflegte. Der Huͤhnerſtall war der einzige Raum in dem alten Schloße, der noch bewohnbar unter Dach und Fach ſtand.
Zu Olims Zeiten, wo Dieſes und Jenes geſchehen iſt, war dieſes Schloß eines der herrlichſten und deutlichſten in ganz Deutſchland; aber die Franzoſen haben es ſo uͤbel mit¬ genommen, daß ſie es recht abſcheulich zuruͤckließen. Ihr Koͤnig Hahnri hatte geſagt, jeder Franzoſe ſolle Sonntags ein Huhn, und wenn keines zu haben ſei, ein Hinkel in den Topf ſtecken und ſich eine Suppe kochen. Darauf hielten ſie ſtreng, und ſahen ſich uͤberall um, wie jeder zu ſeinem Huhn kommen koͤnne. Als ſie nun zu Haus mit den Huͤh¬ nern fertig waren, machten ſie nicht viel Federleſens und hatten bald mit dieſem, bald mit jenem Nachbarn ein Huͤhn¬ chen zu pfluͤcken. Sie ſahen die Landkarte wie einen Spei¬ ſezettel an, wo etwas von Henne, Huhn oder Hahn ſtand, das ſtrichen ſie mit rother Tinte an und giengen mit Kuͤchen¬ meſſer und Bratſpieß darauf los. So giengen ſie uͤber den Hanebach, ſteckten Groß - und Kleinhuͤningen in den Topf, und kamen dann auch bis in das Hanauer Land. Als ſie nun Gockelsruh, das herrliche Schloß der Raugrafen von Hanau, im Walde fanden, wo damals der Großvater Go¬ ckels wohnte, ſtatuirten ſie ein Exempel, ſchnitten allen Huͤh¬ nern die Haͤlſe ab, ſteckten ſie in den Topf und den rothen Hahn auf das Dach, das heißt, ſie machten ein ſo gutes Feuerchen unter den Topf, daß die lichte Lohe zum Dach herausſchlug und Gockelsruh daruͤber verbrannte. Dann giengen ſie weiter nach Huͤnefeld und Hunhaun und ſind noch lang unterwegs geblieben.
Als ſie abgeſpeiſt hatten, gieng Gockels Großvater, der mit ſeiner Familie und dem Stamm -, Erb und Wappen¬5 Hahn und Hinkel im Walde verſteckt geweſen, um das Deſert zu beſehen, es war eine Wuͤſte. Nichts war ihm geblieben, er konnte ſein Schloß nicht mehr herſtellen und uͤbergab es daher gratis an die Verſchoͤnerungs-Com¬ miſſion der vier Jahrszeiten, des Windes und des Wetters, welche es auch in Jahr und Tag mit Gras und Kraut und Moos und Epheu und Buͤſchen und Baͤumen ſo reichlich austapezierten, daß es ein rechtes Paradies aller Waldvoͤge¬ lein und andern Wildpretts ward. — Er ſelbſt zog nach Gelnhauſen und nahm die Stelle eines Erb-Huͤhner und Faſa¬ nenminiſters bei dem dortigen Koͤnig an. Sein Sohn trat nach ihm in dieſelbe Stelle, und nach deſſen Abſterben un¬ ſer Gockel, der gewiß auch als Huͤhnerminiſter mit Tod ab¬ gegangen waͤre, wenn ihn nicht ſein Menſchen - oder viel¬ mehr Huͤhnergefuͤhl gezwungen haͤtte, noch lebendig von Gelnhauſen Abſchied zu nehmen. Dieſes aber gieng folgen¬ dermaßen zu.
Der Koͤnig Eifraſius von Gelnhauſen uͤberließ ſich der Leidenſchaft des Eiereſſens ſo unmaͤßig, daß keine Brut Huͤh¬ ner mehr aufkommen konnte. Dies war gegen den Eid Gockels und gegen das Landesgeſetz, Artikel Huͤhnerzucht. Gockel machte eine allerunterthaͤnigſte vergebliche Vorſtellung nach der andern. Eifraſius errichtete den ruͤhrenden Eieror¬ den verſchiedener Grade und ließ von ſeinem Leibredner eine Rede dabei halten, die einer Schmeichelei ſo aͤhnlich ſah, wie ein Ei dem andern. Er ſagte, Eifraſius eſſe nur allein ſo viele Eier, um die Huͤhner zu vermindern, damit die Franzoſen nicht ins Land kaͤmen. Dabei machte er bekannt, daß man kuͤnftig nicht Ihro Majeſtaͤt, ſondern Ihre Eießtaͤt Koͤnig Eifraſius ſagen ſolle und vieles Aehnliche. Auch wußte er ſehr viele hinreißende Stellen großer Dichter in ſeiner Rede anzubringen, z. B.:
und weiter
womit er den Koͤnig ganz bezauberte.
Nach dieſer Rede wurden alle anweſenden Anhaͤnger und Schmeichler des Koͤnigs ganz eigelb im Geſicht und ſteckten gelbe Cocarden auf; Gockel von Hanau aber wurde vor Zorn und Schrecken und Unwill und Schaam ganz gruͤn und blau und roth, und kriegte ordentlich einen rothen Kamm und ſchuͤttelte den Federbuſch, wie ein Hahn, auf ſeinem bordirten Hut und ſcharrte mit den Fuͤßen und hackte mit den Spornen. Da zog der Koͤnig Eifraſius eben in der Kirche an ihm voruͤber, ſah ihn ſehr ungnaͤdig an und ſprach: „ in Gnaden entlaſſen, das Huͤhnerminiſterium iſt bis auf ein Weiteres aufgehoben. “— Somit hatte Gockel ſeinen Abſchied.
Gockel war voll Ehrgefuͤhl, er zeigte ſogleich ſeiner Frau an, daß er am folgenden Morgen mit ihr und Gackeleia nach ſeinem Stammſchloße Gockelsruh aus Gelnhauſen ſo weg¬ ziehen werde, wie ſeine Großeltern hineingezogen waren. Er befahl ihr, jene alten Kleider aus dem Kaſten zu nehmen und im Huͤhnerminiſterium zurecht zu legen, wo ſie ſich mor¬ gen umkleiden wollten. Frau Hinkel war ſchier untroͤſtlich uͤber die alten ſeltſamen Kleider und meinte, alle Hunde wuͤr¬ den ihr nachlaufen. Das Entſetzlichſte aber war ihr, daß Gockel am hellen lichten Tage vor der Wachparade vorbei und uͤber den Gemuͤßmarkt in dieſem Aufzug aus der Stadt hinaus wollte, und nur unter den heftigſten Thraͤnen mit Gackeleia vor ihm auf den Knieen liegend, konnte ſie erfle¬7 hen, daß er mit ihr Morgens vor Tag zur Gartenthuͤre hinaus, hinten um die Stadtmauer herum, ſeine Abreiſe an¬ zutreten verſprach.
Gockel haͤngte ſeine Huͤhnerminiſter-Kleidung an das koͤnigliche Huͤhnerminiſterial-Zapfenbrett, legte alle die ihm aufgedrungenen Eierorden ab, den Orden der Schmeichelei und Heuchelei und befeſtigte ſeinen eigenen, Raugraͤflich Go¬ ckel Hanauiſchen Haus-Orden der Kinderei wieder in das Knopfloch der Jacke ſeines Großvaters, die er morgen fruͤh anziehen wollte; dann ſetzte er ſich an ſeinen Schreibtiſch, um alle die Rechnungen uͤber ſeine Verwaltung heute Nacht noch auszubruͤten, und als er es ſo weit gebracht, daß Ein¬ nahme und Ausgabe ſich wie ein Ei dem andern glichen, ſank er ermuͤdet mit der Naſe auf das Papier und ſchnarchte, daß der Streuſand von zerſtoſſenen Eierſchalen umherflog, und mehrere Muſter von Huͤhnerfedern, die vor ihm lagen, durch einander wehten. Aber der Schaden war nicht groß.
Kaum graute der Tag, als Alektryo, der edle Stamm¬ hahn ſich ſelbſt ermunternd mit den Fluͤgeln in die Seite ſchlug, den Hals emporreckte und mit aufgeriſſenem Schna¬ bel lautkraͤhend wie mir einem Trompetenſtoß alle zur Ab¬ reiſe erweckte; das Stammhuhn Gallina begleitete ſein Morgen¬ lied mit einigen wehmuͤthigen Accorden. Gockel ſprang auf und weckte Weib und Kind, die ſich bald einſtellten. Frau Hin¬ kel war ſehr traurig, auch ſie mußte ihre Huͤhnerminiſterial - Kontuſche ans Zapfenbrett haͤngen und die Kleider von Go¬ ckels Großmutter anziehen; haͤnderingend ſtand ſie in dieſem Putz vor dem Spiegel. Gockel hatte viel zu ermahnen und zu troͤſten; er hatte ſeine Raugraͤfliche Gockelskappe aufge¬ ſetzt, auf der ein Hahnenkamm war, er haͤngte ſeine Peruͤcke von Eierſchalen an den Miniſterialperuͤcken-Hahn und fuhr in die großvaͤterlichen Stiefel und Grafenhoſen, welche ihm Ga¬ ckeleia hinbrachte, die ziemlich luſtig in ihrem ſeltſamen Rock¬8 chen war und das alte Erbhuͤhnerneſt wie einen Fallhut auf dem Kopf trug.
Alektryo, der Stammhahn, ſaß neben dem Schreibtiſche auf der Raugraͤflich Gockelſchen Erbhuͤhnertrage, welche der beruͤhmte Erwin von Steinbach zugleich mit dem Straßbur¬ ger Muͤnſter erfunden hatte, und wiederholte, da er die ganze Familie wieder in ihren altgraͤflichen Kleidern ſah, ſein Kraͤ¬ hen mit ſtolzer Freude. Er hatte einen reichsfreiritterlichen Unmittelbarkeitsſinn und war nie gern in Gelnhauſen ge¬ weſen, wo er nur zu Haus der Hahn im Korb war, am Hof aber nie auf dem Miſt kraͤhen durfte, weil dieſes ein Regale, ein koͤnigliches Recht der Hofhaͤhne war. Er war hier nur Kammerhahn à la suite, hatte allerlei Kraͤnkungen ſeiner Verhaͤltniſſe von den Hofhahnen zu erleiden, und durfte ſie nicht einmal deswegen herausfordern. Gleich Graf Go¬ ckel war er ſehr mit dem Koͤnig Eifraſius unzufrieden, denn dieſer hatte einmal die Eier ſeiner lieben Gemahlin Gallina durch die Polizei wegnehmen und ſich in die Pfanne ſchla¬ gen laſſen. — Seine haͤusliche Gluͤckſeligkeit war dadurch ge¬ ſtoͤrt. Er war heftig und ungeduldig, Gallina aber gackſig, gluckſig und piepſig geworden. Sie ſaßen immer auf dem Huͤhnerminiſterium und kamen nicht ins Freie; ſtatt auf dem Miſte, ſcharrte Alektryo in Papierſpaͤnen, und die leidende Gallina waͤlzte ſich im Streuſand oder bruͤtete hoffnungslos auf den ausgeblaſenen Eierſchaalen des Eierordens, welche dort aufbewahrt wurden.
Nun aber, da alle zur Abreiſe gekleidet waren, trieb Alektryo die Gallina an, von ſeiner Seite auf dem Gockelſchen Huͤhnerſteg hinab zu dem Hennegauſchen Erbhuͤhnerkorb der Frau Hinkel zu ſchreiten, und ſagte ihr dabei ganz freund¬ lich ins Ohr, was ihr troͤſtend zu Herzen ging: „ heute Abend ſind wir frei und gluͤcklich in Gockelsruh, dem Pallaſte unſrer Vorfahren, da giebt es Wuͤrmchen und Maikaͤfer und aller¬ lei Saͤmerei die Menge; da wollen wir ein neues Leben be¬9 ginnen, da gehoͤren wir uns allein an, da wirſt du eine Brut ausbruͤten, die unſer wuͤrdig iſt. “ Gallina trippelte mit ei¬ nem lieblichen Laͤcheln gackſend den Steg hinab und ſetzte ſich oben auf den Huͤhnerkorb.
Frau Hinkel nahm den Korb, worauf Gallina ſaß, auf ihren Kopf. In dieſem Korbe hatte ſie ein paar Hemden, etwas Flachs -, Hanf - und andere Saͤmereien, Nadel, Zwirn und Fingerhut und ein Wachsſtuͤmpfchen, ein Gebetbuch und einige ſchoͤne neue Lieder, gedruckt in dieſem Jahr, und den Graͤflich Hennegauſchen Stammbaum und ihren Taufſchein und Copulationsſchein und ſo weiter Schein bewahrt. Dann ergriff ſie ihren Rocken und ſprach: „ ich bin fertig. “
Gockel ſchluͤpfte mit den Armen in die Tragriemen ſeiner Erbhuͤhnertrage und trug ſie wie eine gothiſche Kirche auf dem Ruͤcken, oben drauf ſaß Alektryo, ne¬ ben dran war ſein Grafenſchwert befeſtigt, und im In¬ nern befanden ſich ſein Stammbaum, Grafenbrief, Tauf¬ ſchein, Ehekontrakt, ein Buch von Geheimniſſen der Hah¬ nen und Huͤhner und auch ein altes Geſchlechts-Regiſter, nach welchem Alektryo vom Hahn des Hiob und Gal¬ lina vom Hahn Petri abſtammen ſollte; es war aber theils ſehr unleſerlich mit Huͤhnerpfoten geſchrieben, theils hatten es die Maͤuſe ſo durchſtudiert, daß viele Loͤcher darin waren. Solche große Raritaͤten waren in der Huͤhnertrage. Gockel nahm nun ſeine Raugraͤfliche Standarte, die zugleich ein Huͤhnerſteg war, als Stab in die Hand und ſagte: „ wohlan ich bin fertig. “
Gackeleia hatte das Erbhuͤhnerneſt auf dem Kopf, und weil ſie auf alle Weiſe noch ſonſt etwas tragen wollte, ſteckte ſie der Vater in einen Korb, wie man ſie uͤber die jungen Huͤhnchen ſtellt, und befeſtigte ihr denſelben uͤber die Schul¬ tern mit Baͤndern, ſo daß ſie wie in einem luſtigen Reifrock mitſpazierte. In der einen Hand hielt ſie ihr ABC-Buch, worauf ein Hahn abgebildet war, und in der andern einen10 Eierweck von geſtern, man nennt ſie dort Bubenſchenkel. Das Kind war ſehr luſtig, und ſchrie: „ kikeriki, ich bin ſchon lang fertig. “
Nun blies Gockel die Huͤhnerminiſterial-Lampe aus, und ſie giengen zu der Thuͤre hinaus. Gockel gab dem Nacht¬ waͤchter den Hausſchluͤſſel, und dann verließen ſie ſtill durch die hintere Gartenthuͤre, die durch die Stadtmauer fuͤhrte, das undankbare Gelnhauſen.
Kaum waren ſie auf einer nahen kleinen Anhoͤhe, welche die Stadt uͤberſchaut, als Alektryo ſich hoch aufrichtete und mit einem trotzigen kuͤhnen Kraͤhen allen Hahnen von Geln¬ hauſen Hohn ſprach, die erwachend von Haus zu Haus, von Thurm zu Thurm ſich wieder zukraͤhten, ſo daß die Gockelſche Familie wo nicht unter dem Gelaͤute aller Glocken, doch un¬ ter dem Kraͤhen aller Hahnen die Stadt verließ.
Als Alektryo gekraͤht hatte, ſchauten ſie alle noch einmal ſchweigend nach Gelnhauſen zuruͤck. Es lag eine weiße Ne¬ belwolke uͤber der herrlichen Stadt, die Sonne ſchoß mit ihren erſten Strahlen nach den blinkenden Wetterhahnen auf den Thurmſpitzen, welche aus dem Nebel hervorblitzten; hie und da drang ein dunkler dichter Baͤckerrauch wie eine dicke braune Schlange durch den Nebel hervor. Frau Hinkel war betruͤbt. Gackeleia fieng laut an zu weinen; ihr Eierweck war ihr ge¬ fallen und ſie konnte ihn von dem Huͤhnerkorb, in dem ſie ſteckte, gehindert nicht aufheben. — Gockel hob ſie aus dem Korbe heraus und haͤngte ſich denſelben noch hinten auf die Trage, denn Gackeleia waͤre mit dieſem Reifrocke an allen Buͤſchen des wilden Waldes haͤngen geblieben, durch welchen jetzt ihr Weg fuͤhrte.
Frau Hinkel durch das Kraͤhen aller Hahnen in Geln¬ hauſen und durch den aufſteigenden Rauch von neuem ſehr betruͤbt, folgte ihrem Manne mit manchem Seufzer durch den Wald. Sie gedachte an die Herrlichkeit von Gelnhau¬ ſen, wo immer das eine Haus ein Baͤckerladen, das andre11 ein Fleiſcherladen iſt; — ach, dachte ſie, jetzt iſt die Stunde, jetzt oͤffnen die Fleiſcher ihre Laden, jetzt haͤngen ſie die fet¬ ten Kaͤlber, Haͤmmel und Schweine auf und breiten in de¬ ren aufgeſchlitzten Leibern reinliche ſchneeweiße Tuͤcher aus! — Ach jetzt iſt die Stunde, jetzt oͤffnen die Baͤcker ihre Laden und ſtellen auf weißen Baͤnken die braunglaͤnzenden Brode, die gelben Semmeln und ſchoͤn lakirten Eierwecke, Buben¬ ſchenkel genannt, in Reih und Glied. Gackeleia, die ſie an der Hand fuͤhrte, weckte mit ihren Reden ihre Betruͤbniß oft von neuem wieder auf, denn ſie fragte ein um das ande¬ remal: „ Mutter, giebt es auch Bretzeln, wo wir hingehen? “ Da ſeufzte Frau Hinkel; Gockel aber, der ernſthaft und freu¬ dig voranſchritt, ſagte: „ nein, mein Kind Gackeleia, Bretzeln giebt es dort nicht, ſie ſind auch nicht geſund und verder¬ ben den Magen; aber Erdbeeren, ſchoͤne rothe Waldbeeren giebt es die Menge, “und ſomit zeigte er mit ſeinem Stocke auf einige, die am Wege ſtanden, welche Gackeleia mit vie¬ lem Vergnuͤgen verzehrte. Hierauf fragte Gackeleia wieder: „ Mutter, giebt es auch ſo ſchoͤne braune Kuchenhaͤschen, wo wir hingehen? “ Da ſeufzte Frau Hinkel abermals und die Thraͤnen traten ihr in die Augen; Gockel aber ſagte freund¬ lich zu dem Kinde: „ Nein, mein Kind Gackeleia, Kuchenhaͤs¬ chen giebt es da nicht, ſie ſind auch nicht geſund und ver¬ derben den Magen, aber es giebt da lebendige Seidenhaͤs¬ chen und weiße Kaninchen, aus deren Wolle du der Mutter auf ihren Geburtstag Struͤmpfe ſtricken kannſt, wenn du fleißig biſt. Sieh, ſieh, da lauft eines! “und ſomit zeigte er mir ſeinem Stocke auf ein voruͤberlaufendes Kaninchen. Da riß ſich Gackeleia von der Mutter los, und ſprang dem Haſen mit dem Geſchrei nach: „ gieb mir die Struͤmpfe, gieb mir die Stuͤmpfe! “aber fort war er, und ſie fiel uͤber eine Baumwurzel und weinte ſehr. Der Vater verwies ihr ihre Heftigkeit und troͤſtete ſie mit Himbeeren, welche neben der Stelle wuchſen, wo ſie gefallen war. Nach einiger Zeit12 fragte Gackeleia wieder: „ liebe Mutter, giebt es denn auch da, wo wir hingehen, ſo ſchoͤne gebackene Maͤnner von Ku¬ chenteig, mit Augen von Wachholderbeeren und einer Naſe von Mandelkern, und einem Mund von einer Roſine? “ Da konnte die Mutter ihre Thraͤnen nicht zuruͤckhalten und weinte; Gockel aber ſagte: „ nein, mein Kind Gackeleia, ſolche Ku¬ chenmaͤnner giebt es da nicht, die ſind auch gar nicht ge¬ ſund und verderben den Magen. Aber es giebt da ſchoͤne bunte Voͤgel die Menge, welche allerliebſt ſingen und Neſt¬ chen bauen, und Eier legen und ihre Jungen fuͤttern. Die kannſt du ſehen und lieben und ihnen zuſchauen, und die ſuͤßen wilden Kirſchen mit ihnen theilen. “ Da brach er ihr ein Zweiglein voll Kirſchen von einem Baum und das Kind ward ruhig.
Als Gackeleia aber nach einer Weile wieder fragte: „ liebe Mutter, giebt es denn dort, wo wir hingehen, auch ſo wun¬ derſchoͤne Pfefferkuchen, wie in Gelnhauſen? “und die Frau Hinkel immer mehr weinte, ward der alte Gockel von Hanau unwillig, drehte ſich um, ſtellte ſich breit hin und ſprach: „ o mein Hinkel von Hennegau! du haſt wohl Urſache zu wei¬ nen, daß unſer Kind Gackeleia ein ſo naſchhafter Freßſack iſt und an nichts als Bretzeln, Kuchenhaſen, Buttermaͤn¬ ner und Pfefferkuchen denkt, was ſoll daraus werden? Roth bricht Eiſen, Hunger lehrt beißen. Sei vernuͤnftig, weine nicht, Gott, der die Raben fuͤttert, wolche nicht ſaͤen, wird den Gockel von Hanau nicht verderben laſſen, der ſaͤen kann. Gott, der die Lilien kleidet, die nicht ſpinnen, wird die Frau Hinkel von Hennegau nicht umkommen laſſen, wel¬ che ſehr ſchoͤn ſpinnen kann, und auch das Kind Gackeleia nicht, wenn es das Spinnen von ſeiner Mutter lernt. “
Dieſe Rede Gockels ward von einem gewaltigen Geklap¬ per unterbrochen, und ſie ſahen alle einen großen Klapper¬ ſtorch, der aus dem Gebuͤſche ihnen entgegentrat, ſie ſehr ernſthaft und ehrbar anſchaute, nochmals klapperte und dann13 hinwegflog. „ Wohlan, ſagte Gockel, dieſer Hausfreund hat uns willkommen geheißen, er wohnet auf dem oberſten Gie¬ bel von Gockelsruh, gleich werden wir da ſeyn; damit wir aber nicht lange zu waͤhlen brauchen, in welchen von den weitlaͤufigen Gemaͤchern des Schloſſes wir wohnen wollen, ſo will ich unſere hoͤchſte Dienerſchaft vorausſenden, damit ſie uns die Wohnungen ausſuche. “
Nun nahm er den Stammhahn von der Schulter auf die rechte Hand und die Stammhenne auf die linke, und redete ſie mit ehrbarem Ernſte folgendermaßen an: „ Alektryo und Gallina, ihr ſtehet im Begriff, wie wir, in das Stamm¬ haus eurer Voraͤltern einzuziehen, und ich ſehe an euren ernſthaften Mienen, daß ihr ſo geruͤhrt ſeid als wir. Da¬ mit nun dieſes Ereigniß nicht ohne Feierlichkeit ſey, ſo er¬ nenne ich dich Alektryo, edler Stammhahn, zu meinem Schloßhauptmann, Haushofmeiſter, Hofmarſchall, Aſtrono¬ men, Propheten, Nachtwaͤchter, und hoffe, du wirſt unbe¬ ſchadet deiner Familienverhaͤltniſſe als Gatte und Vater die¬ ſen Aemtern gut vorſtehen; das Naͤmliche erwarte ich von dir, Gallina, edles Stammhuhn; indem ich dich hiemit zur Schluͤſſeldame und Oberbettmeiſterin des Schloſſes ernenne, zweifle ich nicht, daß du dieſen Aemtern trefflich vorſtehen wirſt, ohne deßwegen deine Pflichten als Gattin und Mut¬ ter zu vernachlaͤſſigen. Iſt dieß euer Wille, ſo beſtaͤtigt es mir feierlich. “ Da erhob Alektryo ſeinen Hals, blickte gegen Himmel, riß den Schnabel weit auf und kraͤhete feierlichſt, und auch Gallina gab ihre Verſicherung mit einem lauten und ruͤhrenden Gackſen von ſich, worauf ſie Gockel beide an die Erde ſetzte, und ſprach: „ nun, Herr Schloßhauptmann und Frau Schluͤſſeldame, eilet voraus, ſuchet eine Wohnung fuͤr uns aus, zeiget auch allen Bewohnern unſers Schloſſes an, ſie moͤchten ſich durch kein Geraͤuſch in ihrem Abend¬ gebete ſtoͤren laſſen, weil ich in der Naͤhe des Schloſſes, wo der engliſche Garten ein wenig ins Kraut geſchoſſen ſeyn14 mag, wahrſcheinlich mit meinem Grafenſchwert die Hecken werde ſchneiden muͤſſen, um mir und Frau Hinkel mit un¬ ſern hohen Inſignien durchzuhelfen; alſo thuet und berei¬ tet uns einen wuͤrdigen Empfang. “— Da eilte der Hahn und die Henne in vollem Laufe, was giebſt du, was haſt du? in den Wald hinein nach dem Schloſſe zu.
Nun ermahnte Gockel auch noch die Frau Hinkel und das Kind Gackeleia zur Zufriedenheit, zum Vertrauen auf Gott und zu Fleiß und Ordnung in dem neu bevorſtehenden Aufenthalt auf eine ſo liebreiche Art, daß Frau Hinkel und das Kind Gackeleia den guten Vater herzlich umarmten und ihm alles Gute und Liebe verſprachen; und ſo zogen ſie alle froh und heiter durch den ſchoͤnen Wald, die Sonne ſank hinter die Baͤume, es ward ſo recht ſtille und vertrau¬ lich, ein kuͤhles Luͤftchen ſpielte mit den Blaͤttern und Frau Hinkel von Hennegau ſang folgendes Liedchen mit freundli¬ cher Stimme, wozu Gockel und Gackeleia leiſe mitſangen.
Als dieß Lied zu Ende war, ward der hohe Eichenwald lichter. Sie hoͤrten ein Geklapper, und Gackeleia blickte in die Hoͤhe und ſchrie: „ ach, der Klapperſtorch, der Klapper¬ ſtorch mit ſeinen Jungen, da oben ſteht er auf der hohen Mauer, ach, was hat der aber ein großes Neſt, o da will ich mich auch einmal hineinſetzen und mit ihm klappern! “
Nun waren die Reiſenden an dem ganz verwilderten Raugraͤflich Gockelſchen Schloßgarten angekommen. Da war16 an kein Durchkommen zu gedenken, und Gockel ſprach zu Frau Hinkel, indem er ſeine Erbhuͤhnertrage abſetzte, und das Grafenſchwert von ihr losband und herauszog: „ ſetze deinen Korb ab, ſchuͤrze deinen Rock nieder, ſtreiche dein Haar zurecht, dort an dem alten Springbruͤnnchen waſche dich, bade dir die Fuͤße, ruhe ein bischen aus, damit wir mit Reſpekt einziehen. Thue der Gackeleia eben ſo. “— Ich will indeſſen mit meinem Grafenſchwert hier das wilde Ge¬ niſt lehren, daß man ſeinem Herrn den Weg nicht verrennt. “
Nun ſetzten ſich Frau Hinkel und Gackeleia an das Bruͤnnchen, wuſchen und muſterten ſich, und Gackeleia patſchte mit ihren erhitzten Fuͤßchen in dem kalten Waſſer herum. Gockel aber erhob ſein Grafenſchwert, und hieb kreuz und quer mit großer Kraft einen Weg durch die wildverwirrten Hecken, Buͤſche und Baͤume. Er nannte jedes Geſtraͤuch, das er zuſammenhieb, mit Namen, und weil er ſchnell ar¬ beitete, ſo verkuͤrzte er die Worte — er ſchrie: „ Potz Sta¬ chel -, Kreuſel -, Preißel -, Kloſter -, Hollunder -, Wach¬ holder -, Berberitzen -, Johannis -, Brom -, Himbeeren! ich will euch lehren, mir mein Haus zu ſperren! — Potz Quen¬ tel, Lavendel, Bux, Taxus, Mispel, Quitten und Haſſel! — Potz Thymian, Majoran, Baldrian, Rosmarin, Hiſop und Salbei! “und mit jedem Worte ein Schwertſchlag, der ihm den Weg oͤffnete und mit Zweigen, Blaͤttern und Blumen beſtreute. Als er ſo bis in die Naͤhe des Schloßthores ge¬ kommen, kehrte er zu den Seinigen an das Bruͤnnchen zuruͤck.
Gockel hatte ſich ganz muͤde gearbeitet, auch er wuſch und erquickte ſich an dem Waſſer. Frau Hinkel hatte ſich recht friſch und ſauber gemacht. Sie hatte Gackeleia einen ſchoͤnen Blumenkranz aufgeſetzt und ihr das Huͤhnerneſt mit harten Broſamen, welche ſie am Brunnen erweicht, gefuͤllt, dieſe ſollte ſie beim Einzug in das Schloß den Voͤgeln aus¬ ſtreuen. Das war ſo, als wenn bei der Kaiſerkroͤnung zu Frankfurt Gold ausgeworfen wird.
Nun nahm Gockel ſeine Huͤhnertrage, Frau Hinkel den Huͤhnerkorb wieder auf und Gackeleia trug das Neſt voll Broſamen vor ſich; ſo giengen ſie durch den Weg, den Go¬ ckel gehauen hatte, auf das Schloßthor zu. Gackeleia nahm ſich Zeit, ſie pfluͤckte links und rechts viele Brombeeren und Heidelbeeren, und als der Vater ſie heranrief, in das Schloß einzugehen, hatte ſie die Haͤnde und das halbe Geſicht ſchwarz wie ein Mohrenkind. Gockel riß mit der Huͤhner¬ ſtange, die er trug, eine dichte Epheudecke auseinander, wel¬ che das Gartenthor zugeſponnen hatte, und ſie traten vor das wunderbare Raugraͤfliche Schloß in ſeinem vollen Glanz.
Der Empfang war feierlich; aus den leeren Fenſteroͤff¬ nungen des Schloſſes hingen Teppiche von Epheu und man¬ cherlei Blumen nieder, und wehten bluͤhende Geſtraͤuche wie feſtliche Fahnen, und zwiſchen ihnen durch ſah der ſtille Abend¬ himmel in purpurnem Gewande herab. Die vielen Saͤulen und Bildwerke des Schloſſes hatten Wind und Wetter und die vier Jahreszeiten ſeit lange mit dem ſchoͤnſten Laubwerke verziert.
Der Hahn Alektryo ſaß auf dem ſteinernen Wappen uͤber dem Thore, ſchuͤttelte ſich, ſchlug mit den Fluͤgeln und kraͤhte als ein rechtſchaffener Schloßtrompeter dreimal luſtig in die Luft, und alle Voͤgelein, die in dem verlaſſenen, Baum durchwachſenen Baue wohnten, und welchen der Hahn die Ankunft der gnaͤdigen Herrſchaft verkuͤndiget hatte, waren aus ihren Neſtern herausgeſchluͤpft und ſchmetterten luſtige Lieder in die Luft, indem ſie ſich auf den bluͤhenden Hol¬ lunderbaͤumen und wilden Roſenhecken ſchaukelten, welche ihre Bluͤthen vor den Eintretenden niederſtreuten. Der Storch auf dem Schloßgiebel klapperte dazu mit ſeiner ganzen Fa¬ milie, ſo daß alles wie eine große Muſik mit Pauken und Trompeten klang. Gockel, Hinkel und Gackeleia hießen alle willkommen, und Gackeleia ſtreute mit vollen Haͤnden die218Broſamen aus, was mit großem Beifall von allen den Voͤ¬ geln aufgenommen ward.
Hierauf zogen ſie in die alte verfallene Schloßkapelle, knieten neben den wilden Waldblumen am Altare dicht bei dem Grabſtein des alten Urgockels von Hanau nieder, ſag¬ ten Gott fuͤr ihre gluͤckliche Reiſe Dank, und flehten ihn um fernern Schutz und Segen an. Waͤhrend ihres Gebetes wa¬ ren alle Voͤgel ganz ſtille, und da ſie ſich von den Knieen erhoben, lockten Alektryo und Gallina, als Schloßhauptmann und Schluͤſſeldame, an der Thuͤre, ſie ſollten ihnen nach dem ausgeſuchten Gemache folgen. Sie thaten dieß, und der Hahn und die Henne ſchritten gackernd und majeſtaͤtiſch uͤber den Schloßhof auf den ſehr kunſtreich von Stein er¬ bauten Huͤhnerſtall zu, deſſen Dach allein im Schloße bis auf einige Luͤcken im Stande war. Als Alektryo uͤber die Schwelle ſchritt, buͤckte er ſich tief mit dem Kopf, als be¬ fuͤrchtete er, mit ſeinem hohen rothen Kamme oben anzu¬ ſtoſſen, da die Thuͤre doch fuͤr einen ſtarken Mann hoch ge¬ nug war; aber dieſes war im Gefuͤhle ſeines Adels, denn alle hohen Adeligen und alle gekroͤnten Haͤupter pflegten in den guten alten Zeiten es ſo zu machen, wenn ſie durch ein Thor ſchritten; das kam aber von den erſtaunlich hohen Fe¬ derbuͤſchen her, welche ihre Vorfahren auf den Helmen getragen hatten.
In dieſem Huͤhnerſtalle nun, deſſen Fenſter in ein klei¬ nes Gaͤrtchen giengen, richteten ſie ſich ein, ſo gut ſie konn¬ ten; Gockel haͤngte ſeine Erbhuͤhnertrage an einen Haken hoch an der Wand auf, ſtellte die Huͤhnerſteige daran, und Alektryo und Gallina ſagten gute Nacht und ſpazierten ſo¬ gleich fein ordentlich hintereinander hinauf und ſetzten ſich ſtill zuſammen und ließen ſich was traͤumen. — Frau Hinkel ſtellte den Korb, den Spinnrocken, den Bratſpieß, die Pfanne, die Schuͤſſel, den Topf und den Waſſerkrug an ihre Stelle, und Gackeleia ſetzte das Huͤhnerneſt, wo es hin19 gehoͤrte. — Dann machte Gockel aus gruͤnen Zweigen zwei große und einen kleinen Beſen, und fegte mit Hinkel und Gackeleia den Boden ein wenig rein. Gackeleia fuhr ganz ſtolz und geſchaͤftig mit ihrem Beſen umher. Nun machten ſie ein Lager von Moos und duͤrren Blaͤttern, woruͤber Go¬ ckel ſeinen Mantel und Hinkel ihre Schuͤrze breitete. Dann betete Gockel ein kurzes Nachtgebet vor, worauf ſie ſich ſchlafen legten, Gockel rechts, Hinkel links, das Toͤchterlein Gackeleia in der Mitte zwiſchen beiden. Von der Reiſe und der Arbeit ermuͤdet, ſchliefen ſie alle bald ein.
Gegen Mitternacht ruͤhrte ſich ploͤtzlich der wachſame Schloßhauptmann Alektryo mit warnender Stimme auf ſei¬ nem Sitz, und Gockel, der vor allerlei Gedanken, wie er ſeine Familie ernaͤhren ſolle, nicht feſt ſchlief, richtete ſich auf und blickte umher, was vorgehe. Da ſah er an der offnen Thuͤre, durch welche der Mond ſchien, eine große lauernde Katze, die auch ſogleich einen heftigen Sprung herein that. In demſelben Augenblick hoͤrte Gockel ein Gepfeife, und fuͤhlte, daß ihm etwas Lebendiges in den weiten Aermel ſei¬ nes Wammſes hineinlief. Alektryo und Gallina erhoben ein banges Geſchrei wegen der Katze. Gockel ſprang auf, ver¬ jagte die Feindin und warf ihr einen Stein nach. Dann zog er an der Pforte die Thierchen, die ihm in den Aermel ge¬ ſchluͤpft waren, hervor, und erkannte im Mondſchein zwei weiße Maͤuschen von außerordentlicher Schoͤnheit. Sie wa¬ ren nicht ſcheu vor ihm, ſondern ſetzten ſich auf ſeiner Hand auf die Hinterbeine, und zappelten mit den Vorderpfoͤtchen, wie ein Huͤndchen, das bittet, was dem alten Herrn wohl gefiel. Er ſetzte ſie in ſeine Gockelsmuͤtze, legte ſich wieder nieder und dieſe neben ſich, mit dem Gedanken, die guten Thierchen am folgenden Morgen ſeinem Toͤchterchen Gackeleia zu ſchenken, welche ſehr ermuͤdet, wie ihre Mutter, nicht er¬ wacht war.
Als Gockel wieder eingeſchlafen war, machten ſich die2 *20zwei Maͤuschen aus der Pudelmuͤtze wieder heraus und un¬ terhielten ſich miteinander. Die eine ſprach: „ Ach Siſſi, meine geliebte Braut, da haſt du es nun ſelbſt erlebt, was dabei herauskoͤmmt, wenn man des Nachts ſo lange im Mondſchein ſpazieren geht, habe ich dich nicht gewarnt? “— Da antwortete Siſſi: „ O Pfiffi, mein werther Braͤutigam, mache mir keine Vorwuͤrfe, ich zittere noch am ganzen Leibe vor der ſchrecklichen Katze, und wenn ſich ein Blatt regt, fahre ich zuſammen, und meine, ich ſehe ihre feurigen Au¬ gen. “— Da ſagte Pfiffi wieder: „ Du brauchſt dich nicht weiter zu aͤngſtigen, der gute Mann hier hat der Katze einen ſo großen Stein nachgeworfen, daß ſie vor Angſt ſchier in den Springbrunnen geſprungen iſt. “— „ Ach! “erwiederte Siſſi, „ ich fuͤrchte mich nur auf unſre weite Reiſe, wir muͤſ¬ ſen wohl noch acht Tage laufen, bis wir zu deinem koͤnigli¬ chen Herrn Vater kommen, und da jetzt einmal eine Katze uns ausgekundſchaftet hat, werden dieſe Freilaurer an allen Ecken auf uns lauern. “— Da verſetzte Pfiffi: „ wenn nur eine Bruͤcke uͤber das Fluͤßchen fuͤhrte, das eine halbe Tag¬ reiſe von hier durch den Wald fließt, ſo waͤren wir bald zu Haus; aber nun muͤſſen wir die Quelle umgehen. “— Als ſie ſo ſprachen, hoͤrten ſie eine Eule draus ſchreien und kro¬ chen bang tiefer in die Muͤtze. — „ Auch noch eine Eule, “fluͤ¬ ſterte Siſſi, „ o waͤre ich doch nie aus der Reſidenz meiner Mutter gewichen, “und nun weinte ſie bitterlich. — Der Maͤu¬ ſebraͤutigam war hieruͤber ſehr traurig, und uͤberlegte her und hin, wie er ſeine Braut ermuthigen und vor Gefahren ſchuͤtzen ſolle. — Endlich ſprach er: „ geliebte Siſſi, mir faͤllt etwas ein; der gute Mann, der uns in ſeine Muͤtze ge¬ bettet hat, wuͤrde uns vielleicht ſicher nach Hauſe helfen, wenn er unſere Noth nur wuͤßte. Laſſe uns leiſe an ſeine Ohren kriechen und ihm recht flehentlich unſere Sorgen vor¬ ſtellen; ich will zuerſt mit ihm ſprechen, hilft das nicht, dann rede du in deinen ſuͤßeſten Toͤnen zu ihm, wer kann21 dir widerſtehen? aber ja recht leiſe, damit er nicht aufwacht, denn nur im Schlafe verſtehen die Menſchen die Sprache der Thiere. “— Siſſi war ſogleich bereit und nahte ſich be¬ ſinnend dem linken Ohre Gockels. Pfiffi aber lief zum rech¬ ten Ohre und ſang, nachdem er ſich auf die Hinterbeine ge¬ ſetzt und ſeinen Schweif quer durch das Maul gezogen hatte, um ſeiner Stimme, welche durch das Kommandiren bei der letzten Revue etwas rauh geworden war, einen mildern Ton zu geben.
Nach dieſer ziemlich unhoͤflichen Rede biß Prinz Spe¬ ckelfleck den ehrlichen Gockel ſo derb ins Ohrlaͤppchen, daß er mit einem lauten Schrei erwachte und um ſich ſchlug. Da flohen die beiden Maͤuſe in großer Angſt wieder in die Pudelmuͤtze. — „ Nein das iſt doch zu grob, einen ins Ohr zu beißen, “ſagte Gockel. Da erwachte Frau Hinkel, und fragte: „ wer hat dich denn ins Ohr gebiſſen, du haſt gewiß getraͤumt. “— „ Iſt moͤglich, “ſagte Gockel, und ſie ſchliefen wieder ein.
Nach einer Weile ſprach Siſſi zu Pfiffi: „ Aber um alle Welt, was haſt du nur gethan, daß der Mann ſo boͤs ge¬ worden? “— Da wiederholte ihr Pfiffi ſeine ganze Rede, und Siſſi ſagte mit Unwillen: „ Ich traue meinen Ohren kaum, Pfiffi! kann man unvernuͤnftiger und plumper bitten, als du? die niedrigſte Bauernmaus wuͤrde ſich in unſrer Lage diplomatiſcher benommen haben. Alles iſt verloren, ich bin ohne Rettung in die Krallen der Katze hingegeben durch deine uͤbel angebrachte Hoffart. — Ach mein junges Leben, o haͤtte ich dich nie geſehen! u. ſ. w. “— Pfiffi war ganz ver¬ zweifelt uͤber die Vorwuͤrfe und Klagen ſeiner Braut, und23 ſprach: „ Ach Siſſi, deine Vorwuͤrfe zerſchneiden mein Herz, ich fuͤhle, du haſt recht; aber faſſe Muth, gehe an das linke Ohr und wende alle deine unwiderſtehliche Redekunſt an — das linke Ohr geht zum Herzen, er erhoͤrt dich gewiß; o ich Ungluͤcklicher, daß ich in die verwuͤnſchten ſtandesmaͤßigen Redensarten gefallen bin! “— Da erhob ſich Siſſi, und ſprach: „ Wohlan, ich will es wagen. “— Leiſe, leiſe ſchluͤpfte ſie wieder an das linke Ohr Gockels, nahm eine ruͤhrende Stel¬ lung an, kreuzte die Vorderpfoͤtchen uͤber der Bruſt, ſchlang den Schweif wie einen Strick um den Hals, neigte das Koͤpfchen gegen das Ohr, und fluͤſterte ſo fein und ſuͤß, daß das Klopfen ihres bangen Herzchens ſchier lauter war, als ihr Stimmchen.
Nun kuͤßte ſie ganz leiſe das Ohrlaͤppchen Gockels, und weil er im Schlafe etwas durch die Naſe pfiff, glaubte ſie ‚26 er ſage ihr in der Maͤuſeſprache die artigſten Sachen und verſpreche ihr ſeine Hilfe fuͤr ganz gewiß. Mit leichtem Herzen begab ſie ſich daher in die Muͤtze zuruͤck und ver¬ kuͤndigte ihrem Braͤutigam den guten Erfolg ihrer Bitten, worauf dieſer ſie zaͤrtlich umarmte.
Jetzt aber war die Stunde gekommen, da die ſchwarze Nacht gegen Morgen ergrauet, und Alektryo, als ein ge¬ treuer Burgvogt, ſtreckte dem anbrechenden Lichte ſeinen Hals entgegen, um es zum erſtenmal mit einem kraͤhenden Trompetenſtoße zu bewillkommen. Da erwachte Gockel und Frau Hinkel, Gackeleia aber ſchlief feſt. Frau Hinkel fragte ihren Mann, warum er denn heute Nacht ſo unruhig ge¬ weſen, und wie er nur getraͤumt habe, daß ihn Jemand ins Ohr gebiſſen. Da zeigte Gockel ihr die weißen Maͤus¬ chen in ſeiner Muͤtze, und erzaͤhlte ihr, was ihm alles mit ihnen geſchehen ſey, und daß er verſprochen habe, ihnen zu helfen; „ und daß will ich auch thun, “fuhr Gockel fort, „ ich will beide ſogleich uͤber den naͤchſten Fluß bringen, wo ſie bald außer Gefahr in ihrer Heimath ſind. “
Nun wollte er aufſtehen und ſich auf den Weg begeben, aber Frau Hinkel ſagte: „ du biſt nicht recht klug; dir traͤumt, du haͤtteſt den Maͤuſen etwas verſprochen und willſt es ihnen nun im Wachen halten, und deßwegen willſt du mich hier in der Wildniß mit Gackeleia allein laſſen, wo du ſo noͤthig biſt, um aufzuraͤumen und alles in Ordnung zu bringen. “— Da erwiederte Gockel: „ du haſt ſcheinbar ganz recht, aber verſprochen muß gehalten werden, ich habe mein Ehrenwort gegeben, und das iſt mir ſo deutlich und gegenwaͤrtig als der Biß in das Ohr. “— „ Wenn aber der Biß, “ſagte Frau Gockel, „ ein Traum war, ſo war auch das Eh¬ renwort ein Traum. “ Gockel ſprach hierauf unwillig: „ ein Ehrenwort iſt nie ein Traum, das verſtehſt du nicht, und den Biß habe ich ſo deutlich gefuͤhlt, daß ich mit einem Schrei erwachte, das Ohr brennt mich noch. “— „ Laß doch27 einmal ſehen, “ſagte Frau Hinkel, und erblickte mit großer Verwunderung wirklich die Spur von fuͤnf ſpitzen Zaͤhnchen an Gockels Ohr.
Als ſie ihm dieſes geſagt hatte, ließ er ſich auch keinen Augenblick laͤnger aufhalten, ſprang vom Lager auf, nahm das Brod aus dem Huͤhnerkorb, ſchnitt ein Stuͤck herunter, das er einſteckte, und ſprach zu ſeiner Frau: „ Hinkel raͤume einſtweilen Alles huͤbſch auf, ſieh dich im Schloße und der Umgebung um, und denke dir Alles aus, wie du es gerne zu unſerer Haushaltung eingerichtet haͤtteſt; beſonders gieb auf Alektryo und Gallina acht, weil es, wie du gehoͤrt haſt, Katzen hier giebt; nach Mittag hoffe ich wieder hier zu ſeyn, “und nun nahm er ſeinen Reiſeſtab in die Hand. Weil er aber die Muͤtze, aus der ihm die Maͤuschen[entgegenpfifferten], aufſetzen mußte, ſo nahm er ein leeres, mit zarten Federchen ausgefuͤttertes Vogelneſt aus einem Baum, ſetzte die Maͤus¬ chen hinein, ſchob es in den Buſen und gieng mit ſtarken Schritten in den Wald gegen das Fluͤßchen hin.
Nach ein paar Meilen Wegs ruhte er an einer Quelle, wo er ſein Brod mit ſeinen Reiſegefaͤhrten theilte. Da er aber endlich an den Fluß kam, gieng er auf und ab, eine ſchmale Stelle zu finden, fand auch endlich einen Ort, wo er das Fluͤßchen leicht mit einem Steine uͤberwerfen konnte. Hier nun nahm er ſich vor, die Maͤuschen uͤberzuſetzen, aber keine Bruͤcke, kein Kahn war da; er entſchloß ſich daher kurz, zog das Neſt, mit den Maͤuſen hervor, und ſprach hinein: „ lebet wohl, meine lieben Gaͤſte; du Prinz von Speckelfleck befleiße dich beſſerer Sitten, und du Prinzeß von Mandelbiß bilde dir nicht ſo viel auf die Schoͤnhei¬ ten ein, die du beſitzeſt; uͤbrigens biſt du wirklich ein ſehr ſchoͤnes Thierchen! Lebt wohl, gruͤßt eure Anverwandten und vergeßt nicht den armen alten Gockel von Hanau. “ Die Maͤuschen wußten gar nicht, was er wollte, weil er ſchon Abſchied nahm und ſie doch noch dießſeits des Flußes wa¬28 ren, auch kein Kahn und keine Bruͤcke weit und breit zu ſe¬ hen war; ſie pfifferten ihm daher allerlei Fragen entgegen, aber er verſtand kein Wort, ließ ſich auch weiter auf nichts ein, ſondern wickelte ſie, nebſt einer Erdſcholle, in das Neſt, holte weit aus und warf ſie gluͤcklich hinuͤber in das hohe Gras. Da ſich von dem Falle das Neſt druͤben oͤffnete, ſchrieen die kleinen Thierchen noch immer ſehr erſtaunt, wie er ſie nur hinuͤber bringen wolle, als ſie zu ihrer groͤßten Verwunderung ſahen, daß ſie bereits druͤben waren und froͤh¬ lich nach Hauſe liefen, ihre Abentheuer zu erzaͤhlen.
Auf dem Heimwege begegnete Gockel drei alten Morgen¬ laͤndern mit langen Baͤrten, welche große Naturphiloſophen, Kabbaliſten und Petſchierſtecher waren; ſie fuͤhrten einen al¬ ten Bock und eine alte magere Ziege an Stricken zur Frank¬ furter Meſſe. Sie redeten Gockel an: „ ſeid ihr der Beſitzer des alten Schloßes hier im Walde? “ Gockel antwortete: „ ja, ich bin der alte Raugraf, Gockel von Hanau. “ Da fragten ihn die Maͤnner, ob er ihnen nicht den alten Haus¬ hahn verkaufen wollte, ſie wollten ihm den Bock dafuͤr ge¬ ben. Gockel antwortete: „ was ſoll ich mit dem Bock, ihn etwa zum Gaͤrtner machen, kann der Bock etwa kraͤhen? Mein Hahn iſt kein Alletagshahn, er iſt ein Wappenhahn, ein Stammhahn; ſein Vater hat auf meines Vaters Grab gekraͤht, und er ſoll auf meinem Grabe kraͤhen, lebt wohl. “ Da boten ihm die Maͤnner die Ziege, und als er abermals nicht wollte, boten ſie ihm den Bock und die Ziege; Gockel aber lachte ſie aus und gieng ſeiner Wege. „ Nun, “riefen ſie ihm nach, „ in vier Wochen gehen wir wieder vorbei, da wol¬ len wir wieder nachfragen, vielleicht haben dann der Herr Raugraf mehr Luſt, den Hahn zu verkaufen. “
Gockel kam gegen Abend nach Haus, und nachdem er von ſeiner Reiſe ausgeſchlafen hatte, ſah er ſich am andern Morgen mit Frau Hinkel und dem Toͤchterchen Gackeleia in dem wuͤſten Schloße ſeiner Voraͤltern um und begann ſich ſo29 gut einzurichten, als es nur immer moͤglich war. Alektryo〈…〉〈…〉〈…〉〈…〉〈…〉〈…〉 g uͤberall mit ihnen umher, und da er an einer Stelle nicht aufhoͤrte zu ſcharren und zu locken, ward Gockel auf¬ merkſam und raͤumte muͤhſam den Schutt hinweg, wo er dann zu ſeiner großen Freude einiges eiſerne Gartengeraͤth fand, das von dem eingeſtuͤrzten Hauſe verſchuͤttet worden war. Da war ein Spaten, eine Pickel, eine Karſt, eine Harke, und Gockel machte ſich gleich daran, dieſe roſtigen Inſtrumente wieder blank zu wetzen und neue Stiele hinein zu ſchnitzen. Mit dieſem Werkzeug konnte er nun tuͤchtig in dem Schutt herum arbeiten, und es gelang ihm, am Fuße eines Rauchfangs, ein Kamin herauszugraben, in welchem der eiſerne Keſſel ſeiner Vorfahren noch an einer Kette uͤber der Feuerſtelle hing. Auch dieſen ſcheuerte Frau Hinkel am Brunnen wieder blank, und Gockel richtete ihr das ſchoͤne Kamin zur Kochſtelle ein. — Freudig rief er ſie herbei und zeigte ihr die ſchoͤne Einrichtung; aber Frau Hinkel ſeufzte und ſagte: „ was ſoll uns der Herd, wenn wir nichts zu ko¬ chen haben? “— „ Gott wird helfen, “ſagte Gockel, und lehnte ſich auf ſeine Schaufel; indem kam Gackeleia herangehuͤpft und hatte eine Menge bunte Vogelfederchen in ihrer Schuͤrze geſammelt, und ſagte: „ Mutter, da ſind ſo ſchoͤne Feder¬ cheu, mache mir doch ſolche Huͤhnchen und Haͤhnchen dar¬ aus, wie du mir oft in Gelnhauſen gemacht! “— Gockel ſagte: „ Kind, dich ſchickt Gott; ja, das thue Frau Hinkel, mache ein paar Dutzend ſolche Voͤgelchen, ich will ſie fuͤr Brod und andres Noͤthige verkaufen. “— Frau Hinkel, welche eine ganze Sammlung ſolchen kleinen Gefluͤgels fuͤr das koͤ¬ niglich Geluhauſeniſche Huͤhner-Normal-Muſeum verfertigt hatte, machte nun aus Lehm und dieſen Federn allerlei ar¬ tige kleine Voͤgel; die Beine und Schnaͤbel wurden aus Dorn gemacht, und ſie ſahen recht artig aus. An den Tagen, da ſie hieran auf den verfallenen Stufen des trocknen Spring¬ brunnens ſitzend arbeitete, legte Gockel auf allen fruchtbaren30 Erdſtellen zwiſchen den Mauern Gartenbeete an, ordnete und verband alle Winkelchen mit Zaͤunen und aus umherliegenden Steinen zuſammengeſtellten Treppen. Er ſammelte alle Gar¬ tengewaͤchſe, die im verwilderten Schloßgaͤrtchen noch uͤbrig geblieben waren, und pflanzte ſie ſie fein ordentlich in die neu angelegten Beete.
Von den mitgebrachten Broden war das letzte ſchon ſeit einigen Tagen angeſchnitten, und Frau Hinkel hatte die zwei Dutzend Federvoͤgelchen fertig. Gockel nahm ſie und ſprach: „ Dieſe Thierchen ſollen uns Brod ſchaffen, bis wir leben¬ dige Huͤhnchen zu verkaufen haben “und ſomit empfahl er ihnen fleißig zu ſeyn und gieng fort durch den wilden Wald nach der Landſtraße zu. Kaum war er eine Stunde Wegs gegangen, als er einen Poſtillon ganz erbaͤrmlich blaſen hoͤrte. Er gieng auf den Schall zu, und ſah einen Mann in gel¬ bem Rock mit ſchwarzen Aufſchlaͤgen im Gebuͤſch herum krie¬ chen. Als ſie ſich erblickten, ſagte dieſer: „ Gott ſey Dank, daß da Jemand koͤmmt, mir aus der Noth zu helfen. “— „ Von Herzen gern, wenn's moͤglich iſt, “erwiederte Gockel, „ was giebt es, wo fehlt es? “— „ Seht, “fuhr der Mann fort, „ ich bin der Conducteur vom heiligen roͤmiſchen Reichs-Poſt¬ wagen und fahre jetzt nach Nuͤrnberg; da ich durch Gelnhau¬ ſen kam, war ein Laͤrm in der Stadt, daß der Huͤhnermi¬ niſter, Alles zuruͤcklaſſend, mit Frau und Kind verſchwunden ſey. Das aͤrgerte den Koͤnig Eifraſius, er ließ mich zu ſich rufen und ſagte: „ Herr Conducteur, will er mir gegen ein gutes Trinkgeld einen Gefallen thun? “— „ Nicht mehr als Schuldigkeit, ihre Majeſtaͤt, “ſagte ich. — Da ſagte der Koͤ¬ nig: „ Mein Huͤhnerminiſter, ein alter eigenſinniger deutſcher Degenknopf, iſt in Gnaden entlaſſen auf und davon gegan¬ gen, und hat nicht einmal ſeinen Gehalt fuͤrs letzte Viertel¬ jahr mitgenommen; ich will ihm nichts ſchuldig bleiben; wie ich vermuthe, iſt er in ſein wuͤſtes Stammſchloß im Ha¬ nauer Wald gezogen. Nehme er ihm ſein letztes Quartal31 mit und ſuche er ihn auszufragen; wenn er mir einen Zettel bringt, daß er es empfangen, ſo gebe ich ihm bei der Ruͤckkehr ein gutes Trinkgeld. “— Ich war zu Al¬ lem bereit; man lud mir einen Sack voll Kartoffeln, ei¬ nen Sack voll Mehl, einen Kuhkaͤs, einen Topf voll But¬ ter, einige Laib Brod und einen Korb mit Eiern auf, Alles mit der Adreſſe, an Seine Hochgeborne Excellenz Herrn Herrn Raugrafen Gockel von Hanau, koͤniglich Gelnhauſe¬ niſchen Exhuͤhnerminiſter in — da ſteht ein Fragezeichen. — Nun fahre ich ſchon ein paar Stunden herum und kann das Schloß nicht finden, und ich fuͤhre noch herum — aber es geht nicht — denn der Poſtwagen iſt mir umgefallen, und der ganze Korb mit Eiern iſt mir zerbrochen, ihr werdet die Beſcheerung ſehen. — Ich ließ den Poſtillon ſchon eine Stunde lang um Huͤlfe blaſen und ſuchte einſtweilen, bis Jemand kaͤme, uns den Wagen aufrichten zu helfen, hier unter den Baͤumen Pfifferlinge fuͤr einen Freund in Nuͤrn¬ berg. Das iſt die Geſchichte, jetzt kommt und helft. “
Gockel umarmte den Conducteur, knoͤpfte ſeinen Wam¬ mes auf, zeigte ihm ſeinen Orden und gab ſich als den Ex¬ huͤhnerminiſter zu erkennen. Niemand war froher als der Conducteur. Sie eilten nach dem umgefallenen Poſtwagen, trugen die Kartoffeln, das Mehl, das Brod, den Kaͤs, die Butter, die Gockel gehoͤrten, in ein dichtes Gebuͤſch, richte¬ ten den Poſtwagen wieder auf, wiſchten mit Gras das Ei¬ gelb von den zerbrochenen Eiern aus dem Wagen und ſchmier¬ ten die Raͤder damit. Gockel nahm ſeinen Siegelring, wor¬ auf ein doppelter Hahn eingeſtochen war, den er mit Ei¬ gelb beſtrich und dem Conducteur in ſein Poſtbuch als Be¬ ſcheinigung des Empfangs abdruckte. — „ Nun iſt alles vor¬ trefflich, Herr Graf, “ſagte der Conducteur, „ aber eine Ge¬ faͤlligkeit moͤchte ich mir erbitten. Ein Freund von mir, in Nuͤrnberg, ein Liebhaber von Raritaͤten, hat auf der Durch¬ reiſe in Gelnhauſen, im koͤniglichen Normalhuͤhnermuſeum,32 eine Sammlung kleiner, von Federn gemachter Huͤhnchen ge¬ ſehen, und wuͤnſchte um Alles iu der Welt zu wiſſen, wo dieſelben verfertigt werden, er koͤnnte bei ſeinem ausgebrei¬ teten Handel wohl hundert Dutzend davon gebrauchen. „ Gut, mein Freund, “erwiederte Gockel, „ ich kann ſie Ihnen verſchaffen, hier haben ſie gleich zwei Dutzend von neueſter Façon als eine Probe; wenn ſie hier wieder vorbeifahren, legen ſie nur dort in den hohlen Baum, was ihr Freund da¬ fuͤr bezahlt, ſie ſollen dort immer von Zeit zu Zeit einige Dutzend ſolchen Gefluͤgels vorraͤthig finden. Wenn ſie wieder kommen, bringen ſie mir etwas Drath und Zwirn und eine halbe Elle rothes Tuch mit, die Beine und den Kamm an den Thierchen ſchoͤner machen zu koͤnnen. “ Der Conducteur verſprach Alles, und da Gockel fragte, wie denn das Hand¬ lungshaus in Nuͤrnberg heiße, zog er eine leere Rauchta¬ baksduͤte aus der Taſche, fuͤllte die Huͤhnchen hinein und zeigte Gockel die Adreſſe: Gebruͤder Portorico ohne Rippen. — Da blies der Poſtillon recht ungeduldig. Gockel ſchuͤttelte dem Conducteur die Hand, der in den heil. roͤmiſchen Reichs¬ poſtwagen kroch, der gewiß ſehr ſchnell fortgefahren waͤre, weil er ſo gut geſchmiert war — aber der Kaſten war ſchwer, die Pferde muͤd, der Weg ſchlecht und der Poſtillon ſchlief.
Gockel packte ſogleich von Allem, was er erhalten hatte, ſo viel auf, als er tragen konnte, das Uebrige verdeckte er dicht mit Zweigen, um es Morgen vollends nach Haus zu bringen. Als er in das Schloß kam, rief er ſogleich: „ ge¬ ſchwind Frau Hinkel! den Keſſel uͤbers Feuer, ich bringe Lebensmittel, und nun zeigte er, was er gebracht, und er¬ zaͤhlte Alles, was er erlebt. “ Frau Hinkel kochte Kartof¬ feln, machte gebrannte Mehlſuppe, backte Pfannkuchen. Sie aſſen froͤhlich, ſtreuten den Voͤgeln Broſamen und giengen zufrieden ſchlafen. Am andern Morgen holte Gockel den uͤbrigen Vorrath und fuhr fort in dem wuͤſten Gebaͤude auf¬ zuraͤumen und einzurichten.
33Ihr Leben ward taͤglich ertraͤglicher in dem wilden Schloß. Gockel gieng oft ganze Tage in den Wald, bald zu jagen, bald um die Voͤgelchen und Huͤhnchen der Frau Hinkel in den hohlen Baum zu tragen, wo er immer fuͤr jedes zwei Kreuzer von Hrn. Gebruͤder Portorico ohne Rip¬ pen durch den Conducteur und neue Beſtellungen, und was er ſelbſt beſtellt, hingelegt fand. — Wenn Gockel weggieng, befahl er immer, was gearbeitet werden ſollte, und Alektryo horchte ſeinen Auftraͤgen jedesmal ſehr ernſthaft zu. Seine Befehle wurden aber nicht immer befolgt. Zum Beiſpiel: Gackeleia ſollte aus Weidenruthen Huͤhnerneſter flechten und die Weidenruthen in den Brunnen vor dem Schloßgarten le¬ gen, damit ſie ſich recht geſchmeidig flechten ließen; aber ſie that das ſehr nachlaͤſſig, war eine neugierige, naſchhafte kleine Spielratze, guckte in alle Vogelneſter, naſchte von al¬ len Beeren, machte ſich Blumenkraͤnze und hatte keine rechte Luſt zum Arbeiten, weßwegen der ſtrenge Alektryo ſie manch¬ mal mit großem Zorn ankraͤhte, ſo daß ſie erſchreckt zu ih¬ rer Arbeit zuruͤcklief. Darum faßte ſie einen ſtarken Unwil¬ len auf den alten Wetterpropheten und verklagte ihn bei der Mutter. Auch dieſe hatte keine Liebe zu Alektryo, denn, wenn ſie ſich manchmal uͤber der Gartenarbeit ermuͤdet auf einen Stein ſetzte und ſehnſuͤchtig an die Fleiſcher - und Baͤ¬ ckerladen zu Gelnhauſen dachte, begann Alektryo, der ihr immer wie ein beſchwerlicher Haushofmeiſter auf allen Schrit¬ ten nachgieng, auf den zu beſtellenden Gartenbeeten zu ſchar¬ ren und zu kraͤhen, um ſie an die Arbeit zu erinnern.
Als ſie nun einſtens ſo ſitzend eingeſchlafen war und vergeſſen hatte, der Henne Gallina Futter vorzuſtreuen und friſches Waſſer zu geben, traͤumte ihr auch von den Geln¬ hausner Braten und Eierwecken ſo klar und deutlich, daß ſie im Traum ſagte: „ ach es iſt Wahrheit, es iſt kein Traum; “da kraͤhte ihr Alektryo ſo ſchneidend dicht in die Ohren, daß ſie vor Schrecken erwachte und an die harte334Erde fiel. Darum hatte ſie noch einen viel groͤßern Unwil¬ len gegen den ehrlichen Stammhahn Alektryo, und jagte ihn uͤberall hinweg, wo ſie zu thun hatte. Auch haͤtte ſie ihm gerne laͤngſt den Hals abgeſchnitten, weil er ſie alle Morgen um 3 Uhr von ihrem Lager aufweckte. Aber er war ihr zu der Huͤhnerzucht, auf welche Gockel alle ſeine Hoffnung ge¬ ſtellt hatte, gar zu noͤthig.
Wenn nun Gockel Abends heimkehrte, kam ihm gewoͤhn¬ lich Alektryo entgegengeflogen, ſchlug mit den Fluͤgeln und kraͤhte ihm allerlei vor, als wolle er Hinkel und Gackeleia wegen ihrer Nachlaͤßigkeit verklagen, und dieſe verklagten den Hahn wieder und es gieng ein ſtrenges Nachforſchen Gockels uͤber Alles an, wo dann Hinkel und Gackeleia man¬ cherlei Verdruß bekamen, ſo daß ſie dem Alektryo taͤglich feindſeliger wurden. Das Alles waͤhrte ſo fort, bis die Henne Gallina dreißig Eier gelegt hatte, auf denen ſie bruͤ¬ tend ſaß. Auf dieſe Brut ſetzte Gockel alle ſeine Hoffnung fuͤr die Zukunft, und zuͤrnte darum ſo gewaltig auf Frau Hinkel, als ſie die Vorſprecherin der Raubvoͤgel werden wollte, die gern im Schloße aufgenommen geweſen waͤren, woruͤber ihr Gockel einen ſo derben Verweis gab, wie ich gleich anfangs erzaͤhlte.
Die Freude des guten Gockels uͤber ſeine bruͤtende Henne war ungemein groß, und da er taͤglich erwartete, daß die kleinen Huͤhnchen auskriechen ſollten, eilte er nach einer nahe gelegenen Stadt, Hirſe zu ihrem Futter zu kaufen, und em¬ pfahl ſowohl der Frau Hinkel als der kleinen Gackeleia ſehr auf die bruͤtende Gallina Acht zu haben, daß ihr ja niemals etwas mangle. Er gieng ſchon um Mitternacht weg, weil er einen weiten Weg vor ſich hatte. Frau Hinkel dachte nun einmal recht auszuſchlafen, und nahte ſich dem Hahn Alek¬ tryo, der noch auf ſeiner Stange ſchlafend ſaß, ergriff ihn und ſteckte ihn in einen dunkeln Sack, damit er den anbre¬ chenden Morgen nicht erblicken und ſie mit ſeinem Kraͤhen35 nicht erwecken moͤge, worauf ſie ſich wieder niederlegte und wie ein Ratze zu ſchlafen begann.
Das Toͤchterlein Gackeleia aber ſchlief nicht viel, denn ſie hatte ſich ſchon lange darauf gefreut, wenn der Vater Gockel einmal laͤnger abweſend ſeyn wuͤrde, ſich ein Vergnuͤ¬ gen zu machen, das ſie gar nicht erwarten konnte. Sie hatte naͤmlich bei ihrem Herumklettern in einem entfernten Winkel des alten Schloßes eine Katze mit fuͤnf Jungen gefunden und weder dem Vater noch der Mutter etwas davon geſagt, weil dieſe immer ſehr gegen die Katzen ſprachen. Gackeleia aber konnte ſich nie ſatt mit den artigen Kaͤtzchen ſpielen, ſie brachte alle ihre Freiſtunden bei denſelben zu und hatte der alten Katze den Namen Schurrimurri gegeben, die fuͤnf jungen aber Mack, Benack, Gog, Magog und Dema¬ gog genannt. Heute ſtand ſie nun in aller Fruͤhe leiſe ne¬ ben der ſchlafenden Mutter auf, froh, daß Alektryo ſie nicht verrathen koͤnne, denn ſie hatte wohl bemerkt, daß die Mut¬ ter ihn in den Sack geſteckt. Als ſie aber an dem Neſte der bruͤtenden Gallina voruͤbergieng, hatte ſie eine wunderbare Freude, denn ſieh da, alle die Eier waren kleine Huͤhnchen geworden, und piepten um die Henne herum und draͤngten ſich unter ihre ausgebreiteten Fluͤgel und guckten bald da, bald dort mit ihren niedlichen Koͤpfchen hervor. Gackeleia wußte ſich vor Freude gar nicht zu faſſen; anfangs wollte ſie die Mutter gleich wecken, dann aber fiel es ihr ein, ſie wolle es zuerſt ihren kleinen Kaͤtzchen erzaͤhlen, und meinte, die wuͤrden ſich eben ſo ſehr, als ſie ſelbſt, uͤber die ſchoͤnen Huͤhnchen freuen.
Schnell lief ſie nun nach dem Katzenneſt, und als ihr die alte Katze mit einem hohen Buckel entgegen kam und um ſie herumzuſchnurren begann, und die kleinen Kaͤtzchen hin¬ ter ihr drein zogen, ſprach Gackeleia: „ Ach, Schurrimurri! Gallina hat dreißig junge Huͤhnchen, und jedes iſt nicht groͤßer als eine Maus. “ Als die Katze dies hoͤrte, war ſie3 *36ſo begierig die Huͤhnchen zu ſehen, daß ihr die Augen fun¬ kelten. Da ſagte Gackeleia: „ wenn du huͤbſch leiſe auftreten willſt und nicht miauen, damit die Mutter nicht erwacht, ſo will ich dir die artigen Huͤhnchen zeigen; die kleinen Kaͤtz¬ chen koͤnnen auch mitgehen, die werden große Freude an den Huͤhnchen haben. “ Gleich lief nun Schurrimurri mit ihren Jungen vor Gackeleia her, und als ſie an den Stall gekom¬ men waren, ermahnte ſie dieſelben nochmals, recht artig zu ſeyn, und machte leiſe die Thuͤre auf. Da konnte ſich aber Schurrimurri nicht laͤnger halten, ſie ſetzte mit einem Sprunge auf die bruͤtende Gallina und erwuͤrgte ſie, und die jungen Kaͤtzchen waren eben ſo ſchnell mit den jungen Huͤhnchen fertig.
Das Geſchrei der Gackeleia und der ſterbenden Gallina weckte die Mutter, die noch auf dem Lager ſchlief und mit Entſetzen ihre ganze Hoffnung von der Katze erwuͤrgt ſah, die ſich, nebſt ihren Jungen, bald mit ihrer Beute davon machte. Gackeleia und Hinkel weinten und rangen die Haͤn¬ de, und der arme Alektryo, der das Wehgeſchrei der Sei¬ nigen wohl gehoͤrt hatte, flatterte und ſchrie in dem Sack.
Gackeleia wollte ſterben vor Angſt, ſie umfaßte die Kniee der Mutter und ſchrie immer: „ ach der Vater, ach der Vater, ach was wird der Vater ſagen, ach er wird mich umbringen; Mutter, liebe Mutter, hilf der armen Gacke¬ leia! “
Frau Hinkel war nicht weniger erſchreckt, als Gacke¬ leia, und fuͤrchtete ſich nicht weniger als dieſe vor dem ge¬ rechten Zorne Gockels, denn ſie hatte den wachſamen Alek¬ tryo in den Sack geſteckt. Als ſie das bedachte, fiel ihr auf einmal ein, ſie wolle den Hahn Alektryo als den Moͤrder der jungen Huͤhnlein angeben, und hoffte dadurch den Zorn Gockels auf dieſen unbequemen Waͤchter zu wenden. Sie nahm daher den Sack, worin der Hahn war, und ſagte: „ komm Gackeleia, wir wollen dem Vater, nacheilen und ihm37 den Alektryo als den Moͤrder der kleinen Huͤhner und der Gallina uͤberbringen, “und ſo eilten ſie nun beide den Go¬ ckel einzuholen, der im Walde herumſtrich, einiges Wild zu erlegen, das er bei dem Kraͤmer gegen Hirſe vertauſchen wollte.
Bald ſahen ſie ihn auch in einem Buſche zwei Schne¬ pfen, die ſich in einem Sprenkel gefangen hatten, in ſeinen Ranzen ſtecken; da fiengen ſie laut an zu weinen. Gockel ſchrie ihnen entgegen: „ Gott ſey Dank, ihr weinet gewiß vor Freude, Gallina hat gewiß dreißig ſchoͤne junge Huͤhnchen aus¬ gebruͤtet. “— „ Ach, “ſchrie Frau Hinkel, „ ach ja, aber! “— „ Aber, was aber? “ſagte Gockel, „ was aber weint ihr, dreißig Huͤhner, und immer ſo fort, entſetzlich viele Huͤhner! “— Da rief Hinkel: „ O Ungluͤck uͤber Ungluͤck, Alektryo, dein ſauberer Haushahn hat Gallina und alle die gegenwaͤrtigen und kuͤnftigen Huͤhner gefreſſen! Da hab ich ihn in den Sack geſteckt, da haſt du ihn, ſtrafe ihn, ich will ihn nie wieder ſehen. “ Mit dieſen Worten warf ſie dem vor Schreck verſteinerten Gockel den Sack mit dem Hahn vor die Fuͤße.
Gockel war uͤber die ſchreckliche Nachricht, die alle ſeine Hoffnungen zerſtoͤrte, ganz wie von Sinnen; „ ach, “rief er aus, „ nun habe ich Alles verloren, das Gluͤck weicht von meinem Stammhaus, alle meine Voreltern und Nachkom¬ men ſind betrogen durch den unſeligen Alektryo, den wir uͤber Menſchen und Vieh hoch geachtet haben. O! haͤtte ich ihn doch den drei morgenlaͤndiſchen Petſchierſtechern fuͤr den Geisbock und die Ziege verkauft, da haͤtten wir doch etwas gehabt. “ Als Frau Hinkel hoͤrte, daß er den Alektryo ſo gut haͤtte verkaufen koͤnnen, machte ſie dem Gockel bittere Vor¬ wuͤrfe, der immer trauriger ward, und endlich ſeinen alten pergamentenen Adelsbrief aus dem Buſen zog und zu ſeiner Frau ſagte: „ Hinkel, ſieh, was meinen Stamm immer be¬ wogen hat, den Alektryo zu ehren; da unten auf der gol¬ denen Buͤchſe, in welcher der treuloſe Alektryo als mein Fa¬38 milienwappen in Wachs abgebildet iſt, ſteht ein alter Fa¬ milienſpruch, nach welchem ich mit allen meinen Vorfahren, von dem Geſchlechte des Alektryo unſer Gluͤck erwartete. Die ſchriftliche Urkunde davon iſt bei der Verbrennung un¬ ſeres Schloſſes verloren gegangen, mein Großvater hat den Spruch aber zum ewigen Angedenken auf die goldene Sie¬ gelbuͤchſe ſtechen laſſen. Er lautet ganz klar: „ Alektryo bringt dir Gluͤcke ſelbſt um Un¬ dank. Gockel — Kopf — Kropf — Siegel — Brod gab. Was aber die Worte: Kopf, Kropf, Siegel, Brod gab, bedeuten ſollen, weiß ich nicht. “
Als er kaum die Worte ausgeſprochen hatte, traten die drei Petſchierſtecher, die ihm neulich den Hahn abkaufen wollten, aus dem Gebuͤſch und ſprachen: „ was befehlen der Herr Graf Gockel von Hanau von uns? “— „ Wie ſo, “ſagte Gockel unwillig, „ was ſoll ich befehlen? “— „ Der Herr Graf, “antworteten die Maͤnner, „ haben doch unſre Namen, Kopf, Kropf und Siegel zweimal ausgeſprochen, denn ſo heißen wir, ſeit unſre Voraͤltern nach Deutſchland gezogen. — Aber vielleicht wollen der Herr Graf ſich ein neues Petſchaft ſtechen laſſen; denn außerdem, daß wir in der Aſtrologie, Phyſiognomie, Chiromantie, Geomantie, Alek¬ tryomantie, Coscinomantie, Hydromantie, Cryſtallomantie, Cabbala, Goetie, Diplomatie und Prophetie unbegreiflich billige Privatſtunden geben, und daß wir Huͤhneraugen ſchnei¬ den, zerbrochenes Porzellain kitten und Kaffeemuͤhlen ſcharf machen, ſind wir hauptſaͤchlich Petſchierſtecher, was durch¬ aus zur Diplomatie, wegen der Siegelkenntniß an den Ur¬ kunden, und zur Verfertigung der Talismane noͤthig iſt. Ach, Herr Graf! es gehoͤrt heut zu Tag ein entſetzlicher Umfang dazu, um in den Wiſſenſchaften komplett zu ſeyn; es werden grauſame Forderungen gemacht, und was hat man davon, nichts als die Ehre, daß Alles in einander39 greift mit leeren Haͤnden. Ja, wenn der Handel mit Vieh, mit alten Kleidern und Haſenpelzen nicht waͤre — Herr Graf! — wahrhaftig die hohen Wiſſenſchaften machen die Suppe nicht fett. “— „ Alſo, daß ich meine Rede nicht vergeſſe, wollen der Herr Graf ſich nicht ein Petſchaft ſte¬ chen laſſen? — denn wir ſehen, daß ſie Ihr Siegel in den Haͤnden haben, welches ein Siegel des Gleichniſſes, voll der Weisheit und ausnehmend ſchoͤn iſt. “
„ Ach, “ſagte Gockel, „ ich moͤchte mein Wappen lieber ganz vernichten, denn der Hahn Alektryo, der darauf abge¬ bildet iſt, hat uns ſchaͤndlich betrogen, “und nun erzaͤhlte er ihnen ſein ganzes Ungluͤck. — „ Sehen der Herr Graf, “ſagte der eine Petſchierſtecher, „ wie gut wir es mit Ihnen gemeint, da wir Ihnen neulich den Hahn abkaufen wollten; haben wir nicht geſagt, Sie wuͤrden ihn naͤchſtens vielleicht gern los werden, wenn ihn nur Jemand wollte, das lehrte uns die Prophetenkunſt. “
„ Wie ſo, gut gemeint, “ſagte Gockel, „ wie konntet ihr denn wiſſen, daß mich der Hahn in ſolches Leid verſetzen werde? “ Da erwiederte der eine Morgenlaͤnder: „ dieß Leid iſt ja deutlich in dem alten Familienſpruch ausgeſprochen, welchen unſre Voraͤltern ſelbſt auf die goldne Siegelbuͤchſe geſtochen haben; weswegen auch abgekuͤrzt unter dem Spru¬ che ſteht, daß durch dieſe Arbeit Gockel dem Kopf, dem Kropf, dem Siegel Brod gab, und aus Dankbarkeit fuͤr dieſes Brod, das Ihre Voraͤltern den unſern gegeben, wollten wir, da der Herr Graf in Ungnade und Armuth gerathen iſt, Ihro Excellenz den Hahn abkaufen, weiteres Ungluͤck von Ihnen abzuwenden. “
„ Das iſt dankenswerth, “erwiederte Gockel, „ aber ich ſehe in dem Spruche gar keine Ungluͤcksprophezeiung, ſon¬ dern gerade das Gegentheil; ſteht nicht in den Worten:
Alektryo bringt dir Gluͤcke ſelbſt um Undank. ganz deutlich ausgeſprochen, daß der Hahn ſelbſt fuͤr Un¬40 dank ſeinem Herrn Gluͤck bringen werde? “— „ Ja, “ſagte da der zweite Petſchierſtecher, „ der Spruch iſt, wie viele ſol¬ che Spruͤche, in der Flattirmanier geſtellt, große Herrn flat¬ tirt man gern. Die Urkunde iſt ein bischen verſchmeichelt und aus Menſchenfreundlichkeit ein wenig aufgemuntert; ſo wie man einem alten Roß die Haare aus den Ohren ſchnei¬ det und die Zaͤhne feilt, daß es juͤnger ausſieht, haben unſre Vorfahren dem damaligen Graf Gockel den Schrecken erſpa¬ ren wollen und haben ein r aus einem e und aus einem u ein uͤ gemacht, denn der Spruch heißt eigentlich:
Alektryo bringt die Glucke ſelbſt um, o Undank! was durch die Thatſache bewieſen iſt, denn der undankbare Alektryo hat ja die Glucke ſammt den Kuͤchlein umgebracht; wir aber muͤſſen dieſes verſtehen, denn wir ſind von undenk¬ lichen Zeiten aus dem Stamme der Petſchierſtecher. Von un¬ ſern Voraͤltern iſt das Siegel Juda, das Siegel Pharaos, das Siegel Ahabs, das Siegel Ahasveri und das Siegel des Darius geſtochen, womit er den Daniel in die Loͤwen¬ grube verſiegelte. Wir ſind Leute vom Fach, der Herr Graf koͤnnen ſich auf die Guͤte unſrer Auslegung verlaſſen, und ſo ſie ſich nicht von erſter Qualitaͤt bewaͤhrt, koͤnnen der Herr Graf ſie uns wieder zuruͤckgeben. “
Gockel ganz von der Rede der Maͤnner und ſeinem Un¬ gluͤcke uͤberzeugt, bat ſie, ihm doch nun den Bock und die Ziege fuͤr den Hahn zu geben, aber das wollten ſie nicht mehr und ſprachen: „ was ſoll uns der Hahn, er iſt ein Ungluͤckshahn, er kann uns ein Leid anthun, wer wird einen Ungluͤckshahn eſſen, und bleibt er am Leben, er koͤnnte ei¬ nem ein Ungluͤck ankraͤhen; aber laſſen ihn der Herr Graf einmal ſehen, man kauft keine Katze im Sack, viel weniger einen Hahn. “ Da zog Gockel den Hahn aus dem Sack, und ſprach weinend: „ o Alektryo, Alektryo! welch Leid haſt du mir gethan. “ Alektryo ließ Kopf und Fluͤgel haͤngen und war ſehr traurig; aber als ihm der eine Petſchierſtecher an41 den Kropf fuͤhlen wollte, ward er ganz wuͤthend; alle ſeine Federn ſtraͤubten ſich empor, er hackte und biß nach ihm und ſchrie und ſchlug, ſo heftig mit den Fluͤgeln, daß der Mann zuruͤckwich, und Gockel den Hahn kaum halten konnte.
„ Schau eins, “ſagten die drei Petſchierſtecher, „ man ſoll noch Geld geben fuͤr ſo ein wildes Ungeheuer, es will die Leute freſſen; wer wird ihn kaufen? “ Als aber Gockel ihn immer wohlfeiler bot, ſagten ſie ihm endlich: „ wir ge¬ ben dem Herrn Grafen, wenn er uns den Hahn nach Hauſe tragen will, neun Ellen Zopfband dafuͤr, daß er ſich einen ſchoͤnen langen Zopf binden kann, wie ſichs einem Grafen gebuͤhrt, “und Gockel willigte ein, um nur etwas fuͤr den Alektryo zu erhalten.
Frau Hinkel und Gackeleia hatten alles dieſes ſtill mit angehoͤrt und giengen mit ſchwerem Gewiſſen nach Hauſe, denn ſie wußten wohl, daß die Dreie die Unwahrheit ſag¬ ten. Gockel aber nahm den Alektryo unter den Arm und folgte traurig den drei Petſchierſtechern durch den Wald nach ihrem Wohnorte. Anfangs giengen ſie dicht um ihn; weil der Hahn aber dann immer nach ihnen biß und ſchrie, ba¬ ten ſie Gockel, einige Schritte mit dem grauſamen Unge¬ heuer hinter ihnen her zu gehen. Gockel hoͤrte oͤfter, wie die drei unheimlichen Maͤnner zu einander ſagten: „ Kropf¬ auf, Siegelring, Kopf ab, “und wie ſie dann miteinander zankten und immer einer zum andern ſchrie: „ nein ich Sie¬ gelring, nein du Kropf auf, nein du Hals ab, “und als Gockel ſie fragte, warum ſie immer miteinander zankten, ſagten ſie: „ ei, es will keiner von uns den Hahn ſchlach¬ en, weil er ein ſo grauſames Thier iſt; wenn der Herr Graf ihn gleich ſchlachten, ſo wollen wir Ihro Excellenz den Kamm, die Fuͤße und Sporen und Schweif geben, die koͤnnen Sie auf die Muͤtze ſetzen zum ewigen Andenken, — ein ſchoͤnes Monument, ein ſtatuirtes Exempel fuͤr den Un¬42 dank; drehen Sie ihm unterm Tragen doch ganz leiſe den Hals herum. “
„ Gut, “ſagte Gockel, und faßte den Alektryo an der Kehle. Da fuͤhlte er aber etwas ſehr Hartes in ſeinem Kropfe, und der Hahn bewegte ſich ſo heftig dabei, daß die Maͤnner ſich ſehr fuͤrchteten und zu Gockel ſagten: „ Ach gehen der Herr Graf ein wenig weiter hinter uns her. “ Das that Gockel, und als er wieder an den Hals des Alektryo faßte, fuͤhlte er das Harte im Kropfe wieder, und machte ſich allerlei Ge¬ danken, was es doch nur ſeyn koͤnne. Da ſagte auf ein¬ mal der Hahn mit deutlichen Worten zu ihm:
Gockel blieb vor Schrecken und Ruͤhrung ſtehen, als er den Alektryo reden hoͤrte, aber er beſann ſich bald eines Andern, und wollte ihnen nicht mehr den koͤſtlichen Hahn, der reden konnte, um neun Ellen Zopfband nachtragen, und rief ihnen zu, links in das Gebuͤſch zu treten, jetzt wolle er das grauſame Ungeheuer toͤdten.
Sie ſprangen ſchnell in das Gebuͤſch, aber da war eine mit Reiſern bedeckte Wolfsgrube, die kannte Gockel gut, denn er hatte ſie ſelbſt gegraben, und Plumps fielen alle drei morgenlaͤndiſche Petſchierſtecher hinein, und riefen dem Go¬ ckel, ihnen herauszuhelfen; aber dieſer gab keine Antwort, und ſchlich ſich in die Naͤhe der Grube, um zu hoͤren, was ſie da unten fuͤr Betrachtungen anſtellen wuͤrden.
„ O weh mir! “ſchrie der Eine, „ da haben wir es, wer dem Andern eine Grube graͤbt, faͤllt ſelbſt hinein; was nuͤtzt uns nun der Siegelring des Darius, womit er die Loͤwen¬ grube verſchloſſen, wir ſitzen in der Wolfsgrube. Alle Muͤhe43 und Arbeit und Salomonis Siegelring in des Hahnen Kropf iſt verloren fuͤr uns, der Gockel muß es gemerkt ha¬ ben, daß Kopf, Kropf, Siegel nicht unſere Namen, ſondern nur einzelne Worte des alten geheimen Spruches ſind, wel¬ cher ſagt: man muͤſſe dem Hahnen den Kopf ab und den Kropf aufſchneiden, um Salomonis Siegelring aus demſel¬ ben zu erhalten, der einem giebt, Herz was verlangſt du? Jugend und Reichthum, alle Guͤter der Welt, Geld! — Geld! — Geld! — Geld! “—
Dann ſchrie der Andere: „ o wehe uns, daß wir jemals etwas von dem Ring in dem Kropfe des Hahnen erfahren haben; o haͤtten unſere Vaͤter doch niemals in dem alten Gockelſchloß nach Schaͤtzen gegraben, und dort das ganze Geheimniß auf dem Grabſteine eingehauen geleſen, ſo haͤt¬ ten wir Ruhe gehabt, jetzt ſchwebt uns der Ring immer vor den Augen, der einem giebt, Herz was verlangſt du? Jugend und Reichthum, alle Guͤter der Welt! — Geld! — Geld! — Geld! — Geld! “
Nun ſchrie der Dritte: „ o Ungluͤck uͤber Ungluͤck, alle Muͤhe und Arbeit verloren! wie lange haben wir dem Koͤ¬ nig von Gelnhauſen zugeſetzt, wie viel haben wir an ſeine Miniſter ſpendirt, bis ſie den Gockel ins Elend gebracht, damit wir ihm den Hahn leicht abkaufen koͤnnten; haben unſere Eltern doch allein das Petſchierſtechen gelernt, um dem Hahn naͤher zu kommen, da ſie ſein Portrait nach der Natur auf das Grafenſiegel ſtachen, wo ſie ihm auf den Zahn fuͤhlen konnten, ob er nach dem Tod des fruͤhern Hahns, als deſſen erſtgeborner Sohn, auch den Ring wieder im Kropf habe. — Wie haben wir muͤſſen laufen von Heddern¬ heim nach Krakau, von Krakau nach Bockenheim, von Bocken¬ heim nach Conſtantinopel, von Conſtantinopel nach Fuͤrth, von Fuͤrth nach Jeruſalem, von Jeruſalem nach Worms, von Worms nach Cairo, von Cairo wieder nach Heddernheim und von Hed¬ dernheim wieder in die ganze Geographie, laufen, laufen um zu44 lernen die Kabbala, Gicks Gacks und Kikriki, die große Alektryomantie, bis wir endlich den Spruch auf dem Grab¬ ſtein in der Burg Gockels verſtehen konnten. — Weh, Alles umſonſt, Alles verloren! Wenn wir nur aus dem Loche waͤren, und wer bezahlt mir nun die Katze, die ich mit ihren fuͤnf Jungen ſelbſt aus meinem Beutel gekauft und in das Schloß geſetzt habe, damit ſie die Gallina ſammt der Brut freſſen ſollte, auf daß dem Gockel der Hahn feil wuͤrde? Wer bezahlt mir die Katze? ich will mein Geld fuͤr die Katze. Haͤtte ich ihr den Pelz doch abziehen und ſie als einen Haſen verkaufen und den Pelz auch ver¬ kaufen koͤnnen, ich will mein Geld fuͤr die Katze! Die Katze iſt verloren, der Ring iſt verloren, der einem giebt, Herz was verlangſt du? Jugend und Reichthum, alle Guͤter der Welt! — Geld! — Geld! — Geld! — Geld! “—
Da Gockel uͤber ihr Geſchrei lachen mußte, glaubte der erſte Petſchierſtecher, der zweite habe ihn ausgelacht, und ſchlug nach ihm; der ſchrie und ſagte, der dritte ſey es ge¬ weſen; da ſchlug dieſer nach ihm und daraus entſtand eine allgemeine Pruͤgelei unter den Dreien, woruͤber Gockel mit Alektryo die Grube verließ und nach ſeinem Schloße in tie¬ fen Gedanken zuruͤckgieng.
Gockel hatte gar vieles erfahren, die Luͤge der Frau Hinkel und der kleinen Gackeleia, die Anweſenheit einer al¬ ten Schrift auf einem Grabſtein in ſeiner Schloßkapelle, das Geheimniß von dem Siegelring in des Hahnen Kropf und die ganze Betruͤgerei der morgenlaͤndiſchen Petſchierſtecher. Alles dieſes machte ihn gar tiefſinnig und betruͤbt; er druͤckte den edlen Hahn Alektryo einmal um das andremal an ſein Herz und ſagte zu ihm: „ nein, du geliebter, ehrwuͤrdiger, koſtbarer Alektryo, und wenn du den Stein der Weiſen in deinem Kropf haͤtteſt, du ſollſt darum durch meine Hand nicht ſterben, und ehe Gockel nicht verhungert, ſollſt du auch nicht umkommen. “ Nach dieſen Worten wollte Gockel dem45 Alektryo einen Biſſen Brod geben, der aber ſchuͤttelte den Kopf und ſprach gar beweglich:
„ O Alektryo, “ſprach Gockel mit Thraͤnen, „ ein ſtrenges Gericht ſoll uͤber die Katze ergehen, deine verſtorbene Gal¬ lina und deine dreißig Jungen ſollen geraͤcht werden, und was noch von ihnen uͤbrig iſt, ſoll in einem ehrlichen Grabe beſtattet werden; aber du, du mußt bei mir blei¬ ben. “ Der Hahn blieb immer bei ſeiner Rede, er muͤſſe in jedem Falle ſterben, und wolle ihn Gockel nicht enthaupten, ſo werde er ſich zu Tode hungern; Gockel werde ſchon heute in der wuͤſten Schloßkapelle noch Alles erfahren und dann kurzen Proceß machen.
Es war Nacht geworden: als Gockel nach Hauſe kam. Frau Hinkel und Gackeleia ſchliefen ſchon, denn ſie erwar¬ teten heute den Vater nicht zuruͤck, weil ſie glaubten, er ſey mit den Kaͤufern des Alektryo nach der Stadt gegangen. Zuerſt ſchlich ſich Gockel nach dem Winkel, wo die moͤrde¬ riſche Katze mit ihren Jungen ſchlief, Alektryo zeigte ihm den Weg. Gockel ergriff ſie alle zuſammen und ſteckte ſie in denſelben Sack, in welchem Alektryo gefangen gelegen war. Ach wie trauerten Gockel und Alektryo, als ſie die Federn und Gebeine der guten ermordeten Gallina und ihrer Kuͤchlein um das Neſt der Katze herumliegen ſahen. Sie weinten bittere Thraͤnen mit einander und Alektryo ſam¬ melte, mit ſeinem Schnabel herumſuchend, alle Beinchen und Federn der Ermordeten in die Muͤtze Gockels, der ſie ihm46 hiezu hinhielt. Dann ſprach Alektryo zu Gockel, indem er traurig vor ihm herſchritt, Kamm und Schweif niederſenkte und die Fluͤgel haͤngen ließ, als begleite er wie ein Kriegs¬ mann mit geſenkter Fahne und niedergewendetem Gewehr eine Leiche zu Grab:
So giengen ſie wie ein ſtiller Leichenzug zu der wuͤſten Kapelle, Alektryo ſang eine leiſe Lamentation und die Voͤ¬ gel aus dem Schlafe erwachend guckten hie und da aus den Neſtern[und] lamentirten, ohne die einfache Wuͤrde der erha¬ benen Trauerzeremonie zu ſtoͤren, in ſanfter Harmonie ein bischen mit. Der Himmel ſelbſt hatte ſeine Sterne mit Wolken verhuͤllt und der Mond, mit Thraͤnen im Auge, ſchimmerte bleich durch einen Schleier der Wehmuth. Die halbe Natur ſtimmte in das ſchoͤne Ganze dieſer eben ſo ruͤh¬ renden als wuͤrdigen Feier mit ein, wobei auch die ſo ſinnige Mitwirkung der Buͤſche und Kraͤuter und Blumen ruͤhmlich zu erwaͤhnen iſt, denn die Glockenblumen, die ehr - und tu¬ gendſame Jungfer Campana laͤutet ganz mitleidig mit allen ihren blauen Glocken, und die bewußten weißen Roſen, die bei Feierlichkeiten immer ſo beliebten weißgekleideten Maͤd¬ chen, goſſen Schalen voll reichlichen Thraͤnenthaus vor dem Zuge aus; man bemerkte unter den Leidtragenden die ſo acht¬ bare Klagejungfrau Rosmarin, die demuͤthige Familie Thy¬ mian, die Miß Lavendel, die Comteſſe Quentel und viele andre edle Familien. Auch die barmherzigen Schweſtern Jungfer Meliſſa, Krauſemuͤntze, Kamille, Schaafgarbe, Koͤnigskerze, Ehrenpreiß, Baldrian, Himmelsſchluͤßel be¬ wieſen ihre innigſte Theilnahme. Vor allen andern des ſchoͤ¬ nen Blumengeſchlechtes aber beurkundete Fraͤulein Reſeda, welche ſo oft im Wochenblaͤttchen anzeigt, daß ſie mehr auf47 gute Behandlung als großen Gehalt ſehe, den guten Geruch aller ihrer Verdienſte. Der allgemeine Blumen-Notarius Pub¬ licus Salomons-Siegel bewaͤhrte durch ſeine Theilnahme, daß ſein Name in großem Bezug mit dieſem merkwuͤrdigen Ereigniſſe ſtehe. Kurz die Theilnahme aller Kraͤutlein war ſo groß, daß ſogar die faule Grethe unter ihnen bemerkt wurde, der redliche gute Heinrich hatte ſie aufgeweckt, daß auch ſie mit ihm dem Alektryo ihr Beileid bezeige.
O wie kindlich, einfaͤltig ruͤhrend ſprach ſich die Theil¬ nahme der frommen Kloſterſchweſtern, Marienkinder genannt, aus, welche ihr Kloͤſterchen in dem mit Erde erfuͤllten trocke¬ nen Becken des verfallenen Springbrunnens zu Fuͤßen des zerbrochenen Liebfrauenbildes bewohnten. Gackeleia nannte dieſes mit lauter Marienpflaͤnzchen uͤberwachſene Brunnenbe¬ cken gewoͤhnlich ihr Marienkloſtergaͤrtchen, und pflegte es beſſer, als alle anderen Gartenbeete. Alle Marienkaͤferchen, die ſie fand, ſetzte ſie hinein. Sie hatte ſich eine Bank da¬ rin bereitet, und neben dieſer ſtand das Kraͤutlein Unſerlieb - Frauenbettſtroh. Da trieb Gackeleia gewoͤhnlich ihre Spiele¬ reien. Sie hatte das liebe Dreifaltigkeitsbluͤmchen, das auch Jelaͤngerjelieber und Denkeli und unnuͤtze Sorge ge¬ nannt wird, zu Fuͤßen des Liebfrauenbildes gepflanzt, weil die Mutter ihr geſagt hatte, daß dieß Bluͤmchen in Hen¬ negau Jeſusbluͤmchen heiße. Da nahm dann Gackeleia manchmal ein ſolches Jeſusbluͤmchen und legte es auf das Kraͤutchen Marienbettſtroh und wiegte es hin und her und ſang dazu:
Als der Leichenzug Gallina's an dieſem Mariengaͤrtchen voruͤbergieng, war die Betruͤbniß von deſſen Bewohnerinnen um ſo groͤßer, als ihre Freundin Gackeleia dieſen hoͤchſt trau¬ rigen Todesfall veranlaßt hatte; ach, ſie fuͤhlten Alle in ih¬ rem frommen Herzen, als theilten ſie die Schuld Gackeleia's. Da ſtanden nun die lieben Kraͤutchen, die Marienkinder, in einer Reihe. Schweſter Margarita Marienroͤschen, Schwe¬ ſter Chardonetta Mariendiſtel, Schweſter Cuscutta Marien¬ flachs, Schweſter Spergula Mariengras, Schweſter Gre¬ mila Marienhirſe, Schweſter Alchimilla Marienmantel, Schweſter Mentha Marienmuͤnze, Schweſter Paͤonia Ma¬ rienroſe, Schweſter Calceola Marienſchuh und auch die kleine feine Novize Mignardiſa Marientroͤpfchen hatte ihr gefranztes Trauerſchleierchen ganz naß geweint. Alle ſtanden ſie in ſtil¬ ler Andacht und dufteten ein de profundis, und einer jeden hatten die Marienkaͤferchen eine brennende Kerze in die Hand gegeben, und die Laienſchweſtern Campanula, Marienhand¬ ſchuh und Mariengloͤcklein laͤuteten mit den blauen, violet¬ ten und weißen Kloſtergloͤckchen gar beweglich und harmo¬ niſch. Nirgends aber ſprach ſich Trauer, Mit - und Beileid tiefer und wahrer aus, als unter der uralten Linde, nahe bei dem Eingang in die Kapelle. Es muͤſſen ſich theure Gockelhinkelſche Erinnerungen an dieſe klaſſiſche Stelle knuͤ¬ pfen; Ortsnamen und Bewohner zeugen dafuͤr. Die Linde heißt von Olims Zeiten her die Hennenlinde, das kleine Feldkreuz unter ihr, worauf eine Henne ausgehauen, heißt das Hennenkreuz. Die drei zu ewiger Anbetung und Fuͤr¬ bitte verlobten adeligen Kloſterfrauen, die drei reinen ſchnee¬ weißen Lilien, welche zu Haͤupten dieſes Kreuzes ſtehen, ſen¬49 deten Weihrauch und Gebete aus den Opferſchalen ihrer Kelche empor.
Zu Fuͤßen des Hennen-Kreuzes trauerte in ſtummem Schmerz ein adeliger Fraͤuleinverein von lauter Pflanzen und Kraͤutern, welche der Graͤfin Hinkel von Hennegau namens¬ verwandt und ſeit Olims Zeilen in dieſem Schloße einhei¬ miſch waren. Hier weinten unter dem Vorſtand der alle Schmerzen uͤbernehmenden Fraͤulein Graſette Fetthenne ihre ſtillen Thraͤnen die edlen Fraͤulein Moscatellina von Hahnen¬ fuß, Ornitogalia von Huͤhnermilch, Serpoleta von Huͤhner¬ klee, Morgelina von Huͤhnerbiß, Cornelia von Hahnenpfoͤt¬ chen, Oſterluſtia von Hahnenſporn, Cretellina von Hahnen¬ kamm und Esparſetta von Hahnenkaͤmmchen. — Dank den edlen ſchoͤnen Seelen!
Es haben ſich außerdem allerlei Geruͤchte von außeror¬ dentlichen Erſcheinungen verbreitet, die bei dieſem Begraͤb¬ niß eingetreten ſeyn ſollen, und es iſt noch jetzt das Gerede unter den Voͤgeln der Umgegend davon: „ es ſey ein Comet in der Geſtalt eines Paradiesvogels am Himmel geſehen worden, und unter der Linde haͤtten die drei Lilien zu leuchten begonnen, Sterne ſeyen in ſie niederſinkend geſehen worden und vor ihnen ſey eine ſchoͤne edle Frau, eine Graͤfin von Hennegau, erſchienen und habe beim Voruͤbergang der Leiche die Worte geſungen:
worauf Alles verſchwunden ſey. “ Wir ſtellen dieſe Geruͤchte, als dem Reiche der Phantaſie angehoͤrig, unverbuͤrgt dem Glauben eines Jeden anheim.
Als Gockel und Alektryo in der dachloſen, Buſch und Baum durchwachſenen Kapelle mit den Ueberreſten Gallina's angekommen war, ſchuͤttete er dieſelben fein ſachte auf die Stufen des zerfallenen Altares aus und zog ſeine Muͤtze450wieder uͤber die Ohren, weil er wohl wußte, es koͤnne ihm bei ſeiner Anlage zu rheumatiſchem Kopf -, Zahn - und Oh¬ renweh unmoͤglich geſund ſeyn, das nicht mehr dicht be¬ haarte Haupt dem kuͤhlen Nachtthau auszuſetzen. Hierauf ſprach der treue Alektryo, der nicht von den Ueberreſten ſei¬ ner Familie wich, zu Gockel:
Da brach Gockel ihm Reiſer von einem dort ſtehenden Wachholderbuſch und flocht eine Art Neſt daraus, welches er auf die Stufe des Altares ſetzte. Alektryo legte alle die Beinchen der Gallina und ihrer Jungen in dieſem Neſt in einen wohlgeordneten Scheiterhaufen zuſammen, fuͤllte dieſen mit den Federn und legte den Kopf und die Koͤpfchen der Seinigen darauf.
Indeſſen blickte Graf Gockel nachdenklicher als je den alten Grabſtein an, der hinter dem Altar in der Wand ein¬ gemauert war; es war ſein erſter Ahnherr, der Urgockel, mit einem Hahnen auf der Schulter und einem ABC-Buch in der Hand, in bedeutender Groͤße darauf abgebildet, und zu ſeiner Linken war an der Mauer eine Reihe von Bildern aus ſeinem Leben in Stein gehauen. Gockel wußte nicht viel von dem Urgockel und noch weniger von der Bedeutung der Bil¬ der; die Hauschronik war mit dem Schloß verbrannt. Er wußte nur den alten Familiengebrauch, daß die Grafen Go¬ ckel immer den Alektryo in Ehren hielten, und daß er ihrem Haus Gluͤck bringe.
51Als Alektryo mit der Ordnung der Gebeine ſeiner Fa¬ milie fertig war, ſcharrte er die Erde von einer Marmor¬ platte, die vor dem Altar am Boden lag, und Gockel rei¬ nigte ſie vollkommen. Auf dieſer Platte waren allerlei Zei¬ chen, wie Hahnen und Huͤhner ſie mit ihren Pfoten im Schnee machen, eingegraben. Alektryo ſprach:
Gockel konnte aus dem Gekritzel nicht klug werden und ſprach:
Da erwiederte Alektyro:
Nun las Alektryo ihm folgende Worte von der Mar¬ morplatte:
Da ſah nun Graf Gockel deutlich, daß die Eltern der Petſchierſtecher ſchon ſeine Vorfahren bei dem Spruch auf dem Wappen betrogen hatten, und daß die Worte: Kopf, Kropf, Siegel gar nicht ihre Namen waren. Alles Gehoͤrte erweckte dunkle Erinnerungen wie von Maͤhrchen aus ſeiner fruͤheſten Jugend in ihm, und begierig, von der Geſchichte ſeiner Vorfahren etwas zu wiſſen, ſprach er zu dem Hahnen:
Da erwiederte Alektryo:
Graf Gockel nahm nun den Alektryo unter den Arm, faßte mit der Hand an ſeinen Kropf und ſprach dieſe Worte ganz feierlich zu dem Bilde Urgockels an der Wand. Da rauſchte es dumpf in dem Steinbild, der ſteinerne Hahn Ur¬ gockels ſchlug ſich mit den Fluͤgeln in die Seite, daß Moos und Kalk niederfiel; er ſtreckte den Hals und kraͤhte, wenn gleich ein wenig heiſer, doch ſo laut und feierlich, als wolle er den Schlafenden den juͤngſten Tag verkuͤnden, und Alek¬ tryo antwortete ihm mit ehrfuͤrchtigem Ernſt.
Nun aber fiel hie und da bruͤchiges Geſtein an der Wand raſſelnd nieder, es regte ſich das ſteinerne Bild Urgockels, hob langſam die Haͤnde, ſtreckte ſich, rieb ſich die Augen, gaͤhnte etwas zu laut, machte aber dabei ein Kreuz vor dem Mund, welches ein ſchoͤnes Zeugniß fuͤr die54 fromme Sitte des finſtern Mittelalters war; er ſchob ſich auch die Muͤtze ein wenig hin und her und nießte ſehr hef¬ tig, und Graf Gockel ſagte ernſthaft: „ wohl bekomm's! “und er erwiederte: „ ſchoͤnen Dank! “— Dann aber ſtellte er ſich ruhig in Poſitur, deutete der Reihe nach auf die Bilder an der Mauer hin und las dabei aus ſeinem ABC-Buch ſchoͤn deutlich wie ein verſtaͤndiger Knabe, aber freilich, wie es von ſeiner Zeit nicht anders zu erwarten war, ohne Ge¬ fuͤhl, ohne Betonung, ohne Ausdruck, ohne Deklamation, etwas eintoͤnig folgende Reime ab:
Nach dieſen Worten ſchwieg Urgockel ſtill und war ein lebloſes Steinbild wie vorher. Graf Gockel, der waͤhrend der Explication die Bilder der Reihe nach betrachtet hatte, ſchuͤttelte59 den Kopf und ſprach: „ curios, curios, was doch einem Men¬ ſchen alles paſſiren kann. Es iſt und bleibt doch halt im¬ mer ein hoͤchſt merkwuͤrdiger klaſſiſcher Boden, die Gegend zwiſchen Hanau und Gelnhauſen! “— dann wendete ſich Gockel zu Alektryo und fuhr fort: „ o! nun weiß ich Alles, verſtehe ich Alles, theurer ſchaͤtzbarer Freund meines Stam¬ mes; aber ſage mir doch, wenn es zu fragen erlaubt iſt, wie iſt dann dieſer unvergleichliche Siegelring Salomonis eigentlich in deinen Kropf gekommen? “— da erwiederte Alek¬ tryo:
„ Wohlan, “ſprach Gockel, „ ſo will ich dann ſogleich all¬ hier ein hochnothpeinliches Halsgericht halten, du ſollſt Zeter uͤber die Moͤrder der Deinigen rufen und ſtrenge Genugthu¬ ung erhalten. — Dann aber will ich an dir thun, was du verlangſt. — Rufe ſogleich als Herold meines Stammes alle Bewohner dieſes Schloßes vor die Schranken. “
Da nun eben der Morgen graute, flog Alektryo auf die hoͤchſte Giebel-Mauer des Schloßes und kraͤhte dreimal ſo laut und heftig in die Luft hinein, daß ſein Ruf wie der60 Schall einer Gerichtstrompete von allen Waͤnden wiederhallte, und alle Voͤgel erwachten und ſtreckten die Koͤpfe aus dem Neſte hervor, um zu vernehmen, was er verkuͤnde; und da ſie hoͤrten, daß er ſie zu Recht und Gericht gegen die moͤr¬ deriſche Katze vor den Raugrafen Gockel von Hanau rief, fiengen ſie an, mit tauſend Stimmen ihre Freude uͤber die¬ ſen Ruf zu verkuͤnden, ſchluͤpften alle aus ihren Neſtern, ſchuͤt¬ telten ſich die Federn und putzten ſich die Schnaͤbel, um ihre Klagen vorzubringen, und flogen in den Raum der Kapelle, wo ſie ſich huͤbſch ordentlich in Reih und Glied in die leeren Fenſter, auf die Mauervorſpruͤnge und auf die Straͤucher und Baͤume, welche darin wuchſen, ſetzten und die Eroͤffnung des Gerichts erwarteten.
Als die Voͤgel alle verſammelt waren, trat Alektryo vor den Huͤhnerſtall, worin Hinkel und Gackeleia noch ſchlie¬ fen; und indem er gedachte, daß hier der Mord an der frommen Gallina geſchehen, kraͤhte er mit ſolchem Zorne in den Stall hinein, und ſchlug dermaſſen mit den Fluͤgeln dazu, daß Frau Hinkel und Gackeleia mit einem gewaltigen Schrecken erwachten, und beide zuſammen ausriefen: „ o weh, o weh! da iſt der abſcheuliche Alektryo ſchon wieder, er iſt gewiß dem Vater im Walde entwiſcht, wir muͤſſen ihn nur gleich fangen. “ Nun ſprangen ſie beide auf und verfolgten den Alektryo mit ihren Schuͤrzen wehend; er aber lief ſpornſtreichs in die Kapelle hinein; wie erſchracken Hinkel und Gackeleia, als ſie daſelbſt auf den Stufen des Altares den Gockel mit finſterm Angeſicht das groſſe roſtige Gra¬ fenſchwert in der Hand haltend ſitzen ſahen. Sie wollten ihn eben fragen, wie er wieder hieher gekommen ſey, aber er gebot ihnen zu ſchweigen und wies ihnen mit einer ſo finſtern Miene einen Ort an, wo ſie ruhig ſtehen bleiben ſollten, bis ſie vor Gericht gerufen wuͤrden, daß ſie ſich ver¬ wundert einander anſahen. Der Hahn Alektryo gieng immer ſehr traurig und in ſchweren Gedanken mit geſenktem Kopfe61 vor Gockel auf und ab, wie ein Mann, der in traurigen Umſtaͤnden ſehr tiefſinnige, verwickelte Dinge uͤberlegt. Ja es ſah ordentlich aus, als lege er die Haͤnde auf dem Ruͤcken zuſammen. Auch Gockel ſah einige Minuten ſtill vor ſich hin und alle Voͤgel ruͤhrten ſich nicht. Nun ſtand Gockel auf und hieb mit ſeinem Grafenſchwert majeſtaͤtiſch nach al¬ len vier Winden mit dem Ausruf:
Nach dieſen Worten flog Alektryo auf die Schulter Gockels und kraͤhte dreimal ſehr durchdringlich. Frau Hin¬ kel wußte gar nicht, was das alles bedeuten ſollte, und ſchrie in groſſen Aengſten ans: „ o Gockel, mein lieber Mann, was machſt du? ach ich ungluͤckſelige, er iſt naͤrriſch gewor¬ den! “ Da winkte ihr Gockel nochmals zu ſchweigen, und ſprach:
Da trat Alektryo hervor, und ſprach mit gebeugtem Haupt:
Ach! wie fuhr das der Frau Hinkel und der kleinen Gacke¬ leia durch das Gewiſſen, als ſie hoͤrten, daß der Hahn re¬ den konnte; ſie zitterten, daß nun Alles gewiß herauskom¬ men wuͤrde. Da ſprach Gockel:
Da antwortete Alektryo:
Da zog Gockel einen alten Blechhandſchuh an die rechte Hand, in der er ſein Schwert trug, und gieng ſo vor Alek¬ tryo, der ihm folgte, im Kreis durch die Kapelle wieder zu den Gebeinen Gallina's zuruͤck.
62Da trat Alektryo zu den Gebeinen der Gallina und kraͤhte Zeter mit zitternder Stimme.
Bei dieſen Worten kraͤhte er wieder gar betruͤbt, und Gockel ſagte:
Da antwortete Alektryo:
Nach dieſen Worten fiengen alle die Voͤgel an, ſo ge¬ waltig durcheinander zu zwitſchern, zu ſchnarren und zu klappern, daß Gockel ſprach:
Da flog die Schwalbe heran und ſprach:
Nach dieſer ſehr beweglichen Ausſage der kleinen Schwal¬ be kraͤhte Alektryo wieder:
Bei dem Kraͤhen aber ward der Frau Hinkel und der kleinen Gackeleia faſt zu Muthe, wie Einem, der ſeinen Herrn verlaͤugnet hat, beim Hahnenſchrei zu Muthe ward. Gockel ſprach nun:
Da flog das liebe kleine Rothkehlchen auf einen wilden Roſenſtrauch in die Naͤhe des Altars und ſagte:
Nach dieſen Worten kraͤhte Alektryo wieder:
Nun hoͤrte Gockel noch viele andere Voͤgel als Zeugen ab, und alle, vom Storch bis zur Grasmuͤcke, erzaͤhlten, wie ſie den Mord durch die Katze geſehen.
Als aber Gockel ſich nun zu Frau Hinkel und Gackeleia wendete und ſie beide fragte, wie ſie das haͤtten koͤnnen ge¬ ſchehen laſſen, da die Gallina doch dicht neben ihrem Ruhe¬ lager gebruͤtet habe, und wie ſie Alles auf den edlen Alektryo566geſchoben haͤtten, ſanken beide auf die Kniee, geſtanden ihr Unrecht unter bitteren Thraͤnen, und verſprachen, es niemals wieder zu thun. Gockel hielt ihnen eine ſcharfe Ermahnung und bat den Alektryo, ihnen ſelbſt ihre Strafe zu beſtimm¬ men. Der gute Alektryo aber bat fuͤr ſie und verzieh ihnen ſelbſt. Gockel ſagte nun: „ deine Strafe, Frau Hinkel, ſoll ſeyn, daß ich dir und deiner Tochter ein Huͤhnerbein und einen Katzenellenbogen in das Wappen ſetze zum ewigen An¬ denken fuͤr eure boͤſe Handlung, und außerdem ſoll Gacke¬ leia, weil ſie die Katze Schurrimurri mit ihren verwegenen Soͤhnen, Mack, Benack, Gog, Magog und Demagog ſich heimlich zum Spiele erzogen und durch dieſe ihre Spielerei ein ſolches Ungluͤck angeſtellt hat, nie eine Puppe beſitzen, nie mit einer Puppe ſpielen duͤrfen.” Ach, da fiengen Frau Hinkel und Gackeleia bitterlich zu weinen an.
Gockel befahl nun dem Hahn den Scharfrichter zu ho¬ len, damit die Katze mit ihren Jungen hingerichtet wuͤrde. Da ſchrie der Hahn und alle Voͤgel: „ das iſt die Eule, die große alte Eule, die dort draus in der hohlen duͤrren Eiche mit ihren Jungen sitzt”, und ſogleich ward die Eule geru¬ fen. Als dieſe ernſthaft und finſter wie ein verhaßtes, ge¬ fuͤrchtetes, von allen andern Voͤgeln geflohenes Thier mit ihren Jungen zu der Kapelle mit ſchweren Fluͤgeln herein¬ raſſelte und mit dem Schnabel knappte und hu hu ſchrie, und die Augen verdrehte, verſteckten ſich die Voͤgel zitternd und bebend in alle Loͤcher und Winkel; und Gackeleia verkroch ſich ſchreiend unter die Schuͤrze ihrer Mutter, welche ſich ſelbſt die Augen zuhielt. Gockel aber legte den Sack, worin die boͤſe Katze mit ihren Jungen ſtack, in die Kapelle und die Eule trat mit ihren drei Jungen vor den Sack hin und ſprach:
Da wollten ſie den Sack aufmachen und die Katzen vor aller Augen hinrichten, aber Gackeleia ſchrie ſo entſetzlich, daß Gockel der Eule befahl, mit ihren Soͤhnen den Sack fortzutragen und ſich zu Hauſe mit den Katzen abzufinden, was ſie auch buchſtaͤblich gethan. — Ja, ja ſie fanden ſich mit ihnen ab!
Als ſo dieſes ſchreckliche Schauſpiel vermieden war, trat Alektryo vor Gockel und verlangte, daß er ihm nun den Kopf abſchlagen, ſich den Siegelring Salomonis aus ſeinem Kropfe nehmen und ihn ſodann mit den Gebeinen der Gal¬ lina und ihrer Jungen verbrennen ſollte. Gockel weigerte ſich lange, dem Begehren des Alektryo zu folgen, aber da er ſich auf keine Weiſe wollte abweiſen laſſen und ihn verſicherte, daß er ſich doch in jedem Falle zu Tode hungern werde, ſo willigte Gockel ein; er umarmte den edlen Alektryo nochmals von ganzem Herzen. Dann ſtreckte der ritterliche Hahn den Hals weit aus und rief, auf der Inſchrift des Grabſteins ſcharrend, mit lauter Stimme aus:
Am Schluße dieſer Worte ſchwang Gockel das Grafen¬ ſchwert und hieb den Hals des Alektryo mitten durch, daß ihm der Kopf des Hahnen vor die Fuͤße fiel und der todte Rumpf in den Scheiterhaufen ſank. Gockel nahm das ehrwuͤrdige Haupt bei dem Kamm, hob es empor, kuͤßte es,5 *68ſchuͤttelte es dann uͤber ſeiner Hand, und der Siegelring Sa¬ lomonis fiel ihm hinein. Alle Anweſenden weinten, Gockel legte das Haupt zu dem Leibe auf den Scheiterhaufen der Gebeine Gallina's; alle Voͤgel brachten noch duͤrre Reiſer und legten ſie drum her, da ſteckte Gockel die Reiſer an und ver¬ brannte alles zu Aſche; aus den Flammen aber ſah man die Geſtalt eines Hahns wie ein goldenes Woͤlkchen durch die Luft davon ſchweben. Nun begrub Gockel die Aſche und deckte den Stein mit der Schrift wieder mit Erde zu, und hielt dann eine herrliche Leichenrede uͤber die Verdienſte Gallina's und beſonders Alektryo's, wie des edlen Hahnenge¬ ſchlechts uͤberhaupt. Nachdem er die Herkunft Alektryo's von dem Hahne Hiobs nach der Erzaͤhlung Urgockels mit¬ getheilt hatte, ſprach er unter Anderm:
„ Wer gibt die Weisheit ins verborgene Herz des Menſchen, wer giebt dem Hahnen den Verſtand? Gleich¬ wie der Hahn den Tag verkuͤndet und den Menſchen vom Schlaf erweckt, ſo verkuͤnden fromme Lehrer das Licht der Wahrheit in die Nacht der Welt und ſprechen: „ die Nacht iſt vergangen, der Tag iſt gekommen, laſ¬ ſet uns ablegen die Werke der Finſterniß und anlegen die Waffen des Lichtes. “ Wie lieblich und nuͤtzlich iſt das Kraͤ¬ hen des Hahnen; dieſer treue Hausgenoſſe erwecket den Schlafenden, ermahnet den Sorgenden, troͤſtet den Wande¬ rer, meldet die Stunde der Nacht und verſcheuchet den Dieb und erfreuet den Schiffer auf einſamem Meere, denn er verkuͤndet den Morgen, da die Stuͤrme ſich legen. Die Frommen weckt er zum Gebet und den Gelehrten ruft er, ſeine Buͤcher bei Licht zu ſuchen. Den Suͤnder ermahnet er zur Reue, wie Petrum. Sein Geſchrei ermuthiget das Herz des Kranken. Zwar ſpricht der weiſe Mann: „ Dreierlei haben einen feinen Gang und das Vierte geht wohl, der Loͤwe maͤchtig unter den Thieren, er fuͤrchtet Niemand — ein Hahn mit kraftgeguͤrteten Lenden, ein Widder und ein Koͤ¬69 nig, gegen den ſich Keiner erheben darf “— aber dennoch fuͤrchtet der Loͤwe, der Niemanden fuͤrchtet, den Hahn und fliehet vor ſeinem Anblick und Geſchrei; denn der Feind, der umhergeht wie ein bruͤllender Loͤwe und ſuchet, wie er uns verſchlinge, fliehet vor dem Rufe des Waͤchters, der das Gewiſſen erwecket, auf daß wir uns ruͤſten zum Kampf. Darum auch ward kein Thier ſo erhoͤhet; die weiſeſten Maͤn¬ ner ſetzen ſein goldenes Bild hoch auf die Spitzen der Thuͤr¬ me uͤber das Kreuz, daß bei dem Waͤchter wohne der War¬ ner und Waͤchter. So auch ſteht des Hahnen Bild auf dem Deckel des ABC-Buchs, die Schuͤler zu mahnen, daß ſie fruͤh aufſtehen ſollen, zu lernen. O wie loͤblich iſt das Beiſpiel des Hahnen! Ehe er kraͤht, die Menſchen vom Schlafe zu wecken, ſchlaͤgt er ſich ſelbſt ermunternd mit den Fluͤgeln in die Seite, anzeigend, wie ein Lehrer der Wahrheit ſich ſelbſt der Tugend beſtreben ſoll, ehe er ſie anderen lehret. Stolz iſt der Hahn, der Sterne kundig, und richtet oft ſeine Blicke zum Himmel; ſein Schrei iſt prophetiſch, er kuͤndet das Wetter und die Zeit. Ein Vogel der Wachſamkeit, ein Kaͤmpfer, ein Sieger wird er von den Kriegsleuten auf den Ruͤſtwagen geſetzt, daß ſie ſich zurufen und abloͤſen zu ge¬ meſſener Zeit. So es daͤmmert und der Hahn mit den Huͤh¬ nern zu ruhen ſich auf die Stange ſetzt, ſtellen ſie die Nacht¬ wache aus. Drei Stunden vor Mitternacht regt ſich der Hahn, und die Wache wird gewechſelt; um die Mitternacht beginnt er zu kraͤhen, ſie ſtellen die dritte Wache aus, und drei Stunden gen Morgen rufet ſein tagverkuͤndender Schrei die vierte Wache auf ihre Stelle. Ein Ritter iſt der Hahn, ſein Haupt iſt geziert mit Buſch und rother Helmdecke und ein purpurnes Ordensband ſchimmert an ſeinem Halſe; ſtark iſt ſeine Bruſt wie ein Harniſch im Streit, und ſein Fuß iſt beſpornt. Keine Kraͤnkung ſeiner Damen duldet er, kaͤmpft gegen den eindringenden Fremdling auf Tod und Leben und ſelbſt blutend verkuͤndet er ſeinen Sieg ſtolz emporgerichtet70 gleich einem Herold mit lautem Trompetenſtoß. Wunderbar iſt der Hahn; ſchreitet er durch ein Thor, wo ein Reiter hindurch koͤnnte, buͤcket er doch das Haupt, ſeinen Kamm nicht anzuſtoßen, denn er fuͤhlt ſeine innere Hoheit. Wie liebet der Hahn ſeine Familie! Dem legenden Huhn ſingt er liebliche Arien: „ bei Huͤhnern, welche Liebe fuͤhlen, fehlt auch ein gutes Herze nicht, die ſuͤßen Triebe mit zu fuͤhlen, iſt auch der Hahnen erſte Pflicht; “— ſtirbt ihm die bruͤtende Freundin, ſo vollendet er die Brut und fuͤhret die Huͤhnlein, doch ohne zu kraͤhen, um allein Muͤtterliches zu thun. — O welch erhabenes Geſchoͤpf iſt der Hahn! Phidias ſetzte ſein Bild auf den Helm der Minerva, Idomeneus auf ſein Schild. Er war der Sonne, dem Mars, dem Mercur, dem Aesculap geweiht. O wie geiſtreich iſt der Hahn! Wer kann es den morgenlaͤndiſchen Kabbaliſten verdenken, daß ſie ſich Alektryo's bemaͤchtigen wollten, da ſie an die Seelen¬ wanderung glaubten und der Hahn des Mycillus ſich ſeinem Herrn ſelbſt als die Seele des Pythagoras vorſtellte, die inkognito kraͤhte. Ja wie mehr als ein Hahn iſt ein Hahn, da ſogar ein gerupfter Hahn noch den Menſchen des Plato vorſtellen konnte “! u. ſ. w.
Noch unausſprechlich vieles Erbauliche, Moraliſche, Hi¬ ſtoriſche, Allegoriſche, Mediziniſche, Myſtiſche, ſelbſt Poli¬ tiſche brachte Gockel in dieſer ſchoͤnen Leichenrede an, welche auch oft von dem lauten Schluchzen und Weinen Gockels, der Frau Hinkel und der kleinen Gackeleia unterbrochen ward. Selbſt alle Voͤgelein gaben ihre Ruͤhrung mit leiſem Piepen zu verſtehen; weil aber der groͤßte Theil der Rede aus Co¬ leri Haushaltungsbuch und aus Gesneri Vogelbuch u. ſ. w. herruͤhrte, zogen ſich die zuhoͤrenden Voͤgel, denen es viel zu lang dauerte, nach und nach in der Stille zuruͤck, — und da er nun gar noch allerlei Aberglaͤubiſches von der Alek¬ tryomantie, einer Art zauberiſcher Wahrſagerei vermittelſt der Hahnen, und von dem Hahnenei, woraus die Baſilisken71 entſtehen, vorbrachte, ward Frau Hinkel auch etwas unru¬ hig — doch hielt ſie ſich noch zuruͤck — dann aber kam er auf einen gewiſſen unpartheiiſchen Englaͤnder zu ſprechen, und was dieſer von Hahnen und Hinkeln geſagt; da ward es Frau Hinkel nicht recht wohl und ſie ſprach: „ Lieber Gockel, ich glaube, wir haben das ſchon gehoͤrt, wir ſind auch noch nuͤchtern, ich fuͤrchte die Milch wird ſauer, ich habe auch noch kein Waſſer zum Kaffee am Feuer, ich daͤchte wir hielten einen kleinen Leichenſchmaus. “ Da laͤchelte der gute Gockel, umarmte Frau Hinkel und Gackeleia und be¬ gab ſich, ſelbſt ermuͤdet von der ſchlafloſen Nacht, gern mit ihr in den Huͤhnerſtall.
Den ganzen uͤbrigen Tag weinten Frau Hinkel und Ga¬ ckeleia noch oͤfter, und wollten ſich gar nicht zufrieden ge¬ ben, daß ſie an dem Tode der Gallina und Alektryo's Schuld geweſen. Gockel gab ihnen die ſchoͤnſten Ermahnungen, ſie verſprachen die aufrichtigſte Beſſerung, und ſo entſchlief die ganze Familie am Abend dieſes traurigen Tages nach einem gemeinſchaftlichen herzlichen Gebet.
Als Gockel in der Nacht erwachte, gedachte er der Frau Hinkel und ſeines Toͤchterleins Gackeleia mit vieler Liebe, und entſchloß ſich, ihnen nach dem vielen Schrecken, den ſie gehabt, eine rechte Freude zu machen, und zugleich den Siegelring Salomonis zu verſuchen. Er nahm daher den Ring aus der Taſche, ſteckte ihn an den Finger und drehte ihn an demſelben herum mit den Worten:
Unter dem Drehen des Ringes und dem oͤfteren Wie¬ derholen dieſes Spruches ſchlief Gockel endlich ein. Da traͤumte ihm, es trete ein Mann in auslaͤndiſcher reicher Tracht vor ihn, der ein groſſes Buch vor ihm aufſchlug, worin die ſchoͤnſten Palaͤſte, Gaͤrten, Springbrunnen, Haus¬ geraͤthe, Kleidungsſtuͤcke, Tapeten, Schildereien, Alamode - Kutſchen, Pferde, Livreen und andere dergleichen Dinge abge¬ bildet waren, aus welchen er ſich herausſuchen mußte, was ihm wohlgefiel. Gockel beobachtete bei der Wahl Alles mit großem Fleiße, was Frau Hinkel und Gackeleia gefallen konnte, denn er traͤumte ſo klar und deutlich, als ob er wache. Da er aber das Buch durchblaͤttert hatte, ſchlug der Mann im Traume es ſo heftig zu, daß Gockel ploͤtz¬ lich erwachte.
Es war noch dunkel, und er war ſo voll von ſeinem Traume, daß er ſich entſchloß, ſeine Frau zu wecken, um ihr denſelben zu erzaͤhlen; auch fuͤhlte er ein ſo wunderbares Behagen durch alle ſeine Glieder, daß er ſich kaum enthalten konnte, laut zu jauchzen. Da er ſich immer mehr vom Schlafe erholte, empfand er die lieblichſten Wohlgeruͤche um ſich her und konnte gar nicht begreifen, was nur in aller Welt fuͤr koͤſtliche Gewuͤrzblumen in ſeinem alten Huͤhnerſtall uͤber Nacht muͤßten aufgebluͤht ſeyn. Als er aber, ſich auf ſeinem La¬ ger wendend, bemerkte, daß kein Stroh unter ihm kniſtre, ſondern daß er auf ſeidenen Kiſſen ruhe, begann er vor Erſtaunen auszurufen: „ o Jemine, was iſt das? “ In dem¬ ſelben Augenblicke rief Frau Hinkel dasſelbe, und dann riefen beide: „ wer iſt hier? “und beide antworteten: „ ich73 bin's, Gockel! — bin's, Hinkel! “aber wollten's beide nicht glauben, daß ſie es ſeyen. Es hatte ihnen beiden dasſelbe getraͤumt, und ſie wuͤrden geglaubt haben, daß ſie noch traͤumten, aber ſie fanden gegenſeitig ihre Stimmen ſo veraͤndert, daß ſie vor Bewunderung gar nicht zu Sinnen kom¬ men konnten. „ Gockel, “fluͤſterte Frau Hinkel, „ was iſt mit uns geſchehen? Es iſt mir, als waͤre ich zwanzig Jahre alt. “ „ Ach ich weiß nicht, “ſagte Gockel, „ aber ich moͤchte eine Wette an¬ ſtellen, daß ich nicht uͤber fuͤnf und zwanzig alt bin. “ „ Aber ſage nur, wie kommen wir auf die ſeidenen Betten? “fragte Frau Hinkel, „ ſo weich habe ich ſelbſt nicht gelegen, als du noch Faſanenminiſter in Gelnhauſen warſt, — und die himm¬ liſchen Wohlgeruͤche umher, — aber ach, was iſt das? Der Trauring, der mir immer ſo loſe an dem Finger hieng, daß ich ihn oft Nachts im Bettſtroh verloren, ſitzt mir jetzt ganz ordentlich, ſo daß ich ihn eben drehen kann, ich bin gar nicht mehr ſo klapperduͤrr. “— Dieſe letzten Worte erinnerten Gockel an den Ring Salomonis; er dachte: „ ach, das mag Alles von meinem geſtrigen Wunſche herkommen; “da hoͤrte er auch Roße im Stalle ſtampfen und wiehern, hoͤrte eine Thuͤre gehen, und es fuhr ein Licht durch die Stube an der Decke weg, als wenn Jemand mit einer La¬ terne Nachts uͤber den Hof geht. Er und Hinkel ſprangen auf, aber ſie fielen ziemlich hart auf die Naſe, denn jetzt merkten ſie, daß ſie nicht mehr auf der ebenen Erde, ſon¬ dern auf hohen Polſterbetten geſchlafen hatten, und der Schein, der durch die Stube gezogen war, hatte nicht die rauhe Wand ihres Huͤhnerſtalles, an welcher Stroh und die alte Huͤhnerleiter lag, ſondern praͤchtige gemalte und vergoldete Waͤnde, ſeidene Vorhaͤnge und aufge¬ ſtellte Silber - und Gold-Gefaͤße beleuchtet. Sie rafften ſich auf von einem ſpiegelglatten Boden, ſie ſtuͤrzten ſich in die Arme und weinten vor Freude, wie Kinder. Sie hatten ſich ſo lieb, als haͤtten ſie ſich zum erſtenmale geſehen. 74Nun bemerkten ſie den Schein wieder, und ſahen, daß er durch ein hohes Fenſter herein fiel. Mit verſchlungenen Armen liefen ſie nach dem Fenſter und ſahen, daß es von der La¬ terne eines Kutſchers in einer reichen Livree herkam, der in einem großen geraͤumigen Hof ſtand, Haber ſiebte und ein Liedchen pfiff. Im Schein der Laterne, der an das Fenſter fiel, ſah Gockel Hinkel an und Hinkel Gockel, und beide lachten und weinten und fielen ſich um den Hals und riefen aus: „ ach Gockel, ach Hinkel, wie jung und ſchoͤn biſt du geworden! “ Da ſprach Gockel: „ Alektryo hat die Wahrheit geſprochen, der Ring Salomonis hat Probe gehalten, alle meine Wuͤnſche, bei welchen ich ihn drehte, ſind in Erfuͤl¬ lung gegangen “; und da erzaͤhlte er der Frau Hinkel, wie ihm der Mann mit dem großen Bilderbuch erſchienen und er Alles heraus geſucht und den Ring dabei gedreht ha¬ be. — „ Ach Gockel, Herzens-Gockel! haſt du wirklich Alles ſo gewuͤnſcht. Alles wie es mich freuet und erquicket? Die¬ ſes lange, lange Hemd, dieſen tiefrothen, chineſiſchen Schlaf¬ rock, fein, fein, man kann ihn ganz in den Raum einer Nuß verbergen. Gockel! und dieſes ſeidene Netz um meine Haare — Alles, Alles ſo nach meiner Luſt? “— „ Ja “, ſagte Gockel, „ Alles nach deiner Luſt, es wird ſchon Tag werden, da wirſt du erſt ſehen die hohen, hellen Raͤume, Saͤaͤle, um Wett¬ rennen darin anzuſtellen, lauter Doppelthuͤren, Fußboͤden mit Purpurteppichen bedeckt, herrliche breite Treppen auf Saͤulen ruhend, Terraſſen, Gallerien, offne Hallen; ach Hinkel! welche Gaͤrten und Springbrunnen und Saͤulenhallen und Statuen und Ausſichten und ſchoͤne Berglinien und Lorbeern -, Myrten -, Cypreſſen -, Citronen -, Pomeranzen -, Orangen -, Granatenhai¬ ne und eine Schaukel darin von weißen Roſen — und eine Wiege von weißen Lilien — vom Kuͤchengarten will ich gar nicht reden, es wird dir genug ſeyn, wenn ich ſage, daß die Pflaumenbaͤume ihre Aeſte mit getrockneten Fruͤchten zum Kuͤchenfenſter hineinhaͤngen. — Was ſoll ich von der Garde¬75 robe ſprechen, ehe ich dir nur den hundertſten Theil der Stie¬ felchen, Pantoͤffelchen, Roͤckchen, Schuͤrzchen, Huͤtchen, Tuͤ¬ chelchen, Quaͤſtchen, Trottelchen u. ſ. w. nenne, iſt es Tag, und du knieeſt mitten darunter und raͤumſt und packſt und probirſt Alles nach der Reihe; — aber Herz Hinkel, das Schoͤnſte iſt: da iſt kein Zapfenbrett, wie im Huͤhnerminiſte¬ rium, nein, da ſtehen ganze Choͤre Choͤre der großartigſten, edelſten, lieblichſten, erhabenſten, kindlichſten Marmorfiguren von Engeln, Genien, Denkern, Dichtern, Propheten, Goͤttern und Helden, und auf ihren Haͤnden tragen ſie die Kleider, die in kryſtallenen Schalen zwiſchen duftenden Blumen ruhen, in der Mitte der Garderobe ſtehen die drei Grazien um einen dicken Lilienbuſch, und wenn du zu traͤge biſt, dich ſelbſt an¬ zukleiden, trittſt du zwiſchen die Grazien und ſagſt nur den Spruch deiner Ahnfrau von Hennegau:
O Hinkel! — dein blaues, oder wie du willſt, farbiges Wunder ſollſt du da ſehen, augenblicklich ſollſt du da fix und fertig auf die ſchoͤnſte und vortheilhafteſte Weiſe bekleidet daſtehen. — Ich will nicht weiter ſprechen, o Hinkel von Hennegau, von allen Kabinetten und Kabinettchen, von der Bibliothek, der Hauskapelle, der Kuͤche, der Speiſekammer, dem Saal, Ball zu ſchlagen, dem Muſikſaal, der Gemaͤlde - Gallerie, der Aepfelkammer, der tiefſinnigen Denkhalle, der Kinderſtube, dem Karouſſel, dem Badhaus, dem Huͤhnerhof, ach! und dem bezaubernd ſchoͤnen Stall voll der edelſten Pferde und Pferdchen, vor Allem ein arabiſches Schimmel¬76 chen, weiß wie der gefallne Schnee, Maͤhnen und Schweif mit Purpurbaͤndern durchflochten, mit tief rothem Sammet gezaͤumt, Gebiß und Buͤgel von Gold und Rubin; ach Hin¬ kel! und der Sattel! — der Sattel iſt ihm von Natur auf den Ruͤcken gewachſen! nun denke! “
„ Lieber Gockel, “ſagte Frau Hinkel, „ es iſt nicht moͤg¬ lich, es iſt zu viel, ich kanns nicht glauben; aber ich moͤchte trinken, kannſt du mir nicht ein Glas Waſſer herbeidrehen? “— „ Geh nur links an deinen Waſchtiſch, “erwiederte Gockel, „ und halte den Kryſtall-Pokal zum Fenſter hinaus. “ „ O Go¬ ckel, gehe mit, “ſagte Hinkel, ſich an ſeinen Arm haͤngend, „ ich weiß nicht Beſcheid hier, es iſt mir ganz bang vor lauter Schoͤnheit, ich fuͤrchte, ich moͤchte uͤber das ſiebente Wunder der Welt ſtolpern und in das achte hineinſtuͤrzen. “
Da fuͤhrte Gockel ſie zu ihrem Waſchtiſch an ein zwei¬ tes Fenſter, deſſen Vorhang der volle Mond mit angenehmem Licht durchſtrahlte. O da gieng Verwundern erſt recht an; neben einem Schirm von goldnen Staͤben, an welchem weiße Roſenſtraͤucher hinaufrankten, die alle ihre Roſen nach In¬ nen ſenkten, ſtand das Waſchtiſchchen; aber welch ein Waſch¬ tiſchchen, ein Waſchtiſchchen, das ſich nicht nur gewaſchen hatte, ſondern ſich auch in alle Ewigkeit fortwuſch. — In den mit tiefrothem Sammet belegten Marmorboden war ein eirundes tiefes Becken von Kryſtall verſenkt, der Rand oben war von Muſcheln, Korallen und lebendigen Blu¬ men umgeben, Reſeda und Veilchen und Vergißmeinnicht; dieſe Wanne war voll Roſenwaſſer; uͤber dieſem ragte wie ſchwimmend ein mit Lotos-Blumen geſattelter Delphin von Perlenmutter hervor, auf ſeinem Ruͤcken ſaß ein feingefluͤ¬ geltes Kind von weißem Marmor, in der einen Hand hielt es ein Sieb von Kryſtall voll der duftendſten Roſen, in welches von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zwey Strahlen des friſcheſten, klareſten Waſſers aus den Nuͤſtern des Delphins ſprudelten und als Roſenwaſſer in das Be¬
77 cken niederfloßen, mit der andern Hand ſtuͤtzte das Mar¬ morkind die kryſtallne, durchſichtige Tiſchplatte, welche den Waſchtiſch bildete, und da war erſt die rechte Herrlichkeit von ſchoͤnen ſieben Sachen.
Frau Hinkel ſah und fuͤhlte Alles mit großem Entzuͤcken an, aber ſie hatte geſtern ſo viel geweint und nachher ſo viel geſalzenes Fleiſch gegeſſen, ſo daß ſie ungemein duͤrſtete und ſprach:
„ Verzeih, Herz Hinkel! “ſprach Gockel, „ ich ſelbſt ver¬ geſſe uͤber den kurioſen Sachen Eſſen und Trinken “— da gab er ihr das Glas von dem Waſchtiſch, duͤnn und klar und rein wie eine Seifenblaſe, die ſich auf eine Lilie nieder¬ gelaſſen, ſo war Kelch und Stiel gebildet — „ halte es zum Fenſter hinaus, ich will den Ring Salomonis drehen. “
Gockel zog den rothdamaſtenen Vorhang hinweg, da ſah man durch die bluͤthenvollen Wipfel der Orangenbaͤume in den blauen Himmel, an deſſen Oſten der Tag graute; der Mond ſtand am Himmel wie ein freigebiger Kavalier, wel¬ cher der Frau Graͤfin Hinkel von Hennegau ein Staͤndchen von der Nachtigall will bringen laſſen. — „ Reiche nur den Pokal hinaus, “ſagte Gockel, „ fahre nur mit der Hand mitten durch die Orangenbluͤthen, die Geiſter Salomonis werden ſchon einen Waſſerſtrahl ſenden, der dir das Herz78 erlabt. — Frau Hinkel that, wie Gockel befahl, und Go¬ ckel ſprach den Ring drehend:
Schon waͤhrend dieſen Worten plaͤtſcherte es unter den Orangen-Baͤumen heftiger, die Blaͤtter bewegten ſich, die Bluͤthen kuͤßten ſich, und zwiſchen ihnen ſpritzte der feine, im Mond - und Sternenlicht ſchimmernde Strahl eines Spring¬ brunnens aus dem unten liegenden Garten empor und fuͤllte den Pokal, welchen die Hand der Frau Hinkel hinaushielt, ohne ſie ſelbſt im Mindeſten zu benetzen. Frau Hinkel trank und trank wieder, auch Gockel trank, und die allerliebſte Frau Nachtigall ſang in der nahen Linde das freundlichſte: „ Wohl bekomm's, Frau Graͤfin von Hennegau “dazu.
„ Ach “! ſagte Frau Hinkel, indem ſie den Pokal wieder auf den Waſchtiſch ſetzte, „ das hat aber einmal geſchmeckt, das Waſſer duftete ganz von Bluͤthen, und wie die liebe Nach¬ tigall ſingt “! — „ Horch “! ſagte Gockel, „ da ſingt noch was “, es war aber der Kutſcher, der den Haber ſiebte; als er die Nachtigall hoͤrte, fieng er an zu ſingen:
Das gefiel nun Gockel und Hinkel gar wohl, denn es war ihr Lieblingslied und ihre Mutter hatte es ihr an der Wiege geſungen. — Gockel war ſo froh, uͤber Alles, was er ſo erfinderiſch herbeigewuͤnſcht hatte, daß er wuͤnſchte, Frau Hinkel moͤge gleich Alles betrachten, was auf ihrem Waſch¬ tiſch weiter liege. Sie ſagte aber: „ nein, ich muß warten bis der Tag anbricht, es iſt Alles ſo herrlich und fein, ich zittre ſo vor Freude, ich habe eine ſolche Wallung im Blut. Wir ſahen nun dort in den Hof, hier in den bluͤhenden Garten, voll Duft und Springbrunnen und Nachtigallen, jetzt laß uns an jener Seite hinaus ſchauen, was dort zu ſehen iſt. “— Nun liefen ſie an ein drittes Fenſter; „ o je, welche Freude! “rief Frau Hinkel aus, „ wir ſind in Gelnhau¬ ſen, da oben liegt das Schloß des Koͤnigs, und da druͤben, o zum Entzuͤcken! da ſehe ich in einer Reihe alle die Baͤcker - und Fleiſcherladen; es iſt noch ganz ſtille in der Stadt; horch, der Nachtwaͤchter ruft in einer entfernten Straße, drei Uhr iſt es; ach, was wird er ſich wundern, wenn er hieher auf den Markt koͤmmt und auf einmal unſern praͤch¬ tigen Palaſt ſieht! Und der Koͤnig, was wird der Koͤnig die Augen aufreiſſen und alle die Hofherrn und Hofdamen, die uns ſo ſpoͤttiſch anſahen, da wir in Ungnade fielen, was werden ſie gedemuͤthiget ſeyn durch unſern Glanz! O Go¬ ckel, liebſter Gockel, was biſt du fuͤr ein herzallerliebſter, beßter Gockel mit deinem Ring Salomonis! “und da fielen ſie ſich wieder um den Hals und fuhren vor Freude gleich¬ ſam Schlitten auf dem ſpiegelglatten Boden.
80Es brach aber der Tag an und es war kein Traum; Alles hatte Beſtand, ſie blickten Arm in Arm ſcheu und doch freudig bald ſich in ihrer verjuͤngten Geſtalt und praͤch¬ tigen Kleidung, bald die wunderbare Pracht ihres Schlaf¬ gemaches an, und als ſie neben ihrem großen Prachtbett, welches wie ein Himmelwagen ausſah, mit Federbuͤſchen be¬ ſteckt, ein anderes ſchoͤnes Bettchen ſahen, fiel ihnen erſt im Taumel der großen Freude ihre liebe Gackeleia ein; ſie riſſen die rothſammetnen, goldgeſtickten Vorhaͤnge hin¬ weg, da lag Gackeleia ſchoͤn wie ein Engel, ach viel ſchoͤ¬ ner als ſie je geweſen. Gockel und Hinkel erweckten ſie mit Kuͤſſen und Thraͤnen: „ wach auf, Gackeleia, ach alle Freude iſt um uns her; ach Gackeleia, ſieh alle die ſchoͤnen Sachen an! “ Da ſchlug Gackeleia die blauen Augen auf, und glaubte, ſie traͤume das Alles nur; und da ſie Vater und Mutter, welche beide ſo jung und ſchoͤn geworden waren, gar nicht wieder erkannte, fieng ſie an zu weinen und ver¬ langte nach ihren lieben Aeltern. Ja alle die ſchoͤnen Sa¬ chen konnten ſie nicht zufrieden ſtellen; ſie ſagte immer: „ o was ſoll ich mit all der Herrlichkeit, ich will zu meiner lie¬ ben Mutter, Frau Hinkel, zu meinem guten Vater, Gockel, zuruͤck. “ Die Mutter und der Vater konnten ſie auf keine Weiſe bereden, daß ſie es ſelbſt ſeyen. Endlich ſagte Go¬ ckel zu ihr: „ Wer biſt du denn? “ „ Gackeleia bin ich, “er¬ wiederte das Kind. „ So, “ſagte Gockel, „ du biſt Gacke¬ leia? Aber Gackeleia hatte ja geſtern ein Roͤckchen von grauer Leinwand an, wie koͤmmt den Gackeleia in das ſchoͤne, buntgebluͤmte, ſeidene Schlafroͤckchen? “ „ Ach, das weiß ich nicht, “antwortete Gackeleia, „ aber ich bin doch ganz gewiß Gackeleia; ach ich weiß es gewiß, die Augen ſchmerzen mich ſo ſehr, ich habe geſtern gar viel ge¬ weint, ich habe groſſes Ungluͤck angeſtellt, ich habe die Katze an das Neſt der Gallina gefuͤhrt; ich bin Schuld, daß ſie gefreſſen worden, ich habe dadurch den guten81 Alektryo in den Tod gebracht, ach ich bin gewiß die boͤſe Gackeleia; “dabei weinte ſie ſo bitterlich und fuhr fort: „ o du biſt Gockel nicht; der Vater Gockel hat ganz ſchneeweiße Haare und einen weißen Bart und iſt bleich im Geſicht und hat eine ſpitze Naſe; du Schwarzer mit den ro¬ then Wangen biſt Gockel nicht; du biſt auch die Mutter Hinkel nicht; du biſt ja ſo huͤbſch glatt und anmuthig wie ein Turteltaͤubchen; die Mutter Hinkel iſt klapperduͤrr wie ein Zaunpfahl; ich will fort in das alte Schloß, ihr habt mich geſtohlen; “und da weinte das Kind wieder heftig. Gockel wußte ſich nicht anders zu helfen, als daß er ſagte: „ ſchau mich einmal recht an, ob ich dein Vater Gockel nicht bin. “ Da guckte ihn Gackeleia ſcharf an, und er drehte den Ring Salomonis ganz ſachte am Finger und ſprach leis:
Und wie er am Ring drehte, ward er immer aͤlter und grauer, und das Kind ſagte immer: „ ach Herr je, ja, faſt wie der Vater! “und als er ganz fertig mit dem Drehen war, ſprang das Kind aus dem Bett, und flog ihm um den Hals und ſchrie: „ ach ja, du biſt's, du biſt's, liebes, gu¬ tes, altes Vaͤterchen! aber die Mutter iſt es mein Lebtag nicht. “ Da begann Gockel auch fuͤr Frau Hinkel den Ring zu drehen, daß ſie wieder ganz alt ward. Aber dieſer machte das gar keine Freude, und ſie ſagte immer: „ halt ein Go¬ ckel, nein das iſt doch ganz abſcheulich, einen ſo herunter zu bringen, nein das iſt zu arg! ſo habe ich mein Lebtag nicht ausgeſehen; du machſt mich viel aͤlter, als ich war! “und begann zu weinen und zu zanken, und wollte dem Gockel mit Gewalt nach der Hand greifen und ihm den Ring wie¬ der zuruͤckdrehen. Aber Gackeleia ſprang ihr in die Arme und kuͤßte und herzte ſie, und rief einmal uͤber das andere¬682mal aus: „ ach Mutter, liebe Mutter, du biſt's, du biſt's ganz gewiß! “ Da ſagte Frau Hinkel: „ nun meinethalben “, und kuͤßte das Kind Gackeleia von ganzem Herzen. Go¬ ckel aber ſprach: „ ei, ei, Frau Hinkel, ich haͤtte mein Lebtag nicht gedacht, daß du ſo eitel waͤreſt; es iſt gut, nun habe ich ein Mittel, dich zu ſtrafen; ſieh, biſt du mir nun nicht fein ordentlich und fleißig, oder brummeſt du, oder biſt du neugierig, ſo drehe ich gleich den Ring um und ma¬ che dich hundert Jahre alt. “ Da ſagte Frau Hinkel: „ thue was du willſt, ich habe es nicht gern gethan, es hat mich nur ſo uͤberraſcht. “ Nun umarmte ſie Gockel und drehte den Ring wieder, und ſie wurden wieder jung und ſchoͤn. So erfuhr auch Gackeleia das Geheimniß mit dem Ringe, und Gockel ſchaͤrfte ihr und der Frau Hinkel ein, ja niemals etwas von dem Ringe zu ſprechen, ſonſt koͤnnte er ihnen geſtohlen werden, und dann muͤßten ſie wohl wieder arm und elend in das alte Schloß zuruͤck. „ Bewahr uns Gott davor! “ſagten alle, und Gockel fuhr fort: „ ja, daß er uns davor bewahre, laſſet uns vor Allem beten und danken; ihm allein gebuͤhrt die Ehre! “da knieten ſie in Mitte der Stube nieder und dankten Gott von Herzen.
Als ſie wieder aufgeſtanden waren, ſagte Frau Hinkel: „ jetzt kommt, jetzt geht das Hauptplaiſir an, jetzt geht es ans Betrachten, und mit uns ſelbſt wird angefangen. “ Nun tra¬ ten ſie alle drei vor einen großen Spiegel und beſchauten ſich in Lebensgroͤße von alleu Seiten und lachten und huͤpften; Frau Hinkel machte einige ſpitze Maͤulchen und Gackeleia probirte ſo vielerlei, daß ſie ſogar die Zunge ziemlich weit herausſtreckte, worauf aber Gockel ſagte: „ Pfui, wawa, das iſt unartig! “ Hierauf gieng Frau Hinkel nach ihrem Waſchtiſch, um Alles zu betrachten, was ſie in der Nacht noch nicht geſehen. In einer andern Fenſterniſche ſtand der Waſch¬ tiſch Gockels, und zwiſchen beiden ein Waſchtiſchchen Ga¬ ckeleia's.
83Auf der kryſtallenen Platte des Tiſches ſtand Waſch¬ becken und Kanne von gleichem Stoff, man konnte ſie ſo oft man wollte bei dem Delphin unter dem Tiſche fuͤllen; hin¬ ter dem Waſchbecken war etwas Hohes mit einem feinſten weißen Tuche bedeckt. — „ Was iſt nur das? “— ſagte Frau Hinkel und zog das Tuch weg, — aber Alle wurden ſtill und ernſt, als ſie ſahen, was es war; denn es war das Bild einer Gluckhenne auf dem Neſte ſitzend mit ausgebrei¬ teten Fluͤgeln und uͤber Huͤhnchen bruͤtend, die hie und da die Koͤpfchen hervorſtreckten; Alles von Gold und Silber, auf das natuͤrlichſte kunſtreich ausgearbeitet; die Augen waren alle von Edelſteinen und die Kaͤmme von Rubinen!
„ Ach! “ſagte Frau Hinkel, „ das iſt wohl eine ernſte Erinnerung, das kann uns wohl demuͤthigen; ſieh Gackeleia, da iſt das Bild der Gallina, wie ſie leibte und lebte, da koͤnnen wir an die betruͤbte Geſchichte denken! “— „ Ach ja, “ſagte Gackeleia, und weinte. Gockel aber ſprach: „ wol¬ len wir dabei an irgend etwas denken, was uns vor Ueber¬ muth bewahrt, ſo iſt das gut. Hier aber ſteht die goldene Henne nur als ein altes Familienkleinod, das ich ſelbſt zum erſtenmal ſehe; dort auf meinem Waſchtiſch wird wohl der goldene Hahn ſtehen. “— Da deckte Gockel auf ſeinem Waſch¬ tiſch das Gefaͤß auf, und wirklich ſtand das Bild Alektryos von Gold in groͤßter Vollkommenheit da. — Sie waren Alle ganz erſtaunt.
Gockel aber ſprach weiter: „ du wirſt dich erinnern, Frau Hinkel, daß in unſrer Familie ein altes Sprichwort iſt, der goldne Hahn kraͤht nicht mehr, die goldne Henne legt nicht mehr, um unſre Verarmung anzudeuten. Das bezieht ſich auf dieſe beiden unſchaͤtzbaren Kunſtwerke, die lange in dem Schatze der Kapelle zu Gockelsruh bewahrt wurden. Als aber die Franzoſen ihre angeblichen Rechte auf alle Hahnen geltend machten, weil in dem wohl anatomirten Gehirn je¬ des Hahns ihr Wappen, naͤmlich das Bild einer Lilie zu6 *84finden ſeyn ſoll, haben ſie ſich dieſes goldnen Gefluͤgels vor allem Andern bemeiſtert. — Bei ſeiner Vermaͤhlung mit Ur¬ hinkel von Hennegau drehte Urgockel den Ring Salomos, und wuͤnſchte ihr das herrlichſte Toiletten-Geſchenk, das Sa¬ lomo ſelbſt der Koͤnigin von Saba gegeben; — dann drehte die Graͤfin von Hennegau den Ring und wuͤnſchte dem Ur¬ gockel das Gegengeſchenk der Koͤnigin von Saba, und ſo ſtanden am Hochzeitmorgen dieſer Waſchtiſch mit der gold¬ nen Henne und jener dort mit dem goldnen Hahn im Braut¬ gemache, und von dieſer Hochzeit an wurden die goldne Henne und der goldne Hahn bei jeder Hochzeit in Gockels¬ ruh dem Brautpaar vorgetragen und bei der Mahlzeit auf¬ geſtellt, bis ſie verloren giengen. Jetzt wollen wir einmal ſehen, wie die Geſchenke beſchaffen ſind, vor Allem die Pro¬ be, ob es gut Gold iſt. Sich da unten an dem Neſte die Probe in phoͤniziſcher Schrift; ich drehe den Ring und wuͤn¬ ſche es zu leſen, und ſieh, ich kanns leſen.
„ Dieſes Neceſſaire, vorſtellend das Siebengeſtirn als eine Gluckhenne mit ſechs Kuͤchlein fuͤr Ihre Majeſtaͤt die Koͤni¬ gin Balkis von Saba, verfertigte auf Befehl Seiner Maje¬ ſtaͤt des Koͤnigs Salomo von Jeruſalem, deſſen erſter Gold¬ ſchmied Hieram von Tyrus, aus 24 karatigem Gold von Ophir in Angsburgirter Butzbacher-Façon. “ Nun ſieh, wel¬ che Raritaͤt, was mag aber Alles darin enthalten ſeyn? “
Nun zerlegte Gockel das ganze Huhn nach der Tran¬ ſchierkunſt, die er als Huͤhnerminiſter aus dem Fundament verſtand; Alles beſtand aus Deckeln, Buͤchſchen und Faͤ¬ chern u. ſ. w. Wenn man den Ruͤcken mit den ausgebrei¬ teten Fluͤgeln der Henne in die Hoͤhe ſchlug, hatte man ei¬ nen aufgerichteten Handſpiegel; im Innern der Henne be¬ fanden ſich in verſchiedenen goldenen Kaͤſtchen mehrere Schwaͤmme und Kaͤmme, weite und enge, Haarbuͤrſten, Zahnbuͤrſten, Ohrloͤffel, Zahnſtocher, Puderbuͤchſen von al¬85 len Farben, Schoͤnheitspflaͤſterchen, Schminke aller Farben, Nagelſcheeren und Buͤrſten, eine Haarzange, ein Kaͤmmchen fuͤr die Augenbraunen, erſtaunlich viele Sachen. In dem Kopf der Henne fand man Huͤhneraugenſalbe fuͤr den linken und rechten Fuß. Der Hals enthielt eine Nadelbuͤchſe voll allerlei Nadeln, auch eine Inſektenfalle. In jedem der Huͤhnchen, die man oͤffnen konnte, fand ſich eine andre wohlriechende Seife, oder Salbe, oder Eſſenz; das Neſt im Innern ſelbſt war ein Naͤh - und Nadelkiſſen von tyriſchem Purpur, worauf die ſchoͤnſten Muſter mit goldenen Demantnadeln abgeſteckt wa¬ ren. Das ganze kuͤnſtliche Flechtwerk des goldenen Neſtes hieng und ſtack voll tauſenderlei Geſchmeid, Ringen, Ketten, Spangen, Agraffen, Amuletten, Talismanen, Perlen und Bernſteinſchnuͤren. Aus dem Neſt ſtreckten ſich vier Zweige von gewachſenem Gold mit Lilien, weißen und rothen Roſen von Edelſteinen. Dieſe Zweige bildeten Leuchter, worauf Wachskerzen ſtanden und woran viele Wachsſtoͤckchen hiengen, alle von wohlriechendem Wachſe gemacht, das Erſtlingsbie¬ nen beim Aufgang des Siebengeſtirns auf den Linden des Hymettus und von Lilien geſammelt hatten, die ſchoͤner be¬ kleidet waren, als Salomo ſelbſt. Außerdem hiengen an dieſen Goldzweigen Siegelringe, kleine Kalenderchen und Notizbuͤchelchen von Elfenbein. Vor der Henne kniete ein feines Kind mit Fluͤgeln von Edelſteinen; es hielt in der ei¬ nen Hand eine Schale voll der koͤſtlichſten Staͤrkungskuͤgel¬ chen, in der andern eine Schale voll Balſam von Mekka, als wolle es die Henne fuͤttern. Das Wunderbarſte aber war, daß die Henne die Stundenzahl und die Huͤhnchen die Viertelſtundenzahl mit ſuͤßem Gluckſen und Piepen angaben, und wenn man an einer Feder zog, ſo ſang eine im Innern befindliche Orgel die Melodie des hoͤchſten Liedes, das Sa¬ lomo je gedichtet.
Frau Hinkel wußte ſich gar keinen Rath uͤber allen dieſen Wundern und ſchaute ſich weiter bei dem Waſch¬86 tiſche um, da ſah ſie in das Gitter der Roſenſchirms mehrere Engelchen geflochten; einige reichten Koͤrbe mit Roſenblaͤttern, Orangenbluͤthen und Mandelkleie herein, andre boten lange weiche Tuͤcher von weißer oder purpurfarbiger indiſcher Lein¬ wand oder Wolle dar. — „ Ach, “ſagte Frau Hinkel, „ allen Reſpekt vor der Frau Koͤnigin Balkis, aber ſie muß viele Zeit und wenige Schoͤnheit gehabt haben, wenn ſie Alles das gebraucht hat, ſich zu waſchen; ich werde es nie gebrau¬ chen. “— „ Da haſt du wieder Recht, “ſagte Gockel, „ es iſt auch nur ein Schau - und Familienſtuͤck, du wirſt ſchon ein andres Waſchtiſchchen mit allem Noͤthigen finden; ich aber will meinen goldenen ſalomoniſchen Alektryo gleich gebrauchen, denn ich ſehe, er enthaͤlt nichts außer Stiefelzieher und Stiefelhacken, Schuh -, Kleider - und Zahnbuͤrſte, Kamm und Scheere, nicht viel mehr, als ein veritables engliſches Raſirzeug, das habe ich mir lange gewuͤnſcht, “und ſomit fing er gleich an und pinſelte ſich den Bart mit Seifen¬ ſchaum ein.
Gackeleia gieng auch nach ihrem Waſchtiſchchen, aber es wollte ihr nicht recht gefallen, denn es ſtand ein goldnes Kaͤtzchen darauf, das ein ſilbernes Huͤhnchen im Maul hatte. Sie wollte ſchon wieder anfangen zu weinen, aber Frau Hin¬ kel ſagte zu ihr: „ komm Gackeleia, damit wir den Vater beim Raſiren nicht ſtoͤren, er iſt es lange nicht mehr ge¬ wohnt, er koͤnnte ſich ſchneiden. — Wir wollen in die Klei¬ derkammer gehen und uns unter das Baͤumchen ſtellen und ſagen:
Da verließ Gackeleia ſehr erfreut die Stube mit ihr, und bald traten ſie in ſchoͤnen Morgenkleidern von ſchneeweißem Piqué mit leichter Goldſtickerei wieder herein.
Nun war die Sonne aufgegangen und der Nachtwaͤch¬ ter war auf den Markt gekommen und hatte das Wunder¬
87 Schloß Gockels, das wie ein Pilz in der Nacht hervorge¬ wachſen, kaum erblickt, als er ein ungemeines Geſchrei erhob:
Da wachten die Buͤrger rings am Markte auf, die Baͤcker und die Fleiſcher rieben ſich die Augen und riſſen die Maͤuler ſperrangelweit auf und ſtreckten die Koͤpfe mit ſammt den Nachtmuͤtzen zum Fenſter heraus und ſchauten das Schloß mit großem Spektakel der Verwunderung an. — Gockel, Hinkel und Gackeleia ſtanden am Fenſter und guckten hinter dem Vorhang Allem zu. Endlich ſchrie ein dicker Fleiſcher: „ da iſt da, das Schloß kann Keiner wegdiſputiren; aber, ob Leute darin ſind, die Fleiſch eſſen, das moͤcht ich wiſ¬ ſen. “ „ Ja, und Brod und Semmeln und Eierwecken, “fuhr ein ſtaubiger, unterſetzter Baͤckermeiſter fort. Da gieng aber auf einmal die Schloßthuͤre auf, und es trat ein großer, baͤrtiger Thuͤrſteher heraus mit einem großen Kragen, wie ein Wagenrad, und einem breiten, ſilberbordirten Bandelier uͤber der Bruſt und weiten gepufften Hoſen und einem Feder¬ hut, wie ein alter Schweizer gekleidet; er trug einen langen Stock, woran ein ſilberner Knopf war, wie ein Kuͤrbis ſo groß, und auf dieſem ein großer ſilberner Hahn mit ausge¬ breiteten Fluͤgeln. Die verſammelten Leute fuhren alle aus¬88 einander, als er mit ernſter drohender Miene ganz breit¬ beinig auf ſie zuſchritt; ſie meinten, er ſey ein Geſpenſt. Auch Gockel und Hinkel oben am Fenſter waren ſehr uͤber ihn verwundert und oͤffneten das Fenſter ein wenig, um zu hoͤren, was er ſagte. Er ſprach aber: „ hoͤrt einmal ihr lieben Buͤrger von Gelnhauſen, es iſt ſehr unartig, daß ihr hier bei Anbruch des Tages einen ſo abſcheulichen Laͤrm vor dem Schloße Seiner Hoheit des hochgebornen Raugrafen Go¬ ckel von Hanau, Hennegau und Henneberg, Erbherrn auf Huͤhnerbein und Katzenellenbogen macht, Seine hochgraͤflichen Gnaden werden es ſehr ungern vernehmen, ſo ihr Sie alſo fruͤhe in der Ruhe ſtoͤret, und wuͤnſche ſich das nicht wie¬ der zu erleben, das laßt euch geſagt ſeyn. “— „ Mit Gunſt “ſagte da der Fleiſcher und zog ſeine Muͤtze hoͤflich ab, „ wenn erlaubt iſt zu fragen, wird dieß Schloß, das uͤber Nacht wie ein Pilz aus der Erde gewachſen iſt, von dem ehema¬ ligen hieſigen Huͤhnerminiſter bewohnt? “ „ Allerdings, “er¬ wiederte der Schweizer, „ es iſt bewohnt von ihm und ſeiner Graͤflichen Gemahlin Hinkel und Hochdero Toͤchterlein Ga¬ ckeleia, außerdem von zwei Kammerdienern, zwei Kammer¬ frauen, vier Bedienten, vier Stubenmaͤdchen, zwei Jaͤgern, zwei Laufern, zwei Kammerrieſen, zwei Kammerzwergen, zwei Thuͤrſtehern, wovon ich einer zu ſeyn mir ſchmeicheln kann, zwei Leibkutſchern, ſechs Stallknechten, zwei Koͤchen, ſechs Kuͤchenjungen, zwei Gaͤrtnern, ſechs Gaͤrtnerburſchen, einem Haushofmeiſter, einer Haushofmeiſterin, einem Ka¬ paunenſtopfer, einem Huͤhnerhofmeiſter, einem Faſanenmei¬ ſter und noch allerlei anderem Geſinde, welche alle zuſam¬ men hundert Pfund Kalbfleiſch, fuͤnfzig Pfund Hammelfleiſch, fuͤnfzig Pfund Schweinefleiſch, ſechszig Wuͤrſte und dergleichen eſſen. “— „ Ach “, ſchrie da der Metzger und kniete beinahe vor dem Schweizer nieder, „ ich recommandire mich beßtens als Hochgraͤflicher Hofmetzger. “ Und der Baͤcker zupfte den Schweizer am Aermel mit den Worten: „ Seine Hoch¬89 graͤflichen Gnaden nebſt Familie werden doch das viele Fleiſch nicht ſo ohne Brod in den nuͤchternen Magen hineinfreſſen; das koͤnnte ihnen unmoͤglich geſund ſeyn. “ „ Ei behuͤte, “ſagte der Schweizer, „ ſie brauchen taͤglich dreißig große Weißbrode, hundert fuͤnfzig Semmeln, hundert Eierwecken, hundert Bubenſchenkel und zweihundert und ſechs und neunzig Zwiebacke zum Kaffee. “— „ O ſo empfehle ich mich beßtens zum Hochgraͤflichen Hofbaͤcker “, rief der Baͤckermeiſter. „ Wir wollen ſehen “, ſprach der Schweizer, „ wer heute gleich das beßte liefern wird, koͤmmt ans Brett. “ Da ſtuͤrzten alle die Baͤcker und Fleiſcher nach ihren Buden und hackten und kneteten und rollten und glaſirten die Eierwe¬ cken und riſſen die Laͤden auf und ſtellten Alles hinaus, daß es eine Pracht war; und ſo gieng es nun auf allen Seiten von Gelnhauſen; alle Kraͤmer und alle Krauthaͤndler ka¬ men, ſahen, ſtaunten und wurden berichtet und waren voll Freude, daß ſie ſo viel Geld verdienen ſollten.
Gockel und Hinkel und Gackeleia aber liefen im Schloß herum und ſahen Alles an; alle die Dienerſchaft ſetzte ſich in Bewegung; man kleidete ſich an, man wurde friſirt, man putzte Stiefel und Schuh, man klopfte Kleider aus, traͤnkte die Pferde, fuͤtterte Huͤhner, fruͤhſtuͤckte; es war ein Leben und Weben wie in dem groͤßten Schloß. Die Buͤrgerſchaft, um ihre Freude zu bezeigen, kam mit fliegenden Fahnen ge¬ zogen, jede Zunft mit dem Bild ihres Schutzpatronen auf der Fahne und ſchoͤner Muſik; ſie ſtanden Alle vor dem Schloße, feuerten ihre roſtigen Flinten in die Luft und ſchrieen: „ Vivat der Herr Graf Gockel von Hanau! Vi¬ vat die Graͤfin Hinkel und die Comteſſe Gackeleia! Vivat hoch! und abermal hoch! “— Gockel und Hinkel und Ga¬ ckeleia ſtanden auf dem Balkon am Fenſter und warfen Geld unter das Volk. Gockel warf den Maͤnnern hundert Stuͤck neue Gockeld'ors, Hinkel den Frauen hundert Stuͤck neue Hinkeld'ors, worunter auch eine große Anzahl Basler Hen¬90 nenthaler, und Gackeleia den Kindern hundert Stuͤck neue Gackeleid'ors aus. Sie riefen dabei immer: „ theilt unter¬ einander aus, laßt wechſeln, Einer gebe dem Andern her¬ aus! “ Weil aber damals der Cours in Gelnhauſen ſehr hoch ſtand und das Gold ſehr geſucht und man mit Schei¬ demuͤnze und Stuͤbern und mit Waaren, z. B. Nuͤſſen, Fei¬ gen, Schellen und Kappen wohl aſſortirt war, ſo ward der Wechſel - und Tauſchhandel ſehr lebhaft auf dem Markt. Je mehr das Gold fiel, deſto hoͤher ſtieg es; der Platz ward mit ausgetheilten, gewechſelten, ausgetauſchten, voll¬ wichtigen Naſenſtuͤbern, Kopfnuͤſſen, Ohrfeigen, Maulſchellen und geſtochenen Kappen uͤberſchwemmt und Alles mußte los¬ ſchlagen, weil Viele ganz unverzeihlich mit dieſen Artikeln ſchleuderten. Man hat auch unter der Hand vertrauliche In¬ formation eingezogen, daß damals das Haus: „ Gebruͤder Vatermoͤrder “, welches ſpaͤter die Frankfurter Meſſe in Wachs pouſſirt bezog, den erſten Grund zu ſeinem Renommee gelegt habe. — Als man ſich nun bereits bei den Haaren um das Gold riß, ſo daß Keiner mit einem blauen Auge davon kam, der nicht Haare gelaſſen hatte, drehte Gockel den Ring Salomonis und mit ihm den Kellermeiſter nebſt einem Stuͤck Faß Wein aus dem Keller, und es ward eingeſchenkt, Je¬ dem der trinken wollte und ein Gefaͤß bei ſich hatte. Da liefen ſie auseinander nach Haus und holten Eimer und Kuͤ¬ bel und Zuͤber und Schoͤpfkellen und Keſſel und Kruͤge und was ſie fanden, und tranken, da der Goldregen aufgehoͤrt, Gockels Geſundheit am Weinfaß.
Der Koͤnig von Gelnhauſen wohnte damals nicht in der Stadt, ſondern eine Meile davon, in ſeinem Luſtſchloße Ka¬ ſtellovo, auf deutſch Eier-Burg, denn das ganze Schloß war von ausgeblaſenen Eierſchalen errichtet, und in die Waͤnde waren bunte Sterne von Oſtereiern hineingemauert. Dieſes Schloß war des Koͤnigs Lieblingsaufenthalt, denn der ganze Bau war ſeine Erfindung, und alle dieſe Eierſchalen waren91 bei ſeiner eigenen Haushaltung ausgeleert worden. Das Dach der Eierburg aber war in Geſtalt einer bruͤtenden Henne wirklich von lauter Huͤhnerfedern zuſammengeſetzt, und in¬ wendig waren alle Waͤnde eiergelb ausgeſchlagen. Gerade der Bau dieſes Schloßes war ſchuld geweſen, daß Gockel einſtens aus den Dienſten des Koͤnigs gegangen war, weil er ſich der entſetzlichen Huͤhner - und Eierverſchwendung wi¬ derſetzte und dadurch den Koͤnig erbittert hatte. Taͤglich kam nun der koͤnigliche Kuͤchenmeiſter mit einem Kuͤchenwa¬ gen nach Gelnhauſen gefahren, um die noͤthigen Vorraͤthe fuͤr den Hofſtaat einzukaufen. Wie erſtaunte er aber heute, als er die ganze Stadt in einem allgemeinen Buͤrgerfeſt vor einem nie geſehenen Palaſte erblickte und den Namen Go¬ ckels an allen Ecken ausrufen hoͤrte. Aber ſein Erſtaunen ward bald in einen großen Aerger verwandelt; denn wo er zu einem Baͤcker oder Fleiſcher oder Kraͤmer mit ſeinem Kuͤ¬ chenwagen hinfuhr, um einzukehren, hieß es uͤberall: Alles iſt ſchon fuͤr Seine Raugraͤflichen Gnaden Gockel von Hanau gekauft. Da nun endlich der koͤnigliche Kuͤchenmeiſter ſich mit Gewalt der noͤthigen Lebensmittel bemaͤchtigen wollte, widerſetzten ſich die Buͤrger und es entſtand ein Getuͤmmel. Gockel, der die Urſache davon erfuhr, ließ ſogleich dem Kuͤ¬ chenmeiſter ſagen, er moͤge ohne Sorgen ſeyn, denn er wolle Seine Majeſtaͤt den Koͤnig und Seine ganze Familie und Seine ganze Dienerſchaft allerunterthaͤnigſt heute auf einen Loͤffel Suppe zu ſich einladen laſſen, und er, der Kuͤchen¬ meiſter, moͤchte nur mit ſeinem Kuͤchenwagen vor ſeine Schloß-Speiſekammer heranfahren, um ein kleines Fruͤhſtuͤck fuͤr den Koͤnig mitzunehmen. Der Kuͤchenmeiſter fuhr nun hinuͤber, und Gockel ließ ihm den ganzen Kuͤchenwagen mit Kibitzeneiern anfuͤllen und ſetzte ſeine zwei Kammermohren oben drauf, welche den Koͤnig unterrichten ſollten, wie man die Kibitzeneier mit Anſtand eſſe; denn der Koͤnig hatte ſeiner Lebtage noch keine gegeſſen.
92Der Kuͤchenmeiſter fuhr durch den Sand in geſtrecktem Ga¬ lopp mit ſeinem Kuͤchenwagen voll Eiern nach dem Luſtſchloß, ohne ein Einziges zu zerbrechen, nur daß die zwei Mohren, wo es zu langſam ging, manchmal abſteigen und zu Fuß gehen mußten; ſie kamen jedoch zugleich in der Eierburg an.
Mit hoͤchſter Verwunderung hoͤrte Koͤnig Eifraſius die Geſchichte von dem Schloß und dem Gockel durch den Kuͤ¬ chenmeiſter erzaͤhlen, und ließ ſich ſogleich ein Hundert von den Kibitzeneiern hart ſieden. Als nun die zwei ſchwarzen Kammermohren in ihren goldbordirten Roͤcken mit der ſilber¬ nen Schuͤſſel voll Salz, in welches die Eier feſtgeſtellt wa¬ ren, hereintraten, und mit ihrer ſchwarzen Farbe ſo ſchoͤn gegen den weißen Eierpalaſt abſtachen, hatte der Koͤnig Ei¬ fraſius große Freude daran. Er ließ ſeine Gemahlin Eile¬ gia, und ſeinen Kronprinzen Kronovus zum Fruͤhſtuͤck beru¬ fen, und erzaͤhlte ihnen das große Wunder vom Palaſt Gockels. „ Ach “, ſagte Kronovus, „ da iſt wohl die kleine Ga¬ ckeleia, mit welcher ich ſonſt ſpielte, auch wieder dabei. “ „ Na¬ tuͤrlich “, ſprach Eifraſius, „ wir wollen gleich nach dieſem Fruͤhſtuͤck hinein fahren und das ganze Spektackel anſehen. Aber ſeht nur die kurioſen Eier, die er uns zum Fruͤhſtuͤck ſendet; gruͤn ſind ſie mit ſchwarzen Puncten; man nennt ſie Kibitzeneier, ſie kommen weit aus Rußland und werden ſo genannt, weil ſie in Kibitken, einer Art von Huͤhnerſtall auf vier Raͤdern gefunden, oder gelegt, oder hieher gefah¬ ren werden. “
Da ſprach der eine Kammermohr: „ ich bitte Eure Maje¬ ſtaͤt um Vergebung, man nennt ſie Kibitzeneier, ſie werden vom Kibitz, einem Vogel gelegt, der ungefaͤhr ſo groß wie eine Taube und grau wie eine Schnepfe iſt, und wie eine franzoͤſiſche Schildwache beim Eierlegen immer Ki wi, Ki wi ſchreit, wenn man dann: „ gut Freund “antwortet, ſo kann man hingehen und ihm die Eier nehmen, worauf er gleich wieder andere legt. “
93Den Koͤnig Eifraſius aͤrgerte es, daß der Mohr ihn in Eierkenntniſſen belehren wollte, und ſagte zu ihm: „ halt er ſein Maul, er verſteht nichts davon, ſey er nicht ſo naſen¬ weis. “ Daruͤber erſchrack der Mohr wirklich ſo ſehr, daß er ganz weiß um den Schnabel wurde. Der andere Mohr ſprach nun: „ der Raugraf Gockel hat uns befohlen, Eurer Maje¬ ſtaͤt zu zeigen, wie dieſe Eier jetzt nach der neueſten Mode geſpeiſt zu werden pflegen. “ „ Ich bin begierig “, ſagte der Koͤ¬ nig, „ es zu ſehen. “ Da nahm jeder der Kammermohren eins von den Eiern in die flache linke Hand, und nun traten ſie mit aufgehobener Rechte einander gegenuͤber und baten den Koͤnig eins, zwei, drei zu kommandiren. Das that Eifraſius, und wie er drei ſagte, ſchlug der eine Mohr dem andern ſo auf das Ei, daß der gelbe Dotter gar artig auf die ſchwarze Hand herausfuhr. Dem Koͤnig gefiel dieſes uͤber die Maſ¬ ſen, und ſie mußten es ihm bei allen hundert Eiern da Capo machen, wofuͤr er ihnen beim Abſchied beiden den Orden des rothen Oſtereies dritter Klaſſe ohne Dotter taxfrei zur Be¬ lohnung um den Hals haͤngte.
Nun fuhr der Koͤnig und ſeine Gemahlin und der Kron¬ prinz mit dem ganzen Hofſtaat auf einer Wurſt nach Geln¬ hauſen zu Gockel, der ihm mit Hinkel und Gackeleia an der Schloßthuͤre entgegen trat. Die Verwunderung uͤber den Reichthum und die jugendliche Schoͤnheit Gockels konnte nur durch die außerordentliche Mahlzeit noch uͤbertroffen werden. Alles war in vollem Jubel. Kronovus und Gackeleia ſaßen an einem aparten Tiſchchen und wurden von den zwei Kam¬ merzwergen bedient, und Muſik war an allen Ecken. Beim Nachtiſch tranken Eifraſius und Gockel Bruderſchaft, und Eilegia und Hinkel Schweſterſchaft, und Kronovus und Ga¬ ckeleia Spielkameradſchaft, ſprechend: „ du biſt mein Koͤnig und du biſt meine Koͤnigin. “ Eifraſius zog dann den Gockel an ein Fenſter und hieng ihm das Großei des Ordens des goldnen Oſtereies mit zwei Dottern und Peterſilie um den Hals und94 borgte hundert Gockeld'ors von ihm, worauf das Ganze mit einem groſſen Volksfeſte beſchloſſen wurde.
So lebten Gockel und die Seinigen beinah ein Jahr in einer ganz ungemeinen irdiſchen Gluͤckſeligkeit zu Gelnhauſen, und der Koͤnig war ſo gut Freund mit ihm und ſeiner vor¬ trefflichen Kuͤche und ſeinem unerſchoͤpflichen Geldbeutel, und alle Einwohner des Landes hatten ihn ſeiner groſſen Frei¬ gebigkeit wegen ſo lieb, daß man eigentlich gar nicht mehr unterſcheiden konnte, wer der Koͤnig von Gelnhauſen war, Gockel oder Eifraſius. Auch wurde es unter beiden feſt be¬ ſchloſſen, daß einſtens Gackeleia die Gemahlin des Erbprin¬ zen Kronovus werden und an ſeiner Seite den Thron von Gelnhauſen beſteigen ſollte. Aber der Menſch denkt und Gott lenkt, und ſo kamen auch uͤber dieſe guten Leute noch manche Schickſale, an die ſie gar nicht gedacht hatten.
Alles hatte die kleine Gackeleia in vollem Ueberfluß, nur keine Puppe; denn Gockel beſtand ſtreng auf dem Ver¬ bot, das er uͤber ſie bei dem Tode des Alektryo hatte er¬ gehen laſſen, ſie ſollte zur Strafe niemals eine Puppe haben. Wenn ſie nun um Weihnachten oder am St. Niklastage alle Maͤgdlein in Gelnhauſen mit ſchoͤnen neuen Puppen herum¬ ziehen ſah, war ſie gar betruͤbt und weinte oft im Stillen; eine ſolche Sehnſucht hatte ſie nach einer Puppe. Merkte der alte Gockel aber, daß Gackeleia, die er wie ſeinen Aug¬ apfel liebte, ſo traurig war, ſo that er ihr Alles zu lieb, um ſie zu troͤſten, zeigte ihr die ſchoͤnſten Bilderbuͤcher, er¬ zaͤhlte ihr die wunderbarſten Maͤhrchen, ja er gab ihr auch wohl manchmal den koͤſtlichen Ring Salomonis in die Haͤn¬ de, der mit ſeinem funkelnden Smaragd und den wunderba¬ ren Zuͤgen, die darauf eingeſchnitten waren, alle Augen er¬ quickte, die ihn anſchauten.
Einſtens gieng nun Gackeleia in ihrem kleinen Gaͤrt¬ chen ſpazieren, welches am Ende des Schloßgartens, dicht an der Landſtraße lag. Da waren die zierlichſten Beete voll95 ſchoͤner Blumen, alle mit Buchs, Salbei und Schnittlauch ein¬ gefaßt, und die Wege waren mit glitzerndem Goldſand be¬ ſtreut; in der Mitte war ein Springbruͤnnchen, worin Gold¬ fiſchchen ſchwammen, und uͤber demſelben ein goldener Kaͤfig voll der bunteſten ſingenden Voͤgel; hinter dem Brunnen aber war eine kleine Laube von Roſen und eine kleine Ra¬ ſenbank. Ein ſchoͤnes goldenes Gitter umgab das ganze liebe Gaͤrtchen. „ Ach “, dachte Gackeleia, „ wie gluͤckſelig waͤre ich, wenn ich eine Puppe in meinem ſchoͤnen Gar¬ ten ſpazieren fuͤhren koͤnnte, ſo allein gefaͤllt er mir gar nicht, was hilft es mir auch, wenn ich mir aus meinem Taſchentuche durch allerlei Knoten eine Puppe zuſammen¬ knuͤpfe, ſie iſt doch nie eine ſchoͤne Gliederpuppe, ganz wie ein Menſch, mit einem ſchoͤnen lakirten Geſicht — und der Vater hat mir ſelbſt ſolche Puppen verboten. “
Waͤhrend Gackeleia ſo in ſchweren Puppenſorgen auf ihrer Raſenbank ſaß, hoͤrte ſie auf einmal eine angenehme ſummende, aber ſehr leiſe Muſik ganz nahe hinter ihr vor dem Garten, der an einem Feldweg lag. Da guckte ſie durch die Blaͤtter und ſah etwas Seltſames. Dicht vor dem Gitter ſaß ein Mann in einem ſchwarzen Mantel ohne Kopf an der Erde zuſammengehuckt, und unter dem Mantel her¬ vor ſchnurrte die Muſik. Gackeleia beugte ſich zur Erde, um zu ſehen, wo nur in aller Welt die feine Muſik herkomme; wie war ſie erſtaunt, als ſie da unten ein paar allerlieb¬ ſte Puppenbeinchen in himmelblauen, mit Silber geſtickten Schnuͤrſtiefelchen ganz im Takte der Muſik herumſchnurren ſah, ſie wußte gar nicht, was ſie vor Neugier, die Puppe ganz zu ſehen, anfangen ſollte. Oft war ſie im Begriffe, die Hand durchs Gitter zu ſtecken und den ſchwarzen Man¬ tel ein wenig aufzuheben, aber die Furcht, weil ſie an die¬ ſer Geſtalt keinen Kopf ſah, hielt ſie immer wieder zuruͤck. Endlich brach ſie ſich eine lange Weidenruthe ab, ſteckte ſie durch das Gitter und luͤftete den Mantel ein wenig, da96 ſchnurrte eine wunderſchoͤne Puppe in den artigſten Kleidern, wie eine Reiſende geputzt, unter dem Mantel hervor, und rannte gerade auf das Gitter des Gartens zu, ſtieß einige¬ male an die goldenen Gitterſtaͤbe und wuͤrde gewiß zu ihr hineingekommen ſeyn, wenn ſich nicht eine hagere Hand aus dem Mantel nach ihr hingeſtreckt und ſie wieder in die Verbor¬ genheit zuruͤckgezogen hatte, wo die kleine Puppe von einer rauhen Stimme ſehr ausgeſchimpft wurde, daß ſie ſich un¬ terſtanden habe, unter dem Mantel hervorzulaufen.
Gackeleia konnte nicht mehr laͤnger zuruͤckhalten, und rief einmal uͤber das anderemal: „ bitte, bitte du ſchwarzer Mantel, zanke doch die liebe ſchoͤne Puppe nicht ſo, laſſe ſie doch ein wenig heraus zu mir in den Garten. “ Da that ſich auf einmal der Mantel auf, und ein alter Mann mit einem langen weißen Bart richtete ſich vor Gackeleia auf und ſprach: „ ich bitte recht ſehr um Verzeihung, daß ich meine Puppe hier ein wenig unter meinen Mantel tanzen ließ und auf der Maultrommel dazu ſpielte, ich habe nicht gewußt, daß das Comteßchen zuſah. Ich wollte nur ver¬ ſuchen, ob ſie mir auf der Reiſe nicht melancholiſch gewor¬ den ſey; denn ich will ſie hier in Gelnhauſen fuͤr Geld auf dem Rathhauſe tanzen laſſen. Sehen das Comteßchen nur, ſie iſt ganz artig, jetzt iſt ſie in ihren Reiſekleidern mit einem Mantel und Reiſehut und einem Blumenſtrauß und einer Landkarte und einem Nachtſack; aber die Schnuͤrſtiefelchen ſind doch allerliebſt, ſie haͤlt gewaltig auf einen ſchoͤnen Fuß, aber Comteßchen, ſie hat eine viel ſchoͤnere Garderobe, ſie kann ſich verkleiden, in was ſie will, bald ſo, bald ſo, wenn das Comteßchen erlaubt, werde ich die Ehre haben, Ihnen alle ihre Kleidchen und ſieben Saͤchelchen zu zeigen, ich habe mir hier um meinen Regenſchirm ſechszehn Silbergloͤckchen befeſtigt und bei jedem Gloͤckchen ein anderes Kleidchen und was dazu gehoͤrt, und wenn ſie ſchmutzig ſind, waͤſcht mir ſie der Regen und im Sonnenſchein trocknen ſie. Laſſe ich
97 im Wetter tanzen, geſchieht es unter dem Schirm, da iſt ſie wie unter einem chineſiſchen Dach, Alles iſt einfach und kurz beiſammen, man muß auf Alles denken. “— Da rief Gackeleia aus: „ ach! zeige mir Alles, Alles, explicire mir Alles; o wie artig iſt die Puppe! wie wackelt ſie mit dem Koͤpf¬ chen, wie ſchuͤttelt ſie die Zoͤpfchen, wie reicht ſie die Aerm¬ chen, ach gieb ſie mir nur ein klein Bischen zu betrachten. “
Der Alte ſagte: „ Comteſſe, das kann ich nicht, aber die Kleider will ich Ihnen gleich zeigen und Alles expli¬ ciren. “
Da ſteckte er die Puppe in den Guͤrtel, die anfangs mit dem Kopf daraus hervorwackelte und nachher ſtille ward; dann ſpannte der alte Mann einen großen Regenſchirm aus, der am Rande mit vielen kleinen Gloͤckchen und bei jedem mit allerlei niedlichen Puppenkleidchen und Kleinigkeiten be¬ haͤngt war. Zuerſt drehte er den Schirm ſchnell herum, daß die Schellen lieblich klingelten und die Puppenkleider bunt im Kreiſe wehten, dann hielt er ploͤtzlich den Schirm ſtill und fing an, mit einem Staͤbchen deutend jedes Stuͤck zu explicieren, wobei er halb ſprach, halb durch die Naſe ſang, und Gackeleia jedesmal antwortete.
Der Alte ſang:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Der Alte:
Gackeleia:
Nun drehte der wunderliche Alte ſeinen Schellenſchirm wieder klingend im Kreis und machte ihn dann ploͤtzlich vor den Augen Gackeleia's zu, der das Herz flog vor Begierde nach der Puppe und all den ſchoͤnen Kleinigkeiten. — „ Ach die Puppe, die Puppe, ach die ſchoͤnen Kleider “, ſagte ſie einmal uͤber das andremal, „ ach duͤrfte ich ſie nur ein bischen haben, nur ein klein bischen! bitte, bitte, bitte! “
„ Halten Sie ein Comteßchen, “ſagte der Alte: „ halten Sie ein, es wird mir ſo ruͤhrend, mein Herz laͤuft mir aus; ich kann das Lamentiren nicht hoͤren von einem ſo artigen Frauenzimmerchen; wollen Sie mir eine kleine Freundſchaft erweiſen, nur ein bischen, ein bischen, ſo ſollen ſie die Puppe und die ſchoͤnen Kleidchen haben fuͤr immer, fuͤr immer! bitte, bitte, bitte! “
„ Die Puppe haben? “ſagte Gackeleia mit großem Schmerz und rang die Haͤndchen, „ ach edler Mann! Ga¬ ckeleia darf keine Puppe haben, nie, nie! Gackeleia hat Schurrimurri zu Gallina gefuͤhrt, Gallina ward erwuͤrgt, und Gackeleia ward verurtheilt: nie, nie eine Puppe haben zu duͤrfen — ach und ich haͤtte dieſe ſo gern! ach nur ein bischen, ein bischen, bitte, bitte! “
Waͤhrend Gackeleia ſo wehklagte, machte der Alte ſei¬ nen Schirm bald halb auf, bald wieder zu, ſo daß alle die ſchoͤnen Kleidchen immer vor den Augen des Kindes herum¬ flatterten, und ſagte dann: „ ein grauſames Urtheil, ein har¬ tes Wort, da muͤßte ſich ein Stein erbarmen, wider die108 Natur, wider die Menſchheit, wider alle Sinnlichkeit fuͤr re¬ ligioͤſe Gefuͤhle! ein Kind, ein ſo ſchoͤnes, liebes Comteßchen ſoll keine Puppe haben? — hat doch jed Huͤndchen ſein Knoͤ¬ chelchen, hat doch jed Kaͤtzchen ſein Maͤuschen, womit es ſpielt! “— „ Schweig ſtill, ſchweig ſtill “, ſagte Gackeleia, „ ſag nichts von den Kaͤtzchen, ach die Kaͤtzchen ſind eben daran Schuld, daß ich keine Puppe haben darf! — aber es geht nicht, es geht nicht, ich haͤtte dieſe doch gar zu gern, ach nur ein Bischen, bitte, bitte! “— Da fieng Gackeleia an zu weinen, und der gefuͤhlvolle Alte, der unter einem rauhen Aeußern ein zartes kindliches Herz im Buſen zu tragen hatte, weinte, oder ich muͤßte mich ſehr irren, mit.
„ Comteßchen “, ſagte er, „ ich halte das Mitleid nicht laͤn¬ ger aus, mir wird wie der große Dichter in der Poeſie ſagt:
„ Comteßchen, wiſchen Sie ſich die Augen, putzen Sie ſich die Augen, putzen Sie ſich das Naͤschen an die Schuͤrze, aber an der innern Seite, damit man's nicht ſieht; Heimlichkeit, Verborgenheit ſitzt ganz ſtill und koͤmmt doch weit. Jetzt geben Sie acht: verbietet uns der Herr Doctor das Bier, ſo trinken wir Gerſtenſaft, die Aepfel, eſſen wir ſuͤße Po¬ meranzen, das Brod, eſſen wir Kuchen — verſtehen Sie Com¬ teßchen, jed Ding will ſein Sach haben, man muß dem Beil einen Stiel ſuchen und dem Kind ein Puͤppchen. “—
„ Ach! ich darf aber keine haben “, jammerte Gackeleia, „ gewiß, gewiß, ich darf keine Puppe haben “! —
„ Ganz gut “, ſagte der Alte, „ bei Leibe nicht! Gehorſam muß ſeyn, aber koͤnnen das Comteßchen leſen? ſchauen Sie da oben auf die Inſchrift uͤber meinem chineſiſchen Sonnen¬ ſchirm, was ſteht da geſchrieben? denn man muß immer ſehen,109 was geſchrieben ſteht. Da fieng Gackeleia an zu buchſtabiren: k. e. i. kei, n. e. ne keine u. ſ. w. — keine Puppe, ſondern nur eine ſchoͤne Kunſtfigur — und ſie guckte den Mann und dann wieder die Puppe in ſeinem Guͤrtel mit großen Augen an und ſprach: „ wie, das waͤre keine Puppe? keine Puppe? “
Nun nahm der Alte die Puppe aus ſeinem Guͤrtel in ſeine Hand und ſagte:
„ Ja “, ſagte Gackeleia, „ das iſt einmal richtig, keine Puppe, ſondern nur eine ſchoͤne Kunſtfigur “; und der Alte fuhr fort:
110Da ſprach Gackeleia:
Der Alte fuhr fort:
Bei dieſen Worten des Alten hob Gackeleia ihr Koͤpf¬ chen mit einigem Selbſtgefuͤhl in die Hoͤhe, denn ſie wußte wohl, daß ſie eine Comteſſe ſey, und daß ſie ſehr anſtaͤndig nach den Tiſchregeln zu eſſen gelernt hatte; ja ſie bildete ſich etwas darauf ein; daher ſprach ſie zu dem Alten etwas in verweiſendem Tone:
Dann wendete ſich Gackeleia gegen die Puppe und er¬ zaͤhlte ihr, was ihr vom anſtaͤndigen Betragen bei Tiſch ge¬ lehrt worden war:
Gackeleia hatte ihre Lektion hergeſagt und erwartete eine Antwort von der Puppe, indem ſie fortfuhr:
So plauderte Gackeleia mit der Puppe, welche mit Kopf und Aermchen in der Hand des Alten wackelte.
Der Alte aber ſagte: „ Comteſſe Gackeleia, ſie wird es Ih¬ nen nicht ſagen, Sie ſollen ſie auch nicht fragen, ich habe es nie gewagt; es giebt Geheimniſſe im kunſtfiguͤrlichen Her¬ zen, es iſt gefaͤhrlich da eindringen zu wollen nach den Wor¬ ten des großen Abulfeda:
8114„ Sehen kann man es nicht, aber hoͤren ſollen Sie es gleich! “— „ Hoͤren? “ſagte Gackeleia, „ ſie ſchmatzt doch nicht, das waͤre nicht artig! “— „ Geduld, “ſagte der Alte, „ geben mir das Comteßchen ihr Koͤrbchen, haben Sie nichts zu naſchen? “— „ O ja “, ſagte Gackeleia, „ da ſind Knack¬ mandeln von Jungfer Widder, der Schuljungfer, ſie hat ſie nach ihrem Braͤutigam geworfen, und Prinz Kronovus hat ſie aufgeleſen und mir geſchenkt. “— „ Herrlich, “ſagte der Alte, „ aber eine iſt genug, “und er that die Figur in den Korb und die Knackmandel dazu und den Deckel daruͤber, und nun ſtellte er den Korb dicht ans Gartengitter und ſagte: „ Jetzt horchen Sie, wie die Kunſtfigur kruſtilliret. “— Gackeleia hielt das Ohr an den Korb und hoͤrte die Kunſtfigur bald ſo artig mit den Zaͤhnchen knuppern, daß ſie freudig ausrief:
Dann nahm der Alte die Kunſtfigur wieder heraus, zog das Uhrwerk auf und ſagte. „ Jetzt wird ihr zur Ver¬ dauung ein Spaziergang geſund ſeyn, ſonſt ſchlaͤft ſie uns ein:
Die Puppe aber wackelte mit Kopf und Haͤndchen und da er ſie an den Boden ſetzte, lief ſie gar geſchaͤftig am Gar¬ tengitter hin und her, nickte und winkte und ſtieß manchmal ans Gitter, weil ſie durch wollte in den Garten, aber nicht konnte, denn die Oeffnungen waren nicht groß genug.
Gackeleia außer ſich vor Freude rief: „ ach ſie winkt mir, ſie winkt mir, ſie moͤchte zu mir in den Garten — ach lie¬115 ber alter Mann ſage mir geſchwind, was ich dir zu Gefal¬ len thun ſoll, daß du mir die Kunſtfigur giebſt! “— Da ſteckte der Mann die Kunſtfigur wieder in ſeinen Guͤrtel und ſprach: „ O Comteßchen! es iſt nur eine Miniatur von einer Kleinigkeit von einer Bagatelle; ach! ich bin ein armer, betruͤbter, verlaſſener Mann, ich habe nicht Vater nicht Mut¬ ter, nicht Schweſter nicht Bruder, nicht Kind nicht Rind, nicht Kuh und nicht Kalb, nicht ganz und nicht halb, mir fehlet Alles, was man nicht begehren darf, ſeines Naͤchſten Weib, Knecht, Magd, Ochs, Eſel und Alles, was ſein iſt, ach! ich habe ſelbſt keine Puppe, ſondern nur dieſe ſchoͤne Kunſtfigur nach der Uhr und nach der Schnur und ein Maͤus¬ chen von Natur; aber mein Kummer iſt ſo groß, daß auch ſie mich nicht troͤſten kann. Doch Sie koͤnnen es, o Exzellenz¬ chen, daß ich luſtig werde wie ein Laͤmmerſchwaͤnzchen. “
Nach dieſen Worten fieng der wunderliche Alte ſo zu weinen und zu wimmern an, daß Gackeleia mit Thraͤnen in den Au¬ gen zu ihm ſprach: „ ach weine nur nicht ſo, du armer Mann! ich will dir ja Alles thun, was dich troͤſten kann, wenn du mir die ſchoͤne Kunſtfigur giebſt; ſage mir doch um Gottes¬ willen, was dich troͤſten kann. “— Da erwiederte der Alte:
„ Ei! “ſagte Gackeleia, „ den Ring kenne ich wohl, er hat auch mich manchmal ſchon froͤhlich gemacht, wenn ich ihn8 *116anſehen durfte. Gehe nur ein bischen weg, gleich wird mein Vater in einer nahen Laube ſein Mittagsſchlaͤfchen hal¬ ten, da will ich den Ring ſchon auf ein Weilchen kriegen. Aber, daß du mir gleich wieder da biſt, wenn ich den Ring bringe. “
„ Ganz gewiß “, ſagte der Alte, „ ich will Ihnen die Kleider der Kunſtfigur als ein Pfand gleich hier laſſen, Sie koͤnnen ſie alle huͤbſch glatt ſtreichen und in ihr Koͤrbchen legen, ſie ſind an dem Schirm ein bischen aus der Façon gekommen. “ Da gab er ihr die Kleider und Kleinigkeiten, die er von dem Schirme abloͤſte, und verließ dann mit der Kunſtfigur die kleine Gackeleia, die ihm immer nachrief: „ aber daß du nur auch ganz gewiß koͤmmſt, der Ring ſoll dich recht an¬ lachen! “ „ Ja, ja ganz gewiß “, rief der Alte und verſchwand hinter den Hecken. Gackeleia aber ſetzte ſich in ihre Laube, muſterte und ordnete alle Kleider der Puppe, und dachte ſchon, wie die kleine Gaͤrtnerin bei ihr zwiſchen den Blumen¬ beeten herumlaufen wuͤrde, und konnte ſich zum Voraus vor Freude gar nicht faſſen.
Aber ſchnell bewahrte ſie die Kleider in ihrem Korb, da ſie den Vater Gockel auf ſeinem Stuhle in der Laube ſchnar¬ chen hoͤrte. Sie ſchlich hin, ſetzte ſich zu ſeinen Fuͤßen, hatte ſeine Hand in der ihrigen und ſah in den gruͤnen Stein des Ringes. Als ſie nun den Stein beruͤhrte und vor ſich ſagte: „ ach wenn ich den Ring nur leiſe von ſeinem Finger herunter haͤtte! “da that der Ring ſeine Wirkung. Gockel ſchlief feſt und ſchnarchte, und der Ring fiel in das Haͤnd¬ chen der Gackeleia, welche geſchwind wie der Wind nach ih¬ rem Gaͤrtchen lief, wo der alte Mann vor Begierde nach dem Ring ſein mageres Geſicht mit dem Barte ſchon wie ein alter Ziegenbock uͤber das Gitter heruͤber ſtreckte. Gackeleia hielt ihm den Ring entgegen und ſprach: „ die Kunſtfigur her! die Kunſtfigur her! ſieh hier iſt der Ring; aber ich gebe ihn nicht, bis du mir erklaͤret haſt, wie man die Figur aufzieht117 und wie ich ſonſt mit ihr umgehen muß, damit ſie mir nicht krank wird, und bis ich ſie in den Haͤnden habe, dann kannſt du geſchwind in den Ring gucken, denn ich muß ihn ſchnell in die Laube zuruͤck bringen, ehe der Vater aufwacht. “
Der Alte, der nach dem Ring noch gieriger hin ſah, als das Kind nach der Puppe, nahm dieſe, ſteckte ihr das Schluͤßelchen, welches ſie anhaͤngen hatte, in das Ohr und ſagte: „ Comteßchen! links muͤſſen Sie leiſe drehen, bis Sie Widerſtand fuͤhlen, ſonſt koͤnnte die Figur uͤberſchnappen. Sie muͤſſen ſich nicht wundern, daß man die Kunſtfigur durch das Ohr aufzieht, man zieht ja auch die Kinder auf durch das Gehoͤr. Man ſchraubt auch die Jugend auf und ver¬ ſchraubt ſie eben ſo leicht, daß kein Uhrmacher mehr helfen kann, nur knarrt es ein bischen mehr bei der Kunſtfigur. Aber ich hoffe, die Comteſſe werden ihr dieſes wegen anderer treff¬ licher Eigenſchaften zu Gute halten. Wenn ich nun aufge¬ zogen, knirr, knirr, knirr, nickt ſie ein Weilchen gar lieblich mit dem Kopf und winkt mit den Haͤndchen, ja laͤuft auch auf ebenem Boden, weil aber Berg und Thal zuſammen kommen, ſo wird ihr das Laufen beſchwerlich, und muß da¬ rum die Natur der Kunſt zu Huͤlfe kommen, wie umgekehrt bei Menſchen die Kunſt der Natur oft nachhelfen muß. Was nun die Kunſt dieſer Figur betrifft, ſo laſſen ihr die Comteſſe, ſo ſie harthoͤrig wuͤrde, manchmal ein Troͤpfchen Mandeloͤl ins andere Ohr laufen; dann geht ſie wieder wie geſchmiert. Was die Natur betrifft, habe ich ſchon geſagt, was ſie gern ißt: braune Semmelrinde, auch hartes Zucker¬ brod und Knackmandeln; ich rathe nicht zu vielen fetten Spei¬ ſen, weil ſie ſich leicht dadurch ihre Garderobe beflecken koͤnnte. Sie trinkt nicht viel, und ſetzt Comteßchen ihr alle Tage ihr Fingerhuͤtchen voll Waſſer in den Korb, iſt es zum Trin¬ ken, Mundausſpuͤhlen und Waſchen genug. In das Koͤrb¬ chen machen Sie ihr Bettchen, Sie brauchen ſie nicht ſchla¬ fen zu legen, ſie legt ſich von ſelbſt. Morgens den Finger¬118 hut und was zu knuppern, Mittags, Abends eben ſo. Die Kleiderchen halten Sie huͤbſch reinlich, und verbleichen ſie, ſo laſſen Sie ſie faͤrben. Huͤten Sie ſie vor Ungeziefer, beſonders vor Spinnen und vor Allem vor Katzen. Ihre Stiefelchen und Tanzſchuhe halten Sie beſonders in Ord¬ nung, denn ſie haͤlt viel darauf und hat Huͤhneraugen; dar¬ um bitte ich, ihr nicht auf die Fuͤße zu treten; ſie iſt ſehr em¬ pfindlich. — Hoͤren Sie, um Sie ganz zu uͤberzeugen, daß ſie keine Puppe iſt, will ich Ihnen ihr Stimmchen hoͤren laſſen. “ Da zwickte der Alte die Figur an der Spitze des Fuͤßchens, und ſie iſt piepte wie ein Maͤuschen, ſo daß Gackeleia laut aufſchrie: „ ach dem Klandeſtinchen nicht weh, weh thun! “der Alte aber ſagte: „ nicht wahr Comteßchen, ſchreien kann doch
„ Gewiß “, ſagte Gackeleia und ſprach dieſe Worte mit. Der Alte aber ſagte noch: „ Sie muͤſſen ihr nicht beim Eſſen und Trinken zuſehen; wenn ſie heraus iſt, laſſen Sie ſie ruhig laufen, aber nicht wo es ganz offen iſt, ſonſt laͤuft ſie Ihnen davon. “ Dann gab er die Puppe der Gackeleia, und ſie gab ihm den Ring, mit dem er ſich unter ſeinem Man¬ tel verbarg, wo er ihn eifrig zu betrachten ſchien.
Gackeleia ſetzte die Puppe in dem Gaͤrtchen nieder und tanzte voll Entzuͤcken vor ihr her, die ihr uͤberall artig nachſchnurrte; Gackeleia patſchte freudig in die kleinen Haͤnde, der Alte aber patſchte in ſeine großen Haͤnde. „ Ach! “rief ihm Gackeleia zu, „ gelt, du haſt dich in dem Ring ſchon recht luſtig geguckt? O gieb ihn geſchwind, geſchwind zuruͤck, ich hoͤre den Vater ſchon in der Laube gaͤhnen. “— „ O mir iſt ſchon ganz froͤh¬ lich “, ſagte der Alte, „ bald werde ich noch luſtiger ſeyn! “ Nun gab er ihr den Ring zuruͤck und wuͤnſchte ihr mit ei¬ nem haͤßlichen Gelaͤchter viel Gluͤck zu der ſchoͤnen Kunſtfi¬ gur, worauf er ſich in das Gebuͤſch verlor.
119Gackeleia hatte bereits alle Kleiderchen in ihr Koͤrbchen gelegt, ſie legte nun die Kunſtfigur oben drauf und deckte den Deckel huͤbſch daruͤber. Das Koͤrbchen am Arm lief ſie ſchnell in die Laube und ſetzte ſich zu den Fuͤßen Gockels, der wieder eingeſchlafen war, und leiſe, leiſe ſchob ſie ihm den Ring wieder an den Finger. Es war ihr, als haͤtte ſie einen Stein von dem Herzen.
Gackeleia ſaß nicht ſo lange zu den Fuͤßen Gockels, als man braucht, um ein Ei zu ſieden, da ertoͤnte in der Ferne ein Oratorium von ſechs Poſthoͤrnern von der Compoſition des Cospetto di Bacco, und von der beruͤhmten Agatha Gaddi ward darin eine Fuge Solo geſungen nach den tiefſinnigen Worten des Koͤniglich Gelnhauſeniſchen General-Ober-Hof¬ poſtamts-Dichters, der, ſeinen Namen zu verſchweigen, aus uͤbertriebener Beſcheidenheit allzufruͤh mit Tod abgegangen iſt:
Gleich erwachte Gockel und ſprach: „ ei, es iſt ſchon vorgefahren, gut, daß du da biſt Gackeleia, geſchwind laß uns einſteigen, die Mutter ſitzt gewiß ſchon in der Alamode - Barutſche, wir ſind von Eifraſius auf die Eierburg zum Eier¬ tanz eingeladen. “ „ Ich habe es gewußt “, ſagte Gackeleia, „ ich bin ſchon ganz geputzt und habe Alles bei mir. “— Da eilten ſie vors Schloß, wo bereits Frau Hinkel breit in der Barutſche ſaß, die mit ſechs Schimmeln beſpannt war, auf welchen ſechs Poſtillone das Oratorium blieſen. Die Sig¬ nora Agatha Gaddi gieng, die Fuge Solo ſingend, mit einem Teller unter den verſammelten Baͤckern und Metzgern herum und nahm Heller und Pfenninge ein, als ſie aber Gockel kom¬ men ſah, legte ſie ein variirtes Hahnengeſchrei in ihre Par¬ tie ein, und Gockel warf ihr eine brilliantene Repetir-Uhr120 mit Schnupftabackdoſen von Lava beſetzt, worauf der Adler des Geſangs, den Ganymed des Gefuͤhls zum Himmel hin¬ reißend, in Stein gehauen war, in die Schuͤrze, dabei rief er: „ braviſſimo! da capiſſimo! cito citiſſimo! “— hob Gackeleia in die Barutſche und ſprang mit gleichen Beinen hinter ihr drein; Alles das zugleich, und die Poſtillone knallten ein Fi¬ nale mit den Peitſchen, und ſie kamen gerade auf der Eierburg an, als die Signora ihren Danktriller geendet, der bis zum Pfarrthurm hinauf ſtieg. Wir haben es aus ſeinem Munde vernommen. — Das heiße ich mir gefahren! —
Bei der Eierburg waren viele Menſchen auf einer gruͤnen Wieſe verſammelt, wo getanzt und geſpielt wurde um Eier; denn es war Oſtern, und das große Ordensfeſt des Oſtereier¬ ordens. Man lief und ſprang um die Wette nach aufgeſtellten Eiern, man warf mit Eiern nach Eiern, man ſtieß mit Eiern gegen Eier, und weſſen Ei eingeknickt wurde, der hatte ver¬ loren. Die Kinder von ganz Gelnhauſen ſuchten Eier, welche der große koͤnigliche geheime Oberhof-Oſterhaas in verſteckten Winkeln ins hohe Gras gelegt hatte; kurz die Freude war allgemein. Bei Gockels Ankunft war das Volk in einem weiten Kreis unter dem Baume verſammelt, auf welchem die koͤniglichen Hofmuſikanten und die Gelnhauſener Stadt¬ pfeifer einen herrlichen Tanz aufſpielten, naͤmlich den Eier¬ tanz, den die koͤnigliche Familie mit der Raugraͤflichen in hoͤchſteigener Perſon tanzen wollte. Auf einem koͤſtlichen Teppich wurden hundert vergoldete Pfaueneier, immer zehn und zehn, in Reihen gelegt. Nun trat die Koͤnigin Eilegia zu Gockel und verband ihm die Augen mit einem ſeidenen Tuch, und er that ihr dasſelbe; eben ſo verbanden der Koͤnig Eifraſius und Frau Hinkel, und der Prinz Kronovus und Gackeleia ſich die Augen und wurden nun von den Hofmar¬ ſchaͤllen auf den Eierteppich gefuͤhrt, auf welchem ſie mit den zierlichſten Schritten, Spruͤngen und Wendungen zwi¬ ſchen den Eiern herumtanzen mußten, ohne auch nur Eines
121 mit den Fuͤßen zu beruͤhren. Die Zuſchauer ſahen mit ge¬ ſpannter Aufmerkſamkeit ganz ſtille zu, und bewunderten die erſtaunliche Agilitaͤt der hohen Herrſchaften.
Aber nicht weit davon in einem Gebuͤſche ſaßen ein paar alte Maͤnner, die hatten keine Freude an dem Tanz und guckten mit unabgewendeten Augen nach dem Fußſteige, der aus der Stadt herlief, ob ihr Geſelle, der dritte, nicht bald komme, und ehe ſie ſichs verſahen, ſtand er mitten un¬ ter ihnen. „ Haſt du, haſt du? “ſchrieen ſie dem Neuange¬ kommenen entgegen und machten Finger ſo ſpitz wie Krallen gegen ſeine feſtgeſchloſſene Fauſt, und er erwiederte: „ Ja ich habe gluͤcklich den Ring durch Gackeleia's Puppenſucht er¬ tappt, ich habe ihr einen ganz aͤhnlichen mit einem falſchen gruͤnen Glasſtein gegeben, welchen Gockel jetzt am Finger hat. Jetzt koͤnnen wir uns an ihm raͤchen, daß er uns bei dem Hahnenkauf betrogen und uns in die Wolfsgrube hat fallen laſſen, wo wir elend verhungert waͤren, wenn uns die Bauern nicht herausgeholfen haͤtten. “
So ſprachen die drei alten morgenlaͤndiſchen Petſchier¬ ſtecher, die Gockel hatten anfuͤhren wollen, und die er angefuͤhrt hatte. Sie hatten ſich doch durch ihre Liſt in den Beſitz des Ringes gebracht und wollten jetzt gleich ſeine Wunderkraft verſuchen. Sie faßten alle drei an den Ring und ſprachen zu gleicher Zeit die Worte:
Waͤhrend ſie ſo am Ring drehten, entſtand lautes Mur¬ ren und lachen und Schimpfen unter dem verſammelten Volk. „ Ei, ſeht den alten Bettler, die alte ſchmutzige Bettlerin, das ſchmutzige freche Kind, nein das iſt unverſchaͤmt; jagt ſie fort, pratſch, pratſch, wie ſie die Eier zertreten! “— und bald ward das Geſchrei und Getuͤmmel ſo allgemein, daß der Koͤnig Eifraſius und die Koͤnigin Eilegia und der Prinz Kro¬ novus ihre Binden von den Augen riſſen, und wie erſtaunten ſie nicht, als ſie den Raugrafen Gockel und die Frau Hin¬ kel und Fraͤulein Gackeleia, die vorher ſo ſchoͤn und jung, und praͤchtig gekleidet geweſen waren, in eine alte, haͤ߬ liche, zerriſſene Bettlerfamilie verwandelt ſahen, welche alle Eier auf dem koͤſtlichen Teppich zertreten hatten; auf ihr unwilliges Geſchrei riſſen nun auch dieſe Ungluͤcklichen die Binden von den Augen, und fiengen an, bitterlich zu wei¬ nen und zu klagen uͤber ihren verwandelten Zuſtand, beim ſie erkannten ſich kaum mehr wieder. Gockel griff nach ſei¬ nem Ring Salomonis und drehte, aber der falſche verwech¬ ſelte Ring vermochte nichts; da ſah er den Ring an und
123 erkannte, daß er ausgetauſcht war, und ſchrie laut aus: „ o weh mir! ich bin verloren, ich bin um den Ring betrogen! “
Er wollte eben dem Koͤnig Eifraſius zu Fuͤßen fallen und ihm ſein Ungluͤck klagen, aber dieſer ſtieß ihn zuruͤck, zog ſein Schwert und ſtieß einen Schwur aus, auf welchen ſeine Adjutanten, ihn in jedem Falle zuruͤckzuhalten, perenni¬ renden Befehl hatten, damit er nicht das Alleraͤußerſte thue. Die Koͤnigin Eilegia war ſo entſetzt, daß ſie unter Gluckſen und Schluchſen in Nerven-Zu - und Umſtaͤnde und in die Arme der Ober - und Unter-Eiermarſchallin ohnmaͤchtig ſank. Gockel und Hinkel welche dieſe Erſcheinungen theils aus fruͤhe¬ rer Erfahrung, theils aus den Annalen der leidenden Menſch¬ heit kannten, nahmen die Beine auf die Schultern und liefen davon, um ſo mehr und ſchneller aber, als die Mit¬ glieder der k. Hofkapelle erſtaunliche Leiſtungen, mit Eiern nach ihnen werfend, gegen ſie zu Stande brachten, worin ſie von der hochloͤblichen Gelnhauſener buͤrgerlichen Scharfſchuͤ¬ tzen-Compagnie patriotiſch unterſtuͤtzt wurden, nachdem der wachſame Stadthuͤrmer zu Huͤlfe geblaſen hatte.
Das hoffnungsvolle Prinzchen Kronovus allein ſtatuirte abermals ein Exempel ſeines ſtandhaften Charakters. Als Gackeleia die Eltern alt, haͤßlich und verlumpt fliehen und ſich ſelbſt ſchmutzig und zerrißen ſah, ſchrie ſie weinend: „ ach Kronovus, ach wie bin ich ſo ſchmutzig und wa wa gewor¬ den! wer hat mich ſo ſchmutzig gemacht? “da reichte mit ſchoͤ¬ ner Faſſung ihr Kronovus ſein Schnupftuch mit den Wor¬ ten: „ da Gackeleia wiſche dich ſchoͤn ab und putze dir die Naſe tuͤchtig, ſo — ſo, das iſt brav, da haſt du auch dein Koͤrb¬ chen, ich hab dirs beim Tanzen aufgehoben. “— dann warf er ihr noch einen Thaler in die Schuͤrze — „ da haſt du mein Taſchengeld. Samstag Abends hinten am Entenpfuhl, wo die Vergißmeinnicht ſtehen, ſollſt du immer ein Ei finden, worauf Vivat Gackeleia ſteht, und worin mein Taſchengeld ſteckt, das hole dir! “— dann zog er eine Bretzel hervor und124 ſagte: „ ziehe! “– — da zogen ſie, und jedes riß ein davon; — und einen Bubenſchenkel und ſprach; „ reiße! “und jedes riß die Haͤlfte davon; dann ſprach er: „ jedes von uns bewahre ſeinen Theil, und wenn wir uns wieder ſehen und jeder bringt ſei¬ nen Theil wieder, und die Stuͤcke paſſen noch huͤbſch zuſam¬ men, dann ſind wir recht brave, treue Spielkameraden gewe¬ ſen, und ich ſchwoͤre dir, wie du mir, bei dem Grab des alten Urgockels, von dem du mir erzaͤhlet haſt, daß wir dann immer beiſammen bleiben wollen! “— da hoben ſie beide die Haͤnde auf und ſchworen. — Gackeleia weinte in dem feierlichen Mo¬ mente und wollte Kronovus umarmen, da rief Gockel: „ Ga¬ ckeleia tummle dich geſchwind, der Bettelvogt koͤmmt! “— worauf Kronovus dieſem zurief: „ halte er ſich zuruͤck, Meiſter Schelm, ich werde das Comteßchen ſelbſt fortfuͤhren “; in demſelben Augenblicke kam aber ein Adjutant des Eifraſius, forderte dem Prinzchen ſeinen Degen ab und fuͤhrte ihn fort in das koͤnigliche Oberhof-Ofenloch. Kronovus aber ſagte vorher noch dem Bettelvogt: „ daß er ſich nicht unterſteht, meine liebe Spielkameraͤdin, das Comteßchen anzuruͤhren! „ reichte ihr die Hand und ſprach: „ leide geduldig, aber jetzt lau¬ fe, was du kannſt! “da lief Gackeleia, was giebſt du, was haſt du? ihren Eltern mit ihrem Koͤrbchen nach, und der Bettelvogt begleitete die ungluͤckliche Familie, mehr um ſie mit ſeinem aufgeſpannten Regenſchirm gegen den Regen von Eiern zu ſchuͤtzen, welchen die unartigen Gaſſenbuben auf ſie ſchleuderten, als daß er ſie fortgetrieben haͤtte.
Auf dem Eiercirkus war große Verwirrung eingetreten; der Koͤnig Eifraſius war allzuſehr außer ſich, die Koͤnigin Eilegia allzuſehr inner ſich gekommen. Eifraſius hatte ſein Schwert gezogen, er wollte dem Gockel ans Leben, er ſtram¬ pelte mit allen vier Fuͤßen, da er aber den allerhoͤchſten Fa¬ milienſchwur ausſtieß: „ in Kraft ſechzig deſtillirter Eierſchnaͤp¬ ſe, ich freſſe den Kerl auf einem Butterbrod! “ſo faßten ihn der Kommandant der Leibgarde unter den Armen und125 der Obriſt des Garde-Zwergen-Korps hielt ihm ein Bein feſt, bis die erſte Courage beruhiget und die Außerſichkeit wieder nach Haus gekommen war. Die Koͤnigin Eilegia forderte noch groͤßere Anſtrengung, um ſie aus ihrer Innerlichkeit wieder ans Tageslicht zu bringen; ſie war in ſich ſelbſt, wie in einen tiefen Ziehbrunnen, vor Schrecken hinabgeſtuͤrzt. Die Nerven, an welchen bekanntlich der goldene Eimer haͤngt, in dem die Seele des Menſchen ſitzt, waren bei Eilegia von ſo großer Zartheit und Feinheit, daß ſie vor Schrecken zer¬ riſſen und die hehre Seele mit ſammt dem goldenen Eimer tief, tief, tief in ihr ſchoͤnes Gemuͤth hinunter plumpſ'te. Eilegia war unter einem lauten Schrei: „ horreur! welche Bettelbagage! “der Oberhof-Eiermarſchallin ohnmaͤchtig in die Arme geſunken. Nur den vereinten Anſtrengungen der Akademie der Rettungswiſſenſchaften fuͤr Verungluͤckte, welche ſogleich eine außerordentliche Sitzung hielt, gelang es, die theure Innige wieder zuruͤckzurufen; die geheime Kammer - Schnuͤrdame ſchnuͤrte ſie auf, um ihrem hehren Gemuͤthe mehr Luft zu geben; der ſo ganz fuͤrs Vaterland gluͤhende Oberhof-Oſterhaas legte ſinnig in kuͤrzeſter Baͤlde ein friſches Oſterei mit der Inſchrift: „ Vivat Eilegia! “, mit welchem die Ohnmaͤchtige angeſtrichen ward; und der fuͤr das Beßte der leidenden Menſchheit immer auf dem Sprung ſtehende Leibchi¬ rurg und Aderlaßſchnepper rief die Seele der edeln, ſinni¬ gen, innigen Eilegia durch eine, mit eben ſo viel Geſchmack, als Wirkung, mit eben ſo viel Grazie als Praͤziſion geleiſte¬ te Blutentlaſſung wieder aus der innern Tiefe ihres herrli¬ chen Gemuͤthes auf ihr edles Antlitz zuruͤck — ach! — und ihr erſtes ſchoͤnes Thun war, ihre geliebten Gelnhauſener an¬ zulaͤcheln. Die Hofkapelle ſpielte eine patriotiſche Dankgal¬ lopade, unter welcher Eifraſius und Eilegia in zwei Port¬ chaiſen ſitzend in die Eierburg zuruͤckwalzten, um ſich ganz zu erholen; Prinz Kronovus aber mußte die Nacht im Ober¬126 hof-Ofenloch bei Bisquit-Torte und ſuͤßem Wein einen ſtren¬ gen Arreſt aushalten.
Alles Volk zog nach Gelnhauſen laͤrmend zuruͤck, um Gockels Palaſt zu pluͤndern und dem Boden gleich zu ma¬ chen, aber ſie kehrten unterwegs ſo oft in den Wirthshaͤu¬ ſern ein, daß ſie erſt in tiefer Nacht auf dem Markte an¬ kamen, wo ihnen der Nachtwaͤchter entgegen ſang:
Wirklich war auch das herrliche Schloß Gockels und alle ſeine Gaͤrten und Alles, was darin war, mit Mann und Maus verſchwunden; auf dem Markte plaͤtſcherte der alte Stadtbrunnen, als wenn er gar nichts wuͤßte. Die guten Buͤrger giengen nach Hauſe, nachdem ſie lange in die leere Luft geſchaut hatten, und uͤberlegten, wo ſie mit allen ihren Semmeln und Braten hin ſollten, da der große Hof¬ ſtaat Gockels nicht mehr bei ihnen einkaufen wuͤrde. — Die guten Gelnhauſener konnten aber doch nicht viel ſchlafen, denn der Buͤrgermeiſter hatte von der Eierburg bis auf das Rath¬ haus eine lange Reihe von Nachtwaͤchtern aufgeſtellt, welche ſich einander zublieſen, wie Eifraſius und Eilegia ſich be¬ faͤnden, was der Leibarzt alle Viertelſtunden auf der Schlo߬ wache melden ließ, und was die Nachtswaͤchter ſich in der ganzen Stadt wieder zufluͤſterten, wozu die unzaͤhligen Metz¬127 gerhunde bellten und heulten und alle Haͤhne kraͤhten. Es war eine beiſpiellos angeſtrengte, theilnahmvolle, ſchlafloſe, patriotiſche Nacht fuͤr Gelnhauſen. Kaum hatten die Buͤr¬ ger die Schlafkappen aufgeſetzt, als ploͤtzlich alle Nachtwaͤch¬ ter an den Fenſterladen pochten und ausriefen:
Poſtfkriptum.
Auf dieſe Bekanntmachung hatten ſchon mehrere Buͤr¬ ger ihre Nachtlichter aus Fenſter geſtellt, da kam ein an¬ derer Befehl:
Die guten Buͤrger waren ſo muͤd und ſchlaͤfrig, daß ſie ihren Patriotismus diesmal beruhigen ließen, und ganz Gelnhauſen in das tiefe Schnarchen der Eierburger ein¬ ſtimmte. — Auf dem Markt am folgenden Tag ſtieg der Eierpreis um 3 und 7 / 87 Procent.
Der arme Gockel, die arme Frau Hinkel, die arme Ga¬ ckeleia zogen wieder wie ehedem durch den wilden Wald nach dem alten Schloß; aber ſie waren viel trauriger und rede¬ ten kein Wort, ja Frau Hinkel hatte gar die Schuͤrze uͤber den Kopf gehaͤngt, weil ſie ſich ſchaͤmte, ſo haͤßlich gewor¬ den zu ſeyn. Als ſie auf einer Hoͤhe angekommen waren, wo man Gelnhauſen noch einmal ſehen konnte, drehte ſich Gockel um, und ſprach: „ unſeliger Ort, wo ich um den koͤſtlichen Ring Salomonis betrogen ward; abſcheulicher, un¬ dankbarer Eifraſius, wie ſchaͤndlich haſt du mich in meinem Ungluͤck verſtoßen, und haſt nicht daran gedacht, mir die hundert Stuͤck neue Gockeld'ors wieder zu geben, die du in gluͤcklicher Zeit von mir geborgt. “ Frau Hinkel aber rief aus: „ o Koͤnigin Eilegia! wie manches indianiſche Vogel¬ neſt ſammt den Eiern habe ich dir zum Geſchenk gemacht, wie viele Eierſpeiſen habe ich dich bereiten gelehrt, wie viel hundert Oſtereier habe ich dir mit ſchoͤnen Blumen und Blaͤt¬ tern bunt geſotten, die ſchoͤnſten Muſter zu Hauben und Gar¬ nituren a l'oͤff de Puffpuff habe ich dir mitgetheilt, und nun,129 da wir den Ring verloren und arm geworden, laͤſſeſt du Un¬ dankbare mich zerlumpt und hungernd uͤber die Graͤnze fuͤh¬ ren! “— Nun erhob auch Gackeleia ihre Stimme und ſprach: „ Ach du herzliebes Prinzchen Kronovus, du biſt doch der Beſte von Allen, du haſt mir deinen Thaler ge¬ ſchenkt und dein Taſchentuch gereicht, daß ich mich abwi¬ ſchen konnte; du willſt mir dein Taſchengeld alle Sonnabend am Entenpfuhl bei den Vergißmeinnicht in ein Ei verſtecken; ach, du biſt doch mein guter Kronovus geblieben und haſt die arme, ſchmutzige Gackeleia nicht von dir weggeſtoßen. Ach, es thut mir recht leid, daß ich in der Angſt vergeſſen, dir meine herrliche Puppe zum Andenken zu ſchenken. “
Kaum hatte Gackeleia das Wort Puppe ausgeſprochen, als Gockel zornig nach ihr blickte und ſprach: „ du unſeliges Kind! du haſt eine Puppe? welche Puppe? woher haſt du die Puppe? weißt du nicht mehr das Urtheil bei dem hoch¬ nothpeinlichen Halsgericht wegen der Ermordung Gallina's, daß du von nun an und nimmermehr keine Puppe haben darfſt! — ach, ich ahnde die Urſache meines Verderbens! “ Und da er hierauf die kleine Gackeleia ergreifen wollte, lief ſie vor dem erzuͤrnten Vater nach dem aͤußerſten Rande ei¬ nes Felſens hin, der uͤber einen ſchroffen Abhang hinaus¬ ragte. Frau Hinkel ſchrie: „ um Gotteswillen, das Kind faͤllt ſich zu Tode! “und hielt Gockel beim Arme zuruͤck. Gackeleia aber kniete auf dem aͤußerſten Rande des Felſens, breitete ihre Aermchen gegen den Vater aus und ſprach:
Da bat die Frau Hinkel den Gockel ſehr, er ſolle dem Kind verzeihen, und Gockel ſagte: ſie ſolle nur Alles er¬ zaͤhlen, was ſie angeſtellt, er werde ſie nicht umbringen. 9130„ Erzaͤhle Gackeleia “, ſagte die Mutter, „ wo haſt du eine Puppe herbekommen? “ Da war Gackeleia in großer Angſt, denn der Vater riß waͤhrend der Erzaͤhlung an einer Birke, die bei dem Felſen ſtand, dann und wann ein Zweiglein ab, und es ſah ſo ziemlich aus, als wenn er, wo nicht einen Beſen, doch wenigſtens eine Ruthe binden wolle; aber was half Alles, das Kind mußte ſprechen und ſprach:
„ Da haben wir es “, rief Gockel und riß ein ſtarkes Birkenreis ab, „ da haben wir die ſaubere Beſcheerung, eine Puppe, o es iſt himmelſchreiend! “ Gackeleia aber ſagte ge¬ ſchwind:
„ Abſcheulich, abſcheulich! “ſagte Gockel, aber Gackeleia fuhr fort:
„ Schoͤne Ausreden “, ſagte Gockel unwillig und riß wie¬ der ein Birkenreis ab; Gackeleia gefiel das gar nicht, und ſie ſagte:
Da ſprach Gockel ernſthaft:
Da ſagte Gackeleia:
Und Gockel ſagte:
Da ward Gackeleia wieder ſehr betruͤbt und ſchrie wie¬ der ganz erbaͤrmlich:
Frau Hinkel bat ſehr, und Gockel ſagte: „ ich werde ſie nicht umbringen, ſie ſoll nur erzaͤhlen, was der Alte weiter geſagt hat, und was ſie ihm fuͤr die Kunſtfigur gege¬ ben hat. “ Da fuhr Gackeleia fort:
9 *132„ Der alte Schelm “, rief da Frau Hinkel aus und riß nun auch ein ſtarkes Birkenreis ab, „ der alte Schelm iſt ſchuld, daß ich auch wieder eine ſo haͤßliche lange Naſe habe. “ Und Gockel ſagte: „ Schau, Frau Hinkel, jetzt merkſt du auch, was wir ihm zu danken haben, du die Naſe und ich den Bart. O ungluͤckſelige Kunſtfigur, was ſind wir fuͤr ab¬ ſcheuliche Figuren durch dich geworden. Aber erzaͤhle weiter Gackeleia, was wollte er fuͤr die Puppe “? Da erwiederte Gackeleia mit großer Angſt:
„ O du abgefeimter Gaudieb “, rief Gockel aus, „ o du un¬ ſeliges, leichtſinniges, ſpielſuͤchtiges Kind! — und da zogſt du mir den Ring im Schlafe ab, und gabſt dem Schelmen den Ring, ſprich, ſprich, haſt du das gethan? ſprich gleich, oder ich werfe dich auf der Stelle vom Felſen hinab. “ Da rief Gackeleia wieder in großer Angſt:
Und nun nahm ſie die Puppe aus ihrem Koͤrbchen, das ſie am Arm haͤngen hatte, zog das Uhrwerk auf, und die kleine Reiſende ſchnurrte ſo artig zwiſchen dem Thymian auf dem Felſen herum, daß Gackeleia ihr, in die Haͤnde patſchend, nachlief. Da erwiſchte der alte Gockel das Kind beim Arm und ſagte: „ Nun habe ich dich, habe ich dir nicht tauſend¬ mal verboten, meinen Ring ohne meine Erlaubniß anzuruͤh¬ ren? Du haſt ihn aber dem alten Betruͤger gegeben, und der hat ihn mit einem andern vertauſcht, der keinen Heller werth iſt, und ſo haſt du deine Eltern und dich in Schande und Armuth gebracht durch deine Begierde nach einer elenden Puppe “. Da ſchrie Gackeleia ganz erbaͤrmlich:
Die kleine Puppe lief auch ganz wie toll den Felſen hin¬ unter, und Frau Hinkel wollte ſie aufhalten, aber glitt auf dem glatten Raſen aus und rutſchte ein ziemlich Stuͤck Weg hinab.
Daruͤber wurde der alte Gockel noch viel ungeduldiger und ſagte: „ nun ſieh, das Ungluͤck, deine Mutter bricht noch ſchier ein Bein uͤber der abſcheulichen Puppe. Recht muß ſeyn, du haſt unverzeihlich gefehlt; jetzt waͤhle Gackeleia: ent¬ weder kriegſt du hier recht tuͤchtig die Ruthe, oder du laͤßt die Puppe laufen “, und da Gackeleia wieder ſchrie:
134legte Gockel ſie uͤber das Knie und gab ihr tuͤchtig die Ru¬ the mit den Worten:
Und Gackeleia ſchrie:
Und Gockel ſchlug immer zu und ſchrie:
Er haͤtte auch noch laͤnger zugeſchlagen, aber Frau Hin¬ kel ſchrie ſo erbaͤrmlich, ſie koͤnne nicht wieder herauf, daß Gockel das Kind los ließ und hinabgieng, ihr zu helfen. Kaum aber war Gackeleia los, ſo ruͤttelte und ſchuͤttelte ſie ſich uͤber die fatale Kunſtfigur, die ſie empfunden hatte, und lief ihrer fluͤchtig gewordenen ſchoͤnen Kunſtfigur nach, die ſie eben unten im Thale uͤber den Steg eines Baches laufen ſah; die Puppe lief, als ob ſie vier Beine haͤtte, uͤber den Steg und links um und in den Wald hinein und Gackeleia immer hinter ihr drein.
Gockel hatte indeſſen Frau Hinkel durch einen Umweg wieder auf die Hoͤhe hinauf gebracht, und ſie klagten ſich un¬ terwegs einander, wie der Schelm, der ſie durch Gackeleia's Spielſucht um den koͤſtlichen Ring Salomonis gebracht, ge¬ wiß einer von den alten Petſchierſtechern ſey, die ihn einſt um den Hahn Alektryo hatten betruͤgen wollen. Als ſie un¬ ter ſolchen Reden auf den Fels zuruͤckkamen und die Gacke¬ leia nicht mehr ſahen, riefen ſie nach allen Seiten nach dem Kinde, aber nirgends hoͤrten und ſahen ſie etwas von ihr. Da ward ihr Kummer um allen ihren Verluſt in eine große Sorge um ihr Kind verwandelt, ſie liefen hin und her und ſchrieen durch den Wald: „ Gackeleia, Gackeleia! “und
135 wenn das Echo wieder rief: Eia, Eia! glaubten ſie, das Kind antworte, und ſo verirrten ſie ſich immer tiefer in der Wildniß, bis ſie endlich beide, ach aber ohne Gackeleia, ſich bei ihrem Stammſchloſſe wieder fanden. Die Voͤgel wachten alle auf und flogen wie alte Bekannte um ſie her und gruͤ߬ ten ſie, aber Gockel und Hinkel riefen immer in alle Buͤ¬ ſche hinein:
Aber keine Antwort von keiner Seite. Da ſaßen die zwei armen Eltern auf der Schwelle des alten Huͤhnerſtalles nieder und weinten die ganze Nacht bitterlich, und alle Voͤ¬ gelein weinten mit. Am Morgen aber ſchnitt ſich Gockel einen tuͤchtigen Knotenſtock und gab auch der Frau Hinkel einen und ſagte: „ Liebe Frau! wir ſind arme Leute gewor¬ den; aber es gebuͤhrt einem Raugrafen Gockel von Hanau und einer Raugraͤfin Hinkel von Hennegau nicht, im Un¬ gluͤcke zu verzweifeln; laß uns auf Gott vertrauen und un¬ ſer Fraͤulein Tochter Gackeleia durch die weite Welt ſuchen, und ſollten wir unterwegs Hungers ſterben. Geh 'du links, und ich geh' rechts. Alle Monate kommen wir hier wieder zuſam¬ men und ſagen uns einander, was wir entdeckt haben, dabei koͤnnen wir zugleich dem Dieb unſers Ringes nachfor¬ ſchen. “ Frau Hinkel war das zufrieden, ſie umarmten ſich beide unter bitteren Thraͤnen und wanderten dann auf getrenn¬ ten Wegen, Herr Gockel rechts, Frau Hinkel links. Und wenn ſie in die Doͤrfer oder Staͤdte kamen, ſangen ſie vor allen Thuͤren:
Aber immer ſagten die Leute:
Da nahmen ſie dann das Brod, die armen Eltern, und aſ¬ ſen es mit Thraͤnen und ſetzten ihren Stab traurig weiter.
So waren ſie ſchon dreimal wieder in dem alten Schloße ohne Gackeleia zuſammen gekommen, hatten mit großem Jam¬ mer im alten Huͤhnerſtall geſchlafen, und ſich ihre vergeblichen Nachforſchungen einander mitgetheilt. „ Ach Gott “, ſagte Frau Hinkel, „ das arme Kind iſt gewiß umgekommen, haͤtteſt du es doch nicht ſo hart wegen der Puppe behandelt. “ Da er¬ wiederte Gockel: „ Und haͤtteſt du beſſer auf ſie Acht gegeben, ſo haͤtten wir den Ring und das Kind nicht verloren; nichts iſt leichter zu ſagen, als — haͤtteſt du. Laſſe uns lieber auf dem Grabe des Alektryo in der Kapelle recht herzlich beten, daß wir das Kind morgen zum viertenmale nicht ver¬ gebens ſuchen moͤgen. “ Hierauf giengen ſie nach der Kapelle137 und beteten recht eifrig, legten ſich dann auf ihr Moosla¬ ger und ſchliefen einen gar ſuͤßen Schlaf und traͤumten von Gackeleia.
Gegen Morgen hoͤrte Gockel noch halb im Schlafe et¬ was um ſich her raſſeln, es war noch ſehr dunkel in dem Stalle; aber er ſah etwas an der Erde hinlaufen und ver¬ ſchwinden, er ſtieß Frau Hinkel und ſagte: „ Mir war ge¬ rade, als wenn die fatale Puppe der Gackeleia voruͤber ge¬ laufen waͤre. “ Da ſprach eine Stimme:
Gockel meinte, Frau Hinkel habe das geſagt, und ver¬ wies ihr, daß auch ſie ſo eigenſinnig wie Gackeleia ſpreche. Frau Hinkel hatte ſchlaftrunken die Worte gehoͤrt und be¬ hauptete, er habe es ſelbſt geſagt. Sie wollten eben zu zanken anfangen, als ſie leiſe an der Thuͤre pochen hoͤrten. Sie fuhren ordentlich vor Schrecken zuſammen, wer das wohl ſeyn koͤnne, der in dem wuͤſten zerſtoͤrten Schloſſe ſo leiſe anpoche. Da es aber zum drittenmale pochte, fragte Gockel laut: „ Wer iſt draus? “und es antwortete eine maͤnn¬ liche Stimme: „ Ich bitte allerunterthaͤnigſt um Verzeihung, Herr Graf, daß ich ſo fruͤh ſtoͤre, aber die Eſeltreiber laſ¬ ſen mir keine Ruhe; ſie ſagen, daß ich ihnen drei Zentner Kaͤſe aus der graͤflichen Kaͤſefabrik auf ihre Thiere packen ſoll, nun wollte ich doch den Befehl des Heren Grafen ſelbſt abholen. “
Gockel wußte auf dieſe Rede gar nicht, wo ihm der Kopf ſtand; „ drei Zentner Kaͤſe “, ſagte er, „ aus der graͤflichen Kaͤſefabrik, haſt du gehoͤrt Hinkel? “ „ Ja “, ſagte Frau Hinkel, „ was kann das ſeyn? ich weiß nicht, ob ich traͤume oder wa¬ che. “ Da der Mann aber immer von neuem pochte und um die Erlaubniß bat, die Kaͤſe abzuliefern, ſchrie Gockel hef¬ tig: „ biſt du, der da pochet, toll oder ein Spoͤtter, der einen armen Greis zum Narren haben will? ſo nehme dich138 in Acht, oder ich komme mit dem Knotenſtock uͤber dich. Wo habe ich denn Kaͤſe oder eine Kaͤſefabrik? Gehe von dan¬ nen und goͤnne den Armen ihr einziges Gut: die Ruhe und den Schlaf. “ Da antwortete die Stimme wieder: „ Gnaͤ¬ digſter Graf, vergebet mir, daß ich euch erweckte, ich ſehe wohl, daß ihr den Leuten die Kaͤſe nicht abliefern laſſen wol¬ let, ich werde ſie abweiſen! “
Nun hoͤrte Gockel draußen auf dem Hofe ſprechen und hin und wieder gehen, und ſeine Verwunderung, was das zu bedeuten habe, wuchs immer mehr. „ Ach “, ſagte er zu ſeiner Frau, „ ich fuͤrchte faſt, es iſt irgend eine Nachſtel¬ lung von unſern Feinden aus Gelnhauſen, die uns ermorden wollen. “ „ Das waͤre entſetzlich “, erwiederte Frau Hinkel und druͤckte ſich in der Angſt dicht an ihn. Da pochte es wie¬ der an der Thuͤre, und Gockel rief zwar erſchrocken, aber doch ziemlich laut: „ Wer da? “ Da antwortete eine andere Stim¬ me: „ Eurer Hochgraͤflichen Gnaden unterthaͤnigſter Kuͤchen¬ meiſter fragt an, ob er einen Zentner Schinken aus der graͤflichen Rauchkammer abliefern darf, welche auf den drei Eſeln, die vom Koͤnig Siſſi angekommen ſind, abgeholt wer¬ den ſollen? “
Gockel, dem bei dieſen Reden zu Muthe ward, wie ei¬ nem Hahn ohne Kopf, rief aus: „ Warte, ich will dir Schin¬ ken geben, du nichtswuͤrdiger Spoͤtter! “indem er aufſprang und nach ſeinem Stocke ſuchte. Als er aber ganz klar und deutlich drei Eſel vor der Thuͤre ſchreien hoͤrte, rief er und Frau Hinkel zugleich: „ Herr Jemine, die Eſel ſind wirklich da. “ Es war noch dunkel in dem Stalle, der kein Fenſter hatte, und deſſen verſchloſſene Thuͤre nur durch einen Spalt einen Schimmer des Tages hereinfallen ließ. Gockel tappte an der Wand nach ſeinem Knotenſtock herum, und ploͤtzlich wurde er von ein paar zarten Armen herzlich umſchloſſen, ſo daß er laut aufſchrie: „ um Gotteswillen, wer iſt das? “ Aber die Unbekannte hoͤrte nicht auf, ihn mit den zaͤrtlich¬139 ſten Kuͤſſen zu bedecken, und als Frau Hinkel auch dazu kam, gieng es derſelben nicht beſſer; und da ſie ſich in dieſe Liebkoſungen gar nicht finden konnten, ſagte endlich das un¬ bekannte Weſen mit einer wohlbekannten Stimme zu ihnen: „ Ach! kennt ihr denn euer Toͤchterlein Gackeleia gar nicht mehr? “— „ Du, Gackeleia? “riefen Beide aus, „ nein das iſt nicht moͤglich, du biſt ja eine erwachſene Jungfrau. “— „ Ach, groß oder klein “, antwortete es, „ ich bin doch eure Gackeleia “, und da riß ſie die Thuͤre auf, und es fiel zu gleicher Zeit ſo viel Fremdes und Wunderbares in die Au¬ gen des alten Gockels und der Frau Hinkel, daß ſie ſich ein¬ ander in die Arme ſanken und weinen mußten.
Erſtens ſahen ſie wirklich die ganze Gackeleia vor ſich, aber nicht mehr als ein kleines Maͤdchen, ſondern als eine bluͤhende, wunderſchoͤne, allerliebſt geputzte Jungfrau; und zweitens ſahen ſie ſich ſelbſt beide nicht mehr alt und in Lumpen, ſondern als zwei ſchoͤne wohlbekleidete Leute in den beſten Jahren; und drittens ſahen ſie durch die Thuͤre nicht mehr in einen verfallenen, mit Schutt und wildem Unkraut bewachſenen Burghof hinaus, ſondern in einen ſchoͤn gepflaſterten, reinlichen Hof von ſchoͤnen Schloßgebaͤu¬ den, Staͤllen, Gaͤrten und Terraſſen umgeben; in der Mitte des Hofes aber, an einem plaͤtſchernden Springbrun¬ nen, ſahen ſie drei verdrießliche alte Eſel mit langen Oh¬ ren angebunden, welche die Koͤpfe zuſammendruͤckten, als ob ſie ſich ſchaͤmten. Auch ſahen ſie allerlei Bediente in ſchoͤnen Livreen geſchaͤftig auf und niedergehen, die immer, ſo oft ſie am Huͤhnerſtall voruͤber kamen, tiefe Verbeugungen mach¬ ten und ſchoͤnen guten Morgen wuͤnſchten.
„ Ach, was iſt das, es iſt nicht moͤglich, woher alle dieſe Wunder? “rief Gockel aus; da reichte Gackeleia ihm ihre ſchoͤne Hand und ſah ihm freundlich laͤchelnd in die Au¬ gen, und Gockel ſchrie mit lautem Jubel aus: „ ach der Ring, der koͤſtliche Ring Salomonis iſt wieder da, den du140 durch die Puppe verloren! “ Da ſagte aber Gackeleia gleich wieder:
und Gockel ſagte: „ meinetwegen, ich will dir die Ruthe nicht mehr geben, du biſt auch zu groß dazu, und Alles iſt ja wieder gut. “ „ Aber wie haſt du nur Alles angefangen? “ſagte Frau Hinkel, welche immer um die ſchoͤne, praͤchtige Jung¬ frau herumgegangen war, ſie zu betrachten und zu kuͤßen und zu druͤcken, „ um Gotteswillen, Herz-Wunder-Gackeleia, erzaͤhle! “ „ Ja, erzaͤhle “, rief Gockel und druͤckte ſie herzlich an ſeine Bruſt. Gackeleia aber erwiederte: „ lobet mich nicht zu ſehr, geliebter Vater, denn all unſer neues Gluͤck haben wir allein Euch ſelbſt zu verdanken. “ „ Mir? “fragte Go¬ ckel, „ das muͤßte ſeltſam zugehen; ach ich habe ja nichts thun koͤnnen, als vor den Haͤuſern nach dir ſuchend herum¬ betteln. “ Da ſagte Gackeleia: „ ſchon gut, Ihr ſollt Alles hoͤren; folgt mir nur an einen andern Ort, wir wollen das wieder hergeſtellte Stammſchloß unſrer lieben Vorfahren ein¬ mal ein wenig durchmuſtern, wir werden gewiß ein Plaͤtz¬ chen finden, wo es uns beſſer gefaͤllt, als in dem alten Huͤhnerſtall, in dem wir ohnedieß dem Federvieh Platz ma¬ chen wollen, das gleich wieder hinein muß. “ Da drehte Ga¬ ckeleia den Ring und ſprach:
Kaum hatte Gackeleia dieſes geſagt, als aus dem Huͤh¬ nerſtalle, den ſie verlaſſen hatten, ihnen eine Schaar der bunteſten Huͤhner, Pfauen, Puter, Enten, Gaͤnſe und142 Schwaͤne nachſtroͤmte, und auf dem Dache Alles von Tau¬ ben wimmelte. Gockel und Hinkel hatten die groͤßte Freude an dem herrlichen Federgeviehzel und folgten, nachdem ſie Alles einzeln bewundert hatten, der Gackeleia in das Schloß. Freudig und neugierig betrachteten ſie eine Reihe von Ge¬ maͤchern und Saͤlen, welche alle mit dem praͤchtigſten alten Hausrath verſehen waren, und traten endlich oben auf einer Terraſſe heraus, von welcher ſie herab in den Huͤhnerhof, links auf das Schloß und vor ſich hin Gaͤrten und Wald in die Ferne bis nach Gelnhauſen und Hanau ſahen.
„ Hier iſt es gar ſchoͤn “, ſagte Gackeleia, „ ſeht wie die ſchoͤnen Tauben neben uns ſchweben, und der Pfau ſieht auf der Spitze des Thurmes der Sonne entgegen; hier will ich Euch Alles erzaͤhlen, wie ich den Ring wieder erhalten habe, aber wir wollen auch etwas fruͤhſtuͤcken. “ Kaum hatte ſie dieſes geſagt, als ein alter Diener einen großen Praͤſentirtel¬ ler mit Fruͤchten und kaltem Fleiſchwerk und feinem Gebacke¬ nem und Wein und Milch uͤber die Treppe heraufbrachte, und als er Alles vor ſie niedergeſetzt hatte, nochmals fragte: „ ſol¬ len die drei Eſel mit dem Kaͤſe und den Schinken bepackt werden! “ „ Ja “, ſagte Gackeleia, „ und daß nur Alles recht gut und ausgeſucht ſey; ich werde hernach das Weitere ſelbſt befehlen. “ Gockel und Hinkel waren ſehr begierig nach ih¬ rer Erzaͤhlung und baten ſie zu beginnen. Da erzaͤhlte ſie Folgendes:
„ Lieber Vater, als meine Puppe — nein, meine ſchoͤne Kunſtfigur — ſo weit vor mir vorausgelaufen und eure Ru¬ the — nein, eure haͤßliche Kunſtfigur — ſo dicht hinter mir her war, zappelte ich mit Haͤnden und Fuͤßen, von euerm Knie herunter auf die Beine zu kommen, um meinem lie¬ ben Klandeſtinchen nachzueilen, welche bergab lief, wie ſie noch nie gelaufen war; da ließeſt du mich los und eilteſt den Felſen hinab der Mutter zu Huͤlfe, ich aber raffte mein Koͤrbchen auf und rannte uͤber Hals und Kopf der Kunſtfi¬
143 gur nach, die einen guten Vorſprung hatte. Da wir aber in den dichten Wald kamen, hinderten ſie oͤfter Gras und Ge¬ ſtraͤuch im Lauf, und ich war ihr endlich ſo nah, daß ich die Hand ausſtreckte, ſie zu ergreifen, aber in demſelben Augenblick entſchluͤpfte ſie zwiſchen zwei Felsſtuͤcken in eine kleine Hoͤhle. — Ich war in der groͤßten Betruͤbniß, ich konnte ihr nicht nach; ich kniete vor der Oeffnung nieder und rief zu ihr hinein: „ Klandeſtinchen, Klandeſtinchen! wie handelſt du ſo undankbar gegen mich, ich habe dich ſo lieb, ſo lieb, daß ich lieber die ſchimpflichſte Strafe uͤber mich ergehen ließ, als dich zu verlaſſen, und jetzt verſteckſt du dich vor mir, als wenn ich deine aͤrgſte Feindin waͤre. “
„ Als ich dieſe Worte geſprochen hatte, fiel mir auch erſt ein, wie ſehr weit ich von Euch, liebe Aeltern, fortge¬ laufen war; ich ſah die Sonne bereits ſinken und war außer allem Weg und Steg. Weinend ſchrie ich in den Wald hinein: „ Vater Gockel, Mutter Hinkel! “aber Alles war vergebens, nur das Echo antwortete mir. Dann fiel mir ein, daß jetzt die Stunde ſey, wo der alte Mann geſagt, daß die Puppe etwas muͤſſe zu knuppern haben; ich holte etwas Zuckerbrod aus meinem Koͤrbchen und legte es auf ein reines Blatt vor die kleine Hoͤhle und fuͤllte meinen Fin¬ gerhut in einem nahen Quell und ſtellte ihn aufrecht in den feuchten Sand gedruͤckt darneben, dann rief ich in das Hoͤhl¬ chen hinein: „ Klandeſtinchen, wenn's gefaͤllig iſt, es iſt ſer¬ virt. “— Ich dachte, der Alte hat von ihrem guten Appetit geſprochen, ſie hat Bewegung genug gehabt, es ſollte ihr wohl ſchmecken, wenn ſie merkt, daß aufgetragen iſt. Ich ſelbſt hatte Hunger, und nahm ein Stuͤck hartes Brod aus meinem Bettel¬ ſack, tauchte es ins Waſſer und aß in einiger Entfernung, weil ich gehoͤrt hatte, daß ſie ſich nicht gern beim Eſſen zuſehen laſſe. — Ach ich war ſo muͤd, ſo muͤd, Haͤnde und Fuͤße zuck¬ ten mir, ich lag im Gras, der Schlaf krabbelte mir den Ruͤcken herauf und machte mir die Augendeckelchen zu, denn144 das Sandmaͤnnchen kam und wollte mir Sand hinein ſtreuen, und das waͤre nicht gut geweſen, aber ich raffte mich noch einmahl auf und wuſch mich ein bischen am Bach, weil ich ſo viel Staub und Schmutz im Geſicht und an Haͤnden und Fuͤßen hatte, denn ich habe nie vergeſſen, was die Mutter mich gelehrt, man ſoll nie ungewaſchen und ungebetet zu Tiſche gehen, aufſtehen und ſchlafen gehen. — Ich ſetzte mich alſo ins weiche Moos, und war ſo muͤd, ſo muͤd und wußte nicht, ſollte ich mich rechts, ſollte ich mich links legen, und ſagte alle meine Kindergebetchen durch einander her:
Unter dieſen Gebetchen kehrte ich mich nach einer Seite, zuckte noch einige Male und ſchlief ein.
Da traͤumte mir, ich ſehe Clandeſtinchen die ſchoͤne Kunſtfigur aus der Hoͤhle kommen, ſie verzehrte das Zucker¬ brod, ſie trank aus dem Fingerhut, und kam nachher zu meinem Bettchen und ſagte: „ Herzkind, Gackeleia, ſchlaf nur ſuͤß fort, denn nur im Schlaf kannſt du mich verſtehen; ſag, ſuͤß Lieb! darf ich wohl ein bischen zu dir kommen? o nimm dein Puͤppchen in den Arm an dein lieb Herzchen, meine Fuͤßchen ſind ganz wund vom vielen Laufen, auch iſt mir gar nicht wohl, ich muß mich verkaͤltet haben, ach145 Kind nimm die Puppe zu dir “— da ſagte ich ganz er¬ ſchrocken:
„ Ach Gackeleia “, ſprach ſie, „ das bin ich alles, und noch mehr, ich weiß kaum mehr, was ich bin, ich will dir ja Alles erzaͤhlen, nimm mich doch, ich bin ja gewiß keine Puppe. “— Hierauf ſchlupfte ſie zu mir und ich hielt ſie ſchlummernd im Arm an meinem Herzen, wobei ich ſagte:
Und da ich mein Schuͤrzchen uns Beiden gegen den Nachtthau uͤbers Geſicht deckte, ward mir ganz weich ums Herz und ich wiegte das Klandeſtinchen ein bischen, daß es ſchlafen ſollte, und ſprach:
Da ſagte die Figur: „ Das iſt alles gar ſchoͤn, und man mag die Puppe und die Kunſtfigur nach der Uhr und nach der Schnur in einem goldenen Laͤdchen immer ins Grab legen, nur das Maͤuschen von Natur, muß ich bitten, damit zu verſchonen, denn es muß fuͤr Gatte und Familie, fuͤr Volk und Vaterland noch lange leben; drum Gackeleia bitte ich dich um Gotteswillen, mache mir das fatale Drathguͤrtel¬10146chen los, womit mich der boͤſe Alte unter die verſchraubte Kunſtfigur feſtgeſchnuͤrt hat, ich habe ſolches Leibſchneiden, ich hab 'mich uͤberlaufen, ich hab' mich uͤbergeſſen, es iſt mir zum Sterben, geſchwind, geſchwind hilf dem Maͤuschen von Natur, denn ich bin keine Puppe, keine Kunſtfigur, ich bin die ungluͤckliche Maͤuſe-Prinzeſſin Siſſi von Mandelbiß, der dein Vater einmal das Leben gerettet hat. “ Da ſah ich gleich nach und fand wirklich das ſchoͤnſte weiße Maͤuschen von Natur mit einem Drath zwiſchen kleine Raͤder befeſtigt, die an den Fuͤßchen der Puppe angebracht waren, ich machte die arme Prinzeſſin los, die mir freudig dankte und ſagte: „ ſchlaf fort Herz-Gackeleia, gleich komm ich wieder, ich muß mich nothwendig ein bischen bewegen und durch das thauichte Gras laufen, um mich zu waſchen und zu erfriſchen, gleich komme ich wieder zu dir “— und huſch war ſie fort. “
So weit hatte Gackeleia erzaͤhlt, da ſah Gockel nach den beiden Maͤuſen, die ſich in ein Stuͤck Kuchen eingefreſ¬ ſen hatten und ruhig darin ſchliefen, und ſprach: „ Es iſt doch eine kurioſe Theater-Prinzeſſin, die Siſſi von Mandel¬ biß; wo die uͤberall herum koͤmmt, die kann auch mehr als Brod eſſen! Aber erzaͤhle weiter, wie iſt ſie nur mit der Kunſtfigur zuſammengekommen? “
Da fuhr Gackeleia fort: „ Als Siſſi wieder kam, ſchlupfte ſie mir dicht ans Ohr, verſteckte ſich warm in meine Haarlo¬ cken und erzaͤhlte mir alles ganz ausfuͤhrlich, und ich war ſo neugierig, daß ich ſie nie unterbrach. Sie ſagte: „ dein Vater Gockel hat mich und meinen Gemahl Prinz Pfiffi von Spe¬ ckelfleck vor der Katze Schurrimurri gerettet und uns wieder nach Haus befoͤrdert; der Mord der Gallina durch dieſelbe Katze und die Hinrichtung der Katze und der edle Tod Alek¬ tryos ward uns durch Muſterreiter unſers Volkes erzaͤhlet, wir wollten Gallina und Alektryo ein Mauſoleum auf dem Mauskirchhof ſetzen laſſen, und da ich mit Prinz Speckelfleck wegen unſerer Rettung eine Wahlfahrt nach dem Mausthurm147 bei Bingen gelobt hatte, gedachten wir damit eine Kunſtreiſe zu verbinden und uns mit den ſchoͤnſten Mauſoleen in Kirchen und auf Kirchhoͤfen bekannt zu machen. Prinz Spe¬ ckelfleck meinte, wir muͤßten incognito wie gemeine Maͤuſe nur in geringen Haͤuſern einkehren; — ich folgte, aber nie thue ichs wieder, denn was man da erwiſchen kann, iſt nichts werth, und am Ende wird man noch ſelbſt erwiſcht. — So waren wir in Friedberg neben drei alten ſchmutzigen Maͤn¬ nern mit langen Baͤrten im Stroh eingekehrt. Pfiffi ſchlupfte zur Thuͤre hinaus, mir etwas zu eſſen zu ſuchen, und ich war ſo unbeſonnen dem Geruch von gebranntem Speck in meiner Naͤhe nach zu gehen, ach ſchon nagte ich ein bischen — klapp that es einen Schlag, die Falle ſchloß ſich zu, und ich war gefangen. Meine Verzweiflung kannſt du dir denken. — Der Schlag der Falle hatte die drei Alten auf dem Stroh erweckt; ſie liefen mit der Falle ans Fenſter, der Tag brach ſchon an. „ Da haben wir, was wir brauchen “, ſagte der eine, „ eine ſchoͤne, große weiße Maus hat ſich gefangen; die befeſtige ich mit einem Drathguͤrtel unter die Kunſtfigur, die wir in Nuͤrnberg gekauft haben; das Raͤderwerk iſt zu ſchwach, die Puppe kann nicht lang laufen, da kann die Maus als Vorſpann dienen, damit ſie von der Stelle koͤmmt. Geſchwind zuͤnde ein Licht an, ſagte er zu dem Andern, ich will mich gleich an die Arbeit machen. “ Da ſchlug der An¬ dere Licht, und der Alte hatte mich bald mit einem Drath an die kleine Puppe befeſtigt, die er aus ſeinem Schnapp¬ ſack holte; dann zog er das Uhrwerk in der Puppe auf und ſetzte ſie an den Boden, und ich lief von dem Saum des ſeidenen Puppenkleides bedeckt an der Erde in großer Angſt umher; da ich aber aus Begierde zu entfliehen, in allen Ecken anſtieß, ergriff er mich mit der Puppe und ſagte mit einem widerlichen Zorn zu mir: „ ich muß andre Saiten mit dir aufſpannen, hoͤre Madame weiße Maus, wenn du mir ſo toll herum rennſt, laſſe ich dich hungern, daß du ſchwarz10 *148wirſt, oder gebe dich der Katze, die ſoll dich beſſer tanzen lehren. “— Vor dieſer Drohung hatte ich einen ſolchen Re¬ ſpekt, daß ich mir vornahm, Alles zu thun, was der Alte nur wollte. Er ſprach aber noch allerlei wunderliche Worte Abracadabra uͤber ein Stuͤckchen harten Kuchen, das er mich zu eſſen zwang, es muß das ein Zauberwerk geweſen ſeyn; denn nun mußte ich Alles thun, was er nur wollte, bald lau¬ fen, bald huͤpfen, bald ſo, bald ſo, wie er verlangte, und auf alle Namen, die er mir gab, hoͤrte ich, wie ein gut abgerichtetes Huͤndchen. — „ Nun “, ſagte er zu den Andern, „ reiſen wir nach Gelnhauſen, ich zeige die Puppe der kleinen Gackeleia und ſchwaͤtze ihr leicht den Ring Gockels dafuͤr ab; ich habe ſchon einen aͤhnlichen nachmachen laſſen, und haben wir den Ring, ſo haben wir fuͤr nichts mehr zu ſorgen. “— Nach dieſen Worten ſteckte er mich mit der Puppe in ſeinen Guͤrtel, und ſie zogen nach Gelnhauſen. O ich war froh, zu dir, Gackeleia, zu kommen, ich machte die artigſten Spruͤnge vor dir, ich dachte, wenn du ſchlafen wuͤrdeſt, dir Alles zu ſagen, und durch die Großmuth deines Vaters nochmals ge¬ rettet zu werden; — das Uebrige weißt du, liebſte Herz¬ gackeleia! — Jetzt aber werde ich dich bald aufwecken, wir ſind nicht weit von der Reſidenz meines Herrn Vaters, Al¬ les iſt gewiß noch in großer Trauer um meinen Verluſt, du ſollſt die Freude ſehen, wenn ich wieder komme. Ich muß dir nur noch ſagen, daß unſre Stadt nicht iſt wie eure Staͤdte, Alles iſt laͤndlich, ſittlich; du koͤnnteſt nicht bequem bei uns wohnen, es iſt alles zu eng. — Sieh unſre Stadt iſt gegruͤndet worden auf einem ehemaligen Schlachtfeld; der Proviantwagen der Marketenderin und allerlei andere Bagage wurden zerſchlagen und gepluͤndert, und das zwar in einer einſamen unwegſamen Gegend. Meine Voraͤltern waren als freiwillige Maͤuſe mit den Proviantwagen gezo¬ gen, und da nun alles zerſtoͤrt und die Soldaten fort waren, ließen ſie ſich dort nieder, ſammelten noch andere edle Maͤuſe,149 richteten Alles in eine vollkommene Stadt ein, und es wird jetzt von dort aus ein großes Maͤuſereich regiert. Du wirſt dein blaues Wunder an den herrlichen, geſchmackvollen An¬ lagen ſehen. Sobald wir dort ſind, laſſe ich dir ein Blumen¬ bettchen auf unſerm Maifeld machen, da legſt du dich gleich nieder und ſchlaͤfſt und kannſt dann Alles verſtehen, was ich ſagen und thun werde, um deinem Vater Gockel den Ring Salomonis wieder zu verſchaffen. — Jetzt erſchrick nicht, ich beiße dich ein bischen ins Ohr, damit du aufwachſt; dann nehme ich einen leuchtenden Johanniswurm in den Mund und laufe vor dir her nach meiner Heimath, da folgſt du mir, wie einer Fackeltraͤgerin. Gluͤck auf Gackeleia! “ Nun biß die Prinzeſſin Mandelbiß mich ins Ohrlaͤppchen, und ich erwachte.
Schnell packte ich die Kunſtfigur und alles Andre wie¬ der in mein Koͤrbchen und ruͤſtete mich zum Abmarſch. Die Maͤuſeprinzeſſin machte die luſtigſten Freudenſpruͤnge mit dem leuchtenden Johanniswuͤrmchen vor mir her durch das Gras, was gut war; denn da der Mond noch nicht aufge¬ gangen, ſo war es im dichten Wald noch ſehr dunkel und ich wußte weder Weg, noch Steg. Ich folgte dem Lich¬ te; aber ſie eilte ſo ſehr, daß ich ſie oft aus dem Ge¬ ſichte verlor. Wenn ich dann aͤngſtlich rief: „ Mandelbi߬ chen, laß mich nicht im Stiche! “pfiff ſie laut und ſprang mit dem Lichtchen vor mir hoch aus dem Gras auf, wo¬ durch ich mich wieder zurecht fand.
Als wir ungefaͤhr eine halbe Stunde gegangen waren, hoͤrte ich ein großes Gepfeife und ſah um einen Huͤgel herum die Reſidenz des Maͤuſekoͤnigs im Sternenſchein liegen, die ich euch gleich beſchreiben will. Kaum hatte die Prin¬ zeſſin ſich am Thore der Stadt gezeigt, als es weit aufflog, und ein freudiges Gepfeife durch die ganze Stadt und das oben liegende Schloß ſich verbreitete, aus welchem viele weiße Maͤuſe ihr entgegenſtuͤrzten und ſie mit großem Ju¬150 bel empfingen. Sie wollte aber nicht in das Schloß hinein, ſondern drehte ſich abwechſelnd gegen mich und die Ihrigen, welchen ſie von mir zu erzaͤhlen ſchien, ſo, daß alle die Maͤuſe bald ihre Koͤpfchen gegen mich aufhoben und allerlei pfiffen, was ich nicht verſtand. Da ſagte ich zu ihnen: „ ihr lieben Maͤuſe, gleich will ich mich ſchlafen legen, damit ich eure Geſpraͤche verſtehen kann, “und kaum hatte ich das geſagt, als ſie auch zu Tauſenden anſtroͤmten und das zarteſte Moos an einem reinen Plaͤtzchen zwiſchen Blumen zuſammen tru¬ gen. Ich ſah wohl, das dieß ein Bettchen fuͤr mich werden ſollte, und betrachtete unterdeſſen die ſchoͤne Maͤuſe-Stadt. Oben auf dem Huͤgel lag das koͤnigliche Schloß, von groſ¬ ſen hollaͤndiſchen Kaͤſen erbaut, die alle auf das reinlichſte ausgenagt waren. Alle Thuͤren und Fenſter waren zwar etwas nach altem Geſchmack, und nicht ganz gleichfoͤrmig vertheilt; doch hatte die Burg ein ſehr ehrwuͤrdiges Anſehen; ſie war pyramidaliſch im perſpektiviſchen Stile erbaut, und ich kann noch nicht begreifen, wie es Maͤuſe-moͤglich war, ein ſo kuͤhnes Werk zu Stande zu bringen. Rings um das Schloß her und ſelbſt auf ſeinen Daͤchern waren die ſchoͤn¬ ſten Gaͤrten von Schimmel angelegt, den ich nie hoͤher und feuchter geſehen habe. Thuͤrme von ausgehoͤhlten Commis¬ broden, mit Kuppeln von Flaſchen-Kuͤrbiſſen ſchmuͤck¬ ten das mit Bretzeln und dergleichen verzierte Schloß. Die neuern Haͤuſer der Unterthanen beſtanden aus hohlen Kuͤrbiſſen und Melonen, die ſie fruͤher ſelbſt mit Muͤhe her¬ angewaͤltzt, in der neuern Zeit aber, bei zunehmender Bil¬ dung und Induſtrie, an den Stellen gepflanzt und, wenn ſie groß waren, ausgehoͤhlt hatten. Aeltere adelige und Pa¬ trizier-Geſchlechter bewohnten alte Reiterſtiefel, Patronta¬ ſchen, Torniſter, Piſtolenhulfter, Mantelſaͤcke, Filzhuͤte und Lederhelme und was auf dem Schlachtfelde liegen geblieben war; jedoch ſchienen dieſe Gebaͤude der Reparatur zu be¬ duͤrfen. Einen alten Reuterſattel ſah ich als Thor oder151 Triumphbogen zwei Stadttheile verbinden. Alle Gebaͤude der etwas ſehr unregelmaͤßigen Stadt wurden durch groͤßere und kleinere Anlagen von Schimmel, Pilzen und vielerlei andern Pflanzen umher verſchoͤnert. Auch bemerkte ich viele Hoͤhlen in die Erde hinein, die theils Keller und Vorraths¬ kammern waren, theils von einem eigenen Stamm der Feld¬ maͤuſe bewohnt wurden.
Das Schoͤnſte aber von allem war Folgendes: herr¬ lich und kunſtreich ſchaute von einer Hoͤhe eine große gothi¬ ſche Kirche auf die ganze Stadt wie ein Hirt auf ſeine Heerde herab; ihr Schiff beſtand aus einem großen alten Koffer, woruͤber ein zerriſſener Flaſchenkorb ſtand, die beiden Thuͤrme waren aber zwei weißgebleichte Pferdeſchaͤdel, welche das Gebiß noch im Maule hatten. Leider war, wie bei den meiſten ſolchen Werken der Stil nicht ganz gleichartig, denn das eine Gebiß war eine Treuſe, das andre eine Stange. Die Thurmſpitzen ſelbſt waren mit tauſend kleinen Knochen¬ ſplittern verziert und verſpitzt; um die Kirche her breitete ſich der Kirchhof aus, Grab an Grab ſchoͤn geordnet, und[mit¬ ten] darauf ein Beinhaus von lauter Maͤuſegerippen und Beinchen, weiß wie Elfenbein, in ſchoͤnſter Ordnung zuſam¬ mengelegt. Etwas tiefer als die Kirche lag ein Bauwerk, das zu den ſieben Wundern der Welt gezaͤhlt wird, es be¬ ſtand aus einem Trinkhumpen der gekroͤnt von einem Reu¬ terhelm in einer Trommel ſtand. Man nannte es das Mauſoleum, denn hier iſt der erſte Koͤnig dieſes Volkes Namens Mauſolus I. begraben, und ſeine Gattin Artemi¬ ſia I. hat es ihm errichtet. Alles das konnte ich nicht ge¬ nug bewundern, und der Mond ſchien ſo hell in die kleine wimmelnde Welt, daß es eine Luſt war hinein zu ſchauen.
Waͤhrend dem hatten die Maͤuschen mein Bettchen und neben mir eines fuͤr die Kunſtfigur von dem weichſten Mooſe zwiſchen Blumen fertig gemacht. Die meiſten giengen ihrer Wege, einige konnten aber gar nicht fertig werden, mir gute152 Nacht zu ſagen, und ich war doch von den vielen Anſtren¬ gungen ſo muͤde, daß ich ſchier vergeſſen haͤtte, wie ich hier bei weltfremden Leuten war; ja, lieber Vater! ich war ſo in der Empfindung des Schlafes, daß ich glaubte, ich ſey bei Mutter Hinkel in Gelnhauſen, und ich rieb mir die Au¬ gen und hatte ſchon angefangen, mit weinerlicher Stimme zu ſagen: „ Mutter, Mutter, Gackeleia ins Bettchen legen, Gackeleia iſt muͤd, muͤd! — Da ich aber die Worte der Mutter nicht hoͤrte: „ ja, ſchlafen gehen, das Kind iſt muͤde, das Sandmaͤnnchen koͤmmt angeſchlichen “, beſann ich mich und ſchaute um mich, und ſprach mit majeſtaͤtiſcher Stim¬ me: „ Ich habe die Ehre, Ihnen ſaͤmmtlich eine geruhſame Nacht zu wuͤnſchen, laſſen Sie ſich etwas recht Schoͤnes traͤu¬ men. Sie wuͤrden mich unendlich verbinden, wenn Sie ſich zuruͤckziehen wollten, damit ich mich ſchlafen legen kann. “ Da aber die dummen Maͤuſe immer noch verwundert da ſtanden, jagte ich ſie endlich mit meiner Schuͤrze nach Haus. Es iſt mir nichts peinlicher, als das lange unentſchiedene Zaudern, und doch war ich nun, da ich mich zum Schlafen niederlegte, laͤngere Zeit beunruhiget, daß ich die armen Schelmen ſo hart angefahren hatte nnd bat ſie in meinem Innern herzlich um Verzeihung. Kaum war ich entſchlafen, ſo verſammelte ſich die koͤ¬ nigliche Maͤuſefamilie mit ihrem Miniſterium um mich her, und ich hoͤrte alle die ſchoͤnen Reden, die ſie hielten, an de¬ nen nichts auszuſetzen war, als daß die kurzen zu langwei¬ lig und die langen zu kurzweilig waren. Die Hauptſache war, wie ſie der Raugraͤflich Gockelſchen Familie nun ſchon zweimalige Rettung verdankten. Prinz Pfiffi ſagte, als ſeine Gemahlin in die Gefangenſchaft unter die Kunſtfigur gekom¬ men, ſey er den drei Petſchierſtechern gefolgt, habe geſehen, wie ſie ſich den Ring verſchafft und ſich zu vornehmen, ſchoͤ¬ nen, jungen Leuten gemacht, den Graf Gockel und ſeine Fami¬ lie aber in arme Bettler verwuͤnſcht haͤtten. Kurz er wußte153 Alles, und wollte morgen allein ausziehen, mir den Ring wie¬ der zu verſchaffen, was ihm wegen der Uneinigkeit der Beſi¬ tzer ſehr leicht ſchien. „ Nein, nein “rief da die Prinzeß Siſſi, „ ich will dabei ſeyn, du biſt viel zu ungeſtuͤm, wir wollen es zuſammen verſuchen, und Gackeleia ſoll auch mitgehn. “ Da ſprach ich: „ ja, ja, das wollen wir, und ich verſpreche euren koͤniglichen Eltern, wenn ich den Ring wieder erhalte, einen Zentner der ſchoͤnſten hollaͤndiſchen Kaͤſe und einen Sack der beſten Knackmandeln, um ihre Reſidenz neu erbauen zu koͤnnen, und dazu noch einen Zentner der beßten Schin¬ ken zur allgemeinen Beluſtigung der Nation, und ſonſt Alles, was dem edeln Volk der Maͤuſe lieb und angenehm ſeyn kann. “— „ Ach “, rief der alte Koͤnig aus, „ meine liebe Ge¬ mahlin ſagt mir ſo eben, daß ſie vor ihr Leben gerne ein¬ mal Koͤnigsberger Marzipan und Thorniſchen Pfefferkuchen und Jauerſche Bratwuͤrſte und Spandauer Zimmtbretzeln und Nuͤrnberger Honigkuchen und Frankfurter Brenten und Sachſenhauſer Kugelhupfen und Mainzer Vitzen und Geln¬ hauſer Bubenſchenkel und Koblenzer Todtenbeinchen und Lie¬ ſtaller Leckerli und Botzner Zelten und dergleichen patriotiſche Kuchen eſſen moͤge. “
„ Alles das ſollt ihr im Ueberfluße erhalten “, ſagte ich, „ ſobald ich den Ring beſitze. “— „ Wohlan “, ſprach der Koͤnig, „ ſo moͤgt ihr morgen mit Tagesanbruch auf das Abentheuer ausziehen. Jetzt aber ſoll gleich, ſobald unſre Rathſitzung geſchloſſen iſt, in die Kirche gezogen werden, um den Se¬ gen des Himmels zu erflehen; die fliegende Gensdarmerie ſoll gleich die noͤthigen Anſtalten treffen. “— Nach dieſen Worten des Koͤnigs Mauſolus VIII. ſah ich viele Fleder¬ maͤuſe geſchaͤftig durch die Stadt hin - und wiederfliegen.
Jetzt trat noch ein fataler Schmeichelredner auf, um den Muth herauszuſtreichen, mit welchem ich die Ruthe fuͤr Prinzeſſin Siſſi ertragen haͤtte. Ein alter Pair aber unter¬ brach ihn mit den Worten: „ Ehre, dem Ehre, Ruthe, dem154 Ruthe gebuͤhrt! Sie litt nicht weil ſie eine Maͤuſefreundin, ſondern eine Spielratze und einſt eine Katzenfreundin war; wer weiß, ob ſie nicht noch jetzt deren Spionin iſt “— die¬ ſer Verdacht ſchnitt mir durchs Herz, ſo daß ich im Schlafe wie eine Katze zu miauen begann, worauf dem Redner das Wort in der Kehle ſtecken blieb, und das ganze Parlament uͤber Hals und Kopf auseinanderlief und ſich in alle moͤg¬ liche Wohnungen und Loͤcher verkroch.
Die Prinzeſſin von Mandelbiß hatte nach ihrem Zartge¬ fuͤhl mich wohl verſtanden, ſie blieb bei mir und ſagte: „ liebe Gackeleia, du haſt die Sitzung etwas ſchnell aufge¬ hoben, aber ich haͤtte es an deiner Stelle auch gethan; jetzt will ich gleich verkuͤnden laſſen, woher das Katzengeſchrei kam, dann faͤllt Alles auf den undelikaten Redner. Vor¬ her muß ich dich bitten, mir die Kunſtfigur als Koͤnigin ge¬ kleidet aufzubinden, denn ich will mit derſelben die Prozeſ¬ ſion begleiten, das wird eine ſo große Wirkung thun, als das Trojaniſche Pferd; — ich bringe ſie dir nachher wieder, wenn wir nach der Feierlichkeit auf die Eroberung des Rin¬ ges ausziehen. “ Schnell kleidete ich die Figur nach ihrem Verlangen, heftete ſie ihr wieder auf den Ruͤcken und zog die Uhr in ihr auf. Da lief ſie ſo ſchnell durch die Gaſſen hin, daß die Maͤuſekinder, welche ſich ſchon vor der Thuͤre des Schulmeiſters zur Prozeſſion verſammelt hatten, nicht wenig uͤber ſie erſchracken.
Ich war froh, endlich ein wenig Ruhe zu haben, und kauerte mich recht auf meinem Lager zuſammen; aber es dauerte nicht lange, da gieng wieder was Neues los. Die Kirchenmaͤuſe liefen auf die Thuͤrme der Kirche und riefen das Volk zum Gebet; ſie hatten keine Glocken, und ich glaube darum, daß ſie eine Art tuͤrkiſcher Religion haben. Die Fledermaͤuſe, eine Art fliegender Nachtwaͤchter-Gens¬ darmerie, ſchwebten uͤber der Stadt hin und wieder und ver¬ kuͤndeten, das gehoͤrte Katzengeſchrei ſey nur im Traume ge¬
155 ſchehen, die Prozeſſion finde Statt, Prinzeß Mandelbiß trage die ſchoͤne Kunſtfigur als Koͤnigin dabei durch die Straſ¬ ſen u. ſ. w. Nun hoͤrte ich ein fernes Singen immer naͤ¬ her und naͤher kommen; endlich verweilte der Geſang in der Naͤhe meines Lagers, und ich hoͤrte, daß Prinz Spe¬ ckelfleck ausrief: „ hier wird das ganze Lied ſanft wiederholt, um der Comteſſe Gackeleia den Schlaf zu verſuͤßen. “— Ich hoͤrte nun das folgende Lied, welches von Zeit zu Zeit von dem Chor der voruͤberziehenden Maͤuſeprozeſſion unterbro¬ chen ward.
Nach dieſem frommen Geſang hielten ſie eine kleine Pauſe, dann ſtimmten ſie in einem raſcheren Takt folgende drei Verſe an:
Ich erwachte uͤber dem, ſchoͤnen Geſang und hatte ſchon im Sinn aufzuſtehen und fuͤr die Nachtmuſik zu danken, aber ich fuͤrchtete, dann moͤchten ſie kein Ende in ihren Ge¬ genkomplimenten finden, und ſo hielt ich mich dann maͤus¬ chenſtille und ſchien wie eine Ratze zu ſchlafen, bis die158 Saͤnger weiter gezogen waren; dann aber richtete ich mich auf und ſah die ſchoͤnſte Proceſſion ein wenig an. An der Spitze gieng die ſchoͤne Kunſtfigur, umgeben von der koͤnig¬ lichen Familie und dem ganzen Hofſtaat. Unter den Hof¬ fraͤulein ſah ich eine viel zu große, kurioſe Perſon mitgehen, ſie war wie eine Rieſin unter ihnen, tanzte mehr als ſie gieng, und ihre Stimme paßte gar nicht in den Geſang. Hierauf folgten mehrere fremdartige Maͤuſe, ſie unterſchie¬ den ſich nicht nur durch Geſtalt, Groͤße und Farbe, ſondern auch leider meiſtens durch ihr nicht ſehr erbauliches Betra¬ gen; ſie guckten viel umher und fluͤſterten immer ſehr ange¬ legentlich unter einander. Ich erfuhr ſpaͤter, wer ſie waren. Auf ſie folgten alle adelichen Geſchlechter, worunter das ſchoͤne Geſchlecht meiſtens aus weißen Maͤuschen von hoher Zartheit und Delikateſſe beſtand. Alle, von welchen ich bis jetzt geſprochen, trugen Fackeln, aus leuchtenden Johanniskaͤ¬ fern beſtehend, welche ihnen die herumſchweifenden Fleder¬ maͤuſe hatten einfangen muͤſſen. Hierauf folgten nun die Buͤrgerlichen und endlich die Landmaͤuſe, alle in ihren Na¬ tional - und Naturalfarben; dieſe bedienten ſich der Splitter von leuchtendem faulem Holze als Fackeln, welche ſie im Voruͤbergehen an einem alten Weidenſtumpf abbiſſen. Ich kann euch gar nicht ſagen, wie feierlich ſich der Zug der vie¬ len kleinen Lichter durch die Straßen der wunderlichen Maͤu¬ ſeſtadt den Huͤgel hinan in den ehrwuͤrdigen Dom hinein ſchlaͤngelte — es war, als wenn die Funken an einem ver¬ glimmenden Zunderlappen hinlaufen; weißt du noch Vater, du ſagteſt mir manchmal in Gelnhauſen am Kamin, „ das ſind die Studentchen, die aus der Schule laufen “, ich dachte noch an dieſe deine Rede. Vor der Thuͤre der Kirche empfieng eine ſehr elegante Maus an der Spitze der andern Kirchenmaͤuſe die ſchoͤne Kunſtfigur und den Hof und geleitete ſie in den Dom, den ich nun aus allen ſeinen Oeffnungen erleuchtet ſah; dann vernahm ich einen ſanft pfeifenden Geſang, wor¬159 auf es maͤuschenſtille ward. — Da nun Alles in der Kir¬ che, und die ganze Stadt todt und ſtille war, warf ich noch einen Blick auf die ſeltſamen Gebaͤude im Sternenlicht. Ach, da wuchs mir das Herz; die Welt ward zu enge, weit ward es um die Seele, meine Locken ſchienen mir Gefuͤhle und Wuͤnſche, die ſich ſehnten, im Winde zu ſpielen, und ich gab ſie ihm hin; denn, horch ', jetzt kam auch ein Wehen und regte die Wipfel des Hains auf; ſieh, und das Eben¬ bild unſrer Erde, der Mond, kam da geheim nun auch; die ſchwaͤrmeriſche, die Nacht kam, trunken von Sternen und wohl wenig bekuͤmmert um uns glaͤnzte die Erſtaunende dort, die Fremdliugin unter den Menſchen, uͤber Gebirgsanhoͤhen traurig und praͤchtig herauf! — Ach! da dachte ich nichts mehr, als waͤre nur Vater und Mutter hier, und wenn ſelbſt nur Kronovus hier waͤre, daß ich mittheilen koͤnnte, was ich fuͤhle! ja liebe Eltern, es giebt Eindruͤcke, die ein armes Kind nicht allein faſſen kann, wo es ſich anklam¬ mern moͤchte an ein vertrautes feſteres Weſen, wie an ei¬ nen Fels, einen Baum des Ufers, wenn der Strom der Empfindung anſchwillt und uns reißend ins weite Meer der Begeiſterung dahin tragen will! — nirgends aber iſt dieſes mehr der Fall, als bei großer Architektur im Mondſchein “— da hielt Gackeleia ein wenig in der Erzaͤhlung ein, Frau Hinkel ſchloß ſie ans Herz und ſagte: „ O das iſt eine ſehr poetiſche Stelle, o das iſt aus meinem Herzen, ja du biſt mein Kind, mein herz - und ſeelenvolles Kind, auch mich haͤtte einſt zu Gelnhauſen im Pallaſt Barbaroſſa's im Mond¬ ſchein der Strom der Empfindung ins Meer der Begeiſterung reißend dahin getragen, — aber Vater Gockel war bei mir und ſo einerlei, daß ich nicht ſo allerlei empfinden konnte. “ „ Bleibe bei der Wahrheit “, ſagte Gockel, „ du haſt doch zweier¬ lei empfunden, du haſt an die Fleiſcherladen und Baͤckerladen ge¬ dacht und den Schnupfen bekommen. Dir aber Gackeleia, ſage ich: ich muͤßte mich ſehr irren, oder du biſt eine Schwaͤrmerin160 mit deinen verſchimmelten Kaͤſen, Kuͤrbißen, alten Reuterſtie¬ feln, Saͤtteln, Patrontaſchen und gothiſchen Kirchen im Mond¬ ſchein — auch finde ich deine Gefuͤhle im Mondſchein nicht kindlich genug ausgeſprochen, waͤrſt du damals ſchon ſo groß geweſen, als jetzt, ſo waͤren dergleichen Redensarten zu ver¬ zeihen, aber ſo warſt du ja kaum vor einigen Stunden der Ruthe entlaufen. “— „ Vater “, erwiederte Gackeleia, „ ent¬ ſchuldiget mich, ich bin durch den Ring Salomonis jetzt wie eine erwachſene Jungfrau und kann nicht mehr Alles ſo wie eine kleine Gackeleia vorbringen, ich ſage als Jungfrau, was ich als Kind gefuͤhlt, und gewiß, Vater, als Kind habe ich nur anders geſprochen. “ „ Gott, laſſe dich immer weiſe, immer ein Kind zugleich ſeyn, “ſagte Gockel, „ aber erzaͤhle weiter, damit wir aus der kurioſen Stadt herauskommen — jetzt, wo du den Ring Salomonis haſt, brauchſt du in dem ſehnſuͤchtigen Strom der Empfindung nicht mehr herum zu patſchen — jetzt heißt es, dreh' den Ring, und du wirſt ſo viel Baͤume am Ufer der Sehuſucht haben, daß du Kohlen daraus brennen kannſt und zuletzt ausrufen mußt: „ ach, es iſt Alles, Alles einerlei! o Eitelkeit der Eitelkeiten und Alles Eitelkeit, ſpricht der weiſe Salomo ſelbſt und ſein Siegel¬ ring wird ihm nicht widerſprechen “— aber erzaͤhl weiter Herz Gackeleia! “
„ Ja “, fuhr Gackeleia fort, „ wie ich mein Herz ſo groß, meine Seele ſo weit fuͤhlte, erkannte ich wohl, daß jedes Geſchoͤpf der Eitelkeit unterworfen begehret und verlanget und immerfort ſeufzet und ſich quaͤlt; ſo gieng ich um¬ her und ſchaute in alle Winkel, ob gar kein Weſen da ſey, dem ich mein Herz auspacken koͤnne, und ſang dabei ſtille vor mich hin:
Da hoͤrte ich einige Schritte von meinem Moosbettchen entfernt einen dumpfen Ton, wie von leiſem, verſtecktem Katzen¬ geſchrei, was mich fuͤr die frommen Maͤuſe ſehr beſorgt machte; ich ſchlich mich leiſe hinzu und fand, von Diſtel und Dornen uͤberwachſen, eine alte, leere Pulvertonne dort liegen, das Spundloch war gegen mich gekehrt, der Mond ſchien hinein — ich guckte auch hinein — ach liebe Eltern! ich ſah etwas ſo Entſetzliches, daß mich der Schrecken wie mit einer Gaͤnſehaut uͤberzog; in der alten Pulvertonne, deren einer Boden fehlte, ſaßen fuͤnf junge Kater, in welchen ich zu meinem groͤßten Schrecken — ach, ſie waren mir nur zu be¬ kannt geworden: — die fuͤnf Soͤhne Schurrimurri's, Mack, Be¬ nack, Gog, Magog und Demagog, erkannte. Sie waren alſo der Hinrichtung entgangen — ihre Mutter Schurrimurri aber hatte ihre Strafe erlitten, denn ſie ſaßen um deren Todtenkopf herum, der in einer alten Alongeperuͤcke lag. — Mack ſchien eine heftige Rede zu halten, aber nur leiſe, leiſe, alle machten große Buckel, ſpreitzten die Haare, und ſchlugen einander den Pelz mit ihren Schweifen, daß Feuer¬ funken umher flogen; manchmal konnten ſie ihren Grimm nicht ganz unterdruͤcken und ließen ein dumpfes Murren und Wimmern, wie ein unterirdiſches Erdbeben, hoͤren, wo¬ bei ſie ihre weit vorgeſtreckten Krallen auf dem Todtenkopf, wie Dolche, wetzten. Das Ganze hatte vom Monde im Faß beleuchtet etwas hoͤchſt Graͤuliches, Tuͤckiſches; mir war, als ſehe ich in die Hoͤlle, und unwillkuͤhrlich kam mir in die Seele, das iſt eine Verſchwoͤrung, eine Meuterei, rette deine Freun¬11162de, die frommen Maͤuſe! Dieſe Verbrecher ſind ſchon gerich¬ tet, ſie duͤrfen ihrer Strafe nicht entgehen. — Ich beſann mich nicht lang, erwiſchte das Faͤßchen beim hinteren Ende und ſtellte es aufrecht, ſo daß es wie eine Glocke uͤber der ganzen Verſchwoͤrung ſtand; das junge Katzenellenbogen war gefangen, und das Spundloch ſtopfte ich mit einem Stuͤck Raſen zu. Ich legte noch ſoviel Steine auf das Faß, als ich in der Eile rings finden konnte, damit die Gefangenen es nicht umwerfen moͤchten, und begab mich mit dem Ge¬ fuͤhle, eine edle Handlung gethan zu haben, nach meinem Moosbettchen; ich horchte noch ein Bischen nach dem Faße hin, aber ſie hielten ſich ganz ſtille, und ſo deckte ich mein Schuͤrzchen uͤber die Augen, zuckte ein Bischen und ſchlief einen ſuͤßen Schlaf ein.
Nach einer Weile traͤumte mir, die Prinzeß Mandelbiß komme wieder mit der ſchoͤnen Kunſtfigur zu mir und ſage mir ins Ohr: „ Gackeleia, mache mich los und lege die Kunſt¬ figur neben dich in ihr Bettchen, ſie wird wohl ſo muͤde ſeyn wie ich, ich will mich in deine Locken an dein Oehrchen legen und dir alles erklaͤren, was du bei der ſchoͤnen Prozeſ¬ ſion geſehen haſt und wie unſer Hofredner Muskulus ſo herrlich geſprochen hat. “
Ich that halb traͤumend, wie ſie verlangte, dann legte ſie ſich in meine Locken und plauderte mir wie ein Schlaf¬ kameraͤdchen ins Ohr; da habe ich dann Alles folgende gehoͤrt:
Die große, ſeltſame Perſon, die mir unter den Hof¬ fraͤulein der Prinzeß Siſſi ſo ſehr gefallen, war eine vor¬ nehme Bergmaus, die Marquiſe Marmotte, welche, aus der Gefangenſchaft eines Savoyardenbuben entflohen, hier bei Hof eine anſtaͤndige Gelegenheit abwartete, wieder in ihr Vaterland zuruͤckzureiſen. Siſſi war nicht gut auf ſie zu ſprechen, denn Prinz Speckelfleck hatte ſich zu oft nach ihr umgeſchaut und ſie allzuſehr gelobt, was ſie bei keinem Men¬ ſchen recht leiden konnte. Er bewunderte ihren Tanz, ihre163 ſchoͤnen Traͤume und vor Allem ihre artigen Vorderpfoͤt¬ chen. — Siſſi, blind fuͤr alle dieſe Vorzuͤge, ſagte: „ Vor¬ derpfoͤtchen! es iſt mir ſchier laͤcherlich! in allen Naturge¬ ſchichten ſteht von den Murmelthieren: ihre Vorderfuͤße ha¬ ben vier Zehen und einen ſehr kurzen Daumen, die Hinter¬ fuͤße fuͤnf; aber, daß dieſes ſchoͤn ſey, das ſteht nirgends! — Wie mag ſie ſich nur eine Maus nennen? ihrer Groͤße nach koͤnnte ſie eben ſo gut Bergbaͤr als Bergmaus heißen; dieſe Marquiſe Marmotte hat einen großen, runden Kopf, Naſe und Lippen wie ein Haſe, Haare und Klauen wie ein Dachs, un¬ bedeckte Zaͤhne wie ein Biber, einen Schnurbart wie eine Katze, Augen wie ein Siebenſchlaͤfer, Pfoten wie ein Baͤr, einen kurzen Schweif und geſtutzte Ohren. Wenn man ihr ſchoͤn thut, ſo knurrt ſie wie ein Huͤndchen. Was iſt Schoͤnes hieran? ihr Tanzen und Purzeln iſt ihr von dem Sa¬ voyarden mit Hunger und Schlaͤgen eingequaͤlt, und ſchlaͤft man, wie ſie, vom Oktober bis in den April, ſo hat man allerdings Zeit, ſich etwas Schoͤnes traͤumen zu laſſen. “
Jene, welche ich in der Prozeſſion ſo viel umherſchauen und untereinander plaudern geſehen, waren die Abgeſandten von mancherlei fremden und auslaͤndiſchen Maͤuſegeſchlechtern und Arten, welche ſich hier am Hofe befinden, Buͤndniſſe abzuſchließen, Gratulationen abzuſtatten und ſich Erfahrun¬ gen mitzutheilen, wie den Katzen, Eulen, Geiern und an¬ dern Maͤuſefeinden zu entgehen ſey, auch theilten ſie ſich Warnungen vor gelegtem Gift und Gegenmittel und Nach¬ richten von neu erfundenen Mausfallen mit. Eine unter dieſen Standesperſonen hatte der Prinzeß Siſſi ganz beſon¬ ders gefallen, er war mit einem Schiffe uͤber See ſehr weit her, von den Autillen gekommen, um zu hohen und allerhoͤch¬ ſten wohlthaͤtigen Zwecken eine Collekte zu machen, er hatte die Geſtalt einer großen Ratte, trug einen ſchwarzen Frack und weiße Unterkleider. Er hieß Herr Piloris, und Siſſi be¬ hauptete, er habe durch ſeinen Moſchusgeruch die ganze Pro¬11 *164zeſſion erbaut und ſehr wohlthaͤtig auf ihre ſchwachen Ner¬ ven gewirkt. Die uͤbrigen Abgeſandten waren von den Spitz¬ maͤuſen, Bergmaͤuſen, Waldmaͤuſen, Wurzelmaͤuſen u. dgl. Sie plauderten in der Kirche und bei der Prozeſſion von der Rettung der Prinzeß Siſſi und beſonders von der Hin¬ richtung der Katze Schurrimurri und ihrer Jungen, aͤußerten ſich alle aber ſehr bedenklich uͤber ein umlaufendes Geruͤcht, daß die fuͤnf verwegenen Soͤhne der Schurrimurri der Hin¬ richtung durch Einverſtaͤndniß mit den Soͤhnen des Scharf¬ richters entgangen ſeyn und unter dem Nahmen des jungen Katzenellenbogens eine hoͤchſt gefaͤhrliche Verſchwoͤrung, an¬ geblich zur Rache ihrer Mutter, eingegangen haben ſollten; ihre Abſicht aber ſey eigentlich gegen das edle Mausgeſchlecht, gegen Huͤhner und Voͤgel; die Eulen ſeyen bereits fuͤr ſie gewonnen, ebenſo die Fuͤchſe, mit den Wieſeln unterhandel¬ ten ſie, man muͤſſe ſehr auf ſeiner Hut ſeyn u. ſ. w. — Siſſi erzaͤhlte mir dieſes Gerede der ausgezeichneten Staats¬ maͤuſe mit großer Bangigkeit; — o wie froh war ich, ihr verſichern zu koͤnnen, obgleich jenes Geruͤcht gegruͤndet, ſey dennoch gar nichts von dieſen Verſchwoͤrern zu befuͤrchten.
Siſſi erzaͤhlte mir auch noch den Inhalt der Rede, welche der edle Hofredner Muskulus im Dome gehalten. Er ſprach uͤber Mann und Maus, Menſchheit und Mausheit, Menſch¬ lichkeit und Maͤuslichkeit, Menſchenmoͤglichkeit und Maͤuſe¬ moͤglichkeit. Er erwaͤhnte den Verſtand der Maͤuſe, welche ſtaͤts von jeder Speiſe das beſte Theil erwaͤhlen; ihre Gro߬ muth, weil ſie trotz ihrer Bloͤdigkeit vor allen Thieren ein ſehr großes Herz haben; ihre Dankbarkeit, wie ſie den Loͤ¬ wen aus dem Netze befreit; ihren Heldenmuth weil ſich der Elephant fuͤrchtet, ſie moͤchten ihm in den Ruͤſſel ſchluͤ¬ pfen; ihren prophetiſchen Geiſt, weil ſie ein Haus verlaſ¬ ſen, ehe es zuſammenſtuͤrzt. Er ſprach von der Ehrfurcht der Katzen gegen ihre Eltern, welche, wenn ſie alt ſind, von den Jungen gefuͤttert werden. Er erwaͤhnte die große Naͤch¬165 ſtenliebe der Maͤuſe, welche, wenn eine in eine Grube ge¬ fallen iſt, ſich einander in die Schwaͤnze beißend, eine Kette bilden, um ihre verungluͤckte Nebenmaus aus der Grube zu ziehen. Er ſagte, wie thoͤricht bei all dieſen großen Eigen¬ ſchaften die Fabel ſey: ein Berg habe gebaͤren wollen, und eine laͤcherliche Maus ſey hervorgekommen; er fuͤhrte die Maͤuſe als Werkzeuge Gottes in den Aegyptiſchen Plagen, und bei dem geitzigen Hatto von Mainz an, den ſie gefreſ¬ ſen, obſchon er ſich auf den Mausthurm mitten in den Rhein gefluͤchtet. Er ſprach auch von der Holdſeligkeit der Maͤuſe, daß ſogar die Menſchen ihre artigſten Kinder: „ kleine Maus, liebes Maͤuschen, “nennen. Er erwaͤhnte, daß die Maͤuſe das feinſte Gehoͤr außer den Eſeln haben. Aber auch vom Uebermuth der Maͤuſe ſprach der edle Muskulus, er ſprach: wenn die Maus ſatt iſt, ſchmeckt ihr das Mehl bitter. Er ſprach von gefaͤhrlichen Zeiten, und daß die Maͤuſe, welche auf dem Tiſche herumtanzten, wenn die Katze nicht zu Hauſe ſey, ſich nicht ſo mauſig machen, ſondern bedenken ſollten, daß die Katze das Mauſen nicht laſſe. Dann flehte er noch den Segen des Himmels auf das edle Vorhaben der Prin¬ zeſſin Mandelbiß und des Prinzen Speckelfleck herab und forderte ſie auf, das Sprichwort wohl zu uͤberlegen:
und nun ſetzte der gelehrte Muskulus hinzu, wie er bei ſei¬ nen Studien eine halbe Bibliothek durchfreſſen und wie treff¬ lich ihm endlich die ſchoͤne Stelle des heidniſchen Komoͤdien¬ ſchreibers Plautus geſchmeckt habe:
Als der Klingelbeutel in dem Dom herumgieng, hielt der edle Muskulus noch eine ruͤhrende Auslegung des tief¬ ſinnigen Wortes: „ er iſt ſo arm wie eine Kirchenmaus, “welche den ganzen Klingelbeutel mit Waitzenkoͤrnern ſo reich¬ lich fuͤllte, daß die Marquiſe Marmotte genug zu thun hatte, ihn herum zu ſchleppen, wenn gleich der duftende Herr Pi¬ loris ihr dabei den Arm gab.
So erzaͤhlte mir Prinzeß Siſſi Alles, daß ich es eben ſo gut wußte, als wenn ich in der Rede des edlen Musku¬ lus geſchlafen haͤtte. — Ich dankte ihr herzlich dafuͤr und ſagte ihr: „ Liebſte Siſſi, ich bin gluͤcklich, daß ſich unſre Herzen gefunden haben und daß wir uns du nennen — ach ſo kann ich auch alle meine Leiden in deinen ſchweſterlichen Buſen ausſchuͤtten; ach ich muß dir zu meiner großen Be¬ ſchaͤmung geſtehen, es iſt mir ſo ſehnſuͤchtig um's Herz, ich ſehne mich nach einem Gegenſtand, den ich freßlieb ha¬ ben konnte, es iſt mir ſo leer, ſo leer, ich moͤchte Alles ver¬ ſchlingen; ich muͤßte mich ſehr irren, oder ich habe einen ganz abſcheulichen Hunger, denn ſeit ich das Birkenreis ge¬ ſchmeckt, habe ich nichts mehr uͤber mein Herz gebracht, als einige Wald-Erdbeeren; Siſſi, ſchaffe mir etwas zum ſchna¬ belieren, oder ich ſterbe aus Sehnſucht. “— Da erwiederte Siſſi: „ Herz Gackeleia! du haſt ja noch eine halbe Bretzel und einen halben Bubenſchenkel in deinem Koͤrbchen; “aber ich entgegnete: „ daß ſind Dokumente, und ich wollte eher ver¬ hungern, als Dokumente eſſen. “ „ Wohlan, “ſagte Siſſi, „ ich will ſehen, was ich dir auftreiben kann, “da pfiff ſie einige Mal, worauf eine Fledermaus zu ihr heranflog, welcher ſie den Auftrag gab: die reinſten Schulmauskinder ſollten au¬ genblicklich Beeren pfluͤcken und auf gruͤnen Blaͤttern mir zu Fuͤßen legen — eben ſo ſolle ſie den anweſenden Geſchaͤfts¬ traͤger der Haſelmaͤuſe, den wohlriechenden Chevalier Mus¬ cardin in ihrem Namen um eine Portion Haſelnuͤße bitten und dieſe hieher beſorgen, uͤberhaupt moͤge ſie Alles, was ſie167 von menſchlichen Eßwaaren auftreiben koͤnne, ohne großes Aufſehen zu machen, ſo ſchnell als moͤglich herbeiſchaffen. — Die Fledermaus machte ihr unterthaͤniges Kompliment und flog von dannen. — Schon nach einigen Minuten bemerkte ich eine große Thaͤtigkeit: die Maͤuſe ſchleiften ein altes, rund genagtes Trommelfell auf den Raſen in meine Naͤhe und deckten mehrere große Pilze, die wie kleine Tiſche um¬ herſtanden, mit Blaͤttern und trugen allerlei Eßwaaren da¬ rauf zuſammen.
Nun ſprach ich zu Siſſi: „ Hoͤre mich an, du biſt be¬ ſonnen und klug, was ich dir ſage iſt wahr, was ich ver¬ lange, mußt du thun, ſonſt ſeyd ihr Alle verloren, Aufſehen muß vermieden werden, damit kein unnoͤthiger Schrecken das ſchuͤchterne Volk verwirrt. Sich dort die kleine Pulver¬ tonne aufgerichtet und mit Steinen belegt: Mack, Benack, Gog, Magog und Demagog, die fuͤnf Raͤdelsfuͤhrer des jungen Katzenellenbogens, welche darin in einer Alonge-Pe¬ ruͤcke ihre Krallen auf einem Todtenkopf zu eurem Untergange gewetzt haben, wurden von mir darunter gefangen, ich habe ihre Loge gedeckt und die Pulververſchwoͤrung, das Spundloch der Hoͤlle, verſtopft. Gehe gleich mit deinem Gatten, Prinz Speckelfleck, zu deinem koͤniglichen Vater Mauſolus VIII., zeige es ihm an, und ſage ihm, er ſolle eilend befehlen, daß alle Maͤuſe und den Maͤuſen Befreundete ohne Ausnahme Lehm, Erde und Raſen zu dem Faſſe hintragen und es rund damit umgeben, bis es ganz ummauert eine Pyramide wird. So eingeſchloſſen werden ſie einander ſelbſt zerreißen und ihr werdet euch durch euer frommes Gebet gerettet fin¬ den. — Dem Volke ſoll geſagt werden, das Ganze ſey ein Monument zum Andenken meiner Anweſenheit und deiner Ret¬ tung und heiße Gackeleioeum, ein Gegenſtuͤck zu dem Mau¬ ſoleum. Er ſoll nur ſein Volk, aber keine Maurer daran arbeiten laſſen, denn die da drinnen duͤrften nur einmal rufen: „ Mack, “und die draußen antworten: „ Benack, “ſo waͤre Alles168 verrathen. — Eile, es iſt keine Zeit zu verlieren, der Bau muß fertig ſeyn, wenn ich deinem Vater die verſprochenen patriotiſchen Backwerke ſchicke, welche bei der Einweihung das Feſt verherrlichen koͤnnen. Mache deinen Bericht kurz und kehre ſchnell mit Prinz Speckelfleck zuruͤck, damit wir inkognito fortreiſen. “
Ich bewunderte die Gemuͤthsfaſſung der hochherzigen Prinzeſſin Siſſi: ein Blick des Entſetzens gegen die Pulver¬ tonne, ein Blick des Dankes gegen mich, ein Blick der Hoff¬ nung gegen den Himmel war alles, was ſie erwiederte, und ſogleich lief ſie in der groͤßten Eile zu dem koͤniglichen Kaͤſe¬ pallaſt hinauf. Der Hunger weckte mich nun, ich naͤherte mich der von den Maͤuſen zuſammengetragenen Mahlzeit, da fand ich auf dem Trommelfell eine kleine Melone, welche die Marquiſe Marmotte ſelbſt herangewaͤlzt hatte; der Che¬ valier Muskardin hatte nicht nur ein halb Hundert der ſchoͤn¬ ſten Haſelnuͤße eigenmaulig heraufgetragen, ſondern auch aufgeknackt; die Schuljugend hatte einen Haufen Erdbeeren und Heidelbeeren herbeigetragen und in Nußſchaalen ſehr ar¬ tig angerichtet, eine Speckmaus hatte einen gewaltigen Flug gethan und mir einen ganzen friſchen Bubenſchenkel aus einem Baͤckerladen und ein Wuͤrſtchen aus einem Fleiſcherrauchfang von Gelnhauſen gebracht, Dank dem edlen, biedern, deut¬ ſchen Herzen! an ihm wird die alle edlen Anſtrengungen ſo ſehr beachtende Familie der Mauſoleer das Sprichwort wahr machen: „ dem Verdienſte ſeine Kronen. “ Ach! wie ruͤhrend war es, als nun noch ein gemuͤthvoller, junger Igel von der ſchoͤnſten Haltung zu mir heran raſſelte, wie ein ganzer Ruͤſtwagen; er hatte ſich in einem benachbarten Ort unter den Borſtorfer Aepfelbaͤumen gewaͤlzt und alle herabgefalle¬ nen Aepfel auf ſeinen Stacheln aufgeſpießt, die ich ihm dankbar herabnahm, worauf er ſich ſchweigend empfahl. Er war etwas melancholiſch, denn er war verkannt, ſein Ge¬ ſchlecht gehoͤrt zu den Feinden der Maͤuſe, aber er hatte ſeine169 Natur beſiegt und lebte in einſamer Betrachtung als philo¬ ſophiſcher Wohlthaͤter und Maͤuſefreund unter ihnen von dem ſchoͤnen Herzen der geiſtvollen Prinzeſſin Siſſi geſchuͤtzt.
Ich aß nun im Zwielicht (denn der Mond war unter¬ gegangen und es daͤmmerte im Oſten) ohne große Wahl, was mir unter die Finger kam, luſtig hinein, Alles, Alles ſchmeckte koͤſtlich — o da kam erſt das Beſte! — ach es ra¬ ſchelte etwas neben mir und es rollte etwas in mein Schuͤrz¬ chen, ich fuͤhlte, es war ein Ei, ich hielt es neugierig dem erſten Strahle des Tages entgegen — es war ſchwarz mit einem ſchoͤnen Vergißmeinnicht bemahlt, ringsum ſtanden die Worte: „ Vivat Gackeleia, “ich ſchuͤttelte es, ach es raſ¬ ſelte Geld darin; wie ein Blitzſtrahl durchfuhr es meine Seele: es iſt das Ei meines lieben Kronovus, das er fuͤr mich alle Wochen mit ſeinem Taſchengeld hinten an den En¬ tenpfuhl verſtecken wollte! meine Freude war unausſprechlich — aber wer iſt der wohlthaͤtige Sterbliche, der mir dieſe hoͤchſte Freude gemacht? dachte ich und ſprang auf und rief aus: „ o mein heimlicher Wohlthaͤter entziehe dich meinem Danke nicht! “aber ich hoͤrte es fern weg eilen, und ein wunderſuͤßer Moſchusgeruch drang mir entgegen. Da wurde es mir klar, und ich rief ihm nach: „ du biſt es edler Piloris, fernher pilgernden Menſchenwohlbezwecker im ſchwarzen Frack und weißen Unterkleidern, der Wohlgeruch deiner ſchoͤnen Hand¬ lungen verraͤth dich! “
„ Ja, liebe Eltern, “unterbrach ſich hier Gackeleia, „ ich hatte mich nicht geirrt, dieſe edle Moſchusratte Piloris war es geweſen. Siſſi, der ich von dem Ei des Kronovus er¬ zaͤhlte, hatte ihm ſchon in der Kirche zugefluͤſtert, welche große Freude es ihr machen wuͤrde, wenn ſie meine Wohl¬ thaten gegen ſie mit dieſem Eie belohnen koͤnnte. Piloris, ſo hohes Intereſſe er auch an der Rede des edlen Musku¬ lus hatte, verließ ſogleich den Dom und eilte, ohne ſich um¬ zuſehen, nach der Eierburg an den Entenpfuhl und brachte170 dies Ei, welches Kronovus ſeinen Worte getreu mit 1 Gul¬ den 30 Kreuzer beſchwert dort hin verſteckt hatte. “
Gockel und Hinkel ſahen das Ei mit großer Ruͤhrung an, die beiden Maͤuschen kamen herbeigelaufen und tanzten luſtig umher, als gaͤben ſie ihren Beifall. Frau Hinkel aber ſagte: „ erzaͤhle weiter Gackeleia, damit du einmal von all dem Ungeziefer wegkommſt “und Gackeleia fuhr fort:
Gleich werde ich davon weg ſeyn, um zu noch viel aͤrgerm Ungeziefer zu kommen. Ich hatte mich pumpſatt[ge¬ geſſen], ich packte die Puppe — nein die nur eine ſchoͤne Kunſtfigur — in mein Koͤrbchen, ich legte mein liebes Ei, einige Aepfel und Haſelnuͤße und den halben Bubenſchenkel, der noch uͤbrig, hinein und auch das Wuͤrſtchen und von dem Moos meines Lagers; kaum war ich fertig, da kam Prinz Speckelfleck und Prinzeß Mandelbiß und huͤpften in das Koͤrbchen und pfifferten allerlei, was ich nicht verſtand — aber es mußte wohl heißen, daß meine Sendung ausgerich¬ tet ſey, denn ich ſah das Andringen von unzaͤhligen Maͤuſen mit Erde und Raſen durch alle Straßen und Schluchten in ſolcher Menge, daß ich mich auf die Hoͤhe vor den Dom retirirte, um keinen der Arbeiter zu zertreten. Es war ein wunderbarer Anblick, viele ſtroͤmten gegen die Pulvertonne hin und biſſen die Dornen und Diſteln rings weg, andere wuͤhlten Erde und Lehm auf, andere benetzten ſie und mach¬ ten Klumpen daraus, dann legten ſich Ratzen und Maͤuſe auf den Ruͤcken und faßten die Erde mit den Fuͤßen, und die andern zogen ſie bei den Schweifen wie beladene Wagen fort. Vor allen zeichnete ſich die Marquiſe Marmotte aus, ſie hatte einen Klumpen Raſen, groͤßer als ein Backſtein, zwiſchen ihren Pfoten, der Chevalier Muskardin und der edle Piloris ſpannten ſich vor und zogen ſie bis an die Pulvertonne; der edle Igeljuͤngling war auch mit Raſenſtuͤcken bedeckt und trug ſie hinauf. — Ich ſegnete die liebe Maͤuſeſtadt und eilte171 mit meinen zwei Maͤuschen und ſieben Saͤchelchen im Korbe dem Walde zu.
Ich zog uͤber Berg und Thal und fragte vergebens nach euch, liebe Eltern; manchmal ließ ich bei Baͤckerlaͤden meine Kunſtfigur vor den Kindern herumtanzen und der Baͤcker gab mir gern ein Broͤdchen zur Belohnung. So friſtete ich mein Leben. Wir zogen um Gelnhauſen herum, denn ich fuͤrchtete den Bettelvogt, Meiſter Schelm; da ich aber die Hahnen dort kraͤhen und auf den Thurmſpitzen in die Ferne blinken ſah, ward mir es recht ſchwer ums Herz, und wenn etwas im Gebuͤſch raßelte, guckte ich um und meinte immer das Prinzchen Kronovus kaͤme vielleicht auf ſeinem Schimmel¬ chen zur Jagd geritten. Aber, wer nicht kam, das war er. Da ich nun einige Stunden weiter, nahe bei einer ganz herr¬ lichen Stadt, reiſemuͤd an einem Baͤchlein niederſaß und mich im Waſſer beſchaute, mußte ich mich recht ſchaͤmen, ich hatte vergeſſen, mich am Morgen meiner Abreiſe und am folgen¬ den Abend zu waſchen und ſah nun, daß ich Mund und Naſe ganz ſchwarz von den vielen Heidelbeeren hatte, die ich in der Maͤuſeſtadt im Dunkeln gegeſſen hatte. Nun wußte ich erſt, warum die Kinder uͤberall mich ausgelacht hatten, und ich war recht froh, daß Kronovus mich nicht ſo ſchmu¬ tzig geſehen hatte. Geſchwind wuſch ich mich und erfriſchte mich durch und durch. Ich aß auch ein Bischen mit mei¬ nen Maͤuschen, und da es ſehr heiß geweſen, war ich ſchlaͤf¬ rig und legte mich vom Gebuͤſch verſteckt auf den weichen Raſen und ſchlief. Da kam Prinz Speckelfleck an mein Ohr und ſagte mir: „ Wir ſind am Ziel unſerer Reiſe, wir ha¬ ben die herrliche Hauptſtadt Urbs des Weltreichs Orbis vor uns. Hier iſt der Ring deines Vaters, hier woh¬ nen die morgenlaͤndiſchen Petſchierſtecher; als ſie mir Siſſi entfuͤhrt, bin ich ihnen bis hieher gefolgt, wo ſie hingiengen, weil Alles, was Salz lecken kann, hier frei und ungeſtoͤrt leben darf. Sie ſind immer in Angſt vor allen Menſchen172 und vor einander ſelbſt. Sie fuͤrchten des Ringes halber ge¬ toͤdtet zu werden; damit man nun nicht merken moͤge, wo ihr großer Reichthum herkoͤmmt, haben ſie hier die großen Salzbergwerke gekauft und ſind Salzverſchwaͤrzer, Salzver¬ ſilberer, Salzjunker und endlich Salzgrafen geworden; ſie ha¬ ben ſich einen ſalzgraͤflichen Pallaſt erbaut, ſie ſagen, daß ſie Gold machen koͤnnen; aber Alles iſt durch den Ring Salomonis. Trage mich und Siſſi nur gleich in die Kirche und bete einſt¬ weilen, daß Gott uns hilft, ſo wollen wir den Ring bald erwiſchen. So gern ich und Siſſi und alle Maͤuſe Salz le¬ cken, brauchen wir doch kein Scheffel Salz mit dieſen kurio¬ ſen Grafen zu eſſen, bis wir ſie kennen lernen. “
Nach dieſen Worten wachte ich auf und trug die Maͤus¬ chen geſchwind, geſchwind in meinem Korb in die Kirche nach Urbs; der Gedanke, dem lieben Ring ſo nah zu ſeyn, lehrte mich ſo ſchnelle zu laufen, als da ich die Puppe und mich die Ruthe verfolgte. — O liebe Eltern, welche Kirche! welches Wunder der Architekto-Natuͤrlichkeit, der ungeheure große gothiſche Saͤulenwald mit unzaͤhlichem Schnitz -, Spitz -, Glitz -, Blitz -, Ritz -, Kritz - und Spritzwerk im vorgothiſchen und hintergelnhauſenſchen Spitzbubenſchenkel-Katzenellenbo¬ gen-Styl uͤbertraf das Unerhoͤrte. — Alles, alles war von Salz, die Kirche war ein Salzkryſtall, die Fenſter waren Salzſcheiben, die Kanzel war ein Salzfaß; das Merkwuͤr¬ digſte aber war die Erbauung dieſer Kirche: ein eifriger Mann hatte hier vom Kryſtalismus predigend geſagt: wer die Hand an den Pflug gelegt, der ſolle ſich nicht mehr um¬ ſchauen, die Weiber ſollten an Loths Weib denken, die durch das Umſchauen in eine Salzſaͤule verwandelt worden; „ ach! “rief er aus, „ wollte Gott ein Wunder zur Erbauung der Kirche thun, an eurem Umſchauen fehlt es nicht, ſo haͤtten wir einen Wald von Saͤulen, ehe man ſich umſieht, um eine Kirche darauf zu ſtuͤtzen. “ In demſelben Augenblick kam die Frau Salzinſpektorin mit einem neuen Hut in die Kirche,173 Da ſchauten ſich um alle Fraͤulen und dienten verwandelt in Saͤulen zur allgemeinen Erbauung der Kirche im go¬ thiſchen Styl, denn in dieſem Styl war der Hut der Frau Inſpektorin. So wurde die Kirche zwar ſehr ſchnell, aber doch nicht, ehe man ſich umſah, erbaut. Als ich in das Salzmuͤnſter hineintrat, verließ eben nach der Nachmittags - Predigt der Redner die Kirche, aber ich verſaͤumte nichts, die Kirche iſt echoiſtiſch gebaut, der Redner braucht nur ein paar Worte zu verlieren, ſo werden ſie ſogleich von Frau Echo, der unverbeſſerlichen Widerbellerin, aufgeſchnappt und eine halbe Stunde lang zwiſchen den Saͤulen herumgehetzt und geſchleudert, und ſo lief auch jetzt zwiſchen allen Salz¬ ſaͤulen die Rede umher: „ ſo gut auch das Salz ſey, waͤre es doch mißlich, wenn es dumm werde, man habe Nichts, um es zu ſalzen und es mache weder das Feld noch den Miſt beſſer. “— Ich kniete in ein Winkelchen und be¬ tete herzlich um die Huͤlfe Gottes; nicht weit von mir kniete eine praͤchtig geputzte Koͤchin, und neben ihr ſtand ein von Makaroninudeln geflochtener Gemuͤskorb, auf welchem mit goldenen Buchſtaben ſtand: „ ſalzgraͤflich-Salomon - Salaboniſcher Salatkorb. “ Siſſi und Pfiffi merkten gleich, daß dieſes die Koͤchin der drei morgenlaͤndiſchen Petſchier¬ ſtecher ſey, ſie ſchlupften in den Korb und ließen ſich von ihr in den ſalzgraͤflichen Pallaſt tragen. Als ich nun in der Kirche einſam und allein war, vernahm ich durch das geſchaͤftige Echo jedes Gebet, jedes Fluͤſtern und Seufzen der Umherknieenden; der Eine betete: „ ach Gott! befreie uns von dem Hoffaktor Salzgraf Salathiel Salaboni, er iſt ſchuld, daß das Salz ſo dumm und theuer geworden; “der Andere: „ befreie uns von dem Commerzienrath, Salzgraf Salomon Salaboni, er iſt ſchuld, daß die Salzkukummern ſo kuͤmmerlich ſchmecken und ſo klein ſind; “der Dritte ſeufzte: „ ach hilf uns aus dem Salz des Elendes, befreie uns von dem Hoflieferanten, Salzgraf Salmanaſſer Salaboni, er ver¬174 ſalzt uns alles Leben, fuͤllt unſere Augen mit geſalzenen Thraͤnen und fegt unſre Beutel aus dem Salz! “— Da betete ich dann auch ſo recht von Herzen, Gott moͤge mir wieder zu dem Ringe helfen, weil die drei Morgenlaͤnder doch keinen Menſchen damit gluͤcklich machten. — Da es aber in der Kirche ſo huͤbſch ſtille und kuͤhl war, uͤberfiel mich ein leiſer Schlummer, und ich hatte ſchier ſo lange geſchlafen, daß mich der Kuͤſter in die Kirche eingeſperrt haͤtte; aber Siſſi kam gerade zur rechten Zeit und fluͤſterte mir in die Ohren: „ geſchwind Gackeleia, geh mit mir aus der Kirche; hoͤrſt du? der Kuͤſter raſſelt ſchon mit den Schluͤſſeln; geh mit mir, du ſollſt ſelbſt ſehen, wie wir den Ring erwiſchen, wir haben die beſte Hoffnung. “ Froͤhlich nahm ich nun die kleine Maus in mein Koͤrbchen und gieng mit ihr nach dem Schloſſe der Petſchierſtecher. Als wir an die Gartenmauer kamen, ſprang Siſſi an die Erde und zeigte mir den Weg. Die Sonne war im Begriff unterzugehen. Ich gelangte hin¬ ter ein artiges Luſthaus, Kryſtalline genannt, wo ich auf den Kuͤbel eines Orangenbaumes ſtieg und durch eine Spalte im Fenſterladen Alles ſehen und hoͤren konnte, was im Gar¬ tenhaus vorgieng.
Die drei Salzgrafen ſaßen jung und glaͤnzend mit wohl¬ akkomodirten Peruͤcken in verſchiedenen alamodiſchen kurioſen Uniformen um einen Tiſch, in deſſen Mitte der koͤſtliche Ring Salomonis lag und ſtritten miteinander, wer den Ring am Finger tragen und wuͤnſchen ſollte; ſie nannten ſich Commer¬ zienrath, Hoffaktor, Hoflieferant untereinander und Jeder wollte nicht mehr ſo heißen, jeder wollte den Salzgrafenti¬ tel haben; der Eine ſchrie: „ einer muß der Erſte ſeyn, “die Andern ſchrien: „ das geht nicht, wir ſind Drillinge, wir ſind eine große Merkwuͤrdigkeit, keiner geht vor dem andern; “da ſchrie der Eine wieder: „ ich habe die Maus gefangen und unter die Puppe geheftet, wodurch wir der Gackeleia den Ring abgelockt, ich muß ihn haben, wem ich175 was wuͤnſchen ſoll, der bringt mir einen vollwichtigen Go¬ ckelsd'or, da wuͤnſche ich ihm Etwas, wie gerade der Kurs ſteht. “— „ Wie kommſt du mir vor? “ſprach der Andere, „ habe ich doch den falſchen Ring gemacht, der fuͤr den aͤch¬ ten dem Gockel an den Finger geſteckt ward, ich muß den Ring haben! “— „ Was ſoll mir das? “ſchrie der Dritte, „ habe ich doch die Puppe gekleidet und tanzen laſſen und die große Arie gedichtet[und] abgeſungen von der großen Gar¬ derobe, habe ich doch der Spielratze die Puppe aufgeſchwaͤtzt, den Ring abgeſchwaͤtzt und euch den Ring gebracht, mein muß er ſeyn! “ Da ſie aber gar nicht einig werden konnten und lange geſchrieen und gezankt hatten, weil immer der Eine fuͤrchtete, der Andere moͤge ihm den Tod anwuͤnſchen, wenn er den Ring am Finger habe, griff endlich der Eine mit ſolcher Heftigkeit nach den Ring, daß er den Tiſch um¬ ſtieß, und dieß machte ſich der Andere zu Nutz und ertappte den an die Erde gefallenen Ring, ſteckte ihn an den Finger und drehte und ſchrie:
Waͤhrend er dieſes mit der groͤßten Eile hergeſchnattert hatte, riſſen die Beiden Andern ihn hin und her; aber es waͤhrte nicht lange, ſo waren ſie Beide zwei dicke, haͤßliche Eſel, und er nahm einen Pruͤgel und trieb ſie aus dem Gar¬ tenhaus hinaus, das er hinter ihnen verſchloß. Sie ſchrieen und biſſen ſich unter einander noch eine Weile, fiengen aber bald an, ſich in ihre neue Natur zu ſchicken und Trau¬ ben und Diſteln durcheinander zu freſſen.
Ich guckte wieder in das Gartenhaus, da wollte ſich der, welcher den Ring hatte, ſchier bucklicht lachen, weil er176 ſeine Geſellen endlich ſo ſauber angefuͤhrt. „ Gott ſey Dank, “ſagte er, „ nun kann unſer eins doch einmal ruhig ausſchla¬ fen, ohne die Gefahr, daß der andre ihm den Tod wuͤnſcht. “ Nach dieſen Worten ſchaute er ſich lachend im Spiegel an und haͤngte ſeinen Federhut auf die Spitze einer wunderba¬ ren Kaktuspflanze, die an der Wand bluͤhte. Der Ankaufs¬ preis ſtand auf dem Topf. Die Peruͤcken und Huͤte der zwei andern lagen noch an der Erde, wie auch ihre Stuͤhle. Nun lehnte er ſich breit in ſeinen Prachtſtuhl, ſtellte die Fuͤße auf einen Schemel und ſprach: „ reich zum zahlen, klug zum prahlen, ſchoͤn zum malen — was fehlt mir noch, ich will beruͤhmt werden — da faͤllt mir was ein — ich will den Namen Pictus, Salzgraf von Orbis annehmen, und will einen neuen Orbis Pictus herausgeben, da ſollen alle unbefriedigten Wuͤnſche der Welt nach dem ABC darin abge¬ malt werden, und ich will ſie mir alle mit dem Ring befrie¬ digen von A bis Z — aber Alles, Alles mit Geſchmack und Kunſtgefuͤhl — poetiſch, ſympathetiſch, magnetiſch “— und nun fieng er an, bald tuͤchtig zu ſchnarchen.
Nun iſt es Zeit, dachten Pfiffi und Siſſi und ſchlupften beide durch ein Loch in das Gartenhaus. Ich wendete kein Auge von dem Schlafenden und dem Ring an ſeinem Finger; ach, er hatte eine Fauſt gemacht, und der Ring ſchien ſehr ſchwer zu bekommen; aber Siſſi nahte ſich ſeinem Ohr und ſang mit der ſuͤßeſten Stimme nichts als das Verslein:
Kaum hatte der Schlafende dieſen Vers gehoͤrt, als er die Hand ſo oͤffnete, als wolle er nach all den ſchoͤnen Sa¬ chen greifen. Nun biß ihn Prinz Pfiffi in den Ringfinger;
177 er wachte auf und ſagte: „ ein ſcharmanter Traum, aber der Ring druͤckt mich und weckt mich auf, wer kann ihn mir hier nehmen? die zwei Eſel graſen draußen nach dem beſten Appetit; was brauchen ſie mehr? ungebildete Menſchen ken¬ nen keine hoͤheren Beduͤrfniſſe. Sie ſollen nicht einmal die Ehre haben unter den dreihundert weißen Mauleſeln zu ſeyn, die ich mir wuͤnſchen werde, um die Schluͤſſel meiner Schatz¬ kammer zu tragen. Ach, der ſchoͤne Traum! ich will ver¬ ſuchen, ob ich ihn wieder traͤumen kann; Pſyche, das an¬ genehmſte Frauenzimmerchen aus der klaſſiſchen Literatur, ruͤhrte mich an der Naſe mit einer Blumenzwiebel an und beleuchtete mit einer hetruriſchen Lampe das Traumbild mei¬ ner Wuͤnſche — ich will nochmals geruͤhrt werden, ich will geruͤhrt ſeyn, der Ring ſoll mich nicht wieder ſtechen, ich lege ihn, bis ich erwache, auf den Tiſch. “ Nun zog er den Ring ab und ſchlief wieder ein, indem er fluͤſterte:
kaum aber ſchnarchte er, als Siſſi ihm wieder ins Ohr ſang:
Da laͤchelte er ſo ſuͤß wie ein Topf voll ſaurer Milch und antwortete mit ſchmachtender Stimme im Traume:
Hierauf breitete er die Arme mit großer Innigkeit aus und ſprach:
Da brachte mir Siſſi den Ring Salomonis durch das Loch heraus, ich ſteckte ihn in tauſend Freuden an den Fin¬ ger, drehte ihn und ſagte voll Neugier:
Und gleich ſah ich, daß dem Petſchierſtecher Alles, was er im Schild fuͤhrte, in einem praͤchtigen Wappen im Traume vorgeſtellt wurde. Ein Geldſack war der Helm, allerlei Pa¬ piere und Wechſelbriefe die Helmzierde, er ſelbſt ſtand voll An¬ ſtand in der Mitte, ein Genius kroͤnte ihn mit Lorbeern, ein179 Andrer reichte ihm ein Ordensband, einer huldigte ihm mit Kleinodien, einer dedizirte ihm ein Buch; auch war das Sinnbild der Sternſehenden Wachſamkeit eine fette Gans vor ſeinen Fuͤſſen. Ganz unten aber im Wappen malte der gefluͤgelte Genius der Kunſt ſelbſt den Schoͤnſten der Sterb¬ lichen, denn ein Anderer haͤtte nie vermocht, einen ſo ur¬ ſpruͤnglichen Menſchen aufzufaſſen. Nun aber oͤffnete ſich ploͤtzlich der purpurfarbichte Sammetkelch einer Kaktusbluͤthe und zwiſchen den weißſeidenen Staubfaͤden ſchwebte eine feine Jungfer mit Schmetterlingsfluͤgeln hervor an die Seite des Wappens hin; in der einen Hand hatte ſie eine Zwiebelpflanze, mit der ſie die Naſe des Gluͤcklichen beruͤhrte, in der andern trug ſie eine antike Lampe, womit ſie das Wappen beleuch¬ tete. Er nannte ſie Pſyche. — An der andern Seite des Wappens erſchien ein Grenadier, der das Gewehr praͤſen¬ tirte. — Ach, der gute Salzgraf traͤumte ſo ſelig, daß er mich ſchier dauerte; aber ich konnte ihm nicht helfen, ich mußte ihm aus dem Traum helfen; — ich drehte alſo den Ring mit den Worten:
Und ſieh da, gleich war der Eſel fertig, und der Trei¬ ber ſtand ſchon bei ihm, trieb ihn mit einem Pruͤgel aus dem Gartenhaus hinaus und mit den beiden Andern hieher. Ich aber drehte den Ring und wuͤnſchte bei euch zu ſeyn. Da war ich gleich hier in dem Hof und als ich euch in dem alten Huͤhnerſtall ſo klagen hoͤrte, wuͤnſchte ich, daß das12 *180Schloß wieder ſeyn moͤchte, wie es einſt im hoͤchſten Glanze bei unſern Voraͤltern geweſen; auch wuͤnſchte ich euch als ſchoͤne Leute in den beſten Jahren und mich als eine ſchoͤne vernuͤnftige Jungfrau, uͤber die Puppen — wollt 'ich ſagen Kunſtfiguren-Jahre hinaus zu ſehen; zuͤrnet nicht lieber Vater, aber der Gedanke an die Kunſtfigur von Birkenreis kann mich noch jetzt erbittern. “— Gockel lachte und ſagte: „ Ga¬ ckeleia dreh' den Ring nur noch einmal, um verſtaͤndig zu werden, es ſteckt noch viel vom eigenſiunigen Kind in der erwachſenen Jungfrau, du willſt die Ruthe noch nicht kuͤ¬ ßen! “— da kuͤßte Gackeleia ihm die Hand und fuhr fort: „ Als nun Alles nach meinem Wunſche geworden war, ſchlich ich zu euch in den Huͤhnerſtall und druͤckte mich in einen Winkel, um eure Ueberraſchung recht zu genießen. Siſſi aber wollte mit aller Gewalt unter die Puppe gebunden ſeyn, um euch zu wecken; da lief ſie uͤber euer Stroh und als ihr aufriefet: „ die Puppe! die Puppe! “ſagte ich:
„ Das Andre wißt ihr Alles. “
Nach dieſer Erzaͤhlung umarmten Gockel und Hinkel die Gackeleia unter Freudenthraͤnen und ſagten: „ Dank, tauſend Dank, liebes Kind; du ſollſt zum Lohne deiner Guͤte nun auch den Ring immer am Finger haben, du ſollſt Alles wuͤnſchen, was du willſt! “
Gackeleia ſagte: „ ich nehme es an, vor Allem wollen wir die drei Eſel, welche im Hofe ſtehen mit Allem bepa¬ cken; was ich dem guten Maͤuſekoͤnig verſprochen habe und dann ſollt ihr ſehen, wie vernuͤnftig ich wuͤnſchen will “
Nun giengen ſie hinab und wuͤnſchten, nachdem die Kaͤſe und die Schinken den Eſeln auf den Ruͤcken gepackt waren, den Koͤnigsberger Marzipan, den Thorniſchen Pfefferkuchen, die Jaueriſchen Bratwuͤrſte, die Spandauer Zimmetbretzeln,181 den Nuͤrnberger Lebkuchen, die Frankfurter Brenten, die Sachſenhauſer Kugelhupfen, die Mainzer Vitzen, die Geln¬ hauſner Bubenſchenkel, die Koblenzer Todtenbeinchen, die Lieſtaller Leckerli und die Botzener Zelten auch dazu, welche ſich ohne Verzug einſtellten und die Eſel ſo belaſteten, daß ſie ſchier niederbrachen.
Als nun die Zeit kam, daß Prinz Speckelfleck und Prin¬ zeſſin Siſſi Abſchied nehmen wollten, drehte Gackeleia den Ring Salomonis mir dem Wunſch, die Sprache der Maͤuſe zu verſtehen, ohne grade zu ſchlafen, und dadurch ward die Unterhaltung jetzt ganz leicht. Gackeleia ſagte: „ Meine lieb¬ ſten durchlauchtigen Freunde! Euer Abſchied thut mir ſehr leid, wir verdanken euch Alles; ich will es euch belohnen. Ihr habt geſehen was der Ring vermag; die Petſchierſtecher hat er in Eſel verwandelt — ſo ihr es verlangt, ſoll er euch gleich in Menſchen verwandeln, und ihr koͤnnt fuͤr immer hier bei uns bleiben. “— Die beiden Maͤuschen ſchauten ſich ernſthaft an und dann erwiederte Siſſi: „ Gackeleia, du ſagſt ein großes Wort — aber laſſe uns bleiben, was wir ſind, wir wollen uns nicht von unſerm Volke trennen, wollteſt du auch unſer ganzes Volk zu Menſchen machen, wo waͤre das Land, das ſie faſſen und ernaͤhren koͤnnte? — o es gaͤbe Mord und Todſchlag und Hungersnoth! — nein, wir ſind uns als Maͤuſe genug; uns bleibt Nichts mehr zu wuͤnſchen uͤbrig, als daß wir, gluͤcklich nach Hauſe gekommen, die Verſchwoͤrung Mack, Benack, Gog, Magog und Demagog mit der Pulvertonne in dem herrlichen Monumente Gacke¬ leioeum auf ewig eingemauert finden, daß wir unſre koͤnig¬ lichen Eltern mit all den koͤſtlichen Leckerbiſſen erquicken koͤn¬ nen und daß weder Papa noch Mama ſich den Magen ver¬ dirbt. O die Einweihung des Monuments wird monumen¬ tal werden! — o wie hinreißend wird Muskulus deklamiren! wie ſuͤß wird der edle Piloris duften! “— da fiel Speckel¬ fleck ein: „ und nie bezaubernd die holde Marquiſe Marmotte182 tanzen! “— Siſſi aber that, als wenn ſie ihn nicht hoͤrte; und Gackeleia erwiederte: „ Siſſi! du ſprichſt ſehr vernuͤnf¬ tig, aber frage doch den anmuthigen jungen Igel, ob er vielleicht ein Menſch ſeyn moͤchte, er ſcheint mir melancho¬ liſch; “— „ ich glaube kaum, “verſetzte Siſſi, „ aber ich will es thun. “
Als hierauf Prinz Pfiffi und Prinzeſſin Siſſi von ihren Freunden den zaͤrtlichſten Abſchied genommen hatten, befe¬ ſtigte Gockel den falſchen Ring Salomonis dem Eſel, der ihn nachgemacht hatte, als ein Andenken in das Ohr, hef¬ tete ihm ſeine Pudelmuͤtze auf den Kopf und ſetzte die Maͤus¬ chen hinein, dann ließen ſie durch die Treiber die drei Eſel nach dem Maͤuſeland hintreiben und recht viele ſchoͤne Gruͤße aus¬ richten.
Als ſie fort waren, ſagte Gackeleia: „ jetzt wollen wir auch einmal in unſre Schloßkapelle gehen und ſehen, wie ſie ſich veraͤndert hat. “ Kaum hatte ſie dieſe Worte geſpro¬ chen, als die Glocke zu laͤuten anfieng und ſie in die Ka¬ pelle rief. Sie traten hinein und konnten ſich nicht ſatt ſe¬ hen, wie Alles ſo reinlich und feſtlich mit Blumen und Laub¬ kraͤnzen geſchmuͤckt war. Alle Waͤnde und Steinbilder, das Grabmal des Urgockels und die Bilder aus ſeinem Leben waren wie neu, rein und polirt. Es war eine ſchoͤne Kan¬ zel an der Seite und gegenuͤber eine Orgel mit einem ſtatt¬ lichen Organiſten und ſeinen Blaſebalgtretern. Mehrere kleine Jungen laͤuteten am Glockenſtrang aus Leibeskraͤften. Ein Anderer lief mit Waſſer und Sprengwedel umher und ſprengte, daß es kuͤhl ſey. An einer Seite ſtreuten weißgekleidete Maͤdchen Blumen, an der anderen ſtanden Knaben hinter großen Straͤußern verſteckt. Aber es war doch keine rechte Kapelle, der Altar war auch nicht, wie zu Urgockels Zeiten, da waren keine Leuchter, keine Kerzen, kein Heiligthum. Der Ring Salomonis hatte ſein Moͤgliches gethan; aber er183 kann nur Zeitliches, Natuͤrliches, Kuͤnſtliches, Weltliches, aber nichts Ewiges und Geiſtliches geben.
Als ſie Alles mit Freuden betrachtet hatten, wurden ſie durch den Anblick des Hahns auf dem Grabmal des Urgo¬ ckels recht lebhaft an den guten Alektryo erinnert. Sie dach¬ ten an das Halsgericht, das Gockel hier gehalten. Frau Hinkel und Gackeleia ſchlugen die Augen nieder; da ſpielte auf einmal der Organiſt eine ſehr ruͤhrende Arie: „ Wie ſie ſo ſanft ruhn. “ Es war ein gar feierlicher Moment. —
„ Ach der edle Alektryo! “ſeufzte Gockel, „ ich kanns nicht aushalten, “ſchluchzte Frau Hinkel, „ ach waͤre er nur wieder da! “— „ Ei, “dachte Gackeleia, „ dazu kann ich helfen “und drehte ganz ſtill an ihrem Ring:
Da hob ſich ein Woͤlkchen auf der Stelle aus dem Bo¬ den, wo die Gebeine Alektryo's verbrannt worden waren, und wirbelte und ballte ſich zuſammen und ward wie ein Hahn und der Uralektryo auf dem Grabmal ruͤhrte ſich, ſtreckte den Hals, ſchlug mit den Fluͤgeln und kraͤhte durch¬ dringend, und es fuhr wie ein Feuerſtrahl aus ſeiner Kehle ſichelfoͤrmig zu der kleinen Wolke nieder, die im Augenblick der alte kraͤftige Alektryo ward, auf Gockels Schulter flog, mit den Fluͤgeln ſchlug und mit ritterlichem Kraͤhen dem ſteinernen Hahn antwortete, worauf draußen in dem Huͤh¬ nerhof alle Hahnen antworteten; es gieng wie ein Zurufen der Schildwachen von Hahn zu Hahn das Kraͤhen umher.
Aller Freude uͤber Alektryo war ſehr groß, er ſelbſt aber war tiefſinnig und nachdenklich, er meditirte. Da nun von allen Seiten die Huͤhner und Hahnen in die Kapelle hinein184 kamen, den Alektryo zu ſehen, benutzte dieſer die durch ſeine Wiedergeburt erſchuͤtterten Hahnenherzen und Huͤhnergemuͤ¬ ther, ſchwang ſich auf die Kanzel empor und hielt eine ganz erſtaunlich ergreifende Rede uͤber Familiengluͤck und Kinder¬ zucht, ſo daß auch kein Huͤhnerauge ohne Mitgefuͤhl blieb, all das unten zuhoͤrende Federvieh ſchluchzte und piepte ganz leiſe — der Organiſt accompagnirte gar lieblich mit einer melancholiſchen Arie: „ Ach Schweſter! die du ſicher u. ſ. w. “ Auch die raugraͤfliche Familie war ſehr geruͤhrt.
Als nun Alektryo am Schluße ſeiner Rede ausrief: „ iſt Jemand unter den verehrten Anweſenden, der feierliche Ver¬ loͤbniß oder Hochzeit zu halten wuͤnſcht? “— drehte Gacke¬ leia den Ring, ohne zu wiſſen wie, und ſprach ganz heim¬ lich, ohne zu wiſſen was:
Da ertoͤnten ploͤtzlich Jagdhoͤrner im Schloßhof, Gacke¬ leia lief hinaus, als ob ihr der Kopf brenne, und ſah das Prinzchen Kronovus in einem gruͤnen Jagdroͤckchen von ſei¬ nem Schimmelchen ſpringen, und ſie flogen ſich einander in die Arme mit dem Ausruf: „ Ach wie biſt du ſo groß, buͤck dich! “— „ Ach wie biſt du ſo klein, ſtreck dich! “— Gackeleia aber drehte, ſchnell den Ring hinter dem Ruͤcken des Kronovus und wuͤnſchte, daß er ſo erwachſen und verſtaͤndig ſeyn moͤge, als ſie ſelbſt, und ſieh da, er ward es zuſehends, woruͤber ſie eine große Freude hatte. Da eilte ſie mit ihm in die Kapelle, ſein Jagdgefolge aber blieb in den Thuͤren ſtehen.
Gockel und Hinkel gruͤßten den Kronovus herzlich und dieſer ſagte ſogleich, da ſein Herr Vater Eifraſius und ſeine185 Frau Mutter Eilegia, das Zeitliche geſegnet haͤtten und mit Tod abgegaugen ſeyen, erklaͤre er ihnen, daß, ſo ſie ihm die Hand ihrer Tochter Gackeleia geben wollten, er ſie zu ſeiner Koͤnigin von Gelnhauſen zu machen Willens ſey. Da alle Theile zufrieden waren, fuͤhrten die Eltern das junge Paar zu dem blumengeſchmuͤckten Altar.
Indeſſen ſpielte und ſang der Organiſt die ſchoͤne Arie: „ Schoͤnſtes Hirſchlein uͤber die Maßen, hoͤrſt du nicht den Jaͤger blaſen? “ Alektryo aber ſchrie dreimal hinter einander von der Kanzel:
Kein Piepswoͤrtchen von einer Einwendung ließ ſich hoͤren, als er aber zum drittenmal fragte: „ wer wendet was dawi¬ der ein? “erſchallte eine dumpfe Stimme, die alle erſchreckte:
Alles ſchaute das Bild des Urgockels an, Kronovus aber zog grimmig ſeinen Degen und ſchrie gegen den Grabſtein:
Urgockel aber ſchlug mit der Ruthe auf das ſteinerne Abc¬ buch, daß es raſſelte und ſprach, die Augen wie ein erzuͤrnter Schulmeiſter rollend:
Das ploͤtzliche Reden des ſteinernen Urgockels brachte keine geringe Stoͤrung unter die hohen Anweſenden und deren Federvieh, Gackeleia hatte kaum das Wort „ Kunſtfigur von Beſenreis “gehoͤrt, als eine gluͤhende Roͤthe ihre Wangen uͤberzog; aber ſie ſammelte ſich augenblicklich und winkte dem Organiſten, der in einem Spiegelchen Alles ſah, was am Altare geſchah, und dieſer ließ ploͤtzlich alle Pfeifen los und machte einen Tuſch wie mit Paucken und Trompeten, ſo daß die ganze Drohung Urgockels nicht gehoͤrt ward. Indeſ¬ ſen zog Gackeleia die Kunſtfigur auf, gab ihr einen kleinen Klingelbeutel in die Haͤndchen und ließ ſie unter den anwe¬ ſenden Huͤhnern herumſchnurren, mehrere junge Hahnen aber, welche kein kleines Geld bei ſich hatten, fiengen daruͤber zu ſchwaͤtzen und endlich zu ſtreiten an, und ein kleiner Junge nahm einen Sprengwedel und ſpritzte unter ſie, daß ſie mit großem Geſchrei wegliefen, dazu ſchrie Alektryo fortwaͤhrend von der Kanzel, und Gackeleia war herzlich froh, daß man uͤber all dem Spektakel die Worte Urgockels nicht gehoͤrt und Kronovus ſeinen Degen wieder eingeſteckt hatte.
Als es wieder etwas ruhig geworden, rief Alektryo zum drittenmal:
und aller Anweſenden Augen waren auf das Bild Urgockels gerichtet, welches ſprach:
Urgockel hatte aber dieſe Worte kaum ausgeſprochen, als auch Gackeleia gleich aus ihrem Koͤrbchen und Kronovus aus ſeiner Jagdtaſche, die Haͤlfte der Bretzel und des Bu¬
187 benſchenkels hervorzogen und zuſammenhielten; und die Bruch¬ ſtuͤcke paßten ſo ſcharf zuſammen, als ob ſie eben jetzt erſt gebrochen waͤren. — Sie entſchuldigten ſich nicht, daß ſie ihr Geluͤbde in der Freude des Wiederſehens vergeſſen hatten, aber ſie wurden bei den Worten Urgockels roth bis uͤber die Ohren und ſahen ganz bloͤd vor ſich hin, weil ſie ſich be¬ ſchaͤmt fuͤhlten.
Bei dieſer feierlichen Handlung herrſchte eine allgemeine Stille, man hoͤrte nichts als das Gloͤckchen am Klingel¬ beutel, den die Kunſtfigur herumtrug. Urgockel aber ſtreckte ſeine ſteinerne Hand hervor und ſegnete Kronovus und Ga¬ ckeleia mit den Worten:
Nach dieſen Worten zog Urgockel ſeine Hand wieder zu¬ ruͤck und war ein unbeweglicher Grabſtein wie zu vor. Der Organiſt aber ſang eine ſchoͤne kunſtfigurirte Arie, wozu Men¬ ſchen und Federvieh einſtimmten und die Glocken laͤuteten — denn ſieh, ein merkwuͤrdiges Ereigniß hatte den Bund be¬ kraͤftiget, die beiden Stuͤcke der Bretzel und des Bubenſchen¬ kels waren feſt und wieder Eins geworden, als ſeyen ſie nie getrennt geweſen. — Gackeleia aber drehte den Ring mit dem Wunſche das Wappen moͤge nach dem Willen Urgockels fertig ſeyn und ſogleich ſtand es auf einer ſchoͤnen Fahne neben der Orgel.
Schon wollte man ſich ordnen mit der vorgetragenen Fahne in den Speiſeſaal zu ziehen, als Gackeleia an den goldnen Hahn, die goldne Henne, das Geſchenk von Salomo und der Koͤnigin von Saba gedachte, das ſonſt bei jeder Hochzeit in Gockelsruh im Brautzug getragen worden. Schnell drehte ſie den Ring und wuͤnſchte, dieſes Kleinod moͤge ſich im Schatze der Kapelle befinden und in ihrem Zuge getragen werden. — Da trat ein Juͤngling und eine Jungfrau, beide in morgenlaͤndiſcher Tracht, herrlich geſchmuͤckt in die Ka¬ pelle vor eine eiſerne Thuͤre in der Wand, die mit Raſſeln aufſprang. Da ſah man die beiden Brautgeſchenke ſchim¬ mernd ſtehen. Sie nahmen ſie heraus und praͤſentirten ſie dem Brautpaare, welche ſie auf den Altare ſtellten und mit großer Freude anſchauten. — Indem nun Alektryo von der Kanzel das Bild der bruͤtenden Gallina in der goldnen Henne erkannte, ſchlug er mit den Fluͤgeln und kraͤhte gar wehmuͤ¬ thig. Gackeleia verſtand ſeine Sehnſucht und drehte den Ring, auch die gute Gallina moͤge wieder im Kreiſe ihrer Lieben verweilen. Da hob ſich ein Woͤlkchen auf dem Grabſtein,189 wo die Gebeine Gallinas und ihrer Jungen verbrannt wor¬ den, wirbelte, drehte, ballte ſich und ward zum großen Er¬ ſtaunen aller Anweſenden Huͤhner, denen die Federn daruͤber zu Berge ſtiegen — Gallina; Alektryo unterbrach ſeine ernſte Rede und flog von der Kanzel zu ſeiner Gefaͤhrtin nie¬ der, die er freudig begruͤßte; aber Alektryo beſann ſich, flog wie¬ der auf die Kanzel, bat die Anweſenden um Vergebung, daß er von der Freude des Wiederſehens hingeriſſen, ihre ernſten Betrachtungen unterbrochen habe und forderte abermals Jene ſich zu melden auf, welche ſich zu vereinigen gedaͤchten.
Da trat die Primadonna von Gelnhauſen in die Ka¬ pelle und da der Organiſt eben die Fuge anſtimmte:
wollte ſie kuͤnftig die Fugen nicht mehr Solo ſingen, ſon¬ dern mit ihm, da ſie aber ſich immer mit dem Geſang einander flohen und nachliefen, ohne jemals ſich zu vereini¬ gen und ihr Zuſammenſingen eine Fuga perpetua, eine im¬ merwaͤhrende Flucht war, und da der graͤfliche Erztruch¬ ſeß hereintrat, vermeldend, daß bereits ſervirt ſey und bei laͤngerem Verziehen das Fett am Hammelsbraten leicht gerinnen koͤnne, ſo ordnete ſich der Brautzug die Kapelle zu verlaſſen.
Man hatte die Wappenfahne bereits in Bewegung geſetzt, die Traͤger der Braut-Henne und des Braut-Hahnes hiel¬ ten bereits dieſe Reichskleinodien auf purpurnen Sammtkiſſen vor ihrer Bruſt, und Kronovus und Gackeleia wollten ſo eben von den Stufen des Altares herabſteigen, als Urgockel auf dem Grabſtein ſich abermals ſehr heftig bewegte und mit drohender Stimme ſprach:
Dann ſchaute Urgockel das Brautpaar ſehr gebieteriſch an und fuhr fort:
Gackeleia, welche großes Mitleid mit dem Urgockel hatte, drehte den Ring Salomonis ſchnell, ſchnell mit dem Wunſche, die Gebeine der Frau Urhinkel moͤchten aus dem Grabe unter der Hennenlinde erhoben und Alles bereit ſeyn, um ſie in die Gruft Urgockels beiſetzen zu koͤnnen. Als ſie nun aus der Kapelle hinausgezogen waren, fanden ſie Alles folgendermaſſen geordnet; im Schatten der Hen¬ nenlinde um das Hennenkreuz ſtanden bei den Lilien drei ſchneeweiß gekleidete Kloſterjungfrauen und mitten zwiſchen ihnen ſchwebte der Geiſt der Frau Urhinkel von Hennegau in einem ſchneeweißen, ſchimmernden Gewand; ihr von langen ſchwarzen Locken umſtroͤmtes Haupt war uͤber einem weißen Schleier mir weißen Roſen gekroͤnt, auf ihrer Schulter ſaß eine weiße Henne, in der einen Hand hielt ſie eine goldne Spindel, in der andern ein feines leuchtendes Brod. Ihr Angeſicht war nicht irdiſch ſchoͤn, aber von einer himmliſchen Liebe und Freundlichkeit uͤbergoſſen, man konnte nicht auf¬ hoͤren, ſie anzuſchauen, ihr Blick war eine ſegnende Verbin¬ dung von Thau und mildem Sonnenlicht. In kleiner Ent¬ fernung von ihnen war das Grab der Ahnfrau eroͤffnet und192 ſtand neben demſelben ihr irdiſches Kleid im Sarge auf einer Tragbahre; nicht weit von dieſem aber bei jenen Kraͤutern, die bei dem Begraͤbniß Gallina's ſo großes Beileid bezeigt hatten, ſtand die Erſcheinung von acht altfraͤnkiſch feſtlich ge¬ kleideten Jungfrauen, ſie waren mit Kraͤutern bekraͤnzt und mit einem Orden an amaranthfarbigem Band geſchmuͤckt. Eine Jede trug ein ſchoͤnes Huhn in einem Koͤrbchen unter dem Arm. Sie blickten alle mit dem Ausdruck ernſter Freude und Ruͤhrung nach dem Geiſte und dem Leibe der Ahnfrau und waren in einer lieblich ſchwebenden Bewegung. Sie ſchienen Etwas zu erwarten, die Tragbahre war mit einer tiefrothen Sammtdecke, worauf das Hennegauſche Wappen in Gold geſtickt, bedeckt. Auf dieſer Bahre ſtand nun der offne Sarg, worin die liebſte Frau Urhinkel ruhte; aber welch ein ſeltſamer Sarg! es war ein langer Gitterkorb von Zypreſſen und Myrthenzweigen geflochten und mit erſtaunlich vielerlei Blumen durchſchlungen, welche durch ihre Namen und Be¬ deutungen ausdruͤckten, wie ſehr die Todte von den Armen ge¬ liebt worden war, die ihr den Sarg geflochten und ausge¬ ſchmuͤckt hatten und ihrer Leiche gefolgt waren. Gackeleia hatte oft von dem Blumenſarg ihrer Ahnfrau erzaͤhlen hoͤren. Es gab ein Maͤhrchen davon in der Gockelſchen Familie, das man den Kindern erzaͤhlte, um ihnen Milde gegen die Ar¬ men einzufloͤßen. — Nun ſah ſie dieſen Blumenſarg vor ih¬ ren Augen; aber er war ganz welk und verdorrt. — Sie wollte um Alles in der Welt den Blumenſarg wieder in ſei¬ ner ganzen Schoͤnheit ſehen. So drehte ſie dann den Ring Salomonis mit den Worten:
Auf dieſe Worte Gackeleias ertoͤnte ein leiſer, ungemein reiner und lieblicher Geſang von den drei Lilien her, welche zu Haͤupten des Hennenkreuzes ſtanden:
Nach dieſen Stimmen nahte hinter der Linde hervor von beiden Seiten eine gar ruͤhrende Prozeſſion von Greiſen, Maͤnnern, Frauen, Juͤnglingen und Jungfrauen, Knaben und Maͤgdlein, ja Saͤuglingen auf den Armen der Muͤtter. Alle waren ſie durch Kraͤnze und Gewinde der manichfaltig¬ ſten Blumen und Kraͤuter verbunden, die ſie in der einen13194Hand hielten, waͤhrend ſie in der andern an weißen Staͤben ſchimmernde Fahnen trugen und rings um Frau Urhinkel aufpflanzten. Dieſe Fahnen aber beſtanden aus nichts an¬ derm, als aus Hemden, Struͤmpfen, Roͤcken, Waͤmſern und beſonders aus vielen allerliebſten, kleinen Kindermuͤtzchen, welche Frau Urhinkel mit eigenen Haͤnden verfertigt hatte, um die Armen damit zu bekleiden. Alle die Kleidungsſtuͤcke ſchimmerten wie Silber und Gold und was mit großem Fleiße, mit großer Liebe und Ueberwindung genaͤht war, das war wie mit Edelſteinen und Perlen ausgeziert. Es waren die Werke der Frau Urhinkel, welche ihr nachfolgten. Als nun alle dieſe Siegsfahnen um die liebe Seele aufgepflanzt waren, zogen die Geiſter der Armen, welche ſie durch milde Austhei¬ lung der Gaben Gottes vor Noth, Verzweiflung und Ver¬ brechen gehuͤtet und als dankbare Kinder in das Haus des Vaters gefuͤhrt hatte, hin zu dem Sargkorbe, worin der Leib ihrer Wohlthaͤterin ruhte, und verwandelten ihn mit allen ihren Laubgewinden durchflechtend in ein Schiff von Blu¬ men. Die guten, dankbaren Seelen ſchmuͤckten das Ruhe¬ bettlein der Ahnfrau mit allem Danke, aller Liebe, die ſich durch Blumennamen ausſprechen laſſen, und als der Blumen¬ ſarg neu erbluͤht war, brach Gackeleia freudig in die Worte aus: „ o das iſt eine ſchoͤne Leichenrede, das ſind keine red¬ neriſchen Blumen, das iſt eine Blumenrede, mir iſt, als ſpraͤche ich ſelbſt ſo, wenn ich dieſe Blumengewinde anſehe; denn was die Blumen heißen, das ſind ſie mir! “
„ Ja, liebe Ahnfrau, da iſt Augentroſt fuͤr dich, welche alle Thraͤnen getrocknet, Liebaͤugelein fuͤr dich, weil du alle Arme ſo lieblich anblickteſt, brennende Liebe mit den granatrothen Blumen, weil dein Herz von Naͤchſten¬ liebe gegluͤht; Thymian, das gewuͤrzige Demuthkraut fuͤr dich du Demuͤthige; Ehrenpreis fuͤr dich du aller Ehren werthe; — Engelſuͤß und Engelblume ſprechen: „ du ſuͤßer milder Engel in aller Noth! — O du Herzbluͤm¬195 lein, du Herzenstroſt, du Herzensfreude fluͤſtern drei andre Bluͤmlein; — du Honigbluͤmchen, je laͤnger je lieber hatten wir dich, ſagen andre. — Wie viele ſtam¬ meln mit Kinderaugen, „ vergiß mein nicht. “— Das Schlafkraͤutlein ſpricht: „ ſchlummere ſuͤß “— und das Fuͤhlkraut: „ ruͤhr mich nicht an. “— Das Mollen¬ kraut, das Wunderbaͤumchen, Palme Chriſti ſaͤu¬ ßelt um dein Haupt. — Das Herrgottsbaͤrtlein weht durch deine Locken. — Die Paſſionsblume ſchaut dich an — ruhe ſanft lieb Denkeli — an deinem ſchattigen ſonnigen Herzen, du Liebſtoͤckel, bluͤhet dein Herzge¬ ſpann, das demuͤthige Sophienkraut, das Sonnen¬ braͤntlein, der Sonnenthau fuͤllt ihm die Loͤffelchen ſei¬ ner Haͤnde, im tiefſten Schatten, wie in gluͤhender Sonne heilend und erquickend. Dem lieben Herzen, dem es nahe iſt, muͤſſen die Feinde vergeben, wie es ihnen vergiebt, alle muͤſſen es lieben, kein Zauber kann es kraͤnken, ſelbſt der eigne nicht. — O ſchlummere ſelig, der Engeltrank dir Wohl verleih! — Sey Wohlgemuth, Gottes Gnade, Gottes Huͤlfe, Gottes Heil ſind mit dir. — Zum Himmel kehr dich du Sonnenwende. — Wandle traͤumend durch den Himmelsthau zu dem Kreuz¬ bluͤmlein, dem Jeſusbluͤmlein. — Der Heiland legt den Himmelsſchluͤſſel in deine Haͤnde — Du ewige Blume. — Gotteshuͤlfe ſey dir ewig gruͤn. — Tau¬ ſendblaͤttchen haſt du reine, feine Garbe voll Heilkraft — und Floramor, Tauſendſchoͤn, die purpurſammtne Ama¬ ranthe ſchimmert dich an, daß dir das Herz lacht u. ſ. w. — Wer kann alle Liebe ausſprechen, welche die Blumen ſtam¬ melten? — Zu ihren Fuͤßen deutete die Jeruſalemsblu¬ me, die feurige Liebe, die Mannstreue auf die Liebe und Treue Graf Gockels. Alle dieſe Blumen waren von vie¬ len weißen Roſen durchflochten und an den Ecken des Sar¬ ges ragten Lilien hervor, und beide wußten nichts freudi¬13 *196geres zu ſagen, als, ſie liebte uns. “ In der Hand hatte die liebe Todte einige Heilkraͤuter, einen Strauß von Schluͤſ¬ ſelblumen, Chamomillen, Meliſſen, weißen Neſ¬ ſeln, Lindenbluͤthe und Orangenblaͤttern. — Ein Monatroͤschen, das ſie lange gepflegt, bluͤhte in einem Koͤrbchen an ihrer Seite. — Die ganze ſprechende Blumen¬ decke des Sarges war von einer immergruͤnen Epheuranke uͤberſponnen, welche an dem Kreuze zu Haͤupten des Sar¬ ges hinanrankend ſagte: „ immergruͤn iſt meine Treue, wer will mich trennen von meiner Liebe, ich halte ihn und laſſe ihn nicht. Wer iſt treuer als ich? ſelbſt von der Wurzel getrennt, laſſe ich nicht von dem, was ich umarmte, und gruͤne und lebe klammernd an meiner Stuͤtze. Mit ewigem Gruͤn umſchließet die Treue die Aſche der Todten und bin¬ det die Scherben der Urne; denn losgeriſſen wuͤrde ſie ſter¬ ben. Selbſt den gefallenen Stamm umgruͤne ich. Seit ich lebe, ringe ich aufwaͤrts, nicht aus eigener Kraft, ſondern getragen von zuvorkommender Gnade, die ich dankbar mit den Wurzeln meiner Zweige erfaße. — Weil ich barmherzig den nackten Fels bekleide, decket die ewige Liebe meine eigne Armuth und traͤgt mich aufwaͤrts mit den Barmherzigen, die ſie ſelig ſpricht; auf daß ich aufſteige aus der Wuͤſte, geſtuͤtzt auf den Geliebten uͤberfließend von Begluͤckungen. “— Solches und vieles andere ſtammelten die Blumen und Kraͤu¬ ter, womit die Geiſter der dankbaren Armen, denen Frau Urhinkel alle Barmherzigkeit erwieſen hatte, ihren Sarg von neuem ſchmuͤckten. — Als ſie den Sarg geſchmuͤckt hatten, zogen ſie ſich zu beiden Seiten der Frau Urhinkel zuruͤck, er¬ hoben ihre Fahnen wieder und traten in den Hintergrund.
Alles das ſahen Gockel, Hinkel, Gackeleia und Krono¬ vus ganz ſtill mit tiefer Ruͤhrung an und nun ſprach Gacke¬ leia: „ das alſo iſt der ſchoͤne Blumenſarg unſrer Ahnfrau von dem du mir ſo oft erzaͤhlt liebe Mutter, daß die Engel die Blumen dazu im Himmelsgarten gepfluͤckt? “— da er¬197 wiederte Frau Hinkel: „ ja, und er iſt noch viel ſchoͤner als ich wußte, denn die Engel waren die Armen, die ſie in den Himmel durch ihre Liebe geleitet und der Himmelsgarten war der Garten ihres liebvoll barmherzigen Wirkens und alle die Blumen und Kraͤuter waren ihre Liebeswerke. Sie hat mit der Gnade Gottes ihren Garten ſelbſt gebaut! “— Da ſprach Gockel: „ Hier kann man wohl ſagen, unſere Werke folgen uns, und wie man von Kummer und Boͤſem ſagt, das iſt ein Nagel in meinen Sarg, kann man wohl von al¬ len Werken der Liebe ſagen, ſie ſind Blumen auf meinem Grab, o wer ſollte ſich nicht einen ſolchen Garten zu bauen wuͤnſchen! “— „ Ach, “ſprach Kronovus, „ du mußt helfen Gackeleia, wir wollen fleißig im Garten arbeiten. “ Gacke¬ leia hatte Thraͤnen in den Augen und nickte ſtill.
So ſtanden ſie und ſahen den Leib der Ahnfrau an, der ernſt und ehrwuͤrdig und doch ſo lieblich mit ſeinem Braut¬ kleid in dem Blumenbettchen ruhte. Keine Spur von Ver¬ weſung entſtellte die ruͤhrende Geſtalt. Sie war ganz die¬ ſelbe, wie man ſie in dem Grafenſaal in Gockelsruh als Braut gemalt ſah, nur noch weiſer, noch reiner. Das edle, kluge Haupt trug die Grafenkrone uͤber einen Kranz von Amaranthen, der die reichen mit Perlen durchflochtenen Lo¬ cken umfieng und ruhte mit geſchloßnen Augen, wie das Antlitz eines ſchlummernden Heldenkindes, auf einem runden goldnen, mit Rubinen verzierten Polſter, das ſie gleich einem Heiligen Schein umleuchtete; die eine Wange jedoch lehnte etwas zur Seite geneigt an einem Kiſſen von der feinſten ſchneeweißen Leinwand. — „ Kennſt du das kleine Kiſſen? “fragte Frau Hinkel die Gackeleia und dieſe antwortete: „ o ge¬ wiß, davon haſt du mir ja auch erzaͤhlt, wie von dem Blu¬ menenſarg; die Graͤfin Amey von Hennegau ſpann ſo fein, ſo fein, webte ſo fein, ſo fein, und trocknete mit ihrem Linnen die Thraͤnen der Armen; weil aber noch ſo fein geſponnen, end¬ lich doch koͤmmt an die Sonnen, ſo haben ihr die Armen die¬198 ſes Linnen an der Sonne mit Thraͤnen des Dankes gebleicht. Sie theilte aber Alles mit ihnen und ſo auch dieſes Linnen; da haben dann die dankbaren Armen ihr aus ihrem Theil ein Brauthemd und ein Todtenhemd genaͤht, und da noch ein Stuͤckchen uͤbrig blieb, verfertigten ſie dies kleine Kiſſen daraus und naͤhten den Spruch darauf: „ ein gutes Gewiſ¬ ſen iſt das ruhigſte Kiſſen. “ Es kamen aber alle Voͤgelein, denen ſie von Jugend auf ihre Broſamen ausgeſtreut hatte, herangeflogen, und rupften ſich ſelbſt aus Dankbarkeit die zarteſten Flaumfederchen aus der Bruſt in das Kiſſen, bis es recht weich und reichlich gefuͤllt war. Dieſe Gaben ver¬ ehrten ſie der lieben Wohlthaͤterin als Brautgeſchenk und ſie nahm ſie mit in den Blumenſarg. “— „ Du weißt Alles noch recht ſchoͤn, “erwiederte Frau Hinkel, „ ſieh, zum An¬ denken dieſes ſo ehrenvollen Ereigniſſes haben auch alle Jung¬ frauen und Frauen unſeres Stammes in ihrer Ausſtattung zwei ſolche Hemden und ein ſolches kleines Kiſſen, welche von den Armen verfertigt werden muͤſſen und dieſer Theil der Aus¬ ſtattung heißt die Armen-Linnen-Spiegelgabe, weil wir uns an der Milde unſrer Ahnfrau ſpiegeln ſollen. “
„ Ach, “ſagte Gackeleia, „ es iſt ſchwer den Blick von dem lieben Angeſicht zu trennen, es iſt ſo ehrwuͤrdig, ſo ernſt wie eine Sybille, welche Schickſale traͤumt, ſo lieb¬ voll ſorgend und warnend wie eine fromme Mutter, und auf der ſinnenden Stirne ruht der Friede beſiegter Leiden, und wenn ich ganz bewegt bin und die Thraͤnen mir in die Augen treten wollen, laͤcheln mir ihre Wangen und ihre Lippen ſo kindlich entgegen und es iſt mir, als kuͤße mir ein Kind die Thraͤnen von den Augen und ſtreiche mir troͤſtend die Locken von der Stirne. “— Da ſprach Gockel: „ Kind, du haſt ein gutes ſicheres Aug, was du ſagſt, muß wohl ſo geweſen ſeyn. Sieh, darum hat das liebe Herz, die gute Ahnfrau auch ſchon als Jungfrau den Hennegauſchen Maͤgdlein-Or¬ den der freudig-frommen Kinder geſtiftet, deſſen hoͤchſter199 Grad hier im Sarge ihre Bruſt bedeckt. Es iſt derſelbe Or¬ den, den Mutter Hinkel und auch du jetzt traͤgſt.
Es war in den Tagen der guten Ahnfrau im Lande Hen¬ negau unter dem weiblichen Geſchlecht eine traurige tiefſin¬ nige Andachtsweiſe eingeriſſen; das Ei wollte kluͤger ſeyn, als das Huhn, und die Huͤhner ſprachen erſtaunlich viel uͤber ungelegte Eier. Es war wie eine Krankheit unter den Maͤgd¬ lein des Landes geworden, aller weiblichen Handarbeit und Pflege und ebenſo aller Freude und Heiterkeit zu entſagen und ſich allein einem tiefſinnigen Hinbruͤten zu ergeben, wodurch manche auf ſehr verkehrte Dinge kamen. — Da nun im Jahre 1310 Porette, eine Jungfrau aus Hennegau, welche die Graͤfin Amey kannte, durch dieſe Lebensweiſe auf ſo unſin¬ nige Meinungen und Lehren kam, daß ſie in Paris zum Feuertode verurtheilt ward, nahm Graͤfin Amey ſich dieſes ſo zu Herzen, daß ſie ſich entſchloß, dieſer Verkehrtheit durch ihr Beiſpiel entgegen zu arbeiten. Sie errichtete deswegen fuͤr Jungfrauen den Orden der freudigen frommen Kinder, in welchem, ſie alle ihre Freundinnen verbindlich machte, mit Arbeit und Pflege fuͤr die Armen, kindliche Freude und An¬ dacht zu vereinigen. Alles Gute und Heilige hatte einen Altar in ihrem Herzen, alles Kindliche und Heitere aber auch eine gaſtfreie Herberge darin; und ſo kam die liebe Amey in ein recht liebes, natuͤrliches Weſen. Sie ward der Troſt der Armen und die Freude der Kinder, ſie ſelbſt nannte ſich als Großmeiſterinn des Ordens das arme Kind von Henne¬ gau. Da begann eine gute Zeit fuͤr die Kinder in Henne¬ gau, welche durch die uͤbertriebene Selbſtbeſchauung ihrer Muͤtter und aͤlteren Schweſtern ganz unbeobachtet, verwil¬ dert, ſchmutzig, zerriſſen und zerlumpt geworden waren. Die liebe Amey errichtete große Ordensfeſte und jede ihrer Or¬ densgeſpielinnen mußte eine Heerde Kinder ſauber und rein¬ lich gekleidet auf die Wieſe bringen, wo getanzt und geſpielt, gegeſſen und getrunken und auch Gott gedankt wurde. Alle200 edlen Jungfrauen wollten in dem Orden der freudig frommen Kinder ſeyn, und die weibliche Sitte erhielt eine neue ſchoͤne Wendung, ſo daß es ein Sprichwort geworden: „ wie wohl waͤr mir, haͤtt 'ich zur Frau ein' edle Dirn aus Hennegau! “ Um aber die Verbindung der freudigen Froͤmmigkeit und Kindlichkeit zu bezeichnen, um auszudruͤcken, daß die tiefſte Betrachtung es eben nicht viel weiter bringt, als ein lallen¬ des Kind, ſo beſteht das Ordenszeichen aus einer Figur, welche auf der einen Seite ein zur Sonne auffliegendes Lerch¬ lein als das Bild freudiger Betrachtung und auf der ande¬ ren Seite ein kleines, laͤchelndes Wickelkind, das ſich ge¬ duldig von einem Arm auf den andern nehmen laͤßt, vor¬ ſtellt. Es wird dieſer Orden aber an einem amaranthrothen, mit allerei Gloͤckchen und Quaͤſtchen und ſieben Saͤchelchen behaͤngten Bande um den Hals getragen, weil die Amaranthe nicht verwelkt und ihre tiefe, rothe Farbe auch getrocknet bewahrt. Die Amaranthe iſt das Sinnbild treuer, beſtaͤn¬ diger Gottes - und Menſchenliebe, und ein Schmuck gelieb¬ ter Todten, und es ward dem armen Kind von Hennegau hier im Blumenbettlein die ſchoͤne Amaranthenkrone aufge¬ ſetzt, weil es recht gewandelt iſt. Die Erde traͤgt eigent¬ lich nur den Schatten dieſer Blume, der Himmel allein bringt ſie in der Fuͤlle ihrer ganzen Bedeutung wirklich her¬ vor, als ein unvergaͤngliches, unbeflecktes, unverwelkliches Erbtheil, das uns in ihm bewahrt iſt. — Die Amaranthe iſt ein Sinnbild der unſchuldigen Kindlein, weil dieſe durch das Schwert vom Leben getrennt, in ihrem Blute im Him¬ mel wie die tiefrothen Amaranthen gluͤhen, welche ſelbſt von der Pflanze abgeſchnitten, ihre Farbe nicht verlieren. — Die Amaranthe iſt das Sinnbild der Beſtaͤndigkeit, der treuen Ausdauer, und von ihr heißt es, in Kaͤlte und Hitze, auch getrennt beſtaͤndig, nimmer welkend, in Thraͤnen erneuet. — Dieſer Eigenſchaften wegen traͤgt Graͤfin Amey die Amaran¬ then-Krone und den Orden am amaranthrothen Band;201 daß aber am Saum dieſes ernſten Bandes alle die kleinen artigen Spielſachen, Quaſten, Gloͤckchen, Troddeln haͤngen, deutet wieder auf unſchuldige Freude am Saum des ernſten Tagwerks, ſo wie die Beete eines Gartens, den wir muͤh¬ ſelig bauen, mit kleinen lieblichen Blumen eingefaßt ſind. Sieh Gackeleia, wegen der tiefen Bedeutung der Amaran¬ thenfarbe hatte die gute Ahnfrau auch wohl eine ſo tiefe Ruͤhrung bei ihrem Anblick, denn ſie konnte ſich oft gar nicht zuruͤckhalten, wenn ſie dieſe Farbe ſah; oder entſprang die Macht dieſer Farbe uͤber ſie aus einem Vorgefuͤhl des Schickſals, das ihr durch dieſelbe bevorſtand? — ich kann es nicht entſcheiden — nur muß ich dich ermahnen, liebe Gackeleia, nie eine Hinneigung zu irgend einer Sache allzu heftig werden zu laſſen, damit ſie dich nicht endlich uͤberwaͤltige; denn ſieh — die gute Ahnfrau wurde durch dieſe Farbe gefangen und aus Hennegau hieher nach Go¬ ckelsruh entfuͤhrt. Die Raͤuber, welche wußten, daß ſie dieſer Farbe nicht wiederſtehen konnte, breiteten auf einer gruͤnen Wieſe, auf der ſie oft ſpazieren gieng, eine amaranth¬ farbige, ſeidene Decke aus, und ſangen ein Lied in der Naͤhe, das ſie ſehr liebte:
Dieſes Lied lockte Amey ans Fenſter und als ſie den tief¬ rothen Fleck im Abendſchein auf der Wieſe funkeln ſah, konnte ſie der Begierde nicht wiederſtehen; ſie mußte hineilen, und ſich auf die Decke niederſetzen, und ſo entſchlummerte ſie. Da zogen die Raͤuber mit verborgenen Schnuͤren ploͤtzlich die Decke uͤber ihr zuſammen, banden ſie auf ein Pferd und entfuͤhrten ſie bis hieher unter die Hennenlinde, wo Urgo¬ ckel ſie auf ihr Huͤlfsgeſchrei befreite. — Sieh, ſie iſt ganz in ein weites amaranthſeidenes Gewand gehuͤllt, das deutet202 auf jene Decke, in der ſie entfuͤhrt, gerettet und die Braut Urgockels ward. “— „ Es paßt recht ſchoͤn, “ſprach nun Gackeleia, „ daß ſie dieſe Farbe auch hier im Tode traͤgt, denn ſo iſt ſie auch in dieſer Farbe von der Erde entfuͤhrt, und unter dem wahren Hennenkreuz gerettet, eine Braut des Himmels und wie ein Kuͤchlein unter die Fluͤgel der Henne verſammelt worden. — Aber ſage, warum haben denn die Raͤuber die liebe Ahnfrau entfuͤhren wollen? — Sie ſieht doch gar nicht ſo reichgeſchmuͤckt aus wie andere Graͤfinnen, die von funkelndem Geſchmeide ſtrotzen, und ich habe mich ſchon uͤber dieſe Armuth verwundert, kannſt du mir wohl ſagen, warum hat ſie denn gar keinen andern Schmuck auf ihrem amaranthſeidenen Brautkleid, als nur zwei kleine Edel¬ ſteine auf den beiden Spangen, welche das weite Gewand auf den Schultern zuſammen faſſen? “— Da ſchaute Gockel die Gackeleia laͤchelnd an und ſprach: „ du biſt ein rechter Schelm, du fragſt mich uͤber Allerlei, was laͤngſt vergeſſen iſt, und dann drehſt du heimlich den Ring Salomonis, da¬ mit mir Alles in den Sinn kommen ſoll, was ich nie oder doch nur dunkel gewußt habe. “— „ Freilich mache ich es ſo, “antwortete Gackeleia, „ denn wie jede Speiſe ihr eigen¬ thuͤmliches Gefaͤß hat, ſo ſind ſolche alte Geſchichten immer am ſchoͤnſten, wenn ſie der Vater erzaͤhlt. “— Da fuhr Go¬ ckel fort: „ du fragſt ganz recht wegen den Raͤubern, die ſie entfuͤhrten und dieſen einſamen Edelſteinen auf ihren Achſel¬ baͤndern zugleich, denn wegen dieſer wollten die Raͤuber, wel¬ ches boͤſe Edelleute aus dem Turgau waren, ſie entfuͤhren, und Kronovus mag dich nur gut bewachen, ſonſt kann dir es auch ſo gehen; denn auch du traͤgſt ſolche zwei kleine Edelſteine auf den goldnen Spangen, welche die Aermel dei¬ nes amaranthfarbigen Brautkleides auf der Schulter ſchuͤr¬ zen, und es ſind dieſe Spangen deine eigentliche Morgengabe, welche dir allein gehoͤrt. Es ſind die ſogenannten heiligen Lehns-Kleinode der Grafſchaft Vadutz, deren Wappen da¬203 rauf eingegraben iſt. Vadutz mit ſeinen Felſenſchloͤßern iſt ein Frauenlehn und gehoͤrt allen erſtgebornen Graͤfinnen von Hennegau, die mit dieſen Spangen auch alle Rechte einer Lehnshuldinn von Vadutz empfangen. Es iſt eine alte ge¬ heimnißvolle Sage mit dieſen Steinen verbunden; es heißt, die wahren, heiligen Gnaden-Kleinode, habe ſchon Rebecka auf ihren Schultern getragen, ſie ſeyen wunderthaͤtig, die Ahnfrau habe ſie mit ins Grab genommen, um ihre Nach¬ kommen vor Gefahren zu huͤten, und jene, welche dieſe truͤ¬ gen, ſeyen gewoͤhnliche Edelſteine; das mag wohl auch ſo ſeyn, denn Mutter Hinkel trug dieſe Kleinode auch, ſeit ſie Graͤfin von Vadutz ward, aber ich habe ſie dadurch nie Wunder wirken ſehen. Jedoch ſind die Kleinode, wodurch die Graͤfin Amey ihre Tochter zur Graͤfin von Vadutz weihte und welche nun bis auf deine Schultern gekommen ſind, an die aͤchten Edelſteine angeruͤhrt worden und moͤgen ſo einen Strahl ihres Segens empfangen haben. Die aͤchten heiligen Lehns-Kleinode aber ſehen wir hier auf den Spangen der lieben Ahnfrau, und in dem großen Buche, welches hier neben ihr im Sarge liegt, ſteht von dem Geheimniß dieſer Steine, wir wollen es heute nach der Hochzeitsmahlzeit leſen, jetzt aber ſollt ihr mit der Nachricht Vorlieb nehmen, wie dieſe Klei¬ nodien und das Laͤndchen Vadutz an die Graͤfinnen von Hen¬ negau gekommen ſind. — Der Vater der lieben Ahnfrau trug dieſe Kleinode ſelbſt, er war ein Erb-Graf von Vadutz, vermaͤhlte ſich aber mit einer Graͤfin von Hennegau, zog mit den Kleinoden nach Hennegau und nahm deſſen Namen an. Er ſehnte ſich lange nach einem Toͤchterlein; als nun ſeine Gemahlin die liebe Amey gebohren, war es gerade Neujahrstag, der Graf von Hennegau war in der Schlo߬ kapelle und im Augenblick als man ſang:
kam ein Edelknab gelaufen, er ſolle geſchwind zu der Frau204 Graͤfin kommen, ſo eben habe ihr der Klapperſtorch ein al¬ lerliebſtes Toͤchterchen gebracht. Da lief der Graf geſchwind hinauf in das Zimmer der Graͤfin und ſang den ganzen Weg:
und als er hinauf kam, ſaß die Graͤfin aufrecht auf ihrem Lager und hatte das liebe, arme Kind von Hennegau am Herzen, und der Graf war ganz außer ſich vor Freude und lehnte ſein Haupt auf die Schulter der Mutter und ſah dem Toͤchterlein in die lieben Augen und vergoß Freudenthraͤnen, dann nahm er ſeine Achſelbaͤnder, worauf zwei Edelſteine, die Reichskleinode von Vadutz, befeſtiget waren und ſagte feierlich: „ weil uns das liebe Toͤchterchen gerade beſcheert worden iſt, da man das Verschen ſang, ſo will ich ihm auch ſein Reich auf ſeine Schultern lehnen und zwar jetzt dir, als ſeiner treuen Vormuͤnderin. “ Da heftete er ſeiner Gemahlin die Achſelbaͤn¬ der mit den Edelſteinen, worauf das Wappen von Vadutz eingeſchnitten war, auf die Schultern und ſagte: „ Ich be¬ lehne deine Erſtgeborne durch dich und alle erſtgebornen Toͤch¬ ter ihrer Nachkommen mit dem Laͤndchen Vadutz, es ſey ein Frauenlehn, ein Kunkellehn in unſren Nachkommen, und ſol¬ len den erſtgebornen Toͤchtern der Grafen von Hennegau, ſo¬ bald ſie die erſte Kunkel des zarteſten Flachſes fuͤr die Ar¬ men, ohne den Faden zu zerreißen, abgeſponnen haben, dieſe Edelſteine auf die Schultern geheftet und ſie ſo mit dem Laͤnd¬ chen Vadutz belehnt werden. “— Du nun, liebe Gackeleia, traͤgſt jetzt dieſe Kleinodien auf deinen Achſelbaͤndern. Der alte Graf von Hennegau ſprach nichts von dem Urſprung und den Gnaden dieſer Kleinode, die bei ſeinen Vorfahren ſchon in Vergeſſenheit gekommen waren, welche aber der Ahnfrau ſpaͤter von drei Kloſterfrauen erfuhr, denen ſie zum Lohn ein Kloſter Lilienthal ſtiftete, es ſind dieſelben, welche dort neben den Lilien bei ihr ſtehen. — Wegen dieſen Klei¬205 noden nun und dem Beſitz der Grafſchaft Vadutz entfuͤhrten einige Ritter, welche nicht vom Auslande her regiert werden wollten, die Lehnshuldin und wurden hier von Urgockel er¬ ſchlagen. “
Hierauf ſchwieg Gackeleia ein Weilchen, und da Gockel ſie fragte, „ warum ſprichſt du nicht? “antwortete ſie, in dem ſie ihm eine Spindel voll des feinſten Geſpinnſtes reichte: „ Ei Vater, weil ich jenen Rocken nicht abgeſponnen, lehnte mir das Laͤndchen ſo ſchwer auf den Schultern wie unge¬ rechtes Gut, da drehte ich den Ring Salomonis geſchwind, geſchwind am Finger wie eine Spindel und da hab ich ſie nun voll feinem Garn fuͤr die Armen und es iſt mir wieder ganz leicht auf den Schultern. “
Da laͤchelten ſie alle uͤber die Gewiſſenhaftigkeit der neuen Koͤnigin Gackeleia von Gelnhauſen, Graͤfin von Go¬ ckelsruh und Hennegau, Lehnshuldin von Vadutz, und ſchau¬ ten die liebe Ahnfrau weiter an. Die goldnen Armringe, welche einſt die weiten Aermel feſt angeſchloſſen, waren los an den duͤrren Armen herabgeſunken, die feinen weißen Haͤnde ruh¬ ten an beiden Seiten des Leibes. Die Linke hielt die oben¬ genannten Heilkraͤuter, die Rechte ruhte auf einem großen Buch und faßte acht lange amaranthfarbige, mit Perlen ge¬ ſtickte Baͤnder, welche von dem aͤhnlichen Guͤrtel ausliefen, der das weite Gewand uͤber den Huͤften umſchloß. An die¬ ſem Guͤrtel hingen auch Schluͤſſel, und ein Loͤffel, Kinder zu ſpeiſen und eine Raſſel, Scheere und Aehnliches. Die ha¬ gern feinen Fuͤßchen ſchauten ſo arm und ruͤhrend unter dem Saum des Gewandes hervor, als zitterten ſie, und die mit Perlen geſtickten Goldpantoͤffelchen waren zu weit geworden, und eines herunter gefallen, ſo daß der eine Fuß mit den weißen ſchimmernden Zehen hervorſah. — Da kniete Gacke¬ leia mit großer Liebe und Ruͤhrung an dem Sarge nieder und kuͤßte den Fuß und benetzte ihn mit Thraͤnen, mit den Worten: „ du liebes armes Kind von Hennegau haſt ja dein206 Pantoͤffelchen verloren, o Mutter Hinkel ſieh, wie muß das liebe Ahnfrauchen zu den Armen im Schnee herumgepatſcht ſeyn, die Spitze des Fußes iſt ganz braun, ſie hat ſich die Fuͤße verfroren, — wart, ich weiß, was ich thue, in der goldnen Gallina der Koͤnigin von Saba iſt eine Froſtſalbe, hohle mir ſie Kronovus! “— Gleich brachte Kronovus die Salbe und ſie pflegte den Fuß der geliebten Todten damit und ſchaute mit Thraͤnen den Vater an und ſprach: „ Vater Gockel, das liebe, arme Kind von Hennegau iſt ſchon lange todt, aber ich darf es doch pflegen, nicht wahr Vater, das iſt nicht ganz unvernuͤnftig? denn ſieh, ich muß es thun aus Liebe und Dank und wuͤrde mich ſchaͤmen, ſo ich es nicht thaͤte, ich thue es mit dem Wunſche, es ihr ſelbſt zu thun, ſie wird ſchon wiſſen, wozu ſie es gebrauchen kann, viel¬ leicht kann ſie jetzt, da ich ihr Liebe erwieſen habe, viel luſtiger im Paradiesgarten herumtrippeln, und dankt mir es. “— Unter dieſen Worten kuͤßte Gackeleia den Fuß, den ſie gepflegt und mit einem reinen Tuͤchlein verbunden hatte und ſteckte ihn wieder in das Pantoͤffelchen, dann erhob ſie ſich und alle umarmten ſie ſchweigend, und es ertoͤnte von dem Geiſte der Frau Urhinkel mit inniger Freude der Ge¬ ſang her:
Es war eine ſchimmernde Freude in der Erſcheinung und den drei weiſen Noͤnnchen bei den Lilien, die ſuͤßer duf¬ teten, als je. — Gackeleia aber beſann ſich nicht lange, ſchnell vertauſchte ſie ihre Achſelſpangen mit jenen des armen207 Kindes von Hennegau, und nahm zugleich das große Buch aus dem Sarg und gab es dem Vater. — Gockel blaͤtterte ein wenig darin und ſagte: „ es iſt kurios geſchrieben von beiden Seiten nach der Mitte zu. Von einer Seite enthaͤlt es die Rechnungen der Grafſchaft Vadutz, von der andern ein Tagebuch. — Potz tauſend! was ſtehen da fuͤr Lehen und Zinſen darin, aber — aber irren iſt menſchlich, das Kind hat ſich auch da einmal verrechnet. Hier auf dieſem Blatt bei der Almoſen-Rechnung hatte ſie ſubtrahiren ſol¬ len, 1 von 100 bleibt 99, aber ſie hat ſtatt deſſen geſagt, 1 von 100 kann ich nicht, 1 von 10 bleibt 9 und 9 von 9 geht auf, — das kann ja unmoͤglich eintreffen, aber aufgegangen iſt's doch, wie Saat im Garten der Armen. — In der Ortho¬ graphie war ſie auch nicht ganz feſt, hier in der taͤglichen Haus¬ haltungsrechnung ſteht immer, eine Maß Michl, ein Schop¬ pen Michl, immer Michl ſtatt Milch; aber halt, da kommt Etwas, das muß jetzt verleſen werden, lies Gackeleia! “— und er gab ihr das Buch und ſie las:
Graͤflich Hennegauiſche Huͤhner - und Menſchenſatzungen.
Zu der Sache ewiger Gedaͤchniß. Wir von Gottes Gna¬ den Graͤfin Amey, Urhinkel von Hennegau, allererſte Lehnshul¬ din des Laͤndchens Vadutz, armes Kind von Hennegau und des Ordens der freudigen frommen Kinder Stifterin, erklaͤren in hoher Puͤnktlichkeit, Komma cum Puͤnktlichkeit und Duo¬ puͤnklichkeit. — Als wir, der abgruͤndlichen Untiefe uͤbertrie¬ bener Beſchaulichkeit zu begegnen, unſern Orden errichteten, haben wir unſern Namensverwandten und erſten Ordensge¬ ſpielinnen bei verſchiedenen Veranlaſſungen, welche in den Tagebuͤchern des Jahres 1318 aufgeſchrieben ſind, mancher¬ lei Gnaden und Rechte fuͤr ſich und ihre weiblichen Nachkom¬ men verliehen, wogegen dem Brautzug und Leichenzug jeder Graͤfin von Hennegau eine Nachkommin dieſer Geſpielinnen208 gottesfuͤrchtig beizuwohnen und ein Huhn an dem ſogenann¬ ten Huͤhnerabend abzuliefern hat. Auch ſollen dieſelben ſol¬ chen Braut - und Leichenzuͤgen mit ihren Namen bezeichnen¬ den Blumen geſchmuͤckt beiwohnen und derlei Blumen zu Fuͤßen des Grabes erhalten, mit der kindlichen Liebesmei¬ nung, dieſe moͤchten dort ſtatt ihrer beten, wenn ſie ſelbſt nicht anweſend ſeyn koͤnnten. — Eine jede erſtgeborne Toch¬ ter meiner Nachkommen nimmt mit ihren muͤndigen Jahren das Amt der Ordensgeneralin und den Titel: „ das arme Kind von Hennegau “an und hat an ihrem Guͤrtel als Braut und als Leiche acht Baͤnder von amaranthfarbigem Linnen¬ band befeſtiget, welche die Ordensgeſpielinnen anfaſſen, wenn ſie dem Zuge folgen. Sie gehen in dem Grand Cortege dicht hinter den drei Kloſterfrauen von Lilienthal. — Sie haben dies Alles zu erfuͤllen bei Verluſt ihrer Rechte.
Dieſe unſre Erklaͤrung ſoll bei Braut - und Leichenzuͤgen den Ordensgeſpielinnen jedesmal vorgeleſen werden. — So¬ dann ſind die Pflichten der Kloſterfrauen von Lilienthal zu leſen und dieſelben aufzurufen, worauf die Ordensgeſpielin¬ nen oder deren Lehnserben aufgerufen und von ihnen die Pflichthuͤhner abgeliefert werden ſollen.
Gegeben in unſerm Kabinetchen im Jahr, da man ſang:
Pflichten der Kloſterfrauen von Lilienthal.
Als ich am Tage nach Johanni des Jahres 1318 den drei Fraͤulein zur Lilien auf Gottes hoͤhere Mahnung und ihr dringendes Bitten das Kloſter Lilienthal gruͤndete und ausſtattete, wurde dieſes Kloſter Lilienthal verpflichtet, den Braut - und Leichenzug jeder Graͤfin von Hennegau und Lehns¬ huldinn von Vadutz, welche das Kleinod auf den Schultern traͤgt, von drei Kloſterjungfrauen begleiten zu laſſen und auf209 ewige Zeiten drei weiße Lilien auf meinem Grabe zu erhal¬ ten. — Es ſind aber dieſe drei Kloſterſchweſtern bei ſolcher Gelegenheit mit den Worten aufzurufen:
Da neigten ſich die drei weißen Kloſterfrauen gegen die rechte Schulter der Ahnfrau und man hoͤrte die Worte wieder:
Hierauf nahte die Mutter Gackeleias dem Sarge und legte vier der acht Amaranthbaͤnder, die von dem Guͤrtel der Ahnfrau ausliefen, zur rechten und vier zur linken Seite des Sarges heraus, und indem ſie die weiten Aermel ein wenig uͤber den hagern elfenbeinernen Haͤnden der Ahnfrau in die Hoͤhe zog, ſprach ſie: „ ſieh Gackeleia, da bewaͤhrt ſich das Sprichwort wieder — an der Klaue kennt man den Loͤwen und an der Hand die Graͤfin von Hennegau. — Wenn wir es auch nicht wuͤßten, ſo wuͤrden uns dieſe Haͤnde ſagen, daß ſie der Graͤfin Amey von Hennegau gehoͤren. Sieh, Ga¬ ckeleia, von ihr haben wir die ſogenannten Hennegauiſchen Dockadaumen oder Gnadendaumen geerbt. “ Gackeleia kuͤßte die Haͤnde der Ahnfrau ehrerbietig, indem ſie den Vater fragte, woher denn der Name Hennegauiſche Gnadendau¬ men komme; da erwiederte Gockel: „ die ganze Hennegaui¬14210ſche Familie ſtammt muͤtterlicher Seite von einem roͤmiſchen Kaiſer Curio und deſſen Weib Docka her, die Chriſten ge¬ worden, nach Deutſchland gezogen und auch das Land Va¬ dutz gegruͤndet. Es war aber bei den heidniſchen Roͤmern eine grauſame Beluſtigung, Maͤnner mit Schwertern auf auf Tod und Leben mit einander fechten zu ſehen. Wenn nun einer der Kaͤmpfer unterlag, ſetzte ihm der andere das Meſſer an die Kehle und ſchaute umher, ob man ihn toͤdten oder begnadigen laſſen wolle; wer nun verlangte, der Ueber¬ wundene ſolle leben bleiben, der hob die Haͤnde in die Hoͤhe und ſchloß den Daumen feſt in die Fauſt, das war das Zei¬ chen der Gnade; die Kaiſerinn Docka ſoll gleich nach ihrer Geburt ſchon die Haͤndchen in dieſer Stellung gehabt haben, ſo daß die Mutter ausrief: „ Ach mein liebes Kind du biſt ein Gnadenkind! “— Docka aber hielt bei jeder Gelegenheit, wo es Hilfe und Rettung galt, von fruͤheſter Jugend auf ihre Haͤndchen immer in dieſer Gnadenſtellung, ſo daß ihre Daumen ſich ganz darnach bildeten und man dieſelben Gnaden¬ daumen, Dockadaumen nannte, und von ihr iſt dieſe Handbil¬ dung auf alle Graͤfinnen von Hennegau, mit der großen Neigung zu begnadigen und zu vergeben, vererbt. — Sieh Gackeleia, daher koͤmmt der Gebrauch, daß man ſagt, halte mir den Daumen, wenn man verlangt, ein anderer ſolle mit ſeiner ganzen Seele unſer Gluͤck wuͤnſchen. “
„ Nun wiſſen wir Alles, “ſprach Gackeleia, „ ſo recht, wie man ſagt, bis auf den Fingernagel; wir wiſſen, warum die drei Lilien und die drei weißen Kloſterfrauen bei der lie¬ ben Ahnfrau unter der Hennenlinde ſtehen; und warum dort bei den acht Pflanzen die acht Ordensgeſpielen des armen Kindes von Hennegau feſtlich geſchmuͤckt erſcheinen und Huͤh¬ ner in Koͤrbchen unter dem Arm tragen. Sie kommen zur Leichen-Uebertragung des aͤlteſten armen Kindes von Henne¬ gau und zum Brautzug des Juͤngſten, und das bin ich! — Sie wollen ihre Pflichthuͤhner abliefern. — Geſchwind, ge¬211 ſchwind, laßt uns ſie empfangen, ich ſehe, ſie ſchwanken ſchon ein wenig ungeduldig durcheinander. Wohlan, ich rufe ſie auf. — „ Im Namen Ihrer Kindlichkeit der Graͤfin Amey von Hennegau, erſten Lehnshuldin von Vadutz und erſten armen Kindes von Hennegau mahne ich, Gackeleia Koͤnigin von Gelnhauſen, Graͤfin in Hennegau und von Gockelsruh, juͤngſte Lehnshuldin von Vadutz und juͤngſtes armes Kind von Hennegau, — Euch, acht erſte Ordensgeſpielen, die acht Pflichthuͤhner abzuliefern. — Zuerſt rufe ich auf: Fraͤulein Ornitogalia, fuͤr eine am 30. April 1318 empfangene Weide - Gerechtigkeit liefere ab ein Hirtenhuhn! “
Auf dieſen Ruf ſchwebte Ornitogalia, ein Kraͤnzlein des Kraͤutleins Huͤhnermilch auf den blonden Locken und ein ſchoͤ¬ nes Huhn in einem Koͤrbchen tragend, zwiſchen den Sarg und Gackeleia. Sie verbeugte ſich gegen den Geiſt der Ahn¬ frau, kuͤßte dann knieend den Orden, den der Leichnam im Sarge trug. Hierauf erhob ſie ſich wieder, lehnte ihr Haupt gegen das Kleinod der rechten Achſelſpange Gackeleias, ſetzte ſodann ihren Korb mit dem Hirtenhuhn zu ihren Fuͤßen nie¬ der und nahm ihn wieder unter den Arm, worauf ſie das erſte der acht amaranthfarbenen Baͤnder ergriff und ruhig an ihrer Stelle ſtehen blieb. — Hierauf rief Gackeleia nach der Reihe die ſieben folgenden Fraͤulein auf. Alle trugen ſie Kraͤnze von Kraͤutern ihres Namens und den Orden der freudig frommen Kinder, und jede that wie Ornitogalia. — Oſter¬ luzia lieferte fuͤr ein am 1. Mai empfangenes Stuͤck Wald ein Waldhuhn. — Kretellina brachte fuͤr das am 7. Mai erhaltene Recht, im Wald zu graſen, ein Grashuhn. — Ser¬ poleta gab fuͤr den am 14. Mai verliehenen jaͤhrlichen Holz¬ bedarf ein Rauchhuhn. — Morgelina hatte am 21. Mai das Recht erhalten, im Walde Laub zu ſammeln und brachte ein Laubhuhn. — Moskatellina entrichtete fuͤr ein am 28. Mai empfangenes Kornfeld ein Aehrenhuhn. — Kornelia leiſtete ihre Lehnſpflicht fuͤr einen am 4. Juni empfangenen Roſen¬14 *212garten mit einem Gartenhuhn. — Esparſetta entrichtete fuͤr ein am 13. Juni, Pfingſtdienſtag, empfangenes Feldgut ein Pfingſthuhn. — Als alle Ordensgeſpielinnen ihre Pflicht geloͤſt und die acht Baͤnder anfaſſend, zur Rechten und Linken des Blumenſarges ſtanden, erhoben Gackeleia und Kronovus die beiden vorderen, Gockel und Hinkel die bei¬ den hinteren Stangen der Tragbahre und zogen mit dem Blumenſarge der Kapelle zu. — Der Geiſt der Ahnfrau folgte ſeinem eignen Leibe zu Grab. — Es war ein An¬ blick von der ruͤhrendſten Erhabenheit. — Hinter dem von den acht Ordensgeſpielinnen umgebenen bunten Blumenſarg, in welchem das bleiche, arme Kind von Hennegau in tiefro¬ them Gewand gleich einem elfenbeinernen ernſten Jungfraͤu¬ lein zu ſchlummern ſchien, ſchwebte deſſen eigner Geiſt zwi¬ ſchen den drei weißen Kloſterfrauen, welche Lilien trugen — ſelbſt eine Lilie — in unausſprechlich ruͤhrender Einfachheit, in ſchneeweißem, langem Gewand, Spindel und Brod tra¬ gend, das verſchleierte Haupt mit weißen Roſen bekraͤnzt, mit lieblichem Frieden im Angeſicht uͤber die Blumen und Gras¬ ſpitzen dahin. Eine der drei Kloſterjungfrauen, welche ſie mehr, als die beiden andern zu lieben ſchien, trug ihr de¬ muͤthig die Schleppe. — Alle drei ſangen:
Worauf der Geiſt der Ahnfrau mit wehmuͤthiger Innigkeit wieder ſang:
Nun aber folgte der ganze Zug der Geiſter der dankba¬ ren Armen, welche den Sarg geſchmuͤckt hatten, ſie trugen die ſchimmernden Fahnen von Roͤckchen, Hemdchen, Schuͤrz¬213 chen, Jaͤckchen, Muͤtzchen, die guten Werke des armen Kindes von Hennegau. Wer aber kam ganz, ganz zuletzt, ſo daß gar nichts mehr hinter ihm kam? — Niemand Anders, als jene alte Frau mit einer blauen Schuͤrze, welche bei al¬ len Prozeſſionen und Leichenzuͤgen zuletzt kommen muß — jene geſetzte, ſolide Perſon, die nicht im Himmel iſt, nicht auf der Erde iſt und die ſelber nicht weiß, wo ſie iſt und wer ſie iſt. Alle Nachforſchungen der ſo ausgezeichneten ge¬ heimen Polizei von Gelnhauſen haben doch keine entſchiede¬ nere Auskunft uͤber ſie zu Stande gebracht, als, es heiße, ſie ſolle ein buckliches Fragezeichen hinter einer Leichenrede ſeyn, man halte ſie fuͤr eine Art Nachrede, ſie gebe ſich fuͤr ein gewiſſes Gewiſſen aus u. dgl. mehr. — Man ſuchte ih¬ rer auf alle Weiſe habhaft zu werden, man ſtellte bei allen Blaufaͤrbern Spionen auf, um ſie zu ergreifen, wenn ſie etwa ihre Schuͤrze neu wolle faͤrben laſſen; aber ſie ließ ſie nicht faͤrben. Endlich ward ſie von der Verſchoͤnerungskom¬ miſſion, als geſchmacklos und die kuͤnſtleriſche Wuͤrde ſolcher Prachtzuͤge ſtoͤrend, und von der Aufklaͤrungskommiſſion als ein abgeſchmackter alter Aberglauben fuͤr null und nichtig in Contumaziam erklaͤrt. — Der Oberhof-Oſterhaas ſchrieb eine gekroͤnte Preisſchrift gegen ſie, worin er ſie fuͤr eine optiſche Taͤuſchung, oder hoͤchſtens fuͤr das fuͤnfte Rad am Wagen erklaͤrte, welches, ſo oft man ſeiner auch erwaͤhne, doch ei¬ gentlich niemals da ſey. — Unter der Regierung des Krono¬ vus aber ward, weil er ſie ſelbſt trotz aller Null - und Nich¬ tigkeits-Erklaͤrung hinter dem Leichenzug ſeines Herrn Va¬ ters Eifraſius allerhoͤchſtaugenſcheinlich herſchleichen geſehen, alles Schreiben uͤber ſie verboten und eingefuͤhrt, bei ihrem Anblick immer einem Armen eine neue blaue Schuͤrze zu ſchen¬ ken; man hat bemerkt, daß ſie ſeitdem immer eine neue blaue Schuͤrze traͤgt, und daß die Blaufaͤrberei in Gelnhauſen ei¬ nen ſolchen Aufſchwung gewonnen hat, daß ſie der Baͤcker - und Fleiſcherzunft gar nichts nachgiebt.
214So nun kam der Zug in die Kapelle, wo unter dem Vortritt Alektryos und Gallinas alles anweſende Federvieh ſich tiefneigend Spalier machte. Als ſie mit dem Sarg vor den Altar kamen, drehte Gackeleia den Ring, das Grab Ur¬ gockels oͤffnete ſich, da ſahen ſie das Gerippe des alten Herrn auch im reichen Grafenornat gar ehrbar unten ruhen.
Nun legten die acht Ordensgeſpielinnen, die acht Baͤn¬ der in die Hand der Ahnfrau im Sarge zuruͤck und ergriffen die aͤhnlichen Baͤnder, die zum Guͤrtel Gackeleias gehoͤrten, und ſtanden eine Weile um ſie her. Man ſenkte den Sarg neben den Sarg des Urgockels hinab, das Grab ſchloß ſich, die Jungfrauen ſtellten ihre Koͤrbchen mit den Huͤhnern dar¬ auf und legten alle ihre Kraͤnze umher. — Der Geiſt der Frau Urhinkel ſchwebte licht gegen den Grabſtein Urgockels, die drei Kloſterfrauen mit den Lilien ſtanden zu deſſen Fuͤſ¬ ſen. Eine Lichtwolke erfuͤllte die Kapelle und zog ſich oben wie in einen offnen Himmel hinauf, dahin ſchwebte der Geiſt der lieben Graͤfin Amey von Hennegau zwiſchen den drei Kloſterfrauen. — Gackeleia ſprach zu den acht Jungfrauen um ſich her: „ ſegne euch Gott, liebe Geſpielen, ich danke eurer Treue, folget dem liebſten Herzen dahin, wo es noch beſſer iſt als hier in Gockelsruh! “da neigten ſie ſich gegen ihre rechte Schulter und ſchwebten in die Lichtbahn des erſten Kindes von Hennegau hinan, und die ganze Prozeſſion der Armen zog hinten nach und man hoͤrte den Geſang:
immer leiſer und leiſer, bis er zuletzt ganz verſtummte und Alles in der Kapelle wie vorher war; da ſah man das Stein¬ bild der Frau Urhinkel mit der Urgallina auf der Schulter neben dem des Urgockels an der Wand und unter demſelben ſchauten drei weiße Lilien uͤber dem Altare hervor. Auf dem Grab vor dem Altar hatten die Kraͤnze der Ordensgeſpielen Wurzel geſchlagen und gruͤnten alle die Kraͤuter, aus denen215 ſie beſtanden. — Gackeleia uͤbergab die verehrten Huͤhner dem Alektryo, der ſie ſogleich in Eid und Pflicht nahm und nebſt der uͤbrigen Huͤhnergemeinde in den Huͤhnerhof fuͤhrte, wo ihnen ein Hochzeitsſchmaus von Waitzenkoͤrnern, Brodſamen, allerlei Gruͤnem, Maikaͤfern, Regenwuͤrmern und andern De¬ likateſſen zubereitet war. — Waͤhrend allem dieſem wurden fortwaͤhrend die Glocken gelaͤutet, lief die Kunſtfigur immer mit dem Klingelbeutel umher und endeten der Organiſt und die Primadonna ihre Fuge nicht. — Hierauf ſetzte ſich der Zug in Bewegung, den Wappenfahnen folgten die blumen¬ tragenden Knaben, die blumenſtreuenden Maͤgdlein, die Juͤng¬ linge mit den Geſchenken Salomos; — dann Kronovus und Gackeleia, welche die Kunſtfigur im Arm trug, und zu¬ letzt Gockel und Hinkel, welchen, als ſie die Thuͤre verlie¬ ßen, Alektryo und Gallina auf die Schulter flogen. — So kam der Zug in den herrlichen Raugraͤflich-Gockelſchen Spei¬ ſeſaal, wo eine vortreffliche Mahlzeit aufgetragen war. Im ganzen Schloſſe gieng es luſtig zu, viele gute Leute aus Gelnhauſen, die ſich damals uͤber Gockels Pallaſt ſo ver¬ wundert hatten, waren Extrapoſt hergefahren. Der Herr Poſtmeiſter hatte nichts zu thun, als einzuſpannen, der Herr Schirrmeiſter ſchmierte unerſchoͤpflich, die Herrn Poſtillone blieſen ſich ſchier den Athem aus. Alles was in Gelnhauſen kurfaͤhig war, wurde zur graͤflichen Tafel gezogen, und ſogar der geheime Oberhof-Oſterhaas, alle Ritter und Ritterinnen des hohen Eierordens; auch viele reiſende Kuͤnſtler und Gelehrte und Standesperſonen, welche gerade zu der Frankfurter-Meſſe durchpaſſirten, benutzten die ſeltene Gelegenheit, alle die Herrlichkeit mit anzuſehen. — Es wurden der Gaͤſte ſo viel, daß Gackeleia alle Augenblicke den Ring drehen mußte, um den Tiſch zu verlaͤngern. Einen großen Tiſch allein bedurfte der Oberhof-Oſterhaas, denn er hatte eine ihm empfohlene großmaͤchtige, breite Schottlaͤnderinn bei ſich, deren Gefolge aus einem lebensgroßen Lebkuchenfiguren-Kabinet und ei¬216 nem Leib-Lebkuͤchler beſtand, die Alle mit ihr an einer Tafel ſaßen. — Der Oberhof-Oſterhaas ſtellte ſie den hohen Herrſchaften mit den Worten vor: „ die ſehr hono¬ rable Konnteß Samſonia Molle Gothol, Meiſterinn von St. Eduards Stuhl, auf welchem die Koͤnige von Eng¬ land geſalbt werden, eine Nachkomminn der ſchottiſchen Koͤ¬ nige, Gothol, Simon Breach, Fergus, Kenneth u. ſ. w., welche ſchon Jahrhunderte vor chriſtlicher Zeit, auf jenem Steine gethronet haben, auf dem Jakob bei Bethel Luz ſchlief und der jetzt in St. Eduards Stuhl bewahrt wird, deſ¬ ſen Pflege ihr anvertraut iſt. Dieſe hohe Dame iſt mir von der Akademie der old druidical Superstitions dringend em¬ pfohlen, ſie hat ſich eine ſchwarze Melancholie durch zu uraͤl¬ terliche und altvorderliche Studien zugezogen, indem ſie ſchon auf ihrem Kinderſtuͤhlchen vor St. Eduards Stuhl bei dem da¬ rin bewahrten Steine Jakobs anfangs mit der Puppe ſpie¬ lend zur Wache geſeſſen und dann durch ſtaͤtes Bruͤten uͤber die Herkunft dieſes Steins vor lauter Kindern Gottes und der Menſchen und den vielen Kindern Israels die eigne Kindheit verloren hat. Nun aber reiſt ſie mit ihrem Kinderſtuͤhlchen umher, dieſelbe wieder zu finden und darauf zu ſetzen. Da ſie Alles vom Ei an ergruͤnden muß, und von mei¬ nen geringen Verdienſten als unwuͤrdigem Oberhof-Oſter¬ haas gehoͤrt hat, hat ſie gehofft, vielleicht in einem Oſterei, den wahren Kindskopf zu finden, aber leider vergebens! — Es iſt ihr bei laͤngerem Aufenthalt in der Grafſchaft Vadutz bekannt geworden, daß die Lehnshuldinnen dieſer Grafſchaft die Achſelſpangen Rebekkas auf den Schultern tragen, und weil ſie weiß, daß dieſe Kleinode mit dem Stein Jakobs zuſammenhaͤngen, ſo wuͤnſcht ſie fuͤr ihre Studien eine naͤ¬ here Kenntniß dieſer Alterthuͤmer aus ſchriftlichen, gleich¬ zeitigen Urkunden zu erlangen. — Die bei ihr befindlichen Lebkuchen ſind ihre theils noch heidniſche Vorfahren, die ſchot¬ tiſchen Koͤnige Gothol, Breach, Fergus, Kenneth und der¬217 gleichen. Der ſie begleitende Leib-Lebkuͤchler arbeitet mit lau¬ ter Honig aus dem Rachen des Loͤwen Samſons, und da ſie eine Vorſtellung dieſes ihres Namenspatrons, wie er ſeine Feinde mit dem Eſelskinnbacken erſchlaͤgt, in Honigkuchenteich pouſſiren laſſen will, hat ſie ihn mitgenommen, um Studien zu ſkitziren, was ſehr unterhaltend iſt; er hat mich ſchon portrai¬ tirt, und es gleicht, wie kein Oſterei dem andern. — Dieſe wuͤrdige Maͤrtyrin der Ernſthaftigkeit empfehle ich nun der theil¬ nehmenden Kind - und Kinds-Kindlichkeit der koͤniglichen und graͤflichen Familie, allerunterthaͤnigſter, unwuͤrdiger Oberhof - Oſterhaas. “ Gackeleia empfand eine große Theilnahme fuͤr die honorable Kounteß und wollte ſie umarmen, ſie war aber zu groß und zu breit und wollte ſich nicht buͤcken, da half ſich Gackeleia mit dem Ring und drehte die Kounteß herunter, daß ſie gerade groß genug war und ſchloß ſie herz¬ lich in ihre Arme, wobei dieſer ſehr wohl zu Muthe ward, ſo daß ſie laͤchelnd ſagte: „ Euer Kindlichkeit koͤnnen auch mehr als Brod eſſen! “— Gackeleia laͤchelte und drehte die Kounteß wieder in ihre große, breite Geſtalt zuruͤck, worauf ſich Alles zu Tiſch niederſetzte. — Daß Gackeleia mehr als Brod eſſen konnte, bewies der Kuͤchenzettel der hochzeitlichen Mahl¬ zeit; denn aus Achtung fuͤr die Kounteß verwandelte Gacke¬ leia durch den Ring Salomonis die ganze Gelnhauſiſche Mahl¬ zeit in eine Schottlaͤndiſche, und die Verwunderung der auf¬ tragenden Bedienten und die Verlegenheit der Gelnhauſer Gaͤſte, die nicht wußten, wie ſie die fremden Gerichte an¬ faſſen ſollten, erluſtigte das ganze Feſt. — Beſonders viel zur allgemeinen Freude trug der Leib-Lebkuͤchler der Kounteß Gothol bei. Sie ſaß zwiſchen den Bildern ihrer Voraͤltern, er neben dem Oberhof-Oſterhaas unten an und war in ſtaͤter Arbeit, daß ihm der Schweiß ausbrach, er hatte einen großen Kuͤbel Honigteich neben ſich, und indem er mit großen Appetit zu eſſen ſchien, knetete er mit Loͤffel, Meſſer und Gabel, das Bild irgend eines Anweſenden aus218 Teig auf den Boden ſeines Tellers, dann begehrte er einen friſchen Teller und ließ den andern am Tiſche von Hand zu Hand gehen, was ein großes Aufſehen unter allen Gaͤſten machte. Als nun Gackeleias Bild zu Kronovus und des Kronovus Bild zu Gackeleia kam, fanden dieſe ſich ſo ge¬ troffen, daß ſie ſich freßlieb gewannen, und das wurde auf einmal Mode am Tiſch, Einer aß des Andern Bild auf. Da drehte Gackeleia, die melancholiſche Kounteß auch wieder durch eine Artigkeit zu erheitern, den Ring Salomonis, daß alle ihre Lebzelten-Voraͤltern neben ihr leben und mit ihr ſpre¬ chen moͤchten und eben ſo moͤchten die neugeformten Geſich¬ ter mit dem Lebkuͤchler thun. Das gab nun einen ſeltſamen Spaß, die alten Schottiſchen Koͤnige fiengen an mit der Kounteß, und dann unter einander von dem Stein Jakobs zu diſputiren und zwar ſehr heftig, die Geſichter, welche der Kuͤnſtler auf die Teller formte, ſchnitten Geſichter und ſtreckten ihm die Zunge heraus, er wurde unwillig daruͤber, knetete ihnen die Maͤuler zu, da blieſen ſie dann die Backen auf, kurz es ward eine ſtaͤte Abwechslung von Grimaſſen. Da nun alle die Koͤnige anfiengen, dem Meth und Aepfel¬ wein tuͤchtig zu zuſprechen und auch dem Lebkuͤchler haͤufig zutranken, gab es Streit und ſie warfen ſich die Teller ins Geſicht und modellirten ſich ganz grandios mit den Humpen auf den Koͤpfen herum. Dieſe alten Schotten - Koͤnige hatten eine Art Bauernkrieg unter einander und bald war dieſer bald jener Trumpf, — und dazwiſchen wurde immer vom Stein Jakobs geſchrieen, ohne daß ſie irgend ei¬ nig werden konnten. Alles das ward der guten Kounteß ein Stein des Anſtoßes, ſie wußte gar nicht mehr, was ſie von ihren Altvorderen halten ſollte, ſie kam zitternd und be¬ bend mit ihrem Kinderſtuͤhlchen zu Gackeleia gelaufen und lehnte ihren großen Kopf Hilfe ſuchend, da Gackeleia, um dem Streite zu zuſehen, auf den Stuhl geſtiegen war, ganz bequem gegen das Achſelband ihrer rechten Schulter mit den219 Worten: „ o mein Gott, welch ein Greul, o wo ſeyd ihr hin, ihr ſchoͤnen Tage meiner Kindheit! “— Gackeleia aber drehte den Ring mit dem Wunſche, alle die Streitenden moͤchten ſich in unſchuldige, beluſtigende Gegenſtaͤnde verwandeln und alsbald wurden die Koͤnige und der Lebkuͤchler zu Hollunder¬ maͤnnchen, welche ſich einander auf den Kopf ſtellten und wieder auf die Fuͤße purzelten, was allgemeinen Beifall fand. Die Ueberreſte der Lebkuchen-Bilder wurden theils von den Originalen, theils von Alektryo und Gallina verzehrt. — Selbſt die Konnteß laͤchelte daruͤber und ſagte: „ ſeit ich die Achſelſpange der Rebecka beruͤhrt habe, iſt mir ein ſolcher kindlicher Friede, eine ſolche Luſt ins Herz gekommen, daß es mir laͤcherlich vorkoͤmmt, wie ich ſo entſetzlich uͤber den Stein Jakobs habe ſtudieren koͤn¬ nen, o jetzt habe ich keinen Wunſch mehr, als daß ich noch, wie einſt auf meinen Kinderſtuͤhlchen neben St. Eduards Stuhl ſitzen und meine Puppe darauf ſtellen koͤnnte. “— Dieſe Rede gefiel der ganzen graͤflichen Familie ſo wohl, daß Gockel ihr Kinderſtuͤhlchen auf den Tiſch und die Puppe da¬ raufſtellte, worauf er ihr den eignen Orden der Kinderei, Kronovus den Orden des goldnen Oſtereis mit zwei Dottern, und Gackeleia den Orden der freudig frommen Kinder um¬ haͤngten, ſie ruͤckten zuſammen und nahmen ſie in die Mitte und tranken Geſundheiten und Alles war voll Luſt und Herr¬ lichkeit. — Gockel aber nahm nun das große Tagebuch der Ahnfrau, das vor ihnen bei den Geſchenken Salomos und der Koͤnigin von Saba auf dem Tiſche lag und uͤberreichte es der Kounteß mit der Bitte, da ſie ſich ſo ſehr fuͤr ſchriftliche Urkunden intereſſire und eine ſo ſchoͤne Ausſprache habe, moͤge ſie mit der Vorleſung die Mahlzeit beſchließen; wahrſcheinlich werde dort zu ihrer Freude auch etwas von den Spangen der Rebecka und dem Steine Jakobs verzeich¬ net ſeyn. — Sie nahm das Buch, blaͤtterte ein wenig da¬ rin hin und her, wie ein Kind, das keine Luſt zu leſen hat,220 und ſagte: „ es ſind gar keine Bilder darin, das iſt Schade, es iſt mir auch jetzt ganz unleſerlich zu Muthe; mir iſt ſo luſtig und kindiſch, daß ich mich ordentlich zuſammennehmen muß, um mich nicht da auf den Tiſch hinauf auf mein Kin¬ derſtuͤhlchen zu ſetzen und mit den Fuͤßen zu pampeln. So laͤcherlich, ja unmoͤglich dieſes bei meiner allzu großmaͤchtigen Figur nun ſcheint, muß ich dennoch leiblich dagegen kaͤmpfen; denn mein Seelchen ſitzt wirklich ſchon darauf und laͤßt jeder¬ mann ſeine ſchoͤnen, neuen, rothen Schuhe bewundern. Nein, jetzt leſe ich nicht — ich habe eine große Angſt, wieder in die Unterſuchungen altteſtamentariſcher Antiquitaͤten zu fallen, mir iſt, als verſtuͤnde ich jetzt erſt den Stein Jakobs recht, mir iſt, als ſtiege ich mit den Engeln auf der Himmelslei¬ ter, die er auf dieſem Steine ſchlafend im Traume geſehen, auf und nieder, und wir ſpielten zuſammen und einer von ihnen hat mir geſagt: „ ſey ein frommes Kind, laufe nicht in alle Gaſſen hinein, halte dich huͤbſch feſt an der Schuͤrze der Mutter und trau den falſchen Ammen nicht — die treuen Kinder wird die Mutter gewiß zum lieben Vater bringen, und da giebt es Kuchen und Herz, was verlangſt du? “— ſeht, ſo iſt mir — ich will mir keine neuen Skrupel in den Kopf ſetzen; aber ich will Euch hernach doch aus dem Buche leſen — jetzt nun haͤtte ich vor mein Leben gern, daß die liebe Gackeleia mir und uns Allen das wuͤnſche, was ihr das Liebſte und uns Allen das Nuͤtzlichſte und Gott das Wohl¬ gefaͤlligſte, am Ende aber ein wenig plaiſirlich fuͤr jedermann waͤre. — Wuͤnſche, Gackeleia, wuͤnſche, bitte, bitte, bitte! “— Die große majeſtaͤtiſche Schottlaͤnderin ſagte dies ſo von gan¬ zen Herzen, ſo ganz wie ein unſchuldiges Kind, das erſt der Flamme des Lichtes mit den Haͤndchen winkt, und weil ſie nicht gleich naht, unbeſorgt hinein greift, ja ſo ganz von Herzen, daß ſie in ihrer jetzigen Aeußerung einem ſchoͤnen, ſchimmernden Schmetterling glich, der ſich aus der finſteren Huͤlle einer Puppe, wie aus einem Kerker hervorwindet, die221 Fluͤgel traͤumend entfaltet, und ruͤhrt und ruft: o Blumen her, Roſen, Lilien, mich zu ſchauckeln! — o es war ruͤh¬ rend, leicht haͤtte er das Licht ſelbſt fuͤr eine in der Nacht leuchtende Lilie halten und den Tod darin finden koͤnnen. — Gackeleia fuͤhlte das Alles ſo tief, daß ſie die gute Samſo¬ nia Molle Gothol ans Herz druͤckte, mit den Worten: „ ge¬ wiß, gewiß, du biſt die erſte liebſte Ordensgeſpielin des ar¬ men Kindes von Hennegau! “— Da blickte Gackeleia den Kronovus und Vater und Mutter und alle Gaͤſte gar lieblich, ſchlau und kindlich laͤchelnd der Reihe nach an und hob den Ring an dem Finger mit der Frage empor: „ wollt ihr von Herzen mit Allem zufrieden ſeyn, was ich wuͤnſche? “und alle riefen einſtimmig: „ ja, ja, von Herzen zufrieden, wuͤnſche Gackeleia, wuͤnſche! “
Nun umarmte Gackeleia Vater und Mutter und den Kronovus und druͤckte die ſchoͤne Kunſtfigur ans Herz und reichte allen Gaͤſten der Reihe nach die Hand — dann ſchaute ſie rings um uͤber das froͤhliche Volk, uͤber Schloß, Hof und Garten, uͤber die ganze freudige Umgegend und ſprach: „ o wie iſt Alles ſo einig und freudig umher! nur Eines bleibt zu wuͤnſchen uͤbrig — ich wuͤnſche es, “da drehte ſie den Ring Salomonis am Finger und ſprach:
Waͤhrend Gackeleia dieſe Worte theils mit tiefer Ruͤh¬ rung, ſo daß ihr die Thraͤnen in die Augen traten, theils laͤchelnd mit gutmuͤthigem Muthwill ausſprach, drehte ſie den Ring immer ſchneller, denn ſie ward immer ungeduldi¬ ger, wieder ein Kind zu ſeyn. Kronovus haͤngte ſich an ih¬ ren Arm, er war ordentlich bang, ſie wuͤrde ganz klein wer¬ den und ihm endlich gar verſchwinden; weil ſich aber in ſei¬ ner Seele alles zugleich mit ihr veraͤnderte, merkte er keinen Unterſchied. — Das verſchiedene Betragen aller Gaͤſte war luſtig anzuſehen, einigen ſehr ſoliden Standesperſonen aus Gelnhauſen war gleich anfangs ſchon nicht recht wohl bei dem Handel zu Muthe, ſie waren froh, die Kinderſchuhe ausgetreten zu haben, ſie fuͤrchteten, ſie muͤßten wieder in die Schule und beſonders in die Kinderlehre gehen und wuͤr¬ den ſehr beſchaͤmt werden, weil ſie den Katechismus ganz vergeſſen hatten. — Einige Damen dachten auch, man koͤnne ſich das Verjuͤngen bis auf einen gewiſſen Grad wohl gefallen laſſen, dann aber wollten ſie ſich unter irgend einem Vorwand zuruͤckziehen; ſo kam es dann, daß vielen gleich anfangs uͤbel ward, daß ſie Naſenbluten bekamen, heftig zu huſten anfiengen und ſich aus dem Staube machten. Andere, welche tuͤchtig gegeſſen und getrunken hatten, begannen zu gaͤhnen und ſchliefen ein oder fiengen an zu taͤndeln und zu ſpielen und ganz kindiſch vertraut allerlei Neckereien mit ih¬ ren Nachbarn zu treiben. — Es kam viele Natur, viele Art und Unart, aber auch gar viel verſtecktes Liebes an den Leu¬ ten zu Tag. — Da nun Gackeleia mit ihrem Wunſche fer¬ tig war, zog ſie den Ring ab und legte ihn auf den Teller, um ihn fuͤr immer dem Kronovus zu uͤberreichen, aber Alek¬ tryo, der neben ihr auf der Schulter Gockels ſaß, zuckte mit dem Schnabel hervor nach dem Ringe und verſchluckte ihn wieder, in demſelben Augenblicke gieng der Wunſch Ga¬ ckeleias ploͤtzlich in ſeine ganze Erfuͤllung. — Die großmaͤch¬ tige Schottlaͤnderin hatte noch gerade ſo viel Zeit, das große
225 Tagebuch der Ahnfrau unter den Arm zu klemmen und ihr Kinderſtuͤhlchen zu erwiſchen, denn ſonſt haͤtte ſie mit den andern Kindern auf der Erde ſitzen muͤßen. — Mehr als drei dutzend Perſonen waren gerade noch uͤbrig, und dieſe waren auch richtig in eben ſo viele geſunde vergnuͤgte Kinder ver¬ wandelt, die auf einem ſchoͤnen, blumigen Grasplaͤtzchen am Rande eines Kornfeldes um den Hahn Alektryo herum¬ ſaßen, der ihnen die Geſchichte erzaͤhlte. die ein altes Maͤhr¬ chen war, welches er in ſeiner Kindheit von einem italieni¬ ſchen Schockolademacher gehoͤrt, und um das ſie ihn ſchon lange gequaͤlt hatten. Als er nun eben fertig war, kam das Beſte zuletzt, nicht die Puppe, ſondern nur die allerſchoͤnſte Kunſtfigur war in eine wohl aprobirte Gouvernante verwan¬ delt und trippelte mit einem Praͤſentirteller, worauf ein gro¬ ßer, ſchon getheilter Kuchen lag, mitten unter die Kinder und ließ ſich auf ein Knie nieder und ſetzte den Kuchen auf den Raſen zwiſchen die Kinder. Da war der Jubel allgemein, die Kinder draͤngten ſich um ſie, umarmten ſie, ſchmeichelten ihr, ſetzten ihr Kraͤnze auf, machten Muſik, ſchrien Vivat, und jedes that nach ſeiner Art, geſellt oder einſam; es waren auch Kinder da, die ſchliefen, die gaͤhnten, die auf¬ wachten, die ſich neckten, verſteckten, liebkoſten, Kraͤnzchen aufſetzten. — Sie hatten ihre Laͤmmchen, Huͤndchen, Voͤgel¬ chen u. ſ. w. bei ſich. — Unter allen dieſen luſtigen Kindern ſaß Eines ein wenig abgeſondert, etwas ernſthafter auf einem Kinderſtuͤhlchen, es hatte ein großes Buch unter dem Arm, ein Schmetterling lebte und ſtarb ihm auf dem Haͤndchen. Es ſchien ein Bißchen tiefſinnig, wie traͤumend, als ſey es ein¬ mal eine ſehr große breite Figur geweſen und koͤnnte ſich noch nicht in Alles recht finden. Ein Knabe auf dem Stecken¬ pferd wollte es vorwaͤrts reißen, wodurch es ſich noch mehr zu¬ ſammennahm. Es ſah auf den Kuchen hin, auf welchem ſeine Voraͤltern, als Hollundermaͤnnchen um eine Puppe herumpur¬ zelten. — Es laͤchelte kaum, denn es hoͤrte in der Ferne die15226ernſten Pſalmen des Schnitters, es hoͤrte das Wogen der Aehren Welle auf Welle, und wenn es gleich freudig mit den andern Kindern auf der Schwelle des Erndtefeſtes ſaß, ſo ſpielte es doch nicht mit den blauen und rothen Blumen, die vom Thau des letzten Tages ſchimmerten, ſondern es ge¬ dachte dieſes Tages und ſah die Boten der Erndte, zwei Engel aus dem Weizen hervortreten; der eine fuͤhrte ein ar¬ mes verwaiſtes Kind, das lange keine Freude gehabt, hin auf die Schwelle, wo die freudig frommen Kinder ſpielten, und zu dem Kuchen, der da ausgetheilt ward. — Da ſagte das nachdenkliche Maͤdchen auf dem Kinderſtuͤhlchen vor ſich: „ ach und das Leben iſt doch ſo ernſt! “— Gleich darauf ſah es den zweiten Engel, ſich aus dem Korn hervorbeugend, mit einem andern Kinde in das Neſt der Gallina ſchauen, welche dort bruͤtete; da ſprach das ernſte Kind:
Daruͤber dachte es nun wieder nach, als der Knabe auf dem Steckenpferd voruͤber reitend es an der Schuͤrze zupfte.
Als nun Alles ſo voll Freude und Jubel uͤber die wohl¬ aprobirte Gouvernante und ihren Kuchen war, ſagte dieſe, dem Ungeſtuͤmm der Kinder wehrend: „ bitte, bitte, artig ſeyn, jetzt will ich austheilen. “ Da patſchten Alle ſo freu¬ dig in die Haͤnde, und ich vor allen ſo unmaͤßig, daß mir die Haͤnde noch brennen, denn ich war auch dabei, ſonſt haͤtte ich die ganze Geſchichte ja nie erfahren und haͤtte keinen Kuchen erhalten von der Puppe — nein der nur allerſchoͤnſten Kunſtfigur u. ſ. w.
227Die wohlaprobirte Gouvernante hatte die verkindete Hochzeitsgeſell¬ ſchaft von Gockelsruh nach der Eierburg bei Gelnhauſen gefuͤhrt und dort aus ihnen eine Kleinkinderbewahranſtalt gebildet. Da ſich aber weder der Staat, noch die einzeln Familien in die Unmuͤndigkeit der Landes - und Hausvaͤter finden konnten, ſuchten ſie Huͤlfe bei dem Pupillen - oder unmuͤndigen Kinder-Collegium, welches erklaͤrte, es ſey zwar zur Bevormundung bereit, aber die kleinen Leute zu ver¬ groͤßern gehoͤre in die Kunſt der Lebensverlaͤngerung und alſo ins Medizinalfach. Man wendete ſich daher an den Stadtphyſikus, der aber entſchied dahin, dieſer Handel gehe uͤber ſeinen Horizont, er gehoͤre ins Nachtgebiet der Natur, und beweiſe das Hereinragen einer Geiſterwelt in die unſre. — Weil nun die Rolle einer Koͤnigin der Nacht damals vor der Erfindung der Zauberfloͤte in Gelnhauſen un¬ moͤglich beſetzt ſeyn konnte, wußte man keine Autoritaͤt fuͤr das Nacht¬ reich und nahm ſeine Zuflucht zu der hochloͤblichen Nachtwaͤchterzunft in der Vorausſetzung, von Nachtgebiets - und Geiſterragerei-Sachen muͤßten ſie wohl Beſcheid wiſſen. Sie erklaͤrten aber, in ihr Nacht¬ gebiet gehoͤrten allein die Diebe, die betrunkenen Schwaͤrmer, die Nachtmuſikanten, die Nachtwandler, die Muhkaͤlber, die Wehrwoͤlfe, die dreibeinigen Haſen, und dergleichen kurze Waaren; dieſer Handel aber ſey am hellen Tage geſchehen und daher von ihnen nach Recht und Gerechtigkeit verſchlafen worden. — In dieſer Verlegenheit wen¬ dete man ſich, da die Schaͤfer von je im Rufe vieler geheimen Kuͤnſte ſtehen, an die koͤniglich Gelnhauſenſche, veredelte, ſpaniſche Hammel¬ knechtſchaft. Der Praͤſident dieſes Collegiums, geheimer Oberhof - Haushammel Laͤlaps, ein ſehr gelehrter Mann und beſonderer Freund des verkindeten Herrn Oberhof-Oſterhaas bat ſich Bedenkzeit bis nach der Schafſchur aus. Als er nun ſein Schaͤfchen geſchoren und234 ins Trockene gebracht hatte, erklaͤrte er, er habe zwar unter dem beruͤhmten Johannes Praͤtorius in Leipzig die Rocken-Philoſophie[ſtudiert], er beſitze deſſen Werke, Gluͤckstopf, Wuͤnſchelruthe, Blocks¬ berg, wunderbare Menſchen, Ruͤbezahl, Weihnachtsfratzen, Schwalben und Storchs Winterquartier, Sieblaufen, Alektryomantie oder Hah¬ nenzauber u. ſ. w.; aber in allen dieſen ſey kein Mittel gegen dieſe unerhoͤrte Curioſitaͤt zu finden; da ihm jedoch von allen Wundern des Herrn Magiſters Praͤtorius immer als das groͤßte erſchienen, daß derſelbe zum kaiſerlich gekroͤnten Poeten habe gemacht werden koͤnnen und zwar durch einen Hof - und Pfalzgrafen, ſo mache er darauf auf¬ merkſam, daß ſeit der Erbauung der Pfalz Barbaroſſas hier in Geln¬ hauſen immer ein Pfalzgraf ſeinen Sitz habe,[und] alſo bei dem der weiligen Herrn Pfalzgrafen Hanns Diemringer von Staufenberg Huͤlfe zu ſuchen ſey. Da dieſer nach ſeinem Amte nicht nur Dokto¬ ren, Lizentiaten, Baccalaureen, Edelleute und gekroͤnte Poeten, ſon¬ dern auch Illegitime legitim, Unehrliche ehrlich, Unmuͤndige muͤndig machen, ja ſogar mit rothem Wachs ſiegeln koͤnne, ſo zweifle er nicht, der liebe Menſchenfreund werde die edle Stadt ſeiner Pfalzkraft genießen laſſen und ihre verkindeten Tagsgebieter aus dem Nachtgebiete der Natur heraus, volljaͤhrig an das Tagslicht bringend, ihr Maͤhr¬ chen zur Sage, und ihre Sage zur Geſchichte ſowohl um ein billi¬ ges Honorar erheben, als auch dieſes Alles mit rothem Wachſe be¬ ſiegeln. — Ganz Gelnhauſen jubelte uͤber dieſen Vorſchlag, man hielt eine Gemeindeverſammlung, worin alle Leidtragende den erſten Platz hatten. — Jedoch die Deputation, welche in Barbaroſſas Pallaſt ge¬ ſendet worden war, den Herrn Pfalzgrafen in den Rath[einzuladen], kam ohne ihn mit deſſen Haushaͤlterin zuruͤck, welche eidlich zu Pro¬ tokoll gab, der Herr Pfalzgraf bedaure ſehr, nicht vor dem Rath er¬ ſcheinen zu koͤnnen, indem er vor einigen Tagen in wichtigen Ge¬ ſchaͤften vereiſt ſey; die Akademie der old druidical superstitions in London ſey entſchloſſen, der eingeriſſenen ſeichten[Aufklaͤrung] kraͤftig entgegen zu treten, und die in der letzten Zeit ins Reich der Fabel verwieſenen Erd, Waſſer, Luft und Feuer - Wundergeſchoͤpfe, die Zwerge, Gnomen, Kobolde, Faunen, Satyrn, Nymphen, Dryaden, Hamadryaden, Sirenen, Meluſinen, Undinen, Sylphiden, Elfen, Salamandrinen u. ſ. w., wie uͤberhaupt Alles, was keine Menſchen¬ ſatzung, salvo errore et ommissione, als wirklich beſtehend wieder anzuerkennen und ferner nur mit uͤberlieferter Proteſtation gegen das235 zu proteſtiren, was durch lange Ueberlieferung bereits anerkannt und alſo anerkannt nicht anzuerkennen ſey. — Zur Begruͤndung dieſer Aberglaubens-Anwandlung habe nun die Akademie dem Herrn Pfalz¬ grafen fuͤr jedes Stuͤck dieſer ſo ſchaͤndlich unterdruͤckten Wunderge¬ ſchoͤpfe, das er unter der Bank hervorziehe und durch ein mit rothem Wachs verſiegeltes Dokument legitimire, vier Pfund Sterling durch das Handlungshaus Gebruͤder Vatermoͤrder anweiſen laſſen. Der Herr Pfalzgraf habe hierauf ſogleich eine Rundreiſe zu dieſem Ge¬ ſchaͤft angetreten und ſey zuerſt auf das Schloß Staufenberg bei Of¬ fenburg in der Ortenau gezogen, um die dortige Meerfey oder Me¬ luſine, welche mit ſeinem Ahnherrn Peter Diemringer von Staufen¬ berg in Verbindung geſtanden, zu legitimiren, und ihr wirkliches Her¬ einragen aus der Geiſterwelt in die Leiberwelt auf dem Zwoͤlfflein zwiſchen Staufenberg, Nußbach und Weilershofen mit ſeinem rothen Pfalzgrafenwachs zu beſiegeln; indem dieſe Meerfey das vollkom¬ menſte Exemplar ſey, welches je ein Exempel des Hereinragens ſta¬ tuirt habe, was bei ſeines Anherrn Hochzeit mit einer Muhme des Kaiſers aus Kaͤrnthen offenkundig geworden ſey, da das elfenbeinerne Geiſterbein der Meerfey bis ans Knie uͤber dem leiblichen Hochzeits¬ mahl in Gegenwart aller Gaͤſte durch eine Oeffnung der Stubendecke hereingeragt habe, welche den Fremden noch vorgezeigt werde. Dort alſo ſey der Herr Pfalzgraf Diemringer zu finden und alle frankirten Briefe an ihn nach Offenburg poste restante adreſſirt empfange er richtig. — Nach dieſer eidlichen Ausſage der Haushaͤlterin erklaͤrte der Praͤſident im Namen der Gemeinde, es ſtehe dem Volke nicht zu, ſeine ins Nachtgebiet der Natur gerathenen Landesgebieter aus demſelben ohne allerhoͤchſte Einwilligung zu verweiſen und muͤſſe Erlaubniß hiezu vorerſt allerunterthaͤnigſt nachgeſucht werden, allen andern Betheiligten aber ſey es freigeſtellt, bei dem Herrn Pfalzgra¬ fen Huͤlfe zu ſuchen. — Nach dieſer Erklaͤrung erhob ſich die Frau Oberoſterhaͤſin und ſprach: „ Hochherzige Gelnhauſerinnen, mein ehe¬ maliger Ehegemahl, das nunmahlige Oberhofoſterhaͤschen hatte auf die merianiſche Bilderchronik ſubſkribirt, die ſo eben in Frankfurt her¬ ausgekommen; geſtern erhielt er ſein Exemplar und ich habe es mit ihm in ſeiner nunmehrigen Kindlichkeit durchbildern muͤſſen, wei¬ ter aber als bis zu Seite 75 des dritten Theils ſind wir nicht ge¬ kommen; denn von dem Bilde der Weiber von Weinsberg, welche ihre Eheherrn auf dem Ruͤcken aus dem von Kaiſer Konrad III. belager¬236 ten Weinsberg frei heraustragen, wollte er ſich nie trennen; immer buchſtabirte er wieder die Unterſchrift: „ Exempel ehelicher Lieb und Treu deutſcher Frauen gegen ihre Maͤnner “und ſah mich dabei gar freundlich an, ja ich mußte ihn laͤnger, als mir lieb war, auf dem Ruͤcken herumtragen, habe aber dennoch waͤhrend dem das Geluͤbde gethan, wuͤßte ich, daß der Kaiſer meinem Mann durch mich ſo aus dem Nachtgebiet der Natur koͤnnte heraushelfen laſſen, wie er jenen Weibern zugeſtanden, ihren Maͤnnern aus Weinsberg zu helfen, ſo wollte ich meinen Eheherrn bis nach Wien auf dem Ruͤcken tragen. — Jetzt aber habe ich dieſe Huͤlfe im Herrn Pfalzgrafen Diemringer viel naͤher und es waͤre eine Schande, wenn ich wartete, bis er erſt das Hereinragen aller Wald und Waſſergeiſter in die Natur urkundlich dokumentirt hat und hierher zuruͤckgekehrt iſt. Nein das Emporra¬ gen iſt meinem Herrn viel noͤthiger, er hat ſchon bitterlich geweint, daß er die Wanduhr und den Bratenwender nicht aufziehen, den Vogelkaͤfig nicht herablaſſen, den Barometer nicht nachſehen, die Lichter auf dem Kronleuchter nicht ausblaſen koͤnne und alle Augen¬ blicke muß ich ihn in die Hoͤhe heben. — So will ich dann den Weinsbergerinnen nicht nachſtehen; Morgen trage ich meinen lieben Herrn und Gebieter auf dem Ruͤcken nach Staufenberg, um ihn durch den Herrn Pfalzgrafen aus dem Nachtgebiet heraus bringen zu laſ¬ ſen. — Indem ich nun alle meine anweſenden Freundinnen auffordere, in meine Fußſtapfen zu treten, frage ich ſchließlich: „ ſollten die Geln¬ hauſer Bubenſchenkel, deren Urſprung niemand kennt, und die wir ſo oft in ſchwerer Ladung auf dem Ruͤcken in der Gegend umher zu Markte tragen muͤſſen, nicht ein prophetiſches Backwerk ſeyn, welches Morgen in Erfuͤllung geht, wenn wir unſre verkindeten Angehoͤrigen nach Staufenberg tragen? “— Allgemeiner Beifall kroͤnte den Ent¬ ſchluß und Vorſchlag der hochherzigen Frau. — Am folgenden Mor¬ gen ſah man ſie und einige zwanzig andere Gelnhauſer Frauen und Maͤnner mit ihren Verkindeten Ehehaͤlften auf dem Ruͤcken oder Arm gen Staufenberg in die Ortenau zu Herrn Pfalzgraf Diemringer wallfahrten; dem Erfolg wird mit geſpannter Erwartung entgegen¬ geſehen.
Die Schottlaͤndiſche breite Counteſſe, welche am Schluſſe obiger Wunderbegebenheit als Kind von St. Eduards Stuhl mit den Engeln emporgeſtiegen, ſoll nach den neueſten Beobachtungen des jungen Herſchels auf dem Vorgebirg der guten Hoffnung wirklich im Monde237 geſehen worden ſeyn und dort unter den Fledermausmenſchen großes Aufſehen durch ihre Studien uͤber den Stein Jakobs gemacht haben. Wir ſehen dem Erfolg entgegen.
Der Verfaſſer, welcher bei dem Hochzeitsſchmaus auch der Kind¬ heit anheimgefallen und in der Nacht auf dem Kinderſtuͤhlchen mit dem Tagebuch der Ahnfrau allein ſitzen geblieben iſt, ſchlief endlich ein und als er Morgens erwachte, fand er ſich des Tagebuchs be¬ raubt. Was ſollte er thun? Er mußte im Nachtgebiete der Natur ſitzen bleiben. Er hatte Niemanden auf der weiten Welt, der ihn zum Hern Pfalzgrafen Diemringer nach Staufenberg haͤtte tragen moͤgen oder koͤnnen. — Da er ſich nun erinnerte, kurz vor ſeiner Verkindung von ſeinem literariſchen Vormund Urkundius Regeſtus vernommen zu haben, daß derſelbe alle Augenblicke eine verlorne alte Chronik wieder auffinde, ſo bat er dieſen um Ausſpannung aller Entdeckungsſegel nach dem verlornen Tagebuch. — Urkundius war, um ſich zu beſinnen, kaum uͤber drei Regiſtraturen und nicht[ganz] uͤber fuͤnf Buͤchergeſtelle geſprungen, als ihm einfiel, daß, wie ſonſt, Entdeckungsreiſen aus Portugal, jetzt ſolche nach Portugal ausgeruͤ¬ ſtet wuͤrden und zwar um des Sanchuniatons verlorne Buͤcher ſeiner phoͤniziſchen Geſchichte zu entdecken, und ſo entſchloß er ſich, der Ex¬ pedition das verlorne Tagebuch zur Nebenentdeckung zu empfehlen, was er fuͤr ganz angemeſſen hielt, da er von dem Verfaſſer gehoͤrt, daß Etwas von der Geſchichte des Steins Jakobs darin ſtehe, der bekanntlich von Phoͤnizien nach Brigantium in Galizien in den Be¬ ſitz der ſchottiſchen Koͤnige gekommen. Seine Abſicht wurde mit Er¬ folg gekroͤnt; denn kaum hatte der Verfaſſer auf dem Kinderſtuͤhlchen das vorhergehende Maͤhrchen ausgeſchrieben, ſo ward er auch durch die portugiſiſchen Correſpondenten Regeſti Urkundii in den Stand ge¬ ſetzt, aus dem wiederentdeckten Tagebuch der Ahnfrau folgenden Aus¬ zug, der ſich auf Gockel, Hinkel und Gackeleia bezieht, einſtweilen mitzutheilen.
238(Vom Charfreitag bis Sonnenwende 1317).
Der fromme und gelehrte Jakob von Guiſe ermahnte in dieſer heiligen Faſtenzeit die Frauen und Jungfrauen des Landes Hennegau gar eindringlich, ſie moͤchten, ſtatt ihre Zeit mit Leſung tiefſinniger Buͤcher zu verlieren, doch den elenden Stand der verlaſſenen armen Kinder, von denen alle Straßen wimmelten, zu Herzen ziehen, und ſich Gott durch Barmherzigkeit an dieſen gefaͤllig machen. Seine Worte ruͤhrten mein Herz, jede Noth, jede Unart eines Kindes, die mir bekannt ward, fuͤhlte ich wie eine Beſchuldigung. Ich dachte nach, wie ich, als die Erſte des Landes, mit einem Beiſpiele vorgehen ſollte. — Ich ſprach daruͤber mit acht meiner adeligen Geſpielinnen, und forderte ſie zum Gebet auf, daß Gott mir die rechten Wege dazu zeige.
Charfreitag. Jakob von Guiſe, mit dem ich von meinen guten Wuͤnſchen fuͤr die armen Kinder geſprochen hatte, hielt uns heute noch eine Ermahnung, nie der Armen, welche Gott mit vielen Kindern geſegnet, zu ſpotten. — Er gab uns dieſe Warnung, weil Gott heute vor 42 Jahren ſolchen Spott an Margaretha, Graͤfin von Holland ſtrafte, in¬ dem er ihr eine große Zahl kleiner Kinder beſcheerte, welche, vom Biſchof Guido in zwei Becken, die Knaben Johannes, die Maͤgdlein Eliſabeth getauft, nebſt der Mutter ſchnell geſtorben und in der Kirche zu Leusden begraben ſind. —239 Er erzaͤhlte auch von der großen Gefahr der aufſichtsloſen Kinder ein erſchreckliches Beiſpiel. — Im Jahre 1284 kam gen Hammeln ein Rattenfaͤnger, der hieß Bundting, ſeines buntgefleckten Gewandes wegen, der ward mit dem Rathe einig, um ein gewiſſes Geld alle Ratten und Maͤuſe der Stadt mit ſeiner Pfeife hinaus in die Weſer zu locken. Er hielt auch ſein Wort, den Rath aber gereute der Lohn, und hielt er ſein Wort nicht. Darob erbitterte der Bundting und als am 26. Juni Morgens 7 Uhr Alles in der Kirche war und die Kinder auf der Straße ſpielten, kam er wieder als ein Jaͤger mit ſchrecklichem Angeſicht und einem rothen wunderlichen Hut und pfiff durch die Straßen, da zogen ihm viele Knaben und Maͤgdlein vom vierten Jahr an und darunter des Buͤrgermeiſters ſchon erwachſenes Toͤchterlein nach und er fuͤhrte ſie hinaus in einen Berg und verſchwand mit 130 Kindern in demſelben. Ein ſtummes Kind hatte ſich ver¬ ſpaͤtet, denn es fuͤhrte ein blindes Kind dem Zuge nach, das ſtumme zeigte den Ort, wo ſie alle verſchwunden, das blinde ſprach von dem wunderlichen Ton der Pfeife, dem ſie alle gefolgt. Ein Knaͤblein, das im Hemd mitgelaufen, kehrte um, ſeinen Rock zu holen, und da es mit dieſem den Andern nachlief, waren alle ſchon verſchwunden; ſo ward es gerettet und konnte von Allem den Eltern berichten. Dieſe waren in großem Leid, ſuchten und forſchten aller Orten, ſendeten Boten zu Waſſer und zu Land nach den Kindern, aber ver¬ geblich; und ſind ihrer auch mehrmalen bei uns im Lande Hennegau geweſen. Die Trauer der ungluͤckſeligen Leute iſt noch alſo groß um ihre Kinder, daß in der Straße ihres Auszugs weder Trommelſchall noch Saitenſpiel, noch Tanz, auch ſelbſt bei Brautzuͤgen ſeyn darf. — Der liebe Herr Jakob von Guiſe legte dieſe wahre Geſchichte aus gleich einer Parabel auf die Gefahren der verlaſſenen Kinder, und fuͤgte noch eine Betrachtung hinzu uͤber die Worte des Herrn: „ Wie oft habe ich deine Kinder verſammeln wollen, wie eine240 Henne ihre Kuͤchlein unter ihre Fluͤgel verſammelt u. ſ. w. “dann ſagte er: „ wen ſollte das tiefer treffen, als uns, die wir hier im Lande Hennegau leben; aber wie ſteht es mit den Kuͤchlein, o gaͤb 'ihnen Gott eine Henne, die ſie unter ihre Fluͤgel verſammelt. — O gnaͤdige Graͤfin Amey gedenket der armen Kinder! “— Da ſagte ich: „ Habt Dank hochwuͤrdiger Herr! ja ſo Gott Segen giebt, will ich ihnen eine Henne werden und meine hier anweſenden Geſpielinnen werden mir helfen; “da erhoben dieſe ſich ſaͤmmtlich und ſprachen: „ ja mit Gottes Gnade, das ſoll wahr ſeyn! “ Da ſegnete Jakob von Guiſe neun Schaupfennige und gab ſie uns am Roſen¬ kranz zu tragen. Es iſt aber auf der einen Seite eine Gluckhenne abgebildet, welche ihre Kuͤchlein mit den Fluͤgeln decket und auf der andern Seite ſtehen die Worte: Naͤhre und ſchirme. Dieſe Pfennige hatte der gute Mann uns zur Mahnung praͤgen laſſen, denn er hatte im Gebet erkannt, mein Herz ſey kein ſteiniger Acker, wenn gleich hie und da eine Heerſtraße; darum wollte er es einzaͤunen. Gott ſegne ſeinen Willen an mir! — Ich entſchloß mich nun feſt, gleich nach Oſtern eine Ordnung mit meinen Geſpielen zum Beſten der armen Kinder zu treffen.
Charſamſtag. Heute ſprach ich nochmals mit Jakob von Guiſe uͤber mein Vorhaben und er ermahnte mich, daß doch Alles, was ich hiezu verordne, einfaͤltig, demuͤthig, fromm und freudig ſeyn moͤge; ich ſolle mich mit meinen Andachten und Leſungen an das halten, was die Kirche das Jahr hindurch feiere, und alles Beſondere ablegen, dieſes ſey das geiſtliche Brod, das ich den armen Kindern taͤglich gehoͤrig zertheilet ſpenden ſolle, außerdem ſolle ich ihnen auch mit dem leiblichen Brod treue Vorſorge thun. Er machte mir hiebei eine gar ruͤhrende Auslegung des Vaterunſers, welche die ganze Regel des weltlichen Ordens enthaͤlt, den ich ſtiften will unter dem Namen der freudigen, frommen Kinder. Deſſen Aufgabe aber ſoll ſeyn, daß die Kinder von241 Hennegau freudig und fromm werden; dazu aber gehoͤret alle Chriſtentugend, zu der helfe mir Gott und lege mir eine treue, freigebige, fleißige Hand auf das Herz und ein auf¬ richtig wahres Herz auf die Hand und auf die Zunge! — Heut brachte mir auch Meiſter Andreas der Goldſchmied die Ordenszeichen, die ich bei ihm beſtellt, und war auf der einen Seite ein Windelkindlein, auf der andern ein Lerchlein, das ſingend zum Himmel fliegt, abgebildet. Ich befeſtigte ſie an amarantfarbige Baͤnder und zeigte ſie meinen Geſpielen noch nicht. Wir giengen heut alle zur Kirche und verſprachen einander, morgen bei dem Feſte Gott unſer Vorhaben de¬ muͤthig aufzuopfern.
Heut auch beſuchte ich nach meinem jaͤhrlichen Gebrauch die gottſelige Jungfrau Verena und das fromme Huͤhnlein; und da mich Jakob von Guiſe ermahnt hat, in Allem ſo zu ſchreiben, daß es auch die Nachwelt verſtehen koͤnne, will ich hier kuͤrzlich von Verena und dem Huͤhnlein ſprechen. — Vor vielen hundert Jahren kam ein roͤmiſcher Soldat von Pilati Leibwache hier in die Lande; er hieß Salmo und war nach dem erſten Pfingſtfeſt in Jeruſalem getauft durch Petrus. Er hatte ſich zum ewigen Andenken ein Huͤhnlein aus Jeru¬ ſalem mitgebracht, das von dem Hahn abſtammte, der bei Petri Verlaͤugnung gekraͤht. Es war aber hier noch Alles wilder Wald und hie und da ein Edelhof mit Feldern und einigen Bauern umher. Auf einem ſolchen Hofe ſaßen dann Kriegsleute, die ſich haͤuslich niedergelaſſen, die lebten von der Jagd, und machten ſich ſo viel Landes unterthan, als ſie umreiten wollten. Belgius, ein ſolcher Kriegsmann hatte ſein Haus hier, wo jetzt mein Schloß ſteht, und da er in den Wald ritt zu jagen, ſah er eine ſchoͤne weiße Henne, deren Art er hier zu Land nie geſehen, im Walde laufen. Da folgte er dem Huͤhnlein tief in den Wald bis in eine Hoͤhle, darin ein Mann gar elendiglich lag. Das war aber Salmo, der roͤmiſche Soldat, der war im Walde verirrt16242und ſchier Hungers geſtorben, und war ſein frommes Huͤhnlein fortgelaufen, ihm Huͤlfe zu ſuchen. Da labte Belgius den Salmo und nahm ihn ſammt dem Huͤhnlein auf ſein Roß und fuͤhrt ihn in ſein Haus, und er und ſein Weib pflegten ihn, bis er geſund war. Salmo aber erzaͤhlte ihnen, was er in Jeruſalem erlebet, und vom Tod, Auferſtehung und Himmelfahrt des Herrn, und von St. Petrus, der ihn ge¬ taufet und auch von dem Huͤhnlein, darob ſie groß Wunder hatten. Waͤhrend dem aber legte das Huͤhnlein ein Ei, und ſie ließen den Salmo nicht fort, bis es ausgebruͤtet war, da ſchenkte er ihnen das ausgebruͤtete junge Huͤhnlein und zog weiter. Wann er nicht wußte wohin, ließ er ſein Huͤhnlein laufen und folgte ihm. So kam er bis an einen Bach in einer luſtigen Gegend, und da ſein Huͤhnlein ſehr durſtet und hungert, kam ein Hahn aus dem Walde geflogen und lockte es bis zu dem Bach, und ſie tranken daraus; da ſagte Salmo: „ das iſt der Hahnebach “und der Hahn lockte wieder und ſcharrte einen Weizenkern aus dem Boden, den fraß das Huͤhnlein und war wohlgemuth. Da aber Salmo weiter reiſen wollte, denn er war aus Savoyer Land, wollt das Huͤhnlein nicht von dannen, und ſo blieb Salmo hier, und baute ſich ein Haus an dem Hahnebach und nannte es Kern wegen dem Weizenkern. Er nahm auch ein Weib und ſind die Grafen Salm daraus worden und die Stadt Kern oder Kyrn am Hahnebach. — Das Huͤhnlein aber, das hier im Hauſe des Belgius geblieben, ward gar gut gehalten und ward Gallina genannt. Belgius aber war ein Heide und ein aberglaͤubiſcher Mann, und nahm er allerlei Wahrzeichen an der Henne in Acht; nachdem ſie fraß und froh oder traurig war, darnach handelte er. Nun war er ſchon be¬ jahrt und hatte viel Kinder und Leute und wollte ſich ein Land gruͤnden und das auf ſeinem Pferd umreiten; da ſah er, wie die Henne fraß, und da ſie gar luſtig gefreſſen, war es ihm ein gutes Zeichen, und er ſetzte ſich mit ſeiner Frau243 und ſeinen Soͤhnen und Toͤchtern zu Pferd, und ſie ritten in den wilden Wald nach dem Ort, wo er den Salmo gefunden hatte. Da ließ er das Huͤhnlein laufen, und wo es hinlief, ritten ſie nach wohl vier Tage lang und kamen ſehr durſtig an ein Bruͤnnlein, daran ſaß Lucius, ein Koͤnig von England, der war ein Chriſt worden und reiste nach Augsburg, das Chriſtenthum zu verkuͤnden und hielt hier Ruhe an dem Bruͤnnlein. Das Huͤhnlein Gallina aber lief auf ihn zu und fraß ihm das Brod aus den Haͤnden. Deß wundert ſich Belgius ſehr, da Gallina ſonſt nicht alſo kuͤhn war und ein gar bloͤd zuͤchtiges Huͤhnlein. Da gedachte Belgius, das muß ein frommer, heiliger Mann ſeyn, weil das Huͤhn¬ lein ihn ſo lieb hat. Als ſie aber miteinander ſprachen, ſagte Belgius dem Lucius Alles von dem Huͤhnlein und dem Salmo, und Lucius ſprach ſo eindringlich mit Belgius, daß er ſich mit Weib und Kind von ihm in der Quelle taufen ließ. Darnach reiste Lucius weiter gen Raͤthien, und Belgius ritt dem Huͤhnlein Gallina nach, bis ſie dahin kamen, wo ſie ausgezogen, und nahm Belgius alles das Land in Beſitz und nannte es das Hennegau, weil die Henne es umlaufen hatte. — Von dieſer Henne Gallina nun iſt von damals immer das erſtgebohrne Huͤhnlein bei den Grafen von Henne¬ gau aufbewahret und im Schloſſe gefuͤttert worden, und nennt man es im Lande allgemein Gallina, das fromme Huͤhnlein und haͤlt es gar hoch. Es iſt ihm eine eigne Pflegerin beſtellt, wozu immer die aͤlteſte tugendlichſte Magd aus dem Frauenzimmer der Graͤfinnen genommen wird, und nennt man dieſe Pflegerin ſelbſt das fromme Huͤhnlein. Dieſes Ehrenamt verſieht heut zu Tage Jungfer Verena, eine gar gottſelige Jungfrau. Sie war oben von dem Rheine her und ſchon als Waͤrterin meiner Großmutter in Vadutz ge¬ weſen. Es beſteht aber das Huͤhnerhaus des Belgius mit ſeinem Hof und Gaͤrtchen noch, worin die erſte Gallina gelebt und geſtorben und iſt ein feines Stuͤbchen daruͤber16 *244erbaut, worin Verena wohnet, und heißt dieſe Wohnung das Gallinarium. Es iſt auch ein alt Herkommen, daß das fromme Huͤhnlein nicht mit erkauftem, ſondern nur mit er¬ betteltem Weizen zur Ehre Gottes ernaͤhrt werden darf, und ſo wandelt Jungfer Verena mit ihrem langen Korbe am Arm von Haus zu Haus und bittet um Nahrung fuͤr das fromme Huͤhnlein. Es iſt dieß aber eine muͤhſelige Arbeit, denn ſie nimmt nirgend mehr, als drei und dreißig Weizenkoͤrner zu Ehren der Lebensjahre des wahren Weizen¬ koͤrnleins. Alle dieſe Koͤrnlein zaͤhlet ſie nach unter Gebet, und da es fuͤr die Nahrung des Huͤhnleins und ſeiner vielen Nachkommen, denn es ſind ſehr viele in dem Gallinarium, doch immer zu vieler Weizen iſt, ſo theilet ſie die Koͤrnlein in drei gleiche Theile; den geringſten zum Futter, den beſſern, um ein Feld fuͤr die Armen damit zu beſaͤen, die allerreinſten Koͤrnlein aber laͤßt ſie mahlen und ſiebt das Mehl ſelber, und backt ſelbſten die reinſten, weißeſten Hoſtien daraus fuͤr die Pfarrkirche. Gott ſegnet ihr Thun, und ſo bringt ihr Feld immer gar reichlich, und hat ſie viel Arme erſaͤttiget in Hungerjahren. Es iſt ein Glaube in Hennegau, wer ein Huͤhnlein von dieſer Zucht, ja nur ein Federlein davon in ſeinem Stall habe, dem gedeihen die Huͤhner uͤber die Maßen. — Heute gieng ich aber zu Verena, weil ſie Oſtereier bunt faͤrbte, um ihr zu helfen. Sie wußte ſie gar ſchoͤn mit Blumen, Kreuzlein, Gotteslaͤmmlein u. dgl. zu verzieren und hatte deren eine große Menge zu bereiten fuͤr die be¬ ſonderen Wohlthaͤter des frommen Huͤhnleins. Jenes Oſterei, das ſie mir beſonders bereitete, werde ich erſt morgen zu ſehen bekommen. Alle meine Geſpielen waren geſtern und heute ſchon bei ihr zur Huͤlfe geweſen und zwar nacheinander, denn ihr Stuͤbchen neben der kleinen Kuͤche iſt gar enge und nichts darin, als links von der Thuͤre ein Kaſten mit Schieb¬ laden, ein Stuhl und das Bett, rechts ein Tiſch, ein Stuhl und ein Spinnrad und bei dem Bette noch eine Truhe und245 der Ofen. Man ſchreitet auf einer ſchmalen offnen Treppe, wie auf einer Huͤhnerleiter zu ihr hinauf und trifft dann auf die kleine arme Kuͤche, neben welcher ihre Stubenthuͤre. Das Gallinarium iſt unter ihrer Wohnung; da lebet das Huͤhnlein Gallina und ſeine große Familie und hat dasſelbe ſein Neſt, ſeine Stange, ſein Freß - und Sauftroͤglein, alles abgeſondert und von Verena beſonders gepflegt. Hier unten iſt ein kleiner Garten und Huͤhnerhof, und dem Gallinarium gegen¬ uͤber ein Behaͤlter fuͤr das Holz und in weiteren alten Ge¬ woͤlben ſind die Raͤume, wo die Waͤſche des Schloſſes beſorgt wird. Dieſer ganze Theil des Schloſſes von Hennegau iſt ſehr alt und etwas wuͤſte; man hat ihn nie erneuert aus Achtung fuͤr das Gallinarium, weil Gallina, das erſte fromme Huͤhnlein, welches das Werkzeug zur Bekehrung des Belgius und zur Benennung des ganzen Landes geweſen, hier ge¬ wohnt hatte. Ich gieng aber immer von Kind auf mit einem heiligen Grauen in das Gallinarium; es war da einſam und gar ernſthaft; an der einen Seite liegt St. Petri Muͤnſter, die erſte Kirche des Landes, die auch durch das fromme Huͤhnlein veranlaſſet worden, und um das Gallinarium her laͤuft der Kreuzgang von dem ehemaligen Kirchhof St. Peters, worin alte Todtentragen und ſchwarze Sargdecken und Flitterkraͤnze und Kreuze ſtehen. An dem Treppchen zu Verenas Stuͤbchen eilte ich immer ſchnell und ſcheu hinauf, denn die Waͤſcherinnen ſagten mancherlei Unheimliches von dem Gewoͤlbe bei dem Gallinarium, und wußte Verena Vieles davon zu erzaͤhlen, aber wollte nie recht damit heraus. Immer wußte ich nicht recht, was das heißen ſollte, daß meine Mutter oft zu ihr zu ſagen pflegte: „ Verena, was macht das Buͤblein? “worauf ſie jedesmal ernſt und bedenk¬ lich erwiederte: „ es macht ſein Sach! “— und doch war es von Kindheit auf meine Gewohnheit, wenn ich ſie ſah, dieſe Frage an ſie zu wiederholen und dieſelbe Antwort von ihr zu erhalten, ohne daß ſie je meine heimliche Neugierde, was246 und wo dieß Buͤblein ſey, und was es eigentlich thue, be¬ friedigt haͤtte. Verena war mir auch durch eine eigne Gewohnheit, die ſie wie eine ſtrenge Pflicht in meiner Jugend uͤbte, eine ſehr geheimnißvolle Perſon. Mir wurde immer empfohlen, auf der rechten Seite liegend zu ſchlafen, und oft wurde ich Nachts aufgeweckt und ſah dann Verena an meinem Bettchen, die mich von der linken auf die rechte Seite legte, und dann mit dem Finger drohend ſagte: „ das fromme Huͤhnlein ſchickt mich, es weiß Alles. “— Dann fragte ich gewoͤhnlich: „ Vrenchen, was macht das Buͤblein? “und ſie antwortete ihre ewige Antwort: „ es macht ſein Sach “und kehrte ins Gallinarium zuruͤck. Beſonders aber war mir auch der Gang zu Verena feierlich, weil ſie mich zu meiner erſten Buße vorbereitet hatte, und ich mich immer bei ſolcher Gelegenheit von ihr ermahnen ließ. Da nun das fromme Huͤhnlein vom Hahne Petri abſtammte, der bei deſſen Schuld gekraͤht hatte, ſo glaubten wir Kinder, das Huͤhn¬ chen wiſſe Alles, und wenn wir es im Voruͤbergehen gack¬ ſen hoͤrten, meinten wir, es mahne, oder beſchuldige uns, und ſo erforſchten wir unſer Gewiſſen mit groͤßerem Ernſte. Einigemahl in meiner Jugend kam Verena ſogar ploͤtzlich zu mir, waͤhrend ich in Verſuchung zu irgend einem Vergehen war, und immer ſagte ſie: „ das fromme Huͤhnlein hat mich geſendet. “ Durch Alles das iſt ſie mir ſelbſt bis jetzt in mein erwachſenes Alter eine ſehr achtbare, geheimnißvolle Perſon geblieben, und da ich heute mit meinen Geſpielen zur Kirche gehen wollte, um morgen das hohe Feſt zu halten, ſo ſchluͤpfte ich mit meiner gewoͤhnlichen Scheu der Wohnung des frommen Huͤhnleins voruͤber die kleine Treppe zu Verena hinauf. — Die fromme Seele war gar lieb und freundlich, ſie war ganz wie neubelebt und ruͤſtig in ihrem Bereiten der Oſtereier, und ich half ihr nach Kraͤften. Dann erzaͤhlte ich ihr von den Ermahnungen des Jakob von Guiſe, und wie ich ent¬ ſchloſſen ſey, am Oſtermontag mit meinen Geſpielen einen247 Orden zum Beſten der Kinder zu ſtiften. Da kuͤßte Verena mir mit Freudenthraͤnen die Haͤnde und ſagte: „ Schoͤn Dank, tauſend Dank fuͤr's fromme Huͤhnlein! “ich aber fragte mit laͤchelnder Neugierde: „ und fuͤrs Buͤblein? “— Da ſammelte ſich Verena, ward ernſthaft und ſagte wie ehe¬ dem: „ das thut ſein Sach! “— Dann ſprach ich noch mit ihr von meinem erſten Kirchengang und auch von meinem jetzigen Gewiſſenszuſtand. Sie wiederholte mir wie gewoͤhnlich alle meine Hauptfehler von Kind auf und dankte Gott mit mir, wie er mich gehuͤtet, und mir Gnade gegeben, Manches zu beſſern, und betete mit mir fuͤr die Zukunft. Ich kann nicht ſagen, wie ihr Weſen mich immer ruͤhrte; als ich von ihr gieng, ſagte ſie: „ Gnaͤdigſte Graͤfin, o meine goldene Amey, ich danke viel tauſendmahl, daß du noch immer ſo redlich zu mir koͤmmſt, dein armes Herz zu erweichen, ehe du es mit Reuethraͤnen vor Gott reinigeſt. — Ja es iſt hier bei mir nicht vergebens das Waſchhaus! — Morgen in aller Fruͤhe werden in St. Peter die Oſtereier geſegnet, und dann werde ich der gnaͤdigen Amey das goldene Oſterei unterthaͤnigſt uͤberreichen. “— Hierauf verneigte ſie ſich tief und wollte den Saum meines Rockes kuͤſſen; aber ich ſchloß ſie in die Arme und lud ſie auf den Oſtermontag in den Garten zu der Ordensſtiftung ein. Sie lehnte es ab und ſprach: „ es iſt beſſer, daß ich zuruͤckgezogen fuͤr euch bete. “ Sie gab mir dann noch mancherlei Rath in dieſer Sache und wir trennten uns mit dem gegenſeitigen Wunſche eines geſegneten Oſter¬ feſtes. Sie geleitete mich bis zur Wohnung des frommen Huͤhnchens. Mir war Angſt und bang, es moͤge ſich ruͤhren, auch vor dem Buͤblein war mir bang; aber alles war ſtill, und Verena fluͤſterte: „ Gottes Segen mit dir, goldene Amey! Gallina mahnet nicht, du wirſt nichts auf deinem Herzen behalten; “da gieng ich zur Kirche, wo meine Geſpielen mich erwarteten, und behielt nichts auf meinem Herzen; o es war mir ſo leicht, ſo leicht, daß ich auf dem Ruͤckweg ohne248 Scheu nochmals in das Gallinarium ſchlich, und vor das Huͤhnchen trat, es ſaß auf ſeiner Stange, den Kopf unter dem Fluͤgel und ruͤhrte ſich nicht. — Droben liſcht Verena das Laͤmpchen, gute Nacht Verena! — Hierauf kehrte ich in meine Stube und ſchrieb dieſes nieder; da ſchlaͤgt es Mitternacht — ich hoͤre meine Geſpielen nahen, die feier¬ liche Auferſtehungsglocke ruft. Es erleuchten ſich alle Fenſter; Jakob von Guiſe traͤgt das Kreuz aus der Kirche um den Kirchhof, alles Volk zieht mit ihm und ſingt mit lautem Jubel: „ Chriſt iſt erſtanden aus ſeinen Todesbanden! “— Wir ziehen mit.
Oſtermontag. Heute nach der Kirche las ich meinen Geſpielinnen im Garten die Regel des Ordens der freudig frommen Kinder vor, und da ſie Alles mit großer Freude angenommen, und nun auch gern Ordensnamen gehabt haͤtten, ſagte ich zu ihnen: „ Weil ich eure Oberin, die Henne von Hennegau bin, ſo ſuchet euch Pflanzen, welche ihren Namen von dem Huͤhnergeſchlecht haben; wir wollen ſie miſchen, daß jede ſich einen Namen durchs Loos ziehe. “ So thaten ſie und brachten acht verſchiedene Pflanzen ſolcher Namen; ich faßte ſie alle in meine Schuͤrze und ſie zogen ſich nach der Reihe ihre Namen. — So hießen dann die erſten Ordens¬ geſpielinnen — Ornitogalia von Huͤhnermilch — Oſterluzia von Hahnenſporn — Cretelina von Hahnenkamm — Serpo¬ leta von Huͤhnerklee — Morgellina von Huͤhnerbiß — Mos¬ catellina von Hahnenfuß — Cornelia von Hahnenpfoͤtchen — Esparſetta von Hahnenkaͤmmchen. — Sie gelobten mir alle Gehorſam und ich nahm als ihre Oberin den Namen an: „ das arme Kind von Hennegau, “worauf ich ihnen allen das Ordensband umhaͤngte. — Hierauf vertheilten wir unter uns die Gegenden der Stadt, worin eine jede ſich der Nothleiden¬ den und beſonders der Kinder annehmen ſollte. Auch er¬ waͤgten wir nach dem Kalender die altherkoͤmmlichen Volks¬249 und Kinderfeſte, welche wir in aller guten Weiſe aufrecht erhalten wollten.
Oſterdienſtag. Nach alter Landesſitte hielten wir an dieſem Tag den Wiegenzug zu den Eheleuten, auf deren Hochzeit wir geweſen waren. Wir trugen eine ſchoͤn ge¬ ſchmuͤckte Wiege, eine Raſſel und allerlei Kindergeraͤthe bei uns. Die Wiege ward in die Stube geſtellt, um ſie her geſungen und gereiht, und daruͤber geſprungen. Alle opferten etwas an Geld oder Flachs oder Linnen, oder Fruͤchten in die Wiege, und da ſie wohl angefuͤllt war, wickelten wir alle Gegenſtaͤnde in eine Puppe zuſammen und ſpendeten es ſammt der Wiege der aͤrmſten Familie.
Quaſimodo geniti. Weißer Sonntag. Heute hatten wir die erſte Ordensverſammlung. Wir theilten weiße Taufhemden und Decken aus an arme Woͤchnerinnen. Or¬ nitogalia wiederholte uns gar anmuthig, was Jakob von Guiſe uͤber die Worte geprediget: „ Wie neugeborne Kindlein ohne Trug begehret nach der Milch, daß ihr durch ſie zum Himmel aufwachſet. “— Ich ſchenkte ihr dafuͤr das Recht, eine Anzahl Kuͤhe, Schaafe und Ziegen auf meinen Wieſen weiden zu laſſen, wofuͤr ſie bei Braut - und Leichenzuͤgen meiner weiblichen Nachkommen ein Hirtenhuhn zu entrichten hat.
Mayentag. Wir Geſpielinnen zogen mit den armen Kindern hinaus in den gruͤnen Mayen, ſpeiſten ſie, ſpielten und tanzten mit ihnen im Kreis und ſangen die Weiſe:
Ich gieng mit Oſterluzia in den Wald und ſuchte Wald¬ meiſterlein und andere Kraͤuter zum Maytrank. — Sie war Abends bei mir und ſprach ſo lieblich von der Waldeinſamkeit250 und wie ſie eine Einſiedlerin werden moͤchte, daß ich ihr ein ſchoͤnes Stuͤck Wald ſchenkte, wofuͤr ſie ein Waldhuhn bei Braut - und Leichenzuͤgen zu entrichten hat.
Sonntag Miſericordias. Da man liest vom guten Hirten. Ordensverſammlung. Wir fuͤhrten die Kinder in die Kinderlehre und hielten hierauf einen Schaͤferzug. Mit Hirtenſtaͤben in der Hand, geſchmuͤckte Schaafe und Laͤmmer fuͤhrend, giengen wir zu den Armen, die viele Kinder hatten, beſchenkten die Eltern mit den Schaafen und fuͤhrten die Kinder, die wir neu kleideten, auf die Wieſe, wo wir ſie ſpeiſeten und mit ihnen ſpielten. Abends waren die Ordens¬ geſpielinnen bei mir im Garten, wir tranken Maiwein, und da wir froͤhlich waren wie Kinder, ſetzte mir Cretellina einen dichten Kranz von Maigloͤckchen auf das Haupt, als die weiſen Gloͤckchen mir zwiſchen den Locken nieder in die Augen ſahen, ward ich wunderbar freudig und ſang unter Thraͤnen:
Cretellina hatte mir mit dem Kranze etwas Liebes an¬ gethan, ich umarmte ſie und ſchenkte ihr, weil ſie die Bluͤm¬ chen weit im Walde zuſammenſuchte, das Recht, ihre Heerde251 in meinem Walde graſen zu laſſen, wofuͤr ſie und ihre Nachkommen bei Braut und Leichenzuͤgen ein Grashuhn zu entrichten haben.
Sonntag Jubilate. Wenn man ſingt: jauchzet Gott alle Lande. Ordensverſammlung. Es war eine Rede in Hennegau, der ewige Jude ſey geſehen worden und glaubte ſelbſt Serpoleta ihn geſtern im Walde geſehen zu haben und beſchrieb ihn gar klaͤglich und irrend und wollte nicht ſagen, was ſie mit ihm gehabt. Ich erzaͤhlte aber, wie mein ſee¬ liger Herr Vater in England einen gelehrten Moͤnch Mathias Paris beſucht, ſey zu dieſem ein reiſender Biſchof aus Ar¬ menien gekommen und habe erzaͤhlt, daß er den ewigen Ju¬ den ſelbſt geſprochen, der den kreuztragenden Herrn nicht bei ſich ruhen laſſen und nun ewig ohne Ruh und Raſt zur War¬ nung herumziehen und ſuchen muͤſſe. Da ſprach Serpoleta: „ ja zur Warnung, denn er ſprach zu mir, da ich ihm ein Almoſen bot:
Er ſah mich ſcharf und traurig dabei an und eilte durch die Buͤſche weg. Ich hoͤre ſie noch hinter ihm rauſchen. Mir ward ſo bang ſeit ſeinem Blick, ich fuͤhlte mich ohne Ruhe, bis ich den erſten beſten Kreuztraͤger eingeladen, bei mir zu ruhen und mir ſein Leid zu klagen, da ward mir beſ¬252 ſer. Ich bitte das arme Kind von Hennegau ein Ordensge¬ ſetz hierauf zu gruͤnden. “ Mich ruͤhrte die Erfahrung Serpo¬ leta's, und ich willfahrte ihr mit dem Geſetze, die Bedraͤng¬ ten bei uns ruhen zu laſſen und huldvoll anzuhoͤren. Da Ser¬ poleta mir ſagte, ihre und vieler Armen Schornſteine rauchten nicht, gab ich ihr das Recht, in dem Wald, wo ihr Asve¬ rus begegnet, alle ihren Holzbedarf zu ſchlagen, wofuͤr ſie bei Braut - und Leichenzuͤgen ein Rauchhuhn zu entrichten hat.
St. Sophientag. Heute hatte ich einen lieben ſtil¬ len Tag, das treue Mutterherz, das Rothkehlchen unter mei¬ nem Dach weckte mich gar fruͤh mit ſeinem Liedchen, ich ſtreckte den Kopf durchs Fenſter und belauſchte es, wie es mit dem erſten Sonnenſtrahl oben am Giebel gar einfaͤltig¬ lich in Mutterſorgen uͤberlegte, wo und wie es ſein Neſtchen am ſicherſten bauen ſolle; da fiel mir mein Herzgeſpann ein, deſſen Feſt heut war und ich lief an einen ſchattigen feuch¬ ten Ort der Wieſe, wo das Sophienkraͤutlein, Sonnenthau, Sonnenbraut ſtand, deſſen große Heilkraft mir wohl bekannt iſt, und flocht ich ein Kraͤnzlein daraus und kaufte zwei gleiche ſeidne Tuͤchlein, eins fuͤr ſie und eins fuͤr mich und brachte Kranz und Tuͤchlein meinem lieben Herzgeſpann und war ſeelig mit ihr den ganzen Tag. Das Verslein aber, das ich ihr ſchrieb lautete alſo:
Sonntag Cantate. Da man liest: ſinget dem Herrn ein neues Lied. — Ordensverſammlung. Es ſollte ein neues Lied geſungen werden, da war das Lied der Mor¬ gelina das neueſte und ſchoͤnſte:
Wir ſangen das Lied alle in großen Freuden[und] ich ſchenkte Morgelina das Recht in allen meinen Waͤldern Laub zur Streu zu ſammeln, wofuͤr ſie bei Braut und Leichenzuͤ¬ gen ein Lauberhuhn zu entrichten hat.
Sonntag Rogate. Vor der Bittwoche, Ordens¬ ſitzung. — Wir uͤberlegten, wie wir die armen Kinder an den drei folgenden Tagen durch die Felder fuͤhren ſollten, um Segen fuͤr die Ernte zu erflehen. Jede der acht Geſpie¬ linnen ſollte der Schaar ihrer Pflegekinder ein Faͤhnlein, wor¬ auf ein Schutzengel im Korn abgebildet, vortragen, und Moskatellina hatte dazu folgendes Lied gedichtet, was wir den Kindern lehrten:
Ich ſchenkte Moskatellina ein ſchoͤnes Getreidefeld, wo¬ fuͤr ſie bei Braut - und Leichenzuͤgen ein Aehrenhuhn zu ent¬ richten hat.
St. Nicomedestag. [Heute] ſtand[ein] Storch auf dem Thurm meines Schloſſes und klapperte. Ich hoͤrte ein Gloͤck¬ chen laͤuten, wußt 'nicht, was ſoll's bedeuten, da ſah ich einen Zug kleiner, armer Kinder voruͤberfuͤhren. Sie plau¬ derten durcheinander, daß man ſie weit in die Ferne hoͤren konnte. Als ſie nun den Klapperſtorch hoͤrten, machten ſie Halt vor dem Thurme und ſangen zu ihm hinauf:
Ich kann nicht ſagen, wie dieſer Geſang mich ruͤhrte und ich meine auch den Klapperſtorch, der ſehr ernſthaft zuhoͤrte, dann klapperte und wie in Geſchaͤften fort flog, worauf auch die Kinder weiter zogen. Nun ging ich zu des Herzens Nachbarin, bei welcher ich am 25. April mit den Geſpielen uͤber die Wiege geſprungen, ſie war krank, es kam ihr gar ernſt der Gedanke an den Tod, ſie legte mir mit Thraͤnen, was ihr theuer, an das liebſte Herz, das ſie in ihrer Einfalt kennet, und ich habe. Ich verließ ſie bang und ſchwer und wachte bis Mitternacht in Sorgen, der Voll¬ mond ſtieg auf die Linde und blickte mich ſo ſehnſuͤchtig an, daß er mich entſchlummernd hinuͤberzog in das andere Land.
St. Marcellinustag. — Heut ſtand ich armes Kind von Hennegau mit den andern Kindern um eine Wiege, ſie fragten:
Da antwortete die Mutter:
Die Kinder hoͤrten die Antwort und ſtanden voll Neu¬ gierde um die Wiege herum, aufmerkſam auf jede Bewegung der kleinen Puppe, die darin lag, mit Freude glaͤnzenden Augen. — Ach! und das Leben iſt doch ſo ſchwer und ernſt!
Sonntag Exaudi, Roſenſonntag. Ordensſitzung. Ich konnte nicht dabei ſeyn, denn ich wartete heut das Kind¬ lein und trug es umher bis es ſchlief. Ich bin faſt ganz ſtolz geweſen auf mein kleines Amt, ich meine oft, man koͤnne mich zu gar nichts gebrauchen, und die Leute ſagten mir das auch ſchon oft genug.
257Es kamen aber meine Ordensſpielinnen und ſtreuten Ro¬ ſen in der Stube und uͤber das Lager der Freundinn, und ſetzten mir einen Kranz von weißen Roſen und dem Kinde ein Kraͤnzchen von Roſenknospen auf, waͤhrend ich es trug; dazu ſang Cornelia:
Ich ſchenkte Cornelien fuͤr dieſes Roſenlied einen ſchoͤnen Roſengarten, wofuͤr ſie bei Braut und Leichenzuͤgen ein Gar¬ tenhuhn zu entrichten hat.
Vorabend vor Pfingſten. — Ordensſitzung. Ich armes Kind ordnete mit den Geſpielen die Feſtlichkeit der fol¬ genden Tage. Es wurden Maien im Walde gehohlt und Blumen auf der Wieſe, nm das Feſt zu ſchmuͤcken.
Pfingſtſonntag. — Als ich erwachte, fand ich auf der Wieſe vor dem Schloß, meinem Fenſter gegenuͤber einen ſchoͤnen Maienbaum von den Geſpielen und den Waiſenkin¬ dern gepflanzt. Er war mit Kraͤnzen von Siebenfarbenblu¬ men und Baͤndern von ſiebenerlei Farben geſchmuͤckt. Als17258der Tag anbrach, ſtanden die Geſpielinnen darunter und ſan¬ gen mir ein Pfingſtlied. Ich dankte und lud ſie auf Mor¬ gen zum Feſt unter die Maie.
Pfingſtmontag. — Meine Ordensgeſpielinnen fuͤhrten am Nachmittag ſchier alle Kinder der Stadt unter die Maie; die Armen hatten den Vortritt, ſie waren neu gekleidet, ſie zogen alle mit Blumen bekraͤnzt um die gedeckten Tiſche ſin¬ gend umher und wurden mit Hirſenmus bewirthet, wir Or¬ densgeſpielen goſſen allen den Honig darauf und dienten ih¬ nen. Hierauf ſangen wir und[tanzten] Reihentaͤnze und lie¬ ßen viele weiße Tauben fliegen, die mit bunten Baͤndern und Silberpfenningen geſchmuͤckt waren, wir waren ſehr freudig.
Pfingſtdienſtag. — Heute gegen Abend kam eine große Schaar unſerer Pflegekinder mit gruͤnen Zweigen und Blu¬ menkraͤnzen geſchmuͤckt, ſie zogen einen mit Laub verzierten Kin¬ derwagen, worauf die Pfingſtbraut ſaß, in den Schloßhof. Die Pfingſtbraut war eine der Ordensgeſpielinnen, ſie hatten ſie im Walde ſo mit Laub und Blumen verhuͤllt, daß ſie, einem großen Blumenſtrauß aͤhnlich, ganz und gar nicht zu erken¬ nen war. Ein Schleier von Siebenfarbenblumen bedeckte ihr Geſicht. Sie trug eine weiße Taube in den Haͤnden. Nun mußte ich rathen, welche von meinen acht Geſpielinnen die Pfingſtbraut ſey; die ſieben andern folgten in einem dicht verlaubten Wagen dem Zuge. Da ich dreimal falſch rieth, ließ die Braut die Taube fliegen, welche ihren Namen auf einem Zettel anhaͤngen hatte, nun mußte ich die Taube fangen, oder die Braut und alle Kinder beſchenken. — Die Taube aber flog hinaus und kreiſte uͤber einem ſchoͤnen Klee¬ felde; da ſagte ich zu der Pfingſtbraut: „ ſage mir deinen Na¬ men, mit welchem die Taube das Feld umflogen hat, ſo ſchenke ich dir das Feld. “ Da ſtiegen die andern Geſpielen aus dem Wagen und entſchleierten Fraͤulein Esparſetta von Hahnenkaͤmmchen, welche ich umarmte und mit dem Feld259 beſchenkte, wofuͤr ſie bei Braut - und Leichenzuͤgen ein Pfingſt¬ huhn zu entrichten hat. — Wir zogen hinaus auf das Feld und die Kinder ſteckten Zweige umher, wo die Taube flog, und da wurden Markſteine aufgerichtet; es war ein ſchoͤnes Stuͤck Feldes.
Alſo habe ich meine acht Ordensgeſpielen vom weißen Sonntag bis heute alle mit Guͤtern beſchenkt.
St. Silverinstag. — Entſchlummert traͤumte mir, die Lilien meines Gartens haͤtten ſich erſchloſſen, und ich ſaͤhe zwei leuchtende Frauengeſtalten in den Garten treten, eine gekroͤnte Matrone mit einem Kreuz in der Hand und eine ſchlanke, ruͤhrend bewegliche Jungfrau mit langen niederfließenden Haa¬ ren, ſie war in eine Decke von Roßhaaren eingehuͤllt, und mit einem bluͤhenden Zweig weißer Dornroſen geguͤrtet. Ich hatte nie dieſe Frauen geſehen. Ich aber ſtand bei einem Ro¬ ſenſtrauch; und als ſie voruͤber giengen, gab ich ihnen ein neu¬ aufgegangenes Roͤslein, das war aͤußerlich ganz ſchoͤn und geſund, aber ich fuͤhlte, daß es mit toͤdtlichem Mehlthau be¬ ſteckt war und ſprach zu den Frauen: „ laßet es reinigen und heilen. “ Als ſie nun mit dem Roͤslein zu den Lilien kamen, ſah ich zwiſchen denſelben einen ſchimmernden Juͤngling erſchei¬ nen, von unausſprechlicher Reinheit und Jungfraͤulichkeit, er hatte eine leuchtende Lilie in der Hand, die Lilien um ihn her ſahen truͤb aus, gegen ihn und ſie. Er ſah nicht auf, er ſchlug die Augen nieder. — Die Frauen hielten ihm das Roſenknoͤspchen auf den Haͤnden hin, und er goß aus dem Kelch der Lilie, die er trug, einen Lichtthau uͤber dasſelbe und ſprach Namen aus; — da war das Roͤschen ganz heil, ganz rein und licht, und mir war, als gehoͤre es nun auch noch zu einem viel ſchoͤnern Roſenſtrauch mit fuͤnf blutrothen Ro¬ ſen, den ich uͤber dem ganzen Bilde erſcheinen ſah. Da ver¬ ſchwanden der Juͤngling und auch die beiden Frauen, nachdem ſie mir das Roͤschen zuruͤckgebracht, welches ich wieder an den Roſenſtrauch heftete, dem ich die ganze Zeit nahe ſtehend Al¬17 *260les erzaͤhlt hatte, was geſchah. Er verſtand mich ſehr gut, denn er war ganz ſelig und ſchuͤttelte helle Tropfen nieder auf das ſchoͤne, neue, reine Roͤschen und es ſpritzten mir Tropfen auf die Wange, da erwachte ich. — Ich war aber ſo bewegt von dem lebhaften Traum und war ſeiner ſo ge¬ wiß, daß ich mich einhuͤllte und auf leiſen Socken hinab¬ ſchlich in den Garten. O wie war es kuͤhl und ſtill und ſo ruhig, ſo ruhig! ich meinte immer, ich muͤße die lichten Geſtalten irgendwo ſehen, aber ich ſah nur ein Nachtlicht herſchimmern, hoͤrte nur ein Kindlein wimmern und das Bruͤnnchen rauſchen. Im Garten war es wie ſonſt, einige Gluͤhwuͤrmer leuchteten umher, als wollten ſie mir ſuchen helfen, der Mond war untergegangen, es glitzerten nur einige nachſinnende Sternchen. Ich nahte den Lilien, ſie dufteten Licht und ich ſah Strahlen von den Sternen in ſie nieder¬ ſchießen und von ihnen wieder empor, es war, als truͤgen Himmelsbienen Honig aus ihnen ein fuͤr die Kinder einer beſ¬ ſern Welt. — Und wie ich ſo ſinnend ſtand, hoͤrte ich eine Menſchenſtimme, fern und doch nah mit wehmuͤthigem Tone die Worte ſprechen:
Bang huͤllte ich mich dichter ein und eilte aus dem Gar¬ ten. Mein Gewand fieng ſich in einer Dornranke; erſchreckt rief ich laut: „ wer faßt mich? “und ſtand. Niemand zeigte ſich, ſo riß ich dann ſchneller eilend die Ranke mit fort und dachte: ſie wird mir morgen ein Zeichen ſeyn, daß ich nicht getraͤumt. In meinem Schlafgemach hoͤrte ich immer jene Worte noch um mich toͤnen. Ich verſtand ſie durch und durch und konnte ſie doch nicht erklaͤren. Ich verſtand ihr Weſen und hatte keine Worte fuͤr ſie, als ſie ſelbſt. Immer wiederholte ich ſie, immer ſah ich die leuchtenden Lilien und die Sterne vor mir, die ſie gruͤßten. Als ich mir den Nacht¬ thau von dem Angeſicht wuſch, war mir, als ſehe ich ein261 Haupt ſo deutlich neben mir, daß ich die Ranke von mei¬ nem Kleide loͤſte und das Haupt mit ihr bekraͤnzte. Da hoͤrte ich jene Worte wieder und erſchrack nicht, und legte die Hand auf das Haupt und fuͤhlte: dieſe Worte ſollen mein Wahlſpruch ſeyn. Entſchlummernd aber hoͤrte ich eine kla¬ gende Stimme: „ Ach wer nimmt mir von der Stirne den Traum? “da verſteckte ich mich und hoͤrte zum erſtenmal in meinem Leben mein Herz heftig pochen und entſchlief.
St. Albanustag. Heut ward Alles wahr, ich ſtand bei meinem lieben Herzgeſpann und ſie trugen das Kind zur Kirche, indeſſen erzaͤhlte ich ihr, wie ich Nachts im Traum bei der Roſe geſtanden und was ich geſehen, und ſie brachten das Kindlein ganz klar und heil wieder, und ich legte es ihr ans Herz, und mein Herzgeſpann weinte auf das Roͤslein, wie Nachts die Roſe gethan.
St. Achatiustag. Heute mußte ich das kleine Roͤs¬ lein in den Garten tragen. Mein Herzgeſpann glaubte, es bringe ihm einen beſonderen Segen, durch mich zuerſt an die Luft getragen zu werden. Ich trug es und ſagte ihm im Herzen Alles, was ich geſehen, von den leuchtenden Frauen und dem Juͤngling mit der Lilie, und es ſchien es beſſer zu verſtehen, als ich; denn es ſah mich groß an, laͤ¬ chelte und weinte dann gar beweglich. Ich aber hatte im¬ mer Angſt, ich moͤge es fallen laſſen, und brachte es heim. —
NB. Nun nahet aber ein wichtiger Tag, Sonnenwende, des Taͤufers Tag, da die Sonn nicht hoͤher mag; da hat ſich auch meine Sonne gewendet, und iſt vieles anders geworden mit mir, da ich erfahren von den Kleinoden von Vadutz, die ich bisher unwiſſend auf den Schultern getragen und da ich geſtiftet das Kloſter Lilienthal.
St. Edeltrudistag vor Sonnenwende. Heut Morgen gegen drei Uhr vor Tages-Grauen ward ich aufge¬ weckt, und ſieh, Verena ſtand bei meinem Bette und be¬262 muͤhte ſich, mich von der linken auf die rechte Seite zu le¬ gen, dabei ſagte ſie: „ das fromme Huͤhnlein ſchickt mich, es weiß Alles. “— Ich richtete mich im Bette auf, ich glaubte zu traͤumen, ich ſey noch ein Kind, wo Verena ſo zu thun pflegte. — Sie aber ſprach: „ gnaͤdige Graͤfinn, goldne Amey, erſchrick nicht. Es iſt meines Bleibens nicht mehr lange hier. Du weißt, daß ich am Tag vor Sonnen¬ wende immer mit dem frommen Huͤhnlein in die Hoͤhle gehe, wo der Vater deines Stammes den Salmo und das erſte Huͤhnlein Gallina am Sonnwendetag gefunden, und daß ich dort einige Tage in Zuruͤckgezogenheit waͤhrend dem laͤr¬ menden Johannisfeſt ihrer gedenke. Dieſes Jahr treibt es mich etwas fruͤher hinaus, weil du heute mit Tages Anbe¬ ginn unten im Gallinarium große Waͤſche haſt und ich nicht von allen deinen Geſpielen und Maͤgden will angeſprochen werden. — Ich bringe dir hier den Schluͤſſel zum Gallina¬ rium und meiner Kammer, du biſt die Landesherrinn, ich habe ihn von dir und muß ihn dir wiedergeben, ich bin ſchon alt, ich hab ſchon viele Huͤhnlein erlebet, wer weiß ſeinen letzten Tag. In meiner Kammer in der Truhe wirſt du mein Teſtament finden. “— Ich ward ganz ernſthaft uͤber dieſe Reden Verenas und bat, ſie moͤge doch bei ſolchen Ahn¬ dungen nicht allein in die Salmoshoͤhle gehen, damit ich ruhig ſeyn koͤnne. Sie aber erwiederte: „ habe keine Sorge um mich, ich bin zwar bereit, aber wir ſehen uns auf Er¬ den doch wieder und wollen noch recht freudig zuſammen ſeyn. — O goldne Amey! achte auf Alles, was dir vertraut iſt, beſonders auf die amaranthſeidne Decke von Hennegau. “ Als ſie dieß ſagte, ließ ſich das heilige Huͤhnlein mit einem warnenden Tone in ihrem Korbe vernehmen. „ Hoͤrſt du, “fuhr ſie fort, „ Gallina iſt auch meiner Meinung,[und] mah¬ net mich zugleich zum Scheiden, das Huͤhnchen weiß Alles. “ Hierauf fragte ich „ und das Buͤblein? “da erwiederte Ve¬ rena mit großem Ernſte: „ es hat ſeine Sache zu Ende ge¬263 bracht, hilf ihm ſein Buͤndlein ſchnuͤren; “da umarmte ſie mich und zog von dannen. Ich kann nicht ſagen, wie tief mich die Worte erſchuͤtterten, die ſie zum erſtenmal von dem geheimnißvollen Buͤblein geſprochen. Ich ahndete, es ſtehe mir etwas Großes bevor; jedoch was ſollte ich thun, ich mußte es erfolgen laſſen. Jetzt aber ſtand ich auf, zuͤndete meine Leuchte an und ging in das Waſchhaus bei dem Gallinarium; wir hatten gewettet, wer zuerſt da ſeyn werde. Ich war die Erſte. Keine meiner Geſpielinnen oder Maͤgde war zugegen. Ich blickte zwiſchen den großen Waſchbuͤtten ſcheu durch die weite dunkle Halle, die meine Lampe un¬ beſtimmt erleuchtete. — Ich dachte, wenn jetzt das Buͤblein kaͤme! — Da hoͤrte ich die Huͤhner ſich ruͤhren und auch wie Schritte und glaubte ſchon, es nahten meine Maͤgde. Ich ging zu dem Stalle und ſah da einen Knaben von etwa ſechs Jahren, der aus dem dort haͤngenden Futterſaͤckchen der Ve¬<