Mit lächelnder Rührung überſchaut und eröffnet Petrarca die Samm - lung ſeiner ewigen Romanzen. Höf - lich und ſchmeichelnd redet der kluge Boccaz am Eingang und am Schluß ſeines reichen Buchs zu allen Da - men. Und ſelbſt der hohe Cervan - tes, auch als Greis und in der Agonie noch freundlich und voll von zartem Witz, bekleidet das bunte Schauſpiel der lebensvollen Werke mit dem koſtbaren Teppich einer Vor - rede, die ſelbſt ſchon ein ſchönes ro - mantiſches Gemälde iſt.
Hebt eine herrliche Pflanze ausLucinde I. A2dem fruchtbaren mütterlichen Boden, und es wird ſich manches liebevoll daran hängen, was nur einem Kar - gen überflüſſig ſcheinen kann.
Aber was ſoll mein Geiſt ſeinem Sohne geben, der gleich ihm ſo arm an Poeſie iſt als reich an Liebe?
Nur ein Wort, ein Bild zum Ab - ſchiede: Nicht der königliche Adler allein darf das Gekrächz der Raben verachten; auch der Schwan iſt ſtolz, und nimmt es nicht wahr. Ihn küm - mert nichts, als daß der Glanz ſei - ner weißen Fittiche rein bleibe. Er ſinnt nur darauf, ſich an den Schooß der Leda zu ſchmiegen, ohne ihn zu verletzen; und alles was ſterblich iſt an ihm, in Geſänge auszuhauchen.
Die Menſchen und was ſie wollen und thun, erſchienen mir, wenn ich mich daran erinnerte, wie aſchgraue Figuren ohne Bewegung: aber in der heiligen Einſamkeit um mich her war alles Licht und Farbe und ein friſcher warmer Hauch von Leben und Liebe wehte mich an und rauſchte und regte ſich in allen Zweigen des6 üppigen Hains. Ich ſchaute und ich genoß alles zugleich, das kräftige Grün, die weiße Blüthe und die goldne Frucht. Und ſo ſah ich auch mit dem Auge meines Geiſtes die Eine ewig und einzig Geliebte in vielen Geſtalten, bald als kindliches Mädchen, bald als Frau in der vol - len Blüthe und Energie der Liebe und der Weiblichkeit, und dann als würdige Mutter mit dem ernſten Knaben im Arm[.]Ich athmete Früh - ling, klar ſah ich die ewige Jugend um mich und lächelnd ſagte ich: Wenn die Welt auch eben nicht die beſte oder die nützlichſte ſeyn mag, ſo weiß ich doch, ſie iſt die ſchönſte. In dieſem Gefühle oder Gedanken hätte mich auch nichts ſtören können,7 weder allgemeine Zweifel noch eigne Furcht. Denn ich glaubte einen tie - fen Blick in das Verborgne der Na - tur zu thun; ich fühlte, daß alles ewig lebe und daß der Tod auch freundlich ſey und nur eine Täu - ſchung. Doch dachte ich daran ei - gentlich nicht ſehr, wenigſtens zum Gliedern und Zergliedern der Be - griffe war ich nicht ſonderlich ge - ſtimmt. Aber gern und tief verlor ich mich in alle die Vermiſchungen und Verſchlingungen von Freude und Schmerz, aus denen die Würze des Lebens und die Blüthe der Empfin - dung hervorgeht, die geiſtige Wolluſt wie die ſinnliche Seligkeit. Ein fei - nes Feuer ſtrömte durch meine Adern; was ich träumte, war nicht etwa8 bloß ein Kuß, die Umſchließung dei - ner Arme, es war nicht bloß der Wunſch, den quälenden Stachel der Sehnſucht zu brechen und die ſüße Gluth in Hingebung zu kühlen; nicht nach Deinen Lippen allein ſehnte ich mich, oder nach deinen Augen, oder nach deinem Leibe: ſondern es war eine romantiſche Verwirrung von al - len dieſen Dingen, ein wunderſames Gemiſch von den verſchiedenſten Er - innerungen und Sehnſuchten. Alle Myſterien des weiblichen und des männlichen Muthwillens ſchienen mich zu umſchweben, als mich Einſamen plötzlich deine wahre Gegenwart und der Schimmer der blühenden Freude auf deinem Geſichte vollends ent - zündete. Witz und Entzücken be -9 gonnen nun ihren Wechſel und wa - ren der gemeinſame Puls unſers ver - einten Lebens; wir umarmten uns mit eben ſo viel Ausgelaſſenheit als Religion. Ich bat ſehr, du möch - teſt dich doch einmal der Wuth ganz hingeben, und ich flehte dich an, du möchteſt unerſättlich ſeyn. Dennoch lauſchte ich mit kühler Beſonnenheit auf jeden leiſen Zug der Freude, da - mit mir auch nicht einer entſchlüpfe und eine Lücke in der Harmonie bleibe. Ich genoß nicht bloß, ſon - dern ich fühlte und genoß auch den Genuß.
Du biſt ſo außerordentlich klug, liebſte Lucinde, daß du wahrſchein - lich ſchon längſt auf die Vermuthung gerathen biſt, dies alles ſey nur ein10 ſchöner Traum. So iſt es leider auch, und ich würde untröſtlich darüber ſeyn, wenn ich nicht hoffen dürfte, daß wir wenigſtens einen Theil davon nächſtens realiſiren könn - ten. Das Wahre an der Sache iſt, daß ich vorhin am Fenſter ſtand; wie lange, das weiß ich nicht recht: denn mit den andern Regeln der Vernunft und der Sittlichkeit iſt auch die Zeitrechnung dabey ganz von mir vergeſſen worden. Alſo ich ſtand am Fenſter und ſah ins Freye; der Morgen verdient allerdings ſchön genannt zu werden, die Luft iſt ſtill und warm genug, auch iſt das Grün hier vor mir ganz friſch, und wie ſich die weite Ebne bald hebt bald ſenket, ſo windet ſich der ruhige,11 breite ſilberhelle Strom in großen Schwüngen und Bogen, bis er und die Fantaſie des Liebenden, die ſich gleich dem Schwane auf ihm wiegte, in die Ferne hinziehen und ſich in das Unermeßliche langſam verlieren. Den Hain und ſein ſüdliches Colorit verdankt meine Viſion wahrſcheinlich dem großen Blumenhaufen hier ne - ben mir, unter denen ſich eine be - trächtliche Anzahl von Orangen be - findet. Alles übrige läßt ſich leicht aus der Pſychologie erklären. Es war Illuſion, liebe Freundin, alles Illuſion, außer daß ich vorhin am Fenſter ſtand und nichts that, und daß ich jetzt hier ſitze und etwas thue, was auch nur wenig mehr12 oder wohl gar noch etwas weniger als nichts thun iſt.
So weit war an dich geſchrie - ben, was ich mit mir geſprochen hatte, als mich mitten in meinen zarten Gedanken und ſinnreichen Ge - fühlen über den eben ſo wunderba - ren als verwickelten dramatiſchen Zuſammenhang unſrer Umarmungen ein ungebildeter und ungefälliger Zufall unterbrach, da ich eben im Begriff war, die genaue und ge - diegne Hiſtorie unſers Leichtſinns und meiner Schwerfälligkeit in klaren und wahren Perioden vor dir auf - zurollen, die von Stufe zu Stufe allmählig nach natürlichen Geſetzen13 fortſchreitende Aufklärung unſrer den verborgenen Mittelpunkt des feinſten Daſeyns angreifenden Mißverſtänd - niſſe zu entwickeln, und die mannich - fachen Produkte meiner Ungeſchicklich - keit darzuſtellen, nebſt den Lehrjah - ren meiner Männlichkeit; welche ich im Ganzen und in ihren Theilen nie überſchauen kann, ohne vieles Lächeln, einige Wehmuth und hin - längliche Selbſtzufriedenheit. Doch will ich als ein gebildeter Liebhaber und Schriftſteller verſuchen, den ro - hen Zufall zu bilden und ihn zum Zwecke geſtalten. Für mich und für dieſe Schrift, für meine Liebe zu ihr und für ihre Bildung in ſich, iſt aber kein Zweck zweckmäßiger, als der, daß ich gleich Anfangs das14 was wir Ordnung nennen vernichte, weit von ihr entferne und mir das Recht einer reizenden Verwirrung deutlich zueigne und durch die That behaupte. Dies iſt um ſo nöthiger, da der Stoff, den unſer Leben und Lieben meinem Geiſte und meiner Feder giebt, ſo unaufhaltſam pro - greſſiv und ſo unbiegſam ſyſtematiſch iſt. Wäre es nun auch die Form, ſo würde dieſer in ſeiner Art einzige Brief dadurch eine unerträgliche Ein - heit und Einerleyheit erhalten und nicht mehr können, was er doch will und ſoll: das ſchönſte Chaos von erhabnen Harmonien und in - tereſſanten Genüſſen nachbilden und ergänzen. Ich gebrauche alſo mein unbezweifeltes Verwirrungsrecht und15 ſetze oder ſtelle hier ganz an die un - rechte Stelle eines von den vielen zerſtreuten Blättern die ich aus Sehn - ſucht und Ungeduld, wenn ich dich nicht fand wo ich dich am gewiſſe - ſten zu finden hoffte, in deinem Zim - mer, auf unſerm Sopha, mit der zuletzt von dir gebrauchten Feder, mit den erſten den beſten Worten, ſo jene mir eingegeben, anfüllte oder verdarb, und die du Gute, ohne daß ich es wußte, ſorgſam bewahrteſt.
Die Auswahl wird mir nicht ſchwer. Denn da unter den Träu - mereyen, die hier ſchon den ewigen Lettern und dir anvertrauet ſind, die Erinnerung an die ſchönſte Welt noch das gehaltvollſte iſt, und noch am erſten eine gewiſſe Art von16 Ähnlichkeit mit den ſogenannten Ge - danken hat: ſo nehme ich vor allen andern die dithyrambiſche Fantaſie über die ſchönſte Situazion. Denn wiſſen wir erſt ſicher, daß wir in der ſchönſten Welt leben: ſo iſt es unſtreitig das nächſte Bedürfniß uns über die ſchönſte Situazion in dieſer ſchönſten Welt durch andre oder durch uns ſelbſt gründlich zu be - lehren.
Eine große Thräne fällt auf das heilige Blatt, welches ich hier ſtatt deiner fand. Wie treu und wie ein - fach haſt du ihn aufgezeichnet, den kühnen alten Gedanken zu meinemlieb -17liebſten und geheimſten Vorhaben. In dir iſt er groß geworden und in dieſem Spiegel ſcheue ich mich nicht, mich ſelbſt zu bewundern und zu lieben. Nur hier ſehe ich mich ganz und harmoniſch, oder vielmehr die volle ganze Menſchheit in mir und in dir. Denn auch dein Geiſt ſteht beſtimmt und vollendet vor mir; es ſind nicht mehr Züge die erſchei - nen und zerfließen: ſondern wie eine von den Geſtalten, die ewig dauern, blickt er mich aus hohen Augen freu - dig an und öffnet die Arme, den meinigen zu umſchließen. Die flüch - tigſten und heiligſten von jenen zar - ten Zügen und Äußerungen der Seele die dem, welcher das höchſte nicht kennt, allein ſchon SeligkeitLucinde I. B18ſcheinen, ſind nur die gemeinſchaft - liche Atmoſphäre unſers geiſtigen Athmens und Lebens.
Die Worte ſind matt und trübe; auch würde ich in dieſem Gedränge von Erſcheinungen nur immer das eine unerſchöpfliche Gefühl unſrer urſprünglichen Harmonie von neuem wiederholen müſſen. Eine große Zu - kunft winkt mich eilends weiter ins Unermeßliche hinaus, jede Idee öff - net ihren Schooß und entfaltet ſich in unzählige neue Geburten. Die äußerſten Enden der zügelloſen Luſt und der ſtillen Ahndung leben zu - gleich in mir. Ich erinnere mich an alles, auch an die Schmerzen, und alle meine ehemaligen und künftigen Gedanken regen ſich und ſtehen19 wider mich auf. In den geſchwollnen Adern tobt das wilde Blut, der Mund durſtet nach Vereinigung und unter den vielen Geſtalten der Freude wählt und wechſelt die Fantaſie und findet keine, in der die Begierde ſich endlich erfüllen und endlich Ruhe finden könnte. Und dann gedenke ich wieder plötzlich und rührend der dunkeln Zeit, da ich immer wartete, ohne zu hoffen, und heftig liebte, ohne daß ich es wußte; da mein innerſtes Weſen ſich ganz in unbe - ſtimmte Sehnſucht ergoß und ſie nur ſelten in halb unterdrückten Seuf - zern aushauchte.
Ja! ich würde es für ein Mähr - chen gehalten haben, daß es ſolche Freude gebe und ſolche Liebe, wieB 220ich nun fühle, und eine ſolche Frau, die mir zugleich die zärtlichſte Ge - liebte und die beſte Geſellſchaft wäre und auch eine vollkommene Freun - din. Denn in der Freundſchaft be - ſonders ſuchte ich alles, was ich ent - behrte und was ich in keinem weib - lichen Weſen zu finden hoffte. In dir habe ich es alles gefunden und mehr als ich zu wünſchen vermochte: aber du biſt auch nicht wie die an - dern. Was Gewohnheit oder Ei - genſinn weiblich nennen, davon weißt du nichts. Außer den kleinen Eigenheiten beſteht die Weiblichkeit deiner Seele bloß darin, daß Leben und Lieben für ſie gleich viel bedeu - tet; du fühlſt alles ganz und un - endlich, du weißt von keinen Ab -21 ſonderungen, dein Weſen iſt Eins und untheilbar. Darum biſt du ſo ernſt und ſo freudig; darum nimmſt du alles ſo groß und ſo nachläſſig, und darum liebſt du mich auch ganz und überläßt keinen Theil von mir etwa dem Staate, der Nachwelt oder den männlichen Freunden. Es gehört dir alles[und] wir ſind uns überall die nächſten und verſtehn uns am beſten. Durch alle Stufen der Menſchheit gehſt du mit mir von der ausgelaſſenſten Sinnlichkeit bis zur geiſtigſten Geiſtigkeit und nur in dir ſah ich wahren Stolz und wahre weibliche Demuth.
Das äußerſte Leiden, wenn es uns nur umgäbe, ohne uns zu tren - nen, würde mir nichts ſcheinen als22 ein reizender Gegenſatz für den hohen Leichtſinn unſrer Ehe. Warum ſoll - ten wir nicht die herbeſte Laune des Zufalls für ſchönen Witz und aus - gelaſſene Willkühr nehmen, da wir unſterblich ſind wie die Liebe? Ich kann nicht mehr ſagen, meine Liebe oder deine Liebe; beyde ſind ſich gleich und vollkommen Eins, ſo viel Liebe als Gegenliebe. Es iſt Ehe, ewige Einheit und Verbindung un - ſrer Geiſter, nicht bloß für das was wir dieſe oder jene Welt nennen, ſondern für die eine wahre, untheil - bare, namenloſe, unendliche Welt, für unſer ganzes ewiges Seyn und Leben. Darum würde ich auch, wenn es mir Zeit ſchiene, eben ſo froh und eben ſo leicht eine Taſſe23 Kirſchlorberwaſſer mit dir ausleeren, wie das letzte Glas Champagner, was wir zuſammen tranken, mit den Worten von mir: » So laß uns den » Reſt unſers Lebens austrinken. « — So ſprach und trank ich eilig, ehe der edelſte Geiſt des Weins ver - ſchäumte; und ſo, das ſage ich noch einmal, ſo laß uns leben und lie - ben. Ich weiß, auch du würdeſt mich nicht überleben wollen, du wür - deſt dem voreiligen Gemahle auch im Sarge folgen, und aus Luſt und Liebe in den flammenden Abgrund ſteigen, in den ein raſendes Geſetz die Indiſchen Frauen zwingt und die zarteſten Heiligthümer der Will - kühr durch grobe Abſicht und Befehl entweiht und zerſtört.
24Dort wird dann vielleicht die Sehnſucht voller befriedigt. Ich bin oft darüber erſtaunt: jeder Gedan - ke und was ſonſt gebildet in uns iſt, ſcheint in ſich ſelbſt vollendet, einzeln und untheilbar wie eine Per - ſon; eines verdrängt das andre, und was eben ganz nah und gegenwär - tig war, ſinkt bald in Dunkel zu - rück. Und dann giebt es doch wie - der Augenblicke plötzlicher, allgemei - ner Klarheit, wo mehrere ſolche Gei - ſter der innern Welt durch[wunder - bare] Vermählung völlig in Eins verſchmelzen, und manches ſchon ver - geſſene Stück unſers Ich in neuem Lichte ſtrahlt und auch die Nacht der Zukunft mit ſeinem hellen Scheine öffnet. Wie im Kleinen ſo, glaube25 ich, iſt es auch im Großen. Was wir ein Leben nennen, iſt für den ganzen ewigen innern Menſchen nur ein einziger Gedanke, ein un - theilbares Gefühl. Auch für ihn giebts ſolche Augenblicke des tiefſten und vollſten Bewußtſeyns, wo ihm alle die Leben einfallen, ſich anders miſchen und trennen. Wir beide werden noch einſt in Einem Geiſte anſchauen, daß wir Blüthen Einer Pflanze oder Blätter Einer Blume ſind, und mit Lächeln werden wir dann wiſſen, daß was wir jetzt nur Hoffnung nennen, eigentlich Erin - nerung war.
Weißt du noch, wie der erſte Keim dieſes Gedankens vor dir in meiner Seele aufſproßte und auch26 gleich in der deinigen Wurzel faßte? — So ſchlingt die Religion der Liebe unſre Liebe immer inniger und ſtärker zuſammen, wie das Kind die Luſt der zärtlichen Eltern dem Echo gleich verdoppelt.
Nichts kann uns trennen und gewiß würde jede Entfernung mich nur gewaltſamer an dich reißen. Ich denke mir, wie ich bey der letzten Umarmung im Gedränge der hef - tigen Widerſprüche zugleich in Thrä - nen und in Lachen ausbreche. Dann würde ich ſtill werden und in einer Art von Betäubung durchaus nicht glauben, daß ich von dir entfernt ſey, bis die neuen Gegenſtände um mich her mich wider Willen über - zeugten. Aber dann würde auch27 meine Sehnſucht unaufhaltſam wach - ſen, bis ich auf ihren Flügeln in deine Arme ſänke. Laß auch die Worte oder die Menſchen ein Mis - verſtändniß zwiſchen uns erregen! Der tiefe Schmerz würde flüchtig ſeyn und ſich bald in vollkommenere Harmonie auflöſen. Ich würde ihn ſo wenig achten, wie die liebende Geliebte im Enthuſiasmus der Wol - luſt die kleine Verletzung achtet.
Wie könnte uns die Entfernung entfernen, da uns die Gegenwart ſelbſt gleichſam zu gegenwärtig iſt. Wir müſſen ihre verzehrende Gluth in Scherzen lindern und kühlen und ſo iſt uns die witzigſte unter den Geſtalten und Situazionen der Freude auch die ſchönſte. Eine unter allen28 iſt die witzigſte und die ſchönſte: wenn wir die Rollen vertauſchen und mit kindiſcher Luſt wetteifern, wer den andern täuſchender nach - äffen kann, ob dir die ſchonende Hef - tigkeit des Mannes beſſer gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. Aber weißt du wohl, daß dieſes ſüße Spiel für mich noch ganz andre Reize hat als ſeine eig - nen? Es iſt auch nicht bloß die Wol - luſt der Ermattung oder das Vor - gefühl der Rache. Ich ſehe hier eine wunderbare ſinnreich bedeu - tende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menſchheit. Es liegt viel darin, und was darin liegt,29 ſteht gewiß nicht ſo ſchnell auf wie ich, wenn ich dir unterliege.
Das war die dithyrambiſche Fantaſie über die ſchönſte Situazion in der ſchönſten Welt! Ich weiß noch recht gut, wie du ſie damals gefun - den und genommen haſt. Aber ich glaube auch eben ſo gut zu wiſſen, wie du ſie hier finden und nehmen wirſt; hier in dieſem Büchelchen, von dem du mehr treue Geſchichte, ſchlichte Wahrheit und ruhigen Verſtand, ja ſogar Moral, die liebenswürdige Moral der Liebe erwarteſt. » Wie » kann man ſchreiben wollen, was » kaum zu ſagen erlaubt iſt, was » man nur fühlen ſollte? « — Ich30 antworte: Fühlt man es, ſo muß man es ſagen wollen, und was man ſagen will, darf man auch ſchreiben können.
Ich wollte dir erſt beweiſen und begründen, es liege urſprünglich und weſentlich in der Natur des Man - nes ein gewiſſer tölpelhafter Enthu - ſiasmus, der gern mit allem Zarten und Heiligen herausplatzt, nicht ſel - ten über ſeinen eignen treuherzigen Eifer ungeſchickterweiſe hinſtürzt und mit einem Worte leicht bis zur Grob - heit göttlich iſt.
Durch dieſe Apologie wäre ich zwar gerettet, aber vielleicht nur auf Unkoſten der Männlichkeit ſelbſt: denn ſo viel ihr auch im einzelnen von dieſer haltet, ſo habt ihr doch31 immer viel und vieles wider das Ganze der Gattung. Ich will in - deſſen auf keinen Fall gemeine Sache mit einer ſolchen Race haben und vertheidige oder entſchuldige daher meine Freyheit und Frechheit lieber bloß mit dem Beyſpiele der unſchul - digen kleinen Wilhelmine, da ſie doch auch eine Dame iſt, die ich überdem auf das zärtlichſte liebe. Darum will ich ſie auch gleich ein wenig charakteriſiren.
Betrachtet man das ſonderbare Kind nicht mit Rückſicht auf eine einſeitige Theorie, ſondern wie es ſich ziemt, im Großen und Ganzen:32 ſo darf man kühnlich von ihr ſagen, und es iſt vielleicht das beſte was man überhaupt von ihr ſagen kann: Sie iſt die geiſtreichſte Perſon ihrer Zeit oder ihres Alters. Und das iſt nicht wenig geſagt: denn wie ſelten iſt harmoniſche Ausbildung unter zweyjährigen Menſchen? Der ſtärkſte unter vielen ſtarken Beweiſen für ihre innere Vollendung iſt ihre hei - tere Selbſtzufriedenheit. Wenn ſie gegeſſen hat, pflegt ſie beide Ärm - chen auf den Tiſch ausgebreitet ih - ren kleinen Kopf mit närriſchem Ernſt darauf zu ſtützen, macht die Augen groß und wirft ſchlaue Blicke im Kreiſe der ganzen Familie umher. Dann richtet ſie ſich auf mit dem lebhafteſten Ausdrucke von Ironieund33und lächelt über ihre eigne Schlau - heit und unſre Inferiorität. Über - haupt hat ſie viel Bouffonerie und viel Sinn für Bouffonerie. Mache ich ihre Gebehrden nach, ſo macht ſie mir gleich wieder mein Nachma - chen nach; und ſo haben wir uns eine mimiſche Sprache gebildet und verſtändigen uns in den Hierogly - phen der darſtellenden Kunſt. Zur Poeſie glaube ich hat ſie weit mehr Neigung als zur Philoſophie; ſo läßt ſie ſich auch lieber fahren und reiſet nur im Nothfall zu Fuß. Die harten Übelklänge unſrer nordiſchen Mutterſprache verſchmelzen auf ihrer Zunge in den weichen und ſüßen Wohllaut der Italiäniſchen und In - diſchen Mundart. Reime liebt ſieLucinde I. C34beſonders, wie alles Schöne; ſie kann oft gar nicht müde werden, alle ihre Lieblingsbilder, gleichſam eine klaſſiſche Auswahl ihrer kleinen Genüſſe, ſich ſelbſt unaufhörlich nach einander zu ſagen und zu ſingen. Die Blüthen aller Dinge jeglicher Art flicht Poeſie in einen leichten Kranz und ſo nennt und reimt auch Wilhelmine Gegenden, Zeiten, Be - gebenheiten, Perſonen, Spielwerke und Speiſen, alles durch einander in romantiſcher Verwirrung, ſo viel Worte ſo viel Bilder; und das ohne alle Nebenbeſtimmungen und künſt - lichen Übergänge, die am Ende doch nur dem Verſtande frommen und jeden kühneren Schwung der Fan - taſie hemmen. Für die ihrige iſt alles35 in der Natur belebt und beſeelt; und ich erinnere mich noch oft mit Ver - gnügen daran, wie ſie in einem Al - ter von nicht viel mehr als einem Jahre zum erſtenmal eine Puppe ſah und fühlte. Ein himmliſches Lächeln blühte auf ihrem kleinen Geſichte und ſie drückte gleich einen herzlichen Kuß auf die gefärbten Lippen von Holz. Gewiß! es liegt tief in der Natur des Menſchen, daß er alles eſſen will, was er liebt, und jede neue Erſcheinung unmittelbar zum Munde führt, um ſie da wo möglich in ihre erſten Beſtandtheile zu zergliedern. Die geſunde Wißbegierde wünſcht ihren Gegenſtand ganz zu faſſen, bis in ſein Innerſtes zu durchdringen und zu zerbeißen. Das BetaſtenC 236dagegen bleibt bey der äußerlichen Oberfläche allein ſtehn, und alles Begreifen gewährt eine unvollkom - mene nur mittelbare Erkenntniß. Indeſſen iſt es doch ſchon ein in - tereſſantes Schauſpiel, wenn ein geiſt - reiches Kind ein Ebenbild von ſich erblickt, es mit den Händen zu be - greifen und ſich durch dieſe erſten und letzten Fühlhörner der Vernunft zu orientiren ſtrebt; ſchüchtern ver - kriecht und verſteckt ſich der Fremd - ling und ämſig iſt die kleine Philo - ſophin hinterdrein, den Gegenſtand ihrer angefangenen Unterſuchung zu verfolgen. —
Aber freylich iſt Geiſt, Witz und Originalität bey Kindern gerade ſo ſelten wie bey Erwachſenen. Doch37 alles dies und ſo vieles andre ge - hört nicht hieher und würde mich über die Gränzen meines Zweckes führen! Denn dieſe Charakteriſtik ſoll ja nichts darſtellen als ein Ideal, welches ich mir ſtets vor Augen hal - ten will, um in dieſem kleinen Kunſt - werke ſchöner und zierlicher Lebens - weisheit nie von der zarten Linie des Schicklichen zu verirren, und dir, damit du alle die Freyheiten und Frechheiten, die ich mir noch zu nehmen denke, im voraus verzeihſt, oder doch von einem höhern Stand - punkte beurtheilen und würdigen kannſt.
Habe ich etwa Unrecht, wenn ich die Sittlichkeit bey Kindern, Zart - heit und Zierlichkeit in Gedanken38 und Worten vornehmlich beym weib - lichen Geſchlecht ſuche? —
Und nun ſieh! dieſe liebenswür - dige Wilhelmine findet nicht ſelten ein unausſprechliches Vergnügen da - rin, auf dem Rücken liegend mit den Beinchen in die Höhe zu geſti - culiren, unbekümmert um ihren Rock und um das Urtheil der Welt. Wenn das Wilhelmine thut, was darf ich nicht thun, da ich doch bey Gott! ein Mann bin, und nicht zar - ter zu ſeyn brauche wie das zarteſte weibliche Weſen?
O beneidenswürdige Freyheit von Vorurtheilen! Wirf auch du ſie von dir, liebe Freundin, alle die Reſte von falſcher Schaam, wie ich oft die fatalen Kleider von dir riß und39 in ſchöner Anarchie umherſtreute. Und ſollte dir ja dieſer kleine Roman meines Lebens zu wild ſcheinen: ſo denke dir, daß er ein Kind ſey und ertrage ſeinen unſchuldigen Muth - willen mit mütterlicher Langmuth und laß dich von ihm liebkoſen.
Wenn du es mit der Wahrſchein - lichkeit und durchgängigen Bedeut - ſamkeit einer Allegorie nicht ſogar ſtrenge nehmen und dabey ſo viel Ungeſchicklichkeit im Erzählen erwar - ten wollteſt, als man von den Be - kenntniſſen eines Ungeſchickten fodern muß, wenn das Coſtum nicht ver - letzt werden ſoll: ſo möchte ich dir hier einen der letzten meiner wa - chenden Träume erzählen, da er ein ähnliches Reſultat giebt wie die40 Charakteriſtik der kleinen Wilhel - mine.
Sorglos ſtand ich in einem kunſt - reichen Garten an einem runden Beet, welches mit einem Chaos der herr - lichſten Blumen, ausländiſchen und einländiſchen, prangte. Ich ſog den würzigen Duft ein und ergötzte mich an den bunten Farben: aber plötz - lich ſprang ein häßliches Unthier mitten aus den Blumen hervor. Es ſchien geſchwollen von Gift, die durch - ſichtige Haut ſpielte in alle Farben und man ſah die Eingeweide ſich winden wie Gewürme. Es war groß genug, um Furcht einzuflößen; dabey öffnete es Krebsſcheeren nach41 allen Seiten rund um den ganzen Leib; bald hüpfte es wie ein Froſch, dann kroch es wieder mit ekelhafter Beweglichkeit auf einer unzähligen Menge kleiner Füße. Mit Entſetzen wandte ich mich weg: da es mich aber verfolgen wollte, faßte ich Muth, warf es mit einem kräftigen Stoß auf den Rücken, und ſogleich ſchien es mir nichts als ein gemei - ner Froſch. Ich erſtaunte nicht we - nig, und noch mehr, da plötzlich Jemand ganz dicht hinter mir ſagte: » Das iſt die öffentliche Meinung, » und ich bin der Witz; deine fal - » ſchen Freunde, jene Blumen ſind » ſchon alle welk. « — Ich ſah mich um und erblickte eine männliche Ge - ſtalt mittlerer Größe; die großen42 Formen des edlen Geſichts waren ſo ausgearbeitet und übertrieben, wie wir ſie oft an römiſchen Bruſtbil - dern ſehn. Ein freundliches Feuer ſtrahlte aus den offnen lichten Au - gen, und zwey große Locken warfen und drängten ſich ſonderbar auf der kühnen Stirn. » Ich werde ein al - » tes Schauſpiel vor dir erneuern, » ſprach er: einige Jünglinge am » Scheidewege. Ich ſelbſt habe es » der Mühe werth gehalten, ſie in » müſſigen Stunden mit der göttli - » chen Fantaſie zu erzeugen. Es ſind » die ächten Romane, vier an der » Zahl und unſterblich wie wir. « — Ich ſchaute wohin er winkte, und ein ſchöner Jüngling flog kaum be - kleidet über die grüne Ebne. Schon43 war er fern und ich ſah nur noch eben, daß er ſich auf ein Roß ſchwang und davon eilte als wollte er den lauen Abendwind überflügeln und ſeiner Langſamkeit ſpotten. Auf dem Hügel zeigte ſich ein Ritter in voller Rüſtung, groß und hehr von Geſtalt, beynah ein Rieſe: aber die genaue Richtigkeit ſeines Wuchſes und ſeiner Bildung nebſt der treu - herzigen Freundlichkeit in ſeinen be - deutenden Blicken und umſtändlichen Gebehrden gab ihm dennoch eine gewiſſe altväteriſche Zierlichkeit. Er neigte ſich gegen die untergehende Sonne, ließ ſich langſam auf ein Knie nieder und ſchien mit großer Inbrunſt zu beten, die rechte Hand aufs Herz, die linke an der Stirn. 44Der Jüngling, der zuvor ſo ſchnell war, lag nun ganz ruhig am Ab - hange und ſonnte ſich in den letzten Strahlen; dann ſprang er auf, ent - kleidete ſich, ſtürzte in den Strom und ſpielte mit den Wellen, tauchte unter, kam wieder hervor und warf ſich von neuem in die Fluth. Fern - ab im Dunkel des Hains ſchwebte etwas in Griechiſchem Gewande wie eine Geſtalt: aber wenn es eine iſt, dachte ich, ſo kann ſie kaum der Erde angehören; ſo matt waren die Farben, ſo eingehüllt das Ganze in heiligen Nebel. Da ich länger und genauer hinſah, zeigte ſich's, daß es auch ein Jüngling ſey, aber von ganz entgegengeſetzter Art. Haupt und Arme lehnte die hohe Geſtalt45 an eine Urne; ſeine ernſten Blicke ſchienen bald ein verlohrnes Gut auf dem Boden zu ſuchen, bald die blaſſen Sterne, die ſchon zu ſchim - mern begannen, etwas zu fragen; ein Seufzer öffnete die Lippen, um die ein ſanftes Lächeln ſchwebte. —
Jener erſte ſinnliche Jüngling war unterdeſſen der einſamen Leibes - übungen überdrüſſig geworden und eilte mit leichten Schritten gerade auf uns zu. Er war nun ganz bekleidet, faſt wie ein Schäfer, aber ſehr bunt und ſonderbar. Er hätte ſo auf einer Maskerade erſcheinen können, auch ſpielten die Finger ſeiner Lin - ken mit den Fäden, an denen eine Maske hing. Man hätte den fan - taſtiſchen Knaben eben ſo gut für46 ein muthwilliges Mädchen halten mögen, das ſich aus Laune verklei - det. Bisher ging er in gerader Richtung, aber plötzlich wurde er unſicher; er ging erſt auf die eine Seite, dann eilte er zurück nach der andern und lachte dabey über ſich ſelbſt. » Der junge Menſch weiß » nicht, ob er ſich zur Frechheit oder » zur Delikateſſe halten ſoll, « ſagte mein Begleiter. Ich ſah zur Linken eine Geſellſchaft ſchöner Frauen und Mädchen; zur Rechten ſtand eine große allein, und da ich hinſehen wollte nach der gewaltigen Form, begegnete ihr Blick dem meinen ſo ſcharf und kühn, daß ich die Augen niederſchlug. Mitten unter den Da - men war ein junger Mann, den ich47 ſogleich für einen Bruder der an - dern Romane erkannte. Einer von denen wie man ſie gegenwärtig ſieht, aber viel gebildeter; ſeine Geſtalt und ſein Geſicht war nicht ſchön, aber fein, ſehr verſtändig und äuſ - ſerſt anziehend. Man hätte ihn eben ſo gut für einen Franzoſen wie für einen Deutſchen halten können; ſeine Kleidung und ſeine ganze Art war einfach, aber ſorgfältig und völlig modern. Er unterhielt die Geſell - ſchaft und ſchien ſich für alle lebhaft zu intereſſiren. Die Mädchen waren ſehr beweglich um die vornehmſte Dame und ſchwatzten viel unter einander. » Ich habe doch noch mehr » Gemüth wie du, liebe Sittlichkeit! » ſagte die eine; aber ich heiße auch48 » Seele und zwar die ſchöne. « Die Sittlichkeit wurde etwas blaß und die Thränen ſchienen ihr nahe zu ſeyn. » Ich war doch geſtern ſo tu - » gendhaft, ſagte ſie, und mache im - » mer größere Fortſchritte in der An - » ſtrengung. Ich habe genug an » meinen eignen Vorwürfen, warum » muß ich noch welche von dir hö - » ren? « — Eine andre, die Beſchei - denheit, war neidiſch auf die welche ſich die ſchöne Seele nannte und ſprach: » Ich bin böſe mit dir, du » willſt mich[nur] als Mittel brau - » chen. « — Die Decenz, da ſie die arme öffentliche Meinung ſo hülf - los auf dem Rücken liegen ſah, ver - goß drittehalb Thränen und gebehr - dete ſich dann auf eine intereſſanteWeiſe,49Weiſe, das Auge zu trocknen, wel - ches aber gar nicht mehr naß war. — » Wundre dich nicht über dieſe Of - » fenheit, ſagte der Witz; ſie iſt we - » der gewöhnlich noch willkührlich. » Die allmächtige Fantaſie hat dieſe » weſenloſen Schatten mit ihrem Zau - » berſtabe berührt, damit ſie ihr In - » neres offenbaren. Du wirſt gleich » noch mehr hören. Aber die Frech - » heit redet von freyen Stücken ſo. «
» Der junge Schwärmer da, ſagte » die Delikateſſe, ſoll mich recht amü - » ſiren; der wird immer ſchöne Verſe » auf mich machen. Ich werde ihn » in der Ferne halten wie den Ritter. » Der Ritter iſt freylich ſchön, wenn » er nur nicht ſo ernſthaft und feyer - » lich ausſähe. Der klügſte vonLucinde I. D50» allen iſt wohl der Elegant, der jetzt » mit der Beſcheidenheit ſpricht; ich » glaube, er perſifflirt ſie. Wenig - » ſtens hat er über die Sittlichkeit » und ihr fades Geſicht viel hübſches » geſagt. Er hat doch mit mir am » meiſten geſprochen, und könnte mich » wohl einmal verführen, wenn ich » mich nicht anders beſinne, oder » wenn keiner erſcheint, der noch mehr » nach der Mode iſt. « — Der Ritter hatte ſich der Geſellſchaft nun auch genähert; die linke Hand ſtützte ſich auf den Griff des großen Schwerdtes, und mit der rechten bot er den An - weſenden höflichen Gruß. — » Ihr » ſeyd doch alle gewöhnlich und ich » habe Langeweile, « ſagte der mo - derne Mann, gähnte und ging fort. 51Ich ſah nunmehr, daß die Frauen, die ich beym erſten Blick für ſchön gehalten hatte, eigentlich nur blü - hend und artig übrigens aber un - bedeutend waren. Sah man genau zu, ſo fanden ſich ſogar gemeine Züge und Spuren von Verderbt - heit. Die Frechheit ſchien mir nun weniger hart, ich konnte ſie dreiſt anſehen und mußte es mir mit Ver - wunderung geſtehn, daß ihre Bil - dung groß und edel ſey. Sie ging haſtig auf die ſchöne Seele zu und griff ihr gerade ins Geſicht. » Das » iſt nur eine Maske, ſagte ſie; » du biſt nicht die ſchöne Seele, ſon - » dern höchſtens die Zierlichkeit, » oft auch die Coquetterie. « — Dann wandte ſie ſich zum Witz mit denD 252Worten: » Wenn du die gemacht » haſt, die man jetzt Romane nennt, » ſo hätteſt du deine Zeit auch beſſer » anwenden können. Kaum hie und » da finde ich in den beſten etwas » von der leichten Poeſie des flüchti - » gen Lebens: aber wohin iſt ſie ent - » flohen, die kühne Muſik des liebe - » raſenden Herzens, ſie die alles mit » ſich fortreißt, ſo daß der Wildeſte » zärtliche Thränen vergießt und die » ewigen Felſen ſelber tanzen? Kei - » ner iſt ſo albern und keiner ſo nüch - » tern, der nicht von Liebe ſchwatzt: » aber wer ſie noch kennt, hat kein » Herz und keinen Glauben, ſie aus - » zuſprechen. « Der Witz lachte, der himmliſche Jüngling winkte Beyfall aus der Ferne, und ſie fuhr fort:53 » Wenn die, welche unvermögend am » Geiſt ſind, Kinder mit ihm zeugen » wollen; wenn die, welche es gar » nicht verſtehn, zu leben wagen: das » iſt höchſt unanſtändig, denn es iſt » höchſt unnatürlich und höchſt un - » ſchicklich. Aber daß der Wein » ſchäumt und der Blitz zündet, iſt » ganz richtig und ganz ſchicklich. « — Der leichtfertige Roman hatte nun gewählt; er war bey dieſen Worten ſchon um die Frechheit und ſchien ihr ganz ergeben. Sie eilte Arm in Arm mit ihm davon und ſagte nur im Vorbeygehn zu dem Ritter: » Wir ſehn uns wieder. « — » Das » waren nur äußerliche Erſcheinungen, » ſprach mein Beſchützer, und du wirſt » gleich das Innere in dir ſchauen. 54» Übrigens bin ich eine wahre Perſon » und der wahre Witz; das ſchwöre » ich dir bey mir ſelber, ohne den Arm » in die Unendlichkeit auszuſtrecken. « Alles verſchwand nun, und auch der Witz wuchs und dehnte ſich, bis er nicht mehr war. Nicht mehr vor und außer mir, wohl aber in mir glaubte ich ihn wieder zu finden; ein Stück meines Selbſt und doch verſchieden von mir, in ſich leben - dig und ſelbſtſtändig. Ein neuer Sinn ſchien mir aufgethan; ich ent - deckte in mir eine reine Maſſe von mildem Licht. Ich kehrte in mich ſelbſt zurück und in den neuen Sinn, deſſen Wunder ich ſchaute. Er ſah ſo klar und beſtimmt, wie ein gei - ſtiges nach Innen gerichtetes Auge:55 dabey waren aber ſeine Wahrneh - mungen innig und leiſe wie die des Gehörs, und ſo unmittelbar wie die des Gefühls. Ich erkannte bald die Scene der äußern Welt wieder, aber reiner und verklärt, oben den blauen Mantel des Himmels, unten den grünen Teppich der reichen Erde, die bald von fröhlichen Geſtalten wimmelte. Denn was ich nur im Innerſten wünſchte, lebte und drängte ſich gleich hier, ehe ich ſelbſt den Wunſch noch deutlich gedacht hatte. Und ſo ſah ich denn bald bekannte und unbekannte liebe Geſtalten in wunderlichen Masken, wie ein großes Carneval der Luſt und Liebe. Innre Saturnalien, an ſeltſamer Mannich - faltigkeit und Zügelloſigkeit der56 großen Vorwelt nicht unwürdig. Aber nicht lange ſchwärmte das gei - ſtige Bacchanal durch einander, ſo zerriß dieſe ganze innre Welt wie durch einen elektriſchen Schlag und ich vernahm ich weiß nicht wie und woher die geflügelten Worte: » Ver - » nichten und Schaffen, Eins und » Alles; und ſo ſchwebe der ewige » Geiſt ewig auf dem ewigen Welt - » ſtrome der Zeit und des Lebens » und nehme jede kühnere Welle wahr, » ehe ſie zerfließt. « — Furchtbar ſchön und ſehr fremd tönte dieſe Stimme der Fantaſie, aber milder und mehr wie an mich gerichtet die folgenden Worte: » Die Zeit iſt da, das innre » Weſen der Gottheit kann offenbart » und dargeſtellt werden, alle My -57 » ſterien dürfen ſich enthüllen und die » Furcht ſoll aufhören. Weihe dich » ſelbſt ein und verkündige es, daß » die Natur allein ehrwürdig und » die Geſundheit allein liebenswürdig » iſt. « — Bey den geheimnißvollen Worten, die Zeit iſt da, fiel wie eine Flocke von himmliſchem Feuer in meine Seele. Es brannte und zehrte in meinem Mark; es drängte und ſtürmte ſich zu äußern. Ich griff nach Waffen, um mich in das Kriegsgetümmel der Leidenſchaften, die mit Vorurtheilen wie mit Waf - fen wüthen, zu ſtürzen und für die Liebe und die Wahrheit zu kämpfen: aber es waren keine Waffen da. Ich öffnete den Mund, um ſie in Geſang zu verkündigen, und ich58 dachte, alle Weſen müßten ihn ver - nehmen und die ganze Welt ſollte harmoniſch wiederklingen: aber ich beſann mich, daß meine Lippen die Kunſt nicht gelernt hätten, die Ge - ſänge des Geiſtes nachzubilden. — » Du mußt das unſterbliche Feuer » nicht rein und roh mittheilen wol - » len, « ſprach die bekannte Stimme meines freundlichen Begleiters. » Bil - » de, erfinde, verwandle und erhalte » die Welt und ihre ewigen Geſtalten » im ſteten Wechſel neuer Trennun - » gen und Vermählungen. Verhülle » und binde den Geiſt im Buchſta - » ben. Der ächte Buchſtabe iſt all - » mächtig und der eigentliche Zauber - » ſtab. Er iſt es, mit dem die un - » widerſtehliche Willkühr der hohen59 » Zauberin Fantaſie das erhabene » Chaos der vollen Natur berührt, » und das unendliche Wort ans Licht » ruft, welches ein Ebenbild und » Spiegel des göttlichen Geiſtes iſt, » und welches die Sterblichen Uni - » verſum nennen. «
Wie die weibliche Kleidung vor der männlichen, ſo hat auch der weibliche Geiſt vor dem männlichen den Vorzug, daß man ſich da durch eine einzige kühne Combination über alle Vorurtheile der Cultur und bür - gerlichen Conventionen wegſetzen und mit einemmale mitten im Stande der Unſchuld und im Schooß der Natur befinden kann.
60An wen ſollte alſo wohl die Rhe - torik der Liebe ihre Apologie der Natur und der Unſchuld richten als an alle Frauen, in deren zarten Herzen das heilige Feuer der gött - lichen Wolluſt tief verſchloſſen ruht, und nie ganz verlöſchen kann, wenn es auch noch ſo ſehr verwahrloſt und verunreinigt wird? Nächſtdem frey - lich auch an die Jünglinge, und an die Männer die noch Jünglinge ge - blieben ſind. Bey dieſen iſt aber ſchon ein großer Unterſchied zu ma - chen. Man könnte alle Jünglinge eintheilen in ſolche, die das haben, was Diderot die Empfindung des Fleiſches nennt, und in ſolche die es nicht haben. Eine ſeltne Gabe! Viele Maler von Talent und Ein -61 ſicht ſtreben ihr ganzes Leben um - ſonſt danach, und viele Virtuoſen der Männlichkeit vollenden ihre Lauf - bahn, ohne eine Ahndung davon gehabt zu haben. Auf dem gemei - nen Wege kommt man nicht dahin. Ein Libertin mag verſtehen mit ei - ner Art von Geſchmack den Gürtel zu löſen. Aber jenen höhern Kunſt - ſinn der Wolluſt, durch den die männliche Kraft erſt zur Schönheit gebildet wird, lehrt nur die Liebe allein den Jüngling. Es iſt Elek - trizität des Gefühls, dabey aber im Innern ein ſtilles leiſes Lauſchen, im Äußern eine gewiſſe klare Durch - ſichtigkeit, wie in den hellen Stellen der Malerey, die ein reizbares Auge ſo deutlich fühlt. Es iſt eine wun -62 derbare Miſchung und Harmonie aller Sinne: ſo giebt es auch in der Muſik ganz kunſtloſe, reine, tiefe Accente, die das Ohr nicht zu hö - ren, ſondern wirklich zu trinken ſcheint, wenn das Gemüth nach Liebe durſtet. Übrigens aber möchte ſich die Empfindung des Fleiſches nicht weiter definiren laſſen. Das iſt auch unnöthig. Genug ſie iſt für Jüng - linge der erſte Grad der Liebeskunſt und eine angeborne Gabe der Frauen, durch deren Gunſt und Huld allein ſie jenen mitgetheilt, und angebildet werden kann. Mit den Unglückli - chen, die ſie nicht kennen, muß man nicht von Liebe reden: denn von Natur iſt in dem Manne zwar ein Bedürfniß aber kein Vorgefühl der -63 ſelben. Der zweyte Grad hat ſchon etwas Myſtiſches, und könnte leicht vernunftwidrig ſcheinen wie jedes Ideal. Ein Mann der das innere Verlangen ſeiner Geliebten nicht ganz füllen und befriedigen kann, verſteht es gar nicht zu ſeyn, was er doch iſt und ſeyn ſoll. Er iſt eigentlich unvermögend, und kann keine gül - tige Ehe ſchließen. Zwar verſchwin - det auch die höchſte endliche Größe vor dem Unendlichen, und durch bloße Kraft läßt ſich alſo das Pro - blem auch bey dem beſten Willen nicht auflöſen. Aber wer Fantaſie hat, kann auch Fantaſie mittheilen, und wo die iſt, entbehren die Lie - benden gern, um zu verſchwenden; ihr Weg geht nach Innen, ihr Ziel64 iſt intenſive Unendlichkeit, Unzertrenn - lichkeit ohne Zahl und Maaß; und eigentlich brauchen ſie nie zu ent - behren, weil jener Zauber alles zu erſetzen vermag. Aber ſtill von die - ſen Geheimniſſen! Der dritte und höchſte Grad iſt das bleibende Ge - fühl von harmoniſcher Wärme. Wel - cher Jüngling das hat, der liebt nicht mehr bloß wie ein Mann, ſondern zugleich auch wie ein Weib. In ihm iſt die Menſchheit vollendet, und er hat den Gipfel des Lebens erſtiegen. Denn gewiß iſt es, daß Männer von Natur bloß heiß oder kalt ſind: zur Wärme müſſen ſie erſt gebildet werden. Aber die Frauen ſind von Natur ſinnlich und geiſtig warm und haben Sinn für Wärme jeder Art.
Wenn65Wenn dieſes tolle kleine Buch einmal gefunden, vielleicht gedruckt, und gar geleſen wird, ſo muß es auf alle glücklichen Jünglinge un - gefähr den gleichen Eindruck machen. Nur verſchieden nach den verſchiede - nen Stufen ihrer Ausbildung. De - nen vom erſten Grad wird es die Empfindung des Fleiſches erregen; die vom zweyten kann es ganz be - friedigen; und denen vom dritten ſoll bloß warm dabey werden.
Ganz anders würde es mit den Frauen ſeyn. Unter ihnen giebt es keine Ungeweihten; denn jede hat die Liebe ſchon ganz in ſich, von deren unerſchöpflichem Weſen wir Jünglinge nur immer ein wenig mehr lernen und begreifen. SchonLucinde I. E66entfaltet, oder noch im Keime, das iſt gleich viel. Auch das Mädchen weiß in ihrer naiven Unwiſſenheit doch ſchon alles, noch ehe der Blitz der Liebe in ihrem zarten Schooß gezündet, und die verſchloßne Knoſpe zum vollen Blumenkelch der Luſt entfaltet hat. Und wenn eine Knoſpe Gefühl hätte, würde nicht das Vorge - fühl der Blume deutlicher in ihr ſeyn, als das Bewußtſeyn ihrer ſelbſt? —
Darum giebt es in der weibli - chen Liebe keine Grade und Stufen der Bildung, überhaupt nichts all - gemeines; ſondern ſo viel Indivi - duen, ſo viel eigenthümliche Arten. Kein Linné kann uns alle dieſe ſchö - nen Gewächſe und Pflanzen im großen Garten des Lebens klaſſifiziren67 und verderben; und nur der einge - weihte Liebling der Götter verſteht ihre wunderbare Botanik; die gött - liche Kunſt, ihre verhüllten Kräfte und Schönheiten zu errathen und zu erkennen, wann die Zeit ihrer Blüthe ſey und welches Erdreich ſie bedürfen. Da wo der Anfang der Welt oder doch der Anfang der Menſchen iſt, da iſt auch der eigentliche Mittelpunkt der Origina - lität, und kein Weiſer hat die Weib - lichkeit ergründet.
Eines zwar ſcheint die Frauen in zwey große Klaſſen zu theilen. Das nämlich, ob ſie die Sinne ach - ten und ehren, die Natur, ſich ſelbſt und die Männlichkeit: oder ob ſie dieſe wahre innere Unſchuld verlorenE 268haben, und jeden Genuß mit Reue erkaufen, bis zur bittern Gefühllo - ſigkeit gegen innere Misbilligung. Das iſt ja die Geſchichte ſo vieler. Erſt ſcheuen ſie die Männer, dann werden ſie Unwürdigen hingegeben, welche ſie bald haſſen oder betrügen, bis ſie ſich ſelbſt und die weibliche Beſtimmung verachten. Ihre kleine Erfahrung halten ſie für allgemein und alles andre für lächerlich; der enge Kreis von Rohheit und Gemein - heit, in dem ſie ſich beſtändig drehen, iſt für ſie die ganze Welt, und es fällt ihnen gar nicht ein, daß es auch noch andre Welten geben könne. Für dieſe ſind die Männer nicht Men - ſchen, ſondern bloß Männer, eine eigne Gattung, die fatal aber doch69 gegen die Langeweile unentbehrlich iſt. Sie ſelbſt ſind denn auch eine bloße Sorte, eine wie die andre, ohne Originalität und ohne Liebe.
Aber ſind ſie unheilbar weil ſie ungeheilt ſind? Mir iſt es ſo ein - leuchtend und klar, daß nichts un - natürlicher für eine Frau ſey, als Prüderie (ein Laſter an das ich nie ohne eine gewiſſe innerliche Wuth denken kann) und nichts beſchwer - licher als Unnatürlichkeit, daß ich keine Gränze beſtimmen, und keine für unheilbar halten möchte. Ich glaube ihre Unnatur kann nie zu - verläßig werden, wenn ſie auch noch ſo viel Leichtigkeit und Unbefangen - heit darin erlangt haben, bis zu einem Schein von Conſequenz und70 Charakter. Es bleibt doch nur Schein; das Feuer der Liebe iſt durchaus unverlöſchlich, und noch unter der tiefſten Aſche glühen Funken.
Dieſe heilige Funken zu wecken, von der Aſche der Vorurtheile zu reinigen, und wo die Flamme ſchon lauter brennt, ſie mit beſcheidenem Opfer zu nähren; das wäre das höchſte Ziel meines männlichen Ehr - geizes. Laß mich's bekennen, ich liebe nicht dich allein, ich liebe die Weiblichkeit ſelbſt. Ich liebe ſie nicht bloß, ich bete ſie an, weil ich die Menſchheit anbete, und weil die Blume der Gipfel der Pflanze und ihrer natürlichen Schönheit und Bil - dung iſt.
71Es iſt die älteſte kindlichſte ein - fachſte Religion, zu der ich zurück - gekehrt bin. Ich verehre als vor - züglichſtes Sinnbild der Gottheit das Feuer; und wo giebts ein ſchöneres, als das was die Natur tief in die weiche Bruſt der Frauen verſchloß? — Weihe du mich zum Prieſter, nicht um es müßig zu beſchauen, ſondern um es zu befreyen, zu wecken, und zu reinigen: wo es rein iſt, erhält es ſich ſelber, ohne Wache und ohne Veſtalinnen.
Ich ſchreibe und ſchwärme, wie du ſiehſt, nicht ohne Salbung; aber es geſchieht auch nicht ohne Beruf, und zwar göttlichen Beruf. Was darf ſich der nicht zutrauen, zu dem der Witz ſelbſt durch eine Stimme72 vom geöffneten Himmel herab ſprach: » Du biſt mein lieber Sohn an dem » ich Wohlgefallen habe. « — Und warum ſoll ich nicht aus eigner Vollmacht und Willkühr von mir ſagen: » Ich bin des Witzes lieber » Sohn; « wie mancher Edle, der auf Abentheuer durch's Leben wan - derte, von ſich ſagte: » Ich bin des » Glückes lieber Sohn. « —
Übrigens wollte ich eigentlich davon reden, welchen Eindruck die - ſer fantaſtiſche Roman auf die Frauen machen würde, wenn der Zufall oder die Willkühr ihn fände und öffentlich aufſtellte. Es wäre auch in der That unſchicklich, wenn ich dir nicht in aller Kürze mit einigen kleinen Beweiſen von Weiſſagung73 und Divination aufwartete, um mein Recht auf die Prieſterwürde dar - zuthun.
Verſtehen würden mich alle, keine ſo mißverſtehen und ſo mißbrauchen wie die uneingeweihten Jünglinge. Viele würden mich beſſer verſtehen als ich ſelbſt, aber nur Eine ganz, und die biſt du. Alle übrigen hoffe ich wechſelsweiſe anzuziehen und abzuſtoßen, oft zu verletzen und eben ſo oft zu verſöhnen. Bey je - der gebildeten wird der Eindruck ganz verſchieden, und ganz eigen ſeyn; ſo eigen und ſo verſchieden wie ihre eigenthümliche Art zu ſeyn, und zu lieben. Clementinen wird das Ganze bloß intereſſiren als eine Sonderbarkeit, hinter der aber doch74 wohl etwas ſeyn könnte; einiges in - deſſen wird ſie richtig finden. Man nennt ſie hart und heftig, und doch glaube ich an ihre Liebenswürdig - keit. Ihre Heftigkeit verſöhnt mich mit ihrer Härte, obgleich beyde ſich dem äußern Anſchein nach vermeh - ren. Wäre die Härte allein, ſo müßte ſie Kälte und Mangel an Herz ſcheinen; die Heftigkeit zeigt, daß heiliges Feuer da iſt, was durch - brechen will. Du kannſt leicht den - ken wie ſie einem mitſpielen würde, den ſie im Ernſt liebte. Die weiche und verletzbare Roſamunde wird ſich eben ſo oft anneigen als wegwen - den, bis » ſcheue Zartheit kühner » wird und nichts als Unſchuld ſieht » in inn'ger Liebe Thun. « Juliane75 hat eben ſo viel Poeſie als Liebe, eben ſo viel Enthuſiasmus als Witz: aber beydes iſt zu iſolirt in ihr, da - rum wird ſie bisweilen über das kühne Chaos weiblich erſchrecken, und dem Ganzen etwas mehr Poeſie und etwas weniger Liebe wünſchen.
Ich könnte ſo noch lange fort - fahren, denn ich ſtrebe aus allen Kräften nach Menſchenkenntniß, und ich weiß meine Einſamkeit oft nicht würdiger anzuwenden, als indem ich darüber reflektire, wie dieſe oder jene intereſſante Frau in dieſem oder jenem intereſſanten Verhältniſſe wohl ſeyn und ſich verhalten dürfte. Doch genug für jetzt, ſonſt möchte es dir zu viel werden, und die Vielſeitig - keit deinem Propheten übel gerathen.
76Denke nur nicht ſo arg von mir und glaube, daß ich nicht allein für dich ſondern für die Mitwelt dichte. Glaube mir, es iſt mir bloß um die Objektivität meiner Liebe zu thun. Dieſe Objektivität und jede Anlage zu ihr beſtätigt und bildet ja eben die Magie der Schrift, und weil es mir verſagt iſt, meine Flamme in Geſänge auszuhauchen, muß ich den ſtillen Zügen das ſchöne Ge - heimniß vertrauen. Dabey denke ich aber eben ſo wenig an die ganze Mitwelt, als an die Nachwelt. Und muß es ja eine Welt ſeyn, an die ich denken ſoll: ſo ſey es am liebſten die Vorwelt. Die Liebe ſelbſt ſey ewig neu und ewig jung, aber ihre Sprache ſey frey und kühn,77 nach alter klaſſiſcher Sitte, nicht züch - tiger wie die römiſche Elegie und die Edelſten der größten Nazion, und nicht vernünftiger wie der große Plato und die heilige Sappho.
» Sieh ich lernte von ſelbſt, und » ein Gott hat mancherley Weiſen » mir in die Seele gepflanzt. « So darf ich kühnlich ſagen, wenn nicht von der fröhlichen Wiſſenſchaft der Poeſie die Rede iſt, ſondern von der gottähnlichen Kunſt der Faul - heit. Mit wem ſollte ich alſo lie - ber über den Müſſiggang denken und reden als mit mir ſelbſt? Und ſo ſprach ich denn auch in jener un - ſterblichen Stunde, da mir der Genius78 eingab, das hohe Evangelium der ächten Luſt und Liebe zu verkündi - gen, zu mir ſelbſt: » O Müſſig - » gang, Müſſiggang! du biſt die Le - » bensluft der Unſchuld und der Be - » geiſterung; dich athmen die See - » ligen, und ſeelig iſt wer dich hat » und hegt, du heiliges Kleinod! ein - » ziges Fragment von Gottähnlich - » keit, das uns noch aus dem Pa - » radieſe blieb. « Ich ſaß, da ich ſo in mir ſprach, wie ein nachdenkli - ches Mädchen in einer gedankenloſen Romanze am Bach, ſah den fliehen - den Wellen nach. Aber die Wellen flohen und floßen ſo gelaſſen, ruhig und ſentimental, als ſollte ſich ein Narciſſus in der klaren Fläche be - ſpiegeln und ſich in ſchönen79 Egoiſmus berauſchen. Auch mich hätte ſie locken können, mich immer tiefer in die innere Perſpektive mei - nes Geiſtes zu verlieren, wenn nicht meine Natur ſo uneigennützig und ſo praktiſch wäre, daß ſogar meine Spekulazion unaufhörlich nur um das allgemeine Gute beſorgt iſt. Daher dachte ich auch, ungeachtet mein Gemüth in ſeiner Behaglichkeit ſo matt war, wie die von der ge - waltigen Hitze aufgelöſten und hin - geſunknen Glieder, ernſtlich über die Möglichkeit einer dauernden Umar - mung nach. Ich ſann auf Mittel das Beyſammenſeyn zu verlängern, und künftig lieber alle kindlich rüh - renden Elegieen über plötzliche Tren - nung zu verhüten, als uns wie bis -80 her an dem Komiſchen einer ſolchen Fügung des Schickſals zu ergötzen, weil es nun doch einmal geſchehen und unabänderlich ſey. Erſt nach - dem die Kraft der angeſpannten Vernunft an der Unerreichbarkeit des Ideals brach und erſchlaffte, über - ließ ich mich dem Strome der Ge - danken, und hörte willig alle die bunten Mährchen an, mit denen Begierde und Einbildung, unwider - ſtehliche Sirenen in meiner eignen Bruſt, meine Sinne bezauberten. Es fiel mir nicht ein das verführeriſche Gaukelſpiel unedel zu kritiſiren, un - geachtet ich wohl wußte, daß das meiſte nur ſchöne Lüge ſey. Die zarte Muſik der Fantaſie ſchien die Lücken der Sehnſucht auszufüllen. Dank -81Dankbar nahm ich das wahr und beſchloß, was das hohe Glück mir diesmal gegeben, auch künftig durch eigne Erfindſamkeit für uns beide zu wiederholen, und dir dieſes Ge - dicht der Wahrheit zu beginnen. So erzeugte ſich der erſte Keim zu dem wunderſamen Gewächs von Willkühr und Liebe. Und frey wie es ent - ſproſſen iſt, dacht 'ich, ſoll es auch üppig wachſen und verwildern, und nie will ich aus niedriger Ordnungs - liebe und Sparſamkeit die lebendige Fülle von überflüſſigen Blättern und Ranken beſchneiden.
Gleich einem Weiſen des Orients war ich ganz verſunken in ein hei - liges Hinbrüten und ruhiges An - ſchauen der ewigen Subſtanzen, vor -Lucinde I. F82züglich der deinigen und der meini - gen. Größe in Ruhe, ſagen die Meiſter, ſey der höchſte Gegenſtand der bildenden Kunſt; und ohne es deutlich zu wollen, oder mich un - würdig zu bemühen, bildete und dichtete ich auch unſre ewigen Sub - ſtanzen in dieſem würdigen Styl. Ich erinnerte mich, und ich ſah uns, wie gelinder Schlaf die Umarmten mitten in der Umarmung umfing. Dann und wann öffnete einer die Augen, lächelte über den ſüßen Schlaf des andern und wurde wach genug um ein ſcherzendes Wort, eine Liebkoſung zu beginnen: aber noch ehe der angefangene Muth - wille geendigt war, ſanken wir beide feſt verſchlungen in den ſeeligen83 Schooß einer halbbeſonnenen Selbſt - vergeſſenheit zurück.
Mit dem äußerſten Unwillen dachte ich nun an die ſchlechten Menſchen, welche den Schlaf vom Leben ſubtrahiren wollen. Sie ha - ben wahrſcheinlich nie geſchlafen, und auch nie gelebt. Warum ſind denn die Götter Götter, als weil ſie mit Bewußtſeyn und Abſicht nichts thun, weil ſie das verſtehen und Meiſter darin ſind? Und wie ſtreben die Dichter, die Weiſen und Heiligen auch darin den Göttern ähnlich zu werden! Wie wetteifern ſie im Lobe der Einſamkeit, der Muße, und ei - ner liberalen Sorgloſigkeit und Un - thätigkeit! Und mit großem Recht: denn alles Gute und Schöne iſtF 284ſchon da und erhält ſich durch ſeine eigne Kraft. Was ſoll alſo das un - bedingte Streben und Fortſchreiten ohne Stillſtand und Mittelpunkt? Kann dieſer Sturm und Drang der unendlichen Pflanze der Menſchheit, die im Stillen von ſelbſt wächſt und ſich bildet, nährenden Saft oder ſchöne Geſtaltung geben? Nichts iſt es, dieſes leere unruhige Treiben, als eine nordiſche Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigne. Und womit beginnt und endigt es als mit der Antipathie ge - gen die Welt, die jetzt ſo gemein iſt? Der unerfahrne Eigendünkel ahndet gar nicht daß dies nur Man - gel an Sinn und Verſtand ſey und hält es für hohen Unmuth über die85 allgemeine Häßlichkeit der Welt und des Lebens, von denen er doch noch nicht einmal das leiſeſte Vorgefühl hat. Er kann es nicht haben, denn der Fleiß und der Nutzen ſind die To - desengel mit dem feurigen Schwerdt, welche dem Menſchen die Rückkehr ins Paradies verwehren. Nur mit Gelaſſenheit und Sanftmuth, in der heiligen Stille der ächten Paſſivität kann man ſich an ſein ganzes Ich erinnern, und die Welt und das Le - ben anſchauen. Wie geſchieht alles Denken und Dichten als daß man ſich der Einwirkung irgend eines Genius ganz überläßt und hingiebt? Und doch iſt das Sprechen und Bilden nur Nebenſache in allen Kün - ſten und Wiſſenſchaften, das Weſent -86 liche iſt das Denken und Dichten, und das iſt nur durch Paſſivität möglich. Freylich iſt es eine abſicht - liche, willkührliche, einſeitige, aber doch Paſſivität. Je ſchöner das Klima iſt, je paſſiver iſt man. Nur Italiäner wiſſen zu gehen, und nur die im Orient verſtehen zu liegen; wo hat ſich aber der Geiſt zarter und ſüßer gebildet als in Indien? Und unter allen Himmelsſtrichen iſt es das Recht des Müſſiggangs was Vornehme und Gemeine unterſchei - det, und das eigentliche Prinzip des Adels.
Endlich wo iſt mehr Genuß, und mehr Dauer, Kraft und Geiſt des Genuſſes; bey den Frauen, deren Verhältniß wir Paſſivität nennen,87 oder etwa bey den Männern, bey denen der Übergang von übereilen - der Wuth zur Langenweile ſchneller iſt, als der Übergang vom Guten zum Böſen?
In der That man ſollte das Studium des Müſſiggangs nicht ſo ſträflich vernachläſſigen, ſondern es zur Kunſt und Wiſſenſchaft, ja zur Religion bilden! Um alles in Eins zu faſſen: je göttlicher ein Menſch oder ein Werk des Menſchen iſt, je ähnlicher werden ſie der Pflanze; dieſe iſt unter allen Formen der Na - tur die ſittlichſte, und die ſchönſte. Und alſo wäre ja das höchſte vol - lendetſte Leben nichts als ein reines Vegetiren.
Ich nahm mir vor, mich zufrie -88 den im Genuß meines Daſeyns über alle doch endliche, und alſo verächt - liche Zwecke und Vorſätze zu erhe - ben. Die Natur ſelbſt ſchien mich in dieſem Unternehmen zu beſtärken, und mich gleichſam in vielſtimmigen Chorälen zum fernern Müſſiggang zu ermahnen, als ſich plötzlich eine neue Erſcheinung offenbarte. Ich glaubte unſichtbarerweiſe in einem Theater zu ſeyn: auf der einen Seite zeigten ſich die bekannten Bretter, Lampen, und bemalten Pappen; auf der andern ein unermeßliches Ge - dränge von Zuſchauern, ein wahres Meer von wißbegierigen Köpfen und theilnehmenden Augen. An der rech - ten Seite des Vorgrundes war ſtatt der Dekoration ein Prometheus ab -89 gebildet, der Menſchen verfertigte. Er war an einer langen Kette ge - feſſelt, und arbeitete mit der größten Haſt und Anſtrengung; auch ſtan - den einige ungeheure Geſellen da - neben, die ihn unaufhörlich antrie - ben und geiſſelten. Leim und an -[der] Materialien waren im Überfluß da; das Feuer nahm er aus einer großen Kohlenpfanne. Gegenüber zeigte ſich auch als ſtumme Figur der vergötterte Herkules wie er ab - gebildet wird mit der Hebe auf dem Schooß. Vorn auf der Bühne lie - fen und ſprachen eine Menge ju - gendlicher Geſtalten, die ſehr fröh - lich waren, und nicht bloß zum Schein lebten. Die jüngſten glichen Amorinen, die mehr erwachſenen90 den Bildern von Faunen: aber jeder hatte ſeine eigne Manier, eine auf - fallende Originalität des Geſichts, und alle hatten irgend eine Ähnlich - keit von dem Teufel der chriſtlichen Maler oder Dichter; man hätte ſie Satanisken nennen mögen. Einer der kleinſten ſagte: » Wer nicht ver - » achtet, der kann auch nicht achten; » beides kann man nur unendlich, » und der gute Ton beſteht darin, » daß man mit den Menſchen ſpielt. » Iſt alſo nicht eine gewiſſe äſtheti - » ſche Bosheit ein weſentliches Stück » der harmoniſchen Ausbildung? « » Nichts iſt toller, ſagte ein andrer, » als wenn die Moraliſten Euch » Vorwürfe über den Egoiſmus ma - » chen. Sie haben vollkommen Un -91 » recht: denn welcher Gott kann dem » Menſchen ehrwürdig ſeyn, der » nicht ſein eigner Gott iſt? Ihr irrt » freylich darin, daß Ihr ein Ich zu » haben glaubt; aber wenn ihr in - » deſſen euren Leib und Namen oder » eure Sachen dafür haltet, ſo wird » doch wenigſtens ein Logis bereitet, » wenn etwa ja noch ein Ich kom - » men ſollte. « — » Und dieſen Pro - » metheus könnt ihr nur recht in Eh - » ren halten, ſagte einer der größten; » er hat euch alle gemacht, und macht » immer mehrere eures gleichen. « — In der That warfen auch die Ge - ſellen jeden neuen Menſchen, ſo wie er fertig war, unter die Zuſchauer herab, wo man ihn ſogleich gar nicht mehr unterſcheiden konnte, ſo92 ähnlich waren ſie alle. » Er fehlt » nur in der Methode! « fuhr der Sataniskus fort: » Wie kann man » allein Menſchen bilden wollen? » Das ſind gar nicht die rechten » Werkzeuge. « Und dabey winkte er auf eine rohe Figur vom Gott der Gärten, die ganz im Hintergrunde der Bühne zwiſchen einem Amor und einer ſehr ſchönen unbekleideten Venus ſtand. » Darin dachte unſer » Freund Herkules richtiger, der funf - » zig Mädchen in einer Nacht für » das Heil der Menſchheit beſchäftigen » konnte, und zwar heroiſche. Er hat » auch gearbeitet und viel grimmige » Unthiere erwürgt, aber das Ziel » ſeiner Laufbahn war doch immer » ein edler Müſſiggang, und darum93 » iſt er auch in den Olymp gekom - » men. Nicht ſo dieſer Prometheus, » der Erfinder der Erziehung und Auf - » klärung. Von ihm habt ihr es, daß » ihr nie ruhig ſeyn könnt, und euch » immer ſo treibt; daher kommt es, » daß ihr, wenn ihr ſonſt gar nichts » zu thun habt, auf eine alberne » Weiſe ſogar nach Charakter ſtreben » müßt, oder euch einer den andern » beobachten und ergründen wollt. » Ein ſolches Beginnen iſt niederträch - » tig. Prometheus aber, weil er die » Menſchen zur Arbeit verführt hat, » ſo muß er nun auch arbeiten, er » mag wollen oder nicht. Er wird » noch Langeweile genug haben, und » nie von ſeinen Feſſeln frey werden. « Da dies die Zuſchauer hörten, brachen94 ſie in Thränen aus, und ſprangen auf die Bühne um ihren Vater der lebhafteſten Theilnahme zu verſichern; und ſo verſchwand die allegoriſche Komödie.
Du biſt doch allein Lucinde? — Ich weiß nicht ... vielleicht ... ich glaube — Bitte, Bitte! liebe Lu - cinde. Weißt du wohl wenn die kleine Wilhelmine, Bitte, Bitte! ſagt, und man thut's nicht gleich, ſo ſchreyt ſie's immer lauter und ernſt - hafter, bis ihr Wille geſchieht. — Alſo das haſt du mir ſagen wollen, darum ſtürzeſt du ſo außer Athem ins Zimmer und haſt mich ſo er - ſchreckt? — Sey nicht böſe, ſüßes95 Weib! o laß mich, mein Kind! du Schöne! mach mir keine Vorwürfe, gutes Mädchen! — Nun wirſt du noch nicht bald ſagen: ſchließ die Thüren zu? — So? ... Gleich will ich dir antworten. Nur erſt einen recht langen Kuß, und wieder einen, dann noch einige und viele andre mehr. — O, du mußt mich nicht ſo küſſen wenn ich vernünftig bleiben ſoll. Das macht böſe Gedanken. — Die verdienſt du. Kannſt du wirk - lich lachen, meine verdrießliche Dame? Wer hätte das denken ſollen! aber ich weiß wohl, du lachſt bloß weil du mich auslachen kannſt. Aus Luſt thuſt du es nicht. Denn wer ſah nur eben ſo ernſthaft aus wie ein römiſcher Senator? Recht ent -96 zückend hätteſt du ausſehen können, liebes Kind! mit deinen heiligen dunkeln Augen, mit deinen langen ſchwarzen Haaren im glänzenden Wiederſchein der Abendſonne, wenn du nicht da geſeſſen hätteſt, als ſäßeſt du zu Gericht. Bey Gott! du haſt mich ſo angeblickt, daß ich or - dentlich zurückfuhr. Ich hätte bald das wichtigſte vergeſſen, und bin ganz in Confuſion gerathen. Aber warum ſprichſt du denn gar nicht? Bin ich dir zuwider? — Nun das iſt komiſch! du närriſcher Julius! wen läßt du zum Reden kommen? deine Zärtlichkeit fließt heute ja wie ein Platzregen. — Wie dein Geſpräch in der Nacht. — O das Halstuch laſſen Sie nur, mein Herr. — Laſſen? Nichts97Nichts weniger als das. Was ſoll ſo ein elendes dummes Halstuch? Vorurtheile! Aus der Welt muß es. — Wenn uns nur nicht jemand ſtört! — Sieht ſie nicht ſchon wie - der aus, als ob ſie weinen wollte! Du biſt doch wohl? Warum ſchlägt dein Herz ſo unruhig? Komm laß mich's küſſen. Ja du ſagteſt vorhin von Thüren zuſchließen. Gut, aber ſo nicht, nicht hier. Geſchwind her - unter durch den Garten, nach dem Pavillon, wo die Blumen ſtehn. Komm! o laß mich nicht ſo lange warten. — Wie Sie befehlen mein Herr! — Ich weiß nicht, du biſt heute ſo ſonderbar. — Wenn du an - fängſt zu moraliſiren, lieber Freund, ſo könnten wir eben ſo gut wiederLucinde I. G98zurückgehen. Lieber gebe ich dir noch einen Kuß und laufe voran. — O fliehen Sie nicht ſo ſchnell Lucinde, die Moral wird Sie doch nicht ein - holen. Du wirſt fallen, Liebe! — Ich habe dich nicht länger warten laſſen wollen. Nun ſind wir ja da. Und du biſt auch eilig. — Und du ſehr gehorſam. Aber jetzt iſt nicht Zeit zu ſtreiten. — Ruhig, ruhig! — Siehſt du, hier kannſt du weichlich ruhn und wie es recht iſt. Nun wenn du diesmal nicht ... ſo haſt du gar keine Entſchuldigung. — Wirſt du nicht wenigſtens erſt den Vorhang niederlaſſen? — Du haſt Recht, die Beleuchtung wird ſo viel reizender. Wie ſchön glänzt dieſe weiße Hüf - te in dem rothen Schein! .... Warum99 ſo kalt, Lucinde? — Lieber, ſetze die Hyacinthen weiter weg, der Geruch betäubt mich. — Wie feſt und ſelbſt - ſtändig, wie glatt und fein! Das iſt harmoniſche Ausbildung. — O nein, Julius! laß, ich bitte dich, ich will nicht. — Darf ich nicht fühlen, ob du glühſt wie ich? O ſo laß mich doch die Schläge deines Herzens lau - ſchen, die Lippen in dem Schnee des Buſens kühlen! .... Kannſt du mich wegdrücken? Ich werde mich rächen. Umarme mich feſter, Kuß gegen Kuß; nein! nicht mehre einen ew - gen. Nimm meine Seele ganz und gieb mir deine! .... O ſchönes herrliches Zugleich! Sind wir nicht Kinder? Sprich doch! wie konn - teſt du nur erſt ſo gleichgültigG 2100und kalt ſeyn, und nachher wie du mich endlich feſter an dich zogſt, machteſt du in demſelben Augenblick ein Geſicht, als wenn dir etwas weh thäte, als ob es dir leid wäre, daß du meine Gluth erwiederteſt. Was iſt dir? du weinſt? Verbirg nicht dein Geſicht! Sieh mich an, Geliebte! — O laß mich hier an dich liegen, ich kann dir nicht in die Augen ſehen. Es war recht ſchlecht von mir, Julius! Kannſt du mir verzeihen, du liebenswürdiger Mann! Wirſt du mich nicht verlaſſen? kannſt du mich noch lieben? — Komm zu mir, mein ſüßes Weib! hier an mei - nem Herzen. Weißt du noch neu - lich, wie ſchön es war, wie du in meinen Armen weinteſt? wie leicht101 dir wurde? Aber ſprich nun auch, was iſt dir, Liebe? biſt du böſe auf mich? — Auf mich bin ich böſe. Ich könnte mich ſchlagen ... Dir freylich wäre ganz Recht geſchehen; und wenn Sie ſich künftig wieder einmal ehemännlich betragen, mein Herr! ſo werde ich ſchon beſſer da - für ſorgen, daß Sie mich auch wie eine Ehefrau finden ſollen. Darauf kannſt du dich verlaſſen. Ich muß lachen, wie es mich überraſcht hat. Aber bilden Sie ſich nur nicht ein, mein Herr, daß du ſo unmenſchlich liebenswürdig biſt. Diesmal war es eigner Wille, daß ich meinen Vor - ſatz brach. — Der erſte und der letzte Wille iſt immer der beſte. Da - für daß die Frauen meiſtens weniger102 ſagen, als ſie meinen, thun ſie bis - weilen mehr als ſie wollen. Das iſt nicht mehr als billig: der gute Wille verführt euch. Der gute Wille iſt etwas ſehr gutes, aber das iſt ſchlimm an ihm, daß er immer da iſt, auch wenn man ihn nicht will. — Das iſt ein ſchöner Fehler. Aber ihr ſeyd voll von böſem Willen und verſtockt euch darin. — O nein! wenn wir verſtockt ſcheinen, ſo iſts bloß weil wir nicht anders können und alſo nicht böſe. Wir können nicht, weil wir nicht recht wollen; es iſt alſo nicht böſer Wille, ſondern Man - gel an Willen. Und an wem liegt da wieder die Schuld als an euch, daß ihr uns nicht mittheilen wollt von eurem Überfluß, und den guten103 Willen allein behalten wollt? Übri - gens iſts ganz wider Willen geſche - hen, daß ich hier ſo in den Willen gerathen bin, und ich weiß ſelbſt nicht was wir damit wollen. In - deſſen iſts immer beſſer, wenn ich mein Müthchen an einigen Worten kühle, als wenn ich das ſchöne Por - cellan zerſchlüge. Bey dieſer Ge - legenheit habe ich mich doch von meinem erſten Erſtaunen über Ihr unerwartetes Pathos, Ihre vortref - liche Rede und Ihren rühmlichen Vorſatz etwas erholen können. In der That iſt dies einer der ſeltſam - ſten Streiche von denen, die Sie mir die Ehre verſchafft haben kennen zu lernen; und ſoviel ich mich er - innern kann, haben Sie ſchon ſeit104 einigen Wochen bey Tage nicht in ſo geſetzten und vollen Perioden ge - redet, wie in Ihrer gegenwärtigen Predigt. Iſt es Ihnen gefällig, Ihre Meinung in Proſa zu über - ſetzen? — Haſt du den geſtrigen Abend und die intereſſante Geſell - ſchaft wirklich ſchon ganz vergeſſen? Freylich, das wußte ich nicht. — Alſo darüber biſt du böſe, weil ich zu viel mit Amalien geſprochen habe? — Sprechen Sie doch ſo viel Sie wollen und mit wem Sie wol - len. Aber artig ſollſt du mir be - gegnen, das will ich haben. — Du ſprachſt ſo ſehr laut, der Fremde ſtand gleich daneben, ich war ängſt - lich und wußte mir nicht anders zu helfen. — Als unartig zu ſeyn, weil105 du ungeſchickt warſt? — Verzeih mir nur! Ich bekenne mich ſchuldig, du weißt wie verlegen ich mit dir in Geſellſchaft bin. Es thut mir leid in Gegenwart der Andern mit dir zu ſprechen. — Wie ſchön weiß er ſich heraus zu reden! — Laß mir ſo etwas nie hingehen, und ſey recht aufmerkſam und ſtrenge. Aber ſieh, was du nun gethan haſt! Iſt es nicht Entweihung? O nein! es iſt nicht möglich, es iſt mehr als das. Geſteh mir's nur, es war Eifer - ſucht. — Den ganzen Abend hatteſt du mich unfreundlich vergeſſen. Ich wollte dir heute früh alles ſchreiben, aber ich habe es wieder zerriſſen. — Und da ich eben kam? — Verdroß mich deine gewaltige Eil. — Könnteſt106 du mich lieben, wenn ich nicht ſo brennbar und elektriſch wäre? biſt du es nicht auch? haſt du unſre erſte Umarmung vergeſſen? In einem Augenblick iſt die Liebe da, ganz und ewig, oder gar nicht. Alles Göttliche und alles Schöne iſt ſchnell und leicht. Oder ſammelt die Freude ſich etwa ſo wie Geld und andre Materien durch ein conſequentes Be - tragen? Wie eine Muſik aus der Luſt, überraſcht uns das hohe Glück, erſcheint und verſchwindet. — So biſt du mir erſchienen, du Theurer! Aber willſt du mir verſchwinden? Das ſollſt du nicht, ich ſage es dir. — Ich will nicht. Ich will bey dir bleiben, überhaupt, und auch jetzt. Höre ich habe große Luſt107 einen langen Diſkurs über die Eifer - ſucht mit dir zu halten: aber eigent - lich ſollten wir erſt die beleidigten Götter verſöhnen. — Lieber erſt den Diſkurs, und hernach die Götter. — Du haſt Recht, wir ſind noch nicht würdig, und du fühlſt es lange nach, wann du geſtört und verſtimmt wurdeſt. Wie ſchön iſt es daß du ſo empfindlich biſt! — Ich bin nicht empfindlicher wie du, nur anders. — Nun ſo ſage mir: ich bin nicht eiferſüchtig; wie kommts, daß du eiferſüchtig biſt? — Bin ich's denn ohne Urſache? Antworten Sie mir! — Ich weiß ja nicht was du meinſt. — Nun eiferſüchtig bin ich eigentlich nicht; aber ſage mir, was Ihr den ganzen Abend zuſammen108 geſprochen habt? — Auf Amalien alſo? iſt das möglich? So eine Kin - derey! Von gar nichts habe ich mit ihr geſprochen, und darum war es amüſant. Und habe ich nicht eben ſo lange mit Antonio geſprochen, den ich doch eine Zeit her faſt alle Tage ſah? — Ich ſoll alſo wohl glauben, du ſprichſt mit der koquet - ten Amalia wie mit dem ſtillen ernſt - haften Antonio? Nicht wahr, es iſt nichts wie klare reine Freundſchaft? — O nein, das ſollſt du nicht glau - ben, und mußt es auch nicht glau - ben; ſo iſt es gar nicht. Wie kannſt du mir eine ſolche Albernheit zu - traun? denn etwas recht albernes iſt es, wenn ſo zwey Perſonen von verſchiedenem Geſchlecht ſich ein Ver -109 hältniß ausbilden und einbilden, wie reine Freundſchaft. Mit Amalien iſt es gar nichts, als daß ich ſie zum Scherz liebe. Ich möchte ſie gar nicht, wenn ſie nicht ein wenig koquett wäre. Gäbe es nur mehr ſolche in unſerm Cirkel! eigentlich muß man alle Frauen im Scherze lieben. — Julius! ich glaube, du wirſt ganz närriſch. — Nun verſteh mich wohl; nicht eigentlich alle, ſondern nur alle, die liebenswürdig ſind und die einem eben vorkommen. — Das iſt alſo weiter nichts als was die Franzoſen Galanterie und Coquett nennen. — Weiter nichts, außer daß ichs mir ſchön und witzig denke. Und dann müſſen die Menſchen wiſ - ſen, was ſie thun und was ſie110 wollen, und das iſt ſelten der Fall. Der feine Scherz verwandelt ſich in ihren Händen gleich wieder in gro - ben Ernſt. — Dieſes im Scherz lie - ben iſt nur gar nicht ſcherzhaft zu - zuſehen. — Daran iſt der Scherz unſchuldig; das iſt nichts wie die fatale Eiferſucht. Verzeih mir, Liebe! ich will nicht auffahren, aber ich begreife durchaus nicht wie man ei - ferſüchtig ſeyn kann: denn Beleidi - gungen finden ja nicht Statt unter Liebenden, ſo wenig wie Wohltha - ten. Alſo muß es Unſicherheit ſeyn, Mangel an Liebe und Untreue ge - gen ſich ſelbſt. Für mich iſt das Glück gewiß und die Liebe Eins mit der Treue. Freylich wie die Men - ſchen ſo lieben, iſt es etwas anders. 111Da liebt der Mann in der Frau nur die Gattung, die Frau im Mann nur den Grad ſeiner natür - lichen Qualitäten und ſeiner bürger - lichen Exiſtenz, und beyde in den Kindern nur ihr Machwerk und ihr Eigenthum. Da iſt die Treue ein Verdienſt und eine Tugend; und da iſt auch die Eiferſucht an ihrer Stelle. Denn darin fühlen ſie un - gemein richtig, daß ſie ſtillſchwei - gend glauben, es gäbe ihres Glei - chen viele, und einer ſey als Menſch ungefähr ſo viel werth wie der andre, und alle zuſammen nicht eben ſonderlich viel. — Du hältſt alſo die Eiferſucht für nichts anders als leere Rohheit und Unbildung. — Ja oder für Mißbildung und Verkehrtheit,112 was eben ſo arg, oder noch ärger iſt. Nach jenem Syſtem iſt es noch das beſte, wenn man mit Abſicht aus bloßer Gefälligkeit und Höflich - keit heirathet; und gewiß muß es für ſolche Subjekte eben ſo bequem als unterhaltend ſeyn, im Verhält - niß der Wechſelverachtung neben einander weg zu leben. Beſonders die Frauen können eine ordentliche Paſſion für die Ehe bekommen; und wenn eine ſolche erſt Geſchmack da - ran findet, ſo geſchieht es leicht, daß ſie ein halbes Dutzend nach einan - der heirathet, geiſtig oder leiblich; wo es denn nie an Gelegenheit ge - bricht, mit Abwechſelung delikat zu ſeyn und viel von der Freundſchaft zu reden. — Du haſt ſchon vorhinſo113ſo geſprochen als hielteſt du uns zur Freundſchaft unfähig. Iſt das wirk - lich deine Meinung? — Ja! aber die Unfähigkeit, glaube ich, liegt mehr in der Freundſchaft als in euch. Ihr liebt alles was ihr liebt ganz, wie den Geliebten und das Kind. Dieſen Charakter würde ſelbſt ein ſchweſterliches Verhältniß bey euch annehmen. — Darin haſt du Recht. — Die Freundſchaft iſt für euch zu vielſeitig und zu einſeitig. Sie muß ganz geiſtig ſeyn und durchaus be - ſtimmte Gränzen haben. Dieſe Ab - ſonderung würde euer Weſen nur auf eine feinere Art eben ſo vollkom - men zerſtören wie bloße Sinnlichkeit ohne Liebe. Für die Geſellſchaft aber iſt ſie zu ernſt, zu tief und zuLucinde I. H114heilig. — Können denn Menſchen nicht mit einander reden, ohne da - nach zu fragen, ob ſie Männer oder Frauen ſind? — Das dürfte ſehr ernſthaft ausfallen. Aufs höchſte möchte es einen intereſſanten Klubb geben. Du verſtehſt was ich meine. Es wäre ſchon viel, wenn man da frey und witzig reden dürfte, und weder zu wild noch zu ſteif wäre. Das Feinſte und das Beſte würde immer fehlen, was überall, wo ſich ein bischen gute Geſellſchaft zeigt, Geiſt und Seele davon iſt. Und das iſt der Scherz mit der Liebe und die Liebe zum Scherz, der ohne den Sinn für jenen zum Spaß her - abſinkt. Aus dieſem Grunde nehme ich auch die Zweydeutigkeiten in115 Schutz. — Thuſt du das im Scherz oder zum Spaß? — Nein, nein! ich thue es im vollen Ernſt. — Aber doch nicht ſo ernſthaft und ſo feyer - lich wie Paulline und ihr Liebha - ber? — Gott behüte! ich glaube, die ließen die Betglocken anziehen, wenn ſie ſich umarmen, falls es nur ſchick - lich wäre. O! es iſt wahr, meine Freundin, der Menſch iſt von Na - tur eine ernſthafte Beſtie. Man muß dieſem ſchändlichen und leidigen Han - ge aus allen Kräften und von allen Seiten entgegenarbeiten. Dazu ſind die Zweydeutigkeiten auch gut, nur ſind ſie ſo ſelten zweydeutig, und wenn ſie es nicht ſind und nur ei - nen Sinn zulaſſen, das iſt eben nicht unſittlich, aber zudringlich undH 2116platt. Leichtfertige Geſpräche müſſen geiſtig und zierlich und beſcheiden ſeyn, ſo viel als möglich; übrigens aber ruchlos genug. — Das iſt gut, aber was ſollen ſie grade in der Geſellſchaft? — Sie ſollen das Ge - ſpräch friſch erhalten, wie das Salz an den Speiſen. Es frägt ſich gar nicht, warum man ſie ſagen ſoll, ſondern nur wie man ſie ſagen ſoll. Denn laſſen kann und darf mans doch nicht. Es wäre ja grob mit einem reizenden Mädchen ſo zu re - den, als ob ſie ein geſchlechtsloſes Amphibion wäre. Es iſt Pflicht und Schuldigkeit immer auf das anzu - ſpielen, was ſie iſt und ſeyn wird; und ſo unzart, ſteif und ſchuldig, wie die Geſellſchaft einmal beſteht,117 iſt es wirklich eine komiſche Situa - zion, ein unſchuldiges Mädchen zu ſeyn. — Das erinnert mich an den berühmten Buffo der ſelbſt oft ſehr traurig war, während er alle zu lachen machte. — Die Geſellſchaft iſt ein Chaos, das nur durch Witz zu bilden und in Harmonie zu bringen iſt; und wenn man nicht ſcherzt und tändelt mit den Elementen der Lei - denſchaft, ſo ballt ſie ſich in dicke Maſſen und verfinſtert alles. — So mögen hier wohl Leidenſchaften in der Luft ſeyn: denn es iſt beynah finſter. — Gewiß haben Sie Ihre Augen zugeſchloſſen, Dame meines Herzens! Sonſt würde eine allge - meine Klarheit unfehlbar das Zim - mer durchſtrahlen. — Wer iſt wohl118 leidenſchaftlicher, Julius! ich oder du? — Wir ſind's beide genug. Ohne das möchte ich nicht leben. Und ſieh! darum könnte ich mich mit der Eiferſucht ausſöhnen. Es iſt alles in der Liebe: Freundſchaft, ſchöner Umgang, Sinnlichkeit und auch Leidenſchaft; und es muß alles darin ſeyn, und eins das andre ver - ſtärken und lindern, beleben und er - höhen. — Laß dich umarmen, du Treuer! — Aber nur unter einer Bedingung kann ich dir die Eifer - ſucht erlauben[.]Ich habe oft ge - fühlt, daß eine kleine Doſis von ge - bildetem, verfeinertem Zorn einen Mann nicht übel kleidet. Vielleicht iſt's dir ſo mit der Eiferſucht. — Getroffen! und alſo brauche ich ſie119 nicht ganz abzuſchwören. — Wenn ſie ſich nur immer ſo ſchön und ſo witzig äußerte wie heute bey dir! — Findeſt du das? Nun wenn du das nächſtemal ſchön und witzig auf - fährſt, werde ich dir's auch ſagen und dich loben. — Sind wir nun nicht würdig, die beleidigten Götter zu verſöhnen? — Ja, wenn dein Diskurs ganz zu Ende iſt, ſonſt ſage noch das übrige. —
Pharao zu ſpielen mit dem An - ſcheine der heftigſten Leidenſchaft und doch zerſtreut und abweſend zu ſeyn; in einem Augenblicke von Hitze alles zu wagen und ſobald es ver - loren war, ſich gleichgültig wegzu -120 wenden: das war nur eine von den ſchlimmen Gewohnheiten, unter de - nen Julius ſeine wilde Jugend ver - ſtürmte. Dieſe eine iſt genug, den Geiſt eines Lebens zu ſchildern, wel - ches in der Fülle der empörten Kräfte ſelbſt den unvermeidlichen Keim ei - nes frühen Verderbens enthielt. Eine Liebe ohne Gegenſtand brannte in ihm und zerrüttete ſein Innres. Bey dem geringſten Anlaß brachen die Flammen der Leidenſchaft aus; aber bald ſchien dieſe aus Stolz oder aus Eigenſinn ihren Gegenſtand ſelbſt zu verſchmähen, und wandte ſich mit verdoppeltem Grimme zurück in ſich und auf ihn, um da am Mark des Herzens zu zehren. Sein Geiſt war in einer beſtändigen Gährung;121 er erwartete in jedem Augenblick, es müſſe ihm etwas außerordentliches begegnen. Nichts würde ihn be - fremdet haben, am wenigſten ſein eigner Untergang. Ohne Geſchäft und ohne Zweck trieb er ſich umher unter den Dingen und unter den Menſchen wie einer, der mit Angſt etwas ſucht, woran ſein ganzes Glück hängt. Alles konnte ihn rei - zen, nichts mochte ihm genügen. Daher kam es, daß ihm eine Aus - ſchweifung nur ſo lange intereſſant war, bis er ſie verſucht hatte und näher kannte. Keine Art derſelben konnte ihm ausſchließend zur Ge - wohnheit werden: denn er hatte eben ſo viel Verachtung als Leichtſinn. Er konnte mit Beſonnenheit ſchwelgen122 und ſich in den Genuß gleichſam ver - tiefen. Aber weder hier noch in den mancherley Liebhabereyen und Stu - dien, auf die ſich oft ſein jugendli - cher Enthuſiasmus mit einer ge - fräßigen Wißbegier warf, fand er das hohe Glück, das ſein Herz mit Ungeſtüm forderte. Spuren davon zeigten ſich überall, täuſchten und erbitterten ſeine Heftigkeit. Am mei - ſten Reiz hatte der Umgang aller Art für ihn und ſo oft er auch ſo - gar ſie überdrüßig ward, waren es doch die geſellſchaftlichen Zerſtreuun - gen, zu denen er endlich immer wie - der zurückkehrte. Die Frauen kannte er eigentlich gar nicht, ungeachtet er ſchon früh gewohnt war, mit ihnen zu ſeyn. Sie erſchienen ihm wun -123 derbar fremd, oft ganz unbegreiflich und kaum wie Weſen ſeiner Gat - tung. Junge Männer aber, die ihm einigermaßen glichen, umfaßte er mit heißer Liebe und mit einer wahren Wuth von Freundſchaft. Doch war das allein für ihn noch nicht das rechte. Es war ihm, als wolle er eine Welt umarmen und könne nichts greifen. Und ſo verwilderte er denn immer mehr und mehr aus unbefriedigter Sehnſucht, ward ſinn - lich aus Verzweiflung am Geiſtigen, beging unkluge Handlungen aus Trotz gegen das Schickſal und war wirklich mit einer Art von Treuher - zigkeit unſittlich. Er ſah wohl den Abgrund vor ſich, aber er hielt es nicht der Mühe werth, ſeinen Lauf124 zu mäßigen. Er wollte lieber gleich einem wilden Jäger den jähen Ab - hang raſch und muthig durchs Le - ben hinunterſtürmen, als ſich mit Vorſicht langſam quälen.
Bey dieſem Charakter mußte er oft in der geſelligſten und fröhlich - ſten Geſellſchaft einſam ſeyn, und er fand ſich eigentlich am wenigſten allein, wenn niemand bey ihm war. Dann berauſchte er ſich in Bildern der Hoffnung und Erinnerung und ließ ſich abſichtlich von ſeiner eignen Fantaſie verführen. Jeder ſeiner Wünſche ſtieg mit unermeßlicher Schnelligkeit und faſt ohne Zwiſchen - raum von der erſten leiſen Regung zur gränzenloſen Leidenſchaft. Alle ſeine Gedanken nahmen ſichtbare125 Geſtalt und Bewegung an und wirk - ten in ihm und wider einander mit der ſinnlichſten Klarheit und Gewalt. Sein Geiſt ſtrebte nicht die Zügel der Selbſtherrſchaft feſt zu halten, ſondern warf ſie freywillig weg, um ſich mit Luſt und mit Übermuth in dies Chaos von innerm Leben zu ſtürzen. Er hatte weniges erlebt und war doch voll von Erinnerun - gen, auch aus früher Jugend: denn ein ſonderbarer Augenblick von lei - denſchaftlicher Stimmung, ein Ge - ſpräch, ein Geſchwätz aus der Tiefe des Herzens blieb ihm ewig theuer und deutlich, und noch nach Jahren wußte er's genau, als wäre es ge - genwärtig. Aber alles was er liebte und mit Liebe dachte, war abge -126 riſſen und einzeln. Sein ganzes Da - ſeyn war in ſeiner Fantaſie eine Maſſe von Bruchſtücken ohne Zu - ſammenhang; jedes für ſich Eins und Alles, und das andre was in der Wirklichkeit daneben ſtand und damit verbunden war, für ihn gleich - gültig und ſo gut wie gar nicht vorhanden.
Noch war er nicht ganz verdor - ben als im Schooß der einſamen Wünſche ein heiliges Bild der Un - ſchuld in ſeine Seele blitzte. Ein Strahl von Verlangen und Erinne - rung traf und entzündete ſie und dieſer gefährliche Traum war ent - ſcheidend für ſein ganzes Leben.
Er gedachte an ein edles Mäd - chen, mit dem er in ruhigen glück -127 lichen Zeiten der friſchen Jugend aus reiner kindlicher Zuneigung freund - lich und fröhlich getändelt hatte. Da er der erſte war, welcher ſie durch ſein Intereſſe an ihr reizte, ſo wandte auch das liebliche Kind ihre junge Seele nach ihm hin, wie ſich die Blume zum Licht der Sonne neigt. Daß ſie kaum reif und noch an der Gränze der Kindheit war, reizte ſein Verlangen nur um ſo unwiderſteh - licher. Sie zu beſitzen, ſchien ihm das höchſte Gut; er war entſchloſ - ſen alles zu wagen und glaubte nicht ohne das leben zu können. Dabey verabſcheute er die entfern - teſte Erinnerung an bürgerliche Ver - hältniſſe, wie jede Art von Zwang.
Er eilte zurück in ihre Nähe und128 fand ſie ausgebildeter, aber noch eben ſo edel und eigen, ſo ſinnig und ſtolz wie ehedem. Was ihn noch mehr reizte als ihre Liebens - würdigkeit, waren die Spuren von tiefem Gefühl. Sie ſchien nur fröh - lich und leichtfertig durchs Leben zu ſchwärmen wie über eine blumen - reiche Ebne, und verrieth doch ſeinem aufmerkſamen Auge die entſchiedenſte Anlage zu einer gränzenloſen Leiden - ſchaftlichkeit. Ihre Neigung, ihre Unſchuld und ihr verſchwiegenes und verſchloſſenes Weſen boten ihm leicht Mittel dar, ſie allein zu ſehen, und die Gefahr, die damit verbunden war, erhöhte den Reiz des Unter - nehmens. Aber mit Verdruß mußte er ſich's geſtehen, daß er ſeinemZiele129Ziele nicht näher kam und ſchalt ſich zu ungeſchickt, ein Kind zu verfüh - ren. Willig überließ ſie ſich einigen Liebkoſungen und erwiederte ſie mit ſchüchterner Lüſternheit. Sobald er aber dieſe Gränzen zu überſchreiten verſuchte, widerſetzte ſie ſich, ohne beleidigt zu ſcheinen, mit unerbitt - lichem Eigenſinn; vielleicht mehr aus Glauben an ein fremdes Gebot als aus eignem Gefühl von dem, was allenfalls erlaubt ſey und von dem, was durchaus nicht.
Indeſſen wurde er nicht müde zu hoffen und zu beobachten. Einſt überraſchte er ſie, als ſie es am we - nigſten erwartete. Sie war ſchon lange allein geweſen und mochte ſich ihrer Fantaſie und einer unbeſtimm -Lucinde I. I130ten Sehnſucht mehr als gewöhnlich überlaſſen haben. Da er dies ge - wahr ward, wollte er den Augen - blick, der vielleicht nie wieder käme, nicht verſcherzen und gerieth durch die plötzliche Hoffnung ſelbſt in einen Taumel von Begeiſterung. Ein Strom von Bitten, von Schmeiche - leien und von Sophismen floß von ſeinen Lippen. Er bedeckte ſie mit Liebkoſungen und er gerieth außer ſich vor Entzücken, da das liebens - würdige Köpfchen endlich an ſeine Bruſt ſank, wie ſich die zu volle Blume an ihrem Stengel ſenket. Ohne Zurückhaltung ſchmiegte ſich die ſchlanke Geſtalt um ihn, die ſeidnen Locken der goldnen Haare floſſen über ſeine Hand, mit zärt -131 licher Sehnſucht öffnete ſich die Knoſpe des ſchönen Mundes, und aus den frommen dunkelblauen Augen ſtrahlte und ſchmachtete ein ungewohntes Feuer. Sie ſetzte den kühnſten Liebkoſungen nur noch ſchwachen Widerſtand entgegen. Bald hörte auch dieſer auf, ſie ließ plötz - lich ihre Arme ſinken, und alles war ihm hingegeben, der zarte jungfräu - liche Leib und die Früchte des jun - gen Buſens. Aber in demſelben Au - genblick brach ein Strom von Thrä - nen aus ihren Augen, und die bit - terſte Verzweiflung entſtellte ihr Ge - ſicht. Julius erſchrack heftig; nicht ſowohl über die Thränen, aber er kam nun mit einem male zur vollen Beſinnung. Er dachte an alles wasJ 2132vorhergegangen war, und was nun folgen würde; an das Opfer vor ihm und an das arme Schickſal der Menſchen. Da überlief ihn ein kal - ter Schauder, ein leiſer Seufzer ſtahl ſich aus tiefer Bruſt über ſeine Lip - pen. Er verſchmähte ſich ſelbſt von der Höhe ſeines eignen Gefühls, und vergaß die Gegenwart und ſeine Ab - ſicht in Gedanken von allgemeiner Sympathie.
Der Augenblick war verſäumt. Er ſuchte nur das gute Kind zu trö - ſten und zu beſänftigen, und eilte mit Abſcheu von dem Orte hinweg, wo er den Blüthenkranz der Un - ſchuld muthwillig hatte zerreißen wollen. Er wußte wohl, daß man - cher ſeiner Freunde, der noch weniger133 an weibliche Tugend glaubte wie er, ſein Benehmen ungeſchickt und lä - cherlich finden würde. Er war bey - nah ſelbſt dieſer Meinung, da er wieder mit Kälte zu überlegen an - fing. Indeſſen hielt er ſeine Dumm - heit doch für ausgezeichnet und in - tereſſant. Er glaubte, es ſey noth - wendig, daß edle Naturen in ge - meinen Verhältniſſen und in den Augen der Menge einfältig oder ra - ſend erſcheinen müßten. Da bey dem nächſten Wiederſehn, wie er ſchlau bemerkte oder ſich einbildete, das Mädchen eher unzufrieden ſchien, daß es nicht ganz verführt ſey, be - ſtätigte er ſich in ſeinem Mißtrauen und gerieth in eine große Erbitte - rung. Es wandelte ihn beynah134 eine Art von Verachtung an, zu der er doch ſo wenig berechtigt war. Er floh, zog ſich wieder in die alte Einſamkeit zurück und verzehrte ſich in ſeiner eignen Sehnſucht.
So lebte er von neuem eine Zeit auf die alte Weiſe in einem Wechſel von Schwermuth und Ausgelaſſen - heit. Der einzige Freund, der Kraft und Ernſt genug hatte, ihn tröſten und beſchäftigen zn können und auf dem Wege zum Verderben einzuhal - ten, war weit entfernt, und ſeine Sehnſucht alſo auch von dieſer Seite unbefriedigt. Heftig ſtreckte er einſt die Arme nach ihm aus, als müſſe er nun endlich da ſeyn, und troſt - los ließ er ſie wieder ſinken, nach - dem er lange vergeblich gewartet. 135Er vergoß keine Thräne, aber ſein Geiſt fiel in eine Agonie von hoff - nungsloſer Wehmuth, aus der er ſich nur zu neuen Thorheiten er - mannte.
Er freute ſich laut, da er im Glanz der prachtvollen Morgenſonne auf die Stadt zurückſah, die er ſchon als Kind geliebt und wo er nur noch eben ſo ganz lebte, und die er nun auf immer zu verlaſſen hoffte. Er athmete ſchon das friſche Leben der neuen Heimath, die ihn in der Fremde erwarten ſollte, und deren Bilder er ſchon mit Heftig - keit liebte.
Er fand bald einen andern rei - zenden Wohnort, wo ihn zwar nichts feſſelte, aber doch vieles an -136 zog. Alle ſeine Kräfte und Neigun - gen wurden rege durch die neuen Gegenſtände; ohne Zweck und Maaß in ſeinem Innern, nahm er Theil an allem Äußern, was nur irgend merkwürdig war, und ließ ſich überall ein.
Da er auch in dieſem Geräuſch bald Leerheit und Überdruß empfand, ſo kehrte er oft zurück zu ſeinen einſamen Träumen und wiederholte das alte Gewebe ſeiner unbefriedig - ten Wünſche. Eine Thräne entfiel ihm über ſich ſelbſt, da er einſt im Spiegel ſah, wie trübe und ſtechend das Feuer der unterdrückten Liebe aus ſeinem dunkeln Auge brannte und wie ſich unter der wilden ſchwar - zen Locke leiſe Furchen in die137 kämpfende Stirn gruben, und wie die Wange ſo bleich war. Er ſeufzte über ſeine ungenutzte Jugend; ſein Geiſt empörte ſich und wählte unter den ſchönen Frauen ſeiner Bekannt - ſchaft die, welche am freyſten lebte und am meiſten in der guten Ge - ſellſchaft glänzte. Er nahm ſich vor, nach ihrer Liebe zu ſtreben und er erlaubte ſeinem Herzen, ſich ganz zu überfüllen mit dieſem Gegenſtande. Was ſo wild und willkührlich begon - nen wurde, konnte nicht geſund en - digen, und die Dame, welche eben ſo eitel als ſchön war, mußte es ſonderbar und mehr als ſonderbar finden, wie Julius ſie mit der ernſt - hafteſten Aufmerkſamkeit förmlich zu umgeben und zu belagern anfing138 und dabey bald ſo dreiſt und zu - verſichtlich war wie ein alter Be - ſitzer, bald ſo ſchüchtern und fremd wie ein völlig Unbekannter. Da er ſich ſo ſeltſam zeigte, hätte er bey weitem reicher ſeyn müſſen, als er war, um ſolche Anſprüche haben zu dürfen. Sie hatte ein leichtes, mun - teres Weſen und ihm ſchien ſie ar - tig zu reden. Aber was er an der Geliebten für göttlichen Leichtſinn nahm, war nichts als ein gedan - kenloſes Schwärmen ohne eigentliche Freude und Fröhlichkeit, und auch ohne Geiſt, ausgenommen ſo viel Verſtand und Schlauigkeit, als es braucht, um alles abſichtlich und zwecklos zu verwirren, die Männer zu locken und zu lenken und ſich139 ſelbſt in Schmeicheleyen zu berau - ſchen. Zu ſeinem Unglücke erhielt er einige Zeichen von Gunſt; von der Art, welche die Geberin nicht binden, weil ſie ſich nie dazu be - kennen darf und welche den gefan - genen Neuling durch den Zauber der Heimlichkeit noch unauflöslicher feſſeln. Ihn konnte ſchon ein ver - ſtohlner Blick und Händedruck ganz bezaubern, oder ein Wort, was vor allen geſagt in ſeiner eigentlichen Beziehung und Anſpielung nur ihm verſtändlich war, wenn dir einfache und wohlfeile Gabe nur durch den Schein einer eignen ſonderbaren Be - deutſamkeit gewürzt wurde. Sie gab ihm, wie er glaubte, ein noch deut - licheres Zeichen und es beleidigte ihn140 tief, daß ſie ihn ſo wenig verſtehe, daß ſie ihm ſo ſehr zuvorkomme. Er war nicht wenig ſtolz darauf, daß ihn das beleidigte und doch reizte es ihn unwiderſtehlich, wenn er dachte, er dürfe nur ſchnell ſeyn und die günſtige Gelegenheit ergrei - fen, um ohne Hinderniß ans Ziel zu gelangen. Er machte ſich ſchon bittre Vorwürfe über ſeine Langſam - keit, als er plötzlich Verdacht ſchöpfte, ihr Zuvorkommen ſey nur Täuſchung, ſie meine es auch mit ihm nicht ehr - lich; und da ein Freund ihn vollends aufklärte, konnte ihm kein Zweifel bleiben. Er ſah, daß man ihn lä - cherlich finde und mußte ſich geſtehn, daß es ganz in der Ordnung ſey. Darüber gerieth er etwas in Wuth141 und hätte leicht Unheil begonnen, wenn er dieſe leeren Menſchen, ihre kleinen Verhältniſſe und Mißver - hältniſſe und das ganze Spiel ge - heimer Abſichten und Rückſichten nicht genau beobachtet und alſo gründlich verachtet hätte. Auch wurde er wieder ungewiß und da ſein Arg - wohn nun keine Gränzen mehr kannte, ſo war er gegen ſein eignes Mißtrauen mißtrauiſch. Bald ſah er den Grund des Übels nur in ſei - nem Eigenſinne und übertriebnem Zartgefühl und faßte dann neue Hoffnung und neues Zutrauen; bald ſah er in allem Unglück, was ihn in der That abſichtlich zu verfolgen ſchien, nur das künſtliche Werk ihrer Rache. Alles ſchwankte, nur das142 ward ihm immer klarer und feſter, daß vollendete Narrheit und Dumm - heit im Großen das eigentliche Vor - recht der Männer ſey, muthwillige Bosheit hingegen mit naiver Kälte und lachender Gefühlloſigkeit eine angebohrne Kunſt der Frauen. Das war alles, was er lernte durch ſein angeſtrengtes Beſtreben nach Men - ſchenkenntniß. Im Einzelnen ver - fehlte er immer auf eine ſcharfſinnige Art das rechte, weil er überall künſt - liche Abſichten vorausſetzte und tie - fen Zuſammenhang, und gar keinen Sinn hatte für das Unbedeutende. Dabey wuchs ſeine Leidenſchaft zum Spiel, deſſen zufällige Verwickelun - gen, Sonderbarkeiten und Glücks - fälle ihn auf eben die Art intereſ -143 ſirten, wie wenn er in höhern Ver - hältniſſen mit ſeinen Leidenſchaften und ihren Gegenſtänden aus reiner Willkühr ein hohes Spiel wagte oder zu wagen glaubte.
So verwirrte er ſich immer tie - fer in die Intriguen einer ſchlechten Geſellſchaft und was ihm noch übrig blieb von Zeit und Kraft in dem Wirbel der Zerſtreuungen, wandte er auf ein Mädchen, die er ſo ſehr als möglich allein zu beſitzen ſtrebte, obgleich er ſie unter denen gefunden hatte, die beynah öffentlich ſind. Was ſie ihm ſo intereſſant machte, war nicht allein das weshalb ſie all - gemein geſucht und gleichſam be - rühmt war, ihre ſeltne Gewandtheit und unerſchöpfliche Mannichfaltigkeit144 in allen verführeriſchen Künſten der Sinnlichkeit. Ihr naiver Witz über - raſchte ihn mehr und reizte ihn am meiſten, wie die hellen Funken von rohem tüchtigem Verſtand, vorzüg - lich aber ihre entſchiedne Manier und ihr konſequentes Betragen. Mit - ten im Stande der äußerſten Ver - derbtheit zeigte ſie eine Art von Cha - rakter; ſie war voll von Eigenhei - ten und ihr Egoismus nicht im ge - meinen Styl. Nächſt der Unabhän - gigkeit liebte ſie nichts ſo unmäßig wie das Geld, aber ſie wußte es zu brauchen. Dabey war ſie billig gegen jeden, der nicht ſehr reich war und ſelbſt gegen die andern treuher - zig in ihrer Habſucht und ohne Ränke. Sie ſchien ganz ſorgenlosnur145nur in der Gegenwart zu leben und war doch immer auf die Zukunft bedacht. Sie ſparte im Kleinen um nach ihrer Art im Großen zu ver - ſchwenden und im Überflüſſigen das Beſte zu haben. Ihr Boudoir war einfach und ohne alle gewöhnlichen Meublen, nur von allen Seiten große, koſtbare Spiegel und wo noch Raum übrig blieb, einige gute Co - pien von den wollüſtigſten Gemäl - den des Correggio und Tizian, des - gleichen einige ſchöne Originale von friſchen, vollen Blumen - und Frucht - ſtücken; ſtatt der Lambris die leben - digſten und fröhlichſten Darſtellun - gen in Basrelief aus Gips nach der Antike; ſtatt der Stühle ächte orien - taliſche Teppiche und einige GruppenLucinde I. K146aus Marmor in halber Lebensgröße: ein gieriger Faun, der eine Nymphe, die im Fliehen ſchon gefallen iſt, eben völlig überwinden wird; eine Venus, die mit aufgehobenem Ge - wande lächelnd über den wollüſtigen Rücken auf die Hüften ſchaut und andre ähnliche Darſtellungen. Hier ſaß ſie oft auf türkiſche Sitte Tage lang allein und die Hände müſſig im Schooß, denn ſie verabſcheute alle weiblichen Arbeiten. Sie er - friſchte ſich nur von Zeit zu Zeit mit Wohlgerüchen und ließ ſich da - bey von ihrem Jockey, einem bild - ſchönen Knaben, den ſie ſich in ſei - nem vierzehnten Jahre eigends ver - führt hatte, Geſchichten, Reiſebe - ſchreibungen und Mährchen vorleſen. 147Sie gab wenig darauf Acht, außer wenn etwas Lächerliches vorkam, oder eine allgemeine Bemerkung, die ſie auch wahr fand. Denn ſie achtete nichts und hatte Sinn für nichts als für Realität und fand alle Poeſie lächerlich. Sie war einmal Schau - ſpielerin geweſen, aber nur kurze Zeit und ſie machte ſich gern luſtig über ihr Ungeſchick dazu und über die Langeweile, die ſie dabey aus - geſtanden. Es war eine von ihren vielen Eigenheiten, daß ſie bey ſol - chen Gelegenheiten in der dritten Per - ſon von ſich ſprach. Auch wenn ſie erzählte, nannte ſie ſich nur Liſette, und ſagte oft, wenn ſie ſchreiben könnte, wollte ſie ihre