PRIMS Full-text transcription (HTML)
Ernſt Dronke.
Polizei-Geſchichten.
Polizei-Geſchichten
[figure]
LeipzigVerlag von Carl B. Lorck1846.

Seinen Freunden in Berlin gewidmet von dem Verfaſſer.

Inhalt.

  • Seite.
  • 1. Armuth und Verbrechen. 1
  • 2. Polizeiliche EheÅ¿cheidung. 47
  • 3. Die Suͤnderin. 67
  • 4. Die Rechtsfrage. 95
  • 5. Die vorgeÅ¿etzte DienÅ¿tbehoͤrde. 117
  • 6. Vom heimathloÅ¿en Vaterland. 141
  • 7. Das Unvermeidliche. 153
[1]

Armuth und Verbrechen.

„ Unter den Verbrechern ſelbſt giebt es Angeber von Profeſſion, die ſogenannten Vigilanten. Dieſe Vigi¬ lanten ſind faſt ohne Ausnahme fruͤher beſtrafte Ver¬ brecher, welche gewoͤhnlich gar keine oder nur eine ſcheinbare Beſchaͤftigung haben und als Spione im Dienſt der Polizei ſtehen. “—
(Der (Berliner) Publiziſt, Juni 1845, Nr. 6, S. 179. )
[2][3]

In dem Kriminalgefaͤngniß zu B. erhaͤngte ſich vor einiger Zeit ein Gefangner, der nach den Ausſagen des Arztes und des Gefaͤngniß-Inſpektors an Schwer¬ muth gelitten hatte. Die Geſchichte dieſes Ungluͤckli¬ chen, welche wir dem Leſer hier erzaͤhlen, iſt ein voll¬ kommen wahres Ereigniß, und die folgenden Einzel¬ heiten, wobei wir nur die Namen verſchweigen, werden vielleicht bei Manchem die Erinnerung an die handeln¬ den Perſonen erwecken.

Fritz Schenk war ein Tiſchler.

Er hatte als Geſelle lange Zeit bei einem der groͤ¬ ßern Meiſter in B. gearbeitet, und ſtand im Rufe eines ordentlichen Menſchen und fleißigen und geſchick¬ ten Arbeiters. Da er fuͤr Niemand weiter zu ſorgen hatte, ſo reichte ſein Verdienſt eben zu ſeinen nothwen¬ digen Beduͤrfniſſen aus, und nicht minder wie bei dem Meiſter wegen ſeiner Brauchbarkeit, ſtand er bei den andern Geſellen wegen ſeines Frohſinns in Gunſt.

1 *4Armuth und Verbrechen.

Eines Abends war Fritz aus der Werkſtatt auf die dunkle Straße getreten, als eine Karoſſe, die an einem andern Wagen voruͤberfuhr, ihn ſtreifte und zu Boden warf. Er erhob ſich zwar alſogleich wieder, fuͤhlte aber, daß ſein rechter Arm ploͤtzlich erſchlafft war. Der Herr in der Karoſſe ließ bei dem Schrei, den der Handwer¬ ker unwillkuͤhrlich ausgeſtoßen hatte, halten und erkun¬ digte ſich, ob er Schaden genommen. Auch der Mei¬ ſter und die uͤbrigen Geſellen kamen herzu, und als ſie den Verwundeten in die Werkſtatt fuͤhrten, ergab ſich, daß er den Arm zweimal gebrochen hatte. Der vornehme Beſitzer der Karoſſe ließ ſeine Boͤrſe zuruͤck, um die erſten Koſten der Heilung zu decken, und auf die Bemerkung des Meiſters, daß Schenk der tuͤchtigſte ſeiner Arbeiter ſei, verſprach er noch weitere Sorge fuͤr ihn zu tragen.

Schenk wurde in das Stadt-Krankenhaus gebracht, wo die langwierige Behandlung den an Thaͤtigkeit ge¬ woͤhnten Arbeiter geiſtig und koͤrperlich ziemlich bedruͤckte. Der Verurſacher ſeines Ungluͤcks bezahlte die Koſten5Armuth und Verbrechen. ſeiner Pflege, bekuͤmmerte ſich aber nicht weiter um ihn, und nachdem Schenk endlich als geheilt entlaſſen worden war, glaubte er ſeiner Verpflichtung gaͤnzlich quitt zu ſein. — Als Schenk zu ſeinem Meiſter zu¬ ruͤckkehrte, fand ſich, daß es mit der Arbeit keineswegs mehr ſo wie fruͤher fortging. In dem Arm war eine große Schwaͤche zuruͤckgeblieben, und war er auch nicht gerade gelaͤhmt und arbeitsunfaͤhig geworden, ſo ver¬ mochte er doch nicht ſo anhaltend und ſchnell zu arbei¬ ten, wie ehedem. Er ſah, daß die Mitgeſellen ihn, der ſonſt ſtolz auf ſeine Arbeit war, uͤberfluͤgelten. Er wurde mißgeſtimmt und ſein Fleiß und ſeine Sorgſam¬ keit erlahmten mit der Luſt zur Arbeit. Dazu kam, daß auch ſeine Verhaͤltniſſe eine neue Geſtaltung be¬ kommen hatten.

In dem Stadt-Krankenhaus hatte Schenk ein jun¬ ges Maͤdchen, das ſeine Erziehung im Waiſenhaus genoſſen, zur Waͤrterin gehabt. In der leeren Ein¬ ſamkeit dieſer Stunden war ſie ſein troͤſtender Engel geweſen, ſie hatte ihn mit frommem, ſchweſterlichem Eifer gepflegt, und der junge Arbeiter fuͤhlte ſich durch ihr ſittſames Weſen maͤchtig zu ihr hingezogen. Als er die Anſtalt verließ, war ihm der Umgang bereits6Armuth und Verbrechen. zur nothwendigen Gewohnheit geworden. Er benutzte Sonntags ſeine freien Stunden regelmaͤßig, um ſie zu beſuchen, und die junge Waͤrterin verhehlte nicht, daß ſie ihn mit Vergnuͤgen kommen ſah. Die Theilnahme, welche ſie Anfangs fuͤr den Kranken gefuͤhlt hatte, machte einem innigeren Gefuͤhl Platz, und als Fritz ſeinen Heirathsantrag vorbrachte, hatte ihr Herz ihm laͤngſt ſchon das Verſprechen der Treue gegeben.

Schenk hoffte dazumal noch, daß die Schwaͤche des Armes ſich allmaͤhlig durch Wiedergewoͤhnung an die Arbeit verlieren wuͤrde, und dann haͤtten ihn ja ſeine Erſparniſſe, ſeine Geſchicklichkeit und ſein zu dem Ziel verdoppelter Eifer vielleicht bald in den Stand ſetzen koͤnnen, eine eigne Werkſtatt anzulegen. Aber das Uebel verzog ſich nicht, und eine duͤſtere Niederge¬ ſchlagenheit bemaͤchtigte ſich des Ungluͤcklichen. Seine treue Verlobte verbarg ihren eignen Kummer uͤber ſein Mißgeſchick und ſuchte ihn zu troͤſten und ſo viel als moͤglich mit Hoffnungen zu troͤſten, an die ſie ſelbſt nicht glaubte. Schenk konnte nicht anders glauben, als daß ihm unter ſolchen Verhaͤltniſſen eine truͤbe Zukunft bevorſtand.

Der Meiſter mußte jedesmal in den ſtillen Mona¬7Armuth und Verbrechen. ten, wo es weniger Arbeit gab, einige ſeiner Arbeiter entlaſſen. So lange Schenk im Beſitz ſeiner vollen Kraft und Thaͤtigkeit war, hatte er nicht noͤthig gehabt, um ſein Unterkommen beſorgt zu ſein, jetzt machten ihn tuͤchtigere Arbeiter ſeinem Meiſter entbehrlich. Der Mann war nicht hart gegen ihn geweſen. Er hatte Schenk von fruͤher als einen brauchbaren, ordentlichen und willigen Arbeiter ſchaͤtzen gelernt und wollte ihn wegen ſeines Ungluͤckes nicht von ſich ſtoßen. So lange er noch die Hoffnung hatte, daß der ſchwache Arm des Geſellen ſich an die Arbeit gewoͤhnen wuͤrde, hatte er Nachſicht und Geduld mit ihm gehabt. Als ſich jedoch dieſe Hoffnung verlor, vermochte er nichts mehr fuͤr Schenks Zukunft zu thun. Er ſtellte ihn in die zweite Klaſſe der Arbeiter, gab ihm nur geringere Arbeit, welche weniger Sorgfalt und Kraft erforderte, und be¬ ſchraͤnkte demgemaͤß ſeinen fruͤhern Lohn. Schenk ver¬ lor dabei die Luſt und Liebe zur Arbeit, denn er fuͤhlte ſich unverſchuldeter Weiſe gedruͤckt. Der Meiſter machte ihm jetzt zum erſtenmal Vorwuͤrfe wegen Nachlaͤſſigkeit und wies ihn zu groͤßerem Eifer an. Allein Schenk war uͤberhaupt nicht mehr der alte. Seine Lage hatte ihn finſter und muͤrriſch gemacht, und die Ermahnun¬8Armuth und Verbrechen. gen des Meiſters fanden ſtatt der gehofften Willfaͤhrig¬ keit einen verſchloſſenen, widerſpenſtigen Trotz. So kam es denn, daß bei der naͤchſten ſtillen Zeit der Tiſchler unter andern Geſellen auch Schenk von dem Meiſter entlaſſen und arbeitslos wurde.

Nach mehreren vergeblichen Verſuchen, bei andern Meiſtern ein Unterkommen zu finden, entſchloß ſich Schenk, ſeine Lage jenem reichen Manne zu offenbaren, der die erſte Urſache ſeines Ungluͤcks war. Er hoffte im Stillen, daß ihm jener den Grundſtein zu einem ſelbſtſtaͤndigen Erwerb legen wuͤrde. Eine mittelmaͤßige Summe reichte hin, ihm eine Werkſtatt zu gruͤnden. Dann wollte er ſich Geſellen halten, und wenn er auch ſelbſt nicht viel zu arbeiten vermochte, ſo konnte er doch durch ſein Geſchick und ſeine Erfahrung die Arbeit lei¬ ten. Damit, ſo hoffte er, waͤre ihm eine ertraͤgliche Exiſtenz geſchafft geweſen, auf die hin er alsdann zu heirathen gedachte.

Der vornehme Herr hoͤrte ihn gelaſſen an. Er ſchien wohl zu fuͤhlen, daß er allein der eigentliche9Armuth und Verbrechen. Quell des Mißgeſchicks des Arbeiters war, betrachtete aber ſeine Vermittlung als eine Sache der bloßen Mild¬ thaͤtigkeit. Schenk wurde auf den folgenden Tag zu¬ ruͤckbeſtellt, und als er ſich zur beſtimmten Stunde einfand, haͤndigte ihm der Kaſſirer im Namen ſeines Herrn eine kleine Summe Geldes ein. Als Geſchenk zur augenblicklichen Unterſtuͤtzung war die Summe nicht unbedeutend, allein um Schenk, wie er gehofft hatte, in Stand zu ſetzen, ſich eine Zukunft zu gruͤnden, haͤtte es vielleicht des Doppelten bedurft. Schenk war daher angewieſen, das Geld allmaͤhlig zu verzehren.

Der Arme, der nach qualvollem vergeblichem Muͤhen rettungslos im Jammer ſeines Elends ſitzt und taͤglich die Gluͤcklichen im Glanz ihres ererbten Reichthums ſieht, giebt ſich gewoͤhnlich den thoͤrichten Hoffnungen auf den unwahrſcheinlichſten, entfernteſt liegenden Zufall hin, welche die kaltbluͤtigen reichen Spekulanten wahn¬ ſinnig nennen werden. Wenn der Arme ſeine letzte Hoff¬ nung auf eine Nummer des Bankhalters ſetzt, ſo ſchilt ihn die geſunde Vernunft einen veraͤchtlichen Thoren, indem ſie ihm das Betruͤgeriſche und Unmoraliſche des Spiels auseinanderſetzt. Der reiche Kaufmann, der in einer Handelskriſe ſeinen ganzen Beſitz verliert, wird ge¬10Armuth und Verbrechen. woͤhnlich nur bedauert. Im Grunde aber laͤuft Alles auf daſſelbe hinaus. In einer Welt, wo der Beſitz das Hoͤchſte iſt, ſpekulirt und ſpielt Jeder, je nach ſeinem Vermoͤgen, und die geſunde Vernunft deſſen, was man ehrlichen Handel nennt, iſt nicht minder auf Betrug und Immoralitaͤt gebaut, als die Thorheit des Hazardſpiels.

Als Schenk ſein Geld allmaͤhlig verſchwinden ſah, gab er ſich den unbeſtimmteſten Hoffnungen hin. Die Hoffnung verließ ihn nicht, aber er wußte eigentlich nicht, worauf er hoffte. Einmal wollte er ſein Gluͤck im Spiel verſuchen, aber der Gedanke, daß er von dem Reſt ſeines Geldes noch ſo und ſo viel Tage leben koͤnne, waͤhrend er hier vielleicht das Ganze auf einmal einbuͤßen wuͤrde, hielt ihn wieder zuruͤck. Es war ihm immer, als wiſſe er feſt, daß ſich dieſe Lage doch noch aͤndern werde. Wenn er uͤber die Straße ging, ſo blickte er immer rechts und links auf das Pflaſter, als ob er etwas Ver¬ lorenes ſuche. Dieſe Hoffnung war unſinnig, nicht wahr? Es war auch keine Hoffnung mehr, es war eine bewußt¬ loſe Traͤumerei, da ihm die Wirklichkeit nichts mehr bot. Bei einem beſtimmten Lebensziel haͤtte er auch nicht noͤthig gehabt, auf einen unbeſtimmten Zufall zu war¬ ten. Der Anblick der vornehmen ſorgenloſen Vergnuͤg¬11Armuth und Verbrechen. linge verurſachte ihm ein Gefuͤhl zorniger Bitterkeit, und er fragte ſich jedesmal, was er denn gethan, daß er im Elend ſchmachten muͤſſe, und was wohl jene gethan, daß ſie aufgeſpeicherte Reichthuͤmer verſchwelgen duͤrften? Wenn ein Reicher ſeine goldgeſpickte Boͤrſe zog, blieb er unwillkuͤhrlich ſtehn, und ſein Blick haftete begierig auf den glaͤnzenden Muͤnzen. Er dachte, daß dieſe Summe vielleicht hinreichen wuͤrde, ihm eine zufriedene Zukunft zu begruͤnden, und eine leiſe Stimme fuͤgte in ſeinem Innern hinzu: ein vorſichtiger Griff in ſolch eines Man¬ nes Taſche, und du biſt gerettet. Als er ſich zum erſtenmal auf dieſem Gedanken ertappte, rannte er er¬ ſchrocken, gleichſam um dem eignen Innern zu entflie¬ hen, von dannen. Aber die Verſuchung begann bald darauf wieder damit, daß ſie ihm einredete: wenn Einer jener Leute ſolch eine Boͤrſe verliert, ſo wirſt du ſie doch aufheben und behalten; Jenen ruinirt ſie nicht und dich rettet ſie. Dann durchwogten und kreuzten ſich die Ge¬ danken weiter; der Begriff des fremden Gutes verlor ſich allmaͤhlig in ihm, und wenn er darauf zuruͤckkam, ſo wußte er ihn mit der Antwort zu bekaͤmpfen, daß er eben ſo viel Recht zum Leben wie jeder Andere habe, und daß ſein Elend eben ſo unverſchuldet, wie der er¬12Armuth und Verbrechen. erbte Reichthum der Vornehmen unverdient ſei. Zuletzt kam immer jener erſte Gedanke zuruͤck, und wenn er ihn noch nicht ausfuͤhrte, ſo geſchah es aus Furcht vor der Entdeckung und — weil er im Augenblick noch einen ganz kleinen Reſt der erhaltenen Unterſtuͤtzung beſaß, weil die Noth ihn noch nicht gewaltſam dazu trieb. In ſeinem Innern war Schenk laͤngſt zum Ver¬ brecher geworden, bevor und ohne daß er ſelbſt wußte.

Eines Tages wurde Schenk in dem Hauſe, wo er in Schlafſtelle lag, zu einem Manne beſchieden, um eine Unebenheit am Fußboden auszuhobeln. Als er ſeine Arbeit beendigt hatte und ſich vom Boden erhob, war der Beſitzer des Zimmers auf einen Augenblick hinaus¬ gegangen. Schenk ſah mit einer Art aͤngſtlicher Neu¬ gierde umher, waͤhrend er die Ruͤckkehr des Mannes erwartete. Da bemerkte er dicht am Ofen auf dem Boden eine Brieftaſche. Daneben ſtand ein Stuhl, uͤber den einige Kleider gebreitet lagen; augenſcheinlich war die Brieftaſche aus einem der Kleidungsſtuͤcke ge¬ fallen. Schenk lauſchte einen Moment mit bangem13Armuth und Verbrechen. Zoͤgern, ob Niemand komme. Es war Alles ſtill, und aͤngſtlich vorſichtig hob er die Brieftaſche auf. Als er ſie eben geoͤffnet hatte, und nur den Rand einiges Pa¬ piergeldes ſah, nahte ſich von Außen der Schritt des Herrn. Schenk wollte die Brieftaſche raſch wieder zu¬ ſammenklappen, aber die zitternde Haſt ließ ihn im Augenblick das kleine Schloͤßchen nicht finden, und mit einem ploͤtzlichen Entſchluß ſchob er ſie unter ſeinen Rock auf die Bruſt. Als der Mann eintrat, klopfte ſein Herz heftig gegen das lederne Etui; es war, als woll¬ ten die Schlaͤge das geraubte Gut von dort wegdraͤn¬ gen. Waͤhrend ihm der Eigenthuͤmer den Lohn fuͤr die Tiſchlerarbeit auf den Tiſch zaͤhlte, ſtand er in fiebern¬ der Angſt vor Entdeckung und die Sohlen brannten ihm, den Ort ſeines Vergehens endlich verlaſſen zu koͤnnen.

Zu Hauſe fand er, daß die Brieftaſche nur eine Kleinigkeit an Geld enthielt. Er vermochte jedoch nicht, daruͤber zu rechnen, ſeine Gedanken waren einzig mit ſeiner boͤſen That beſchaͤftigt. Die Folgen blieben auch nicht aus.

Als der Beſitzer den Verluſt ſeiner Brieftaſche be¬ merkte, ſtieg in ihm ſogleich der Verdacht gegen den14Armuth und Verbrechen. Handwerker auf, da er ſich des verlegnen und zweideu¬ tigen Benehmens deſſelben erinnerte. Der Polizei - Kommiſſair, der alsbald herbeigeholt wurde, begab ſich nach der Kammer Schenks, und ſein erſter Blick traf gleich den Gegenſtand der Nachforſchung. Der Ungluͤck¬ liche hatte, von ſeinem Gewiſſen gefoltert, gar nicht daran gedacht, ſeinen Raub zu verbergen.

Schenk wurde alsbald verhaftet und ſpaͤter zu ſechs¬ woͤchentlicher Einſperrung verurtheilt.

Hatte in ihm ſchon das boͤſe Bewußtſein ſeiner That die bitterſten Gefuͤhle erweckt, ſo wurde er waͤh¬ rend ſeiner Haft vollends von tiefſter Beſchaͤmung und Reue ergriffen. Die Genoſſen, welche er hier fand, waren meiſt alte, mit Verbrechen vertrautere Gefangene, die den ſcheuen, in ſich gekehrten Neuling mit der Jauche ihres Spottes uͤbergoſſen. Schenk fuͤhlte, wie ſein Herz bei den rohen Spaͤßen ſeiner in Suͤnde er¬ zogenen Gefaͤhrten ſich zuſammenzog. Er gedachte mit Entſetzen, wie doch er auch denſelben Weg dieſer Un¬ gluͤcklichen bereits betreten habe, und die Zukunft, die er hier vor ſich ſah, erfuͤllte ihn mit verzweifelnder Angſt. Der einzige Troſt, der ihn noch aufrecht hielt, war ſeine Geliebte. Dies arme Weſen hing mit ruͤhrender Treue15Armuth und Verbrechen. an ihm, und ſtatt ihn in ſeinem Elend zu verlaſſen, hatte ſie ſich mit doppelter Hingebung an ihn ange¬ ſchloſſen. Ihr Herz blutete uͤber das Vergehen und die beſchaͤmende Lage ihres Geliebten, aber ſie duldete ſchwei¬ gend, ohne einen Laut der Klage zu aͤußern. Sie machte ihm keine Vorwuͤrfe, ſie redete ihm nie von ihrem Kum¬ mer, ſie hoffte nur durch ihre Liebe ihn auf eine andere Bahn zu fuͤhren. Schenk wurde tief ergriffen von dem ſtummen Leiden dieſer treuen Seele, und in ſtillen Stunden ſagte er ſich oft, daß er noch einmal Alles aufbieten wolle, um ſich ein ehrliches Leben zu ſichern, und wenn ihm dies nicht gelaͤnge, lieber vom Leben als von der Ehrlichkeit zu laſſen.

Die Sonne des Gluͤcks ſchien noch einmal uͤber den beiden Liebenden aufgehen zu wollen.

Schenk erhielt unmittelbar nach ſeiner Freilaſſung die Nachricht, daß eine alte Verwandte, deren er ſich kaum erinnerte, geſtorben ſei und ihm ein paar Hundert Thaler hinterlaſſen habe. In dem befriedigenden Stolz des Gefuͤhls, ſeine Vorſaͤtze nun ausfuͤhren zu koͤnnen,16Armuth und Verbrechen. eilte er zu ſeiner Verlobten, und mit Thraͤnen freudiger Hoffnung verſprach er ihr jetzt, das Gluͤck ihres Lebens durch kein Vergehen mehr zu truͤben.

Schenk hatte kurz vorher, ehe ihn der Unfall mit ſeinem Arme traf, den Meiſterbrief erhalten, und war Anfangs, weil ihm die Mittel zu einem ſelbſtſtaͤndigen Geſchaͤft fehlten, ſpaͤter, weil ihn auch ſein Gebrechen hinderte, noch bei ſeinem erſten Meiſter geblieben. Jetzt wurde eine Werkſtatt eingerichtet, mehrere Geſellen wur¬ den geworben, und als die Arbeit in Schwung gekom¬ men war, fand endlich auch die Vereinigung der beiden Liebesleute ſtatt.

Eine Zeit lang ging das Geſchaͤft ganz gut. Die Geſellen waren tuͤchtige Arbeiter, Schenk verſtand dem Gewerk wohl vorzuſtehen, und da es im Ganzen genug zu thun gab, ſo war auch der Verdienſt leidlich vor¬ theilhaft. Schenks Frau fuͤhlte ſich Mutter, und dies neue Band der Vereinigten erhoͤhte das friedliche Gluͤck ihres Heerdes.

Allmaͤhlig aber ſtellten ſich einzelne Sorgen ein.

Die Leute, welche bei Schenk arbeiten ließen, be¬ zahlten nicht immer ſogleich, und Schenk konnte ſich die Kundſchaft bei den vornehmen Leuten nicht dadurch17Armuth und Verbrechen. verderben, daß er alſogleich ſein Geld verlangte. Doch mußte er ſelbſt ſeine Geſellen und das Material zur Arbeit regelmaͤßig bezahlen. Schenk war daher genoͤ¬ thigt, hin und wieder Schulden zu machen. Die un¬ regelmaͤßigen Einnahmen ließen ihn nicht zur ordentli¬ chen Einrichtung kommen, und es kam oͤfters vor, daß er das Geld, ſtatt damit die kleinen Schulden zu be¬ zahlen, in die Wirthſchaft verwenden mußte. So wurde er allmaͤhlig immer verſchuldeter, ohne es eigentlich ſelbſt ganz zu bemerken.

Als ſeine Frau in die Wochen kam, war eben wie¬ der ſtille Zeit unter den Tiſchlern eingetreten, und Schenk haͤtte bei den geringen Beſtellungen zwei ſeiner Geſellen entlaſſen koͤnnen. Aber die geſteigerten Beduͤrfniſſe zwangen ihn zu verdoppelter Anſtrengung, und ſtatt die Arbeit der Zeit gemaͤß beſchraͤnken zu koͤnnen, war er genoͤthigt, dieſelbe auf eigne Gefahr fortzufuͤhren und zu erweitern. Schenk arbeitete, was ſonſt nie geſchehen war, oͤfters bis in die ſpaͤte Nacht. Jeden Sonnabend Abend fuhr er dann mit den verfertigten Moͤbeln zu den Haͤndlern, um ihnen ſeine Waaren zum ſchnellen Verkauf anzubieten. Sonnabends war die Zeit, wo er durchaus Geld einnehmen mußte. An dieſem Tage218Armuth und Verbrechen. erhielten die Geſellen ihren Lohn, ohne den ſie die Ar¬ beit eingeſtellt haben wuͤrden, und gleichzeitig mußten auch die Bretterhaͤndler bezahlt werden, da ſie ebenfalls mit der Bezahlung nicht laͤnger als eine Woche warte¬ ten und Schenk ohne ſie kein Material zur Arbeit ge¬ funden haben wuͤrde. So hatte er die doppelte Sorge, einmal ſeine Waaren regelmaͤßig bis zum Ende der Woche zu vollenden, und dann ſie auch noch an den Mann zu bringen. Die Moͤbelhaͤndler, welche die Lage der kleinen Meiſter ſehr wohl kennen, nahmen die An¬ erbietungen Schenks gewoͤhnlich nicht ſehr freundlich auf. Sie zeigten ihm ihre reichgefuͤllten Magazine, klagten uͤber ſchlechten Abſatz und Verdienſt, und meinten, daß ſie, ohne ſich zu ruiniren, nicht noch mehr Kapital in ihr Geſchaͤft verwenden koͤnnten. Zuletzt boten ſie ihm auf ſeine Waare einen ſo geringen Preis, daß Schenk trotz der draͤngenden Noth weiter ging. Aber je laͤnger er umherzog, deſto mehr ſchwanden ſeine Hoffnungen. Die anderen Haͤndler beobachteten daſſelbe Verfahren, Manche boten ihm noch geringere Summen, und Schenk war zuletzt genoͤthigt, ſeine Waare fuͤr einen Spottpreis wegzugeben. Bezahlte er dann ſeine Geſellen und die Bretterhaͤndler, ſo blieb ihm kaum ſo viel, um das19Armuth und Verbrechen. unumgaͤnglich Nothwendige fuͤr die Wirthſchaft zu be¬ ſchaffen.

Auf dieſe Weiſe kam das Hausweſen immer mehr zuruͤck. Die Frau kraͤnkelte und vermochte ihres Zu¬ ſtandes wegen nicht mehr auf Ordnung zu ſehen, die Geſellen wurden laß oder arbeiteten wenigſtens nicht wie fruͤher mit Eifer und Liebe, der Hausmann, Baͤcker, Schuhmacher und andere kleine Glaͤubiger draͤngten all¬ maͤhlig ernſtlicher, und Schenk ſelbſt verfiel durch all dieſen Jammer in duͤſtere Stumpfheit. Seine Seele erlag nach dem kurzen Traum des Gluͤckes nur um ſo ſchneller dem Druck der hoffnungsloſen Armuth, es ward wuͤſt und leer in ihm, und ſelbſt ſein Aeußeres fiel ab in Elend.

In einer ſtillen Nacht kniete der Mann vor einem aͤrmlichen Bett, und ſeine heißen Thraͤnen rollten auf die abgemagerte Hand ſeines bleichen Weibes. Neben ihr regte es ſich, und ein hinfaͤlliges neugebornes Kind erwachte eben aus ſeinem erſten Schlafe. Der Hand¬ werker ſah mit einem ſtarren Blick der Verzweiflung durch ſeine Thraͤnen auf das kleine welke Geſchoͤpf.

„ Was wird dein Schickſal ſein, du unſchuldig Weſen! “grollte er bitter in ſich hinein. „ Was haſt2 *20Armuth und Verbrechen. du gethan, daß du geſchaffen werden mußteſt? In Armuth geboren, in Noth und Elend zu leben, in Suͤnde vielleicht zu ſterben! Was willſt Du in der Welt? Wahrlich, es waͤre beſſer, ich toͤdtete Dich in Deinem friedlichen Schlummer, bevor ihn das Bewußt¬ ſein Deines verfluchten Lebens zerſtoͤrt! “—

Als die Arbeit dergeſtalt zu erlahmen begann, daß Schenk von dem Erloͤs kaum noch die Geſellen bezah¬ len konnte, mußte er ſich endlich dazu entſchließen, einen derſelben zu entlaſſen. Es war dies der Anfang eines immer groͤßeren Verfalls. Die Arbeit wurde jetzt ge¬ ringer und demgemaͤß auch der Verdienſt des Meiſters ſchmaͤler. Die Kraͤnklichkeit der Woͤchnerin, die ſtaͤr¬ kender Nahrung bedurfte, verlangte groͤßere Ausgaben, und da Schenk Alles auf ſie verwendete, oft ohne daß ſie das Opfer ſelbſt bemerkte, ſo mußten die uͤbrigen Verpflichtungen zuruͤckſtehen. Demzufolge kuͤndigte ihm zunaͤchſt der Hausmann, der ſeit laͤngerer Zeit keine Miethe erhalten hatte, die Wohnung auf, und Schenk21Armuth und Verbrechen. mußte noch zufrieden ſein, daß ihm nicht ſein kleines Beſitzthum an Zahlungs Statt zuruͤckgehalten wurde.

Sie bezogen jetzt eine aͤrmlich kleine Wohnung. Schenk arbeitete nur noch mit einem einzigen Geſellen und die Werkſtatt bildete zugleich Wohn - und Schlaf¬ ſtube. Die kraͤnkliche Frau und das hinfaͤllige Kind litten indeß nicht lange unter dem Geraͤuſch der Arbeit, denn ein halbes Jahr darauf ſtand dieſelbe ganz ſtill. Schenks Verdienſt bei der angeſtrengteſten Thaͤtigkeit war jetzt ſo gering geworden, daß er damit nicht einmal die nothwendigſten Exiſtenzmittel beſtreiten konnte. Einige Vorſchuͤſſe bei dem Bretterhaͤndler und der Ruͤckſtand des Geſellenlohnes ſetzten ihn bald außer Brot.

Eine Zeitlang lief Schenk umher, um bei Andern Arbeit zu ſuchen, aber wie er auch flehte und ſeine verzweiflungsvolle Noth ſchilderte, ſein Bemuͤhen blieb ohne Erfolg. Sein fruͤherer Meiſter, an den er ſich mit der Bitte wendete, ihm nur irgend eine geringe und grobe Arbeit zu geben, ließ ihn am haͤrteſten an.

„ Wenn es blos auf Euren ſchwachen Arm an¬ kaͤme, “ſagte er, „ da wollte ich ſchon Nachſicht ha¬ ben. Aber Ihr habt bereits einen Diebſtahl began¬22Armuth und Verbrechen. gen und einen ſolchen Menſchen, der mir vielleicht meine Geſellen noch verfuͤhrt, kann ich nicht brauchen. “—

Schenk trieb ſich in duͤſterer Verzweiflung umher. Zuweilen erhielt er irgend eine zufaͤllige Beſchaͤftigung, einen Auftrag zum Laſttragen oder auch auf Tagelohn. Den kleinen Verdienſt brachte er dann ſeinem Weib und Kinde, fuͤr ſich ſelbſt — erbettelte er das Brot. Er ſank moraliſch und phyſiſch tiefer und tiefer in's Elend. Und dennoch, bei all dieſem Jammer, den ihm das ſtumme Leid ſeines abgezehrten, zerlumpten Weibes und ſeines ſiechenden Kindes verurſachte, bei all der graͤßlichen Verzweiflung und all dem heißen, bittern Groll gegen die Gerechtigkeit der menſchlichen Geſellſchaft, die ihn zu dieſem unverſchuldeten Loos verfluchte, dennoch lebte er dies Leben drei lange Jahre lang. Drei Jahre! Wie iſt doch die Zeit ein ſchlechtes Maaß fuͤr ein Men¬ ſchenleben! Dem Reichen verfliegt in Luſt und Freuden die Zeit ſo ſchnell, daß er am Sterbebett nicht weiß, wo ſie geblieben iſt; aber dem Ungluͤcklichen war ſie eine qualvolle Ewigkeit.

23Armuth und Verbrechen.

Eines Tages ging Schenk langſam in ſtumpfem Bruͤten durch die Gaſſen. Seine Frau, das arme lie¬ bende, duldende Geſchoͤpf, die nie uͤber ihr Loos murrte oder nur ſeufzte, hatte ihm am Tage vorher ſagen muͤſ¬ ſen, daß ſie nicht das Geringſte mehr zum Eſſen im Hauſe habe. Das Kind war lange krank geweſen und hatte jetzt vom Arzt eine Pflege verordnet bekommen, die die Armen ſeit Langem nicht mehr kannten. End¬ lich aber hatte der Hausmann Schenk beim Ausgehen angehalten, und ihm barſch ins Geſicht geſagt: daß er mit der ruͤckſtaͤndigen Miethe fuͤr die letzten drei Viertel¬ jahre nicht laͤnger warten koͤnne; wenn er daher am folgenden Tage das Geld nicht erhalte, ſo muͤſſe er die Familie aus dem Hauſe weiſen und ſich an ihrem Ge¬ raͤth bezahlt zu machen ſuchen. Das letztere war fuͤr den Ungluͤcklichen die graͤßlichſte Drohung. Er hatte nach und nach die einigermaßen entbehrlichen Stuͤcke aus ſeiner Wirthſchaft in den Zeiten der hoͤchſten Noth verſetzt, und beſaß nur noch ebenſoviel, um mit Weib und Kind nicht auf dem harten Boden ſchlafen zu muͤſ¬ ſen. Wurde ihm auch das noch entriſſen, ſo konnten ſie zuſammen elend in der Straße ſterben.

Schenk ging aus, ohne zu wiſſen, wohin, und ohne24Armuth und Verbrechen. Gedanken, wie er diesmal die augenblickliche Noth ab¬ wenden koͤnne. Wer ihn jetzt ſah, erkannte in ihm den fruͤher fleißigen und ordentlichen Arbeiter nicht mehr. Sein Aeußeres trug den Stempel der ſchauderhafteſten Verwahrloſung, die Kleider ſchlotterten ihm ſchmutzig und zerlumpt am Leibe herab, ſeine tiefliegenden Augen waren glanzlos und ſtumpf, ſein Haar wirr und ſtrup¬ pig, und ſein Geſicht zeugte von Entbehrungen und graͤßlichem Elend. An der Ecke zweier Straßen blieb er einige Augenblicke vor der Ladenthuͤr eines eleganten Fleiſcherladens ſtehen. Waͤhrend er mit heimlicher Luͤ¬ ſternheit die verlockenden, reinlichen Fleiſchwaaren be¬ trachtete und an ſeine Armen daheim dachte, ſtieg eine ploͤtzliche Verſuchung in ihm auf. Die Thuͤr war offen und der Laden leer. Sein Herz pochte in Unentſchloſ¬ ſenheit, aber er wandte ſich weg, und ſchritt langſam die Straße weiter.

In dieſem Augenblick war ein Mann fluͤchtig an ihm voruͤber geſtreift. Einige Schritte weiter blieb der¬ ſelbe ploͤtzlich ſtehen, gleich als ob Schenks Geſicht eine Erinnerung in ihm hervorgerufen, und blickte ihm nach. Als er uͤber die Perſon Schenks im Reinen zu ſein ſchien, kehrte er um, und Schenk ward durch einen25Armuth und Verbrechen. Schlag auf ſeine Schulter aus ſeinen truͤbſinnigen Ge¬ danken aufgeſchreckt.

„ Guten Tag, Fritz Schenk! Kennſt Du mich nicht mehr? “—

Der Angeredete ſtarrte zu dem Andern in ſtumpfer Gleichguͤltigkeit auf. Der Mann, der vor ihm ſtand, war eine hohe breitſchulterige Figur, ziemlich fein und modern gekleidet, und von einem auffallenden und er¬ zwungen vornehmen Weſen. Damit ſtand freilich der Ausdruck ſeines Geſichts in keiner Uebereinſtimmung, denn ſeine von einem dichten rothen Bart umzogenen Zuͤge waren der Typus der niedrigſten Gemeinheit. Dieſer Menſch hieß Wilhelm Fiſcher, hatte wegen Raub¬ anfalls auf offener Heerſtraße und verſchiedener Diebe¬ reien mehrere Jahre im Zuchthaus und Gefaͤngniß ge¬ ſeſſen, und kannte Schenk aus der Zeit ſeiner Haft. Fiſcher hatte ſeitdem ſeinem fruͤhern Treiben Valet ge¬ ſagt, und einen Erwerbszweig ergriffen, bei dem er ſich augenſcheinlich ganz wohl befand. Er war, nachdem er zuletzt aus dem Gefaͤngniß entlaſſen worden, zu dem Polizeichef gegangen, hatte ihm vorgeſtellt, daß er von ſeinem bisherigen Leben abſtehen wolle, und gebeten, in irgend einer Weiſe verwendet zu werden. Der Polizei¬26Armuth und Verbrechen. rath, der in Fiſchers ausgebreiteter Diebsbekanntſchaft ein treffliches Mittel zur Entdeckung manches Verbre¬ chens erblickte, hatte ihn in ſeine Dienſte genommen und ihm den Auftrag gegeben, ſeine fruͤheren Bekannt¬ ſchaften fortzuſetzen, und wenn er einen Anſchlag er¬ fuͤhre, ihn davon in Kenntniß zu ſetzen. Das war ge¬ genwaͤrtig die eigentliche Stellung Fiſchers. Dieſer Elende begnuͤgte ſich jedoch keineswegs damit, die Abſichten und Thaten ſeiner ehemaligen Genoſſen zu belauſchen, ſondern, um ſeinem Chef oͤftere Beweiſe ſeiner Thaͤtig¬ keit geben zu koͤnnen und ſich in den Augen deſſelben hervorzuthun, ſpornte er auch ſelbſt die Unſchluͤſſigen an und machte ihnen nicht ſelten ſogar die Anſchlaͤge, um die er ſie nachher verrieth.

„ Nun? Was ſtarrſt Du mich an? “ſagte er zu dem Handwerker. „ Kennſt Du Will Fiſcher nicht mehr? Thuſt ja, als haͤtten wir nicht zuſammen da — “

„ Nun, Will Fiſcher, “erwiderte Schenk duͤſter, „ und was willſt Du von mir! “—

„ Was ich von Dir will, Du Tropf? Dich fragen, wie es Dir geht, nichts weiter. Und ich habe ein Recht dazu, denn ich bin ein alter Bekannter, und27Armuth und Verbrechen. Du ſiehſt nicht aus, als ob Du einen Freundſchafts¬ dienſt zuruͤckſtoßen wuͤrdeſt. “

„ Ja, es geht mir ſchlecht genug! “murmelte dumpf der Ungluͤckliche. „ Keine Arbeit und kein Ver¬ dienſt mehr, Gott weiß, wie das enden wird. Ich habe ſeit vorgeſtern nichts mehr gegeſſen! “—

„ Komm mit, “ſagte der Andere mit rauhem Mit¬ leid. „ Ich weiß da in der Naͤhe einen Ort fuͤr unſer Einen, wo Du Dich fuͤttern kannſt. “—

Schenk folgte ihm mechaniſch, ohne ein Wort zu ſagen. Ploͤtzlich aber blieb er ſtehen, ſein Auge belebte ſich, wie von einem gluͤcklichen Gedanken beſeelt, und er hielt ſeinen Gefaͤhrten am Arm feſt, indem er ihn aͤngſtlich forſchend betrachtete.

„ Will Fiſcher, “ſagte er mit bangem Ton, „ es geht Dir gut, ich ſehe Dir es an. Du meinſt es auch gut mit mir, denn Du willſt mir eben zu eſſen geben. Hilf mir daher ganz — wenn Du kannſt, leihe mir zehn Thaler. Ich muß morgen meine ruͤckſtaͤndige Miethe bezahlen, oder ich werde mit meiner Frau und einem kranken Kinde nackt und bloß auf die Straße geſtoßen. Ich bin verloren, Will, wenn Du mir nicht hilfſt! “—

28Armuth und Verbrechen.

Will Fiſcher verzog ſein Geſicht zu einem ſonderba¬ ren Laͤcheln und druͤckte ſeine Haͤnde feſt in die Taſchen.

„ So, “ſagte er, „ Du brauchſt morgen zehn Thaler — mußt ſie haben, wie man ſo ſagt — unter jeder Bedingung. “—

„ Ja, ich muß ſie haben, unter jeder Bedingung. Ich weiß nicht, was ich ſonſt thun wuͤrde, aber den Jammer daheim wuͤrd 'ich nicht erleben! Zehn Tha¬ ler, Will — es iſt ja nicht ſo viel, und uns kann es jetzt retten. Gott wird es dir lohnen, Will! “—

„ Ja, Gott wird es mir lohnen und der Teufel den Segen druͤber ſprechen. Ich koͤnnte nachher ſehen, wie ich's wieder einbraͤchte, und fuͤr Dich waͤr's auch nur auf ein paar Tage. Uebrigens laß uns jetzt nur nach der Kneipe gehen, da koͤnnen wir weiter davon ſprechen. Ich habe zwar ſelbſt das Geld nicht, viel¬ leicht laͤßt ſich aber noch anderer Rath ſchaffen. “—

Sie ſchritten wieder fort. Will Fiſcher fuͤhrte den Handwerker durch mehrere kleine Nebenſtraßen, bis ſie zuletzt vor dem Schlußgebaͤude einer engen Sackgaſſe ankamen.

„ Das da iſt ein neues Bureau! “ſagte er, auf das Kneipenſchild uͤber einer Kellerwohnung zeigend. „ Es29Armuth und Verbrechen. kommen oft tuͤchtige Kerle hieher, weil der Wirth ehr¬ lich iſt und immer einen geheimen Weg hinten uͤber das Waſſer bauen kann. Wenn Du mich einmal ſuchſt, ſo komme nur Abends in dieſen Fuchsbau. “—

Sie traten die Stufen hinunter in den Keller, wo Fiſcher bekannt zu ſein ſchien. Waͤhrend er mit dem Wirth, dem Hehler der hier verkehrenden Diebsbande, im Winkel ein leiſes und angelegentliches Geſpraͤch fuͤhrte, hatte ein Maͤdchen Brot, Kaͤſe und Brannt¬ wein gebracht. Schenk goß die beiden Glaͤſer mit jaͤher Haſt hinunter und begann gierig das Eſſen zu ver¬ zehren.

„ Nun, das muß ich ſagen, “lachte Will Fiſcher, wieder herantretend, „ dein Appetit wenigſtens hat bei Deinem Leben nicht gelitten. “—

Schenk nahm ſchweigend den Reſt des Eſſens, wickelte ihn in ein Stuͤck Papier und ſteckte das Ganze ſorgfaͤltig in ſeine Taſche.

„ Ich werde das meiner Frau bringen, “ſagte er dann halb vor ſich hin. „ Sie wartet ſchon den gan¬ zen Morgen, und es iſt doch etwas. “—

„ Deine Frau! So, ſo. Sagteſt es ja auch zu¬30Armuth und Verbrechen. vor ſchon. Kenn 'ich ſie vielleicht? Etwa eine Be¬ kanntſchaft von damals, als wir zuſammen — “

Schenk warf einen zornigen Blick auf ſeinen Nach¬ bar und ſtieß das leere Glas heftig auf den Tiſch.

„ Nun, ereifre Dich nicht! “beguͤtigte der Andere ſogleich. „ War nur neugierig, wie es eigentlich mit Dir ausſieht, ſeit wir auseinander gekommen ſind. “—

„ Wie im Himmel ſieht's bei uns aus, wie im Himmel, Will, “erwiderte Schenk mit wilder Bit¬ terkeit, „ wir eſſen nicht und trinken nicht. Es iſt ein herrliches Leben, man genießt die ganze Schoͤpfung, man hoͤrt die Voͤgel ſingen, man hat im Sommer die ſchoͤne Natur, im Winter das praͤchtige Eis, und braucht fuͤr Alles das gar Nichts zu bezahlen. Ich erinnere mich, daß der Pfaffe mir fruͤher ſagte, es ſei eine Gnade Gottes, daß wir geſchaffen wuͤrden und leben duͤrften. Ich wollte das lange nicht einſehen, aber es iſt doch wahr, es liegt nur an dem Einzelnen ſelbſt, wenn er ſich das Leben verkuͤmmert. Das Leben iſt doch umſonſt, wozu ſich da plagen und Sorgen ma¬ chen? Es koͤmmt am Ende doch auf Eins heraus, ob man auf ſeidenen Kiſſen oder allmaͤhlig Hungers ge¬ ſtorben iſt. “—

31Armuth und Verbrechen.

„ Ich verſtehe nicht, was Du da ſagſt, “antwor¬ tete Will Fiſcher. „ Aber wenn Du ſchon verzweifelſt, ſo thuſt Du Unrecht. Ich weiß eben was fuͤr Dich, was Dich auf lange Zeit herausreißen kann. “—

„ Will! “rief der Handwerker ploͤtzlich erregt.

„ Laß mich los und mach 'keine Flauſen. Kennſt Du das Landhaus druͤben in Ch ***? “

„ Ich habe einmal darin gearbeitet. “—

„ Deſto beſſer. Es wollten ein paar tuͤchtige Kerle heut Nacht Beſuch drin machen, aber der Wirth er¬ zaͤhlt mir, daß ſie's verſchieben muͤſſen, weil ihrer zu wenig ſind. Wenn Du dabei ſein willſt, kannſt Du Dein Schaͤfchen ſcheeren und Deine Familie ins Trockne bringen. “—

Schenk ſah ſeinen Nachbar mit einem feſten Blick an und ſagte dann langſam:

„ Stehlen alſo. Ich hatte noch nicht daran gedacht, und es liegt doch ſo nahe. Ich glaube, ich habe nicht einmal Muth dazu. “—

Der Polizeiagent ſchenkte die Glaͤſer voll und erwi¬ derte veraͤchtlich:

„ Es gehoͤrt freilich weniger Muth dazu, mit Frau32Armuth und Verbrechen. und Kind zu verhungern. Uebrigens haͤtten ſie Dich vielleicht nur zur Wache gebraucht. “—

„ Wenn ich ſagte, daß mir der Muth fehlte, “verſetzte Schenk, „ ſo meine ich, daß ich nicht die Kraft hatte, den Gedanken zum Stehlen zu faſſen. Es iſt wahrhaftig weit gekommen. Und doch iſt es wahr, das Einzige bliebe mir noch uͤbrig. Ich werde mir's uͤber¬ legen, Will. “—

Mit dieſen Worten erhob er ſich, fuͤhlte in die Taſche, ob er das Eſſen auch noch habe, und wendete ſich nach der Thuͤre.

„ Wenn Du mir Beſcheid bringen willſt, “rief Fiſcher ihm nach, „ ſo weißt Du, wo Du mich heut Abend findeſt. “—

Schenk wanderte in truͤbſinnigem Bruͤten durch die engen und ſchmutzigen Gaſſen des „ ſchlechten Viertels, “jener Hoͤhlen des Elends und des Verbrechens, wo die aus den Kreiſen der herrſchenden Geſellſchaft verſtoßene Armuth den Fluch ihres Daſeins verbirgt.

33Armuth und Verbrechen.

In einer niedrigen, baufaͤlligen Huͤtte kletterte Schenk eine Stiege hinauf, und befand ſich hier — unter dem Dache — in der Behauſung der Seinen. Bei dem Geraͤuſch, welches ſein Eintreten verurſachte, erhob in der Ecke eine Frau ihren Kopf von dem Bettchen eines Kin¬ des, wo ſie deſſen fieberhaften Schlaf belauſcht hatte. Die Kleidung dieſer Frau war mehr als aͤrmlich, und in den leidenden von Gram entſtellten Zuͤgen ihres Geſichts waren auch die letzten Spuren ihrer fruͤheren Anmuth verloren. Das Ausſehen des Zimmers ſtimmte traurig mit dem Ausdruck der Bewohner uͤberein. Die Moͤbel beſtanden außer dem Bettchen des Kindes in einem Stuhl, einer Kommode, welche zugleich die Stelle des Tiſches verſah, einem alten Kaſten, welcher ſtatt eines zwei¬ ten Stuhls ebenfalls zum Sitz benutzt wurde, und einer einzigen Lagerſtaͤtte: einem Strohſack, uͤber den eine Decke gebreitet war. Auf dem Ofen des Zimmers wurde gekocht, — wenn es etwas zu kochen gab, und in dieſem gluͤcklichen Falle wurde die ohnedies dum¬ pfige Atmoſphaͤre des feuchten, an den Waͤnden ſchim¬ melnden Raumes vollends ſchwuͤl und ungeſund. Und doch waͤren die Ungluͤcklichen auch in dieſen Raͤumen zufrieden geweſen, haͤtten ſie nur ſich und ihr krankes334Armuth und Verbrechen. Kind vor der graͤßlichen Qual des Hungers ſchuͤtzen koͤnnen:

Bei dem fragenden Blick, den das matte glanzloſe Auge ſeiner Frau auf ihn heftete, zog der Handwerker das Eſſen aus der Taſche und reichte ihr daſſelbe ſchwei¬ gend hin.

„ Du haſt irgend eine Arbeit bekommen? “ſagte ſie lebhaft.

Schenk hatte ſich auf den alten Kaſten geſetzt und die Haͤnde uͤber das Knie gekreuzt. Ohne nur aufzu¬ blicken, erwiederte er nachlaͤſſig:

„ Nein. Ich habe das von einem Bekannten aus meiner Gefaͤngnißzeit gekriegt. “—

Die Frau hielt ploͤtzlich mit Eſſen inne, und blickte erſchrocken bei dieſen Worten nach ihrem Manne hin.

„ Fritz! “rief ſie mit aͤngſtlichem Ausdruck, „ Du haſt doch nicht — “

„ Geſtohlen, willſt Du ſagen? “antwortete Schenk mit erzwungenem Lachen, als die Frau inne hielt. „ Noch nicht, mein Schatz, noch nicht. Nur eine Gelegenheit dazu hat er mir angegeben. “—

„ Gott ſteh 'uns bei, Fritz! Wie kannſt Du nur35Armuth und Verbrechen. ſolche Gedanken haben! Denkſt Du nicht an uns, an das arme Kind — “

„ Eben drum, eben drum! Grade weil ich an Euch denke, “ſagte der Mann ſich erhebend und durch's Zim¬ mer ſchreitend. „ Ich weiß auch wahrhaftig nicht, wes¬ halb wir uns davor zu ſcheuen brauchten. Wir haben ebenſoviel Recht zu leben, als die Andern, und wenn ſie uns unſer Leben ſtehlen, ſo duͤrfen wir's doch wieder ſtehlen! “—

„ Fritz, um Gotteswillen, fuͤhr 'keine ſo laͤſterlichen Reden im Mund! Es iſt eine Pruͤfung, die uns der Herr aufgelegt, wir muͤſſen ausharren! “—

„ Ja, unſer ganzes Leben iſt eine Pruͤfung, und wir ſind nur dazu geboren, daß ſich der Herrgott droben an unſerm Todeskampf erluſtiren kann. Drum ſind auch die reichen Faullenzer geſchaffen, fuͤr die die armen Leute ſchaffen und rackern muͤſſen, ohne ſelber was davon zu haben. Die Reichen betruͤgen die Armen, und betruͤgen ſich dann im Handel und Wandel wieder untereinander. Der Jammer muß ſich von oben recht komiſch an¬ ſehen. “—

„ Gott verzeih 'Dir die Suͤnde, Mann! “rief die entſetzte Frau.

3 *36Armuth und Verbrechen.

Schenk, der fortwaͤhrend im Zimmer auf - und nie¬ derging, ſchlug eine grimmige Lache auf.

„ Freilich, freilich! Die Suͤnde iſt nur fuͤr uns. Wenn unſer Einer ſtiehlt oder betruͤgt, dann iſt's Suͤnde; wenn Einem aber der Kaufmann ſchlechte Waare auf¬ luͤgt, wenn die Kinder der Reichen unſere Kinder um das Gluͤck des Lebens beſtehlen, dann iſt's Recht und Ordnung. Wir muͤſſen ſuchen reich zu werden, um nach Recht und Ordnung ſtehlen und betruͤgen zu koͤnnen, ſo lange aber muͤſſen wir's heimlich thun. “—

„ Keinen Biſſen eſſe ich von Deinem Suͤndenbrot! “rief die Frau, indem ſie das Eſſen, welches ſie bis dahin in der Hand gehalten, von ſich warf.

Schenk ging eine Zeitlang ſchweigend durch's Zimmer. Als er endlich ſah, wie ſeine Frau das Geſicht in die Haͤnde verborgen hatte und leiſe in ſich hineinweinte, trat er an ſie heran, und ſagte milder:

„ Sei ruhig, mein Weib! Achte nicht auf das, was ich Dir geſagt habe, die Noth giebt Einem ſolch 'ver¬ ruͤckte Gedanken ein. “—

„ Willſt Du mir verſprechen, Dir ſolch ſuͤndhaftes Zeug aus dem Sinne zu ſchlagen, und Dich nicht wie¬37Armuth und Verbrechen. der mir dem elenden Diebspack einzulaſſen? “fragte die Frau, indem ſie ihm ihre thraͤnenbenetzte Hand reichte.

„ Ich will Dir verſprechen, immer nur an Dich und unſer armes Kind zu denken, “erwiederte Schenk, ihr die dargebotene Hand druͤckend. „ Ich will mich noch einmal an jenen reichen Mann wenden, durch den wir eigentlich ſo in's Ungluͤck gekommen ſind. Vielleicht erbarmt er ſich, wenn ich ihm unſeren Jammer ſchildere. Du weißt, daß wir morgen den Miethsmann bezahlen muͤſſen, wenn wir das kranke Kind nicht einem elenden Ende ausſetzen wollen. “—

In dieſem Augenblick erwachte die arme Kleine. Schenk, der ſchon ſeine Muͤtze aufgeſetzt hatte, naͤherte ſich wieder dem Bettchen, und druͤckte einen Kuß auf die fiebergluͤhenden Lippen des Kindes.

„ Und doch wird Dein Ende Elend ſein! “grollte er in ſeinem Innern. „ Warum hab 'ich Dich nicht bei der Geburt getoͤdtet, bevor mein Herz Dich lieben lernte?! “

Dann verſuchte er nochmals die geaͤngſtigte Frau zu troͤſten, — hatte er ſelbſt wohl Troſt? Der Anblick ihres wehmuͤthig reſignirten Leidens preßte ihm faſt das Herz ab, und ſchon ſeit langer Zeit ſuchte er ſich, ſo oft es ging, von den Seinen zu entfernen, die ihm nur das38Armuth und Verbrechen. Bild ſeines Jammers waren. Aber er kuͤßte ſeine Frau innig und ſagte beim Weggehn mit feſter Ruhe:

„ Es wird wohl noch gut werden! “—

Bei dem reichen Manne mußte Schenk diesmal ge¬ raume Zeit in der Hausflur ſtehen. Die gallonirten Be¬ dienten kamen mit ſilbernen Schuͤſſeln aus den Zimmern, und ſtrichen an ihm voruͤber, indem ſie ihn aus dem Wege gehn hießen oder gar veraͤchtlich zur Seite ſtießen. Anfangs hatten ſie ihn, ſeines ſchmutzigen und zerſchliſſe¬ nen Aeußern wegen, fortjagen wollen, zumal der Herr noch bei Tiſche ſaß, aber Schenk behauptete, dringlich mit dem Herrn ſprechen zu muͤſſen, und wollte lieber unter der beleidigenden Behandlung des Bedientenvolks ausharren, als ſich ſeiner letzten Hoffnung begeben.

Nach Verlauf von anderthalb Stunden endlich ward er in einen Vorſaal gewieſen, wo er abermals eine Vier¬ telſtunde wartete. Er betrachtete mit ausdrucksloſem Blick ein Gemaͤlde, waͤhrend ſeine Gedanken, ermuͤdet und abgeſpannt, fern von dem Ort und dem Zweck ſei¬ nes Beſuches waren. Als er aber im Nebenzimmer den39Armuth und Verbrechen. Tritt des Herrn vernahm, ſchlug ſein Herz ploͤtzlich hoͤher, und die Erinnerung an Frau und Kind richtete ſeine Sinne wieder ganz auf den einen Punkt, die Entſchei¬ dung ſeiner naͤchſten Zukunft.

Der gnaͤdige Herr zeigte ein ziemlich geroͤthetes und aufgeregtes Geſicht, und ſchien im Ganzen guter Laune zu ſein. Schenk trug ihm ſeine Verhaͤltniſſe mit zager, verlegener Stimme vor, und bat ihn ſchließlich um eine Unterſtuͤtzung von fuͤnfzehn Thalern.

„ Ihr ſeid ein Taugenichts, Schenk, “ſagte der gnaͤ¬ dige Herr, ſich die Zaͤhne ſtochernd. „ Ihr habt keine Luſt zur Arbeit, ſonſt wuͤrde es Euch nicht ſo gehen, wie Ihr ſagt. Euch Geld geben, hieße Euch im Muͤ¬ ßiggang beſtaͤrken, und man wuͤrde Euch zuletzt gar nicht mehr loswerden. “—

„ Ach, gnaͤdiger Herr, wenn mir die Leute nur Ar¬ beit geben wollten, daß wir nothduͤrftig davon leben koͤnn¬ ten, wie gern wollt 'ich ſchaffen von fruͤh bis in die Nacht! “erwiederte der Handwerker mit feuchtem Auge. „ Verſuchen Sie es mit mir, gnaͤdiger Herr! Geben Sie mir Arbeit, wie Sie wollen, ſchicken Sie mich auf Botengaͤnge, laſſen Sie mich Holz hacken und Waſſer40Armuth und Verbrechen. tragen, ich will Ihnen das Geld wieder abarbeiten, und gewiß, Sie ſollen mit meinem Fleiß zufrieden ſein! “—

„ Ja, ich kenne das! Als ich Euch damals das Geld gab, damit Ihr Euch herausreißen koͤnntet, da habt Ihr, ſtatt zu arbeiten, das Geld durchgebracht und ſeid nach¬ her wegen Diebſtahl eingeſperrt worden. Das waͤre das Richtige, Euch in's Haus zu nehmen und Sachen von Werth anzuvertrauen! “—

„ Gnaͤdiger Herr! “ſagte der Handwerker verletzt.

„ Ah, Ihr wollt den Gekraͤnkten ſpielen! Das ver¬ lohnte ſich der Muͤhe! Ihr werdet das wohl ſchon oͤf¬ ters gehoͤrt haben, und ich verdenke es den Leuten gar nicht, wenn ſie einem Taugenichts, wie Ihr ſeid, keine Arbeit geben. “—

„ Gnaͤdiger Herr, “erwiederte Schenk, ſich aufrichtend, „ haͤtte ich immer den vollen Gebrauch meines geſunden Armes gehabt, ſo waͤre ich vielleicht nicht in die Noth verfallen, die mich zu dem Verbrechen verleitete! “—

„ So! Ihr glaubt wohl ein Recht auf meine Unter¬ ſtuͤtzung zu haben? “rief der vornehme Mann. „ Da ſeid Ihr aber im Irrthum. Ich habe Euch pflegen und kuriren laſſen, und noch Geld obendrein zu einem ehrli¬ chen Geſchaͤft gegeben. Damit Baſta! Eure Halunke¬41Armuth und Verbrechen. reien zu unterſtuͤtzen, habe ich wahrlich nicht noͤthig. Jetzt ſcheert Euch Eurer Wege! “—

„ Sie haben gar keine Verpflichtung gegen mich — ich weiß das, “ſagte Schenk ploͤtzlich, uͤber die Wendung erſchreckt, „ ich wollte ja nur ſagen, daß ich vor meinem Ungluͤck zufrieden und ehrlich gelebt habe, und daß ich gewiß wieder ſo leben wuͤrde, wenn ich ausreichende Ar¬ beit haͤtte. Ich wollte Sie ja nur bitten, gnaͤdiger Herr — “

„ Nichts da! Ich habe es ſchon einmal gethan und es hat nichts bei Euch geholfen, ſo wuͤrde es auch jetzt nichts helfen. In ein paar Tagen waͤret Ihr wieder ſo weit, und wuͤrdet wieder mit Betteleien kommen. Es iſt beſſer, daß Ihr Euch von vornherein daran gewoͤhnt, ſelbſt zu ſorgen und zu arbeiten, ſtatt daß Ihr durch Unterſtuͤtzungen, die doch einmal aufhoͤren muͤſſen, im Faullenzen beſtaͤrkt und fuͤr die Zukunft verdorben wer¬ det! “—

„ Gnaͤdiger Herr, nur dies eine Mal noch! Haben Sie Erbarmen mit meiner Familie! “—

„ Ich gebe Euch mein Wort, daß ich nichts mehr fuͤr Euch thue, macht, daß Ihr fortkommt! “ſagte der Gnaͤdige ſtreng.

42Armuth und Verbrechen.

„ Meine Familie, Herr! Mein Weib und mein krankes Kind! “—

„ Ich habe auch Familie und kann mich fuͤr Euch nicht aufreiben! 's iſt auch zu Eurem eignen Beſten. Ihr werdet arbeiten lernen! — Macht fort, macht fort! Ich ſag 'Euch, ich geb' Euch nichts! “—

„ Sie ſind Schuld, wenn wir elendiglich verderben, gnaͤdiger Herr! “rief der Handwerker in Verzweiflung.

„ Wollt Ihr Euch gleich zum Henker ſcheeren, Ha¬ lunke, oder ſoll ich Euch hinauswerfen laſſen? — Wird's noch nicht bald? “—

Schenk ſtand wie eingewurzelt, den verzweiflungs¬ vollen Blick flehentlich auf den reichen Mann gerichtet, die Haͤnde krampfhaft in einander gefaltet. Erſt als der erbitterte Herr mit Heftigkeit an der Klingel riß, wendete er ſich langſam nach der Thuͤr und ſchritt hinaus auf die Straße.

„ Daß Ihr mir dieſen Kerl nicht wieder hereinlaßt, wenn er wieder kommt! “ſagte der Gnaͤdige zu ſeinem Bedienten.

Aber Schenk kam nicht wieder. Draußen vor dem Hauſe des Reichen ſtand er einen Augenblick ſtill und43Armuth und Verbrechen. murmelte in kochender Wuth, waͤhrend er drohend die geballte Fauſt in die Hoͤhe reckte:

„ Moͤge mein Blut uͤber Dich kommen, Du un¬ barmherziger Hund! Moͤge der Jammer meines Weibes und meines unſchuldigen Kindes auf den Seelen der Deinen brennen, und Dein verfluchtes Geſchlecht in der¬ ſelben Noth und Verzweiflung verderben laſſen! “—

Dann wendete er ſich ab und ſchritt weiter, ſchnell und entſchloſſen, nach der Schenke, wo, wie er wußte, Will Fiſcher ihn erwartete.

Am andern Morgen erzaͤhlte man ſich allenthalben von einer Diebsbande, die bei einem frechen, naͤchtlichen Einbruch von der Polizei ertappt und aufgehoben worden ſei. Schenks Frau aͤngſtigte ſich noch nicht daruͤber, daß ihr Mann die Nacht uͤber ausgeblieben war, denn er hatte ſich oͤfters, um ſein haͤusliches Leid nicht zu ſehn, in einer Kneipe eine Streu geſucht. Am Nachmittag aber kam der Hausmann, kuͤndigte ihr in brutalen Wor¬ ten das Schickſal ihres Mannes an und ſagte, daß ſie44Armuth und Verbrechen. jetzt, wo ſie ihm allein gar keine Garantie mehr biete, ungeſaͤumt ausziehen muͤſſe. Dann ließ er ſie mit ihrer Verzweiflung allein.

Den Nachmittag uͤber blieb die Aermſte noch in die¬ ſer Staͤtte des Jammers zuruͤck. Sie ſaß vor dem Bett ihres Kindes, ſtumm und in ſich gekehrt. Kein Laut der Klage entſchluͤpfte ihren Lippen, ihre Augen waren trocken, aber ihr Blick brannte auf die Zuͤge ihrer ſchlum¬ mernden Kleinen. Am Abend, als die Dunkelheit tiefer hereingebrochen war, hing ſie ihren Mantel um, nahm das Kind in den Arm und ſchritt durch die Gaſſen. Als ſie am Quai angekommen war, machte ſie Halt und zog ihr Kind noch einmal aus der Verhuͤllung des Man¬ tels hervor. Das ſchwankende Licht einer entfernten La¬ terne fiel auf die Zuͤge der ſchlummernden Kleinen, und blitzte wieder in den perlenden Thraͤnen, die jetzt heiß aus den Augen der Mutter rollten. Sie kuͤßte die kleinen Zuͤge mehrmals feſt und innig, und ihre Lippen bewegten ſich, wie zum Gebet. Als das Kind ſich dann leiſe zu bewegen begann, machte ſie eine raſche Bewegung und ſprang mit ihm in den Fluß. — —

Schenk vernahm von dem Ende der Seinen nichts. Da ſein Inquirent ein ausfuͤhrliches Geſtaͤndniß, nament¬45Armut und Verbrechen. lich in Bezug weiterer Mitſchuldigen, zu erlangen hoffte, ſo wurde er in einſamem, ſtrengem Gewahrſam gehalten, und ſo konnte ihn das Ausbleiben ſeiner Frau nicht wun¬ dern. Aber der Gedanke an ſie, die Huͤlfloſe, Verzwei¬ felnde, nagte graͤßlich in ſeinem Innern. Zuweilen ergriff ihn eine ploͤtzliche Angſt, daß er haͤtte aufſchreien oder weit, weit fortlaufen moͤgen, dann wieder verfiel er in den tiefſten Truͤbſinn. In einer Nacht fuhr er aus einem Traum auf. Die Angſt jagte ihn ruhelos im Zimmer umher, und die hoffnungsloſe Verzweiflung ſeiner Lage ließ ihn ſeinem Zuſtande ein Ende machen. Er ſtieg auf einen Stuhl in der Naͤhe des Fenſters, band ſein Hals¬ tuch um den Hals, knuͤpfte dann die Enden feſt an die Gitterſtaͤbe des Fenſters und ſtieß den Stuhl unter ſich mit dem Fuße fort.

Als am Morgen der Gefangenwaͤrter eintrat, hatte die gequaͤlte Seele Ruhe gefunden.

Nachdem in jener Nacht des Einbruchs die Diebe gluͤcklich eingefangen waren, hatte ſich Will Fiſcher, im46Armuth und Verbrechen. Voraus eines gnaͤdigen Empfanges gewiß, ſeinem Chef praͤſentirt.

„ Ihr ſeid ein brauchbarer Mann, Fiſcher, “ſagte der Polizeirath, indem er ihm den Lohn auszahlte. „ Dient mir ſo fort, und es ſoll Euer Schade nicht ſein. “—

[47]

Polizeiliche Eheſcheidung.

„ Schließlich wird darauf aufmerkſam gemacht, daß, wenn ſich ein Inlaͤnder im Auslande ohne die, mit kreis¬ amtlicher Beglaubigung verſehene, Zuſtimmung des Stadtrathes ſeiner Heimath verheirathet, die ihm angetraute Auslaͤnderin und die mit ihr erzeugten Kinder ein Heimathsrecht in hieſigen Landen nicht anzuſprechen haben. “—
(Aus den Kurfuͤrſtl. Heſſ. Heimathſcheinen. )
„ Die Eigenſchaft als Preuße geht verloren: — — 4) bei einer preußiſchen Unterthanin durch deren Verheira¬ thung an einen Auslaͤnder. “—
(Preuß. Geſetzſammlung; Geſ. v. 31. Dez, 1842, Nr. 2320, §. 15. )
[48][49]

„ Wie ich Euch ſage, Frau Gevatterin! Wie ich Euch ſage. Hat die graͤulichſten, gotteslaͤſterlichſten Dinge dru¬ cken laſſen, glaubt weder an Gott, noch den Teufel, noch den Koͤnig! “—

„ Gott ſteh 'uns bei, Frau Gevatterin! “—

„ Wie ich Euch ſage. Und heute Morgen iſt der Kommiſſair gekommen mit vier Gensd'armen, hat ihm alle ſeine Briefſchaften verſiegelt, und ihn nach der Vogtei gefuͤhrt. “—

„ Was man nicht erlebt in dieſen Zeiten! Dieſer ſtille, magere Menſch mit dem Waſſerſuppengeſicht, — ei, Du mein Gott, wer haͤtt's von dem gedacht, daß er einmal mit der Polizei zu thun kriegte! —

„ Hab's immer geſagt, Frau Gevatterin, ſind Heim¬ tuͤcker, die Kerle. Jetzt ſieht man's. Ein Kommiſſai mit vier Gensd'armen, und am hellen Tage durch die Stadt gefuͤhrt! “—

450Polizeiliche Eheſcheidung.

„ Ach, und die arme junge Frau mit ihren drei Kindern! Um die thut's mir leid, Gott verzeih mir's, nicht um den Mann, nicht im Geringſten. Aber es war ſo eine liebe, gute Frau, trug ſich immer ſo nett und war ſo freundlich — Herr, mein Gott, was wird das fuͤr ein Schlag fuͤr die arme Frau geweſen ſein! “—

„ Iſt aber ſelbſt Schuld daran, Frau Gevatterin, warum hat ſie ſich mit ſo Einem eingelaſſen. Das Li¬ teratenvolk iſt gar nichts werth. Aus aller Herren Laͤn¬ dern werden ſie weggejagt, laufen in der Fremde herum, oder werden eingeſperrt. Alle Wochen ſteht ſo eine Ge¬ ſchichte in der Zeitung, und erſt neulich hab 'ich geleſen, daß ſie Einen auf ſieben Jahre nach Magdeburg auf die Feſtung gebracht haben. “—

„ Ei Du mein Gott, Frau Gevatterin! Auf ſieben Jahre, das iſt ja graͤulich! “—

„ Ja, und die Zeitungen ſind immer voll von ſolchen Sachen. Die Polizei iſt ihnen immer auf den Hacken, was kann da Gutes an den Leuten ſein? Nicht einen Dreier geb 'ich auf ſolch' einen Kerl. “—

51Polizeiliche Eheſcheidung.

Das Geſpraͤch, welches wir die beiden Weiber auf der Gaſſe in K. eben fuͤhren hoͤrten, bezog ſich auf einen jungen Mann, Namens Paul. Derſelbe hatte fruͤher dem Studium der Theologie obgelegen und ſeine Pruͤ¬ fungen mit glaͤnzendem Erfolg beſtanden. Von der Kandidatur aber war er durch das Konſiſtorium in ſeiner Heimath zuruͤckgewieſen worden, weil die in ſeiner Probe¬ predigt ausgeſprochenen Grundſaͤtze als der herrſchenden Richtung zuwiderlaufend erachtet wurden. Paul hatte von Haus aus nur ein kleines Vermoͤgen beſeſſen, und dies war durch ſeine Studien faſt gaͤnzlich erſchoͤpft. Als ihm daher durch das Konſiſtorium die Ausſicht auf eine Anſtellung abgeſchnitten ward, mußte er ſich eine andere Exiſtenz zu begruͤnden ſuchen. Er verließ zunaͤchſt ſeine Heimath und begab ſich nach K., wo er Gelegenheit fand, ſeine Thaͤtigkeit auf literariſche Arbeiten zu ver¬ wenden. Nach einem Jahre heirathete er hier ein jun¬ ges, liebenswuͤrdiges Maͤdchen aus den ſogenannten gebil¬ deten Staͤnden, der aus ihren einſt gluͤcklichen Verhaͤlt¬ niſſen nur ein geringes Kapital geblieben war. Indeß verſchaffte dies und die Thaͤtigkeit Pauls den beiden Gat¬ ten eine hinlaͤnglich ruhige Exiſtenz und ihr beſcheidenes Gluͤck ward lange durch nichts getruͤbt. Thereſe ſchenkte4 *52Polizeiliche Eheſcheidung. ihrem Gatten im Laufe der Zeit drei Kinder. Sie war eine ſchlanke huͤbſche Blondine, voll ſittſamer, natuͤrlicher Liebenswuͤrdigkeit, die durch ihr einfaches Weſen Alle, die ihr nahe kamen, feſſeln mußte. Ihren Gatten liebte ſie mit unausſprechlicher Hingebung, und die Kinder, auf welche Beide ihre ganze Sorgfalt wendeten, befeſtigten das innige Band des Paares immer mehr. Um dieſe Zeit erregte eine Arbeit Pauls — in welcher Art, iſt hier gleichguͤltig — die Aufmerkſamkeit der Polizei. Ganz wie oben die beiden Weiber erzaͤhlten, trat eines Morgens ein Polizeibeamter mit vier Gensd'armen in Pauls Woh¬ nung, durchſtoͤberte, obgleich Paul ſich zu dem quaͤſtio¬ nirten Artikel bekannt hatte, alle Papiere deſſelben, ſteckte Briefe und Manuſcripte ein und fuͤhrte Paul mit ſich fort. Thereſe gerieth dabei in die entſetzlichſte Angſt. Mit Thraͤnen der Verzweiflung fiel ſie dem Beamten zu Fuͤßen und beſchwor ihn, jede Garantie zu verlangen und ihr nur den Gatten zu laſſen. Der Kommiſſair hob ſie artig auf und ſagte, daß er nur das Werkzeug einer hoͤhern Macht ſei.

„ Uebrigens, “meinte er beruhigend, „ wuͤrde die Sache wohl nicht viel zu bedeuten haben. “—

In der That wurden auch die Beſorgniſſe Thereſens53Polizeiliche Eheſcheidung. — wenigſtens fuͤr den Augenblick — bald zerſtreut, denn nach Verlauf von einigen Stunden kehrte Paul von der Polizei zu ſeiner Gattin zuruͤck.

Paul war ein Auslaͤnder, ein Deutſcher naͤmlich. Als er ſich in K. verheirathet hatte, war er um Ertheilung des Buͤrgerrechts eingekommen, die Polizei aber hatte ihm den Beſcheid gegeben, daß man gegen ſeinen Aufenthalt in K. zwar nichts habe, ihm aber das Buͤrgerrecht vor¬ laͤufig nicht ertheilen koͤnne. Da die Gemeinden zur Aufnahme von Auslaͤndern nicht verpflichtet ſind, ſo hatte ſich Paul damals bei dieſem Beſcheide begnuͤgen muͤſſen. Als er jetzt nach der Polizei gebracht wurde, nahm man einfach ein Protokoll uͤber ſeine Verhaͤltniſſe auf; ſein Antrag: wenn irgend etwas gegen ihn vorliege, ihn zur gerichtlichen Verantwortung zu ziehen, ward nicht beach¬ tet. Das Warum? mag der ſcharfſinnige Leſer ſelbſt errathen. Statt deſſen aber erhielt Paul nach einigen Tagen die polizeiliche Weiſung, Stadt und Land zu ver¬ laſſen.

54Polizeiliche Eheſcheidung.

Eine polizeiliche Ausweiſung hat viel fuͤr ſich. Es bedarf dazu weder eines richterlichen Erkenntniſſes, noch einer geſetzlichen Vorlage, und doch erreicht man ſeinen Zweck zuweilen vollſtaͤndiger, als durch eine voruͤbergehende Haft. Der Fluͤchtige, der nicht weiß, wohin er ſein Haupt legen ſoll, gewinnt ſelten Zeit zu ſogenannten Mißliebigkeiten. Faßt er dann auch in der Fremde Fuß, ſo hat er doch bald den richtigen Blick fuͤr die Verhaͤlt¬ niſſe ſeiner Heimath verloren, und iſt mindeſtens fuͤr die lokalen Ereigniſſe der Gegend unſchaͤdlich gemacht, aus der man ihn vertrieben hat. In neueſter Zeit hat man denn auch die mannigfachen Vorzuͤge ſolcher Maßnahmen wohl eingeſehen, und in gewiſſen Laͤndern breitet man dieſe Erfahrung auch dahin aus, daß man mißliebige Beamte von einer Stadt zur andern verſetzt, ohne ſie zu Athem kommen zu laſſen.

Als Paul die polizeiliche Ausweiſung aus Stadt und Land erhielt, antwortete er in einem Anflug von Humor, er wuͤrde binnen 5 Minuten dem Befehl nachgekommen ſein. Er traf zu Hauſe noch einige Vorkehrungen, troͤ¬ ſtete ſeine weinende Frau mit der Hoffnung, daß ſie bald wieder vereinigt ſein wuͤrden, und begab ſich uͤber die Grenze nach der Reſidenzſtadt des benachbarten Landes. 55Polizeiliche Eheſcheidung. Aber der Empfang war hier nicht der erwartete. Wer einmal von der Polizei gezeichnet worden iſt, kann einer ſteten Aufmerkſamkeit von kleinlichen, berichtluſtigen Po¬ lizeiſeelen gewiß ſein, denn wenn man irgend in deutſchen Verhaͤltniſſen Einigkeit ſuchen duͤrfte, ſo waͤre es in denen der Polizei. Paul wurde abermals verwieſen, oder erhielt vielmehr von vornherein keine Erlaubniß zum Aufenthalt. Ein Grund wurde ihm fuͤr dieſe Maßnahme nicht ange¬ geben, aber man gab ihm zu verſtehen, daß es wegen ſeiner Verweiſung in K. geſchehe; man wollte der Moͤglichkeit vorbeugen, in eine aͤhnliche Nothwendigkeit verſetzt zu werden. Das nennt man eine Praͤventivmaßregel. Paul wollte zwar die Richtigkeit einer ſolchen nicht einſehen, und meinte, daß man demgemaͤß auch Jeden auf die bloße Moͤglichkeit hin, er koͤnne einmal wahnſinnig wer¬ den, in ein Irrenhaus ſperren duͤrfe, eine Sache, die doch noch nicht erhoͤrt ſei: die Polizei aber geſtattete ihm, auswaͤrts daruͤber nachzudenken, und transportirte ihn uͤber die Grenze. Dieſe Geſchichte wiederholte ſich noch ein¬ mal, und wenn Paul nicht noch einige dreißig Mal aus¬ gewieſen wurde, ſo lag das einzig darin, daß er endlich die Gelegenheit dazu vermied. Sein Gemuͤth wurde all¬ maͤhlig furchtbar erbittert, und es laͤßt ſich ſchwer be¬56Polizeiliche Eheſcheidung. ſchreiben, was in der Bruſt des Fluͤchtlings vorging, waͤhrend er ſo gehetzt von Stadt zu Stadt zog. Aber er bedurfte der Ruhe, und wiewohl es ihm gar ſauer erſchien, beſchloß er doch zuletzt, ſich wieder in ſeine Hei¬ math zu begeben, deren Verhaͤltniſſen er entfremdet wor¬ den war. Er begab ſich alſo nach — Kurheſſen.

Kurheſſen iſt ein ſchoͤnes, deutſches Land. Es ſind viel brave Leute da geſtorben, wie z. B. der Buͤrger¬ meiſter Schomburg, viele auch nicht, wie die im vori¬ gen Jahrhundert nach Amerika verſendeten Soldaten. In Kurheſſen iſt Herr von Haſſenpflug Miniſter geweſen, und Sylveſter Jordan nicht geboren.

Als Paul in dieſem Lande angekommen war, miethete er ſich eine Wohnung, und ſchrieb ſeiner Frau, daß ſie ihre Sachen ordnen und ihm mit den Kindem nach¬ kommen moͤge. Thereſe wurde von ihren Einrichtungen faſt zwei Monate zuruͤckgehalten, da der Verkauf ihrer Moͤbeln, die Vermiethung der Wohnung und aͤhnliche Anordnungen ihr viel zu ſchaffen machten. Als ſie bei57Polizeiliche Eheſcheidung. ihrem Gatten eintraf, war der Herbſt eben angebrochen. Hier wurden die Anſtalten indeß ſchneller beſorgt und die wiedervereinigten Gatten begannen bald ihre Trennung in der freudigen Zuverſicht auf eine ruhige Zukunft zu ver¬ ſchmerzen. Aber das Ungluͤck, wenn es einmal ein Opfer erkoren, laͤßt ſich ſo leicht nicht von der Spur bringen.

In Pauls Vaterſtadt befand ſich unter den Ge¬ meindevorſtaͤnden ein Mann, mit dem Paul zuſammen die Schule und Univerſitaͤt beſucht hatte. Die beiden Geſpielen waren einander fruͤh entfremdet worden. Paul hatte ſich von Anfang an mit ausſchließlichem Ernſt ſei¬ nen Studien zugewendet, waͤhrend der lebhafte Konrad den Freudenbecher des ungebundenen Studentenlebens bis auf die Hefe genoß. Sie ſahen ſich dazumal ſchon ſel¬ ten. Ein tieferes Mißverhaͤltniß entſtand aber, als Paul in Folge eines Zuſammentreffens mit einem andern Stu¬ denten ſich weigerte, „ loszugehen. “ Konrad hielt ihn von da an fuͤr einen Feigling und Heimtuͤcker, und wenn ſich die fruͤheren Jugendgeſpielen auf der Straße begegneten, gingen ſie ſtumm an einander voruͤber. Spaͤter verloren ſie ſich aus den Augen. Paul ſiedelte nach K., waͤhrend Konrad in Staatsdienſte trat. Er hatte in der Reſidenz einen maͤchtigen Verwandten, deſſen Protektion ihn eine58Polizeiliche Eheſcheidung. ſchnelle Karriere machen ließ. Gegenwaͤrtig bekleidete er das oberſte Gemeindeamt in ſeiner Vaterſtadt, und galt hier ſeiner perſoͤnlichen Stellung, wie ſeines weitern Ein¬ fluſſes wegen fuͤr den angeſehenſten Mann. Als Paul jetzt zuruͤckkehrte, war der alte Groll zwar im Laufe der Zeit ziemlich verdampft, aber eine leiſe Mißachtung war doch in Konrads Herzen gegen den „ Heimtuͤcker “geblie¬ ben. Da Paul keinen Schritt that, um ſich dem ehe¬ maligen Kameraden zu naͤhern, vielmehr als er Konrads Stimmung erkannte, ſich in kalte, fremde Gleichguͤltig¬ keit zuruͤckzog, ſo ſtieg in Konrad bald auch eine gewiſſe Eiferſucht auf ſein buͤrgerliches Anſehen auf, und er wuͤnſchte im Stillen eine Gelegenheit herbei, den zwei¬ deutigen Kaltſinn Pauls durch einen Beweis ſeiner Macht zu beugen. Dieſe Gelegenheit wurde ihm, Dank einigen kleinen Beamtenſeelen, ganz unerwartet ſchnell gegeben.

Eines Morgens erhielt Paul eine Zuſchrift der ſtaͤdti¬ ſchen Polizei, worin er aufgefordert wurde, einen Hei¬ mathſchein fuͤr ſeine Frau und Kinder beizubringen, indem man ihnen nur gegen einen ſolchen Nachweis den Auf¬59Polizeiliche Eheſcheidung. enthalt geſtatten duͤrfe. Paul war ziemlich entruͤſtet uͤber dieſe fortgeſetzte „ Plackerei, “wie er meinte. Er ſchrieb an die Behoͤrde zuruͤck, daß er ſelbſt Heimathrechte am Ort beſitze, und daß es fuͤr ſeine Frau und Kinder wohl weiter keiner Nachweiſe beduͤrfe. Nach Verlauf einiger Tage erhielt er eine neue Zuſchrift, die ihn belehrte, daß ſeine im Auslande ihm angetraute Gattin und deren Kinder kein Heimathrecht am Ort haͤtten; daß man ihnen den Aufenthalt nicht verweigern wolle, aber zuvoͤrderſt ihre Heimath kennen muͤſſe, damit ſie bei eintretender Verarmung nicht der Gemeinde zur Laſt fielen. Paul begann nun einzuſehen, von welcher Seite betrieben werde, und wendete ſich mit einer ausfuͤhrlichen Beſchwerde an das Miniſterium. Es waͤhrte einige Wochen, bevor er von dieſem beſchieden wurde, und als er die Entſchließung erhielt, erfuhr er, daß ſeine Beſchwerde fuͤr unbegruͤndet befunden worden ſei.

„ Seine Frau und Kinder, “hieß es, „ haͤtten geſetzlich ein Heimathrecht in den kurheſſiſchen Landen nicht anzu¬ ſprechen, und da die Gemeinden zur Aufnahme von Auslaͤndern nicht verpflichtet ſeien, ſo koͤnne ſich der Mi¬ niſter auch nicht fuͤr ermaͤchtigt halten, die Entſchließung der ... Behoͤrde in irgend einer Weiſe abzuaͤndern. “

60Polizeiliche Eheſcheidung.

Gleichzeitig aber mit dieſer Beſcheidung Pauls traf auch ein Schreiben an die Polizeibehoͤrde ein, wonach dieſe angewieſen wurde, Pauls Gattin und Kinder, wel¬ chen von der Gemeinde die Aufnahme verſagt worden ſei, ſofort nach ihrer Heimath zu verweiſen. Vielleicht hatten die harten Worte in Pauls Beſchwerde dieſe ſchnelle Maßnahme hervorgerufen, — wenigſtens meinte der Po¬ lizeibeamte, der den Befehl an Paul uͤberbrachte, daß es wohl anders ausgefallen waͤre, wenn Paul, ſtatt ſich zu beſchweren, bittend eingekommen waͤre. Selbſt Konrad war von dieſer Wendung uͤberraſcht. Da er von Natur nicht boshaft war, hatte er an einen ſolchen Ausgang nicht gedacht. Seine Abſicht war vielmehr einzig die ge¬ weſen, Paul ſeine Macht fuͤhlen zu laſſen und ihm eine Art Ergebenheit abzuzwingen. Paul empfing die Nach¬ richt ſtumm und ſchweigend. Er ließ Thereſen nur ihre noͤthigſten Sachen ordnen, und geleitete ſie und die Kin¬ der noch bis zur Grenze.

So waren alſo die beiden Eheleute durch einen poli¬ zeilichen Machtſpruch geſchieden. Paul blieb zuruͤck, in61Polizeiliche Eheſcheidung. ſeinem Innern voll tiefen, bitteren Grolles uͤber die Mi¬ ſere der deutſchen Heimathverhaͤltniſſe; Thereſe reiſte nach K., bangen und geknickten Herzens uͤber ihr Schickſal und die Trennung von ihrem Gatten. Ihr ahnte im Stil¬ len, daß ſie einander nicht wiederſehen wuͤrden. In K. wurde ihre Stimmung truͤber und krankhafter. Ihr ſcheues Herz zog ſich vor jeder Beruͤhrung mit Menſchen zuſammen, der Gram nagte an ihrem Lebensmark, und das junge bluͤhende Geſchoͤpf begann langſam und elend hinzuſiechen. Zu allem Ungluͤck war durch die mehrfachen Reiſen und Einrichtungen der groͤßte Theil ihres Vermoͤ¬ gens erſchoͤpft worden. Paul muͤhte und quaͤlte ſich zwar, aber es wollte doch nichts recht gelingen. Die ſtille, friedliche Ordnung war jetzt nicht herzuſtellen, wie auch Paul mit neuen Hoffnungen auf eine gluͤcklichere Zukunft in der Fremde ſie aufzurichten ſuchte; es erkrank¬ ten zudem zwei von den Kindern, und Thereſe, ſelbſt leidend, konnte nun ihrem Hausweſen vollends nicht mehr, wie fruͤher, ordnend und ſorgend vorſtehen. Da traf ſie zerſchmetternd der letzte Schlag, die Trauerpoſt von Pauls Tode.

In Pauls Gemuͤth hatte ſich ſeit der Trennung von Thereſen und den Kindern immer mehr und mehr der62Polizeiliche Eheſcheidung. verbiſſene Grimm gehaͤuft. Sein frommer, haͤuslicher Friede war ihm geraubt, ſein ſtiller Heerd mit der heiligen, abgeſchiedenen Ruhe der Liebe zerſtoͤrt, was Wunder, daß da der Haß gegen ſeine Verfolger wie Unkraut aus den Truͤmmern ſeines Gluͤcks emporwucherte? Eines Tages ließ ſich Paul in Geſellſchaft einiger Freunde an einem oͤffentlichen Ort ſehr heftig uͤber gewiſſe Verhaͤltniſſe aus. An einem benachbarten Tiſch ſaß ein Lieutenant, deſſen eben ausgezahlte Gage ihm eine beſondere Wuͤrde zu ver¬ leihen ſchien. Bei den Worten Pauls erhob er ſich, und an die Geſellſchaft herantretend forderte er Paul auf, ſeine Ausdruͤcke zuruͤckzunehmen, oder ihm dafuͤr Satisfaction zu geben. Paul antwortete ihm, daß er gar nicht zu ihm oder uͤber ihn geſprochen, alſo ihm gegenuͤber auch nichts zuruͤckzunehmen habe; von Satisfaction koͤnne aus demſelben Grunde keine Rede ſein, weshalb er ſich eine andere Gelegenheit zur Auszeichnung ſuchen moͤge. Der trunkene Lieutenant riß hierauf, in einem herzerhebenden Anfall ritterlicher Treue gegen den Landesherrn, den De¬ gen aus der Scheide, und mit dem Ausruf: „ Blut muß es abwaſchen! “verſetzte er Paul einen tiefen Stich in den Oberſchenkel. Wie er ſpaͤter ausſagte, hatte er Paul keineswegs zu toͤdten beabſichtigt, da er ihn in dieſem63Polizeiliche Eheſcheidung. Fall wohl durch die Bruſt geſtoßen haben wuͤrde; viel¬ mehr ſei es nur ſeine Abſicht geweſen, ihn zu verwunden, und durch das Blut ſeine verletzte Standesehre wieder herzuſtellen. Der Degen aber hatte eine Roͤhre zerſchmet¬ tert, und Paul ſtarb unter großen Schmerzen und ge¬ foltert von dem Gedanken an Frau und Kinder noch in der folgenden Nacht.

Den Eindruck ſchildern zu wollen, den dieſe Nach¬ richt auf Thereſen machte, iſt mir nicht moͤglich. Als ſie aus ihrem beſinnungsloſen Zuſtand erwachte, erfuhr ſie, daß ſie faſt zwei Monate krank, in fremder Pflege, darniedergelegen hatte. Die Erinnerung an die Veranlaſ¬ ſung haͤtte ſie beinahe von Neuem auf's Krankenlager geworfen, und ihre Auszehrung nahm ſeitdem einen ſchnel¬ leren Gang an. Nur der Gedanke an ihre Kinder hielt ſie ſo weit noch aufrecht, daß ſie ſich muͤhſam in ihrem Hausweſen dahinſchleppen konnte. Aber das Hausweſen ſelbſt kam immer mehr zuruͤck. Es fehlte das Band des zufriedenen, wenn auch noch ſo beſcheidenen Gluͤckes, welches das Ganze in Ordnung und ſchaffender Luſt zu¬ ſammenhaͤlt, und allmaͤhlig ging auch der kleine Reſt ihres fruͤheren Vermoͤgens, der durch die Krankheit noch mehr geſchmaͤlert worden war, gaͤnzlich zur Neige. Thereſe64Polizeiliche Eheſcheidung. duldete und zoͤgerte in ungewiſſer, zager Erwartung lange Zeit; als ſie aber keinen anderen Ausweg ſah, wendete ſie ſich, um Unterſtuͤtzung bittend, an — die Armendi¬ rektion. Hier ſtieß ſie auf neue Schwierigkeiten.

Der Gemeindevorſtand beſtritt ihre Heimathrechte am Ort, da ſie nach den Geſetzen des Landes durch ihre Verheirathung an einen Auslaͤnder derſelben verluſtig ge¬ gangen ſei. Es wurde daher erſt mit den Heimathbe¬ hoͤrden ihres verſtorbenen Mannes eine ausfuͤhrliche Kor¬ reſpondenz eroͤffnet, ihr ſelbſt aber, auf ihr wiederholtes dringendes Erſuchen, einſtweilen und ein fuͤr alle Mal eine ſo kleine Summe Geldes gereicht, daß die Familie kaum zwei Wochen davon zu leben hatte.

Waͤhrend deſſen hatte ſich auch ein fruͤherer Bekann¬ ter Pauls der Frau angenommen und durch eine Kol¬ lekte fuͤr ſie eine neue Summe zuſammengebracht. Das Geſchenk war als augenblicklicher Nothbehelf recht anſehn¬ lich, aber zur Sicherung eines beſſern zukuͤnftigen Looſes reichte es entfernt nicht aus, und nach einigen Wochen mußte die Lage der Ungluͤcklichen wieder dieſelbe ſein. Thereſe ſcheute ſich ihre Wohlthaͤter abermals anzuſpre¬ chen, und nur ſpaͤt auf mehrfache Verſuche, nachdem ihre bitterliche Noth erſt gepruͤft und konſtatirt worden65Polizeiliche Eheſcheidung. war, erhielt ſie von der Armendirektion von Neuem eine kleine, mehr als duͤrftige Unterſtuͤtzung.

Das iſt das ewige Geſchick des Armen. Die Wohl¬ thaͤtigkeit iſt nur eine Grauſamkeit, die ihn im Elend erhaͤlt und durch das Gefuͤhl ſeiner huͤlfloſen, jedem Ver¬ ſuch eigner Erhebung trotzenden Abhaͤngigkeit entwuͤrdigt und demoraliſirt.

Einige Zeit ſpaͤter treffen wir jene beiden Weiber wie¬ der, deren Geſpraͤch wir oben ſchon einmal belauſchten. Sie ſtehen vor einer Hausthuͤr und ſchauen dem ſchwar¬ zen Leichenwagen nach, der einfach und ohne Geleit die Straße hinabfaͤhrt.

„ Gott habe ſie ſelig! “ſagt die Eine. „ Es war doch eine brave Frau, und es thut mir wahrhaftig leid um die armen Kinder. Sie haben eine gute und rechtſchaffene Mutter verloren. “—

„ Ja, Gott verzeih 'ihr. Sie hat den dummen Streich, daß ſie den confiscirten Buͤchermacher geheirathet, ſchwer genug gebuͤßt! Was aber die Kinder betrifft, nun ſo iſt ja das eine ſchon verſorgt, und die beiden andern werden wohl auch noch unterkommen. “

566Polizeiliche Eheſcheidung.

„ Ja, das aͤlteſte hat der Schuhmacher im Keller dort zu ſich genommen, die andern ſind in's Waiſenhaus gebracht worden. “—

„ Das hat lange genug gedauert. Der Magiſtrat wollte nichts davon wiſſen, weil der Mann ein herge¬ laufener Menſch war, und bei ihm zu Hauſe wollten ſie auch nichts damit zu thun haben. Alſo jetzt ſind ſie doch hier im Waiſenhaus untergebracht. “—

„ Ja, die Stadt hat zuletzt fuͤr Alles aufkommen muͤſſen, auch fuͤr das Begraͤbniß der Frau. Nun, Gott hab 'ſie ſelig! “—

So war es. Die Kinder im Waiſenhaus und in fremder Pflege, die Mutter auf oͤffentliche Koſten begra¬ ben, und der Vater — nun, gute Nacht!

Das iſt ſo eine Geſchichte aus der deutſchen „ Heimath “.

[67]

Die Sünderin.

„ Fremde Geſellen oder Dienſtboten ſind, wenn ſie in drei Tagen nach ihrer Ankunft keinen Dienſt finden oder nach ihrer Entlaſſung aus dem Dienſt ſich drei Tage arbeitslos umhertreiben, ſofort aus der Stadt zu verweiſen. “—
(Polizeireglement einer norddeutſchen Reſidenz. )
5 *[68][69]

Sie war noch immer ſehr ſchoͤn. In ihrem Antlitz lag der Ausdruck jener madonnenhaften, jungfraͤulichen Unſchuld, mit der die chriſtliche Mythe ihre Gottesmutter ausmalt, jenes goͤttliche, erdenvergeſſende Gluͤck, das wir zuweilen den jungen Muͤttern den Reiz der maͤdchenhaf¬ ten Reinheit bewahren ſehen. Ihr Auge, ihr ſchoͤnes, großes, waſſerblaues Auge, war von einer himmliſchen Sanftmuth. Die langen Wimpern hingen daruͤber, wie Trauerweiden uͤber dem Bild der Himmelsſterne in dem friedlichen, hellklaren Spiegel eines See's, und das weiche, blonde Seidenhaar ſaͤumte mit ſeinen Wogen ihre ruhige Stirn, wie ſilberne Wolken den verklaͤrten, traͤumenden Himmel. Ihre Wangen, wie zwei Purpurbluͤthen, ſtrahl¬ ten den goldenen Glanz des friſchen Lenzhauches. Ihre Geſtalt war ſchlank, ihre Bewegungen faſt ſchwebend, ihr Haupt ſinnend, wie von wogenden Traͤumen gewiegt: ſie glich einer Waſſerlilie, die auf den Wellen ſchaukelnd,70Die Suͤnderin. vergeſſend dahingetrieben wird. Sie war noch immer ſchoͤn, jungfraͤulich ſchoͤn, die ſiebzehnjaͤhrige, verlaſſene Mutter.

Und ihre Mutterſchaft! Wie verklaͤrte dies ſuͤße Gefuͤhl ihr ganzes Weſen! Wie ſtrahlte ihr Auge, wie leuchtete der Ausdruck aller ihrer Zuͤge frohlockend in dem Widerſcheine ihrer Mutterliebe! Wenn ſie daſtand, das weiße, fromme Geſicht uͤber die Wiege ihres Kindes ge¬ beugt, und ihr klopfendes Herz den Athem des Schlum¬ mers belauſchte, eine weiße Statue im Ebenmaaß der vollendeten reinen Schoͤnheit, Sorge und ſeliges Gluͤck in ihren Mienen: welch koͤſtliches Bild gewaͤhrte ſie da! Und wie liebte ſie auch ihr Kind! Es waͤre ihr Tod geweſen, haͤtte ſie es verlieren ſollen.

„ Aber wer ſollte es mir auch nehmen? “ſagte ſie unſchuldig laͤchelnd. „ Es giebt ja ſo Vielerlei auf der Welt, warum gerade das, das Einzige, was ich habe? Ja! Es waͤre mein Tod, wenn ich das verlieren ſollte! “—

71Die Suͤnderin.

Mathilde war aus einer kleinen Provinzialſtadt un¬ weit der Reſidenz. Ihr Vater, ein armer Handwerker, mußte ſich ſein kuͤmmerlich Leben ſauer werden laſſen, denn die Familie war ſtark und der Verdienſt von ſeiner fleißigen Haͤnde Arbeit gering. Mathilde, als die Ael¬ teſte unter den Kindern, mußte zuerſt verſorgt werden, — was man naͤmlich bei Armen ſo verſorgen heißt. Sobald ſie in die Jahre kommen, wo ſie einigermaßen Arbeit erhalten koͤnnen, werden ſie außer dem Hauſe bei Fremden in Dienſt oder Lehre gegeben. Alsdann fallen ſie den Aeltern nicht mehr zur „ Laſt, “und die Aeltern glauben ſie hinlaͤnglich verſorgt zu wiſſen, wenn ſie keine Nahrungsſorgen mehr um dieſelben haben. Mathilde ſollte daher in Dienſt gehen. Aber in der kleinen Stadt giebt es keinen bedeutenden Lohn; in der Reſidenz iſt es beſſer, da wird ſie gut gehalten und kann ſich etwas er¬ ſparen, ja vielleicht ihr Gluͤck machen, — auch iſt ſie da entfernter von Hauſe. Mathilde wurde alſo nach der Reſidenz geſchickt.

Hier fand ſie denn bald einen Dienſt in einer Schenkwirthſchaft. Sie war fleißig, willig und treu, und erwarb ſich ſchnell die Zufriedenheit ihrer Dienſtherr¬ ſchaft. Die Gaͤſte waren nicht minder zufrieden mit der72Die Suͤnderin. jungen, ſchmucken Kellnerin. Sie kamen oͤfter, und es kamen auch Andere regelmaͤßiger, die ſonſt nur zufaͤllig gekommen waren. Der Wirth wußte das zu ſchaͤtzen, und hielt das Maͤdchen faſt wie ſein eigenes Kind. Sie fuͤhlte ſich ſehr zufrieden und gluͤcklich.

Ihr Geſchaͤft machte es nothwendig, daß ſie ſich mit den Gaͤſten hin und wieder unterhalten mußte. Wenn ſie ihnen die Getraͤnke brachte, wurde ſie gewoͤhnlich in's Geſpraͤch gezogen, und die jungen Leute fuͤllten ihr Ohr mit luſtigen Geſchichten und einſchmeichelnden Reden. Unter ihnen war Einer, auf den ſie vorzugsweiſe den offenſten Eindruck machte. Er war ſtiller und geſetzter, als die Andern, ſeine Worte klangen ſo einfach und na¬ tuͤrlich, und ſeine Augen blickten ſo treuherzig, er ſchien eine reine bruͤderliche Theilnahme fuͤr ſie zu empfinden. Er ſprach ihr nie von Liebe, und ſie ſelbſt dachte nicht daran. Sie fand ein unſchuldiges, faſt unbewußtes Ge¬ fallen an ihm, ihre Seele traͤumte von keiner Gefahr. Sie ſaß wohl oͤfter und laͤnger bei ihm, als bei den Andern, aber geſchah es nicht unwillkuͤhrlich? Kam er nicht meiſt gerade zu ſolchen Stunden, wo das Lokal weniger beſucht, wo ſie geringer beſchaͤftigt war? Sie hoͤrte ihm gern zu, aber ſprach er nicht ſo ruhig und73Die Suͤnderin. unverfaͤnglich? Es ſchien das Verhaͤltniß von zwei reinen, lange verbundenen Freundesſeelen.

Da kam der Fruͤhling. Die Luͤfte wurden wolluͤſtig warm, die Baͤume ſchlugen aus, die ganze Natur war in einer weichen, wallenden Gaͤhrung. Das ſechzehn¬ jaͤhrige Maͤdchen gerieth jetzt zum erſtenmal in eine ſelt¬ ſame Atmoſphaͤre. Es ging etwas in ihr vor, und ſie wußte nicht, was. Sie hatte ein Sehnen, einen unbe¬ wußten Drang, den ſie nicht zu ſtillen wußte, ihre Glie¬ der dehnten ſich, ihre Augen ſahen mit ſtaunendem Be¬ gehren hinaus, es war ihr, als waͤre Alles anders, ver¬ aͤndert, doppelt geworden, gegen fruͤher. An einem Sonn¬ tage, wo ſie die Erlaubniß auszugehen bekommen hatte, begleitete ſie ihr Freund hinaus in's Freie. Sie hoͤrte ihm heute mit andern Empfindungen zu, wie ſonſt. Ihr Herz war erfuͤllt von einem unerklaͤrlichen Gefuͤhl, es war ihr ſo eng und ſo weit, ſie meinte faſt zu erſticken, und ſie ſchloß ſich feſter an ihren Begleiter an. Auch ſeine Worte waren anders, wie ehedem. Es klang ein Ton durch, den ſie noch nicht gehoͤrt hatte, und der ſie mit einer neuen Regung bis in's Herz durchbebte. Auf dem Heimweg war es dunkel geworden. Als ſie den Park vor dem Stadtthore erreicht hatten, ſetzten ſie ſich74Die Suͤnderin. an dem Ufer eines See's unter das junge duftige Gruͤn des Laubes. Die Nacht war ſo ſchoͤn. Am Himmel funkelten die Sterne, und ihr Licht zitterte blitzend auf dem ſtillen Spiegel des See's, die naͤchtigen Gebuͤſche rauſchten, die Bluͤthen hauchten einen wolluͤſtigen Duft, und eine Nachtigall ſchlug aus der Ferne leiſe, ſchmel¬ zende Liebeſtoͤne. Das Maͤdchen ſaß in verzehrender, traͤumeriſcher Gluth, ihre Seele war ein flammendes, ſchwelgeriſches Gebet. Der junge Mann ſchlug ſeinen Arm um ihren Leib, ſeine Worte toͤnten weich und ver¬ lockend in ihr Ohr, und als er einen Kuß, den erſten brennenden Kuß, auf ihre durſtigen Lippen druͤckte, durch¬ zuckte ein banges und doch ſo ſuͤßes, ſchwellendes Zagen ihr ganzes Weſen. Sie ſchmiegte ſich inniger und doch zitternd an ihn an. Das dunkle Laub rauſchte maͤchtiger, die weißen Blaͤtter fielen feucht und tro¬ pfend auf ihre warmen Schultern, eine Sternſchnuppe fuhr durch den naͤchtigen Himmel und ihr Widerſchein ſpruͤhte funkelnd uͤber den leichtbewegten Spiegel des See's.

Als die ſilberne Mondſcheibe am Himmel auftauchte, ordnete das Maͤdchen bang und bewegt ihr feuchtes Haar. Sie war gefallen, eine Suͤnderin, — und aus Liebe? 75Die Suͤnderin. Nein. Sie liebte ihn gar nicht. Es lag einmal in ihrer Natur, wer kann was dafuͤr? —

Nach einigen Wochen fand ſie ſich allein. Er war fortgezogen — nach ſeiner fernen Heimath. Nicht ein¬ mal Lebewohl hatte er ihr geſagt, — ob aus Schmerz oder Scham, ich weiß es nicht. Aber er hatte ſie ver¬ laſſen, fuͤr immer verlaſſen, und — Andere haͤtten es vielleicht ebenſo gemacht. Es iſt auch einerlei.

Sie hatte ihn nie geliebt, und ſeit ihrem Fall ſogar verabſcheut. Daher vermißte ſie ihn jetzt nur wenig. Sie hatte ihn zuletzt gleichguͤltig, ja mit mißtrauiſchem Haß betrachtet, und als er, der dies veraͤnderte Beneh¬ men ihrem tiefen Schamgefuͤhl zuſchrieb, ſie zu troͤſten verſuchte, hatte ſie ihm voll Ekel den Ruͤcken gedreht.

Jetzt war er fort, und die Zeit verrollte ihr wieder im alten Gleis. Sie war ruhig und ſtill, ſie dachte nicht mehr an ihn. Aber bald zeigten ſich die Folgen ihres Fehltritts, und ein neues Gefuͤhl bemaͤchtigte ſich ihres ganzen Weſens.

76Die Suͤnderin.

Als die Wirthsleute den Zuſtand des Maͤdchens be¬ merkten, waren ſie bemuͤht, ihr denſelben ſo ertraͤglich wie moͤglich zu machen. Sie erkannten ſehr wohl, wel¬ chen Schatz fuͤr ihre Wirthſchaft ſie in dem jungen, ſchoͤnen und thaͤtigen Maͤdchen beſaßen, und ſie hofften mit Zuverſicht, daß Mathilde nach ihrer Entbindung das Kind in fremde Pflege geben und in die Wirthſchaft zu¬ ruͤckkehren werde. Sie behielten ſie daher ſo lange im Hauſe, als es irgend anging, erließen ihr allmaͤhlig jeden anſtrengenden Dienſt und pflegten ſie mit der groͤßten Aufmerkſamkeit und Ruͤckſicht. Als die Zeit ſo weit vorgeruͤckt war, wurde ſie einer alten Frau in Pflege ge¬ geben, um hier in Ruhe ihre Entbindung abzuwarten.

Bald darauf gebar ſie ein Maͤdchen. Das Kind war ſtark und geſund, und auch die Mutter erholte ſich ſchnell, ſo daß ihre fruͤhere Herrſchaft ſie bald wieder zu beſitzen hoffen konnte. Aber Mathilde war gaͤnzlich um¬ gewandelt. Es war, als haͤtte in ihrem Innern eine Gluth geſchlummert, die ſich jetzt in vollen Flammen an einem einzigen Gegenſtand verzehrte. Ihr keuſches Herz war ploͤtzlich und deſto maͤchtiger in heißer Liebe er¬ wacht, und mit aller Kraft und Leidenſchaft derſelben umſchloß ſie ihr Kind. Sie betrachtete lachend und77Die Suͤnderin. weinend in Freude die kleinen Zuͤge ihres Ebenbildes, kaum wagte ſie aus liebender Beſorgniß daſſelbe zu kuͤſſen und zu liebkoſen, ihre ſelige Luſt nahm all ihr Denken und Sinnen gefangen. Umſonſt ſuchte ihre fruͤhere Herr¬ ſchaft ſie zur Ruͤckkehr zu bewegen, umſonſt ſtellten ſie ihr vor, daß ſie ja nicht im Stande ſei, ihren Unterhalt zu gewinnen: ſie wollte ſich nicht von ihrem Kinde tren¬ nen, und nichts vermochte ſie abzuhalten, ihm ſelbſt die Bruſt zu reichen. Ihre Zukunft kuͤmmerte ſie nicht, — was wuͤrde denn auch ihre Zukunft ohne ihr Kind ſein?

Als ſie zu der Frau gezogen war, hatte ſie eine kleine Summe mitgebracht, die ſie ſich aus Erſparniſſen und Weihnacht - und Neujahrgeſchenken geſammelt hatte. Da außerdem die Koſten ihrer Entbindung von den Wirthsleuten bezahlt worden waren, ſo war ſie fuͤr's Erſte im Stande, bei der Frau noch eine Zeitlang ihren Aufenthalt nehmen zu koͤnnen. So blieb ſie denn auch volle drei Monate hier, einzig und allein fuͤr die Pflege ihres Kindes beſorgt. Endlich aber ſchwand auch der letzte Reſt ihres kleinen Beſitzes. Sie theilte dies offen ihrer Wirthin mit, und dieſe, welche ſie nun nicht laͤn¬ ger behalten wollte, gab ihr den Rath, ſich zu einer ihrer Nachbarinnen, einer alten Waͤſcherin, zu begeben, wel¬78Die Suͤnderin. cher ſie dann Huͤlfe bei der Arbeit leiſten ſolle. Nach einigen Unterhandlungen zeigte ſich die Waͤſcherin auch dazu erboͤtig und Mathilde zog noch am ſelbigen Tage mit ihren Habſeligkeiten in die Wohnung derſelben.

Ihre neue Wirthin war freundlich und zuvorkommend gegen ſie. Es war eine kleine, aͤltliche Frau von eben nicht einnehmenden Zuͤgen, aber Mathilde fuͤhlte den mißtrauiſchen Widerwillen, den ihr die Alte beim erſten Anblick einfloͤßte, bald wieder vor ihrem gutmuͤthigen Ge¬ ſchwaͤtz und ihrer hilfreichen Aufmerkſamkeit fuͤr das Kind verſchwinden. Die Alte ſchaffte und ſorgte fuͤr ſie auf die beſte Weiſe. Nur uͤber die Arbeit und den Verdienſt klagte ſie beſtaͤndig, und allerdings bemerkte Mathilde, daß die Alte eben keine Beſchaͤftigung hatte. Da ſuchte ſie der Alten Troſt und Muth, zuzuſprechen, ſie, deren eigne Lage doch ſelbſt der Huͤlfe ſo beduͤrftig war, — allein fuͤr was hat ein gluͤckliches Mutterherz keinen Troſt? Da ſie jung, geſchickt und arbeitſam war, ſo erbot ſie ſich, um ſich der Wirthin ebenfalls huͤlfreich zu zeigen, fuͤr fremde Leute Naͤh - oder Stickarbeit zu ma¬79Die Suͤnderin. chen, falls ſie dergleichen Auftraͤge erhalten koͤnnte. Die Alte war damit zufrieden, meinte aber doch gleich, daß das auch ſehr ungewiß ſei.

Mittlerweile waren die erſten Tage dieſer neuen Ein¬ richtung verfloſſen. Da gegen Ende der Woche kam eines Morgens die Alte ganz beſtuͤrzt in Mathildens Kammer, und ſagte, der Polizeikommiſſair ſei unten und verlange mit ihr zu ſprechen. Mathilde erſchrak, ohne eigentlich zu wiſſen, warum, aber der bloße Name der Polizei genuͤgt bei den Armen und Huͤlfloſen, um auch dem unſchuldigſten, reinſten Gemuͤth Angſt und Entſetzen einzujagen. Sie warf ein Tuch uͤber, bat die Alte bei dem Kinde zu bleiben, und eilte mit einem in bebender Ahnung klopfenden Herzen hinunter zu dem Mann, in deſſen Haͤnden ihre ganze Zukunft lag.

Der Polizeikommiſſair ſchien beim erſten Anblick von dem Ausdruck ihrer kindlichen Zuͤge, auf welchen ſich Scham und ſpannende Beſorgniß malten, und von ihrem ganzen ſittſamen Weſen uͤberraſcht zu ſein. Aber eine lange Erfahrung hatte ihn mißtrauiſch gegen das guͤn¬ ſtige Vorurtheil eines ſolchen erſten Eindruckes gemacht, und gleichſam um ſein Gefuͤhl zu bewaͤltigen, wurde ſeine Stimme noch rauher und muͤrriſcher als ſonſt.

80Die Suͤnderin.

Er begann mit der Vorhaltung, daß ſie nun ſchon laͤngere Zeit, als dies die Polizeivorſchriften geſtatteten, hier bei der Alten wohne, ohne ſich einen neuen Dienſt zu verſchaffen, und fragte dann ziemlich grob: was ſie denn treibe? was ſie uͤberhaupt hier wolle?

Mathilde erzaͤhlte ihm mit befangener Stimme, auf welche Weiſe ſie zu der Alten gekommen ſei, und wie ſie ihr die Koſten ihres Aufenthalts durch haͤusliche Ar¬ beit und Huͤlfleiſtung beim Waſchen erſetzen wolle.

„ Das ſind faule Fiſche! “erwiderte der Polizeibeamte barſch. „ Die Alte hat ſelbſt nichts zu leben und die Waͤſcherei iſt nur ſo ein fauler Vorwand. Die Vettel hat ſchon zweimal im Arbeitshaus geſeſſen, und wenn ſie nicht hier geboren und heimiſch waͤre, wuͤrden wir ſie ſchon laͤngſt wegtransportirt haben. “—

Mathilde erſchrak heftig uͤber dieſe Worte. Mit zit¬ ternder Stimme erzaͤhlte ſie nun, wie ſie fruͤher in Kon¬ dition geſtanden, und zeigte das Zeugniß ihrer Wirths¬ herrſchaft uͤber ihre tadelloſe, treue und redliche Fuͤhrung.

„ Sie ſelbſt wollten mich gern wieder zu ſich nehmen, “ſagte ſie feſter in ihrem Selbſtbewußtſein, „ aber ich wollte es nicht eingehen, weil ich mich dann haͤtte von meinem Kinde trennen muͤſſen. “—

81Die Suͤnderin.

Der Polizeibeamte ſchien allmaͤhlig doch von der ruͤh¬ renden, ſo ganz mit der Welt unbekannten Einfachheit der jungen Mutter erweicht zu werden, und fragte milder:

„ Aber koͤnnen Sie denn von dem Vater des Kindes keine Unterſtuͤtzung bekommen, denn Sie ſehen doch ein, daß Sie irgend eine Unterhaltsquelle haben muͤſſen? “—

Daran hatte ſie nicht gedacht, ſie wußte gar nicht einmal, wo der Vater war. Was konnte ſie das bisher auch kuͤmmern?

„ Das iſt ſchlimm, mein Kind! “ſagte der Beamte theilnehmend. „ Wenn Sie keine Erwerbsquelle nachzu¬ weiſen vermoͤgen, ſo iſt anzunehmen, daß Sie und Ihr Kind demnaͤchſt der Gemeinde zur Laſt fallen werden, und meine Inſtruktionen lauten beſtimmt dahin, Sie ſchon in drei Tagen, falls Sie bis dahin keinen Dienſt¬ ſchein beibringen, nach Ihrer Heimath zu verweiſen. Es iſt daher das Beſte, was ich Ihnen nur rathen kann, daß Sie Ihr Kind in Pflege geben und ſich wieder eine Stelle ſuchen. — Kommen Sie dann zu mir, damit ich Ihnen den Schein ausſtelle. “—

Mit dieſen Worten begab er ſich fort, Mathilden in der toͤdtlichſten Verzweiflung ihrer rathloſen Seele zuruͤck¬682Die Suͤnderin. laſſend. Sie ſollte ihr Kind fremden Leuten uͤberlaſſen, — jetzt, wo ſie es taͤglich lieber gewonnen hatte — Leu¬ ten, die kein Intereſſe an ihm nehmen — die ſein zar¬ tes Leben vielleicht durch ſchlechte Behandlung einer un¬ gluͤcklichen Zukunft oder gar dem Tode ausſetzen wuͤrden! Wie haͤtte ſie das uͤber ſich vermocht? Und doch — wenn ſie ſich nicht dazu entſchloß, was hatte ſie ſelbſt zu erwarten? Der Gedanke an ihre Eltern erfuͤllte ſie zum erſtenmal, mit Entſetzen, — und wuͤrde ihr, der verachteten, von der Welt verſtoßenen Suͤnderin nicht auch das vaͤterliche Haus verſchloſſen ſein? Wer ver¬ mochte ihr einen Ausweg aus dieſer Bedraͤngniß zu zeigen?

Sie machte der Alten die bitterſten Vorwuͤrfe und gab ihr Schuld, ſie in dieſe Lage gebracht zu haben. Die Waͤſcherin aber erwiederte ihr gelaſſen:

„ Das iſt ein Ungluͤck, fuͤr das Niemand etwas kann, und das Ihnen vielleicht ebenſowohl uͤberall anders paſ¬ ſirt waͤre. Aber nicht uͤberall ſonſt haͤtte man Sie auf¬ genommen, wie ich es gethan habe, und Sie ſollten nur ſtill ſchweigen, und mir dankbar ſein. “—

Das Maͤdchen mußte das wohl einſehen, denn ſie ſchwieg und ſank truͤbſinnig auf einen Stuhl.

83Die Suͤnderin.

„ Uebrigens nehmen Sie ſich das nicht ſo zu Herzen, und beruhigen Sie ſich nur, “troͤſtete die Alte weiter. „ Vorlaͤufig moͤgen Sie immer noch bei mir bleiben, es wird ſich wohl noch ein Ausweg finden. “—

Was fuͤr ein Ausweg? Mathilde blieb den Tag uͤber duͤſter auf ihrer kleinen, einſamen Kammer, und uͤberlegte und ſann hin und her, was ſie beginnen ſollte, aber ihr Denken war all umſonſt. Von Zeit zu Zeit nahm ſie ihr Kind auf, und kuͤßte und herzte es mit der Heftigkeit ihrer ſchmerzlich aufgeregten Gefuͤhle. Es war, als ob in dem Verſuch, ſie von ihm zu trennen, ihre Mutterliebe nur feſtere Wurzeln geſchlagen haͤtte. Dazwiſchen rollten ihre heißen Thraͤnen wie feurige Tro¬ pfen ihres gequaͤlten Herzens auf die Wangen der Klei¬ nen. Nur wenn das Kind ſchlief, ging ſie in ruheloſer Angſt auf und nieder und rang ihre Haͤnde in rathloſer Verzweiflung.

Am Abend kam die Alte wieder auf die Kammer des Maͤdchens. Das Gemach war dunkel, nur von den Stra¬ ßenlaternen und den Lichtern der gegenuͤberliegenden Haͤuſer ſchwamm ein weiches Daͤmmerlicht durch das Fenſter. Ma¬ thilde lag mit aufgeloͤſ'tem Haar, den Kopf in die Hand geſtuͤtzt und halbaufgerichtet auf dem Bett, und bewachte6 *84Die Suͤnderin. den Schlaf ihres Kindes. Die Alte ſetzte ſich vor das Bett und ſprach lange mit fluͤſternder Stimme zu dem Maͤdchen. Ploͤtzlich fuhr Mathilde in die Hoͤhe, als ob ſie eine Viper geſtochen, und richtete einen funkelnden Blick auf die Redende. Die Alte aber beruhigte ſie wieder, und der fluͤſternde Ton ihrer Stimme, wie ihre Geberden konnten von angelegentlicher Theilnahme zeugen. Sie ſprach ſehr lange und augenſcheinlich uͤber ſehr wich¬ tige Gegenſtaͤnde mit ihr. Zuweilen ſchien es, als ob von einem drohenden Geſpenſt der Zukunft die Rede waͤre, denn Mathilde rang die Haͤnde und leiſe, nur halbunterdruͤckte Seufzer drangen aus ihrer Bruſt; dann wieder ſchien die Alte Verſprechungen und lockende Aus¬ ſichten fuͤr das Schickſal des Kindes auszumalen, Ma¬ thilde beugte ſich mit einem ſchmerzlichen Laͤcheln uͤber die Wiege und bewegte die Lippen, wie in ſchwerem, druͤckendem Traum. Die Alte ließ mit ihrer leiſen Zu¬ ſprache nicht nach, und es mußte ſich um einen entſchei¬ denden Entſchluß handeln, uͤber welchen die junge Mut¬ ter aber ſchwankend, mit ſteigender krampfhafter Erre¬ gung hin und her kaͤmpfte. Mehrmals hatte ſie die Alte ſchon mit heftigen Bewegungen von ſich gewieſen, dann wieder heftete ſich ihr Auge mit wehmuͤthigem Ausdruck85Die Suͤnderin. auf die dunkle Wiege des Kindes. Zuletzt gab ſie der Alten nickend ein bejahendes Zeichen, und ſank auf das Lager zuruͤck, indem ſie wie verzweifelnd ihr Geſicht in die Kiſſen vergrub.

Nunmehr verließ die Alte mit einem triumphirenden Wohlbehagen die Kammer. Nach Verlauf von einiger Zeit kehrte ſie zuruͤck, in jeder Hand ein brennendes Licht haltend. Hinter ihr folgte ein Mann, in einen Mantel gehuͤllt, den ſie alsdann mit Mathilden allein ließ.

Von dieſer Zeit an war die Alte noch weit aufmerk¬ ſamer gegen das Maͤdchen, und behandelte ſie faſt mit Unterwuͤrfigkeit. Der Polizeikommiſſair ließ nichts von ſich hoͤren; wie die Alte ſagte, weil ſie ihn herumgekriegt haͤtte. Daß ſie aber Mathilden als weggezogen abgemeldet, verſchwieg ſie derſelben. Bei alledem verduͤſterte ſich Ma¬ thildens Sinn von Tag zu Tage, und vergebens ſuchte die Alte durch theilnehmende Pflege fuͤr das Kind und Gefaͤlligkeiten und Zuvorkommenheiten aller Art ein Zei¬ chen der Zufriedenheit oder nur beifaͤlligen Gefuͤhls zu entlocken. Sie ſchien von Allem nichts zu bemerken und86Die Suͤnderin. blieb verſchloſſen und ſchweigſam in ſich gekehrt. Sie widerſetzte ſich auch den Zumuthungen der Alten nicht mehr, und wenn, wie es jetzt oͤfter geſchah, am Abend fremde Maͤnner ins Haus kamen, ſo gehorchte ſie ihr mit kalter, ſtumpfer Gleichguͤltigkeit. Faſt ſchien es ſo¬ gar, als ob ſelbſt die Gefuͤhle fuͤr das Kind in ihr nach¬ gelaſſen haͤtten. Sie ſelbſt war es geweſen, die zuerſt vorgeſchlagen hatte, die Wiege in das Gemach der Alten zu ſetzen, und ſie ſah nur eben ſo oft danach, als es durchaus nothwendig war. Sie vermied es beinahe, ſich demſelben zu naͤhern, wenn ſie es aber that, geſchah es mit einer Art zagender Scheu; Ihre Hand zitterte, indem ſie es aufnahm, ſie liebkoſ'te es nicht wie ehedem, und ihr Auge haftete nur fluͤchtig und nie ohne eine ſchmerz¬ liche Wallung auf ihm. Dazu begann ihr Aeußeres leiſe zu verfallen. Die Alte, welche dies mit Beſorgniß be¬ merkte, ſuchte ihr auf plumpe, faſt rohe Weiſe die zit¬ ternden Gefuͤhle ihrer zweifelnden Seele zu nehmen, aber Mathilde wies ſie mit gleichguͤltiger, reſignirter Ruhe zuruͤck. Ueber ihr ganzes Weſen lagerte ſich allmaͤhlig eine krankhafte, toͤdtliche Erſtarrung, unter der nur ſelten, wie das Leuchten eines todten Vulkans, die ſchmerzliche, ſchneidende Bewegung ihres Herzens hervorbrach.

87Die Suͤnderin.

So waren ungefaͤhr ſechs Wochen verfloſſen, als es eines Abends wieder an der Wohnung klingelte. Die Alte oͤffnete und ſtatt eines vielleicht erwarteten Andern trat der Polizeikommiſſair herein. Bei dieſem unerwar¬ teten Beſuch entſchluͤpfte der Alten ein Laut des Schre¬ ckens, den Mathilde drin im Zimmer vernahm, der Po¬ lizeibeamte aber ſchob ſie bei Seite und ſchritt raſch in das Gemach.

Mathilde hatte in der Ecke des Sopha's geſeſſen, allein, mit ihren duͤſtern Gedanken beſchaͤftigt, als ſie der Ausruf der Alten daraus weckte. Als ſie jetzt empor¬ blickte und dieſen Mann vor ſich ſah, deſſen unheilver¬ kuͤndende Naͤhe ſie mehr noch fuͤrchtete, als die bittere Selbſtverachtung ihrer eignen Seele, da ſtiegen ploͤtzlich wie drohende Geſpenſter die Bilder ihrer muthmaßlichen Zukunft vor ihren Augen auf. Sie haßte dieſen Mann, ſie hatte ihm oft heimlich und gluͤhend geflucht, wenn ihre Gedanken oder Traͤume ihr denſelben gezeigt hatten: denn von ſeinem erſten Erſcheinen ſchrieb ſich ihr gegen¬ waͤrtiges, tiefes Elend her. Jetzt aber ſchwanden alle andern Gefuͤhle, und ſie ſah in ihm nur den Vorboten neuen Unheils fuͤr ihr eigenes und ihres Kindes Leben.

„ Da ſieht man alſo die ſaubere Wirthſchaft! “ſagte88Die Suͤnderin. der Polizeibeamte. „ Auf dieſe Weiſe alſo iſt das Juͤng¬ ferchen ausgezogen! Nun, ſie ſoll heut Abend noch ein Quartier beziehen, wo ſie ſicherer aufgehoben iſt, als hier! “—

Mathilde zitterte bei dieſen Worten wie ein Espen¬ laub. Sie ſuchte ihm mit bangen, verzagten Worten klar zu machen, daß die Alte ſie dadurch hierbehalten, daß ſie den Beamten zur Nachſicht zu bewegen verſpro¬ chen habe. Der Kommiſſair aber erwiederte hohnlachend:

„ Die waͤre die Rechte, die Polizei zu etwas zu be¬ wegen! Nein, mein Puͤppchen, ich kenne Sie jetzt. Ich habe Ihr damals den Rath gegeben, ſich ehrliche Arbeit zu ſuchen, habe Ihr auch, weil mich Ihr un¬ ſchuldiges Geſicht betrog, noch ein paar Tage dazu be¬ willigt, aber Sie hat nicht arbeiten wollen, und hat ſich lieber auf ein bequemes, liederliches Leben geworfen. Die Geſchichte hat jetzt ausgeſpielt. Im Korrektionshaus wird Sie ſchon arbeiten lernen, wenn Sie auch nicht will. Fuͤr's Erſte aber wird Sie eine Nacht oder zwei im Polizeigefaͤngniß zubringen muͤſſen. “—

Mathilde war wie vernichtet. Umſonſt flehte ſie ihn um Erbarmen ihres unſchuldigen Kindes wegen an, um¬89Die Suͤnderin. ſonſt verſprach ſie Alles zu thun, was er von ihr ver¬ langte; der Beamte blieb diesmal unerbittlich.

„ Wenn es Ihr Ernſt mit ſolchen Verſprechen waͤre, “ſagte er achſelzuckend, „ ſo haͤtte Sie laͤngſt meine War¬ nung befolgt. Jetzt iſt es zu ſpaͤt; man kennt ja auch ſolche Verſprechen der Angſt. — Alſo marſch! Raſch zurechtgemacht, ich habe keine Zeit, laͤnger auf Ihr La¬ mentiren zu hoͤren. Nehm 'Sie Ihren Mantel, damit wir vorwaͤrts kommen! “—

Als Mathilde zuletzt einſah, daß Nichts ſie mehr von dieſem, fuͤr ſie entſetzlichen Loos retten koͤnne, riß ſie ploͤtzlich in einer Art Wahnſinn das Kind aus der Wiege und rief, indem ſie mit der einen Hand das Kind in die Hoͤhe hielt und mit der andern auf den Polizei¬ beamten zeigte:

„ Sieh, das iſt der Mann, der Dein und Deiner Mutter Verderben zu verantworten hat! “—

Einen Augenblick ſchien der Kommiſſair von dem verzweiflungsvollen Ton dieſer Worte beſtuͤrzt und ergrif¬ fen zu ſein, dann aber ſchoß ihm die Gluth des Zornes ins Geſicht und er gab der Tochter der Proſtitution eine ſchallende Ohrfeige.

90Die Suͤnderin,

Als Mathilde nach einer graͤßlich durchwachten Nacht in's Verhoͤr genommen und aus dem Polizeigefaͤngniß nach dem Arbeitshaus transportirt worden war, wurde ſie hier in einen großen Saal gewieſen, wo ſie in Ge¬ meinſchaft mit einer großen Menge von Frauen und Maͤdchen arbeiten mußte. Das Bewußtſein ihrer ſchimpf¬ lichen Lage, die tiefe Niedergeſchlagenheit, welche ſich ihrer ſchon waͤhrend ihres letzten, langen Elends bemaͤchtigt hatte, die Gedanken an ihre troſtloſe Zukunft, die jetzt auch durch den bittern Entſchluß der Trennung von ihrem Kinde wohl ſchwerlich mehr zu beſſern ſein wuͤrde, Alles das verſetzte ihr Gemuͤth nach der erſten Raſerei der Verzweiflung in eine tiefe, ſtarre Stumpfheit. Die Ge¬ ſellſchaft, in die man ſie hier gewieſen, hatte ſie mit der Theilnahme Gleichgeſinnter begruͤßt. Mathilde hatte ſich Anfangs ihre Geſchichte entlocken laſſen; einige hatten ſie daruͤber ausgelacht, andere ihr ein Mittel geſagt, durch welches ſie einer polizeilichen Ausweiſung trotzen koͤnne. Mathilde erſchrak bis in das Innerſte ihrer Seele. Sie wandte ſich von da an mit um ſo groͤßerm Ekel von ihren Genoſſinnen ab, als ſie ſich zu ihrem Entſetzen geſtehen mußte, daß ſie ſelbſt bereits den Weg zu dieſem Ende betreten habe. Schweigend und gleichguͤltig ließ ſie91Die Suͤnderin. die Spottreden und gemeinen Spaͤße derſelben uͤber ſich ergehn. Sie betete im Stillen heiß um ihren baldigen Tod. Zu welchem Leben war ſie auch jetzt berufen? Der Tod war ihre einzige Rettung.

Nach ſechs Wochen wurde ſie aus der Anſtalt ent¬ laſſen, nachdem man ihr bemerkt, daß ſie ſich binnen drei Tagen aus der Stadt zu entfernen habe.

Sie nahm ihr Kind in den Arm und rannte hinaus, ohne zu wiſſen wohin. Draußen vor der Thuͤr ſtanden mehrere Weiber, die ſie anredeten und ihr Anerbietungen machten, aber ſie ſtieß ſie zuruͤck und eilte, wie von Furien gepeitſcht, von dannen. Den Tag uͤber durchirrte ſie ſo, ruhelos, ohne Zweck die Stadt, bis ſie am Abend endlich erſchoͤpft und ermattet an einer Hausſchwelle nie¬ derſank.

Die Nacht war bitterlich kalt, die Sterne zitterten in der ſcharfen Luft, und ein ſchneidender Wind fegte uͤber die oͤden Gaſſen. Das Maͤdchen ſaß zuſammen¬ gekauert auf den kalten Steinen, ohne ſich zu ruͤhren. Auch das Kind war merkwuͤrdig ſtill. Sie hielt es auf dem Schooß und hatte wie zum Schutz ihre Arme dar¬ uͤber gebreitet, in die Arme wieder hatte ſie ihren Kopf vergraben. Mehrere Voruͤbergehende, dicht in ihre Maͤn¬92Die Suͤnderin. tel gehuͤllt, blieben vor ihr ſtehen. Da ſie aber auf ihre Anrede keine Antwort erhielten, gingen ſie wieder weiter. Endlich gegen Morgen wurde die Nachtwache auf die ſtille, zuſammengekauerte Geſtalt aufmerkſam und richtete ſie empor. Die Mutter lag halberſtarrt, in einer tiefen Ohnmacht, und wurde ſogleich ins Krankenhaus geſchafft. Das Kind war todt.

Am Abend des dritten Tages ſtand der Oberarzt vor einem Bett in dem großen Krankenſaal. In einem Lehnſeſſel ſaß ein Waͤrter, der in dem Augenblick, wo der Arzt nicht mehr zu ihm ſprach, eingeſchlafen war. Es war unheimlich ſtill in dieſer Wohnung des Jammers. Von der Decke verbreitete eine Ampel ihr duͤſteres Licht uͤber die lange Reihe von Krankenbetten, die ſich an bei¬ den Seiten des Saals hinzogen, die Uhr pickte einfoͤrmig wie ein Todtenvogel die Minuten der Lebenden ab, und dazwiſchen toͤnte zuweilen ein dumpfer Schmerzenslaut oder ein aͤngſtliches Roͤcheln von den Lagerſtaͤtten.

Der Arzt ſtand noch vor Mathildens Bett, die hier93Die Suͤnderin. eben im Verſcheiden lag. Sie hatte waͤhrend ihrem Krankenlager nichts zu ſich genommen, und obwohl ſie vollkommen bewußtlos war, immer mit großer Hartnaͤckig¬ keit die Zaͤhne zuſammengebiſſen, wenn man ihr Arznei einfloͤßen wollte. Ihr Aeußeres war zum Erſchrecken eingefallen, ihre Zuͤge kaum mehr zu erkennen. Jetzt hatte ihre Erloͤſungsſtunde geſchlagen, ihr Roͤcheln wurde unterbrochner, dann auf einmal war es ſtill. Sie war todt. Der Arzt ſah nach der Uhr, ſchrieb dann einige Worte auf einen Zettel und weckte den Waͤrter.

„ Da liegt der Todtenſchein, “ſagte er, indem er haſtig den Mantel umwarf, „ Ihr werdet ihn morgen fruͤh beſorgen. “—

Der Waͤrter war aufgeſtanden und horchte, bis drau¬ ßen auf dem Korridor die ſchnellen Schritte des forteilen¬ den Arztes verhallt waren. Dann reckte er ſich und ſagte gaͤhnend:

„ Nicht eine Stunde ruhigen Schlafs goͤnnen ſie Einem, koͤnnten die Leute nicht ebenſowohl am Tag ſter¬ ben? — Ach, es iſt das Maͤdchen, welches ſie vor drei Tagen erſt herbrachten, “fuͤgte er hinzu, auf den Todten¬ ſchein blickend. „ Nun, es iſt gut, daß ſie todt iſt, ſie haͤtte doch kein ſelig Ende genommen. Fuͤr der Art94Die Suͤnderin. Leute iſt der Tod das Beſte, denn im Leben nimmt ſich Keiner ihrer an, und ſolch Leben, — nun, ſie hat's auch ſelbſt wohl eingeſehen! “—

Damit zog er die Decke uͤber die Leiche, und ſetzte ſich wieder in den Lehnſtuhl, um weiter zu ſchlafen.

[95]

Die Rechtsfrage.

„ Beſchwerden uͤber polizeiliche Verfuͤgungen jeder Art, auch wenn ſie die Geſetzmaͤßigkeit derſelben betreffen, gehoͤren vor die vorgeſetzte Dienſtbehoͤrde. “—
(Preuß. Geſetzſammlung, Geſ. v. 11. Mai 1842. )
[96][97]

„ Das iſt ja eine empoͤrende Nichtswuͤrdigkeit! “rief die Dame vom Hauſe. „ Und der Handwerker hatte wirklich gar nicht einmal etwas begangen? “—

„ Ich habe ihn Å¿elbÅ¿t vor der Amputation befragt, “ſagte der junge Arzt, „ und mit Å¿einer Erzaͤhlung Å¿tim¬ men auch die AusÅ¿agen von Augenzeugen uͤberein. Er war am Nachmittag mit Å¿einer Geliebten in einem oͤf¬ fentlichen Garten geweÅ¿en, hatte Å¿ie bei einbrechender Nacht noch bis an ihre Hausthuͤr geleitet, und trat dann Å¿einen Heimweg an. Vielleicht aus Freude uͤber den frohen Tag und in Gedanken an die LiebÅ¿te, von denen Å¿ein Herz voll war, Å¿uchte er Å¿chneller aus dem Gewuͤhl der Gaſ¬ Å¿en nach Å¿einer Å¿tillen Kammer zu gelangen und fing an zu laufen. In der FriedrichsÅ¿traße iÅ¿t er eben an einem Schenklokale voruͤber gekommen, als hinter ihm ein MenÅ¿ch aus dem HauÅ¿e Å¿pringt, quer uͤber die Straße rennt, und ohne daß der Handwerker ihn nur geÅ¿ehen, in einer798Die Rechtsfrage. NebengaÅ¿Å¿e verÅ¿chwindet. Gleich darauf Å¿tuͤrzt ein Ande¬ rer, ein Gensd'arme, aus der Kneipe, Å¿ieht eine Strecke weiter unÅ¿ern Handwerker laufen, und eilt ihm mit zor¬ nigem Eifer nach. Der Mann iÅ¿t nicht wenig beÅ¿tuͤrzt, als er Å¿ich ploͤtzlich durch eine brutale FauÅ¿t aus Å¿einen Traͤumereien geÅ¿chreckt fuͤhlt. Er Å¿ucht den Waͤchter der oͤffentlichen Ruhe umÅ¿onÅ¿t zu belehren, daß er im Irr¬ thum iÅ¿t, die FauÅ¿t deÅ¿Å¿elben laͤßt Å¿eine Gurgel nicht los, Å¿ondern Å¿chuͤttelt ihn nur deÅ¿to derber, und Schimpfwoͤrter und Drohungen, ihn auf das Stadtgefaͤngniß zu Å¿chlep¬ pen, Å¿challen in Å¿ein Ohr. Dem Handwerker wird das zuletzt zu arg. Er Å¿toÍ