PRIMS Full-text transcription (HTML)
Geſpräche mit Goethe.
Erſter Theil.
Geſpräche mit Goethe in den letzten Jahren ſeines Lebens.
1823 1832.
Erſter Theil.
Leipzig:F. A. Brockhaus.1836.

Ihro Kaiſerlichen Hoheit der regierenden Frau Großherzogin zu Sachſen-Weimar und Eiſenach, Maria Paulowna, Großfuͤrſtin von Rußland,dankbar unterthaͤnigſt zugeeignet.

[VI][VII]

Vorrede.

Dieſe Sammlung von Unterhaltungen und Ge¬ ſpraͤchen mit Goethe iſt groͤßtentheils aus dem mir inwohnenden Naturtriebe entſtanden, irgend ein Erlebtes, das mir werth oder merkwuͤrdig erſcheint, durch ſchriftliche Auffaſſung mir anzu¬ eignen.

Zudem war ich immerfort der Belehrung be¬ duͤrftig, ſowohl als ich zuerſt mit jenem außer¬ ordentlichen Manne zuſammentraf, als auch nach¬ dem ich bereits Jahre lang mit ihm gelebt hatte, und ich ergriff gerne den Inhalt ſeiner Worte und notirte ihn mir, um ihn fuͤr mein ferneres Leben zu beſitzen.

VIII

Wenn ich aber die reiche Fuͤlle ſeiner Äuße¬ rungen bedenke, die waͤhrend eines Zeitraumes von neun Jahren mich begluͤckten, und nun das We¬ nige betrachte, das mir davon ſchriftlich aufzufaſſen gelungen iſt, ſo komme ich mir vor wie ein Kind, das den erquicklichen Fruͤhlingsregen in offenen Haͤnden aufzufangen bemuͤht iſt, dem aber das Meiſte durch die Finger laͤuft.

Doch wie man zu ſagen pflegt, daß Buͤcher ihre Schickſale haben, und wie dieſes Wort eben ſowohl auf ihr Entſtehen als auf ihr ſpaͤteres Hinaustreten in die weite und breite Welt anzu¬ wenden iſt, ſo duͤrfte es auch von der Entſtehung des gegenwaͤrtigen Buches gelten. Monate ver¬ gingen oft wo die Geſtirne unguͤnſtig ſtanden, und wo Unbefinden, Geſchaͤfte und mancherley Be¬ muͤhungen um die taͤgliche Exiſtenz keine Zeile aufkommen ließen; dann aber traten wieder guͤn¬ ſtige Sterne ein und es vereinigten ſich Wohlſeyn, Muße und Luſt zu ſchreiben, um wieder einen er¬ freulichen Schritt vorwaͤrts zu thun. Und dann, wo tritt bey einem laͤngeren Zuſammenleben nichtIX mitunter einige Gleichguͤltigkeit ein, und wo waͤre derjenige, der die Gegenwart immer ſo zu ſchaͤtzen wuͤßte, wie ſie es verdiente!

Dieſes alles erwaͤhne ich beſonders aus dem Grunde, um die manchen bedeutenden Luͤcken zu entſchuldigen, die der Leſer finden wird, im Fall er etwa ſo geneigt ſeyn ſollte, das Datum zu ver¬ folgen. In ſolche Luͤcken faͤllt manches unterlaſſene Gute, ſo wie beſonders manches guͤnſtige Wort, was Goethe uͤber ſeine weitverbreiteten Freunde, ſo wie uͤber die Werke dieſes oder jenes lebenden deutſchen Autors geſagt hat, waͤhrend ſich Anderes aͤhnlicher Art notirt findet. Doch wie geſagt: Buͤcher haben ihre Schickſale ſchon waͤhrend ſie entſtehen.

Übrigens erkenne ich dasjenige, was in dieſen Baͤnden mir gelungen iſt zu meinem Eigenthum zu machen und was ich gewiſſermaßen als den Schmuck meines Lebens zu betrachten habe, mit innigem Dank gegen eine hoͤhere Fuͤgung; ja ich habe ſo¬ gar eine gewiſſe Zuverſicht, daß auch die Welt mir dieſe Mittheilung danken werde.

X

Ich halte dafuͤr, daß dieſe Geſpraͤche fuͤr Le¬ ben, Kunſt und Wiſſenſchaft nicht allein manche Aufklaͤrung und manche unſchaͤtzbare Lehre enthal¬ ten, ſondern daß dieſe unmittelbaren Skizzen nach dem Leben auch ganz beſonders dazu beytragen werden, das Bild zu vollenden, was man von Goethe aus ſeinen mannigfaltigen Werken bereits in ſich tragen mag.

Weit entfernt aber bin ich auch wiederum, zu glauben, daß hiemit nun der ganze innere Goethe gezeichnet ſey. Man kann dieſen außerordentlichen Geiſt und Menſchen mit Recht einem vielſeitigen Diamanten vergleichen, der nach jeder Richtung hin eine andere Farbe ſpiegelt. Und wie er nun in verſchiedenen Verhaͤltniſſen und zu verſchiedenen Perſonen ein Anderer war, ſo kann ich auch in meinem Falle nur in ganz beſcheidenem Sinne ſagen: dieß iſt mein Goethe.

Und dieſes Wort duͤrfte nicht bloß davon gel¬ ten, wie er ſich mir darbot, ſondern beſonders auch davon, wie ich ihn aufzufaſſen und wieder¬ zugeben faͤhig war. Es geht in ſolchen Faͤllen eine Spiegelung vor und es iſt ſehr ſelten, daßXl bey dem Durchgange durch ein anderes Individuum nichts Eigenthuͤmliches verloren gehe und nichts Fremdartiges ſich beymiſche. Die koͤrperlichen Bild¬ niſſe Goethe's von Rauch, Dawe, Stieler und David ſind alle in hohem Grade wahr, und doch tragen ſie alle mehr oder weniger das Ge¬ praͤge der Individualitaͤt, die ſie hervorbrachte. Und wie nun ein Solches ſchon von koͤrperlichen Dingen zu ſagen iſt, um wie viel mehr wird es von fluͤchtigen, untaſtbaren Dingen des Geiſtes gelten! Wie dem nun aber in meinem Falle auch ſey, ſo werden alle diejenigen, denen aus geiſtiger Macht oder aus perſoͤnlichem Umgange mit Goethe ein Urtheil dieſes Gegenſtandes zu¬ ſteht, mein Streben nach moͤglichſter Treue hof¬ fentlich nicht verkennen.

Nach dieſen groͤßtentheils die Auffaſſung des Gegenſtandes betreffenden Andeutungen bleibt mir uͤber des Werkes Inhalt ſelber noch Folgendes zu ſagen.

Dasjenige, was man das Wahre nennt, ſelbſt in Betreff eines einzigen Gegenſtandes, iſtXII keineswegs etwas Kleines, Enges, Beſchraͤnktes; vielmehr iſt es, wenn auch etwas Einfaches, doch zugleich etwas Umfangreiches, das, gleich den mannigfaltigen Offenbarungen eines weit und tief greifenden Naturgeſetzes, nicht ſo leicht zu ſagen iſt. Es iſt nicht abzuthun durch Spruch, auch nicht durch Spruch und Spruch, auch nicht durch Spruch und Widerſpruch, ſondern man gelangt durch alles dieſes zuſammen erſt zu Aproximationen, geſchweige zum Ziele ſelber.

So, um nur ein Beiſpiel anzufuͤhren, tragen Goethe's einzelne Äußerungen uͤber Poeſie oft den Schein der Einſeitigkeit und oft ſogar den Schein offenbarer Widerſpruͤche. Bald legt er alles Ge¬ wicht auf den Stoff, welchen die Welt giebt, bald alles auf das Innere des Dichters; bald ſoll alles Heil im Gegenſtande liegen, bald alles in der Behandlung: bald ſoll es von einer voll¬ endeten Form kommen, bald, mit Vernachlaͤſſigung aller Form, alles vom Geiſte.

Alle dieſe Aus - und Widerſpruͤche aber ſind ſaͤmmtlich einzelne Seiten des Wahren und bezeich¬XIII nen zuſammen das Weſen und fuͤhren zur Annaͤ¬ herung der Wahrheit ſelber, und ich habe mich daher ſowohl in dieſen als aͤhnlichen Faͤllen wohl gehuͤtet, dergleichen ſcheinbare Widerſpruͤche, wie ſie durch verſchiedenartige Anlaͤſſe und den Verlauf ungleicher Jahre und Stunden hervorgerufen worden, bey dieſer Herausgabe zu unterdruͤcken. Ich vertraue dabey auf die Einſicht und Überſicht des gebildeten Leſers, der ſich durch etwas Einzelnes nicht irren laſſen, ſondern das Ganze im Auge halten und alles gehoͤrig zurechtlegen und vereinigen werde.

Ebenſo wird man vielleicht auf Manches ſto¬ ßen, was beym erſten Anblick den Schein des Unbedeutenden hat. Sollte man aber tiefer bli¬ ckend bemerken, daß ſolche unbedeutende Anlaͤſſe oft Traͤger von etwas Bedeutendem ſind, auch oft etwas Spaͤtervorkommendes begruͤnden, oder auch dazu beytragen, irgend einen kleinen Zug zur Characterzeichnung hinzuzuthun, ſo duͤrften ſie, als eine Art von Nothwendigkeit, wo nicht geheiliget, doch entſchuldiget werden.

Und ſomit ſage ich nun dieſem lange geheg¬XIV ten Buche zu ſeinem Hinaustrit in die Welt das beſte Lebewohl, und wuͤnſche ihm das Gluͤck an¬ genehm zu ſeyn und mancherley Gutes anzuregen und zu verbreiten.

Weimar, den 31. October 1835.

[1]

Einleitung.

I. 1[2][3]

Einleitung.

Der Autor giebt Nachricht uͤber ſeine Perſon und Herkunft und die Entſtehung ſeines Verhaͤltniſſes zu Goethe.

Zu Winſen an der Luhe, einem Staͤdtchen zwiſchen Luͤ¬ neburg und Hamburg, auf der Graͤnze des Marſch - und Haidelandes, bin ich zu Anfang der neunziger Jahre geboren, und zwar in einer Huͤtte, wie man wohl ein Haͤuschen nennen kann, das nur einen heizbaren Aufent¬ halt und keine Treppe hatte, ſondern wo man auf einer gleich an der Hausthuͤr ſtehenden Leiter unmittelbar auf den Heuboden ſtieg.

Als der Zuletztgeborne einer zweyten Ehe, habe ich meine Eltern eigentlich nur gekannt wie ſie ſchon im vor¬ geruͤckten Alter ſtanden, und bin zwiſchen beyden gewiſſer¬ maßen einſam aufgewachſen. Aus meines Vaters erſter Ehe lebten zwey Soͤhne, wovon der eine, nach verſchie¬ denen Seereiſen als Matroſe, in fernen Welttheilen in Gefangenſchaft gerathen und verſchollen war, der andere aber, nach mehrmaligem Aufenthalt zum Walfiſch - und Seehunde-Fang in Groͤnland, nach Hamburg zuruͤckgekehrt1*4war und dort in maͤßigen Umſtaͤnden lebte. Aus meines Vaters zweyter Ehe waren vor mir zwey Schweſtern aufgewachſen, die, als ich mein zwoͤlftes Jahr erreicht, bereits das vaͤterliche Haus verlaſſen hatten und theils im Orte theils in Hamburg dienten.

Die Hauptquelle des Unterhaltes unſerer kleinen Fa¬ milie war eine Kuh, die uns nicht allein zu unſerm taͤg¬ lichen Bedarf mit Milch verſah, ſondern von der wir auch jaͤhrlich ein Kalb maͤſten und außerdem zu gewiſſen Zeiten fuͤr einige Groſchen Milch verkaufen konnten. Fer¬ ner beſaßen wir einen Acker Land, der uns die noͤthigen Gemuͤſearten fuͤr das Beduͤrfniß des Jahres gewinnen ließ. Korn zu Brod indeß und Mehl fuͤr die Kuͤche mu߬ ten wir kaufen.

Meine Mutter hatte eine beſondere Geſchicklichkeit im Wollſpinnen; auch ſchnitt und naͤhete ſie die buͤrgerlichen Muͤtzen der Frauenzimmer zu beſonderer Zufriedenheit, welches ihr denn beydes zur Quelle einiges Erwerbes gereichte.

Meines Vaters eigentliches Geſchaͤft dagegen war der Betrieb eines kleinen Handels, der nach den verſchiedenen Jahreszeiten variirte und ihn veranlaßte haͤufig von Haus abweſend zu ſeyn und in der Umgegend viel zu Fuße umherzuſchweifen. Im Sommer ſah man ihn, mit einem leichten hoͤlzernen Schraͤnkchen auf dem Ruͤcken, in der Haidegegend von Dorf zu Dorf wandern und mit Band, Zwirn und Seide hauſiren gehen. Zugleich kaufte er hier5 wollene Struͤmpfe und Beyderwand (ein aus der brau¬ nen Wolle der Haideſchnucken und leinenem Garn geweb¬ tes Zeug), das er denn auf dem jenſeitigen Elbufer, in den Vierlanden, gleichfalls hauſirend, wieder abſetzte. Im Winter trieb er einen Handel mit rohen Schreibfedern und ungebleichter Leinewand, die er in den Doͤrfern der Haide - und Marſchgegend aufkaufte und mit Schiffsgelegenheit nach Hamburg brachte. In allen Faͤllen jedoch mußte ſein Gewinn ſehr gering ſeyn, denn wir lebten immer in einiger Armuth.

Soll ich nun von meiner kindlichen Thaͤtigkeit reden, ſo war ſie gleichfalls nach den Jahreszeiten ver¬ ſchieden. Mit dem anbrechenden Fruͤhling, und ſo wie die Gewaͤſſer der gewoͤhnlichen Elb-Überſchwemmungen ver¬ laufen waren, ging ich taͤglich, um das an den Binnen¬ deichen und ſonſtigen Erhoͤhungen angeſpuͤlte Schilf zu ſammeln und als eine beliebte Streu fuͤr unſere Kuh an¬ zuhaͤufen. Wenn ſodann auf der weitausgedehnten Weide¬ flaͤche das erſte Gruͤn hervorkeimte, verlebte ich in Ge¬ meinſchaft mit anderen Knaben lange Tage im Huͤten der Kuͤhe. Waͤhrend des Sommers war ich thaͤtig in Be¬ ſtellung unſeres Ackers, auch ſchleppte ich fuͤr das Beduͤrf¬ niß des Herdes das ganze Jahr hindurch aus der kaum eine Stunde entfernten Waldung trockenes Holz herbey. Zur Zeit der Korn-Ernte ſah man mich wochenlang in den Feldern mit Ährenleſen beſchaͤftigt, und ſpaͤter, wenn die Herbſtwinde die Baͤume ſchuͤttelten, ſammlete ich Ei¬6 cheln, die ich metzenweiſe an wohlhabendere Einwohner, um ihre Gaͤnſe damit zu fuͤttern, verkaufte. So wie ich aber genugſam herangewachſen war, begleitete ich meinen Vater auf ſeinen Wanderungen von Dorf zu Dorf und half einen Buͤndel tragen. Dieſe Zeit gehoͤrt zu den lieb¬ ſten Erinnerungen meiner Jugend.

Unter ſolchen Zuſtaͤnden und Beſchaͤftigungen, waͤh¬ rend welcher ich auch periodenweiſe die Schule beſuchte und nothduͤrftig leſen und ſchreiben lernte, erreichte ich mein vierzehntes Jahr, und man wird geſtehen, daß von hier bis zu einem vertrauten Verhaͤltniß mit Goethe ein großer Schritt und uͤberall wenig Anſchein war. Auch wußte ich nicht, daß es in der Welt Dinge gebe wie Poeſie und ſchoͤne Kuͤnſte, und konnte alſo auch ein dun¬ keles Verlangen und Streben nach ſolchen Dingen gluͤck¬ licherweiſe in mir nicht Statt finden.

Man hat geſagt, die Thiere werden durch ihre Or¬ gane belehrt, und ſo moͤchte man vom Menſchen ſagen, daß er oft durch etwas was er ganz zufaͤllig thut, uͤber das belehrt werde was etwa Hoͤheres in ihm ſchlummert. Ein ſolches ereignete ſich mit mir, und da es, obgleich an ſich unbedeutend, meinem ganzen Leben eine andere Wendung gab, ſo hat es ſich mir als etwas Unverge߬ liches eingepraͤgt.

Ich ſaß eines Abends bei angezuͤndeter Lampe mit beyden Eltern am Tiſche. Mein Vater war von Ham¬ burg zuruͤckgekommen und erzaͤhlte von dem Verlauf und7 Fortgang ſeines Handels. Da er gern rauchte, ſo hatte er ſich ein Paket Taback mitgebracht, das vor mir auf dem Tiſche lag und als Wappen ein Pferd hatte. Dieſes Pferd erſchien mir als ein ſehr gutes Bild, und da ich zugleich Feder und Tinte und ein Stuͤckchen Papier zur Hand hatte, ſo bemaͤchtigte ſich meiner ein unwiderſteh¬ licher Trieb es nachzuzeichnen. Mein Vater fuhr fort von Hamburg zu erzaͤhlen, waͤhrend ich, von den Eltern un¬ bemerkt, mich ganz vertiefte im Zeichnen des Pferdes. Als ich fertig war, kam es mir vor, als ſey meine Nachbil¬ dung dem Vorbilde vollkommen aͤhnlich und ich genoß ein mir bisher unbekanntes Gluͤck. Ich zeigte meinen Eltern was ich gemacht hatte, die nicht umhin konnten mich zu ruͤhmen und ſich daruͤber zu wundern. Die Nacht ver¬ brachte ich in freudiger Aufregung halb ſchlaflos, ich dachte beſtaͤndig an mein gezeichnetes Pferd und erwartete mit Ungeduld den Morgen, um es wieder vor Augen zu neh¬ men und mich wieder daran zu erfreuen.

Von dieſer Zeit an verließ mich der einmal erwachte Trieb der ſinnlichen Nachbildung nicht wieder. Da es aber in meinem Orte an aller weiteren Huͤlfe in ſolchen Dingen fehlte, ſo war ich ſchon ſehr gluͤcklich, als unſer Nachbar, ein Toͤpfer, mir ein Paar Hefte mit Contouren gab, welche ihm bey Bemalung ſeiner Teller und Schuͤſ¬ ſeln als Vorbild dienten.

Dieſe Umriſſe zeichnete ich mit Feder und Tinte auf das ſorgfaͤltigſte nach, und ſo entſtanden zwey Hefte,8 die bald von Hand zu Hand gingen und auch an die erſte Perſon des Ortes, an den Oberamtmann Meyer, gelangten. Er ließ mich rufen, beſchenkte mich, und lobte mich auf die liebevollſte Weiſe. Er fragte mich, ob ich Luſt habe ein Maler zu werden; er wolle mich in ſolchem Fall, wenn ich confirmirt ſey, zu einem geſchick¬ ten Meiſter nach Hamburg ſenden. Ich ſagte, daß ich wohl Luſt habe und daß ich es mit meinen Eltern uͤber¬ legen wolle.

Dieſe aber, beyde aus dem Bauernſtande, und in einem Orte lebend, wo groͤßtentheils nichts Anderes als Ackerbau und Viehzucht getrieben wurde, dachten ſich unter einem Maler nichts weiter als einen Thuͤren - und Haͤuſer-Anſtreicher. Sie widerriethen es mir daher auf das ſorglichſte, indem ſie anfuͤhrten, daß es nicht allein ein ſehr ſchmutziges, ſondern zugleich ein ſehr gefaͤhrliches Handwerk ſey, wobey man Hals und Beine brechen koͤnne, welches ſich, zumal in Hamburg bey den ſieben Stockwerk hohen Haͤuſern, ſehr oft ereigne. Da nun meine eigenen Begriffe von einem Maler gleichfalls nicht hoͤherer Art waren, ſo verging mir die Luſt zu dieſem Metier und ich ſchlug das Anerbieten des guten Oberamtmannes aus dem Sinne.

Indeſſen war nun einmal die Aufmerkſamkeit hoͤhe¬ rer Perſonen auf mich gefallen; man behielt mich im Auge und ſuchte mich auf manche Weiſe zu heben. Man ließ mich an dem Privatunterricht der wenigen9 vornehmen Kinder Theil nehmen, ich lernte franzoͤſiſch und etwas Latein und Muſik; zugleich verſah man mich mit beſſerer Kleidung, und der wuͤrdige Superintendent Pariſius hielt es nicht zu gering, mir einen Platz an ſeinem eigenen Tiſche zu geben.

Von nun an war mir die Schule lieb geworden; ich ſuchte ſo guͤnſtige Umſtaͤnde ſo lange fortzuſetzen als moͤglich, und meine Eltern gaben es daher auch gern zu, daß ich erſt in meinem ſechzehnten Jahre confirmirt wurde.

Nun aber entſtand die Frage, was aus mir werden ſolle. Waͤre es nach meinen Wuͤnſchen gegangen, ſo haͤtte man mich zur Verfolgung wiſſenſchaftlicher Stu¬ dien auf ein Gymnaſium geſchickt; allein hieran war nicht zu denken, denn es fehlte dazu nicht allein an allen Mitteln, ſondern die gebieteriſche Noth meiner Umſtaͤnde verlangte auch, mich ſehr bald in einer Lage zu ſehen, wo ich nicht allein fuͤr mich ſelber zu ſorgen, ſondern auch meinen duͤrftigen alten Eltern einigermaßen zu Huͤlfe zu kommen im Stande waͤre.

Eine ſolche Lage eroͤffnete ſich mir gleich nach meiner Confirmation, indem ein dortiger Juſtizbeamter mir das Anerbieten machte, mich zum Schreiben und anderen kleinen Dienſtverrichtungen zu ſich zu nehmen, worein ich mit Freuden willigte. Ich hatte waͤhrend der letzten anderthalb Jahre meines fleißigen Schul¬ beſuchs es dahin gebracht, nicht allein eine gute Hand10 zu erlangen, ſondern mich auch in Abfaſſung ſchrift¬ licher Aufſaͤtze vielfaͤltig zu uͤben, ſo daß ich mich denn fuͤr eine ſolche Stelle ſehr wohl qualificirt halten konnte. Dieſes Verhaͤltniß, wobey ich auch kleine Advocaturgeſchaͤfte trieb, und nicht ſelten in den Fall kam, nach hergebrachten Formen beydes, Klageſchrift und Urtheil, abzufaſſen, dauerte zwey Jahre, naͤmlich bis 1810, wo das hannoͤveriſche Amt Winſen an der Luhe aufgeloͤſt und, im Departement der Nieder-Elbe begriffen, dem franzoͤſiſchen Kaiſerreiche einverleibt wurde.

Ich erhielt nun eine Anſtellung im Buͤreau der Direction der directen Steuern zu Luͤneburg, und als dieſe im naͤchſten Jahre gleichfalls aufgeloͤſt wurde, kam ich in das Buͤreau der Unterpraͤfectur zu Ülzen. Hier arbeitete ich bis gegen Ende des Jahres 1812, wo der Praͤfect, Herr von Duͤring, mich befoͤrderte und als Mairie-Secretair zu Bevenſen anſtellte. Dieſen Po¬ ſten bekleidete ich bis zum Fruͤhling des Jahres 1813, wo die herannahenden Koſaken uns zur Befreiung von der franzoͤſiſchen Herrſchaft Hoffnung machten.

Ich nahm meinen Abſchied und ging in meine Hei¬ math mit keinem anderen Plan und Gedanken, als mich ſobald wie moͤglich den Reihen der vaterlaͤndiſchen Krieger anzuſchließen, die ſich im Stillen hier und dort anfingen zu bilden. Dieſes vollfuͤhrte ich und trat gegen Ende des Sommers mit Buͤchſe und Holſter als Freywilliger in das Kielmannsegge'ſche Jaͤger-Corps und11 machte mit dieſem in der Compagnie des Capitain Knop den Feldzug des Winters 1813 und 1814 durch Mecklenburg, Holſtein und vor Hamburg gegen den Marſchall Davouſt. Darauf marſchirten wir uͤber den Rhein gegen den General Maiſon und zogen im Som¬ mer viel hin und her in dem fruchtbaren Flandern und Brabant.

Hier, vor den großen Gemaͤlden der Niederlaͤnder, ging mir eine neue Welt auf; ich verbrachte ganze Tage in Kirchen und Muſeen. Es waren im Grunde die erſten Gemaͤlde die mir in meinem Leben vor Augen gekommen waren, ich ſah nun was es heißen wolle ein Maler zu ſeyn; ich ſah die gekroͤnten, gluͤck¬ lichen Fortſchritte der Schuͤler, und ich haͤtte weinen moͤgen, daß es mir verſagt worden eine aͤhnliche Bahn zu gehen. Doch entſchloß ich mich auf der Stelle; ich machte in Tournay die Bekanntſchaft eines jungen Kuͤnſtlers, ich verſchaffte mir ſchwarze Kreide und einen Bogen Zeichenpapier vom groͤßten Format und ſetzte mich ſogleich vor ein Bild um es zu copiren. Große Begierde zur Sache erſetzte hiebey was mir an Übung und Anleitung fehlte, und ſo brachte ich die Contoure der Figuren gluͤcklich zu Stande; ich fing auch an, von der linken Seite herein das Ganze auszuſchattiren, als eine Marſchordre eine ſo gluͤckliche Beſchaͤftigung unter¬ brach. Ich eilte, die Abſtufung von Schatten und Licht in dem nicht ausgefuͤhrten Theile mit einzelnen12 Buchſtaben anzudeuten, in Hoffnung daß es mir in ruhigen Stunden gelingen wuͤrde es auf dieſe Weiſe zu vollenden. Ich rollte mein Bild zuſammen und that es in einen Koͤcher, den ich, neben meiner Buͤchſe auf dem Ruͤcken haͤngend, den langen Marſch von Tournay nach Hameln trug.

Hier ward das Jaͤger-Corps im Herbſt des Jahres 1814 aufgeloͤſt. Ich ging in meine Heimath; mein Vater war todt, meine Mutter noch am Leben und bey meiner aͤlteſten Schweſter wohnend, die ſich indeß verheirathet und das elterliche Haus angenommen hatte. Ich fing nun ſogleich an mein Zeichnen fortzuſetzen; ich vollendete zunaͤchſt jenes aus Brabant mitgebrachte Bild, und als es mir darauf ferner an paſſenden Muſtern fehlte, ſo hielt ich mich an die kleinen Ram¬ bergiſchen Kupfer, die ich mit ſchwarzer Kreide ins Große ausfuͤhrte. Hiebey merkte ich jedoch ſehr bald den Mangel gehoͤriger Vorſtudien und Kenntniſſe; ich hatte ſo wenig Begriffe von der Anatomie des Menſchen wie der Thiere; nicht mehr wußte ich von Behandlung der verſchiedenen Baumarten und Gruͤnde, und es koſtete mich daher unſaͤgliche Muͤhe, ehe ich auf meine Weiſe etwas herausbrachte das ungefaͤhr ſo ausſah.

Ich begriff daher ſehr bald, daß, wenn ich ein Kuͤnſtler werden wolle, ich es ein wenig anders anzu¬ fangen haͤtte, und daß das fernere Suchen und Taſten auf eigenem Wege ein durchaus verlorenes Bemuͤhen13 ſey. Zu einem tuͤchtigen Meiſter zu gehen und ganz von vorne anzufangen, das war mein Plan.

Was nun den Meiſter betraf, ſo lag in meinen Gedanken kein anderer als Ramberg in Hannover; auch dachte ich in dieſer Stadt mich um ſo eher hal¬ ten zu koͤnnen, als ein geliebter Jugendfreund dort in gluͤcklichen Umſtaͤnden lebte, von deſſen Treue ich mir jede Stuͤtze verſprechen durfte, und deſſen Einladungen ſich wiederholten.

Ich ſaͤumte daher auch nicht lange und ſchnuͤrte meinen Buͤndel und machte mitten im Winter 1815 den faſt vierzigſtuͤndigen Weg durch die oͤde Haide bey tiefem Schnee einſam zu Fuß, und erreichte in einigen Tagen gluͤcklich Hannover.

Ich verfehlte nicht alſobald zu Ramberg zu gehen und ihm meine Wuͤnſche vorzutragen. Nach den vor¬ gelegten Proben ſchien er an meinem Talent nicht zu zweifeln, doch machte er mir bemerklich, daß die Kunſt nach Brod gehe, daß die Überwindung des Techniſchen viel Zeit verlange, und daß die Ausſicht, der Kunſt zugleich die aͤußere Exiſtenz zu verdanken, ſehr ferne ſey. Indeſſen zeigte er ſich ſehr bereit, mir ſeinerſeits alle Huͤlfe zu ſchenken; er ſuchte ſogleich aus der Maſſe ſeiner Zeichnungen einige paſſende Blaͤtter mit Theilen des menſchlichen Koͤrpers hervor, die er mir zum Nach¬ zeichnen mitgab.

So wohnte ich denn bey meinem Freunde und zeich¬14 nete nach Rambergiſchen Originalen. Ich machte Fort¬ ſchritte, denn die Blaͤtter die er mir gab wurden immer bedeutender. Die ganze Anatomie des menſchlichen Koͤr¬ pers zeichnete ich durch, und ward nicht muͤde die ſchwierigen Haͤnde und Fuͤße immer zu wiederholen. So vergingen einige gluͤckliche Monate. Wir kamen indeß in den May und ich fing an zu kraͤnkeln; der Juny ruͤckte heran und ich war nicht mehr im Stande den Griffel zu fuͤhren, ſo zitterten meine Haͤnde.

Wir nahmen unſere Zuflucht zu einem geſchickten Arzt. Er fand meinen Zuſtand gefaͤhrlich. Er erklaͤrte, daß in Folge des Feldzuges alle Hautausduͤnſtung unterdruͤckt ſey, daß eine verzehrende Glut ſich auf die inneren Theile geworfen, und daß, wenn ich mich noch vierzehn Tage ſo fortgeſchleppt haͤtte, ich unfehlbar ein Kind des Todes geweſen ſeyn wuͤrde. Er verordnete ſogleich warme Baͤder und aͤhnliche wirkſame Mittel um die Thaͤtigkeit der Haut wieder herzuſtellen; es zeigten ſich auch ſehr bald erfreuliche Spuren der Beſſe¬ rung, doch an Fortſetzung meiner kuͤnſtleriſchen Studien war nicht mehr zu denken.

Ich hatte bisher bey meinem Freunde die liebevollſte Behandlung und Pflege genoſſen; daß ich ihm laͤſtig ſey, oder in der Folge laͤſtig werden koͤnnte, daran war ſeinerſeits kein Gedanke und nicht die leiſeſte Andeutung. Ich aber dachte daran, und wie dieſe ſchon laͤnger ge¬ hegte heimliche Sorge wahrſcheinlich dazu beygetragen15 hatte den Ausbruch der in mir ſchlummernden Krank¬ heit zu beſchleunigen, ſo trat ſie jetzt, da ich wegen meiner Wiederherſtellung bedeutende Ausgaben vor mir ſah, mit ihrer ganzen Gewalt hervor.

In ſolcher Zeit aͤußerer und innerer Bedraͤngniß eroͤffnete ſich mir die Ausſicht zu einer Anſtellung bey einer mit der Kriegs-Canzley in Verbindung ſtehenden Commiſſion, die das Montirungsweſen der hannoͤveri¬ ſchen Armee zum Gegenſtand ihrer Geſchaͤfte hatte, und es war daher wohl nicht zu verwundern, daß ich dem Drange der Umſtaͤnde nachgab und, auf die kuͤnſtle¬ riſche Bahn Verzicht leiſtend, mich um die Stelle be¬ warb und ſie mit Freuden annahm.

Meine Geneſung erfolgte raſch und es kehrte ein Wohlbefinden und eine Heiterkeit zuruͤck, wie ich ſie lange nicht genoſſen. Ich ſah mich in dem Fall, mei¬ nem Freunde einigermaßen wieder zu verguͤten was er ſo großmuͤthig an mir gethan. Die Neuheit des Dienſtes, in welchen ich mich einzuarbeiten hatte, gab meinem Geiſte Beſchaͤftigung. Meine Obern erſchienen mir als Maͤnner von der edelſten Denkungsart, und mit meinen Collegen, von denen einige mit mir in dem¬ ſelbigen Corps den Feldzug gemacht, ſtand ich ſehr bald auf dem Fuß eines innigen Vertrauens.

In dieſer geſicherten Lage fing ich nun erſt an, in der manches Gute enthaltenden Reſidenz mit einiger Freyheit umherzublicken, ſo wie ich auch in Stunden16 der Muße nicht muͤde ward, die reizenden Umgebungen immer von neuem zu durchſtreifen. Mit einem Schuͤler Rambergs, einem hoffnungsvollen jungen Kuͤnſtler, hatte ich eine innige Freundſchaft geſchloſſen; er war auf meinen Wanderungen mein beſtaͤndiger Begleiter. Und da ich nun auf ein practiſches Fortſchreiten in der Kunſt wegen meiner Geſundheit und ſonſtigen Umſtaͤnde fernerhin Verzicht leiſten mußte, ſo war es mir ein gro¬ ßer Troſt, mich mit ihm uͤber unſere gemeinſame Freun¬ dinn wenigſtens taͤglich zu unterhalten. Ich nahm Theil an ſeinen Compoſitionen, die er mir haͤufig in der Skizze zeigte und die wir mit einander durchſprachen. Ich ward durch ihn auf manche belehrende Schrift gefuͤhrt, ich las Winckelmann, ich las Mengs; allein da mir die Anſchauung der Sachen fehlte, von denen dieſe Maͤnner handeln, ſo konnte ich mir auch aus ſolcher Lectuͤre nur das Allgemeinſte aneignen und ich hatte davon im Grunde wenig Nutzen.

In der Reſidenz geboren und aufgewachſen, war mein Freund in geiſtiger Bildung mir in jeder Hinſicht voran, auch hatte er eine recht huͤbſche Kenntniß der ſchoͤnen Literatur, die mir durchaus fehlte. In dieſer Zeit war Theodor Koͤrner der gefeierte Held des Tages; er brachte mir deſſen Gedichte Leyer und Schwerdt, die denn nicht verfehlten, auch auf mich einen großen Eindruck zu machen und auch mich zur Bewunderung hinzureißen.

17

Man hat viel von der kuͤnſtleriſchen Wirkung eines Gedichtes geſprochen und ſie ſehr hoch geſtellt; mir aber will erſcheinen, daß die ſtoffartige die eigentlich maͤchtige ſey, worauf alles ankomme. Ohne es zu wiſſen machte ich dieſe Erfahrung an dem Buͤch¬ lein Leyer und Schwerdt. Denn, daß ich gleich Koͤrner den Haß gegen unſere vieljaͤhrigen Bedruͤcker im Buſen getragen, daß ich gleich ihm den Befreyungs¬ krieg mitgemacht, und gleich ihm alle Zuſtaͤnde von beſchwerlichen Maͤrſchen, naͤchtlichen Bivouacs, Vor¬ poſtendienſt und Gefechten erlebt und dabey aͤhnliche Gedanken und Empfindungen gehegt hatte, das ver¬ ſchaffte dieſen Gedichten in meinem Innern einen ſo tiefen und maͤchtigen Anklang.

Wie nun aber auf mich nicht leicht etwas Bedeu¬ tendes wirken konnte, ohne mich tief anzuregen und productiv zu machen, ſo ging es mir auch mit dieſen Gedichten von Theodor Koͤrner. Ich erinnerte mich aus meiner Kindheit und den folgenden Jahren, daß ich ſelber hin und wieder kleine Gedichte geſchrieben, aber nicht weiter beachtet hatte, weil ich auf dergleichen leicht entſtehende Dinge damals keinen großen Werth legte und weil uͤberall zur Schaͤtzung des poetiſchen Ta¬ lents immer einige geiſtige Reife erforderlich iſt. Nun aber erſchien mir dieſe Gabe in Theodor Koͤrner als etwas durchaus Ruͤhmliches und Beneidenswuͤrdiges undI. 218es erwachte in mir ein maͤchtiger Trieb, zu verſuchen, ob es mir nicht gelingen wolle es ihm einigermaßen nachzuthun.

Die Ruͤckkehr unſerer vaterlaͤndiſchen Krieger aus Frankreich gab mir eine erwuͤnſchte Gelegenheit. Und wie mir in friſcher Erinnerung lebte, welchen unſaͤgli¬ chen Muͤhſeligkeiten der Soldat im Felde ſich zu unter¬ ziehen hat, waͤhrend dem gemaͤchlichen Buͤrger zu Hauſe oft keine Art von Bequemlichkeit mangelt, ſo dachte ich, daß es gut ſeyn moͤchte dergleichen Verhaͤltniſſe in einem Gedicht zur Sprache zu bringen und dadurch, auf die Gemuͤther wirkend, den zuruͤckkehrenden Truppen einen deſto herzlicheren Empfang vorzubereiten.

Ich ließ von dem Gedicht einige hundert Exemplare auf eigene Koſten drucken und in der Stadt vertheilen. Die Wirkung die es that war guͤnſtig uͤber meine Erwartung. Es verſchaffte mir den Zudrang einer Menge ſehr erfreulicher Bekanntſchaften, man theilte meine ausgeſprochenen Empfindungen und Anſichten, man ermunterte mich zu aͤhnlichen Verſuchen und war uͤberhaupt der Meinung, daß ich die Probe eines Ta¬ lentes an den Tag gelegt habe, welches der Muͤhe werth ſey weiter zu cultiviren. Man theilte das Ge¬ dicht in Zeitſchriften mit, es ward an verſchiedenen Orten nachgedruckt und einzeln verkauft, und uͤberdieß erlebte ich daran die Freude, es von einem ſehr belieb¬ ten Componiſten in Muſik geſetzt zu ſehen, ſo wenig19 es ſich auch im Grunde, wegen ſeiner Laͤnge und ganz rhetoriſchen Art, zum Geſang eignete.

Es verging von nun an keine Woche wo ich nicht durch die Entſtehung irgend eines weiteren Gedichts waͤre begluͤckt worden. Ich war jetzt in meinem vier und zwanzigſten Jahre; es lebte in mir eine Welt von Gefuͤhlen, Drang und gutem Willen; allein ich war ganz ohne alle geiſtige Cultur und Kenntniſſe. Man empfahl mir das Studium unſerer großen Dichter und fuͤhrte mich beſonders auf Schiller und Klopſtock. Ich verſchaffte mir ihre Werke, ich las, ich bewunderte ſie, allein ich fand mich durch ſie wenig gefoͤrdert; die Bahn dieſer Talente lag, ohne daß ich es damals ge¬ wußt haͤtte, von der Richtung meiner eigenen Natur zu weit abwaͤrts.

In dieſer Zeit hoͤrte ich zuerſt den Namen Goethe und erlangte zuerſt einen Band ſeiner Gedichte. Ich las ſeine Lieder und las ſie immer von neuem und genoß dabey ein Gluͤck, das keine Worte ſchildern. Es war mir, als fange ich erſt an aufzuwachen und zum eigentlichen Bewußtſeyn zu gelangen; es kam mir vor als werde mir in dieſen Liedern mein eigenes mir bis¬ her unbekanntes Innere zuruͤckgeſpiegelt. Auch ſtieß ich nirgends auf etwas Fremdartiges und Gelehrtes wozu mein bloß menſchliches Denken und Empfinden nicht ausgereicht haͤtte, nirgends auf Namen auslaͤndiſcher und veralteter Gottheiten, wobey ich mir nichts zu den¬2 *20ken wußte; vielmehr fand ich das menſchliche Herz in allen ſeinem Verlangen, Gluͤck und Leiden, ich fand eine deutſche Natur wie der gegenwaͤrtige helle Tag, eine reine Wirklichkeit in dem Lichte milder Verklaͤrung.

Ich lebte in dieſen Liedern ganze Wochen und Mo¬ nate. Dann gelang es mir den Wilhelm Meiſter zu be¬ kommen, dann ſein Leben, dann ſeine dramatiſchen Werke. Den Fauſt, vor deſſen Abgruͤnden menſchlicher Natur und Verderbniß ich anfaͤnglich zuruͤckſchauderte, deſſen bedeu¬ tend-raͤthſelhaftes Weſen mich aber immer wieder anzog, las ich alle Feſttage. Bewunderung und Liebe nahm taͤglich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in dieſen Werken und dachte und ſprach nichts als von Goethe.

Der Nutzen, den wir aus dem Studium der Werke eines großen Schriftſtellers ziehen, kann mannigfaltiger Art ſeyn; ein Hauptgewinn aber moͤchte darin beſtehen, daß wir uns nicht allein unſeres eigenen Innern, ſon¬ dern auch der mannigfaltigen Welt außer uns deutlicher bewußt werden. Eine ſolche Wirkung hatten auf mich die Werke Goethe's. Auch ward ich durch ſie zur beſ¬ ſeren Beobachtung und Auffaſſung der ſinnlichen Gegen¬ ſtaͤnde und Charactere getrieben; ich kam nach und nach zu dem Begriff der Einheit oder der innerlichſten Harmonie eines Individuums mit ſich ſelber, und ſomit ward mir denn das Raͤthſel der großen Mannig¬ faltigkeit ſowohl natuͤrlicher als kuͤnſtleriſcher Erſcheinun¬ gen immer mehr aufgeſchloſſen.

21

Nachdem ich mich einigermaßen in Goethe's Schrif¬ ten befeſtiget und mich nebenbey in der Poeſie practiſch auf manche Weiſe verſucht hatte, wendete ich mich zu einigen der groͤßten Dichter des Auslandes und fruͤhe¬ rer Zeiten, und las in den beſten Überſetzungen nicht allein die vorzuͤglichſten Stuͤcke von Shakſpeare, ſondern auch den Sophocles und Homer.

Hiebey merkte ich jedoch ſehr bald, daß von dieſen hohen Werken nur das Allgemein-Menſchliche in mich eingehen wolle, daß aber das Verſtaͤndniß des Beſon¬ deren, ſowohl in ſprachlicher als hiſtoriſcher Hinſicht, wiſſenſchaftliche Kenntniſſe und uͤberhaupt eine Bildung vorausſetze, wie ſie gewoͤhnlich nur auf Schulen und Univerſitaͤten erlangt wird.

Uberdieß machte man mir von manchen Seiten be¬ merklich, daß ich mich auf eigenem Wege vergebens abmuͤhe und daß, ohne eine ſogenannte claſſiſche Bil¬ dung, nie ein Dichter dahin gelangen werde ſowohl ſeine eigene Sprache mit Geſchick und Nachdruck zu gebrauchen, als auch uͤberhaupt, dem Gehalt und Geiſte nach, etwas Vorzuͤgliches zu leiſten.

Da ich nun auch zu dieſer Zeit viele Biographien bedeutender Maͤnner las, um zu ſehen, welche Bildungs¬ wege ſie eingeſchlagen um zu etwas Tuͤchtigem zu ge¬ langen, und ich bey ihnen uͤberall den Gang durch Schulen und Univerſitaͤten wahrzunehmen hatte, ſo faßte ich, obgleich bey ſo vorgeruͤcktem Alter und unter ſo wi¬22 derſtrebenden Umſtaͤnden den Entſchluß, ein Gleiches, aus¬ zufuͤhren.

Ich wendete mich alſobald an einen als Lehrer beym Gymnaſium zu Hannover angeſtellten vorzuͤglichen Phi¬ lologen und nahm bey ihm Privat-Unterricht, nicht al¬ lein in der lateiniſchen, ſondern auch in der griechiſchen Sprache, und verwendete auf dieſe Studien alle Muße die meine, wenigſtens ſechs Stunden taͤglich, in Anſpruch nehmenden Berufsgeſchaͤfte mir gewaͤhren wollten.

Dieſes trieb ich ein Jahr. Ich machte gute Fort¬ ſchritte; allein bey meinem unausſprechlichen Drange vorwaͤrts, kam es mir vor als gehe es zu langſam und als muͤſſe ich auf andere Mittel denken. Es wollte mir erſcheinen, daß, wenn ich erlangen koͤnne taͤglich vier bis fuͤnf Stunden das Gymnaſium zu beſuchen und auf ſolche Weiſe ganz und gar in dem gelehrten Elemente zu leben, ich ganz andere Fortſchritte machen und un¬ gleich ſchneller zum Ziele gelangen wuͤrde.

In dieſer Meinung ward ich durch den Rath ſach¬ kundiger Perſonen beſtaͤtigt; ich faßte daher den Ent¬ ſchluß ſo zu thun, und erhielt dazu auch ſehr leicht die Genehmigung meiner Obern, indem die Stunden des Gymnaſiums groͤßtentheils auf eine ſolche Tageszeit fielen wo ich vom Dienſte frey war.

Ich meldete mich daher zur Aufnahme und ging in Begleitung meines Lehrers an einem Sonntag-Vor¬ mittag zu dem wuͤrdigen Director um die erforderliche23 Pruͤfung zu beſtehen. Er examinirte mich mit aller moͤglichen Milde, allein da ich fuͤr die hergebrachten Schulfragen kein praͤparirter Kopf war und es mir trotz allem Fleiß an eigentlicher Routine fehlte, ſo be¬ ſtand ich nicht ſo gut als ich im Grunde haͤtte ſollen. Doch auf die Verſicherung meines Lehrers, daß ich mehr wiſſe als es nach dieſer Pruͤfung den Anſchein haben moͤge, und in Erwaͤgung meines ungewoͤhnlichen Stre¬ bens, ſetzte er mich nach Secunda.

Ich brauche wohl kaum zu ſagen, daß ich, als ein faſt Fuͤnfundzwanzigjaͤhriger und als einer der bereits in koͤniglichen Dienſten ſtand, unter dieſen groͤßtentheils noch ſehr knabenhaften Juͤnglingen eine wunderliche Figur machte, ſo daß dieſe neue Situation mir anfaͤnglich ſelber ein wenig unbequem und ſeltſam vorkommen wollte; doch mein großer Durſt nach den Wiſſenſchaften ließ mich alles uͤberſehen und ertragen. Auch hatte ich mich im Ganzen nicht zu beſchweren. Die Lehrer achteten mich, die aͤlteren und beſſeren Schuͤler der Klaſſe kamen mir auf das freundlichſte entgegen und ſelbſt einige Ausbunde von Übermuth hat¬ ten Ruͤckſicht genug, an mir ihre frevelhaften Anwand¬ lungen nicht auszulaſſen.

Ich war daher wegen meiner erreichten Wuͤnſche im Ganzen genommen ſehr gluͤcklich und ſchritt auf dieſer neuen Bahn mit großem Eifer vorwaͤrts. Des Mor¬ gens fuͤnf Uhr war ich wach und bald darauf an24 meinen Praͤparationen. Gegen acht ging es in die Schule bis zehn Uhr. Von dort eilte ich auf mein Buͤreau zu den Dienſtgeſchaͤften, die meine Gegenwart bis gegen ein Uhr verlangten. Im Fluge ging es ſodann nach Haus; ich verſchluckte ein wenig Mittags¬ eſſen und war gleich nach ein Uhr wieder in der Schule. Die Stunden dauerten bis vier Uhr, worauf ich denn wieder bis nach ſieben Uhr in meinem Be¬ ruf beſchaͤftiget war und den ferneren Abend zu Praͤ¬ parationen und Privatunterricht verwendete.

Dieſes Leben und Treiben verfuͤhrte ich einige Monate; allein meine Kraͤfte waren einer ſolchen An¬ ſtrengung nicht gewachſen, und es beſtaͤtigte ſich die alte Wahrheit: daß niemand zween Herren dienen koͤnne. Der Mangel an freyer Luft und Bewegung, ſo wie die fehlende Zeit und Ruhe zum Eſſen, Trinken und Schlaf, erzeugten nach und nach einen krankhaften Zuſtand; ich fuͤhlte mich abgeſtumpft an Leib und Seele und ſah mich zuletzt in der dringenden Noth¬ wendigkeit, entweder die Schule aufzugeben oder meine Stelle. Da aber das letztere meiner Exiſtenz wegen nicht anging, ſo blieb kein anderer Ausweg als das erſtere zu thun und ich trat mit dem beginnenden Fruͤhling 1817 wieder aus. Es ſchien zu dem beſondern Geſchick meines Lebens zu gehoͤren Mancherley zu probiren, und ſo gereute es mich denn keineswegs auch eine gelehrte Schule eine Zeitlang probirt zu haben.

25

Ich hatte indeß einen guten Schritt vorwaͤrts gethan, und da ich die Univerſitaͤt nach wie vor im Auge behielt, ſo blieb nun weiter nichts uͤbrig, als den Privatunterricht fortzuſetzen, welches denn auch mit aller Luſt und Liebe geſchah.

Nach der uͤberſtandenen Laſt des Winters verlebte ich einen deſto heiteren Fruͤhling und Sommer; ich war viel in der freyen Natur, die dieſes Jahr mit beſonderer Innigkeit zu meinem Herzen ſprach, und es entſtanden viele Gedichte, wobey beſonders die jugend¬ lichen Lieder von Goethe mir als hohe Muſter vor Augen ſchwebten.

Mit eintretendem Winter fing ich an ernſtlich darauf zu denken, wie ich es moͤglich mache wenigſtens binnen Jahresfriſt die Univerſitaͤt zu beziehen. In der lateini¬ ſchen Sprache war ich ſo weit vorgeſchritten, daß es mir gelang von den Oden des Horaz, von den Hirten¬ gedichten des Virgil, ſo wie von den Metamorphoſen des Ovid einige mich beſonders anſprechende Stuͤcke me¬ triſch zu uͤberſetzen, ſo wie die Reden des Cicero und die Kriegesgeſchichten des Julius Caͤſar mit einiger Leich¬ tigkeit zu leſen. Hiemit konnte ich mich zwar noch kei¬ neswegs als fuͤr academiſche Studien gehoͤrig vorbereitet betrachten, allein ich dachte innerhalb eines Jahres noch ſehr weit zu kommen und ſodann das Fehlende auf der Univerſitaͤt ſelber nachzuholen.

Unter den hoͤheren Perſonen der Reſidenz hatte ich26 mir manchen Goͤnner erworben; ſie verſprachen mir ihre Mitwirkung, jedoch unter der Bedingung, daß ich mich entſchließen wolle ein ſogenanntes Brodſtudium zu waͤhlen. Da aber dergleichen nicht in der Richtung meiner Natur lag und da ich in der feſten Überzeugung lebte, daß der Menſch nur dasjenige cultiviren muͤſſe wohin ein unausgeſetzter Drang ſeines Innern gehe, ſo blieb ich bey meinem Sinn und jene verſagten mir ihre Huͤlfe, indem endlich nichts weiter erfolgen ſollte als ein Freytiſch.

Es blieb nun nichts uͤbrig als meinen Plan durch eigene Kraͤfte durchzuſetzen und mich zu einer literariſchen Production von einiger Bedeutung zuſammenzunehmen.

Muͤllners Schuld und Grillparzers Ahnfrau wa¬ ren zu dieſer Zeit an der Tagesordnung und machten viel Aufſehen. Meinem Naturgefuͤhl waren dieſe kuͤnſt¬ lichen Werke zuwider, noch weniger konnte ich mich mit ihren Schickſalsideen befreunden, von denen ich der Meinung war, daß daraus eine unſittliche Wirkung auf das Volk hervorgehe. Ich faßte daher den Entſchluß gegen ſie aufzutreten und darzuthun, daß das Schickſal in den Characteren ruhe. Aber ich wollte nicht mit Worten gegen ſie ſtreiten ſondern mit der That. Ein Stuͤck ſollte erſcheinen welches die Wahrheit ausſpreche, daß der Menſch in der Gegenwart Samen ſtreue der in der Zukunft aufgehe und Fruͤchte bringe, gute oder boͤſe, je nachdem er geſaͤet habe. Mit der Weltgeſchichte27 unbekannt, blieb mir weiter nichts uͤbrig, als die Charac¬ tere und den Gang der Handlung zu erfinden. Ich trug es wohl ein Jahr mit mir herum und bildete mir die einzelnen Scenen und Acte bis ins Einzelne aus und ſchrieb es endlich im Winter 1820 in den Morgen¬ ſtunden einiger Wochen. Ich genoß dabey das hoͤchſte Gluͤck, denn ich ſah daß alles ſehr leicht und natuͤrlich zu Tage kam. Allein im Gegenſatz mit jenen genann¬ ten Dichtern ließ ich das wirkliche Leben mir zu nahe treten, das Theater kam mir nie vor Augen. Daher ward es auch mehr eine ruhige Zeichnung von Situa¬ tionen, als eine geſpannte raſch fortſchreitende Handlung, und auch nur poetiſch und rhythmiſch, wenn Charactere und Situationen es erforderten. Nebenperſonen gewan¬ nen zu viel Raum, das ganze Stuͤck zu viel Breite.

Ich theilte es den naͤchſten Freunden und Bekannten mit, ward aber nicht verſtanden wie ich es wuͤnſchte; man warf mir vor: einige Scenen gehoͤren ins Luſt¬ ſpiel, man warf mir ferner vor: ich habe zu wenig geleſen. Ich, eine beſſere Aufnahme erwartend, war anfaͤnglich im Stillen beleidigt; doch nach und nach kam ich zu der Überzeugung, daß meine Freunde nicht ſo ganz unrecht haͤtten und daß mein Stuͤck, wenn auch die Charaktere richtig gezeichnet und das Ganze wohl durchdacht und mit einer gewiſſen Beſonnenheit und Fa¬ cilitaͤt ſo zur Erſcheinung gekommen, wie es in mir ge¬ legen, doch, dem darin entwickelten Leben nach, auf einer28 viel zu niedern Stufe ſtehe, als daß es ſich geeignet haͤtte damit oͤffentlich aufzutreten.

Und dieſes war in Erwaͤgung meines Herkommens und meiner wenigen Studien nicht zu verwundern. Ich nahm mir vor, das Stuͤck umzuarbeiten und fuͤr das Theater einzurichten, vorher aber in meiner Bil¬ dung vorzuſchreiten, damit ich faͤhig ſey alles hoͤher zu ſtellen. Der Drang nach der Univerſitaͤt, wo ich alles zu erlangen hoffte was mir fehlte und wodurch ich auch in hoͤhere Lebensverhaͤltniſſe zu kommen gedachte, ward nun zur Leidenſchaft. Ich faßte den Entſchluß meine Gedichte herauszugeben, um es dadurch vielleicht zu bewirken. Und da es mir nun an Namen fehlte um von einem Verleger ein anſehnliches Honorar er¬ warten zu koͤnnen, ſo waͤhlte ich den fuͤr meine Lage vortheilhafteren Weg der Subſcription.

Dieſe ward von Freunden eingeleitet und nahm den erwuͤnſchteſten Fortgang. Ich trat jetzt bey meinen Obern mit meiner Abſicht auf Goͤttingen wieder hervor und bat um meine Entlaſſung; und da dieſe nun die Überzeugung gewannen, daß es mein tiefer Ernſt ſey und daß ich nicht nachgebe, ſo beguͤnſtigten ſie meine Zwecke. Auf Vorſtellung meines Chefs, des damaligen Obriſten von Berger, gewaͤhrte die Kriegs-Canzley mir den erbetenen Abſchied und ließ mir jaͤhrlich 150 Thaler von meinem Gehalt zum Behuf meiner Studien auf zwey Jahre.

29

Ich war nun gluͤcklich in dem Gelingen der jahre¬ lang gehegten Plaͤne. Die Gedichte ließ ich auf das ſchnellſte drucken und verſenden, aus deren Ertrag ich nach Abzug aller Koſten einen reinen Gewinn von 150 Thaler behielt. Ich ging darauf im May 1821 nach Goͤttingen, eine theure Geliebte zuruͤcklaſſend.

Mein erſter Verſuch, nach der Univerſitaͤt zu gelan¬ gen, war daran geſcheitert, daß ich hartnaͤckig jedes ſo¬ genannte Brodſtudium abgelehnt hatte. Jetzt aber, durch die Erfahrung gewitzigt, und der unſaͤglichen Kaͤmpfe mir noch zu gut bewußt, die ich damals ſo¬ wohl gegen meine naͤchſte Umgebung als gegen einflu߬ reiche hoͤhere Perſonen zu beſtehen hatte, war ich klug genug geweſen, mich den Anſichten einer uͤbermaͤchtigen Welt zu bequemen und ſogleich zu erklaͤren, daß ich ein Brodſtudium waͤhlen und mich der Rechtswiſſenſchaft widmen wolle.

Dieſes hatten ſowohl meine maͤchtigen Goͤnner als alle anderen, denen mein irdiſches Fortkommen am Her¬ zen lag und die ſich von der Gewalt meiner geiſtigen Beduͤrfniſſe keine Vorſtellung machten, ſehr vernuͤnftig gefunden. Aller Widerſpruch war mit einem Mal ab¬ gethan, ich fand uͤberall ein freundliches Entgegen¬ kommen und ein bereitwilliges Befoͤrdern meiner Zwecke. Zugleich unterließ man nicht zu meiner Beſtaͤtigung in ſo guten Vorſaͤtzen anzufuͤhren, daß das juriſtiſche Studium keineswegs der Art ſey, daß es nicht dem30 Geiſte einen hoͤheren Gewinn gebe. Ich wuͤrde, ſagte man, dadurch Blicke in buͤrgerliche und weltliche Ver¬ haͤltniſſe thun wie ich auf keine andere Weiſe erreichen koͤnne. Auch waͤre dieſes Studium keineswegs von ſol¬ chem Umfang, daß ſich nicht ſehr viele ſogenannte hoͤhere Dinge nebenbey treiben laſſen. Man nannte mir ver¬ ſchiedene Namen beruͤhmter Perſonen, die alle Jura ſtudirt haͤtten und doch zugleich zu den hoͤchſten Kennt¬ niſſen anderer Art gelangt waͤren.

Hiebey jedoch wurde ſowohl von meinen Freunden als von mir uͤberſehen, daß jene Maͤnner nicht allein mit tuͤchtigen Schulkenntniſſen ausgeſtattet zur Univer¬ ſitaͤt kamen, ſondern auch eine ungleich laͤngere Zeit, als die gebieteriſche Noth meiner beſonderen Umſtaͤnde es mir erlauben wollte, auf ihre Studien verwenden konnten.

Genug aber, ſo wie ich andere getaͤuſcht hatte, taͤuſchte ich mich nach und nach ſelber und bildete mir zuletzt wirklich ein, ich koͤnne in allem Ernſt Jura ſtudiren und doch zugleich meine eigentlichen Zwecke erreichen.

In dieſem Wahn, etwas zu ſuchen was ich gar nicht zu beſitzen und anzuwenden wuͤnſchte, fing ich ſogleich nach meiner Ankunft auf der Univerſitaͤt mit dem Juriſtiſchen an. Auch fand ich dieſe Wiſſenſchaft keineswegs der Art daß ſie mir widerſtanden haͤtte, vielmehr haͤtte ich, wenn mein Kopf nicht von anderen Vorſaͤtzen und Beſtrebungen waͤre zu voll geweſen,31 mich ihr recht gerne ergeben moͤgen. So aber erging es mir wie einem Maͤdchen, das gegen eine vorgeſchla¬ gene Heirathspartie bloß deßwegen allerley zu erinnern findet, weil ihr ungluͤcklicher Weiſe ein heimlich Gelieb¬ ter im Herzen liegt.

In den Vorleſungen der Inſtitutionen und Pan¬ dekten ſitzend, vergaß ich mich oft im Ausbilden dra¬ matiſcher Scenen und Acte. Ich gab mir alle Muͤhe meinen Sinn auf das Vorgetragene zu wenden, allein er lenkte gewaltſam immer abwaͤrts. Es lag mir fort¬ waͤhrend nichts in Gedanken, als Poeſie und Kunſt und meine hoͤhere menſchliche Entwickelung, warum ich ja uͤberall ſeit Jahren mit Leidenſchaft nach der Univerſitaͤt geſtrebt hatte.

Wer mich nun das erſte Jahr in meinen naͤchſten Zwecken bedeutend foͤrderte, war Heeren. Seine Eth¬ nographie und Geſchichte legte in mir fuͤr fernere Stu¬ dien dieſer Art den beſten Grund, ſo wie die Klarheit und Gediegenheit ſeines Vortrages auch in anderer Hinſicht fuͤr mich von bedeutendem Nutzen war. Ich beſuchte jede Stunde mit Liebe und verließ keine, ohne von groͤßerer Hochachtung und Neigung fuͤr den vor¬ zuͤglichen Mann durchdrungen zu ſeyn.

Das zweyte academiſche Jahr begann ich vernuͤnf¬ tiger Weiſe mit gaͤnzlicher Beſeitigung des juriſtiſchen Studiums, das in der That viel zu bedeutend war, als daß ich es als Nebenſache haͤtte mitgewinnen koͤn¬32 nen, und das mir in der Hauptſache als ein zu großes Hinderniß anhing. Ich ſchloß mich an die Philologie. Und wie ich im erſten Jahre Heeren ſehr viel ſchuldig geworden, ſo ward ich es nun Diſſen. Denn nicht al¬ lein, daß ſeine Vorleſungen meinen Studien die eigentlich geſuchte und erſehnte Nahrung gaben, ich mich taͤglich mehr gefoͤrdert und aufgeklaͤrt ſah, und nach ſeinen An¬ deutungen ſichere Richtungen fuͤr kuͤnftige Productionen nahm, ſondern ich hatte auch das Gluͤck, dem werthen Manne perſoͤnlich bekannt zu werden und mich von ihm in meinen Studien geleitet, beſtaͤrkt und ermuntert zu ſehen.

Überdieß war der taͤgliche Umgang mit ganz vor¬ zuͤglichen Koͤpfen unter den Studirenden und das un¬ aufhoͤrliche Beſprechen der hoͤchſten Gegenſtaͤnde, auf Spaziergaͤngen und oft bis tief in die Nacht hinein, fuͤr mich ganz unſchaͤtzbar und auf meine immer freiere Entwickelung vom guͤnſtigſten Einfluß.

Indeſſen war das Ende meiner pecuniaͤren Huͤlfs¬ mittel nicht mehr ferne. Dagegen hatte ich ſeit andert¬ halb Jahren taͤglich neue Schaͤtze des Wiſſens in mich aufgenommen; ein ferneres Anhaͤufen, ohne ein practi¬ ſches Verwenden, war meiner Natur und meinem Lebens¬ gange nicht gemaͤß, und es herrſchte daher in mir ein leidenſchaftlicher Trieb, mich durch einige ſchriftſtelleriſche Productionen wieder frey und nach ferneren Studien wieder begehrlich zu machen.

33

Sowohl meine dramatiſche Arbeit, woran ich dem Stoffe nach das Intereſſe nicht verloren hatte, die aber der Form und dem Gehalte nach bedeutender erſcheinen ſollte; als auch Ideen in Bezug auf Grundſaͤtze der Poeſie, die ſich beſonders als Widerſpruch gegen damals herrſchende Anſichten entwickelt hatten, gedachte ich hinter¬ einander auszuſprechen und zu vollenden.

Ich verließ daher im Herbſt 1822 die Univerſitaͤt und bezog eine laͤndliche Wohnung in der Naͤhe von Hannover. Ich ſchrieb zunaͤchſt jene theoretiſchen Auf¬ ſaͤtze, von denen ich hoffte, daß ſie beſonders bey jungen Talenten nicht allein zur Hervorbringung, ſondern auch zur Beurtheilung dichteriſcher Werke beytragen wuͤrden, und gab ihnen den Titel Beytraͤge zur Poeſie.

Im May 1823 war ich mit dieſer Arbeit zu Stande. Es kam mir nun in meiner Lage nicht allein darauf an, einen guten Verleger, ſondern auch ein gutes Ho¬ norar zu erhalten, und ſo entſchloß ich mich kurz, und ſchickte das Manuſcript an Goethe, und bat ihn um einige empfehlende Worte an Herrn von Cotta.

Goethe war nach wie vor derjenige unter den Dich¬ tern, zu dem ich taͤglich als meinem untruͤglichen Leit¬ ſtern hinaufblickte, deſſen Ausſpruͤche mit meiner Den¬ kungsweiſe in Harmonie ſtanden und mich auf einen immer hoͤheren Punkt der Anſicht ſtellten, deſſen hohe Kunſt in Behandlung der verſchiedenſten Gegenſtaͤnde ich immer mehr zu ergruͤnden und ihr nachzuſtrebenI. 334ſuchte, und gegen den meine innige Liebe und Vereh¬ rung faſt leidenſchaftlicher Natur war.

Bald nach meiner Ankunft in Goͤttingen hatte ich ihm, neben einer kleinen Skizze meines Lebens - und Bildungsganges, ein Exemplar meiner Gedichte zuge¬ ſendet, worauf ich denn die große Freude erlebte, nicht allein von ihm einige ſchriftliche Worte zu erhalten, ſondern auch von Reiſenden zu hoͤren, daß er von mir eine gute Meinung habe und in den Heften von Kunſt und Alterthum meiner gedenken wolle.

Dieſes zu wiſſen, war fuͤr mich in meiner damaligen Lage von großer Bedeutung, ſo wie es mir auch jetzt den Muth gab das ſo eben vollendete Manuſcript ver¬ trauensvoll an ihn zu ſenden.

Es lebte nun in mir kein anderer Trieb, als ihm einmal einige Augenblicke perſoͤnlich nahe zu ſeyn; und ſo machte ich mich denn zur Erreichung dieſes Wun¬ ſches gegen Ende des Monates May auf, und wanderte zu Fuß uͤber Goͤttingen und das Werrathal nach Weimar.

Auf dieſem wegen großer Hitze oft muͤhſamen Wege hatte ich in meinem Innern wiederholt den troͤſtlichen Eindruck, als ſtehe ich unter der beſonderen Leitung guͤtiger Weſen, und als moͤchte dieſer Gang fuͤr mein ferneres Leben von wichtigen Folgen ſeyn.

1823.

3*

Vor wenigen Tagen bin ich hier angekommen, heute war ich zuerſt bey Goethe. Der Empfang ſeiner Seits war uͤberaus herzlich und der Eindruck ſeiner Perſon auf mich der Art, daß ich dieſen Tag zu den gluͤcklich¬ ſten meines Lebens rechne.

Er hatte mir geſtern, als ich anfragen ließ, dieſen Mittag zwoͤlf Uhr als die Zeit beſtimmt, wo ich ihm willkommen[ſeyn] wuͤrde. Ich ging alſo zur gedachten Stunde hin und fand den Bedienten auch bereits meiner wartend und ſich anſchickend mich hinaufzufuͤhren.

Das Innere des Hauſes machte auf mich einen ſehr angenehmen Eindruck; ohne glaͤnzend zu ſeyn war al¬ les hoͤchſt edel und einfach; auch deuteten verſchiedene an der Treppe ſtehende Abguͤſſe antiker Statuen auf Goethe's beſondere Neigung zur bildenden Kunſt und dem griechiſchen Alterthum. Ich ſah verſchiedene Frauen¬ zimmer, die unten im Hauſe geſchaͤftig hin und wieder gingen; auch einen der ſchoͤnen Knaben Ottiliens, der38 zutraulich zu mir herankam und mich mit großen Augen anblickte.

Nachdem ich mich ein wenig umgeſehen, ging ich ſo¬ dann mit dem ſehr geſpraͤchigen Bedienten die Treppe hinauf zur erſten Etage. Er oͤffnete ein Zimmer, vor deſſen Schwelle man die Zeichen SALVE als gute Vorbedeutung eines freundlichen Willkommenſeyns uͤber¬ ſchritt. Er fuͤhrte mich durch dieſes Zimmer hindurch und oͤffnete ein zweytes, etwas geraͤumigeres, wo er mich zu verweilen bat, indem er ging mich ſeinem Herrn zu melden. Hier war die kuͤhlſte erquicklichſte Luft, auf dem Boden lag ein Teppich gebreitet, auch war es durch ein rothes Kanapee und Stuͤhle von glei¬ cher Farbe uͤberaus heiter meublirt; gleich zur Seite ſtand ein Fluͤgel, und an den Waͤnden ſah man Handzeich¬ nungen und Gemaͤlde verſchiedener Art und Groͤße.

Durch eine offene Thuͤr gegenuͤber blickte man ſodann in ein ferneres Zimmer, gleichfalls mit Gemaͤlden ver¬ ziert, durch welches der Bediente gegangen war mich zu melden.

Es waͤhrte nicht lange ſo kam Goethe, in einem blauen Oberrock und in Schuhen; eine erhabene Ge¬ ſtalt! Der Eindruck war uͤberraſchend. Doch verſcheuchte er ſogleich jede Befangenheit durch die freundlichſten Worte. Wir ſetzten uns auf das Sopha. Ich war gluͤcklich verwirrt in ſeinem Anblick und ſeiner Naͤhe, ich wußte ihm wenig oder nichts zu ſagen.

39

Er fing ſogleich an von meinem Manuſcript zu reden. Ich komme eben von Ihnen her, ſagte er; ich habe den ganzen Morgen in Ihrer Schrift geleſen; ſie bedarf keiner Empfehlung, ſie empfiehlt ſich ſelber. Er lobte darauf die Klarheit der Darſtellung und den Fluß der Gedanken und daß alles auf gutem Fundament ruhe und wohl durchdacht ſey. Ich will es ſchnell befoͤrdern, fuͤgte er hinzu, heute noch ſchreibe ich an Cotta mit der reitenden Poſt, und morgen ſchicke ich das Paket mit der fahrenden nach. Ich dankte ihm dafuͤr mit Worten und Blicken.

Wir ſprachen darauf uͤber meine fernere Reiſe. Ich ſagte ihm daß mein eigentliches Ziel die Rheingegend ſey, wo ich an einem paſſenden Ort zu verweilen und etwas Neues zu ſchreiben gedenke. Zunaͤchſt jedoch wolle ich von hier nach Jena gehen, um dort die Antwort des Herrn von Cotta zu erwarten.

Goethe fragte mich, ob ich in Jena ſchon Bekannte habe; ich erwiederte daß ich mit Herrn von Knebel in Beruͤhrung zu kommen hoffe, worauf er verſprach mir einen Brief mitzugeben, damit ich einer deſto beſ¬ ſern Aufnahme gewiß ſey.

Nun, nun! ſagte er dann, wenn Sie in Jena ſind, ſo ſind wir ja nahe bey einander und koͤnnen zu einander und koͤnnen uns ſchreiben wenn etwas vorfaͤllt.

Wir ſaßen lange beyſammen, in ruhiger liebevoller Stimmung. Ich druͤckte ſeine Kniee, ich vergaß das40 Reden uͤber ſeinem Anblick, ich konnte mich an ihm nicht ſatt ſehen. Das Geſicht ſo kraͤftig und braun und voller Falten und jede Falte voller Ausdruck. Und in Allem ſolche Biederkeit und Feſtigkeit und ſolche Ruhe und Groͤße! Er ſprach langſam und bequem, ſo wie man ſich wohl einen bejahrten Monarchen denkt wenn er redet. Man ſah ihm an, daß er in ſich ſelber ruhet und uͤber Lob und Tadel erhaben iſt. Es war mir bey ihm unbeſchreiblich wohl; ich fuͤhlte mich be¬ ruhigt, ſo wie es jemandem ſeyn mag, der nach vieler Muͤhe und langem Hoffen endlich ſeine liebſten Wuͤnſche befriedigt ſieht.

Er kam ſodann auf meinen Brief und daß ich Recht habe, daß, wenn man eine Sache mit Klarheit zu behandeln vermoͤge, man auch zu vielen anderen Dingen tauglich ſey.

Man kann nicht wiſſen wie ſich das drehet und wen¬ det, ſagte er dann; ich habe manchen huͤbſchen Freund in Berlin, da habe ich denn dieſer Tage Ihrer gedacht.

Dabey laͤchelte er liebevoll in ſich. Er machte mich ſodann aufmerkſam, was ich in dieſen Tagen in Weimar alles noch ſehen muͤſſe, und daß er den Herrn Secre¬ tair Kraͤuter bitten wolle mich herumzufuͤhren. Vor allen aber ſolle ich ja nicht verſaͤumen das Theater zu beſuchen. Er fragte mich darauf wo ich logire und ſagte, daß er mich noch einmal zu ſehen wuͤnſche und zu einer paſſenden Stunde ſenden wolle.

41

Mit Liebe ſchieden wir auseinander; ich im hohen Grade gluͤcklich, denn aus jedem ſeiner Worte ſprach Wohlwollen und ich fuͤhlte daß er es uͤberaus gut mit mir im Sinne habe.

Dieſen Morgen erhielt ich abermals eine Einladung zu Goethe, und zwar mittelſt einer von ihm beſchriebenen Charte. Ich war darauf wieder ein Stuͤndchen bey ihm. Er erſchien mir heute ganz ein anderer als geſtern, er zeigte ſich in allen Dingen raſch und entſchieden wie ein Juͤngling.

Er brachte zwey dicke Buͤcher als er zu mir herein¬ trat. Es iſt nicht gut, ſagte er, daß Sie ſo raſch vor¬ uͤbergehen, vielmehr wird es beſſer ſeyn daß wir ein¬ ander etwas naͤher kommen. Ich wuͤnſche Sie mehr zu ſehen und zu ſprechen. Da aber das Allgemeine ſo groß iſt, ſo habe ich ſogleich auf etwas Beſonderes gedacht, das als ein Tertium einen Verbindungs - und Beſpre¬ chungs-Punkt abgebe. Sie finden in dieſen beyden Baͤnden die Frankfurter gelehrten Anzeigen der Jahre 1772 und 1773, und zwar ſind auch darin faſt alle meine damals geſchriebenen kleinen Recenſionen. Dieſe ſind nicht gezeichnet; doch da Sie meine Art und Den¬ kungsweiſe kennen, ſo werden Sie ſie ſchon aus den uͤbrigen herausfinden. Ich moͤchte nun, daß Sie dieſe42 Jugendarbeiten etwas naͤher betrachteten und mir ſagten was Sie davon denken. Ich moͤchte wiſſen, ob ſie werth ſind in eine kuͤnftige Ausgabe meiner Werke auf¬ genommen zu werden. Mir ſelber ſtehen dieſe Sachen viel zu weit ab, ich habe daruͤber kein Urtheil. Ihr Juͤngeren aber muͤßt wiſſen, ob ſie fuͤr euch Werth ha¬ ben und in wiefern ſie bey dem jetzigen Standpunkte der Literatur noch zu gebrauchen. Ich habe bereits Ab¬ ſchriften nehmen laſſen, die Sie dann ſpaͤter haben ſol¬ len um ſie mit dem Original zu vergleichen. Demnaͤchſt, bey einer ſorgfaͤltigen Redaction, wuͤrde ſich denn auch finden, ob man nicht gut thue hie und da eine Klei¬ nigkeit auszulaſſen, oder nachzuhelfen, ohne im Ganzen dem Character zu ſchaden.

Ich antwortete ihm, daß ich ſehr gerne mich an dieſen Gegenſtaͤnden verſuchen wolle, und daß ich dabey weiter nichts wuͤnſche, als daß es mir gelingen moͤge ganz in ſeinem Sinne zu handeln.

So wie Sie hineinkommen, erwiederte er, werden Sie finden daß Sie der Sache vollkommen gewachſen ſind; es wird Ihnen von der Hand gehen.

Er eroͤffnete mir darauf, daß er in etwa acht Tagen nach Marienbad abzureiſen gedenke und daß es ihm lieb ſeyn wuͤrde wenn ich bis dahin noch in Weimar bliebe, damit wir uns waͤhrend der Zeit mitunter ſehen und ſprechen und perſoͤnlich naͤher kommen moͤchten.

Auch wuͤnſchte ich, fuͤgte er hinzu, daß Sie in Jena43 nicht bloß wenige Tage oder Wochen verweilten, ſon¬ dern daß Sie ſich fuͤr den ganzen Sommer dort haͤus¬ lich einrichteten, bis ich gegen den Herbſt von Marien¬ bad zuruͤckkomme. Ich habe bereits geſtern wegen einer Wohnung und dergleichen geſchrieben, damit Ihnen al¬ les bequem und angenehm werde.

Sie finden dort die verſchiedenartigſten Quellen und Huͤlfsmittel fuͤr weitere Studien; auch einen ſehr gebil¬ deten geſelligen Umgang, und uͤberdieß iſt die Gegend ſo mannigfaltig, daß Sie wohl funfzig verſchiedene Spa¬ ziergaͤnge machen koͤnnen, die alle angenehm und faſt alle zu ungeſtoͤrtem Nachdenken geeignet ſind. Sie werden Muße und Gelegenheit finden in der Zeit fuͤr ſich ſelbſt manches Neue zu ſchreiben und nebenbey auch meine Zwecke zu foͤrdern.

Ich fand gegen ſo gute Vorſchlaͤge nichts zu erin¬ nern und willigte in alles mit Freuden. Als ich ging war er beſonders liebevoll; auch beſtimmte er auf uͤber¬ morgen eine abermalige Stunde zu einer ferneren Unter¬ redung.

Ich war in dieſen Tagen wiederholt bey Goethe. Heute ſprachen wir groͤßtentheils von Geſchaͤften. Ich aͤußerte mich auch uͤber ſeine Frankfurter Recenſionen, die ich Nachklaͤnge ſeiner academiſchen Jahre nannte,44 welcher Ausſpruch ihm zu gefallen ſchien, indem er den Stand-Punct bezeichne, aus welchem man jene jugend¬ lichen Arbeiten zu betrachten habe.

Er gab mir ſodann die erſten eilf Hefte von Kunſt und Alterthum, damit ich ſie neben den Frankfurter Re¬ cenſionen als eine zweyte Arbeit nach Jena mit hinuͤber nehme.

Ich wuͤnſche naͤmlich, ſagte er, daß Sie dieſe Hefte gut ſtudirten und nicht allein ein allgemeines Inhalts¬ verzeichniß daruͤber machten, ſondern auch aufſetzten, welche Gegenſtaͤnde nicht als abgeſchloſſen zu betrachten ſind, damit es mir vor die Augen trete, welche Faͤden ich wieder aufzunehmen und weiter fortzuſpinnen habe. Es wird mir dieſes eine große Erleichterung ſeyn und Sie ſelber werden davon den Gewinn haben, daß Sie auf dieſem practiſchen Wege den Inhalt aller einzelnen Aufſaͤtze weit ſchaͤrfer anſehen und in ſich aufnehmen, als es bey einem gewoͤhnlichen Leſen nach perſoͤnlicher Nei¬ gung zu geſchehen pflegt.

Ich fand dieſes alles gut und richtig und ſagte daß ich auch dieſe Arbeit gern uͤbernehmen wolle.

Ich wollte heute eigentlich ſchon in Jena ſeyn, Goethe ſagte aber geſtern wuͤnſchend und bittend, daß ich doch noch bis Sonntag bleiben und dann mit der Poſt45 fahren moͤchte. Er gab mir geſtern die Empfehlungs¬ briefe und auch einen fuͤr die Familie Frommann. Es wird Ihnen in dieſem Kreiſe gefallen, ſagte er, ich habe dort ſchoͤne Abende verlebt. Auch Jean Paul, Tieck, die Schlegel und was in Deutſchland ſonſt Namen hat iſt dort geweſen und hat dort gerne verkehrt und noch jetzt iſt es der Vereinigungs-Punkt vieler Ge¬ lehrten und Kuͤnſtler und ſonſt angeſehener Perſonen. In einigen Wochen ſchreiben Sie mir nach Marien¬ bad, damit ich erfahre wie es Ihnen geht und wie es Ihnen in Jena gefaͤllt. Auch habe ich meinem Sohn geſagt, daß er Sie waͤhrend meiner Abweſenheit druͤben einmal beſuche.

Ich fuͤhlte mich Goethen fuͤr ſo viele Sorgfalt ſehr dankbar, und es that mir wohl aus allem zu ſehen, daß er mich zu den Seinigen zaͤhlt und mich als ſolchen will gehalten haben.

Sonnabend den 21. Juny nahm ich ſodann von Goethe Abſchied und fuhr des andern Tages nach Jena hinuͤber und richtete mich in einer Gartenwohnung ein bey ſehr guten redlichen Leuten. In den Familien des Herrn von Knebel und Frommann fand ich auf Goethe's Empfehlung eine freundliche Aufnahme und einen ſehr belehrenden Umgang. In den mitgenommenen Arbeiten ſchritt ich auf das Beſte vor, und uͤberdieß hatte ich bald46 die Freude, einen Brief von Herrn von Cotta zu er¬ halten, worin er ſich nicht allein zum Verlage meines ihm zugegangenen Manuſcriptes ſehr bereit erklaͤrte, ſon¬ dern mir auch ein anſehnliches Honorar zuſicherte und den Druck in Jena unter meinen Augen geſchehen ließ.

So war nun meine Exiſtenz wenigſtens auf ein Jahr gedeckt, und ich fuͤhlte den lebhafteſten Trieb, in dieſer Zeit etwas Neues hervorzubringen und dadurch mein ferneres Gluͤck als Autor zu begruͤnden. Die theoretiſche und kritiſche Richtung hoffte ich durch die Aufſaͤtze mei¬ ner Beytraͤge zur Poeſie ein fuͤr allemal hinter mir zu haben; ich hatte mich dadurch uͤber die vorzuͤg¬ lichſten Geſetze aufzuklaͤren geſucht, und meine ganze in¬ nere Natur draͤngte mich nun zur practiſchen Ausuͤbung. Ich hatte Plaͤne zu unzaͤhligen Gedichten, groͤßeren und kleineren, auch zu dramatiſchen Gegenſtaͤnden verſchiede¬ ner Art, und es handelte ſich nach meinem Gefuͤhl jetzt bloß darum, wohin ich mich wenden ſollte um mit einigem Behagen eins nach dem andern ruhig ans Licht zu bringen.

In Jena gefiel es mir auf die Laͤnge nicht, es war mir zu ſtille und einfoͤrmig. Ich verlangte nach einer großen Stadt, die nicht allein ein vorzuͤgliches Theater beſitze, ſondern wo ſich auch ein freyes großes Volks¬ leben entwickele, damit ich bedeutende Lebenselemente in mich aufzunehmen und meine innere Cultur auf das raſcheſte zu ſteigern vermoͤge. In einer ſolchen Stadt hoffte ich zugleich ganz unbemerkt leben und mich zu47 jeder Zeit zu einer ganz ungeſtoͤrten Production iſoliren zu koͤnnen.

Ich hatte indeſſen das von Goethe gewuͤnſchte In¬ haltsverzeichniß der erſten vier Baͤnde von Kunſt und Alterthum entworfen und ſendete es ihm mit einem Brief nach Marienbad, worin ich meine Wuͤnſche und Plaͤne ganz offen ausſprach. Ich erhielt darauf alſobald die folgenden Zeilen.

Das Inhaltsverzeichniß iſt mir zur rechten Zeit gekommen und entſpricht ganz meinen Wuͤnſchen und Zwecken. Laſſen Sie mich die Frankfurter Recen¬ ſionen bev meiner Ruͤckkehr auf gleiche Weiſe redigirt finden, ſo zolle den beſten Dank, welchen ich vorlaͤufig ſchon im Stillen entrichte, indem ich Ihre Geſinnungen, Zuſtaͤnde, Wuͤnſche, Zwecke und Plaͤne mit mir theil¬ nehmend herumtrage um bey meiner Ruͤckkunft mich uͤber Ihr Wohl deſto gruͤndlicher beſprechen zu koͤnnen. Mehr ſag 'ich heute nicht. Der Abſchied von Marien¬ bad giebt mancherley zu denken und zu thun, waͤhrend man ein allzukurzes Verweilen mit vorzuͤglichen Men¬ ſchen gar ſchmerzlich empfindet.

Moͤge ich Sie in ſtiller Thaͤtigkeit antreffen, aus der denn doch zuletzt am ſicherſten und reinſten Welt¬ umſicht und Erfahrung hervorgeht. Leben Sie wohl; freue mich auf ein laͤngeres und engeres Zuſammenſeyn.

Marienbad, den 14. Auguſt 1823.

Goethe.

48

Durch ſolche Zeilen Goethe's, deren Empfang mich im hohen Grade begluͤckte, fuͤhlte ich mich nun vorlaͤu¬ fig wieder beruhigt. Ich ward dadurch entſchieden, kei¬ nen eigenmaͤchtigen Schritt zu thun, ſondern mich ganz ſeinem Rath und Willen zu uͤberlaſſen. Ich ſchrieb indeß einige kleine Gedichte, beendigte die Redaction der Frankfurter Recenſionen und ſprach meine Anſicht dar¬ uͤber in einer kurzen Abhandlung aus, die ich fuͤr Goethe beſtimmte. Seiner Zuruͤckkunft aus Marienbad ſah ich mit Sehnſucht entgegen, indem auch der Druck meiner Beytraͤge zur Poeſie ſich zu Ende neigte, und ich auf alle Faͤlle zu einiger Erfriſchung noch dieſen Herbſt eine kurze Ausflucht von wenigen Wochen an den Rhein zu machen wuͤnſchte.

Goethe iſt von Marienbad gluͤcklich zuruͤckgekommen, wird aber, da ſeine hieſige Gartenwohnung nicht die er¬ forderliche Bequemlichkeit darbietet, hier nur wenige Tage verweilen. Er iſt wohl und ruͤſtig, ſo daß er einen Weg von mehreren Stunden zu Fuß machen kann und es eine wahre Freude iſt ihn anzuſehen.

Nach einem beyderſeitigen froͤhlichen Begruͤßen fing Goethe ſogleich an uͤber meine Angelegenheit zu reden.

Ich muß grade herausſagen, begann er, ich wuͤn¬ ſche daß Sie dieſen Winter bey mir in Weimar bleiben . 49Dieß waren ſeine erſten Worte, dann ging er naͤher ein und fuhr fort: In der Poeſie und Critik ſteht es mit Ihnen aufs Beſte, Sie haben darin ein natuͤrliches Fundament; das iſt Ihr Metier woran Sie ſich zu halten haben, und welches Ihnen auch ſehr bald eine tuͤchtige Exiſtenz zu Wege bringen wird. Nun iſt aber noch Manches, was nicht eigentlich zum Fache gehoͤrt, und was Sie doch auch wiſſen muͤſſen. Es kommt aber darauf an, daß Sie hiebey nicht lange Zeit ver¬ lieren, ſondern ſchnell daruͤber hinwegkommen. Das ſollen Sie nun dieſen Winter bey uns in Weimar, und Sie ſollen ſich wundern wie weit Sie Oſtern ſeyn wer¬ den. Sie ſollen von Allem das Beſte haben, weil die beſten Huͤlfsmittel in meinen Haͤnden ſind. Dann ſte¬ hen Sie fuͤrs Leben feſt und kommen zum Behagen und koͤnnen uͤberall mit Zuverſicht auftreten.

Ich freute mich dieſer Vorſchlaͤge und ſagte, daß ich mich ganz ſeinen Anſichten und Wuͤnſchen uͤberlaſſen wolle.

Fuͤr eine Wohnung in meiner Naͤhe, fuhr Goethe fort, werde ich ſorgen; Sie ſollen den ganzen Winter keinen unbedeutenden Moment haben. Es iſt in Wei¬ mar noch viel Gutes beyſammen und Sie werden nach und nach in den hoͤhren Kreiſen eine Geſellſchaft finden, die den beſten aller großen Staͤdte gleich kommt. Auch ſind mit mir perſoͤnlich ganz vorzuͤgliche Maͤnner ver¬ bunden, deren Bekanntſchaft Sie nach und nach machenI. 450werden und deren Umgang Ihnen im hohen Grade lehrreich und nuͤtzlich ſeyn wird.

Goethe nannte mir verſchiedene angeſehene Namen und bezeichnete mit wenigen Worten die beſonderen Ver¬ dienſte jedes Einzelnen.

Wo finden Sie, fuhr er fort, auf einem ſo engen Fleck noch ſo viel Gutes! Auch beſitzen wir eine aus¬ geſuchte Bibliothek und ein Theater, was den beſten an¬ derer deutſchen Staͤdte in den Hauptſachen keinesweges nachſteht. Ich wiederhole daher: bleiben Sie bey uns, und nicht bloß dieſen Winter, waͤhlen Sie Weimar zu Ihrem Wohnort. Es gehen von dort die Thore[und] Straßen nach allen Enden der Welt. Im Sommer machen Sie Reiſen, und ſehen nach und nach, was Sie zu ſehen wuͤnſchen. Ich bin ſeit funfzig Jahren dort, und wo bin ich nicht uͤberall geweſen! Aber ich bin immer gerne nach Weimar zuruͤckgekehrt.

Ich war begluͤckt, Goethen wieder nahe zu ſeyn nnd ihn wieder reden zu hoͤren, und ich fuͤhlte mich ihm mit meinem ganzen Innern hingegeben. Wenn ich nur dich habe und haben kann, dachte ich, ſo wird mir alles Übrige recht ſeyn. Ich wiederholte ihm daher, daß ich bereit ſey, alles zu thun was er in Erwaͤgung mei¬ ner beſonderen Lage nur irgend fuͤr gut halte.

51

Geſtern morgen, vor Goethe's Abreiſe nach Weimar, war ich ſo gluͤcklich wieder ein Stuͤndchen bey ihm zu ſeyn. Und da fuͤhrte er ein hoͤchſt bedeutendes Geſpraͤch, was fuͤr mich ganz unſchaͤtzbar iſt und mir auf mein ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutſch¬ land muͤßten es wiſſen, es koͤnnte ihnen helfen.

Er leitete das Geſpraͤch ein indem er mich fragte, ob ich dieſen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬ wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. Nehmen Sie ſich in Acht, ſagte er darauf, vor einer großen Arbeit. Das iſt's eben, woran unſere Beſten leiden, gerade diejenigen, in denen das meiſte Talent und das tuͤchtigſte Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬ litten und weiß was es mir geſchadet hat. Was iſt da nicht alles in den Brunnen gefallen! Wenn ich alles gemacht haͤtte, was ich recht gut haͤtte machen koͤn¬ nen, es wuͤrden keine hundert Baͤnde reichen.

Die Gegenwart will ihre Rechte; was ſich taͤglich im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdraͤngt, das will und ſoll ausgeſprochen ſeyn. Hat man aber ein groͤßeres Werk im Kopfe, ſo kann nichts daneben aufkommen, ſo werden alle Gedanken zuruͤckgewieſen und man iſt fuͤr die Behaglichkeit des Lebens ſelbſt ſo lange verloren. Welche Anſtrengung und Verwendung von Geiſteskraft gehoͤrt nicht dazu, um nur ein großes Gan¬4*52zes in ſich zu ordnen und abzurunden, und welche Kraͤfte und welche ruhige ungeſtoͤrte Lage im Leben, um es dann in einem Fluß gehoͤrig auszuſprechen. Hat man ſich nun im Ganzen vergriffen, ſo iſt alle Muͤhe verloren; iſt man ferner, bey einem ſo umfangreichen Gegenſtande, in ein¬ zelnen Theilen nicht voͤllig Herr ſeines Stoffes, ſo wird das Ganze ſtellenweiſe mangelhaft werden und man wird geſcholten; und aus allem entſpringt fuͤr den Dichter, ſtatt Belohnung und Freude fuͤr ſo viele Muͤhe und Aufopferung, nichts als Unbehagen und Laͤhmung der Kraͤfte. Faßt dagegen der Dichter taͤglich die Gegenwart auf, und behandelt er immer gleich in friſcher Stimmung was ſich ihm darbietet, ſo macht er ſicher immer etwas Gutes, und gelingt ihm auch einmal etwas nicht, ſo iſt nichts daran verloren.

Da iſt der Auguſt Hagen in Koͤnigsberg, ein herrliches Talent; haben Sie ſeine Olfried und Li¬ ſena geleſen? Da ſind Stellen darin, wie ſie nicht beſ¬ ſer ſeyn koͤnnen; die Zuſtaͤnde an der Oſtſee und was ſonſt in dortige Localitaͤt hineinſchlaͤgt, alles meiſterhaft. Aber es ſind nur ſchoͤne Stellen, als Ganzes will es nie¬ manden behagen. Und welche Muͤhe und welche Kraͤfte hat er daran verwendet! ja er hat ſich faſt daran er¬ ſchoͤpft. Jetzt hat er ein Trauerſpiel gemacht! Dabey laͤchelte Goethe und hielt einen Augenblick inne. Ich nahm das Wort und ſagte, daß, wenn ich nicht irre, er Hagen in Kunſt und Alterthum gerathen, nur kleine53 Gegenſtaͤnde zu behandeln. Freilich habe ich das, er¬ wiederte Goethe; aber thut man denn, was wir Alten ſagen? Jeder glaubt, er muͤſſe es doch ſelber am beſten wiſſen, und dabey geht mancher verloren und mancher hat lange daran zu irren. Es iſt aber jetzt keine Zeit mehr zum Irren, dazu ſind wir Alten geweſen, und was haͤtte uns alle unſer Suchen und Irren geholfen, wenn Ihr juͤngeren Leute wieder dieſelbigen Wege lau¬ fen wolltet. Da kaͤmen wir ja nie weiter! Uns Alten rechnet man den Irrthum zu Gute, weil wir die Wege nicht gebahnt fanden; wer aber ſpaͤter in die Welt ein¬ tritt, von dem verlangt man mehr, der ſoll nicht aber¬ mals irren und ſuchen, ſondern er ſoll den Rath der Alten nutzen und gleich auf gutem Wege fortſchreiten. Es ſoll nicht genuͤgen, daß man Schritte thue, die einſt zum Ziele fuͤhren, ſondern jeder Schritt ſoll Ziel ſeyn und als Schritt gelten.

Tragen Sie dieſe Worte bey ſich herum und ſehen Sie zu, was Sie davon mit ſich vereinigen koͤnnen. Es iſt mir eigentlich um Sie nicht bange, aber ich helfe Sie durch mein Zureden vielleicht ſchnell uͤber eine Pe¬ riode hinweg, die Ihrer jetzigen Lage nicht gemaͤß iſt. Machen Sie vor der Hand, wie geſagt, immer nur kleine Gegenſtaͤnde, immer alles friſch weg was ſich Ihnen taͤglich darbietet, ſo werden Sie in der Regel immer etwas Gutes leiſten und jeder Tag wird Ihnen Freude bringen. Geben Sie es zunaͤchſt in die Taſchen¬54 buͤcher, in die Zeitſchriften; aber fuͤgen Sie ſich nie frem¬ den Anforderungen, ſondern machen Sie es immer nach Ihrem eigenen Sinn.

Die Welt iſt ſo groß und reich und das Leben ſo mannigfaltig, daß es an Anlaͤſſen zu Gedichten nie feh¬ len wird. Aber es muͤſſen alles Gelegenheitsgedichte ſeyn, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlaſſung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetiſch wird ein ſpecieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte ſind Gelegen¬ heitsgedichte, ſie ſind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten, aus der Luft gegriffen, halte ich nichts.

Man ſage nicht, daß es der Wirklichkeit an poeti¬ ſchem Intereſſe fehle; denn eben darin bewaͤhrt ſich ja der Dichter, daß er geiſtreich genug ſey, einem gewoͤhn¬ lichen Gegenſtande eine intereſſante Seite abzugewinnen. Die Wirklichkeit ſoll die Motive hergeben, die auszu¬ ſprechenden Puncte, den eigentlichen Kern; aber ein ſchoͤnes belebtes Ganzes daraus zu bilden iſt Sache des Dichters. Sie kennen den Fuͤrnſtein, den ſoge¬ nannten Naturdichter, er hat ein Gedicht gemacht uͤber den Hopfenbau, es laͤßt ſich nicht artiger machen. Jetzt habe ich ihm Handwerkslieder aufgegeben, beſonders ein Weberlied, und ich bin gewiß, daß es ihm gelingen wird; denn er hat von Jugend auf unter ſolchen Leuten gelebt, er kennt den Gegenſtand durch und durch, er wird55 Herr ſeines Stoffes ſeyn. Und das iſt eben der Vortheil bey kleinen Sachen, daß man nur ſolche Gegenſtaͤnde zu waͤhlen braucht und waͤhlen wird, die man kennet, von denen man Herr iſt. Bey einem großen dichteriſchen Werk geht das aber nicht, da laͤßt ſich nicht ausweichen, alles was zur Verknuͤpfung des Ganzen gehoͤrt und in den Plan hinein mit verflochten iſt, muß dargeſtellt wer¬ den und zwar mit getroffener Wahrheit. Bey der Ju¬ gend aber iſt die Kenntniß der Dinge noch einſeitig; ein großes Werk aber erfordert Vielſeitigkeit, und daran ſcheitert man.

Ich ſagte Goethen, daß ich im Willen gehabt, ein großes Gedicht uͤber die Jahreszeiten zu machen und die Beſchaͤftigungen und Beluſtigungen aller Staͤnde hinein zu verflechten. Hier iſt derſelbige Fall, ſagte Goethe darauf, es kann Ihnen Vieles daran gelingen, aber Manches, was Sie vielleicht noch nicht gehoͤrig durch¬ forſcht haben und kennen, gelingt Ihnen nicht. Es gelingt Ihnen vielleicht der Fiſcher, aber der Jaͤger viel¬ leicht nicht. Geraͤth aber am Ganzen etwas nicht, ſo iſt es als Ganzes mangelhaft, ſo gut einzelne Partien auch ſeyn moͤgen, und Sie haben nichts Vollendetes geleiſtet. Stellen Sie aber bloß die einzelnen Partien fuͤr ſich, ſelbſtſtaͤndig dar, denen Sie gewachſen ſind, ſo machen Sie ſicher etwas Gutes.

Beſonders warne ich vor eigenen großen Erfin¬ dungen; denn da will man eine Anſicht der Dinge geben56 und die iſt in der Jugend ſelten reif. Ferner: Charac¬ tere und Anſichten loͤſen ſich als Seiten des Dichters von ihm ab und berauben ihn fuͤr fernere Productionen der Fuͤlle. Und endlich: welche Zeit geht nicht an der Erfindung und inneren Anordnung und Verknuͤpfung verloren, worauf uns niemand etwas zu gute thut, vor¬ ausgeſetzt daß wir uͤberall mit unſerer Arbeit zu Stande kommen.

Bey einem gegebenen Stoff hingegen iſt alles anders und leichter. Da werden Facta und Charactere uͤberliefert und der Dichter hat nur die Belebung des Ganzen. Auch bewahrt er dabey ſeine eigene Fuͤlle, denn er braucht nur wenig von dem Seinigen hinzuzu¬ thun; auch iſt der Verluſt von Zeit und Kraͤften bey weitem geringer, denn er hat nur die Muͤhe der Aus¬ fuͤhrung. Ja ich rathe ſogar zu ſchon bearbeiteten Ge¬ genſtaͤnden. Wie oft iſt nicht die Iphigenie gemacht, und doch ſind alle verſchieden; denn jeder ſieht und ſtellt die Sachen anders, eben nach ſeiner Weiſe.

Aber laſſen Sie vor der Hand alles Große zur Seite. Sie haben lange genug geſtrebt, es iſt Zeit, daß Sie zur Heiterkeit des Lebens gelangen, und dazu eben iſt die Bearbeitung kleiner Gegenſtaͤnde das beſte Mittel.

Wir waren bey dieſem Geſpraͤch in ſeiner Stube auf und ab gegangen; ich konnte immer nur zuſtimmen, denn ich fuͤhlte die Wahrheit eines jeden Wortes in meinem ganzen Weſen. Bey jedem Schritt ward es mir leich¬57 ter und gluͤcklicher, denn ich will nur geſtehen, daß ver¬ ſchiedene groͤßere Plaͤne, womit ich bis jetzt nicht recht ins Klare kommen konnte, mir keine geringe Laſt ge¬ weſen ſind. Jetzt habe ich ſie von mir geworfen und ſie moͤgen nun ruhen, bis ich einmal einen Gegenſtand und eine Partie nach der andern mit Heiterkeit wieder aufnehme und hinzeichne, ſo wie ich nach und nach durch Erforſchung der Welt von den einzelnen Theilen des Stoffes Meiſter werde.

Ich fuͤhle mich nun durch Goethe's Worte um ein paar Jahre kluͤger und fortgeruͤckt und weiß in meiner tiefſten Seele das Gluͤck zu erkennen, was es ſagen will, wenn man einmal mit einem rechten Meiſter zuſammen¬ trifft. Der Vortheil iſt gar nicht zu berechnen.

Was werde ich nun dieſen Winter nicht noch bey ihm lernen, und was werde ich nicht durch den bloßen Umgang mit ihm gewinnen, auch in Stunden, wenn er eben nicht grade etwas Bedeutendes ſpricht! Seine Perſon, ſeine bloße Naͤhe ſcheint mir bildend zu ſeyn, ſelbſt wenn er kein Wort ſagte.

Bey ſehr freundlichem Wetter bin ich geſtern von Jena heruͤbergefahren. Gleich nach meiner Ankunft ſen¬ dete mir Goethe, zum Willkommen in Weimar, ein58 Abonnement ins Theater. Ich benutzte den geſtrigen Tag zu meiner haͤuslichen Einrichtung, da ohnehin im Goethe'ſchen Hauſe viel Bewegung war, indem der fran¬ zoͤſiſche Geſandte, Graf Reinhard aus Frankfurt, und der preußiſche Staatsrath Schultz aus Berlin gekom¬ men waren, ihn zu beſuchen.

Dieſen Vormittag war ich dann bey Goethe. Er freute ſich uͤber meine Ankunft und war uͤberaus gut und liebenswuͤrdig. Als ich gehen wollte, ſagte er, daß er mich doch zuvor mit dem Staatsrath Schultz bekannt machen wolle. Er fuͤhrte mich in das angrenzende Zim¬ mer, wo ich den gedachten Herrn mit Betrachtung von Kunſtwerken beſchaͤftigt fand und wo er mich ihm vor¬ ſtellte und uns dann zu weiterem Geſpraͤch allein ließ.

Es iſt ſehr erfreulich, ſagte Schultz darauf, daß Sie in Weimar bleiben und Goethe bey der Redaction ſeiner bisher ungedruckten Schriften unterſtuͤtzen wollen. Er hat mir ſchon geſagt, welchen Gewinn er ſich von Ihrer Mitwirkung verſpricht, und daß er nun auch noch manches Neue zu vollenden hofft.

Ich antwortete ihm, daß ich keinen andern Lebens¬ zweck habe als der deutſchen Literatur nuͤtzlich zu ſeyn, und daß ich, in der Hoffnung hier wohlthaͤtig einzu¬ wirken, gerne meine eigenen literariſchen Vorſaͤtze vor¬ laͤufig zuruͤckſtehen laſſen wolle. Auch wuͤrde, fuͤgte ich hinzu, ein practiſcher Verkehr mit Goethe hoͤchſt wohl¬ thaͤtig auf meine fernere Ausbildung wirken, ich hoffe59 dadurch nach einigen Jahren eine gewiſſe Reife zu erlan¬ gen, und ſodann weit beſſer zu vollbringen, was ich jetzt nur in geringerem Grade zu thun im Stande waͤre.

Gewiß, ſagte Schultz, iſt die perſoͤnliche Einwir¬ kung eines ſo außerordentlichen Menſchen und Meiſters wie Goethe ganz unſchaͤtzbar. Ich bin auch heruͤber¬ gekommen, um mich an dieſem großen Geiſte einmal wieder zu erquicken.

Er erkundigte ſich ſodann nach dem Druck meines Buches, wovon Goethe ihm ſchon im vorigen Sommer geſchrieben. Ich ſagte ihm, daß ich in einigen Tagen die erſten Exemplare von Jena zu bekommen hoffe und daß ich nicht verfehlen wuͤrde, ihm eins zu verehren und nach Berlin zu ſchicken, im Fall er nicht mehr hier ſeyn ſollte.

Wir ſchieden darauf unter herzlichem Haͤndedruͤcken.

Dieſen Abend war ich bey Goethe das erſte Mal zu einem großen Thee. Ich war der erſte am Platz und freute mich uͤber die hellerleuchteten Zimmer, die bey offenen Thuͤren eins ins andere fuͤhrten. In einem der letzten fand ich Goethe, der mir ſehr heiter entgegen kam. Er trug auf ſchwarzem Anzug ſeinen Stern, welches ihn ſo wohl kleidete. Wir waren noch eine Weile allein und gingen in das ſogenannte Deckenzimmer, wo das60 uͤber einem rothen Kanapee haͤngende Gemaͤlde der al¬ dobrandiniſchen Hochzeit mich beſonders anzog. Das Bild war, bey zur Seite geſchobenen gruͤnen Vorhaͤngen, in voller Beleuchtung mir vor Augen und ich freute mich, es in Ruhe zu betrachten.

Ja, ſagte Goethe, die Alten hatten nicht allein große Intentionen, ſondern es kam, bey ihnen auch zur Erſcheinung. Dagegen haben wir Neueren auch wohl große Intentionen, allein wir ſind ſelten faͤhig, es ſo kraͤftig und lebensfriſch hervorzubringen als wir es uns dachten.

Nun kam auch Riemer und Meyer, auch der Canzler v. Muͤller und mehrere andere angeſehene Herren und Damen von Hofe. Auch Goethe's Sohn trat herein und Frau von Goethe, deren Bekanntſchaft ich hier zuerſt machte. Die Zimmer fuͤllten ſich nach und nach und es ward in allen ſehr munter und leben¬ dig. Auch einige huͤbſche junge Auslaͤnder waren gegen¬ waͤrtig mit denen Goethe franzoͤſiſch ſprach.

Die Geſellſchaft gefiel mir, es war alles ſo frey und ungezwungen, man ſtand, man ſaß, man ſcherzte, man lachte und ſprach mit dieſem und jenem, alles nach freyer Neigung. Ich ſprach mit dem jungen Goethe ſehr lebendig uͤber das Bild von Houwald, welches vor einigen Tagen gegeben worden. Wir waren uͤber das Stuͤck einer Meinung und ich freute mich, wie der junge Goethe die Verhaͤltniſſe mit ſo vielem Geiſt und Feuer auseinander zu ſetzen wußte.

61

Goethe ſelbſt erſchien in der Geſellſchaft ſehr liebens¬ wuͤrdig. Er ging bald zu dieſem und zu jenem und ſchien immer lieber zu hoͤren und ſeine Gaͤſte reden zu laſſen als ſelber viel zu reden. Frau v. Goethe kam oft und haͤngte und ſchmiegte ſich an ihn und kuͤßte ihn. Ich hatte ihm vor Kurzem geſagt, daß mir das Theater ſo große Freude mache und daß es mich ſehr aufheitere, indem ich mich bloß dem Eindruck der Stuͤcke hingebe ohne daruͤber viel zu denken. Dieß ſchien ihm recht und fuͤr meinen gegenwaͤrtigen Zuſtand paſſend zu ſeyn.

Er trat mit Frau v. Goethe zu mir heran. Das iſt meine Schwiegertochter, ſagte er; kennt Ihr beyden Euch ſchon? Wir ſagten ihm, daß wir ſo eben unſere Bekanntſchaft gemacht. Das iſt auch ſo ein Theater¬ kind wie Du, Ottilie, ſagte er dann, und wir freuten uns miteinander uͤber unſere beyderſeitige Neigung. Meine Tochter, fuͤgte er hinzu, verſaͤumt keinen Abend. So lange gute heitere Stuͤcke gegeben werden, erwiederte ich, laſſe ich es gelten, allein bey ſchlechten Stuͤcken muß man auch etwas aushalten. Das iſt eben recht, erwiederte Goethe, daß man nicht fort kann und ge¬ zwungen iſt auch das Schlechte zu hoͤren und zu ſehen. Da wird man recht von Haß gegen das Schlechte durch¬ drungen und kommt dadurch zu einer deſto beſſeren Ein¬ ſicht des Guten. Beym Leſen iſt das nicht ſo, da wirft man das Buch aus den Haͤnden, wenn es einem nicht gefaͤllt, aber im Theater muß man aushalten. Ich62 gab ihm Recht und dachte, der Alte ſagt doch gelegentlich immer etwas Gutes.

Wir trennten uns und miſchten uns unter die Übri¬ gen, die ſich um uns herum und in dieſem und je¬ nem Zimmer laut und luſtig unterhielten. Goethe be¬ gab ſich zu den Damen; ich geſellte mich zu Riemer und Meyer, die uns viel von Italien erzaͤhlten.

Regierungsrath Schmidt ſetzte ſich ſpaͤter zum Fluͤ¬ gel und trug Beethovenſche Sachen vor, welche die An¬ weſenden mit innigem Antheil aufzunehmen ſchienen. Eine geiſtreiche Dame erzaͤhlte darauf viel Intereſſantes von Beethovens Perſoͤnlichkeit. Und ſo ward es nach und nach zehn Uhr, und es war mir der Abend im ho¬ hen Grade angenehm vergangen.

Dieſen Mittag war ich das erſte Mal bey Goethe zu Tiſch. Es waren außer ihm nur Frau von Goethe, Fraͤulein Ulrike und der kleine Walter gegenwaͤrtig und wir waren alſo bequem unter uns. Goethe zeigte ſich ganz als Familienvater, er legte alle Gerichte vor, tran¬ chirte gebratenes Gefluͤgel und zwar mit beſonderem Geſchick, und verfehlte auch nicht, mitunter einzuſchenken. Wir anderen ſchwatzten munteres Zeug uͤber Theater, junge Englaͤnder und andere Vorkommniſſe des Tages; beſonders war Fraͤulein Ulrike ſehr heiter und im hohen63 Grade unterhaltend. Goethe war im Ganzen ſtill, in¬ dem er nur von Zeit zu Zeit als Zwiſchenbemerkung mit etwas Bedeutendem hervorkam. Dabey blickte er hin und wieder in die Zeitungen und theilte uns einige Stellen mit, beſonders uͤber die Fortſchritte der Griechen.

Es kam dann zur Sprache, daß ich noch Engliſch lernen muͤſſe, wozu Goethe dringend rieth, beſonders des Lord Byron wegen, deſſen Perſoͤnlichkeit von ſolcher Eminenz, wie ſie nicht dageweſen und wohl ſchwerlich wieder kommen werde. Man ging die hieſigen Lehrer durch, fand aber keinen von einer durchaus guten Aus¬ ſprache, weßhalb man es fuͤr beſſer hielt, ſich an junge Englaͤnder zu halten.

Nach Tiſch zeigte Goethe mir einige Experimente in Bezug auf die Farbenlehre. Der Gegenſtand war mir jedoch durchaus fremd, ich verſtand ſo wenig das Phaͤ¬ nomen als das, was er daruͤber ſagte; doch hoffte ich, daß die Zukunft mir Muße und Gelegenheit geben wuͤrde, in dieſer Wiſſenſchaft einigermaßen einheimiſch zu werden.

Ich war dieſen Abend bey Goethe. Wir ſprachen uͤber die Pandora. Ich fragte ihn, ob man dieſe Dichtung wohl als ein Ganzes anſehen koͤnne, oder ob noch etwas Weiteres davon exiſtire. Er ſagte, es ſey weiter nichts vorhanden, er habe es nicht weiter64 gemacht, und zwar deßwegen nicht, weil der Zuſchnitt des erſten Theiles ſo groß geworden, daß er ſpaͤter einen zweyten nicht habe durchfuͤhren koͤnnen. Auch waͤre das Geſchriebene recht gut als ein Ganzes zu betrachten, weßhalb er ſich auch dabey beruhiget habe.

Ich ſagte ihm, daß ich bey dieſer ſchweren Dichtung erſt nach und nach zum Verſtaͤndniß durchgedrungen, nach¬ dem ich ſie ſo oft geleſen, daß ich ſie nun faſt aus¬ wendig wiſſe. Daruͤber laͤchelte Goethe. Das glaube ich wohl, ſagte er, es iſt alles als wie in einander gekeilt.

Ich ſagte ihm, daß ich wegen dieſes Gedichts nicht ganz mit Schubarth zufrieden, der darin alles das vereinigt finden wolle, was im Werther, Wilhelm Mei¬ ſter, Fauſt und Wahlverwandtſchaften einzeln ausgeſpro¬ chen ſey, wodurch doch die Sache ſehr unfaßlich und ſchwer werde.

Schubarth, ſagte Goethe, geht oft ein wenig tief; doch iſt er ſehr tuͤchtig, es iſt bey ihm alles praͤgnant.

Wir ſprachen uͤber Uhland. Wo ich große Wir¬ kungen ſehe, ſagte Goethe, pflege ich auch große Ur¬ ſachen vorauszuſetzen, und bey der ſo ſehr verbreiteten Popularitaͤt, die Uhland genießt, muß alſo wohl etwas Vorzuͤgliches an ihm ſeyn. Übrigens habe ich uͤber ſeine Gedichte kaum ein Urtheil. Ich nahm den Band mit der beſten Abſicht zu Haͤnden, allein ich ſtieß von vorne herein gleich auf ſo viele ſchwache und truͤbſelige Ge¬65 dichte, daß mir das Weiterleſen verleidet wurde. Ich griff dann nach ſeinen Balladen, wo ich denn freylich ein vorzuͤgliches Talent gewahr wurde und recht gut ſah, daß ſein Ruhm einigen Grund hat.

Ich fragte darauf Goethe um ſeine Meinung hin¬ ſichtlich der Verſe zur deutſchen Tragoͤdie. Man wird ſich in Deutſchland, antwortete er, ſchwerlich daruͤber vereinigen. Jeder machts wie er eben will und wie es dem Gegenſtande einigermaßen gemaͤß iſt. Der ſechs¬ fuͤßige Jambus waͤre freylich am wuͤrdigſten, allein er iſt fuͤr uns Deutſche zu lang, wir ſind, wegen der mangelnden Beywoͤrter, gewoͤhnlich ſchon mit fuͤnf Fuͤßen fertig. Die Englaͤnder reichen wegen ihrer vielen ein¬ ſylbigen Woͤrter noch weniger.

Goethe zeigte mir darauf einige Kupferwerke und ſprach dann uͤber die altdeutſche Baukunſt und daß er mir manches der Art nach und nach vorlegen wolle.

Man ſieht in den Werken der altdeutſchen Baukunſt, ſagte er, die Bluͤthe eines außerordentlichen Zuſtandes. Wem eine ſolche Bluͤthe unmittelbar entgegentritt, der kann nichts als anſtaunen; wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinſieht, in das Regen der Kraͤfte und wie ſich die Bluͤthe nach und nach entwik¬ kelt, der ſieht die Sache mit ganz anderen Augen, der weiß was er ſieht.

Ich will dafuͤr ſorgen, daß Sie im Lauf dieſes Winters in dieſem wichtigen Gegenſtande einige EinſichtI. 566erlangen, damit, wenn Sie naͤchſten Sommer an den Rhein gehen, es Ihnen beym Straßburger Muͤnſter und Coͤlner Dom zu Gute komme.

Ich freute mich dazu und fuͤhlte mich ihm dankbar.

In der Daͤmmerung war ich ein halbes Stuͤndchen bey Goethe. Er ſaß auf einem hoͤlzernen Lehnſtuhl vor ſeinem Arbeitstiſche; ich fand ihn in einer wunder¬ bar ſanften Stimmung, wie einer der von himmliſchem Frieden ganz erfuͤllt iſt, oder wie einer der an ein ſuͤßes Gluͤck denkt, das er genoſſen hat und das ihm wieder in aller Fuͤlle vor der Seele ſchwebt. Stadelmann mußte mir einen Stuhl in ſeine Naͤhe ſetzen.

Wir ſprachen ſodann vom Theater, welches zu mei¬ nen Hauptintereſſen dieſes Winters gehoͤrt. Raupachs Erdennacht war das letzte geweſen, was ich geſehen. Ich gab mein Urtheil daruͤber: daß das Stuͤck nicht zur Erſcheinung gekommen, wie es im Geiſte des Dich¬ ters gelegen, daß mehr die Idee vorherrſche als das Leben, daß es mehr lyriſch als dramatiſch ſey, daß das¬ jenige, was durch fuͤnf Acte hindurch geſponnen und hindurch gezogen wird, weit beſſer in zweyen oder dreyen waͤre zu geben geweſen. Goethe fuͤgte hinzu, daß die Idee des Ganzen ſich um Ariſtokratie und De¬67 mokratie drehe und daß dieſes kein allgemein menſchliches Intereſſe habe.

Ich lobte dagegen, was ich von Kotzebue geſehen, naͤmlich ſeine Verwandtſchaften und die Verſoͤh¬ nung. Ich lobte daran den friſchen Blick ins wirkliche Leben, den gluͤcklichen Griff fuͤr die intereſſanten Seiten deſſelben und die mitunter ſehr kernige wahre Darſtellung. Goethe ſtimmte mir bey. Was zwanzig Jahre ſich erhaͤlt, ſagte er, und die Neigung des Volkes hat, das muß ſchon etwas ſeyn. Wenn er in ſeinem Kreiſe blieb und nicht uͤber ſein Vermoͤgen hinausging, ſo machte Kotzebue in der Regel etwas Gutes. Es ging ihm wie Chodowiecky; die buͤrgerlichen Scenen gelangen auch dieſem vollkommen, wollte er aber roͤmiſche oder grie¬ chiſche Helden zeichnen, ſo ward es nichts.

Goethe nannte mir noch einige gute Stuͤcke von Kotzebue, beſonders die beyden Klingsberge. Es iſt nicht zu laͤugnen, fuͤgte er hinzu, er hat ſich im Leben umgethan und die Augen offen gehabt.

Geiſt und irgend Poeſie, fuhr Goethe fort, kann man den neueren tragiſchen Dichtern nicht abſprechen; allein den meiſten fehlt das Vermoͤgen der leichten le¬ bendigen Darſtellung; ſie ſtreben nach etwas, das uͤber ihre Kraͤfte hinausgeht, und ich moͤchte ſie in dieſer Hin¬ ſicht forcirte Talente nennen.

Ich zweifle, ſagte ich, daß ſolche Dichter ein Stuͤck in Proſa ſchreiben koͤnnen, und bin der Meinung, daß5*68dieß der wahre Probierſtein ihres Talentes ſeyn wuͤrde. Goethe ſtimmte mir bey und fuͤgte hinzu, daß die Verſe den poetiſchen Sinn ſteigerten oder wohl gar hervor¬ lockten.

Wir ſprachen darauf dieß und jenes uͤber vorhabende Arbeiten. Es war die Rede von ſeiner Reiſe uͤber Frank¬ furt und Stuttgart nach der Schweiz, die er in drey Heften liegen hat und die er mir zuſenden will, damit ich die Einzelnheiten leſe und Vorſchlaͤge thue, wie dar¬ aus ein Ganzes zu machen. Sie werden ſehen, ſagte er, es iſt alles nur ſo hingeſchrieben, wie es der Augen¬ blick gab; an einen Plan und eine kuͤnſtleriſche Ruͤndung iſt dabey gar nicht gedacht, es iſt als wenn man einen Eimer Waſſer ausgießt.

Ich[]freute mich dieſes Gleichniſſes, welches mir ſehr geeignet ſchien, um etwas durchaus Planloſes zu bezeichnen.

Heute fruͤh wurde ich bey Goethe auf dieſen Abend zum Thee und Conzert eingeladen. Der Bediente zeigte mir die Liſte der zu invitirenden Perſonen, woraus ich ſah, daß die Geſellſchaft ſehr zahlreich und glaͤnzend ſeyn wuͤrde. Er ſagte, es ſey eine junge Polin ange¬ kommen, die etwas auf dem Fluͤgel ſpielen werde. Ich nahm die Einladung mit Freuden an.

69

Nachher wurde der Theaterzettel gebracht, die Schach¬ maſchine ſollte gegeben werden. Das Stuͤck war mir unbekannt, meine Wirthin aber ergoß ſich daruͤber in ein ſolches Lob, daß ein großes Verlangen ſich meiner bemaͤchtigte es zu ſehen. Überdieß befand ich mich den Tag uͤber nicht zum beſten, und es ward mir immer mehr, als paſſe ich beſſer in eine luſtige Comoͤdie als in eine ſo gute Geſellſchaft.

Gegen Abend eine Stunde vor dem Theater ging ich zu Goethe. Es war im Hauſe ſchon alles lebendig; ich hoͤrte im Vorbeygehen in dem groͤßeren Zimmer den Fluͤgel ſtimmen, als Vorbereitung zu der muſikaliſchen Unterhaltung.

Ich traf Goethe in ſeinem Zimmer allein, er war bereits feſtlich angezogen, ich ſchien ihm gelegen. Nun bleiben Sie gleich hier, ſagte er, wir wollen uns ſo lange unterhalten, bis die Übrigen auch kommen. Ich dachte, da kommſt du doch nicht los, da wirſt du doch bleiben muͤſſen; es iſt dir zwar jetzt mit Goethen allein ſehr angenehm, doch wenn erſt die vielen fremden Her¬ ren und Damen erſcheinen, da wirſt du dich nicht in deinem Elemente fuͤhlen.

Ich ging mit Goethe im Zimmer auf und ab. Es dauerte nicht lange, ſo war das Theater der Gegenſtand unſeres Geſpraͤchs und ich hatte Gelegenheit zu wieder¬ holen, daß es mir die Quelle eines immer neuen Ver¬ gnuͤgens ſey, zumal da ich in fruͤherer Zeit ſo gut wie70 gar nichts geſehen, und jetzt faſt alle Stuͤcke auf mich eine ganz friſche Wirkung ausuͤbten. Ja, fuͤgte ich hinzu, es iſt mit mir ſo arg, daß es mich heute ſogar in Unruhe und Zwieſpalt gebracht hat, obgleich mir bey Ihnen eine ſo bedeutende, Abendunterhaltung bevorſteht.

Wiſſen Sie was? ſagte Goethe darauf, indem er ſtille ſtand und mich groß und freundlich anſah, gehen Sie hin! geniren Sie ſich nicht! iſt Ihnen das heitere Stuͤck dieſen Abend vielleicht bequemer, Ihren Zuſtaͤnden angemeſſener, ſo gehen Sie hin. Bey mir haben Sie Muſik, das werden Sie noch oͤfter haben. Ja, ſagte ich, ſo will ich hingehen, es wird mir uͤberdieß vielleicht beſſer ſeyn, daß ich lache. Nun, ſagte Goethe, ſo bleiben Sie bis gegen ſechs Uhr bey mir, da koͤnnen wir noch ein Woͤrtchen reden.

Stadelmann brachte zwey Wachslichter, die er auf Goethes Arbeitstiſch ſtellte. Goethe erſuchte mich, vor den Lichtern Platz zu nehmen, er wolle mir etwas zu leſen geben. Und was legte er mir vor? Sein neueſtes, liebſtes Gedicht, ſeine Elegie von Marienbad.

Ich muß hier in Bezug auf den Inhalt dieſes Ge¬ dichts Einiges nachholen. Gleich nach Goethe's die߬ maliger Zuruͤckkunft aus genanntem Badeort verbreitete ſich hier die Sage, er habe dort die Bekanntſchaft einer an Koͤrper und Geiſt gleich liebenswuͤrdigen jungen Dame gemacht und zu ihr eine leidenſchaftliche Neigung gefaßt. Wenn er in der Brunnen-Allee ihre Stimme ge¬71 hoͤrt, habe er immer raſch ſeinen Hut genommen und ſey zu ihr hinunter geeilt. Er habe keine Stunde verſaͤumt bey ihr zu ſeyn, er habe gluͤckliche Tage gelebt; ſodann die Trennung ſey ihm ſehr ſchwer geworden und er habe in ſolchem leidenſchaftlichen Zuſtande ein uͤberaus ſchoͤnes Gedicht gemacht, das er jedoch wie eine Art Heiligthum anſehe und geheim halte.

Ich glaubte dieſer Sage, weil ſie nicht allein ſeiner koͤrperlichen Ruͤſtigkeit, ſondern auch der productiven Kraft ſeines Geiſtes und der geſunden Friſche ſeines Herzens vollkommen entſprach. Nach dem Gedicht ſelbſt hatte ich laͤngſt ein großes Verlangen getragen, doch mit Recht Anſtand genommen Goethe darum zu bitten. Ich hatte daher die Gunſt des Augenblickes zu preiſen, wodurch es mir nun vor Augen lag.

Er hatte die Verſe eigenhaͤndig mit lateiniſchen Let¬ tern auf ſtarkes Velinpapier geſchrieben und mit einer ſeidenen Schnur in einer Decke von rothem Maroquin befeſtigt, und es trug alſo ſchon im Äußern, daß er dieſes Manuſcript vor allen ſeinen uͤbrigen beſonders werth halte.

Ich las den Inhalt mit hoher Freude und fand in jeder Zeile die Beſtaͤtigung der allgemeinen Sage. Doch deuteten gleich die erſten Verſe darauf, daß die Be¬ kanntſchaft nicht dieſesmal erſt gemacht, ſondern er¬ neuert worden. Das Gedicht waͤlzte ſich ſtets um ſeine eigene Axe und ſchien immer dahin zuruͤckzukehren72 woher es ausgegangen. Der Schluß, wunderbar abge¬ riſſen, wirkte durchaus ungewohnt und tief ergreifend.

Als ich ausgeleſen, trat Goethe wieder zu mir heran. Gelt! ſagte er, da habe ich Euch etwas Gutes gezeigt. In einigen Tagen ſollen Sie mir daruͤber weiſſagen. Es war mir ſehr lieb, daß Goethe durch dieſe Worte ein augenblickliches Urtheil meinerſeits ablehnte, denn ohne¬ hin war der Eindruck zu neu und zu ſchnell voruͤber¬ gehend, als daß ich etwas Gehoͤriges daruͤber haͤtte ſa¬ gen koͤnnen.

Goethe verſprach, bey ruhiger Stunde es mir aber¬ mals vorzulegen. Es war indeß die Zeit des Theaters herangekommen und ich ſchied unter herzlichem Haͤnde¬ druͤcken.

Die Schachmaſchine mochte ein ſehr gutes Stuͤck ſeyn und auch eben ſo gut geſpielt werden, allein ich war nicht dabey, meine Gedanken waren bey Goethe.

Nach dem Theater ging ich an ſeinem Hauſe vor¬ uͤber, es glaͤnzte alles von Lichtern, ich hoͤrte, daß ge¬ ſpielt wurde und bereute, daß ich nicht dort geblieben.

Am andern Tag erzaͤhlte man mir, daß die junge polniſche Dame, Madame Szymanowska, der zu Ehren der feſtliche Abend veranſtaltet worden, den Fluͤ¬ gel ganz meiſterhaft geſpielt habe, zum Entzuͤcken der ganzen Geſellſchaft. Ich erfuhr auch, daß Goethe ſie73 dieſen Sommer in Marienbad kennen gelernt und daß ſie nun gekommen, ihn zu beſuchen.

Mittags communicirte mir Goethe ein kleines Manu¬ ſcript: Studien von Zauper, worin ich ſehr treffende Bemerkungen fand. Ich ſendete ihm dagegen einige Ge¬ dichte, die ich dieſen Sommer in Jena gemacht und wovon ich ihm geſagt hatte.

Dieſen Abend zur Zeit des Lichtanzuͤndens ging ich zu Goethe. Ich fand ihn ſehr friſchen aufgeweckten Geiſtes, ſeine Augen funkelten im Wiederſchein des Lichtes, ſein ganzer Ausdruck war Heiterkeit, Kraft und Jugend.

Er fing ſogleich von den Gedichten, die ich ihm geſtern zugeſchickt, zu reden an, indem er mit mir in ſeinem Zimmer auf und ab ging.

Ich begreife jetzt, begann er, wie Sie in Jena gegen mich aͤußern konnten, Sie wollten ein Gedicht uͤber die Jahreszeiten machen. Ich rathe jetzt dazu; fangen Sie gleich mit dem Winter an. Sie ſcheinen fuͤr natuͤrliche Gegenſtaͤnde beſondern Sinn und Blick zu haben.

Nur zwey Worte will ich Ihnen uͤber die Gedichte ſagen. Sie ſtehen jetzt auf dem Punkt, wo Sie noth¬74 wendig zum eigentlich Hohen und Schweren der Kunſt durchbrechen muͤſſen, zur Auffaſſung des Individuellen. Sie muͤſſen mit Gewalt, damit Sie aus der Idee her¬ auskommen; Sie haben das Talent und ſind ſo weit vorgeſchritten, jetzt muͤſſen Sie. Sie ſind dieſer Tage in Tiefurt geweſen, das moͤchte ich Ihnen zunaͤchſt zu einer ſolchen Aufgabe machen. Sie koͤnnen vielleicht noch drey bis viermal hingehen und Tiefurt betrachten, ehe Sie ihm die characteriſtiſche Seite abgewinnen und alle Motive beyſammen haben; doch ſcheuen Sie die Muͤhe nicht, ſtudiren Sie alles wohl und ſtellen Sie es dar; der Gegenſtand verdient es. Ich ſelbſt haͤtte es laͤngſt gemacht, allein ich kann es nicht, ich habe jene bedeutenden Zuſtaͤnde ſelbſt mit durchlebt, ich bin zu ſehr darin befangen, ſo daß die Einzelnheiten ſich mir in zu großer Fuͤlle aufdraͤngen. Sie aber kommen als Fremder, und laſſen ſich vom Caſtellan das Vergangene erzaͤhlen und ſehen nur das Gegenwaͤrtige, Hervorſte¬ chende, Bedeutende.

Ich verſprach, mich daran zu verſuchen, obgleich ich nicht laͤugnen koͤnne, daß es eine Aufgabe ſey, die mir ſehr fern ſtehe und die ich fuͤr ſehr ſchwierig halte.

Ich weiß wohl, ſagte Goethe, daß es ſchwer iſt, aber die Auffaſſung und Darſtellung des Beſonderen iſt auch das eigentliche Leben der Kunſt.

Und dann: ſo lange man ſich im Allgemeinen haͤlt, kann es uns jeder nachmachen; aber das Beſondere macht75 uns niemand nach, warum? weil es die Anderen nicht erlebt haben.

Auch braucht man nicht zu fuͤrchten, daß das Be¬ ſondere keinen Anklang finde. Jeder Character, ſo eigen¬ thuͤmlich er ſeyn moͤge, und jedes Darzuſtellende, vom Stein herauf bis zum Menſchen, hat Allgemeinheit; denn alles wiederholt ſich, und es giebt kein Ding in der Welt, das nur ein Mal da waͤre.

Auf dieſer Stufe der individuellen Darſtellung, fuhr Goethe fort, beginnet dann zugleich dasjenige, was man Compoſition nennet.

Dieſes war mir nicht ſogleich klar, doch enthielt ich mich danach zu fragen. Vielleicht, dachte ich, meint er damit die kuͤnſtleriſche Verſchmelzung des Idealen mit dem Realen, die Vereinigung von dem, was außer uns befindlich, mit dem, was innerlich uns angeboren. Doch vielleicht meint er auch etwas anderes. Goethe fuhr fort:

Und dann ſetzen Sie unter jedes Gedicht immer das Datum wann Sie es gemacht haben. Ich ſah ihn fragend an, warum das ſo wichtig? Es gilt dann, fuͤgte er hinzu, zugleich als Tagebuch Ihrer Zuſtaͤnde. Und das iſt nichts Geringes. Ich habe es ſeit Jahren gethan und ſehe ein, was das heißen will.

Es war indeß die Zeit des Theaters herangekommen und ich verließ Goethe. Sie gehen nun nach Finn¬ land! rief er mir ſcherzend nach. Es ward naͤmlich76 gegeben: Johann von Finnland von der Frau von Weißenthurn.

Es fehlte dem Stuͤck nicht an wirkſamen Situatio¬ nen, doch war es mit Ruͤhrendem ſo uͤberladen, und ich ſah uͤberall ſo viel Abſicht, daß es im Ganzen auf mich keinen guten Eindruck machte. Der letzte Act indeß ge¬ fiel mir ſehr wohl und ſoͤhnte mich wieder aus.

In Folge dieſes Stuͤckes machte ich nachſtehende Bemerkung. Von einem Dichter nur mittelmaͤßig ge¬ zeichnete Charactere werden bey der Theater-Darſtellung gewinnen, weil die Schauſpieler, als lebendige Men¬ ſchen, ſie zu lebendigen Weſen machen und ihnen zu irgend einer Art von Individualitaͤt verhelfen. Von einem großen Dichter meiſterhaft gezeichnete Charactere dagegen, die ſchon alle mit einer durchaus ſcharfen Indi¬ vidualitaͤt daſtehen, muͤſſen bey der Darſtellung noth¬ wendig verlieren, weil die Schauſpieler in der Regel nicht durchaus paſſen und die Wenigſten ihre eigene Individualitaͤt ſo ſehr verlaͤugnen koͤnnen. Findet ſich beym Schauſpieler nicht ganz das Gleiche, oder beſitzt er nicht die Gabe einer gaͤnzlichen Ablegung ſeiner ei¬ genen Perſoͤnlichkeit, ſo entſteht ein Gemiſch und der Character verliert ſeine Reinheit. Daher kommt es denn, daß ein Stuͤck eines wirklich großen Dichters immer nur in einzelnen Figuren ſo zur Erſcheinung kommt, wie es die urſpruͤngliche Intention war.

77

Ich ging gegen fuͤnf zu Goethe. Als ich hinaufkam, hoͤrte ich in dem groͤßeren Zimmer ſehr laut und munter reden und ſcherzen. Der Bediente ſagte mir, die junge polniſche Dame ſey dort zu Tiſch geweſen und die Ge¬ ſellſchaft noch beyſammen. Ich wollte wieder gehen, allein er ſagte, er habe den Befehl mich zu melden; auch waͤre es ſeinem Herrn vielleicht lieb, weil es ſchon ſpaͤt ſey. Ich ließ ihn daher gewaͤhren und wartete ein Weilchen, wo denn Goethe ſehr heiter herauskam und mit mir gegenuͤber in ſein Zimmer ging. Mein Beſuch ſchien ihm angenehm zu ſeyn. Er ließ ſogleich eine Flaſche Wein bringen, wovon er mir einſchenkte und auch ſich ſelber gelegentlich.

Ehe ich es vergeſſe, ſagte er dann, indem er auf dem Tiſch etwas ſuchte, hier haben Sie ein Billet ins Concert. Madame Szymanowska wird morgen Abend im Saale des Stadthauſes ein oͤffentliches Concert geben, das duͤrfen Sie ja nicht verſaͤumen. Ich ſagte ihm, daß ich meine Thorheit von neulich nicht zum zweyten¬ mal begehen wuͤrde. Sie ſoll ſehr gut geſpielt haben, fuͤgte ich hinzu. Ganz vortrefflich! ſagte Goethe. Wohl ſo gut wie Hummel? fragte ich. Sie muͤſſen bedenken, ſagte Goethe, daß ſie nicht allein eine große Virtuoſin, ſondern zugleich ein ſchoͤnes Weib iſt; da kommt es uns denn vor, als ob alles anmuthiger waͤre; ſie hat eine meiſterhafte Fertigkeit, man muß erſtaunen! 78Aber auch in der Kraft groß? fragte ich. Ja auch in der Kraft, ſagte Goethe, und das iſt eben das Merk¬ wuͤrdigſte an ihr, weil man das ſonſt bey Frauenzim¬ mern gewoͤhnlich nicht findet. Ich ſagte, daß ich mich ſehr freue, ſie nun doch noch zu hoͤren.

Secretair Kraͤuter trat herein und referirte in Bi¬ bliotheksangelegenheiten. Als er gegangen war, lobte Goethe ſeine große Tuͤchtigkeit und Zuverlaͤſſigkeit in Geſchaͤften.

Ich brachte ſodann das Geſpraͤch auf die im Jahre 1797 uͤber Frankfurt und Stuttgart gemachte Reiſe in die Schweiz, wovon er mir die Manuſcripte in drey Heften dieſer Tage mitgetheilt und die ich bereits fleißig ſtudirt hatte. Ich erwaͤhnte, wie er damals mit Meyer ſoviel uͤber die Gegenſtaͤnde der bildenden Kunſt nachgedacht.

Ja, ſagte Goethe, was iſt auch wichtiger als die Gegenſtaͤnde, und was iſt die ganze Kunſtlehre ohne ſie. Alles Talent iſt verſchwendet, wenn der Gegenſtand nichts taugt. Und eben weil dem neuern Kuͤnſtler die wuͤr¬ digen Gegenſtaͤnde fehlen, ſo hapert es auch ſo mit aller Kunſt der neuern Zeit. Darunter leiden wir alle; ich habe auch meine Modernitaͤt nicht verlaͤugnen koͤnnen.

Die wenigſten Kuͤnſtler, fuhr er fort, ſind uͤber dieſen Punkt im Klaren und wiſſen was zu ihrem Frieden dient. Da malen ſie z. B. meinen Fiſcher und bedenken nicht, daß ſich das gar nicht malen laſſe. 79Es iſt ja in dieſer Ballade bloß das Gefuͤhl des Waſ¬ ſers ausgedruͤckt, das Anmuthige, was uns im Sommer lockt, uns zu baden; weiter liegt nichts darin, und wie laͤßt ſich das malen!

Ich erwaͤhnte ferner, daß ich mich freue, wie er auf jener Reiſe an Allem Intereſſe genommen und Alles aufgefaßt habe: Geſtalt und Lage der Gebirge und ihre Steinarten; Boden, Fluͤſſe, Wolken, Luft, Wind und Wetter; dann Staͤdte und ihre Entſtehung und ſucceſſive Bildung; Baukunſt, Malerey, Theater; Staͤdtiſche Ein¬ richtung und Verwaltung; Gewerbe, Oeconomie, Stra¬ ßenbau; Menſchenraçe, Lebensart, Eigenheiten; dann wieder Politik und Kriegsangelegenheiten, und ſo noch hundert andere Dinge.

Goethe antwortete: Aber Sie finden kein Wort uͤber Muſik, und zwar deßwegen nicht, weil das nicht in meinem Kreiſe lag. Jeder muß wiſſen, worauf er bey einer Reiſe zu ſehen hat und was ſeine Sache iſt.

Der Herr Canzler trat herein. Er ſprach Einiges mit Goethe und aͤußerte ſich dann gegen mich ſehr wohl¬ wollend und mit vieler Einſicht uͤber eine kleine Schrift, die er in dieſen Tagen geleſen. Er ging dann bald wieder zu den Damen hinuͤber, wo, wie ich hoͤrte, der Fluͤgel geſpielt wurde.

Als er gegangen war, ſprach Goethe ſehr gut uͤber ihn und ſagte dann: Alle dieſe vortrefflichen Menſchen, zu denen Sie nun ein angenehmes Verhaͤltniß haben,80 das iſt es, was ich eine Heimath nenne, zu der man immer gerne wieder zuruͤckkehrt.

Ich erwiederte ihm, daß ich bereits den wohlthaͤtigen Einfluß meines hieſigen Aufenthaltes zu ſpuͤren beginne, daß ich aus meinen bisherigen ideellen und theoretiſchen Richtungen nach und nach herauskomme und immer mehr den Werth des augenblicklichen Zuſtandes zu ſchaͤz¬ zen wiſſe.

Das muͤßte ſchlimm ſeyn, ſagte Goethe, wenn

Sie das nicht ſollten. Beharren Sie nur dabey und halten Sie immer an der Gegenwart feſt. Jeder Zu¬ ſtand, ja jeder Augenblick iſt von unendlichem Werth, denn er iſt der Repraͤſentant einer ganzen Ewigkeit.

Es trat eine kleine Pauſe ein, dann brachte ich das Geſpraͤch auf Tiefurt und in welcher Art es etwa darzuſtellen. Es iſt ein mannigfaltiger Gegenſtand, ſagte ich, und ſchwer, ihm eine durchgreifende Form zu geben. Am Bequemſten waͤre es mir, ihn in Proſa zu be¬ handeln.

Dazu, ſagte Goethe, iſt der Gegenſtand nicht be¬ deutend genug. Die ſogenannte didactiſch-beſchreibende Form wuͤrde zwar im Ganzen die zu waͤhlende ſeyn, allein auch ſie iſt nicht durchgreifend paſſend. Am beſten iſt es, Sie ſtellen den Gegenſtand in zehn bis zwoͤlf kleinen einzelnen Gedichten dar, in Reimen, aber in mannigfaltigen Versarten und Formen, ſo wie es die verſchiedenen Seiten und Anſichten verlangen, wodurch81 denn das Ganze wird umſchrieben und beleuchtet ſeyn. Dieſen Rath ergriff ich als zweckmaͤßig. Ja, was hindert Sie, dabey auch einmal dramatiſch zu verfahren und ein Geſpraͤch etwa mit dem Gaͤrtner fuͤhren zu laſſen? Und durch dieſe Zerſtuͤckelung macht man es ſich leicht und kann beſſer das Characteriſtiſche der ver¬ ſchiedenen Seiten des Gegenſtandes ausdruͤcken. Ein umfaſſendes groͤßeres Ganze dagegen iſt immer ſchwierig und man bringt ſelten etwas Vollendetes zu Stande.

Goethe befindet ſich ſeit einigen Tagen nicht zum beſten; eine heftige Erkaͤltung ſcheint in ihm zu ſtecken. Er huſtet viel, obgleich laut und kraͤftig; doch ſcheint der Huſten ſchmerzlich zu ſeyn, denn er faßt dabey ge¬ woͤhnlich mit der Hand nach der Seite des Herzens.

Ich war dieſen Abend vor dem Theater ein halbes Stuͤndchen bey ihm. Er ſaß in einem Lehnſtuhl, mit dem Ruͤcken in ein Kiſſen geſenkt; das Reden ſchien ihm ſchwer zu werden.

Nachdem wir Einiges geſprochen, wuͤnſchte er, daß ich ein Gedicht leſen moͤchte, womit er ein neues jetzt im Werke begriffenes Heft von Kunſt und Alterthum eroͤffnet. Er blieb in ſeinem Stuhle ſitzen und be¬ zeichnete mir den Ort, wo es lag. Ich nahm einI. 682Licht und ſetzte mich ein wenig entfernt von ihm an ſeinen Schreibtiſch, um es zu leſen.

Das Gedicht trug einen wunderbaren Charakter, ſo daß ich mich nach einmaligem Leſen, ohne es jedoch ganz zu verſtehen, davon eigenartig beruͤhrt und ergrif¬ fen fuͤhlte. Es hatte die Verherrlichung des Paria zum Gegenſtande und war als Trilogie behandelt. Der darin herrſchende Ton war mir wie aus einer fremden Welt heruͤber, und die Darſtellung der Art, daß mir die Belebung des Gegenſtandes ſehr ſchwer ward. Auch war Goethe's perſoͤnliche Naͤhe einer reinen Vertiefung hinderlich; bald hoͤrte ich ihn huſten, bald hoͤrte ich ihn ſeufzen, und ſo war mein Weſen getheilt, meine eine Haͤlfte las und die andere war im Gefuͤhl ſeiner Gegen¬ wart. Ich mußte das Gedicht daher leſen und wieder leſen, um nur einigermaßen hineinzukommen. Je mehr ich aber eindrang, von deſto bedeutenderem Character und auf einer deſto hoͤheren Stufe der Kunſt wollte es mir erſcheinen.

Ich ſprach darauf mit Goethe ſowohl uͤber den Ge¬ genſtand als die Behandlung, wo mir denn durch einige ſeiner Andeutungen manches lebendiger entgegentrat.

Freylich, ſagte er darauf, die Behandlung iſt ſehr knapp und man muß gut eindringen, wenn man es recht beſitzen will. Es kommt mir ſelber vor wie eine aus Stahldraͤthen geſchmiedete Damascenerklinge. Ich habe aber auch den Gegenſtand vierzig Jahre mit mir83 herumgetragen, ſo daß er denn freylich Zeit hatte, ſich von allem Ungehoͤrigen zu laͤutern.

Es wird Wirkung thun, ſagte ich, wenn es beym Publicum hervortritt.

Ach, das Publicum! ſeufzete Goethe.

Sollte es nicht gut ſeyn, ſagte ich, wenn man dem Verſtaͤndniß zu Huͤlfe kaͤme und es machte, wie bey der Erklaͤrung eines Gemaͤldes, wo man durch Vorfuͤhrung der vorhergegangenen Momente das wirklich Gegenwaͤr¬ tige zu beleben ſucht?

Ich bin nicht der Meinung, ſagte Goethe. Mit Ge¬ maͤlden iſt es ein anderes; weil aber ein Gedicht gleich¬ falls aus Worten beſteht, ſo hebt ein Wort das an¬ dere auf.

Goethe ſcheint mir hierdurch ſehr treffend die Klippe angedeutet zu haben, woran Ausleger von Gedichten gewoͤhnlich ſcheitern. Es fraͤgt ſich aber, ob es nicht moͤglich ſey, eine ſolche Klippe zu vermeiden und einem Gedichte dennoch durch Worte zu Huͤlfe zu kommen, ohne das Zarte ſeines innern Lebens im mindeſten zu verletzen.

Als ich ging, wuͤnſchte er, daß ich die Bogen von Kunſt und Alterthum mit nach Hauſe nehme, um das Gedicht ferner zu betrachten; deßgleichen die oͤſtlichen Roſen von Ruͤckert, von welchem Dichter er viel zu halten und die beſten Erwartungen zu hegen ſcheint.

6*84

Ich ging gegen Abend, um Goethe zu beſuchen, hoͤrte aber unten im Hauſe, der preußiſche Staatsminiſter von Humboldt ſey bey ihm, welches mir lieb war, in der Überzeugung, daß dieſer Beſuch eines alten Freundes ihm die wohlthaͤtigſte Aufheiterung gewaͤhren wuͤrde.

Ich ging darauf ins Theater, wo die Schweſtern von Prag, bey ganz vollkommener Beſetzung, muſter¬ haft gegeben wurden, ſo daß man das ganze Stuͤck hindurch nicht aus dem Lachen kam.

Vor einigen Tagen, als ich Nachmittags bey ſchoͤnem Wetter die Straße nach Erfurt hinausging, geſellte ſich ein bejahrter Mann zu mir, den ich ſeinem Äußeren nach fuͤr einen wohlhabenden Buͤrger hielt. Wir hatten nicht lange geredet, als das Geſpraͤch auf Goethe kam. Ich fragte ihn, ob er Goethe perſoͤnlich kenne. Ob ich ihn kenne! antwortete er mit einigem Behagen, ich bin gegen zwanzig Jahre ſein Kammerdiener geweſen! Und nun ergoß er ſich in Lobſpruͤche uͤber ſeinen fruͤheren Herrn. Ich erſuchte ihn, mir etwas aus Goethe's Jugendzeit zu erzaͤhlen, worein er mit Freuden willigte.

Als ich bey ihn kam, ſagte er, mochte er etwa85 27 Jahre alt ſeyn; er war ſehr mager, behende und zierlich, ich haͤtte ihn leicht tragen koͤnnen.

Ich fragte ihn, ob Goethe in jener erſten Zeit ſeines Hierſeyns auch ſehr luſtig geweſen? Allerdings, antwor¬ tete er, ſey er mit den Froͤhlichen froͤhlich geweſen, jedoch nie uͤber die Grenze; in ſolchen Faͤllen ſey er gewoͤhn¬ lich ernſt geworden. Immer gearbeitet und geforſcht und ſeinen Sinn auf Kunſt und Wiſſenſchaft gerichtet, das ſey im Allgemeinen ſeines Herrn fortwaͤhrende Richtung geweſen. Abends habe ihn der Herzog haͤufig beſucht und da haͤtten ſie oft bis tief in die Nacht hinein uͤber gelehrte Gegenſtaͤnde geſprochen, ſo daß ihm oft Zeit und Weile lang geworden und er oft gedacht habe, ob denn der Herzog noch nicht gehen wolle. Und die Na¬ turforſchung, fuͤgte er hinzu, war ſchon damals ſeine Sache.

Einſt klingelte er mitten in der Nacht, und als ich zu ihm in die Kammer trete, hat er ſein eiſernes Rollbette vom unterſten Ende der Kammer herauf bis ans Fenſter gerollt und liegt und beobachtet den Him¬ mel. Haſt Du nichts am Himmel geſehen? fragte er mich, und als ich dieß verneinte: ſo laufe einmal nach der Wache und frage den Poſten, ob der nichts geſehen. Ich lief hin, der Poſten hatte aber nichts geſehen, welches ich meinem Herrn meldete, der noch eben ſo lag und den Himmel unverwandt beobachtete. Hoͤre, ſagte er dann zu mir, wir ſind in einem be¬86 deutenden Moment, entweder wir haben in dieſem Augenblick ein Erdbeben, oder wir bekommen eins. Und nun mußte ich mich zu ihm aufs Bette ſetzen und er demonſtrirte mir, aus welchen Merkmalen er das abnehme.

Ich fragte den guten Alten, was es fuͤr Wetter geweſen.

Es war ſehr wolkig, ſagte er, und dabey regte ſich kein Luͤftchen, es war ſehr ſtill und ſchwuͤl.

Ich fragte ihn, ob er denn Goethen jenen Ausſpruch ſogleich aufs Wort geglaubt habe.

Ja, ſagte er, ich glaubte ihm aufs Wort, denn was er vorherſagte, war immer richtig. Am naͤchſten Tage, fuhr er fort, erzaͤhlte mein Herr ſeine Beobach¬ tungen bey Hofe, wobey eine Dame ihrer Nachbarin ins Ohr fliſterte: Hoͤre! Goethe ſchwaͤrmt! Der Her¬ zog aber und die uͤbrigen Maͤnner glaubten an Goethe, und es wies ſich auch bald aus, daß er recht geſehen; denn nach einigen Wochen kam die Nachricht, daß in derſelbigen Nacht ein Theil von Meſſina durch ein Erd¬ beben zerſtoͤrt worden.

Gegen Abend ſendete Goethe mir eine Einladung, ihn zu beſuchen. Humboldt ſey an Hof und ich wuͤrde87 ihm daher um ſo willkommener ſeyn. Ich fand ihn noch wie vor einigen Tagen in ſeinem Lehnſtuhl ſitzend; er reichte mir freundlich die Hand, indem er mit himmli¬ ſcher Sanftmuth einige Worte ſprach. Ein großer Ofen¬ ſchirm ſtand ihm zur Seite und gab ihm zugleich Schat¬ ten vor den Lichtern, die weiterhin auf dem Tiſch ſtan¬ den. Auch der Herr Canzler trat herein und geſellte ſich zu uns. Wir ſetzten uns in Goethe's Naͤhe und fuͤhrten leichte Geſpraͤche, damit er ſich nur zuhoͤrend verhalten koͤnnte. Bald kam auch der Arzt, Hofrath Rehbein. Er fand Goethe's Puls, wie er ſich aus¬ druͤckte, ganz munter und leichtfertig, woruͤber wir uns freuten und Goethe einige Scherze machte. Wenn nur der Schmerz von der Seite des Herzens weg waͤre! klagte er dann. Rehbein ſchlug vor, ihm ein Pflaſter dahin zu legen; wir ſprachen uͤber die guten Wirkungen eines ſolchen Mittels, und Goethe ließ ſich dazu geneigt finden. Rehbein brachte das Geſpraͤch auf Marienbad, wodurch bey Goethe angenehme Erinnerungen erweckt zu werden ſchienen. Man machte Plaͤne, naͤchſten Som¬ mer wieder hinzugehen und bemerkte, daß auch der Großherzog nicht fehlen wuͤrde, durch welche Ausſichten Goethe in die heiterſte Stimmung verſetzt wurde. Auch ſprach man uͤber Madame Szymanowska und ge¬ dachte der Tage, wo ſie hier war und die Maͤnner ſich um ihre Gunſt bewarben.

Als Rehbein gegangen war, las der Canzler die88 indiſchen Gedichte. Goethe ſprach derweile mit mir uͤber ſeine Elegie von Marienbad.

Um acht Uhr ging der Canzler; ich wollte auch ge¬ hen, Goethe bat mich aber, noch ein wenig zu bleiben. Ich ſetzte mich wieder. Das Geſpraͤch kam auf das Theater und daß morgen der Wallenſtein wuͤrde ge¬ geben werden. Dieß gab Gelegenheit, uͤber Schiller zu reden.

Es geht mir mit Schiller eigen, ſagte ich; einige Scenen ſeiner großen Theater-Stuͤcke leſe ich mit wah¬ rer Liebe und Bewunderung, dann aber komme ich auf Verſtoͤße gegen die Wahrheit der Natur, und ich kann nicht weiter. Selbſt mit dem Wallenſtein geht es mir nicht anders. Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß Schillers philoſophiſche Richtung ſeiner Poeſie geſchadet hat; denn durch ſie kam er dahin, die Idee hoͤher zu halten als alle Natur, ja die Natur dadurch zu ver¬ nichten. Was er ſich denken konnte, mußte geſchehen, es mochte nun der Natur gemaͤß oder ihr zuwider ſeyn.

Es iſt betruͤbend, ſagte Goethe, wenn man ſieht, wie ein ſo außerordentlich begabter Menſch ſich mit phi¬ loſophiſchen Denkweiſen herumquaͤlte, die ihm nichts helfen konnten. Humboldt hat mir Briefe mitgebracht, die Schiller in der unſeligen Zeit jener Speculationen an ihn geſchrieben. Man ſieht daraus, wie er ſich da¬ mals mit der Intention plagte, die ſentimentale Poeſie von der naiven ganz frey zu machen. Aber nun konnte er89 fuͤr jene Dichtart keinen Boden finden, und dieß brachte ihn in unſaͤgliche Verwirrung. Und als ob, fuͤgte Goethe laͤchelnd hinzu, die ſentimentale Poeſie ohne einen naiven Grund, aus welchem ſie gleichſam hervorwaͤchſt, nur irgend beſtehen koͤnnte!

Es war nicht Schillers Sache, fuhr Goethe fort, mit einer gewiſſen Bewußtloſigkeit und gleichſam inſtinkt¬ maͤßig zu verfahren, vielmehr mußte er uͤber jedes, was er that, reflectiren; woher es auch kam, daß er uͤber ſeine poetiſchen Vorſaͤtze nicht unterlaſſen konnte, ſehr viel hin und her zu reden, ſo daß er alle ſeine ſpaͤteren Stuͤcke Scene fuͤr Scene mit mir durchgeſprochen hat.

Dagegen war es ganz gegen meine Natur, uͤber das, was ich von poetiſchen Plaͤnen vorhatte, mit irgend jemanden zu reden, ſelbſt nicht mit Schiller. Ich trug Alles ſtill mit mir herum und niemand erfuhr in der Regel etwas als bis es vollendet war. Als ich Schil¬ lern meinen Hermann und Dorothea fertig vorlegte, war er verwundert, denn ich hatte ihm vorher mit keiner Sylbe geſagt, daß ich dergleichen vorhatte.

Aber ich bin neugierig, was Sie morgen zum Wallenſtein ſagen werden! Sie werden große Geſtalten ſehen und das Stuͤck wird auf Sie einen Eindruck ma¬ chen, wie Sie es ſich wahrſcheinlich nicht vermuthen.

90

Abends war ich im Theater, wo ich zum erſten Mal den Wallenſtein ſah. Goethe hatte nicht zuviel ge¬ ſagt; der Eindruck war groß und mein tiefſtes Innere aufregend. Die Schauſpieler, groͤßtentheils noch aus der Zeit, wo Schiller und Goethe perſoͤnlich auf ſie einwirkten, brachten mir ein Enſemble bedeutender Per¬ ſonen vor Augen, wie ſie, beym Leſen, meiner Einbil¬ dungskraft nicht mit der Individualitaͤt erſchienen waren, weßhalb denn das Stuͤck mit außerordentlicher Kraft an mir voruͤberging und ich es ſogar waͤhrend der Nacht nicht aus dem Sinn brachte.

Abends bey Goethe. Er ſaß noch in ſeinem Lehn¬ ſtuhl und ſchien ein wenig ſchwach. Seine erſte Frage war nach dem Wallenſtein. Ich gab ihm Rechen¬ ſchaft von dem Eindruck, den das Stuͤck von der Buͤhne herunter auf mich gemacht; er hoͤrte es mit ſichtbarer Freude.

Herr Soret kam, von Frau von Goethe hereinge¬ fuͤhrt, und blieb ein Stuͤndchen, indem er im Auftrag des Großherzogs goldene Medaillen brachte, deren Vor¬ zeigung und Beſprechung Goethen eine angenehme Un¬ terhaltung zu gewaͤhren ſchien.

91

Frau von Goethe und Herr Soret gingen an Hof, und ſo war ich mit Goethe wieder alleine gelaſſen.

Eingedenk des Verſprechens, mir ſeine Elegie von Marienbad zu einer paſſenden Stunde abermals zu zei¬ gen, ſtand Goethe auf, ſtellte ein Licht auf ſeinen Schreibtiſch und gab mir das Gedicht. Ich war gluͤck¬ lich, es abermals vor Augen zu haben. Goethe ſetzte ſich wieder in Ruhe und uͤberließ mich einer ungeſtoͤrten Betrachtung.

Nachdem ich eine Weile geleſen, wollte ich ihm et¬ was daruͤber ſagen, es kam mir aber vor, als ob er ſchlief. Ich benutzte daher den guͤnſtigen Augenblick und las es aber - und abermals und hatte dabey einen ſeltenen Genuß. Die jugendlichſte Glut der Liebe, ge¬ mildert durch die ſittliche Hoͤhe des Geiſtes, das erſchien mir im Allgemeinen als des Gedichtes durchgreifender Character. Übrigens kam es mir vor, als ſeyen die ausgeſprochenen Gefuͤhle ſtaͤrker, als wir ſie in anderen Gedichten Goethe's anzutreffen gewohnt ſind, und ich ſchloß daraus auf einen Einfluß von Byron, welches Goethe auch nicht ablehnte.

Sie ſehen das Product eines hoͤchſt leidenſchaftlichen Zuſtandes, fuͤgte er hinzu; als ich darin befangen war, haͤtte ich ihn um alles in der Welt nicht entbehren moͤgen, und jetzt moͤchte ich um keinen Preis wieder hineingerathen.

Ich ſchrieb das Gedicht, unmittelbar als ich von92 Marienbad abreiſ'te und ich mich noch im vollen friſchen Gefuͤhle des Erlebten befand. Morgens acht Uhr auf der erſten Station ſchrieb ich die erſte Strophe und ſo dichtete ich im Wagen fort und ſchrieb von Station zu Station das im Gedaͤchtniß Gefaßte nieder, ſo daß es Abends fertig auf dem Papiere ſtand. Es hat daher eine gewiſſe Unmittelbarkeit und iſt wie aus einem Guſſe, welches dem Ganzen zu Gute kommen mag.

Zugleich, ſagte ich, hat es in ſeiner ganzen Art viel Eigenthuͤmliches, ſo daß es an keins Ihrer anderen Gedichte erinnert.

Das mag daher kommen, ſagte Goethe. Ich ſetzte auf die Gegenwart, ſo wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte ſetzt, und ſuchte ſie ohne Übertreibung ſo hoch zu ſteigern als moͤglich.

Dieſe Äußerung erſchien mir ſehr wichtig, indem ſie Goethe's Verfahren ans Licht ſetzet und uns ſeine allgemein bewunderte Mannigfaltigkeit erkaͤrlich macht.

Es war indeß gegen neun Uhr geworden; Goethe bat mich, ſeinen Bedienten Stadelmann zu rufen, wel¬ ches ich that.

Er ließ ſich darauf von dieſem das verordnete Pfla¬ ſter auf die Bruſt zur Seite des Herzens legen. Ich ſtellte mich derweil ans Fenſter. Hinter meinem Ruͤcken hoͤrte ich nun, wie er gegen Stadelmann klagte, daß ſein Übel ſich gar nicht beſſern wolle und daß es einen bleibenden Character annehme. Als die Operation vor¬93 bey war, ſetzte ich mich noch ein wenig zu ihm. Er klagte nun auch gegen mich, daß er ſeit einigen Naͤch¬ ten gar nicht geſchlafen habe und daß auch zum Eſſen gar keine Neigung vorhanden. Der Winter geht nun ſo hin, ſagte er, ich kann nichts thun, ich kann nichts zuſammenbringen, der Geiſt hat gar keine Kraft. Ich ſuchte ihn zu beruhigen, indem ich ihn bat, nur nicht ſo viel an ſeine Arbeiten zu denken und daß ja dieſer Zuſtand hoffentlich bald voruͤber gehen werde. Ach, ſagte er darauf, ungeduldig bin ich auch nicht, ich habe ſchon zu viel ſolcher Zuſtaͤnde durchlebt und habe ſchon gelernt zu leiden und zu dulden. Er ſaß in einem Schlafrock von weißem Flanell, uͤber ſeine Kniee und Fuͤße eine wollene Decke gelegt und gewickelt. Ich werde gar nicht zu Bette gehen, ſagte er, ich werde ſo auf meinem Stuhl die Nacht ſitzen bleiben, denn zum rechten Schlaf komme ich doch nicht.

Es war indeß Zeit geworden, er reichte mir ſeine liebe Hand und ich ging.

Als ich unten in das Bedientenzimmer trat, um meinen Mantel zu nehmen, fand ich Stadelmann ſehr beſtuͤrzt. Er ſagte, er habe ſich uͤber ſeinen Herrn er¬ ſchrocken; wenn er klage, ſo ſey das ein ſchlimmes Zeichen. Auch waͤren die Fuͤße ploͤtzlich ganz duͤnne ge¬ worden, die bisher ein wenig geſchwollen geweſen. Er wolle morgen in aller Fruͤhe zum Arzt gehen, um ihm die ſchlimmen Zeichen zu melden. Ich ſuchte ihn zu94 beruhigen, allein er ließ ſich ſeine Furcht nicht aus¬ reden.

Als ich dieſen Abend ins Theater kam, draͤngten viele Perſonen ſich mir entgegen und erkundigten ſich ſehr aͤngſtlich nach Goethe's Befinden. Sein Zuſtand mußte ſich in der Stadt ſchnell verbreitet haben und viel¬ leicht aͤrger gemacht worden ſeyn, als er wirklich war. Einige ſagten mir, er habe die Bruſtwaſſerſucht. Ich war betruͤbt den ganzen Abend.

Geſtern ging ich in Sorgen umher. Es ward außer ſeiner Familie niemand zu ihm gelaſſen.

Heute gegen Abend ging ich hin und wurde auch angenommen. Ich fand ihn noch in ſeinem Lehnſtuhl ſitzen, er ſchien dem Äußern nach noch ganz wie ich ihn am Sonntag verlaſſen, doch war er heiteren Geiſtes.

Wir ſprachen beſonders uͤber Zauper und die ſehr ungleichen Wirkungen, die aus dem Studium der Lite¬ ratur der Alten hervorgehen.

95

Goethe ließ mich rufen. Ich fand ihn zu meiner großen Freude wieder auf und in ſeinem Zimmer umher¬ gehen. Er gab mir ein kleines Buch: Ghaſelen des Grafen Platen. Ich hatte mir vorgenommen, ſagte er, in Kunſt und Alterthum etwas daruͤber zu ſagen, denn die Gedichte verdienen es. Mein Zuſtand laͤßt mich aber zu nichts kommen. Sehen Sie doch zu, ob es Ihnen gelingen will einzudringen und den Gedichten etwas abzugewinnen.

Ich verſprach, mich daran zu verſuchen.

Es iſt bey den Ghaſelen das Eigenthuͤmliche, fuhr Goethe fort, daß ſie eine große Fuͤlle von Gehalt ver¬ langen; der ſtets wiederkehrende gleiche Reim will immer einen Vorrath aͤhnlicher Gedanken bereit finden. De߬ halb gelingen ſie nicht Jedem; dieſe aber werden Ihnen gefallen. Der Arzt trat herein und ich ging.

Sonnabend und Sonntag ſtudirte ich die Gedichte. Dieſen Morgen ſchrieb ich meine Anſicht daruͤber und ſchickte ſie Goethen zu, denn ich hatte erfahren, daß er ſeit einigen Tagen niemanden vor ſich laſſe, indem der Arzt ihm alles Reden verboten.

Heute gegen Abend ließ er mich dennoch rufen. 96Als ich zu ihm hineintrat, fand ich einen Stuhl bereits in ſeine Naͤhe geſetzt; er reichte mir ſeine Hand entgegen und war aͤußerſt liebevoll und gut. Er fing ſogleich an, uͤber meine kleine Recenſion zu reden. Ich habe mich ſehr daruͤber gefreut, ſagte er, Sie haben eine ſchoͤne Gabe. Ich will Ihnen etwas ſagen, fuhr er dann fort, wenn Ihnen vielleicht von andern Orten her literariſche Antraͤge gemacht werden ſollten, ſo lehnen Sie ſolche ab oder ſagen es mir wenigſtens zuvor; denn da Sie einmal mit mir verbunden ſind, ſo moͤchte ich nicht gerne, daß Sie auch zu Anderen ein Verhaͤltniß haͤtten.

Ich antwortete, daß ich mich bloß zu ihm halten wolle und daß es mir auch vor der Hand um ander¬ weitige Verbindungen durchaus nicht zu thun ſey.

Das war ihm lieb, und er ſagte darauf, daß wir dieſen Winter noch manche huͤbſche Arbeit mit einander machen wollten.

Wir kamen dann auf die Ghaſelen ſelbſt zu ſprechen und Goethe freute ſich uͤber die Vollendung dieſer Ge¬ dichte, und daß unſere neueſte Literatur doch manches Tuͤchtige hervorbringe.

Ihnen, fuhr er dann fort, moͤchte ich unſere neue¬ ſten Talente zu einem beſonderen Studium und Augen¬ merk empfehlen. Ich moͤchte, daß Sie ſich von allem, was in unſerer Literatur Bedeutendes hervortritt, in Kenntniß ſetzten und mir das Verdienſtliche vor Augen braͤchten, da¬ mit wir in den Heften von Kunſt und Alterthum daruͤber97 reden und das Gute, Edle und Tuͤchtige mit Anerken¬ nung erwaͤhnen koͤnnten. Denn mit dem beſten Willen komme ich bey meinem hohen Alter und bey meinen tauſend¬ fachen Obliegenheiten ohne anderweitige Huͤlfe nicht dazu.

Ich verſprach dieſes zu thun, indem ich mich zu¬ gleich freute zu ſehen, daß unſere neueſten Schriftſteller und Dichter Goethen mehr am Herzen liegen als ich mir gedacht hatte.

Die Tage darauf[]ſendete Goethe mir die neueſten lite¬ rariſchen Tagesblaͤtter zu dem beſprochenen Zwecke. Ich ging einige Tage nicht zu ihm und ward auch nicht gerufen. Ich hoͤrte, ſein Freund Zelter ſey gekommen ihn zu beſuchen.

Heute ward ich bey Goethe zu Tiſch geladen. Ich fand Zelter bey ihm ſitzen, als ich hereintrat. Sie kamen mir einige Schritte entgegen und gaben mir die Haͤnde. Hier, ſagte Goethe, haben wir meinen Freund Zelter. Sie machen an ihm eine gute Bekanntſchaft; ich werde Sie bald einmal nach Berlin ſchicken, da ſol¬ len Sie denn von ihm auf das Beſte gepflegt werden. In Berlin mag es gut ſeyn, ſagte ich. Ja, ſagteI. 798Zelter lachend, es laͤßt ſich darin viel lernen und ver¬ lernen.

Wir ſetzten uns und fuͤhrten allerley Geſpraͤche. Ich fragte nach Schubarth. Er beſucht mich wenigſtens alle acht Tage, ſagte Zelter. Er hat ſich verheirathet, iſt aber ohne Anſtellung, weil er es in Berlin mit den Philologen verdorben.

Zelter fragte mich darauf, ob ich Immermann kenne. Seinen Namen, ſagte ich, habe ich bereits ſehr oft nennen hoͤren, doch von ſeinen Schriften kenne ich bis jetzt nichts. Ich habe ſeine Bekanntſchaft zu Muͤnſter gemacht, ſagte Zelter; es iſt ein ſehr hoff¬ nungsvoller junger Mann und es waͤre ihm zu wuͤnſchen, daß ſeine Anſtellung ihm fuͤr ſeine Kunſt mehr Zeit ließe. Goethe lobte gleichfalls ſein Talent. Wir wollen ſehen, ſagte er, wie er ſich entwickelt; ob er ſich bequemen mag, ſeinen Geſchmack zu reinigen und hin¬ ſichtlich der Form die anerkannt beſten Muſter zur Richtſchnur zu nehmen. Sein originelles Streben hat zwar ſein Gutes, allein es fuͤhrt gar zu leicht in die Irre.

Der kleine Walter kam geſprungen und machte ſich an Zelter und ſeinen Großpapa mit vielen Fragen. Wenn Du kommſt, unruhiger Geiſt, ſagte Goethe, ſo verdirbſt Du gleich jedes Geſpraͤch. Übrigens liebte er den Knaben und war unermuͤdet ihm alles zu Willen zu thun.

99

Frau v. Goethe und Fraͤulein Ulrike traten herein; auch der junge Goethe in Uniform und Degen, um an Hof zu gehen. Wir ſetzten uns zu Tiſch. Fraͤulein Ulrike und Zelter waren beſonders munter und neckten ſich auf die anmuthigſte Weiſe waͤhrend der ganzen Tafel. Zelters Perſon und Gegenwart that mir ſehr wohl. Er war als ein gluͤcklicher geſunder Menſch im¬ mer ganz dem Augenblick hingegeben und es fehlte ihm nie am rechten Wort. Dabey war er voller Gutmuͤ¬ thigkeit und Behagen und ſo ungenirt, daß er alles herausſagen mochte und mitunter ſogar ſehr Derbes. Seine eigene geiſtige Freyheit theilte ſich mit, ſo daß alle beengende Ruͤckſicht in ſeiner Naͤhe ſehr bald weg¬ fiel. Ich that im Stillen den Wunſch, eine Zeitlang mit ihm zu leben, und bin gewiß, es wuͤrde mir gut thun.

Bald nach Tiſch ging Zelter. Auf den Abend war er zur Großfuͤrſtinn gebeten.

Dieſen Morgen brachte mir Secretair Kraͤuter eine Einladung bey Goethe zu Tiſch. Dabey gab er mir von Goethe den Wink, Zeltern doch ein Exemplar meiner Beytraͤge zur Poeſie zu verehren. Ich that ſo und brachte es ihm ins Wirthshaus. Zelter gab mir7 *100dagegen die Gedichte von Immermann. Ich ſchenkte das Exemplar Ihnen gerne, ſagte er, allein Sie ſehen, der Verfaſſer hat es mir zugeſchrieben, und ſo iſt es mir ein werthes Andenken, das ich behalten muß.

Ich machte darauf mit Zelter vor Tiſch einen Spa¬ ziergang durch den Park nach Oberweimar. Bey man¬ chen Stellen erinnerte er ſich fruͤherer Zeiten und er¬ zaͤhlte mir dabey viel von Schiller, Wieland und Her¬ der, mit denen er ſehr befreundet geweſen, was er als einen hohen Gewinn ſeines Lebens ſchaͤtzte.

Er ſprach darauf viel uͤber Compoſition und reci¬ tirte dabey mehrere Lieder von Goethe. Wenn ich ein Gedicht componiren will, ſagte er, ſo ſuche ich zuvor in den Wortverſtand einzudringen und mir die Situa¬ tion lebendig zu machen. Ich leſe es mir dann laut vor, bis ich es auswendig weiß, und ſo, indem ich es mir immer einmal wieder recitire, kommt die Melodie von ſelber.

Wind und Regen noͤthigten uns, fruͤher zuruͤck¬ zugehen, als wir gerne wollten. Ich begleitete ihn bis vor Goethe's Haus, wo er zu Frau von Goethe hinauf ging, um mit ihr vor Tiſch noch Einiges zu ſingen.

Darauf um zwey Uhr kam ich zu Tiſch. Ich fand Zelter bereits bey Goethe ſitzen und Kupferſtiche italie¬ niſcher Gegenden betrachten. Frau von Goethe trat herein und wir gingen zu Tiſch. Fraͤulein Ulrike war101 heute abweſend, deßgleichen der junge Goethe, welcher bloß herein kam, um guten Tag zu ſagen und dann wieder an Hof ging.

Die Tiſchgeſpraͤche waren heute beſonders mannigfal¬ tig. Sehr viel originelle Anekdoten wurden erzaͤhlt, ſowohl von Zelter als Goethe, welche alle dahin gingen, die Eigenſchaften ihres gemeinſchaftlichen Freundes Fried¬ rich Auguſt Wolf zu Berlin ins Licht zu ſetzen. Dann ward uͤber die Nibelungen viel geſprochen, dann uͤber Lord Byron und ſeinen zu hoffenden Beſuch in Weimar, woran Frau v. Goethe beſonders Theil nahm. Das Rochusfeſt zu Bingen war ferner ein ſehr heiterer Gegenſtand, wobey Zelter ſich beſonders zwey ſchoͤner Maͤdchen erinnerte, deren Liebenswuͤrdigkeit ſich ihm tief eingepraͤgt hatte und deren Andenken ihn noch heute zu begluͤcken ſchien. Das geſellige Lied Kriegsgluͤck von Goethe, ward darauf ſehr heiter beſprochen. Zel¬ ter war unerſchoͤpflich in Anekdoten von bleſſirten Sol¬ daten und ſchoͤnen Frauen, welche alle dahin gingen, um die Wahrheit des Gedichts zu beweiſen. Goethe ſelber ſagte, er habe nach ſolchen Realitaͤten nicht weit zu gehen brauchen, er habe alles in Weimar perſoͤnlich er¬ lebt. Frau v. Goethe aber hielt immerwaͤhrend ein heite¬ res Widerſpiel, indem ſie nicht zugeben wollte, daß die Frauen ſo waͤren, als das garſtige Gedicht ſie ſchildere.

Und ſo vergingen denn auch heute die Stunden bey Tiſch ſehr angenehm.

102

Als ich darauf ſpaͤter mit Goethe allein war, fragte er mich uͤber Zelter. Nun, ſagte er, wie gefaͤllt er Ihnen? Ich ſprach uͤber das durchaus Wohlthaͤtige ſeiner Perſoͤnlichkeit. Er kann, fuͤgte Goethe hinzu, bey der erſten Bekanntſchaft etwas ſehr derbe, ja mit¬ unter ſogar etwas roh erſcheinen. Allein das iſt nur aͤußerlich. Ich kenne kaum jemanden, der zugleich ſo zart waͤre wie Zelter. Und dabey muß man nicht ver¬ geſſen, daß er uͤber ein halbes Jahrhundert in Berlin zugebracht hat. Es lebt aber, wie ich an allem merke, dort ein ſo verwegener Menſchenſchlag beyſammen, daß man mit der Delicateſſe nicht weit reicht, ſondern daß man Haare auf den Zaͤhnen haben und mitunter etwas grob ſeyn muß, um ſich uͤber Waſſer zu halten.

[103]

1824.

[104][105]

Goethe ſprach mit mir uͤber die Fortſetzung ſeiner Le¬ bensgeſchichte, mit deren Ausarbeitung er ſich gegen¬ waͤrtig beſchaͤftigt. Es kam zur Erwaͤhnung, daß dieſe Epoche ſeines ſpaͤtern Lebens nicht die Ausfuͤhrlichkeit des Details haben koͤnne, wie die Jugendepoche von Wahrheit und Dichtung.

Ich muß, ſagte Goethe, dieſe ſpaͤteren Jahre mehr als Annalen behandeln; es kann darin weniger mein Leben als meine Thaͤtigkeit zur Erſcheinung kommen. Überhaupt iſt die bedeutendſte Epoche eines Individuums die der Entwickelung, welche ſich in meinem Fall mit den ausfuͤhrlichen Baͤnden von Wahrheit und Dichtung abſchließt. Spaͤter beginnt der Conflict mit der Welt, und dieſer hat nur inſofern Intereſſe als etwas dabey herauskommt.

Und dann, das Leben eines deutſchen Gelehrten, was iſt es? Was in meinem Fall daran etwa Gutes ſeyn moͤchte, iſt nicht mitzutheilen, und das Mittheil¬106 bare iſt nicht der Muͤhe werth. Und wo ſind denn die Zuhoͤrer, denen man mit einigem Behagen erzaͤhlen moͤchte?

Wenn ich auf mein fruͤheres und mittleres Leben zuruͤckblicke und nun in meinem Alter bedenke, wie Wenige noch von denen uͤbrig ſind, die mit mir jung waren, ſo faͤllt mir immer der Sommeraufenthalt in einem Bade ein. So wie man ankommt, ſchließt man Bekanntſchaften und Freundſchaften mit ſolchen, die ſchon eine Zeitlang dort waren und die in den naͤchſten Wochen wieder abgehen. Der Verluſt iſt ſchmerzlich. Nun haͤlt man ſich an die zweyte Generation, mit der man eine gute Weile fortlebt und ſich auf das Innigſte verbindet. Aber auch dieſe geht und laͤßt uns einſam mit der dritten, die nahe vor unſerer Abreiſe ankommt und mit der man auch gar nichts zu thun hat.

Man hat mich immer als einen vom Gluͤck beſon¬ ders Beguͤnſtigten geprieſen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht ſchelten. Allein im Grunde iſt es nichts als Muͤhe und Arbeit geweſen, und ich kann wohl ſagen, daß ich in meinen fuͤnf und ſiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Waͤlzen eines Steines, der immer von neuem gehoben ſeyn wollte. Meine Annalen werden es deutlich machen, was hiemit geſagt iſt. Der Anſpruͤche an meine Thaͤtigkeit, ſowohl von Außen als Innen, waren zu viele.

107

Mein eigentliches Gluͤck war mein poetiſches Sinnen und Schaffen. Allein wie ſehr war dieſes durch meine aͤußere Stellung geſtoͤrt, beſchraͤnkt und gehindert. Haͤtte ich mich mehr vom oͤffentlichen und geſchaͤftlichen Wir¬ ken und Treiben zuruͤckhalten und mehr in der Einſam¬ keit leben koͤnnen, ich waͤre gluͤcklicher geweſen und wuͤrde als Dichter weit mehr gemacht haben. So aber ſollte ſich bald nach meinem Goͤtz und Werther an mir das Wort eines Weiſen bewaͤhren, welcher ſagte: wenn man der Welt etwas zu Liebe gethan habe, ſo wiſſe ſie dafuͤr zu ſorgen, daß man es nicht zum zweyten Male thue.

Ein weit verbreiteter Name, eine hohe Stellung im Leben ſind gute Dinge. Allein mit all meinem Namen und Stande habe ich es nicht weiter gebracht, als daß ich, um nicht zu verletzen, zu der Meinung Anderer ſchweige. Dieſes wuͤrde nun in der That ein ſehr ſchlechter Spaß ſeyn, wenn ich dabey nicht den Vortheil haͤtte, daß ich erfahre, wie die Anderen denken, aber ſie nicht wie ich.

Heute vor Tiſch hatte Goethe mich zu einer Spa¬ zierfahrt einladen laſſen. Ich fand ihn fruͤhſtuͤckend, als108 ich zu ihm ins Zimmer trat; er ſchien ſehr heiterer Stimmung.

Ich habe einen angenehmen Beſuch gehabt, ſagte er mir freudig entgegen, ein ſehr hoffnungsvoller junger Mann, Meyer aus Weſtphalen, iſt vorhin bey mir geweſen. Er hat Gedichte gemacht, die ſehr viel er¬ warten laſſen. Er iſt erſt achtzehn Jahre alt und ſchon unglaublich weit.

Ich freue mich, ſagte Goethe darauf lachend, daß ich jetzt nicht achtzehn Jahre alt bin. Als ich achtzehn war, war Deutſchland auch erſt achtzehn, da ließ ſich noch etwas machen; aber jetzt wird unglaublich viel gefordert und es ſind alle Wege verrannt.

Deutſchland ſelbſt ſteht in allen Faͤchern ſo hoch, daß wir kaum alles uͤberſehen koͤnnen, und nun ſollen wir noch Griechen und Lateiner ſeyn, und Englaͤnder und Franzoſen dazu! Ja obendrein hat man die Ver¬ ruͤcktheit, auch nach dem Orient zu weiſen und da muß denn ein junger Menſch ganz confus werden.

Ich habe ihm zum Troſt meine coloſſale Juno gezeigt, als ein Symbol, daß er bey den Griechen ver¬ harren und dort Beruhigung finden moͤge. Er iſt ein praͤchtiger junger Menſch! Wenn er ſich vor Zerſplitte¬ rung in Acht nimmt, ſo kann etwas aus ihm werden.

Aber, wie geſagt, ich danke dem Himmel, daß ich jetzt, in dieſer durchaus gemachten Zeit, nicht jung bin. Ich wuͤrde nicht zu bleiben wiſſen. Ja ſelbſt wenn109 ich nach Amerika fluͤchten wollte, ich kaͤme zu ſpaͤt, denn auch dort waͤre es ſchon zu helle.

Zu Tiſch mit Goethe und ſeinem Sohn, welcher letztere uns manches heitere Geſchichtchen aus ſeiner Stu¬ dentenzeit, namentlich aus ſeinem Aufenthalt in Heidel¬ berg erzaͤhlte. Er hatte mit ſeinen Freunden in den Ferien manchen Ausflug am Rhein gemacht, wo ihm beſonders ein Wirth in gutem Andenken geblieben war, bey dem er einſt mit zehn andern Studenten uͤbernach¬ tet und welcher unentgeltlich den Wein hergegeben, bloß damit er einmal ſeine Freude an einem ſo genann¬ ten Kommerſch haben moͤge.

Nach Tiſch legte Goethe uns colorirte Zeichnungen italieniſcher Gegenden vor, beſonders des noͤrdlichen Italiens mit den Gebirgen der angrenzenden Schweiz und dem Lago maggiore. Die Borromaͤiſchen Inſeln ſpiegelten ſich im Waſſer, man ſah am Ufer Fahrzeuge und Fiſchergeraͤth, wobey Goethe bemerklich machte, daß dieß der See aus ſeinen Wanderjahren ſey. Nordweſt¬ lich, in der Richtung nach dem monte rosa ſtand das den See begrenzende Vorgebirge in dunkelen blauſchwar¬ zen Maſſen, ſo wie es kurz nach Sonnenuntergange zu ſeyn pflegt.

110

Ich machte die Bemerkung, daß mir, als einem in der Ebene Geborenen, die duͤſtere Erhabenheit ſolcher Maſſen ein unheimliches Gefuͤhl errege und daß ich keineswegs Luſt verſpuͤre, in ſolchen Schluchten zu wandern.

Dieſes Gefuͤhl, ſagte Goethe, iſt in der Ordnung. Denn im Grunde iſt dem Menſchen nur der Zuſtand gemaͤß, worin und wofuͤr er geboren worden. Wen nicht große Zwecke in die Fremde treiben, der bleibt weit gluͤcklicher zu Hauſe. Die Schweiz machte anfaͤng¬ lich auf mich ſo großen Eindruck, daß ich dadurch ver¬ wirrt und beunruhigt wurde; erſt bey wiederholtem Aufenthalt, erſt in ſpaͤteren Jahren, wo ich die Gebirge bloß in mineralogiſcher Hinſicht betrachtete, konnte ich mich ruhig mit ihnen befaſſen.

Wir beſahen darauf eine große Folge von Kupfer¬ ſtichen nach Gemaͤlden neuer Kuͤnſtler aus einer fran¬ zoͤſiſchen Gallerie. Die Erfindung in dieſen Bildern war faſt durchgehends ſchwach, ſo daß wir unter vier¬ zig Stuͤcken kaum vier bis fuͤnf gute fanden. Dieſe gu¬ ten waren: ein Maͤdchen, das ſich einen Liebesbrief ſchreiben laͤßt; eine Frau in einem maison à vendre, das niemand kaufen will; ein Fiſchfang; Muſikanten vor einem Muttergottesbilde. Auch eine Landſchaft in Pouſſin's Manier war nicht uͤbel, wobey Goethe ſich folgendermaßen aͤußerte: Solche Kuͤnſtler, ſagte er, haben den allgemeinen Begriff von Pouſſin's Land¬111 ſchaften aufgefaßt und mit dieſem Begriff wirken ſie fort. Man kann ihre Bilder nicht gut und nicht ſchlecht nennen. Sie ſind nicht ſchlecht, weil uͤberall ein tuͤch¬ tiges Muſter hindurchblickt. Aber man kann ſie nicht gut heißen, weil den Kuͤnſtlern gewoͤhnlich Pouſſin's große Perſoͤnlichkeit fehlt. Es iſt unter den Poeten nicht anders, und es giebt deren, die ſich z. B. in Shakſpeare's großer Manier ſehr unzulaͤnglich ausnehmen wuͤrden.

Zum Schluß Rauch's Modell zu Goethe's Sta¬ tue, fuͤr Frankfurt beſtimmt, lange betrachtet und be¬ ſprochen.

Heute um ein Uhr zu Goethe. Er legte mir Ma¬ nuſcripte vor, die er fuͤr das erſte Heft des fuͤnften Bandes von Kunſt und Alterthum dictirt hatte. Zu meiner Beurtheilung des deutſchen Paria fand ich von ihm einen Anhang gemacht, ſowohl in Bezug auf das franzoͤſiſche Trauerſpiel, als ſeine eigene lyriſche Trilogie, wodurch denn dieſer Gegenſtand gewiſſermaßen in ſich geſchloſſen war.

Es iſt gut, ſagte Goethe, daß Sie bey Gelegen¬ heit Ihrer Recenſion ſich die indiſchen Zuſtaͤnde zu eigen gemacht haben; denn wir behalten von unſern Studien am Ende doch nur das, was wir practiſch anwenden.

112

Ich gab ihm Recht und ſagte, daß ich bey meinem Aufenthalt auf der Academie dieſe Erfahrung gemacht, indem ich von den Vortraͤgen der Lehrer nur das be¬ halten, zu deſſen Anwendung eine practiſche Richtung in mir gelegen; dagegen haͤtte ich alles, was nicht ſpaͤ¬ ter bey mir zur Ausuͤbung gekommen, durchaus ver¬ geſſen. Ich habe, ſagte ich, bey Heeren alte und neue Geſchichte gehoͤrt, aber ich weiß davon kein Wort mehr. Wuͤrde ich aber jetzt einen Punkt der Geſchichte in der Abſicht ſtudiren, um ihn etwa dramatiſch darzu¬ ſtellen, ſo wuͤrde ich ſolche Studien mir ſicher fuͤr immer zu eigen machen.

Überall, ſagte Goethe, treibt man auf Academien viel zu viel, und gar zu viel Unnuͤtzes. Auch dehnen die einzelnen Lehrer ihre Faͤcher zu weit aus, bey wei¬ tem uͤber die Beduͤrfniſſe der Hoͤrer. In fruͤherer Zeit wurde Chemie und Botanik, als zur Arzneikunde ge¬ hoͤrig, vorgetragen und der Mediciner hatte daran genug. Jetzt aber ſind Chemie und Botanik eigene unuͤberſeh¬ bare Wiſſenſchaften geworden, deren jede ein ganzes Menſchenleben erfordert, und man will ſie dem Medi¬ ciner mit zumuthen! Daraus aber kann nichts werden; das Eine wird uͤber das Andere unterlaſſen und ver¬ geſſen. Wer klug iſt, lehnet daher alle zerſtreuende An¬ forderungen ab und beſchraͤnkt ſich auf ein Fach und wird tuͤchtig in Einem.

Darauf zeigte mir Goethe eine kurze Critik, die er113 uͤber Byrons Cain geſchrieben und die ich mit großem Intereſſe las.

Man ſieht, ſagte er, wie einem freyen Geiſte wie Byron die Unzulaͤnglichkeit der kirchlichen Dogmen zu ſchaffen gemacht und wie er ſich durch ein ſolches Stuͤck von einer ihm aufgedrungenen Lehre zu befreyen geſucht. Die engliſche Geiſtlichkeit wird es ihm freylich nicht Dank wiſſen; mich ſoll aber wundern, ob er nicht in Darſtellung nachbarlicher bibliſcher Gegenſtaͤnde fort¬ ſchreiten wird, und ob er ſich ein Suͤjet, wie den Un¬ tergang von Sodom und Gomorra, wird entgehen laſſen.

Nach dieſen literariſchen Betrachtungen lenkte Goethe mein Intereſſe auf die bildende Kunſt, indem er mir einen antiken geſchnittenen Stein zeigte, von welchem er ſchon Tags vorher mit Bewunderung geſprochen. Ich war entzuͤckt bey der Betrachtung der Naivitaͤt des dargeſtellten Gegenſtandes. Ich ſah einen Mann, der ein ſchweres Gefaͤß von der Schulter genommen, um einen Knaben daraus trinken zu laſſen. Dieſem aber iſt es noch nicht bequem, noch nicht mundrecht genug, das Getraͤnk will nicht fließen, und, indem er ſeine beyden Haͤndchen an das Gefaͤß legt, blickt er zu dem Manne hinauf und ſcheint ihn zu bitten, es noch ein wenig zu neigen.

Nun, wie gefaͤllt Ihnen das? ſagte Goethe. Wir Neueren, fuhr er fort, fuͤhlen wohl die große Schoͤn¬I. 8114heit eines ſolchen rein natuͤrlichen, rein naiven Motivs, wir haben auch wohl die Kenntniß und den Begriff wie es zu machen waͤre, allein wir machen es nicht, der Verſtand herrſchet vor und es fehlet immer dieſe entzuͤckende Anmuth.

Wir betrachteten darauf eine Medaille von Brandt in Berlin, den jungen Theſeus darſtellend, wie er die Waffen ſeines Vaters unter dem Stein hervornimmt. Die Stellung der Figur hatte viel Loͤbliches, jedoch ver¬ mißten wir eine genugſame Anſtrengung der Glieder ge¬ gen die Laſt des Steines. Auch erſchien es keineswegs gut gedacht, daß der Juͤngling ſchon in der einen Hand die Waffen haͤlt, waͤhrend er noch mit der andern den Stein hebt; denn nach der Natur der Sache wird er zuerſt den ſchweren Stein zur Seite werfen und dann die Waffen aufnehmen. Dagegen, ſagte Goethe, will ich Ihnen eine antike Gemme zeigen, worauf derſelbe Gegenſtand von einem Alten behandelt iſt.

Er ließ von Stadelmann einen Kaſten herbeyholen, worin ſich einige hundert Abdruͤcke antiker Gemmen fan¬ den, die er bey Gelegenheit ſeiner italieniſchen Reiſe ſich aus Rom mitgebracht. Da ſah ich nun denſelbigen Gegenſtand von einem alten Griechen behandelt, und zwar wie anders! Der Juͤngling ſtemmt ſich mit aller Anſtrengung gegen den Stein, auch iſt er einer ſolchen Laſt gewachſen, denn man ſieht das Gewicht ſchon uͤber¬ wunden und den Stein bereits zu dem Punkt gehoben,115 um ſehr bald zur Seite geworfen zu werden. Seine ganze Koͤrperkraft wendet der junge Held gegen die ſchwere Maſſe und nur ſeine Blicke richtet er nieder¬ waͤrts auf die unten vor ihm liegenden Waffen.

Wir freuten uns der großen Naturwahrheit dieſer Behandlung.

Meyer pflegt immer zu ſagen, fiel Goethe lachend ein, wenn nur das Denken nicht ſo ſchwer waͤre! Das Schlimme aber iſt, fuhr er heiter fort, daß alles Denken zum Denken nichts hilft; man muß von Natur richtig ſeyn, ſo daß die guten Einfaͤlle im¬ mer wie freye Kinder Gottes vor uns daſtehen und uns zurufen: da ſind wir!

Goethe zeigte mir heute zwey hoͤchſt merkwuͤrdige Gedichte, beyde in hohem Grade ſittlich in ihrer Ten¬ denz, in einzelnen Motiven jedoch ſo ohne allen Ruͤck¬ halt natuͤrlich und wahr, daß die Welt dergleichen un¬ ſittlich zu nennen pflegt, weßhalb er ſie denn auch geheim hielt und an eine oͤffentliche Mittheilung nicht dachte.

Koͤnnten Geiſt und hoͤhere Bildung, ſagte er, ein Gemeingut werden, ſo haͤtte der Dichter ein gutes Spiel; er koͤnnte immer durchaus wahr ſeyn und brauchte ſich8 *116nicht zu ſcheuen, das Beſte zu ſagen. So aber muß er ſich immer in einem gewiſſen Niveau halten; er hat zu bedenken, daß ſeine Werke in die Haͤnde einer ge¬ miſchten Welt kommen und er hat daher Urſache ſich in Acht zu nehmen, daß er der Mehrzahl guter Men¬ ſchen durch eine zu große Offenheit kein Ärgerniß gebe. Und dann iſt die Zeit ein wunderlich Ding. Sie iſt ein Tyrann, der ſeine Launen hat, und der zu dem, was einer ſagt und thut, in jedem Jahrhundert ein ander Geſicht macht. Was den alten Griechen zu ſagen erlaubt war, will uns zu ſagen nicht mehr anſtehen, und was Shakſpear's kraͤftigen Mitmenſchen durchaus anmuthete, kann der Englaͤnder von 1820 nicht mehr ertragen, ſo daß in der neueſten Zeit ein Family-Shak¬ speare ein gefuͤhltes Beduͤrfniß wird.

Auch liegt ſehr vieles in der Form, fuͤgte ich hinzu. Das eine jener beyden Gedichte, in dem Ton und Versmaß der Alten, hat weit weniger Zuruͤckſtoßendes. Einzelne Motive ſind allerdings an ſich widerwaͤrtig, allein die Behandlung wirft uͤber das Ganze ſo viel Großheit und Wuͤrde, daß es uns wird, als hoͤrten wir einen kraͤftigen Alten und als waͤren wir in die Zeit griechiſcher Heroen zuruͤckverſetzt. Das andere Ge¬ dicht dagegen, in dem Ton und der Versart von Meiſter Arioſt[,]iſt[] weit verfaͤnglicher. Es behandelt ein Aben¬ teuer von heute, in der Sprache von heute, und, indem es dadurch ohne alle Umhuͤllung ganz in unſere Gegen¬117 wart hereintritt, erſcheinen die einzelnen Kuͤhnheiten bey weitem verwegener.

Sie haben Recht, ſagte Goethe, es liegen in den ver¬ ſchiedenen poetiſchen Formen geheimnißvolle große Wir¬ kungen. Wenn man den Inhalt meiner Roͤmiſchen Elegieen in den Ton und die Versart von Byrons Don Juan uͤbertragen wollte, ſo muͤßte ſich das Geſagte ganz verrucht ausnehmen.

Die franzoͤſiſchen Zeitungen wurden gebracht. Der beendigte Feldzug der Franzoſen in Spanien unter dem Herzog von Angoulême hatte fuͤr Goethe großes In¬ tereſſe. Ich muß die Bourbons wegen dieſes Schrit¬ tes durchaus loben, ſagte er, denn erſt hiedurch gewin¬ nen ſie ihren Thron, indem ſie die Armee gewinnen. Und das iſt erreicht. Der Soldat kehret mit Treue fuͤr ſeinen Koͤnig zuruͤck, denn er hat aus ſeinen eigenen Siegen, ſo wie aus den Niederlagen der vielkoͤpfig be¬ fehligten Spanier die Überzeugung gewonnen, was fuͤr ein Unterſchied es ſey, einem Einzelnen gehorchen oder Vielen. Die Armee hat den alten Ruhm behauptet und an den Tag gelegt, daß ſie fortwaͤhrend in ſich ſelber brav ſey und daß ſie auch ohne Napoleon zu ſiegen vermoͤge.

Goethe wendete darauf ſeine Gedanken in der Ge¬ ſchichte ruͤckwaͤrts und ſprach ſehr viel uͤber die preußiſche Armee im ſiebenjaͤhrigen Kriege, die durch Friedrich den Großen an ein beſtaͤndiges Siegen gewoͤhnt und dadurch118 verwoͤhnt worden, ſo daß ſie in ſpaͤterer Zeit, aus zu großem Selbſtvertrauen, ſo viele Schlachten verloren. Alle einzelnen Details waren ihm gegenwaͤrtig und ich hatte ſein gluͤckliches Gedaͤchtniß zu bewundern.

Ich habe den großen Vortheil, fuhr er fort, daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die groͤßten Welt¬ begebenheiten an die Tagesordnung kamen und ſich durch mein langes Leben fortſetzten, ſo daß ich vom ſieben¬ jaͤhrigen Krieg, ſodann von der Trennung Amerika's von England, ferner von der franzoͤſiſchen Revolution, und endlich von der ganzen Napoleoniſchen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereigniſſen lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich zu ganz ande¬ ren Reſultaten und Einſichten gekommen, als allen de¬ nen moͤglich ſeyn wird, die jetzt geboren werden und die ſich jene großen Begebenheiten durch Buͤcher aneig¬ nen muͤſſen, die ſie nicht verſtehen.

Was uns die naͤchſten Jahre bringen werden, iſt durchaus nicht vorherzuſagen; doch ich fuͤrchte, wir kommen ſo bald nicht zur Ruhe. Es iſt der Welt nicht gegeben, ſich zu beſcheiden; den Großen nicht, daß kein Mißbrauch der Gewalt Statt finde, und der Maſſe nicht, daß ſie in Erwartung allmaͤhlicher Verbeſ¬ ſerungen mit einem maͤßigen Zuſtande ſich begnuͤge. Koͤnnte man die Menſchheit vollkommen machen, ſo waͤre auch ein vollkommener Zuſtand denkbar; ſo aber wird es ewig heruͤber und hinuͤber ſchwanken, der eine119 Theil wird leiden, waͤhrend der andere ſich wohl befin¬ det, Egoismus und Neid werden als boͤſe Daͤmonen immer ihr Spiel treiben und der Kampf der Parteyen wird kein Ende haben.

Das Vernuͤnftigſte iſt immer, daß jeder ſein Me¬ tier treibe, wozu er geboren iſt und was er gelernt hat, und daß er den Andern nicht hindere, das Seinige zu thun. Der Schuſter bleibe bey ſeinem Leiſten, der Bauer hinter dem Pflug und der Fuͤrſt wiſſe zu regie¬ ren. Denn dieß iſt auch ein Metier, das gelernt ſeyn will, und das ſich niemand anmaßen ſoll, der es nicht verſteht.

Goethe kam darauf wieder auf die franzoͤſiſchen Zeitungen. Die Liberalen, ſagte er, moͤgen reden; denn wenn ſie vernuͤnftig ſind, hoͤrt man ihnen gerne zu; allein den Royaliſten, in deren Haͤnden die aus¬ uͤbende Gewalt iſt, ſteht das Reden ſchlecht, ſie muͤſſen handeln. Moͤgen ſie Truppen marſchiren laſſen und koͤpfen und haͤngen, das iſt recht; allein in oͤffentlichen Blaͤttern Meinungen bekaͤmpfen und ihre Maßregeln rechtfertigen, das will ihnen nicht kleiden. Gaͤbe es ein Publicum von Koͤnigen, da moͤchten ſie reden.

In dem, was ich ſelber zu thun und zu treiben hatte, fuhr Goethe fort, habe ich mich immer als Roya¬ liſt behauptet. Die Anderen habe ich ſchwatzen laſſen und ich habe gethan, was ich fuͤr gut fand. Ich uͤber¬ ſah meine Sache und wußte wohin ich wollte. Hatte120 ich als Einzelner einen Fehler begangen, ſo konnte ich ihn wieder gut machen; haͤtte ich ihn aber zu dreyen und mehreren begangen, ſo waͤre ein Gutmachen un¬ moͤglich geweſen, denn unter Vielen iſt zu vielerley Meinung.

Darauf bey Tiſch war Goethe von der heiterſten Laune. Er zeigte mir das Stammbuch der Frau von Spiegel, worin er ſehr ſchoͤne Verſe geſchrieben. Es war ein Platz fuͤr ihn zwey Jahre lang offen gelaſſen und er war nun froh, daß es ihm gelungen, ein altes Verſprechen endlich zu erfuͤllen. Nachdem ich das Ge¬ dicht an Frau von Spiegel geleſen, blaͤtterte ich in dem Buche weiter, wobey ich auf manchen bedeutenden Namen ſtieß. Gleich auf der naͤchſten Seite ſtand ein Gedicht von Tiedge, ganz in der Geſinnung und dem Tone ſeiner Urania geſchrieben. In einer Anwandlung von Verwegenheit, ſagte Goethe, war ich im Begriff einige Verſe darunter zu ſetzen; es freut mich aber, daß ich es unterlaſſen, denn es iſt nicht das erſte Mal, daß ich durch ruͤckhaltloſe Äußerungen gute Menſchen zuruͤck¬ geſtoßen und die Wirkung meiner beſten Sachen verdor¬ ben habe.

Indeſſen, fuhr Goethe fort, habe ich von Tiedge's Urania nicht wenig auszuſtehen gehabt; denn es gab eine Zeit, wo nichts geſungen und nichts declamirt wurde als die Urania. Wo man hinkam, fand man die Urania auf allen Tiſchen; die Urania und die Un¬121 ſterblichkeit war der Gegenſtand jeder Unterhaltung. Ich moͤchte keineswegs das Gluͤck entbehren an eine kuͤnftige Fortdauer zu glauben; ja ich moͤchte mit Lorenzo von Medici ſagen, daß alle diejenigen auch fuͤr dieſes Le¬ ben todt ſind, die kein anderes hoffen; allein ſolche unbegreifliche Dinge liegen zu fern, um ein Gegen¬ ſtand taͤglicher Betrachtung und gedankenzerſtoͤrender Speculation zu ſeyn. Und ferner: wer eine Fortdauer glaubt, der ſey gluͤcklich im Stillen, aber er hat nicht Urſache ſich darauf etwas einzubilden. Bey Gelegenheit von Tiedge's Urania indeß machte ich die Bemerkung, daß, eben wie der Adel, ſo auch die Frommen eine gewiſſe Ariſtokratie bilden. Ich fand dumme Weiber, die ſtolz waren weil ſie mit Tiedge an Unſterblichkeit glaubten, und ich mußte es leiden, daß manche mich uͤber dieſen Punkt auf eine ſehr duͤnkelhafte Weiſe exa¬ minirte. Ich aͤrgerte ſie aber, indem ich ſagte: es koͤnne mir ganz recht ſeyn, wenn nach Ablauf dieſes Lebens uns ein abermaliges begluͤcke; allein ich wolle mir aus¬ bitten, daß mir druͤben niemand von denen begegne, die hier daran geglaubt haͤtten. Denn ſonſt wuͤrde meine Plage erſt recht angehen! Die Frommen wuͤrden um mich herumkommen und ſagen: haben wir nicht Recht gehabt? haben wir es nicht vorhergeſagt? iſt es nicht eingetroffen? Und damit wuͤrde denn auch druͤben der Langenweile kein Ende ſeyn.

Die Beſchaͤftigung mit Unſterblichkeits-Ideen, fuhr122 Goethe fort, iſt fuͤr vornehme Staͤnde und beſonders fuͤr Frauenzimmrr, die nichts zu thun haben. Ein tuͤch¬ tiger Menſch aber, der ſchon hier etwas Ordentliches zu ſeyn gedenkt und der daher taͤglich zu ſtreben, zu kaͤmpfen und zu wirken hat, laͤßt die kuͤnftige Welt auf ſich beruhen, und iſt thaͤtig und nuͤtzlich in dieſer. Ferner ſind Unſterblichkeits-Gedanken fuͤr ſolche, die in Hinſicht auf Gluͤck hier nicht zum Beſten weggekommen ſind, und ich wollte wetten: wenn der gute Tiedge ein beſſeres Geſchick haͤtte, ſo haͤtte er auch beſſere Ge¬ danken.

Mit Goethe zu Tiſch. Nachdem gegeſſen und abgeraͤumt war, ließ er durch Stadelmann große Porte¬ feuille's mit Kupferſtichen herbeyſchleppen. Auf den Mappen hatte ſich einiger Staub geſammelt, und da keine paſſende Tuͤcher zum Abwiſchen in der Naͤhe wa¬ ren, ſo ward Goethe unwillig und ſchalt ſeinen Diener. Ich erinnere Dich zum letzten Mal, ſagte er, denn gehſt Du nicht noch heute, die oft verlangten Tuͤcher zu kaufen, ſo gehe ich morgen ſelbſt, und Du ſollſt ſehen, daß ich Wort halte. Stadelmann ging.

Ich hatte einmal einen aͤhnlichen Fall mit dem Schauſpieler Becker, fuhr Goethe gegen mich heiter fort,123 der ſich weigerte, einen Reiter im Wallenſtein zu ſpielen. Ich ließ ihm aber ſagen, wenn er die Rolle nicht ſpie¬ len wolle, ſo wuͤrde ich ſie ſelber ſpielen. Das wirkte. Denn ſie kannten mich beym Theater und wußten, daß ich in ſolchen Dingen keinen Spaß verſtand, und daß ich verruͤckt genug war, mein Wort zu halten und das Tollſte zu thun.

Und wuͤrden Sie im Ernſt die Rolle geſpielt haben? fragte ich.

Ja, ſagte Goethe, ich haͤtte ſie geſpielt und wuͤrde den Herrn Becker herunter geſpielt haben, denn ich kannte die Rolle beſſer als er.

Wir oͤffneten darauf die Mappen und ſchritten zur Betrachtung der Kupfer und Zeichnungen. Goethe ver¬ faͤhrt hiebey in Bezug auf mich ſehr ſorgfaͤltig, und ich fuͤhle, daß es ſeine Abſicht iſt, mich in der Kunſtbe¬ trachtung auf eine hoͤhere Stufe der Einſicht zu bringen. Nur das in ſeiner Art durchaus Vollendete zeigt er mir und macht mir des Kuͤnſtlers Intention und Ver¬ dienſt deutlich, damit ich erreichen moͤge, die Gedanken der Beſten nachzudenken und den Beſten gleich zu em¬ pfinden. Dadurch, ſagte er heute, bildet ſich das, was wir Geſchmack nennen. Denn den Geſchmack kann man nicht am Mittelgut bilden, ſondern nur am Aller¬ vorzuͤglichſten. Ich zeige Ihnen daher nur das Beſte; und wenn Sie ſich darin befeſtigen, ſo haben Sie einen Maßſtab fuͤr das Übrige, das Sie nicht uͤberſchaͤtzen,124 aber doch ſchaͤtzen werden. Und ich zeige Ihnen das Beſte in jeder Gattung, damit Sie ſehen, daß keine Gattung gering zu achten, ſondern daß jede erfreulich iſt, ſobald ein großes Talent darin den Gipfel erreichte. Dieſes Bild eines franzoͤſiſchen Kuͤnſtlers z. B. iſt galant wie kein anderes und daher ein Muſterſtuͤck ſeiner Art.

Goethe reichte mir das Blatt und ich ſah es mit Freuden. In einem reizenden Zimmer eines Sommer¬ palais, wo man durch offene Fenſter und Thuͤren die Ausſicht in den Garten hat, ſieht man eine Gruppe der anmuthigſten Perſonen. Eine ſitzende ſchoͤne Frau von etwa dreyßig Jahren haͤlt ein Notenbuch, woraus ſie ſo eben geſungen zu haben ſcheint. Etwas tiefer, an ihrer Seite ſitzend, lehnt ſich ein junges Maͤdchen von etwa fuͤnfzehn. Ruͤckwaͤrts am offenen Fenſter ſteht eine andere junge Dame; ſie haͤlt eine Laute und ſcheint noch Toͤne zu greifen. In dieſem Augenblick iſt ein junger Herr hereingetreten, auf den die Blicke der Frauen ſich richten; er ſcheint die muſikaliſche Unterhaltung unter¬ brochen zu haben, und, indem er mit einer leichten Verbeugung vor ihnen ſteht, macht er den Eindruck, als ſagte er entſchuldigende Worte, die von den Frauen mit Wohlgefallen gehoͤrt werden.

Das, daͤchte ich, ſagte Goethe, waͤre ſo galant, wie irgend ein Stuͤck von Calderon, und Sie haben nun in dieſer Art das Vorzuͤglichſte geſehen. Was aber ſagen Sie hiezu?

125

Mit dieſen Worten reichte er mir einige radirte Blaͤtter des beruͤhmten Thiermalers Roos; lauter Schafe, und dieſe Thiere in allen ihren Lagen und Zu¬ ſtaͤnden. Das Einfaͤltige der Phyſiognomieen, das Haͤ߬ liche, Struppige der Haare, alles mit der aͤußerſten Wahrheit, als waͤre es die Natur ſelber.

Mir wird immer bange, ſagte Goethe, wenn ich dieſe Thiere anſehe. Das Beſchraͤnkte, Dumpfe, Traͤu¬ mende, Gaͤhnende ihres Zuſtandes zieht mich in das Mitgefuͤhl deſſelben hinein; man fuͤrchtet zum Thier zu werden, und moͤchte faſt glauben, der Kuͤnſtler ſey ſel¬ ber eins geweſen. Auf jeden Fall bleibt es im hohen Grade erſtaunenswuͤrdig, wie er ſich in die Seelen dieſer Geſchoͤpfe hat hineindenken und hineinempfinden koͤnnen, um den innern Character in der aͤußern Huͤlle mit ſol¬ cher Wahrheit durchblicken zu laſſen. Man ſieht aber, was ein großes Talent machen kann, wenn es bey Gegenſtaͤnden bleibt, die ſeiner Natur analog ſind.

Hat denn dieſer Kuͤnſtler, ſagte ich, nicht auch Hunde, Katzen und Raubthiere mit einer aͤhnlichen Wahrheit gebildet? ja hat er, bey der großen Gabe ſich in einen fremden Zuſtand hineinzufuͤhlen, nicht auch menſchliche Charactere mit einer gleichen Treue behandelt?

Nein, ſagte Goethe, alles das lag außer ſeinem Kreiſe; dagegen die frommen, grasfreſſenden Thiere, wie Schafe, Ziegen, Kuͤhe und dergleichen, ward er nicht126 muͤde ewig zu wiederholen; dieß war ſeines Talentes eigentliche Region, aus der er auch zeitlebens nicht her¬ ausging. Und daran that er wohl! Das Mitgefuͤhl der Zuſtaͤnde dieſer Thiere war ihm angeboren, die Kenntniß ihres Pſychologiſchen war ihm gegeben, und ſo hatte er denn auch fuͤr deren Koͤrperliches ein ſo gluͤckliches Auge. Andere Geſchoͤpfe dagegen waren ihm vielleicht nicht ſo durchſichtig und es fehlte ihm daher zu ihrer Darſtellung ſowohl Beruf als Trieb.

Durch dieſe Äußerung Goethe's ward manches Ana¬ loge in mir aufgeregt, das mir wieder lebhaft vor die Seele trat. So hatte er mir vor einiger Zeit geſagt, daß dem echten Dichter die Kenntniß der Welt ange¬ boren ſey und daß er zu ihrer Darſtellung keineswegs vieler Erfahrung und einer großen Empirie beduͤrfe. Ich ſchrieb meinen Goͤtz von Berlichingen, ſagte er, als junger Menſch von zwey und zwanzig, und erſtaunte zehn Jahre ſpaͤter uͤber die Wahrheit meiner Darſtellung. Erlebt und geſehen hatte ich bekanntlich dergleichen nicht und ich mußte alſo die Kenntniß mannigfaltiger menſch¬ licher Zuſtaͤnde durch Anticipation beſitzen.

Überhaupt hatte ich nur Freude an der Darſtellung meiner innern Welt, ehe ich die aͤußere kannte. Als ich nachher in der Wirklichkeit fand, daß die Welt ſo war, wie ich ſie mir gedacht hatte, war ſie mir ver¬ drießlich und ich hatte keine Luſt mehr ſie darzuſtellen. Ja ich moͤchte ſagen: haͤtte ich mit Darſtellung der127 Welt ſo lange gewartet, bis ich ſie kannte ſo waͤre meine Darſtellung Perſiflage geworden.

Es liegt in den Characteren, ſagte er ein ander Mal, eine gewiſſe Nothwendigkeit, eine gewiſſe Conſequenz, vermoͤge welcher bey dieſem oder jenem Grundzuge eines Characters gewiſſe ſecundaͤre Zuͤge Statt finden. Dieſes lehrt die Empirie genugſam, es kann aber auch einzelnen Individuen die Kenntniß davon angeboren ſeyn. Ob bey mir Angeborenes und Erfahrung ſich vereinige, will ich nicht unterſuchen; aber ſo viel weiß ich: wenn ich jemanden eine Viertelſtunde geſprochen habe, ſo will ich ihn zwey Stunden reden laſſen.

So hatte Goethe von Lord Byron geſagt, daß ihm die Welt durchſichtig ſey und daß ihm ihre Darſtellung durch Anticipation moͤglich. Ich aͤußerte darauf einige Zweifel: ob es Byron z. B. gelingen moͤchte, eine untergeordnete thieriſche Natur darzuſtellen, indem ſeine Individualitaͤt mir zu gewaltſam erſcheine, um ſich ſol¬ chen Gegenſtaͤnden mit Liebe hinzugeben. Goethe gab dieſes zu und erwiederte, daß die Anticipation ſich uͤber¬ all nur ſoweit erſtrecke, als die Gegenſtaͤnde dem Talent analog ſeyen, und wir wurden einig, daß in dem Ver¬ haͤltniß, wie die Anticipation beſchraͤnkt oder umfaſſend ſey, das darſtellende Talent ſelbſt von groͤßerem oder geringerem Umfange befunden werde.

Wenn Eure Excellenz behaupten, ſagte ich darauf, daß dem Dichter die Welt angeboren ſey, ſo haben Sie128 wohl nur die Welt des Innern dabey im Sinne, aber nicht die empiriſche Welt der Erſcheinung und Convenienz; und wenn alſo dem Dichter eine wahre Darſtellung derſelben gelingen ſoll, ſo muß doch wohl die Erforſchung des Wirklichen hinzukommen?

Allerdings, erwiederte Goethe, es iſt ſo. Die Region der Liebe, des Haſſes, der Hoffnung, der Verzweiflung und wie die Zuſtaͤnde und Leidenſchaften der Seele heißen, iſt dem Dichter angeboren und ihre Darſtellung gelingt ihm. Es iſt aber nicht angeboren: wie man Gericht haͤlt, oder wie man im Parlament oder bey einer Kaiſerkroͤnung verfaͤhrt, und um nicht gegen die Wahrheit ſolcher Dinge zu verſtoßen, muß der Dichter ſie aus Erfahrung oder Überlieferung ſich aneignen. So konnte ich im Fauſt den duͤſtern Zuſtand des Lebensuͤberdruſſes im Helden, ſo wie die Liebes¬ empfindungen Gretchens recht gut durch Anticipation in meiner Macht haben; allein um z. B. zu ſagen:

Wie traurig ſteigt die unvollkommne Scheibe Des ſpaͤten Monds mit feuchter Glut heran,

bedurfte es einiger Beobachtung der Natur.

Es iſt aber, ſagte ich, im ganzen Fauſt keine Zeile, die nicht von ſorgfaͤltiger Durchforſchung der Welt und des Lebens unverkennbare Spuren truͤge, und man wird keineswegs erinnert, als ſey Ihnen das alles, ohne die reichſte Erfahrung, nur ſo geſchenkt worden.

129

Mag ſeyn, antwortete Goethe, allein haͤtte ich nicht die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich waͤre mit ſehenden Augen blind geblieben und alle Er¬ forſchung und Erfahrung waͤre nichts geweſen als ein ganz todtes vergebliches Bemuͤhen. Das Licht iſt da und die Farben umgeben uns; allein truͤgen wir kein Licht und keine Farben im eigenen Auge, ſo wuͤrden wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.

Es giebt vortreffliche Menſchen, ſagte Goethe, die nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬ moͤgen, ſondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬ maligen Gegenſtaͤnde mit Ruhe tief zu durchdringen. Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man ſelten von ihnen erlangt was man augenblicklich wuͤnſcht, allein auf dieſem Wege wird das Hoͤchſte geleiſtet.

Ich brachte das Geſpraͤch auf Ramberg. Das iſt freylich ein Kuͤnſtler ganz anderer Art, ſagte Goethe, ein hoͤchſt erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬ ſirendes, das nicht ſeines Gleichen hat. Er verlangte einſt in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm den Agamemnon, wie er, von Troja in ſeine Heimath zuruͤckkehrend, vom Wagen ſteigt, und wie es ihm unheimlich wird, die Schwelle ſeines Hauſes zu betre¬I. 9130ten. Sie werden zugeben, daß dieß ein Gegenſtand der allerſchwierigſten Sorte iſt, der bey einem ande¬ ren Kuͤnſtler die reiflichſte Überlegung wuͤrde erfordert haben. Ich hatte aber kaum das Wort ausgeſprochen, als Ramberg ſchon an zu zeichnen fing, und zwar mußte ich bewundern, wie er den Gegenſtand ſogleich richtig auffaßte. Ich kann nicht laͤugnen, ich moͤchte einige Blaͤtter von Rambergs Hand beſitzen.

Wir ſprachen ſodann uͤber andere Kuͤnſtler, die in ihren Werken leichtſinnig verfahren und zuletzt in Ma¬ nier zu Grunde gehen.

Die Manier, ſagte Goethe, will immer fertig ſeyn und hat keinen Genuß an der Arbeit. Das echte, wahr¬ haft große Talent aber findet ſein hoͤchſtes Gluͤck in der Ausfuͤhrung. Roos iſt unermuͤdlich in emſiger Zeich¬ nung der Haare und Wolle ſeiner Ziegen und Schafe, und man ſieht an dem unendlichen Detail, daß er waͤhrend der Arbeit die reinſte Seligkeit genoß und nicht daran dachte fertig zu werden.

Geringeren Talenten genuͤgt nicht die Kunſt als ſolche; ſie haben waͤhrend der Ausfuͤhrung immer nur den Gewinn vor Augen, den ſie durch ein fertiges Werk zu erreichen hoffen. Bey ſo weltlichen Zwecken und Richtungen aber kann nichts Großes zu Stande kommen.

131

Ich ging um zwoͤlf Uhr zu Goethe, der mich vor Tiſch zu einer Spazierfahrt hatte einladen laſſen. Ich fand ihn fruͤhſtuͤckend als ich zu ihm hereintrat, und ſetzte mich ihm gegenuͤber, indem ich das Geſpraͤch auf die Arbeiten brachte, die uns gemeinſchaftlich in Bezug auf die neue Ausgabe ſeiner Werke beſchaͤftigen. Ich redete ihm zu, ſowohl ſeine Goͤtter, Helden und Wieland als auch ſeine Briefe des Paſtors in dieſe neue Edition mit aufzunehmen.

Ich habe, ſagte Goethe, auf meinem jetzigen Stand¬ punct uͤber jene jugendlichen Productionen eigentlich kein Urtheil. Da moͤgt Ihr Juͤngeren entſcheiden. Ich will indeß jene Anfaͤnge nicht ſchelten; ich war freylich noch dunkel und ſtrebte in bewußtloſem Drange vor mir hin, aber ich hatte ein Gefuͤhl des Rechten, eine Wuͤnſchel¬ ruthe, die mir anzeigte wo Gold war.

Ich machte bemerklich, daß dieſes bey jedem großen Talent der Fall ſeyn muͤſſe, indem es ſonſt bey ſeinem Erwachen in der gemiſchten Welt, nicht das Rechte er¬ greifen und das Verkehrte vermeiden wuͤrde.

Es war indeß angeſpannt und wir fuhren den Weg nach Jena hinaus. Wir ſprachen verſchiedene Dinge, Goethe erwaͤhnte die neuen franzoͤſiſchen Zeitungen.

Die Conſtitution in Frankreich, ſagte er, bey einem9 *132Volke, das ſo viele verdorbene Elemente in ſich hat, ruht auf ganz anderem Fundament als die in England. Es iſt in Frankreich alles durch Beſtechungen zu errei¬ chen; ja die ganze franzoͤſiſche Revolution iſt durch Be¬ ſtechungen geleitet worden.

Darauf erzaͤhlte mir Goethe die Nachricht von dem Tode Eugen Napoleons (Herzog von Leuchtenberg), die dieſen Morgen eingegangen, welcher Fall ihn tief zu betruͤben ſchien. Er war einer von den großen Cha¬ racteren, ſagte Goethe, die immer ſeltener werden, und die Welt iſt abermals um einen bedeutenden Menſchen aͤrmer. Ich kannte ihn perſoͤnlich; noch vorigen Sommer war ich mit ihm in Marienbad zuſammen. Er war ein ſchoͤner Mann von etwa zwey und vierzig Jahren, aber er ſchien aͤlter zu ſeyn, und das war kein Wunder, wenn man bedenkt, was er ausgeſtanden und wie in ſeinem Leben ſich ein Feldzug und eine große That auf die andere draͤngte. Er theilte mir in Marienbad einen Plan mit, uͤber deſſen Ausfuͤhrung er viel mit mir verhandelte. Er ging naͤmlich damit um, den Rhein mit der Donau durch einen Canal zu vereinigen. Ein rieſenhaftes Unternehmen! wenn man die widerſtrebende Localitaͤt bedenkt. Aber jemandem, der unter Napoleon gedient und mit ihm die Welt erſchuͤttert hat, erſcheint nichts unmoͤglich. Carl der Große hatte ſchon denſel¬ bigen Plan und ließ auch mit der Arbeit anfangen, allein das Unternehmen gerieth bald in Stocken: der133 Sand wollte nicht Stich halten, die Erdmaſſen fielen von beyden Seiten immer wieder zuſammen.

Mit Goethe vor Tiſch nach ſeinem Garten gefahren.

Die Lage dieſes Gartens, jenſeits der Ilm, in der Naͤhe des Parks, an dem weſtlichen Abhange eines Huͤgelzuges, hat etwas ſehr Trauliches. Vor Nord - und Oſtwinden geſchuͤtzt, iſt er den erwaͤrmenden und belebenden Einwirkungen des ſuͤdlichen und weſtlichen Himmels offen, welches ihn, beſonders im Herbſt und Fruͤhling, zu einem hoͤchſt angenehmen Aufenthalte macht.

Der in nordweſtlicher Richtung liegenden Stadt iſt man ſo nahe, daß man in wenigen Minuten dort ſeyn kann, und doch, wenn man umherblickt, ſieht man nir¬ gend ein Gebaͤude oder eine Thurmſpitze ragen, die an eine ſolche ſtaͤdtiſche Naͤhe erinnern koͤnnte; die hohen dichten Baͤume des Parks verhuͤllen alle Ausſicht nach jener Seite. Sie ziehen ſich links, nach Norden zu, unter dem Namen des Sternes, ganz nahe an den Fahrweg heran, der unmittelbar vor dem Garten voruͤberfuͤhrt.

Gegen Weſten und Suͤdweſten blickt man frey uͤber eine geraͤumige Wieſe hin, durch welche, in der Ent¬ fernung eines guten Pfeilſchuſſes, die Ilm in ſtillen Windungen vorbeygeht. Jenſeits des Fluſſes erhebt ſich134 das Ufer gleichfalls huͤgelartig, an deſſen Abhaͤngen und auf deſſen Hoͤhe, in den mannigfaltigen Laub-Schatti¬ rungen hoher Erlen, Eſchen, Pappelweiden und Birken, der ſich breit hinziehende Park gruͤnet, indem er den Horizont gegen Mittag und Abend in erfreulicher Ent¬ fernung begrenzet.

Dieſe Anſicht des Parkes uͤber die Wieſe hin, be¬ ſonders im Sommer, gewaͤhrt den Eindruck, als ſey man in der Naͤhe eines Waldes, der ſich Stundenweit ausdehnt. Man denkt, es muͤſſe jeden Augenblick ein Hirſch, ein Reh auf die Wieſenflaͤche hervorkommen. Man fuͤhlt ſich in den Frieden tiefer Natureinſamkeit verſetzt, denn die große Stille iſt oft durch nichts unter¬ brochen, als durch die einſamen Toͤne der Amſel oder durch den pauſenweiſe abwechſelnden Geſang einer Wald¬ droſſel.

Aus ſolchen Traͤumen gaͤnzlicher Abgeſchiedenheit er¬ wecket uns jedoch das gelegentliche Schlagen der Thurm¬ uhr, das Geſchrey der Pfauen von der Hoͤhe des Parks heruͤber, oder das Trommeln und Hoͤrnerblaſen des Militairs der Caſerne. Und zwar nicht unangenehm; denn es erwacht mit ſolchen Toͤnen das behagliche Naͤhe¬ gefuͤhl der heimatlichen Stadt, von der man ſich meilen¬ weit verſetzt glaubte.

Zu gewiſſen Tages - und Jahres-Zeiten ſind dieſe Wieſenflaͤchen nichts weniger als einſam. Bald ſieht man Landleute, die nach Weimar zu Markt oder in135 Arbeit gehen und von dort zuruͤckkommen; bald Spa¬ ziergaͤnger aller Art laͤngs den Kruͤmmungen der Ilm, beſonders in der Richtung nach Oberweimar, das zu ge¬ wiſſen Tagen ein ſehr beſuchter Ort iſt. Sodann die Zeit der Heuerndte belebt dieſe Raͤume auf das Heiterſte. Hinterdrein ſieht man weidende Schafherden, auch wohl die ſtattlichen Schweizerkuͤhe der nahen Oeconomie.

Heute jedoch war von allen dieſen die Sinne er¬ quickenden Sommer-Erſcheinungen noch keine Spur. Auf den Wieſen waren kaum einige gruͤnende Stellen ſichtbar, die Baͤume des Parks ſtanden noch in braunen Zweigen und Knospen; doch verkuͤndigte der Schlag der Finken, ſo wie der hin und wieder vernehmbare Geſang der Amſel und Droſſel das Herannahen des Fruͤhlings.

Die Luft war ſommerartig, angenehm; es wehte ein ſehr linder Suͤdweſtwind. Einzelne kleine Gewitter¬ wolken zogen am heitern Himmel heruͤber; ſehr hoch bemerkte man ſich aufloͤſende Cirrus-Streifen. Wir be¬ trachteten die Wolken genau und ſahen, daß ſich die ziehenden geballten der untern Region gleichfalls auf¬ loͤſten, woraus Goethe ſchloß, daß das Barometer im Steigen begriffen ſeyn muͤſſe.

Goethe ſprach darauf ſehr viel uͤber das Steigen und Fallen des Barometers, welches er die Waſſerbe¬ jahung und Waſſerverneinung nannte. Er ſprach uͤber das Ein - und Ausathmen der Erde nach ewigen Ge¬ ſetzen; uͤber eine moͤgliche Suͤndfluth bey fortwaͤhrender136 Waſſerbejahung. Ferner: daß jeder Ort ſeine eigene Atmoſphaͤre habe, daß jedoch in den Barometerſtaͤnden von Europa eine große Gleichheit Statt finde. Die Natur ſey incommenſurabel, und bey den großen Irre¬ gularitaͤten ſey es ſehr ſchwer das Geſetzliche zu finden.

Waͤhrend er mich ſo uͤber hoͤhere Dinge belehrte, gingen wir in dem breiten Sandwege des Gartens auf und ab. Wir traten in die Naͤhe des Hauſes, das er ſeinem Diener aufzuſchließen befahl, um mir ſpaͤter das Innere zu zeigen. Die weißabgetuͤnchten Außenſeiten ſah ich ganz mit Roſenſtoͤcken umgeben, die, von Spa¬ lieren gehalten, ſich bis zum Dach hinaufgerankt hatten. Ich ging um das Haus herum und bemerkte zu meinem beſonderen Intereſſe an den Waͤnden in den Zweigen des Roſengebuͤſches eine große Zahl mannigfaltiger Vogel¬ neſter, die ſich von vorigem Sommer her erhalten hat¬ ten und jetzt bey mangelndem Laube den Blicken frey ſtanden. Beſonders Neſter der Haͤnflinge und verſchie¬ dener Art Graſemuͤcken, wie ſie hoͤher oder niedriger zu bauen Neigung haben.

Goethe fuͤhrte mich darauf in das Innere des Hau¬ ſes, das ich vorigen Sommer zu ſehen verſaͤumt hatte. Unten fand ich nur ein wohnbares Zimmer, an deſſen Waͤnden einige Karten und Kupferſtiche hingen; de߬ gleichen ein farbiges Portrait Goethe's in Lebensgroͤße und zwar von Meyer gemalt bald nach der Zuruͤck¬ kunft beyder Freunde aus Italien. Goethe erſcheint hier137 im kraͤftigen mittleren Mannesalter, ſehr braun und etwas ſtark. Der Ausdruck des wenig belebten Geſich¬ tes iſt ſehr ernſt; man glaubt einen Mann zu ſehen, dem die Laſt kuͤnftiger Thaten auf der Seele liegt.

Wir gingen die Treppe hinauf in die oberen Zim¬ mer; ich fand deren drey und ein Cabinetchen, aber alle ſehr klein und ohne eigentliche Bequemlichkeit. Goethe ſagte, daß er in fruͤheren Jahren hier eine ganze Zeit mit Freuden gewohnt und ſehr ruhig gearbeitet habe.

Die Temperatur dieſer Zimmer war etwas kuͤhl und wir trachteten wieder nach der milden Waͤrme im Freyen. In dem Hauptwege in der Mittagsſonne auf - und abgehend, kam das Geſpraͤch auf die neueſte Lite¬ ratur, auf Schelling, und unter andern auch auf einige neue Schauſpiele von Platen.

Bald jedoch kehrte unſere Aufmerkſamkeit auf die uns umgebende naͤchſte Natur zuruͤck. Die Kaiſerkronen und Lilien ſproßten ſchon maͤchtig, auch kamen die Mal¬ ven zu beyden Seiten des Weges ſchon gruͤnend hervor.

Der obere Theil des Gartens, am Abhange des Huͤgels, liegt als Wieſe mit einzelnen zerſtreut ſtehenden Obſtbaͤumen. Wege ſchlaͤngeln ſich hinauf, laͤngs der Hoͤhe hin und wieder herunter, welches einige Neigung in mir erregte mich oben umzuſehen. Goethe ſchritt, dieſe Wege hinanſteigend, mir raſch voran und ich freute mich uͤber ſeine Ruͤſtigkeit.

Oben an der Hecke fanden wir eine Pfauhenne, die138 vom fuͤrſtlichen Park heruͤbergekommen zu ſeyn ſchien; wobey Goethe mir ſagte, daß er in Sommertagen die Pfauen durch ein beliebtes Futter heruͤberzulocken und herzugewoͤhnen pflege.

An der anderen Seite den ſich ſchlaͤngelnden Weg herabkommend, fand ich von Gebuͤſch umgeben einen Stein mit den eingehauenen Verſen des bekannten Gedichtes:

Hier im Stillen gedachte der Liebende ſeiner Geliebten

und ich hatte das Gefuͤhl, daß ich mich an einer claſſi¬ ſchen Stelle befinde.

Ganz nahe dabey kamen wir auf eine Baumgruppe halbwuͤchſiger Eichen, Tannen, Birken und Buchen. Unter den Tannen fand ich ein herabgeworfenes Gewoͤlle eines Raubvogels; ich zeigte es Goethen, der mir er¬ wiederte, daß er dergleichen an dieſer Stelle haͤufig ge¬ funden, woraus ich ſchloß, daß dieſe Tannen ein be¬ liebter Aufenthalt einiger Eulen ſeyn moͤgen, die in dieſer Gegend haͤufig gefunden werden.

Wir traten um die Baumgruppe herum und befan¬ den uns wieder an dem Hauptwege in der Naͤhe des Hauſes. Die ſo eben umſchrittenen Eichen, Tannen, Birken und Buchen, wie ſie untermiſcht ſtehen, bilden hier einen Halbkreis, den innern Raum grottenartig uͤberwoͤlbend, worin wir uns auf kleinen Stuͤhlen ſetzten die einen runden Tiſch umgaben. Die Sonne war ſo maͤchtig, daß der geringe Schatten dieſer blaͤtterloſen139 Baͤume bereits als eine Wohlthat empfunden ward Bey großer Sommerhitze, ſagte Goethe, weiß ich keine beſſere Zuflucht als dieſe Stelle. Ich habe die Baͤume vor vierzig Jahren alle eigenhaͤndig gepflanzt, ich habe die Freude gehabt, ſie heranwachſen zu ſehen und ge¬ nieße nun ſchon ſeit geraumer Zeit die Erquickung ihres Schattens. Das Laub dieſer Eichen und Buchen iſt der maͤchtigſten Sonne undurchdringlich; ich ſitze hier gerne an warmen Sommertagen nach Tiſche, wo denn auf dieſen Wieſen und auf dem ganzen Park umher oft eine Stille herrſcht, von der die Alten ſagen wuͤrden: daß der Pan ſchlafe.

Indeſſen hoͤrten wir es in der Stadt zwey Uhr ſchlagen und fuhren zuruͤck.

Abends bey Goethe. Ich war alleine mit ihm, wir ſprachen vielerley und tranken eine Flaſche Wein dazu. Wir ſprachen uͤber das franzoͤſiſche Theater im Gegenſatz zum deutſchen.

Es wird ſchwer halten, ſagte Goethe, daß das deutſche Publicum zu einer Art von reinem Urtheil komme, wie man es etwa in Italien und Frankreich findet. Und zwar iſt uns beſonders hinderlich, daß auf unſeren Buͤhnen alles durch einander gegeben wird. An140 derſelbigen Stelle, wo wir geſtern den Hamlet ſahen, ſehen wir heute den Staberle, und wo uns morgen die Zauberfloͤte entzuͤckt, ſollen wir uͤbermorgen an den Spaͤßen des neuen Sonntagskindes Gefallen finden. Dadurch entſteht beym Publicum eine Confuſion im Urtheil, eine Vermengung der verſchiedenen Gattungen, die es nie gehoͤrig ſchaͤtzen und begreifen lernt. Und dann hat Jeder ſeine individuellen Forderungen und ſeine perſoͤnlichen Wuͤnſche, mit denen er ſich wieder nach der Stelle wendet, wo er ſie realiſirt fand. An demſelbigen Baum, wo er heute Feigen gepfluͤckt, will er ſie morgen wieder pfluͤcken, und er wuͤrde ein ſehr verdrießliches Geſicht machen, wenn etwa uͤber Nacht Schlehen gewachſen waͤren. Iſt aber jemand Freund von Schlehen, der wendet ſich an die Dornen.

Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes Haus fuͤr die Tragoͤdie zu bauen, auch jede Woche ein Stuͤck bloß fuͤr Maͤnner zu geben. Allein dieß ſetzte eine ſehr große Reſidenz voraus und war in unſern kleinen Verhaͤltniſſen nicht zu realiſiren.

Wir ſprachen uͤber die Stuͤcke von Iffland und Kotzebue, die Goethe in ihrer Art ſehr hoch ſchaͤtzte. Eben aus dem gedachten Fehler, ſagte er, daß niemand die Gattungen gehoͤrig unterſcheidet, ſind die Stuͤcke jener Maͤnner oft ſehr ungerechter Weiſe getadelt wor¬ den. Man kann aber lange warten, ehe ein paar ſo populare Talente wieder kommen.

141

Ich lobte Ifflands Hageſtolzen, die mir von der Buͤhne herunter ſehr wohl gefallen hatten. Es iſt ohne Frage Ifflands beſtes Stuͤck, ſagte Goethe; es iſt das einzige, wo er aus der Proſa ins Ideelle geht.

Er erzaͤhlte mir darauf von einem Stuͤck, welches er mit Schiller als Fortſetzung der Hageſtolzen gemacht, aber nicht geſchrieben, ſondern bloß geſpraͤchsweiſe ge¬ macht. Goethe entwickelte mir die Handlung Scene fuͤr Scene; es war ſehr artig und heiter und ich hatte da¬ ran große Freude.

Goethe ſprach darauf uͤber einige neue Schauſpiele von Platen. Man ſieht, ſagte er, an dieſen Stuͤk¬ ken die Einwirkung Calderons. Sie ſind durchaus geiſt¬ reich und in gewiſſer Hinſicht vollendet, allein es fehlt ihnen ein ſpecifiſches Gewicht, eine gewiſſe Schwere des Gehalts. Sie ſind nicht der Art, um im Gemuͤth des Leſers ein tiefes und nachwirkendes Intereſſe zu erregen, vielmehr beruͤhren ſie die Saiten unſeres In¬ nern nur leicht und voruͤbereilend. Sie gleichen dem Kork, der, auf dem Waſſer ſchwimmend, keinen Ein¬ druck macht, ſondern von der Oberflaͤche ſehr leicht ge¬ tragen wird.

Der Deutſche verlangt einen gewiſſen Ernſt, eine gewiſſe Groͤße der Geſinnung, eine gewiſſe Fuͤlle des Innern, weßhalb denn auch Schiller von allen ſo hoch gehalten wird. Ich zweifle nun keineswegs an Platens ſehr tuͤchtigem Character, allein das kommt, wahrſchein¬142 lich aus einer abweichenden Kunſtanſicht, hier nicht zur Erſcheinung. Er entwickelt eine reiche Bildung, Geiſt, treffenden Witz, und ſehr viele kuͤnſtleriſche Vollendung, allein damit iſt es, beſonders bey uns Deutſchen, nicht gethan.

Überhaupt: der perſoͤnliche Character des Schrift¬ ſtellers bringt ſeine Bedeutung beym Publicum hervor, nicht die Kuͤnſte ſeines Talents. Napoleon ſagte von Corneille: S'il vivait, je le ferais Prince! Und er las ihn nicht. Den Racine las er, aber von dieſem ſagte er es nicht. Deßhalb ſteht auch der Lafontaine bey den Franzoſen in ſo hoher Achtung, nicht ſeines poetiſchen Verdienſtes wegen, ſondern wegen der Gro߬ heit ſeines Characters, der aus ſeinen Schriften her¬ vorgeht.

Wir kamen ſodann auf die Wahlverwandtſchaften zu reden, und Goethe erzaͤhlte mir von einem durchreiſenden Englaͤnder, der ſich ſcheiden laſſen wolle, wenn er nach England zuruͤckkaͤme. Er lachte uͤber ſolche Thorheit und erwaͤhnte mehrerer Beyſpiele von Geſchiedenen, die nachher doch nicht haͤtten von einander laſſen koͤnnen.

Der ſelige Reinhard in Dresden, ſagte er, wun¬ derte ſich oft uͤber mich, daß ich in Bezug auf die Ehe ſo ſtrenge Grundſaͤtze habe, waͤhrend ich doch in allen uͤbrigen Dingen ſo laͤßlich denke.

Dieſe Äußerung Goethe's war mir aus dem Grunde merkwuͤrdig, weil ſie ganz entſchieden an den Tag legt,143 wie er es mit jenem ſo oft gemißdeuteten Romane eigentlich gemeint hat.

Wir ſprachen darauf uͤber Tieck und deſſen perſoͤn¬ liche Stellung zu Goethe.

Ich bin Tiecken herzlich gut, ſagte Goethe, und er iſt auch im Ganzen ſehr gut gegen mich geſinnt; allein es iſt in ſeinem Verhaͤltniß zu mir doch etwas, wie es nicht ſeyn ſollte. Und zwar bin ich daran nicht Schuld, und er iſt es auch nicht, ſondern es hat ſeine Urſachen anderer Art.

Als naͤmlich die Schlegel anfingen bedeutend zu werden, war ich ihnen zu maͤchtig, und um mich zu balanciren, mußten ſie ſich nach einem Talent umſehen, das ſie mir entgegenſtellten. Ein ſolches fanden ſie in Tieck, und damit er mir gegenuͤber in den Augen des Publicums genugſam bedeutend erſcheine, ſo mußten ſie mehr aus ihm machen, als er war. Dieſes ſchadete unſerm Verhaͤltniß; denn Tieck kam dadurch zu mir, ohne es ſich eigentlich bewußt zu werden, in eine ſchiefe Stellung.

Tieck iſt ein Talent von hoher Bedeutung und es kann ſeine außerordentlichen Verdienſte niemand beſſer erkennen als ich ſelber; allein wenn man ihn uͤber ihn ſelbſt erheben und mir gleichſtellen will, ſo iſt man im Irrthum. Ich kann dieſes gerade herausſagen, denn was geht es mich an, ich habe mich nicht gemacht. Es waͤre eben ſo, wenn ich mich mit Shakſpeare verglei¬144 chen wollte, der ſich auch nicht gemacht hat, und der doch ein Weſen hoͤherer Art iſt, zu dem ich hinaufblicke und das ich zu verehren habe.

Goethe war dieſen Abend beſonders kraͤftig, heiter und aufgelegt. Er holte ein Manuſcript ungedruckter Gedichte herbey, woraus er mir vorlas. Es war ein Genuß ganz einziger Art ihm zuzuhoͤren, denn nicht allein daß die originelle Kraft und Friſche der Gedichte mich in hohem Grade anregte, ſondern Goethe zeigte ſich auch beym Vorleſen von einer mir bisher unbe¬ kannten hoͤchſt bedeutenden Seite. Welche Mannigfal¬ tigkeit und Kraft der Stimme! welcher Ausdruck und welches Leben des großen Geſichtes voller Falten! und welche Augen!

Um ein Uhr mit Goethe ſpazieren gefahren. Wir ſprachen uͤber den Styl verſchiedener Schriftſteller.

Den Deutſchen, ſagte Goethe, iſt im Ganzen die philoſophiſche Speculation hinderlich, die in ihren Styl oft ein unſinnliches, unfaßliches, breites und aufdroͤ¬ ſelndes Weſen hineinbringt. Je naͤher ſie ſich gewiſſen philoſophiſchen Schulen hingegeben, deſto ſchlechter ſchrei¬ ben ſie. Diejenigen Deutſchen aber, die als Geſchaͤfts - und Lebemenſchen bloß aufs Praktiſche gehen, ſchreiben145 am beſten. So iſt Schillers Styl am praͤchtigſten und wirkſamſten, ſobald er nicht philoſophirt, wie ich noch heute an ſeinen hoͤchſt bedeutenden Briefen geſehen, mit denen ich mich grade beſchaͤftige.

Gleicherweiſe giebt es unter deutſchen Frauen¬ zimmern geniale Weſen, die einen ganz vortrefflichen Styl ſchreiben, ſo daß ſie ſogar manche unſerer geprie¬ ſenen Schriftſteller darin uͤbertreffen.

Die Englaͤnder ſchreiben in der Regel alle gut, als geborene Redner und als practiſche auf das Reale gerichtete Menſchen.

Die Franzoſen verlaͤugnen ihren allgemeinen Character auch in ihrem Styl nicht. Sie ſind geſelliger Natur und vergeſſen als ſolche nie das Publicum zu dem ſie reden; ſie bemuͤhen ſich klar zu ſeyn, um ihren Leſer zu uͤberzeugen, und anmuthig, um ihm zu gefallen.

Im Ganzen iſt der Styl eines Schriftſtellers ein treuer Abdruck ſeines Innern; will jemand einen kla¬ ren Styl ſchreiben, ſo ſey es ihm zuvor klar in ſeiner Seele, und will jemand einen großartigen Styl ſchreiben, ſo habe er einen großartigen Character.

Goethe ſprach darauf uͤber ſeine Gegner und daß dieſes Geſchlecht nie ausſterbe. Ihre Zahl iſt Legion, ſagte er, doch iſt es nicht unmoͤglich, ſie einigermaßen zu claſſificiren.

Zuerſt nenne ich meine Gegner aus Dumm¬ heit; es ſind ſolche, die mich nicht verſtanden, und dieI. 10146mich tadelten, ohne mich zu kennen. Dieſe anſehnliche Maſſe hat mir in meinem Leben viele Langeweile ge¬ macht; doch es ſoll ihnen verziehen ſeyn, denn ſie wu߬ ten nicht was ſie thaten.

Eine zweyte große Menge bilden ſodann meine Neider. Dieſe Leute goͤnnen mir das Gluͤck und die ehrenvolle Stellung nicht, die ich, durch mein Talent mir erworben. Sie zerren an meinem Ruhm und haͤt¬ ten mich gerne vernichtet. Waͤre ich ungluͤcklich und elend, ſo wuͤrden ſie aufhoͤren.

Ferner kommt eine große Anzahl derer, die aus Mangel an eigenem Succeß meine Gegner gewor¬ den. Es ſind begabte Talente darunter, allein ſie koͤn¬ nen mir nicht verzeihen, daß ich ſie verdunkele.

Viertens nenne ich meine Gegner aus Gruͤnden. Denn da ich ein Menſch bin und als ſolcher menſch¬ liche Fehler und Schwaͤchen habe, ſo koͤnnen auch meine Schriften davon nicht frey ſeyn. Da es mir aber mit meiner Bildung ernſt war und ich an meiner Veredelung unablaͤſſig arbeitete, ſo war ich im beſtaͤndigen Fort¬ ſtreben begriffen, und es ereignete ſich oft, daß ſie mich wegen eines Fehlers tadelten, den ich laͤngſt abge¬ legt hatte. Dieſe Guten haben mich am wenigſten ver¬ letzt; ſie ſchoſſen nach mir, wenn ich ſchon meilenweit von ihnen entfernt war. Überhaupt war ein abgemach¬ tes Werk mir ziemlich gleichguͤltig; ich befaßte mich nicht weiter damit und dachte ſogleich an etwas Neues.

147

Eine fernere große Maſſe zeigt ſich als meine Gegner aus abweichender Denkungsweiſe und verſchiedenen Anſichten. Man ſagt von den Blaͤt¬ tern eines Baumes, daß deren kaum zwey vollkommen gleich befunden werden, und ſo moͤchten ſich auch unter tauſend Menſchen kaum zwey finden, die in ihrer Ge¬ ſinnungs - und Denkungsweiſe vollkommen harmoniren. Setze ich dieſes voraus, ſo ſollte ich mich billig weniger daruͤber wundern, daß die Zahl meiner Widerſacher ſo groß iſt, als vielmehr daruͤber, daß ich noch ſo viele Freunde und Anhaͤnger habe. Meine ganze Zeit wich vor mir ab, denn ſie war ganz in ſubjectiver Richtung begriffen, waͤhrend ich in meinem objectiven Beſtreben im Nachtheile und voͤllig allein ſtand.

Schiller hatte in dieſer Hinſicht vor mir große Avantagen. Ein wohlmeinender General gab mir daher einſt nicht undeutlich zu verſtehen, ich moͤchte es doch machen, wie Schiller. Darauf ſetzte ich ihm Schillers Verdienſte erſt recht auseinander, denn ich kannte ſie doch beſſer als er. Ich ging auf meinem Wege ruhig fort, ohne mich um den Succeß weiter zu bekuͤmmern, und von allen meinen Gegnern nahm ich ſo wenige Notiz als moͤglich.

Wir fuhren zuruͤck und waren darauf bey Tiſche ſehr heiter. Frau von Goethe erzaͤhlte viel von Berlin, woher ſie vor Kurzem gekommen; ſie ſprach mit beſon¬ derer Waͤrme von der Herzogin von Cumberland, die10*148ihr viel Freundliches erwieſen. Goethe erinnerte ſich dieſer Fuͤrſtin, die als ſehr junge Prinzeß eine Zeitlang bey ſeiner Mutter gewohnt, mit beſonderer Neigung.

Abends hatte ich bey Goethe einen muſikaliſchen Kunſtgenuß bedeutender Art, indem ich den Meſſias von Haͤndel theilweiſe vortragen hoͤrte, wozu einige treffliche Saͤnger ſich unter Eberweins Leitung vereinigt hatten. Auch Graͤfin Caroline von Egloffſtein, Fraͤulein von Froriep, ſo wie Frau v. Pogwiſch und Frau v. Goethe hatten ſich den Saͤngerinnen angeſchloſſen und wirkten dadurch zur Erfuͤllung eines lange gehegten Wunſches von Goethe auf das Freundlichſte mit.

Goethe, in einiger Ferne ſitzend, im Zuhoͤren ver¬ tieft, verlebte einen gluͤcklichen Abend, voll Bewunderung des großartigen Werkes.

Der groͤßte Philologe unſerer Zeit, Friedrich Au¬ guſt Wolf aus Berlin, iſt hier, auf ſeiner Durchreiſe nach dem ſuͤdlichen Frankreich begriffen. Goethe gab ihm zu Ehren heute ein Diner, wobey von Weimariſchen Freun¬ den: General-Superintendent Roͤhr, Canzler v. Muͤller, Oberbaudirector Coudray, Profeſſor Riemer und Hofrath Rehbein außer mir anweſend waren. Über Tiſch ging es aͤußerſt heiter zu; Wolf gab manchen geiſtreichen Ein¬149 fall zum Beſten; Goethe, in der anmuthigſten Laune, ſpielte immer den Gegner. Ich kann mit Wolf nicht anders auskommen, ſagte Goethe mir ſpaͤter, als daß ich immer als Mephiſtopheles gegen ihn agire. Auch geht er ſonſt mit ſeinen inneren Schaͤtzen nicht hervor.

Die geiſtreichen Scherze uͤber Tiſch waren zu fluͤchtig und zu ſehr die Frucht des Augenblicks, als daß man ſich ihrer haͤtte bemaͤchtigen koͤnnen. Wolf war in witzi¬ gen und ſchlagenden Antworten und Wendungen ſehr groß, doch kam es mir vor, als ob Goethe dennoch eine gewiſſe Superioritaͤt uͤber ihn behauptet haͤtte.

Die Stunden bey Tiſch entſchwanden wie mit Fluͤ¬ geln und es war ſechs Uhr geworden, ehe man es ſich verſah. Ich ging mit dem jungen Goethe ins Theater, wo man die Zauberfloͤte gab. Spaͤter ſah ich auch Wolf in der Loge mit dem Großherzog Carl Auguſt.

Wolf blieb bis zum 25. in Weimar, wo er in das ſuͤdliche Frankreich abreiſte. Der Zuſtand ſeiner Geſund¬ heit war der Art, daß Goethe die innigſte Beſorgniß uͤber ihn nicht verhehlte.

150

Goethe machte mir Vorwuͤrfe, daß ich eine hieſige angeſehene Familie nicht beſucht. Sie haͤtten, ſagte er, im Laufe des Winters dort manchen genußreichen Abend verleben, auch die Bekanntſchaft manches bedeu¬ tenden Fremden dort machen koͤnnen; das iſt Ihnen nun, Gott weiß durch welche Grille, alles verloren gegangen.

Bey meiner erregbaren Natur, antwortete ich, und bey meiner Dispoſition vielſeitig Intereſſe zu nehmen und in fremde Zuſtaͤnde einzugehen, haͤtte mir nichts laͤſtiger und verderblicher ſeyn koͤnnen, als eine zu große Fuͤlle neuer Eindruͤcke. Ich bin nicht zu Geſellſchaften erzogen und nicht darin hergekommen. Meine fruͤhe¬ ren Lebenszuſtaͤnde waren der Art, daß es mir iſt, als haͤtte ich erſt ſeit der kurzen Zeit zu leben angefangen, die ich in Ihrer Naͤhe bin. Nun iſt mir alles neu. Jeder Theaterabend, jede Unterredung mit Ihnen macht in meinem Innern Epoche. Was an anders cultivirten und anders gewoͤhnten Perſonen gleichguͤltig voruͤbergeht, iſt bey mir im hoͤchſten Grade wirkſam; und da die Begier mich zu belehren groß iſt, ſo ergreift meine Seele Alles mit einer gewiſſen Energie und ſaugt daraus ſo viele Nahrung als moͤglich. Bey ſolcher Lage mei¬ nes Innern hatte ich daher im Laufe des letzten Win¬ ters am Theater und dem Verkehr mit Ihnen vollkom¬151 men genug, und ich haͤtte mich nicht neuen Bekannt¬ ſchaften und anderem Umgange hingeben koͤnnen, ohne mich im Innerſten zu zerſtoͤren.

Ihr ſeyd ein wunderlicher Chriſt, ſagte Goethe lachend; thut, was Ihr wollt, ich will Euch gewaͤhren laſſen.

Und dann, fuhr ich fort, trage ich in die Geſell¬ ſchaft gewoͤhnlich meine perſoͤnlichen Neigungen und Abneigungen, und ein gewiſſes Beduͤrfniß zu lieben und geliebt zu werden. Ich ſuche eine Perſoͤnlichkeit, die meiner eigenen Natur gemaͤß ſey; dieſer moͤchte ich mich gerne hingeben und mit den Andern nichts zu thun haben.

Dieſe Ihre Natur-Tendenz, erwiederte Goethe, iſt freylich nicht geſelliger Art; allein was waͤre alle Bil¬ dung, wenn wir unſere natuͤrlichen Richtungen nicht wollten zu uͤberwinden ſuchen. Es iſt eine große Thor¬ heit, zu verlangen, daß die Menſchen zu uns harmo¬ niren ſollen. Ich habe es nie gethan. Ich habe einen Menſchen immer nur als ein fuͤr ſich beſtehendes Indi¬ viduum angeſehen, das ich zu erforſchen und das ich in ſeiner Eigenthuͤmlichkeit kennen zu lernen trachtete, wo¬ von ich aber durchaus keine weitere Sympathie ver¬ langte. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit jedem Menſchen umgehen zu koͤnnen, und dadurch allein entſteht die Kenntniß mannigfaltiger Charactere, ſo wie die noͤthige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bey152 widerſtrebenden Naturen muß man ſich zuſammennehmen, um mit ihnen durchzukommen, und dadurch werden alle die verſchiedenen Seiten in uns angeregt und zur Ent¬ wickelung und Ausbildung gebracht, ſo daß man ſich denn bald jedem Vis-à-vis gewachſen fuͤhlt. So ſol¬ len Sie es auch machen. Sie haben dazu mehr An¬ lage als Sie ſelber glauben; und das hilft nun einmal nichts, Sie muͤſſen in die große Welt hinein, Sie moͤgen ſich ſtellen wie Sie wollen.

Ich merkte mir dieſe guten Worte und nahm mir vor, ſo viel wie moͤglich danach zu handeln.

Gegen Abend hatte Goethe mich zu einer Spazier¬ fahrt einladen laſſen. Unſer Weg ging durch Ober¬ weimar uͤber die Huͤgel, wo man gegen Weſten die Anſicht des Parkes hat. Die Baͤume bluͤhten, die Bir¬ ken waren ſchon belaubt und die Wieſen durchaus ein gruͤner Teppich, uͤber welche die ſinkende Sonne herſtreifte. Wir ſuchten maleriſche Gruppen und konnten die Augen nicht genug aufthun. Es ward bemerkt, daß weißbluͤhende Baͤume nicht zu malen, weil ſie kein Bild machen; ſo wie daß gruͤnende Birken nicht im Vordergrunde eines Bildes zu gebrauchen, indem das ſchwache Laub dem weißen Stamme nicht das Gleichgewicht zu halten ver¬ moͤge; es bilde keine große Partieen, die man durch maͤchtige Licht - und Schatten-Maſſen herausheben koͤnne. Ruys¬ dael, ſagte Goethe, hat daher nie belaubte Birken in den Vordergrund geſtellt, ſondern bloße Birken-Staͤmme,153 abgebrochene, die kein Laub haben. Ein ſolcher Stamm paßt vortrefflich in den Vordergrund, denn ſeine helle Geſtalt tritt auf das maͤchtigſte heraus.

Wir ſprachen ſodann nach fluͤchtiger Beruͤhrung an¬ derer Gegenſtaͤnde, uͤber die falſche Tendenz ſolcher Kuͤnſt¬ ler, welche die Religion zur Kunſt machen wollen, waͤhrend ihnen die Kunſt Religion ſeyn ſollte. Die Religion, ſagte Goethe, ſteht in demſelbigen Verhaͤltniß zur Kunſt, wie jedes andere hoͤhere Lebensintereſſe auch. Sie iſt bloß als Stoff zu betrachten, der mit allen uͤbrigen Lebens-Stoffen gleiche Rechte hat. Auch ſind Glaube und Unglaube durchaus nicht diejenigen Organe, mit welchen ein Kunſtwerk aufzufaſſen iſt, vielmehr ge¬ hoͤren dazu ganz andere menſchliche Kraͤfte und Faͤhig¬ keiten. Die Kunſt aber ſoll fuͤr diejenigen Organe bil¬ den, mit denen wir ſie auffaſſen; thut ſie das nicht, ſo verfehlt ſie ihren Zweck und geht ohne die eigentliche Wirkung an uns voruͤber. Ein religioͤſer Stoff kann indeß gleichfalls ein guter Gegenſtand fuͤr die Kunſt ſeyn, jedoch nur in dem Fall, wenn er allgemein menſch¬ lich iſt. Deßhalb iſt eine Jungfrau mit dem Kinde ein durchaus guter Gegenſtand, der hundertmal behandelt worden und immer gern wieder geſehen wird.

Wir waren indeß um das Gehoͤlz, das Webicht, gefahren und bogen in der Naͤhe von Tiefurt in den Weg nach Weimar zuruͤck, wo wir die untergehende Sonne im Anblick hatten. Goethe war eine Weile in154 Gedanken verloren, dann ſprach er zu mir die Worte eines Alten:

Untergehend ſogar iſt's immer dieſelbige Sonne.

Wenn einer fuͤnf und ſiebzig Jahre alt iſt, fuhr er darauf mit großer Heiterkeit fort, kann es nicht feh¬ len, daß er mitunter an den Tod denke. Mich laͤßt dieſer Gedanke in voͤlliger Ruhe, denn ich habe die feſte Überzeugung, daß unſer Geiſt ein Weſen iſt ganz un¬ zerſtoͤrbarer Natur; es iſt ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es iſt der Sonne aͤhnlich, die bloß un¬ ſern irdiſchen Augen unterzugehen ſcheint, die aber eigent¬ lich nie untergeht, ſondern unaufhoͤrlich fortleuchtet.

Die Sonne war indeß hinter dem Ettersberge hinab¬ gegangen; wir ſpuͤrten in dem Gehoͤlz einige Abendkuͤhle und fuhren deſto raſcher in Weimar hinein und an ſeinem Hauſe vor. Goethe bat mich, noch ein wenig mit hinauf zu kommen, welches ich that. Er war in aͤußerſt guter, liebenswuͤrdiger Stimmung. Er ſprach darauf beſonders viel uͤber die Farbenlehre, uͤber ſeine verſtockten Gegner, und daß er das Bewußtſeyn habe, in dieſer Wiſſenſchaft etwas geleiſtet zu haben.

Um Epoche in der Welt zu machen, ſagte er bey dieſer Gelegenheit, dazu gehoͤren bekanntlich zwey Dinge; erſtens, daß man ein guter Kopf ſey, und zweytens, daß man eine große Erbſchaft thue. Napoleon erbte die franzoͤſiſche Revolution, Friedrich der Große den ſchleſiſchen Krieg, Luther die Finſterniß der Pfaffen,155 und mir iſt der Irrthum der Newtoniſchen Lehre zu Theil geworden. Die gegenwaͤrtige Generation hat zwar keine Ahnung, was hierin von mir geleiſtet worden; doch kuͤnftige Zeiten werden geſtehen, daß mir keineswegs eine ſchlechte Erbſchaft zugefallen.

Goethe hatte mir heute fruͤh ein Convolut Papiere in Bezug auf das Theater zugeſendet; beſonders fand ich darin zerſtreute einzelne Bemerkungen, die Regeln und Studien enthaltend, die er mit Wolff und Gruͤ¬ ner durchgemacht, um ſie zu tuͤchtigen Schauſpielern zu bilden. Ich fand dieſe Einzelnheiten von Bedeutung und fuͤr junge Schauſpieler in hohem Grade lehrreich, weßhalb ich mir vornahm, ſie zuſammen zu ſtellen und daraus eine Art von Theater-Catechismus zu bilden. Goethe billigte dieſes Vorhaben und wir ſprachen die Angelegenheit weiter durch. Dieß gab Veranlaſſung, einiger bedeutender Schauſpieler zu gedenken, die aus ſeiner Schule hervorgegangen, und ich fragte bey dieſer Gelegenheit unter andern auch nach der Frau von Hei¬ gendorf. Ich mag auf ſie gewirkt haben, ſagte Goethe, allein meine eigentliche Schuͤlerin iſt ſie nicht. Sie war auf den Brettern wie geboren und gleich in allem ſicher und entſchieden gewandt und fertig wie die Ente auf dem Waſſer. Sie bedurfte meiner Lehre nicht, ſie that inſtinktmaͤßig das Rechte, vielleicht ohne es ſelber zu wiſſen.

Wir ſprachen darauf uͤber die manchen Jahre ſeiner156 Theaterleitung, und welche unendliche Zeit er damit fuͤr ſein ſchriftſtelleriſches Wirken verloren. Freylich, ſagte Goethe, ich haͤtte indeß manches gute Stuͤck ſchrei¬ ben koͤnnen, doch wenn ich es recht bedenke, gereut es mich nicht. Ich habe all mein Wirken und Leiſten immer nur ſymboliſch angeſehen, und es iſt mir im Grunde ziemlich gleichguͤltig geweſen, ob ich Toͤpfe machte oder Schuͤſſeln.

Als ich im vorigen Sommer nach Weimar kam, war es, wie geſagt, nicht meine Abſicht, hier zu bleiben, ich wollte vielmehr bloß Goethe's perſoͤnliche Bekannt¬ ſchaft machen und dann an den Rhein gehen, wo ich an einem paſſenden Ort laͤngere Zeit zu verweilen ge¬ dachte.

Gleichwohl ward ich in Weimar durch Goethe's be¬ ſonderes Wohlwollen gefeſſelt, auch geſtaltete ſich mein Verhaͤltniß zu ihm immer mehr zu einem practiſchen, indem er mich immer tiefer in ſein Intereſſe zog und mir, als Vorbereitung einer vollſtaͤndigen Ausgabe ſeiner Werke, manche nicht unwichtige Arbeit uͤbertrug.

So ſtellte ich im Laufe dieſes Winters unter andern verſchiedene Abtheilungen zahmer Xenien aus den con¬ fuſeſten Convoluten zuſammen, redigirte einen Band157 neuer Gedichte, ſo wie den erwaͤhnten Theater-Catechis¬ mus und eine ſkizzirte Abhandlung uͤber den Dilettan¬ tismus in den verſchiedenen Kuͤnſten.

Jener Vorſatz, den Rhein zu ſehen, war indeß in mir beſtaͤndig wach geblieben, und damit ich nicht fer¬ ner den Stachel einer unbefriedigten Sehnſucht in mir tragen moͤchte, ſo rieth Goethe ſelber dazu, einige Mo¬ nate dieſes Sommers auf einen Beſuch jener Gegenden zu verwenden.

Es war jedoch ſein ganz entſchiedener Wunſch, daß ich nach Weimar zuruͤckkehren moͤchte. Er fuͤhrte an, daß es nicht gut ſey, kaum geknuͤpfte Verhaͤltniſſe wie¬ der zu zerreißen, und daß alles im Leben, wenn es gedeihen wolle, eine Folge haben muͤſſe. Er ließ dabey nicht undeutlich merken, daß er mich in Verbindung mit Riemer dazu auserſehen, ihn nicht allein bey der bevorſtehenden neuen Ausgabe ſeiner Werke thaͤtigſt zu unterſtuͤtzen, ſondern auch jenes Geſchaͤft mit gedachtem Freunde allein zu uͤbernehmen, im Fall er bey ſeinem hohen Alter abgerufen werden ſollte.

Er zeigte mir dieſen Morgen große Convolute ſeiner Correſpondenz, die er im ſogenannten Buͤſten-Zimmer hatte auseinander legen laſſen. Es ſind dieß alle Briefe, ſagte er, die ſeit Anno 1780 von den bedeu¬ tendſten Maͤnnern der Nation an mich eingegangen; es ſteckt darin ein wahrer Schatz von Ideen, und es ſoll ihre oͤffentliche Mittheilung Euch kuͤnftig vorbehalten158 ſeyn. Ich laſſe jetzt einen Schrank machen, wohinein dieſe Briefe nebſt meinem uͤbrigen literariſchen Nachlaſſe gelegt werden. Das ſollen Sie erſt alles in Ordnung und bey einander ſehen, bevor Sie Ihre Reiſe antreten, damit ich ruhig ſey und eine Sorge weniger habe.

Er eroͤffnete mir ſodann, daß er dieſen Sommer Marienbad abermals zu beſuchen gedenke, daß er jedoch erſt Ende July gehen koͤnne, wovon er mir alle Gruͤnde zutraulich entdeckte. Er aͤußerte den Wunſch, daß ich noch vor ſeiner Abreiſe zuruͤck ſeyn moͤchte, um mich vorher noch zu ſprechen.

Ich beſuchte darauf nach einigen Wochen meine Lieben zu Hannover, verweilte dann waͤhrend der Mo¬ nate Juny und July am Rhein, wo ich, beſonders zu Frankfurt, Heidelberg und Bonn, unter Goethe's Freun¬ den manche werthe Bekanntſchaft machte.

Seit etwa acht Tagen bin ich von meiner Rhein¬ reiſe zuruͤck. Goethe aͤußerte bey meiner Ankunft eine lebhafte Freude, und ich meinerſeits war nicht weniger gluͤcklich, wieder bey ihm zu ſeyn. Er hatte ſehr viel zu reden und mitzutheilen, ſo daß ich die erſten Tage159 wenig von ſeiner Seite kam. Seine fruͤhere Abſicht, nach Marienbad zu gehen, hat er aufgegeben, er will dieſen Sommer gar keine Reiſe machen. Nun, da Sie wieder hier ſind, ſagte er geſtern, kann es noch einen recht huͤbſchen Auguſt fuͤr mich geben.

Vor einigen Tagen communicirte er mir die Anfaͤnge einer Fortſetzung von Wahrheit und Dichtung, ein auf Quartblaͤttern geſchriebenes Heft, kaum von der Staͤrke eines Fingers. Einiges iſt ausgefuͤhrt, das Meiſte jedoch nur in Andeutungen enthalten. Doch iſt bereits eine Abtheilung in fuͤnf Buͤcher gemacht und die ſchematiſirten Blaͤtter ſind ſo zuſammengelegt, daß man bey einigem Studium den Inhalt des Ganzen wohl uͤberſehen kann.

Das bereits Ausgefuͤhrte erſcheint mir nun ſo vor¬ trefflich und der Inhalt des Schematiſirten von ſolcher Bedeutung, daß ich auf das Lebhafteſte bedaure, eine ſo viel Belehrung und Genuß verſprechende Arbeit in Stocken gerathen zu ſehen und daß ich Goethe auf alle Weiſe zu einer baldigen Fortſetzung und Vollendung treiben werde.

Die Anlage des Ganzen hat ſehr viel vom Roman. Zartes, anmuthiges, leidenſchaftliches Liebesverhaͤltniß, heiter im Entſtehen, idylliſch im Fortgange, tragiſch am Ende durch ein ſtillſchweigendes gegenſeitiges Entſagen, ſchlingt ſich durch vier Buͤcher hindurch und verbindet dieſe zu einem wohlgeordneten Ganzen. Der Zauber von Lili's Weſen, im Detail geſchildert, iſt geeignet160 jeden Leſer zu feſſeln, ſo wie er den Liebenden ſelbſt dergeſtalt in Banden hielt, daß er ſich nur durch eine wiederholte Flucht zu retten im Stande war.

Die dargeſtellte Lebensepoche iſt gleichfalls hoͤchſt romantiſcher Natur, oder ſie wird es, indem ſie ſich an dem Hauptcharacter entwickelt. Von ganz beſonderer Bedeutung und Wichtigkeit aber iſt ſie dadurch, daß ſie, als Vor-Epoche der Weimariſchen Verhaͤltniſſe, fuͤr das ganze Leben entſcheidet. Wenn alſo irgend ein Abſchnitt aus Goethe's Leben Intereſſe hat und den Wunſch einer detaillirten Darſtellung rege macht, ſo iſt es dieſer.

Um nun bey Goethe fuͤr die unterbrochene und ſeit Jahren ruhende Arbeit neue Luſt und Liebe zu erregen, habe ich dieſe Angelegenheit nicht allein ſogleich muͤnd¬ lich mit ihm beſprochen, ſondern ich habe ihm auch heute folgende Notizen zugehen laſſen, damit es ihm vor die Augen trete, was vollendet iſt und welche Stellen noch einer Ausfuͤhrung und anderweiten Anord¬ nung beduͤrfen.

Erſtes Buch.

Dieſes Buch, welches der anfaͤnglichen Abſicht ge¬ maͤß als fertig anzuſehen iſt, enthaͤlt eine Art von Ex¬ poſition, indem namentlich darin der Wunſch nach Theil¬ nahme an Weltgeſchaͤften ausgeſprochen wird, auf deſſen Erfuͤllung das Ende der ganzen Epoche durch die Be¬ rufung nach Weimar ablaͤuft. Damit es ſich aber dem161 Ganzen noch inniger anſchließen moͤge, ſo rathe ich, das durch die folgenden vier Buͤcher gehende Verhaͤltniß zu Lili ſchon in dieſem erſten Buche anzuknuͤpfen und fortzufuͤhren bis zu der Ausflucht nach Offenbach. Da¬ durch wuͤrde auch dieſes erſte Buch an Umfang und Bedeutung gewinnen und ein allzuſtarkes Anwachſen des zweyten verhuͤtet werden.

Zweytes Buch.

Das idylliſche Leben zu Offenbach eroͤffnete ſodann dieſes zweyte Buch und fuͤhrte das gluͤckliche Liebes¬ verhaͤltniß durch, bis es zuletzt einen bedenklichen, ern¬ ſten, ja tragiſchen Character anzunehmen beginnt. Hier iſt nun die Betrachtung ernſter Dinge, wie ſie das Schema in Bezug auf Stilling verſpricht, wohl am Platze, und es laͤßt ſich aus den nur mit wenigen Wor¬ ten angedeuteten Intentionen auf viel Belehrendes von hoher Bedeutung ſchließen.

Drittes Buch.

Das dritte Buch, welches den Plan zu einer Fort¬ ſetzung des Fauſt u. ſ. w. enthaͤlt, iſt als Epiſode zu betrachten, welche ſich, durch den noch auszufuͤhrenden Verſuch der Trennung von Lili, den uͤbrigen Buͤchern gleichfalls anſchließt.

I. 11162

Ob nun dieſer Plan zu Fauſt mitzutheilen oder zuruͤckzuhalten ſeyn wird, dieſer Zweifel duͤrfte ſich dann beſeitigen laſſen, wenn man die bereits fertigen Bruch¬ ſtuͤcke zur Pruͤfung vor Augen hat, und erſt daruͤber klar iſt, ob man uͤberall die Hoffnung einer Fortſetzung des Fauſt aufgeben muß oder nicht.

Viertes Buch.

Das dritte Buch ſchloͤſſe mit dem Verſuch einer Trennung von Lili. Dieſes vierte beginnet daher ſehr paſſend mit der Ankunft der Stolberge und Haug¬ witzens, wodurch die Schweizerreiſe und mithin die erſte Flucht von Lili motivirt wird. Das uͤber dieſes Buch vorhandene ausfuͤhrliche Schema verſpricht uns die in¬ tereſſanteſten Dinge und erregt den Wunſch nach moͤg¬ lichſt detaillirter Ausfuͤhrung auf das Lebendigſte. Die immer wieder hervorbrechende nicht zu unterdruͤckende Leidenſchaft zu Lili durchwaͤrmt auch dieſes Buch mit der Glut jugendlicher Liebe und wirft auf den Zuſtand des Reiſenden eine hoͤchſt eigene, angenehme, zauberiſche Beleuchtung.

Fuͤnftes Buch.

Dieſes ſchoͤne Buch iſt gleichfalls beynahe vollendet. Fortgang und Ende, welche an das unerforſchliche hoͤchſte Schickſalsweſen hinanſtreifen, ja es ausſprechen, ſind163 wenigſtens als durchaus fertig anzuſehen, und es bedarf nur noch mit Wenigem der Einleitung, woruͤber ja auch bereits ein ſehr klares Schema vorliegt. Die Aus¬ fuͤhrung dieſes iſt aber um ſo nothwendiger und wuͤn¬ ſchenswerther, als dadurch die Weimariſchen Verhaͤltniſſe zuerſt zur Sprache kommen und das Intereſſe fuͤr ſie zuerſt rege gemacht wird.

Der Verkehr mit Goethe war in dieſen Tagen ſehr reichhaltig, ich jedoch mit anderen Dingen zu beſchaͤftigt, als daß es mir moͤglich geweſen, etwas Bedeutendes aus der Fuͤlle ſeiner Geſpraͤche niederzuſchreiben.

Nur folgende Einzelnheiten finden ſich in meinem Tagebuche notirt, wovon ich die Verbindung und die Anlaͤſſe vergeſſen, aus denen ſie hervorgegangen.

Menſchen ſind ſchwimmende Toͤpfe, die ſich an einander ſtoßen.

Am Morgen ſind wir am kluͤgſten, aber auch am ſorglichſten; denn auch die Sorge iſt eine Klugheit,11 *164wiewohl nur eine paſſive. Die Dummheit weiß von keiner Sorge.

Man muß keine Jugendfehler ins Alter hinein¬ nehmen; denn das Alter fuͤhrt ſeine eigenen Maͤngel mit ſich.

Das Hofleben gleicht einer Muſik, wo jeder ſeine Takte und Pauſen halten muß.

Die Hofleute muͤßten vor Langerweile umkommen, wenn ſie ihre Zeit nicht durch Ceremonie auszufuͤllen wuͤßten.

Es iſt nicht gut einem Fuͤrſten zu rathen, auch in der geringfuͤgigſten Sache abzudanken.

Wer Schauſpieler bilden will, muß unendliche Geduld haben.

165

Abends bey Goethe. Wir ſprachen uͤber Klopſtock und Herder, und ich hoͤrte ihm gerne zu, wie er die großen Verdienſte dieſer Maͤnner gegen mich auseinan¬ derſetzte.

Unſere Literatur, ſagte er, waͤre ohne dieſe gewal¬ tigen Vorgaͤnger das nicht geworden, was ſie jetzt iſt. Mit ihrem Auftreten waren ſie der Zeit voran und haben ſie gleichſam nach ſich geriſſen; jetzt aber iſt die Zeit ihnen vorangeeilt, und ſie, die einſt ſo nothwen¬ dig und wichtig waren, haben jetzt aufgehoͤrt Mittel zu ſeyn. Ein junger Menſch, der heut zu Tage ſeine Cultur aus Klopſtock und Herder ziehen wollte, wuͤrde ſehr zuruͤckbleiben.

Wir ſprachen uͤber Klopſtock's Meſſias und ſeine Oden und gedachten ihrer Verdienſte und Maͤngel. Wir waren einig, daß Klopſtock zur Anſchauung und Auf¬ faſſung der ſinnlichen Welt und Zeichnung von Cha¬ racteren keine Richtung und Anlage gehabt und daß ihm alſo das Weſentlichſte zu einem epiſchen und dra¬ matiſchen Dichter, ja man koͤnnte ſagen, zu einem Dichter uͤberhaupt, gefehlt habe.

Mir faͤllt hier jene Ode ein, ſagte Goethe, wo er die deutſche Muſe mit der brittiſchen einen Wettlauf machen laͤßt, und in der That, wenn man bedenkt,166 was es fuͤr ein Bild giebt, wenn die beyden Maͤdchen mit einander laufen und die Beine werfen und den Staub mit ihren Fuͤßen erregen, ſo muß man wohl annehmen, der gute Klopſtock habe nicht lebendig vor Augen gehabt, und ſich nicht ſinnlich ausgebildet, was er machte, denn ſonſt haͤtte er ſich unmoͤglich ſo ver¬ greifen koͤnnen.

Ich fragte Goethe, wie er in der Jugend zu Klop¬ ſtock geſtanden und wie er ihn in jener Zeit angeſehen.

Ich verehrte ihn, ſagte Goethe, mit der Pietaͤt, die mir eigen war; ich betrachtete ihn wie meinen Oheim. Ich hatte Ehrfurcht vor dem was er machte, und es fiel mir nicht ein, daruͤber denken und daran etwas ausſetzen zu wollen. Sein Vortreffliches ließ ich auf mich wirken und ging uͤbrigens meinen eigenen Weg.

Wir kamen auf Herder zuruͤck und ich fragte Goethe, was er fuͤr das Beſte ſeiner Werke halte. Seine Ideen zur Geſchichte der Menſchheit, antwortete Goethe, ſind unſtreitig das vorzuͤglichſte. Spaͤter warf er ſich auf die negative Seite und da war er nicht erfreulich.

Bey der großen Bedeutung Herders, verſetzte ich, kann ich nicht mit ihm vereinigen, wie er in gewiſſen Dingen ſo wenig Urtheil zu haben ſchien. Ich kann ihm z. B. nicht vergeben, daß er, zumal bey dem da¬ maligen Stande der deutſchen Literatur, das Manuſcript des Goͤtz von Berlichingen, ohne Wuͤrdigung ſeines Guten, mit ſpoͤttelnden Anmerkungen zuruͤckſandte. Es167 mußte ihm doch fuͤr gewiſſe Gegenſtaͤnde an allen Or¬ ganen fehlen.

In dieſer Hinſicht war es arg mit Herder, erwie¬ derte Goethe; ja wenn er als Geiſt in dieſem Augenblick hier gegenwaͤrtig waͤre, fuͤgte er lebhaft hinzu, er wuͤrde uns nicht verſtehen.

Dagegen muß ich den Merk loben, ſagte ich, daß er Sie trieb den Goͤtz drucken zu laſſen.

Das war freylich ein wunderlicher bedeutender Menſch, erwiederte Goethe. Laß das Zeug drucken! ſagte er; es taugt zwar nichts, aber laß es nur druk¬ ken! Er war nicht fuͤr das Umarbeiten und er hatte Recht; denn es waͤre wohl anders geworden, aber nicht beſſer.

Ich beſuchte Goethe Abends vor dem Theater und fand ihn ſehr wohl und heiter. Er erkundigte ſich nach den hier anweſenden jungen Englaͤndern, und ich ſagte ihm, daß ich die Abſicht habe, mit Herrn Doolan eine deutſche Überſetzung des Plutarch zu leſen. Dieß fuͤhrte das Geſpraͤch auf die roͤmiſche und griechiſche Geſchichte und Goethe aͤußerte ſich daruͤber folgender¬ maßen:

Die roͤmiſche Geſchichte, ſagte er, iſt fuͤr uns168 eigentlich nicht mehr an der Zeit. Wir ſind zu human geworden, als daß uns die Triumphe des Caͤſar nicht widerſtehen ſollten. So auch die griechiſche Geſchichte bietet wenig Erfreuliches. Wo ſich dieſes Volk gegen aͤußere Feinde wendet, iſt es zwar groß und glaͤnzend, allein die Zerſtuͤckelung der Staaten und der ewige Krieg im Innern, wo der eine Grieche die Waffen gegen den andern kehrt, iſt auch deſto unertraͤglicher. Zudem iſt die Geſchichte unſerer eigenen Tage durchaus groß und bedeutend; die Schlachten von Leipzig und Waterloo ragen ſo gewaltig hervor, daß jene von Marathon und aͤhnliche andere nachgerade verdunkelt werden. Auch ſind unſere einzelnen Helden nicht zuruͤckgeblieben: die fran¬ zoͤſiſchen Marſchaͤlle und Bluͤcher und Wellington ſind denen des Alterthums voͤllig an die Seite zu ſetzen.

Das Geſpraͤch wendete ſich auf die neueſte franzoͤ¬ ſiſche Literatur und der Franzoſen taͤglich zunehmendes Intereſſe an deutſchen Werken.

Die Franzoſen, ſagte Goethe, thun ſehr wohl, daß ſie anfangen unſere Schriftſteller zu ſtudiren und zu uͤber¬ ſetzen; denn beſchraͤnkt in der Form und beſchraͤnkt in den Motiven, wie ſie ſind, bleibt ihnen kein anderes, Mittel als ſich nach außen zu wenden. Mag man uns Deutſchen eine gewiſſe Formloſigkeit vorwerfen, allein wir ſind ihnen doch an Stoff uͤberlegen. Die Theater - Stuͤcke von Kotzebue und Iffland ſind ſo reich an Mo¬ tiven, daß ſie ſehr lange daran werden zu pfluͤcken ha¬169 ben, bis alles verbraucht ſeyn wird. Beſonders aber iſt ihnen unſere philoſophiſche Idealitaͤt willkommen; denn jedes Ideelle iſt dienlich zu revolutionaͤren Zwecken.

Die Franzoſen, fuhr Goethe fort, haben Verſtand und Geiſt, aber kein Fundament und keine Pietaͤt. Was ihnen im Augenblick dient, was ihrer Partey zu Gute kommen kann, iſt ihnen das Rechte. Sie loben uns daher auch nie aus Anerkennung unſerer Verdienſte, ſondern nur wenn ſie durch unſere Anſichten ihre Partey verſtaͤrken koͤnnen.

Wir ſprachen darauf uͤber unſere eigene Literatur und was einigen unſerer neueſten jungen Dichter hin¬ derlich.

Der Mehrzahl unſerer jungen Poeten, ſagte Goethe, fehlt weiter nichts, als daß ihre Subjectivitaͤt nicht be¬ deutend iſt und daß ſie im Objectiven den Stoff nicht zu finden wiſſen. Im hoͤchſten Falle finden ſie einen Stoff, der ihnen aͤhnlich iſt, der ihrem Subjecte zuſagt; den Stoff aber um ſein ſelbſt willen, weil er ein poeti¬ ſcher iſt, auch dann zu ergreifen, wenn er dem Subject widerwaͤrtig waͤre, daran iſt nicht zu denken.

Aber, wie geſagt, waͤren es nur bedeutende Per¬ ſonagen, die durch große Studien und Lebensverhaͤltniſſe gebildet wuͤrden, ſo moͤchte es, wenigſtens um unſere jungen Dichter lyriſcher Art, dennoch ſehr gut ſtehen.

170

Es war mir in dieſen Tagen ein Antrag zugekom¬ men, fuͤr ein engliſches Journal unter ſehr vortheilhaften Bedingungen monatliche Berichte uͤber die neueſten Er¬ zeugniſſe deutſcher Literatur einzuſenden. Ich war ſehr geneigt, das Anerbieten anzunehmen, doch dachte ich, es waͤre vielleicht gut, die Angelegenheit zuvor mit Goethe zu bereden.

Ich ging deßhalb dieſen Abend zur Zeit des Licht¬ anzuͤndens zu ihm. Er ſaß bey herabgelaſſenen Rouleaux vor einem großen Tiſch, auf welchem geſpeiſ't worden und wo zwey Lichter brannten, die zugleich ſein Geſicht und eine coloſſale Buͤſte beleuchteten, die vor ihm auf dem Tiſche ſtand und mit deren Betrachtung er ſich beſchaͤftigte. Nun? ſagte Goethe, nachdem er mich freundlich begruͤßt, auf die Buͤſte deutend, wer iſt das? Ein Poet, und zwar ein Italiener ſcheint es zu ſeyn, ſagte ich. Es iſt Dante, ſagte Goethe. Er iſt gut gemacht, es iſt ein ſchoͤner Kopf, aber er iſt doch nicht ganz erfreulich. Er iſt ſchon alt, gebeugt, verdrießlich, die Zuͤge ſchlaff und herabgezogen, als wenn er eben aus der Hoͤlle kaͤme. Ich beſitze eine Medaille, die bey ſeinen Lebzeiten gemacht worden, da iſt alles bey weitem ſchoͤner. Goethe ſtand auf und holte die Medaille. Sehen Sie, was hier die Naſe fuͤr Kraft hat, wie171 die Oberlippe ſo kraͤftig aufſchwillet und das Kinn ſo ſtrebend iſt und mit den Knochen der Kinnlade ſo ſchoͤn zuſammenfließt! Die Partie um die Augen, die Stirn, iſt in dieſem coloſſalen Bilde faſt dieſelbige ge¬ blieben, alles Übrige iſt ſchwaͤcher und aͤlter. Doch damit will ich das neue Werk nicht ſchelten, das im Ganzen ſehr verdienſtlich und ſehr zu loben iſt.

Goethe erkundigte ſich ſodann, wie ich in dieſen Tagen gelebt und was ich gedacht und getrieben. Ich ſagte ihm, daß mir eine Aufforderung zugekommen, unter ſehr vortheilhaften Bedingungen fuͤr ein engliſches Journal monatliche Berichte uͤber die neueſten Erzeug¬ niſſe deutſcher ſchoͤner Proſa einzureichen, und daß ich ſehr geneigt ſey, das Anerbieten anzunehmen.

Goethe's Geſicht, das bisher ſo freundlich geweſen, zog ſich bey dieſen Worten ganz verdrießlich, und ich konnte in jeder ſeiner Mienen die Mißbilligung meines Vorhabens leſen.

Ich wollte, ſagte er, Ihre Freunde haͤtten Sie in Ruhe gelaſſen. Was wollen Sie ſich mit Dingen be¬ faſſen, die nicht in Ihrem Wege liegen und die den Richtungen Ihrer Natur ganz zuwider ſind? Wir haben Gold, Silber und Papiergeld, und jedes hat ſeinen Werth und ſeinen Cours, aber um jedes zu wuͤrdigen, muß man den Cours kennen. Mit der Literatur iſt es nicht anders. Sie wiſſen wohl die Metalle zu ſchaͤtzen, aber nicht das Papiergeld, Sie ſind darin nicht herge¬172 kommen, und da wird Ihre Critik ungerecht ſeyn und Sie werden die Sachen vernichten. Wollen Sie aber gerecht ſeyn, und Jedes in ſeiner Art anerkennen und gelten laſſen, ſo muͤſſen Sie ſich zuvor mit unſerer mittleren Literatur ins Gleichgewicht ſetzen und ſich zu keinen geringen Studien bequemen. Sie muͤſſen zuruͤck¬ gehen und ſehen, was die Schlegel gewollt und geleiſtet, und dann alle neueſten Autoren, Franz Horn, Hoff¬ mann, Clauren u. ſ. w., alle muͤſſen Sie leſen. Und das iſt nicht genug. Auch alle Zeitſchriften, vom Mor¬ genblatt bis zur Abendzeitung muͤſſen Sie halten, damit Sie von allem Neuhervortretenden ſogleich in Kenntniß ſind, und damit verderben Sie Ihre ſchoͤnſten Stunden und Tage. Und dann alle neuen Buͤcher, die Sie einigermaßen gruͤndlich anzeigen wollen, muͤſſen Sie doch auch nicht bloß durchblaͤttern, ſondern ſogar ſtu¬ diren. Wie wuͤrde Ihnen das munden! Und endlich, wenn Sie das Schlechte ſchlecht finden, duͤrfen Sie es nicht einmal ſagen, wenn Sie ſich nicht der Gefahr ausſetzen wollen, mit aller Welt in Krieg zu gerathen.

Nein, wie geſagt, ſchreiben Sie das Anerbieten ab, es liegt nicht in Ihrem Wege. Überhaupt huͤten Sie ſich vor Zerſplitterung und halten Sie Ihre Kraͤfte zuſammen. Waͤre ich vor dreyßig Jahren ſo klug geweſen, ich wuͤrde ganz andere Dinge gemacht haben. Was habe ich mit Schiller an den Horen nnd Muſen¬ almanachen nicht fuͤr Zeit verſchwendet! Grade in173 dieſen Tagen, bey Durchſicht unſerer Briefe, iſt mir al¬ les recht lebendig geworden, und ich kann nicht ohne Verdruß an jene Unternehmungen zuruͤckdenken, wobey die Welt uns mißbrauchte und die fuͤr uns ſelbſt ganz ohne Folge waren. Das Talent glaubt freylich, es koͤnne das auch, was es andere Leute thun ſieht, allein es iſt nicht ſo und es wird ſeine Faux-frais bereuen. Was haben wir davon, wenn unſere Haare auf eine Nacht gewickelt ſind? Wir haben Papier in den Haaren, das iſt alles, und am andern Abend ſind ſie doch wieder ſchlicht.

Es kommt darauf an, fuhr Goethe fort, daß Sie ſich ein Capital bilden, das nie ausgeht. Dieſes wer¬ den Sie erlangen in dem begonnenen Studium der engliſchen Sprache und Literatur. Halten Sie ſich dazu und benutzen Sie die treffliche Gelegenheit der jungen Englaͤnder zu jeder Stunde. Die alten Sprachen ſind Ihnen in der Jugend groͤßtentheils entgangen, deßhalb ſuchen Sie in der Literatur einer ſo tuͤchtigen Nation wie die Englaͤnder einen Halt. Zudem iſt ja unſere eigene Literatur groͤßtentheils aus der ihrigen hergekom¬ men. Unſere Romane, unſere Trauerſpiele, woher ha¬ ben wir ſie denn als von Goldſmith, Fielding und Shakſpeare? Und noch heut zu Tage, wo wollen Sie denn in Deutſchland drey literariſche Helden finden, die dem Lord Byron, Moore und Walter Scott an die Seite zu ſetzen waͤren? Alſo noch einmal, befeſtigen174 Sie ſich im Engliſchen, halten Sie Ihre Kraͤfte zu etwas Tuͤchtigem zuſammen, und laſſen Sie alles fah¬ ren, was fuͤr Sie keine Folge hat und Ihnen nicht gemaͤß iſt.

Ich freute mich, daß ich Goethe zu reden gebracht und war in meinem Innern vollkommen beruhigt und entſchloſſen, nach ſeinem Rath in alle Wege zu handeln.

Herr Canzler von Muͤller ließ ſich melden und ſetzte ſich zu uns. Und ſo kam das Geſpraͤch wieder auf die vor uns ſtehende Buͤſte des Dante und deſſen Leben und Werke. Beſonders ward der Dunkelheit jener Dich¬ tungen gedacht, wie ſeine eigenen Landsleute ihn nie verſtanden, und daß es einem Auslaͤnder umſomehr un¬ moͤglich ſey, ſolche Finſterniſſe zu durchdringen. Ihnen, wendete ſich Goethe freundlich zu mir, ſoll das Studium dieſes Dichters von Ihrem Beichtvater hiemit durchaus verboten ſeyn.

Goethe bemerkte ferner, daß der ſchwere Reim an jener Unverſtaͤndlichkeit vorzuͤglich mit Schuld ſey. Übri¬ gens ſprach Goethe von Dante mit aller Ehrfurcht, wobey es mir merkwuͤrdig war, daß ihm das Wort Talent nicht genuͤgte, ſondern daß er ihn eine Natur nannte, als womit er ein Umfaſſenderes, Ahndungs¬ volleres, tiefer und weiter um ſich Blickendes ausdruͤcken zu wollen ſchien.

175

Ich ging gegen Abend zu Goethe. Er reichte mir freundlich die Hand entgegen und begruͤßte mich mit dem Lobe meines Gedichtes zu Schellhorn's Jubilaͤum. Ich brachte ihm dagegen die Nachricht, daß ich geſchrie¬ ben und das engliſche Anerbieten abgelehnt habe.

Gottlob, ſagte er, daß Sie wieder frey und in Ruhe ſind. Nun will ich Sie gleich noch vor etwas warnen. Es werden die Componiſten kommen und eine Oper haben wollen; aber da ſeyn Sie gleichfalls nur ſtandhaft und lehnen Sie ab, denn das iſt auch eine Sache, die zu nichts fuͤhrt und womit man ſeine Zeit verdirbt.

Goethe erzaͤhlte mir darauf, daß er dem Verfaſſer des Paria durch Nees von Eſenbeck den Comoͤdienzettel nach Bonn geſchickt habe, woraus der Dichter ſehen moͤge, daß ſein Stuͤck hier gegeben worden. Das Leben iſt kurz, fuͤgte er hinzu, man muß ſich einander einen Spaß zu machen ſuchen.

Die Berliner Zeitungen lagen vor ihm und er er¬ zaͤhlte mir von der großen Waſſerfluth in Petersburg. Er gab mir das Blatt, daß ich es leſen moͤchte. Er ſprach dann uͤber die ſchlechte Lage von Petersburg und lachte beyfaͤllig uͤber eine Äußerung Rouſſeau's, welcher geſagt habe, daß man ein Erdbeben dadurch nicht verhindern176 koͤnne, daß man in die Naͤhe eines feuerſpeienden Ber¬ ges eine Stadt baue. Die Natur geht ihren Gang, ſagte er, und dasjenige, was uns als Ausnahme er¬ ſcheint, iſt in der Regel.

Wir gedachten darauf der großen Stuͤrme, die an allen Kuͤſten gewuͤthet, ſo wie der uͤbrigen gewaltſamen Naturaͤußerungen, welche die Zeitungen gemeldet, und ich fragte Goethe, ob man wohl wiſſe, wie dergleichen zuſammenhaͤnge. Das weiß niemand, antwortete Goethe, man hat kaum bey ſich von ſolchen geheimen Dingen eine Ahndung, vielweniger koͤnnte man es aus¬ ſprechen.

Oberbaudirector Coudray ließ ſich melden, deßgleichen Profeſſor Riemer; beyde geſellten ſich zu uns und ſo wurde denn die Waſſersnoth von Petersburg abermals durchgeſprochen, wobey Coudray uns durch Zeichnung des Planes jener Stadt die Einwirkungen der Newa und uͤbrige Localitaͤt deutlich machte.

[177]

1825.

I. 12[178][179]

Bey ſeinem großen Intereſſe fuͤr die engliſche Nation hatte Goethe mich erſucht, die hier anweſenden jungen Englaͤnder ihm nach und nach vorzuſtellen. Heute um fuͤnf Uhr erwartete er mich mit dem engliſchen Ingenieur - Officier, Herrn H., von welchem ich ihm vorlaͤufig viel Gutes hatte ſagen koͤnnen. Wir gingen alſo zur beſtimmten Stunde hin und wurden durch den Bedien¬ ten in ein angenehm erwaͤrmtes Zimmer gefuͤhrt, wo Goethe in der Regel Nachmittags und Abends zu ſeyn pflegt. Drey Lichter brannten auf dem Tiſch; aber Goethe war nicht darin, wir hoͤrten ihn in dem an¬ ſtoßenden Saale ſprechen.

Herr H. ſah ſich derweile um und bemerkte, außer den Gemaͤlden und einer großen Gebirgscharte an den Waͤnden, ein Repoſitorium mit vielen Mappen, von welchen ich ihm ſagte, daß ſie viele Handzeichnungen beruͤhmter Meiſter und Kupferſtiche nach den beſten Ge¬ maͤlden aller Schulen enthielten, die Goethe im Leben12*180nach und nach geſammelt habe und deren wiederholte Betrachtung ihm Unterhaltung gewaͤhre.

Nachdem wir einige Minuten gewartet hatten, trat Goethe zu uns herein und begruͤßte uns freundlich. Ich darf Sie gradezu in deutſcher Sprache anreden, wendete er ſich an Herrn H., denn ich hoͤre, Sie ſind im Deutſchen ſchon recht bewandert. Dieſer erwiederte hierauf mit Wenigem freundlich, und Goethe bat uns darauf, Platz zu nehmen.

Die Perſoͤnlichkeit des Herrn H. mußte auf Goethe einen guten Eindruck machen, denn ſeine große Liebens¬ wuͤrdigkeit und heitere Milde zeigte ſich dem Fremden gegenuͤber heute in ihrer wahren Schoͤnheit. Sie ha¬ ben wohl gethan, ſagte er, daß Sie, um deutſch zu lernen, zu uns heruͤber gekommen ſind, wo Sie nicht allein die Sprache leicht und ſchnell gewinnen, ſondern auch die Elemente, worauf ſie ruhet, unſern Boden, Clima, Lebensart, Sitten, geſellſchaftlichen Verkehr, Verfaſſung und dergleichen mit nach England im Geiſte hinuͤber nehmen.

Das Intereſſe fuͤr die deutſche Sprache, erwiederte Herr H., iſt jetzt in England groß und wird taͤglich allgemeiner, ſo daß jetzt faſt kein junger Englaͤnder von guter Familie iſt, der nicht deutſch lernte.

Wir Deutſchen, verſetzte Goethe freundlich, haben es jedoch Ihrer Nation in dieſer Hinſicht um ein halbes Jahrhundert zuvorgethan. Ich beſchaͤftige mich ſeit181 fuͤnfzig Jahren mit der engliſchen Sprache und Lite¬ ratur, ſo daß ich Ihre Schriftſteller und das Leben und die Einrichtung Ihres Landes ſehr gut kenne. Kaͤme ich nach England hinuͤber, ich wuͤrde kein Frem¬ der ſeyn.

Aber, wie geſagt, Ihre jungen Landsleute thun wohl, daß ſie jetzt zu uns kommen und auch unſere Sprache lernen. Denn nicht allein, daß unſere eigene Literatur es an ſich verdient, ſondern es iſt auch nicht zu laͤugnen, daß, wenn einer jetzt das Deutſche gut ver¬ ſteht, er viele andere Sprachen entbehren kann. Von der franzoͤſiſchen rede ich nicht, ſie iſt die Sprache des Umgangs und ganz beſonders auf Reiſen unentbehrlich, weil ſie jeder verſteht und man ſich in allen Laͤndern mit ihr, ſtatt eines guten Dolmetſchers aushelfen kann. Was aber das Griechiſche, Lateiniſche, Italieniſche und Spa¬ niſche betrifft, ſo koͤnnen wir die vorzuͤglichſten Werke dieſer Nationen in ſo guten deutſchen Überſetzungen leſen, daß wir, ohne ganz beſondere Zwecke nicht Urſache ha¬ ben, auf die muͤhſame Erlernung jener Sprachen viele Zeit zu verwenden. Es liegt in der deutſchen Natur, alles Auslaͤndiſche in ſeiner Art zu wuͤrdigen und ſich fremder Eigenthuͤmlichkeit zu bequemen. Dieſes, und die große Fuͤgſamkeit unſerer Sprache macht denn die deutſchen Überſetzungen durchaus treu und vollkommen.

Und dann iſt wohl nicht zu laͤugnen, daß man im Allgemeinen mit einer guten Überſetzung ſehr weit182 kommt. Friedrich der Große konnte kein Latein, aber er las ſeinen Cicero in der franzoͤſiſchen Überſetzung eben ſo gut als wir andern in der Urſprache.

Dann das Geſpraͤch auf das Theater wendend fragte Goethe Herrn H., ob er es viel beſuche. Ich beſuche das Theater jeden Abend, antwortete dieſer, und ich finde, daß der Gewinn fuͤr das Verſtehen der Sprache ſehr groß iſt. Es iſt merkwuͤrdig, erwiederte Goethe, daß das Ohr, und uͤberall das Vermoͤgen des Verſtehens dem des Sprechens voraufeilt, ſo daß einer bald ſehr gut alles verſtehen, aber keinesweges alles ausdruͤcken kann. Ich finde taͤglich, entgegnete Herr H., daß dieſe Bemerkung ſehr wahr iſt; denn ich verſtehe ſehr gut alles was geſprochen wird, auch ſehr gut alles was ich leſe, ja ich fuͤhle ſogar, wenn einer im Deut¬ ſchen ſich nicht richtig ausdruͤcket. Allein wenn ich ſpreche, ſo ſtockt es und ich weiß nicht recht zu ſagen was ich moͤchte. Eine leichte Converſation bey Hofe, ein Spaß mit den Damen, eine Unterhaltung beym Tanz und dergleichen gelingt mir ſchon. Will ich aber im Deutſchen uͤber einen hoͤheren Gegenſtand meine Meinung hervorbringen, will ich etwas Eigenthuͤmliches und Geiſtreiches ſagen, ſo ſtockt es und ich kann nicht fort. Da troͤſten und beruhigen Sie ſich nur, erwie¬ derte Goethe, denn dergleichen Ungewoͤhnliches auszu¬ druͤcken wird uns wohl in unſerer eigenen Mutterſprache ſchwer.

183

Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deut¬ ſcher Literatur geleſen habe. Ich habe den Egmont ge¬ leſen, antwortete dieſer, und habe an dem Buche ſo viele Freude gehabt, daß ich dreymal zu ihm zuruͤck¬ gekehrt bin. So auch hat Torquato Taſſo mir vielen Genuß gewaͤhrt. Jetzt leſe ich den Fauſt, ich finde aber, daß er ein wenig ſchwer iſt. Goethe lachte bey dieſen letzten Worten. Freylich, ſagte er, wuͤrde ich Ihnen zum Fauſt noch nicht gerathen haben. Es iſt tol¬ les Zeug und geht uͤber alle gewoͤhnlichen Empfindungen hinaus. Aber da Sie es von ſelbſt gethan haben, ohne mich zu fragen, ſo moͤgen Sie ſehen wie Sie durchkom¬ men. Fauſt iſt ein ſo ſeltſames Individuum, daß nur wenige Menſchen ſeine inneren Zuſtaͤnde nachempfinden koͤnnen. So der Character des Mephiſtopheles iſt durch die Ironie und als lebendiges Reſultat einer großen Weltbetrachtung wieder etwas ſehr Schweres. Doch ſehen Sie zu, was fuͤr Lichter ſich Ihnen dabey aufthun. Der Taſſo dagegen ſteht dem allgemeinen Menſchengefuͤhl bey weitem naͤher, auch iſt das Ausfuͤhrliche ſeiner Form einem leichteren Verſtaͤndniß guͤnſtig. Dennoch, er¬ wiederte Herr H., haͤlt man in Deutſchland den Taſſo fuͤr ſchwer, ſo daß man ſich wunderte, als ich ſagte, daß ich ihn leſe. Die Hauptſache beym Taſſo, ſagte Goethe, iſt die, daß man kein Kind mehr ſey und gute Geſellſchaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Geiſt und Zartſinn184 und genugſamer aͤußeren Bildung, wie ſie aus dem Umgange mit vollendeten Menſchen der hoͤheren und hoͤchſten Staͤnde hervorgeht, wird den Taſſo nicht ſchwer finden.

Das Geſpraͤch lenkte ſich auf den Egmont, und Goethe ſagte daruͤber Folgendes: Ich ſchrieb den Eg¬ mont im Jahre 1775, alſo vor funfzig Jahren. Ich hielt mich ſehr treu an die Geſchichte und ſtrebte nach moͤglichſter Wahrheit. Als ich darauf zehn Jahre ſpaͤter in Rom war, las ich in den Zeitungen, daß die ge¬ ſchilderten revolutionaͤren Scenen in den Niederlanden ſich buchſtaͤblich wiederholten. Ich ſah daraus, daß die Welt immer dieſelbige bleibt und daß meine Darſtellung einiges Leben haben mußte.

Unter dieſen und aͤhnlichen Geſpraͤchen war die Zeit des Theaters herangekommen und wir ſtanden auf und wurden von Goethe freundlich entlaſſen.

Im Nachhauſegehen fragte ich Herrn H., wie ihm Goethe gefallen. Ich habe nie einen Mann geſehen, antwortete dieſer, der bey aller liebevollen Milde ſo viel angeborene Wuͤrde beſaͤße. Er iſt immer groß, er mag ſich ſtellen und ſich herablaſſen wie er wolle.

185

Ich ging heute um fuͤnf Uhr zu Goethe, den ich in einigen Tagen nicht geſehen hatte, und verlebte mit ihm einen ſchoͤnen Abend. Ich fand ihn in ſeiner Arbeits¬ ſtube in der Daͤmmerung ſitzend in Geſpraͤchen mit ſei¬ nem Sohn und dem Hofrath Rehbein, ſeinem Arzt. Ich ſetzte mich zu ihnen an den Tiſch. Wir ſprachen noch eine Weile in der Daͤmmerung, dann ward Licht gebracht und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen friſch und heiter vor mir zu ſehen.

Er erkundigte ſich, wie gewoͤhnlich, theilnehmend nach dem, was mir in dieſen Tagen Neues begegnet, und ich erzaͤhlte ihm, daß ich die Bekanntſchaft einer Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht gewoͤhnliches Talent ruͤhmen, und Goethe, der einige ihrer Producte gleichfalls kannte, ſtimmte in dieſes Lob mit ein. Eins von ihren Gedichten, ſagte er, wo ſie eine Gegend ihrer Heimath beſchreibt, iſt von einem hoͤchſt eigenthuͤmlichen Character. Sie hat eine gute Richtung auf aͤußere Gegenſtaͤnde, auch fehlt es ihr nicht an guten inneren Eigenſchaften. Freylich waͤre auch manches an ihr auszuſetzen, wir wollen ſie jedoch gehen laſſen und ſie auf dem Wege nicht irren, den das Talent ihr zeigen wird.

Das Geſpraͤch kam nun auf die Dichterinnen im186 Allgemeinen und der Hofrath Rehbein bemerkte, daß das poetiſche Talent der Frauenzimmer ihm oft als eine Art von geiſtigem Geſchlechtstrieb vorkomme. Da hoͤ¬ ren Sie nur, ſagte Goethe lachend, indem er mich an¬ ſah, geiſtigen Geſchlechtstrieb! wie der Arzt das zurechtlegt! Ich weiß nicht, ob ich mich recht ausdruͤcke, fuhr dieſer fort, aber es iſt ſo etwas. Ge¬ woͤhnlich haben dieſe Weſen das Gluͤck der Liebe nicht genoſſen und ſie ſuchen nun in geiſtigen Richtungen Erſatz. Waͤren ſie zu rechter Zeit verheirathet und haͤt¬ ten ſie Kinder geboren, ſie wuͤrden an poetiſche Pro¬ ductionen nicht gedacht haben.

Ich will nicht unterſuchen, ſagte Goethe, in wie¬ fern Sie in dieſem Falle Recht haben; aber bey Frauen¬ zimmer-Talenten anderer Art habe ich immer gefunden, daß ſie mit der Ehe aufhoͤrten. Ich habe Maͤdchen gekannt, die vortrefflich zeichneten, aber ſobald ſie Frauen und Muͤtter wurden, war es aus; ſie hatten mit den Kindern zu thun und nahmen keinen Griffel mehr in die Hand.

Doch unſere Dichterinnen, fuhr er ſehr lebhaft fort, moͤchten immer dichten und ſchreiben, ſoviel ſie wollten, wenn nur unſere Maͤnner nicht wie die Weiber ſchrieben! Aber das iſt es, was mir nicht gefaͤllt. Man ſehe doch nur unſere Zeitſchriften und Taſchenbuͤcher, wie das alles ſo ſchwach iſt und immer ſchwaͤcher wird! Wenn man jetzt ein Capitel des Cellini im Mor¬187 genblatt abdrucken ließe, wie wuͤrde ſich das aus¬ nehmen!

Unterdeſſen, fuhr er heiter fort, wollen wir es gut ſeyn laſſen und uns unſeres kraͤftigen Maͤdchens in Halle freuen, die uns mit maͤnnlichem Geiſte in die ſerbiſche Welt einfuͤhrt. Die Gedichte ſind vortrefflich! es ſind einige darunter, die ſich dem hohen Liede an die Seite ſetzen laſſen, und das will etwas heißen. Ich habe den Aufſatz uͤber dieſe Gedichte beendigt und er iſt auch bereits abgedruckt. Mit dieſen Worten reichte er mir die erſten vier Aushaͤngebogen eines neuen Heftes von Kunſt und Alterthum zu, wo ich dieſen Aufſatz fand. Ich habe die einzelnen Gedichte ihrem Haupt¬ inhalte nach mit kurzen Worten characteriſirt und Sie werden ſich uͤber die koͤſtlichen Motive freuen. Rehbein iſt ja auch der Poeſie nicht unkundig, wenigſtens was den Gehalt und Stoff betrifft, und er hoͤrt vielleicht gerne mit zu, wenn Sie dieſe Stelle vorleſen.

Ich las den Inhalt der einzelnen Gedichte langſam. Die angedeuteten Situationen waren ſo ſprechend und ſo zeichnend, daß mir bey einem jeden Wort ein ganzes Gedicht ſich vor den Augen aufbildete. Beſonders an¬ muthig wollten mir die folgenden erſcheinen.

1.

Sittſamkeit eines ſerbiſchen Maͤdchens, welches die ſchoͤnen Augenwimpern niemals aufſchlaͤgt.

188

2.

Innerer Streit des Liebenden, der als Brautfuͤhrer ſeine Geliebte einem Dritten zufuͤhren ſoll.

3.

Beſorgt um den Geliebten, will das Maͤdchen nicht ſingen, um nicht froh zu ſcheinen.

4.

Klage uͤber Umkehrung der Sitten, daß der Juͤng¬ ling die Wittwe freye, der Alte die Jungfrau.

5.

Klage eines Juͤnglings, daß die Mutter der Tochter zu viel Freyheit gebe.

6.

Vertraulich-frohes Geſpraͤch des Maͤdchens mit dem Pferde, das ihr ſeines Herrn Neigung und Abſichten verraͤth.

7.

Maͤdchen will den Ungeliebten nicht.

8.

Die ſchoͤne Kellnerin; ihr Geliebter iſt nicht mit unter den Gaͤſten.

9.

Finden und zartes Aufwecken der Geliebten.

10.

Welches Gewerbes wird der Gatte ſeyn?

11.

Liebesfreuden verſchwatzt.

189

12.

Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet ſie am Tage, uͤberraſcht ſie zu Nacht.

Ich bemerkte, daß dieſe bloßen Motive ſo viel Leben in mir anregten, als laͤſe ich die Gedichte ſelbſt, und daß ich daher nach dem Ausgefuͤhrten gar kein Verlangen trage.

Sie haben ganz Recht, ſagte Goethe, es iſt ſo. Aber Sie ſehen daraus die große Wichtigkeit der Mo¬ tive, die niemand begreifen will. Unſere Frauenzimmer haben davon nun vollends keine Ahndung. Dieß Ge¬ dicht iſt ſchoͤn, ſagen ſie, und denken dabey bloß an die Empfindungen, an die Worte, an die Verſe. Daß aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven beſteht, daran denkt niemand. Und aus dieſem Grunde werden denn auch Tauſende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durch¬ aus null iſt, und die bloß durch Empfindungen und klin¬ gende Verſe eine Art von Exiſtenz vorſpiegeln. Über¬ haupt haben die Dilettanten und beſonders die Frauen von der Poeſie ſehr ſchwache Begriffe. Sie glauben gewoͤhnlich, wenn ſie nur das Techniſche loshaͤtten, ſo haͤtten ſie das Weſen und waͤren gemachte Leute; allein ſie ſind ſehr in der Irre.

Profeſſor Riemer ließ ſich melden; Hofrath Rehbein empfahl ſich. Riemer ſetzte ſich zu uns. Das Geſpraͤch uͤber die Motive der ſerbiſchen Liebesgedichte ging fort. 190Riemer kannte ſchon, wovon die Rede war, und er machte die Bemerkung, daß man nach den obigen Inhalts-An¬ deutungen nicht allein Gedichte machen koͤnne, ſondern daß auch jene Motive, ohne ſie aus dem Serbiſchen gekannt zu haben, von deutſcher Seite ſchon waͤren gebraucht und gebildet worden. Er gedachte hierauf einiger Ge¬ dichte von ſich ſelber, ſo wie mir waͤhrend dem Leſen ſchon einige Gedichte von Goethe eingefallen waren, die ich erwaͤhnte.

Die Welt bleibt immer dieſelbe, ſagte Goethe, die Zuſtaͤnde wiederholen ſich, das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andere, warum ſollte denn der eine Poet nicht wie der andere dichten? Die Situationen des Lebens ſind ſich gleich, warum ſollten denn die Situationen der Gedichte ſich nicht gleich ſeyn?

Und eben dieſe Gleichheit des Lebens und der Em¬ pfindungen, ſagte Riemer, macht es ja, daß wir im Stande ſind, die Poeſie anderer Voͤlker zu verſtehen. Waͤre dieſes nicht, ſo wuͤrden wir ja bey auslaͤndiſchen Gedichten nie wiſſen, wovon die Rede iſt.

Mir ſind daher, nahm ich das Wort, immer die Gelehrten hoͤchſt ſeltſam vorgekommen, welche die Mei¬ nung zu haben ſcheinen, das Dichten geſchehe nicht vom Leben zum Gedicht, ſondern vom Buche zum Ge¬ dicht. Sie ſagen immer: das hat er dort her und das dort! Finden ſie z. B. beym Shakſpeare Stellen, die bey den Alten auch vorkommen, ſo ſoll er es auch191 von den Alten haben! So giebt es unter andern beym Shakſpeare eine Situation, wo man beym Anblick eines ſchoͤnen Maͤdchens die Eltern gluͤcklich preiſet, die ſie Tochter nennen, und den Juͤngling gluͤcklich, der ſie als Braut heimfuͤhren wird. Und weil nun beym Homer daſſelbige vorkommt, ſo ſoll es der Sheakſpeare auch vom Homer haben! Wie wunderlich! Als ob man nach ſolchen Dingen ſo weit zu gehen brauchte, und als ob man dergleichen nicht taͤglich vor Augen haͤtte und empfaͤnde und ausſpraͤche!

Ach ja, ſagte Goethe, das iſt hoͤchſt laͤcherlich!

So auch, fuhr ich fort, zeigt ſelbſt Lord Byron ſich nicht kluͤger, wenn er Ihren Fauſt zerſtuͤckelt und der Meinung iſt, als haͤtten Sie dieſes hier her und jenes dort.

Ich habe, ſagte Goethe, alle jene von Lord Byron angefuͤhrten Herrlichkeiten groͤßtentheils nicht einmal ge¬ leſen, viel weniger habe ich daran gedacht, als ich den Fauſt machte. Aber Lord Byron iſt nur groß wenn er dichtet, ſobald er reflectirt, iſt er ein Kind. So weiß er ſich auch gegen dergleichen ihn ſelbſt betref¬ fende unverſtaͤndige Angriffe ſeiner eigenen Nation nicht zu helfen; er haͤtte ſich ſtaͤrker dagegen ausdruͤcken ſol¬ len. Was da iſt, das iſt mein! haͤtte er ſagen ſollen, und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche genommen, das iſt gleichviel, es kam bloß darauf an, daß ich es recht gebrauchte! Walter Scott benutzte eine192 Scene meines Egmonts[und] er hatte ein Recht dazu, und weil es mit Verſtand geſchah, ſo iſt er zu loben. So auch hat er den Character meiner Mignon in einem ſeiner Romane nachgebildet; ob aber mit eben ſo viel Weisheit? iſt eine andere Frage. Lord Byrons ver¬ wandelter Teufel iſt ein fortgeſetzter Mephiſtopheles, und das iſt recht! haͤtte er aus origineller Grille ausweichen wollen, er haͤtte es ſchlechter machen muͤſſen. So ſingt mein Mephiſtopheles ein Lied von Shakſpeare, und warum ſollte er das nicht? warum ſollte ich mir die Muͤhe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von Shakſpeare eben recht war und eben das ſagte, was es ſollte? Hat daher auch die Expoſition meines Fauſt mit der des Hiob einige Ähnlichkeit, ſo iſt das wie¬ derum ganz recht und ich bin deßwegen eher zu loben als zu tadeln.

Goethe war in der beſten Laune. Er ließ eine Flaſche Wein kommen, wovon er Riemern und mir einſchenkte; er ſelbſt trank Marienbader Waſſer. Der Abend ſchien beſtimmt zu ſeyn, mit Riemern das Ma¬ nuſcript ſeiner fortgeſetzten Selbſtbiographie durchzugehen, um vielleicht hinſichtlich des Ausdruckes hin und wieder noch Einiges zu verbeſſern. Eckermann bleibt wohl bey uns und hoͤrt mit zu, ſagte Goethe, welches mir ſehr lieb war zu vernehmen, und ſo legte er denn Rie¬ mern das Manuſcript vor, der mit dem Jahre 1795 zu leſen anfing.

193

Ich hatte ſchon im Laufe des Sommers die Freude gehabt, alle dieſe noch ungedruckten Lebensjahre bis auf die neueſte Zeit herauf wiederholt zu leſen und zu be¬ trachten. Aber jetzt in Goethe's Gegenwart ſie laut vor¬ leſen zu hoͤren, gewaͤhrte mir einen ganz neuen Genuß. Riemer war auf den Ausdruck gerichtet und ich hatte Ge¬ legenheit ſeine große Gewandtheit und ſeinen Reichthum an Worten und Wendungen zu bewundern. In Goethen aber war die geſchilderte Lebensepoche rege, er ſchwelgte in Erinnerungen und ergaͤnzte bey Erwaͤhnung einzelner Perſonen und Vorfaͤlle das Geſchriebene durch detaillirte muͤndliche Erzaͤhlung. Es war ein koͤſtlicher Abend! der bedeutendſten mitlebenden Maͤnner ward wiederholt gedacht; zu Schillern jedoch, der dieſer Epoche von 1795 bis 1800 am engſten verflochten war, kehrte das Geſpraͤch immer von neuem zuruͤck. Das Theater war ein Gegenſtand ihres gemeinſamen Wirkens geweſen, ſo auch fallen Goethe's vorzuͤglichſte Werke in jene Zeit. Der Wilhelm Meiſter wird beendigt, Hermann und Dorothea gleich hinterher entworfen und geſchrieben, Cellini uͤberſetzt fuͤr die Horen, die Xenien gemeinſchaft¬ lich gedichtet fuͤr Schillers Muſenalmanach, an taͤglichen Beruͤhrungspuncten war kein Mangel. Dieſes alles kam nun dieſen Abend zur Sprache und es fehlte Goe¬ then nicht an Anlaß zu den intereſſanteſten Äußerungen.

Hermann und Dorothea, ſagte er unter andern, iſt faſt das einzige meiner groͤßeren Gedichte, das mirI. 13194noch Freude macht; ich kann es nie ohne innigen Antheil leſen. Beſonders lieb iſt es mir in der latei¬ niſchen Überſetzung; es kommt mir da vornehmer vor, als waͤre, es der Form nach, zu ſeinem Urſprunge zuruͤck¬ gekehrt.

Auch vom Wilhelm Meiſter war wiederholt die Rede. Schiller, ſagte er, tadelte die Einflechtung des Tragi¬ ſchen, als welches nicht in den Roman gehoͤre. Er hatte jedoch Unrecht, wie wir alle wiſſen. In ſeinen Briefen an mich ſind uͤber den Wilhelm Meiſter die bedeutendſten Anſichten und Äußerungen. Es gehoͤrt dieſes Werk uͤbrigens zu den incalculabelſten Productio¬ nen, wozu mir faſt ſelbſt der Schluͤſſel fehlt. Man ſucht einen Mittelpunct, und das iſt ſchwer und nicht einmal gut. Ich ſollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Le¬ ben, das unſern Augen voruͤbergeht, waͤre auch an ſich etwas ohne ausgeſprochene Tendenz, die doch bloß fuͤr den Begriff iſt. Will man aber dergleichen durchaus, ſo halte man ſich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unſern Helden richtet, indem er ſagt: Du kommſt mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, ſeines Vaters Eſelinnen zu ſuchen und ein Koͤnigreich fand. Hieran halte man ſich. Denn im Grunde ſcheint doch das Ganze nichts anderes ſagen zu wollen, als daß der Menſch, trotz aller Dummheiten und Ver¬ wirrungen, von einer hoͤheren Hand geleitet, doch zum gluͤcklichen Ziele gelange.

195

Der großen Cultur der mittleren Staͤnde ward dar¬ auf gedacht, die ſich ſeit den letzten funfzig Jahren uͤber Deutſchland verbreitet, und Goethe ſchrieb die Verdienſte hierum weniger Leſſingen zu, als Herdern und Wieland. Leſſing, ſagte er, war der hoͤchſte Verſtand, und nur ein eben ſo großer konnte von ihm wahrhaft lernen. Dem Halbvermoͤgen war er gefaͤhrlich Er nannte einen Journaliſten, der ſich nach Leſſing gebildet und am Ende des vorigen Jahrhunderts eine Rolle, aber keine edle geſpielt habe, weil er ſeinem großen Vor¬ gaͤnger ſo weit nachgeſtanden.

Wielanden, ſagte Goethe, verdankt das ganze obere Deutſchland ſeinen Styl. Es hat viel von ihm gelernt und die Faͤhigkeit ſich gehoͤrig auszudruͤcken iſt nicht das geringſte.

Bey Erwaͤhnung der Xenien ruͤhmte Goethe be¬ ſonders die von Schiller, die er ſcharf und ſchlagend nannte, dagegen ſeine eigenen unſchuldig und geringe. Den Thierkreis, ſagte er, welcher von Schiller iſt, leſe ich ſtets mit Bewunderung. Die guten Wirkungen, die ſie zu ihrer Zeit auf die deutſche Literatur ausuͤbten, ſind gar nicht zu berechnen. Viele Perſonen wurden bey dieſer Gelegenheit genannt, gegen welche die Xenien gerichtet waren; ihre Namen ſind jedoch meinem Ge¬ daͤchtniß entgangen.

Nachdem nun ſo, von dieſen und hundert andern intereſſanten Äußerungen und Einflechtungen Goethe's13 *196unterbrochen, das gedachte Manuſcript bis zu Ende des Jahres 1800 vorgeleſen und beſprochen war, legte Goethe die Papiere an die Seite und ließ an einem Ende des großen Tiſches, an dem wir ſaßen, decken und ein kleines Abendeſſen bringen. Wir ließen es uns wohl ſeyn; Goethe ſelbſt ruͤhrte aber keinen Biſſen an, wie ich ihn denn nie Abends habe eſſen ſehen. Er ſaß bey uns, ſchenkte uns ein, putzte die Lichter und er¬ quickte uns uͤberdieß geiſtig mit den herrlichſten Worten. Das Andenken Schillers war in ihm ſo lebendig, daß die Geſpraͤche dieſer letzten Haͤlfte des Abends nur ihm gewidmet waren.

Riemer erinnerte an Schillers Perſoͤnlichkeit. Der Bau ſeiner Glieder, ſein Gang auf der Straße, jede ſeiner Bewegungen, ſagte er, war ſtolz, nur die Augen waren ſanft. Ja, ſagte Goethe, alles Übrige an ihm war ſtolz und großartig, aber ſeine Augen waren ſanft. Und wie ſein Koͤrper war ſein Talent. Er griff in einen großen Gegenſtand kuͤhn hinein und betrachtete und wendete ihn hin und her und ſah ihn ſo an und ſo, und handhabte ihn ſo und ſo. Er ſah ſeinen Ge¬ genſtand gleichſam nur von Außen an, eine ſtille Ent¬ wickelung aus dem Innern war nicht ſeine Sache. Sein Talent war mehr deſultoriſch. Deßhalb war er auch nie entſchieden und konnte nie fertig werden. Er wech¬ ſelte oft noch eine Rolle kurz vor der Probe.

Und wie er uͤberall kuͤhn zu Werke ging, ſo war197 er auch nicht fuͤr vieles Motiviren. Ich weiß, was ich mit ihm beym Tell fuͤr Noth hatte, wo er geradezu den Geßler einen Apfel vom Baum brechen und vom Kopf des Knaben ſchießen laſſen wollte. Dieß war nun ganz gegen meine Natur, und ich uͤberredete ihn, dieſe Grau¬ ſamkeit doch wenigſtens dadurch zu motiviren, daß er Tells Knaben mit der Geſchicklichkeit ſeines Vaters gegen den Landvogt groß thun laſſe, indem er ſagt, daß er wohl auf hundert Schritte ein Apfel vom Baum ſchieße. Schiller wollte anfaͤnglich nicht daran, aber er gab doch endlich meinen Vorſtellungen und Bitten nach und machte es ſo wie ich ihm gerathen.

Daß ich dagegen oft zu viel motivirte, entfernte meine Stuͤcke vom Theater. Meine Eugenie iſt eine Kette von lauter Motiven und dieß kann auf der Buͤhne kein Gluͤck machen.

Schillers Talent war recht fuͤrs Theater geſchaffen. Mit jedem Stuͤck ſchritt er vor und ward er vollen¬ deter; doch war es wunderlich, daß ihm noch von den Raͤubern her ein gewiſſer Sinn fuͤr das Grauſame anklebte, der ſelbſt in ſeiner ſchoͤnſten Zeit ihn nie ganz verlaſſen wollte. So erinnere ich mich noch recht wohl, daß er im Egmont in der Gefaͤngnißſcene, wo dieſem das Urtheil vorgeleſen wird, den Alba in einer Maske und in einen Mantel gehuͤllt im Hintergrunde erſcheinen ließ, um ſich an dem Effect zu weiden, den das Todes - Urtheil auf Egmont haben wuͤrde. Hiedurch ſollte ſich198 der Alba als unerſaͤttlich in Rache und Schadenfreude darſtellen. Ich proteſtirte jedoch und die Figur blieb weg. Er war ein wunderlicher großer Menſch.

Alle acht Tage war er ein Anderer und ein Voll¬ endeterer; jedesmal wenn ich ihn wiederſah, erſchien er mir vorgeſchritten in Beleſenheit, Gelehrſamkeit und Urtheil. Seine Briefe ſind das ſchoͤnſte Andenken, das ich von ihm beſitze, und ſie gehoͤren mit zu dem Vor¬ trefflichſten, was er geſchrieben. Seinen letzten Brief bewahre ich als ein Heiligthum unter meinen Schaͤtzen. Goethe ſtand auf und holte ihn. Da ſehen und leſen Sie , ſagte er, indem er mir ihn zureichte.

Der Brief war ſchoͤn und mit kuͤhner Hand ge¬ ſchrieben. Er enthielt ein Urtheil uͤber Goethe's Anmer¬ kungen zu Rameau's Neffen, welche die franzoͤſiſche Li¬ teratur jener Zeit darſtellen, und die er Schillern in Manuſcript zur Anſicht mitgetheilt hatte. Ich las den Brief Riemern vor. Sie ſehen, ſagte Goethe, wie ſein Urtheil treffend und beyſammen iſt, und wie die Handſchrift durchaus keine Spur irgend einer Schwaͤche verraͤth. Er war ein praͤchtiger Menſch und bey voͤlligen Kraͤften iſt er von uns gegangen. Dieſer Brief iſt vom 24. April 1805. Schiller ſtarb am 9. May.

Wir betrachteten den Brief wechſelsweiſe und freu¬ ten uns des klaren Ausdrucks wie der ſchoͤnen Hand¬ ſchrift, und Goethe widmete ſeinem Freunde noch man¬199 ches Wort eines liebevollen Andenkens, bis es ſpaͤt gegen eilf Uhr geworden war und wir gingen.

Waͤre es meine Sache noch, dem Theater vorzu¬ ſtehen, ſagte Goethe dieſen Abend, ich wuͤrde Byrons Dogen von Venedig auf die Buͤhne bringen. Freylich iſt das Stuͤck zu lang und es muͤßte gekuͤrzt werden; aber man muͤßte nichts daran ſchneiden und ſtreichen, ſondern es ſo machen: Man muͤßte den Inhalt jeder Scene in ſich aufnehmen und ihn bloß kuͤrzer wiedergeben. Dadurch wuͤrde das Stuͤck zuſammengehen, ohne daß man ihm durch Änderungen ſchadete und es wuͤrde an kraͤftiger Wirkung durchaus gewinnen, ohne im Weſent¬ lichen von ſeinem Schoͤnen etwas einzubuͤßen.

Dieſe Äußerung Goethe's gab mir eine neue Anſicht, wie man beym Theater in hundert aͤhnlichen Faͤllen zu verfahren habe, und ich war uͤber dieſe Maxime, die freylich einen guten Kopf, ja einen Poeten vorausſetzt der ſeine Sache verſteht, hoͤchſt erfreut.

Wir ſprachen uͤber Lord Byron weiter und ich er¬ waͤhnte, wie er in ſeinen Converſationen mit Medwin es als etwas hoͤchſt Schwieriges und Undankbares aus¬ geſprochen habe, fuͤr das Theater zu ſchreiben. Es kommt darauf an, ſagte Goethe, daß der Dichter die200 Bahn zu treffen wiſſe, die der Geſchmack und das In¬ tereſſe des Publicums genommen hat. Faͤllt die Rich¬ tung des Talents mit der des Publicums zuſammen, ſo iſt alles gewonnen. Dieſe Bahn hat Houwald mit ſeinem Bilde getroffen, daher der allgemeine Beyfall. Lord Byron waͤre vielleicht nicht ſo gluͤcklich geweſen, inſofern ſeine Richtungen von der des Publicums ab¬ wichen. Denn es fragt ſich hiebey keineswegs, wie groß der Poet ſey, vielmehr kann ein ſolcher, der mit ſeiner Perſoͤnlichkeit aus dem allgemeinen Publicum we¬ nig hervorragt, oft eben dadurch die allgemeinſte Gunſt gewinnen.

Wir ſetzten das Geſpraͤch uͤber Lord Byron fort und Goethe bewunderte ſein außerordentliches Talent. Dasjenige, was ich die Erfindung nenne, ſagte er, iſt mir bey keinem Menſchen in der Welt groͤßer vor¬ gekommen als bey ihm. Die Art und Weiſe, wie er einen dramatiſchen Knoten loͤſet, iſt ſtets uͤber alle Er¬ wartung und immer beſſer, als man es ſich dachte. Mir geht es mit Shakſpeare ſo, erwiederte ich, nament¬ lich mit dem Falſtaff, wenn er ſich feſtgelogen hat und ich mich frage, was ich ihn thun laſſen wuͤrde, um ſich wieder loszuhelfen, wo denn freylich Shakſpeare alle meine Gedanken bey weitem uͤbertrifft. Daß aber Sie ein Gleiches von Lord Byron ſagen, iſt wohl das hoͤchſte Lob, das dieſem zu Theil werden kann. Jedoch, fuͤgte ich hinzu, ſteht der Poet, der Anfang und Ende201 klar uͤberſieht, gegen den befangenen Leſer bey weitem im Vortheil.

Goethe gab mir Recht und lachte dann uͤber Lord Byron, daß Er, der ſich im Leben nie gefuͤgt und der nie nach einem Geſetz gefragt, ſich endlich dem duͤmm¬ ſten Geſetz der drey Einheiten unterworfen habe. Er hat den Grund dieſes Geſetzes ſo wenig verſtanden, ſagte er, als die uͤbrige Welt. Das Faßliche iſt der Grund, und die drey Einheiten ſind nur in ſo fern gut, als dieſes durch ſie erreicht wird. Sind ſie aber dem Faßlichen hinderlich, ſo iſt es immer unverſtaͤndig ſie als Geſetz betrachten und befolgen zu wollen. Selbſt die Griechen, von denen dieſe Regel ausging, haben ſie nicht immer befolgt; im Phaëthon des Euripides und in andern Stuͤcken wechſelt der Ort, und man ſieht alſo, daß die gute Darſtellung ihres Gegenſtandes ihnen mehr galt als der blinde Reſpect vor einem Geſetz, das an ſich nie viel zu bedeuten hatte. Die Shakſpear'ſchen Stuͤcke gehen uͤber die Einheit der Zeit und des Orts ſo weit hinaus als nur moͤglich; aber ſie ſind faßlich, es iſt nichts faßlicher als ſie, und deßhalb wuͤrden auch die Griechen ſie untadelig finden. Die franzoͤſiſchen Dichter haben dem Geſetz der drey Einheiten am ſtreng¬ ſten Folge zu leiſten geſucht, aber ſie ſuͤndigen gegen das Faßliche, indem ſie ein dramatiſches Geſetz nicht dramatiſch loͤſen, ſondern durch Erzaͤhlung.

Ich dachte hiebey an die Feinde von Houwald,202 bey welchem Drama der Verfaſſer ſich auch ſehr im Lichte ſtand, indem er, um die Einheit des Orts zu bewahren, im erſten Act dem Faßlichen ſchadete und uͤberhaupt eine moͤgliche groͤßere Wirkung ſeines Stuͤckes einer Grille opferte, die ihm niemand Dank weiß. Da¬ gegen dachte ich auch an den Goͤtz von Berlichingen, welches Stuͤck uͤber die Einheit der Zeit und des Orts ſo weit hinausgeht als nur immer moͤglich; aber auch ſo in der Gegenwart ſich entwickelnd, alles vor die un¬ mittelbare Anſchauung bringend, und daher ſo echt dra¬ matiſch und faßlich iſt als nur irgend ein Stuͤck in der Welt. Auch dachte ich, daß die Einheit der Zeit und des Orts dann natuͤrlich und im Sinne der Griechen waͤre, wenn ein Factum ſo wenig Umfang habe, daß es ſich in gehoͤriger Zeit vor unſern Augen im Detail entwickeln koͤnne; daß aber bey einer großen, durch ver¬ ſchiedene Orte ſich machenden Handlung kein Grund ſey, ſolche auf einen Ort beſchraͤnken zu wollen, um ſo¬ weniger als bey unſeren jetzigen Buͤhnen zu beliebiger Verwandlung der Scene durchaus kein Hinderniß im Wege ſtehe.

Goethe fuhr uͤber Lord Byron zu reden fort: Sei¬ nem ſtets ins Unbegrenzte ſtrebenden Naturell, ſagte er, ſteht jedoch die Einſchraͤnkung, die er ſich durch Beob¬ achtung der drey Einheiten auflegte, ſehr wohl. Haͤtte er ſich doch auch im Sittlichen ſo zu begrenzen gewußt! Daß er dieſes nicht konnte, war ſein Verderben, und es203 laͤßt ſich ſehr wohl ſagen, baß er an ſeiner Zuͤgelloſigkeit zu Grunde gegangen iſt.

Er war gar zu dunkel uͤber ſich ſelbſt. Er lebte im¬ mer leidenſchaftlich in den Tag hin und wußte und be¬ dachte nicht, was er that. Sich ſelber alles erlaubend und an Andern nichts billigend, mußte er es mit ſich ſelbſt verderben und die Welt gegen ſich aufregen. Mit ſeinen English Bards and Scotch Reviewers verletzte er gleich anfaͤnglich die vorzuͤglichſten Literatoren. Um nachher nur zu leben, mußte er einen Schritt zuruͤcktreten. In ſeinen folgenden Werken ging er in Oppoſition und Mißbilligung fort; Staat und Kirche blieben nicht unangetaſtet. Die¬ ſes ruͤckſichtsloſe Hinwirken trieb ihn aus England und haͤtte ihn mit der Zeit auch aus Europa getrieben. Es war ihm uͤberall zu enge, und bey der graͤnzenloſeſten perſoͤnlichen Freyheit fuͤhlte er ſich beklommen; die Welt war ihm wie ein Gefaͤngniß. Sein Gehen nach Grie¬ chenland war kein freiwilliger Entſchluß, ſein Mißver¬ haͤltniß mit der Welt trieb ihn dazu.

Daß er ſich vom Herkoͤmmlichen, Patriotiſchen, losſagte, hat nicht allein einen ſo vorzuͤglichen Menſchen perſoͤnlich zu Grunde gerichtet, ſondern ſein revolutio¬ naͤrer Sinn und die damit verbundene beſtaͤndige Agi¬ tation des Gemuͤths hat auch ſein Talent nicht zur ge¬ hoͤrigen Entwickelung kommen laſſen. Auch iſt die ewige Oppoſition und Mißbilligung ſeinen vortrefflichen Wer¬ ken ſelbſt, ſo wie ſie daliegen, hoͤchſt ſchaͤdlich. Denn204 nicht allein, daß das Unbehagen des Dichters ſich dem Leſer mittheilt, ſondern auch alles opponirende Wirken geht auf das Negative hinaus, und das Negative iſt nichts. Wenn ich das Schlechte ſchlecht nenne, was iſt da viel gewonnen? Nenne ich aber gar das Gute ſchlecht, ſo iſt viel geſchadet. Wer recht wirken will, muß nie ſchelten, ſich um das Verkehrte gar nicht bekuͤmmern, ſondern nur immer das Gute thun. Denn es kommt nicht darauf an, daß eingeriſſen, ſondern daß etwas aufgebaut werde, woran die Menſchheit reine Freude empfinde.

Ich erquickte mich an dieſen herrlichen Worten und freute mich der koͤſtlichen Maxime.

Lord Byron, fuhr Goethe fort, iſt zu betrachten: als Menſch, als Englaͤnder und als großes Talent. Seine guten Eigenſchaften ſind vorzuͤglich vom Menſchen herzu¬ leiten; ſeine ſchlimmen, daß er ein Englaͤnder und ein Paͤr von England war; und ſein Talent iſt incommenſurabel.

Alle Englaͤnder ſind als ſolche ohne eigentliche Re¬ flexion; die Zerſtreuung und der Parteygeiſt laſſen ſie zu keiner ruhigen Ausbildung kommen. Aber ſie ſind groß als praktiſche Menſchen.

So konnte Lord Byron nie zum Nachdenken uͤber ſich ſelbſt gelangen; deßwegen auch ſeine Reflexionen uͤberhaupt ihm nicht gelingen wollen, wie ſein Sym¬ bolum: viel Geld und keine Obrigkeit! beweiſet, weil durchaus vieles Geld die Obrigkeit paralyſirt.

205

Aber alles, was er produciren mag, gelingt ihm, und man kann wirklich ſagen, daß ſich bey ihm die Inſpiration an die Stelle der Reflexion ſetzt. Er mußte immer dichten! und da war denn alles, was vom Menſchen, beſonders vom Herzen ausging, vortrefflich. Zu ſeinen Sachen kam er, wie die Weiber zu ſchoͤnen Kindern; ſie denken nicht daran und wiſſen nicht wie.

Er iſt ein großes Talent, ein geborenes, und die eigentlich poetiſche Kraft iſt mir bey niemanden groͤßer vorgekommen als bey ihm. In Auffaſſung des Äußern und klarem Durchblick vergangener Zuſtaͤnde iſt er eben ſo groß als Shakſpeare. Aber Shakſpeare iſt als reines Individuum uͤberwiegend. Dieſes fuͤhlte Byron ſehr wohl, deßhalb ſpricht er vom Shakſpeare nicht viel, obgleich er ganze Stellen von ihm auswendig weiß. Er haͤtte ihn gern verlaͤugnet, denn Shakſpeare's Hei¬ terkeit iſt ihm im Wege; er fuͤhlt, daß er nicht dagegen aufkann. Pope verlaͤugnet er nicht, weil er ihn nicht zu fuͤrchten hatte. Er nennt und achtet ihn vielmehr wo er kann, denn er weiß ſehr wohl, daß Pope nur eine Wand gegen ihn iſt.

Goethe ſchien uͤber Byron unerſchoͤpflich, und ich konnte nicht ſatt werden, ihm zuzuhoͤren. Nach einigen kleinen Zwiſchengeſpraͤchen fuhr er fort:

Der hohe Stand als engliſcher Paͤr war Byron ſehr nachtheilig; denn jedes Talent iſt durch die Außen¬ welt genirt, geſchweige eins bey ſo hoher Geburt und206 ſo großem Vermoͤgen. Ein gewiſſer mittler Zuſtand iſt dem Talent bey weitem zutraͤglicher; weßhalb wir denn auch alle große Kuͤnſtler und Poeten in den mittleren Staͤnden finden. Byrons Hang zum Unbegrenzten haͤtte ihm bey einer geringeren Geburt und niederem Vermoͤgen bey weitem nicht ſo gefaͤhrlich werden koͤn¬ nen. So aber ſtand es in ſeiner Macht, jede Anwand¬ lung in Ausfuͤhrung zu bringen und das verſtrickte ihn in unzaͤhlige Haͤndel. Und wie ſollte ferner dem, der ſelbſt aus ſo hohem Stande war, irgend ein Stand imponiren und Ruͤckſicht einfloͤßen? Er ſprach aus, was ſich in ihm regte und das brachte ihn mit der Welt in einen unaufloͤslichen Conflict.

Man bemerkt mit Verwunderung, fuhr Goethe fort, welcher große Theil des Lebens eines vornehmen reichen Englaͤnders in Entfuͤhrungen und Duellen zuge¬ bracht wird. Lord Byron erzaͤhlt ſelbſt, daß ſein Vater drey Frauen entfuͤhrt habe. Da ſey einer einmal ein vernuͤnftiger Sohn!

Er lebte eigentlich immer im Naturzuſtande, und bey ſeiner Art zu ſeyn, mußte ihm taͤglich das Beduͤrf¬ niß der Nothwehr vorſchweben. Deßwegen ſein ewiges Piſtolenſchießen. Er mußte jeden Augenblick erwarten herausgefordert zu werden.

Er konnte nicht allein leben. Deßwegen war er trotz aller ſeiner Wunderlichkeiten gegen ſeine Geſellſchaft hoͤchſt nachſichtig. Er las das herrliche Gedicht uͤber207 den Tod des General Moore einen Abend vor, und ſeine edlen Freunde wiſſen nicht, was ſie daraus machen ſollen. Das ruͤhrt ihn nicht und er ſteckt es wieder ein. Als Poet beweiſt er ſich wirklich wie ein Lamm. Ein Anderer haͤtte ſie dem Teufel uͤbergeben!

Goethe zeigte mir dieſen Abend einen Brief eines jungen Studirenden, der ihn um den Plan zum zwey¬ ten Theile des Fauſt bittet, indem er den Vorſatz habe, dieſes Werk ſeinerſeits zu vollenden. Trocken, gut¬ muͤthig und aufrichtig geht er mit ſeinen Wuͤnſchen und Abſichten frey heraus, und aͤußert zuletzt ganz unver¬ hohlen, daß es zwar mit allen uͤbrigen neueſten litera¬ riſchen Beſtrebungen nichts ſey, daß aber in ihm eine neue Literatur friſch erbluͤhen ſolle.

Wenn ich im Leben auf einen jungen Menſchen ſtieße, der Napoleons Welteroberungen fortzuſetzen ſich ruͤſtete, oder auf einen jungen Bau-Dilettanten, der den Coͤl¬ ner Dom zu vollenden ſich anſchickte, ſo wuͤrde ich mich uͤber dieſe nicht mehr verwundern und ſie nicht verruͤck¬ ter und laͤcherlicher finden, als eben dieſen jungen Lieb¬ haber der Poeſie, der Wahn genug beſitzt, aus bloßer Neigung den zweyten Theil des Fauſt machen zu koͤnnen.

Ja ich halte es fuͤr moͤglicher, den Coͤlner Dom208 auszubauen, als in Goethe's Sinne den Fauſt fortzu¬ ſetzen! Denn jenem ließe ſich doch allenfalls mathematiſch beykommen, er ſteht uns doch ſinnlich vor Augen und laͤßt ſich mit Haͤnden greifen. Mit welchen Schnuͤren und Maaßen aber wollte man zu einem unſichtbaren geiſtigen Werk reichen, das durchaus auf dem Subject beruht, bey welchem alles auf das Aperçu ankommt, das zum Material ein großes ſelbſt durchlebtes Leben und zur Ausfuͤhrung eine jahrelang geuͤbte zur Meiſter¬ ſchaft geſteigerte Technik erfordert?

Wer ein ſolches Unternehmen fuͤr leicht, ja nur fuͤr moͤglich haͤlt, hat ſicher nur ein ſehr geringes Talent, eben weil er keine Ahndung vom Hohen und Schwie¬ rigen beſitzt; und es ließe ſich ſehr wohl behaupten, daß, wenn Goethe ſeinen Fauſt bis auf eine Luͤcke von we¬ nigen Verſen ſelbſt vollenden wollte, ein ſolcher Juͤng¬ ling nicht faͤhig ſeyn wuͤrde, nur dieſe wenigen Verſe ſchicklich hineinzubringen.

Ich will nicht unterſuchen, woher unſerer jetzigen Jugend die Einbildung gekommen, daß ſie dasjenige als etwas Angeborenes bereits mit ſich bringe, was man bisher nur auf dem Wege vieljaͤhriger Studien und Erfahrungen erlangen konnte, aber ſoviel glaube ich ſagen zu koͤnnen, daß die in Deutſchland jetzt ſo haͤufig vorkommenden Äußerungen eines alle Stufen allmaͤh¬ licher Entwickelung keck uͤberſchreitenden Sinnes zu kuͤnf¬ tigen Meiſterwerken wenige Hoffnung machen.

209

Das Ungluͤck iſt, ſagte Goethe, im Staat, daß niemand leben und genießen, ſondern jeder regieren, und in der Kunſt, daß niemand ſich des Hervorgebrachten freuen, ſondern jeder ſeinerſeits ſelbſt wieder produciren will.

Auch denkt niemand daran, ſich von einem Werk der Poeſie auf ſeinem eigenen Wege foͤrdern zu laſſen, ſondern jeder will ſogleich wieder daſſelbige machen.

Es iſt ferner kein Ernſt da, der ins Ganze geht, kein Sinn dem Ganzen etwas zu Liebe zu thun, ſon¬ dern man trachtet nur, wie man ſein eigenes Selbſt bemerklich mache und es vor der Welt zu moͤglichſter Evidenz bringe. Dieſes falſche Beſtreben zeigt ſich uͤberall, und man thut es den neueſten Virtuoſen nach, die nicht ſowohl ſolche Stuͤcke zu ihrem Vortrage waͤh¬ len, woran die Zuhoͤrer reinen muſikaliſchen Genuß ha¬ ben, als vielmehr ſolche, worin der Spielende ſeine er¬ langte Fertigkeit koͤnne bewundern laſſen. Überall iſt es das Individuum, das ſich herrlich zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem Ganzen und der Sache zu Liebe ſein eigenes Selbſt zuruͤckſetzte.

Hiezu kommt ſodann, daß die Menſchen in ein pfuſcherhaftes Produciren hineinkommen, ohne es ſelbſt zu wiſſen. Die Kinder machen ſchon Verſe und gehen ſo fort und meinen als Juͤnglinge, ſie koͤnnten was, bis ſie zuletzt als Maͤnner zur Einſicht des VortrefflichenI. 14210gelangen was da iſt und uͤber die Jahre erſchrecken, die ſie in einer falſchen hoͤchſt unzulaͤnglichen Beſtrebung verloren haben.

Ja, Viele kommen zur Erkenntniß des Vollendeten und ihrer eigenen Unzulaͤnglichkeit nie und produciren Halbheiten bis an ihr Ende.

Gewiß iſt es, daß wenn jeder fruͤh genug zum Bewußtſeyn zu bringen waͤre, wie die Welt von dem Vortrefflichſten ſo voll iſt und was dazu gehoͤrt, dieſen Werken etwas Gleiches an die Seite zu ſetzen, daß ſo¬ dann von jetzigen hundert dichtenden Juͤnglingen kaum ein Einziger Beharren und Talent und Muth genug in ſich fuͤhlen wuͤrde, zu Erreichung einer aͤhnlichen Mei¬ ſterſchaft ruhig fortzugehen.

Viele junge Maler wuͤrden nie einen Pinſel in die Hand genommen haben, wenn ſie fruͤh genug gewußt und begriffen haͤtten, was denn eigentlich ein Meiſter wie Raphael gemacht hat.

Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die falſchen Tendenzen im Allgemeinen[und] Goethe fuhr fort:

So war meine practiſche Tendenz zur bildenden Kunſt eigentlich eine falſche, denn ich hatte keine Natur - Anlage dazu und konnte ſich alſo dergleichen nicht aus mir entwickeln. Ein gewiſſe Zaͤrtlichkeit gegen die land¬ ſchaftlichen Umgebungen war mir eigen und daher meine erſten Anfaͤnge eigentlich hoffnungsvoll. Die Reiſe nach Italien zerſtoͤrte dieſes practiſche Behagen; eine weite211 Ausſicht trat an die Stelle, aber die liebevolle Faͤhigkeit ging verloren, und da ſich ein kuͤnſtleriſches Talent weder techniſch noch aͤſthetiſch entwickeln konnte, ſo zer¬ floß mein Beſtreben zu nichts.

Man ſagt mit Recht, fuhr Goethe fort, daß die gemeinſame Ausbildung menſchlicher Kraͤfte zu wuͤnſchen und auch das Vorzuͤglichſte ſey. Der Menſch aber iſt dazu nicht geboren, jeder muß ſich eigentlich als ein beſonderes Weſen bilden, aber den Begriff zu erlangen ſuchen, was alle zuſammen ſind.

Ich dachte hiebey an den Wilhelm Meiſter, wo gleichfalls ausgeſprochen iſt, daß nur alle Menſchen zuſammengenommen die Menſchheit ausmachen und wir nur in ſofern zu achten ſind, als wir zu ſchaͤtzen wiſſen.

So auch dachte ich an die Wanderjahre, wo Jarmo immer nur zu Einem Handwerk raͤth und dabey aus¬ ſpricht, daß jetzt die Zeit der Einſeitigkeiten ſey und man den gluͤcklich zu preiſen habe, der dieſes begreife und fuͤr ſich und Andere in ſolchem Sinne wirke.

Nun aber fragt es ſich, was jemand fuͤr ein Hand¬ werk habe, damit er die Grenzen nicht uͤberſchreite, aber auch nicht zu wenig thue.

Weſſen Sache es ſeyn wird, viele Faͤcher zu uͤber¬ ſehen, zu beurtheilen, zu leiten, der ſoll auch eine moͤglichſte Einſicht in viele Faͤcher zu erlangen ſuchen. So kann ein Fuͤrſt, ein kuͤnftiger Staatsmann, ſich14*212nicht vielſeitig genug ausbilden, denn die Vielſeitigkeit gehoͤrt zu ſeinem Handwerk.

Gleicherweiſe ſoll der Poet nach mannigfaltiger Kennt¬ niß ſtreben; denn die ganze Welt iſt ſein Stoff, den er zu handhaben und auszuſprechen verſtehen muß.

Aber der Dichter ſoll kein Maler ſeyn wollen, ſon¬ dern ſich begnuͤgen, die Welt durch das Wort wieder¬ zugeben; ſo wie er dem Schauſpieler uͤberlaͤßt, ſie durch perſoͤnliche Darſtellung uns vor die Augen zu bringen.

Denn Einſicht und Lebensthaͤtigkeit ſollen wohl unterſchieden werden und man ſoll bedenken, daß jede Kunſt, ſobald es auf die Ausuͤbung ankommt, etwas ſehr Schwieriges und Großes iſt, worin es zur Meiſterſchaft zu bringen ein eigenes Leben verlangt wird.

So hat Goethe nach vielſeitigſter Einſicht geſtrebt, aber in ſeiner Lebensthaͤtigkeit hat er ſich nur auf Eins beſchraͤnkt. Nur eine einzige Kunſt hat er geuͤbt und zwar meiſterhaft geuͤbt, naͤmlich die: Deutſch zu ſchreiben. Daß der Stoff, den er ausſprach, viel¬ ſeitiger Natur war, iſt eine andere Sache.

Gleicherweiſe ſoll man Ausbildung von Lebens¬ thaͤtigkeit wohl unterſcheiden.

So gehoͤrt zur Ausbildung des Dichters, daß ſein Auge zur Auffaſſung der aͤußeren Gegenſtaͤnde auf alle Weiſe geuͤbt werde. Und wenn Goethe ſeine practiſche Tendenz zur bildenden Kunſt, inſofern er ſie zu ſeiner Lebensthaͤtigkeit haͤtte machen wollen, eine falſche nennt,213 ſo war ſie wiederum ganz am Orte, inſofern es ſeine Ausbildung als Dichter galt.

Die Gegenſtaͤndlichkeit meiner Poeſie, ſagte Goethe, bin ich denn doch jener großen Aufmerkſamkeit und Übung des Auges ſchuldig geworden; ſo wie ich auch die daraus gewonnene Kenntniß hoch anzuſchlagen habe.

Huͤten aber ſoll man ſich, die Grenzen ſeiner Aus¬ bildung zu weit zu ſtecken.

Die Naturforſcher, ſagte Goethe, werden am erſten dazu verfuͤhrt, weil zur Betrachtung der Natur wirklich eine ſehr harmoniſche allgemeine Ausbildung erfordert wird.

Dagegen aber ſoll ſich jeder, ſobald es die Kennt¬ niſſe betrifft, die zu ſeinem Fache unerlaͤßlich gehoͤ¬ ren, vor Beſchraͤnkung und Einſeitigkeit zu bewahren ſuchen.

Ein Dichter, der fuͤr das Theater ſchreiben will, ſoll Kenntniß der Buͤhne haben, damit er die Mittel er¬ waͤge, die ihm zu Gebote ſtehen und er uͤberhaupt wiſſe, was zu thun und zu laſſen ſey; ſo wie es dem Opern - Componiſten nicht an Einſicht der Poeſie fehlen darf, damit er das Schlechte vom Guten unterſcheiden koͤnne und ſeine Kunſt nicht an etwas Unzulaͤnglichem ver¬ ſchwendet werde.

Carl Maria von Weber, ſagte Goethe, mußte die Euryanthe nicht componiren; er mußte gleich ſehen, daß dieß ein ſchlechter Stoff ſey, woraus ſich nichts machen214 laſſe. Dieſe Einſicht duͤrfen wir bey jedem Componiſten, als zu ſeiner Kunſt gehoͤrig, vorausſetzen.

So ſoll der Maler Kenntniß in Unterſcheidung der Gegenſtaͤnde haben; denn es gehoͤrt zu ſeinem Fache, daß er wiſſe, was er zu malen habe und was nicht.

Im Übrigen aber, ſagte Goethe, iſt es zuletzt die groͤßte Kunſt, ſich zu beſchraͤnken und zu iſoliren.

So hat er die ganze Zeit, die ich in ſeiner Naͤhe bin, mich ſtets vor allen ableitenden Richtungen zu be¬ wahren und mich immer auf ein einziges Fach zu con¬ centriren geſucht. Zeigte ich etwa Neigung, mich in Naturwiſſenſchaften umzuthun, ſo war immer ſein Rath, es zu unterlaſſen und mich fuͤr jetzt bloß an die Poeſie zu halten. Wollte ich ein Buch leſen, wovon er wußte, daß es mich auf meinem jetzigen Wege nicht weiter braͤchte, ſo widerrieth er es mir ſtets, indem er ſagte, es ſey fuͤr mich von keinem practiſchen Nutzen.

Ich habe gar zu viele Zeit auf Dinge verwendet, ſagte er eines Tages, die nicht zu meinem eigentlichen Fache gehoͤrten. Wenn ich bedenke, was Lopez de Vega gemacht hat, ſo kommt mir die Zahl meiner poetiſchen Werke ſehr klein vor. Ich haͤtte mich mehr an mein eigentliches Metier halten ſollen.

Haͤtte ich mich nicht ſo viel mit Steinen beſchaͤf¬ tiget, ſagte er ein andermal, und meine Zeit zu etwas Beſſerem verwendet, ich koͤnnte den ſchoͤnſten Schmuck von Diamanten haben.

215

Aus gleicher Urſache ſchaͤtzt und ruͤhmt er an ſeinem Freunde Meyer, daß dieſer ausſchließlich auf das Studium der Kunſt ſein ganzes Leben verwendet habe, wodurch man ihm denn die hoͤchſte Einſicht in dieſem Fache zugeſtehen muͤſſe.

Ich bin auch in ſolcher Richtung fruͤhzeitig her¬ gekommen, ſagte Goethe, und habe auch faſt ein halbes Leben an Betrachtung und Studium von Kunſtwerken gewendet, aber Meyern kann ich es denn doch in ge¬ wiſſer Hinſicht nicht gleich thun. Ich huͤte mich daher auch wohl, ein neues Gemaͤlde dieſem Freunde ſogleich zu zeigen, ſondern ich ſehe zuvor zu, wieweit ich ihm meinerſeits beykommen kann. Glaube ich nun, uͤber das Gelungene und Mangelhafte voͤllig im Klaren zu ſeyn, ſo zeige ich es Meyern, der denn freylich weit ſchaͤrfer ſieht, und dem in manchem Betracht noch ganz andere Lichter dabey aufgehen. Und ſo ſehe ich immer von neuem, was es ſagen will und was dazu gehoͤrt, um in einer Sache durchaus groß zu ſeyn. In Meyern liegt eine Kunſt-Einſicht von ganzen Jahr¬ tauſenden.

Nun aber koͤnnte man fragen, warum denn Goethe, wenn er ſo lebhaft durchdrungen ſey, daß der Menſch nur ein Einziges thun ſolle, warum denn gerade er ſelbſt ſein Leben an ſo hoͤchſt vielſeitige Richtungen ver¬ wendet habe?

Hierauf antworte ich, daß, wenn Goethe jetzt in216 die Welt kaͤme und er die poetiſchen und wiſſenſchaft¬ lichen Beſtrebungen ſeiner Nation bereits auf der Hoͤhe vorfaͤnde, auf welche ſie jetzt, und zwar groͤßtentheils durch ihn, gebracht ſind, er ſodann ſicher zu ſo mannig¬ faltigen Richtungen keine Veranlaſſung finden und ſich gewiß auf ein einziges Fach beſchraͤnken wuͤrde.

So aber lag es nicht allein in ſeiner Natur, nach allen Seiten hin zu forſchen und ſich uͤber die irdiſchen Dinge klar zu machen; ſondern es lag auch im Be¬ duͤrfniß der Zeit, das Wahrgenommene auszuſprechen.

Er that bey ſeinem Erſcheinen zwey große Erb¬ ſchaften: der Irrthum und die Unzulaͤnglichkeit fielen ihm zu daß er ſie hinwegraͤume, und verlangten ſeine lebenslaͤnglichen Bemuͤhungen nach vielen Seiten.

Waͤre die Newtoniſche Theorie Goethen nicht als ein großer dem menſchlichen Geiſte hoͤchſt ſchaͤdlicher Irrthum erſchienen, glaubt man denn, daß es ihm je eingefallen ſeyn wuͤrde, eine Farbenlehre zu ſchreiben und vieljaͤhrige Bemuͤhungen einer ſolchen Nebenrichtung zu widmen? Keineswegs! Sondern ſein Wahrheitsgefuͤhl im Conflict mit dem Irrthum war es, das ihn bewog, ſein reines Licht auch in dieſe Dunkelheiten leuchten zu laſſen.

Ein Gleiches iſt von ſeiner Metamorphoſenlehre zu ſagen, worin wir ihm jetzt ein Muſter wiſſenſchaftlicher Behandlung verdanken; welches Werk zu ſchreiben Goe¬ then aber gewiß nie eingefallen ſeyn wuͤrde, wenn er217 ſeine Zeitgenoſſen bereits auf dem Wege zu einem ſol¬ chem Ziele erblickt haͤtte.

Ja ſogar von ſeinen vielſeitigen poetiſchen Beſtre¬ bungen moͤchte ſolches gelten! Denn es iſt ſehr die Frage, ob Goethe je einen Roman wuͤrde geſchrieben haben, wenn ein Werk wie der Wilhelm Meiſter bey ſeiner Nation bereits waͤre vorhanden geweſen? Und ſehr die Frage, ob er in ſolchem Fall ſich nicht vielleicht ganz ausſchließlich der dramatiſchen Poeſie gewidmet haͤtte?

Was er in ſolchem Fall einer einſeitigen Richtung alles hervorgebracht und gewirkt haben wuͤrde, iſt gar nicht abzuſehen; ſo viel iſt jedoch gewiß, daß, ſobald man aufs Ganze ſieht, kein Verſtaͤndiger wuͤnſchen wird, daß Goethe eben nicht alles dasjenige moͤchte hervorge¬ bracht haben, wozu ihn zu treiben nun einmal ſeinem Schoͤpfer gefallen hat.

Goethe ſprach mit hoher Begeiſterung uͤber Me¬ nander. Naͤchſt dem Sophocles, ſagte er, kenne ich keinen, der mir ſo lieb waͤre. Er iſt durchaus rein, edel, groß und heiter, ſeine Anmuth iſt unerreichbar. Daß wir ſo wenig von ihm beſitzen, iſt allerdings zu218 bedauern, allein auch das Wenige iſt unſchaͤtzbar und fuͤr begabte Menſchen viel daraus zu lernen.

Es kommt nur immer darauf an, fuhr Goethe fort, daß derjenige, von dem wir lernen wollen, unſe¬ rer Natur gemaͤß ſey. So hat z. B. Calderon, ſo groß er iſt und ſo ſehr ich ihn bewundere, auf mich gar keinen Einfluß gehabt, weder im Guten noch im Schlimmen. Schillern aber waͤre er gefaͤhrlich geweſen, er waͤre an ihm irre geworden, und es iſt daher ein Gluͤck, daß Calderon erſt nach ſeinem Tode in Deutſch¬ land in allgemeine Aufnahme gekommen. Calderon iſt unendlich groß im Techniſchen und Theatraliſchen; Schil¬ ler dagegen weit tuͤchtiger, ernſter und groͤßer im Wol¬ len und es waͤre daher Schade geweſen, von ſolchen Tugenden vielleicht etwas einzubuͤßen, ohne doch die Groͤße Calderons in anderer Hinſicht zu erreichen.

Wir kamen auf Molière. Molière, ſagte Goethe, iſt ſo groß, daß man immer von neuem erſtaunt, wenn man ihn wiederlieſ't. Er iſt ein Mann fuͤr ſich, ſeine Stuͤcke grenzen ans Tragiſche, ſie ſind apprehenſiv und niemand hat den Muth es ihm nachzuthun. Sein Geiziger, wo das Laſter zwiſchen Vater und Sohn alle Pietaͤt aufhebt, iſt beſonders groß und im hohen Sinne tragiſch. Wenn man aber in einer deutſchen Bear¬ beitung aus dem Sohn einen Verwandten macht, ſo wird es ſchwach und will nicht viel mehr heißen. Man fuͤrchtet, das Laſter in ſeiner wahren Natur erſcheinen219 zu ſehen, allein was wird es da und was iſt denn uͤberall tragiſch wirkſam als das Unertraͤgliche.

Ich leſe von Molière alle Jahr einige Stuͤcke, ſo wie ich auch von Zeit zu Zeit die Kupfer nach den großen italieniſchen Meiſtern betrachte. Denn wir kleinen Men¬ ſchen ſind nicht faͤhig, die Groͤße ſolcher Dinge in uns zu bewahren, und wir muͤſſen daher von Zeit zu Zeit immer dahin zuruͤckkehren, um ſolche Eindruͤcke in uns anzufriſchen.

Man ſpricht immer von Originalitaͤt, allein was was will das ſagen! So wie wir geboren werden, faͤngt die Welt an, auf uns zu wirken und das geht ſo fort bis ans Ende. Und uͤberall! was koͤnnen wir denn unſer Eigenes nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen! Wenn ich ſagen koͤnnte, was ich alles großen Vorgaͤngern und Mitlebenden ſchuldig geworden bin, ſo bliebe nicht viel uͤbrig.

Hiebey aber iſt es keineswegs gleichguͤltig, in wel¬ cher Epoche unſeres Lebens der Einfluß einer fremden bedeutenden Perſoͤnlichkeit Statt findet.

Daß Leſſing, Winckelmann und Kant aͤlter waren als ich, und die beyden erſteren auf meine Jugend, der letztere auf mein Alter wirkte, war fuͤr mich von großer Bedeutung.

Ferner: daß Schiller ſo viel juͤnger war und im friſcheſten Streben begriffen, da ich an der Welt muͤde zu werden begann; ingleichen daß die Gebruͤder von220 Humboldt und Schlegel unter meinen Augen aufzu¬ treten anfingen, war von der groͤßten Wichtigkeit. Es ſind mir daher unnennbare Vortheile entſtanden.

Nach ſolchen Äußerungen uͤber die Einfluͤſſe bedeu¬ tender Perſonen auf ihn kam das Geſpraͤch auf die Wirkungen, die er auf Andere gehabt, und ich erwaͤhnte Buͤrger, bey welchem es mir problematiſch erſcheine, daß bey ihm, als einem reinen Naturtalent, gar keine Spur einer Einwirkung von Goethe's Seite wahrzu¬ nehmen.

Buͤrger, ſagte Goethe, hatte zu mir wohl eine Verwandtſchaft als Talent, allein der Baum ſeiner ſitt¬ lichen Cultur wurzelte in einem ganz anderen Boden und hatte eine ganz andere Richtung. Und jeder geht in der aufſteigenden Linie ſeiner Ausbildung fort, ſo wie er angefangen. Ein Mann aber, der in ſeinem dreyßigſten Jahre ein Gedicht wie die Frau Schnips ſchreiben konnte, mußte wohl in einer Bahn gehen, die von der meinigen ein wenig ablag. Auch hatte er durch ſein bedeutendes Talent ſich ein Publicum gewonnen, dem er voͤllig genuͤgte, und er hatte daher keine Urſache, ſich nach den Eigenſchaften eines Mitſtrebenden umzu¬ thun, der ihn weiter nichts anging.

Überall, fuhr Goethe fort, lernt man nur von dem, den man liebt. Solche Geſinnungen finden ſich nun wohl gegen mich bey jetzt heranwachſenden jungen Ta¬ lenten, allein ich fand ſie ſehr ſpaͤrlich unter Gleich¬221 zeitigen. Ja ich wuͤßte kaum einen einzigen Mann von Bedeutung zu nennen, dem ich durchaus recht geweſen waͤre. Gleich an meinem Werther tadelten ſie ſoviel, daß, wenn ich jede geſcholtene Stelle haͤtte tilgen wollen, von dem ganzen Buche keine Zeile geblieben waͤre. Allein aller Tadel ſchadete mir nichts, denn ſolche ſub¬ jective Urtheile einzelner obgleich bedeutender Maͤnner ſtellten ſich durch die Maſſe wieder ins Gleiche. Wer aber nicht eine Million Leſer erwartet, ſollte keine Zeile ſchreiben.

Nun ſtreitet ſich das Publicum ſeit zwanzig Jah¬ ren, wer groͤßer ſey: Schiller oder ich, und ſie ſollten ſich freuen, daß uͤberall ein paar Kerle da ſind, woruͤber ſie ſtreiten koͤnnen.

Goethe ſprach heute bey Tiſch ſehr viel von dem Buche des Major Parry uͤber Lord Byron. Er lobte es durchaus und bemerkte, daß Lord Byron in dieſer Darſtellung weit vollkommener und weit klarer uͤber ſich und ſeine Vorſaͤtze erſcheine, als in allem, was bisher uͤber ihn geſchrieben worden.

Der Major Parry, fuhr Goethe fort, muß gleich¬ falls ein ſehr bedeutender, ja ein hoher Menſch ſeyn, daß er ſeinen Freund ſo rein hat auffaſſen und ſo voll¬222 kommen hat darſtellen koͤnnen. Eine Äußerung ſeines Buches iſt mir beſonders lieb und erwuͤnſcht geweſen, ſie iſt eines alten Griechen, eines Plutarch wuͤrdig. Dem edlen Lord, ſagt Parry, fehlten alle jene Tu¬ genden, die den Buͤrgerſtand zieren, und welche ſich anzueignen er durch Geburt, durch Erziehung und Le¬ bensweiſe gehindert war. Nun ſind aber ſeine unguͤn¬ ſtigen Beurtheiler ſaͤmmtlich aus der Mittelclaſſe, die denn freylich tadelnd bedauern, dasjenige an ihm zu vermiſſen, was ſie an ſich ſelber zu ſchaͤtzen Urſache haben. Die wackern Leute bedenken nicht, daß er an ſeiner hohen Stelle Verdienſte beſaß, von denen ſie ſich keinen Begriff machen koͤnnen. Nun, wie gefaͤllt Ih¬ nen das? ſagte Goethe, nicht wahr, ſo etwas hoͤrt man nicht alle Tage?

Ich freue mich, ſagte ich, eine Anſicht oͤffentlich ausgeſprochen zu wiſſen, wodurch alle kleinlichen Tadler und Herunterzieher eines hoͤher ſtehenden Menſchen ein fuͤr allemal durchaus gelaͤhmt und geſchlagen worden.

Wir ſprachen darauf uͤber welthiſtoriſche Gegenſtaͤnde in Bezug auf die Poeſie und zwar in wiefern die Ge¬ ſchichte des einen Volkes fuͤr den Dichter guͤnſtiger ſeyn koͤnne als die eines andern.

Der Poet, ſagte Goethe, ſoll das Beſondere er¬ greifen, und er wird, wenn dieſes nur etwas Geſundes iſt, darin ein Allgemeines darſtellen. Die engliſche Ge¬ ſchichte iſt vortrefflich zu poetiſcher Darſtellung, weil ſie223 etwas Tuͤchtiges, Geſundes und daher Allgemeines iſt, das ſich wiederholt. Die franzoͤſiſche Geſchichte dagegen iſt nicht fuͤr die Poeſie, denn ſie ſtellt eine Lebens-Epoche dar, die nicht wiederkommt. Die Literatur dieſes Volkes, inſofern ſie auf jener Epoche gegruͤndet iſt, ſteht daher als ein Beſonderes da, das mit der Zeit veralten wird.

Die jetzige Epoche der franzoͤſiſchen Literatur, ſagte Goethe ſpaͤter, iſt gar nicht zu beurtheilen. Das ein¬ dringende Deutſche bringt darin eine große Gaͤhrung hervor und erſt nach zwanzig Jahren wird man ſehen, was dieß fuͤr ein Reſultat giebt.

Wir ſprachen darauf uͤber Äſthetiker, welche das Weſen der Poeſie und des Dichters durch abſtracte De¬ finitionen auszudruͤcken ſich abmuͤhen, ohne jedoch zu einem klaren Reſultat zu kommen.

Was iſt da viel zu definiren, ſagte Goethe. Le¬ bendiges Gefuͤhl der Zuſtaͤnde und Faͤhigkeit es auszu¬ druͤcken macht den Poeten.

Ich fand Goethe dieſen Abend in beſonders hoher Stimmung und hatte die Freude, aus ſeinem Munde abermals manches Bedeutende zu hoͤren. Wir ſprachen uͤber den Zuſtand der neueſten Literatur, wo denn Goethe ſich folgendermaßen aͤußerte.

224

Mangel an Character der einzelnen forſchenden und ſchreibenden Individuen, ſagte er, iſt die Quelle alles Übels unſerer neueſten Literatur.

Beſonders in der Critik zeigt dieſer Mangel ſich zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Fal¬ ſches fuͤr Wahres verbreitet, oder durch ein aͤrmliches Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns beſſer waͤre.

Bisher glaubte die Welt an den Heldenſinn einer Lucretia, eines Mucius Scaͤvola und ließ ſich dadurch erwaͤrmen und begeiſtern. Jetzt aber kommt die hiſto¬ riſche Critik und ſagt, daß jene Perſonen nie gelebt haben, ſondern als Fictionen und Fabeln anzuſehen ſind, die der große Sinn der Roͤmer erdichtete. Was ſollen wir aber mit einer ſo aͤrmlichen Wahrheit! und wenn die Roͤmer groß genug waren, ſo etwas zu erdichten, ſo ſollten wir wenigſtens groß genug ſeyn, daran zu glauben.

So hatte ich bisher immer meine Freude an einem großen Factum des dreyzehnten Jahrhunderts, wo Kai¬ ſer Friedrich der zweyte mit dem Pabſte zu thun hatte und das noͤrdliche Deutſchland allen feindlichen Einfaͤllen offen ſtand. Aſiatiſche Horden kamen auch wirklich herein und waren ſchon bis Schleſien vorgedrungen; aber der Herzog von Liegnitz ſetzte ſie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten ſie ſich nach Maͤhren, aber hier wurden ſie vom Grafen Sternberg225 geſchlagen. Dieſe Tapfern lebten daher bis jetzt immer in mir als große Retter der deutſchen Nation. Nun aber kommt die hiſtoriſche Critik und ſagt, daß jene Helden ſich ganz unnuͤtz aufgeopfert haͤtten, indem das aſiatiſche Heer bereits zuruͤckgerufen geweſen und von ſelbſt zuruͤckgegangen ſeyn wuͤrde. Dadurch iſt nun ein großes vaterlaͤndiſches Factum gelaͤhmt und zernichtet, und es wird einem ganz abſcheulich zu Muthe.

Nach dieſen Äußerungen uͤber hiſtoriſche Critiker ſprach Goethe uͤber Forſcher und Literatoren anderer Art.

Ich haͤtte die Erbaͤrmlichkeit der Menſchen und wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu thun iſt, nie ſo kennen gelernt, ſagte er, wenn ich mich nicht durch meine naturwiſſenſchaftlichen Beſtrebungen an ihnen verſucht haͤtte. Da aber ſah ich, daß den Meiſten die Wiſſenſchaft nur etwas iſt, inſofern ſie davon leben, und daß ſie ſogar den Irrthum vergoͤttern, wenn ſie davon ihre Exiſtenz haben.

Und in der ſchoͤnen Literatur iſt es nicht beſſer. Auch dort ſind große Zwecke und echter Sinn fuͤr das Wahre und Tuͤchtige und deſſen Verbreitung ſehr ſeltene Er¬ ſcheinungen. Einer hegt und traͤgt den Andern, weil er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das wahrhaft Große iſt ihnen widerwaͤrtig und ſie moͤchten es gerne aus der Welt ſchaffen, damit ſie ſelber nurI. 15226etwas zu bedeuten haͤtten. So iſt die Maſſe, und ein¬ zelne Hervorragende ſind nicht viel beſſer.

*** haͤtte bey ſeinem großen Talent, bey ſeiner weltumfaſſenden Gelehrſamkeit der Nation viel ſeyn koͤnnen. Aber ſo hat ſeine Characterloſigkeit die Nation um außerordentliche Wirkungen und ihn ſelbſt um die Achtung der Nation gebracht.

Ein Mann wie Leſſing thaͤte uns noth. Denn wodurch iſt dieſer ſo groß als durch ſeinen Character, durch ſein Feſthalten! So kluge, ſo gebildete Men¬ ſchen giebt es viele, aber wo iſt ein ſolcher Character!

Viele ſind geiſtreich genug und voller Kenntniſſe, allein ſie ſind zugleich voller Eitelkeit, und um ſich von der kurzſichtigen Maſſe als witzige Koͤpfe bewundern zu laſſen, haben ſie keine Scham und Scheu und iſt ihnen nichts heilig.

Die Frau von Genlis hat daher vollkommen Recht, wenn ſie ſich gegen die Freyheiten und Frechheiten von Voltaire auflegte. Denn im Grunde, ſo geiſtreich alles ſeyn mag, iſt der Welt doch nichts damit gedient; es laͤßt ſich nichts darauf gruͤnden. Ja es kann ſogar von der groͤßten Schaͤdlichkeit ſeyn, indem es die Men¬ ſchen verwirrt und ihnen den noͤthigen Halt nimmt.

Und dann! was wiſſen wir denn, und wie weit reichen wir denn mit all unſerm Witze!

Der Menſch iſt nicht geboren, die Probleme der Welt zu loͤſen, wohl aber zu ſuchen, wo das Problem227 angeht und ſich ſodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten.

Die Handlungen des Univerſums zu meſſen, rei¬ chen ſeine Faͤhigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, iſt bey ſeinem kleinen Standpunct ein ſehr vergebliches Beſtreben. Die Ver¬ nunft des Menſchen und die Vernunft der Gottheit ſind zwey ſehr verſchiedene Dinge.

Sobald wir dem Menſchen die Freyheit zugeſtehen, iſt es um die Allwiſſenheit Gottes gethan; denn ſobald die Gottheit weiß, was ich thun werde, bin ich ge¬ zwungen zu handeln, wie ſie es weiß.

Dieſes fuͤhre ich nur an als ein Zeichen, wie we¬ nig wir wiſſen, und daß an goͤttlichen Geheimniſſen nicht gut zu ruͤhren iſt.

Auch ſollen wir hoͤhere Maximen nur ausſprechen, inſofern ſie der Welt zu gute kommen. Andere ſollen wir bey uns behalten, aber ſie moͤgen und werden auf das, was wir thun, wie der milde Schein einer ver¬ borgenen Sonne ihren Glanz breiten.

15 *228

Ich ging dieſen Abend um 6 Uhr zu Goethe, den ich alleine fand und mit dem ich einige ſchoͤne Stunden verlebte.

Mein Gemuͤth, ſagte er, war dieſe Zeit her durch Vieles belaͤſtiget; es war mir von allen Seiten her ſo viel Gutes geſchehen, daß ich vor lauter Dankſagungen nicht zum eigentlichen Leben kommen konnte. Die Pri¬ vilegien wegen des Verlags meiner Werke gingen nach und nach von den Hoͤfen ein, und weil die Verhaͤltniſſe bey jedem anders waren, ſo verlangte auch jeder Fall eine eigene Erwiederung. Nun kamen die Antraͤge un¬ zaͤhliger Buchhaͤndler, die auch bedacht, behandelt und beantwortet ſeyn wollten. Dann, mein Jubilaͤum brachte mir ſo tauſendfaͤltiges Gute, daß ich mit den Dank¬ ſagungsbriefen noch jetzt nicht fertig bin. Man will doch nicht hohl und allgemein ſeyn, ſondern Jedem doch gerne etwas Schickliches und Gehoͤriges ſagen. Jetzt aber werde ich nach und nach frey und ich fuͤhle mich wieder zu Unterhaltungen aufgelegt.

Ich habe in dieſen Tagen eine Bemerkung gemacht, die ich Ihnen doch mittheilen will.

Alles, was wir thun, hat eine Folge. Aber das Kluge und Rechte bringt nicht immer etwas Guͤnſtiges, und das Verkehrte nicht immer etwas Unguͤnſtiges her¬ vor, vielmehr wirkt es oftmals ganz im Gegentheil.

229

Ich machte vor einiger Zeit, eben bey jenen Unter¬ handlungen mit Buchhaͤndlern, einen Fehler und es that mir leid, daß ich ihn gemacht hatte. Jetzt aber haben ſich die Umſtaͤnde ſo geaͤndert, daß ich einen großen Fehler begangen haben wuͤrde, wenn ich jenen nicht gemacht haͤtte. Dergleichen wiederholt ſich im Leben haͤufig, und Weltmenſchen, welche dieſes wiſſen, ſieht man daher mit einer großen Frechheit und Drei¬ ſtigkeit zu Werke gehen.

Ich merkte mir dieſe Beobachtung, die mir neu war. Ich brachte ſodann das Geſpraͤch auf einige ſei¬ ner Werke und wir kamen auch auf die Elegie Alexis und Dora.

An dieſem Gedicht, ſagte Goethe, tadelten die Menſchen den ſtarken leidenſchaftlichen Schluß und ver¬ langten, daß die Elegie ſanft und ruhig ausgehen ſolle, ohne jene eiferſuͤchtige Aufwallung; allein ich konnte nicht einſehen, daß jene Menſchen Recht haͤtten. Die Eiferſucht liegt hier ſo nahe und iſt ſo in der Sache, daß dem Gedicht etwas fehlen wuͤrde, wenn ſie nicht dawaͤre. Ich habe ſelbſt einen jungen Menſchen gekannt, der in leidenſchaftlicher Liebe zu einem ſchnell gewonne¬ nen Maͤdchen ausrief: aber wird ſie es nicht einem an¬ dern eben ſo machen wie mir?

Ich ſtimmte Goethen vollkommen bey und erwaͤhnte ſodann der eigenthuͤmlichen Zuſtaͤnde dieſer Elegie, wo in ſo kleinem Raum mit wenig Zuͤgen alles ſo wohl230 gezeichnet ſey, daß man die haͤusliche Umgebung und das ganze Leben der handelnden Perſonen darin zu er¬ blicken glaube. Das Dargeſtellte erſcheint ſo wahr, ſagte ich, als ob Sie nach einem wirklich Erlebten gearbeitet haͤtten.

Es iſt mir lieb, antwortete Goethe, wenn es Ihnen ſo erſcheint. Es giebt indeß wenige Menſchen, die eine Phantaſie fuͤr die Wahrheit des Realen beſitzen, viel¬ mehr ergehen ſie ſich gerne in ſeltſamen Laͤndern und Zuſtaͤnden, wovon ſie gar keine Begriffe haben und die ihre Phantaſie ihnen wunderlich genug ausbilden mag.

Und dann giebt es wieder andere, die durchaus am Realen kleben, und, weil es ihnen an aller Poeſie fehlt, daran gar zu enge Forderungen machen. So verlangten z. B. Einige bey dieſer Elegie, daß ich dem Alexis haͤtte einen Bedienten beygeben ſollen, um ſein Buͤndelchen zu tragen; die Menſchen bedenken aber nicht, daß alles Poetiſche und Idylliſche jenes Zuſtandes dadurch waͤre geſtoͤrt worden.

Von Alexis und Dora lenkte ſich ſich das Geſpraͤch aus den Wilhelm Meiſter.

Es giebt wunderliche Critiker, fuhr Goethe fort. An dieſem Roman tadelten ſie, daß der Held ſich zu viel in ſchlechter Geſellſchaft befinde. Dadurch aber, daß ich die ſogenannte ſchlechte Geſellſchaft als Gefaͤß betr achtete, um das, was ich vonder guten zu ſagen hatte, darin niederzulegen, gewann ich einen poetiſchen231 Koͤrper und einen mannigfaltigen dazu. Haͤtte ich aber die gute Geſellſchaft wieder durch ſogenannte gute Ge¬ ſellſchaft zeichnen wollen, ſo haͤtte niemand das Buch leſen moͤgen.

Den anſcheinenden Geringfuͤgigkeiten des Wilhelm Meiſter liegt immer etwas Hoͤheres zum Grunde, und es kommt bloß darauf an, daß man Augen, Weltkennt¬ niß und Überſicht genug beſitze, um im Kleinen das Groͤßere wahrzunehmen. Andern mag das gezeichnete Leben als Leben genuͤgen.

Goethe zeigte mir darauf ein hoͤchſt bedeutendes eng¬ liſches Werk, welches in Kupfern den ganzen Shak¬ ſpeare darſtellte. Jede Seite umfaßte in ſechs kleinen Bildern ein beſonderes Stuͤck mit einigen untergeſchrie¬ benen Verſen, ſo daß der Hauptbegriff und die bedeu¬ tendſten Situationen des jedesmaligen Werkes dadurch vor die Augen traten. Alle die unſterblichen Trauerſpiele und Luſtſpiele gingen auf ſolche Weiſe, gleich Masken¬ zuͤgen, dem Geiſte voruͤber.

Man erſchrickt, ſagte Goethe, wenn man dieſe Bilderchen durchſieht! Da wird man erſt gewahr, wie unendlich reich und groß Shakſpeare iſt! Da iſt doch kein Motiv des Menſchenlebens, das er nicht dargeſtellt und ausgeſprochen haͤtte! Und alles mit welcher Leich¬ tigkeit und Freyheit!

Man kann uͤber Shakſpeare gar nicht reden, es iſt alles unzulaͤnglich. Ich habe in meinem Wihelm232 Meiſter an ihm herumgetupft, allein das will nicht viel heißen. Er iſt kein Theaterdichter, an die Buͤhne hat er nie gedacht, ſie war ſeinem großen Geiſte viel zu enge; ja ſelbſt die ganze ſichtbare Welt war ihm zu enge.

Er iſt gar zu reich und zu gewaltig. Eine pro¬ ductive Natur darf alle Jahr nur ein Stuͤck von ihm leſen, wenn ſie nicht an ihm zu Grunde gehen will. Ich that wohl, daß ich durch meinen Goͤtz von Ber¬ lichingen und Egmont ihn mir vom Halſe ſchaffte, und Byron that ſehr wohl, daß er vor ihm nicht zu großen Reſpect hatte und ſeine eigenen Wege ging. Wie viel treffliche Deutſche ſind nicht an ihm zu Grunde gegan¬ gen, an ihm und Calderon!

Shakſpeare, fuhr Goethe fort, giebt uns in ſil¬ bernen Schalen goldene Äpfel. Wir bekommen nun wohl durch das Studium ſeiner Stuͤcke die ſilberne Schale, allein wir haben nur Kartoffeln hineinzuthun, das iſt das Schlimme!

Ich lachte und freute mich des herrlichen Gleich¬ niſſes.

Goethe las mir darauf einen Brief von Zelter uͤber eine Darſtellung des Macbeth in Berlin, wo die Muſik mit dem großen Geiſte und Character des Stuͤckes nicht hatte Schritt halten koͤnnen und woruͤber nun Zelter ſich in verſchiedenen Andeutungen auslaͤſſet. Durch Goethe's Vorleſen gewann der Brief ſein volles Leben233 wieder und Goethe hielt oft inne, um ſich mit mir uͤber das Treffende einzelner Stellen zu freuen.

Macbeth, ſagte Goethe bey dieſer Gelegenheit, halte ich fuͤr Shakſpeare's beſtes Theaterſtuͤck, es iſt darin der meiſte Verſtand in Bezug auf die Buͤhne. Wollen Sie aber ſeinen freyen Geiſt erkennen, ſo leſen Sie Troilus und Creſſida, wo er den Stoff der Ilias auf ſeine Weiſe behandelt.

Das Geſpraͤch wendete ſich auf Byron, und zwar wie er gegen Shakſpeare's unſchuldige Heiterkeit im Nachtheil ſtehe, und wie er durch ſein vielfaͤltig nega¬ tives Wirken ſich ſo haͤufigen und meiſtentheils nicht ungerechten Tadel zugezogen habe. Haͤtte Byron Ge¬ legenheit gehabt, ſagte Goethe, ſich alles deſſen, was von Oppoſition in ihm war, durch wiederholte derbe Äußerungen im Parlament zu entledigen, ſo wuͤrde er als Poet weit reiner daſtehen. So aber, da er im Parla¬ ment kaum zum Reden gekommen iſt, hat er alles, was er gegen ſeine Nation auf dem Herzen hatte, bey ſich behal¬ ten, und es iſt ihm, um ſich davon zu befreyen, kein an¬ deres Mittel geblieben, als es poetiſch zu verarbeiten und auszuſprechen. Einen großen Theil der negativen Wir¬ kungen Byrons moͤchte ich daher verhaltene Par¬ lamentsreden nennen, und ich glaube ſie dadurch nicht unpaſſend bezeichnet zu haben.

Es kam darauf einer unſerer neueſten deutſchen Dichter zur Erwaͤhnung, der ſich in kurzer Zeit einen234 bedeutenden Namen gemacht, deſſen negative Richtung jedoch gleichfalls nicht gebilliget wurde. Es iſt nicht zu laͤugnen, ſagte Goethe, er beſitzt manche glaͤnzende Eigenſchaften; allein ihm fehlt die Liebe. Er liebt ſo wenig ſeine Leſer und ſeine Mit-Poeten als ſich ſelber, und ſo kommt man in den Fall, auch auf ihn den Spruch des Apoſtels anzuwenden: Und wenn ich mit Menſchen - und mit Engel-Zungen redete, und haͤtte der Liebe nicht, ſo waͤre ich ein toͤnendes Erz, oder eine klingende Schelle. Noch in dieſen Tagen habe ich Gedichte von *** geleſen und ſein reiches Talent nicht verkennen koͤnnen. Allein, wie geſagt, die Liebe fehlt ihm, und ſo wird er auch nie ſo wirken als er haͤtte muͤſſen. Man wird ihn fuͤrchten, und er wird der Gott derer ſeyn, die gern wie er negativ waͤren, aber nicht wie er das Talent haben.

[235]

1826.

[236][237]

Der erſte deutſche Improviſator, Doctor Wolff aus Hamburg, iſt ſeit mehreren Tagen hier und hat auch bereits oͤffentlich Proben ſeines ſeltenen Talentes abge¬ legt. Freytag Abend gab er ein glaͤnzendes Improvi¬ ſatorium vor ſehr zahlreichen Zuhoͤrern und in Gegen¬ wart des Weimariſchen Hofes. Noch an ſelbigem Abend erhielt er eine Einladung zu Goethe auf naͤchſten Mittag.

Ich ſprach Doctor Wolff geſtern Abend, nachdem er Mittags vor Goethe improviſirt hatte. Er war ſehr begluͤckt und aͤußerte, daß dieſe Stunde in ſeinem Leben Epoche machen wuͤrde, indem Goethe ihn mit wenigen Worten auf eine ganz neue Bahn gebracht und in dem, was er an ihm getadelt, den Nagel auf den Kopf ge¬ troffen haͤtte.

Dieſen Abend nun, als ich bey Goethe war, kam das Geſpraͤch ſogleich auf Wolff. Dr. Wolff iſt ſehr gluͤck¬ lich, ſagte ich, daß Ew. Excellenz ihm einen guten Rath gegeben.

238

Ich bin aufrichtig gegen ihn geweſen, ſagte Goethe, und wenn meine Worte auf ihn gewirkt und ihn an¬ geregt haben, ſo iſt das ein ſehr gutes Zeichen. Er iſt ein entſchiedenes Talent, daran iſt kein Zweifel, allein er leidet an der allgemeinen Krankheit der jetzigen Zeit, an der Subjectivitaͤt, und davon moͤchte ich ihn heilen. Ich gab ihm eine Aufgabe, um ihn zu verſuchen. Schildern Sie mir, ſagte ich, Ihre Ruͤckkehr nach Hamburg. Dazu war er nun ſogleich bereit, und fing auf der Stelle in wohlklingenden Verſen zu ſprechen an. Ich mußte ihn bewundern, allein ich konnte ihn nicht loben. Nicht die Ruͤckkehr nach Hamburg ſchil¬ derte er mir, ſondern nur die Empfindungen der Ruͤck¬ kehr eines Sohnes zu Eltern, Anverwandten und Freun¬ den, und ſein Gedicht konnte eben ſo gut fuͤr eine Ruͤck¬ kehr nach Merſeburg und Jena als fuͤr eine Ruͤckkehr nach Hamburg gelten. Was iſt aber Hamburg fuͤr eine ausgezeichnete, eigenartige Stadt, und welch ein reiches Feld fuͤr die ſpecielleſten Schilderungen bot ſich ihm dar, wenn er das Object gehoͤrig zu ergreifen gewußt und gewagt haͤtte!

Ich bemerkte, daß das Publicum an ſolcher ſubjec¬ tiven Richtung Schuld ſey, indem es allen Gefuͤhls¬ ſachen einen entſchiedenen Beyfall ſchenke.

Mag ſeyn, ſagte Goethe, allein wenn man dem Publicum das Beſſere giebt, ſo iſt es noch zufriedener. Ich bin gewiß, wenn es einem improviſirenden Talent,239 wie Wolff gelaͤnge, das Leben großer Staͤdte, wie Rom, Neapel, Wien, Hamburg und London mit aller treffen¬ den Wahrheit zu ſchildern und ſo lebendig, daß ſie glaubten, es mit eigenen Augen zu ſehen, er wuͤrde alles entzuͤcken und hinreißen. Wenn er zum Objectiven durch¬ bricht, ſo iſt er geborgen, es liegt in ihm, denn er iſt nicht ohne Phantaſie. Nur muß er ſich ſchnell ent¬ ſchließen und es zu ergreifen wagen.

Ich fuͤrchte, ſagte ich, daß dieſes ſchwerer iſt als man glaubt, denn es erfordert eine Umwandlung der ganzen Denkweiſe. Gelingt es ihm, ſo wird auf jeden Fall ein augenblicklicher Stillſtand in der Production eintreten und es wird eine lange Übung erfordern, bis ihm auch das Objective gelaͤufig und zur zweyten Natur werde.

Freylich, erwiederte Goethe, iſt dieſer Überſchritt ungeheuer; aber er muß nur Muth haben und ſich ſchnell entſchließen. Es iſt damit wie beym Baden die Scheu vor dem Waſſer, man muß nur raſch hinein¬ ſpringen und das Element wird unſer ſeyn.

Wenn einer ſingen lernen will, fuhr Goethe fort, ſind ihm alle diejenigen Toͤne, die in ſeiner Kehle liegen, natuͤrlich und leicht; die andern aber, die nicht in ſeiner Kehle liegen, ſind ihm anfaͤnglich aͤußerſt ſchwer. Um aber ein Saͤnger zu werden, muß er ſie uͤberwinden, denn ſie muͤſſen ihm alle zu Gebote ſtehen. Ebenſo iſt es mit einem Dichter. Solange er bloß ſeine weni¬240 gen ſubjectiven Empfindungen ausſpricht, iſt er noch keiner zu nennen; aber ſobald er die Welt ſich anzu¬ eignen und auszuſprechen weiß, iſt er ein Poet. Und dann iſt er unerſchoͤpflich und kann immer neu ſeyn, wogegen aber eine ſubjective Natur ihr Bischen Inne¬ res bald ausgeſprochen hat und zuletzt in Manier zu Grunde geht.

Man ſpricht immer vom Studium der Alten; allein was will das anders ſagen, als: richte dich auf die wirkliche Welt und ſuche ſie auszuſprechen; denn das thaten die Alten auch, da ſie lebten.

Goethe ſtand auf und ging im Zimmer auf und ab, waͤhrend ich, wie er es gerne hat, auf meinem Stuhle am Tiſche ſitzen blieb. Er ſtand einen Augenblick am Ofen, dann aber, wie einer, der etwas bedacht hat, trat er zu mir heran und den Finger an den Mund gelegt, ſagte er Folgendes:

Ich will Ihnen etwas entdecken und Sie werden es in Ihrem Leben vielfach beſtaͤtiget finden. Alle im Ruͤckſchreiten und in der Aufloͤſung begriffenen Epochen ſind ſubjectiv, dagegen aber haben alle vorſchreitenden Epochen eine objective Richtung. Unſere ganze jetzige Zeit iſt eine ruͤckſchreitende, denn ſie iſt eine ſubjektive. Dieſes ſehen Sie nicht bloß an der Poeſie, ſondern auch an der Malerey und vielem anderen. Jedes tuͤchtige Beſtreben dagegen wendet ſich aus dem Inneren hinaus auf die Welt, wie Sie an allen großen Epochen ſehen,241 die wirklich im Streben und Vorſchreiten begriffen und alle objectiver Natur waren.

Die ausgeſprochenen Worte gaben Anlaß zu der geiſtreichſten Unterhaltung, wobey beſonders der großen Zeit des funfzehnten und ſechzehnten Jahrhunderts ge¬ dacht wurde.

Das Geſpraͤch lenkte ſich ſodann auf das Theater und das Schwache, Empfindſame und Truͤbſelige der neueren Erſcheinungen. Ich troͤſte und ſtaͤrke mich jetzt an Moli è re, ſagte ich. Seinen Geizigen habe ich uͤberſetzt nnd beſchaͤftige mich nun mit ſeinem Arzt wider Willen. Was iſt doch Molière fuͤr ein großer, reiner Menſch! Ja, ſagte Goethe, reiner Menſch, das iſt das eigentliche Wort, was man von ihm ſagen kann; es iſt an ihm nichts verbogen und verbildet. Und nun dieſe Großheit! Er beherrſchte die Sitten ſeiner Zeit; wogegen aber unſere Iffland und Kotzebue ſich von den Sitten der ihrigen beherrſchen ließen und darin beſchraͤnkt und befangen waren. Molière zuͤchtigte die Menſchen, indem er ſie in ihrer Wahrheit zeichnete.

Ich moͤchte etwas darum geben, ſagte ich, wenn ich die Molièriſchen Stuͤcke in ihrer ganzen Reinheit auf der Buͤhne ſehen koͤnnte; allein dem Publicum, wie ich es kenne, muß dergleichen viel zu ſtark und natuͤr¬ lich ſeyn. Sollte dieſe Über-Verfeinerung nicht von der ſogenannten idealen Literatur gewiſſer Autoren her¬ ruͤhren?

I. 16242

Nein, ſagte Goethe, ſie kommt aus der Geſellſchaft ſelbſt. Und dann, was thun unſere jungen Maͤdchen im Theater? ſie gehoͤren gar nicht hinein, ſie gehoͤren ins Kloſter und das Theater iſt bloß fuͤr Maͤnner und Frauen, die mit menſchlichen Dingen bekannt ſind. Als Molière ſchrieb, waren die Maͤdchen im Kloſter und er hatte auf ſie gar keine Ruͤckſicht zu nehmen.

Da wir nun aber unſere jungen Maͤdchen ſchwer¬ lich hinausbringen und man nicht aufhoͤren wird Stuͤcke zu geben, die ſchwach und eben darum dieſen recht ſind, ſo ſeyd klug, und macht es wie ich und geht nicht hinein.

Ich habe am Theater nur ſo lange ein wahrhaftes Intereſſe gehabt, als ich dabey practiſch einwirken konnte. Es war meine Freude, die Anſtalt auf eine hoͤhere Stufe zu bringen und ich nahm bey den Vorſtellungen weniger Antheil an den Stuͤcken, als daß ich darauf ſah, ob die Schauſpieler ihre Sachen recht machten oder nicht. Was ich zu tadeln hatte, ſchickte ich am andern Morgen dem Regiſſeur auf einem Zettel, und ich konnte gewiß ſeyn, bey der naͤchſten Vorſtellung die Fehler vermieden zu ſehen. Nun aber, wo ich beim Theater nicht mehr practiſch einwirken kann, habe ich auch kei¬ nen Beruf mehr hineinzugehen. Ich muͤßte das Man¬ gelhafte geſchehen laſſen, ohne es verbeſſern zu koͤnnen, und das iſt nicht meine Sache.

Mit dem Leſen von Stuͤcken geht es mir nicht beſſer. Die jungen deutſchen Dichter ſchicken mir im¬243 merfort Trauerſpiele, allein was ſoll ich damit? Ich habe die deutſchen Stuͤcke immer nur in der Abſicht geleſen, ob ich ſie koͤnnte ſpielen laſſen, uͤbrigens waren ſie mir gleichguͤltig. Und was ſoll ich nun in meiner jetzigen Lage mit den Stuͤcken dieſer jungen Leute? Fuͤr mich ſelbſt gewinne ich nichts, indem ich leſe, wie man es nicht haͤtte machen ſollen, und den jungen Dichtern kann ich nicht nuͤtzen bey einer Sache, die ſchon gethan iſt. Schickten ſie mir ſtatt ihrer gedruckten Stuͤcke den Plan zu einem Stuͤck, ſo koͤnnte ich wenigſtens ſagen, mache es, oder mache es nicht, oder mache es ſo, oder mache es anders, und dabey waͤre doch einiger Sinn und Nutzen.

Das ganze Unheil entſteht daher, daß die poetiſche Cultur in Deutſchland ſich ſo ſehr verbreitet hat, daß niemand mehr einen ſchlechten Vers macht. Die jungen Dichter, die mir ihre Werke ſenden, ſind nicht geringer als ihre Vorgaͤnger, und da ſie nun jene ſo hoch ge¬ prieſen ſehen, ſo begreifen ſie nicht, warum man ſie nicht auch preiſet. Und doch darf man zu ihrer Auf¬ munterung nichts thun, eben weil es ſolcher Talente jetzt zu Hunderten giebt, und man das[Ü]berfluͤſſige nicht befoͤrdern ſoll, waͤhrend noch ſo viel Nuͤtzliches zu thun iſt. Waͤre ein Einzelner, der uͤber alle hervorragte, ſo waͤre es gut, denn der Welt kann nur mit dem Außer¬ ordentlichen gedient ſeyn.

16*244

Ich ging dieſen Abend um ſieben Uhr zu Goethe, den ich in ſeinem Zimmer alleine fand. Ich ſetzte mich zu ihm an den Tiſch, indem ich ihm die Nachricht brachte, daß ich geſtern, bey ſeiner Durchreiſe nach Petersburg, den Herzog von Wellington im Gaſt¬ hofe geſehen.

Nun, ſagte Goethe belebt, wie war er? Erzaͤhlen Sie mir von ihm. Sieht er aus wie ſein Portrait?

Ja, ſagte ich, aber beſſer! beſonderer! Wenn man einen Blick in ſein Geſicht gethan hat, ſo ſind alle ſeine Portraits vernichtet. Und man braucht ihn nur ein einziges Mal anzuſehen, um ihn nie wieder zu ver¬ geſſen, ein ſolcher Eindruck geht von ihm aus. Sein Auge iſt braun und vom heiterſten Glanze, man fuͤhlt die Wirkung ſeines Blickes. Sein Mund iſt ſprechend, auch wenn er geſchloſſen iſt. Er ſieht aus wie einer, der Vieles gedacht und das Groͤßte gelebt hat, und der nun die Welt mit großer Heiterkeit und Ruhe behandelt und den nichts mehr anficht. Hart und zaͤh erſchien er mir wie eine damascener Klinge.

Er iſt, ſeinem Ausſehen nach, hoch in den Funf¬ zigen, von grader Haltung, ſchlank, nicht ſehr groß und eher etwas mager als ſtark. Ich ſah ihn, wie er in den Wagen ſteigen und wieder abfahren wollte. 245Sein Gruß, wie er durch die Reihen der Menſchen ging und mit ſehr weniger Verneigung den Finger an den Hut legte, hatte etwas ungemein Freundliches.

Goethe hoͤrte meiner Beſchreibung mit ſichtbarem Intereſſe zu. Da haben Sie einen Helden mehr ge¬ ſehen, ſagte er, und das will immer etwas heißen.

Wir kamen auf Napoleon und ich bedauerte, daß ich den nicht geſehen. Freylich, ſagte Goethe, das war auch der Muͤhe werth. Dieſes Compendium der Welt! Er ſah wohl nach etwas aus? fragte ich. Er war es, antwortete Goethe, und man ſah ihm an, daß er es war; das war alles.

Ich hatte fuͤr Goethe ein ſehr merkwuͤrdiges Gedicht mitgebracht, wovon ich ihm einige Abende vorher ſchon erzaͤhlt hatte; ein Gedicht von ihm ſelbſt, deſſen er ſich jedoch nicht mehr erinnerte, ſo tief lag es in der Zeit zuruͤck. Zu Anfange des Jahres 1766 in den Sicht¬ baren, einer damals in Frankfurt erſchienenen Zeitſchrift, abgedruckt, war es durch einen alten Diener Goethe's mit nach Weimar gebracht worden, durch deſſen Nach¬ kommen es in meine Haͤnde gelangt war. Ohne Zwei¬ fel das aͤlteſte aller von Goethe bekannten Gedichte. Es hatte die Hoͤllenfahrt Chriſti zum Gegenſtand, wobey es mir merkwuͤrdig war, wie dem ſehr jungen Verfaſſer die religioͤſen Vorſtellungsarten ſo gelaͤufig ge¬ weſen. Der Geſinnung nach konnte das Gedicht von Klopſtock herkommen, allein in der Ausfuͤhrung war es246 ganz anderer Natur; es war ſtaͤrker, freyer und leichter und hatte eine groͤßere Energie, einen beſſeren Zug. Außerordentliche Glut erinnerte an eine kraͤftig brauſende Jugend. Beym Mangel an Stoff drehte es ſich in ſich ſelbſt herum und war laͤnger geworden als billig.

Ich legte Goethen das ganz vergilbte, kaum noch zuſammenhaͤngende Zeitungsblatt vor, und da er es mit Augen ſah, erinnerte er ſich des Gedichts wieder. Es iſt moͤglich, ſagte er, daß das Fraͤulein von Klettenberg mich dazu veranlaßt hat; es ſteht in der Überſchrift: auf Verlangen entworfen, und ich wuͤßte nicht, wer von meinen Freunden einen ſolchen Gegenſtand anders haͤtte verlangen koͤnnen. Es fehlte mir damals an Stoff und ich war gluͤcklich, wenn ich nur etwas hatte, das ich beſingen konnte. Noch dieſer Tage fiel mir ein Gedicht aus jener Zeit in die Haͤnde, das ich in engliſcher Sprache geſchrieben und worin ich mich uͤber den Mangel an poetiſchen Gegenſtaͤnden beklage. Wir Deutſchen ſind auch wirk¬ lich ſchlimm daran: unſere Ur-Geſchichte liegt zu ſehr im Dunkel und die ſpaͤtere hat aus Mangel eines ein¬ zigen Regentenhauſes kein allgemeines nationales In¬ tereſſe. Klopſtock verſuchte ſich am Hermann, allein der Gegenſtand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein Verhaͤltniß, niemand weiß, was er damit machen ſoll und ſeine Darſtellung iſt daher ohne Wirkung und Po¬ pularitaͤt geblieben. Ich that einen gluͤcklichen Griff mit meinem Goͤtz von Berlichingen; das war doch Bein247 von meinem Bein und Fleiſch von meinem Fleiſch, und es war ſchon etwas damit zu machen.

Beym Werther und Fauſt mußte ich dagegen wieder in meinen eigenen Buſen greifen, denn das Überlieferte war nicht weit her. Das Teufels - und Hexen-Weſen machte ich nur einmal; ich war froh, mein nordiſches Erbtheil verzehrt zu haben und wandte mich zu den Tiſchen der Griechen. Haͤtte ich aber ſo deutlich wie jetzt gewußt, wie viel Vortreffliches ſeit Jahrhunderten und Jahrtauſenden da iſt, ich haͤtte keine Zeile geſchrieben, ſondern etwas anderes gethan.

Goethe war heute bey Tiſch in der heiterſten, herz¬ lichſten Stimmung. Ein ihm ſehr werthes Blatt war ihm heute zugekommen, naͤmlich Lord Byrons Hand¬ ſchrift der Dedication ſeines Sardanapal. Er zeigte ſie uns zum Nachtiſch, indem er zugleich ſeine Tochter quaͤlte, ihm Byrons Brief aus Genua wieder zu geben. Du ſiehſt, liebes Kind, ſagte er, ich habe jetzt alles beyſammen, was auf mein Verhaͤltniß zu Byron Bezug hat, ſelbſt dieſes merkwuͤrdige Blatt gelangt heute wun¬ derbarer Weiſe zu mir und es fehlt mir nun weiter nichts als jener[]Brief.

Die liebenswuͤrdige Verehrerin von Byron wollte248 aber den Brief nicht wieder entbehren. Sie haben ihn mir einmal geſchenkt, lieber Vater, ſagte ſie, und ich gebe ihn nicht zuruͤck; und wenn Sie denn einmal wol¬ len, daß das Gleiche zum Gleichen ſoll, ſo geben Sie mir lieber dieſes koͤſtliche Blatt von heute noch dazu und ich verwahre ſodann alles miteinander. Das wollte Goethe noch weniger und der anmuthige Streit ging noch eine Weile fort bis er ſich in ein allgemeines munteres Geſpraͤch aufloͤste.

Nachdem wir vom Tiſch aufgeſtanden und die Frauen hinaufgangen waren, blieb ich mit Goethe allein. Er holte aus ſeiner Arbeitsſtube ein rothes Portefeuille, womit er mit mir ans Fenſter trat und es auseinander legte. Sehen Sie, ſagte er, hier habe ich alles bey¬ ſammen, was auf mein Verhaͤltniß zu Lord Byron Bezug hat. Hier iſt ſein Brief aus Livorno, dieß iſt ein Abdruck ſeiner Dedication, dieß mein Gedicht, hier das, was ich zu Medwins Converſationen geſchrieben; nun fehlt mir bloß ſein Brief aus Genua, aber ſie will ihn nicht hergeben.

Goethe ſagte mir ſodann von einer freundlichen Aufforderung, die in Bezug auf Lord Byron heute aus England an ihn ergangen und die ihn ſehr ange¬ nehm beruͤhrt habe. Sein Geiſt war bey dieſer Gele¬ genheit ganz von Byron voll und er ergoß ſich uͤber ihn, ſeine Werke und ſein Talent in tauſend intereſ¬ ſanten Äußerungen.

249

Die Englaͤnder, ſagte er unter anderm, moͤgen auch von Byron halten, was ſie wollen, ſo iſt doch ſo viel gewiß, daß ſie keinen Poeten aufzuweiſen haben, der ihm zu vergleichen waͤre. Er iſt anders als alle Übri¬ gen und meiſtentheils groͤßer.

Ich ſprach mit Goethe uͤber St. Schuͤtze, uͤber den er ſich ſehr wohlwollend aͤußerte.

In den Tagen meines krankhaften Zuſtandes von voriger Woche, ſagte er, habe ich ſeine heiteren Stunden geleſen. Ich habe an dem Buche große Freude gehabt. Haͤtte Schuͤtze in England gelebt, er wuͤrde Epoche gemacht haben; denn ihm fehlte bey ſeiner Gabe der Beobachtung und Darſtellung weiter nichts als der Anblick eines bedeutenden Lebens.

Goethe ſprach uͤber den Globe. Die Mitarbeiter, ſagte er, ſind Leute von Welt, heiter, klar, kuͤhn bis zum aͤußerſten Grade. In ihrem Tadel ſind ſie fein und galant, wogegen aber die deutſchen Gelehrten im¬250 mer glauben, daß ſie den ſogleich haſſen muͤſſen, der nicht ſo denkt wie ſie. Ich zaͤhle den Globe zu den in¬ tereſſanteſten Zeitſchriften und koͤnnte ihn nicht entbehren.

Dieſen Abend hatte ich das Gluͤck, von Goethe manche Äußerung uͤber das Theater zu hoͤren.

Ich erzaͤhlte ihm, daß einer meiner Freunde die Abſicht habe, Byrons Two Foscari fuͤr die Buͤhne ein¬ zurichten. Goethe zweifelte am Gelingen.

Es iſt freylich eine verfuͤhreriſche Sache, ſagte er. Wenn ein Stuͤck im Leſen auf uns große Wirkung macht, ſo denken wir, es muͤßte auch von der Buͤhne herunter ſo thun, und wir bilden uns ein, wir koͤnnten mit weniger Muͤhe dazu gelangen. Allein es iſt ein eigenes Ding. Ein Stuͤck, das nicht urſpruͤnglich mit Abſicht und Geſchick des Dichters fuͤr die Bretter ge¬ ſchrieben iſt, geht auch nicht hinauf, und wie man auch damit verfaͤhrt, es wird immer etwas Ungehoͤriges und Widerſtrebendes behalten. Welche Muͤhe habe ich mir nicht mit meinem Goͤtz von Berlichingen gegeben! aber doch will es als Theaterſtuͤck nicht recht gehen. Es iſt zu groß und ich habe es zu zwey Theilen einrichten muͤſſen, wovon der letzte zwar theatraliſch wirkſam, der erſte aber nur als Expoſitionsſtuͤck anzuſehen iſt. Wollte251 man den erſten Theil, des Hergangs der Sache willen, bloß einmal geben, und ſodann bloß den zweyten Theil wiederholt fortſpielen, ſo moͤchte es gehen. Ein aͤhnliches Verhaͤltniß hat es mit dem Wallenſtein; die Piccolomini werden nicht wiederholt, aber Wallenſteins Tod wird immerfort gern geſehen.

Ich fragte, wie ein Stuͤck beſchaffen ſeyn muͤſſe, um theatraliſch zu ſeyn.

Es muß ſymboliſch ſeyn, antwortete Goethe. Das heißt: jede Handlung muß an ſich bedeutend ſeyn und auf eine noch wichtigere hinzielen. Der Tartuͤffe von Molière iſt in dieſer Hinſicht ein großes Muſter. Den¬ ken Sie nur an die erſte Scene, was das fuͤr eine Expoſition iſt! Alles iſt ſogleich vom Anfange herein hoͤchſt bedeutend und laͤßt auf etwas noch Wichtigeres ſchließen, was kommen wird. Die Expoſition von Leſſings Minna von Barnhelm iſt auch vortrefflich, allein dieſe des Tartuͤffe iſt nur einmal in der Welt da; ſie iſt das Groͤßte und Beſte, was in dieſer Art vor¬ handen.

Wir kamen auf die Calderon'ſchen Stuͤcke.

Bey Calderon, ſagte Goethe, finden Sie dieſelbe theatraliſche Vollkommenheit. Seine Stuͤcke ſind durch¬ aus bretterrecht, es iſt in ihnen kein Zug, der nicht fuͤr die beabſichtigte Wirkung calculirt waͤre. Calderon iſt dasjenige Genie, was zugleich den groͤßten Verſtand hatte.

252

Es iſt wunderlich, ſagte ich, daß die Shakſpeariſchen Stuͤcke keine eigentlichen Theater-Stuͤcke ſind, da Shak¬ ſpeare ſie doch alle fuͤr ſein Theater geſchrieben hat.

Shakſpeare, erwiederte Goethe, ſchrieb dieſe Stuͤcke aus ſeiner Natur heraus, und dann machte ſeine Zeit und die Einrichtung der damaligen Buͤhne an ihn keine Anforderungen; man ließ ſich gefallen, wie Shakſpeare es brachte. Haͤtte aber Shakſpeare fuͤr den Hof zu Madrid, oder fuͤr das Theater Ludwigs des vierzehnten geſchrieben, er haͤtte ſich auch wahrſcheinlich einer ſtren¬ geren Theater-Form gefuͤgt. Doch dieß iſt keineswegs zu beklagen; denn was Shakſpeare als Theater-Dichter fuͤr uns verloren hat, das hat er als Dichter im All¬ gemeinen gewonnen. Shakſpeare iſt ein großer Pſycho¬ loge und man lernt aus ſeinen Stuͤcken wie den Men¬ ſchen zu Muthe iſt.

Wir ſprachen uͤber die Schwierigkeit einer guten Theater-Leitung.

Das Schwere dabey iſt, ſagte Goethe, daß man das Zufaͤllige zu uͤbertragen wiſſe und ſich dadurch von ſeinen hoͤheren Maximen nicht ableiten laſſe. Dieſe hoͤheren Maximen ſind: ein gutes Repertoir trefflicher Tragoͤdien, Opern und Luſtſpiele, worauf man halten und die man als das Feſtſtehende anſehen muß. Zu dem Zufaͤlligen aber rechne ich: ein neues Stuͤck, das man ſehen will, eine Gaſtrolle, und dergleichen mehr. Von dieſen Dingen muß man ſich nicht irre leiten253 laſſen, ſondern immer wieder zu ſeinem Repertoir zuruͤck¬ kehren. Unſere Zeit iſt nun an wahrhaft guten Stuͤcken ſo reich, daß einem Kenner nichts leichteres iſt, als ein gutes Repertoir zu bilden. Allein es iſt nichts ſchwie¬ riger als es zu halten.

Als ich mit Schillern dem Theater vorſtand, hat¬ ten wir den Vortheil, daß wir den Sommer uͤber in Lauchſtedt ſpielten. Hier hatten wir ein auserleſenes Publicum, das nichts als vortreffliche Sachen wollte, und ſo kamen wir denn jedesmal eingeuͤbt in den beſten Stuͤcken nach Weimar zuruͤck und konnten hier den Winter uͤber alle Sommer-Vorſtellungen wiederholen. Dazu hatte das Weimariſche Publicum auf unſere Lei¬ tung Vertrauen und war immer, auch bey Dingen, denen es nichts abgewinnen konnte, uͤberzeugt, daß un¬ ſerm Thun und Laſſen eine hoͤhere Abſicht zum Grunde liege.

In den neunziger Jahren, fuhr Goethe fort, war die eigentliche Zeit meines Theater-Intereſſes ſchon voruͤber und ich ſchrieb nichts mehr fuͤr die Buͤhne, ich wollte mich ganz zum Epiſchen wenden. Schiller er¬ weckte das ſchon erloſchene Intereſſe, und ihm und ſei¬ nen Sachen zu Liebe nahm ich am Theater wieder An¬ theil. In der Zeit meines Clavigo waͤre es mir ein Leichtes geweſen, ein Dutzend Theaterſtuͤcke zu ſchreiben; an Gegenſtaͤnden fehlte es nicht und die Production ward mir leicht; ich haͤtte immer in acht Tagen ein254 Stuͤck machen koͤnnen und es aͤrgert mich noch, daß ich es nicht gethan habe.

Goethe ſprach heute abermals mit Bewunderung uͤber Lord Byron. Ich habe, ſagte er, ſeinen Defor¬ med Transformed wieder geleſen und muß ſagen, daß ſein Talent mir immer groͤßer vorkommt. Sein Teufel iſt aus meinem Mephiſtopheles hervorgegangen, aber es iſt keine Nachahmung, es iſt alles durchaus originell und neu, und alles knapp, tuͤchtig und geiſtreich. Es iſt keine Stelle darin, die ſchwach waͤre, nicht ſo viel Platz, um den Knopf einer Nadel hinzuſetzen, wo man nicht auf Erfindung und Geiſt traͤfe. Ihm iſt nichts im Wege als das Hypochondriſche und Negative und er waͤre ſo groß wie Shakſpeare und die Alten. Ich wunderte mich. Ja, ſagte Goethe, Sie koͤnnen es mir glauben, ich habe ihn von neuem ſtudirt und muß ihm dieß immer mehr zugeſtehen.

In einem fruͤheren Geſpraͤche aͤußerte Goethe: Lord Byron habe zu viel Empirie. Ich verſtand nicht recht, was er damit ſagen wollte, doch enthielt ich mich ihn zu fragen und dachte der Sache im Stillen nach. Es war aber durch Nachdenken nichts zu gewinnen und ich mußte warten, bis meine vorſchreitende Cultur oder255 ein gluͤcklicher Umſtand mir das Geheimniß aufſchließen moͤchte. Ein ſolcher fuͤhrte ſich dadurch herbey, daß Abends im Theater eine treffliche Vorſtellung des Mac¬ beth auf mich wirkte, und ich Tags darauf die Werke des Lord Byron in die Haͤnde nahm, um ſeinen Beppo zu leſen. Nun wollte dieſes Gedicht auf den Macbeth mir nicht munden, und je weiter ich las, je mehr ging es mir auf, was Goethe bey jener Äußerung ſich mochte gedacht haben.

Im Macbeth hatte ein Geiſt auf mich gewirkt, der, groß, gewaltig und erhaben wie er war, von niemanden hatte ausgehen koͤnnen als von Shakſpeare ſelbſt. Es war das Angeborene einer hoͤher und tiefer begabten Natur, welche eben das Individuum, das ſie beſaß, vor allen aus¬ zeichnete und dadurch zum großen Dichter machte. Das¬ jenige, was zu dieſem Stuͤck die Welt und Erfahrung gegeben, war dem poetiſchen Geiſte untergeordnet und diente nur, um dieſen reden und vorwalten zu laſſen. Der große Dichter herrſchte und hob uns an ſeine Seite hinauf zu der Hoͤhe ſeiner Anſicht.

Beym Leſen des Beppo dagegen empfand ich das Vorherrſchen einer verruchten empiriſchen Welt, der ſich der Geiſt, der ſie uns vor die Sinne fuͤhrt, gewiſſer¬ maßen aſſociirt hatte. Nicht mehr der angeborene groͤ¬ ßere und reinere Sinn eines hochbegabten Dichters be¬ gegnete mir, ſondern des Dichters Denkungsweiſe ſchien durch ein haͤufiges Leben mit der Welt von gleichem256 Schlage geworden zu ſeyn. Er erſchien in gleichem Niveau mit allen vornehmen geiſtreichen Weltleuten, von denen er ſich durch nichts auszeichnete als durch ſein großes Talent der Darſtellung, ſo daß er denn auch als ihr redendes Organ betrachtet werden konnte.

Und ſo empfand ich denn beym Leſen des Beppo: Lord Byron habe zu viel Empirie, und zwar nicht, weil er zu viel wirkliches Leben uns vor die Augen fuͤhrte, ſondern weil ſeine hoͤhere poetiſche Natur zu ſchweigen, ja von einer empiriſchen Denkungsweiſe aus¬ getrieben zu ſeyn ſchien.

Lord Byrons Deformed Transformed hatte ich nun auch geleſen und ſprach mit Goethe daruͤber nach Tiſch.

Nicht wahr? ſagte er, die erſten Scenen ſind groß und zwar poetiſch groß. Das Übrige, wo es ausein¬ ander und zur Belagerung Rom's geht, will ich nicht als poetiſch ruͤhmen, allein man muß geſtehen, daß es geiſtreich iſt.

Im hoͤchſten Grade, ſagte ich; aber es iſt keine Kunſt geiſtreich zu ſeyn, wenn man vor nichts Reſpect hat.

Goethe lachte. Sie haben nicht ganz Unrecht,257 ſagte er; man muß freilich zugeben, daß der Poet mehr ſagt als man moͤchte; er ſagt die Wahrheit, allein es wird einem nicht wohl dabey und man ſaͤhe lieber, daß er den Mund hielt. Es giebt Dinge in der Welt, die der Dichter beſſer uͤberhuͤllet als aufdeckt; doch dieß iſt eben Byrons Character und man wuͤrde ihn vernichten, wenn man ihn anders wollte.

Ja, ſagte ich, im hoͤchſten Grade geiſtreich iſt er. Wie trefflich iſt z. B. dieſe Stelle:

The Devil speaks truth much oftener than he's deemed, He hath an ignorant audience.

Das iſt freylich eben ſo groß und frey als mein Mephiſtopheles irgend etwas geſagt hat.

Da wir vom Mephiſtopheles reden, fuhr Goethe fort, ſo will ich Ihnen doch etwas zeigen, was Cou¬ dray von Paris mitgebracht hat. Was ſagen Sie dazu?

Er legte mir einen Steindruck vor, die Scenen dar¬ ſtellend, wo Fauſt und Mephiſtopheles, um Gretchen aus dem Kerker zu befreyen, in der Nacht auf zwey Pferden an einem Hochgerichte vorbeyſauſen. Fauſt rei¬ tet ein ſchwarzes, das im geſtreckteſten Galopp aus¬ greift und ſich, ſo wie ſein Reiter, vor den Geſpenſtern unter dem Galgen zu fuͤrchten ſcheint. Sie reiten ſo ſchnell, daß Fauſt Muͤhe hat ſich zu halten; die ſtark entgegen wirkende Luft hat ſeine Muͤtze entfuͤhrt, die,I. 17258von dem Sturmriemen am Halſe gehalten, weit hinter ihm herfliegt. Er hat ſein furchtſam fragendes Geſicht dem Mephiſtopheles zugewendet und lauſcht auf deſſen Worte. Dieſer ſitzt ruhig, unangefochten, wie ein hoͤhe¬ res Weſen. Er reitet kein lebendiges Pferd, denn er liebt nicht das Lebendige. Auch hat er es nicht von¬ noͤthen, denn ſchon ſein Wollen bewegt ihn in der ge¬ wuͤnſchteſten Schnelle. Er hat bloß ein Pferd, weil er einmal reitend gedacht werden muß; und da genuͤgte es ihm, ein bloß noch in der Haut zuſammenhaͤngendes Ge¬ rippe vom erſten beſten Anger aufzuraffen. Es iſt heller Farbe und ſcheint in der Dunkelheit der Nacht zu phos¬ phoresciren. Es iſt weder gezuͤgelt noch geſattelt, es geht ohne das. Der uͤberirdiſche Reiter ſitzt leicht und nachlaͤſſig im Geſpraͤch zu Fauſt gewendet; das entgegen¬ wirkende Element der Luft iſt fuͤr ihn nicht da, er wie ſein Pferd empfinden nichts, es wird ihnen kein Haar bewegt.

Wir hatten an dieſer geiſtreichen Compoſition große Freude. Da muß man doch geſtehen, ſagte Goethe, daß man es ſich ſelbſt nicht ſo vollkommen gedacht hat. Hier haben Sie ein anderes Blatt, was ſagen Sie zu dieſem!

Die wilde Trink-Scene in Auerbachs Keller ſah ich dargeſtellt, und zwar, als Quinteſſenz des Ganzen, den bedeutendſten Moment, wo der verſchuͤttete Wein als Flamme auflodert und die Beſtialitaͤt der Trinken¬259 den ſich auf die verſchiedenſte Weiſe kund giebt. Alles iſt Leidenſchaft und Bewegung und nur Mephiſtopheles bleibt in der gewohnten heiteren Ruhe. Das wilde Fluchen und Schreien und das gezuckte Meſſer des ihm zunaͤchſt Stehenden ſind ihm nichts. Er hat ſich auf eine Tiſchecke geſetzt und baumelt mit den Beinen; ſein aufgehobener Finger iſt genug, um Flamme und Leidenſchaft zu daͤmpfen.

Jemehr man dieſes treffliche Bild betrachtete, deſto¬ mehr fand man den großen Verſtand des Kuͤnſtlers, der keine Figur der andern gleich machte und in jeder eine andere Stufe der Handlung darſtellte.

Herr Delacroir, ſagte Goethe, iſt ein großes Ta¬ lent, das gerade am Fauſt die rechte Nahrung gefunden hat. Die Franzoſen tadeln an ihm ſeine Wildheit, al¬ lein hier kommt ſie ihm recht zu Statten. Er wird, wie man hofft, den ganzen Fauſt durchfuͤhren, und ich freue mich beſonders auf die Hexenkuͤche und die Brocken¬ ſcenen. Man ſieht ihm an, daß er das Leben recht durchgemacht hat, wozu ihm denn eine Stadt wie Pa¬ ris die beſte Gelegenheit geboten.

Ich machte bemerklich, daß ſolche Bilder zum beſ¬ ſeren Verſtehen des Gedichts ſehr viel beytruͤgen. Das iſt keine Frage, ſagte Goethe, denn die vollkommnere Einbildungskraft eines ſolchen Kuͤnſtlers zwingt uns, die Situationen ſo gut zu denken, wie er ſie ſelber gedacht hat. Und wenn ich nun geſtehen muß, daß17*260Herr Delacroix meine eigene Vorſtellung bey Scenen uͤbertroffen hat, die ich ſelber gemacht habe, um wie viel mehr werden nicht die Leſer alles lebendig und uͤber ihre Imagination hinausgehend finden!

Ich fand Goethe in einer ſehr heiter aufgeregten Stimmung. Alexander von Humboldt iſt dieſen Morgen einige Stunden bey mir geweſen, ſagte er mir ſehr belebt entgegen. Was iſt das fuͤr ein Mann! Ich kenne ihn ſo lange und doch bin ich von neuem uͤber ihn in Erſtaunen. Man kann ſagen, er hat an Kenntniſſen und lebendigem Wiſſen nicht ſeines Gleichen. Und eine Vielſeitigkeit, wie ſie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen iſt! Wohin man ruͤhrt, er iſt uͤberall zu Hauſe und uͤberſchuͤttet uns mit geiſtigen Schaͤtzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Roͤhren, wo man uͤberall nur Gefaͤße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerſchoͤpflich entgegenſtroͤmt. Er wird einige Tage hier bleiben und ich fuͤhle ſchon, es wird mir ſeyn, als haͤtte ich Jahre verlebt.

261

Über Tiſch lobten die Frauen ein Portrait eines jungen Malers. Und was bewundernswuͤrdig iſt, fuͤg¬ ten ſie hinzu, er hat alles von ſelbſt gelernt. Dieſes merkte man denn auch beſonders an den Haͤnden, die nicht richtig und kunſtmaͤßig gezeichnet waren.

Man ſieht, ſagte Goethe, der junge Mann hat Talent; allein daß er alles von ſelbſt gelernt hat, de߬ wegen ſoll man ihn nicht loben, ſondern ſchelten. Ein Talent wird nicht geboren, um ſich ſelbſt uͤberlaſſen zu bleiben, ſondern ſich zur Kunſt und guten Meiſtern zu wenden, die denn etwas aus ihm machen. Ich habe dieſer Tage einen Brief von Mozart geleſen, wo er einem Baron, der ihm Compoſitionen zugeſendet hatte, etwa Folgendes ſchreibt: Euch Dilettanten muß man ſchelten, denn es finden bey Euch gewoͤhnlich zwey Dinge Statt: entweder Ihr habt keine eigene Gedan¬ ken und da nehmet Ihr fremde; oder wenn Ihr eigene Gedanken habt, ſo wißt Ihr nicht damit umzugehen. Iſt das nicht himmliſch? und gilt dieſes große Wort, was Mozart von der Muſik ſagt, nicht von allen uͤbrigen Kuͤnſten?

Goethe fuhr fort: Lenardo da Vinci ſagt: Wenn in euerm Sohn nicht der Sinn ſteckt, dasjenige, was262 er zeichnet durch kraͤftige Schattirung ſo herauszuhe¬ ben, daß man es mit Haͤnden greifen moͤchte, ſo hat er kein Talent.

Und ferner ſagt Lenardo da Vinci: Wenn euer Sohn Perſpective und Anatomie voͤllig inne hat, ſo thut ihn zu einem guten Meiſter.

Und jetzt, ſagte Goethe, verſtehen unſere jungen Kuͤnſtler beydes kaum, wenn ſie ihre Meiſter verlaſſen. So ſehr haben ſich die Zeiten geaͤndert.

Unſern jungen Malern, fuhr Goethe fort, fehlt es an Gemuͤth und Geiſt; ihre Erfindungen ſagen nichts und wirken nichts; ſie malen Schwerdter, die nicht hauen und Pfeile, die nicht treffen, und es dringt ſich mir oft auf, als waͤre aller Geiſt aus der Welt verſchwunden.

Und doch, verſetzte ich, ſollte man glauben, daß die großen kriegeriſchen Ereigniſſe der letzten Jahre den Geiſt aufgeregt haͤtten.

Mehr Wollen, ſagte Goethe, haben ſie aufgeregt als Geiſt, und mehr politiſchen Geiſt als kuͤnſtleriſchen, und alle Naivetaͤt und Sinnlichkeit iſt dagegen gaͤnzlich verloren gegangen. Wie will aber ein Maler ohne dieſe beyden großen Erforderniſſe etwas machen, woran man Freude haben koͤnnte.

Ich ſagte, daß ich dieſer Tage in ſeiner Italieniſchen Reiſe von einem Bilde Correggio's geleſen, welches eine Entwoͤhnung darſtellt, wo das Kind Chriſtus auf dem Schooße der Maria zwiſchen der Mutterbruſt und einer263 hingereichten Birne in Zweifel kommt und nicht weiß, welches von beyden es waͤhlen ſoll.

Ja, ſagte Goethe, das iſt ein Bildchen! da iſt Geiſt, Naivetaͤt, Sinnlichkeit, alles bey einander. Und der heilige Gegenſtand iſt allgemein menſchlich geworden und gilt als Symbol fuͤr eine Lebensſtufe, die wir alle durchmachen. Ein ſolches Bild iſt ewig, weil es in die fruͤheſten Zeiten der Menſchheit zuruͤck - und in die kuͤnftigſten vorwaͤrts greift. Wollte man dagegen den Chriſtus malen, wie er die Kindlein zu ſich kommen laͤßt, ſo waͤre das ein Bild, welches gar nichts zu ſa¬ gen haͤtte, wenigſtens nichts von Bedeutung.

Ich habe nun, fuhr Goethe fort, der deutſchen Malerey uͤber funfzig Jahre zugeſehen, ja nicht bloß zugeſehen, ſondern auch von meiner Seite einzuwirken geſucht, und kann jetzt ſo viel ſagen, daß, ſo wie alles jetzt ſteht, wenig zu erwarten iſt. Es muß ein großes Talent kommen, welches ſich alles Gute der Zeit ſogleich aneignet und dadurch alles uͤbertrifft. Die Mittel ſind alle da, und die Wege gezeigt und gebahnt. Haben wir doch jetzt ſogar auch die Phidiaſſe vor Augen, wor¬ an in unſerer Jugend nicht zu denken war. Es fehlt jetzt, wie geſagt, weiter nichts als ein großes Talent, und dieſes, hoffe ich, wird kommen; es liegt vielleicht ſchon in der Wiege und Sie koͤnnen ſeinen Glanz noch erleben.

264

Ich erzaͤhlte Goethen nach Tiſch, daß ich eine Ent¬ deckung gemacht, die mir viele Freude gewaͤhre. Ich haͤtte naͤmlich an einer brennenden Wachskerze bemerkt, daß der durchſichtige untere Theil der Flamme daſſelbe Phaͤnomen zeige, als wodurch der blaue Himmel ent¬ ſtehe, indem naͤmlich die Finſterniß durch ein erleuchte¬ tes Truͤbe geſehen werde.

Ich fragte Goethe, ob er dieſes Phaͤnomen der Kerze kenne und in ſeiner Farbenlehre aufgenommen habe. Ohne Zweifel , ſagte er. Er nahm einen Band der Farbenlehre herunter und las mir die Paragraphen, wo ich denn alles beſchrieben fand, wie ich es geſehen. Es iſt mir ſehr lieb, ſagte er, daß Ihnen dieſes Phaͤ¬ nomen aufgegangen iſt, ohne es aus meiner Farbenlehre zu kennen; denn nun haben Sie es begriffen und koͤn¬ nen ſagen, daß Sie es beſitzen. Auch haben Sie da¬ durch einen Standpunct gefaßt, von welchem aus Sie zu den uͤbrigen Phaͤnomenen weiter gehen werden. Ich will Ihnen jetzt ſogleich ein neues zeigen.

Es mochte etwa vier Uhr ſeyn; es war ein bedeckter Himmel und im erſten Anfangen der Daͤmmerung. Goethe zuͤndete ein Licht an und ging damit in die Naͤhe des Fenſters zu einem Tiſche. Er ſetzte das Licht auf einen weißen Bogen Papier und ſtellte ein Staͤb¬265 chen darauf, ſo daß der Schein des Kerzenlichtes vom Staͤbchen aus einen Schatten warf nach dem Lichte des Tages zu. Nun, ſagte Goethe, was ſagen Sie zu dieſem Schatten? Der Schatten iſt blau, antwor¬ tete ich. Da haͤtten Sie alſo das Blaue wieder, ſagte Goethe, aber auf dieſer andern Seite des Staͤb¬ chens nach der Kerze zu, was ſehen Sie da? Auch einen Schatten. Aber von welcher Farbe? Der Schatten iſt ein roͤthliches Gelb, antwortete ich; doch wie entſteht dieſes doppelte Phaͤnomen? Das iſt nun Ihre Sache; ſagte Goethe; ſehen Sie zu, daß Sie es herausbringen. Zu finden iſt es, aber es iſt ſchwer. Sehen Sie nicht fruͤher in meiner Farbenlehre nach, als bis Sie die Hoffnung aufgegeben haben, es ſelber her¬ auszubringen. Ich verſprach dieſes mit vieler Freude.

Das Phaͤnomen am untern Theile der Kerze, fuhr Goethe fort, wo ein durchſichtiges Helle vor die Fin¬ ſterniß tritt und die blaue Farbe hervorbringt, will ich Ihnen jetzt in vergroͤßertem Maße zeigen. Er nahm einen Loͤffel, goß Spiritus hinein und zuͤndete ihn an. Da entſtand denn wieder ein durchſichtiges Helle, wo¬ durch die Finſterniß blau erſchien. Wendete ich den brennenden Spiritus vor die Dunkelheit der Nacht, ſo nahm die Blaͤue an Kraͤftigkeit zu; hielt ich ihn ge¬ gen das Helle, ſo ſchwaͤchte ſie ſich, oder verſchwand gaͤnzlich.

Ich hatte meine Freude an dem Phaͤnomen. Ja,266 ſagte Goethe, daß iſt eben das Große bey der Natur, daß ſie ſo einfach iſt, und daß ſie ihre groͤßten Erſchei¬ nungen immer im Kleinen wiederholt. Daſſelbe Geſetz, wodurch der Himmel blau iſt, ſieht man ebenfalls an dem untern Theil einer brennenden Kerze, am bren¬ nenden Spiritus, ſo wie an dem erleuchteten Rauch, der von einem Dorfe aufſteigt, hinter welchem ein dunkles Gebirge liegt.

Aber wie erklaͤren die Schuͤler von Newton dieſes hoͤchſt einfache Phaͤnomen? fragte ich.

Das muͤſſen Sie gar nicht wiſſen, antwortete Goethe. Es iſt gar zu dumm, und man glaubt nicht, welchen Schaden es einem guten Kopfe thut, wenn er ſich mit etwas Dummen befaßt. Bekuͤmmern Sie ſich gar nicht um die Newtonianer, laſſen Sie ſich die reine Lehre genuͤgen, und Sie werden ſich gut dabey ſtehen.

Die Beſchaͤftigung mit dem Verkehrten, ſagte ich, iſt vielleicht in dieſem Fall eben ſo unangenehm und ſchaͤdlich, als wenn man ein ſchlechtes Trauerſpiel in ſich aufnehmen ſollte, um es nach allen ſeinen Theilen zu beleuchten und in ſeiner Bloͤße darzuſtellen.

Es iſt ganz daſſelbe, ſagte Goethe, und man ſoll ſich ohne Noth nicht damit befaſſen. Ich ehre die Ma¬ thematik als die erhabenſte und nuͤtzlichſte Wiſſenſchaft, ſo lange man ſie da anwendet, wo ſie am Platze iſt; allein ich kann nicht loben, daß man ſie bey Dingen mißbrauchen will, die gar nicht in ihrem Bereich liegen,267 und wo die edle Wiſſenſchaft ſogleich als Unſinn er¬ ſcheint. Und als ob alles nur dann exiſtirte, wenn es ſich mathematiſch beweiſen laͤßt. Es waͤre doch thoͤ¬ richt, wenn jemand nicht an die Liebe ſeines Maͤdchens glauben wollte, weil ſie ihm ſolche nicht mathematiſch beweiſen kann! Ihre Mitgift kann ſie ihm mathema¬ tiſch beweiſen, aber nicht ihre Liebe. Haben doch auch die Mathematiker nicht die Metamorphoſe der Pflanze erfunden! Ich habe dieſes ohne die Mathematik voll¬ bracht und die Mathematiker haben es muͤſſen gelten laſſen. Um die Phaͤnomene der Farbenlehre zu begreifen gehoͤrt weiter nichts als ein reines Anſchauen und ein geſunder Kopf; allein beydes iſt freilich ſeltener als man glauben ſollte.

Wie ſtehen denn die jetzigen Franzoſen und Eng¬ laͤnder zur Farbenlehre? fragte ich.

Beyde Nationen, antwortete Goethe, haben ihre Avantagen und ihre Nachtheile. Bey den Englaͤndern iſt es gut, daß ſie alles practiſch machen; aber ſie ſind Pedanten. Die Franzoſen ſind gute Koͤpfe, aber es ſoll bey ihnen alles poſitiv ſeyn, und wenn es nicht ſo iſt, ſo machen ſie es ſo. Doch ſie ſind in der Farbenlehre auf gutem Wege und Einer ihrer Beſten kommt nahe heran. Er ſagt: die Farbe ſey den Dingen angeſchaf¬ fen. Denn wie es in der Natur ein Saͤurendes gebe, ſo gebe es auch ein Faͤrbendes. Damit ſind nun freylich die Phaͤnomene nicht erklaͤrt; allein er ſpielt doch den268 Gegenſtand in die Natur hinein, und befreit ihn von der Einſchraͤnkung der Mathematik.

Die Berliner Zeitungen wurden gebracht und Goethe ſetzte ſich, ſie zu leſen. Er reichte auch mir ein Blatt, und ich fand in den Theaternachrichten: daß man dort im Opernhauſe und Koͤniglichen Theater eben ſo ſchlechte Stuͤcke gebe als hier.

Wie ſoll dieß auch anders ſeyn, ſagte Goethe. Es iſt freylich keine Frage, daß man nicht mit Huͤlfe der guten engliſchen, franzoͤſiſchen und ſpaniſchen Stuͤcke ein ſo gutes Repertoir zuſammen bringen ſollte, um jeden Abend ein gutes Stuͤck geben zu koͤnnen. Allein wo iſt das Beduͤrfniß in der Nation, immer ein gutes Stuͤck zu ſehen? Die Zeit in welcher Aeſchylus, So¬ phocles und Euripides ſchrieben, war freilich eine ganz andere: ſie hatte den Geiſt hinter ſich und wollte nur immer das wirklich Groͤßte und Beſte. Aber in un¬ ſerer ſchlechten Zeit, wo iſt denn da das Beduͤrfniß fuͤr das Beſte? Wo ſind die Organe es aufzuneh¬ men?

Und dann, fuhr Goethe fort, man will etwas Neues! In Berlin wie in Paris, das Publicum iſt uͤberall daſſelbe. Eine Unzahl neuer Stuͤcke wird jede Woche in Paris geſchrieben und auf die Theater ge¬ bracht, und man muß immer fuͤnf bis ſechs durchaus ſchlechte aushalten, ehe man durch ein gutes entſchaͤ¬ diget wird.

269

Das einzige Mittel, um jetzt ein deutſches Thea¬ ter oben zu halten, ſind Gaſtrollen. Haͤtte ich jetzt noch die Leitung, ſo ſollte der ganze Winter mit treff¬ lichen Gaſtſpielern beſetzt ſeyn. Dadurch wuͤrden nicht allein alle gute Stuͤcke immer wieder zum Vorſchein kommen, ſondern das Intereſſe wuͤrde auch mehr von den Stuͤcken ab auf das Spiel gelenkt; man koͤnnte vergleich und urtheilen, das Publicum gewoͤnne an Einſichten, und unſere eigenen Schauſpieler wuͤrden durch das bedeutende Spiel eines ausgezeichneten Ga¬ ſtes immer in Anregung und Nacheiferung erhalten. Wie geſagt: Gaſtrollen und immer Gaſtrollen, und ihr ſolltet uͤber den Nutzen erſtaunen, der daraus fuͤr Thea¬ ter und Publicum hervorgehen wuͤrde.

Ich ſehe die Zeit kommen, wo ein geſcheidter, der Sache gewachſener Kopf vier Theater zugleich uͤber¬ nehmen und ſie hin und her mit Gaſtrollen verſehen wird, und ich bin gewiß, daß er ſich beſſer bey dieſen vieren ſtehen wird, als wenn er nur ein einziges haͤtte.

Dem Phaͤnomen des blauen und gelben Schattens hatte ich nun zu Hauſe fleißig nachgedacht, und wie¬ wohl es mir lange ein Raͤthſel blieb, ſo ging mir doch bey fortgeſetztem Beobachten ein Licht auf und ich ward270 nach und nach uͤberzeugt, das Phaͤnomen begriffen zu haben.

Heute bey Tiſch ſagte ich Goethen, daß ich das Raͤthſel geloͤſt. Es waͤre viel, ſagte Goethe; nach Tiſch ſollen Sie es mir machen. Ich will es lieber ſchreiben, ſagte ich, denn zu einer muͤndlichen Auseinanderſetzung fehlen mir leicht die richtigen Worte. Sie moͤgen es ſpaͤter ſchreiben, ſagte Goethe, aber heute ſollen Sie es mir erſt vor meinen Augen machen und mir muͤndlich demonſtriren, damit ich ſehe, ob Sie im Rechten ſind,

Nach Tiſch, wo es voͤllig helle war, fragte Goethe: Koͤnnen Sie jetzt das Experiment machen? Nein, ſagte ich. Warum nicht? fragte Goethe. Es iſt noch zu helle, antwortete ich; es muß erſt ein wenig Daͤmmerung eintreten, damit das Kerzenlicht einen ent¬ ſchiedenen Schatten werfe; doch muß es noch helle ge¬ nug ſeyn, damit das Tageslicht dieſen erleuchten koͤnne. Hm! ſagte Goethe, das iſt nicht unrecht.

Der Anfang der Abenddaͤmmerung trat endlich ein und ich ſagte Goethen, daß es jetzt Zeit ſey. Er zuͤn¬ dete die Wachskerze an und gab mir ein Blatt weißes Papier und ein Staͤbchen. Nun experimentiren und dociren Sie, ſagte er.

Ich ſtellte das Licht auf den Tiſch in die Naͤhe des Fenſters, legte das Blatt Papier in die Naͤhe des Lichtes, und als ich das Staͤbchen auf die Mitte des Papiers zwiſchen Tages - und Kerzen-Licht ſetzte, war271 das Phaͤnomen in vollkommener Schoͤnheit da. Der Schatten nach dem Lichte zu zeigte ſich entſchieden gelb, der andere, nach dem Fenſter zu, vollkommen blau.

Nun, ſagte Goͤthe, wie entſteht zunaͤchſt der blaue Schatten? Ehe ich dieſes erklaͤre, ſagte ich, will ich das Grundgeſetz ausſprechen, aus dem ich beyde Erſcheinun¬ gen ableite.

Licht und Finſterniß, ſagte ich, ſind keine Farben, ſondern ſie ſind zwey Extreme, in deren Mitte die Far¬ ben liegen und entſtehen, und zwar durch eine Modi¬ fication von beyden.

Den Extremen Licht und Finſterniß zunaͤchſt entſte¬ hen die beyden Farben gelb und blau. Die gelbe an der Grenze des Lichtes, indem ich dieſes durch ein Ge¬ truͤbtes, die blaue an der Grenze der Finſterniß, indem ich dieſe durch ein erleuchtetes Durchſichtige betrachte.

Kommen wir nun, fuhr ich fort, zu unſerm Phaͤ¬ nomen, ſo ſehen wir, daß das Staͤbchen vermoͤge der Gewalt des Kerzenlichtes einen entſchiedenen Schatten wirft. Dieſer Schatten wuͤrde als ſchwarze Finſterniß erſcheinen, wenn ich die Laͤden ſchloͤſſe und das Tages¬ licht abſperrte. Nun aber dringt durch die offenen Fen¬ ſter das Tageslicht frey herein und bildet ein erhelltes Medium, durch welches ich die Finſterniß des Schattens ſehe, und ſo entſteht denn, dem Geſetze gemaͤß, die blaue Farbe. Goethe lachte. Das waͤre der blaue, ſagte er; wie aber erklaͤren Sie den gelben Schatten?

272

Aus dem Geſetz des getruͤbten Lichtes, antwortete ich. Die brennende Kerze wirft auf das weiße Papier ein Licht, das ſchon einen leiſen Hauch vom Gelblichen hat. Der einwirkende Tag aber hat ſo viele Gewalt, um vom Staͤbchen aus nach dem Kerzenlichte zu einen ſchwachen Schatten zu werfen, der, ſo weit er reicht, das Licht truͤbt, und ſo entſteht, dem Geſetze gemaͤß, die gelbe Farbe. Schwaͤche ich die Truͤbe, indem ich den Schatten dem Lichte moͤglichſt nahe bringe, ſo zeigt ſich ein reines Hellgelb; verſtaͤrke ich aber die Truͤbe, indem ich den Schatten moͤglichſt vom Licht entferne, ſo verdunkelt ſich das Gelbe bis zum Roͤthlichen, ja Rothen.

Goethe lachte wieder, und zwar ſehr geheimnißvoll. Nun? ſagte ich, habe ich Recht? Sie haben das Phaͤ¬ nomen recht gut geſehen und recht huͤbſch ausgeſprochen, antwortete Goethe, aber Sie haben es nicht erklaͤrt. Ihre Erklaͤrung iſt geſcheidt, ja ſogar geiſtreich, aber ſie iſt nicht die richtige.

Nun ſo helfen Sie mir, ſagte ich, und loͤſen Sie mir das Raͤthſel, denn ich bin nun im hoͤchſten Grade ungeduldig. Sie ſollen es erfahren, ſagte Goethe, aber nicht heute, und nicht auf dieſem Wege. Ich will Ih¬ nen naͤchſtens ein anderes Phaͤnomen zeigen, durch wel¬ ches Ihnen das Geſetz augenſcheinlich werden ſoll. Sie ſind nahe heran, und weiter iſt in dieſer Richtung nicht zu gelangen. Haben Sie aber das neue Geſetz begriffen, ſo ſind Sie in eine ganz andere Region ein¬273 gefuͤhrt und uͤber ſehr vieles hinaus. Kommen Sie einmal am Mittage bey heiterem Himmel ein Stuͤnd¬ chen fruͤher zu Tiſch, ſo will ich Ihnen ein deutlicher Phaͤnomen zeigen, durch welches Sie daſſelbe Geſetz, welches dieſem zum Grunde liegt, ſogleich begreifen ſollen.

Es iſt mir ſehr lieb, fuhr er fort, daß Sie fuͤr die Farbe dieſes Intereſſe haben; es wird Ihnen eine Quelle von unbeſchreiblichen Freuden werden.

Nachdem ich Goethe am Abend verlaſſen, konnte ich den Gedanken an das Phaͤnomen nicht aus dem Kopfe bringen, ſo daß ich ſogar im Traume damit zu thun hatte. Aber auch in dieſem Zuſtande ſah ich nicht klarer und kam der Loͤſung des Raͤthſels um kei¬ nen Schritt naͤher.

Mit meinen naturwiſſenſchaftlichen Heften, ſagte Goethe vor einiger Zeit, gehe ich auch langſam fort. Nicht weil ich glaube, die Wiſſenſchaft noch jetzt be¬ deutend foͤrdern zu koͤnnen; ſondern der vielen angeneh¬ men Verbindungen wegen, die ich dadurch unterhalte. Die Beſchaͤftigung mit der Natur iſt die unſchuldigſte. In aͤſthetiſcher Hinſicht iſt jetzt an gar keine Verbin¬ dung und Correspondenz zu denken. Da wollen ſieI. 18274wiſſen, welche Stadt am Rhein bey meinem Hermann und Dorothea gemeint ſey! Als ob es nicht beſſer waͤre, ſich jede beliebige zu denken! Man will Wahr¬ heit, man will Wirklichkeit und verdirbt dadurch die Poeſie.

[275]

1827.

18*[276][277]

Heute bey Tiſch ſprachen wir uͤber Cannings treffliche Rede fuͤr Portugal.

Es gibt Leute, ſagte Goethe, die dieſe Rede grob nennen; aber dieſe Leute wiſſen nicht, was ſie wollen, es liegt in ihnen eine Sucht, alles Große zu frondiren. Es iſt keine Oppoſition, ſondern eine bloße Frondation. Sie muͤſſen etwas Großes haben, das ſie haſſen koͤn¬ nen. Als Napoleon noch in der Welt war, haßten ſie den, und ſie hatten an ihm eine gute Ableitung. So¬ dann als es mit dieſem aus war, frondirten ſie die heilige Allianz, und doch iſt nie etwas Groͤßeres und fuͤr die Menſchheit Wohlthaͤtigeres erfunden worden. Jetzt kommt die Reihe an Canning. Seine Rede fuͤr Portugal iſt das Product eines großen Bewußtſeyns. Er fuͤhlt ſehr gut den Umfang ſeiner Gewalt und die Groͤße ſeiner Stellung und er hat Recht, daß er ſpricht, wie er ſich empfindet. Aber das koͤnnen dieſe Sans¬ cuͤlotten nicht begreifen und was uns andern groß er¬278 cheint, erſcheint ihnen grob. Das Große iſt ihnen unbequem, ſie haben keine Ader es zu verehren, ſie koͤnnen es nicht dulden.

Goethe lobte ſehr die Gedichte von Victor Hugo. Er iſt ein entſchiedenes Talent, ſagte er, auf den die deutſche Literatur Einfluß gehabt. Seine poetiſche Ju¬ gend iſt ihm leider durch die Pedanterie der claſſiſchen Partey verkuͤmmert; doch jetzt hat er den Globe auf ſeiner Seite und ſo hat er gewonnen Spiel. Ich moͤchte ihn mit Manzoni vergleichen. Er hat viel Objectives und erſcheint mir vollkommen ſo bedeutend als die Her¬ ren De Lamartine und Delavigne. Wenn ich ihn recht betrachte, ſo ſehe ich wohl, wo er und andere friſche Talente ſeines Gleichen herkommen. Von Chateau¬ briand kommen ſie her, der freylich ein ſehr bedeuten¬ des rhetoriſch-poetiſches Talent iſt. Damit Sie nun aber ſehen, in welcher Art Victor Hugo ſchreibt, ſo leſen Sie nur dieß Gedicht uͤber Napoleon: Les deux îsles.

Goethe legte mir das Buch vor und ſtellte ſich an den Ofen. Ich las. Hat er nicht treffliche Bilder? ſagte Goethe, und hat er ſeinen Gegenſtand nicht mit ſehr freyem Geiſte behandelt? Er trat wieder zu mir. 279 Sehen Sie nur dieſe Stelle, wie ſchoͤn ſie iſt! Er las die Stelle von der Wetterwolke, aus der den Hel¬ den der Blitz von unten hinauf trifft. Das iſt ſchoͤn! Denn das Bild iſt wahr, welches man in Gebirgen finden wird, wo man oft die Gewitter unter ſich hat und wo die Blitze von unten nach oben ſchlagen.

Ich lobe an den Franzoſen, ſagte ich, daß ihre Poeſie nie den feſten Boden der Realitaͤt verlaͤßt. Man kann die Gedichte in Proſa uͤberſetzen und ihr Weſent¬ liches wird bleiben.

Das kommt daher, ſagte Goethe, die franzoͤſiſchen Dichter haben Kenntniſſe; dagegen denken die deutſchen Narren, ſie verloͤren ihr Talent, wenn ſie ſich um Kenntniſſe bemuͤhten, obgleich jedes Talent ſich durch Kenntniſſe naͤhren muß und nur dadurch erſt zum Ge¬ brauch ſeiner Kraͤfte gelangt. Doch wir wollen ſie gehen laſſen, man hilft ihnen doch nicht, und das wahrhafte Talent findet ſchon ſeinen Weg. Die vielen jungen Dichter, die jetzt ihr Weſen treiben, ſind gar keine rechten Talente; ſie beurkunden weiter nichts als ein Unvermoͤgen, das durch die Hoͤhe der deutſchen Li¬ teratur zur Productivitaͤt angereizt worden.

Daß die Franzoſen, fuhr Goethe fort, aus der Pedanterie zu einer freyeren Art in der Poeſie hervor¬ gehen, iſt nicht zu verwundern. Diderot und ihm aͤhn¬ liche Geiſter haben ſchon vor der Revolution dieſe Bahn zu brechen geſucht. Die Revolution ſelbſt ſodann, ſo¬280 wie die Zeit unter Napoleon ſind der Sache guͤnſtig geweſen. Denn wenn auch die kriegeriſchen Jahre kein eigentlich poetiſches Intereſſe aufkommen ließen und alſo fuͤr den Augenblick den Muſen zuwider waren, ſo haben ſich doch in dieſer Zeit eine Menge freyer Geiſter gebildet, die nun im Frieden zur Beſinnung kommen und als bedeutende Talente hervortreten.

Ich fragte Goethe, ob die Partey der Claſſiker auch dem trefflichen B é ranger entgegen geweſen? Das Genre, worin Béranger dichtet, ſagte Goethe, iſt ein aͤlteres, herkoͤmmliches, woran man gewoͤhnt war; doch hat auch er ſich in manchen Dingen freyer bewegt als ſeine Vorgaͤnger und iſt deßhalb von der pedantiſchen Partey angefeindet worden.

Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die Malerey und auf den Schaden der alterthuͤmelnden Schule. Sie praͤten¬ diren kein Kenner zu ſeyn, ſagte Goethe, und doch will ich Ihnen ein Bild vorlegen, an welchem Ihnen, obgleich es von einem unſerer beſten jetzt lebenden deutſchen Maler gemacht worden, dennoch die bedeutendſten Verſtoͤße gegen die erſten Geſetze der Kunſt ſogleich in die Augen fallen ſollen. Sie werden ſehen, das Einzelne iſt huͤbſch ge¬ macht, aber es wird Ihnen bey dem Ganzen nicht wohl werden, und Sie werden nicht wiſſen, was Sie daraus machen ſollen. Und zwar dieſes nicht, weil der Meiſter des Bildes kein hinreichendes Talent iſt, ſondern weil ſein Geiſt, der das Talent leiten ſoll, eben ſo ver¬281 finſtert iſt wie die Koͤpfe der uͤbrigen alterthuͤmelnden Maler, ſo daß er die vollkommenen Meiſter ignorirt und zu den unvollkommenen Vorgaͤngern zuruͤckgeht und dieſe zum Muſter nimmt.

Raphael und ſeine Zeitgenoſſen waren aus einer beſchraͤnkten Manier zur Natur und Freyheit durchge¬ brochen. Und ſtatt daß jetzige Kuͤnſtler Gott danken und dieſe Avantagen benutzen und auf dem trefflichen Wege fortgehen ſollten, kehren ſie wieder zur Beſchraͤnkt¬ heit zuruͤck. Es iſt zu arg und man kann dieſe Verfin¬ ſterung der Koͤpfe kaum begreifen. Und weil ſie nun auf dieſem Wege in der Kunſt ſelbſt keine Stuͤtze haben, ſo ſuchen ſie ſolche in der Religion und Partey; denn ohne beydes wuͤrden ſie in ihrer Schwaͤche gar nicht beſtehen koͤnnen.

Es geht, fuhr Goethe fort, durch die ganze Kunſt eine Filiation. Sieht man einen großen Meiſter, ſo findet man immer, daß er das Gute ſeiner Vorgaͤnger benutzte und daß eben dieſes ihn groß machte. Maͤnner wie Raphael wachſen nicht aus dem Boden. Sie fu߬ ten auf der Antike und dem Beſten was vor ihnen gemacht worden. Haͤtten ſie die Avantagen ihrer Zeit nicht benutzt, ſo wuͤrde wenig von ihnen zu ſagen ſeyn.

Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die altdeutſche Poeſie; ich erinnerte an Flemming. Flemming, ſagt Goethe, iſt ein recht huͤbſches Talent, ein wenig proſaiſch, buͤr¬282 gerlich; er kann jetzt nichts mehr helfen. Es iſt eigen, fuhr er fort, ich habe doch ſo mancherley gemacht und doch iſt keins von allen meinen Gedichten, das im lu¬ theriſchen Geſangbuch ſtehen koͤnnte. Ich lachte und gab ihm Recht, indem ich mir ſagte, daß in dieſer wunderlichen Äußerung mehr liege als es den Anſchein habe.

Ich fand eine muſikaliſche Abendunterhaltung bey Goethe, die ihm von der Familie Eberwein, nebſt eini¬ gen Mitgliedern des Orcheſters gewaͤhrt wurde. Unter den wenigen Zuhoͤrern waren: der General-Superinten¬ dent Roͤhr, Hofrath Vogel und einige Damen. Goethe hatte gewuͤnſcht, das Quartett eines beruͤhmten jungen Componiſten zu hoͤren, welches man zunaͤchſt ausfuͤhrte. Der zwoͤlfjaͤhrige Carl Eberwein ſpielte den Fluͤgel zu Goethe's großer Zufriedenheit und in der That trefflich, ſo daß denn das Quartett in jeder Hinſicht gut execu¬ tirt voruͤberging.

Es iſt wunderlich, ſagte Goethe, wohin die aufs hoͤchſte geſteigerte Technik und Mechanik die neueſten Componiſten fuͤhrt; ihre Arbeiten bleiben keine Muſik mehr, ſie gehen uͤber das Niveau der menſchlichen Em¬ pfindungen hinaus und man kann ſolchen Sachen aus283 eigenem Geiſt und Herzen nichts mehr unterlegen. Wie iſt es Ihnen? mir bleibt alles in den Ohren haͤngen. Ich ſagte, daß es mir in dieſem Falle nicht beſſer gehe. Doch das Allegro, fuhr Goethe fort, hatte Character. Dieſes ewige Wirbeln und Drehen fuͤhrte mir die Hexentaͤnze des Blocksbergs vor Augen und ich fand alſo doch eine Anſchauung, die ich der wunderlichen Muſik ſupponiren konnte.

Nach einer Pauſe, waͤhrend welcher man ſich unter¬ hielt und einige Erfriſchungen nahm, erſuchte Goethe Madame Eberwein um den Vortrag einiger Lieder. Sie ſang zunaͤchſt nach Zelters Compoſition das ſchoͤne Lied: Um Mitternacht, welches den tiefſten Ein¬ druck machte. Das Lied bleibt ſchoͤn, ſagte Goethe, ſo oft man es auch hoͤrt. Es hat in der Melodie etwas Ewiges, Unverwuͤſtliches. Hierauf folgten einige Lie¬ der aus der Fiſcherin, von Max Eberwein componirt. Der Erlkoͤnig erhielt entſchiedenen Beyfall; ſodann die Arie: Ich hab's geſagt der guten Mutter erregte die allgemeine Äußerung: dieſe Compoſition er¬ ſcheine ſo gut getroffen, daß niemand ſie ſich anders denken koͤnne. Goethe ſelbſt war im hohen Grade be¬ friedigt.

Zum Schluß des ſchoͤnen Abends ſang Madame Eber¬ wein auf Goethe's Wunſch einige Lieder des Divans, nach den bekannten Compoſitionen ihres Gatten. Die Stelle: Juſſufs Reize moͤcht 'ich borgen gefiel284 Goethen ganz beſonders. Eberwein, ſagte er zu mir, uͤbertrifft ſich mitunter ſelber. Er bat ſodann noch um das Lied: Ach um deine feuchten Schwin¬ gen, welches gleichfalls die tiefſten Empfindungen an¬ zuregen geeignet war.

Nachdem die Geſellſchaft gegangen, blieb ich noch einige Augenblicke mit Goethe allein. Ich habe, ſagte er, dieſen Abend die Bemerkung gemacht, daß dieſe Lieder des Divans gar kein Verhaͤltniß mehr zu mir haben. Sowohl was darin orientaliſch als was darin leidenſchaftlich iſt, hat aufgehoͤrt in mir fortzuleben; es iſt wie eine abgeſtreifte Schlangenhaut am Wege liegen geblieben. Dagegen das Lied: Um Mitternacht hat ſein Verhaͤltniß zu mir nicht verloren, es iſt von mir noch ein lebendiger Theil und lebt mit mir fort.

Es geht mir uͤbrigens oͤfter mit meinen Sachen ſo, daß ſie mir gaͤnzlich fremd werden. Ich las dieſer Tage etwas Franzoͤſiſches und dachte im Leſen: der Mann ſpricht geſcheidt genug, du wuͤrdeſt es ſelbſt nicht anders ſagen. Und als ich es genau beſehe, iſt es eine uͤberſetzte Stelle aus meinen eigenen Schriften.

Nach Vollendung der Helena hatte Goethe ſich im vergangenen Sommer zur Fortſetzung der Wanderjahre285 gewendet. Von dem Vorruͤcken dieſer Arbeit erzaͤhlte er mir oft. Um den vorhandenen Stoff beſſer zu be¬ nutzen, ſagte er mir eines Tags, habe ich den erſten Theil ganz aufgeloͤſet und werde nun ſo durch Ver¬ miſchung des Alten und Neuen, zwey Theile bilden. Ich laſſe nun das Gedruckte ganz abſchreiben; die Stel¬ len, wo ich Neues auszufuͤhren habe, ſind angemerkt, und wenn der Schreibende an ein ſolches Zeichen kommt, ſo dictire ich weiter und bin auf dieſe Weiſe genoͤthigt, die Arbeit nicht in Stocken gerathen zu laſſen.

Eines anderen Tages ſagte er mir ſo: Das Ge¬ druckte der Wanderjahre iſt nun ganz abgeſchrieben; die Stellen, die ich noch neu zu machen habe, ſind mit blauem Papier ausgefuͤllt, ſo daß ich ſinnlich vor Augen habe, was noch zu thun iſt. So wie ich nun vorruͤcke, verſchwinden die blauen Stellen immer mehr, und ich habe daran meine Freude.

Vor mehreren Wochen hoͤrte ich nun von ſeinem Secretair, daß er an einer neuen Novelle arbeite; ich hielt mich daher Abends von Beſuchen zuruͤck und be¬ gnuͤgte mich, ihn bloß alle acht Tage bey Tiſch zu ſehen.

Dieſe Novelle war nun ſeit einiger Zeit vollendet und er legte mir dieſen Abend die erſten Bogen zur Anſicht vor.

Ich war begluͤckt und las bis zu der bedeutenden Stelle, wo Alle um den todten Tiger herumſtehen und286 der Waͤrtel die Nachricht bringt, daß der Loͤwe oben an der Ruine ſich in die Sonne gelegt habe.

Waͤhrend des Leſens hatte ich die außerordentliche Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenſtaͤnde bis auf die kleinſte Localitaͤt vor die Augen gebracht waren. Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine, alles trat entſchieden vor die Anſchauung, ſo daß man genoͤthiget war, ſich das Dargeſtellte gerade ſo zu den[-]ken, wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war alles mit einer ſolchen Sicherheit, Beſonnenheit und Herrſchaft geſchrieben, daß man vom Kuͤnftigen nichts vorausahnen und keine Zeile weiter blicken konnte als man las.

Eure Excellenz, ſagte ich, muͤſſen nach einem ſehr beſtimmten Schema gearbeitet haben.

Allerdings habe ich das, antwortete Goethe; ich wollte das Suͤjet ſchon vor dreyßig Jahren ausfuͤhren und ſeit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach Hermann und Dorothea, wollte ich den Gegenſtand in epiſcher Form und Hexametern behandeln und hatte auch zu dieſem Zweck ein ausfuͤhrliches Schema ent¬ worfen. Als ich nun jetzt das Suͤjet wieder vornehme, um es zu ſchreiben, kann ich jenes alte Schema nicht finden und bin alſo genoͤthigt, ein neues zu machen und zwar ganz gemaͤß der veraͤnderten Form, die ich287 jetzt dem Gegenſtande zu geben Willens war. Nun aber nach vollendeter Arbeit findet ſich jenes aͤltere Schema wieder und ich freue mich nun, daß ich es nicht fruͤher in Haͤnden gehabt, denn es wuͤrde mich nur verwirrt haben. Die Handlung und der Gang der Entwickelung war zwar unveraͤndert, allein im Detail war es doch ein ganz anderes; es war ganz fuͤr eine epiſche Behandlung in Hexametern gedacht und wuͤrde alſo fuͤr dieſe proſaiſche Darſtellung gar nicht anwendbar geweſen ſeyn.

Das Geſpraͤch lenkte ſich auf den Inhalt. Eine ſchoͤne Situation, ſagte ich, iſt die, wo Honorio, der Fuͤrſtinn gegenuͤber, am todt ausgeſtreckten Tiger ſteht, die klagende weinende Frau mit dem Knaben herzuge¬ kommen iſt, und auch der Fuͤrſt mit dem Jagdgefolge zu der ſeltſamen Gruppe ſo eben herbeyeilt. Das muͤßte ein treffliches Bild machen, und ich moͤchte es gemalt ſehen.

Gewiß, ſagte Goethe, das waͤre ein ſchoͤnes Bild; doch, fuhr er nach einigem Bedenken fort, der Gegenſtand waͤre faſt zu reich und der Figuren zu viele, ſo daß die Gruppirung und Vertheilung von Licht und Schatten dem Kuͤnſtler ſehr ſchwer werden wuͤrde. Al¬ lein den fruͤheren Moment, wo Honorio auf dem Tiger kniet und die Fuͤrſtinn am Pferde gegenuͤber ſteht, habe ich mir wohl als Bild gedacht; und das waͤre zu ma¬ chen. Ich empfand, daß Goethe Recht hatte und288 fuͤgte hinzu, daß ja dieſer Moment auch eigentlich der Kern der ganzen Situation ſey, worauf alles ankomme.

Noch hatte ich an dem Geleſenen zu bemerken, daß dieſe Novelle von allen uͤbrigen der Wanderjahre einen ganz verſchiedenen Character trage, indem darin Alles Darſtellung des Äußern, Alles real ſey, Sie haben Recht, ſagte Goethe, Innerliches finden Sie in dem Geleſenen faſt gar nicht und in meinen uͤbrigen Sachen iſt davon faſt zuviel.

Nun bin ich neugierig zu erfahren, ſagte ich, wie man ſich des Loͤwen bemeiſtern wird; daß dieſes auf eine ganz andere Weiſe geſchehen werde, ahne ich faſt, doch das Wie iſt mir gaͤnzlich verborgen. Es waͤre auch nicht gut, wenn Sie es ahneten, ſagte Goethe, und ich will es Ihnen heute nicht verrathen. Donners¬ tag Abend gebe ich Ihnen das Ende; bis dahin liegt der Loͤwe in der Sonne.

Ich brachte das Geſpraͤch auf den zweyten Theil des Fauſt, insbeſondere auf die claſſiſche Walpurgisnacht, die nur noch in der Skizze dalag, und wovon Goethe mir vor einiger Zeit geſagt hatte, daß er ſie als Skizze wolle drucken laſſen. Nun hatte ich mir vorgenommen, Goe¬ then zu rathen, dieſes nicht zu thun, denn ich fuͤrchtete, ſie moͤchte, einmal gedruckt, fuͤr immer unausgefuͤhrt bleiben. Goethe mußte in der Zwiſchenzeit das bedacht haben, denn er kam mir ſogleich entgegen, indem er ſagte, daß er entſchloſſen ſey, jene Skizze nicht drucken289 zu laſſen. Das iſt mir ſehr lieb, ſagte ich, denn nun habe ich doch die Hoffnung, daß Sie ſie ausfuͤhren werden. In einem Vierteljahre, ſagte er, waͤre es gethan, allein woher will die Ruhe kommen! Der Tag macht gar zu viele Anſpruͤche an mich; es haͤlt ſchwer, mich ſo ſehr abzuſondern und zu iſoliren. Dieſen Mor¬ gen war der Erbgroßherzog bey mir, auf morgen Mit¬ tag hat ſich die Großherzogin melden laſſen. Ich habe ſolche Beſuche als eine hohe Gnade zu ſchaͤtzen, ſie ver¬ ſchoͤnern mein Leben; allein ſie nehmen doch mein In¬ neres in Anſpruch, ich muß doch bedenken, was ich dieſen hohen Perſonen immer Neues vorlegen und wie ich ſie wuͤrdig unterhalten will.

Und doch, ſagte ich, haben Sie vorigen Winter die Helena vollendet, und Sie waren doch nicht weniger geſtoͤrt als jetzt. Freylich, ſagte Goethe, es geht auch, und muß auch gehen, allein es iſt ſchwer. Es iſt nur gut, ſagte ich, daß Sie ein ſo ausfuͤhrliches Schema haben. Das Schema iſt wohl da, ſagte Goethe, allein das Schwierigſte iſt noch zu thun; und bey der Aus¬ fuͤhrung haͤngt doch Alles gar zu ſehr vom Gluͤck ab. Die claſſiſche Walpurgisnacht muß in Reimen geſchrie¬ ben werden und doch muß alles einen antiken Character tragen. Eine ſolche Versart zu finden iſt nicht leicht. Und nun den Dialog! Iſt denn der nicht im Schema mit erfunden? ſagte ich. Wohl das Was, antwortete Goethe, aber nicht das Wie. Und dannI. 19290bedenken Sie nur, was alles in jener tollen Nacht zur Sprache kommt! Fauſts Rede an die Proſerpina, um dieſe zu bewegen, daß ſie die Helena herausgiebt, was muß das nicht fuͤr eine Rede ſeyn, da die Proſerpina ſelbſt zu Thraͤnen davon geruͤhrt wird! Dieſes alles iſt nicht leicht zu machen und haͤngt ſehr viel vom Gluͤck ab, ja faſt ganz von der Stimmung und Kraft des Augenblicks.

In der letzten Zeit, wo Goethe ſich mitunter nicht ganz wohl befand, hatten wir in ſeiner nach dem Gar¬ ten gehenden Arbeitsſtube gegeſſen. Heute war wieder in dem ſogenannten Urbino-Zimmer gedeckt, welches ich als ein gutes Zeichen nahm. Als ich hereintrat, fand ich Goethe und ſeinen Sohn; beyde bewillkommten mich freundlich in ihrer naiven liebevollen Art; Goethe ſelbſt ſchien in der heiterſten Stimmung, wie dieſes an ſeinem hoͤchſt belebten Geſicht zu bemerken war. Durch die offene Thuͤr des angrenzenden ſogenannten Decken-Zim¬ mers ſah ich, uͤber einen großen Kupferſtich gebogen, den Herrn Canzler von Muͤller; er trat bald zu uns herein und ich freute mich, ihn als angenehme Tiſch¬ geſellſchaft zu begruͤßen. Frau von Goethe wurde noch erwartet, doch ſetzten wir uns vorlaͤufig zu Tiſch. Es291 ward mit Bewunderung von dem Kupferſtich geſprochen und Goethe erzaͤhlte mir, es ſey ein Werk des beruͤhm¬ ten Gérard in Paris, womit dieſer ihm in den letzten Tagen ein Geſchenk gemacht. Gehen Sie geſchwind hin, fuͤgte er hinzu, und nehmen Sie noch ein paar Augenvoll, ehe die Suppe kommt.

Ich that nach ſeinem Wunſch und meiner Neigung; ich freute mich an dem Anblick des bewundernswuͤrdigen Werkes, nicht weniger an der Unterſchrift des Malers, wodurch er es Goethen als einen Beweis ſeiner Achtung zueignet. Ich konnte jedoch nicht lange betrachten, Frau v. Goethe trat herein und ich eilte nach meinem Platz zuruͤck. Nicht wahr? ſagte Goethe, das iſt etwas Großes! Man kann es Tage - und Wochenlang ſtudiren, ehe man die reichen Gedanken und Vollkommenheiten alle herausfindet. Dieſes, ſagte er, ſoll Ihnen auf andere Tage vorbehalten bleiben.

Wir waren bey Tiſch ſehr heiter. Der Canzler theilte einen Brief eines bedeutenden Mannes aus Paris mit, der zur Zeit der franzoͤſiſchen Occupation als Ge¬ ſandter hier einen ſchweren Poſten behauptet und von jener Zeit her mit Weimar ein freundliches Verhaͤltniß fortgeſetzt hatte. Er gedachte des Großherzogs und Goethe's und pries Weimar gluͤcklich, wo das Genie mit der hoͤchſten Gewalt ein ſo vertrautes Verhaͤltniß haben koͤnne.

Frau von Goethe brachte in die Unterhaltung große19*292Anmuth. Es war von einigen Anſchaffungen die Rede, womit ſie den jungen Goethe neckte und wozu dieſer ſich nicht verſtehen wollte. Man muß den ſchoͤnen Frauen nicht gar zu viel angewoͤhnen, ſagte Goethe, denn ſie gehen leicht ins Grenzenloſe. Napoleon erhielt noch auf Elba Rechnungen von Putzmacherinnen, die er bezahlen ſollte. Doch mochte er in ſolchen Dingen leicht zu wenig thun als zu viel. Fruͤher in den Tui¬ lerien wurden einſt in ſeinem Beyſeyn ſeiner Gemahlin von einem Modehaͤndler koſtbare Sachen praͤſentirt. Als Napoleon aber keine Miene machte, etwas zu kaufen, gab ihm der Mann zu verſtehen, daß er doch wenig in dieſer Hinſicht fuͤr ſeine Gemahlin thue. Hierauf ſagte Napoleon kein Wort, aber er ſah ihn mit einem ſolchen Blick an, daß der Mann ſeine Sachen ſogleich zuſammenpackte und ſich nie wieder ſehen ließ. That er dieſes als Conſul? fragte Frau von Goethe. Wahrſcheinlich als Kaiſer, antwortete Goethe, denn ſonſt waͤre ſein Blick wohl nicht ſo furchtbar geweſen. Aber ich muß uͤber den Mann lachen, dem der Blick in die Glieder fuhr und der ſich wahrſcheinlich ſchon gekoͤpft oder erſchoſſen ſah.

Wir waren in der heiterſten Laune und ſprachen uͤber Napoleon weiter fort. Ich moͤchte, ſagte der junge Goethe, alle ſeine Thaten in trefflichen Gemaͤlden oder Kupferſtichen beſitzen und damit ein großes Zimmer de¬ coriren. Das muͤßte ſehr groß ſeyn, erwiederte Goethe,293 und doch wuͤrden die Bilder nicht hineingehen, ſo groß ſind ſeine Thaten.

Der Canzler brachte Ludens Geſchichte der Deutſchen ins Geſpraͤch, und ich hatte zu bewundern, mit welcher Gewandtheit und Eindringlichkeit der junge Goethe dasjenige, was oͤffentliche Blaͤtter an dem Buche zu tadeln gefunden, aus der Zeit, in der es geſchrieben, und den nationalen Empfindungen und Ruͤckſichten die dabey in dem Verfaſſer gelebt, herzuleiten wußte. Es ergab ſich, daß Napoleons Kriege erſt jene des Caͤſars aufgeſchloſſen. Fruͤher, ſagte Goethe, war Caͤſars Buch freylich nicht viel mehr als ein bloßes Exercitium gelehrter Schulen.

Von der altdeutſchen Zeit kam das Geſpraͤch auf die gothiſche. Es war von einem Buͤcherſchranke die Rede, der einen gothiſchen Character habe; ſodann kam man auf den neueſten Geſchmack, ganze Zimmer in altdeutſcher und gothiſcher Art einzurichten und in einer ſolchen Umgebung einer veralteten Zeit zu wohnen.

In einem Hauſe, ſagte Goethe, wo ſo viele Zim¬ mer ſind, daß man einige derſelben leer ſtehen laͤßt und im ganzen Jahr vielleicht nur drey, vier Mal hinein¬ kommt, mag eine ſolche Liebhaberey hingehen und man mag auch ein gothiſches Zimmer haben, ſo wie ich es ganz huͤbſch finde, daß Madame Panckoucke in Paris ein chineſiſches hat. Allein ſein Wohnzimmer mit ſo frem¬ der und veralteter Umgebung auszuſtaffiren, kann ich294 gar nicht loben. Es iſt immer eine Art von Maskerade, die auf die Laͤnge in keiner Hinſicht wohl thun kann, vielmehr auf den Menſchen, der ſich damit befaßt, einen nachtheiligen Einfluß haben muß. Denn ſo etwas ſteht im Widerſpruch mit dem lebendigen Tage, in welchen wir geſetzt ſind, und wie es aus einer leeren und hohlen Geſinnungs - und Denkungsweiſe hervorgeht, ſo wird es darin beſtaͤrken. Es mag wohl einer an einem luſtigen Winterabend als Tuͤrke zur Maskerade gehen, allein was wuͤrden wir von einem Menſchen halten, der ein ganzes Jahr ſich in einer ſolchen Maske zeigen wollte? Wir wuͤrden von ihm denken, daß er entweder ſchon verruͤckt ſey, oder daß er doch die groͤßte Anlage habe, es ſehr bald zu werden.

Wir fanden Goethe's Worte uͤber einen ſo ſehr ins Leben eingreifenden Gegenſtand durchaus uͤberzeugend, und da keiner der Anweſenden etwas davon als leiſen Vorwurf auf ſich ſelbſt beziehen konnte, ſo fuͤhlten wir ihre Wahrheit in der heiterſten Stimmung.

Das Geſpraͤch lenkte ſich auf das Theater und Goethe neckte mich, daß ich am letzten Montag Abend es ihm geopfert. Er iſt nun drey Jahre hier, ſagte er zu den Übrigen gewendet, und dieß iſt der erſte Abend, wo er mir zu Liebe im Theater gefehlt hat; ich muß ihm das hoch anrechnen. Ich hatte ihn ein¬ geladen und er hatte verſprochen zu kommen, aber doch zweifelte ich, daß er Wort halten wuͤrde, beſonders als295 es halb ſieben ſchlug und er noch nicht da war. Ja ich haͤtte mich ſogar gefreut, wenn er nicht gekommen waͤre; ich haͤtte doch ſagen koͤnnen: da iſt ein ganz ver¬ ruͤckter Menſch, dem das Theater uͤber ſeine liebſten Freunde geht und der ſich durch nichts von ſeiner hart¬ naͤckigen Neigung abwenden laͤßt. Aber ich habe Sie auch entſchaͤdigt! Nicht wahr? Habe ich Ihnen nicht ſchoͤne Sachen vorgelegt? Goethe zielte mit dieſen Worten auf die neue Novelle.

Wir ſprachen ſodann uͤber Schillers Fiesko, der am letzten Sonnabend war gegeben worden. Ich habe das Stuͤck zum erſten Male geſehen, ſagte ich, und es hat mich nun ſehr beſchaͤftigt ob man nicht die ganz rohen Scenen mildern koͤnnte; allein ich finde, daß ſich wenig daran thun laͤßt, ohne den Character des Ganzen zu verletzen.

Sie haben ganz Recht, es geht nicht, erwiederte Goethe, Schiller hat ſehr oft mit mir daruͤber geſpro¬ chen, denn er ſelbſt konnte ſeine erſten Stuͤcke nicht leiden und er ließ ſie, waͤhrend wir am Theater waren, nie ſpielen. Nun fehlte es uns aber an Stuͤcken, und wir haͤtten gerne jene drey gewaltſamen Erſtlinge dem Repertoir gewonnen. Es wollte aber nicht gehen, es war alles zu ſehr mit einander verwachſen, ſo daß Schiller ſelbſt an dem Unternehmen verzweifelte und ſich genoͤthigt ſah, ſeinen Vorſatz aufzugeben und die Stuͤcke zu laſſen wie ſie waren.

296

Es iſt Schade darum, ſagte ich, denn trotz aller Rohheiten ſind ſie mir doch tauſendmal lieber, als die ſchwachen, weichen, forcirten und unnatuͤrlichen Stuͤcke einiger unſerer neueſten Tragiker. Bey Schiller ſpricht doch immer ein grandioſer Geiſt und Character.

Das wollte ich meinen, ſagte Goethe. Schiller mochte ſich ſtellen, wie er wollte, er konnte gar nichts machen, was nicht immer bey weitem groͤßer herauskam als das Beſte dieſer Neueren; ja wenn Schiller ſich die Naͤgel beſchnitt, war er groͤßer als dieſe Herren.

Wir lachten und freuten uns des gewaltigen Gleich¬ niſſes.

Aber ich habe doch Perſonen gekannt, fuhr Goethe fort, die ſich uͤber die erſten Stuͤcke Schillers gar nicht zufrieden geben konnten. Eines Sommers in einem Bade, ging ich durch einen eingeſchloſſenen ſehr ſchma¬ len Weg der zu einer Muͤhle fuͤhrte. Es begegnete mir der Fuͤrſt *** und da in demſelben Augenblick einige mit Mehlſaͤcken beladene Maulthiere auf uns zukamen, ſo mußten wir ausweichen und in ein kleines Haus treten. Hier, in einem engen Stuͤbchen, geriethen wir nach Art dieſes Fuͤrſten ſogleich in tiefe Geſpraͤche uͤber goͤttliche und menſchliche Dinge; wir kamen auch auf Schillers Raͤuber und der Fuͤrſt aͤußerte ſich folgender¬ maßen: Waͤre ich Gott geweſen, ſagte er, im Begriff die Welt zu erſchaffen, und ich haͤtte in dem Augenblick vorausgeſehen, daß Schillers Raͤuber darin wuͤrden ge¬297 ſchrieben werden, ich haͤtte die Welt nicht erſchaffen. Wir mußten lachen. Was ſagen Sie dazu, ſagte Goethe, das war doch eine Abneigung, die ein wenig weit ging, und die man ſich kaum erklaͤren konnte.

Von dieſer Abneigung, verſetzte ich, haben dagegen unſere jungen Leute, beſonders unſere Studenten, gar nichts. Die trefflichſten, reifſten Stuͤcke von Schiller und Anderen koͤnnen gegeben werden und man ſieht von jungen Leuten und Studirenden wenige oder gar keine im Theater; aber man gebe Schillers Raͤuber oder Schillers Fiesko und das Haus iſt faſt allein von Stu¬ denten gefuͤllt. Das war, verſetzte Goethe, vor funfzig Jahren wie jetzt und wird auch wahrſcheinlich nach funf¬ zig Jahren nicht anders ſeyn. Was ein junger Menſch geſchrieben hat, wird auch wieder am beſten von jungen Leuten genoſſen werden. Und dann denke man nicht, daß die Welt ſo ſehr in der Cultur und gutem Geſchmack vorſchritte, daß ſelbſt die Jugend ſchon uͤber eine ſolche rohere Epoche hinaus waͤre! Wenn auch die Welt im Ganzen vorſchreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum die Epochen der Welt-Cultur durchmachen. Mich irritirt das nicht mehr und ich habe laͤngſt einen Vers darauf gemacht, der ſo lautet:

Johannisfeuer ſey unverwehrt.
Die Freude nie verloren!
Beſen werden immer ſtumpf gekehrt
Und Jungens immer geboren.
298

Ich brauche nur zum Fenſter hinauszuſehen, um in ſtraßenkehrenden Beſen und herumlaufenden Kindern die Symbole der ſich ewig abnutzenden und immer ſich verjuͤngenden Welt beſtaͤndig vor Augen zu haben. Kinderſpiele und Jugend-Vergnuͤgungen erhalten ſich daher und pflanzen ſich von Jahrhundert zu Jahrhun¬ dert fort; denn ſo abſurd ſie auch einem reiferen Alter erſcheinen moͤgen, Kinder bleiben doch immer Kinder und ſind ſich zu allen Zeiten aͤhnlich. Deßhalb ſoll man auch die Johannisfeuer nicht verbieten und den lieben Kindern die Freude daran nicht verderben.

Unter ſolchen und aͤhnlichen heiteren Unterhaltungen gingen die Stunden des Tiſches ſchnell voruͤber. Wir juͤngeren Leute gingen ſodann hinauf in die obern Zim¬ mer, waͤhrend der Canzler bey Goethe blieb.

Auf dieſen Abend hatte Goethe mir den Schluß der Novelle verſprochen. Ich ging halb ſieben Uhr zu ihm und fand ihn in ſeiner traulichen Arbeitsſtube allein. Ich ſetzte mich zu ihm an den Tiſch und nachdem wir die naͤchſten Tagesereigniſſe beſprochen hatten, ſtand Goethe auf und gab mir die erwuͤnſchten letzten Bogen. Da leſen Sie den Schluß , ſagte er. Ich begann. Goethe ging derweile im Zimmer auf und ab und[] ſtand299 abwechſelnd am Ofen. Ich las wie gewoͤhnlich leiſe fuͤr mich.

Die Bogen des letzten Abends hatten damit geſchloſ¬ ſen, daß der Loͤwe außerhalb der Ringmauer der alten Ruine am Fuße einer hundertjaͤhrigen Buche in der Sonne liege und daß man Anſtalten mache, ſich ſeiner zu bemaͤchtigen. Der Fuͤrſt will die Jaͤger nach ihm ausſenden, der Fremdling aber bittet ſeines Loͤwen zu ſchonen, indem er gewiß ſey, ihn durch ſanftere Mittel in den eiſernen Kaͤfich zuruͤckzuſchaffen. Dieſes Kind, ſagt er, wird durch liebliche Lieder und den Ton ſeiner ſuͤßen Floͤte das Werk vollbringen. Der Fuͤrſt giebt es zu und nachdem er die noͤthigen Vorſichtsmaßregeln angeordnet, reitet er mit den Seinigen in die Stadt zuruͤck. Honorio mit einer Anzahl Jaͤger beſetzt den Hohlweg, um den Loͤwen, im Fall er herabkaͤme, durch ein anzuzuͤndendes Feuer zuruͤckzuſcheuchen. Mutter und Kind, vom Schloßwaͤrtel gefuͤhrt, ſteigen die Ruine hinan, an deren anderen Seite, an der Ringmauer, der Loͤwe liegt.

Das gewaltige Thier in den geraͤumigen Schloßhof hereinzulocken iſt die Abſicht. Mutter und Waͤrtel ver¬ bergen ſich oben in dem halbverfallenen Ritterſaale, das Kind allein geht durch die dunkele Maueroͤffnung des Hofes zum Loͤwen hinaus. Eine erwartungsvolle Pauſe tritt ein, man weiß nicht, was aus dem Kinde wird, die Toͤne ſeiner Floͤte verſtummen. Der Waͤrtel macht300 ſich Vorwuͤrfe, daß er nicht mitgegangen; die Mutter iſt ruhig.

Endlich hoͤrt man die Toͤne der Floͤte wieder; man hoͤrt ſie naͤher und naͤher, das Kind tritt durch die Maueroͤffnung wieder in den Schloßhof herein, der Loͤwe folgſam mit ſchwerem Gange geht hinter ihm her. Sie ziehen einmal im Hofe herum, dann ſetzt ſich das Kind in eine ſonnige Stelle, der Loͤwe laͤßt ſich friedlich bey ihm nieder und legt die eine ſeiner ſchweren Tatzen dem Kinde auf den Schooß. Ein Dorn hat ſich hineinge¬ treten, der Knabe zieht ihn heraus und nimmt ſein ſeidenes Tuͤchlein vom Halſe und verbindet damit die Tatze.

Mutter und Waͤrtel, welche der ganzen Scene von oben aus dem Ritterſaale zuſehen, ſind aufs hoͤchſte begluͤckt. Der Loͤwe iſt in Sicherheit und gezaͤhmt, und wie das Kind, abwechſelnd mit ſeinen Toͤnen der Floͤte, zur Beſchwichtigung des Unthieres hin und wieder liebliche fromme Lieder hat hoͤren laſſen, ſo beſchließt auch das Kind ſingend mit folgenden Verſen die No¬ velle:

Und ſo geht mit guten Kindern
Sel'ger Engel gern zu Rath,
Boͤſes Wollen zu verhindern,
Zu befoͤrdern ſchoͤne That.
So beſchwoͤren, feſt zu bannen
Liebem Sohn ans zarte Knie
Ihn des Waldes Hochtyrannen
Frommer Sinn und Melodie.
301

Nicht ohne Ruͤhrung hatte ich die Handlung des Schluſſes leſen koͤnnen. Doch wußte ich nicht, was ich ſagen ſollte, ich war uͤberraſcht aber nicht befriedigt. Es war mir, als waͤre der Ausgang zu einſam, zu ideal, zu lyriſch und als haͤtten wenigſtens Einige der uͤbrigen Figuren wieder hervortreten und, das Ganze abſchließend, dem Ende mehr Breite geben ſollen.

Goethe merkte, daß ich einen Zweifel im Herzen hatte und ſuchte mich ins Gleiche zu bringen. Haͤtte ich, ſagte er, einige der uͤbrigen Figuren am Ende wieder hervortreten laſſen, ſo waͤre der Schluß proſaiſch geworden. Und was ſollten ſie handeln und ſagen, da Alles abgethan war? Der Fuͤrſt mit den Seinigen iſt in die Stadt geritten, wo ſeine Huͤlfe noͤthig ſeyn wird; Honorio, ſobald er hoͤrt, daß der Loͤwe oben in Sicher¬ heit iſt, wird mit ſeinen Jaͤgern folgen; der Mann aber wird ſehr bald mit dem eiſernen Kaͤfich aus der Stadt da ſeyn und den Loͤwen darin zuruͤckfuͤhren. Dieſes ſind alles Dinge, die man voraus ſieht und die deßhalb nicht geſagt und ausgefuͤhrt werden muͤſſen. Thaͤte man es, ſo wuͤrde man proſaiſch werden.

Aber ein ideeller, ja lyriſcher Schluß war noͤthig und mußte folgen; denn nach der pathetiſchen Rede des Mannes, die ſchon poetiſche Proſa iſt, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyriſchen Poeſie, ja zum Liede ſelbſt uͤbergehen.

Um fuͤr den Gang dieſer Novelle ein Gleichniß zu302 haben, fuhr Goethe fort, ſo denken Sie ſich aus der Wurzel hervorſchießend ein gruͤnes Gewaͤchs, das eine Weile aus einem ſtarken Stengel kraͤftige gruͤne Blaͤtter nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume endet. Die Blume war unerwartet, uͤberraſchend, aber ſie mußte kommen; ja das gruͤne Blaͤtterwerk war nur fuͤr ſie da und waͤre ohne ſie nicht der Muͤhe werth geweſen.

Bey dieſen Worten athmete ich leicht auf, es fiel mir wie Schuppen vom Auge, und eine Ahndung von der Trefflichkeit dieſer wunderbaren Compoſition fing an ſich in mir zu regen.

Goethe fuhr fort. Zu zeigen, wie das Unbaͤndige, Unuͤberwindliche oft beſſer durch Liebe und Froͤmmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieſer Novelle, und dieſes ſchoͤne Ziel, welches ſich im Kinde und Loͤwen darſtellt, reizte mich zur Ausfuͤhrung. Dieß iſt das Ideelle, dieß die Blume. Und das gruͤne Blaͤtterwerk der durchaus realen Expoſition iſt nur dieſerwegen da und nur dieſerwegen etwas werth. Denn was ſoll das Reale an ſich? Wir haben Freude daran, wenn es mit Wahrheit dargeſtellt iſt, ja es kann uns auch von gewiſſen Dingen eine deutlichere Erkenntniß geben; aber der eigentliche Gewinn fuͤr unſere hoͤhere Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Her¬ zen des Dichters hervorging.

Wie ſehr Goethe Recht hatte, empfand ich lebhaft,303 da der Schluß ſeiner Novelle noch in mir fortwirkte und eine Stimmung von Froͤmmigkeit in mir hervor¬ gebracht hatte, wie ich ſie lange nicht in dem Grade empfunden. Wie rein und innig, dachte ich bey mir ſelbſt, muͤſſen doch in einem ſo hohen Alter noch die Gefuͤhle des Dichters ſeyn, daß er etwas ſo Schoͤnes hat machen koͤnnen! Ich enthielt mich nicht, mich dar¬ uͤber gegen Goethe auszuſprechen, ſo wie uͤberhaupt mich zu freuen, daß dieſe in ihrer Art einzige Production doch nun exiſtire.

Es iſt mir lieb, ſagte Goethe, wenn Sie zufrieden ſind, und ich freue mich nun ſelbſt, daß ich einen Ge¬ genſtand, den ich ſeit dreyßig Jahren in mir herum¬ getragen, nun endlich los bin. Schiller und Humboldt, denen ich damals mein Vorhaben mittheilte, riethen mir ab, weil ſie nicht wiſſen konnten, was in der Sache lag, und weil nur der Dichter allein weiß, welche Reize er ſeinem Gegenſtande zu geben faͤhig iſt. Man ſoll daher nie jemanden fragen, wenn man etwas ſchrei¬ ben will. Haͤtte Schiller mich vor ſeinem Wallenſtein gefragt, ob er ihn ſchreiben ſolle, ich haͤtte ihm ſicherlich abgerathen, denn ich haͤtte nie denken koͤnnen, daß aus ſolchem Gegenſtande uͤberall ein ſo treffliches Theater¬ ſtuͤck waͤre zu machen geweſen. Schiller war gegen eine Behandlung meines Gegenſtandes in Hexametern, wie ich es damals gleich nach Hermann und Dorothea willens war; er rieth zu den achtzeiligen Stanzen. Sie304 ſehen aber wohl, daß ich mit der Proſa jetzt am beſten gefahren bin. Denn es kam ſehr auf genaue Zeichnung der Localitaͤt an, wobey man doch in ſolchen Reimen waͤre genirt geweſen. Und dann ließ ſich auch der anfaͤnglich ganz reale und am Schluß ganz ideelle Cha¬ racter der Novelle in Proſa am beſten geben, ſo wie ſich auch die Liederchen jetzt gar huͤbſch ausnehmen, welches doch ſo wenig in Hexametern, als in den acht¬ zeiligen Reimen moͤglich geweſen waͤre.

Die uͤbrigen einzelnen Erzaͤhlungen und Novellen der Wanderjahre kamen zur Sprache und es ward be¬ merkt, daß jede ſich von der andern durch einen beſon¬ deren Character und Ton unterſcheide.

Woher dieſes entſtanden, ſagte Goethe, will ich Ihnen erklaͤren. Ich ging dabey zu Werke wie ein Maler, der bey gewiſſen Gegenſtaͤnden gewiſſe Farben vermeidet und gewiſſe andere dagegen vorwalten laͤßt. Er wird z. B. bey einer Morgenlandſchaft viel Blau auf ſeine Palette ſetzen, aber wenig Gelb. Malt er dagegen einen Abend, ſo wird er viel Gelb nehmen und die blaue Farbe faſt ganz fehlen laſſen. Auf eine aͤhn¬ liche Weiſe verfuhr ich bey meinen verſchiedenartigen ſchriftſtelleriſchen Productionen und wenn man ihnen einen verſchiedenen Character zugeſteht, ſo mag es daher ruͤhren.

Ich dachte bey mir, daß dieß eine hoͤchſt kluge Ma¬ xime ſey und freute mich, daß Goethe ſie ausgeſprochen.

305

Sodann hatte ich, vorzuͤglich bey dieſer letzten No¬ velle, noch das Detail zu bewundern, womit beſonders das Landſchaftliche dargeſtellt war.

Ich habe, ſagte Goethe, niemals die Natur poe¬ tiſcher Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein fruͤhe¬ res Landſchaftszeichnen und dann mein ſpaͤteres Natur¬ forſchen mich zu einem beſtaͤndigen genauen Anſehen der natuͤrlichen Gegenſtaͤnde trieb, ſo habe ich die Na¬ tur bis in ihre kleinſten Details nach und nach aus¬ wendig gelernt, dergeſtalt, daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote ſteht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle. In Schillern lag dieſes Naturbetrachten nicht. Was in ſeinem Tell von Schwei¬ zerlocalitaͤt iſt, habe ich ihm alles erzaͤhlt; aber er war ein ſo bewundernswuͤrdiger Geiſt, daß er ſelbſt nach ſolchen Erzaͤhlungen etwas machen konnte, das Realitaͤt hatte.

Das Geſpraͤch lenkte ſich nun ganz auf Schiller, und Goethe fuhr folgendermaßen fort:

Schillers eigentliche Productivitaͤt lag im Idealen, und es laͤßt ſich ſagen, daß er ſo wenig in der deut¬ ſchen als einer andern Literatur ſeines Gleichen hat. Von Lord Byron hat er noch das Meiſte; doch dieſer iſt ihm an Welt uͤberlegen. Ich haͤtte gerne geſehen, daß Schiller den Lord Byron erlebt haͤtte, und da haͤtt 'es mich wundern ſollen, was er zu einem ſo verwandtenI. 20306Geiſte wuͤrde geſagt haben. Ob wohl Byron bey Schil¬ lers Leben ſchon etwas publicirt hat?

Ich zweifelte, konnte es aber nicht mit Gewißheit ſagen. Goethe nahm daher das Converſations-Lexicon und las den Artikel uͤber Byron vor, wobey er nicht fehlen ließ, manche fluͤchtige Bemerkung einzuſchalten. Es fand ſich, daß Lord Byron vor 1807 nichts hatte drucken laſſen und daß alſo Schiller nichts von ihm geſehen.

Durch Schillers alle Werke, fuhr Goethe fort, geht die Idee von Freyheit, und dieſe Idee nahm eine andere Geſtalt an, ſo wie Schiller in ſeiner Cultur weiter ging und ſelbſt ein Anderer wurde. In ſeiner Jugend war es die phyſiſche Freyheit, die ihm zu ſchaf¬ fen machte und die in ſeine Dichtungen uͤberging; in ſeinem ſpaͤtern Leben die ideelle.

Es iſt mit der Freyheit ein wunderlich Ding und jeder hat leicht genug, wenn er ſich nur zu begnuͤgen und zu finden weiß. Und was hilft uns ein Überfluß von Freyheit, die wir nicht gebrauchen koͤnnen! Sehen Sie dieſes Zimmer und dieſe angrenzende Kammer, in der Sie durch die offene Thuͤr mein Bette ſehen, beyde ſind nicht groß, ſie ſind ohnedieß durch vielerley Be¬ darf, Buͤcher, Manuſcripte und Kunſtſachen eingeengt, aber ſie ſind mir genug, ich habe den ganzen Winter darin gewohnt und meine vorderen Zimmer faſt nicht betreten. Was habe ich nun von meinem geraͤumigen307 Hauſe gehabt und von der Freyheit von einem Zimmer ins andere zu gehen, da ich nicht das Beduͤrfniß hatte, ſie zu benutzen!

Hat einer nur ſo viel Freyheit, um geſund zu leben und ſein Gewerbe zu treiben, ſo hat er genug, und ſo viel hat leicht ein jeder. Und dann ſind wir alle nur frey unter gewiſſen Bedingungen, die wir er¬ fuͤllen muͤſſen. Der Buͤrger iſt ſo frey wie der Adeliche, ſobald er ſich in den Grenzen haͤlt, die ihm von Gott durch ſeinen Stand, worin er geboren, angewieſen. Der Adeliche iſt ſo frey wie der Fuͤrſt; denn wenn er bey Hofe nur das wenige Ceremoniel beobachtet, ſo darf er ſich als ſeines Gleichen fuͤhlen. Nicht das macht frey, daß wir nichts uͤber uns anerkennen wollen, ſondern eben daß wir etwas verehren, das uͤber uns iſt. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unſere Anerkennung an den Tag, daß wir ſelber das Hoͤhere in uns tragen und werth ſind ſeines Gleichen zu ſeyn. Ich bin bey meinen Reiſen oft auf norddeutſche Kaufleute geſtoßen, welche glaubten meines Gleichen zu ſeyn, wenn ſie ſich roh zu mir an den Tiſch ſetzten. Dadurch waren ſie es nicht, allein ſie waͤren es geweſen, wenn ſie mich haͤtten zu ſchaͤtzen und zu behandeln gewußt.

Daß nun dieſe phyſiſche Freyheit Schillern in ſei¬ ner Jugend ſo viel zu ſchaffen machte, lag zwar theils in der Natur ſeines Geiſtes, groͤßern Theils aber ſchrieb20*308es ſich von dem Drucke her, den er in der Militair¬ ſchule hatte leiden muͤſſen.

Dann aber in ſeinem reiferen Leben, wo er der phyſiſchen Freyheit genug hatte, ging er zur ideellen uͤber, und ich moͤchte faſt ſagen, daß dieſe Idee ihn getoͤdtet hat; denn er machte dadurch Anforderungen an ſeine phyſiſche Natur, die fuͤr ſeine Kraͤfte zu ge¬ waltſam waren.

Der Großherzog beſtimmte Schillern bey ſeiner Hieherkunft einen Gehalt von jaͤhrlich tauſend Tha¬ lern und erbot ſich, ihm das Doppelte zu geben, im Fall er durch Krankheit verhindert ſeyn ſollte zu arbei¬ ten. Schiller lehnte dieſes letzte Anerbieten ab und machte nie davon Gebrauch. Ich habe das Talent, ſagte er, und muß mir ſelber helfen koͤnnen. Nun aber, bey ſeiner vergroͤßerten Familie in den letzten Jah¬ ren, mußte er der Exiſtenz wegen jaͤhrlich zwey Stuͤcke ſchreiben, und um dieſes zu vollbringen trieb er ſich, auch an ſolchen Tagen und Wochen zu arbeiten, in denen er nicht wohl war; ſein Talent ſollte ihm zu je¬ der Stunde gehorchen und zu Gebote ſtehen.

Schiller hat nie viel getrunken, er war ſehr maͤßig; aber in ſolchen Augenblicken koͤrperlicher Schwaͤche ſuchte er ſeine Kraͤfte durch etwas Liqueur oder aͤhnliches Spi¬ rituoſes zu ſteigern. Dieß aber zehrte an ſeiner Ge¬ ſundheit und war auch den Productionen ſelbſt ſchaͤdlich.

Denn was geſcheidte Koͤpfe an ſeinen Sachen aus¬309 ſetzen, leite ich aus dieſer Quelle her. Alle ſolche Stel¬ len, von denen ſie ſagen, daß ſie nicht juſt ſind, moͤchte ich pathologiſche Stellen nennen, indem er ſie naͤmlich an ſolchen Tagen geſchrieben hat, wo es ihm an Kraͤf¬ ten fehlte, um die rechten und wahren Motive zu fin¬ den. Ich habe vor dem categoriſchen Imperativ allen Reſpect, ich weiß, wie viel Gutes aus ihm hervorge¬ hen kann, allein man muß es damit nicht zu weit trei¬ ben, denn ſonſt fuͤhret dieſe Idee der ideellen Freyheit ſicher zu nichts Gutem.

Unter dieſen intereſſanten Äußerungen und aͤhnlichen Geſpraͤchen uͤber Lord Byron und beruͤhmte deutſche Literatoren, von denen Schiller geſagt, daß Kotzebue ihm lieber, weil er doch etwas hervorbringe, waren die Abendſtunden ſchnell voruͤbergegangen, und Goethe gab mir die Novelle mit, um ſie fuͤr mich zu Hauſe noch¬ mals in der Stille zu betrachten.

Ich ging dieſen Abend halb achte zu Goethe und blieb ein Stuͤndchen bey ihm. Er zeigte mir einen Band neuer franzoͤſiſcher Gedichte der Demoiſelle Gay, und ſprach daruͤber mit großem Lobe. Die Franzoſen, ſagte er, machen ſich heraus und es iſt der Muͤhe werth, daß man ſich nach ihnen umſieht. Ich bin mit Fleiß310 daruͤber her, mir von dem Stande der neueſten franzoͤ¬ ſiſchen Literatur einen Begriff zu machen und wenn es gluͤckt mich auch daruͤber auszuſprechen. Es iſt mir hoͤchſt intereſſant zu ſehen, daß diejenigen Elemente bey ihnen erſt anfangen zu wirken, die bey uns laͤngſt durchge¬ gangen ſind. Das mittlere Talent iſt freylich immer in der Zeit befangen und muß ſich aus denjenigen Elementen naͤhren, die in ihr liegen. Es iſt bey ihnen bis auf die neueſte Froͤmmigkeit alles daſſelbige wie bey uns, nur daß es bey ihnen ein wenig galanter und geiſtreicher zum Vorſchein kommt.

Was ſagen aber Eure Excellenz zu B é ranger und dem Verfaſſer der Stuͤcke der Clara Gazul?

Dieſe nehme ich aus, ſagte Goethe, das ſind große Talente, die ein Fundament in ſich ſelber haben und ſich von der Geſinnungsweiſe des Tages frey erhalten. Dieſes zu hoͤren iſt mir ſehr lieb, ſagte ich, denn ich hatte uͤber dieſe beyden ungefaͤhr dieſelbige Empfindung.

Das Geſpraͤch wendete ſich von der franzoͤſiſchen Literatur auf die deutſche. Da will ich Ihnen doch etwas zeigen, ſagte Goethe, das fuͤr Sie Intereſſe haben wird. Reichen Sie mir doch einen der beyden Baͤnde die vor Ihnen liegen. Solger iſt Ihnen bekannt. Allerdings, ſagte ich, ich habe ihn ſogar lieb. Ich be¬ ſitze ſeine Überſetzung des Sophocles und ſowohl dieſe als die Vorrede dazu gaben mir laͤngſt von ihm eine hohe Meinung. Sie wiſſen, er iſt vor mehreren Jahren311 geſtorben, ſagte Goethe, und man hat jetzt eine Samm¬ lung ſeiner nachgelaſſenen Schriften und Briefe heraus¬ gegeben. In ſeinen philoſophiſchen Unterſuchungen, die er in der Form der platoniſchen Dialoge giebt, iſt er nicht ſo gluͤcklich; aber ſeine Briefe ſind vortrefflich. In einem derſelben ſchreibt er an Tieck uͤber die Wahl¬ verwandtſchaften, und dieſen muß ich Ihnen vorleſen, denn es iſt nicht leicht etwas Beſſeres uͤber jenen Roman geſagt worden.

Goethe las mir die treffliche Abhandlung vor und wir beſprachen ſie punctweiſe, indem wir die von einem großen Character zeugenden Anſichten und die Conſequenz ſeiner Ableitungen und Folgerungen bewun¬ derten. Obgleich Solger zugeſtand, daß das Factum in den Wahlverwandtſchaften aus der Natur aller Cha¬ ractere hervorgehe, ſo tadelte er doch den Character des Eduard.

Ich kann ihm nicht verdenken, ſagte Goethe, daß er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn ſelber nicht leiden, aber ich mußte ihn ſo machen, um das Factum hervorzubringen. Er hat uͤbrigens viele Wahr¬ heit, denn man findet in den hoͤheren Staͤnden Leute genug, bey denen, ganz wie bey ihm, der Eigenſinn an die Stelle des Characters tritt.

Hoch vor allen ſtellte Solger den Architekten, denn wenn alle uͤbrigen Perſonen des Romans ſich lie¬ bend und ſchwach zeigten, ſo ſey er der Einzige, der312 ſich ſtark und frey erhalte. Und eben das Schoͤne an ſeiner Natur ſey nicht ſowohl dieſes, daß er in die Verirrungen der uͤbrigen Charactere nicht hineingerathe, ſondern daß der Dichter ihn ſo groß gemacht, daß er nicht hineingerathen koͤnne.

Wir freuten uns uͤber dieſes Wort. Das iſt frey¬ lich ſehr ſchoͤn , ſagte Goethe. Ich habe, ſagte ich, den Character des Architekten auch immer ſehr bedeutend und liebenswuͤrdig gefunden, allein daß er eben deßwegen ſo vortrefflich ſey, daß er vermoͤge ſeiner Natur in jene Verwickelungen der Liebe nicht hineingerathen koͤnne, daran habe ich freylich nicht gedacht. Wundern Sie ſich daruͤber nicht, ſagte Goethe, denn ich habe ſelber nicht daran gedacht, als ich ihn machte. Aber Solger hat Recht, es liegt allerdings in ihm.

Dieſer Aufſatz, fuhr Goethe fort, iſt ſchon im Jahre 1809 geſchrieben und es haͤtte mich damals freuen koͤnnen, ein ſo gutes Wort uͤber die Wahlverwandtſchaften zu hoͤren, waͤhrend man in jener Zeit und ſpaͤter mir eben nicht viel Angenehmes uͤber jenen Roman erzeigte.

Solger hat, wie ich aus dieſen Briefen ſehe, viel Liebe zu mir gehabt; er beklagt ſich in einem derſelben, daß ich ihm auf den Sophocles, den er mir zugeſendet, nicht einmal geantwortet. Lieber Gott! Aber wie das bey mir geht! Es iſt nicht zu verwundern. Ich habe große Herren gekannt, denen man viel zuſendete. Dieſe machten ſich gewiſſe Formulare und Redensarten,313 womit ſie Jedes erwiederten, und ſo ſchrieben ſie Briefe zu hunderten, die ſich alle gleich und alle Phraſe wa¬ ren. In mir aber lag dieſes nie. Wenn ich nicht Jemanden etwas Beſonderes und Gehoͤriges ſagen konn¬ te, wie es in der jedesmaligen Sache lag, ſo ſchrieb ich lieber gar nicht. Oberflaͤchliche Redensarten hielt ich fuͤr unwuͤrdig, und ſo iſt es denn gekommen, daß ich manchem wackern Manne, dem ich gerne geſchrieben haͤtte, nicht antworten konnte. Sie ſehen ja ſelbſt, wie das bey mir geht und welche Zuſendungen von allen Ecken und Enden taͤglich bey mir einlaufen, und muͤſ¬ ſen geſtehen, daß dazu mehr als ein Menſchenleben gehoͤren wuͤrde, wenn man alles nur fluͤchtig erwiedern wollte. Aber um Solger thut es mir leid, er iſt gar zu vortrefflich und haͤtte vor vielen andern etwas Freund¬ liches verdient.

Ich brachte das Geſpraͤch auf die Novelle, die ich nun zu Hauſe wiederholt geleſen und betrachtet hatte. Der ganze Anfang, ſagte ich, iſt nichts als Expoſition, aber es iſt darin nichts vorgefuͤhrt als das Nothwendige, und das Nothwendige mit Anmuth, ſo daß man nicht glaubt, es ſey eines andern wegen da, ſondern es wolle bloß fuͤr ſich ſelber ſeyn und fuͤr ſich ſelber gelten.

Es iſt mir lieb, ſagte Goethe, wenn Sie dieſes ſo finden. Doch Eins muß ich noch thun. Nach den Geſetzen einer guten Expoſition naͤmlich muß ich die Beſitzer der Thiere ſchon vorne auftreten laſſen. Wenn314 die Fuͤrſtin und der Oheim an der Bude vorbeyreiten, muͤſſen die Leute heraustreten und die Fuͤrſtin bitten, auch ihre Bude mit einem Beſuch zu begluͤcken. Ge¬ wiß, ſagte ich, Sie haben Recht; denn da alles Übrige in der Expoſition angedeutet iſt, ſo muͤſſen es auch dieſe Leute werden, und es liegt ganz in der Sache, da ſie ſich gewoͤhnlich an der Caſſe aufhalten, daß ſie die Fuͤrſtin nicht ſo unangefochten werden vorbeyreiten laſ¬ ſen. Sie ſehen, ſagte Goethe, daß man an einer ſolchen Arbeit, wenn ſie auch ſchon im Ganzen fertig daliegt, im Einzelnen noch immer zu thun hat.

Goethe erzaͤhlte mir ſodann von einem Auslaͤnder, der in dieſer Zeit ihn hin und wieder beſucht und davon geſprochen, wie er dieſes und jenes von ſeinen Werken uͤberſetzen wolle. Er iſt ein guter Menſch, ſagte Goethe, doch in literariſcher Hinſicht bezeigt er ſich als ein wahrer Dilettant. Denn er kann noch kein deutſch und ſpricht ſchon von Überſetzungen, die er machen, und von Por¬ traiten, die er ihnen will vordrucken laſſen. Das iſt aber eben das Weſen der Dilettanten, daß ſie die Schwierigkeiten nicht kennen, die in einer Sache liegen, und daß ſie immer etwas unternehmen wollen, wozu ſie keine Kraͤfte haben.

315

Begleitet von dem Manuſcript der Novelle und einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen ſieben Uhr zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bey ihm in Ge¬ ſpraͤchen uͤber die neue franzoͤſiſche Literatur. Ich hoͤrte mit Intereſſe zu und es kam zur Sprache, daß die neueſten Talente hinſichtlich guter Verſe ſehr viel von Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen Genfer, das Deutſche nicht ganz gelaͤufig war, Goethe aber im Franzoͤſiſchen ſich ziemlich bequem ausdruͤckt, ſo ging die Unterhaltung franzoͤſiſch und nur an ſolchen Stellen deutſch, wo ich mich in das Geſpraͤch miſchte. Ich zog den Béranger aus der Taſche und uͤberreichte ihn Goethe, der dieſe trefflichen Lieder von neuem zu leſen wuͤnſchte. Das den Gedichten vorſtehende Por¬ trait fand Herr Soret nicht aͤhnlich. Goethe freute ſich die zierliche Ausgabe in Haͤnden zu halten. Dieſe Lieder, ſagte er, ſind vollkommen und als das Beſte in ihrer Art anzuſehen, beſonders wenn man ſich das Ge¬ jodel des Refrains hinzudenkt, denn ſonſt ſind ſie als Lieder faſt zu ernſt, zu geiſtreich, zu epigrammatiſch. Ich werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis erinnert, die beyde auch uͤber ihrer Zeit ſtanden und die Sittenverderbniß ſpottend und ſpielend zur Sprache brach¬ ten. Béranger hat zu ſeiner Umgebung dieſelbige Stellung¬316 Weil er aber aus niederem Stande heraufgekommen, ſo iſt ihm das Liederliche und Gemeine nicht allzu verhaßt, und er behandelt es noch mit einer gewiſſen Neigung.

Viel[Ä]hnliches ward noch uͤber Béranger und an¬ dere neuern Franzoſen hin und her geſprochen, bis Herr Soret an den Hof ging und ich mit Goethe alleine blieb.

Ein verſiegeltes Paket lag auf dem Tiſch. Goethe legte ſeine Hand darauf. Was iſt das? ſagte er. Es iſt die Helena, die an Cotta zum Druck abgeht. Ich empfand bey dieſen Worten mehr als ich ſagen konnte, ich fuͤhlte die Bedeutung des Augenblickes. Denn wie bey einem neuerbauten Schiff, das zuerſt in die See geht und wovon man nicht weiß, welche Schickſale es erleben wird, ſo iſt es auch mit dem Ge¬ dankenwerk eines großen Meiſters, das zuerſt in die Welt hinaustritt, um fuͤr viele Zeiten zu wirken und mannigfaltige Schickſale zu erzeugen und zu erleben.

Ich habe, ſagte Goethe, bis jetzt immer noch Kleinig¬ keiten daran zu thun und nachzuhelfen gefunden. Endlich aber muß es genug ſeyn und ich bin nun froh, daß es zur Poſt geht und ich mich mit befreyter Seele zu etwas Anderem wenden kann. Es mag nun ſeine Schickſale erleben! Was mich troͤſtet iſt, daß die Cultur in Deutſchland doch jetzt unglaublich hoch ſteht und man alſo nicht zu fuͤrchten hat, daß eine ſolche Production lange unverſtanden und ohne Wirkung bleiben werde.

317

Es ſteckt ein ganzes Alterthum darin, ſagte ich. Ja, ſagte Goethe, die Philologen werden daran zu thun finden. Fuͤr den antiken Theil, ſagte ich, fuͤrchte ich nicht, denn es iſt da das große Detail, die gruͤndlichſte Entfaltung des Einzelnen, wo Jedes ge¬ radezu das ſagt, was es ſagen ſoll. Allein der mo¬ derne, romantiſche Theil iſt ſehr ſchwer, denn eine halbe Weltgeſchichte ſteckt dahinter, die Behandlung iſt bey ſo großem Stoff nur andeutend und macht ſehr große Anſpruͤche an den Leſer. Aber doch, ſagte Goethe, iſt alles ſinnlich, und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur ſo iſt, daß die Menge der Zuſchauer Freude an der Erſcheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der hoͤhere Sinn nicht ent¬ gehen, wie es ja auch bey der Zauberfloͤte und andern Dingen der Fall iſt.

Es wird, ſagte ich, auf der Buͤhne einen unge¬ wohnten Eindruck machen, daß ein Stuͤck als Tragoͤdie anfaͤngt und als Oper endigt. Doch es gehoͤrt etwas dazu, die Großheit dieſer Perſonen darzuſtellen und die erhabenen Reden und Verſe zu ſprechen. Der erſte Theil, ſagte Goethe, erfordert die erſten Kuͤnſtler der Tragoͤdie, ſo wie nachher im Theile der Oper die Rollen mit den erſten Saͤngern und Saͤngerinnen beſetzt werden muͤſſen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer ſon¬ dern ſie muß von zwey großen Kuͤnſtlerinnen geſpielt wer¬318 den; denn es iſt ein ſeltener Fall, daß eine Saͤngerin zugleich als tragiſche Kuͤnſtlerin von hinlaͤnglicher Be¬ deutung iſt.

Das Ganze, ſagte ich, wird zu großer Pracht und Mannigfaltigkeit in Decorationen und Garderobe Anlaß geben, und ich kann nicht laͤugnen, ich freue mich dar¬ auf, es auf der Buͤhne zu ſehen. Wenn nur ein recht großer Componiſt ſich daran machte! Es muͤßte einer ſeyn, ſagte Goethe, der wie Meyerbeer lange in Italien gelebt hat, ſo daß er ſeine deutſche Natur mit der italieniſchen Art und Weiſe verbaͤnde. Doch das wird ſich ſchon finden und ich habe keinen Zweifel; ich freue mich nur, daß ich es los bin. Auf den Gedanken, daß der Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, ſondern auf der heiteren Oberflaͤche der Erde ſich den Elementen zuwirft, thue ich mir wirklich etwas zu gute. Es iſt eine neue Art von Unſterblichkeit, ſag¬ te ich.

Nun, fuhr Goethe fort, wie ſteht es mit der Novelle? Ich habe ſie mitgebracht, ſagte ich. Nach¬ dem ich ſie nochmals geleſen, finde ich, daß Eure Ex¬ cellenz die intendirte Änderung nicht machen duͤrfen. Es thut gar gute Wirkung, wenn die Leute beym ge¬ toͤdteten Tiger zuerſt als durchaus fremde neue Weſen mit ihren abweichenden wunderlichen Kleidungen und Manieren hervortreten und ſich als Beſitzer der Thiere ankuͤndigen. Braͤchten Sie ſie aber ſchon fruͤher in der319 Expoſition, ſo wuͤrde dieſe Wirkung gaͤnzlich geſchwaͤcht, ja vernichtet werden.

Sie haben Recht, ſagte Goethe, ich muß es laſ¬ ſen, wie es iſt. Ohne Frage, Sie haben ganz Recht. Es muß auch beym erſten Entwurf in mir gelegen ha¬ ben, die Leute nicht fruͤher zu bringen, eben weil ich ſie ausgelaſſen. Dieſe intendirte Änderung war eine Forderung des Verſtandes und ich waͤre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es iſt aber dieſes ein merkwuͤrdiger aͤſthetiſcher Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.

Es kam ſodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben ſolle; wir thaten manche Vorſchlaͤge, einige waren gut fuͤr den Anfang, andere gut fuͤr das Ende, doch fand ſich keiner, der fuͤr das Ganze paſſend und alſo der rechte geweſen waͤre. Wiſſen Sie was, ſagte Goethe, wir wollen es die Novelle nennen; denn was iſt eine Novelle anders als eine ſich ereignete unerhoͤrte Begebenheit. Dieß iſt der eigentliche Begriff, und ſo Vieles, was in Deutſchland unter dem Titel Novelle geht, iſt gar keine Novelle, ſondern bloß Er¬ zaͤhlung oder was Sie ſonſt wollen. In jenem ur¬ ſpruͤnglichen Sinne einer unerhoͤrten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandtſchaften vor.

Wenn man es recht bedenkt, ſagte ich, ſo entſteht doch ein Gedicht immer ohne Titel und iſt ohne Titel das, was es iſt, ſo daß man alſo glauben ſollte, der320 Titel gehoͤre gar nicht zur Sache. Er gehoͤrt auch nicht dazu, ſagte Goethe; die alten Gedichte hatten gar keine Titel, es iſt dieß ein Gebrauch der Neuern, von denen auch die Gedichte der Alten erſt in einer ſpaͤteren Zeit Titel erhalten haben. Doch dieſer Gebrauch iſt von der Nothwendigkeit herbeygefuͤhrt, bey einer aus¬ gebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und von einander zu unterſcheiden.

Hier, ſagte Goethe, haben Sie etwas Neues; leſen Sie. Mit dieſen Worten reichte er mir eine Über¬ ſetzung eines ſerbiſchen Gedichtes von Herrn Gerhard. Ich las mit großem Vergnuͤgen, denn das Gedicht war ſehr ſchoͤn und die Überſetzung ſo einfach und klar, daß man im Anſchauen des Gegenſtandes nie geſtoͤrt wurde. Das Gedicht fuͤhrte den Titel: die Gefaͤngnißſchluͤſſel. Ich ſage hier nichts von dem Gang der Handlung; der Schluß indeß kam mir abgeriſſen und ein wenig unbefriedigend vor.

Das iſt, ſagte Goethe, eben das Schoͤne; denn dadurch laͤßt es einen Stachel im Herzen zuruͤck und die Phantaſie des Leſers iſt angeregt, ſich ſelbſt alle Moͤglichkeiten auszubilden, die nun folgen koͤnnen. Der Schluß hinterlaͤßt den Stoff zu einem ganzen Trauer¬ ſpiele, allein er iſt von der Art, wie ſchon Vieles da¬ geweſen iſt. Dagegen das im Gedicht Dargeſtellte iſt das eigentlich Neue und Schoͤne, und der Dichter ver¬ fuhr ſehr weiſe, daß er nur dieſes ausbildete und das321 andere dem Leſer uͤberließ. Ich theilte das Gedicht gerne in Kunſt und Alterthum mit, allein es iſt zu lang; dagegen habe ich mir dieſe drey gereimten von Gerhard ausgebeten, die ich im naͤchſten Heft werde abdrucken laſſen. Was ſagen Sie zu dieſem; hoͤren Sie.

Goethe las nun zuerſt das Lied vom Alten, der ein junges Maͤdchen liebt, ſodann das Trinklied der Wei¬ ber, und zuletzt das energiſche: Tanz uns vor, Theo¬ dor. Jedes las er in einem anderen Tone und andern Schwunge, vortrefflich, ſo daß man nicht leicht etwas Vollkommneres hoͤren konnte.

Wir mußten Herrn Gerhard loben, daß er die jedesmaligen Versarten und Refrains durchaus gluͤcklich und im Character gewaͤhlt und alles leicht und voll¬ kommen ausgefuͤhrt hatte, ſo daß man nicht wußte, wie er es haͤtte beſſer machen ſollen. Da ſieht man, ſagte Goethe, was bey einem ſolchen Talent wie Gerhard die große techniſche Übung thut. Und dann kommt ihm zu gute, daß er kein eigentlich gelehrtes Metier, ſondern ein ſolches treibt, das ihn taͤglich aufs practi¬ ſche Leben weiſet. Auch hat er die vielen Reiſen in England und andern Laͤndern gemacht, wodurch er denn bey ſeinem auf das Reale gehenden Sinn uͤber unſere gelehrten jungen Dichter manche Avantagen hat. Wenn er ſich immer an gute Überlieferungen haͤlt und nur dieſe bearbeitet, ſo wird er nicht leicht etwas Schlech¬I. 21322tes machen. Alle eigenen Erfindungen dagegen erfor¬ dern ſehr viel und ſind eine ſchwere Sache.

Hieran knuͤpften ſich manche Betrachtungen uͤber die Productionen unſerer neueſten jungen Dichter und es ward bemerkt, daß faſt keiner von ihnen mit einer guten Proſa aufgetreten.

Die Sache iſt ſehr einfach, ſagte Goethe. Um Proſa zu ſchreiben, muß man etwas zu ſagen haben; wer aber nichts zu ſagen hat, der kann doch Verſe und Reime machen, wo denn ein Wort das andere giebt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts iſt aber doch ausſieht, als waͤre es was.

Bey Goethe zu Tiſch. In dieſen Tagen, ſeit ich Sie nicht geſehen, ſagte er, habe ich vieles und man¬ cherley geleſen, beſonders auch einen chineſiſchen Roman, der mich noch beſchaͤftiget und der mir im hohen Grade merkwuͤrdig erſcheint. Chineſiſchen Roman? ſagte ich, der muß wohl ſehr fremdartig ausſehen. Nicht ſo ſehr als man glauben ſollte, ſagte Goethe. Die Men¬ ſchen denken handeln und empfinden faſt eben ſo wie wir und man fuͤhlt ſich ſehr bald als ihres Gleichen nur daß bey ihnen alles klarer, reinlicher und ſittlicher zugeht. Es iſt bey ihnen alles verſtaͤndig, buͤrgerlich,323 ohne große Leidenſchaft und poetiſchen Schwung und hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem Hermann und Dorothea, ſo wie mit den engliſchen Romanen des Richardſon. Es unterſcheidet ſich aber wieder dadurch daß bey ihnen die aͤußere Natur neben den menſchlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfiſche in den Teichen hoͤrt man immer plaͤtſchern, die Voͤgel auf den Zweigen ſingen immerfort, der Tag iſt immer heiter und ſonnig, die Nacht immer klar; vom Mond iſt viel die Rede, allein er veraͤndert die Landſchaft nicht, ſein Schein iſt ſo helle gedacht wie der Tag ſelber. Und das In¬ nere der Haͤuſer ſo nett und zierlich wie ihre Bilder. Z. B. Ich hoͤrte die lieblichen Maͤdchen lachen, und als ich ſie zu Geſichte bekam, ſaßen ſie auf feinen Rohrſtuͤhlen. Da haben Sie gleich die allerliebſte Situation, denn Rohrſtuͤhle kann man ſich gar nicht ohne die groͤßte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Er¬ zaͤhlung nebenher gehen und gleichſam ſprichwoͤrtlich angewendet werden. Z. B. von einem Maͤdchen, das ſo leicht und zierlich von Fuͤßen war, daß ſie auf einer Blume balanciren konnte, ohne die Blume zu knicken. Und von einem jungen Manne, der ſich ſo ſittlich und brav hielt, daß er in ſeinem dreyßigſten Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiſer zu reden. Und ferner von Liebes¬ paaren, die in einem langen Umgange ſich ſo enthaltſam bewieſen, daß, als ſie einſt genoͤthigt waren, eine Nacht21*324in einem Zimmer mit einander zuzubringen, ſie in Ge¬ ſpraͤchen die Stunden durchwachten ohne ſich zu beruͤh¬ ren. Und ſo unzaͤhlige von Legenden, die alle auf das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch dieſe ſtrenge Maͤßigung in allem hat ſich denn auch das chi¬ neſiſche Reich ſeit Jahrtauſenden erhalten und wird da¬ durch ferner beſtehen.

Einen hoͤchſt merkwuͤrdigen Gegenſatz zu dieſem chineſiſchen Roman, fuhr Goethe fort, habe ich an den Liedern von Béranger, denen faſt allen ein unſittlicher, liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im hohen Grade zuwider ſeyn wuͤrden, wenn nicht ein ſo großes Talent wie Béranger die Gegenſtaͤnde behandelt haͤtte, wodurch ſie denn ertraͤglich, ja ſogar anmuthig werden. Aber ſagen Sie ſelbſt, iſt es nicht hoͤchſt merkwuͤrdig, daß die Stoffe des chineſiſchen Dichters ſo durchaus ſittlich und diejenigen des jetzigen erſten Dichters von Frankreich ganz das Gegentheil ſind?

Ein ſolches Talent wie Béranger, ſagte ich, wuͤrde an ſittlichen Stoffen nichts zu thun finden. Sie ha¬ ben Recht, ſagte Goethe, eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Béranger ſeine beſſere Natur. Aber, ſagte ich, iſt denn dieſer chineſiſche Roman vielleicht einer ihrer vorzuͤglichſten? Keineswegs, ſagte Goethe, die Chineſen haben deren zu Tauſenden und hatten ihrer ſchon, als unſere Vorfahren noch in den Waͤldern lebten.

325

Ich ſehe immer mehr, fuhr Goethe fort, daß die Poeſie ein Gemeingut der Menſchheit iſt, und daß ſie uͤberall und zu allen Zeiten in hunderten und aber hun¬ derten von Menſchen hervortritt. Einer macht es ein wenig beſſer als der andere und ſchwimmt ein wenig laͤnger oben als der andere, das iſt alles. Der Herr v. Matthiſſon muß daher nicht denken, er waͤre es, und ich muß nicht denken, ich waͤre es, ſondern jeder muß ſich eben ſagen, daß es mit der poetiſchen Gabe keine ſo ſeltene Sache ſey, und daß niemand eben beſondere Urſache habe, ſich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freylich wenn wir Deutſchen nicht aus dem engen Kreiſe unſerer eigenen Umgebung hinausblicken, ſo kommen wir gar zu leicht in dieſen pe¬ dantiſchen Duͤnkel. Ich ſehe mich daher gerne bey fremden Nationen um und rathe jedem, es auch ſeinerſeits zu thun. National-Literatur will jetzt nicht viel ſagen, die Epoche der Welt-Literatur iſt an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, dieſe Epoche zu beſchleunigen. Aber auch bey ſolcher Schaͤtzung des Auslaͤndiſchen duͤr¬ fen wir nicht bey etwas Beſonderem haften bleiben und dieſes fuͤr muſterhaft anſehen wollen. Wir muͤſſen nicht denken, das Chineſiſche waͤre es, oder das Serbiſche, oder Calderon, oder die Nibelungen; ſondern im Be¬ duͤrfniß von etwas Muſterhaftem muͤſſen wir immer zu den alten Griechen zuruͤckgehen, in deren Werken ſtets der ſchoͤne Menſch dargeſtellt iſt. Alles uͤbrige muͤſſen326 wir nur hiſtoriſch betrachten und das Gute, ſo weit es gehen will, uns daraus aneignen.

Ich freute mich, Goethe in einer Folge uͤber einen ſo wichtigen Gegenſtand reden zu hoͤren. Das Geklin¬ gel vorbeyfahrender Schlitten lockte uns zum Fenſter, denn wir erwarteten, daß der große Zug, der dieſen Morgen nach Belvedere vorbey ging, wieder zuruͤckkom¬ men wuͤrde. Goethe ſetzte indeß ſeine lehrreichen Äuße¬ rungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede und er erzaͤhlte mir, daß Graf Reinhard Herrn Man¬ zoni vor nicht langer Zeit in Paris geſehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Geſellſchaft wohl aufgenommen geweſen ſey und daß er jetzt wieder in der Naͤhe von Mailand auf ſeinem Landgute mit einer jungen Familie und ſeiner Mutter gluͤcklich lebe.

Manzoni, fuhr Goethe fort, fehlt weiter nichts, als daß er ſelbſt nicht weiß, welch ein guter Poet er iſt, und welche Rechte ihm als ſolchem zuſtehen. Er hat gar zu viel Reſpect vor der Geſchichte und fuͤgt aus dieſem Grunde ſeinen Stuͤcken immer gern einige Auseinanderſetzungen hinzu, in denen er nachweiſet, wie treu er den Einzelnheiten der Geſchichte geblieben. Nun moͤgen ſeine Facta hiſtoriſch ſeyn, aber ſeine Charactere ſind es doch nicht, ſo wenig es mein Thoas und meine Iphigenia ſind. Kein Dichter hat je die hiſtoriſchen Charactere gekannt, die er darſtellte, haͤtte er ſie aber gekannt, ſo haͤtte er ſie ſchwerlich ſo gebrauchen koͤnnen. 327Der Dichter muß wiſſen, welche Wirkungen er hervor¬ bringen will und danach die Natur ſeiner Charactere einrichten. Haͤtte ich den Egmont ſo machen wollen, wie ihn die Geſchichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kindern, ſo wuͤrde ſein leichtſinniges Handeln ſehr abſurd erſchienen ſeyn. Ich mußte alſo einen an¬ dern Egmont haben, wie er beſſer mit ſeinen Handlungen und meinen dichteriſchen Abſichten in Harmonie ſtaͤnde; und dieß iſt, wie Claͤrchen ſagt, mein Egmont.

Und wozu waͤren denn die Poeten, wenn ſie bloß die Geſchichte eines Hiſtorikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns wo moͤglich etwas Hoͤheres und Beſſeres geben. Die Charactere des Sophocles tragen alle etwas von der hohen Seele des großen Dichters, ſo wie Charactere des Shakſpeare von der ſeinigen. Und ſo iſt es recht und ſo ſoll man es machen. Ja Shakſpeare geht noch weiter und macht ſeine Roͤmer zu Englaͤndern, und zwar wieder mit Recht, denn ſonſt haͤtte ihn ſeine Nation nicht ver¬ ſtanden.

Darin, fuhr Goethe fort, waren nun wieder die Griechen ſo groß, daß ſie weniger auf die Treue eines hiſtoriſchen Factums gingen, als darauf, wie es der Dichter behandelte. Zum Gluͤck haben wir jetzt an den Philokteten ein herrliches Beyſpiel, welches Suͤjet alle drey großen Tragiker behandelt haben, und Sophocles zuletzt und am beſten. Dieſes Dichters treffliches Stuͤck328 iſt gluͤcklicherweiſe ganz auf uns gekommen; dagegen von den Philokteten des Aeſchylus und Euripides hat man Bruchſtuͤcke aufgefunden, aus denen hinreichend zu ſehen iſt, wie ſie ihren Gegenſtand behandelt haben. Wollte es meine Zeit mir erlauben, ſo wuͤrde ich dieſe Stuͤcke reſtauriren, ſo wie ich es mit dem Phaethon des Euripides gethan, und es ſollte mir keine unange¬ nehme und unnuͤtze Arbeit ſeyn.

Bey dieſem Suͤjet war die Aufgabe ganz einfach: naͤmlich den Philoktet nebſt dem Bogen von der Inſel Lemnos zu holen. Aber die Art wie dieſes geſchieht, das war nun die Sache der Dichter und darin konnte jeder die Kraft ſeiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvorthun. Der Ulyß ſoll ihn holen, aber ſoll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und wodurch ſoll er unkenntlich ſeyn? Soll der Ulyß allein gehen, oder ſoll er Begleiter haben, und wer ſoll ihn begleiten? Beym Aeſchylus iſt der Gefaͤhrte unbekannt, beym Euripides iſt es der Diomed, beym Sophocles der Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zuſtande ſoll man den Philoktet finden? Soll die Inſel bewohnt ſeyn oder nicht, und wenn bewohnt, ſoll ſich eine mitleidige Seele ſeiner angenommen haben oder nicht? Und ſo hundert andere Dinge, die alle in der Willkuͤr der Dich¬ ter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor dem andern ſeine hoͤhere Weisheit zeigen konnte. Hierin liegt’s und ſo ſollten es die jetzigen Dichter auch329 machen, und nicht immer fragen, ob ein Suͤjet ſchon be¬ handelt worden oder nicht, wo ſie denn immer in Suͤden und Norden nach unerhoͤrten Begebenheiten ſuchen, die oft barbariſch genug ſind, und die dann auch bloß als Begebenheiten wirken. Aber freylich ein einfaches Suͤjet durch eine meiſterhafte Behandlung zu etwas zu machen, erfordert Geiſt und großes Talent, und daran fehlt es.

Vorbeyfahrende Schlitten zogen uns wieder ans Fenſter; der erwartete Zug von Belvedere war es aber wieder nicht. Wir ſprachen und ſcherzten unbedeutende Dinge hin und her; dann fragte ich Goethe, wie es mit der Novelle ſtehe.

Ich habe ſie dieſer Tage ruhen laſſen, ſagte er, aber Eins muß doch noch in der Expoſition geſchehen. Der Loͤwe naͤmlich muß bruͤllen, wenn die Fuͤrſtin an der Bude vorbeyreitet; wobey ich denn einige gute Re¬ flexionen uͤber die Furchtbarkeit dieſes gewaltigen Thieres anſtellen laſſen kann. Dieſer Gedanke iſt ſehr gluͤck¬ lich, ſagte ich, denn dadurch entſteht eine Expoſition, die nicht allein an ſich, an ihrer Stelle, gut und noth¬ wendig iſt, ſondern wodurch auch alles Folgende eine groͤßere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erſchien der Loͤwe faſt zu ſanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit zeigte. Dadurch aber, daß er bruͤllet, laͤßt er uns we¬ nigſtens ſeine Furchtbarkeit ahnden, und wenn er ſodann ſpaͤter ſanft der Floͤte des Kindes folgt, ſo wird dieſes eine deſto groͤßere Wirkung thun.

330

Dieſe Art zu aͤndern und zu beſſern, ſagte Goethe, iſt nun die rechte, wo man ein noch Unvollkommenes durch fortgeſetzte Erfindungen zum Vollendeten ſteigert. Aber ein Gemachtes immer wieder neu zu machen und weiter zu treiben, wie z. B. Walter Scott mit meiner Mignon gethan, die er außer ihren uͤbrigen Eigenheiten noch taubſtumm ſeyn laͤßt; dieſe Art zu aͤndern kann ich nicht loben.

Goethe erzaͤhlte mir von einem Beſuch des Kron¬ prinzen von Preußen in Begleitung des Großherzogs. Auch die Prinzen Carl und Wilhelm von Preußen, ſagte er, waren dieſen Morgen bey mir. Der Kron¬ prinz blieb mit dem Großherzog gegen drey Stunden, und es kam mancherley zur Sprache, welches mir von dem Geiſt, Geſchmack, den Kenntniſſen und der Denk¬ weiſe dieſes jungen Fuͤrſten eine hohe Meinung gab.

Goethe hatte einen Band der Farbenlehre vor ſich liegen. Ich bin, ſagte er, Ihnen noch immer eine Antwort wegen des Phaͤnomens der farbigen Schatten ſchuldig. Da dieſes aber Vieles vorausſetzt und mit vielem Andern zuſammenhaͤngt, ſo will ich Ihnen auch heute keine aus dem Ganzen herausgeriſſene Erklaͤrung geben, vielmehr habe ich gedacht, daß es gut ſeyn wuͤrde,331 wenn wir die Abende, die wir zuſammenkommen, die ganze Farbenlehre mit einander durchleſen. Dadurch haben wir immer einen ſoliden Gegenſtand der Unter¬ haltung, und Sie ſelbſt werden ſich die ganze Lehre zu eigen machen, ſo daß Sie kaum merken, wie Sie dazu kommen. Das Überlieferte faͤngt bey Ihnen an zu leben und wieder productiv zu werden, wodurch ich denn vorausſehe, daß dieſe Wiſſenſchaft ſehr bald Ihr Eigen¬ thum ſeyn wird. Nun leſen Sie den erſten Abſchnitt.

Mit dieſen Worten legte Goethe mir das aufgeſchla¬ gene Buch vor. Ich fuͤhlte mich ſehr begluͤckt durch die gute Abſicht, die er mit mir hatte. Ich las von den pſychologiſchen Farben die erſten Paragraphen.

Sie ſehen, ſagte Goethe, es iſt nichts außer uns, was nicht zugleich in uns waͤre, und wie die aͤußere Welt ihre Farben hat, ſo hat ſie auch das Auge. Da es nun bey dieſer Wiſſenſchaft ganz vorzuͤglich auf ſcharfe Sonderung des Objectiven vom Subjectiven an¬ kommt, ſo habe ich billig mit den Farben, die dem Auge gehoͤren, den Anfang gemacht, damit wir bey allen Wahrnehmungen immer wohl unterſcheiden, ob die Farbe auch wirklich außer uns exiſtire, oder ob es eine bloße Scheinfarbe ſey, die ſich das Auge ſelbſt erzeugt hat. Ich denke alſo, daß ich den Vortrag dieſer Wiſ¬ ſenſchaft beym rechten Ende angefaßt habe, indem ich zunaͤchſt das Organ berichtige, durch welches alle Wahr¬ nehmungen und Beobachtungen geſchehen muͤſſen.

332

Ich las weiter bis zu den intereſſanten Paragra¬ phen von den geforderten Farben, wo gelehrt wird, daß das Auge das Beduͤrfniß des Wechſels habe, indem es nie gerne bey derſelbigen Farbe verweile, ſondern ſo¬ gleich eine andere fordere und zwar ſo lebhaft, daß es ſich ſolche ſelbſt erzeuge, wenn es ſie nicht wirklich vorfinde.

Dieſes brachte ein großes Geſetz zur Sprache, das durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben und alle Freude des Lebens beruhet. Es iſt dieſes, ſagte Goethe, nicht allein mit allen anderen Sinnen ſo, ſondern auch mit unſerem hoͤheren geiſtigen Weſen; aber weil das Auge ein ſo vorzuͤglicher Sinn iſt, ſo tritt dieſes Geſetz des geforderten Wechſels ſo auffallend bey den Farben hervor und wird uns bey ihnen ſo vor allen deutlich bewußt. Wir haben Taͤnze, die uns im hohen Grade wohl gefallen, weil Dur und Moll in ihnen wechſelt, wogegen aber Taͤnze aus bloßem Dur oder bloßem Moll ſogleich ermuͤden.

Daſſelbe Geſetz, ſagte ich, ſcheint einem gutem Styl zum Grunde zu liegen, bey welchem wir gerne einen Klang vermeiden, der ſo eben gehoͤrt wurde. Auch beym Theater waͤre mit dieſem Geſetz viel zu machen, wenn man es gut anzuwenden wuͤßte. Stuͤcke, beſon¬ ders Trauerſpiele, in denen ein einziger Ton ohne Wechſel durchgeht, haben etwas Laͤſtiges und Ermuͤden¬ des, und wenn nun das Orcheſter bey einem traurigen333 Stuͤck auch in den Zwiſchenacten traurige niederſchla¬ gende Muſik hoͤren laͤßt, ſo wird man von einem uner¬ traͤglichen Gefuͤhl gepeinigt, dem man gerne auf alle Weiſe entfliehen moͤchte.

Vielleicht, ſagte Goethe, beruhen auch die einge¬ flochtenen heiteren Scenen in den Shakſpeariſchen Trauer¬ ſpielen auf dieſem Geſetz des geforderten Wechſels; allein auf die hoͤhere Tragoͤdie der Griechen ſcheint es nicht anwendbar, vielmehr geht bey dieſer ein gewiſſer Grund¬ ton durch das Ganze.

Die griechiſche Tragoͤdie, ſagte ich, iſt auch nicht von ſolcher Laͤnge, daß ſie bey einem durchgehenden gleichen Ton ermuͤden koͤnnte; und dann wechſeln auch Choͤre und Dialog und der erhabene Sinn iſt von ſol¬ cher Art, daß er nicht laͤſtig werden kann, indem immer eine gewiſſe tuͤchtige Realitaͤt zum Grunde liegt, die ſtets heiterer Natur iſt.

Sie moͤgen Recht haben, ſagte Goethe, und es waͤre wohl der Muͤhe werth zu unterſuchen, in wiefern auch die griechiſche Tragoͤdie dem allgemeinen Geſetze des geforderten Wechſels unterworfen iſt. Aber Sie ſehen, wie alles aneinander haͤngt, und wie ſogar ein Geſetz der Farbenlehre auf eine Unterſuchung der griechiſchen Tragoͤdie fuͤhren kann. Nur muß man ſich huͤten, es mit einem ſolchen Geſetz zu weit treiben und es als Grundlage fuͤr vieles andere machen zu wollen; viel¬ mehr geht man ſicherer, wenn man es immer nur334 als ein Analogon als ein Beiſpiel gebraucht und an¬ wendet.

Wir ſprachen uͤber die Art, wie Goethe ſeine Far¬ benlehre vorgetragen, daß er naͤmlich dabey alles aus großen Ur-Geſetzen abgeleitet und die einzelnen Er¬ ſcheinungen immer darauf zuruͤckgefuͤhrt habe, woraus denn das Faßliche und ein großer Gewinn fuͤr den Geiſt hervorgehe.

Dieſes mag ſeyn, ſagte Goethe, und Sie moͤgen mich deßhalb loben, aber dieſe Methode erfordert denn auch Schuͤler, die nicht in der Zerſtreuung leben und die faͤhig ſind, die Sache wieder im Grunde aufzufaſſen. Es ſind einige recht huͤbſche Leute in meiner Farbenlehre heraufgekommen, allein das Ungluͤck iſt, ſie bleiben nicht auf geradem Wege, ſondern ehe ich es mir ver¬ ſehe, weichen ſie ab und gehen einer Idee nach, ſtatt das Object immer gehoͤrig im Auge zu behalten. Aber ein guter Kopf, dem es zugleich um die Wahrheit zu thun waͤre, koͤnnte noch immer viel leiſten.

Wir ſprachen von Profeſſoren, die, nachdem das Beſſere gefunden, immer noch die Newtoniſche Lehre vortragen. Dieß iſt nicht zu verwundern, ſagte Goethe; ſolche Leute gehen im Irrthum fort, weil ſie ihm ihre Exiſtenz verdanken. Sie muͤßten umlernen, und das waͤre eine ſehr unbequeme Sache. Aber, ſagte ich, wie koͤnnen ihre Experimente die Wahrheit beweiſen, da der Grund ihrer Lehre falſch iſt? Sie beweiſen335 auch die Wahrheit nicht, ſagte Goethe, und das iſt auch keineswegs ihre Abſicht, ſondern es liegt ihnen bloß daran, ihre Meinung zu beweiſen. Deßhalb ver¬ bergen ſie auch alle ſolche Experimente, wodurch die Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit ihrer Lehre ſich darlegen koͤnnte.

Und dann, um von den Schuͤlern zu reden, wel¬ chem von ihnen waͤre es denn um die Wahrheit zu thun? Das ſind auch Leute, wie andere und voͤllig zufrieden, wenn ſie uͤber die Sache empiriſch mitſchwa¬ tzen koͤnnen. Das iſt Alles. Die Menſchen ſind uͤber¬ haupt eigener Natur: ſobald ein See zugefroren iſt, ſind ſie gleich zu hunderten darauf und amuͤſiren ſich auf der glatten Oberflaͤche; aber wem faͤllt es ein zu unterſuchen, wie tief er iſt und welche Arten von Fi¬ ſchen unter dem Eiſe hin - und herſchwimmen. Niebuhr hat jetzt einen Handelstractat zwiſchen Rom und Car¬ thago entdeckt aus einer ſehr fruͤhen Zeit, woraus es erwieſen iſt, daß alle Geſchichte des Livius vom fruͤhen Zuſtande des Roͤmiſchen Volks nichts als Fabeln ſind, indem aus jenem Tractat erſichtlich, daß Rom ſchon ſehr fruͤh in einem weit hoͤheren Zuſtande der Cultur ſich befunden als aus dem Livius hervorgeht. Aber wenn Sie nun glauben, daß dieſer entdeckte Tractat in der bisherigen Lehrart der roͤmiſchen Geſchichte eine große Reform hervorbringen werde, ſo ſind Sie im Irrthum. Denken Sie nur immer an den gefrorenen See; ſo336 ſind die Leute, ich habe ſie kennen gelernt, ſo ſind ſie und nicht anders.

Aber doch, ſagte ich, kann es Ihnen nicht gereuen, daß Sie die Farbenlehre geſchrieben; denn nicht allein daß Sie dadurch ein feſtes Gebaͤude dieſer trefflichen Wiſſenſchaft gegruͤndet, ſondern Sie haben auch darin ein Muſter wiſſenſchaftlicher Behandlung aufgeſtellt, woran man ſich bey Behandlung aͤhnlicher Gegenſtaͤnde immer halten kann.

Es gereut mich auch keineswegs, ſagte Goethe, obgleich ich die Muͤhe eines halben Lebens hineingeſteckt habe. Ich haͤtte vielleicht ein halb Dutzend Trauerſpiele mehr geſchrieben, das iſt alles, und dazu werden ſich noch Leute genug nach mir finden.

Aber Sie haben Recht, ich denke auch die Be¬ handlung waͤre gut; es iſt Methode darin. In der¬ ſelbigen Art habe ich auch eine Tonlehre geſchrieben, ſo wie auch meine Metamorphoſe der Pflanzen auf der¬ ſelbigen Anſchauungs - und Ableitungs-Weiſe beruhet.

Mit meiner Metamorphoſe der Pflanzen ging es mir eigen; ich kam dazu wie Herſchel zu ſeinen Ent¬ deckungen. Herſchel naͤmlich war ſo arm, daß er ſich kein Fernrohr anſchaffen konnte, ſondern daß er genoͤ¬ thiget war ſich ſelber eins zu machen. Aber dieß war ſein Gluͤck; denn dieſes ſelbſtfabricirte war beſſer als alle anderen und er machte damit ſeine großen Ent¬ deckungen. In die Botanik war ich auf empiriſchem337 Wege hereingekommen. Nun weiß ich noch recht gut, daß mir bey der Bildung der Geſchlechter die Lehre zu weitlaͤuftig wurde, als daß ich den Muth hatte, ſie zu faſſen. Das trieb mich an, der Sache auf eigenem Wege nachzuſpuͤren und dasjenige zu finden, was allen Pflan¬ zen ohne Unterſchied gemein waͤre, und ſo entdeckte ich das Geſetz der Metamorphoſe.

Der Botanik nun im Einzelnen weiter nachzugehen, liegt gar nicht in meinem Wege, das uͤberlaſſe ich An¬ dern, die es mir auch darin weit zuvor thun. Mir lag bloß daran, die einzelnen Erſcheinungen auf ein allge¬ meines Grundgeſetz zuruͤckzufuͤhren.

So auch hat die Mineralogie nur in einer doppel¬ ten Hinſicht Intereſſe fuͤr mich gehabt: zunaͤchſt naͤmlich ihres großen practiſchen Nutzens wegen, und dann um darin ein Document uͤber die Bildung der Urwelt zu finden, wozu die Werneriſche Lehre Hoffnung machte. Seit man nun aber nach des trefflichen Mannes Tode in dieſer Wiſſenſchaft das Oberſte zu Unterſt kehrt, gehe ich in dieſem Fache oͤffentlich nicht weiter mit, ſondern halte mich im Stillen in meiner Überzeugung fort.

In der Farbenlehre ſteht mir nun noch die Ent¬ wickelung des Regenbogens bevor, woran ich zunaͤchſt gehen werde. Es iſt dieſes eine aͤußerſt ſchwierige Auf¬ gabe, die ich jedoch zu loͤſen hoffe. Es iſt mir aus die¬ ſem Grunde lieb, jetzt mit Ihnen die Farbenlehre wiederI. 22338durchzugehen, wodurch ſich denn, zumal bey Ihrem Intereſſe fuͤr die Sache, Alles wieder anfriſchet.

Ich habe mich, fuhr Goethe fort, in den Natur¬ wiſſenſchaften ziemlich nach allen Seiten hin verſucht; jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf ſolche Gegenſtaͤnde, die mich irdiſch umgaben und die unmit¬ telbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten; weßhalb ich mich denn auch nie mit Aſtronomie beſchaͤf¬ tiget habe, weil hiebey die Sinne nicht mehr ausreichen, ſondern weil man hier ſchon zu Inſtrumenten, Berech¬ nungen und Mechanik ſeine Zuflucht nehmen muß, die ein eigenes Leben erfordern und die nicht meine Sache waren.

Wenn ich aber in denen Gegenſtaͤnden, die in meinem Wege lagen, etwas geleiſtet, ſo kam mir dabey zu gute, daß mein Leben in eine Zeit fiel, die an gro¬ ßen Entdeckungen in der Natur reicher war als irgend eine andere. Schon als Kind begegnete mir Franklins Lehre von der Electricitaͤt, welches Geſetz er damals ſo¬ eben gefunden hatte. Und ſo folgte durch mein ganzes Leben, bis zu dieſer Stunde, eine große Entdeckung der andern; wodurch ich denn nicht allein fruͤh auf die Natur hingeleitet, ſondern auch ſpaͤter immer fort in der bedeutendſten Anregung erhalten wurde.

Jetzt werden Vorſchritte gethan, auch auf den Wegen, die ich einleitete, wie ich ſie nicht ahnden konnte, und es iſt mir wie einem, der der Morgenroͤthe ent¬339 gegengeht und uͤber den Glanz der Sonne erſtaunt, wenn dieſe hervorleuchtet.

Unter den Deutſchen nannte Goethe bey dieſer Ge¬ legenheit die Namen: Carus, d'Alton, Meyer in Koͤnigsberg, mit Bewunderung.

Wenn nur die Menſchen, fuhr Goethe fort, das Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten und verduͤſterten, ſo waͤre ich zufrieden; denn es thaͤte der Menſchheit ein Poſitives noth, das man ihr von Generation zu Generation uͤberlieferte, und es waͤre doch gut, wenn das Poſitive zugleich das Rechte und Wah¬ re waͤre. In dieſer Hinſicht ſollte es mich freuen, wenn man in den Naturwiſſenſchaften aufs Reine kaͤme, und ſodann im Rechten beharrte und nicht wieder trans¬ cendirte, nachdem im Faßlichen alles gethan worden. Aber die Menſchen koͤnnen keine Ruhe halten und ehe man es ſich verſieht, iſt die Verwirrung wieder oben auf.

So ruͤtteln ſie jetzt an den fuͤnf Buͤchern Moſes, und wenn die vernichtende Critik irgend ſchaͤdlich iſt, ſo iſt ſie es in Religionsſachen; denn hiebey beruhet alles auf dem Glauben, zu welchem man nicht zuruͤckkehren kann, wenn man ihn einmal verloren hat.

In der Poeſie iſt die vernichtende Critik nicht ſo ſchaͤdlich. Wolf hat den Homer zerſtoͤrt, doch dem Gedicht hat er nichts anhaben koͤnnen; denn dieſes Ge¬ dicht hat die Wunderkraft wie die Helden Walhalla's,22*340die ſich des Morgens in Stuͤcke hauen und Mittags ſich wieder mit heilen Gliedern zu Tiſche ſetzen.

Goethe war in der beſten Laune und ich war gluͤck¬ lich ihn abermals uͤber ſo bedeutende Dinge reden zu hoͤren. Wir wollen uns nur, ſagte er, im Stillen auf dem rechten Wege forthalten und die Übrigen gehen laſſen; das iſt das Beſte.

Goethe ſchalt heute auf gewiſſe Critiker, die nicht mit Leſſing zufrieden, und an ihn ungehoͤrige Forde¬ rungen machen.

Wenn man, ſagte er, die Stuͤcke von Leſſing mit denen der Alten vergleicht und ſie ſchlecht und miſerabel findet, was ſoll man da ſagen! Bedauert doch den außerordentlichen Menſchen, daß er in einer ſo erbaͤrm¬ lichen Zeit leben mußte, die ihm keine beſſeren Stoffe gab als in ſeinen Stuͤcken verarbeitet ſind! Bedauert ihn doch, daß er in ſeiner Minna von Barnhelm an den Haͤndeln der Sachſen und Preußen Theil nehmen mußte, weil er nichts beſſeres fand! Auch daß er immerfort polemiſch wirkte und wirken mußte, lag in der Schlechtigkeit ſeiner Zeit. In der Emilie Galotti hatte er ſeine Piquen auf die Fuͤrſten, im Nathan auf die Pfaffen.

341

Ich erzaͤhlte Goethen, daß ich in dieſen Tagen Winckelmanns Schrift uͤber die Nachahmung grie¬ chiſcher Kunſtwerke geleſen, wobey ich geſtand, daß es mir oft vorgekommen, als ſey Winckelmann damals noch nicht voͤllig klar uͤber ſeine Gegenſtaͤnde geweſen.

Sie haben allerdings Recht, ſagte Goethe, man trifft ihn mitunter in einem gewiſſen Taſten; allein, was das Große iſt, ſein Taſten weiſet immer auf etwas hin; er iſt dem Columbus aͤhnlich, als er die neue Welt zwar noch nicht entdeckt hatte, aber ſie doch ſchon ahnungsvoll im Sinne trug. Man lernt nichts, wenn man ihn lieſet, aber man wird etwas.

Meyer iſt nun weiter geſchritten und hat die Kenntniß der Kunſt auf ihren Gipfel gebracht. Seine Kunſtgeſchichte iſt ein ewiges Werk; allein er waͤre das nicht geworden, wenn er ſich nicht in der Jugend an Winckelmann hinaufgebildet haͤtte und auf deſſen Wege fortgegangen waͤre. Da ſieht man abermals, was ein großer Vorgaͤnger thut und was es heißt, wenn man ſich dieſen gehoͤrig zu Nutze macht.

342

Ich ging dieſen Mittag um ein Uhr zu Goethe, der mich vor Tiſch zu einer Spazierfahrt hatte einladen laſſen. Wir fuhren die Straße nach Erfurt. Das Wetter war ſehr ſchoͤn, die Kornfelder zu beyden Sei¬ ten des Weges erquickten das Auge mit dem lebhafteſten Gruͤn; Goethe ſchien in ſeinen Empfindungen heiter und jung wie der beginnende Lenz; in ſeinen Worten aber alt an Weisheit.

Ich ſage immer und wiederhole es, begann er, die Welt koͤnnte nicht beſtehen, wenn ſie nicht ſo einfach waͤre. Dieſer elende Boden wird nun ſchon tauſend Jahre bebaut und ſeine Kraͤfte ſind immer dieſelbigen. Ein wenig Regen, ein wenig Sonne, und es wird jeden Fruͤhling wieder gruͤn, und ſo fort. Ich fand auf dieſe Worte nichts zu erwiedern und hinzuzuſetzen. Goethe ließ ſeine Blicke uͤber die gruͤnenden Felder ſchweifen, ſodann aber, wieder zu mir gewendet, fuhr er uͤber andere Dinge folgendermaßen fort.

Ich habe in dieſen Tagen eine wunderliche Lectuͤre gehabt, naͤmlich die Briefe Jacobi's und ſeiner Freunde. Dieß iſt ein hoͤchſt merkwuͤrdiges Buch und Sie muͤſſen es leſen, nicht um etwas daraus zu lernen, ſondern um in den Zuſtand damaliger Cultur und Literatur hinein¬ zublicken, von dem man keinen Begriff hat. Man ſieht343 lauter gewiſſermaßen bedeutende Menſchen, aber keine Spur von gleicher Richtung und gemeinſamem Intereſſe, ſondern jeder rund abgeſchloſſen fuͤr ſich und ſeinen eigenen Weg gehend, ohne im geringſten an den Be¬ ſtrebungen des Andern Theil zu nehmen. Sie ſind mir vorgekommen wie die Billardkugeln, die auf der gruͤnen Decke blind durch einander laufen ohne von einander zu wiſſen und die, ſobald ſie ſich beruͤhren, nur deſto weiter auseinander fahren.

Ich lachte uͤber das treffende Gleichniß. Ich erkun¬ digte mich nach den correſpondirenden Perſonen, und Goethe nannte ſie mir, indem er mir uͤber jeden etwas Beſonderes ſagte.

Jacobi war eigentlich ein geborener Diplomat, ein ſchoͤner Mann von ſchlankem Wuchs, feinen vornehmen Weſens, der als Geſandter ganz an ſeinem Platz ge¬ weſen waͤre. Zum Poeten und Philoſophen fehlte ihm etwas, um beydes zu ſeyn.

Sein Verhaͤltniß zu mir war eigener Art. Er hatte mich perſoͤnlich lieb, ohne an meinen Beſtrebungen Theil zu nehmen oder ſie wohl gar zu billigen. Es bedurfte daher der Freundſchaft, um uns an einander zu halten. Dagegen war mein Verhaͤltniß mit Schiller ſo einzig, weil wir das herrlichſte Bindungsmittel in unſern gemeinſamen Beſtrebungen fanden und es fuͤr uns keiner ſogenannten beſondern Freundſchaft weiter bedurfte.

344

Ich fragte nach Leſſing, ob auch dieſer in den Brie¬ fen vorkomme. Nein, ſagte Goethe, aber Herder und Wieland.

Herdern war es nicht wohl bey dieſen Verbindun¬ gen; er ſtand zu hoch als daß ihm das hohle Weſen auf die Laͤnge nicht haͤtte laͤſtig werden ſollen, ſo wie auch Hamann dieſe Leute mit uͤberlegenem Geiſte be¬ handelte.

Wieland, wie immer, erſcheint auch in dieſen Briefen durchaus heiter und wie zu Hauſe. An keiner beſonderen Meinung haͤngend, war er gewandt genug, um in alles einzugehen. Er war einem Rohre aͤhnlich, das der Wind der Meinungen hin und her bewegte, das aber auf ſeinem Wurzelchen immer feſte blieb.

Mein perſoͤnliches Verhaͤltniß zu Wieland war immer ſehr gut, beſonders in der fruͤheren Zeit, wo er mir allein gehoͤrte. Seine kleinen Erzaͤhlungen hat er auf meine Anregung geſchrieben. Als aber Herder nach Weimar kam, wurde Wieland mir ungetreu; Herder nahm ihn mir weg, denn dieſes Mannes perſoͤnliche Anziehungskraft war ſehr groß.

Der Wagen wendete ſich zum Ruͤckwege. Wir ſa¬ hen gegen Oſten vielfaches Regengewoͤlk, das ſich in einander ſchob. Dieſe Wolken, ſagte ich, ſind doch ſo weit gebildet, daß ſie jeden Augenblick als Regen nieder¬ zugehen drohen. Waͤre es moͤglich, daß ſie ſich wieder aufloͤſten, wenn das Barometer ſtiege? Ja, ſagte345 Goethe, dieſe Wolken wuͤrden ſogleich von oben herein verzehrt und aufgeſponnen werden wie ein Rocken. So ſtark iſt mein Glauben an das Barometer. Ja ich ſage immer und behaupte: waͤre in jener Nacht der großen Überſchwemmung von Petersburg das Barometer geſtie¬ gen, die Welle haͤtte nicht herangekonnt.

Mein Sohn glaubt beym Wetter an den Einfluß des Mondes und Sie glauben vielleicht auch daran, und ich verdenke es euch nicht, denn der Mond erſcheint als ein zu bedeutendes Geſtirn, als daß man ihm nicht eine entſchiedene Einwirkung auf unſere Erde zuſchreiben ſollte; allein die Veraͤnderung des Wetters, der hoͤhere oder tiefere Stand des Barometers ruͤhrt nicht vom Mondwechſel her, ſondern iſt rein telluriſch.

Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunſtkreiſe gleichnißweiſe als ein großes lebendiges Weſen, das im ewigen Ein - und Aus-Athmen begriffen iſt. Athmet die Erde ein, ſo zieht ſie den Dunſtkreis an ſich, ſo daß er in die Naͤhe ihrer Oberflaͤche herankommt und ſich verdichtet bis zu Wolken und Regen. Dieſen Zu¬ ſtand nenne ich die Waſſer-Bejahung; dauerte er uͤber alle Ordnung fort, ſo wuͤrde er die Erde erſaͤufen. Dieß aber giebt ſie nicht zu; ſie athmet wieder aus und ent¬ laͤßt die Waſſerduͤnſte nach oben, wo ſie ſich in den ganzen Raum der hohen Atmoſphaͤre ausbreiten und ſich dergeſtalt verduͤnnen, daß nicht allein die Sonne glaͤnzend herdurchgeht, ſondern auch ſogar die ewige346 Finſterniß des unendlichen Raumes als friſches Blau herdurch geſehen wird.

Dieſen Zuſtand der Atmoſphaͤre nenne ich die Waſ¬ ſer-Verneinung. Denn wie bey dem entgegengeſetzten nicht allein haͤufiges Waſſer von oben kommt, ſondern auch die Feuchtigkeit der Erde nicht verdunſten und ab¬ trocknen will; ſo kommt dagegen bey dieſem Zuſtand nicht allein keine Feuchtigkeit von oben, ſondern auch die Naͤſſe der Erde ſelbſt verfliegt und geht aufwaͤrts, ſo daß bey einer Dauer uͤber alle Ordnung hinaus, die Erde, auch ohne Sonnenſchein, zu vertrocknen und zu verdoͤrren Gefahr liefe.

So ſprach Goethe uͤber dieſen wichtigen Gegenſtand und ich hoͤrte ihm mit großer Aufmerkſamkeit zu.

Die Sache iſt ſehr einfach, fuhr er fort, und ſo am Einfachen, Durchgreifenden halte ich mich und gehe ihm nach, ohne mich durch einzelne Abweichungen irre leiten zu laſſen. Hoher Barometer: Trockenheit, Oſt¬ wind; tiefer Barometer: Naͤſſe, Weſtwind, dieß iſt das herrſchende Geſetz, woran ich mich halte. Wehet aber einmal bey hohem Barometer und Oſtwind ein naſſer Nebel her, oder haben wir blauen Himmel bey Weſt¬ wind, ſo kuͤmmert mich dieſes nicht und macht meinen Glauben an das herrſchende Geſetz nicht irre, ſondern ich ſehe daraus bloß, daß auch manches Mitwirkende exiſtirt, dem man nicht ſogleich beykommen kann.

Ich will Ihnen etwas ſagen, woran Sie ſich im347 Leben halten moͤgen. Es giebt in der Natur ein Zu¬ gaͤngliches und ein Unzugaͤngliches. Dieſes unterſcheide und bedenke man wohl und habe Reſpect. Es iſt uns ſchon geholfen, wenn wir es uͤberall nur wiſſen, wie¬ wohl es immer ſehr ſchwer bleibt zu ſehen, wo das Eine aufhoͤrt und das Andere beginnt. Wer es nicht weiß, quaͤlt ſich vielleicht lebenslaͤnglich am Unzugaͤng¬ lichen ab, ohne je der Wahrheit nahe zu kommen. Wer es aber weiß und klug iſt, wird ſich am Zugaͤnglichen halten, und indem er in dieſer Region nach allen Sei¬ ten geht und ſich befeſtiget, wird er ſogar auf dieſem Wege dem Unzugaͤnglichen etwas abgewinnen koͤnnen, wiewohl er hier doch zuletzt geſtehen wird, daß manchen Dingen nur bis zu einem gewiſſen Grade beyzukommen iſt, und die Natur immer etwas Problematiſches hinter ſich behalte, welches zu ergruͤnden die menſchlichen Faͤhig¬ keiten nicht hinreichen.

Unter dieſen Worten waren wir wieder in die Stadt hereingefahren. Das Geſpraͤch lenkte ſich auf unbedeu¬ tende Gegenſtaͤnde, wobey jene hohen Anſichten noch eine Weile in meinem Innern fortleben konnten.

Wir waren zu fruͤh zuruͤckgekehrt, um ſogleich an Tiſch zu gehen, und Goethe zeigte mir vorher noch eine Landſchaft von Rubens und zwar einen Sommer - Abend. Links im Vordergrunde ſah man Feldarbeiter nach Hauſe gehen; in der Mitte des Bildes folgte eine Herde Schafe ihrem Hirten dem Dorfe zu; rechts tiefer348 im Bilde ſtand ein Heuwagen, um welchen Arbeiter mit Aufladen beſchaͤftigt waren, abgeſpannte Pferde graſeten nebenbey; ſodann abſeits in Wieſen und Ge¬ buͤſch zerſtreut weideten mehrere Stuten mit ihren Foh¬ len, denen man anſah, daß ſie auch in der Nacht drau¬ ßen bleiben wuͤrden. Verſchiedene Doͤrfer und eine Stadt ſchloſſen den hellen Horizont des Bildes, worin man den Begriff von Thaͤtigkeit und Ruhe auf das Anmuthigſte ausgedruͤckt fand.

Das Ganze ſchien mir mit ſolcher Wahrheit zuſam¬ men zu haͤngen und das Einzelne lag mir mit ſolcher Treue vor Augen, daß ich die Meinung aͤußerte: Ru¬ bens habe dieſes Bild wohl ganz nach der Natur ab¬ geſchrieben.

Keineswegs, ſagte Goethe; ein ſo vollkommenes Bild iſt niemals in der Natur geſehen worden, ſondern wir verdanken dieſe Compoſition dem poetiſchen Geiſte des Malers. Aber der große Rubens hatte ein ſo außerordentliches Gedaͤchtniß, daß er die ganze Natur im Kopfe trug und ſie ihm in ihren Einzelnheiten im¬ mer zu Befehl war. Daher kommt dieſe Wahrheit des Ganzen und Einzelnen, ſo daß wir glauben, alles ſey eine reine Copie nach der Natur. Jetzt wird eine ſolche Landſchaft gar nicht mehr gemacht, dieſe Art zu em¬ pfinden und die Natur zu ſehen, iſt ganz verſchwunden, es mangelt unſern Malern an Poeſie.

Und dann ſind unſere jungen Talente ſich ſelber349 uͤberlaſſen, es fehlen die lebendigen Meiſter, die ſie in die Geheimniſſe der Kunſt einfuͤhren. Zwar iſt auch von den Todten etwas zu lernen, allein dieſes iſt, wie es ſich zeigt, mehr ein Abſehen von Einzelnheiten als ein Eindringen in eines Meiſters tiefere Art zu denken und zu verfahren.

Frau und Herr v. Goethe traten herein und wir ſetz¬ ten uns zu Tiſch. Die Geſpraͤche wechſelten uͤber hei¬ tere Gegenſtaͤnde des Tages: Theater, Baͤlle und Hof, fluͤchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder auf ernſtere Dinge gerathen und wir ſahen uns in einem Geſpraͤch uͤber Religionslehren in England tief befangen.

Ihr muͤßtet wie ich, ſagte Goethe, ſeit funfzig Jahren die Kirchengeſchichte ſtudirt haben, um zu be¬ greifen, wie das alles zuſammenhaͤngt. Dagegen iſt es hoͤchſt merkwuͤrdig, mit welchen Lehren die Mohame¬ daner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befeſtigen ſie ihre Jugend zunaͤchſt in der Über¬ zeugung, daß dem Menſchen nichts begegnen koͤnne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit laͤngſt be¬ ſtimmt worden; und ſomit ſind ſie denn fuͤr ihr ganzes Leben ausgeruͤſtet und beruhigt und beduͤrfen kaum eines Weiteren.

Ich will nicht unterſuchen, was an dieſer Lehre Wahres oder Falſches, Nuͤtzliches oder Schaͤdliches ſeyn mag; aber im Grunde liegt von dieſem Glauben doch etwas in uns Allen, auch ohne daß es uns gelehrt350 worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht ge¬ ſchrieben ſteht, wird mich nicht treffen, ſagt der Sol¬ dat in der Schlacht, und wie ſollte er ohne dieſe Zu¬ verſicht in den dringendſten Gefahren Muth und Heiter¬ keit behalten! Die Lehre des chriſtlichen Glaubens: kein Sperling faͤllt vom Dache ohne den Willen eures Vaters, iſt aus derſelbigen Quelle hervorgegangen, und deutet auf eine Vorſehung, die das Kleinſte im Auge haͤlt und ohne deren Willen und Zulaſſen nichts geſchehen kann.

Sodann ihren Unterricht in der Philoſophie begin¬ nen die Mohamedaner mit der Lehre: daß nichts exiſtire, wovon ſich nicht das Gegentheil ſagen laſſe; und ſo uͤben ſie den Geiſt der Jugend, indem ſie ihre Aufgaben darin beſtehen laſſen, von jeder aufgeſtellten Behaup¬ tung die entgegengeſetzte Meinung zu finden und aus¬ zuſprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß.

Nun aber, nachdem von jedem aufgeſtellten Satze das Gegentheil behauptet worden, entſteht der Zwei¬ fel welches denn von Beyden das eigentlich Wahre ſey. Im Zweifel aber iſt kein Verharren, ſondern er treibt den Geiſt zu naͤherer Unterſuchung und Pruͤ¬ fung, woraus denn, wenn dieſe auf eine vollkommene Weiſe geſchieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel iſt, worin der Menſch ſeine voͤllige Beruhi¬ gung findet.

351

Sie ſehen, daß dieſer Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unſern Syſtemen nicht weiter ſind und daß uͤberhaupt niemand weiter gelangen kann.

Ich werde dadurch, ſagte ich, an die Griechen erin¬ nert, deren philoſophiſche Erziehungsweiſe eine aͤhnliche geweſen ſeyn muß, wie uns dieſes ihre Tragoͤdie be¬ weiſet, deren Weſen im Verlauf der Handlung auch ganz und gar auf dem Widerſpruch beruhet, indem nie¬ mand der redenden Perſonen etwas behaupten kann, wovon der Andere nicht eben ſo klug das Gegentheil zu ſagen wuͤßte.

Sie haben vollkommen Recht, ſagte Goethe; auch fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zuſchauer oder Leſer erweckt wird; ſo wie wir denn am Schluß durch das Schickſal zur Gewißheit gelangen, welches ſich an das Sittliche anſchließt und deſſen Partey fuͤhrt.

Wir ſtanden von Tiſch auf und Goethe nahm mich mit hinab in den Garten, um unſere Geſpraͤche fortzu¬ ſetzen.

An Leſſing, ſagte ich, iſt es merkwuͤrdig, daß er in ſeinen theoretiſchen Schriften, z. B. im Laokoon, nie geradezu auf Reſultate losgeht, ſondern uns immer erſt jenen philoſophiſchen Weg durch Meinung, Gegen¬ meinung und Zweifel herumfuͤhrt, ehe er uns endlich zu einer Art von Gewißheit gelangen laͤßt. Wir ſehen mehr die Operation des Denkens und Findens, als daß wir große Anſichten und große Wahrheiten erhiel¬352 ten, die unſer eigenes Denken anzuregen und uns ſelbſt productiv zu machen geeignet waͤren.

Sie haben wohl Recht, ſagte Goethe. Leſſing ſoll ſelbſt einmal geaͤußert haben, daß, wenn Gott ihm die Wahrheit geben wolle, er ſich dieſes Geſchenk verbit¬ ten, vielmehr die Muͤhe vorziehen wuͤrde, ſie ſelber zu ſuchen.

Jenes philoſophiſche Syſtem der Mohamedaner iſt ein artiger Maßſtab, den man an ſich und Andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe gei¬ ſtiger Tugend man denn eigentlich ſtehe.

Leſſing haͤlt ſich, ſeiner polemiſchen Natur nach, am liebſten in der Region der Widerſpruͤche und Zweifel auf; das Unterſcheiden iſt ſeine Sache, und dabey kam ihm ſein großer Verſtand auf das Herrlichſte zu Stat¬ ten. Mich ſelbſt werden Sie dagegen ganz anders finden; ich habe mich nie auf Widerſpruͤche eingelaſſen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen geſucht und nur die gefundenen Reſultate habe ich aus¬ geſprochen.

Ich fragte Goethe, welchen der neueren Philoſophen er fuͤr den vorzuͤglichſten halte.

Kant, ſagte er, iſt der vorzuͤglichſte, ohne allen Zweifel. Er iſt auch derjenige, deſſen Lehre ſich fort¬ wirkend erwieſen hat, und die in unſere deutſche Cul¬ tur am tiefſten eingedrungen iſt. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn geleſen haben. Jetzt brau¬353 chen Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, beſitzen Sie ſchon. Wenn Sie einmal ſpaͤter etwas von ihm leſen wollen, ſo empfehle ich Ihnen ſeine Critik der Urtheilskraft, worin er die Rhetorik vortrefflich, die Poeſie leidlich, die bildende Kunſt aber unzulaͤnglich behandelt hat,

Haben Eure Excellenz je zu Kant ein perſoͤnliches Verhaͤltniß gehabt? fragte ich.

Nein, ſagte Goethe. Kant hat nie von mir No¬ tiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen aͤhnlichen Weg ging als er. Meine Metamorphoſe der Pflanzen habe ich geſchrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch iſt ſie ganz im Sinne ſeiner Lehre. Die Unterſcheidung des Subjects vom Ob¬ ject, und ferner die Anſicht, daß jedes Geſchoͤpf um ſein ſelbſt willen exiſtirt und nicht etwa der Korkbaum gewachſen iſt, damit wir unſere Flaſchen propfen koͤn¬ nen, dieſes hatte Kant mit mir gemein und ich freute mich ihm hierin zu begegnen. Spaͤter ſchrieb ich die Lehre vom Verſuch, welche als Critik von Subject und Object und als Vermittelung von beyden anzu¬ ſehen iſt.

Schiller pflegte mir immer das Studium der Kan¬ tiſchen Philoſophie zu widerrathen. Er ſagte gewoͤhnlich, Kant koͤnne mir nichts geben. Er ſelbſt ſtudirte ihn dagegen eifrig, und ich habe ihn auch ſtudirt und zwar nicht ohne Gewinn.

I. 23354

Unter dieſen Geſpraͤchen gingen wir im Garten auf und ab. Die Wolken hatten ſich indeß verdichtet und es fing an zu troͤpfeln, ſo daß wir genoͤthiget waren uns in das Haus zuruͤckzuziehen, wo wir denn unſere Unterhaltungen noch eine Weile fortſetzten.

Der Familien-Tiſch zu fuͤnf Couverts ſtand gedeckt, die Zimmer waren leer und kuͤhl, welches bei der gro¬ ßen Hitze ſehr wohl that. Ich trat in das geraͤumige an den Speiſeſaal angrenzende Zimmer, worin der ge¬ wirkte Fußteppich liegt und die coloſſale Buͤſte der Juno ſteht. Ich war nicht lange allein auf - und abgegangen, als Goethe, aus ſeinem Arbeitszimmer kommend, herein¬ trat und mich in ſeiner herzlichen Art liebevoll begruͤßte und anredete. Er ſetzte ſich auf einen Stuhl am Fen¬ ſter. Nehmen Sie ſich auch ein Stuͤhlchen, ſagte er, und ſetzen Sie ſich zu mir, wir wollen ein wenig reden bis die Übrigen kommen. Es iſt mir lieb, daß Sie doch auch den Grafen Sternberg bey mir haben kennen gelernt; er iſt wieder abgereiſet und ich bin nun ganz wieder in der gewohnten Thaͤtigkeit und Ruhe.

Die Perſoͤnlichkeit des Grafen, ſagte ich, iſt mir ſehr bedeutend erſchienen, nicht weniger ſeine großen Kenntniſſe; denn das Geſpraͤch mochte ſich lenken, wo¬355 hin es wollte, er war uͤberall zu Hauſe und ſprach uͤber Alles gruͤndlich und umſichtig mit großer Leichtigkeit.

Ja, ſagte Goethe, er iſt ein hoͤchſt bedeutender Mann und ſein Wirkungskreis und ſeine Verbindungen in Deutſchland ſind groß. Als Botaniker iſt er durch ſeine Flora subterranea in ganz Europa bekannt; ſo auch iſt er als Mineraloge von großer Bedeutung. Kennen Sie ſeine Geſchichte? Nein, ſagte ich, aber ich moͤchte gerne etwas uͤber ihn erfahren. Ich ſah ihn als Grafen und Weltmann, zugleich als vielſeitigen tiefen Gelehrten, dieſes iſt mir ein Problem, das ich ger¬ ne moͤchte geloͤſet ſehen. Goethe erzaͤhlte mir darauf, wie der Graf, als Juͤngling zum geiſtlichen Stande beſtimmt, in Rom ſeine Studien begonnen; darauf aber, nachdem Öſtreich gewiſſe Verguͤnſtigungen zuruͤckgenommen, nach Neapel gegangen ſey. Und ſo erzaͤhlte Goethe weiter, gruͤndlich, intereſſant und bedeutend, ein merkwuͤrdiges Leben, der Art, daß es die Wanderjahre zieren wuͤrde, das ich aber hier zu wiederholen mich nicht geſchickt fuͤhle. Ich war hoͤchſt gluͤcklich ihm zuzuhoͤren und dankte ihm mit meiner ganzen Seele. Das Geſpraͤch lenkte ſich nun auf die boͤhmiſchen Schulen und ihre großen Vorzuͤge, beſonders in Bezug auf eine gruͤnd¬ liche aͤſthetiſche Bildung.

Herr und Frau v. Goethe und Fraͤulein Ulrike von P. waren indeſſen auch hereingekommen und wir ſetzten uns zu Tiſch. Die Geſpraͤche wechſelten heiter und23 *356mannigfaltig, beſonders aber waren die Froͤmmler einiger norddeutſchen Staͤdte ein oft wiederkehrender Gegenſtand. Es ward bemerkt, daß dieſe pietiſtiſchen Abſonderungen ganze Familien mit einander uneins gemacht und zer¬ ſprengt haͤtten. Ich konnte einen aͤhnlichen Fall erzaͤh¬ len, wo ich faſt einen trefflichen Freund verloren, weil es ihm nicht gelingen wollen, mich zu ſeiner Meinung zu bekehren. Dieſer, ſagte ich, war ganz von dem Glauben durchdrungen, daß alles Verdienſt und alle gute Werke nichts ſeyen, und daß der Menſch bloß durch die Gnade Chriſti ein gutes Verhaͤltniß zur Gott¬ heit gewinnen koͤnne. Etwas aͤhnliches, ſagte Frau von Goethe, hat auch eine Freundinn zu mir geſagt, aber ich weiß noch immer nicht, was es mit die¬ ſen guten Werken und dieſer Gnade fuͤr ein Bewand¬ niß hat.

So wie alle dieſe Dinge, ſagte Goethe, heutiges Tages in der Welt in Cours und Geſpraͤch ſind, iſt es nichts als ein Mantſch und vielleicht niemand von euch weiß, wo es herkommt. Ich will es euch ſagen. Die Lehre von den guten Werken, daß naͤmlich der Menſch durch Gutesthun, Vermaͤchtniſſe und milde Stiftungen eine Suͤnde abverdienen und ſich uͤberhaupt in der Gnade Gottes dadurch heben koͤnne, iſt katholiſch. Die Reformatoren aber, aus Oppoſition, verwarfen dieſe Lehre, und ſetzten dafuͤr an die Stelle, daß der Menſch einzig und allein trachten muͤſſe, die Verdienſte Chriſti357 zu erkennen und ſich ſeiner Gnaden theilhaftig zu ma¬ chen, welches denn freylich auch zu guten Werken fuͤhre. So iſt es; aber heutiges Tags wird alles durcheinander gemengt und verwechſelt und niemand weiß, woher die Dinge kommen.

Ich bemerkte mehr in Gedanken, als daß ich es ausſprach, daß die verſchiedene Meinung in Religions¬ ſachen doch von jeher die Menſchen entzweyt und zu Feinden gemacht habe, ja daß ſogar der erſte Mord durch eine Abweichung in der Verehrung Gottes herbey¬ gefuͤhret ſey. Ich ſagte, daß ich dieſer Tage Byrons Cain geleſen und beſonders den dritten Act und die Motivirung des Todtſchlages bewundert habe.

Nicht wahr? ſagte Goethe, das iſt vortrefflich motivirt! es iſt von ſo einziger Schoͤnheit, daß es in der Welt nicht zum zweyten Male vorhanden iſt.

Der Cain, ſagte ich, war doch anfaͤnglich in Eng¬ land verboten, jetzt aber lieſet ihn jedermann und die reiſenden jungen Englaͤnder fuͤhren gewoͤhnlich einen completen Byron mit ſich.

Es iſt auch Thorheit, ſagte Goethe, denn im Grunde ſteht im ganzen Cain doch nichts, als was die engliſchen Biſchoͤfe ſelber lehren.

Der Canzler ließ ſich melden und trat herein und ſetzte ſich zu uns an den Tiſch. So auch kamen Goethe's Enkel Walter und Wolfgang nach einander geſprun¬ gen. Wolf ſchmiegte ſich an den Canzler. Hole dem358 Herrn Canzler, ſagte Goethe, dein Stammbuch und zeige ihm deine Prinzeß und was dir der Graf Stern¬ berg geſchrieben. Wolf ſprang hinauf und kam bald mit dem Buche zuruͤck. Der Canzler betrachtete das Portrait der Prinzeß mit beygeſchriebenen Verſen von Goethe. Er durchblaͤtterte das Buch ferner und traf auf Zelters Inſchrift und las laut heraus:

Lerne gehorchen!

Das iſt doch das einzige vernuͤnftige Wort, ſagte Goethe lachend, was im ganzen Buche ſteht. Ja, Zelter iſt immer grandios und tuͤchtig! Ich gehe jetzt mit Riemer ſeine Briefe durch, die ganz unſchaͤtzbare Sachen enthalten. Beſonders ſind die Briefe, die er mir auf Reiſen geſchrieben, von vorzuͤglichem Werth; denn da hat er als tuͤchtiger Baumeiſter und Muſikus den Vor¬ theil, daß es ihm nie an bedeutenden Gegenſtaͤnden des Urtheils fehlt. So wie er in eine Stadt eintritt, ſte¬ hen die Gebaͤude vor ihm, und ſagen ihm, was ſie Verdienſtliches und Mangelhaftes an ſich tragen. So¬ dann ziehen die Muſik-Vereine ihn ſogleich in ihre Mitte und zeigen ſich dem Meiſter in ihren Tugenden und Schwaͤchen. Wenn ein Geſchwindſchreiber ſeine Ge¬ ſpraͤche mit ſeinen muſikaliſchen Schuͤlern aufgeſchrieben haͤtte, ſo beſaͤßen wir etwas ganz Einziges in ſeiner Art. Denn in dieſen Dingen iſt Zelter genial und groß und trifft immer den Nagel auf den Kopf

359

Heute gegen Abend begegnete Goethe mir am Park von einer Spazierfahrt zuruͤckkommend. Im Vorbey¬ fahren winkte er mir mit der Hand, daß ich ihn beſu¬ chen moͤchte. Ich wendete daher ſogleich um nach ſei¬ nem Hauſe, wo ich den Oberbaudirector Coudray fand. Goethe ſtieg aus und wir gingen mit ihm die Treppen hinauf. Wir ſetzten uns in dem ſogenannten Juno - Zimmer um einen runden Tiſch. Wir hatten nicht lange geredet, als auch der Canzler hereintrat und ſich zu uns geſellte. Das Geſpraͤch wendete ſich um politiſche Gegenſtaͤnde, Wellingtons Geſandtſchaft nach Petersburg und deren wahrſcheinliche Folgen, Capodiſtrias, die ver¬ zoͤgerte Befreyung Griechenlands, die Beſchraͤnkung der Tuͤrken auf Conſtantinopel, und dergleichen. Auch fruͤ¬ here Zeiten unter Napoleon kamen zur Sprache, beſon¬ ders aber uͤber den Herzog von Enghien und ſein un¬ vorſichtiges revolutionaires Betragen ward viel geredet.

Sodann kam man auf friedlichere Dinge, und Wie¬ lands Grab zu Osmannſtedt war ein viel beſprochener Gegenſtand unſerer Unterhaltung. Oberbaudirector Cou¬ dray erzaͤhlte, daß er mit einer eiſernen Einfaſſung des Grabes beſchaͤftigt ſey. Er gab uns von ſeiner Inten¬ tion eine deutliche Idee, indem er die Form des eiſernen Gitterwerks auf ein Stuͤck Papier vor unſern Augen hinzeichnete.

360

Als der Canzler und Coudray gingen, bat Goethe mich, noch ein wenig bey ihm zu bleiben. Da ich in Jahrtauſenden lebe, ſagte er, ſo kommt es mir immer wunderlich vor, wenn ich von Statuen und Monumen¬ ten hoͤre. Ich kann nicht an eine Bildſaͤule denken, die einem verdienten Manne geſetzt wird, ohne ſie im Geiſte ſchon von kuͤnftigen Kriegern umgeworfen und zerſchlagen zu ſehen. Coudray's Eiſenſtaͤbe um das Wielandiſche Grab ſehe ich ſchon als Hufeiſen unter den Pferdefuͤßen einer kuͤnftigen Cavallerie blinken, und ich kann noch dazu ſagen, daß ich bereits einen aͤhn¬ lichen Fall in Frankfurt erlebt habe. Das Wielandiſche Grab liegt uͤberdieß viel zu nahe an der Ilm; der Fluß braucht in ſeiner raſchen Biegung kaum ein hundert Jahre am Ufer fort zu zehren, und er wird die Todten erreicht haben.

Wir ſcherzten mit gutem Humor uͤber die entſetzliche Unbeſtaͤndigkeit der irdiſchen Dinge und nahmen ſodann Coudray's Zeichnung wieder zur Hand und freuten uns an den zarten und kraͤftigen Zuͤgen der engliſchen Bley¬ feder, die dem Zeichner ſo zu Willen geweſen war, daß der Gedanke unmittelbar ohne den geringſten Verluſt auf dem Papiere ſtand.

Dieß fuͤhrte das Geſpraͤch auf Handzeichnungen, und Goethe zeigte mir eine ganz vortreffliche eines italieni¬ ſchen Meiſters, den Knaben Jeſus darſtellend im Tem¬ pel unter den Schriftgelehrten. Daneben zeigte er mir361 einen Kupferſtich, der nach dem ausgefuͤhrten Bilde gemacht war und man konnte viele Betrachtungen an¬ ſtellen, die alle zu Gunſten der Handzeichnung hinaus¬ liefen.

Ich bin in dieſer Zeit ſo gluͤcklich geweſen, ſagte Goethe, viele treffliche Handzeichnungen beruͤhmter Mei¬ ſter um ein Billiges zu kaufen. Solche Zeichnungen ſind unſchaͤtzbar, nicht allein, weil ſie die rein geiſtige Intention des Kuͤnſtlers geben, ſondern auch, weil ſie uns unmittelbar in die Stimmung verſetzen, in welcher der Kuͤnſtler ſich in dem Augenblick des Schaffens befand. Aus dieſer Zeichnung des Jeſusknaben im Tempel blickt aus allen Zuͤgen große Klarheit und heitere ſtille Ent¬ ſchiedenheit im Gemuͤthe des Kuͤnſtlers, welche wohl¬ thaͤtige Stimmung in uns uͤbergeht, ſo wie wir das Bild betrachten. Zudem hat die bildende Kunſt den großen Vortheil, daß ſie rein objectiver Natur iſt, und uns zu ſich herannoͤthiget, ohne unſere Empfindungen heftig anzuregen. Ein ſolches Werk ſteht da und ſpricht entweder gar nicht, oder auf eine ganz entſchiedene Weiſe. Ein Gedicht dagegen macht einen weit vageren Eindruck, es erregt die Empfindungen und bey Jedem andere, nach der Natur und Faͤhigkeit des Hoͤrers.

Ich habe, ſagte ich, dieſer Tage den trefflichen eng¬ liſchen Roman Roderik Random von Smollet geleſen; dieſer kam dem Eindruck einer guten Handzeichnung ſehr nahe. Eine unmittelbare Darſtellung, keine Spur362 von einer Hinneigung zum Sentimentalen, ſondern das wirkliche Leben ſteht vor uns, wie es iſt, oft wider¬ waͤrtig und abſcheulich genug, aber im Ganzen immer heiteren Eindruckes, wegen der ganz entſchiedenen Rea¬ litaͤt.

Ich habe den Roderik Random oft ruͤhmen hoͤren, ſagte Goethe, und glaube, was Sie mir von ihm er¬ waͤhnen; doch ich habe ihn nie geleſen. Kennen Sie den Raſſelas von Johnſon? Leſen Sie ihn doch auch einmal und ſagen Sie mir, wie Sie ihn finden. Ich verſprach dieſes zu thun.

Auch in Lord Byron, ſagte ich, finde ich haͤufig Darſtellungen, die ganz unmittelbar daſtehen und uns rein den Gegenſtand geben, ohne unſer inneres Sen¬ timent auf eine andere Weiſe anzuregen als es eine unmittelbare Handzeichnung eines guten Malers thut. Beſonders der Don Juan iſt an ſolchen Stellen reich.

Ja, ſagte Goethe, darin iſt Lord Byron groß; ſeine Darſtellungen haben eine ſo leicht hingeworfene Realitaͤt, als waͤren ſie improviſirt. Von Don Juan kenne ich wenig; allein aus ſeinen anderen Gedichten ſind mir ſolche Stellen im Gedaͤchtniß, beſonders See¬ ſtuͤcke, wo hin und wieder ein Segel herausblickt, ganz unſchaͤtzbar, ſo daß man ſogar die Waſſerluft mit zu empfinden glaubt.

In ſeinem Don Juan, ſagte ich, habe ich beſonders die Darſtellung der Stadt London bewundert, die man363 aus ſeinen leichten Verſen heraus mit Augen zu ſehen waͤhnt. Und dabey macht er ſich keineswegs viele Scru¬ pel, ob ein Gegenſtand poetiſch ſey oder nicht, ſondern er ergreift und gebraucht alles, wie es ihm vorkommt bis auf die gekraͤuſelten Peruͤcken vor den Fenſtern der Haarſchneider und bis auf die Maͤnner, welche die Straßenlaternen mit Oel verſehen.

Unſere deutſchen Äſthetiker, ſagte Goethe, reden zwar viel von poetiſchen und unpoetiſchen Gegenſtaͤnden, und ſie moͤgen auch in gewiſſer Hinſicht nicht ganz Unrecht haben; allein im Grunde bleibt kein realer Gegenſtand unpoetiſch, ſobald der Dichter ihn gehoͤrig zu gebrauchen weiß.

Sehr wahr! ſagte ich, und ich moͤchte wohl, daß dieſe Anſicht zur allgemeinen Maxime wuͤrde. Wir ſprachen darauf uͤber die beyden Foscari, wobey ich die Bemerkung machte, daß Byron ganz vortreffliche Frauen zeichne.

Seine Frauen, ſagte Goethe, ſind gut. Es iſt aber auch das einzige Gefaͤß, was uns Neueren noch geblieben iſt, um unſere Idealitaͤt hinein zu gießen. Mit den Maͤnnern iſt nichts zu thun. Im Achill und Odyſſeus, dem Tapferſten und Kluͤgſten, hat der Homer alles vorweggenommen.

Übrigens, fuhr ich fort, haben die Foscari wegen der durchgehenden Folter-Qualen etwas Apprehenſives, und man begreift kaum, wie Byron im Innern dieſes364 peinlichen Gegenſtandes ſo lange leben konnte, um das Stuͤck zu machen.

Dergleichen war ganz Byrons Element, ſagte Goethe; er war ein ewiger Selbſtquaͤler, ſolche Gegen¬ ſtaͤnde waren daher ſeine Lieblings-Themata, wie Sie aus allen ſeinen Sachen ſehen, unter denen faſt nicht ein einziges heiteres Suͤjet iſt. Aber nicht wahr? Die Darſtellung iſt auch bey den Foscari zu loben.

Sie iſt vortrefflich, ſagte ich; jedes Wort iſt ſtark, bedeutend und zum Ziele fuͤhrend, ſo wie ich uͤberhaupt bis jetzt in Byron noch keine matte Zeile gefunden habe. Es iſt mir immer, als ſaͤhe ich ihn aus den Meeres¬ wellen kommen, friſch und durchdrungen von ſchoͤpferi¬ ſchen Urkraͤften. Sie haben ganz Recht, ſagte Goethe, es iſt ſo. Jemehr ich ihn leſe, fuhr ich fort, jemehr bewundere ich die Groͤße ſeines Talents und Sie haben ganz recht gethan ihm in der Helena das unſterbliche Denkmal der Liebe zu ſetzen.

Ich konnte als Repraͤſentanten der neueſten poeti¬ ſchen Zeit, ſagte Goethe, niemanden gebrauchen als ihn, der ohne Frage als das groͤßte Talent des Jahrhunderts anzuſehen iſt. Und dann, Byron iſt nicht antik und iſt nicht romantiſch, ſondern er iſt wie der gegenwaͤrtige Tag ſelbſt. Einen ſolchen mußte ich haben. Auch paßte er uͤbrigens ganz wegen ſeines unbefriedigten Naturells und ſeiner kriegeriſchen Tendenz, woran er in Miſſo¬ lunghi zu Grunde ging. Eine Abhandlung uͤber Byron365 zu ſchreiben iſt nicht bequem und raͤthlich, aber gelegent¬ lich ihn zu ehren und auf ihn im Einzelnen hinzuweiſen werde ich auch in der Folge nicht unterlaſſen.

Da die Helena einmal zur Sprache gebracht war, ſo redete Goethe daruͤber weiter. Ich hatte den Schluß, ſagte er, fruͤher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn mir auf verſchiedene Weiſe ausgebildet und einmal auch recht gut, aber ich will es euch nicht verrathen. Dann brachte mir die Zeit dieſes mit Lord Byron und Miſſo¬ lunghi und ich ließ gern alles Übrige fahren. Aber ha¬ ben Sie bemerkt, der Chor faͤllt bey dem Trauergeſang ganz aus der Rolle; er iſt fruͤher und durchgehends antik gehalten, oder verleugnet doch nie ſeine Maͤdchen¬ natur, hier aber wird er mit einem Mal ernſt und hoch reflectirend und ſpricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat und auch nie hat denken koͤnnen.

Allerdings, ſagte ich, habe ich dieſes bemerkt; allein ſeitdem ich Rubens Landſchaft mit den doppelten Schat¬ ten geſehen, und ſeitdem der Begriff der Fictionen mir aufgegangen iſt, kann mich dergleichen nicht irre machen. Solche kleine Widerſpruͤche koͤnnen bey einer dadurch erreichten hoͤheren Schoͤnheit nicht in Betracht kommen. Das Lied mußte nun einmal geſungen werden, und da kein anderer Chor gegenwaͤrtig war, ſo mußten es die Maͤdchen ſingen.

Mich ſoll nur wundern, ſagte Goethe lachend, was die deutſchen Critiker dazu ſagen werden. Ob ſie366 werden Freyheit und Kuͤhnheit genug haben daruͤber hinwegzukommen. Den Franzoſen wird der Verſtand im Wege ſeyn, und ſie werden nicht bedenken, daß die Phantaſie ihre eigenen Geſetze hat, denen der Verſtand nicht beykommen kann und ſoll. Wenn durch die Phan¬ taſie nicht Dinge entſtaͤnden, die fuͤr den Verſtand ewig problematiſch bleiben, ſo waͤre uͤberhaupt zu der Phan¬ taſie nicht viel. Dieß iſt es, wodurch ſich die Poeſie von der Proſa unterſcheidet, bey welcher der Verſtand immer zu Hauſe iſt und ſeyn mag und ſoll.

Ich freute mich dieſes bedeutenden Wortes und merkte es mir. Darauf ſchickte ich mich an zum Gehen, denn es war gegen zehn Uhr geworden. Wir ſaßen ohne Licht, die helle Sommer-Nacht leuchtete aus Norden uͤber den Ettersberg heruͤber.

Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gyps - Paſten nach dem Stoſchiſchen Cabinet. Man iſt in Berlin ſo freundlich geweſen, ſagte er, mir dieſe ganze Sammlung zur Anſicht herzuſenden; ich kenne die ſchoͤ¬ nen Sachen ſchon dem groͤßten Theile nach, hier aber ſehe ich ſie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann ſie geordnet hat; auch benutze ich ſeine Beſchreibung und ſehe ſeine Meinung nach in Faͤllen, wo ich ſelber zweifle.

367

Wir hatten nicht lange geredet, als der Canzler hereintrat und ſich zu uns ſetzte. Er erzaͤhlte uns Nach¬ richten aus oͤffentlichen Blaͤttern, unter andern von einem Waͤrter einer Menagerie, der aus Geluͤſte nach Loͤwenfleiſch einen Loͤwen getoͤdtet und ſich ein gutes Stuͤck davon zubereitet habe. Mich wundert, ſagte Goethe, daß er nicht einen Affen genommen hat, wel¬ ches ein gar zarter ſchmackhafter Biſſen ſeyn ſoll. Wir ſprachen uͤber die Haͤßlichkeit dieſer Beſtien und daß ſie deſto unangenehmer, je aͤhnlicher die Race dem Men¬ ſchen ſey. Ich begreife nicht, ſagte der Canzler, wie fuͤrſtliche Perſonen ſolche Thiere in ihrer Naͤhe dulden, ja vielleicht gar Gefallen daran finden koͤnnen. Fuͤrſt¬ liche Perſonen, ſagte Goethe, werden ſo viel mit wider¬ waͤrtigen Menſchen geplagt, daß ſie die widerwaͤrtigeren Thiere als ein Heilmittel gegen dergleichen unangenehme Eindruͤcke betrachten. Uns Andern ſind Affen und Ge¬ ſchrey der Papagayen mit Recht widerwaͤrtig, weil wir dieſe Thiere hier in einer Umgebung ſehen, fuͤr die ſie nicht gemacht ſind. Waͤren wir aber in dem Fall, auf Elephanten unter Palmen zu reiten, ſo wuͤrden wir in einem ſolchen Element Affen und Papagayen ganz gehoͤrig, ja vielleicht gar erfreulich finden. Aber, wie geſagt, die Fuͤrſten haben Recht, etwas Widerwaͤr¬ tiges mit etwas noch Widerwaͤrtigerem zu vertreiben. Hiebey, ſagte ich, faͤllt mir ein Vers ein, den Sie vielleicht ſelber nicht mehr wiſſen:

368
Wollen die Menſchen Beſtien ſeyn,
So bringt nur Thiere zur Stube herein,
Das Widerwaͤrtige wird ſich mindern;
Wir ſind eben alle von Adams Kindern.

Goethe lachte. Ja, ſagte er, es iſt ſo. Eine Roheit kann nur durch eine andere ausgetrieben wer¬ den, die noch gewaltiger iſt. Ich erinnere mich eines Falles aus meiner fruͤheren Zeit, wo es unter den Ad¬ lichen hin und wieder noch recht beſtialiſche Herren gab, daß bey Tafel in einer vorzuͤglichen Geſellſchaft und in Anweſenheit von Frauen ein reicher Edelman ſehr maſ¬ ſive Reden fuͤhrte zur Unbequemlichkeit und zum Ärger¬ niß Aller, die ihn hoͤren mußten. Mit Worten war gegen ihn nichts auszurichten. Ein entſchloſſener an¬ ſehnlicher Herr, der ihm gegenuͤber ſaß, waͤhlte daher ein anderes Mittel, indem er ſehr laut eine grobe Unan¬ ſtaͤndigkeit beging, woruͤber alle erſchraken, und jener Grobian mit, ſo daß er ſich gedaͤmpft fuͤhlte und nicht wieder den Mund aufthat. Das Geſpraͤch nahm von dieſem Augenblick an eine anmuthige heitere Wendung zur Freude aller Anweſenden, und man wußte jenem entſchloſſenen Herrn fuͤr ſeine unerhoͤrte Kuͤhnheit vielen Dank in Erwaͤgung der trefflichen Wirkung, die ſie ge¬ than hatte.

Nachdem wir uns an dieſer heiteren Anecdote ergoͤtzt hatten, brachte der Canzler das Geſpraͤch auf die neue¬ ſten Zuſtaͤnde zwiſchen der Oppoſitions - und der Mini¬369 ſteriellen Partey zu Paris, indem er eine kraͤftige Rede faſt woͤrtlich recitirte, die ein aͤußerſt kuͤhner Demokrat zu ſeiner Vertheidigung vor Gericht gegen die Miniſter gehalten. Wir hatten Gelegenheit, das gluͤckliche Ge¬ daͤchtniß des Canzlers abermals zu bewundern. Über jene Angelegenheit und beſonders das einſchraͤnkende Preß-Geſetz ward zwiſchen Goethe und dem Canzler viel hin und wieder geſprochen; es war ein reichhaltiges Thema, wobey ſich Goethe wie immer als milder Ari¬ ſtokrat erwies, jener Freund aber wie bisher ſcheinbar auf der Seite des Volkes feſthielt.

Mir iſt fuͤr die Franzoſen in keiner Hinſicht bange. ſagte Goethe; ſie ſtehen auf einer ſolchen Hoͤhe welt¬ hiſtoriſcher Anſicht, daß der Geiſt auf keine Weiſe mehr zu unterdruͤcken iſt. Das einſchraͤnkende Geſetz wird nur wohlthaͤtig wirken, zumal da die Einſchraͤnkungen nichts Weſentliches betreffen, ſondern nur gegen Per¬ ſoͤnlichkeiten gehen. Eine Oppoſition, die keine Gren¬ zen hat, wird platt. Die Einſchraͤnkung aber noͤthigt ſie geiſtreich zu ſeyn, und dieß iſt ein ſehr großer Vor¬ theil. Direct und grob ſeine Meinung herauszuſagen mag nur entſchuldigt werden koͤnnen und gut ſeyn, wenn man durchaus Recht hat. Eine Partey aber hat nicht durchaus Recht, eben weil ſie Partey iſt, und ihr ſteht daher die indirecte Weiſe wohl, worin die Franzoſen von je große Muſter waren. Zu meinem Diener ſage ich gradezu: Hans, zieh mir die StiefelI. 24370aus! das verſteht er. Bin ich aber mit einem Freunde und ich wuͤnſche von ihm dieſen Dienſt, ſo kann ich mich nicht ſo direct ausdruͤcken, ſondern ich muß auf eine anmuthige, freundliche Wendung ſinnen, wodurch ich ihn zu dieſem Liebesdienſt bewege. Die Noͤthigung regt den Geiſt auf und aus dieſem Grunde, wie geſagt, iſt mir die Einſchraͤnkung der Preßfreyheit ſogar lieb. Die Franzoſen haben bisher immer den Ruhm gehabt, die geiſtreichſte Nation zu ſeyn, und ſie verdienen es zu bleiben. Wir Deutſchen fallen mit unſerer Meinung gerne gerade heraus und haben es im Indirecten noch nicht ſehr weit gebracht.

Die Pariſer Parteyen, fuhr Goethe fort, koͤnnten noch groͤßer ſeyn als ſie ſind, wenn ſie noch liberaler und freyer waͤren und ſich gegenſeitig noch mehr zuge¬ ſtaͤnden als ſie thun. Sie ſtehen auf einer hoͤheren Stufe welthiſtoriſcher Anſicht als die Englaͤnder, deren Parlament gegeneinanderwirkende gewaltige Kraͤfte ſind, die ſich paralyſiren und wo die große Einſicht eines Einzelnen Muͤhe hat durchzudringen, wie wir an Can¬ ning und den vielen Quaͤngeleyen ſehen, die man die¬ ſem großen Staatsmanne macht.

Wir ſtanden auf, um zu gehen. Goethe aber war ſo voller Leben, daß das Geſpraͤch noch eine Weile ſte¬ hend fortgeſetzt wurde. Dann entließ er uns liebevoll und ich begleitete den Canzler nach ſeiner Wohnung. Es war ein ſchoͤner Abend und wir ſprachen im Gehen371 viel uͤber Goethe. Beſonders aber wiederholten wir uns gerne jenes Wort, daß eine Oppoſition ohne Einſchraͤn¬ kung platt werde.

Ich ging dieſen Abend nach acht Uhr zu Goethe, den ich ſo eben aus ſeinem Garten zuruͤckgekehrt fand. Sehen Sie nur, was da liegt! ſagte er; ein Roman in drey Baͤnden und zwar von wem? von Manzoni! Ich betrachtete die Buͤcher, die ſehr ſchoͤn eingebunden waren und eine Inſchrift an Goethe enthielten. Man¬ zoni iſt fleißig, ſagte ich. Ja das regt ſich , ſagte Goethe. Ich kenne nichts von Manzoni, ſagte ich, als ſeine Ode auf Napoleon, die ich dieſer Tage in Ihrer Überſetzung abermals geleſen und im hohen Grade bewundert habe. Jede Strophe iſt ein Bild! Sie haben Recht, ſagte Goethe, die Ode iſt vortrefflich. Aber finden Sie, daß in Deutſchland einer davon redet? Es iſt ſo gut, als ob ſie gar nicht da waͤre, und doch iſt ſie das beſte Gedicht, was uͤber dieſen Gegenſtand gemacht worden.

Goethe fuhr fort, die engliſchen Zeitungen zu leſen, in welcher Beſchaͤftigung ich ihn beim Hereintreten ge¬ funden. Ich nahm einen Band von Carlyle's Über¬24 *372ſetzung deutſcher Romane in die Haͤnde und zwar den Theil, welcher Muſaͤus und Fouqué enthielt. Der mit unſerer Literatur ſehr vertraute Englaͤnder hatte den uͤberſetzten Werken ſelbſt immer eine Einleitung, das Leben und eine Critik des Dichters enthaltend, voran¬ gehen laſſen. Ich las die Einleitung zu Fouqué und konnte zu meiner Freude die Bemerkung machen, daß das Leben mit Geiſt und vieler Gruͤndlichkeit geſchrieben und der critiſche Standpunct, aus welchem dieſer beliebte Schriftſteller zu betrachten, mit großem Verſtand und vieler ruhiger milder Einſicht in poetiſche Verdienſte be¬ zeichnet war. Bald vergleicht der geiſtreiche Englaͤnder unſern Fouqué mit der Stimme eines Saͤngers, die zwar keinen großen Umfang habe und nur wenige Toͤne enthalte, aber die wenigen gut und vom ſchoͤnſten Wohl¬ klange. Dann, um ſeine Meinung ferner auszudruͤcken, nimmt er ein Gleichniß aus kirchlichen Verhaͤltniſſen her, indem er ſagt, daß Fouqué an der poetiſchen Kirche zwar nicht die Stelle eines Biſchofs oder eines andern Geiſtlichen vom erſten Range bekleide, vielmehr mit den Functionen eines Caplans ſich begnuͤge, in dieſem mitt¬ leren Amte aber ſich ſehr wohl ausnehme.

Waͤhrend ich dieſes geleſen, hatte Goethe ſich in ſeine hinteren Zimmer zuruͤckgezogen. Er ſendete mir ſeinen Bedienten mit der Einladung, ein wenig nach¬ zukommen, welches ich that. Setzen Sie ſich noch ein wenig zu mir, ſagte er, daß wir noch einige Worte373 miteinander reden. Da iſt auch eine Überſetzung des Sophocles angekommen, ſie lieſet ſich gut und ſcheint ſehr brav zu ſeyn; ich will ſie doch einmal mit Solger vergleichen. Nun was ſagen Sie zu Carlyle? Ich erzaͤhlte ihm, was ich uͤber Fouqué geleſen. Iſt das nicht ſehr artig? ſagte Goethe; ja uͤberm Meere giebt es auch geſcheidte Leute, die uns kennen und zu wuͤr¬ digen wiſſen.

Indeſſen, fuhr Goethe fort, fehlt es in anderen Faͤchern uns Deutſchen auch nicht an guten Koͤpfen. Ich habe in den Berliner Jahrbuͤchern die Recenſion eines Hiſtorikers uͤber Schloſſer geleſen, die ſehr groß iſt. Sie iſt Heinrich Leo unterſchrieben, von welchem ich noch nichts gehoͤrt habe und nach welchem wir uns doch erkundigen muͤſſen. Er ſteht hoͤher als die Fran¬ zoſen, welches in geſchichtlicher Hinſicht doch etwas hei¬ ßen will. Jene haften zu ſehr am Realen und koͤnnen das Ideelle nicht zu Kopf bringen, dieſes aber beſitzt der Deutſche in ganzer Freyheit. Über das indiſche Caſten-Weſen hat er die trefflichſten Anſichten. Man ſpricht immer viel von Ariſtokratie und Demokratie, die Sache iſt ganz einfach dieſe: In der Jugend, wo wir nichts beſitzen, oder doch den ruhigen Beſitz nicht zu ſchaͤtzen wiſſen, ſind wir Demokraten. Sind wir aber in einem langen Leben zu Eigenthum gekommen, ſo wuͤnſchen wir dieſes nicht allein geſichert, ſondern wir wuͤnſchen auch, daß unſere Kinder und Enkel das Er¬374 worbene ruhig genießen moͤgen. Deßhalb ſind wir im Alter immer Ariſtokraten ohne Ausnahme, wenn wir auch in der Jugend uns zu anderen Geſinnungen hin¬ neigten. Leo ſpricht uͤber dieſen Punkt mit großem Geiſte.

Im aͤſthetiſchen Fach ſieht es freylich bey uns am ſchwaͤchſten aus und wir koͤnnen lange warten, bis wir auf einen Mann wie Carlyle ſtoßen. Es iſt aber ſehr artig, daß wir jetzt, bey dem engen Verkehr zwi¬ ſchen Franzoſen, Englaͤndern und Deutſchen, in den Fall kommen uns einander zu corrigiren. Das iſt der große Nutzen, der bey einer Weltliteratur herauskommt und der ſich immer mehr zeigen wird. Carlyle hat das Leben von Schiller geſchrieben und ihn uͤberall ſo beurtheilt, wie ihn nicht leicht ein Deutſcher beurtheilen wird. Dagegen ſind wir uͤber Shakſpeare und Byron im Klaren und wiſſen deren Verdienſte vielleicht beſſer zu ſchaͤtzen als die Englaͤnder ſelber.

Ich habe Ihnen zu verkuͤndigen, war heute Goethe's erſtes Wort bey Tiſch, daß Manzoni's Roman alles uͤberfluͤgelt, was wir in dieſer Art kennen. Ich brauche Ihnen nichts weiter zu ſagen, als daß das Innere, alles was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus375 vollkommen iſt, und daß das[Ä]ußere, alle Zeichnung von Localitaͤten und dergleichen, gegen die großen inne¬ ren Eigenſchaften um kein Haar zuruͤckſteht. Das will etwas heißen. Ich war verwundert und erfreut, die¬ ſes zu hoͤren. Der Eindruck beym Leſen, fuhr Goethe fort, iſt der Art, daß man immer von der Ruͤhrung in die Bewunderung faͤllt, und von der Bewunderung wieder in die Ruͤhrung, ſo daß man aus einer von dieſen beyden großen Wirkungen gar nicht herauskommt. Ich daͤchte, hoͤher koͤnnte man es nicht treiben. In dieſem Roman ſieht man erſt recht, was Manzoni iſt. Hier kommt ſein vollendetes Innere zum Vorſchein, welches er bey ſeinen dramatiſchen Sachen zu ent¬ wickeln keine Gelegenheit hatte. Ich will nun gleich hinterher den beſten Roman von Walter Scott leſen, etwa den Waverley, den ich noch nicht kenne, und ich werde ſehen, wie Manzoni ſich gegen dieſen großen engliſchen Schriftſteller ausnehmen wird. Manzoni's innere Bildung erſcheint hier auf einer ſolchen Hoͤhe, daß ihm ſchwerlich etwas gleich kommen kann; ſie be¬ gluͤckt uns als eine durchaus reife Frucht. Und eine Klarheit in der Behandlung und Darſtellung des Ein¬ zelnen wie der italieniſche Himmel ſelber. Sind auch Spuren von Sentimentalitaͤt in ihm? fragte ich. Durch¬ aus nicht, antwortete Goethe. Er hat Sentiment, aber er iſt ohne alle Sentimentalitaͤt; die Zuſtaͤnde ſind maͤnnlich und rein empfunden. Ich will heute nichts376 weiter ſagen, ich bin noch im erſten Bande, bald aber ſollen Sie mehr hoͤren.

Als ich dieſen Abend zu Goethe ins Zimmer trat, fand ich ihn im Leſen von Manzoni's Roman. Ich bin ſchon im dritten Bande, ſagte er, indem er das Buch an die Seite legte, und komme dabey zu vielen neuen Gedanken. Sie wiſſen, Ariſtoteles ſagt vom Trauerſpiele, es muͤſſe Furcht erregen, wenn es gut ſeyn ſolle. Es gilt dieſes jedoch nicht bloß von der Tragoͤdie, ſondern auch von mancher anderen Dichtung. Sie finden es in meinem Gott und die Bajadere, Sie finden es in jedem guten Luſtſpiele und zwar bey der Verwickelung, ja Sie finden es ſogar in den ſie¬ ben Maͤdchen in Uniform, indem wir doch immer nicht wiſſen koͤnnen, wie der Spaß fuͤr die guten Din¬ ger ablaͤuft. Dieſe Furcht nun kann doppelter Art ſeyn, ſie kann beſtehen in Angſt, oder ſie kann auch beſtehen in Bangigkeit. Dieſe letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moraliſches Übel auf die handelnden Perſonen heranruͤcken und ſich uͤber ſie verbreiten ſehen, wie z. B. in den Wahlverwandtſchaften. Die Angſt aber entſteht im Leſer oder Zuſchauer, wenn die han¬ delnden Perſonen von einer phyſiſchen Gefahr bedroht377 werden. Z. B. in den Galeerenſclaven und im Freyſchuͤtz; ja in der Scene der Wolfsſchlucht bleibt es nicht einmal bey der Angſt, ſondern es erfolgt eine totale Vernichtung in Allen die es ſehen.

Von dieſer Angſt nun macht Manzoni Gebrauch und zwar mit wunderbarem Gluͤck, indem er ſie in Ruͤhrung aufloͤſet und uns durch dieſe Empfindung zur Bewunderung fuͤhrt. Das Gefuͤhl der Angſt iſt ſtoffartig, und wird in jedem Leſer entſtehen, die Be¬ wunderung aber entſpringt aus der Einſicht, wie vor¬ trefflich der Autor ſich in jedem Falle benahm und nur der Kenner wird mit dieſer Empfindung begluͤckt wer¬ den. Was ſagen Sie zu dieſer Äſthetik? Waͤre ich juͤnger, ſo wuͤrde ich nach dieſer Theorie etwas ſchreiben, wenn auch nicht ein Werk von ſolchem Umfange, wie dieſes von Manzoni.

Ich bin nun wirklich ſehr begierig, was die Her¬ ren vom Globe zu dieſem Roman ſagen werden; ſie ſind geſcheidt genug, um das Vortreffliche daran zu er¬ kennen; auch iſt die ganze Tendenz des Werkes ein rech¬ tes Waſſer auf die Muͤhle dieſer Liberalen, wiewohl ſich Manzoni ſehr maͤßig gehalten hat. Doch nehmen die Franzoſen ſelten ein Werk mit ſo reiner Neigung auf wie wir; ſie bequemen ſich nicht gerne zu dem Standpuncte des Autors, ſondern ſie finden, ſelbſt bey dem Beſten, immer leicht etwas, das nicht nach ihrem Sinne iſt und das der Autor haͤtte ſollen anders machen.

378

Goethe erzaͤhlte mir ſodann einige Stellen des Ro¬ mans, um mir eine Probe zu geben, mit welchem Geiſte er geſchrieben. Es kommen, fuhr er ſodann fort, Manzoni vorzuͤglich vier Dinge zu Statten, die zu der großen Vortrefflichkeit ſeines Werkes beygetragen. Zunaͤchſt daß er ein ausgezeichneter Hiſtoriker iſt, wodurch denn ſeine Dichtung die große Wuͤrde und Tuͤchtigkeit bekommen hat, die ſie uͤber alles dasjenige weit hinaus¬ hebt, was man gewoͤhnlich ſich unter Roman vorſtellt. Zweytens iſt ihm die katholiſche Religion vortheilhaft, aus der viele Verhaͤltniſſe poetiſcher Art hervorgehen, die er als Proteſtant nicht gehabt haben wuͤrde. So wie es drittens ſeinem Werke zu gute kommt, daß der Autor in revolutionairen Reibungen viel gelitten, die, wenn er auch perſoͤnlich nicht darin verflochten geweſen, doch ſeine Freunde getroffen und theils zu Grunde ge¬ richtet haben. Und endlich viertens iſt es dieſem Ro¬ mane guͤnſtig, daß die Handlung in der reizenden Ge¬ gend am Comer See vorgeht, deren Eindruͤcke ſich dem Dichter von Jugend auf eingepraͤgt haben und die er alſo in - und auswendig kennet. Daher entſpringt nun auch ein großes Hauptverdienſt des Werkes, naͤmlich die Deutlichkeit und das bewundernswuͤrdige Detail in Zeich¬ nung der Localitaͤt.

379

Als ich dieſen Abend gegen acht Uhr in Goethe's Hauſe anfragte, hoͤrte ich, er ſey noch nicht vom Gar¬ ten zuruͤckgekehrt. Ich ging ihm daher entgegen und fand ihn im Park auf einer Bank unter kuͤhlen Linden ſitzen, ſeinen Enkel Wolfgang an ſeiner Seite.

Goethe ſchien ſich meiner Annaͤherung zu freuen und winkte mir, neben ihm Platz zu nehmen. Wir hatten kaum die erſten fluͤchtigen Reden des Zuſammentreffens abgethan, als das Geſpraͤch ſich wieder auf Manzoni wendete.

Ich ſagte Ihnen doch neulich, begann Goethe, daß unſerm Dichter in dieſem Roman der Hiſtoriker zu gute kaͤme, jetzt aber im dritten Bande finde ich, daß der Hiſtoriker dem Poeten einen boͤſen Streich ſpielt, indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Hi¬ ſtoriker daſteht. Und zwar geſchieht dieſes bey einer Beſchreibung von Krieg, Hungersnoth und Peſtilenz, welche Dinge ſchon an ſich widerwaͤrtiger Art ſind, und die nun durch das umſtaͤndliche Detail einer trockenen chro¬ nikenhaften Schilderung unertraͤglich werden. Der deutſche Überſetzer muß dieſen Fehler zu vermeiden ſuchen, er muß die Beſchreibung des Kriegs und der Hungersnoth um einen guten Theil, und die der Peſt um zwey380 Drittheil zuſammenſchmelzen, ſo daß nur ſo viel uͤbrig bleibt, als noͤthig iſt, um die handelnden Perſonen darin zu verflechten. Haͤtte Manzoni einen rathgebenden Freund zur Seite gehabt, er haͤtte dieſen Fehler ſehr leicht vermeiden koͤnnen. Aber er hatte als Hiſtoriker zu großen Reſpect vor der Realitaͤt. Dieß macht ihm ſchon bey ſeinen dramatiſchen Werken zu ſchaffen, wo er ſich jedoch dadurch hilft, daß er den uͤberfluͤſſigen geſchichtlichen Stoff als Noten beygiebt. In dieſem Falle aber hat er ſich nicht ſo zu helfen gewußt und ſich von dem hiſtoriſchen Vorrath nicht trennen koͤnnen. Dieß iſt ſehr merkwuͤrdig. Doch ſobald die Perſonen des Romans wieder auftreten, ſteht der Poet in voller Glorie wieder da und noͤthigt uns wieder zu der ge¬ wohnten Bewunderung.

Wir ſtanden auf und lenkten unſere Schritte dem Hauſe zu.

Man ſollte kaum begreifen, fuhr Goethe fort, wie ein Dichter wie Manzoni, der eine ſo bewunderungs¬ wuͤrdige Compoſition zu machen verſteht, nur einen Augenblick gegen die Poeſie hat fehlen koͤnnen. Doch die Sache iſt einfach; ſie iſt dieſe.

Manzoni iſt ein geborener Poet, ſo wie Schil¬ ler einer war. Doch unſere Zeit iſt ſo ſchlecht, daß dem Dichter im umgebenden menſchlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. Um ſich nun auf¬ zuerbauen, griff Schiller zu zwey großen Dingen: zur381 Philoſophie und Geſchichte; Manzoni zur Geſchichte allein. Schillers Wallenſtein iſt ſo groß, daß in ſeiner Art zum zweyten Mal nicht etwas Ähnliches vorhanden iſt; aber Sie werden finden, daß eben dieſe beyden ge¬ waltigen Huͤlfen, die Geſchichte und Philoſophie, dem Werke an verſchiedenen Theilen im Wege ſind und ſei¬ nen reinen poetiſchen Succeß hindern. So leidet Man¬ zoni durch ein Übergewicht der Geſchichte.

Euer Excellenz, ſagte ich, ſprechen große Dinge aus und ich bin gluͤcklich, Ihnen zuzuhoͤren. Manzoni, ſagte Goethe, hilft uns zu guten Gedanken. Er wollte in Äußerung ſeiner Betrachtungen fortfahren, als der Canzler an der Pforte von Goethe's Hausgarten uns entgegentrat und ſo das Geſpraͤch unterbrochen wurde. Er geſellte ſich, als ein Willkommener, zu uns und wir begleiteten Goethe die kleine Treppe hinauf durch das Buͤſtenzimmer in den laͤnglichen Saal, wo die Rouleau's niedergelaſſen waren und auf dem Tiſch am Fenſter zwey Lichter brannten. Wir ſetzten uns um den Tiſch, wo dann zwiſchen Goethe und dem Canzler Gegenſtaͤnde anderer Art verhandelt wurden.

382

Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuh¬ ren wir ab; der Morgen war ſehr ſchoͤn. Die Straße geht anfaͤnglich bergan, und da wir in der Natur nichts zu betrachten fanden, ſo ſprach Goethe von literariſchen Dingen. Ein bekannter deutſcher Dichter war dieſer Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen ſein Stammbuch gegeben. Was darin fuͤr ſchwaches Zeug ſteht, glauben Sie nicht, ſagte Goethe. Die Poeten ſchreiben alle, als waͤren ſie krank und die ganze Welt ein Lazareth. Alle ſprechen ſie von dem Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jen¬ ſeit, und unzufrieden, wie ſchon alle ſind, hetzt einer den andern in noch groͤßere Unzufriedenheit hinein. Das iſt ein wahrer Mißbrauch der Poeſie, die uns doch eigentlich dazu gegeben iſt, um die kleinen Zwiſte des Lebens auszugleichen und den Menſchen mit der Welt und ſeinem Zuſtand zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fuͤrchtet ſich vor aller echten Kraft und nur bey der Schwaͤche iſt es ihr gemuͤthlich und poetiſch zu Sinne.

Ich habe ein gutes Wort gefunden, fuhr Goethe fort, um dieſe Herren zu aͤrgern. Ich will ihre Poeſie die Lazareth-Poeſie nennen; dagegen die echt Tyr¬ taͤiſche diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder ſingt,383 ſondern auch den Menſchen mit Muth ausruͤſtet, die Kaͤmpfe des Lebens zu beſtehen.

Goethe's Worte erhielten meine ganze Zuſtimmung.

Im Wagen zu unſern Fuͤßen lag ein aus Binſen geflochtener Korb mit zwey Handgriffen, der meine Aufmerkſamkeit erregte. Ich habe ihn, ſagte Goethe, aus Marienbad mitgebracht, wo man ſolche Koͤrbe in allen Groͤßen hat, und ich bin ſo an ihn gewoͤhnt, daß ich nicht reiſen kann, ohne ihn bey mir zu fuͤhren. Sie ſehen, wenn er leer iſt, legt er ſich zuſammen und nimmt wenig Raum ein; gefuͤllt dehnt er ſich nach al¬ len Seiten aus und faßt mehr, als man denken ſollte. Er iſt weich und biegſam und dabey ſo zaͤhe und ſtark, daß man die ſchwerſten Sachen darin fortbringen kann.

Er ſieht ſehr maleriſch und ſogar antik aus, ſagte ich.

Sie haben Recht, ſagte Goethe, er kommt der Antike nahe, denn er iſt nicht allein ſo vernuͤnftig und zweckmaͤßig als moͤglich, ſondern er hat auch dabey die einfachſte, gefaͤlligſte Form, ſo daß man alſo ſagen kann: er ſteht auf dem hoͤchſten Punkt der Vollendung. Auf meinen mineralogiſchen Excurſionen in den boͤhmiſchen Gebirgen iſt er mir beſonders zu Statten gekommen. Jetzt enthaͤlt er unſer Fruͤhſtuͤck. Haͤtte ich einen Ham¬ mer mit, ſo moͤchte es auch heute nicht an Gelegenheit fehlen, hin und wieder ein Stuͤckchen abzuſchlagen und ihn mit Steinen gefuͤllt zuruͤckzubringen.

384

Wir waren auf die Hoͤhe gekommen und hatten die freye Ausſicht auf die Huͤgel, hinter denen Berka liegt. Ein wenig links ſahen wir in das Thal, das nach Hetſchburg fuͤhrt und wo auf der andern Seite der Ilm ein Berg vorliegt, der uns ſeine Schattenſeite zukehrte und wegen der vorſchwebenden Duͤnſte des Ilm-Thales meinen Augen blau erſchien. Ich blickte durch mein Glas auf dieſelbige Stelle und das Blau verringerte ſich auffallend. Ich machte Goethen dieſe Bemerkung. Da ſieht man doch, ſagte ich, wie auch bey den rein objectiven Farben das Subject eine große Rolle ſpielt. Ein ſchwaches Auge befoͤrdert die Truͤbe, dagegen ein geſchaͤrftes treibt ſie fort oder macht ſie wenigſtens geringer.

Ihre Bemerkung iſt vollkommen richtig, ſagte Goethe; durch ein gutes Fernrohr kann man ſogar das Blau der fernſten Gebirge verſchwinden machen. Ja! das Subject iſt bey allen Erſcheinungen wichtiger als man denkt. Schon Wieland wußte dieſes ſehr gut, denn er pflegte gewoͤhnlich zu ſagen: Man koͤnnte die Leute wohl amuͤſiren, wenn ſie nur amuͤ¬ ſabel waͤren. Wir lachten uͤber den heiteren Geiſt dieſer Worte.

Wir waren indeß das kleine Thal hinabgefahren, wo die Straße uͤber eine hoͤlzerne mit einem Dach uͤber¬ baute Bruͤcke geht, unter welcher das nach Hetſchburg hinabfließende Regenwaſſer ſich ein Bette gebildet hat385 das jetzt trocken lag. Chauſſée-Arbeiter waren beſchaͤf¬ tigt, an den Seiten der Bruͤcke einige aus roͤthlichem Sandſteine gehauene Steine zu errichten, die Goethe's Aufmerkſamkeit auf ſich zogen. Etwa eine Wurfsweite uͤber die Bruͤcke hinaus, wo die Straße ſich ſachte an den Huͤgel hinanhebt, der den Reiſenden von Berka trennet, ließ Goethe halten. Wir wollen hier ein wenig ausſteigen, ſagte er, und ſehen, ob ein kleines Fruͤhſtuͤck in freyer Luft uns ſchmecken wird. Wir ſtiegen aus und ſahen uns um. Der Bediente breitete eine Serviette uͤber einen viereckigen Steinhaufen, wie ſie an den Chauſſéen zu liegen pflegen und holte aus dem Wagen den aus Binſen geflochtenen Korb, aus welchem er neben friſchen Semmeln, gebratene Reb¬ huͤhner und ſaure Gurken auftiſchte. Goethe ſchnitt ein Rebhuhn durch und gab mir die eine Haͤlfte. Ich , indem ich ſtand und herumging; Goethe hatte ſich dabey auf die Ecke eines Steinhaufens geſetzt. Die Kaͤlte der Steine, woran noch der naͤchtliche Thau haͤngt, kann ihm unmoͤglich gut ſeyn, dachte ich und machte meine Beſorgniß bemerklich; Goethe aber ver¬ ſicherte, daß es ihm durchaus nicht ſchade, wodurch ich mich denn beruhigt fuͤhlte und es als ein neues Zeichen anſah, wie kraͤftig er ſich in ſeinem Innern empfinden muͤſſe. Der Bediente hatte indeß auch eine Flaſche Wein aus dem Wagen geholt, wovon er uns einſchenkte Unſer Freund Schuͤtze, ſagte Goethe, hat nicht Un¬I. 25386recht, wenn er jede Woche eine Ausflucht aufs Land macht; wir wollen ihn uns zum Muſter nehmen und wenn das Wetter ſich nur einigermaßen haͤlt, ſo ſoll dieß auch unſere letzte Partie nicht geweſen ſeyn. Ich freute mich dieſer Verſicherung.

Ich verlebte darauf mit Goethe, theils in Berka, theils in Tonndorf einen hoͤchſt merkwuͤrdigen Tag. Er war in den geiſtreichſten Mittheilungen unerſchoͤpflich; auch uͤber den zweiten Theil des Fauſt, woran er damals ernſtlich zu arbeiten anfing, aͤußerte er viele Gedanken, und ich bedaure deßhalb um ſo mehr, daß in meinem Tagebuche ſich nichts weiter notirt findet als dieſe Einleitung.

About this transcription

TextGespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
Author Johann Peter Eckermann
Extent409 images; 76967 tokens; 10506 types; 522082 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823-1832 Erster Theil Johann Peter Eckermann. . XIV, 386 S BrockhausLeipzig1836.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Au 5971-1/3 Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=601943287

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; (Auto)biographie; Belletristik; Biographie; core; ready; ocr

Editorial statement

Editorial principles

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.

Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T09:32:13Z
Identifiers
Availability

Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Unported License.

Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, Au 5971-1/3 R
Bibliographic Record Catalogue link
Terms of use Images served by Deutsches Textarchiv. Access to digitized documents is granted strictly for non-commercial, educational, research, and private purposes only. Please contact the holding library for reproduction requests and other copy-specific information.