PRIMS Full-text transcription (HTML)
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Die Wahlverwandtſchaften.
Zweyter Theil.
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Die Wahlverwandtſchaften.
Zweyter Theil.
Tuͤbingen,in der J. G. Cottaiſchen Buchhandlung.1809.
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Erſtes Kapitel.

Im gemeinen Leben begegnet uns oft was wir in der Epopoͤe als Kunſtgriff des Dichters zu ruͤhmen pflegen, daß naͤmlich wenn die Hauptfiguren ſich entfernen, ver¬ bergen, ſich der Unthaͤtigkeit hingeben, gleich ſodann ſchon ein zweyter, dritter, bisher kaum Bemerkter den Platz fuͤllt, und indem er ſeine ganze Thaͤtigkeit aͤußert, uns gleichfalls der Aufmerkſamkeit, der Theilnahme, ja des Lo¬ bes und Preiſes wuͤrdig erſcheint.

So zeigte ſich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards jener Archi¬6 tect taͤglich bedeutender, von welchem die An¬ ordnung und Ausfuͤhrung ſo manches Unter¬ nehmens allein abhing, wobey er ſich genau, verſtaͤndig und thaͤtig erwies, und zugleich den Damen auf mancherley Art beyſtand und in ſtillen langwierigen Stunden ſie zu unterhal¬ ten wußte. Schon ſein Aeußeres war von der Art, daß es Zutrauen einfloͤßte und Nei¬ gung erweckte. Ein Juͤngling im vollen Sinne des Worts, wohlgebaut, ſchlank, eher ein wenig zu groß, beſcheiden ohne aͤngſtlich, zutraulich ohne zudringend zu ſeyn. Freudig uͤbernahm er jede Sorge und Bemuͤhung, und weil er mit großer Leichtigkeit rechnete, ſo war ihm bald das ganze Hausweſen kein Geheimniß, und uͤberall hin verbreitete ſich ſein guͤnſtiger Einfluß. Die Fremden ließ man ihn gewoͤhnlich empfangen und er wußte einen unerwarteten Beſuch entweder abzuleh¬ nen, oder die Frauen wenigſtens dergeſtalt dar¬ auf vorzubereiten, daß ihnen keine Unbequem¬ lichkeit daraus entſprang.

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Unter andern gab ihm eines Tags ein junger Rechtsgelehrter viel zu ſchaffen, der von einem benachbarten Edelmann geſendet eine Sache zur Sprache brachte, die zwar von keiner ſonderlichen Bedeutung Charlotten dennoch innig beruͤhrte. Wir muͤſſen dieſes Vorfalls gedenken, weil er verſchiedenen Din¬ gen einen Anſtoß gab, die ſonſt vielleicht lange geruht haͤtten.

Wir erinnern uns jener Veraͤnderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorge¬ nommen hatte. Die ſaͤmmtlichen Monumente waren von ihrer Stelle geruͤckt und hatten an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden. Der uͤbrige Raum war geebnet. Außer einem breiten Wege, der zur Kirche und an derſelben vorbey zu dem jen¬ ſeitigen Pfoͤrtchen fuͤhrte, war das uͤbrige alles mit verſchiedenen Arten Klee beſaͤt, der auf das ſchoͤnſte gruͤnte und bluͤhte. Nach einer gewiſſen Ordnung ſollten vom Ende her¬8 an die neuen Graͤber beſtellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls beſaͤt werden. Niemand konnte laͤugnen, daß dieſe Anſtalt beym ſonn - und feſttaͤgigen Kirch¬ gang eine heitere und wuͤrdige Anſicht ge¬ waͤhrte. Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geiſtliche, der an¬ faͤnglich mit der Einrichtung nicht ſonderlich zufrieden geweſen, hatte nunmehr ſeine Freude daran, wenn er unter den alten Linden, gleich Philemon, mit ſeiner Baucis vor der Hin¬ terthuͤre ruhend, ſtatt der holprigen Grab¬ ſtaͤtten einen ſchoͤnen, bunten Teppich vor ſich ſah, der noch uͤberdieß ſeinem Haushalt zu Gute kommen ſollte, indem Charlotte die Nutzung dieſes Fleckes der Pfarre zuſichern laſſen.

Allein demungeachtet hatten ſchon manche Gemeindeglieder fruͤher gemißbilligt, daß man die Bezeichnung der Stelle wo ihre Vorfah¬ ren ruhten, aufgehoben und das Andenken9 dadurch gleichſam ausgeloͤſcht: denn die wohl¬ erhaltenen Monumente zeigten zwar an, wer begraben ſey, aber nicht wo er begraben ſey, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie Viele behaupteten.

Von eben ſolcher Geſinnung war eine be¬ nachbarte Familie, die ſich und den Ihrigen einen Raum auf dieſer allgemeinen Ruheſtaͤtte vor mehreren Jahren ausbedungen und dafuͤr der Kirche eine kleine Stiftung zugewendet hatte. Nun war der junge Rechtsgelehrte abgeſendet, um die Stiftung zu wiederrufen und anzuzeigen, daß man nicht weiter zahlen werde, weil die Bedingung unter welcher dieſes bisher geſchehen, einſeitig aufgehoben und auf alle Vorſtellungen und Widerreden nicht geachtet worden. Charlotte, die Urhe¬ berinn dieſer Veraͤnderung, wollte den jungen Mann ſelbſt ſprechen, der zwar lebhaft, aber nicht allzu vorlaut, ſeine und ſeines Princi¬10 pals Gruͤnde darlegte und der Geſellſchaft manches zu denken gab.

Sie ſehen, ſprach er, nach einem kurzen Eingang, in welchem er ſeine Zudringlichkeit zu rechtfertigen wußte: Sie ſehen daß dem Geringſten wie dem Hoͤchſten daran gelegen iſt, den Ort zu bezeichnen der die Seinigen aufbewahrt. Dem aͤrmſten Landmann, der ein Kind begraͤbt, iſt es eine Art von Troſt, ein ſchwaches hoͤlzernes Kreuz auf das Grab zu ſtellen, es mit einem Kranze zu zieren, um wenigſtens das Andenken ſo lange zu er¬ halten als der Schmerz waͤhrt, wenn auch ein ſolches Merkzeichen, wie die Trauer ſelbſt, durch die Zeit aufgehoben wird. Wohlha¬ bende verwandeln dieſe Kreuze in eiſerne, be¬ feſtigen und ſchuͤtzen ſie auf mancherley Weiſe, und hier iſt ſchon Dauer fuͤr mehrere Jahre. Doch weil auch dieſe endlich ſinken und un¬ ſcheinbar werden; ſo haben Beguͤterte nichts Angelegneres, als einen Stein aufzurichten,11 der fuͤr mehrere Generationen zu dauern ver¬ ſpricht und von den Nachkommen erneut und aufgefriſcht werden kann. Aber dieſer Stein iſt es nicht, der uns anzieht, ſondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute. Es iſt nicht ſowohl vom Anden¬ ken die Rede, als von der Perſon ſelbſt, nicht von der Erinnerung, ſondern von der Gegenwart. Ein geliebtes Abgeſchiedenes umarme ich weit eher und inniger im Grab¬ huͤgel als im Denkmal: denn dieſes iſt fuͤr ſich eigentlich nur wenig; aber um daſſelbe her ſollen ſich, wie um einen Markſtein, Gat¬ ten, Verwandte, Freunde, ſelbſt nach ihrem Hinſcheiden noch verſammeln, und der Le¬ bende ſoll das Recht behalten, Fremde und Miswollende auch von der Seite ſeiner ge¬ liebten Ruhenden abzuweiſen und zu entfernen.

Ich halte deswegen dafuͤr, daß mein Principal voͤllig Recht habe, die Stiftung zuruͤckzunehmen; und dieß iſt noch billig ge¬12 nug, denn die Glieder der Familie ſind auf eine Weiſe verletzt, wofuͤr gar kein Erſatz zu denken iſt. Sie ſollen das ſchmerzlich ſuͤße Gefuͤhl entbehren, ihren Geliebten ein Tod¬ tenopfer zu bringen, die troͤſtliche Hoffnung dereinſt unmittelbar neben ihnen zu ruhen.

Die Sache iſt nicht von der Bedeutung, verſetzte Charlotte, daß man ſich deshalb durch einen Rechtshandel beunruhigen ſollte. Meine Anſtalt reut mich ſo wenig, daß ich die Kirche gern, wegen deſſen was ihr entgeht, entſchaͤdigen will. Nur muß ich Ihnen auf¬ richtig geſtehen, Ihre Argumente haben mich nicht uͤberzeugt. Das reine Gefuͤhl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigſtens nach dem Tode, ſcheint mir beruhigender als dieſes eigenſinnige ſtarre Fortſetzen unſerer Perſoͤnlichkeiten, Anhaͤnglichkeiten und Lebens¬ verhaͤltniſſe. Und was ſagen Sie hierzu? richtete ſie ihre Frage an den Architecten.

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Ich moͤchte, verſetzte dieſer, in einer ſol¬ chen Sache weder ſtreiten, noch den Ausſchlag geben. Laſſen Sie mich das, was meiner Kunſt, meiner Denkweiſe am naͤchſten liegt, beſcheidentlich aͤußern. Seitdem wir nicht mehr ſo gluͤcklich ſind, die Reſte eines ge¬ liebten Gegenſtandes eingeurnt an unſere Bruſt zu druͤcken; da wir weder reich noch heiter genug ſind, ſie unverſehrt in großen wohl ausgezierten Sarkophagen zu verwah¬ ren; ja da wir nicht einmal in den Kirchen mehr Platz fuͤr uns und fuͤr die Unſrigen fin¬ den, ſondern hinaus ins Freye gewieſen ſind: ſo haben wir alle Urſache, die Art und Weiſe die Sie, meine gnaͤdige Frau, eingeleitet ha¬ ben, zu billigen. Wenn die Glieder einer Gemeinde reihenweiſe neben einander liegen, ſo ruhen ſie bey und unter den Ihrigen; und wenn die Erde uns einmal aufnehmen ſoll, ſo finde ich nichts natuͤrlicher und reinlicher, als daß man die zufaͤllig entſtandenen nach14 und nach zuſammenſinkenden Huͤgel unge¬ ſaͤumt vergleiche, und ſo die Decke, indem alle ſie tragen, einem Jeden leichter gemacht werde.

Und ohne irgend ein Zeichen des Anden¬ kens, ohne irgend etwas das der Erinne¬ rung entgegen kaͤme, ſollte das alles ſo vor¬ uͤbergehen? verſetzte Ottilie.

Keineswegs! fuhr der Architect fort: nicht vom Andenken, nur vom Platze ſoll man ſich losſagen. Der Baukuͤnſtler, der Bildhauer ſind hoͤchlich intereſſirt, daß der Menſch von ihnen, von ihrer Kunſt, von ihrer Hand eine Dauer ſeines Daſeyns erwarte; und des¬ wegen wuͤnſchte ich gut gedachte, gut ausge¬ fuͤhrte Monumente, nicht einzeln und zufaͤllig ausgeſaͤt, ſondern an einem Orte aufgeſtellt, wo ſie ſich Dauer verſprechen koͤnnen. Da ſelbſt die Frommen und Hohen auf das Vor¬15 recht Verzicht thun, in den Kirchen perſoͤn¬ lich zu ruhen, ſo ſtelle man wenigſtens dort, oder in ſchoͤnen Hallen um die Begraͤbni߬ plaͤtze, Denkzeichen, Denkſchriften auf. Es giebt tauſenderley Formen die man ihnen vor¬ ſchreiben, tauſenderley Zieraten womit man ſie ausſchmuͤcken kann.

Wenn die Kuͤnſtler ſo reich ſind, verſetzte Charlotte, ſo ſagen Sie mir doch: wie kann man ſich niemals aus der Form eines klein¬ lichen Obelisken, einer abgeſtutzten Saͤule und eines Aſchenkrugs herausfinden? Anſtatt der tauſend Erfindungen, deren Sie ſich ruͤhmen, habe ich nur immer tauſend Wiederholungen geſehen.

Das iſt wohl bey uns ſo, entgegnete ihr der Architect, aber nicht uͤberall. Und uͤber¬ haupt mag es mit der Erfindung und der ſchicklichen Anwendung eine eigne Sache ſeyn. 16Beſonders hat es in dieſem Falle manche Schwierigkeit, einen ernſten Gegenſtand zu erheitern und bey einem unerfreulichen nicht ins Unerfreuliche zu gerathen. Was Ent¬ wuͤrfe zu Monumenten aller Art betrifft, de¬ ren habe ich viele geſammelt und zeige ſie gele¬ gentlich; doch bleibt immer das ſchoͤnſte Denk¬ mal des Menſchen eigenes Bildniß. Dieſes giebt mehr als irgend etwas anders einen Begriff von dem was er war; es iſt der beſte Text zu vielen oder wenigen Noten: nur muͤßte es aber auch in ſeiner beſten Zeit gemacht ſeyn, welches gewoͤhnlich verſaͤumt wird. Niemand denkt daran lebende Formen zu erhalten, und wenn es geſchieht, ſo geſchieht es auf unzu¬ laͤngliche Weiſe. Da wird ein Todter ge¬ ſchwind noch abgegoſſen und eine ſolche Maske auf einen Block geſetzt, und das heißt man eine Buͤſte. Wie ſelten iſt der Kuͤnſtler im Stande ſie voͤllig wieder zu be¬ leben!

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Sie haben, ohne es vielleicht zu wiſſen und zu wollen, verſetzte Charlotte, dieß Ge¬ ſpraͤch ganz zu meinen Gunſten gelenkt. Das Bild eines Menſchen iſt doch wohl unabhaͤngig; uͤberall wo es ſteht, ſteht es fuͤr ſich und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die eigentliche Grabſtaͤtte bezeichne. Aber ſoll ich Ihnen eine wunderliche Empfin¬ dung bekennen, ſelbſt gegen die Bildniſſe habe ich eine Art von Abneigung: denn ſie ſcheinen mir immer einen ſtillen Vorwurf zu machen; ſie deuten auf etwas Entferntes, Abgeſchiede¬ nes und erinnern mich, wie ſchwer es ſey, die Gegenwart recht zu ehren. Gedenkt man, wie viel Menſchen man geſehen, gekannt, und geſteht ſich, wie wenig wir ihnen, wie wenig ſie uns geweſen, wie wird uns da zu Mu¬ the! Wir begegnen dem Geiſtreichen ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten ohne von ihm zu lernen, dem Gereiſten ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.

II. 218

Und leider ereignet ſich dieß nicht blos mit den Voruͤbergehenden. Geſellſchaften und Familien betragen ſich ſo gegen ihre liebſten Glieder, Staͤdte gegen ihre wuͤrdigſten Buͤr¬ ger, Voͤlker gegen ihre trefflichſten Fuͤrſten, Nationen gegen ihre vorzuͤglichſten Menſchen.

Ich hoͤrte fragen, warum man von den Todten ſo unbewunden Gutes ſage, von den Lebenden immer mit einer gewiſſen Vorſicht. Es wurde geantwortet: weil wir von jenen nichts zu befuͤrchten haben, und dieſe uns noch irgendwo in den Weg kommen koͤnnten. So unrein iſt die Sorge fuͤr das Andenken der andern; es iſt meiſt nur ein ſelbſtiſcher Scherz, wenn es dagegen ein heiliger Ernſt waͤre, ſeine Verhaͤltniſſe gegen die Ueberblie¬ benen immer lebendig und thaͤtig zu erhalten.

Zweytes Kapitel.

Aufgeregt durch den Vorfall und die dar¬ an ſich knuͤpfenden Geſpraͤche, begab man ſich des andern Tages nach dem Begraͤbni߬ platz, zu deſſen Verzierung und Erheiterung der Architect manchen gluͤcklichen Vorſchlag that. Allein auch auf die Kirche ſollte ſich ſeine Sorgfalt erſtrecken, auf ein Gebaͤude das gleich anfaͤnglich ſeine Aufmerkſamkeit an ſich gezogen hatte.

Dieſe Kirche ſtand ſeit mehreren Jahr¬ hunderten, nach deutſcher Art und Kunſt, in guten Maaßen errichtet und auf eine gluͤckliche Weiſe verziert. Man konnte wohl nachkom¬ men, daß der Baumeiſter eines benachbarten2 *20Kloſters mit Einſicht und Neigung ſich auch an dieſem kleineren Gebaͤude bewaͤhrt, und es wirkte noch immer ernſt und angenehm auf den Betrachter, obgleich die innere neue Einrichtung zum proteſtantiſchen Gottesdienſte ihm etwas von ſeiner Ruhe und Majeſtaͤt genommen hatte.

Dem Architecten fiel es nicht ſchwer, ſich von Charlotten eine maͤßige Summe zu er¬ bitten, wovon er das Aeußere ſowohl als das Innere im alterthuͤmlichen Sinne herzuſtellen und mit dem davor liegenden Auferſtehungs¬ felde zur Uebereinſtimmung zu bringen ge¬ dachte. Er hatte ſelbſt viel Handgeſchick, und einige Arbeiter, die noch am Hausbau beſchaͤftigt waren, wollte man gern ſo lange beybehalten bis auch dieſes fromme Werk vollendet waͤre.

Man war nunmehr in dem Falle, das Gebaͤude ſelbſt mit allen Umgebungen und21 Angebaͤuden zu unterſuchen, und da zeigte ſich zum groͤßten Erſtaunen und Vergnuͤgen des Architecten eine wenig bemerkte kleine Sei¬ tencapelle von noch geiſtreichern und leichte¬ ren Maaßen, von noch gefaͤlligern und fleißi¬ gern Zieraten. Sie enthielt zugleich manchen geſchnitzten und gemalten Reſt jenes aͤlteren Gottesdienſtes, der mit mancherley Gebild und Geraͤthſchaft die verſchiedenen Feſte zu bezeichnen und jedes auf ſeine eigne Weiſe zu feyern wußte.

Der Architect konnte nicht unterlaſſen, die Capelle ſogleich in ſeinen Plan mit her¬ einzuziehen und beſonders dieſen engen Raum als ein Denkmal voriger Zeiten und ihres Geſchmacks wieder herzuſtellen. Er hatte ſich die leeren Flaͤchen nach ſeiner Neigung ſchon verziert gedacht, und freute ſich dabey ſein maleriſches Talent zu uͤben; allein er machte ſeinen Hausgenoſſen fuͤrs Erſte ein Geheim¬ niß davon.

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Vor allem andern zeigte er verſprochener¬ maßen den Frauen die verſchiedenen Nachbil¬ dungen und Entwuͤrfe von alten Grabmonu¬ menten, Gefaͤßen und andern dahin ſich naͤ¬ hernden Dingen, und als man im Geſpraͤch auf die einfacheren Grabhuͤgel der nordiſchen Voͤlker zu reden kam, brachte er ſeine Samm¬ lung von mancherley Waffen und Geraͤth¬ ſchaften die darin gefunden worden, zur An¬ ſicht. Er hatte alles ſehr reinlich und trag¬ bar in Schubladen und Faͤchern auf einge¬ ſchnittenen mit Tuch uͤberzogenen Brettern, ſo daß dieſe alten ernſten Dinge durch ſeine Be¬ handlung etwas Putzhaftes annahmen und man mit Vergnuͤgen darauf, wie auf die Kaͤſtchen eines Modehaͤndlers hinblickte. Und da er einmal im Vorzeigen war, da die Einſamkeit eine Unterhaltung forderte, ſo pflegte er jeden Abend mit einem Theil ſeiner Schaͤtze her¬ vorzutreten. Sie waren meiſtentheils deut¬ ſchen Urſprungs: Bracteaten, Dickmuͤnzen, Siegel und was ſonſt ſich noch anſchließen23 mag. Alle dieſe Dinge richteten die Einbil¬ dungskraft gegen die aͤltere Zeit hin, und da er zuletzt mit den Anfaͤngen des Drucks, Holzſchnitten und den aͤlteſten Kupfern ſeine Unterhaltung zierte, und die Kirche taͤglich auch, jenem Sinne gemaͤß, an Farbe und ſonſtiger Auszierung gleichſam der Vergangen¬ heit entgegenwuchs; ſo mußte man ſich bey¬ nahe ſelbſt fragen: ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum ſey, daß man nunmehr in ganz andern Sit¬ ten, Gewohnheiten, Lebensweiſen und Ueber¬ zeugungen verweile.

Auf ſolche Art vorbereitet that ein groͤße¬ res Portefeuille, das er zuletzt herbeybrachte, die beſte Wirkung. Es enthielt zwar meiſt nur umrißne Figuren, die aber, weil ſie auf die Bilder ſelbſt durchgezeichnet waren, ihren alterthuͤmlichen Character vollkommen erhalten hatten, und dieſen, wie einnehmend fanden ihn die Beſchauenden! Aus allen Geſtalten24 blickte nur das reinſte Daſeyn hervor, alle mußte man, wo nicht fuͤr edel, doch fuͤr gut anſprechen. Heitere Sammlung, willige An¬ erkennung eines Ehrwuͤrdigen uͤber uns, ſtille Hingebung in Liebe und Erwartung war auf allen Geſichtern, in allen Gebaͤrden ausge¬ druͤckt. Der Greis mit dem kahlen Scheitel, der reichlockige Knabe, der muntere Juͤngling, der ernſte Mann, der verklaͤrte Heilige, der ſchwebende Engel, alle ſchienen ſelig in einem unſchuldigen Genuͤgen, in einem frommen Erwarten. Das gemeinſte was geſchah hatte einen Zug von himmliſchem Leben, und eine gottesdienſtliche Handlung ſchien ganz jeder Natur angemeſſen.

Nach einer ſolchen Region blicken wohl die meiſten wie nach einem verſchwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradieſe hin. Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall ſich unter ihres Gleichen zu fuͤhlen.

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Wer haͤtte nun widerſtehen koͤnnen als der Architect ſich erbot, nach dem Anlaß dieſer Ur¬ bilder, die Raͤume zwiſchen den Spitzbogen der Capelle auszumalen und dadurch ſein Andenken entſchieden an einem Orte zu ſtiften, wo es ihm ſo gut gegangen war. Er erklaͤrte ſich hieruͤber mit einiger Wehmuth: denn er konnte nach der Lage der Sache wohl einſehen, daß ſein Aufenthalt in ſo vollkommener Geſellſchaft nicht immer dauern koͤnne, ja vielleicht bald abgebrochen werden muͤſſe.

Uebrigens waren dieſe Tage zwar nicht reich an Begebenheiten, doch voller Anlaͤſſe zu ernſthafter Unterhaltung. Wir nehmen daher Gelegenheit von demjenigen was Ottilie ſich daraus in ihren Heft angemerkt, einiges mitzutheilen, wozu wir keinen ſchicklichern Uebergang finden als durch ein Gleichniß, das ſich uns beym Betrachten ihrer liebens¬ wuͤrdigen Blaͤtter aufdringt.

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Wir hoͤren von einer beſondern Einrich¬ tung bey der engliſchen Marine. Saͤmmtliche Tauwerke der koͤniglichen Flotte, vom ſtaͤrk¬ ſten bis zum ſchwaͤchſten ſind, dergeſtalt ge¬ ſponnen, daß ein rother Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswin¬ den kann ohne alles aufzuloͤſen, und woran auch die kleinſten Stuͤcke kenntlich ſind, daß ſie der Krone gehoͤren.

Eben ſo zieht ſich durch Ottiliens Tage¬ buch ein Faden der Neigung und Anhaͤng¬ lichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch werden dieſe Bemerkun¬ gen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnſpruͤche und was ſonſt vorkommen mag, der Schrei¬ benden ganz beſonders eigen und fuͤr ſie von Bedeutung. Selbſt jede einzelne von uns ausgewaͤhlte und mitgetheilte Stelle giebt da¬ von das entſchiedenſte Zeugniß.

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Aus Ottiliens Tagebuche.

Neben denen dereinſt zu ruhen die man liebt, iſt die angenehmſte Vorſtellung welche der Menſch haben kann, wenn er einmal uͤber das Leben hinausdenkt. Zu den Seini¬ gen verſammelt werden, iſt ein ſo herzlicher Ausdruck.

Es giebt mancherley Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und Abge¬ ſchiedene naͤher bringen. Keins iſt von der Bedeutung des Bildes. Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, ſelbſt wenn es unaͤhnlich iſt, hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, ſich mit ei¬ nem Freunde ſtreiten. Man fuͤhlt auf eine28 angenehme Weiſe, daß man zu zweyen iſt und doch nicht auseinander kann.

Man unterhaͤlt ſich manchmal mit einem gegenwaͤrtigen Menſchen als mit einem Bilde. Er braucht nicht zu ſprechen, uns nicht an¬ zuſehen, ſich nicht mit uns zu beſchaͤftigen: wir ſehen ihn, wir fuͤhlen unſer Verhaͤltniß zu ihm, ja ſogar unſere Verhaͤltniſſe zu ihm koͤnnen wachſen, ohne daß er etwas dazu thut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er ſich eben blos zu uns wie ein Bild verhaͤlt.

Man iſt niemals mit einem Portraͤt zu¬ frieden von Perſonen die man kennt. Des¬ wegen habe ich die Portraͤtmaler immer be¬ dauert. Man verlangt ſo ſelten von den Leu¬ ten das Unmoͤgliche, und gerade von dieſen fordert man's. Sie ſollen einem Jeden ſein Verhaͤltniß zu den Perſonen, ſeine Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen;29 ſie ſollen nicht blos darſtellen, wie ſie einen Menſchen faſſen, ſondern wie Jeder ihn faſ¬ ſen wuͤrde. Es nimmt mich nicht Wunder, wenn ſolche Kuͤnſtler nach und nach verſtockt, gleichguͤltig und eigenſinnig werden. Daraus moͤchte denn entſtehen was wollte, wenn man nur nicht gerade daruͤber die Abbildungen ſo mancher lieben und theueren Menſchen entbeh¬ ren muͤßte.

Es iſt wohl wahr, die Sammlung des Architecten von Waffen und alten Geraͤth¬ ſchaften, die nebſt dem Koͤrper mit hohen Erdhuͤgeln und Felſenſtuͤcken zugedeckt waren, bezeugt uns, wie unnuͤtz die Vorſorge des Menſchen ſey fuͤr die Erhaltung ſeiner Per¬ ſoͤnlichkeit nach dem Tode. Und ſo wider¬ ſprechend ſind wir! Der Architect geſteht, ſelbſt ſolche Grabhuͤgel der Vorfahren geoͤff¬ net zu haben und faͤhrt dennoch fort ſich mit Denkmaͤlern fuͤr die Nachkommen zu be¬ ſchaͤftigen.

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Warum ſoll man es aber ſo ſtreng neh¬ men? Iſt denn alles was wir thun fuͤr die Ewigkeit gethan? Ziehen wir uns nicht Mor¬ gens an, um uns Abends wieder auszuziehen? Verreiſen wir nicht, um wiederzukehren? Und warum ſollten wir nicht wuͤnſchen, neben den Unſrigen zu ruhen, und wenn es auch nur fuͤr ein Jahrhundert waͤre.

Wenn man die vielen verſunkenen, die durch Kirchgaͤnger abgetretenen Grabſteine, die uͤber ihren Grabmaͤlern ſelbſt zuſammen¬ geſtuͤrzten Kirchen erblickt; ſo kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweytes Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Ueberſchrift eintritt und laͤnger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben. Aber auch dieſes Bild, dieſes zweyte Daſeyn verliſcht fruͤher oder ſpaͤter. Wie uͤber die Menſchen ſo auch uͤber die Denkmaͤler laͤßt ſich die Zeit ihr Recht nicht nehmen.

Drittes Kapitel.

Es iſt eine ſo angenehme Empfindung ſich mit etwas zu beſchaͤftigen was man nur halb kann, daß Niemand den Dilettanten ſchelten ſollte, wenn er ſich mit einer Kunſt abgiebt, die er nie lernen wird, noch den Kuͤnſtler tadeln duͤrfte, wenn er uͤber die Graͤnze ſeiner Kunſt hinaus, in einem be¬ nachbarten Felde ſich zu ergehen Luſt hat.

Mit ſo billigen Geſinnungen betrachten wir die Anſtalten des Architecten zum Aus¬ malen der Capelle. Die Farben waren be¬ reitet, die Maaße genommen, die Kartone gezeichnet; allen Anſpruch auf Erfindung hatte er aufgegeben; er hielt ſich an ſeine Umriſſe:32 nur die ſitzenden und ſchwebenden Figuren ge¬ ſchickt auszutheilen, den Raum damit geſchmack¬ voll auszuzieren, war ſeine Sorge.

Das Geruͤſte ſtand, die Arbeit ging vor¬ waͤrts, und da ſchon einiges was in die Au¬ gen fiel erreicht war, konnte es ihm nicht zuwider ſeyn, daß Charlotte mit Ottilien ihn beſuchte. Die lebendigen Engelsgeſichter, die lebhaften Gewaͤnder auf dem blauen Himmels¬ grunde erfreuten das Auge, indem ihr ſtilles frommes Weſen das Gemuͤth zur Samm¬ lung berief und eine ſehr zarte Wirkung her¬ vorbrachte.

Die Frauen waren zu ihm aufs Geruͤſt geſtiegen, und Ottilie bemerkte kaum, wie abgemeſſen leicht und bequem das alles zu¬ ging, als ſich in ihr das durch fruͤhern Un¬ terricht Empfangene mit einmal zu entwickeln ſchien, ſie nach Farbe und Pinſel griff und auf erhaltene Anweiſung ein faltenreiches Ge¬33 wand mit ſoviel Reinlichkeit als Geſchicklich¬ keit anlegte.

Charlotte, welche gern ſah wenn Ottilie ſich auf irgend eine Weiſe beſchaͤftigte und zerſtreute, ließ die beyden gewaͤhren und ging, um ihren eigenen Gedanken nachzuhaͤngen, um ihre Betrachtungen und Sorgen, die ſie niemanden mittheilen konnte, fuͤr ſich durch¬ zuarbeiten.

Wenn gewoͤhnliche Menſchen, durch ge¬ meine Verlegenheiten des Tags zu einem leidenſchaftlich aͤngſtlichen Betragen aufge¬ regt, uns ein mitleidiges Laͤcheln abnoͤ¬ thigen; ſo betrachten wir dagegen mit Ehr¬ furcht ein Gemuͤth, in welchem die Saat ei¬ nes großen Schickſals ausgeſaͤet worden, das die Entwickelung dieſer Empfaͤngniß abwarten muß, und weder das Gute noch das Boͤſe, weder das Gluͤckliche noch das UngluͤcklicheII. 334was daraus entſpringen ſoll, beſchleunigen darf und kann.

Eduard hatte durch Charlottens Boten, den ſie ihm in ſeine Einſamkeit geſendet, freundlich und theilnehmend, aber doch eher gefaßt und ernſt als zutraulich und liebevoll, geantwortet. Kurz darauf war Eduard ver¬ ſchwunden, und ſeine Gattinn konnte zu kei¬ ner Nachricht von ihm gelangen, bis ſie end¬ lich von ungefaͤhr ſeinen Namen in den Zei¬ tungen fand, wo er unter denen, die ſich bey einer bedeutenden Kriegsgelegenheit hervorge¬ than hatten, mit Auszeichnung genannt war. Sie wußte nun, welchen Weg er genommen hatte, ſie erfuhr daß er großen Gefahren entronnen war; allein ſie uͤberzeugte ſich zu¬ gleich, daß er groͤßere aufſuchen wuͤrde, und ſie konnte ſich daraus nur allzuſehr deuten, daß er in jedem Sinne ſchwerlich vom Aeu¬ ßerſten wuͤrde zuruͤckzuhalten ſeyn. Sie trug dieſe Sorgen fuͤr ſich allein immer in Ge¬35 danken, und mochte ſie hin und wieder legen wie ſie wollte, ſo konnte ſie doch bey keiner Anſicht Beruhigung finden.

Ottilie, von alle dem nichts ahndend, hatte indeſſen zu jener Arbeit die groͤßte Nei¬ gung gefaßt, und von Charlotten gar leicht die Erlaubniß erhalten, regelmaͤßig darin fortfahren zu duͤrfen. Nun ging es raſch weiter und der azurne Himmel war bald mit wuͤrdigen Bewohnern bevoͤlkert. Durch eine anhaltende Uebung gewannen Ottilie und der Architect bey den letzten Bildern mehr Frey¬ heit, ſie wurden zuſehends beſſer. Auch die Geſichter, welche dem Architecten zu ma¬ len allein uͤberlaſſen war, zeigten nach und nach eine ganz beſondere Eigenſchaft: ſie fin¬ gen ſaͤmmtlich an Ottilien zu gleichen. Die Naͤhe des ſchoͤnen Kindes mußte wohl in die Seele des jungen Mannes, der noch keine natuͤrliche oder kuͤnſtleriſche Phyſiognomie vor¬ gefaßt hatte, einen ſo lebhaften Eindruck3 *36machen, daß ihm nach und nach, auf dem Wege vom Auge zur Hand, nichts verloren ging, ja daß beyde zuletzt ganz gleichſtimmig arbeiteten. Genug, eins der letzten Geſicht¬ chen gluͤckte vollkommen, ſo daß es ſchien als wenn Ottilie ſelbſt aus den himmliſchen Raͤu¬ men herunterſaͤhe.

An dem Gewoͤlbe war man fertig; die Waͤnde hatte man ſich vorgenommen einfach zu laſſen und nur mit einer hellern braͤunlichen Farbe zu uͤberziehen; die zarten Saͤulen und kuͤnſtlichen bildhaueriſchen Zieraten ſollten ſich durch eine dunklere auszeichnen. Aber wie in ſolchen Dingen immer eins zum andern fuͤhrt, ſo wurden noch Blumen und Fruchtgehaͤnge beſchloſſen, welche Himmel und Erde gleich¬ ſam zuſammenknuͤpfen ſollten. Hier war nun Ottilie ganz in ihrem Felde. Die Gaͤrten lieferten die ſchoͤnſten Muſter, und obſchon die Kraͤnze ſehr reich ausgeſtattet wurden;37 ſo kam man doch fruͤher als man gedacht hatte, damit zu Stande.

Noch ſah aber alles wuͤſte und roh aus. Die Geruͤſte waren durch einander geſchoben, die Bretter uͤber einander geworfen, der un¬ gleiche Fußboden durch mancherley vergoſſene Farben noch mehr verunſtaltet. Der Archi¬ tect erbat ſich nunmehr, daß die Frauenzim¬ mer ihm acht Tage Zeit laſſen und bis dahin die Capelle nicht betreten moͤchten. Endlich erſuchte er ſie an einem ſchoͤnen Abende, ſich beyderſeits dahin zu verfuͤgen; doch wuͤnſchte er ſie nicht begleiten zu duͤrfen und empfahl ſich ſogleich.

Was er uns auch fuͤr eine Ueberraſchung zugedacht haben mag, ſagte Charlotte als er weggegangen war; ſo habe ich doch gegen¬ waͤrtig keine Luſt hinunter zu gehen. Du nimmſt es wohl allein uͤber dich und giebſt mir Nachricht. Gewiß hat er etwas Ange¬38 nehmes zu Stande gebracht. Ich werde es erſt in deiner Beſchreibung und dann gern in der Wirklichkeit genießen.

Ottilie, die wohl wußte, daß Charlotte ſich in manchen Stuͤcken in Acht nahm, alle Gemuͤthsbewegungen vermied, und beſonders nicht uͤberraſcht ſeyn wollte, begab ſich ſogleich allein auf den Weg und ſah ſich unwillkuͤhr¬ lich nach dem Architecten um, der aber nirgends erſchien und ſich mochte verborgen haben. Sie trat in die Kirche, die ſie offen fand. Dieſe war ſchon fruͤher fertig, gereinigt und eingeweiht. Sie trat zur Thuͤre der Ca¬ pelle, deren ſchwere mit Erz beſchlagene Laſt ſich leicht vor ihr aufthat und ſie in einem bekannten Raume mit einem unerwarteten An¬ blick uͤberraſchte.

Durch das einzige hohe Fenſter fiel ein ernſtes buntes Licht herein: denn es war von farbigen Glaͤſern anmuthig zuſammengeſetzt. 39Das Ganze erhielt dadurch einen fremden Ton und bereitete zu einer eigenen Stimmung. Die Schoͤnheit des Gewoͤlbes und der Waͤnde ward durch die Zierde des Fußbodens erhoͤht, der aus beſonders geformten, nach einem ſchoͤ¬ nen Muſter gelegten, durch eine gegoſſene Gipsflaͤche verbundenen Ziegelſteinen beſtand. Dieſe ſowohl als die farbigen Scheiben hatte der Architect heimlich bereiten laſſen, und konnte nun in kurzer Zeit alles zuſammenfuͤ¬ gen. Auch fuͤr Ruheplaͤtze war geſorgt. Es hatten ſich unter jenen kirchlichen Alterthuͤmern einige ſchoͤngeſchnitzte Chorſtuͤhle vorgefunden, die nun gar ſchicklich an den Waͤnden ange¬ bracht umherſtanden.

Ottilie freute ſich der bekannten ihr als ein unbekanntes Ganze entgegentretenden Theile. Sie ſtand, ging hin und wieder, ſah und beſah; endlich ſetzte ſie ſich auf einen der Stuͤhle und es ſchien ihr, indem ſie auf und umherblickte, als wenn ſie waͤre und40 nicht waͤre, als wenn ſie ſich empfaͤnde und nicht empfaͤnde, als wenn dieß alles vor ihr, ſie vor ſich ſelbſt verſchwinden ſollte, und nur als die Sonne das bisher ſehr leb¬ haft beſchienene Fenſter verließ, erwachte Ottilie vor ſich ſelbſt und eilte nach dem Schloſſe.

Sie verbarg ſich nicht in welche ſonder¬ bare Epoche dieſe Ueberraſchung gefallen ſey. Es war der Abend vor Eduards Geburtstage. Dieſen hatte ſie freylich ganz anders zu feyern gehofft: wie ſollte nicht alles zu dieſem Feſte geſchmuͤckt ſeyn? Aber nunmehr ſtand der ganze herbſtliche Blumenreichthum ungepfluͤckt. Dieſe Sonnenblumen wendeten noch immer ihr Angeſicht gen Himmel; dieſe Aſtern ſahen noch immer ſtill beſcheiden vor ſich hin, und was allenfalls davon zu Kraͤnzen gebunden war, hatte zum Muſter gedient einen Ort auszuſchmuͤcken, der wenn er nicht blos eine Kuͤnſtler-Grille bleiben, wenn er zu irgend et¬41 was genutzt werden ſollte, nur zu einer ge¬ meinſamen Grabſtaͤtte geeignet ſchien.

Sie mußte ſich dabey der geraͤuſchvollen Geſchaͤftigkeit erinnern, mit welcher Eduard ihr Geburtsfeſt gefeyert, ſie mußte des neu¬ gerichteten Hauſes gedenken, unter deſſen Decke man ſich ſoviel Freundliches verſprach. Ja das Feuerwerk rauſchte ihr wieder vor Augen und Ohren, je einſamer ſie war, deſto mehr vor der Einbildungskraft; aber ſie fuͤhlte ſich auch nur um deſto mehr allein. Sie lehnte ſich nicht mehr auf ſeinen Arm, und hatte keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine Stuͤtze zufinden.

42

Aus Ottiliens Tagebuch.

Eine Bemerkung des jungen Kuͤnſtlers muß ich aufzeichnen: wie am Handwerker ſo am bildenden Kuͤnſtler kann man auf das deutlichſte gewahr werden, daß der Menſch ſich das am wenigſten zuzueignen vermag was ihm ganz eigens angehoͤrt. Seine Werke verlaſſen ihn, ſo wie die Voͤgel das Neſt worin ſie ausgebruͤtet worden.

Der Baukuͤnſtler vor allen hat hierin das wunderlichſte Schickſal. Wie oft wendet er ſeinen ganzen Geiſt, ſeine ganze Neigung auf, um Raͤume hervorzubringen, von denen er ſich ſelbſt ausſchließen muß. Die koͤ¬ niglichen Saͤle ſind ihm ihre Pracht ſchuldig,43 deren groͤßte Wirkung er nicht mitgenießt. In den Tempeln zieht er eine Graͤnze zwi¬ ſchen ſich und dem Allerheiligſten; er darf die Stufen nicht mehr betreten, die er zur Herz erhebenden Feyerlichkeit gruͤndete, ſo wie der Goldſchmid die Monſtranz nur von fern an¬ betet, deren Schmelz und Edelſteine er zu¬ ſammengeordnet hat. Dem Reichen uͤbergiebt der Baumeiſter mit dem Schluͤſſel des Palla¬ ſtes alle Bequemlichkeit und Behaͤbigkeit, ohne irgend etwas davon mitzugenießen. Muß ſich nicht allgemach auf dieſe Weiſe die Kunſt von dem Kuͤnſtler entfernen, wenn das Werk, wie ein ausgeſtattetes Kind, nicht mehr auf den Vater zuruͤckwirkt? und wie ſehr mußte die Kunſt ſich ſelbſt befoͤrdern, als ſie faſt al¬ lein mit dem Oeffentlichen, mit dem was allen und alſo auch dem Kuͤnſtler gehoͤrte, ſich zu beſchaͤftigen beſtimmt war!

Eine Vorſtellung der alten Voͤlker iſt ernſt und kann furchtbar ſcheinen. Sie dach¬44 ten ſich ihre Vorfahren in großen Hoͤhlen rings umher auf Thronen ſitzend in ſtummer Unterhaltung. Dem neuen der hereintrat, wenn er wuͤrdig genug war, ſtanden ſie auf und neigten ihm einen Willkommen. Geſtern als ich in der Capelle ſaß und meinem ge¬ ſchnitzten Stuhle gegenuͤber noch mehrere um¬ hergeſtellt ſah, erſchien mir jener Gedanke gar freundlich und anmuthig. Warum kannſt du nicht ſitzen bleiben? dachte ich bey mir ſelbſt, ſtill und in dich gekehrt ſitzen bleiben, lange lange, bis endlich die Freunde kaͤmen, denen du aufſtuͤndeſt und ihren Platz mit freundlichem Neigen anwieſeſt. Die farbigen Scheiben machen den Tag zur ernſten Daͤm¬ merung und Jemand muͤßte eine ewige Lampe ſtiften, damit auch die Nacht nicht ganz fin¬ ſter bliebe.

Man mag ſich ſtellen wie man will, und man denkt ſich immer ſehend. Ich glaube der Menſch traͤumt nur, damit er nicht auf¬45 hoͤre zu ſehen. Es koͤnnte wohl ſeyn, daß das innere Licht einmal aus uns heraustraͤte, ſo daß wir keines andern mehr beduͤrften.

Das Jahr klingt ab. Der Wind geht uͤber die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur die rothen Beeren jener ſchlan¬ ken Baͤume ſcheinen uns noch an etwas Mun¬ teres erinnern zu wollen, ſo wie uns der Tactſchlag des Dreſchers den Gedanken er¬ weckt, daß in der abgeſichelten Aehre ſoviel Naͤhrendes und Lebendiges verborgen liegt.

[46]

Viertes Kapitel.

Wie ſeltſam mußte, nach ſolchen Ereig¬ niſſen, nach dieſem aufgedrungenen Gefuͤhl von Vergaͤnglichkeit und Hinſchwinden, Ottilie durch die Nachricht getroffen werden, die ihr nicht laͤnger verborgen bleiben konnte, daß Eduard ſich dem wechſelnden Kriegsgluͤck uͤber¬ liefert habe. Es entging ihr leider keine von den Betrachtungen, die ſie dabey zu machen Urſache hatte. Gluͤcklicherweiſe kann der Menſch nur einen gewiſſen Grad des Un¬ gluͤcks faſſen; was daruͤber hinausgeht ver¬ nichtet ihn oder laͤßt ihn gleichguͤltig. Es giebt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung Eins werden, ſich einander wechſelſeitig auf¬ heben und in eine dunkle Fuͤhlloſigkeit verlie¬ ren. Wie koͤnnten wir ſonſt die entfernten47 Geliebteſten in ſtuͤndlicher Gefahr wiſſen und dennoch unſer taͤgliches gewoͤhnliches Leben immer ſo forttreiben.

Es war daher als wenn ein guter Geiſt fuͤr Ottilien geſorgt haͤtte, indem er auf einmal in dieſe Stille, in der ſie einſam und unbeſchaͤftigt zu verſinken ſchien, ein wildes Heer hereinbrachte, das, indem es ihr von außen genug zu ſchaffen gab und ſie aus ſich ſelbſt fuͤhrte, zugleich in ihr das Gefuͤhl eige¬ ner Kraft anregte.

Charlottens Tochter, Luciane, war kaum aus der Penſion in die große Welt getreten, hatte kaum in dem Hauſe ihrer Tante ſich von zahlreicher Geſellſchaft umgeben geſehen, als ihr Gefallenwollen wirklich Gefallen er¬ regte, und ein junger, ſehr reicher Mann gar bald eine heftige Neigung empfand, ſie zu beſitzen. Sein anſehnliches Vermoͤgen gab ihm ein Recht, das Beſte jeder Art ſein48 eigen zu nennen, und es ſchien ihm nichts weiter abzugehen als eine vollkommene Frau, um die ihn die Welt ſo wie um das uͤbrige zu beneiden haͤtte.

Dieſe Familienangelegenheit war es, welche Charlotten bisher ſehr viel zu thun gab, der ſie ihre ganze Ueberlegung, ihre Correſpon¬ denz widmete, inſofern dieſe nicht darauf ge¬ richtet war, von Eduard naͤhere Nachricht zu erhalten; deswegen auch Ottilie mehr als ſonſt in der letzten Zeit allein blieb. Dieſe wußte zwar um die Ankunft Lucianens; im Hauſe hatte ſie deshalb die noͤthigſten Vor¬ kehrungen getroffen; allein ſo nahe ſtellte man ſich den Beſuch nicht vor. Man wollte vor¬ her noch ſchreiben, abreden, naͤher beſtimmen, als der Sturm auf einmal uͤber das Schloß und Ottilien hereinbrach.

Angefahren kamen nun Kammerjungfern und Bediente, Brancards mit Koffern und49 Kiſten; man glaubte ſchon eine doppelte und dreyfache Herrſchaft im Hauſe zu haben; aber nun erſchienen erſt die Gaͤſte ſelbſt: Die Großtante mit Lucianen und einigen Freun¬ dinnen, der Braͤutigam gleichfalls nicht unbe¬ gleitet. Da lag das Vorhaus voll Vachen, Mantelſaͤcke und anderer ledernen Gehaͤuſe. Mit Muͤhe ſonderte man die vielen Kaͤſtchen und Futterale auseinander. Des Gepaͤckes und Geſchleppes war kein Ende. Dazwiſchen regnete es mit Gewalt, woraus manche Un¬ bequemlichkeit entſtand. Dieſem ungeſtuͤmen Treiben begegnete Ottilie mit gleichmuͤthiger Thaͤtigkeit, ja ihr heiteres Geſchick erſchien im ſchoͤnſten Glanze: denn ſie hatte in kurzer Zeit alles untergebracht und angeordnet. Je¬ dermann war logirt, Jedermann nach ſeiner Art bequem, und glaubte gut bedient zu ſeyn, weil er nicht gehindert war ſich ſelbſt zu be¬ dienen.

Nun haͤtten alle gern, nach einer hoͤchſt beſchwerlichen Reiſe, einige Ruhe genoſſen;II. 450der Braͤutigam haͤtte ſich ſeiner Schwieger¬ mutter gern genaͤhert, um ihr ſeine Liebe, ſei¬ nen guten Willen zu betheuern: aber Luciane konnte nicht raſten. Sie war nun einmal zu dem Gluͤcke gelangt, ein Pferd beſteigen zu duͤrfen. Der Braͤutigam hatte ſchoͤne Pferde, und ſogleich mußte man aufſitzen. Wetter und Wind, Regen und Sturm kamen nicht in Anſchlag; es war als wenn man nur lebte um naß zu werden und ſich wieder zu trocknen. Fiel es ihr ein, zu Fuße auszu¬ gehen, ſo fragte ſie nicht, was fuͤr Kleider ſie anhatte und wie ſie beſchuht war; ſie mußte die Anlagen beſichtigen von denen ſie vieles gehoͤrt hatte. Was nicht zu Pferde geſchehen konnte, wurde zu Fuß durchrannt. Bald hatte ſie alles geſehen und abgeurtheilt. Bey der Schnelligkeit ihres Weſens war ihr nicht leicht zu widerſprechen. Die Geſellſchaft hatte manches zu leiden, am meiſten aber die Kammermaͤdchen, die mit Waſchen und Buͤ¬51 geln, Auftrennen und Annaͤhen, nicht fertig werden konnten.

Kaum hatte ſie das Haus und die Ge¬ gend erſchoͤpft, als ſie ſich verpflichtet fuͤhlte, rings in der Nachbarſchaft Beſuch abzulegen. Weil man ſehr ſchnell ritt und fuhr, ſo reichte die Nachbarſchaft ziemlich fern umher. Das Schloß ward mit Gegenbeſuchen uͤber¬ ſchwemmt, und damit man ſich ja nicht ver¬ fehlen moͤchte, wurden bald beſtimmte Tage angeſetzt.

Indeſſen Charlotte mit der Tante und dem Geſchaͤftstraͤger des Braͤutigams die in¬ nern Verhaͤltniſſe feſtzuſtellen bemuͤht war, und Ottilie mit ihren Untergebenen dafuͤr zu ſorgen wußte, daß es an nichts, bey ſo gro¬ ßem Zudrang, fehlen moͤchte, da denn Jaͤger und Gaͤrtner, Fiſcher und Kraͤmer in Bewe¬ gung geſetzt wurden; zeigte ſich Luciane im¬ mer wie ein brennender Cometenkern, der4 *52einen langen Schweif nach ſich zieht. Die gewoͤhnlichen Beſuchsunterhaltungen duͤnkten ihr bald ganz unſchmackhaft. Kaum daß ſie den aͤlteſten Perſonen eine Ruhe am Spieltiſch goͤnnte; wer noch einigermaßen beweglich war und wer ließ ſich nicht durch ihre reizen¬ den Zudringlichkeiten in Bewegung ſetzen? mußte herbey, wo nicht zum Tanze, doch zum lebhaften Pfand-Straf - und Vexirſpiel. Und obgleich das Alles, ſo wie hernach die Pfaͤnderloͤſung, auf ſie ſelbſt berechnet war, ſo ging doch von der andern Seite Niemand, be¬ ſonders kein Mann, er mochte von einer Art ſeyn von welcher er wollte, ganz leer aus; ja es gluͤckte ihr, einige aͤltere Perſonen von Bedeutung ganz fuͤr ſich zu gewinnen, indem ſie ihre eben einfallenden Geburts - und Namens¬ tage ausgeforſcht hatte und beſonders feyerte. Dabey kam ihr ein ganz eignes Geſchick zu Statten, ſo daß, indem alle ſich beguͤnſtigt ſa¬ hen, jeder ſich fuͤr den am meiſten beguͤnſtig¬ ten hielt: eine Schwachheit deren ſich ſogar der53 Aelteſte in der Geſellſchaft am allermerklich¬ ſten ſchuldig machte.

Schien es bey ihr Plan zu ſeyn, Maͤn¬ ner die etwas vorſtellten, Rang, Anſehen, Ruhm oder ſonſt etwas Bedeutendes vor ſich hatten, fuͤr ſich zu gewinnen, Weisheit und Beſonnenheit zu Schanden zu machen, und ihrem wilden wunderlichen Weſen ſelbſt bey der Bedaͤchtlichkeit Gunſt zu erwerben; ſo kam die Jugend doch dabey nicht zu kurz: Jeder hatte ſein Theil, ſeinen Tag, ſeine Stunde, in der ſie ihn zu entzuͤcken und zu feſſeln wußte. So hatte ſie den Architecten ſchon bald ins Auge gefaßt, der jedoch aus ſeinem ſchwarzen langlockigen Haar ſo unbe¬ fangen herausſah, ſo gerad und ruhig in der Entfernung ſtand, auf alle Fragen kurz und verſtaͤndig antwortete, ſich aber auf nichts weiter einzulaſſen geneigt ſchien, daß ſie ſich endlich einmal, halb unwillig halb liſtig, ent¬ ſchloß ihn zum Helden des Tages zu machen54 und dadurch auch fuͤr ihren Hof zu ge¬ winnen.

Nicht umſonſt hatte ſie ſo vieles Gepaͤcke mitgebracht, ja es war ihr noch manches ge¬ folgt. Sie hatte ſich auf eine unendliche Abwechſelung in Kleidern vorgeſehen. Wenn es ihr Vergnuͤgen machte, ſich des Tags drey viermal umzuziehen und mit gewoͤhnlichen, in der Geſellſchaft uͤblichen Kleidern vom Morgen bis in die Nacht zu wechſeln; ſo erſchien ſie dazwiſchen wohl auch einmal im wirklichen Maskenkleid, als Baͤuerinn und Fiſcherinn, als Fee und Blumenmaͤdchen. Sie verſchmaͤhte nicht, ſich als alte Frau zu verkleiden, um deſto friſcher ihr junges Ge¬ ſicht aus der Kutte hervorzuzeigen; und wirk¬ lich verwirrte ſie dadurch das Gegenwaͤrtige und das Eingebildete dergeſtalt, daß man ſich mit der Saalnixe verwandt und verſchwaͤgert zu ſeyn glaubte.

55

Wozu ſie aber dieſe Verkleidungen haupt¬ ſaͤchlich benutzte, waren pantomimiſche Stel¬ lungen und Taͤnze, in denen ſie verſchiedene Character auszudruͤcken gewandt war. Ein Cavalier aus ihrem Gefolge hatte ſich einge¬ richtet, auf dem Fluͤgel ihre Gebaͤrden mit der wenigen noͤthigen Muſik zu begleiten; es bedurfte nur einer kurzen Abrede und ſie wa¬ ren ſogleich in Einſtimmung.

Eines Tages, als man ſie bey der Pauſe eines lebhaften Balls, auf ihren eigenen heimlichen Antrieb, gleichſam aus dem Ste¬ gereife, zu einer ſolchen Darſtellung aufge¬ fordert hatte; ſchien ſie verlegen und uͤber¬ raſcht und ließ ſich wider ihre Gewohnheit lange bitten. Sie zeigte ſich unentſchloſſen, ließ die Wahl, bat wie ein Improviſator um einen Gegenſtand, bis endlich jener Clavier ſpielende Gehuͤlfe, mit dem es abgeredet ſeyn mochte, ſich an den Fluͤgel ſetzte, einen Trauermarſch zu ſpielen anfing und ſie auf¬56 forderte, jene Artemiſia zu geben, welche ſie ſo vortrefflich einſtudirt habe. Sie ließ ſich erbitten, und nach einer kurzen Abweſenheit erſchien ſie, bey den zaͤrtlich traurigen Toͤnen des Todtenmarſches, in Geſtalt der koͤniglichen Wittwe, mit gemeſſenem Schritt, einen Aſchenkrug vor ſich hertragend. Hinter ihr brachte man eine große ſchwarze Tafel und in einer goldenen Reißfeder ein wohl zuge¬ ſchnitztes Stuͤck Kreide.

Einer ihrer Verehrer und Adjutanten, dem ſie etwas ins Ohr ſagte, ging ſogleich den Architecten aufzufordern, zu noͤthigen und gewiſſermaßen herbeyzuſchieben, daß er als Baumeiſter das Grab des Mauſolus zeich¬ nen, und alſo keineswegs einen Statiſten, ſondern einen ernſtlich Mitſpielenden vorſtellen ſollte. Wie verlegen der Architect auch aͤu¬ ßerlich erſchien denn er machte in ſeiner ganz ſchwarzen knappen modernen Civilge¬ ſtalt einen wunderlichen Contraſt mit jenen57 Floͤren, Creppen, Franzen, Schmelzen, Qua¬ ſten und Kronen ſo faßte er ſich doch gleich innerlich, allein um ſo wunderlicher war es anzuſehen. Mit dem groͤßten Ernſt ſtellte er ſich vor die große Tafel, die von ein paar Pagen gehalten wurde, und zeich¬ nete mit viel Bedacht und Genauigkeit ein Grabmal, das zwar eher einem longobardi¬ ſchen als einem cariſchen Koͤnig waͤre gemaͤß geweſen, aber doch in ſo ſchoͤnen Verhaͤltniſ¬ ſen, ſo ernſt in ſeinen Theilen, ſo geiſtreich in ſeinen Zieraten, daß man es mit Ver¬ gnuͤgen entſtehen ſah und als es fertig war bewunderte.

Er hatte ſich in dieſem ganzen Zeitraum faſt nicht gegen die Koͤniginn gewendet, ſon¬ dern ſeinem Geſchaͤft alle Aufmerkſamkeit ge¬ widmet. Endlich als er ſich vor ihr neigte und andeutete, daß er nun ihre Befehle voll¬ zogen zu haben glaube, hielt ſie ihm noch die Urne hin, und bezeichnete das Verlan¬58 gen, dieſe oben auf dem Gipfel abgebildet zu ſehen. Er that es, obgleich ungern, weil ſie zu dem Character ſeines uͤbrigen Entwurfs nicht paſſen wollte. Was Lucianen betraf, ſo war ſie endlich von ihrer Ungeduld erloͤſt: denn ihre Abſicht war keineswegs eine gewiſ¬ ſenhafte Zeichnung von ihm zu haben. Haͤtte er mit wenigen Strichen nur hinſkizzirt, was etwa einem Monument aͤhnlich geſehen, und ſich die uͤbrige Zeit mit ihr abgegeben; ſo waͤre das wohl dem Endzweck und ihren Wuͤnſchen gemaͤßer geweſen. Bey ſeinem Be¬ nehmen dagegen kam ſie in die groͤßte Ver¬ legenheit: denn ob ſie gleich in ihrem Schmerz, ihren Anordnungen und Andeutun¬ gen, ihrem Beyfall uͤber das nach und nach Entſtehende, ziemlich abzuwechſeln ſuchte und ſie ihn einigemal beynahe herumzerrte, um nur mit ihm in eine Art von Verhaͤltniß zu kommen; ſo erwies er ſich doch gar zu ſteif, dergeſtalt daß ſie allzuoft ihre Zuflucht zur Urne neh¬ men, ſie an ihr Herz druͤcken und zum Him¬59 mel ſchauen mußte, ja zuletzt, weil ſich doch dergleichen Situationen immer ſteigern, mehr einer Wittwe von Epheſus als einer Koͤniginn von Carien aͤhnlich ſah. Die Vorſtellung zog ſich daher in die Laͤnge, der Clavierſpie¬ ler, der ſonſt Geduld genug hatte, wußte nicht mehr in welchen Ton er ausweichen ſollte. Er dankte Gott als er die Urne auf der Pyramide ſtehn ſah und fiel unwillkuͤhr¬ lich, als die Koͤniginn ihren Dank ausdruͤ¬ cken wollte, in ein luſtiges Thema; wodurch die Vorſtellung zwar ihren Character verlor, die Geſellſchaft jedoch voͤllig aufgeheitert wur¬ de, die ſich denn ſogleich theilte, der Dame fuͤr ihren vortrefflichen Ausdruck, und dem Architecten fuͤr ſeine kuͤnſtliche und zierliche Zeichnung eine freudige Bewunderung zu be¬ weiſen.

Beſonders der Braͤutigam unterhielt ſich mit dem Architecten. Es thut mir leid, ſagte jener, daß die Zeichnung ſo vergaͤnglich60 iſt. Sie erlauben wenigſtens, daß ich ſie mir auf mein Zimmer bringen laſſe und mich mit Ihnen daruͤber unterhalte. Wenn es Ihnen Vergnuͤgen macht, ſagte der Architect, ſo kann ich Ihnen ſorgfaͤltige Zeichnungen von der¬ gleichen Gebaͤuden und Monumenten vorlegen, wovon dieſes nur ein zufaͤlliger fluͤchtiger Entwurf iſt.

Ottilie ſtand nicht fern und trat zu den beyden. Verſaͤumen Sie nicht, ſagte ſie zum Architecten, den Herrn Baron gelegentlich Ihre Sammlung ſehn zu laſſen: er iſt ein Freund der Kunſt und des Alterthums; ich wuͤnſche daß Sie ſich naͤher kennen lernen.

Luciane kam herbeygefahren und fragte: Wovon iſt die Rede?

Von einer Sammlung Kunſtwerke, ant¬ wortete der Baron, welche dieſer Herr beſitzt und die er uns gelegentlich zeigen will.

61

Er mag ſie mir gleich bringen, rief Lu¬ ciane. Nicht wahr, Sie bringen ſie gleich? ſetzte ſie ſchmeichelnd hinzu, indem ſie ihn mit beyden Haͤnden freundlich anfaßte.

Es moͤchte jetzt der Zeitpunkt nicht ſeyn, verſetzte der Architect.

Was! rief Luciane gebieteriſch: Sie wol¬ len dem Befehl Ihrer Koͤniginn nicht gehor¬ chen? Dann legte ſie ſich auf ein neckiſches Bitten.

Seyn Sie nicht eigenſinnig, ſagte Ottilie halb leiſe.

Der Architect entfernte ſich mit einer Beugung, ſie war weder bejahend noch ver¬ neinend.

Kaum war er fort, als Luciane ſich mit einem Windſpiel im Saale herumjagte. Ach!62 rief ſie aus, indem ſie zufaͤllig an ihre Mut¬ ter ſtieß: wie bin ich nicht ungluͤcklich! Ich habe meinen Affen nicht mitgenommen; man hat mir es abgerathen, es iſt aber nur die Bequemlichkeit meiner Leute, die mich um dieſes Vergnuͤgen bringt. Ich will ihn aber nachkommen laſſen, es ſoll mir Jemand hin ihn zu holen. Wenn ich nur ſein Bild¬ niß ſehen koͤnnte, ſo waͤre ich ſchon vergnuͤgt. Ich will ihn aber gewiß auch malen laſſen und er ſoll mir nicht von der Seite kommen.

Vielleicht kann ich dich troͤſten, verſetzte Charlotte, wenn ich dir aus der Bibliothek einen ganzen Band der wunderlichſten Affen¬ bilder kommen laſſe. Luciane ſchrie vor Freu¬ den laut auf, und der Folioband wurde ge¬ bracht. Der Anblick dieſer menſchenaͤhnlichen und durch den Kuͤnſtler noch mehr vermenſch¬ lichten abſcheulichen Geſchoͤpfe machte Lucianen die groͤßte Freude. Ganz gluͤcklich aber fuͤhlte ſie ſich, bey einem jeden dieſer Thiere die63 Aehnlichkeit mit bekannten Menſchen zu fin¬ den. Sieht der nicht aus wie der Onkel? rief ſie unbarmherzig: der wie der Galanterie¬ haͤndler M , der wie der Pfarrer S und dieſer iſt der Dings der leibhaf¬ tig. Im Grunde ſind doch die Affen die ei¬ gentlichen Incroyables und es iſt unbegreiflich, wie man ſie aus der beſten Geſellſchaft aus¬ ſchließen mag.

Sie ſagte das in der beſten Geſellſchaft, doch Niemand nahm es ihr uͤbel. Man war ſo gewohnt ihrer Anmuth vieles zu erlauben, daß man zuletzt ihrer Unart alles erlaubte.

Ottilie unterhielt ſich indeſſen mit dem Braͤutigam. Sie hoffte auf die Ruͤckkunft des Architecten, deſſen ernſtere, geſchmackvol¬ lere Sammlungen die Geſellſchaft von dieſem Affenweſen befreyen ſollten. In dieſer Er¬ wartung hatte ſie ſich mit dem Baron be¬ ſprochen und ihn auf manches aufmerkſam64 gemacht. Allein der Architect blieb aus, und als er endlich wiederkam, verlor er ſich unter der Geſellſchaft, ohne etwas mit zu bringen, und ohne zu thun als ob von etwas die Frage geweſen waͤre. Ottilie ward einen Au¬ genblick wie ſoll man's nennen? ver¬ drießlich, ungehalten, betroffen; ſie hatte ein gutes Wort an ihn gewendet, ſie goͤnnte dem Braͤutigam eine vergnuͤgte Stunde nach ſei¬ nem Sinne, der bey ſeiner unendlichen Liebe fuͤr Lucianen doch von ihrem Betragen zu leiden ſchien.

Die Affen mußten einer Collation Platz machen. Geſellige Spiele, ja ſogar noch Taͤnze, zuletzt ein freudeloſes Herumſitzen und Wiederaufjagen einer ſchon geſunkenen Luſt dauerten dießmal, wie ſonſt auch, weit uͤber Mitternacht. Denn ſchon hatte ſich Luciane gewoͤhnt, Morgens nicht aus dem Bette und Abends nicht ins Bette gelangen zu koͤnnen.

65

Um dieſe Zeit finden ſich in Ottiliens Tagebuch Ereigniſſe ſeltner angemerkt, dage¬ gen haͤufiger auf das Leben bezuͤgliche und vom Leben abgezogene Maximen und Sen¬ tenzen. Weil aber die meiſten derſelben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion ent¬ ſtanden ſeyn koͤnnen; ſo iſt es wahrſcheinlich, daß man ihr irgend einen Heft mitgetheilt, aus dem ſie ſich was ihr gemuͤthlich war, ausgeſchrieben. Manches eigene von innige¬ rem Bezug wird an dem rothen Faden wohl zu erkennen ſeyn.

II. 566

Aus Ottiliens Tagebuche.

Wir blicken ſo gern in die Zukunft, weil wir das Ungefaͤhre was ſich in ihr hin und her bewegt, durch ſtille Wuͤnſche ſo gern zu un¬ ſern Gunſten heranleiten moͤchten.

Wir befinden uns nicht leicht in großer Geſellſchaft, ohne zu denken: der Zufall, der ſo viele zuſammenbringt, ſolle uns auch unſre Freunde herbeyfuͤhren.

Man mag noch ſo eingezogen leben, ſo wird man ehe man ſich's verſieht, ein Schuld¬ ner oder ein Glaͤubiger.

Begegnet uns Jemand der uns Dank ſchuldig iſt, gleich faͤllt es uns ein. Wie67 oft koͤnnen wir Jemand begegnen, dem wir Dank ſchuldig ſind, ohne daran zu denken.

Sich mitzutheilen iſt Natur; Mitge¬ theiltes aufzunehmen wie es gegeben wird, iſt Bildung.

Niemand wuͤrde viel in Geſellſchaften ſprechen, wenn er ſich bewußt waͤre, wie oft er die andern mißverſteht.

Man veraͤndert fremde Reden beym Wiederhohlen wohl nur darum ſo ſehr, weil man ſie nicht verſtanden hat.

Wer vor andern lange allein ſpricht, ohne den Zuhoͤrern zu ſchmeicheln, erregt Widerwillen.

Jedes ausgeſprochene Wort erregt den Gegenſinn.

5 *68

Widerſpruch und Schmeicheley machen beyde ein ſchlechtes Geſpraͤch.

Die angenehmſten Geſellſchaften ſind die, in welchen eine heitere Ehrerbietung der Glie¬ der gegen einander obwaltet.

Durch nichts bezeichnen die Menſchen mehr ihren Character als durch das was ſie laͤcherlich finden.

Das Laͤcherliche entſpringt aus einem ſittlichen Contraſt, der, auf eine unſchaͤdliche Weiſe, fuͤr die Sinne in Verbindung gebracht wird.

Der ſinnliche Menſch lacht oft wo nichts zu lachen iſt. Was ihn auch anregt, ſein in¬ neres Behagen kommt zum Vorſchein.

Der Verſtaͤndige findet faſt alles laͤcher¬ lich, der Vernuͤnftige faſt nichts.

69

Einem bejahrten Manne verdachte man, daß er ſich noch um junge Frauenzimmer be¬ muͤhte. Es iſt das einzige Mittel, verſetzte er, ſich zu verjuͤngen und das will doch Jeder¬ mann.

Man laͤßt ſich ſeine Maͤngel vorhalten, man laͤßt ſich ſtrafen, man leidet manches um ihrer willen mit Geduld; aber ungeduldig wird man, wenn man ſie ablegen ſoll.

Gewiſſe Maͤngel ſind nothwendig zum Daſeyn des Einzelnen. Es wuͤrde uns unan¬ genehm ſeyn, wenn alte Freunde gewiſſe Ei¬ genheiten ablegten.

Man ſagt: er ſtirbt bald, wenn einer etwas gegen ſeine Art und Weiſe thut.

Was fuͤr Maͤngel duͤrfen wir behalten, ja an uns cultiviren? Solche die den andern eher ſchmeicheln als ſie verletzen.

70

Die Leidenſchaften ſind Maͤngel oder Tugenden, nur geſteigerte.

Unſre Leidenſchaften ſind wahre Phoͤnixe. Wie der alte verbrennt, ſteigt der neue ſo¬ gleich wieder aus der Aſche hervor.

Große Leidenſchaften ſind Krankheiten ohne Hoffnung. Was ſie heilen koͤnnte, macht ſie erſt recht gefaͤhrlich.

Die Leidenſchaft erhoͤht und mildert ſich durchs Bekennen. In nichts waͤre die Mit¬ telſtraße vielleicht wuͤnſchenswerther als im Vertrauen und Verſchweigen gegen die die wir lieben.

[71]

Fuͤnftes Kapitel.

So peitſchte Luciane den Lebensrauſch im geſelligen Strudel immer vor ſich her. Ihr Hofſtaat vermehrte ſich taͤglich, theils weil ihr Treiben ſo manchen anregte und anzog, theils weil ſie ſich andre durch Gefaͤlligkeit und Wohlthun zu verbinden wußte. Mittheilend war ſie im hoͤchſten Grade: denn da ihr durch die Neigung der Tante und des Braͤutigams ſo viel Schoͤnes und Koͤſtliches auf einmal zugefloſſen war; ſo ſchien ſie nichts eigenes zu beſitzen, und den Werth der Dinge nicht zu kennen, die ſich um ſie gehaͤuft hatten. So zauderte ſie nicht einen Augenblick einen koſtbaren Shawl abzunehmen und ihn einem Frauenzimmer umzuhaͤngen, das72 ihr gegen die uͤbrigen zu aͤrmlich geklei¬ det ſchien, und ſie that das auf eine ſo neckiſche, geſchickte Weiſe, daß Niemand eine ſolche Gabe ablehnen konnte. Einer von ihrem Hofſtaat hatte ſtets eine Boͤrſe und den Auftrag, in den Orten wo ſie einkehrten, ſich nach den Aelteſten und Kraͤnkſten zu erkun¬ digen, und ihren Zuſtand wenigſtens fuͤr den Augenblick zu erleichtern. Dadurch entſtand ihr in der ganzen Gegend ein Name von Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manch¬ mal unbequem ward, weil er allzuviel laͤſtige Nothleidende an ſie heranzog.

Durch nichts aber vermehrte ſie ſo ſehr ih¬ ren Ruf, als durch ein auffallendes gutes be¬ harrliches Benehmen gegen einen ungluͤcklichen jungen Mann, der die Geſellſchaft floh, weil er, uͤbrigens ſchoͤn und wohlgebildet, ſeine rechte Hand, obgleich ruͤhmlich, in der Schlacht verloren hatte. Dieſe Verſtuͤmmlung erregte ihm einen ſolchen Mißmuth; es war ihm ſo73 verdrießlich, daß jede neue Bekanntſchaft ſich auch immer mit ſeinem Unfall bekannt machen ſollte, daß er ſich lieber verſteckte, ſich dem Leſen und andern Studien ergab und ein fuͤr allemal mit der Geſellſchaft nichts wollte zu ſchaffen haben.

Das Daſeyn dieſes jungen Mannes blieb ihr nicht verborgen. Er mußte herbey, erſt in kleiner Geſellſchaft, dann in groͤßerer, dann in der groͤßten. Sie benahm ſich anmuthiger gegen ihn als gegen irgend einen andern, be¬ ſonders wußte ſie durch zudringliche Dienſt¬ fertigkeit ihm ſeinen Verluſt werth zu machen, indem ſie geſchaͤftig war ihn zu erſetzen. Bey Tafel mußte er neben ihr ſeinen Platz nehmen, ſie ſchnitt ihm vor, ſo daß er nur die Gabel gebrauchen durfte. Nahmen Aeltere, Vornehmere ihm ihre Nachbarſchaft weg, ſo erſtreckte ſie ihre Aufmerkſamkeit uͤber die ganze Tafel hin, und die eilenden Bedienten mußten das erſetzen was ihm die Entfernung74 zu rauben drohte. Zuletzt munterte ſie ihn auf, mit der linken Hand zu ſchreiben: er mußte alle ſeine Verſuche an ſie richten, und ſo ſtand ſie, entfernt oder nah, immer mit ihm in Verhaͤltniß. Der junge Mann wußte nicht wie ihm geworden war, und wirklich fing er von dieſem Augenblick ein neues Le¬ ben an.

Vielleicht ſollte man denken, ein ſolches Betragen waͤre dem Braͤutigam mißfaͤllig ge¬ weſen; allein es fand ſich das Gegentheil. Er rechnete ihr dieſe Bemuͤhungen zu großem Verdienſt an, und war um ſo mehr daruͤber ganz ruhig, als er ihre faſt uͤbertriebenen Eigenheiten kannte, wodurch ſie alles was im mindeſten verfaͤnglich ſchien, von ſich ab¬ zulehnen wußte. Sie wollte mit Jedermann nach Belieben umſpringen, Jeder war in Gefahr, von ihr einmal angeſtoßen, gezerrt oder ſonſt geneckt zu werden; Niemand aber durfte ſich gegen ſie ein Gleiches erlauben,75 Niemand ſie nach Willkuͤhr beruͤhren, Nie¬ mand auch nur im entfernteſten Sinne, eine Freyheit die ſie ſich nahm, erwiedern; und ſo hielt ſie die andern in den ſtrengſten Graͤn¬ zen der Sittlichkeit gegen ſich, die ſie gegen andere jeden Augenblick zu uͤbertreten ſchien.

Ueberhaupt haͤtte man glauben koͤnnen, es ſey bey ihr Maxime geweſen, ſich dem Lobe und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung gleichmaͤßig auszuſetzen. Denn wenn ſie die Menſchen auf mancherley Weiſe fuͤr ſich zu gewinnen ſuchte; ſo verdarb ſie es wieder mit ihnen gewoͤhnlich durch eine boͤſe Zunge, die Niemanden ſchonte. So wurde kein Beſuch in der Nachbarſchaft abgelegt, nirgends ſie und ihre Geſellſchaft in Schloͤſſern und Woh¬ nungen freundlich aufgenommen, ohne daß ſie bey der Ruͤckkehr auf das ausgelaſſenſte merken ließ, wie ſie alle menſchlichen Ver¬ haͤltniſſe nur von der laͤcherlichen Seite zu nehmen geneigt ſey. Da waren drey Bruͤ¬76 der, welche unter lauter Complimenten, wer zuerſt heiraten ſollte, das Alter uͤbereilt hatte; hier eine kleine junge Frau mit einem großen alten Manne; dort umgekehrt ein kleiner munterer Mann und eine unbehuͤlfliche Rie¬ ſinn. In dem einen Hauſe ſtolperte man bey jedem Schritte uͤber ein Kind; das andre wollte ihr bey der groͤßten Geſellſchaft nicht voll erſcheinen, weil keine Kinder gegenwaͤrtig waren. Alte Gatten ſollten ſich nur ſchnell begraben laſſen, damit doch wieder einmal Jemand im Hauſe zum Lachen kaͤme, da ih¬ nen keine Notherben gegeben waren. Junge Eheleute ſollten reiſen, weil das Haushalten ſie gar nicht kleide. Und wie mit den Per¬ ſonen, ſo machte ſie es auch mit den Sachen, mit den Gebaͤuden, wie mit dem Haus - und Tiſchgeraͤthe. Beſonders alle Wandverzierun¬ gen reizten ſie zu luſtigen Bemerkungen. Von dem aͤlteſten Hautelißteppich bis zu der neu¬ ſten Papiertapete, vom ehrwuͤrdigſten Fami¬ lienbilde bis zum frivolſten neuen Kupferſtich,77 eins wie das andre mußte leiden, eins wie das andre wurde durch ihre ſpoͤttiſchen Be¬ merkungen gleichſam aufgezehrt, ſo daß man ſich haͤtte verwundern ſollen, wie fuͤnf Meilen umher irgend etwas nur noch exiſtirte.

Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in dieſem verneinenden Beſtreben; ein ſelbſtiſcher Muthwille mochte ſie gewoͤhnlich anreizen: aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte ſich in ihrem Verhaͤltniß zu Ottilien erzeugt. Auf die ruhige ununterbrochene Thaͤtigkeit des lieben Kindes, die von Jedermann bemerkt und geprieſen wurde, ſah ſie mit Verachtung herab, und als zur Sprache kam, wie ſehr ſich Ottilie der Gaͤrten und der Treibhaͤuſer annehme, ſpottete ſie nicht allein daruͤber, indem ſie, uneingedenk des tiefen Winters in dem man lebte, ſich zu verwundern ſchien, daß man weder Blumen noch Fruͤchte gewahr werde; ſondern ſie ließ auch von nun an ſo viel Gruͤnes, ſo viel Zweige und was nur78 irgend keimte, herbeyhohlen und zur taͤglichen Zierde der Zimmer und des Tiſches verſchwen¬ den, daß Ottilie und der Gaͤrtner nicht wenig gekraͤnkt waren, ihre Hoffnungen fuͤr das naͤchſte Jahr und vielleicht auf laͤngere Zeit zerſtoͤrt zu ſehen.

Eben ſo wenig goͤnnte ſie Ottilien die Ruhe des haͤuslichen Ganges, worin ſie ſich mit Bequemlichkeit fortbewegte. Ottilie ſollte mit auf die Luſt - und Schlittenfahrten; ſie ſollte mit auf die Baͤlle die in der Nachbar¬ ſchaft veranſtaltet wurden; ſie ſollte weder Schnee noch Kaͤlte noch gewaltſame Nacht¬ ſtuͤrme ſcheuen, da ja ſoviel andre nicht davon ſtuͤrben. Das zarte Kind litt nicht wenig darunter, aber Luciane gewann nichts dabey: denn obgleich Ottilie ſehr einfach gekleidet ging, ſo war ſie doch, oder ſo ſchien ſie we¬ nigſtens immer den Maͤnnern die ſchoͤnſte. Ein ſanftes Anziehen verſammelte alle Maͤnner um ſie her, ſie mochte ſich in den großen79 Raͤumen am erſten oder am letzten Platze befinden, ja der Braͤutigam Lucianens ſelbſt unterhielt ſich oft mit ihr, und zwar um ſo mehr, als er in einer Angelegenheit die ihn beſchaͤftigte, ihren Rath, ihre Mitwirkung verlangte.

Er hatte den Architecten naͤher kennen lernen, bey Gelegenheit ſeiner Kunſtſammlung viel uͤber das Geſchichtliche mit ihm geſpro¬ chen, in andern Faͤllen auch, beſonders bey Betrachtung der Capelle, ſein Talent ſchaͤtzen gelernt. Der Baron war jung, reich; er ſammelte, er wollte bauen; ſeine Liebhaberey war lebhaft, ſeine Kenntniſſe ſchwach; er glaubte in dem Architecten ſeinen Mann zu finden, mit dem er mehr als einen Zweck zugleich erreichen koͤnnte. Er hatte ſeiner Braut von dieſer Abſicht geſprochen; ſie lobte ihn darum und war hoͤchlich mit dem Vor¬ ſchlag zufrieden, doch vielleicht mehr, um die¬ ſen jungen Mann Ottilien zu entziehen 80 denn ſie glaubte ſo etwas von Neigung bey ihm zu bemerken als daß ſie gedacht haͤtte, ſein Talent zu ihren Abſichten zu benutzen. Denn ob er gleich bey ihren extemporirten Feſten ſich ſehr thaͤtig erwieſen und manche Reſourcen bey dieſer und jener Anſtalt dar¬ geboten, ſo glaubte ſie es doch immer ſelbſt beſſer zu verſtehen; und da ihre Erfindungen gewoͤhnlich gemein waren, ſo reichte, um ſie auszufuͤhren, die Geſchicklichkeit eines gewand¬ ten Kammerdieners eben ſo gut hin, als die des vorzuͤglichſten Kuͤnſtlers. Weiter als zu einem Altar, worauf geopfert ward, und zu einer Bekraͤnzung, es mochte nun ein gypfer¬ nes oder ein lebendes Haupt ſeyn, konnte ihre Einbildungskraft ſich nicht verſteigen, wenn ſie irgend Jemand zum Geburts - und Ehrentage ein feſtliches Compliment zu machen gedachte.

Ottilie konnte dem Braͤutigam, der ſich nach dem Verhaͤltniß des Architecten zum Hauſe81 erkundigte, die beſte Auskunft geben. Sie wußte daß Charlotte ſich ſchon fruͤher nach einer Stelle fuͤr ihn umgethan hatte: denn waͤre die Geſellſchaft nicht gekommen, ſo haͤtte ſich der junge Mann gleich nach Vollendung der Capelle entfernt, weil alle Bauten den Winter uͤber ſtillſtehn ſollten und mußten; und es war daher ſehr erwuͤnſcht, wenn der geſchickte Kuͤnſtler durch einen neuen Goͤnner wieder genutzt und befoͤrdert wurde.

Das perſoͤnliche Verhaͤltniß Ottiliens zum Architecten war ganz rein und unbefangen. Seine angenehme und thaͤtige Gegenwart hatte ſie, wie die Naͤhe eines aͤltern Bruders, unter¬ halten und erfreut. Ihre Empfindungen fuͤr ihn blieben auf der ruhigen leidenſchaftsloſen Oberflaͤche der Blutsverwandtſchaft: denn in ihrem Herzen war kein Raum mehr; es war von der Liebe zu Eduard ganz gedraͤngt aus¬ gefuͤllt, und nur die Gottheit, die alles durch¬II. 682dringt, konnte dieſes Herz zugleich mit ihm beſitzen.

Indeſſen je tiefer der Winter ſich ſenkte, je wilderes Wetter, je unzugaͤnglicher die Wege, deſto anziehender ſchien es, in ſo guter Geſellſchaft die abnehmenden Tage zuzubrin¬ gen. Nach kurzen Ebben uͤberflutete die Menge von Zeit zu Zeit das Haus. Offiziere von entfernteren Garniſonen, die gebildeten zu ihrem großen Vortheil, die roheren zur Unbequemlichkeit der Geſellſchaft, zogen ſich herbey; am Civilſtande fehlte es auch nicht, und ganz unerwartet kamen eines Tages der Graf und die Baroneſſe zuſammen ange¬ fahren.

Ihre Gegenwart ſchien erſt einen wahren Hof zu bilden. Die Maͤnner von Stand und Sitten umgaben den Grafen, und die Frauen ließen der Baroneſſe Gerechtigkeit wi¬ derfahren. Man verwunderte ſich nicht lange,83 ſie beyde zuſammen und ſo heiter zu ſehen: denn man vernahm, des Grafen Gemahlinn ſey geſtorben, und eine neue Verbindung werde geſchloſſen ſeyn ſobald es die Schicklichkeit nur erlaube. Ottilie erinnerte ſich jenes er¬ ſten Beſuchs, jedes Worts was uͤber Ehe¬ ſtand und Scheidung, uͤber Verbindung und Trennung, uͤber Hoffnung, Erwartung, Ent¬ behren und Entſagen geſprochen ward. Beyde Perſonen, damals noch ganz ohne Ausſichten, ſtanden nun vor ihr, dem gehofften Gluͤck ſo nahe, und ein unwillkuͤhrlicher Seufzer drang aus ihrem Herzen.

Luciane hoͤrte kaum, daß der Graf ein Liebhaber von Muſik ſey, ſo wußte ſie ein Conzert zu veranſtalten; ſie wollte ſich dabey mit Geſang zur Guitarre hoͤren laſſen. Es geſchah. Das Inſtrument ſpielte ſie nicht un¬ geſchickt, ihre Stimme war angenehm; was aber die Worte betraf, ſo verſtand man ſie ſo wenig als wenn ſonſt eine deutſche Schoͤne6 *84zur Guitarre ſingt. Indeß verſicherte Jeder¬ mann, ſie habe mit viel Ausdruck geſungen, und ſie konnte mit dem lauten Beyfall zu¬ frieden ſeyn. Nur ein wunderliches Ungluͤck begegnete bey dieſer Gelegenheit. In der Ge¬ ſellſchaft befand ſich ein Dichter, den ſie auch beſonders zu verbinden hoffte, weil ſie einige Lieder von ihm an ſie gerichtet wuͤnſchte, und deshalb dieſen Abend meiſt nur von ſeinen Liedern vortrug. Er war uͤberhaupt, wie alle, hoͤflich gegen ſie, aber ſie hatte mehr erwar¬ tet. Sie legte es ihm einigemal nahe, konnte aber weiter nichts von ihm vernehmen, bis ſie endlich aus Ungeduld einen ihrer Hofleute an ihn ſchickte und ſondiren ließ, ob er denn nicht entzuͤckt geweſen ſey, ſeine vortrefflichen Gedichte ſo vortrefflich vortragen zu hoͤren. Meine Gedichte? verſetzte dieſer mit Erſtau¬ nen. Verzeihen Sie, mein Herr, fuͤgte er hinzu: ich habe nichts als Vocale gehoͤrt und die nicht einmal alle. Unterdeſſen iſt es mei¬ ne Schuldigkeit mich fuͤr eine ſo liebenswuͤr¬85 dige Intention dankbar zu erweiſen. Der Hofmann ſchwieg und verſchwieg. Der andre ſuchte ſich durch einige wohltoͤnende Compli¬ mente aus der Sache zu ziehen. Sie ließ ihre Abſicht nicht undeutlich merken, auch et¬ was eigens fuͤr ſie gedichtetes zu beſitzen. Wenn es nicht allzu unfreundlich geweſen waͤre, ſo haͤtte er ihr das Alphabet uͤberrei¬ chen koͤnnen, um ſich daraus ein beliebiges Lobgedicht zu irgend einer vorkommenden Me¬ lodie ſelbſt einzubilden. Doch ſollte ſie nicht ohne Kraͤnkung aus dieſer Begebenheit ſchei¬ den. Kurze Zeit darauf erfuhr ſie: er habe noch ſelbigen Abend einer von Ottiliens Lieb¬ lingsmelodieen ein allerliebſtes Gedicht unter¬ gelegt, das noch mehr als verbindlich ſey.

Luciane, wie alle Menſchen ihrer Art, die immer durcheinander miſchen was ihnen vortheilhaft und was ihnen nachtheilig iſt, wollte nun ihr Gluͤck im Recitiren verſuchen. Ihr Gedaͤchtniß war gut, aber wenn man86 aufrichtig reden ſollte, ihr Vortrag geiſtlos und heftig ohne leidenſchaftlich zu ſeyn. Sie recitirte Balladen, Erzaͤhlungen und was ſonſt in Declamatorien vorzukommen pflegt. Dabey hatte ſie die ungluͤckliche Gewohnheit angenommen, das was ſie vortrug mit Geſten zu begleiten, wodurch man das was eigent¬ lich epiſch und lyriſch iſt, auf eine unange¬ nehme Weiſe mit dem Dramatiſchen mehr ver¬ wirrt als verbindet.

Der Graf, ein einſichtsvoller Mann, der gar bald die Geſellſchaft, ihre Neigungen, Leidenſchaften und Unterhaltungen uͤberſah, brachte Lucianen, gluͤcklicher oder ungluͤcklicher Weiſe, auf eine neue Art von Darſtellung, die ihrer Perſoͤnlichkeit ſehr gemaͤß war. Ich finde, ſagte er, hier ſo manche wohlgeſtaltete Perſonen, denen es gewiß nicht fehlt, male¬ riſche Bewegungen und Stellungen nachzuah¬ men. Sollten ſie es noch nicht verſucht ha¬ ben, wirkliche bekannte Gemaͤlde vorzuſtellen? 87Eine ſolche Nachbildung, wenn ſie auch man¬ che muͤhſame Anordnung erfordert, bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor.

Schnell ward Luciane gewahr, daß ſie hier ganz in ihrem Fach ſeyn wuͤrde. Ihr ſchoͤner Wuchs, ihre volle Geſtalt, ihr regel¬ maͤßiges und doch bedeutendes Geſicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr ſchlanker Hals, alles war ſchon wie aufs Gemaͤlde berechnet; und haͤtte ſie nun gar gewußt, daß ſie ſchoͤner ausſah wenn ſie ſtill ſtand als wenn ſie ſich bewegte, indem ihr im letzten Falle manch¬ mal etwas ſtoͤrendes Ungrazioͤſes entſchluͤpfte, ſo haͤtte ſie ſich mit noch mehrerem Eifer die¬ ſer natuͤrlichen Bildnerey ergeben.

Man ſuchte nun Kupferſtiche nach be¬ ruͤhmten Gemaͤlden; man waͤhlte zuerſt den Beliſar nach van Dyk. Ein großer und wohlge¬ bauter Mann von gewiſſen Jahren ſollte den ſitzenden blinden General, der Architect den88 vor ihm theilnehmend traurig ſtehenden Krie¬ ger nachbilden, dem er wirklich etwas aͤhnlich ſah. Luciane hatte ſich, halb beſcheiden, das junge Weibchen im Hintergrunde gewaͤhlt, das reichliche Almoſen aus einem Beutel in die flache Hand zaͤhlt, indeß eine Alte ſie ab¬ zumahnen und ihr vorzuſtellen ſcheint, daß ſie zu viel thue. Eine andre ihm wirklich Almoſen reichende Frauensperſon war nicht vergeſſen.

Mit dieſen und andern Bildern beſchaͤf¬ tigte man ſich ſehr ernſtlich. Der Graf gab dem Architecten uͤber die Art der Einrichtung einige Winke, der ſogleich ein Theater dazu aufſtellte und wegen der Beleuchtung die noͤ¬ thige Sorge trug. Man war ſchon tief in die Anſtalten verwickelt, als man erſt bemerkte, daß ein ſolches Unternehmen einen anſehn¬ lichen Aufwand verlangte, und daß auf dem Lande mitten im Winter gar manches Erfor¬ derniß abging. Deshalb ließ, damit ja nichts89 ſtocken moͤge, Luciane beynah ihre ſaͤmmtliche Garderobe zerſchneiden, um die verſchiedenen Coſtuͤme zu liefern, die jene Kuͤnſtler will¬ kuͤhrlich genug angegeben hatten.

Der Abend kam herbey und die Darſtel¬ lung wurde vor einer großen Geſellſchaft und zu allgemeinem Beyfall ausgefuͤhrt. Eine bedeutende Muſik ſpannte die Erwartung. Jener Beliſar eroͤffnete die Buͤhne. Die Geſtalten waren ſo paſſend, die Farben ſo gluͤcklich ausgetheilt, die Beleuchtung ſo kunſt¬ reich, daß man fuͤrwahr in einer andern Welt zu ſeyn glaubte; nur daß die Gegen¬ wart des Wirklichen ſtatt des Scheins eine Art[von] aͤngſtlicher Empfindung hervorbrachte.

Der Vorhang fiel, und ward auf Ver¬ langen mehr als einmal wieder aufgezogen. Ein muſikaliſches Zwiſchenſpiel unterhielt die Geſellſchaft, die man durch ein Bild hoͤherer Art uͤberraſchen wollte. Es war die bekannte90 Vorſtellung von Pouſſin: Ahasverus und Eſther. Dießmal hatte ſich Luciane beſſer bedacht. Sie entwickelte in der ohnmaͤchtig hingeſunkenen Koͤniginn alle ihre Reize, und hatte ſich kluger Weiſe zu den umgebenden unterſtuͤtzenden Maͤdchen lauter huͤbſche wohl¬ gebildete Figuren ausgeſucht, worunter ſich jedoch keine mit ihr auch nur im mindeſten meſſen konnte. Ottilie blieb von dieſem Bilde wie von den uͤbrigen ausgeſchloſſen. Auf den goldnen Thron hatten ſie, um den Zevs gleichen Koͤnig vorzuſtellen, den ruͤſtigſten und ſchoͤnſten Mann der Geſellſchaft gewaͤhlt, ſo daß dieſes Bild wirklich eine unvergleichliche Vollkommenheit gewann.

Als drittes hatte man die ſogenannte vaͤ¬ terliche Ermahnung von Terburg gewaͤhlt, und wer kennt nicht den herrlichen Kupfer¬ ſtich unſeres Wille von dieſem Gemaͤlde. Ei¬ nen Fuß uͤber den andern geſchlagen, ſitzt ein edler ritterlicher Vater und ſcheint ſeiner vor91 ihm ſtehenden Tochter ins Gewiſſen zu reden. Dieſe, eine herrliche Geſtalt, im faltenreichen weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hin¬ ten geſehen, aber ihr ganzes Weſen ſcheint anzudeuten, daß ſie ſich zuſammennimmt. Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und beſchaͤmend ſey, ſieht man aus der Miene und Gebaͤrde des Vaters; und was die Mut¬ ter betrifft, ſo ſcheint dieſe eine kleine Verle¬ genheit zu verbergen, indem ſie in ein Glas Wein blickt, das ſie eben auszuſchluͤrfen im Begriff iſt.

Bey dieſer Gelegenheit nun ſollte Luciane in ihrem hoͤchſten Glanze erſcheinen. Ihre Zoͤpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken, waren uͤber alle Begriffe ſchoͤn, und die Taille, von der bey den modernen antiki¬ ſirenden Bekleidungen der Frauenzimmer we¬ nig ſichtbar wird, hoͤchſt zierlich, ſchlank und leicht zeigte ſich an ihr in dem aͤlteren Coſtuͤm aͤußerſt vortheilhaft; und der Architect hatte92 geſorgt, die reichen Falten des weißen Atlaſ¬ ſes mit der kuͤnſtlichſten Natur zu legen, ſo daß ganz ohne Frage dieſe lebendige Nachbil¬ dung weit uͤber jenes Originalbildniß hinaus¬ reichte und ein allgemeines Entzuͤcken erregte. Man konnte mit dem Wiedererlangen nicht endigen, und der ganz natuͤrliche Wunſch, einem ſo ſchoͤnen Weſen, das man genugſam von der Ruͤckſeite geſehen, auch ins Angeſicht zu ſchauen, nahm dergeſtalt uͤberhand, daß ein luſtiger ungeduldiger Vogel die Worte, die man manchmal an das Ende einer Seite zu ſchreiben pflegt: tournez s'il vous plait laut ausrief und eine allgemeine Beyſtimmung erregte. Die Darſtellenden aber kannten ihren Vortheil zu gut, und hatten den Sinn dieſer Kunſtſtuͤcke zu wohl gefaßt, als daß ſie dem allgemeinen Ruf haͤtten nachgeben ſollen. Die beſchaͤmt ſcheinende Tochter blieb ruhig ſtehen, ohne den Zuſchauern den Aus¬ druck ihres Angeſichts zu goͤnnen; der Vater blieb in ſeiner ermahnenden Stellung ſitzen,93 und die Mutter brachte Naſe und Augen nicht aus dem durchſichtigen Glaſe, worin ſich, ob ſie gleich zu trinken ſchien, der Wein nicht verminderte. Was ſollen wir noch viel von kleinen Nachſtuͤcken ſagen, wozu man niederlaͤndiſche Wirthshaus - und Jahrmarkts¬ ſcenen gewaͤhlt hatte.

Der Graf und die Baroneſſe reiſten ab und verſprachen in den erſten gluͤcklichen Wo¬ chen ihrer nahen Verbindung wiederzukehren, und Charlotte hoffte nunmehr, nach zwey muͤhſam uͤberſtandenen Monaten, die uͤbrige Geſellſchaft gleichfalls los zu werden. Sie war des Gluͤcks ihrer Tochter gewiß, wenn bey dieſer der erſte Braut - und Jugendtaumel ſich wuͤrde gelegt haben: denn der Braͤutigam hielt ſich fuͤr den gluͤcklichſten Menſchen von der Welt. Bey großem Vermoͤgen und ge¬ maͤßigter Sinnesart ſchien er auf eine wun¬ derbare Weiſe von dem Vorzuge geſchmeichelt, ein Frauenzimmer zu beſitzen, das der ganzen94 Welt gefallen mußte. Er hatte einen ſo ganz eigenen Sinn, alles auf ſie und erſt durch ſie auf ſich zu beziehen, daß es ihm eine unan¬ genehme Empfindung machte, wenn ſich nicht gleich ein Neuankommender mit aller Auf¬ merkſamkeit auf ſie richtete, und mit ihm, wie es wegen ſeiner guten Eigenſchaften be¬ ſonders von aͤlteren Perſonen oft geſchah, eine naͤhere Verbindung ſuchte ohne ſich ſonderlich um ſie zu bekuͤmmern. Wegen des Architec¬ ten kam es bald zur Richtigkeit. Aufs Neu¬ jahr ſollte ihm dieſer folgen und das Carne¬ val mit ihm in der Stadt zubringen, wo Luciane ſich von der Wiederholung der ſo ſchoͤn eingerichteten Gemaͤlde, ſo wie von hundert andern Dingen, die groͤßte Gluͤckſe¬ ligkeit verſprach, um ſo mehr als Tante und Braͤutigam jeden Aufwand fuͤr gering zu ach¬ ten ſchienen, der zu ihrem Vergnuͤgen erfor¬ dert wurde.

Nun ſollte man ſcheiden, aber das konnte nicht auf eine gewoͤhnliche Weiſe geſchehen. 95Man ſcherzte einmal ziemlich laut, daß Char¬ lottens Wintervorraͤthe nun bald aufgezehrt ſeyen, als der Ehrenmann, der den Beliſar vorgeſtellt hatte, und freylich reich genug war, von Lucianens Vorzuͤgen hingeriſſen, denen er nun ſchon ſo lange huldigte, unbedachtſam ausrief: ſo laſſen Sie es uns auf polniſche Art halten! Kommen Sie nun und zehren mich auch auf, und ſo gehet es dann weiter in der Runde herum. Geſagt, gethan: Lu¬ ciane ſchlug ein. Den andern Tag war ge¬ packt und der Schwarm warf ſich auf ein anderes Beſitzthum. Dort hatte man auch Raum genug, aber weniger Bequemlichkeit und Einrichtung. Daraus entſtand manches Unſchickliche, das erſt Lucianen recht gluͤcklich machte. Das Leben wurde immer wuͤſter und wilder. Treibjagen im tiefſten Schnee, und was man ſonſt nur unbequemes auffinden konnte, wurde veranſtaltet. Frauen ſo we¬ nig als Maͤnner durften ſich ausſchließen, und ſo zog man, jagend und reitend, ſchlit¬96 tenfahrend und lermend, von einem Gute zum andern, bis man ſich endlich der Reſi¬ denz naͤherte; da denn die Nachrichten und Erzaͤhlungen, wie man ſich bey Hofe und in der Stadt vergnuͤge, der Einbildungskraft ei¬ ne andre Wendung gaben, und Lucianen mit ihrer ſaͤmmtlichen Begleitung, indem die Tante ſchon vorausgegangen war, unaufhaltſam in einen andern Lebenskreis hineinzogen.

97

Aus Ottiliens Tagebuche.

Man nimmt in der Welt Jeden wofuͤr er ſich giebt; aber er muß ſich auch fuͤr et¬ was geben. Man ertraͤgt die Unbequemen lieber als man die Unbedeutenden duldet.

Man kann der Geſellſchaft alles auf¬ dringen, nur nicht was eine Folge hat.

Wir lernen die Menſchen nicht kennen, wenn ſie zu uns kommen; wir muͤſſen zu ih¬ nen gehen, um zu erfahren wie es mit ihnen ſteht.

Ich finde es beynahe natuͤrlich, daß wir an Beſuchenden mancherley auszuſetzen haben,II. 798daß wir ſogleich wenn ſie weg ſind, uͤber ſie nicht zum liebevollſten urtheilen: denn wir haben ſo zu ſagen ein Recht, ſie nach un¬ ſerm Maaßſtabe zu meſſen. Selbſt verſtaͤn¬ dige und billige Menſchen enthalten ſich in ſolchen Faͤllen kaum einer ſcharfen Cenſur.

Wenn man dagegen bey andern geweſen iſt und hat ſie mit ihren Umgebungen, Ge¬ wohnheiten, in ihren nothwendigen unaus¬ weichlichen Zuſtaͤnden geſehen, wie ſie um ſich wirken, oder wie ſie ſich fuͤgen; ſo gehoͤrt ſchon Unverſtand und boͤſer Wille dazu, um das laͤcherlich zu finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwuͤrdig ſcheinen muͤßte.

Durch das was wir Betragen und gute Sitten nennen, ſoll das erreicht werden, was außerdem nur durch Gewalt, oder auch nicht einmal durch Gewalt zu erreichen iſt.

Der Umgang mit Frauen iſt das Ele¬ ment guter Sitten.

99

Wie kann der Character, die Eigenthuͤm¬ lichkeit des Menſchen, mit der Lebensart be¬ ſtehen?

Das Eigenthuͤmliche muͤßte durch die Lebensart erſt recht hervorgehoben werden. Das Bedeutende will Jedermann, nur ſoll es nicht unbequem ſeyn.

Die groͤßten Vortheile im Leben uͤber¬ haupt wie in der Geſellſchaft hat ein gebil¬ deter Soldat.

Rohe Kriegsleute gehen wenigſtens nicht aus ihrem Character, und weil doch meiſt hinter der Staͤrke eine Gutmuͤthigkeit verbor¬ gen liegt, ſo iſt im Nothfall auch mit ihnen auszukommen.

Niemand iſt laͤſtiger als ein taͤppiſcher Menſch vom Civilſtande. Von ihm koͤnnte7 *100man die Feinheit fordern, da er ſich mit nichts Rohem zu beſchaͤftigen hat.

Wenn wir mit Menſchen leben, die ein zartes Gefuͤhl fuͤr das Schickliche haben, ſo wird es uns Angſt um ihretwillen, wenn etwas Ungeſchicktes begegnet. So fuͤhle ich immer fuͤr und mit Charlotten, wenn Jemand mit dem Stuhle ſchaukelt, weil ſie das in den Tod nicht leiden kann.

Es kaͤme Niemand mit der Brille auf der Naſe in ein vertrauliches Gemach, wenn er wuͤßte, daß uns Frauen ſogleich die Luſt vergeht ihn anzuſehen und uns mit ihm zu unterhalten.

Zutraulichkeit an der Stelle der Ehr¬ furcht iſt immer laͤcherlich. Es wuͤrde Nie¬ mand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Compliment gemacht hat, wenn er wuͤßte, wie comiſch das ausſieht.

101

Es giebt kein aͤußeres Zeichen der Hoͤf¬ lichkeit das nicht einen tiefen ſittlichen Grund haͤtte. Die rechte Erziehung waͤre, welche dieſes Zeichen und den Grund zugleich uͤber¬ lieferte.

Das Betragen iſt ein Spiegel, in wel¬ chem jeder ſein Bild zeigt.

Es giebt eine Hoͤflichkeit des Herzens; ſie iſt der Liebe verwandt. Aus ihr ent¬ ſpringt die bequemſte Hoͤflichkeit des aͤußern Betragens.

Freywillige Abhaͤngigkeit iſt der ſchoͤnſte Zuſtand und wie waͤre der moͤglich ohne Liebe.

Wir ſind nie entfernter von unſern Wuͤn¬ ſchen, als wenn wir uns einbilden das Ge¬ wuͤnſchte zu beſitzen.

102

Niemand iſt mehr Sklave als der ſich fuͤr frey haͤlt ohne es zu ſeyn.

Es darf ſich einer nur fuͤr frey erklaͤren, ſo fuͤhlt er ſich den Augenblick als bedingt. Wagt er es ſich fuͤr bedingt zu erklaͤren, ſo fuͤhlt er ſich frey.

Gegen große Vorzuͤge eines Andern giebt es kein Rettungsmittel als die Liebe.

Es iſt was ſchreckliches um einen vor¬ zuͤglichen Mann, auf den ſich die Dummen was zu Gute thun.

Es giebt, ſagt man, fuͤr den Kammer¬ diener keinen Helden. Das kommt aber blos daher, weil der Held nur vom Helden aner¬ kannt werden kann. Der Kammerdiener wird aber wahrſcheinlich ſeines Gleichen zu ſchaͤtzen wiſſen.

103

Es giebt keinen groͤßern Troſt fuͤr die Mittelmaͤßigkeit als daß das Genie nicht un¬ ſterblich ſey.

Die groͤßten Menſchen haͤngen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwach¬ heit zuſammen.

Man haͤlt die Menſchen gewoͤhnlich fuͤr gefaͤhrlicher als ſie ſind.

Thoren und geſcheide Leute ſind gleich unſchaͤdlich. Nur die Halbnarren und Halb¬ weiſen, das ſind die gefaͤhrlichſten.

Man weicht der Welt nicht ſicherer aus als durch die Kunſt, und man verknuͤpft ſich nicht ſicherer mit ihr als durch die Kunſt.

Selbſt im Augenblick des hoͤchſten Gluͤcks und der hoͤchſten Noth beduͤrfen wir des Kuͤnſtlers.

104

Die Kunſt beſchaͤftigt ſich mit dem Schweren und Guten.

Das Schwierige leicht behandelt zu ſe¬ hen giebt uns das Anſchauen des Unmoͤg¬ lichen.

Die Schwierigkeiten wachſen je naͤher man dem Ziele kommt.

Saͤen iſt nicht ſo beſchwerlich als aͤrn¬ ten.

[105]

Sechſtes Kapitel.

Die große Unruhe welche Charlotten durch dieſen Beſuch erwuchs, ward ihr dadurch verguͤtet, daß ſie ihre Tochter voͤllig begreifen lernte, worin ihr die Bekanntſchaft mit der Welt ſehr zu Huͤlfe kam. Es war nicht zum erſtenmal, daß ihr ein ſo ſeltſamer Character begegnete, ob er ihr gleich noch niemals auf dieſer Hoͤhe erſchien. Und doch hatte ſie aus der Erfahrung, daß ſolche Perſonen durchs Leben, durch mancherley Ereigniſſe, durch aͤl¬ terliche Verhaͤltniſſe gebildet eine ſehr ange¬ nehme und liebenswuͤrdige Reife erlangen koͤnnen, indem die Selbſtigkeit gemildert wird und die ſchwaͤrmende Thaͤtigkeit eine entſchie¬ dene Richtung erhaͤlt. Charlotte ließ als106 Mutter ſich um deſto eher eine fuͤr andere viel¬ leicht unangenehme Erſcheinung gefallen, als es Aeltern wohl geziemt da zu hoffen, wo Fremde nur zu genießen wuͤnſchen, oder we¬ nigſtens nicht belaͤſtigt ſeyn wollen.

Auf eine eigne und unerwartete Weiſe jedoch ſollte Charlotte nach ihrer Tochter Ab¬ reiſe getroffen werden, indem dieſe nicht ſowohl durch das Tadelnswerthe in ihrem Betragen, als durch das was man daran lobenswuͤrdig haͤtte finden koͤnnen, eine uͤble Nachrede hin¬ ter ſich gelaſſen hatte. Luciane ſchien ſich's zum Geſetz gemacht zu haben, nicht allein mit den Froͤhlichen froͤhlich, ſondern auch mit den Traurigen traurig zu ſeyn, und um den Geiſt des Widerſpruchs recht zu uͤben, manch¬ mal die Froͤhlichen verdrießlich und die Trau¬ rigen heiter zu machen. In allen Familien wo ſie hinkam, erkundigte ſie ſich nach den Kran¬ ken und Schwachen, die nicht in Geſellſchaft erſcheinen konnten. Sie beſuchte ſie auf ihren107 Zimmern, machte den Arzt und drang einem Jeden aus ihrer Reiſeapotheke, die ſie beſtaͤn¬ dig im Wagen mit ſich fuͤhrte, energiſche Mittel auf; da denn eine ſolche Kur, wie ſich vermuthen laͤßt, gelang oder mislang, wie es der Zufall herbeyfuͤhrte.

In dieſer Art von Wohlthaͤtigkeit war ſie ganz grauſam und ließ ſich gar nicht ein¬ reden, weil ſie feſt uͤberzeugt war, daß ſie vortrefflich handle. Allein es mißrieth ihr auch ein Verſuch von der ſittlichen Seite, und dieſer war es, der Charlotten viel zu ſchaffen machte, weil er Folgen hatte, und Jedermann daruͤber ſprach. Erſt nach Lucia¬ nens Abreiſe hoͤrte ſie davon; Ottilie, die gerade jene Partie mitgemacht hatte, mußte ihr umſtaͤndlich davon Rechenſchaft geben.

Eine der Toͤchter eines angeſehnen Hauſes hatte das Ungluͤck gehabt, an dem Tode ei¬ nes ihrer juͤngeren Geſchwiſter ſchuld zu ſeyn.108 und ſich daruͤber nicht beruhigen noch wieder finden koͤnnen. Sie lebte auf ihrem Zimmer beſchaͤftigt und ſtill, und ertrug ſelbſt den Anblick der Ihrigen nur wenn ſie einzeln ka¬ men: denn ſie argwohnte ſogleich, wenn meh¬ rere beyſammen waren, daß man untereinan¬ der uͤber ſie und ihren Zuſtand reflectire. Gegen Jedes allein aͤußerte ſie ſich vernuͤnftig und unterhielt ſich ſtundenlang mit ihm.

Luciane hatte davon gehoͤrt und ſich ſo¬ gleich im Stillen vorgenommen, wenn ſie in das Haus kaͤme, gleichſam ein Wunder zu thun und das Frauenzimmer der Geſellſchaft wiederzugeben. Sie betrug ſich dabey vor¬ ſichtiger als ſonſt, wußte ſich allein bey der Seelenkranken einzufuͤhren, und ſoviel man merken konnte, durch Muſik ihr Vertrauen zu gewinnen. Nur zuletzt verſah ſie es: denn eben weil ſie Aufſehn erregen wollte, ſo brachte ſie das ſchoͤne blaſſe Kind, das ſie genug vorbereitet waͤhnte, eines Abends ploͤtz¬109 lich in die bunte glaͤnzende Geſellſchaft; und vielleicht waͤre auch das noch gelungen, wenn nicht die Societaͤt ſelbſt, aus Neugierde und Apprehenſion, ſich ungeſchickt benommen, ſich um die Kranke verſammelt, ſie wieder gemieden, ſie durch Fluͤſtern, Koͤpfe zuſam¬ menſtecken irre gemacht und aufgeregt haͤtte. Die zart Empfindende ertrug das nicht. Sie entwich unter fuͤrchterlichem Schreyen, das gleichſam ein Entſetzen vor einem eindrin¬ genden Ungeheuren auszudruͤcken ſchien. Er¬ ſchreckt fuhr die Geſellſchaft nach allen Seiten auseinander, und Ottilie war unter denen, welche die voͤllig Ohnmaͤchtige wieder auf ihr Zimmer begleiteten.

Indeſſen hatte Luciane eine ſtarke Straf¬ rede nach ihrer Weiſe an die Geſellſchaft gehal¬ ten, ohne im mindeſten daran zu denken, daß ſie allein alle Schuld habe, und ohne ſich durch dieſes und andres Mißlingen von ihrem Thun und Treiben abhalten zu laſſen.

110

Der Zuſtand dek Kranken war ſeit jener Zeit bedenklicher geworden, ja das Uebel hatte ſich ſo geſteigert, daß die Aeltern das arme Kind nicht im Hauſe behalten konnten, ſon¬ dern einer oͤffentlichen Anſtalt uͤberantworten mußten. Charlotten blieb nichts uͤbrig als durch ein beſonder zartes Benehmen gegen jene Familie den von ihrer Tochter verurſach¬ ten Schmerz einigermaßen zu lindern. Auf Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck gemacht; ſie bedauerte das arme Maͤdchen um ſo mehr als ſie uͤberzeugt war, wie ſie auch gegen Charlotten nicht laͤugnete, daß bey einer conſequenten Behandlung die Kranke gewiß herzuſtellen geweſen waͤre.

So kam auch, weil man ſich gewoͤhnlich vom vergangenen Unangenehmen mehr als vom Angenehmen unterhaͤlt, ein kleines Mi߬ verſtaͤndniß zur Sprache, das Ottilien an dem Architecten irre gemacht hatte, als er jenen Abend ſeine Sammlung nicht vorzeigen111 wollte, ob ſie ihn gleich ſo freundlich darum erſuchte. Es war ihr dieſes abſchlaͤgige Be¬ tragen immer in der Seele geblieben und ſie wußte ſelbſt nicht warum. Ihre Empfindun¬ gen waren ſehr richtig: denn was ein Maͤdchen wie Ottilie verlangen kann, ſollte ein Juͤng¬ ling wie der Architect nicht verſagen. Dieſer brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leiſen Vorwuͤrfe ziemlich guͤltige Entſchuldigungen zur Sprache.

Wenn Sie wuͤßten, ſagte er, wie roh ſelbſt gebildete Menſchen ſich gegen die ſchaͤtz¬ barſten Kunſtwerke verhalten, ſie wuͤrden mir verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag. Niemand weiß eine Medaille am Rand anzufaſſen; ſie be¬ taſten das ſchoͤnſte Gepraͤge, den reinſten Grund, laſſen die koͤſtlichſten Stuͤcke zwiſchen dem Daumen und Zeigefinger hin und her¬ gehen, als wenn man Kunſtformen auf dieſe Weiſe pruͤfte. Ohne daran zu denken, daß112 man ein großes Blatt mit zwey Haͤnden an¬ faſſen muͤſſe, greifen ſie mit Einer Hand nach einem unſchaͤtzbaren Kupferſtich, einer unerſetz¬ lichen Zeichnung, wie ein anmaßlicher Politiker eine Zeitung faßt und durch das Zerknittern des Papiers ſchon im Voraus ſein Urtheil uͤber die Weltbegebenheiten zu erkennen giebt. Niemand denkt daran, daß wenn nur zwan¬ zig Menſchen mit einem Kunſtwerke hinter¬ einander eben ſo verfuͤhren, der Einund¬ zwanzigſte nicht mehr viel daran zu ſehen haͤtte.

Habe ich Sie nicht auch manchmal, fragte Ottilie, in ſolche Verlegenheit geſetzt? habe ich nicht etwan Ihre Schaͤtze, ohne es zu ahnden, gelegentlich einmal beſchaͤdigt?

Niemals, verſetzte der Architect: niemals! Ihnen waͤre es unmoͤglich: das Schickliche iſt mit Ihnen geboren.

113

Auf alle Faͤlle, verſetzte Ottilie, waͤre es nicht uͤbel, wenn man kuͤnftig in das Buͤch¬ lein von guten Sitten, nach den Kapiteln, wie man ſich in Geſellſchaft beym Eſſen und Trinken benehmen ſoll, ein recht umſtaͤndliches einſchoͤbe, wie man ſich in Kunſtſammlungen und Muſeen zu betragen habe.

Gewiß, verſetzte der Architect, wuͤrden alsdann Cuſtoden und Liebhaber ihre Selten¬ heiten froͤhlicher mittheilen.

Ottilie hatte ihm ſchon lange verziehen, als er ſich aber den Vorwurf ſehr zu Herzen zu nehmen ſchien und immer aufs Neue be¬ theuerte, daß er gewiß gerne mittheile, gern fuͤr Freunde thaͤtig ſey; ſo empfand ſie, daß ſie ſein zartes Gemuͤth verletzt habe, und fuͤhlte ſich als ſeine Schuldnerinn. Nicht wohl konnte ſie ihm daher eine Bitte rund abſchla¬ gen, die er in Gefolg dieſes Geſpraͤchs an ſie that, ob ſie gleich, indem ſie ſchnell ihrII. 8114Gefuͤhl zu Rathe zog, nicht einſah wie ſie ihm ſeine Wuͤnſche gewaͤhren koͤnne.

Die Sache verhielt ſich alſo. Daß Otti¬ lie durch Lucianens Eiferſucht von den Ge¬ maͤldedarſtellungen ausgeſchloſſen worden, war ihm hoͤchſt empfindlich geweſen; daß Charlotte dieſem glaͤnzenden Theil der geſelligen Unter¬ haltung nur unterbrochen beywohnen koͤnnen, weil ſie ſich nicht wohl befand, hatte er gleich¬ falls mit Bedauern bemerkt: nun wollte er ſich nicht entfernen, ohne ſeine Dankbarkeit auch dadurch zu beweiſen, daß er zur Ehre der einen und zur Unterhaltung der andern, eine weit ſchoͤnere Darſtellung veranſtaltete als die bisherigen geweſen waren. Vielleicht kam hierzu, ihm ſelbſt unbewußt, ein andrer ge¬ heimer Antrieb: es ward ihm ſo ſchwer, die¬ ſes Haus, dieſe Familie zu verlaſſen, ja es ſchien ihm unmoͤglich von Ottiliens Augen zu ſcheiden, von deren ruhig freundlich gewoge¬115 nen Blicken er die letzte Zeit faſt ganz allein gelebt hatte.

Die Weihnachtsfeyertage nahten ſich und es wurde ihm auf einmal klar, daß eigentlich jene Gemaͤldedarſtellungen durch runde Figu¬ ren von dem ſogenannten Preſepe ausgegan¬ gen, von der frommen Vorſtellung, die man in dieſer heiligen Zeit der goͤttlichen Mutter und dem Kinde widmete, wie ſie in ihrer ſcheinbaren Niedrigkeit erſt von Hirten bald darauf von Koͤnigen verehrt werden.

Er hatte ſich die Moͤglichkeit eines ſolchen Bildes vollkommen vergegenwaͤrtigt. Ein ſchoͤ¬ ner friſcher Knabe war gefunden; an Hirten und Hirtinnen konnte es auch nicht fehlen; aber ohne Ottilien war die Sache nicht auszufuͤhren. Der junge Mann hatte ſie in ſeinem Sinne zur Mutter Gottes erhoben, und wenn ſie es abſchlug, ſo war bey ihm keine Frage, daß das Unternehmen fallen muͤſſe. Ottilie halb8 *116verlegen uͤber ſeinen Antrag wies ihn mit ſeiner Bitte an Charlotten. Dieſe ertheilte ihm gern die Erlaubniß, und auch durch ſie ward die Scheu Ottiliens, ſich jener heiligen Geſtalt anzumaßen, auf eine freundliche Weiſe uͤberwunden. Der Architect arbeitete Tag und Nacht, damit am Weihnachtsabend nichts fehlen moͤge.

Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen Sinne. Er hatte ohnehin wenig Beduͤrfniſſe, und Ottiliens Gegenwart ſchien ihm ſtatt al¬ les Labſals zu ſeyn; indem er um ihretwil¬ len arbeitete, war es als wenn er keines Schlafs, indem er ſich um ſie beſchaͤftigte, keiner Speiſe beduͤrfte. Zur feyerlichen Abend¬ ſtunde war deshalb alles fertig und bereit. Es war ihm moͤglich geweſen wohltoͤnende Blasinſtrumente zu verſammeln, welche die Einleitung machten und die gewuͤnſchte Stim¬ mung hervorzubringen wußten. Als der Vor¬117 hang ſich hob, war Charlotte wirklich uͤber¬ raſcht. Das Bild das ſich ihr vorſtellte, war ſo oft in der Welt wiederhohlt, daß man kaum einen neuen Eindruck davon erwarten ſollte. Aber hier hatte die Wirklichkeit als Bild ihre beſondern Vorzuͤge. Der ganze Raum war eher naͤchtlich als daͤmmernd, und doch nichts undeutlich im Einzelnen der Umge¬ bung. Den unuͤbertrefflichen Gedanken, daß alles Licht vom Kinde ausgehe, hatte der Kuͤnſtler durch einen klugen Mechanismus der Beleuchtung auszufuͤhren gewußt, der durch die beſchatteten, nur von Streiflichtern er¬ leuchteten Figuren im Vordergrunde zugedeckt wurde. Frohe Maͤdchen und Knaben ſtan¬ den umher; die friſchen Geſichter ſcharf von unten beleuchtet. Auch an Engeln fehlte es nicht, deren eigener Schein von dem goͤttli¬ chen verdunkelt, deren aͤtheriſcher Leib vor dem goͤttlich-menſchlichen verdichtet und lichts¬ beduͤrftig ſchien.

118

Gluͤcklicherweiſe war das Kind in der an¬ muthigſten Stellung eingeſchlafen, ſo daß nichts die Betrachtung ſtoͤrte, wenn der Blick auf der ſcheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmuth einen Schleyer aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz zu offenbaren. In dieſem Augenblick ſchien das Bild feſtgehalten und erſtarrt zu ſeyn. Phyſiſch geblendet, geiſtig uͤberraſcht, ſchien das umgebende Volk ſich eben bewegt zu ha¬ ben, um die getroffnen Augen wegzuwenden, neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Luſt, als Bewunderung und Verehrung anzuzeigen; obgleich dieſe auch nicht vergeſſen und einigen aͤltern Figuren der Ausdruck derſelben uͤbertragen war.

Ottiliens Geſtalt, Gebaͤrde, Miene, Blick uͤbertraf aber alles was je ein Maler dargeſtellt hat. Der gefuͤhlvolle Kenner, der dieſe Erſcheinung geſehen haͤtte, waͤre in Furcht gerathen, es moͤge ſich nur irgend119 etwas bewegen, er waͤre in Sorge geſtanden, ob ihm jemals etwas wieder ſo gefallen koͤnne. Ungluͤcklicherweiſe war Niemand da, der dieſe ganze Wirkung aufzufaſſen vermocht haͤtte. Der Architect allein, der als langer ſchlanker Hirt von der Seite uͤber die Knieen¬ den hereinſah, hatte, obgleich nicht in dem genauſten Standpunct, noch den groͤßten Ge¬ nuß. Und wer beſchreibt auch die Miene der neugeſchaffenen Himmelskoͤniginn? Die reinſte Demuth, das liebenswuͤrdigſte Gefuͤhl von Beſcheidenheit bey einer großen unverdient erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unerme߬ lichen Gluͤck, bildete ſich in ihren Zuͤgen, ſowohl indem ſich ihre eigene Empfindung, als indem ſich die Vorſtellung ausdruͤckte, die ſie ſich von dem machen konnte was ſie ſpielte.

Charlotten erfreute das ſchoͤne Gebilde, doch wirkte hauptſaͤchlich das Kind auf ſie. Ihre Augen ſtroͤmten von Thraͤnen und ſie ſtellte ſich auf das lebhafteſte vor, daß ſie120 ein aͤhnliches liebes Geſchoͤpf bald auf ihrem Schooße zu hoffen habe.

Man hatte den Vorhang niedergelaſſen, theils um den Vorſtellenden einige Erleichte¬ rung zu geben, theils eine Veraͤnderung in dem Dargeſtellten anzubringen. Der Kuͤnſtler hatte ſich vorgenommen, das erſte Nacht - und Niedrigkeitsbild in ein Tag - und Glorienbild zu verwandeln, und deswegen von allen Seiten eine unmaͤßige Erleuchtung vorbereitet, die in der Zwiſchenzeit angezuͤn¬ det wurde.

Ottilien war in ihrer halb theatraliſchen Lage bisher die groͤßte Beruhigung geweſen, daß außer Charlotten und wenigen Hausge¬ noſſen Niemand dieſer frommen Kunſtmum¬ merey zugeſehen. Sie wurde daher einiger¬ maßen betroffen, als ſie in der Zwiſchenzeit vernahm, es ſey ein Fremder angekommen, im Saale von Charlotten freundlich begruͤßt. 121Wer es war, konnte man ihr nicht ſagen. Sie ergab ſich darein, um keine Stoͤrung zu verurſachen. Lichter und Lampen brannten und eine ganz unendliche Hellung umgab ſie. Der Vorhang ging auf, fuͤr die Zuſchauen¬ den ein uͤberraſchender Anblick: das ganze Bild war alles Licht, und ſtatt des voͤllig aufgehobenen Schattens blieben nur die Far¬ ben uͤbrig, die bey der klugen Auswahl eine liebliche Maͤßigung hervorbrachten. Unter ihren langen Augenwimpern hervorblickend bemerkte Ottilie eine Mannsperſon neben Charlotten ſitzend. Sie erkannte ihn nicht, aber ſie glaubte die Stimme des Gehuͤlfen aus der Penſion zu hoͤren. Eine wunderbare Empfindung ergriff ſie. Wie vieles war be¬ gegnet, ſeitdem ſie die Stimme dieſes treuen Lehrers nicht vernommen! Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Lei¬ den ſchnell vor ihrer Seele vorbey und regte die Frage auf: darfſt du ihm alles bekennen und geſtehen? Und wie wenig werth biſt du122 unter dieſer heiligen Geſtalt vor ihm zu er¬ ſcheinen, und wie ſeltſam muß es ihm vor¬ kommen, dich die er nur natuͤrlich geſehen, als Maske zu erblicken? Mit einer Schnel¬ ligkeit die keines gleichen hat, wirkten Gefuͤhl und Betrachtung in ihr gegeneinander. Ihr Herz war befangen, ihre Augen fuͤllten ſich mit Thraͤnen, indem ſie ſich zwang immerfort als ein ſtarres Bild zu erſcheinen; und wie froh war ſie, als der Knabe ſich zu regen anfing, und der Kuͤnſtler ſich genoͤthigt ſah das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wie¬ der fallen ſollte.

Hatte das peinliche Gefuͤhl, einem wer¬ then Freunde nicht entgegeneilen zu koͤnnen, ſich ſchon die letzten Augenblicke zu den uͤbri¬ gen Empfindungen Ottiliens geſellt, ſo war ſie jetzt in noch groͤßerer Verlegenheit. Sollte ſie in dieſem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn? ſollte ſie ſich um¬ kleiden? Sie waͤhlte nicht, ſie that das letzte123 und ſuchte ſich in der Zwiſchenzeit zuſammen¬ zunehmen, ſich zu beruhigen, und war nur erſt wieder mit ſich ſelbſt in Einſtimmung als ſie endlich im gewohnten Kleide den An¬ gekommenen begruͤßte.

[124]

Siebentes Kapitel.

Inſofern der Architect ſeinen Goͤnnerin¬ nen das Beſte wuͤnſchte, war es ihm ange¬ nehm, da er doch endlich ſcheiden mußte, ſie in der guten Geſellſchaft des ſchaͤtzbaren Ge¬ huͤlfen zu wiſſen; indem er jedoch ihre Gunſt auf ſich ſelbſt bezog, empfand er es einiger¬ maßen ſchmerzhaft, ſich ſobald, und wie es ſeiner Beſcheidenheit duͤnken mochte, ſo gut, ja vollkommen, erſetzt zu ſehen. Er hatte noch immer gezaudert, nun aber draͤngte es ihn hinweg: denn was er ſich nach ſeiner Entfernung mußte gefallen laſſen, das wollte er wenigſtens gegenwaͤrtig nicht erleben.

Zu großer Erheiterung dieſer halb trauri¬ gen Gefuͤhle machten ihm die Damen beym125 Abſchiede noch ein Geſchenk mit einer Weſte, an der er ſie beyde lange Zeit hatte ſtricken ſehen, mit einem ſtillen Neid uͤber den unbe¬ kannten Gluͤcklichen dem ſie dereinſt werden koͤnnte. Eine ſolche Gabe iſt die angenehmſte die ein liebender, verehrender Mann erhal¬ ten mag: denn wenn er dabey des unermuͤ¬ deten Spiels der ſchoͤnen Finger gedenkt, ſo kann er nicht umhin ſich zu ſchmeicheln, das Herz werde bey einer ſo anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz ohne Theilnahme geblie¬ ben ſeyn.

Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirthen, dem ſie wohlwollten und dem es bey ihnen wohl werden ſollte. Das weib¬ liche Geſchlecht hegt ein eignes inneres un¬ wandelbares Intereſſe, von dem ſie nichts in der Welt abtruͤnnig macht; im aͤußern geſelli¬ gen Verhaͤltniß hingegen laſſen ſie ſich gern und leicht durch den Mann beſtimmen der ſie eben beſchaͤftigt, und ſo durch Abweiſen126 wie durch Empfaͤnglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit fuͤhren ſie eigentlich das Regiment, dem ſich in der geſitteten Welt kein Mann zu entziehen wagt.

Hatte der Architect, gleichſam nach eigener Luſt und Belieben, ſeine Talente vor den Freundinnen zum Vergnuͤgen und zu den Zwecken derſelben geuͤbt und bewieſen; war Beſchaͤftigung und Unterhaltung in dieſem Sinne und nach ſolchen Abſichten eingerichtet: ſo machte ſich in kurzer Zeit durch die Ge¬ genwart des Gehuͤlfen eine andre Lebensweiſe. Seine große Gabe war, gut zu ſprechen und menſchliche Verhaͤltniſſe, beſonders in Bezug auf Bildung der Jugend, in der Unterredung zu behandeln. Und ſo entſtand gegen die bisherige Art zu leben ein ziemlich fuͤhlbarer Gegenſatz, um ſo mehr als der Gehuͤlfe nicht ganz dasjenige billigte, womit man ſich die Zeit uͤber ausſchließlich beſchaͤftigt hatte.

127

Von dem lebendigen Gemaͤlde das ihn bey ſeiner Ankunft empfing, ſprach er gar nicht. Als man ihm hingegen Kirche, Capelle und was ſich darauf bezog, mit Zu¬ friedenheit ſehen ließ, konnte er ſeine Mey¬ nung, ſeine Geſinnungen daruͤber nicht zu¬ ruͤckhalten. Was mich betrifft, ſagte er, ſo will mir dieſe Annaͤherung, dieſe Vermiſchung des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen, nicht gefallen, daß man ſich gewiſſe beſondre Raͤume widmet, weihet und aufſchmuͤckt, um erſt dabey ein Gefuͤhl der Froͤmmigkeit zu hegen und zu unterhalten. Keine Umgebung, ſelbſt die ge¬ meinſte nicht, ſoll in uns das Gefuͤhl des Goͤttlichen ſtoͤren, das uns uͤberall hin beglei¬ ten und jede Staͤtte zu einem Tempel ein¬ weihen kann. Ich mag gern einen Hausgot¬ tesdienſt in dem Saale gehalten ſehen, wo man zu ſpeiſen, ſich geſellig zu verſammeln, mit Spiel und Tanz zu ergetzen pflegt. Das128 Hoͤchſte, das Vorzuͤglichſte am Menſchen iſt geſtaltlos, und man ſoll ſich huͤthen es anders als in edler That zu geſtalten.

Charlotte, die ſeine Geſinnungen ſchon im Ganzen kannte und ſie noch mehr in kurzer Zeit erforſchte, brachte ihn gleich in ſeinem Fache zur Thaͤtigkeit, indem ſie ihre Gartenknaben, welche der Architect vor ſeiner Abreiſe eben gemuſtert hatte, in dem großen Saal aufmarſchiren ließ; da ſie ſich denn in ihren heitern reinlichen Uniformen, mit geſetz¬ lichen Bewegungen und einem natuͤrlichen lebhaften Weſen, ſehr gut ausnahmen. Der Gehuͤlfe pruͤfte ſie nach ſeiner Weiſe, und hatte durch mancherley Fragen und Wendungen gar bald die Gemuͤthsarten und Faͤhigkeiten der Kinder zu Tage gebracht, und ohne daß es ſo ſchien, in Zeit von weniger als einer Stun¬ de, ſie wirklich bedeutend unterrichtet und ge¬ foͤrdert.

129

Wie machen Sie das nur? ſagte Char¬ lotte, indem die Knaben wegzogen. Ich habe ſehr aufmerkſam zugehoͤrt; es ſind nichts als ganz bekannte Dinge vorgekommen, und doch wuͤßte ich nicht, wie ich es anfangen ſollte, ſie in ſo kurzer Zeit, bey ſo vielem Hin - und Wiederreden, in ſolcher Folge zur Sprache zu bringen.

Vielleicht ſollte man, verſetzte der Gehuͤlfe, aus den Vortheilen ſeines Handwerks ein Geheimniß machen. Doch kann ich Ihnen die ganz einfache Maxime nicht verbergen, nach der man dieſes und noch viel mehr zu leiſten vermag. Faſſen Sie einen Gegenſtand, eine Materie, einen Begriff, wie man es nennen will; halten Sie ihn recht feſt; ma¬ chen Sie ſich ihn in allen ſeinen Theilen recht deutlich, und dann wird es Ihnen leicht ſeyn, Geſpraͤchsweiſe, an einer Maſſe Kinder zu erfahren was ſich davon ſchon in ihnen ent¬ wickelt hat, was noch anzuregen, zu uͤberlie¬II. 9130fern iſt. Die Antworten auf Ihre Fragen moͤgen noch ſo ungehoͤrig ſeyn, moͤgen noch ſo ſehr ins Weite gehen, wenn nur ſodann Ihre Gegenfrage Geiſt und Sinn wieder hereinwaͤrts zieht, wenn Sie ſich nicht von Ihrem Standpunkte verruͤcken laſſen; ſo muͤſ¬ ſen die Kinder zuletzt denken, begreifen, ſich uͤberzeugen, nur von dem was und wie es der Lehrende will. Sein groͤßter Fehler iſt der, wenn er ſich von den Lernenden mit in die Weite reißen laͤßt, wenn er ſie nicht auf dem Punkte feſtzuhalten weiß den er eben jetzt behandelt. Machen Sie naͤchſtens einen Verſuch und es wird zu Ihrer großen Unter¬ haltung dienen.

Das iſt artig, ſagte Charlotte: die gute Paͤdagogik iſt alſo gerade das Umgekehrte von der guten Lebensart. In der Geſellſchaft ſoll man auf nichts verweilen, und bey dem Un¬ terricht waͤre das hoͤchſte Gebot, gegen alle Zerſtreuung zu arbeiten.

131

Abwechſelung ohne Zerſtreuung waͤre fuͤr Lehre und Leben der ſchoͤnſte Wahlſpruch, wenn dieſes loͤbliche Gleichgewicht nur ſo leicht zu erhalten waͤre! ſagte der Gehuͤlfe, und wollte weiter fortfahren als ihn Charlotte aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren munterer Zug ſich ſo eben uͤber den Hof bewegte. Er bezeigte ſeine Zufriedenheit, daß man die Kinder in Uniform zu gehen anhalte. Maͤnner ſo ſagte er ſollten von Jugend auf Uniform tragen, weil ſie ſich gewoͤhnen muͤſſen zuſammen zu handeln, ſich unter ihres Gleichen zu verlieren, in Maſſe zu gehorchen und ins Ganze zu arbeiten. Auch befoͤrdert jede Art von Uniform einen mili¬ taͤriſchen Sinn, ſo wie ein knapperes ſtracke¬ res Betragen, und alle Knaben ſind ja ohne¬ hin geborne Soldaten: man ſehe nur ihre Kampf - und Streitſpiele, ihr Erſtuͤrmen und Erklettern.

9 *132

So werden Sie mich dagegen nicht ta¬ deln, verſetzte Ottilie, daß ich meine Maͤd¬ chen nicht uͤberein kleide. Wenn ich ſie Ih¬ nen vorfuͤhre, hoffe ich Sie durch ein bun¬ tes Gemiſch zu ergetzen.

Ich billige das ſehr, verſetzte jener. Frauen ſollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen: jede nach eigner Art und Weiſe, damit eine Jede fuͤhlen lernte, was ihr eigentlich gut ſtehe und wohl zieme. Eine wichtigere Ur¬ ſache iſt noch die: weil ſie beſtimmt ſind, ihr ganzes Leben allein zu ſtehen und allein zu handeln.

Das ſcheint mir ſehr paradox, verſetzte Charlotte; ſind wir doch faſt niemals fuͤr uns.

O ja! verſetzte der Gehuͤlfe, in Abſicht auf andre Frauen ganz gewiß. Man be¬ trachte ein Frauenzimmer als Liebende, als133 Braut, als Frau, Hausfrau und Mutter, immer ſteht ſie iſolirt, immer iſt ſie allein, und will allein ſeyn. Ja die Eitle ſelbſt iſt in dem Falle. Jede Frau ſchließt die andre aus, ihrer Natur nach: denn von Jeder wird alles gefordert, was dem ganzen Geſchlechte zu leiſten obliegt. Nicht ſo verhaͤlt es ſich mit den Maͤnnern. Der Mann verlangt den Mann; er wuͤrde ſich einen zweyten erſchaffen, wenn es keinen gaͤbe: eine Frau koͤnnte eine Ewigkeit leben, ohne daran zu denken, ſich ihres Gleichen hervorzubringen.

Man darf, ſagte Charlotte, das Wahre nur wunderlich ſagen; ſo ſcheint zuletzt das Wunderliche auch wahr. Wir wollen uns aus Ihren Bemerkungen das Beſte heraus¬ nehmen und doch als Frauen mit Frauen zu¬ ſammenhalten, und auch gemeinſam wirken, um den Maͤnnern nicht allzu große Vorzuͤge uͤber uns einzuraͤumen. Ja Sie werden uns eine kleine Schadenfreude nicht uͤbel nehmen,134 die wir kuͤnftig um deſto lebhafter empfinden muͤſſen, wenn ſich die Herren untereinander auch nicht ſonderlich vertragen.

Mit vieler Sorgfalt unterſuchte der ver¬ ſtaͤndige Mann nunmehr die Art, wie Ottilie ihre kleinen Zoͤglinge behandelte, und bezeigte daruͤber ſeinen entſchiedenen Beyfall. Sehr richtig heben Sie, ſagte er, Ihre Untergebenen nur zur naͤchſten Brauchbarkeit heran. Rein¬ lichkeit veranlaßt die Kinder mit Freuden et¬ was auf ſich ſelbſt zu halten, und alles iſt gewonnen, wenn ſie das was ſie thun, mit Munterkeit und Selbſtgefuͤhl zu leiſten ange¬ regt ſind.

Uebrigens fand er zu ſeiner großen Be¬ friedigung nichts auf den Schein und nach außen gethan, ſondern alles nach innen und fuͤr die unerlaͤßlichen Beduͤrfniſſe. Mit wie wenig Worten, rief er aus, ließe ſich das135 ganze Erziehungsgeſchaͤft ausſprechen, wenn Jemand Ohren haͤtte zu hoͤren.

Moͤgen Sie es nicht mit mir verſuchen, ſagte freundlich Ottilie.

Recht gern, verſetzte Jener, nur muͤſſen Sie mich nicht verrathen. Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Maͤdchen zu Muͤttern, ſo wird es uͤberall wohl ſtehn.

Zu Muͤttern, verſetzte Ottilie, das koͤnn¬ ten die Frauen noch hingehen laſſen, da ſie ſich, ohne Muͤtter zu ſeyn, doch immer einrichten muͤſſen, Waͤrterinnen zu werden; aber frey¬ lich zu Dienern wuͤrden ſich unſre jungen Maͤnner viel zu gut halten, da man Jedem leicht anſehen kann, daß er ſich zum Gebieten faͤhiger duͤnkt.

Deswegen wollen wir es ihnen verſchwei¬ gen, ſagte der Gehuͤlfe. Man ſchmeichelt136 ſich ins Leben hinein, aber das Leben ſchmei¬ chelt uns nicht. Wie viel Menſchen moͤgen denn das freywillig zugeſtehen, was ſie am Ende doch muͤſſen? Laſſen wir aber dieſe Betrachtungen, die uns hier nicht beruͤhren.

Ich preiſe Sie gluͤcklich, daß Sie bey Ihren Zoͤglingen ein richtiges Verfahren an¬ wenden koͤnnen. Wenn Ihre kleinſten Maͤd¬ chen ſich mit Puppen herumtragen und eini¬ ge Laͤppchen fuͤr ſie zuſammenflicken; wenn aͤltere Geſchwiſter alsdann fuͤr die juͤngeren ſorgen, und das Haus ſich in ſich ſelbſt be¬ dient und aufhilft: dann iſt der weitere Schritt ins Leben nicht groß, und ein ſolches Maͤdchen findet bey ihrem Gatten, was ſie bey ihren Aeltern verließ.

Aber in den gebildeten Staͤnden iſt die Aufgabe ſehr verwickelt. Wir haben auf hoͤ¬ here, zartere, feinere, beſonders auf geſell¬137 ſchaftliche Verhaͤltniſſe Ruͤckſicht zu nehmen. Wir andern ſollen daher unſre Zoͤglinge nach außen bilden; es iſt nothwendig, es iſt un¬ erlaͤßlich und moͤchte recht gut ſeyn, wenn man dabey nicht das Maaß uͤberſchritte: denn indem man die Kinder fuͤr einen weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt man ſie leicht ins Graͤnzenloſe, ohne im Auge zu behalten was denn eigentlich die innere Natur fordert. Hier liegt die Aufgabe, welche mehr oder weniger von den Erziehern geloͤſt oder ver¬ fehlt wird.

Bey Manchem womit wir unſere Schuͤle¬ rinnen in der Penſion ausſtatten, wird mir bange, weil die Erfahrung mir ſagt, von wie geringem Gebrauch es kuͤnftig ſeyn werde. Was wird nicht gleich abgeſtreift, was nicht gleich der Vergeſſenheit uͤberantwortet ſobald ein Frauenzimmer ſich im Stande der Haus¬ frau, der Mutter befindet!

138

Indeſſen kann ich mir den frommen Wunſch nicht verſagen, da ich mich einmal dieſem Geſchaͤft gewidmet habe, daß es mir dereinſt in Geſellſchaft einer treuen Gehuͤlfinn gelingen moͤge, an meinen Zoͤglingen dasjenige rein auszubilden was ſie beduͤrfen, wenn ſie in das Feld eigener Thaͤtigkeit und Selbſtaͤn¬ digkeit hinuͤberſchreiten; daß ich mir ſagen koͤnnte: in dieſem Sinne iſt an ihnen die Erziehung vollendet. Freylich ſchließt ſich eine andre immer wieder an, die bey¬ nahe mit jedem Jahre unſers Lebens, wo nicht von uns ſelbſt, doch von den Umſtaͤnden veranlaßt wird.

Wie wahr fand Ottilie dieſe Bemerkung! Was hatte nicht eine ungeahndete Leiden¬ ſchaft im vergangenen Jahr an ihr erzogen! was ſah ſie nicht alles fuͤr Pruͤfungen vor ſich ſchweben, wenn ſie nur aufs naͤchſte, aufs naͤchſt kuͤnftige hinblickte!

139

Der junge Mann hatte nicht ohne Vor¬ bedacht, einer Gehuͤlfinn, einer Gattinn er¬ waͤhnt: denn bey aller ſeiner Beſcheidenheit konnte er nicht unterlaſſen, ſeine Abſichten auf eine entfernte Weiſe anzudeuten; ja er war durch mancherley Umſtaͤnde und Vorfaͤlle aufgeregt worden, bey dieſem Beſuch einige Schritte ſeinem Ziele naͤher zu thun.

Die Vorſteherinn der Penſion war bereits in Jahren, ſie hatte ſich unter ihren Mitar¬ beitern und Mitarbeiterinnen ſchon lange nach einer Perſon umgeſehen, die eigentlich mit ihr in Geſellſchaft traͤte, und zuletzt dem Ge¬ huͤlfen, dem ſie zu vertrauen hoͤchlich Urſache hatte, den Antrag gethan: er ſolle mit ihr die Lehranſtalt fortfuͤhren, darin als in dem Seinigen mitwirken, und nach ihrem Tode als Erbe und einziger Beſitzer eintreten. Die Hauptſache ſchien hiebey, daß er eine einſtimmende Gattinn finden muͤſſe. Er hatte im Stillen Ottilien vor Augen und im Her¬140 zen; allein es regten ſich mancherley Zweifel, die wieder durch guͤnſtige Ereigniſſe einiges Gegengewicht erhielten. Luciane hatte die Penſion verlaſſen: Ottilie konnte freyer zuruͤck¬ kehren; von dem Verhaͤltniſſe zu Eduard hatte zwar etwas verlautet; allein man nahm die Sache, wie aͤhnliche Vorfaͤlle mehr, gleichguͤl¬ tig auf, und ſelbſt dieſes Ereigniß konnte zu Ottiliens Ruͤckkehr beytragen. Doch waͤre man zu keinem Entſchluß gekommen, kein Schritt waͤre geſchehen, haͤtte nicht ein un¬ vermutheter Beſuch auch hier eine beſondere Anregung gegeben. Wie denn die Erſchei¬ nung von bedeutenden Menſchen in irgend einem Kreiſe niemals ohne Folgen bleiben kann.

Der Graf und die Baroneſſe, welche ſo oft in den Fall kamen, uͤber den Werth ver¬ ſchiedener Penſionen befragt zu werden, weil faſt Jedermann um die Erziehung ſeiner Kin¬ der verlegen iſt, hatten ſich vorgenommen,141 dieſe beſonders kennen zu lernen, von der ſo viel Gutes geſagt wurde, und konnten nun¬ mehr in ihren neuen Verhaͤltniſſen zuſammen eine ſolche Unterſuchung anſtellen. Allein die Baroneſſe beabſichtigte noch etwas anderes. Waͤhrend ihres letzten Aufenthalts bey Charlot¬ ten hatte ſie mit dieſer alles umſtaͤndlich durch¬ geſprochen was ſich auf Eduarden und Ottilien bezog. Sie beſtand aber und abermals dar¬ auf: Ottilie muͤſſe entfernt werden. Sie ſuchte Charlotten hiezu Muth einzuſprechen, welche ſich vor Eduards Drohungen noch im¬ mer fuͤrchtete. Man ſprach uͤber die ver¬ ſchiedenen Auswege, und bey Gelegenheit der Penſion war auch von der Neigung des Ge¬ huͤlfen die Rede, und die Baroneſſe entſchloß ſich um ſo mehr zu dem gedachten Beſuch.

Sie kommt an, lernt den Gehuͤlfen ken¬ nen, man beobachtet die Anſtalt und ſpricht von Ottilien. Der Graf ſelbſt unterhaͤlt ſich gern uͤber ſie, indem er ſie bey dem neulichen142 Beſuch genauer kennen gelernt. Sie hatte ſich ihm genaͤhert, ja ſie ward von ihm an¬ gezogen, weil ſie durch ſein gehaltvolles Ge¬ ſpraͤch dasjenige zu ſehen und zu kennen glaub¬ te, was ihr bisher ganz unbekannt geblieben war. Und wie ſie in dem Umgange mit Eduard die Welt vergaß, ſo ſchien ihr an der Gegenwart des Grafen die Welt erſt recht wuͤnſchenswerth zu ſeyn. Jede Anzie¬ hung iſt wechſelſeitig. Der Graf empfand eine Neigung fuͤr Ottilien, daß er ſie gern als ſeine Tochter betrachtete. Auch hier war ſie der Baroneſſe zum zweytenmal und mehr als das erſtemal im Wege. Wer weiß was dieſe, in Zeiten lebhafterer Leidenſchaft, gegen ſie angeſtiftet haͤtte; jetzt war es ihr genug, ſie durch eine Verheiratung den Ehefrauen unſchaͤdlicher zu machen.

Sie regte daher den Gehuͤlfen auf eine leiſe doch wirkſame Art kluͤglich an, daß er ſich zu einer kleinen Excurſion auf das Schloß143 einrichten und ſeinen Planen und Wuͤnſchen, von denen er der Dame kein Geheimniß ge¬ macht, ſich ungeſaͤumt naͤhern ſolle.

Mit vollkommner Beyſtimmung der Vor¬ ſteherinn trat er daher ſeine Reiſe an, und hegte in ſeinem Gemuͤth die beſten Hoffnun¬ gen. Er weiß, Ottilie iſt ihm nicht unguͤn¬ ſtig, und wenn zwiſchen ihnen einiges Mi߬ verhaͤltniß des Standes war, ſo glich ſich dieſes gar leicht durch die Denkart der Zeit aus. Auch hatte die Baroneſſe ihm wohl fuͤhlen laſſen, daß Ottilie immer ein armes Maͤdchen bleibe. Mit einem reichen Hauſe verwandt zu ſeyn, hieß es, kann Niemanden helfen: denn man wuͤrde ſich, ſelbſt bey dem groͤßten Vermoͤgen, ein Gewiſſen daraus ma¬ chen, denjenigen eine anſehnliche Summe zu entziehen, die dem naͤheren Grade nach ein vollkommneres Recht auf ein Beſitzthum zu haben ſcheinen. Und gewiß bleibt es wunder¬ bar, daß der Menſch das große Vorrecht,144 nach ſeinem Tode noch uͤber ſeine Habe zu disponiren, ſehr ſelten zu Gunſten ſeiner Lieb¬ linge gebraucht, und wie es ſcheint, aus Ach¬ tung fuͤr das Herkommen, nur diejenigen be¬ guͤnſtigt, die nach ihm ſein Vermoͤgen beſitzen wuͤrden, wenn er auch ſelbſt keinen Willen haͤtte.

Sein Gefuͤhl ſetzte ihn auf der Reiſe Ot¬ tilien voͤllig gleich. Eine gute Aufnahme er¬ hoͤhte ſeine Hoffnungen. Zwar fand er gegen ſich Ottilien nicht ganz ſo offen wie ſonſt; aber ſie war auch erwachſener, gebildeter und wenn man will, im Allgemeinen mittheilender als er ſie gekannt hatte. Vertraulich ließ man ihn in manches Einſicht nehmen, was ſich beſonders auf ſein Fach bezog. Doch wenn er ſeinem Zwecke ſich naͤhern wollte; ſo hielt ihn immer eine gewiſſe innere Scheu zuruͤck.

Einſt gab ihm jedoch Charlotte hierzu Ge¬ legenheit indem ſie, in Beyſeyn Ottiliens, zu145 ihm ſagte: Nun, Sie haben alles was in meinem Kreiſe heranwaͤchſt, ſo ziemlich ge¬ pruͤft; wie finden Sie denn Ottilien? Sie duͤr¬ fen es wohl in ihrer Gegenwart ausſprechen.

Der Gehuͤlfe bezeichnete hierauf, mit ſehr viel Einſicht und ruhigem Ausdruck, wie er Ottilien in Abſicht eines freyeren Betragens, einer bequemeren Mittheilung, eines hoͤhern Blicks in die weltlichen Dinge, der ſich mehr in ihren Handlungen als in ihren Worten bethaͤ¬ tige, ſehr zu ihrem Vortheil veraͤndert finde; daß er aber doch glaube, es koͤnne ihr ſehr zum Nutzen gereichen, wenn ſie auf einige Zeit in die Penſion zuruͤckkehre, um das in einer gewiſſen Folge gruͤndlich und fuͤr immer ſich zuzueignen, was die Welt nur ſtuͤckweiſe und eher zur Verwirrung als zur Befriedigung, ja manch¬ mal nur allzuſpaͤt uͤberliefere. Er wolle dar¬ uͤber nicht weitlaͤuftig ſeyn: Ottilie wiſſe ſelbſt am beſten aus was fuͤr zuſammenhaͤngenden Lehrvortraͤgen ſie damals herausgeriſſen worden.

II. 10146

Ottilie konnte das nicht laͤugnen; aber ſie konnte nicht geſtehen, was ſie bey dieſen Worten empfand, weil ſie ſich es kaum ſelbſt auszulegen wußte. Es ſchien ihr in der Welt nichts mehr unzuſammenhaͤngend, wenn ſie an den geliebten Mann dachte, und ſie begriff nicht, wie ohne ihn noch irgend etwas zuſammenhaͤngen koͤnne.

Charlotte beantwortete den Antrag mit kluger Freundlichkeit. Sie ſagte, daß ſowohl ſie als Ottilie eine Ruͤckkehr nach der Penſion laͤngſt gewuͤnſcht haͤtten. In dieſer Zeit nur ſey ihr die Gegenwart einer ſo lieben Freun¬ dinn und Helferinn unentbehrlich geweſen; doch wolle ſie in der Folge nicht hinderlich ſeyn, wenn es Ottiliens Wunſch bliebe, wie¬ der auf ſo lange dorthin zuruͤckzukehren, bis ſie das Angefangene geendet und das Unter¬ brochene ſich vollſtaͤndig zugeeignet.

Der Gehuͤlfe nahm dieſe Anerbietung freudig auf; Ottilie duͤrfte nichts dagegen147 ſagen, ob es ihr gleich vor dem Gedan¬ ken ſchauderte. Charlotte hingegen dachte Zeit zu gewinnen; ſie hoffte Eduard ſollte ſich erſt als gluͤcklicher Vater wieder finden und einfinden, dann, war ſie uͤberzeugt, wuͤrde ſich alles geben und auch fuͤr Ottilien auf eine oder die andere Weiſe geſorgt werden.

Nach einem bedeutenden Geſpraͤch, uͤber welches alle Theilnehmende nachzudenken ha¬ ben, pflegt ein gewiſſer Stillſtand einzutreten, der einer allgemeinen Verlegenheit aͤhnlich ſieht. Man ging im Saale auf und ab, der Gehuͤlfe blaͤtterte in einigen Buͤchern und kam endlich an den Folioband, der noch von Lucianens Zeiten her liegen geblieben war. Als er ſah, daß darin nur Affen enthalten waren, ſchlug er ihn gleich wieder zu. Die¬ ſer Vorfall mag jedoch zu einem Geſpraͤch Anlaß gegeben haben, wovon wir die Spuren in Ottiliens Tagebuch finden.

10 *148

Aus Ottiliens Tagebuche.

Wie man es nur uͤber das Herz bringen kann, die garſtigen Affen ſo ſorgfaͤltig abzu¬ bilden. Man erniedrigt ſich ſchon, wenn man ſie nur als Thiere betrachtet; man wird aber wirklich boͤsartiger, wenn man dem Reize folgt, bekannte Menſchen unter dieſer Maske aufzuſuchen.

Es gehoͤrt durchaus eine gewiſſe Verſchro¬ benheit dazu, um ſich gern mit Caricaturen und Zerrbildern abzugeben. Unſerm guten Ge¬ huͤlfen danke ich's, daß ich nicht mit der Na¬ turgeſchichte gequaͤlt worden bin: ich konnte mich mit den Wuͤrmern und Kaͤfern niemals befreunden.

149

Dießmal geſtand er mir, daß es ihm eben ſo gehe. Von der Natur, ſagte er, ſollten wir nichts kennen, als was uns un¬ mittelbar lebendig umgiebt. Mit den Baͤu¬ men die um uns bluͤhen, gruͤnen, Frucht tragen, mit jeder Staude an der wir vorbey¬ gehen, mit jedem Grashalm uͤber den wir hinwandeln, haben wir ein wahres Verhaͤlt¬ niß, ſie ſind unſre aͤchten Compatrioten. Die Voͤgel die auf unſern Zweigen hin und wieder huͤpfen, die in unſerm Laube ſingen, gehoͤren uns an, ſie ſprechen zu uns, von Jugend auf, und wir lernen ihre Sprache verſtehen. Man frage ſich, ob nicht ein jedes fremde, aus ſeiner Umgebung geriſſene Geſchoͤpf ei¬ nen gewiſſen aͤngſtlichen Eindruck auf uns macht, der nur durch Gewohnheit abgeſtumpft wird. Es gehoͤrt ſchon ein buntes geraͤuſch¬ volles Leben dazu, um Affen, Papageyen und Mohren um ſich zu ertragen.

Manchmal wenn mich ein neugieriges Verlangen nach ſolchen abenteuerlichen Din¬150 gen anwandelte, habe ich den Reiſenden be¬ neidet, der ſolche Wunder mit andern Wun¬ dern in lebendiger alltaͤglicher Verbindung ſieht. Aber auch er wird ein anderer Menſch. Es wandelt niemand ungeſtraft unter Pal¬ men, und die Geſinnungen aͤndern ſich gewiß in einem Lande wo Elephanten und Tiger zu Hauſe ſind.

Nur der Naturforſcher iſt verehrungs¬ werth, der uns das Fremdeſte, Seltſamſte, mit ſeiner Localitaͤt, mit aller Nachbarſchaft, jedes¬ mal in dem eigenſten Elemente zu ſchildern und darzuſtellen weiß. Wie gern moͤchte ich nur einmal Humboldten erzaͤhlen hoͤren.

Ein Naturalien-Cabinet kann uns vor¬ kommen wie eine aͤgyptiſche Grabſtaͤtte, wo die verſchiedenen Thier - und Pflanzengoͤtzen bal¬ ſamirt umherſtehen. Einer Prieſter-Caſte ge¬ ziemt es wohl, ſich damit in geheimnißvollem Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemei¬151 nen Unterricht ſollte dergleichen nicht einflie¬ ßen, um ſo weniger, als etwas Naͤheres und Wuͤrdigeres ſich dadurch leicht verdraͤngt ſieht.

Ein Lehrer, der das Gefuͤhl an einer einzigen guten That, an einem einzigen gu¬ ten Gedicht erwecken kann, leiſtet mehr als einer der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Geſtalt und dem Na¬ men nach uͤberliefert: denn das ganze Reſul¬ tat davon iſt, was wir ohnedieß wiſſen koͤn¬ nen, daß das Menſchengebild am vorzuͤglich¬ ſten und einzigſten das Gleichniß der Gott¬ heit an ſich traͤgt.

Dem Einzelnen bleibe die Freyheit ſich mit dem zu beſchaͤftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nuͤtzlich daͤucht; aber das eigentliche Studium der Menſchheit iſt der Menſch.

[152]

Achtes Kapitel.

Es giebt wenig Menſchen, die ſich mit dem Naͤchſtvergangenen zu beſchaͤftigen wiſ¬ ſen. Entweder das Gegenwaͤrtige haͤlt uns mit Gewalt an ſich, oder wir verlieren uns in die Vergangenheit und ſuchen das voͤllig Verlorene, wie es nur moͤglich ſeyn will, wieder hervorzurufen und herzuſtellen. Selbſt in großen und reichen Familien, die ihren Vorfahren vieles ſchuldig ſind, pflegt es ſo zu gehen, daß man des Großvaters mehr als des Vaters gedenkt.

Zu ſolchen Betrachtungen ward unſer Gehuͤlfe aufgefordert, als er an einem der ſchoͤnen Tage, an welchen der ſcheidende153 Winter den Fruͤhling zu luͤgen pflegt, durch den großen alten Schloßgarten gegangen war und die hohen Lindenalleen, die regelmaͤßigen Anlagen, die ſich von Eduards Vater herſchrie¬ ben, bewundert hatte. Sie waren vortreff¬ lich gediehen, in dem Sinne desjenigen der ſie pflanzte, und nun, da ſie erſt anerkannt und genoſſen werden ſollten, ſprach Niemand mehr von ihnen; man beſuchte ſie kaum und hatte Liebhaberey und Aufwand gegen eine andere Seite hin ins Freye und Weite ge¬ richtet.

Er machte bey ſeiner Ruͤckkehr Charlot¬ ten die Bemerkung, die ſie nicht unguͤnſtig aufnahm. Indem uns das Leben fortzieht, verſetzte ſie, glauben wir aus uns ſelbſt zu handeln, unſre Thaͤtigkeit, unſre Vergnuͤgun¬ gen zu waͤhlen; aber freylich, wenn wir es genau anſehen, ſo ſind es nur die Plane, die Neigungen der Zeit, die wir mit auszufuͤhren genoͤthigt ſind.

154

Gewiß, ſagte der Gehuͤlfe: und wer wi¬ derſteht dem Strome ſeiner Umgebungen. Die Zeit ruͤckt fort und in ihr Geſinnungen, Meynungen, Vorurtheile und Liebhabereyen. Faͤllt die Jugend eines Sohnes gerade in die Zeit der Umwendung, ſo kann man verſichert ſeyn, daß er mit ſeinem Vater nichts gemein haben wird. Wenn dieſer in einer Periode lebte, wo man Luſt hatte ſich manches zuzu¬ eignen, dieſes Eigenthum zu ſichern, zu be¬ ſchraͤnken, einzuengen und in der Abſonde¬ rung von der Welt ſeinen Genuß zu befeſtigen; ſo wird jener ſodann ſich auszudehnen ſuchen, mittheilen, verbreiten und das Verſchloſſene er¬ oͤffnen.

Ganze Zeitraͤume, verſetzte Charlotte, glei¬ chen dieſem Vater und Sohn, den Sie ſchil¬ dern. Von jenen Zuſtaͤnden, da jede kleine Stadt ihre Mauern und Graͤben haben mu߬ te, da man jeden Edelhof noch in einen Sumpf baute, und die geringſten Schloͤſſer155 nur durch eine Zugbruͤcke zugaͤnglich waren, davon koͤnnen wir uns kaum einen Begriff machen. Sogar groͤßere Staͤdte tragen jetzt ihre Waͤlle ab, die Graͤben ſelbſt fuͤrſtli¬ cher Schloͤſſer werden ausgefuͤllt, die Staͤdte bilden nur große Flecken, und wenn man ſo auf Reiſen das anſieht, ſollte man glauben: der allgemeine Friede ſey befeſtigt und das goldne Zeitalter vor der Thuͤre. Niemand glaubt ſich in einem Garten behaglich, der nicht einem freyen Lande aͤhnlich ſieht; an Kunſt, an Zwang ſoll nichts erinnern, wir wollen voͤllig frey und unbedingt Athem ſchoͤp¬ fen. Haben Sie wohl einen Begriff, mein Freund, daß man aus dieſem in einen an¬ dern, in den vorigen Zuſtand zuruͤckkehren koͤnne?

Warum nicht? verſetzte der Gehuͤlfe: je¬ der Zuſtand hat ſeine Beſchwerlichkeit, der beſchraͤnkte ſowohl als der losgebundene. Der letztere ſetzt Ueberfluß voraus und fuͤhrt zur156 Verſchwendung. Laſſen Sie uns bey Ihrem Beyſpiel bleiben, das auffallend genug iſt. Sobald der Mangel eintritt, ſogleich iſt die Selbſtbeſchraͤnkung wiedergegeben. Menſchen die ihren Grund und Boden zu nutzen ge¬ noͤthigt ſind, fuͤhren ſchon wieder Mauern um ihre Gaͤrten auf, damit ſie ihrer Er¬ zeugniſſe ſicher ſeyen. Daraus entſteht nach und nach eine neue Anſicht der Dinge. Das Nuͤtzliche erhaͤlt wieder die Oberhand und ſelbſt der Vielbeſitzende meynt zuletzt auch das alles nutzen zu muͤſſen. Glauben Sie mir: es iſt moͤglich, daß Ihr Sohn die ſaͤmmtlichen Parkanlagen vernachlaͤſſigt und ſich wieder hinter die ernſten Mauern und unter die hohen Linden ſeines Großvaters zu¬ ruͤckzieht.

Charlotte war im Stillen erfreut, ſich ei¬ nen Sohn verkuͤndigt zu hoͤren, und verzieh dem Gehuͤlfen deshalb die etwas unfreundliche Prophezeyung, wie es dereinſt ihrem lieben157 ſchoͤnen Park ergehen koͤnne. Sie verſetzte deshalb ganz freundlich: Wir ſind beyde noch nicht alt genug um dergleichen Widerſpruͤche mehrmals erlebt zu haben; allein wenn man ſich in ſeine fruͤhe Jugend zuruͤckdenkt, ſich erinnert woruͤber man von aͤlteren Per¬ ſonen klagen gehoͤrt, Laͤnder und Staͤdte mit in die Betrachtung aufnimmt: ſo moͤchte wohl gegen die Bemerkung nichts einzuwenden ſeyn. Sollte man denn aber einem ſolchen Natur¬ gang nichts entgegenſetzen, ſollte man Vater und Sohn, Aeltern und Kinder nicht in Ue¬ bereinſtimmung bringen koͤnnen? Sie haben mir freundlich einen Knaben geweiſſagt; muͤßte denn der gerade mit ſeinem Vater im Wider¬ ſpruch ſtehen? zerſtoͤren was ſeine Aeltern erbaut haben? anſtatt es zu vollenden und zu erheben wenn er in demſelben Sinne fort¬ faͤhrt.

Dazu giebt es auch wohl ein vernuͤnftiges Mittel, verſetzte der Gehuͤlfe, das aber von158 den Menſchen ſelten angewandt wird. Der Vater erhebe ſeinen Sohn zum Mitbeſitzer, er laſſe ihn mitbauen, pflanzen, und erlaube ihm, wie ſich ſelbſt, eine unſchaͤdliche Will¬ kuͤhr. Eine Thaͤtigkeit laͤßt ſich in die andre verweben, keine an die andre anſtuͤckeln. Ein junger Zweig verbindet ſich mit einem alten Stamme gar leicht und gern, an den kein erwachſener Aſt mehr anzufuͤgen iſt.

Es freute den Gehuͤlfen, in dem Augen¬ blick da er Abſchied zu nehmen ſich genoͤthigt ſah, Charlotten zufaͤlligerweiſe etwas Ange¬ nehmes geſagt und ihre Gunſt aufs neue da¬ durch befeſtigt zu haben. Schon allzulange war er von Hauſe weg, doch konnte er zur Ruͤckreiſe ſich nicht eher entſchließen, als nach voͤlliger Ueberzeugung, er muͤſſe die heranna¬ hende Epoche von Charlottens Niederkunft erſt vorbeygehn laſſen, bevor er wegen Otti¬ liens irgend eine Entſcheidung hoffen koͤnne. Er fuͤgte ſich deshalb in die Umſtaͤnde und159 kehrte mit dieſen Ausſichten und Hoffnungen wieder zur Vorſteherinn zuruͤck.

Charlottens Niederkunft nahte heran. Sie hielt ſich mehr in ihren Zimmern. Die Frauen, die ſich um ſie verſammelt hatten, waren ihre geſchloſſenere Geſellſchaft. Ottilie beſorgte das Hausweſen indem ſie kaum dar¬ an denken durfte was ſie that. Sie hatte ſich zwar voͤllig ergeben, ſie wuͤnſchte fuͤr Charlotten, fuͤr das Kind, fuͤr Eduarden, ſich auch noch ferner auf das dienſtlichſte zu bemuͤhen, aber ſie ſah nicht ein, wie es moͤg¬ lich werden wollte. Nichts konnte ſie vor voͤlliger Verworrenheit retten, als daß ſie je¬ den Tag ihre Pflicht that.

Ein Sohn war gluͤcklich zur Welt gekom¬ men, und die Frauen verſicherten ſaͤmmtlich, es ſey der ganze leibhafte Vater. Nur Ottilie konnte es im Stillen nicht finden, als ſie der Woͤchnerinn Gluͤck wuͤnſchte und das160 Kind auf das herzlichſte begruͤßte. Schon bey den Anſtalten zur Verheiratung ihrer Tochter war Charlotten die Abweſenheit ihres Gemahls hoͤchſt fuͤhlbar geweſen; nun ſollte der Vater auch bey der Geburt des Sohnes nicht gegenwaͤrtig ſeyn; er ſollte den Namen nicht beſtimmen, bey dem man ihn kuͤnftig rufen wuͤrde.

Der erſte von allen Freunden die ſich gluͤckwuͤnſchend ſehen ließen, war Mittler, der ſeine Kundſchafter ausgeſtellt hatte um von dieſem Ereigniß ſogleich Nachricht zu erhal¬ ten. Er fand ſich ein und zwar ſehr behag¬ lich. Kaum daß er ſeinen Triumph in Ge¬ genwart Ottiliens verbarg, ſo ſprach er ſich gegen Charlotten laut aus, und war der Mann alle Sorgen zu heben und alle augen¬ blicklichen Hinderniſſe bey Seite zu bringen. Die Taufe ſollte nicht lange aufgeſchoben werden. Der alte Geiſtliche, mit einem Fuß ſchon im Grabe, ſollte durch ſeinen Segen161 das Vergangene mit dem Zukuͤnftigen zuſam¬ menknuͤpfen; Otto ſollte das Kind heißen: es konnte keinen andern Namen fuͤhren als den Namen des Vaters und des Freundes.

Es bedurfte der entſchiedenen Zudringlich¬ keit dieſes Mannes, um die hunderterley Be¬ denklichkeiten, das Widerreden, Zaudern, Stocken, Beſſer - und Anderswiſſen, das Schwanken, Meynen, Um - und Wiedermey¬ nen zu beſeitigen; da gewoͤhnlich bey ſolchen Gelegenheiten aus einer gehobenen Bedenk¬ lichkeit immer wieder neue entſtehen, und in¬ dem man alle Verhaͤltniſſe ſchonen will, im¬ mer der Fall eintritt, einige zu verletzen.

Alle Meldungsſchreiben und Gevatterbriefe uͤbernahm Mittler; ſie ſollten gleich ausge¬ fertigt ſeyn: denn ihm war ſelbſt hoͤchlich dar¬ an gelegen, ein Gluͤck das er fuͤr die Fami¬ lie ſo bedeutend hielt, auch der uͤbrigen mit unter mißwollenden und mißredenden WeltII. 11162bekannt zu machen. Und freylich waren die bisherigen leidenſchaftlichen Vorfaͤlle dem Pu¬ blikum nicht entgangen, das ohnehin in der Ueberzeugung ſteht, alles was geſchieht, ge¬ ſchehe nur dazu, damit es etwas zu reden habe.

Die Feyer des Taufactes ſollte wuͤrdig aber beſchraͤnkt und kurz ſeyn. Man kam zu¬ ſammen, Ottilie und Mittler ſollten das Kind als Taufzeugen halten. Der alte Geiſtliche, unterſtuͤtzt vom Kirchdiener, trat mit langſamen Schritten heran. Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind auf die Arme gelegt, und als ſie mit Neigung auf daſſelbe herunterſah, erſchrak ſie nicht wenig an ſeinen offenen Au¬ gen: denn ſie glaubte in ihre eigenen zu ſe¬ hen, eine ſolche Uebereinſtimmung haͤtte Je¬ den uͤberraſchen muͤſſen. Mittler, der zunaͤchſt das Kind empfing, ſtutzte gleichfalls, indem er in der Bildung deſſelben eine ſo auffallende Aehnlichkeit, und zwar mit dem Hauptmann163 erblickte, dergleichen ihm ſonſt noch nie vor¬ gekommen war.

Die Schwaͤche des guten alten Geiſtlichen hatte ihn gehindert, die Taufhandlung mit mehrerem als der gewoͤhnlichen Liturgie zu begleiten. Mittler indeſſen, voll von dem Gegenſtande, gedachte ſeiner fruͤhern Amts¬ verrichtungen und hatte uͤberhaupt die Art, ſich ſogleich in jedem Falle zu denken, wie er nun reden, wie er ſich aͤußern wuͤrde. Die߬ mal konnte er ſich um ſo weniger zuruͤckhalten, als es nur eine kleine Geſellſchaft von lauter Freunden war, die ihn umgab. Er fing da¬ her an, gegen das Ende des Acts, mit Be¬ haglichkeit ſich an die Stelle des Geiſtlichen zu verſetzen, in einer muntern Rede ſeine Pathenpflichten und Hoffnungen zu aͤußern und um ſo mehr dabey zu verweilen, als er Charlottens Beyfall in ihrer zufriedenen Miene zu erkennen glaubte.

11 *164

Daß der gute alte Mann ſich gern ge¬ ſetzt haͤtte, entging dem ruͤſtigen Redner, der noch viel weniger dachte, daß er ein groͤßeres Uebel hervorzubringen auf dem Wege war: denn nachdem er das Verhaͤltniß eines jeden Anweſenden zum Kinde mit Nachdruck geſchil¬ dert und Ottiliens Faſſung dabey ziemlich auf die Probe geſtellt hatte; ſo wandte er ſich zuletzt gegen den Greis mit dieſen Wor¬ ten: Und Sie, mein wuͤrdiger Altvater, koͤn¬ nen nunmehr mit Simeon ſprechen: Herr laß deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland dieſes Hauſes geſehen.

Nun war er im Zuge recht glaͤnzend zu ſchließen, aber er bemerkte bald, daß der Alte, dem er das Kind hinhielt, ſich zwar erſt gegen daſſelbe zu neigen ſchien, nachher aber ſchnell zuruͤckſank. Vom Fall kaum ab¬ gehalten ward er in einen Seſſel gebracht165 und man mußte ihn, ungeachtet aller augen¬ blicklichen Beyhuͤlfe, fuͤr todt anſprechen.

So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg und Wiege neben einander zu ſehen und zu denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft, ſondern mit den Augen dieſe ungeheuern Ge¬ genſaͤtze zuſammenzufaſſen, war fuͤr die Um¬ ſtehenden eine ſchwere Aufgabe, je uͤberraſchen¬ der ſie vorgelegt wurde. Ottilie allein betrach¬ tete den Eingeſchlummerten, der noch immer ſeine freundliche einnehmende Miene behalten hatte, mit einer Art von Neid. Das Leben ihrer Seele war getoͤdtet, warum ſollte der Koͤrper noch erhalten werden?

Fuͤhrten ſie auf dieſe Weiſe gar manch¬ mal die unerfreulichen Begebenheiten des Tags auf die Betrachtung der Vergaͤnglichkeit, des Scheidens, des Verlierens; ſo waren ihr da¬ gegen wunderſame naͤchtliche Erſcheinungen zum Troſt gegeben, die ihr das Daſeyn166 des Geliebten verſicherten und ihr eigenes be¬ feſtigten und belebten. Wenn ſie ſich Abends zur Ruhe gelegt, und im ſuͤßen Gefuͤhl noch zwiſchen Schlaf und Wachen ſchwebte, ſchien es ihr, als wenn ſie in einen ganz hellen doch mild erleuchteten Raum hineinblickte. In dieſem ſah ſie Eduarden ganz deutlich und zwar nicht gekleidet wie ſie ihn ſonſt ge¬ ſehen, ſondern im kriegeriſchen Anzug, jedes¬ mal in einer andern Stellung, die aber voll¬ kommen natuͤrlich war und nichts Phantaſti¬ ſches an ſich hatte: ſtehend, gehend, liegend, reitend. Die Geſtalt bis aufs kleinſte ausge¬ malt bewegte ſich willig vor ihr, ohne daß ſie das mindeſte dazu that, ohne daß ſie wollte oder die Einbildungskraft anſtrengte. Manchmal ſah ſie ihn auch umgeben, beſon¬ ders von etwas Beweglichem, das dunkler war als der helle Grund; aber ſie unterſchied kaum Schattenbilder, die ihr zuweilen als Menſchen, als Pferde, als Baͤume und Ge¬ birge vorkommen konnten. Gewoͤhnlich ſchlief167 ſie uͤber der Erſcheinung ein, und wenn ſie nach einer ruhigen Nacht morgens wieder er¬ wachte; ſo war ſie erquickt, getroͤſtet, ſie fuͤhlte ſich uͤberzeugt: Eduard lebe noch, ſie ſtehe mit ihm noch in dem innigſten Ver¬ haͤltniß.

[168]

Neuntes Kapitel.

Der Fruͤhling war gekommen, ſpaͤter aber auch raſcher und freudiger als gewoͤhnlich. Otti¬ lie fand nun im Garten die Frucht ihres Vor¬ ſehens: alles keimte, gruͤnte und bluͤhte zur rechten Zeit; manches was hinter wohl ange¬ legten Glashaͤuſern und Beeten vorbereitet worden, trat nun ſogleich der endlich von außen wirkenden Natur entgegen, und alles was zu thun und zu beſorgen war, blieb nicht bloß hoffnungsvolle Muͤhe wie bisher, ſondern ward zum heitern Genuſſe.

An dem Gaͤrtner aber hatte ſie zu troͤſten uͤber manche durch Lucianens Wildheit ent¬ ſtandene Luͤcke unter den Topfgewaͤchſen, uͤber169 die zerſtoͤrte Symmetrie mancher Baumkrone. Sie machte ihm Muth, daß ſich das alles bald wieder herſtellen werde; aber er hatte zu ein tiefes Gefuͤhl, zu einen reinen Begriff von ſeinem Handwerk, als daß dieſe Troſt¬ gruͤnde viel bey ihm haͤtten fruchten ſollen. So wenig der Gaͤrtner ſich durch andere Lieb¬ habereyen und Neigungen zerſtreuen darf, ſo wenig darf der ruhige Gang unterbro¬ chen werden, den die Pflanze zur dauern¬ den oder zur voruͤbergehenden Vollendung nimmt. Die Pflanze gleicht den eigenſinni¬ gen Menſchen, von denen man alles erhalten kann, wenn man ſie nach ihrer Art behan¬ delt. Ein ruhiger Blick, eine ſtille Conſe¬ quenz, in jeder Jahrszeit, in jeder Stunde das ganz Gehoͤrige zu thun, wird vielleicht von Niemand mehr als vom Gaͤrtner ver¬ langt.

Dieſe Eigenſchaften beſaß der gute Mann in einem hohen Grade, deswegen auch Ottilie170 ſo gern mit ihm wirkte; aber ſein eigentliches Talent konnte er ſchon einige Zeit nicht mehr mit Behaglichkeit ausuͤben. Denn ob er gleich alles was die Baum - und Kuͤchengaͤrt¬ nerey betraf, auch die Erforderniſſe eines aͤl¬ teren Ziergartens, vollkommen zu leiſten ver¬ ſtand wie denn uͤberhaupt einem vor dem andern dieſes oder jenes gelingt ob er ſchon in Behandlung der Orangerie, der Blu¬ menzwiebeln, der Nelken - und Aurikelnſtoͤcke, die Natur ſelbſt haͤtte herausfordern koͤnnen: ſo waren ihm doch die neuen Zierbaͤume und Modeblumen einigermaßen fremd geblieben, und er hatte vor dem unendlichen Felde der Botanik, das ſich nach der Zeit aufthat, und den darin herumſummenden fremden Namen, eine Art von Scheu, die ihn verdrießlich machte. Was die Herrſchaft voriges Jahr zu verſchreiben angefangen, hielt er um ſo mehr fuͤr unnuͤtzen Aufwand und Verſchwen¬ dung, als er gar manche koſtbare Pflanze ausgehen ſah, und mit den Handelsgaͤrtnern171 die ihn, wie er glaubte, nicht redlich genug bedienten, in keinem ſonderlichen Verhaͤlt¬ niſſe ſtand.

Er hatte ſich daruͤber, nach mancherley Verſuchen, eine Art von Plan gemacht, in welchem ihn Ottilie um ſo mehr beſtaͤrkte, als er auf die Wiederkehr Eduards eigentlich ge¬ gruͤndet war, deſſen Abweſenheit man in die¬ ſem wie in manchem andern Falle taͤglich nachtheiliger empfinden mußte.

Indem nun die Pflanzen immer mehr Wurzel ſchlugen und Zweige trieben, fuͤhlte ſich auch Ottilie immer mehr an dieſe Raͤume gefeſſelt. Gerade vor einem Jahre trat ſie als Fremdling, als ein unbedeutendes Weſen hier ein; wie viel hatte ſie ſich ſeit jener Zeit nicht erworben! aber leider wie viel hatte ſie nicht auch ſeit jener Zeit wieder verloren! Sie war nie ſo reich und nie ſo arm gewe¬ ſen. Das Gefuͤhl von beydem wechſelte au¬172 genblicklich mit einander ab, ja durchkreuzte ſich aufs innigſte, ſo daß ſie ſich nicht anders zu helfen wußte, als daß ſie immer wieder das Naͤchſte mit Antheil, ja mit Leidenſchaft ergriff.

Daß alles was Eduarden beſonders lieb war, auch ihre Sorgfalt am ſtaͤrkſten an ſich zog, laͤßt ſich denken; ja warum ſollte ſie nicht hoffen, daß er ſelbſt nun bald wieder¬ kommen, daß er die vorſorgliche Dienſtlich¬ keit, die ſie dem Abweſenden geleiſtet, dank¬ bar gegenwaͤrtig bemerken werde.

Aber noch auf eine viel andre Weiſe war ſie veranlaßt fuͤr ihn zu wirken. Sie hatte vorzuͤglich die Sorge fuͤr das Kind uͤbernom¬ men, deſſen unmittelbare Pflegerinn ſie um ſo mehr werden konnte, als man es keiner Amme zu uͤbergeben, ſondern mit Milch und Waſſer aufzuziehen ſich entſchieden hatte. Es ſollte in jener ſchoͤnen Zeit der freyen Luft173 genießen; und ſo trug ſie es am liebſten ſelbſt heraus, trug das ſchlafende unbewußte zwiſchen Blumen und Bluͤthen her, die der¬ einſt ſeiner Kindheit ſo freundlich entgegen lachen ſollten, zwiſchen jungen Straͤuchen und Pflanzen, die mit ihm in die Hoͤhe zu wach¬ ſen durch ihre Jugend beſtimmt ſchienen. Wenn ſie um ſich her ſah, ſo verbarg ſie ſich nicht, zu welchem großen reichen Zuſtande das Kind geboren ſey: denn faſt alles wohin das Auge blickte, ſollte dereinſt ihm gehoͤ¬ ren. Wie wuͤnſchenswerth war es zu dieſem allen, daß es vor den Augen des Vaters, der Mutter, aufwuͤchſe und eine erneute frohe Verbindung beſtaͤtigte.

Ottilie fuͤhlte dieß alles ſo rein, daß ſie ſich's als entſchieden wirklich dachte und ſich ſelbſt dabey gar nicht empfand. Unter dieſem klaren Himmel, bey dieſem hellen Sonnen¬ ſchein, ward es ihr auf einmal klar, daß ihre Liebe, um ſich zu vollenden, voͤllig un¬174 eigennuͤtzig werden muͤſſe; ja in manchen Au¬ genblicken glaubte ſie dieſe Hoͤhe ſchon er¬ reicht zu haben. Sie wuͤnſchte nur das Wohl ihres Freundes, ſie glaubte ſich faͤhig ihm zu entſagen, ſogar ihn niemals wieder zu ſehen, wenn ſie ihn nur gluͤcklich wiſſe. Aber ganz entſchieden war ſie fuͤr ſich, nie¬ mals einem andern anzugehoͤren.

Daß der Herbſt eben ſo herrlich wuͤrde wie der Fruͤhling, dafuͤr war geſorgt. Alle ſogenannte Sommergewaͤchſe, alles was im Herbſt mit Bluͤhen nicht enden kann und ſich der Kaͤlte noch keck entgegen entwickelt, Aſtern beſonders, waren in der groͤßten Man¬ nigfaltigkeit geſaͤt und ſollten nun uͤberall¬ hin verpflanzt, einen Sternhimmel uͤber die Erde bilden.

175

Aus

Ottiliens Tagebuche.

Einen guten Gedanken den wir geleſen, etwas Auffallendes das wir gehoͤrt, tragen wir wohl in unſer Tagebuch. Naͤhmen wir uns aber zugleich die Muͤhe, aus den Briefen unſerer Freunde eigenthuͤmliche Bemerkungen, originelle Anſichten, fluͤchtige geiſtreiche Worte auszuzeichnen, ſo wuͤrden wir ſehr reich wer¬ den. Briefe hebt man auf, um ſie nie wie¬ der zu leſen; man zerſtoͤrt ſie zuletzt einmal aus Discretion, und ſo verſchwindet der ſchoͤnſte unmittelbarſte Lebenshauch unwieder¬ bringlich fuͤr uns und andre. Ich nehme mir vor, dieſes Verſaͤumniß wieder gut zu machen.

176

So wiederhohlt ſich denn abermals das Jahresmaͤhrchen von vorn. Wir ſind nun wieder, Gott ſey Dank! an ſeinem artig¬ ſten Kapitel. Veilchen und Mayblumen ſind wie Ueberſchriften oder Vignetten dazu. Es macht uns immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir ſie in dem Buche des Lebens wie¬ der aufſchlagen.

Wir ſchelten die Armen, beſonders die Unmuͤndigen, wenn ſie ſich an den Straßen herumlegen und betteln. Bemerken wir nicht, daß ſie gleich thaͤtig ſind, ſobald es was zu thun giebt? Kaum entfaltet die Natur ihre freundlichen Schaͤtze, ſo ſind die Kinder da¬ hinterher um ein Gewerbe zu eroͤffnen; keines bettelt mehr; jedes reicht dir einen Strauß; es hat ihn gepfluͤckt ehe du vom Schlaf er¬ wachteſt, und das Bittende ſieht dich ſo freundlich an wie die Gabe. Niemand ſieht erbaͤrmlich aus, der ſich einiges Recht fuͤhlt, fordern zu duͤrfen.

177

Warum nur das Jahr manchmal ſo kurz, manchmal ſo lang iſt, warum es ſo kurz ſcheint und ſo lang in der Erinnrung! Mir iſt es mit dem vergangenen ſo, und nir¬ gends auffallender als im Garten, wie ver¬ gaͤngliches und dauerndes in einander greift. Und doch iſt nichts ſo fluͤchtig das nicht eine Spur, das nicht ſeines Gleichen zuruͤcklaſſe.

Man laͤßt ſich den Winter auch gefallen. Man glaubt ſich freyer auszubreiten, wenn die Baͤume ſo geiſterhaft, ſo durchſichtig vor uns ſtehen. Sie ſind nichts, aber ſie decken auch nichts zu. Wie aber einmal Knospen und Bluͤten kommen, dann wird man unge¬ duldig bis das volle Laub hervortritt, bis die Landſchaft ſich verkoͤrpert und der Baum ſich als eine Geſtalt uns entgegen draͤngt.

Alles Vollkommene in ſeiner Art muß uͤber ſeine Art hinausgehen, es muß etwas anderes unvergleichbares werden. In manchenII. 12178Toͤnen iſt die Nachtigall noch Vogel; dann ſteigt ſie uͤber ihre Claſſe hinuͤber und ſcheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich ſingen heiße.

Ein Leben ohne Liebe, ohne die Naͤhe des Geliebten, iſt nur eine Comédie à tiroir, ein ſchlechtes Schubladenſtuͤck. Man ſchiebt eine nach der anderen heraus und wieder hin¬ ein und eilt zur folgenden. Alles was auch gutes und bedeutendes vorkommt, haͤngt nur kuͤmmerlich zuſammen. Man muß uͤberall von vorn anfangen und moͤchte uͤberall enden.

[179]

Zehntes Kapitel.

Charlotte von ihrer Seite befindet ſich munter und wohl. Sie freut ſich an dem tuͤchtigen Knaben, deſſen viel verſpre¬ chende Geſtalt ihr Auge und Gemuͤth ſtuͤnd¬ lich beſchaͤftigt. Sie erhaͤlt durch ihn einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Be¬ ſitz. Ihre alte Thaͤtigkeit regt ſich wieder; ſie erblickt, wo ſie auch hinſieht, im vergan¬ genen Jahre vieles gethan und empfindet Freude am Gethanen. Von einem eigenen Gefuͤhl belebt ſteigt ſie zur Mooshuͤtte mit Ottilien und dem Kinde, und indem ſie dieſes auf den kleinen Tiſch, als auf einen haͤuslichen Altar niederlegt, und noch zwey Plaͤtze leer ſieht, gedenkt ſie der vorigen Zeiten und eine12 *180neue Hoffnung fuͤr ſie und Ottilien dringt hervor.

Junge Frauenzimmer ſehen ſich beſcheiden vielleicht nach dieſem oder jenem Juͤngling um, mit ſtiller Pruͤfung, ob ſie ihn wohl zum Gatten wuͤnſchten; wer aber fuͤr eine Tochter oder einen weiblichen Zoͤgling zu ſor¬ gen hat, ſchaut in einem weitern Kreis um¬ her. So ging es auch in dieſem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung des Haupt¬ manns mit Ottilien nicht unmoͤglich ſchien, wie ſie doch auch ſchon ehemals in dieſer Huͤtte neben einander geſeſſen hatten. Ihr war nicht unbekannt geblieben, daß jene Aus¬ ſicht auf eine vortheilhafte Heirat wieder verſchwunden ſey.

Charlotte ſtieg weiter und Ottilie trug das Kind. Jene uͤberließ ſich mancherley Betrachtungen. Auch auf dem feſten Lande giebt es wohl Schiffbruch; ſich davon auf das181 ſchnellſte zu erhohlen und herzuſtellen, iſt ſchoͤn und preiswuͤrdig. Iſt doch das Leben nur auf Gewinn und Verluſt berechnet. Wer macht nicht irgend eine Anlage und wird dar¬ in geſtoͤrt! Wie oft ſchlaͤgt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet! Wie oft wer¬ den wir von einem ſcharf ins Auge gefaßten Ziel abgelenkt, um ein hoͤheres zu erreichen! Der Reiſende bricht unterwegs zu ſeinem hoͤchſten Verdruß ein Rad und gelangt durch dieſen unangenehmen Zufall zu den erfreulich¬ ſten Bekanntſchaften und Verbindungen, die auf ſein ganzes Leben Einfluß haben. Das Schickſal gewaͤhrt uns unſre Wuͤnſche, aber auf ſeine Weiſe, um uns etwas uͤber unſere Wuͤnſche geben zu koͤnnen.

Dieſe und aͤhnliche Betrachtungen waren es, unter denen Charlotte zum neuen Ge¬ baͤude auf der Hoͤhe gelangte, wo ſie voll¬ kommen beſtaͤtigt wurden. Denn die Um¬ gebung war viel ſchoͤner als man ſich's hatte182 denken koͤnnen. Alles ſtoͤrende Kleinliche war rings umher entfernt; alles Gute der Land¬ ſchaft, was die Natur, was die Zeit daran ge¬ than hatte, trat reinlich hervor und fiel ins Au¬ ge, und ſchon gruͤnten die jungen Pflanzungen, die beſtimmt waren, einige Luͤcken auszufuͤllen und die abgeſonderten Theile angenehm zu verbinden.

Das Haus ſelbſt war nahezu bewohn¬ bar; die Ausſicht, beſonders aus den obern Zimmern, hoͤchſt mannigfaltig. Je laͤnger man ſich umſah, deſto mehr Schoͤnes entdeckte man. Was mußten nicht hier die verſchiede¬ nen Tagszeiten, was Mond und Sonne fuͤr Wirkungen hervorbringen! Hier zu verweilen war hoͤchſt wuͤnſchenswerth, und wie ſchnell ward die Luſt zu bauen und zu ſchaffen in Charlotten wieder erweckt, da ſie alle grobe Arbeit gethan fand. Ein Tiſcher, ein Tape¬ zirer, ein Maler, der mit Patronen und leichter Vergoldung ſich zu helfen wußte, nur183 dieſer bedurfte man, und in kurzer Zeit war das Gebaͤude im Stande. Keller und Kuͤche wurden ſchnell eingerichtet: denn in der Entfer¬ nung vom Schloſſe mußte man alle Beduͤrf¬ niſſe um ſich verſammeln. So wohnten die Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und von dieſem Aufenthalt, als von einem neuen Mittelpunkt, eroͤffneten ſich ihnen unerwartete Spaziergaͤnge. Sie genoſſen vergnuͤglich in einer hoͤheren Region der freyen friſchen Luft bey dem ſchoͤnſten Wetter.

Ottiliens liebſter Weg, theils allein, theils mit dem Kinde, ging herunter nach den Pla¬ tanen auf einem bequemen Fußſteig, der ſo¬ dann zu dem Puncte leitete, wo einer der Kaͤhne angebunden war, mit denen man uͤberzufahren pflegte. Sie erfreute ſich manch¬ mal einer Waſſerfahrt; allein ohne das Kind, weil Charlotte deshalb einige Beſorgniß zeigte. Doch verfehlte ſie nicht, taͤglich den Gaͤrtner im Schloßgarten zu beſuchen und an ſeiner184 Sorgfalt fuͤr die vielen Pflanzenzoͤglinge, die nun alle der freyen Luft genoſſen, freundlich Theil zu nehmen.

In dieſer ſchoͤnen Zeit kam Charlotten der Beſuch eines Englaͤnders ſehr gelegen, der Eduarden auf Reiſen kennen gelernt, einige¬ mal getroffen hatte und nunmehr neugierig war, die ſchoͤnen Anlagen zu ſehen, von denen er ſo viel Gutes erzaͤhlen hoͤrte. Er brachte ein Empfehlungsſchreiben vom Grafen mit und ſtellte zugleich einen ſtillen aber ſehr ge¬ faͤlligen Mann als ſeinen Begleiter vor. In¬ dem er nun bald mit Charlotten und Otti¬ lien, bald mit Gaͤrtnern und Jaͤgern, oͤfters mit ſeinem Begleiter, und manchmal allein die Gegend durchſtrich; ſo konnte man ſeinen Bemerkungen wohl anſehen, daß er ein Lieb¬ haber und Kenner ſolcher Anlagen war, der wohl auch manche dergleichen ſelbſt ausgefuͤhrt hatte. Obgleich in Jahren nahm er auf eine heitere Weiſe an allem Theil, was dem Le¬185 ben zur Zierde gereichen und es bedeutend machen kann.

In ſeiner Gegenwart genoſſen die Frauen¬ zimmer erſt vollkommen ihrer Umgebung. Sein geuͤbtes Auge empfing jeden Effect ganz friſch, und er hatte um ſomehr Freude an dem Entſtandenen, als er die Gegend vorher nicht gekannt, und was man daran gethan, von dem was die Natur geliefert, kaum zu unterſcheiden wußte.

Man kann wohl ſagen, daß durch ſeine Bemerkungen der Park wuchs und ſich berei¬ cherte. Schon zum voraus erkannte er, was die neuen heranſtrebenden Pflanzungen ver¬ ſprachen. Keine Stelle blieb ihm unbemerkt, wo noch irgend eine Schoͤnheit hervorzuheben oder anzubringen war. Hier deutete er auf eine Quelle, welche gereinigt, die Zierde ei¬ ner ganzen Buſchpartie zu werden verſprach; hier auf eine Hoͤhle, die ausgeraͤumt und er¬186 weitert, einen erwuͤnſchten Ruheplatz geben konnte, indeſſen man nur wenige Baͤume zu faͤllen brauchte, um von ihr aus herrliche Felſenmaſſen aufgethuͤrmt zu erblicken. Er wuͤnſchte den Bewohnern Gluͤck, daß ihnen ſo manches nachzuarbeiten uͤbrig blieb, und erſuchte ſie, damit nicht zu eilen, ſondern fuͤr folgende Jahre ſich das Vergnuͤgen des Schaffens und Einrichtens vorzubehalten.

Uebrigens war er außer den geſelligen Stunden keineswegs laͤſtig: denn er beſchaͤf¬ tigte ſich die groͤßte Zeit des Tags, die ma¬ leriſchen Ausſichten des Parks in einer trag¬ baren dunklen Kammer aufzufangen und zu zeichnen, um dadurch ſich und andern von ſeinen Reiſen eine ſchoͤne Frucht zu gewinnen. Er hatte dieſes, ſchon ſeit mehreren Jahren, in allen bedeutenden Gegenden gethan und ſich dadurch die angenehmſte und intereſſan¬ teſte Sammlung verſchafft. Ein großes Porte¬ feuille das er mit ſich fuͤhrte, zeigte er den187 Damen vor und unterhielt ſie, theils durch das Bild, theils durch die Auslegung. Sie freuten ſich, hier in ihrer Einſamkeit die Welt ſo bequem zu durchreiſen, Ufer und Haͤfen, Berge, Seen und Fluͤſſe, Staͤdte, Caſtelle und manches andre Local, das in der Geſchichte einen Namen hat, vor ſich vor¬ beyziehen zu ſehen.

Jede von beyden Frauen hatte ein beſon¬ deres Intereſſe; Charlotte das allgemeinere, gerade an dem, wo ſich etwas hiſtoriſch merkwuͤrdiges fand, waͤhrend Ottilie ſich vor¬ zuͤglich bey den Gegenden aufhielt, wovon Eduard viel zu erzaͤhlen pflegte, wo er gern verweilt, wohin er oͤfters zuruͤckgekehrt: denn jeder Menſch hat in der Naͤhe und in der Ferne gewiſſe oͤrtliche Einzelnheiten die ihn anziehen, die ihm, ſeinem Character nach, um des erſten Eindrucks, gewiſſer Umſtaͤnde, der Gewohnheit willen, beſonders lieb und aufregend ſind.

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Sie fragte daher den Lord, wo es ihm denn am beſten gefalle, und wo er nun ſeine Wohnung aufſchlagen wuͤrde, wenn er zu waͤhlen haͤtte. Da wußte er denn mehr als Eine ſchoͤne Gegend vorzuzeigen, und was ihm dort widerfahren, um ſie ihm lieb und werth zu machen, in ſeinem eigens accentuirten Fran¬ zoͤſiſch gar behaglich mitzutheilen.

Auf die Frage hingegen, wo er ſich denn jetzt gewoͤhnlich aufhalte, wohin er am lieb¬ ſten zuruͤckkehre, ließ er ſich ganz unbewun¬ den, doch den Frauen unerwartet, alſo ver¬ nehmen.

Ich habe mir nun angewoͤhnt uͤberall zu Hauſe zu ſeyn und finde zuletzt nichts be¬ quemer, als daß andre fuͤr mich bauen, pflan¬ zen und ſich haͤuslich bemuͤhen. Nach mei¬ nen eigenen Beſitzungen ſehne ich mich nicht zuruͤck, theils aus politiſchen Urſachen, vorzuͤg¬ lich aber weil mein Sohn, fuͤr den ich alles189 eigentlich gethan und eingerichtet, dem ich es zu uͤbergeben, mit dem ich es noch zu genießen hoffte, an allem keinen Theil nimmt, ſondern nach Indien gegangen iſt, um ſein Leben dort, wie mancher andere, hoͤher zu nutzen, oder gar zu vergeuden.

Gewiß wir machen viel zu viel vorarbei¬ tenden Aufwand aufs Leben. Anſtatt daß wir gleich anfingen uns in einem maͤßigen Zuſtand behaglich zu finden, ſo gehen wir immer mehr ins Breite, um es uns immer un¬ bequemer zu machen. Wer genießt jetzt meine Gebaͤude, meinen Park, meine Gaͤrten? Nicht ich, nicht einmal die Meinigen; fremde Gaͤſte, Neugierige, unruhige Reiſende.

Selbſt bey vielen Mitteln ſind wir immer nur halb und halb zu Hauſe, beſonders auf dem Lande, wo uns manches Gewohnte der Stadt fehlt. Das Buch das wir am eifrig¬ ſten wuͤnſchten, iſt nicht zur Hand, und ge¬190 rade was wir am meiſten beduͤrften, iſt ver¬ geſſen. Wir richten uns immer haͤuslich ein, um wieder auszuziehen, und wenn wir es nicht mit Willen und Willkuͤhr thun; ſo wirken Verhaͤltniſſe, Leidenſchaften, Zufaͤlle, Noth¬ wendigkeit und was nicht alles.

Der Lord ahndete nicht, wie tief durch ſeine Betrachtungen die Freundinnen getroffen wurden. Und wie oft kommt nicht Jeder in dieſe Gefahr, der eine allgemeine Betrachtung ſelbſt in einer Geſellſchaft deren Verhaͤltniſſe ihm ſonſt bekannt ſind, ausſpricht. Charlot¬ ten war eine ſolche zufaͤllige Verletzung auch durch Wohlwollende und Gutmeynende nichts Neues; und die Welt lag ohnehin ſo deut¬ lich vor ihren Augen, daß ſie keinen beſondern Schmerz empfand, wenn gleich Jemand ſie unbedachtſam und unvorſichtig noͤthigte, ihren Blick da oder dorthin auf eine unerfreuliche Stelle zu richten. Ottilie hingegen, die in halbbewußter Jugend mehr ahndete als ſah,191 und ihren Blick wegwenden durfte ja mußte von dem was ſie nicht ſehen mochte und ſollte, Ottilie ward durch dieſe traulichen Reden in den ſchrecklichſten Zuſtand verſetzt: denn es zerriß mit Gewalt vor ihr der an¬ muthige Schleyer, und es ſchien ihr, als wenn alles was bisher fuͤr Haus und Hof, fuͤr Garten, Park und die ganze Umgebung geſchehen war, ganz eigentlich umſonſt ſey, weil der dem es alles gehoͤrte, es nicht ge¬ noͤſſe, weil auch der, wie der gegenwaͤrtige Gaſt, zum Herumſchweifen in der Welt und zwar zu dem gefaͤhrlichſten, durch die Lieb¬ ſten und Naͤchſten gedraͤngt worden. Sie hatte ſich an Hoͤren und Schweigen gewoͤhnt, aber ſie ſaß dießmal in der peinlichſten Lage, die durch des Fremden weiteres Geſpraͤch eher vermehrt als vermindert wurde, das er mit heiterer Eigenheit und Bedaͤchtlichkeit fortſetzte.

Nun glaub 'ich, ſagte er, auf dem rech¬ ten Wege zu ſeyn, da ich mich immerfort als192 einen Reiſenden betrachte, der vielem entſagt, um vieles zu genießen. Ich bin an den Wechſel gewoͤhnt, ja er wird mir Beduͤrf¬ niß, wie man in der Oper immer wieder auf eine neue Decoration wartet, gerade weil ſchon ſo viele da geweſen. Was ich mir von dem beſten und dem ſchlechteſten Wirths¬ hauſe verſprechen darf, iſt mir bekannt: es mag ſo gut oder ſchlimm ſeyn als es will, nirgends find' ich das Gewohnte, und am Ende laͤuft es auf Eins hinaus, ganz von einer nothwendigen Gewohnheit, oder ganz von der willkuͤhrlichſten Zufaͤlligkeit abzuhan¬ gen. Wenigſtens habe ich jetzt nicht den Verdruß, daß etwas verlegt oder verloren iſt, daß mir ein taͤgliches Wohnzimmer un¬ brauchbar wird, weil ich es muß repariren laſſen, daß man mir eine liebe Taſſe zer¬ bricht und es mir eine ganze Zeit aus keiner andern ſchmecken will. Alles deſſen bin ich uͤberhoben, und wenn mir das Haus uͤber dem Kopf zu brennen anfaͤngt, ſo packen193 meine Leute gelaſſen ein und auf, und wir fahren zu Hofraum und Stadt hinaus. Und bey allen dieſen Vortheilen, wenn ich es genau berechne, habe ich am Ende des Jahrs nicht mehr ausgegeben, als es mich zu Hauſe gekoſtet haͤtte.

Bey dieſer Schilderung ſah Ottilie nur Eduarden vor ſich, wie er nun auch, mit Ent¬ behren und Beſchwerde, auf ungebahnten Straßen hinziehe, mit Gefahr und Noth zu Felde liege, und bey ſo viel Unbeſtand und Wagniß ſich gewoͤhne heimatlos und freund¬ los zu ſeyn, alles wegzuwerfen nur um nicht verlieren zu koͤnnen. Gluͤcklicherweiſe trennte ſich die Geſellſchaft fuͤr einige Zeit. Ottilie fand Raum ſich in der Einſamkeit auszuweinen. Gewaltſamer hatte ſie kein dumpfer Schmerz ergriffen, als dieſe Klar¬ heit, die ſie ſich noch klarer zu machen ſtreb¬ te, wie man es zu thun pflegt, daß man ſichII. 13194ſelbſt peinigt, wenn man einmal auf dem Wege iſt gepeinigt zu werden.

Der Zuſtand Eduards kam ihr ſo kuͤm¬ merlich, ſo jaͤmmerlich vor, daß ſie ſich ent¬ ſchloß, es koſte was es wolle, zu ſeiner Wiedervereinigung mit Charlotten alles bey¬ zutragen, ihren Schmerz und ihre Liebe an irgend einem ſtillen Orte zu verbergen und durch irgend eine Art von Thaͤtigkeit zu betriegen.

Indeſſen hatte der Begleiter des Lords, ein verſtaͤndiger, ruhiger Mann und guter Beobachter, den Mißgriff in der Unterhal¬ tung bemerkt und die Aehnlichkeit der Zuſtaͤnde ſeinem Freunde offenbart. Dieſer wußte nichts von den Verhaͤltniſſen der Familie; allein jener, den eigentlich auf der Reiſe nichts mehr intereſſirte als die ſonderbaren Ereigniſſe, welche durch natuͤrliche und kuͤnſt¬ liche Verhaͤltniſſe, durch den Conflict des195 Geſetzlichen und des Ungebaͤndigten, des Ver¬ ſtandes und der Vernunft, der Leidenſchaft und des Vorurtheils hervorgebracht werden, jener hatte ſich ſchon fruͤher, und mehr noch im Hauſe ſelbſt, mit allem bekannt gemacht was vorgegangen war und noch vorging.

Dem Lord that es leid, ohne daß er daruͤber verlegen geweſen waͤre. Man muͤßte ganz in Geſellſchaft ſchweigen, wenn man nicht manchmal in den Fall kommen ſollte: denn nicht allein bedeutende Bemerkungen, ſondern die trivialſten Aeußerungen koͤnnen auf eine ſo mißklingende Weiſe mit dem Intereſſe der Gegenwaͤrtigen zuſammentreffen. Wir wollen es heute Abend wieder gut machen, ſagte der Lord, und uns aller allgemeinen Geſpraͤche enthalten. Geben Sie der Geſellſchaft etwas von den vielen angenehmen und bedeutenden Anecdoten und Geſchichten zu hoͤren, womit Sie Ihr Portefeuille und ihr Gedaͤchtni[ß]auf unſerer Reiſe bereichert haben.

13 *196

Allein auch mit dem beſten Vorſatze ge¬ lang es den Fremden nicht, die Freunde dießmal mit einer unverfaͤnglichen Unterhal¬ tung zu erfreuen. Denn nachdem der Be¬ gleiter durch manche ſonderbare, bedeutende, heitere, ruͤhrende, furchtbare Geſchichten die Aufmerkſamkeit erregt und die Theilnahme aufs hoͤchſte geſpannt hatte; ſo dachte er mit einer zwar ſonderbaren, aber ſanfteren Begebenheit zu ſchließen, und ahndete nicht, wie nahe dieſe ſeinen Zuhoͤrern verwandt war.

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Die wunderlichen Nachbarskinder. Novelle.

Zwey Nachbarskinder von bedeutenden Haͤuſern, Knabe und Maͤdchen, in verhaͤlt¬ nißmaͤßigem Alter, um dereinſt Gatten zu werden, ließ man in dieſer angenehmen Aus¬ ſicht mit einander aufwachſen, und die bey¬ derſeitigen Aeltern freuten ſich einer kuͤnftigen Verbindung. Doch man bemerkte gar bald, daß die Abſicht zu mislingen ſchien, indem ſich zwiſchen den beyden trefflichen Naturen ein ſonderbarer Widerwille hervorthat. Viel¬ leicht waren ſie einander zu aͤhnlich. Beyde198 in ſich ſelbſt gewendet, deutlich in ihrem Wollen, feſt in ihren Vorſaͤtzen; jedes einzeln geliebt und geehrt von ſeinen Geſpielen; im¬ mer Widerſacher wenn ſie zuſammen waren, immer aufbauend fuͤr ſich allein, immer wech¬ ſelsweiſe zerſtoͤrend wo ſie ſich begegneten; nicht wetteifernd nach Einem Ziel, aber im¬ mer kaͤmpfend um Einen Zweck; gutartig durchaus und liebenswuͤrdig, und nur haſ¬ ſend, ja boͤsartig, indem ſie ſich auf einander bezogen.

Dieſes wunderliche Verhaͤltniß zeigte ſich ſchon bey kindiſchen Spielen, es zeigte ſich bey zunehmenden Jahren. Und wie die Knaben Krieg zu ſpielen, ſich in Parteyen zu ſondern, einander Schlachten zu liefern pflegen, ſo ſtellte ſich das trotzig muthige Maͤdchen einſt an die Spitze des einen Heers, und focht gegen das andre mit ſolcher Gewalt und Erbitte¬ rung, daß dieſes ſchimpflich waͤre in die Flucht geſchlagen worden, wenn ihr einzelner199 Widerſacher ſich nicht ſehr brav gehalten und ſeine Gegnerinn doch noch zuletzt entwaffnet und gefangen genommen haͤtte. Aber auch da noch wehrte ſie ſich ſo gewaltſam, daß er, um ſeine Augen zu erhalten, und die Fein¬ dinn doch nicht zu beſchaͤdigen, ſein ſeidenes Halstuch abreißen und ihr die Haͤnde damit auf den Ruͤcken binden mußte.

Dieß verzieh ſie ihm nie, ja ſie machte ſo heimliche Anſtalten und Verſuche ihn zu beſchaͤdigen, daß die Aeltern, die auf dieſe ſeltſamen Leidenſchaften ſchon laͤngſt Acht ge¬ habt, ſich mit einander verſtaͤndigten und be¬ ſchloſſen, die beyden feindlichen Weſen zu trennen und jene lieblichen Hoffnungen aufzu¬ geben.

Der Knabe that ſich in ſeinen neuen Ver¬ haͤltniſſen bald hervor. Jede Art von Unter¬ richt ſchlug bey ihm an. Goͤnner und eigene Neigung beſtimmten ihn zum Soldatenſtande.

200

Ueberall wo er ſich fand, war er geliebt und geehrt. Seine tuͤchtige Natur ſchien nur zum Wohlſeyn, zum Behagen anderer zu wirken, und er war in ſich, ohne deutliches Bewußt¬ ſeyn, recht gluͤcklich, den einzigen Widerſacher verloren zu haben, den die Natur ihm zu¬ gedacht hatte.

Das Maͤdchen dagegen trat auf einmal in einen veraͤnderten Zuſtand. Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung, und mehr noch ein gewiſſes inneres Gefuͤhl zogen ſie von den heftigen Spielen hinweg, die ſie bisher in Geſellſchaft der Knaben auszuuͤben pflegte. Im Ganzen ſchien ihr etwas zu fehlen, nichts war um ſie herum, das werth geweſen waͤre, ihren Haß zu erregen. Liebenswuͤrdig hatte ſie noch Niemanden gefunden.

Ein junger Mann, aͤlter als ihr ehema¬ liger nachbarlicher Widerſacher, von Stand, Vermoͤgen und Bedeutung, beliebt in der201 Geſellſchaft, geſucht von Frauen, wendete ihr ſeine ganze Neigung zu. Es war das erſte¬ mal, daß ſich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um ſie bemuͤhte. Der Vorzug den er ihr vor vielen gab, die aͤlter, gebildeter, glaͤnzender und anſpruchsreicher waren als ſie, that ihr gar zu wohl. Seine fortgeſetzte Aufmerkſamkeit, ohne daß er zudringlich ge¬ weſen waͤre, ſein treuer Beyſtand bey verſchie¬ denen unangenehmen Zufaͤllen, ſein gegen ihre Aeltern zwar ausgeſprochnes, doch ruhiges und nur hoffnungsvolles Werben, da ſie frey¬ lich noch ſehr jung war: das alles nahm ſie fuͤr ihn ein, wozu die Gewohnheit, die aͤu¬ ßern nun von der Welt als bekannt ange¬ nommenen Verhaͤltniſſe, das ihrige beytru¬ gen. Sie war ſo oft Braut genannt wor¬ den, daß ſie ſich endlich ſelbſt dafuͤr hielt, und weder ſie noch irgend Jemand dachte dar¬ an, daß noch eine Pruͤfung noͤthig ſey, als ſie den Ring mit demjenigen wechſelte, der ſo lange Zeit fuͤr ihren Braͤutigam galt.

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Der ruhige Gang den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Ver¬ loͤbniß nicht beſchleunigt worden. Man ließ eben von beyden Seiten alles ſo fortgewaͤh¬ ren; man freute ſich des Zuſammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als einen Fruͤhling des kuͤnftigen ernſteren Lebens genießen.

Indeſſen hatte der entfernte ſich zum ſchoͤnſten ausgebildet, eine verdiente Stufe ſeiner Lebensbeſtimmung erſtiegen, und kam mit Urlaub die Seinigen zu beſuchen. Auf eine ganz natuͤrliche aber doch ſonderbare Weiſe ſtand er ſeiner ſchoͤnen Nachbarinn abermals entgegen. Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, braͤutliche Familienem¬ pfindungen bey ſich genaͤhrt, ſie war mit al¬ lem was ſie umgab in Uebereinſtimmung; ſie glaubte gluͤcklich zu ſeyn und war es auch auf gewiſſe Weiſe. Aber nun ſtand ihr zum erſtenmal ſeit langer Zeit wieder etwas ent¬203 gegen: es war nicht haſſenswerth, ſie war des Haſſes unfaͤhig geworden; ja der kindiſche Haß, der eigentlich nur ein dunkles Anerken¬ nen des inneren Werthes geweſen, aͤußerte ſich nun in frohem Erſtaunen, erfreulichem Betrachten, gefaͤlligem Eingeſtehen, halb willigem halb unwilligem und doch nothwen¬ digem Annahen, und das alles war wechſel¬ ſeitig. Eine lange Entfernung gab zu laͤnge¬ ren Unterhaltungen Anlaß. Selbſt jene kin¬ diſche Unvernunft diente den Aufgeklaͤrteren zu ſcherzhafter Erinnerung, und es war als wenn man ſich jenen neckiſchen Haß wenig¬ ſtens durch eine freundſchaftliche aufmerkſame Behandlung verguͤten muͤſſe, als wenn jenes gewaltſame Verkennen nunmehr nicht ohne ein ausgeſprochnes Anerkennen bleiben duͤrfe.

Von ſeiner Seite blieb alles in einem verſtaͤndigen, wuͤnſchenswerthen Maaß. Sein Stand, ſeine Verhaͤltniſſe, ſein Streben, ſein Ehrgeiz beſchaͤftigten ihn ſo reichlich,204 daß er die Freundlichkeit der ſchoͤnen Braut als eine dankenswerthe Zugabe mit Behag¬ lichkeit aufnahm, ohne ſie deshalb in irgend einem Bezug auf ſich zu betrachten, oder ſie ihrem Braͤutigam zu mißgoͤnnen, mit dem er uͤbrigens in den beſten Verhaͤltniſſen ſtand.

Bey ihr hingegen ſah es ganz anders aus. Sie ſchien ſich wie aus einem Traum erwacht. Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erſte Leidenſchaft geweſen, und dieſer heftige Kampf war doch nur, un¬ ter der Form des Widerſtrebens, eine heftige gleichſam angeborene Neigung. Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als daß ſie ihn immer geliebt habe. Sie laͤchelte uͤber jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; ſie wollte ſich des angenehmſten Gefuͤhls erinnern, als er ſie entwaffnete; ſie bildete ſich ein die groͤßte Seligkeit empfunden zu haben, da er ſie band, und alles was ſie zu ſeinem Schaden und Verdruß unter¬205 nommen hatte, kam ihr nur als unſchuldiges Mittel vor, ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen. Sie verwuͤnſchte jene Trennung, ſie bejammerte den Schlaf in den ſie verfallen, ſie verfluchte die ſchleppende, traͤumeriſche Ge¬ wohnheit, durch die ihr ein ſo unbedeutender Braͤutigam hatte werden koͤnnen, ſie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts wie man es nehmen will.

Haͤtte Jemand ihre Empfindungen, die ſie ganz geheim hielt, entwickeln und mit ihr theilen koͤnnen, ſo wuͤrde er ſie nicht geſcholten haben: denn freylich konnte der Braͤutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aus¬ halten, ſobald man ſie neben einander ſah. Wenn man dem einen ein gewiſſes Zutrauen nicht verſagen konnte, ſo erregte der andere das vollſte Vertrauen; wenn man den einen gern zur Geſellſchaft mochte, ſo wuͤnſchte man ſich den andern zum Gefaͤhrten; und dachte man gar an hoͤhere Theilnahme, an206 außerordentliche Faͤlle: ſo haͤtte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewißheit gab. Fuͤr ſolche Ver¬ haͤltniſſe iſt den Weibern ein beſonderer Tact angeboren und ſie haben Urſache ſo wie Ge¬ legenheit ihn auszubilden.

Jemehr die ſchoͤne Braut ſolche Geſinnun¬ gen bey ſich ganz heimlich naͤhrte, je weniger nur irgend Jemand dasjenige auszuſprechen im Fall war, was zu Gunſten des Braͤuti¬ gams gelten konnte, was Verhaͤltniſſe, was Pflicht anzurathen und zu gebieten, ja was eine unabaͤnderliche Nothwendigkeit unwieder¬ ruflich zu fordern ſchien; deſto mehr beguͤn¬ ſtigte das ſchoͤne Herz ſeine Einſeitigkeit, und indem ſie von der einen Seite durch Welt und Familie, Braͤutigam und eigne Zuſage unaufloͤslich gebunden war, von der andern der emporſtrebende Juͤngling gar kein Ge¬ heimniß von ſeinen Geſinnungen, Planen und Ausſichten machte, ſich nur als ein treuer207 und nicht einmal zaͤrtlicher Bruder gegen ſie bewies, und nun gar von ſeiner unmittelbaren Abreiſe die Rede war; ſo ſchien es als ob ihr fruͤher kindiſcher Geiſt mit allen ſeinen Tuͤcken und Gewaltſamkeiten wieder erwachte, und ſich nun auf einer hoͤheren Lebensſtufe mit Unwillen ruͤſtete, bedeutender und ver¬ derblicher zu wirken. Sie beſchloß zu ſterben, um den ehmals Gehaßten und nun ſo heftig Geliebten fuͤr ſeine Untheilnahme zu ſtrafen und ſich, indem ſie ihn nicht beſitzen ſollte, wenigſtens mit ſeiner Einbildungskraft, ſeiner Reue auf ewig zu vermaͤhlen. Er ſollte ihr todtes Bild nicht loswerden, er ſollte nicht aufhoͤren ſich Vorwuͤrfe zu machen, daß er ihre Geſinnungen nicht erkannt, nicht erforſcht, nicht geſchaͤtzt habe.

Dieſer ſeltſame Wahnſinn begleitete ſie uͤberall hin. Sie verbarg ihn unter allerley Formen, und ob ſie den Menſchen gleich wunderlich vorkam; ſo war Niemand auf¬208 merkſam oder klug genug, die innere wahre Urſache zu entdecken.

Indeſſen hatten ſich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von mancherley Feſten erſchoͤpft. Kaum verging ein Tag, daß nicht irgend etwas neues und unerwar¬ tetes angeſtellt worden waͤre. Kaum war ein ſchoͤner Platz der Landſchaft, den man nicht ausgeſchmuͤckt und zum Empfang vieler frohen Gaͤſte bereitet haͤtte. Auch wollte unſer jun¬ ger Ankoͤmmling noch vor ſeiner Abreiſe das Seinige thun, und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreiſe zu einer Waſſer¬ luſtfahrt. Man beſtieg ein großes ſchoͤnes wohlausgeſchmuͤcktes Schiff, eine der Jachten die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das Waſſer die Bequemlich¬ keit des Landes uͤberzutragen ſuchen.

Man fuhr auf dem großen Strome mit Muſik dahin, die Geſellſchaft hatte ſich bey209 heißer Tageszeit in den untern Raͤumen ver¬ ſammelt, um ſich an Geiſtes - und Gluͤcks¬ ſpielen zu ergetzen. Der junge Wirth, der niemals unthaͤtig bleiben konnte, hatte ſich ans Steuer geſetzt, den alten Schiffsmeiſter abzuloͤſen, der an ſeiner Seite eingeſchlafen war; und eben brauchte der Wachende alle ſeine Vorſicht, da er ſich einer Stelle nahte, wo zwey Inſeln das Flußbette verengten und indem ſie ihre flachen Kiesufer, bald an der einen bald an der andern Seite hereinſtreck¬ ten, ein gefaͤhrliches Fahrwaſſer zubereiteten. Faſt war der ſorgſame und ſcharfblickende Steurer in Verſuchung den Meiſter zu wecken, aber er getraute ſich's zu und fuhr gegen die Enge. In dem Augenblick erſchien auf dem Verdeck ſeine ſchoͤne Feindinn mit einem Blu¬ menkranz in den Haaren. Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden. Nimm dieß zum Andenken! rief ſie aus. Stoͤre mich nicht! rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing: ich bedarf aller meiner Kraͤfte undII. 14210meiner Aufmerkſamkeit. Ich ſtoͤre dich nicht weiter, rief ſie: du ſiehſt mich nicht wieder! Sie ſprach's und eilte nach dem Vordertheil des Schiffs, von da ſie ins Waſſer ſprang. Einige Stimmen riefen: rettet! rettet! ſie er¬ trinkt. Er war in der entſetzlichſten Verle¬ genheit. Ueber dem Lerm erwacht der alte Schiffsmeiſter, will das Ruder ergreifen, der juͤngere es ihm uͤbergeben; aber es iſt keine Zeit die Herrſchaft zu wechſeln: das Schiff ſtrandet, und in eben dem Augenblick, die laͤſtigſten Kleidungsſtuͤcke wegwerfend, ſtuͤrzte er ſich ins Waſſer, und ſchwamm der ſchoͤnen Feindinn nach.

Das Waſſer iſt ein freundliches Element fuͤr den der damit bekannt iſt und es zu be¬ handeln weiß. Es trug ihn, und der ge¬ ſchickte Schwimmer beherrſchte es. Bald hatte er die vor ihm fortgeriſſene Schoͤne er¬ reicht; er faßte ſie, wußte ſie zu heben und zu tragen; beyde wurden vom Strom gewalt¬211 ſam fortgeriſſen bis ſie die Inſeln, die Wer¬ der, weit hinter ſich hatten und der Fluß wieder breit und gemaͤchlich zu fließen an¬ fing. Nun erſt ermannte, nun erholte er ſich aus der erſten zudringenden Noth, in der er ohne Beſinnung nur mechaniſch gehan¬ delt; er blickte mit emporſtrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermoͤgen einer fla¬ chen buſchigten Stelle zu, die ſich angenehm und gelegen in den Fluß verlief. Dort brachte er ſeine ſchoͤne Beute aufs Trockne; aber kein Lebenshauch war in ihr zu ſpuͤren. Er war in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad der durchs Gebuͤſch lief, in die Augen leuch¬ tete. Er belud ſich aufs neue mit der theu¬ ren Laſt, er erblickte bald eine einſame Woh¬ nung und erreichte ſie. Dort fand er gute Leute, ein junges Ehepaar. Das Ungluͤck, die Noth ſprach ſich geſchwind aus. Was er nach einiger Beſinnung forderte, ward gelei¬ ſtet. Ein lichtes Feuer brannte; wollne De¬ cken wurden uͤber ein Lager gebreitet; Pelze,14 *212Felle und was Erwaͤrmendes vorraͤthig war, ſchnell herbeygetragen. Hier uͤberwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung. Nichts ward verſaͤumt, den ſchoͤnen halbſtar¬ ren nackten Koͤrper wieder ins Leben zu rufen. Es gelang. Sie ſchlug die Augen auf, ſie erblickte den Freund, umſchlang ſeinen Hals mit ihren himmliſchen Armen. So blieb ſie lange; ein Thraͤnenſtrom ſtuͤrzte aus ihren Augen und vollendete ihre Geneſung. Willſt du mich verlaſſen, rief ſie aus: da ich dich ſo wiederfinde? Niemals, rief er, niemals! und wußte nicht was er ſagte noch was er that. Nur ſchone dich, rief er hinzu: ſchone dich! denke an dich um deinet - und meinetwillen.

Sie dachte nun an ſich und bemerkte jetzt erſt den Zuſtand in dem ſie war. Sie konnte ſich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht ſchaͤmen; aber ſie entließ ihn gern, damit er fuͤr ſich ſorgen moͤge: denn noch war was ihn umgab, naß und triefend.

213

Die jungen Eheleute beredeten ſich: er bot dem Juͤngling, und ſie der Schoͤnen das Hochzeitkleid an, das noch vollſtaͤndig da hing, um ein Paar von Kopf zu Fuß und von innen heraus zu bekleiden. In kur¬ zer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht nur angezogen ſondern geputzt. Sie ſahen allerliebſt aus, ſtaunten einander an, als ſie zuſammentraten, und fielen ſich mit unmaͤßi¬ ger Leidenſchaft, und doch halb laͤchelnd uͤber die Vermummung, gewaltſam in die Arme. Die Kraft der Jugend und die Regſamkeit der Liebe ſtellten ſie in wenigen Augenblicken voͤllig wieder her, und es fehlte nur die Muſik um ſie zum Tanz aufzufordern.

Sich vom Waſſer zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreiſe in eine Wildniß, aus der Verzweiflung zum Ent¬ zuͤcken, aus der Gleichguͤltigkeit zur Neigung, zur Leidenſchaft gefunden zu haben, alles in214 einem Augenblick der Kopf waͤre nicht hinreichend das zu faſſen, er wuͤrde zerſprin¬ gen oder ſich verwirren. Hiebey muß das Herz das beſte thun, wenn eine ſolche Ue¬ berraſchung ertragen werden ſoll.

Ganz verloren eins ins andre, konnten ſie erſt nach einiger Zeit an die Angſt, an die Sorgen der Zuruͤckgelaſſenen denken, und faſt konnten ſie ſelbſt nicht ohne Angſt, ohne Sorge daran denken, wie ſie jenen wieder be¬ gegnen wollten. Sollen wir fliehen? ſollen wir uns verbergen? ſagte der Juͤngling. Wir wollen zuſammen bleiben, ſagte ſie, indem ſie an ſeinem Hals hing.

Der Landmann, der von ihnen die Ge¬ ſchichte des geſtrandeten Schiffs vernommen hatte, eilte ohne weiter zu fragen nach dem Ufer. Das Fahrzeug kam gluͤcklich einherge¬ ſchwommen; es war mit vieler Muͤhe losge¬215 bracht worden. Man fuhr aufs Ungewiſſe fort, in Hoffnung die Verlornen wieder zu finden. Als daher der Landmann mit Rufen und Winken die Schiffenden aufmerkſam machte, an eine Stelle lief, wo ein vortheil¬ hafter Landungsplatz ſich zeigte, und mit Win¬ ken und Rufen nicht aufhoͤrte, wandte ſich das Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schau¬ ſpiel ward es, da ſie landeten! Die Aeltern der beyden Verlobten draͤngten ſich zuerſt ans Ufer; den liebenden Braͤutigam hatte faſt die Beſinnung verlaſſen. Kaum hatten ſie ver¬ nommen, daß die lieben Kinder gerettet ſeyen, ſo traten dieſe in ihrer ſonderbaren Verklei¬ dung aus dem Buſch hervor. Man erkannte ſie nicht eher, als bis ſie ganz herangetreten waren. Wen ſeh 'ich? riefen die Muͤtter: was ſeh' ich? riefen die Vaͤter. Die Geret¬ teten warfen ſich vor ihnen nieder. Eure Kinder! riefen ſie aus: ein Paar. Verzeiht! rief das Maͤdchen. Gebt uns Euren Segen!216 rief der Juͤngling. Gebt uns Euren Segen! riefen beyde, da alle Welt ſtaunend ver¬ ſtummte. Euren Segen! ertoͤnte es zum drit¬ tenmal, und wer haͤtte den verſagen koͤnnen.

[217]

Elftes Kapitel.

Der Erzaͤhlende machte eine Pauſe, oder hatte vielmehr ſchon geendigt als er bemerken mußte, daß Charlotte hoͤchſt bewegt ſey; ja ſie ſtand auf und verließ mit einer ſtummen Entſchuldigung das Zimmer: denn die Ge¬ ſchichte war ihr bekannt. Dieſe Begebenheit hatte ſich mit dem Hauptmann und einer Nachbarinn wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie ſie der Englaͤnder erzaͤhlte, doch war ſie in den Hauptzuͤgen nicht entſtellt, nur im Einzelnen mehr ausgebildet und aus¬ geſchmuͤckt, wie es dergleichen Geſchichten zu gehen pflegt, wenn ſie erſt durch den Mund der Menge und ſodann durch die Phantaſie eines geiſt - und geſchmackreichen Erzaͤhlers218 durchgehen. Es bleibt zuletzt meiſt alles und nichts wie es war.

Ottilie folgte Charlotten, wie es die bey¬ den Fremden ſelbſt verlangten, und nun kam der Lord an die Reihe zu bemerken, daß vielleicht abermals ein Fehler begangen, etwas dem Hauſe Bekanntes oder gar Ver¬ wandtes erzaͤhlt worden. Wir muͤſſen uns huͤthen, fuhr er fort, daß wir nicht noch mehr Uebles ſtiften. Fuͤr das viele Gute und Ange¬ nehme, das wir hier genoſſen, ſcheinen wir den Bewohnerinnen wenig Gluͤck zu bringen; wir wollen uns auf eine ſchickliche Weiſe zu em¬ pfehlen ſuchen.

Ich muß geſtehen, verſetzte der Begleiter, daß mich hier noch etwas anderes feſthaͤlt, ohne deſſen Aufklaͤrung und naͤhere Kenntniß ich dieſes Haus nicht gern verlaſſen moͤchte. Sie waren geſtern, Mylord, als wir mit der tragbaren dunklen Kammer durch den219 Park zogen, viel zu beſchaͤftigt, ſich einen wahrhaft maleriſchen Standpunkt auszuwaͤh¬ len, als daß ſie haͤtten bemerken ſollen was nebenher vorging. Sie lenkten vom Haupt¬ wege ab, um zu einem wenig beſuchten Platze am See zu gelangen, der Ihnen ein reizendes Gegenuͤber anbot. Ottilie die uns begleitete, ſtand an zu folgen, und bat, ſich auf dem Kahne dorthin begeben zu duͤrfen. Ich ſetzte mich mit ihr ein und hatte meine Freude an der Gewandtheit der ſchoͤnen Schif¬ ferinn. Ich verſicherte ihr, daß ich ſeit der Schweiz, wo auch die reizendſten Maͤdchen die Stelle des Fuhrmanns vertreten, nicht ſo angenehm ſey uͤber die Wellen geſchaukelt worden; konnte mich aber nicht enthalten ſie zu fragen, warum ſie eigentlich abgelehnt jenen Seitenweg zu machen: denn wirklich war in ihrem Ausweichen eine Art von aͤngſt¬ licher Verlegenheit. Wenn Sie mich nicht auslachen wollen, verſetzte ſie freundlich; ſo kann ich Ihnen daruͤber wohl einige Aus¬220 kunft geben, obgleich ſelbſt fuͤr mich dabey ein Geheimniß obwaltet. Ich habe jenen Nebenweg niemals betreten, ohne daß mich ein ganz eigener Schauder uͤberfallen haͤtte, den ich ſonſt nirgends empfinde und den ich mir nicht zu erklaͤren weiß. Ich vermeide da¬ her lieber, mich einer ſolchen Empfindung auszuſetzen, um ſomehr als ſich gleich dar¬ auf ein Kopfweh an der linken Seite einſtellt, woran ich ſonſt auch manchmal leide. Wir landeten, Ottilie unterhielt ſich mit Ihnen, und ich unterſuchte indeß die Stelle, die ſie mir aus der Ferne deutlich angegeben hatte. Aber wie groß war meine Verwunderung, als ich eine ſehr deutliche Spur von Stein¬ kohlen entdeckte, die mich uͤberzeugt, man wuͤrde bey einigem Nachgraben vielleicht ein ergiebiges Lager in der Tiefe finden.

Verzeihen Sie, Mylord: ich ſehe Sie laͤcheln und weiß recht gut, daß Sie mir meine leidenſchaftliche Aufmerkſamkeit auf dieſe Dinge,221 an die Sie keinen Glauben haben, nur als weiſer Mann und als Freund nachſehen; aber es iſt mir unmoͤglich von hier zu ſcheiden, ohne das ſchoͤne Kind auch die Pendelſchwin¬ gungen verſuchen zu laſſen.

Es konnte niemals fehlen, wenn die Sache zur Sprache kam, daß der Lord nicht ſeine Gruͤnde dagegen abermals wiederholte, welche der Begleiter beſcheiden und geduldig aufnahm, aber doch zuletzt bey ſeiner Meinung, bey ſeinen Wuͤnſchen verharrte. Auch er gab wiederhohlt zu erkennen, daß man deswegen, weil ſolche Verſuche nicht Jedermann gelaͤngen, die Sache nicht aufgeben, ja vielmehr nur deſto ernſthafter und gruͤndlicher unterſuchen muͤßte; da ſich gewiß noch manche Bezuͤge und Verwandtſchaften unorganiſcher Weſen un¬ tereinander, organiſcher gegen ſie und abermals untereinander, offenbaren wuͤrden, die uns gegenwaͤrtig verborgen ſeyen.

222

Er hatte ſeinen Apparat von goldnen Rin¬ gen, Markaſiten und andern metalliſchen Sub¬ ſtanzen, den er in einem ſchoͤnen Kaͤſtchen im¬ mer bey ſich fuͤhrte, ſchon ausgebreitet und ließ nun Metalle, an Faͤden ſchwebend, uͤber liegende Metalle zum Verſuche nieder. Ich goͤnne Ihnen die Schadenfreude, Mylord, ſagte er dabey, die ich auf Ihrem Geſichte leſe, daß ſich bey mir und fuͤr mich nichts bewegen will. Meine Operation iſt aber auch nur ein Vorwand. Wenn die Damen zu¬ ruͤckkehren, ſollen ſie neugierig werden was wir wunderliches hier beginnen.

Die Frauenzimmer kamen zuruͤck. Char¬ lotte verſtand ſogleich was vorging. Ich habe manches von dieſen Dingen gehoͤrt, ſagte ſie, aber niemals eine Wirkung geſehen. Da Sie alles ſo huͤbſch bereit haben, laſſen Sie mich verſuchen, ob es mir nicht auch anſchlaͤgt.

223

Sie nahm den Faden in die Hand; und da es ihr Ernſt war, hielt ſie ihn ſtaͤt und ohne Gemuͤthsbewegung; allein auch nicht das mindeſte Schwanken war zu bemerken. Darauf ward Ottilie veranlaßt. Sie hielt den Pendel noch ruhiger, unbefangner, unbewußter uͤber die unterliegenden Metalle. Aber in dem Augenblicke ward das ſchwebende wie in einem entſchiedenen Wirbel fortgeriſſen und drehte ſich, je nachdem man die Unterlage wechſelte, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, jetzt in Kreiſen, jetzt in Ellipſen, oder nahm ſeinen Schwung in graden Linien, wie es der Begleiter nur erwarten konnte, ja uͤber alle ſeine Erwartung.

Der Lord ſelbſt ſtutzte eingermaßen, aber der andere konnte vor Luſt und Begierde gar nicht enden und bat immer um Wiederholung und Vermannigfaltigung der Verſuche. Ottilie war gefaͤllig genug ſich in ſein Verlangen zu finden, bis ſie ihn zuletzt freundlich erſuchte,224 er moͤge ſie entlaſſen, weil ihr Kopfweh ſich wieder einſtelle. Er daruͤber verwundert, ja entzuͤckt, verſicherte ihr mit Enthuſiasmus, daß er ſie von dieſem Uebel voͤllig heilen wolle, wenn ſie ſich ſeiner Kurart anvertraue. Man war einen Augenblick ungewiß; Charlotte aber die geſchwind begriff wovon die Rede ſey, lehnte den wohlgeſinnten Antrag ab, weil ſie nicht gemeynt war, in ihrer Umgebung etwas zuzulaſſen, wovor ſie immerfort eine ſtarke Apprehenſion gefuͤhlt hatte.

Die Fremden hatten ſich entfernt, und un¬ geachtet man von ihnen auf eine ſonderbare Weiſe beruͤhrt worden war, doch den Wunſch zuruͤckgelaſſen, daß man ſie irgendwo wieder antreffen moͤchte. Charlotte benutzte nunmehr die ſchoͤnen Tage, um in der Nachbarſchaft ihre Gegenbeſuche zu enden, womit ſie kaum fertig werden konnte, indem ſich die ganze Landſchaft umher, einige wahrhaft theilneh¬ mend, andre blos der Gewohnheit wegen,225 bisher fleißig um ſie bekuͤmmert hatten. Zu Hauſe belebte ſie der Anblick des Kindes; es war gewiß jeder Liebe, jeder Sorgfalt werth. Man ſah in ihm ein wunderbares, ja ein Wunderkind, hoͤchſt erfreulich dem Anblick, an Groͤße, Ebenmaaß, Staͤrke und Geſundheit, und was noch mehr in Verwun¬ derung ſetzte, war jene doppelte Aehnlichkeit die ſich immer mehr entwickelte. Den Geſichts¬ zuͤgen und der ganzen Form nach glich das Kind immer mehr dem Hauptmann, die Au¬ gen ließen ſich immer weniger von Ottiliens Augen unterſcheiden.

Durch dieſe ſonderbare Verwandtſchaft und vielleicht noch mehr durch das ſchoͤne Gefuͤhl der Frauen geleitet, welche das Kind eines geliebten Mannes auch von einer Andern mit zaͤrtlicher Neigung umfangen, ward Otti¬ lie dem heranwachſenden Geſchoͤpf ſo viel als eine Mutter, oder vielmehr eine andre Art von Mutter. Entfernte ſich Charlotte, ſoII. 15226blieb Ottilie mit dem Kinde und der Waͤrte¬ rinn allein. Nanny hatte ſich ſeit einiger Zeit, eiferſuͤchtig auf den Knaben, dem ihre Herrinn alle Neigung zuzuwenden ſchien, trotzig von ihr entfernt und war zu ihren Aeltern zuruͤckgekehrt. Ottilie fuhr fort, das Kind in die freye Luft zu tragen, und gewoͤhnte ſich an immer weitere Spazirgaͤnge. Sie hatte das Milchflaͤſchchen bey ſich, um dem Kinde, wenn es noͤthig, ſeine Nahrung zu reichen. Selten unterließ ſie dabey ein Buch mitzunehmen, und ſo bildete ſie, das Kind auf dem Arm, leſend und wandelnd, eine gar anmuthige Penſeroſa.

[227]

Zwoͤlftes Kapitel.

Der Hauptzweck des Feldzugs war er¬ reicht, und Eduard mit Ehrenzeichen ge¬ ſchmuͤckt, ruͤhmlich entlaſſen. Er begab ſich ſogleich wieder auf jenes kleine Gut, wo er genaue Nachrichten von den Seinigen fand, die er, ohne daß ſie es bemerkten und wu߬ ten, ſcharf hatte beobachten laſſen. Sein ſtiller Aufenthalt blickte ihm aufs freundlichſte entgegen: denn man hatte indeſſen nach ſeiner Anordnung manches eingerichtet, gebeſſert und gefoͤrdert, ſo daß die Anlagen und Umgebun¬ gen, was ihnen an Weite und Breite fehlte, durch das Innere und zunaͤchſt Genießbare erſetzten.

15 *228

Eduard, durch einen raſcheren Lebensgang an entſchiedenere Schritte gewoͤhnt, nahm ſich nunmehr vor dasjenige auszufuͤhren, was er lange genug zu uͤberdenken Zeit gehabt hatte. Vor allen Dingen berief er den Major. Die Freude des Wiederſehens war groß. Jugend¬ freundſchaften, wie Blutsverwandtſchaften, ha¬ ben den bedeutenden Vortheil, daß ihnen Ir¬ rungen und Mißverſtaͤndniſſe, von welcher Art ſie auch ſeyen, niemals von Grund aus ſchaden, und die alten Verhaͤltniſſe ſich nach einiger Zeit wieder herſtellen.

Zum frohen Empfang erkundigte ſich Eduard nach dem Zuſtande des Freundes, und vernahm, wie vollkommen nach ſeinen Wuͤnſchen ihn das Gluͤck beguͤnſtigt habe. Halb ſcherzend vertraulich fragte Eduard ſo¬ dann, ob nicht auch eine ſchoͤne Verbindung im Werke ſey. Der Freund verneinte es, mit bedeutendem Ernſt.

229

Ich kann und darf nicht hinterhaltig ſeyn, fuhr Eduard fort: ich muß dir meine Geſin¬ nungen und Vorſaͤtze ſogleich entdecken. Du kennſt meine Leidenſchaft fuͤr Ottilien und haſt laͤngſt begriffen, daß ſie es iſt, die mich in dieſen Feldzug geſtuͤrzt hat. Ich laͤugne nicht, daß ich gewuͤnſcht hatte, ein Leben los zu werden, das mir ohne ſie nichts weiter nuͤtze war; allein zugleich muß ich dir geſtehen, daß ich es nicht uͤber mich gewinnen konnte, vollkommen zu verzweifeln. Das Gluͤck mit ihr war ſo ſchoͤn, ſo wuͤnſchenswerth, daß es mir unmoͤglich blieb, voͤllig Verzicht darauf zu thun. So manche troͤſtliche Ahndung, ſo manches heitere Zeichen hatte mich in dem Glauben, in dem Wahn beſtaͤrkt, Ottilie koͤnne die meine werden. Ein Glas mit unſerm Namenszug bezeichnet, bey der Grundſteinle¬ gung in die Luͤfte geworfen, ging nicht zu Truͤmmern; es ward aufgefangen und iſt wieder in meinen Haͤnden. So will ich mich denn ſelbſt, rief ich mir zu, als ich an dieſem230 einſamen Orte ſo viel zweifelhafte Stunden verlebt hatte: mich ſelbſt will ich an die Stelle des Glaſes zum Zeichen machen, ob unſre Verbindung moͤglich ſey oder nicht. Ich gehe hin und ſuche den Tod, nicht als ein Raſender, ſondern als einer der zu leben hofft. Ottilie ſoll der Preis ſeyn, um den ich kaͤmpfe; ſie ſoll es ſeyn, die ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder Ver¬ ſchanzung, in jeder belagerten Feſtung zu ge¬ winnen, zu erobern hoffe. Ich will Wunder thun, mit dem Wunſche verſchont zu bleiben, im Sinne Ottilien zu gewinnen, nicht ſie zu verlieren. Dieſe Gefuͤhle haben mich geleitet, ſie haben mir durch alle Gefahren beygeſtan¬ den; aber nun finde ich mich auch wie einen der zu ſeinem Ziele gelangt iſt, der alle Hin¬ derniſſe uͤberwunden hat, dem nun nichts mehr im Wege ſteht. Ottilie iſt mein, und was noch zwiſchen dieſem Gedanken und der Ausfuͤhrung liegt, kann ich nur fuͤr nichts bedeutend anſehen.

231

Du loͤſcheſt, verſetzte der Major, mit wenig Zuͤgen alles aus, was man dir entge¬ genſetzen koͤnnte und ſollte; und doch muß es wiederhohlt werden. Das Verhaͤltniß zu dei¬ ner Frau in ſeinem ganzen Werthe dir zuruͤck¬ zurufen, uͤberlaſſe ich dir ſelbſt; aber du biſt es ihr, du biſt es dir ſchuldig, dich hieruͤber nicht zu verdunkeln. Wie kann ich aber nur gedenken, daß Euch ein Sohn gegeben iſt, ohne zugleich auszuſprechen, daß ihr einander auf immer angehoͤrt, daß ihr um dieſes We¬ ſens willen ſchuldig ſeyd, vereint zu leben, damit ihr vereint fuͤr ſeine Erziehung und fuͤr ſein kuͤnftiges Wohl ſorgen moͤget.

Es iſt bloß ein Duͤnkel der Aeltern, ver¬ ſetzte Eduard, wenn ſie ſich einbilden, daß ihr Daſeyn fuͤr die Kinder ſo noͤthig ſey. Alles was lebt findet Nahrung und Beyhuͤlfe, und wenn der Sohn, nach dem fruͤhen Tode des Vaters, keine ſo bequeme, ſo beguͤnſtigte Jugend hat; ſo gewinnt er vielleicht eben des¬232 wegen an ſchnellerer Bildung fuͤr die Welt, durch zeitiges Anerkennen, daß er ſich in andere ſchicken muß; was wir denn doch fruͤher oder ſpaͤter alle lernen muͤſſen. Und hievon iſt ja die Rede gar nicht: wir ſind reich genug, um mehrere Kinder zu ver¬ ſorgen, und es iſt keineswegs Pflicht noch Wohlthat, auf Ein Haupt ſo viele Guͤter zu haͤufen.

Als der Major mit einigen Zuͤgen Char¬ lottens Werth und Eduards lange beſtande¬ nes Verhaͤltniß zu ihr anzudeuten gedachte, fiel ihm Eduard haſtig in die Rede: Wir ha¬ ben eine Thorheit begangen, die ich nur all¬ zuwohl einſehe. Wer in einem gewiſſen Al¬ ter fruͤhere Jugendwuͤnſche und Hoffnungen realiſiren will, betriegt ſich immer: denn je¬ des Jahrzehend des Menſchen hat ſein eige¬ nes Gluͤck, ſeine eigenen Hoffnungen und Ausſichten. Wehe dem Menſchen der vor¬ waͤrts oder ruͤckwaͤrts zu greifen, durch Um¬233 ſtaͤnde oder durch Wahn veranlaßt wird! Wir haben eine Thorheit begangen; ſoll ſie es denn fuͤrs ganze Leben ſeyn? Sollen wir uns, aus irgend einer Art von Bedenklich¬ keit, dasjenige verſagen, was uns die Sitten der Zeit nicht abſprechen? In wie vielen Dingen nimmt der Menſch ſeinen Vorſatz, ſeine That zuruͤck, und hier gerade ſollte es nicht geſchehen, wo vom Ganzen und nicht vom Einzelnen, wo nicht von dieſer oder je¬ ner Bedingung des Lebens, wo vom ganzen Complex des Lebens die Rede iſt!

Der Major verfehlte nicht auf eine eben ſo geſchickte als nachdruͤckliche Weiſe Eduar¬ den die verſchiedenen Bezuͤge zu ſeiner Ge¬ mahlinn, zu den Familien, zu der Welt, zu ſeinen Beſitzungen vorzuſtellen; aber es gelang ihm nicht, irgend eine Theilnahme zu erregen.

Alles dieſes, mein Freund, erwiederte Eduard, iſt mir vor der Seele vorbeygegangen,234 mitten im Gewuͤhl der Schlacht, wenn die Erde vom anhaltenden Donner bebte, wenn die Ku¬ geln ſauſten und pfiffen, rechts und links die Ge¬ faͤhrten niederfielen, mein Pferd getroffen, mein Hut durchloͤchert ward; es hat mir vorgeſchwebt beym ſtillen naͤchtlichen Feuer unter dem ge¬ ſtirnten Gewoͤlbe des Himmels. Dann tra¬ ten mir alle meine Verbindungen vor die Seele; ich habe ſie durchgedacht, durchge¬ fuͤhlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich abgefunden, zu wiederholten Malen, und nun fuͤr immer.

In ſolchen Augenblicken, wie kann ich dir's verſchweigen, warſt auch du mir gegen¬ waͤrtig, auch du gehoͤrteſt in meinen Kreis; und gehoͤren wir denn nicht ſchon ſo lange zueinander? Wenn ich dir etwas ſchuldig ge¬ worden, ſo komme ich jetzt in den Fall dir es mit Zinſen abzutragen; wenn du mir je etwas ſchuldig geworden, ſo ſiehſt du dich nun im Stande, mir es zu vergelten. Ich weiß235 du liebſt Charlotten, und ſie verdient es; ich weiß du biſt ihr nicht gleichguͤltig, und war¬ um ſollte ſie deinen Werth nicht erkennen! Nimm ſie von meiner Hand! fuͤhre mir Ot¬ tilien zu! und wir ſind die gluͤcklichſten Men¬ ſchen auf der Erde.

Eben weil du mich mit ſo hohen Gaben be¬ ſtechen willſt, verſetzte der Major, muß ich deſto vorſichtiger, deſto ſtrenger ſeyn. Anſtatt daß dieſer Vorſchlag, den ich ſtill verehre, die Sache erleichtern moͤchte, erſchwert er ſie viel¬ mehr. Es iſt, wie von dir, nun auch von mir die Rede, und ſo wie von dem Schickſal, ſo auch von dem guten Namen, von der Ehre zweyer Maͤnner, die bis jetzt unbeſcholten, durch dieſe wunderliche Handlung, wenn wir ſie auch nicht anders nennen wollen, in Gefahr kom¬ men, vor der Welt in einem hoͤchſt ſeltſamen Lichte zu erſcheinen.

Eben daß wir unbeſcholten ſind, verſetzte Eduard, giebt uns das Recht uns auch ein¬236 mal ſchelten zu laſſen. Wer ſich ſein ganzes Leben als einen zuverlaͤſſigen Mann bewie¬ ſen, der macht eine Handlung zuverlaͤſſig, die bey andern zweydeutig erſcheinen wuͤrde. Was mich betrifft, ich fuͤhle mich durch die letzten Pruͤfungen die ich mir auferlegt, durch die ſchwierigen gefahrvollen Thaten die ich fuͤr andere gethan, berechtigt auch etwas fuͤr mich zu thun. Was dich und Charlotten be¬ trifft, ſo ſey es der Zukunft anheim gegeben; mich aber wirſt du, wird Niemand von mei¬ nem Vorſatze zuruͤckhalten. Will man mir die Hand bieten, ſo bin ich auch wieder zu allem erboͤtig; will man mich mir ſelbſt uͤber¬ laſſen, oder mir wohl gar entgegen ſeyn: ſo muß ein Extrem entſtehen, es werde auch wie es wolle.

Der Major hielt es fuͤr ſeine Pflicht, dem Vorſatz Eduards ſo lange als moͤglich Widerſtand zu leiſten, und er bediente ſich nun gegen ſeinen Freund einer klugen Wen¬237 dung, indem er nachzugeben ſchien und nur die Form, den Geſchaͤftsgang zur Sprache brachte, durch welchen man dieſe Trennung, dieſe Verbindungen erreichen ſollte. Da trat denn ſo manches Unerfreuliche, Beſchwerliche, Unſchickliche hervor, daß ſich Eduard in die ſchlimmſte Laune verſetzt fuͤhlte.

Ich ſehe wohl, rief dieſer endlich, nicht allein von Feinden, ſondern auch von Freun¬ den muß was man wuͤnſcht, erſtuͤrmt werden. Das was ich will, was mir unentbehrlich iſt, halte ich feſt im Auge; ich werde es ergrei¬ fen und gewiß bald und behende. Derglei¬ chen Verhaͤltniſſe, weiß ich wohl, heben ſich nicht auf und bilden ſich nicht, ohne daß manches falle was ſteht, ohne daß manches weiche was zu beharren Luſt hat. Durch Ueberlegung wird ſo etwas nicht geendet; vor dem Verſtande ſind alle Rechte gleich, und auf die ſteigende Wagſchale laͤßt ſich immer wieder ein Gegengewicht legen. Entſchließe238 dich alſo, mein Freund, fuͤr mich, fuͤr dich zu handeln, fuͤr mich, fuͤr dich dieſe Zuſtaͤnde zu entwirren, aufzuloͤſen, zu verknuͤpfen. Laß dich durch keine Betrachtungen abhalten; wir haben die Welt ohnehin ſchon von uns reden machen, ſie wird noch einmal von uns reden, uns ſodann, wie alles uͤbrige was aufhoͤrt neu zu ſeyn, vergeſſen und uns gewaͤhren laſſen wie wir koͤnnen, ohne weitern Theil an uns zu nehmen.

Der Major hatte keinen andern Ausweg und mußte endlich zugeben, daß Eduard ein fuͤr allemal die Sache als etwas Bekanntes und Vorausgeſetztes behandelte, daß er wie alles anzuſtellen ſey, im Einzelnen durchſprach und ſich uͤber die Zukunft auf das heiterſte, ſogar in Scherzen erging.

Dann wieder ernſthaft und nachdenklich fuhr er fort: Wollten wir uns der Hoffnung, der Erwartung uͤberlaſſen, daß alles ſich von239 ſelbſt wieder finden, daß der Zufall uns lei¬ ten und beguͤnſtigen ſolle; ſo waͤre dieß ein ſtraͤflicher Selbſtbetrug. Auf dieſe Weiſe koͤn¬ nen wir uns unmoͤglich retten, unſre allſeitige Ruhe nicht wiederherſtellen; und wie ſollte ich mich troͤſten koͤnnen, da ich unſchuldig die Schuld an allem bin! Durch meine Zudring¬ lichkeit habe ich Charlotten vermocht, dich ins Haus zu nehmen, und auch Ottilie iſt nur in Gefolg von dieſer Veraͤnderung bey uns ein¬ getreten. Wir ſind nicht mehr Herr uͤber das was daraus entſprungen iſt, aber wir ſind Herr, es unſchaͤdlich zu machen, die Verhaͤlt¬ niſſe zu unſerm Gluͤcke zu leiten. Magſt du die Augen von den ſchoͤnen und freundlichen Ausſichten abwenden, die ich uns eroͤffne, magſt du mir, magſt du uns allen ein trauriges Ent¬ ſagen gebieten, inſofern du dir's moͤglich denkſt, inſofern es moͤglich waͤre: iſt denn nicht auch alsdann, wenn wir uns vornehmen in die alten Zuſtaͤnde zuruͤckzukehren, manches Un¬ ſchickliche, Unbequeme, Verdrießliche zu uͤber¬240 tragen, ohne daß irgend etwas Gutes, etwas Heiteres daraus entſpraͤnge? Wuͤrde der gluͤckli¬ che Zuſtand in dem du dich befindeſt, dir wohl Freude machen, wenn du gehindert waͤrſt, mich zu beſuchen, mit mir zu leben? Und nach dem was vorgegangen iſt, wuͤrde es doch immer peinlich ſeyn. Charlotte und ich wuͤrden mit allem unſerm Vermoͤgen uns nur in einer traurigen Lage befinden. Und wenn du mit andern Weltmenſchen glauben magſt, daß Jahre, daß Entfernung ſolche Empfin¬ dungen abſtumpfen, ſo tief eingegrabene Zuͤge ausloͤſchen; ſo iſt ja eben von dieſen Jahren die Rede, die man nicht in Schmerz und Entbehren ſondern in Freude und Behagen zubringen will. Und nun zuletzt noch das Wichtigſte auszuſprechen: wenn wir auch, un¬ ſerm aͤußern und innern Zuſtande nach, das allenfalls abwarten koͤnnten, was ſoll aus Ottilien werden, die unſer Haus verlaſſen, in der Geſellſchaft unſerer Vorſorge entbehren und ſich in der verruchten kalten Welt jaͤm¬241 merlich herumdruͤcken muͤßte! Male mir einen Zuſtand worin Ottilie, ohne mich, ohne uns, gluͤcklich ſeyn koͤnnte, dann ſollſt du ein Argument ausgeſprochen haben, das ſtaͤrker iſt als jedes andre, das ich, wenn ich's auch nicht zugeben, mich ihm nicht ergeben kann, dennoch recht gern aufs neue in Betrachtung und Ueberlegung ziehen will.

Dieſe Aufgabe war ſo leicht nicht zu loͤ¬ ſen, wenigſtens fiel dem Freunde hierauf keine hinlaͤngliche Antwort ein, und es blieb ihm nichts uͤbrig, als wiederhohlt einzuſchaͤrfen, wie wichtig, wie bedenklich und in manchem Sinne gefaͤhrlich das ganze Unternehmen ſey, und daß man wenigſtens wie es anzugrei¬ fen waͤre, auf das ernſtlichſte zu bedenken habe. Eduard ließ ſich's gefallen, doch nur unter der Bedingung, daß ihn der Freund nicht eher verlaſſen wolle, als bis ſie uͤber die Sache voͤllig einig geworden, und die erſten Schritte gethan ſeyen.

II. 16
[242]

Dreyzehntes Kapitel.

Voͤllig fremde und gegen einander gleich¬ guͤltige Menſchen, wenn ſie eine Zeit lang zuſammen leben, kehren ihr Inneres wechſel¬ ſeitig heraus, und es muß eine gewiſſe Ver¬ traulichkeit entſtehen. Um ſo mehr laͤßt ſich erwarten, daß unſern beyden Freunden, in¬ dem ſie wieder neben einander wohnten, taͤg¬ lich und ſtuͤndlich zuſammen umgingen, ge¬ genſeitig nichts verborgen blieb. Sie wieder¬ hohlten das Andenken ihrer fruͤheren Zuſtaͤn¬ de, und der Major verhehlte nicht, daß Char¬ lotte Eduarden, als er von Reiſen zuruͤckge¬ kommen, Ottilien zugedacht, daß ſie ihm das ſchoͤne Kind in der Folge zu vermaͤhlen ge¬ meynt habe. Eduard bis zur Verwirrung243 entzuͤckt uͤber dieſe Entdeckung, ſprach ohne Ruͤckhalt von der gegenſeitigen Neigung Char¬ lottens und des Majors, die er, weil es ihm gerade bequem und guͤnſtig war, mit lebhaf¬ ten Farben ausmalte.

Ganz laͤugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingeſtehen; aber Eduard befeſtigte, beſtimmte ſich nur mehr. Er dachte ſich al¬ les nicht als moͤglich, ſondern als ſchon ge¬ ſchehen. Alle Theile brauchten nur in das zu willigen was ſie wuͤnſchten; eine Schei¬ dung war gewiß zu erlangen; eine baldige Verbindung ſollte folgen, und Eduard wollte mit Ottilien reiſen.

Unter allem was die Einbildungskraft ſich Angenehmes ausmalt, iſt vielleicht nichts Rei¬ zenderes, als wenn Liebende, wenn junge Gatten, ihr neues friſches Verhaͤltniß in einer neuen friſchen Welt zu genießen, und einen dauernden Bund an ſo viel wechſelnden Zu¬16 *244ſtaͤnden zu pruͤfen und zu beſtaͤtigen hoffen. Der Major und Charlotte ſollten unterdeſſen unbeſchraͤnkte Vollmacht haben, alles was ſich auf Beſitz, Vermoͤgen und die irdiſchen wuͤn¬ ſchenswerthen Einrichtungen bezieht, dergeſtalt zu ordnen und nach Recht und Billigkeit ein¬ zuleiten, daß alle Theile zufrieden ſeyn koͤnn¬ ten. Worauf jedoch Eduard am allermeiſten zu fußen, wovon er ſich den groͤßten Vortheil zu verſprechen ſchien, war dieß: Da das Kind bey der Mutter bleiben ſollte, ſo wuͤrde der Major den Knaben erziehen, ihn nach ſeinen Einſichten leiten, ſeine Faͤhigkeiten entwickeln koͤnnen. Nicht umſonſt hatte man ihm dann in der Taufe ihren beyderſeitigen Namen Otto gegeben.

Das alles war bey Eduarden ſo fertig geworden, daß er keinen Tag laͤnger anſtehen mochte, der Ausfuͤhrung naͤher zu treten. Sie gelangten auf ihrem Wege nach dem Gute zu einer kleinen Stadt, in der Eduard ein245 Haus beſaß, wo er verweilen und die Ruͤck¬ kunft des Majors abwarten wollte. Doch konnte er ſich nicht uͤberwinden, daſelbſt ſo¬ gleich abzuſteigen, und begleitete den Freund noch durch den Ort. Sie waren beyde zu Pferde, und in bedeutendem Geſpraͤch ver¬ wickelt ritten ſie zuſammen weiter.

Auf einmal erblickten ſie in der Ferne das neue Haus auf der Hoͤhe, deſſen rothe Zie¬ geln ſie zum erſtenmal blinken ſahn. Eduar¬ den ergreift eine unwiderſtehliche Sehnſucht; es ſoll noch dieſen Abend alles abgethan ſeyn. In einem ganz nahen Dorfe will er ſich verborgen halten; der Major ſoll die Sache Charlotten dringend vorſtellen, ihre Vorſicht uͤberraſchen und durch den unerwar¬ teten Antrag ſie zu freyer Eroͤffnung ihrer Geſinnung noͤthigen. Denn Eduard, der ſeine Wuͤnſche auf ſie uͤbergetragen hatte, glaubte nicht anders als daß er ihren entſchiedenen Wuͤnſchen entgegen komme, und hoffte eine246 ſo ſchnelle Einwilligung von ihr, weil er kei¬ nen andern Willen haben konnte.

Er ſah den gluͤcklichen Ausgang freudig vor Augen, und damit dieſer dem Lauernden ſchnell verkuͤndigt wuͤrde, ſollten einige Kano¬ nenſchlaͤge losgebrannt werden, und waͤre es Nacht geworden, einige Racketen ſteigen.

Der Major ritt nach dem Schloſſe zu. Er fand Charlotten nicht, ſondern erfuhr viel¬ mehr, daß ſie gegenwaͤrtig oben auf dem neuen Gebaͤude wohne, jetzt aber einen Be¬ ſuch in der Nachbarſchaft ablege, von welchem ſie heute wahrſcheinlich nicht ſobald nach Hau¬ ſe komme. Er ging in das Wirthshaus zuruͤck, wohin er ſein Pferd geſtellt hatte.

Eduard indeſſen von unuͤberwindlicher Ungeduld getrieben, ſchlich aus ſeinem Hinter¬ halte durch einſame Pfade, nur Jaͤgern und Fiſchern bekannt, nach ſeinem Park, und fand247 ſich gegen Abend im Gebuͤſch in der Nachbar¬ ſchaft des Sees, deſſen Spiegel er zum er¬ ſtenmal vollkommen und rein erblickte.

Ottilie hatte dieſen Nachmittag einen Spazirgang an den See gemacht. Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Ge¬ wohnheit. So gelangte ſie zu den Eichen bey der Ueberfahrt. Der Knabe war einge¬ ſchlafen; ſie ſetzte ſich, legte ihn neben ſich nieder und fuhr fort zu leſen. Das Buch war eins von denen die ein zartes Gemuͤth an ſich ziehen und nicht wieder los laſſen. Sie vergaß Zeit und Stunde, und dachte nicht, daß ſie zu Lande noch einen weiten Ruͤckweg nach dem neuen Gebaͤude habe; aber ſie ſaß verſenkt in ihr Buch, in ſich ſelbſt, ſo liebenswuͤrdig anzuſehen, daß die Baͤume, die Straͤuche rings umher haͤtten belebt, mit Augen begabt ſeyn ſollen, um ſie zu bewundern und ſich an ihr zu erfreuen. Und eben fiel ein roͤthliches Streiflicht der ſinkenden Sonne248 hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter.

Eduard, dem es bisher gelungen war, un¬ bemerkt ſo weit vorzudringen, der ſeinen Park leer, die Gegend einſam fand, wagte ſich immer weiter. Endlich bricht er durch das Gebuͤſch bey den Eichen; er ſieht Ottilien, ſie ihn; er fliegt auf ſie zu und liegt zu ihren Fuͤßen. Nach einer langen ſtummen Pauſe, in der ſich beyde zu faſſen ſuchen, erklaͤrt er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen. Er habe den Major an Charlotten abgeſendet, ihr gemeinſames Schick¬ ſal werde vielleicht in dieſem Augenblick ent¬ ſchieden. Nie habe er an ihrer Liebe gezwei¬ felt, ſie gewiß auch nie an der ſeinigen. Er bitte ſie um ihre Einwilligung. Sie zauder¬ te, er beſchwur ſie; er wollte ſeine alten Rech¬ te geltend machen und ſie in ſeine Arme ſchließen; ſie deutete auf das Kind hin.

249

Eduard erblickt es und ſtaunt. Großer Gott! ruft er aus: wenn ich Urſache haͤtte an meiner Frau, an meinem Freunde zu zwei¬ feln, ſo wuͤrde dieſe Geſtalt fuͤrchterlich gegen ſie zeugen. Iſt dieß nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie geſehen.

Nicht doch! verſetzte Ottilie: alle Welt ſagt, es gleiche mir. Waͤr 'es moͤglich, ver¬ ſetzte Eduard? und in dem Augenblick ſchlug das Kind die Augen auf, zwey große, ſchwar¬ ze, durchdringende Augen, tief und freund¬ lich. Der Knabe ſah die Welt ſchon ſo ver¬ ſtaͤndig an; er ſchien die beyden zu kennen, die vor ihm ſtanden. Eduard warf ſich bey dem Kinde nieder, er kniete zweymal vor Ot¬ tilien. Du biſts! rief er aus: deine Augen ſind's. Ach! aber laß mich nur in die dei¬ nigen ſchaun. Laß mich einen Schleyer wer¬ fen uͤber jene unſelige Stunde, die dieſem Weſen das Daſeyn gab. Soll ich deine reine250 Seele mit dem ungluͤcklichen Gedanken er¬ ſchrecken, daß Mann und Frau entfremdet ſich einander ans Herz druͤcken und einen ge¬ ſetzlichen Bund durch lebhafte Wuͤnſche ent¬ heiligen koͤnnen! Oder ja, da wir einmal ſo weit ſind, da mein Verhaͤltniß zu Charlotten getrennt werden muß, da du die meinige ſeyn wirſt, warum ſoll ich es nicht ſagen! Warum ſoll ich das harte Wort nicht ausſprechen: dieß Kind iſt aus einem doppelten Ehbruch erzeugt! es trennt mich von meiner Gattinn und meine Gattinn von mir, wie es uns haͤt¬ te verbinden ſollen. Mag es denn gegen mich zeugen, moͤgen dieſe herrlichen Augen den deinigen ſagen, daß ich in den Armen einer andern dir gehoͤrte; moͤgeſt du fuͤhlen, Ottilie, recht fuͤhlen, daß ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen ab¬ buͤßen kann!

Horch! rief er aus, indem er aufſprang und einen Schuß zu hoͤren glaubte, als das251 Zeichen das der Major geben ſollte. Es war ein Jaͤger, der im benachbarten Gebirg ge¬ ſchoſſen hatte. Es erfolgte nichts weiter; Eduard war ungeduldig.

Nun erſt ſah Ottilie, daß die Sonne ſich hinter die Berge geſenkt hatte. Noch zuletzt blinkte ſie von den Fenſtern des obern Ge¬ baͤudes zuruͤck. Entferne dich, Eduard! rief Ottilie. So lange haben wir entbehrt, ſo lange geduldet. Bedenke was wir beyde Charlotten ſchuldig ſind. Sie muß unſer Schickſal entſcheiden, laß uns ihr nicht vor¬ greifen. Ich bin die Deine, wenn ſie es vergoͤnnt; wo nicht, ſo muß ich dir entſagen. Da du die Entſcheidung ſo nah glaubſt, ſo laß uns erwarten. Geh in das Dorf zuruͤck, wo der Major dich vermuthet. Wie manches kann vorkommen, das eine Erklaͤrung fordert. Iſt es wahrſcheinlich, daß ein roher Kano¬ nenſchlag dir den Erfolg ſeiner Unterhandlun¬ gen verkuͤnde? Vielleicht ſucht er dich auf252 in dieſem Augenblick. Er hat Charlotten nicht getroffen, das weiß ich: er kann ihr entge¬ gen gegangen ſeyn, denn man wußte wo ſie hin war. Wie vielerley Faͤlle ſind moͤglich! Laß mich! Jetzt muß ſie kommen. Sie er¬ wartet mich mit dem Kinde dort oben.

Ottilie ſprach in Haſt. Sie rief ſich alle Moͤglichkeiten zuſammen. Sie war gluͤcklich in Eduards Naͤhe und fuͤhlte, daß ſie ihn jetzt entfernen muͤſſe. Ich bitte, ich beſchwoͤre dich, Geliebter! rief ſie aus: Kehre zuruͤck und erwarte den Major! Ich gehorche deinen Befehlen, rief Eduard, indem er ſie erſt lei¬ denſchaftlich anblickte und ſie dann feſt in ſei¬ ne Arme ſchloß. Sie umſchlang ihn mit den ihrigen und druͤckte ihn auf das zaͤrtlichſte an ihre Bruſt. Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel faͤllt, uͤber ihre Haͤupter weg. Sie waͤhnten, ſie glaubten einander anzugehoͤren; ſie wechſelten zum er¬253 ſtenmal entſchiedene, freye Kuͤſſe und trennten ſich gewaltſam und ſchmerzlich.

Die Sonne war untergegangen und es daͤmmerte ſchon und duftete feucht um den See. Ottilie ſtand verwirrt und bewegt; ſie ſah nach dem Berghauſe hinuͤber und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu ſehen. Der Umweg war groß am See hin; ſie kannte Charlottens ungeduldiges Harren nach dem Kinde. Die Platanen ſieht ſie ge¬ gen ſich uͤber, nur ein Waſſerraum trennt ſie von dem Pfade, der ſogleich zu dem Gebaͤude hinauffuͤhrt. Mit Gedanken iſt ſie ſchon druͤ¬ ben, wie mit den Augen. Die Bedenklich¬ keit, mit dem Kinde ſich aufs Waſſer zu wa¬ gen, verſchwindet in dieſem Drange. Sie eilt nach dem Kahn, ſie fuͤhlt nicht daß ihr Herz pocht, daß ihre Fuͤße ſchwanken, daß ihr die Sinne zu vergehen drohn.

Sie ſpringt in den Kahn, ergreift das Ruder und ſtoͤßt ab. Sie muß Gewalt brau¬254 chen, ſie wiederhohlt den Stoß, der Kahn ſchwankt und gleitet eine Strecke Seewaͤrts. Auf dem linken Arme das Kind, in der lin¬ ken Hand das Buch, in der rechten das Ru¬ der, ſchwankt auch ſie und faͤllt in den Kahn. Das Ruder entfaͤhrt ihr, nach der einen Seite, und wie ſie ſich erhalten will, Kind und Buch, nach der andern, alles ins Waſ¬ ſer. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert ſie ſelbſt am Aufſtehen. Die freye rechte Hand iſt nicht hinreichend ſich umzuwenden, ſich aufzu¬ richten; endlich gelingt's, ſie zieht das Kind aus dem Waſſer, aber ſeine Augen ſind ge¬ ſchloſſen, es hat aufgehoͤrt zu athmen.

In dem Augenblicke kehrt ihre ganze Be¬ ſonnenheit zuruͤck, aber um deſto groͤßer iſt ihr Schmerz. Der Kahn treibt faſt in der Mitte des Sees, das Ruder ſchwimmt fern, ſie erblickt Niemanden am Ufer und auch was haͤtte es ihr geholfen, Jemanden zu ſehen! 255Von allem abgeſondert ſchwebt ſie auf dem treuloſen unzugaͤnglichen Elemente.

Sie ſucht Huͤlfe bey ſich ſelbſt. So oft hatte ſie von Rettung der Ertrunkenen gehoͤrt. Noch am Abend ihres Geburtstags hatte ſie es erlebt. Sie entkleidet das Kind, und trocknet's mit ihrem Muſſelingewand. Sie reißt ihren Buſen auf und zeigt ihn zum er¬ ſtenmal dem freyen Himmel; zum erſtenmal druͤckt ſie ein Lebendiges an ihre reine nackte Bruſt, ach! und kein Lebendiges. Die kalten Glieder des ungluͤcklichen Geſchoͤpfs verkaͤlten ihren Buſen bis ins innerſte Herz. Unendliche Thraͤnen entquellen ihren Augen und ertheilen der Oberflaͤche des Erſtarrten einen Schein von Waͤrm 'und Leben. Sie laͤßt nicht nach, ſie uͤberhuͤllt es mit ihrem Shawl, und durch Streicheln, Andruͤcken, Anhauchen, Kuͤſſen, Thraͤnen glaubt ſie jene Huͤlfsmittel zu er¬ ſetzen, die ihr in dieſer Abgeſchnittenheit ver¬ ſagt ſind.

256

Alles vergebens! Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung ſteht der Kahn auf der Waſſerflaͤche; aber auch hier laͤßt ihr ſchoͤnes Gemuͤth ſie nicht huͤlflos. Sie wendet ſich nach oben. Knieend ſinkt ſie in dem Kahne nieder und hebt das erſtarrte Kind mit beyden Armen uͤber ihre unſchuldige Bruſt, die an Weiße und leider auch an Kaͤlte dem Marmor gleicht. Mit feuchtem Blick ſieht ſie empor und ruft Huͤlfe von daher, wo ein zartes Herz die groͤßte Fuͤlle zu finden hofft, wenn es uͤberall mangelt.

Auch wendet ſie ſich nicht vergebens zu den Sternen, die ſchon einzeln hervorzublin¬ ken anfangen. Ein ſanfter Wind erhebt ſich und treibt den Kahn nach den Platanen.

Vierzehntes Kapitel.

Sie eilt nach dem neuen Gebaͤude, ſie ruft den Chirurgus hervor, ſie uͤbergiebt ihm das Kind. Der auf alles gefaßte Mann be¬ handelt den zarten Leichnam ſtufenweiſe nach gewohnter Art. Ottilie ſteht ihm in allem bey; ſie ſchafft, ſie bringt, ſie ſorgt, zwar wie in einer andern Welt wandelnd: denn das hoͤchſte Ungluͤck wie das hoͤchſte Gluͤck veraͤn¬ dert die Anſicht aller Gegenſtaͤnde; und nur, als nach allen durchgegangenen Verſuchen der wackere Mann den Kopf ſchuͤttelt, auf ihre hoffnungsvollen Fragen erſt ſchweigend, dann mit einem leiſen Nein antwortet, verlaͤßt ſie das Schlafzimmer Charlottens, worin dieß alles geſchehen, und kaum hat ſie das Wohn¬II. 17258zimmer betreten, ſo faͤllt ſie, ohne den Sopha erreichen zu koͤnnen, erſchoͤpft aufs Angeſicht uͤber den Teppich hin.

Eben hoͤrt man Charlotten vorfahren. Der Chirurg bittet die Umſtehenden dringend zu¬ ruͤck zu bleiben, er will ihr entgegen, ſie vor¬ bereiten; aber ſchon betritt ſie ihr Zimmer. Sie findet Ottilien an der Erde, und ein Maͤdchen des Hauſes ſtuͤrzt ihr mit Geſchrey und Weinen entgegen. Der Chirurg tritt herein und ſie erfaͤhrt alles auf einmal. Wie ſollte ſie aber jede Hoffnung mit einmal auf¬ geben! Der erfahrne, kunſtreiche, kluge Mann bittet ſie nur das Kind nicht zu ſehen; er entfernt ſich, ſie mit neuen Anſtalten zu taͤu¬ ſchen. Sie hat ſich auf ihren Sopha geſetzt, Ottilie liegt noch an der Erde, aber an der Freundinn Kniee herangehoben, uͤber die ihr ſchoͤnes Haupt hingeſenkt iſt. Der aͤrztliche Freund geht ab und zu; er ſcheint ſich um das Kind zu bemuͤhen, er bemuͤht ſich um die259 Frauen. So kommt die Mitternacht herbey, die Todtenſtille wird immer tiefer. Charlotte verbirgt ſich's nicht mehr, daß das Kind nie wieder ins Leben zuruͤckkehre; ſie verlangt es zu ſehen. Man hat es in warme wollne Tuͤ¬ cher reinlich eingehuͤllt, in einen Korb gelegt, den man neben ſie auf den Sopha ſetzt; nur das Geſichtchen iſt frey; ruhig und ſchoͤn liegt es da.

Von dem Unfall war das Dorf bald er¬ regt worden und die Kunde ſogleich bis nach dem Gaſthof erſchollen. Der Major hatte ſich die bekannten Wege hinaufbegeben; er ging um das Haus herum, und indem er einen Bedienten anhielt, der in dem Ange¬ baͤude etwas zu hohlen lief, verſchaffte er ſich naͤhere Nachricht und ließ den Chirurgen her¬ ausrufen. Dieſer kam, erſtaunt uͤber die Er¬ ſcheinung ſeines alten Goͤnners, berichtete ihm die gegenwaͤrtige Lage und uͤbernahm es, Char¬ lotten auf ſeinen Anblick vorzubereiten. Er17*260ging hinein, fing ein ableitendes Geſpraͤch an und fuͤhrte die Einbildungskraft von einem Gegenſtand auf den andern, bis er endlich den Freund Charlotten vergegenwaͤrtigte, deſ¬ ſen gewiſſe Theilnahme, deſſen Naͤhe dem Geiſte, der Geſinnung nach, die er denn bald in eine wirkliche uͤbergehen ließ. Genug ſie erfuhr, der Freund ſtehe vor der Thuͤr, er wiſſe alles und wuͤnſche eingelaſſen zu wer¬ den.

Der Major trat herein; ihn begruͤßte Char¬ lotte mit einem ſchmerzlichen Laͤcheln. Er ſtand vor ihr. Sie hub die gruͤnſeidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bey dem dunk¬ len Schein einer Kerze erblickte er, nicht ohne geheimes Grauſen, ſein erſtarrtes Ebenbild. Charlotte deutete auf einen Stuhl, und ſo ſaßen ſie gegen einander uͤber, ſchweigend, die Nacht hindurch. Ottilie lag noch ruhig auf den Knieen Charlottens; ſie athmete ſanft, ſie ſchlief, oder ſie ſchien zu ſchlafen.

261

Der Morgen daͤmmerte, das Licht ver¬ loſch, beyde Freunde ſchienen aus einem dum¬ pfen Traum zu erwachen. Charlotte blickte den Major an und ſagte gefaßt: erklaͤren Sie mir, mein Freund, durch welche Schickung kommen Sie hieher, um Theil an dieſer Trau¬ erſcene zu nehmen?

Es iſt hier, antwortete der Major ganz leiſe wie ſie gefragt hatte, als wenn ſie Ottilien nicht aufwecken wollten es iſt hier nicht Zeit und Ort, zuruͤckzuhalten, Einlei¬ tungen zu machen und ſachte heran zu treten. Der Fall, in dem ich Sie finde, iſt ſo unge¬ heuer, daß das Bedeutende ſelbſt weshalb ich komme, dagegen ſeinen Werth verliert.

Er geſtand ihr darauf, ganz ruhig und einfach, den Zweck ſeiner Sendung, in ſo fern Eduard ihn abgeſchickt hatte; den Zweck ſei¬ nes Kommens, in ſo fern ſein freyer Wille, ſein eigenes Intereſſe dabey war. Er trug262 beydes ſehr zart, doch aufrichtig vor; Char¬ lotte hoͤrte gelaſſen zu, und ſchien weder dar¬ uͤber zu ſtaunen, noch unwillig zu ſeyn.

Als der Major geendigt hatte, antworte¬ te Charlotte mit ganz leiſer Stimme, ſo daß er genoͤthigt war ſeinen Stuhl[heranzuruͤcken]: In einem Falle wie dieſer iſt, habe ich mich noch nie befunden; aber in aͤhnlichen habe ich mir immer geſagt: wie wird es morgen ſeyn? Ich fuͤhle recht wohl, daß das Loos von meh¬ reren jetzt in meinen Haͤnden liegt; und was ich zu thun habe iſt bey mir außer Zweifel und bald ausgeſprochen. Ich willige in die Scheidung. Ich haͤtte mich fruͤher dazu ent¬ ſchließen ſollen; durch mein Zaudern, mein Widerſtreben habe ich das Kind getoͤdtet. Es ſind gewiſſe Dinge, die ſich das Schickſal hartnaͤckig vornimmt. Vergebens, daß Ver¬ nunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige ſich ihm in den Weg ſtellen; es ſoll etwas geſchehen was ihm recht iſt, was uns nicht263 recht ſcheint; und ſo greift es zuletzt durch, wir moͤgen uns gebaͤrden wie wir wollen.

Doch was ſag 'ich! Eigentlich will das Schickſal meinen eigenen Wunſch, meinen eigenen Vorſatz, gegen die ich unbedachtſam gehandelt, wieder in den Weg bringen. Habe ich nicht ſelbſt ſchon Ottilien und Eduarden mir als das ſchicklichſte Paar zuſammenge¬ dacht? Habe ich nicht ſelbſt beyde einander zu naͤhern geſucht? Waren Sie nicht ſelbſt, mein Freund, Mitwiſſer dieſes Plans? Und warum konnt' ich den Eigenſinn eines Man¬ nes nicht von wahrer Liebe unterſcheiden? Warum nahm ich ſeine Hand an? da ich als Freundinn ihn und eine andre Gattinn gluͤcklich gemacht haͤtte. Und betrachten Sie nur dieſe ungluͤckliche Schlummernde! Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn ſie aus ih¬ rem halben Todtenſchlafe zum Bewußtſeyn erwacht. Wie ſoll ſie leben, wie ſoll ſie ſich troͤſten, wenn ſie nicht hoffen kann, durch264 ihre Liebe Eduarden das zu erſetzen, was ſie ihm als Werkzeug des wunderbarſten Zufalls geraubt hat. Und ſie kann ihm alles wieder¬ geben nach der Neigung, nach der Leidenſchaft mit der ſie ihn liebt. Vermag die Liebe alles zu dulden, ſo vermag ſie noch vielmehr alles zu erſetzen. An mich darf in dieſem Augen¬ blick nicht gedacht werden.

Entfernen Sie ſich in der Stille, lieber Major. Sagen Sie Eduarden, daß ich in die Scheidung willige, daß ich ihm, Ihnen, Mittlern die ganze Sache einzuleiten uͤber¬ laſſe; daß ich um meine kuͤnftige Lage unbe¬ kuͤmmert bin und es in jedem Sinne ſeyn kann. Ich will jedes Papier unterſchreiben, das man mir bringt; aber man verlange nur nicht von mir, daß ich mitwirke, daß ich be¬ denke, daß ich berathe.

Der Major ſtand auf. Sie reichte ihm ihre Hand uͤber Ottilien weg. Er druͤckte265 ſeine Lippen auf dieſe liebe Hand. Und fuͤr mich, was darf ich hoffen? lispelte er leiſe.

Laſſen Sie mich Ihnen die Antwort ſchul¬ dig bleiben, verſetzte Charlotte. Wir haben nicht verſchuldet ungluͤcklich zu werden; aber auch nicht verdient zuſammen gluͤcklich zu ſeyn.

Der Major entfernte ſich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeſchiedene Kind bedauern zu koͤnnen. Ein ſolches Opfer ſchien ihm noͤthig zu ihrem all¬ ſeitigen Gluͤck. Er dachte ſich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommenſten Erſatz fuͤr das, was ſie Eduar¬ den geraubt; er dachte ſich einen Sohn auf dem Schooße, der mit mehrerem Recht ſein Ebenbild truͤge, als der abgeſchiedene.

So ſchmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als er auf dem Ruͤckwege nach dem Gaſthofe Eduarden fand,266 der die ganze Nacht im Freyen den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen, kein Donnerlaut ein gluͤckliches Gelingen verkuͤnden wollte. Er wußte bereits von dem Ungluͤck und auch er, anſtatt das arme Geſchoͤpf zu bedauern, ſah dieſen Fall, ohne ſich's ganz geſtehen zu wollen, als eine Fuͤgung an, wo¬ durch jedes Hinderniß an ſeinem Gluͤck auf einmal beſeitigt waͤre. Gar leicht ließ er ſich daher durch den Major bewegen, der ihm ſchnell den Entſchluß ſeiner Gattinn verkuͤn¬ digte, wieder nach jenem Dorfe, und ſodann nach der kleinen Stadt zuruͤckzukehren, wo ſie das Naͤchſte uͤberlegen und einleiten wollten.

Charlotte ſaß, nachdem der Major ſie ver¬ laſſen hatte, nur wenige Minuten in ihre Be¬ trachtungen verſenkt: denn ſogleich richtete Ottilie ſich auf, ihre Freundinn mit großen Augen anblickend. Erſt erhob ſie ſich von dem Schooße, dann von der Erde und ſtand vor Charlotten.

267

Zum zweytenmal ſo begann das herr¬ liche Kind mit einem unuͤberwindlichen anmu¬ thigen Ernſt zum zweytenmal widerfaͤhrt mir daſſelbige. Du ſagteſt mir einſt: es be¬ gegne den Menſchen in ihrem Leben oft Aehn¬ liches auf aͤhnliche Weiſe, und immer in be¬ deutenden Augenblicken. Ich finde nun die Bemerkung wahr, und bin gedrungen dir ein Bekenntniß zu machen. Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen Schemmel an dich geruͤckt; du ſaßeſt auf dem Sopha wie jetzt; mein Haupt lag auf deinen Knieen, ich ſchlief nicht, ich wachte nicht; ich ſchlummerte. Ich vernahm alles was um mich vorging, beſonders alle Reden, ſehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht aͤußern, und wenn ich auch gewollt haͤtte, nicht andeuten, daß ich meiner ſelbſt mich bewußt fuͤhlte. Damals ſprachſt du mit einer Freundinn uͤber mich; du be¬ dauerteſt mein Schickſal, als eine arme Waiſe in der Welt geblieben zu ſeyn; du ſchilderteſt268 meine abhaͤngige Lage und wie mißlich es um mich ſtehen koͤnne, wenn nicht ein beſondrer Gluͤcksſtern uͤber mich walte. Ich faßte al¬ les wohl und genau, vielleicht zu ſtreng, was du fuͤr mich zu wuͤnſchen, was du von mir zu fordern ſchienſt. Ich machte mir nach meinen beſchraͤnkten Einſichten hieruͤber Ge¬ ſetze; nach dieſen habe ich lange gelebt, nach ihnen war mein Thun und Laſſen eingerich¬ tet, zu der Zeit da du mich liebteſt, fuͤr mich ſorgteſt, da du mich in dein Haus auf¬ nahmeſt, und auch noch eine Zeit hernach.

Aber ich bin aus meiner Bahn geſchrit¬ ten, ich habe meine Geſetze gebrochen, ich habe ſogar das Gefuͤhl derſelben verloren, und nach einem ſchrecklichen Ereigniß klaͤrſt du mich wieder uͤber meinen Zuſtand auf, der jammervoller iſt als der erſte. Auf deinem Schooße ruhend, halb erſtarrt, wie aus einer fremden Welt vernehm 'ich abermals deine leiſe Stimme uͤber meinem Ohr; ich verneh¬269 me, wie es mit mir ſelbſt ausſieht; ich ſchau¬ dere uͤber mich ſelbſt: aber wie damals habe ich auch diesmal in meinem halben Todten¬ ſchlaf mir meine neue Bahn vorgezeichnet.

Ich bin entſchloſſen, wie ich's war, und wozu ich entſchloſſen bin, mußt du gleich er¬ fahren. Eduardens werd 'ich nie! Auf eine ſchreckliche Weiſe hat Gott mir die Augen geoͤffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin. Ich will es buͤßen; und Niemand ge¬ denke mich von meinem Vorſatz abzubringen! Darnach, Liebe, Beſte, nimm deine Maaßre¬ geln. Laß den Major zuruͤckkommen; ſchrei¬ be ihm, daß keine Schritte geſchehen. Wie aͤngſtlich war mir, daß ich mich nicht ruͤhren und regen konnte, als er ging. Ich wollte auffahren, aufſchreyen: du ſollteſt ihn nicht mit ſo frevelhaften Hoffnungen entlaſſen.

Charlotte ſah Ottiliens Zuſtand, ſie em¬ pfand ihn; aber ſie hoffte durch Zeit und270 Vorſtellungen etwas uͤber ſie zu gewinnen. Doch als ſie einige Worte ausſprach, die auf eine Zukunft, auf eine Milderung des Schmer¬ zes, auf Hoffnung deuteten: Nein! rief Ot¬ tilie mit Erhebung: ſucht mich nicht zu be¬ wegen, nicht zu hintergehen! In dem Au¬ genblick, in dem ich erfahre: du habeſt in die Scheidung gewilligt, buͤße ich in demſel¬ bigen See meine Vergehen, meine Verbrechen.

[271]

Funfzehntes Kapitel.

Wenn ſich in einem gluͤcklichen friedlichen Zuſammenleben Verwandte, Freunde, Haus¬ genoſſen, mehr als noͤthig und billig iſt, von dem unterhalten was geſchieht oder geſchehen ſoll; wenn ſie ſich einander ihre Vorſaͤtze, Unter¬ nehmungen, Beſchaͤftigungen wiederhohlt mit¬ theilen, und ohne gerade wechſelſeitigen Rath anzunehmen, doch immer das ganze Leben gleich¬ ſam rathſchlagend behandeln: ſo findet man dagegen, in wichtigen Momenten, eben da wo es ſcheinen ſollte, der Menſch beduͤrfe frem¬ den Beyſtandes, fremder Beſtaͤtigung am al¬ lermeiſten, daß ſich die einzelnen auf ſich ſelbſt zuruͤckziehen, jedes fuͤr ſich zu handeln, jedes auf ſeine Weiſe zu wirken ſtrebt, und indem272 man ſich einander die einzelnen Mittel ver¬ birgt, nur erſt der Ausgang, die Zwecke, das Erreichte wieder zum Gemeingut werden.

Nach ſoviel wundervollen und ungluͤckli¬ chen Ereigniſſen war denn auch ein gewiſſer ſtiller Ernſt uͤber die Freundinnen gekommen, der ſich in einer liebenswuͤrdigen Schonung aͤußerte. Ganz in der Stille hatte Charlotte das Kind nach der Kapelle geſendet. Es ruh¬ te dort als das erſte Opfer eines ahndungs¬ vollen Verhaͤngniſſes.

Charlotte kehrte ſich, ſo viel es ihr moͤg¬ lich war, gegen das Leben zuruͤck, und hier fand ſie Ottilien zuerſt, die ihres Beyſtandes bedurfte. Sie beſchaͤftigte ſich vorzuͤglich mit ihr, ohne es jedoch merken zu laſſen. Sie wußte wie ſehr das himmliſche Kind Eduar¬ den liebte; ſie hatte nach und nach die Scene die dem Ungluͤck vorher gegangen war, her¬ ausgeforſcht, und jeden Umſtand, theils von273 Ottilien ſelbſt, theils durch Briefe des Majors erfahren.

Ottilie von ihrer Seite erleichterte Char¬ lotten ſehr das augenblickliche Leben. Sie war offen, ja geſpraͤchig, aber niemals war von dem Gegenwaͤrtigen oder kurz Vergange¬ nen die Rede. Sie hatte ſtets aufgemerkt, ſtets beobachtet, ſie wußte viel; das kam jetzt alles zum Vorſchein. Sie unterhielt, ſie zer¬ ſtreute Charlotten, die noch immer die ſtille Hoffnung naͤhrte, ein ihr ſo werthes Paar verbunden zu ſehen.

Allein bey Ottilien hing es anders zuſam¬ men. Sie hatte das Geheimniß ihres Le¬ bensganges der Freundinn entdeckt; ſie war von ihrer fruͤhen Einſchraͤnkung, von ihrer Dienſtbarkeit entbunden. Durch ihre Reue, durch ihren Entſchluß fuͤhlte ſie ſich auch be¬ freyt von der Laſt jenes Vergehens, jenes Mißgeſchicks. Sie bedurfte keiner GewaltII. 18274mehr uͤber ſich ſelbſt; ſie hatte ſich in der Tiefe ihres Herzens nur unter der Bedingung des voͤlligen Entſagens verziehen, und dieſe Bedingung war fuͤr alle Zukunft unerlaͤßlich.

So verfloß einige Zeit, und Charlotte fuͤhl¬ te, wie ſehr Haus und Park, Seen, Felſen - und Baumgruppen, nur traurige Empfindun¬ gen taͤglich in ihnen beyden erneuerten. Daß man den Ort veraͤndern muͤſſe, war allzu deutlich; wie es geſchehen ſolle, nicht ſo leicht zu entſcheiden.

Sollten die beyden Frauen zuſammenblei¬ ben? Eduards fruͤherer Wille ſchien es zu ge¬ bieten, ſeine Erklaͤrung, ſeine Drohung es noͤthig zu machen: allein wie war es zu ver¬ kennen, daß beyde Frauen, mit allem guten Willen, mit aller Vernunft, mit aller Anſtren¬ gung, ſich in einer peinlichen Lage neben ein¬ ander befanden. Ihre Unterhaltungen waren vermeidend. Manchmal mochte man gern et¬275 was nur halb verſtehen, oͤfters wurde aber doch ein Ausdruck, wo nicht durch den Ver¬ ſtand wenigſtens durch die Empfindung, mi߬ deutet. Man fuͤrchtete ſich zu verletzen, und gerade die Furcht war am erſten verletzbar und verletzte am erſten.

Wollte man den Ort veraͤndern und ſich zugleich, wenigſtens auf einige Zeit, von ein¬ ander trennen; ſo trat die alte Frage wieder hervor: wo ſich Ottilie hinbegeben ſolle? Je¬ nes große reiche Haus hatte vergebliche Ver¬ ſuche gemacht, einer hoffnungsvollen Erbtoch¬ ter unterhaltende und wetteifernde Geſpielin¬ nen zu verſchaffen. Schon bey der letzten Anweſenheit der Baroneſſe, und neuerlich durch Briefe, war Charlotte aufgefordert worden, Ottilien dorthin zu ſenden; jetzt brachte ſie es abermals zur Sprache. Ottilie verweigerte aber ausdruͤcklich dahin zu gehen, wo ſie das¬ jenige finden wuͤrde, was man große Welt zu nennen pflegt.

18 *276

Laſſen Sie mich, liebe Tante, ſagte ſie, damit ich nicht eingeſchraͤnkt und eigenſinnig erſcheine, dasjenige ausſprechen was zu ver¬ ſchweigen, zu verbergen in einem andern Falle Pflicht waͤre. Ein ſeltſam ungluͤcklicher Menſch, und wenn er auch ſchuldlos waͤre, iſt auf eine fuͤrchterliche Weiſe gezeichnet. Seine Gegen¬ wart erregt in allen die ihn ſehen, die ihn gewahr werden, ein Art von Entſetzen. Jeder will das Ungeheure ihm anſehen was ihm auferlegt ward; jeder iſt neugierig und aͤngſt¬ lich zugleich. So bleibt ein Haus, eine Stadt, worin eine ungeheure That geſche¬ hen, jedem furchtbar der ſie betritt. Dort leuchtet das Licht des Tages nicht ſo hell, und die Sterne ſcheinen ihren Glanz zu ver¬ lieren.

Wie groß, und doch vielleicht zu entſchul¬ digen, iſt gegen ſolche Ungluͤckliche die In¬ discretion der Menſchen, ihre alberne Zu¬ dringlichkeit und ungeſchickte Gutmuͤthigkeit. 277Verzeihen Sie mir, daß ich ſo rede; aber ich habe unglaublich mit jenem armen Maͤdchen gelitten, als es Luciane aus den verborgenen Zimmern des Hauſes hervorzog, ſich freund¬ lich mit ihm beſchaͤftigte, es in der beſten Abſicht zu Spiel und Tanz noͤthigen wollte. Als das arme Kind bange[und] immer baͤnger zuletzt floh und in Ohnmacht ſank, ich es in meine Arme faßte, die Geſellſchaft erſchreckt aufgeregt und jeder erſt recht neugierig auf die Ungluͤckſelige ward: da dachte ich nicht, daß mir ein gleiches Schickſal bevorſtehe; aber mein Mitgefuͤhl, ſo wahr und lebhaft; iſt noch lebendig. Jetzt kann ich mein Mitlei¬ den gegen mich ſelbſt wenden und mich huͤthen, daß ich nicht zu aͤhnlichen Auftritten Anlaß gebe.

Du wirſt aber, liebes Kind, verſetzte Char¬ lotte, dem Anblick der Menſchen dich nirgends entziehen koͤnnen. Kloͤſter haben wir nicht, in denen ſonſt eine Freyſtatt fuͤr ſolche Ge¬ fuͤhle zu finden war.

278

Die Einſamkeit macht nicht die Freyſtatt, liebe Tante, verſetzte Ottilie. Die ſchaͤtzens¬ wertheſte Freyſtatt iſt da zu ſuchen, wo wir thaͤtig ſeyn koͤnnen. Alle Buͤßungen, alle Entbehrungen ſind keineswegs geeignet uns einem ahndungsvollen Geſchick zu entziehen, wenn es uns zu verfolgen entſchieden iſt. Nur, wenn ich im muͤßigen Zuſtande der Welt zur Schau dienen ſoll, dann iſt ſie mir wider¬ waͤrtig und aͤngſtigt mich. Findet man mich aber freudig bey der Arbeit, unermuͤdet in meiner Pflicht, dann kann ich die Blicke eines Jeden aushalten, weil ich die goͤttlichen nicht zu ſcheuen brauche.

Ich muͤßte mich ſehr irren, verſetzte Char¬ lotte, wenn deine Neigung dich nicht zur Penſion zuruͤckzoͤge.

Ja, verſetzte Ottilie, ich laͤugne es nicht: ich denke es mir als eine gluͤckliche Beſtim¬ mung, andre auf dem gewoͤhnlichen Wege zu279 erziehen, wenn wir auf dem ſonderbarſten er¬ zogen worden. Und ſehen wir nicht in der Geſchichte, daß Menſchen, die wegen großer ſittlicher Unfaͤlle ſich in die Wuͤſten zuruͤckzo¬ gen, dort keineswegs, wie ſie hofften, verbor¬ gen und gedeckt waren. Sie wurden zuruͤck¬ gerufen in die Welt, um die Verirrten auf den rechten Weg zu fuͤhren; und wer konnte es beſſer als die in den Irrgaͤngen des Lebens ſchon Eingeweihten! Sie wurden berufen den Ungluͤcklichen beyzuſtehen, und wer vermochte das eher als ſie, denen kein irdiſches Unheil mehr begegnen konnte!

Du waͤhlſt eine ſonderbare Beſtimmung, verſetzte Charlotte. Ich will dir nicht wider¬ ſtreben: es mag ſeyn, wenn auch nur, wie ich hoffe, auf kurze Zeit.

Wie ſehr danke ich Ihnen, ſagte Ottilie, daß Sie mir dieſen Verſuch, dieſe Erfahrung goͤnnen wollen. Schmeichle ich mir nicht zu280 ſehr, ſo ſoll es mir gluͤcken. An jenem Orte will ich mich erinnern, wie manche Pruͤfun¬ gen ich ausgeſtanden, und wie klein, wie nich¬ tig ſie waren gegen die, die ich nachher er¬ fahren mußte. Wie heiter werde ich die Ver¬ legenheiten der jungen Aufſchoͤßlinge betrach¬ ten, bey ihren kindlichen Schmerzen laͤcheln und ſie mit leiſer Hand aus allen kleinen Ver¬ irrungen herausfuͤhren. Der Gluͤckliche iſt nicht geeignet Gluͤcklichen vorzuſtehen: es liegt in der menſchlichen Natur, immer mehr von ſich und von andern zu fordern je mehr man empfangen hat. Nur der Ungluͤckliche der ſich erhohlt, weiß fuͤr ſich und andre das Gefuͤhl zu naͤhren, daß auch ein maͤßiges Gute mit Entzuͤcken genoſſen werden ſoll.

Laß mich gegen deinen Vorſatz, ſagte Char¬ lotte zuletzt nach einigem Bedenken, noch ei¬ nen Einwurf anfuͤhren, der mir der wichtigſte ſcheint. Es iſt nicht von dir, es iſt von ei¬ nem Dritten die Rede. Die Geſinnungen281 des guten vernuͤnftigen frommen Gehuͤlfen ſind dir bekannt; auf dem Wege den du gehſt, wirſt du ihm jeden Tag werther und unent¬ behrlicher ſeyn. Da er ſchon jetzt, ſeinem Gefuͤhl nach, nicht gern ohne dich leben mag, ſo wird er auch kuͤnftig, wenn er einmal dei¬ ne Mitwirkung gewohnt iſt, ohne dich ſein Geſchaͤft nicht mehr verwalten koͤnnen. Du wirſt ihm anfangs darin beyſtehen, um es ihm hernach zu verleiden.

Das Geſchick iſt nicht ſanft mit mir ver¬ fahren, verſetzte Ottilie; und wer mich liebt hat vielleicht nicht viel beſſeres zu erwarten. So gut und verſtaͤndig als der Freund iſt, eben ſo, hoffe ich, wird ſich in ihm auch die Empfindung eines reinen Verhaͤltniſſes zu mir entwickeln; er wird in mir eine geweihte Perſon erblicken, die nur dadurch ein unge¬ heures Uebel fuͤr ſich und andre vielleicht auf¬ zuwiegen vermag, wenn ſie ſich dem Heiligen widmet, das uns unſichtbar umgebend allein282 gegen die ungeheuren zudringenden Maͤchte be¬ ſchirmen kann.

Charlotte nahm alles was das liebe Kind ſo herzlich geaͤußert, zur ſtillen Ueberlegung. Sie hatte verſchiedentlich, obgleich auf das leiſeſte, angeforſcht, ob nicht eine Annaͤherung Ottiliens zu Eduard denkbar ſey; aber auch nur die leiſeſte Erwaͤhnung, die mindeſte Hoffnung, der kleinſte Verdacht ſchien Otti¬ lien aufs tiefſte zu ruͤhren; ja ſie ſprach ſich einſt, da ſie es nicht umgehen konnte, hier¬ uͤber ganz deutlich aus.

Wenn dein Entſchluß, entgegnete ihr Charlotte, Eduarden zu entſagen, ſo feſt und unveraͤnderlich iſt, ſo huͤthe dich nur vor der Gefahr des Wiederſehens. In der Entfernung von dem geliebten Gegenſtande ſcheinen wir, je lebhafter unſere Neigung iſt, deſto mehr Herr von uns ſelbſt zu werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenſchaft, wie ſie ſich283 nach außen erſtreckte, nach innen wenden; aber wie bald, wie geſchwind ſind wir aus dieſem Irrthum geriſſen, wenn dasjenige was wir entbehren zu koͤnnen glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unſern Augen ſteht. Thue jetzt was du deinen Zuſtaͤnden am gemaͤßeſten haͤltſt; pruͤfe dich, ja veraͤndre lieber deinen gegenwaͤrtigen Entſchluß: aber aus dir ſelbſt, aus freyem, wollenden Her¬ zen. Laß dich nicht zufaͤllig, nicht durch Ueber¬ raſchung, in die vorigen Verhaͤltniſſe wieder hineinziehen: dann giebt es erſt einen Zwie¬ ſpalt im Gemuͤth der unertraͤglich iſt. Wie geſagt, ehe du dieſen Schritt thuſt, ehe du dich von mir entfernſt und ein neues Leben anfaͤngſt, das dich wer weiß auf welche Wege leitet; ſo bedenke noch einmal, ob du denn wirklich fuͤr alle Zukunft Eduarden entſagen kannſt. Haſt du dich aber hierzu beſtimmt; ſo ſchließen wir einen Bund, daß du dich mit ihm nicht einlaſſen willſt, ſelbſt nicht in eine Unterredung, wenn er dich aufſuchen,284 wenn er ſich zu dir draͤngen ſollte. Ottilie beſann ſich nicht einen Augenblick, ſie gab Charlotten das Wort, das ſie ſich ſchon ſelbſt gegeben hatte.

Nun aber ſchwebte Charlotten immer noch jene Drohung Eduards vor der Seele, daß er Ottilien nur ſo lange entſagen koͤnne, als ſie ſich von Charlotten nicht trennte. Es hatten ſich zwar ſeit der Zeit die Umſtaͤnde ſo veraͤndert, es war ſo mancherley vorge¬ fallen, daß jenes vom Augenblick ihm abge¬ drungene Wort gegen die folgenden Ereigniſſe fuͤr aufgehoben zu achten war; dennoch wollte ſie auch im entfernteſten Sinne weder etwas wagen, noch etwas vornehmen das ihn verletzen koͤnnte, und ſo ſollte Mittler in dieſem Falle Eduards Geſinnungen erforſchen.

Mittler hatte ſeit dem Tode des Kindes Charlotten oͤfters, obgleich nur auf Augen¬ blicke, beſucht. Dieſer Unfall, der ihm die285 Wiedervereinigung beyder Gatten hoͤchſt un¬ wahrſcheinlich machte, wirkte gewaltſam auf ihn; aber immer nach ſeiner Sinnesweiſe hof¬ fend und ſtrebend, freute er ſich nun im Stillen uͤber den Entſchluß Ottiliens. Er vertraute der lindernden voruͤberziehenden Zeit, dachte noch immer die beyden Gatten zu¬ ſammenzuhalten und ſah dieſe leidenſchaft¬ lichen Bewegungen nur als Pruͤfungen ehe¬ licher Liebe und Treue an.

Charlotte hatte gleich anfangs den Major von Ottiliens erſter Erklaͤrung ſchriftlich un¬ terrichtet, ihn auf das inſtaͤndigſte gebeten, Eduarden dahin zu vermoͤgen, daß keine wei¬ teren Schritte geſchaͤhen, daß man ſich ruhig verhalte, daß man abwarte, ob das Gemuͤth des ſchoͤnen Kindes ſich wieder herſtelle. Auch von den ſpaͤtern Ereigniſſen und Geſinnungen hatte ſie das Noͤthige mitgetheilt, und nun war freylich Mittlern die ſchwierige Aufgabe uͤbertragen, auf eine Veraͤnderung des Zu¬286 ſtandes Eduarden vorzubereiten. Mittler aber, wohlwiſſend, daß man das Geſchehene ſich eher gefallen laͤßt, als daß man in ein noch zu Geſchehendes einwilligt, uͤberredete Char¬ lotten: es ſey das beſte, Ottilien gleich nach der Penſion zu ſchicken.

Deshalb wurden, ſobald er weg war, An¬ ſtalten zur Reiſe gemacht. Ottilie packte zu¬ ſammen, aber Charlotte ſah wohl, daß ſie weder das ſchoͤne Koͤfferchen, noch irgend et¬ was daraus mitzunehmen ſich anſchickte. Die Freundinn ſchwieg und ließ das ſchweigende Kind gewaͤhren. Der Tag der Abreiſe kam herbey; Charlottens Wagen ſollte Ottilien den erſten Tag bis in ein bekanntes Nacht¬ quartier, den zweyten bis in die Penſion bringen; Nanny ſollte ſie begleiten und ihre Dienerinn bleiben. Das leidenſchaftliche Maͤd¬ chen hatte ſich gleich nach dem Tode des Kindes wieder an Ottilien zuruͤckgefunden und hing nun an ihr wie ſonſt durch Natur und287 Neigung; ja ſie ſchien, durch unterhaltende Redſeligkeit, das bisher Verſaͤumte wieder nachbringen und ſich ihrer geliebten Herrinn voͤllig widmen zu wollen. Ganz außer ſich war ſie nun uͤber das Gluͤck mitzureiſen, fremde Gegenden zu ſehen, da ſie noch nie¬ mals außer ihrem Geburtsort geweſen, und rannte vom Schloſſe ins Dorf, zu ihren Ael¬ tern, Verwandten, um ihr Gluͤck zu verkuͤndi¬ gen und Abſchied zu nehmen. Ungluͤcklicher¬ weiſe traf ſie dabey in die Zimmer der Ma¬ ſerkranken und empfand ſogleich die Folgen der Anſteckung. Man wollte die Reiſe nicht aufſchieben; Ottilie drang ſelbſt darauf: ſie hatte den Weg ſchon gemacht, ſie kannte die Wirthsleute bey denen ſie einkehren ſollte, der Kutſcher vom Schloſſe fuͤhrte ſie; es war nichts zu beſorgen.

Charlotte widerſetzte ſich nicht; auch ſie eilte ſchon in Gedanken aus dieſen Umgebun¬ gen weg, nur wollte ſie noch die Zimmer die288 Ottilie im Schloß bewohnt hatte, wieder fuͤr Eduarden einrichten, gerade ſo wie ſie vor der Ankunft des Hauptmanns geweſen. Die Hoff¬ nung ein altes Gluͤck wiederherzuſtellen flammt immer einmal wieder in dem Menſchen auf, und Charlotte war zu ſolchen Hoffnungen abermals berechtigt, ja genoͤthigt.

[289]

Sechzehntes Kapitel.

Als Mittler gekommen war, ſich mit Eduarden uͤber die Sache zu unterhalten, fand er ihn allein, den Kopf in die rechte Hand gelehnt, den Arm auf den Tiſch ge¬ ſtemmt. Er ſchien ſehr zu leiden. Plagt Ihr Kopfweh Sie wieder? fragte Mittler. Es plagt mich, verſetzte jener; und doch kann ich es nicht haſſen: denn es erinnert mich an Ottilien. Vielleicht leidet auch ſie jetzt, denk 'ich, auf ihren linken Arm geſtuͤtzt, und leidet wohl mehr als ich. Und warum ſoll ich es nicht tragen, wie ſie? Dieſe Schmerzen ſind mir heilſam, ſind mir, ich kann beynah ſagen, wuͤnſchenswerth: denn nur maͤchtiger, deutlicher, lebhafter ſchwebt mir das BildII. 19290ihrer Geduld, von allen ihren uͤbrigen Vor¬ zuͤgen begleitet, vor der Seele; nur im Lei¬ den empfinden wir recht vollkommen alle die großen Eigenſchaften, die noͤthig ſind um es zu ertragen.

Als Mittler den Freund in dieſem Grade reſignirt fand, hielt er mit ſeinem Anbringen nicht zuruͤck, das er jedoch ſtufenweiſe, wie der Gedanke bey den Frauen entſprungen, wie er nach und nach zum Vorſatz gereift war, hiſtoriſch vortrug. Eduard aͤußerte ſich kaum dagegen. Aus dem wenigen was er ſagte, ſchien hervorzugehen, daß er jenen al¬ les uͤberlaſſe; ſein gegenwaͤrtiger Schmerz ſchien ihn gegen alles gleichguͤltig gemacht zu haben.

Kaum aber war er allein, ſo ſtand er auf und ging in dem Zimmer hin und wieder. Er fuͤhlte ſeinen Schmerz nicht mehr, er war ganz außer ſich beſchaͤftigt. Schon unter Mittlers Erzaͤhlung hatte die Einbildungs¬291 kraft des Liebenden ſich lebhaft ergangen. Er ſah Ottilien, allein oder ſo gut als allein, auf wohlbekanntem Wege, in einem gewohn¬ ten Wirthshauſe, deſſen Zimmer er ſo oft be¬ treten; er dachte, er uͤberlegte, oder vielmehr, er dachte, er uͤberlegte nicht; er wuͤnſchte, er wollte nur. Er mußte ſie ſehn, ſie ſprechen. Wozu, warum, was daraus ent¬ ſtehen ſollte? davon konnte die Rede nicht ſeyn. Er widerſtand nicht, er mußte.

Der Kammerdiener ward ins Vertrauen gezogen, und erforſchte ſogleich Tag und Stunde, wann Ottilie reiſen wuͤrde. Der Morgen brach an; Eduard ſaͤumte nicht, un¬ begleitet ſich zu Pferde dahin zu begeben, wo Ottilie uͤbernachten ſollte. Er kam nur allzuzeitig dort an: die uͤberraſchte Wirthinn empfing ihn mit Freuden: ſie war ihm ein großes Familiengluͤck ſchuldig geworden. Er hatte ihrem Sohn, der als Soldat ſich ſehr brav gehalten, ein Ehrenzeichen verſchafft. 19 *292indem er deſſen That, wobey er allein gegen¬ waͤrtig geweſen, heraushob, mit Eifer bis vor den Feldherrn brachte und die Hinderniſſe einiger Mißwollenden uͤberwand. Sie wußte nicht, was ſie ihm alles zu Liebe thun ſollte. Sie raͤumte ſchnell in ihrer Putzſtube, die freylich auch zugleich Garderobe und Vorraths¬ kammer war, moͤglichſt zuſammen; allein er kuͤndigte ihr die Ankunft eines Frauenzimmers an, die hier hereinziehen ſollte, und ließ fuͤr ſich eine Kammer hinten auf dem Gange nothduͤrftig einrichten. Der Wirthinn erſchien die Sache geheimnißvoll, und es war ihr angenehm, ihren Goͤnner, der ſich dabey ſehr intereſſirt und thaͤtig zeigte, etwas gefaͤlliges zu erweiſen. Und er, mit welcher Empfin¬ dung brachte er die lange lange Zeit bis zum Abend hin! Er betrachtete das Zimmer rings umher, in dem er ſie ſehen ſollte; es ſchien ihm in ſeiner ganzen haͤuslichen Seltſamkeit ein himmliſcher Aufenthalt. Was dachte er ſich nicht alles aus, ob er Ottilien uͤberraſchen,293 ob er ſie vorbereiten ſollte! Endlich gewann die letztere Meynung Oberhand; er ſetzte ſich hin und ſchrieb. Dieß Blatt ſollte ſie empfangen.

Eduard an Ottilien.

Indem du dieſen Brief lieſeſt, Geliebteſte, bin ich in deiner Naͤhe. Du mußt nicht er¬ ſchrecken, dich nicht entſetzen; du haſt von mir nichts zu befuͤrchten. Ich werde mich nicht zu dir draͤngen. Du ſiehſt mich nicht eher als du es erlaubſt.

Bedenke vorher deine Lage, die meinige. Wie ſehr danke ich dir, daß du keinen ent¬ ſcheidenden Schritt zu thun vorhaſt; aber be¬ deutend genug iſt er: thu ihn nicht! Hier, auf einer Art von Scheideweg, uͤberlege noch¬ mals: kannſt du mein ſeyn, willſt du mein294 ſeyn? O du erzeigſt uns allen eine große Wohlthat und mir eine uͤberſchwaͤngliche.

Laß mich dich wiederſehen, dich mit Freuden wiederſehen. Laß mich die ſchoͤne Frage muͤndlich thun, und beantworte ſie mir mit deinem ſchoͤnen Selbſt. An meine Bruſt, Ottilie! hieher, wo du manchmal geruht haſt und wo du immer hingehoͤrſt!

Indem er ſchrieb, ergriff ihn das Gefuͤhl, ſein Hoͤchſterſehntes nahe ſich, es werde nun gleich gegenwaͤrtig ſeyn. Zu dieſer Thuͤre wird ſie hereintreten, dieſen Brief wird ſie leſen, wirklich wird ſie wie ſonſt vor mir da¬ ſtehen, deren Erſcheinung ich mir ſo oft her¬ beyſehnte. Wird ſie noch dieſelbe ſeyn? Hat ſich ihre Geſtalt, haben ſich ihre Geſinnungen veraͤndert? Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte ſchreiben wie er dachte; aber der Wagen rollte in den Hof. Mit fluͤchti¬295 ger Feder ſetzte er noch hinzu: Ich hoͤre dich kommen. Auf einen Augenblick leb wohl!

Er faltete den Brief, uͤberſchrieb ihn; zum Siegeln war es zu ſpaͤt. Er ſprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen wußte, und Augenblicks fiel ihm ein, daß er die Uhr mit dem Petſchaft noch auf dem Tiſch gelaſſen. Sie ſollte dieſe nicht zuerſt ſehen; er ſprang zuruͤck und hohlte ſie gluͤcklich weg. Vom Vorſaal her vernahm er ſchon die Wirthinn, die auf das Zimmer los¬ ging, um es dem Gaſt anzuweiſen. Er eilte gegen die Kammerthuͤr, aber ſie war zugefah¬ ren. Den Schluͤſſel hatte er beym Hinein¬ ſpringen herunter geworfen, der lag inwendig; das Schloß war zugeſchnappt und er ſtund gebannt. Heftig draͤngte er an der Thuͤre; ſie gab nicht nach. O wie haͤtte er gewuͤnſcht als ein Geiſt durch die Spalten zu ſchluͤpfen! Vergebens! Er verbarg ſein Geſicht an den Thuͤrpfoſten. Ottilie trat herein, die Wir¬296 thinn, als ſie ihn erblickte, zuruͤck. Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick ver¬ borgen bleiben. Er wendete ſich gegen ſie, und ſo ſtanden die Liebenden abermals auf die ſeltſamſte Weiſe gegen einander. Sie ſah ihn ruhig und ernſthaft an, ohne vor oder zuruͤckzugehen, und als er eine Bewegung machte, ſich ihr zu naͤhern, trat ſie einige Schritte zuruͤck bis an den Tiſch. Auch er trat wieder zuruͤck. Ottilie, rief er aus, laß mich das furchtbare Schweigen brechen! Sind wir nur Schatten, die einander gegenuͤber ſtehen? Aber vor allen Dingen hoͤre! es iſt Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findeſt. Neben dir liegt ein Brief, der dich vorberei¬ ten ſollte. Lies, ich bitte dich, lies ihn! und dann beſchließe was du kannſt.

Sie blickte herab auf den Brief und nach einigem Beſinnen nahm ſie ihn auf, erbrach und las ihn. Ohne die Miene zu veraͤndern, hatte ſie ihn geleſen und ſo legte ſie ihn leiſe297 weg; dann druͤckte ſie die flachen, in die Hoͤhe gehobenen Haͤnde zuſammen, fuͤhrte ſie gegen die Bruſt, indem ſie ſich nur wenig vorwaͤrts neigte, und ſah den dringend Fordernden mit einem ſolchen Blick an, daß er von allem abzuſtehen genoͤthigt war, was er verlangen oder wuͤnſchen mochte. Dieſe Bewegung zerriß ihm das Herz. Er konnte den Anblick, er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen. Es ſah voͤllig aus, als wuͤrde ſie in die Kniee ſinken, wenn er beharrte. Er eilte verzweif¬ lend zur Thuͤr hinaus und ſchickte die Wir¬ thinn zu der Einſamen.

Er ging auf dem Vorſaal auf und ab. Es war Nacht geworden, im Zimmer blieb es ſtille. Endlich trat die Wirthinn heraus, und zog den Schluͤſſel ab. Die gute Frau war geruͤhrt, war verlegen, ſie wußte nicht was ſie thun ſollte. Zuletzt im Weggehen bot ſie den Schluͤſſel Eduarden an, der ihn298 ablehnte. Sie ließ das Licht ſtehen und ent¬ fernte ſich.

Eduard im tiefſten Kummer warf ſich auf Ottiliens Schwelle, die er mit ſeinen Thraͤnen benetzte. Jammervoller brachten kaum jemals in ſolcher Naͤhe Liebende eine Nacht zu.

Der Tag brach an; der Kutſcher trieb, die Wirthinn ſchloß auf und trat in das Zim¬ mer. Sie fand Ottilien angekleidet eingeſchla¬ fen, ſie ging zuruͤck und winkte Eduarden mit einem theilnehmenden Laͤcheln. Beyde traten vor die Schlafende; aber auch dieſen Anblick vermochte Eduard nicht auszuhalten. Die Wirthinn wagte nicht das ruhende Kind zu wecken, ſie ſetzte ſich gegenuͤber. Endlich ſchlug Ottilie die ſchoͤnen Augen auf und rich¬ tete ſich auf ihre Fuͤße. Sie lehnt das Fruͤhſtuͤck ab, und nun tritt Eduard vor ſie. Er bittet ſie inſtaͤndig, nur ein Wort zu re¬ den, ihren Willen zu erklaͤren: er wolle allen299 ihren Willen, ſchwoͤrt er; aber ſie ſchweigt. Nochmals fragt er ſie liebevoll und dringend, ob ſie ihm angehoͤren wolle? Wie lieblich be¬ wegt ſie, mit niedergeſchlagnen Augen, ihr Haupt zu einem ſanften Nein. Er fragt, ob ſie nach der Penſion wolle? Gleichguͤltig verneint ſie das. Aber als er fragt, ob er ſie zu Charlotten zuruͤckfuͤhren duͤrfe? bejaht ſie's mit einem getroſten Neigen des Hauptes. Er eilt ans Fenſter dem Kutſcher Befehle zu geben; aber hinter ihm weg, iſt ſie wie der Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab in dem Wagen. Der Kutſcher nimmt den Weg nach dem Schloſſe zuruͤck; Eduard folgt zu Pferde in einiger Entfernung.

[300]

Siebzehntes Kapitel.

Wie hoͤchſt uͤberraſcht war Charlotte als ſie Ottilien vorfahren und Eduarden zu Pfer¬ de ſogleich in den Schloßhof hereinſprengen ſah. Sie eilte bis zur Thuͤrſchwelle: Ottilie ſteigt aus und naͤhert ſich mit Eduarden. Mit Eifer und Gewalt faßt ſie die Haͤnde beyder Ehegatten, druͤckt ſie zuſammen und eilt auf ihr Zimmer. Eduard wirft ſich Charlotten um den Hals und zerfließt in Thraͤnen; er kann ſich nicht erklaͤren, bittet Geduld mit ihm zu haben, Ottilien beyzuſtehen, ihr zu helfen. Charlotte eilt auf Ottiliens Zim¬ mer und ihr ſchaudert da ſie hineintritt: es war ſchon ganz ausgeraͤumt, nur die leeren301 Waͤnde ſtanden da. Es erſchien ſo weitlauftig als unerfreulich. Man hatte alles weggetra¬ gen, nur das Koͤfferchen, unſchluͤſſig wo man es hinſtellen ſollte, in der Mitte des Zimmers ſtehen gelaſſen. Ottilie lag auf dem Boden, Arm und Haupt uͤber den Koffer geſtreckt, Charlotte bemuͤht ſich um ſie, fragt was vor¬ gegangen, und erhaͤlt keine Antwort.

Sie laͤßt ihr Maͤdchen, das mit Erquickun¬ gen kommt, bey Ottilien und eilt zu Eduar¬ den. Sie findet ihn im Saal; auch er be¬ lehrt ſie nicht. Er wirft ſich vor ihr nieder, er badet ihre Haͤnde in Thraͤnen, er flieht auf ſein Zimmer, und als ſie ihm nachfolgen will, begegnet ihr der Kammerdiener, der ſie aufklaͤrt ſoweit er vermag. Das Uebrige denkt ſie ſich zuſammen, und dann ſogleich mit Entſchloſſenheit an das was der Augenblick fordert. Ottiliens Zimmer iſt aufs baldigſte wieder eingerichtet. Eduard hat die ſeinigen302 angetroffen, bis auf das letzte Papier, wie er ſie verlaſſen.

Die Dreye ſcheinen ſich wieder gegenein¬ ander zu finden; aber Ottilie faͤhrt fort zu ſchweigen, und Eduard vermag nichts als ſeine Gattinn um Geduld zu bitten, die ihm ſelbſt zu fehlen ſcheint. Charlotte ſendet Bo¬ ten an Mittlern und an den Major. Jener war nicht anzutreffen; dieſer kommt. Gegen ihn ſchuͤttet Eduard ſein Herz aus, ihm geſteht er jeden kleinſten Umſtand, und ſo erfaͤhrt Charlotte was begegnet, was die Lage ſo ſonderbar veraͤndert, was die Gemuͤther auf¬ geregt.

Sie ſpricht aufs liebevollſte mit ihrem Ge¬ mahl. Sie weiß keine andere Bitte zu thun als nur, daß man das Kind gegenwaͤrtig nicht beſtuͤrmen moͤge. Eduard fuͤhlt den Werth, die Liebe, die Vernunft ſeiner Gattinn; aber ſeine Neigung beherrſcht ihn ausſchlie߬303 lich. Charlotte macht ihm Hoffnung, verſpricht ihm in die Scheidung zu willigen. Er traut nicht; er iſt ſo krank, daß ihn Hoffnung und Glaube abwechſelnd verlaſſen; er dringt in Charlotten, ſie ſoll dem Major ihre Hand zuſagen; eine Art von wahnſinnigem Unmuth hat ihn ergriffen. Charlotte, ihn zu beſaͤnfti¬ gen, ihn zu erhalten, thut was er fordert. Sie ſagt dem Major ihre Hand zu, auf den Fall, daß Ottilie ſich mit Eduarden verbinden wolle, jedoch unter ausdruͤcklicher Bedingung, daß die beyden Maͤnner fuͤr den Augenblick zuſammen eine Reiſe machen. Der Major hat fuͤr ſeinen Hof ein auswaͤrtiges Geſchaͤft, und Eduard verſpricht ihn zu begleiten. Man macht Anſtalten und man beruhigt ſich einiger¬ maßen, indem wenigſtens etwas geſchieht.

Unterdeſſen kann man bemerken, daß Ot¬ tilie kaum Speiſe noch Trank zu ſich nimmt, indem ſie immerfort bey ihrem Schweigen verharrt. Man redet ihr zu, ſie wird aͤngſt¬304 lich; man unterlaͤßt es. Denn haben wir nicht meiſtentheils die Schwaͤche, daß wir Jemanden auch zu ſeinem Beſten nicht gern quaͤlen moͤgen. Charlotte ſann alle Mittel durch, endlich gerieth ſie auf den Gedanken, jenen Gehuͤlfen aus der Penſion kommen zu laſſen, der uͤber Ottilien viel vermochte, der wegen ihres unvermutheten Außenbleibens ſich ſehr freundlich geaͤußert, aber keine Antwort erhalten hatte.

Man ſpricht, um Ottilien nicht zu uͤber¬ raſchen, von dieſem Vorſatz in ihrer Gegen¬ wart. Sie ſcheint nicht einzuſtimmen; ſie bedenkt ſich; endlich ſcheint ein Entſchluß in ihr zu reifen, ſie eilt nach ihrem Zimmer und ſendet noch vor Abend an die Verſam¬ melten folgendes Schreiben.

305

Ottilie den Freunden.

Warum ſoll ich ausdruͤcklich ſagen, meine Geliebten, was ſich von ſelbſt verſteht. Ich bin aus meiner Bahn geſchritten und ich ſoll nicht wieder hinein. Ein feindſeliger Daͤmon, der Macht uͤber mich gewonnen, ſcheint mich von außen zu hindern, haͤtte ich mich auch mit mir ſelbſt wieder zur Einigkeit gefunden.

Ganz rein war mein Vorſatz, Eduarden zu entſagen, mich von ihm zu entfernen. Ihm hofft 'ich nicht wieder zu begegnen. Es iſt anders geworden; er ſtand ſelbſt gegen ſeinen eigenen Willen vor mir. Mein Verſprechen mich mit ihm in keine Unterredung einzulaſ¬ ſen, habe ich vielleicht zu buchſtaͤblich genom¬ men und gedeutet. Nach Gefuͤhl und Ge¬ wiſſen des Augenblicks ſchwieg ich, verſtummt' II. 20306ich vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu ſagen. Ein ſtrenges Ordensgeluͤbde, welches den der es mit Ueberlegung eingeht, vielleicht unbequem aͤngſtiget, habe ich zufaͤl¬ lig, vom Gefuͤhl gedrungen, uͤber mich ge¬ nommen. Laßt mich darin beharren, ſo lange mir das Herz gebietet. Beruft keine Mit¬ telsperſon! Dringt nicht in mich, daß ich re¬ den, daß ich mehr Speiſe und Trank ge¬ nießen ſoll, als ich hoͤchſtens bedarf. Helft mir durch Nachſicht und Geduld uͤber dieſe Zeit hinweg. Ich bin jung, die Jugend ſtellt ſich unverſehens wieder her. Duldet mich in eurer Gegenwart, erfreut mich durch eure Liebe, belehrt mich durch eure Unterhaltung; aber mein Innres uͤberlaßt mir ſelbſt.

Die laͤngſt vorbereitete Abreiſe der Maͤn¬ ner unterblieb, weil jenes auswaͤrtige Geſchaͤft des Majors ſich verzoͤgerte: wie erwuͤnſcht fuͤr Eduard! Nun durch Ottiliens Blatt aufs307 neue angeregt, durch ihre troſtvollen hoffnung¬ gebenden Worte wieder ermuthigt und zu ſtandhaftem Ausharren berechtigt, erklaͤrte er auf einmal: er werde ſich nicht entfernen. Wie thoͤricht! rief er aus, das Unentbehr¬ lichſte, Nothwendigſte vorſaͤtzlich, voreilig weg¬ zuwerfen, das, wenn uns auch der Verluſt bedroht, vielleicht noch zu erhalten waͤre. Und was ſoll es heißen? Doch nur, daß der Menſch ja ſcheine wollen, waͤhlen zu koͤnnen. So habe ich oft, beherrſcht von ſolchem albernen Duͤnkel, Stunden ja Tage zu fruͤh, mich von Freunden losgeriſſen, um nur nicht von dem letzten unausweichlichen Termin entſchieden ge¬ zwungen zu werden. Dießmal aber will ich bleiben. Warum ſoll ich mich entfernen? Iſt ſie nicht ſchon von mir entfernt? Es faͤllt mir nicht ein, ihre Hand zu faſſen, ſie an mein Herz zu druͤcken; ſogar darf ich es nicht den¬ ken, es ſchaudert mir. Sie hat ſich nicht von mir weg, ſie hat ſich uͤber mich wegge¬ hoben.

20 *308

Und ſo blieb er, wie er wollte, wie er mußte. Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er ſich mit ihr zuſammenfand. Und ſo war auch ihr dieſelbe Empfindung geblieben; auch ſie konnte ſich dieſer ſeligen Nothwen¬ digkeit nicht entziehen. Nach wie vor uͤbten ſie eine unbeſchreibliche, faſt magiſche Anzie¬ hungskraft gegen einander aus. Sie wohn¬ ten unter Einem Dache; aber ſelbſt ohne ge¬ rade an einander zu denken, mit andern Din¬ gen beſchaͤftigt, von der Geſellſchaft hin und her gezogen, naͤherten ſie ſich einander. Fan¬ den ſie ſich in Einem Saale, ſo dauerte es nicht lange und ſie ſtanden, ſie ſaßen neben einander. Nur die naͤchſte Naͤhe konnte ſie beruhigen, aber auch voͤllig beruhigen, und dieſe Naͤhe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebaͤrde, keiner Beruͤhrung bedurfte es, nur des reinen Zu¬ ſammenſeyns. Dann waren es nicht zwey Menſchen, es war nur Ein Menſch im be¬ wußtloſen vollkommnen Behagen, mit ſich309 ſelbſt zufrieden und mit der Welt. Ja, haͤt¬ te man eins von beyden am letzten Ende der Wohnung feſtgehalten, das andere haͤtte ſich nach und nach von ſelbſt, ohne Vorſatz, zu ihm hinbewegt. Das Leben war ihnen ein Raͤthſel, deſſen Aufloͤſung ſie nur mit einan¬ der fanden.

Ottilie war durchaus heiter und gelaſſen, ſo daß man ſich uͤber ſie voͤllig beruhigen konnte. Sie entfernte ſich wenig aus der Ge¬ ſellſchaft, nur hatte ſie es erlangt, allein zu ſpeiſen. Niemand als Nanny bediente ſie.

Was einem jeden Menſchen gewoͤhnlich begegnet, wiederhohlt ſich mehr als man glaubt, weil ſeine Natur hiezu die naͤchſte Beſtim¬ mung giebt. Character, Individualitaͤt, Nei¬ gung, Richtung, Oertlichkeit, Umgebungen und Gewohnheiten bilden zuſammen ein Gan¬ zes, in welchem jeder Menſch, wie in einem Elemente, in einer Atmosphaͤre, ſchwimmt,310 worin es ihm allein bequem und behaglich iſt. Und ſo finden wir die Menſchen, uͤber deren Veraͤnderlichkeit ſo viele Klage gefuͤhrt wird, nach vielen Jahren zu unſerm Erſtau¬ nen unveraͤndert, und nach aͤußern und in¬ nern unendlichen Anregungen unveraͤnderlich.

So bewegte ſich auch in dem taͤglichen Zuſammenleben unſerer Freunde faſt alles wie¬ der in dem alten Gleiſe. Noch immer aͤußer¬ te Ottilie ſtillſchweigend durch manche Gefaͤl¬ ligkeit ihr zuvorkommendes Weſen; und ſo jedes nach ſeiner Art. Auf dieſe Weiſe zeig¬ te ſich der haͤusliche Zirkel als ein Scheinbild des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beym alten ſey, war verzeihlich.

Die herbſtlichen Tage, an Laͤnge jenen Fruͤhlingstagen gleich, riefen die Geſellſchaft um eben die Stunde aus dem Freyen ins Haus zuruͤck. Der Schmuck an Fruͤchten und Blumen, der dieſer Zeit eigen iſt, ließ glau¬311 ben als wenn es der Herbſt jenes erſten Fruͤh¬ lings waͤre; die Zwiſchenzeit war ins Ver¬ geſſen gefallen. Denn nun bluͤhten die Blu¬ men, dergleichen man in jenen erſten Tagen auch geſaͤt hatte; nun reiften Fruͤchte an den Baͤumen, die man damals bluͤhen geſehen.

Der Major ging ab und zu; auch Mitt¬ ler ließ ſich oͤfter ſehen. Die Abendſitzungen waren meiſtens regelmaͤßig. Eduard las ge¬ woͤhnlich; lebhafter, gefuͤhlvoller, beſſer, ja ſogar heiterer, wenn man will, als jemals. Es war als wenn er, ſo gut durch Froͤhlich¬ keit als durch Gefuͤhl, Ottiliens Erſtarren wieder beleben, ihr Schweigen wieder aufloͤ¬ ſen wollte. Er ſetzte ſich wie vormals, daß ſie ihm ins Buch ſehen konnte, ja er ward unruhig, zerſtreut, wenn ſie nicht hineinſah, wenn er nicht gewiß war, daß ſie ſeinen Wor¬ ten mit ihren Augen folgte.

Jedes unerfreuliche unbequeme Gefuͤhl der mittleren Zeit war ausgeloͤſcht. Keines trug312 mehr dem andern etwas nach; jede Art von Bitterkeit war verſchwunden. Der Major be¬ gleitete mit der Violine das Clavierſpiel Char¬ lottens, ſo wie Eduards Floͤte mit Ottiliens Behandlung des Saiteninſtruments wieder wie vormals zuſammentraf. So ruͤckte man dem Geburtstage Eduards naͤher, deſſen Feyer man vor einem Jahre nicht erreicht hatte. Er ſollte ohne Feſtlichkeit in ſtillem freundlichen Behagen dießmal gefeyert werden. So war man, halb ſtillſchweigend halb ausdruͤcklich, mit einander uͤbereingekommen. Doch je naͤher dieſe Epoche heranruͤckte, vermehrte ſich das Feyerliche in Ottiliens Weſen, das man bis¬ her mehr empfunden als bemerkt hatte. Sie ſchien im Garten oft die Blumen zu muſtern; ſie hatte dem Gaͤrtner angedeutet, die Som¬ mergewaͤchſe aller Art zu ſchonen, und ſich beſonders bey den Aſtern aufgehalten, die ge¬ rade dieſes Jahr in unmaͤßiger Menge bluͤhten.

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Achtzehntes Kapitel.

Das Bedeutendſte jedoch was die Freunde mit ſtiller Aufmerkſamkeit beobachteten, war, daß Ottilie den Coffer zum erſtenmal ausge¬ packt und daraus verſchiedenes gewaͤhlt und abgeſchnitten hatte, was zu einem einzigen aber ganzen und vollen Anzug hinreichte. Als ſie das Uebrige mit Beyhuͤlfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte ſie kaum damit zu Stande kommen; der Raum war uͤbervoll, obgleich ſchon ein Theil herausgenommen war. Das junge habgierige Maͤdchen konnte ſich nicht ſatt ſehen, beſonders da ſie auch fuͤr alle kleineren Stuͤcke des Anzugs geſorgt fand. Schuhe, Struͤmpfe, Strumpfbaͤnder mit Deviſen, Handſchuhe und ſo manches314 andere war noch uͤbrig. Sie bat Ottilien, ihr nur etwas davon zu ſchenken. Dieſe ver¬ weigerte es; zog aber ſogleich die Schublade einer Commode heraus und ließ das Kind waͤhlen, das haſtig und ungeſchickt zugriff und mit der Beute gleich davon lief, um den uͤbrigen Hausgenoſſen ihr Gluͤck zu verkuͤnden und vorzuzeigen.

Zuletzt gelang es Ottilien alles ſorgfaͤltig wieder einzuſchichten; ſie oͤffnete hierauf ein verborgenes Fach das im Deckel angebracht war. Dort hatte ſie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherley aufgetrocknete Blumenerinnerungen fruͤherer Spazirgaͤnge, eine Locke ihres Geliebten, und was ſonſt noch verborgen. Noch eins fuͤgte ſie hinzu es war das Portraͤt ihres Vaters und verſchloß das Ganze, worauf ſie den zarten Schluͤſſel an dem goldnen Kettchen wieder um den Hals an ihre Bruſt hing.

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Mancherley Hoffnungen waren indeß in dem Herzen der Freunde rege geworden. Char¬ lotte war uͤberzeugt, Ottilie werde auf jenen Tag wieder zu ſprechen anfangen: denn ſie hatte bisher eine heimliche Geſchaͤftigkeit be¬ wieſen, eine Art von heiterer Selbſtzufrieden¬ heit, ein Laͤcheln wie es demjenigen auf dem Geſichte ſchwebt, der Geliebten etwas Gutes und Erfreuliches verbirgt. Niemand wußte, daß Ottilie gar manche Stunde in großer Schwachheit hinbrachte, aus der ſie ſich nur fuͤr die Zeiten, wo ſie erſchien, durch Geiſtes¬ kraft emporhielt.

Mittler hatte ſich dieſe Zeit oͤfter ſehen laſſen und war laͤnger geblieben als ſonſt ge¬ woͤhnlich. Der hartnaͤckige Mann wußte nur zu wohl, daß es einen gewiſſen Moment giebt wo allein das Eiſen zu ſchmieden iſt. Otti¬ liens Schweigen ſo wie ihre Weigerung legte er zu ſeinen Gunſten aus. Es war bisher kein Schritt zu Scheidung der Gatten ge¬316 ſchehen; er hoffte das Schickſal des guten Maͤdchens auf irgend eine andere guͤnſtige Weiſe zu beſtimmen; er horchte, er gab nach, er gab zu verſtehen und fuͤhrte ſich nach ſei¬ ner Weiſe klug genug auf.

Allein uͤberwaͤltigt war er ſtets ſobald er Anlaß fand, ſein Raͤſonnement uͤber Mate¬ rien zu aͤußern, denen er eine große Wichtig¬ keit beylegte. Er lebte viel in ſich, und wenn er mit andern war, ſo verhielt er ſich ge¬ woͤhnlich nur handelnd gegen ſie. Brach nun einmal unter Freunden ſeine Rede los, wie wir ſchon oͤfter geſehen haben; ſo rollte ſie ohne Ruͤckſicht fort, verletzte oder heilte, nutzte oder ſchadete, wie es ſich gerade fuͤgen mochte.

Den Abend vor Eduards Geburtstage ſaßen Charlotte und der Major, Eduarden der ausgeritten war, erwartend beyſammen; Mittler ging im Zimmer auf und ab; Ottilie war auf dem ihrigen geblieben, den morgen¬317 den Schmuck auseinander legend und ihrem Maͤdchen manches andeutend, welche ſie voll¬ kommen verſtand und die ſtummen Anord¬ nungen geſchickt befolgte.

Mittler war gerade auf eine ſeiner Lieb¬ lingsmaterien gekommen. Er pflegte gern zu behaupten, daß ſowohl bey der Erziehung der Kinder als bey der Leitung der Voͤlker, nichts ungeſchickter und barbariſcher ſey als Verbote, als verbietende Geſetze und Anordnungen. Der Menſch iſt von Hauſe aus thaͤtig, ſagte er, und wenn man ihm zu gebieten verſteht, ſo faͤhrt er gleich dahinter her, handelt und richtet aus. Ich fuͤr meine Perſon mag lie¬ ber in meinem Kreiſe Fehler und Gebrechen ſo lange dulden, bis ich die entgegengeſetzte Tugend gebieten kann, als daß ich den Feh¬ ler los wuͤrde und nichts Rechtes an ſeiner Stelle ſaͤhe. Der Menſch thut recht gern das Gute, das Zweckmaͤßige, wenn er nur dazu kommen kann; er thut es, damit er was318 zu thun hat, und ſinnt daruͤber nicht weiter nach, als uͤber alberne Streiche, die er aus Muͤßiggang und langer Weile vornimmt.

Wie verdrießlich iſt mir's oft, mit anzu¬ hoͤren, wie man die Zehngebote in der Kin¬ derlehre wiederhohlen laͤßt. Das vierte iſt noch ein ganz huͤbſches vernuͤnftiges gebieten¬ des Gebot: Du ſollſt Vater und Mutter ehren. Wenn ſich das die Kinder recht in den Sinn ſchreiben, ſo haben ſie den ganzen Tag daran auszuuͤben. Nun aber das fuͤnfte, was ſoll man dazu ſagen? Du ſollſt nicht toͤdten. Als wenn irgend ein Menſch im mindeſten Luſt haͤtte den andern todt zu ſchlagen! Man haßt einen, man erzuͤrnt ſich, man uͤbereilt ſich und in Gefolg von dem und manchem andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen todt ſchlaͤgt. Aber iſt es nicht eine bar¬ bariſche Anſtalt, den Kindern Mord und Todtſchlag zu verbieten? Wenn es hieße: ſorge fuͤr des Andern Leben, entferne was319 ihm ſchaͤdlich ſeyn kann, rette ihn mit deiner eigenen Gefahr; wenn du ihn beſchaͤdigſt, denke daß du dich ſelbſt beſchaͤdigſt: das ſind Gebote wie ſie unter gebildeten vernuͤnftigen Voͤlkern Statt haben, und die man bey der Catechismuslehre nur kuͤmmerlich in dem Wasiſtdas nachſchleppt.

Und nun gar das ſechſte, das finde ich ganz abſcheulich! Was? die Neugierde vor¬ ahndender Kinder auf gefaͤhrliche Myſterien reizen, ihre Einbildungskraft zu wunderlichen Bildern und Vorſtellungen aufregen, die ge¬ rade das was man entfernen will, mit Ge¬ walt heranbringen! Weit beſſer waͤre es, daß dergleichen von einem heimlichen Gericht will¬ kuͤhrlich beſtraft wuͤrde, als daß man vor Kirch 'und Gemeinde davon plappern laͤßt.

In dem Augenblick trat Ottilie herein Du ſollſt nicht ehebrechen, fuhr Mittler fort: Wie grob, wie unanſtaͤndig! Klaͤnge es nicht320 ganz anders wenn es hieße: Du ſollſt Ehr¬ furcht haben vor der ehelichen Verbindung; wo du Gatten ſiehſt die ſich lieben, ſollſt du dich daruͤber freuen und Theil daran nehmen wie an dem Gluͤck eines heitern Tages. Soll¬ te ſich irgend in ihrem Verhaͤltniß etwas truͤ¬ ben, ſo ſollſt du ſuchen es aufzuklaͤren; du ſollſt ſuchen ſie zu beguͤtigen, ſie zu beſaͤnfti¬ gen, ihnen ihre wechſelſeitigen Vortheile deut¬ lich zu machen, und mit ſchoͤner Uneigen¬ nuͤtzigkeit das Wohl der andern foͤrdern, in¬ dem du ihnen fuͤhlbar machſt was fuͤr ein Gluͤck aus jeder Pflicht und beſonders aus dieſer entſpringt, welche Mann und Weib unaufloͤslich verbindet.

Charlotte ſaß wie auf Kohlen, und der Zuſtand war ihr um ſo aͤngſtlicher als ſie uͤberzeugt war, daß Mittler nicht wußte was und wo er's ſagte, und ehe ſie ihn noch un¬ terbrechen konnte, ſah ſie ſchon Ottilien, deren321 Geſtalt ſich verwandelt hatte, aus dem Zim¬ mer gehen.

Sie erlaſſen uns wohl das ſiebente Ge¬ bot, ſagte Charlotte mit erzwungenem Laͤcheln. Alle die uͤbrigen, verſetzte Mittler, wenn ich nur das rette, worauf die andern beruhen.

Mit entſetzlichem Schrey hereinſtuͤrzend rief Nanny: Sie ſtirbt! Die Fraͤulein ſtirbt! Kommen Sie! kommen Sie!

Als Ottilie nach ihrem Zimmer ſchwan¬ kend zuruͤckgekommen war, lag der morgende Schmuck auf mehreren Stuͤhlen voͤllig aus¬ gebreitet, und das Maͤdchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und herging, rief jubelnd aus: Sehen Sie nur, liebſte Fraͤu¬ lein, das iſt ein Brautſchmuck ganz Ihrer werth!

Ottilie vernahm dieſe Worte und ſank auf den Sopha. Nanny ſieht ihre Herrinn erblaſ¬II. 21322ſen, erſtarren; ſie laͤuft zu Charlotten; man kommt. Der aͤrztliche Hausfreund eilt her¬ bey; es ſcheint ihm nur eine Erſchoͤpfung. Er laͤßt etwas Kraftbruͤhe bringen; Ottilie weiſt ſie mit Abſcheu weg, ja ſie faͤllt faſt in Zuckungen als man die Taſſe dem Munde naͤhert. Er fragt mit Ernſt und Haſt, wie es ihm der Umſtand eingab: was Ottilie heu¬ te genoſſen habe? Das Maͤdchen ſtockt; er wiederhohlt ſeine Frage, das Maͤdchen be¬ kennt, Ottilie habe nichts genoſſen.

Nanny erſcheint ihm aͤngſtlicher als billig. Er reißt ſie in ein Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Maͤdchen wirft ſich auf die Kniee, ſie geſteht, daß Ottilie ſchon lange ſo gut wie nichts genieße. Auf Andringen Ottiliens habe ſie die Speiſen an ihrer Statt genoſſen; ver¬ ſchwiegen habe ſie es wegen bittender und drohender Gebaͤrden ihrer Gebieterinn, und auch, ſetzte ſie unſchuldig hinzu: weil es ihr gar ſo gut geſchmeckt.

323

Der Major und Mittler kamen heran, ſie fanden Charlotten thaͤtig in Geſellſchaft des Arztes. Das bleiche himmliſche Kind ſaß, ſich ſelbſt bewußt wie es ſchien, in der Ecke des Sophas. Man bittet ſie ſich niederzule¬ gen; ſie verweigert's, winkt aber daß man das Koͤfferchen herbeybringe. Sie ſetzt ihre Fuͤße darauf und findet ſich in einer halb lie¬ genden bequemen Stellung. Sie ſcheint Ab¬ ſchied nehmen zu wollen, ihre Gebaͤrden druͤcken den Umſtehenden die zarteſte Anhaͤng¬ lichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit, Abbitte und das herzlichſte Lebewohl.

Eduard der vom Pferde ſteigt, vernimmt den Zuſtand, er ſtuͤrzt in das Zimmer, er wirft ſich an ihre Seite nieder, faßt ihre Hand und uͤberſchwemmt ſie mit ſtummen Thraͤnen. So bleibt er lange. Endlich ruft er aus: Soll ich deine Stimme nicht wieder¬ hoͤren? wirſt du nicht mit einem Wort fuͤr mich ins Leben zuruͤckkehren? Gut, gut! ich21 *324folge dir hinuͤber: da werden wir mit an¬ dern Sprachen reden!

Sie druͤckt ihm kraͤftig die Hand, ſie blickt ihn lebevoll und liebevoll an, und nach einem tiefen Athemzug, nach einer himmli¬ ſchen, ſtummen Bewegung der Lippen: Ver¬ ſprich mir zu leben! ruft ſie aus, mit holder zaͤrtlicher Anſtrengung, doch gleich ſinkt ſie zuruͤck. Ich verſprech 'es! rief er ihr ent¬ gegen, doch er rief es ihr nur nach; ſie war ſchon abgeſchieden.

Nach einer thraͤnenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reſte zu beſtatten, Char¬ lotten anheim. Der Major und Mittler ſtan¬ den ihr bey. Eduards Zuſtand war zu be¬ jammern. Wie er ſich aus ſeiner Verzweif¬ lung nur hervorheben und einigermaßen be¬ ſinnen konnte, beſtand er darauf: Ottilie ſoll¬ te nicht aus dem Schloſſe gebracht, ſie ſollte gewartet, gepflegt, als eine Lebende behandelt325 werden; denn ſie ſey nicht todt, ſie koͤnne nicht todt ſeyn. Man that ihm ſeinen Wil¬ len, inſofern man wenigſtens das unterließ was er verboten hatte. Er verlangte ſie nicht zu ſehen.

Noch ein anderer Schreck ergriff, noch eine andre Sorge beſchaͤftigte die Freunde. Nanny von dem Arzt heftig geſcholten, durch Drohungen zum Bekenntniß genoͤthigt, und nach dem Bekenntniß mit Vorwuͤrfen uͤber¬ haͤuft, war entflohen. Nach langem Suchen fand man ſie wieder; ſie ſchien außer ſich zu ſeyn. Ihre Aeltern nahmen ſie zu ſich. Die beſte Begegnung ſchien nicht anzuſchla¬ gen, man mußte ſie einſperren, weil ſie wie¬ der zu entfliehen drohte.

Stufenweiſe gelang es, Eduarden der hef¬ tigſten Verzweiflung zu entreißen, aber nur zu ſeinem Ungluͤck: denn es ward ihm deut¬ lich, es ward ihm gewiß, daß er das Gluͤck326 ſeines Lebens fuͤr immer verloren habe. Man wagte es ihm vorzuſtellen, daß Ottilie in jener Capelle beygeſetzt, noch immer unter den Le¬ bendigen bleiben und einer freundlichen ſtillen Wohnung nicht entbehren wuͤrde. Es fiel ſchwer ſeine Einwilligung zu erhalten, und nur unter der Bedingung, daß ſie im offenen Sarge hinausgetragen, und in dem Gewoͤlbe allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt und eine immerbrennende Lampe geſtiftet wer¬ den ſollte, ließ er ſichs zuletzt gefallen und ſchien ſich in alles ergeben zu haben.

Man kleidete den holden Koͤrper in jenen Schmuck den ſie ſich ſelbſt vorbereitet hatte; man ſetzte ihr einen Kranz von Aſterblumen auf das Haupt, die wie traurige Geſtirne ahndungsvoll glaͤnzten. Die Baare, die Kir¬ che, die Capelle zu ſchmuͤcken, wurden alle Gaͤrten ihres Schmucks beraubt. Sie lagen veroͤdet als wenn bereits der Winter alle Freude aus den Beeten weggetilgt haͤtte.

327

Beym fruͤhſten Morgen wurde ſie im offnen Sarge aus dem Schloß getragen und die auf¬ gehende Sonne roͤthete nochmals das himm¬ liſche Geſicht. Die Begleitenden draͤngten ſich um die Traͤger, Niemand wollte vorausgehn, Niemand folgen, Jedermann ſie umgeben, Jedermann noch zum letztenmale ihre Gegen¬ wart genießen. Knaben, Maͤnner und Frauen, keins blieb ungeruͤhrt. Untroͤſtlich waren die Maͤdchen, die ihren Verluſt am unmittelbar¬ ſten empfanden.

Nanny fehlte. Man hatte ſie zuruͤckge¬ halten oder vielmehr man hatte ihr den Tag und die Stunde des Begraͤbniſſes verheim¬ licht. Man bewachte ſie bey ihren Aeltern in einer Kammer, die nach dem Garten ging. Als ſie aber die Glocken laͤuten hoͤrte, ward ſie nur allzubald inne was vorging, und da ihre Waͤchterinn, aus Neugierde den Zug zu ſehen, ſie verließ, entkam ſie zum Fenſter hinaus auf einen Gang und von da, weil ſie328 alle Thuͤren verſchloſſen fand, auf den Ober¬ boden.

Eben ſchwankte der Zug den reinlichen mit Blaͤttern beſtreuten Weg durchs Dorf hin. Nanny ſah ihre Gebieterinn deutlich unter ſich, deutlicher, vollſtaͤndiger, ſchoͤner als alle die dem Zuge folgten. Ueberirdiſch, wie auf Wolken oder Wogen getragen, ſchien ſie ihrer Dienerinn zu winken, und dieſe verworren ſchwankend taumelnd ſtuͤrzte hinab.

Auseinander fuhr die Menge mit einem entſetzlichen Schrey nach allen Seiten. Vom Draͤngen und Getuͤmmel waren die Traͤger genoͤthigt die Baare niederzuſetzen. Das Kind lag ganz nahe daran; es ſchien an allen Glie¬ dern zerſchmettert. Man hob es auf; und zufaͤllig oder aus beſonderer Fuͤgung lehnte man es uͤber die Leiche, ja es ſchien ſelbſt noch mit dem letzten Lebensreſt ſeine geliebte Herrinn erreichen zu wollen. Kaum aber329 hatten ihre ſchlotternden Glieder Ottiliens Ge¬ wand, ihre kraftloſen Finger Ottiliens gefal¬ tete Haͤnde beruͤhrt, als das Maͤdchen auf¬ ſprang, Arme und Augen zuerſt gen Himmel erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge niederſtuͤrzte und andaͤchtig entzuͤckt zu der Herrinn hinauf ſtaunte.

Endlich ſprang ſie wie begeiſtert auf und rief mit heiliger Freude: Ja, ſie hat mir vergeben! Was mir kein Menſch, was ich mir ſelbſt nicht vergeben konnte, vergiebt mir Gott durch ihren Blick, ihre Gebaͤrde, ihren Mund. Nun ruht ſie wieder ſo ſtill und ſanft; aber Ihr habt geſehen wie ſie ſich auf¬ richtete und mit entfalteten Haͤnden mich ſeg¬ nete, wie ſie mich freundlich anblickte! Ihr habt es alle gehoͤrt, Ihr ſeyd Zeugen daß ſie zu mir ſagte: Dir iſt vergeben! Ich bin nun keine Moͤrderinn mehr unter Euch; ſie hat mir verziehen, Gott hat mir verzie¬330 hen, und Niemand kann mir mehr etwas anhaben.

Umhergedraͤngt ſtand die Menge; ſie wa¬ ren erſtaunt, ſie horchten und ſahen hin und wieder, und kaum wußte Jemand was er beginnen ſollte. Tragt ſie nun zur Ruhe! ſagte das Maͤdchen: ſie hat das Ihrige ge¬ than und gelitten, und kann nicht mehr unter uns wohnen. Die Baare bewegte ſich weiter, Nanny folgte zuerſt und man gelangte zur Kirche, zur Capelle.

So ſtand nun der Sarg Ottiliens, zu ihren Haͤupten der Sarg des Kindes, zu ih¬ ren Fuͤßen das Koͤfferchen, in ein ſtarkes eichenes Behaͤltniß eingeſchloſſen. Man hatte fuͤr eine Waͤchterinn geſorgt, welche in der erſten Zeit des Leichnams wahrnehmen ſollte, der unter ſeiner Glasdecke gar liebenswuͤrdig dalag. Aber Nanny wollte ſich dieſes Amt nicht nehmen laſſen; ſie wollte allein, ohne331 Geſellinn bleiben und der zum erſtenmal an¬ gezuͤndeten Lampe fleißig warten. Sie ver¬ langte dieß ſo eifrig und hartnaͤckig, daß man ihr nachgab, um ein groͤßeres Gemuͤthsuͤbel das ſich befuͤrchten ließ, zu verhuͤthen.

Aber ſie blieb nicht lange allein: denn gleich mit ſinkender Nacht, als das ſchwebende Licht ſein volles Recht ausuͤbend einen helleren Schein verbreitete, oͤffnete ſich die Thuͤre und es trat der Architect in die Capelle, deren fromm verzierte Waͤnde, bey ſo mildem Schim¬ mer, alterthuͤmlicher und ahndungsvoller, als er je haͤtte glauben koͤnnen, ihm entgegen drangen.

Nanny ſaß an der einen Seite des Sar¬ ges. Sie erkannte ihn gleich; aber ſchwei¬ gend deutete ſie auf die verblichene Herrinn. Und ſo ſtand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmuth, auf ſich ſelbſt zuruͤckgewieſen, ſtarr, in ſich gekehrt, mit nie¬332 dergeſenkten Armen, gefalteten, mitleidig ge¬ rungenen Haͤnden, Haupt und Blick nach der Entſeelten hingeneigt.

Schon einmal hatte er ſo vor Beliſar ge¬ ſtanden. Unwillkuͤhrlich gerieth er jetzt in die gleiche Stellung; und wie natuͤrlich war ſie auch dießmal! Auch hier war etwas unſchaͤtz¬ bar Wuͤrdiges von ſeiner Hoͤhe herabge¬ ſtuͤrzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermoͤgen in einem Man¬ ne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden; wenn Eigenſchaften, die der Nation, dem Fuͤrſten, in entſcheidenden Momenten un¬ entbehrlich ſind, nicht geſchaͤtzt, vielmehr ver¬ worfen und ausgeſtoßen worden: ſo waren hier ſo viel andere ſtille Tugenden, von der Natur erſt kurz aus ihren gehaltreichen Tie¬ fen hervorgerufen, durch ihre gleichguͤltige Hand ſchnell wieder ausgetilgt: ſeltene, ſchoͤne, liebenswuͤrdige Tugenden, deren friedliche Ein¬ wirkung die beduͤrftige Welt zu jeder Zeit mit333 wonnevollem Genuͤgen umfaͤngt und mit ſehn¬ ſuͤchtiger Trauer vermißt.

Der Juͤngling ſchwieg, auch das Maͤdchen eine Zeit lang; als ſie ihm aber die Thraͤnen haͤufig aus dem Auge quellen ſah, als er ſich im Schmerz ganz aufzuloͤſen ſchien, ſprach ſie mit ſo viel Wahrheit und Kraft, mit ſo viel Wohlwollen und Sicherheit, ihm zu, daß er uͤber den Fluß ihrer Rede erſtaunt, ſich zu faſſen vermochte, und ſeine ſchoͤne Freundinn ihm in einer hoͤhern Region lebend und wir¬ kend vorſchwebte. Seine Thraͤnen trockneten, ſeine Schmerzen linderten ſich; knieend nahm er von Ottilien, mit einem herzlichen Haͤnde¬ druck von Nanny Abſchied, und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg ohne Jemand weiter geſehen zu haben.

Der Wundarzt war die Nacht uͤber, ohne des Maͤdchens Wiſſen, in der Kirche geblie¬ ben, und fand als er ſie des Morgens be¬334 ſuchte, ſie heiter und getroſten Muthes. Er war auf mancherley Verirrungen gefaßt; er dachte ſchon, ſie werde ihm von naͤchtlichen Unterredungen mit Ottilien und von andern ſolchen Erſcheinungen ſprechen: aber ſie war natuͤrlich, ruhig und ſich voͤllig ſelbſtbewußt. Sie erinnerte ſich vollkommen aller fruͤheren Zeiten, aller Zuſtaͤnde mit großer Genauig¬ keit, und nichts in ihren Reden ſchritt aus dem gewoͤhnlichen Gange des Wahren und Wirklichen heraus, als nur die Begebenheit beym Leichenbegaͤngniß, die ſie mit Freudig¬ keit oft wiederhohlte: wie Ottilie ſich aufge¬ richtet, ſie geſegnet, ihr verziehen, und ſie dadurch fuͤr immer beruhigt habe.

Der fortdauernd ſchoͤne, mehr ſchlaf - als todaͤhnliche Zuſtand Ottiliens zog mehrere Menſchen herbey. Die Bewohner und An¬ wohner wollten ſie noch ſehen, und Jeder mochte gern aus Nanny's Munde das Un¬ glaubliche hoͤren; manche um daruͤber zu ſpot¬335 ten, die meiſten um daran zu zweifeln, und wenige um ſich glaubend dagegen zu ver¬ halten.

Jedes Beduͤrfniß deſſen wirkliche Befrie¬ digung verſagt iſt, noͤthigt zum Glauben. Die vor den Augen aller Welt zerſchmetterte Nanny war durch Beruͤhrung des frommen Koͤrpers wieder geſund geworden: warum ſollte nicht auch ein aͤhnliches Gluͤck hier an¬ dern bereitet ſeyn? Zaͤrtliche Muͤtter brachten zuerſt heimlich ihre Kinder, die von irgend einem Uebel behaftet waren, und ſie glaubten eine ploͤtzliche Beſſerung zu ſpuͤren. Das Zutrauen vermehrte ſich, und zuletzt war Nie¬ mand ſo alt und ſo ſchwach, der ſich nicht an dieſer Stelle eine Erquickung und Erleich¬ terung geſucht haͤtte. Der Zudrang wuchs und man ſah ſich genoͤthigt die Capelle, ja außer den Stunden des Gottesdienſtes, die Kirche zu verſchließen.

336

Eduard wagte ſich nicht wieder zu der Abgeſchiedenen. Er lebte nur vor ſich hin, er ſchien keine Thraͤne mehr zu haben, keines Schmerzes weiter faͤhig zu ſeyn. Seine Theilnahme an der Unterhaltung, ſein Genuß von Speiſ 'und Trank vermindert ſich mit jedem Tage. Nur noch einige Erquickung ſcheint er aus dem Glaſe zu ſchluͤrfen, das ihm freylich kein wahrhafter Prophet gewe¬ ſen. Er betrachtet noch immer gern die ver¬ ſchlungenen Namenszuͤge und ſein ernſtheite¬ rer Blick dabey ſcheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe. Und wie den Gluͤcklichen jeder Nebenumſtand zu beguͤnſtigen, jedes Ungefaͤhr mit emporzu¬ heben ſcheint; ſo moͤgen ſich auch gern die kleinſten Vorfaͤlle zur Kraͤnkung, zum Ver¬ derben des Ungluͤcklichen vereinigen. Denn eines Tages, als Eduard, das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es mit Ent¬ ſetzen wieder: es war daſſelbe und nicht daſ¬ ſelbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen. 337Man dringt in den Kammerdiener und dieſer muß geſtehen: das aͤchte Glas ſey unlaͤngſt zerbrochen, und ein gleiches, auch aus Eduards Jugendzeit, untergeſchoben worden. Eduard kann nicht zuͤrnen, ſein Schickſal iſt ausge¬ ſprochen durch die That: wie ſoll ihn das Gleichniß ruͤhren? Aber doch druͤckt es ihn tief. Der Trank ſcheint ihm von nun an zu wider¬ ſtehen; er ſcheint ſich mit Vorſatz der Speiſe, des Geſpraͤchs zu enthalten.

Aber von Zeit zu Zeit uͤberfaͤllt ihn eine Unruhe. Er verlangt wieder etwas zu genie¬ ßen, er faͤngt wieder an zu ſprechen. Ach! ſagte er einmal zum Major, der ihm wenig von der Seite kam: was bin ich ungluͤcklich, daß mein ganzes Beſtreben nur immer eine Nachahmung, ein falſches Bemuͤhen bleibt! Was ihr Seligkeit geweſen, wird mir Pein; und doch, um dieſer Seligkeit willen, bin ich genoͤthigt dieſe Pein zu uͤbernehmen. Ich muß ihr nach, auf dieſem Wege nach; aberII. 22338meine Natur haͤlt mich zuruͤck und mein Verſprechen. Es iſt eine ſchreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen. Ich fuͤhle wohl, Beſter, es gehoͤrt Genie zu allem, auch zum Maͤrtyrerthum.

Was ſollen wir, bey dieſem hoffnungs¬ loſen Zuſtande, der ehegattlichen, freundſchaft¬ lichen, aͤrztlichen Bemuͤhungen gedenken, in welchen ſich Eduards Angehoͤrige eine Zeit lang hin und herwogten. Endlich fand man ihn todt. Mittler machte zuerſt dieſe traurige Entdeckung. Er berief den Arzt und beob¬ achtete, nach ſeiner gewoͤhnlichen Faſſung, ge¬ nau die Umſtaͤnde in denen man den Verbli¬ chenen angetroffen hatte. Charlotte ſtuͤrzte herbey: ein Verdacht des Selbſtmordes regte ſich in ihr; ſie wollte ſich, ſie wollte die andern einer unverzeihlichen Unvorſichtigkeit anklagen. Doch der Arzt aus natuͤrlichen, und Mittler aus ſittlichen Gruͤnden, wußten ſie bald vom Gegentheil zu uͤberzeugen. Ganz deutlich339 war Eduard von ſeinem Ende uͤberraſcht worden. Er hatte, was er bisher ſorgfaͤltig zu verbergen pflegte, das ihm von Ottilien uͤbrig gebliebene, in einem ſtillen Augenblick, vor ſich aus einem Kaͤſtchen, aus einer Brief¬ taſche ausgebreitet: eine Locke, Blumen in gluͤcklicher Stunde gepfluͤckt, alle Blaͤttchen die ſie ihm geſchrieben, von jenem erſten an das ihm ſeine Gattinn ſo zufaͤllig ahndungs¬ reich uͤbergeben hatte. Das alles konnte er nicht einer ungefaͤhren Entdeckung mit Wil¬ len preißgeben. Und ſo lag denn auch dieſes vor kurzem zu unendlicher Bewegung aufge¬ regte Herz in unſtoͤrbarer Ruhe; und wie er in Gedanken an die Heilige eingeſchlafen war, ſo konnte man wohl ihn ſelig nennen. Charlotte gab ihm ſeinen Platz neben Ottilien und verordnete, daß Niemand weiter in die¬ ſem Gewoͤlbe beygeſetzt werde. Unter dieſer Bedingung machte ſie fuͤr Kirche und Schule, fuͤr den Geiſtlichen und den Schullehrer an¬ ſehnliche Stiftungen.

22 *340

So ruhen die Liebenden neben einander. Friede ſchwebt uͤber ihrer Staͤtte, heitere ver¬ wandte Engelsbilder ſchauen vom Gewoͤlbe auf ſie herab, und welch ein freundlicher Au¬ genblick wird es ſeyn, wenn ſie dereinſt wie¬ der zuſammen erwachen.

About this transcription

TextDie Wahlverwandtschaften
Author Johann Wolfgang von Goethe
Extent346 images; 41977 tokens; 8091 types; 293562 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Wahlverwandtschaften Ein Roman Zweyter Theil Johann Wolfgang von Goethe. . 340 S. CottaTübingen1809.

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Sammlung Wolfgang Klein Slg. Klein

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr

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ShelfmarkSlg. Klein
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