Im gemeinen Leben begegnet uns oft was wir in der Epopoͤe als Kunſtgriff des Dichters zu ruͤhmen pflegen, daß naͤmlich wenn die Hauptfiguren ſich entfernen, ver¬ bergen, ſich der Unthaͤtigkeit hingeben, gleich ſodann ſchon ein zweyter, dritter, bisher kaum Bemerkter den Platz fuͤllt, und indem er ſeine ganze Thaͤtigkeit aͤußert, uns gleichfalls der Aufmerkſamkeit, der Theilnahme, ja des Lo¬ bes und Preiſes wuͤrdig erſcheint.
So zeigte ſich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards jener Archi¬6 tect taͤglich bedeutender, von welchem die An¬ ordnung und Ausfuͤhrung ſo manches Unter¬ nehmens allein abhing, wobey er ſich genau, verſtaͤndig und thaͤtig erwies, und zugleich den Damen auf mancherley Art beyſtand und in ſtillen langwierigen Stunden ſie zu unterhal¬ ten wußte. Schon ſein Aeußeres war von der Art, daß es Zutrauen einfloͤßte und Nei¬ gung erweckte. Ein Juͤngling im vollen Sinne des Worts, wohlgebaut, ſchlank, eher ein wenig zu groß, beſcheiden ohne aͤngſtlich, zutraulich ohne zudringend zu ſeyn. Freudig uͤbernahm er jede Sorge und Bemuͤhung, und weil er mit großer Leichtigkeit rechnete, ſo war ihm bald das ganze Hausweſen kein Geheimniß, und uͤberall hin verbreitete ſich ſein guͤnſtiger Einfluß. Die Fremden ließ man ihn gewoͤhnlich empfangen und er wußte einen unerwarteten Beſuch entweder abzuleh¬ nen, oder die Frauen wenigſtens dergeſtalt dar¬ auf vorzubereiten, daß ihnen keine Unbequem¬ lichkeit daraus entſprang.
7Unter andern gab ihm eines Tags ein junger Rechtsgelehrter viel zu ſchaffen, der von einem benachbarten Edelmann geſendet eine Sache zur Sprache brachte, die zwar von keiner ſonderlichen Bedeutung Charlotten dennoch innig beruͤhrte. Wir muͤſſen dieſes Vorfalls gedenken, weil er verſchiedenen Din¬ gen einen Anſtoß gab, die ſonſt vielleicht lange geruht haͤtten.
Wir erinnern uns jener Veraͤnderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorge¬ nommen hatte. Die ſaͤmmtlichen Monumente waren von ihrer Stelle geruͤckt und hatten an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden. Der uͤbrige Raum war geebnet. Außer einem breiten Wege, der zur Kirche und an derſelben vorbey zu dem jen¬ ſeitigen Pfoͤrtchen fuͤhrte, war das uͤbrige alles mit verſchiedenen Arten Klee beſaͤt, der auf das ſchoͤnſte gruͤnte und bluͤhte. Nach einer gewiſſen Ordnung ſollten vom Ende her¬8 an die neuen Graͤber beſtellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls beſaͤt werden. Niemand konnte laͤugnen, daß dieſe Anſtalt beym ſonn - und feſttaͤgigen Kirch¬ gang eine heitere und wuͤrdige Anſicht ge¬ waͤhrte. Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geiſtliche, der an¬ faͤnglich mit der Einrichtung nicht ſonderlich zufrieden geweſen, hatte nunmehr ſeine Freude daran, wenn er unter den alten Linden, gleich Philemon, mit ſeiner Baucis vor der Hin¬ terthuͤre ruhend, ſtatt der holprigen Grab¬ ſtaͤtten einen ſchoͤnen, bunten Teppich vor ſich ſah, der noch uͤberdieß ſeinem Haushalt zu Gute kommen ſollte, indem Charlotte die Nutzung dieſes Fleckes der Pfarre zuſichern laſſen.
Allein demungeachtet hatten ſchon manche Gemeindeglieder fruͤher gemißbilligt, daß man die Bezeichnung der Stelle wo ihre Vorfah¬ ren ruhten, aufgehoben und das Andenken9 dadurch gleichſam ausgeloͤſcht: denn die wohl¬ erhaltenen Monumente zeigten zwar an, wer begraben ſey, aber nicht wo er begraben ſey, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie Viele behaupteten.
Von eben ſolcher Geſinnung war eine be¬ nachbarte Familie, die ſich und den Ihrigen einen Raum auf dieſer allgemeinen Ruheſtaͤtte vor mehreren Jahren ausbedungen und dafuͤr der Kirche eine kleine Stiftung zugewendet hatte. Nun war der junge Rechtsgelehrte abgeſendet, um die Stiftung zu wiederrufen und anzuzeigen, daß man nicht weiter zahlen werde, weil die Bedingung unter welcher dieſes bisher geſchehen, einſeitig aufgehoben und auf alle Vorſtellungen und Widerreden nicht geachtet worden. Charlotte, die Urhe¬ berinn dieſer Veraͤnderung, wollte den jungen Mann ſelbſt ſprechen, der zwar lebhaft, aber nicht allzu vorlaut, ſeine und ſeines Princi¬10 pals Gruͤnde darlegte und der Geſellſchaft manches zu denken gab.
Sie ſehen, ſprach er, nach einem kurzen Eingang, in welchem er ſeine Zudringlichkeit zu rechtfertigen wußte: Sie ſehen daß dem Geringſten wie dem Hoͤchſten daran gelegen iſt, den Ort zu bezeichnen der die Seinigen aufbewahrt. Dem aͤrmſten Landmann, der ein Kind begraͤbt, iſt es eine Art von Troſt, ein ſchwaches hoͤlzernes Kreuz auf das Grab zu ſtellen, es mit einem Kranze zu zieren, um wenigſtens das Andenken ſo lange zu er¬ halten als der Schmerz waͤhrt, wenn auch ein ſolches Merkzeichen, wie die Trauer ſelbſt, durch die Zeit aufgehoben wird. Wohlha¬ bende verwandeln dieſe Kreuze in eiſerne, be¬ feſtigen und ſchuͤtzen ſie auf mancherley Weiſe, und hier iſt ſchon Dauer fuͤr mehrere Jahre. Doch weil auch dieſe endlich ſinken und un¬ ſcheinbar werden; ſo haben Beguͤterte nichts Angelegneres, als einen Stein aufzurichten,11 der fuͤr mehrere Generationen zu dauern ver¬ ſpricht und von den Nachkommen erneut und aufgefriſcht werden kann. Aber dieſer Stein iſt es nicht, der uns anzieht, ſondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute. Es iſt nicht ſowohl vom Anden¬ ken die Rede, als von der Perſon ſelbſt, nicht von der Erinnerung, ſondern von der Gegenwart. Ein geliebtes Abgeſchiedenes umarme ich weit eher und inniger im Grab¬ huͤgel als im Denkmal: denn dieſes iſt fuͤr ſich eigentlich nur wenig; aber um daſſelbe her ſollen ſich, wie um einen Markſtein, Gat¬ ten, Verwandte, Freunde, ſelbſt nach ihrem Hinſcheiden noch verſammeln, und der Le¬ bende ſoll das Recht behalten, Fremde und Miswollende auch von der Seite ſeiner ge¬ liebten Ruhenden abzuweiſen und zu entfernen.
Ich halte deswegen dafuͤr, daß mein Principal voͤllig Recht habe, die Stiftung zuruͤckzunehmen; und dieß iſt noch billig ge¬12 nug, denn die Glieder der Familie ſind auf eine Weiſe verletzt, wofuͤr gar kein Erſatz zu denken iſt. Sie ſollen das ſchmerzlich ſuͤße Gefuͤhl entbehren, ihren Geliebten ein Tod¬ tenopfer zu bringen, die troͤſtliche Hoffnung dereinſt unmittelbar neben ihnen zu ruhen.
Die Sache iſt nicht von der Bedeutung, verſetzte Charlotte, daß man ſich deshalb durch einen Rechtshandel beunruhigen ſollte. Meine Anſtalt reut mich ſo wenig, daß ich die Kirche gern, wegen deſſen was ihr entgeht, entſchaͤdigen will. Nur muß ich Ihnen auf¬ richtig geſtehen, Ihre Argumente haben mich nicht uͤberzeugt. Das reine Gefuͤhl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigſtens nach dem Tode, ſcheint mir beruhigender als dieſes eigenſinnige ſtarre Fortſetzen unſerer Perſoͤnlichkeiten, Anhaͤnglichkeiten und Lebens¬ verhaͤltniſſe. Und was ſagen Sie hierzu? richtete ſie ihre Frage an den Architecten.
13Ich moͤchte, verſetzte dieſer, in einer ſol¬ chen Sache weder ſtreiten, noch den Ausſchlag geben. Laſſen Sie mich das, was meiner Kunſt, meiner Denkweiſe am naͤchſten liegt, beſcheidentlich aͤußern. Seitdem wir nicht mehr ſo gluͤcklich ſind, die Reſte eines ge¬ liebten Gegenſtandes eingeurnt an unſere Bruſt zu druͤcken; da wir weder reich noch heiter genug ſind, ſie unverſehrt in großen wohl ausgezierten Sarkophagen zu verwah¬ ren; ja da wir nicht einmal in den Kirchen mehr Platz fuͤr uns und fuͤr die Unſrigen fin¬ den, ſondern hinaus ins Freye gewieſen ſind: ſo haben wir alle Urſache, die Art und Weiſe die Sie, meine gnaͤdige Frau, eingeleitet ha¬ ben, zu billigen. Wenn die Glieder einer Gemeinde reihenweiſe neben einander liegen, ſo ruhen ſie bey und unter den Ihrigen; und wenn die Erde uns einmal aufnehmen ſoll, ſo finde ich nichts natuͤrlicher und reinlicher, als daß man die zufaͤllig entſtandenen nach14 und nach zuſammenſinkenden Huͤgel unge¬ ſaͤumt vergleiche, und ſo die Decke, indem alle ſie tragen, einem Jeden leichter gemacht werde.
Und ohne irgend ein Zeichen des Anden¬ kens, ohne irgend etwas das der Erinne¬ rung entgegen kaͤme, ſollte das alles ſo vor¬ uͤbergehen? verſetzte Ottilie.
Keineswegs! fuhr der Architect fort: nicht vom Andenken, nur vom Platze ſoll man ſich losſagen. Der Baukuͤnſtler, der Bildhauer ſind hoͤchlich intereſſirt, daß der Menſch von ihnen, von ihrer Kunſt, von ihrer Hand eine Dauer ſeines Daſeyns erwarte; und des¬ wegen wuͤnſchte ich gut gedachte, gut ausge¬ fuͤhrte Monumente, nicht einzeln und zufaͤllig ausgeſaͤt, ſondern an einem Orte aufgeſtellt, wo ſie ſich Dauer verſprechen koͤnnen. Da ſelbſt die Frommen und Hohen auf das Vor¬15 recht Verzicht thun, in den Kirchen perſoͤn¬ lich zu ruhen, ſo ſtelle man wenigſtens dort, oder in ſchoͤnen Hallen um die Begraͤbni߬ plaͤtze, Denkzeichen, Denkſchriften auf. Es giebt tauſenderley Formen die man ihnen vor¬ ſchreiben, tauſenderley Zieraten womit man ſie ausſchmuͤcken kann.
Wenn die Kuͤnſtler ſo reich ſind, verſetzte Charlotte, ſo ſagen Sie mir doch: wie kann man ſich niemals aus der Form eines klein¬ lichen Obelisken, einer abgeſtutzten Saͤule und eines Aſchenkrugs herausfinden? Anſtatt der tauſend Erfindungen, deren Sie ſich ruͤhmen, habe ich nur immer tauſend Wiederholungen geſehen.
Das iſt wohl bey uns ſo, entgegnete ihr der Architect, aber nicht uͤberall. Und uͤber¬ haupt mag es mit der Erfindung und der ſchicklichen Anwendung eine eigne Sache ſeyn. 16Beſonders hat es in dieſem Falle manche Schwierigkeit, einen ernſten Gegenſtand zu erheitern und bey einem unerfreulichen nicht ins Unerfreuliche zu gerathen. Was Ent¬ wuͤrfe zu Monumenten aller Art betrifft, de¬ ren habe ich viele geſammelt und zeige ſie gele¬ gentlich; doch bleibt immer das ſchoͤnſte Denk¬ mal des Menſchen eigenes Bildniß. Dieſes giebt mehr als irgend etwas anders einen Begriff von dem was er war; es iſt der beſte Text zu vielen oder wenigen Noten: nur muͤßte es aber auch in ſeiner beſten Zeit gemacht ſeyn, welches gewoͤhnlich verſaͤumt wird. Niemand denkt daran lebende Formen zu erhalten, und wenn es geſchieht, ſo geſchieht es auf unzu¬ laͤngliche Weiſe. Da wird ein Todter ge¬ ſchwind noch abgegoſſen und eine ſolche Maske auf einen Block geſetzt, und das heißt man eine Buͤſte. Wie ſelten iſt der Kuͤnſtler im Stande ſie voͤllig wieder zu be¬ leben!
17Sie haben, ohne es vielleicht zu wiſſen und zu wollen, verſetzte Charlotte, dieß Ge¬ ſpraͤch ganz zu meinen Gunſten gelenkt. Das Bild eines Menſchen iſt doch wohl unabhaͤngig; uͤberall wo es ſteht, ſteht es fuͤr ſich und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die eigentliche Grabſtaͤtte bezeichne. Aber ſoll ich Ihnen eine wunderliche Empfin¬ dung bekennen, ſelbſt gegen die Bildniſſe habe ich eine Art von Abneigung: denn ſie ſcheinen mir immer einen ſtillen Vorwurf zu machen; ſie deuten auf etwas Entferntes, Abgeſchiede¬ nes und erinnern mich, wie ſchwer es ſey, die Gegenwart recht zu ehren. Gedenkt man, wie viel Menſchen man geſehen, gekannt, und geſteht ſich, wie wenig wir ihnen, wie wenig ſie uns geweſen, wie wird uns da zu Mu¬ the! Wir begegnen dem Geiſtreichen ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten ohne von ihm zu lernen, dem Gereiſten ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.
II. 218Und leider ereignet ſich dieß nicht blos mit den Voruͤbergehenden. Geſellſchaften und Familien betragen ſich ſo gegen ihre liebſten Glieder, Staͤdte gegen ihre wuͤrdigſten Buͤr¬ ger, Voͤlker gegen ihre trefflichſten Fuͤrſten, Nationen gegen ihre vorzuͤglichſten Menſchen.
Ich hoͤrte fragen, warum man von den Todten ſo unbewunden Gutes ſage, von den Lebenden immer mit einer gewiſſen Vorſicht. Es wurde geantwortet: weil wir von jenen nichts zu befuͤrchten haben, und dieſe uns noch irgendwo in den Weg kommen koͤnnten. So unrein iſt die Sorge fuͤr das Andenken der andern; es iſt meiſt nur ein ſelbſtiſcher Scherz, wenn es dagegen ein heiliger Ernſt waͤre, ſeine Verhaͤltniſſe gegen die Ueberblie¬ benen immer lebendig und thaͤtig zu erhalten.
Aufgeregt durch den Vorfall und die dar¬ an ſich knuͤpfenden Geſpraͤche, begab man ſich des andern Tages nach dem Begraͤbni߬ platz, zu deſſen Verzierung und Erheiterung der Architect manchen gluͤcklichen Vorſchlag that. Allein auch auf die Kirche ſollte ſich ſeine Sorgfalt erſtrecken, auf ein Gebaͤude das gleich anfaͤnglich ſeine Aufmerkſamkeit an ſich gezogen hatte.
Dieſe Kirche ſtand ſeit mehreren Jahr¬ hunderten, nach deutſcher Art und Kunſt, in guten Maaßen errichtet und auf eine gluͤckliche Weiſe verziert. Man konnte wohl nachkom¬ men, daß der Baumeiſter eines benachbarten2 *20Kloſters mit Einſicht und Neigung ſich auch an dieſem kleineren Gebaͤude bewaͤhrt, und es wirkte noch immer ernſt und angenehm auf den Betrachter, obgleich die innere neue Einrichtung zum proteſtantiſchen Gottesdienſte ihm etwas von ſeiner Ruhe und Majeſtaͤt genommen hatte.
Dem Architecten fiel es nicht ſchwer, ſich von Charlotten eine maͤßige Summe zu er¬ bitten, wovon er das Aeußere ſowohl als das Innere im alterthuͤmlichen Sinne herzuſtellen und mit dem davor liegenden Auferſtehungs¬ felde zur Uebereinſtimmung zu bringen ge¬ dachte. Er hatte ſelbſt viel Handgeſchick, und einige Arbeiter, die noch am Hausbau beſchaͤftigt waren, wollte man gern ſo lange beybehalten bis auch dieſes fromme Werk vollendet waͤre.
Man war nunmehr in dem Falle, das Gebaͤude ſelbſt mit allen Umgebungen und21 Angebaͤuden zu unterſuchen, und da zeigte ſich zum groͤßten Erſtaunen und Vergnuͤgen des Architecten eine wenig bemerkte kleine Sei¬ tencapelle von noch geiſtreichern und leichte¬ ren Maaßen, von noch gefaͤlligern und fleißi¬ gern Zieraten. Sie enthielt zugleich manchen geſchnitzten und gemalten Reſt jenes aͤlteren Gottesdienſtes, der mit mancherley Gebild und Geraͤthſchaft die verſchiedenen Feſte zu bezeichnen und jedes auf ſeine eigne Weiſe zu feyern wußte.
Der Architect konnte nicht unterlaſſen, die Capelle ſogleich in ſeinen Plan mit her¬ einzuziehen und beſonders dieſen engen Raum als ein Denkmal voriger Zeiten und ihres Geſchmacks wieder herzuſtellen. Er hatte ſich die leeren Flaͤchen nach ſeiner Neigung ſchon verziert gedacht, und freute ſich dabey ſein maleriſches Talent zu uͤben; allein er machte ſeinen Hausgenoſſen fuͤrs Erſte ein Geheim¬ niß davon.
22Vor allem andern zeigte er verſprochener¬ maßen den Frauen die verſchiedenen Nachbil¬ dungen und Entwuͤrfe von alten Grabmonu¬ menten, Gefaͤßen und andern dahin ſich naͤ¬ hernden Dingen, und als man im Geſpraͤch auf die einfacheren Grabhuͤgel der nordiſchen Voͤlker zu reden kam, brachte er ſeine Samm¬ lung von mancherley Waffen und Geraͤth¬ ſchaften die darin gefunden worden, zur An¬ ſicht. Er hatte alles ſehr reinlich und trag¬ bar in Schubladen und Faͤchern auf einge¬ ſchnittenen mit Tuch uͤberzogenen Brettern, ſo daß dieſe alten ernſten Dinge durch ſeine Be¬ handlung etwas Putzhaftes annahmen und man mit Vergnuͤgen darauf, wie auf die Kaͤſtchen eines Modehaͤndlers hinblickte. Und da er einmal im Vorzeigen war, da die Einſamkeit eine Unterhaltung forderte, ſo pflegte er jeden Abend mit einem Theil ſeiner Schaͤtze her¬ vorzutreten. Sie waren meiſtentheils deut¬ ſchen Urſprungs: Bracteaten, Dickmuͤnzen, Siegel und was ſonſt ſich noch anſchließen23 mag. Alle dieſe Dinge richteten die Einbil¬ dungskraft gegen die aͤltere Zeit hin, und da er zuletzt mit den Anfaͤngen des Drucks, Holzſchnitten und den aͤlteſten Kupfern ſeine Unterhaltung zierte, und die Kirche taͤglich auch, jenem Sinne gemaͤß, an Farbe und ſonſtiger Auszierung gleichſam der Vergangen¬ heit entgegenwuchs; ſo mußte man ſich bey¬ nahe ſelbſt fragen: ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum ſey, daß man nunmehr in ganz andern Sit¬ ten, Gewohnheiten, Lebensweiſen und Ueber¬ zeugungen verweile.
Auf ſolche Art vorbereitet that ein groͤße¬ res Portefeuille, das er zuletzt herbeybrachte, die beſte Wirkung. Es enthielt zwar meiſt nur umrißne Figuren, die aber, weil ſie auf die Bilder ſelbſt durchgezeichnet waren, ihren alterthuͤmlichen Character vollkommen erhalten hatten, und dieſen, wie einnehmend fanden ihn die Beſchauenden! Aus allen Geſtalten24 blickte nur das reinſte Daſeyn hervor, alle mußte man, wo nicht fuͤr edel, doch fuͤr gut anſprechen. Heitere Sammlung, willige An¬ erkennung eines Ehrwuͤrdigen uͤber uns, ſtille Hingebung in Liebe und Erwartung war auf allen Geſichtern, in allen Gebaͤrden ausge¬ druͤckt. Der Greis mit dem kahlen Scheitel, der reichlockige Knabe, der muntere Juͤngling, der ernſte Mann, der verklaͤrte Heilige, der ſchwebende Engel, alle ſchienen ſelig in einem unſchuldigen Genuͤgen, in einem frommen Erwarten. Das gemeinſte was geſchah hatte einen Zug von himmliſchem Leben, und eine gottesdienſtliche Handlung ſchien ganz jeder Natur angemeſſen.
Nach einer ſolchen Region blicken wohl die meiſten wie nach einem verſchwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradieſe hin. Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall ſich unter ihres Gleichen zu fuͤhlen.
25Wer haͤtte nun widerſtehen koͤnnen als der Architect ſich erbot, nach dem Anlaß dieſer Ur¬ bilder, die Raͤume zwiſchen den Spitzbogen der Capelle auszumalen und dadurch ſein Andenken entſchieden an einem Orte zu ſtiften, wo es ihm ſo gut gegangen war. Er erklaͤrte ſich hieruͤber mit einiger Wehmuth: denn er konnte nach der Lage der Sache wohl einſehen, daß ſein Aufenthalt in ſo vollkommener Geſellſchaft nicht immer dauern koͤnne, ja vielleicht bald abgebrochen werden muͤſſe.
Uebrigens waren dieſe Tage zwar nicht reich an Begebenheiten, doch voller Anlaͤſſe zu ernſthafter Unterhaltung. Wir nehmen daher Gelegenheit von demjenigen was Ottilie ſich daraus in ihren Heft angemerkt, einiges mitzutheilen, wozu wir keinen ſchicklichern Uebergang finden als durch ein Gleichniß, das ſich uns beym Betrachten ihrer liebens¬ wuͤrdigen Blaͤtter aufdringt.
26Wir hoͤren von einer beſondern Einrich¬ tung bey der engliſchen Marine. Saͤmmtliche Tauwerke der koͤniglichen Flotte, vom ſtaͤrk¬ ſten bis zum ſchwaͤchſten ſind, dergeſtalt ge¬ ſponnen, daß ein rother Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswin¬ den kann ohne alles aufzuloͤſen, und woran auch die kleinſten Stuͤcke kenntlich ſind, daß ſie der Krone gehoͤren.
Eben ſo zieht ſich durch Ottiliens Tage¬ buch ein Faden der Neigung und Anhaͤng¬ lichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch werden dieſe Bemerkun¬ gen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnſpruͤche und was ſonſt vorkommen mag, der Schrei¬ benden ganz beſonders eigen und fuͤr ſie von Bedeutung. Selbſt jede einzelne von uns ausgewaͤhlte und mitgetheilte Stelle giebt da¬ von das entſchiedenſte Zeugniß.
27„ Neben denen dereinſt zu ruhen die man liebt, iſt die angenehmſte Vorſtellung welche der Menſch haben kann, wenn er einmal uͤber das Leben hinausdenkt. Zu den Seini¬ gen verſammelt werden, iſt ein ſo herzlicher Ausdruck. “
„ Es giebt mancherley Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und Abge¬ ſchiedene naͤher bringen. Keins iſt von der Bedeutung des Bildes. Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, ſelbſt wenn es unaͤhnlich iſt, hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, ſich mit ei¬ nem Freunde ſtreiten. Man fuͤhlt auf eine28 angenehme Weiſe, daß man zu zweyen iſt und doch nicht auseinander kann. “
„ Man unterhaͤlt ſich manchmal mit einem gegenwaͤrtigen Menſchen als mit einem Bilde. Er braucht nicht zu ſprechen, uns nicht an¬ zuſehen, ſich nicht mit uns zu beſchaͤftigen: wir ſehen ihn, wir fuͤhlen unſer Verhaͤltniß zu ihm, ja ſogar unſere Verhaͤltniſſe zu ihm koͤnnen wachſen, ohne daß er etwas dazu thut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er ſich eben blos zu uns wie ein Bild verhaͤlt. “
„ Man iſt niemals mit einem Portraͤt zu¬ frieden von Perſonen die man kennt. Des¬ wegen habe ich die Portraͤtmaler immer be¬ dauert. Man verlangt ſo ſelten von den Leu¬ ten das Unmoͤgliche, und gerade von dieſen fordert man's. Sie ſollen einem Jeden ſein Verhaͤltniß zu den Perſonen, ſeine Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen;29 ſie ſollen nicht blos darſtellen, wie ſie einen Menſchen faſſen, ſondern wie Jeder ihn faſ¬ ſen wuͤrde. Es nimmt mich nicht Wunder, wenn ſolche Kuͤnſtler nach und nach verſtockt, gleichguͤltig und eigenſinnig werden. Daraus moͤchte denn entſtehen was wollte, wenn man nur nicht gerade daruͤber die Abbildungen ſo mancher lieben und theueren Menſchen entbeh¬ ren muͤßte. “
„ Es iſt wohl wahr, die Sammlung des Architecten von Waffen und alten Geraͤth¬ ſchaften, die nebſt dem Koͤrper mit hohen Erdhuͤgeln und Felſenſtuͤcken zugedeckt waren, bezeugt uns, wie unnuͤtz die Vorſorge des Menſchen ſey fuͤr die Erhaltung ſeiner Per¬ ſoͤnlichkeit nach dem Tode. Und ſo wider¬ ſprechend ſind wir! Der Architect geſteht, ſelbſt ſolche Grabhuͤgel der Vorfahren geoͤff¬ net zu haben und faͤhrt dennoch fort ſich mit Denkmaͤlern fuͤr die Nachkommen zu be¬ ſchaͤftigen. “
30„ Warum ſoll man es aber ſo ſtreng neh¬ men? Iſt denn alles was wir thun fuͤr die Ewigkeit gethan? Ziehen wir uns nicht Mor¬ gens an, um uns Abends wieder auszuziehen? Verreiſen wir nicht, um wiederzukehren? Und warum ſollten wir nicht wuͤnſchen, neben den Unſrigen zu ruhen, und wenn es auch nur fuͤr ein Jahrhundert waͤre. “
„ Wenn man die vielen verſunkenen, die durch Kirchgaͤnger abgetretenen Grabſteine, die uͤber ihren Grabmaͤlern ſelbſt zuſammen¬ geſtuͤrzten Kirchen erblickt; ſo kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweytes Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Ueberſchrift eintritt und laͤnger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben. Aber auch dieſes Bild, dieſes zweyte Daſeyn verliſcht fruͤher oder ſpaͤter. Wie uͤber die Menſchen ſo auch uͤber die Denkmaͤler laͤßt ſich die Zeit ihr Recht nicht nehmen. “
Es iſt eine ſo angenehme Empfindung ſich mit etwas zu beſchaͤftigen was man nur halb kann, daß Niemand den Dilettanten ſchelten ſollte, wenn er ſich mit einer Kunſt abgiebt, die er nie lernen wird, noch den Kuͤnſtler tadeln duͤrfte, wenn er uͤber die Graͤnze ſeiner Kunſt hinaus, in einem be¬ nachbarten Felde ſich zu ergehen Luſt hat.
Mit ſo billigen Geſinnungen betrachten wir die Anſtalten des Architecten zum Aus¬ malen der Capelle. Die Farben waren be¬ reitet, die Maaße genommen, die Kartone gezeichnet; allen Anſpruch auf Erfindung hatte er aufgegeben; er hielt ſich an ſeine Umriſſe:32 nur die ſitzenden und ſchwebenden Figuren ge¬ ſchickt auszutheilen, den Raum damit geſchmack¬ voll auszuzieren, war ſeine Sorge.
Das Geruͤſte ſtand, die Arbeit ging vor¬ waͤrts, und da ſchon einiges was in die Au¬ gen fiel erreicht war, konnte es ihm nicht zuwider ſeyn, daß Charlotte mit Ottilien ihn beſuchte. Die lebendigen Engelsgeſichter, die lebhaften Gewaͤnder auf dem blauen Himmels¬ grunde erfreuten das Auge, indem ihr ſtilles frommes Weſen das Gemuͤth zur Samm¬ lung berief und eine ſehr zarte Wirkung her¬ vorbrachte.
Die Frauen waren zu ihm aufs Geruͤſt geſtiegen, und Ottilie bemerkte kaum, wie abgemeſſen leicht und bequem das alles zu¬ ging, als ſich in ihr das durch fruͤhern Un¬ terricht Empfangene mit einmal zu entwickeln ſchien, ſie nach Farbe und Pinſel griff und auf erhaltene Anweiſung ein faltenreiches Ge¬33 wand mit ſoviel Reinlichkeit als Geſchicklich¬ keit anlegte.
Charlotte, welche gern ſah wenn Ottilie ſich auf irgend eine Weiſe beſchaͤftigte und zerſtreute, ließ die beyden gewaͤhren und ging, um ihren eigenen Gedanken nachzuhaͤngen, um ihre Betrachtungen und Sorgen, die ſie niemanden mittheilen konnte, fuͤr ſich durch¬ zuarbeiten.
Wenn gewoͤhnliche Menſchen, durch ge¬ meine Verlegenheiten des Tags zu einem leidenſchaftlich aͤngſtlichen Betragen aufge¬ regt, uns ein mitleidiges Laͤcheln abnoͤ¬ thigen; ſo betrachten wir dagegen mit Ehr¬ furcht ein Gemuͤth, in welchem die Saat ei¬ nes großen Schickſals ausgeſaͤet worden, das die Entwickelung dieſer Empfaͤngniß abwarten muß, und weder das Gute noch das Boͤſe, weder das Gluͤckliche noch das UngluͤcklicheII. 334was daraus entſpringen ſoll, beſchleunigen darf und kann.
Eduard hatte durch Charlottens Boten, den ſie ihm in ſeine Einſamkeit geſendet, freundlich und theilnehmend, aber doch eher gefaßt und ernſt als zutraulich und liebevoll, geantwortet. Kurz darauf war Eduard ver¬ ſchwunden, und ſeine Gattinn konnte zu kei¬ ner Nachricht von ihm gelangen, bis ſie end¬ lich von ungefaͤhr ſeinen Namen in den Zei¬ tungen fand, wo er unter denen, die ſich bey einer bedeutenden Kriegsgelegenheit hervorge¬ than hatten, mit Auszeichnung genannt war. Sie wußte nun, welchen Weg er genommen hatte, ſie erfuhr daß er großen Gefahren entronnen war; allein ſie uͤberzeugte ſich zu¬ gleich, daß er groͤßere aufſuchen wuͤrde, und ſie konnte ſich daraus nur allzuſehr deuten, daß er in jedem Sinne ſchwerlich vom Aeu¬ ßerſten wuͤrde zuruͤckzuhalten ſeyn. Sie trug dieſe Sorgen fuͤr ſich allein immer in Ge¬35 danken, und mochte ſie hin und wieder legen wie ſie wollte, ſo konnte ſie doch bey keiner Anſicht Beruhigung finden.
Ottilie, von alle dem nichts ahndend, hatte indeſſen zu jener Arbeit die groͤßte Nei¬ gung gefaßt, und von Charlotten gar leicht die Erlaubniß erhalten, regelmaͤßig darin fortfahren zu duͤrfen. Nun ging es raſch weiter und der azurne Himmel war bald mit wuͤrdigen Bewohnern bevoͤlkert. Durch eine anhaltende Uebung gewannen Ottilie und der Architect bey den letzten Bildern mehr Frey¬ heit, ſie wurden zuſehends beſſer. Auch die Geſichter, welche dem Architecten zu ma¬ len allein uͤberlaſſen war, zeigten nach und nach eine ganz beſondere Eigenſchaft: ſie fin¬ gen ſaͤmmtlich an Ottilien zu gleichen. Die Naͤhe des ſchoͤnen Kindes mußte wohl in die Seele des jungen Mannes, der noch keine natuͤrliche oder kuͤnſtleriſche Phyſiognomie vor¬ gefaßt hatte, einen ſo lebhaften Eindruck3 *36machen, daß ihm nach und nach, auf dem Wege vom Auge zur Hand, nichts verloren ging, ja daß beyde zuletzt ganz gleichſtimmig arbeiteten. Genug, eins der letzten Geſicht¬ chen gluͤckte vollkommen, ſo daß es ſchien als wenn Ottilie ſelbſt aus den himmliſchen Raͤu¬ men herunterſaͤhe.
An dem Gewoͤlbe war man fertig; die Waͤnde hatte man ſich vorgenommen einfach zu laſſen und nur mit einer hellern braͤunlichen Farbe zu uͤberziehen; die zarten Saͤulen und kuͤnſtlichen bildhaueriſchen Zieraten ſollten ſich durch eine dunklere auszeichnen. Aber wie in ſolchen Dingen immer eins zum andern fuͤhrt, ſo wurden noch Blumen und Fruchtgehaͤnge beſchloſſen, welche Himmel und Erde gleich¬ ſam zuſammenknuͤpfen ſollten. Hier war nun Ottilie ganz in ihrem Felde. Die Gaͤrten lieferten die ſchoͤnſten Muſter, und obſchon die Kraͤnze ſehr reich ausgeſtattet wurden;37 ſo kam man doch fruͤher als man gedacht hatte, damit zu Stande.
Noch ſah aber alles wuͤſte und roh aus. Die Geruͤſte waren durch einander geſchoben, die Bretter uͤber einander geworfen, der un¬ gleiche Fußboden durch mancherley vergoſſene Farben noch mehr verunſtaltet. Der Archi¬ tect erbat ſich nunmehr, daß die Frauenzim¬ mer ihm acht Tage Zeit laſſen und bis dahin die Capelle nicht betreten moͤchten. Endlich erſuchte er ſie an einem ſchoͤnen Abende, ſich beyderſeits dahin zu verfuͤgen; doch wuͤnſchte er ſie nicht begleiten zu duͤrfen und empfahl ſich ſogleich.
Was er uns auch fuͤr eine Ueberraſchung zugedacht haben mag, ſagte Charlotte als er weggegangen war; ſo habe ich doch gegen¬ waͤrtig keine Luſt hinunter zu gehen. Du nimmſt es wohl allein uͤber dich und giebſt mir Nachricht. Gewiß hat er etwas Ange¬38 nehmes zu Stande gebracht. Ich werde es erſt in deiner Beſchreibung und dann gern in der Wirklichkeit genießen.
Ottilie, die wohl wußte, daß Charlotte ſich in manchen Stuͤcken in Acht nahm, alle Gemuͤthsbewegungen vermied, und beſonders nicht uͤberraſcht ſeyn wollte, begab ſich ſogleich allein auf den Weg und ſah ſich unwillkuͤhr¬ lich nach dem Architecten um, der aber nirgends erſchien und ſich mochte verborgen haben. Sie trat in die Kirche, die ſie offen fand. Dieſe war ſchon fruͤher fertig, gereinigt und eingeweiht. Sie trat zur Thuͤre der Ca¬ pelle, deren ſchwere mit Erz beſchlagene Laſt ſich leicht vor ihr aufthat und ſie in einem bekannten Raume mit einem unerwarteten An¬ blick uͤberraſchte.
Durch das einzige hohe Fenſter fiel ein ernſtes buntes Licht herein: denn es war von farbigen Glaͤſern anmuthig zuſammengeſetzt. 39Das Ganze erhielt dadurch einen fremden Ton und bereitete zu einer eigenen Stimmung. Die Schoͤnheit des Gewoͤlbes und der Waͤnde ward durch die Zierde des Fußbodens erhoͤht, der aus beſonders geformten, nach einem ſchoͤ¬ nen Muſter gelegten, durch eine gegoſſene Gipsflaͤche verbundenen Ziegelſteinen beſtand. Dieſe ſowohl als die farbigen Scheiben hatte der Architect heimlich bereiten laſſen, und konnte nun in kurzer Zeit alles zuſammenfuͤ¬ gen. Auch fuͤr Ruheplaͤtze war geſorgt. Es hatten ſich unter jenen kirchlichen Alterthuͤmern einige ſchoͤngeſchnitzte Chorſtuͤhle vorgefunden, die nun gar ſchicklich an den Waͤnden ange¬ bracht umherſtanden.
Ottilie freute ſich der bekannten ihr als ein unbekanntes Ganze entgegentretenden Theile. Sie ſtand, ging hin und wieder, ſah und beſah; endlich ſetzte ſie ſich auf einen der Stuͤhle und es ſchien ihr, indem ſie auf und umherblickte, als wenn ſie waͤre und40 nicht waͤre, als wenn ſie ſich empfaͤnde und nicht empfaͤnde, als wenn dieß alles vor ihr, ſie vor ſich ſelbſt verſchwinden ſollte, und nur als die Sonne das bisher ſehr leb¬ haft beſchienene Fenſter verließ, erwachte Ottilie vor ſich ſelbſt und eilte nach dem Schloſſe.
Sie verbarg ſich nicht in welche ſonder¬ bare Epoche dieſe Ueberraſchung gefallen ſey. Es war der Abend vor Eduards Geburtstage. Dieſen hatte ſie freylich ganz anders zu feyern gehofft: wie ſollte nicht alles zu dieſem Feſte geſchmuͤckt ſeyn? Aber nunmehr ſtand der ganze herbſtliche Blumenreichthum ungepfluͤckt. Dieſe Sonnenblumen wendeten noch immer ihr Angeſicht gen Himmel; dieſe Aſtern ſahen noch immer ſtill beſcheiden vor ſich hin, und was allenfalls davon zu Kraͤnzen gebunden war, hatte zum Muſter gedient einen Ort auszuſchmuͤcken, der wenn er nicht blos eine Kuͤnſtler-Grille bleiben, wenn er zu irgend et¬41 was genutzt werden ſollte, nur zu einer ge¬ meinſamen Grabſtaͤtte geeignet ſchien.
Sie mußte ſich dabey der geraͤuſchvollen Geſchaͤftigkeit erinnern, mit welcher Eduard ihr Geburtsfeſt gefeyert, ſie mußte des neu¬ gerichteten Hauſes gedenken, unter deſſen Decke man ſich ſoviel Freundliches verſprach. Ja das Feuerwerk rauſchte ihr wieder vor Augen und Ohren, je einſamer ſie war, deſto mehr vor der Einbildungskraft; aber ſie fuͤhlte ſich auch nur um deſto mehr allein. Sie lehnte ſich nicht mehr auf ſeinen Arm, und hatte keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine Stuͤtze zufinden.
42„ Eine Bemerkung des jungen Kuͤnſtlers muß ich aufzeichnen: wie am Handwerker ſo am bildenden Kuͤnſtler kann man auf das deutlichſte gewahr werden, daß der Menſch ſich das am wenigſten zuzueignen vermag was ihm ganz eigens angehoͤrt. Seine Werke verlaſſen ihn, ſo wie die Voͤgel das Neſt worin ſie ausgebruͤtet worden. “
„ Der Baukuͤnſtler vor allen hat hierin das wunderlichſte Schickſal. Wie oft wendet er ſeinen ganzen Geiſt, ſeine ganze Neigung auf, um Raͤume hervorzubringen, von denen er ſich ſelbſt ausſchließen muß. Die koͤ¬ niglichen Saͤle ſind ihm ihre Pracht ſchuldig,43 deren groͤßte Wirkung er nicht mitgenießt. In den Tempeln zieht er eine Graͤnze zwi¬ ſchen ſich und dem Allerheiligſten; er darf die Stufen nicht mehr betreten, die er zur Herz erhebenden Feyerlichkeit gruͤndete, ſo wie der Goldſchmid die Monſtranz nur von fern an¬ betet, deren Schmelz und Edelſteine er zu¬ ſammengeordnet hat. Dem Reichen uͤbergiebt der Baumeiſter mit dem Schluͤſſel des Palla¬ ſtes alle Bequemlichkeit und Behaͤbigkeit, ohne irgend etwas davon mitzugenießen. Muß ſich nicht allgemach auf dieſe Weiſe die Kunſt von dem Kuͤnſtler entfernen, wenn das Werk, wie ein ausgeſtattetes Kind, nicht mehr auf den Vater zuruͤckwirkt? und wie ſehr mußte die Kunſt ſich ſelbſt befoͤrdern, als ſie faſt al¬ lein mit dem Oeffentlichen, mit dem was allen und alſo auch dem Kuͤnſtler gehoͤrte, ſich zu beſchaͤftigen beſtimmt war! “
„ Eine Vorſtellung der alten Voͤlker iſt ernſt und kann furchtbar ſcheinen. Sie dach¬44 ten ſich ihre Vorfahren in großen Hoͤhlen rings umher auf Thronen ſitzend in ſtummer Unterhaltung. Dem neuen der hereintrat, wenn er wuͤrdig genug war, ſtanden ſie auf und neigten ihm einen Willkommen. Geſtern als ich in der Capelle ſaß und meinem ge¬ ſchnitzten Stuhle gegenuͤber noch mehrere um¬ hergeſtellt ſah, erſchien mir jener Gedanke gar freundlich und anmuthig. Warum kannſt du nicht ſitzen bleiben? dachte ich bey mir ſelbſt, ſtill und in dich gekehrt ſitzen bleiben, lange lange, bis endlich die Freunde kaͤmen, denen du aufſtuͤndeſt und ihren Platz mit freundlichem Neigen anwieſeſt. Die farbigen Scheiben machen den Tag zur ernſten Daͤm¬ merung und Jemand muͤßte eine ewige Lampe ſtiften, damit auch die Nacht nicht ganz fin¬ ſter bliebe. “
„ Man mag ſich ſtellen wie man will, und man denkt ſich immer ſehend. Ich glaube der Menſch traͤumt nur, damit er nicht auf¬45 hoͤre zu ſehen. Es koͤnnte wohl ſeyn, daß das innere Licht einmal aus uns heraustraͤte, ſo daß wir keines andern mehr beduͤrften. “
„ Das Jahr klingt ab. Der Wind geht uͤber die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur die rothen Beeren jener ſchlan¬ ken Baͤume ſcheinen uns noch an etwas Mun¬ teres erinnern zu wollen, ſo wie uns der Tactſchlag des Dreſchers den Gedanken er¬ weckt, daß in der abgeſichelten Aehre ſoviel Naͤhrendes und Lebendiges verborgen liegt. “
Wie ſeltſam mußte, nach ſolchen Ereig¬ niſſen, nach dieſem aufgedrungenen Gefuͤhl von Vergaͤnglichkeit und Hinſchwinden, Ottilie durch die Nachricht getroffen werden, die ihr nicht laͤnger verborgen bleiben konnte, daß Eduard ſich dem wechſelnden Kriegsgluͤck uͤber¬ liefert habe. Es entging ihr leider keine von den Betrachtungen, die ſie dabey zu machen Urſache hatte. Gluͤcklicherweiſe kann der Menſch nur einen gewiſſen Grad des Un¬ gluͤcks faſſen; was daruͤber hinausgeht ver¬ nichtet ihn oder laͤßt ihn gleichguͤltig. Es giebt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung Eins werden, ſich einander wechſelſeitig auf¬ heben und in eine dunkle Fuͤhlloſigkeit verlie¬ ren. Wie koͤnnten wir ſonſt die entfernten47 Geliebteſten in ſtuͤndlicher Gefahr wiſſen und dennoch unſer taͤgliches gewoͤhnliches Leben immer ſo forttreiben.
Es war daher als wenn ein guter Geiſt fuͤr Ottilien geſorgt haͤtte, indem er auf einmal in dieſe Stille, in der ſie einſam und unbeſchaͤftigt zu verſinken ſchien, ein wildes Heer hereinbrachte, das, indem es ihr von außen genug zu ſchaffen gab und ſie aus ſich ſelbſt fuͤhrte, zugleich in ihr das Gefuͤhl eige¬ ner Kraft anregte.
Charlottens Tochter, Luciane, war kaum aus der Penſion in die große Welt getreten, hatte kaum in dem Hauſe ihrer Tante ſich von zahlreicher Geſellſchaft umgeben geſehen, als ihr Gefallenwollen wirklich Gefallen er¬ regte, und ein junger, ſehr reicher Mann gar bald eine heftige Neigung empfand, ſie zu beſitzen. Sein anſehnliches Vermoͤgen gab ihm ein Recht, das Beſte jeder Art ſein48 eigen zu nennen, und es ſchien ihm nichts weiter abzugehen als eine vollkommene Frau, um die ihn die Welt ſo wie um das uͤbrige zu beneiden haͤtte.
Dieſe Familienangelegenheit war es, welche Charlotten bisher ſehr viel zu thun gab, der ſie ihre ganze Ueberlegung, ihre Correſpon¬ denz widmete, inſofern dieſe nicht darauf ge¬ richtet war, von Eduard naͤhere Nachricht zu erhalten; deswegen auch Ottilie mehr als ſonſt in der letzten Zeit allein blieb. Dieſe wußte zwar um die Ankunft Lucianens; im Hauſe hatte ſie deshalb die noͤthigſten Vor¬ kehrungen getroffen; allein ſo nahe ſtellte man ſich den Beſuch nicht vor. Man wollte vor¬ her noch ſchreiben, abreden, naͤher beſtimmen, als der Sturm auf einmal uͤber das Schloß und Ottilien hereinbrach.
Angefahren kamen nun Kammerjungfern und Bediente, Brancards mit Koffern und49 Kiſten; man glaubte ſchon eine doppelte und dreyfache Herrſchaft im Hauſe zu haben; aber nun erſchienen erſt die Gaͤſte ſelbſt: Die Großtante mit Lucianen und einigen Freun¬ dinnen, der Braͤutigam gleichfalls nicht unbe¬ gleitet. Da lag das Vorhaus voll Vachen, Mantelſaͤcke und anderer ledernen Gehaͤuſe. Mit Muͤhe ſonderte man die vielen Kaͤſtchen und Futterale auseinander. Des Gepaͤckes und Geſchleppes war kein Ende. Dazwiſchen regnete es mit Gewalt, woraus manche Un¬ bequemlichkeit entſtand. Dieſem ungeſtuͤmen Treiben begegnete Ottilie mit gleichmuͤthiger Thaͤtigkeit, ja ihr heiteres Geſchick erſchien im ſchoͤnſten Glanze: denn ſie hatte in kurzer Zeit alles untergebracht und angeordnet. Je¬ dermann war logirt, Jedermann nach ſeiner Art bequem, und glaubte gut bedient zu ſeyn, weil er nicht gehindert war ſich ſelbſt zu be¬ dienen.
Nun haͤtten alle gern, nach einer hoͤchſt beſchwerlichen Reiſe, einige Ruhe genoſſen;II. 450der Braͤutigam haͤtte ſich ſeiner Schwieger¬ mutter gern genaͤhert, um ihr ſeine Liebe, ſei¬ nen guten Willen zu betheuern: aber Luciane konnte nicht raſten. Sie war nun einmal zu dem Gluͤcke gelangt, ein Pferd beſteigen zu duͤrfen. Der Braͤutigam hatte ſchoͤne Pferde, und ſogleich mußte man aufſitzen. Wetter und Wind, Regen und Sturm kamen nicht in Anſchlag; es war als wenn man nur lebte um naß zu werden und ſich wieder zu trocknen. Fiel es ihr ein, zu Fuße auszu¬ gehen, ſo fragte ſie nicht, was fuͤr Kleider ſie anhatte und wie ſie beſchuht war; ſie mußte die Anlagen beſichtigen von denen ſie vieles gehoͤrt hatte. Was nicht zu Pferde geſchehen konnte, wurde zu Fuß durchrannt. Bald hatte ſie alles geſehen und abgeurtheilt. Bey der Schnelligkeit ihres Weſens war ihr nicht leicht zu widerſprechen. Die Geſellſchaft hatte manches zu leiden, am meiſten aber die Kammermaͤdchen, die mit Waſchen und Buͤ¬51 geln, Auftrennen und Annaͤhen, nicht fertig werden konnten.
Kaum hatte ſie das Haus und die Ge¬ gend erſchoͤpft, als ſie ſich verpflichtet fuͤhlte, rings in der Nachbarſchaft Beſuch abzulegen. Weil man ſehr ſchnell ritt und fuhr, ſo reichte die Nachbarſchaft ziemlich fern umher. Das Schloß ward mit Gegenbeſuchen uͤber¬ ſchwemmt, und damit man ſich ja nicht ver¬ fehlen moͤchte, wurden bald beſtimmte Tage angeſetzt.
Indeſſen Charlotte mit der Tante und dem Geſchaͤftstraͤger des Braͤutigams die in¬ nern Verhaͤltniſſe feſtzuſtellen bemuͤht war, und Ottilie mit ihren Untergebenen dafuͤr zu ſorgen wußte, daß es an nichts, bey ſo gro¬ ßem Zudrang, fehlen moͤchte, da denn Jaͤger und Gaͤrtner, Fiſcher und Kraͤmer in Bewe¬ gung geſetzt wurden; zeigte ſich Luciane im¬ mer wie ein brennender Cometenkern, der4 *52einen langen Schweif nach ſich zieht. Die gewoͤhnlichen Beſuchsunterhaltungen duͤnkten ihr bald ganz unſchmackhaft. Kaum daß ſie den aͤlteſten Perſonen eine Ruhe am Spieltiſch goͤnnte; wer noch einigermaßen beweglich war — und wer ließ ſich nicht durch ihre reizen¬ den Zudringlichkeiten in Bewegung ſetzen? — mußte herbey, wo nicht zum Tanze, doch zum lebhaften Pfand-Straf - und Vexirſpiel. Und obgleich das Alles, ſo wie hernach die Pfaͤnderloͤſung, auf ſie ſelbſt berechnet war, ſo ging doch von der andern Seite Niemand, be¬ ſonders kein Mann, er mochte von einer Art ſeyn von welcher er wollte, ganz leer aus; ja es gluͤckte ihr, einige aͤltere Perſonen von Bedeutung ganz fuͤr ſich zu gewinnen, indem ſie ihre eben einfallenden Geburts - und Namens¬ tage ausgeforſcht hatte und beſonders feyerte. Dabey kam ihr ein ganz eignes Geſchick zu Statten, ſo daß, indem alle ſich beguͤnſtigt ſa¬ hen, jeder ſich fuͤr den am meiſten beguͤnſtig¬ ten hielt: eine Schwachheit deren ſich ſogar der53 Aelteſte in der Geſellſchaft am allermerklich¬ ſten ſchuldig machte.
Schien es bey ihr Plan zu ſeyn, Maͤn¬ ner die etwas vorſtellten, Rang, Anſehen, Ruhm oder ſonſt etwas Bedeutendes vor ſich hatten, fuͤr ſich zu gewinnen, Weisheit und Beſonnenheit zu Schanden zu machen, und ihrem wilden wunderlichen Weſen ſelbſt bey der Bedaͤchtlichkeit Gunſt zu erwerben; ſo kam die Jugend doch dabey nicht zu kurz: Jeder hatte ſein Theil, ſeinen Tag, ſeine Stunde, in der ſie ihn zu entzuͤcken und zu feſſeln wußte. So hatte ſie den Architecten ſchon bald ins Auge gefaßt, der jedoch aus ſeinem ſchwarzen langlockigen Haar ſo unbe¬ fangen herausſah, ſo gerad und ruhig in der Entfernung ſtand, auf alle Fragen kurz und verſtaͤndig antwortete, ſich aber auf nichts weiter einzulaſſen geneigt ſchien, daß ſie ſich endlich einmal, halb unwillig halb liſtig, ent¬ ſchloß ihn zum Helden des Tages zu machen54 und dadurch auch fuͤr ihren Hof zu ge¬ winnen.
Nicht umſonſt hatte ſie ſo vieles Gepaͤcke mitgebracht, ja es war ihr noch manches ge¬ folgt. Sie hatte ſich auf eine unendliche Abwechſelung in Kleidern vorgeſehen. Wenn es ihr Vergnuͤgen machte, ſich des Tags drey viermal umzuziehen und mit gewoͤhnlichen, in der Geſellſchaft uͤblichen Kleidern vom Morgen bis in die Nacht zu wechſeln; ſo erſchien ſie dazwiſchen wohl auch einmal im wirklichen Maskenkleid, als Baͤuerinn und Fiſcherinn, als Fee und Blumenmaͤdchen. Sie verſchmaͤhte nicht, ſich als alte Frau zu verkleiden, um deſto friſcher ihr junges Ge¬ ſicht aus der Kutte hervorzuzeigen; und wirk¬ lich verwirrte ſie dadurch das Gegenwaͤrtige und das Eingebildete dergeſtalt, daß man ſich mit der Saalnixe verwandt und verſchwaͤgert zu ſeyn glaubte.
55Wozu ſie aber dieſe Verkleidungen haupt¬ ſaͤchlich benutzte, waren pantomimiſche Stel¬ lungen und Taͤnze, in denen ſie verſchiedene Character auszudruͤcken gewandt war. Ein Cavalier aus ihrem Gefolge hatte ſich einge¬ richtet, auf dem Fluͤgel ihre Gebaͤrden mit der wenigen noͤthigen Muſik zu begleiten; es bedurfte nur einer kurzen Abrede und ſie wa¬ ren ſogleich in Einſtimmung.
Eines Tages, als man ſie bey der Pauſe eines lebhaften Balls, auf ihren eigenen heimlichen Antrieb, gleichſam aus dem Ste¬ gereife, zu einer ſolchen Darſtellung aufge¬ fordert hatte; ſchien ſie verlegen und uͤber¬ raſcht und ließ ſich wider ihre Gewohnheit lange bitten. Sie zeigte ſich unentſchloſſen, ließ die Wahl, bat wie ein Improviſator um einen Gegenſtand, bis endlich jener Clavier ſpielende Gehuͤlfe, mit dem es abgeredet ſeyn mochte, ſich an den Fluͤgel ſetzte, einen Trauermarſch zu ſpielen anfing und ſie auf¬56 forderte, jene Artemiſia zu geben, welche ſie ſo vortrefflich einſtudirt habe. Sie ließ ſich erbitten, und nach einer kurzen Abweſenheit erſchien ſie, bey den zaͤrtlich traurigen Toͤnen des Todtenmarſches, in Geſtalt der koͤniglichen Wittwe, mit gemeſſenem Schritt, einen Aſchenkrug vor ſich hertragend. Hinter ihr brachte man eine große ſchwarze Tafel und in einer goldenen Reißfeder ein wohl zuge¬ ſchnitztes Stuͤck Kreide.
Einer ihrer Verehrer und Adjutanten, dem ſie etwas ins Ohr ſagte, ging ſogleich den Architecten aufzufordern, zu noͤthigen und gewiſſermaßen herbeyzuſchieben, daß er als Baumeiſter das Grab des Mauſolus zeich¬ nen, und alſo keineswegs einen Statiſten, ſondern einen ernſtlich Mitſpielenden vorſtellen ſollte. Wie verlegen der Architect auch aͤu¬ ßerlich erſchien — denn er machte in ſeiner ganz ſchwarzen knappen modernen Civilge¬ ſtalt einen wunderlichen Contraſt mit jenen57 Floͤren, Creppen, Franzen, Schmelzen, Qua¬ ſten und Kronen — ſo faßte er ſich doch gleich innerlich, allein um ſo wunderlicher war es anzuſehen. Mit dem groͤßten Ernſt ſtellte er ſich vor die große Tafel, die von ein paar Pagen gehalten wurde, und zeich¬ nete mit viel Bedacht und Genauigkeit ein Grabmal, das zwar eher einem longobardi¬ ſchen als einem cariſchen Koͤnig waͤre gemaͤß geweſen, aber doch in ſo ſchoͤnen Verhaͤltniſ¬ ſen, ſo ernſt in ſeinen Theilen, ſo geiſtreich in ſeinen Zieraten, daß man es mit Ver¬ gnuͤgen entſtehen ſah und als es fertig war bewunderte.
Er hatte ſich in dieſem ganzen Zeitraum faſt nicht gegen die Koͤniginn gewendet, ſon¬ dern ſeinem Geſchaͤft alle Aufmerkſamkeit ge¬ widmet. Endlich als er ſich vor ihr neigte und andeutete, daß er nun ihre Befehle voll¬ zogen zu haben glaube, hielt ſie ihm noch die Urne hin, und bezeichnete das Verlan¬58 gen, dieſe oben auf dem Gipfel abgebildet zu ſehen. Er that es, obgleich ungern, weil ſie zu dem Character ſeines uͤbrigen Entwurfs nicht paſſen wollte. Was Lucianen betraf, ſo war ſie endlich von ihrer Ungeduld erloͤſt: denn ihre Abſicht war keineswegs eine gewiſ¬ ſenhafte Zeichnung von ihm zu haben. Haͤtte er mit wenigen Strichen nur hinſkizzirt, was etwa einem Monument aͤhnlich geſehen, und ſich die uͤbrige Zeit mit ihr abgegeben; ſo waͤre das wohl dem Endzweck und ihren Wuͤnſchen gemaͤßer geweſen. Bey ſeinem Be¬ nehmen dagegen kam ſie in die groͤßte Ver¬ legenheit: denn ob ſie gleich in ihrem Schmerz, ihren Anordnungen und Andeutun¬ gen, ihrem Beyfall uͤber das nach und nach Entſtehende, ziemlich abzuwechſeln ſuchte und ſie ihn einigemal beynahe herumzerrte, um nur mit ihm in eine Art von Verhaͤltniß zu kommen; ſo erwies er ſich doch gar zu ſteif, dergeſtalt daß ſie allzuoft ihre Zuflucht zur Urne neh¬ men, ſie an ihr Herz druͤcken und zum Him¬59 mel ſchauen mußte, ja zuletzt, weil ſich doch dergleichen Situationen immer ſteigern, mehr einer Wittwe von Epheſus als einer Koͤniginn von Carien aͤhnlich ſah. Die Vorſtellung zog ſich daher in die Laͤnge, der Clavierſpie¬ ler, der ſonſt Geduld genug hatte, wußte nicht mehr in welchen Ton er ausweichen ſollte. Er dankte Gott als er die Urne auf der Pyramide ſtehn ſah und fiel unwillkuͤhr¬ lich, als die Koͤniginn ihren Dank ausdruͤ¬ cken wollte, in ein luſtiges Thema; wodurch die Vorſtellung zwar ihren Character verlor, die Geſellſchaft jedoch voͤllig aufgeheitert wur¬ de, die ſich denn ſogleich theilte, der Dame fuͤr ihren vortrefflichen Ausdruck, und dem Architecten fuͤr ſeine kuͤnſtliche und zierliche Zeichnung eine freudige Bewunderung zu be¬ weiſen.
Beſonders der Braͤutigam unterhielt ſich mit dem Architecten. Es thut mir leid, ſagte jener, daß die Zeichnung ſo vergaͤnglich60 iſt. Sie erlauben wenigſtens, daß ich ſie mir auf mein Zimmer bringen laſſe und mich mit Ihnen daruͤber unterhalte. Wenn es Ihnen Vergnuͤgen macht, ſagte der Architect, ſo kann ich Ihnen ſorgfaͤltige Zeichnungen von der¬ gleichen Gebaͤuden und Monumenten vorlegen, wovon dieſes nur ein zufaͤlliger fluͤchtiger Entwurf iſt.
Ottilie ſtand nicht fern und trat zu den beyden. Verſaͤumen Sie nicht, ſagte ſie zum Architecten, den Herrn Baron gelegentlich Ihre Sammlung ſehn zu laſſen: er iſt ein Freund der Kunſt und des Alterthums; ich wuͤnſche daß Sie ſich naͤher kennen lernen.
Luciane kam herbeygefahren und fragte: Wovon iſt die Rede?
Von einer Sammlung Kunſtwerke, ant¬ wortete der Baron, welche dieſer Herr beſitzt und die er uns gelegentlich zeigen will.
61Er mag ſie mir gleich bringen, rief Lu¬ ciane. Nicht wahr, Sie bringen ſie gleich? ſetzte ſie ſchmeichelnd hinzu, indem ſie ihn mit beyden Haͤnden freundlich anfaßte.
Es moͤchte jetzt der Zeitpunkt nicht ſeyn, verſetzte der Architect.
Was! rief Luciane gebieteriſch: Sie wol¬ len dem Befehl Ihrer Koͤniginn nicht gehor¬ chen? Dann legte ſie ſich auf ein neckiſches Bitten.
Seyn Sie nicht eigenſinnig, ſagte Ottilie halb leiſe.
Der Architect entfernte ſich mit einer Beugung, ſie war weder bejahend noch ver¬ neinend.
Kaum war er fort, als Luciane ſich mit einem Windſpiel im Saale herumjagte. Ach!62 rief ſie aus, indem ſie zufaͤllig an ihre Mut¬ ter ſtieß: wie bin ich nicht ungluͤcklich! Ich habe meinen Affen nicht mitgenommen; man hat mir es abgerathen, es iſt aber nur die Bequemlichkeit meiner Leute, die mich um dieſes Vergnuͤgen bringt. Ich will ihn aber nachkommen laſſen, es ſoll mir Jemand hin ihn zu holen. Wenn ich nur ſein Bild¬ niß ſehen koͤnnte, ſo waͤre ich ſchon vergnuͤgt. Ich will ihn aber gewiß auch malen laſſen und er ſoll mir nicht von der Seite kommen.
Vielleicht kann ich dich troͤſten, verſetzte Charlotte, wenn ich dir aus der Bibliothek einen ganzen Band der wunderlichſten Affen¬ bilder kommen laſſe. Luciane ſchrie vor Freu¬ den laut auf, und der Folioband wurde ge¬ bracht. Der Anblick dieſer menſchenaͤhnlichen und durch den Kuͤnſtler noch mehr vermenſch¬ lichten abſcheulichen Geſchoͤpfe machte Lucianen die groͤßte Freude. Ganz gluͤcklich aber fuͤhlte ſie ſich, bey einem jeden dieſer Thiere die63 Aehnlichkeit mit bekannten Menſchen zu fin¬ den. Sieht der nicht aus wie der Onkel? rief ſie unbarmherzig: der wie der Galanterie¬ haͤndler M —, der wie der Pfarrer S — und dieſer iſt der Dings — der — leibhaf¬ tig. Im Grunde ſind doch die Affen die ei¬ gentlichen Incroyables und es iſt unbegreiflich, wie man ſie aus der beſten Geſellſchaft aus¬ ſchließen mag.
Sie ſagte das in der beſten Geſellſchaft, doch Niemand nahm es ihr uͤbel. Man war ſo gewohnt ihrer Anmuth vieles zu erlauben, daß man zuletzt ihrer Unart alles erlaubte.
Ottilie unterhielt ſich indeſſen mit dem Braͤutigam. Sie hoffte auf die Ruͤckkunft des Architecten, deſſen ernſtere, geſchmackvol¬ lere Sammlungen die Geſellſchaft von dieſem Affenweſen befreyen ſollten. In dieſer Er¬ wartung hatte ſie ſich mit dem Baron be¬ ſprochen und ihn auf manches aufmerkſam64 gemacht. Allein der Architect blieb aus, und als er endlich wiederkam, verlor er ſich unter der Geſellſchaft, ohne etwas mit zu bringen, und ohne zu thun als ob von etwas die Frage geweſen waͤre. Ottilie ward einen Au¬ genblick — wie ſoll man's nennen? — ver¬ drießlich, ungehalten, betroffen; ſie hatte ein gutes Wort an ihn gewendet, ſie goͤnnte dem Braͤutigam eine vergnuͤgte Stunde nach ſei¬ nem Sinne, der bey ſeiner unendlichen Liebe fuͤr Lucianen doch von ihrem Betragen zu leiden ſchien.
Die Affen mußten einer Collation Platz machen. Geſellige Spiele, ja ſogar noch Taͤnze, zuletzt ein freudeloſes Herumſitzen und Wiederaufjagen einer ſchon geſunkenen Luſt dauerten dießmal, wie ſonſt auch, weit uͤber Mitternacht. Denn ſchon hatte ſich Luciane gewoͤhnt, Morgens nicht aus dem Bette und Abends nicht ins Bette gelangen zu koͤnnen.
65Um dieſe Zeit finden ſich in Ottiliens Tagebuch Ereigniſſe ſeltner angemerkt, dage¬ gen haͤufiger auf das Leben bezuͤgliche und vom Leben abgezogene Maximen und Sen¬ tenzen. Weil aber die meiſten derſelben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion ent¬ ſtanden ſeyn koͤnnen; ſo iſt es wahrſcheinlich, daß man ihr irgend einen Heft mitgetheilt, aus dem ſie ſich was ihr gemuͤthlich war, ausgeſchrieben. Manches eigene von innige¬ rem Bezug wird an dem rothen Faden wohl zu erkennen ſeyn.
II. 566„ Wir blicken ſo gern in die Zukunft, weil wir das Ungefaͤhre was ſich in ihr hin und her bewegt, durch ſtille Wuͤnſche ſo gern zu un¬ ſern Gunſten heranleiten moͤchten. “
„ Wir befinden uns nicht leicht in großer Geſellſchaft, ohne zu denken: der Zufall, der ſo viele zuſammenbringt, ſolle uns auch unſre Freunde herbeyfuͤhren. “
„ Man mag noch ſo eingezogen leben, ſo wird man ehe man ſich's verſieht, ein Schuld¬ ner oder ein Glaͤubiger. “
„ Begegnet uns Jemand der uns Dank ſchuldig iſt, gleich faͤllt es uns ein. Wie67 oft koͤnnen wir Jemand begegnen, dem wir Dank ſchuldig ſind, ohne daran zu denken. “
„ Sich mitzutheilen iſt Natur; Mitge¬ theiltes aufzunehmen wie es gegeben wird, iſt Bildung. “
„ Niemand wuͤrde viel in Geſellſchaften ſprechen, wenn er ſich bewußt waͤre, wie oft er die andern mißverſteht. “
„ Man veraͤndert fremde Reden beym Wiederhohlen wohl nur darum ſo ſehr, weil man ſie nicht verſtanden hat. “
„ Wer vor andern lange allein ſpricht, ohne den Zuhoͤrern zu ſchmeicheln, erregt Widerwillen. “
„ Jedes ausgeſprochene Wort erregt den Gegenſinn. “
5 *68„ Widerſpruch und Schmeicheley machen beyde ein ſchlechtes Geſpraͤch. “
„ Die angenehmſten Geſellſchaften ſind die, in welchen eine heitere Ehrerbietung der Glie¬ der gegen einander obwaltet. “
„ Durch nichts bezeichnen die Menſchen mehr ihren Character als durch das was ſie laͤcherlich finden. “
„ Das Laͤcherliche entſpringt aus einem ſittlichen Contraſt, der, auf eine unſchaͤdliche Weiſe, fuͤr die Sinne in Verbindung gebracht wird. “
„ Der ſinnliche Menſch lacht oft wo nichts zu lachen iſt. Was ihn auch anregt, ſein in¬ neres Behagen kommt zum Vorſchein. “
„ Der Verſtaͤndige findet faſt alles laͤcher¬ lich, der Vernuͤnftige faſt nichts. “
69„ Einem bejahrten Manne verdachte man, daß er ſich noch um junge Frauenzimmer be¬ muͤhte. Es iſt das einzige Mittel, verſetzte er, ſich zu verjuͤngen und das will doch Jeder¬ mann. “
„ Man laͤßt ſich ſeine Maͤngel vorhalten, man laͤßt ſich ſtrafen, man leidet manches um ihrer willen mit Geduld; aber ungeduldig wird man, wenn man ſie ablegen ſoll. “
„ Gewiſſe Maͤngel ſind nothwendig zum Daſeyn des Einzelnen. Es wuͤrde uns unan¬ genehm ſeyn, wenn alte Freunde gewiſſe Ei¬ genheiten ablegten. “
„ Man ſagt: er ſtirbt bald, wenn einer etwas gegen ſeine Art und Weiſe thut. “
„ Was fuͤr Maͤngel duͤrfen wir behalten, ja an uns cultiviren? Solche die den andern eher ſchmeicheln als ſie verletzen. “
70„ Die Leidenſchaften ſind Maͤngel oder Tugenden, nur geſteigerte. “
„ Unſre Leidenſchaften ſind wahre Phoͤnixe. Wie der alte verbrennt, ſteigt der neue ſo¬ gleich wieder aus der Aſche hervor. “
„ Große Leidenſchaften ſind Krankheiten ohne Hoffnung. Was ſie heilen koͤnnte, macht ſie erſt recht gefaͤhrlich. “
„ Die Leidenſchaft erhoͤht und mildert ſich durchs Bekennen. In nichts waͤre die Mit¬ telſtraße vielleicht wuͤnſchenswerther als im Vertrauen und Verſchweigen gegen die die wir lieben. “
So peitſchte Luciane den Lebensrauſch im geſelligen Strudel immer vor ſich her. Ihr Hofſtaat vermehrte ſich taͤglich, theils weil ihr Treiben ſo manchen anregte und anzog, theils weil ſie ſich andre durch Gefaͤlligkeit und Wohlthun zu verbinden wußte. Mittheilend war ſie im hoͤchſten Grade: denn da ihr durch die Neigung der Tante und des Braͤutigams ſo viel Schoͤnes und Koͤſtliches auf einmal zugefloſſen war; ſo ſchien ſie nichts eigenes zu beſitzen, und den Werth der Dinge nicht zu kennen, die ſich um ſie gehaͤuft hatten. So zauderte ſie nicht einen Augenblick einen koſtbaren Shawl abzunehmen und ihn einem Frauenzimmer umzuhaͤngen, das72 ihr gegen die uͤbrigen zu aͤrmlich geklei¬ det ſchien, und ſie that das auf eine ſo neckiſche, geſchickte Weiſe, daß Niemand eine ſolche Gabe ablehnen konnte. Einer von ihrem Hofſtaat hatte ſtets eine Boͤrſe und den Auftrag, in den Orten wo ſie einkehrten, ſich nach den Aelteſten und Kraͤnkſten zu erkun¬ digen, und ihren Zuſtand wenigſtens fuͤr den Augenblick zu erleichtern. Dadurch entſtand ihr in der ganzen Gegend ein Name von Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manch¬ mal unbequem ward, weil er allzuviel laͤſtige Nothleidende an ſie heranzog.
Durch nichts aber vermehrte ſie ſo ſehr ih¬ ren Ruf, als durch ein auffallendes gutes be¬ harrliches Benehmen gegen einen ungluͤcklichen jungen Mann, der die Geſellſchaft floh, weil er, uͤbrigens ſchoͤn und wohlgebildet, ſeine rechte Hand, obgleich ruͤhmlich, in der Schlacht verloren hatte. Dieſe Verſtuͤmmlung erregte ihm einen ſolchen Mißmuth; es war ihm ſo73 verdrießlich, daß jede neue Bekanntſchaft ſich auch immer mit ſeinem Unfall bekannt machen ſollte, daß er ſich lieber verſteckte, ſich dem Leſen und andern Studien ergab und ein fuͤr allemal mit der Geſellſchaft nichts wollte zu ſchaffen haben.
Das Daſeyn dieſes jungen Mannes blieb ihr nicht verborgen. Er mußte herbey, erſt in kleiner Geſellſchaft, dann in groͤßerer, dann in der groͤßten. Sie benahm ſich anmuthiger gegen ihn als gegen irgend einen andern, be¬ ſonders wußte ſie durch zudringliche Dienſt¬ fertigkeit ihm ſeinen Verluſt werth zu machen, indem ſie geſchaͤftig war ihn zu erſetzen. Bey Tafel mußte er neben ihr ſeinen Platz nehmen, ſie ſchnitt ihm vor, ſo daß er nur die Gabel gebrauchen durfte. Nahmen Aeltere, Vornehmere ihm ihre Nachbarſchaft weg, ſo erſtreckte ſie ihre Aufmerkſamkeit uͤber die ganze Tafel hin, und die eilenden Bedienten mußten das erſetzen was ihm die Entfernung74 zu rauben drohte. Zuletzt munterte ſie ihn auf, mit der linken Hand zu ſchreiben: er mußte alle ſeine Verſuche an ſie richten, und ſo ſtand ſie, entfernt oder nah, immer mit ihm in Verhaͤltniß. Der junge Mann wußte nicht wie ihm geworden war, und wirklich fing er von dieſem Augenblick ein neues Le¬ ben an.
Vielleicht ſollte man denken, ein ſolches Betragen waͤre dem Braͤutigam mißfaͤllig ge¬ weſen; allein es fand ſich das Gegentheil. Er rechnete ihr dieſe Bemuͤhungen zu großem Verdienſt an, und war um ſo mehr daruͤber ganz ruhig, als er ihre faſt uͤbertriebenen Eigenheiten kannte, wodurch ſie alles was im mindeſten verfaͤnglich ſchien, von ſich ab¬ zulehnen wußte. Sie wollte mit Jedermann nach Belieben umſpringen, Jeder war in Gefahr, von ihr einmal angeſtoßen, gezerrt oder ſonſt geneckt zu werden; Niemand aber durfte ſich gegen ſie ein Gleiches erlauben,75 Niemand ſie nach Willkuͤhr beruͤhren, Nie¬ mand auch nur im entfernteſten Sinne, eine Freyheit die ſie ſich nahm, erwiedern; und ſo hielt ſie die andern in den ſtrengſten Graͤn¬ zen der Sittlichkeit gegen ſich, die ſie gegen andere jeden Augenblick zu uͤbertreten ſchien.
Ueberhaupt haͤtte man glauben koͤnnen, es ſey bey ihr Maxime geweſen, ſich dem Lobe und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung gleichmaͤßig auszuſetzen. Denn wenn ſie die Menſchen auf mancherley Weiſe fuͤr ſich zu gewinnen ſuchte; ſo verdarb ſie es wieder mit ihnen gewoͤhnlich durch eine boͤſe Zunge, die Niemanden ſchonte. So wurde kein Beſuch in der Nachbarſchaft abgelegt, nirgends ſie und ihre Geſellſchaft in Schloͤſſern und Woh¬ nungen freundlich aufgenommen, ohne daß ſie bey der Ruͤckkehr auf das ausgelaſſenſte merken ließ, wie ſie alle menſchlichen Ver¬ haͤltniſſe nur von der laͤcherlichen Seite zu nehmen geneigt ſey. Da waren drey Bruͤ¬76 der, welche unter lauter Complimenten, wer zuerſt heiraten ſollte, das Alter uͤbereilt hatte; hier eine kleine junge Frau mit einem großen alten Manne; dort umgekehrt ein kleiner munterer Mann und eine unbehuͤlfliche Rie¬ ſinn. In dem einen Hauſe ſtolperte man bey jedem Schritte uͤber ein Kind; das andre wollte ihr bey der groͤßten Geſellſchaft nicht voll erſcheinen, weil keine Kinder gegenwaͤrtig waren. Alte Gatten ſollten ſich nur ſchnell begraben laſſen, damit doch wieder einmal Jemand im Hauſe zum Lachen kaͤme, da ih¬ nen keine Notherben gegeben waren. Junge Eheleute ſollten reiſen, weil das Haushalten ſie gar nicht kleide. Und wie mit den Per¬ ſonen, ſo machte ſie es auch mit den Sachen, mit den Gebaͤuden, wie mit dem Haus - und Tiſchgeraͤthe. Beſonders alle Wandverzierun¬ gen reizten ſie zu luſtigen Bemerkungen. Von dem aͤlteſten Hautelißteppich bis zu der neu¬ ſten Papiertapete, vom ehrwuͤrdigſten Fami¬ lienbilde bis zum frivolſten neuen Kupferſtich,77 eins wie das andre mußte leiden, eins wie das andre wurde durch ihre ſpoͤttiſchen Be¬ merkungen gleichſam aufgezehrt, ſo daß man ſich haͤtte verwundern ſollen, wie fuͤnf Meilen umher irgend etwas nur noch exiſtirte.
Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in dieſem verneinenden Beſtreben; ein ſelbſtiſcher Muthwille mochte ſie gewoͤhnlich anreizen: aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte ſich in ihrem Verhaͤltniß zu Ottilien erzeugt. Auf die ruhige ununterbrochene Thaͤtigkeit des lieben Kindes, die von Jedermann bemerkt und geprieſen wurde, ſah ſie mit Verachtung herab, und als zur Sprache kam, wie ſehr ſich Ottilie der Gaͤrten und der Treibhaͤuſer annehme, ſpottete ſie nicht allein daruͤber, indem ſie, uneingedenk des tiefen Winters in dem man lebte, ſich zu verwundern ſchien, daß man weder Blumen noch Fruͤchte gewahr werde; ſondern ſie ließ auch von nun an ſo viel Gruͤnes, ſo viel Zweige und was nur78 irgend keimte, herbeyhohlen und zur taͤglichen Zierde der Zimmer und des Tiſches verſchwen¬ den, daß Ottilie und der Gaͤrtner nicht wenig gekraͤnkt waren, ihre Hoffnungen fuͤr das naͤchſte Jahr und vielleicht auf laͤngere Zeit zerſtoͤrt zu ſehen.
Eben ſo wenig goͤnnte ſie Ottilien die Ruhe des haͤuslichen Ganges, worin ſie ſich mit Bequemlichkeit fortbewegte. Ottilie ſollte mit auf die Luſt - und Schlittenfahrten; ſie ſollte mit auf die Baͤlle die in der Nachbar¬ ſchaft veranſtaltet wurden; ſie ſollte weder Schnee noch Kaͤlte noch gewaltſame Nacht¬ ſtuͤrme ſcheuen, da ja ſoviel andre nicht davon ſtuͤrben. Das zarte Kind litt nicht wenig darunter, aber Luciane gewann nichts dabey: denn obgleich Ottilie ſehr einfach gekleidet ging, ſo war ſie doch, oder ſo ſchien ſie we¬ nigſtens immer den Maͤnnern die ſchoͤnſte. Ein ſanftes Anziehen verſammelte alle Maͤnner um ſie her, ſie mochte ſich in den großen79 Raͤumen am erſten oder am letzten Platze befinden, ja der Braͤutigam Lucianens ſelbſt unterhielt ſich oft mit ihr, und zwar um ſo mehr, als er in einer Angelegenheit die ihn beſchaͤftigte, ihren Rath, ihre Mitwirkung verlangte.
Er hatte den Architecten naͤher kennen lernen, bey Gelegenheit ſeiner Kunſtſammlung viel uͤber das Geſchichtliche mit ihm geſpro¬ chen, in andern Faͤllen auch, beſonders bey Betrachtung der Capelle, ſein Talent ſchaͤtzen gelernt. Der Baron war jung, reich; er ſammelte, er wollte bauen; ſeine Liebhaberey war lebhaft, ſeine Kenntniſſe ſchwach; er glaubte in dem Architecten ſeinen Mann zu finden, mit dem er mehr als einen Zweck zugleich erreichen koͤnnte. Er hatte ſeiner Braut von dieſer Abſicht geſprochen; ſie lobte ihn darum und war hoͤchlich mit dem Vor¬ ſchlag zufrieden, doch vielleicht mehr, um die¬ ſen jungen Mann Ottilien zu entziehen —80 denn ſie glaubte ſo etwas von Neigung bey ihm zu bemerken — als daß ſie gedacht haͤtte, ſein Talent zu ihren Abſichten zu benutzen. Denn ob er gleich bey ihren extemporirten Feſten ſich ſehr thaͤtig erwieſen und manche Reſourcen bey dieſer und jener Anſtalt dar¬ geboten, ſo glaubte ſie es doch immer ſelbſt beſſer zu verſtehen; und da ihre Erfindungen gewoͤhnlich gemein waren, ſo reichte, um ſie auszufuͤhren, die Geſchicklichkeit eines gewand¬ ten Kammerdieners eben ſo gut hin, als die des vorzuͤglichſten Kuͤnſtlers. Weiter als zu einem Altar, worauf geopfert ward, und zu einer Bekraͤnzung, es mochte nun ein gypfer¬ nes oder ein lebendes Haupt ſeyn, konnte ihre Einbildungskraft ſich nicht verſteigen, wenn ſie irgend Jemand zum Geburts - und Ehrentage ein feſtliches Compliment zu machen gedachte.
Ottilie konnte dem Braͤutigam, der ſich nach dem Verhaͤltniß des Architecten zum Hauſe81 erkundigte, die beſte Auskunft geben. Sie wußte daß Charlotte ſich ſchon fruͤher nach einer Stelle fuͤr ihn umgethan hatte: denn waͤre die Geſellſchaft nicht gekommen, ſo haͤtte ſich der junge Mann gleich nach Vollendung der Capelle entfernt, weil alle Bauten den Winter uͤber ſtillſtehn ſollten und mußten; und es war daher ſehr erwuͤnſcht, wenn der geſchickte Kuͤnſtler durch einen neuen Goͤnner wieder genutzt und befoͤrdert wurde.
Das perſoͤnliche Verhaͤltniß Ottiliens zum Architecten war ganz rein und unbefangen. Seine angenehme und thaͤtige Gegenwart hatte ſie, wie die Naͤhe eines aͤltern Bruders, unter¬ halten und erfreut. Ihre Empfindungen fuͤr ihn blieben auf der ruhigen leidenſchaftsloſen Oberflaͤche der Blutsverwandtſchaft: denn in ihrem Herzen war kein Raum mehr; es war von der Liebe zu Eduard ganz gedraͤngt aus¬ gefuͤllt, und nur die Gottheit, die alles durch¬II. 682dringt, konnte dieſes Herz zugleich mit ihm beſitzen.
Indeſſen je tiefer der Winter ſich ſenkte, je wilderes Wetter, je unzugaͤnglicher die Wege, deſto anziehender ſchien es, in ſo guter Geſellſchaft die abnehmenden Tage zuzubrin¬ gen. Nach kurzen Ebben uͤberflutete die Menge von Zeit zu Zeit das Haus. Offiziere von entfernteren Garniſonen, die gebildeten zu ihrem großen Vortheil, die roheren zur Unbequemlichkeit der Geſellſchaft, zogen ſich herbey; am Civilſtande fehlte es auch nicht, und ganz unerwartet kamen eines Tages der Graf und die Baroneſſe zuſammen ange¬ fahren.
Ihre Gegenwart ſchien erſt einen wahren Hof zu bilden. Die Maͤnner von Stand und Sitten umgaben den Grafen, und die Frauen ließen der Baroneſſe Gerechtigkeit wi¬ derfahren. Man verwunderte ſich nicht lange,83 ſie beyde zuſammen und ſo heiter zu ſehen: denn man vernahm, des Grafen Gemahlinn ſey geſtorben, und eine neue Verbindung werde geſchloſſen ſeyn ſobald es die Schicklichkeit nur erlaube. Ottilie erinnerte ſich jenes er¬ ſten Beſuchs, jedes Worts was uͤber Ehe¬ ſtand und Scheidung, uͤber Verbindung und Trennung, uͤber Hoffnung, Erwartung, Ent¬ behren und Entſagen geſprochen ward. Beyde Perſonen, damals noch ganz ohne Ausſichten, ſtanden nun vor ihr, dem gehofften Gluͤck ſo nahe, und ein unwillkuͤhrlicher Seufzer drang aus ihrem Herzen.
Luciane hoͤrte kaum, daß der Graf ein Liebhaber von Muſik ſey, ſo wußte ſie ein Conzert zu veranſtalten; ſie wollte ſich dabey mit Geſang zur Guitarre hoͤren laſſen. Es geſchah. Das Inſtrument ſpielte ſie nicht un¬ geſchickt, ihre Stimme war angenehm; was aber die Worte betraf, ſo verſtand man ſie ſo wenig als wenn ſonſt eine deutſche Schoͤne6 *84zur Guitarre ſingt. Indeß verſicherte Jeder¬ mann, ſie habe mit viel Ausdruck geſungen, und ſie konnte mit dem lauten Beyfall zu¬ frieden ſeyn. Nur ein wunderliches Ungluͤck begegnete bey dieſer Gelegenheit. In der Ge¬ ſellſchaft befand ſich ein Dichter, den ſie auch beſonders zu verbinden hoffte, weil ſie einige Lieder von ihm an ſie gerichtet wuͤnſchte, und deshalb dieſen Abend meiſt nur von ſeinen Liedern vortrug. Er war uͤberhaupt, wie alle, hoͤflich gegen ſie, aber ſie hatte mehr erwar¬ tet. Sie legte es ihm einigemal nahe, konnte aber weiter nichts von ihm vernehmen, bis ſie endlich aus Ungeduld einen ihrer Hofleute an ihn ſchickte und ſondiren ließ, ob er denn nicht entzuͤckt geweſen ſey, ſeine vortrefflichen Gedichte ſo vortrefflich vortragen zu hoͤren. Meine Gedichte? verſetzte dieſer mit Erſtau¬ nen. Verzeihen Sie, mein Herr, fuͤgte er hinzu: ich habe nichts als Vocale gehoͤrt und die nicht einmal alle. Unterdeſſen iſt es mei¬ ne Schuldigkeit mich fuͤr eine ſo liebenswuͤr¬85 dige Intention dankbar zu erweiſen. Der Hofmann ſchwieg und verſchwieg. Der andre ſuchte ſich durch einige wohltoͤnende Compli¬ mente aus der Sache zu ziehen. Sie ließ ihre Abſicht nicht undeutlich merken, auch et¬ was eigens fuͤr ſie gedichtetes zu beſitzen. Wenn es nicht allzu unfreundlich geweſen waͤre, ſo haͤtte er ihr das Alphabet uͤberrei¬ chen koͤnnen, um ſich daraus ein beliebiges Lobgedicht zu irgend einer vorkommenden Me¬ lodie ſelbſt einzubilden. Doch ſollte ſie nicht ohne Kraͤnkung aus dieſer Begebenheit ſchei¬ den. Kurze Zeit darauf erfuhr ſie: er habe noch ſelbigen Abend einer von Ottiliens Lieb¬ lingsmelodieen ein allerliebſtes Gedicht unter¬ gelegt, das noch mehr als verbindlich ſey.
Luciane, wie alle Menſchen ihrer Art, die immer durcheinander miſchen was ihnen vortheilhaft und was ihnen nachtheilig iſt, wollte nun ihr Gluͤck im Recitiren verſuchen. Ihr Gedaͤchtniß war gut, aber wenn man86 aufrichtig reden ſollte, ihr Vortrag geiſtlos und heftig ohne leidenſchaftlich zu ſeyn. Sie recitirte Balladen, Erzaͤhlungen und was ſonſt in Declamatorien vorzukommen pflegt. Dabey hatte ſie die ungluͤckliche Gewohnheit angenommen, das was ſie vortrug mit Geſten zu begleiten, wodurch man das was eigent¬ lich epiſch und lyriſch iſt, auf eine unange¬ nehme Weiſe mit dem Dramatiſchen mehr ver¬ wirrt als verbindet.
Der Graf, ein einſichtsvoller Mann, der gar bald die Geſellſchaft, ihre Neigungen, Leidenſchaften und Unterhaltungen uͤberſah, brachte Lucianen, gluͤcklicher oder ungluͤcklicher Weiſe, auf eine neue Art von Darſtellung, die ihrer Perſoͤnlichkeit ſehr gemaͤß war. Ich finde, ſagte er, hier ſo manche wohlgeſtaltete Perſonen, denen es gewiß nicht fehlt, male¬ riſche Bewegungen und Stellungen nachzuah¬ men. Sollten ſie es noch nicht verſucht ha¬ ben, wirkliche bekannte Gemaͤlde vorzuſtellen? 87Eine ſolche Nachbildung, wenn ſie auch man¬ che muͤhſame Anordnung erfordert, bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor.
Schnell ward Luciane gewahr, daß ſie hier ganz in ihrem Fach ſeyn wuͤrde. Ihr ſchoͤner Wuchs, ihre volle Geſtalt, ihr regel¬ maͤßiges und doch bedeutendes Geſicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr ſchlanker Hals, alles war ſchon wie aufs Gemaͤlde berechnet; und haͤtte ſie nun gar gewußt, daß ſie ſchoͤner ausſah wenn ſie ſtill ſtand als wenn ſie ſich bewegte, indem ihr im letzten Falle manch¬ mal etwas ſtoͤrendes Ungrazioͤſes entſchluͤpfte, ſo haͤtte ſie ſich mit noch mehrerem Eifer die¬ ſer natuͤrlichen Bildnerey ergeben.
Man ſuchte nun Kupferſtiche nach be¬ ruͤhmten Gemaͤlden; man waͤhlte zuerſt den Beliſar nach van Dyk. Ein großer und wohlge¬ bauter Mann von gewiſſen Jahren ſollte den ſitzenden blinden General, der Architect den88 vor ihm theilnehmend traurig ſtehenden Krie¬ ger nachbilden, dem er wirklich etwas aͤhnlich ſah. Luciane hatte ſich, halb beſcheiden, das junge Weibchen im Hintergrunde gewaͤhlt, das reichliche Almoſen aus einem Beutel in die flache Hand zaͤhlt, indeß eine Alte ſie ab¬ zumahnen und ihr vorzuſtellen ſcheint, daß ſie zu viel thue. Eine andre ihm wirklich Almoſen reichende Frauensperſon war nicht vergeſſen.
Mit dieſen und andern Bildern beſchaͤf¬ tigte man ſich ſehr ernſtlich. Der Graf gab dem Architecten uͤber die Art der Einrichtung einige Winke, der ſogleich ein Theater dazu aufſtellte und wegen der Beleuchtung die noͤ¬ thige Sorge trug. Man war ſchon tief in die Anſtalten verwickelt, als man erſt bemerkte, daß ein ſolches Unternehmen einen anſehn¬ lichen Aufwand verlangte, und daß auf dem Lande mitten im Winter gar manches Erfor¬ derniß abging. Deshalb ließ, damit ja nichts89 ſtocken moͤge, Luciane beynah ihre ſaͤmmtliche Garderobe zerſchneiden, um die verſchiedenen Coſtuͤme zu liefern, die jene Kuͤnſtler will¬ kuͤhrlich genug angegeben hatten.
Der Abend kam herbey und die Darſtel¬ lung wurde vor einer großen Geſellſchaft und zu allgemeinem Beyfall ausgefuͤhrt. Eine bedeutende Muſik ſpannte die Erwartung. Jener Beliſar eroͤffnete die Buͤhne. Die Geſtalten waren ſo paſſend, die Farben ſo gluͤcklich ausgetheilt, die Beleuchtung ſo kunſt¬ reich, daß man fuͤrwahr in einer andern Welt zu ſeyn glaubte; nur daß die Gegen¬ wart des Wirklichen ſtatt des Scheins eine Art[von] aͤngſtlicher Empfindung hervorbrachte.
Der Vorhang fiel, und ward auf Ver¬ langen mehr als einmal wieder aufgezogen. Ein muſikaliſches Zwiſchenſpiel unterhielt die Geſellſchaft, die man durch ein Bild hoͤherer Art uͤberraſchen wollte. Es war die bekannte90 Vorſtellung von Pouſſin: Ahasverus und Eſther. Dießmal hatte ſich Luciane beſſer bedacht. Sie entwickelte in der ohnmaͤchtig hingeſunkenen Koͤniginn alle ihre Reize, und hatte ſich kluger Weiſe zu den umgebenden unterſtuͤtzenden Maͤdchen lauter huͤbſche wohl¬ gebildete Figuren ausgeſucht, worunter ſich jedoch keine mit ihr auch nur im mindeſten meſſen konnte. Ottilie blieb von dieſem Bilde wie von den uͤbrigen ausgeſchloſſen. Auf den goldnen Thron hatten ſie, um den Zevs gleichen Koͤnig vorzuſtellen, den ruͤſtigſten und ſchoͤnſten Mann der Geſellſchaft gewaͤhlt, ſo daß dieſes Bild wirklich eine unvergleichliche Vollkommenheit gewann.
Als drittes hatte man die ſogenannte vaͤ¬ terliche Ermahnung von Terburg gewaͤhlt, und wer kennt nicht den herrlichen Kupfer¬ ſtich unſeres Wille von dieſem Gemaͤlde. Ei¬ nen Fuß uͤber den andern geſchlagen, ſitzt ein edler ritterlicher Vater und ſcheint ſeiner vor91 ihm ſtehenden Tochter ins Gewiſſen zu reden. Dieſe, eine herrliche Geſtalt, im faltenreichen weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hin¬ ten geſehen, aber ihr ganzes Weſen ſcheint anzudeuten, daß ſie ſich zuſammennimmt. Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und beſchaͤmend ſey, ſieht man aus der Miene und Gebaͤrde des Vaters; und was die Mut¬ ter betrifft, ſo ſcheint dieſe eine kleine Verle¬ genheit zu verbergen, indem ſie in ein Glas Wein blickt, das ſie eben auszuſchluͤrfen im Begriff iſt.
Bey dieſer Gelegenheit nun ſollte Luciane in ihrem hoͤchſten Glanze erſcheinen. Ihre Zoͤpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken, waren uͤber alle Begriffe ſchoͤn, und die Taille, von der bey den modernen antiki¬ ſirenden Bekleidungen der Frauenzimmer we¬ nig ſichtbar wird, hoͤchſt zierlich, ſchlank und leicht zeigte ſich an ihr in dem aͤlteren Coſtuͤm aͤußerſt vortheilhaft; und der Architect hatte92 geſorgt, die reichen Falten des weißen Atlaſ¬ ſes mit der kuͤnſtlichſten Natur zu legen, ſo daß ganz ohne Frage dieſe lebendige Nachbil¬ dung weit uͤber jenes Originalbildniß hinaus¬ reichte und ein allgemeines Entzuͤcken erregte. Man konnte mit dem Wiedererlangen nicht endigen, und der ganz natuͤrliche Wunſch, einem ſo ſchoͤnen Weſen, das man genugſam von der Ruͤckſeite geſehen, auch ins Angeſicht zu ſchauen, nahm dergeſtalt uͤberhand, daß ein luſtiger ungeduldiger Vogel die Worte, die man manchmal an das Ende einer Seite zu ſchreiben pflegt: tournez s'il vous plait laut ausrief und eine allgemeine Beyſtimmung erregte. Die Darſtellenden aber kannten ihren Vortheil zu gut, und hatten den Sinn dieſer Kunſtſtuͤcke zu wohl gefaßt, als daß ſie dem allgemeinen Ruf haͤtten nachgeben ſollen. Die beſchaͤmt ſcheinende Tochter blieb ruhig ſtehen, ohne den Zuſchauern den Aus¬ druck ihres Angeſichts zu goͤnnen; der Vater blieb in ſeiner ermahnenden Stellung ſitzen,93 und die Mutter brachte Naſe und Augen nicht aus dem durchſichtigen Glaſe, worin ſich, ob ſie gleich zu trinken ſchien, der Wein nicht verminderte. — Was ſollen wir noch viel von kleinen Nachſtuͤcken ſagen, wozu man niederlaͤndiſche Wirthshaus - und Jahrmarkts¬ ſcenen gewaͤhlt hatte.
Der Graf und die Baroneſſe reiſten ab und verſprachen in den erſten gluͤcklichen Wo¬ chen ihrer nahen Verbindung wiederzukehren, und Charlotte hoffte nunmehr, nach zwey muͤhſam uͤberſtandenen Monaten, die uͤbrige Geſellſchaft gleichfalls los zu werden. Sie war des Gluͤcks ihrer Tochter gewiß, wenn bey dieſer der erſte Braut - und Jugendtaumel ſich wuͤrde gelegt haben: denn der Braͤutigam hielt ſich fuͤr den gluͤcklichſten Menſchen von der Welt. Bey großem Vermoͤgen und ge¬ maͤßigter Sinnesart ſchien er auf eine wun¬ derbare Weiſe von dem Vorzuge geſchmeichelt, ein Frauenzimmer zu beſitzen, das der ganzen94 Welt gefallen mußte. Er hatte einen ſo ganz eigenen Sinn, alles auf ſie und erſt durch ſie auf ſich zu beziehen, daß es ihm eine unan¬ genehme Empfindung machte, wenn ſich nicht gleich ein Neuankommender mit aller Auf¬ merkſamkeit auf ſie richtete, und mit ihm, wie es wegen ſeiner guten Eigenſchaften be¬ ſonders von aͤlteren Perſonen oft geſchah, eine naͤhere Verbindung ſuchte ohne ſich ſonderlich um ſie zu bekuͤmmern. Wegen des Architec¬ ten kam es bald zur Richtigkeit. Aufs Neu¬ jahr ſollte ihm dieſer folgen und das Carne¬ val mit ihm in der Stadt zubringen, wo Luciane ſich von der Wiederholung der ſo ſchoͤn eingerichteten Gemaͤlde, ſo wie von hundert andern Dingen, die groͤßte Gluͤckſe¬ ligkeit verſprach, um ſo mehr als Tante und Braͤutigam jeden Aufwand fuͤr gering zu ach¬ ten ſchienen, der zu ihrem Vergnuͤgen erfor¬ dert wurde.
Nun ſollte man ſcheiden, aber das konnte nicht auf eine gewoͤhnliche Weiſe geſchehen. 95Man ſcherzte einmal ziemlich laut, daß Char¬ lottens Wintervorraͤthe nun bald aufgezehrt ſeyen, als der Ehrenmann, der den Beliſar vorgeſtellt hatte, und freylich reich genug war, von Lucianens Vorzuͤgen hingeriſſen, denen er nun ſchon ſo lange huldigte, unbedachtſam ausrief: ſo laſſen Sie es uns auf polniſche Art halten! Kommen Sie nun und zehren mich auch auf, und ſo gehet es dann weiter in der Runde herum. Geſagt, gethan: Lu¬ ciane ſchlug ein. Den andern Tag war ge¬ packt und der Schwarm warf ſich auf ein anderes Beſitzthum. Dort hatte man auch Raum genug, aber weniger Bequemlichkeit und Einrichtung. Daraus entſtand manches Unſchickliche, das erſt Lucianen recht gluͤcklich machte. Das Leben wurde immer wuͤſter und wilder. Treibjagen im tiefſten Schnee, und was man ſonſt nur unbequemes auffinden konnte, wurde veranſtaltet. Frauen ſo we¬ nig als Maͤnner durften ſich ausſchließen, und ſo zog man, jagend und reitend, ſchlit¬96 tenfahrend und lermend, von einem Gute zum andern, bis man ſich endlich der Reſi¬ denz naͤherte; da denn die Nachrichten und Erzaͤhlungen, wie man ſich bey Hofe und in der Stadt vergnuͤge, der Einbildungskraft ei¬ ne andre Wendung gaben, und Lucianen mit ihrer ſaͤmmtlichen Begleitung, indem die Tante ſchon vorausgegangen war, unaufhaltſam in einen andern Lebenskreis hineinzogen.
97„ Man nimmt in der Welt Jeden wofuͤr er ſich giebt; aber er muß ſich auch fuͤr et¬ was geben. Man ertraͤgt die Unbequemen lieber als man die Unbedeutenden duldet. “
„ Man kann der Geſellſchaft alles auf¬ dringen, nur nicht was eine Folge hat. “
„ Wir lernen die Menſchen nicht kennen, wenn ſie zu uns kommen; wir muͤſſen zu ih¬ nen gehen, um zu erfahren wie es mit ihnen ſteht. “
„ Ich finde es beynahe natuͤrlich, daß wir an Beſuchenden mancherley auszuſetzen haben,II. 798daß wir ſogleich wenn ſie weg ſind, uͤber ſie nicht zum liebevollſten urtheilen: denn wir haben ſo zu ſagen ein Recht, ſie nach un¬ ſerm Maaßſtabe zu meſſen. Selbſt verſtaͤn¬ dige und billige Menſchen enthalten ſich in ſolchen Faͤllen kaum einer ſcharfen Cenſur. “
„ Wenn man dagegen bey andern geweſen iſt und hat ſie mit ihren Umgebungen, Ge¬ wohnheiten, in ihren nothwendigen unaus¬ weichlichen Zuſtaͤnden geſehen, wie ſie um ſich wirken, oder wie ſie ſich fuͤgen; ſo gehoͤrt ſchon Unverſtand und boͤſer Wille dazu, um das laͤcherlich zu finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwuͤrdig ſcheinen muͤßte. “
„ Durch das was wir Betragen und gute Sitten nennen, ſoll das erreicht werden, was außerdem nur durch Gewalt, oder auch nicht einmal durch Gewalt zu erreichen iſt. “
„ Der Umgang mit Frauen iſt das Ele¬ ment guter Sitten. “
99„ Wie kann der Character, die Eigenthuͤm¬ lichkeit des Menſchen, mit der Lebensart be¬ ſtehen?
„ Das Eigenthuͤmliche muͤßte durch die Lebensart erſt recht hervorgehoben werden. Das Bedeutende will Jedermann, nur ſoll es nicht unbequem ſeyn. “
„ Die groͤßten Vortheile im Leben uͤber¬ haupt wie in der Geſellſchaft hat ein gebil¬ deter Soldat. “
„ Rohe Kriegsleute gehen wenigſtens nicht aus ihrem Character, und weil doch meiſt hinter der Staͤrke eine Gutmuͤthigkeit verbor¬ gen liegt, ſo iſt im Nothfall auch mit ihnen auszukommen. “
„ Niemand iſt laͤſtiger als ein taͤppiſcher Menſch vom Civilſtande. Von ihm koͤnnte7 *100man die Feinheit fordern, da er ſich mit nichts Rohem zu beſchaͤftigen hat. “
„ Wenn wir mit Menſchen leben, die ein zartes Gefuͤhl fuͤr das Schickliche haben, ſo wird es uns Angſt um ihretwillen, wenn etwas Ungeſchicktes begegnet. So fuͤhle ich immer fuͤr und mit Charlotten, wenn Jemand mit dem Stuhle ſchaukelt, weil ſie das in den Tod nicht leiden kann. “
„ Es kaͤme Niemand mit der Brille auf der Naſe in ein vertrauliches Gemach, wenn er wuͤßte, daß uns Frauen ſogleich die Luſt vergeht ihn anzuſehen und uns mit ihm zu unterhalten. “
„ Zutraulichkeit an der Stelle der Ehr¬ furcht iſt immer laͤcherlich. Es wuͤrde Nie¬ mand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Compliment gemacht hat, wenn er wuͤßte, wie comiſch das ausſieht. “
101„ Es giebt kein aͤußeres Zeichen der Hoͤf¬ lichkeit das nicht einen tiefen ſittlichen Grund haͤtte. Die rechte Erziehung waͤre, welche dieſes Zeichen und den Grund zugleich uͤber¬ lieferte. “
„ Das Betragen iſt ein Spiegel, in wel¬ chem jeder ſein Bild zeigt. “
„ Es giebt eine Hoͤflichkeit des Herzens; ſie iſt der Liebe verwandt. Aus ihr ent¬ ſpringt die bequemſte Hoͤflichkeit des aͤußern Betragens. “
„ Freywillige Abhaͤngigkeit iſt der ſchoͤnſte Zuſtand und wie waͤre der moͤglich ohne Liebe. “
„ Wir ſind nie entfernter von unſern Wuͤn¬ ſchen, als wenn wir uns einbilden das Ge¬ wuͤnſchte zu beſitzen. “
102„ Niemand iſt mehr Sklave als der ſich fuͤr frey haͤlt ohne es zu ſeyn. “
„ Es darf ſich einer nur fuͤr frey erklaͤren, ſo fuͤhlt er ſich den Augenblick als bedingt. Wagt er es ſich fuͤr bedingt zu erklaͤren, ſo fuͤhlt er ſich frey. “
„ Gegen große Vorzuͤge eines Andern giebt es kein Rettungsmittel als die Liebe. “
„ Es iſt was ſchreckliches um einen vor¬ zuͤglichen Mann, auf den ſich die Dummen was zu Gute thun. “
„ Es giebt, ſagt man, fuͤr den Kammer¬ diener keinen Helden. Das kommt aber blos daher, weil der Held nur vom Helden aner¬ kannt werden kann. Der Kammerdiener wird aber wahrſcheinlich ſeines Gleichen zu ſchaͤtzen wiſſen. “
103„ Es giebt keinen groͤßern Troſt fuͤr die Mittelmaͤßigkeit als daß das Genie nicht un¬ ſterblich ſey. “
„ Die groͤßten Menſchen haͤngen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwach¬ heit zuſammen. “
„ Man haͤlt die Menſchen gewoͤhnlich fuͤr gefaͤhrlicher als ſie ſind. “
„ Thoren und geſcheide Leute ſind gleich unſchaͤdlich. Nur die Halbnarren und Halb¬ weiſen, das ſind die gefaͤhrlichſten. “
„ Man weicht der Welt nicht ſicherer aus als durch die Kunſt, und man verknuͤpft ſich nicht ſicherer mit ihr als durch die Kunſt. “
„ Selbſt im Augenblick des hoͤchſten Gluͤcks und der hoͤchſten Noth beduͤrfen wir des Kuͤnſtlers. “
104„ Die Kunſt beſchaͤftigt ſich mit dem Schweren und Guten. “
„ Das Schwierige leicht behandelt zu ſe¬ hen giebt uns das Anſchauen des Unmoͤg¬ lichen. “
„ Die Schwierigkeiten wachſen je naͤher man dem Ziele kommt. “
„ Saͤen iſt nicht ſo beſchwerlich als aͤrn¬ ten. “
Die große Unruhe welche Charlotten durch dieſen Beſuch erwuchs, ward ihr dadurch verguͤtet, daß ſie ihre Tochter voͤllig begreifen lernte, worin ihr die Bekanntſchaft mit der Welt ſehr zu Huͤlfe kam. Es war nicht zum erſtenmal, daß ihr ein ſo ſeltſamer Character begegnete, ob er ihr gleich noch niemals auf dieſer Hoͤhe erſchien. Und doch hatte ſie aus der Erfahrung, daß ſolche Perſonen durchs Leben, durch mancherley Ereigniſſe, durch aͤl¬ terliche Verhaͤltniſſe gebildet eine ſehr ange¬ nehme und liebenswuͤrdige Reife erlangen koͤnnen, indem die Selbſtigkeit gemildert wird und die ſchwaͤrmende Thaͤtigkeit eine entſchie¬ dene Richtung erhaͤlt. Charlotte ließ als106 Mutter ſich um deſto eher eine fuͤr andere viel¬ leicht unangenehme Erſcheinung gefallen, als es Aeltern wohl geziemt da zu hoffen, wo Fremde nur zu genießen wuͤnſchen, oder we¬ nigſtens nicht belaͤſtigt ſeyn wollen.
Auf eine eigne und unerwartete Weiſe jedoch ſollte Charlotte nach ihrer Tochter Ab¬ reiſe getroffen werden, indem dieſe nicht ſowohl durch das Tadelnswerthe in ihrem Betragen, als durch das was man daran lobenswuͤrdig haͤtte finden koͤnnen, eine uͤble Nachrede hin¬ ter ſich gelaſſen hatte. Luciane ſchien ſich's zum Geſetz gemacht zu haben, nicht allein mit den Froͤhlichen froͤhlich, ſondern auch mit den Traurigen traurig zu ſeyn, und um den Geiſt des Widerſpruchs recht zu uͤben, manch¬ mal die Froͤhlichen verdrießlich und die Trau¬ rigen heiter zu machen. In allen Familien wo ſie hinkam, erkundigte ſie ſich nach den Kran¬ ken und Schwachen, die nicht in Geſellſchaft erſcheinen konnten. Sie beſuchte ſie auf ihren107 Zimmern, machte den Arzt und drang einem Jeden aus ihrer Reiſeapotheke, die ſie beſtaͤn¬ dig im Wagen mit ſich fuͤhrte, energiſche Mittel auf; da denn eine ſolche Kur, wie ſich vermuthen laͤßt, gelang oder mislang, wie es der Zufall herbeyfuͤhrte.
In dieſer Art von Wohlthaͤtigkeit war ſie ganz grauſam und ließ ſich gar nicht ein¬ reden, weil ſie feſt uͤberzeugt war, daß ſie vortrefflich handle. Allein es mißrieth ihr auch ein Verſuch von der ſittlichen Seite, und dieſer war es, der Charlotten viel zu ſchaffen machte, weil er Folgen hatte, und Jedermann daruͤber ſprach. Erſt nach Lucia¬ nens Abreiſe hoͤrte ſie davon; Ottilie, die gerade jene Partie mitgemacht hatte, mußte ihr umſtaͤndlich davon Rechenſchaft geben.
Eine der Toͤchter eines angeſehnen Hauſes hatte das Ungluͤck gehabt, an dem Tode ei¬ nes ihrer juͤngeren Geſchwiſter ſchuld zu ſeyn.108 und ſich daruͤber nicht beruhigen noch wieder finden koͤnnen. Sie lebte auf ihrem Zimmer beſchaͤftigt und ſtill, und ertrug ſelbſt den Anblick der Ihrigen nur wenn ſie einzeln ka¬ men: denn ſie argwohnte ſogleich, wenn meh¬ rere beyſammen waren, daß man untereinan¬ der uͤber ſie und ihren Zuſtand reflectire. Gegen Jedes allein aͤußerte ſie ſich vernuͤnftig und unterhielt ſich ſtundenlang mit ihm.
Luciane hatte davon gehoͤrt und ſich ſo¬ gleich im Stillen vorgenommen, wenn ſie in das Haus kaͤme, gleichſam ein Wunder zu thun und das Frauenzimmer der Geſellſchaft wiederzugeben. Sie betrug ſich dabey vor¬ ſichtiger als ſonſt, wußte ſich allein bey der Seelenkranken einzufuͤhren, und ſoviel man merken konnte, durch Muſik ihr Vertrauen zu gewinnen. Nur zuletzt verſah ſie es: denn eben weil ſie Aufſehn erregen wollte, ſo brachte ſie das ſchoͤne blaſſe Kind, das ſie genug vorbereitet waͤhnte, eines Abends ploͤtz¬109 lich in die bunte glaͤnzende Geſellſchaft; und vielleicht waͤre auch das noch gelungen, wenn nicht die Societaͤt ſelbſt, aus Neugierde und Apprehenſion, ſich ungeſchickt benommen, ſich um die Kranke verſammelt, ſie wieder gemieden, ſie durch Fluͤſtern, Koͤpfe zuſam¬ menſtecken irre gemacht und aufgeregt haͤtte. Die zart Empfindende ertrug das nicht. Sie entwich unter fuͤrchterlichem Schreyen, das gleichſam ein Entſetzen vor einem eindrin¬ genden Ungeheuren auszudruͤcken ſchien. Er¬ ſchreckt fuhr die Geſellſchaft nach allen Seiten auseinander, und Ottilie war unter denen, welche die voͤllig Ohnmaͤchtige wieder auf ihr Zimmer begleiteten.
Indeſſen hatte Luciane eine ſtarke Straf¬ rede nach ihrer Weiſe an die Geſellſchaft gehal¬ ten, ohne im mindeſten daran zu denken, daß ſie allein alle Schuld habe, und ohne ſich durch dieſes und andres Mißlingen von ihrem Thun und Treiben abhalten zu laſſen.
110Der Zuſtand dek Kranken war ſeit jener Zeit bedenklicher geworden, ja das Uebel hatte ſich ſo geſteigert, daß die Aeltern das arme Kind nicht im Hauſe behalten konnten, ſon¬ dern einer oͤffentlichen Anſtalt uͤberantworten mußten. Charlotten blieb nichts uͤbrig als durch ein beſonder zartes Benehmen gegen jene Familie den von ihrer Tochter verurſach¬ ten Schmerz einigermaßen zu lindern. Auf Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck gemacht; ſie bedauerte das arme Maͤdchen um ſo mehr als ſie uͤberzeugt war, wie ſie auch gegen Charlotten nicht laͤugnete, daß bey einer conſequenten Behandlung die Kranke gewiß herzuſtellen geweſen waͤre.
So kam auch, weil man ſich gewoͤhnlich vom vergangenen Unangenehmen mehr als vom Angenehmen unterhaͤlt, ein kleines Mi߬ verſtaͤndniß zur Sprache, das Ottilien an dem Architecten irre gemacht hatte, als er jenen Abend ſeine Sammlung nicht vorzeigen111 wollte, ob ſie ihn gleich ſo freundlich darum erſuchte. Es war ihr dieſes abſchlaͤgige Be¬ tragen immer in der Seele geblieben und ſie wußte ſelbſt nicht warum. Ihre Empfindun¬ gen waren ſehr richtig: denn was ein Maͤdchen wie Ottilie verlangen kann, ſollte ein Juͤng¬ ling wie der Architect nicht verſagen. Dieſer brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leiſen Vorwuͤrfe ziemlich guͤltige Entſchuldigungen zur Sprache.
Wenn Sie wuͤßten, ſagte er, wie roh ſelbſt gebildete Menſchen ſich gegen die ſchaͤtz¬ barſten Kunſtwerke verhalten, ſie wuͤrden mir verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag. Niemand weiß eine Medaille am Rand anzufaſſen; ſie be¬ taſten das ſchoͤnſte Gepraͤge, den reinſten Grund, laſſen die koͤſtlichſten Stuͤcke zwiſchen dem Daumen und Zeigefinger hin und her¬ gehen, als wenn man Kunſtformen auf dieſe Weiſe pruͤfte. Ohne daran zu denken, daß112 man ein großes Blatt mit zwey Haͤnden an¬ faſſen muͤſſe, greifen ſie mit Einer Hand nach einem unſchaͤtzbaren Kupferſtich, einer unerſetz¬ lichen Zeichnung, wie ein anmaßlicher Politiker eine Zeitung faßt und durch das Zerknittern des Papiers ſchon im Voraus ſein Urtheil uͤber die Weltbegebenheiten zu erkennen giebt. Niemand denkt daran, daß wenn nur zwan¬ zig Menſchen mit einem Kunſtwerke hinter¬ einander eben ſo verfuͤhren, der Einund¬ zwanzigſte nicht mehr viel daran zu ſehen haͤtte.
Habe ich Sie nicht auch manchmal, fragte Ottilie, in ſolche Verlegenheit geſetzt? habe ich nicht etwan Ihre Schaͤtze, ohne es zu ahnden, gelegentlich einmal beſchaͤdigt?
Niemals, verſetzte der Architect: niemals! Ihnen waͤre es unmoͤglich: das Schickliche iſt mit Ihnen geboren.
113Auf alle Faͤlle, verſetzte Ottilie, waͤre es nicht uͤbel, wenn man kuͤnftig in das Buͤch¬ lein von guten Sitten, nach den Kapiteln, wie man ſich in Geſellſchaft beym Eſſen und Trinken benehmen ſoll, ein recht umſtaͤndliches einſchoͤbe, wie man ſich in Kunſtſammlungen und Muſeen zu betragen habe.
Gewiß, verſetzte der Architect, wuͤrden alsdann Cuſtoden und Liebhaber ihre Selten¬ heiten froͤhlicher mittheilen.
Ottilie hatte ihm ſchon lange verziehen, als er ſich aber den Vorwurf ſehr zu Herzen zu nehmen ſchien und immer aufs Neue be¬ theuerte, daß er gewiß gerne mittheile, gern fuͤr Freunde thaͤtig ſey; ſo empfand ſie, daß ſie ſein zartes Gemuͤth verletzt habe, und fuͤhlte ſich als ſeine Schuldnerinn. Nicht wohl konnte ſie ihm daher eine Bitte rund abſchla¬ gen, die er in Gefolg dieſes Geſpraͤchs an ſie that, ob ſie gleich, indem ſie ſchnell ihrII. 8114Gefuͤhl zu Rathe zog, nicht einſah wie ſie ihm ſeine Wuͤnſche gewaͤhren koͤnne.
Die Sache verhielt ſich alſo. Daß Otti¬ lie durch Lucianens Eiferſucht von den Ge¬ maͤldedarſtellungen ausgeſchloſſen worden, war ihm hoͤchſt empfindlich geweſen; daß Charlotte dieſem glaͤnzenden Theil der geſelligen Unter¬ haltung nur unterbrochen beywohnen koͤnnen, weil ſie ſich nicht wohl befand, hatte er gleich¬ falls mit Bedauern bemerkt: nun wollte er ſich nicht entfernen, ohne ſeine Dankbarkeit auch dadurch zu beweiſen, daß er zur Ehre der einen und zur Unterhaltung der andern, eine weit ſchoͤnere Darſtellung veranſtaltete als die bisherigen geweſen waren. Vielleicht kam hierzu, ihm ſelbſt unbewußt, ein andrer ge¬ heimer Antrieb: es ward ihm ſo ſchwer, die¬ ſes Haus, dieſe Familie zu verlaſſen, ja es ſchien ihm unmoͤglich von Ottiliens Augen zu ſcheiden, von deren ruhig freundlich gewoge¬115 nen Blicken er die letzte Zeit faſt ganz allein gelebt hatte.
Die Weihnachtsfeyertage nahten ſich und es wurde ihm auf einmal klar, daß eigentlich jene Gemaͤldedarſtellungen durch runde Figu¬ ren von dem ſogenannten Preſepe ausgegan¬ gen, von der frommen Vorſtellung, die man in dieſer heiligen Zeit der goͤttlichen Mutter und dem Kinde widmete, wie ſie in ihrer ſcheinbaren Niedrigkeit erſt von Hirten bald darauf von Koͤnigen verehrt werden.
Er hatte ſich die Moͤglichkeit eines ſolchen Bildes vollkommen vergegenwaͤrtigt. Ein ſchoͤ¬ ner friſcher Knabe war gefunden; an Hirten und Hirtinnen konnte es auch nicht fehlen; aber ohne Ottilien war die Sache nicht auszufuͤhren. Der junge Mann hatte ſie in ſeinem Sinne zur Mutter Gottes erhoben, und wenn ſie es abſchlug, ſo war bey ihm keine Frage, daß das Unternehmen fallen muͤſſe. Ottilie halb8 *116verlegen uͤber ſeinen Antrag wies ihn mit ſeiner Bitte an Charlotten. Dieſe ertheilte ihm gern die Erlaubniß, und auch durch ſie ward die Scheu Ottiliens, ſich jener heiligen Geſtalt anzumaßen, auf eine freundliche Weiſe uͤberwunden. Der Architect arbeitete Tag und Nacht, damit am Weihnachtsabend nichts fehlen moͤge.
Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen Sinne. Er hatte ohnehin wenig Beduͤrfniſſe, und Ottiliens Gegenwart ſchien ihm ſtatt al¬ les Labſals zu ſeyn; indem er um ihretwil¬ len arbeitete, war es als wenn er keines Schlafs, indem er ſich um ſie beſchaͤftigte, keiner Speiſe beduͤrfte. Zur feyerlichen Abend¬ ſtunde war deshalb alles fertig und bereit. Es war ihm moͤglich geweſen wohltoͤnende Blasinſtrumente zu verſammeln, welche die Einleitung machten und die gewuͤnſchte Stim¬ mung hervorzubringen wußten. Als der Vor¬117 hang ſich hob, war Charlotte wirklich uͤber¬ raſcht. Das Bild das ſich ihr vorſtellte, war ſo oft in der Welt wiederhohlt, daß man kaum einen neuen Eindruck davon erwarten ſollte. Aber hier hatte die Wirklichkeit als Bild ihre beſondern Vorzuͤge. Der ganze Raum war eher naͤchtlich als daͤmmernd, und doch nichts undeutlich im Einzelnen der Umge¬ bung. Den unuͤbertrefflichen Gedanken, daß alles Licht vom Kinde ausgehe, hatte der Kuͤnſtler durch einen klugen Mechanismus der Beleuchtung auszufuͤhren gewußt, der durch die beſchatteten, nur von Streiflichtern er¬ leuchteten Figuren im Vordergrunde zugedeckt wurde. Frohe Maͤdchen und Knaben ſtan¬ den umher; die friſchen Geſichter ſcharf von unten beleuchtet. Auch an Engeln fehlte es nicht, deren eigener Schein von dem goͤttli¬ chen verdunkelt, deren aͤtheriſcher Leib vor dem goͤttlich-menſchlichen verdichtet und lichts¬ beduͤrftig ſchien.
118Gluͤcklicherweiſe war das Kind in der an¬ muthigſten Stellung eingeſchlafen, ſo daß nichts die Betrachtung ſtoͤrte, wenn der Blick auf der ſcheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmuth einen Schleyer aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz zu offenbaren. In dieſem Augenblick ſchien das Bild feſtgehalten und erſtarrt zu ſeyn. Phyſiſch geblendet, geiſtig uͤberraſcht, ſchien das umgebende Volk ſich eben bewegt zu ha¬ ben, um die getroffnen Augen wegzuwenden, neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Luſt, als Bewunderung und Verehrung anzuzeigen; obgleich dieſe auch nicht vergeſſen und einigen aͤltern Figuren der Ausdruck derſelben uͤbertragen war.
Ottiliens Geſtalt, Gebaͤrde, Miene, Blick uͤbertraf aber alles was je ein Maler dargeſtellt hat. Der gefuͤhlvolle Kenner, der dieſe Erſcheinung geſehen haͤtte, waͤre in Furcht gerathen, es moͤge ſich nur irgend119 etwas bewegen, er waͤre in Sorge geſtanden, ob ihm jemals etwas wieder ſo gefallen koͤnne. Ungluͤcklicherweiſe war Niemand da, der dieſe ganze Wirkung aufzufaſſen vermocht haͤtte. Der Architect allein, der als langer ſchlanker Hirt von der Seite uͤber die Knieen¬ den hereinſah, hatte, obgleich nicht in dem genauſten Standpunct, noch den groͤßten Ge¬ nuß. Und wer beſchreibt auch die Miene der neugeſchaffenen Himmelskoͤniginn? Die reinſte Demuth, das liebenswuͤrdigſte Gefuͤhl von Beſcheidenheit bey einer großen unverdient erhaltenen Ehre, einem unbegreiflich unerme߬ lichen Gluͤck, bildete ſich in ihren Zuͤgen, ſowohl indem ſich ihre eigene Empfindung, als indem ſich die Vorſtellung ausdruͤckte, die ſie ſich von dem machen konnte was ſie ſpielte.
Charlotten erfreute das ſchoͤne Gebilde, doch wirkte hauptſaͤchlich das Kind auf ſie. Ihre Augen ſtroͤmten von Thraͤnen und ſie ſtellte ſich auf das lebhafteſte vor, daß ſie120 ein aͤhnliches liebes Geſchoͤpf bald auf ihrem Schooße zu hoffen habe.
Man hatte den Vorhang niedergelaſſen, theils um den Vorſtellenden einige Erleichte¬ rung zu geben, theils eine Veraͤnderung in dem Dargeſtellten anzubringen. Der Kuͤnſtler hatte ſich vorgenommen, das erſte Nacht - und Niedrigkeitsbild in ein Tag - und Glorienbild zu verwandeln, und deswegen von allen Seiten eine unmaͤßige Erleuchtung vorbereitet, die in der Zwiſchenzeit angezuͤn¬ det wurde.
Ottilien war in ihrer halb theatraliſchen Lage bisher die groͤßte Beruhigung geweſen, daß außer Charlotten und wenigen Hausge¬ noſſen Niemand dieſer frommen Kunſtmum¬ merey zugeſehen. Sie wurde daher einiger¬ maßen betroffen, als ſie in der Zwiſchenzeit vernahm, es ſey ein Fremder angekommen, im Saale von Charlotten freundlich begruͤßt. 121Wer es war, konnte man ihr nicht ſagen. Sie ergab ſich darein, um keine Stoͤrung zu verurſachen. Lichter und Lampen brannten und eine ganz unendliche Hellung umgab ſie. Der Vorhang ging auf, fuͤr die Zuſchauen¬ den ein uͤberraſchender Anblick: das ganze Bild war alles Licht, und ſtatt des voͤllig aufgehobenen Schattens blieben nur die Far¬ ben uͤbrig, die bey der klugen Auswahl eine liebliche Maͤßigung hervorbrachten. Unter ihren langen Augenwimpern hervorblickend bemerkte Ottilie eine Mannsperſon neben Charlotten ſitzend. Sie erkannte ihn nicht, aber ſie glaubte die Stimme des Gehuͤlfen aus der Penſion zu hoͤren. Eine wunderbare Empfindung ergriff ſie. Wie vieles war be¬ gegnet, ſeitdem ſie die Stimme dieſes treuen Lehrers nicht vernommen! Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Lei¬ den ſchnell vor ihrer Seele vorbey und regte die Frage auf: darfſt du ihm alles bekennen und geſtehen? Und wie wenig werth biſt du122 unter dieſer heiligen Geſtalt vor ihm zu er¬ ſcheinen, und wie ſeltſam muß es ihm vor¬ kommen, dich die er nur natuͤrlich geſehen, als Maske zu erblicken? Mit einer Schnel¬ ligkeit die keines gleichen hat, wirkten Gefuͤhl und Betrachtung in ihr gegeneinander. Ihr Herz war befangen, ihre Augen fuͤllten ſich mit Thraͤnen, indem ſie ſich zwang immerfort als ein ſtarres Bild zu erſcheinen; und wie froh war ſie, als der Knabe ſich zu regen anfing, und der Kuͤnſtler ſich genoͤthigt ſah das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wie¬ der fallen ſollte.
Hatte das peinliche Gefuͤhl, einem wer¬ then Freunde nicht entgegeneilen zu koͤnnen, ſich ſchon die letzten Augenblicke zu den uͤbri¬ gen Empfindungen Ottiliens geſellt, ſo war ſie jetzt in noch groͤßerer Verlegenheit. Sollte ſie in dieſem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn? ſollte ſie ſich um¬ kleiden? Sie waͤhlte nicht, ſie that das letzte123 und ſuchte ſich in der Zwiſchenzeit zuſammen¬ zunehmen, ſich zu beruhigen, und war nur erſt wieder mit ſich ſelbſt in Einſtimmung als ſie endlich im gewohnten Kleide den An¬ gekommenen begruͤßte.
Inſofern der Architect ſeinen Goͤnnerin¬ nen das Beſte wuͤnſchte, war es ihm ange¬ nehm, da er doch endlich ſcheiden mußte, ſie in der guten Geſellſchaft des ſchaͤtzbaren Ge¬ huͤlfen zu wiſſen; indem er jedoch ihre Gunſt auf ſich ſelbſt bezog, empfand er es einiger¬ maßen ſchmerzhaft, ſich ſobald, und wie es ſeiner Beſcheidenheit duͤnken mochte, ſo gut, ja vollkommen, erſetzt zu ſehen. Er hatte noch immer gezaudert, nun aber draͤngte es ihn hinweg: denn was er ſich nach ſeiner Entfernung mußte gefallen laſſen, das wollte er wenigſtens gegenwaͤrtig nicht erleben.
Zu großer Erheiterung dieſer halb trauri¬ gen Gefuͤhle machten ihm die Damen beym125 Abſchiede noch ein Geſchenk mit einer Weſte, an der er ſie beyde lange Zeit hatte ſtricken ſehen, mit einem ſtillen Neid uͤber den unbe¬ kannten Gluͤcklichen dem ſie dereinſt werden koͤnnte. Eine ſolche Gabe iſt die angenehmſte die ein liebender, verehrender Mann erhal¬ ten mag: denn wenn er dabey des unermuͤ¬ deten Spiels der ſchoͤnen Finger gedenkt, ſo kann er nicht umhin ſich zu ſchmeicheln, das Herz werde bey einer ſo anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz ohne Theilnahme geblie¬ ben ſeyn.
Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirthen, dem ſie wohlwollten und dem es bey ihnen wohl werden ſollte. Das weib¬ liche Geſchlecht hegt ein eignes inneres un¬ wandelbares Intereſſe, von dem ſie nichts in der Welt abtruͤnnig macht; im aͤußern geſelli¬ gen Verhaͤltniß hingegen laſſen ſie ſich gern und leicht durch den Mann beſtimmen der ſie eben beſchaͤftigt, und ſo durch Abweiſen126 wie durch Empfaͤnglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit fuͤhren ſie eigentlich das Regiment, dem ſich in der geſitteten Welt kein Mann zu entziehen wagt.
Hatte der Architect, gleichſam nach eigener Luſt und Belieben, ſeine Talente vor den Freundinnen zum Vergnuͤgen und zu den Zwecken derſelben geuͤbt und bewieſen; war Beſchaͤftigung und Unterhaltung in dieſem Sinne und nach ſolchen Abſichten eingerichtet: ſo machte ſich in kurzer Zeit durch die Ge¬ genwart des Gehuͤlfen eine andre Lebensweiſe. Seine große Gabe war, gut zu ſprechen und menſchliche Verhaͤltniſſe, beſonders in Bezug auf Bildung der Jugend, in der Unterredung zu behandeln. Und ſo entſtand gegen die bisherige Art zu leben ein ziemlich fuͤhlbarer Gegenſatz, um ſo mehr als der Gehuͤlfe nicht ganz dasjenige billigte, womit man ſich die Zeit uͤber ausſchließlich beſchaͤftigt hatte.
127Von dem lebendigen Gemaͤlde das ihn bey ſeiner Ankunft empfing, ſprach er gar nicht. Als man ihm hingegen Kirche, Capelle und was ſich darauf bezog, mit Zu¬ friedenheit ſehen ließ, konnte er ſeine Mey¬ nung, ſeine Geſinnungen daruͤber nicht zu¬ ruͤckhalten. Was mich betrifft, ſagte er, ſo will mir dieſe Annaͤherung, dieſe Vermiſchung des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen, nicht gefallen, daß man ſich gewiſſe beſondre Raͤume widmet, weihet und aufſchmuͤckt, um erſt dabey ein Gefuͤhl der Froͤmmigkeit zu hegen und zu unterhalten. Keine Umgebung, ſelbſt die ge¬ meinſte nicht, ſoll in uns das Gefuͤhl des Goͤttlichen ſtoͤren, das uns uͤberall hin beglei¬ ten und jede Staͤtte zu einem Tempel ein¬ weihen kann. Ich mag gern einen Hausgot¬ tesdienſt in dem Saale gehalten ſehen, wo man zu ſpeiſen, ſich geſellig zu verſammeln, mit Spiel und Tanz zu ergetzen pflegt. Das128 Hoͤchſte, das Vorzuͤglichſte am Menſchen iſt geſtaltlos, und man ſoll ſich huͤthen es anders als in edler That zu geſtalten.
Charlotte, die ſeine Geſinnungen ſchon im Ganzen kannte und ſie noch mehr in kurzer Zeit erforſchte, brachte ihn gleich in ſeinem Fache zur Thaͤtigkeit, indem ſie ihre Gartenknaben, welche der Architect vor ſeiner Abreiſe eben gemuſtert hatte, in dem großen Saal aufmarſchiren ließ; da ſie ſich denn in ihren heitern reinlichen Uniformen, mit geſetz¬ lichen Bewegungen und einem natuͤrlichen lebhaften Weſen, ſehr gut ausnahmen. Der Gehuͤlfe pruͤfte ſie nach ſeiner Weiſe, und hatte durch mancherley Fragen und Wendungen gar bald die Gemuͤthsarten und Faͤhigkeiten der Kinder zu Tage gebracht, und ohne daß es ſo ſchien, in Zeit von weniger als einer Stun¬ de, ſie wirklich bedeutend unterrichtet und ge¬ foͤrdert.
129Wie machen Sie das nur? ſagte Char¬ lotte, indem die Knaben wegzogen. Ich habe ſehr aufmerkſam zugehoͤrt; es ſind nichts als ganz bekannte Dinge vorgekommen, und doch wuͤßte ich nicht, wie ich es anfangen ſollte, ſie in ſo kurzer Zeit, bey ſo vielem Hin - und Wiederreden, in ſolcher Folge zur Sprache zu bringen.
Vielleicht ſollte man, verſetzte der Gehuͤlfe, aus den Vortheilen ſeines Handwerks ein Geheimniß machen. Doch kann ich Ihnen die ganz einfache Maxime nicht verbergen, nach der man dieſes und noch viel mehr zu leiſten vermag. Faſſen Sie einen Gegenſtand, eine Materie, einen Begriff, wie man es nennen will; halten Sie ihn recht feſt; ma¬ chen Sie ſich ihn in allen ſeinen Theilen recht deutlich, und dann wird es Ihnen leicht ſeyn, Geſpraͤchsweiſe, an einer Maſſe Kinder zu erfahren was ſich davon ſchon in ihnen ent¬ wickelt hat, was noch anzuregen, zu uͤberlie¬II. 9130fern iſt. Die Antworten auf Ihre Fragen moͤgen noch ſo ungehoͤrig ſeyn, moͤgen noch ſo ſehr ins Weite gehen, wenn nur ſodann Ihre Gegenfrage Geiſt und Sinn wieder hereinwaͤrts zieht, wenn Sie ſich nicht von Ihrem Standpunkte verruͤcken laſſen; ſo muͤſ¬ ſen die Kinder zuletzt denken, begreifen, ſich uͤberzeugen, nur von dem was und wie es der Lehrende will. Sein groͤßter Fehler iſt der, wenn er ſich von den Lernenden mit in die Weite reißen laͤßt, wenn er ſie nicht auf dem Punkte feſtzuhalten weiß den er eben jetzt behandelt. Machen Sie naͤchſtens einen Verſuch und es wird zu Ihrer großen Unter¬ haltung dienen.
Das iſt artig, ſagte Charlotte: die gute Paͤdagogik iſt alſo gerade das Umgekehrte von der guten Lebensart. In der Geſellſchaft ſoll man auf nichts verweilen, und bey dem Un¬ terricht waͤre das hoͤchſte Gebot, gegen alle Zerſtreuung zu arbeiten.
131Abwechſelung ohne Zerſtreuung waͤre fuͤr Lehre und Leben der ſchoͤnſte Wahlſpruch, wenn dieſes loͤbliche Gleichgewicht nur ſo leicht zu erhalten waͤre! ſagte der Gehuͤlfe, und wollte weiter fortfahren als ihn Charlotte aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren munterer Zug ſich ſo eben uͤber den Hof bewegte. Er bezeigte ſeine Zufriedenheit, daß man die Kinder in Uniform zu gehen anhalte. Maͤnner — ſo ſagte er — ſollten von Jugend auf Uniform tragen, weil ſie ſich gewoͤhnen muͤſſen zuſammen zu handeln, ſich unter ihres Gleichen zu verlieren, in Maſſe zu gehorchen und ins Ganze zu arbeiten. Auch befoͤrdert jede Art von Uniform einen mili¬ taͤriſchen Sinn, ſo wie ein knapperes ſtracke¬ res Betragen, und alle Knaben ſind ja ohne¬ hin geborne Soldaten: man ſehe nur ihre Kampf - und Streitſpiele, ihr Erſtuͤrmen und Erklettern.
9 *132So werden Sie mich dagegen nicht ta¬ deln, verſetzte Ottilie, daß ich meine Maͤd¬ chen nicht uͤberein kleide. Wenn ich ſie Ih¬ nen vorfuͤhre, hoffe ich Sie durch ein bun¬ tes Gemiſch zu ergetzen.
Ich billige das ſehr, verſetzte jener. Frauen ſollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen: jede nach eigner Art und Weiſe, damit eine Jede fuͤhlen lernte, was ihr eigentlich gut ſtehe und wohl zieme. Eine wichtigere Ur¬ ſache iſt noch die: weil ſie beſtimmt ſind, ihr ganzes Leben allein zu ſtehen und allein zu handeln.
Das ſcheint mir ſehr paradox, verſetzte Charlotte; ſind wir doch faſt niemals fuͤr uns.
O ja! verſetzte der Gehuͤlfe, in Abſicht auf andre Frauen ganz gewiß. Man be¬ trachte ein Frauenzimmer als Liebende, als133 Braut, als Frau, Hausfrau und Mutter, immer ſteht ſie iſolirt, immer iſt ſie allein, und will allein ſeyn. Ja die Eitle ſelbſt iſt in dem Falle. Jede Frau ſchließt die andre aus, ihrer Natur nach: denn von Jeder wird alles gefordert, was dem ganzen Geſchlechte zu leiſten obliegt. Nicht ſo verhaͤlt es ſich mit den Maͤnnern. Der Mann verlangt den