So hatte Wilhelm zu ſeinen zwey kaum geheilten Wunden abermals eine friſche drit¬ te, die ihm nicht wenig unbequem war. Au¬ relie wollte nicht zugeben, daß er ſich eines Wundarztes bediente; ſie verband ihn ſelbſt unter allerley wunderlichen Reden, Zeremo¬ nien und Sprüchen, und ſetzte ihn dadurch in eine ſehr peinliche Lage. Doch nicht er allein, ſondern alle Perſonen die ſich in ih¬ rer Nähe befanden, litten durch ihre Unru¬ he und Sonderbarkeit; niemand aber mehr als der kleine Felix. Das lebhafte Kind war unter einem ſolchen Druck höchſt unge¬8 duldig und zeigte ſich immer unartiger, je mehr ſie es tadelte und zurecht wieß.
Der Knabe gefiel ſich in gewiſſen Eigen¬ heiten, die man auch Unarten zu nennen pflegt, und die ſie ihm keineswegs nachzu¬ ſehn gedachte. Er trank, zum Beyſpiel, lie¬ ber aus der Flaſche als aus dem Glaſe, und offenbar ſchmeckten ihm die Speiſen aus der Schüſſel beſſer als von dem Teller. Eine ſolche Unſchicklichkeit wurde nicht überſehen, und wenn er nun gar die Thüre aufließ oder zuſchlug, und, wenn ihm etwas befohlen wurde, entweder nicht von der Stelle wich oder ungeſtüm davon rannte: ſo mußte er eine große Lection anhören, ohne daß er darauf je einige Beſſerung hätte ſpüren laſ¬ ſen. Vielmehr ſchien die Neigung zu Aure¬ lien ſich täglich mehr zu verlieren; in ſeinem Tone war nichts zärtliches wenn er ſie Mut¬ ter nannte, er hing vielmehr leidenſchaftlich9 an der alten Amme, die ihm denn freylich allen Willen ließ.
Aber auch dieſe war ſeit einiger Zeit ſo krank geworden, daß man ſie aus dem Hau¬ ſe in ein ſtilles Quartier bringen mußte, und Felix hätte ſich ganz allein geſehen, wäre nicht Mignon auch ihm als ein liebevoller Schutzgeiſt erſchienen. Auf das artigſte un¬ terhielten ſich beide Kinder mit einander; ſie lehrte ihn kleine Lieder und er, der ein ſehr gutes Gedächtniß hatte, rezitirte ſie oft zur Verwunderung der Zuhörer. Auch wollte ſie ihm die Landkarten erklären, mit denen ſie ſich noch immer ſehr abgab, wobey ſie je¬ doch nicht mit der beſten Methode verfuhr. Denn eigentlich ſchien ſie bey den Ländern kein anderes Intereſſe zu haben, als ob ſie kalt oder warm ſeyen? Von den Weltpo¬ len, von dem ſchrecklichen Eiſe daſelbſt, und von der zunehmenden Wärme, je mehr man10[] ſich von ihnen entfernte, wußte ſie ſehr gut Rechenſchaft zu geben. Wenn jemand reiſ’te, fragte ſie nur, ob er nach Norden oder nach Süden gehe, und bemühte ſich die Wege auf ihren kleinen Karten aufzufinden. Beſonders wenn Wilhelm von Reiſen ſprach war ſie ſehr aufmerkſam, und ſchien ſich im¬ mer zu betrüben ſo bald das Geſpräch auf eine andere Materie überging. So wenig man ſie bereden konnte, eine Rolle zu über¬ nehmen, oder auch nur wenn geſpielt wurde, auf das Theater zu gehen; ſo gern und fleißig lernte ſie Oden und Lieder auswen¬ dig und erregte, wenn ſie ein ſolches Ge¬ dicht, gewöhnlich von der ernſten und feyer¬ lichen Art, oft unvermuthet wie aus dem Stegereif declamirte, bey jedermann Er¬ ſtaunen.
Serlo, der auf jede Spur eines aufkei¬ menden Talentes zu achten gewohnt war,11 ſuchte ſie aufzumuntern; am meiſten aber empfahl ſie ſich ihm durch einen ſehr artigen, manigfaltigen und manchmal ſelbſt muntern Geſang, und auf eben dieſem Wege hatte ſich der Harfenſpieler ſeine Gunſt erworben.
Serlo, ohne ſelbſt Genie zur Muſik zu haben, oder irgend ein Inſtrument zu ſpie¬ len, wußte ihren hohen Werth zu ſchätzen; er ſuchte ſich ſo oft als möglich dieſen Ge¬ nuß, der mit keinem andern verglichen wer¬ den kann, zu verſchaffen. Er hatte wöchent¬ lich einmal Concert, und nun hatte ſich ihm durch Mignon, den Harfenſpieler und Laer¬ tes, der auf der Violine nicht ungeſchickt war, eine wunderliche kleine Hauskapelle ge¬ bildet.
Er pflegte zu ſagen: der Menſch iſt ſo geneigt ſich mit dem Gemeinſten abzugeben, Geiſt und Sinne ſtumpfen ſich ſo leicht ge¬ gen die Eindrücke des Schönen und Voll¬12 kommnen ab, daß man die Fähigkeit es zu empfinden, bey ſich auf alle Weiſe erhalten ſollte. Denn einen ſolchen Genuß kann nie¬ mand ganz entbehren, und nur die Unge¬ wohntheit etwas Gutes zu genießen iſt Ur¬ ſache, daß viele Menſchen ſchon am Alber¬ nen und Abgeſchmackten, wenn es nur neu iſt, Vergnügen finden. Man ſollte, ſagte er, alle Tage wenigſtens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht leſen, ein treffliches Ge¬ mählde ſehen, und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte ſprechen.
Bey dieſen Geſinnungen, die Serlo ge¬ wiſſermaßen natürlich waren, konnte es den Perſonen, die ihn umgaben, nicht an ange¬ nehmer Unterhaltung fehlen. Mitten in die¬ ſem vergnüglichen Zuſtande brachte man Wilhelmen eines Tags einen ſchwarzgeſiegel¬ ten Brief. Werners Petſchaft deutete auf eine traurige Nachricht, und er erſchrack nicht13 wenig, als er den Tod ſeines Vaters nur mit einigen Worten angezeigt fand. Nach einer unerwarteten kurzen Krankheit war er aus der Welt gegangen, und hatte ſeine häuslichen Angelegenheiten in der beſten Ord¬ nung hinterlaſſen.
Dieſe unvermuthete Nachricht traf Wil¬ helm im Innerſten. Er fühlte tief, wie un¬ empfindlich man oft Freunde und Verwand¬ te, ſo lange ſie ſich mit uns des irdiſchen Aufenthaltes erfreuen, vernachläſſigt, und nur dann erſt die Verſäumniß bereut, wenn das ſchöne Verhältniß wenigſtens für die߬ mal aufgehoben iſt. Auch konnte der Schmerz über das zeitige Abſterben des braven Man¬ nes nur durch das Gefühl gelindert werden, daß er auf der Welt wenig geliebt, und durch die Überzeugung, daß er wenig genoſſen habe.
Wilhelms Gedanken wandten ſich nun bald auf ſeine eigenen Verhältniſſe, und er14 fühlte ſich nicht wenig beunruhigt. Der Menſch kann in keine gefährlichere Lage verſetzt werden, als wenn durch äußere Um¬ ſtände eine große Veränderung ſeines Zu¬ ſtandes bewirkt wird, ohne daß ſeine Art zu empfinden und zu denken darauf vorbereitet iſt. Es giebt alsdann eine Epoche ohne Epo¬ che, und es entſteht nur ein deſto größerer Widerſpruch, je weniger der Menſch bemerkt, daß er zu dem neuen Zuſtande noch nicht ausgebildet ſey.
Wilhelm ſah ſich in einem Augenblicke frey, in welchem er mit ſich ſelbſt noch nicht einig werden konnte. Seine Geſinnungen waren edel, ſeine Abſichten lauter und ſeine Vorſätze ſchienen nicht verwerflich. Das al¬ les durfte er ſich mit einigem Zutrauen ſelbſt bekennen; allein er hatte Gelegenheit genug gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfah¬ rung fehle, und er legte daher auf die Er¬15 fahrung anderer und auf die Reſultate, die ſie daraus mit Überzeugung ableiteten, einen übermäßigen Werth, und kam dadurch nur immer mehr in die Irre. Was ihm fehlte, glaubte er am erſten zu erwerben, wenn er alles Denkwürdige, was ihm in Büchern und im Geſpräche vorkommen mochte, zu erhalten und zu ſammlen unternähme. Er ſchrieb daher fremde und eigene Meynungen und Ideen, ja ganze Geſpräche die ihm intereſ¬ ſant waren, auf, und hielt leider auf dieſe Weiſe das Falſche ſo gut als das Wahre feſt, blieb viel zu lange an Einer Idee, ja man möchte ſagen an Einer Sentenz hän¬ gen, und verlies dabei ſeine natürliche Denk - und Handelsweiſe, indem er oft fremden Lichtern als Leitſternen folgte. Aureliens Bitterkeit und ſeines Freundes Laertes kalte Verachtung der Menſchen beſtachen öfter als billig war ſein Urtheil; niemand aber war16 ihm gefährlicher geweſen als Jarno, ein Mann, deſſen heller Verſtand von gegenwär¬ tigen Dingen ein richtiges, ſtrenges Urtheil fällte, dabey aber den Fehler hatte, daß er dieſe einzelnen Urtheile mit einer Art von Allgemeinheit ausſprach, da doch die Aus¬ ſprüche des Verſtandes eigentlich nur Ein¬ mal und zwar in dem beſtimmteſten Falle gelten, und ſchon unrichtig werden, wenn man ſie auf den nächſten anwendet.
So entfernte ſich Wilhelm, indem er mit ſich ſelbſt einig zu werden ſtrebte, immer mehr von der heilſamen Einheit, und bey dieſer Verwirrung ward es ſeinen Leidenſchaf¬ ten um ſo leichter alle Zurüſtungen zu ihrem Vortheil zu gebrauchen, und ihn über das was er zu thun hatte nur noch mehr zu verwirren,
Serlo benutzte die Todespoſt zu ſeinem Vortheil, und wirklich hatte er auch täglich immer mehr Urſache an eine andre Einrich¬tung17tung ſeines Schauſpiels zu denken. Er mu߬ te entweder ſeine alten Contracte erneuern, wozu er keine große Luſt hatte, indem meh¬ rere Mitglieder, die ſich für unentbehrlich hielten, täglich unleidlicher wurden; oder er mußte, wohin auch ſein Wunſch ging, der Geſellſchaft eine ganz neue Geſtalt geben.
Ohne ſelbſt in Wilhelmen zu dringen, regte er Aurelien und Philinen auf, und die übrigen Geſellen, die ſich nach Engagement ſehnten, ließen unſerm Freunde gleichfalls keine Ruhe, ſo daß er mit ziemlicher Verle¬ genheit an einem Scheidwege ſtand. Wer hätte gedacht, daß ein Brief von Wernern, der ganz im entgegen geſetzten Sinne ge¬ ſchrieben war, ihn endlich zu einer Ent¬ ſchließung hindrängen ſollte. Wir laſſen nur den Eingang weg und geben übrigens das Schreiben mit weniger Veränderung.
W. Meiſters Lehrj. 3. B18» — So war es und ſo muß es denn auch wohl recht ſeyn, daß jeder bey jeder Gele¬ genheit ſeinem Gewerbe nachgeht und ſeine Thätigkeit zeigt. Der gute Alte war kaum verſchieden, als auch in der nächſten Viertel¬ ſtunde ſchon nichts mehr nach ſeinem Sinne im Hauſe geſchah. Freunde, Bekannte und Verwandte drängten ſich zu, beſonders aber alle Menſchenarten, die bey ſolchen Gelegen¬ heiten etwas zu gewinnen haben. Man brachte, man trug, man zahlte, ſchrieb und rechnete; die einen hohlten Wein und Ku¬ chen, die andern tranken und aßen; nieman¬ den ſah ich aber ernſthafter beſchäftigt, als die Weiber, indem ſie die Trauer ausſuchten.
Du wirſt mir alſo verzeihen, mein Lie¬19 ber, wenn ich bey dieſer Gelegenheit auch an meinen Vortheil dachte, mich deiner Schweſter ſo hülfreich und thätig als mög¬ lich zeigte und ihr, ſo bald es nur einiger¬ maßen ſchicklich war, begreiflich machte, daß es nunmehr unſre Sache ſey, eine Verbin¬ dung zu beſchleunigen, die unſre Väter aus allzugroßer Umſtändlichkeit bisher verzögert hatten.
Nun mußt du aber ja nicht denken, daß es uns eingefallen ſey, das große leere Haus in Beſitz zu nehmen. Wir ſind beſcheidner und vernünftiger; unſern Plan ſollſt du hö¬ ren. Deine Schweſter zieht nach der Hei¬ rath gleich in unſer Haus herüber, und ſo¬ gar auch deine Mutter mit.
Wie iſt das möglich? wirſt du ſagen, ihr habt ja ſelbſt in dem Neſte kaum Platz. Das iſt eben die Kunſt, mein Freund! Die geſchickte Einrichtung macht alles möglich,B 220und du glaubſt nicht wieviel Platz man fin¬ det, wenn man wenig Raum braucht. Das große Haus verkaufen wir, wozu ſich ſo¬ gleich eine gute Gelegenheit darbietet; das daraus gelöſte Geld ſoll hundertfältige Zin¬ ſen tragen.
Ich hoffe du biſt damit einverſtanden, und wünſche daß du nichts von den un¬ fruchtbaren Liebhabereyen deines Vaters und Großvaters geerbt haben mögeſt. Dieſer ſetzte ſeine höchſte Glückſeligkeit in eine An¬ zahl unſcheinbarer Kunſtwerke, die niemand, ich darf wohl ſagen niemand mit ihm ge¬ nießen konnte: jener lebte in einer koſtbaren Einrichtung, die er niemand mit ſich genie¬ ßen ließ. Wir wollen es anders machen, und ich hoffe deine Beyſtimmung.
Es iſt wahr, ich ſelbſt behalte in unſerm ganzen Hauſe keinen Platz als den an mei¬ nem Schreibepulte, und noch ſeh ich nicht21 ab, wo man künftig eine Wiege hinſetzen will; aber dafür iſt der Raum außer dem Hauſe deſto größer. Die Kaffeehäuſer und Clubbs für den Mann, die Spatziergänge und Spatzierfahrten für die Frau, und die ſchönen Luſtörter auf dem Lande für beyde. Dabey iſt der größte Vortheil, daß auch un¬ ſer runder Tiſch ganz beſetzt iſt und es dem Vater unmöglich wird Freunde zu ſehen, die ſich nur deſto leichtfertiger über ihn aufhal¬ ten, je mehr er ſich Mühe gegeben hat ſie zu bewirthen.
Nur nichts überflüſſiges im Hauſe! nur nicht zu viel Möbeln, Geräthſchaften, nur keine Kutſche und Pferde! Nichts als Geld, und dann auf eine vernünftige Weiſe jeden Tag gethan was dir beliebt; nur keine Gar¬ derobe, immer das neuſte und beſte auf dem Leibe; der Mann mag ſeinen Rock abtragen und die Frau den ihrigen vertrödeln, ſo bald22 er nur einigermaßen aus der Mode kömmt. Es iſt mir nichts unerträglicher, als ſo ein alter Kram von Beſitzthum. Wenn man mir den koſtbarſten Edelſtein ſchenken woll¬ te, mit der Bedingung ihn täglich am Fin¬ ger zu tragen, ich würde ihn nicht anneh¬ men; denn wie läßt ſich bei einem todten Capital nur irgend eine Freude denken? Das iſt alſo mein luſtiges Glaubensbekennt¬ niß: ſeine Geſchäfte verrichtet, Geld geſchaft, ſich mit den Seinigen luſtig gemacht und um die übrige Welt ſich nicht mehr beküm¬ mert, als in ſo fern man ſie nutzen kann.
Nun wirſt du aber ſagen: wie iſt denn in eurem ſaubern Plane an mich gedacht? Wo ſoll ich unterkommen, wenn ihr mir das väterliche Haus verkauft, und in dem euri¬ gen nicht der mindeſte Raum übrig bleibt?
Das iſt freylich der Hauptpunkt, Brüder¬ chen, und auf den werde ich dir gleich die¬23 nen können, wenn ich dir vorher das gebüh¬ rende Lob über deine vortrefflich angewende¬ te Zeit werde entrichtet haben.
Sage nur, wie haſt du es angefangen, in ſo wenigen Wochen ein Kenner aller nütz¬ lichen und intereſſanten Gegenſtände zu wer¬ den? So viel Fähigkeiten ich an dir kenne, hätte ich dir doch ſolche Aufmerkſamkeit und ſolchen Fleiß nicht zugetraut. Dein Tage¬ buch hat uns überzeugt, mit welchem Nutzen du die Reiſe gemacht haſt; die Beſchreibung der Eiſen - und Kupferhämmer iſt vortreff¬ lich und zeigt von vieler Einſicht in die Sache. Ich habe ſie ehemals auch beſucht, aber meine Relation, wenn ich ſie dagegen halte, ſieht ſehr ſtümpermäßig aus. Der ganze Brief über die Leinwandfabrication iſt lehrreich und die Anmerkung über die Concurrenz ſehr treffend. An einigen Orten24 haſt du Fehler in der Addition gemacht, die jedoch ſehr verzeihlich ſind.
Was aber mich und meinen Vater am meiſten und höchſten freut, ſind deine gründ¬ lichen Einſichten in die Bewirthſchaftung und beſonders in die Verbeſſerung der Feldgüter. Wir haben Hoffnung, ein großes Gut, das in Sequeſtration liegt, in einer ſehr frucht¬ baren Gegend zu erkaufen. Wir wenden das Geld, das wir aus dem väterlichen Hau¬ ſe löſen, dazu an; ein Theil wird geborgt, und ein Theil kann ſtehen bleiben; und wir rechnen auf dich, daß du dahin ziehſt, den Verbeſſerungen vorſtehſt, und ſo kann, um nicht zu viel zu ſagen, das Gut in einigen Jahren um ein Drittel an Werth ſteigen; man verkauft es wieder, ſucht ein größeres, verbeſſert und handelt wieder, und dazu biſt du der Mann. Unſre Federn ſollen in¬ deß zu Hauſe nicht müßig ſeyn, und wir25 wollen uns bald in einen beneidenswerthen Zuſtand verſetzen.
Jetzt lebe wohl! Genieße das Leben auf der Reiſe, und ziehe hin, wo du es vergnüg¬ lich und nützlich findeſt. Vor dem erſten halben Jahre bedürfen wir deiner nicht; du kannſt dich alſo nach Belieben in der Welt umſehen, denn die beſte Bildung findet ein geſcheuter Menſch auf Reiſen. Lebe wohl, ich freue mich, ſo nahe mit dir verbunden, auch nunmehr im Geiſt der Thätigkeit mit dir vereint zu werden. »
So gut dieſer Brief geſchrieben war, und ſo viel ökonomiſche Wahrheiten er enthalten mochte, mißfiel er doch Wilhelmen auf mehr als eine Weiſe. Das Lob, das er über[ſei¬]ne fingirten ſtatiſtiſchen, technologiſchen und ruraliſchen Kenntniſſe erhielt, war ihm ein ſtiller Vorwurf; und das Ideal, das ihm ſein Schwager vom Glück des bürgerlichen26 Lebens vorzeichnete, reizte ihn keineswegs; vielmehr ward er durch einen heimlichen Geiſt des Widerſpruchs mit Heftigkeit auf die entgegen geſetzte Seite getrieben. Er überzeugte ſich, daß er nur auf dem Theater die Bildung, die er ſich zu geben wünſchte, vollenden könne, und ſchien in ſeinem Ent¬ ſchluſſe nur deſtomehr beſtärkt zu werden, je lebhafter Werner, ohne es zu wiſſen, ſein Gegner geworden war. Er faßte darauf alle ſeine Argumente zuſammen und beſtä¬ tigte bey ſich ſeine Meynung nur um deſto¬ mehr, je mehr er Urſache zu haben glaubte ſie dem klugen Werner in einem günſtigen Lichte darzuſtellen, und auf dieſe Weiſe ent¬ ſtand eine Antwort, die wir gleichfalls ein¬ rücken.
27Dein Brief iſt ſo wohl geſchrieben, und ſo geſcheut und klug gedacht, daß ſich nichts mehr dazu ſetzen läßt. Du wirſt mir aber verzeihen, wenn ich ſage, daß man gerade das Gegentheil davon meynen, behaupten und thun und doch auch recht haben kann. Deine Art zu ſeyn und zu denken geht auf einen unbeſchränkten Beſitz und auf eine leichte luſtige Art zu genießen hinaus, und ich brauche dir kaum zu ſagen, daß ich dar¬ an nichts was mich reizte finden kann.
Zuerſt muß ich dir leider bekennen, daß mein Tagebuch aus Noth, um meinem Va¬ ter gefällig zu ſeyn, mit Hülfe eines Freun¬ des aus mehreren Büchern zuſammen ge¬ ſchrieben iſt, und daß ich wohl die darin enthaltenen Sachen und noch mehrere dieſer28 Art weiß, aber keineswegs verſtehe, noch mich damit abgeben mag. Was hilft es mir, gutes Eiſen zu fabriziren, wenn mein eige¬ nes Innere voller Schlacken iſt? und was, ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir ſelber immer uneins bin?
Daß ich dir’s mit Einem Worte ſage, mich ſelbſt, ganz wie ich da bin, auszubil¬ den, das war dunkel von Jugend auf mein Wunſch und meine Abſicht. Noch hege ich eben dieſe Geſinnungen, nur daß mir die Mittel, die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher ſind. Ich habe mehr Welt geſehen, als du glaubſt, und ſie beſſer benutzt, als du denkſt. Schenke deswegen dem, was ich ſage, einige Aufmerkſamkeit, wenn es gleich nicht ganz nach deinem Sinne ſeyn ſollte.
Wäre ich ein Edelmann, ſo wäre unſer Streit bald abgethan; da ich aber nur ein29 Bürger bin, ſo muß ich einen eigenen Weg nehmen, und ich wünſche daß du mich ver¬ ſtehen mögeſt. Ich weiß nicht wie es in fremden Ländern iſt, aber in Deutſchland iſt nur dem Edelmann eine gewiſſe allgemei¬ ne, wenn ich ſagen darf perſonelle Ausbil¬ dung möglich. Ein Bürger kann ſich Ver¬ dienſt erwerben und zur höchſten Noth ſei¬ nen Geiſt ausbilden; ſeine Perſönlichkeit geht aber verloren, er mag ſich ſtellen wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmſten umgeht, zur Pflicht wird, ſich ſelbſt einen vornehmen Anſtand zu geben, indem dieſer Anſtand, da ihm weder Thür noch Thor verſchloſſen iſt, zu einem freyen Anſtand wird, da er mit ſeiner Figur, mit ſeiner Perſon, es ſey bey Hofe oder bey der Armee, bezahlen muß, ſo hat er Urſache etwas auf ſie zu halten, und zu zeigen, daß er etwas auf ſie hält. Eine gewiſſe feyerli¬30 che Grazie bey gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtſinniger Zierlichkeit bey ernſt¬ haften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er ſehen läßt, daß er überall im Gleichge¬ wicht ſteht. Er iſt eine öffentliche Perſon, und je ausgebildeter ſeine Bewegungen, je ſonorer ſeine Stimme, je gehaltner und ge¬ meßner ſein ganzes Weſen iſt, deſto voll¬ kommener iſt er, und wenn er gegen hohe und niedre, gegen Freunde und Verwandte immer eben derſelbe bleibt, ſo iſt nichts an ihm auszuſetzen, man darf ihn nicht anders wünſchen. Er ſey kalt, aber verſtändig; ver¬ ſtellt, aber klug. Wenn er ſich äußerlich in jedem Momente ſeines Lebens zu beherrſchen weiß, ſo hat niemand eine weitere Forde¬ rung an ihn zu machen, und alles übrige was er an und um ſich hat, Fähigkeit, Ta¬ lent, Reichthum, alles ſcheinen nur Zugaben zu ſeyn.
31Nun denke dir irgend einen Bürger, der an jene Vorzüge nur einigen Anſpruch zu machen gedachte; durchaus muß es ihm mi߬ lingen, und er müßte nur deſto unglücklicher werden, je mehr ſein Naturell ihm zu jener Art zu ſeyn Fähigkeit und Trieb gegeben hätte.
Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Gränzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren er¬ ſchaffen kann; ſo darf er überall mit einem ſtillen Bewußtſeyn vor ſeines gleichen tre¬ ten; er darf überall vorwärts dringen, an¬ ſtatt daß dem Bürger nichts beſſer anſteht, als das reine ſtille Gefühl der Gränzlinie die ihm gezogen iſt. Er darf nicht fragen: was biſt du? ſondern nur: was haſt du? Welche Einſicht, welche Kenntniß, welche Fähigkeit, wieviel Vermögen? Wenn der Edelmann durch die Darſtellung ſeiner Per¬32 ſon alles giebt, ſo giebt der Bürger durch ſeine Perſönlichkeit nichts und ſoll nichts ge¬ ben. Jener darf und ſoll ſcheinen; dieſer ſoll nur ſeyn, und was er ſcheinen will iſt lächerlich oder abgeſchmackt. Jener ſoll thun und wirken, dieſer ſoll leiſten und ſchaffen; er ſoll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird ſchon voraus geſetzt, daß in ſeinem Weſen keine Harmonie ſey, noch ſeyn dürfe, weil er, um ſich auf Eine Weiſe brauchbar zu machen, alles übrige vernachläßigen muß.
An dieſem Unterſchiede iſt nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgie¬ bigkeit der Bürger, ſondern die Verfaſſung der Geſellſchaft ſelbſt Schuld; ob ſich daran einmal was ändern wird und was ſich än¬ dern wird, bekümmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen jetzt ſtehen, an mich ſelbſt zu denken, und wie ich mich ſelbſtund33und das was mir ein unerläßliches Bedürf¬ niß iſt, rette und erreiche.
Ich habe nun einmal gerade zu jener harmoniſchen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt verſagt, eine unwiderſteh¬ liche Neigung. Ich habe, ſeit ich dich verlaſſen, durch Leibesübung viel gewon¬ nen; ich habe viel von meiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt und ſtelle mich ſo ziem¬ lich dar. Eben ſo habe ich meine Sprache und Stimme ausgebildet, und ich darf ohne Eitelkeit ſagen, daß ich in Geſellſchaften nicht mißfalle. Nun läugne ich dir nicht, daß mein Trieb täglich unüberwindlicher wird, eine öffentliche Perſon zu ſeyn, und in einem weitern Kreiſe zu gefallen und zu wir¬ ken. Dazu kömmt meine Neigung zur Dicht¬ kunſt und zu allem, was mit ihr in Verbin¬ dung ſteht, und das Bedürfniß meinen Geiſt und Geſchmack auszubilden, damit ich nachW. Meiſters Lehrj. 3. C34und nach auch bey dem Genuß, den ich nicht entbehren kann, nur das Gute wirklich für gut und das Schöne für ſchön halte. Du ſiehſt wohl, daß das alles für mich nur auf dem Theater zu finden iſt, und daß ich mich in dieſem einzigen Elemente nach Wunſch rühren und ausbilden kann. Auf den Bret¬ tern erſcheint der gebildete Menſch ſo gut perſönlich in ſeinem Glanz als in den obern Klaſſen; Geiſt und Körper müſſen bey jeder Bemühung gleichen Schritt gehen, und ich werde da ſo gut ſeyn und ſcheinen können, als irgend anderswo. Suche ich daneben noch Beſchäftigungen, ſo giebt es dort me¬ chaniſche Quälereyen genug, und ich kann meiner Geduld tägliche Übung verſchaffen.
Diſputire mit mir nicht darüber; denn eh’ du mir ſchreibſt, iſt der Schritt ſchon ge¬ ſchehen. Wegen der herrſchenden Vorurthei¬ le will ich meinen Nahmen verändern, weil35 ich mich ohnehin ſchäme als Meiſter aufzu¬ treten. Lebe wohl. Unſer Vermögen iſt in ſo guter Hand, daß ich mich darum gar nicht bekümmere; was ich brauche, verlange ich gelegentlich von dir; es wird nicht viel ſeyn, denn ich hoffe daß mich meine Kunſt auch nähren ſoll. »
Der Brief war kaum abgeſchickt, als Wilhelm auf der Stelle Wort hielt und zu Serlo’s und der übrigen großen Verwunde¬ rung ſich auf einmal erklärte: daß er ſich zum Schauſpieler widme und einen Contract auf billige Bedingungen eingehen wolle. Man war hierüber bald einig; denn Serlo hatte ſchon früher ſich ſo erklärt, daß Wil¬ helm und die übrigen damit gar wohl zu¬ frieden ſeyn konnten. Die ganze verunglück¬ te Geſellſchaft, mit der wir uns ſo lange unterhalten haben, ward auf einmal ange¬ nommen, ohne daß jedoch, außer etwa Laer¬C 236tes, ſich einer gegen Wilhelmen dankbar er¬ zeigt hätte. Wie ſie ohne Zutrauen gefor¬ dert hatten, ſo empfingen ſie ohne Dank. Die meiſten wollten lieber ihre Anſtellung dem Einfluſſe Philinens zuſchreiben, und richteten ihre Dankſagungen an ſie. Indeſ¬ ſen wurden die ausgefertigten Contracte unterſchrieben, und durch eine unerklärliche Verknüpfung von Ideen entſtand vor Wil¬ helms Einbildungskraft, in dem Augenblicke als er ſeinen fingirten Nahmen unterzeichne¬ te, das Bild jenes Waldplatzes, wo er ver¬ wundet in Philinens Schooß gelegen. Auf einem Schimmel kam die liebenswürdige Amazone aus den Büſchen, nahte ſich ihm und ſtieg ab. Ihr menſchenfreundliches Be¬ mühen hieß ſie gehen und kommen; endlich ſtand ſie vor ihm. Das Kleid fiel von ih¬ ren Schultern, ihr Geſicht, ihre Geſtalt fin¬ gen an zu glänzen und ſie verſchwand. So37 ſchrieb er ſeinen Nahmen nur mechaniſch hin, ohne zu wiſſen was er that, und fühlte erſt, nachdem er unterzeichnet hatte, daß Mignon an ſeiner Seite ſtand, ihn am Arm hielt[und] ihm die Hand leiſe wegzu¬ ziehen verſucht hatte.
38Eine der Bedingungen, unter denen Wil¬ helm ſich aufs Theater begab, war von Ser¬ lo nicht ohne Einſchränkung zugeſtanden worden. Jener verlangte, daß Hamlet ganz und unzerſtückt aufgeführt werden ſollte, und dieſer ließ ſich das wunderliche Begeh¬ ren in ſo fern gefallen, als es möglich ſeyn würde. Nun hatten ſie hierüber bisher man¬ chen Streit gehabt; denn was möglich oder nicht möglich ſey, und was man von dem Stücke weglaſſen könne, ohne es zu zerſtück¬ ken, darüber waren beyde ſehr verſchiedener Meynung.
Wilhelm befand ſich noch in den glückli¬ chen Zeiten, da man nicht begreifen kann, daß an einem geliebten Mädchen, an einem verehrten Schriftſteller irgend etwas man¬39 gelhaft ſeyn könne. Unſere Empfindung von ihnen iſt ſo ganz, ſo mit ſich ſelbſt überein¬ ſtimmend, daß wir uns auch in ihnen eine ſolche vollkommene Harmonie denken müſ¬ ſen. Serlo hingegen ſonderte gern und bey¬ nah zu viel; ſein ſcharfer Verſtand wollte in einem Kunſtwerke gewöhnlich nur ein mehr oder weniger unvollkommenes Ganze erken¬ nen. Er glaubte, ſo wie man die Stücke finde, habe man wenig Urſache mit ihnen ſo gar bedächtig umzugehen, und ſo mußte auch Shakeſpear, ſo mußte beſonders Ham¬ let vieles leiden.
Wilhelm wollte gar nicht hören, wenn jener von der Abſonderung der Spreu von dem Weizen ſprach. Es iſt nicht Spreu und Weizen durcheinander, rief dieſer, es iſt ein Stamm, Äſte, Zweige, Blätter, Knoſpen, Blüthen und Früchte. Iſt nicht eins mit dem andern und durch das andere? Jener40 behauptete, man bringe nicht den ganzen Stamm auf den Tiſch, der Künſtler müſſe goldne Äpfel in ſilbernen Schalen ſeinen Gä¬ ſten reichen. Sie erſchöpften ſich in Gleich¬ niſſen, und ihre Meynungen ſchienen ſich im¬ mer weiter von einander zu entfernen.
Gar verzweifeln wollte unſer Freund, als Serlo ihm einſt nach langem Streit das einfachſte Mittel anrieth, ſich kurz zu reſol¬ viren, die Feder zu ergreifen und in dem Trauerſpiele, was eben nicht gehen wolle noch könne, abzuſtreichen, mehrere Perſonen in Eine zu drängen, und wenn er mit die¬ ſer Art noch nicht bekannt genug ſey, oder noch nicht Herz genug dazu habe, ſo ſolle er ihm die Arbeit überlaſſen, und er wolle bald fertig ſeyn.
Das iſt nicht unſerer Abrede gemäß, ver¬ ſetzte Wilhelm. Wie können Sie bei ſo viel Geſchmack ſo leichtſinnig ſeyn?
41Mein Freund, rief Serlo aus, Sie wer¬ den es auch ſchon werden. Ich kenne das Abſcheuliche dieſer Manier nur zu wohl, die vielleicht noch auf keinem Theater in der Welt ſtatt gefunden hat. Aber wo iſt auch eins ſo verwahrloſt als das unſere? Zu dieſer ekelhaften Verſtümmelung zwingen uns die Autoren, und das Publikum erlaubt ſie. Wie viel Stücke haben wir denn, die nicht über das Maaß des Perſonals, der Dekorationen und Theatermechanik, der Zeit, des Dialogs und der phyſiſchen Kräfte des Acteurs hinausſchritten? und doch ſollen wir ſpielen und immer ſpielen und immer neu ſpielen. Sollen wir uns dabey nicht unſres Vortheils bedienen, da wir mit zerſtückelten Werken eben ſo viel ausrichten als mit gan¬ zen? Setzt uns das Publikum doch ſelbſt in den Vortheil! Wenig Deutſche, und vielleicht nur wenige Menſchen aller neuern42 Nationen, haben Gefühl für ein äſthetiſches Ganze; ſie loben und tadeln nur ſtellen¬ weiſe; ſie entzücken ſich nur ſtellenweiſe: und für wen iſt das ein größeres Glück als für den Schauſpieler, da das Theater doch im¬ mer nur ein geſtoppeltes und geſtückeltes Weſen bleibt.
Iſt! verſetzte Wilhelm; aber muß es denn auch ſo bleiben, muß denn alles blei¬ ben was iſt? Überzeugen Sie mich ja nicht, daß Sie recht haben; denn keine Macht in der Welt würde mich bewegen können, einen Contract zu halten, den ich nur im gröbſten Irrthum geſchloſſen hätte.
Serlo gab der Sache eine luſtige Wen¬ dung und erſuchte Wilhelmen, ihre öftern Geſpräche über Hamlet nochmals zu beden¬ ken, und ſelbſt die Mittel zu einer glückli¬ chen Bearbeitung zu erſinnen.
Nach einigen Tagen, die er in der Ein¬43 ſamkeit zugebracht hatte, kam Wilhelm mit frohem Blicke zurück. Ich müßte mich ſehr irren, rief er aus, wenn ich nicht gefunden hätte, wie dem Ganzen zu helfen iſt; ja ich bin überzeugt, daß Shakeſpear es ſelbſt ſo würde gemacht haben, wenn ſein Genie nicht auf die Hauptſache ſo ſehr gerichtet, und nicht vielleicht durch die Novellen, nach de¬ nen er arbeitete, verführt worden wäre.
Laſſen Sie hören, ſagte Serlo, indem er ſich gravitätiſch aufs Kanapee ſetzte, ich wer¬ de ruhig aufhorchen, aber auch deſto ſtren¬ ger richten.
Wilhelm verſetzte: Mir iſt nicht bange; hören Sie nur. Ich unterſcheide, nach der genauſten Unterſuchung, nach der reiflichſten Überlegung, in der Compoſition dieſes Stücks, zweyerley: das erſte ſind die großen innern Verhältniſſe der Perſonen und der Begeben¬ heiten, die mächtigen Wirkungen, die aus44 den Characteren und Handlungen der Haupt¬ figuren entſtehen, und dieſe ſind einzeln für¬ trefflich, und die Folge, in der ſie aufgeſtellt ſind, unverbeſſerlich. Sie können durch keine Art von Behandlung zerſtöhrt, ja kaum verunſtaltet werden. Dieſe ſinds, die jeder¬ mann zu ſehen verlangt, die niemand anzu¬ taſten wagt, die ſich tief in die Seele ein¬ drücken und die man, wie ich höre, beynahe alle auf das deutſche Theater gebracht hat. Nur hat man, wie ich glaube, darin ge¬ fehlt, daß man das zweyte, was bey dieſem Stück zu bemerken iſt, ich meyne die äußern Verhältniſſe der Perſonen, wodurch ſie von einem Orte zum andern gebracht, oder auf dieſe und jene Weiſe durch gewiſſe zufällige Begebenheiten verbunden werden, für allzuun¬ bedeutend angeſehen, nur im vorbeygehn da¬ von geſprochen, oder ſie gar weggelaſſen hat. Freilich ſind dieſe Fäden nur dünn und loſe.45 aber ſie gehen doch durchs ganze Stück, und halten zuſammen, was ſonſt auseinander fie¬ le, auch wirklich auseinander fällt, wenn man ſie wegſchneidet, und ein übriges ge¬ than zu haben glaubt, wenn man die En¬ den ſtehen läßt.
Zu dieſen äußern Verhältniſſen zähle ich die Unruhen in Norwegen, den Krieg mit dem jungen Fortinbras, die Geſandtſchaft an den alten Oheim, den geſchlichteten Zwiſt, den Zug des jungen Fortinbras nach Polen und ſeine Rückkehr am Ende. Ingleichen die Rückkehr des Horatio von Wittenberg, die Luſt Hamlets dahin zu gehen, die Reiſe des Laertes nach Frankreich, ſeine Rückkunft, die Verſchickung Hamlets nach England, ſeine Gefangenſchaft beym Seeräuber, der Tod der beyden Hofleute auf den Uriasbrief; alles dieſes ſind Umſtände und Begebenhei¬ ten, die einen Roman weit und breit machen46 können, die aber der Einheit dieſes Stücks, in dem beſonders der Held keinen Plan hat, auf das äußerſte ſchaden und höchſt fehler¬ haft ſind.
So höre ich Sie einmal gerne! rief Serlo.
Fallen Sie mir nicht ein, verſetzte Wil¬ helm, Sie möchten mich nicht immer loben. Dieſe Fehler ſind wie flüchtige Stützen eines Gebäudes, die man nicht wegnehmen darf, ohne vorher eine feſte Mauer unterzuziehen, Mein Vorſchlag iſt alſo, an jenen erſten groſ¬ ſen Situationen gar nicht zu rühren, ſon¬ dern ſie ſowohl im Ganzen als Einzelnen möglichſt zu ſchonen, aber dieſe äußern, ein¬ zelnen, zerſtreuten und zerſtreuenden Motive alle auf einmal weg zu werfen und ihnen ein Einziges zu ſubſtituiren.
Und das wäre? fragte Serlo, indem er ſich aus ſeiner ruhigen Stellung aufhob.
47Es liegt auch ſchon im Stücke, erwieder¬ te Wilhelm, nur mache ich den rechten Ge¬ brauch davon. Es ſind die Unruhen in Norwegen. Hier haben Sie meinen Plan zur Prüfung.
Nach dem Tode des alten Hamlet wer¬ den die erſteroberten Norweger unruhig. Der dortige Statthalter ſchickt ſeinen Sohn Horatio, einen alten Schulfreund Hamlets, der aber an Tapferkeit und Lebensklugheit allen andern vorgelaufen iſt, nach Dänne¬ mark, auf die Ausrüſtung der Flotte zu dringen, welche unter dem neuen der Schwel¬ gerey ergebenen König nur ſaumſelig von Statten geht. Horatio kennt den alten Kö¬ nig, denn er hat ſeinen letzten Schlachten beygewohnt, hat bey ihm in Gunſten ge¬ ſtanden, und die erſte Geiſterſcene wird da¬ durch nicht verlieren. Der neue König giebt ſodann dem Horatio Audienz und ſchickt48 den Laertes nach Norwegen mit der Nach¬ richt, daß die Flotte bald anlanden werde, indeß Horatio den Auftrag erhält, die Rü¬ ſtung derſelben zu beſchleunigen; dagegen will die Mutter nicht einwilligen, daß Ham¬ let, wie er wünſchte, mit Horatio zur See gehe.
Gott ſey Dank! rief Serlo, ſo werden wir auch Wittenberg und die hohe Schule los, die mir immer ein leidiger Anſtoß war. Ich finde Ihren Gedanken recht gut, denn außer den zwey einzigen fernen Bildern, Norwegen und der Flotte, braucht der Zu¬ ſchauer ſich nichts zu denken; das übrige ſieht er alles, das übrige geht alles vor, anſtatt daß ſonſt ſeine Einbildungskraft in der ganzen Welt herum gejagt würde.
Sie ſehen leicht, verſetzte Wilhelm, wie ich nunmehr auch das übrige zuſammen hal¬ ten kann. Wenn Hamlet dem Horatio dieMiſſe¬49Miſſethat ſeines Stiefvaters entdeckt, ſo räth ihm dieſer mit nach Norwegen zu gehen, ſich der Armee zu verſichern und mit gewaff¬ neter Hand zurück zu kehren. Da Hamlet dem König und der Königinn zu gefährlich wird, haben ſie kein näheres Mittel ihn los zu werden, als ihn nach der Flotte zu ſchik¬ ken und ihm Roſenkranz und Güldenſtern zu Beobachtern mitzugeben; und da indeß Laertes zurück kommt, ſoll dieſer bis zum Meuchelmord erhitzte Jüngling ihm nachge¬ ſchickt werden. Die Flotte bleibt wegen ungünſtigem Winde liegen; Hamlet kehrt nochmals zurück; ſeine Wanderung über den Kirchhof kann vielleicht glücklich motivirt werden; ſein Zuſammentreffen mit Laertes in Opheliens Grabe iſt ein großer unent¬ behrlicher Moment. Hierauf mag der Kö¬ nig bedenken, daß es beſſer ſey Hamlet auf der Stelle los zu werden; das Feſt der Ab¬W. Meiſters Lehrj. 3. D50reiſe, der ſcheinbaren Verſöhnung mit Laer¬ tes wird nun feyerlich begangen, wobey man Ritterſpiele hält und auch Hamlet und Laertes fechten. Ohne die vier Leichen kann ich das Stück nicht ſchließen; es darf nie¬ mand übrig bleiben. Hamlet giebt, da nun das Wahlrecht des Volks wieder eintritt, ſeine Stimme ſterbend dem Horatio.
Nur geſchwind, verſetzte Serlo, ſetzen Sie ſich hin und arbeiten das Stück aus; die Idee hat völlig meinen Beyfall, nur daß die Luſt nicht verraucht.
51Wilhelm hatte ſich ſchon lange mit einer Überſetzung Hamlets abgegeben; er hatte ſich dabei der geiſtvollen Wielandſchen Ar¬ beit bedient, durch die er überhaupt Sha¬ keſpearn zuerſt kennen lernte. Was in der¬ ſelben ausgelaſſen war, fügte er hinzu, und ſo war er im Beſitz eines vollſtändigen Exemplars in dem Augenblicke, da er mit Serlo über die Behandlung ſo ziemlich einig geworden war. Er fing nun an nach ſei¬ nem Plane auszuheben und einzuſchieben, zu trennen und zu verbinden, zu verändern und oft wieder herzuſtellen; denn ſo zufrie¬ den er auch mit ſeiner Idee war, ſo ſchien ihm doch bey der Ausführung immer, daß das Original nur verdorben werde.
Sobald er fertig war, las er es SerloD 252und der übrigen Geſellſchaft vor. Sie be¬ zeugten ſich ſehr zufrieden damit, beſonders machte Serlo manche günſtige Bemerkung.
Sie haben, ſagte er unter andern, ſehr richtig empfunden, daß äußere Umſtände dieſes Stück begleiten, aber einfacher ſeyn müſſen, als ſie uns der große Dichter gege¬ ben hat. Was außer dem Theater vorgeht, was der Zuſchauer nicht ſieht, was er ſich vorſtellen muß, iſt wie ein Hintergrund, vor dem die ſpielenden Figuren ſich bewegen. Die große einfache Ausſicht auf die Flotte und Norwegen wird dem Stück ſehr gut thun; nähme man ſie ganz weg, ſo iſt es nur eine Familienſcene, und der große Be¬ grif, daß hier ein ganzes königliches Haus durch innere Verbrechen und Ungeſchicklich¬ keiten zu Grunde geht, wird nicht in ſeiner ganzen Würde dargeſtellt. Bliebe aber je¬ ner Hintergrund ſelbſt mannichfaltig, beweg¬53 lich, confus; ſo thäte er dem Eindrucke der Figuren Schaden.
Wilhelm nahm nun wieder die Parthie Shakeſpears, und zeigte, daß er für Inſu¬ laner geſchrieben habe, für Engländer, die ſelbſt im Hintergrunde nur Schiffe und See¬ reiſen, die Küſte von Frankreich und Caper zu ſehen gewohnt ſind, und daß das, was jenen etwas ganz gewöhnliches ſey, uns ſchon zerſtreue und verwirre.
Serlo mußte nachgeben, und beyde ſtimm¬ ten darin überein, daß, da das Stück nun einmal auf das deutſche Theater ſolle, dieſer ernſtere einfachere Hintergrund für unſre Vorſtellungsart am beſten paſſen werde.
Die Rollen hatte man ſchon früher aus¬ getheilt; den Polonius übernahm Serlo; Aurelie, Ophelien; Laertes war durch ſeinen Namen ſchon bezeichnet; ein junger, unter¬ ſetzter, muntrer, neuangekommener Jüngling54 erhielt die Rolle des Horatio; nur wegen des Königs und des Geiſtes war man in einiger Verlegenheit. Für beyde Rollen war nur der alte Polterer da. Serlo ſchlug den Pedanten zum Könige vor; wogegen Wil¬ helm aber aufs äußerſte proteſtirte. Man konnte ſich nicht entſchließen.
Ferner hatte Wilhelm in ſeinem Stücke die beyden Rollen von Roſenkranz und Gül¬ denſtern ſtehen laſſen. Warum haben Sie dieſe nicht in Eine verbunden? fragte Serlo, dieſe Abbreviatur iſt doch ſo leicht gemacht.
Gott bewahre mich vor ſolchen Verkür¬ zungen, die zugleich Sinn und Wirkung aufheben, verſetzte Wilhelm. Das was die¬ ſe beyden Menſchen ſind und thun, kann nicht durch Einen vorgeſtellt werden. In ſolchen Kleinigkeiten zeigt ſich Shakeſpears Größe. Dieſes leiſe Auftreten, dieſes Schmie¬ gen und Biegen, dies Ja ſagen, Streicheln55 und Schmeicheln, dieſe Behendigkeit, dieſes Schwenzeln, dieſe Allheit und Leerheit, dieſe rechtliche Schurkerey, dieſe Unfähigkeit, wie kann ſie durch Einen Menſchen ausgedruckt werden? Es ſollten ihrer wenigſtens ein Dutzend ſeyn, wenn man ſie haben könnte, denn ſie ſind bloß etwas in Geſellſchaft; ſie ſind die Geſellſchaft, und Shakeſpear war ſehr beſcheiden und weiſe, daß er nur zwey ſolche Repräſentanten auftreten ließ. Über¬ dies brauche ich ſie in meiner Bearbeitung als ein Paar, das mit dem Einen, guten, trefflichen Horatio contraſtirt.
Ich verſtehe Sie, ſagte Serlo, und wir können uns helfen. Den einen geben wir Elmiren (ſo nannte man die älteſte Tochter des Polterers); es kann nicht ſchaden, wenn ſie gut ausſehen, und ich will die Puppen putzen und dreſſiren, daß es eine Luſt ſeyn ſoll.
56Philine freute ſich außerordentlich, daß ſie die Herzoginn in der kleinen Comödie ſpielen ſollte. Das will ich ſo natürlich ma¬ chen, rief ſie aus, wie man in der Geſchwin¬ digkeit einen zweyten heurathet, nachdem man den erſten ganz außerordentlich geliebt hat. Ich hoffe mir den größten Beyfall zu erwerben, und jeder Mann ſoll wünſchen der dritte zu werden.
Aurelie machte ein verdrießliches Geſicht bey dieſen Äußerungen; ihr Widerwille ge¬ gen Philinen nahm mit jedem Tage zu.
Es iſt recht ſchade, ſagte Serlo, daß wir kein Ballet haben, ſonſt ſollten Sie mir mit Ihrem erſten und zweyten Manne ein Pas de deux tanzen, und der Alte ſollte nach dem Takt einſchlafen, und Ihre Füßchen und Wädchen würden ſich dort hinten auf dem Kindertheater ganz allerliebſt ausnehmen.
Von meinen Wädchen wiſſen Sie ja57 wohl nicht vie[l,]verſetzte ſie ſchnippiſch, und was meine Füßchen betrift, rief ſie indem ſie ſchnell unter den Tiſch reichte, ihre Pantöf¬ felchen herauf holte und neben einander vor Serlo hinſtellte, hier ſind die Stelzchen, und ich gebe Ihnen auf niedlichere zu finden.
Es war Ernſt! ſagte er, als er die zier¬ lichen Halbſchuhe betrachtete. Gewiß, man konnte nicht leicht was artigers ſehen!
Sie waren Pariſer Arbeit; Philine hatte ſie von der Gräfin zum Geſchenk erhalten, einer Dame, deren ſchöner Fuß berühmt war.
Ein reitzender Gegenſtand! rief Serlo, das Herz hüpft mir wenn ich ſie anſehe.
Welche Verzuckungen! ſagte Philine.
Es geht nichts über ein paar Pantöffel¬ chen von ſo feiner ſchöner Arbeit, rief Ser¬ lo; doch iſt ihr Klang noch reitzender, als ihr Anblick. Er hub ſie auf und ließ ſie58 einigemal hinter einander wechſelsweiſe auf den Tiſch fallen.
Was ſoll das heißen? Nur wieder her damit! rief Philine.
Darf ich ſagen, verſetzte er mit verſtell¬ ter Beſcheidenheit und ſchalkhaftem Ernſt, wir andern Junggeſellen, die wir Nachts meiſt allein ſind, und uns doch wie andre Menſchen fürchten, und im Dunkeln uns nach Geſellſchaft ſehnen, beſonders in Wirths¬ häuſern und fremden Orten wo es nicht ganz geheuer iſt, wir finden es gar tröſtlich, wenn ein gutherziges Kind uns Geſellſchaft und Beyſtand leiſten will. Es iſt Nacht, man liegt im Bette, es raſchelt, man ſchaudert, die Thüre thut ſich auf, man erkennt ein liebes pisperndes Stimmchen, es ſchleicht was herbey, die Vorhänge rauſchen, klipp! klapp! die Pantoffeln fallen, und huſch! man iſt nicht mehr allein. Ach der liebe, der ein¬59 zige Klang, wenn die Abſätzchen auf den Boden aufſchlagen! Je zierlicher ſie ſind, je feiner klingts. Man ſpreche mir von Philomelen, von rauſchenden Bächen, vom Säuſeln der Winde, und von allem was je georgelt und gepfiffen worden iſt, ich halte mich an das Klipp! Klapp! — Klipp! Klapp! iſt das ſchönſte Thema zu einem Rondeau, das man immer wieder von vorne zu hören wünſcht.
Philine nahm ihm die Pantoffeln aus den Händen und ſagte: wie ich ſie krumm getreten habe! ſie ſind mir viel zu weit. Dann ſpielte ſie damit und rieb die Sohlen gegen einander. Was das heiß wird! rief ſie aus, indem ſie die eine Sohle flach an die Wange hielt, dann wieder rieb und ſie gegen Serlo hinreichte. Er war gutmüthig genug nach der Wärme zu fühlen, und Klipp! Klapp! rief ſie, indem ſie ihm einen60 derben Schlag mit dem Abſatz verſetzte, daß er ſchreyend die Hand zurück zog. Ich will euch lehren bey meinen Pantoffeln was anders denken, ſagte Philine lachend.
Und ich will dich lehren alte Leute wie Kinder anführen! rief Serlo dagegen, ſprang auf, faßte ſie mit Heftigkeit und raubte ihr manchen Kuß, deren jeden ſie ſich mit ernſt¬ lichem Widerſtreben gar künſtlich abzwingen ließ. Über dem Balgen fielen ihre langen Haare herunter und wickelten ſich um die Gruppe, der Stuhl ſchlug an den Boden, und Aurelie, die von dieſem Unweſen inner¬ lich beleidigt war, ſtand mit Verdruß auf.
61Obgleich bey der neuen Bearbeitung Ham¬ lets manche Perſonen weggefallen waren, ſo blieb die Anzahl derſelben doch immer noch groß genug, und faſt wollte die Geſellſchaft nicht hinreichen.
Wenn das ſo fort geht, ſagte Serlo, wird unſer Soufleur auch noch aus dem Lo¬ che hervorſteigen müſſen, unter uns wan¬ deln, und zur Perſon werden.
Schon oft habe ich ihn an ſeiner Stelle bewundert, verſetzte Wilhelm.
Ich glaube nicht, daß es einen vollkom¬ menern Einhelfer giebt, ſagte Serlo. Kein Zuſchauer wird ihn jemals hören; wir auf dem Theater verſtehen jede Sylbe. Er hat ſich gleichſam ein eigen Organ dazu gemacht, und iſt wie ein Genius, der uns in der62 Noth vernehmlich zuliſpelt. Er fühlt wel¬ chen Theil ſeiner Rolle der Schauſpieler voll¬ kommen inne hat, und ahndet von weitem wenn ihn das Gedächtniß verlaſſen will. In einigen Fällen, da ich die Rolle kaum überleſen konnte, da er ſie mir Wort vor Wort vorſagte, ſpielte ich ſie mit Glück; nur hat er Sonderbarkeiten, die jeden an¬ dern unbrauchbar machen würden: er nimmt ſo herzlichen Antheil an den Stücken, daß er pathetiſche Stellen nicht eben declamirt, aber doch affectvoll rezitirt. Mit dieſer Un¬ art hat er mich mehr als einmal irre gemacht.
So wie er mich, ſagte Aurelie, mit einer andern Sonderbarkeit einſt an einer ſehr ge¬ fährlichen Stelle ſtecken ließ.
Wie war das bei ſeiner Aufmerkſamkeit möglich? fragte Wilhelm.
Er wird, verſetzte Aurelie, bey gewiſſen63 Stellen ſo gerührt, daß er heiße Thränen weint, und einige Augenblicke ganz aus der Faſſung kommt; und es ſind eigentlich nicht die ſogenannten rührenden Stellen, die ihn in dieſen Zuſtand verſetzen; es ſind, wenn ich mich deutlich ausdrücke, die ſchönen Stellen, aus welchen der reine Geiſt des Dichters gleichſam aus hellen offenen Augen hervorſieht, Stellen, bey denen wir andern uns nur höchſtens freuen, und über die viele Tauſend wegſehen.
Und warum erſcheint er mit dieſer zarten Seele nicht auf dem Theater?
Ein heiſcheres Organ und ein ſteifes Be¬ tragen ſchließen ihn von der Bühne, und ſeine hypochondriſche Natur von der Geſell¬ ſchaft aus, verſetzte Serlo. Wieviel Mühe habe ich mir nicht gegeben, ihn an mich zu gewöhnen? aber vergebens. Er ließt vor¬ trefflich, wie ich nicht wieder habe leſen hö¬64 ren; niemand hält wie er die zarte Gränz¬ linie zwiſchen Declamation und affectvoller Recitation.
Gefunden! rief Wilhelm, gefunden! Welch eine glückliche Entdeckung! Nun haben wir den Schauſpieler, der uns die Stelle vom rauhen Pyrrhus reziti¬ ren ſoll.
Man muß ſo viel Leidenſchaft haben wie Sie, verſetzte Serlo, um alles zu ſeinem Endzwecke zu nutzen.
Gewiß ich war in der größten Sorge, rief Wilhelm, daß vielleicht dieſe Stelle weg¬ bleiben müßte, und das ganze Stück würde dadurch gelähmt werden.
Das kann ich doch nicht einſehen, ver¬ ſetzte Aurelie.
Ich hoffe Sie werden bald meiner Mey¬ nung ſeyn, ſagte Wilhelm. Shakeſpear führt die ankommenden Schauſpieler zu ei¬nem65nem doppelten Entzweck herein. Erſt macht der Mann, der den Tod des Priamus mit ſo viel eigner Rührung declamirt, tiefen Ein¬ druck auf den Prinzen ſelbſt; er ſchärft das Gewiſſen des jungen ſchwankenden Man¬ nes: und ſo wird dieſe Scene das Prälu¬ dium zu jener, in welcher das kleine Schau¬ ſpiel ſo große Wirkung auf den König thut. Hamlet fühlt ſich durch den Schau¬ ſpieler beſchämt, der an fremden, an fingir¬ ten Leiden ſo großen Theil nimmt; und der Gedanke auf eben die Weiſe einen Verſuch auf das Gewiſſen ſeines Stiefvaters zu ma¬ chen, wird dadurch bey ihm ſogleich erregt. Welch ein herrlicher Monolog iſts, der den zweyten Act ſchließt! Wie freue ich mich darauf, ihn zu rezitiren:
» O! welch ein Schurke, welch ein nie¬ driger Sklave bin ich! — Iſt es nicht un¬ geheuer, daß dieſer Schauſpieler hier, nurW. Meiſters Lehrj. 3. E66durch Erdichtung, durch einen Traum von Leidenſchaft, ſeine Seele ſo nach ſeinem Wil¬ len zwingt, daß ihre Wirkung ſein ganzes Geſicht entfärbt: — Thränen im Auge! Ver¬ wirrung im Betragen! Gebrochne Stimme! Sein ganzes Weſen von Einem Gefühl durchdrungen! und das alles um nichts — um Hekuba! — Was iſt Hekuba für ihn oder er für Hekuba, daß er um ſie weinen ſollte?
Wenn wir nur unſern Mann auf das Theater bringen können, ſagte Aurelie.
Wir müſſen, verſetzte Serlo, ihn nach und nach hinein führen. Bey den Proben mag er die Stelle leſen, und wir ſagen daß wir einen Schauſpieler, der ſie ſpielen ſoll, erwarten, und ſo ſehen wir, wie wir ihm näher kommen.
Nachdem ſie darüber einig waren, wen¬ dete ſich das Geſpräch auf den Geiſt. Wil¬67 helm konnte ſich nicht entſchließen, die Rolle des lebenden Königs dem Pedanten zu über¬ laſſen, damit der Polterer den Geiſt ſpielen könne, und glaubte eher, daß man noch ei¬ nige Zeit warten ſollte, indem ſich doch noch einige Schauſpieler gemeldet hätten, und ſich unter ihnen der rechte Mann finden könnte.
Man kann ſich daher denken wie ver¬ wundert Wilhelm war, als er, unter der Addreſſe ſeines Theaternamens, Abends fol¬ gendes Billet mit wunderbaren Zügen ver¬ ſiegelt auf ſeinem Tiſche fand:
» Du biſt, o ſonderbarer Jüngling, wir wiſſen es, in großer Verlegenheit. Du fin¬ deſt kaum Menſchen zu deinem Hamlet, ge¬ ſchweige Geiſter. Dein Eifer verdient ein Wunder; Wunder können wir nicht thun, aber etwas Wunderbares ſoll geſchehen. Haſt du Vertrauen, ſo ſoll zur rechten Stunde der Geiſt erſcheinen! Habe Muth und bleibeE 268gefaßt! Es bedarf keiner Antwort, dein Entſchluß wird uns bekannt werden. »
Mit dieſem ſeltſamen Blatte eilte er zu Serlo zurück, der es las und wieder las, und endlich mit bedenklicher Miene verſi¬ cherte: die Sache ſey von Wichtigkeit, man müſſe wohl überlegen ob man es wagen dürfe und könne. Sie ſprachen vieles hin und wieder; Aurelie war ſtill und lächelte von Zeit zu Zeit, und als nach einigen Ta¬ gen wieder davon die Rede war, gab ſie nicht undeutlich zu verſtehen, daß ſie es für einen Scherz von Serlo halte. Sie bat Wilhelmen völlig außer Sorge zu ſeyn, und den Geiſt geduldig zu erwarten.
Überhaupt war Serlo von dem beſten Humor; denn die abgehenden Schauſpieler gaben ſich alle mögliche Mühe gut zu ſpie¬ len, damit man ſie ja recht vermiſſen ſollte, und von der Neugierde auf die neue Geſell¬69 ſchaft konnte er auch die beſte Einnahme erwarten.
Sogar hatte der Umgang Wilhelms auf ihn einigen Einfluß gehabt. Er fing an mehr über Kunſt zu ſprechen, denn er war am Ende doch ein Deutſcher, und dieſe Na¬ tion giebt ſich gern Rechenſchaft von dem was ſie thut. Wilhelm ſchrieb ſich manche ſolche Unterredung auf; und wir werden, da die Erzählung hier nicht ſo oft unterbrochen werden darf, denjenigen unſrer Leſer die ſich dafür intereſſiren, ſolche dramaturgiſche Ver¬ ſuche bey einer andern Gelegenheit vor¬ legen.
Beſonders war Serlo eines Abends ſehr luſtig, als er von der Rolle des Polonius ſprach, wie er ſie zu faſſen gedachte. Ich verſpreche, ſagte er, diesmal einen recht wür¬ digen Mann zum Beſten zu geben; ich wer¬ de die gehörige Ruhe und Sicherheit, Leer¬70 heit und Bedeutſamkeit, Annehmlichkeit und geſchmackloſes Weſen, Freyheit und Aufpaſ¬ ſen, treuherzige Schalkheit und erlogene Wahrheit, da wo ſie hin gehören, recht zier¬ lich aufſtellen. Ich will einen ſolchen grauen, redlichen, ausdauernden, der Zeit dienenden Halbſchelmen aufs allerhöflichſte vorſtellen und vortragen, und dazu ſollen mir die et¬ was rohen und groben Pinſelſtriche unſers Autors gute Dienſte leiſten. Ich will reden wie ein Buch, wenn ich mich vorbereitet habe, und wie ein Thor, wenn ich bey gu¬ ter Laune bin. Ich werde abgeſchmackt ſeyn um jedem nach dem Maule zu reden, und immer ſo fein, es nicht zu merken wenn mich die Leute zum Beſten haben. Nicht leicht habe ich eine Rolle mit ſolcher Luſt und Schalkheit übernommen.
Wenn ich nur auch von der meinigen ſo viel hoffen könnte, ſagte Aurelie. Ich71 habe weder Jugend noch Weichheit genug, um mich in dieſen Charakter zu finden. Nur eins weiß ich leider: daß Gefühl, das Ophe¬ lien den Kopf verrückt, wird mich nicht ver¬ laſſen.
Wir wollen es ja nicht ſo genau neh¬ men, ſagte Wilhelm: denn eigentlich hat mein Wunſch den Hamlet zu ſpielen, mich bey al¬ lem Studium des Stücks, aufs Äußerſte irre geführt. Je mehr ich mich in die Rolle ſtu¬ diere, deſto mehr ſehe ich, daß in meiner ganzen Geſtalt kein Zug der Phyſiognomie iſt, wie Shakeſpear ſeinen Hamlet aufſtellt. Wenn ich es recht überlege, wie genau in der Rolle alles zuſammen hängt, ſo getraue ich mir kaum eine leidliche Wirkung hervor zu bringen.
Sie treten mit großer Gewiſſenhaftig¬ keit in Ihre Laufbahn, verſetzte Serlo: der Schauſpieler ſchickt ſich in die Rolle wie er72 kann, und die Rolle richtet ſich nach ihm wie ſie muß. Wie hat aber Shakeſpear ſeinen Hamlet vorgezeichnet? Iſt er Ihnen denn ſo ganz unähnlich?
Zuförderſt iſt Hamlet blond, erwiederte Wilhelm.
Das heiß ich weit geſucht, ſagte Aurelie. Woher ſchließen Sie das?
Als Däne, als Nordländer, iſt er blond von Hauſe aus, und hat blaue Augen.
» Sollte Shakeſpear daran gedacht ha¬ ben? »
Beſtimmt find’ ich es nicht ausgedruckt, aber in Verbindung mit andern Stellen ſcheint es mir unwiderſprechlich. Ihm wird das Fechten ſauer, der Schweis läuft ihm vom Geſichte, und die Königinn ſpricht: er iſt fett, laßt ihn zu Athem kommen. Kann man ſich ihn da anders als blond und wohl¬ behäglich vorſtellen, denn braune Leute ſind73 in ihrer Jugend ſelten in dieſem Falle. Paßt nicht auch ſeine ſchwankende Melancholie, ſeine weiche Trauer, ſeine thätige Unentſchloſ¬ ſenheit, beſſer zu einer ſolchen Geſtalt, als wenn Sie ſich einen ſchlanken, braunlocki¬ gen Jüngling denken, von dem man mehr Entſchloſſenheit und Behendigkeit erwartet?
Sie verderben mir die Imagination, rief Aurelie, weg mit Ihrem fetten Hamlet! ſtel¬ len Sie uns ja nicht Ihren wohlbeleibten Prinzen vor! Geben Sie uns lieber irgend ein Quiproquo, das uns reizt, das uns rührt. Die Intention des Autors liegt uns nicht ſo nahe als unſer Vergnügen, und wir verlan¬ gen einen Reiz, der uns homogen iſt.
74Einen Abend ſtritt die Geſellſchaft ob der Roman oder das Drama den Vorzug ver¬ diene? Serlo verſicherte, es ſey ein vergeb¬ licher, mißverſtandner Streit; beyde könnten in ihrer Art vortrefflich ſeyn, nur müßten ſie ſich in den Gränzen ihrer Gattung halten.
Ich bin ſelbſt noch nicht ganz im Klaren darüber, verſetzte Wilhelm.
Wer iſt es auch? ſagte Serlo, und doch wäre es der Mühe werth, daß man der Sa¬ che näher käme.
Sie ſprachen viel herüber und hinüber, und endlich war folgendes ohngefähr das Reſultat ihrer Unterhaltung:
Im Roman wie im Drama ſehen wir menſchliche Natur und Handlung. Der Un¬75 terſchied beyder Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußern Form, nicht darin, daß die Perſonen in dem einen ſprechen, und daß in dem andern gewöhnlich von ihnen erzählt wird. Leider viele Dramas ſind nur dialo¬ girte Romane, und es wäre nicht unmöglich ein Drama in Briefen zu ſchreiben.
Im Roman ſollen vorzüglich Geſinnun¬ gen und Begebenheiten vorgeſtellt wer¬ den; im Drama Charactere und Thaten. Der Roman muß langſam gehen, und die Geſinnungen der Hauptfigur müſſen, es ſey auf welche Weiſe es wolle, des Vordringen des Ganzen zur Entwickelung aufhalten. Das Drama ſoll eilen, und der Charakter der Hauptfigur muß ſich nach dem Ende drängen, und nur aufgehalten werden. Der Romanenheld muß leidend, wenigſtens nicht im hohen Grade wirkend ſeyn; von dem dramatiſchen verlangt man Wirkung und76 That. Grandiſon, Clariſſe, Pamela, der Landprieſter von Wakefield, Tom Jones ſelbſt ſind, wo nicht leidende, doch retardi¬ rende Perſonen, und alle Begebenheiten wer¬ den gewiſſermaßen nach ihren Geſinnungen gemodelt. Im Drama modelt der Held nichts nach ſich, alles widerſteht ihm, und er räumt und rückt die Hinderniſſe aus dem Wege, oder unterliegt ihnen.
So vereinigte man ſich auch darüber, daß man dem Zufall im Roman gar wohl ſein Spiel erlauben könne; daß er aber im¬ mer durch die Geſinnungen der Perſonen gelenkt und geleitet werden müſſe; daß hin¬ gegen das Schickſal, das die Menſchen, ohne ihr Zuthun, durch unzuſammenhängende äu¬ ßere Umſtände zu einer unvorgeſehenen Ca¬ taſtrophe hindrängt, nur im Drama ſtatt habe; daß der Zufall wohl pathetiſche, nie¬ mals aber tragiſche, Situationen hervorbrin¬77 gen dürfe; das Schickſal hingegen müſſe im¬ mer fürchterlich ſeyn, und werde im höchſten Sinne tragiſch, wenn es ſchuldige und un¬ ſchuldige von einander unabhängige Thaten in eine unglückliche Verknüpfung bringt.
Dieſe Betrachtungen führten wieder auf den wunderlichen Hamlet, und auf die Eigen¬ heiten dieſes Stücks. Der Held, ſagte man, hat eigentlich auch nur Geſinnungen; es ſind nur Begebenheiten die zu ihm ſtoßen, und deswegen hat das Stück etwas von dem gedehnten des Romans: weil aber das Schickſal den Plan gezeichnet hat, weil das Stück von einer fürchterlichen That ausgeht, und der Held immer vorwärts zu einer fürchterlichen That gedrängt wird, ſo iſt es im höchſten Sinne tragiſch, und leidet keinen andern als einen tragiſchen Ausgang.
Nun ſollte Leſeprobe gehalten werden, welche Wilhelm eigentlich als ein Feſt an¬78 ſah. Er hatte die Rollen vorher collationirt, daß alſo von dieſer Seite kein Anſtoß ſeyn konnte. Die ſämmtlichen Schauſpieler wa¬ ren mit dem Stücke bekannt, und er ſuchte ſie nur, ehe ſie anfingen, von der Wichtigkeit einer Leſeprobe zu überzeugen. Wie man von jedem Muſikus verlange, daß er, bis auf einen gewiſſen Grad, vom Blatte ſpie¬ len könne, ſo ſolle auch jeder Schauſpieler, ja jeder wohlerzogene Menſch, ſich üben vom Blatte zu leſen, einem Drama, einem Ge¬ dicht, einer Erzählung ſogleich ihren Cha¬ rakter abzugewinnen, und ſie mit Fertigkeit vorzutragen. Alles Memoriren helfe nichts, wenn der Schauſpieler nicht vorher in den Geiſt und Sinn des guten Schriftſtellers ein¬ gedrungen ſey, der Buchſtabe könne nichts wirken.
Serlo verſicherte, daß er jeder andern Probe, ja der Hauptprobe nachſehen wolle,79 ſobald der Leſeprobe ihr Recht wiederfahren ſey: denn gewöhnlich, ſagte er, iſt nichts lu¬ ſtiger, als wenn Schauſpieler von Studieren ſprechen; es kommt mir eben ſo vor, als wenn die Freymäurer von Arbeiten reden.
Die Probe lief nach Wunſch ab, und man kann ſagen, daß der Ruhm und die gute Einnahme der Geſellſchaft ſich auf dieſe wenigen wohlangewandten Stunden grün¬ dete.
Sie haben wohl gethan, mein Freund, ſagte Serlo, nachdem ſie wieder allein wa¬ ren, daß Sie unſern Mitarbeitern ſo ernſt¬ lich zuſprachen, wenn ich gleich fürchte, daß ſie Ihre Wünſche ſchwerlich erfüllen werden.
Wie ſo? verſetzte Wilhelm.
Ich habe gefunden, ſagte Serlo, daß ſo leicht man der Menſchen Imagination in Bewegung ſetzen kann, ſo gern ſie ſich Mährchen erzählen laſſen, eben ſo ſelten iſt80 es, eine Art von productiver Imagination bey ihnen zu finden. Bey den Schauſpie¬ lern iſt dieſes ſehr auffallend. Jeder iſt ſehr wohl zufrieden eine ſchöne lobenswürdige brillante Rolle zu übernehmen; ſelten aber thut einer mehr, als ſich mit Selbſtgefällig¬ keit an die Stelle des Helden zu ſetzen, ohne ſich im mindeſten zu bekümmern, ob ihn auch jemand dafür halten werde. Aber mit Lebhaftigkeit zu umfaſſen was ſich der Au¬ tor beym Stück gedacht hat, was man von ſeiner Individualität hingeben müſſe um einer Rolle genug zu thun, wie man durch eigene Überzeugung, man ſey ein ganz ande¬ rer Menſch, den Zuſchauer gleichfalls zur Überzeugung hinreiſſe; wie man, durch eine innere Wahrheit der Darſtellungskraft, dieſe Bretter in Tempel, dieſe Pappen in Wälder verwandelt, iſt wenigen gegeben. Dieſe in¬ nere Stärke des Geiſtes, wodurch ganz al¬lein81lein der Zuſchauer getäuſcht wird, dieſe erlo¬ gene Wahrheit, die ganz allein Wirkung hervorbringt, wodurch ganz allein die Illuſion erzielt wird, wer hat davon einen Begriff?
Laſſen Sie uns daher ja nicht zu ſehr auf Geiſt und Empfindung dringen! Das ſicherſte Mittel iſt, wenn wir unſern Freun¬ den mit Gelaſſenheit zuerſt den Sinn des Buchſtabens erklären, und ihnen den Ver¬ ſtand eröffnen. Wer Anlage hat, eilt als¬ dann ſelbſt dem geiſtreichen und empfin¬ dungsvollen Ausdrucke entgegen; und wer ſie nicht hat, wird wenigſtens niemals ganz falſch ſpielen[und] rezitiren. Ich habe aber bey Schauſpielern, ſo wie überhaupt, keine ſchlimmere Anmaßung gefunden, als wenn jemand Anſprüche an Geiſt macht, ſo lange ihm der Buchſtabe noch nicht deutlich und geläufig iſt.
W. Meiſters Lehrj. 3. F82Wilhelm kam zur erſten Theaterprobe ſehr zeitig und fand ſich auf den Brettern allein, Das Lokal überraſchte ihn, und gab ihm die wunderbarſten Erinnerungen. Die Wald - und Dorfdekoration ſtand genau ſo, als auf der Bühne ſeiner Vaterſtadt, auch bey einer Probe, als ihm an jenem Morgen Mariane lebhaft ihre Liebe bekannte, und ihm die er¬ ſte glückliche Nacht zuſagte. Die Bauern¬ häuſer glichen ſich auf dem Theater wie auf dem Lande, die wahre Morgenſonne beſchien, durch einen halb offenen Fenſterladen herein¬ fallend, einen Theil der Bank die neben der Thüre ſchlecht befeſtigt war, nur leider ſchien ſie nicht wie damals auf Marianens Schooß und Buſen. Er ſetzte ſich nieder, dachte die¬ ſer wunderbaren Übereinſtimmung nach, und83 glaubte zu ahnden, daß er ſie vielleicht auf dieſem Platze bald wieder ſehen werde. Ach, und es war weiter nichts, als daß ein Nach¬ ſpiel, zu welchem dieſe Dekoration gehörte, damals auf dem deutſchen Theater ſehr oft gegeben wurde.
In dieſen Betrachtungen ſtörten ihn die übrigen ankommenden Schauſpieler, mit de¬ nen zugleich zwey Theater - und Gardero¬ benfreunde herein traten, und Wilhelmen mit Enthuſiasmus begrüßten. Der eine war gewiſſermaßen an Madam Melina attachirt; der andere aber ein ganz reiner Freund der Schauſpielkunſt, und beyde von der Art, wie ſich jede gute Geſellſchaft Freunde wün¬ ſchen ſollte. Man wußte nicht zu ſagen, ob ſie das Theater mehr kannten oder lieb¬ ten? Sie liebten es zu ſehr um es recht zu kennen, ſie kannten es genug um das Gute zu ſchätzen und das Schlechte zu verbannen. F 284Aber bey ihrer Neigung war ihnen das Mit¬ telmäßige nicht unerträglich, und der herrli¬ che Genuß, mit dem ſie das Gute vor und nach koſteten, war über allen Ausdruck. Das Mechaniſche machte ihnen Freude, das Gei¬ ſtige entzückte ſie, und ihre Neigung war ſo groß, daß auch eine zerſtückelte Probe ſie in eine Art von Illuſion verſetzte. Die Män¬ gel ſchienen ihnen jederzeit in die Ferne zu treten, das Gute berührte ſie wie ein naher Gegenſtand. Kurz ſie waren Liebhaber, wie ſie ſich der Künſtler in ſeinem Fache wünſcht. Ihre liebſte Wanderung war von den Cou¬ liſſen ins Parterr, vom Parterr in die Cou¬ liſſen, ihr angenehmſter Aufenthalt in der Garderobe, ihre emſigſte Beſchäftigung an der Stellung, Kleidung, Recitation und De¬ clamation der Schauſpieler etwas zuzuſtutzen, ihr lebhafteſtes Geſpräch über den Effekt, den man hervorgebracht hatte, und ihre be¬85 ſtändigſte Bemühung, den Schauſpieler auf¬ merkſam, thätig und genau zu erhalten, ihm etwas zu gute oder zu lieb zu thun, und, ohne Verſchwendung, der Geſellſchaft man¬ chen Genuß zu verſchaffen. Sie hatten ſich beyde das ausſchließliche Recht verſchaft, bey Proben und Aufführungen auf dem Theater zu erſcheinen. Sie waren, was die Auffüh¬ rung Hamlets betraf, mit Wilhelmen nicht bey allen Stellen einig; hie und da gab er nach, meiſtens aber behauptete er ſeine Mey¬ nung, und im Ganzen diente dieſe Unterhal¬ tung ſehr zur Bildung ſeines Geſchmacks. Er ließ die beyden Freunde ſehen wie ſehr er ſie ſchätze, und ſie dagegen weiſſagten nichts weniger von dieſen vereinten Bemü¬ hungen, als eine neue Epoche fürs deutſche Theater.
Die Gegenwart dieſer beyden Männer war bey den Proben ſehr nützlich. Beſon¬86 ders überzeugten ſie unſre Schauſpieler, daß man bey der Probe Stellung und Action, wie man ſie bey der Aufführung zu zeigen gedenke, immerfort mit der Rede verbinden und alles zuſammen durch Gewohnheit me¬ chaniſch vereinigen müſſe. Beſonders mit den Händen ſolle man ja bey der Probe ei¬ ner Tragödie keine gemeine Bewegung vor¬ nehmen; ein tragiſcher Schauſpieler, der in der Probe Toback ſchnupft, mache ſie im¬ mer bange, denn höchſt wahrſcheinlich werde er an einer ſolchen Stelle, bey der Auffüh¬ rung, die Priſe vermiſſen. Ja ſie hielten da¬ vor, daß niemand in Stiefeln probiren ſolle, wenn die Rolle in Schuhen zu ſpielen ſey. Nichts aber, verſicherten ſie, ſchmerze ſie mehr, als wenn die Frauenzimmer in den Proben ihre Hände in die Rockfalten ver¬ ſteckten.
Außerdem ward durch das Zureden die¬87 ſer Männer noch etwas ſehr gutes bewirkt, daß nämlich alle Mannsperſonen exerciren lernten. Da ſo viele Militärrollen vorkom¬ men, ſagten ſie, ſieht nichts betrübter aus als Menſchen, die nicht die mindeſte Dreſſur zeigen, in Hauptmanns - und Majors-Uniform auf dem Theater herum ſchwanken zu ſehen.
Wilhelm und Laertes waren die erſten, die ſich der Pädagogik eines Unterofficiers unterwarfen, und ſetzten dabey ihre Fecht¬ übungen mit großer Anſtrengung fort.
So viel Mühe gaben ſich beyde Männer mit der Ausbildung einer Geſellſchaft, die ſich ſo glücklich zuſammen gefunden hatte. Sie ſorgten für die künftige Zufriedenheit des Publikums, indeß ſich dieſes über ihre entſchiedene Liebhaberey gelegentlich aufhielt. Man wußte nicht wieviel Urſache man hat¬ te ihnen dankbar zu ſeyn, beſonders da ſie nicht verſäumten den Schauſpielern oft den88 Hauptpunkt einzuſchärfen, daß es nämlich ihre Pflicht ſey laut und vernehmlich zu ſprechen. Sie fanden hierbey mehr Wider¬ ſtand und Unwillen, als ſie anfangs gedacht hatten. Die meiſten wollten ſo gehört ſeyn wie ſie ſprachen, und wenige bemühten ſich ſo zu ſprechen, daß man ſie hören könnte. Einige ſchoben den Fehler aufs Gebäude, andere ſagten, man könne doch nicht ſchreyen, wenn man natürlich, heimlich oder zärtlich zu ſprechen habe.
Unſre Theaterfreunde, die eine unſägliche Geduld hatten, ſuchten auf alle Weiſe dieſe Verwirrung zu löſen, dieſem Eigenſinne bey¬ zukommen. Sie ſparten weder Gründe noch Schmeicheleyen, und erreichten zuletzt doch ihren Endzweck, wobey ihnen das gute Bey¬ ſpiel Wilhelms beſonders zu ſtatten kam. Er bat ſich aus, daß ſie ſich bey den Pro¬ ben in die entferntſten Ecken ſetzen, und ſo¬89 bald ſie ihn nicht vollkommen verſtünden mit dem Schlüſſel auf die Bank pochen möchten. Er artikulirte gut, ſprach gemäßigt aus, ſteigerte den Ton ſtufenweiſe, und über¬ ſchrie ſich nicht in den heftigſten Stellen. Die pochenden Schlüſſel hörte man bey je¬ der Probe weniger; nach und nach ließen ſich die andern dieſelbe Operation gefallen, und man konnte hoffen, daß das Stück end¬ lich in allen Winkeln des Hauſes von jeder¬ mann würde verſtanden werden.
Man ſieht aus dieſem Beyſpiel wie gern die Menſchen ihren Zweck nur auf ihre ei¬ gene Weiſe erreichen möchten; wieviel Noth man hat, ihnen begreiflich zu machen was ſich eigentlich von ſelbſt verſteht, und wie ſchwer es iſt, denjenigen, der etwas zu lei¬ ſten wünſcht, zur Erkenntniß der erſten Be¬ dingungen zu bringen, unter denen ſein Vor¬ haben allein möglich wird.
90Man fuhr nun fort, die nöthigen Anſtalten zu Dekorationen und Kleidern und was ſonſt erforderlich war zu machen. Über ei¬ nige Scenen und Stellen hatte Wilhelm beſondere Grillen, denen Serlo nachgab, theils in Rückſicht auf den Contract, theils aus Überzeugung, und weil er hoffte, Wil¬ helmen durch dieſe Gefälligkeit zu gewinnen, und in der Folge deſtomehr nach ſeinen Ab¬ ſichten zu lenken.
So ſollte zum Beyſpiel König und Kö¬ nigin bey der erſten Audienz auf dem Thro¬ ne ſitzend erſcheinen, die Hofleute an den Seiten und Hamlet unbedeutend unter ih¬ nen ſtehen. Hamlet, ſagte er, muß ſich ru¬ hig verhalten, ſeine ſchwarze Kleidung un¬ terſcheidet ihn ſchon genug. Er muß ſich91 eher verbergen als zum Vorſchein kommen. Nur dann, wenn die Audienz geendigt iſt, wenn der König mit ihm als Sohn ſpricht, dann mag er herbey treten und die Scene ihren Gang gehen.
Noch eine Hauptſchwierigkeit machten die beyden Gemählde, auf die ſich Hamlet in der Scene mit ſeiner Mutter ſo heftig be¬ zieht. Mir ſollen, ſagte Wilhelm, in Le¬ bensgröße beyde im Grunde des Zimmers neben der Hauptthüre ſichtbar ſeyn, und zwar muß der alte König in völliger Rü¬ ſtung, wie der Geiſt, auf eben der Seite hängen wo dieſer hervortritt. Ich wünſche daß die Figur mit der rechten Hand eine befehlende Stellung annehme, etwas ge¬ wandt ſey und gleichſam über die Schulter ſehe, damit ſie dem Geiſte völlig gleiche, in dem Augenblicke da dieſer zur Thüre hin¬ aus geht. Es wird eine ſehr große Wir¬92 kung thun, wenn in dieſem Augenblick Ham¬ let nach dem Geiſte und die Königin nach dem Bilde ſieht. Der Stiefvater mag dann im königlichen Ornat, doch unſcheinbarer als jener vorgeſtellt werden.
So gab es noch verſchiedene Punkte, von denen wir zu ſprechen vielleicht Gele¬ genheit haben.
Sind Sie auch unerbittlich, daß Hamlet am Ende ſterben muß? fragte Serlo.
Wie kann ich ihn am Leben erhalten, ſagte Wilhelm, da ihn das ganze Stück zu Tode drückt? Wir haben ja ſchon ſo weit¬ läuftig darüber geſprochen.
Aber das Publikum wünſcht ihn le¬ bendig.
Ich will ihm gern jeden andern Gefallen thun, nur diesmal iſts unmöglich. Wir wünſchen auch, daß ein braver nützlicher Mann, der an einer chroniſchen Krankheit93 ſtirbt, noch länger leben möge. Die Fami¬ lie weint und beſchwört den Arzt, der ihn nicht halten kann: und ſo wenig als dieſer einer Natur-Nothwendigkeit zu widerſtehen vermag, ſo wenig können wir einer aner¬ kannten Kunſtnothwendigkeit gebieten. Es iſt eine falſche Nachgiebigkeit gegen die Menge, wenn man ihnen die Empfindungen erregt, die ſie haben wollen, und nicht die ſie haben ſollen.
» Wer das Geld bringt, kann die Waare nach ſeinem Sinne verlangen. »
Gewiſſermaßen; aber ein großes Publi¬ kum verdient daß man es achte, daß man es nicht wie Kinder, denen man das Geld abnehmen will, behandle. Man bringe ihm nach und nach durch das Gute — Gefühl und Geſchmack für das Gute bey, und es wird ſein Geld mit doppeltem Vergnügen einlegen, weil ihm der Verſtand, ja die Ver¬94 nunft ſelbſt bey dieſer Ausgabe nichts vor¬ zuwerfen hat. Man kann ihm ſchmeicheln wie einem geliebten Kinde, ſchmeicheln um es zu beſſern, um es künftig aufzuklären; nicht wie einem Vornehmen und Reichen, um den Irrthum, den man nutzt, zu ver¬ ewigen.
So handelten ſie noch manches ab, das ſich beſonders auf die Frage bezog: was man noch etwa an dem Stücke verändern dürfe, und was man unberührt laſſen müſſe? Wir laſſen uns hierauf nicht weiter ein, ſon¬ dern legen vielleicht künftig die neue Bear¬ beitung Hamlets ſelbſt demjenigen Theile unſrer Leſer vor, der ſich etwa dafür inte¬ reſſiren könnte.
95Die Hauptprobe war vorbey. Sie hatte übermäßig lange gedauert. Serlo und Wil¬ helm fanden noch manches zu beſorgen; denn ungeachtet der vielen Zeit, die man zur Vorbereitung verwendet hatte, waren doch ſehr nothwendige Anſtalten bis auf den letz¬ ten Augenblick verſchoben worden.
So waren, zum Beyſpiel, die Gemählde der beyden Könige noch nicht fertig, und die Scene zwiſchen Hamlet und ſeiner Mut¬ ter, von der man einen ſo großen Effekt hoffte, ſah noch ſehr mager aus, indem we¬ der der Geiſt noch ſein gemahltes Ebenbild dabey gegenwärtig war. Serlo ſcherzte bey dieſer Gelegenheit und ſagte: wir wären doch im Grunde recht übel angeführt, wenn der Geiſt ausbliebe, die Wache wirklich96 mit der Luft fechten, und unſer Soufleur aus der Couliſſe den Vortrag des Geiſtes ſuppliren müßte.
Wir wollen den wunderbaren Freund nicht durch unſern Unglauben verſcheuchen, verſetzte Wilhelm; er kommt gewiß zur rech¬ ten Zeit, und wird uns ſo gut als die Zu¬ ſchauer überraſchen.
Gewiß, rief Serlo, ich werde froh ſeyn, wenn das Stück morgen gegeben iſt, es macht uns mehr Umſtände als ich geglaubt habe.
Aber niemand in der Welt wird froher ſeyn als ich, wenn das Stück morgen ge¬ ſpielt iſt, verſetzte Philine, ſo wenig mich meine Rolle drückt. Denn immer und ewig von Einer Sache reden zu hören, wobey doch nichts weiter heraus kommt als eine Repräſentation, die, wie ſo viele hundert andere, vergeſſen werden wird, dazu willmeine97meine Geduld nicht hinreichen. Macht doch in Gottesnahmen nicht ſo viel Umſtände! Die Gäſte die vom Tiſche aufſtehen, haben nachher an jedem Gerichte was auszuſetzen; ja wenn man ſie zu Hauſe reden hört, ſo iſt es ihnen kaum begreiflich, wie ſie eine ſolche Noth haben ausſtehen können.
Laſſen Sie mich Ihr Gleichniß zu mei¬ nem Vortheile brauchen, ſchönes Kind, ver¬ ſetzte Wilhelm. Bedenken Sie was Natur und Kunſt, was Handel, Gewerke und Ge¬ werbe zuſammen ſchaffen müſſen, bis ein Gaſtmahl gegeben werden kann. Wie viel Jahre muß der Hirſch im Walde, der Fiſch im Fluß oder Meere zubringen, bis er unſre Tafel zu beſetzen würdig iſt, und was hat die Hausfrau, die Köchin nicht alles in der Küche zu thun? Mit welcher Nachläſſigkeit ſchlürft man die Sorge des entfernteſten Winzers, des Schiffers, des Kellermeiſters,W. Meiſters Lehrj. 3. G98beym Nachtiſche hinunter, als müſſe es nur ſo ſeyn. Und ſollten deswegen alle dieſe Menſchen nicht arbeiten, nicht ſchaffen und bereiten, ſollte der Hausherr das alles nicht ſorgfältig zuſammenbringen und zuſammen halten, weil am Ende der Genuß nur vor¬ übergehend iſt? Aber kein Genuß iſt vor¬ übergehend; denn der Eindruck den er zurück¬ läßt iſt bleibend, und was man mit Fleiß und Anſtrengung thut, theilt dem Zuſchauer ſelbſt eine verborgene Kraft mit, von der man nicht wiſſen kann wie weit ſie wirkt.
Mir iſt alles einerley, verſetzte Philine, nur muß ich auch dießmal erfahren, daß Männer immer im Widerſpruch mit ſich ſelbſt ſind. Bey all eurer Gewiſſenhaftig¬ keit, den großen Autor nicht verſtümmeln zu wollen, laßt ihr doch den ſchönſten Ge¬ danken aus dem Stücke.
Den ſchönſten? rief Wilhelm.
99» Gewiß den ſchönſten, auf den ſich Ham¬ let ſelbſt was zu gute thut. »
Und der wäre? rief Serlo.
Wenn Sie eine Perücke auf hätten, ver¬ ſetzte Philine, würde ich ſie Ihnen ganz ſäu¬ berlich abnehmen; denn es ſcheint nöthig, daß man Ihnen das Verſtändniß eröffne.
Die andern dachten nach, und die Unter¬ haltung ſtockte. Man war aufgeſtanden, es war ſchon ſpät, man ſchien auseinander ge¬ hen zu wollen. Als man ſo unentſchloſſen da ſtand, fing Philine ein Liedchen, auf eine ſehr zierliche und gefällige Melodie, zu ſingen an.
Sie machte eine leichte Verbeugung als ſie geendigt hatte, und Serlo rief ihr ein lautes Bravo zu. Sie ſprang zur Thür hinaus und eilte mit Gelächter fort. Man hörte ſie die Treppe hinunter ſingen und mit den Abſätzen klappern.
Serlo ging in das Seitenzimmer, und Aurelie blieb vor Wilhelmen, der ihr eine gute Nacht wünſchte, noch einige Augenblicke ſtehen und ſagte:
Wie ſie mir zuwider iſt! recht meinem innern Weſen zuwider! bis auf die kleinſten Zufälligkeiten. Die rechte braune Augen¬ wimper bey den blonden Haaren, die der Bruder ſo reizend findet, mag ich gar nicht anſehn, und die Schramme auf der Stirne102 hat mir ſo was widriges, ſo was niedriges, daß ich immer zehen Schritte von ihr zurück treten möchte. Sie erzählte neulich als ei¬ nen Scherz, ihr Vater habe ihr in ihrer Kindheit einen Teller an den Kopf gewor¬ fen, davon ſie noch das Zeichen trage. Wohl iſt ſie recht an Augen und Stirne gezeich¬ net, daß man ſich vor ihr hüten möge.
Wilhelm antwortete nichts, und Aurelie ſchien mit mehr Unwillen fortzufahren:
Es iſt mir beynahe unmöglich ein freund¬ liches höfliches Wort mit ihr zu reden, ſo ſehr haſſe ich ſie, und doch iſt ſie ſo an¬ ſchmiegend. Ich wollte wir wären ſie los. Auch Sie, mein Freund, haben eine gewiſſe Gefälligkeit gegen dieſes Geſchöpf, ein Be¬ tragen, das mich in der Seele kränkt, eine Aufmerkſamkeit, die an Achtung gränzt, und die ſie bey Gott nicht verdient!
Wie ſie iſt, bin ich ihr Dank ſchuldig,103 verſetzte Wilhelm; ihre Aufführung iſt zu ta¬ deln, ihrem Charakter muß ich Gerechtigkeit wiederfahren laſſen.
Charakter! rief Aurelie: glauben Sie, daß ſo eine Creatur einen Charakter hat? O ihr Männer, daran erkenne ich euch! Solcher Frauen ſeyd ihr werth!
Sollten Sie mich in Verdacht haben, meine Freundin? verſetzte Wilhelm. Ich will von jeder Minute Rechenſchaft geben, die ich mit ihr zugebracht habe.
Nun, nun, ſagte Aurelie, es iſt ſpät, wir wollen nicht ſtreiten. Alle wie einer, einer wie alle! Gute Nacht mein Freund! gute Nacht mein feiner Paradiesvogel!
Wilhelm fragte, wie er zu dieſem Ehren¬ titel komme?
Ein andermal, verſetzte Aurelie, ein an¬ dermal. Man ſagt, ſie hätten keine Füße, ſie ſchwebten nur in der Luft, und nährten104 ſich vom Äther. Es iſt aber ein Mährchen, fuhr ſie fort, eine poetiſche Fiction. Gute Nacht, laßt euch was ſchönes träumen wenn ihr Glück habt.
Sie ging in ihr Zimmer und ließ ihn al¬ lein; er eilte auf das ſeinige.
Halb unwillig ging er auf und nieder. Der ſcherzende aber entſchiedne Ton Aure¬ liens hatte ihn beleidigt; er fühlte tief wie Unrecht ſie ihm that. Philinen konnte er nicht widrig, nicht unhold begegnen; ſie hat¬ te nichts gegen ihn verbrochen, und dann fühlte er ſich ſo fern von jeder Neigung zu ihr, daß er recht ſtolz und ſtandhaft vor ſich ſelbſt beſtehen konnte.
Eben war er im Begriffe ſich auszuzie¬ hen, nach ſeinem Lager zu gehen und die Vorhänge aufzuſchlagen, als er zu ſeiner größten Verwunderung ein Paar Frauen¬ pantoffeln vor dem Bett erblickte; der eine105 ſtand, der andere lag. — Es waren Phili¬ nens Pantoffeln, die er nur zu gut erkann¬ te; er glaubte auch eine Unordnung an den Vorhängen zu ſehen, ja es ſchien als be¬ wegten ſie ſich; er ſtand und ſah mit unver¬ wandten Augen hin.
Eine neue Gemüthsbewegung, die er für Verdruß hielt, verſetzte ihm den Athem; und nach einer kurzen Pauſe, in der er ſich er¬ hohlt hatte, rief er gefaßt:
Stehen Sie auf, Philine! was ſoll das heißen? Wo iſt Ihre Klugheit, Ihr gutes Betragen? Sollen wir morgen das Mähr¬ chen des Hauſes werden?
Es rührte ſich nichts.
Ich ſcherze nicht, fuhr er fort, dieſe Nek¬ kereyen ſind bei mir übel angewandt.
Kein Laut! Keine Bewegung!
Entſchloſſen und unmuthig ging er end¬ lich auf das Bette zu, und riß die Vorhän¬106 ge von einander. Stehen Sie auf, ſagte er, wenn ich Ihnen nicht das Zimmer dieſe Nacht überlaſſen ſoll.
Mit großem Erſtaunen fand er ſein Bet¬ te leer, die Kiſſen und Decken in ſchönſter Ruhe. Er ſah ſich um, ſuchte nach, ſuchte alles durch, und fand keine Spur von dem Schalk. Hinter dem Bette, dem Ofen, den Schränken war nichts zu ſehen; er ſuchte ämſiger und ämſiger; ja ein boshafter Zu¬ ſchauer hätte glauben mögen, er ſuche um zu finden.
Kein Schlaf ſtellte ſich ein; er ſetzte die Pantoffeln auf ſeinen Tiſch, ging auf und nieder, blieb manchmal bey dem Tiſche ſte¬ hen, und ein ſchelmiſcher Genius, der ihn belauſchte, will verſichern: er habe ſich einen großen Theil der Nacht mit den allerlieb¬ ſten Stelzchen beſchäftigt; er habe ſie mit einem gewiſſen Intereſſe angeſehen, behan¬107 delt, damit geſpielt, und ſich erſt gegen Mor¬ gen in ſeinen Kleidern aufs Bette geworfen, wo er unter den ſeltſamſten Phantaſien einſchlummerte.
Und wirklich ſchlief er noch, als Serlo herein trat und rief: wo ſind Sie? Noch im Bette? Unmöglich! Ich ſuchte Sie auf dem Theater, wo noch ſo mancherley zu thun iſt.
108Vor und Nachmittag verfloſſen eilig. Das Haus war ſchon voll und Wilhelm eilte ſich anzuziehen. Nicht mit der Behaglichkeit, mit der er die Maske zum erſtenmal anpro¬ birte, konnte er ſie gegenwärtig anlegen; er zog ſich an um fertig zu werden. Als er zu den Frauen ins Verſammlungszimmer kam, beriefen ſie ihn einſtimmig daß nichts recht ſitze; der ſchöne Federbuſch ſey verſcho¬ ben, die Schnalle paſſe nicht; man fing wie¬ der an aufzutrennen, zu nähen, zuſammen zu ſtecken. Die Symphonie ging an, Phili¬ ne hatte etwas gegen die Krauſe einzuwen¬ den, Aurelie viel an dem Mantel auszu¬ ſetzen. Laßt mich, ihr Kinder! rief er, dieſe Nachläſſigkeit wird mich erſt recht zum Ham¬ let machen. Die Frauen ließen ihn nicht109 los und fuhren fort zu putzen. Die Sym¬ phonie hatte aufgehört und das Stück war angegangen. Er beſah ſich im Spiegel, drückte den Hut tiefer ins Geſicht und er¬ neuerte die Schminke.
In dieſem Augenblick ſtürzte jemand her¬ ein und rief: der Geiſt! der Geiſt!
Wilhelm hatte den ganzen Tag nicht Zeit gehabt, an die Hauptſorge zu denken, ob der Geiſt auch kommen würde? Nun war ſie ganz weggenommen, und man hatte die wunderlichſte Gaſtrolle zu erwarten. Der Theatermeiſter kam und fragte über dieſes und jenes; Wilhelm hatte nicht Zeit ſich nach dem Geſpenſt umzuſehen, und eilte nur ſich am Throne einzufinden, wo König und Königinn ſchon von ihrem Hofe umgeben in aller Herrlichkeit glänzten; er hörte nur noch die letzten Worte des Horatio, der über die Erſcheinung des Geiſtes ganz verwirrt110 ſprach, und faſt ſeine Rolle vergeſſen zu ha¬ ben ſchien.
Der Zwiſchenvorhang ging in die Höhe und er ſah das volle Haus vor ſich. Nach¬ dem Horatio ſeine Rede gehalten und vom Könige abgefertigt war, drängte er ſich an Hamlet, und als ob er ſich ihm, dem Prin¬ zen präſentire, ſagte er: der Teufel ſteckt in dem Harniſche! Er hat uns alle in Furcht gejagt.
In der Zwiſchenzeit ſah man nur zwey große Männer in weißen Mänteln und Ca¬ puzen in den Couliſſen ſtehen, und Wilhelm, dem in der Zerſtreuung, Unruhe und Verle¬ genheit der erſte Monolog, wie er glaubte, mißglückt war, trat, ob ihn gleich ein leb¬ hafter Beyfall beym Abgehen begleitete, in der kalten Winternacht wirklich recht un¬ behaglich auf. Doch nahm er ſich zuſammen, und ſprach die ſo zweckmäßig angebrachte111 Stelle, über das Schmauſen und Trinken der Nordländer, mit der gehörigen Gleichgültig¬ keit, vergaß, ſo wie die Zuſchauer, darüber des Geiſtes, und erſchrak wirklich, als Ho¬ ratio ausrief: ſeht her, es kommt! Er fuhr mit Heftigkeit herum, und die edle große Geſtalt, der leiſe, unhörbare Tritt, die leich¬ te Bewegung in der ſchwer ſcheinenden Rü¬ ſtung, machten einen ſo ſtarken Eindruck auf ihn, daß er wie verſteinert da ſtand, und nur mit halber Stimme: ihr Engel und himmliſchen Geiſter beſchützt uns! ausrufen konnte. Er ſtarrte ihn an, hohlte einigemal Athem, und brachte die Anrede an den Geiſt ſo verwirrt, zerſtückt und gezwungen vor, daß die größte Kunſt ſie nicht ſo trefflich hätte ausdrücken können.
Seine Überſetzung dieſer Stelle kam ihm ſehr zu ſtatten. Er hatte ſich nahe an das Original gehalten, deſſen Wortſtellung ihm112 die Verfaſſung eines überraſchten, erſchreck¬ ten, von Entſetzen ergriffenen Gemüths ein¬ zig auszudrücken ſchien.
» Sey du ein guter Geiſt, ſey ein ver¬ dammter Kobold, bringe Düfte des Himmels mit dir oder Dämpfe der Hölle, ſey Gutes oder Böſes dein Beginnen, du kommſt in ſo einer würdigen Geſtalt, ja ich rede mit dir, ich nenne dich Hamlet, König, Vater, o antworte mir! » —
Man ſpürte im Publiko die größte Wir¬ kung. Der Geiſt winkte, der Prinz folgte ihm unter dem lauteſten Beyfall.
Das Theater verwandelte ſich, und als ſie auf den entfernten Platz kamen, hielt der Geiſt unvermuthet inne und wandte ſich um; dadurch kam ihm Hamlet etwas zu nahe zu ſtehen. Mit Verlangen und Neu¬ gierde ſah Wilhelm ſogleich zwiſchen das niedergelaſſene Viſir hinein, konnte aber nurtief¬113tiefliegende Augen neben einer wohlgebilde¬ ten Naſe erblicken. Furchtſam ausſpähend ſtand er vor ihm; allein als die erſten Töne aus dem Helme hervordrangen, als eine wohl¬ klingende, nur ein wenig rauhe Stimme ſich in den Worten hören ließ: ich bin der Geiſt deines Vaters, trat Wilhelm einige Schritte ſchaudernd zurück, und das ganze Publikum ſchauderte. Die Stimme ſchien jedermann bekannt, und Wilhelm glaubte eine Ähnlich¬ keit mit der Stimme ſeines Vaters zu be¬ merken. Dieſe wunderbaren Empfindungen und Erinnerungen, die Neugierde den ſelt¬ ſamen Freund zu entdecken und die Sorge ihn zu beleidigen, ſelbſt die Unſchicklichkeit ihm als Schauſpieler in dieſer Situation zu nahe zu treten, bewegten Wilhelmen nach entgegengeſetzten Seiten. Er veränderte während der langen Erzählung des Geiſtes ſeine Stellung ſo oft, ſchien ſo unbeſtimmtW. Meiſters Lehrj. 3. H114und verlegen, ſo aufmerkſam und ſo zer¬ ſtreut, daß ſein Spiel eine allgemeine Be¬ wunderung, ſo wie der Geiſt ein allgemeines Entſetzen erregte. Dieſer ſprach mehr mit einem tiefen Gefühl des Verdruſſes als des Jammers, aber eines geiſtigen, langſamen und unüberſehlichen Verdruſſes. Es war der Mißmuth einer großen Seele, die von allem Irdiſchen getrennt iſt, und doch unend¬ lichen Leiden unterliegt. Zuletzt verſank der Geiſt, aber auf eine ſonderbare Art: denn ein leichter, grauer, durchſichtiger Flor, der wie ein Dampf aus der Verſenkung zu ſtei¬ gen ſchien, legte ſich über ihn weg und zog ſich mit ihm hinunter.
Nun kamen Hamlets Freunde zurück und ſchwuren auf das Schwerdt. Da war der alte Maulwurf ſo geſchäftig unter der Erde, daß er ihnen, wo ſie auch ſtehen moch¬ ten, immer unter den Füßen rief: ſchwört!115 und ſie, als ob der Boden unter ihnen brennte, ſchnell von einem Ort zum andern eilten. Auch erſchien da, wo ſie ſtanden, je¬ desmal eine kleine Flamme aus dem Boden, vermehrte die Wirkung, und hinterließ bey allen Zuſchauern den tiefſten Eindruck.
Nun ging das Stück unaufhaltſam ſei¬ nen Gang fort, nichts mißglückte, alles ge¬ rieth; das Publikum bezeigte ſeine Zufrie¬ denheit; die Luſt und der Muth der Schau¬ ſpieler ſchien mit jeder Scene zuzunehmen.
H 2116Der Vorhang fiel und der lebhafteſte Bey¬ fall erſcholl aus allen Ecken und Enden. Die vier fürſtlichen Leichen ſprangen behend in die Höhe und umarmten ſich vor Freu¬ den. Polonius und Ophelia kamen auch aus ihren Gräbern hervor und hörten noch mit lebhaftem Vergnügen, wie Horatio, als er zum Ankündigen heraustrat, auf das hef¬ tigſte beklatſcht wurde. Man wollte ihn zu keiner Anzeige eines andern Stücks laſſen, ſondern begehrte mit Ungeſtüm die Wieder¬ holung des heutigen.
Nun haben wir gewonnen, rief Serlo, aber auch heute Abend kein vernünftig Wort mehr! Alles kommt auf den erſten Eindruck an. Man ſoll ja keinem Schauſpieler übel neh¬117 men, wenn er bei ſeinen Debüts vorſichtig und eigenſinnig iſt.
Der Caſſier kam und überreichte ihm eine ſchwere Caſſe. Wir haben gut debütirt, rief er aus, und das Vorurtheil wird uns zu ſtatten kommen. Wo iſt denn nun das verſprochene Abendeſſen? Wir dürfen es uns heute ſchmecken laſſen!
Sie hatten ausgemacht, daß ſie in ihren Theaterkleidern beyſammen bleiben und ſich ſelbſt ein Feſt feyern wollten. Wilhelm hat¬ te unternommen das Lokal, und Madam Melina das Eſſen zu beſorgen.
Ein Zimmer, worin man ſonſt zu mah¬ len pflegte, war aufs beſte geſäubert, mit allerley kleinen Dekorationen umſtellt und ſo herausgeputzt worden, daß es halb einem Garten, halb einem Säulengange ähnlich ſah. Beym Hereintreten wurde die Geſell¬ ſchaft von dem Glanz vieler Lichter geblen¬118 det, die einen feyerlichen Schein durch den Dampf des ſüßeſten Räucherwerks, das man nicht geſpart hatte, über eine wohl geſchmück¬ te und beſtellte Tafel verbreiteten. Mit Aus¬ rufungen lobte man die Anſtalten und nahm wirklich mit Anſtand Platz; es ſchien, als wenn eine königliche Familie im Geiſterrei¬ che zuſammen käme. Wilhelm ſaß zwiſchen Aurelien und Madam Melina; Serlo zwi¬ ſchen Philinen und Elmiren; niemand war mit ſich ſelbſt noch mit ſeinem Platze unzu¬ frieden.
Die beyden Theaterfreunde, die ſich gleich¬ falls eingefunden hatten, vermehrten das Glück der Geſellſchaft. Sie waren einige¬ mal während der Vorſtellung auf die Büh¬ ne gekommen, und konnten nicht genug von ihrer eignen und von des Publikums Zu¬ friedenheit ſprechen; nunmehr ging’s aber119 ans Beſondere, jedes ward für ſeinen Theil reichlich belohnt.
Mit einer unglaublichen Lebhaftigkeit ward ein Verdienſt nach dem andern, eine Stelle nach der andern herausgehoben. Dem Soufleur, der beſcheiden am Ende der Tafel ſaß, ward ein großes Lob über ſeinen rau¬ hen Pyrrhus; die Fechtübung Hamlets und Laertes konnte man nicht genug erheben; Opheliens Trauer war über allen Ausdruck ſchön und erhaben; von Polonius Spiel durfte man gar nicht ſprechen; jeder Gegen¬ wärtige hörte ſein Lob in dem andern und durch ihn!
Aber auch der abweſende Geiſt nahm ſei¬ nen Theil Lob und Bewunderung hinweg. Er hatte die Rolle mit einem ſehr glücklichen Organ und in einem großen Sinne geſpro¬ chen, und man wunderte ſich am meiſten, daß er von allem, was bey der Geſellſchaft120 vorgegangen war, unterrichtet ſchien. Er glich völlig dem gemahlten Bilde als wenn er dem Künſtler geſtanden hätte, und die Theaterfreunde konnten nicht genug rühmen, wie ſchauerlich es ausgeſehen habe, als er unfern von dem Gemählde hervorgetreten und vor ſeinem Ebenbilde vorbey geſchritten ſey. Wahrheit und Irrthum habe ſich da¬ bey ſo ſonderbar vermiſcht, und man habe wirklich ſich überzeugt, daß die Königinn die eine Geſtalt nicht ſehe. Madam Meli¬ na ward bey dieſer Gelegenheit ſehr gelobt, daß ſie bei dieſer Stelle in die Höhe nach dem Bilde geſtarrt, indeß Hamlet nieder auf den Geiſt gewieſen.
Man erkundigte ſich wie das Geſpenſt habe hereinſchleichen können, und erfuhr vom Theatermeiſter, daß zu einer hintern Thüre, die ſonſt immer mit Dekorationen verſtellt ſey, dieſen Abend aber, weil man121 den gothiſchen Saal gebraucht, frey gewor¬ den, zwey große Figuren in weißen Män¬ teln und Capuzen hereingekommen, die man von einander nicht unterſcheiden können, und ſo ſeyen ſie nach geendigtem dritten Act wahrſcheinlich auch wieder hinausgegangen.
Serlo lobte beſonders an ihm, daß er nicht ſo ſchneidermäßig gejammert und ſogar am Ende eine Stelle, die einem ſo großen Helden beſſer zieme ſeinen Sohn zu befeuern, angebracht habe. Wilhelm hatte ſie im Ge¬ dächtniß behalten und verſprach ſie ins Ma¬ nuſcript nachzutragen.
Man hatte in der Freude des Gaſtmahls nicht bemerkt, daß die Kinder und der Har¬ fenſpieler fehlten; bald aber machten ſie ei¬ ne ſehr angenehme Erſcheinung. Denn ſie traten zuſammen herein, ſehr abentheuerlich ausgeputzt; Felix ſchlug den Triangel, Mig¬ non das Tambourin und der Alte hatte die122 ſchwere Harfe umgehangen und ſpielte ſie, indem er ſie vor ſich trug. Sie zogen um den Tiſch und ſangen allerley Lieder. Man gab ihnen zu eſſen und die Gäſte glaubten den Kindern eine Wohlthat zu erzeigen, wenn ſie ihnen ſo viel ſüßen Wein gäben, als ſie nur trinken wollten. Denn die Ge¬ ſellſchaft ſelbſt hatte die köſtlichen Flaſchen nicht geſchont, welche dieſen Abend, als ein Geſchenk der Theaterfreunde, in einigen Kör¬ ben angekommen waren. Die Kinder ſpran¬ gen und ſangen fort und beſonders war Mignon ausgelaſſen, wie man ſie niemals geſehen. Sie ſchlug das Tambourin mit al¬ ler möglichen Zierlichkeit und Lebhaftigkeit, indem ſie bald mit druckendem Finger auf dem Felle ſchnell hin und her ſchnurrte, bald mit dem Rücken der Hand bald mit den Knöcheln drauf pochte, ja mit abwechſelnden Rhytmen das Pergament bald wider die123 Kniee bald wider den Kopf ſchlug, bald ſchüttelnd die Schellen allein klingen ließ, und ſo aus dem einfachſten Inſtrumente gar verſchiedene Töne hervorlockte. Nachdem ſie lange gelärmt hatten, ſetzten ſie ſich in einen Lehnſeſſel, der gerade Wilhelmen gegenüber am Tiſche leer geblieben war.
Bleibt von dem Seſſel weg! rief Serlo, er ſteht vermuthlich für den Geiſt da; wenn er kommt, kanns euch übel gehen.
Ich fürchte ihn nicht, rief Mignon; kommt er, ſo ſtehen wir auf. Es iſt mein Oheim, er thut mir nichts zu leide. Dieſe Rede verſtand niemand, als wer wußte, daß ſie ihren vermeintlichen Vater den großen Teufel genannt hatte.
Die Geſellſchaft ſah einander an, und ward noch mehr in dem Verdacht beſtärkt, daß Serlo um die Erſcheinung des Geiſtes wiſſe. Man ſchwatzte und trank und die124 Mädchen ſahen von Zeit zu Zeit furchtſam nach der Thüre.
Die Kinder, die in dem großen Seſſel ſitzend nur wie Pulcinellpuppen aus dem Ka¬ ſten über den Tiſch hervorragten, fingen an, auf dieſe Weiſe ein Stück aufzuführen. Mignon machte den ſchnarrenden Ton ſehr artig nach, und ſie ſtießen zuletzt die Köpfe dergeſtalt zuſammen und auf die Tiſchkante, wie es eigentlich nur Holzpuppen aushalten können. Mignon ward bis zur Wuth lu¬ ſtig, und die Geſellſchaft, ſo ſehr ſie Anfangs über den Scherz gelacht hatte, mußte zuletzt Einhalt thun. Aber wenig half das Zure¬ den, denn nun ſprang ſie auf und raſte, die Schellentrommel in der Hand, um den Tiſch herum. Ihre Haare flogen, und in¬ dem ſie den Kopf zurück und alle ihre Glie¬ der gleichſam in die Luft warf, ſchien ſie ei¬ ner Mänade ähnlich, deren wilde und bey¬125 nah unmögliche Stellungen uns auf alten Monumenten noch oft in Erſtaunen ſetzen.
Durch das Talent der Kinder und ihren Lärm aufgereizt, ſuchte jedermann zur Un¬ terhaltung der Geſellſchaft etwas beyzutra¬ gen. Die Frauenzimmer ſangen einige Ka¬ nons, Laertes ließ eine Nachtigall hören, und der Pedant gab ein Concert pianiſſimo auf der Maultrommel. Indeſſen ſpielten die Nachbarn und Nachbarinnen allerley Spiele, wobey ſich die Hände begegnen und vermiſchen, und es fehlte manchem Paare nicht am Ausdruck einer hoffnungsvollen Zärtlichkeit. Madam Melina beſonders ſchien eine lebhafte Neigung zu Wilhelmen nicht zu verhehlen. Es war ſpät in der Nacht, und Aurelie, die faſt allein noch Herrſchaft über ſich behalten hatte, ermahn¬ te die übrigen, indem ſie aufſtand, auseinan¬ der zu gehen.
126Serlo gab noch zum Abſchied ein Feuer¬ werk, indem er mit dem Munde, auf eine faſt unbegreifliche Weiſe, den Ton der Ra¬ keten, Schwärmer und Feuerräder nachzuah¬ men wußte. Man durfte die Augen nur zumachen, ſo war die Täuſchung vollkom¬ men. Indeſſen war jedermann aufgeſtanden, und man reichte den Frauenzimmern den Arm ſie nach Hauſe zu führen. Wilhelm ging zuletzt mit Aurelien. Auf der Treppe begegnete ihnen der Theatermeiſter, und ſag¬ te: hier iſt der Schleyer, worin der Geiſt verſchwand. Er iſt an der Verſenkung hän¬ gen geblieben und wir haben ihn eben ge¬ funden. Eine wunderbare Reliquie! rief Wilhelm, und nahm ihn ab.
In dem Augenblicke fühlte er ſich am linken Arme ergriffen und zugleich einen ſehr heftigen Schmerz. Mignon hatte ſich verſteckt gehabt, hatte ihn angefaßt und ihn127 in den Arm gebiſſen. Sie fuhr an ihm die Treppe hinunter und verſchwand.
Als die Geſellſchaft in die freye Luft kam, merkte faſt jedes, daß man für dieſen Abend des Guten zu viel genoſſen hatte. Ohne Abſchied zu nehmen verlor man ſich auseinander.
Wilhelm hatte kaum ſeine Stube er¬ reicht, als er ſeine Kleider abwarf und nach ausgelöſchtem Licht ins Bette eilte. Der Schlaf wollte ſogleich ſich ſeiner bemeiſtern, allein ein Geräuſch das in ſeiner Stube hin¬ ter dem Ofen zu entſtehen ſchien, machte ihn aufmerkſam. Eben ſchwebte vor ſeiner erhitzten Phantaſie das Bild des geharniſch¬ ten Königs; er richtete ſich auf, das Geſpenſt anzureden, als er ſich von zarten Armen um¬ ſchlungen, ſeinen Mund mit lebhaften Küſſen verſchloſſen, und eine Bruſt an der ſeinigen fühlte, die er wegzuſtoßen nicht Muth hatte.
128Wilhelm fuhr des andern Morgens mit ei¬ ner unbehaglichen Empfindung in die Höhe, und fand ſein Bette leer. Von dem nicht völlig ausgeſchlafenen Rauſche war ihm der Kopf düſter, und die Erinnerung an den un¬ bekannten nächtlichen Beſuch machte ihn un¬ ruhig. Sein erſter Verdacht fiel auf Phili¬ linen, und doch ſchien der liebliche Körper, den er in ſeine Arme geſchloſſen hatte, nicht der ihrige geweſen zu ſeyn. Unter lebhaften Liebkoſungen war unſer Freund an der Sei¬ te dieſes ſeltſamen, ſtummen Beſuches einge¬ ſchlafen und nun war weiter keine Spur mehr davon zu entdecken. Er ſprang auf, und indem er ſich anzog fand er ſeine Thü¬ re, die er ſonſt zu verriegeln pflegte, nur angelehnt, und wußte ſich nicht zu erin¬nern,129nern, ob er ſie geſtern Abend zugeſchloſſen hatte.
Am wunderbarſten aber erſchien ihm der Schleyer des Geiſtes, den er auf ſeinem Bette fand. Er hatte ihn mit herauf gebracht und wahrſcheinlich ſelbſt dahin geworfen. Es war ein grauer Flor, an deſſen Saum er eine Schrift mit ſchwarzen Buchſtaben ge¬ ſtickt ſah. Er entfaltete ſie und las die Worte: Zum erſten und letztenmal! Flieh! Jüngling, flieh! Er war be¬ troffen und wußte nicht was er ſagen ſollte.
In eben dem Augenblick trat Mignon herein und brachte ihm das Frühſtück. Wil¬ helm erſtaunte über den Anblick des Kindes, ja man kann ſagen er erſchrack. Sie ſchien dieſe Nacht größer geworden zu ſeyn; ſie trat mit einem hohen edlen Anſtand vor ihn hin und ſah ihm ſehr ernſthaft in die Au¬ gen, ſo daß er den Blick nicht ertragenW. Meiſters Lehrj. 3. I130konnte. Sie rührte ihn nicht an wie ſonſt, da ſie gewöhnlich ihm die Hand drückte, ſei¬ ne Wange, ſeinen Mund, ſeinen Arm, oder ſeine Schulter küßte, ſondern ging, nachdem ſie ſeine Sachen in Ordnung gebracht, ſtill¬ ſchweigend wieder fort.
Die Zeit einer angeſetzten Leſeprobe kam nun herbey, man verſammelte ſich und alle waren durch das geſtrige Feſt verſtimmt. Wilhelm nahm ſich zuſammen ſo gut er konnte, um nicht gleich anfangs gegen ſeine ſo lebhaft gepredigten Grundſätze zu verſto¬ ßen. Seine große Übung half ihm durch; denn Übung und Gewohnheit müſſen in je¬ der Kunſt die Lücken ausfüllen, welche Genie und Laune ſo oft laſſen würden.
Eigentlich aber konnte man bey dieſer Gelegenheit die Bemerkung recht wahr fin¬ den, daß man keinen Zuſtand, der länger dauern, ja der eigentlich ein Beruf, eine Le¬131 bensweiſe werden ſoll, mit einer Feyerlichkeit anfangen dürfe. Man feyre nur was glück¬ lich vollendet iſt, alle Zeremonien zum An¬ fange erſchöpfen Luſt und Kräfte, die das Streben hervor bringen und uns bey einer fortgeſetzten Mühe beyſtehen ſollen. Unter allen Feſten iſt das Hochzeitfeſt das unſchick¬ lichſte; keines ſollte mehr in Stille, Demuth und Hoffnung begangen werden als dieſes.
So ſchlich der Tag nun weiter, und Wil¬ helmen war noch keiner jemals ſo alltäglich vorgekommen. Statt der gewöhnlichen Un¬ terhaltung Abends fing man zu gähnen an; das Intereſſe an Hamlet war erſchöpft und man fand eher unbequem daß er des folgen¬ den Tages zum zweytenmal vorgeſtellt wer¬ den ſollte. Wilhelm zeigte den Schleyer des Geiſtes vor, man mußte daraus ſchließen, daß er nicht wieder kommen würde. Serlo war beſonders dieſer Meynung; er ſchienI 2132mit den Rathſchlägen der wunderbaren Ge¬ ſtalt ſehr vertraut zu ſeyn; dagegen ließen ſich aber die Worte: Flieh Jüngling, flieh! nicht erklären. Wie konnte Serlo mit je¬ manden einſtimmen, der den vorzüglichſten Schauſpieler ſeiner Geſellſchaft zu entfernen die Abſicht zu haben ſchien.
Nothwendig war es nunmehr, die Rolle des Geiſtes dem Polterer und die Rolle des Königs dem Pedanten zu geben. Beyde er¬ klärten, daß ſie ſchon einſtudirt ſeyen, und es war kein Wunder, denn bey den vielen Proben und der weitläuftigen Behandlung dieſes Stücks waren alle ſo damit bekannt geworden, daß ſie ſämmtlich gar leicht mit den Rollen hätten wechſeln können. Doch probirte man einiges in der Geſchwindigkeit und als man ſpät genug auseinander ging, flüſterte Philine beym Abſchiede Wilhelmen leiſe zu: Ich muß meine Pantoffeln holen,133 du ſchiebſt doch den Riegel nicht vor? Dieſe Worte ſetzten ihn als er auf ſeine Stube kam, in ziemliche Verlegenheit; denn die Vermuthung, daß der Gaſt der vorigen Nacht Philine geweſen, ward dadurch be¬ ſtärkt, und wir ſind auch genöthigt uns zu dieſer Meynung zu ſchlagen, beſonders da wir die Urſachen, welche ihn hierüber zwei¬ felhaft machten und ihm einen andern ſon¬ derbaren Argwohn einflößen mußten, nicht entdecken können. Er ging unruhig einige¬ mal in ſeinem Zimmer auf und ab, und hatte wirklich den Riegel noch nicht vorgeſchoben.
Auf einmal ſtürzte Mignon in das Zim¬ mer, faßte ihn an und rief: Meiſter! rette das Haus! es brennt! Wilhelm ſprang vor die Thüre und ein gewaltiger Rauch drängte ſich die obere Treppe herunter ihm entgegen. Auf der Gaſſe hörte man ſchon das Feuer¬ geſchrey, und der Harfenſpieler kam, ſein In¬134 ſtrument in der Hand, durch den Rauch athemlos die Treppe herunter. Aurelie ſtürzte aus ihrem Zimmer und warf den kleinen Felix in Wilhelms Arme.
Retten Sie das Kind! rief ſie, wir wol¬ len nach dem übrigen greifen.
Wilhelm, der die Gefahr nicht für ſo groß hielt, gedachte zuerſt nach dem Urſprun¬ ge des Brandes hinzudringen, um ihn viel¬ leicht noch im Anfange zu erſticken. Er gab dem Alten das Kind, und befahl ihm die ſteinerne Wendeltreppe hinunter, die durch ein klei¬ nes Gartengewölbe in den Garten führte, zu eilen, und mit den Kindern im Freyen zu bleiben. Mignon nahm ein Licht ihm zu leuchten. Wilhelm bat darauf Aurelien ihre Sachen auf eben dieſem Wege zu retten. Er ſelbſt drang durch den Rauch hinauf; allein vergebens ſetzte er ſich der Gefahr aus. Die Flamme ſchien von dem benachbarten Hauſe135 herüber zu dringen und hatte ſchon das Holz¬ werk des Bodens und eine leichte Treppe ge¬ faßt; andre die zur Rettung herbey eilten, litten wie er, von Qualm und Feuer. Doch ſprach er ihnen Muth ein und rief nach Waſſer; er beſchwor ſie, der Flamme nur Schritt vor Schritt zu weichen, und verſprach bey ihnen zu bleiben. In dieſem Augenblick ſprang Mignon herauf und rief: Meiſter! rette deinen Felix! der Alte iſt raſend! der Alte bringt ihn um! Wilhelm ſprang ohne ſich zu beſinnen die Treppe hinab und Mig¬ non folgte ihm an den Ferſen.
Auf den letzten Stufen die ins Gartenge¬ wölbe führten, blieb er mit Entſetzen ſtehen. Große Bündel Stroh und Reisholz, die man daſelbſt aufgehäuft hatte, brannten mit hel¬ ler Flamme; Felix lag am Boden und ſchrie; der Alte ſtand mit niedergeſenktem Haupte ſeitwärts an der Wand. Was machſt du136 Unglücklicher? rief Wilhelm. Der Alte ſchwieg, Mignon hatte den Felix aufgeho¬ ben, und ſchleppte mit Mühe den Knaben in den Garten, indeß Wilhelm das Feuer aus¬ einander zu zerren und zu dämpfen ſtrebte, aber nur dadurch die Gewalt und Lebhaftig¬ keit der Flamme vermehrte. Endlich mußte er mit verbrannten Augenwimpern und Haa¬ ren auch in den Garten fliehen, indem er den Alten mit durch die Flamme riß, der ihm mit verſengtem Barte unwillig folgte.
Wilhelm eilte ſogleich die Kinder im Gar¬ ten zu ſuchen. Auf der Schwelle eines ent¬ fernten Luſthäuschens fand er ſie, und Mig¬ non that ihr möglichſtes den Kleinen zu be¬ ruhigen. Wilhelm nahm ihn auf den Schoos, fragte ihn, befühlte ihn und konnte nichts zuſammenhängendes aus beyden Kindern her¬ ausbringen.
Indeſſen hatte das Feuer gewaltſam meh¬137 rere Häuſer ergriffen und erhellte die ganze Gegend. Wilhelm beſah das Kind beym ro¬ then Schein der Flamme; er konnte keine Wunde, kein Blut, ja keine Beule wahrneh¬ men. Er betaſtete es überall, es gab kein Zeichen von Schmerz von ſich, es beruhigte ſich vielmehr nach und nach und fing an ſich über die Flamme zu verwundern, ja ſich über die ſchönen, der Ordnung nach, wie eine Il¬ lumination, brennenden Sparren und Gebälke zu erfreuen.
Wilhelm dachte nicht an die Kleider und was er ſonſt verlohren haben konnte, er fühlte ſtark wie werth ihm dieſe beyde menſch¬ liche Geſchöpfe ſeyen, die er einer ſo großen Gefahr entronnen ſah. Er drückte den Klei¬ nen mit einer ganz neuen Empfindung an ſein Herz, und wollte auch Mignon mit freu¬ diger Zärtlichkeit umarmen, die es aber ſanft ablehnte, ihn bey der Hand nahm und ſie feſt hielt.
138Meiſter, ſagte ſie (noch niemals, als die¬ ſen Abend, hatte ſie ihm dieſen Nahmen ge¬ geben, denn Anfangs pflegte ſie ihn Herr, und nachher Vater zu nennen.) Meiſter! wir ſind einer großen Gefahr entronnen, dein Fe¬ lix war am Tode.
Durch viele Fragen erfuhr endlich Wil¬ helm, daß der Harfenſpieler, als ſie in das Gewölbe gekommen, ihr das Licht aus der Hand geriſſen und das Stroh ſogleich ange¬ zündet habe. Darauf habe er den Felix nie¬ dergeſetzt, mit wunderlichen Geberden die Hände auf des Kindes Kopf gelegt und ein Meſſer gezogen, als wenn er ihn opfern wolle. Sie ſey zugeſprungen und habe ihm das Meſſer aus der Hand geriſſen; ſie habe ge¬ ſchrien, und einer vom Hauſe, der einige Sa¬ chen nach dem Garten zu gerettet, ſey ihr zu Hülfe gekommen, der müſſe aber, in der Verwirrung wieder weggegangen ſeyn,139 und den Alten und das Kind allein gelaſſen haben.
Zwey bis drey Häuſer ſtanden in vollen Flammen. In den Garten hatte ſich nie¬ mand retten können, wegen des Brandes im Gartengewölbe. Wilhelm war verlegen we¬ gen ſeiner Freunde, weniger wegen ſeiner Sa¬ chen. Er getraute ſich nicht die Kinder zu verlaſſen, und ſah das Unglück ſich immer vergrößern.
Er brachte einige Stunden in einer bäng¬ lichen Lage zu. Felix war auf ſeinem Schoo¬ ße eingeſchlafen, Mignon lag neben ihm und hielt ſeine Hand feſt. Endlich hatten die getroffenen Anſtalten dem Feuer Einhalt ge¬ than. Die ausgebrannten Gebäude ſtürzten zuſammen, der Morgen kam herbey, die Kin¬ der fingen an zu frieren und ihm ſelbſt ward in ſeiner leichten Kleidung der fallende Thau faſt unerträglich. Er führte ſie zu den Trüm¬140 mern des zuſammen geſtürzten Gebäudes, und ſie fanden neben einen Kohlen - und Aſchenhaufen eine ſehr behagliche Wärme.
Der anbrechende Tag brachte nun alle Freunde und Bekannte nach und nach zu¬ ſammen. Jedermann hatte ſich gerettet, nie¬ mand hatte viel verloren.
Wilhelms Koffer fand ſich auch wieder und Serlo trieb, als es gegen zehn Uhr ging, zur Probe von Hamlet, wenigſtens einiger Scenen, die mit neuen Schauſpielern beſetzt waren. Er hatte darauf noch einige Debat¬ ten mit der Polizey. Die Geiſtlichkeit ver¬ langte: daß nach einem ſolchen Strafgerichte Gottes das Schauſpielhaus geſchloſſen blei¬ ben ſollte, und Serlo behauptete: daß theils zum Erſatz deſſen, was er dieſe Nacht ver¬ lohren, theils zur Aufheiterung der erſchreck¬ ten Gemüther, die Aufführung eines intereſ¬ ſanten Stückes mehr als jemals am Platz141 ſey. Dieſe letzte Meynung drang durch und das Haus war gefüllt. Die Schauſpieler ſpielten mit ſeltenem Feuer und mit mehr leidenſchaftlicher Freyheit als das erſtemal. Die Zuſchauer, deren Gefühl durch die ſchreck¬ liche nächtliche Scene erhöht, und durch die Langeweile eines zerſtreuten und verdorbenen Tages noch mehr auf eine intereſſante Un¬ terhaltung geſpannt war, hatten mehr Em¬ pfänglichkeit für das Außerordentliche. Der größte Theil waren neue, durch den Ruf des Stücks herbeygezogene Zuſchauer, die keine Vergleichung mit dem erſten Abend anſtellen konnten. Der Polterer ſpielte ganz im Sin¬ ne des unbekannten Geiſtes, und der Pedant hatte ſeinem Vorgänger gleichfalls gut auf¬ gepaßt, darneben kam ihm ſeine Erbärmlich¬ keit ſehr zu ſtatten, daß ihm Hamlet wirk¬ lich nicht Unrecht that, wenn er ihn, trotz ſeines Purpurmantels und Hermelinkragens,142 einen zuſammen geflickten Lumpen-König ſchalt.
Sonderbarer als er war vielleicht niemand zum Throne gelangt, und obgleich die Übri¬ gen, beſonders aber Philine, ſich über ſeine neue Würde äußerſt luſtig machten, ſo ließ er doch merken, daß der Graf, als ein gro¬ ßer Kenner, das und noch viel mehr von ihm beym erſten Anblick voraus geſagt habe; da¬ gegen ermahnte ihn Philine zur Demuth und verſicherte: ſie werde ihm gelegentlich die Rockermel pudern, damit er ſich jener un¬ glücklichen Nacht im Schloſſe erinnern, und die Krone mit Beſcheidenheit tragen möge.
143Man hatte ſich in der Geſchwindigkeit nach Quartieren umgeſehen, und die Geſellſchaft war dadurch ſehr zerſtreut worden. Wilhelm hatte das Luſthaus in dem Garten, bey dem er die Nacht zugebracht, liebgewonnen; er erhielt leicht die Schlüſſel dazu und richtete ſich daſelbſt ein; da aber Aurelie in ihrer neuen Wohnung ſehr eng war, mußte er den Felix bey ſich behalten und Mignon wollte den Knaben nicht verlaſſen.
Die Kinder hatten ein artiges Zimmer in dem erſten Stock eingenommen, Wilhelm hatte ſich in dem untern Saale eingerichtet. Die Kinder ſchliefen, aber er konnte keine Ruhe finden.
Neben dem anmuthigen Garten, den der eben aufgegangene Vollmond herrlich erleuch¬144 tete, ſtanden die traurigen Ruinen, von de¬ nen hier und da noch Dampf aufſtieg, die Luft war angenehm und die Nacht außeror¬ dentlich ſchön! Philine hatte, beym Heraus¬ gehen aus dem Theater, ihn mit dem Ellen¬ bogen angeſtrichen und ihm einige Worte zu¬ geliſpelt, die er aber nicht verſtanden hatte. Er war verwirrt und verdrießlich, und wußte nicht was er erwarten oder thun ſollte. Phi¬ line hatte ihn einige Tage gemieden und ihm nur dieſen Abend wieder ein Zeichen gegeben. Leider war nun die Thüre verbrannt, die er nicht zuſchließen ſollte, und die Pantöffelchen waren im Rauch aufgegangen. Wie die Schöne in den Garten kommen wollte, wenn es ihre Abſicht war, wußte er nicht. Er wünſchte ſie nicht zu ſehen, und doch hätte er ſich gar zu gern mit ihr erklären mögen.
Was ihm aber noch ſchwerer auf dem Herzen lag, war das Schickſal des Harfen¬ſpielers,145ſpielers, den man nicht wieder geſehen hatte. Wilhelm fürchtete, man würde ihm beym Auf¬ räumen todt unter dem Schutte finden. Wil¬ helm hatte gegen jedermann den Verdacht verborgen den er hegte, daß der Alte Schuld an dem Brande ſey. Denn er kam ihm zu¬ erſt von dem brennenden und rauchenden Bo¬ den entgegen, und die Verzweiflung im Gar¬ tengewölbe ſchien die Folge einer ſolchen un¬ glücklichen Ereigniß zu ſeyn. Doch ward es bey der Unterſuchung, welche die Polizey ſo¬ gleich anſtellte, wahrſcheinlich geworden, daß nicht in dem Hauſe wo ſie wohnten, ſondern in dem dritten davon der Brand entſtanden ſey, der ſich auch ſogleich unter den Dächern weggeſchlichen hatte.
Wilhelm überlegte das alles in einer Laube ſitzend, als er in einem nahen Gange jeman¬ den ſchleichen hörte. An dem traurigen Ge¬ ſange, der ſogleich angeſtimmt ward, erkannteW. Meiſters Lehrj. 3. K146er den Harfenſpieler. Das Lied, das er ſehr wohl verſtehen konnte, enthielt den Troſt ei¬ nes Unglücklichen, der ſich dem Wahnſinne ganz nahe fühlt. Leider hat Wilhelm davon nur die letzte Strophe behalten.
Unter dieſen Worten war er an die Gar¬ tenthüre gekommen, die nach einer entlege¬ nen Straße ging; er wollte, da er ſie ver¬ ſchloſſen fand, an den Spaliren überſteigen; allein Wilhelm hielt ihn zurück und redete ihm freundlich an. Der Alte bat ihn auf¬ zuſchließen, weil er fliehen wolle und müſſe. 147Wilhelm ſtellte ihm vor: daß er wohl aus dem Garten aber nicht aus der Stadt könne, und zeigte ihm, wie ſehr er ſich durch einen ſolchen Schritt verdächtig mache; allein ver¬ gebens! Der Alte beſtand auf ſeinem Sinne. Wilhelm gab nicht nach und drängte ihn endlich halb mit Gewalt ins Gartenhaus, ſchloß ſich daſelbſt mit ihm ein und führte ein wunderbares Geſpräch mit ihm, das wir aber, um unſere Leſer nicht mit unzuſammen¬ hängenden Ideen und bänglichen Empfin¬ dungen zu quälen, lieber verſchweigen als ausführlich mittheilen.
K 2148Aus der großen Verlegenheit, worin ſich Wil¬ helm befand, was er mit dem unglücklichen Alten beginnen ſollte, der ſo deutliche Spu¬ ren des Wahnſinns zeigte, riß ihn Laertes noch am ſelbigen Morgen. Dieſer, der nach ſeiner alten Gewohnheit überall zu ſeyn pflegte, hatte auf dem Kaffehaus einen Mann geſehen, der vor einiger Zeit die heftigſten Anfälle von Melancholie erduldete. Man hatte ihn einem Landgeiſtlichen anvertraut, der ſich ein beſonderes Geſchäft daraus machte dergleichen Leute zu behandeln. Auch dies¬ mal war es ihm gelungen; noch war er in der Stadt und die Familie des Wiederher¬ geſtellten erzeigte ihm große Ehre.
Wilhelm eilte ſogleich den Mann aufzu¬ ſuchen, vertraute ihm den Fall und ward149 mit ihm einig. Man wußte unter gewiſſen Vorwänden ihm den Alten zu übergeben. Die Scheidung ſchmerzte Wilhelmen tief, und nur die Hoffnung, ihn wiederhergeſtellt zu ſehen, konnte ſie ihm einigermaßen erträglich machen, ſo ſehr war er gewohnt den Mann um ſich zu ſehen und ſeine geiſtreichen und herzlichen Töne zu vernehmen. Die Harfe war mit verbrannt; man ſuchte eine andere, die man ihm auf die Reiſe mitgab.
Auch hatte das Feuer die kleine Garde¬ robe Mignons verzehrt, und als man ihr wieder etwas neues ſchaffen wollte, that Au¬ relie den Vorſchlag, daß man ſie doch end¬ lich als Mädchen kleiden ſollte.
Nun gar nicht! rief Mignon aus und beſtand mit großer Lebhaftigkeit auf ihrer alten Tracht, worin man ihr denn auch will¬ fahren mußte.
Die Geſellſchaft hatte nicht viel Zeit, ſich150 zu beſinnen; die Vorſtellungen gingen ih¬ ren Gang.
Wilhelm horchte oft ins Publikum, und nur ſelten kam ihm eine Stimme entgegen, wie er ſie zu hören wünſchte, ja öfters ver¬ nahm er was ihn betrübte oder verdroß. So erzählte zum Beyſpiel, gleich nach der er¬ ſten Aufführung Hamlets, ein junger Menſch mit großer Lebhaftigkeit, wie zufrieden er an jenem Abend im Schauſpielhauſe geweſen. Wilhelm lauſchte und hörte, zu ſeiner gro¬ ßen Beſchämung, daß der junge Mann zum Verdruß ſeiner Hintermänner, den Huth auf¬ behalten und ihn hartnäckig das ganze Stück hindurch nicht abgethan hatte, welcher Hel¬ denthat er ſich mit dem größten Vergnügen erinnerte.
Ein anderer verſicherte: Wilhelm habe die Rolle des Laertes ſehr gut geſpielt, hin¬ gegen mit dem Schauſpieler, der den Hamlet151 unternommen, könne man nicht eben ſo zu¬ frieden ſeyn. Dieſe Verwechslung war nicht ganz unnatürlich, denn Wilhelm und Laer¬ tes glichen ſich, wiewohl in einem ſehr ent¬ fernten Sinne.
Ein dritter lobte ſein Spiel, beſonders in der Scene mit der Mutter aufs lebhafteſte, und bedauerte nur: daß eben in dieſem feu¬ rigen Augenblick ein weißes Band unter der Weſte hervorgeſehen habe, wodurch die Illu¬ ſion äußerſt geſtöhrt worden ſey.
In dem Innern der Geſellſchaft gingen indeſſen allerley Veränderungen vor. Phili¬ ne hatte ſeit jenem Abend nach dem Brande Wilhelmen auch nicht das geringſte Zeichen einer Annäherung gegeben. Sie hatte, wie es ſchien vorſetzlich, ein entfernteres Quartier gemiethet, vertrug ſich mit Elmiren und kam ſeltener zu Serlo, womit Aurelie wohl zu¬ frieden war. Serlo, der ihr immer gewogen152 blieb, beſuchte ſie manchmal, beſonders da er Elmiren bey ihr zu finden hoffte, und nahm eines Abends Wilhelmen mit ſich. Beyde waren im hereintreten ſehr verwundert, als ſie Philinen in dem zweyten Zimmer, in den Armen eines jungen Officiers ſahen, der eine rothe Uniform und weiße Unterkleider an hatte, deſſen abgewendetes Geſicht ſie aber nicht ſehen konnten. Philine kam ihren be¬ ſuchenden Freunden in das Vorzimmer ent¬ gegen und verſchloß das andre. Sie über¬ raſchen mich bey einem wunderbaren Aben¬ theuer! rief ſie aus.
So wunderbar iſt es nicht, ſagte Serlo: laſſen Sie uns den hübſchen, jungen, benei¬ denswerthen Freund ſehen; Sie haben uns ohnedem ſchon ſo zugeſtutzt, daß wir nicht eiferſüchtig ſeyn dürfen.
Ich muß Ihnen dieſen Verdacht noch ei¬ ne Zeitlang laſſen, ſagte Philine ſcherzend;153 doch kann ich Sie verſichern, daß es nur eine gute Freundin iſt, die ſich einige Tage unbekannt bey mir aufhalten will. Sie ſol¬ len ihre Schickſale künftig erfahren, ja viel¬ leicht das intereſſante Mädchen ſelbſt kennen lernen, und ich werde wahrſcheinlich alsdann Urſache haben, meine Beſcheidenheit und Nachſicht zu üben, denn ich fürchte, die Her¬ ren werden über ihre neue Bekanntſchaft ihre alte Freundin vergeſſen.
Wilhelm ſtand verſteinert da; denn gleich beym erſten Anblick hatte ihn die rothe Uni¬ form an den ſo ſehr geliebten Rock Maria¬ nens erinnert; es war ihre Geſtalt, es wa¬ ren ihre blonden Haare, nur ſchien ihm der gegenwärtige Officier etwas größer zu ſeyn.
Um des Himmels Willen! rief er aus, laſſen Sie uns mehr von Ihrer Freundin wiſſen, laſſen Sie uns das verkleidete Mäd¬ chen ſehen. Wir ſind nun einmal Theilneh¬154 mer des Geheimniſſes; wir wollen verſpre¬ chen, wir wollen ſchwören, aber laſſen Sie uns das Mädchen ſehen!
O wie er in Feuer iſt! rief Philine, nur gelaſſen, nur geduldig, heute wird einmal nichts draus.
So laſſen Sie uns nur ihren Nahmen wiſſen! rief Wilhelm.
Das wäre alsdann ein ſchönes Geheim¬ niß, verſetzte Philine.
Wenigſtens nur den Vornahmen.
Wenn Sie ihn rathen, meinetwegen. Dreymal dürfen Sie rathen, aber nicht öf¬ ter; Sie könnten mich ſonſt durch den gan¬ zen Kalender durchführen.
Gut, ſagte Wilhelm: Cecilie alſo?
Nichts von Cecilien!
Henriette?
Keineswegs! Nehmen Sie ſich in Acht! Ihre Neugierde wird ausſchlafen müſſen.
155Wilhelm zauderte und zitterte; er wollte ſeinen Mund aufthun, aber die Sprache verſagte ihm. Mariane? ſtammelte er end¬ lich, Mariane!
Bravo! rief Philine, getroffen! indem ſie ſich nach ihrer Gewohnheit auf dem Ab¬ ſatze herum drehte.
Wilhelm konnte kein Wort hervorbrin¬ gen, und Serlo, der ſeine Gemüthsbewe¬ gung nicht bemerkte, fuhr fort in Phili¬ nen zu dringen, daß ſie die Thüre öffnen ſollte.
Wie verwundert waren daher beyde, als Wilhelm auf einmal heftig ihre Neckerey un¬ terbrach, ſich Philinen zu Füßen warf und ſie mit dem lebhafteſten Ausdrucke der Lei¬ denſchaft bat und beſchwor. Laſſen Sie mich das Mädchen ſehen, rief er aus, ſie iſt mein, es iſt meine Mariane! Sie, nach der ich mich alle Tage meines Lebens geſehnt habe,156 ſie, die mir noch immer ſtatt aller andern Weiber in der Welt iſt! Gehen Sie wenig¬ ſtens zu ihr hinein, ſagen Sie ihr daß ich hier bin, daß der Menſch hier iſt, der ſeine erſte Liebe und das ganze Glück ſeiner Ju¬ gend an ſie knüpfte. Er will ſich rechtferti¬ gen, daß er ſie unfreundlich verließ, er will ſie um Verzeihung bitten, er will ihr verge¬ ben, was ſie auch gegen ihm gefehlt haben mag, er will ſogar keine Anſprüche an ſie mehr machen, wenn er ſie nur noch einmal ſehen kann, wenn er nur ſehen kann daß ſie lebt und glücklich iſt!
Philine ſchüttelte den Kopf und ſagte: mein Freund, reden Sie leiſe! Betrügen wir uns nicht! und iſt das Frauenzimmer wirklich Ihre Freundin, ſo müſſen wir ſie ſchonen, denn ſie vermuthet keinesweges Sie hier zu ſehen. Ganz andere Angelegenhei¬ ten führen ſie hierher, und das wiſſen Sie157 doch, man mögte oft lieber ein Geſpenſt als einen alten Liebhaber zur unrechten Zeit vor Augen ſehen. Ich will ſie fragen, ich will ſie vorbereiten und wir wollen überlegen, was zu thun iſt. Ich ſchreibe Ihnen mor¬ gen ein Billet, zu welcher Stunde Sie kom¬ men ſollen, oder ob Sie kommen dürfen; ge¬ horchen Sie mir pünktlich, denn ich ſchwöre, niemand ſoll gegen meinen und meiner Freun¬ din Willen dieſes liebenswürdige Geſchöpf mit Augen ſehen. Meine Thüren werde ich beſſer verſchloſſen halten, und mit Axt und Beil werden Sie mich nicht beſuchen wollen.
Wilhelm beſchwor ſie, Serlo redete ihr zu, vergebens! beyde Freunde mußten zu¬ letzt nachgeben, das Zimmer und das Haus räumen.
Welche unruhige Nacht Wilhelm zubrachte, wird ſich jedermann denken. Wie langſam die Stunden des Tages dahinzogen, in de¬158 nen er Philinens Billet erwartete, läßt ſich begreifen. Unglücklicherweiſe mußte er ſelbi¬ gen Abend ſpielen; er hatte niemals eine größere Pein ausgeſtanden. Nach geendig¬ tem Stücke eilte er zu Philinen, ohne nur zu fragen, ob er eingeladen worden. Er fand ihre Thüre verſchloſſen und die Hausleute ſagten: Mademoiſelle ſey heute früh mit ei¬ nem jungen Officier weggefahren; ſie habe zwar geſagt, daß ſie in einigen Tagen wie¬ derkomme, man glaube es aber nicht, weil ſie alles bezahlt und ihre Sachen mitgenom¬ men habe.
Wilhelm war außer ſich über dieſe Nach¬ richt. Er eilte zu Laertes, und ſchlug ihm vor, ihr nachzuſetzen, und, es koſte was es wolle, über ihren Begleiter Gewißheit zu er¬ langen. Laertes dagegen verwies ſeinem Freunde ſeine Leidenſchaft und Leichtgläubig¬ keit. Ich will wetten, ſagte er, es iſt nie¬159 mand anders als Friedrich. Der Junge iſt von gutem Hauſe, ich weiß es recht wohl; er iſt unſinnig in das Mädchen verliebt, und hat wahrſcheinlich ſeinen Verwandten ſo viel Geld abgelockt, daß er wieder eine Zeitlang mit ihr leben kann.
Durch dieſe Einwendungen ward Wilhelm nicht überzeugt, doch zweifelhaft. Laertes ſtellte ihm vor, wie unwahrſcheinlich das Mährchen ſey, das Philine ihnen vorgeſpie¬ gelt hatte, wie Figur und Haar ſehr gut auf Friedrichen paſſe, wie ſie bey zwölf Stunden Vorſprung ſo leicht nicht einzuholen ſeyn würden, und hauptſächlich wie Serlo keinen von ihnen beyden beym Schauſpiele entbeh¬ ren könne.
Durch alle dieſe Gründe wurde Wilhelm endlich nur ſo weit gebracht, daß er Verzicht darauf that, ſelbſt nachzuſetzen. Laertes wu߬ te noch in ſelbiger Nacht einen tüchtigen160 Mann zu ſchaffen, dem man den Auftrag ge¬ ben konnte. Es war ein geſetzter Mann, der mehreren Herrſchaften auf Reiſen als Ku¬ rier und Führer gedient hatte, und eben jetzt ohne Beſchäftigung ſtille lag. Man gab ihm Geld, man unterrichtete ihn von der ganzen Sache, mit dem Auftrage, daß er die Flücht¬ linge aufſuchen und einhohlen, ſie alsdenn nicht aus den Augen laſſen und die Freunde ſogleich wo und wie er ſie fände benachrich¬ tigen ſolle. Er ſetzte ſich in derſelbigen Stunde zu Pferde und ritt dem zweydeutigen Paare nach, und Wilhelm war durch dieſe Anſtalt wenigſtens[einigermaßen] beruhigt.
Sech¬161Die Entfernung Philinens machte keine auf¬ fallende Senſation weder auf dem Theater noch im Publiko. Es war ihr mit allem we¬ nig Ernſt; die Frauen haßten ſie durchgän¬ gig, und die Männer hätten ſie lieber unter vier Augen als auf dem Theater geſehen, und ſo war ihr ſchönes, und für die Bühne ſelbſt glückliches Talent verlohren. Die übri¬ gen Glieder der Geſellſchaft gaben ſich deſto mehr Mühe; Madam Melina beſonders that ſich durch Fleiß und Aufmerkſamkeit ſehr her¬ vor. Sie merkte, wie ſonſt, Wilhelmen ſeine Grundſätze ab, richtete ſich nach ſeiner Theo¬ rie und ſeinem Beyſpiel, und hatte zeither ein ich weiß nicht was in ihren Weſen, das ſie intereſſanter machte. Sie erlangte bald ein richtiges Spiel und gewann den natür¬W. Meiſters Lehrj. 3. L162lichen Ton der Unterhaltung vollkommen, und den der Empfindung bis auf einen gewiſ¬ ſen Grad. Sie wußte ſich in Serlos Launen zu ſchicken und befliß ſich des Singens ihm zu gefallen, worin ſie auch bald ſo weit kam, als man deſſen zur geſelligen Unterhaltung bedarf.
Durch einige neu angenommene Schau¬ ſpieler war die Geſellſchaft noch vollſtändi¬ ger, und indem Wilhelm und Serlo jeder in ſeiner Art wirkte, jener bey jedem Stücke auf den Sinn und Ton des Ganzen drang, dieſer die einzelnen Theile gewiſſenhaft durch¬ arbeitete; belebte ein lobenswürdiger Eifer auch die Schauſpieler, und das Publikum nahm an ihnen einen lebhaften Antheil.
Wir ſind auf einem guten Wege, ſagte Serlo einſt, und wenn wir ſo fortfahren, wird das Publikum auch bald auf dem rech¬ ten ſeyn. Man kann die Menſchen ſehr163 leicht durch tolle und unſchickliche Darſtellun¬ gen irre machen; aber man lege ihnen das Vernünftige und Schickliche auf eine intereſ¬ ſante Weiſe vor, ſo werden ſie gewiß dar¬ nach greifen.
Was unſerm Theater hauptſächlich fehlt, und warum weder Schauſpieler noch Zu¬ ſchauer zur Beſinnung kommen, iſt, daß es darauf im Ganzen zu bunt ausſieht, und daß man nirgends eine Grenze hat, woran man ſein Urtheil anlehnen könnte. Es ſcheint mir kein Vortheil zu ſeyn, daß wir unſer Theater gleichſam zu einem unendlichen Na¬ turſchauplatze ausgeweitet haben, doch kann jetzt weder Direktor noch Schauſpieler ſich in die Enge ziehen, bis vielleicht der Ge¬ ſchmack der Nation in der Folge den rechten Kreis ſelbſt bezeichnet. Eine jede gute So¬ cietät exiſtirt nur unter gewiſſen Bedingun¬ gen, ſo auch ein gutes Theater. GewiſſeL 2164Manieren und Redensarten, gewiſſe Gegen¬ ſtände und Handelsweiſen müſſen ausge¬ ſchloſſen ſeyn. Man wird nicht ärmer, wenn man ſein Hausweſen zuſammen zieht.
Sie waren hierüber mehr oder weniger einig und uneinig. Wilhelm und die mei¬ ſten waren auf der Seite des engliſchen; Serlo und einige auf der Seite des franzö¬ ſiſchen Theaters.
Man ward einig in leeren Stunden; de¬ ren ein Schauſpieler leider ſo viele hat, in Geſellſchaft die berühmteſten Schauſpiele beyder Theater durchzugehen, und das beſte und nachahmenswerthe derſelben zu bemer¬ ken. Man machte auch wirklich einen An¬ fang mit einigen franzöſiſchen Stücken. Au¬ relie entfernte ſich jedesmal ſobald die Vor¬ leſung anging. Anfangs hielt man ſie für krank, einſt aber fragte ſie Wilhelm darüber, dem es aufgefallen war.
165Ich werde bey keiner ſolchen Vorleſung gegenwärtig ſeyn, ſagte ſie, denn wie ſoll ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz zerriſſen iſt. Ich haſſe die franzöſiſche Spra¬ che von ganzer Seele.
Wie kann man einer Sprache feind ſeyn? rief Wilhelm aus, der man den größten Theil ſeiner Bildung ſchuldig iſt, und der wir noch viel ſchuldig werden müſſen, ehe unſer Weſen eine Geſtalt gewinnen kann.
Es iſt kein Vorurtheil! verſetzte Aurelie, ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬ innerung an meinen treuloſen Freund hat mir die Luſt an dieſer ſchönen und ausgebil¬ deten Sprache geraubt. Wie ich ſie jetzt von ganzem Herzen haſſe! Während der Zeit unſerer freundſchaftlichen Verbindung ſchrieb er deutſch, und welch ein herzliches, wahres, kräftiges Deutſch! nun da er mich los ſeyn wollte, fing er an franzöſiſch zu166 ſchreiben, das vorher manchmal nur im Scherze geſchehen war. Ich fühlte, ich merkte was es bedeuten ſollte. Was er in ſeiner Mutterſprache zu ſagen erröthete, konnte er nun mit gutem Gewiſſen hinſchreiben. Zu Reſervationen, Halbheiten und Lügen iſt es eine treffliche Sprache; ſie iſt eine perfide Sprache! ich finde, Gott ſey Dank! kein deutſches Wort, um perfid in ſeinem ganzen Umfange auszudrücken. Unſer armſeliges treulos iſt ein unſchuldiges Kind dagegen. Perfid iſt treulos mit Genuß, mit Übermuth und Schadenfreude. O, die Ausbildung ei¬ ner Nation iſt zu beneiden, die ſo feine Schattirungen in Einem Worte auszudrü¬ cken weiß! Franzöſiſch iſt recht die Sprache der Welt, werth die allgemeine Sprache zu ſeyn, damit ſie ſich nur recht alle unter ein¬ ander betrügen und belügen können! Seine franzöſiſchen Briefe ließen ſich noch immer167 gut genug leſen. Wenn man ſichs einbilden wollte, klangen ſie warm und ſelbſt leiden¬ ſchaftlich; doch genau beſehen waren es Phraſen, vermaledeyte Phraſen! Er hat mir alle Freude an der ganzen Sprache, an der franzöſiſchen Litteratur, ſelbſt an dem ſchö¬ nen und köſtlichen Ausdruck edler Seelen in dieſer Mundart verdorben; mich ſchaudert wenn ich ein franzöſiſches Wort höre!
Auf dieſe Weiſe konnte ſie ſtundenlang fortfahren ihren Unmuth zu zeigen, und jede andere Unterhaltung zu unterbrechen oder zu verſtimmen. Serlo machte früher oder ſpäter ihren launigen Äußerungen mit eini¬ ger Bitterkeit ein Ende; aber gewöhnlich war für dieſen Abend das Geſpräch zerſtört.
Überhaupt iſt es leider der Fall, daß al¬ les was durch mehrere zuſammentreffende Menſchen und Umſtände hervorgebracht wer¬ den ſoll, keine lange Zeit ſich vollkommen168 erhalten kann. Von einer Theatergeſellſchaft ſo gut wie von einem Reiche, von einem Zirkel Freunde ſo gut wie von einer Armee läßt ſich gewöhnlich der Moment angeben, wenn ſie auf der höchſten Stufe ihrer Voll¬ kommenheit, ihrer Übereinſtimmung, ihrer Zufriedenheit und Thätigkeit ſtanden; oft aber verändert ſich ſchnell das Perſonal, neue Glieder treten hinzu, die Perſonen paſſen nicht mehr zu den Umſtänden, die Umſtände nicht mehr zu den Perſonen; es wird al¬ les anders, und was vorher verbunden war, fällt nunmehr bald auseinander. So konnte man ſagen, daß Serlos Geſellſchaft eine Zeitlang ſo vollkommen war, als irgend eine deutſche ſich hatte rühmen können. Die meiſten Schauſpieler ſtanden an ihrem Platze; alle hatten genug zu thun, und alle thaten gern was zu thun war. Ihre perſönlichen Verhältniſſe waren leidlich und jedes ſchien169 in ſeiner Kunſt viel zu verſprechen, weil je¬ des die erſten Schritte mit Feuer und Mun¬ terkeit that. Bald aber entdeckte ſich, daß ein Theil doch nur Automaten waren, die nur das erreichen konnten, wohin man ohne Gefühl gelangen kann, und bald miſchten ſich die Leidenſchaften darzwiſchen, die ge¬ wöhnlich jeder guten Einrichtung im Wege ſtehen und alles ſo leicht auseinander zerren, was vernünftige und wohldenkende Men¬ ſchen zuſammen zu halten wünſchen.
Philinens Abgang war nicht ſo unbedeu¬ tend als man Anfangs glaubte. Sie hatte mit großer Geſchicklichkeit Serlo zu unter¬ halten, und die Übrigen mehr oder weniger zu reizen gewußt. Sie ertrug Aureliens Hef¬ tigkeit mit großer Geduld, und ihr eigenſtes Geſchäft war Wilhelmen zu ſchmeicheln. So war ſie eine Art von Bindungsmittel fürs Ganze, und ihr Verluſt mußte bald fühlbar werden.
170Serlo konnte ohne eine kleine Liebſchaft nicht leben. Elmire, die in weniger Zeit herangewachſen und man könnte beynahe ſagen ſchön geworden war, hatte ſchon lange ſeine Aufmerkſamkeit erregt, und Philine war klug genug, dieſe Leidenſchaft, die ſie merkte, zu begünſtigen. Man muß ſich, pflegte ſie zu ſagen, bey Zeiten aufs Kuppeln legen, es bleibt uns doch weiter nichts übrig wenn wir alt werden. Dadurch hatten ſich Serlo und Elmire dergeſtalt genähert, daß ſie nach Philinens Abſchiede bald einig wur¬ den, und der kleine Roman intereſſirte ſie beyde um ſo mehr, als ſie ihn vor dem Al¬ ten, der über eine ſolche Unregelmäßigkeit keinen Scherz verſtanden hätte, geheim zu halten alle Urſache hatten. Eimirens Schwe¬ ſter war mit im Verſtändniß, und Serlo mußte beyden Mädchen daher vieles nachſe¬ hen. Eine ihrer größten Untugenden war171 eine unmäßige Näſcherey, ja wenn man will eine unleidliche Gefräßigkeit, worin ſie Phi¬ linen keinesweges glichen, die dadurch einen neuen Schein von Liebenswürdigkeit erhielt, daß ſie gleichſam nur von der Luft lebte, ſehr wenig aß und nur den Schaum eines Champagnerglaſes mit der größten Zierlich¬ keit wegſchlurfte.
Nun aber mußte Serlo, wenn er ſeiner Schönen gefallen wollte, das Frühſtück mit dem Mittageſſen verbinden, und an dieſes durch ein Vesperbrod das Abendeſſen an¬ knüpfen. Dabey hatte Serlo einen Plan, deſſen Ausführung ihn beunruhigte. Er glaubte eine gewiſſe Neigung zwiſchen Wil¬ helm und Aurelien zu entdecken, und wünſchte ſehr, daß ſie ernſtlich werden möchte. Er hofte den ganzen mechaniſchen Theil der Theaterwirthſchaft Wilhelmen aufzubürden, und an ihm, wie an ſeinem erſten Schwa¬172 ger, ein treues und fleißiges Werkzeug zu finden. Schon hatte er ihm nach und nach den größten Theil der Beſorgung unmerklich übertragen, Aurelie führte die Caſſe, und Serlo lebte wieder wie in früheren Zeiten ganz nach ſeinem Sinne. Doch war etwas, was ſowohl ihm als ſeine Schweſter heim¬ lich kränkte.
Das Publikum hat eine eigene Art, gegen öffentliche Menſchen von anerkannten Ver¬ dienſte zu verfahren; es fängt nach und nach an gleichgültig gegen ſie zu werden, und be¬ günſtigt viel geringere aber neu erſcheinende Talente, es macht an jene übertriebene For¬ derungen, und läßt ſich von dieſen alles ge¬ fallen.
Serlo und Aurelie hatten Gelegenheit genug hierüber Betrachtungen anzuſtellen. Die neuen Ankömmlinge, beſonders die jun¬ gen und wohlgebildeten, hatten alle Auf¬173 merkſamkeit, allen Beyfall auf ſich gezogen, und beyde Geſchwiſter mußten die meiſte Zeit, nach ihren eifrigſten Bemühungen, oh¬ ne den willkommenen Klang der zuſammen¬ ſchlagenden Hände abtreten. Freylich kamen dazu noch beſondere Urſachen. Aureliens Stolz war auffallend, und von ihrer Verach¬ tung des Publikums waren viele unterrich¬ tet. Serlo ſchmeichelte zwar jedermann im Einzelnen, aber ſeine ſpitzen Reden über das Ganze waren doch auch öfters herumgetra¬ gen und wiederholt worden. Die neuen Glie¬ der hingegen waren theils fremd und unbe¬ kannt, theils jung, liebenswürdig und hülfs¬ bedürftig, und hatten alſo auch ſämmtlich Gönner gefunden.
Nun gab es auch bald innerliche Unru¬ hen und manches Mißvergnügen; denn kaum bemerkte man, daß Wilhelm die Be¬ ſchäftigung eines Regiſſeurs übernommen hat¬174 te, ſo fingen die meiſten Schauſpieler um deſto mehr an unartig zu werden, als er nach ſeiner Weiſe etwas mehr Ordnung und Genauigkeit in das Ganze zu bringen wünſch¬ te, und beſonders darauf beſtand, daß alles mechaniſche vor allen Dingen pünktlich und ordentlich gehen ſolle.
In kurzer Zeit ward das ganze Verhält¬ niß, das wirklich eine Zeitlang beynahe ide¬ aliſch gehalten hatte, ſo gemein, als man es nur irgend bey einem herumreiſenden Thea¬ ter finden mag. Und leider in dem Augen¬ blicke, als Wilhelm durch Mühe, Fleiß und Anſtrengung ſich mit allen Erforderniſſen des Metiers bekannt gemacht und ſeine Perſon ſowohl als ſeine Geſchäftigkeit vollkommen dazu gebildet hatte, ſchien es ihm endlich in trüben Stunden, daß dieſes Handwerk weni¬ ger als irgend ein anders, den nöthigen Auf¬ wand von Zeit und Kräften verdiene. Das175 Geſchäft war läſtig und die Belohnung ge¬ ring. Er hätte jedes andere lieber übernom¬ men, bey dem man doch, wenn es vorbey iſt, der Ruhe des Geiſtes genießen kann, als dieſes, wo man nach überſtandenen me¬ chaniſchen Mühſeligkeiten noch durch die höchſte Anſtrengung des Geiſtes und der Em¬ pfindung erſt das Ziel ſeiner Thätigkeit er¬ reichen ſoll. Er mußte die Klagen Aureliens über die Verſchwendung des Bruders hören, er mußte die Winke Serlos mißverſtehen, wenn dieſer ihn zu einer Heyrath mit der Schweſter von ferne zu leiten ſuchte. Er hatte dabey ſeinen Kummer zu verbergen, der ihn auf das tiefſte drückte, indem der nach dem zweydeutigen Officier fortgeſchickte Bote nicht zurück kam, auch nichts von ſich hören ließ, und unſer Freund daher ſeine Mariane zum zweytenmal verlohren zu ha¬ ben fürchten mußte.
176Zu eben der Zeit fiel eine allgemeine Trauer ein, wodurch man genöthigt ward, das Theater auf einige Wochen zu ſchließen. Er ergriff die Zwiſchenzeit, um jenen Geiſtli¬ chen zu beſuchen, bey welchem der Harfen¬ ſpieler in der Koſt war. Er fand ihn in ei¬ ner angenehmen Gegend, und das erſte was er in dem Pfarrhofe erblickte war der Alte, der einem Knaben auf ſeinem Inſtrument Lec¬ tion gab. Er bezeugte viel Freude Wilhelmen wieder zu ſehen, ſtand auf und reichte ihm die Hand und ſagte: Sie ſehen, daß ich in der Welt doch noch zu etwas nütze bin; Sie erlauben daß ich fortfahre, denn die Stun¬ den ſind eingetheilt.
Der Geiſtliche begrüßte Wilhelmen auf das freundlichſte und erzählte ihm, daß der Alte ſich ſchon recht gut anlaſſe und daß man Hoffnung zu ſeiner völligen Geneſung habe.
Ihr177Ihr Geſpräch fiel natürlich auf die Me¬ thode, Wahnſinnige zu kuriren.
Außer dem Phyſiſchen, ſagte der Geiſtli¬ che, das uns oft unüberwindliche Schwierig¬ keiten in den Weg legt und worüber ich ei¬ nen denkenden Arzt zu Rathe ziehe, finde ich die Mittel vom Wahnſinne zu heilen ſehr einfach. Es ſind eben dieſelben, wodurch man geſunde Menſchen hindert wahnſinnig zu werden. Man errege ihre Selbſtthätig¬ keit, man gewöhne ſie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, daß ſie ihr Seyn und Schickſal mit ſo vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchſte Unglück nur kleine Abweichungen von dem gewöhnlichen ſind; ſo wird ſich kein Wahnſinn einſchleichen, und wenn er da iſt, nach und nach wieder ver¬ ſchwinden. Ich habe des alten Mannes Stunden eingetheilt, er unterrichtet einigeW. Meiſters Lehrj. 3. M178Kinder auf der Harfe, er hilft im Garten arbeiten und iſt ſchon viel heiterer. Er wünſcht von dem Kohle zu genießen, den er pflanzt, und wünſcht meinen Sohn, dem er die Harfe auf den Todesfall geſchenkt hat, recht emſig zu unterrichten, damit ſie der Knabe ja auch brauchen könne. Als Geiſt¬ licher ſuche ich ihm über ſeine wunderbaren Scrupel nur wenig zu ſagen, aber ein thä¬ tiges Leben führt ſo viele Ereigniſſe herbey, daß er bald fühlen muß: daß jede Art von Zweifel nur durch Wirkſamkeit gehoben wer¬ den kann. Ich gehe ſachte zu Werke, wenn ich ihm aber noch ſeinen Bart und ſeine Kutte wegnehmen kann, ſo habe ich viel ge¬ wonnen, denn es bringt uns nichts näher dem Wahnſinn, als wenn wir uns vor andern aus¬ zeichnen, und nichts erhält ſo ſehr den gemei¬ nen Verſtand, als im allgemeinen Sinne mit vielen Menſchen zu leben, Wie vieles iſt lei¬179 der nicht in unſerer Erziehung und in unſern bürgerlichen Einrichtungen, wodurch wir uns und unſre Kinder zur Tollheit vorbereiten.
Wilhelm verweilte bey dieſem vernünfti¬ gen Manne einige Tage, und erfuhr die in¬ tereſſanteſten Geſchichten, nicht allein von verrückten Menſchen, ſondern auch von ſol¬ chen, die man für klug, ja für weiſe zu hal¬ ten pflegt, und deren Eigenthümlichkeiten nahe an den Wahnſinn grenzen.
Dreyfach belebt aber ward die Unterhal¬ tung, als der Medikus eintrat, der den Geiſt¬ lichen, ſeinen Freund, öfters zu beſuchen, und ihm bey ſeinen menſchenfreundlichen Bemü¬ hungen beyzuſtehen pflegte. Es war ein ält¬ licher Mann, der bey einer ſchwächlichen Ge¬ ſundheit viele Jahre in Ausübung der edel¬ ſten Pflichten zugebracht hatte. Er war ein großer Freund vom Landleben und konnte faſt nicht anders als in freyer Luft ſeyn;M 2180dabey war er äußerſt geſellig und thätig, und hatte ſeit vielen Jahren eine beſondere Neigung mit allen Landgeiſtlichen Freund¬ ſchaft zu ſtiften. Jedem, dem er eine nützli¬ che Beſchäftigung kannte, ſuchte er auf alle Weiſe beyzuſtehen; andern, die noch unbe¬ ſtimmt waren, ſuchte er eine Liebhaberey einzureden, und da er zugleich mit den Edel¬ leuten, Amtmännern und Gerichtshaltern in Verbindung ſtand, ſo hatte er in Zeit von zwanzig Jahren ſehr viel im Stillen zur Kultur mancher Zweige der Landwirthſchaft beygetragen, und alles was dem Felde, Thie¬ ren und Menſchen erſprieslich iſt, in Bewe¬ gung gebracht, und ſo die wahrſte Aufklä¬ rung befördert. Für den Menſchen, ſagte er, ſey nur das eine ein Unglück, wenn ſich ir¬ gend eine Idee bey ihm feſtſetze, die keinen Einfluß ins thätige Leben habe oder ihn wohl gar vom thätigen Leben abziehe. Ich181 habe, ſagte er, gegenwärtig einen ſolchen Fall an einem vornehmen und reichen Ehepaar, wo mir bis jetzt noch alle Kunſt mißglückt iſt; faſt gehört der Fall in Ihr Fach, lieber Paſtor, und dieſer junge Mann wird ihn nicht weiter erzählen.
In der Abweſenheit eines vornehmen Mannes verkleidet man, mit einem nicht ganz lobenswürdigen Scherze, einen jungen Men¬ ſchen in die Hauskleidung dieſes Herren. Seine Gemahlin ſollte dadurch angeführt werden, und ob man mir es gleich nur als eine Poſſe erzählt hat, ſo fürchte ich doch ſehr, man hatte die Abſicht, die edle, liebens¬ würdige Dame vom rechten Wege abzuleiten. Der Gemahl kommt unvermuthet zurück, tritt in ſein Zimmer, glaubt ſich ſelbſt zu ſehen, und fällt von der Zeit an in eine Melancho¬ lie, in der er die Überzeugung nährt, daß er bald ſterben werde.
182Er überläßt ſich Perſonen, die ihm mit religiöſen Ideen ſchmeicheln, und ich ſehe nicht wie er abzuhalten iſt, mit ſeiner Ge¬ mahlin unter die Herrenhuter zu gehen, und den größten Theil ſeines Vermögens, da er keine Kinder hat, ſeinen Verwandten zu entziehen.
Mit ſeiner Gemahlin? rief Wilhelm, den dieſe Erzählung nicht wenig erſchreckt hatte, ungeſtüm aus.
Und leider, verſetzte der Arzt, der in Wil¬ helms Ausrufung nur eine menſchenfreundli¬ che Theilnahme zu hören glaubte, iſt dieſe Dame mit einem noch tiefern Kummer behaf¬ tet, der ihr eine Entfernung von der Welt nicht widerlich macht. Eben dieſer junge Menſch nimmt Abſchied von ihr, ſie iſt nicht vorſichtig genug eine aufkeimende Neigung zu verbergen; er wird kühn, ſchließt ſie in ſeine Arme, und drückt ihr das große mit183 Brillianten beſetzte Portrait ihres Gemahls gewaltſam wider die Bruſt. Sie empfindet einen heftigen Schmerz, der nach und nach vergeht, erſt eine kleine Röthe und dann keine Spur zurück läßt. Ich bin als Menſch überzeugt, daß ſie ſich nichts weiter vorzu¬ werfen hat, ich bin als Arzt gewiß, daß die¬ ſer Druck keine üblen Folgen haben werde, aber ſie läßt ſich nicht ausreden, es ſey eine Verhärtung da, und wenn man ihr durch das Gefühl den Wahn benehmen will, ſo behauptet ſie, nur in dieſem Augenblick ſey nichts zu fühlen; ſie hat ſich feſt eingedruckt, es werde dieſes Übel mit einem Krebsſchaden ſich endigen, und ſo iſt ihre Jugend, ihre Liebenswürdigkeit für ſie und andere völlig verlohren.
Ich unglückſeliger! rief Wilhelm, indem er ſich vor die Stirne ſchlug und aus der Geſellſchaft ins Feld lief. Er hatte ſich noch nie in einem ſolchen Zuſtande befunden.
184Der Arzt und der Geiſtliche, über dieſe ſeltſame Entdeckung höchlich erſtaunt, hatten Abends genug mit ihm zu thun, als er zu¬ rückkam und bey dem umſtändlichern Be¬ kenntniß dieſer Begebenheit ſich aufs lebhaf¬ teſte anklagte. Beyde Männer nahmen den größten Antheil an ihm, beſonders da er ih¬ nen ſeine übrige Lage nun auch mit ſchwar¬ zen Farben der augenblicklichen Stimmung mahlte.
Den andern Tag ließ ſich der Arzt nicht lange bitten mit ihm nach der Stadt zu ge¬ hen, um ihm Geſellſchaft zu leiſten, um Au¬ relien, die ihr Freund in bedenklichen Um¬ ſtänden zurückgelaſſen hatte, wo möglich Hülfe zu verſchaffen.
Sie fanden ſie auch wirklich ſchlimmer, als ſie vermutheten. Sie hatte eine Art von überſpringendem Fieber, dem um ſo weniger beyzukommen war, als ſie die Anfälle nach185 ihrer Art vorſetzlich unterhielt und verſtärkte. Der Fremde ward nicht als Arzt eingeführt, und betrug ſich ſehr gefällig und klug. Man ſprach über den Zuſtand ihres Körpers und ihres Geiſtes, und der neue Freund erzählte manche Geſchichten, wie Perſonen, ohngeach¬ tet einer ſolchen Kränklichkeit, ein hohes Al¬ ter erreichen könnten, nichts aber ſey ſchäd¬ licher in ſolchen Fällen, als eine vorſetzliche Erneuerung leidenſchaftlicher Empfindungen. Beſonders verbarg er nicht, daß er diejenige Perſon ſehr glücklich gefunden habe, die bey einer nicht ganz herzuſtellenden kränklichen Anlage wahrhaft religiöſe Geſinnungen bey ſich zu nähren beſtimmt geweſen wären. Er ſagte das auf eine ſehr beſcheidene Weiſe und gleichſam hiſtoriſch, und verſprach dabey ſei¬ nen neuen Freunden eine ſehr intereſſante Lektüre an einem Manuſcript zu verſchaffen, das er aus den Händen einer nunmehr ab¬186 geſchiedenen vortrefflichen Freundin erhalten habe. Es iſt mir unendlich werth, ſagte er, und ich vertraue Ihnen das Original ſelbſt an. Nur der Titel iſt von meiner Hand, Bekenntniſſe einer ſchönen Seele.
Über diätetiſche und mediziniſche Behand¬ lung der unglücklichen aufgeſpannten Aurelie, vertraute der Arzt Wilhelmen noch ſeinen be¬ ſten Rath, verſprach zu ſchreiben und wo möglich ſelbſt wieder zu kommen.
Inzwiſchen hatte ſich in Wilhelms Abwe¬ ſenheit eine Veränderung vorbereitet, die er nicht vermuthen konnte. [Wilhelm] hatte wäh¬ rend der Zeit ſeiner Regie das ganze Geſchäft mit einer gewiſſen Freyheit und Liberalität behandelt, vorzüglich auf die Sache geſehen, und beſonders bey Kleidungen, Dekorationen und Requiſiten alles reichlich und anſtändig angeſchaft, auch um den guten Willen der Leute zu erhalten ihrem Eigennutze geſchmei¬187 chelt, da er ihnen durch edlere Motive nicht beykommen konnte, und er fand ſich hierzu um ſo mehr berechtigt, als Serlo ſelbſt keine Anſprüche machte, ein genauer Wirth zu ſeyn, den Glanz ſeines Theaters gerne loben hörte und zufrieden war, wenn Aurelie, wel¬ che die ganze Haushaltung führte, nach Ab¬ zug aller Koſten, verſicherte daß ſie keine Schulden habe, und noch ſo viel hergab als nöthig war die Schulden abzutragen, die Serlo unterdeſſen durch außerordentliche Frey¬ gebigkeit gegen ſeine Schönen und ſonſt etwa auf ſich geladen haben mochte.
Melina, der indeſſen die Garderobe be¬ ſorgte, hatte, kalt und heimtückiſch wie er war, der Sache im ſtillen zugeſehen, und wußte bey der Entfernung Wilhelms und bey der zunehmenden Krankheit Aureliens Serlo fühlbar zu machen, daß man eigent¬ lich mehr einnehmen, weniger ausgeben, und188 entweder etwas zurücklegen oder doch am Ende nach Willkühr noch luſtiger leben könne. Serlo hörte das gern und Melina wagte ſich mit ſeinem Plane hervor.
Ich will, ſagte er, nicht behaupten, daß einer von den Schauſpielern gegenwärtig zu viel Gage hat; es ſind verdienſtvolle Leute und ſie würden an jedem Orte willkommen ſeyn; allein für die Einnahme, die ſie uns verſchaffen, erhalten ſie doch zu viel. Mein Vorſchlag wäre eine Oper einzurichten, und was das Schauſpiel betrifft, ſo muß ich Ihnen ſagen, Sie ſind der Mann allein ein ganzes Schauſpiel auszumachen. Müſſen Sie jetzt nicht ſelbſt erfahren, daß man Ihre Verdienſte verkennt. Nicht, weil Ihre Mitſpieler vor¬ trefflich, ſondern weil ſie gut ſind, läßt man Ihrem außerordentlichen Talente keine Ge¬ rechtigkeit mehr wiederfahren.
Stellen Sie ſich, wie wohl ſonſt geſche¬189 hen iſt, nur allein hin, ſuchen Sie mittelmä¬ ßige, ja ich darf ſagen ſchlechte Leute für ge¬ ringe Gage an ſich zu ziehen, ſtutzen Sie das Volk, wie Sie es ſo ſehr verſtehen, im Mechaniſchen zu, wenden Sie das übrige an die Oper und Sie werden ſehen, daß Sie mit derſelben Mühe und mit denſelben Ko¬ ſten mehr Zufriedenheit erregen, und ungleich mehr Geld als bisher gewinnen werden.
Serlo war zu ſehr geſchmeichelt, als daß ſeine Einwendungen einige Stärke hätten haben ſollen. Er geſtand Melina gern zu, daß er bey ſeiner Liebhaberey zur Muſik längſt ſo etwas gewünſcht habe, doch ſehe er freylich ein, daß die Neigung des Publi¬ kums dadurch noch mehr auf Abwege gelei¬ tet und daß bey ſo einer Vermiſchung eines Theaters, das nicht recht Oper nicht recht Schauſpiel ſey, nothwendig der Überreſt von Geſchmack, an einen beſtimmten und aus¬190 führlichen Kunſtwerke ſich völlig verlieren müſſe.
Melina ſcherzte nicht ganz fein über Wil¬ helms pedantiſche Ideale dieſer Art, über die Anmaßung das Publikum zu bilden, ſtatt ſich von ihm bilden zu laſſen, und beyde ver¬ einigten ſich mit großer Überzeugung, daß man nur Geld einnehmen, reich werden oder ſich luſtig machen ſolle und verbargen ſich kaum, daß ſie nur jener Perſonen los zu ſeyn wünſchten, die ihren Plane im Wege ſtanden. Melina bedauerte, daß die ſchwäch¬ liche Geſundheit Aureliens ihr kein langes Leben verſpreche, dachte aber gerade das Ge¬ gentheil. Serlo ſchien zu beklagen, daß Wilhelm nicht Sänger ſey und gab dadurch zu verſtehen, daß er ihn für bald entbehrlich halte. Melina trat mit einem ganzen Re¬ giſter von Erſparniſſen, die zu machen ſeyen, hervor, und Serlo ſah in ihm ſeinen erſten191 Schwager dreyfach erſetzt. Sie fühlten wohl, daß ſie ſich über dieſe Unterredung das Ge¬ heimniß zuzuſagen hatten, wurden dadurch nur noch mehr an einander geknüpft und nahmen Gelegenheit insgeheim über alles was vorkam, ſich zu beſprechen, was Aure¬ lie und Wilhelm unternahmen zu tadeln und ihr neues Projeckt in Gedanken immer mehr auszuarbeiten.
So verſchwiegen auch beyde über ihren Plan ſeyn mochten, und ſo wenig ſie durch Worte ſich verriethen, ſo waren ſie doch nicht politiſch genug, ihre Geſinnungen in der Handelsweiſe zu verbergen. Melina wider¬ ſetzte ſich Wilhelmen in manchen Fällen, die in ſeinem Kreiſe lagen, und Serlo, der nie¬ mals glimpflich mit ſeiner Schweſter umge¬ gangen war, ward nur bitterer, jemehr ihre Kränklichkeit zunahm, und jemehr ſie bey ihren ungleichen, leidenſchaftlichen Launen Schonung verdient hätte.
192Zu eben dieſer Zeit nahm man Emilie Galotti vor. Dieſes Stück war ſehr glück¬ lich beſetzt, und alle konnten in dem beſchränk¬ ten Kreiſe dieſes Trauerſpiels die ganze Ma¬ nigfaltigkeit ihres Spieles zeigen. Serlo war als Marinelli an ſeinem Platze, Odo¬ ardo ward ſehr gut vorgetragen, Madam Melina ſpielte die Mutter mit vieler Ein¬ ſicht, Elmire zeichnete ſich in der Rolle Emi¬ liens zu ihrem Vortheil aus, Laertes trat als Appiani mit vielen Anſtand auf, und Wilhelm hatte ein Studium von mehreren Monaten auf die Rolle des Prinzen verwen¬ det. Bey dieſer Gelegenheit hatte er ſowohl mit ſich ſelbſt als mit Serlo und Aurelien die Frage oft abgehandelt: welch ein Unter¬ ſchied ſich zwiſchen einem edlen und vorneh¬ men Betragen zeige, und in wiefern jenes in dieſem, dieſes aber nicht in jenem enthal¬ ten zu ſeyn brauche.
Serlo193Serlo der ſelbſt als Marinelli den Hof¬ mann rein, ohne Karrikatur vorſtellte, äußerte über dieſen Punkt manchen guten Gedanken. Der vornehme Anſtand, ſagte er, iſt ſchwer nachzuahmen, weil er eigentlich negativ iſt, und eine lange anhaltende Übung voraus¬ ſetzt. Denn man ſoll nicht etwa in ſeinem Benehmen etwas darſtellen, das Würde an¬ zeigt, denn leicht fällt man dadurch in ein förmliches ſtolzes Weſen, man ſoll vielmehr nur alles vermeiden, was Unwürdig was Ge¬ mein iſt, man ſoll ſich nie vergeſſen, immer auf ſich und andere acht haben, ſich nichts vergeben, andern nicht zu viel, nicht zu we¬ nig thun, durch nichts gerührt ſcheinen, durch nichts bewegt werden, ſich niemals übereilen, ſich in jedem Momente zu faſſen wiſſen, und ſo ein äußeres Gleichgewicht erhalten, inner¬ lich mag es ſtürmen wie es will. Der edle Menſch kann ſich in Momenten vernachläſ¬W. Meiſters Lehrj. 3. N194ſigen, der vornehme nie. Dieſer iſt wie ein ſehr wohlgekleideter Mann, er wird ſich nir¬ gends anlehnen, und jedermann wird ſich hü¬ ten an ihn zu ſtreichen; er unterſcheidet ſich vor andern, und doch darf er nicht allein ſtehen bleiben; denn wie in jeder Kunſt alſo auch in dieſer, ſoll zuletzt das ſchwerſte mit Leichtigkeit ausgeführt werden, ſo ſoll der Vornehme, ohngeachtet aller Abſonderung, immer mit andern verbunden ſcheinen, nir¬ gends ſteif, überall gewandt ſeyn, immer als der erſte erſcheinen und ſich nie als ein ſol¬ cher aufdringen.
Man ſieht alſo, daß man, um vornehm zu ſcheinen, wirklich vornehm ſeyn müſſe; man ſieht warum Frauen im Durchſchnitt ſich eher dieſes Anſehen geben können als Männer, warum Hofleute und Soldaten am ſchnellſten zu dieſem Anſtande gelangen.
Wilhelm verzweifelte nun faſt an ſeiner195 Rolle, allein Serlo half ihm wieder auf, in¬ dem er ihm über das Einzelne die feinſten Bemerkungen mittheilte, und ihn dergeſtalt ausſtattete, daß er bey der Aufführung, we¬ nigſtens in den Augen der Menge, einen recht feinen Prinzen darſtellte.
Serlo hatte verſprochen ihm nach der Vorſtellung die Bemerkungen mitzutheilen, die er noch allenfalls über ihn machen wür¬ de; allein ein unangenehmer Streit zwiſchen Bruder und Schweſter hinderte jede critiſche Unterhaltung. Aurelie hatte die Rolle der Orſina auf eine Weiſe geſpielt, wie man ſie wohl niemals wieder ſehen wird. Sie war mit der Rolle überhaupt ſehr bekannt, und hatte ſie in den Proben gleichgültig behan¬ delt; bey der Aufführung ſelbſt aber zog ſie, möchte man ſagen, alle Schleuſen ihres in¬ dividuellen Kummers auf, und es ward da¬ durch eine Darſtellung, wie ſie ſich kein Dich¬N 2196ter in dem erſten Feuer der Empfindung hätte denken können. Ein unmäßiger Bey¬ fall des Publikums belohnte ihre ſchmerzlichen Bemühungen, aber ſie lag auch halb ohn¬ mächtig in einem Seſſel als man ſie nach der Aufführung aufſuchte.
Serlo hatte ſchon über ihr übertriebenes Spiel, wie er es nannte, und über die Ent¬ blößung ihres innerſten Herzens vor dem Publikum, das doch mehr oder weniger mit jener fatalen Geſchichte bekannt war, ſeinen Unwillen zu erkennen gegeben, und, wie er es im Zorn zu thun pflegte, mit den Zähnen geknirſcht und mit den Füßen geſtampft. Laßt ſie, ſagte er, als er ſie von den Übri¬ gen umgeben in dem Seſſel fand, ſie wird noch eh’ſtens ganz nackt auf das Theater treten, und dann wird erſt der Beyfall recht willkommen ſeyn.
Undankbarer! rief ſie aus, Unmenſchli¬197 cher! man wird mich bald nackt dahin tra¬ gen, wo kein Beyfall mehr zu unſern Ohren kommt! Mit dieſen Worten ſprang ſie auf und eilte nach der Thüre. Die Magd hatte verſäumt ihr den Mantel zu bringen, die Portechaiſe war nicht da; es hatte geregnet und ein ſehr rauher Wind zog durch die Straßen. Man redete ihr vergebens zu, denn ſie war übermäßig erhitzt; ſie ging vor¬ ſetzlich langſam und lobte die Kühlung, die ſie recht begierig einzuſaugen ſchien. Kaum war ſie zu Hauſe, als ſie vor Heiſerkeit kaum ein Wort mehr ſprechen konnte; ſie geſtand aber nicht, daß ſie im Nacken und den Rü¬ cken hinab eine völlige Steifigkeit fühlte. Nicht lange ſo überfiel ſie eine Art von Läh¬ mung der Zunge, ſo daß ſie ein Wort fürs andere ſprach; man brachte ſie zu Bette, durch häufig angewandte Mittel legte ſich ein Übel, indem ſich das andere zeigte. Das198 Fieber ward ſtark und ihr Zuſtand gefähr¬ lich.
Den andern Morgen hatte ſie eine ru¬ hige Stunde. Sie ließ Wilhelm rufen und übergab ihm einen Brief. Dieſes Blatt, ſagte ſie, wartet ſchon lange auf dieſen Au¬ genblick. Ich fühle daß das Ende meines Lebens bald heran naht; verſprechen Sie mir, daß Sie es ſelbſt abgeben und daß Sie durch wenige Worte meine Leiden an dem Ungetreuen rächen wollen. Er iſt nicht fühl¬ los und wenigſtens ſoll ihn mein Tod einen Augenblick ſchmerzen.
Wilhelm übernahm den Brief, indem er ſie jedoch tröſtete und den Gedanken des To¬ des von ihr entfernen wollte.
Nein, verſetzte ſie, benehmen Sie mir nicht meine nächſte Hoffnung. Ich habe ihn lange erwartet und will ihn freudig in die Arme ſchließen.
199Kurz darauf kam das vom Arzt verſprochene Manuſcript an. Sie erſuchte Wilhelmen ihr daraus vorzuleſen, und die Wirkung die es that wird der Leſer am beſten beurtheilen können, wenn er ſich mit dem folgenden Bu¬ che bekannt gemacht hat. Das heftige und trotzige Weſen unſrer armen Freundin ward auf einmal gelinder. Sie nahm den Brief zurück und ſchrieb einen andern, wie es ſchien in ſehr ſanfter Stimmung, auch forderte ſie Wilhelmen auf, ihren Freund, wenn er ir¬ gend durch die Nachricht ihres Todes betrübt werden ſollte, zu tröſten, ihm zu verſichern, daß ſie ihm verziehen habe, und daß ſie ihm alles Glück wünſche.
Von dieſer Zeit an war ſie ſehr ſtill und ſchien ſich nur mit wenigen Ideen zu beſchäf¬ tigen, die ſie ſich aus dem Manuſcript eigen zu machen ſuchte, woraus ihr Wilhelm von Zeit zu Zeit vorleſen mußte. Die Abnahme200 ihrer Kräfte war nicht ſichtbar und unver¬ muthet fand ſie Wilhelm eines Morgens todt, als er ſie beſuchen wollte.
Bey der Achtung, die er für ſie gehabt, und bey der Gewohnheit, mit ihr zu leben, war ihm ihr Verluſt ſehr ſchmerzlich. Sie war die einzige Perſon, die es eigentlich gut mit ihm meynte, und die Kälte Serlos in der letzten Zeit hatte er nur allzuſehr gefühlt. Er eilte daher die aufgetragene Botſchaft auszurichten und wünſchte ſich auf einige Zeit zu entfernen. Von der andern Seite war für Melina dieſe Abreiſe ſehr erwünſcht, denn dieſer hatte ſich bey der weitläuftigen Correſpondenz, die er unterhielt, gleich mit einem Sänger und einer Sängerin eingelaſ¬ ſen, die das Publikum einſtweilen durch Zwi¬ ſchenſpiele zur künftigen Oper vorbereiten ſollten. Der Verluſt Aureliens und Wilhelms Entfernung ſollten auf dieſe Weiſe in der201 erſten Zeit übertragen werden, und unſer Freund war mit allem zufrieden was ihm ſeinen Urlaub auf einige Wochen erleichterte.
Er hatte ſich eine ſonderbar wichtige Idee von ſeinem Auftrage gemacht. Der Tod ſei¬ ner Freundin hatte ihn tief gerührt und da er ſie ſo frühzeitig von dem Schauplatze ab¬ treten ſah, mußte er nothwendig gegen den, der ihr Leben verkürzt, und dieſes kurze Le¬ ben ihr ſo qualvoll gemacht, feindſelig ge¬ ſinnt ſeyn.
Ohngeachtet der letzten gelinden Worte der Sterbenden, nahm er ſich doch vor bey Überreichung des Briefs ein ſtrenges Gericht über den ungetreuen Freund ergehen zu laſ¬ ſen, und da er ſich nicht einer zufälligen Stimmung vertrauen wollte, dachte er an ei¬ ne Rede, die in der Ausarbeitung pathetiſcher als billig ward. Nachdem er ſich völlig von der guten Compoſition ſeines Aufſatzes über¬202 zeugt hatte, machte er, indem er ihn auswen¬ dig lernte, Anſtalt zu ſeiner Abreiſe. Mig¬ non war beym Einpacken gegenwärtig und fragte ihn, ob er nach Süden oder nach Norden reiſe? und als ſie das letzte von ihm erfuhr, ſagte ſie: ſo will ich Dich hier wieder erwarten. Sie bat ihn um die Per¬ lenſchnur Marianens, die er dem lieben Ge¬ ſchöpf nicht verſagen konnte; das Halstuch hatte ſie ſchon. Dagegen ſteckte ſie ihm den Schleyer des Geiſtes in den Mantelſack, ob er ihr gleich ſagte, daß ihm dieſer Flor zu keinem Gebrauch ſey.
Melina übernahm die Regie, und ſeine Frau verſprach auf die Kinder ein mütterli¬ ches Auge zu haben, von denen ſich Wilhelm ungern losriß. Felix war ſehr luſtig beym Abſchied und als man ihn fragte: was er wolle mitgebracht haben, ſagte er: Höre! bringe mir einen Vater mit. Mignon nahm203 den Scheidenden bey der Hand, und indem ſie ihm, auf die Zehen gehoben, einen treu¬ herzigen und lebhaften Kuß, doch ohne Zärt¬ lichkeit, auf die Lippen drückte, ſagte ſie: Meiſter! vergiß uns nicht und komm bald wieder.
Und ſo laſſen wir unſern Freund unter tauſend Gedanken und Empfindungen ſeine Reiſe antreten, und zeichnen hier noch zum Schluſſe ein Gedicht auf, das Mignon mit großem Ausdruck einigemal rezitirt hatte, und das wir früher mitzutheilen durch den Drang ſo mancher ſonderbaren Ereigniſſe verhindert worden.
Bis in mein achtes Jahr war ich ein ganz geſundes Kind, weiß mich aber von dieſer Zeit ſo wenig zu erinnern, als von dem Ta¬ ge meiner Geburt. Mit dem Anfange des achten Jahres bekam ich einen Blutſturz und in dem Augenblick war meine Seele ganz Empfindung und Gedächtniß. Die kleinſten Umſtände dieſes Zufalls ſtehn mir noch vor Augen als hätte er ſich geſtern ereignet.
Während des neun monatlichen Kranken¬ lagers, das ich mit Gedult aushielt, ward,208 ſo wie mich dünkt, der Grund zu meiner ganzen Denkart gelegt, indem meinem Geiſte die erſten Hülfsmittel gereicht wurden, ſich nach ſeiner eigenen Art zu entwickeln.
Ich litt und liebte, das war die eigentli¬ che Geſtalt meines Herzens. In dem heftig¬ ſten Huſten und abmattenden Fieber war ich ſtille wie eine Schnecke, die ſich in ihr Haus zieht; ſo bald ich ein wenig Luft hatte, wollte ich etwas Angenehmes fühlen, und da mir aller übrige Genuß verſagt war, ſuchte ich mich durch Augen und Ohren ſchadlos zu halten. Man brachte mir Puppenwerk und Bilderbücher und wer Sitz an meinem Bette haben wollte, mußte mir etwas erzählen.
Von meiner Mutter hörte ich die bibli¬ ſchen Geſchichten gern an; der Vater unter¬ hielt mich mit Gegenſtänden der Natur. Er beſaß ein artiges Kabinet. Davon brachte er gelegentlich eine Schublade nach der andernher¬209herunter, zeigte mir die Dinge und erklärte ſie mir nach der Wahrheit. Getrocknete Pflanzen und Inſekten und manche Arten von anatomiſchen Präparaten. Menſchenhaut, Knochen, Mumien und dergleichen kamen auf das Krankenbette der Kleinen; Vögel und Thiere, die er auf der Jagd erlegte, wur¬ den mir vorgezeigt, ehe ſie nach der Küche gingen, und damit doch auch der Fürſt der Welt eine Stimme in dieſer Verſammlung behielte, erzählte mir die Tante Liebesge¬ ſchichten und Feenmärchen. Alles ward an¬ genommen und alles faßte Wurzel. Ich hatte Stunden, in denen ich mich lebhaft mit dem unſichtbaren Weſen unterhielte, ich weiß noch einige Verſe, die ich der Mutter damals in die Feder dictirte.
Oft erzählte ich dem Vater wieder, was ich von ihm gelernt hatte. Ich nahm nicht leicht eine Arzeney, ohne zu fragen, wo wach¬W. Meiſters Lehrj. 3. O210ſen die Dinge, aus denen ſie gemacht iſt? Wie ſehen ſie aus? Wie heißen ſie? Aber die Erzählungen meiner Tante waren auch nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte mich in ſchöne Kleider und begegnete den al¬ lerliebſten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬ ſten konnten, bis ſie wußten, wer die unbe¬ kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬ theuer mit einem reizenden kleinen Engel, der im weißen Gewand und goldnen Flü¬ geln ſich ſehr um mich bemühte, ſetzte ich ſo lange fort, daß meine Einbildungskraft ſein Bild faſt bis zur Erſcheinung erhöhte.
Nach Jahresfriſt war ich ziemlich wieder hergeſtellt; aber es war mir aus der Kind¬ heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich konnte nicht einmal mit Puppen ſpielen, ich verlangte nach Weſen, die meine Liebe erwie¬ derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬ chen mein Vater von allen Arten ernährte,211 vergnügten mich ſehr; aber was hätte ich nicht gegeben, ein Geſchöpf zu beſitzen, das in einem der Märchen meiner Tante eine ſehr wichtige Rolle ſpielte. Es war ein Schäfchen, das von einem Bauermädchen in dem Walde aufgefangen und ernährt wor¬ den war, aber in dieſem artigen Thiere ſtack ein verwünſchter Prinz, der ſich endlich wie¬ der als ſchöner Jüngling zeigte und ſeine Wohlthäterin durch ſeine Hand belohnte. So ein Schäfchen hätte ich gar zu gerne beſeſſen!
Nun wollte ſich aber keines finden, und da alles neben mir ſo ganz natürlich zuging, mußte mir nach und nach die Hoffnung auf einen ſo köſtlichen Beſitz faſt vergehen. Un¬ terdeſſen tröſtete ich mich, indem ich ſolche Bücher las, in denen wunderbare Begeben¬ heiten beſchrieben wurden. Unter allen war mir der chriſtliche deutſche Herkules der lieb¬O 2212ſte; die andächtige Liebesgeſchichte war ganz nach meinem Sinne. Begegnete ſeiner Va¬ liska irgend etwas, und es begegneten ihr grauſame Dinge, ſo betete er erſt, eh er ihr zu Hülfe eilte, und die Gebete ſtanden aus¬ führlich im Buche. Wie wohl gefiel mir das! Mein Hang zu dem Unſichtbaren, den ich immer auf eine dunkle Weiſe fühle, ward dadurch nur vermehrt; denn ein für allemal ſollte Gott auch mein Vertrauter ſeyn.
Als ich weiter heran wuchs, las ich, der Himmel weiß was alles durch einander; aber die römiſche Octavia behielt vor allen den Preis. Die Verfolgungen der erſten Chriſten in einen Roman gekleidet, erregten bey mir das lebhafteſte Intereſſe.
Nun fing die Mutter an über das ſtete Leſen zu ſchmälen; der Vater nahm ihr zu Liebe mir einen Tag die Bücher aus der213 Hand und gab ſie mir den andern wieder. Sie war klug genug zu bemerken, daß hier nichts auszurichten war, und drang nur dar¬ auf, daß auch die Bibel eben ſo fleißig ge¬ leſen wurde. Auch dazu ließ ich mich nicht treiben, und ich las die heiligen Bücher mit vielem Antheil. Dabey war meine Mutter immer ſorgfältig, daß keine verführeriſchen Bücher in meine Hände kämen, und ich ſelbſt würde jede ſchändliche Schrift aus der Hand geworfen haben, denn meine Prinzen und Prinzeſſinnen waren alle äußerſt tugendhaft, und ich wußte übrigens von der natürlichen Geſchichte des menſchlichen Geſchlechts mehr als ich merken ließ, und hatte es meiſtens aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen hielt ich mit Worten und Dingen die mir vor Augen kamen zuſammen, und brachte bey meiner Wißbegierde und Combinationsgabe die Wahrheit glücklich heraus. Hätte ich214 von Hexen gehört, ſo hätte ich auch mit der Hexerey bekannt werden müſſen.
Meiner Mutter und dieſer Wißbegierde hatte ich es zu danken, daß ich bey dem hef¬ tigen Hang zu Büchern doch kochen lernte; aber dabey war etwas zu ſehen. Ein Huhn, ein Ferkel aufzuſchneiden, war für mich ein Feſt. Den Vater brachte ich die Eingeweide und er redete mit mir darüber wie mit ei¬ nem jungen Studenten, und pflegte mich oft mit inniger Freude ſeinen mißrathenen Sohn zu nennen.
Nun war das zwölfte Jahr zurückgelegt. Ich lernte franzöſiſch, tanzen und zeichnen, und erhielt den gewöhnlichen Religionsunter¬ richt. Bey dem letzten wurden manche Em¬ pfindungen und Gedanken rege, aber nichts was ſich auf meinen Zuſtand bezogen hätte. Ich hörte gern von Gott reden, ich war ſtolz darauf beſſer als meinesgleichen von ihm re¬215 den zu können; ich las nun mit Eifer man¬ che Bücher, die mich in den Stand ſetzten von Religion zu ſchwatzen, aber nie fiel es mir ein zu denken, wie es denn mit mir ſtehe, ob meine Seele auch ſo geſtaltet ſey, ob ſie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne wieder glänzen könnte, das hatte ich ein vor allemal ſchon vorausgeſetzt.
Franzöſiſch lernte ich mit vieler Begierde. Mein Sprachmeiſter war ein wackrer Mann. Er war nicht ein leichtſinniger Empiriker, nicht ein trockner Grammatiker; er hatte Wiſſenſchaften, er hatte die Welt geſehen. Zugleich mit dem Sprachunterrichte ſättigte er meine Wißbegierde auf mancherley Weiſe. Ich liebte ihn ſo ſehr, daß ich ſeine Ankunft immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeich¬ nen fiel mir nicht ſchwer, und ich würde es weiter gebracht haben, wenn mein Meiſt[er]Kopf und Kenntniſſe gehabt hätte; er hatte aber nur Hände und Übung.
216Tanzen war Anfangs nur meine geringſte Freude; mein Körper war zu empfindlich und ich lernte nur in der Geſellſchaft meiner Schweſter. Durch den Einfall unſers Tanz¬ meiſters allen ſeinen Schülern und Schüle¬ rinnen einen Ball zu geben, ward aber die Luſt zu dieſer Übung ganz anders belebt.
Unter vielen Knaben und Mädchen zeich¬ neten ſich zwey Söhne des Hofmarſchalls aus; der jüngſte ſo alt wie ich, der andere zwey Jahr älter; Kinder von einer ſolchen Schönheit, daß ſie nach dem allgemeinen Ge¬ ſtändniß alles übertrafen, was man je von ſchönen Kindern geſehen hatte. Auch ich hatte ſie kaum erblickt, ſo ſah ich niemand mehr vom ganzen Haufen. In dem Augenblicke tanzte ich mit Aufmerkſamkeit und wünſchte ſchön zu tanzen. Wie es kam, daß auch dieſe Knaben unter allen andern mich vorzüglich bemerkten? — Genug in der erſten Stunde217 waren wir die beſten Freunde, und die kleine Luſtbarkeit ging noch nicht zu Ende, ſo hat¬ ten wir ſchon ausgemacht, wo wir uns näch¬ ſtens wieder ſehen wollten. Eine große Freu¬ de für mich! aber ganz entzückt war ich, als beyde den andern Morgen jeder in einem gallanten Billet, das mit einem Blumen¬ ſtrauß begleitet war, ſich nach meinem Be¬ finden erkundigten. So fühlte ich nie mehr, wie ich da fühlte! Artigkeiten wurden mit Artigkeiten, Briefchen mit Briefchen erwiedert. Kirche und Promenaden wurden von nun an zu Rendesvous; unſre jungen Bekannten lu¬ den uns ſchon jederzeit zuſammen ein, wir aber waren ſchlau genug, die Sache derge¬ ſtalt zu verdecken, daß die Eltern nicht mehr davon einſahen, als wir für gut hielten.
Nun hatte ich auf einmal zwey Liebhaber bekommen. Ich war für keinen entſchieden; ſie gefielen mir beyde, und wir ſtanden aufs218 beſte zuſammen. Auf einmal ward der Äl¬ teſte ſehr krank, ich war ſelbſt ſchon oft ſehr krank geweſen und wußte dem Leidenden durch Überſendung mancher Artigkeiten und für einen Kranken ſchicklicher Leckerbiſſen zu erfreuen, daß ſeine Eltern die Aufmerkſam¬ keit dankbar erkannten, der Bitte des lieben Sohns Gehör gaben und mich ſammt mei¬ nen Schweſtern, ſo bald er nur das Bette verlaſſen hatte, zu ihm einluden. Die Zärt¬ lichkeit, womit er mich empfing, war nicht kin¬ diſch, und von dem Tage an war ich für ihn entſchieden. Er warnte mich gleich, vor ſei¬ nem Bruder geheim zu ſeyn; allein das Feuer war nicht mehr zu verbergen, und die Ei¬ ferſucht des Jüngſten machte den Roman vollkommen. Er ſpielte uns tauſend Strei¬ che, mit Luſt vernichtete er unſre Freude, und vermehrte dadurch die Leidenſchaft, die er zu zerſtören ſuchte.
219Nun hatte ich denn wirklich das gewünſchte Schäfchen gefunden, und dieſe Leidenſchaft hatte wie ſonſt eine Krankheit die Wirkung auf mich, daß ſie mich ſtill machte und mich von der ſchwärmenden Freude zurück zog. Ich war einſam und gerührt und Gott fiel mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter, und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten anhielt.
So viel kindiſches in dem Vorgang war, ſo viel trug er zur Bildung meines Herzens bey. Unſerm franzöſiſchen Sprachmeiſter mu߬ ten wir täglich, ſtatt der ſonſt gewöhnlichen Überſetzung, Briefe von unſrer eignen Erfin¬ dung ſchreiben. Ich brachte meine Liebesge¬ ſchichte unter dem Namen Phyllis und Da¬ mon zu Markte. Der Alte ſah bald durch, und, um mich treuherzig zu machen, lobte er meine Arbeit gar ſehr. Ich wurde immer220 kühner, ging offenherzig heraus und war bis ins Detail der Wahrheit getreu. Ich weiß nicht mehr, bey welcher Stelle er einſt Gele¬ genheit nahm, zu ſagen: wie das artig, wie das natürlich iſt! Aber die gute Phillis mag ſich in Acht nehmen, es kann bald ernſthaft werden.
Mich verdroß, daß er die Sache nicht ſchon für ernſthaft hielt, und fragte ihn pi¬ quirt, was er unter ernſthaft verſtehe? Er ließ ſich nicht zweymal fragen, und erklärte ſich ſo deutlich, daß ich meinen Schrecken kaum verbergen konnte. Doch da ſich gleich darauf bey mir der Verdruß einſtellte, und ich ihm übel nahm, daß er ſolche Gedanken hegen könne, faßte ich mich, wollte meine Schöne rechtfertigen und ſagte mit feuerro¬ then Wangen: aber mein Herr, Phyllis iſt ein ehrbares Mädchen.
Nun war er boshaft genug, mich mit221 meiner ehrbaren Heldin aufzuziehen, und, in¬ dem wir franzöſiſch ſprachen, mit dem » hone¬ te » zu ſpielen, um die Ehrbarkeit der Phyl¬ lis durch alle Bedeutungen durchzuführen. Ich fühlte das Lächerliche und war äußerſt verwirrt. Er, der mich nicht furchtſam ma¬ chen wolte, brach ab, brachte aber das Ge¬ ſpräch bey andern Gelegenheiten wieder auf die Bahn. Schauſpiele und kleine Geſchich¬ ten, die ich bey ihm las und überſetzte, ga¬ ben ihm oft Anlaß zu zeigen, was für ein ſchwacher Schutz die ſogenannte Tugend ge¬ gen die Aufforderungen eines Affeckts ſey. Ich widerſprach nicht mehr, ärgerte mich aber immer heimlich, und ſeine Anmerkungen wur¬ den mir zur Laſt.
Mit meinem guten Damon kam ich nach und nach aus aller Verbindung. Die Chi¬ kanen des jüngſten hatten unſern Umgang zerriſſen. Nicht lange Zeit darauf ſtarben222 beyde blühende Jünglinge. Es that mir weh, aber bald waren ſie vergeſſen.
Phyllis wuchs nun ſchnell heran, war ganz geſund und fing an die Welt zu ſehen. Der Erbprinz vermählte ſich und trat bald darauf nach dem Tode ſeines Vaters die Re¬ gierung an. Hof und Stadt waren in leb¬ hafter Bewegung. Nun hatte meine Neu¬ gierde mancherley Nahrung. Nun gab es Comödien, Bälle und was ſich daran an¬ ſchließt, und ob uns gleich die Eltern ſo viel als möglich zurück hielten, ſo mußte man doch bey Hof, wo ich eingeführt war, erſchei¬ nen. Die Fremden ſtrömten herbey, in allen Häuſern war große Welt, an uns ſelbſt wa¬ ren einige Cavaliere empfohlen und andre introduzirt, und bey meinem Oheim waren alle Nationen anzutreffen.
Mein ehrlicher Mentor fuhr fort, mich auf eine beſcheidene und doch treffende Weiſe223 zu warnen, und ich nahm es ihm immer heimlich übel. Ich war keinesweges von der Wahrheit ſeiner Behauptung überzeugt, und vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬ leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬ len Umſtänden für ſo ſchwach zu halten; aber er redete zugleich ſo zudringlich, daß mir einſt bange wurde, er möchte Recht ha¬ ben, da ich denn ſehr lebhaft zu ihm ſagte: weil die Gefahr ſo groß und das menſchliche Herz ſo ſchwach iſt, ſo will ich Gott bitten, daß er mich bewahre.
Die naive Antwort ſchien ihn zu freuen; er lobte meinen Vorſatz; aber es war bey mir nichts weniger als ernſtlich gemeynt; diesmal war es nur ein leeres Wort; denn die Empfindungen für den Unſichtbaren wa¬ ren bey mir faſt ganz verloſchen. Der große Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerſtreute mich und riß mich wie ein ſtarker Strom mit224 fort. Es waren die leerſten Jahre meines Lebens. Tagelang von nichts zu reden, kei¬ nen geſunden Gedanken zu haben, und nur zu ſchwärmen, das war meine Sache. Nicht einmal der geliebten Bücher wurde gedacht. Die Leute, mit denen ich umgeben war, hat¬ ten keine Ahndung von Wiſſenſchaften; es waren deutſche Hofleute und dieſe Klaſſe hatte damals nicht die mindeſte Kultur.
Ein ſolcher Umgang, ſollte man denken, hätte mich an den Rand des Verderbens führen müſſen. Ich lebte in ſinnlicher Mun¬ terkeit nur ſo hin, ich ſammlete mich nicht, ich betete nicht, ich dachte nicht an mich noch an Gott; aber ich ſeh es als eine Führung an, daß mir keiner von den vielen ſchönen, reichen und wohlgekleideten Männern gefiel. Sie waren liederlich und verſteckten es nicht, das ſchreckte mich zurück; ihr Geſpräch zier¬ ten ſie mit Zweydeutigkeiten, das beleidigtemich225mich und ich hielt mich kalt gegen ſie; ihre Unart überſtieg manchmal allen Glauben, und ich erlaubte mir, grob zu ſeyn.
Überdieß hatte mir mein Alter einmal vertraulich eröffnet, daß mit den meiſten die¬ ſer leidigen Burſche nicht allein die Tugend ſondern auch die Geſundheit eines Mädchens in Gefahr ſey. Nun graute mir erſt vor ihnen, und ich war ſchon beſorgt, wenn mir einer auf irgend eine Weiſe zu nahe kam. Ich hüthete mich vor Gläſern und Taſſen wie vor dem Stuhle, von dem einer aufge¬ ſtanden war. Auf dieſe Weiſe war ich mo¬ raliſch und phyſiſch ſehr iſolirt, und alle die Artigkeiten, die ſie mir ſagten, nahm ich ſtolz für ſchuldigen Weyrauch auf.
Unter den Fremden, die ſich damals bey uns aufhielten, zeichnete ſich ein junger Mann beſonders aus, den wir im Scherz Narciß nannten. Er hatte ſich in der diplomati¬W. Meiſters Lehrj. 3. P226ſchen Laufbahn guten Ruf erworben, und hoffte bey den verſchiedenen Veränderungen, die an unſern neuen Hofe vorgingen, vor¬ theilhaft placirt zu werden. Er ward mit meinem Vater bald bekannt, und ſeine Kennt¬ niſſe und ſein Betragen öffneten ihm den Weg in eine geſchloſſene Geſellſchaft der wür¬ digſten Männer. Mein Vater ſprach viel zu ſeinem Lobe, und ſeine ſchöne Geſtalt hät¬ te noch mehr Eindruck gemacht, wenn ſein ganzes Weſen nicht eine Art von Selbſtge¬ fälligkeit gezeigt hätte. Ich hatte ihn geſe¬ hen, dachte gut von ihm, aber wir hatten uns nie geſprochen.
Auf einem großen Balle, auf dem er ſich auch befand, tanzten wir eine Menuet zu¬ ſammen; auch das ging ohne nähere Be¬ kanntſchaft ab. Als die heftigen Tänze an¬ gingen, die ich meinem Vater zu liebe, der für meine Geſundheit beſorgt war, zu ver¬227 meiden pflegte, begab ich mich in ein Neben¬ zimmer, und unterhielt mich mit ältern Freun¬ dinnen, die ſich zum Spiele geſetzt hatten.
Narciß, der eine Weile mit herumgeſprun¬ gen war, kam auch einmal in das Zimmer, in dem ich mich befand, und fing, nachdem er ſich von einem Naſenbluten, das ihn beym Tanzen überfiel, erhohlt hatte, mit mir über mancherley zu ſprechen an. Binnen einer halben Stunde war der Discours ſo inte¬ reſſant, ob ſich gleich keine Spur von Zärt¬ lichkeit drein miſchte, daß wir nun beyde das Tanzen nicht mehr vertragen konnten. Wir wurden bald von den andern darüber ge¬ neckt, ohne daß wir uns dadurch irre machen ließen. Den andern Abend konnten wir un¬ ſer Geſpräch wieder anknüpfen und ſchonten unſre Geſundheit ſehr.
Nun war die Bekanntſchaft gemacht. Narciß wartete mir und meinen SchweſternP 2228auf, und nun fing ich erſt wiede ran gewahr zu werden, was ich alles wußte, worüber ich gedacht, was ich empfunden hatte, und wor¬ über ich mich im Geſpräche auszudrücken verſtand. Mein neuer Freund, der von je¬ her in der beſten Geſellſchaft geweſen war, hatte außer dem hiſtoriſchen und politiſchen Fache, das er ganz überſah, ſehr ausgebreite¬ te literariſche Kenntniſſe, und ihm blieb nichts Neues, beſonders was in Frankreich herauskam, unbekannt. Er brachte und ſen¬ dete mir manch angenehmes und nützliches Buch, doch das mußte geheimer als ein ver¬ botenes Liebesverſtändniß gehalten werden. Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich gemacht, und man wollte auch die unterrich¬ teten nicht leiden, wahrſcheinlich, weil man für unhöflich hielt, ſo viel unwiſſende Män¬ ner beſchämen zu laſſen. Selbſt mein Vater, den dieſe neue Gelegenheit, meinen Geiſt aus¬229 zubilden, ſehr erwünſcht war, verlangte aus¬ drücklich, daß dieſes literariſche Commerz ein Geheimniß bleiben ſollte.
So währte unſer Umgang beynahe Jahr und Tag, und ich konnte nicht ſagen, daß Narciß auf irgend eine Weiſe Liebe oder Zärtlichkeit gegen mich geäußert hätte. Er blieb artig und verbindlich, aber zeigte kei¬ nen Affekt, vielmehr ſchien der Reiz meiner jüngſten Schweſter, die damals außerordent¬ lich ſchön war, ihn nicht gleichgültig zu laſ¬ ſen. Er gab ihr im Scherze allerley freund¬ liche Namen aus fremden Sprachen, deren mehrere er ſehr gut ſprach, und deren eigen¬ thümliche Redensarten er gern ins deutſche Geſpräch miſchte. Sie erwiederte ſeine Ar¬ tigkeiten nicht ſonderlich; ſie war von einem andern Fädchen gebunden, und da ſie über¬ haupt ſehr raſch und er empfindlich war, ſo wurden ſie nicht ſelten über Kleinigkeiten230 uneins. Mit der Mutter und den Tanten wußte er ſich gut zu halten, und ſo war er nach und nach ein Glied der Familie ge¬ worden.
Wer weiß wie lange wir noch auf dieſe Weiſe fortgelebt hätten, hätte nicht ein ſon¬ derbarer Zufall unſere Verhältniſſe auf ein¬ mal verändert. Ich ward mit meinen Schwe¬ ſtern in ein gewiſſes Haus gebeten, wohin ich nicht gerne ging. Die Geſellſchaft war zu gemiſcht, und es fanden ſich dort oft Menſchen, wo nicht vom rohſten doch vom plattſten Schlage mit ein; dießmal war Narciß auch mit geladen, und um ſeinet¬ willen war ich geneigt hin zu gehen; denn ich war doch gewiß jemanden zu finden, mit dem ich mich auf meine Weiſe unterhalten konnte. Schon bey Tafel hatten wir man¬ ches auszuſtehen, denn einige Männer hat¬ ten ſtark getrunken; nach Tiſche ſollten und231 mußten Pfänder geſpielt werden. Es ging dabey ſehr rauſchend und lebhaft zu. Nar¬ ciß hatte ein Pfand zu löſen; man gab ihm auf, der ganzen Geſellſchaft etwas ins Ohr zu ſagen, das jedermann angenehm wäre. Er mochte ſich bey meiner Nachbarin, der Frau eines Hauptmanns, zu lange verwei¬ len. Auf einmal gab ihm dieſer eine Ohr¬ feige, daß mir, die ich gleich daran ſaß, der Puder in die Augen flog. Als ich die Au¬ gen ausgewiſcht und mich vom Schrecken ei¬ nigermaßen erholt hatte, ſah ich beyde Män¬ ner mit bloßen Degen. Narciß blutete, und der andere, außer ſich von Wein, Zorn und Eiferſucht, konnte kaum von der ganzen übrigen Geſellſchaft zurück gehalten werden. Ich nahm Narciſſen beym Arm und führte ihn zur Thüre hinaus eine Treppe hinauf in ein ander Zimmer, und weil ich meinen232 Freund vor ſeinem tollen Gegner nicht ſicher glaubte, riegelte ich die Thüre ſogleich zu.
Wir hielten beyde die Wunde nicht für ernſthaft, denn wir ſahen nur einen leichten Hieb über die Hand; bald aber wurden wir einen Strom von Blut, der den Rücken hin¬ unterfloß, gewahr, und es zeigte ſich eine große Wunde auf dem Kopfe. Nun ward mir bange. Ich eilte auf den Vorplatz um nach Hülfe zu ſchicken, konnte aber niemand anſichtig werden, denn alles war unten ge¬ blieben, den raſenden Menſchen zu bändigen. Endlich kam eine Tochter des Hauſes her¬ auf geſprungen und ihre Munterkeit ängſtig¬ te mich nicht wenig, da ſie ſich über den tol¬ len Spectakel und über die verfluchte Co¬ mödie faſt zu Tode lachen wollte. Ich bat ſie dringend mir einen Wundarzt zu ſchaffen, und ſie, nach ihrer wilden Art, ſprang gleich die Treppe hinunter, ſelbſt einen zu hohlen.
233Ich ging wieder zu meinem Verwunde¬ ten, band ihm mein Schnupftuch um die Hand und ein Handtuch das an der Thüre hing, um den Kopf. Er blutete noch immer heftig, kein Wundarzt kam, der Verwunde¬ te erblaßte und ſchien in Ohnmacht zu ſin¬ ken. Niemand war in der Nähe, der mir hätte beyſtehen können; ich nahm ihn ſehr ungezwungen in den Arm und ſuchte ihn durch Streicheln und Schmeicheln aufzumun¬ tern. Es ſchien die Wirkung eines geiſtigen Lebensmittels zu thun; er blieb bey ſich, aber ſaß todtenbleich da.
Nun kam endlich die thätige Hausfrau und wie erſchrak ſie nicht, als ſie den Freund in dieſer Geſtalt in meinen Armen liegen und uns alle beyde mit Blut überſtrömt ſahe, denn niemand hatte ſich vorgeſtellt, daß Narciß verwundet ſey, alle meynten, ich habe ihn glücklich hinaus gebracht.
134[234]Nun war Wein, wohlriechendes Waſſer und was nur erquicken und[erfriſchen] konn¬ te, im Überfluß da, nun kam auch der Wund¬ arzt und ich hätte wohl abtreten können; allein Narciß hielt mich feſt bey der Hand, und ich wäre ohne gehalten zu werden ſte¬ hen geblieben. Ich fuhr während des Ver¬ bandes fort, ihn mit Wein anzuſtreichen und achtete es wenig, daß die ganze Geſellſchaft nunmehr umher ſtand. Der Wundarzt hat¬ te geendigt, der Verwundete nahm einen ſtummen verbindlichen Abſchied von mir und wurde nach Hauſe getragen.
Nun führte mich die Hausfrau in ihr Schlafzimmer; ſie mußte mich ganz ausklei¬ den und ich darf nicht verſchweigen, daß ich, da man ſein Blut von meinem Körper ab¬ wuſch, zum erſtenmal zufällig im Spiegel gewahr wurde, daß ich mich auch ohne Hül¬ le für ſchön halten durfte. Ich konnte kei¬235 nes meiner Kleidungsſtücke wieder anziehn, und da die Perſonen im Hauſe alle kleiner oder ſtärker waren als ich, ſo kam ich in ei¬ ner ſeltſamen Verkleidung zum größten Er¬ ſtaunen meiner Eltern nach Hauſe. Sie wa¬ ren über mein Schrecken, über die Wunden des Freundes, über den Unſinn des Haupt¬ manns, über den ganzen Vorfall äußerſt verdrießlich. Wenig fehlte, ſo hätte mein Va¬ ter ſelbſt, ſeinen Freund auf der Stelle zu rächen, den Hauptmann heraus gefordert. Er ſchalt die anweſenden Herren, daß ſie ein ſolches meuchelmörderiſches Beginnen nicht auf der Stelle geahndet; denn es war nur zu offenbar, daß der Hauptmann ſogleich, nachdem er geſchlagen, den Degen gezogen und Narciſſen von hinten verwundet habe; der Hieb über die Hand war erſt geführt worden, als Narciß ſelbſt zum Degen griff. Ich war unbeſchreiblich alterirt und afficirt,236 oder wie ſoll ich es ausdrücken; der Affekt, der im tiefſten Grunde des Herzens ruhte, war auf einmal losgebrochen, wie eine Flam¬ me die Luft bekömmt. Und wenn Luſt und Freude ſehr geſchickt ſind, die Liebe zuerſt zu erzeugen und im Stillen zu nähren; ſo wird ſie, die von Natur herzhaft iſt, durch den Schrecken am leichteſten angetrieben, ſich zu entſcheiden und zu erklären. Man gab dem Töchterchen Arzney ein und legte es zu Bet¬ te. Mit dem frühſten Morgen eilte mein Vater zu dem verwundeten Freund, der an einem ſtarken Wundfieber recht krank dar¬ nieder lag.
Mein Vater ſagte mir wenig von dem, was er mit ihm geredet hatte, und ſuchte mich wegen der Folgen, die dieſer Vorfall haben könnte, zu beruhigen. Es war die Rede, ob man ſich mit einer Abbitte begnü¬ gen könne, ob die Sache gerichtlich werden237 müſſe und was dergleichen mehr war. Ich kannte meinen Vater zu wohl, als daß ich ihm geglaubt hätte, daß er dieſe Sache ohne Zweykampf geendigt zu ſehen wünſchte; al¬ lein ich blieb ſtill, denn ich hatte von mei¬ nem Vater früh gelernt, daß Weiber in ſol¬ che Händel ſich nicht zu miſchen hätten. Übrigens ſchien es nicht, als wenn zwiſchen den beyden Freunden etwas vorgefallen wä¬ re, das mich betroffen hätte; doch bald ver¬ traute mein Vater den Inhalt ſeiner wei¬ tern Unterredung meiner Mutter. Narciß, ſagte er, ſey äußerſt gerührt von meinem ge¬ leiſteten Beyſtand, habe ihn umarmt, ſich für meinen ewigen Schuldner erklärt, be¬ zeigt, er verlange kein Glück, wenn er es nicht mit mir theilen ſollte, er habe ſich die Erlaubniß ausgebeten, ihn als Vater anſehn zu dürfen. Mama ſagte mir das alles treu¬ lich wieder, hängte aber die wohlmeynende238 Erinnerung daran, auf ſo etwas, das in der erſten Bewegung geſagt worden, dürfe man ſo ſehr nicht achten. Ja freylich, antworte¬ te ich mit angenommener Kälte, und fühlte der Himmel weiß was und wieviel dabey.
Narciß blieb zwey Monate krank, konn¬ te wegen der Wunde an der rechten Hand nicht einmal ſchreiben, bezeigte mir aber in¬ zwiſchen ſein Andenken durch die verbindlich¬ ſte Aufmerkſamkeit. Alle dieſe mehr als ge¬ wöhnliche Höflichkeiten hielt ich mit dem, was ich von der Mutter erfahren hatte, zu¬ ſammen, und beſtändig war mein Kopf vol¬ ler Grillen. Die ganze Stadt unterhielt ſich von der Begebenheit. Man ſprach mit mir davon in einem beſondern Tone, man zog Folgerungen daraus, die, ſo ſehr ich ſie abzulehnen ſuchte, mir immer ſehr nahe gin¬ gen. Was vorher Tändeley und Gewohn¬ heit geweſen war, ward nun Ernſt und Nei¬239 gung. Die Unruhe in der ich lebte, war um ſo heftiger, je ſorgfältiger ich ſie vor al¬ len Menſchen zu verbergen ſuchte. Der Ge¬ danke ihn zu verlieren, erſchreckte mich und die Möglichkeit einer nähern Verbindung machte mich zittern. Der Gedanke des Ehe¬ ſtandes hat für ein halbkluges Mädchen ge¬ wiß etwas Schreckhaftes.
Durch dieſe heftigen Erſchütterungen ward ich wieder an mich ſelbſt erinnert. Die bun¬ ten Bilder eines zerſtreuten Lebens, die mir ſonſt Tag und Nacht vor den Augen ſchweb¬ ten, waren auf einmal weggeblaſen. Meine Seele fing wieder an ſich zu regen; allein die ſehr unterbrochene Bekanntſchaft mit dem unſichtbaren Freunde war ſo leicht nicht wie¬ der hergeſtellt. Wir blieben noch immer in ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas, aber gegen ſonſt ein großer Unterſchied.
Ein Zweykampf, worin der Hauptmann240 ſtark verwundet wurde, war vorüber, ohne daß ich etwas davon erfahren hatte, und die öffentliche Meynung war in jedem Sin¬ ne auf der Seite meines Geliebten, der end¬ lich wieder auf dem Schauplatze erſchien. Vor allen Dingen ließ er ſich mit verbund¬ nem Haupt und eingewickelter Hand in un¬ ſer Haus tragen. Wie klopfte mir das Herz bey dieſem Beſuche! Die ganze Familie war gegenwärtig; es blieb auf beyden Sei¬ ten nur bey allgemeinen Dankſagungen und Höflichkeiten, doch fand er Gelegenheit mir einige geheime Zeichen ſeiner Zärtlichkeit zu geben, wodurch meine Unruhe nur zu ſehr vermehrt ward. Nachdem er ſich völlig wie¬ der erhohlt, beſuchte er uns den ganzen Win¬ ter auf eben dem Fuß wie ehemals, und bey allen leiſen Zeichen von Empfindung und Liebe, die er mir gab, blieb alles unerörtert.
Auf dieſe Weiſe ward ich in ſteter Übunggehal¬241gehalten. Ich konnte mich keinem Menſchen vertrauen und von Gott war ich zu weit entfernt. Ich hatte dieſen während vier wil¬ der Jahre ganz vergeſſen, nun dachte ich dann und wann wieder an ihn, aber die Bekanntſchaft war erkaltet; es waren nur Cerimonienviſiten, die ich ihm machte, und da ich überdies, wenn ich vor ihm erſchien, immer ſchöne Kleider anlegte, meine Tugend, Ehrbarkeit und Vorzüge, die ich vor andern zu haben glaubte, ihm mit Zufriedenheit vorwies; ſo ſchien er mich in dem Schmucke gar nicht zu bemerken.
Ein Höfling würde, wenn ſein Fürſt, von dem er ſein Glück erwartet, ſich ſo gegen ihn betrüge, ſehr beunruhigt werden; mir aber war nicht übel dabey zu Muthe, ich hatte was ich brauchte, Geſundheit und Bequem¬ lichkeit, wollte ſich Gott mein Andenken ge¬ fallen laſſen, ſo war es gut, wo nicht, ſoW. Meiſters Lehrj. 3. Q242glaubte ich doch meine Schuldigkeit gethan zu haben.
So dachte ich freylich damals nicht von mir; aber es war doch die wahrhafte Geſtalt meiner Seele. Meine Geſinnungen zu än¬ dern und zu reinigen waren aber auch ſchon Anſtalten gemacht.
Der Frühling kam heran, und Narciß be¬ ſuchte mich unangemeldet zu einer Zeit, da ich ganz allein zu Hauſe war. Nun erſchien er als Liebhaber und fragte mich, ob ich ihm mein Herz, und wenn er eine ehrenvolle, wohlbeſoldete Stelle erhielte, auch dereinſt meine Hand ſchenken wollte?
Man hatte ihn zwar in unſre Dienſte genommen; allein zum Anfange hielt man ihn, weil man ſich vor ſeinem Ehrgeiz fürch¬ tete, mehr zurück, als daß man ihn ſchnell em¬ por gehoben hätte und ließ ihn, weil er eignes Vermögen hatte, bey einer kleinen Beſoldung.
243Bey aller meiner Neigung zu ihm wußte ich, daß er der Mann nicht war, mit dem man ganz gerade handeln konnte. Ich nahm mich daher zuſammen und verwies ihn an meinen Vater, an deſſen Einwilligung er nicht zu zweifeln ſchien, und mit mir erſt auf der Stelle einig ſeyn wollte. Endlich ſagte ich Ja, indem ich die Beyſtimmung meiner Eltern zur nothwendigen Bedingung machte. Er ſprach alsdann mit beyden förmlich; ſie zeigten ihre Zufriedenheit, man gab ſich das Wort auf den bald zu hoffenden Fall, daß man ihn weiter avanciren werde. Schwe¬ ſtern und Tanten wurden davon benachrich¬ tigt, und ihnen das Geheimnis auf das ſtrengſte anbefohlen.
Nun war aus einem Liebhaber ein Bräu¬ tigam geworden. Die Verſchiedenheit zwi¬ ſchen beyden zeigte ſich ſehr groß. Könnte jemand die Liebhaber aller wohldenkendenQ 2244Mädchen in Bräutigame verwandeln, ſo wäre es eine große Wohlthat für unſer Ge¬ ſchlecht, ſelbſt wenn auf dieſes Verhältniß keine Ehe erfolgen ſollte. Die Liebe zwiſchen beyden Perſonen nimmt dadurch nicht ab, aber ſie wird vernünftiger. Unzählige kleine Thorheiten, alle Koketterien und Launen fal¬ len gleich hinweg. Äußert uns der Bräuti¬ gam, daß wir ihm in einer Morgenhaube beſſer als in dem ſchönſten Aufſatze gefallen, dann wird einem wohldenkenden Mädchen gewiß die Friſur gleichgültig, und es iſt nichts natürlicher, als daß er auch ſolid denkt und lieber ſich eine Hausfrau als der Welt eine Putzdocke zu bilden wünſcht. Und ſo geht es durch alle Fächer durch.
Hat ein ſolches Mädchen dabey das Glück, daß ihr Bräutigam Verſtand und Kenntniſſe beſitzt, ſo lernt ſie mehr als hohe Schulen und fremde Länder geben können. 245Sie nimmt nicht nur alle Bildung gern an, die er ihr giebt, ſondern ſie ſucht ſich auch auf dieſem Wege ſo immer weiter zu bringen. Die Liebe macht vieles Unmögliche möglich, und endlich geht die dem weiblichen Geſchlecht ſo nöthige und anſtändige Unterwerfung ſogleich an; der Bräutigam herrſcht nicht wie der Ehemann; er bittet nur, und ſeine Geliebte ſucht ihm abzumerken, was er wünſcht, um es noch eher zu vollbringen als er bittet.
So hat mich die Erfahrung gelehrt, was ich nicht um vieles miſſen möchte. Ich war glücklich, wahrhaft glücklich, wie man es in der Welt ſeyn kann, daß heißt, auf kurze Zeit.
Ein Sommer ging unter dieſen ſtillen Freuden hin. Narciß gab mir nicht die min¬ deſte Gelegenheit zu Beſchwerden; er ward mir immer lieber, meine ganze Seele hing an ihm, das wußte er wohl und wußte es246 zu ſchätzen. Inzwiſchen entſpann ſich aus anſcheinenden Kleinigkeiten etwas, das un¬ ſerm Verhältniſſe nach und nach ſchädlich wurde
Narciß ging als Bräutigam mit mir um, und nie wagte er es, das von mir zu begeh¬ ren, was uns noch verboten war. Allein über die Grenzen der Tugend und Sittſam¬ keit waren wir ſehr verſchiedener Meynung. Ich wollte ſicher gehen und erlaubte durch¬ aus keine Freyheit, als welche allenfalls die ganze Welt hätte wiſſen dürfen. Er, an Näſchereyen gewöhnt, fand dieſe Diät ſehr ſtreng; hier ſetzte es nun beſtändigen Wider¬ ſpruch; er lobte mein Verhalten und ſuchte meinen Entſchluß zu untergraben.
Mir fiel das ernſthaft meines alten Sprachmeiſters wieder ein, und zugleich das Hülfsmittel, das ich damals dagegen ange¬ geben hatte.
247Mit Gott war ich wieder ein wenig be¬ kannter geworden. Er hatte mir ſo einen lieben Bräutigam gegeben und dafür wußte ich ihm Dank. Die irdiſche Liebe ſelbſt con¬ centrirte meinen Geiſt und ſetzte ihn in Be¬ wegung, und meine Beſchäftigung mit Gott widerſprach ihr nicht. Ganz natürlich klagte ich ihm, was mich bange machte, und bemerkte nicht, daß ich ſelbſt das, was mich bange mach¬ te, wünſchte und begehrte. Ich kam mir ſehr ſtark vor und betete nicht etwa: bewahre mich vor Verſuchung, über die Verſuchung war ich meinen Gedanken nach weit hinaus. In dieſem loſen Flitterſchmuck eigner Tugend erſchien ich dreiſt vor Gott; er ſtieß mich nicht weg, auf die geringſte Bewegung zu ihm hinterließ er einen ſanften Eindruck in meiner Seele, und dieſer Eindruck bewegte mich ihn immer wieder aufzuſuchen.
Die ganze Welt war mir auſſer Narciſ¬248 ſen todt, nichts hatte außer ihm einen Reiz für mich. Selbſt meine Liebe zum Putz hatte nur den Zweck, ihm zu gefallen; wußte ich, daß er mich nicht ſah, ſo konnte ich keine Sorgfalt darauf wenden. Ich tanzte gern, wenn er aber nicht dabey war, ſo ſchien mir, als wenn ich die Bewegung nicht vertragen könnte. Auf ein brillantes Feſt, bey dem er nicht zugegen war, konnte ich mir weder etwas neues anſchaffen, noch das alte der Mode gemäß aufſtutzen. Einer war mir ſo lieb als der andere, doch möchte ich lieber ſagen, einer ſo läſtig als der andere. Ich glaubte meinen Abend recht gut zugebracht zu haben, wenn ich mir mit ältern Perſonen ein Spiel ausmachen konnte, wozu ich ſonſt nicht die mindeſte Luſt hatte, und wenn ein alter gu¬ ter Freund mich etwa ſcherzhaft darüber aufzog, lächelte ich vielleicht das erſtemal den ganzen Abend. So ging es mit Pro¬249 menaden und allen geſellſchaftlichen Vergnü¬ gungen, die ſich nur denken laſſen:
So war ich oft in der Geſellſchaft ein¬ ſam, und die völlige Einſamkeit war mir meiſtens lieber. Allein mein geſchäftiger Geiſt konnte weder ſchlafen noch träumen; ich fühlte und dachte und erlangte nach und nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindun¬ gen und Gedanken mit Gott zu reden. Da entwickelten ſich Empfindungen anderer Art in meiner Seele, die jenen nicht widerſpra¬ chen. Denn meine Liebe zu Narciß war dem ganzen Schöpfungsplane gemäß und ſtieß nirgend gegen meine Pflichten an. Sie wi¬ derſprachen ſich nicht und waren doch unend¬ lich verſchieden. Narciß war das einzige250 Bild, das mir vorſchwebte, auf das ſich meine ganze Liebe bezog; aber das andere Gefühl bezog ſich auf kein Bild und war unaus¬ ſprechlich angenehm. Ich habe es nicht mehr und kann es mir nicht mehr geben.
Mein Geliebter, der ſonſt alle meine Ge¬ heimniſſe wußte, erfuhr nichts hiervon. Ich merkte bald daß er anders dachte; er gab mir öfters Schriften, die alles, was man Zu¬ ſammenhang mit dem Unſichtbaren heißen kann, mit leichten und ſchweren Waffen be¬ ſtritten. Ich las die Bücher, weil ſie von ihm kamen, und wußte am Ende kein Wort von allem dem, was darin geſtanden hatte.
Über Wiſſenſchaften und Kenntniſſe ging es auch nicht ohne Widerſpruch ab; er machte es wie alle Männer, ſpottete über gelehrte Frauen und bildete unaufhörlich an mir. Über alle Gegenſtände, die Rechtsgelehrſam¬ keit ausgenommen, pflegte er mit mir zu251 ſprechen, und indem er mir Schriften aller¬ ley Art beſtändig zubrachte, wiederholte er oft die bedenkliche Lehre: daß ein Frauen¬ zimmer ſein Wiſſen heimlicher halten müßte, als der Calviniſt ſeinen Glauben im katho¬ liſchen Lande, und indem ich wirklich auf eine ganz natürliche Weiſe vor der Welt mich nicht klüger und unterrichteter als ſonſt zu zeigen pflegte, war er der erſte, der gele¬ gentlich der Eitelkeit nicht widerſtehen konnte, von meinen Vorzügen zu ſprechen.
Ein berühmter und damals wegen ſeines Einfluſſes, ſeiner Talente und ſeines Geiſtes ſehr geſchätzter Weltmann, fand an unſerm Hofe großen Beyfall. Er zeichnete Narciſ¬ ſen beſonders aus und hatte ihn beſtändig um ſich. Sie ſtritten auch über die Tugend der Frauen. Narciß vertraute mir weitläuf¬ tig ihre Unterredung; ich blieb mit meinen Anmerkungen nicht dahinten, und mein Freund252 verlangte von mir einen ſchriftlichen Aufſatz. Ich ſchrieb ziemlich geläufig franzöſiſch; ich hatte bey meinem Alten einen guten Grund gelegt. Die Correſpondenz mit meinem Freunde war in dieſer Sprache geführt, und eine feinere Bildung konnte man überhaupt damals nur aus franzöſiſchen Büchern neh¬ men. Mein Aufſatz hatte dem Grafen ge¬ fallen; ich mußte einige kleine Lieder herge¬ ben, die ich vor kurzen gedichtet hatte. Ge¬ nug, Narciß ſchien ſich auf ſeine Geliebte ohne Rückhalt etwas zu gute zu thun, und die Geſchichte endigte zu ſeiner großen Zu¬ friedenheit mit einer geiſtreichen Epiſtel in franzöſiſchen Verſen, die ihm der Graf bey ſeiner Abreiſe zuſandte, worin ihres freund¬ ſchaftlichen Streites gedacht war, und mein Freund am Ende glücklich geprieſen wurde, daß er nach ſo manchen Zweifeln und Irr¬ thümern in den Armen einer reizenden und253 tugendhaften Gattin, was Tugend ſey, am ſicherſten erfahren würde.
Dieſes Gedicht ward mir vor allen und dann aber auch faſt jederman gezeigt, und jeder dachte dabey was er wollte. So ging es in mehreren Fällen und ſo mußten alle Fremden, die er ſchätzte, in unſerm Hauſe be¬ kannt werden.
Eine gräfliche Familie hielt ſich wegen unſres geſchickten Arztes eine Zeitlang hier auf. Auch in dieſem Hauſe war Narciß wie ein Sohn gehalten; er führte mich da¬ ſelbſt ein, man fand bey dieſen würdigen Perſonen eine angenehme Unterhaltung für Geiſt und Herz, und ſelbſt die gewöhnlichen Zeitvertreibe der Geſellſchaft ſchienen in die¬ ſem Hauſe nicht ſo leer wie anderwärts. Jedermann wußte wie wir zuſammen ſtan¬ den, man behandelte uns, wie es die Um¬ ſtände mit ſich brachten, und ließ das Haupt¬254 verhältniß unberührt. Ich erwähne dieſer einen Bekanntſchaft, weil ſie in der Folge meines Lebens manchen Einfluß auf mich hatte.
Nun war faſt ein Jahr unſerer Verbin¬ dung verſtrichen, und mit ihm war auch unſer Frühling dahin. Der Sommer kam, und alles wurde ernſthafter und heißer.
Durch einige unerwartete Todesfälle wa¬ ren Ämter erledigt, auf die Narciß Anſpruch machen konnte. Der Augenblick war nahe, in dem ſich mein ganzes Schickſal entſchei¬ den ſollte, und indeß Narciß und alle Freun¬ de ſich bey Hofe die möglichſte Mühe ga¬ ben, gewiſſe Eindrücke, die ihm ungünſtig waren, zu vertilgen, und ihm den erwünſch¬ ten Platz zu verſchaffen, wendete ich mich mit meinem Anliegen zu dem unſichtbaren Freunde. Ich war ſo freundlich aufgenom¬ men, daß ich gern wiederkam. Ganz frey255 geſtand ich meinen Wunſch, Narciß möchte zu der Stelle gelangen; allein meine Bitte war nicht ungeſtüm, und ich forderte nicht, daß es um meines Gebets willen geſchehen ſollte.
Die Stelle ward durch einen viel gerin¬ geren Concurrenten beſetzt. Ich erſchrak hef¬ tig über die Zeitung, und eilte in mein Zimmer, das ich feſt hinter mir zumachte. Der erſte Schmerz löſte ſich in Thränen auf, der nächſte Gedanke war: es iſt aber doch nicht von ohngefähr geſchehen, und ſogleich folgte die Entſchließung, es mir recht wohl gefallen zu laſſen, weil auch dieſes anſchei¬ nende Übel zu meinem wahren Beſten gerei¬ chen würde. Nun drangen die ſanfteſten Empfindungen, die alle Wolken des Kum¬ mers zertheilten, herbey; ich fühlte, daß ſich mit dieſer Hülfe alles ausſtehn ließ. Ich ging heiter zu Tiſche zum größten Erſtaunen meiner Hausgenoſſen.
256Narciß hatte weniger Kraft als ich, und ich mußte ihn tröſten. Auch in ſeiner Fa¬ milie begegneten ihm Widerwärtigkeiten, die ihn ſehr drückten, und bey dem wahren Vertrauen, das unter uns Statt hatte, ver¬ traute er mir alles. Seine Negotiationen in fremde Dienſte zu gehen, waren auch nicht glücklicher, alles fühlte ich tief um ſeinet - und meinetwillen, und alles trug ich zuletzt an den Ort, wo mein Anliegen ſo wohl auf¬ genommen wurde.
Je ſanfter dieſe Erfahrungen waren, deſto öfter ſuchte ich ſie zu erneuern, und ich ſuch¬ te immer da den Troſt, wo ich ihn ſo oft gefunden hatte; allein ich fand ihn nicht immer, es war mir wie einem, der ſich an der Sonne wärmen will, und dem etwas im Wege ſteht, das Schatten macht. Was iſt das? fragte ich mich ſelbſt. Ich ſpürte der Sache eifrig nach, und bemerkte deutlich,daß257daß alles von der Beſchaffenheit meiner Seele abhing; wenn die nicht ganz in der geradeſten Richtung zu Gott gekehrt war, ſo blieb ich kalt; ich fühlte ſeine Rückwir¬ kung nicht, und konnte ſeine Antwort nicht vernehmen. Nun war die zweyte Frage: was verhindert dieſe Richtung? Hier war ich in einem weiten Felde, und verwickelte mich in eine Unterſuchung, die beynah das ganze zweyte Jahr meiner Liebesgeſchichte fortdauerte. Ich hätte ſie früher endigen können, denn ich kam bald auf die Spur, aber ich wollte es nicht geſtehen, und ſuchte tauſend Ausflüchte.
Ich fand ſehr bald, daß die gerade Rich¬ tung meiner Seele durch thörichte Zerſtreuung und Beſchäftigung mit unwürdigen Sachen geſtöhrt werde; das Wie und Wo war mir bald klar genug. Nun aber wie heraus¬ kommen? in einer Welt wo alles gleichgül¬W. Meiſters Lehrj. 3. R258tig oder toll iſt. Gern hätte ich die Sache an ihren Ort geſtellt ſeyn laſſen, und hätte auf geradewohl hingelebt wie andere Leute auch, die ich ganz wohlauf ſah; allein ich durfte nicht, mein Innres widerſprach mir zu oft. Wollte ich mich der Geſellſchaft ent¬ ziehen und meine Verhältniſſe verändern, ſo konnte ich nicht. Ich war nun einmal in einen Kreis hinein geſperrt; gewiſſe Verbin¬ dungen konnte ich nicht los werden, und in der mir ſo angelegenen Sache drängten und häuften ſich die Fatalitäten. Ich legte mich oft mit Thränen zu Bette, und ſtand nach einer ſchlafloſen Nacht auch wieder ſo auf; ich bedurfte einer kräftigen Unterſtützung, und die verlieh mir Gott nicht, wenn ich mit der Schellenkappe herum lief.
Nun ging es an ein Abwiegen aller und jeder Handlungen; Tanzen und Spielen wurden am erſten in Unterſuchung genom¬259 men. Nie iſt etwas vor oder gegen dieſe Dinge geredet, gedacht,[o]der geſchrieben wor¬ den, das ich nicht aufſuchte, beſprach, las, erwog, vermehrte, verwarf, und mich uner¬ hört herumplagte. Unterließ ich dieſe Dinge, ſo war ich gewiß, Narciſſen zu beleidigen. Denn er fürchtete ſich äußerſt vor dem Lä¬ cherlichen, das uns der Anſchein ängſtlicher Gewiſſenhaftigkeit vor der Welt giebt. Weil ich nun das, was ich für Thorheit, für ſchädliche Thorheit hielt, nicht einmal aus Geſchmack, ſondern blos um ſeinetwillen that, ſo wurde mir alles entſetzlich ſchwer.
Ohne unangenehme Weitläuftigkeiten und Wiederholungen würde ich die Bemühungen nicht darſtellen können, welche ich anwende¬ te, um jene Handlungen, die mich nun ein¬ mal zerſtreuten und meinen innern Frieden ſtöhrten, ſo zu verrichten, daß dabey mein Herz für die Einwirkungen des unſichtbarenR 2260Weſens offen bliebe, und wie ſchmerzlich ich empfinden mußte, daß der Streit auf dieſe Weiſe nicht beygelegt werden könne. Denn ſobald ich mich in das Gewand der Thor¬ heit kleidete, blieb es nicht bloß bey der Maske, ſondern die Narrheit durchdrang mich ſogleich durch und durch.
Darf ich hier das Geſetz einer blos hi¬ ſtoriſchen Darſtellung überſchreiten, und eini¬ ge Betrachtungen über dasjenige machen, was in mir vorging? Was konnte das ſeyn, das meinen Geſchmack und meine Sinnes¬ art ſo änderte, daß ich im zwey und zwan¬ zigſten Jahre, ja früher, kein Vergnügen an Dingen fand, die Leute von dieſem Alter unſchuldig beluſtigen können? Warum wa¬ ren ſie mir nicht unſchuldig? Ich darf wohl antworten: eben weil ſie mir nicht unſchul¬ dig waren, weil ich nicht wie andre meines gleichen unbekannt mit meiner Seele war.
261Nein, ich wußte aus Erfahrungen, die ich ungeſucht erlangt hatte, daß es höhere Em¬ pfindungen gebe, die uns ein Vergnügen wahrhaftig gewährten, das man vergebens bey Luſtbarkeiten ſucht, und daß in dieſen höhern Freuden zugleich ein geheimer Schatz zur Stärkung im Unglück aufbewahrt ſey.
Aber die geſelligen Vergnügungen und Zerſtreuungen der Jugend mußten doch noth¬ wendig einen ſtarken Reiz für mich haben, weil es mir nicht möglich war, ſie zu thun, als thäte ich ſie nicht. Wie manches könnte ich jetzt mit großer Kälte thun, wenn ich nur wollte, was mich damals irre machte, ja Meiſter über mich zu werden drohete. Hier konnte kein Mittelweg gehalten wer¬ den, ich mußte entweder die reizenden Ver¬ gnügungen oder die erquickenden innerlichen Empfindungen entbehren.
Aber ſchon war der Streit in meiner262 Seele ohne mein eigentliches Bewußtſeyn entſchieden. Wenn auch etwas in mir war, das ſich nach den ſinnlichen Freuden hin¬ ſehnte, ſo konnte ich ſie doch nicht mehr ge¬ nießen. Wer den Wein noch ſo ſehr liebt, dem wird alle Luſt zum Trinken vergehen, wenn er ſich bey vollen Fäſſern in einem Keller befände, in welchem die verdorbene Luft ihn zu erſticken drohete. Reine Luft iſt mehr als Wein, das fühlte ich nur zu leb¬ haft, und es hätte gleich von Anfang an wenig Überlegung bey mir gekoſtet, das Gute dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich die Furcht, Narciſſens Gunſt zu verlieren, nicht abgehalten hätte. Aber da ich endlich nach tauſendfältigem Streit, nach immer wiederholter Betrachtung, auch ſcharfe Blicke auf das Band warf, das mich an ihn feſt hielt, entdeckte ich, daß es nur ſchwach war, daß es ſich zerreiſſen laſſe. Ich erkannte265[263] auf einmal, daß es nur eine Glasglocke ſey, die mich in den luftleeren Raum ſperrte; nur noch ſo viel Kraft ſie entzwey zu ſchla¬ gen, und du biſt gerettet.
Gedacht gewagt. Ich zog die Maske ab und handelte jedesmal wie mirs ums Herz war. Narciſſen hatte ich immer zärt¬ lich lieb; aber das Thermometer, das vorher im heißen Waſſer geſtanden, hing nun an der natürlichen Luft; es konnte nicht höher ſteigen, als die Atmoſphäre warm war.
Unglücklicherweiſe erkältete ſie ſich ſehr. Narciß fing an ſich zurück zu ziehen und fremd zu thun, das ſtand ihm frey; aber mein Thermometer fiel, ſo wie er ſich zurück zog. Meine Familie bemerkte es, man be¬ fragte mich, man wollte ſich verwundern. Ich erklärte mit männlichem Trotz, daß ich mich bisher genug aufgeopfert habe, daß ich bereit ſey, noch ferner und bis ans Ende266[264] meines Lebens alle Widerwärtigkeiten mit ihm zu theilen, daß ich aber für meine Hand¬ lungen völlige Freyheit verlange, daß mein Thun und Laſſen von meiner Überzeugung abhängen müſſe; daß ich zwar niemals ei¬ genſinnig auf meiner Meynung beharren, vielmehr jede Gründe gerne anhören wollte, aber da es mein eigenes Glück betreffe, müſ¬ ſe die Entſcheidung von mir abhängen, und keine Art von Zwang würde ich dulden. So wenig das Raiſonnement des größten Arztes mich bewegen würde, eine ſonſt viel¬ leicht ganz geſunde und von vielen ſehr ge¬ liebte Speiſe zu mir zu nehmen, ſo bald mir meine Erfahrung bewieſe, daß ſie mir jeder¬ zeit ſchädlich ſey, wie ich den Gebrauch des Kaffees zum Beyſpiel anführen könnte, ſo wenig und noch viel weniger würde ich mir irgend eine Handlung, die mich verwirrte, als für mich moraliſch zuträglich aufdemon¬ ſtriren laſſen.
267[265]Da ich mich ſo lange im Stillen vorbe¬ reitet hatte, ſo waren mir die Debatten hier¬ über eher angenehm als verdrießlich. Ich machte meinem Herzen Luft, und fühlte den ganzen Werth meines Entſchluſſes. Ich wich nicht ein Haar breit, und wem ich nicht kind¬ lichen Reſpect ſchuldig war, der wurde derb abgefertigt. In meinem Hauſe ſiegte ich bald. Meine Mutter hatte von Jugend auf ähnliche Geſinnungen, nur waren ſie bey ihr nicht zur Reife gediehen; keine Noth hatte ſie gedrängt, und den Muth ihre Über¬ zeugung durchzuſetzen erhöht. Sie freute ſich durch mich ihre ſtillen Wünſche erfüllt zu ſehen. Die jüngere Schweſter ſchien ſich an mich anzuſchließen; die zweyte war auf¬ merkſam und ſtill. Die Tante hatte am meiſten einzuwenden. Die Gründe, die ſie vorbrachte, ſchienen ihr unwiderleglich, und waren es auch, weil ſie ganz gemein waren. 268[266]Ich war endlich genöthigt, ihr zu zeigen, daß ſie in keinem Sinne eine Stimme in dieſer Sache habe, und ſie ließ nur ſelten merken, daß ſie auf ihrem Sinne verharre. Auch war ſie die einzige, die dieſe Begebenheit von nahen anſah und ganz ohne Empfin¬ dung blieb. Ich thue ihr nicht zu viel, wenn ich ſage, daß ſie kein Gemüth und die eingeſchränkteſten Begriffe hatte.
Der Vater benahm ſich ganz ſeiner Denk¬ art gemäß. Er ſprach wenig, aber öfter mit mir über die Sache, und ſeine Gründe wa¬ ren verſtändig, und als ſeine Gründe un¬ widerleglich; nur das tiefe Gefühl meines Rechts gab mir Stärke, gegen ihn zu diſpu¬ tiren. Aber bald veränderten ſich dieſe Sce¬ nen; ich mußte an ſein Herz Anſpruch ma¬ chen. Gedrängt von ſeinem Verſtande brach ich in die affektvollſten Vorſtellungen aus. Ich ließ meiner Zunge und meinen Thränen269[267] freyen Lauf. Ich zeigte ihm, wie ſehr ich Narciſſen liebte, und welchen Zwang ich mir ſeit zwey Jahren angethan hatte, wie ge¬ wiß ich ſey, daß ich recht handle, daß ich bereit ſey dieſe Gewißheit mit dem Verluſt des geliebten Bräutigams und anſcheinenden Glücks, ja wenn es nöthig wäre, mit Haab und Gut zu verſiegeln; daß ich lieber mein Vaterland, Eltern und Freunde verlaſſen, und mein Brod in der Fremde verdienen, als gegen meine Einſichten handeln wollte. Er verbarg ſeine Rührung, ſchwieg einige Zeit ſtille und erklärte ſich endlich öffentlich für mich.
Narciß vermied ſeit jener Zeit unſer Haus, und nun gab mein Vater die wöchentliche Geſellſchaft auf, in der ſich dieſer befand. Die Sache machte Aufſehn bey Hofe und in der Stadt. Man ſprach darüber wie ge¬ wöhnlich in ſolchen Fällen, an denen das270[268] Publikum heftigen Theil zu nehmen pflegt, weil es verwöhnt iſt, auf die Entſchließun¬ gen ſchwacher Gemüther einigen Einfluß zu haben. Ich kannte die Welt genug, und wußte, daß man oft von eben den Perſonen über das getadelt wird, wozu man ſich durch ſie hat bereden laſſen, und auch ohne das würden mir bey meiner innern Verfaſſung alle ſolche vorübergehende Meynungen we¬ niger als nichts geweſen ſeyn.
Dagegen verſagte ich mir nicht, meiner Neigung zu Narciſſen nachzuhängen. Er war mir unſichtbar geworden, und mein Herz hatte ſich nicht gegen ihn geändert. Ich liebte ihn zärtlich, gleichſam auf das neue und viel geſetzter als vorher. Wollte er meine Überzeugung nicht ſtöhren, ſo war ich die Seine, ohne dieſe Bedingung hätte ich ein Königreich mit ihm ausgeſchlagen. Mehrere Monate lang trug ich dieſe Em¬269 pfindungen und Gedanken mit mir herum, und da ich mich endlich ſtill und ſtark ge¬ nug fühlte, um ruhig und geſetzt zu Werke zu gehen, ſo ſchrieb ich ihm ein höfliches, nicht zärtliches, Billet, und fragte ihn, war¬ um er nicht mehr zu mir komme?
Da ich ſeine Art kannte, ſich ſelbſt in geringern Dingen nicht gern zu erklären, ſondern ſtillſchweigend zu thun, was ihm gut däuchte; ſo drang ich gegenwärtig mit Vor¬ ſatz in ihn. Ich erhielt eine lange und wie mir ſchien abgeſchmackte Antwort, in einem weitläuftigen Styl und unbedeutenden Phra¬ ſen: daß er ohne beſſere Stellen ſich nicht einrichten, und mir ſeine Hand anbieten kön¬ ne, daß ich am beſten wiſſe, wie hinderlich es ihm bisher gegangen, daß er glaube, ein ſo lang fortgeſetzter fruchtloſer Umgang kön¬ ne meiner Renommée ſchaden, ich würde ihm erlauben, ſich in der bisherigen Entfernung270 zu halten; ſo bald er im Stande wäre, mich glücklich zu machen, würde ihm das Wort, das er mir gegeben, heilig ſeyn.
Ich antwortete ihm auf der Stelle: da die Sache aller Welt bekannt ſey, möge es zu ſpät ſeyn, meine Renommée zu menagiren, und für dieſe wären mir mein Gewiſſen und meine Unſchuld die ſicherſten Bürgen; Ihm aber gäbe ich hiermit ſein Wort ohne Be¬ denken zurück, und wünſchte, daß er dabey ſein Glück finden möchte. In eben der Stunde erhielt ich eine kurze Antwort, die im Weſentlichen mit der erſten völlig gleich¬ lautend war. Er blieb dabey, daß er nach erhaltener Stelle bey mir anfragen würde, ob ich ſein Glück mit ihm theilen wollte.
Mir hieß das nun ſo viel als nichts ge¬ ſagt. Ich erklärte meinen Verwandten und Bekannten, die Sache ſey abgethan und ſie war es auch wirklich. Denn als er neun271 Monate hernach auf das erwünſchteſte beför¬ dert wurde, ließ er mir ſeine Hand nochmals antragen, freylich mit der Bedingung, daß ich als Gattin eines Mannes, der ein Haus machen müßte, meine Geſinnungen würde zu ändern haben. Ich dankte höflich, und eilte mit Herz und Sinn von dieſer Geſchichte weg, wie man ſich aus dem Schauſpielhauſe heraus ſehnt, wenn der Vorhang gefallen iſt. Und da er kurze Zeit darauf, wie es ihm nun ſehr leicht war, eine reiche und an¬ ſehnliche Partie gefunden hatte, und ich ihn nach ſeiner Art glücklich wußte, ſo war meine Beruhigung ganz vollkommen.
Ich darf nicht mit Stillſchweigen überge¬ hen, daß einigemal, noch eh er eine Bedie¬ nung erhielt, auch nachher anſehnliche Hei¬ rathsanträge an mich gethan wurden, die ich aber ganz ohne Bedenken ausſchlug, ſo ſehr Vater und Mutter mehr Nachgiebigkeit von meiner Seite gewünſcht hätten.
272Nun ſchien mir nach einem ſtürmiſchen März und April das ſchönſte Maywetter beſchert zu ſeyn. Ich genoß bey einer guten Geſundheit eine unbeſchreibliche Gemüths¬ ruhe; ich mochte mich umſehen, wie ich wollte, ſo hatte ich bey meinem Verluſte noch ge¬ wonnen. Jung und voll Empfindung wie ich war, däuchte mir die Schöpfung tauſend¬ mal ſchöner als vorher, da ich Geſellſchaften und Spiele haben mußte, damit mir die Weile in dem ſchönen Garten nicht zu lang wurde. Da ich mich einmal meiner Fröm¬ migkeit nicht ſchämte, ſo hatte ich Herz meine Liebe zu Künſten und Wiſſenſchaften nicht zu verbergen. Ich zeichnete, mahlte, las und fand Menſchen genug, die mich unter¬ ſtützten; ſtatt der großen Welt, die ich ver¬ laſſen hatte, oder vielmehr, die mich verließ, bildete ſich eine kleinere um mich her, die weit reicher und unterhaltender war. Ichhatte273hatte eine Neigung zum geſellſchaftlichen Le¬ ben, und ich läugne nicht, daß mir, als ich meine ältern Bekanntſchaften aufgab, vor der Einſamkeit grauete. Nun fand ich mich hinlänglich, ja vielleicht zu ſehr entſchädigt. Meine Bekanntſchaften wurden erſt recht weitläuftig, nicht nur mit Einheimiſchen, de¬ ren Geſinnungen mit den meinigen überein¬ ſtimmten, ſondern auch mit Fremden. Meine Geſchichte war ruchtbar geworden, und es waren viele Menſchen neugierig, das Mäd¬ chen zu ſehen, die Gott mehr ſchätzte als ih¬ ren Bräutigam. Es war damals überhaupt eine gewiſſe religiöſe Stimmung in Deutſch¬ land bemerkbar. In mehreren fürſtlichen und gräflichen Häuſern war eine Sorge für das Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an Edelleuten die gleiche Aufmerkſamkeit heg¬ ten, und in den geringern Ständen war durchaus dieſe Geſinnung verbreitet.
W. Meiſters Lehrj. 3. S274Die gräfliche Familie, deren ich oben er¬ wähnt, zog mich nun näher an ſich. Sie hatte ſich indeſſen verſtärkt, indem ſich einige Verwandte in die Stadt gewendet hatten. Dieſe ſchätzbaren Perſonen ſuchten meinen Umgang, wie ich den ihrigen. Sie hatten große Verwandtſchaft, und ich lernte in die¬ ſem Hauſe einen großen Theil der Fürſten, Grafen und Herrn des Reichs kennen. Meine Geſinnungen waren niemanden ein Geheim¬ niß, und man mochte ſie ehren oder auch nur ſchonen, ſo erlangte ich doch meinen Zweck und blieb ohne Anfechtung.
Noch auf eine andere Weiſe ſollte ich wieder in die Welt geführt werden. Zu eben der Zeit verweilte ein Stiefbruder meines Vaters, der uns ſonſt nur im Vorbeygehn beſucht hatte, länger bey uns. Er hatte die Dienſte ſeines Hofes, wo er geehrt und von Einfluß war, nur deswegen verlaſſen, weil275 nicht alles nach ſeinem Sinne ging. Sein Verſtand war richtig und ſein Charakter ſtreng, und er war darin meinem Vater ſehr ähnlich; nur hatte dieſer dabey einen gewiſ¬ ſen Grad von Weichheit, wodurch ihm leich¬ ter ward in Geſchäften nachzugeben und et¬ was gegen ſeine Überzeugung nicht zu thun, aber geſchehen zu laſſen, und den Unwillen darüber alsdann entweder in der Stille für ſich oder vertraulich mit ſeiner Familie zu verkochen. Mein Oheim war um vieles jün¬ ger, und ſeine Selbſtſtändigkeit ward durch ſeine äußern Umſtände nicht wenig beſtätigt. Er hatte eine ſehr reiche Mutter gehabt, und hatte von ihren nahen und fernen Ver¬ wandten noch ein großes Vermögen zu hof¬ fen; er bedurfte keines fremden Zuſchuſſes, anſtatt daß mein Vater bey ſeinem mäßigen Vermögen durch Beſoldung an den Dienſt feſt geknüpft war.
S 2276Noch unbiegſamer war mein Oheim durch häusliches Unglück geworden. Er hatte eine liebenswürdige Frau und einen hoff¬ nungsvollen Sohn früh verloren, und er ſchien von der Zeit an alles von ſich entfernen zu wollen, was nicht von ſeinem Willen abhing.
In der Familie ſagte man ſich gelegent¬ lich mit einiger Selbſtgefälligkeit in die Oh¬ ren, daß er wahrſcheinlich nicht wieder heira¬ then werde, und daß wir Kinder uns ſchon als Erben ſeines großen Vermögens anſehen könnten. Ich achtete nicht weiter darauf; allein das Betragen der übrigen ward nach dieſen Hoffnungen nicht wenig geſtimmt Bey der Feſtigkeit ſeines Charakters hatte er ſich gewöhnt, in der Unterredung niemand zu wi¬ derſprechen, vielmehr die Meynung eines je¬ den freundlich anzuhören, und die Art wie ſich jeder eine Sache dachte noch ſelbſt durch277 Argumente und Beyſpiele zu erheben. Wer[ihn] nicht kannte glaubte ſtets mit ihm einer¬ ley Meynung zu ſeyn, denn er hatte einen überwiegenden Verſtand und konnte ſich in alle Vorſtellungsarten verſetzen. Mit mir ging es ihm nicht ſo glücklich, denn hier war von Empfindungen die Rede, von denen er gar keine Ahndung hatte, und ſo ſchonend, theilnehmend und verſtändig er mit mir über meine Geſinnungen ſprach, ſo war es mir doch auffallend, daß er von dem, worin der Grund aller meiner Handlungen lag, offenbar keinen Begriff hatte.
So geheim er übrigens war, entdeckte ſich doch der Entzweck ſeines ungewöhnlichen Auffenthalts bey uns nach einiger Zeit. Er hatte, wie man endlich bemerken konnte, ſich unter uns die jüngſte Schweſter auserſehen, um ſie nach ſeinem Sinne zu verheirathen278 und glücklich zu machen; und gewiß ſie konnte nach ihren körperlichen und geiſtigen Gaben, beſonders wenn ſich ein anſehnliches Vermö¬ gen noch mit auf die Schaale legte, auf die erſten Partien Anſpruch machen. Seine Ge¬ ſinnungen gegen mich gab er gleichfalls pan¬ tomimiſch zu erkennen, indem er mir den Platz einer Stiftsdame verſchafte, wovon ich ſehr bald auch die Einkünfte zog.
Meine Schweſter war mit ſeiner Für¬ ſorge nicht ſo zufrieden und nicht ſo dankbar wie ich. Sie entdeckte mir eine Herzensan¬ gelegenheit, die ſie bisher ſehr weislich ver¬ borgen hatte, denn ſie fürchtete wohl, was auch wirklich geſchah, daß ich ihr auf alle mögliche Weiſe die Verbindung mit einem Manne, der ihr nicht hätte gefallen ſollen, widerrathen würde. Ich that mein möglich¬ ſtes, und es gelang mir. Die Abſichten des Oheims waren zu ernſthaft und zu deutlich,279 und die Ausſicht für meine Schweſter, bey ihrem Weltſinne, ſo reizend, als daß ſie nicht eine Neigung, die ihr Verſtand ſelbſt mißbilligte, aufzugeben Kraft hätte haben ſollen.
Da ſie nun den ſanften Leitungen des Oheims nicht mehr wie bisher auswich, ſo war der Grund zu ſeinem Plane bald ge¬ legt. Sie ward Hofdame an einem benach¬ barten Hofe, wo er ſie einer Freundin, die als[Oberhofmeiſterin] in großem Anſehn ſtand, zur Aufſicht und Ausbildung übergeben konn¬ te. Ich begleitete ſie zu dem Ort ihres neuen Aufenthaltes. Wir konnten beyde mit der Aufnahme, die wir erfuhren, ſehr zufrieden ſeyn, und manchmal mußte ich über die Per¬ ſon, die ich nun als Stiftsdame, als junge und fromme Stiftsdame, in der Welt ſpielte, heimlich lächeln.
In frühern Zeiten würde ein ſolches Ver¬280 hältniß mich ſehr verwirrt, ja mir vielleicht den Kopf verrückt haben; nun aber war ich bey allem, was mich umgab, ſehr gelaſſen. Ich ließ mich in großer Stille ein paar Stunden friſiren, putzte mich und dachte nichts dabey, als daß ich in meinem Ver¬ hältniſſe dieſe Gallalivrée anzuziehen ſchuldig ſey. In den angefüllten Sälen ſprach ich mit allen und jeden, ohne daß mir irgend eine Geſtalt oder ein Weſen einen ſtarken Eindruck zurück gelaſſen hätte. Wenn ich wieder nach Hauſe kam, waren müde Beine meiſt alles Gefühl, was ich mit zurück brachte. Meinem Verſtande nützten die vielen Men¬ ſchen, die ich ſah, und als Muſter aller menſchlichen Tugenden eines guten und edlen Betragens lernte ich einige Frauen, beſon¬ ders die Oberhofmeiſterin, kennen, unter der meine Schweſter ſich zu bilden das Glück hatte.
281Doch fühlte ich bey meiner Rückkunft nicht ſo glückliche körperliche Folgen von dieſer Reiſe. Bey der größten Enthaltſam¬ keit und der genauſten Diät war ich doch nicht wie ſonſt Herr von meiner Zeit und meinen Kräften. Nahrung, Bewegung, Auf¬ ſtehn und Schlafengehn, Ankleiden und Aus¬ fahren hing nicht wie zu Hauſe von meinem Willen und meinem Empfinden ab. Im Laufe des geſelligen Kreiſes darf man nicht ſtocken, ohne unhöflich zu ſeyn, und alles was nöthig war, leiſtete ich gern, weil ich es für Pflicht hielt, weil ich wußte, daß es bald vorüber gehen würde, und weil ich mich ge¬ ſunder als jemals fühlte. Demohngeachtet mußte dieſes fremde unruhige Leben auf mich ſtärker als ich fühlte gewirkt haben. Denn kaum war ich zu Hauſe angekommen und hatte meine Eltern mit einer befriedigenden Erzählung erfreut, ſo überfiel mich ein Blut¬282 ſturz, der, ob er gleich nicht gefährlich war und ſchnell vorüber ging, doch lange Zeit eine merkliche Schwachheit hinterließ.
Hier hatte ich nun wieder eine neue Lek¬ tion aufzuſagen. Ich that es freudig; nichts feſſelte mich an die Welt, und ich war über¬ zeugt, daß ich hier das Rechte niemals fin¬ den würde, und ſo war ich in dem heiterſten und ruhigſten Zuſtande, und ward, indem ich Verzicht aufs Leben gethan hatte, beym Le¬ ben erhalten.
Eine neue Prüfung hatte ich auszuſtehen, da meine Mutter mit einer drückenden Be¬ ſchwerde überfallen wurde, die ſie noch fünf Jahre trug, ehe ſie die Schuld der Natur bezahlte. In dieſer Zeit gab es manche Übung. Oft wenn ihr die Bangigkeit zu ſtark wurde, ließ ſie uns des Nachts alle vor ihr Bette rufen, um wenigſtens durch unſre Ge¬ genwart zerſtreut, wo nicht gebeſſert zu wer¬283 den. Schwerer, ja kaum zu tragen, war der Druck, als mein Vater auch elend zu werden anfing. Von Jugend auf hatte er öfters heftige Kopfſchmerzen, die aber aufs längſte nur ſechs und dreißig Stunden anhielten. Nun aber wurden ſie bleibend und wenn ſie auf einen hohen Grad ſtiegen, ſo zerriß der Jammer mir das Herz. Bey dieſen Stür¬ men fühlte ich meine körperliche Schwäche am meiſten, weil ſie mich hinderte, meine hei¬ ligſten liebſten Pflichten zu erfüllen, oder mir doch ihre Ausübung äußerſt beſchwerlich machte.
Nun konnte ich mich prüfen, ob auf dem Wege, den ich eingeſchlagen, Wahrheit oder Phantaſie ſey, ob ich vielleicht nur nach an¬ dern gedacht, oder ob der Gegenſtand mei¬ nes Glaubens eine Realität habe, und zu meiner größten Unterſtützung fand ich immer das letzte. Die gerade Richtung meines284 Herzens zu Gott, der Umgang mit den belo¬ ved ones hatte ich geſucht und gefunden und das war was mir alles erleichterte. Wie der Wanderer in den Schatten, ſo eilte meine Seele nach dieſem Schutzort. Wenn mich alles von außen drückte und kam nie¬ mals leer zurück.
In der neuern Zeit haben einige Verfech¬ ter der Religion, die mehr Eifer als Gefühl für dieſelbe zu haben ſcheinen, ihre Mitgläu¬ bigen aufgefordert, Beyſpiele von wirklichen Gebetserhörungen bekannt zu machen, wahr¬ ſcheinlich, weil ſie ſich Brief und Siegel wünſchten, um ihren Gegnern recht diploma¬ tiſch und juriſtiſch zu Leibe zu gehen. Wie unbekannt muß ihnen das wahre Gefühl ſeyn, und wie wenig ächte Erfahrungen mö¬ gen ſie ſelbſt gemacht haben.
Ich darf ſagen, ich kam nie leer zurück, wenn ich unter Druck und Noth Gott ge¬285 ſucht hatte. Es iſt unendlich viel geſagt, und doch kann und darf ich nicht mehr ſa¬ gen. So wichtig jede Erfahrung in dem kritiſchen Augenblicke für mich war, ſo matt, ſo unbedeutend, unwahrſcheinlich würde die Erzählung werden, wenn ich einzelne Fälle anführen wollte. Wie glücklich war ich, daß tauſend kleine Vorgänge zuſammen, ſo ge¬ wiß als das Athemholen Zeichen meines Le¬ bens iſt, mir bewieſen: daß ich nicht ohne Gott auf der Welt ſey. Er war mir nahe, ich war vor ihm. Das iſts, was ich mit ge¬ fliſſentlicher Vermeidung aller theologiſchen Syſtemſprache mit größter Wahrheit ſagen kann.
Wie ſehr wünſchte ich, daß ich mich auch damals ganz ohne Syſtem befunden hätte; aber wer kommt früh zu dem Glücke, ſich ſeines eigenen Selbſts, ohne fremde Formen in reinen Zuſammenhang bewußt zu ſeyn. 286Mir war es Ernſt mit meiner Seligkeit. Ich vertraute beſcheiden fremdem Anſehn; ich er¬ gab mich völlig dem halliſchen Bekehrungs¬ ſyſtem, und mein ganzes Weſen wollte auf keine Wege hineinpaſſen.
Nach dieſem Lehrplan muß die Verände¬ rung des Herzens mit einem tiefen Schrecken über die Sünde anfangen; das Herz muß in dieſer Noth bald mehr bald weniger die verſchuldete Strafe erkennen und den Vor¬ ſchmack der Hölle koſten, der die Luſt der Sünde verbittert. Endlich muß man eine ſehr merkliche Verſicherung der Gnade füh¬ len, die aber im Fortgange ſich oft verſteckt und mit Ernſt wieder geſucht werden muß.
Das alles traf bey mir weder nahe noch ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig ſuchte, ſo ließ er ſich finden, und hielt mir von ver¬ gangenen Dingen nichts vor. Ich ſah hin¬ ten nach wohl ein, wo ich unwürdig geweſen287 und wußte auch, wo ich es noch war; aber die Erkenntniß meiner Gebrechen war ohne alle Angſt. Nicht einen Augenblick iſt mir eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja die Idee eines böſen Geiſtes und eines Straf - und Quälortes nach dem Tode konnte kei¬ nesweges in dem Kreiſe meiner Ideen Platz finden. Ich fand die Menſchen, die ohne Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und der Liebe gegen den Unſichtbaren zugeſchloſſen war, ſchon ſo unglücklich, daß eine Hölle und äußere Strafen mir eher für ſie eine Linde¬ rung zu verſprechen, als eine Schärfung der Strafe zu drohen ſchienen. Ich durfte nur Menſchen auf dieſer Welt anſehen, die ge¬ häſſigen Gefühlen in ihrem Buſen Raum geben, die ſich gegen das Gute von irgend einer Art verſtocken und ſich und andern das Schlechte aufdringen wollen, die lieber bey Tage die Augen zuſchließen, um nur behaup¬288 ten zu können, die Sonne gebe keinen Schein von ſich; wie über allen Ausdruck ſchienen mir dieſe Menſchen elend! Wer hätte eine Hölle ſchaffen können, um ihren Zuſtand zu verſchlimmern.
Dieſe Gemüthsbeſchaffenheit blieb mir ei¬ nen Tag wie den andern zehn Jahre lang. Sie erhielt ſich durch viele Proben, auch am ſchmerzhaften Sterbebette meiner geliebten Mutter. Ich war offen genug, um bey die¬ ſer Gelegenheit meine heitere Gemüthsver¬ faſſung frommen aber ganz ſchulgerechten Leuten nicht zu verbergen, und ich mußte darüber manchen freundſchaftlichen Verweis erdulden. Man meynte mir eben zur rech¬ ten Zeit vorzuſtellen, welchen Ernſt man an¬ zuwenden hätte, um in geſunden Tagen ei¬ nen guten Grund zu legen.
An Ernſt wollte ich es auch nicht fehlen laſſen. Ich ließ mich für den Augenblicküber¬298[289]überzeugen und wäre um mein Leben gern traurig und voll Schrecken geweſen. Wie verwundert war ich aber, da es ein für alle¬ mal nicht möglich war. Wenn ich an Gott dachte, war ich heiter und vergnügt, auch bey meiner lieben Mutter ſchmerzensvollen Ende graute mich vor dem Tode nicht. Doch lernte ich vieles und ganz andre Sachen, als meine unberufenen Lehrmeiſter glaubten, in dieſen großen Stunden.
Nach und nach ward ich an den Einſich¬ ten ſo mancher hochberühmten Leute zweifel¬ haft[und] bewahrte meine Geſinnungen in der Stille. Eine gewiſſe Freundin, der ich erſt zu viel eingeräumt hatte, wollte ſich im¬ mer in meine Angelegenheiten mengen; auch von dieſer war ich genöthigt mich los zu ma¬ chen, und einſt ſagte ich ihr ganz entſchieden: ſie ſollte ohne Mühe bleiben, ich brauchte ihren Rath nicht; ich kannte meinen GottW. Meiſters Lehrj. 3. T290und wollte ihn ganz allein zum Führer ha¬ ben. Sie fand ſich ſehr beleidigt und ich glaube, ſie hat mirs nie ganz verziehen.
Dieſer Entſchluß, mich dem Rathe und der Einwirkung meiner Freunde in geiſtlichen Sachen zu entziehen, hatte die Folge, daß ich auch in äußerlichen Verhältniſſen meinen eigenen Weg zu gehen Muth gewann. Ohne den Beyſtand meines treuen unſichtbaren Führers hätte es mir übel gerathen können, und noch muß ich über die weiſe und glück¬ liche Leitung erſtaunen. Niemand wußte ei¬ gentlich worauf es bey mir ankam, und ich wußte es ſelbſt nicht.
Das Ding, das noch nie erklärte böſe Ding, das uns von dem Weſen trennt, von dem wir das Leben empfangen haben und aus dem alles, was Leben genannt werden ſoll, ſich unterhalten muß, das Ding das man Sünde nennt, kannte ich noch gar nicht.
291In dem Umgange mit dem unſichtbaren Freunde fühlte ich den ſüßeſten Genuß aller meiner Lebenskräfte. Das Verlangen, dieſes Glück immer zu genießen, war ſo groß, daß ich gern unterließ, was dieſen Umgang ſtörte, und hierin war die Erfahrung mein beſter Lehrmeiſter. Allein es ging mir wie den Kranken die keine Arzney haben und ſich mit der Diät zu helfen ſuchen. Es thut et¬ was, aber lange nicht genug.
In der Einſamkeit konnte ich nicht immer bleiben, ob ich gleich in ihr das beſte Mit¬ tel gegen die mir ſo eigene Zerſtreuung der Gedanken fand. Kam ich nachher in Ge¬ tümmel, ſo machte es einen deſto größern Eindruck auf mich. Mein eigentlichſter Vor¬ theil beſtand darin, daß die Liebe zur Stille herrſchend war, und ich mich am Ende im¬ mer dahin wieder zurück zog. Ich erkannte wie in einer Art von Dämmerung, meinT 2292Elend und meine Schwäche, und ich ſuchte mir dadurch zu helfen, daß ich mich ſchonte, daß ich mich nicht ausſetzte.
Sieben Jahre lang hatte ich meine diä¬ tetiſche Vorſicht ausgeübt. Ich hielt mich nicht für ſchlimm und fand meinen Zuſtand wünſchenswerth. Ohne ſonderbare Umſtände und Verhältniſſe wäre ich auf dieſer Stufe ſtehen geblieben, und ich kam nur auf einem ſonderbaren Wege weiter; gegen den Rath aller meiner Freunde knüpfte ich ein neues Verhältniß an. Ihre Einwendungen mach¬ ten mich anfangs ſtutzig. Sogleich wandte ich mich an meinen unſichtbaren Führer, und da dieſer es mir vergönnte, ging ich ohne Bedenken auf meinem Wege fort.
Ein Mann von Geiſt, Herz und Talen¬ ten hatte ſich in der Nachbarſchaft angekauft. Unter den Fremden, die ich kennen lernte, war auch er und ſeine Familie. Wir ſtimmten in293 unſern Sitten, Hausverfaſſungen und Ge¬ wohnheiten ſehr überein, und konnten uns daher bald an einander anſchließen.
Philo, ſo will ich ihn nennen, war ſchon in gewiſſen Jahren, und meinem Vater, deſ¬ ſen Kräfte abzunehmen anfingen, in gewiſ¬ ſen Geſchäften von der größten Beyhülfe. Er ward bald der innige Freund unſeres Hauſes, und da er, wie er ſagte, an mir eine Perſon fand, die nicht das Ausſchweifende und Leere der großen Welt, und nicht das Trockne und Ängſtliche der Stillen im Lande habe; ſo waren wir bald vertraute Freunde. Er war mir ſehr angenehm und ſehr brauchbar.
Ob ich gleich nicht die mindeſte Anlage noch Neigung hatte, mich in weltliche Ge¬ ſchäfte zu miſchen und irgend einen Einfluß zu ſuchen; ſo hörte ich doch gerne davon, und wußte gern, was in der Nähe und Ferne vorging. Von weltlichen Dingen liebte ich,294 mir eine gefühlloſe Deutlichkeit zu verſchaf¬ fen. Emfindung, Innigkeit, Neigung be¬ wahrte ich für meinen Gott, für die meini¬ gen und für meine Freunde.
Dieſe letzten waren, wenn ich ſo ſagen darf, auf meine neue Verbindung mit Philo eiferſüchtig, und hatten dabey von mehr als einer Seite Recht, wenn ſie mich hierüber warnten. Ich litt viel in der Stille, denn ich konnte ſelbſt ihre Einwendungen nicht ganz für leer oder eigennützig halten. Ich war von jeher gewohnt, meine Einſichten unterzuordnen, und doch wollte diesmal meine Überzeugung nicht nach. Ich flehte zu mei¬ nem Gott, auch hier mich zu warnen, zu hindern, zu leiten, und da mich hierauf mein Herz nicht abmahnte, ſo ging ich meinen Pfad getroſt fort.
Philo hatte im Ganzen eine entfernte Ähnlichkeit mit Narciſſen, nur hatte eine295 fromme Erziehung ſein Gefühl mehr zuſam¬ men gehalten und belebt. Er hatte weniger Eitelkeit, mehr Charakter, und wenn jener in weltlichen Geſchäften fein, genau, anhaltend und unermüdlich war, ſo war dieſer klar, ſcharf, ſchnell, und arbeitete mit einer unglaub¬ lichen Leichtigkeit. Durch ihn erfuhr ich die innerſten Verhältniſſe faſt aller der vorneh¬ men Perſonen, deren Äußeres ich in der Ge¬ ſellſchaft hatte kennen lernen und ich war froh von meiner Warte dem Getümmel von weiten zuzuſehen. Philo konnte mir nichts mehr verhehlen; er vertraute mir nach und nach ſeine äußern und innern Verbindungen. Ich fürchtete für ihn, denn ich ſah gewiſſe Umſtände und Verwickelungen voraus, und das Übel kam ſchneller als ich vermuthet hatte. Denn er hatte mit gewiſſen Bekenntniſſen immer zurückgehalten und auch zuletzt ent¬ deckte er mir nur ſo viel, daß ich das Schlimmſte vermuthen konnte.
296Welche Wirkung hatte das auf mein Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die mir ganz neu waren. Ich ſah mit unbe¬ ſchreiblicher Wehmuth einen Agathon, der in den Hainen von Delphos erzogen, das Lehrgeld noch ſchuldig war, und es nun mit ſchweren rückſtändigen Zinſen abzahlte, und dieſer Agathon war mein genau verbunde¬ ner Freund. Meine Theilnahme war leb¬ haft und vollkommen; ich litt mit ihm, und wir befanden uns beyde in dem ſonderbar¬ ſten Zuſtande.
Nachdem ich mich lange mit ſeiner Ge¬ müthsverfaſſung beſchäftigt hatte, wendete ſich meine Betrachtung auf mich ſelbſt. Der Gedanke, du biſt nicht beſſer als er, ſtieg wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete ſich nach und nach aus, und verfinſterte mei¬ ne ganze Seele.
Nun dachte ich nicht mehr bloß, du biſt297 nicht beſſer als er; ich fühlte es, und fühlte es ſo, daß ich es nicht noch einmal fühlen möchte: Und es war kein ſchneller Übergang. Mehr als ein Jahr mußte ich empfinden, daß wenn mich eine unſichtbare Hand nicht umſchränkt hätte, ich ein Girard, ein Car¬ touche, ein Damiens und welches Ungeheuer man nennen will, hätte werden können: die Anlage dazu fühlte ich deutlich in meinem Herzen. Gott welche Entdeckung!
Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der Sünde in mir durch die Erfahrung nicht einmal auf das leiſeſte gewahr werden kön¬ nen; ſo war mir jetzt die Möglichkeit der¬ ſelben in der Ahndung aufs ſchrecklichſte deutlich geworden, und doch kannte ich das Übel nicht, ich fürchtete es nur; ich fühlte, daß ich ſchuldig ſeyn könnte, und hatte mich nicht anzuklagen.
So tief ich überzeugt war, daß eine ſol¬298 che Geiſtesbeſchaffenheit, wofür ich die mei¬ nige anerkennen mußte, ſich nicht zu einer Vereinigung mit dem höchſten Weſen, die ich nach dem Tode hofte, ſchicken können; ſo wenig fürchtete ich, in eine ſolche Trennung zu gerathen. Bey allem Böſen, das ich in mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte was ich fühlte, ja ich wünſchte es noch ernſt¬ licher zu haſſen, und mein ganzer Wunſch war, von dieſer Krankheit, und dieſer Anla¬ ge zur Krankheit erlöst zu werden, und ich war gewiß, daß mir der große Arzt ſeine Hülfe nicht verſagen würde.
Die einzige Frage war: was heilt dieſen Schaden? Tugendübungen? An die konnte ich nicht einmal denken. Denn zehn Jahre hatte ich ſchon mehr als nur bloße Tugend geübt, und die nun erkannten Greuel hat¬ ten dabey tief in meiner Seele verborgen gelegen; hätten ſie nicht auch wie bey Da¬299 vid losbrechen können, als er Bathſeba er¬ blickte, und war er nicht auch ein Freund Gottes, und war ich nicht im Innerſten überzeugt, daß Gott mein Freund ſey?
Sollte es alſo wohl eine unvermeidliche Schwäche der Menſchheit ſeyn? müſſen wir uns nun gefallen laſſen, daß wir irgend ein¬ mal die Herrſchaft unſrer Neigung empfin¬ den, und bleibt uns bey dem beſten Willen nichts anders übrig als den Fall, den wir gethan, zu verabſcheuen, und bey einer ähn¬ lichen Gelegenheit wieder zu fallen?
Aus der Sittenlehre konnte ich keinen Troſt ſchöpfen. Weder ihre Strenge, wo¬ durch ſie unſre Neigung bemeiſtern will, noch ihre Gefälligkeit, mit der ſie unſre Neigun¬ gen zu Tugenden machen möchte, konnte mir genügen. Die Grundbegriffe die mir der Um¬ gang mit dem unſichtbaren Freunde einge¬ flößt hatte, hatten für mich ſchon einen viel entſchiedenern Werth.
300Indem ich einſt die Lieder ſtudierte, wel¬ che David nach jener häßlichen Kataſtrophe gedichtet hatte, war mir ſehr auffallend, daß er das in ihm wohnende Böſe ſchon in dem Stoff, woraus er geworden war, erblickte; daß er aber entſündigt ſeyn wollte, und daß er auf das dringendſte um ein reines Herz flehte.
Wie nun aber dazu zu gelangen? Die Antwort aus den ſymboliſchen Büchern wu߬ te ich wohl; es war mir auch eine Bibel¬ wahrheit, daß das Blut Jeſu Chriſti uns von allen Sünden reinige. Nun aber be¬ merkte ich erſt, daß ich dieſen ſo oft wieder¬ holten Spruch noch nie verſtanden hatte. Die Fragen: was heißt das? Wie ſoll das zugehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir ſich durch. Endlich glaubte ich bey einem Schimmer zu ſehen, daß das, was ich ſuchte, in der Menſchwerdung des ewigen Worts,301 durch das alles und auch wir erſchaffen ſind, zu ſuchen ſey. Daß der Uranfängliche ſich in die Tiefen, in denen wir ſtecken, die er durchſchaut und umfaßt, einſtmal als Be¬ wohner begeben habe, durch unſer Verhält¬ niß von Stufe zu Stufe von der Empfäng¬ nis und Geburt bis zu dem Grabe durch¬ gegangen ſey, daß er durch dieſen ſonderba¬ ren Umweg wieder zu den lichten Höhen aufgeſtiegen, wo wir auch wohnen ſollten, um glücklich zu ſeyn: das ward mir, wie in einer dämmernden Ferne, offenbart.
O warum müſſen wir, um von ſolchen Dingen zu reden, Bilder gebrauchen, die nur äußere Zuſtände anzeigen? Wo iſt vor ihm etwas Hohes oder Tiefes, etwas Dunkles oder Helles; wir nur haben ein Oben und Unten, einen Tag und eine Nacht. Und eben darum iſt er uns ähnlich geworden, weil wir ſonſt keinen Theil an ihm haben könnten.
302Wie können wir aber an dieſer unſchätz¬ baren Wohlthat Theil nehmen? Durch den Glauben, antwortet uns die Schrift. Was iſt denn Glauben? Die Erzählung einer Begebenheit für wahr zu halten, was kann mir das helfen? ich muß mir ihre Wirkun¬ gen, ihre Folgen zueignen können. Dieſer zueignende Glaube muß ein eigener, dem natürlichen Menſchen ungewöhnlicher Zu¬ ſtand des Gemüths ſeyn.
Nun, Allmächtiger! ſo ſchenke mir Glau¬ ben, flehte ich einſt in dem größten Druck des Herzens. Ich lehnte mich auf einen kleinen Tiſch, an dem ich ſaß, und verbarg mein bethräntes Geſicht in meinen Händen. Hier war ich in der Lage, in der man ſeyn muß, wenn Gott auf unſer Gebet achten ſoll, und in der man ſelten iſt.
Ja wer nun ſchildern könnte, was ich da fühlte. Ein Zug brachte meine Seele303 nach dem Kreuze hin, an dem Jeſus einſt erblaßte; ein Zug war es, ich kann es nicht anders nennen; demjenigen völlig gleich, wodurch unſre Seele zu einem abweſenden Geliebten geführt wird, ein Zunahen, das vermuthlich viel weſentlicher und wahrhafter iſt, als wir nicht vermuthen. So nahte meine Seele dem Menſchgewordnen und am Kreuz geſtorbenen, und in dem Augen¬ blicke wußte ich, was Glauben war.
Das iſt Glauben, ſagte ich, und ſprang wie halb erſchreckt in die Höhe. Ich ſuchte nun meiner Empfindung, meines Anſchauens gewiß zu werden, und im Kurzen war ich überzeugt, daß mein Geiſt eine Fähigkeit ſich aufzuſchwingen erhalten habe, die ihm ganz neu war.
Bey dieſen Empfindungen verlaſſen uns die Worte. Ich konnte ſie ganz deutlich von aller Phantaſie unterſcheiden; ſie waren304 ganz ohne Phantaſie, ohne Bild, und ga¬ ben doch eben die Gewißheit eines Gegen¬ ſtandes, auf den ſie ſich bezogen, als die Ein¬ bildungskraft, indem ſie uns die Züge eines abweſenden Geliebten vormahlt.
Als das erſte Entzücken vorüber war, bemerkte ich, daß mir dieſer Zuſtand der Seele ſchon vorher bekannt geweſen; allein ich hatte ihn nie in dieſer Stärke empfun¬ den. Ich hatte ihn niemals feſt halten, nie zu eigen behalten können. Ich glaube über¬ haupt, daß jede Menſchenſeele ein und das anderemal davon etwas empfunden hat. Ohne Zweifel iſt Er das, was einem jeden lehrt, daß ein Gott iſt.
Mit dieſer mich ehemals von Zeit zu Zeit nur anwandelnden Kraft war ich bisher ſehr zufrieden geweſen, und wäre mir nicht durch ſonderbare Schickung ſeit Jahr und Tag die unerwartete Plage wiederfahren,wäre305wäre nicht dabey mein Können und Vermö¬ gen bey mir ſelbſt außer allen Credit ge¬ kommen, ſo wäre ich vielleicht mit jenem Zu¬ ſtande immer zufrieden geblieben.
Nun hatte ich aber ſeit jenem großen Augenblicke Flügel bekommen. Ich konnte mich über das was mich vorher bedrohete aufſchwingen, wie ein Vogel ſingend über den ſchnellſten Strom ohne Mühe fliegt, vor welchem das Hündchen ängſtlich bellend ſtehen bleibt.
Meine Freude war unbeſchreiblich, und ob ich gleich niemand etwas davon entdeck¬ te, ſo merkten doch die meinigen eine unge¬ wöhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen zu können, was die Urſache meines Vergnü¬ gens wäre. Hätte ich doch immer geſchwie¬ gen, und die reine Stimmung in meiner Seele zu erhalten geſucht! Hätte ich mich doch nicht durch Umſtände verleiten laſſen,W. Meiſters Lehrj. 3. U306mit meinem Geheimniſſe hervor zu treten; ſo hätte ich mir abermals einen großen Um¬ weg erſparen können.
Da in meinem vorhergehenden zehnjähri¬ gen Chriſtenlauf dieſe nothwendige Kraft nicht in meiner Seele war, ſo hatte ich mich in dem Fall anderer redlichen Leute auch be¬ funden; ich hatte mir dadurch geholfen, daß ich die Phantaſie immer mit Bildern erfüll¬ te, die einen Bezug auf Gott hatten, und auch dieſes iſt ſchon wahrhaft nützlich; denn ſchädliche Bilder und ihre böſen Folgen wer¬ den dadurch abgehalten. Sodann ergreift unſre Seele oft ein und das andere von den geiſtigen Bildern, und ſchwingt ſich ein we¬ nig damit in die Höhe, wie ein junger Vo¬ gel von einem Zweige auf den andern flat¬ tert. So lange man nichts beſſeres hat, iſt doch dieſe Übung nicht ganz zu verwerfen.
Auf Gott zielende Bilder und Eindrücke307 verſchaffen uns kirchliche Anſtalten, Glocken, Orgeln und Geſänge, und beſonders die Vor¬ träge unſerer Lehrer. Auf ſie war ich ganz unſäglich begierig; keine Witterung, keine körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kir¬ chen zu beſuchen, und nur das ſonntägige Geläute konnte mir auf meinem Kranken¬ bette einige Ungeduld verurſachen. Unſern Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann war, hörte ich mit großer Neigung, auch ſeine Collegen waren mir werth, und ich wußte die goldnen Äpfel des göttlichen Wor¬ tes auch aus irdenen Schalen unter gemei¬ nem Obſte heraus zu finden. Den öffentli¬ chen Übungen wurden alle mögliche Privat¬ erbauungen, wie man ſie nennt, hinzugefügt und auch dadurch nur Phantaſie und feine¬ re Sinnlichkeit genährt. Ich war ſo an die¬ ſen Gang gewöhnt, ich reſpectirte ihn ſo ſehr, daß mir auch jetzt nichts höheres ein¬U 2308fiel. Denn meine Seele hat nur Fühlhör[¬]ner und keine Augen; ſie taſtet nur und ſieht nicht; ach! daß ſie Augen bekäme und ſchauen dürfte!
Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die Predigten; aber ach! wie geſchahe mir. Ich fand das nicht mehr was ich ſonſt gefunden. Dieſe Prediger ſtumpften ſich die Zähne an den Schalen ab, indeſſen ich den Kern ge¬ noß. Ich mußte ihrer nun bald müde wer¬ den; aber mich an den allein zu halten, den ich doch zu finden wußte, dazu war ich zu verwöhnt. Bilder wollte ich haben, äußere Eindrücke bedurfte ich, und glaubte ein rei¬ nes geiſtiges Bedürfniß zu fühlen.
Philos Eltern hatten mit der Herrnhu¬ thiſchen Gemeinde in Verbindung geſtanden; in ſeiner Bibliothek fanden ſich noch viele Schriften des Grafen. Er hatte mir einige¬ mal ſehr klar und billig darüber geſprochen,309 und mich erſucht, einige dieſer Schriften durchzublättern, und wäre es auch nur, um ein pſychologiſches Phänomen kennen zu ler¬ nen. Ich hielt den Grafen für einen gar zu argen Ketzer; ſo ließ ich auch das Ebers¬ dorfer Geſangbuch bey mir liegen, das mir der Freund in ähnlicher Abſicht gleichſam aufgedrungen hatte.
In dem völligen Mangel aller äußeren Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohn¬ gefähr das gedachte Geſangbuch, und fand zu meinem Erſtaunen wirklich Lieder darin, die, freylich unter ſehr ſeltſamen Formen, auf dasjenige zu deuten ſchienen, was ich fühlte; die Originalität und Naivität der Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindun¬ gen ſchienen auf eine eigene Weiſe ausge¬ druckt; keine Schulterminologie erinnerte an etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward überzeugt, die Leute fühlten was ich fühlte,310 und ich fand mich nun ſehr glücklich, ein ſolches Verschen ins Gedächtniß zu faſſen und mich einige Tage damit zu tragen.
Seit jenem Augenblick, in welchem mir das Wahre geſchenkt worden war, verfloſſen auf dieſe Weiſe ohngefähr drey Monate. Endlich faßte ich den Entſchluß, meinem Freunde Philo alles zu entdecken, und ihn um die Mittheilung jener Schriften zu bit¬ ten, auf die ich nun über die Maßen neu¬ gierig geworden war. Ich that es auch wirklich, ohnerachtet mir ein Etwas im Her¬ zen ernſtlich davon abrieth.
Ich erzählte Philo die ganze Geſchichte umſtändlich, und da er ſelbſt darin eine Hauptperſon war, da meine Erzählung auch für ihn die ſtrengſte Bußpredigt enthielt, war er äußerſt betroffen und gerührt. Er zerfloß in Thränen. Ich freute mich, und glaubte, auch bey ihm ſey eine völlige Sin¬ nesänderung bewirkt worden.
311Er verſorgte mich mit allen Schriften, die ich nur verlangte, und nun hatte ich überflüßige Nahrung für meine Einbildungs¬ kraft. Ich machte große Fortſchritte in der Zinzendorfiſchen Art zu denken und zu ſpre¬ chen. Man glaube nicht, daß ich die Art und Weiſe des Grafen nicht auch gegenwär¬ tig zu ſchätzen wiſſe, ich laſſe ihm gern Ge¬ rechtigkeit wiederfahren; er iſt kein leerer Phantaſt; er ſpricht von großen Wahrhei¬ ten meiſt mit einem kühnen Fluge der Ein¬ bildungskraft, und die ihn geſchmäht haben, wußten ſeine Eigenſchaften weder zu ſchät¬ zen, noch zu unterſcheiden.
Ich gewann ihn unbeſchreiblich lieb. Wäre ich mein eigner Herr geweſen, ſo hätte ich gewiß Vaterland und Freunde verlaſſen, wäre zu ihm gezogen; unfehlbar hätten wir uns verſtanden und ſchwerlich hätten wir uns lange vertragen.
312Dank ſey meinem Genius, der mich da¬ mals in meiner häuslichen Verfaſſung ſo ein¬ geſchränkt hielt! Es war ſchon eine große Reiſe, wenn ich nur in den Hausgarten ge¬ hen konnte. Die Pflege meines alten und ſchwächlichen Vaters machte mir Arbeit ge¬ nug, und in den Ergötzungsſtunden war die edle Phantaſie mein Zeitvertreib. Der ein¬ zige Menſch, den ich ſah, war Philo, den mein Vater ſehr liebte, deſſen offnes Verhält¬ niß zu mir aber durch die letzte Erklärung einigermaßen gelitten hatte. Bey ihm war die Rührung nicht tief gedrungen, und da ihm einige Verſuche, in meiner Sprache zu reden, nicht gelungen waren, ſo vermied er dieſe Materie um ſo leichter, als er durch ſeine ausgebreiteten Kenntniſſe immer neue Gegenſtände des Geſprächs herbey zu führen wußte.
Ich war alſo eine herrnhuthiſche Schwe¬313 ſter auf meine eigene Hand, und hatte dieſe neue Wendung meines Gemüths und meiner Neigungen beſonders vor dem Oberhofpredi¬ ger zu verbergen, den ich als meinen Beicht¬ vater zu ſchätzen ſehr Urſache hatte, und deſ¬ ſen große Verdienſte auch gegenwärtig durch ſeine äußerſte Abneigung gegen die herrnhu¬ thiſche Gemeinde in meinen Augen nicht ge¬ ſchmälert wurden. Leider ſollte dieſer wür¬ dige Mann an mir und andern viele Be¬ trübniß erleben!
Er hatte vor mehreren Jahren auswärts einen Cavalier als einen redlichen frommen Mann kennen lernen, und war mit ihm, als einem der Gott ernſtlich ſuchte, in einem un¬ unterbrochenen Briefwechſel geblieben. Wie ſchmerzhaft war es daher für ſeinen geiſtli¬ chen Führer, als dieſer Cavalier ſich in der Folge mit der herrnhuthiſchen Gemeinde ein¬ ließ, und ſich lange unter den Brüdern auf¬314 hielt; daher jener eifrige Mann, als ſein Freund ſich mit den Brüdern wieder entzwey¬ te, in ſeiner Nähe zu wohnen ſich entſchloß, und ſich ſeiner Leitung aufs neue völlig zu überlaſſen ſchien.
Nun wurde der Neuangekommene gleich¬ ſam im Triumph allen beſonders geliebten Schäfchen des Oberhirten vorgeſtellt. Nur in unſer Haus ward er nicht eingeführt, weil mein Vater niemand mehr zu ſehen pflegte. Der Cavalier fand große Approbation; er hatte das Geſittete des Hofs und das Ein¬ nehmende der Gemeinde, dabey viel ſchöne natürliche Eigenſchaften, und ward bald der große Heilige für alle, die ihn kennen lern¬ ten, worüber ſich ſein geiſtlicher Gönner äuſ¬ ſerſt freute. Leider war jener nur über äuſ¬ ſere Umſtände mit der Gemeine brouillirt, und im Herzen noch ganz Herrnhuther. Er hing wirklich an der Realität der Sache, al¬315 lein auch ihm war das Tändelwerk, das der Graf darum gehängt hatte, höchſt angemeſ¬ ſen. Er war an jene Vorſtellungs - und Redensarten nun einmal gewöhnt, und wenn er ſich nunmehr vor ſeinem alten Freunde ſorgfältig verbergen mußte, ſo war es ihm deſto nothwendiger, ſo bald er ein Häufchen vertrauter Perſonen um ſich erblickte, mit ſeinen Verschen, Litaneyen und Bilderchen hervor zu rücken, und er fand, wie man denken kann, großen Beyfall.
Ich wußte von der ganzen Sache nichts, und tändelte auf meine eigene Art fort. Lange Zeit blieben wir uns unbekannt.
Einſt beſuchte ich, in einer freyen Stun¬ de, eine kranke Freundin. Ich traf mehrere Bekannte dort an, und merkte bald, daß ich ſie in einer Unterredung geſtöhrt hatte. Ich ließ mir nichts merken; erblickte aber, zu meiner großen Verwunderung, an der Wand316 einige herrnhuthiſche Bilder, in zierlichen Rahmen. Ich faßte geſchwinde, was in der Zeit, da ich nicht im Hauſe geweſen, vorge¬ gangen ſeyn mochte, und bewillkommte dieſe neue Erſcheinung mit einigen angemeſſenen Verſen.
Man denke ſich das Erſtaunen meiner Freundinnen. Wir erklärten uns, und wa¬ ren auf der Stelle einig und vertraut.
Ich ſuchte nun öfter Gelegenheit auszu¬ gehn. Leider fand ich ſie nur alle drey bis vier Wochen, ward mit dem adelichen Apo¬ ſtel und nach und nach mit der ganzen heim¬ lichen Gemeinde bekannt. Ich beſuchte, wenn ich konnte, ihre Verſammlungen, und bey meinem geſelligen Sinn war es mir unend¬ lich angenehm, das von andern zu verneh¬ men und andern mitzutheilen, was ich nur bisher in und mit mir ſelbſt ausgearbeitet hatte.
317Ich war nicht ſo eingenommen, daß ich nicht bemerkt hätte, wie nur wenige den Sinn der zarten Worte und Ausdrücke fühl¬ ten, und wie ſie dadurch auch nicht mehr, als ehemals durch die kirchlich ſymboliſche Sprache, gefördert waren. Demohngeachtet ging ich mit ihnen fort, und ließ mich nicht irre machen. Ich dachte, daß ich nicht zur Unterſuchung und Herzensprüfung berufen ſey. War ich doch auch durch manche un¬ ſchuldige Übung zum Beſſeren vorbereitet worden. Ich nahm meinen Theil hinweg, drang, wo ich zur Rede kam, auf den Sinn, der bey ſo zarten Gegenſtänden eher durch Worte verſteckt als angedeutet wird, und ließ übrigens mit ſtiller Verträglichkeit einen jeden nach ſeiner Art gewähren.
Auf dieſe ruhigen Zeiten des heimlichen geſellſchaftlichen Genuſſes, folgten bald die Stürme öffentlicher Streitigkeiten und Wi¬318 derwärtigkeiten, die am Hofe und in der Stadt große Bewegungen erregten, und ich möchte beynahe ſagen, manches Skandal verurſachten. Der Zeitpunct war gekommen, in welchem unſer Oberhofprediger, dieſer große Widerſacher der herrnhuthiſchen Ge¬ meinde, zu ſeiner geſegneten Demüthigung entdecken ſollte, daß ſeine beſten und ſonſt anhänglichſten Zuhörer ſich ſämmtlich auf die Seite der Gemeinde neigten. Er war äußerſt gekränkt, vergaß im erſten Augen¬ blicke alle Mäßigung und konnte in der Folge ſich nicht, ſelbſt wenn er gewollt hät¬ te, zurück ziehn. Es gab heftige Debatten, bey denen ich glücklicher weiſe nicht genannt wurde, da ich nur ein zufälliges Mitglied der ſo ſehr verhaßten Zuſammenkünfte war, und unſer eifriger Führer meinen Vater und meinen Freund in bürgerlichen Angelegenhei¬ ten nicht entbehren konnte. Ich erhielt mei¬319 ne Neutralität mit ſtiller Zufriedenheit; denn von ſolchen Empfindungen und Gegenſtän¬ den mich ſelbſt mit wohlwollenden Menſchen zu unterhalten, war mir ſchon verdrießlich, wenn ſie den tiefſten Sinn nicht faſſen konn¬ ten, und nur auf der Oberfläche verweilten. Nun aber gar über das mit Widerſachern zu ſtreiten, worüber man ſich kaum mit Freunden verſtund, ſchien mir unnütz, ja verderblich. Denn bald konnte ich bemer¬ ken, daß liebevolle edle Menſchen, die in dieſem Falle ihr Herz von Widerwillen und Haß nicht rein halten konnten, gar bald zur Ungerechtigkeit übergingen, und, um eine äußere Form zu vertheidigen, ihr beſtes In¬ nerſtes beynah zerſtöhrten.
So ſehr auch der würdige Mann in die¬ ſem Falle Unrecht haben mochte, und ſo ſehr man mich auch gegen ihn aufzubringen ſuch¬ te; konnte ich ihm doch niemals eine herzli¬320 che Achtung verſagen. Ich kannte ihn ge¬ nau; ich konnte mich in ſeine Art, dieſe Sa¬ chen anzuſehen, mit Billigkeit verſetzen. Ich hatte niemals einen Menſchen ohne Schwä¬ che geſehen, nur iſt ſie auffallender bey vor¬ züglichen Menſchen. Wir wünſchen und wollen nun ein für alle mal, daß die, die ſo ſehr privilegirt ſind, auch gar keinen Tribut, keine Abgaben zahlen ſollen. Ich ehrte ihn als einen vorzüglichen Mann, und hoffte den Einfluß meiner ſtillen Neutralität, wo nicht zu einem Frieden, doch zu einem Waf¬ fenſtillſtande zu nutzen. Ich weiß nicht, was ich bewirkt hätte; Gott faßte die Sache kürzer, und nahm ihn zu ſich. Bey ſeiner Bahre weinten alle, die noch kurz vorher um Worte mit ihm geſtritten hatten. Seine Rechtſchaffenheit, ſeine Gottesfurcht hatte niemals jemand bezweifelt.
Auch ich mußte um dieſe Zeit das Pup¬pen¬321penwerk aus den Händen legen, das mir durch dieſe Streitigkeiten gewiſſermaßen in einem andern Lichte erſchienen war. Der Oheim hatte ſeine Plane auf meine Schwe¬ ſter in der Stille durchgeführt. Er ſtellte ihr einen jungen Mann von Stande und Vermögen als ihren Bräutigam vor, und zeigte ſich in einer reichlichen Ausſteuer, wie man es von ihm erwarten konnte. Mein Vater willigte mit Freuden ein, die Schwe¬ ſter war frey und vorbereitet, und veränder¬ te gerne ihren Stand. Die Hochzeit wurde auf des Oheims Schloß ausgerichtet, Fami¬ lie und Freunde waren eingeladen, und wir kamen alle mit heiterm Geiſte.
Zum erſtenmal in meinem Leben erregte mir der Eintritt in ein Haus Bewunderung. Ich hatte wohl oft von des Oheims Ge¬ ſchmack, von ſeinem italiäniſchen Baumeiſter, von ſeinen Sammlungen und ſeiner Biblio¬W. Meiſters Lehrj 3. X322thek reden hören; ich verglich aber das alles mit dem, was ich ſchon geſehen hatte, und machte mir ein ſehr buntes Bild davon in Gedanken. Wie verwundert war ich daher über den ernſten und harmoniſchen Eindruck, den ich beym Eintritt in das Haus empfand, und der ſich in jedem Saal und Zimmer verſtärkte. Hatte Pracht und Zierrath mich ſonſt nur zerſtreut; ſo fühlte ich mich hier geſammlet und auf mich ſelbſt zurück geführt. Auch in allen Anſtalten zu Feierlichkeiten und Feſten erregten Pracht und Würde ein ſtilles Gefallen, und es war mir eben ſo unbegreiflich, daß Ein Menſch das alles hät¬ te erfinden und anordnen können, als daß mehrere ſich vereinigen könnten, um in einem ſo großen Sinne zuſammen zu wirken. Und bey dem allen ſchienen der Wirth und die Seinigen ſo natürlich; es war keine Spur von Steifheit noch von leerem Ceremoniel zu bemerken.
323Die Trauung ſelbſt ward unvermuthet auf eine herzliche Art eingeleitet, eine vor¬ trefliche Vocalmuſik überraſchte uns, und der Geiſtliche wußte dieſer Ceremonie alle Feierlichkeit der Wahrheit zu geben. Ich ſtand neben Philo, und ſtatt mir Glück zu wünſchen, ſagte er mit einem tiefen Seufzer: als ich die Schweſter ſah die Hand hinge¬ ben, war mir’s, als ob man mich mit ſied¬ heißen Waſſer begoſſen hätte. Warum? fragte ich. Es iſt mir allezeit ſo, wenn ich eine Copulation anſehe, verſetzte er. Ich lachte über ihn, und habe nachher oft genug an ſeine Worte zu denken gehabt.
Die Heiterkeit der Geſellſchaft, worunter viel junge Leute waren, ſchien noch einmal ſo glänzend, indem alles, was uns umgab, würdig und ernſthaft war. Aller Hausrath, Tafelzeug, Service und Tiſchaufſätze ſtimm¬ ten zu dem Ganzen, und wenn mir ſonſtX 2324die Baumeiſter mit den Conditorn aus einer Schule entſprungen zu ſeyn ſchienen; ſo war hier Conditor[und] Tafeldecker bey dem Ar¬ chitekten in die Schule gegangen.
Da man mehrere Tage zuſammen blieb, hatte der geiſtreiche und verſtändige Wirth für die Unterhaltung der Geſellſchaft auf das mannigfaltigſte geſorgt. Ich wiederholte hier nicht die traurige Erfahrung, die ich ſo oft in meinem Leben gehabt hatte, wie übel eine große gemiſchte Geſellſchaft ſich befinde, die ſich ſelbſt überlaſſen zu den allgemeinſten und ſchalſten Zeitvertreiben greifen muß, da¬ mit ja eher die guten als die ſchlechten Sub¬ jecte Mangel der Unterhaltung fühlen.
Ganz anders hatte es der Oheim veran¬ ſtaltet. Er hatte zwey bis drey Marſchälle, wenn ich ſie ſo nennen darf, beſtellt; der ei¬ ne hatte für die Freuden der jungen Welt zu ſorgen. Tänze, Spazierfahrten, kleine325 Spiele waren von ſeiner Erfindung, und ſtanden unter ſeiner Direction, und da junge Leute gern im Freyen leben, und die Ein¬ flüſſe der Luft nicht ſcheuen; ſo war ihnen der Garten und der große Gartenſaal über¬ geben, an den zu dieſem Endzwecke noch ei¬ nige Galerien und Pavillons angebauet wa¬ ren, zwar nur von Brettern und Leinwand aber in ſo edlen Verhältniſſen, daß man nur an Stein und Marmor dabey erinnert ward.
Wie ſelten iſt eine Fete, wobey derjenige, der die Gäſte zuſammen beruft, auch die Schuldigkeit empfindet, für ihre Bedürfniſſe und Bequemlichkeiten auf alle Weiſe zu ſorgen.
Jagd und Spielparthien, kurze Promena¬ den, Gelegenheiten zu vertraulichen einſamen Geſprächen waren für die ältern Perſonen bereitet, und derjenige, der am frühſten zu326 Bette ging, war auch gewiß am weiteſten von allem Lärm einquartirt.
Durch dieſe gute Ordnung ſchien der Raum, in dem wir uns befanden, eine kleine Welt zu ſeyn, und doch, wenn man es bey nahem betrachtete, war das Schloß nicht groß, und man würde ohne genaue Kennt¬ niß deſſelben und ohne den Geiſt des Wir¬ thes wohl ſchwerlich ſo viele Leute darin be¬ herbergt, und jeden nach ſeiner Art bewir¬ thet haben.
So angenehm uns der Anblick eines wohl¬ geſtalteten Menſchen iſt, ſo angenehm iſt uns eine ganze Einrichtung, aus der uns die Gegenwart eines verſtändigen, vernünf¬ tigen Weſens fühlbar wird. Schon in ein reinliches Haus zu kommen, iſt eine Freude, wenn es auch ſonſt geſchmacklos gebauet und verziert iſt; denn es zeigt uns die Gegen¬ wart wenigſtens von Einer Seite gebildeter327 Menſchen. Wie doppelt angenehm iſt es uns alſo, wenn aus einer menſchlichen Woh¬ nung uns der Geiſt einer höhern, obgleich auch nur ſinnlichen, Kultur entgegen ſpricht!
Mit vieler Lebhaftigkeit ward mir dieſes auf dem Schloſſe meines Oheims anſchau¬ lich. Ich hatte vieles von Kunſt gehört und geleſen, Philo ſelbſt war ein großer Liebha¬ ber von Gemälden, und hatte eine ſchöne Sammlung; auch ich ſelbſt hatte viel ge¬ zeichnet; aber theils war ich zu ſehr mit meinen Empfindungen beſchäftigt, und trach¬ tete nur das eine, was Noth iſt, erſt recht ins Reine zu bringen, theils ſchienen doch alle die Sachen, die ich geſehen hatte, mich wie die übrigen weltlichen Dinge zu zer¬ ſtreuen. Nun war ich zum erſtenmal durch etwas Äußerliches auf mich ſelbſt zurück ge¬ führt, und ich lernte den Unterſchied zwiſchen dem natürlichen vortreflichen Geſang der328 Nachtigall und einem vierſtimmigen Halle¬ lujah aus gefühlvollen Menſchenkehlen zu meiner größten Verwunderung erſt kennen.
Ich verbarg meine Freude über dieſe neue Anſchauung meinem Oheim nicht, der, wenn alles andere in ſein Theil gegangen war, ſich mit mir beſonders zu unterhalten pflegte. Er ſprach mit großer Beſcheidenheit von dem, was er beſaß und hervorgebracht hatte, mit großer Sicherheit von dem Sin¬ ne, in dem es geſammlet und aufgeſtellt wor¬ den war, und ich konnte wohl merken, daß er mit Schonung für mich redete, indem er nach ſeiner alten Art das Gute, wovon er Herr und Meiſter zu ſeyn glaubte, demjeni¬ gen unterzuordnen ſchien, was nach meiner Überzeugung das rechte und beſte war.
Wenn wir uns, ſagte er einmal, als möglich denken können, daß der Schöpfer der Welt ſelbſt die Geſtalt ſeiner Creatur329 angenommen, und auf ihre Art und Weiſe ſich eine Zeitlang auf der Welt befunden habe; ſo muß uns dieſes Geſchöpf ſchon un¬ endlich vollkommen erſcheinen, weil ſich der Schöpfer ſo innig damit vereinigen konnte. Es muß alſo in dem Begriff des Menſchen kein Widerſpruch mit dem Begriff der Gott¬ heit liegen, und wenn wir auch oft eine ge¬ wiſſe Unähnlichkeit und Entfernung von ihr empfinden, ſo iſt es doch um deſto mehr un¬ ſere Schuldigkeit, nicht immer wie der Ad¬ vokat des böſen Geiſtes nur auf die Blößen und Schwächen unſerer Natur zu ſehen, ſondern eher alle Vollkommenheiten aufzuſu¬ chen, wodurch wir die Anſprüche unſrer Gott¬ ähnlichkeit beſtätigen können.
Ich lächelte und verſetzte: beſchämen Sie mich nicht zu ſehr, lieber Oheim, durch die Gefälligkeit in meiner Sprache zu reden! Das was Sie mir zu ſagen haben, iſt für330 mich von ſo großer Wichtigkeit, daß ich es in Ihrer eigenſten Sprache zu hören wünſch¬ te, und ich will alsdann, was ich mir davon nicht ganz zueignen kann, ſchon zu überſe¬ tzen ſuchen.
Ich werde, ſagte er darauf, auch auf meine eigenſte Weiſe, ohne Veränderung des Tons fortfahren können. Des Menſchen größtes Verdienſt bleibt wohl, wenn er die Umſtände ſo viel als möglich beſtimmt und ſich ſo wenig als möglich von ihnen beſtim¬ men läßt. Das ganze Weltweſen liegt vor uns, wie ein großer Steinbruch vor dem Baumeiſter, der nur dann den Nahmen ver¬ dient, wenn er aus dieſen zufälligen Natur¬ maſſen, ein in ſeinem Geiſte entſprungenes Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmä¬ ßigkeit und Feſtigkeit zuſammen ſtellt. Alles außer uns iſt nur Element, ja ich darf wohl ſagen, auch alles an uns; aber tief in uns331 liegt dieſe ſchöpferiſche Kraft, die das zu er¬ ſchaffen vermag, was ſeyn ſoll, und uns nicht ruhen und raſten läßt, bis wir es au¬ ßer uns oder an uns auf eine oder die an¬ dere Weiſe dargeſtellt haben. Sie, liebe Nichte, haben vielleicht das beſte Theil er¬ wählt; Sie haben Ihr ſittliches Weſen, Ihre tiefe liebevolle Natur mit ſich ſelbſt und mit dem höchſten Weſen übereinſtimmend zu machen geſucht, indeß wir andere wohl auch nicht zu tadeln ſind, wenn wir den ſinnlichen Menſchen in ſeinem Umfange zu kennen und thätig in Einheit zu bringen ſuchen.
Durch ſolche Geſpräche wurden wir nach und nach vertrauter, und ich erlangte von ihm, daß er mit mir, ohne Condescendenz, wie mit ſich ſelbſt ſprach. Glauben Sie nicht, ſagte der Oheim zu mir, daß ich Ih¬ nen ſchmeichle, wenn ich Ihre Art zu denken und zu handeln lobe. Ich verehre den Men¬332 ſchen, der deutlich weiß, was er will, unab¬ läſſig vorſchreitet, die Mittel zu ſeinem Zwecke kennt und ſie zu ergreifen und zu brauchen weiß; in wie fern ſein Zweck groß oder klein ſey, Lob oder Tadel verdiene, das kommt bey mir erſt nachher in Betrachtung. Glauben Sie mir, meine Liebe, der größte Theil des Unheils und deſſen was man bös in der Welt nennt, entſteht bloß, weil die Men¬ ſchen zu nachläſſig ſind ihre Zwecke recht kennen zu lernen, und wenn ſie ſolche ken¬ nen, ernſthaft darauf los zu arbeiten. Sie kommen mir vor wie Leute, die den Begriff haben, es könne und müſſe ein Thurm ge¬ bauet werden, und die doch an den Grund nicht mehr Steine und Arbeit verwenden, als man allenfalls einer Hütte unterſchlüge. Hätten Sie meine Freundin, deren höchſtes Bedürfniß war, mit Ihrer innern ſittlichen Natur ins reine zu kommen, anſtatt der333 großen und kühnen Aufopferungen, ſich zwi¬ ſchen Ihrer Familie, einem Bräutigam, viel¬ leicht einem Gemahl nur ſo hin beholfen, Sie würden, in einem ewigen Widerſpruch mit ſich ſelbſt, niemals einen zufriedenen Au¬ genblick genoſſen haben.
Sie brauchen, verſetzt ich hier, das Wort Aufopferung, und ich habe manchmal gedacht, wie wir einer höhern Abſicht, gleichſam wie einer Gottheit, das geringere zum Opfer darbringen, ob es uns ſchon am Herzen liegt, wie man ein geliebtes Schaf für die Geſund¬ heit eines verehrten Vaters gern und willig zum Altar führte.
Was es auch ſey, verſetzte er, der Ver¬ ſtand oder die Empfindung, das uns eins für das andere hingeben, eins vor dem an¬ dern wählen heißt, ſo iſt Entſchiedenheit und Folge, nach meiner Meynung, das vereh¬ rungswürdigſte am Menſchen. Man kann334 die Waare und das Geld nicht zugleich ha¬ ben! und der iſt eben ſo übel daran, dem es immer nach der Waare gelüſtet, ohne daß er das Herz hat das Geld hinzugeben, als der, den der Kauf reut, wenn er die Waare in Händen hat. Aber ich bin weit entfernt, die Menſchen deshalb zu tadeln, denn ſie ſind eigentlich nicht Schuld, ſondern die ver¬ wickelte Lage, in der ſie ſich befinden, und in der ſie ſich nicht zu regieren wiſſen. So werden Sie, zum Beyſpiel, im Durchſchnitt, weniger üble Wirthe auf dem Lande als in den Städten finden, und wieder in kleinen Städten weniger als in großen, und warum? Der Menſch iſt zu einer beſchränkten Lage gebohren, einfache, nahe, beſtimmte Zwecke, vermag er einzuſehen, und er gewöhnt ſich die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand ſind; ſobald er aber ins weite kommt, weiß er weder was er will, noch was er ſoll,335 und es iſt ganz einerley, ob er durch die Menge der Gegenſtände zerſtreut, oder ob er durch die Höhe und Würde derſelben au¬ ßer ſich geſetzt werde. Es iſt immer ſein Un¬ glück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu ſtreben, mit dem er ſich durch eine regel¬ mäßige Selbſtthätigkeit nicht verbinden kann.
Fürwahr, fuhr er fort, ohne Ernſt iſt in der Welt nichts möglich, und unter denen, die wir gebildete Menſchen nennen, iſt eigent¬ lich wenig Ernſt zu finden, ſie gehen, ich möchte ſagen, gegen Arbeiten und Geſchäfte, gegen Künſte, ja gegen Vergnügungen nur mit einer Art von Selbſtvertheidigung zu Werke, man lebt wie man ein Pack Zeitun¬ gen lieſt, nur damit man ſie los werde, und es fällt mir dabey jener junge Engländer in Rom ein, der Abends, in einer Geſellſchaft, ſehr zufrieden erzählte: daß er doch heute ſechs Kirchen und zwey Gallerien bey Seite336 gebracht habe. Man will mancherley wiſſen und kennen, und gerade das was einen am wenigſten angeht, und man bemerkt nicht, daß kein Hunger dadurch geſtillt wird, wenn man nach der Luft ſchnappt. Wenn ich ei¬ nen Menſchen kennen lerne, frage ich ſogleich, womit beſchäfftigt er ſich? und wie und in welcher Folge? und mit der Beantwortung der Frage iſt auch mein Intereſſe an ihm auf Zeitlebens entſchieden.
Sie ſind, lieber Oheim, verſetzte ich dar¬ auf, vielleicht zu ſtrenge und entziehen man¬ chem guten Menſchen, dem Sie nützlich ſeyn könnten, Ihre hülfreiche Hand.
Iſt es dem zu verdenken, antwortete er, der ſo lange vergebens an ihnen und um ſie gearbeitet hat. Wie ſehr leidet man nicht in der Jugend von Menſchen die uns zu einer angenehmen Luſtparthie einzuladen glauben, wenn ſie uns in der Geſellſchaftder337der Danaiden, oder des Syſiphus zu bringen verſprechen. Gott ſey Dank, ich habe mich von ihnen los gemacht, und wenn einer un¬ glücklicher Weiſe in meinen Kreis kommt, ſuche ich ihn auf die höflichſte Art hinaus zu komplimentiren; denn grade von dieſen Leuten hört man die bitterſten Klagen über den verworrenen Lauf der Welthändel, über die Seichtigkeit der Wiſſenſchaften, über den Leichtſinn der Künſtler, über die Leerheit der Dichter und was alles noch mehr iſt. Sie bedenken am wenigſten, daß eben ſie ſelbſt und die Menge, die ihnen gleich iſt, grade das Buch nicht leſen würden, das geſchrieben wäre wie ſie es fordern, daß ihnen die ächte Dichtung fremd ſey, und daß ſelbſt ein gutes Kunſtwerk nur durch Vorurtheil ihren Bey¬ fall erlangen könne. Doch laſſen Sie uns abbrechen, es iſt hier keine Zeit zu ſchelten noch zu klagen.
W. Meiſters Lehrj. 3. Y338Er leitete meine Aufmerkſamkeit auf die verſchiedenen Gemählde, die an der Wand aufgehängt waren, mein Auge hielt ſich an die, deren Anblick reizend, oder deren Gegen¬ ſtand bedeutend war; er ließ es eine Weile geſchehen, dann ſagte er: gönnen Sie nun auch dem Genius, der dieſe Werke hervorge¬ bracht hat, einige Aufmerkſamkeit. Gute Ge¬ müther ſehen ſo gerne den Finger Gottes in der Natur, warum ſollte man nicht auch der Hand ſeines Nachahmers einige Betrachtung ſchenken? Er machte mich ſodann auf un¬ ſcheinbare Bilder aufmerkſam, und ſuchte mir begreiflich zu machen, daß eigentlich die Ge¬ ſchichte der Kunſt uns bloß den Begriff von dem Werth und der Würde eines Kunſtwerks geben könne, daß man erſt die beſchwerlichen Stufen des Mechanismus und des Hand¬ werks, an denen der fähige Menſch ſich Jahr¬ hunderte lang hinauf arbeitet, kennen müſſe339 um zu begreifen wie es möglich ſey, daß das Genie auf dem Gipfel, bey deſſen blo¬ ßen Anblick uns ſchwindelt, ſich frey und fröhlich bewege.
Er hatte in dieſem Sinne eine ſchöne Reihe zuſammen gebracht, und ich konnte mich nicht enthalten als er mir ſie auslegte, die moraliſche Bildung hier wie im Gleich¬ niſſe vor mir zu ſehen. Als ich ihm meine Gedanken äußerte, verſetzte er: Sie haben vollkommen Recht, und wir ſehen daraus: daß man nicht wohl thut, der ſittlichen Bil¬ dung, einſam, in ſich ſelbſt verſchloſſen, nach¬ zuhängen; vielmehr wird man finden daß derjenige, deſſen Geiſt nach einer moraliſchen Cultur ſtrebt, alle Urſache hat, ſeine feinere Sinnlichkeit zugleich mit auszubilden, damit er nicht in Gefahr komme, von ſeiner mora¬ liſchen Höhe herab zu gleiten, indem er ſich den Lockungen einer regelloſen PhantaſieY 2340übergiebt, und ſich in Gefahr ſetzt, ſeine edlere Natur durch Vergnügen an geſchmackloſen Tändeleyen, wo nicht an was ſchlimmerem herab zu würdigen.
Ich hatte ihn nicht in Verdacht, daß er auf mich ziele, aber ich fühlte mich getroffen, wenn ich zurück dachte, daß unter den Lie¬ dern, die mich erbauet hatten, manches abge¬ ſchmackte mochte geweſen ſeyn, und daß die Bildchen, die ſich an meine geiſtlichen Ideen anſchloſſen, wohl ſchwerlich vor den Augen des Oheims würden Gnade gefunden haben.
Philo hatte ſich indeſſen öfters in der Bi¬ bliothek aufgehalten, und führte mich nun¬ mehr auch in ſelbiger ein. Wir bewunderten die Auswahl und dabey die Menge der Bü¬ cher. Sie waren in jedem Sinne geſammlet; denn es waren beynahe auch nur ſolche darin zu finden, die uns zur deutlichen Erkenntniß führen, oder uns zur rechten Ordnung an¬341 weiſen; die uns entweder rechte Materialien geben, oder uns von der Einheit unſres Gei¬ ſtes überzeugen.
Ich hatte in meinen Leben unſäglich ge¬ leſen und in gewiſſen Fächern war mir faſt kein Buch unbekannt, um deſto angenehmer war mirs hier von der Überſicht des Gan¬ zen zu ſprechen, und Lücken zu bemerken, wo ich ſonſt nur eine beſchränkte Verwirrung oder eine unendliche Ausdehnung geſehen hatte.
Zugleich machten wir die Bekanntſchaft eines ſehr intereſſanten ſtillen Mannes. Er war Arzt und Naturforſcher, und ſchien mehr zu den Penaten als zu den Bewohnern des Hauſes zu gehören. Er zeigte uns das Naturalienkabinet, das, wie die Bibliothek, in verſchloſſenen Glasſchränken, zugleich die Wände der Zimmer verzierte und den Raum veredelte ohne ihn zu verengern. Hier erin¬342 nerte ich mich mit Freuden meiner Jugend, und zeigte meinem Vater mehrere Gegen¬ ſtände, die er ehemals auf das Krankenbette ſeines, kaum in die Welt blickenden Kindes gebracht hatte. Dabey verhehlte der Arzt ſo wenig als bey folgenden Unterredungen, daß er ſich mir, in Abſicht auf religiöſe Ge¬ ſinnungen nähere, lobte dabey den Oheim außerordentlich wegen ſeiner Toleranz und Schätzung von allem, was den Werth und die Einheit der menſchlichen Natur anzeige und befördere, nur verlange er freylich von allen andern Menſchen ein gleiches und pflege nichts ſo ſehr, als individuellen Dünkel und ausſchließende Beſchränktheit, zu verdammen oder zu fliehen.
Seit der Trauung meiner Schweſter ſah’ dem Oheim die Freude aus den Augen, und er ſprach verſchiedene mal mit mir über das, was er für ſie und ihre Kinder zu thun343 denke. Er hatte ſchöne Güter, die er ſelbſt bewirthſchaftete, und die er, in dem beſten Zuſtande, ſeinen Neffen zu übergeben hoffte. Wegen des kleinen Guthes, auf dem wir uns befanden, ſchien er beſondere Gedanken zu hegen: ich werde es, ſagte er, nur einer Perſon überlaſſen, die zu kennen, zu ſchätzen und zu genießen weiß was es enthält, und die einſieht, wie ſehr ein Reicher und Vor¬ nehmer, beſonders in Deutſchland, Urſache habe etwas muſtermäßiges aufzuſtellen.
Schon war der größte Theil der Gäſte nach und nach verflogen, wir bereiteten uns zum Abſchied und glaubten die letzte Scene der Feyerlichkeit erlebt zu haben, als wir aufs neue durch ſeine Aufmerkſamkeit, uns ein würdiges Vergnügen zu machen, über¬ raſcht wurden. Wir hatten ihm das Ent¬ zücken nicht verbergen können, das wir fühl¬ ten, als bey meiner Schweſter Trauung ein344 Chor Menſchenſtimmen ſich, ohne alle Be¬ gleitung irgend eines Inſtruments, hören ließ. Wir legten es ihm nahe genug, uns das Vergnügen noch einmal zu verſchaffen; er ſchien nicht darauf zu merken. Wie über¬ raſcht waren wir daher, als er eines Abends zu uns ſagte: die Tanzmuſik hat ſich ent¬ fernt; die jungen, flüchtigen Freunde haben uns verlaſſen; das Ehepaar ſelbſt ſieht ſchon ernſthafter aus als vor einigen Tagen, und in einer ſolchen Epoche von einander zu ſchei¬ den, da wir uns vielleicht nie, wenigſtens anders wiederſehen, regt uns zu einer feyer¬ lichen Stimmung, die ich nicht edler nähren kann, als durch eine Muſik, deren Wieder¬ hohlung Sie ſchon früher zu wünſchen ſchienen.
Er ließ durch das indeß verſtärkte und im Stillen noch mehr geübte Chor, uns vier und achtſtimmige Geſänge vortragen, die345 uns, ich darf wohl ſagen, wirklich einen Vor¬ ſchmack der Seeligkeit gaben. Ich hatte bisher nur den frommen Geſang gekannt, in welchem gute Seelen oft mit heiſerer Kehle, wie die Waldvögelein, Gott zu loben glau¬ ben, weil ſie ſich ſelbſt eine angenehme Em¬ pfindung machen; dann die eitle Muſik der Concerte, in denen man allenfalls zur Be¬ wunderung eines Talents, ſelten aber, auch nur zu einem vorübergehenden Vergnügen hingeriſſen wird. Nun vernahm ich eine Muſik aus dem tiefſten Sinne der trefflich ſten menſchlichen Naturen entſprungen, die, durch beſtimmte und geübte Organe in har¬ moniſcher Einheit wieder zum tiefſten beſten Sinne des Menſchen ſprach und ihn wirk¬ lich in dieſem Augenblicke ſeine Gottähnlich¬ keit lebhaft empfinden ließ. Alles waren lateiniſche, geiſtliche Geſänge, die ſich, wie Juwelen, in dem goldnen Ringe einer geſit¬346 teten weltlichen Geſellſchaft ausnahmen, und mich, ohne Anforderung einer ſo genannten Erbauung, auf das geiſtigſte erhoben und glücklich machten.
Bey unſerer Abreiſe wurden wir alle auf das edelſte beſchenkt. Mir überreichte er das Ordenskreuz meines Stiftes, kunſtmäßiger und ſchöner gearbeitet und emaillirt, als man es ſonſt zu ſehen gewohnt war. Es hing an einem großen Brillanten, wodurch es zu¬ gleich an das Band befeſtigt wurde, und den er als den edelſten Stein einer Naturalien¬ ſammlung anzuſehen bat.
Meine Schweſter zog nun mit ihrem Ge¬ mahl auf ſeine Güter; wir andern kehrten alle nach unſern Wohnungen zurück und ſchienen uns, was unſere äußre Umſtände anbetraf, in ein ganz gemeines Leben zurück gekehrt zu ſeyn. Wir waren, wie aus einem Feenſchloß, auf die platte Erde geſetzt, und347 mußten uns nach unſrer Weiſe wieder beneh¬ men und behelfen.
Die ſonderbaren Erfahrungen die ich in jenem neuen Kreiſe gemacht hatte, ließen ei¬ nen ſchönen Eindruck bey mir zurück, doch blieb er nicht lange in ſeiner ganzen Lebhaf¬ tigkeit, obgleich der Oheim ihn zu unterhal¬ ten und zu erneuern ſuchte, indem er mir, von Zeit zu Zeit, von ſeinen beſten und ge¬ fälligſten Kunſtwerken zuſandte, und wenn ich ſie lange genug genoſſen hatte, wieder mit andern vertauſchte.
Ich war zu ſehr gewohnt, mich mit mir ſelbſt zu beſchäftigen, die Angelegenheiten meines Herzens und meines Gemüthes in Ordnung zu bringen, und mich davon mit ähnlich geſinnten Perſonen zu unterhalten, als daß ich mit Aufmerkſamkeit ein Kunſt¬ werk hätte betrachten ſollen, ohne bald auf mich ſelbſt zurück zu kehren. Ich war ge¬348 wohnt, ein Gemählde und einen Kupferſtich nur anzuſehen, wie die Buchſtaben eines Buchs. Ein ſchöner Druck gefällt wohl, aber wer wird ein Buch des Druckes wegen in die Hand nehmen? So ſollte mir auch eine bildliche Darſtellung etwas ſagen, ſie ſollte mich belehren, rühren, beſſern, und der Oheim mochte in ſeinen Briefen, mit denen er ſeine Kunſtwerke erläuterte, reden was er wollte, ſo blieb es mit mir doch immer beym Alten.
Doch mehr als meine eigene Natur zo¬ gen mich äußere Begebenheiten, die Verän¬ derungen in meiner Familie von ſolchen Be¬ trachtungen, ja eine Weile von mir ſelbſt ab; ich mußte dulden und würken, mehr, als meine ſchwachen Kräfte zu ertragen ſchienen.
Meine ledige Schweſter war bisher mein rechter Arm geweſen; geſund, ſtark und un¬ beſchreiblich gütig hatte ſie die Beſorgung der Haushaltung über ſich genommen, wie349 mich die perſönliche Pflege des alten Vaters beſchäftigte. Es überfällt ſie ein Kathar, woraus eine Bruſtkrankheit wird, und in drey Wochen liegt ſie auf der Bahre; ihr Tod ſchlug mir Wunden, deren Narben ich jetzt noch nicht gerne anſehe.
Ich lag krank zu Bette, ehe ſie noch be¬ erdiget war; der alte Schaden auf meiner Bruſt ſchien aufzuwachen, ich huſtete heftig, und war ſo heiſer daß ich keinen lauten Ton hervorbringen konnte.
Die verheirathete Schweſter kam vor Schrecken und Betrübniß zu früh in die Wochen. Mein alter Vater fürchtete, ſeine Kinder und die Hoffnung ſeiner Nachkom¬ menſchaft auf einmal zu verliehren, ſeine gerechte Thränen vermehrten meinen Jam¬ mer; ich flehte zu Gott um Herſtellung einer leidlichen Geſundheit, und bat ihn nur mein Leben bis nach dem Tode des Vaters zu350 friſten. Ich genaß, und war nach meiner Art wohl, konnte wieder meine Pflichten, obgleich nur auf eine kümmerliche Weiſe, er¬ füllen.
Meine Schweſter ward wieder guter Hoffnung. Mancherley Sorgen, die in ſol¬ chen Fällen der Mutter anvertraut werden, wurden mir mitgetheilt; ſie lebte nicht ganz glücklich mit ihrem Manne, das ſollte dem Vater verborgen bleiben, ich mußte Schieds¬ richter ſeyn, und konnte es um ſo eher, da mein Schwager Zutrauen zu mir hatte, und beyde wirklich gute Menſchen waren, nur daß beyde, anſtatt einander nachzuſehen, mit einander rechteten, und aus Begierde, völlig mit einander überein zu leben, niemals einig werden konnten. Nun lernte ich auch die weltlichen Dinge mit Ernſt angreifen, und das ausüben, was ich ſonſt nur geſungen hatte.
351Meine Schweſter gebahr einen Sohn, die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte ihn nicht, zu ihr zu reiſen. Beym Anblick des Kindes war er unglaublich heiter und froh, und bey der Taufe erſchien er mir ge¬ gen ſeine Art wie begeiſtert, ja ich möchte ſagen, als ein Genius mit zwey Geſichtern. Mit dem einen blickte er freudig vorwärts in jene Regionen, in die er bald einzugehen hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬ nungsvolle irdiſche Leben, das in dem Kna¬ ben entſprungen war, der von ihm abſtamm¬ te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege mich von dem Kinde zu unterhalten, von ſeiner Geſtalt, ſeiner Geſundheit, und dem Wunſche, daß die Anlagen dieſes neuen Welt¬ bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬ ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬ ten fort, als wir zu Hauſe anlangten, und erſt nach einigen Tagen bemerkte man eine352 Art Fieber, das ſich nach Tiſch ohne Froſt und durch eine etwas ermattende Hitze äuſ¬ ſerte. Er legte ſich jedoch nicht nieder, fuhr des morgens aus und verſah treulich ſeine Amtsgeſchäfte, bis ihn endlich anhaltende, ernſthafte Symptome davon abhielten.
Nie werde ich die Ruhe des Geiſtes, die Klarheit und Deutlichkeit vergeſſen, womit er die Angelegenheiten ſeines Hauſes, die Beſorgung ſeines Begräbniſſes, als wie das Geſchäft eines andern, mit der größten Ord¬ nung vornahm.
Mit einer Heiterkeit, die ihm ſonſt nicht eigen war, und die bis zu einer lebhaften Freude ſtieg, ſagte er zu mir: wo iſt die Todesfurcht hingekommen, die ich ſonſt noch wohl empfand? ſollt ich zu ſterben ſcheuen? ich habe einen gnädigen Gott, das Grab er¬ weckt mir kein Grauen, ich habe ein ewiges Leben.
Mir353Mir die Umſtände ſeines Todes zurück zu rufen, der bald darauf erfolgte, iſt in mei¬ ner Einſamkeit eine meiner angenehmſten Unterhaltungen, und die ſichtbaren Wirkun¬ gen einer höhern Kraft dabey wird mir nie¬ mand wegräſonniren.
Der Tod meines lieben Vaters veränder¬ te meine bisherige Lebensart. Aus dem ſtrengſten Gehorſam, aus der größten Ein¬ ſchränkung kam ich in die größte Freiheit, und ich genoß ihrer wie einer Speiſe die man lange entbehrt hat. Sonſt war ich ſel¬ ten zwey Stunden außer dem Hauſe, nun verlebte ich kaum Einen Tag in meinem Zimmer. Meine Freunde, bey denen ich ſonſt nur abgeriſſene Beſuche machen konnte, wollten ſich meines anhaltenden Umgangs, ſo wie ich mich des ihrigen, erfreuen, öfters wurde ich zu Tiſche geladen, Spazierfahrten und kleine Luſtreiſen kamen hinzu, und ichW. Meiſters Lehrj. 3. Z354blieb nirgends zurück. Als aber der Zirkel durchlaufen war, ſo ſahe ich, daß das un¬ ſchätzbare Glück der Freiheit nicht darin beſteht, daß man alles thut, was man thun mag, und wozu uns die Umſtände einladen ſondern, daß man das ohne Hinderniß und Rückhalt, auf dem graden Wege, thun kann, was man für recht und ſchicklich hält, und ich war alt genug, in dieſem Falle, ohne Lehrgeld zu der ſchönen Überzeugung zu ge¬ langen.
Was ich mir nicht verſagen konnte, war, ſobald als nur möglich, den Umgang mit den Gliedern der Herrnhuthiſchen Gemeine fortzuſetzen, und feſter zu knüpfen, und ich eilte eine ihrer nächſten Einrichtungen zu be¬ ſuchen: aber auch da fand ich keinesweges, was ich mir vorgeſtellt hatte. Ich war ehr¬ lich genug meine Meinung merken zu laſſen, und man ſuchte mir hinwieder beyzubringen:355 dieſe Verfaſſung ſey gar nichts gegen eine ordentlich eingerichtete Gemeine. Ich konn¬ te mir das gefallen laſſen, doch hätte nach meiner Überzeugung der wahre Geiſt, aus einer kleinen ſo gut, als aus einer großen Anſtalt, hervorblicken ſollen.
Einer ihrer Biſchöfe, der gegenwärtig war, ein unmittelbarer Schüler des Grafen, beſchäftigte ſich viel mit mir; er ſprach voll¬ kommen Engliſch; und weil ich es ein we¬ nig verſtand, meinte er, es ſey ein Wink, daß wir zuſammen gehörten; ich meinte es aber ganz und gar nicht, ſein Umgang konn¬ te mir nicht im geringſten gefallen. Er war ein Meſſerſchmidt, ein gebohrner Mähre, ſeine Art zu denken konnte das handwerks¬ mäßige nicht verleugnen. Beſſer verſtand ich mich mit dem Herrn von L*, der Ma¬ jor in franzöſiſchen Dienſten geweſen war; aber zu der Unterthänigkeit, die er gegenZ 2356ſeinen Vorgeſetzten bezeigte, fühlte ich mich niemals fähig; ja es war mir als wenn man mir eine Ohrfeige gäbe, wenn ich die Ma¬ jorin und andere, mehr oder weniger ange¬ ſehene, Frauen dem Biſchof die Hand küſſen ſah. Indeſſen wurde doch eine Reiſe nach Holland verabredet, die aber, und gewiß zu meinem Beſten, niemals zu Stande kam.
Meine Schweſter war mit einer Tochter niedergekommen, und nun war die Reihe an uns Frauen zufrieden zu ſeyn, und zu den¬ ken, wie ſie dereinſt, uns ähnlich, erzogen werden ſollte. Mein Schwager war dage¬ gen ſehr unzufrieden, als in dem Jahre dar¬ auf abermals eine Tochter erfolgte; er wünſchte bey ſeinen großen Gütern Kna¬ ben um ſich zu ſehen, die ihm einſt in der Verwaltung beyſtehen könnten.
Ich hielt mich bey meiner ſchwachen Ge¬ ſundheit ſtill, und bey einer ruhigen Lebens¬357 art ziemlich im Gleichgewicht, ich fürchtete den Tod nicht, ja ich wünſchte zu ſterben, aber ich fühlte in der Stille, daß mir Gott Zeit gebe, meine Seele zu unterſuchen und ihm immer näher zu kommen. In den vielen ſchlafloſen Nächten habe ich beſonders etwas empfunden, das ich eben nicht deutlich be¬ ſchreiben kann.
Es war als wenn meine Seele ohne Ge¬ ſellſchaft des Körpers dächte, ſie ſah den Körper ſelbſt als ein, ihr fremdes, Weſen an, wie man etwa ein Kleid anſieht. Sie ſtellte ſich mit einer außerordentlichen Leb¬ haftigkeit die vergangenen Zeiten und Bege¬ benheiten vor, und fühlte daraus, was fol¬ gen werde. Alle dieſe Zeiten ſind dahin, was folgt wird auch dahin gehen; der Kör¬ per wird wie ein Kleid zerreißen, aber Ich, das wohlbekannte Ich, Ich bin.
Dieſem großen, erhabenen und tröſtlichen358 Gefühle ſo wenig als nur möglich nachzu¬ hängen, lehrte mich ein edler Freund, der ſich mir immer näher verband; es war der Arzt, den ich in dem Hauſe meines Oheims hatte kennen lernen, und der ſich von der Verfaſſung meines Körpers und meines Gei¬ ſtes ſehr gut unterrichtet hatte; er zeigte mir wie ſehr dieſe Empfindungen, wenn wir ſie, unabhängig von äußern Gegenſtänden, in uns nähren, uns gewiſſermaßen aushöh¬ len und den Grund unſeres Daſeyns unter¬ graben. Thätig zu ſeyn, ſagte er, iſt des Menſchen erſte Beſtimmung, und alle Zwi¬ ſchenzeiten, in denen er auszuruhen genöthi¬ get iſt, ſollte er anwenden eine deutliche Er¬ kenntniß der äuſſerlichen Dinge zu erlangen, die ihm in der Folge abermals ſeine Thä¬ tigkeit erleichtert.
Da der Freund meine Gewohnheit kann¬ te, meinen eigenen Körper als einen äußern359 Gegenſtand anzuſehn, und da er wußte, daß ich meine Conſtitution, mein Übel, und die mediciniſchen Hülfsmittel ziemlich kannte, und ich wirklich durch anhaltende eigene und fremde Leiden ein halber Arzt geworden war, ſo leitete er meine Aufmerkſamkeit von der Kenntniß des menſchlichen Körpers und der Specereyen, auf die übrigen nachbarlichen Gegenſtände der Schöpfung, und führte mich wie im Paradieſe umher, und nur zuletzt, wenn ich mein Gleichniß fortſetzen darf, ließ er mich den in der Abendkühle im Garten wandelnden Schöpfer aus der Entfernung ahnden.
Wie gerne ſah ich nunmehr Gott in der Natur, da ich ihn mit ſolcher Gewißheit im Herzen trug, wie intereſſant war mir das Werk ſeiner Hände, und wie dankbar war ich, daß er mich mit dem Athem ſeines Mun¬ des hatte beleben wollen.
360Wir hofften aufs neue, mit meiner Schwe¬ ſter, auf einen Knaben, dem mein Schwager ſo ſehnlich entgegen ſah, und deſſen Geburt er leider nicht erlebte. Der wackere Mann ſtarb an den Folgen eines unglücklichen Sturzes vom Pferde, und meine Schweſter folgte ihm, nachdem ſie der Welt einen ſchö¬ nen Knaben gegeben hatte. Ihre vier hin¬ terlaſſenen Kinder konnte ich nur mit Weh¬ muth anſehn. So manche geſunde Perſon war vor mir, der Kranken, hingegangen, ſoll¬ te ich nicht vielleicht von dieſen hoffnungs¬ vollen Blüthen manche abfallen ſehen? Ich kannte die Welt genug, um zu wiſſen, un¬ ter wie vielen Gefahren ein Kind, beſonders in dem höheren Stande, herauf wächſt, und es ſchien mir, als wenn ſie ſeit der Zeit mei¬ ner Jugend ſich für die gegenwärtige Welt noch vermehrt hätten. Ich fühlte daß ich, bey meiner Schwäche, wenig oder nichts für361 die Kinder zu thun im Stande ſey, um deſto erwünſchter war mir des Oheims Ent¬ ſchluß, der natürlich aus ſeiner Denkungsart entſprang, ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf die Erziehung dieſer liebenswürdigen Ge¬ ſchöpfe zu verwenden. Und gewiß, ſie ver¬ dienten es in jedem Sinne, ſie waren wohl¬ gebildet, und verſprachen, bey ihrer großen Verſchiedenheit, ſämmtlich gutartige und ver¬ ſtändige Menſchen zu werden.
Seitdem mein guter Arzt mich aufmerk¬ ſam gemacht hatte, betrachtete ich gern die Familienähnlichkeit in Kindern und Ver¬ wandten. Mein Vater hatte ſorgfältig die Bilder ſeiner Vorfahren aufbewahrt, ſich ſelbſt und ſeine Kinder von leidlichen Mei¬ ſtern mahlen laſſen, auch war meine Mut¬ ter und ihre Verwandten nicht vergeſſen worden. Wir kannten die Charactere der ganzen Familie genau, und da wir ſie oft362 unter einander verglichen hatten, ſo ſuchten wir nun bey den Kindern die Ähnlichkeiten des äuſſern und innern wieder auf. Der älteſte Sohn meiner Schweſter ſchien ſeinem Großvater, väterlicher Seite, zu gleichen, von dem ein jugendliches Bild ſehr gut ge¬ mahlt in der Sammlung unſeres Oheims aufgeſtellt war, auch liebte er wie jener, der ſich immer als ein braver Officier gezeigt hatte, nichts ſo ſehr als das Gewehr, wo¬ mit er ſich immer, ſo oft er mich beſuchte, beſchäftigte. Denn mein Vater hatte einen ſehr ſchönen Gewehrſchrank hinterlaſſen, und der Kleine hatte nicht eher Ruhe, bis ich ihm ein Paar Piſtolen und eine Jagdflinte ſchenkte, und bis er heraus gebracht hatte, wie ein deutſches Schloß aufzuziehen ſey. Übrigens war er in ſeinen Handlungen und ſeinem ganzen Weſen nichts weniger als rauh, ſondern vielmehr ſanft und verſtändig.
363Die älteſte Tochter hatte meine ganze Neigung gefeſſelt, und es mochte wohl da¬ her kommen, weil ſie mir ähnlich ſah, und weil ſie ſich von allen vieren am meiſten zu mir hielt. Aber ich kann wohl ſagen, je genauer ich ſie beobachtete, da ſie heran wuchs, deſto mehr beſchämte ſie mich, und ich konnte das Kind nicht ohne Bewunde¬ rung, ja ich darf beynahe ſagen, nicht ohne Verehrung anſehn. Man ſah nicht leicht eine edlere Geſtalt, ein ruhiger Gemüth und eine immer gleiche, auf keinen Gegenſtand eingeſchränkte, Thätigkeit. Sie war keinen Augenblick ihres Lebens unbeſchäftigt, und jedes Geſchäft ward unter ihren Händen zur würdigen Handlung. Alles ſchien ihr gleich, wenn ſie nur das verrichten konnte, was in der Zeit und am Platz war, und eben ſo konnte ſie ruhig, ohne Ungeduld, bleiben, wenn ſich nichts zu thun fand. Dieſe Thä¬364 tigkeit ohne Bedürfniß einer Beſchäftigung habe ich in meinem Leben nicht wieder geſe¬ hen. Unnachahmlich war von Jugend auf ihr Betragen gegen Nothleidende und Hülfs¬ bedürftige. Ich geſtehe gern, daß ich nie¬ mals das Talent hatte, mir aus der Wohl¬ thätigkeit ein Geſchäft zu machen; ich war nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in meinem Verhältniſſe zu viel dahin, aber ge¬ wiſſermaßen kaufte ich mich nur los, und es mußte mir jemand angebohren ſeyn, wenn er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte. Grade das Gegentheil lobe ich an meiner Nichte. Ich habe ſie niemals einem Armen Geld geben ſehen, und was ſie von mir zu dieſem Endzweck erhielt, verwandelte ſie im¬ mer erſt in das nächſte Bedürfniß. Nie¬ mals erſchien ſie mir liebenswürdiger, als wenn ſie meine Kleider - und Wäſchſchränke plünderte; immer fand ſie etwas, das ich365 nicht trug und nicht brauchte, und dieſe al¬ ten Sachen zuſammen zu ſchneiden und ſie irgend einem zerlumpten Kinde anzupaſſen, war ihre größte Glückſeligkeit.
Die Geſinnungen ihrer Schweſter zeigten ſich ſchon anders, ſie hatte vieles von der Mutter, verſprach ſchon frühe ſehr zierlich und reizend zu werden und ſcheint ihr Ver¬ ſprechen halten zu wollen, ſie iſt ſehr mit ih¬ rem Äußern beſchäfftigt und wußte ſich, von früher Zeit an, auf eine in die Augen fallende Weiſe zu putzen und zu tragen. Ich erin¬ nere mich noch immer, mit welchem Entzük¬ ken ſie ſich als ein kleines Kind im Spiegel beſah, als ich ihr die ſchönen Perlen, die mir meine Mutter hinterlaſſen hatte, und die ſie von ungefähr bey mir fand, umbin¬ den mußte.
Wenn ich dieſe verſchiedenen Neigungen betrachtete, war es mir angenehm zu den¬366 ken, wie meine Beſitzungen, nach meinem Tode, unter ſie zerfallen und durch ſie wieder lebendig werden würden. Ich ſah die Jagd¬ flinten meines Vaters ſchon wieder auf dem Rücken des Neffen im Felde herumwandeln, und aus ſeiner Jagdtaſche ſchon wieder Hüh¬ ner heraus fallen; ich ſah meine ſämmtliche Garderobe bey der Oſterconfirmation, lauter kleinen Mädchen angepaßt, aus der Kirche herauskommen und mit meinen beſten Stof¬ fen ein ſittſames Bürgermädchen an ihrem Brauttage geſchmückt; denn zu Ausſtattung ſolcher Kinder und ehrbarer armer Mädchen hatte Natalie eine beſondere Neigung, ob ſie gleich, wie ich hier bemerken muß, ſelbſt keine Art von Liebe, und wenn ich ſo ſagen darf, kein Bedürfniß einer Anhänglichkeit an ein ſichtbares oder unſichtbares Weſen, wie es ſich bey mir in meiner Jugend ſo lebhaft gezeigt hatte, auf irgend eine Weiſe mer¬ ken ließ.
367Wenn ich nun dachte, daß die Jüngſte an eben demſelben Tage meine Perlen und Juwelen nach Hofe tragen werde, ſo ſah ich mit Ruhe meine Beſitzungen, wie meinem Körper, den Elementen wiedergegeben.
Die Kinder wuchſen heran, und ſind zu meiner Zufriedenheit geſunde, ſchöne und wackre Geſchöpfe. Ich ertrage es mit Geduld, daß der Oheim ſie von mir entfernt hält, und ſehe ſie, wenn ſie in der Nähe oder auch wohl gar in der Stadt ſind, ſelten.
Ein wunderbarer Mann, den man für einen franzöſiſchen Geiſtlichen hält, ohne daß man recht von ſeiner Herkunft unterrichtet iſt, hat die Aufſicht über die ſämmtlichen Kinder, welche an verſchiedenen Orten erzo¬ gen werden und bald hier bald da in der Koſt ſind.
Ich konnte anfangs keinen Plan in dieſer Erziehung ſehn, bis mir mein Arzt zuletzt368 eröffnete: der Oheim habe ſich durch den Ab¬ bé überzeugen laſſen, daß, wenn man an der Erziehung des Menſchen etwas thun wolle, müſſe man ſehen, wohin ſeine Neigungen und ſeine Wünſche gehen? ſodann müſſe man ihn in die Lage verſetzen, jene, ſobald als möglich zu befriedigen, dieſe, ſobald als möglich zu erreichen, damit der Menſch, wenn er ſich geirrt habe, früh genug ſeinen Irrthum gewahr werde, und wenn er das getroffen hat, was für ihn paßt, deſto eifri¬ ger daran halte und ſich deſto emſiger fort¬ bilde. Ich wünſche daß dieſer ſonderbare Verſuch gelingen möge, bey ſo guten Natu¬ ren iſt es vielleicht möglich.
Aber das, was ich nicht an dieſen Erzie¬ hern billigen kann, iſt, daß ſie alles von den Kindern zu entfernen ſuchen, was ſie zu dem Umgange mit ſich ſelbſt und mit dem unſicht¬ baren, einzigen treuen Freund führen könne.
Ja369Ja es verdrießt mich oft von dem Oheim, daß er mich deßhalb für die Kinder für ge¬ fährlich hält. Im praktiſchen iſt doch kein Menſch tolerant! denn wer auch verſichert, daß er jedem ſeine Art und Weſen gerne laſſen wolle, ſucht doch immer diejenigen von der Thätigkeit auszuſchließen, die nicht ſo denken wie er.
Dieſe Art, die Kinder von mir zu entfer¬ nen, betrübt mich deſto mehr, je mehr ich von der Realität meines Glaubens überzeugt ſeyn kann. Warum ſollte er nicht einen göttlichen Urſprung, nicht einen wirklichen Gegenſtand haben, da er ſich im praktiſchen ſo wirkſam erweiſet. Werden wir durchs praktiſche doch unſeres eigenen Daſeyns ſelbſt erſt recht gewiß, warum ſollten wir uns nicht auch auf eben dem Wege von jenem Weſen überzeugen können, das uns zu allem Guten die Hand reicht?
W. Meiſters Lehrj. 3. A a370Daß ich immer vorwärts, nie rückwärts gehe, daß meine Handlungen immer mehr der Idee ähnlich werden, die ich mir von der Vollkommenheit gemacht habe, daß ich täg¬ lich mehr Leichtigkeit fühle das zu thun, was ich für Recht halte, ſelbſt bey der Schwäche meines Körpers, der mir ſo manchen Dienſt verſagt; läßt ſich das alles aus der menſch¬ lichen Natur, deren Verderben ich ſo tief eingeſehen habe, erklären? Für mich nun einmal nicht.
Ich erinnere mich kaum eines Gebotes, nichts erſcheint mir in Geſtalt eines Geſetzes, es iſt ein Trieb der mich leitet und mich im¬ mer recht führet; ich folge mit Freiheit mei¬ nen Geſinnungen, und weiß ſo wenig von Einſchränkung, als von Reue. Gott ſey Dank, daß ich erkenne wem ich dieſes Glück ſchuldig bin und daß ich an dieſe Vorzüge nur mit Demuth denken darf. Denn niemals371 werde ich in Gefahr kommen, auf mein eig¬ nes Können und Vermögen ſtolz zu werden, da ich ſo deutlich erkannt habe, welch Unge¬ heuer in jedem menſchlichen Buſen, wenn eine höhere Kraft uns nicht bewahrt, ſich[er¬ zeugen] und nähren könne.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Fraktur
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