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Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt.
Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt.
Sechste Sammlung.
Riga,1795.bei Johann Friedrich Hartknoch.

Inhalt der ſechsten Sammlung.

  • Br. 63 Wie die Griechiſche Kunſt eine Schule der Humanitaͤt ſei. Vom Werthe rein dargeſtellter Gedan - kenformen. S. 1
  • 64. Vom bedeutenden Ideal der Kind - heit, und des jugendlichen Alters in beiderlei Geſchlechtern. Von ihrer Sprache zum menſchlichen Herzen. S. 9
  • 65. Charaktere ihrer Heldengeſtalten. Herkules. Laokoon. Caſtor und Pollux. Verdienſt der Griechen in Darſtellung dieſer Ideen und Ideale. S. 22
  • Br. 66. Goͤtterformen. Bacchus, Ariadne. Apollo, Diana. Merkur. Aphro - dite. Veſta. Von verſchiednen Claſſen menſchlicher Charaktere. S. 38
  • 67. Mars. Vulcan. Ceres. Pallas. Juno. Zevs. Verſchiedener Ge - brauch und Unterſuchung der My - thologie in verſchiedener Abſicht. S. 51
  • 68. Einwendungen dagegen. S. 61
  • 69. Beantwortung derſelben. Von Fau - nen, Satyren, Centauren, Mas - ken, Ungeheuern in der Kunſt. Werth dieſer Unterſcheidungen fuͤr die ſittliche Menſchheit. S. 63
  • 70. Ob die Griechen kuͤnftigen Jahr - hunderten Alles vorweggenommen haben. Charakter der heiligen Jungfrau. Andre chriſtliche Ideen. S. 72
  • 71. Was uns die Griechiſche Kunſt ſoll. Vom Werth einer gluͤckli - chen Bildung. Von unſern Klei - dungen, unſern Stellungen, un - ſerm Beiſammenſeyn, verglichen mit Vorſtellungen der Griechiſchen Kunſt. Charakter der Angelika Kaufmann. S. 81
  • Br. 72. Von einer Formloſen Guͤte und Wahrheit. S. 94
  • 73. Daß es eine ſolche fuͤr uns ſchwer - lich gebe. Vom hoͤchſten Anſtaͤn - digen oder Geziemenden der Menſchheit. S. 96
  • 74. Stimme der Muſen zu Vorſtellun - gen der Griechiſchen Kunſt. In Anſehung der Mutterliebe. S. 106
  • 75. In Anſehung der Kindes - und Juͤng - lingsjahre, andrer freundſchaftli - chen Bande, der Erziehung und Virtuoſitaͤt des Lebens. S. 117
  • 76. In Anſehung der Unformen, der Geſellung verſchiedener Vorſtellun - gen der Allegorie. Von der chriſt - lichen Grazie. Raphaels und an - drer Verdienſt. Schluß dieſer Ma - terie. S. 130.
  • Br. 77. Bonhommien eines Buͤrgers. Von buͤrgerlichen Tugenden. Von praktiſcher ſittlicher Aufklaͤrung, d. i. Volkserziehung. S. 138
  • 78. Homer und Montesquieu. Von oͤffentlichen Sitten. Vom Gemeingeiſt. Vom Gemeingeiſt der Naturforſchung. S. 154
  • 79. Von den vier Facultaͤten. Kant. Von der Encyklopaͤdie. Einfuͤh - rung einer neuen Muſe. Problem des Fortganges der Humanitaͤt. S. 168
  • 80. Von der Freiheit des Geiſtes und Handels. Andenken an einige ver - diente Maͤnner. Denkmahl, dem Verfaſſer der Bonhommien ge - widmet. S. 184
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63.

Auch die Griechiſche Kunſt iſt eine Schule der Humanitaͤt; ungluͤcklich iſt, wer ſie anders betrachtet.

Als die Natur, die ſich in allen ihren Hervorbringungen einwohnend und leben - dig offenbaret, auf unſrer Erde zur hoͤch - ſten Hoͤhe ihrer Wirkung ſtieg, erfand ſie das Geſchoͤpf, das Menſch heißt, in deſ - ſen Gliederbau ſie alle Regeln der Voll - kommenheit, nach denen ſie in ihren an - dern Werken, Theilweiſe und zerſtreuet, mit ungeheurer Kraft und unuͤberſehlichemSechste Samml. A2Reichthum gearbeitet hatte, im kleinſten Raum, im wirkſamſten Leben zuſammen - draͤngte. Kraͤfte, die ſie in andern Ele - menten, dem Waſſer, der Luft, oder auch auf der Erde in großen Organen auszu - bilden ſich Zeit und Raum nahm, deutete ſie im Menſchen oft nur an, ordnete aber alle dieſe Millionen Kraͤfte und Gefuͤhls - arten in ihm ſo kuͤnſtlich, ſo harmoniſch zuſammen, daß er nicht nur als ein In - begrif aller dieſer Fuͤhlbarkeiten unſrer Erde, (wenn mir der Ausdruck erlaubt iſt,) ſondern auch als ein Gott da - ſtehet, der dieſe in ihr zuſammengedraͤng - te, in ſeiner Natur begriffene Gefuͤhle ſelbſt zuſammenſtellt, ſchaͤtzet und ordnet. Die ganze Natur erkennet ſich in ihm, wie in einem lebendigen Spiegel; ſie ſie - het durch ſein Auge, denkt hinter ſeiner Stirn, fuͤhlet in ſeiner Bruſt, und wirkt3 und ſchaffet mit ſeinen Haͤnden. Das hoͤchſt-aͤſthetiſche Geſchoͤpf der Erde mußte alſo auch ein nachahmendes, ord - nendes, darſtellendes, ein poetiſches und politiſches Geſchoͤpf werden. Denn da ſeine Natur ſelbſt gleichſam die hoͤchſte Kunſt der großen Natur iſt, die in ihm nach der hoͤchſten Wirkung ſtrebet; ſo muß - te dieſe ſich in der Menſchheit offenbaren. Der Bildner unſrer Gedanken, unſrer Sit - ten, unſrer Verfaſſung, iſt ein Kuͤnſtler; ſollte alſo, da Kunſt der Inbegrif und Zweck unſrer Natur iſt, die Kunſt, die ſich mit dem Gebilde des Menſchen und allen ihm einwohnenden Kraͤf - ten darſtellend beſchaͤftigt, fuͤr die Menſch - heit von keinem Werth ſeyn?

Von einem ſehr hohen Werthe. Sie hat nicht nur Gedanken, ſondern Gedan - kenformen, ewige Charaktere ſicht -A 24bar gemacht, die mit ſolcher Energie we - der Sprache noch Muſik, noch irgend ei - ne andre Bemuͤhung der Menſchen aus - druͤcken konnte. Dieſe Formen ordnete, reinigte ſie, und ſtellte ſie ſelbſt in deut - lichen, ewigen Begriffen dem Auge jedes Sehenden fuͤr alle Zeiten dar, in welchen ſich Menſchheit in dieſen Formen genießt und fuͤhlet, in welchen Menſchheit nach dieſen Formen wirket. Sie giebt uns alſo nicht nur eine ſichtbare Logik und Meta - phyſik unſres Geſchlechts in ſeinen vor - nehmſten Geſtalten, nach Altern, Sinnes - arten, Neigungen und Trieben; ſondern indem ſie dieſe mit Sinn und Wahl dar - ſtellt, ruft ſie als eine zweite Schoͤpferinn uns ſchweigend zu: blicke in dieſen Spie - gel, o Menſch; Das ſoll und kann dein Geſchlecht ſeyn. So hat ſich die Natur in ihm mit Wuͤrde und Einfalt, mit Sinn5 und Liebe geoffenbaret. Alſo erſcheint das Goͤttliche in deinem Gebilde; anders kann es nicht erſcheinen.

Auf dieſem Wege gingen die Griechen; zu dieſer Idee arbeiteten ſie hin. Ohne ihre Kunſt wuͤrden wir manche Gedanken ihrer Dichter und Weiſen nicht verſtehen; als oͤde Worte ſchwebeten ſie vor uns voruͤber. Nun hat ſie die Kunſt ſicht - bar gemacht, und damit auch den gan - zen Geiſt der Compoſition ihrer Schrif - ten, den Zweck ihrer Sittenformung und was ſie ſonſt unterſcheidet, in anſchauli - chen Bildern dem menſchlichen Verſtande vorgeſtellt; kurz, anſchauliche Katego - rien der Menſchheit gegruͤndet. Da - von verſtanden nun freilich jene Barbaren nichts, die in einem Baſalt-Kopfe Ju - piters nichts als den ſchwarzen Kopf ei - nes Satans, im ſchoͤnen Apollo einen6 wahrſagenden boͤſen Geiſt, und in der himmliſchen Aphrodite eine unzuͤchtige Dirne zerſtoͤrten. Der einzige Begriff, daß alle dieſe Kunſtwerke Gegenſtaͤnde der Abgoͤtterei, Behauſungen Orakelgebender, Luſtverfuͤhrender, boͤſer Daͤmonen ſeyn, hing wie ein ſchwarzer Nebel vor ihren Augen, daß ſie den wahren Daͤmon, das Ideal der Menſchenbildung in ih - ren reinſten Formen nicht zu erken - nen vermochten. Auch Keinem von denen wird er ſichtbar, die in der Statue nur die Statue, in der Gemme den Edelſtein und in Allem nur Pracht, Zierrath, her - kommlichen Geſchmack, oder Alterthums - und mechaniſche Kunſtkenntniſſe ſuchen. Am weitſten entfernt davon eine falſche und enge Theorie, die ſich gegen jede Aeußerung und Offenbarung des Men - ſchenfreundlichen, Wahrheitdarſtellenden7 Gottes hinter Wortlarven mit einem kal - ten Stolze bruͤſtet. Zu uns wird der Daͤ - mon der Menſchennatur aus den Werken der Griechen rein und verſtaͤndlich ſprechen koͤnnen: denn wir werden ihn mitfuͤhlend, ſympathetiſch hoͤren. Schwaͤr - merei und Begeiſterung koͤnnen uns hier nicht helfen, wo es auf helle Begriffe uͤber die Frage ankommt: wie zeigt ſich der Genius der Menſchheit? auf wie verſchiedene Art in Hauptformen? welches ſind unter dieſen die hoͤch - ſten Puncte, gleichſam die conſo - nen Stellen der geſpannten Sai - te, in welchen Harmonie toͤnet? Haͤtten Sie Luſt mit mir unter dieſen Himmel glaͤnzender Sternbilder zu treten? Nur aus einem tiefen Thale kann ich von fern auf ſie weiſen; dennoch aber wird ſich8 Ihr Geiſt befluͤgeln, daß Sie ausrufen: Siehe da den hellen Zodiakus der ſicht - bar gewordenen bedeutenden Menſchheit.

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64.

Die erſte Kindheit als ein noch un - reifes Gewaͤchs der Natur haben die Grie - chen ſeltner gebildet. Herkules an der Bruſt der hohen Juno iſt die einzige, mir erinnerliche Darſtellung eines Saͤug - linges, obgleich mehrere Kinder in Armen zart getragen werden. Sey es, daß ſie dieſe ſuͤße Pflicht der Mutter zu den Ge - heimniſſen der haͤuslichen Kammer rechne - ten, die nicht jedem Blick offen ſtehen muͤßte, oder daß ſie ſolchen Geheimniſſen lieber das Gebiet der Malerei anwieſen, indem dieſe eine Mutter und ihr Kind durch10 Blick und Liebe ſo viel ſanfter in Eins zu verſchmelzen weiß; gnug, das bloße Beduͤrfniß eines beduͤrftigen Weſens ga - ben ſie bildend weniger dem Auge Preis. Die ſchoͤnen Kinder, die die griechiſche Kunſt ſchuf, waren ſchon in Spielen begriffen; in Neckereien mancher Art, am liebſten mit einen ſanften Thier, einem Vo - gel, mit einem Neſte von Voͤgeln, oder mit Fruͤchten. Dieſe Vorſtellung ſetzt uns jedesmal in das Leben der Kinder, in die unſchuldigen Vergnuͤgungen der Kindes - Jahre. Ihre Natur athmet die volle Ge - ſundheit, die offne Froͤhlichkeit, die uns Kinder ſo lieb macht.

Die hoͤchſte Idee aller Kinder was konnte ſie alſo ſeyn? Im Himmel und auf Erden nichts anders als Eros, Amor, Unſchuld und Liebe. Sind Kinder nicht ſichtbargewordene Darſtellun -11 gen eines Moments der Liebe, in dem ſie ihr Weſen empfingen? und in welche Geſtalt konnten die mancherlei Spiele und Neckereien, die Vergnuͤgen und Unbeſonnenheiten, die uns die Liebe ſpielt, die wir ihr unſchuldig ſpielen, beſ - ſer gekleidet werden, als in die Geſtalt des Kindes oder Knaben Amors? Bei den Dichtern, inſonderheit des Idylls oder der Froͤhlichkeit und Freude hatte er ſo viele Scherze begonnen; er begann ſie auch in der Kunſt, und aus manchen Vorſtellungen derſelben waͤre noch viel Niedliches zu dichten. Seine Geſchichte mit der Pſyche iſt der vielſeitigſte, zar - teſte Roman, der je gedacht ward, uͤber den ſchwerlich etwas Hoͤheres auszudenken ſeyn moͤchte; auch ſeine Taͤndeleien mit der Mutter und mit andern Goͤttern ſind voll Grazie und Schoͤnheit. Setzt man12 nun hinzu, daß die meiſten dieſer Spiele Amors und ſeiner Geſellen, die man Lie - besgoͤtter oder kindliche Genien zu nennen pflegt, nur zur Verzierung, auf ſchmalen Basreliefs, wo ihnen der Ort ihre Kleinheit erlaubte, ja ſolche noͤthig machte, oder auf geſchnittenen Steinen, Siegelringen und ſonſt an Plaͤtzen oder Plaͤtzchen vorkommen, an denen dieſe Taͤn - deleien ein angenehmes Mehr als Nichts waren; ſo tritt Amor mit ſeinen Bruͤdern gerade in das Licht, in welchem er auf der Tafel der Menſchheit zu ſtehen verdienet. Der kleine Gott der Goͤtter wird ein Amu - let der Bruſt oder ein angenehmes Ne - benwerk, das ſich hie und da einſchleicht, das man immer gerne ſiehet, und den man zum verſchwiegenen Boten lieber als den Boten der Goͤtter ſelbſt brauchet. Außerdem aber war Amor nicht ein Kind;13 ein ſchoͤner Genius war er, und Hy - men ſein Bruder.

Hiemit komme ich zu Euch, Ihr Ge - nien der Juͤnglingſchaft, ſchoͤnſte Bluͤthe des menſchlichen Lebens. Was Winkelmann von Euch in ſeinen ſchoͤ - nen Traͤumen gedichtet hat, iſt kein Traum; auch der Name Genius, den man euch gegeben, iſt ein treffender Name: denn welcher holderen Idee koͤnnte man am Ge - burtstage ſeines Daſeyns opfern? So dachte ſich die Natur ihre ſchoͤnſten Kin - der, Engel in Menſchengeſtalt oder viel - mehr Menſchen, aus deren Geſtalt man den Engel abzog. Suͤße Ruhe, holde Einfalt, ein nuͤchternes In ſich gekehrt ſeyn, dem das Leben ſelbſt noch wie ein Traum der Morgenroͤthe vorſchwebet, die unbefleckte Roſe der Jugend, die noch von keinem Sturm gebrochen, von14 keiner Mittagsſonne verſengt iſt, o wie liebe ich euch, ihr zarten Sproſſen der Menſchheit und ehre mich, daß ich euch liebe. Ein Blick auf dich, du Vatikani - ſcher oder Borgheſiſcher Genius, vernich - tigt die Verlaͤumdungen, die man uͤber die Liebe zu Juͤnglingen den edelſten Grie - chen gemacht hat; wie rein war die Idee, in welcher dieſe Geſchoͤpfe, die Bluͤthe der Menſchheit, gedacht und gebildet wurden.

Es haben Einige ein Trauriges, einen duͤſtern Zug an dieſen Genien bemerken wollen; ſie haben aber, wie mich duͤnkt, Zeiten und Gattungen verwirret. Die Antinous haben freilich einen duͤſtern Zug, wie ſie auch, ihrem Urbilde nach, haben ſollten; ſo wie uͤberhaupt die Kunſt zu Hadrians Zeiten ſchon ſehr repraͤſen - tiret, und aus ſich ſelbſt heraustritt. 15Aber jene Genien einer aͤchten Gattung ſind in ſich geſenkt, als ob keine Welt um ſie waͤre, und fuͤhlen ſich im leiſeſten Selbſtgenuſſe zufrieden. Die Idee der Traurigkeit, die wir in ſie legen, kommt wahrſcheinlich von uns ſelbſt her; wir empfinden ihre Bluͤthe naͤmlich auf ſo zar - ter Sproſſe, daß uns, mitten im Genuß, der Unbeſtand derſelben zu ſchmerzen an - faͤngt. Wir, zumal fremde Nordlaͤnder, fuͤhlen, der zarte Ton verhalle, die Roſen - knoſpe entwickle ſich und erſterbe. Das ſollten wir indeß nicht fuͤhlen, vielmehr dem Schoͤpfer der Natur danken, daß er uns eine ſolche Bluͤthe menſchlichen Da - ſeyns zeigte. Was Anakreon und die Anthologen, was Sappho, Platon, und wenn er noch vorhanden waͤre, Jby - kus von ſchoͤnen Juͤnglingen gedichtet und geſungen haben, bliebe uns ohne dieſe16 ſichtbargewordene Ideen vielleicht ein lee - rer Hall, an den wir kein Bild heften koͤnnten; jetzt uͤberzeugt uns das Auge von der Weſenheit jener lieblichen Traͤume und beſtimmt ſie uns in Bildern.

Das maͤnnliche Geſchlecht ging in der Kunſt der Griechen dem weiblichen vor; doch ward auch dieſem ſein reicher Antheil an der Kunſt nicht verſaget. Nymphen, Grazien, Horen, ja die Parcen, Fu - rien und Meduſa ſelbſt empfingen ihr Antheil an dieſer Bluͤthe jungfraͤulicher Ju - gendſchoͤnheit. Warum biſt du von Her - kules Knieen entruͤckt, du Goͤttin mit der Schale ewiger Jugend, bluͤhende Hebe? Ihr Horen um Jupiters Haupt, ihr Schweſter-Grazien, die ihr, in untrennbarer Liebe verſchlungen, am Ke - phiſusſtrom eure ewigen Taͤnze feiert; warum erſcheinet ihr uns in Nachbildern,die17die uns nur eure Idee gewaͤhren? In - deſſen haben wir Figuren des Alterthums gnug, um den Begrif der weiblichen Ju - gendſchoͤne aus ihnen zu ſchoͤpfen.

Und Ihr heiligen Muſen, vor al - len du, hochaufſteigende Melpomene, mit deinem Antlitz voll edlen Unmuths, und hoher Wuͤrde; ſo oft ich bei euch, (ungleich an Kunſt, wie ihr daſtehet) im vatikaniſchen Tempel war, duͤnkte ich mich, zwar nicht auf dem Parnaß zu ſeyn und eures begeiſterten Fuͤhrers Apollo Stim - me zu hoͤren; aber in der Geſellſchaft rei - ner Weſen fand ich mich, deren Jede uns mit ihrer Bildung, mit ihrem Anſtan - de, ihrer Aufmerkſamkeit und Gebehrde mehr ſagt, was Dichtkunſt, Muſik, Wiſſenſchaft und Muſe des Lebens ſei, als eine Encyklopaͤdie uns ſagen koͤnnte. Ihr kehrt den Blick gewaltig inSechste Samml. B18uns, und macht uns ſcheu, euren Namen nur auszuſprechen, oder den Saum eures Gewandes zu beruͤhren. Im Kapitolium rupft die Muſe der Sirene mit Schmerz den Fluͤgel; und in mehreren Darſtellun - gen wird Marſyas dem Apoll ein graͤß - liches Opfer.

Wenn die griechiſche Kunſt der weibli - chen Jugend Grazientanz, froͤhli - chen Leichtſinn, oder Schuͤchtern - heit, Sproͤde, endlich jenen noch un - gebaͤndigten Stolz zum Charakter gab, den mehrere griechiſche Dichter in Worten charakteriſirt haben: ſo ſei es erlaubt, mich von ihnen zu einer ungluͤcklichen Fa - milie zu wenden, die fuͤr mich in ihrem heiligen Styl die hohe Tragoͤdie der Kunſt iſt, Niobe mit ihren Kindern. Ich will ſie mit Worten nicht entweihen; aber einige Toͤchter und einige Soͤhne ma -19 chen einen ſo reinen und tiefen Eindruck, daß jeder Vater, jede Mutter wuͤnſchen muͤßte, Kinder ihrer Art zu erzeugen, je - de Braut und jeder Braͤutigam, ſich in dieſem Geſchlecht zu verloben. In dem Zimmer zu Florenz, wo ich mich mit den Eingekerkerten einſchloß, kamen mir alle Ungluͤcksfaͤlle vor Augen, die je auf Erden eine Schuldloſe ſchoͤne Familie betroffen haben moͤchten; ſtatt aller ſtand ſie mir da, im Mutter - und Jugendſchmerz eine heilige Krone.

Soll ich nach ihr alle Scenen durch - gehn, wo Empfindungen der Bruder - und Schweſter - der Freundes - und Gattenliebe in ſtummen Bildern ruͤh - rend daſtehn? Nie bin ich, ihr ſchoͤnen Juͤnglinge, die man Oreſt und Pylades nennet; nie von euch, ihr ſtillen Vertrau - ten, die man als Hippolytus undB 220Phaͤdra faͤlſchlich anklagt, nie von ſo mancher andern Gruppe, da ſich auf dem Grabſteine noch, (das Kind in ihrer Mitte,) liebende Haͤnde den Bund der ewigen Treue ſchwoͤren, weggegangen, oh - ne daß mein Herz durch die Innigkeit der Gefuͤhle, die aus dieſen Gebilden ſpra - chen, innig erweicht war. Ich war in einer andern Welt geweſen, und ſprach zu mir: koͤnnteſt du mit ihnen leben, und waͤreſt Einer derſelben! Der ganze Ha - bitus der Menſchheit, waͤre er in Unſchuld, Liebe und Einfalt noch nach die - ſem Bilde gebildet! Solche Gefuͤhle hat - ten mir zur Aufmerkſamkeit auf alles, was dieſe meine geliebten Menſchen an - ging, auf die Verhaͤltniſſe ihrer Glieder, ihren Stand, ihre Ge - behrde und Sitte, den Grad der Leidenſchaft, deſſen ſie faͤhig ſchienen,21 auf ihre Kleidung und ihren Wink das Auge geſchaͤrfet. Soll ich Ihnen aus die - ſer ſtummen Schule der Humanitaͤt Einiges noch erzaͤhlen? *)Ich darf vorausſetzen, daß den Leſern dieſer Briefe die in ihnen angefuͤhrten Denkmale der Kunſt, wenn nicht in den Urbildern, ſo doch in Abguͤſſen, Abdruͤcken, Zeichnungen, Kupfern, oder aus Beſchreibungen z. B. in Winkelmanns Geſchichte der Kunſt, Stolbergs Reiſen u. a. endlich wenigſtens aus der Mythologie bekannt ſind; ihnen al - ſo eine Claſſification nach der reinſten und hoͤchſten Bedeutung nicht unangenehm ſeyn werde. A. d. H.

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65.

Von Menſchen komme ich zu Helden - und Goͤttergeſtalten, ob ich deren gleich auch ſchon einige voruͤbergehend be - ruͤhrt habe; wir betrachten ſie hier, wie ſie es auch waren, als reine Formen der Menſchheit.

Jeder Held erſcheinet in ſeinem Cha - rakter. Der ſchoͤne Kopf, den man den Achilles nennt, ſo wie Ulyſſes, Ajax u. f.; ſie zeigen, in welcher hohen Idee die Griechen ſich jene Helden Homers ge - dacht haben. Und hierinn ſind ſie im ge -23 hoͤrigen Maas des Abſtandes von ſo vie - len Koͤpfen der Dichter, der Dichterinnen und Weiſen nicht verſchieden; die meiſten davon ſind idealiſch gebildet, nicht weni - ger als Apollo und die Muſen. Eben aber durch dieſe idealiſche Form-Er - findung werden ſie lehrreich. Man ſie - het, wenn das Bild alt und aͤcht iſt, wie die Kunſt ſich aus dem Inbegrif der Geſaͤnge und Sagen einen Homer, wie ſie ſich einen Pythagoras und Plato dachte.

Der Held der Helden iſt Herkules; er iſt es auch in der Kunſt,[ſofern] dieſe ihr Ideal nicht hoͤher hinauftreibt, als daß ſie unbezwingbare Staͤrke, un - erſchoͤpfliche Kraͤfte, in einem Menſchen - koͤrper darzuſtellen zum Zweck hat. Mit - telſt ſolcher Glieder hat er ſeine Thaten gethan und den Olymp erſieget; die Fa -24 beln hievon hat die Kunſt mit großer Energie ausgebildet. Herkules in mehre - ren ſeiner Gefahren, inſonderheit wie er den Hoͤllenhund bezwingt, gab eine ſchoͤ - ne Gruppe; und ſein Torſo, in welchem er von ſeinen Muͤhſeligkeiten ausruht, iſt durch Michael Angelo der neuern Kunſt ein großes Vorbild worden. Koͤpfe vom jungen Herkules ſind von unbeſchreib - licher Schoͤnheit; und ſeine Jole, Om - phale, Dejanira, ſind von der Kunſt und Dichtkunſt ſehr wohl gebraucht wor - den. Da indeſſen die bloße Uebermacht koͤrperlicher Staͤrke in der menſchlichen Natur, noch kein hoͤchſtes Ideal giebt; eine wohlthaͤtige Guͤte aber in Herkules Thaten ſchwerlich ſichtbar gemacht werden koͤnnte: ſo ging ſeine Idee gleichſam mit der Zeit nicht mit; er blieb ein Coloſſus der alten Fabel. Uns zumal duͤnken ſeine25 rieſenhaften Schenkel auch in Glykons Kunſtgebilde ungeheuer und Geiſtlos.

Lieber verweilen wir z. B. an Lao - koons Bilde. Der heilige Mann, der durch ſeinen verſtaͤndigen Rath ein Retter des Vaterlandes werden wollte, und da - durch die feindliche Goͤttinn erzuͤrnte, wird mit ſeinen geliebten Kindern, die am Al - tar neben ihm dienen, von ungeheuren Schlangen ergriffen, und mit Jenen zu einer Todesgruppe verſchlungen. Sein Arm, ſeine Bruſt, ſeine Seele hat aus - gekaͤmpft; das Geſicht gen Himmel ge - kehrt, athmet er ſie aus in einem uner - maͤßlichtiefen, langen Seufzer. Fuͤrchter - lich-ſchoͤne Gruppe; ein Ideal der Kunſt auch fuͤr das Gefuͤhl der Menſchheit. Reiner kann ſchwerlich ein Maͤrtyrer ge - dacht, ruͤhrender und zugleich bedeutend ſchoͤner im Kreiſe der Kunſt ſchwerlich vor -26 geſtellt werden. Die Schlangen verunzie - ren nichts, und in ihren Banden macht der ſtumme Seufzer des Leidenden eine Wirkung, die St. Sebaſtian, Lorenz und Bartholomaͤus nicht gewaͤhren moͤgen. Herkules auf dem Berge Oeta war zu ſolchem Zweck nicht bildſam. Zu welcher ſchrecklichen Sprache koͤnnte der Seufzer Laokoons lautbar gemacht wer - den, wenn wir ihn, wie den Philoktetes auf Lemnus jammern hoͤrten!

Nicht aber Laokoon; Ihr ſeyd meine Helden der Kunſt, Caſtor und Pollux auf dem Quirinaliſchen Berge; in Euch lebt mein Pindar. Großes Werk, eines Phidias und Polyklets nicht unwuͤr - dig; uns wenigſtens auſſer Griechenland und nach deſſen zerſtoͤrten Heiligthuͤmern ſtatt der Werke des Phidias und Po - lykletus. Lebten Menſchen wie Ihr? 27 fragte mein emporklimmender, umwan - delnder Blick. Nein! antwortete der Geiſt, der euch umſchwebet; aber uns dachten, uns bildeten Menſchen. Helden - juͤnglinge, wie wir, waren einſt in der Seele vieler junger Maͤnner und Helden. Auch den Dichtern ſind wir erſchienen; und das Vaterland hat auf uns gerech - net. Lebt wohl, Idole der Menſchheit! Das Wetter ziehe euch voruͤber und eine freche Fauſt muͤſſe euch nie beruͤhren

Ehe wir hoͤher hinauf ſteigen, laſſen Sie uns auf dieſer Hoͤhe des Helden - ideals verweilen. Zu den Fuͤßen dieſer goͤttlichen Menſchen ſitzen wir nieder, die Idee des Weges zu ſammlen, den wir zuruͤck gelegt haben.

Die Griechiſche Kunſt kannte, ehrte und liebte die Menſchheit im Men - ſchen. Den reinen Begriff von ihr zu28 erfaſſen, hatte ſie ſich auf vielſeitigen, muͤhſamen Wegen, uͤber ſchroffen Felſen, durch tiefe Abgruͤnde, mit manchen Ueber - treibungen und Haͤrten unablaͤßig beſtre - bet, bis dann ſelbſt dieſe uͤbertreibende Muͤ - he, die die Wahrheit um ſo ſchaͤrfer ver - folgte, nicht anders als zum Gipfel der Kunſt fuͤhrte. In allen Menſchenaltern und jeder ihrer merkwuͤrdigſten Situatio - nen in beiden Geſchlechtern hatte ſie die Bluͤthe des Lebens gewonnen, die auf ſolchem Stamme bluͤhet; denn die Grie - chen beſaßen noch Einfalt des Geiſtes, Reinheit des Blickes, Muth und Kraft gnug, dieſe als eine vollſtaͤndige, durch ſich beſtehende Idee in ihren Werken darzuſtellen und zu vollenden. Im Kinde dachten und bildeten ſie die Kind - heit, im Juͤnglinge den Fruͤhling des Le - bens, im Manne den Goͤtterſohn voll29 Selbſtgenuſſes iſt Kraft und Wuͤrde. An dieſer Heldenidee nahm auch das weibli - che Geſchlecht Theil, wie jene ſchoͤnen Bil - der der Amazonen zeigen, deren man - che im Geiſt eine Schweſter des Caſtor und Pollux zu ſeyn verdiente. Nach - dem in allen dieſen Formen die Kunſt der reinen Idee Selbſtſtaͤndigkeit, Wuͤr - de, eine in allen Theilen lebendiggewor - dene Bedeutung gegeben, und ſie von jedem ungewiſſen, ſchwankenden oder frem - den Beiwerk, wie durchs Feuer gereinigt hatte: ſo war von dieſen Gebilden noth - wendig auch jene Kraft, die ausfuͤl - lend zum Verſtande und zum Her - zen in hoͤchſter Einfalt ſpricht, un - abtrennlich. Der Zwang der Materie war uͤberwunden; Geſchlecht, Alter, Characte - re waren in ihrer Verſchiedenheit und lei - ſen Angraͤnzung aufs ſicherſte bemerkt;30 und mit gegebenen großen Vorbildern in[jeder] Art und Gattung waren dauerhaf - te Kategorien der edelſten und ſchoͤnſten Menſchenexſiſtenz geord - net. Auf wie wenige Hauptformen tritt die formreiche menſchliche Natur in Geſinnungen, Leidenſchaften und Situatio - nen zuruͤck, wenn wir ſie mit dem weiſen und nuͤchternen Auge der Griechen an - ſehn! Der biegſame, Kraft - und Schoͤn - heitreiche Gliederbau der Menſchheit, in wie wenige Hauptbedeutungen loͤſet er ſich auf, ſobald die Seele Kraft hat, dieſe in jedem Theil, in jeder Stellung ganz zu behaupten! Unvergeßlich und ewig lehrreich ſind mir die Stunden, da ich vor den Kunſtgebilden der Alten, (wenn mir der Ausdruck erlaubt iſt,) die Mecha - nik und Statik menſchlicher See - lenkraͤfte im menſchlichen Glieder -31 bau ruhig betrachtete und abwog. Wel - che Freuden ſchoͤpfte ich in Erwaͤgung der Symmetrie und Eurythmie, noch mehr aber der ſchoͤnen Gegenſtellung, die in Ruhe und Bewegung, nach verſchie - dener Art der Charaktere, dieſen goͤttlichen Koͤrpern mitgetheilt iſt, alſo daß ſich die Seele liebreich-ſtrenge bis im Wurf des Gewandes und in ſeinen Falten, wie ein wehender Geiſt offenbaret. Ihr habt un - ſre Natur gekannt und geadelt, ihr Grie - chen; ihr wußtet, was das menſchliche Le - ben in ſeinen voruͤbergehenden Scenen ſei, das ihr auf ſo manchen Sarkophagen eben ſo richtig und wahr, als einfaͤltig und ruͤhrend vorgeſtellet habt. Da erfaßtet ihr die Bluͤthe jeder fluͤchtigen Scene und heiligtet ſie in einem nie verwelkenden Kranz der Mutter des Menſchengeſchlech - tes. Wenn unſre Art je ſo entartet wer -32 den ſollte, daß wir dieſe innere Kraft und Anmuth der Menſchheit, das hohe Siegel unſerer Exſiſtenz gar nicht mehr erkennten; dann zerbrich, o Natur, die Form deines ausgearteten edelſten Ge - ſchoͤpfes; oder vielmehr ſie zerbraͤche von ſelbſt und zerfiele in Staub und Scher - ben.

Und wodurch kamen die Griechen zu dieſem Allen? Nur durch Ein Mittel; durch Menſchengefuͤhl, durch Einfalt der Gedanken und durch ein lebhaftes Studium des wahreſten, voͤlligſten Genuſ - ſes, kurz, durch Cultur der Menſch - heit. Hierinn muͤſſen wir alle Griechen werden, oder wir bleiben Barbaren.

66.33

66.

Mit heiligem Ernſt treten wir zum Olymp hinauf und ſehen Goͤtterformen im Menſchengebilde. Jede Religion cultivirter Voͤlker, (die chriſtliche nicht aus - genommen) hat ihren Gott oder ihre Goͤt - ter mehr oder minder humaniſiret; die Griechen allein wagten es, humaniſirte Gottheiten, ihrer und der Menſchheit wuͤr - dig, in Kunſt d. i, auf eine dem Gedan - ken rein und voͤllig entſprechende Weiſe darzuſtellen. Oder vielmehr ſie laͤu - terten alles Schoͤne, Vortrefliche, Wuͤr -Sechſte Samml. C34dige im Menſchen zu ſeiner hoͤchſten Bedeutung, zur oberſten Stuffe ſeiner Vollkommenheit, zur Gottheit hin - auf, und theificirten die Menſchheit. Andre Nationen erniedrigten die Idee Gottes zu Ungeheuern; ſie huben das Goͤttliche im Menſchen zum Gott empor.

Unten ſahen wir einen Reiz der Ju - gend, deſſen fluͤchtige Bluͤthe wir bedau - erten; unter den Goͤttern iſt er verewigt, eben dadurch daß er aufs hoͤchſte gelaͤu - tert ward.

Als das himmliſche Sinnbild aller Juͤnglings-Genien auf Erden, ſtehet Dionyſos hier, deſſen zarte Idee die niedren Sterblichen ſo mißkennen, daß ich ſeinen Namen Bacchus kaum zu nennen wage. Er iſt die ſichtbargewordene ewi - ge Froͤhlichkeit; im Genuſſe ſein ſelbſt, ohne Anſtrengung und dennoch mit der35 leichteſten Elaſticitaͤt ein ſuͤßer Begluͤ - cker der Goͤtter und Menſchen. Im ſchoͤnen Charakter dieſes thaͤtigen ſuͤ - ßen far niente rettete er einſt den Olymp, und cultivirte die Welt durch Gaben und Geſchenke. Sein Daſeyn iſt ein ewiger Triumph unter Trauben, mit denen er die Sterblichen erquickt und getroͤſtet hat, un - ter dem ewigen Freudenliede jauchzender Maͤnaden.

Und an ſeiner Seite ſenkt den Liebe - trunknen Blick auf ihn die durch ihn ge - rettete, ſelige Ariadne. Von ewigem Dank und innigem Ergetzen ſtroͤmt der geruͤhrte Blick, den keine Maͤnas, keine Baccha mit ihr theilet. Ohne Kinder, in ſeligem Anſchaun des Genuſſes feiren die zwei ihr unzerſtoͤrbares Triumphleben, in welchem Bacchus ſelbſt die Bluͤthe der Weiblichkeit in ſeiner Natur genießet. Le -C 236bet wohl, ihr gluͤcklichen Beide, du Ge - rettete und du ihr Retter; habt viel Nach - folger auf der Erde, die unter Scherz und Freude die Menſchheit beſeligen, die ret - ten und wohlthun, ohne daß ſie es Zwang koſtet. Der Triumphswagen ſolcher Ge - muͤther umjauchzen dankende Choͤre. Schoͤne Statuen ſind vom Bacchus da, und das capitoliniſche Haupt der Ariadne iſt ganz ihr Charakter.

Neben Bacchus ſtehet Apollo, das hoͤchſte Symbol aller Heldenjuͤng - linge der Menſchheit. Ueber Caſtor und Pollux erhaben iſt ſeine Geſtalt ein ſichtbargewordener Heldengedanke. Seine Thaͤtigkeit iſt Blick, Gang, Daſeyn, Sieg mit der Schnelle des Pfeiles. Und dieſer kuͤhne, raſche, ſelbſt zornige Juͤng - ling ruͤhrt in andern Geſtalten die Leier, der alle Muſen horchen. Ihr horcht der37 Schwan, oder Greif zu ſeinen Fuͤßen; ihr horcht die Natur. Aller Muſen Kuͤn - ſte ſind dieſem Heldenjuͤnglinge eigen, der ein Ideal griechiſcher Cultur iſt zur thaͤtigen und Muſenhaften Hel - denjugend. In ſeinen drei Hauptſtel - lungen, als Sieger, Saͤnger, und ruhen - der Juͤngling iſt er immer Apollo; auch wenn er ſanftangelehnt nur die Eidexe toͤdtet.

Und neben ihm ſeine unermuͤdliche Schweſter Diana. Sie, die Jung - fraͤulichkeit, daher auch die Keuſch - heit und immer muntre Thaͤtigkeit ſelbſt, ohne welche jene nicht beſtehn konn - ten. In der gruͤnenden Natur, mit Nym - phen umgeben, eine Goͤttinn unter den Nymphen, eilt ſie dahin wie ein jugendli - cher Hirſch, unbewußt ihrer Schoͤnheit; ihr Blick iſt in der Ferne. Und wenn in38 ihrem Herzen der Funke der Liebe zuͤndet, und ſie den Endymion belauſcht; wie rein und ſtille verſchwiegen iſt dieſer Anblick! wie ruͤhrend ſtellte ihn auf Grabmahlen die griechiſche Kunſt vor! Juͤnglinge und Maͤdchen ſangen das Lob des Apolls und der Diana in Wechſelchoͤren: denn beide Gottheiten waren das Abſtractum ihrer Tugend. Erſt nur, wenn Hy - men den Guͤrtel der Jungfrau loͤſete, trat die Verlobte aus dem Dienſte der ſtrengen Diana ins Gebiet der ſchaamhaf - ten Aphrodite. In Apolls ſchoͤnen Dar - ſtellungen iſt alſo eine der hoͤchſten Zierden menſchlicher Tugend erhalten; und wenn die Bildniſſe der Schweſter dem Ideal des Bruders nicht gleich ſeyn moͤchten, ſo verlaͤugnet dennoch keine Vorſtellung den Charakter einer Artemis oder der ſanf - teren Luna.

39

Eine dritte Juͤnglingsart ſtehet dort an der Pforte des Olympus; es iſt Merkur, der Gott ſchlauer Beredſamkeit, der behendeſten Betriebſamkeit in al - len Geſchaͤften. Er hat den Apoll uͤberliſtet, hat mancherlei Anſchlaͤge erfun - den, und traͤgt den Beutel. Auch traͤgt er Botſchaften und geleitet die Seelen ſelbſt zum Orkus, gefluͤgelt an Fuͤßen und Haupte. Es iſt ein geſchaͤftiger, munte - rer Gott, das Haupt einer großen Ge - meinſchaft, die in ihm perſonificirt iſt, ein unentbehrlicher Gott im Himmel und auf der Erde. Fabel und Kunſt haben ihn ſo vollkommen ausgebildet, als den Jupiter oder die Minerva; er iſt aber ein Erdgebohrner, der Maja Sohn, ſubaltern an Dienſt und Charakter. Wir wollen den ſchoͤnen Gott, ſchoͤn an Haupt, an Fuͤßen und Haͤnden nicht ohne Betrachtung vor -40 beigehn. Bemerken Sie, wie er lauſchet, wie er mit ſich ſelbſt und ſeinem Schlan - genſtabe und ſeinem Hahn und Beutel ſo ganz Eins iſt; ein vortreflicher Gott an der Pforte.

Dir nahen wir uns, himmliſche Aphro - dite, unuͤbertroffnes Ideal des weibli - chen Liebreizes, einer ſittlichen Schoͤnheit. Aus der Welle des unru - higen Meeres ſtiegſt du hervor, vom lau - en Zephir getragen; da legten ſich die Wellen; deine ſittſame Gegenwart machte ſie zum Spiegel der Luͤfte. Beſcheiden trockneteſt du dein Haar, und jeder fal - lende Tropfe deines irrdiſchen Urſprunges ward ein Geſchenk, eine Perle der Mu - ſchel, die dich wohlluͤſtig in ihrem Schoos wiegte. Du ſtiegſt zum Olymp, und die Goͤtter empfingen dich in deiner Geſtalt: denn ſie ſelbſt war deine Huͤlle; die Gra -41 zie, mit der du dich, durch und durch ſichtbar, dem Auge unſicht - bar zu machen weißt, dieſe in ſich gehuͤllete Schaam und Beſcheiden - heit iſt dein Charakter. Auch auf dem haͤuslichen Altar der Griechen ſtandeſt du nicht anders als unter dieſem Bilde: denn nur Schaam kann Liebe erwecken und zeu - gen. Es iſt ein verfehlter Charakter, wenn Aphrodite zuruͤckblickt, oder ſich mit Wohl - gefaͤlligkeit zeiget; ihre Schoͤnheit iſt die, daß ſie, ſich vor ihr ſelbſt gleichſam und vor Allem verbergend, Himmel und Erde entzuͤckt; dem wegſchluͤpfenden Thautropfen einer jungen Roſe aͤhnlich, in dem ſich die anbrechende Morgenroͤthe ſpiegelt. Das bedeutet ihr Apfel, das ihre Taube; dahin hat ſie der Sinn der Griechen, ſelbſt mit ihrem zu kleinen Koͤpfchen und was man ſonſt an ihr tadelte, gedichtet. Beſchei -42 denheit und eine Kunſtloſe Schaam, die ſelbſt die hoͤchſte Kunſt iſt, ſind und we - cken den Liebreiz. Es giebt keine feinere Zunge dieſer Waage.

Neben ihr ſtehe die verſchleierte Veſta. Als die große Mutter der Natur ken - nen wir ſie nur auf Gemmen, oder in der Flamme ihres Altars; aber ihre Veſtalen, die Dienerinnen ihres heiligen Heerdes, ſind uns ehrwuͤrdige Jungfrau-Ma - tronen. Aus jeder Falte ihres Gewan - des haͤtten Nonnen und Heilige lernen koͤnnen, was zu beobachten ſei, um in ei - ner reinen Menſchheit alſo ehrwuͤrdig zu erſcheinen, daß man bei einer kaum ſicht - bar gewordnen Hand und dem Engelrei - nen Antlitz den großen dichten Schleier heiliger Geluͤbde verehret.

Wieder laſſe ich mich am Fuß dieſer Ve - ſtale nieder und frage: was helfen uns die -43 ſe Bilder? dieſe ſo groß und rein und rich - tig beſtimmten Menſchen-Ideale? Und antworte mir ſelber: viel! ſehr viel!

Dort nahm Pallas dem Diomed die Wolke vom Auge hinweg, daß er ei - nen Gott und einen Sterblichen unterſchei - den konnte; eben dieſe Wohlthat wird uns durch dies Studium der griechiſchen Kunſt gewaͤhret. Leibhaft wandeln unter uns keine Apollo's und Dianen umher; jene Anlagen des Charakters aber, die ei - ne Diane oder Veſtale, eine Ariadne oder Anadyomene, einen Merkur, Bacchus, Apollo im hoͤchſten Ideal gaben, ſind in[zerſtreueten], oft ſehr verworrenen Zuͤgen vor uns. Dieſe Anlagen nur zu erkennen, iſt eine Charakteriſtik menſchlicher Denkar - ten und Seelenformen noͤthig, die ſich auf wilden Wegen ſchwerlich erlangen laͤßt. Sind Linneus genera plantarum44 das Inventarium der Botanik worden, ſchaͤtzet man ſeine nach Naturkennzeichen gegebne Thierclaſſen hoch; ſollte es nicht auch Menſchenclaſſen nach Natur - eigenſchaften geben? und waͤren dieſe, auf die reinſten Begriffe gebracht und in unzerſtoͤrbaren Formen dargeſtellt, nicht al - ler Betrachtung werth? Daß die Griechen den Menſchen mit einem unbefangeneren, ſchaͤrfern Blick angeſehen haben, als wir, wird niemand laͤugnen; daß unſre Tempe - raments - und phyſiognomiſche Eintheilun - gen zu Nichts ſicherm fuͤhren, muß jeder - mann klar einſehn; warum liegen uns denn jene von Meiſtern erfundene ſcharfe und große Formen der Unterſchei - dung ſo weit ab? Warum ſonſt, als, weil wir ſie nicht verſtehen, oder zu ge - brauchen nicht vermoͤgen. Wir fuͤhlen, daß der edelſte Saame, unter uns aufkei -45 mend, kein Klima zum Aufkommen, ge - ſchweige einen Olymp zur Gottesgeſtalt findet, und tappen alſo fort im Nebel. Wenn aber die liebliche Scham, die See - len verhuͤllte Veſtale oder Dianens keuſche Tochter keinen Olymp verdienen, genieſſen ſie nicht eines haͤuslichen Altars?

Eine reine Kritik dieſer der erleſenſten Menſchenformen, die man Goͤtterge - ſtalten nennt, pruͤft und ſichert unſer Ur - theil auch fuͤr alle ſittlichen Compoſi - tionen. Von wie manchem Nebenbegriff bin ich frei geworden, wie manche Mei - nung habe ich vergeſſen lernen, ſeitdem die Kunſt[der] Griechen, geſtuͤtzt auf ihre Weis - heit und Sittenlehre, meine Fuͤhrerin ward. Demuͤthig wie ein Fragender zu Delphi, frage ich mich: hat dieſe Compoſition, hat dies Urtheil, hat dies Werk einen Werth? haben ſie einen ſittlichen Charakter? 46Von welcher Art iſt dieſer? hoch oder nie - drig? und iſt er ſich ſelbſt treu, in ſich beſtaͤndig? durch die ernſte Fragen, wie manches lernt man vergeſſen und weg - thun! Dies Urtheil uͤber eine Compoſition z. B. kann nur auf zwiefache Weiſe, ſub - jectiv und objectiv ein Gewicht haben. Subjectiv: indem der Urtheilende den ganzen Sinn des Werkes, das er beur - theilt, treu erfaſſet, ihn an allen Theilen veſthaͤlt und deſſen Beſtandheit oder Un - beſtandheit wie in einem Kunſtwerk zei - get. Objectiv, indem er uns das rei - ne Richtmaas vorhaͤlt, nach welchem und nach keinem andern es gebildet werden konnte noch ſollte. Thut der Urtheiler keins von beiden, oder verwirret er beide Arten mit einander; iſt er ſo ſchwach, daß er den Sinn des Gedankenwerks oder der Handlung weder zu begreifen noch47 darzuſtellen vermag, oder ſo anmaaſſend, daß er eine ungepruͤfte mangelhafte, fal - ſche Regel, aus Unkunde oder Vermeſ - ſenheit, uns als ein Geſetz vorhaͤlt; wer wird daruͤber ein Wort verlieren? Seit - dem ich uͤber den vaticaniſchen Apollo, uͤber Laokoon und die tragiſche Muſe, uͤber das Ideal der Alten u. f. gehoͤrt und geleſen habe, was ich daruͤber ge - hoͤrt und geleſen, kuͤmmern mich wenige Urtheile mehr, aber das Urtheil der We - nigen, die eine vollſtaͤndige Idee des Werks, als eines griechiſchen Kunſt - werks, haben, gehen mir auf Leib und Leben.

Was endlich die Anwendung dieſer großen Gedanken betrift; wozu ſind die Bilder meiner Goͤtter und Helden nicht angewendet worden? Das muß den Meiſter eines Werks nicht kuͤmmern;48 gnug, ſie ſtehen da und leben. Wenn ihr inwohnender Genius ſie nicht ſchuͤtzt und aus ihnen ſpricht, ſo iſt alle Wache und Fuͤrſprache verlohren.

67.49

67.

Die Idee des Kriegesgottes unter dem Bilde des Mars (Ares) war den Grie - chen ſeit dem Homer nicht ſo geehrt, als ſie es den Roͤmern ward, die von dieſem Gott ihr Geſchlecht ableiteten. Seine Statue iſt ſelten, und wo man ſie dafuͤr haͤlt, wird ſein Anſehn durch Ruhe oder durch Amor und Venus gemildert. Die nackte Idee eines Kriegers, kann als ein unbeſtimmter Begriff kein hohes Ideal ge - ben. Eben alſo Vulkan. Der Gott aller Kuͤnſtler, der nur als ein Werkmeiſter bei ſeiner Arbeit vorgeſtellt werden konnte,Sechste Samml. D50war eines hohen Ideals unfaͤhig. Pro - metheus ſelbſt gab mit ſeiner Menſchen - bildung zu ſchoͤneren Ideen Anlaß, inſon - derheit unter dem Beyſtande der Minerva.

Feierlicher erſcheint jene große und zaͤrt - liche Mutter, die Hausmutter der Erde, Ceres, Demeter. Ruhig und Haus - muͤtterlich iſt ihr Anſtand; wie erſchreckt und eilig aber ſchwingt ſie die Fackeln, wenn ſie ihre verlohrne Tochter Proſer - pina ſucht! Dieſe Geſchichte, eine der ſinnreichſten und bedeutendſten des Alter - thums, iſt in ihren ſchoͤnen Vorſtellungen auf Grabmaͤhlern der Menſchheit ſo lieb, als die Geſchichte Endymions, der Pſyche oder die Scenen des menſchlichen Lebens von Prometheus an bis zum ſchuͤchternen Eintritt der Seele ins Reich des Aides. Traurig und milde thront Proſerpina da, ſie ſelbſt eine geraubte Koͤnigin des Orkus.

51

Noch drei Goͤttercharaktere ſind vor uns, Pallas, Jupiter und Juno.

Das Bild der Pallas, die zuerſt ei - ne fuͤrchterliche Kriegesgoͤttinn war, iſt viel bedeutender und edler, als Mavors ausgebildet worden: denn eine maͤchtige Staͤdtebeſchuͤtzerin war ſie, keine to - bende Wilde. Sie vereinigte Muth mit Verſtand, und war dadurch von jeher dem roh-angreifenden Mars uͤberlegen. Vor ihrer Bruſt das Haupt der Meduſa, und jenen Schild, den Homer lebendig beſchrieben; in ihrer Hand den maͤchtigen Speer; den ſchrecklichen Helm auf ihrem Haupte, war und blieb ſie ſelbſt die heili - ge Jungfrau, die aus dem Haupte Jupi - ters entſproſſen, gleichſam ſein ſicht - bargewordener maͤchtiger Schreck - Gedanke, und in der Folge die Goͤt - tinn aller Weisheit, inſonderheit desD 252haͤuslichen ruhigen Fleißes war. In beiden Eigenſchaften ward ſie gebil - det; bald als jene furchtbare Goͤttinn, de - ren ploͤtzliche Gegenwart Verwirrung und Flucht bringt, bald als die friedliche Staͤdtebeſchuͤtzerinn, die Mutter aller nuͤtz - lichen Kuͤnſte. In beiden Vorſtellungen iſt ihre daͤmoniſche, maͤchtig-ſtille Gegenwart wirkſam. Wie vor einem hinabgeſchwebten olympiſchen Weſen ſtehet man vor der Minerva Giuſtiniani; man wagt ihr kaum zu nahen, und doch iſt ihr Daſeyn ſo in ſich geſchloſſen und friedlich. Keine andre Goͤttinn fuͤhrt dieſe Gattung heiliger Majeſtaͤt bei ſich, die eine Pallas auch nicht verlaͤßt, wenn ſie in haͤuslichen Kuͤnſten arbeitet. Dank dem glorreichen Athen, das ſeine Goͤttinn ſo ſchoͤn ausge - bildet. Es weihete ihr alle Kraͤnze, die aus ſeinem Flor entſproßten, indem das53 Feſt der Gedankentochter Jupiters ſein großes Feſt war. Mit Andacht opferte ihr Mutter und Kind der Krieger, wie der Weiſe.

Das verſchloſſene Bild der Juno Lu - doviſi ſtellet die Koͤnigin des Himmels dar, des hoͤchſten Gottes Schweſter und Gemahlin. Alle weibliche Majeſtaͤt, Pracht und Groͤße iſt in dies ruhige Ant - litz geſenket. Sie hat nicht ihres glei - chen; ihres gleichen kann ſie nicht haben; die goͤttliche, koͤnigliche Juno. Beſaͤßen wir vom Jupiter ſelbſt ein Bild wie die - ſes!

Dennoch aber, ob uns gleich ein Phi - dias-Bild vom hoͤchſten Gott fehlet, iſt ſein Charakter in allen Vorſtellungen merk - bar, Macht, Weisheit und Guͤte in Ein unſterbliches Haupt verſammlet. Was ſein Weib in ſtolzem Anſtande zeiget, das54 iſt er in ruhiger Wuͤrde, Vater der Goͤt - ter, Koͤnig des Himmels und mit ſeinem Stabe ein Hirt der Voͤlker. Der Blitz in ſeiner Hand hat die Rieſen zerſchmettert und die Luͤfte gereinigt; ſein Blick hat den Elementen Frieden geboten, darum feiern um ſeinen Thron Grazien und Ho - ren unzertrennbare Reigentaͤnze. Sein Haupthaar, deſſen Wallen den Olymp er - ſchuͤttert, faͤllt in ruhigen Locken nieder; ſein Mund iſt guͤtig und der Wink ſeines Augenbrans verheißt dem Flehenden, der ſein Knie beruͤhret, vaͤterlichen Beiſtand. Heil dem Gott der Goͤtter! Er gebe ſei - nen Erdgebohrnen Soͤhnen, was er hat und iſt, maͤchtige Guͤte, gnaͤdige Weisheit.

Nach Jupiter darf ich von ſeinen bei - den Bruͤdern nicht reden; ſie tragen ſei - nen Charakter, nur in niedrigern Rei -55 chen. Neptun in den Wellen des Meers zeigt den Sturm deſſelben, aber nur in ſeinem Haar; ſein Anblick glaͤttet das Meer, und gebietet Stuͤrmen und Wellen Friede. Pluto's (Jupiter-Serapis) Antlitz mit ſeinem duͤſter-guͤtigen Blick eroͤfnete mir jedesmal die dunkle Unter - welt, wenn ich ihn anſah. In duͤſtern Gegenden iſt dieſer traurig ernſte und doch milde Jupiter Koͤnig. So charakteriſirten die Griechen Leben und Tod, Himmel und Orkus. O waͤren uns von ſo manchen Gottheiten, die im Pauſanias genannt ſind, Abbildungen uͤbrig; wir haͤtten eine Charakteriſtik ſelbſt aller Leidenſchaften der Seele.

Wenn dieſer mein Brief oͤffentlich be - kannt wuͤrde, ſo koͤnnte es ſchwerlich an - ders ſeyn, als daß er Manchem enthuſia - ſtiſch vorkaͤme. Dieſem aber haͤtte ich nur56 Eins zu ſagen: gehe hin, ſieh 'und be - trachte. Je kaͤlter, deſto beſſer; um ſo mehr wirſt du, was ich andeutete, finden. Nur habe kein vorgefaßtes Syſtem.

Alle wiſſen wir, daß die Goͤtter der Griechen, in verſchiedenen Gegenden ent - ſproſſen, hie und dort anders gedacht, mit Nebenumſtaͤnden oft verkleidet, von Dichtern aͤußerſt verſchieden behandelt, von Philoſophen endlich mit Allegorieen dergeſtalt uͤberladen worden ſind, daß man in jedem Gott einen ganzen Olimp von Goͤttern finden koͤnnte. Aus dieſem allen folgt aber nichts, was meiner in Denk - mahlen vorliegenden Wahrheit zuwider waͤre. Der Mytholog zaͤhle jede oͤrtli - che Gottheit mit ihren Attributen und Na - men her; eine ſehr lehrreiche Tempelreiſe. Der Ausleger bemerke jede Verſchieden - heit der Goͤtterfabel nach Zeitaltern, Dich -57 tungsarten und einzelnen Dichtern; eine ſehr lehrreiche Reiſe, wenn ſie mit Ari - ſtoteles Scharfſinn angeſtellet wird. Un - ter andern guten Folgen wuͤrde ſie uns auch vor der unſeligen Uebertragung des Bildes Einer Dichtungsart in eine von ihr verſchiedene, ja vor hundert andern unnuͤtzen Anfuͤhrungen bewahren. Der Kunſtliebhaber reiſe die Kunſtwerke durch, ſowohl die noch vorhanden ſind, als auch von denen die Alten reden. Er unterſuche das Spiel der Kuͤnſtler-Ideen nach Zeiten, Gelegenheiten, am meiſten nach dem Ort und Zweck ihrer Anwen - dung: denn unmoͤglich koͤnnen doch Sta - tuen, Bas-Reliefs, Gemmen und Muͤn - zen auf Einen Fuß genommen, Zeiten und Laͤnder verwirrt, und Alles wie auf Einer Tafel betrachtet werden. Hieruͤber iſt noch wenig geleiſtet worden, zumal ſo viele58 ſchoͤne Basreliefs noch nicht bekannt, und wenige Kunſtliebhaber in dem gluͤcklichen Fall ſind, alles Bekanntgewordene zu ken - nen, oder mit Muſſe zu gebrauchen. Endlich vergleiche dieſer Kunſtliebhaber Kuͤnſtler und Dichter; von allen vori - gen das ſchwereſte Werk, das nicht nur Gelehrſamkeit, ſondern auch Verſtand und einen wirklichen Kunſt - und Dichterſinn fo - dert. Hier brach Leßing eine große Bahn, auf welcher aber noch nicht weite Schritte gemacht ſind. Eine veſte Kritik hieruͤber wuͤrde uns vor mancher ungluͤcklichen An - wendung der Kunſt auf die Dichter, die in theuren Werken vor uns liegen, und doch bloße Barbarei ſind, bewahren. Alle dieſe und noch mehrere Erwaͤgungen aber verruͤcken den[Geſichtspunkt] nicht, den ich verfolgte, naͤmlich: welche rei - ne Idee lag der Kunſt, und zwar59 in ihren heiligſten Werken vor, die oͤffentlich dargeſtellt und fuͤr die Ewigkeit geſchaffen wurden? Wie kam die Kunſt zu ihr? wie hat ſie ſolche ausgefuͤhret? Dies duͤnkt mich gleichſam das letzte, innigſte Reſul - tat beim Ueberſchauen ihrer Werke, in denen der Kuͤnſtler nicht eigenmaͤchtig ſpie - len, ſondern den Charakter ſeines Gegen - ſtandes als eine bleibende, ja gar als eine hoͤchſte Idee angeben wollte. Wuͤrde mir alſo Jemand gegen meinen Jupiter die Vaſe zeigen, auf der er als Maske die Rolle des Amphitruo ſpielet, oder gegen meine Juno ihren Zank im Ho - mer anfuͤhren: ſo koͤnnte ich ihm nichts ſagen, als: fuͤr dich habe ich nicht ge - ſchrieben. Ich ſchrieb von den Idea - len der Humanitaͤt in der grie -60 chiſchen Kunſt und dieſe bleiben veſt, wenn auch bei Dichtern und Kuͤnſtlern tauſend Inhumanitaͤten vorkaͤmen; von dieſen moͤge ein Andrer ſchreiben.

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68.

Aber, m. F., die Faunen, die Sa - tyren, Pan, Silen, der Indiſche Bacchus, die Maͤnaden, die Cen - tauren, (an mehrere Ungeheuer nicht zu denken) wie beſtehen dieſe mit Ihrem Ideal der Humanitaͤt in Griechiſchen Kunſtwerken?

Zweitens. Und haͤtten die Griechen uns denn Alles vorweg genommen? waͤ - ren außer dieſen und hinter ihnen nicht noch andre, feinere ſittliche Ideale moͤg - lich? Ja waͤren dieſe von mehreren Kuͤnſt - lern nicht wirklich gegeben?

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Endlich, was hilft uns dieſe Huma - nitaͤt der Griechen, da wir nicht Griechen ſind? Unſer Himmel, unſre Einrichtun - gen, unſre Lebensweiſe legen uns andre Beduͤrfniſſe auf, und fodern von uns an - dre Pflichten. Wir luͤſten alſo, wenn wir jene, ſoll ich ſagen, feinere oder groͤbere Sinnlichkeit alter Zeiten, jugendlicher Voͤl - ker der Welt begehren, nach einer uns verſagten, dazu gefaͤhrlichen Traube. Un - ſre Humanitaͤt bluͤht in philoſophiſchen Begriffen ohne ſinnliche Darſtellung. Die Bluͤthenzeit iſt voruͤber; wir koſten Fruͤch - te. Wollten Sie uns wohl Einige dieſer Zweifel loͤſen?

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69.

Die Satyren der Griechen ſind eben ſowohl Denkmale ihrer humanen Weis - heit, als die erhabendſten Goͤtterbilder. Nicht alles laͤßt ſich in der Menſchheit zum Helden und Gott idealiſiren; deßhalb aber iſt dieſer Theil unſres Geſchlechts ſo ganz und gar nicht verwerflich. Es giebt eine geringere, eine Faunen - und Sa - tyrennatur in der menſchlichen Bildung, die wir nicht verlaͤugnen koͤnnen; ſie iſt behend, aufgeweckt, luſtig, munter in Ein - faͤllen, in laͤndlichen Scherzen und Spielen; dabei luͤſtern, uͤppig; uͤbrigens einem64 Theil nach, (denn es giebt auch grobe boͤſe Faunen) gutartig, dienſtfertig, wohl - gefaͤllig, freundlich. Warum ſollte man dieſen Geſchoͤpfen, die einſt die Beſitzer der jungen Welt waren, ihre Freuden und Spiele ſtoͤren? Warum ſollte man dieſem Satyrus, der mit ſo unendlichem Appetit die ſuͤße Traube koſtet, jenem Faunchen, das die Nymphe belauſcht oder haſchet, jenem andern, der mit kindiſcher Freude die Floͤte blaͤſet, oder gaukelnd auf - huͤpfet, ihre jugendliche Freude, ihre uner - fahrne Luͤſternheit und Neugier rauben? Vergnuͤgungen oder Luſtkeime dieſer Art ma - chen ja einen ſo großen Theil der Jugend - Freuden aus, die man unſchuldige Freu - den zu nennen gewohnt iſt; und manche Charaktere haften daran Zeitlebens. Alſo bemaͤchtige ſich auch die Kunſt dieſer Claſ - ſe der Menſchheit; nur ſie ſondre ſieab,65ab, und charakteriſire ſie alſo, daß man ſogleich ihre Natur wahr - nimmt. Dies hat die Kunſt gethan, und zwar (ich gehe alles voruͤber, was fuͤr luͤ - ſterne Augen, in Wohlluſt - Kammern oder Gaͤrten gemacht wurde) auf eine dem Ge - nius dieſer Gattung ganz gemaͤße Weiſe. Dieſem jungen Satyr ſprießt ein Hoͤrn - chen, jenem ein Schweifchen; ſein ſpitzes Ohr lauſcht, ſein Blick, ſeine Zunge luͤ - ſtet; alſo iſt er ſchon ſeiner Art nach zum gaukelnden Sprunge, zur luͤſternen Froͤh - lichkeit gemacht; in dieſer Art hat die Kunſt ihn ergriffen, und charakteriſiret. Es giebt Satyren von großer Schoͤnheit; nur ſobald ſie Satyren ſind, zeichnete ſie die Kunſt aus, als der reinen Menſchheit nicht ganz wuͤrdig. War es Grobheit oder zartes Gefuͤhl, das dieſen Unterſchied machte? Unſer Auge wuͤrde vielleicht nichtSechste Samml. E66beleidigt, wenn ein ganz menſchlicher Juͤngling mit einer Nymphe ſcherzt; das Auge der Griechen ward es. Die Geſtalt eines Juͤnglinges war heilig; aber ein Satyr durfte ſo ſcherzen und taͤndeln. Dieſe charakteriſtiſche Unterſcheidung, die Begierden ſolcher Art gleichſam an die Grenze der menſchlichen Natur ruͤckte, war alſo hoͤchſt-ſittlich gedacht, und die reine menſchliche Natur, inſonderheit der menſchliche Juͤngling ward durch ſie ſehr geehret.

Ueberhaupt machen wir uns von dieſer ganzen Gattung Geſchoͤpfe zu grobe Be - griffe, weil unſerm Klima die laͤndlichen Spiele und Feſte, die dazu Gelegenheit gaben, fremde ſind. Wir denken uns al - lenthalben grobe Waldfaunen und Wald - teufel, von denen dort nicht die Rede war; es waren bekannte froͤhliche Mas -67 ken. Die Griechen hatten ſogar eine eigne Gattung Schauſpiele, wo nur Sa - tyren ſprachen und huͤpften; Schauſpiele, die unmittelbar hinter den groͤßeſten Stuͤk - ken Aeſchylus und Sophokles geſpielt wurden, und deren ſich die groͤßeſten Mei - ſter nicht ſchaͤmten. Dieſe Stuͤcke waren Denkmale der Freiheit und Froͤhlichkeit alter Zeiten; ein Satyr durfte ſprechen, was der ehrſame Mann nicht ſprach, und man durfte es hoͤren: denn es ſprachs aus den Kindeszeiten der Welt ein Satyr. Neuere Kuͤnſtler haben dies ſittliche Coſtu - me, was einem Menſchen und einem Sa - tyr zieme? nicht eben ſo genau unter - ſchieden.

Damit habe ich zugleich dem Silen, dem ſogenannten Indiſchen Bacchus, den Centauren, Sirenen, noch mehr aber jenen Ungeheuern, die ſich ganz vonE 268der menſchlichen Natur abſondern, das Wort geredet. Bei uns laufen alle dieſe Dinge durch einander; der Silen heißt ein ehrlicher Mann, der gerne trinkt; Jahrhunderte lang waren unſre Trimal - cions Leute von der großen Welt; ihre Sitte hieß Hofſitte und Kunſt zu leben. Bei den Griechen nicht alſo; Silen und Trimalcion waren Masken ausge - zeichnet-niedriger Charaktere.

Haben Sie in dieſer Ruͤckſicht uͤber - dacht, welchen Vortheil ſolche Masken der griechiſchen Kunſt, welchen Adel ſie der menſchlichen Bildung gaben? Durch ſie ward von unſrer Natur abgeſondert, was ſie verzerret, was ihr nicht ziemet. Alle Carrikatur naͤmlich war in Masken ver - legt, claſſificirt und geordnet. Damit blieb ſie vom edlen menſchlichen Koͤrper getrennt: kein Hogarth durfte Prome -69 theus ſeyn und Menſchen bilden; wohl aber konnte das Kind, der Knabe mit Masken ſpielen, ſelbſt Jupiter und Mer - kur konnten in Masken agiren, wenn ſie's gutfanden. Sie waren jetzt nicht Goͤtter, ſondern Misgeſtalten; denn wer eine ſol - che Maske traͤgt, bezeugt eben damit, daß er jetzt kein Menſch, oder Gott, ſondern das Thier, der Thor ſei, in deſſen Geſtalt er erſcheint. Der edeln Menſchengeſtalt, die bei den Griechen uͤber Alles galt, hat er entſaget. Selbſt an die Griechiſche Claſſification und Ordnung dieſer der Menſchheit unwuͤrdigen Formen hat kaum ein neuer Begriff gereichet.

Die Centauren der Griechen, inſon - derheit Chiron, der den Achilles unter - weiſet, haben mich immer lehrreich ver - gnuͤget. Ich kann den Gedanken, daß ei - ne verſtaͤndige, zaͤrtliche, tapfere und keu -70 ſche Thierheit die Erzieherin und Wieder - herſtellerin des Menſchengeſchlechts ſei, nicht zarter ausdruͤcken, als er hier aus - gedruͤckt iſt: denn Swifts edle verſtaͤndi - ge und keuſche Huynhyms im Contraſt ſeiner Yaoh's, ſind, gegen die Dichtung der Griechen, barbariſche, in ſich ſelbſt nicht beſtehende Gedanken. Chiron unter - weiſet den Achill, nicht etwa in der Jagd allein, ſondern in allen Kuͤnſten der Mu - ſen, ſorgſam, ſtrenge und zaͤrtlich. Die Leyer in der Hand eines Centaurs; eine mit ihren menſchlichen Mutterbruͤſten naͤh - rende Centaure, auf deren Ruͤcken Amor ſitzt, wuͤrde den Stof zu einer aͤußerſt ſitt - lichen Unterhaltung geben, auf welche die Deutungen der Fabel, daß dergeſtalt die Helden der Vorwelt cultivirt worden, ſelbſt weiſen.

71

So auch Ihr, ihr ſchoͤnen Meduſen, Gorgonen, Sirenen, Scylla und Charybdis, ihr Bacchen, Maͤna - den, Titanen und Cyklopen, wo und wie ihr in der Kunſt der Griechen erſcheint, ſeyd ihr an eure Plaͤtze geordnet. Unter uns lauft ihr umher; eine Titane laͤßt ſich als Held, eine Meduſe als Charis, eine Baccha als die Koͤnigin des Himmels an - ſchauen und phyſiognomiſch malen. Waͤren wir den Griechen nicht Dank ſchul - dig, daß, was wir nicht koͤnnen, ſie ge - than, und nach unveraͤnderlichen Regeln und Kennzeichen Claſſen geordnet, Abar - ten ausgezeichnet und die reine Form von der Unform getrennet haben? Auch die Barbaren, und den ſogenannten Trimal - cion haben ſie treffend bezeichnet.

72

70.

Ihre zweite Frage Haben die Griechen uns alles vorweggenommen, und ſind nicht nach und hinter ihnen andre, feine - re und ſitlichere Ideale moͤglich? Ja ſind dieſe nicht vielleicht ſchon laͤngſt in der neueren Kunſt gegeben? dieſe Frage wird ſich, wie mir es ſcheint, aus dem Vori - gen von ſelbſt beantworten. Die Griechen naͤmlich haben, indem ſie alles ordneten, als Raͤuber nichts vorweggenommen; ſie haben der Erfindung keines ſterblichen Menſchen geſchadet, ſondern dieſer Raum gemacht und ſie geleitet.

73

Im Anbeginn der Dinge, ſagen die Dichter, ſchwebte alles in wuͤſter Unord - nung und es war zu nichts Raum. Da begann eine Welt; jedes ordnete ſich zu Seines gleichen; es wurden Planeten und Sonnen. Elemente ſonderten ſich; es ent - ſtanden Kunſtgeſchoͤpfe. Nun ward Raum: denn die harmoniſchen Toͤne der Welt - leyer waren erklungen, und Alles geſellet ſich ſeitdem zu ſeinem Geſchlecht, zu ſei - ner Ordnung. Noch jetzt erhalten ſich al - le Claſſen der Lebendigen alſo; ſo reihen noch jetzt ſich Sonnen an Sonnen; Ne - belſterne ziehen ſich zu Syſtemen zuſam - men und gewaͤhren Raum; ſo ward und ſo wird die Schoͤpfung.

Auch die Kunſt, die Schoͤpfung der Menſchen nicht anders. Die Griechen er - fanden und vollendeten Ideale; ſie ſchuf - fen Claſſen der Menſchheit, und74 trenneten ab, was nicht zu ihr gehoͤret. Damit bildeten ſie den reinen goͤttlichen Begriff unſres Geſchlechts zart und viel - ſeitig aus; wem haben ſie hiemit geſcha - det? Wer ſich edler als Caſtor und Pollux, ſchoͤner als Dionyſos oder Apollo, jung - fraͤulicher als Diana, daͤmoniſcher als Mi - nerva fuͤhlt, der trete her und die Kunſt wird ihm opfern. Ein Koͤnig, der uͤber Jupiter, eine Koͤnigin, die uͤber Juno herrlich, eine Geliebte, die zaͤrtlicher iſt als Pſyche, trete her und die Kunſt wird ihr opfern. Die hohen Sternbilder, die geordneten Sonnen-Syſteme ſtehen da; und zwiſchen ihnen iſt Raum zu andern Syſtemen.

Jede reine Idee, die ein vollendetes Bild giebt, theilt nachbarlichen Ideen Klarheit mit; dies zeigt die griechiſche Kunſt in hohem Grade. Aus jener be -75 ſcheidenen Aphrodite ward mit einer kleinen Veraͤnderung eine Nemeſis aus ihr und aus allen urſpruͤnglich wenigen Goͤtterformen, wie viel Ideen ſind erwach - ſen! Parcen und Eumeniden, Grazien und Horen, Nymphen allerlei Art, Schutz - goͤttinnen der Laͤnder und Perſonen, per - ſonificirte Tugenden und Ideen. Eine Genealogie dieſer Geſtalten wuͤrde zeigen, von wie wenigen Hauptformen ſie ent - ſproſſen ſind, und wie ſich, der einmal feſtgeſtellten Ordnung nach, immer Glei - ches zu Gleichem geſellte. Bis auf die Muͤnzen der Roͤmer in ziemlich ſpaͤten Zei - ten erſtreckte ſich dieſe Fruchtbarkeit jener kleinen Anzahl Griechiſcher Ideen; auf ihnen erhielten ſich Bilder ſittlicher Hu - manitaͤt ſelbſt in Zeiten, da alles dem Ge - ſetz und Kriege, dem Zwange und der Noth diente.

76

Sollten alſo jene Denkbilder reiner Formen der Menſchheit je einem Sterbli - chen den Weg zu Ideen verſchlieſſen oder verſchloſſen haben? Niemals; nur lange Jahrhunderte waren in ſo dunklem Nebel, daß auch der Umriß ſolcher Formen nicht erkannt werden mochte. Endlich zerfloß der Nebel; der menſchliche Geiſt gelangte wieder zu einigermaßen hellen Begriffen; Andacht und Liebe verkuͤrzten den Weg dahin, und ſo ſind jene Bildniſſe erſchie - nen, die wie Morgenſterne aus der wei - chenden Nacht hervorſchimmern. Man humaniſirte feine Religionsbegriffe; und ſo trat vor allen andern die gebenedeie - te Jungfrau, die Mutter des Welthei - landes in einer eignen Idee hervor, zu der ihr die griechiſchen Muſen nicht halfen. Der Gruß des Engels half ihr dazu, der ſie die Holdſelige, die Got -77 tesgeliebte; ihre eigne Demuth half ihr dazu, in der ſie ſich die Magd des Herren nannte. Aus dieſen beiden Zuͤ - gen floß ihr liebliches Weſen zuſammen, das ſich dem menſchlichen Herzen ſehr ver - traut machte. Dichter hatten ſie mit der Stimme des Engels in zarten Worten oft gegruͤßt, zutrauliche Gebete ſie liebreich angeredet; jetzt trat die Kunſt hinzu, ſie auch ſichtbar zu machen, ſie und das Kind in ihren Armen, die ſelige Mutter und die heilige Jungfrau. Keuſchheit alſo und muͤtterliche Liebe, Unſchuld des Her - zens und jene Demuth, die in der groͤße - ſten Hoheit ſich ſelbſt nicht kennet, die in tiefer Armuth die ſeligſte ihres Geſchlechts iſt; dieſe neue Form der Menſchheit ward vom Himmel gerufen; ein Marien-Cha - rakter. Sein unterſcheidender Zug iſt, wenn ich ſo ſagen darf, jene chriſtliche78 Unbefangenheit, in der die Mutter von ihr ſelbſt, von ihrer Herrlichkeit, kaum von ihrem Kinde zu wiſſen ſcheinet, das ſie dennoch, das dennoch ſie liebreich umfaͤngt, und den Menſchen hold iſt. Eine humane Gruppe, die Kind und Knabe, Maͤdchen und Jungfrau, Braut und Mutter, Mann und Greis, der Ster - bende ſelbſt zutrauend-ſanft, gleichfalls mit chriſtlicher Unbefangenheit gern anſehn; da uͤbrigens Raphaels Marien, gewiß die hoͤchſten und reinſten ihrer Art, alle Land - maͤdchen ſind, nur ſehr innig gedacht und rein idealiſiret. Jene Glorreiche, ſelbſt, die, das Kind im Arm, uͤber den Wolken ſchwebet, kennet ſich ſelbſt nicht und iſt in ei - ner ſanften Verwunderung uͤber die Hoheit, die ihr zu Theil wird. Auſſer Raphael ha - ben wenige dieſe Idee erreichet; die gebeugte Schmerzensmutter gelang ihnen viel mehr.

79

Den Sohn Gottes in Menſchenge - ſtalt haben auſſer Raphael, da Vinci, del Sarto wenige wuͤrdig gedacht und empfunden, alſo naͤmlich daß die goͤttliche Menſchheit des Erloͤſers der Menſchen nicht zugleich Niedrigkeit wuͤrde. Das Bild des ewigen Vaters fand noch mehrere Schwierigkeiten; die Idee des ge - fallenen maͤchtigen Engels nicht minder. In allem aber, was der naͤhere Kreis unſrer Menſchengeſtalten einſchließt, welchen Reichthum ſchoͤner Compoſitionen haben in Neueren eben die Alten erweckt und befoͤrdert! Wer hat je Raphaels Schule zu Athen und ſeine andre vatika - niſche Gemaͤhlde geſehen, ohne zu empfin - den, in ihm war eine griechiſche Seele. Engelsangeſichte ſind in ſeinen Gemaͤhl - den; ſeine Muſe war ein ſchaffender Geiſt, der Geſtalten hervorruft und jeden Cha -80 rakter mit Grazienhand das Seinige an - weiſet. Was Angelo und ſo viel andere den Alten ſchuldig ſind, haben ſie ſelbſt bekannt; in gluͤcklichen Zeiten der Kunſt werden andere kommen, und neu erfinden. Der Ideenbildende Geiſt iſt nicht ausge - ſtorben und kann nicht ausſterben; in den griechiſchen Kunſtwerken iſt ein ewiger Same zu ſeiner Neubelebung.

81

71.

Was in unſerm Klima, in unſrer Ver - faſſung uns die Griechiſche Kunſt ſolle? fragen Sie; und ich antworte kurz: wir wollen nicht ſie, ſondern ſie ſoll uns beſitzen; gerade das Gegentheil, was jener Grieche von ſich in Anſehung der Lais ruͤhmte. Dieſe Lais verfuͤhrt nur ſchlechte Gemuͤther; die beſſere wird ſie als eine Aſpaſia bilden.

Wir wollen, meyne ich, die grie - chiſche Kunſt nicht beſitzen, da ſoSechſte Samml. F82wenige nordiſche Seelen ſie kaum fuͤhlen. Die griechiſchen Kunſtwerke ſelbſt ſind ja unſerm unfreundlichen Klima fremde; und es dauerte mich ſtets, wenn ich Schaͤtze dieſer Art nach Britannien hinuͤber ge - ſchifft ſah. Ein Raub der Proſerpina; wer wird ſie in jenen plutoniſchen Hai - nen, wo ſie unverſtanden, zerſtreut und verſchloſſen daſtehn, ſuchen und von ihnen lernen? Laſſet ihr Weltuͤberwinder, den Raub Griechenlandes und Aegyptens ih - rer alten Beherrſcherin, dem milden und ewigen Rom, wo Jedermann, dem das Gluͤck den Weg dahin nicht verſagte, um ein Nichts zu ihnen Zutritt findet. Sen - det eure Kuͤnſtler dahin, oder gewaͤhret euch ſelbſt ihren mildernden Anblick; nur machet ſie nicht zu Boten unter den Voͤl - kern, oder zu Hermesſaͤulen auf euren glorreichen Wegen.

83

Die griechiſche Kunſt, meyne ich, ſoll uns beſitzen, und zwar an Seele und Koͤrper.

Allenthalben z. B. gingen die Voͤlker bekleidet umher, und ſchaͤmeten ſich des Gottgebildes, das ſie verhuͤllten; die Grie - chen wagten es, den Menſchen in der Herrlichkeit zu zeigen, die ihm Gott an - ſchuf. Welcher Vater, welche Mutter wuͤnſchet ſich nicht geſunde, wohlgeſtaltete Kinder? wer erfreuet ſich nicht an ihrem Anblick und fuͤhlt ſeine Bruſt erweitert, wenn er einen ſchamhaften Juͤngling, ei - ne zuͤchtige Jungfrau ſiehet? In dieſer Jugendkraft, die, von einer gluͤcklichen Natur erzeuget, durch Maͤßigkeit und Ue - bung allein gedeihet, fuͤhlt jedermann die Anlage zu einem thaͤtigen, heitern Leben; und bedauret die Gelegenheit, die ihm zu Ausbildung dieſer Geſtalt und Kraͤfte ver -F 284ſagt ward. Wenn nun ein unfreundlicher Daͤmon uns die Bruſt zuſammendruͤckte, ſollten wir kuͤnftigen Geſchlechtern nicht ei - nen gluͤcklichern Daͤmon goͤnnen? Und da vom Menſchen-Schickſal viel, ſehr viel in der Hand der Menſchen, in ihrem Wil - len, in ihrer Verfaſſung und Einrichtung liegt: koͤnnte uns zu Befoͤrderung ſolcher Anſtalten wohl ein Groͤnlaͤnder, der aus ſeiner Hoͤle gezogen ward, oder nicht viel - mehr ein Grieche, der ein Menſch wie wir war und als ein Gottesbild daſteht, erwecken und reizen?

An den Koͤrpern betrachte man der Griechen Kleidung. Die unſre hat Pe - nia, die Duͤrftigkeit ſelbſt erfunden, und eine Megaͤra des Luxus und der Unver - nunft vollendet. Die Kleidung unſrer Weiber entſprang aus der armen Schuͤrze, die man noch bei Negern und Wilden85 ſiehet. Als ſie endlich rings die Lenden umgab, ward ſie zu einem Rock, der aus druͤckender Armuth kaum uͤber den Nabel den Unterleib zuſammenſchnuͤret. Jahrtau - ſende hin haben dieſe ſchnuͤrende Lenden - Schuͤrzen fortgedauert; und um ihren Reichthum zu zeigen legten manche nordi - ſche Volkstrachten ſogar ſieben dergleichen Lendenſchuͤrzen dick uͤbereinander, daß das abentheuerliche Geſchoͤpf dem Anſehen nach auf einer Tonne ruhen moͤchte. Man wagte es oft nicht, dieſe Schuͤrze bis zu den Fuͤßen hinab zu verlaͤngern, geſchwei - ge, daß man ſie zu einem Gewande zu erheben ſich getrauet haͤtte; und zeigte lie - ber ſeine ungeſtalten Glieder. Die Beklei - dung des nordiſchen Weibes an der Bruſt entſprang aus einem Mieder, das man nach und nach mit mehreren Theilen zu - ſammenſetzte, woraus dann jener unſelige86 Seiten - und Bruſtharniſch entſtand, der tauſend Muͤttern und Kindern ihre Wohl - geſtalt, ihr Leben, ihre Geſundheit, ihre Freuden an Muttergeſchaͤften gekoſtet hat, und dennoch fortdauret. Da man Einmal auf dem Wege der Mißgeſtalt war, ſo wurden mancherlei Kleidungen erdacht, um dieſe oder jene einzelne Misgeſtalt zu ver - bergen, denen ſodann unter dem Geſetz der Mode auch die bluͤhendſte Geſtalt nachahmen mußte. Bei jeder unſinnigen Tracht naͤmlich kann man zeigen, welchem koͤrperlichen Fehler zu gut ſie entſtanden ſei, ſo daß man faſt auch keinen koͤrperli - chen Fehler gedenken kann, den unſre weib - liche Tracht nicht verbergen moͤchte. Biſt du das Alles? ſagte jene Griechin zu ei - nem Europaͤiſchen Reifrock; und was der Reifrock haͤtte antworten koͤnnen, hat La - dy Montague frei geſagt. Die maͤnn -87 liche Kleidung der Europaͤer hat einen eben ſo barbariſchen Urſprung. Zum Reiten ſind wir da; das zeigt die Bekleidung un - ſrer Beine. Die uͤbrigen Fetzen haben wir uns nach und nach, inſonderheit der Ta - ſchen wegen, zugeleget, und als ob wir uns des Stranges unaufhoͤrlich bewußt ſeyn ſollten, inſonderheit unſern Hals jaͤm - merlich zugeſchnuͤret; eine Kleidung, in der wir allen Nationen der Erde laͤcher - lich werden.

Da blicke man eine Muſe, eine Juno, ja nur irgend eine bekleidete griechiſche Nymphe an, und erroͤthe. Man betrachte einen griechiſchen Mann, er ſei Juͤngling, Held oder Weiſer, in ſeinem Gewande; und ſehe beſchaͤmt auf ſich ſelber. Fuͤhl - ten beide Geſchlechter die Wuͤrde ihrer Koͤrpergeſtalt und hielten ihre Zwecke fuͤr Pflicht; haͤtten ſie ſich dieſen Feſſeln bar -88 bariſcher Duͤrftigkeit nicht laͤngſt entwun - den?

Ohne Zweifel muͤſſen Sie in Statuen ſowohl als auf allen griechiſchen Denkma - len den beſcheidenen und veſten Stand, die ruhige Stellung der Perſonen beiderlei Geſchlechts, die nicht Fechter, oder Faunen ſind, bemerkt ha - ben; Winkelmann hat daruͤber ſeine fuͤr die Schoͤnheit ſehr empfindliche Seele reich ausgeſchuͤttet, und den zarten Ge - muͤthscharakter, den dieſe Ruhe ver - raͤth, unuͤbertreflich geſchildert. Verglei - chen Sie damit unſre alten Gemaͤlde in Spaniſcher Tracht mit ihrem Ritter - und Heldentritte, oder alle jene gewohnten Gebehrden, die uns das Etiquett der Ge - ſellſchaft auflegt. Beide Geſchlechter haben in ihrer Kleidung faſt keine natuͤrliche Stellung mehr; Haͤnde und Fuͤße ſind uns89 zur Laſt, und jene ruhige Innigkeit, die von keiner Repraͤſentation weiß, die auch in der Bewegung ganz fuͤr ſich da iſt; wir ſehen ſie kaum noch an einigen gluͤck - lichen Ausnahmen, in denen wir ſie Un - erzogenheit oder Naivetaͤt zu nennen gewohnt ſind. Und doch iſt dieſe nuͤchter - ne Innigkeit die Grundlage aller wah - ren und ruhigen Beſinnung im Men - ſchen, ſo wie ſie das Kennzeichen einer reinen Unbefangenheit, eines richti - gen Gefuͤhls, eines tieferen Mitge - fuͤhls, kurz der einzigen und aͤchten Humanitaͤt iſt. Wer in ſeinen Bewe - gungen zeigt, daß er nicht Zeit habe, zwei Augenblicke in ſich ſelbſt zu verweilen und ohne Ruͤckſicht der Dinge, die außer ihm ſind, ſein Geſchaͤft zu treiben, iſt ein un - reifes Geſchoͤpf der Menſchheit. Nur An - triebe von auſſen, Sturm und Zwang90 koͤnnen ihm gebieten; er fuͤhlet nichts von jener innern Seelenruhe, die auch im Ge - gengewicht und Kampf lebendiger Kraͤfte, vermoͤge der Symmetrie und Eurythmie des Koͤrpers und der in ihr ſanft-ergoſſe - nen Seele auf ſich ſelbſt haftet.

Aber wie ſoll ich das freundliche Beiſammenſeyn der griechiſchen Koͤr - per und Seelen unter und mit einander bezeichnen? Jene Ruhe, mit der ſie ein - ander anſchaun und hoͤren? Die Ueberre - dung wohnet auf ihrer Lippe, ob man gleich kein Wort vernimmt; es iſt Ein ge - genwaͤrtiger Geiſt, der den Hoͤrenden und Sprechenden bindet. Und wenn ih - re Haͤnde einander beruͤhren, wenn dieſer ſanfte Arm auf der Schulter, oder nur das Auge auf dem Anblick des andern ru - het; welche ſuͤße Harmonie, welche liebende Anhaͤnglichkeit offenbaret ſich zwiſchen Bei -91 den! Nie habe ich eine griechiſche Gruppe, man nenne ſie Oreſt und Pylades, oder Oreſt und Elektra, Biblis und Caunus, Paͤtus und Arria, Amor und Pſyche, oder wie man wolle, bemer - ket, ohne dieſe liebliche Zuſammen - ſtimmung zu fuͤhlen, die beide zu Einem vereinet. Nie habe ich in den wenigen Gemaͤhlden, die von ihnen uͤbrig ſind, oder in ihren zahlreichern Bas-Reliefs eine griechiſche haͤusliche Geſellſchaft geſehen, in welche nicht jener Geiſt der Ruhe er - goſſen war, der unſern Tumultvollen Compoſitionen ſo oft fehlet. Raphael hatte von dieſem Geiſt empfangen; Mengs hat ihn, wenn das antike Gemaͤhlde, in welchem ſich Ganymedes dem Jupiter na - het, ſein iſt, ſowohl in dem Annahen ſelbſt, als auf dem Munde des Vaters der Goͤt - ter in dem ewig freundlichen Kuß ausge -92 druͤckt, mit dem er ihn aufnimmt. In allen Compoſitionen der Angelika iſt dieſe ihr eingebohrne moraliſche Grazie der Charakter ihrer Menſchen. Selbſt der Wilde wird durch ihre Hand milde; ihre Juͤnglinge ſchweben wie Genien auf der Erde; nie war ihr Pinſel eine freche Ge - behrde zu ſchildern vermoͤgend. Wie etwa ein Schuldloſer Geiſt ſich menſchliche Cha - raktere denken mag, ſo hat ſie ſolche, aus ihren Huͤllen gezogen, und mit einem ſchoͤ - nen Verſtande, der das Ganze aufs leiſe - ſte umfaßt, und jeden Theil wie eine Blu - me entſprießen laͤßt, harmoniſch ſanft ge - ordnet. Ein Engel gab ihr ihren Namen, und die Muſe der Humanitaͤt ward ihre Schweſter.

Meynen Sie noch, daß die Kunſt der Griechen, ihrem Geiſte nach, nicht fuͤr uns gehoͤre? Dem Worte ſelbſt nach haͤt -93 ten Sie uns damit zu einer ewigen Bar - barei verdammet.

Denn, um aller Muſen willen, wozu leſen wir die Griechen? Iſts nicht, daß wir eben dieſen zarten Keim der Humani - taͤt, der in ihren Schriften, wie in ihrer Kunſt liegt, nicht etwa nur gelehrt ent - falten, ſondern in uns, in das Herz un - ſerer Juͤnglinge pflanzen? Wer in Ho - mer, ja in allen Schriftſtellern von aͤcht - griechiſchem Geiſt bis zu Plutarch und Longin hinab, blos Griechiſch lernet, oder irgend eine Wiſſenſchaft in ihnen blos und allein mit Nordiſchem Fleiſſe verfolgt, ohne den Geiſt ihrer Compoſition, die - ſe feine Bluͤthe, mit innerer Zuſtimmung ſeines Herzens zu bemerken, der koͤnnte, duͤnkt mich, an ihrer ſtatt Sineſen und Mogolen leſen.

94

72.

Der Schluß Ihres letzten Briefes ſcheint auf den alten Satz hinauszukommen, daß fuͤr uns Menſchen das Wahre, Gute und Schoͤne nur Eins ſei: Sollte es nicht aber auch ein Wahres und Gutes ohne ſchoͤne Form geben? ja muͤßte ſich nicht eben das hoͤchſte Wahre und Gute von al - ler Form entkleiden?

Die Griechen lebten im Juͤnglingsal - ter der Menſchheit; bei ihnen lief oft die Einbildungskraft mit dem Verſtande da - von, oder wenigſtens lief ſie ihm voran,95 und kleidete ſinnlich ein, was doch allein fuͤr den Verſtand gehoͤret. Schonend ha - ben Sie die Misbraͤuche verſchwiegen, die von den Kuͤnſten des Schoͤnen gemacht wurden und taͤglich noch gemacht werden. Iſts alſo nicht eine wohlthaͤtige Hand, die dieſe Dinge ſcheidet?

Wir Nordlaͤnder ſind einmal nicht wie die Griechen organiſiret; laßet jenen, ſtatt der Wahrheit eine Aphrodite auf ihrem Altar; unſre Wahrheit iſt ein unſichtbarer Geiſt, unſre Moral eine Geſetzgeberin fuͤr alle reindenkende Weſen, in welcher Koͤr - perform dieſe auch erſcheinen moͤgen. Sinnlichkeit ſchadet dem Verſtande; durch ſeine Liebe zum Schoͤnen ging Griechen - land unter.

96

73.

Und wodurch gingen denn ſo viele Bar - baren unter? Durch Unverſtand und Toll - kuͤhnheit, durch eine erſchlaffende Ueppig - keit, die ohne alle Empfindung des Schoͤ - nen war, oder durch ſklaviſche Traͤgheit. Alſo laſſen Sie uns die Schickſale der Voͤlker, die im Wurf der Zeiten von ſo mancherlei Umſtaͤnden beſtimmt werden, nicht in unſre Frage miſchen. Mißbrauch bleibt uͤberall Mißbrauch, Laſter allenthal - ben Laſter, unter welcher Larve es auch erſcheine.

Auch97

Auch reden wir nicht von einer Sinn - lichkeit, die dem Verſtande entgegen geſetzt waͤre. Eine ſolche ſollten wir nicht kennen; ſo wenig uns ein Verſtand ohne Sinnlichkeit und eine Moral voͤllig reiner Geiſter bekannt iſt.

Nach meiner Philoſophie erweiſen ſich alle Naturkraͤfte, die wir kennen, in Or - ganen; je edler die Kraft, deſto feiner iſt das Organ ihrer Wirkung. Koͤrperloſe Geiſter ſind mir unbekannt. Auſſer der Menſchheit kenne ich uͤberhaupt keine ver - nuͤnftige Weſen, deren Denkart ich erfor - ſchen koͤnnte; ich ſchließe mich alſo in mei - nen engen Kreis, ich wickle mich in den armen Mantel meines irrdiſchen Daſeyns.

Und in dieſem finde ich durchaus kei - ne Formloſe Guͤte und Wahrheit. Ich ſpreche nicht von Wortformen, die als bloße Mittel des Empfaͤngniſſes undSechste Samml. G98Ausdrucks unſrer Gedanken ganz an ih - rem Ort bleiben; ich rede nicht von Grund - ſaͤtzen, die als Grundſaͤtze freilich nicht dargeſtellt werden koͤnnen; ſondern von Gegenſtaͤnden und Sachen, von der Natur unſer ſelbſt und der Dinge, die uns umgeben. Jede Wahrheit, die aus dieſen abgezogen ward, muß auf ſie zuruͤckgefuͤhrt werden koͤnnen, und eine Menſchenmoral kann ſich nicht anders als in menſchlichen Geſinnungen, Neigungen, Handlungen aͤußern. Mithin hat alles Form und Weiſe; eine Form, die er - kannt, eine Weiſe, die ſichtbar gemacht werden kann und muß.

Und dieſe Form des Wahren und Guten (verzeihen Sie meine Unphiloſo - phie,) iſt Schoͤnheit. Je reiner ſie er - ſcheint, je lebendiger in ihr Erkenntniß und Guͤte ausgedruͤckt ſind, deſto mehr be -99 hauptet ſie ihren Namen, und uͤbt ihre Kraft auf menſchliche Gemuͤther und Or - gane. Wie das heilige Wort Guͤte und Schoͤnheit (ϰαλον ϰ'αγαϑον) vom Poͤbel gemißbraucht werde, darf und muß uns nicht irren: denn wer legte uns die ver - wirrte Sprache des Poͤbels zum Geſetz auf? Es giebt aber keine haͤßliche Wahr - heit, ſo wenig es ein haͤßlich Gutes ge - ben kann: dem Erkennenden ſowohl als dem Ausuͤbenden ſind beide von der hoͤch - ſten Schoͤnheit.

Laſſen Sie uns z. B. bei der Moral bleiben. Ihr Grund liegt im Verſtande und Herzen des Menſchen; im Weſentli - chen iſt er auch von allen Voͤlkern aner - kannt; die Griechen aber haben ihren hoͤch - ſten Grundſatz der Sprache nach ſchoͤn ausgebildet. So verſchieden ihre Philoſo - phen ſich ausdruͤckten; ſo war ihnen allenG 2100Tugend das hoͤchſte Geziemende der Menſchheit in Geſinnungen, Handlun - gen und der ganzen Lebensweiſe, kurz das ſittlich-Schoͤne. Plato ſuchte es in ewigen Ideen, Ariſtoteles als die fein - ſte Mitte zwiſchen zwei Extremen, die Stoiſche Schule als das hoͤchſte Ge - ſetz aller Vernuͤnftigen in einer großen Stadt Gottes; alle aber kamen darinn uͤberein, daß es ein ϰαλον, ein πϱεπον, das hoͤchſte Anſtaͤndige der menſchli - chen Natur ſei.

Dies Anſtaͤndige nun hat keinen Maas - ſtab von auſſen; durch politiſche Geſetze kann mir die reine Gemuͤthstugend nicht aufgelegt werden; auch die Meinungen andrer erkennet ſie als ihr Geſetz nicht. Noch weniger die Bequemlichkeit, den Nuz - zen, die Eitelkeit des Artigen von innen und außen; aͤußerſt mißverſtanden ſind101 Griechen und Roͤmer, wenn man ihr ho - neſtum, ihr pulcrum et decens dahin er - niedrigt. In jedem zweifelhaften, ſchwe - ren Fall ſetzen ſie es dem Nutzen, der Bequemlichkeit, der aͤuſſerlichen Ehre und Schande gerade entgegen; Arbeiten und Muͤhe, Marter und Tod waͤhleten ſie fuͤr dieſe ſchoͤne Braut, den hoͤchſten Kampf - preis des Lebens, das rectiſſimum, opti - mum, die Tugend.

Und mich duͤnkt, dies hoͤchſte Anſtaͤn - dige der Menſchheit enthalte ſowohl die ſchaͤrfſte Beſtimmung als den innig - ſten Reiz der Tugend. In ihr befolge ich naͤmlich nicht ſowohl ein Geſetz, das ich mir ſelbſt aufgelegt habe, oder als Geſetzgeber allen vernuͤnftigen Weſen auf - lege. In der ſtolzen Monarchie mein ſelbſt verwechſeln ſich oft Gebieter und Sklave; einer betruͤgt den andern; dieſer102 ſtraͤubt ſich, jener bruͤſtet ſich; und uͤber - haupt iſt ein Geſetz, als Geſetz, ohne Reiz und inneres Leben. Das mir ſelbſt, das der Menſchheit Anſtaͤndige reizt; es reizt unaufhoͤrlich, als ein nie ganz zu erringender Kampfpreis, als mei - ner innern und aͤuſſern Natur, als mei - nes ganzen Geſchlechts hoͤchſte Bluͤthe. Wer dafuͤr keinen Sinn haͤtte, der wuͤrde ſich zwar ſelbſt nicht verachten; er bliebe aber eben dadurch ein Unmenſch, weil ihm dies Anſtaͤndige, dieſe innere Wohlgeſtalt, das Gefuͤhl und Beſtre - ben des honeſti fehlte. Er iſt, (in der Sprache der Griechen zu reden,) ein Thier oder Halbthier, ein Centaur, ein Satyr.

In der Menſchheit hat dies Ideal des moraliſchen Anſtandes ſo viele Stuf - fen der Annaͤherung, daß es nicht etwa nur Geſinnungen fuͤr ſich und die Seinen,103 ſondern Vaterland und zuletzt die ganze Menſchheit unter ſich begreifet. Der waͤ - re der Edelſte und Schoͤnſte, der mit den groͤßeſten Gefahren, der ſchwerſten Muͤhe, der langſamſten Aufopferung ſein ſelbſt, nicht Freunde, nicht Kinder, nicht das Vaterland allein, ſondern die geſammte Menſchheit zu dieſer innern ſuͤßen Wuͤrde, dem lebendigſten Gefuͤhl des honeſti jeder Art, mithin zum Endloſen Beſtreben nach der reinſten Menſchenform heben koͤnnte. Hier hoͤret Deſpot und Sklave voͤllig auf; auch wenn ich mir gebiete, bin ich unter dem Evangelium, in einem Wettkampf liberaler Uebung. Wenn ich das Schwerſte und Groͤßeſte gethan haͤtte, ha - be ich nichts gethan; ich weiß nicht, daß ich es gethan habe; aber dem Ziel fuͤhle ich mich naͤher, ein Retter, ein Erhoͤ - her der Menſchheit in mir und an -104 dern zu werden aus innerer Luſt und Nei - gung. Sie ſehen, in welchen unendlichen Plan dieſe Idee des moraliſch-Schoͤnen (ϰαλον ϰ'αγαϑον) gehoͤret.

Die Erziehung der Alten, ſagt Win - kelmann*)Allegorie, S. 13., war der unſrigen ſehr ent - gegengeſetzt. Bei ihnen in ihren beſten Zeiten wurden nur heroiſche Tugenden geſchaͤtzt; diejenigen naͤmlich, welche die menſchliche Wuͤrdigkeit erheben, da ande - re hingegen, durch welche unſre Begriffe ſinken und ſich erniedrigen, nicht gelehret noch geſuchet, vielweniger auf oͤffentlichen Denkmalen vorgeſtellt wurden. Jene Er - ziehung war bedacht, das Herz und den Geiſt empfindlich zu machen fuͤr die wah - re Ehre; die Jugend zu einer maͤnnlichen großmuͤthigen Tugend zu gewoͤhnen, wel -105 che alle kleine Abſichten, ja das Leben ſelbſt verachtete, wenn eine Unternehmung der Groͤße ihrer Denkungsart nicht gemaͤß ausfiel. Bei uns wird die edle Ehrbe - gierde erſticket und der tumme Stolz ge - naͤhret.

106

74.

Wie waͤre es, wenn ich Ihren Gang in Arkadien unter den Kunſtgebilden der Griechen mit einigen Stimmen der griechiſchen Muſe begleitete? Sie zei - gen wenigſtens, daß das Menſchengefuͤhl, das Werke der Kunſt ſchuf, ſie auch an - ſah, daß man den milden Sinn des Kuͤnſtlers zu erfaſſen und auszudruͤcken ſtrebte.

Die griechiſche Anthologie giebt uns hiezu mehr als Einen Wink, und Heyne107 hat in ein paar Vorleſungen dieſe ge - ſammlet. *)Priſcae Artis opera ex epigrammatibus graecis partim eruta partim illuſtrata. Comment. I. II. v. Comment. Soc. Goet - ting. hiſt. et phil. T. X. p. 80.

Der ſtolzen Juno hat wahrſcheinlich ein Griechiſches Epigramm ihren Todfeind, den Herkules an die Bruſt gelegt. **)Brunk Analect. T. III. p. 202. Der Dichter fand, daß die marmorne Bruſt, dem Kinde die Milch verſagend, die Bruſt einer Stiefmutter, einer Juno ſeyn muͤßte nicht ohne Grund. Dieſe zarte Pflicht muͤtterlicher Liebe gehoͤrt wirk - lich mehr fuͤr den Pinſel des Mahlers, als fuͤr den harten Marmor.

Kraͤftiger druͤckten die Griechen die muͤtterliche Liebe im Kampf der Lei -108 denſchaft aus. Wie jene Henne, die von Schnee und Kaͤlte erſtarret auch im Tode noch das Neſt ihrer Geliebten deckt und es vor dem Tode beſchirmt*)Herders zerſtreute Blaͤtter Th. I. S. 90. Anthol. Steph. L. I. Cap. 87. ; ſo ſte - het in der Kunſt die fuͤr alle ihre Kinder leidende Niobe da, und die Stimme der Muſen bezeichnet das Ideal der muͤtter - lichen Heroide:

Schau das lebendige Bild der ungluͤckſeligen,
Mutter;
Noch im Tode beweint ihre Geliebteſten
ſie,
Mit unhoͤrbarer Klage; ſie ſteht erſtarret.
Der Kuͤnſtler
Bildete ſie, wie im Schmerz lebend zum
Felſen ſie ward.
109

Und da die Bildſaͤule der Mutter mit denen um ſie getoͤdteten Kindern einen entfernten Anblick forderte, ſo ſprach der Dichter:

Stehe von fern 'und wein', anſchauender
Wanderer. Tauſend
Schmerzen zeigen ſich hier, die ein un -
gluͤckliches Wort
Dieſer Mutter gebracht. Zwoͤlf Kinder, Bruͤ -
der und Schweſtern,
Liegen von Artemis Pfeil, liegen von
Cynthius Pfeil
Schon danieder; die andern ereilt ihr Koͤcher.
Es aͤchzet
Sipylus dort auf der Hoͤh. Schaue,
die Mutter erſtarrt.

In einem andern Epigramm hebet ſie die Haͤnde empor; es loͤſet ſich ihr Haar; ſeufzend ſchauet ſie umher; dieſer Tochter ſchlaͤgt das Herz in der Angſt des Todes,110 jene ſchmieget ſich ſterbend an ſie, eine andre iſt ſchon erblaßt. So ihre Soͤhne; Gram folget der Mutter ins Todtenreich nach. Eine andre Stimme bringt der Erſtarrenden die Nachricht vom Tode ih - rer Kinder. *)Anthol. Stephan. C. 9. I. 4. Kurz, Niobe ſteht im Namen aller Ungluͤcklichen da, die je ein bluͤhendes Geſchlecht beweinten. Wie man - che Toͤne der Vater - und Mutterliebe, kommen uns hieruͤber aus der Anthologie wieder, wenn wir, wie z. B. dort auf der Mnaſylla Grabe die Tochter im Arm der Mutter verſcheiden ſehen**)Brunk Analecta III. 4. , und ſonſt in mancherlei Art Denkmale der Liebe auf den Gruͤften der Geſtorbenen erblicken. So oft mir das bekannte Bild erſcheinet, da Merkur eine ſchuͤchterne111 Seele dem guͤtigen Pluto und der Pro - ſerpina darſtellt, hoͤre ich jene fragende Stimme:

Du, der Proſerpina Bote, wer iſt es, den
du o Hermes
Schon ſo fruͤhe dem Reich dunkeler
Schatten geſellſt?
Jener Ariſton iſts von ſieben Jahren. Du
ſieheſt
Zwiſchen den Eltern ihn dort ſtehen im
traurigen Mahl.
Thraͤnenliebender Pluto; dir reift ja Alles,
was athmet;
Und du maͤheſt die Frucht fruͤh 'in der
Blume dir ſchon?

Um den Schmerz der Mutterliebe zu hoͤren, leſen Sie der Hekuba, Prog - ne, der Andromache Klagen; hoͤren112 Sie, wie von den Stuͤrmen des Meeres umhergetrieben, die Danae ruft:*)Brunk. T. I. p. 121.

Als um die Kunſtgezimmerte Kiſte
Brauſte der Wind und das wogige Meer;
Da ſank erſtarret vor Schrecken
Der Mutter das Herz. Mit Thraͤnenbe -
deckter Wange
Schlang ſie um Perſeus ihren liebenden
Arm und ſprach:
O Kind, was leid 'ich um dich!
Und du ſchlummerſt mit deinem unſchuldi -
gen Herzen
In dieſer grauſen, Erzumklammerten, naͤcht -
lichen Wohnung,
In ſchwarzer Finſterniß ſo ſanft.
Der Welle, die um dein weiches Haupthaar
ſchlaͤgt,
Und der Winde Sauſen achteſt du nicht;
Da113
Da im Purpurkleide verhuͤllet
Dein ſchoͤnes Antlitz ruht.
Gewiß, wenn dieſes Erſchreckliche
Dir ſchrecklich waͤre, du vernaͤhmſt
Von meinen Klagen ein kleines Wort.
Doch ſchlafe ſanft, mein Kind!
Schlaf 'auch das Meer, mein unermeßliches
Ungluͤck ſchlafe.
Vereitle, Vater Zeus, der ſtrafenden Eltern
Rath
Und ſprach ich jetzt ein zu verwegnes Wort,
Verzeih, um dieſes deines Kindes willen
verzeih.

Sie erinnern ſich jenes ſtuͤrzenden Gip - fels, der ein ſchlafendes Kind nicht trift, weil auch der harte Stein den Schmerz der Mutter fuͤhlte. *)Zerſtreute Blaͤtter Th. I. S. 12.Sie erinnern ſichSechste Samml. H114der Mutter, die ihr Kind vom Rande des Abgrundes mit ihrer Mutterbruſt hin - weglockt und ihm zum zweitenmal das Leben ſchenket. *)Zerſtr. Bl. Th. I. S. 84. Anth. St. l. I. c. 87. Dieſe und ſo manche andre Stimmen der Mutterliebe erklaͤren uns die heilige Innigkeit, die um alle Gebilde des Alterthums in dieſer Gattung ſchwebet.

Der hoͤchſte Triumph der Kunſt im Ausdruck dieſer Empfindung erſcheint end - lich im Bilde der Medea, der Kindes - moͤrderinn ſelbſt. Den Streit der wuͤten - den Eiferſucht mit der muͤtterlichen Liebe wußte Timomachus ſo ſichtbar zu ma - chen, daß man ſah, ſie wolle toͤdten und retten. Im drohenden Auge hing eine Thraͤne, in ihr Erbarmen war Zorn ge -115 miſcht; ſie zoͤgert zur That zu ſchreiten; gnug, ſagte zum Kuͤnſtler der Weiſe,

Gnug die Zoͤgerung, gnug! Der Kinder Blut
zu vergießen,
Ziemet Medeens nur, nicht des Ti -
momachus Hand.

Was hier der Weiſe ſprach, ſagte das edlere Menſchengefuͤhl dem Kuͤnſtler ſelbſt. Eine Reihe von Sinngedichten preiſen dieſe ſeine Schonung*)Anthol. Steph. I. 4. c. 9. ; andre ſtellen das Bild der Medea, als ein Schreckbild vor, an welchem auch die Schwalbe nicht niſten ſollte. **)Zerſtr. Blaͤtter, Th. I. S. 6. Anth. Steph. l. I. c. 87.

Athamas zuͤrnete ſelbſt nicht ſeinem Sohne
Learchus
Wie Medea; ſie ward Moͤrderinn ihres
Geſchlechts.
H 2116
Eiferſucht iſt aͤrger als Wut. Vermag eine
Mutter
Kinder zu morden; o wem ſollen ſich
Kinder vertraun?

Wer, wenn er dergleichen Anwendun - gen der Griechiſchen Kunſt lieſet, wird nicht mit Freude fuͤhlen, daß Menſchen ſie fuͤr Menſchen geuͤbt haben?

117

75.

Reizend, wie die Kunſt der Griechen, wenn ſie die Kindesjahre darſtellt, iſt auch die Stimme der Muſen, die ſie erklaͤret. Gehen Sie alle Taͤndeleien durch, in welche Dichter und Kuͤnſtler den klei - nen Gott geſetzt haben, und nehmen ihm die Fluͤgel, ſo ſind es gewoͤhnliche Kinder - und Knabenſpiele, womit er ſich beluſtigt.

Was iſt holdſeliger, als ein ſchlafen - des Kind? Die Kunſt und das Epigramm erfreuete ſich alſo ſehr am ſchlummernden Amor. Man ſolle ihm nicht nahen,118 ſprach dieſe; auch im Schlafe traue man ihm nicht. Oder er wird im Schlummer gefeſſelt, ſeine Pfeile werden ihm genom - men; ſeine Fackel wird in eine Quelle ge - taucht, damit ſie erloͤſche; und es ergluͤht die Welle, ſie wird ein Luſtbad der Liebe.

Was iſt Kindern erfreulicher, als mit Pfeil und Bogen zu ſpielen, ſich zu kraͤn - zen, Blumen zu brechen, Schmetterlinge zu verfolgen, wohl auch zu quaͤlen; mit dem Schwan, der Gans, der Taube zu taͤndeln, auf jedem Lebendigen zu reiten, ſich in die Kleider, in den Waffenſchmuck der Erwachſnen zu ſetzen, ſich zu verſte - cken und finden zu laſſen, einander zu er - ſchrecken, ſich zu maskiren. Lauter Spie - le des Amors, in Kunſt und Dichtkunſt, mit immer neuer Veraͤnderung und Be - deutung. In Spielen der Kinder und ei - ner Mutter mit Kindern iſt Amors ganzes119 Reich, ſeine Scherze und Unfaͤlle, ſeine Begegniſſe mit Paphia, mit der Pſyche, mit Herkules, mit dem Loͤwen, der Bie - ne, den Kraͤnzen, u. f. uns vor Augen; alle mit zartem Kindesſinn gedacht und mit Griechiſcher Lieblichkeit angewendet. Aus dem einzigen Wort Pſyche, das den Schmetterling und die Seele bedeu - tet, ſind hundert ſinnreiche Anwendungen in Kunſt und Dichtkunſt entſproſſen, de - ren eine die andre erklaͤrt hat. Wenn Amor und Pſyche beide als Kinder ein - ander kuͤſſen; meint man nicht, in dieſem Augenblick, im erſten Gefuͤhl ihrer unſchul - digen Liebe ſproßten beiden die Fluͤgel? So wenn Pſyche dem Amor flehet, wenn er ſie peiniget oder troͤſtet. Glaube man doch nicht, daß Apulejus dieſe Fabel er - ſonnen habe; ſie war lange vor ihm da in Denkmahlen, die ſein Zeitalter nicht120 bilden konnte, ja ſelbſt in der Sprache. Er that nichts, als die einzelnen Auftritte zu einem Maͤhrchen dichten, und dazu auf eine ſehr Afrikaniſche, der Venus unan - ſtaͤndige Weiſe. Selbſt die Symbole bei - der Perſonen, den Schmetterling und die Fackel hatte die Dichtkunſt vielfach ange - wandt; Liebenden ließ ſie die Fackel Amors bis in die Unterwelt leuchten.

Die Schoͤnheit der Juͤnglinge in der Kunſt hat die griechiſche Poeſie eben ſo ſuͤß begleitet. Ich darf ſie nicht an die zwei Oden Anakreons erinnern, die Franz Junius fuͤr die Kunſt commen - tirt hat; in Dichtern und Weltweiſen, von Plato bis zu Plutarch, von Ho - mer bis zum letzten Romanſchreiber der Griechen wird dieſer Jugendbluͤthe der Schoͤnheit wie auf einem Altar der Gra - zie geopfert. Der Kuß jenes juͤngern121 Plato, in welchem ſeine Seele ihm auf den Lippen ſchwebte, hauchet noch; ſein geliebter Stern, (αςηϱ) den er mit tau - ſend Augen anzuſehen wuͤnſchte, glaͤnzet noch unter den Sternen. So mehrere Ge - dichte Meleagers; und o waͤre die Stimme der Lyra nicht verhallet, die die - ſe Blume der Menſchheit mit hoͤchſtem Wohlgefallen pries! Die Griechiſche Spra - che hat in Bezeichnung der Jugend-Gra - zie einen anerkannten Reichthum an Aus - druͤcken, unter andern auch deßwegen, weil dieſe meiſtens auf die Kunſt anſpie - len. Die Kunſt machte ihre Begriffe klar, und gab ihren Empfindungen die Geſtalt der Worte. Unter andern z. B. finde ich, daß die Jungfraͤulichkeit des Juͤng - linges, die holde Schaam auf ſeinem Geſicht, in ſeinem Anſtande und in ſeinen Sitten eben ſo hoch von der Muſe geprie -122 ſen ward, als die Kunſt ſie fein ausdruͤck - te. Beide bemerkten die zarte Bluͤthe des Lebens, in der ſich die Geſchlechter gleichſam trennen wollen, und doch noch zuſammen wohnen; (ein Punkt, der von den Neuern ſehr mißverſtanden iſt, und den auch die ſpaͤtere Kunſt vielleicht zu uͤppig ausgebildet,) als den wahren Reiz der Schoͤnheit. Kein Juͤngling, duͤnkt mich, kann Einen dieſer Juͤnglinge an - ſchauen, ohne daß die heilige Schaam ſich ſanft auf ſeine Stirn ſenke, und jeden Frevel, jede Frechheit von ihm verſcheu - che.

Fuͤgen wir hiezu die Stimme der Mu - ſen, die das Gefuͤhl der Freundſchaft, der Schweſter - und Bruderliebe, der Pietaͤt gegen Eltern, gegen Wohl - thaͤter des Menſchengeſchlechts, gegen Goͤtter und Helden ſinget; hoͤ -123 ren wir bei dem Dichter die Klagen Achills um ſeinen Patroklus, der Elektra um ihren Oreſt, der Antigo - ne um ihren Bruder Polynices; hoͤren wir den Priamus um die Leiche ſeines Sohnes bitten, den Ajax ſein nachblei - bendes Kind ſegnen; begleiten wir bei Eu - ripides die jungfraͤuliche Iphigenia zum Opferaltar, die Polyxena zu Achills Grabe; und ſehen jene den Oreſt wiedererkennen am Altar der Diana; und hoͤren Hippolytus Klagen uͤber die Liebe ſeiner Mutter u. f. ſo ſchließt ſich uns das Herz auf zu dieſen edeln Ge - ſtalten, auch wenn ſie in der Kunſt er - ſcheinen. Wir verſtehen die Sprache, die um Oreſt und Pylades, um Iphige - niens und Hippolytus ſtumme Lippen ſchwebet; wir begreifen die Seelenvolle Einfalt, die uns in jeder Griechiſchen124 Gruppe, bei jedem friedlichen Zuſammen - ſeyn mehrerer Perſonen innig vergnuͤget. Wir verſtehen die Trunkenheit des Danks im Haupt der Ariadne, die Schaam in der Andromeda, die vom Felſen niederſteiget, im Antlitz der wiedererken - nenden Iphigenia Wuth, Erbarmen und zaͤrtliche Erinnerung wunderbar ge - miſcht, und leſen, wie der Dichter ſagt, den ganzen Trojaniſchen Krieg in der Po - lyxena Augen. *)Zur Erlaͤuterung moͤgen dienen die aus der Anthologie uͤberſetzten Epigramme, Zerſtr. Blaͤtter Th. 1. S. 9-12. 16-19. 22. 23. 31. 34. 39. 45-47. 52. 55. 56-58. 62-70. 81. 86. 91. 98. Th. 2. S. 14-23. 34-41. 44. 45. 62-67. 78. 79. 85. 87. 94. 95. Die Stellen bei Homer, Sophokles und Euripides, auf welche ſich der Brief beziehet, ſind Je - dermann bekannt. Die Epigramme, die Stolberg, Voß, Conz u. a. uͤberſetzt haben, wuͤnſchte ich geſammlet zu finden. A. d. H.Ohne jene erklaͤren -125 de Stimme der Dichtkunſt wuͤrden uns die Kunſtgeſtalten der Griechen vielleicht Wundererſcheinungen ſeyn; jetzt werden ſie unſerm Herzen innig-zuſprechende Freun - de.

Da endlich die hoͤchſte Bluͤthe der ſchoͤ - nen Geſtalten Griechenlands eine Helden - tugend in jeder Art und in beiderlei Geſchlecht war: ſo wird hieruͤber die Stim - me der Muſen gleichſam ein fortgehender Hymnus. Von jener Vorſtellung an, da die Nymphe den Jupiter als Kind traͤn - ket, bis zur Erziehung Achills bei ſei - nem freundlichen Centaurus, vom Her - kules, der in der Wiege die Schlangen erdruͤckt, durch alle Gefahren hin, bis er zum Olymp und zum Beſitz der Hebe gelanget, ſtehen Helden und Heldin - nen, Ringer, Kaͤmpfer, Wetteife - rer um den Ruhm eines großen Verdien -126 ſtes fuͤr ihr Vaterland, fuͤr ihre Freunde und Geſellen in Stellungen vor uns, wie ſie die Muſe verkuͤndigt, und ihnen den Kranz der Unſterblichkeit darreicht. Ohne dieſes Gefuͤhl der Ehre waͤren keine ſchoͤne griechiſche Koͤrper und Seelen, keine Hel - den und Goͤtter, auch keine Kunſt, die ſie wuͤrdig darſtellete, entſtanden: denn auch die griechiſchen Goͤtter und Goͤttinnen ſind Helden der Tugend, d. i. einer Virtuo - ſitaͤt, jeder in ſeiner Art. So preiſen ſie die Hymnen; den Zevs als den Maͤch - tigſten und Beſten, dem Themis zur Seite ſitzt, und mit ihm weiſe Geſpraͤche pfleget; die Pallas, aus ſeinem Haupte gebohren, als eine Beſchuͤtzerin der Staͤd - te, die Meiſterin des Krieges, die Erfin - derin der ſchoͤnſten Kuͤnſte des Friedens; ſo den Hephaͤſtus, der den Sterblichen die nuͤtzlichſten Werkzeuge und Gaben ge -127 ſchenkt hat; Hermes und Veſta, die Waͤchter des Hauſes; Bacchus und Apollo, die Ideale griechiſcher Helden - jugend in zwo verſchiedenen Geſtalten; ſammt der Artemis, Demeter, Aphrodite, ſelbſt Ares, und Here. Alle ſind Ideale der Werkthaͤtigkeit und Vollkommenheit in einer gewiſ - ſen Art, und als ſolche Vorbilder der Menſchen. Der Hymnus des Homeriden an Apollo iſt der Glorreichſte Commen - tar des Gedankens, der den Kuͤnſtler bei der Darſtellung des Gottes belebte; ſo in verſchiednen Stuffen die andern Homeri - ſchen Hymnen. Die Weihgeſaͤnge des Or - pheus und Prollus verdunkeln oft die Geſtalt des Gottes, und verhuͤllen ſie in einen heiligen myſtiſchen Nebel. Aber Ho - mer und Pindar, die tragiſchen Choͤ - re und jeder Laut einer aͤltern Stimme128 ſimplificirt die Geſtalt und kommt der Kunſt nahe. Alle zeigen, der hoͤchſte Kampfpreis der Griechen ſei in den fruͤhe - ſten Zeiten Maͤnnlichkeit, (Tugend,) in den ſpaͤtern Nutzbarkeit fuͤrs gemeine Be - ſte, ſchoͤner Wohlſtand und die Bluͤthe ei - nes unſterblichen Ruhmes geweſen. In ſolcher Ruͤckſicht ſchaue man Goͤtter und Helden an; ſie ermuntern uns alle, unſre Tage nicht in uͤppiger Traͤgheit langſam zu verdauen, ſondern, worinn es ſei, nach dem edelſten, hoͤchſten Kranz in ei - nem beſtimmten und vollendeten Charakter zu ſtreben. Kraͤftiger kann dies ſchwerlich geſagt werden, als es uns die Bildſaͤulen und Denkmahle der Goͤtter und Helden, der Dichter und Wei - ſen von Theſeus bis zu Antonins Zeiten hinab, begleitet von der Stimme der Muſen ſagen. Sei deine aͤußre Ge -129 ſtalt dem Gott und Helden unaͤhnlich; dein Gemuͤth darf es im Beßten ihres Charakters nicht ſeyn: denn dies Beß - te iſt in jedem ihrer edlen Geſchaͤfte Vir - tuoſitaͤt, Tugend.

Sechste Samml. I130

76.

Die beſtimmte und ſchoͤne Art, wie die Griechiſche Kunſt in menſchlichen Charakte - ren die Form von der Unform trenn - te und dieſe in Regeln einſchloß, iſt ein Meiſterwerk ihres ſondernden Verſtandes. Daher, daß wir ſo wenig Portraͤte und ſo viel Ideale der aͤltern Griechiſchen Kunſt ſehen; daher, daß auch in ihren Ungeheu - ern und verworfenen Geſtalten ſo viel Bedeutung wohnet. Ihr Volk der Saty - ren hat mich nie erſchreckt; Geſtalten die - ſer Art gehoͤrten dahin, wo ſie ſtanden131 und zeigten an, daß auch unter dem laͤnd - lichen Volk Freude herrſchen ſollte. Wo dieſe verſtummt, wo kein Pan und Sa - tyr die Floͤte blaͤſet, keine Nymphen im Hain und auf den Wieſen laͤndliche Feſte feiern; da ſtehen freilich ſowohl die Satyren, als die Goͤtter und Helden am unrechten Ort; ſie ſind Bedeutungsloſe Goͤtzenbilder.

Aber auch darinn muß der ſchoͤne Ver - ſtand der Griechen geprieſen werden, wie ſie die Denkmahle der Goͤtter geſellten. Oft ſtanden die verſchiedenſten neben ein - ander, und Einer milderte des andern Bedeutung; die Ueberſchrift bemerkte die - ſes. So fuͤgte die Kunſt nicht etwa nur den Mars und die Venus, Vulkan und Pallas, ſondern auch Bacchus und Pallas, Bacchus und Herkules, die Hoffnung und dieI 2132Nemeſis, Vergeſſen und Erinne - rung, und ſo manche andre Dinge zu - ſammen, die ſich einander gleichſam be - ſchraͤnkten oder belehrten. Ein angeneh - mer Luſtweg waͤre es, den Pauſanias, und die griechiſchen Dichter in dieſer Ab - ſicht zu durchwandeln: denn was die Alle - gorie der Griechen eben ſo ſchoͤn macht, iſt ihre holde, ich moͤchte ſagen, wahre Einfalt. Nie wollte ſie zu viel ſagen; ſie ward nur gebraucht, wohin ſie gehoͤr - te, wo man durch ſie ſprechen mußte. Nach Gelehrſamkeit ſtrebte ſie nur in den ſchlechtern Zeiten; was ſie aber ſagte, deu - tete ſie ſo an, daß wenn man das Bild auch nicht verſtand, man doch ein ſchoͤnes Bild ſah und von der Vorſtellung ſelbſt geneigt gemacht wurde, ihr einen Sinn anzudichten. Ein Vorzug, den wenige neue Allegorieen erreichen.

133

Aber es kam die Zeit, da dieſer ſchoͤ - ne Kunſtſinn untergehen, und eine ge - druͤckte, myſtiſche Vorſtellungsart die Ge - muͤther der Menſchen benebeln ſollte. Lan - ge, barbariſche Jahrhunderte hindurch wa - ren dem Schmetterlinge die Fluͤgel ge - nommen; er kroch als Raupe daher, oder lag eingeſponnen in rauhen Windeln. Als er wieder erwachte, zeigte ſich, (wir wollen es nicht verhehlen) eine neue ſitt - lichere Kunſtgeſtalt, von welcher in manchem Betracht die Griechen nicht wuß - ten. Das weibliche Geſchlecht, das bei ihnen in Gynecaͤen eingeſchloſſen war und, wenige Faͤlle ausgenommen, nur in Ge - ſtalt der Goͤttinnen und Amazonen, der Muſen und Nymphen der bildenden Kunſt einverleibt werden konnte; (von den grie - chiſchen Gemaͤlden koͤnnen wir nicht ur - theilen) dies Geſchlecht hatte durch das134 Zuſammentreffen chriſtlicher und nordiſcher Sitten gleichſam einen oͤffentlichen Charakter, und mit dieſem eine ſittli - che Bildung erhalten, von der vielleicht die Griechen nicht wußten. Ich moͤchte ſie die chriſtliche Grazie (Carita) nen - nen, die, nachdem ſie in den Lobgeſaͤngen auf die heilige Jungfrau lange geprieſen war, auch auf ihre Nachbilder uͤberging, und in den Geſaͤngen der Trobadoren zu - erſt jene zuͤchtige Anmuth ſchuf, in der ſich Religion, Liebe und haͤusliche Sittſamkeit wie drei Huldgoͤttinnen zu - ſammengeſellten. Dieſe chriſtliche Grazie iſt es, die zuerſt in den Bildern der Ma - ria erſchien, aus ihnen ſodann in die Ge - ſaͤnge der Dichter uͤberging und von den Zeiten der wiederauflebenden Kunſt die Compoſitionen der Neuern mit einem eig - nen Geiſt durchhauchte. Gewiß hatte die135 Welt waͤhrend der barbariſchen Jahrhun - derte nicht geſchlafen; Voͤlker, Sitten, Ideen hatten ſich mannigfaltig gemiſcht und gelaͤutert; von dieſem vielleicht etwas dumpfen, aber nicht verwerflichen Ge - ſchmack zeugt ſchon die aͤltere florentiniſche Schule. Raphael klaͤrte ihn durch For - men der Alten, ganz in eigner Weiſe, auf; andre Gluͤckliche folgten. Selbſt die Uebertreibungen des Julio Romano und mehrerer ſeines Gleichen zeigen in ihrer Trunkenheit einen Reichthum neuer Be - griffe, obwohl ohne Maas und Ziel; eini - ge neuerfundene Gehuͤlfskuͤnſte gaben oh - nedies dem Ganzen eine andre Anſicht. Welch ein ſchoͤner, faſt noch unberuͤhrter Kranz bluͤhet fuͤr den, der Raphaels Genius in ſeiner eignen holdſeligen Ge - ſtalt durch alle ſeine Werke verfolgen, und aufs beſtimmteſte zeigen wird, was Er136 gegen die Alten ſei. Eben dieſer Genius wird ihn nothwendig vor - und einige Schritte ruͤckwaͤrts fuͤhren. In Anſehung der Humanitaͤt taucht er damit in ein weites, hie und da kaum zu beruͤhrendes Meer.

Wo ſtehen wir jetzt mit unſerm Kunſt - geſchmack? Neulich, ſagt Petron, iſt jene windige und enorme Schwatzhaf - tigkeit aus Aſien nach Athen gewandert, und hat die Gemuͤther der Juͤnglinge, die nach etwas Großem ſtreben, mit dem Hauch der Peſtilenz vergiftet. Das Richt - maas der Beredſamkeit iſt verfaͤlſcht, die wahre Beredſamkeit iſt verſtummet. Wer hat ſich ſeitdem zur Hoͤhe des Thucydi - des, wer zum Ruhm des Hyperides erhoben? Kein Gedicht ſogar hat mit geſunder Farbe hervorgeglaͤnzt; alles iſt von demſelben Brei genaͤhrt, und kann137 zu einem ruͤhmlichen grauen Alter nicht gedeihen. Auch die Malerei hat keinen andern Ausgang haben koͤnnen, ſeitdem die Keckheit der Aegypter ein Com - pendium dieſer ſo großen Kunſt erfand. Petron iſt ein Prophet fuͤr alle Zeitalter; die Compendienkunſt unſrer Aegypter liegt vor uns. Ein andermal davon mehr.

138

77.

Bei unſrer weitverbreiteten Deutſchen Sprache, die auch in fernen Laͤndern ge - ſprochen und geſchrieben wird, kommen nicht ſelten kleine Schriften zum Vorſchein, die einer allgemeinen Aufmerkſamkeit und Theilnehmung werth waͤren. Aus Daͤn - nemark, Preußen, Polen, Kur - und Liefland, wohl gar aus Amerika waͤren dergleichen zu nennen; jetzt werde ich Ihnen aus einer kleinen Schrift:

Bonhommien, geſchrieben bei Er - oͤfnung der neuerbauten ſchen Stadtbibliothek; 139einige ſchoͤne Gedanken auszeichnen. Da - mit mich aber nicht eine Jugendliebe zu der Stadt, fuͤr die die Schrift zunaͤchſt geſchrieben iſt, angenehm taͤuſche, will ich ihren Namen nur ans Ende verſparen, und blos das Allgemeinnuͤtzliche bemerken.

Der Verfaſſer faͤngt, wie es ſeyn muß, von den Grundveſten ſeiner Stadt, den buͤrgerlichen Tugenden an. Ehrenbenennungen ſagt er, welche Betriebſamkeit, Maͤßigung, Liebe zur Ordnung andeuten, die gebet dem Staͤdter. Sie erinnern ihn an Tugenden, auf welche ſein Wohlſtand gegruͤndet iſt. Ein Gewerbe, das ohne dieſe Stadttu - genden durch blindes Gluͤck, durch traͤge Schlauigkeit getrieben werden koͤnnte, iſt nicht das Unſrige.

Sie glaͤnzen nicht, dieſe Tugenden; aber ſie waͤrmen. Sie erhalten die Ge -140 muͤther ruhig; die Neigung zu ſtaͤdtiſchen Gewerben und Beſchaͤftigungen wird da - durch geſtaͤrket, ſo wie die Sucht nach aͤußern Vorzuͤgen dieſe Gewerbe verleidet. In Staͤdten iſt eine Ehre, die Regierun - gen nicht geben, nicht nehmen koͤnnen. Wohlſtand iſt das Wort fuͤr Staͤdte. Man denkt ſich dabei Mittel und Genuß haͤuslicher Gluͤckſeligkeit. Wohlerwor - ben zu haben, iſt hier das gute Aequi - valent von dem Wohlgebohren ſeyn des Erſten Standes, deſſen edelſter Vor - zug es iſt, den Zweiten zu beſchuͤtzen. Je - ne heroiſche Zeit verlangte Aufopferungen; Armuth, Entbehrungen waren damals auch Buͤrgertugenden. Sie ſind es nicht mehr. Die Anmuthungen an den Stadtbuͤrger ſind jetzt: er ſoll erwerben, ſoll das Erworbene genieſſen; aber zu einem veſten Wohlſtande iſt nur durch141 Rechtſchaffenheit und Betriebſamkeit zu gelangen.

Zu dieſen Buͤrgertugenden Anleitung geben, das iſt in der Macht der Regie - rung; und es thut dem Herzen wohl, bei Eindringung in den Geiſt einer Ver - faſſung auf Anleitungen und Antriebe zu ihnen zu treffen. Bei neuen Einrichtun - gen iſt inſonderheit daran gelegen, den Geiſt davon gleich richtig aufzufaſſen. Die - ſer erkannte Sinn der Geſetzgebung, in Blut und Saft verwandelt, geht ſo - dann in gute Grundſaͤtze uͤber, die zu Aufrechthaltung der oͤffentlichen Gluͤck - ſeligkeit ſo kraͤftig mitwirken. Der gute Geiſt iſt in einer Gemeine leicht zu er - halten, wo derſelbe bereits lange gewal - tet hat.

Dieſe Grundſaͤtze, denen der Verfaſſer viel Lokal-Intereſſe einſtreuet, fuͤhren ihn142 bei ſeiner neuerrichteten Bibliothek zum großen Hauptſatz:

Praktiſche ſittliche Aufklaͤ - rung iſt gute Volkserziehung.

Die Buͤcher in der alten Stadtbiblio - thek, ſagt er, waren groͤßtentheils aus den aufgehobnen Kloͤſtern geſammlet; und ſo ſtanden nun hier, wie vormals in Zel - len, dicke Moͤnchsgelehrſamkeit in Thier - haͤuten, ſeltene Bibelausgaben an Ketten, alles ungeleſen, in Lichtſcheuen Gemaͤ - chern.

Religion und Gelehrſamkeit wohnten unter einem friedlichen Dache; ſie gingen aber nicht Hand in Hand, ſondern eine jede dieſer ernſten Bewohnerinnen ging fuͤr ſich ihren einſamen dunkeln Pfad. Die Diener der Religion waren Sammler und Bewahrer der zu einer kuͤnftigen An - wendung modernden Schaͤtze der Weis -143 heit. Ueberhaupt haͤtte die Religion der Chriſten, deren praktiſche Lehren im Teſta - ment fuͤr dieſe ſo klar ſind, den Aufwand von Gelehrſamkeit auch entbehren koͤnnen. Sie behielt aber nicht lange ihre edle Ein - falt; es entſtand die Wiſſenſchaft, Theo - logie genannt, die von gelehrten Zuſaͤtzen wie von frommen Taͤuſchungen, durch al - le neue Kraft noch nicht hat gereinigt werden koͤnnen.

Dieſe Religion, welche geoffenbarte Vernunft und die reinſte Moral iſt, wuͤr - de mit ſittlicher Aufklaͤrung zugleich hieher gekommen ſeyn, wenn ſie nicht bereits in Suͤden im Grunde verdorben geweſen waͤ - re, wie ſie von da nach dem treuherzigen Norden kam. (Hier gehet der Verfaſſer die naͤhern Umſtaͤnde dieſer Ankunft durch.) Die Religion alſo, welche Schuͤtzerinn der Menſchheit ſeyn ſollte, trat dieſe mit144 Herrſchſuͤchtigen Fuͤßen; ſie predigte nicht mehr Wuͤrde der Menſchen, die Quelle aller Moral; ſondern Erniedrigung. Sie fuͤhrte Leibeigenthum ein, und hob jedes andre Eigenthum auf; ſie herrſchte, ſtatt durch Beiſpiel gehorchen zu lernen. Der Verfaſſer verfolgt das daher mehr noch im Frieden als im Kriege bewirkte Sittenverderbniß und faͤhrt edel fort:

Wir wollen dieſe Misgeburten der Zeit nehmen, wie ſie damals, nach den Meinungen und der Denkungsart der Menſchen darinn geformt werden konnten. Wir wuͤrden in derſelben Lage daſſelbe Ge - praͤge angenommen haben. Laßt uns aber auch mit derſelben Billigkeit das gute, durch Religion nicht belehrte, ſondern unterjochte Volk behandeln. Es war von Natur nicht unfaͤhig zum Guten:denn145denn es war ſchon auf dem letzten Grade der Cultur der buͤrgerlichen Geſellſchaft; es trieb Ackerbau, es lebte in Doͤrfern. Als es aber durch ſeinen Unglauben Frei - heit und Eigenthum verwirkt haben ſollte, als Doͤrfer zu Hoffeldern gemacht wurden, und der Sauerteig der Sklaverei Jahrhunderte lang in ſeinem Eingeweide gewuͤtet hatte; da verlangte es ſelbſt nichts mehr, als Brot und Ruthen von ſeiner Herrſchaft. Es verlangte nicht Freiheit.

Wie iſt denn ein Volk zu zwingen, gluͤcklicher zu ſeyn, als es ſelbſt ſeyn will? Zwang und Furcht ſind Policei-Mittel. Das moraliſche Gute, wovon hier die Rede iſt, kann nur durch Beſſerung des Willens bewirkt werden.

Dazu gab man ja dem Volke Lehr - buͤcher? Lehrbuͤcher einem Volke, dasSechste Samml. K146nicht leſen konnte, nicht lernen wollte. Auch Lernen iſt eine Arbeit, der es ſich ſo unwillig unterzieht, als jeder an - dern Arbeit, weil es dafuͤr haͤlt, daß nicht ihm, ſondern ſeinem Herrn die Fruͤchte aller Arbeit gebuͤhren. Gebet dem Volke mehr, als trocknen Un - terricht, gebet ihm Erziehung. Ge - woͤhnt es zu Begriffen von Eigenthum, und ihr werdet es einer buͤrgerlichen Gluͤck - ſeligkeit empfaͤnglich machen. Durch ein zu - geſichertes Eigenthum wuͤrde das Volk Zu - trauen zu ſich und zu ſeinem Herrn wie - der erhalten.

Gebt ihm Erziehung; macht den Men - ſchen in ihm froh und empfindend. Jetzt muß es arbeiten; dann wirds arbeit - ſam werden.

Gebt ihm Erziehung. Lehret den Sklaven genießen. Schafft ihm mehr147 Beduͤrfniſſe als Schlaf und Trunk; laßt ihm mehr von dem Erſten, als von dem Letzten. Jener Koͤnig gab den Befehl in ſeinem Lande, daß der Bauer nicht an - ders als in Stiefeln, des Sonntags, zur Kirche kommen ſollte. Durch dies befohl - ne Beduͤrfniß vermehrte er die Cultur auf dem Lande und den Fleiß in den Staͤd - ten. Wenn unſer Landbauer ſeinen Fuß mit der Haut des fuͤr ſich geſchlachteten Viehes ſtatt wie jetzt mit den Haͤuten der dazu ausgerotteten Baͤume bekleiden wird, dann wird er ſich achten, und ſowohl ſich als das Land beſſer cultiviren lernen.

Dieſe Mittel, Eigenthum, Froh - ſeyn und Beduͤrfniß ſind Sach - und Lage-Erziehung, die zur Bildung wirkſa - mer iſt, als Wortunterricht. Ein Guts - herr gab ſeinen Landbauern reinlichere Wohnungen und einen Spiegel darinn,K 2148um ſich ihre Geſtalt vorhalten zu koͤnnen. Dieſe Anleitung zur Selbſtſchaͤtzung, zur Reinlichkeit, iſt auch gute Volkserziehung.

Wozu aber alle dieſe Verfeinerungen? Die gegenwaͤrtige grobe Anwendung un - williger Kraͤfte ſchafft ſchon dem Lande Ueberfluß, und zieht auswaͤrtige Reichthuͤ - mer dahin. Glaubt davon nichts. Ein Land iſt arm, wo die Wenigſten ge - nießen, und die Mehreſten arbeiten muͤſ - ſen. Es iſt alsdenn nicht der Ueberfluß, der aus dem Lande geht, ſondern der ent - zogene Genuß. Was dafuͤr ins Land ge - zogen wird, iſt nicht wahrer Reichthum, und wenn dieſer in baarer Muͤnze dahin kaͤme. Reichthuͤmer ſind die, welche durch groͤßere Cultur des Landes entſtehen und im Lande genoſſen werden. Auch war bei den Mitteln zur Bildung des Volks nicht die directe Bereicherung der Herrſchaft die149 Abſicht, wenn gleich die Vermehrung der Einkuͤnfte eine Folge ihrer Auslagen bei dieſer Bildung ſeyn wuͤrde.

Ein in ſich erniedrigtes Volk kann, wie geſagt, nur durch langſame geduldige Leitungen auf den Weg, ſich ſeiner Exſi - ſtenz zu freuen, wiedergebracht werden. Und es iſt billig, daß die, welche Guͤ - ter erben, die darauf haftenden Schulden bezahlen.

So ſollte alſo wohl ein jeder Guts - beſitzer der Erzieher ſeiner der Erde zuge - ſchriebenen Arbeiter ſeyn? Allerdings. Und der Regent iſt aus angeſtammter Schuldpflicht der Erzieher des Landes.

Die beſoldeten Volkslehrer ſind zu dieſer Erziehung die zugeordneten Raͤthe der Landesbeſitzer. Dieſer ehrwuͤrdige Stand denkt jetzt allgemein uͤber ſeine Be - ſtimmung nach, und findet, daß dieſelbe150 nur dadurch auf die kuͤnftige Gluͤckſeligkeit wirken kann, wenn er die gegenwaͤrtige befoͤrdern hilft. Durch praktiſche Anwei - ſungen aus der Natur - und Sittenlehre, durch Anleitungen in Gewerben und Wirth - ſchaftsangelegenheiten, worinn derſelbe auf dem Lande ohnedies mit verflochten iſt, werden dieſe Volkslehrer jetzt mehr aus - richten, als jemals durch unfruchtbare Dogmen zu bewirken iſt. Warum geſellen ſie ſich nicht, dieſe unſre Volkslehrer, den Eingebohrnen des Landes zur Huͤlfe?

Heil Dir, Gerechter auf A. **, der du mit deinen Erbmenſchen, wie mit Mit - menſchen, einen geſellſchaftlichen Vertrag uͤber gegenſeitige Pflichten errichteteſt! Leicht ſei Dir dafuͤr deine Erde! Zu Dei - nem Grabe ſollten die Soͤhne des Landes und der Stadt wallfahrten, um gemein - nuͤtzige Geſinnungen, richtige Einſichten151 uͤber ihr gemeinſchaftliches Intereſſe als Reliquien von da mitzubringen.

Der Verfaſſer kehrt nach dieſer men - ſchenfreundlichen Umſicht zu ſeiner gelieb - ten Vaterſtadt zuruͤck. Die kleinere Men - ge in Staͤdten, ſagt er, iſt eher zu beleuch - ten, inſonderheit in einer Handelsſtadt, wo Freiheit und Duldung bald nothwen - dig werden. Hier war anfangs der oͤf - fentliche Unterricht ein Monopol der Dom - herrn. Kaufleute, Feinde von allem Zwan - ge, entzogen ſich auch dieſem Lehrzwange, und ſchickten ihre Soͤhne nach einer aus - waͤrtigen Schule, die damals wegen einer beſſern Lehrmethode beruͤhmt wurde. Die - ſe kamen mit ihrem dort verfolgten Leh - rer zuruͤck und zuͤndeten hier das erſte neue Licht an, das man damals nicht, ſo be - ſcheiden wie jetzt, Aufklaͤrung, ſondern dreiſter, Reformation nannte. Die152 Verbeſſerung kam alſo von daher, woher eine jede ausgehen muß, wenn ſie Grund und Beſtand haben ſoll, von der Ju - gend und vom Unterrichte.

Buͤcher trugen damals noch wenig zur Aufklaͤrung bei. Was auf einheimi - ſchen Gymnaſien und Akademien damals geſchrieben und gelehret wurde, mag wohl Gelehrſamkeit geweſen ſeyn, befoͤrderte aber, nach Materie, Form und Sprache, in der ſie verſchloſſen war, keine Art der Aufklaͤrung. Und ſo verſchließet immer - hin Fruchtleere Gelehrſamkeit, abſtracte politiſche Speculationen; aber gute prakti - ſche Wahrheiten behaltet nicht in verſchloſſe - ner Hand. Sittliche ruhige Aufklaͤrung voll - endet, was das ſchnelle Licht der Erleuch - tung nur beginnen konnte. Sie hat vollen - det, wenn die tiefe Einſicht in die Natur der moraliſchen Dinge allgemein geworden iſt:

153

daß alles oͤffentliche und privat-Boͤ - ſe Unſinn und Thorheit ſind, daß Rechtſchaffenheit Stadtweisheit und Staatsklugheit iſt.

Zwar iſt Vollendung nicht das Loos von hienieden, aber eine jede vermehrte ſittliche Aufklaͤrung erleichtert den buͤrger - lichen Regierungen die Sorge fuͤr die oͤf - fentliche Gluͤckſeligkeit. Werden Sie nicht geneigt, nach einem ſolchen Eingan - ge unſern Ober-Bibliothekar weiter zu hoͤren? Dann gedeihet, ſagt er, Aufklaͤ - rung, wenn auf die untere Maſſe Licht von oben herabfaͤllt.

154

78.

Als Geſchenke der Gutmuͤthigkeit ſtehen vor dem Eingange ſeiner Bibliothek zwei Koͤpfe

Homer und Montesquieu.

Der Erſte mit dem Stempel der noch nicht verſchliffenen Natur floͤßt Ehrfurcht ein; man findet ſich, auf ſeinem Angeſicht verweilend, ſo behaglich und mit ſich ſelbſt zufrieden. Der Zweite druͤckt bei aller Offenheit ſeiner edlen Zuͤge die hoͤchſte ge - ſellſchaftliche Cultur ab; ihm gegenuͤber wird man aufmerkſam auf ſich und em - pfindet Unruhen. Guter Alter, wie wuͤr -155 deſt du in einer Unterredung mit dem Praͤ - ſidenten bei ſeiner Darſtellung der neuern politiſchen Einrichtung in der Welt ſtau - nen! Der Ariadniſche Faden dieſes Staats - weiſen wuͤrde dir kaum aus dem anſchei - nenden Gewirre heraushelfen. Zu deiner Zeit, welch einfacher Gang der Dinge! die Tugenden, wie einfoͤrmig; die Sitten, wie ſchlicht! Die Maͤnner waren alle tap - fer, die Weiber alle haͤuslich. Jetzt Staͤn - de, deren jeder verſchiedne Pflichten, ver - ſchiedene Tugenden, verſchiedne Ehre hat. Welche Federn ſind bei Vervollkommnung der buͤrgerlichen Geſellſchaft in die vergroͤſ - ſerten Staatsgebaͤude gelegt, daß Alles, ohne ſich zu hindern, zu Einem Zweck wirke! Sie ſind

geordnete buͤrgerliche Freiheit, eine geſetzliche ausuͤbende Gewalt, und Ehrfurcht fuͤr beide.

156

Der Verfaſſer fuͤhrt uns uͤber China, das treffend geſchaͤtzt wird, zu ſeinem Grundſatz:

Sitten unterſtuͤtzen die Ver - faſſungen.

Staͤdtiſche Gebraͤuche, ſagt er, belacht von dem Hofmann, dem nur Etikette wichtig iſt, ehrwuͤrdig dem Staats - mann, der einſieht, wie ſie an Tugenden hangen und zuſammen das bilden, was wir Sitten nannten. Wenn vordem lau - te Hausandachten gehoͤrt wurden, ſo war dies nicht groͤßere Froͤmmigkeit, (die wohnt nur im Herzen) es war gute Sitte, welche Ehrerbietung gegen Hausvaͤter, Ordnung im Hausweſen, Regelmaͤßigkeit in Geſchaͤften und Gewerbe vermehrte. Hat doch die einzige gute Manufactur, die bei uns Beſtand gehabt hat, der Ge - brauch eingefuͤhret. Die Toͤchter der157 Stadt ſind wie die Lilien auf dem Felde; ſie ſpinnen nicht, aber ſie ſtricken. Al - les von der arbeitſamſten Hand bis zur ſchoͤnſten ſtrickt, auch bei freundſchaftlichen Beſuchen, und bei groͤßern Zuſammenkuͤnf - ten. Bringt dieſe geſellſchaftliche Hand - arbeit, die hier in Ehren iſt, in Verach - tung; (dies iſt das Mittel, Gebraͤuche ab - zuſchaffen;) wieviel Tugend und Wohl - ſtand gingen zugleich verlohren.

Der Verfaſſer geht mehrere gute Ge - braͤuche ſeiner Stadt mit ſeinen Bemer - kungen durch, und kommt zu einem andern Satze:

Arbeit und Geduld fuͤhren zum Wohlſtande.

Die neuen Erzieher, ſagt er, ſuchen den Schulweg ebner zu machen; ſie duͤrf - ten ihn nur fuͤr die Jugend zu ihrer prak - tiſchen Beſtimmung gerade ziehen. In158 Lehranſtalten wuͤrde alsdann die Bildung des kuͤnftigen Buͤrgers ſo anfangen, wie ſie in Dienſtjahren fortgeſetzt wird. So leicht in den Gewerben des buͤrgerlichen Lebens die Theorieen ſeyn moͤgen, ſo erfordern ſie doch in der Anwendung an - haltende Uebungen, um die in Geſchaͤften nothwendige Fertigkeit, Puͤnktlich - keit und Zuverlaͤßigkeit ſich eigen zu machen. Die in Staͤdten von bedaͤchtigen Vorfahren angeordneten laͤngeren Dienſt - und Lehrjahre waren wohl gut, den brauch - baren Mann in der buͤrgerlichen Geſell - ſchaft zu bilden. Der Ritter wie der Kaufmann, der Kaufmann wie der Hand - werker mußten durch die Grade von Knap - pen, Burſchen und Geſellen gehn, ehe ſie ein Meiſterrecht erhielten. Der ungedul - dige Genius unſres Zeitalters bricht lieber herbe Fruͤchte, als daß er ihre Reife ab -159 warte. Es gehoͤrt nunmehr auch ſchon dazu ein Herkules, um auf dem Schei - dewege der Tauglichkeit oder Untauglich - keit im Staat, jener Verfuͤhrerinn, die mit Seifblaſen zum unzeitigen Genuſſe lockt, nicht zu folgen, ſondern mit lang - ſamen Schritten die Hoͤhe zu erſteigen, wo der gruͤnende Kranz des Wohlſtandes aufgeſteckt iſt.

Auf dieſer Hoͤhe ſpricht der Verfaſſer vom Gemeingeiſt, der alles in Ruͤckſicht des Ganzen betrach - tet, dem wahren Schutzgeiſt der Staͤdte.

Das Alterthum, ſagt er, hatte ſoviel oͤffentliche Gebaͤude, praͤchtig durch ihre Groͤße; Akademieen, Coliſaͤen, The - ater u. f., die wie die Luft zum freien Gebrauch waren. Die neuere Zeit hat lauter eingeſchraͤnkte Beſitzungen, oͤffentli -160 che Gebaͤude, wo der Eintritt vor der Thuͤr bezahlt wird. Sind in unſern en - gen Kreiſen Herz und Geiſt beſchraͤnkter, wie in jenem uns romantiſchen Alter: ſo ſtreben wir jetzt deſto ſicherer nach einem nicht zu hoch geſteckten Ziele.

Gemeingeiſt, (public ſpirit) dieſe Benennung ſtammt von der Brittiſchen Inſel; wir verehrten ihn aber lange vor - her unter dem ehrbaren Namen, der Stadt Beßtes. Dieſes Wort hatten unſre Voralten oft im Munde. Ihre Er - richtungen und Verwaltungen, von wel - chen wir noch die Vortheile genießen, be - zeugen, daß ſie die Sorge fuͤr das Beßte der Stadt auch im Herzen getragen ha - ben. Die Stadt iſt eben ſo gluͤcklich auf die Vorſtellung: wir arbeiten zuſammen fuͤr uns und unſre Kinder, als auf ihre Lage gegruͤndet.

An161

An der toͤdtenden Gleichguͤltigkeit fuͤr ein oͤrtliches allgemeines Beßte waren Re - gierungen weniger Schuld, als Theolo - gen, Staatsbeamte, Philoſophen. Die Theologen zuerſt ſagten: die Erde ſei ein Gaſthaus fuͤr Durchreiſende, die nur im Himmel Buͤrger waͤren; als wenn Der dort ein guter Buͤrger werden koͤnnte, der hier ein ſchlechter war. Die niedern Staatsbeamten redeten nur von einem Krons-Intereſſe; ein Wort, worinn kein Sinn iſt, wenn dieſes Intereſſe mit dem allgemeinen Wohl in Widerſpruch genom - men wird. Und nun die Philoſophen mit ihrer Alleweltsbuͤrgerſchaft, die nirgend zu Hauſe iſt? Ich bin ein Buͤrger der Stadt, und nichts was meinen Mitbuͤrger darinn angeht, iſt mir fremd. Dieſe Geſinnung iſt be - ſchraͤnkter, hat aber mehr Energie, alsSechste Samml. L162der Terenziſche Ausſpruch vom Theater geſagt: homo ſum etc. Da biſt du was Rechts! antwortete Leßing von der neuern Buͤhne. Und was iſt auch in einer beſtimmten buͤrgerlichen Geſellſchaft der Menſch in abſtracto, und ein Buͤrger in concreto der ganzen Welt?

Der Verfaſſer verfolgt den Gemeingeiſt ſeiner Stadt auch in die oͤffentlichen Ge - ſellſchaften: denn wo niſtet, wuͤrde der Spaͤher Montaigne ſagen, die Tugend ſich nicht zuweilen hin? Andringend und local zeigt er, daß praktiſche Gelehrte ſeiner Stadt unentbehrlich ſind und wie ſie ihr nuͤtzlich werden; er kommt endlich auf die Geſchichte der Lecture. Buͤcher, ſagt er, die Einfuhr fremder Ge - danken, iſt hier Zollfrei. Eine Cenſur waͤ - re nuͤtzlich: nur Werke von wahrem innern163 Werth ſollten eingefuͤhrt und geleſen wer - den koͤnnen.

Zu uns ſchießen von Meſſe zu Meſſe, ſo unendlich viele, einander durchkreuzen - de, auf die veredelten Lumpen Deutſch - lands geworfene Lichtſtralen, daß vor zu vielem Licht der Tag oft nicht zu ſehen iſt. Durch welchen Wuſt von Schriftchen muß - ten wir uns durcharbeiten, ehe wir auf die wenigen Bogen

Etwas, was Leßing geſagt hat, geriethen, worinn ſo ſtark die Wahrheit geſagt wird, daß das Gute in der buͤrger - lichen Geſellſchaft nicht befohlen, ſondern nur aus freiem aufgeklaͤrtem Willen ent - ſtehen kann. Wie viel große Baͤnde muß - ten wir durchblaͤttern, ehe wir auf die Ueber die Einſamkeit kamen. Dieſe floͤßten Geſchmack an haͤus - lichen Freuden ein, erregen WiderwillenL 2164gegen Geiſt - und Zeitverderbende Zer - ſtreuungen, gegen muͤßige Beſchaͤftigun - gen u. f.

Wirkungen vom Buͤcherleſen waren nicht ſo ſelten, wie noch weniger gedruck - tes Papier zu uns kam. Damals waren hier von Zeit zu Zeit herrſchende Werke. Pamela, Clariſſa, Grandiſon folg - ten ſich in der Regierung, und theilten dieſe mit keinen andern Romanen. Auch wurden ſie nicht fuͤr Romane gehalten, ſondern taͤuſchten lehrreich das noch treu - herzige Publicum. Dieſer gute Glaube an die Exſiſtenz vollkommener Muſter iſt, zum Schaden der Nacheiferung, durch die nachherigen vielen Carricaturen verlohren gegangen, ſo daß ſich ein Romanheld in dem zur Wirkung noͤthigen Credit ſeiner Exſiſtenz kaum noch erhalten mag. Als unſre Hausvaͤter nur noch den alten Si -165 rach vorzuleſen hatten, leiteten ſeine wei - ſen Lehren Jugend und Alter. Als unſre Toͤchter nur noch den frommen Gellert laſen, wußten ſie ſeine Moral auswendig. Eine Geſchichte der Lectuͤr haͤngt mit der Geſchichte der Sitten ſehr zuſammen.

Gern moͤchte ich auszeichnen, was der Verfaſſer uͤber die Naturgeſchichte ſagt, wenn es nicht zu local waͤre. Er recla - mirt alle Naturmerkwuͤrdigkeiten aus Pri - vatſammlungen in die oͤffentliche Samm - lung: dieſe hieherzuliefernden Stuͤcke blie - ben einem Jeden und wuͤrden zugleich ein allgemeines Gut.

Es giebt alſo noch, faͤhrt er fort, auf dieſer mit Maas und Gewicht zuge - theilten Erde, Guͤter, die gemeinſchaftlich beſeſſen werden muͤſſen. Muͤſſen: denn aus den drei Reichen der Natur haben die einzelnen Stuͤcke erſt einen Werth,166 ſind zu Betrachtungen und zum Unterricht erſt geſchickt, wenn ſie in Ein jedem Lernbegierigen offenes Behaͤltniß gebracht ſind. In geizenden Privat-Be - wahrungen werden ſie der Aufmerkſamkeit eben ſo entzogen, als wie ſie in der wei - ten Welt zerſtreuet lagen. Mit edlem Enthuſiasmus zeigt er die praktiſche Nutz - barkeit dieſer Wiſſenſchaft fuͤr ſeine Stadt. Gewiß, ſagt er, hangt von einem ver - edelten Geſchmack eine veredelte Thaͤtig - keit ab. Der Geſchmack an Naturkennt - niſſen verleidet das Gefallen an aller Fri - volitaͤt, und giebt ſeinen Liebhabern den Drang zu mancherlei nutzbaren Ausfuͤh - rungen. Alles, was die Vegetation befoͤr - dert und der Natur die Eier unterlegt, worauf ſie bruͤtet; aller Wegwurf, ſogar todte Nachbleibſel von Allem, was Othem und Wachsthum gehabt hat, von Natur -167 kenntniſſen begleitet, wird es mit Inte - reſſe angeſehen werden.

In dieſem Cabinett wie vormals in den Tempeln ſind die inlaͤndiſchen Na - turbeobachtungen niederzulegen. Die - ſe Wetter - und Krankheitsjournale, mit der jaͤhrlichen Erndte und den Mortali - taͤtsliſten in Vergleichung gebracht, wuͤr - den zu einer allmaͤlichen Kalender-Ver - beſſerung Stoff geben; mit einer ploͤtzli - chen Verbeſſerung hat es nirgend gluͤcken wollen. Der Menſch, der einmal vom Denken abgebracht iſt, befindet ſich bei ſeinen Zeichen und Wundern ſo behaglich, wie der Philoſoph bei ſeinem einmal an - genommenen Syſtem. Naturkenntniſſe bringen auf den Weg der Wahrheit zuruͤck und lehren Aberglauben kennen und ver - achten.

168

79.

Leicht werden Sie denken, mit welcher Gemuͤthsſtimmung der Verfaſſer in den großen Buͤcherſaal der vier Facultaͤten eintritt. Er laͤßt einen Peripatetiker funf - zig Denkſchritte in die Laͤnge machen, und ihn fragen:

Alle die ungeheuren Packete, Theolo - gie, Jurisprudenz bezeichnet, muͤſſet Ihr ſtudiren, jene, um Gott verehren zu ler - nen, dieſe um mit euren Mitbuͤrgern in Friede zu leben?

So iſt es wohl bei Euch eine gelehrte, ſchwer zu erlernende Kunſt, wie fromme169 Geſinnung zu erregen und darnach zu handeln iſt? Ihr habt beſondre Gelehrte, die die Geſetze wiſſen, die alle andre doch auch befolgen ſollen? Wenn Eure Gelehr - te dieſe Wiſſenſchaften fuͤr die uͤbrige Men - ge lernen und anwenden: ſo iſt es bequem fuͤr dieſe Menge, wenn dies fremde Wiſ - ſen im Leben und im Sterben ihr zugut kommt.

Welch ein Schatz da in dem anſtoſ - ſenden Schrank fuͤr die Heilkunde! Ihr werdet wohl, ſeit Hippokrates, der nur noch den Gang der Krankheiten beobachtete, die Mittel gefunden haben, ſie alle zu heben? Zu ſeiner Zeit war das Leben kurz, die Kunſt lang; jetzt iſts wohl im umgekehrten Verhaͤltniß?

Aber die angelegentlichſte Frage des Mannes im Mantel wuͤrde geweſen ſeyn, wieviel ſpekulative Wahrheiten von den170 neuern Philoſophen gefunden worden und im philoſophiſchen Schrank aufbewahrt ſtaͤnden? Eine einzige, antwortet der Ver - faſſer, von meinem Freunde Kant, dieſe: daß wir noch keine Philoſophie, keine rei - ne hatten. Eine Wahrheit, die er bewie - ſen hat, und die Sokrates vor ihm, ohne Beweis, ſo ausdruͤckte: wir wiſſen nichts. Durch ſchwelgeriſche Spekulatio - nen uͤber uͤberſinnliche Dinge abgeleitet, lieſſen wir das uns zum Bearbeiten ange - wieſene Feld mit dem eingeſtreueten Sa - men in uns verwachſen daliegen. Nach - dem der Schutt des angemaaßten Wiſ - ſens, wodurch die Vernunft mit ſich ſelbſt in Widerſpruch kam, vom Herzen geraͤumt ward, konnte daſſelbe fuͤr das Sittlichgute freiſchlagen.

Wir erfahren naͤmlich durch unſern innern Sinn die unbedingte Foderung:171 recht zu thun. Wir erfahren in uns die Freiheit, nach dieſer Foderung zu handeln. Von dieſen beiden Thatſachen koͤnnen wir ſicher ausgehn und ſicher ſchließen: wir ſind moraliſchen Ur - ſprungs. Ein hoͤchſtes moraliſches We - ſen hat dies Geſetz und dieſe Freiheit in uns gelegt; unſre Beſtimmung iſt mora - liſch, ſelbſtverdiente Gluͤckſeligkeit. Wer mir in meinen letzten Augenblicken noch eine gute Handlung vorzuſchlagen hat, dem will ich danken, ſagte Kant zu ſeinem ihn beſuchenden Freunde.

Unnennbar ſchoͤn und nuͤtzlich waͤre es geweſen, wenn dieſe reine Abſicht Kants von allen ſeinen Schuͤlern, (von den Beſ - ſern und Beßten iſts geſchehen) erkannt und angewandt worden waͤre. Das Salz, womit er unſern Verſtand und unſre Ver - nunft abreibend geſchaͤrft und gelaͤutert172 hat, die Macht, mit der er das morali - ſche Geſetz der Freiheit, in uns aufruft, koͤnnen nicht anders als gute Fruͤchte er - zeugen. Und niemand waͤre es eingefal - len, ſeiner Abſicht gerade zuwider, das Dorngebuͤſch, womit er die verirrte Spe - kulation eben verzaͤunen wollte und muß - te, zu einem Gartengewaͤchs auf jeden nutzbaren Acker, in jede populare Kunſt und Wiſſenſchaft zu verpflanzen. Und niemand waͤre es eingefallen, die Arz - nei, die er zur Reinigung vorſchrieb, als einziges und ewiges Nahrungsmittel nicht anzuempfehlen, ſondern durch gute und boͤſe Kuͤnſte aufzudringen und anzube - fehlen. Jedoch ging es dem Griechiſchen Sokrates in ſeinen Schulen anders?

Ich habe das Gluͤck genoſſen, einen Philoſophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er in ſeinen bluͤhendſten Jahren173 hatte die froͤhliche Munterkeit eines Juͤng - linges, die, wie ich glaube, ihn auch in ſein greiſeſtes Alter begleitet. Seine offne, zum Denken gebauete Stirn war ein Sitz unzerſtoͤrbarer Heiterkeit und Freude; die Gedankenreichſte Rede floß von ſeinen Lippen; Scherz und Witz und Laune ſtan - den ihm zu Gebot, und ſein lehrender Vortrag war der unterhaltendſte Umgang. Mit eben dem Geiſt, mit dem er Leib - nitz, Wolf, Baumgarten, Cruſius, Hume pruͤfte, und die Naturgeſetze Kep - lers, Newtons, der Phyſiker ver - folgte, nahm er auch die damals erſchei - nenden Schriften Roußeau's, ſeinen Emil und ſeine Heloiſe, ſo wie jede ihm bekannt gewordene Natur-Entdeckung auf, wuͤrdigte ſie, und kam immer zuruͤck auf unbefangene Kenntniß der Natur und auf moraliſchen Werth des174 Menſchen. Menſchen-Voͤlker-Natur - geſchichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung, waren die Quellen, aus de - nen er ſeinen Vortrag und Umgang be - lebte; nichts Wiſſenswuͤrdiges war ihm gleichguͤltig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vortheil, kein Namen-Ehrgeiz hatte je fuͤr ihn den mindeſten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahr - heit. Er munterte auf, und zwang ange - nehm zum Selbſtdenken; Deſpotismus war ſeinem Gemuͤth fremde. Dieſer Mann, den ich mit groͤßeſter Dankbar - keit und Hochachtung nenne, iſt Imma - nuel Kant; ſein Bild ſteht angenehm vor mir. Ich will ihm nicht die barbari - ſche Inſchrift ſetzen, die einſt ein ſehr un - wuͤrdiger Philoſoph empfing:

175

Noſter Aristoteles, Logicis quicunque fuerunt Aut par aut melior; ſtudiorum co - gnitus orbi Princeps; ingenio varius, ſubtilis et acer, Omnia vi ſuperans rationis etc.

ſondern mit dem Verfaſſer der Bonhom - mien ihn, ſeiner Abſicht nach, Sokra - tes nennen und ſeiner Philoſophie den Fortgang dieſer ſeiner Abſicht wuͤn - ſchen, daß naͤmlich nach ausgereuteten Dornen der Sophiſterei die Saat des Verſtandes, der Vernunft, der morali - ſchen Geſetzgebung reiner und froͤhlicher ſproſſe; nicht durch Zwang, ſondern durch innere Freiheit.

Verzeihen Sie dieſe mir angenehme Erinnerung; ich komme zuruͤck zu meinem Autor. Eine Huͤlfswiſſenſchaft fuͤr ſeine176 Stadt, die buͤrgerliche und Waſſer - baukunſt iſt ihm in der Ordnung die naͤchſte. Seine Urtheile daruͤber ſind ſcharfſinnig, ſeine Wuͤnſche wohlgemeint. Der Mann im Mantel geht die Stadt durch und um; endlich kommt er an ſein geliebtes Thor zuruͤck, das die Inſchrift hat:

Ungeſtoͤrte Betriebſamkeit, Pax, Theilnehmung an einander, Concor - dia, Und am Ganzen, Pietas.

Dieſe; nicht Wall, nicht Feſtung erhalten die Stadt.

Jetzt treten wir zum encyklopaͤdi - ſchen Schranke. Der gelehrte Thurm, von Diderot und d'Alembert, (ſamt ihren Mitarbeitern) aufgefuͤhrt, ſollte den Schatz aller goͤttlichen und menſchlichen Kenntniſſe enthalten. Dieſem galliſchenTon177Ton hat die buͤrgerliche Geſellſchaft Ver - bindlichkeit. Er ſchaffte ſchuͤchternen Ge - lehrten und ihren Schriften da Eingang, wo ſie ihn nie gehabt haͤtten. Es ent - ſtand in Buͤchern eine Berathſchlagungs - ſtimme, gegeben von dem freidenkenden Verſtande, vernommen in Cabinetten, ge - hoͤrt bei Verwaltungen, wo bisher die ſtupide Goͤttinn, Routine, ihr Weſen getrieben hatte. Wahrheiten kamen in lebhaftern Umlauf, und gelehrte Kennt - niſſe wurden ein gemeines Gut fuͤr jede Wißbegierde. Wie wahr! Die Fran - zoͤſiſche Encyklopaͤdie, ſo unvollkommen ſie war, hat ſelbſt durch die Verfolgungen, die ſie erlitt, eine Wirkung hervorgebracht, die ihr ſo leicht keine vollkommnere Encyklo - paͤdie wird abgewinnen koͤnnen und moͤgen.

Jetzt die claſſiſche alte und neue Literatur; die ſchoͤnen Kuͤnſte derSechste Samml. M178Handelſchaft, wo der Verfaſſer im Scherz eine neue Muſe, die Kochkunſt, den aͤltern, vornehmeren Muſen beifuͤget. Schoͤne Kunſt oder Wiſſenſchaft, ſagt er; die Erziehung eines jeden Volks faͤngt ele - mentariſch mit dem Eſſen an. Wo dieſes noch nicht mit Ordnung, Reinlichkeit und Geſchmack geſchiehet, da iſt die Cultur noch nicht beim Anfange. Dieſer Tafel - genuß, der in einer Handelſtadt, wo man auf innere Guͤte achtet, zuerſt den guten Grad der Vollkommenheit erreicht, hilft bilden. Unſre Toͤchter, unter der An - fuͤhrung ihrer Muͤtter, moͤgen alſo immer die Ehre des Hauſes beim hellen Heer - de behaupten, wofuͤr die Maͤnner jetzt ar - beiten und vordem ſtritten. Nehmet ſie, ehe ſie zu den ſchoͤnen Wiſſenſchaften uͤber - geht, in eure Mitte, ihr neun Schwe - ſtern, dieſe keuſche Muſe mit der reinli -179 chen Schuͤrze, mit der koſtenden Zunge und Salz in der verſtaͤndigen Hand. Sie laͤßt ihren geiſtreichern Schweſtern gern ihren unbeſtrittenen Rang.

Der Verfaſſer geht die andern ſchoͤnen Kuͤnſte, den Blick auf ſeine Stadt gehef - tet, durch, und endet mit dem wahren Spruche: Der fuͤr das Schoͤne gebildete Sinn leitet den guten Aufwand. Dem verderblichen Aufwande des Buͤrgers ſetzt nichts Schranken, als die Bildung eines veſten Sinnes fuͤr Gerechtigkeit und Pflicht. Haͤusliche Weisheit im Nationalgeiſte ſu - chet zu pflanzen durch jede Kraft der Re - ligion, der Beiſpiele und Staatskunſt. Dieſer moraliſche Sinn ſtreitet nicht mit dem Sinne fuͤr Schoͤnheit; beide ſind viel - mehr nahe mit einander verwandt, beide fuͤhren auf des Menſchen letzten Zweck, ſeine Veredlung.

M 2180

Ich uͤbergehe den Abſchnitt, der von einer uns ziemlich fremden Literatur, und von der dem Verfaſſer vaterlaͤndiſchen Ge - ſchichte redet, ſo manche patriotiſche und feine Bemerkung z. B. uͤber das Verhaͤlt - niß der Staͤnde gegen einander, jetzt und in andern Zeiten er enthaͤlt. Vor der hiſtoriſchen Wand endlich, wo die Rei - ſen zu Waſſer und zu Lande, die Welt - und Voͤlkergeſchichten vorkommen, fuͤgt der Verfaſſer hinzu: Moͤchten zu allen dieſen, mit hiſtoriſcher Kritik aufgeſtellten Thatſachen, die dem gemeinen Auge ſo bunt durch einander laufen, die Ideen unſres Compatrioten*)Nicht leicht iſt mir ein Andenken unerwartet - erfreulicher geweſen, als das in dieſer Schrift: denn von den Ideen zu einer Philoſo - phie der Geſchichte der Menſchheit iſt hier die Rede. Dankbar gebe ichs zuruͤck, der oͤffnende181 Schluͤſſel ſeyn! So waͤre denn, Trotz al - ler unſchuldigen Leiden in und auſſer der*)ob es gleich, was das Buch betrifft, in die Wolke eines leiſen Zweifels gehuͤllt ſcheinet. Gebe mir das gute Gluͤck Raum und Zeit - umſtaͤnde, jene Ideen, zu denen dieſe Briefe vorbereitend mit gehoͤren, zu vollenden. Oh - ne ein Newton zu ſeyn, wußte ich den Charakter unſres Geſchlechts, ſeine Anlagen und Kraͤfte, ſeine offenbare Tendenz, mithin auch den Zweck, wozu es hienieden beſtimmt iſt, in kein ſimpleres Wort zu faſſen, als Humanitaͤt, Menſchheit. Andre vor - trefliche Denker ſind mir ſeitdem hierinn ge - folget; (wobei es einem Jeden uͤberlaſſen bleibt, ſich den Begrif der Humanitaͤt en - ger zu denken) unter denen ich nur Eine neuere Gedankenreiche Schrift anfuͤhre: Ue - ber Humanitaͤt, Leipz. 1793. deren Ver - faſſer ich nicht kenne. Im folgenden Theil dieſer Briefe werden einige Blaͤtter uͤber die Kraͤfte der menſchlichen Intel - ligenz eingeruͤckt werden, die der bezweifel ten Aufgabe ein großes Licht geben. A. d. H.182 buͤrgerlichen Geſellſchaft, Trotz der beſtaͤn - digen Fort - und Ruͤckſchritte in derſelben, und des immer wechſelnden Zerſtoͤrens und Aufbauens, Trotz aller Wirrungen und anſcheinenden Zweckloſigkeit in der Ge - ſchichte des Menſchen, doch darinn ein im - mer ſtaͤrkeres Aufblicken der Humani - taͤt dem philoſophiſch-forſchenden Auge ſichtbarer Zweck. Vernunft und Billigkeit naͤhme in der Geſellſchaft zu, der Menſch werde darinn immer menſchlicher. Ein Altar, dem Schutzgeiſt der Erde errich - tet!

Es gehoͤrt fuͤr die Newtone in dem Sturz eines Apfels die Ordnung des Weltſyſtems zu finden. Wir andern, de - ren Theodicee ſich damit behilft, die mo - raliſche Ordnung der Dinge ſei durch ei - nen Apfelbiß geſtoͤret worden, drehen uns ohne tieferes Nachdenken ruhig um un -183 ſre Axe, ohne zu wiſſen, wie wir bei den großen Umwaͤlzungen ins Ganze ein - greifen, und laſſen die Vorſehung daruͤber bei unſrer Betriebſamkeit walten.

184

80.

Wider Willen muß ich den Artikel der Handelsbibliothek mit allen ſeinen ſchoͤnen Vorſchlaͤgen uͤbergehen, um zu ei - nem Briefe zu kommen, in dem ſich die Seele des Verfaſſers der Bonhommien ganz zeiget. Er hatte einen Schrank fuͤr Publicitaͤt beſtimmt; in ihm haͤtten al - le oͤffentliche Verhandlungen, die das ge - meine Stadtweſen betreffen, Berathſchla - gungen, Vorſchlaͤge, Vorſtellungen, abge - legte Verwaltungsrechnungen zur Beleh - rung und zur Rechtfertigung niedergelegt werden koͤnnen; das Wort ging nicht185 durch. Auch ſtatt der Materialien zur vaterlaͤndiſchen Geſchichte aus dem Archiv hatte der Bibliothekar eine ſchoͤne Sammlung von Kirchenvaͤtern un - terzubringen, u. f. Da dieſer Brief auf einer Reiſe in Deutſchland geſchrieben iſt und auf allen Seiten Blicke des feinen Staatsmannes, gemildert mit der Bon - hommie des Buͤrgers, verraͤth; ſo zeichne ich einige Bemerkungen mit dem Anden - ken einiger Perſonen aus, die auch uns werth ſind. Z. B. uͤber die Preußiſche Staatsverfaſſung.

Iſt mehr Freiheit im Handel und weniger Freiheit im Denken dem Preußi - ſchen Staat erſprießlich? Der Handel kann nicht ohne Freiheit, der Preußiſche Staat aber wohl ohne großen auswaͤrtigen Han - del bluͤhen. Der wahre Handelsvortheil eines Landes iſt immer in dem lebhafterenSechste Samml. N186inneren Verkehr. Weniger als die Frei - heit im Handel leidet die Geiſtesfrei - heit Einſchraͤnkung zum Beſten der Preu - ßiſchen Staaten. Dieſe Staatsmaſchiene iſt ganz das Werk der Freiheit des Geiſtes, die, durch die karge Natur des Bodens aufgefodert, ſoviel vermochte, daß ſie ein Land, welches nur einer ge - ringen Macht faͤhig zu ſeyn ſchien, weit uͤber das Mittelmaͤßige erhoben hat, durch Beleuchtung der Grundſaͤtze, die daher de - ſto ſtandhafter befolget wurden. Die Preußiſche Kriegsmacht iſt zur Beſchuͤtzung des Landes fuͤrchterlich; aber ohne ſeine, unabhaͤngig von derſelben, freiwirkende Geſchaͤftsmaͤnner wuͤrde Friederich ſelbſt dies Werk der Regierungskunſt nicht zu der Vollkommenheit gebracht haben.

Ich fuͤhle mich gluͤcklicher, unter ei - ner Regierung gebohren zu ſeyn, welche187 die buͤrgerliche Freiheit weniger einſchraͤnkt; gluͤcklicher in einem Lande, deſſen Natur reicher iſt, als daß es noͤthig waͤre, dem Unterthan die Staatsſparbuͤchſe beſtaͤndig vorzuhalten; Geiſt und Herz des Buͤrgers haben hier mehr Spielraum. Aber in der benachbarten Monarchie iſt es doch nicht Kleinheit in der Staatskunſt, dieſe Einſchraͤnkung, wie eine aus Kaͤnntniß der Sache nothwendige Diaͤt, vorzuſchreiben und zu beobachten. Der Verfaſſer nimmt dabei die Preußiſche Regierung gegen den Vorwurf, daß ſie militariſch ſei, in Schutz: Was wuͤrde auch aus dem Staat werden, ſagte ein Hauptmann, wenn die, welche Gewalt in Haͤnden haben, deßwe - gen auch alles thun duͤrften?

In Berlin, faͤhrt er fort, ſuchte ich nicht Sparta, ſondern Athen, wozu die Stadt mehr als das Thor hat. FuͤrN 2188[wiſſenſchaftliche] Unterhaltung, worinn Ci - cero die Beluſtigung der Alten ſetzt, iſt hier geſorget. Gelehrte in und auſſerhalb Geſchaͤften verſammeln ſich; wider gelehr - ten und politiſchen Betrug, fuͤr Wahrheit waren alle eingenommen; auſſer dieſer Ue - bereinſtimmung fuͤr gute Aufklaͤrung fand ich uͤbrigens die Meinungen uͤber Perſo - nen und Sachen ſo verſchieden, daß der Berlinismus hier wenigſtens ſeinen Sitz nicht hat, wenn uͤberhaupt das Wort Sinn haben mag und nicht vielmehr Frei - muͤthigkeit bedeuten ſoll. Dieſe Frei - muͤthigkeit iſt hier Rechtskraͤftig. Vor die hoͤchſte Inſtanz des Denkens werden ſowohl oͤffentliche Anordnungen, als rich - terliche Ausſpruͤche gezogen. Nur die Kan - zelvortraͤge wurden privilegirt.

Hier ein Opfer der Achtung dem lie - benswuͤrdigen Greiſe, der die Lehren des189 Chriſtenthums mit Sokratiſcher Weisheit vortrug, und auch in ſeiner Abſchiedspre - digt nicht Stachel zum Andenken ſeiner Ehrwuͤrdigen Perſon, ſondern an ſeine, mit wahrer Salbung vorgetragene Lehren nachlaſſen wollte.

Und ein reicheres Andenken dem ſchlichten großen Mann, der da ſag - te: wenn ich das Geſetzwerk endige, habe ich gnug gelebt. Auf dieſer nun aufgefuͤhr - ten Pyramide lebt der Name Carmer.

Der Methode zu Errichtung dieſes Werks, der deßhalb fortwaͤhrenden Com - miſſion, auch dem Verfaſſer der Anna - len der Preußiſchen Geſetzgebung, (der ſich gegen den Satz: daß Gerechtig - keit der Fuͤrſten wohl nur Gnade ſeyn moͤchte freimuͤthig erklaͤrte,) wird beſchei - den ihr Lob ertheilet.

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Auf einer Reiſe in Churſachſen kommt zwiſchen den Reiſenden die Frage vor, ob in dieſem betriebſamen Lande ein Pe - rikles bei der Verwaltung gemeinnuͤtzi - ger ſeyn wuͤrde, als jetzt ein Ariſtides? Und in Leipzig wird das Lob des Man - nes ſehr edel bemerket, der bei allem, was in dieſer eleganten Buͤrgerſtadt der Verfaſſer Schoͤnes ſah, Kirche, Biblio - thek, Concertſaal, Promenade u. f. immer als der genannt wurde, der alles dies an - gelegt oder verſchoͤnert habe. Die Ein - fachheit und Eleganz in ſeinem Hauſe, (Oeſers dabei unvergeſſen) wird anſtaͤn - dig beſchrieben, mit dem Geſchmack und der Wuͤrde eines andern Mannes von die - ſem Stande, den der Verfaſſer in Koͤ - nigsberg wiederfand, paralleliſiret, und hinzugefuͤgt: ich weiß nicht, oder vielmehr ich weiß es, warum ich mich durch das,191 was ich ſo unempfindſam beſchreibe, ſo geruͤhrt fuͤhle. Wahrlich, es iſt nicht Neid, es iſt Freude uͤber die gluͤckliche Lage die - ſer wuͤrdigen Maͤnner. Sollte denn ein geſchmackvoller beſcheidner Lebensgenuß, ſollte ein Sorgenfreies Alter eine zu große Belohnung der Wachen fuͤr den Wohl - ſtand und ſelbſt fuͤr die Annehmlichkeiten des Lebens ſeiner Mitbuͤrger ſeyn?

Auf ſeiner Ruͤckreiſe durch Pommern und das vormalige Polniſche Gebieth, in Preußen, war es dem Verfaſſer erfreulich, zu erfahren, wie auch hier Humanitaͤt ſeit ſeiner erſten Reiſe vor vierzig Jahren zu - genommen hatte: denn, ſagt er, fuͤr Be - zahlung freundliche Begegnung und Si - cherheit erhalten, iſt der Wohlgeruch der bluͤhenden Europaͤiſchen Humanitaͤt. Wenn nur in dieſer beruhigenden Hypotheſe des beſtaͤndigen Fortſchreitens die wilden Auf -192 tritte bei einem durch Klima und Kuͤnſte humaniſirten Volke jetzt nicht einen ſo ſchrecklichen Knoten ſchuͤrzten. Auch dieſer Knote wird ſich loͤſen, guter Wan - drer, und gewiß, (wenn auch nur war - nend und belehrend,) zum Fortſchritt des Ganzen: denn ein ſo großer, ſo unterſtuͤtz - ter Verſuch iſt in unſrer bekannten Voͤl - kergeſchichte noch nie gemacht worden. Ueberdem iſt das Ziel, wornach wir zu ſtreben haben, nicht bloße Behaglichkeit auf Wegen oder daheim, wie ſehr dieſe auch wohlthut; das Ziel liegt weiter, hoͤ - her hinauf. Der Strom der Dinge fließet auch hier nicht gerade; er reißt ab, ſetzt an, dringt aber doch weiter.

Naͤher der ungekuͤnſtelten Humanitaͤt in unſerm Norden, wo ſie nicht in Treib - haͤuſern aufbluͤhet, nahm der Verfaſſer noch einen Umweg, den er mit einem Friede mit dem Manne ſchließet.

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Und auch Friede von mir dem Manne! Denn zu lange habe ich die Theilnehmung verborgen, die ich beym Auszuge dieſer Bonhommien am Verfaſſer ſowohl, als an ſeiner Stadt, und mehreren dabey bemerkten Perſonen herzlich genommen ha - be. So an den Letzten, denen er Friede im Grabe, oder in ihrer Ruhe wuͤnſchet; ſo an ihm ſelbſt, der in ſeiner geliebten Dunkelheit endigen wollte. Dieſer ſchlich - te Denkſtein, ſagt er, ſey dem vormaligen Rathsſtande am Wege geſetzt! und ich muß dabey die hohe Gerechtigkeit, Guͤte und Sanftmuth bemerken, mit welcher der Verfaſſer den neuen Rath ſowohl, als jedes Kind ſeiner Vaterſtadt zur Pflicht und Wuͤrde derſelben hinweiſet. Unter dem unſcheinbaren Titel einer neuerrichte - ten Bibliothek und eines Reiſebriefes iſt ein Buͤrgerkatechiſmus ſeiner bluͤhen -194 den Vaterſtadt enthalten, der er damit gleichſam ſein Herz vermacht hat. Leſen Sie, was ſein und mein Freund, der mir die Bonhommien zuſandte, von ihm ſchrieb: Das Buch in ihre Haͤnde zu wuͤnſchen, habe ich keinen andern Beruf, als die Liebe gegen unſern Freund, den ich allgemein geliebt, geſchaͤtzt und geehrt geſehen habe; aber von wenigen nach ſei - nem ganzen Werth, und als Schriftſteller von ſehr wenigen verſtanden glaube. Die - ſem ſeinem Buch alſo, dem eigenſten Ei - genthum ſeines Geiſtes und Herzens, dem reifſten Nachlaß der Gedanken und Em - pfindungen, in denen und mit denen er Lebenslang lebte und wirkte, den er krank, ſchwaͤchlich, und oft niedergeſchlagenen Ge - muͤths auf den Altar des Vaterlandes als ein Andenken der Liebe gutmuͤthig nieder - legte, und gleich darauf mit ſeinem Tode195 beſiegelte, dieſem moͤchte ich bey Ihnen auch eine gute Staͤte wuͤnſchen.

So liebenswuͤrdig unſer Freund im Umgange, ſo allgemein anerkannt ſeine Guͤte war, ſo ſehr ich ihn in ſeinem Col - legium geehrt und Maͤnner, wie *. *. an der Rede ſeines Mundes hangen geſehen habe, ſo gluͤcklich er Wiſſenſchaft und Lie - be zur Kunſt zu Bildung ſeines Geiſtes und zu Verſchoͤnerung ſeines Lebens anzu - wenden wußte: ſo iſt oder war doch Pa - triotismus die Seite, von der er mir vorzuͤglich unausſprechlich ehrwuͤrdig war und Lebenslang bleiben wird.

In einem Leben, wo oft in ſeinen Aemtern und vielfachen Beſtrebungen, Ar - beiten von heterogener Natur, im Grunde ſeiner Neigung ſo fremde, ſeinen Geiſt niederſchlagen und das Herz in die Enge ziehen mußten, hat er doch immer ſeine196 Stellen geliebt, ſie mit Kraͤften und Red - lichkeit ausgefuͤllt; und zuletzt noch, nach - dem ſein Leben ganz ſeiner Stadt gehoͤrt hatte, und nur der letzte Reſt deſſelben durch die Umſtaͤnde der Wirkſamkeit ent - zogen war, ſuchte er ihr durch ſeine Schrift noch nuͤtzlich zu werden. Hielt es Filan - gieri fuͤr gut, daß Maͤnner, die in oͤffentlichen Aemtern gelebt, nach ihrer Weiſe Unterricht geben; mich duͤnkt, ſo darf man auch bey ſeiner freymuͤthigen Redlichkeit ſeinem Herzen folgen: denn er ſchrieb, wie er redete, redete und lebte wie er dachte, und ſtarb wie er gelebt hatte.

In ſeinem letzten Sommer begegnete er mir, da er eben im Begriff war, fuͤr den Ueberreſt der Jahrszeit die Stadt zu verlaſſen, um ſeine Geſundheit auf dem Lande herzuſtellen; er ſagte mir, daß er197 im Begriff ſey, etwas drucken zu laſſen. Meine Abſicht iſt, ſagte er, bey man - chen unſerer guten Buͤrger der Indifferenz entgegen zu wirken, womit man ſich allen oͤffentlichen Geſchaͤften jetzt zu entziehen an - faͤngt, auf gleichviel-welchen Wegen, und immer damit ſich entſchuldigt: es haͤtte doch jetzt Alles aufgehoͤrt! die vorigen Zei - ten des Patriotismus ſeyn nicht mehr und was dann ſo der Zeitgeiſt ſpricht. Hier wollte er zeigen, wie der gutdenken - de Buͤrger ſich an die neue Stadtordnung anſchließen koͤnne. Dies nehmliche hat er noch in den letzten Tagen an ſeinen Arzt wiederholet, und bat, ihn ſeinen Freunden zu ſagen: daß der Gegenſtand ſeines Buchs ſeine Stadtmoral ſey.

So ſein Freund. Die Stadt, fuͤr wel - che dieſer edle Buͤrger und Senator ſchrieb, iſt Riga; ſein Name iſt: Jo -198 hann Chriſtoph Berens; und der gleichfalls trefliche Mann, an welchen auf ſeiner Reiſe in Deutſchland der angefuͤhr - te Brief geſchrieben war, Johann Chri - ſtoph Schwarz, Buͤrgermeiſter des al - ten Rathes derſelben. Empfindlich wird meine Seele geruͤhret, wenn ich an die Zeiten, in denen ich in ihrem Kreiſe lebte, an ſo manche vortrefliche Charaktere ihrer edlen Geſchlechter, an meine Freunde in denſelben, und unter ihnen an den Ver - faſſer der Bonhommien zuruͤck geden - ke. Wollte ich, was meine Erfahrung von ihm kennen lernte, in wenig Wor - ten ſagen, ſo waͤre es jene Inſchrift al - ten Gehalts, die Kleiſt ſeinem Freunde ſetzte:

Witz, Einſicht, Wiſſenſchaft, Geſchmack, Be -
ſcheidenheit,
Und Menſchenlieb 'und Redlichkeit,
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Des Buͤrgers Tugenden, des feinſten Man -
nes Gaben,
Beſaß Er, den man hier begraben.
Er lebte ſeiner Stadt; er ſtarb mit ſtillem
Muth.
Ihr Winde, wehet ſanft, wo ſeine Aſche ruht.

Lebe wohl, geliebte, gutmuͤthige Seele!

About this transcription

TextBriefe zu Beförderung der Humanität
Author Johann Gottfried von Herder
Extent218 images; 20983 tokens; 5811 types; 151578 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationBriefe zu Beförderung der Humanität Sechste Sammlung Johann Gottfried von Herder. . [4], 199 S. HartknochRiga1795.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, 301005-5/6 Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=875066844

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Philosophie; Wissenschaft; Philosophie; core; ready; mts

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T09:27:52Z
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