Uebersetzung ist dieses Werk auf dem Ti - tel nicht genannt, obgleich es zuerst in fran - zösischer Sprache erschien, unter folgendem Titel:
Ein Schriftsteller übersetzt sich nicht, wenn er dieselben Ideen in verschiedenen Sprachen öffent - lich mittheilt. Die Gründe, warum es in der genannten Sprache erschien, sind in der Vorrede zu der französischen Ausgabe angegeben. Der Ver - fasser ahnte damals nicht, daſs eine teutsche Aus -[4] gabe nöthig seyn werde. Er ward, von verschiede - nen hohen Schulen Teutschlands her, des Gegen - theils belehrt. Er läſst es daher nun auch in teut - scher Sprache erscheinen; um so williger, da er, nach Pflicht und Neigung, der edlen teutschen Na - tion zunächst angehört und stets angehören will. Er giebt es selbst, weil jeder Andere nur eine Ue - bersetzung hätte liefern können. Daſs manches Neue hinzugekommen sey, wird hier einer Er - wähnung kaum bedürfen. *)Unter vielen andern, darf man nur folgende §§. verglei - chen: 2 c, 3 d, 22 d, 27 d und f, 31, 49 e, 66, 87 a und c, 105, 107 c, 115, 116 a und h, 133, und ebendaselbst c, d und e, 135 a, 137 c, 142 c und d, 146 a, 164 b, 176 a, und ebendaselbst c, 185, 186 a, 187 c und d, 204, 210 c, 213 b, d und e, 234, 255, und ebendaselbst b, 258, 259, 294 a.
Als der Verfasser dieses Werk begonn, durfte er vielleicht hoffen, etliche Gegenstände der eu - ropäischen VölkerrechtsWissenschaft in neues Licht zu stellen, ihr System zu vereinfachen, sie mit manchen Notizen und Bemerkungen zu bereichern, die dem Scharfblick seiner Vorgän - ger entgangen waren, und hinzuzufügen, was nach ihnen Erfahrung und Umstände darbieten konnten; doch hatte er einen mehr noch em - pfehlungswerthen und dringenderen Beweggrund. Er glaubte, in Hinsicht auf Diplomatie, das Ver - dienst verschiedener von seinen Landsleuten er - höhen zu können, wenn er sich bestrebte, zu dem Studium des positiven Völkerrechtes vor - züglich diejenigen seiner Zeitgenossen zu er -6Vorrede. muntern, die in dem Fall seyn möchten, sich einst Staatsgeschäften zu widmen. Zum wenig - sten schien ihm nicht überflüssig, in diesem Augenblick die Rechtsgelehrten eben so wohl als die Politiker auf die Nothwendigkeit die - ses Theils des Unterrichtes aufmerksam zu ma - chen.
So viel möglich das Ganze der Wissen - schaft zu umfassen, ihre Grundsätze klar und bestimmt zu entwickeln, sie zu erläutern durch historische sowohl als literärische Notizen, nütz - lich insbesondere denen, die einem tiefer ein - dringenden Studium sich widmen wollen, das war seine Absicht bei diesem Werk.
Das natürliche Völkerrecht war hiebei von grossem Gewicht. Da es einem System des unter den Staaten durch ausdrückliche oder stillschwei - gende Verträge festgesetzten Rechtes zur Grund - lage dienen soll, so kommt es hier zweifach in Betracht. Es füllt die Lücken aus, die nur zu oft in einem System des positiven Völker - rechtes sich zeigen, und so weit ist sein Ge - brauch wesentlich. Überdieſs dient es demsel - ben System als Bindemittel, indem nach ihm7Vorrede. die Grundsätze geordnet und an einander ge - reihet werden.
Wer dem Studium des heutigen europäi - schen Völkerrechtes sich widmet, würde verge - bens mit der Hoffnung sich schmeicheln, von jedem freien Volk, das diesen Theil des Erd - balls bewohnt, jeglichen Satz, er sey rechtlich oder geschichtlich, den die Theorie aufzustel - len oder zu bewahren nicht verfehlen darf, an - erkannt zu sehen. Der Verfasser eines Werkes wie dieses, ist oft verpflichtet sich schlechthin an Abstractionen zu halten, die aus sorgfältiger und unparteyischer Betrachtung des natürlichen Völkerrechtes, aus gewissen Verträgen, und aus manchen Gewohnheiten hervorgehen, die, wenn nicht von allen, doch von den meisten euro - päischen Staaten angenommen sind. Die aus einer solchen Vergleichung sich bildende allge - meine Theorie, kann daher in einem einzel - nen Fall nur so weit Anwendung finden, als sie hier mit dessen besondern Umständen sich verträgt. Da diese Theorie nie in der Art ge - gründet ist, daſs durch sie die besondern Be - ziehungen zurückgesetzt würden, die auf That - sachen oder particuläre Rechtsquellen sich stü -8Vorrede. tzen, so muſs ein Staatsmann überall zuerst die besondern Verhältnisse in das Auge fassen, wel - che zwischen den in Betracht kommenden Mäch - ten bestehen. Dieser Grundwahrheit ungeach - tet, sind die allgemeinen Grundsätze von gröſs - ter Wichtigkeit, und zu keiner Zeit sollte das Studium derselben, von denen, welche die di - plomatische Laufbahn wählen, vernachlässigt werden.
Unstreitig kann hier die Rede nur davon seyn, was, dem Rechtsgesetz zufolge, unter freien Völkern beobachtet werden soll. Aber verhelen kann man sich nicht, daſs es Fälle giebt, wo Uebermacht eines oder mehrerer Staaten, oder ausserordentliche Ereignisse, ge - bieterisch Schritte begünstigt haben, wofür man einen zureichenden Grund in dem Völkerrecht vergebens suchen würde. Indeſs ist darum nicht minder wichtig, die Rechte der Nationen zu kennen; denn was wirklich recht ist, wird zuverlässig einst als solches anerkannt werden; und überdieſs vermag keine Macht, durch will - kührliches Benehmen, der Würde des Völker - rechtes etwas zu vergeben. Dem Unrecht hul - digen, die zerstörenden Maximen einer solchen9Vorrede. Macht, gleichviel aus welchem Beweggrund, zu Grundsätzen erheben wollen, wovon man nur zu oft, vorzüglich bei neueren Schrift - stellern, Beispiele gesehen hat, würde in schwere Verantwortung gegen die Menschheit bringen.
Die Erschütterungen, welche unlängst den europäischen Staaten ein ViertelJahrhundert lang widerfahren sind, werden höchstwahr - scheinlich manche Aenderungen oder Modifica - tionen in den Grundsätzen des positiven Völ - kerrechtes zur Folge haben, deren Festsetzung man vergebens schon von dem wiener Congreſs erwartet hatte; doch hat man alle Ursache zu glauben, daſs diese Aenderungen weder so zahlreich noch so nah seyn werden, daſs dar - um die Bekanntmachung dieses Werkes zu ver - schieben wäre. Möge es dazu beitragen, den Zeitpunct ihres Daseyns zu beschleunigen, der nie so nah seyn wird, als der Vortheil der Menschheit und der Staaten es gebietet; viel - leicht irret der Verfasser, doch möchte er hof - fen dürfen, daſs dieses Werk hiezu als Einlei - tung dienen könne. Auch geschah es haupt - sächlich unter diesem Gesichtpunct, daſs sich10Vorrede. derselbe bestrebt hat, dem Seerecht, vorzüg - lich demjenigen der Neutralen, eine Entwi - ckelung und eine Aufmerksamkeit zu widmen, die seiner dermaligen Wichtigkeit angemes - sen ist.
Findet man den Verfasser, wie er ange - legentlich wünscht, untadelhaft in Hinsicht auf Wahrhaftigkeit, so werden Manche vielleicht stärkere Farben, einen minder didactischen Ton vermissen. Er gesteht, daſs ihn die Hoff - nung verläſst von diesen freigesprochen zu werden, wenn nicht die für einen Lehrbegriff so nothwendige Gedrängtheit, die Menge der Gegenstände, die mit dem geringsten Wort - aufwand abzuhandeln, und auf einem mög - lichst kleinen Raum zu entwickeln waren, vor ihren Augen ihn Entschuldigung finden lassen.
Nur allein die Erwägung einer sich weiter verbreitenden Nützlichkeit, hat den Verfasser veranlassen können sich einer Sprache zu be - dienen, die weder die seinige, noch diejenige seines Vaterlandes ist, und es nie seyn soll. Er bedient sich dieser Sprache, nicht sowohl11Vorrede. wie derjenigen der Franzosen, als vielmehr darum, weil nicht nur seine wissenschaftlich gebildeten Landsleute, sondern auch die mei - sten Diplomaten der übrigen zu Beobachtung des Völkerrechtes ebenmäsig verpflichteten eu - ropäischen Nationen, mit derselben vertraut sind. Dieses Geständniſs, diese Absicht, werden ihn entschuldigen, und ihm einiges Recht auf die Nachsicht derer geben, die jener Sprache mächtiger sind als er.
Eine grosse Anzahl literärischer Notizen ist hinzugefügt, viele Controversen der Publi - cisten sind angeführt worden. Wie ungern auch der Verfasserr hiezu sich entschloſs, so hat er doch geglaubt, sich dessen nicht über - heben zu dürfen, in einem Werk, das zu - gleich bestimmt ist dem Unterricht in einer Wissenschaft zur Grundlage zu dienen, in wel - cher es von hoher Wichtigkeit ist, die ver - schiedenen Meinungen und auch die Schriften zu kennen, aus denen man sein Wissen berei - chern kann. Dieser festen Ueberzeugung un - geachtet, bekennt er jedoch, daſs er des gröſsten Theils dieser Noten und Citationen sich würde enthalten haben, wenn er sich12Vorrede. bloſs Leser französischen Ursprungs gedacht hätte.
Er hat überdieſs geglaubt, als Anhang eine auserlesene Bibliothek für das Völker - recht hinzufügen zu müssen, um auf die ge - schwindeste und bequemste Art den bibliogra - phischen Bedürfnissen nicht nur der Anfän - ger, sondern auch der übrigen zu Hülfe zu kommen. Das alphabetische Verzeichniſs der Schriftsteller, am Schluſs des Buches, wird den Gebrauch dieser Bibliothek erleichtern.
Unabhängige Staaten führen als moralische Personen, in ihrem gegenseitigen Verhältniſs, den Namen freie Völker a). Der Inbegriff ihrer wechselseitigen vollkommenen Rechte, das Recht der Staaten im Verhältniſs zu einander, heiſst Völkerrecht (jus gentium, droit des gens, Staa - tenrecht, jus civitatum inter se). So weit diese Rechte aus der Natur ihrer gegenseitigen Verhält - nisse fliessen, ist das Völkerrecht natürliches oder allgemeines (jus gentium naturale s. universale): positives b) (jus gentium positivum, so fern es sich gründet auf Uebereinkunft, ausdrückliche16Einleitung. Vorbereitender Theil. oder stillschweigende c). Wissenschaftlich kann das positive Völkerrecht, sowohl eines einzelnen Staates, als auch mehrerer Staaten zusammen, namentlich der europäischen d), abgehandelt werden. Obgleich weder alle Völker einen allge - meinen Weltstaat (§§. 15, 24 u. f.), noch die eu - ropäischen insbesondere eine VölkerRepublik bilden, so ist doch gewiſs, daſs die letzten einan - der einen gewissen Inbegriff von Rechten einräu - men, und daſs sie, in dieser Hinsicht, sich in einer bestimmten Rechtsgemeinschaft befinden. Es ist also das Daseyn eines europäischen Völker - rechtes eben so einleuchtend, als die Nothwen - digkeit und Nützlichkeit seiner wissenschaftlichen Bearbeitung e).
§. 2.I) Jede obligatorische Beziehung eines Staates, in dieser Eigenschaft, entweder zu andern Staa - ten, oder zu seinen Bürgern, heiſst eine öf - fentliche. Der Inbegriff aller dieser obliga - torischen Beziehungen, bildet das öffentlicheKlüber’s Europ. Völkerr. I. 218Einleitung. Vorbereitender Theil. Recht überhaupt. Daher ist das Völkerrecht, auch das natürliche, ein Theil des öffentlichen Rech - tes a). Das natürliche Völkerrecht, das Recht der Einzelnen im Stande der Natur, zweckmäsig an - gewandt auf das Verhältniſs der Staaten unter sich b), gehört zu dem allgemeinen oder natürlichen öffentlichen Recht. Das wechselseitige obligato - rische Verhältniſs zwischen dem Staat, als solchem, und seinen Bürgern, wird bestimmt durch das Staatsrecht: dasjenige zwischen dem Staat, als solchem, und einzelnen Menschen ausserhalb derselben Staatsverbindung, durch das Privat - recht c). II) Das Völkerrecht begreift nur Zwang - rechte unter sich. Es fordert nur Legalität, nicht Moralität, nicht Schicklichkeit, nicht Klug - heit, nicht blosse Gebräuche ohne moralische Nothwendigkeit. Es ist also wesentlich ver - schieden, von Völker Moral d) (droit interne), deren Beobachtung ein Staat nur sich selbst schul - dig ist, von Convenienz (decorum gentium, règles de convenance), von Staatsklugheit e) (Politik), von Völkergebrauch (usus gentium, simple usa - ge); wiewohl diese in dem Völkerrecht nicht sel - ten erläuternd, immer wissenswerth sind.
Die Quellen des Völkerrechtes der europäi - schen Staaten, sind folgende. I) Verträge der Staaten unter sich, sowohl ausdrückliche a) als auch stillschweigende b). Die letzten gründen20Einleitung. Vorbereitender Theil. sich auf sprechende Handlungen der Interessen - ten c). Beide Arten von Verträgen, begründen zusammen das eigentlich so genannte Vertrag - recht der Völker. Ausdrückliche allgemeine Ver - träge der europäischen Staaten, giebt es nicht; aber oft ist wichtig, bald die Gleichheit, bald die Aehnlichkeit der Grundsätze wahrzunehmen, von welchen die Mächte bei ihren Verträgen aus - gegangen sind. Erst die neueste Zeit hat etliche Beispiele von Verträgen geliefert, zu deren Beob - achtung fast alle europäischen Staaten ausdrück - lich sich verpflichtet haben d). Rechte der Völ - ker, welche sich gründen auf stillschweigende Verträge oder Rechtsgewohnheiten, werden auch Herkommen oder Gewohnheitsrecht der Völker (jus gentium consuetudinarium) genannt. In dem Völkerrecht unterscheidet sich dieses nicht von Observanz, wohl aber von blossem Völkerge - brauch (§. 34 f.), womit ein Zwangrecht nicht verbunden ist e). Blosse Vermuthung kann un - ter unabhängigen Staaten kein Recht begründen, also auch keinen Vertrag f). Eben so wenig eine Fiction g), so fern ihr nicht durch Vertrag eine solche Wirkung beigelegt ist.
II) Eine zweite Quelle ist die Analogie; eine aus positiven völkerrechtlichen Bestimmun - gen, für ähnliche oder für entgegengesetzte Fälle (durch Argumente a simili aut a contrario, von Harmonie oder Disharmonie völkerrechtlicher Be - stimmungen), abgeleitete Handlungsvorschrift a). Nur subsidiarisch, wenn es an unzweifelhaften vertragmäsigen Bestimmungen fehlt, ist sie an - wendbar. Durch Analogie können nicht nur man - gelhafte, oder unvollständige vertragmäsige Be - stimmungen ergänzt, sondern sogar neue begrün - det werden. Auch kann sie als Auslegungsregel dienen b).
III) So oft weder Verträge noch Analogie für das Rechtsverhältniſs unter unabhängigen Staaten hinlängliche Bestimmung liefern, muſs dieselbe aus dem natürlichen Völkerrecht a) genommen werden. Auch ist dieses ein wichti -23I. Cap. Begriff, Abtheilung, Quellen, u. s. w. ges Hülfsmittel für Theorie und Lehrvortrag des positiven Völkerrechtes, und bei Anwendung des - selben.
Verjahrung, ein Erzeugniſs des positiven Privatrechtes, findet, ohne vertragmäsige Be - stimmung, unter unabhängigen Staaten nicht statt a). Wohl aber ist der Besitzstand (uti pos - sidetis, favor possessionis) zu achten b), bis man rechtmäsig zu den Waffen geschritten, oder der Streit auf völkerrechtliche Art beendigt ist. Blos - ser Staatsvortheil (StaatsInteresse, intérêt de l’é - tat), so genanntes ConvenienzRecht (droit de con - venance), hat nur politisches Gewicht c). Auch das Gleichgewicht d), das politische, eine unbe - stimmte Idee unter augenblicklichem Einfluſs der Convenienz, hat nicht die Natur einer völker - rechtlichen Entscheidungsquelle.
Das Völkerrecht, als Wissenschaft betrach - tet, ist ein Theil der Diplomatie, eines Inbe - griffs wissenschaftlich geordneter Kenntnisse und Grundsätze, für richtige und geschickte Betreibung öffentlicher Geschäfte unter Staaten a). Man lernt die Diplomatie bei dem Studium der so genann - ten politischen oder Staatswissenschaften, der Staa - tengeschichte b), besonders der drei letzten Jahr - hunderte, der Politik c), der Statistik d), der Staats - wirthschaft und National Oekonomie oder Gewerb - kunde e), der Kriegskunde f), sowohl Heerkunst (Taktik) als auch Heerleitung (Strategie), vorzüg - lich aber des Staats - und Völkerrechtes g), des na - türlichen und positiven, der politischen Negocia - tionsKunst h), und der StaatsPraxis i), mit In - begriff der Geheimschreibekunst k) (Chiffrir - und DechiffrirKunst). Fast allen diesen Wissenschaft - ten liegt die Geschichte zum Grunde, so viel das25I. Cap. Begriff, Abtheilung, Quellen, u. s. w. Empirische betrifft; dann die Wissenschaft von dem Staat, dieser als Idee betrachtet. Alle bezie - hen sich entweder auf Rechtmäsigkeit, oder auf Zweckmäsigkeit.
Hülfwissenschaften sind: Erdbeschreibung a) (Geographie), Urkundenlehre b) (Diplomatik), nebst der urkundlichen Zeitkunde c) (Chronolo - gie), Wappenkunde d) (Heraldik), Geschlecht - kunde e) (Genealogie), Auslegungskunst f) (Her - meneutik). Auch sind wichtig für den Diploma - ten: die fleisige Lesung politischer Zeitschrif - ten g), die Beobachtung der Staatsvorfälle, der Umgang mit Staatsbeamten, auch mit andern unterrichteten und ausgezeichneten Personen.
In dem Lehrvortrag des Völkerrechtes der europäischen Staaten, sind die Grundsätze nach einem einfachen systematischen Plan, aus Ver - trägen, ausdrücklichen und stillschweigenden, aus der Analogie, und aus der Natur der wech - selseitigen Staatenverhältnisse, kurz, bestimmt, und leicht faſslich zu entwickeln, und aus der Ge - schichte, so weit möglich, zu erläutern; beides28Einleitung. Vorbereitender Theil. ohne Vorurtheil, Hypothesensucht, Partei - und Sectengeist, ohne Miſsbrauch rationaler Formen und metaphysischer Speculationen. Die dogma - tisch-historische LehrMethode verdient den Vor - zug vor der bloſs dogmatischen, mehr noch vor der bloſs historischen, am meisten vor der bloſs raisonnirenden a). Reine Wahrheitsliebe, Unbefangenheit, Nüchternheit des Urtheils, ver - bunden mit edler, anständiger Freimüthigkeit, müssen überall vorherrschen. Controversen b) und Erläuterung durch merkwürdige Staatsvor - fälle c), bleiben hauptsächlich dem mündlichen Vortrag vorbehalten.
Bei den wichtigsten Gegenständen des Völ - kerrechtes, bei Rechtsverletzungen, Kriegen, Bündnissen, Absendung eigener, Aufnahme und Behandlung fremder Gesandten, war in der alten Welt, so weit man die Ereignisse nach Ursa - chen und Zusammenhang zu ergründen vermag, die Handlungsweise der Staaten so verschieden, so ungleich, daſs man weder in Fällen des Rechtsverhaltens auf ein deutliches Bewuſstseyn von Grundsätzen des Völkerrechtes, noch bei Rechtsverletzungen auf ein wider besseres Wis - sen begangenes Unrecht, immer mit Sicherheit schliessen kann. So wird dem Tadel der Israe - liten, wegen mancher Kriege und Erbfeindschaft, hauptsächlich die erhaltene höhere Vorschrift ent - gegengesetzt a). Aus klarer Einsicht des Rechtes und des wohlverstandenen Staatsvortheils, scheint das Rechtsverhalten der griechischen Staaten, in ihrem auswärtigen Verhältniſs, geflossen zu30Einleitung. Vorbereitender Theil. seyn b). Doch verräth wenigstens noch grössere Aufmerksamkeit auf das Völkerrecht, bei den Römern, zur Zeit der freien Republik, die An - ordnung eines eigenen Departements der aus - wärtigen Angelegenheiten, des Collegii der Fe - cialen; ein Ruhm, der durch die nachherige Handlungsweise der Regierung, schon während der innern bürgerlichen Kriege, mehr noch spä - ter durch Annahme eines Eroberungs - und Un - terjochungsSystems, sehr verdunkelt ward c).
Die Staatsereignisse in dem Zeitraum der Völkerwanderungen, verriethen eben so viel Un - kunde des Völkerrechtes, als rechtwidrigen Wil - len. In dem eigentlich so genannten Mittelal - ter, läſst das gegenseitige Benehmen der euro - päischen Völker, auf einen verminderten Grad von Rohheit und Rechtwidrigkeit sehliessen. Sehr wahrscheinlich, hat man dieses grossentheils dem Einfluſs der christlichen Religion auf Den - kungsart der Machthaber und auf öffentliche Mei - nung a) zu danken; zum Theil auch dem da -31II. Cap. CulturGeschichte und Literatur. maligen Ansehen der Päpste, und ihrem hierar - chischen System. Weniger mag, in dieser Hin - sicht, die lang und weit verbreitete Idee von einem allgemeinen Staatenbunde der christlichen Mächte b), gewirkt haben, da sie zunächst auf Unfrieden mit nichtchristlichen Staaten, haupt - sächlich in dem Zeitraum der Kreuzzüge, sich bezog.
Die Unterdrückung der päpstlichen Anmas - sungen über die weltlichen Regenten, haupt - sächlich seit der baseler Kirchenversammlung, kann für die AnfangsEpoche des positiven Völ - kerrechtes der europäischen Staaten gelten. Seit dem Anfang des XVI. Jahrhunderts, ward der politische Verkehr der europäischen Staaten leb - hafter. Ereignisse, besonders in der Regierungs - zeit Carls V. und Heinrichs IV., und vorherr - schende Klugheit, veranlaſsten Staatsverträge. Die christlich-kirchliche Spaltung, das Handels - Interesse, die stehenden Kriegsheere, der lange,32Einleitung. Vorbereitender Theil. stark besuchte westphälische FriedensCongreſs, die beständigen Gesandschaften, die durch den häufigen Gebrauch der Buchdruckerkunst ver - mehrte Oeffentlichkeit der Staatsverhandlungen, weckten und unterhielten die Aufmerksamkeit der Cabinete auf die europäischen Staatenver - hältnisse. Folgen hievon waren: fast immer - währende Unterhandlungen, häufige und reich - haltige Staatsverträge, allgemeinere Anerken - nung des natürlichen Völkerrechtes, laute, mit Rechtsgründen unterstützte Beschwerden der Ver - letzten und Unterdrückten, öffentliche Verthei - digung dawider von Seite ihrer Gegner, die eben dadurch, daſs sie wenigstens den Schein des Rechtes für sich in Anspruch nahmen, das Daseyn eines Völkerrechtes anerkannten, und die durch Heurathen entstandene Verwandschaft fast aller Regentenhäuser in Europa, die sie fast alle gleichsam zu einer Familie vereinigt. Die französische Revolution, mit ihren Folgen, lieferte reichen Stoff zu Beobachtungen, Beleh - rung, Besorgnissen und Maasnehmungen. Die letzten Resultate dieses ereigniſsvollen Zeitraums, scheinen der Folgezeit vorbehalten zu seyn a).
Was vor Grotius für die Völkerrechts Wis - senschaft geschah, war Stückwerk, und auch dieses meist ohne feste Begründung. Aristoteles und Plato beschäftigten sich einigermaſsen mit dem rechtlichen Verhältniſs der Staaten. Die griechischen Geschichtschreiber, die römischen Philosophen, Rechtsgelehrten, Gesetzgeber, lie - fern wenige, zerstreute Bemerkungen darüber a). Sehr ungünstig für wissenschaftliche Ausbildung des Völkerrechtes, waren in dem Mittelalter, das Ansehen der unpassenden Aussprüche der Kirchenväter b), die überwiegende politische Wichtigkeit der Päpste, die abentheuerliche Grille von einem Dominio mundi und Imperio christia -Klübers Europ. Völkerr. I. 334Einleitung. Vorbereitender Theil. nitatis der römischen Kaiser, die Alleinherrschaft der scholastischen Philosophie c), der Mangel allgemeiner wissenschaftlicher Cultur und der Buchdruckerkunst, das Faustrecht. Einige Licht - funken für die Wissenschaft des Völkerrechtes, besonders für deren Befreiung aus dem Joch der Päpste, sprangen aus Reibungen zwischen der päpstlichen und weltlichen Macht; mehr noch, späterhin, aus Luther’s und Zwingli’s Reformation d). Doch nahm man, in streitigen Fällen, noch oft Zuflucht zu Grundsätzen des römischen und canonisch-päpstlichen Rechtes, zu Gutachten der Legisten und Decretisten, und selbst der Gottesgelehrten. Zwar erschienen et - liche gedruckte Schriften für das Völkerrecht, aber die Verfasser giengen von unrichtigen Be - griffen und Vordersätzen aus; wie Oldendorp (1539), Vasquez oder Vasquius (1572), und Winckler (1615), theils entwickelten, und ver - folgten sie ihre richtigen Ansichten nicht genug, wie Albericus Gentilis (1598) und Suarez (1613) e).
Die eigentliche Schöpfung dieser Wissen - schaft war dem scharfsinnigen, weltkundigen, gelehrten Hugo Grotius (de Groot) vorbehalten. In seinem Werk „ de jure belli et pacis “(1625), handelte er nicht nur das natürliche Völker - recht in seinem Zusammenhang gründlich ab, sondern er sammelte auch für das positive Völ - kerrecht, zu Erläuterung seiner Lehrsätze, viele Beispiele aus der ältern Zeit a). Weit verbrei - tete sich der Ruhm dieses Werkes; auch durch Uebersetzungen, Auszüge, compendiarische Dar - stellungen, Tabellen, und Commentare b). Das erste Lehrbuch des Völkerrechtes, nach seinem ganzen Umfang, lieferte (1650) Zouchaeus (Zou - chy), in gedrängter Kürze c); um dieselbe Zeit, wo sein Landsmann Hobbes eine besondere Be - arbeitung des Völkerrechtes für überflüssig er - klärte. Obgleich mittelbar, doch bedeutend, nützte dem Völkerrecht Samuel Freiherr von Pu - fendorf, durch seine treffliche, dreifache Bear - beitung des Naturrechtes der einzelnen Menschen (1660, 1672, 1673). Während er die Identität des letzten mit dem natürlichen Völkerrecht be - hauptete, bestritt er wenigstens das formale Da -36Einleitung. Vorbereitender Theil. seyn eines positiven Völkerrechtes. Die Gewohn - heiten der europäischen Völker, in Absicht auf Kriegsmanier und Unverletzbarkeit der Gesand - ten, erklärte er für willkührlich, und die in Völkerverträgen enthaltenen Stipulationen zwar für verbindlich, aber doch grossentheils für tem - porär oder vorübergehend; Recht oder Gesetz könnten diese Stipulationen nicht genannt wer - den, da sie vielmehr der Geschichte angehör - ten d). Dessen ungeachtet widmete er eigene Abschnitte dem Rechte des Kriegs, der Kriegs - verträge, der Friedensschlüsse, der Bündnisse. Seine Eigenheiten entgiengen nicht dem Wider - spruch anderer Gelehrten e), fanden aber auch Vertheidiger und Anhänger f). Eine Reihe von Lehr - und Handbüchern g), welche seitdem in dieser Periode erschienen, beweisen die immer steigende Theilnahme an dem Studium der Völ - kerrechtsWissenschaft. Für das positive Völker - recht, erschienen vorerst Sammlungen von Staats - verträgen und andern schriftlichen Staatsverhand - lungen h), nebst historischer Darstellung der Staatsverträge i).
Die Bahn war gebrochen, zu vollständiger und systematischer Bearbeitung des gesammten Völkerrechtes. Dem natürlichen Völkerrecht ward diese, lichtvoll, zu Theil von dem ord - nenden Forschungsgeist des berühmten Christian Freiherrn von Wolff a) (1749 u. 1750). Da er auf vermuthete Einwilligung der Völker, und sogar auf die Fiction eines allgemeinen oder38Einleitung. Vorbereitender Theil. gröſsten Welt - oder Völkerstaates, Zwangrechte freier Völker gründen wollte, so wird das Be - dauern gemindert, daſs er nicht auch dem posi - tiven Völkerrecht seine schriftstellerische Thä - tigkeit gewidmet hat. Desto fleissiger sorgte für dieses, abgesondert von dem natürlichen, der emsige und geradsinnige Joh. Jacob Moser, in mehreren Schriften, während seiner langen literärischen Laufbahn (1732 — 1781). Mehr einfach und deutlich als systematisch, mehr hi - storisch als philosophisch, aber ohne Rückhalt, trachtete er auch diesem Theil des öffentlichen Rechtes nützlich zu werden b). Neben und nach ihm, ward von Andern, besonders von dem scharfsinnigen Kant c), überzeugend be - wiesen, wie sehr positives Völkerrecht, bei der Unzulänglichkeit des natürlichen, dem Interesse der Staaten gemäſs sey.
Nach Moser, erwarb sich, seit 1785, aus - gezeichnete Verdienste um das positive euro -39Cap. II. Cultur Geschichte und Literatur. päische Völkerrecht, Georg Friedrich von Mar - tens, durch Lehrbücher und andere Schriften, durch Sammlungen von Staatsverträgen und Staatsgrundgesetzen, und durch Lehrvorträge a). Sehr bereichert ward das Völkerrecht in diesem Zeitraum, durch Lehrbücher b) und ausführli - chere Werke c), durch Sammlungen von Staats - verträgen d), welche in mehreren Staaten, auch einzeln, bald nach ihrer Abschliessung in offi - ciellen Abdrücken erscheinen, durch Sammlun - gen von Staatsschriften, durch gesandschaftliche Memoires, und durch einzelne Abhandlungen, besonders über See - und Handelsrecht, über das Recht der Neutralen, über Gesandschaft - recht. Auch ward gesorgt für Casuistik e), und für den historischen Theil des positiven Völker - rechtes der europäischen Staaten, durch eigene Werke, worin die neuern Welthändel erzählt und erläutert sind f), und durch politische Zeit - schriften. Es erschienen eigene Repertorien über die Staatsverträge g). Das gesammte Völker - recht erhielt (1785) eine eigene, sehr schätz - bare Literatur von Died. Heinr. Ludw. Frei - herrn von Ompteda, wozu im Jahr 1817, C. A. von Kamptz eine reichhaltige Ergänzung und Fortsetzung lieferte.
Auf ihren jetzigen Standpunct ward die VölkerrechtsWissenschaft erhoben, durch die Sit -41II. Cap CulturGeschichte und Literatur. tenverfeinerung und den zunehmenden Verkehr der europäischen Staaten, durch den Einfluſs der neuern Kriegskunst auf das gegenseitige Ver - hältniſs derselben, durch vermehrte Thätigkeit der Machthaber, durch Vervielfältigung der po - litischen Unterhandlungen, insbesondere mittelst beständiger Gesandschaften, durch Cultur der Wissenschaften überhaupt, insonderheit des na - türlichen Völkerrechtes, der Staatengeschichte, und der übrigen verwandten und Hülfwissen - schaften, durch literärische Fruchtbarkeit rechts - und geschichtkundiger Männer, politischer Ge - schäftmänner, Beobachter und Sammler a), durch Begünstigung der Preſsfreiheit in mehreren Staa - ten, durch allgemeinere Theilnahme an Staats - vorfällen, durch akademischen Lehrvortrag. Wie die Kraft der Ereignisse Seyn und Nicht - seyn der Staaten unwiderstehlich bestimmt, also wirkt mächtig der Geist der Zeit, die öffentli - che Meinung, auf Ausbildung und Anwendung völkerrechtlicher Grundsätze.
Zahlreich, gehaltvoll, unentbehrlich, sind schon jetzt die literärischen Hülfsmittel zu dem42Einleitung. Vorbereitender Theil. Völkerrecht. Mehr noch werden sie es werden, mit neuen Staatsvorfällen und vertragmäsigen Bestimmungen, mit fortschreitender wissenschaft - licher Cultur und literärischer Thätigkeit. Wich - tig ist und bleibt demnach, die Bibliographie oder Bücherkunde dieses Theils der Rechtswis - senschaft a). Ganz vorzüglich dient, zu Beur - theilung völkerrechtlicher Schriften, die Biogra - phie oder Schriftstellerkunde b). Sie entwickelt die innern und äussern Umstände, welche auf Grundsätze und Aeusserungen der Schriftsteller können eingewirkt haben, ihre Talente, Cha - rakter, Religion, Erziehung, wissenschaftliche Bildung, Vaterland, Wohnort, Dienstverhältniſs, den Schauplatz ihrer practischen Thätigkeit.
Der Büchervorrath für das Völkerrecht läſst sich auf folgende Art ordnen a). I) Ge - schichte des Völkerrechtes; literärische und bio - graphische Hülfsmittel; verwandte und Hülfwis - senschaften. II) Quellen, Staatsverträge und StaatsActen. III) Lehrbücher, und Handbücher oder ausführlichere systematische Werke, über das Völkerrecht, auch das teutsche. IV) Werke43Cap. II. CulturGeschichte und Literatur. über einzelne Haupttheile des Völkerrechtes. V) Sammlungen von Aufsätzen über verschiedene Materien. VI) Monographien (Dissertationen und Tractate). VII) Deductionen, Gutachten, und Rechtsfälle. VIII) Lexicographische Werke. IX) Schriften für Geschichte und Erläuterung der Staatsverträge. X) Gesandschaftliche und andere historische Memorires. XI) Werke für die Geschichte der neueren Welthändel, und politische Zeitschriften.
Bilden einzelne Menschen und Familien, auf einem bestimmten Landesbezirk, eine bür - gerliche Gesellschaft, unter gemeinschaftlicher Obergewalt, zu allseitiger Sicherheit, so heiſst ihre Verbindung Staat a). In dieser Vereini - gung, werden sie als moralische Person betrach - tet, und Volk (Nation) genannt b); dieses auch, nebst ihrem Oberhaupt, im Verhältniſs zu an - dern Staaten (§. 1). Die Staatsgesellschaft, eine Schutzanstalt, entsteht, rechtlich betrachtet, nur durch Verträge, ausdrückliche oder stillschwei - gende c), wozu die moralische Nothwendigkeit eines Sicherheitsbundes antreibt.
45I. Th. Die Staaten, überh. etc. I. Cap. Begriff, etc.Staatshoheit oder Souverainetät a) in dem weitern Sinn, ist der Inbegriff aller Rechte, welche einem unabhängigen Staat in Hinsicht auf den Staatszweck zustehen. Hierunter sind begriffen: 1) die politische Unabhängigkeit (Sou - verainetät im engern Sinn), das Recht politischer Persönlichkeit oder Selbstständigkeit, im Ver - hältniſs zu jedem andern Subject; 2) die Staats - gewalt (im engern Sinn), die Gewalt zu dem Zweck des Staates. — In dem engern oder völ - kerrechtlichen Sinn, versteht man unter Souve - rainetät bloſs die Unabhängigkeit eines Staates von dem Willen anderer Staaten. In diesem Sinn, heiſst souverainer Staat derjenige, welcher, wie auch seine innere Verfassung seyn mag, für sich selbst und ohne fremden Einfluſs die Staats - hoheitsrechte auszuüben berechtigt ist b). Selbst - ständigkeit solcher Art fordert das Völkerrecht46I. Th. Die Staaten, überhaupt, u. die europ. von einem Staat, der, als moralische unabhän - gige Person, im Verhältniſs zu andern Staaten auf die Rechte politischer Persönlichkeit oder Unabhängigkeit Anspruch macht c). — Unmit - telbar bezieht sich die Souverainetät auf den Staat, mittelbar auf das regierende Subject, welchem von dem Staat die Ausübung derselben übertragen ist. Wer zur Vertretung und Ver - waltung eines unabhängigen Staates berufen ist, heiſst Souverain. Ihm gebührt die Majestät, die erhabenste Würde, die Vertretung des Staa - tes, in dessen Verhältniſs nach Aussen, die Staatsregierung, die Ausübung der Staatsgewalt im Innern für den Zweck des Staates. So fern entweder in der Vertretung oder in der Regie - rung des Staates, oder in beiden, dem Staats - oberhaupt positive Schranken gesetzt sind, heiſst dieses ein verfassungsmäsiger (constitutioneller) Souverain.
Da die völkerrechtliche Souverainetät eines Staates, einzig bestimmt wird durch dessen Un - abhängigkeit von dem Willen eines jeden Aus - wärtigen in Ausübung seiner Hoheitsrechte; so ist die Berechtigung dazu nicht abhängig von dem Alter des Staates, von der Art seiner Grund - verfassung oder Staatsform, von seiner Verwal - tungsart, von dem Maas seiner politischen Macht a), von der Art der Thronfolge, von dem Titel des Staates oder seines Regenten, von dem FamilienVerhältniſs des Staatsoberhauptes, von dem Umfang des Staatsgebietes, von der Grösse seiner Bevölkerung, von dem Stand der inländischen Cultur in jeder Beziehung, von Religion, Gewerbe und Verkehr der Bewohner. Aus demselben Grund wird die Souverainetät48I. Th. Die Staaten, überhaupt, u. die europ. nicht aufgehoben, durch Verhältnisse, worin der Staat etwa zu andern Staaten steht in Hinsicht auf Kirchengewalt, Vermittlung b), Gewährleistung c) (Garantie), Bündnisse (Allianzen und Staatenbund), Schutzverhältniſs d), Lehnpflicht e), Zinspflicht, Subsidien, und selbst in Hinsicht auf Stiftung f) oder ConstitutionsVerleihung g). Auch Dienst - h) und untergeordnete Besitzverhältnisse, worin etwa der Regent eines souverainen Staates für seine Person, oder dessen Familie, zu einem andern souverainen Staat sich befindet, sind ohne Nachtheil für die Unabhängigkeit desjeni - gen Staates, welchem er vorsteht.
Erworben wird die Souverainetät von einem Staat, entweder ursprünglich, bei der ersten Gründung des Staates, oder nachher, durch rechtmäsige Aufhebung der bisherigen Unterwür - figkeit a). Zu ihrer rechtlichen Gültigkeit bedarf es, bei untadelhaftem Besitz, weder einer Aner - kennung noch einer Garantie von Seite anderer Mächte. Doch kann der Klugheit gemäſs seyn, sich Anerkennung b), ausdrückliche c) oder still - schweigende d), und Garantie e) zu verschaffen. Dagegen ist Anerkennung, nicht bloſs des einst - weiligen Besitzstandes, sondern der Unabhängig -Klüber’s Europ. Völkerr. I. 450I. Th. Die Staaten, überhaupt, u. die europ. insb. keit eines in widerrechtlicher Empörung begriffe - nen Volkes, oder eines Usurpators, Beleidigung des rechtmäsigen Souverains, so lang dieser seine Oberherrschaft über jenes nicht aufgegeben hat, oder dieselbe rechtlich als aufgegeben muſs be - trachtet werden f). Die Souverainetät erreicht ihr Ende, durch Untergang des Staatsgebietes, durch Auflösung der Staatsverbindung, durch Einverleibung oder unterwürfige Vereinigung des Staates, oder eines Theils desselben, mit einem andern Staat g).
Ist ein Staat in der Ausübung eines oder mehrerer wesentlicher Hoheitsrechte abhängig von der Obergewalt eines andern Staates, in Anse - hung der übrigen wesentlichen Hoheitsrechte aber unabhängig, so wird er, in Hinsicht auf jene Art von Unterordnung, in dem Völkerrecht bezeichnet mit dem Namen abhängiger oder halbsouverainer Staat, état mi-souverain a). 52I. Th. Die Staaten, überhaupt, u. die europ. insb. Das Maas und die Art der Abhängigkeit eines sol - chen Staates, ist zu beurtheilen nach den vertragmä - sigen Bestimmungen des concreten Falles. Meist bezieht sich die Abhängigkeit auf die äussern Ho - heitsrechte, deren Ausübung dem andern Staat ganz oder zum Theil gebührt.
Wie weit einem halbsouverainen Staat die Ausübung völkerrechtlicher Befugnisse, nament - lich des Gesandschaftrechtes, zustehe, im Ver - hältniſs nicht nur zu demjenigen Staat, dessen Obergewalt er in gewisser Art anzuerkennen hat, sondern auch zu andern Staaten, hängt ab theils von dem Maas und der Art seiner Unabhängig - keit, theils von besonderer Uebereinkunft. In dem europäischen Völkerrecht kommen abhän - gige Staaten unmittelbar nur so weit in Betracht, als ihnen im Verhältniſs zu andern Staaten das Recht politischer Persönlichkeit, und vermöge derselben das Recht zusteht zu unmittelbaren Verhandlungen mit souverainen oder halbsouve - rainen Staaten a). — Ist die Souverainetät eines Staates streitig b), so entscheidet, bis zu ausge - machter Sache, bei denen Staaten, welche an dem Streit nicht Theil nehmen, meist der Be - sitzstand.
53I. Cap. Begriff, SouverainetäsVerhältnisse, u. s. w.Bloſs privilegirten Provinzen und Städten eines Staates, welchen, unter der Hoheit des letz - ten a), nur die Ausübung bestimmter Vorrechte und Regierungsrechte zukommt, fehlt politische Persönlichkeit oder Selbstständigkeit, im Ver - hältniſs zu souverainen Staaten; selbst dann, wenn der Inbegriff ihrer privilegirten Rechte den Namen einer untergeordneten Landeshoheit (jus territorii subordinati s. subalterni, superio - ritas territorialis subalterna s. pactitia) verdiente, oder führte b). Sie sind daher nicht befugt zu unmittelbarem Gebrauch des Völkerrechtes c).
Mehrere Staaten können vereinigt seyn a) (unio civitatum), auf zweifache Art: entweder unter gemeinschaftlicher Oberherrschaft, oder durch Gesellschaftrecht zu einem StaatenSystem b). Die nähere Bestimmung und der Rechtsgrund ergeben sich aus dem Vereinigungsvertrag (pac - tum unionis).
Die Vereinigung unter gemeinschaftlicher Oberherrschaft hebt die individuelle Unabhän - gigkeit der vereinigten Staaten nicht auf, wenn sie nur persönlich ist c), d. h. beschränkt auf die Person des gemeinschaftlichen Regenten, es sey temporär oder immerwährend; desgleichen, wenn sie dinglich ist, d. h. die Staaten selbst unter sich, und zwar nach gleichem Recht (coordinirt) ver - einigt sind d). Anders, wenn die Vereinigung55I. Cap. Begriff, SouverainetätsVerhältnisse, u. s. w. dinglich mit so ungleichem e) Rechte ist, daſs sie entweder den einen Staat der Oberherrschaft des andern unterordnet, oder gar für den einen Staat eine Einverleibung (Incorporation) in sich schlieſst, d. h. den einen Staat, mit Vernichtung jeder Art von politischer Selbstständigkeit, in ei - nen Bestandtheil des andern verwandelt (unio in - aequalis incorporativa). Da indeſs die Vereini - gung nach ungleichem Recht, Grade zuläſst, so ist denkbar, daſs dem einen der ungleich verei - nigten Staaten nicht alle Souverainetät entzogen sey, so daſs er z. B. noch zu der Classe der so genannten halbsouverainen Staaten (§. 24) gerech - net werden könne.
Die dingliche Vereinigung, begründet die Eintheilung der Staaten, in einfache und zusam - mengesetzte. Sie unterscheidet sich wesentlich von der Zusammenschmelzung oder Verwandlung mehrerer Staaten in einen f).
Sind souveraine Staaten durch Gesellschaft - recht, nicht unter gemeinschaftlicher Obergewalt, für einen bestimmten Zweck bleibend vereinigt, so bilden sie ein StaatenSystem a), einen Staa - tenbund (StaatenSocietät, System vereinigter oder verbündeter Staaten, Systema civitatum foederata - rum seu achaicarum). Wenn gleich so vereinigte Staaten, andern mit ihnen nicht vereinigten Staa - ten gegenüber, zusammen in das Verhältniſs ei - ner unabhängigen moralischen Person, einer völ -58I. Th. Die Staaten, überhaupt, u. die europ. insb. kerrechtlichen GesammtMacht, treten, so ge - schieht dieses doch unbeschadet der individuel - len Souverainetät jedes einzelnen, und es kann ihre Vereinigung, wie auch die Gemeinschaft in ihrem Innern eingerichtet seyn mag, nicht be - trachtet werden wie ein Societäts -, Völker - oder Bundesstaat b). — Demnach kommt bei einem StaatenSystem in Betracht, die völkerrechtliche Beziehung, 1) des Staatenbundes, und zwar so - wohl gegen die Bundesstaaten, als auch gegen fremde Staaten und StaatenSysteme; 2) der einzel - nen Bundesstaaten, und zwar theils zu dem Bund, theils unter sich ausserhalb der Bundesverhält - nisse, theils gegen fremde (zu diesem Staatenbund nicht gehörige) Staaten und StaatenSysteme.
Die Zahl der souverainen Staaten von Euro - pa, das Staatsgebiet, die Volksmenge, die politi - sche Macht derselben, ist von jeher grossen Ver - änderungen unterworfen gewesen; in der neuern Zeit am meisten am Ende des achtzehnten und am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Jetzt ist der ganze, einer Beherrschung fähige Flächenin - halt von Europa, unter folgende souveraine Staa - ten, theils monarchische theils republikanische, vertheilt. I) Monarchische Staaten, nach alphabe - tischer Ordnung: 1) Kaiserthümer: Oestreich a), Ruſsland, Türkei oder ottomanische Pforte; 2) Königreiche: Baiern, Dänemark, Frankreich, das vereinigte Reich Groſsbritannien und Irland (le royaume-uni de la Grande-Bretagne et de l’Irlande), Hannover, das Königreich der Nieder - lande, das vereinigte Königreich Portugal, (Brasi - lien) und der beiden Algarbien b), Polen, Preus - sen, Sachsen, Sardinien, Schweden und Norwe - gen, das Königreich beider Sicilien, Spanien, Wir - temberg; 3) Groſsherzogthümer: Baden, Hes - sen, Luxemburg, MecklenburgSchwerin, Mecklen - burgStrelitz, Sachsen WeimarEisenach, Toscana; 4) Kurfürstenthum: Hessen; 5) Herzogthü -60I. Th. Die Staaten, überhaupt, u. die europ. insb. mer: AnhaltBernburg, AnhaltCöthen, AnhaltDes - sau, Braunschweig, Holstein (- Glückstadt) und Lauenburg, HolsteinOldenburg c), Lucca, Mo - dena nebst Reggio und Mirandola, Massa nebst dem Fürstenthum Carrara, Nassau, Parma nebst Piacenza und Guastalla, SachsenCoburg, Sachsen - Gotha, SachsenHildburghausen, SachsenMeinin - gen; 6) Fürstenthümer: HohenzollernHechingen, HohenzollernSigmaringen, Lichtenstein, Lippe - (- Detmold), Schaumburg (- Lippe), ReuſsGreitz, ReuſsSchleitz, ReuſsLobenstein, ReuſsEbersdorf, SchwarzburgRudolstadt, SchwarzburgSondershau - sen, Waldeck, HessenHomburg; 7) der Kirchen - staat (Statto della Chiesa, patrimonium Petri) d). II) Republikanische Staaten: die schweizer Canto - ne, die freien Hansestädte Hamburg, Bremen, Lübeck, die freie Stadt Frankfurt, die freie Stadt Cracau nebst ihrem Gebiet e), die kleine sehr alte Republik San Marino f).
Die Staatsform der vorhin genannten souve - rainen Staaten ist verschieden a). Alle monarchi - schen Staaten, den Kirchenstaat ausgenommen, sind jetzt Erbstaaten (regna hereditaria, états hé - réditaires ou successifs), Staaten, in welchen erbliche Thronfolge staatsgrundgesetzlich festgesetzt ist b). Mit Ausnahme des Kirchenstaates, giebt es in Eu - ropa keine souveraine Wahlstaaten mehr, wie ehehin das teutsche Reich, Polen, die Insel Malta,62I. Th. Die Staaten, überhaupt, u. die europ. insb. bis in das Jahr 1798 Sitz des Groſsmeisters des JohanniterOrdens, und in dem teutschen Reich die (halbsouverainen) geistlichen Wahlstaaten c), Staaten, deren Wahlregent verfassungsmäsig ein Geistlicher war. Auch besteht kein monarchischer Ernennungsstaat (état monarchique nominatif) mehr, welches von 1806 bis in das Jahr 1810 der fürstlich-primatische Staat, von 1810 bis in das Jahr 1815 das Groſsherzogthum Frankfurt war d). Ein Erbwahlreich ist der türkische Staat e). Ein Theil der monarchischen Staaten, hat land - oder reichsständische Verfassung. Die jetzigen repu - blikanischen Staaten (§. 29) sind Demokratieen, theils reine, theils repräsentative. Ein Theil der oben genannten souverainen Staaten ist vereinigt zu zwei StaatenSystemen (§. 28); dem teutschen Bund f) (confédération germanique), der aus monarchischen Staaten und freien Städten, und der schweizerischen Eidgenossenschaft g) (confé - dération suisse), welche aus republikanischen Staaten besteht, nur mit Ausnahme des Fürsten - thums Neufchatel h).
Lehnbar ist jetzt a) keiner der oben genann - ten souverainen Staaten. Dagegen stehen manche derselben in eigener Beziehung zu andern Staaten, durch Bundes - oder ProtectionsVerhältnisse, durch das Recht der Eroberung, durch Stiftung, oder durch ConstitutionsVerleihung. Nicht alle ge -nies -65II. Cap. Die europ. Staaten. sen königliche Ehren b) (honneurs royaux). Aber in allen monarchischen Staaten, den Kirchenstaat ausgenommen, ist der Titel und die Würde des Staates (dignitas realis) dem persönlichen Titel und der Würde des Regenten gleich. Die Staats - gebiete sind fast durchgehends geschlossene (ter - ritoria clausa). Der StaatsReligionsCharakter, das Verhältniſs der in dem Staat angenommenen kirchlichen Lehrbegriffe und ihrer Bekenner c), hat jetzt selten mehr völkerrechtliche Beziehung, es sey denn vermöge der mit dem päpstlichen Stuhl von verschiedenen Staaten geschlossenen Concordate d), oder der in manchen Staatsver - trägen in Beziehung auf eine bestimmte Religions - Partei enthaltenen Stipulationen e). Die Eigen - schaft eines PatrimonialStaates, das heiſst, daſs der Regent nach Eigenthumsrecht über den Staat verfügen könne, ist in Europa durch Staatsgrund - gesetze nirgend festgesetzt f).