Das Recht der Ueberſetzung wird vorbehalten.
Druck von H. Laupp in Tübingen.
Der in dem Vorwort zum erſten Bande angedeutete Plan, das Werk in zwei Bänden erſcheinen zu laſſen, hat eine Abände - rung erfahren, indem die Darſtellung der auf das Heer und die Marine, auf die Gerichtsverfaſſung und auf das Reichsfinanzweſen ſich beziehenden Rechtsſätze einem dritten Bande vorbehalten worden iſt. Der Grund hierfür liegt nicht allein in dem großen Umfange des Stoffes, der eine äußerliche Abtrennung der erwähnten Materien zweckmäßig erſcheinen ließ; ſondern zum Theil in der gegenwärtigen Lage der Geſetzgebung. Die Juſtizgeſetzgebung iſt noch nicht vol - lendet; dieſelbe wird im Laufe des nächſten Jahres erſt durch den Erlaß der noch fehlenden Rechtsanwalts-Ordnung und des Reichs - geſetzes über die Gerichtskoſten, ſowie durch die Ausführungs-Ge - ſetze der Einzelſtaaten ihren Abſchluß finden. Die Ordnung des Finanzweſens des Reiches aber geht einer eingreifenden Umgeſtal - tung entgegen, indem die Einführung neuer unmittelbarer Einnahme - Quellen des Reiches in naher Ausſicht ſteht. Die Tragweite dieſer Reform iſt ebenſo wenig in ſtaatsrechtlicher wie in politiſcher Hin - ſicht in dieſem Augenblicke zu überſehen. Eine Darſtellung des gegenwärtigen Rechtszuſtandes würde daher der Gefahr unter - liegen, ſchon bei ihrer Veröffentlichung veraltet zu ſein.
VIVorwort.In dieſer Erwägung erſchien es angemeſſen, die Erörterung der angegebenen Lehren noch aufzuſchieben und ſie für den Schluß - band vorzubehalten, der hoffentlich nach einer nicht zu langen Pauſe erſcheinen wird.
Straßburg, im November 1877.
Das Wort Geſetz hat in der Rechtswiſſenſchaft eine doppelte Bedeutung, welche man als die materielle und formelle bezeichnen kann. Im materiellen Sinne bedeutet Geſetz die rechtsver - bindliche Anordnung eines Rechtsſatzes. Der Begriff iſt demnach aus zwei Elementen zuſammengeſetzt, welche durch die Worte „ Anordnung “und „ Rechtsſatz “gegeben ſind. Den Gegen - ſatz dazu bildet in einer Beziehung das Gewohnheitsrecht1)Der Ausdruck „ Geſetz “wird indeſſen im materiellen Sinne auch als gleichbedeutend mit „ Rechtsnorm “verwendet, ſo daß er auch das Gewohnheits - recht mit einſchließt. Es beruht dies auf der ſehr untergeordneten Bedeutung, welche bei den ſtaatlichen Zuſtänden der Gegenwart dem Gewohnheitsrecht im Verhältniß zum Geſetzesrechte zukömmt. In dieſem weiteſten Sinne wird das Wort „ Geſetz “erklärt in den Einführungs-Geſetzen zur Strafproceß - Ordn. §. 7, zur Civilproc. -Ordn. §. 12, zur Konkurs-Ordn. §. 2., welches zwar Rechtsſätze enthält, deren Geltung aber nicht auf einer Anordnung, alſo einem Willensact, ſondern auf dem Bewußt - ſein von der Rechtsverbindlichkeit einer thatſächlich beſtehenden Ue - bung beruht. Den Gegenſatz in der anderen Richtung bildet das Rechtsgeſchäft, welches zwar ein Willensact, eine rechtswirk - ſame Anordnung iſt, aber nicht Rechtsſätze zum Inhalt hat, ſon - dern ſubjective Rechte und Pflichten.
Aus dem Begriff des Geſetzes leiten ſich folgende Sätze ab:
1) Es gehört zum Begriff des Geſetzes im materiellen Sinne des Wortes, daß daſſelbe einen Rechtsſatz aufſtellt; aber nicht, daß dieſer Rechtsſatz eine allgemeine Regel enthält, welche auf viele oder auch nur auf eine unbeſtimmte Anzahl von Fällen an -Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 12§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.wendbar iſt1)Dies iſt freilich eine weit verbreitete Annahme. Vgl. z. B. Zachariä, Staatsr. II. §. 155 (S. 140). Zöpfl, Staatsr. II. §. 430. v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172.. Zwar liegt es in der Natur des Rechts, daß daſſelbe gewöhnlich ſolche Regeln bildet, welche in allen Fällen An - wendung finden ſollen, in denen ein beſtimmter Thatbeſtand ge - geben iſt, und da das Geſetz eine Rechtsquelle iſt, ſo hat es ge - wöhnlich, dieſer Natur des Rechtes entſprechend, einen allgemeinen Rechtsſatz zum Inhalt. Allein dies iſt eben nur ein Naturale, nicht ein Essentiale des Geſetzes-Begriffes. Mit dem Begriff des Geſetzes iſt es völlig vereinbar, daß daſſelbe einen Rechtsſatz auf - ſtellt, der nur auf einen einzigen Thatbeſtand anwendbar iſt, oder nur ein einzelnes concretes Rechtsverhältniß regelt2)Alsdann kann im praktiſchen Erfolge die Regelung dieſes Rechtsver - hältniſſes durch Geſetz der Begründung des Rechtsverhältniſſes durch Rechts - geſchäft ſehr nahe kommen, grade ſo, wie bei dem ſogen. Herkommen es oft ſchwer zu unterſcheiden iſt, ob man es mit der Regelung eines Rechtsverhält - niſſes durch locales Gewohnheitsrecht oder mit der Begründung eines Rechtsverhältniſſes durch Erſitzung, alſo mit objectivem oder ſubjectivem Recht, zu thun hat. Man muß aber feſthalten, daß an und für ſich Beides möglich iſt.. Für ein Geſetz dieſer Art hat die römiſche Rechtsſprache einen beſonderen techniſchen Namen; es heißt privilegium. Grade weil aber hier die Rechtsregel mit dem von ihr normirten Rechtsverhältniß ſich deckt, hat man das Wort auch auf das ſubjektive Recht angewen - det, welches durch die für den concreten Fall gegebene lex begründet wird. Die Sprache hat ſich dann des Wortes bemächtigt, um jede Abweichung von dem gewöhnlichen Rechtszuſtande, jede dem ius singulare angehörende Rechtsvorſchrift und jede durch ius singulare begründete ſubjective Berechtigung zu bezeichnen3)Ueber die Bedeutungen des Wortes im Corpus iuris von Juſtinian vgl. v. Savigny, Syſtem I. S. 62, von Wächter, Würtb. Privatr. II. 1. S. 16..
Der Deutſchen Rechtsſprache fehlt das Gefühl für den ur - ſprünglichen Sinn des fremden Wortes als einer beſonders gear - teten lex gänzlich; man verwendet es ſeit Jahrhunderten für jede Art von ſubjectiven Befugniſſen, die nicht durch die allgemein gül - tigen Rechtsvorſchriften von ſelbſt gegeben ſind, und für jeden Akt der Staatsgewalt, durch welchen derartige Befugniſſe zur Ent - ſtehung kommen können. Das Wort Privilegium entſpricht dem -3§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.gemäß ebenſo wenig einem beſtimmten Rechtsbegriff, wie das Wort Vorrecht. Es wird verwendet zur Bezeichnung theils von Regeln des ius singulare, z. B. Privilegien der Minderjährigen, Kirchen, Weiber, Soldaten, bevorzugten Gläubiger u. ſ. w., theils von vertragsmäßig eingeräumten Begünſtigungen, z. B. Zoll - oder Schifffahrtsprivilegien, welche durch internationale Handelsverträge feſtgeſetzt ſind, theils von Vorrechten oder Befreiungen, welche durch Akte der Staatsgewalt, ſeien es nun Akte der Verwaltung oder der Geſetzgebung, begründet worden ſind. Es iſt mithin un - richtig, das Wort Privilegium, ſo wie es in dem modernen Sprach - gebrauch verwendet wird, mit lex specialis oder lex in privos ho - mines lata zu identifiziren und die ſogenannte Privilegienhoheit als einen Beſtandtheil der „ geſetzgebenden Gewalt “zu erklären. Vielmehr iſt die Ertheilung eines ſogenannten Privilegiums in der Mehrzahl der Fälle ein Akt der Staatsverwaltung innerhalb des durch die Geſetze abgegränzten Gebietes, auf welchem die Hand - lungsfreiheit der Regierung ihren Spielraum hat1)Vgl. beſonders die Abhandlung v. Gerber’s in der Tübinger Zeit - ſchrift f. Staatswiſſenſch. 1871 S. 430 fg. (Auch in ſeinen geſammelten Juriſt. Abhandlungen S. 470 fg.).
Aber es iſt andererſeits ebenſo unrichtig, das Privilegium als begrifflichen Gegenſatz des Geſetzes hinzuſtellen und zu behaup - ten, die Ertheilung eines Privilegiums ſei immer eine Verwal - tungshandlung2)So Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 206 fg., der ſich auf v. Gerber — wie ich glaube, mit Unrecht — für ſeine Anſicht beruft.. Beides iſt vielmehr möglich; ein Privilegium kann bald durch Rechtsgeſchäft (Verwaltungsact), bald durch Ge - ſetzgebungsact (lex specialis) begründet ſein3)v. Wächter a. a. O. Note 13.. In allen Fällen, in welchen beſtehende Rechtsgrundſätze aufgehoben oder ſuspendirt werden ſollen, ohne daß der Regierung eine allgemeine Ermäch - tigung hierzu durch einen Rechtsſatz ertheilt worden iſt, bedarf es einer lex specialis. Insbeſondere iſt es aber auch möglich, daß für einen einzelnen, concreten Fall ein Rechtsſatz angeordnet oder eine ſonſt geltende allgemeine Rechtsregel abgeändert wird, ohne daß zugleich eine ſubjective Berechtigung oder Begünſtigung be - gründet wird. Eine ſolche Anordnung iſt ein privilegium im ech -1*4§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.ten und urſprünglichen Sinne des Wortes, eine wahre und wirk - liche lex specialis.
Auch für die Reichsgeſetzgebung gelten dieſe, aus dem Begriffe des Geſetzes ſich herleitenden Regeln; und wenngleich die Reichs - verfaſſung eine Beſtimmung darüber nicht enthält, ſo haben ſie doch unzweifelhaft Anerkennung und Anwendung gefunden. Ver - waltungsacte, z. B. die Ernennungen der Reichsbeamten, ſind nie - mals unter dem Geſichtspunkt der lex specialis aufzufaſſen, auch wenn der gemeine Sprachgebrauch ſie ſelbſt oder die aus ihnen hervorgehenden Berechtigungen als Privilegien bezeichnet; anderer - ſeits iſt die Anordnung eines Rechtsſatzes ein Geſetz auch dann, wenn der Rechtsſatz nur auf einen einzigen Fall anwendbar iſt. Beiſpiele für ſolche Specialgeſetze ſind das Geſetz vom 21. Juli 1870 (B. G.-Bl. S. 498) über die Verlängerung der Legislatur - Periode des am 31. Auguſt 1867 gewählten Reichstages; das Geſetz v. 24. Dez. 1874 (R. -G.-Bl. S. 194) über die geſchäftliche Behandlung der Entwürfe des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und der beiden Prozeß-Ordnungen1)Vgl. darüber Bd. I. S. 557 fg. Ferner die entſprechenden Geſetze vom 1. Febr. 1876 und vom 20. Febr. 1876 (R. G.-Bl. S. 15. 23.)., ſowie die Geſetze über die Kontrole der Staatsrechnungen, welche von Jahr zu Jahr erlaſſen worden ſind2)Vergl. Bd. I. S. 356 Note 1. Ferner gehört hierher das Geſetz vom 11. Juni 1870 (B. G.-Bl. S. 416); inſofern es Mecklenburg-Schwerin und An - halt eine Abfindung für die Aufhebung des Elbzolles gewährt, begründet es zugleich ſubjective Rechte dieſer Staaten gegen den Reichsfiscus. Andererſeits enthält das Geſ. vom 11. April 1877 über den Sitz des Reichsgerichts im §. 1 ein privilegium onerosum, indem es die im §. 8 des Einf. -Geſ. zum Gerichts - verfaſſungsgeſ. anerkannte Rechtsbefugniß der Einzelſtaaten zur Errichtung eines oberſten Landesgerichtes dem Königreich Sachſen entzieht..
2) Ein Geſetz enthält eine Rechtsregel, aber es iſt zum Be - griff eines Geſetzes nicht genügend, daß lediglich ein Rechtsſatz formulirt wird. Die Conſtatirung, daß ein Rechtsſatz beſtehe, oder daß er zweckmäßig oder vernünftig ſei, oder daß ſeine Einführung beantragt oder beſchloſſen ſei, iſt weſentlich verſchieden von einem Geſetz. Der im Geſetz zu Tage tretende Wille iſt ſtets ein Be - fehl, daß der in dem Geſetz enthaltene Rechtsſatz befolgt werden ſoll. Jedes Geſetz iſt eine Anordnung und ſetzt das iubeo des5§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.Geſetzgebers voraus1)Die alte römiſche Formel des Geſetzes-Vorſchlags lautete velitis iubea - tis hoc, Quirites, rogo. — Gaius I. §. 3 definirt: Lex est quod populus iubet atque constituit; plebiscitum est quod plebs iubet atque con - stituit. . In jedem Geſetz iſt deshalb ein doppelter Beſtandtheil zu unterſcheiden, die in dem Geſetze formulirte Rechts - regel und die Ausſtattung derſelben mit rechtsverbindlicher Kraft, oder wie man auch ſagen kann, der Geſetzes-Inhalt und der Geſetzes-Befehl.
Dieſe beiden Elemente des Geſetzesbegriffes können mit ein - ander derartig verbunden ſein, daß ihre Unterſcheidung ohne ſtaats - rechtliche Bedeutung iſt. Sowohl die ſouveraine Volksverſammlung wie der abſolute Monarch beſchließt die Rechtsregel und befiehlt zugleich ihre Geltung. Es iſt aber ebenſo gut möglich, daß für die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes andere Vorſchriften beſtehen und daß dabei andere Kräfte mitwirken, wie für die Ertheilung des Geſetzes-Befehles. Alsdann wird die Unterſcheidung beider Momente von großer theoretiſcher und praktiſcher Wichtigkeit. Man verſchließt ſich jede Möglichkeit einer wiſſenſchaftlichen Erkenntniß der Lehre von der Geſetzgebung, wenn man das Weſen des Geſetzes in der Schaffung eines Rechtsſatzes erblickt. Geſetzgebung iſt vielmehr lediglich die Ausſtattung eines Rechtsſatzes mit ver - bindlicher Kraft, mit äußerer Autorität; ſie beſteht in der Sanc - tion eines Rechtsſatzes2)Gute Bemerkungen über die Bedeutung der Geſetzgebung als Rechts - quelle finden ſich bei von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht, Politik II. S. 380 ff. Vgl. auch Jordan, Lehrb. des Staatsrechts §. 186. 213. (S. 341 fg.).
Es iſt nicht einmal nothwendig, daß ein Organ des Staates an der Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes mitwirkt; der Staat kann in die Lage kommen, nicht nur den Rechtsſatz in dem geltenden Gewohnheitsrecht, ſondern ſogar den Wortlaut des Geſetzes, dem er die Sanction ertheilen ſoll, bereits als gegeben vorzufinden. Durch einen völkerrechtlichen Vertrag können zwei oder mehrere Staaten ſich verpflichten, einen vertragsmäßig feſtgeſtellten Complex von Rechtsſätzen gleichlautend zum Geſetz zu erheben. Im ehe - maligen Deutſchen Bunde konnte die Bundes-Verſammlung durch Beſchluß Rechtsregeln formuliren, ſogenannte Bundesgeſetze machen, welche an ſich keine Geſetzeskraft hatten, denen aber die einzelnen6§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.Bundesſtaaten dieſelbe zu ertheilen verpflichtet waren. Wechſel - Ordnung und Handelsgeſetzbuch ſind bei ihrem erſten Entſtehen von keinem verfaſſungsmäßig zur Geſetzgebung berufenen Organe eines Deutſchen Staates ihrem Inhalte nach feſtgeſtellt oder be - ſchloſſen, wohl aber von den einzelnen Staaten zum Geſetz erklärt oder als Geſetz eingeführt, d. h. mit Geſetzeskraft ausgeſtattet worden. Ihre Erklärung zu Reichsgeſetzen änderte Nichts an ihrem Inhalte, ſondern erſetzte lediglich den Geſetzesbefehl der Einzel - ſtaaten durch den Geſetzesbefehl des Reiches.
Für mehrere Rechtsgebiete ergehende ſelbſtſtändige Geſetzes - Befehle mit identiſchem Rechtsinhalt ſchaffen materiell gemeines Recht; ein für mehrere Rechtsgebiete verbindlicher Geſetzes-Befehl begründet für dieſelben formell gemeines Recht.
Auch innerhalb des einzelnen Staates aber kann die Feſtſtellung deſſen, was Geſetz werden ſoll, einem andern Organ obliegen, als dem - jenigen, welchem die Sanction zukömmt. Dies iſt insbeſondere in der conſtitutionellen Monarchie der Fall. Der Monarch als der alleinige Träger der ungetheilten und untheilbaren Staatsgewalt iſt allein im Stande ein Staatsgeſetz zu erlaſſen, d. h. den ſtaatlichen Befehl ſeiner Befolgung zu ertheilen. Den Inhalt des Geſetzes aber zu beſtimmen, ſteht ihm nicht ausſchließlich zu; die Volksver - tretung hat vielmehr mit der Regierung den Inhalt zu vereinbaren. Der Wortlaut der anzuordnenden Rechtsregeln iſt bereits vor dem Erlaß des Geſetzes auf dem im Verfaſſungsrecht vorgezeichneten Wege fixirt; der Souverain kann an demſelben Nichts ändern, er hat nur darüber die Freiheit der Willensentſchließung, ob er den Befehl ertheilen will, daß dieſer Wortlaut Geſetz werde. Und nicht blos die Volksvertretung, auch die Organe der Provinzial - Kreis - oder Kommunalverbände oder andere bei dem Zuſtande - kommen des Geſetzes Betheiligte können verfaſſungsmäßig einen Antheil an der Feſtſtellung ſeines Inhaltes haben.
Das Hoheitsrecht des Staates oder die Staatsgewalt kömmt nicht in der Herſtellung des Geſetzes-Inhaltes, ſondern nur in der Sanction des Geſetzes zur Geltung; die Sanction allein iſt Geſetz - gebung im ſtaatsrechtlichen Sinne des Wortes1)Vergl. auch von Linde, Archiv f. civil. Praxis Bd. 16. S. 329. 330.. Das Recht zur ſtaatlichen Geſetzgebung in dieſer Bedeutung iſt ebenſo untheilbar7§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.wie die Souverainetät, deren Ausfluß und Bethätigung es iſt, und die Frage nach dem Subject der geſetzgebenden Gewalt iſt iden - tiſch mit der Frage nach dem Träger der Staatsgewalt.
Die Lehre von der Theilung der Gewalten beruht in der Hauptſache auf der Verkennung des hier entwickelten Gegen - ſatzes1)Eine Kritik dieſer Lehre, welche die Einheit des Staates zerſtört und welche weder logiſch haltbar noch praktiſch durchführbar iſt, kann hier unter - bleiben, da in der deutſchen, politiſchen und ſtaatsrechtlichen Literatur über die Verwerflichkeit dieſer Theorie ſeit langer Zeit faſt vollkommenes Einverſtändniß beſteht. Vergl. v. Mohl, Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaft I. S. 280 — 282. Eine Ausnahme macht neuerdings Weſterkamp, Ueber die Reichsverf. S. 89 ff., der ſich wieder für dieſe Lehre erwärmt.. Da in dem conſtitutionellen Staate der Monarch kein Geſetz erlaſſen darf, welches die Volksvertretung nicht genehmigt hat, und andererſeits kein Beſchluß der Volksvertretung Geſetzes - kraft erlangt, wenn der Monarch demſelben nicht die Sanction er - theilt, ſo faßte man das Weſen der Geſetzgebung als eine Verein - barung zwiſchen dem Monarchen und dem Landtage auf. Der Willensact der einheitlichen Staatsperſönlichkeit wurde in den Con - ſens zweier Contrahenten aufgelöst2)Der mittelalterliche Staat und insbeſondere der auf den Trümmern des Feudalweſens erwachſene ſtändiſche Staat hat bekanntlich die geſetzgebende Gewalt des Staates nur ſehr unvollkommen entwickelt und an ihre Stelle eine vertragsmäßige Vereinbarung über die Befolgung gewiſſer Rechtsnormen ge - ſetzt. Anſchauungen dieſer Art wirkten noch lange nach, auch nachdem der moderne organiſche Staatsbegriff bereits ausgebildet war.. Man ſah einerſeits in der Beſchlußfaſſung der Volksvertretung über den Inhalt des Geſetzes eine Bethätigung der Geſetzgebungsgewalt und man nannte die Volksvertretung deshalb „ den geſetzgebenden Körper “; andererſeits zog man die königliche Sanction herunter zu einer bloßen Zuſtim - mung zu den Beſchlüſſen des corps législatif. Formen und Aus - drücke des engliſchen Rechtes wurden auch hier von Einfluß. Da in England die Zuſtimmung des Königs zu der vom Parlament beſchloſſenen Bill Royal Assent3)Dieſer Ausdruck, ſowie die in England übliche Sanctions-Formel » le roy le veult « erklären ſich daraus, daß in früherer Zeit alle Bills des Par - lamentes die Form von Petitionen an die Krone hatten. Vgl. May, Das engliſche Parlament und ſein Verfahren (überſ. v. Oppenheim) S. 378 fg. Cox, die Staatseinrichtungen Englands (überſetzt von Kühne) S. 14. 42. heißt, ſo bezeichnete auch die franzöſiſche Conſtitution von 1791 die vom Könige ertheilte Sanc -8§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.tion als Consentement royal und in der franzöſiſchen Literatur des conſtitutionellen Staatsrechts war die Auffaſſung durchweg herrſchend, daß die Sanction des Geſetzes durch den König ein der Genehmigung des Geſetzes durch die Kammern gleichartiger Akt, eine Erklärung von gleichem Willens-Inhalte ſei.
Dieſe Anſchauungen wurden auch in Deutſchland geltend1)Vgl. v. Mohl, Staatsr., Völkerr., Politik II. S. 476. Am deutlich - ſten Grotefend, Staatsr. §. 621 S. 634: „ Die Entſchließungen ſowohl des Souverains und des Landtages als auch jeder der beiden Kammern dieſes letzteren ſtehen ſich hinſichtlich der rechtlichen Bedeutung völlig gleich “. Auch Bluntſchli ſagt noch in der 5ten Aufl. ſeines Allgemeinen Staatsr. (1876) S. 132 ausdrücklich: „ Was die Abſtimmung durch die Kammern, iſt die Sanc - tion des Hauptes. “. Faſt alle Darſtellungen des Deutſchen Staatsrechts, auch wenn ſie die Lehre von der Theilung der Gewalten verwerfen und von dem ſogen. monarchiſchen Prinzip ausgehen, erfordern zum Zuſtande - kommen eines Geſetzes den „ übereinſtimmenden Willen “des Landes - herrn und des Landtages, ohne zu erkennen, daß die Genehmigung eines Geſetzes durch den Landtag eine Willenserklärung von ganz anderem Inhalte iſt als die Genehmigung eines Geſetzes durch den Landesherrn. Der Sprachgebrauch wurde immer allgemeiner, dem Landesherrn ein „ Veto “und zwar das ſogenannte abſolute Veto beizulegen2)Vrgl. Murhard, Das königl. Veto in der conſtitut. Monarchie 1832. Klüber, Oeffentl. R. §. 295 Note a). Zöpfl, Grundſ. des Staatsr. II. §. 373 Nr. IV. v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. §. 46 (S. 175). Weiß, Staatsr. §. 309 ſpricht ſogar von einem wechſelſeitigen Veto der Regie - rung und der Stände; ebenſo Weſterkamp S. 95 fg. von einem wechſel - ſeitigen Veto des Reichstages und des Bundesrathes hinſichtlich der Reichs - geſetze.. Dadurch wurde das ihm zuſtehende Recht der Sanc - tion unter den verkehrteſten Geſichtspunkt gebracht, indem das Weſen der landesherrlichen Befugniß, wenn ſie ein Veto wäre, nicht darin beſtände, ein Geſetz zu erlaſſen, ſondern den Geſetzgeber (Landtag) an der Ausübung ſeines Rechtes zu hindern3)Nicht das Veto, ſondern das Placet ſteht dem Könige zu. Vgl. auch Zachariä II. S. 163 und Bluntſchli a. a. O. S. 433.. Daß man aus dieſer falſchen Auffaſſung keine Conſequenzen zog, beruhte weſentlich darauf, daß die Behandlung des Staatsrechts eine vor - wiegend politiſche war, welche ſich um die juriſtiſche Logik nicht kümmerte.
9§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.Die wichtigſte aller Deutſchen Verfaſſungen, die Preußiſche Verf. -Urk. v. 31. Januar 1850 folgte der herrſchenden Theorie von der Gleichartigkeit der Funktionen, welche der König und der Landtag hinſichtlich der Geſetzgebung auszuüben haben, indem ſie im Art. 62 beſtimmte:
„ Die geſetzgebende Gewalt wird gemeinſchaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Uebereinſtimmung des Königs und beider Kammern iſt zu jedem Geſetze erforderlich. “ Dieſer Beſtimmung gegenüber ſuchte man die Untheilbarkeit der dem Könige zuſtehenden Souveränetät durch die theoretiſche Unter - ſcheidung zwiſchen jus und exercitium iuris zu retten. Das Recht der Geſetzgebung ſtehe dem Könige zu, die Ausübung erfolge in Gemeinſchaft mit dem Landtage1)v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172 erklärt, die geſetzgebende Gewalt ſei ein Ausfluß der Staatsgewalt und ſtehe daher dem Könige, als dem Oberhaupte der ungetheilten Staatsgewalt zu. Gleich darauf S. 176 aber heißt es, die geſetzgebende Gewalt ſtehe dem Könige und den bei - den Kammern gemeinſchaftlich zu und es wird daraus ſogar de - ducirt, daß es nicht einmal möglich ſei, die Ausübung der Geſetzgebungsgewalt dem Könige zu delegiren..
Und doch konnte man ſich nicht verhehlen, daß nur die Sanction einen Entwurf zum Geſetz erhebt, an dieſer Sanction aber der Landtag weder quoad jus noch quoad exercitium einen Antheil hat2)Vrgl. beſonders Schultze, Preuß. Staatsr. I. S. 159, II. S. 221 und v. Rönne a. a. O. I. 1 §. 48 (S. 197 Note 8)..
Die Faſſung der Preuß. Verf. -Urk. iſt auch für die Ausdrucks - weiſe der Norddeutſchen Bundesverfaſſung und der Reichsverf. von maßgebendem Einfluß geworden; der Art. 5 Abſ. 1 der R. -V. lehnt ſich eng an den Art. 62 der Preuß. V. -U. an. Um ſo weniger darf man ſich dieſer Beſtimmung gegenüber mit einer bloßen Wort - Interpretation begnügen.
Der Wortlaut des Art. 5, wonach die Uebereinſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesrathes und des Reichstags zu einem Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend iſt, widerſpricht nicht nur der Natur der Sache, ſondern auch den Anordnungen der Artikel 2 und 17 der R. -V. Uebereinſtimmende Mehrheitsbeſchlüſſe der beiden Verſammlungen ſind zu einem Reichsgeſetze zwar erforder - lich, aber nicht ausreichend. Wäre dies der Fall, ſo müßte eine10§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.vom Bundesrathe an den Reichstag gebrachte Geſetzesvorlage in dem Augenblicke zum Geſetz werden, in welchem die Mehrheit des Reichstages ſie genehmigt hat1)Vrgl. auch Seydel, Kommentar S. 82. 83.. Die Anordnung des Art. 5 be - trifft nur die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhalts; hierzu iſt die Uebereinſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe der beiden Verſamm - lungen erforderlich und ausreichend; der Effect dieſer Ueberein - ſtimmung beſteht aber zunächſt nur in der definitiven Herſtellung eines Geſetz-Entwurfes. Um ihn zum Geſetz zu erheben, muß noch die Ausſtattung deſſelben mit verbindlicher Kraft, der Ge - ſetzes-Befehl oder die Sanction hinzukommen2)Vrgl. die Ausführungen in dem folgenden Paragraphen..
3) Da nur diejenige Anordnung eines Rechtsſatzes ein Geſetz iſt, welche rechtsverbindlich iſt, ſo ergiebt ſich, daß Geſetze nur derjenige erlaſſen kann, welcher befugt iſt, die Rechtsordnung zu regeln und die Befolgung eines Rechtsſatzes anzubefehlen3)Duranton, Cours de droit français I. ch. 2 nro 29 definirt Ge - ſetz ganz richtig als » une règle établie par une autorité à laquelle on est tenu d’obéir. «. Die Frage, wem dieſe Befugniß zuſteht, beantwortet ſich nach dem je - weiligen Verfaſſungszuſtande. Daß nur der Souverain oder die „ höchſte “Staatsgewalt Geſetze zu geben befugt ſei, folgt aus dem Begriffe des Geſetzes nicht, ſondern kann nur aus dem in einem politiſchen Gemeinweſen verwirklichten Staatsbegriff ſich er - geben. Der Begriff des Geſetzes umfaßt vielmehr auch die Au - tonomie in allen ihren Abſtufungen und Anwendungen. Rechts - verbindliche Anordnungen von Rechtsſätzen Seitens der Gemeinden und anderen öffentlich-rechtlichen Verbänden oder der Grundherr - ſchaften und anderen nicht ſouverainen Gewalthabern ſind auch Geſetze im materiellen Sinne des Wortes. Nur da, wo der Staat die Ordnung und Regelung des Rechtszuſtandes zu ſeiner Aufgabe gemacht hat, die er ſelbſt und ausſchließlich durchführt, ſo daß er allein befugt iſt, Rechtsſätze wirkſam anzuordnen, wird die Defini - tion des Geſetzes als einer rechtsverbindlichen Anordnung eines Rechtsſatzes gleichbedeutend mit der Definition des Geſetzes als einer vom Staate erlaſſenen Anordnung eines Rechtsſatzes4)Vgl. v. Gerber, Grundz. §. 45 Note 1..
Wo der Staat die Ordnung des Rechtszuſtandes im Weſent -11§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.lichen, wenngleich nicht völlig, zu ſeiner eigenen Aufgabe macht und den ihm untergeordneten Verbänden und Einzelperſonen nur in beſchränktem Maße den Erlaß rechtsverbindlicher Anordnungen von Rechtsſätzen geſtattet, ſo daß die an Zahl und Bedeutung über - wiegende Maſſe aller Geſetze vom Staat ausgeht, entwickelt ſich der Sprachgebrauch, unter Geſetzen die Staatsgeſetze zu ver - ſtehen. Anſtatt die Geſetze einzutheilen in ſtaatliche (ſouveräne) und autonomiſche, pflegt man die autonomiſchen Anordnungen den „ Geſetzen “gegenüberzuſtellen, als wären ſie nicht eine Unterart, ſondern der Gegenſatz der Geſetze. Dieſe ungenaue Ausdrucksweiſe erzeugt dann ihrerſeits wieder die Vorſtellung, daß nur der Sou - verain Geſetze erlaſſen könne, daß die „ geſetzgebende Gewalt “ihrem Begriff und Weſen nach „ die höchſte Gewalt “ſei, der alle andern untergeordnet ſind, und daß die Souveränetät eine unerläßliche Vorausſetzung für die Geſetzgebung ſei. Dieſe Vorſtellung iſt, trotzdem ſie allgemein verbreitet iſt, ein Irrthum. Es iſt leicht, aus der Rechtsgeſchichte dies zu erweiſen und Verfaſſungszuſtände anzuführen, in denen die Regelung der Rechtsordnung und darum auch die Befugniß zum Erlaß von Geſetzen nicht zu den aus - ſchließlichen Prärogativen der ſouverainen Gewalt gehörte. Grade in Deutſchland iſt das ehemalige Reich niemals in dem Alleinbeſitz der Befugniß geweſen, die Rechtsordnung zu regeln, und erſt die allgemeine Staatsrechts-Theorie des letzten Jahrhunderts hat die in Rede ſtehende Anſchauung zur Herrſchaft gebracht.
Auch die jetzige Reichsverfaſſung weiß Nichts von dem Grund - ſatz, daß das Reich allein und ausſchließlich berufen ſei, die ge - ſammte Rechtsordnung zu regeln und damit iſt von ſelbſt die aus - ſchließliche Befugniß des Reiches zur Geſetzgebung verneint. Den Einzelſtaaten iſt ein großer Theil der ſtaatlichen Aufgaben zu ſelbſt - ſtändiger Erfüllung überlaſſen und dadurch ihnen zugleich die Be - fugniß gewahrt, hinſichtlich dieſes Theiles Rechtsregeln in verbind - licher Weiſe aufzuſtellen, alſo Geſetze zu geben. Demgemäß unter - ſcheidet die Reichsverfaſſung ſelbſt Reichsgeſetze und Landes - geſetze1)R. -V. Art. 2. 35.. Wenn man die unrichtige Vorſtellung fallen läßt, daß nur die ſouveräne Staatsgewalt im Stande ſei, Geſetze zu geben, ſo kann man aus der reichsverfaſſungsmäßigen Anerkennung12§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.der Landesgeſetzgebung nicht den Schluß ziehen, daß die Einzel - ſtaaten ſouverain ſeien oder daß die Souveränetät zwiſchen Reich und Einzelſtaat getheilt ſei, ſondern die Landesgeſetzgebung fällt unter den wiſſenſchaftlichen Begriff der Autonomie, während die Reichsgeſetzgebung die Geſetzgebung des Souverains iſt1)Vgl. oben Bd. I. S. 105 ff..
4) Da jedes Geſetz ein Willensact iſt, bedarf daſſelbe einer Erklärung. Denn ein Wille, welcher nicht erklärt, d. h. äußer - lich erkennbar gemacht iſt, gilt juriſtiſch nicht als vorhanden. Die Form, in welcher die Erklärung erfolgen muß, läßt ſich aus dem Begriff des Geſetzes nicht ableiten, ſondern beſtimmt ſich nach den poſitiven Vorſchriften, welche darüber beſtehen. Die Erklärung des Geſetzeswillens darf man aber nicht verwechſeln oder identifiziren mit der Verkündigung des Geſetzes. Es kann allerdings eine Form der Erklärung gewählt werden, welche zugleich die Gemeinkundig - keit des Geſetzes herbeiführt oder erleichtert; es gilt dies nament - lich von dem Falle, wenn die Sanction des Geſetzes durch Ab - ſtimmung der Volksverſammlung erfolgt und das Reſultat der Abſtimmung in der Volksverſammlung ſelbſt verkündigt wird. Ge - wöhnlich aber iſt die Bekanntmachung eines Geſetzes von der Er - klärung des Geſetzes-Willens getrennt. Die Form für dieſe Er - klärung dient nur dem Zwecke, den Geſetzes-Willen in authenti - ſcher Geſtalt erkennbar, nicht ihn allgemein bekannt zu machen. Gegenwärtig bedient man ſich allgemein hierzu der Schrift; die Form der Geſetzes-Erklärung iſt ſonach die der öffentlichen Urkunde. Wer dieſe Urkunde auszufertigen hat und welchen Erforderniſſen dieſelbe genügen muß, iſt eine Frage des poſitiven Rechts; für die Reichsgeſetzgebung beantwortet ſie ſich durch Art. 17 der R. -V. 2)Siehe unten §. 57 III. Weſentlich iſt für dieſelbe nur, daß ſich aus der - ſelben in formell unzweifelhafter Art das Vorhandenſein des Ge - ſetzgebungs-Befehls und ſein Inhalt ergiebt. Durch die Beurkun - dung des Geſetzes wird daſſelbe ſinnlich wahrnehmbar und dadurch juriſtiſch erſt exiſtent. In der abſoluten Monarchie enthält die Geſetzes-Urkunde weiter Nichts als die Erklärung des landesherr - lichen Willens, daß ein Rechtsſatz befolgt werden ſoll; das Zu - ſtandekommen eines rechtsgültigen Geſetzes iſt an andere Voraus -13§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.ſetzungen nicht gebunden; die formellen Erforderniſſe der Geſetzes - Urkunde dienen lediglich zur Sicherung, um den wahren und ern - ſten Willen des Monarchen zu conſtatiren und um Fälſchungen, Irrthümer und Willkürlichkeiten auszuſchließen. Wo aber der Er - laß eines Geſetzes noch an andere Vorausſetzungen als an den perſönlichen Willen des Monarchen geknüpft iſt, kann die Beur - kundung des Geſetzes nur erfolgen, wenn das Vorhandenſein dieſer Vorausſetzungen feſtgeſtellt wird. Die Erklärung des Geſetzes iſt in dieſem Falle nicht nur eine authentiſche Beurkundung ſeines Wortlautes, ſondern zugleich eine formelle Conſtatirung, daß die verfaſſungsmäßigen Vorbedingungen des Geſetzgebungs-Willens er - füllt ſind.
Die Erklärung des Geſetzes erhält alsdann eine weittragende ſtaatsrechtliche Bedeutung; ſie bildet ein Erforderniß für das Zu - ſtandekommen eines Geſetzes, welches man eben ſowohl von der Sanction wie von der Verkündigung unterſcheiden muß. In der Deutſchen Rechtsliteratur iſt dieſes Erforderniß durchweg unbeachtet geblieben; man verlangt für die Geſetzgebung einfach Sanction und Publikation. So wie man die Sanction zuſammenwirft mit der ihr vorangehenden Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes, ſo vermengt man die Verkündigung mit der ihr vorangehenden formellen Er - klärung (Beurkundung) des Geſetzes-Befehls.
Das ältere Deutſche Reichsſtaatsrecht hat den Akt, durch welchen das rechtsgültige Zuſtandekommen eines Reichsge - ſetzes conſtatirt wird, in höchſt ſorgfältiger Weiſe ausgebildet. Be - kanntlich wurden alle auf einem Reichstage zu Stande gekommenen Geſetze am Schluß des Reichstages zuſammengefaßt1)Das letzte formelle Reichsgeſetz iſt daher der Reichs-Abſchied von 1654. Während des Regensburger permanenten Reichstages kam ein eigent - liches Reichsgeſetz nicht mehr zu Stande. Alle Anordnungen des Reiches be - ſtanden vielmehr formell aus zwei getrennten Akten, dem übereinſtimmenden Beſchluß der drei Collegien des Reichstages (Commune trium oder Reichs - gutachten), welches vom Kurfürſten von Mainz als Reichs-Erzkanzler ausge - fertigt und dem Kaiſer überſendet wurde, und der kaiſerlichen Ratifikations - Urkunde (Commiſſionsdekret oder Hofdekret). Vrgl. Pütter, elementa iuris publ. Germanici I. §. 226 sq., woſelbſt zugleich Beiſpiele mitgetheilt ſind. Häberlin, Handbuch des Teutſchen Staatsr. I. §. 154 ff. (S. 515 — 526). Gönner, Teutſches Staatsr. §. 188. 189. Um die Geſetzgebungsformen des Deutſchen Reiches zu ermitteln, muß man daher in die Zeit vor 1654 zurück -. Die Re -14§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.daktion des Reichsabſchiedes lag dem Reichs-Erzkanzler ob, jedoch unter Mitwirkung einer Deputation der Stände, welche aus Mit - gliedern aller Collegien gebildet wurde, und eines oder zweier Kommiſſare des Kaiſers. Die Urkunde wurde in zwei Exemplaren auf Pergament ausgefertigt, von denen eines für die Reichskanzlei, das andere für den Reichshofrath beſtimmt war. Beide Urkunden wurden vom Kaiſer und den Ständen unterzeichnet und unterſiegelt; die Lehre von der subscriptio und obsignatio der Reichs-Abſchiede bildete ein nicht unbeträchtliches Kapitel des Reichsrechts. Wenn allſeitiges Einverſtändniß über die Faſſung des Reichs-Abſchiedes erzielt und die Ausfertigung mit Unterſchriften und Siegeln ver - ſehen war, ſo wurde eine feierliche Sitzung des Reichstages anbe - raumt, in welcher der Kaiſer in Perſon oder ſein Kommiſſar über die Verhandlungen des Reichstages berichtete, hierauf den Reichs - Abſchied vom Reichs-Erzkanzler laut vorleſen ließ, und endlich die Stände ermahnte, die Vorſchriften deſſelben zu befolgen. Dieſer Akt heißt bei den Reichs-Publiziſten die Publicatio oder auch Pro - mulgatio des Reichsabſchiedes1)Arumaeus de Comitiis c. 8. nr. 95. Strube, Corp. iur publ. ; die Befugniß, dieſen Akt vorzu - nehmen, wurde als kaiſerliches Reſervatrecht angeſehen. Wurde von den verſammelten Ständen kein Widerſpruch erhoben, ſo lag hierin die Erklärung des Einverſtändniſſes mit der Faſſung des Reichsabſchiedes. Eine beglaubigte Abſchrift wurde dem Reichs - Kammergericht von der Reichskanzlei zugeſendet. Der eben be - ſchriebene Akt der Publicatio war keine Verkündigung im Sinne von Bekanntmachung. Kaiſer und Reichstag hatten ſelbſt den Reichsabſchied beſchloſſen; ihnen brauchte er alſo nicht kund ge - macht zu werden; die Behörden und Angehörigen des Reiches aber erlangten durch die feierliche Schlußſitzung des Reichstages keine Kunde von dem Inhalte des Reichsgeſetzes. Die Verkündigung der Reichs-Abſchiede im eigentlichen Sinne war im Weſentlichen Sache der Stände, welche dieſelbe in ihren Territorien zu veran -1)gehen. Die Hauptquelle hierfür iſt eine im Jahre 1582 verfaßte und öfters gedruckte Schrift: „ Ausführlicher Bericht, wie es auf Reichstägen pflegt ge - halten zu werden “, beſonders Cap. 13. (Sie ſteht bei Goldaſt, Reichshän - del. P. XXII). Vrgl. ferner Limnäus, Jus public. T. III. Lib. IX. c. 1. nro. 192 sq. Pfeffinger, Vitriar. illustr. Tom. IV. Lib. IV. cap. 1. nr. 83 sq. und am ausführlichſten Moſer, Teutſches Staatsr. Bd. 50 S. 253 ff., woſelbſt umfaſſende Auszüge aus den älteren Schriften gegeben ſind.15§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.laſſen hatten1)Die Mittheilung der Reichsgeſetze Seitens des Kaiſers an die Reichs - behörden und an die Kreis-Ausſchreibe-Aemter und Stände nannte man aller - dings auch Publikation, gewöhnlich aber Inſinuation oder Intimation. Die Art und Weiſe der Bekanntmachung war eine ſehr ungeregelte. Moſer, Teutſches Staatsr. Bd. 50 S. 50 ff. Vrgl. auch Güterbock, Entſtehungs - geſchichte der Carolina (1876) S. 199 fg.. Die Bedeutung der feierlichen Publicatio des Reichs-Abſchiedes beſtand vielmehr darin, daß Exiſtenz und Wort - laut der vom Kaiſer und Reichstag vereinbarten und vom Kaiſer ſanctionirten Reichsgeſetze in ſolenner und authentiſcher Form con - ſtatirt wurden; es war die » solemnis editio « des Reichsgeſetzes.
Eine ähnliche Einrichtung beſteht in England. Das Recht der Krone, die von den beiden Häuſern genehmigten Bills zu ſanc - tioniren, iſt ein Scheinrecht, da nach einem unbezweifelten Rechts - ſatz die Krone die Genehmigung nicht verweigern darf2)Der letzte Fall, in welchem eine von dem Parlament genehmigte Bill von der Krone verworfen wurde, ereignete ſich im Jahre 1707. Auch vorher waren Fälle dieſer Art höchſt ſelten. Die Verpflichtung des Königs wird theils aus dem von ihm geleiſteten Eid, theils aus der Stellung der dem Parla - mente verantwortlichen Miniſter, auf deren Rath der König ſeine Regierungs - handlungen vornimmt, hergeleitet. Vgl. Cox, Staatseinrichtungen Englands S. 43 fg. May, das engl. Parlament S. 422 und beſonders Blackstone, Commentaries I. chap. 2. (15. Engl. Ausgabe. London 1809. Vol. I. p. 183 ff. Franzöſ. Ueberſ. von Chompré I. pag. 350 ff.). Von weſentlicher Bedeutung aber iſt die Befugniß der Krone, das Ge - ſetz auszufertigen. Die alte und regelrechte Form der Er - klärung des Geſetzes beſteht darin, daß der König in einer feier - lichen Sitzung des Hauſes der Lords erſcheint, die Gemeinen an die Schranke entbietet, vom Kron-Clerk die Titel der vom Parla - ment beſchloſſenen Bills verleſen läßt und die Genehmigung der - ſelben erklärt. Seit Stat. 33 Heinrich VIII. c. 21 iſt ſtatt dieſer Form auch die Erklärung durch Patent zuläſſig, welches vom König eigenhändig unterſchrieben, von dem Kron-Clerk gegengezeichnet und mit dem großen Staatsſiegel verſehen ſein muß. In feierlicher Sitzung der Lords, zu welcher die Gemeinen geladen werden, wird das Patent ſeinem ganzen Inhalte nach verleſen und die königliche Genehmigungsklauſel wird von dem Clerk des Parlaments in das1)Cap. 23 §. 33 sq. Pfeffinger, a. a. O. nr. 98 — 100. Moſer a. a. O. Daſelbſt findet ſich S. 283 — 295 eine genaue Beſchreibung aller Vorgänge bei der „ Publikation “des Reichs-Abſchiedes von 1654.16§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.Protokollbuch der Lords eingetragen. Dieſer Vorgang iſt keine eigentliche Verkündigung des Geſetzes, obwohl die Fiction beſteht, daß Alles, was in öffentlicher Sitzung des Parlaments geſchieht, auch öffentlich bekannt gemacht ſei; die wirkliche Bekanntmachung des Geſetzes erfolgt erſt ſpäter durch den Druck. Die juriſtiſche Bedeutung des Aktes beſteht vielmehr in der formellen und au - thentiſchen Erklärung des ſtaatlichen Geſetzgebungs - Willens. Bevor dieſe Erklärung erfolgen kann, muß der König und der ihm in dieſer Angelegenheit Rath ertheilende Miniſter prüfen, ob die Bill in der That die ordnungsmäßige und über - einſtimmende Genehmigung beider Häuſer erlangt hat und ob die zahlreichen Formvorſchriften, welche das Engliſche Recht für das Zuſtandekommen eines Geſetzes aufgeſtellt hat, vollſtändig beobachtet worden ſind. Ergiebt ſich in dieſer Beziehung ein Mangel, ſo iſt die Bill dem betreffenden Hauſe zur Erledigung deſſelben und zur Beſeitigung der Formwidrigkeit zurückzuſtellen1)Vrgl. über die Einzelheiten die ausführliche Darſtellung bei May a. a. O. S. 378 — 430, beſonders S. 425 fg.. Hieraus folgt, worin das wahre Weſen der Königlichen Ausfertigung beſteht. Sie iſt nur ſcheinbar die Ertheilung der Sanction und bezweckt nicht die Kundmachung der Bill, ſondern ſie conſtatirt in authentiſcher und feierlicher Form das verfaſſungsmäßige Zuſtandekommen des Geſetzes, ſie iſt die solemnis editio legis.
Von größerem Einfluß auf das gegenwärtige conſtitutionelle Staatsrecht Deutſchlands iſt die Entwicklung des Franzöſiſchen Rechts geweſen, welche deshalb einer genaueren Erörterung bedarf.
Vor der Revolution von 1789 ging ſowohl die Sanction als die Erklärung des Geſetzes vom Könige aus, die Verkündigung da - gegen war Sache der Gerichtshöfe (Parlamente). Gemäß der Or - donnanz von 1667 Tit. I. Art. 2 wurden die königlichen Ausfer - tigungen der Geſetze und Verordnungen den „ ſouverainen Gerichts - höfen “zur Regiſtrirung und Verkündigung überſendet. Das En - registrement führte keine Bekanntſchaft des Publikums mit dem Geſetze herbei; es beſtand darin, daß das Geſetz in die Liſte des Gerichtshofes eingetragen wurde; es conſtatirte die Aechtheit der königlichen Urkunde und den Wortlaut des in ihr enthaltenen Ge - ſetzes; es wird von Portalis ganz richtig als vérification des17§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.lois bezeichnet1)Second Exposé des motifs du Titre préliminaire du Code civil bei Locré, La Législation de la France I. p. 569 sq. . Die Verkündigung erfolgte nach geſchehener Ein - regiſtrirung auf Befehl des Parlaments in den einzelnen Ort - ſchaften durch Verleſen, Aushang u. ſ. w. Auch die Geſetzgebung von 1789 ließ zunächſt die Regiſtrirung und Verkündigung der Geſetze durch die Gerichtshöfe beſtehen; die Geſetze v. 20. Oktober und 5. Nov. 1789 beſeitigten nur die Mißbräuche, welche ſich in die Praxis der Gerichte eingeſchlichen hatten, indem ſie anordneten, daß die von der National-Verſammlung beſchloſſenen Dekrete, ſo - bald ſie die Sanction des Königs erhalten haben, ohne Zuſatz, Veränderung oder Anmerkung den Behörden zum Zweck der Ein - tragung in die Liſten und zur Verkündigung zu überſenden ſeien, und daß die Gerichts - und Verwaltungsbehörden, welche nicht binnen drei Tagen nach Empfang der Geſetze ſie eintragen und ſie binnen einer Woche verkündigen laſſen, als prévaricateurs und wegen forfaiture beſtraft werden ſollen. Die formelle und authen - tiſche Erklärung des Geſetzes verblieb dagegen Sache des Königs; das Geſetz vom 9. Nov. 1789 bezeichnet dieſen Akt als die Pro - mulgation des Geſetzes, indem es denſelben ſcharf von der Publikation deſſelben unterſcheidet.
So lange das Königthum und das — wenigſtens ſcheinbare — Recht deſſelben zur Sanction der Geſetze beſtand, fiel die Pro - mulgation äußerlich mit der Sanction zuſammen2)Zur Promulgation gehört die Conſtatirung, daß die Nationalverſamm - lung das Geſetz beſchloſſen und der König daſſelbe genehmigt habe. Die in dem Geſetz vom 9. Nov. 1789 vorgeſchriebene Formel lautet: Louis, par la Grâce de Dieu .... L’Assemblée nationale a décrété et nous voulons et ordonnons ce qui suit: … Mandons et ordonnons à tous les tribunaux, corps administratifs et municipalités, que les présentes ils fassent transcrire sur leurs régistres, lire, publier et afficher dans leurs ressorts et départements respectifs. . Seit der Unterdrückung des Königthums hob ſich die Promulgation von der Sanction, von der ſie begrifflich durchaus verſchieden war, auch in der äußeren Erſcheinung ab und es treten jetzt Sanction, Pro - mulgation und Publikation als drei völlig getrennte Erforderniſſe eines Geſetzes hervor. Es gilt dies namentlich von der Verfaſſung des Jahres VIII. Nach dem Art. 37 dieſer Verf. wurden die Geſetze ſanctionirt (erlaſſen) vom Corps législatif. Innerhalb einerLaband, Reichsſtaatsrecht. II. 218§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.Friſt von 10 Tagen konnte aber die Sanction ſowohl von dem Tribunal als von der Regierung durch Recurs an den Senat pour inconstitutionalité de la loi angefochten werden, ſo daß alſo der Sanctionsbeſchluß erſt nach Ablauf der zehntägigen Friſt, wenn innerhalb derſelben der Recurs nicht erhoben wurde, Rechtskraft erlangte. Nach einem Arrêté v. 28 Nivôse des Jahres VIII. war die Anordnung getroffen, daß in dem Arbeitszimmer der Conſuln ein Koffer ſich befinden ſollte, in welchem die Siegel der Republik deponirt waren und in welchen die Decrete des Corps législatif vom Staatsſecretair gelegt werden ſollten. Am zehnten Tage nach Erlaß der Decrete des Corps législatif hatte der Staatsſecretär ſie dem erſten Conſul zu überreichen, welcher die Beidrückung des Staatsſiegels befahl und eine offizielle, unterſchriebene gegenge - zeichnete und mit dem Siegel verſehene Ausfertigung unverzüglich dem Juſtiz-Miniſter überſendete1)Vrgl. Valette et Benat St. -Marsy, Traité de la confection des Lois. Paris 1839. S. 205. 206..
Hierin beſtand die dem erſten Conſul zuſtehende Promulgation der Geſetze, während die Sanction vom Corps législatif ausgieng, die Publikation dem Juſtizminiſter und den Behörden oblag. Es iſt klar, daß der Rechtsgrund für die verbindliche Kraft der Geſetze nicht in der Promulgation, ſondern in der Sanction derſelben be - ruhte; die Promulgation conſtatirte nur, daß der ſtaatliche Geſetz - gebungsbefehl verfaſſungsmäßig erlaſſen worden iſt und gab dem - ſelben einen formellen und authentiſchen Ausdruck2)Ein Avis du Conseil d’État du 5 pluviose An VIII. (26. Januar 1800) führt aus, daß die Promulgation der Geſetze nicht dem pouvoir législatif, ſondern dem pouvoir exécutif zuſtehe und fügt hinzu: » Il faut bien se garder de confondre cette promulgation avec la sanction, que le Roi constitutionel avait en 1791 ou avec l’acceptation que le Conseil des Anciens avait par la Constitut. de l’an III. Cette sanction et cette ac - ceptation étaient parties nécessaires de la formation de la loi et ne res - semblaient en rien à sa promulgation. « Locré a. a. O. I. p. 623 sq. . Portalis bezeichnet in dem Discours vom 23 Frimaire X (14 Dezbr. 1801) nr. 16 (bei Locré I. S. 466 ff. ) die Promulgation als solemnis editio legis und fügt mit dem ihm eigenthümlichen phraſenhaften Styl hinzu: » La promulgation est une forme extérieure à la loi comme la parole et l’écriture sont extérieures à la pensée. «
Die ſpätere franzöſiſche Verfaſſungs-Entwicklung hat dieſe Be -19§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.deutung der Promulgation wieder verdunkelt. Schon der Art. 1 des Code civ. ſchreibt der Promulgation eine Wirkung zu, welche nicht ihr, ſondern der Sanction zukömmt, indem er beſtimmt, daß die Geſetze vollſtreckbar ſind en vertu de la promulgation. Ver - gebens wurde bei den Berathungen des Corps législatif ausge - führt, daß dieſe Beſtimmung mit dem Weſen der Promulgation im Widerſpruch ſtehe1)Der Deputirte M. Andrieux machte in der Sitzung des Corps lé - gislatif v. 23 Frimaire des Jahres X. (14. Dezbr. 1801) geltend: » La pro - mulgation n’est en aucune manière un acte législatif; elle n’a pour objet que de certifier la loi et déclarer, qu’elle n’a point été attaquée pour cause d’inconstitutionalité. « (Locré I. S. 438.) Der Redner des Tri - bunals Favard charakteriſirte das Weſen der Promulgation, indem er ſagte: » La promulgation n’est autre chose que le cachet du gouvernement, qui atteste, que la loi qui est presentée aux citoyens a reçu tous les caractères qui la constituent loi, et n’a point été dénoncée au Sénat Con - servateur pour cause d’inconstitutionalité. « (Locré I. S. 534.). Da dem Chef der Regierung in Wahr - heit die geſetzgebende Gewalt übertragen werden ſollte, nach der Verfaſſung aber die Sanction der Geſetze dem Corps législatif und nur die Promulgation dem erſten Conſul zuſtand, ſo begann man das Geſetzbuch mit dem Satze, daß die Geſetze ihre verbind - liche Kraft erhalten en vertu de la promulgation. Die Redner der Regierung, Portalis und Boulay, verſuchten die Bedeu - tung des Satzes zu verhüllen2)Vrgl. Locré I. S. 516..
Nach der Reſtauration fallen Promulgation und Sanction wieder zuſammen, in derſelben Weiſe wie dies 1789 der Fall war. Sowohl die Charte von 1814 Art. 22 wie die Charte von 1830 Art. 18 beſtimmten: » Le Roi seul sanctionne et promulgue les lois. « Zur Promulgation gehört aber nicht nur die authentiſche Erklärung der Sanction, ſondern auch die formelle Beſtätigung, daß die Vorausſetzung der Sanction, nämlich die Genehmigung des Geſetzes durch die Kammern vorhanden iſt3)Das Reglement v. 13. Aug. 1814 Tit. 4 Art. 3 ſchreibt vor, daß der König die Sanction ertheilt, » en faisant inscrire sur la minute, que ladite loi disputée, deliberée et adoptée par les deux chambres, sera publiée et enregistrée pour être exécutée comme loi de l’État. « Vrgl. die entſpre - chende Beſtimmung des Geſ. v. 9. Nov. 1789 oben S. 17 Note 2.. Dagegen legt die Ordonnanz v. 27. Nov. 1816 dem Worte Promulgation einen völlig verſchiedenen Sinn unter, indem Art. 1. derſelben lautet:2*20§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.» A l’avenir la promulgation des lois et de nos ordonnances résultera de leur insertion au Bulletin officiel. « Die Einrückung in das Geſetzblatt iſt Verkündigung des Geſetzes, nicht Ausferti - gung deſſelben.
Im heutigen franzöſiſchen Staatsrecht fallen Sanction und Promulgation wieder ganz auseinander; nach der Verf. von 1875 werden die Geſetze von den Kammern ſanctionirt, der Präſident hat weder das Recht der Zuſtimmung noch des Veto; dagegen ſteht es ihm zu, die Geſetze zu promulgiren und zu publiziren1)Vrgl. Bard et Robiquet, La Constitution française de 1875 (Paris 1876) p. 337 ff. 344. Geſetz vom 18. Juli 1875 Art. 7. Decret vom 6. April 1876..
Trotz dieſes Schwankens der Geſetzgebung hinſichtlich des Ge - brauches des Wortes Promulgation2)Ausführlich verbreitet ſich darüber Merlin, Repertoire de iurisprud. Art. Loi §. IV. (T. XVIII. p. 387 sqq.) iſt in der franzöſiſchen Rechts - literatur der Unterſchied der Promulgation von der Sanction einer - ſeits und von der Publikation andererſeits faſt ausnahmslos feſt - gehalten worden und das Weſen der Promulgation in der authen - tiſchen Beglaubigung des Geſetzes erblickt worden3)Vrgl. Dalloz, Jurisprud. générale. Tome XXX. Art. Lois Nr. 122. 125. » La promulgation est l’acte par lequel le Chef de l’Etat atteste l’existence de la loi et la publication est le mode employé pour faire parvenir la loi à la connaissance des citoyens. « Uebereinſtimmend: Ph. Vallette et Benat St. -Marsy, Traité de la confection des Lois (1839) p. 211. Batbie, Traité de droit publ. III. p. 439 (Paris 1862). Ducrocq, Cours de droit administratif I. nr. 20. A. Valette, Cours de Code civil. Paris 1872. I. S. 19. Aehnlich auch Laferrière, Cours de droit publ. et administratif. (5. Ausg. Paris 1860) I. S. 114. » La promulgation est l’édition solennelle de la loi, le moyen de constater son existence et de lier le peuple à son observation. «.
Da die Promulgation des Geſetzes in Frankreich nicht wie im alten deutſchen Reiche und in England in einem vor dem Reichs - tage oder Parlamente ſich vollziehenden feierlichen Akte, ſondern lediglich in der Unterzeichnung einer Urkunde beſteht, ſo entzieht ſich dieſe Thatſache ſelbſt wieder der allgemeinen Kenntniß und Wahrnehmung. Sie bedarf der Kundmachung und dieſelbe erfolgt, indem die Geſetzes-Urkunde offiziell veröffentlicht wird. Die Veröffentlichung des Geſetzes iſt die unmittelbare und nothwendige Folge ſeiner Promulgation; mit der Promulgation verbindet ſich21§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.daher der Befehl zur Verkündigung des Geſetzes. Schon die altfranzöſiſchen Geſetzes-Ausfertigungen enthielten dieſen Befehl an die Parlamente; ebenſo findet er ſich in der Promulgationsformel des Geſ. v. 9. Nov. 1789; die Verf. vom 5 Fructid. des Jahres III, welches dem Directorium die Promulgation der Geſetze übertrug, ſchrieb im Art. 130 für die Promulgation ebenfalls eine Formel vor, welche einen Publikationsbefehl enthielt1)Sie lautete: » Le Directoire ordonne que la loi ou l’acte du Corps législatif ci-dessus sera publié, exécuté «, etc. ; daſſelbe gilt von dem Reglement v. 13. Aug. 1814. Nicht ſelten wird daher das Weſen der Promulgation, zwar nicht in der Verkündigung ſelbſt, wohl aber in dem Befehl zur Verkündigung gefunden, da dieſer Befehl gewiſſermaßen die unmittelbare und praktiſche Conſequenz der Ausfertigung des Geſetzes iſt2)Vergl. z. B. Duranton, Cours de droit français I. chap. II. nr. 44 ff. Berriat-St. Prix, Théorie de droit Constit. franç. S. 502 ff. Aubry et Rau, Cours de droit civil français (4. Ausg.) I. § 26. S. 48 ff. Laurent, Principes de droit civil (Brüſſel 1869) I. S. 57 ff. Der Zu - ſammenhang zwiſchen Ausfertigung und Verkündigungsbefehl wird angedeutet von Demante, Cours analytique de Code civ. (1849) I. p. 33. .
Dieſe Rechtsanſchauungen ſind mit der franzöſiſchen conſtitu - tionellen Staatsrechtstheorie in das Deutſche Landesſtaats - recht eingedrungen. Bei der monarchiſchen Verfaſſung der Deut - ſchen Staaten lag aber kein praktiſcher Anlaß vor zwiſchen der Sanction und der Promulgation zu unterſcheiden. Es galt als ſelbſtverſtändlich, daß die Sanction in einer vom Landesherrn unter - ſchriebenen, mit dem Staatsſiegel verſehenen und gegengezeichneten Urkunde erklärt wird und es galt als ebenſo ſelbſtverſtändlich, daß in dieſer Urkunde auf die erfolgte Zuſtimmung der Stände Bezug genommen und dieſelbe ausdrücklich bezeugt werde. In allen Deutſchen Staaten herrſcht in dieſer Beziehung eine gleichmäßige, faſt bis auf den Wortlaut der Formel übereinſtimmende Praxis3)Vgl. Zachariä, Deutſches Staatsr. II. §. 161 (S. 176).. In der Promulgation des franzöſiſchen Rechts ſah man Nichts Anderes als die Verkündigung des Geſetzes, oder im günſtigſten Fall den Verkündigungs-Befehl4)Das Wort Promulgation wird in der Deutſchen Rechtsliteratur in ſehr verſchiedenem Sinne verwendet. Die überwiegende Mehrzahl der Schriftſteller gebraucht daſſelbe als ganz gleichbedeutend mit Publikation. Ebenſo. Daß ſich zwiſchen Sanction22§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.und Publikation noch ein drittes Erforderniß für die Herſtellung des Geſetzes einſchiebe, nämlich die ſolenne und authentiſche Er - klärung des ſtaatlichen Geſetzgebungs-Willens, blieb unbemerkt1)v. Wächter, Württemb. Privatr. II. 1 S. 24 erklärt in Ueberein - ſtimmung mit dem herrſchenden Sprachgebrauch Promulgation für gleichbedeu - tend mit Publikation; bemerkt aber, daß im franzöſiſchen Recht eine von der Publikation verſchiedene Promulgation des Geſetzes „ eine nicht ganz un - angemeſſene Bedeutung “habe. Vgl. auch Pfaff und Hofmann, Com - mentar zum öſterr. bürgerl. Geſetzb. I. S. 135 Note 44. und es wurde ebenſowenig den wichtigen Rechtswirkungen dieſes Aktes, die im folgenden Paragraphen ihre Erörterung finden wer - den, Beachtung geſchenkt. Die conſtitutionelle Staatsrechts-Theorie ſelbſt ſtand einer richtigen Auffaſſung des Geſetzgebuugs-Vorganges im Wege, da man das Weſen des Geſetzes in der Uebereinſtim - mung des Landtages und der Krone erblickte, nicht in einer ein - heitlichen Willens-Erklärung der einen und untheilbaren Staats - gewalt, für welche jene Uebereinſtimmung nur eine verfaſſungs - mäßig erforderte Vorbedingung iſt.
Auf die Reichsverfaſſung ſind dieſe Sätze des Deutſchen Landesſtaatsrechtes nicht ohne Abänderung anwendbar, weil das Deutſche Reich keine Monarchie iſt. Sanction und Promulgation der Geſetze fallen nicht mehr zuſammen; und ebenſo wenig darf die Promulgation mit der Kundmachung verwechſelt werden. Die Ausfertigung der Geſetze und der Befehl, dieſelben zu verkündigen, ſtehen vielmehr zwiſchen der Sanction der Geſetze und ihrer Kund - machung durch das Reichsgeſetzblatt als ein beſonderer Akt, deſſen Vollziehung der Art. 17 der R.V. dem Kaiſer überträgt.
5) Endlich folgt aus dem an die Spitze geſtellten Begriffe des Geſetzes die Nothwendigkeit ſeiner Verkündigung. Da jedes Geſetz ein Befehl iſt, alſo an Jemanden gerichtet ſein muß, ſo er -4)eine große Zahl von Verfaſſungs-Urkunden. Vergl. Zöpfl, Staatsr. II. §. 373 Note 1. Bisweilen bezeichnet man aber damit den Entſtehungsprozeß, die verfaſſungsmäßige Zuſtandebringung eines Geſetzes. Vgl. z. B. v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1 S. 199 Note 2. Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 223. Grotefend, S. 534 Note 1. v. Held, Syſtem des Verfaſſungsr. II. S. 93. Noch Andere verſtehen darunter „ den Befehl, das Geſetz zu befolgen “, z. B. Jordan, Verſuche über Staatsr. S. 538 fg. Linde im civil. Archiv Bd. 16 S. 331. Weiß, Syſtem des Staatsr. S. 658. Einige erklären Promulgation für gleichbedeutend mit Sanction, z. B. Puchta, Vorleſungen §. 14. Reyſcher, Württemb. Privatr. I. §. 67. S. 107.23§. 56. Der Begriff und die Erforderniſſe des Geſetzes.giebt ſich, daß dem Adreſſaten die Möglichkeit gewährt werden muß, von dem Befehl Kunde zu erlangen. Das Geſetz aber iſt nicht an beſtimmte einzelne Perſonen gerichtet; es enthält einen Rechtsſatz, es normirt die allgemeine Rechtsordnung, es verlangt Befolgung oder Berückſichtigung von Allen, welche an dieſer Rechts - ordnung Theil nehmen oder zur Handhabung und Aufrechterhal - tung derſelben berufen ſind. Daraus ergiebt ſich, daß das Geſetz nicht blos einzelnen Behörden oder Beamten, die es zunächſt zur Ausführung zu bringen haben, mitgetheilt werden darf, ſondern daß es öffentlich bekannt, gemeinkundig gemacht werden muß. Es tritt hier in ſehr bezeichnender Weiſe ein Gegenſatz zwiſchen Ge - ſetzen und Verwaltungs-Verordnungen hervor, der auf der Ver - ſchiedenheit des Weſens derſelben beruht1)Vrgl. unten die Lehre von der Verwaltung..
Nicht jede Veröffentlichung des Geſetzes aber iſt Verkündigung deſſelben im ſtaatsrechtlichen Sinne. Die Verkündigung iſt ein Willensact des Geſetzgebers und kann deshalb nur ausgehen von dem Geſetzgeber oder von demjenigen, den er dazu beauftragt hat. Deshalb ſind Abdrücke eines Geſetzes in Sitzungsberichten, Zei - tungen, wiſſenſchaftlichen Werken u. ſ. w., trotzdem ſie grade die Gemeinkundigkeit des Geſetzes am meiſten fördern, keine Verkün - digung. Auch die Verkündigung iſt ein obrigkeitlicher Akt, ein Be - ſtandtheil des Geſetzgebungs-Vorganges. Die Verkündigung kann demnach nur von demjenigen rechtswirkſam erfolgen, der dazu ver - faſſungsmäßig legitimirt iſt.
Damit hängt ein anderes Erforderniß eng zuſammen. Die Art der Verkündigung muß eine Gewähr dafür bieten, daß der veröffentlichte Wortlaut des Geſetzes vollſtändig und genau iſt und daß er in der That Geſetz geworden iſt. Dieſe Gewähr muß eine rechtliche ſein; d. h. es genügt nicht, daß das Geſetz thatſäch - lich correct abgedruckt worden iſt oder daß keine Verdachtsgründe vorliegen, welche einen Zweifel an der Richtigkeit des Textes be - gründen, ſondern es muß eine Verantwortlichkeit für die Verkündigung beſtehen. Mit dem Erforderniß der Legitimation zur Vornahme der Verkündigung fällt dies inſofern zuſammen, als die Verkündigung eine Amtshandlung ſein muß, die nur derjenige wirkſam vornehmen kann, der dazu competent iſt, und für welche derſelbe, wie für alle Amtshandlungen, verantwortlich iſt.
Nach den in dem vorhergehenden Paragraphen enthaltenen Ausführungen gehören zu dem gültigen Zuſtandekommen eines Ge - ſetzes folgende Erforderniſſe: die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes, die Sanction, die Promulgation und die Publikation. Es iſt nun zu unterſuchen, welche Vorſchriften die Reichsverfaſſung für dieſe Erforderniſſe der Reichsgeſetze aufgeſtellt hat.
1) Nach dem Art. 5 Abſ. 1 der Reichsverfaſſung iſt die Ueber - einſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesrathes und des Reichstages zu einem Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend. Dieſe Beſtimmung iſt, wie ſchon oben hervorgehoben wurde, ihrer Faſſung nach nicht correct; ſie bezieht ſich nicht auf den eigent - lichen Erlaß des Geſetzes, ſondern auf die Beſchlußfaſſung darüber, was zum Geſetz erhoben werden darf oder ſoll; ſie normirt nicht die Geſetzgebung, ſondern einen Theil, ein Stadium derſelben. Sie bezeichnet zugleich denjenigen Punkt, an welchem der Weg der Ge - ſetzgebung anfängt, durch ſtaatsrechtliche Regeln beherrſcht zu werden. Ein Geſetz kann zahlreiche, wichtige und lange Zeit in Anſpruch nehmende Vorſtufen durchgemacht haben, ehe es Gegen - ſtand einer Beſchlußfaſſung im Bundesrathe oder Reichstage wird; aber dieſe Vorſtufen ſind nicht durch Rechtsſätze geregelt1)An und für ſich wäre dies ſehr wohl möglich. Es könnte z. B. vor - geſchrieben ſein, daß ein Geſetzentwurf, bevor er im Bundesrath oder Reichstag zur Berathung gelangt, einem Staatsrath zur Begutachtung vorgelegt werden müſſe. Vrgl. über eine derartige Vorſchrift der Württemb. Verf. v. Mohl, Württemb. Staatsr. I. §. 32 (S. 196) und über die Mitwirkung des Landes - Ausſchuſſes von Elſaß-Lothringen unten §. 62.. Wer zuerſt den Gedanken eines neuen Geſetzes faßt und deſſen Verwirk - lichung anregt; wer ſich der Arbeit unterzieht, dieſen Gedanken zu formuliren und auszuführen; wer an der Vorberathung, Kritik und Verbeſſerung dieſer Vorſchläge ſich betheiligt u. ſ. w., der hat vielleicht an dem Geſetzgebungswerke thatſächlich einen ſehr viel größeren Antheil als Bundesrath und Reichstag, welche lediglich ſeinen Vorſchlägen zuſtimmen. Aber ſeine geſammte Thätigkeit iſt ſtaatsrechtlich unerheblich; ſeine Dienſte für die Geſetzgebung25§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.ſind thatſächliche; eine juriſtiſche Mitwirkung an der Geſetzgebung iſt in denſelben nicht enthalten.
Dieſer Satz erſcheint als ſelbſtverſtändlich und kaum der Er - wähnung werth, wenn man dabei an Vorarbeiten für ein Geſetz denkt, welche von Privatperſonen ausgehen. Aber er gilt ebenſo von Vorarbeiten, welche von Behörden in Erfüllung ihrer amt - lichen Pflichten unternommen werden. Es liegt in den thatſäch - lichen Verhältniſſen begründet, daß die Vorarbeiten für Geſetzent - würfe, die Formulirung des Inhaltes und die Aufſtellung von Motiven in der Mehrzahl der Fälle im Reichskanzler-Amt oder in einer der andern oberſten Reichsbehörden erfolgen. Aber es giebt keinen Rechtsſatz, der dies anordnet. Der Reichskanzler hat kein Recht darauf, daß dieſe Vorarbeiten von den ihm unterſtellten Behörden und Beamten, oder daß ſie unter ſeiner Leitung und Aufſicht vorgenommen werden. An Stelle des Reichskanzler-Amtes kann ebenſo gut auch das Miniſterium eines der Gliedſtaaten dieſe Arbeiten vornehmen oder ſie kann einer Kommiſſion von Sachver - ſtändigen übertragen werden, wie dies ſchon in mehreren Fällen geſchehen iſt. Staatsrechtlich iſt es gleichgültig, welche Schickſale ein Geſetzentwurf gehabt hat, bevor er an den Bundesrath oder Reichstag gelangt. Andererſeits ſtehen Entwürfe von Reichsge - ſetzen, welche der Reichskanzler ausarbeiten läßt, die aber nicht zur Vorlage an den Bundesrath gelangen, ſtaatsrechtlich auf der glei - chen Stufe, wie unbeachtet gebliebene Geſetzes-Entwürfe von Privat - perſonen; d. h. ſie ſind ohne alle rechtliche Bedeutung. Auch eine an den Bundesrath oder den Reichstag gelangende Petition um Erlaß eines Geſetzes kann, ſelbſt wenn ſie zu dem gewünſchten Ziele führt, nicht als der Anfang der Geſetzgebung im ſtaatsrecht - lichen Sinn erachtet werden; die Initiative zum Geſetz iſt vielmehr erſt in den Anträgen und Beſchlüſſen enthalten, welche die Petition zur Folge hat.
2) Bundesrath und Reichstag ſind einander vollkommen gleich - geſtellt. Die Thätigkeit des Bundesrathes unterſcheidet ſich von derjenigen des Reichstages in Bezug auf die Feſtſtellung des Ge - ſetzes-Inhaltes in keinem Punkte. Keine der beiden Körperſchaften iſt auf ein Veto beſchränkt oder genöthigt, einen Geſetzes-Vorſchlag im Ganzen anzunehmen oder zu verwerfen; ebenſowenig beſteht eine Rangordnung hinſichtlich der Zeitfolge der Beſchlußfaſſung. 26§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.Es hat demnach jede der beiden Körperſchaften die ſogenannte Initiative. Dieſelbe kann in beiden nur von einem Antrage eines Mitgliedes der betreffenden Körperſchaft ihren Ausgang neh - men. Im Bundesrath iſt nach Art. 7 Abſ. 2 der R. -V. „ jedes Bundesglied befugt, Vorſchläge zu machen und in Vortrag zu bringen und das Präſidium iſt verpflichtet, dieſelben der Berathung zu übergeben “1)„ Anträge der einzelnen Bundesſtaaten, welche ſich nicht etwa im Ver - laufe der Diskuſſion eines auf die Tagesordnung geſetzten Gegenſtandes ent - wickeln, ſind von dem Bevollmächtigten dem Reichskanzler ſchriftlich zu über - geben und werden von dieſem auf die Tagesordnung der nächſten Sitzung gebracht oder, wenn ſie ſich auf eine, bereits einem Ausſchuß überwieſene Vor - lage beziehen, dieſem Ausſchuß vorgelegt. “ Geſchäfts-Ordnung des Bundesrathes §. 8. Vgl. Bd. I. S. 276.. Im Reichstage müſſen Anträge, welche von Reichstags-Mitgliedern ausgehen, von mindeſtens 15 Mitgliedern unterzeichnet ſein; Abänderungs-Vorſchläge, welche vor oder bei der zweiten Berathung eingebracht werden, bedürfen keiner Unter - ſtützung; bei der dritten Berathung müſſen ſie von 30 Mitgliedern unterſtützt ſein2)Geſchäfts-Ordn. des Reichstages §. 20 Abſ. 1. §. 17 Abſ. 3. §. 18 Abſ. 2..
Ueber die geſchäftliche Behandlung der Geſetzes-Vorſchläge im Bundesrathe und Reichstage vrgl. oben Bd. I. §. 30 S. 276 ff. §. 51 S. 565 ff.
Eine ſcheinbare Differenz zwiſchen dem Rechte des Bundes - rathes und dem des Reichstages, Geſetze vorzuſchlagen, iſt dadurch begründet, daß der Art. 23 dem Reichstage dieſe Befugniß „ inner - halb der Kompetenz des Reiches “geſtattet, während der Bundes - rath an eine ſolche Beſchränkung nicht gebunden iſt3)v. Rönne, Staatsrecht des Deutſchen Reiches (2. Aufl.) I. S. 239 nimmt an, daß auch der Bundesrath nicht berechtigt ſei, Geſetze außerhalb der Kompetenz des Reiches vorzuſchlagen.. Da aber auch die Veränderung der Kompetenz des Reiches ſelbſt nach Art. 78 der R. -V. dem Reiche zuſteht, alſo „ innerhalb der Kompetenz des Reiches “liegt, ſo iſt es dem Reichstage unbenommen, eine Erwei - terung dieſer Kompetenz vorzuſchlagen4)Ausführliche Erörterungen darüber bei Hänel, Studien I. S. 156 ff. 160. 256 und bei Koller, Verfaſſung des Deutſchen Reichs S. 93 ff.. Bei ſtrengſter Auslegung würde demnach der Art. 23 nur die Folge haben, daß der Reichs -27§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.tag, bevor er ein Geſetz vorſchlägt, welches das zur Zeit der Reichsgeſetzgebung zugewieſene Gebiet überſchreitet, zunächſt ein präparatoriſches Geſetz vorſchlagen müßte, welches in entſprechender Weiſe dieſes Gebiet erweitert, und daß der Reichstag erſt, nach - dem dieſer Vorſchlag Geſetz geworden iſt, dasjenige Geſetz vor - ſchlagen dürfte, welches von dieſer erweiterten Kompetenz Anwen - dung macht1)Dies iſt die Anſicht von Seydel, Comment. S. 151. Thudichum S. 215. Auerbach S. 57. Beſeler in den Preuß. Jahrb. Bd. 28 (1871). S. 192. v. Rönne a. a. O. S. 266. 267. Note 5. Vgl. auch deſſen Preuß. Staatsr. I. 1. §. 22 (S. 87). Hänel, Studien I. S. 256 Note 7 erklärt dieſe Anſicht für „ ganz unhaltbar “.. Es iſt aber nicht einzuſehen, warum der Reichstag dieſen letzteren Vorſchlag nicht gleich mit dem auf Abänderung der verfaſſungsmäßigen Kompetenz gerichteten für den Fall der Annahme des letzteren ſolle verbinden können oder warum er nicht eine Erweiterung der Kompetenz mittelſt Sanctionirung des von ihm vorgeſchlagenen Geſetzes ſolle beantragen dürfen2)Vrgl. v. Mohl, Reichsſtaatsrecht S. 63. 163. v. Held S. 123. Hänel a. a. O. Die richtige Anſicht iſt auch im Verfaſſungberathenden Reichstage vom Bundes-Kommiſſ. Hofmann entwickelt worden. (Stenogr. Berichte S. 319 Sp. 2.). Vgl. auch Hierſemenzel I. S. 35 und Bähr in den Preuß. Jahrd. Bd. XXVIII. (1871) S. 80..
Eine praktiſche Bedeutung kömmt der in Rede ſtehenden ein - ſchränkenden Klauſel aber in keinem Falle zu. Denn Geſetzes - Vorſchläge des Reichstages kann der Bundesrath ohnedies nach freiem Belieben verwerfen, auch wenn ſie innerhalb der Reichs - competenz ſich halten3)Der Bundesrath könnte allerdings einen vom Reichstage an ihn ge - langenden Geſetzesvorſchlag, ohne ſich auf eine ſachliche Prüfung ſeiner Be - ſtimmungen einzulaſſen, unter Berufung auf Art. 23 aus dem formellen Grunde zurückweiſen, weil dieſer Vorſchlag ſich nicht innerhalb der Reichscompetenz halte. Allein da der Bundesrath überhaupt Gründe nicht anzugeben verpflichtet iſt, wenn er einem Geſetzes-Vorſchlag des Reichstages ſeine Zuſtimmung ver - ſagt, ſo unterſcheidet ſich rechtlich eine ſolche Zurückweiſung in Nichts von einer Verwerfung des Vorſchlages.; ſtimmt er denſelben aber zu und werden ſie auf verfaſſungsmäßigem Wege zum Geſetz erhoben, ſo wird die Gültigkeit deſſelben dadurch nicht beeinträchtigt, daß der Vorſchlag vom Reichstage ausgegangen iſt, da eben die Uebereinſtimmung von Bundesrath und Reichstag genügt, um auf Grund derſelben ein Geſetz zu ſanctioniren.
28§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.3) Wenn eine der beiden Körperſchaften einen Geſetzes-Vor - ſchlag beſchloſſen hat, ſo iſt derſelbe der andern zu übermitteln. Geht der Vorſchlag vom Bundesrath aus, ſo wird die Vorlage „ nach Maßgabe der Beſchlüſſe des Bundesrathes im Namen des Kaiſers an den Reichstag gebracht. “ R. -V. Art. 16. Der Reichs - kanzler als der einzige Reichsminiſter hat die Vorlage einzubringen; er thut dies nicht als Vorſitzender des Bundesrathes, ſondern als Beamter des Kaiſers, demgemäß nicht im Auftrage des Bundes - rathes oder im Namen der verbündeten Regierungen, ſondern im Auftrage und im Namen des Kaiſers. Ob er für die Einbringung jeder einzelnen Vorlage einer ſpeziellen kaiſerlichen Ermächtigung bedarf, iſt reichsgeſetzlich nicht beſtimmt; ſcheint aber durch die ausdrückliche Hervorhebung, daß die Vorlage im Namen des Kaiſers gemacht werden ſoll, angedeutet zu ſein.
Der Kaiſer aber iſt verfaſſungsmäßig verpflichtet, die Vorlage an den Reichstag nach Maßgabe der Beſchlüſſe des Bun - desrathes zu bringen; d. h. er darf weder die Einbringung ganz unterlaſſen oder unnöthig verzögern, noch darf er die Vorlage anders einbringen, als der Bundesrath ſie beſchloſſen hat. Ge - ſetz-Entwürfe, welche der Bundesrath verworfen hat, oder welche in demſelben gar nicht zur Beſchlußfaſſung gelangt ſind, kann der Kaiſer dem Reichstage nicht vorlegen laſſen; der Kaiſer als ſolcher hat das Recht der Initiative nicht; er iſt darauf beſchränkt, in ſeiner Eigenſchaft als König von Preußen Anträge im Bundesrathe zu ſtellen. Der Reichstag muß über eine Geſetzesvorlage des Bundesrathes einen materiellen Beſchluß faſſen, d. h. ſie annehmen oder ablehnen; er darf nicht über dieſelbe zur Tages-Ordnung übergehen1)Der Reichstag hat dies ausdrücklich anerkannt in ſeiner Geſchäfts - Ordnung §. 50 Abſ. 4..
Wenn der Reichstag einen Geſetzes-Vorſchlag aufgeſtellt oder einen vom Bundesrath ihm vorgelegten amendirt hat, ſo wird der - ſelbe durch den Präſidenten des Reichstages dem Reichskanzler überſendet2)Geſch. -O. des Reichstages §. 66. und von dieſem dem Bundesrathe in deſſen nächſter Sitzung vorgelegt3)Geſch. -O. des Bundesrathes §. 7.. Scheinen dem Bundesrathe Veränderungen an dem Entwurfe erforderlich, ſo können die von ihm beſchloſſenen29§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.Amendements dem Reichstage vorgelegt und die Verhandlungen zwiſchen beiden Körperſchaften ſo lange fortgeſetzt werden, bis eine Einigung über den Wortlaut des Geſetzes erzielt iſt1)Aus Gründen der Zweckmäßigkeit iſt es aber üblich geworden, daß bei wichtigen Geſetzes-Entwürfen von Seiten des Bundesrathes während der Ver - handlungen des Reichstages, namentlich nach den bei der zweiten Bera - thung gefaßten Beſchlüſſen, im Reichstage eine Erklärung darüber abgegeben wird, welchen Beſchlüſſen des Reichstages der Bundesrath ſich anſchließen, welchen er ſeine Zuſtimmung verſagen wolle. Eine formelle Rechtswirkung iſt mit einer ſolchen Erklärung nicht verbunden; es bleibt insbeſondere dem Bun - desrathe unbenommen, nachträglich doch noch den Wünſchen des Reichstages nachzugeben..
1. Der von dem Bundesrathe und Reichstage feſtgeſtellte Ent - wurf wird dadurch zum Geſetze erhoben, daß die Befolgung ſeiner Vorſchriften befohlen oder angeordnet wird. Jedes Geſetz beſteht demnach aus zwei verſchiedenen, auch äußerlich vollkommen von einander getrennten Theilen, von denen der eine die Regeln ſelbſt, der andere den Geſetzesbefehl, die Anordnung ihrer Befol - gung enthält. Dieſe Anordnung kann dem Geſetzes-Inhalt voran - gehen oder nachfolgen. Die Praxis hat ſich im Anſchluß an das in Preußen und allen andern Deutſchen Staaten beobachtete Ver - fahren für die Voranſtellung der Sanctions-Formel entſchieden, welche aus den Worten beſteht: „ Wir … verordnen … was folgt. “ Die Sanctions-Formel kann aber auch noch einen andern Inhalt haben, ſie kann zugleich die verfaſſungsmäßige Entſtehung des Geſetzes, insbeſondere die zwiſchen dem Bundesrathe und Reichs - tage erzielte Uebereinſtimmung bezeugen; ſie kann alſo zugleich Promulgations-Formel ſein. Dieſe Verbindung iſt in der conſti - tutionellen Monarchie üblich und in der Natur der Verhältniſſe gegeben, da der Monarch in demſelben Akte das Geſetz ſanctionirt und promulgirt2)Siehe oben S. 19. 21.. In den Deutſchen Staaten haben daher die Geſetze eine Eingangsformel, welche dieſen doppelten Inhalt hat, und der Norddeutſche Bund ſowie das Deutſche Reich haben für die Eingangsworte der Geſetze eine Formel angenommen, welche ſich an dieſe Praxis und insbeſondere an die in der Preußiſchen Monarchie herkömmliche Faſſung anlehnt.
30§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.Inſoweit die Eingangsworte des Geſetzes Promulgationsformel ſind, wird die Bedeutung derſelben unten erörtert werden; an dieſer Stelle kommen ſie nur als Sanctions-Erklärung in Betracht.
2. Die wichtigſte Frage, welche ſich in Betreff der Sanction erhebt, iſt die nach dem Organ, welches den Geſetzen die Sanc - tion ertheilt. Die Eingangsformel der Reichsgeſetze ſcheint darauf eine einfache und zweifelloſe Antwort zu geben; denn nach ihr iſt es der Kaiſer, welcher die Anordnung erläßt. Bei näherer Prüfung erweist ſich dieſe Annahme aber als unhaltbar und weder mit der Natur der Sache noch mit den Beſtimmungen der Reichs - verfaſſung vereinbar.
Da die geſetzgebende Gewalt des Staates identiſch iſt mit der Staatsgewalt, ſo ergiebt ſich, daß nur der Souverain des Staates, der Träger der Staatsgewalt, Geſetzgeber ſein, d. h. den Geſetzen die Sanction ertheilen kann. In der Sanction der Geſetze kommt der ſtaatliche Herrſchaftswille unmittelbar zum Ausdrucke. Sowie man ſagen kann, daß dem Träger der Souveränetät die Sanction der Geſetze zuſteht, ſo kann man auch umgekehrt ſchließen, daß demjenigen, der in einem Staatsweſen die Geſetze ſanctionirt, die ſouveräne Staatsgewalt zuſteht. Die Sanction iſt der Kernpunkt des ganzen Geſetzgebungs-Vorganges; Alles, was vorher auf dem Wege der Geſetzgebung geſchieht, iſt nur Vorbereitung derſelben, Erfüllung von erforderlichen Vorbedingungen; Alles, was nachher geſchieht, iſt nothwendige Rechtsfolge der Sanction; unabwendbar durch dieſelbe bereits verurſacht. Der entſcheidende und freie Wille, ob etwas Geſetz werden ſoll oder nicht, kömmt allein bei der Sanc - tion zur Entfaltung. Daraus folgt mit Nothwendigkeit, daß der - jenige, der das Recht hat, die Sanction zu ertheilen, auch das Recht haben muß, ſie zu verſagen, oder wie man ſich gewöhnlich ausdrückt, daß ihm das abſolute Veto zuſtehen muß. Wer die Sanctionsformel in Folge des Willens eines Anderen auf ein Geſetz ſchreiben muß, auch ohne daß er ſelbſt will, aber kraft rechtlicher Nöthigung, der ertheilt in Wahrheit die Sanction nicht, der iſt nicht Träger der geſetzgebenden Gewalt, ſondern jener An - dere, in deſſen freier Entſchließung es ſteht, jenen Beſchluß zu faſſen oder nicht. Hieraus ergiebt ſich, daß man dem Kaiſer nur dann die Sanction der Reichsgeſetze zuſchreiben kann, wenn man ihm zugleich das ſogen. abſolute Veto, d. h. die Befugniß, die31§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.Sanction zu verweigern, beilegt. Dies iſt aber durch die Reichs - verfaſſung ausgeſchloſſen. Art. 5 der R. -V. ſtellt[den] Satz an die Spitze: „ Die Reichsgeſetzgebung wird ausgeübt durch den Bundes - rath und den Reichstag. “ Der Kaiſer wird hier gar nicht er - wähnt; hätte dem Kaiſer aber die Befugniß eingeräumt werden ſollen, einem Reichsgeſetz die Sanction zu ertheilen oder zu ver - ſagen, wäre alſo ſeine Zuſtimmung zu dem Zuſtandekommen eines Geſetzes weſentlich, ſo hätte man ihn nicht bei der Aufzählung derjenigen Organe übergehen können, durch welche die Geſetzgebung ausgeübt wird. Auch der folgende Paſſus, wonach die Ueberein - ſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe beider Verſammlungen zu einem Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend iſt, beſtätigt, daß die Zuſtimmung des Kaiſers zum Zuſtandekommen eines Geſetzes nicht erforderlich iſt. Wenngleich Art. 5 Abſ. 1, wie bereits hervorge - hoben worden iſt, den Weg der Reichsgeſetzgebung nicht vollſtän - dig regelt, ſeine Anordnungen alſo anderweitig ergänzt werden müſſen, ſo wird doch durch ihn jede mit ihm in Widerſpruch ſtehende Annahme widerlegt. Aus der Vergleichung des Art. 5 Abſ. 1 mit ſeinem Vorbild, dem Art. 62 der Preuß. Verf. -Urk. ergiebt ſich zweifellos, daß die Nichterwähnung der kaiſerlichen Zu - ſtimmung bei dem Zuſtandekommen eines Geſetzes bedeutet, daß dieſelbe kein Requiſit für den Erlaß eines Geſetzes ſein ſolle.
Ganz direct ausgeſchloſſen wird aber das kaiſerliche Placet durch den zweiten Abſatz deſſelben Artikels, nach welchem Geſetzes - vorſchläge über das Militairweſen, die Kriegsmarine und die im Art. 35 bezeichneten Abgaben im Bundesrath als abgelehnt gelten, wenn ſich die Stimme des Präſidiums dagegen ausſpricht. Die Einräumung dieſes Rechtes wäre völlig ſinnlos, wenn das Präſi - dium bei allen Geſetzesvorſchlägen ein liberum veto hätte, oder richtiger ausgedrückt, wenn es den vom Bundesrath und Reichstag beſchloſſenen Geſetzentwürfen die Sanction zu ertheilen hätte. Auch bei den im Art. 5 Abſ. 2 bezeichneten Geſetzen kömmt die bevor - zugte Kraft der Präſidialſtimme nur innerhalb des Bundes - rathes zur Geltung; auch bei ihnen iſt davon keine Rede, daß neben der Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages noch das Placet des Kaiſers erforderlich ſei1)Vrgl. oben Bd. I. S. 280.; aber nach dem32§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.Grundſatz exceptio firmat regulam folgt aus dem Abſ. 2 des Art. 5, daß der Regel nach Reichsgeſetze auch gegen den Willen des Kaiſers zu Stande kommen können, wofern nämlich die Preußiſchen Stimmen im Bundesrathe in der Minorität geblieben ſind. Folglich kann unmöglich derjenige Willensact, welcher den Geſetzes-Entwurf zu einem Reichsgeſetz umwandelt, ein Willensact des Kaiſers ſein1)Auch die überwiegende Mehrzahl der Schriftſteller ſtimmt darin über - ein, daß dem Kaiſer die Sanction der Geſetze nicht zuſteht. Vgl. Thudichum, Verf. -R. S. 88. Meyer, Grundzüge S. 67. 69. Hierſemenzel I. S. 70. 71. Riedel S. 22. 25. v. Held S. 106. v. Mohl S. 290. Seydel, Kommentar S. 124. v. Gerber S. 246. Auch v. Rönne (2. Aufl.) I. S. 230 iſt derſelben Anſicht; jedoch verbindet er damit das Miß - verſtändniß, daß in den Fällen des Art. 5 Abſ. 2 der R. -V. der Kaiſer „ das Recht der Sanction beſitzt “(!) und er in den übrigen Fällen nicht berechtigt ſei, „ die Sanction zu verweigern. “.
Auch Art. 17 der R. -V. beſtätigt dies. Denn er überträgt dem Kaiſer die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgeſetze und die Ueberwachung der Ausführung derſelben, alſo nur Funk - tionen, welche die Sanction des Geſetzes bereits vorausſetzen.
Aus der Betrachtung der rechtlichen Grundlinien der Reichsver - faſſung ergiebt ſich vielmehr ein anderes Reſultat.
Träger der ſouverainen Reichsgewalt iſt die Geſammtheit der Deutſchen Staaten als ideelle Einheit gedacht2)Vrgl. Bd. I. S. 87 ff.. Nur von ihr kann daher der eigentliche Geſetzgebungsact, die Sanction der Reichsgeſetze ausgehen. Die Geſammtheit der Deutſchen Landes - herren und freien Städte ertheilt den Entwürfen zu Reichsgeſetzen die Sanction, welche ſie in Reichsgeſetze umwandelt. In allen Fällen aber, in denen die Deutſchen Bundesglieder ihren Antheil an der Reichsgewalt auszuüben haben, iſt der Bundesrath das dafür verfaſſungsmäßig beſtimmte Organ, nicht der Kaiſer. Denn der Kaiſer handelt nach freier und höchſt eigener Entſchließung, die Bundesraths-Mitglieder ſtimmen nach der ihnen ertheilten In - ſtruktion. Der Kaiſer iſt daher wohl geeignet, Rechte des Reiches gegen die Gliedſtaaten, gegen die Reichsangehörigen und gegen auswärtige Mächte zu verwalten, niemals aber den Antheil der Bundesglieder an der Reichsgewalt zu verwirklichen. Dazu iſt allein der Bundesrath geeignet, deſſen Mitglieder rechtlich keinen33§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.eigenen Willen haben, ſondern nur die Werkzeuge ſind, durch welche der Wille der Einzelſtaaten und deren Landesherren erklärt wird, und der durch ſeinen Beſchluß den Willen der Einzelſtaaten zu einem einheitlichen Geſammtwillen verbindet.
Die Sanction der Reichsgeſetze erfolgt demnach durch einen Beſchluß des Bundesrathes1)Bei den Berathungen über das Geſetz betreffend die Vereinigung von Elſaß-Lothringen mit dem deutſchen Reich erklärte Miniſter v. Mittnacht in der Reichstagskommiſſion: „ Der Kaiſer ſei im Reiche kein ſelbſtſtändiger Faktor der Geſetzgebung, ſondern nur das einflußreichſte Mitglied der Geſammt - heit. … Der Kaiſer habe auch in der Reichsverfaſſung eine einflußreiche Stellung, obgleich die oberſte Gewalt, die Geſetzgebung, föderativ gedacht ſei. “ Kommiſſionsbericht v. 16. Mai 1871. Druckſachen I. Seſſ. 1871. Bd. II. Nro. 133. S. 17. (Auch abgedruckt in Hirth’s Annalen 1871.).
Da nun der Bundesrath auch an der Feſtſtellung des Geſetzes - Inhaltes Antheil nimmt, ſo kann die Zuſtimmung des Bundes - rathes zu dem Inhalte des Geſetzentwurfs mit dem Beſchluß, denſelben zu ſanctioniren, in einen und denſelben Akt zuſammen - fallen und in Folge deſſen die Bedeutung dieſes letzteren ver - dunkelt werden. Deſſenungeachtet iſt es nicht ſchwierig, beide Momente von einander zu unterſcheiden; denn die beiden Be - ſchlüſſe werden nicht in allen Fällen gleichzeitig und uno actu gefaßt. Cs tritt dies deutlich zu Tage, wenn ein Geſetzesvorſchlag vom Bundesrath ausgeht und vom Reichs - tage unverändert angenommen wird. Obwohl der Bundes - rath ſchon früher als der Reichstag mit dem Inhalt des Geſetz - entwurfs ſich einverſtanden erklärt hat, ſo muß der Bundesrath dennoch, wenn die Vorlage aus dem Reichstage an ihn zurück - gelangt, einen zweiten Beſchluß faſſen, welcher darauf gerichtet iſt, den Geſetzentwurf dem Kaiſer zur Ausfertigung und Verkündigung zu unterbreiten2)Es iſt dies durch den Wortlaut des Art. 7 Ziff. 1 der R. -V. anerkannt, wonach der Bundesrath beſchließt: „ über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die von demſelben gefaßten Beſchlüſſe. “ Es ge - nügt daher nicht, den vom Reichstag gefaßten Beſchluß nur zur Kenntniß des Bundesraths zu bringen..
Dieſer Beſchluß enthält die Sanction des Geſetzentwurfes.
Rechtlich iſt die Möglichkeit gegeben, daß die Bundesregie -[rungen] einen von ihnen dem Reichstag vorgelegten und vom Reichs -Laband, Reichsſtaatsrecht. II. 334§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.tage bereits genehmigten Geſetzentwurf zurückziehen, d. h. nicht ſanctioniren.
Daſſelbe gilt von dem Falle, wenn der Bundesrath während der Verhandlungen des Reichstages über die von Reichstags-Mit - gliedern oder Kommiſſionen geſtellten Anträge oder über die in zweiter Berathung gefaßten Beſchlüſſe verhandelt und vor der Schlußberathung des Reichstages in demſelben eine Erklärung ab - gibt, welchen Abänderungen er zuſtimmen wolle und welchen nicht. Genehmigt alsdann der Reichstag bei der Schlußabſtimmung den Geſetzentwurf in der den Bundesrathsbeſchlüſſen entſprechenden Faſſung, ſo iſt die Uebereinſtimmung über den Geſetzes-Inhalt hergeſtellt, deſſenungeachtet aber noch ein Beſchluß des Bundes - rathes erforderlich, welcher den Geſetzes-Entwurf definitiv geneh - nehmigt, d. h. ſanctionirt.
Dieſer Akt der Sanction iſt merkwürdig durch das Mißver - hältniß, welches zwiſchen ſeiner politiſchen und ſeiner juriſtiſchen Bedeutung beſteht. Politiſch iſt er faſt ohne Belang; denn der Bundesrath wird natürlich einem Geſetzentwurf, deſſen Inhalt er zuſtimmt, die Sanction ertheilen und umgekehrt die Sanction ver - weigern, wenn er den Inhalt verwirft. Die politiſche Aufgabe iſt vollſtändig gelöſt, wenn es gelungen iſt, einen Wortlaut des Geſetzentwurfs zu finden, mit welchem Bundesrath und Reichstag ſich einverſtanden erklären. Bei der überwiegend durch politiſche Geſichtspunkte beherrſchten Behandlung des Staatsrechts iſt es daher nicht zu verwundern, daß man die Sanction mit der Zu - ſtimmung zum Inhalt völlig zuſammenwirft und nur der letzteren unter den Erforderniſſen des Geſetzes Beachtung ſchenkt, und daß auch die Reichsverfaſſung ſelbſt die Sanction der Reichsgeſetze gar nicht erwähnt. Juriſtiſch iſt es dagegen von größter Wichtigkeit, ſowohl für die Erkenntniß des Geſetzgebungs-Vorganges als auch für das richtige Verſtändniß des ganzen Verfaſſungsbaues des Reiches, Klarheit darüber zu gewinnen, wer im Deutſchen Reiche der eigentliche Geſetzgeber iſt. Dadurch allein wird es ermöglicht, ſowohl die Funktionen des Kaiſers wie diejenigen des Bundes - rathes und des Reichstages bei der Geſetzgebung in logiſchem Ein - klang mit dem Prinzip von der Untheilbarkeit der Souve - ränetät zu erhalten und den Widerſpruch zu vermeiden, daß man die Lehre von der Theilung der Staatsgewalt allgemein als35§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.eine unlogiſche und abſurde erkennt und ſie dennoch auf die Aus - übung der Geſetzgebung anwendet.
3. Die Eingangsformel der Reichsgeſetze gibt dem Vorgange, durch welchen ein Reichsgeſetz zu Stande kömmt, keinen völlig ge - treuen Ausdruck. Sie iſt ganz ſo gefaßt, als wäre der Bundes - rath eine Abtheilung der Volksvertretung und das Reich nicht ein Bundesſtaat, ſondern eine Monarchie mit zwei Kammern. Die erfolgte Zuſtimmung des Bundesrathes wird neben der des Reichs - tages erwähnt, als wäre bei der Reichsgeſetzgebung die Stellung beider Verſammlungen ebenſo gleichartig, wie etwa die Stellung der beiden Häuſer des preußiſchen Landtages. Den Geſetzesbefehl erläßt der Kaiſer; allerdings „ im Namen des Reiches “, aber ohne Andeutung, daß der Wille des Reiches, das Geſetz zu ſanc - tioniren, durch das Organ des Bundesrathes hergeſtellt worden iſt. Trotzdem ſteht die Sanctionsformel nicht im Widerſpruch mit der Rolle, welche nach der Reichsverfaſſung dem Bundesrath zu - gewieſen iſt. Denn der Bundesrath iſt durchweg darauf beſchränkt, Beſchlüſſe zu faſſen; dagegen erläßt er niemals formell Befehle. So wie auf dem ganzen Gebiete der Verwaltung der Reichskanzler den Beſchluß des Bundesrathes zur Ausführung bringt, indem er die Befolgung deſſelben befiehlt, ſei es auch nur in der Form der Bekanntmachung; ſo wird bei der Geſetzgebung der von den Bun - desregierungen gefaßte Sanctionsbeſchluß vom Kaiſer ausgeführt, indem er die Befolgung deſſelben befiehlt. In der Eingangsfor - mel der Reichsgeſetze iſt demnach hinter dem Worte „ verordnen “hinzuzudenken: auf Grund und in Ausführung des vom Bundes - rathe Namens der verbündeten Regierungen gefaßten Sanctions - beſchluſſes. Thatſächlich ſind dieſe Worte entbehrlich, weil der Zuſtimmung des Bundesrathes ohnedies in der Eingangsformel Erwähnung geſchieht; freilich ohne Andeutung, daß die Zuſtim - mung des Bundesrathes etwas weſentlich Anderes in ſich ſchließt als die Zuſtimmung des Reichstages.
4. Da der Reichstag weder an der Sanction noch an der Promulgation der Reichsgeſetze einen Antheil hat, die Eingangs - formel aber lediglich auf dieſe beiden Gegenſtände ſich bezieht, ſo beſteht keine rechtliche Nöthigung, daß die Genehmigung des Reichs - tages auch auf die Eingangsworte des Geſetzes erſtreckt wird. Die Praxis hat jedoch im Anſchluß an das in Preußen beobachtete3*36§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.Verfahren ſich dafür entſchieden, die Beſchlußfaſſung des Reichs - tages auch auf die Eingangsformel auszudehnen1)Der von v. Rönne, Preuß. Staatsr. I. 1. S. 183 weitläufig aus - geführte Grund, daß die Sanctionsformel ein „ Theil des Geſetzes “ſei, vgl. auch deſſen Staatsrecht des deutſchen Reichs II. 1 S. 16 — iſt lediglich eine verſteckte petitio principii.. Dadurch iſt der Reichstag in der Lage, eine Controle darüber auszuüben, daß die Eingangsformel mit dem für die Reichsgeſetzgebung vor - geſchriebenen Verfahren im Einklang ſteht.
5. Der Beſchluß des Bundesrathes, durch welchen einem Ge - ſetzentwurf die Sanction ertheilt wird, iſt nach den in Art. 6 und 7 der Reichsverfaſſung gegebenen Beſtimmungen zu faſſen. In der Regel genügt daher die einfache Majorität, welche nach den Bd. I. S. 279 fg. entwickelten Vorſchriften feſtzuſtellen iſt. Aus - genommen hiervon ſind
a) Geſetzesvorſchläge, durch welche die beſtehenden Einrich - tungen hinſichtlich des Militärweſens, der Kriegs - marine oder der im Art. 35 der Reichsverf. bezeichneten Ab - gaben verändert werden ſollen. Sie ſind abgelehnt, wenn die preußiſchen Stimmen im Bundesrathe gegen ihre Annahme abge - geben werden2)R. -V. Art. 5 Abſ. 2. Vgl. oben Bd. I. S. 280. 281..
b) Geſetzesvorſchläge, durch welche Veränderungen der Ver - faſſung erfolgen ſollen. Sie ſind abgelehnt, wenn ſie im Bun - desrathe 14 Stimmen gegen ſich haben3)R. -V. Art. 78 Abſ. 1. Die Entſcheidung der Vorfrage, ob ein Geſetzvorſchlag eine Veränderung der Verfaſſung enthält oder nicht, erfolgt durch einfache Majorität. Bd. I. S. 280. Hänel, S. 259. v. Rönne, II. 1. S. 35..
Daß in dieſem Artikel unter Verfaſſung nur die Verfaſ - ſungs-Urkunde, wie ſie durch das Geſ. v. 16. April 1871 feſtgeſtellt worden iſt, nicht der geſammte Verfaſſungszuſtand des Reiches zu verſtehen iſt, unterliegt keinem Zweifel. Dieſe Verfaſſungs-Urkunde bezeichnet ſich ſelbſt als „ Verfaſſung “und es kann daher nicht angenommen werden, daß ſie in ihrem eigenen Artikel 78 unter dieſem Ausdruck etwas Anderes verſteht4)v. Mohl, Reichsſtaatsr. S. 143 fg.. Auch würde die entgegengeſetzte Anſicht zu völliger Unklarheit führen, da der „ Verfaſſungszuſtand “durch die Geſammtheit aller beſte -37§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.henden Geſetze und Einrichtungen beſtimmt wird; faſt jedes Geſetz daher eine Veränderung der Verfaſſung in dieſem Sinne bewirken würde. Auch der Art. 107 der Preuß. Verf. -Urk., welcher in ähnlicher Weiſe wie Art. 78 Abſ. 1 der R. -V. von der Abände - rung der Verfaſſung auf dem Wege der Geſetzgebung ſpricht, iſt niemals anders ausgelegt worden, als daß das Wort Verfaſſung gleichbedeutend mit Verfaſſungs-Urkunde iſt1)Vgl. v. Rönne, Staatsr. der Preuß. Monarchie I. 2 §. 187. VI. S. 617 fg..
Ebenſo unzweifelhaft iſt es, daß alle in geſetzlichem Wege er - folgten Veränderungen der Verfaſſungs-Urkunde ebenfalls nur geändert werden können unter Beobachtung der im Art. 78 Abſ. 1 aufgeſtellten Regel2)Dies ſind zur Zeit die oben Bd. I. S. 51. 52 aufgeführten Geſetze..
Dagegen bedarf eine andere Frage noch einer näheren Unter - ſuchung. Es kann nämlich vorkommen, daß ein Geſetz erlaſſen werden ſoll, welches formell den Wortlaut der Verfaſſungs-Urkunde unverändert läßt, materiell aber eine Abänderung ihres Inhaltes bewirkt, welches alſo, wie man zu ſagen pflegt, „ materiell ver - faſſungswidrig “iſt3)Eine ausführliche, aber verwirrte und unlogiſche Abhandlung über die rechtliche Bedeutung verfaſſungswidriger Geſetze enthält v. Mohl’s Staatsr. Völkerr. und Politik. Bd. I. S. 66 ff..
Ein ſolches Geſetz kann ſelbſtverſtändlich nur die Sanction erhalten, wenn ſich im Bundesrath nicht 14 Stimmen gegen die - ſelbe erklären, da ſonſt die Beſtimmung des Art. 78 Abſ. 1 eine völlig wirkungsloſe und illuſoriſche wäre. Es iſt ferner unbedenk - lich anzuerkennen, daß das korrekte Verfahren darin beſteht, daß zunächſt der Wortlaut der Verfaſſung entſprechend verändert und alsdann erſt das beabſichtigte Specialgeſetz erlaſſen wird, damit die Harmonie zwiſchen den in der Verfaſſung formulirten Prin - zipien und den Geſetzgebungs-Akten des Reiches nicht geſtört wird. Auch ſind die politiſchen Nachtheile unverkennbar, welche die Durch - löcherung der Verfaſſungsſätze durch gelegentliche Specialgeſetze im Gefolge hat. Alles dies iſt aber nicht entſcheidend für die Be - antwortung der Rechtsfrage, ob nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen oder nach den Anordnnngen der deutſchen Reichsverfaſſung der Erlaß von Spezialgeſetzen, welche dem Wortlaut der Verfaſſung38§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.widerſtreiten, auch unter Erfüllung der für Verfaſſungsänderungen vorgeſchriebenen Erforderniſſe unterſagt und unſtatthaft iſt, und ob Geſetze dieſer Art, welche ohne vorhergehende verfaſſungsmäßig erfolgte Veränderung der Verfaſſungs-Urkunde erlaſſen worden ſind, rechtlich wirkungslos ſeien.
Dieſe Frage iſt zu verneinen1)Sie iſt in der Literatur mehrfach behandelt worden. Für die Be - jahung erklären ſich: Hierſemenzel I. S. 35. 214. Beſeler in den Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28. S. 190 ff. Zachariä zur Frage von der Reichscompetenz gegenüber dem Unfehlbarkeitsdogma. 1871 S. 46. G. Meyer, Staatsrechtl. Erörterungen S. 64 Anm. 1. Weſterkamp, S. 133 u. be - ſonders v. Rönne, Staatsr. des D.R. II. 1. S. 31 fg. Für die Ver - neinung haben ſich ausgeſprochen O. Bähr, in den Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28 S. 79, beſonders Hänel, Studien I. S. 258.. Die in der Verfaſſung ent - haltenen Rechtsſätze können zwar nur unter erſchwerten Bedingun - gen abgeändert werden, aber eine höhere Autorität als an - deren Geſetzen kömmt ihnen nicht zu. Denn es gibt keinen höheren Willen im Staate als den des Souverains und in dieſem Willen wurzelt gleichmäßig die verbindliche Kraft der Verfaſſung wie der Geſetze. Die Verfaſſung iſt keine myſtiſche Gewalt, welche über dem Staat ſchwebt,[ſondern] gleich jedem andern Geſetz ein Willens - act des Staates und mithin nach dem Willen des Staates ver - änderlich2)Die Eigenſchaften, auf welche man die exorbitante Autorität der Ver - faſſungsurkunde zu ſtützen pflegt, nämlich, daß ſie „ feierlich verbrieft “, „ mit der Volksvertretung vereinbart “ſei und dgl., kommen ebenſo allen anderen Geſetzen zu.. Es kann freilich geſetzlich vorgeſchrieben ſein, daß Aenderungen der Verfaſſung nicht mittelbar erfolgen dürfen (d. h. durch Geſetze, welche ihren Inhalt modifiziren), ſondern nur unmit - telbar durch Geſetze, welche ihren Wortlaut anders faſſen. Wo ein ſolches erſchwerendes Erforderniß für Verfaſſungs-Aenderungen aber durch einen poſitiven Rechtsſatz nicht angeordnet iſt, läßt ſich das - ſelbe aus der juriſtiſchen Natur der Verfaſſung und dem Verhält - niß der Verfaſſungs-Urkunde zu einfachen Geſetzen nicht herleiten. Der Satz, daß Spezialgeſetze ſtets mit der Verfaſſung im Ein - klang ſtehen müſſen und niemals mit ihr unvereinbar ſein dürfen3)Vgl. z. B. v. Rönne, Staatsr. des Deutſchen R. II. 1 S. 33. We - ſterkamp, S. 196 ff. u. v. a., iſt lediglich ein Poſtulat der Geſetzgebungs-Politik,39§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.aber kein Rechtsſatz; wenn es auch wünſchenswerth erſcheint, daß der geſetzlich beſtehende Rechts - und Verfaſſungszuſtand nicht im Widerſpruch ſtehe mit dem Wortlaut der Verfaſſungs-Urkunde, ſo iſt dennoch die thatſächliche Exiſtenz eines ſolchen Widerſpruchs an und für ſich ebenſo möglich und rechtlich zuläſſig, wie etwa eine Divergenz des Strafgeſetzbuchs, Handelsgeſetzbuchs oder der Pro - zeß-Ordnung mit einem ſpäter erlaſſenen Specialgeſetz.
Die Reichsverfaſſung enthält keine Vorſchrift, daß Aenderun - gen ihrer Beſtimmungen nur unmittelbar durch Aenderungen ihres Wortlautes, nicht mittelbar durch Erlaß von Specialgeſetzen er - folgen dürfen. Sie verlangt im Art. 78 Abſ. 1 Nichts weiter, als daß ſie „ im Wege der Geſetzgebung erfolgen “, mit dem allei - nigen Zuſatz, daß 14 Stimmen im Bundesrathe zur Ablehnung des Geſetzes genügen. Es iſt daher nicht wohl zu begreifen, wie man ſich auf den Art. 78 Abſ. 1 berufen kann1)z. B. v. Rönne, a. a. O. S. 32 fg., um darzuthun, daß „ der Weg der Geſetzgebung “nicht genügend ſei, ſondern daß er gleichſam zweimal zurückgelegt werden müſſe, das erſte Mal um der Verfaſſungs-Urkunde den erforderlichen Wortlaut zu geben, das zweite Mal um die eigentlich beabſichtigten geſetzlichen Anord - nungen zu treffen. Eben ſo wenig kann man ſich mit Erfolg auf die Beſtimmung im Art. 2 der R. -V. berufen, wonach das Reich das Recht der Geſetzgebung nur „ nach Maßgabe des Inhaltes der Reichsverfaſſung “auszuüben berechtigt ſei, um darzuthun, daß jedes Geſetz ſeinem Inhalte nach mit den Beſtimmungen der Reichs - verfaſſung in Uebereinſtimmung ſtehen müſſe; denn auch Art. 78 gehört zum Inhalte der Reichsverfaſſung. Jedes Geſetz, welches in den in der Reichsverfaſſung vorgeſchriebenen Formen er - gangen iſt, entſpricht dem Erforderniß der Verfaſſungsmäßigkeit; die in der Verfaſſung enthaltenen materiellen Vorſchriften da - gegen ſind durch Art. 78 ausdrücklich für abänderlich im Wege der Geſetzgebung erklärt. Auch der Reichsverfaſſung gegenüber gilt daher der Grundſatz lex posterior derogat priori.
In der Praxis des Deutſchen Reiches ſind die hier entwickelten Sätze wiederholt zur Anwendung gebracht worden. Der Art. 4 der Verfaſſung hat ſchon zur Zeit des Norddeutſchen Bundes, ohne daß ſein Wortlaut verändert worden wäre, ſeinem Inhalte nach40§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.eine Erweiterung erfahren durch das Geſetz vom 12. Juni 1869 über die Errichtung des Oberhandelsgerichts1)Vgl. darüber die Verhandlungen des Preußiſchen Herrenhauſes 1869 / 70. Stenogr. Berichte S. 59.. Daß auch das Geſetz vom 6. März 1875, betreffend Maßregeln gegen die Reb - lauskrankheit, die im Art. 4 normirte Competenz überſchreitet, iſt kaum zweifelhaft2)Vgl. Protokoll des Bundesrathes 1875 § 170.. Ganz offenbar aber iſt es, daß Art. 1 der R. -V. durch das Geſ. v. 9. Juni 1871 betreffend die Vereinigung von Elſ. -Lothr. mit dem Deutſchen Reiche und Art. 20 Abſ. 2 und Art. 40 der R. -V. durch das Geſ. v. 25. Juni 1873 betreffend die Einführung der Verf. des Deutſchen Reichs in Elſ. -Lothr. ma - teriell abgeändert worden ſind, obgleich dieſe Veränderungen im Text der Verfaſſung keinen Ausdruck gefunden haben. Ferner hat das Geſ. v. 21. Juli 1870 die Legislatur-Periode des damaligen Reichstages über die im Art. 24 der R. -V. feſtgeſetzte Dauer verlängert.
Endlich iſt Art. 50 Abſ. 2 der R. -V. durch das Poſtgeſ. v. 28. Oktob. 1871 § 50 modifizirt worden3)Hänel, a. a. O. Auch das Geſetz v. 25. Mai 1873 über die Rechts - verhältniſſe der zum dienſtlichen Gebrauche einer Reichsverwaltung beſtimmten Gegenſtände iſt nach der Anſicht von Seydel (in Behrend’s Zeitſchrift f. die Deutſche Geſetzgebung Bd. VII. S. 234) außerhalb der verfaſſungsmäßigen Reichscompetenz erlaſſen..
Wenn man hiernach anerkennen muß, daß unter Beobachtung der im Art. 78 aufgeſtellten Erforderniſſe verfaſſungsändernde Ge - ſetze erlaſſen werden können, ohne daß der Wortlaut der Verfaſ - ſungs-Urkunde eine Abänderung erfährt, ſo entſteht die weitere Frage, ob ſolche Geſetze ebenfalls nur unter Beobachtung der im Art. 78 Abſ. 1 gegebenen Vorſchrift abgeändert werden können oder ob hierzu ein von der einfachen Majorität des Bundesrathes ſanctionirtes Geſetz genügt. Dieſe Frage iſt im letzteren Sinne zu entſcheiden4)In demſelben Sinne äußern ſich: Thudichum, Verfaſſungsr. S. 84 und Weſterkamp S. 135. Die entgegengeſetzte Anſicht vertritt Hänel S. 255 Note 6. Keine Beantwortung der Frage enthalten die Bemerkungen v. Mohl’s S. 158.. Denn die erſchwerende Bedingung des Art. 78 Abſ. 1 ſetzt Anordnungen voraus, welche formell Beſtandtheile der Verfaſſungs-Urkunde geworden oder an die Stelle ſolcher Be -41§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.ſtandtheile getreten ſind. Nicht die materielle Wichtigkeit eines Rechtsſatzes, ſondern dieſes äußerliche Merkmal allein iſt dafür entſcheidend, ob die allgemeine Regel der Artikel 5 und 7 oder die ſpezielle Regel des Art. 78 Abſ. 1 Anwendung findet. Wenn demnach einmal die Verfaſſung durch ein Spezialgeſetz mittelbar abgeändert worden iſt, ſo können die Beſtimmungen dieſes Spezial - geſetzes fortan durch ein mit einfacher Majorität ſanctionirtes Geſetz verändert werden, wenngleich dadurch noch weiter gehende Modifikationen der urſprünglichen Verfaſſungsſätze herbeigeführt werden. Auch dieſer Grundſatz iſt in der Praxis zur Anwendung gekommen, indem die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts und damit die im Art. 4 der R. -V. abgegrenzte Kompetenz des Reichs durch eine Reihe von Geſetzen erweitert worden iſt1)Vgl. über dieſelben Bd. I. S. 363 fg., ohne daß für dieſelben der Charakter der verfaſſungsändernden Geſetze in Anſpruch genommen worden iſt2)Gerade hieran aber zeigt es ſich, wie bedenklich es in politiſcher Hin - ſicht iſt, die Verfaſſungs-Grundſätze durch Spezialgeſetze zu durchbrechen, ohne den Wortlaut der Verfaſſungs-Urkunde entſprechend abzuändern.. Sollen die Beſtimmungen eines Spezialgeſetzes dieſelben Garantieen gegen Veränderungen erhalten, wie diejenigen der Verfaſſung, ohne daß ſie doch in die Verfaſſungs-Urkunde ſelbſt aufgenommen werden, ſo muß das Spezialgeſetz die ausdrückliche Anordnung enthalten, daß es nur auf dem im Art. 78 der R. -V. bezeichneten Wege abgeändert werden könne. Andererſeits kann auch die Verfaſſungs-Urkunde Abänderungen ihres Inhaltes im Wege der einfachen Geſetz - gebung vorbehalten, entweder ausdrücklich, wie dies im Art. 79 Abſ. 2 der Norddeutſchen Bundesverf. der Fall war, oder indem ſie ihre Anordnungen „ bis zum Erlaß eines Reichsgeſetzes “auf - ſtellt. Vgl. R. -V. Art. 20 Abſ. 2. 60. 61 Abſ. 2. 68. 75 Abſ. 2.
Wenn der Reichstag einem Reichsgeſetze die Zuſtimmung er - theilt und der Bundesrath daſſelbe definitiv genehmigt (ſanctionirt) hat, ſo ſind die materiellen Vorausſetzungen für den Erlaß des Geſetzes gegeben. Es bedarf das Geſetz aber, um rechtlich wirk - ſam werden zu können, einer ſinnlich wahrnehmbaren authentiſchen42§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.und ſolennen Erklärung, einer äußeren, ſeine rechtmäßige Entſte - hung verbürgenden und beſtätigenden Form. Der Beſchluß des Reichstages hat an und für ſich keine verbindliche Kraft, weil er nicht einen Befehl der Staatsgewalt zum unmittelbaren Inhalte hat; der Sanctions-Beſchluß des Bundesrathes iſt — wie bereits erörtert wurde — ebenfalls nicht der formelle Erlaß des Geſetzes - befehles ſelbſt, ſondern nur ein Beſchluß, daß dieſer Befehl im Namen des Reiches erlaſſen werden ſoll. Die formelle Erklärung des Geſetzgebungswillens des Reiches, die Ausfertigung und Verkündigung des Reichsgeſetzes iſt vielmehr durch Art. 17 der R. -V. dem Kaiſer übertragen.
1. Die Eingangsworte der Geſetzes-Urkunde lauten: „ Wir ..... verordnen im Namen des Deutſchen Reiches, nach er - folgter Zuſtimmung des Bundesrathes und des Reichstages, was folgt. “ Die Ausfertigung des Geſetzes enthält alſo die kaiſerliche Verſicherung, daß das Geſetz die Zu - ſtimmung des Reichstages und Bundesrathes erhalten hat, d. h. den Anforderungen der Reichsverfaſſung gemäß zu Stande gekom - men iſt. Sie ſetzt demnach eine Prüfung des Weges, den das Geſetzgebungswerk zurückgelegt hat, voraus. Dem Kaiſer als ſol - chem ſteht zwar ein Veto gegen das Reichsgeſetz nicht zu; aber der Kaiſer hat das Recht und die Pflicht, zu unterſuchen, ob das Geſetz in verfaſſungsmäßiger Weiſe die Zuſtimmung des Reichs - tages und Bundesrathes und die Sanktion des durch den Bundes - rath vertretenen Reichs-Souverains erhalten hat. Er hat daher insbeſondere zu prüfen, ob im Bundesrathe die Abſtimmung nach den im Art. 7 der Reichsverf. aufgeſtellten Regeln und ob die Beſchlußfaſſung der Beſtimmunngen der Art. 5. 37 oder 78 der R. -V. gemäß erfolgt iſt1)In dem Geſetz vom 21. Juli 1870 (B. -G.-Bl. S. 498) lautet die Pro - mulgationsformel: „ nach erfolgter verfaſſungsmäßiger Zuſtimmung des Bundesrathes und Reichstages. “ Es ſollte dadurch angedeutet werden, daß die Abſtimmung im Bundesrathe gemäß Art. 78