Seite 35 Zeile 7 von oben ſt. aufwallend lies aufwollend.
— 68 — 6 von unten ſt. unpartheiiſche l. unpoetiſche
— 75 — 6 von oben ſt. tadelfaͤhigen l. tafelfaͤhigen.
— 79 — 9 von oben muß deren weg.
— 94 — 6 von unten ſt. vergoffene l. vergeſſene.
— 145 — 4 von oben ſt. Halfter l. Hulfter.
— 223 — 15 — — ſt. Biographie l. Biographin.
— 237 — 6 — — ſt. ſeinem Thiere l. ſeinen Thieren.
— — — 17 — — ſt. theologiſche l. teleologiſche.
— 245 — 5 — — ſt. Litrationen l. Librazionen.
— 251 — 9 von unten ſt. Neſt l. Reſt.
— 256 — 4 von oben ſt. v. S! l. » S ».
— 260 — 9 von unten ſt. dankt l. denkt.
— 278 — 10 von oben ſt. einzuſchließen l. einzuſchießen.
— — letzte Zeile ſt. verpuzte l. verpuppte.
— 285 — 2 von oben ſt. daß ſelber l. das, ſelber.
— 290 — 8 von unten ſt. Artochthon l. Avtochthon.
— 404 — 8 — — ſt. der l. die.
— 318 — 3 von oben ſt. vorhaͤngen l. verhaͤngen.
— 327 — 8v. unt. ſt. vorausgeſetzten l. vorausgehetzen.
— 350 — 12 — — ſt. das l. daß.
— 364 — 12 von oben fehlt nicht.
Die Kur — das Schloß des Fürſten — Viktors Viſiten — Joachime — Kupferſtich des Hofs — Prügel —
Ich ſagte in Breslau: » ich wollt ', ich waͤre der » Fetspopel! » da ich gerade das Portrait dieſer Per¬ ſon verzehrte. Der Fetspopel iſt eine Naͤrrin, de¬ ren Geſicht den breslauiſchen Pfefferkuchen aufge¬ preſſet iſt. Ich ſage folgendes nicht blos meinetwe¬ gen, um etwan blos mich auf eine ſolche Pfefferku¬ chen-Paſten zu bringen, ſondern auch anderer Ge¬ lehrten wegen, die Deutſchland eben ſo wenig mit Monumenten ehrt z. B. Leſſing, Leibniz. Da es einem in den deutſchen Kreiſen ſo ſauer wird, bis man nur eine ½ Ruthe Steine zum Grabmal eines Leſſings oder ſonſtigen Großen zuſammenbringt — das was von Steinen gute Rezenſenten auf einen Litteratus ſchon bey Lebzeiten werfen wie die Alten auf Graͤber, iſt noch das Meiſte —: ſo erklaͤrt' ich mich frey auf dem breslauiſchen Markt, eh 'ich nochA 24» den Fetspopel angebiſſen: entweder hier auf dieſem » Pfefferkuchen iſt der Tempel des Ruhms und das » Bette der Ehren fuͤr deutſche Autores, oder es » giebt gar keinen Ruhm. Wann iſt es Zeit, ſobald » es nicht jetzt iſt, es von den Deutſchen zu erwar¬ » ten, daß ſie Geſichter ihrer groͤßten Maͤnner » nehmen und pouſſiren in Eswaaren, weil doch der » Magen das groͤßte deutſche Glied iſt? Wenn der » Grieche unter lauter Statuen groſſer Maͤnner » wohnte und dadurch auch einer wurde: ſo wuͤrde der » Wiener, wenn er die groͤßten Koͤpfe immer vor Augen » und auf dem haͤtte, in Enthuſiasmus gera¬ » then und wetteifern, um ſich und ſein Geſicht auch » auf Pfeffer - und andern Kuchen, Paſteten und » Krapfen zu ſchwingen. Meuſels gelehrtes Deutſch¬ » land waͤre in Backwerk nachzudrucken — man koͤnn¬ » te groſſe Helden auf Kommisbrod nachboſſeln ‚ um » die gemeine Soldateska in Feuer zu ſetzen und in » Hunger nach Ruhm — groſſe Dichter wuͤrd 'ich » auf Brautkuchen abreiſſen in eingelegten Bild¬ » werk und Heraldiker von Genie auf Haferbrod — » von Autoren fuͤr Weiber waͤren ſuͤſſe Projekzionen » in Zuckerwerk zu entwerfen — Geſchaͤhe das: ſo » wuͤrden Koͤpfe wie Haman oder Liskov allgemeiner » von den Deutſchen goutiret in ſolcher Einkleidung; » und mancher Gelehrte, der kein Brod zu eſſen haͤt¬ » te, wuͤrde eines doch verzieren; und man haͤtte5 » auſſer dem papiernen Adel noch einen gebacknen. » — — Was mich anlangt, der ich mein Geſicht bis¬ her noch nirgends gewahr wurde als im Raſirſpie¬ gel: ſo ſoll man mich damit — denn in Weſtphalen bin ich am wenigſten bekannt, vielleicht keinem Hund — auf Pumpernickel mappieren. — —
Jetzt wieder zur Hiſtorie! Ein langer kraushaa¬ riger Menſch ſteht in der Nacht vor dem bunten Hauſe des Apotheker Zeuſels, guckt zum dritten er¬ leuchteten Stockwerk, in das er zieht, empor und macht endlich ſtatt der hoͤlzernen Thuͤr die transpa¬ rente der Apotheke auf. O mein guter Sebaſtian! Segen ſey mit deinem Einzug! Ein guter Engel gebe dir ſeine Hand, um dich uͤber ſumpfige Wege und Fußangeln zu heben: und wenn du dir eine Wunde gefallen, ſo weh 'er ſie mit ſeinem Fluͤgel an und ein guter Menſch decke ſie mit ſeinem Her¬ zen zu! —
In der wie ein Tanzſaal flammenden Apotheke bat ſich einer der fetteſten Hoflakaien von einem der magerſten Proviſoren noch einen Manipel und einen kleinen Pugillum Moxa fuͤr ſeine Durchlaucht aus. Der magere Mann nahm aber hinter ſeiner Wage eine halbofne Hand voll Moxa und noch vier Fin¬ gerſpitzen voll — da doch ein kleiner Pugillus nur drei Fingerſpitzen betraͤgt — und ſchickte alles den Fuͤſſen des Fuͤrſten zu: » wenn wir das gar verbrannt6 » haben — ſagt 'er und wies auf die Moxa — ſo » wird ſeine Durchlaucht ſchon ein Podagra haben » ſo gut als eines im Lande iſt. »
Die Urſache warum der Proviſor mehr gab als rezeptiret war, iſt, weil er auch ſeinen Kirchenſtuhl im Tempel des Nachruhms haben wollte; daher uͤberdachte er erſtlich ein fremdes Rezept ſo lange bis ers genehmigte und wog zweitens immer $$\frac{1}{11}$$ , $$\frac{1}{17}$$ Skrupel zuviel oder zu wenig zu, um dem Doktor die Buͤrgerkrone der Heilung vom Kopf zu nehmen und auf ſeinen zu ſetzen: » blos mit der Doſis muß » ich meine Kuren thun » ſagte er. Viktor goͤnnte ihm den Irſal: » ein Proviſor, ſagte er, der den » ganzen Fluͤgel der Rekonvaleszenten anfuͤhrt und » dem Doktor blos die Arrier-Garde der Leichen » zutheilt, hat fuͤr dieſes abbrevirte Leben ſchon Lor¬ » beerkraͤnze genug unter der Gehirnſchaale. »
Der Hr. v. Swoboda hat Welt genug, um den Miethmann nicht durch ein aufgenoͤthigtes Em¬ pfangs-Souper zu geniren und ſagte ihm blos den Zeitungsartikel aus dem muͤndlichen morning chro¬ nicle, daß der Fuͤrſt das Podagra weniger habe als ſuche[und] fixire. Auch gab er ihm den italieni¬ ſchen Bedienten, den der Lord fuͤr ihn gemiethet hatte, und das Zimmer.
— [Und] darin ſitzt Baſtian jetzt auf der Fen¬ ſterbruͤſtung allein und denkt — ohne Blick auf7[Ammeublement] der[Stube] und der Ausſicht — ernſt¬ haft nach, was er denn eigentlich hier vorhabe mor¬ gen und uͤbermorgen und laͤnger: » morgen zuͤnd 'ich » ſonach los — ſagt' er und drehte die Quaſte der » Fenſterſchnur — ich und das Podagra ſollen uns » fixiren beim Fuͤrſten — arg iſts, wenn ein Menſch » die atthritiſche Materie eines Regenten als Waſ¬ » ſer braucht, um ſeine Muͤhle zu treiben — ein » Herz-Polype, eine Kopf-Waſſerſucht ſollte » mich weniger aͤrgern als Hofmann, beides waͤren » anſtaͤndige Gnadenmittel und Flosfedern zum » Steigen. — Nein, ich bleibe gerade und feſt, ganz » aufrecht, ich gebe gleich anfangs nicht nach, damit » ſie's nicht anders wiſſen. — Nicht einmal ans » Kantoniren und Ankern im Vorzimmer iſt zu den¬ » ken. » (Auch hatte der Lord dem Selbſtſprecher ſchon die Diſpenſazionen von der aͤngſtlichen Hoford¬ nung einbedungen). — » Ach ihr ſchoͤnen Fruͤhlings¬ » jahre! ihr ſeid nun uͤber mich weggeflattert und » mit euch die Ruhe und der Scherz und die Wiſ¬ » ſenſchaften und die Aufrichtigkeit und lauter aͤhnli¬ » che gute Herzen. » — (Er wirbelte die Quaſten¬ ſchnur ploͤtzlich kuͤrzer hinauf.) » Aber du guter Va¬ » ter, du haſt ſolche Jahre nicht einmal gehabt, du » durchſtreifeſt die Erde und giebſt deine Tage Preis » fuͤr das Gluͤck der Menſchen. — Nein, dein Sohn » ſoll dir deine Aufopferungen nicht verderben und8 » nicht verbittern — er ſoll ſich hier geſcheut genug auf¬ » fuͤhren — und wenn du dann wieder kommſt und » hier am Hofe einen gehorſamen, einen beguͤnſtigten » und doch unverdorbnen Sohn antrifft .... » Als der Sohn gar dachte, daß er, wenn er ſo in gerader Aszenſion am Hofe kulminirte, gewinnen koͤnnte das Herz der Kaplanei, das Herz von le Baut, das Herz der Tochter glaub 'ich: ſo hielt er die Quaſte abgedreht in ſeiner .... und legte ſich ſtill zu Bette.
— Steh auf, mein Held! Die Morgenſonne macht ſchon deinen Erker roth — ſpringe unter dem Glockengelaͤute der Wochenpredigt und unter dem Getoͤſe des heutigen Markttages in deine helle Stu¬ be — dein Vater, von dem du die ganze Nacht ge¬ traͤumt, hat ſie voll muſikaliſchem und maleriſchem Schiff und Geſchirr geſtellt und du wirſt den ganzen Morgen an ihn. denken — und doch ſchenkt dir der Erker noch mehr, einen gruͤnen Streif von Feldern und Maienthals Anhoͤhen nach Abend — den gan¬ zen Marktplatz — das Privat-Haus des Stadtſe¬ niors gegenuͤber, dem du in alle Stuben, die er an deinen Flamin vermiethet, ſchauen kannſt. — —
Flamin iſt aber nicht darin: denn er hatte mei¬ nen Helden ſchon angefaßt und mit meinen Worten angeredet: ſteh 'auf! — Eine neue Lage iſt eine Fruͤhlingskur fuͤr unſer Herz und nimmt das aͤngſtli¬9 che Gefuͤhl unſerer Vergaͤnglichkeit aus ihm: — und unter einem ſolchen heitern Himmel des Lebens tanzet heute mein Viktor mit Allen: — mit den Vormittagshoren — mit dem Regierungsrathe — mit dem Apotheker — durch die Apotheke hindurch neben dem Pro[v]iſor vorbei, um oben auf dem Schloſſe mit dem podagriſtiſchen Jenner einige Tou¬ ren zu machen.
— Er iſt kaum eine halbe Stunde bei dem Fuͤr¬ ſten geweſen, ſo ſieht ihn Zeuſel wieder in ſein me¬ diziniſches Waarenlager rennen .... » ei, ei! » denkt der Apotheker.
Aber es war ganz anders: Viktor gelangte durch einen Monturen-Verhau — denn die Korridore der Fuͤrſtenſchloͤſſer ſind faſt Zeltgaſſen und die Regenten laſſen ſich ſo aͤngſtlich umwachen als beſorgten ſie, die erſten oder die letzten zu ſeyn — ins Kran¬ kenzimmer. Vor einem Pazienten, der in wagrech¬ ter Verfaſſung liegt, behaͤlt man die lothrechte leichter. Die Großen verwechſeln auch oft die Wirkung ihrer Zimmer und Meublen mit ihrer eig¬ nen: — wenn ſie der Gelehrte auf einem Rain, in einem Walde, an einem Krautfelde uͤberfallen koͤnn¬ te: er wuͤſte ſich zu benehmen. Aber Viktor war ſelber in bordirten und mit goldnen Klauſuren verſe¬ henen Zimmern erzogen. Da er den Freund ſeines Vaters in Schmerzen und in emballirten Beinen10 fand: ſo vertauſchte er ſeine brittiſche Unbefangen¬ heit gegen die mediziniſche und fing, anſtatt ſtolze fuͤrſtliche Fragen zu erwarten, mediziniſche vorzule¬ gen an. Als die Doktors Karechiſation oder viel¬ mehr das diaͤtetiſche und pharmazevtiſche Beichtſitzen zu Ende war: ſo legte er die Hand anſtatt auf den Kopf des Beichtkindes, auf die Bibel daneben und wollte ſchwoͤren und ließ es — bleiben, weil ihm etwas beſſers einfiel, und blaͤtterte — das war ihm eingefallen — das Gichtbruͤchigen-Evangelium in der Bibel auf und wies auf den Spruch: ſteh 'auf, hebe dein Bette auf, denn aus Podagra iſt hier gar nicht zu denken. » Er that ihm dar, ſeine ganze Krankheit ſey Wind, figuͤrlich und eigentlich geſpro¬ chen — in den erſchlaften Gefaͤſſen reſidir' er und ſchleiche ſich wie die Jeſuiten unter allen Geſtalten in alle Glieder ein — ſelber ſein Schmerz in der Wade ſey ſolcher translozirter Menſchen - oder Inte¬ ſtiuen-Aether. D. Kuhlpepper iſt mit ſeinem Ir¬ thum zu entſchuldigen: denn jeder Arzt muß ſich ei¬ ne Univerſalkrankheit ausleſen, wofuͤr er alle andre anſieht, die er con amore kurirt, in der er wie der Theolog in Adams Suͤnde, der Philoſoph in ſeinem Prinzip alle uͤbrige ertappet — es ſtand alſo in dem freien Willen Kuhlpeppers ſich zu ſeiner Neſtei - oder Mutterzwiebel-Krankheit das Podagra — bei Maͤn¬ nern, bei Weibern die Gicht — auszuklauben oder11 nicht; da ers ausgeklaubt, ſo hat er auch ſuchen muͤſſen, es bey Sr. Durchlaucht zu fixiren wie Pa¬ ſtel oder Quekſilber. — Jenner hatte — ſelber von ſeiner Kapelle nie etwas angenehmers gehoͤret als eine Behauptung, die ihn vom bisherigen Liegen, Mediziniren und Hungern loshalf. Viktor, uͤber die leichte Krankheit erfreuet, eilte znm Rezeptiren da¬ von, nachdem er an Troſtes Statt behauptet hatte: » ein aͤtheriſcher Leib ſei noch mitzunehmen und » diene der Seele zwar zu keinem Grahams - aber » doch zu einem Luftbette, das ſich ſelber mache. » Hingegen die armen Weiberſeelen laͤgen — wenn » man ihre Koͤrper recht betrachte — auf ſtehenden » Strohſaͤcken, glatten Huſarenſatteln und ſcharfen » Wurſtſchlitten, indes tonſurirte oder taͤttowirte » Geiſter (Moͤnche und Wilde) ſich mit ſo huͤbſchen » von geſchabtem Fiſchbein gepolſterten Leibern*)Geſchabtes Fiſchbein fanden die Britten als das weichſte Lager aus. zu¬ » deckten. »
— Fort lief er; und ich habe ſchon berichtet, daß der Apotheker nachher dachte: ei, ei! — In der Apotheke ſagte er zum Proviſor, an den er wie Salpeter anflog: » Herr Kollege, wie waͤre es, wenn » wir bei Sr. Durchlaucht auf nichts kurirten als12 » Wind? Sie ſollen mir rathen. Ich meines Or¬ » tes wuͤrde verordnen:
Pulv. Rhei orient.
Sem. Anisi Stellati
— — Foeniculi
Cort. Aurant. immat.
Sal. Tart. aa dr. I.
Fol. Senn. Alexandr. sine Stipit. dr. II.
Sacchar. alb. Unc. Sem. —
» Fallen Sie mir bei: ſo hab 'ich weiter nichts zu » ſagen als: C. C. M. f. p. Subt. D. ad Scatu¬ » lam, S. Blaͤhungspulver, Einen Theloͤffel voll zu » nehmen bei Gelegenheit. » —
Da ihn der Proviſor ernſthaft anſah: ſo ſah er denſelbigen noch ernſthafter an; und die Medizin wurde ohne geaͤnderte Doſis bereitet. Als er fort war, ſagte der Proviſor zu ſeinen zwei dummen Pa¬ gen: » ihr zwei dummen Epiglottes, er hat doch ſo¬ » viel Verſtand und fragt.
Im Grunde braucht der Biograph den Umſtand gar nicht zu motiviren — da ihn das Pulver und der Held motiviren, daß Jenner auf die Beine kam noch denſelben Tag.
Da Fuͤrſten keinen Druck erfahren als den der Luft, die — in ihrem Leibe iſt; ſo kannte Jenners Dank fuͤr die Befreiung von dieſem Druck ſo wenig13 Graͤnzen, daß er den ganzen Tag den Doktor — nicht wegließ. Er muſte mit ihm diniren — ſoupi¬ ren — reiten — ſpielen. Im Schloß wars auszu¬ halten: es war nicht wie Nero's ſeines, eine Stadt in der Stadt, ein Flachſenfingen in Flachſenfingen, ſondern blos eine Kaſerne und eine Kuͤche, voll Krie¬ ger und Koͤche. Denn vor jedes Briefgewoͤlbe voll Schimmel, vor jede Stube, wo acht Demanten la¬ gen, vor jedes Thuͤrſchlos und vor jede Treppe war eine Bajonette mit dem daran gehefteten Schirm¬[und] Schutzherrn gepflanzt. Die uͤberkomplete Kuͤ¬ chenmannſchaft wohnte und heizte darinn, weil ſeine Durchlaucht beſtaͤndig aß. Durch dieſes beſtaͤndige Eſſen wollt 'er ſich das Faſten erleichtern: denn er ruͤhrte — weil's Kuhlpepper ſo haben wollte — von drei Ritual-Mahlzeiten blutwenig an und konnte den Hofleuten, die ſeine Diaͤt erhoben, nicht ganz widerſprechen. Ein Uhrmacher aus London hatte ihn in dieſer Maͤßigkeit am meiſten dadurch beyge¬ ſprungen, daß er ihm eine Bedientenglocke nnd ein Feder-Werk verfertigte, deſſen Zeiger auf einer groſſen Scheibe unten im Domeſtikenzimmer ſtand: das Zifferblatt war ſtatt der Stunden und Monats¬ tage mit Viktualien und Weinen geraͤndert. Jenner durfte nur klingeln und druͤcken: ſo wuſte die Die¬ nerſchaft ſogleich, ob die Zunge und der Viktualien¬ zeiger auf Paſteten oder Burgunder weiſe. Da¬14 durch — daß er wie eine Muͤhle klingelte, wenn ſein innerer Menſch nichts mehr zu mahlen hatte — ſetzte er ſich am leichteſten in Stand, eine ſtrengere Diaͤt zu halten als wol Doktores und Moraliſten fodern koͤnnten und beſchaͤmte mehr als einen Groſ¬ ſen, den man nach der Ausweidung im Tode aufs Paradebette legen ſollte mit dem hungrigen Magen unter dem einen Arm, und mit der durſtigen Leber unter dem andern, wie man auch Kapaunen beide Eingeweide als[Chapeaubashuͤte] zwiſchen beide Fluͤ¬ gel giebt.
Im Schloſſe war Viktor zu Hauſe wie in der Kaplanei: denn der eigentliche Hof, der eigentliche Hof-Wurmſtock und Froſchlaich war blos im Pal¬ laſt des wirklichen Miniſters von Schleunes anſaͤßig, weil der die Honneurs des Thrones machen muſte, die Geſandten, die Fremden einlud u. ſ. w. Die Fuͤrſtin logirte im groſſen alten Schloß, das Paul¬ linum genannt. So verlebte alſo Jenner ſeine Tage ohne Prunk aber bequem in der wahren Einſamkeit eines Weiſen und brachte ſie mit Eſſen, Trinken, Schlafen zu; daher konnte ihn der flachſenfingiſche Prorektor ohne Schmeichelei mit den groͤßten alten Roͤmern vergleichen, an denen wir einen aͤhnlichen Haß des Gepraͤnges bewundern. Jenner hatte im Grunde keinen Hof, ſondern ging ſelber an den Hof ſeines wirklichen Miniſters: aber hoͤchſt ungern,15 er konnte da nichts lieben, weder die Fuͤrſtin, die immer da war, noch Schleunes eheloſe Toͤchter, die noch wider ſein Geluͤbde waren.
Nachts um 12 Uhr haͤtte Zeuſel gern noch dar¬ hinterkommen wollen, wie alles waͤre und brachte dem Leibmedikus ſeine Niece Marie als Soubrette und Lakaiin zugefuͤhret. Der Medikus, der keinen Narren in der Welt zum Narren haben konnte, zu¬ mal unter vier Augen, ſteckte dem duͤnnen Hecht die Raufe voll Wahrheits-Futter, das der begierig herausfras wie Ananas. Marie war eine durch ei¬ nen Prozeß verarmte, durch eine Liebe verungluͤckte Verwandte und Katholikin, die in der kalten hoͤfi¬ ſchen Apothekers-Familie nichts empfieng und er¬ wartete als Stichwunden der Worte und Schußwun¬ den der Blicke — ihre aufgeloͤſte und erquetſchte Seele glich der Bruchweide, der man alle Zweige ruͤckwaͤrts mit der bloſſen Hand herunterſtreichen kann — ſie fuͤhlte bei keiner Demuͤthigung einen Schmerz mehr — ſie ſchien vor andern zu krie¬ chen, aber ſie lag ja immerfort niedergebreitet auf den Boden. — — Der ſanfte Viktor, als er dieſe demuͤthige, ſeitwaͤrtsgekehrte Geſtalt, uͤber die ſo viele Thraͤnen gegangen waren und dieſes ſonſt ſchoͤne Geſicht erblickte, auf welches nicht Leiden der Phantaſie ihre magiſche Tuſche aufgetragen, ſondern phyſiſche Schmerzen ihre Giftblaſen ausgeſchuͤttet16 hatten: ſo that ſeinem Herzen das Schickſal der Menſchen wehe und mit der ſanfteſten Hoͤflichkeit ge¬ gen Mariens Stand, Geſchlecht und Jammer lehnte er ihre Dienſte ab. Der Apotheker wuͤrde ſich ſel¬ ber verachtet haben, wenn er dieſe Hoͤflichkeit fuͤr etwas anders als ſeine Raillerie und Lebensart ge¬ nommen haͤtte. Aber Viktor ſchlug ſie wieder aus; und die Arme entfernte ſich ſtumm und wie eine Magd ohne Muth zur Hoͤflichkeit.
Am Morgen brachte ihm die Ausgeſchlagene doch ſein Fruͤhſtuͤck mit geſenkten Augen und ſchmerzlich laͤchelnden Lippen: er hatt 'es in ſeinem Bette ge¬ hoͤrt, daß der Apotheker und ſeine weiblichen Holz¬ triebe der Marie das lamentable greinerliche Air vorgehalten und daraus den refus des raillirenden Herrn oben gefolgert hatten. Ihm blutete die See¬ le; und er nahm Marie endlich an — er machte ſein Auge und ſeine Stimme ſo ſanft und ſympa¬ thetiſch, daß er beide haͤtte einem weichen Maͤd¬ gen leihen koͤnnen — aber Marie bezog nichts auf ſich. — —
Jenner konnte kaum abpaſſen, wenn er wieder kaͤme — —
Den dritten Tag wars wieder ſo — —
So auch die andere Woche — — — Ich wuͤnſchte aber, meine Leſer waͤren um dieſe Zeit durchs Flachſenfingiſche Thor ſaͤmmtlich gerittenund17und dieſe gelehrte Sozietaͤt und Marſchſaͤule haͤtte ſich in die Stadt zerſtreuet, um Erkundigungen von unſerem Helden einzuziehen. Das Leſepiquet, das ich auf die Kaffeehaͤuſer geſchickt haͤtte, wuͤrde er¬ fahren, daß der neue engliſche Doktor ſchon den al¬ ten geſtuͤrzt — dem Pfarrſohn in St. Luͤne zum Re¬ gierungsrathspoſten verholfen — und daß groſſe Aen¬ derungen in allen Departements bevorſtehen. — — Das unter die Hof-Kellerei-Schlaͤchterei-Fiſch¬ meiſterei-Kaſtellanei - und Dienerei vertheilte Deta¬ ſchement wuͤrde mir mitbringen, daß der Fuͤrſt dem Doktor nicht auf die Finger, ſondern auf die Achſel geklopfet — daß er ihm vorgeſtern das Bilderkabi¬ net eigenhaͤndig gezeigt und das beſte Stuͤck daraus geſchenkt — daß er in der Komoͤdie mit ihm aus der Frontloge herausgeſehen — daß er ihm eine ſteinreiche Tabatiere geſchenkt (die gewoͤhnliche Re¬ genten-Buͤrgerkrone und deren Friedenspfeife, als wenn wir Groͤnlaͤnder waͤren, die ſich nichts lieber ſchenken laſſen als Schnupftabak) und daß ſie mit einander auf Reiſen gehen werden. — Zwei der aller¬ feinſten und ſtiftsfaͤhigſten Leſer, die ich aus dieſen Kolonnen ausgeſchoſſen und wovon ich den einen ins Paullinum, den andern zum wirklichen Miniſter abgefertigt haͤtte, wuͤrden mir wenigſtens die Nou¬ velle rapportiren, daß Fuͤrſt und Doktor miteinan¬ der bei beiden geweſen, und daß beide den HeldenHeſperus. II Th. B18fuͤr einen ſonderbaren ſcheuen ſchweigenden Brit¬ ten, der alles dem Vater verdanke, angeſehen haͤtten — — —
Aber die letztere Nouvelle, die mir die Leſer er¬ zaͤhlet haben, koͤnnen ſie ja unmoͤglich wiſſen und ich will ihnen ſelber erzaͤhlen.
— Eh 'ich das vortrage, klaͤr' ichs nur noch mit drei Worten auf, warum Viktor ſo hurtig ſtieg. Es kann Evangeliſten Matthieu unter meinen Leſern geben, die dieſes ſchnelle Steigen wie das des Ba¬ rometers fuͤr das Zeichen eines fruͤhen Fallens neh¬ men — welche ſagen, Lorbeere und Sallat, den man in 24 Stunden durch Spiritus auf einem Tuche zum Reifen noͤthigt, welken eben ſobald wieder ab — ja die ſogar ſpaſſen und die Regenten-Inteſtinen mit ihrem Aether fuͤr eine Fiſch-Schwimmblaſe meines Helden ausgeben, der nur durch ihr Fuͤllen ſtieg. — — Berghauptmaͤnner lachen ſolche Leſer aus und halten ihnen vor: daß die Menſchen, beſonders die Reſidenten auf Thronen einen neuen Medikus fuͤr ein neues Specificum anſehen — daß ſie einem neuen am meiſten gehorchen — daß Sebaſtian das erſtemal ſich gegen jeden am feinſten betrug, hinge¬ gen bei alten Bekannten ohne Noth nichts Witziges ſagte — daß Jenner jeden liebte, den er zu durch¬ ſchauen vermochte und daß er gluͤcklicherweiſe mei¬19 nen Helden blos fuͤr einen bon-vivant erkannte und um ſeinen Kopf keine Boſiſche Beatifikazion*)So heiſſet der Schimmer um den Kopf, wenn man elek¬ triſirt iſt. bemerkte, die nach Phosphor ſtinkt und ſchmerzliche Funken auswirft — daß Viktor nicht wie le Baut ein Scherbengewaͤchs in einer Krone, ſondern eine daruͤber erhoͤhte im Freien haͤngende Hyazin¬ the iſt — und daß ein anderer Berghauptmann mit ſeinen Leſern gar nicht ſo viele Umſtaͤnde gemacht haben wuͤrde als ich. Er haͤtte ihnen blos den Haupt¬ umſtand geſagt, daß der Fuͤrſt an Viktor eine bezau¬ bernde Aehnlichkeit mit ſeinem fuͤnften (auf den 7 Inſeln verlornen) Sohn im Scherzen und Betragen gefunden und liebgewonnen haͤtte, und daß er dieſe Bemerkung ſchon in London, obgleich Viktor fuͤnf Jahre juͤnger als jener war, gemacht habe ...
Jenner wollte ſelber ſeinen Liebling jedem praͤ¬ ſentiren, alſo auch der Fuͤrſtin. Die Philoſophen haben es zu erklaͤren, warum Sebaſtian ſich nicht eher als bis er neben dem fuͤrſtlichen Eheherrn auf dem Kutſchkiſſen ſas, auf das tolle verliebte Streif¬ gen Papier beſann, das er in Kuſſeviz uͤber den Im¬ perator der montre à regulateur aufgeklebt und der Fuͤrſtin zum Kaufe dreingegeben hatte. Er fuhr zu¬B 220ſammen und hielts fuͤr unmoͤglich, daß er ein ſolcher Narr ſeyn koͤnnen. Aber einem Menſchen iſt ſo etwas leicht. Seine Phantaſie warf auf jede Gegenwart, auf jeden Einfall ſoviel Fokus-Lichtern aus tauſend Spiegeln zuruͤck und zog um die Zukunft, die dar¬ uͤber hinauslag, ſoviel Laub - und Nebelwerk herum, daß er ordentlich erſchrack, wenn ihm eine naͤrriſche Handlung einfiel: denn er wuſte, wenn er ſie noch zehnmal zuruͤckgewieſen und noch dreißigmal uͤberſon¬ nen haͤtte, daß er ſie dann — begehen wuͤrde. — Da beide vor die Fuͤrſtin traten: ſo war Viktor in jener angenehmen Verfaſſung, die Informatoren und jungen Gelehrten nichts neues iſt, die ihnen die Glieder verknoͤchert und das Herz mazerirt und die Zunge petrifiziret — nicht die Gewißheit, daß Agnola (ſo hies die Fuͤrſtin) jenes Uhr-Inſerat geleſen habe, machte ihn ſo verlegen, ſondern die Ungewißheit. In der Angſt dachte er gar nicht dar¬ an, daß ſie ja ſeine Handſchrift und den Autor des Schnitzgens gar nicht kenne; und denkt man auch in der Angſt daran, ſo geht ſie doch nicht weg.
— Aber alles war zugleich uͤber, unter, wider ſeine Erwartung. Die Fuͤrſtin hatte das empfindſa¬ me Geſicht mit der Reiſekleidung weggelegt und ein feſtes feines Gallageſicht dafuͤr aufgetragen. Der gekroͤnte Ehevogt Jenner wurde von ihr mit ſoviel warmen Anſtand empfangen als waͤr 'er ſein eigner21 — Ambaſſadeur vom erſten Range. Denn Jenner, deſſen Herzens-Elektriſirmaſchine ſich am elektriſi¬ renden Kiſſen einer ſchoͤnen Wange oder eines Fichuͤ voll Funken lud, hatte eben deswegen gegen Agnola, mit der er der Politik wegen die Konkordaten der Ehe abgeſchloſſen, alle Waͤrme ſeines — Monatsna¬ men. Gegen Viktor, den Sohn ihres Erbfeindes, den Sukzeſſor des Hausdiebes der fuͤrſtlichen Gunſt hegte ſie, wie leicht zu erachten, wahre — Zaͤrtlich¬ keit. Unſer arme Held — betroffen uͤber Jenners Kaͤlte, fuͤr die er ſich von der Gemahlin eben keine ſonderliche Waͤrme gegen ſich ſelber verſprach — be¬ trug ſich ſo ernſthaft wie der aͤltere und juͤngere Kato zugleich. Er dankte Gott (und ich ſelber) daß er fortkam.
Aber unter dem ganzen Wege dachte er: » haͤtt '» ich nur mein Sendſchreiben aus dem Uhr-Couvert » heraus! Ach ich thaͤte dann alles, arme Agnola, » dich zu verſoͤhnen mit deinem Schickſal und mit » deinem Gemahl! » — » Ach St. Luͤne — ſetzte er » unter dem Vorbeifahren vor dem Stadtſenior hin¬ » zu — du friedlicher Ort voll Blumen und Liebe! » Die Hazpachtung ſpedirt deinen Baſtian von einem » Hazhaus ins andre. »
Denn er mußte Hoͤflichkeitshalber doch auch zum wirklichen Miniſter — und Jenner nahm ihn mit. Dorthin gieng er mit Luſt, gleichſam wie in ein22 Seegefecht oder in ein Kontumazhaus, oder in den ruſſiſchen Eispallaſt.
Meublen und Perſonen waren in Schleunes Hau¬ ſe vom feinſten Geſchmack. Viktor fand darin von den Wackelfiguren und Hofleuten an bis zu den Ba¬ ſaltbuͤſten alter Gelehrten und zu den Puppen der Schleunes'ſchen Toͤchter, vom geglaͤtteten Fußboden bis zu den geglaͤtteten Geſichtern, vom Puderkabinet bis zum Leſekabinet — beide kolorirten den Kopf ſchon im Durchmarſch — kurz uͤberall fand er alles, was die Prachtgeſetze je — verboten haben. Seine erſte Verlegenheit bei der Fuͤrſtin gab ihm die Stim¬ mung zu einer zweiten. Es war der alte Vik¬ tor gar nicht mehr. Ich weis voraus, daß ihn die loͤblichen Schullehrer am Marianum in Scheerau daruͤber hart anlaſſen werden — zumal der Rektor — daß er ſo wenig Welt hatte, daß er dort witzig ohne Munterkeit, gezwungen-frei ohne Gefaͤlligkeit, zu beweglich mit den Augen, zu unbeweglich mit andern Gliedern war. Aber man muß dieſen Hof - und Schulleuten vorſtellen: er konnte nichts dafuͤr. Der Rektor ſelber wuͤrde ſo gut wie Viktor verlegen geweſen ſeyn, vor der ſchoͤngeiſteriſchen Miniſterin, die zwar Meuſel noch nicht, aber doch der Hof in ſein gelehrtes Deutſchland geſetzt — vor ihren perſi¬ flirenden Toͤchtern, zumal vor der ſchoͤnſten, die Joachime hies — vor einigen Fremden — vor ſoviel23 Leuten, die ihn haßten vom Vater her und die ihn beobachteten, um ſein Verhaͤltniß mit dem Fuͤrſten zu erklaͤren und zu rechtfertigen — vor der Fuͤrſtin ſelber, die der Henker auch da hatte — vor Mat¬ thieu, der hier in ſeinem Element und in ſeiner Forcerolle und Bravourarie war — und vor dem Miniſter. — Zumal vor dem letztern: Viktor fand an dieſem einen Mann voll Wuͤrde, dem die Ge¬ ſchaͤfte die Artigkeit nicht nahmen, noch das Den¬ ken den Witz und den eine kleine Ironie und Kaͤlte nur noch mehr erhoben, der aber Gefuͤhl, Gelehrte und die Menſchen zu verachten ſchien. Viktor dach¬ te ſich uͤberhaupt einen Miniſter — z. B. Pitt — wie einen Schweizer Eisberg, an den oben Wolken und Thau als Nahrung anfrieren, der die Tiefe druͤckt und der im Wechſel zwiſchen Schmelzen und Vereiſen, unten groſſe Fluͤße ausſendet und aus deſ¬ ſen Kluͤften Leichname ſteigen.
Jenner ſelber wurde unter ihnen nicht recht froh: was halfen ihm die feinſten Gerichte wenn ſie durch die feinſten Einfaͤlle verbittert wurden? Der Spiel¬ tiſch war daher — zumal bei der feindlichen Lan¬ dung ſeiner Gemahlin — ſein ruhiger Ankerplatz; und ſein Viktor war dasmal auch froh, neben ihm zu ankern. Mein Korreſpondent meint, den Stimm¬ hammer zu dieſem uͤberfeinen dreimal geſtrichenen Ton drehte blos die Miniſterin, die alle Wiſſen¬24 ſchaften im Kopfe und zwar auf der Zunge hatte und deswegen woͤchentlich ein bureau d' esprit hielt. In dieſer laͤcherlichen Verfaſſung verſpielte Baſtian ſeinen Abend und verſchluckte ſein Souper: er konnte gut erzaͤhlen, aber er hatte nichts zu erzaͤhlen — in den wenigen Contes, die ihm beiwohnten, war alles anonym; und dem Zirkel um ihn waren gerade die Namen das erſte — ſeine Laune konnt 'er auch nicht brauchen, weil ſo eine wie die ſeinige den Inhaber ſelber in ein ſanftes komiſches Licht ſtellet und weil ſie alſo nur unter guten Freunden, deren Achtung man nicht verlieren kann, aber nicht unter boͤſen Freunden, deren Achtung man ertrotzen muß, in ih¬ ren Sokkus und Narrenkragen fahren darf — er genoß nicht einmal das Gluͤck, innerlich alle auszu¬ lachen, weil er keine Zeit dazu hatte und weil er die Leute nicht eher laͤcherlich fand als hinter ihrem Ruͤcken — —
Verdammt uͤbel war er d'ran — » ich komm '» euch ſobald nicht wieder » dachte er — und als der Mond durch die zwei langen Glasthuͤren des Balkons, der auf den Garten hinausſah, mit ſeinem traͤumeriſchen Licht einging, das drauſſen auf ſtillere Wohnungen, ſchoͤnere Proſpekte und ruhigere Herzen fiel: ſo ſchlich er (da ſeine Spiel-Maskopeigeſell¬ ſchaft durch den Fuͤrſten nach dem Eſſen zertrennt war) auf den Balkon hinaus und die auf der Erde25 und am Himmel blinkende Nacht erhob ſeine Bruſt durch groͤſſere Szenen. Mit welcher Liebe dachte er da an ſeinen Vater, deſſen philoſophiſche Kaͤlte dem Jennerſchnee gleich war, der die Saat gegen Froſt bedeckt, indes die hoͤfiſche dem Maͤrzſchnee aͤhnlicht, der die Keime zerfriſſet! Wie ſehr warf er ſich jeden unzufriedenen Gedanken gegen ſeines rechtſchaffenen Flamins kleinen Mangel an Feinheit vor! O wie richtete ſich ſein innerer Menſch wie ein gefallener und begnadigter Engel auf, da er ſich Emanuel an der Hand Klotildens dachte, der ihn ſeelig frag¬ te: » wo fandeſt du heute ein Ebenbild von meiner Freundin? » — Jetzt ſehnte er ſich unausſprechlich in ſein St. Luͤne zuruͤck ....
Seine ſteigenden Herzensſchlaͤge hielt auf einmal Joachime an, die mit einem ins Zimmer gerich¬ teten Gelaͤchter herauskam. Da es ihr ſchwer fiel, nur eine Stunde zu ſitzen (mich wundert wie ſie ei¬ ne ganze Nacht im Bette blieb) ſo machte ſie ſich ſo oft ſie konnte vom Stangengebiß des Spieles los. Dasmal band die Fuͤrſtin ſie ab, die wegen ihrer kranken Augen dieſe Nachtarbeit der Großen ausſetzte. Joachime war keine Klotilde, aber ſie hatte doch zwei Augen wie zwei Roſenſteine geſchlif¬ fen — zwei Lippen wie gemahlt — zwei Haͤnde wie gegoſſen — und uͤberhaupt alle Glieder-Doubletten recht huͤbſch .... Und damit haͤlt ein Hofmedi¬26 kus ſchon Haus; wenn auch die einfachen Exemplare (Herz, Kopf, Naſe, Stirn) keiner Klotilde zugehoͤ¬ ren: da er nun unter dem groſſen Himmel ſeinen Muth und auf dem Balkon, der fuͤr ihn allemal ein Sprachzimmer war, ſeine Zunge wieder bekam — da Joachimens Ton ihn wieder in ſeinen zuruͤck¬ ſtimmte — da ſie das Schweigen der Britten anta¬ ſtete und er die Ausnahmen vertheidigte — da er jetzt am Faden der Rede ſich wie eine Spinne hin¬ auf - und hinablaſſen konnte und nicht mehr zu ſtoͤ¬ ren war durch die Fuͤrſtin, die nachgekommen war, um die entzuͤndeten Augen in der Nacht abzukuͤhlen — und da man nur dann klagt, Langweile zu em¬ pfinden, wenn man blos ſelber eine macht — und da ich alles dieſes herſetze: ſo thu 'ich (glaub' ich) einem Rezenſenten genug, der hinter dem Kutſchka¬ ſten des Fuͤrſten ſteht und nachſinnt und wiſſen will woran er ſich (auſſer den Lakaienriemen) zu halten habe, wenn Viktor im Wagen darin unter dem Heimfahren das miniſterialiſche Haus nicht zum Teu¬ fel wuͤnſcht, ſondern zufriedner denkt: meinetwe¬ gen! —
Ein Juͤngling, in deſſen Bruſt die Nachtſtuͤcke von Maienthal und St. Luͤne haͤngen — oder einer, der aus einem Baddoͤrfgen anlangt — oder einer, der vorhat, ſich zu verlieben — oder einer, der in großen Staͤdten oder in ihren großen Zirkeln ein27 muͤ[ſ]ſiger Zuſchauer ſeyn muh, jeder von dieſen iſt ſchon fuͤr ſich auch ein mißvergnuͤgter darin und ſtoͤſſet in ſeine kritiſche Pfeife ſo lange gegen die agirende Truppe bis ſie ihn ſelber — engagirt. Kommen aber alle dieſe Urſachen gar in einem einzi¬ gen Menſchen zuſammen: ſo weis er gegen ſeine Gal¬ lenblaſe keinen Rath und keinen Gallengang als daß er feines Papier nimmt und an die Eymanniſchen in St. Luͤne einen verdammt ſpoͤttiſchen Brief uͤber das Geſehene ablaͤßt.
Mein Held ließ dieſen an den Pfarrer ab:
» Mein lieber Hr. Adoptiv Vater!
— Ich hatte bisher nicht ſoviel Zeit uͤbrig, um die Augen aufzuheben und zu ſehen was wir fuͤr ei¬ nen Mond haben. Wahrhaftig einem Hof fehlts zur Tugend ſchon — an Zeit. Der Fuͤrſt fuͤhrt mich uͤberall wie einen Flakon bei ſich und zeigt ſeinen naͤrriſchen Doktor vor. Mich werden ſie bald nicht ausſtehen koͤnnen, nicht weil ich etwan etwas tauge — ich bin vielmehr feſt verſichert, ſie ertruͤgen den tugendhafteſten Mann von der Welt eben ſo gut wie den ſchlimmſten und das blos weil er ein Anglizis¬ mus, ein homme de Fantaisie, ein Naturſpiel waͤre — ſondern weil ich nicht genug rede. Geſchaͤftsleute bekuͤmmern ſich um keinen Dialog und keinen Brief¬28 ſtyl; aber bei Hofleuten iſt die Zunge die Pulsader ihres welken Lebens, die Spiral - und Schwungfeder ihrer Seelen; alle ſind geborne Kunſtrichter, die auf nichts als Wendung, Ausdruck, Feuer und Sprache ſehen. Das macht, ſie haben nichts zu thun; ihre gute Werke ſind Bonmots, ihre Meßgeſchaͤfte Vi¬ ſitenbillets, ihre Hauswirthſchaft eine Spiel - und ihre Feldwirthſchaft eine Jagdparthie und der kleine Dienſt eine Phyſiognomie. Daher muͤſſen ſie frem¬ de Fehler den ganzen Tag in Ohren haben gegen die ſchlaffe Weile, wie die Aerzte die Kraͤze einim¬ pfen gegen Dummheit; ein Hofſtaat iſt das ordent¬ liche Pennypoſtamt der kleinſten Neuigkeiten, ſogar von euch Buͤrgerlichen, wenn ihr gerade etwas recht — Laͤcherliches gethan habt. Zu wuͤnſchen waͤre, wir haͤtten Feſtins oder Spielparthien, oder Komoͤ¬ dien, oder Aſſembleen, oder Soupees, oder etwas Gutes zu eſſen, oder irgend eine Luſtbarkeit; aber daran iſt nicht zu denken — wir haben zwar alle dieſe Dinge, aber nur die Namen davon: der Kam¬ merpraͤſident wuͤrde die Achſel zucken, wenn wir nur des Jahrs viermal ſo glaͤnzend froͤhlich ſeyn wollten als Sie es des Monats viermal ſind. Da unſere Woche aus 7 Sontagen beſteht: ſo ſind unſere Luſt¬ barkeiten nur Kalenderzeichen, Zeit-Abſchnitte, auf die niemand achtet und ein Feſtin iſt nichts als ein Spielraum der Plane die jeder hat, das Bretterge¬29 ruͤſt ſeiner Forcerolle und die gleichguͤltige Jahrszeit der fortgeſetzten Intrigue gegen Opfer der Liebe oder des Ehrgeizes. Hier iſt jede Minute eine ſtechende Moskite und der Diſtelſame des ſchoͤngefaͤrbten Kum¬ mers fliegt weit herum.
Die Weiber ſind gut und Anhaͤnger des Linnaͤus und ihre Augen ordnen die Maͤnner botaniſch nach ſeinem ſchoͤnen einfachen Sexualſyſtem: ſie ma¬ chen unter tugendhafter und laſterhafter Liebe einen groſſen Unterſchied, naͤmlich den des Grades oder auch der Zeit; und die Beſte ſpricht oft daruͤber wie die Schlimmſte und die Schlimmſte wie die Be¬ ſte. Indeſſen giebts hier weibliche Tugend und maͤnliche Treue in ihrer Art — aber einem Pfarrer iſt davon kein Begriff beizubrigen; und dieſe zwei Geleen oder Gallerte ſind ſo zart und weich, daß ich ſie, wenn ich ſie auch von allen Stufen des Throns hinuntertragen wollte in die Kaplanei, doch ſo verdorben und anbruͤchig hinabbraͤchte, daß man ihnen drunten die zwei entgegengeſetzten Namen ge¬ ben wuͤrde, fuͤr die wir doch ſchon unſre beſondern Gegenſtaͤnde oben haben. Die Buͤrgerlichen wuͤrden unſere bejahrten Maͤnner in der Liebe laͤcherlich fin¬ den und dieſe euere Toͤchter. — Was mir aber die¬ ſes gluͤckliche Hofleben oft verſalzet, iſt der allge¬ meine Mangel an Verſtellung. Denn hier glaubt keiner was er hoͤrt, und denkt keiner wie er aus¬30 ſieht; alle muͤſſen nach den ordentlichen Spielge¬ ſetzen, gleich den Karten, einerlei obere Seite haben und aͤuſſere Geſichtsſtille auf inneres Gluͤhen decken, wie der Blitz nur den Degen, aber nicht die Schei¬ de zerſtoͤrt — Folglich kann, da eine allgemeine Ver¬ ſtellung keine iſt und da jeder dem andern Gift zu¬ traut, keiner taͤuſchen, ſondern nur uͤberliſten; nur der Verſtand, nicht das Herz wird beruͤckt. Inzwiſchen iſt die Wahrheit zu ſagen, das keine: denn jeder hat zwei Masken, die allgemeine und die perſoͤnliche. Uebrigens werden die Farben, die auf den wiſſenſchaftlichen, feinen und menſchen¬ liebenden Anſtrich des Aeuſſern verbraucht werden, nothwendig vom Innern abgekrazet, aber zum Vor¬ theil, da am Innern nicht viel iſt, und das Stu¬ dium des Scheins verringert das Seyn; ſo ſah ich oft im Walde Haſen liegen, an denen kein Loth Fleiſch war und kein Tropfen Fett, weil alles von dem ungeheuern Haarpelz weggeſogen war, der nach dem Tode fortgewachſen.
Wenn man den Inhalt des Throns und des plat¬ ten Poͤbel-Landes vergleicht, ſo ſcheinet die phyſika¬ liſche und moraliſche Groͤße der Menſchen im unge¬ kehrten Verhaͤltniß mit ihrem Boden zu ſtehen, ſo wie die Einwohner der Marſchlaͤnder groͤſſer ſind als der Berglaͤnder. Aber gleichwol tragen jene erhab¬ nen Leute den Staat leicht auf Schmetterlingsfluͤgeln,31 uͤberſchauen ſein Raͤderwerk mit dem millionenfachen Pappillons Auge und beſchirmen mit einer Badine das Volk vor Loͤwen oder jagen damit Loͤwen aus dem Volk, wie in Afrika Hirtenkinder mit einer Peitſche naturhiſtoriſche Loͤwen vom Weidevieh ab¬ ſchrecken. ... Lieber Hr. Hofkaplan! dieſe Satyre ſchmerzte mich ſchon auf der vorigen Seite; aber man wird hier boshaft ſo wie eitel ohne zu wiſſen wenn, jenes weil man zu ſehr auf andere, dieſes, weil man zu ſehr auf ſich merken muß. Nein! Ihr Garten, Ihre Stube iſt ſchoͤner, da giebt es keine ſteinerne Bruſt, an der man die Arme und Adern der Freundſchaft kreuzigt wie ein Spaliergewaͤchs; da muß man ſich nicht taͤglich wie ich zweimal raſi¬ ren laſſen und dreimal friſiren; da darf man doch ſeinen gewixten Stiefel anziehen. Schreiben Sie Ihrem Adoptivſohne bald — denn ich ſchlage mir das Feſt Ihres Beſuchs noch ab — Sind viel Kind¬ taufen und Leichen? — Was macht der Fuchs und der taube Balgtreter? — Hier wird der Moͤrſer ſtatt Ihrer Trommel unter mir geruͤhrt. — — Le¬ ben Sie wohl.
Und Sie gruͤſſ 'ich jetzt erſt, geliebte Mutter! Meine Hand iſt warm und in meinem Herzen klo¬ pfen ein paar Seelen, weil jetzt Ihr Angeſicht voll muͤtterlicher Waͤrme alle meine ſatyriſchen Eisſpitzen beſcheint und in warmes Blut zerſchmelzt, das fuͤr32 Sie ſchlagen und fuͤr Sie fließen will. Wie thut es ſowohl, wieder zu lieben! Ihr zweiter Sohn (Flamin) iſt geſund, aber zu fleiſſig und gegenwaͤr¬ tig in St. Luͤne. Gruͤſſen Sie meine Schweſtern und alles, was Sie liebt.
Sebaſtian.
Er hob den Brief auf, um den Regierungsrath, der ſeine Perſon mit haben wollte, doch mit einer Fracht abzufertigen.
Indeſſen wurden ſeine und Jenners gemeinſchaft¬ liche Viſiten mit ihren Theaterknoten zu ganz an¬ dern Nervenknoten der Freundſchaft zwiſchen Jenner und ihm — und zugleich machten ſie den Ruf die¬ ſer Freundſchaft groͤſſer. In St. Luͤne, in Le Bauts Hauſe wurde dreimal mehr daraus gemacht als dran war — im Pfarrhauſe neunmal.
Dazu kam eine Kleinigkeit, naͤmlich eine Schlaͤ¬ gerei — eigentlich zwei. Ich habe den Vorfall vom Spitz, Viktor von Flamin, dieſer von Matthieu, in deſſen edlem hiſtoriſchen Styl es hier der Nach¬ welt uͤbergeben werden kann. Der Evangeliſt ſchaͤm¬ te ſich keines Buͤrgerlichen, ſobald er ihn zum Nar¬ ren haben konnte. Daher beſuchte er den Hofapo¬ theker ohne Bedenken. Dieſem, der dem D. Kuhl¬pepper33pepper wegen ſeiner ſtolzen Grobheit und wegen der untern Note*)Kuhlpepper that ihm nie den Gefallen, um den er ihn ſo oft bat, daß er dem Fuͤrſten ein Klyſtier verordnete, wel¬ ches alsdann der Apotheker ſelber geſetzet haͤtte, um nur einmal dem Regenten beizukommen und deſſen ſchwa¬ che Seite in ſeine eigne Sonnenſeite zu verwandeln. innig haßte, hatte Maz laͤngſt ver¬ ſprochen, den Doktor zu ſtuͤrzen. Da der letztere und das Podagra durch Viktor wirklich von Jenners Fuͤſſen vertrieben waren: ſo ließ der Evangeliſt dem Apotheker merken, er ſelber wuͤrde ſich ohne ſeine Winke weit weniger gegen Kuhlpepper intereſſiret haben als er gethan. Zeuſel — zumal da er den Succeſſor des Kaſernenmedikus im Logis hatte — kam nach einigen Tagen mit der gewiſſen Ueberzeu¬ gung aufs Billard, daß er aus ſeiner Apotheke heraus Kuhlpeppern das unſichtbare Bein untergeſtellet und ihn von den Thronſtufen herabgeworfen. Dort war zum Ungluͤck der Kaſernenmedikus und der edle Maz. Zeuſel kam auf dem Theater mit den Feſtons von drei Uhrketten an — mit einem Paar Hoſen, auf deren Knien einige Arabesken gedruckt waren — mit einer doppelten Weſte, doppelten Cravatte und im Geſicht mit doppelten Exklamazionszeichen uͤber den Kaſernenmedikus — ſeine Geldboͤrſe ſaß gerade un¬ ter dem heiligen Bein, weil er wie einige Englaͤn¬Heſperus. II Th. C34der die Hoſentaſche in die Region der Hoſenſchnalle hatte verſtecken laſſen. Er hatte als Kammermohren ſeinen hagern langen Proviſor mit; der im Neben - Trinkzimmer auf den ſehr kurzen Proviſor der zwei¬ ten oder Canaillen-Apotheke ſtieß. Der kurze Pro¬ viſor folgte aus Haß dem langen uͤberall, blos um ihn zu aͤrgern; aber dieſesmal war er blos vom Lande zuruͤck mit einigen von Rekonvoleszenten einkaſſirten Huͤnereyern.
Matthieu nahm ſich — nach einem exegetiſchen Wink an Zeuſel — die Freiheit, uͤber das fuͤrſtliche Podagra Kuhlpeppers Meinung zu ſeyn. Kuhlpep¬ per, der ein alter Deutſcher ſeyn wollte — ſolche alte Deutſche koͤnnen ſich nie im Zorn, und recht gut aus Eigennutz verſtellen — feuerte ab und ſagte, der engliſche Doktor ſey ein ganzer Ignorant. Zeu¬ ſel faßte mit einem weiten Laͤcheln wie mit einem Buchdruckerſtock ſeine hoͤfiſche Verachtung gegen den groben Mann ein. Der Medikus ſah wie der Ae¬ quator, der Apotheker wie Spizbergen aus. Jetzt wurde blos uͤber das Podagra turnirt. Der Kampf¬ waͤrtel und Turnirvogt Maz gab zu verſtehen, » Zeu¬ » ſel liebe zwar ſeinen Fuͤrſten und Herrn, aber er » wuͤnſche doch, daß dieſe Liebe die beſten Mittel » und die heilſamſten Einfluͤſſe gehabt. » — » In den » H — (ſagte Kuhlpepper) kann der Einfluß haben. » — Als ſich der Apotheker deswegen ſtolz und ver¬35 aͤchtlich in die Hoͤhe richtete: druͤckte ihn der Dok¬ tor langſam auf den Stuhl und auf ſeinen Geldbeu¬ tel nieder und die auf die Achſel eingeſchlagne Hand nagelte den kleinen Elegant ſamt der Boͤrſe an den Seſſel an.
Dieſe Befeſtigung verdroß den Schneidervogel am meiſten und er verſetzte aufwallend: » noch heute wuͤrde er, wenn er zu Rathe gezogen wuͤrde, Sr. Durchlaucht die jetzige beſſere Wahl anrathen. » Der Kaſernenmedikus mochte vielleicht die Hand zu hur¬ tig von der Achſel abdecken; denn er beſtrich damit wie mit einer Kanone die Naſe ſeines Gegners, wor¬ auf dieſe ein Blut wie der heil. Januar entließ. Der Evangeliſt bedauerte es fuͤr ſeine Perſon, » daß » zwei ſo verſtaͤndige Maͤnner ſich nicht miteinander » entzweien und ſchlagen konnten ohne perſoͤnlichen » Haß und ohne Hitze, da ſie gleich kriegenden Fuͤr¬ » ſten ſich ohne beides anfallen koͤnnten — aber das » Bluten beſtaͤtige Zeuſels Wallung zu ſehr. » — Swobada rief zum Doktor: » Sie Grobian! » — Dieſer nahm im Grimme wirklich die Matthaͤiſche Meynung an, jener blute nur aus Grimm und ver¬ glich ihn mit den Kadavern, die in alten Zeiten bei Annaͤherung des Moͤrders bluteten, aber blos aus ganz natuͤrlichen Urſachen. Der Medikus ſuchte alſo ſeinen wie ein Fuͤrſt oben vergoldeten Stecken auf und beurlaubte ſich mit der gekroͤnten Stange, in¬C 236dem er ſie einigemale gleichſam magnetiſch-ſtreichend uͤber Swobadas Finger fuͤhrte; aber ich wuͤrde den Stab weder wie einige ‚ ein Hoͤrrohr fuͤr Zeuſeln nennen ‚ weil Taube oft einen zum beſſeren Hoͤren an ihren Leichnam anſtieſſen ‚ noch auch einen Thuͤrklo¬ pfer ‚ den er der Wahrheit vorſtreckte ‚ damit ſie leichter in den Apotheker einkonnte: ſondern er woll¬ te blos ſeine Finger noͤthigen ‚ das Schnupftuch fal¬ len zu laſſen ‚ damit er ihm ins Geſicht beim Ab¬ ſchied ſchauen koͤnnte ‚ den er in die Tournure klei¬ dete: » Sag 'Ers Seinem Doktor ‚ er und Er da ‚ » Ihr ſeid die zwei groͤſten Stocknarren in der » Stadt. »
Vor den letzten Worten verhielten ſich beide Pro¬ viſores ruhig genug, nicht mit der Zunge — denn der lange Proviſor ſang als zweites Chor mit dem¬ ſelben Kriegsliede den kurzen an und war aͤchter An¬ ti Podagriſt — ſondern ſonſt. Wer uͤberlegt ‚ daß der lange meinen Helden wegen ſeiner Hoͤflichkeit liebte und den kurzen nicht leiden konnte ‚ weil Kuhl¬ pepper alles bei dieſem verſchrieb ‚ der wuͤrde von dem Paare nichts geringers erwarten als den Re¬ frain des Billardzimmers; aber der lange Proviſor war geſetzt und breitete erhebliche Wahrheiten nie wie Portugal mit Blute aus ‚ ſondern er nahm — ſobald bei Kaſernenmedikus den Hofmedikus einen Stocknarren genannt hatte — ſtill den Hut des kur¬37 zen Proviſors, der in ſolchen des Zerknickens wegen ſeine Eyer-Gefaͤlle niedergelegt hatte, und ſetzte be¬ ſagte Eyer dem Profeſſionsverwandten ohne Ingrimm auf; und mit geringem Druck paßte er die Inful, die ½ Elle zu hoch ſas, ſeinem Freunde — um ſo mehr, da auch Kaſtor und Pollux Eyerſchaalen auf¬ hatten — recht an und gieng fort, ohne eben viel Dank fuͤr das aufgeſetzte Hut-Inſerat und den Ge¬ ſichts-Umſchlag haben zu wollen.
Schlaͤgereyen breiten kleine, wie Kriege groſſe Wahrheiten aus. Der Hofkaplan Eymann ſandte ein langes Gratulazionsſchreiben an Viktor und hieß ihn » Jenners Nierenlenker » und bat um ſeinen Be¬ ſuch. Ein » Ranzenadvokat » klopfte bei ihm wie bei einer hoͤhern Inſtanz an und bat ihn um eine Sentenz gegen das Regierungskollegium. Der Apo¬ theker haͤlt mit ſeinem Geſuch um ein Lavement noch zuruͤck.
Viktor ſparte ſich noch den erſten Beſuch in St. Luͤne auf wie eine reifende Frucht und aͤrgerte da¬ durch den Regierungsrath, der ihn hinbereden woll¬ te. Aber er ſagte: » die Relikten eines Orts ſehnen » ſich nach dem, der daraus fort iſt, ſo lange unbe¬ » ſchreiblich, bis er die erſte Viſite gemacht, und er » auch. Nach der erſten paſſen beide Partheyen38 » ganz ruhig, ganz kalt die zweite ab. » — Was er nicht ſagte und dachte, aber fuͤhlte und fuͤrchtete war: daß ſeine Halbgoͤttin Klotilde, die das Aller¬ heiligſte in ſeiner Bruſt bewohnte, und die ſeiner Seele durch ihre Unſichtbarkeit theurer, noͤthiger und eben darum gewiſſer geworden war, ihm vielleicht bei ihrer Erſcheinung alle Hoffnungen auf einmal aus ſeinem Herzen ziehe. —
Es war am Abend des empfangnen Eymanniſchen Briefes, wo er ſo phantaſirte: » wenn Jenner nur » ſo geſund bliebe — er muß Mozion haben, aber » eine andere — der Reiter muß gehen, der Fu߬ » gaͤnger fahren. — Wir ſollten miteinander zu Fuß » durchs Land ziehen verkleidet. — Ach ich koͤnnte » vielleicht manchem armen Teufel nuͤtzen — wir » ſchlichen heimwaͤrts durch St. Luͤne — — Nein, » Nein, Nein » ...
Er erſchrack ſelber vor einem gewiſſen Einfall — denn er beſorgte, er wuͤrde ihn, da er ihn einmal gehabt, auch ausfuͤhren, daher ſagte er dreimal Nein dazu. Der Einfall war der, den Fuͤrſten zu Klotil¬ dens Eltern hinzubereden. — Es half aber nichts: es fiel ihm bei, daß ſein Vater ein zu ſtrenges Ruͤ¬ gegericht uͤber den Kammerherrn und den Miniſter gehalten — » was will mir le Baut ſchaden? 39» Wenn ich dem armen Narren nur drei Son¬ » nenblicke von Jenner zuwendete! — Das Ge¬ » ſcheuteſte iſt, ich denke heute nicht mehr daruͤber » nach. »
Der Hund wird uns Antwort bringen; ich mei¬ nes Ortes wette — ein feiner Menſchenkenner auf meiner Inſel wettet hingegen, der Held macht die¬ ſen Spas — daß er ihn nicht macht.
40Standeserhöhung Klotildens — Inkognito-Reiſe — Supplik der Obriſtjägermeiſterei — Konſiſtorialbote — Vexirbild der Flachſenfinger.
Freilich macht 'er ihn; aber ich verlier' im Grun¬ de nicht. Denn es war ſo: vom Tage an, wo D. Kuhlpepper vor der plethoriſchen Naſe Zeuſels mit ſeiner groben Hand wie mit einem elektriſchen Aus¬ lader vorbeigegangen war, draͤngte ſich der Mann mit drei Uhren an meinen Helden, der nur eine und noch dazu des Zeidlers plumpe trug. Zeuſel dankte uͤberhaupt Gott, wenn ſich nur ein Hoffourier bei ihm beſof und der Hofdentiſt uͤberfraß. Er kam immer mit gewiſſen geheimen Nachrichten, die zu publiziren waren. Er behielt nichts bei ſich und haͤtte man ihn unter ſeine Apotheke zu haͤngen ge¬ drohet. Er ſagte meinem Helden, daß der Mini¬ ſter um die Stelle der zweiten Hofdame fuͤr ſei¬ ne Joachime bei der Fuͤrſtin werbe, die ſich blos die weibliche Dienerſchaft ſelber waͤhlen durfte — daß er aber es nicht geradezu thun duͤrfe, weil er oder ſein Sohn Matthieu dem Kammerherrn41 le Baut verſprochen, die naͤmliche Stelle Klotilden zu verſchaffen — er bat alſo meinen Helden, der wie er ſehe Mazens Freund ſey, ihm die Verlegen¬ heit zu erſparen und den Fuͤrſten zu bewegen (wel¬ ches nur ein Wort waͤre) daß der bei der Fuͤrſtin die Bitte um Joachime einlege — die Fuͤrſtin, die ohnehin den Miniſter protegire, wuͤrd 'es aus mehr als einem Grunde mit Freuden thun und der Miniſter koͤnnte dann nichts dafuͤr, wenn der Kam¬ merherr, der Feind des Lords, leer ausginge ....
Der Tropf, ſieht man, hatte blos aus den zwei eingefangnen Nachrichten der zwei Amts-Praͤtenden¬ tinnen den ganzen uͤbrigen Rechtsgang errathen und ſelber der Umſtand den ihm Maz entdeckte, daß der Miniſter einen Viertels-Fluͤgel ſeines Pallaſtes fuͤr eine Freundin ſeiner verſtorbnen Tochter Giulia raͤu¬ me, befeſtigte ihn nur mehr. So ſehr erſetzt Bos¬ heit nicht nur Jahre, ſondern auch Scharfſinn und Nachrichten.
Mein Held konnte ihm nichts ſagen als, er glau¬ be nichts davon. Aber in drei einſamen Minuten glaubte er alles — deswegen mußte die liebe Klotil¬ de gerade bei der Erſcheinung der Fuͤrſtin aus dem Stifte zuruͤck — deswegen wurde der Miniſters Sohn von le Baut mit ſoviel Rauch - und Dankopfer-Al¬ taͤren umbauet — deswegen brachte die alte (im ſechzehnten Hundspoſttage) dem Hofleben ſolche42 Staͤndgen und ſo laute — uͤberhaupt zwei ſolche ge¬ aͤchtete Hof-Refugies in Babylon ſind des Teufels lebendig, bis ſie in der alten heiligen Stadt wieder ſitzen und wenn ſie gerade eine ſchoͤne Tochter ha¬ ben, ſo wird dieſe zur Vorſpan der Fahrt gebraucht und zur Montgolfiere des Steigens ...
» O komm nur, Klotilde — rief er gluͤhend — » Der Hof-Pfuhl wird mir dann ein italieniſcher » Keller, ein Blumenparterre — biſt nur du beim » Miniſter, ſo hab 'ich Geiſt genug und ſpruͤhe or¬ » dentlich — was wird mein Vater ſagen, wenn er » uns mit zwei Laufzaͤumen ſtehen ſieht, an einem » haſt du die Fuͤrſtin, am andern ich den Mann — » ... » Jetzt fielen ihm Klotildens neuliche Inju¬ rien gegen das Hofleben wie Eiszapfen in ſein ko¬ chendes Blut; aber er dachte, » Weibern gefallen » doch die Hof-Lager des Glanzes ein wenig mehr » als ſie ſelber vermuthen und ſagen, weit mehr als » den Maͤnnern. — Halte denn ers mit aͤhnlicher » Seelen-Konſtituzion nicht auch aus? — Sie, als » Stieftochter des Fuͤrſten und als eine ſchoͤne dazu » habe nur halbes Elend, gegen ihn gehalten — » und wiſſe ſie denn, ob ſie nicht einmal aus ihrem » Feld-Etat in die Hofgarniſon zuruͤckgeſetzt werde » durch einen Zufall. » Unter dem Zufalle verſtand er eine Heyrath mit — Sebaſtian. Endlich beru¬ higte er ſich mit dem, was ich auch glaube, daß43 ſie damals blos ans Hoͤflichkeit einige Kaͤlte gegen ihre neue Entfernung von ihren Eltern vorgeſpiegelt, und alſo gegen den neuen Ort; auch haͤtte man Freude daruͤber fuͤr Waͤrme gegen irgend jemand am Hofe nehman koͤnnen z. B. gegen ihren — Bru¬ der, dacht' er.
Jetzt kam der geſtrige Einfall, uͤber den ich die Wette verloren, wieder hervor, in Einer Nacht er¬ ſtaunlich in die Hoͤhe geſchoſſen: wenn er naͤmlich den Fuͤrſten zur Reiſe und Viſite beim Kammerherrn uͤberredete und ihn noch unterwegs um ein Vorwort fuͤr Klotilde bei der Fuͤrſtin anſprach: ſo wars erſt¬ lich dem Stiefvater unmoͤglich, die Bitte fuͤr die ſchoͤnſte Stieftochter abzuweiſen, und zweitens der Fuͤrſtin unmoͤglich, bei ihrem Gemahl, der das Recht der erſten Bitte exerzirte, nicht allen moͤgli¬ chen Vortheil aus der erſten Gelegenheit zu ziehen, ſich ihn verbindlich zu machen. — —
— — Acht Tage darauf, da es ſchon daͤmmerte — in den Herbſttagen wirds eher Nacht — ſtand der Hofkaplan Eyman auf der Warte und guckte nach der Sonne, nicht ihrentwegen ſondern um des Abendroths und Wetters willen, weil er morgen ſaͤen wollte: als er erſchrocken von der Warte hin¬ uͤber ſprang in ſein Haus und die Hiobspoſt aus¬ packte, der Konſiſtorialbote werde gleich da ſeyn ſamt einem, franzoͤſiſchen Emigranten und fuͤr den44 einen ſey noch kein Heller vorraͤthig und fuͤr den andern kein Bette ...
Es kam kein Menſch. —
Ich begreif 'es leicht: denn der Konſiſtorialbote lauerte am Pfarrhauſe und marſchirte ‚ ſobald er oben den Hofmedikus Viktor aus Wachs am Fen¬ ſter ſitzen ſah, ſpornſtreichs zum Dorfe hinaus gera¬ de nach Flachſenfingen zu. Der Emigrant war zu ſeinem Profeſſionsverwandten le Baut hineingegan¬ gen. —
Beide Paſſagiere nennten ſich auch noch — Jen¬ ner und Viktor und kamen heute von ihrer humori¬ ſtiſchen Rennbahn zuruͤck. — —
Vor ſieben Tagen war der Fuͤrſt, der Masken¬ taͤnze und Inkognito-Reiſen und gemeine Sitten lieb¬ te und der des Miniſters geiſtige Masken und In¬ kognito verwuͤnſchte, mit Viktor zu Fuß hinter ei¬ nem Kerl abgereiſet, der zu Pferde mit der Retou¬ denkleidung und mit Retoudenerfriſchungen voraus¬ gebrochen war. Jenner trug einen Degen in der Hand, der in keiner Scheide ſteckte, ſondern in ei¬ ner Badine; ein Sinnbild der Hof Waffen! Er gab ſich in den Marktflecken fuͤr den neuen Regierungs¬ rath Flamin Eymann aus. Mein Held, der ſich an¬ fangs zu einem reiſenden Okuliſten gepraͤgt hatte, muͤnzte ſich im dritten Dorfe zu einem Konſiſtorial¬ boten aus — blos weil beiden der wahre Bote be¬45 gegnete. Dieſer Generalkontrolleur des Konſiſto¬ riums mußte dem Okuliſten — es koſtete dem Fuͤr¬ ſten nur eine fuͤrſtliche Reſoluzion und eine Gnade — ſein Sportularium und ſeine kanoniſche Livree ſammt dem aufgenaͤhten Blech auf dieſe Woche uͤber¬ laſſen. Die Bleche ſind an Boten und die Silber¬ ſterne an vornehme Roͤcke wie die Bleiſtuͤcke an Tuchballen befeſtigt, damit man wiſſe, was am Be[t]te[l]iſt.
Fuͤr Buͤſching waͤre eine ſolche Rekans-Farth ein Fund — fuͤr mich iſt ſie eine wahre Pein, weil mein Manuſkript ohnehin ſchon ſo groß iſt, daß meine Schweſter ſich darauf ſetzet, wenn ſie Klavier ſpielet, weil der Seſſel ohne die Unterlage der Hunds¬ poſttage nicht hoch genug iſt.
Was ſah Jenner? — was Viktor? —
Der Regierungsrath Jenner ſah unter den Beam¬ ten lauter krumme Ruͤcken — krumme Wege — krumme Finger — krumme Seelen. — » Aber krum » iſt ein Bogen und der Bogen iſt ein Sektor vom » Zirkel, dieſem Sinnbild aller Vollendung » ſagte der Konſiſtorialbote Viktor. Allein Jenner aͤrgerte ſich am meiſten daruͤber, daß ihn die Beamten ſo ſehr verehrten, da er ſich doch nur fuͤr einen Regie¬ rungs Rath ausgab und fuͤr keinen Regenten — Viktor verſetzte: » der Menſch kennt nur zwei Naͤch¬ » ſte ‚ der Naͤchſte zu ſeinem Kopf iſt ſein Herr ‚ der46 » zu ſeinem Fuſſe ſein Sklave — was uͤber beide » hinausliegt, iſt ihm Gott oder Vieh. » —
Was ſah Jenner noch mehr? — Eximirte Spitzbuben ſah er, die amthirten, um die ſteuerfaͤhigen zu zuͤchtigen — redliche Advokaten hoͤrt 'er, die nicht wie ſeine Hofleute oder die engli¬ ſchen Raͤuber, mit einer tugendhaften Maske ſtahlen, ſondern ohne die Maske und denen eine gewiſſe Ent¬ fernung von Aufklaͤrung und Philoſophie und Ge¬ ſchmack nach dem Tode gar nicht ſchaͤdlich ſeyn wird, weil ſie dann in ihrer eignen Defenſion Gott die Exzepzion ihrer Unwiſſenheit entgegengeſetzen und ihm einwerfen koͤnnen: » daß andere Geſetze als lan¬ » desherrliche und roͤmiſche ſie nicht verbinden koͤn¬ » nen und Gott waͤre weder Juſtinian, noch Kant » Tribonian. » — Er ſah am Kopfe ſeiner Juſtizia¬ rien Brodkoͤrbe und am Kopfe ihrer Unterthanen Maulkoͤrbe haͤngen; er ſah, daß wenn (nach Howard) zwei Menſchen noͤthig ſind, um Einen Gefangnen zu ernaͤhren; hier zwanzig Inhaftirte da ſeyn muͤſ¬ ſen, damit Ein Stadtvogt lebe.
Er ſah verdammtes Zeug. Dafuͤr ſah er aber auch auf der andern Seite in angenehmen Naͤchten das Vieh in ſchoͤnen Gruppen in den Feldern wei¬ den, ich meine das republikaniſche, naͤmlich Hirſchen und Sauen. Der Konſiſtorialbote Viktor ſagte ihm, er habe dieſen romantiſchen Anblick den Jaͤgermei¬47 ſtern zu danken, deren weiches Herz den fuͤrſtlichen Befehl des Wildſchieſſens eben ſo wenig haͤtte voll¬ ziehen koͤnnen wie die aͤgyptiſchen Wehmuͤtter den die Judenknaben todtzumachen. Ja der Sportulbote ließ ſich in einer Kneipſchenke gelbe Dinte und ſchwarzes Papier hingeben und ſetzte da, waͤhrend der Schieferdecker auf dem Dache trommelte, um Schiefer zugelangt zu bekommen, und die Gaͤſte an die Kruͤge ſchlugen, um eingeſchenkt zu kriegen und der Wirthsbube auf einem Bierheber zum Fenſter hineintrompetete, unter dieſem babyloniſchen Laͤrm ſetzte der Sportulnbote eine der beſten Suppliken auf, die die edle Jaͤgerſchaft noch je an den Fuͤrſten abgelaſſen hat.
» Da das Wild nicht leſen und ſchreiben koͤnnte: ſo ſey es die Pflicht der Jaͤgermeiſterei, die es koͤnn¬ te, fuͤr daſſelbe zu ſchreiben und nach Gewiſſen ein¬ zuberichten, daß alles Flachſenfingiſche Wild unter dem Druck des Bauers ſchmachte, ſowohl Roth - als Schwarzwildpret. Einem Oberfoͤrſter blute das Herz, wenn er zu Nachts drauſſen ſtehe und ſehe, wie das Landvolk aus unglaublicher Mißgunſt gegen das Hirſchvieh die ganze Nacht in der groͤſten Kaͤlte48 neben den Feldern Laͤrm und Feuer machte, pfiffe, ſaͤnge, ſchoͤſſe, damit das arme Wild nichts fraͤße. Solchen harten Herzen ſey es nicht gegeben zu be¬ denken, daß wenn man um ihre Kartoffelntiſche (wie ſie um ihre Kartoffelnfelder) eben ſolche Schuͤtzen und Pfeifer lagerte, die ihnen jede Kartoffel vom Munde ſchoͤſſen, daß ſie dann mager werden muͤßten. Daher ſey das Wild eben ſo hager, weil es ſich erſt langſam daran gewoͤhne wie Regimentspferde den Hafer von einer geruͤhrten Trommel zu freſſen. Die Hirſchen muͤßten oft Meilenweit gehen — wie einer, der ſein Fruͤhſtuͤck in den Aubergen zu Paris zuſam¬ mentrage —, um in ein Krautfeld, das keine ſolche Kuͤſtenbewahrer und Oppoſizionsparthey des Wilds umſtellen, endlich einzulaufen und ſich da recht ſatt zu freſſen. Und die Hundsjungen ſagten mit Recht, ſie zertraͤten in Einer Parforcejagd mehr Getraide als das Wild die ganze Woche abzufreſſen bekaͤme. — — Dieſes und nichts anders ſeyen die Motive, die die Obriſtjaͤgermeiſterei bewogen haͤtten, bei Sr. Durchlaucht mit der unterthaͤnigen Bitte einzu¬ kommen,
Daß Ew. den Landleuten auflegen moͤchten, zu Nachts in ihren warmen Betten zu bleiben wie tauſend gute Chriſten thun und das Wild ſelber am Tage.
Dadurch49Dadurch wuͤrde — getrauete ſich die Obriſtjaͤger¬ meiſterei zu verſprechen — den Landleuten und Hir¬ ſchen zugleich unter die Arme gegriffen — letztere koͤnnten alsdann ruhig wie Tagvieh die Felder abwei¬ den und wuͤrden doch dem Landmann die Nachleſe, indem ſie mit der Vorleſe zufrieden waͤren, laſ¬ ſen. — Das Landvolk waͤre von den Krankheiten, die aus den Nachtwachen kaͤmen, von Erkaͤltungen und Ermuͤdungen gluͤcklicherweiſe befreiet. Der groͤßte Vortheil aber waͤre der, daß da bisher Bauern uͤber die Jagdfrohnen murrten (und nicht ganz Un¬ recht) weil ſie daruͤber die Zeit der Erndte verſaͤum¬ ten, daß alsdann die Hirſche an ihrer Statt die Ernd¬ te zu Nachts uͤbernaͤhmen, wie ſich in der Schweiz die Juͤnglinge fuͤr die Maͤdgen, die ſie liebten, zu Nachts dem Getraide-Schneiden unterzoͤgen, damit dieſe, wenn ſie am Morgen zur Arbeit kommen, keine fin¬ den — und ſo wuͤrden die Jagdfrohnen in den Ernd¬ ten niemand mehr ſtoͤhren als hoͤchſtens das — Wild ꝛc. »
Was iſt aber vom Konſiſtorialſportulboten zu er¬ erzaͤhlen? — Dieſer kanoniſche Hebungsbediente ſetz¬ te alle Pfarrherren durch ſeinen Spas und alle Pfarrfrauen durch ſeine Gewandtheit in Erſtaunen und blos ſein Blech und ſeine Papiere konnten die Authentizitaͤt dieſes Botenexemplars hinlaͤnglich ver¬ buͤrgen. Er kaſſirte alles ein was der Konſiſtorial¬Heſperus. II Th. D50ſekretair liquidirt hatte und entſchuldigte ſich damit, daß es weder ihm noch dem Sekretair in dieſem Falle zukaͤme, gewiſſenhaft zu ſeyn. In ſeiner kur¬ zen Amtsfuͤhrung ſackte er ohne Schaam ein alle ruͤckſtaͤndige Ehepfaͤnder vom geringſten Werth — wir im Kollegio, ſagte er, ſind auf einen halben Batzen erpicht — Gelder, wenn die Ehen geſchieden waren — Gelder, wenn ſie von den Raͤthen geſchloſſen wa¬ ren, es ſey durch Indulgenzen fuͤr Trauerzeit, fuͤr Blutsverwandſchaft oder fuͤr elterlichen Konſens — Gelder, wenn die Gelder erſt einmal (oder zweimal) bezahlt waren, aber noch nicht zum zweiten (oder dritten) male, wiewohl das Konſiſtorium dieſen Nach¬ klang und Refrain nur in dem Fall verlangte, wenn die Leute die Quitung verloren hatten. — Gelder, die die Pfarrherren blos fuͤr Dekrete zu erlegen hat¬ ten, worin ſie losgeſprochen wurden. — —
Darauf ſchuͤttete er den Sack vor dem Fuͤrſten aus und plaͤttete die Geldwage auseinander und fieng an:
Ihro Durchlaucht!
» Das Konſiſtorium iſt des Teufels: es koͤnnte » uͤber alle Gebote eine lutheriſche Poenitentiaria » ſeyn und iſts nur uͤber das ſechſte. Was eine ehr¬ » liche Konſiſtorial-Regie — ich naͤmlich — hat zu¬51 » ſammenſcharren koͤnnen: liegt da auf dem Tiſch. » Der Haufe koͤnnte noch einmal ſo breit ſeyn, wenn » das Konſiſtorium Verſtand haͤtte und ſagte: » » wer » » kauft? neue friſche Ablaßbriefe fuͤr alles! » » — » Es hat gezeigt, daß es uͤber einige Verwandsgrade » Diſpenſazionsbullen ſo gut wie der Pabſt verferti¬ » gen koͤnne: warum will es ſich denn an keine naͤ¬ » hern Grade machen? Es wuͤrde von groſſen ſo gut » als von kleinen diſpenſiren koͤnnen, wenn es dar¬[»]uͤber herwollte, eben ſo gut von Bußtags-Faſten » als von Trauerzeit und Proklamazion dieſer ero¬ » tiſchen Faſtenzeit. Beim Himmel, wenn ein einzi¬ » ziger Menſch wie der Pabſt die geiſtliche Waſchma¬ » ſchine ganzer Welttheile zu ſeyn vermag und die » Seelen am Jubeljahre Faszikel-weiſe ſaͤubern kann: » ſo werden doch wir alle im Kollegio zur Waſch¬ » maſchine Eines Landes zu brauchen ſeyn? — Ge¬ » ſchieht das nicht: ſo nehmen wir — denn wir wol¬ » len leben — Suͤndengeld und Sportuln fuͤr das » Wenige, worin wir zu indulgiren haben; und wenn » in Sparta die Richter die Goͤttin der Furcht » anbeteten, ſo verehren bei uns die Partheyen » dieſes ſchoͤne ens. — Haͤtten wir nur wenigſtens » von fuͤnf oder ſechs großen Suͤnden loszuſprechen, » nur z. B. von einem Mord: ſo koͤnnten wir Ehe¬ » ſcheidung und Ehe-Beſchleunigung — dieſe ganz » entgegengeſetzten Operazionen gelingen uns, ſo wieD 252» das Karlsbader Waſſer zugleich den Stein im Un¬ » terleib zertheilt und Inſerate im Brunnen verſtei¬ » nert — fuͤr halbes Geld erlaſſen. » .... Nach einer langen Pauſe: » Ihro Durchlaucht, es iſt doch » nicht zu machen, weil der Henker die weltlichen » Raͤthe mitten unter den geiſtlichen hat: ein halb » profaner Seſſionstiſch iſt zu keinem heiligen » Stuhle umzudrechſeln; es iſt alſo nichts zu wuͤn¬ » ſchen — auſſer der geſegneten Mahlzeit — als » Vertraͤglichkeit, damit geiſt - und weltliche Raͤthe » die Parteyen, auf denen ſie ſitzen, ordentlich auf¬ » ſpeiſen koͤnnen, ein paar Knochen ausgenommen, » die uns Boten und Schreibern zufallen: ſo ſah ich » oft auf einem todten Pferde zugleich Staaren und » Raben in bunter Reihe eintraͤchtig wohnen und » hacken und zehren. » — —
Mein Korreſpondent verſichert mich, durch dieſe Reden richtete der Hofmedikus mehr bei Jenner aus als der Hofprediger durch ſeine. Viele Par¬ theyen bekamen ihr Geld, und einige Richter ein allerungnaͤdigſtes Handbillet.
Eh 'ich mit unſerem verkleideten Geſpann vor St. Luͤne ankomme: iſt noch eines und das andre zu ſchreiben. An Jenners Seele waren mehrere Knie¬ druͤcker als an einem Fortepiano angebracht, die das Favoritenknie, indem es ſich zu beugen ſchien, be¬ wegte wie es wollte. Er war allemal das Reſultat53 der Gegenwart und der Wiederſchein der Nachbar¬ ſchaft. Las er im Gully: ſo verſaͤumte er eine Wo¬ che lang das geheime Regierungskollegium nicht und ließ den Kammerpraͤſidenten kommen. Las er im Friedrich II: ſo wollt' er das Reichskontingent ſtel¬ len und ſelber kommandiren und ging vormittags auf die Parade. Er ſah mit Vergnuͤgen das Ideal einer guten Regierung an, es ſey in Druck oder in einer Rede; und oft verſuchte er die Approxima¬ zion dazu, Reformen, Unterſuchungen und Beloh¬ nungen ganze Wochen lang — Enthaltungen ausgenommen, die doch das einzige Verdienſt ſind, das der Fuͤrſt ohne fremde Huͤlfe erwerben kann. — Unter der ganzen Kreuzfahrt war er ein wahrer An¬ toninus Philoſophus und war in Bereitſchaft, uͤber¬ all zu belohnen und zu beſtrafen und zu reſolviren; — auch fuͤhlte er, er koͤnnt 'es thulich machen, wenn man nur nicht von ihm noch arbeiten und entbehren heiſchte: daruͤber ging das andre auch zum Teufel.
Anfangs gefiel ihm die empfindſame Reiſe, — als ſie voruͤber war, wieder — aber in der Mitte ſchmeckte ihm alles, was nach dem Vorlauf ausge¬ keltert wurde, immer herber und er wuͤnſchte ſich ſtatt der Dorfkuͤchenzettel ſein Viktualienzifferblatt. Auch hatt 'er ſich ſo ſehr an Tapferkeit gewoͤhnt, daß er beim Mangel derſelben — d. h. ſeiner Leib¬ wache — ſo zu ſagen furchtſam wurde; daher wollt'54 er einwal im Finſtern einen jungen Weber in der Schenke aus dem Bette heraus mit ſeiner Badine erſtechen, weil der Weber Nachts das fuͤrſtliche Bet¬ te verwechſelt hatte mit einem von friedlicherem Inhalt. Uebrigens ſammelten ſich jetzt alle Stralen ſeiner Zuneigung im einzigen Menſchen von Stande, im einzigen Beherzten und Vertrauten, den er hatte, in Viktor, zum Fokus. Mein Held aber hatte uͤber¬ all zu genießen, — wenigſtens den Gedanken an St. Luͤne —, uͤberall zu eſſen — wenigſtens auf einem Obſtbaum — uͤberall zu leſen — und warens nur Feuerſegen an der Thuͤre, alte Kalender an der Wand, Ermahnungen zur Wohlthaͤtigkeit uͤber Al¬ moſenbuͤchſen —, uͤberall zu denken — uͤber das Reiſe-Paar, uͤber die vier Jahrszeiten-Akte der Natur, die jaͤhrlich wieder gegeben werden, uͤber die tauſend Akte im Menſchen, die nie wiederkeh¬ ren .....
» St. Luͤne! » ſchrie Jenner, froh, daß er nur wieder einen Weltmann, le Baut, ſehen ſollte. Auf die Emigranten-Maske war er ſelber verfallen, um den Kammerherrn, bei dem er ſich zuletzt fuͤr einen Fuͤrſten-Erbfeind ausgeben wollte, beſſer auszuholen. Waͤre in le Bauts Seele ein hoͤherer Adel als der heraldiſche geweſen — oder haͤtte Viktor nicht ge¬ wiß gewußt, daß der Kammerherr den Fuͤrſten auf den erſten Blick erkennen wuͤrde — und daß ers55 ſchon darum vermoͤgen wuͤrde, weil der wahre ſu¬ ſpendirte Konſiſtorialbote ſchon der Stadt Flachſen¬ fingen wahrſcheinlich die ganze Vermummung werde ins Ohr geſagt haben: ſo haͤtt 'er ihm die noble Masque ausgeredet.
Viktor blieb gedachtermaſſen weg, wahrſcheinlich aus Scham ſeiner Rolle und offenbar aus Sehn¬ ſucht, Klotildens Sonnenangeſicht, das fuͤr ihn ſo lange nicht aufgegangen war, in einer ſeinem Her¬ zen bequemern Lage anzuſchauen. » Und die Eltern » werden mich gern wieder ſehen, wenn ſie mir et¬ » was zu verdanken haben. » — Klotildens Hofamt naͤmlich. Ach wie lag das verhuͤllete Paradieß des heurigen Fruͤhlings in alten Reſten um ihn! Wie beneidete er die Schattenkoͤpfe im Schloſſe, die er um die Lichter gehen ſah, und den alten Pfarrmops, der ihn zu den Pfarrleuten hineinwedeln wollte und drinnen auf dem Schauplatz einer ſo holden Vergan¬ genheit weiter agirte! Und als ihn Diſteln am Schloße an die muſiviſche auf dem Fußboden drin¬ nen erinuerten, ſo war der Neider zu beneiden und er ging mit den ſchoͤnſten Traͤumen, die je uͤber un¬ ſer dunkles Leben gezeichnet wurden, zum Apotheker zuruͤck.
Am andern Tage kam Jenner nach, froh uͤber die Eltern, entzuͤckt uͤber die Tochter, weil jene ſo fein waren und dieſe ſo ſchoͤn. Es koſtete meinem56 Helden nichts als ein Wort, um den Stiefvater zur Bitte fuͤr die Vokazion der Stieftochter zu bewegen, die der Held und der Vater ſo gern oͤfter ſehen wollten — und dem Stiefvater koſtete es auch nur ein Wort bei der Fuͤrſtin, um ſeine und die fremde Bitte gewaͤhrt zu finden ... Klotilde wurde Hof¬ dame.
Sogleich daraus drang der Miniſter von Schleu¬ nes im Gluͤckwuͤnſchungsſchreiben den Viertels-Fluͤ¬ gel ſeines Hauſes Klotildens Eltern auf und war in der Epiſtel froh, » daß eine hoͤhere Bitte die ſeinige mit ſo vielem Erfolge wiederholet haͤtte. » — Ich ſtelle dieſen Edeln allen Weltleuten zum Muſter auf; wiewohl ſich jetzt alles im moraliſchen Sin¬ ne, wie die Wiener im heraldiſchen, edel ſchreibt.
Viktor, der mit ſeinen Seelenaugen den ganzen Tag dem Kammerherrn ins Fenſter guckte, konnte es kaum erwarten, Klotilde erſtlich in St. Luͤne zu ſehen und zweitens am Hofe. Er verſchob die Vi¬ ſite von Tag zu Tag — und machte ſie von Nacht zu Nacht im Traume. Nicht einmal die Viſitenkarte — ſeinen Brief an den Pfarrer — hatt 'er fortge¬ ſchickt: er wollt' ihn nicht nur ſelber bringen, ſondern auch gar unterſchlagen. Aber dieſen letztern Gedanken — den Brief zu unterdruͤcken, etwan Klotilde dieſe57 boshafte Konduitenliſte der Hoͤfe in die Haͤnde und daraus Widerwillen gegen die neue Charge bekommen koͤnnte — ſchleuderte er wie Paulus die Schlange ſogleich — aus ſeiner Seele hinaus: wehe dem Her¬ zen, das nicht aufrichtig iſt gegen ein aufrichtiges, nicht groß gegen ein großes,[und] warm gegen ein warmes, da es ſchon alles dieſes ſeyn muͤßte gegen eines, das es nicht waͤre!
Uebrigens bedurft 'er eines ſolchen Beſuchs und eines ſolchen Gegenbeſuchs taͤglich ſtaͤrker; denn er war nicht gluͤcklich: daran war auſſer ihm ſchuld 1) der Fuͤrſt, 2) Flamin 3) neun tauſend und ſieben und dreyßig Perſonen. Der Fuͤrſt konnte nicht viel dafuͤr; er goß das ganze Fuͤllhorn ſeiner Liebe uͤber den Medikus aus und nahm dieſem alle Freiheit weg, die er anfangs ſo heilig zu bewahren willens geweſen. Viktor ſchuͤttelte den Kopf, ſo oft er ſein Tagebuch oder Schiffsjournal der Lebensfarth (auf Geheiß ſeines Vaters) weiter ſchrieb und aus ſeiner Seekarte erſah, daß er ganz andere Meere und Gra¬ de der Laͤnge und Breite paſſirt war als er oder ſein Vater haben wollte: » inzwiſchen land' ich doch » richtig » ſagt 'er. —
Aber ſein Flamin that ſeiner Seele weher, die uͤberall zuviel Liebe ſuchte und gab. Er wollte dem Rathe mit der Nachricht des Avancements Klotil¬ dens eine Freude machen, die ſeiner eignen glich;58 aber der empfieng ſie ſo kalt wie ihren Ueberbringer. Der Aktenſtaub lag dick auf den Orgelpfeifen ſeines Gemuͤths. — Angekettet an den Seſſions - und Schreibetiſch, war er jetzt wie angekettete Hunde wilder als vorher ungefeſſelt. — Die Bemuͤhungen ſeiner Kollegen, den Staats-Koͤrper zu einem Ana¬ gramma auszurenken, erhielten von ihm den verdien¬ ten Beifall nicht. — Auch ſetzte ſich in ſeiner Seele der Sauerteig der freundſchaftlichen Eiferſucht an, der es nicht recht war, daß ſein Viktor ihn ſeltener und andre oͤfter ſah. — Am meiſten erboßte ihn Viktors Weigern, als er ihn um Begleitung nach St. Luͤne erſuchte .... Kurz: er war arg.
Die 9037 Mann, die fuͤr meinen Helden 9037 Plagegoͤtter waren, ſind die Herren Flachſenfinger ſamt und ſonders vermittelſt ihres naͤrriſchen Karak¬ ters, der hier nicht ſkizziret zu werden verdient, ſon¬ dern in einem fluͤchtigen Extrablaͤttgen.
Klein-Wien heiſſen viele mein Flachſenfingen, ſo wie es Klein-Leipzig, Klein-Paris u. ſ. w. giebt. Es koͤnnen aber wohl zwei Staͤdte nicht weiter von einander in Sitten abſtehen als Flachſenfingen, wo59 man ſein Leben und ſeine Seele verfriſt und verſaͤuft, und Wien, wo man vielleicht den entgegengeſetzten Fehler eines partiſchen Ausmergelns nicht genug vermeidet. Die Klein-Wiener oͤfnen dem Genuß der Natur weniger ihr Herz als ihren Magenmund — Auen ſind die Kuͤchenſtuͤcke ihres Viehes und Gaͤrten die ihrer Beſitzer — die Milchſtraße feſſelt und ſaͤttigt ihren Geiſt (ob ſie gleich laͤnger iſt) nicht halb ſo ſehr wie die Koͤnigsberger Bratwurſt von 1583. es thaͤte, welche fuͤnf hundert und ſechs und neunzig Ellen lang und viermal ſchwerer war als der Gelehrte ſelber, der ſie der Nachwelt geſchildert, Herr Wagenſeil*)Es iſt der mit den langen Schuhen, in ſeiner” Erziehung” eines jungen Prinzen 1705.” . — — Sind das die Zuͤge, auf welche die Fuhrleute den Namen Klein-Wien fundiren? Ich war oft in Groß-Wien und kenne die Groskreuze, Kleinkreuze und Kommandeu[r]s des Temperanzordens, der dort ſo gemein iſt, perſoͤn¬ lich: ich kann alſo allerdings einen guͤltigen Zeugen abgeben und mir iſt zu glauben, wenn ich — da man in Klein-Wien auſſerordentlich ſaͤuft — von Groß-Wien, und ausdruͤcklich von deſſen Kloſter¬ leuten ganz etwas anders verfechte: ſie haben nicht nur immerfort den groͤßten Durſt — der doch weg ſeyn muͤßte, wenn man ihn loͤſchte — ſondern ſie60 bedienen ſich auch gegen die Beſoffenheit eines ſchoͤnen Mittels vom Plato. Dieſer Alte giebt uns den Rath, im Soff in einen Spiegel zu ſchauen, um durch die zerriſſene Geſtalt, die uns darin an unſre Entehrung erinnert, auf immer davon abge¬ mahnet zu ſeyn. Daher ſtellen oft ganze Domkapi¬ tel, der Dechant, der Subſenior, die Domizellaren u. ſ. w. Gefaͤße mit Wein oder Bier vor ſich hin und heben ſie an die Augen und beſehen in dieſem metamorphotiſchen Spiegel, der die entſtellten Zuͤge noch mehr entſtellt (weil er wackelt), ſich ſchon lange nach des Philoſophen Rath. Ich frage aber, ob Leute, die beſtaͤndig ſo tief ins Glas gucken, Trin¬ ken lieben koͤnnen? —
Daraus folgt aber nicht, daß ich den Groß-Wie¬ nern die Aehnlichkeit mit den Flachſenfingern auch in ſolchen Zuͤgen nehme, die ehren. So ſprech 'ichs z. B. jenen ganz und gar nicht ab, daß ſie dieſen darin gleichen, an keiner Dichtkunſt, keiner Schwaͤr¬ merei und Empfindſamkeit — denn das iſt alles ei¬ nerlei — zu ſiechen. Viktor wuͤrde dieſes Lob in ſeiner Sprache ſo klingen laſſen: » die Wiener Auto¬ » ren (ſelber die beſten, nur Denis und kaum drei »[ausgenommen]) geben dem Leſer keine uͤber die gan¬ » ze Gegenwart tragende Fluͤgel durch jenen Seelen¬ » Adel, durch jene Verſchmaͤhung der Erde, durch » jene Achtung fuͤr alte Tugend und Freiheit und61 » hoͤhere Liebe, worin andre deutſche Genies wie in » heiligen Strahlen glaͤnzen » und er wuͤrde ſich dazu auf die » Wiener Skizzen », auf » Fauſtin » auf « Blu¬ mauer » und auf den » Wiener Muſenalmanach » be¬ rufen. Dieſen Tadel wuͤrde ſelber ein Wiener nuͤtz¬ lichſt acceptiren und uns fragen, ob wir einen Mu¬ ſenalmanach (wie er) mit einem Zoten-Sediment aufzuweiſen haben, worauf man ſetzen koͤnnte » mit Approbazion des Bordels. » — Dieſes Gefuͤhl des litterariſchen Unterſchiedes noͤthigte ſogar einen Ni¬ kolai, der ſonſt kein beſonderer Amoroſo der Wie¬ ner Autoren iſt, in ſeiner Allg. deutſch. Biblio¬ thek eine beſondere Seitenloge fuͤr dieſe einzubauen, da er doch Leipziger, Berliner Autoren in Ein Par¬ terre zuſammenwirft. Auf aͤhnliche Art ſah ich in Baiern, daß an dem Galgen auſſer dem gewoͤhnlichen Balken fuͤr die drei chriſtlichen Konfeſſionsverwand¬ ten, noch ein beſonderer ſchismatiſcher Queerpfoſten angebracht war, an dem blos die Judenſchaft gehef¬ tet wurde.
Der Flachſenfinger weiß, daß an Poeten nichts iſt und ſpringt in Buͤchern, wo Verſebaͤche durch die Proſe laufen, uͤber die Baͤche hinweg, wie gewiſſe Leute ſpaͤt in die Kirche gehen, um dem Singen zu entweichen. Er iſt ein treuer Diener des Staats, dem bekannt iſt, wozu die poetiſche goldne Ader beim Reviſions-Kommiſſions-Relazions-Enrollirungswe¬62 ſen zu brauchen iſt, zu gar nichts; inzwiſchen will er doch, wenn er auch einen Klopſtock und Goͤthe nicht ſchaͤtzen kann, in muͤßigen Stunden einen gu¬ ten Knuͤttelvers und Leberreim nicht verachten. Ei¬ ne ſolche gluͤckliche robuſte Seelen-Konſtituzion, worin man weniger ſeinen Geiſt erhoͤhen will als ſei¬ nen Pacht, macht es freilich begreiflich, wie es Praͤ¬ ſervative geben kann, vermittelſt deren der Flachſen¬ finger allein (wie Sokrates) in der Peſt der Em¬ pfindſamkeit unangefochten herumwandelte. Der volle Mond machte bei ihnen volle Krebſe aber keine volle Herzen und das was ſie darin pflanzten, damit er den Wachsthum beguͤnſtigte, war nicht Liebe, ſon¬ dern — Kohlruͤben. Der aͤchte Klein-Wiener zielt nach viel naͤhern Schießſcheiben als nach dieſer dro¬ ben. Geheirathet wird da mit wahrer Luſt, ohne daß man ſich vorher todtgeſchoſſen oder todtgeſeufzet — man kennt keine Impedimenta der Liebe als ka¬ noniſche — die weibliche Tugend iſt ein ceinturon, der ſo lange halten ſoll als der Geſchlechtsname der Tochter — die Herzen der Toͤchter ſind da wie Cou¬ verts, die ſich, wenn ſie einmal an einen Herrn adreſſirt waren, leicht umſtuͤlpen laſſen, damit man darauf die Aufſchrift an einen andern Menſchen ma¬ che — die Maͤdgen lieben da nicht aus Koketterie ſondern aus Einfalt allen Teufel, ausgenommen arme Teufel ...
63Kurz mein Korreſpondent, von dem ich alles habe, iſt faſt partheyiſch fuͤr Klein-Wien eingenom¬ men und widerſpricht daher heftig dem Verfaſſer des reiſenden Franzoſen, der irgendwo geſagt haben ſoll — haͤtt 'ich ihn im Hauſe, ſo wuͤſt' ich, wie eigentlich Klein-Wien heiſſe — daß der Flachſenfin¬ ger nicht einmal zum Raͤuber tauge. Knef aber ſagt, er wolle hoffen, daß ſie ſchon geſtohlen haben und ſtuͤtzt ſich auf die, die man gehangen hat.
Ende des fluͤchtigen Extrablaͤttgens, worin der naͤrriſche Karakter der Flachſenfinger ſkizziret wur¬ de — oder des perſpektiviſchen Aufrißes der Stadt Klein-Wien.
Aber unter ſolchen Menſchen konnte mein Held bei aller Toleranz keine frohen Tage finden, er, der allen Eigennutz, zumal den ſchmauſenden ſo haßte und der gern in D. Grahams Vorleſungen hoſpitirt haͤt¬ te, worin dieſer lehrte, ohne Eſſen zu leben — er, der in ſein Herz ſo gern den von der Poeſie gefluͤ¬ gelten Samen der Wahrheit aufnahm; der einen Emanuel am Herzen trug und der den Mangel an Geſchmack ſogar fuͤr ein Zeichen anſah, daß der moraliſche Menſch noch nicht alle Raupenhaͤute64 weggelegt — er, der das ganze Leben und den gan¬ zen Staatskoͤrper fuͤr die Huͤlſe anſah, worin der Kern des zweiten Lebens reift — — — o! einer, der ſo denkt, iſt zu einſam unter denen; die anders denken!
— Es war am ſchoͤnſten Abend, der die Ankunft des ſchoͤnſten Sonntagsmorgens und des magiſchen Nachſommers anſagte — er ſah nach der Abendroͤ¬ the, unter der Maienthals Berge lagen und ſein Herz ſchlug ihm ſchwer — er ſah nach der Morgen¬ roͤthe des Vollmonds, die uͤber St. Luͤne entglimte und ſeine Sehnſucht nach dorthin wurde unausſprech¬ lich — — er dachte an Klotilde, deren Geburtstag morgen, den 21 Oktober, einfiel und ganz natuͤrlich ging er heute — — — bloß zu Bette.
19. 65Der Friſeur, der nicht lungen - ſondern ſingſüchtig iſt — Klo¬ tilde in Viktors Traum — Extrazeilen über die Kirchenmuſik Gartenkonzert von Stamiz — Zank zwiſchen Viktor und Flamin — Das Herz ohne Troſt — Brief an Emanuel.
Der Oktober-Sonntag, womit ich dieſen Poſttag voll mache, war ſchon um 6½ Morgens ein ſo freu¬ diger glaͤnzender Tag in St. Luͤne, daß das ganze Pfarrhaus an den Hofmedikus dachte. — » Ach er » ſollte abends ins Konzert kommen! » Der Vir¬ tuoſe Stamiz gab eines in le Bauts Garten. — » O » lieber ſchon zum Mittageſſen! » — » Und in meine » Fruͤhpredigt, wenn er nicht in die Kinderlehre » will. » Eyman hatte dabei ſeine rektifizirte Pe¬ ruͤcke am meiſten im Kopfe, die ihm H. Meuſeler heute darauf geſetzt hatte. Dieſer geſchickte Peruͤ¬ ckenmacher bereiſete die Dioͤzeſanos, die kein eignes Haar trugen, oͤfter und mit groͤſſern Verdienſten um ihre Koͤpfe als der Superintendent ſelber, dieſer Be¬ herrſcher der Glaͤubigen, zu dem die meiſten Diakoni ſagten: Ihro Exzellenz. Haͤtt 'er ſichs ab¬ gewoͤhnen koͤnnen, daß er zuviel ſang, log und ſoff,Heſperus. II Th. E66der Friſeur: ſo haͤtten die meiſten Geiſtlichen ihre Toupees — die artiſtiſchen Hahnenkaͤmme — bei ihm machen laſſen; — ſo aber nicht.
Da der Kaplan gern die Konfituren des Schick¬ ſals — worunter falſche Haare gehoͤren — mit et¬ was verſaͤuerte und hopfte: ſo ſuchte er natuͤrlicher Weiſe ſich die heutige Peruͤcke, fuͤr deren falſche Touren er an Zahlungsſtatt aͤchte abgeſchnittene Haare ſeiner Leute gab, durch Skrupel zu verſalzen, die er ſich uͤber das lange Wegbleiben Viktors mach¬ te. Er erinnerte: » wir muͤſſen ihn vor den Kopf » geſtoſſen haben — er ſchreibt nicht einmal — er » iſt vielleicht mit meinem Sohne zerfallen — etwas » hats geſetzt — und dann ſieht uns der alte Lord » auch nicht mehr von der Seite an — unſere Rat¬ » ten trieben ihn in jedem Falle aus. » —
Durch ſolche Elegien ſetzte er anfangs nur ſich und zuletzt ſelber den Zuhoͤrer in Angſt. Er war durch nichts zu widerlegen als dadurch, daß man etwas Neues was ihn aͤngſtigte, hervorſuchte. Die Wetterſcheide ſeines Gewoͤlkes oder ſein Noth und Huͤlfsbuͤchlein war dieſesmal ein wahres Buch, des Zeizer » Teller's Anekdoten fuͤr Prediger », die er heute durch den Peruͤckenmacher vom kanoniſchen Le¬ ſezirkel empfing. Geiſtliche, zumal die auf dem Lande betreiben alles mit einer kleinlichen puͤnktli¬ chen Aengſtlichkeit, worin ſie zum Theil ihr regie¬67 render Wauwau und Lindwurm von Konſiſtorium ſchreckt. In dieſer Legeſellſchaft war nun ein Geſetz im Gang. — Kommentatoren nnd Editoren halten es —, daß jedes Leſeglied die Fett - und Dintenflecke und Riße, die es im Leſebuch antraͤfe, vorn imma¬ trikuliren ſollte in einem Flecken-Verzeichniß und Befundzettel ſamt der Pagina » wo. » Ganz natuͤr¬ lich laͤugnete jeder, der nur halbwege ein ehrlicher Lutheraner war, die unbefleckte Empfaͤngniß des Buchs; und die Sommerflecken wurden alſo alle ordentlich einregiſtrirt, aber keiner beſtraft. Bloß der gewiſſenhafte Hofkaplan lud als Wuͤſtenbock die Srrafe fremder Fehler auf, indem er eine ganze Nacht jedesmal nicht ſchlafen konnte, ſo oft er im Buche mehrere Klekſe als in der Konduitenliſte fand, weil er offenbar ſah, er werde zum Adoptivvater des anonymen Schmutzes gemacht und zum Kaͤufer des Buchs. — — Tellers Anekdoten fuͤr Schwarz¬ roͤcke waren nun gar voͤllige ſchwarze Waͤſche: war nicht ein Eſelsohr am andern — Klekſe auf Klekſen — die Blaͤtter ordentliche Korrekturbogen ... und zwar unmetaphoriſch geſprochen? — Eyman hob an: » Und wenn mirs Geld zum Fenſter herein¬ floͤg '. » ...
Da flog Viktors Brief zum Fenſter herein und ſein — Verfaſſer zur Thuͤr.
E 268Freilich aber wars ſo: Viktor hatte vor ſchoͤnem Wetter ſchoͤne Traͤume, vor elendem erſchien ihm der Satan mit ſeiner Sipſchaft. Das ſchoͤne Sonn¬ abends-Wetter und der Gedanke an den Geburtstag Klotildens und des Nachſommers gaben ihm einen Morgentraum, der ein Theater fuͤr dieſe war. Eine Perſon, die er hinter dem Schleier des Traums ge¬ ſehen, ſtand fuͤr ihn den ganzen naͤchſten Tag in ei¬ nem zauberiſchen Wiederſchein. Bei ihm irrten die Traͤume — dieſe Phalaͤnen des Geiſtes — wie andre Phalaͤnen uͤber die Nacht und den Schlaf hinaus; wenigſtens Vormittags liebt 'er jede Perſon im Wa¬ chen fort, die er im Traum zu lieben angefangen. Dieſesmal floß gar umgekehrt die wachende Liebe in die traͤumende hinein und die wirkliche Klotilde fiel mit der idealiſchen in Ein ſo leuchtendes Heiligen¬ bild zuſammen, daß einer, der ſeinen Traum weiß, ſich ins Uebrige leicht findet. Deswegen muß der Traum den Leſern gegeben werden, den poetiſchen Leſern beſonders — fuͤr andere moͤchte ich eine Edi¬ zion der Hundspoſttage veranſtalten, wo er her¬ aus waͤre: denn unpartheyiſche, die ſelber keine ha¬ ben, ſollten keine leſen.
Euch aber, euch guten, nie belohnten weiblichen Seelen, die ihr ein eignes zweites Gewiſſen ne¬ ben dem erſten, fuͤr reine Sitten habt — deren ein¬ zige Tugend in der Naͤhe eine Sammlung von allen69 iſt, wie einige Sterne durch Glaͤſer in Millionen zerfallen — die ihr, ſo veraͤnderlich in allen Ent¬ ſchluͤſſen, ſo unveraͤnderlich im edelſten, aus der Erde geht mit verkannten Wuͤnſchen, mit vergeſſenem Werthe, mit Augen voll Thraͤnen und Liebe, mit Herzen voll Tugend und Gram — euch theuern er¬ zaͤhl 'ich gern den kleinen Traum und mein großes Buch! ...
» Eine Hand, die Horion nicht ſah, faßte ihn an, » eine Lippe, die er nicht ſah, redete ihn an: dein » Herz ſey jetzt heilig und rein, denn der Genius » der weiblichen Tugend wohnt in dieſem Gefilde. » — Siehe da ſtand Horion auf einer mit Vergi߬ » meinnicht uͤberzognen Flur, woruͤber der Himmel, » wie ein blauer Schatten heruͤberſank: denn alle » Sterne waren aus ihm genommen, bloß der » Abendſtern ſtand einſam flimmernd oben an der » Stelle der Sonne. Weiße Eis-Pyramiden, ge¬ » ſtreift mit herunterrinnenden Abendroͤthen, umran¬ » gen wie mit einem Wall aus Gold - und Silberſtu¬ » fen das ganze dunkle Rund — — Darin ging » Klotilde, erhaben wie eine Verſtorbene, heiter wie » ein Menſch in der andern Welt, gefuͤhrt bald von » gefluͤgelten Kindern, bald von einer verſchleierten » Nonne, bald von einem ernſten Engel, aber ſie » ging ewig vor Horion voruͤber — ſie laͤchelte ihn » ſeelig-liebend an unter jedem Voruͤberziehen,70 » aber ſie zog voruͤber. — Blumige Erhoͤhungen. » Graͤbern faſt gleich ‚ ſtiegen auf und nieder ‚ denn » jede wurde von einem darunter ſchlummernden Bu¬ » ſen durch Athem geregt; eine weiße Roſe ſtand » uͤber dem Herzen ‚ das darunter verhuͤllet lag ‚ zwei » rothe wuchſen uͤber den Wangen ‚ deren Tugend¬ » farbe ſich in die Erde verbarg ‚ und oben am himm¬ » liſchen Nacht-Blau wankte der weiſſe und rothe » Wiederſchein der Huͤgel-Blumen gleitend in einan¬ » der ſo oft unten die Roſen des Herzens und der » Wangen ſich mit dem Huͤgel bewegten — Verſie¬ » gende Echos ‚ aber von ungehoͤrten Stimmen er¬ » regt ‚ gaben einander hinter den Bergen Antwort; » jedes Echo hob die kleinen Schlummerhuͤgel hoͤher » auf als wenn ſie ein tiefer Seufzer oder ein Bu¬ » ſen voll Wonne erhoͤhte und Klotilde laͤchelte ſeeli¬ » ger ‚ von jedem Wiederhalle tiefer in den Blumen¬ » boden verſenkt — In den Toͤnen war zu viel » Wonne und das aufgeloͤßte Herz des Menſchen » wollte darin ſterben — Klotilde ſank jetzt in die » Graͤber bis ans Herz — Nur das ſtille Haupt laͤ¬ » chelte noch uͤber der Aue — die Vergißmeinnicht » ragten endlich an die untergeſunknen Augen voll » ſeeliger Thraͤnen und uͤberbluͤhten ſie — Da uͤber¬ » kroch die Holde ploͤtzlich ein Schlummerhuͤgel und » und unter den Blumen ſtiegen ihre Worte auf: » Ruhe du auch ‚ Horion! — Aber die fernern Laute71 » verwandelten ſich unter dem Begraben in dunkle » Harmonikatoͤne. .... Siehe unter dem Verſtum¬ » men ging ein großer Schatten wie Emanuel heran » und ſtand vor ihm wie eine kurze Nacht und ver¬ » deckte die unbekannte Minute aus einer hoͤhern » Welt. — Aber als die Minute und der Schatten » zerfloſſen waren: da waren alle Huͤgel niedergefal¬ » len — Da uͤberguldete der Blumen-Wiederſchein » zuſammengefloſſen den wallenden Himmel — Da » klammerten ſich an die Purpurgipfel der Eisberge » weiſſe Schmetterlinge, weiſſe Tauben, weiſſe » Schwaͤne mit ausgeſpannten Fluͤgeln wie mit Ar¬ » men an und hinter den Bergen wurden gleichſam » von einer uͤbermaͤßigen Entzuͤckung Bluͤtem empor¬ » geworfen und Sterne und Kraͤnze — Da ſtand » auf dem hoͤchſten in lichtem Glanz und Purpurlohe » ruhenden Eisberg Klotilde verherrlicht, geheiligt, » uͤberirrdiſch entzuͤckt und an ihrem Herzen flatterte » eine Nebelkugel, die aus aufgeloͤßten kleinen Thraͤ¬ » nen beſtand und auf welche Horions blaſſes Bild » gezeichnet war, und Klotilde breitete die Arme » auseinander. « — — —
Aber um zu umarmen? oder um ſich aufzuſchwingen oder um zu beten? ... Ach er erwachte zu bald und ſtroͤmte in groͤßern Thraͤnen als die neblichten waren aus und eine unterſinkende Stimme rief un¬ anfhoͤrlich um ihn: Ruhe du auch! —
72O du weibliche Seele ‚ die du muͤde und unbe¬ lohnt ‚ bekaͤmpft und blutend ‚ aber groß und unbe¬ fleckt aus dem rauchenden Schlachtfelde des Lebens gehſt, du Engel ‚ den das maͤnnliche von Stuͤrmen erzogne ‚ von Geſchaͤften beſudelte Herz achten und lieben ‚ aber nicht belohnen und erreichen kann; wie beugt ſich jetzt meine Seele vor dir ‚ wie wuͤnſch 'ich dir jetzt des Himmels ſtillenden Balſam ‚ des Ewi¬ gen belohnende Guͤte! Und du ‚ Philippine ‚ theure ‚ theure Seele, trete jetzt weg in eine verborgne Zelle und lege unter den Thraͤnen ‚ die du ſchon ſo oft vergoſſen haſt ‚ deine Hand an dein reines weiches Herz und ſchwoͤre: » ewig bleibe du Gott und der » Tugend geweiht ‚ wenn auch nicht der Ruhe! « Dir ſchwoͤr' es; mir nicht ‚ denn ich glaub 'es ohne Schwur. — —
Welch 'eine Paradenacht voll Sterne und Traͤu¬ me war das! und welch ein Gallatag der Natur kam auf ſie! In Viktors Kopf ſtand nichts als St. Luͤ¬ ne ‚ blau uͤberzogen ‚ ſilbern uͤberthauet und mit dem ſchoͤnſten Engel geſchmuͤckt, der heute naſſe frohe Augen in den freundlichen Himmel hob und dachte: » wie biſt du heute gerade an meinem Geburtstage » ſo ſchoͤn! « — Sogar der Stadtſenior und ſeine Tochter ‚ die beide Hochzeit machten — jener eine Ancora-Hochzeit mit ſeiner Seniorin ‚ dieſe eine erſte mit dem Waiſenhausprediger — ſchoben ſich in73 der Prozeſſion ſeiner freudigen Gedanken als zwei neue Paare ein.
Er wollte nicht nach St. Luͤne, ſondern er ſagte: » ich ziehe mich nur an zu einem kleinen Spazier¬ » gange. « —
» Es iſt ganz egal, wo ich heute gehe « ſagt 'er drauſſen und ging alſo auf den St. Luͤner Weg. — » Umkehren kann ich allemal « ſagt' er auf halbem Wege. — —
» Noch naͤrriſcher waͤr's wenn ich zugleich Brief¬ » ſteller und Brieftraͤger wuͤrde und mein eignes » Schreiben inſinuirte « ſagte er und zog ſolches heraus. —
— — Da er aber das Luͤner Praͤludiumsgelaͤute zum Kirchengelaͤute vernahm: ſo ſprang er empor und ſagte: » nunmehr verſalz 'ich mir den Weg » nicht laͤnger durch weitere Skrupel, ſondern ich » will keck und entſchloſſen hinein marſchiren. «
Und ſo marſchirte er an der Hand Fortunens, hinter dem Nachlaͤcheln der ganzen Natur, mit Traͤu¬ men im Herzen, mit unſchuldiger Hofnung im juͤn¬ gern Angeſicht in das Eden ſeiner Seele hinein.
Flamin hatt 'er nicht mitgebeten, um dem Stadt¬ ſenior den Hochzeitgaſt nicht zu nehmen — und vielleicht auch, weil er ſeine phantaſirende Aufmerk¬ ſamkeit auf den ſchimmernden Morgen durch keine juriſtiſche Kollegial-Neuigkeiten wollte ſtoͤren laſſen. 74Er ging lieber mit einer Frau als einem Mann ſpa¬ ziren: Maͤnner ſchaͤmen ſich beinahe neben einander anderer als ſtummer Empfindungen; aber weiblichen Seelen oͤfnen ſich gern die verſchaͤmten Gefuͤhle; denn von ihnen wird mit Mutterwaͤrme das nackte Herz bedeckt, damit es nicht unter dem Enthuͤllen erkalte. —
Da Viktor unten ums Pfarrhaus ging ſah er oben ſelber zum Fenſter auf ſich herunter, in ſeiner zweiten Auflage fuͤr einige gute Freunde; aber der Wachs-Baſtian mußte ſogleich hinter eine ſpaniſche Wand getrieben werden, damit er den fleiſchernen nicht erſchreckte. — Der Empfang des letztern nnd das Jubelfeſt dabei braucht nicht lebhafter von mir beſchrieben zu werden als daß ich ſage: der Mops wurde faſt ertreten, der Gimpel ſprang umſonſt auf nach ſeinem Dejeneur herum, die Pfarrerin brachte in ihrer anblickenden Freude auch dem Gaſte keines und die Kirche ging erſt nach einem Doppel-Uſo von einer halben Stunde an; daher dieſesmal mehrere Eingepfarrte als ſonſt beſoffen hinein kamen.
Berauſcht, aber von Freude, kam Viktor auch in das Pfarrhaus hinein. Es iſt nichts angenehmers als eine Pfarrfrau zu ſeyn und zum Mann, wenn ſie ihm den Ueberſchlag umlegt, zu ſagen: » mach 'es heute75 » laͤnger, das Fleiſch braͤt ſonſt nicht aus. « — Die haͤuslichen Kleinigkeiten ergoͤtzten meinen Helden eben ſo ſehr als ihn die hoͤfiſchen erzuͤrnten.
Er ging mit dem Pfarrer. Seine Toleranz ge¬ gen die Fehler des geiſtlichen Standes hatte mit je¬ ner vornehmen ſtifts - und tadelfaͤhigen nichts ge¬ mein, die aus hoͤchſter Verachtung entſteht und die einen chriſtlichen Prieſter ſo leicht wie einen aͤgypti¬ ſchen ertraͤgt: ſondern ſie kam aus ſeiner Meinung, daß die Kirchen noch die einzigen Sonntagsſchulen und ſpartiſchen Schulpforten und Seminarien des armen Volkes ſind, das ſeinen cours de morale nicht beim Staate hoͤren kann. Auch liebte er als Juͤngling die Lieblinge ſeiner Kindheit.
Viele Prediger ſuchen den Quintilian, der ſchlechte Gruͤnde in Reden voran geſtellet haben will, und den Cicero, der ſie hintennach will, zu vereinigen und poſtiren ſie an beiden Orten; aber Eymann hielt gute Empfindungen fuͤr beſſer als ſchlechte Gruͤnde und wand um den Bauern nicht Schluß - ſondern Blumenketten.
Der Friſeur ging anfangs nicht in die Kirche, weils unter ſeinen Stand war, aber nachher konnt 'er nicht anders: denn wegen des fremden Hofherrns darin wurde Kirchenmuſik gemacht.
Es iſt der einzige Fehler des Peruͤckenmacher Meuſeler, daß er zu gern ſingt und ſeine Kehle in76 alle Kirchenmuſiken, die in ſeiner Peruͤckendioͤzes ge¬ macht werden, einmengt, zumal am h. Pfingſtfeſt. Der Luͤner Kantor wollt 'es nie leiden; aber wie be¬ ruͤckt er dieſen und labt tauſend Ohren? So bloß: er friſirte heute hinaus was noch zu friſiren war (nicht bloß heute, ſondern es ging allemal ſo) und glitt bloß an der Chortreppe hinan. Hier wachte und lehnt' er ſo lange bis der Kantor, auf dem mu¬ ſikaliſchen Wurſtſchlitten ſeßhaft, mit dem Finger in den erſten Akord der Kirchenmuſik einhieb. Dann fuhr er neben einem Sonnenſtral — aber nicht lang¬ ſamer — ins Chor und mauſete dem jungen Altiſten ſein Penſum weg und ſangs dem Kirchenſprengel in die Ohren, aber unter ſo viel Jammer nnd Puffen als ſaͤng 'er ſein Manuſkript den Rezenſenten. Denn man muß es nun einmal der Welt bekannt machen, daß der biſſige Klavieriſt dem friſirenden Altiſten mit einem ſpitzwinklichten Triangel von Ellbogen wuͤthich entgegenſtochert, um den fremden Singvogel aus der Volerie des Chors zu ſtoßen. Da aber der Saͤnger ſeinen rechten Arm zum feſten Notenpulte ſeines Textes und den andern zur Streitkolbe mach¬ te, wie die an Jeruſalem bauenden Juden die eine Hand voll Bauzeug, die andere voll Waffen hatten: ſo konnte der Peruͤckenmacher, unter fortwaͤhrendem Fechten und Muſiziren, ſchon ſein Moͤglichſtes thun und einiges durchſetzen waͤhrend des Gottesfriedens77 der Muſik. Aber ſobald die Muſik den letzten Athem gezogen hatte: ſo ſetzte der harmoniſche Strichvogel und Sturmlaͤufer behend uͤber das Chor hinaus und ſann unterweges tauſend Ohren und einem einzigen Ellbogen nach. Der Kantor konnt' ihn nicht riechen und nicht kriegen.
Wenn er hingegen gluͤcklicherweiſe mit ſeinen Schachteln durch ein Dorf paſſirte, wo gerade Pfarr - und Schulherr und paͤdagogiſcher Froſchlaich eine taube Leiche umquaͤckten und umkraͤchzeten, welches viele noch kuͤrzer eine Leichenmuſik nennen: ſo konnte der Virtuoſe, ohne Reakzion der Ellenbogen, mun¬ ter mit zwei Fuͤßen mitten in die Motette hinein¬ ſpringen — das Trauer-Staͤndgen, das die Erben dem Todten bringen, bearbeiten — dem Leichenkon¬ dukt einige Finalkadenzen gratis zuwerfen und doch noch im Dorfe dem Juſtitiar eine ganz neue Beutel¬ peruͤcke anbieten. —
Unſerem Helden machte die kanoniſche Muſik das groͤßte ſatiriſche Vergnuͤgen. Wir aber haͤtten wenig davon, wenn ich nicht ſo geſcheut waͤre, daß ich um die Erlaubniß nur zu einer elenden Extra¬ ſylbe — man ſoll ſie kaum ſehen — uͤber die Kir¬ chenmuſik bettelte.
78Ich ſehe allemal mit Vergnuͤgen, daß die Leute in einer Kirchenmuſik ſitzen bleiben, weils ein Be¬ weiß iſt, daß keiner von der Tarantel geſtochen iſt: denn liefen ſie hinaus, ſo ſaͤhe man, ſie koͤnnten keine Mißtoͤne aushalten und waͤren alſo gebiſſen. Ich als profaner Muſikmeiſter ſetze nur fuͤr wenige Kirchen — naͤmlich fuͤr reparirte oder fuͤr neue den Einweihungslaͤrm — und verſtehe alſo im Grunde von der Sache nichts, woruͤber ich mich im Vor¬ beigehen auslaſſen will; aber ſoviel ſey mir doch er¬ laubt zu behaupten, daß die lutheriſchen Kirchen¬ muſiken etwas taugen — auf dem Lande, nicht in den Reſidenzſtaͤdten, wo vielleicht die wenigſten Mißtoͤne richtig vorgetragen werden. Wahrlich ein elender, verſoffner, blauer Kantor, der in Bravoura¬ rien ſich braun ſingt und andre braun ſchlaͤgt, — es giebt alſo zweierlei Bravour-Arien — iſt im Stande, mit einigen Profeſſioniſten, die Sonntags auf der Geige arbeiten, mit einem Trompeter, der die Mauern Jericho's niederpfeifen koͤnnte ohne In¬ ſtrument, mit einem Schmidt, der ſich mit den Paucken herumpruͤgelt, mit wenigen krampfhaften Jungen, die das Singen noch nicht einmal koͤnnen und die doch einer Saͤngerin gleichen, welche nicht wie die ſchoͤnen Kuͤnſte allein fuͤr Ohr und Auge79 arbeitet, ſondern auch (aber in einem ſchlimmern Sinn als die Jungen) fuͤr einen dritten Sinn, und mit dem wenigen Wind, den er aus den Orgel-Lun¬ genfluͤgeln und aus ſeinen eignen holt, ein ſolcher ſtampfender Mann iſt, ſag ich, im Stande mit ſo auſ¬ ſerordentlich wenigen muſikaliſchen Gerumpel doch ein viel lauteres Donnern und Kolofoniums-Blitzen um den Kanzel-Sinai, ich meine eine weit heftigere und mißtoͤnendere, deren Kirchenmuſik aus ſeinem Chor herauszumachen als manche viel beſſer unterſtuͤtzte Theater-Orcheſter und Kapellen, mit deren Wollau¬ ten man ſo oft Tempel entweiht. Daher thut es nachher einem ſolchen lauten Manne weh, wenn man ſein Kirchen-Gekratze und Geknarre verkennt und falſch beurtheilt. Soll ſich denn in alle unſre Pro¬ vinzialkirchen das weiche leiſe Herrnhutiſche Toͤnen einſchleichen? — Es giebt aber zum Gluͤck noch Stadtkantors, die dagegen arbeiten und die wiſſen worin reiner Chor und Mißton ſich vom Kammer¬ ton zu unterſcheiden hat.
Den Leſern nicht, aber Organiſten kann ich zu¬ muthen, daß ſie wiſſen, warum bloße Diſſonanzen — Konſonanzen ſind nur unter dem Stimmen der Inſtrumente zu ertragen — aufs Chor gehoͤren. Diſſonanzen ſind nach Euler und Sulzer Ton-Ver¬ haͤltniße die in großen Zahlen ausgedruͤckt werden; ſie mißfallen uns alſo, nicht wegen ihres Mißver¬80 haͤltniſſes, ſondern wegen unſers Unvermoͤgens, ſie in der Eile in Gleichung zu bringen. Hoͤhere Geiſter wuͤrden die nahen Verhaͤltniſſe unſrer Wohllaute zu leicht und uniſon, hingegen die groͤßern unſerer Mi߬ toͤne reizend und nicht uͤber ihre Faſſung finden. So lange nun der Gottesdienſt mehr zur Ehre hoͤhe¬ rer Weſen als zum Nutzen der Menſchen gehalten wird — und ſo weit iſt hoffentlich die Sittenloſig¬ keit noch nicht eingeriſſen, daß man dieſes abſchafte: — ſo lange muß der Kirchenſtyl darauf dringen, daß Muſik gemacht werde, die fuͤr hoͤhere Weſen paſſet, naͤmlich aus Mißtoͤnen und daß man gerade die, die fuͤr unſre Ohren die abſcheulichſte iſt, als die zweckmaͤßigſte fuͤr Tempel finden.
Machen wir einmal der Herrnhutiſchen Inſtru¬ mentalmuſik die Kirchenthuͤre auf: ſo ſteckt uns zu¬ letzt auch ihr Singen an und es verliert ſich nach und nach alles Vokal-Gebloͤck, welches unſre Kir¬ chen ſo luſtig macht und welches fuͤr Kaſtratenohren ein ſo unangenehmer Hammer des Geſetzes, aber fuͤr uns ein ſo angenehmer Beweiß iſt, daß wir Schwei¬ nen aͤhnlichen, die der Abt de Baigne auf Befehl Ludwigs XI. nach der Tonleiter geordnet mit Tan¬ genten ſtach und zum Schreien brachte. So denk 'ich uͤber Kirchen - oder altdeutſchen Schlacht¬ geſang.
Ende81Ende der Extraſylbe uͤber die Kirchen¬ muſik.
Ich haͤtte den Haarkraͤusler nicht ſo lange ſingen und agiren laſſen, wenn mein Held dieſen ganzen Sonntag zu etwas anderem zu brauchen waͤre als zu einem Figuranten; aber den ganzen Tag that er nichts von Belang als daß er etwan aus Menſchen¬ liebe die alte Appel zwang — indem er ihre Kom¬ moden und Schachteln ſelber auspackte, — von ih¬ rem Koͤrper, der lieber Schinken als ſich anputzte, die gewoͤhnliche mit typographiſcher Pracht gedruckte Schabbes-Edition, ſchon um drei Uhr Nachmittags zu veranſtalten: ſonſt lieferte ſie ſolche erſt nach dem Abendeſſen. Die Juden glauben, am Sabbath eine neue Schabbesſeele zu bekommen: in die Maͤdgen faͤhrt wenigſtens eine, in die Appeln ein Paar.
Aber warum muth 'ich meinem Helden zu, heute mehr Aktion zu zeigen — ihm, der heute — verſun¬ ken in die Traum-Nacht und in den kommenden Abend — bewegt durch jedes freundliche Auge und durch alle Rudera und Urnen des weggetraͤumten Lenzes — ſanft aufgeloͤſet durch den ſtillen lauen Sommer, der an den Rauchaltaͤren der Berge auf den mit Milchflor belegten Fluren und unter dem verſtummenden Trauergefolge von Voͤgeln laͤchelnd und ſterbend lag und beim Aufſteigen der erſten Wolke auf dem Laube verſchied — Viktor ſag' ich,Heſperus. II. Th. F82der heute, von lauter weichen Erinnerungen wehmuͤ¬ thig angelaͤchelt, fuͤhlte, daß er bisher zu luſtig ge¬ weſen. Er konnte die guten Seelen um ihn nur mit liebenden ſchimmernden Augen anblicken, dieſe noch ſchimmernder wegwenden und nichts ſagen und hin¬ ausgehen. Ueber ſeinem Herzen und uͤber allen ſei¬ nen Noten ſtand tremolando. Niemand wird tiefer traurig als wer immer laͤchelt: denn hoͤrt einmal die¬ ſes Laͤcheln auf, ſo hat alles uͤber die zergangne Seele Gewalt und ein ſinnloſer Wiegengeſang, ein Floͤtenkonzert — deſſen Diß - und Fißklappen und Anſaͤtze bloß zwei Lippen ſind. — Reiſſet die alten Thraͤnen loß wie ein geringer Laut die wankende La¬ vine. Es war ihm als wenn ihm der heutige Traum gar nicht erlaubte, Klotilden anzureden: ſie ſchien ihm zu heilig und noch immer von gefluͤgelten Kin¬ dern gefuͤhrt und auf Eisthronen geſtellt. Da er uͤberhaupt fuͤr Le Bauts Geſpraͤche im Reiche der Moraliſch-Todten heute keine Zunge und Ohren hatte: ſo wollt 'er im großen laubenvollen Garten dem Stamiziſchen Konzert inkognito zuhoͤren und ſich hoͤchſtens vom Zufall praͤſentiren laſſen. Sein zweiter Grund war ſein zum Reſonanzboden der Mu¬ ſik geſchaffnes Herz, das gern die eilenden Toͤne ohne Stoͤhrung aufſog und das die Wirkungen derſelben gern den gewoͤhnlichen Weltmenſchen verbarg, die Goͤthe's, Raphaels und Sachini's Sachen wahrhaftig83 eben ſo wenig und aus keinen geringern Gruͤnden entbehren koͤnnen als Loͤſchenkohls ſeine. Die Em¬ pfindung erhebt zwar uͤber die Schaam, ſie zu zei¬ gen; aber er haßte und floh waͤhrend ſeiner Empfin¬ dungen alle Aufmerkſamkeit auf fremde Aufmerkſam¬ keit, weil der Teufel in die beſten Gefuͤhle Eitelkeit einſchwaͤrzt man weis oft nicht wie. In der Nacht, im Schattenwinkel fallen Thraͤnen ſchoͤner und verduͤnſten ſpaͤter.
Die Pfarrerin beſtaͤrkte ihn in allem: denn ſie hatte heimlich — in die Stadt geſchickt und den Sohn invitirt und eine Ueberraſchung im Garten ar¬ tiſtiſch angelegt. —
Das Pfarr-Perſonale hob ſich endlich in den be¬ laubten Konzertſaal und dachte nicht daran, wie ſehr es von Le Bauts Hauſe verachtet werde, das nur edle Metalle und edle Geburt, nie edle Thaten fuͤr Entreebillets gelten ließ und daß die Pfarrleute als Freunde des Lords und Matthieu hoch, aber als Schooßhunde beider noch hoͤher geſchaͤtzt haͤtte.
Was haͤtten ſolche zaͤhe L