Seite 4 Zeile 5 von oben muß und weg.
— 5 — 1 von oben ſt. nicht l. nicht auf;
— 9 — 2 von unten ſt. Patner l. Platner
— 10 — 1 von oben ſt. Das l. das
— 42 — 9 von oben ſt. ihr l. Ihr
— 43 — 6 von oben ſt. jede l. jedes
— 46 — 8 von oben ſt. aufliegendem l. auffliegendem
— 47 letzte Zeile ſt. falſcher. Dies l. falſcher Dieb
— 48 — 3 von oben ſt. Vorſtellungen l. Verſtellungen
— 62 — 10 von unten ſt. aneinandergedruͤckten l. aneinan¬ dergeruͤckten — 69 — 11 von unten ſt. jeden l. unter
— 73 — 2 von oben ſt. mit. l. mir --- — 82 — 8 von oben ſtreiche an weg.
— 87 — 5 von unten ſtatt Wildprets-Fumel l. Wildprets¬
Fumet
— 97 — 7 von unten ſt. Reichen l. Reiche
— 98 — 12 von oben ſt. deutſche l. Deutſche
— 100 — 8 von oben nach anſtatt ſetze dazu: es — 105 — 5 von unten ſt. Weinſtein l. Weidſtein
— 108 — 15 von oben ſt. ſagt l. ſaͤgt
— 109 — 12 von oben ſt ..... ſetze: ..
— 113 — 7 von oben ſt. dreimaͤchtigen l. dreimahtigen
— 145 — 13 von unten ſt. ein l. ſein
— 147 — 3 von oben ſt. ihr l. ihn
— 167 — 4 von oben noch » Paradieſes « fehlt » der Re¬ genbogen
— 168 — 14 von oben ſt. ſpielend l. ſpielende
— 177 — 6 von oben ſt. die ſchon I. ſchon die
— 228 — 10 von oben ſt. dieſe l. die
— 291 — 9 von oben ſtreiche der Seele weg.
— 306 — 15 von oben ſt. das l. dem
— 318 — 7 von unten ſt. Gruͤn l. Grimm
— 339 — 2 von unten ſt. Genius l. Genus
— 349 — 4 von unten ſt. Freunde l. Freundin. — 350 — 7 von unten ſt. vergeht l. zergeht — 367 — 16 von oben ſt. Seite l. Seide
— 398 — 9 von unten ſt. Fabrikant l. Febrikant — 424 — 5 von oben ſt. vergnuͤgen l. verjuͤngen —
425 — 1 von oben ſt. weiſſer l. weiſſen
Da jetzt auch der Schalttag in die Vorrede einfaͤllt und er noch dazu beim Anfangsbuchſta¬ ben V anfaͤngt; ſo koͤnnen ja beide ungemein gluͤcklich mit einander abgefertigt werden.
Ende des Regiſters der Extra-Schöslinge.
Unempfindlichkeit der Leſer — Vorrede. Es gab gluͤckliche Zeiten, wo man von ſeinem Ne¬ benwilden und Naͤchſten nichts zu befahren hatte als todtgeſchlagen zu werden — wo nur der Hagel der Knutenmeiſter der Haut war, anſtatt daß jetzt derA 24Paſſatwind des Viſitenfaͤchers fuͤr uns eine Winds¬ braut iſt und der kuͤhle Athem uͤber die Theetaſſe heruͤber ein Seewind — wo man weniger am Kum¬ mer des andern Antheil nahm als an ſeinem Fraße — wo die Damen und die Herren in Baͤrenhaͤuten mit nichts verwundeten (mit Blicken, Reizen, Locken am allerwenigſten) mit nichts als mit Keulen und wo ſie ſich zwar ſo gut wie heute und morgen des Herzens eines ehrlichen Mannes bemaͤchtigten, aber doch nur ſo, daß ſie den Inhaber deſſelben vorher auf einen Altar hinſtreckten und ordentlich abſchlachte¬ ten, eh 'ſie ihm den Himmelsglobus aus dem Bruſt¬ gehaͤuſe ausſchnitten. — —
Um dieſe Zeiten ſind wir nun alle gebracht: in den jetzigen ſiehts ſchlecht aus. Beim Himmel, man hat ja nicht viel weniger als Alles vonnoͤthen, um gluͤcklich, und nicht viel mehr als Nichts, um un¬ gluͤcklich zu ſeyn — zu jenem braucht man eine Sonne, zu dieſem ein Sonnenſtaͤubgen! — Gut waͤ¬ ren wir daran und große Zimmer im Luftſchloß mon répos am Rhein haͤtten wir innen, wenn es uns vom Schickſal beſcheeret waͤre, daß wir etwan ſo viele Foltern erlitten wie die Juriſten haben, naͤm¬ lich drei — nicht mehr Plagen als die Aegypter tru¬ gen, naͤmlich ſieben — nicht mehr Verfolgungen als die erſten Chriſten ausſtanden, naͤmlich zehn. Aber auf ſolche Gluͤcks-Ziehungen ſieht ein Mann von5 Verſtand gar nicht; wenigſtens verſpricht ſich ſolche Treffer einer nicht, der ſich wie ich hinſetzt und erwaͤgt unſre Kolibrimaͤgen — unſere weiche Raupenhaut — unſer klingendes Gehoͤr — unſere Selbſtzuͤnder von Augen — und unſere culs de Paris, die nicht von einem umgeſtuͤlpten Roſenblatt ſondern ſchon vom Schatten eines Dornes geſtochen werden — und unſern Teint, der ohne ein Paraluͤne ſchwarz wuͤrde im Mondenſchein ...... Und doch hab 'ich in dieſe Rechnung unſerer Leiden — weil ich mit Fleiß darauf ausbin, ſie kleiner zu machen — noch mit keinem Worte ganz andere, ganz verdammte Po¬ ſten gebracht, ſondern z. B. den Reichthum voͤllig ausgelaſſen, dieſes Schmerzengeld ſo vieler tauſend Schrammen und Exfoliarionen der Bruſt, und uͤber¬ haupt Millionen Seelenwunden, die unſer durchloͤ¬ chertes Ich ganz durchſichtig machen wuͤrden, waͤr' es nicht zum Gluͤck ganz bis auf den Fuß in engli¬ ſches Taftpflaſter gekleidet .... Aber ich ließ das weg, weil ich wußte, es waͤre doch ſo gut wie nichts, wenn ich's gegen ein ganz anderes Fegfeuer und Ge¬ witter hielte, in das vorzuͤglich wir Mannsperſonen geworfen werden, wenn wir ſo ungluͤcklich ſind, daß wir uns ſelber kielholen — naͤmlich uns verlieben, welches meines wenigen Erachtens ein geringer Vorſchmack der Hoͤlle iſt ſo wie des Himmels. Die beſte Peereß in dieſem Fache ſchreib 'an mich und6 kouvertir' es poſtfrei an die Matzdorfſche Verlagshand¬ lung in Berlin und nenne ſich mir ‚ wenn ſie faͤhig war ‚ ihren armen Pastor fido nicht zu ſchinden und zu ſpieſſen ‚ noch mit Zwickelurtheln zu verfolgen ‚ noch ihm mit den Kompreſſionsmaſchinen der Haͤnde ſein Herz voll komplizirter Frakturen ‚ mit der Faͤcher-Baſtonade ſeinen Kopf voll Fiſſuren mit den Augen die Bruſt voll Brandblaſen zu machen und ihm wie dem Rauchtabak mit Thraͤnen eine Baize zu geben .... Wenigſtens komm 'ich ſelber gegenwaͤrtig gerade aus einem ſolchen Zucht - und Hazhaus heraus und ſeh' erbaͤrmlich aus in meiner Haut ‚ als haͤtt 'ich eine ſkalpirte um mich geſchlagen.
Wir wollen nichts weiter davon reden. Meine Abſicht bei allem iſt ‚ den Leſer ſtandhaft zu machen ‚ weil ein ganz neues Regengeſtirn ‚ das ich gar nicht nahmhaft gemacht, fuͤr ihn herauf ſteigt, um ihn einzuſchneien. Das tobet aͤrger als alles Vorige. Ich meine ſo, ein Reichsbuͤrger kann ſchon mit Allem zu Rande ſeyn — ſeine Kaſſe und ſeine Feinde koͤnnen ſchon geſtuͤrzt und ſeine Arbeiten vom Publi¬ kum oder vom Kollegio recht gut aufgenommen — ſeine Friſtgeſuche bewilligt und die Quinquennels ſeiner Schuldner abgeſchlagen worden ſeyn — ſeine juͤngſte Tochter, die wie die aͤlteſte des Bruders des franzoͤſiſchen Koͤnigs, Mademoiſelle heiſſet, kann ſchon die Blattern uͤberſtanden haben und die Ver¬7 lobung nachher: es hilft ihm wenig, das Aergſte, eine ganze Gehenna erwartet ihn noch — im Buͤ¬ cherbrett; denn dort koͤnnen die ſchoͤnen Geiſter, er habe immer ſchon alle bittere Salze des Geſchicks hinunter geſchluckt, unter dem Namen Romanen - Manna ein hartes Thraͤnenbrod ihm vorgeſchnitten haben, das ich fuͤr meine Perſon weder backen noch kaͤuen moͤchte — warlich ſie koͤnnen (in einer andern Metapher) Todtenmaͤrſche und Maeſtoſen und Semi¬ tonien fuͤr ihn komponirt und bereit gelegt haben, die ihn ganz niederwerfen und ihm warm machen, daß ihm die Augen uͤbergehen.
Und zum Ungluͤck zeichnen ſich gerade warmbluͤ¬ tige und weichhaͤutige herrliche Maͤnner am wenig¬ ſten durch ſtandhaftes maͤßigendes Ertragen der poe¬ tiſchen Leiden aus, die ihnen Autoren zuſchicken. Ich kann daher dieſen dritten Heft, der zu leicht ruͤhret, unmoͤglich ohne alle Vorrede als eine Wider¬ lage laſſen, wenn ich nicht ſelber Urſache ſeyn will, daß unſchuldige Menſchen bei den beſten Szenen die¬ ſes Hefts weinen und mit leiden. Solche zu weiche Menſchen, denen die Natur die aͤſthetiſche Apathie gegen große Leidensfaͤlle in Tragoͤdien und Romanen verſagt hat, ſollten ſich — ſie muͤßten denn fett ſeyn; denn Fetten thut der Kummer gut wie Hun¬ gerkur und Hoͤllenſtein — dieſe ſollten ſich durch Philoſophie kalt machen und bewafnen gegen den8 tragiſchen Dichter; ſie ſollten ſich unter dem Leſen eines großen Jammers troͤſten und ſagen: » wie lange » dauert ein ſolches gedrucktes Ungluͤck? — Wie bald » iſt ein Buch und Leben hinaus — Morgen denkſt » du doch anders — Der ungluͤckliche Zuſtand, in » den ich durch Shakeſpear hier gebracht werde, » exiſtirt ja nur in meiner Vorſtellung und der » Schmerz daruͤber iſt ja, nach den Stoikern, nur » Illuſion — Man muß, ſagt Epiktet im Handbuch, » das nicht bejammern, was nicht in unſerem Willen » liegt und hier die traurige Szene von Klopſtock iſt » ja ein aͤuſſeres Ding, das du nicht aͤndern kannſt » — Willſt du dich von einem Nordamerikaner, » vom Halloren, vom Poͤbel, vom Cretin aus Gex » beſchaͤmen laſſen, der dieſe ganze Szene aus Goͤthe's » Taſſo ſtill und gelaſſen aushielte, ohne ein Auge » naß zu machen? « —
Ich betheur 'es den Leſern, daß ich hier nur ge¬ gen ihre Weiber und Schweſtern zu Felde liege: denn unter den Leſern fehlten ſtandhafte Zuſchauer aͤſthetiſcher Leiden niemals ganz und noch weniger als ſelber unter dem Poͤbel und ich moͤchte am we¬ nigſten den Schein haben als ſtritt' ich dem groͤßern Theile der Geſchaͤftsleute, der Rezenſenten, Krimina¬ liſten, und Hollaͤnder große Gelaſſenheit unter dem Leſen uͤberflorter truͤber Szenen ab, die ich und an¬ dere in die Preſſe geben. Ich berede mich vielmehr9 gern, daß — wenn jemals Hofnung dazu war — es gerade jetzt iſt, wo der Deutſche jenen belgiſchen Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen verſpricht, die ihn ſo ziert und durch die er gegen Melpomenens Dolch ſchuß - und ſtichfeſt wird und in Dante's Hoͤlle, wie Chriſtus in der wahren, ohne Leiden iſt. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit der Franzoſen und ihr Racine waͤre immer fuͤr uns ein kurzweiliger Rath geweſen; aber jetzt ſind wir, wenn's ein Verfaſſer nicht gar zu kraus macht und nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit Maͤuſegift und Rabenſteine vorſchiebt — denn das greift uns an — ſondern wenn er nur ſo halb auf¬ geraͤumt — ich ſeh 'ihn ordentlich reiten — auf ei¬ nem Trauerpferde daher ſetzt und mit der einen Hand eine Todtenglocke ſchuͤttelt und mit der an¬ dern einen Leichenmarſchals-Stab Wehe ſchwenkt; oder wenn er vollends nur die unſichtbaren zugequol¬ lenen Stichwunden der zaͤrtern feinern Seele vor¬ zeichnet: da ſind wir jetzt ſchon im Stande, unſere luſtige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der Deutſche ertraͤgt. Leute von geringerer Kraft ſchla¬ fen wenigſtens, damit ſie bei einer Goͤtheſchen Iphigenie nicht leiden, weil der Schlaf Lei¬ dende aufrichtet: oder wir vergeſſen ſolche Elegien gar, weil wir nach Patner kein Gedaͤchtniß fuͤr Schmerzen haben und weil die Vergeſſenheit —10 wie ein Fuͤrſt ſchrieb — Das einzige Heilmittel der Schmerzen iſt, oder der Himmel ſchenkt uns, wie nach Leid, Freude, nach einer Meſſiade (wovon uns eine gute Traveſtirung anzuwuͤnſchen waͤre) eine blu¬ maueriſche Parodie, woruͤber wir die vorige Epopee leicht vergeſſen koͤnnen.
Weiber .. Ihr holden weichen Fruͤhlingsblumen und Enge. Abſenker neben uns harten Winterkohl¬ ſtruͤnken, ich habe ja ſchon im vorigen Buchſtaben eurer gedacht und eurer Weichheit im Gegenſatz der deut¬ ſchen Strengfluͤßigkeit! Was ſoll ich weiter ſagen als daß ihr, ſobald ihr gut ſeid, es im hoͤch¬ ſten Grade ſeid und daß ihr und das engliſche Zinn einerlei Stempel habt — naͤmlich die Figur eines Engels? —
Spitz. Der arme Spitz will ſo gut in Vor¬ reden unter Extra-Schoͤslinge wie ſein Herr und koͤmmt gerade recht mit dem 29ten Kapitel. Ich kann ſtundenlang mit Spitzhunden reden wie Yorik mit Eſeln. Ich will jetzt den Goͤtterboten auf die Hinterfuͤße ſtellen und an den vordern halten, damit er mir aufgerichtet zuhoͤrt. — — » Steh, leichte11 » Beſtie! — Ich rede nur mit dir uͤber etwas, da¬ » mit ich dich in die dritte Vorrede ſetzen kann. Es » verdient, Spitz, bemerkt zu werden, daß du ein » Schelm biſt wie Menſchen und gleich ihnen nicht » gerade, ſondern gekruͤmmt und niedergebuͤckt » verbleiben willſt, bloß um recht zu freſſen: du und » ſie wollen wie Pharokarten durch Beugen und » Kruͤmmen gewinnen, wie die gemeinen Englaͤn¬ » der ihre ſchlechten Silbermuͤnzen kruͤmmen, da¬ » mit ſie nicht fuͤr weniger ausgegeben werden, naͤm¬ » lich zwei fuͤr eine. — Du haſt falſche Augen, aber » du handelſt doch gut. — Die Rezenſenten, unge¬ » duldiges Vieh, ſagen, wenn ſie an deiner Stelle » waͤren, ſie wuͤrden das biographiſche Bauzeug flei¬ » ßiger zutragen, damit die Biographie aus waͤre eh '» es ſchneiet — Setze ihnen nicht entgegen, daß ich's » wie Baronius machen koͤnnte, der ſeine Anna¬ » len ohne Bart angefangen und mit einem grauen » ausgemacht — Das koͤnnen ihm nur Rezenſenten » (ich aber nicht) nachthun, die Zeit haben zu feilen » und die ein Werk unbaͤrtig anfangen koͤnnen am » Raſiertage und erſt drei Tage darauf vollenden, » wenn ſie eingeſeift ſind. — — Fall' nur nieder, » Hofmann, und friß: du biſt wenigſtens nicht ohne » allen Verſtand und giebſt doch mehr auf das Har¬ » anguiren Acht als ein Dauphin-Foͤtus und wedelſt » doch, aber der Foͤtus nicht — Ich habe nun mit12 » ganz andern Leuten zu ſprechen und die wenigſten » wedeln, Spitz! «
Jean Paul.
Bekehrung — Villetdoux der Uhr — Florhut.
Des Morgens ging Klotilde nach ihrer Pappelinſel ab, und Mittags Viktor nach ſeinem pontiniſchen Sumpf — beide mit einer Entfernung zufrieden, die ſie wuͤrdig machte, eine Vereinigung zu genießen.
Das erſte was der Hofmedikus in Flachſenfingen vornahm, war — daß er nachſann oder vielmehr nachempfand. Der Menſch iſt der Doppelſpaht der Zeit, der alle Szenen zweimal neben einander zeigt. Die Erinnerung fing in ihrem Spiegel noch einmal den Mondſchein der letzten Nacht und die Engel auf, die darin ſchwebten und kehrte den Spiegel mit dieſem Schimmer, mit dieſer Perſpektive meinem Viktor zu. Er uͤberdachte jetzt Klotildens bisheri¬ ges Betragen, aus dem er — und ich hoffe, mein Leſer — die Zuͤge der reinſten Liebe, die nur mit einem Auge aus dem Schleier blickt, neben den Zuͤ¬ gen einer entſchiedenen Herrſchaft der weiblichen Ge¬13 fuͤhle uͤber die weiblichen Wuͤnſche entdeckte. Sie koͤmmt den erſten Mai aus Maienthal mit einem weinenden Herzen, das von einer Todten abgeriſſen offen noch fortblutet. — Der Schuͤler Emanuels be¬ gegnet ihr und ſie eilet wieder zum Grabe zuruͤck, um dort mit den Thraͤnen der Trauer ihre erſte Lie¬ be auszuloͤſchen. — Aber Emanuel theilte dieſer Lie¬ be ſein heiliges Feuer mit durch die ſeinige, durch ſein Lob des Geliebten, durch den ſchoͤnen Brief voll keimender Liebe, den dieſer am Geburtsfeſte des 4ten Maies an ihn geſchrieben. — Sie kehrt unge¬ heilet gegen die Zeit ſeiner nahen Abreiſe zuruͤck. — Aber ihr guter Emanuel druͤckt freundſchaftlich-grau¬ ſam das Bild, das ihr das Herz zu enge macht, tie¬ fer in die Wunden deſſelben hinein, indem er ihr Viktors Leben in Maienthal und das Geſtaͤndniß be¬ richtet, daß er ſie liebe. —
Vitor ſchweigt vor ihr, aber ſie glaubt, er thu 'es, weil er von ſeinem Vater keine Erlaubniß habe, mit ihr uͤber Flamins Verwandſchaft zu reden. — Er geht an den Hof und ſcheint ſie zu vergeſſen, ja er legt ihr die Ketten des Hofamts um, die doch wie er weis ihre Seele blutig druͤcken. — Ihre El¬ tern noͤthigten ihr, um ſie auszuforſchen oder um ihrem geheimen Werber Matthieu mit ihrer weibli¬ chen Verſchleierung zu ſchmeicheln, durch eine ty¬ ranniſche Frage das ungluͤckliche Nein ab, das ihren14 Bruder taͤuſcht und ihren Freund entfernt — Vik¬ tor weicht an ihrem Geburtstage aus dem Garten, ohne ſie anzureden, beſucht darauf ihre Eltern wie¬ der und iſt ganz erkaltet. — Nun hoͤrt ſie nichts mehr von ihm als hoͤchſtens Berichte ſeiner hoͤfiſchen Freuden und ſeiner Beſuche bei Joachimen — — — Ja, du Gute, da mußten ja im Kampfe mit Wuͤn¬ ſchen und mit Sorgen, im kranken Lechzen nach der geliebten Seele, da mußten ja alle deine Freuden ein¬ ſchlafen und deine Hoffnungen ausſterben und deine unſchuldigen Wangen erblaſſen. — — Da nun Vik¬ tor ſo dieſe truͤbe Vergangenheit durchdachte und ſich erinnerte, wie ihr im Schauſpielhauſe, wo er ihr ſeine Wiſſenſchaft um ihre Verſchwiſterung zeig¬ te, die letzte Bluͤte der Wange, der letzte Zweig der Hoffnung wegbrach, weil ſie ſein bisheriges Schweigen fuͤr ein von ſeinem Vater befohlnes hal¬ ten konnte. — Und da alle dieſe Zuͤge in eine Him¬ melskoͤnigin zuſammenliefen, vor welcher das Nie¬ derknien leichter als das Umarmen iſt. — Und da er weiter bedachte, daß dieſes edle von einem Emanuel verſchoͤnerte, und eines Emanuels wuͤrdige Herz ſich doch mit allen ſeinen Himmeln dem wankelmuͤthigen Herzen des Schuͤlers ergab — und daß der Guten nicht einmal dieſer beſcheidene Wunſch gelang — daß das Schickſal die Bluͤte ihrer Liebe wie die ei¬ ner Roſenſtaude aufſchob durch Verpflanzung, durch15 Setzen in Schatten, durch Beſchneiden der Knoſpen im Fruͤhjahr und Herbſt. — Und da er ſah, daß gleichwol dieſe Edle mit dem Finger auf dem Mun¬ de, mit der Hand auf dem truͤben Herzen, ohne ei¬ nen Wink ihres Grams geſchieden waͤre nach Maien¬ thal, und daß die moraliſche Kaͤlte dieſe Blume, wie die phyſiſche die andern, erhob aber ihr da¬ durch die Wurzeln des Lebens abriß — und da end¬ lich ſein Traum am dritten Oſterfeiertag, wo ihm vorkam als ſaͤh' er ſie auf einem lichten Nebel ſin¬ gend aus der Erde ſteigen, wie eine große Regen¬ wolke voruͤberging und da der Traum mit ihrem er¬ blaßten Kolorit vor ſeiner ſchmachtenden warmen Seele ſtille ſtand, und da eine Stimme aus dem Traum ihn fragte: » wirſt du ſie lange lieben, da » ſich Engel nach ihr ſehnen und ſie aus dem Kum¬ » mer heben und dir nichts laſſen als das Grab des » zu lang verkannten Herzens? » — — da alle dieſe Gedanken gluͤhend und aneinandergereihet wie Huͤ¬ gelketten von rothen Abendwolken um ſeine Seele zogen: So wurde ſein Herz wie ein Altar durch ein vom Himmel fallendes Opferfeuer bedeckt und alle ſeine erdigten Luͤſte, alle ſeine Fettflecken vergingen in dieſem Feuer — kurz, er beſchloß, ſich zu beſſern, um durch Tugend wuͤrdig zu ſeyn einer Tugend¬ haften.
16Er bekehrte ſich den 3ten April 1793 gegen Abend als der Mond — und die Erde — unter ſeinem Fuͤßen im Nadir waren. —
Der Leſer kann uͤber dieſen Chronometer gelacht haben; aber jeder Menſch, an dem die Tugend et¬ was hoͤheres iſt als ein zufaͤlliger Waſſeraſt und Holztrieb, muß die Stunde ſagen koͤnnen, worin je¬ ne die Hamadryade ſeines Innern wurde — welches die Theologen Bekehrung und die Herrhuter Durch¬ bruch nennen. Wie ſoll die Zeit nicht unſre geiſti¬ gen Empfindungen abmarken, da ja blos dieſe jene abſtecken?
Es giebt — oder koͤmmt '— in jedem mehr ſo¬ lariſchen als planetariſchen Menſchen eine hohe Stunde, wo ſich ſein Herz unter gewaltſamen Be¬ wegungen und ſchmerzlichen Losreißungen, endlich durch eine Erhebung ploͤtzlich umwendet gegen die Tugend, in jenem unbegreiflichen Uebergang, wie der iſt, wenn ſich der Menſch von einem Glaubens¬ ſyſtem auf einmal zum andern, oder vom hoͤchſten Punkte des Grolls ſchnell zu einer zerſchmelzenden Vergebung aller Fehler hinuͤberhebt — jene hohe Stunde, die Geburtsſtunde des tugendhaften Lebens, iſt auch die ſuͤſſeſte deſſelben, weil jetzt dem Men¬ ſchen iſt als waͤre ihm der druͤckende Koͤrper abge¬ nommen, weil er die Wonne genießet, keine Wi¬ derſpruͤche in ſich zu fuͤhlen, weil alle ſeine Ket¬ten17ten fallen, weil er nichts mehr fuͤrchtet im ſchauerlich-erhabnen Univerſum. — Der Anblick iſt groß, wenn der Engel im Menſchen gebohren wird, wenn alsdann am Horizont der Erde die zweite Welt aufſteigt, und wenn die ganze Sonnenwaͤrme der Tugend durch keine Wolken mehr auf das Herz faͤllt. —
Aber der arme Menſch, der gebundne in Blut verſunkne, von Fleiſch umfaßte Menſch empfindet bald den Unterſchied zwiſchen ſeinen Entzuͤckungen und ſeinen Kraͤften; er, der das gelobte Land er¬ kaͤmpfen wollte, da ihm die Trauben deſſelben ent¬ gegen kamen, ſtockt, da er gegen deſſen Rieſen zie¬ hen ſoll (gegen die Leidenſchaften.) Gleichwol ver¬ werf 'ich nicht einmal die Uebertreibung jenes En¬ thuſiasmus: der Menſch muß wie Gebaͤude in die Hoͤhe geſchraubt werden um reparirt zu wer¬ den; ein Syllogismus graͤbt die Blutſtroͤme unſerer Begierden nicht ab. Es iſt ſonderbar, daß der Teufel in uns allein das Recht haben ſoll, das Blut, die Nerven, die Getraͤnke, die Leidenſchaften zu ſeinen Kriegsoperazionen und fuͤr ſeine Reichs¬ kaſſe zu verwenden, der Engel aber ſoll's nicht. ..
Indeſſen iſt's ſo: die Menſchen ſind laſterhaft, weil ſie die Tugend fuͤr zu ſchwer anſehen, und ſie werden's wieder, weil ſie ſie fuͤr zu leicht hielten. Nicht die Vernunft (d. h. das Gewiſſen) macht unsHeſperus. III. Th. B18gut, ſie iſt der ausgeſtreckte hoͤltzerne Arm am Wege der Tugend; aber dieſer Arm kann uns weder hin¬ tragen noch hindraͤngen — die Vernunft hat die ge¬ ſetzgebende, nicht die ausuͤbende Gewalt. — Die Kraft, dieſe Befehle zu lieben, die noch groͤßere, ſich ihnen zu ergeben, iſt ein zweites Gewiſſen ne¬ ben dem erſten — wie Kant nicht das mit Dinte ſigniren kann, was den Menſchen ſchlimm macht, ſo iſt auch das nicht darzuſtellen, was ſein Herz uͤber dem moraliſchen Kothe aufrecht erhaͤlt oder aus dieſem erhebt. —
Wer erklaͤrt es, wenn es Menſchen giebt, die von Jugend aus ein gewiſſes Gefuͤhl von Ehre entweder beſi¬ tzen oder entbehren — im weiblichen Geſchlecht iſt dieſe Abtheilung noch ſchroffer und wichtiger — wenn es Menſchen giebt, die von Jugend auf eine gewiſſe Sehnſucht nach dem Ueberirdiſchen, nach der Reli¬ gion, nach dem Edleren im Menſchen, (und nach Syſtemen, die dieſes Edlere beſiegeln, nicht beſtrei¬ ten) entweder empfinden oder ewig entrathen? — — (Bei Kindern iſt warmes Gefuͤhl fuͤr die Religion immer ein Zeichen des Genies). Der Menſch wird nicht gut (obwohl beſſer), weil er ſich bekehrt, ſon¬ dern er bekehrt ſich weil er gut iſt.
Waͤre die Tugend nichts wie Stoizismus: ſo waͤre ſie ein bloßes Kind der Vernunft, deren Pfle¬ getochter ſie hoͤchſtens iſt. Der Stoizismus ſtellt die19 Tugend ſo nuͤtzlich, ſo vernuͤnftig dar, daß ſie nichts weiter iſt als ein Schluß: man hat bei ihr nichts zu uͤberwinden als Irrthuͤmer. — Da ſie (nach ihm) nicht das hoͤchſte ſondern das einzige Gut iſt; da alle Begierden nach ihm auf ein leeres Nichts los¬ gehen: ſo iſt Tugend kein Verdienſt, ſondern eine Nothwendigkeit. Z. B. wenn es nichts haſſenswer¬ thes giebt: ſo iſt der Sieg uͤber den Zorn und die Liebe gegen den Feind nicht ſchwerer oder verdienſt¬ licher als die gegen den Freund, ſondern einerlei.
Was hat denn der Stoiker der Tugend nach ſei¬ ner Meinung aufzuopfern als Vexirguͤter, Luft¬ ſchloͤßer und Fieberbilder? — Gleichwohl thut der Stoizismus der Tugend, wie die Kritik dem Genie, negative Dienſte — die ſtoiſche Erkaͤltung treibt keinen Fruͤhling heraus, aber ſie richtet die Inſekten hin, die ihn zernagen — der ſtoiſche Winter nimmt wie der phyſiſche, die Peſt hinweg eh 'die waͤr¬ mern Monate kommen, die neues Leben rei¬ chen ....
Obgleich Viktor ſagte: » Du Theure, kein » Herz kann rein, ſtill, zart und groß genug fuͤr dei¬ » nes ſeyn, aber das ſchwache, das du erduldeſt, wird » an deinem ſich heiligen und koͤmmt gebeſſert zu » dir: » ſo war doch die bloße Liebe die Quelle ſeiner Tugend, ſondern umgekehrt konnte nur Tu¬ gend ſich durch eine ſolche Liebe offenbaren. AberB220auch ohne das wird eine halb eigennuͤtzige Sinnes¬ aͤnderung durch Handeln zur uneigennuͤtzigen, wie die Liebe, die von der Schoͤnheit des Geſichts an¬ faͤngt, ſich zuletzt in Liebe fuͤr Schoͤnheit der Seele veredelt.
Die Abſonderung von Klotilden gab ihm jetzt durch den Gedanken Freude, daß er dadurch die ei¬ ferſuͤchtigen Irrthuͤmer ihres Bruders ſchone. Die Simultanliebe ruͤckte jetzt der Freundſchaft gegen die beſſern Weiber zu, und der Toleranz gegen die ſchlimmern. Er hob ſeine ſatiriſche Intoleranz — die aber nicht halb ſo groß war wie die junger ſchriftſtelleriſcher Spasvoͤgel — durch eigne Tole¬ ranzmandate auf. Er las Gullivers letzte Reiſe ins Pferdeland als Rezept gegen Luͤgen, wenn man an den Hof geht. Sein Kubach und Schatzkaͤſtlein und ſein collegium pietatis beſtand aus drei unaͤhnlichen Baͤnden: Kant, Jakobi*)Verfaſſer des Woldemars., und Epiktet.
Ich wollt 'aber, er machte ſich nicht laͤcherlich. Von einem Manne, der neun Monate am Hofe ge¬ weſen, war man ſchon zu erwarten berechtigt, daß er ſich anders benehmen und gegen jene Gleichheit der Staͤnde und der Laſter nicht verſtoßen werde, da die Menſchen die Suͤnden am beſten gemeinſchaft¬21 lich veruͤben, wie in den ſchweizeriſchen Kirchen die Zuhoͤrer gemeinſchaftlich huſten oder die Rekruten eines Transports zugleich piſſen muͤſſen. Wenig¬ ſtens verraͤth es den Mann von Lebensart nicht, ſeine Liebe gegen ſeine Ehefrau oder gegen ſeine Re¬ ligion andern zu zeigen. — Ich komme wieder zur Hiſtorie:
Viktor beſchloß, lauter Viſiten zu machen, die ihn aͤrgerten. Der boͤſe Geiſt der im Menſchen all¬ zeit wie die juͤngſten Raͤthe zuerſt votirt, machte die Mozion » er ſolle Joachimen den kleinen Irrwahn, » daß er ſie lieb, laſſen, » — als das nicht durch¬ ging, nahm der Filou eine andere Stimme an und ſchlug damit vor: » er ſollte ſie fuͤr ihre bisherige Zweideutigkeit durch die deutlichſten Zeichen ſeines Haßes ſtrafen. » — Aber er ging willig dem guten Geiſte nach, der ihn an der Hand fuͤhrte und unter¬ weges ſagte: » gehe jetzt zu ihr — ziehe dich von » ihr ohne ihre Schmerzen loß — deine Hand gleite » allmaͤhlig aus ihrer und raͤume einen Finger nach » dem andern wie es Maͤdgen mit ihrer phyſiſchen » machen und ſtelle dich weder als ihren Feind noch » als ihren Liebhaber an. » Er ging ohne allen Ei¬ gennutz hin: denn der waͤre eher geweſen zu Hauſe zu bleiben und die Vergangenheit und Zukunft zu genießen und durchzublaͤttern, oder auch aus dem Hauſe zu gehen nach St. Luͤne, um ſich zu22 Agathen neben den Florhut Klotildens, den ſie ſtu¬ dirte, zu ſetzen.
Um aber ſeinem Beſuche nicht zu vieles Gewicht in den Augen Joachimens zu laſſen, nahm er ſich vor, ſie um die Proſpekte von Maienthal, die in ihrem Zimmer hingen, anzugehen auf einige Wochen. O Maienthal, wie viel haſt du, wenn ſchon dein Schattenriß ſo gluͤcklich macht! — Aber ſeine Viſite lief ſonderbar ab. Er wuͤnſchte unterweges, in ih¬ rem Toilettenzimmer waͤre der feine Narr, und der wohlriechende und mehr Zeug — es war nichts da, Sie nahm ihn mit einer ſorgloſen[Luſtigkeit] auf als waͤre ſie die Kolombine und der Medikus der Pickel¬ haͤring. Er aber wollte blos das diminuendo ſeiner moraliſchen Diſſonanzen ausfuͤhren; daher wurd 'er durch das ewige Hinſehen auf ſein Notenpult und auf die Partitur ſeiner innern Harmonie etwas ſteif und ungelenk in ſeinem Spiel. Weiber unterſchei¬ den leicht Kaͤlte der Vernunft (ſchon am Mangel der Uebertreibung) von Kaͤlte der Laune. Jetzt verlang¬ te er die Proſpekte. Joachime wurde nicht kaͤlter, ſondern warm d. h. ernſthaft und hob in der holen Hand ihre Uhr empor und ſagte, darauf blickend: » Ich geb' Ihnen ſo viele Minuten Friſt, als Sie » Tage weggeblieben ſind, um das Wegbleiben zu » entſchuldigen. » — Viktor nahm ohne Verlegenheit — wie jeder, der nur nach Einem entweder guten23 oder boͤſen Prinzip handelt '— die peremtoriſche Friſt an und hob die montre à regulateur unter dem Spiegel aus ‚ um nicht von Joachimen betrogen zu werden. Dieſe verdammte Uhr der Fuͤrſtin grinz¬ te ihn uͤberall an ‚ wie eine Druckkugel und Mine unter ſeinen Fuͤßen. Er zog ſie auf ‚ um dieſes nuͤrnbergiſche Ei (wie man ſonſt die Uhren nannte) aufzumachen und endlich einmal nachzuſehen ‚ ob die Liebeserkaͤrung d. h. das punctum saliens der Liebe oder der Amor — der nach Plato auch aus einem Ei auskam — noch darin waͤre. » Ich weiß ſchon ‚ » ſagt' er zu ſich ‚ es iſt laͤngſt heraus ‚ aber ich pro¬ » bir's nur. »
Es waͤre uͤberhaupt die Frage geweſen ‚ ob's die¬ ſelbe Uhr war ‚ da die in Toſtatos Bude keine Bril¬ lanten hatte — wenn nicht aus dieſer Pandorabuͤch¬ ſe ‚ ſobald er ſie am Fenſter aufgeſchloſſen hatte ‚ her¬ vorgeflattert waͤre ein duͤnnes Blaͤttgen ‚ halb ſo groß wie ein Schmetterlingsfluͤgel, ſo lang wie ein Tul¬ penſtaubfaden. — — Die kleine Folie nahm vor je¬ dem Luͤftgen die Flucht. — — Joachime fing das Ding — las das Ding — fand die Liebeserklaͤrung noch darauf — hielt ſie fuͤr eine ‚ die er ihr ſelber eben mache ‚ um ſeine Abweſenheit auszuſoͤhnen und die er der Uhr Witzes halber (er konnte auf ihre Herz-Geſtalt anſpielen) einverleiben wollen ....
24Jeder kann denken, wie ihm bei der Sache war. — Recht wohl waͤr 'ihm dabei geweſen, wenn er haͤtte entſetzlich luͤgen duͤrfen oder wenn er nur we¬ nigſtens den wenigen Hof-Leuten haͤtte nachſchlagen duͤrfen, die unter die 28 Pfund Blut, die ihren Koͤrper waͤſſern, nicht 28 ehrliche Blutstropfen — ein einziger kann wie liquor probatorius verdammte Sedimente nachlaſſen — geſchuͤttet haben. Aber ſeine Seele ekelte der neue Koͤder zur Luͤge. Der Leſer kann gar noch nicht wiſſen, daß Viktor fehl¬ ſchoß, — daß er nemlich (wegen der Entlegenheit von Joachimens Argwohn) auf dieſen gar nicht kam, ſondern auf den naͤhern, Joachime habe jetzt ſeinen ganzen naͤrriſchen Streich gegen die Fuͤrſtin heraus. Er war niemals faͤhig, einen fremden Leichnam als Schild den Pfeilſchuͤßen gegen ſeinen eignen vorzu¬ halten — eine Sitte aus dem Hof Moria, die nicht wie die altteſtamentliche einen Iſaak mit einem Widder loͤſet, ſondern einen Widder mit einem Iſaak — er war heute am wenigſten faͤhig, die Fuͤr¬ ſtin Preis zu geben, um ſich zu retten; aber auch nicht einmal das vermocht' er, Joachimen Preis zu geben, um jene zu retten, d. h. den Teufelszettel zu einem Miniatur-billet doux an Joachimen um¬ zumuͤnzen. Der Satan ſchrie ſich in ihm heiſer, um ihn nur ſo weit zu bringen, daß er wenigſtens durch ſchweigende Pantomime loͤge und die ihrige25 rechtfertigte, worin der Schein immer mehr abnahm als glaubte ſie es an eine fremde Dame gerichtet.
Er ſagte ihr frei heraus, was er waͤre — ein Narr. Er referirte den ganzen Handel in Kuſſewiz. Er ſchloß damit, es ſey ein Gluͤck fuͤr ihn, daß die Fuͤrſtin das tolle Einſchiebſel der Uhr gar nicht auf¬ geſtoͤbert habe. ... Da er nun dieſes eintoͤnig vorſang ohne eine einzige Schmeichelei, aus der et¬ wan eine neue Auflage des Einſchiebſels zu machen geweſen waͤre: ſo war er ſo gluͤcklich, bei ſeinem Abſchiede die belehrte Joachime in einem Zuſtand zu hinterlaſſen, der ſich nach ſolchen magnetiſchen Des¬ organiſazionen bei gebildeten Weibern in einer ſchoͤ¬ nen ſtolzen Exaltazion und bei unbegebildeten in den Verſuchen aͤuſſert; an den Mann die bildende letzte Hand gerade ſo zu legen wie ſie die griechi¬ ſchen Kuͤnſtler an ihre Modelle legten — — — naͤm¬ lich mit den Naͤgeln der letzten Hand. — Viktor zog mit zweierlei ſehr verſchiedenen Proſpekten ab, mit denen der Zukunft und mit den Maienthali¬ ſchen. —
Sie behielt das Blaͤttgen. Aber nicht die Furcht, ſondern das herbe Gefuͤhl, daß ſeine bisherigen Thorheiten ſich blos in einem fremden Herzen mit einer fehlgeſchlagnen Hoffnung enden, floß mit eini¬ gen bittern Tropfen in die ſuͤße verjuͤngende Empfin¬ dung, daß er auf ſeine Koſten Recht gehandelt ha¬26 be. Eine Ruͤhrung, eine Thraͤne iſt ein Schwur vor dem Himmel, gut zu werden; — aber eine einzige Aufopferung ſtaͤhlet dich mehr als fuͤnf Bu߬ thraͤnen und zehn Kaſualpredigten.
Ich habe nicht den Muth, es zu errathen, war¬ um die Fuͤrſtin die Uhr mit dem erotiſchen Einſchluße, den ſie (ſchon nach dem Geſpraͤch mit Toſtato) ge¬ leſen haben muß, Joachimen in die Haͤnde gegeben; aber fuͤr die Spitzbuben, deren ich im Kapitel ihres Augenverbandes und Kuſſes gedacht, iſt das ein Fund: das Geſchenk der Uhr beſtaͤtigt ſie ganz in ihrer ſpitzbuͤbiſchen Theſis; denn ſie koͤnnen — ich ſetze mich vergeblich dagegen — das Geſchenk fuͤr ein Zeichen der italieniſchen Rache ausgeben, die Agnola an der Nebenbuhlerin Joachime, der ſie Viktors Widerſtand zuſchreiben mußte, dadurch habe nehmen wollen, daß ſie ihr ſeine anderweitigen Lie¬ beserklaͤrungen mitgetheilt.
Viktor nahm ſich, indem er zu Hauſe die groͤſten phyſiſchen Schritte machte, vor, aͤhnliche politiſche zu thun und geradezu dem Fuͤrſten zu bekennen: » es iſt » nicht viel uͤber neun Monate, daß ich Hoͤchſtdero¬ » ſelben Braut mit einer ſchmalen Liebeserklaͤrung » behelligt habe, die ſie gar noch nicht kann geleſen » haben und die nun aus einer Hand in die andre » geht. » Aber jetzt war die Eroͤfnung der Uhrbrief¬ ſache — Halsbandſache haͤtt 'ich beinahe geſchrie¬27 ben — nicht thulich: Jenner war durch die Entfer¬ nung Klotildens ein wenig verdruͤßlich — Viktor war ſeit einiger Zeit auch weniger um ihn als ſonſt, wie doch ein rechtſchaffener Guͤnſtling nicht ſollte, da z. B. der beruͤhmte Graf von Bruͤhl wie eine Mutter von Morgen bis Mitternacht ſeinen Herrn umwachte — Jenner ſchien in dieſer Einſamkeit mehr an ſeine Kinder zu denken und Viktor konn¬ te ihm keine Nachrichten vom Lord ertheilen — die Hauptſache war vollends ſeine Fruͤhlingskraͤnklichkeit, die ihn wieder zum glaͤubigen Juͤnger des D. Kuhl¬ peppers und des Podogra machte. Dieſer D. -Rumpf unter einem Doktorhute, deſſen Gehirnfiebern zu Baßſaiten gezwirnt waren, verſteigerte ſeine Betiſen blos durch die ernſthafte Schwerfaͤlligkeit, wo¬ mit er ihrer loß wurde, uͤber den Preis: von ge¬ wiſſen Perſonen, z. B. von Aerzten, von Finanz - Arithmetikern, von oͤkonomiſchen chargés d'affaires fodern ſogar Leute von feinen Sitten ſteife und hal¬ ten ſich an eine Zipfelperuͤcke lieber als an einen Kompreſſions-Haarbeutel ſo groß wie eine Schuh¬ ſchnalle. Sebaſtian kam den Leuten viel zu ſpas¬ haft vor, als daß ſie haͤtten denken koͤnnen, er habe was gelernt. Im Punkte der Aerzte — wie in je¬ dem Kardinalpunkte des Vermoͤgens oder des Lebens — denket der vornehmſte Poͤbel wie der niedrigſte und ſchaͤtzet Maͤnner und Schooßhunde nach aͤuſſerer28 zottiger Wildniß. Noch dazu hatte Viktor den Feh¬ ler, ſich und die Aerzte in den Verdacht der Ruhm¬ ſucht zu bringen, indem er ſie geradezu lobte: z. B. » ſie waͤren bei ihrem Matroſen - und Todten-Preſ¬ » ſen eine Art Seelenverkaͤufer fuͤr die andre Welt » und dienten den guten Engeln, die den Kern ohne » die Koͤrperſchaale begehrten, um ihn weiter zu ſte¬ » cken, zu Nußknackern — wie oft heben wir nicht » — (fuhr er fort) die gefaͤhrlichſten Krankheitsver¬ » ſetzungen durch eine leichte Krankenverſetzung? » Ich koͤnnte mich auf die refugiés aus dieſer Welt » berufen, ob unſer Streu - und Dintenfaß, (das » Geraͤthe unſerer Rezepte) nicht die Saͤemaſchine » und Gießkanne der menſchlichen Winterſaat waren; » aber die Reſtanten ſollen reden und antworten, ob » ſie nicht die Pfruͤnden, die Regimenter, die Lehn¬ » guͤter, die Ordensbaͤnder, die ihnen zugefallen, un¬ » ſern Rezepten und Uriasbriefen zu verdanken haben » und ob ſie und ſogar Koͤnige im Trocknen ſaͤßen » ohne unſere haͤufigen Abzugsgraͤben im Kirch¬ » hof? — Und doch duͤnkt mich iſt unſer Ruhm im » Heilen und Beleben eben ſo groß, wo nicht groͤſ¬ » ſer: dieſer Ruhm — ſo wie die Mortalitaͤtsliſten, » worauf er ſich ſtuͤtzt — iſt ſeit vielen Jahrhunder¬ » ten der naͤmliche geblieben, unſre Theorien, » Spezifika, Einſichten mochten ſich aͤndern wie ſie » wollten. » ...
29Den Fuͤrſten machten ſolche Satiren recht luſtig und — unglaͤubig. D. Kuhlpepper hingegen hielt auf ſeine Wuͤrde und wuͤrde gegen einen Satirikus der vom langſamen Dezimiren der Aerzte geſprochen haͤtte, ſeinen Degen gezogen und ihn durch ein ſchnel¬ leres vollſtaͤndig widerlegt haben. Ich rathe jedem, der in der Welt etwas werden will, (naͤmlich etwas anders) bei den Maͤnnern auszuſehen wie ein Lei¬ chenbitter — bei den Weibern wie ein Gevatterbit¬ ter. — Der Fuͤrſt hielt ſich im ſiechen Fruͤhjahr aus zwei Gruͤnden wieder vom Zipperlein beſeſſen, erſt¬ lich weil ich noch keinen Nerven-Schwaͤchling ge¬ kannt habe, der ſich eine Krankheit, die ich ihm im Sommer ausgeredet hatte, nicht im naͤchſten kraͤnk¬ lichen Winter wieder in den Kopf geſetzt haͤtte — zweitens weil Jenner nachgerechnet, daß er oft genug vor Damen auf die Knie gefallen war, um das An¬ beten daran noch als Gonagra zu ſpuͤren.
So ſtand's, als ein kleiner Zufall meinen Viktor wieder gluͤcklich machte. Ich muß nur vorher ſagen, daß er ohnehin gar nicht ungluͤcklich war: denn ein Liebhaber bekuͤmmert ſich um nichts, um einen Hof gar nicht; er hat Amors Binde um und verzeiht gern der Fortuna und der Juſtiz die ihrigen. Und das moraliſche Oſterfeuer loͤſete — ſo wie Aberglaube dem phyſiſchen eine eigne Kraft beimiſſet — alles Eis, womit man Viktors Blut andaͤmmte, in Freu¬30 den-[Lymphe] auf; der Oſterwind — der nach dem Wetterpropheten bis zu Pfingſten fortwehet — ſetzte ſeine alten Freudenblumen in Bewegung und ſaͤete aus ihnen den Samenſtaub kuͤnftiger weiter; der Schnee zerging auf dem aus dem Winterſchlafe er¬ wachenden heiſſen Fruͤhling und die erſten Blumen und die tauſend Knoſpen gaben allen Herzen Kraͤfte und Hofnungen und Liebe. O wenn Viktor drauſſen dem gruͤnenden Steige nachſah, der ihn mit friſchen Saftfarben mitten aus der Grummetſteppe (denn im Fruͤhling gruͤnen die Fußwege zuerſt) in das Maien¬ thaliſche Eden locken und tragen wollte; und wenn er dann gluͤhend und duͤrſtend umkehrte und in das gezeichnete Maienthal einlief, in die entlehnten Pro¬ ſpekte und da jeden Farbenberg erſtieg und jeden punktirten Garten umzingelte mit ſeinen Fingern und Phantaſien: ſo dachte er ſelber nicht, daß ein kleiner Zufall ihn noch froher machen koͤnnte. — Und doch machte er's ihn.
Es iſt nicht wohlgethan von mir, daß ich das — und das hab 'ich mir in dieſer Biographie ſo ſehr angewoͤhnt — immer einen Zufall nenne, was ein naher Bluts-Urenkel voriger Kapitel iſt und was ja kommen muß. Denn der Florhut — das war der Zufall — mußte ja kommen, weil er beſtellt war. Es war aber das — Original ſelber. In ſo ſchmaler Zeit waͤre ohnehin von der flinkeſten Putz¬31 Bauherrin kein Hut zu machen geweſen; aber Seba¬ ſtian hatt' es doch nicht bedacht, wenn ihn nicht Pu¬ derſpuren und aufgegangne Spitzen-Gitter gezwungen haͤtten, den alten Hut von einem neuen zu trennen. Kurz: Klotilde hatte ihn Agathen, die es ihr nicht verſchweigen konnte, fuͤr wen ſie die Kopie davon nehme, vor dem dritten Oſtertage gegeben zum Abkopiren, und nach dem beſagten Tage ihr ge¬ ſchrieben, ihr die Kopie zu ſchicken und dem Medi¬ kus das Original fuͤr das Nachbild (wie bei der Wachsſtatue) anzuhaͤngen. — Und warum wohl? — O das fuͤhlte ihr Freund in ſchoͤner Ruͤhrung nach: es dauerte ſie, daß ſie einem ſcheuen zaͤrtlichen Her¬ zen nichts geben konnte, keinen Laut, keinen Blick, keine Freude, kein Andenken des ſchoͤnſten Abends, als bloß den herbſtlichen Nachflor deſſelben, als nachgenaͤhte Seidenblumen dieſer Freudenblume, den Taftſchatten eines Taftſchattens - ... Nein, ſie be¬ zwang ſich, um dem[ſtummen] Liebling wenigſtens mehr als die Kopie des Schattens zu geben. — O vor wem das liebevolle zugedruͤckte Herz eines guten Weibes aufginge; wie viel bekaͤmpfte Zaͤrtlichkeit, verhuͤllte Aufopferungen und ſtumme Tugenden wuͤrd 'er darin ruhen ſehen!
— Man muß nur dem deutſchen Reichstage und ſeinen Querbaͤnken kein Geheimniß daraus machen, daß Viktor den neunten Kurhut nicht annehmen32 will, wenn er dafuͤr den Florhut abſtehen ſoll. .. Was koͤnnen die plumpeſten dickſten Kronen, die man mir auf meinen Reiſen vorgezeigt, in der einen Schaale wiegen — geſetzt man wuͤrfe auch noch ei¬ nige Tiaren und Dogemuͤtzen mit Buͤgeln und paͤbſt¬ liche Huͤte zu den Kronen hinein — wenn auf der andern Klotildens Florhut zieht? Da der Leſer eben ſo viel Verſtand hat wie ich ſelber: ſo entſcheid 'er hierauf. — Dieſer Hut gab ihm ein unausſprechli¬ ches Sehnen nach Maienthal und war fuͤr ihn ein Dedikationskupfer, das ihm (wie durch eine investi¬ tura per pileum) Klotilden erſt ſchenkte; er ſtand vor dieſer Krone als Kronerbe — jede Minute zog ſeinen Kronwagen — mit zwei großen Freudentro¬ pfen, die das gluͤckliche Auge nicht faßte und ſagte langſam den Kopf wiegend: » Nein, das guͤtige » Schickſal giebt mir zu viel — Ach wie kann ich » dieſe Seele vom Himmel verdienen? — Ach ich » werde bloß zu ihr ſagen: » ich bin dein! « und ſpaͤt » einmal: du biſt mein! « Und als gar ſeine Phan¬ taſie hinter der Flor-Jalouſie die zwei großen Au¬ gen aufſchloß, die ſonſt darunter die Thraͤnen eines zuruͤckgeſtoßenen Herzens verborgen halten und als er die entruͤckte Stimme wieder hinter dieſem Sprach¬ gitter aus Schattenfaͤden reden ließ: ſo konnt' er ſich nicht mehr halten, ſondern er ſchrieb — damit er nach Maienthal duͤrfe — dem Hute gegenuͤberden33den erſten Brief an ſie, den ich Morgen Abends ge¬ wiß mit der Poſt erhalten werde vom Hunde. —
Ich glaube, ich hab 'es gar noch nicht geſagt, daß Agathe ihm den Hut auslieferte und daß ſie ihn — es iſt gegen das Ende des Aprils — auf den 4ten Mai zum Geburtstag des Vaters einlud. Viktor dachte an den melancholiſchen 4ten Mai vom Jahre 92 und wurde noch ſehnſuͤchtiger nach der entriſſenen Freundin.
Eh 'ich das Kapitel ſchließe, will ich nur den juͤngern Klotilden, den Vice – Klotilden, Kebs – Klotilden und den Anti-Klotilden, die mich und meine Kapitel auf dem Schoße haben, das noch ſa¬ gen: ſeid kalt! Ihr koͤnnt die weibliche Tugend – Kaͤlte gar nicht zu weit treiben, ihr muͤßtet ihr denn gar keine Graͤnzen ſtecken. — — Ich will euretwegen dieſe Lehre in weiſe Spruͤche und witzige Sentenzen kleiden, damit ſie beſſer auf Faͤcher und in Stamm¬ buͤcher geht.
Die Liebe muß wie der Aurikelſaame auf Schnee geſaͤet werden, beide waͤrmen ſich durch das Eis ſchon durch und gehen dann deſto friſcher auf — Ihr muͤſſet euch nie zu einem Geſchenke machen, ſondern zu einem Frauenzimmerdank der Ritter — Ihr erhaltet und verdient gerade ſo viel Achtung, als ihr fodert, und ihr koͤnnt ihr moͤgt legirt ſeyn wie ihr wollt, euren Muͤnzſtempel oder PraͤgſtockHeſperus. III. Th. C34aus der Taſche ziehen und euch damit praͤgen zu ei¬ nem Damend'or fuͤr den einen Herrn, und zu einem elenden Fettmaͤngen fuͤr den andern — Ein Libertin zeigt in einer Geſellſchaft wie ein Luftreinigkeitsmeſ¬ ſer durch die verſchiedenen Grade ſeiner Kuͤhn¬ heit die verſchiedenen Grade des weiblichen Verdien¬ ſtes an aber in umgekehrtem Verhaͤltniß ....
Sogar wenn's nicht zum weiblichen Point d'hon¬ neur gehoͤrte, muͤßte man's doch begehren, um nur eine Muͤhe mehr zu haben — weil mein Geſchlecht hieruͤber voͤllig ſo denkt wie ich, der ich aus keinem Eidams-Werbehaus eine Tochter mag, wo nicht wenigſtens die Eltern etwas wider mich haben; — und es kann hiemit bekannt werden (es iſt ſo viel als ließ 'ichs in die Zeitung ſetzen,) daß ich mir von Eltern, die aus ihrem Auktionsſaal voll Toͤch¬ ter, aus ihrem Liebes-Inokulationshoſpital eine oder die andre abſtehen wollen, und denen ein Berghaupt¬ mann, Gerichtshalter, Muſikmeiſter nnd Biograph — das moͤgen meine wenigen Chargen ſeyn — keine zu veraͤchtliche Partie iſt, daß ich ſag' ich von die¬ ſen Eltern, erwarte, daß ſie (wenn ihnen die Sache ein Ernſt iſt) mir wenigſtens das Haus verbieten oder den haͤufigen Briefwechſel: — das friſchet Schwiegerſoͤhne an ....
35Briefe.
Haͤtt 'ich oder ein anderer hinter einen Buſch oder in einem Chauſſee Hohlwege aufgepaſſet und waͤren wir zu rechter Zeit vorgebrochen: ſo haͤtten wir die zwei in einander geſiegelten Briefe ‚ die Viktor nach Maienthal ſchickte ‚ dem Boten abnehmen koͤnnen ‚ der kein deutſch verſtand ‚ naͤmlich ſeinem italieniſchen Bedienten. Der Brief an Emanuel war der Um¬ ſchlag des Briefes an Klotilde — die Freundſchaft iſt immer die Emballage der Liebe. Vom Umſchlage will ich nur einen Auszug und einen Ausſchnitt ge¬ ben, eh' ich den Brief an Klotilden ganz mittheile. Er bat den Emanuel, dieſes nur fuͤr ein Couvert zu nehmen und die Inlage Klotilden allein zu uͤberge¬ ben — er ſagt 'es ihm ohne weitere Erklaͤrung, er haͤnge nicht von ſeinen Wuͤnſchen ſondern von Blu¬ menketten ab, die ihn zuruͤckzoͤgen von den andern Blumenketten in Maienthal und eine vielfache Um¬ ſchnuͤrung mit Guirlanden koͤnne man nicht durch¬ brechen, weil man nicht wolle — er war abſicht¬ lich uͤber ſein neues Verhaͤltniß mit Klotilden un¬C236deutlich, weil er ihre Erlaubniß zum Gegentheil nicht vorausſetzen durfte — er bat ſcherzhaft ſeinen Freund, ſeine Freundin zu bitten, daß ſie ihm be¬ fehlen ſolle, nach Flachſenfingen zu reiſen, damit ſie einander zu ſehen bekaͤmen — (ich komm 'aus den Perioden, wenn ich die Abſicht dieſer Wendung zeige) — er ſtrich in ſeinem Kopfe die Frage wieder aus, ob Klotilde noch des Arztes beduͤrfe, bloß weil er einer fuͤr ſie im doppelten Sinne war, und fragte nur, ob ſie geneſen ſey — Endlich ſchloß er ſo:
» Und ſo flatter 'ich denn mit ziemlich abgeſtaͤub¬ ten Schmetterlingsſchwingen im unabſehlichen Tem¬ pel, der fuͤr unſer Phalaͤnen Auge in kleinere zer¬ faͤllt und deſſen architektoniſches Laubwerk an den Saͤulen wir fuͤr die Saͤulen ſelber halten und deſſen Kolonnaden durch ihre Groͤße unſichtbar werden, da flattert der Menſchenpapillon auf und nieder — zer¬ ſtoͤßet ſich an Fenſtern — rudert durch ſtaͤubige Ge¬ ſpinnſte — ſchlaͤgt ſeine Fluͤgel endlich um eine hole Blume — und der große Orgelton der ewigen Har¬ monie wirft ihn bloß mit einem ſtummen auf und niedergehenden Sturm umher ....
Ach ich kenne jetzt das Leben! Waͤre nicht der Menſch ſogar in ſeinen Begierden und Wuͤnſchen ſo ſyſtematiſch — ging 'er nicht uͤberall auf Arrondiſſe¬ mens ſowohl ſeiner Arkadien als des Reiches der Wahrheit aus: ſo koͤnnt' er gluͤcklich ſeyn und mu¬37 thig genug zur Weisheit — Aber eine Spiegelwand ſeines Syſtems, ein lebendiger Zaun ſeines Pa¬ radiſes, die ihn beide nicht ins Unendliche ſe¬ hen oder laufen laſſen, ſprengen ihn ſofort auf die entgegen geſetzte Seite zuruͤck, die ihn mit neuen Gelaͤndern empfaͤngt und neuen Schranken zuwirft .... Jetzt, da ich ſo verſchiedene Zuſtaͤnde durchlau¬ fen, leidenſchaftliche, weiſe, tolle, aͤſthetiſche, ſtoi¬ ſche; — da ich ſehe, daß der vollkommenſte entwe¬ der meine irrdiſchen Wurzeln in der Erde oder meine Zweige im Aether verbiege und einklemme und daß er, wenn er's auch nicht thaͤte, doch uͤber keine Stunde dauern koͤnnte, geſchweige ein Leben; — da ich alſo klar einſehe, daß wir ein Bruch, aber keine Einheit ſind und daß alles Rechnen und Ver¬ kleinern am Bruche nur Approximiren zwiſchen Zaͤh¬ ler und Nenner iſt, Verwandeln des $$\frac{1000}{1001}$$ in $$\frac{10000}{10001}$$ ; ſo ſag 'ich: » meinet wegen! die Weisheit ſey alſo » fuͤr mich bloß Auffinden und Ertragen der » kleinſten Luͤcke im Wiſſen, Freuen und Thun. « Ich laſſe mich daher nicht mehr irre machen — und meinen Nachbar auch nicht mehr — durch die ge¬ woͤhnlichſte Taͤuſchung, daß der Menſch jede Veraͤn¬ derung an ſich, — jede Verbeſſerung ohnehin, aber auch ſogar jede Verſchlimmerung — fuͤr groͤßer an¬ ſieht als ſie hinterher iſt. —
38— Genug! aber ſeit dieſer Bemerkung — o noch mehr, ſeit daß das hohe Schickſal mir Freuden gab, damit ich ſie verdiente — iſt neues Morgenlicht auf meinen Schattenſteig gefallen, und ich habe nun Muth, mich zu beſſern ..... Der klare Strom der Zeit geht uͤber einen hinabgefallnen Blumenboden ſchoͤner Stunden, auf dem ich einmal ſtand und zu dem ich ganz hinunterſchauen kann — o wenn ſich dieſe Eden-Aue wieder aufwaͤrts hebt und ich kann an deiner Hand, darauf treten und neben dir nieder¬ knieen und dankend bald zum Morgenhimmel bald uͤber die wehenden Blumenfelder dieſes Lebens blik¬ ken: dann ſink 'ich ſtumm an dich zuruͤck und um¬ faſſe dankbar deine Bruſt und ſage: » ach Emanuel, durch dich verdien' ich's ja erſt. « — O ich ſag 'es heute, geliebter Lehrer, und bleibe du recht lange ne¬ ben deinem Schuͤler auf der Erde, ſo lange bis er wuͤrdig iſt, dich zu begleiten aus ihr. « —
So lang dieſes Schreiben auch war, ſo liebte Viktor ſeinen Lehrer doch zu ſehr — und haßte die monarchiſche Unart, Menſchen zu Werkzeugen zu machen, zu ſehr — als daß er's ihm nicht geradezu haͤtte ſagen ſollen, daß dieſer Brief — nicht ſowohl ſeine Exiſtenz als — ſeinen Geburtstag dem Briefe39 an ſeine Geliebte verdanke. Mit folgenden leiſen Worten traͤgt er darin ſeine Bitte, ſie zu ſehen vor:
» Wenn ich wuͤßte, daß ich die ſchoͤne Seele, die jetzt neben dem erhabnen Emanuel, neben dem Fruͤhling und[unter] ihren ſchoͤnen Gedanken gluͤcklich ſeyn wird, nur einen Augenblick durch dieſes Blatt be¬ klemmte oder ſtoͤrte: o recht gerne opferte ich dieſe ſeelige Stunde auf, um ſie vielleicht zu verdienen. Aber nein, ewige Freundin, Ihr weiches Herz be¬ gehrt mein Schweigen nicht! Ach der Menſch muß ſo oft Kaͤlte und Kummer verbergen, warum noch gar Liebe und Freude? — Und ich wuͤrd 'es auch heute nicht koͤnnen.
O wenn ein Erdenmenſch in einem Traum durch das Elyſium gegangen, wenn große unbekannte Blu¬ men uͤber ihn zuſammengeſchlagen waͤren, wenn ein Seeliger, ihm eine von dieſen Blumen gereicht haͤtte mit den Worten: » dieſe erinnere dich, wenn du er¬ » wachſt, daß du nicht getraͤumt haſt! « wie wuͤrde er ſchmachten nach dem elyſiſchen Lande ſo oft er die Blume anſaͤhe. — Unvergeßliche! Sie haben in der Schimmernacht, wo mein Herz zweimal erlag, aber nur einmal vor Schmerz, einem Menſchen ein Eden gegeben, das hinausreicht uͤber ſein leben; aber mir war bisher als wuͤrd 'ich wacher aus der zuruͤckge¬40 benden Traumnacht — Siehe! da behielt ich aus dem paradiſiſchen Traum eine Blume*)Den Florhut., die Sie mir gelaſſen haben, damit ich unausſprechlich gluͤck¬ lich bliebe — und damit meine Sehnſucht ſo groß wuͤrde wie meine Seeligkeit. Warum zieht dieſer Flor alle heiſſe Thraͤnen tief aus meinem Herzen herauf, warum ſeh 'ich hinter dieſem gewebten Ge¬ gitter die Augen aufgehen, die ſo weit von mir ſind und die mein Inneres ſo wehmuͤthig bewegen? O nichts befriedigt die liebende Seele als was ſie mit der geliebten theilt — darum ſchau' ich den Fruͤh¬ ling mit ſo ſuͤßem Wallen an: denn ſie genießet ihn auch, ſag 'ich — darum gefaͤllſt du mir ſo, du lieber Mond und Abendſtern: denn du uͤberſpinnſt mit dei¬ nen Silberfaͤden auch ihre Schatten und ihre Mai¬ blumen — darum vertief ich mich ſo gern in jedes ſchattirte Thal Ihres Eldorados*)Die Proſpekte von Maienthal.; denn ich denke: in den vergroͤßerten Schatten, in duftenden Bluͤten dieſer Bilder wandelt ſie jetzt und die Mondsſichel wendet die Blitze der Sonne gemildert auf Ihr Auge zuruͤck. — Wenn ich dann zu freudig werde, wenn der Abendregen der Erinnerung auf die heiſſen Wangen faͤllt, wenn ſich meine Entzuͤckung41 auf einem einzigen bebenden langen Dreiklang des Klaviers auf und niederwiegt: dann thut dem taumelnden Herzen das Zittern und Schweigen und die unendliche Liebe zu weh, dann ſehn 'ich mich nur nach dem kleinſten Laut, womit ich der Geliebten meines Herzens ſagen darf, wie ich ſie liebe, wie ich ſie ehre, daß ich fuͤr ſie leben will, daß ich fuͤr ſie ſterben will. — — O mein Traum, mein Traum tritt mir jetzt wie eine Thraͤne an's Herz! In der Nacht des dritten Oſtertags traͤumte mir: ich und Emanuel ſtaͤnden in einer dunkeln Nachtgegend — eine große Senſe am weſtlichen Ho¬ rizont warf wiederſcheinende laufende Blitze auf die hohen Fluren, die ſogleich vertrockneten und erblichen — Wenn aber ein Blitz in unſer Auge flatterte: ſo zog ſich unſer Herz ſuͤß zergehend empor in der Bruſt und unſere Koͤrper wurden leichter zum weg¬ ſchweben. » Es iſt die Senſe der Zeit, ſagte Ema¬ » nuel, aber von was hat ſie wohl den Wieder¬ » ſchein? « — Wir ſchaueten nach Morgen und dort hing tief in der Ferne und in der Luft ein weites dunkelgluͤhendes Land aus Duft, das zuweilen blitzte. » Iſt das nicht die Ewigkeit? « ſagte Emanuel. — Da ſanken vor uns lichte Schneeperlen wie Funken nieder — wir blickten auf und drei goldgruͤne Para¬ diesvoͤgel wiegten ſich oben und zogen ewig in einem kleinen Kreis hinter einander umher und die fallen¬42 denden Perlen waren aus ihren Augen oder ihre Au¬ gen ſelber — Hoch uͤber ihnen ſtand der Vollmond im Blauen, aber auf der Erde war doch kein Licht, ſondern ein blauer Schatten: denn das Himmelsblau war eine große blaue Wolke, bloß an einer Stelle vom Monde geoͤfnet, der nur auf die drei Paradies¬ voͤgel und unten auf eine helle von uns abgekehrte Geſtalt Schimmer niedergoß — Sie waren dieſe Ge¬ ſtalt und wendeten ihr Angeſicht bloß gegen Morgen, gegen die haͤngende Landſchaft als ob ſie etwas da ſogleich erblicken wuͤrden. Die Paradiesvoͤgel ſaͤeten die Perlen haͤufiger in Ihre Augen: » es ſind die » Thraͤnen, die unſere Freundin weinen muß « ſagte Emanuel; auch fielen ſie dann aus ihren Augen, aber lichter und blieben glimmend auf dem Blumenboden ſtehen. Das Blau auf der Erde wurde ploͤtzlich hel¬ ler als das Blau am Himmel und eine ſchiefe Hoͤle, deren Muͤndung gegen die Ewigkeit aufklafte, wuͤhlte ſich ruͤckwaͤrts durch die Erde gegen Abend bis nach Amerika hinab, wo die Sonne in die Oefnung ſchien — und ein Strom von Abendroͤthe ſo breit wie ein Grab ſchoß aufwaͤrts aus der Erde und legte ſich mit ſeinem Abendſcheine an die neblichte Ewigkeit wie duͤnne Flammen an. — Da zitterten Ihre Arme ausgebreitet, da zitterten Ihre Lieder voll ſehnſuͤchti¬ ger Wonne, — da konnten wir und Sie die erleuch¬ tete Ewigkeit ganz ſehen. Aber ſie wechſelte ſchil¬43 lernd unter dem Sehen, wir konnten das nicht den¬ ken und behalten, was wir ſahen, es waren unfa߬ liche Geſtalten und Farbenſpiele, ſie ſchienen nahe, ſchienen fern, ſchienen mitten in unſern Gedanken zu ſeyn — Woͤlkgen aus der Erde aufziehend ſchwebten um die gluͤhende Ewigkeit und jede hob einen auf ihr ſtehenden ſingenden Menſchen hinauf zu dieſer Lichtinſel, die ſich gegen die Erde ſpaltete bloß mit einer unabſehlichen Allee von weißen Baͤumen, aus Licht und Schnee gegoſſen und ſtatt Bluͤten Purpur¬ blumen treibend — Und wir ſahen unſere drei Schat¬ ten erhaben an den lichtweiſſen Hain hinuͤbergewor¬ fen liegen und auf Klotildens Schatten hingen die Purpurblumen wie Kraͤnze nieder — ein Engel um¬ flog den holden Schatten und laͤchelte ihn zaͤrtlich an und beruͤhrte an ihm die Stelle des Herzens — Da erbebteſt du ploͤtzlich, Klotilde, wandteſt dich um gegen uns, ſchoͤner als der Engel in der Ewigkeit, dein ganzer Boden glimmte unter den gefallnen Thraͤ¬ nen und wurde durchſichtig — Und als deine nieder¬ ſinkenden Perlen jetzt den Boden in eine aufdringende Wolke aufloͤſeten: reichteſt du uns eilig die Hand und ſagteſt: die Wolke hebt, wir ſehen uns wieder — Ach mein zerfloſſenes Herz faßte ſein Blut nicht mehr, ich kniete nieder, aber ich konnte nichts ſagen, ich wollte meine Seele in einen einzigen Laut zer¬ ſchmelzen, aber die gebundne Zunge vermochte keinen44 und ich ſtarrte die aufſteigende Unſterbliche an mit unendlicher und troſtloſer Liebe — Ach, dacht' ich, das Leben iſt ein Traum; aber ich koͤnnt 'ihr's vielleicht ſagen, wie ich ſie liebe, waͤr' ich nur erwacht.
Dann erwacht 'ich — O Klotilde, kann es der Menſch ſagen, wie ſehr er liebe?
H.
Sein Karakter und der Inhalt dieſes Traums ſchließen den Argwohn der Erdichtung aus — Uebri¬ gens wenn ihm auch Klotilde den eingehuͤllten Wunſch, ſie in Maienthal zu ſehen, verſagt: ſo muß ſie es doch auf einem Blaͤttgen und mit drei Zeilen thun, die er dann tauſendmal leſen kann und die das Bilder - und Siegelkabinet, worin ſchon Hut und Proſpekte liegen, um ein Anſehnliches bereichern. Inzwiſchen ſtand er in ſeinem ſchoͤnen Alpenthal zwiſchen zwei hohen Bergen, auf deren jedem ſich der Stof zu einer Schneelauvine regte — vielleicht iſt ſchon oben eine im erquetſchenden Gange und er kann ſie noch nicht ſehen. — Die erſte Lauvine, die ſein geringſter Laut uͤber ihn herunterwerfen kann, iſt ſein tolles Verhaͤltniß mit ſeiner hoͤfiſchen Be¬45 kanntſchaft. Er kann ſich ruͤhmen, ſie ſaͤmtlich auf¬ gebracht zu haben, die Fuͤrſtin, Joachimen, Mat¬ thieu. Aber auch ohne das, muß ſchon irgend ein Konduktor — bloß weil er nicht auf dem gemein¬ ſchaftlichen Iſolirſchemel des Thrones mit ſteht — mit einem verjuͤngten Blitze in ſeine Finger oder Naſe einſchlagen: in Kollegien und an Hoͤfen bleibt ohne Verbindung keiner aufrecht, es iſt da wie auf den Galeeren, wo alle Sklaven ihre Ruder zugleich bewegen muͤſſen, wenn keiner die Schneide der Kette empfinden ſoll. Aber Viktor ſagte zu ſich: » ſey kein » Kind! ſey kein umgekehrter Fuchs, der ſaure » Trauben, bloß weil er ſie nicht mehr erſpringen » kann, fuͤr ſuͤß ausgiebt! Ich ſchmeichle mir, du » kannſt Kurial-Herzen entrathen, die wie ihre Ge¬ » richte nur uͤber einem Waͤrmbecken voll flimmern¬ » den Weingeiſt erſt aufgewaͤrmt werden muͤſſen. — » Beim Himmel, ein Menſch wird doch eſſen koͤnnen, » wenn auch das was er anſpieſſet nicht von einem » Gardeſoldaten aus der Kuͤche geholt, dann einem » Pagen eingehaͤndigt, dann von einem Kammerherrn » oder ſonſtigen Ordonanzkavalier ſervirt worden iſt. » — Nur meinen Vater wenn's nichts verſchlaͤgt! « Das wars eben: am Sohne war nichts zu faͤllen, ſondern am Vater*)Weil die Hofleute auch hierin den erſten Chriſten gleichen,, fuͤr den man den Wald und46 Opferhammer wahrſcheinlich ſo lang aufgehoben ſchwe¬ ben laͤſſet, bis er mit ſeinem Kopfe darunter ſteht, der ohne ſeine Zuruͤckkunft nicht zu haben iſt.
Aber ein Paſtorfido fragt den Henker nach der erſten Schneelauvine. Auf den Harmonikaglocken ſeiner Phantaſie hoͤren die aͤuſſern Kakophonien des Schickſals wie das Wagen-Gerolle des Pflaſters auf einem Saitenbezuge, in ſanft aufliegendem Ertoͤnen auf. Bei ihm war, wie bei den Aſtrologen, der April gleich meinem Buche, dem Abendſterne d. h. der Venus geweihet.
Hingegen die andere Schneelauvine lag ſchon im voraus auf ſeiner Bruſt — der moͤgliche Bruch mit Klotildens Bruder. Einen Eiferſuͤchtigen bekeh¬ ren die zwoͤlf Apoſtel und die zwoͤlf kleinen Prophe¬ ten nicht; — wenn er am Sonntage kurirt iſt: ſo wird er am Montage wieder krank, am Dienſtage raſet er und am Mitwoche koͤnnt ihr ihn wieder los¬ binden, er iſt matt und klug und — — paſſet nur auf. Der eiferſuͤchtige Krebs auf der Bruſt iſt nie ganz zu ſchneiden, wenn ich großen Operateurs glau¬ ben ſoll. — Dasmal war noch dazu etwas Wahres dran; auch ſchaffet es der Eiferſuͤchtige zeitig bei;*)die nur ſolche Statuen zerſchlugen, die an Gotes ſtatt Anbetung[empfangen] hatten. 47 Eiferſucht erzwingt Untreue und das gequaͤlte Weib will ſo viel an ihr iſt den Mann nicht in Irrthum laſſen. Ich kann mir die Muͤhe nicht machen (ſon¬ dern der Leſer,) in meiner Biographie meinem Hel¬ den alle kleine Fugen und Efloͤcher nachzuzaͤhlen, wodurch er bisher ſeinen Flamin in ſein verliebtes Herz ſehen und hoͤren laſſen: dieſe Aſtloͤcher ſind deſto groͤßer, da er vor dem dritten Oſtertag eben darum unvorſichtiger war weil er unſchuldiger war oder vielmehr ungluͤcklicher.
Dazu kam, daß Flamin — der den theuern Ev¬ angeliſten Matthaͤus taͤglich aufrichtiger und ofner fand (wie ein ausgeſchoſſenes Zuͤndloch) — ſeinen treuen Baſtian taͤglich fuͤr hinterliſtiger und undurch¬ ſichtiger anſah. Ich wollt 'der Regierungsrath waͤre geſcheuter; aber kompakte dichte Seelen, wie Viktors ſeine, die mehrere Kraͤfte und eben darum mehrere Seiten haben, ſcheinen freilich weniger po¬ roͤs zu ſeyn, ſo wie vollloͤthige Autores weniger deutlich — ein Menſch, der euch alle ſeine in einan¬ der ſchillernden Farben ſeines Herzens mit Offenheit aufdeckt, verliert dadurch den Ruhm der Offenheit — einer, der wie Viktor fremde Kniffe aus Laune ſammelt und vormacht, ſcheint ſie nachzumachen — ein veraͤnderlicher, ein ironiſcher, ein feiner Menſch iſt in eingeſchraͤnkten Augen ein falſcher. Dies von48 Haus aus. — Auch ſprang Viktor, wenn's ohne Laͤrm anging, langen Erwaͤhnungen Klotildens, d. h. langen Vorſtellungen aus dem Wege; und eben dieſe Flucht, vor Hinterliſt, eben ſeine jetzige groͤ¬ ßere Menſchenfreundlichkeit gegen Flamin verſchatte¬ ten gerade ſeine edle Geſtalt; und uͤber den ver¬ drehenden Argwohn troͤſtete ihn nichts als die ſuͤße Betrachtung, daß er dem Bruder ſeiner Geliebten und ſeines Herzens zu Gefallen den ſchoͤnſten Tagen in Maienthal den Ruͤcken kehre.
31. Hunds¬49Klotildens Brief — Nachtbote — Riſſe und Schnitte im Bande der Freundſchaft.
Ich wollt 'es in die Litteraturzeitung ruͤcken laſſen, ich haͤtte Herrnſchmidts osculologia zu meinen (gelehrten) Arbeiten vonnoͤthen — Naͤmlich zu die¬ ſem Kapitel: ich wollte daraus ſehen, wie man zu Herrenſchmidts Zeiten mit den Weibern umging. Zu Jean Paul's Zeiten geht man ſchlecht mit ihnen um, in Romanen naͤmlich. Bloß der Englaͤnder kann vortrefliche Weiber portraitiren — Den mei¬ ſten deutſchen Roman-Formern ſchlagen die Weiber zu Maͤnnern um, die Koketten zu H., die Statuen zu Klumpen, die Blumenſtuͤcke zu Kuͤchenſtuͤcken. Daß die Schuld mehr an den Malern als den Ori¬ ginalen liege, wiſſen nicht nur die Originale ſelber, ſondern auch der Berghauptmann ſchon daraus, weil die Romanenleſerinnen alle noch romantiſcher ſind als die Romanheldinnen, noch feiner und zuruͤckhal¬ tender. Der Berghauptmann thut hier, — ohne die Abſicht zu haben, daß ihn acht vornehme Weiber in Mainz, wie den Weiber - und Meiſterſaͤnger Hein¬Heſperus. III Th. D50rich Frauenlob, zu Grabe tragen — einen gedruckten Eidſchwur (d. h. Schwurſchwur,) daß er die meiſten ſeiner Zeitgenoſſinnen beſſer antraf als ſie der gute ofne, aber leere rohe Kopf des Verf. des Alcibiades und Nordenſchilds zeichnen kann. — In der That wenn die Weiber nicht den Maͤnnern alles verziehen, ſo¬ gar den Autoribus, (und zwar taͤglich ſiebenzigmal und ſie reichen den andern Backen dar, wenn der eine durch Kuͤſſen beleidigt worden:) ſo koͤnnt 'es kein Buͤcherverleiher erklaͤren, wie Menſchen, deren Kopf doch ſchwerer, deren Zirbeldruͤſe kleiner iſt, die ſechs Knorpelringe der Luftroͤhre mehr haben — naͤmlich 20 uͤberhaupt, wahrſcheinlich zum mehrern Reden — deren Bruſtbein kuͤrzer und deren Bruſt¬ knochen weicher ſind als bei den Maͤnnern, wie doch ſolche Menſchen weiblichen Geſchlechts noch die Magd oder den Kerl in eine Leſebibliothek mit dem Auftrag ſchicken koͤnnen: » einen Ritterroman fuͤr meine Mademoiſelle! « Meine Feder-Kollegen — in Ruͤckſicht der Weiber bin ich nach der Bergſpra¬ che bloß von der Feder, nicht von Feuer noch von Leder — werden zur Erziehung der Leſerinnen wie nach Leſſing die Juden zur Erziehung der Voͤl¬ ker nur darum gewaͤhlt, weil ſie roher ſind als die Eleven.
Jede Frau iſt feiner als ihr Stand. Sie gewinnt mehr durch die Kultur als der Mann. Die weibli¬51 chen Engel (aber auch die weiblichen Teufel) halten ſich nur in den hoͤchſten feinſten Menſchen-Schub¬ faͤchern auf; es ſind Schmetterlinge, an denen der Samt – Fittich zwiſchen zwei rohen Mannsfingern zum nackten haͤutigen Lappen wird — es ſind Tulpen, deren Farbenblaͤtter ein einziger Griff des Schickſals zu einem ſchmutzigen Leder ausdruͤckt. — —
Ich bringe das alles vor, damit H. Kozebue und der Verfaſſer des Alcibiades und das ganze roman¬ tiſche Schifsvolk es meiner Klotilde nicht uͤbel neh¬ men, daß ſie mehr ihr eignes Geſchlecht als das be¬ ſagte Volk nachahmt, um ſo mehr, da ſie vorſchuͤ¬ tzen kann, ſie habe dieſes noch nicht geleſen.
Durch Agathen kam ſehr bald eine von Emanuel kouvertirte Antwort Klotildens an, die innen lega¬ zions – maͤßig geſiegelt, geometriſch beſchnitten und kallygraphiſch geſchrieben war, weil Frauenzimmer alle Dinge, die ſinnliche Aufmerkſamkeit verlan¬ gen, beſſer betreiben als wir und weil ſie — denn kaum vier aus meiner Bekanntſchaft brauch 'ich aus¬ zunehmen — gerade im Gegenſatz der Maͤnner deſto ſchoͤner ſchreiben, je beſſer ſie denken. Lavater ſagt, der ſchoͤnſte Maler gebiert die ſchoͤnſten Gemaͤlde; und ich ſage, ſchoͤne Haͤnde ſchreiben eine ſchoͤne Hand.
Klotildens Brief ſtellet ſich mit einer Luſthecke und einem lebendigen Zaun voll Bluͤten unſeremD 252Doktor in den Steig und laͤſſet ihn nicht nach Mai¬ enthal. Denn er heiſſet ſo:
Wuͤrdigſter Freund,
» Kein Maͤdgen iſt vielleicht ſo gluͤcklich als eine Dichterin; und ich glaube, hier in dieſem aufge¬ ſchmuͤckten Thale wird man zuletzt beides. Sie ſind uͤberall gluͤcklich, da Sie ſogar an einem Hofe ein Dich¬ ter ſeyn koͤnnen, wie mir Ihre ſchoͤne poetiſche Epi¬ fiel beweiſet. Aber die Phantaſie malet gern aus Schminkdoſen — das wahre Maienthal kann der Ihrigen nicht ſoviel geben als Sie in die drei Land¬ ſchafts-Blaͤtter deſſelben zu legen wiſſen. So oft ich und Sie einerlei durch Phantaſie erſetzen muͤſ¬ ſen: ſo iſt blos bei Ihnen der Erſatz groͤßer als das Opfer.
Wenn ich Ihnen das Vergnuͤgen, H. Emanuel zu ſehen, durch Ueberreden haͤtte verſchaffen koͤnnen: ſo haͤtt 'ichs gern gethan; aber ich war zuletzt aus Gewiſſenhaftigkeit nicht beredt genug, um ihn zu einer Reiſe zu Ihnen zu bringen, die ſeine ſieche Bruſt der Gefahr des Verblutens ausſetzte. Sehen Sie ihn fuͤr einen Fruͤhling an, den man alle Jah¬ re neun Monate lang erwarten muß.
Ach die Beſorgniß fuͤr meinen unvergeßlichen und unerſetzlichen Lehrer wirft einen Schatten uͤber den jetzigen ganzen Fruͤhling wie ein Grabmal uͤber53 einen Blumengarten. Ich habe niemals einen Fruͤh¬ ling ſo gern und ſo freudig angeſehen wie dieſen — ich kann oft noch bei Mondſchein an die Baͤche hin¬ ausgehen und eine Blume aufſuchen, die vor dem fließenden Spiegel zittert und um die ein Mond oben und einer unten ſchimmert und ich ſtelle mir das Blumenfeſt in Morgenland vor, bei dem man (wie man ſagt) zu Nachts um jede Gartenblume ei¬ nen Spiegel und zwei Lichter ſetzt. Aber doch kann ich nicht zum Blumenflor meines Lehrers hinuͤber¬ blicken, ohne zu weich zu werden, da ich denken muß, wer weiß ob ſeine Tulpen nicht laͤnger ſtehen als ſeine geknickte Geſtalt. Hat denn die ganze Ar¬ zeneikunſt kein Mittel, das ſeine Hoffnung zu ſter¬ ben vereitelt? — Ich glaube, er ſtimmt mich nach und nach in ſeinen melancholiſchen Ton, womit ich mich vor einem andern als dem Freunde Emanuels laͤcherlich machen wuͤrde; aber eine ſtille verborgene Freude bricht auch gern in Schwermuth aus; » nur » in der kalten, nicht in der ſchoͤnen Jahreszeit un¬ » ſers Schickſals ſagten Sie einmal, thun die war¬ » men Tropfen weh, die aus den Augen auf die » Seele fallen, ſo wie man blos im Winter die Blu¬ » men nicht warm begießen darf. » Und warum ſollt 'ich Ihrer offenherzigen Seele nicht alle Schwaͤ¬ chen der meinigen offenbaren? Dieſes Zimmer, worin meine Giulia ihr ſchoͤnes Leben endigte, die¬54 ſer Spiegel ſogar, der mir, als ich mich vor Schmerz von ihrem Sterben wegkehrte, meine erblaſſende Schweſter noch einmal zeigte, die Fenſter, aus de¬ nen mein[Auge] ſo oft des Tages auf einen trauri¬ gen dornenvollen Roſenſtrauch und auf einen ewig geſchloßenen Huͤgel kommen muß, alles das darf ja wohl meinem Herzen einige Seufzer mehr geben als eine Gluͤckliche ſonſt haben ſoll. Ich weiß nicht, ſagten Sie oder Emanuel es: » der Gedanke des Todes muß nur unſer Beſſerungsmittel aber nicht unſer Endzweck ſeyn; wenn in das Herz wie in die Herzblaͤtter einer Blume die Grabeserde faͤllt, ſo zerſtoͤret ſie, anſtatt zu befruchten. » — Aber auf mein Laub hat wohl das Schickſal und Guilia ſchon einige Erde geworfen. — Und ich trage ſie gern, da ich ſeit Ihrer Freundſchaft nun zu einem Herzen fluͤchten kann, vor dem ich meines oͤfnen darf, um ihm darin alle Kuͤmmerniße, alle Seufzer, alle Zwei¬ fel, alle Fragen einer gedruͤckten Seele zu zeigen. O ich danke dem Allguͤtigen, daß er mir ſoviel als er mir in meinem Lehrer zu entziehen drohet, ſchon voraus in ſeinem Freunde wieder giebt — meine Freundſchaft wird unſern Emanuel nachreichen bis in die andre Welt und ſeinen Liebling begleiten durch dieſe; und ſollte einmal auf uns beide der ge¬ meinſchaftliche Schlag ſeines Todes fallen, ſo wuͤr¬ den wir unſere vereinigten Thraͤnen geduldiger ver¬55 gießen und ich wuͤrde vielleicht ſagen: ach, ſein Freund hat mehr verlohren als ſeine Freundin!
Klotilde.
Das Schlagen meines fremden Herzens miſſet mir das Schlagen des gluͤcklichern ab. Aber eh 'ich er¬ zaͤhle, was Viktors Freude uͤber dieſen Brief anfangs ſtoͤrte und dann verdoppelte, ſey es mir erlaubt, zwei gute Reflexionen zu machen. Die erſte iſt: die ver¬ groͤßerte Empfindſamkeit iſt in einer ſtolzen Bruſt (wie Klotildens), die ſonſt die Seufzer zuruͤckholte und nur weibliche Satiren uͤber uns Herren aus¬ ſchickte, das ſchoͤnſte Zeichen, daß ihr Herz im Sonnen¬ ſchein der Liebe zergehe. Denn dieſe kehret die Weiber um: ſie macht aus einer Kolumbine eine Youngin, aus einer Ordentlichen eine Unordentliche, aus einer Feinen eine Offenherzige, aus einer Putz¬ macherin und Putztraͤgerin eine Philoſophin und wie¬ der umgekehrt. — Und du, liebe Philippine, pruͤfe die zweite Reflexion, da du jetzt ſo gut biſt wie dein eigner Bruder: iſt nicht das Verhehlen der Liebe das ſchoͤnſte Entdecken derſelben? Zeigt nicht ein Schleier — ein moraliſcher, mein' ich — das ganze Geſicht und iſt fuͤr nichts unzugaͤnglich als fuͤr den Wind — den moraliſchen, mein 'ich —? De¬56 cket nicht das glaͤſerne Gehaͤuſe der Damenuhr das ganze darauf gefirniſte Uhrportrait am Boden auf und wendet blos das Beſchmutzen ‚ nicht das Be¬ ſchauen ab? — Und was wirſt du fuͤr Reflexionen machen ‚ wenn ich dir dieſe zwei vorleſe!
Dieſer Brief ſtaͤrkte zugleich ſeinen Wunſch ‚ um Klotilde zu ſeyn ‚ und ſeine Kraft ‚ ihn aufzugeben — bis des andern Tags in der Toilette-Stunde ein Zufall alles aͤnderte. Matthieu ‚ der faſt mehr Be¬ ſuche bei Feinden als bei Freunden ablegte ‚ kam vom Apotheker herauf. Er ſah die Proſpekte von Mai¬ enthal nnd den Florhut; und da er wußte, daß ſei¬ ne Schweſter Joachime beides habe: ſo ſagte er ſcherzhaft: » ich glaube, Sie wollen ſich verkleiden, oder man hat ſich entkleidet. » Viktor flatterte mit einem leeren luſtigen » Beides! » daruͤber. Er nahm nicht gern den Namen der Liebe oder eines Weibes vor einem Menſchen in den Mund, der an keine Tugend glaubte, am wenigſten an weibliche, der zwar wie andre Spinnen auf andere Muſik, ſich an ſeinem Faden auf die Liebe niederließ, der aber wie Maͤuſe aus Liebe zu den Toͤnen, uͤber die Saiten kroch und ſie zerſprengte. Viktor war ungern (vor ſeinem Hofleben) mit ſolchen philoſophiſchen Ehren¬ raͤubern unter unbeſcholtenen Maͤdgen, weil es ihm ſchon wehe that, an den Geſichtspunkt der erſtern erinnert zu werden. » Von meiner Tochter, ſagt '57er, muͤßten ſie nicht einmal das Daſeyn erfahren, weil ſie einen ſchon dadurch beleidigen, daß ſie ſie denken. » —
Matthieu ſprach von dem naͤchſten patriotiſchen Klub (den 4 Mai am Geburtstag des Pfarrers) und fragte, ob er dabei waͤre. Agathe aber hatte ihn ſchon geſtern (am vorletzten April) daran erinnert. Endlich fuͤhrte Maz ſeine Frage vor, » ob er nicht » auch zu Pfingſten von der Parthie ſey — er habe » mit dem Regierungsrathe (Flamin), der dazu im¬ » mer Ferien brauche, eine kleine Luſtreiſe abgekartet » nach Groskuſſewiz zum Grafen O — er habe da » zu thun, noch einige Logis des Hofſtaats den Kuſ¬ » ſewizern zu bezahlen, und den Grafen O. zu » einem guͤtlichen Vergleich uͤber das neuliche Mi߬ » verſtaͤndniß zu diſponiren, daher er den Juriſten » mithaben muͤſſe — vielleicht waͤren die Englaͤnder » bei dieſem Kongreſſe — das Reiſekorps koͤnne dann » ſo große Vergnuͤgungen haben wie ein corps diplo¬ » matique, nachdem es vorher eben ſolche Geſchaͤfte » gehabt. » — Mein Sebaſtian hatte ſeine lange ſtumme Aufmerkſamkeit mit einem kalten » Nein » beſchloßen, weil die Ausduͤnſtung dieſer falſchen flie¬ genden Katze mit einem aͤtzenden Gift ſein unbe¬ ſchirmtes Herz uͤberzog. » Was hab 'ich (dacht' er » unter jener Einladung) dieſem Menſchen gethan, » daß er mich ewig verfolgt — daß er mit einem58 » Meſſer, deſſen eine Seite vergiftet iſt oder beide, » meinen Jugendfreund unter unſern doppelten » Schmerzen, von meiner Seele ſchneidet — daß er » ſeine Minier-Hoͤlen bis an fremde Orte fortfuͤhrt, »[um] mich in allen Stellungen uͤber ſeinem Pulver » zu haben. » Viktor mußte naͤmlich nach allem be¬ ſorgen, daß die Pfingſt-Reiſe eine Entdeckungsreiſe ſey, worauf Joachime dem Bruder wie Ritter Mi¬ chaelis den Morgenlandsfahrern, Fragen uͤber die Uhrbriefſache, uͤber Toſtato u. ſ. w. mitgebe, um wohl gar beim Fuͤrſten eine Anklage daraus zu bil¬ den. Er hielt das Untere ſeiner Karte, d. h. ſeines tugendhaften Schmerzens ſo, daß es Matthieu nicht ganz ſehen konnte, um dieſem eine boßhafte Freude zu entziehen. Dieſer, der nicht eine Spi¬ tzenmaske, ſondern eine eiſerne und noch dazu eine mit einem Halſe trug, hatte oft eine ſolche Kaͤlte, daß man ſeinen wuͤthigen Zorn nicht begrif und umgekehrt — aber jene hatte er im Lager, dieſen in der Akzion gegen den Feind. Wenn ihn jemand ſogleich aufbrachte, war's ein gutes Zeichen und bedeutete, daß er nichts gegen ihn im Schilde fuͤhre.
Aber nach dem Remarſch des Evangeliſten — den er ungern den Florhut finden laſſen, welchen er uͤberhaupt eingeſperret haͤtte, waͤre Flamin oͤfter ge¬ kommen — war Viktor vergnuͤgt uͤber einen neuen59 Einfall. Denn am Hute ſchlugen Blumen aus und der war der Gluͤckstopf, aus dem er eine frohe Stunde zog, naͤmlich den Vorſatz, auf Pfingſten zu verreiſen, aber nach — Maienthal. Er hielt ſich ernſtlich vor, daß ihm und Klotilden die zu weit getriebene Schonung eines eiferſuͤchtigen Bruders, deſſen irre Hoffnungen ja keine Schweſter zu ſtaͤrken verpflichtet ſey, noch dazu durch die menſchenfeindliche Inſpirazion Matthieus erſchweret und vereitelt werde — daß alſo ihr Abſondern ſo wenig erleichtere als ihr Beſuchen verſchlage — daß es indeſſen ſchoͤn ſey, den Bruder zu ſchonen und blos in ſeine Abweſen¬ heit einen verdaͤchtigen Ausflug zu verlegen, bis ihn einmal die heruntergezogne Binde in der Unge¬ treuen die Schweſter entdecke und im Nebenbuhler den ſchonenden Freund — und daß es immer beſſer ſey, ſie in Maienthal als bei ihrer Zuruͤckkunft in ſeiner Naͤhe zu ſprechen — und daß der uͤber ſeine Abſtammung belehrte Bruder ihm einmal doch blos vorruͤcken koͤnne, er habe ihm keine Taͤuſchungen ge¬ nommen als unangenehme. — O die Liebe und die Tugend haben ein nacktes Gewiſſen und entſchuldi¬ gen ihre himmliſchen Freuden laͤnger und mehr als andere ihre hoͤlliſchen!
Als Viktor noch dazu daran dachte, daß den Tagen der Liebe ſobald das Laub und die Bluͤthen abfallen und daß Emanuel und ſelber Klotilde zwei60 hart ans Ufer des Grabes geruͤckte Blumen ſind, deren loſe nackte Wurzeln ſchon erſtorben hinunter¬ haͤngen: ſo war ſein Entſchluß befeſtigt und er ſchrieb an Emanuel die Nachricht ſeiner Ankunft zu Pfing¬ ſten, um Klotilden durch keinen Ueberfall zu erzuͤr¬ nen und um ihr noch dazu die Gelegenheit eines Verbotes zu laſſen. Seine Wendung war die: » Wenn es ſein ſokratiſcher Genius erlaube (d. h. » Klotilde), der ihm immer ſage, was er nicht » thun ſolle: ſo komm 'er zu Pfingſten, da ohnehin » die Stadt da veroͤde, da Flamin auf 4, 5 Tage » nach Kuſſewitz reiſe » ꝛc.
Als er den Brief fertig hatte: fiel ihm ein, daß er gerade heute an dieſem 29 April vor einem Jah¬ re die ganze Nacht gereiſet ſey, um mit dem erſten Mai am Morgen durch den Nebel ins Pfarrhaus zu treten. » Ich kann ja wieder dieſe ſchwuͤle Zephyr¬ » Nacht nicht unter dem Zudeck ſondern unter den » Sternen verbringen. — Ich kann in Einem fort » ins Abendroth nach Maienthals Bergen ſchauen. » — Ich kann ja lieber den halben Weg darauf zu¬ » gehen — oder gar den ganzen. — Ich kann mich » auf einen Berg ſtellen und ins Doͤrfgen ſchauen — » Wahrlich ich kann dann mein Billet hier irgend » einem Maienthaler inkognito einhaͤndigen und wie¬ » der Reißaus nehmen noch vor Tags. » —
61Um ſieben Uhr Nachts ging er wie das Meer von Oſten nach Weſten. Orion, Kaſtor und Andro¬ meda blinken in Weſten nicht weit vom Abendroth uͤber den Gefilden der Geliebten und werden wie dieſe bald aus einem Himmel in den andern unter¬ gehen. Das von lauter Hoffnungen erſchuͤtterte Herz, ſeine erhitzten Gehirnkammern, an denen das mit ſympathetiſcher Dinte gezeichnete Mai¬ enthal immer lichter und farbiger vortrat, dieſes innere halb ſchmerzliche Charivari und Schellenge¬ laͤute der Freude raubte ihm anfangs das Vermoͤgen, den in griechiſcher Schoͤnheit aufgebaueten Fruͤhlings¬ tempel in eine ſtille helle Seele aufzufaſſen. Die Natur und die Kunſt werden nur mit einem reinen Auge aus dem die zwei Arten von Thraͤnen wegge¬ wiſchet ſind, am beſten genoßen.
Aber endlich uͤberdeckte das ausgebreitete Nacht¬ ſtuͤck ſeine heiſſen Fieberbilder und der Himmel drang mit ſeinen Lichtern und die Erde mit ihren Schatten in ſein erweitertes Herz. Die Nacht war ohne Mondlicht, aber ohne Wolken. Der Tempel der Natur war wie andere Tempel erhaben verdun¬ kelt. — — Er konnte ſich aus den Laufgraͤben lan¬ ger Thaͤler, aus Waͤlder-Souterrains und aus dem ſchillernden Nebel ſeiner Traͤume und der Wieſen nicht eher erheben als in der Mitternachtsſtunde, wo er einen Berg wie einen Thron beſtieg und ſich62 da auf den Ruͤcken legte, um die Augen in den Him¬ mel unterzutauchen und ſich abzukuͤhlen vom Traͤu¬ men und Laufen. Das hereinhaͤngende Himmelsblau ſchien ihm eine duͤnne blaue Wolke, ein in blaue Duͤnſte zerſchlagnes Meer zu ſeyn und eine Sonne um die andere that mit ihren langen Strahlen dieſe blaue Fluth ein wenig auseinander. Der Arkturus, der dem liegenden Menſchen gegenuͤber ſtand, ſtieg ſchon von der Zinne des Himmels herab und drei große Sternbilder, der Luchs, der Stier, der große Baͤr zogen weit voraus unter das Abendthor. — Dieſe naͤhern Sonnen wurden von entruͤckten Milch¬ ſtraßen mit einem Hof umſchwommen und tauſend große in die Ewigkeit geworfne Himmel ſtanden in unſerem Himmel als weiſſe ſpannenlange Duͤfte, als lichte Schneeflocken aus der Unermeßlichkeit, als ſil¬ berne Kreiſe aus Reif. — Und die Schichten anein¬ andergedruͤckter Sonnen, die erſt vor dem tauſend¬ aͤugigen Auge der Kunſt den Nebelſchleier fallen laſ¬ ſen, ſpielten wie Streife unſerer Sonnenſtaͤubgen, im gluͤhenden durch das Unermeßliche brennenden Sonneuſtrahl des Ewigen. — Und der Wiederſchein ſeines durchgluͤhten Thrones lag hell auf allen Son¬ nen — —
— Ploͤtzlich ſtellen ſich naͤhere zerſchmolzene Licht¬ woͤlkgen, naͤhere Nebel aufgeflogen aus Thau unter der Verſilberung, tief herab vor die Sonnen und63 der Silberblick des Himmels laͤuft mit zertragenen dunkeln Flocken an. — — Viktor begreifet die uͤber¬ irdiſche Entzuͤndung nicht und richtet ſich bezaubert empor. ... und ſiehe, der gute verwandte nahe Mond, der ſechſte Welttheil unſerer kleinen Erde, war ſtill und ohne das Freudengeſchrei des Morgens neben der Triumphpforte der Sonne hereingetre¬ ten in die Nacht ſeiner Mutter-Erde mit ſeinem halben Tage.
Und als jetzt die Schatten von allen Bergen ran¬ nen und durch die aufgedeckten Landſchaften nur in Baͤchen zwiſchen Baͤumen zogen und als der Mond dem ganzen dunkeln Fruͤhling in der Mitternacht ei¬ nen kleinen Morgen gab: ſo faßte Viktor nicht naͤchtlich-melancholiſch, ſondern morgendlich-verjuͤngt den großen runden Spielraum der jaͤhrlichen Schoͤ¬ pfung in ſein erwachtes Auge, in ſeine erwachte Seele und er uͤberſchauete den Fruͤhling unter dem innern Freudengeſchrei mitten in der weiten Ver¬ ſtummung, unter dem Gefuͤhle der Unſterblichkeit im Kreiſe des Schlafes. — —
Auch die Erde, nicht nur der Himmel, macht den Menſchen groß!
Ziehet in meine Seele und in meine Worte, ihr Mai-Gefuͤhle, die ihr in der Bruſt meines Viktors ſchluget, da er uͤber die knoſpende ſchwellende Erde ſah, von Sonnen uͤber ſeinem Haupte bedeckt, von64 gruͤnenden Leben umſtrickt, das von Gipfeln zu Wur¬ zeln, von Bergen zu Furchen reichte, und von einem zweiten Fruͤhling unter ſeinen Fuͤßen getragen, da er ſich hinter der durchbrochenen Erdrinde die Sonne mit einem Glanztage unter Amerika ſtehend dachte. — Steige hoͤher, Mond, damit er den quellenden, geſchwollenen, dunkel-gruͤnen Fruͤhling leichter ſehe, der mit kleinen blaßen Spitzen aus der Erde dringt bis er ſich herausgehoben voll gluͤhender Blumen, voll wogender Baͤume — damit er die Ebenen er¬ blicke, die unter fetten Blaͤttern liegen und auf de¬ ren gruͤnem Wege das Auge zu aufgerichteten Blu¬ men ruͤckt, an denen die zerſpaltenen Reitze des Lich¬ tes wachſen und ſich befeſtigen und zu den in Bluͤ¬ then zerſpringenden Buͤſchen und zu den langſamen Baͤumen, deren gleiſſende Knoſpen in den Fruͤhlings¬ winden auf und nieder ſchwanken — — Viktor war in Traͤumen geſunken, als auf einmal das kalte An¬ wehen der Fruͤhlingsluft, die jetzt mehr mit kleinen Wolken als mit Blumen ſpielen konnte, und das Rauſchen der Fruͤhlingsbaͤche, die neben ihm von allen Bergen und uͤber jedes dunklere Gruͤne weg¬ ſchoßen, ihn erweckte und beruͤhrte. — — Da war der Mond ungeſehen geſtiegen und alle Quellen glimm¬ ten und die Maiblumen traten weißbluͤhend aus dem Gruͤn und um die regen Waſſerpflanzen huͤpften Silberpunkte. — Da hob ſich ſein wonneſchwererBlick65Blick, um zu Gott zu kommen, von der Erde auf und von den gruͤnenden Raͤndern der Baͤche und ſtieg auf die herumgebognen Waͤlder, aus denen die eiſernen Funken und Dampf-Saͤulen*)Von den Eiſen - und Kohlenhütten. uͤber die Gipfel ſprangen, und zog auf die weiſſen Berge, wo der Winter in Wolken ſchlaͤft, — — aber als der heilige Blick in dem Sternen-Himmel war und zu Gott hinaufſehen wollte, der die Nacht und den Fruͤhling und die Seele geſchaffen hat: ſo fiel er mit zuruͤckſinkendem Fluͤgel und weinend und fromm und demuͤthig und ſeelig zuruͤck .... Seine ſchwe¬ re Seele konnte nur ſagen: Er iſt! —
Aber ſein Herz ſog ſich voll Leben an der unend¬ lichen, quellenden, wehenden Welt um ihn, uͤber ihm, unter ihm, worin Kraft an Kraft, Bluͤthe an Bluͤthe reicht, und deren Lebensquellen von einer Erde in die andere ſpruͤtzen, und deren leere Raͤume nur die Steige der feinern Kraͤfte und der Aufent¬ halt der kleinern ſind — die ganze unermeßliche Welt ſtand vor ihm, deren ausgeſpanter Waſſerfall, in Duͤfte und Stroͤme, in Milchſtraßen und Herzen zerſprungen, zwiſchen den zwei Donnern des Gi¬ pfels und des Abgrunds, reiſſend, geſtirnt, geflammt herabfaͤhrt aus einer vergangnen Ewigkeit und nie¬Heſperus. III. Th. E66derſpringt in eine kuͤnftige — und wenn Gott auf den Waſſerfall ſieht, ſo mahlt ſich der Zirkel der Ewigkeit als Regenbogen auf ihn und der Strom verruͤckt den ſchwebenden Zirkel nicht. ...
Laſſet uns wieder kleinere Gefuͤhle ſuchen. Er ſtand auf und wandelte im Gefuͤhle der Unſterblich¬ keit durch das um ihn pulſirende Fruͤhlingsleben weiter; und er dachte, daß der Menſch mitten unter den Beiſpielen der Unvergaͤnglichkeit den Unterſchied zwiſchen ſeinem Schlaf und Wachen irrig zum Un¬ terſchiede zwiſchen Sein und Nichtſein zerdehne. Jetzt war ſeinen kraͤftigen ſtrotzenden Gefuͤhlen jedes Getoͤſe willkommen, das Schlagen der Eiſenhaͤmmer in den Waͤldern, das Rauſchen der Fruͤhlingswaſſer und der Fruͤhlingswinde und das aufpraſſelnde Reb¬ huhn. —
Um drei Uhr Morgens ſah er Maienthal liegen. Er trat auf den von fuͤnf einzelnen Tannenbaͤumen gehobnen Berg, auf dem man durch's ganze Dorf und wieder hinuͤber zum andern Berge ſchauen kann, wo die Trauerbirke ſeinen Emanuel beſchattet. Die uͤberwachſene Zelle des letztern konnt 'er nicht er¬ blicken; aber am Stifte, wo ſeine Freundin traͤum¬ te, ſchimmerten alle Fenſter im ausfunkelnden Mon¬ denlicht. In ſeiner Bruſt war noch der Rauſch der Nacht und auf ſeinem Angeſicht das Brennen der Traͤume — aber das Thal zog ihn in die Erde her¬67 aus und gab ſeinen Freudenblumen bloß einen fe¬ ſtern Boden; und der Morgenwind kuͤhlte ſeinen Athem und der Thau ſeine Wangen ab. Die Thraͤ¬ nen ſtiegen in ſeine Augen, als ſie auf die weiß ver¬ hangnen Fenſter fielen, hinter denen eine ſchoͤne, eine weiſe, eine geliebte und eine liebende Seele ihre un¬ ſchuldigen Morgentraͤume vollendete. Ach, es traͤu¬ me dir, Klotilde, von deinem Freunde, daß er dir nahe iſt, daß er ſeine uͤberſtroͤmenden Augen auf deine Zelle wendet und daß er verſchwindet wenn du erſcheinſt und daß er doch ſeeliger werde von Mi¬ nute zu Minute — ach er traͤumt ja auch und wenn die Sonne aufgeht, iſt das geliebte Thal wie dein Traum mit dem Sternenhimmel verſunken. — O die Berge, die Waͤlder, hinter denen eine geliebte Seele wohnt, die Mauern, die ſie umſchließen, ſchauen den Menſchen mit einem ruͤhrenden Zauber an und haͤngen vor ihm wie holde Vorhaͤnge der Zu¬ kunft und Vergangenheit. —
Mit jedem Sterne, der oben im Himmel zuruͤck¬ ſank, wachte unten auf der Erde eine Blume auf — Der Weg von der Nacht zum Tage wurde ſchon mit Halbfarben belegt — kleine Nebel ſtiegen an der Kuͤſte des Tages auf — und Viktor war noch auf dem Berge. Sein Beſorgniß, daß ſich die weiſſe Fenſterhuͤlle rege und ihn zeige, war ſo groß wie ſein Wunſch, daß die Beſorgniß immer groͤßer wer¬E268de! — Zuweilen wankte ein Vorhang, aber keiner ging auf. — Auf einmal wecken die Vogelkehlen eine Zauberfloͤte an dem Fuße ſeines Berges und der ſtille Julius kam der Sonne, die ihm nicht mehr leuchte¬ te, mit ſeinen Morgentoͤnen entgegen. Da entſchlei¬ erte ſich ploͤtzlich Klotildens Fenſter und ihre ſchoͤnen hellen Augen nahmen den erfriſchten Morgen in die wache fromme Seele auf. Viktor trat, der Entfer¬ nung ungeachtet, von Geſtraͤuch hinter Geſtraͤuch; aber die Flucht vor den geliebten Augen fuͤhrte ihn der Floͤte naͤher: er wollte jedoch eben ſo wenig vor Emanuel, den er in der Nachbarſchaft des Blinden glaubte, erſcheinen als vor Klotilden. Da ihn nur noch einige Gebuͤſche von den Toͤnen ſchieden: ſah er auf dem Berge ſeinen großen Freund unter der Trauerbirke. Nun eilt 'er froh und zitternd zu ſei¬ nem Julius herab und fand ihn mit dem Lilienange¬ ſicht, ſchoͤn wie den juͤngern Bruder eines Engels, umflogen und umſungen von Voͤgeln, an einer Birke lehnen: » welche Geſtalten, welche Herzen, dacht' er, ſchmuͤcken dieſes Paradies. « Wie haͤtt 'er ſich an einem ſolchen großen Morgen, an einem ſo heiligen Orte, gegen einen ſo guten Juͤngling verſtellen und ihm etwan mit der nachgemachten Stimme ſeines italieniſchen Bedienten den Brief an Emanuel uͤber¬ geben koͤnnen! — Nein, das konnt' er nicht; er ſagte mit leiſer Stimme, um ihn nicht zu erſchrecken: lie¬69 ber Julius! — Dann ſank er langſam an den wei¬ chen Menſchen voll Liebe und umarmte an Einer Bruſt — drei Herzen; und reichte ihm den Brief: » gieb ihn deinem Emanuel! « und floh mit dem waͤrmſten Druck der zarteſten Hand, den Berg tiefer hinab und davon. —
Gerade um dieſe Stunde an dieſem Tage vor ei¬ nem Jahr verſchwand auch Giulia aus Maienthal und nahm nichts von dem ſchoͤnen Blumenboden mit als einen — Grabeshuͤgel.
Als er jetzt hinter einer Geſtraͤuch'allee dem Orte der Seeligen entronnen war: machte ſeine naͤchtliche Erheiterung einer unbezwinglichen Wehmuth Platz. Die aufgehende Sonne zog alle hellen Farben aus ſeinem naͤchtlichen Traum — » hab 'ich denn wirk¬ » lich Maienthal und Julius und alle Geliebte ge¬ » ſehen oder iſt nur auf einer jeden den Mond ſchil¬ » lernden Wolke ein zerfloſſenes Schattenſpiel vor¬ » uͤber geronnen? « ſagt' er — der Tag bruͤtete die friſche Nachtluft ſeiner Seele zu einem ſchwuͤlen Flattern des Suͤdwinds an — Anſtatt daß der Menſch ſonſt wie Raguel, in der Mitternacht Graͤ¬ ber aushauet und in der Morgenſonne ſie wieder verſchuͤttet, kehrte heute Sebaſtian es um. —
Eigentlich war es nicht ganz ſo: ſondern das ſchnelle Vorſpringen und Einſinken der geliebten Ge¬ ſtalten; die vergroͤßerte Sehnſucht darnach, der ruͤh¬70 rende Kontraſt des Morgen-Getuͤmmels mit der Nacht-Pauſe, des Sonnenfeuers mit der Monds - Epiktetslampe, und die mit der Ermuͤdung der Phan¬ taſie und des Koͤrpers verknuͤpfte traͤumende Ermat¬ tung der Schlafloſigkeit, alle dieſe Dinge druͤckten aus dem Herzen und Thraͤnendruͤſen unſers weichen Nachtwandlers unwillkuͤhrliche, ſuͤße, ſtroͤmende Thraͤ¬ nen aus, die keinen Gegenſtand betrafen die weder vor Freude noch Kummer floſſen, ſondern vor Sehnſucht.
Auf einmal ließ der ſchoͤne nebelloſe erſte Maitag das Andenken an den vorjaͤhrigen, wo er wie ein Fruͤhling und homeriſcher Gott, im Nebel ankam, voruͤbergehen — und der gute Menſch ſchauete mit den Thautropfen in den Augen die Thautropfen in den Blumen an und ſagte unausſprechlich geruͤhrt: » ach vor einem Jahre kam ich ſo gluͤcklich, wurde » ſo ungluͤcklich, und bin wieder ſo gluͤcklich — o » ihr fliehenden, ſpielenden, nachtoͤnenden, zitternden » Jahre des Menſchen! « — und das Feiertags-Ge¬ laͤute aus allen Doͤrfern (es war Philippi Jakobi) ſetzte mit dem ſanften Beben eines Echo alle ſeine Trauerſaiten in ein weiteres Zittern.
» O vor einem Jahre (toͤnten ihn die Glocken an) begleiteten wir Giulia wie dich, aus Maienthal her¬ aus. « Dann zog vor der Sonne, die am Himmel ihre weiſſen Bluͤten aufſchlug, der warme Gedanke71 ſein erweichtes Herz aus einander: » vor Einem Jahre, an dieſem Morgen, ging dir dein Flamin entgegen und vergoß an deiner gluͤhenden Bruſt ſo viele Freudenthraͤnen — und am Ende des heutigen Tages zog er dich wieder an ſein Herz und ſagte gleichſam ahndend; vergiß mich nicht, verrath mich nicht und wenn du mich verlaſſen willſt, ſo laß mich mit dir untergehen! « —
» O du Treuer (ſagten alle ſeine Gedanken,) wie » troͤſtet es mich heute, daß ich einmal alle meine » Wuͤnſche gern den deinen aufgeopfert habe, um dir » getreu zu bleiben§)Es war, als er in der Laube mit ſeinem Vater für Klotil¬ dens Verbindung mit Flamin ſprach — und als er ſich vorſetzte, vor derſelben ſogar ihre Freundſchaft zu ent¬ behren. — Nein, ich kann ihm nichts » verbergen, ich gehe jetzt zu ihm. « — Er ging ge¬ rade Flamin, um (wiewohl ohne Meineid gegen den Lord und mit Schonung der Eiferſucht) es zu beken¬ nen, daß er auf Pfingſten nach Maienthal verreiſe. Sein auseinander gegangnes Herz bedurfte ein entge¬ gen weinendes Auge ſo ſehr — ſein feines Ehrgefuͤhl verſchmaͤhte es ſo ſehr, eine fremde Reiſe znr ſpani¬ ſchen Wand der eignen zu machen — ſeiner erneuer¬ ten Liebe that das kleinſte Verhehlen vor ſeinem Freunde ſo weh — Matthieu war aus dieſem him¬72 melblauen Eden unter der Gehirnſchaale ſo gaͤnzlich verſtoßen — daß er, je laͤnger er dachte und lief, deſto mehr aufſchließen wollte. Er wollt es naͤmlich ſeinem Flamin ſogar entdecken, daß er heute Nachts die Einladungskarte eigenhaͤndig an den Blinden abge¬ reicht: durch eine Taͤuſchung wurde ihm die Pfingſt¬ reiſe durch die heutige zulaͤßiger und dieſen eignen Geſichtspunkt ſah er fuͤr einen fremden an.
Aber ſo weit trieb ſeine traͤumeriſche und nacht¬ trunkne Seele ihre gefaͤhrliche Ergießung nicht. Denn beim Eintritt zog ein Maifroſt auf Flamins Geſicht den aufbrechenden Bluͤtenkelch ſeines Her¬ zens ein wenig zuſammen. Er bat Flamin mit ſei¬ ner kontraſtirenden Waͤrme des Geſichts um einen Spaziergang an dieſem hellen Tage. Drauſſen wurde der Abſtich noch ſchneidender, da Flamin ſei¬ nen Spazierſtock bis zum Knicken einſtieß, Blumen koͤpfte, Laub abſchlug, mit dem Stiefelabſatz Fußſta¬ pfen aushieb, indeß Viktor in Einem fort zu reden ſuchte, um ſeine Seele in der mit gebrachten Waͤrme Waͤrme zu erhalten.
Es freuet mich an ihm, daß er ſein von den heu¬ tigen Entbehrungen mazerirtes uͤberrinnendes Herz gerade in eines ergießen wollte, dem er die Entbeh¬ rungen ſchuld zu gehen hatte. Endlich ſagte er, um das erſchwerte Geſtaͤndniß nur von der Seele zu werfen, eilend: » auf Pfingſten geh 'ich nach Maien¬73 » thal « — und ging fliegend zu den Worten uͤber: » O gerade heute vor einem Jahre gingſt du mit. «
Flamin unterfuhr ihn und das Eisgeſicht wurde wie ein Hekla, von Flammen zerſpalten: « So ſo! — Zu Pfingſten? — » Nach Kuſſeviz gehſt du nicht » mit uns! — Laß mich doch einmal recht ausreden, » Viktor! « — Sie blieben alſo ſtehen. Flamin ſtreifte die Bluͤten und Blaͤtter von einem Schlehen¬ aſt mit blutiger Hand und blickte ſeinen ſanften Freund nicht an, um nicht erweicht zu werden. » Heute vor einem Jahre, ſagſt du? Sieh da ging » ich eben Abends mit dir auf die Warte und wir » verſprachen uns entweder Treue oder Mord — » Du ſchwurſt mir, dich hinabzuſtuͤrzen mit mir, » wenn du mir alles genommen haͤtteſt, alles — Bin » ich denn blind? Seh 'ich denn nicht, die Maſchine¬ » rie mit ihrer und deiner Reiſe iſt abgekartet? — » Was thuſt du mit den Maienthaler Landſchaften » gerade jetzt? Wem gehoͤrt der Hut? — Und was » ſoll ich mir aus allem nehmen? — Wem, wem? » ſag's ſag's — O Gott! wenn's wahr waͤre! — Hilf » mir, Viktor! « — Dem gemißhandelten heute er¬ ſchoͤpften Vittor ſtanden die bitterſten Thraͤnen in den Augen, die aber Flamin, der ſich durch ſein ei¬ gnes Sprechen erzuͤrnte, jetzt ertragen konnte. Nie¬ mals nahm dieſer in einer Ergrimmung Vorſtellungen an: gleichwohl erwartete er ſie und ſtaunte uͤber74 ſein Rechthaben und uͤber das fremde Verſtummen und begehrte, daß man widerſpraͤche. Er quetſchte ſeine Hand in die Schlehenſtacheln. Sein Auge brannte in das weinende hinein. Viktor bejammerte den feſten Schwur vor ſeinem Vater und ſah auf die zitternde Wage worauf der Eid und die ſcho¬ nende Freundſchaft ſich ausglichen. Er ſammelte noch einmal alle Liebe in ſeiner Bruſt und breitete die Arme auseinander und wollte mit ihnen den Straͤubenden an ſich ziehen und konnte doch nichts ſagen als: » Ich und du ſind unſchuldig; aber bis » mein Vater koͤmmt, eher kann ich mich nicht recht¬ » fertigen. « — Flamin druͤckte ihn von ſich ab: » Wozu das? — So wars im Gartenkonzert[auch] — » Sag' lieber geradezu, willſt du ſie heirathen? — » Schwoͤr 'daß du nicht willſt? — O, Gott zoͤger' » nicht — ſchwoͤr 'ſchwoͤr! — Ja ja, Matthieu! — » Kannſt du noch nicht? — Nu ſo luͤg wenigſtens! «
» Oh! — ſagte Viktor und Blutſtroͤme ſchoſſen » verfinſternd durch ſein Gehirn und uͤber ſein Ange¬ » ſicht — beleidigen darfſt du mich doch nicht gar » zu ſehr, ich bin ſo gut wie du, ich bin ſo ſtolz wie » du — vor Gott iſt meine Seele rein « — — Aber Flamins Blut an der Schlehenſtaude druͤckte Viktors zuͤrnende Erhebung nieder und er hob bloß das un¬ beſcholtene Auge voll Freundſchafts-Thraͤnen in den hellern ſanftern Himmel. — » Nur die Heirath ver¬75 » ſchwoͤrſt du doch nicht? — Gut, gut, du haſt mich » erwuͤrgt — mein Herz haſt du zerſtampft, und » mein ganzes Gluͤck — ich hatte niemand wie dich » du warſt mein einziger Freund, jetzt will ich ohne » einen zum Teufel fahren — Du ſchwoͤrſt nicht? — » O ich reiſſ 'mich von dir blutig und elend und als » dein Feind — wir ſcheiden uns — gehe nur — weg! es iſt aus, ganz! — Adieu! — Er entfloh mit » dem in den Weg hauenden Stock und ſein zerruͤt¬ » teter Freund zu Fuͤßen liegend der Wahrheit, die das Flammenſchwerd gegen den Meineid aufhebt, und in Thraͤnen ſterbend vor der Freundſchaft, die auf das weiche Herz den ſchmelzenden Blick voll Bitten wirft, Viktor, ſag' ich, rief dem fliehenden Geliebten im Sterben nach: » Lebe wohl, mein treuer » Flamin! mein unvergeßlicher Freund! ich war dir » wohl treu! — Aber ein Schwur liegt zwiſchen » uns — Hoͤrſt du mich noch? — eile nicht! — Fla¬ » min, hoͤrſt du mich? ich liebe dich noch, wir finden » uns wieder, und komm wenn du willſt. « ... Er rief ſtaͤrker, obwohl mit erſtickten gedaͤmpften Toͤnen nach: » redliche, theure theure Seele, ich habe dich » ſehr geliebt und noch und noch — ſey nur recht » gluͤcklich — Flamin Flamin, mein Herz bricht da » du mein Feind wirſt. « — Flamin ſah ſich nicht mehr um, aber ſeine Hand war wie es ſchien an ſeinen Augen. — Der Jugendfreund ſchwand aus76 ſeinen Augen wie eine Jugend und Viktor ſank un¬ gluͤcklich nieder unter dem ſchoͤnſten Himmel, mit dem[Bewußtſeyn] der Unſchuld, mit allen Gefuͤhlen der Freundſchaft! — O die Tugend ſelber giebt kei¬ nen Troſt, wenn du einen Freund verloren haſt und das maͤnnliche Herz, das die Freundſchaft durch¬ ſtochen hat, blutet toͤdtlich fort, nnd aller Wundbal¬ ſam der Liebe ſtillet es nicht! —
77Phyſiognomie Viktors und Flamins — Siedpunkt der Freund¬ ſchaft — prächtige Hofnungen für uns.
Wer haͤtt 'es von Cicero gedacht, (wenn er's nicht geleſen haͤtte,) daß ein ſo bejahrter geſcheuter Mann ſich in ſeiner Johannis-Inſel hinſetzen und An¬ faͤnge, Exordien, praͤexiſtirinde Keime im voraus auf den Kauf verfertigen wuͤrde? Inzwiſchen hatte der Mann den Vortheil, daß er wenn er einen Torſo uͤber irgend etwas ſchrieb, die Wahl unter den Koͤ¬ pfen hatte, wovon er einen dem Rumpfe nach der Korpuſkularphiloſophie aufſchrauben konnte. — Von mir, an dem nichts Geſetztes iſt, kann's nicht Wun¬ der nehmen, daß ich auf meinem Moluckiſchen Fra¬ ſkati ganze Zaſpeln von Anfaͤngen im voraus gewai¬ fet und gezwirnt habe. Wenn nachher der Spitz ei¬ nen Hundstag bringt: hab' ich ihn ſchon angefangen und ſtoße nur den hiſtoriſchen Reſt gar an die Ein¬ leitung. — Gegenwaͤrtigen Anfang hab 'ich fuͤr heute erleſen.
Anfangs aber wollt 'ich freilich dieſen nehmen:
78Mich quaͤlet bei meinem ganzen Buche nichts als die Angſt, wie es werde uͤberſetzt werden. Dieſe Angſt iſt keinem Autor zu verdenken, wenn man ſieht, wie die Franzoſen die Deutſchen und die Deut¬ ſchen die Alten uͤberſetzen. Im Grunde iſt's warlich ſo viel als wird man exponirt von den untern Klaſ¬ ſen und den Lehrern derſelben. Ich kann jene Leſer und dieſe Klaſſen in Ruͤckſicht ihrer Seelenkoſt, die durch ſo vielen Medien vorher geht, mit nichts ver¬ gleichen als mit den armen Leuten in Lapland: wenn da die reichen ſich in dem[Trinkzimmer] mit einem Likoͤr, der aus einer theuren Wurzel geſotten wird, berauſchen: ſo lauert an der Hausthuͤre das arme Volk, bis ein bemittelter Lappe heraus koͤmmt und p — ſſ — t: das vertirte Getraͤnk, die Vulgata von ge¬ branntem Waſſer koͤmmt dann den armen Teufeln zu Gute.
Aber dieſen Anfang heb 'ich mir auf fuͤr den Vorbericht zu einer Ueberſetzung.
Es gehoͤrt zu den ſchoͤnen Gaukeleien und Natur ſpielen des Zufalls, deren es recht viele giebt, daß ich dieſes Buch gerade in der Philippi Jakobi Nacht 1793 anfing, wo Viktor die Hexen-Farth zum Maienthaliſchen Blocksberg unter die Zauberer und Zauberinnen vornahm und wo er 1792 aus Goͤttin¬ gen anlangte.
79Ich kann nicht ſchreiben, der Leſer kann ſich's leicht vorſtellen, wie Viktor die erſten Maitage ver¬ lebte oder vertrauerte: denn er kann ſich's nicht leicht vorſtellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande, die ihn mit Flamin verſchlangen, fuͤr duͤnne wenige Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechſen; es ſind aber weiche Nerven und feſte Muſkeln das Bind¬ werk ihrer Seelen. Er ſelber wußte nicht, wie ſehr er ihn liebe als da er damit aufhoͤren ſollte. In dieſen gemeinſchaftlichen Irrthum fallen wir alle, Held, Leſer und Schreiber, aus Einem Grunde: wenn man einem Freunde, den man ſchon lange liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben konnte aus Mangel der Gelegenheit: ſo quaͤlet man ſich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn. Aber dieſer Vorwurf ſelber iſt der ſchoͤnſte Beweis der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zuſammen, ihn ſelber zu bereden, er werde ein kaͤlterer Freund. Die Veſperturnire um Klotilde, dieſe Diſputationen pro loco thaten ohnehin das ihrige; aber immer kraͤnkte er ſich mit der Selbſtrezenſion, daß er zu¬ weilen ſeinem Freunde kleine Opfer abgeſchlagen, z. B. ſeinetwegen Verſaͤumung einer Luſtpartie, das Wegbleiben aus gewiſſen Regierungsraths-Haͤuſern, die Flamin haßte. Aber in der Freundſchaft ſind große Opfer leichter als kleine — man opfert ihr lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das80 Immobiliar-Vermoͤgen als eine kleine angenehme Unart, ſo wie euch manche Leute lieber einen Wech¬ ſel ſchenken als ein ſo großes leeres Papier. Die Urſache iſt, große Aufopferungen macht der Enthu¬ ſiasmus, kleine die Vernunft. Flamin, der ſelber niemals kleine machte, foderte ſie vom andern mit Hitze, weil er ſie fuͤr große nahm. Viktor hatte ſich hieruͤber weniger vorzuruͤcken; aber Klotilde be¬ ſchaͤmte ihn, deren laͤngſte und kuͤrzeſte Tage wie bei den meiſten ihres Geſchlechts lauter Opfertage waren. — Auch wurde ſeine natuͤrliche Delikateſſe, die jetzt durch ſein Hofleben den Zuſatz der kuͤnſtli¬ chen gewonnen hatte, tiefer als ſonst von ſeines Freundes Ecken verletzt. — Die feinen Leute geben ihrem innern Menſchen (wie ihrem aͤuſſern) durch Mandelkleien und Nachthandſchuhe weiche Haͤnde, blos um das Untere der Karten beſſer zu fuͤhlen, um niedliche halbe Damen-Ohrfeigen zu geben, aber nicht wie die Wundaͤrzte um damit Wunden hand¬ zuhaben.
Zum Ungluͤck ſchrieb ihm dieſer Wahn der Er¬ kaͤltung ein aͤuſſeres freundliches Beſtreben vor, Waͤrme bei Flamin zu zeigen; — da nun der Regie¬ rungsrath nicht bedachte, daß auch das Gezwung¬ ne eben ſo oft von Aufrichtigkeit entſtehen koͤnne