PRIMS Full-text transcription (HTML)
Heſperus, oder 45 Hundspoſttage.
Eine Biographie
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Drittes Heftlein.
Berlin1795.In Karl Matzdorffs Buchhandlung.

Druckfehler des 3ten Heftleins von Heſperus, oder 45 Hundspoſttage.

Seite 4 Zeile 5 von oben muß und weg.

5 1 von oben ſt. nicht l. nicht auf;

9 2 von unten ſt. Patner l. Platner

10 1 von oben ſt. Das l. das

42 9 von oben ſt. ihr l. Ihr

43 6 von oben ſt. jede l. jedes

46 8 von oben ſt. aufliegendem l. auffliegendem

47 letzte Zeile ſt. falſcher. Dies l. falſcher Dieb

48 3 von oben ſt. Vorſtellungen l. Verſtellungen

62 10 von unten ſt. aneinandergedruͤckten l. aneinan¬ dergeruͤckten 69 11 von unten ſt. jeden l. unter

73 2 von oben ſt. mit. l. mir --- 82 8 von oben ſtreiche an weg.

87 5 von unten ſtatt Wildprets-Fumel l. Wildprets¬

Fumet

97 7 von unten ſt. Reichen l. Reiche

98 12 von oben ſt. deutſche l. Deutſche

100 8 von oben nach anſtatt ſetze dazu: es 105 5 von unten ſt. Weinſtein l. Weidſtein

108 15 von oben ſt. ſagt l. ſaͤgt

109 12 von oben ſt ..... ſetze: ..

113 7 von oben ſt. dreimaͤchtigen l. dreimahtigen

145 13 von unten ſt. ein l. ſein

147 3 von oben ſt. ihr l. ihn

167 4 von oben noch » Paradieſes « fehlt » der Re¬ genbogen

168 14 von oben ſt. ſpielend l. ſpielende

177 6 von oben ſt. die ſchon I. ſchon die

228 10 von oben ſt. dieſe l. die

291 9 von oben ſtreiche der Seele weg.

306 15 von oben ſt. das l. dem

318 7 von unten ſt. Gruͤn l. Grimm

339 2 von unten ſt. Genius l. Genus

349 4 von unten ſt. Freunde l. Freundin. 350 7 von unten ſt. vergeht l. zergeht 367 16 von oben ſt. Seite l. Seide

398 9 von unten ſt. Fabrikant l. Febrikant 424 5 von oben ſt. vergnuͤgen l. verjuͤngen

425 1 von oben ſt. weiſſer l. weiſſen

[1]

Dritter Theil.

Heſperus. III Th. A[2][3]

Vorrede zum dritten Heftlein.

Da jetzt auch der Schalttag in die Vorrede einfaͤllt und er noch dazu beim Anfangsbuchſta¬ ben V anfaͤngt; ſo koͤnnen ja beide ungemein gluͤcklich mit einander abgefertigt werden.

Siebenter Schalttag.

Ende des Regiſters der Extra-Schöslinge.

U. V.

Unempfindlichkeit der Leſer Vorrede. Es gab gluͤckliche Zeiten, wo man von ſeinem Ne¬ benwilden und Naͤchſten nichts zu befahren hatte als todtgeſchlagen zu werden wo nur der Hagel der Knutenmeiſter der Haut war, anſtatt daß jetzt derA 24Paſſatwind des Viſitenfaͤchers fuͤr uns eine Winds¬ braut iſt und der kuͤhle Athem uͤber die Theetaſſe heruͤber ein Seewind wo man weniger am Kum¬ mer des andern Antheil nahm als an ſeinem Fraße wo die Damen und die Herren in Baͤrenhaͤuten mit nichts verwundeten (mit Blicken, Reizen, Locken am allerwenigſten) mit nichts als mit Keulen und wo ſie ſich zwar ſo gut wie heute und morgen des Herzens eines ehrlichen Mannes bemaͤchtigten, aber doch nur ſo, daß ſie den Inhaber deſſelben vorher auf einen Altar hinſtreckten und ordentlich abſchlachte¬ ten, eh 'ſie ihm den Himmelsglobus aus dem Bruſt¬ gehaͤuſe ausſchnitten.

Um dieſe Zeiten ſind wir nun alle gebracht: in den jetzigen ſiehts ſchlecht aus. Beim Himmel, man hat ja nicht viel weniger als Alles vonnoͤthen, um gluͤcklich, und nicht viel mehr als Nichts, um un¬ gluͤcklich zu ſeyn zu jenem braucht man eine Sonne, zu dieſem ein Sonnenſtaͤubgen! Gut waͤ¬ ren wir daran und große Zimmer im Luftſchloß mon répos am Rhein haͤtten wir innen, wenn es uns vom Schickſal beſcheeret waͤre, daß wir etwan ſo viele Foltern erlitten wie die Juriſten haben, naͤm¬ lich drei nicht mehr Plagen als die Aegypter tru¬ gen, naͤmlich ſieben nicht mehr Verfolgungen als die erſten Chriſten ausſtanden, naͤmlich zehn. Aber auf ſolche Gluͤcks-Ziehungen ſieht ein Mann von5 Verſtand gar nicht; wenigſtens verſpricht ſich ſolche Treffer einer nicht, der ſich wie ich hinſetzt und erwaͤgt unſre Kolibrimaͤgen unſere weiche Raupenhaut unſer klingendes Gehoͤr unſere Selbſtzuͤnder von Augen und unſere culs de Paris, die nicht von einem umgeſtuͤlpten Roſenblatt ſondern ſchon vom Schatten eines Dornes geſtochen werden und unſern Teint, der ohne ein Paraluͤne ſchwarz wuͤrde im Mondenſchein ...... Und doch hab 'ich in dieſe Rechnung unſerer Leiden weil ich mit Fleiß darauf ausbin, ſie kleiner zu machen noch mit keinem Worte ganz andere, ganz verdammte Po¬ ſten gebracht, ſondern z. B. den Reichthum voͤllig ausgelaſſen, dieſes Schmerzengeld ſo vieler tauſend Schrammen und Exfoliarionen der Bruſt, und uͤber¬ haupt Millionen Seelenwunden, die unſer durchloͤ¬ chertes Ich ganz durchſichtig machen wuͤrden, waͤr' es nicht zum Gluͤck ganz bis auf den Fuß in engli¬ ſches Taftpflaſter gekleidet .... Aber ich ließ das weg, weil ich wußte, es waͤre doch ſo gut wie nichts, wenn ich's gegen ein ganz anderes Fegfeuer und Ge¬ witter hielte, in das vorzuͤglich wir Mannsperſonen geworfen werden, wenn wir ſo ungluͤcklich ſind, daß wir uns ſelber kielholen naͤmlich uns verlieben, welches meines wenigen Erachtens ein geringer Vorſchmack der Hoͤlle iſt ſo wie des Himmels. Die beſte Peereß in dieſem Fache ſchreib 'an mich und6 kouvertir' es poſtfrei an die Matzdorfſche Verlagshand¬ lung in Berlin und nenne ſich mir wenn ſie faͤhig war ihren armen Pastor fido nicht zu ſchinden und zu ſpieſſen noch mit Zwickelurtheln zu verfolgen noch ihm mit den Kompreſſionsmaſchinen der Haͤnde ſein Herz voll komplizirter Frakturen mit der Faͤcher-Baſtonade ſeinen Kopf voll Fiſſuren mit den Augen die Bruſt voll Brandblaſen zu machen und ihm wie dem Rauchtabak mit Thraͤnen eine Baize zu geben .... Wenigſtens komm 'ich ſelber gegenwaͤrtig gerade aus einem ſolchen Zucht - und Hazhaus heraus und ſeh' erbaͤrmlich aus in meiner Haut als haͤtt 'ich eine ſkalpirte um mich geſchlagen.

Wir wollen nichts weiter davon reden. Meine Abſicht bei allem iſt den Leſer ſtandhaft zu machen weil ein ganz neues Regengeſtirn das ich gar nicht nahmhaft gemacht, fuͤr ihn herauf ſteigt, um ihn einzuſchneien. Das tobet aͤrger als alles Vorige. Ich meine ſo, ein Reichsbuͤrger kann ſchon mit Allem zu Rande ſeyn ſeine Kaſſe und ſeine Feinde koͤnnen ſchon geſtuͤrzt und ſeine Arbeiten vom Publi¬ kum oder vom Kollegio recht gut aufgenommen ſeine Friſtgeſuche bewilligt und die Quinquennels ſeiner Schuldner abgeſchlagen worden ſeyn ſeine juͤngſte Tochter, die wie die aͤlteſte des Bruders des franzoͤſiſchen Koͤnigs, Mademoiſelle heiſſet, kann ſchon die Blattern uͤberſtanden haben und die Ver¬7 lobung nachher: es hilft ihm wenig, das Aergſte, eine ganze Gehenna erwartet ihn noch im Buͤ¬ cherbrett; denn dort koͤnnen die ſchoͤnen Geiſter, er habe immer ſchon alle bittere Salze des Geſchicks hinunter geſchluckt, unter dem Namen Romanen - Manna ein hartes Thraͤnenbrod ihm vorgeſchnitten haben, das ich fuͤr meine Perſon weder backen noch kaͤuen moͤchte warlich ſie koͤnnen (in einer andern Metapher) Todtenmaͤrſche und Maeſtoſen und Semi¬ tonien fuͤr ihn komponirt und bereit gelegt haben, die ihn ganz niederwerfen und ihm warm machen, daß ihm die Augen uͤbergehen.

Und zum Ungluͤck zeichnen ſich gerade warmbluͤ¬ tige und weichhaͤutige herrliche Maͤnner am wenig¬ ſten durch ſtandhaftes maͤßigendes Ertragen der poe¬ tiſchen Leiden aus, die ihnen Autoren zuſchicken. Ich kann daher dieſen dritten Heft, der zu leicht ruͤhret, unmoͤglich ohne alle Vorrede als eine Wider¬ lage laſſen, wenn ich nicht ſelber Urſache ſeyn will, daß unſchuldige Menſchen bei den beſten Szenen die¬ ſes Hefts weinen und mit leiden. Solche zu weiche Menſchen, denen die Natur die aͤſthetiſche Apathie gegen große Leidensfaͤlle in Tragoͤdien und Romanen verſagt hat, ſollten ſich ſie muͤßten denn fett ſeyn; denn Fetten thut der Kummer gut wie Hun¬ gerkur und Hoͤllenſtein dieſe ſollten ſich durch Philoſophie kalt machen und bewafnen gegen den8 tragiſchen Dichter; ſie ſollten ſich unter dem Leſen eines großen Jammers troͤſten und ſagen: » wie lange » dauert ein ſolches gedrucktes Ungluͤck? Wie bald » iſt ein Buch und Leben hinaus Morgen denkſt » du doch anders Der ungluͤckliche Zuſtand, in » den ich durch Shakeſpear hier gebracht werde, » exiſtirt ja nur in meiner Vorſtellung und der » Schmerz daruͤber iſt ja, nach den Stoikern, nur » Illuſion Man muß, ſagt Epiktet im Handbuch, » das nicht bejammern, was nicht in unſerem Willen » liegt und hier die traurige Szene von Klopſtock iſt » ja ein aͤuſſeres Ding, das du nicht aͤndern kannſt » Willſt du dich von einem Nordamerikaner, » vom Halloren, vom Poͤbel, vom Cretin aus Gex » beſchaͤmen laſſen, der dieſe ganze Szene aus Goͤthe's » Taſſo ſtill und gelaſſen aushielte, ohne ein Auge » naß zu machen? «

Ich betheur 'es den Leſern, daß ich hier nur ge¬ gen ihre Weiber und Schweſtern zu Felde liege: denn unter den Leſern fehlten ſtandhafte Zuſchauer aͤſthetiſcher Leiden niemals ganz und noch weniger als ſelber unter dem Poͤbel und ich moͤchte am we¬ nigſten den Schein haben als ſtritt' ich dem groͤßern Theile der Geſchaͤftsleute, der Rezenſenten, Krimina¬ liſten, und Hollaͤnder große Gelaſſenheit unter dem Leſen uͤberflorter truͤber Szenen ab, die ich und an¬ dere in die Preſſe geben. Ich berede mich vielmehr9 gern, daß wenn jemals Hofnung dazu war es gerade jetzt iſt, wo der Deutſche jenen belgiſchen Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen verſpricht, die ihn ſo ziert und durch die er gegen Melpomenens Dolch ſchuß - und ſtichfeſt wird und in Dante's Hoͤlle, wie Chriſtus in der wahren, ohne Leiden iſt. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit der Franzoſen und ihr Racine waͤre immer fuͤr uns ein kurzweiliger Rath geweſen; aber jetzt ſind wir, wenn's ein Verfaſſer nicht gar zu kraus macht und nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit Maͤuſegift und Rabenſteine vorſchiebt denn das greift uns an ſondern wenn er nur ſo halb auf¬ geraͤumt ich ſeh 'ihn ordentlich reiten auf ei¬ nem Trauerpferde daher ſetzt und mit der einen Hand eine Todtenglocke ſchuͤttelt und mit der an¬ dern einen Leichenmarſchals-Stab Wehe ſchwenkt; oder wenn er vollends nur die unſichtbaren zugequol¬ lenen Stichwunden der zaͤrtern feinern Seele vor¬ zeichnet: da ſind wir jetzt ſchon im Stande, unſere luſtige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der Deutſche ertraͤgt. Leute von geringerer Kraft ſchla¬ fen wenigſtens, damit ſie bei einer Goͤtheſchen Iphigenie nicht leiden, weil der Schlaf Lei¬ dende aufrichtet: oder wir vergeſſen ſolche Elegien gar, weil wir nach Patner kein Gedaͤchtniß fuͤr Schmerzen haben und weil die Vergeſſenheit 10 wie ein Fuͤrſt ſchrieb Das einzige Heilmittel der Schmerzen iſt, oder der Himmel ſchenkt uns, wie nach Leid, Freude, nach einer Meſſiade (wovon uns eine gute Traveſtirung anzuwuͤnſchen waͤre) eine blu¬ maueriſche Parodie, woruͤber wir die vorige Epopee leicht vergeſſen koͤnnen.

W.

Weiber .. Ihr holden weichen Fruͤhlingsblumen und Enge. Abſenker neben uns harten Winterkohl¬ ſtruͤnken, ich habe ja ſchon im vorigen Buchſtaben eurer gedacht und eurer Weichheit im Gegenſatz der deut¬ ſchen Strengfluͤßigkeit! Was ſoll ich weiter ſagen als daß ihr, ſobald ihr gut ſeid, es im hoͤch¬ ſten Grade ſeid und daß ihr und das engliſche Zinn einerlei Stempel habt naͤmlich die Figur eines Engels?

X ſiehe IKS Y ſiehe I Z ſiehe T S. Tz.

Spitz. Der arme Spitz will ſo gut in Vor¬ reden unter Extra-Schoͤslinge wie ſein Herr und koͤmmt gerade recht mit dem 29ten Kapitel. Ich kann ſtundenlang mit Spitzhunden reden wie Yorik mit Eſeln. Ich will jetzt den Goͤtterboten auf die Hinterfuͤße ſtellen und an den vordern halten, damit er mir aufgerichtet zuhoͤrt. » Steh, leichte11 » Beſtie! Ich rede nur mit dir uͤber etwas, da¬ » mit ich dich in die dritte Vorrede ſetzen kann. Es » verdient, Spitz, bemerkt zu werden, daß du ein » Schelm biſt wie Menſchen und gleich ihnen nicht » gerade, ſondern gekruͤmmt und niedergebuͤckt » verbleiben willſt, bloß um recht zu freſſen: du und » ſie wollen wie Pharokarten durch Beugen und » Kruͤmmen gewinnen, wie die gemeinen Englaͤn¬ » der ihre ſchlechten Silbermuͤnzen kruͤmmen, da¬ » mit ſie nicht fuͤr weniger ausgegeben werden, naͤm¬ » lich zwei fuͤr eine. Du haſt falſche Augen, aber » du handelſt doch gut. Die Rezenſenten, unge¬ » duldiges Vieh, ſagen, wenn ſie an deiner Stelle » waͤren, ſie wuͤrden das biographiſche Bauzeug flei¬ » ßiger zutragen, damit die Biographie aus waͤre eh '» es ſchneiet Setze ihnen nicht entgegen, daß ich's » wie Baronius machen koͤnnte, der ſeine Anna¬ » len ohne Bart angefangen und mit einem grauen » ausgemacht Das koͤnnen ihm nur Rezenſenten » (ich aber nicht) nachthun, die Zeit haben zu feilen » und die ein Werk unbaͤrtig anfangen koͤnnen am » Raſiertage und erſt drei Tage darauf vollenden, » wenn ſie eingeſeift ſind. Fall' nur nieder, » Hofmann, und friß: du biſt wenigſtens nicht ohne » allen Verſtand und giebſt doch mehr auf das Har¬ » anguiren Acht als ein Dauphin-Foͤtus und wedelſt » doch, aber der Foͤtus nicht Ich habe nun mit12 » ganz andern Leuten zu ſprechen und die wenigſten » wedeln, Spitz! «

Jean Paul.

29. Hundspoſttag.

Bekehrung Villetdoux der Uhr Florhut.

Des Morgens ging Klotilde nach ihrer Pappelinſel ab, und Mittags Viktor nach ſeinem pontiniſchen Sumpf beide mit einer Entfernung zufrieden, die ſie wuͤrdig machte, eine Vereinigung zu genießen.

Das erſte was der Hofmedikus in Flachſenfingen vornahm, war daß er nachſann oder vielmehr nachempfand. Der Menſch iſt der Doppelſpaht der Zeit, der alle Szenen zweimal neben einander zeigt. Die Erinnerung fing in ihrem Spiegel noch einmal den Mondſchein der letzten Nacht und die Engel auf, die darin ſchwebten und kehrte den Spiegel mit dieſem Schimmer, mit dieſer Perſpektive meinem Viktor zu. Er uͤberdachte jetzt Klotildens bisheri¬ ges Betragen, aus dem er und ich hoffe, mein Leſer die Zuͤge der reinſten Liebe, die nur mit einem Auge aus dem Schleier blickt, neben den Zuͤ¬ gen einer entſchiedenen Herrſchaft der weiblichen Ge¬13 fuͤhle uͤber die weiblichen Wuͤnſche entdeckte. Sie koͤmmt den erſten Mai aus Maienthal mit einem weinenden Herzen, das von einer Todten abgeriſſen offen noch fortblutet. Der Schuͤler Emanuels be¬ gegnet ihr und ſie eilet wieder zum Grabe zuruͤck, um dort mit den Thraͤnen der Trauer ihre erſte Lie¬ be auszuloͤſchen. Aber Emanuel theilte dieſer Lie¬ be ſein heiliges Feuer mit durch die ſeinige, durch ſein Lob des Geliebten, durch den ſchoͤnen Brief voll keimender Liebe, den dieſer am Geburtsfeſte des 4ten Maies an ihn geſchrieben. Sie kehrt unge¬ heilet gegen die Zeit ſeiner nahen Abreiſe zuruͤck. Aber ihr guter Emanuel druͤckt freundſchaftlich-grau¬ ſam das Bild, das ihr das Herz zu enge macht, tie¬ fer in die Wunden deſſelben hinein, indem er ihr Viktors Leben in Maienthal und das Geſtaͤndniß be¬ richtet, daß er ſie liebe.

Vitor ſchweigt vor ihr, aber ſie glaubt, er thu 'es, weil er von ſeinem Vater keine Erlaubniß habe, mit ihr uͤber Flamins Verwandſchaft zu reden. Er geht an den Hof und ſcheint ſie zu vergeſſen, ja er legt ihr die Ketten des Hofamts um, die doch wie er weis ihre Seele blutig druͤcken. Ihre El¬ tern noͤthigten ihr, um ſie auszuforſchen oder um ihrem geheimen Werber Matthieu mit ihrer weibli¬ chen Verſchleierung zu ſchmeicheln, durch eine ty¬ ranniſche Frage das ungluͤckliche Nein ab, das ihren14 Bruder taͤuſcht und ihren Freund entfernt Vik¬ tor weicht an ihrem Geburtstage aus dem Garten, ohne ſie anzureden, beſucht darauf ihre Eltern wie¬ der und iſt ganz erkaltet. Nun hoͤrt ſie nichts mehr von ihm als hoͤchſtens Berichte ſeiner hoͤfiſchen Freuden und ſeiner Beſuche bei Joachimen Ja, du Gute, da mußten ja im Kampfe mit Wuͤn¬ ſchen und mit Sorgen, im kranken Lechzen nach der geliebten Seele, da mußten ja alle deine Freuden ein¬ ſchlafen und deine Hoffnungen ausſterben und deine unſchuldigen Wangen erblaſſen. Da nun Vik¬ tor ſo dieſe truͤbe Vergangenheit durchdachte und ſich erinnerte, wie ihr im Schauſpielhauſe, wo er ihr ſeine Wiſſenſchaft um ihre Verſchwiſterung zeig¬ te, die letzte Bluͤte der Wange, der letzte Zweig der Hoffnung wegbrach, weil ſie ſein bisheriges Schweigen fuͤr ein von ſeinem Vater befohlnes hal¬ ten konnte. Und da alle dieſe Zuͤge in eine Him¬ melskoͤnigin zuſammenliefen, vor welcher das Nie¬ derknien leichter als das Umarmen iſt. Und da er weiter bedachte, daß dieſes edle von einem Emanuel verſchoͤnerte, und eines Emanuels wuͤrdige Herz ſich doch mit allen ſeinen Himmeln dem wankelmuͤthigen Herzen des Schuͤlers ergab und daß der Guten nicht einmal dieſer beſcheidene Wunſch gelang daß das Schickſal die Bluͤte ihrer Liebe wie die ei¬ ner Roſenſtaude aufſchob durch Verpflanzung, durch15 Setzen in Schatten, durch Beſchneiden der Knoſpen im Fruͤhjahr und Herbſt. Und da er ſah, daß gleichwol dieſe Edle mit dem Finger auf dem Mun¬ de, mit der Hand auf dem truͤben Herzen, ohne ei¬ nen Wink ihres Grams geſchieden waͤre nach Maien¬ thal, und daß die moraliſche Kaͤlte dieſe Blume, wie die phyſiſche die andern, erhob aber ihr da¬ durch die Wurzeln des Lebens abriß und da end¬ lich ſein Traum am dritten Oſterfeiertag, wo ihm vorkam als ſaͤh' er ſie auf einem lichten Nebel ſin¬ gend aus der Erde ſteigen, wie eine große Regen¬ wolke voruͤberging und da der Traum mit ihrem er¬ blaßten Kolorit vor ſeiner ſchmachtenden warmen Seele ſtille ſtand, und da eine Stimme aus dem Traum ihn fragte: » wirſt du ſie lange lieben, da » ſich Engel nach ihr ſehnen und ſie aus dem Kum¬ » mer heben und dir nichts laſſen als das Grab des » zu lang verkannten Herzens? » da alle dieſe Gedanken gluͤhend und aneinandergereihet wie Huͤ¬ gelketten von rothen Abendwolken um ſeine Seele zogen: So wurde ſein Herz wie ein Altar durch ein vom Himmel fallendes Opferfeuer bedeckt und alle ſeine erdigten Luͤſte, alle ſeine Fettflecken vergingen in dieſem Feuer kurz, er beſchloß, ſich zu beſſern, um durch Tugend wuͤrdig zu ſeyn einer Tugend¬ haften.

16

Er bekehrte ſich den 3ten April 1793 gegen Abend als der Mond und die Erde unter ſeinem Fuͤßen im Nadir waren.

Der Leſer kann uͤber dieſen Chronometer gelacht haben; aber jeder Menſch, an dem die Tugend et¬ was hoͤheres iſt als ein zufaͤlliger Waſſeraſt und Holztrieb, muß die Stunde ſagen koͤnnen, worin je¬ ne die Hamadryade ſeines Innern wurde welches die Theologen Bekehrung und die Herrhuter Durch¬ bruch nennen. Wie ſoll die Zeit nicht unſre geiſti¬ gen Empfindungen abmarken, da ja blos dieſe jene abſtecken?

Es giebt oder koͤmmt ' in jedem mehr ſo¬ lariſchen als planetariſchen Menſchen eine hohe Stunde, wo ſich ſein Herz unter gewaltſamen Be¬ wegungen und ſchmerzlichen Losreißungen, endlich durch eine Erhebung ploͤtzlich umwendet gegen die Tugend, in jenem unbegreiflichen Uebergang, wie der iſt, wenn ſich der Menſch von einem Glaubens¬ ſyſtem auf einmal zum andern, oder vom hoͤchſten Punkte des Grolls ſchnell zu einer zerſchmelzenden Vergebung aller Fehler hinuͤberhebt jene hohe Stunde, die Geburtsſtunde des tugendhaften Lebens, iſt auch die ſuͤſſeſte deſſelben, weil jetzt dem Men¬ ſchen iſt als waͤre ihm der druͤckende Koͤrper abge¬ nommen, weil er die Wonne genießet, keine Wi¬ derſpruͤche in ſich zu fuͤhlen, weil alle ſeine Ket¬ten17ten fallen, weil er nichts mehr fuͤrchtet im ſchauerlich-erhabnen Univerſum. Der Anblick iſt groß, wenn der Engel im Menſchen gebohren wird, wenn alsdann am Horizont der Erde die zweite Welt aufſteigt, und wenn die ganze Sonnenwaͤrme der Tugend durch keine Wolken mehr auf das Herz faͤllt.

Aber der arme Menſch, der gebundne in Blut verſunkne, von Fleiſch umfaßte Menſch empfindet bald den Unterſchied zwiſchen ſeinen Entzuͤckungen und ſeinen Kraͤften; er, der das gelobte Land er¬ kaͤmpfen wollte, da ihm die Trauben deſſelben ent¬ gegen kamen, ſtockt, da er gegen deſſen Rieſen zie¬ hen ſoll (gegen die Leidenſchaften.) Gleichwol ver¬ werf 'ich nicht einmal die Uebertreibung jenes En¬ thuſiasmus: der Menſch muß wie Gebaͤude in die Hoͤhe geſchraubt werden um reparirt zu wer¬ den; ein Syllogismus graͤbt die Blutſtroͤme unſerer Begierden nicht ab. Es iſt ſonderbar, daß der Teufel in uns allein das Recht haben ſoll, das Blut, die Nerven, die Getraͤnke, die Leidenſchaften zu ſeinen Kriegsoperazionen und fuͤr ſeine Reichs¬ kaſſe zu verwenden, der Engel aber ſoll's nicht. ..

Indeſſen iſt's ſo: die Menſchen ſind laſterhaft, weil ſie die Tugend fuͤr zu ſchwer anſehen, und ſie werden's wieder, weil ſie ſie fuͤr zu leicht hielten. Nicht die Vernunft (d. h. das Gewiſſen) macht unsHeſperus. III. Th. B18gut, ſie iſt der ausgeſtreckte hoͤltzerne Arm am Wege der Tugend; aber dieſer Arm kann uns weder hin¬ tragen noch hindraͤngen die Vernunft hat die ge¬ ſetzgebende, nicht die ausuͤbende Gewalt. Die Kraft, dieſe Befehle zu lieben, die noch groͤßere, ſich ihnen zu ergeben, iſt ein zweites Gewiſſen ne¬ ben dem erſten wie Kant nicht das mit Dinte ſigniren kann, was den Menſchen ſchlimm macht, ſo iſt auch das nicht darzuſtellen, was ſein Herz uͤber dem moraliſchen Kothe aufrecht erhaͤlt oder aus dieſem erhebt.

Wer erklaͤrt es, wenn es Menſchen giebt, die von Jugend aus ein gewiſſes Gefuͤhl von Ehre entweder beſi¬ tzen oder entbehren im weiblichen Geſchlecht iſt dieſe Abtheilung noch ſchroffer und wichtiger wenn es Menſchen giebt, die von Jugend auf eine gewiſſe Sehnſucht nach dem Ueberirdiſchen, nach der Reli¬ gion, nach dem Edleren im Menſchen, (und nach Syſtemen, die dieſes Edlere beſiegeln, nicht beſtrei¬ ten) entweder empfinden oder ewig entrathen? (Bei Kindern iſt warmes Gefuͤhl fuͤr die Religion immer ein Zeichen des Genies). Der Menſch wird nicht gut (obwohl beſſer), weil er ſich bekehrt, ſon¬ dern er bekehrt ſich weil er gut iſt.

Waͤre die Tugend nichts wie Stoizismus: ſo waͤre ſie ein bloßes Kind der Vernunft, deren Pfle¬ getochter ſie hoͤchſtens iſt. Der Stoizismus ſtellt die19 Tugend ſo nuͤtzlich, ſo vernuͤnftig dar, daß ſie nichts weiter iſt als ein Schluß: man hat bei ihr nichts zu uͤberwinden als Irrthuͤmer. Da ſie (nach ihm) nicht das hoͤchſte ſondern das einzige Gut iſt; da alle Begierden nach ihm auf ein leeres Nichts los¬ gehen: ſo iſt Tugend kein Verdienſt, ſondern eine Nothwendigkeit. Z. B. wenn es nichts haſſenswer¬ thes giebt: ſo iſt der Sieg uͤber den Zorn und die Liebe gegen den Feind nicht ſchwerer oder verdienſt¬ licher als die gegen den Freund, ſondern einerlei.

Was hat denn der Stoiker der Tugend nach ſei¬ ner Meinung aufzuopfern als Vexirguͤter, Luft¬ ſchloͤßer und Fieberbilder? Gleichwohl thut der Stoizismus der Tugend, wie die Kritik dem Genie, negative Dienſte die ſtoiſche Erkaͤltung treibt keinen Fruͤhling heraus, aber ſie richtet die Inſekten hin, die ihn zernagen der ſtoiſche Winter nimmt wie der phyſiſche, die Peſt hinweg eh 'die waͤr¬ mern Monate kommen, die neues Leben rei¬ chen ....

Obgleich Viktor ſagte: » Du Theure, kein » Herz kann rein, ſtill, zart und groß genug fuͤr dei¬ » nes ſeyn, aber das ſchwache, das du erduldeſt, wird » an deinem ſich heiligen und koͤmmt gebeſſert zu » dir: » ſo war doch die bloße Liebe die Quelle ſeiner Tugend, ſondern umgekehrt konnte nur Tu¬ gend ſich durch eine ſolche Liebe offenbaren. AberB220auch ohne das wird eine halb eigennuͤtzige Sinnes¬ aͤnderung durch Handeln zur uneigennuͤtzigen, wie die Liebe, die von der Schoͤnheit des Geſichts an¬ faͤngt, ſich zuletzt in Liebe fuͤr Schoͤnheit der Seele veredelt.

Die Abſonderung von Klotilden gab ihm jetzt durch den Gedanken Freude, daß er dadurch die ei¬ ferſuͤchtigen Irrthuͤmer ihres Bruders ſchone. Die Simultanliebe ruͤckte jetzt der Freundſchaft gegen die beſſern Weiber zu, und der Toleranz gegen die ſchlimmern. Er hob ſeine ſatiriſche Intoleranz die aber nicht halb ſo groß war wie die junger ſchriftſtelleriſcher Spasvoͤgel durch eigne Tole¬ ranzmandate auf. Er las Gullivers letzte Reiſe ins Pferdeland als Rezept gegen Luͤgen, wenn man an den Hof geht. Sein Kubach und Schatzkaͤſtlein und ſein collegium pietatis beſtand aus drei unaͤhnlichen Baͤnden: Kant, Jakobi*)Verfaſſer des Woldemars., und Epiktet.

Ich wollt 'aber, er machte ſich nicht laͤcherlich. Von einem Manne, der neun Monate am Hofe ge¬ weſen, war man ſchon zu erwarten berechtigt, daß er ſich anders benehmen und gegen jene Gleichheit der Staͤnde und der Laſter nicht verſtoßen werde, da die Menſchen die Suͤnden am beſten gemeinſchaft¬21 lich veruͤben, wie in den ſchweizeriſchen Kirchen die Zuhoͤrer gemeinſchaftlich huſten oder die Rekruten eines Transports zugleich piſſen muͤſſen. Wenig¬ ſtens verraͤth es den Mann von Lebensart nicht, ſeine Liebe gegen ſeine Ehefrau oder gegen ſeine Re¬ ligion andern zu zeigen. Ich komme wieder zur Hiſtorie:

Viktor beſchloß, lauter Viſiten zu machen, die ihn aͤrgerten. Der boͤſe Geiſt der im Menſchen all¬ zeit wie die juͤngſten Raͤthe zuerſt votirt, machte die Mozion » er ſolle Joachimen den kleinen Irrwahn, » daß er ſie lieb, laſſen, » als das nicht durch¬ ging, nahm der Filou eine andere Stimme an und ſchlug damit vor: » er ſollte ſie fuͤr ihre bisherige Zweideutigkeit durch die deutlichſten Zeichen ſeines Haßes ſtrafen. » Aber er ging willig dem guten Geiſte nach, der ihn an der Hand fuͤhrte und unter¬ weges ſagte: » gehe jetzt zu ihr ziehe dich von » ihr ohne ihre Schmerzen loß deine Hand gleite » allmaͤhlig aus ihrer und raͤume einen Finger nach » dem andern wie es Maͤdgen mit ihrer phyſiſchen » machen und ſtelle dich weder als ihren Feind noch » als ihren Liebhaber an. » Er ging ohne allen Ei¬ gennutz hin: denn der waͤre eher geweſen zu Hauſe zu bleiben und die Vergangenheit und Zukunft zu genießen und durchzublaͤttern, oder auch aus dem Hauſe zu gehen nach St. Luͤne, um ſich zu22 Agathen neben den Florhut Klotildens, den ſie ſtu¬ dirte, zu ſetzen.

Um aber ſeinem Beſuche nicht zu vieles Gewicht in den Augen Joachimens zu laſſen, nahm er ſich vor, ſie um die Proſpekte von Maienthal, die in ihrem Zimmer hingen, anzugehen auf einige Wochen. O Maienthal, wie viel haſt du, wenn ſchon dein Schattenriß ſo gluͤcklich macht! Aber ſeine Viſite lief ſonderbar ab. Er wuͤnſchte unterweges, in ih¬ rem Toilettenzimmer waͤre der feine Narr, und der wohlriechende und mehr Zeug es war nichts da, Sie nahm ihn mit einer ſorgloſen[Luſtigkeit] auf als waͤre ſie die Kolombine und der Medikus der Pickel¬ haͤring. Er aber wollte blos das diminuendo ſeiner moraliſchen Diſſonanzen ausfuͤhren; daher wurd 'er durch das ewige Hinſehen auf ſein Notenpult und auf die Partitur ſeiner innern Harmonie etwas ſteif und ungelenk in ſeinem Spiel. Weiber unterſchei¬ den leicht Kaͤlte der Vernunft (ſchon am Mangel der Uebertreibung) von Kaͤlte der Laune. Jetzt verlang¬ te er die Proſpekte. Joachime wurde nicht kaͤlter, ſondern warm d. h. ernſthaft und hob in der holen Hand ihre Uhr empor und ſagte, darauf blickend: » Ich geb' Ihnen ſo viele Minuten Friſt, als Sie » Tage weggeblieben ſind, um das Wegbleiben zu » entſchuldigen. » Viktor nahm ohne Verlegenheit wie jeder, der nur nach Einem entweder guten23 oder boͤſen Prinzip handelt ' die peremtoriſche Friſt an und hob die montre à regulateur unter dem Spiegel aus um nicht von Joachimen betrogen zu werden. Dieſe verdammte Uhr der Fuͤrſtin grinz¬ te ihn uͤberall an wie eine Druckkugel und Mine unter ſeinen Fuͤßen. Er zog ſie auf um dieſes nuͤrnbergiſche Ei (wie man ſonſt die Uhren nannte) aufzumachen und endlich einmal nachzuſehen ob die Liebeserkaͤrung d. h. das punctum saliens der Liebe oder der Amor der nach Plato auch aus einem Ei auskam noch darin waͤre. » Ich weiß ſchon » ſagt' er zu ſich es iſt laͤngſt heraus aber ich pro¬ » bir's nur. »

Es waͤre uͤberhaupt die Frage geweſen ob's die¬ ſelbe Uhr war da die in Toſtatos Bude keine Bril¬ lanten hatte wenn nicht aus dieſer Pandorabuͤch¬ ſe ſobald er ſie am Fenſter aufgeſchloſſen hatte her¬ vorgeflattert waͤre ein duͤnnes Blaͤttgen halb ſo groß wie ein Schmetterlingsfluͤgel, ſo lang wie ein Tul¬ penſtaubfaden. Die kleine Folie nahm vor je¬ dem Luͤftgen die Flucht. Joachime fing das Ding las das Ding fand die Liebeserklaͤrung noch darauf hielt ſie fuͤr eine die er ihr ſelber eben mache um ſeine Abweſenheit auszuſoͤhnen und die er der Uhr Witzes halber (er konnte auf ihre Herz-Geſtalt anſpielen) einverleiben wollen ....

24

Jeder kann denken, wie ihm bei der Sache war. Recht wohl waͤr 'ihm dabei geweſen, wenn er haͤtte entſetzlich luͤgen duͤrfen oder wenn er nur we¬ nigſtens den wenigen Hof-Leuten haͤtte nachſchlagen duͤrfen, die unter die 28 Pfund Blut, die ihren Koͤrper waͤſſern, nicht 28 ehrliche Blutstropfen ein einziger kann wie liquor probatorius verdammte Sedimente nachlaſſen geſchuͤttet haben. Aber ſeine Seele ekelte der neue Koͤder zur Luͤge. Der Leſer kann gar noch nicht wiſſen, daß Viktor fehl¬ ſchoß, daß er nemlich (wegen der Entlegenheit von Joachimens Argwohn) auf dieſen gar nicht kam, ſondern auf den naͤhern, Joachime habe jetzt ſeinen ganzen naͤrriſchen Streich gegen die Fuͤrſtin heraus. Er war niemals faͤhig, einen fremden Leichnam als Schild den Pfeilſchuͤßen gegen ſeinen eignen vorzu¬ halten eine Sitte aus dem Hof Moria, die nicht wie die altteſtamentliche einen Iſaak mit einem Widder loͤſet, ſondern einen Widder mit einem Iſaak er war heute am wenigſten faͤhig, die Fuͤr¬ ſtin Preis zu geben, um ſich zu retten; aber auch nicht einmal das vermocht' er, Joachimen Preis zu geben, um jene zu retten, d. h. den Teufelszettel zu einem Miniatur-billet doux an Joachimen um¬ zumuͤnzen. Der Satan ſchrie ſich in ihm heiſer, um ihn nur ſo weit zu bringen, daß er wenigſtens durch ſchweigende Pantomime loͤge und die ihrige25 rechtfertigte, worin der Schein immer mehr abnahm als glaubte ſie es an eine fremde Dame gerichtet.

Er ſagte ihr frei heraus, was er waͤre ein Narr. Er referirte den ganzen Handel in Kuſſewiz. Er ſchloß damit, es ſey ein Gluͤck fuͤr ihn, daß die Fuͤrſtin das tolle Einſchiebſel der Uhr gar nicht auf¬ geſtoͤbert habe. ... Da er nun dieſes eintoͤnig vorſang ohne eine einzige Schmeichelei, aus der et¬ wan eine neue Auflage des Einſchiebſels zu machen geweſen waͤre: ſo war er ſo gluͤcklich, bei ſeinem Abſchiede die belehrte Joachime in einem Zuſtand zu hinterlaſſen, der ſich nach ſolchen magnetiſchen Des¬ organiſazionen bei gebildeten Weibern in einer ſchoͤ¬ nen ſtolzen Exaltazion und bei unbegebildeten in den Verſuchen aͤuſſert; an den Mann die bildende letzte Hand gerade ſo zu legen wie ſie die griechi¬ ſchen Kuͤnſtler an ihre Modelle legten naͤm¬ lich mit den Naͤgeln der letzten Hand. Viktor zog mit zweierlei ſehr verſchiedenen Proſpekten ab, mit denen der Zukunft und mit den Maienthali¬ ſchen.

Sie behielt das Blaͤttgen. Aber nicht die Furcht, ſondern das herbe Gefuͤhl, daß ſeine bisherigen Thorheiten ſich blos in einem fremden Herzen mit einer fehlgeſchlagnen Hoffnung enden, floß mit eini¬ gen bittern Tropfen in die ſuͤße verjuͤngende Empfin¬ dung, daß er auf ſeine Koſten Recht gehandelt ha¬26 be. Eine Ruͤhrung, eine Thraͤne iſt ein Schwur vor dem Himmel, gut zu werden; aber eine einzige Aufopferung ſtaͤhlet dich mehr als fuͤnf Bu߬ thraͤnen und zehn Kaſualpredigten.

Ich habe nicht den Muth, es zu errathen, war¬ um die Fuͤrſtin die Uhr mit dem erotiſchen Einſchluße, den ſie (ſchon nach dem Geſpraͤch mit Toſtato) ge¬ leſen haben muß, Joachimen in die Haͤnde gegeben; aber fuͤr die Spitzbuben, deren ich im Kapitel ihres Augenverbandes und Kuſſes gedacht, iſt das ein Fund: das Geſchenk der Uhr beſtaͤtigt ſie ganz in ihrer ſpitzbuͤbiſchen Theſis; denn ſie koͤnnen ich ſetze mich vergeblich dagegen das Geſchenk fuͤr ein Zeichen der italieniſchen Rache ausgeben, die Agnola an der Nebenbuhlerin Joachime, der ſie Viktors Widerſtand zuſchreiben mußte, dadurch habe nehmen wollen, daß ſie ihr ſeine anderweitigen Lie¬ beserklaͤrungen mitgetheilt.

Viktor nahm ſich, indem er zu Hauſe die groͤſten phyſiſchen Schritte machte, vor, aͤhnliche politiſche zu thun und geradezu dem Fuͤrſten zu bekennen: » es iſt » nicht viel uͤber neun Monate, daß ich Hoͤchſtdero¬ » ſelben Braut mit einer ſchmalen Liebeserklaͤrung » behelligt habe, die ſie gar noch nicht kann geleſen » haben und die nun aus einer Hand in die andre » geht. » Aber jetzt war die Eroͤfnung der Uhrbrief¬ ſache Halsbandſache haͤtt 'ich beinahe geſchrie¬27 ben nicht thulich: Jenner war durch die Entfer¬ nung Klotildens ein wenig verdruͤßlich Viktor war ſeit einiger Zeit auch weniger um ihn als ſonſt, wie doch ein rechtſchaffener Guͤnſtling nicht ſollte, da z. B. der beruͤhmte Graf von Bruͤhl wie eine Mutter von Morgen bis Mitternacht ſeinen Herrn umwachte Jenner ſchien in dieſer Einſamkeit mehr an ſeine Kinder zu denken und Viktor konn¬ te ihm keine Nachrichten vom Lord ertheilen die Hauptſache war vollends ſeine Fruͤhlingskraͤnklichkeit, die ihn wieder zum glaͤubigen Juͤnger des D. Kuhl¬ peppers und des Podogra machte. Dieſer D. -Rumpf unter einem Doktorhute, deſſen Gehirnfiebern zu Baßſaiten gezwirnt waren, verſteigerte ſeine Betiſen blos durch die ernſthafte Schwerfaͤlligkeit, wo¬ mit er ihrer loß wurde, uͤber den Preis: von ge¬ wiſſen Perſonen, z. B. von Aerzten, von Finanz - Arithmetikern, von oͤkonomiſchen chargés d'affaires fodern ſogar Leute von feinen Sitten ſteife und hal¬ ten ſich an eine Zipfelperuͤcke lieber als an einen Kompreſſions-Haarbeutel ſo groß wie eine Schuh¬ ſchnalle. Sebaſtian kam den Leuten viel zu ſpas¬ haft vor, als daß ſie haͤtten denken koͤnnen, er habe was gelernt. Im Punkte der Aerzte wie in je¬ dem Kardinalpunkte des Vermoͤgens oder des Lebens denket der vornehmſte Poͤbel wie der niedrigſte und ſchaͤtzet Maͤnner und Schooßhunde nach aͤuſſerer28 zottiger Wildniß. Noch dazu hatte Viktor den Feh¬ ler, ſich und die Aerzte in den Verdacht der Ruhm¬ ſucht zu bringen, indem er ſie geradezu lobte: z. B. » ſie waͤren bei ihrem Matroſen - und Todten-Preſ¬ » ſen eine Art Seelenverkaͤufer fuͤr die andre Welt » und dienten den guten Engeln, die den Kern ohne » die Koͤrperſchaale begehrten, um ihn weiter zu ſte¬ » cken, zu Nußknackern wie oft heben wir nicht » (fuhr er fort) die gefaͤhrlichſten Krankheitsver¬ » ſetzungen durch eine leichte Krankenverſetzung? » Ich koͤnnte mich auf die refugiés aus dieſer Welt » berufen, ob unſer Streu - und Dintenfaß, (das » Geraͤthe unſerer Rezepte) nicht die Saͤemaſchine » und Gießkanne der menſchlichen Winterſaat waren; » aber die Reſtanten ſollen reden und antworten, ob » ſie nicht die Pfruͤnden, die Regimenter, die Lehn¬ » guͤter, die Ordensbaͤnder, die ihnen zugefallen, un¬ » ſern Rezepten und Uriasbriefen zu verdanken haben » und ob ſie und ſogar Koͤnige im Trocknen ſaͤßen » ohne unſere haͤufigen Abzugsgraͤben im Kirch¬ » hof? Und doch duͤnkt mich iſt unſer Ruhm im » Heilen und Beleben eben ſo groß, wo nicht groͤſ¬ » ſer: dieſer Ruhm ſo wie die Mortalitaͤtsliſten, » worauf er ſich ſtuͤtzt iſt ſeit vielen Jahrhunder¬ » ten der naͤmliche geblieben, unſre Theorien, » Spezifika, Einſichten mochten ſich aͤndern wie ſie » wollten. » ...

29

Den Fuͤrſten machten ſolche Satiren recht luſtig und unglaͤubig. D. Kuhlpepper hingegen hielt auf ſeine Wuͤrde und wuͤrde gegen einen Satirikus der vom langſamen Dezimiren der Aerzte geſprochen haͤtte, ſeinen Degen gezogen und ihn durch ein ſchnel¬ leres vollſtaͤndig widerlegt haben. Ich rathe jedem, der in der Welt etwas werden will, (naͤmlich etwas anders) bei den Maͤnnern auszuſehen wie ein Lei¬ chenbitter bei den Weibern wie ein Gevatterbit¬ ter. Der Fuͤrſt hielt ſich im ſiechen Fruͤhjahr aus zwei Gruͤnden wieder vom Zipperlein beſeſſen, erſt¬ lich weil ich noch keinen Nerven-Schwaͤchling ge¬ kannt habe, der ſich eine Krankheit, die ich ihm im Sommer ausgeredet hatte, nicht im naͤchſten kraͤnk¬ lichen Winter wieder in den Kopf geſetzt haͤtte zweitens weil Jenner nachgerechnet, daß er oft genug vor Damen auf die Knie gefallen war, um das An¬ beten daran noch als Gonagra zu ſpuͤren.

So ſtand's, als ein kleiner Zufall meinen Viktor wieder gluͤcklich machte. Ich muß nur vorher ſagen, daß er ohnehin gar nicht ungluͤcklich war: denn ein Liebhaber bekuͤmmert ſich um nichts, um einen Hof gar nicht; er hat Amors Binde um und verzeiht gern der Fortuna und der Juſtiz die ihrigen. Und das moraliſche Oſterfeuer loͤſete ſo wie Aberglaube dem phyſiſchen eine eigne Kraft beimiſſet alles Eis, womit man Viktors Blut andaͤmmte, in Freu¬30 den-[Lymphe] auf; der Oſterwind der nach dem Wetterpropheten bis zu Pfingſten fortwehet ſetzte ſeine alten Freudenblumen in Bewegung und ſaͤete aus ihnen den Samenſtaub kuͤnftiger weiter; der Schnee zerging auf dem aus dem Winterſchlafe er¬ wachenden heiſſen Fruͤhling und die erſten Blumen und die tauſend Knoſpen gaben allen Herzen Kraͤfte und Hofnungen und Liebe. O wenn Viktor drauſſen dem gruͤnenden Steige nachſah, der ihn mit friſchen Saftfarben mitten aus der Grummetſteppe (denn im Fruͤhling gruͤnen die Fußwege zuerſt) in das Maien¬ thaliſche Eden locken und tragen wollte; und wenn er dann gluͤhend und duͤrſtend umkehrte und in das gezeichnete Maienthal einlief, in die entlehnten Pro¬ ſpekte und da jeden Farbenberg erſtieg und jeden punktirten Garten umzingelte mit ſeinen Fingern und Phantaſien: ſo dachte er ſelber nicht, daß ein kleiner Zufall ihn noch froher machen koͤnnte. Und doch machte er's ihn.

Es iſt nicht wohlgethan von mir, daß ich das und das hab 'ich mir in dieſer Biographie ſo ſehr angewoͤhnt immer einen Zufall nenne, was ein naher Bluts-Urenkel voriger Kapitel iſt und was ja kommen muß. Denn der Florhut das war der Zufall mußte ja kommen, weil er beſtellt war. Es war aber das Original ſelber. In ſo ſchmaler Zeit waͤre ohnehin von der flinkeſten Putz¬31 Bauherrin kein Hut zu machen geweſen; aber Seba¬ ſtian hatt' es doch nicht bedacht, wenn ihn nicht Pu¬ derſpuren und aufgegangne Spitzen-Gitter gezwungen haͤtten, den alten Hut von einem neuen zu trennen. Kurz: Klotilde hatte ihn Agathen, die es ihr nicht verſchweigen konnte, fuͤr wen ſie die Kopie davon nehme, vor dem dritten Oſtertage gegeben zum Abkopiren, und nach dem beſagten Tage ihr ge¬ ſchrieben, ihr die Kopie zu ſchicken und dem Medi¬ kus das Original fuͤr das Nachbild (wie bei der Wachsſtatue) anzuhaͤngen. Und warum wohl? O das fuͤhlte ihr Freund in ſchoͤner Ruͤhrung nach: es dauerte ſie, daß ſie einem ſcheuen zaͤrtlichen Her¬ zen nichts geben konnte, keinen Laut, keinen Blick, keine Freude, kein Andenken des ſchoͤnſten Abends, als bloß den herbſtlichen Nachflor deſſelben, als nachgenaͤhte Seidenblumen dieſer Freudenblume, den Taftſchatten eines Taftſchattens - ... Nein, ſie be¬ zwang ſich, um dem[ſtummen] Liebling wenigſtens mehr als die Kopie des Schattens zu geben. O vor wem das liebevolle zugedruͤckte Herz eines guten Weibes aufginge; wie viel bekaͤmpfte Zaͤrtlichkeit, verhuͤllte Aufopferungen und ſtumme Tugenden wuͤrd 'er darin ruhen ſehen!

Man muß nur dem deutſchen Reichstage und ſeinen Querbaͤnken kein Geheimniß daraus machen, daß Viktor den neunten Kurhut nicht annehmen32 will, wenn er dafuͤr den Florhut abſtehen ſoll. .. Was koͤnnen die plumpeſten dickſten Kronen, die man mir auf meinen Reiſen vorgezeigt, in der einen Schaale wiegen geſetzt man wuͤrfe auch noch ei¬ nige Tiaren und Dogemuͤtzen mit Buͤgeln und paͤbſt¬ liche Huͤte zu den Kronen hinein wenn auf der andern Klotildens Florhut zieht? Da der Leſer eben ſo viel Verſtand hat wie ich ſelber: ſo entſcheid 'er hierauf. Dieſer Hut gab ihm ein unausſprechli¬ ches Sehnen nach Maienthal und war fuͤr ihn ein Dedikationskupfer, das ihm (wie durch eine investi¬ tura per pileum) Klotilden erſt ſchenkte; er ſtand vor dieſer Krone als Kronerbe jede Minute zog ſeinen Kronwagen mit zwei großen Freudentro¬ pfen, die das gluͤckliche Auge nicht faßte und ſagte langſam den Kopf wiegend: » Nein, das guͤtige » Schickſal giebt mir zu viel Ach wie kann ich » dieſe Seele vom Himmel verdienen? Ach ich » werde bloß zu ihr ſagen: » ich bin dein! « und ſpaͤt » einmal: du biſt mein! « Und als gar ſeine Phan¬ taſie hinter der Flor-Jalouſie die zwei großen Au¬ gen aufſchloß, die ſonſt darunter die Thraͤnen eines zuruͤckgeſtoßenen Herzens verborgen halten und als er die entruͤckte Stimme wieder hinter dieſem Sprach¬ gitter aus Schattenfaͤden reden ließ: ſo konnt' er ſich nicht mehr halten, ſondern er ſchrieb damit er nach Maienthal duͤrfe dem Hute gegenuͤberden33den erſten Brief an ſie, den ich Morgen Abends ge¬ wiß mit der Poſt erhalten werde vom Hunde.

Ich glaube, ich hab 'es gar noch nicht geſagt, daß Agathe ihm den Hut auslieferte und daß ſie ihn es iſt gegen das Ende des Aprils auf den 4ten Mai zum Geburtstag des Vaters einlud. Viktor dachte an den melancholiſchen 4ten Mai vom Jahre 92 und wurde noch ſehnſuͤchtiger nach der entriſſenen Freundin.

Eh 'ich das Kapitel ſchließe, will ich nur den juͤngern Klotilden, den Vice Klotilden, Kebs Klotilden und den Anti-Klotilden, die mich und meine Kapitel auf dem Schoße haben, das noch ſa¬ gen: ſeid kalt! Ihr koͤnnt die weibliche Tugend Kaͤlte gar nicht zu weit treiben, ihr muͤßtet ihr denn gar keine Graͤnzen ſtecken. Ich will euretwegen dieſe Lehre in weiſe Spruͤche und witzige Sentenzen kleiden, damit ſie beſſer auf Faͤcher und in Stamm¬ buͤcher geht.

Die Liebe muß wie der Aurikelſaame auf Schnee geſaͤet werden, beide waͤrmen ſich durch das Eis ſchon durch und gehen dann deſto friſcher auf Ihr muͤſſet euch nie zu einem Geſchenke machen, ſondern zu einem Frauenzimmerdank der Ritter Ihr erhaltet und verdient gerade ſo viel Achtung, als ihr fodert, und ihr koͤnnt ihr moͤgt legirt ſeyn wie ihr wollt, euren Muͤnzſtempel oder PraͤgſtockHeſperus. III. Th. C34aus der Taſche ziehen und euch damit praͤgen zu ei¬ nem Damend'or fuͤr den einen Herrn, und zu einem elenden Fettmaͤngen fuͤr den andern Ein Libertin zeigt in einer Geſellſchaft wie ein Luftreinigkeitsmeſ¬ ſer durch die verſchiedenen Grade ſeiner Kuͤhn¬ heit die verſchiedenen Grade des weiblichen Verdien¬ ſtes an aber in umgekehrtem Verhaͤltniß ....

Sogar wenn's nicht zum weiblichen Point d'hon¬ neur gehoͤrte, muͤßte man's doch begehren, um nur eine Muͤhe mehr zu haben weil mein Geſchlecht hieruͤber voͤllig ſo denkt wie ich, der ich aus keinem Eidams-Werbehaus eine Tochter mag, wo nicht wenigſtens die Eltern etwas wider mich haben; und es kann hiemit bekannt werden (es iſt ſo viel als ließ 'ichs in die Zeitung ſetzen,) daß ich mir von Eltern, die aus ihrem Auktionsſaal voll Toͤch¬ ter, aus ihrem Liebes-Inokulationshoſpital eine oder die andre abſtehen wollen, und denen ein Berghaupt¬ mann, Gerichtshalter, Muſikmeiſter nnd Biograph das moͤgen meine wenigen Chargen ſeyn keine zu veraͤchtliche Partie iſt, daß ich ſag' ich von die¬ ſen Eltern, erwarte, daß ſie (wenn ihnen die Sache ein Ernſt iſt) mir wenigſtens das Haus verbieten oder den haͤufigen Briefwechſel: das friſchet Schwiegerſoͤhne an ....

35

30. Hundspoſttag.

Briefe.

Haͤtt 'ich oder ein anderer hinter einen Buſch oder in einem Chauſſee Hohlwege aufgepaſſet und waͤren wir zu rechter Zeit vorgebrochen: ſo haͤtten wir die zwei in einander geſiegelten Briefe die Viktor nach Maienthal ſchickte dem Boten abnehmen koͤnnen der kein deutſch verſtand naͤmlich ſeinem italieniſchen Bedienten. Der Brief an Emanuel war der Um¬ ſchlag des Briefes an Klotilde die Freundſchaft iſt immer die Emballage der Liebe. Vom Umſchlage will ich nur einen Auszug und einen Ausſchnitt ge¬ ben, eh' ich den Brief an Klotilden ganz mittheile. Er bat den Emanuel, dieſes nur fuͤr ein Couvert zu nehmen und die Inlage Klotilden allein zu uͤberge¬ ben er ſagt 'es ihm ohne weitere Erklaͤrung, er haͤnge nicht von ſeinen Wuͤnſchen ſondern von Blu¬ menketten ab, die ihn zuruͤckzoͤgen von den andern Blumenketten in Maienthal und eine vielfache Um¬ ſchnuͤrung mit Guirlanden koͤnne man nicht durch¬ brechen, weil man nicht wolle er war abſicht¬ lich uͤber ſein neues Verhaͤltniß mit Klotilden un¬C236deutlich, weil er ihre Erlaubniß zum Gegentheil nicht vorausſetzen durfte er bat ſcherzhaft ſeinen Freund, ſeine Freundin zu bitten, daß ſie ihm be¬ fehlen ſolle, nach Flachſenfingen zu reiſen, damit ſie einander zu ſehen bekaͤmen (ich komm 'aus den Perioden, wenn ich die Abſicht dieſer Wendung zeige) er ſtrich in ſeinem Kopfe die Frage wieder aus, ob Klotilde noch des Arztes beduͤrfe, bloß weil er einer fuͤr ſie im doppelten Sinne war, und fragte nur, ob ſie geneſen ſey Endlich ſchloß er ſo:

» Und ſo flatter 'ich denn mit ziemlich abgeſtaͤub¬ ten Schmetterlingsſchwingen im unabſehlichen Tem¬ pel, der fuͤr unſer Phalaͤnen Auge in kleinere zer¬ faͤllt und deſſen architektoniſches Laubwerk an den Saͤulen wir fuͤr die Saͤulen ſelber halten und deſſen Kolonnaden durch ihre Groͤße unſichtbar werden, da flattert der Menſchenpapillon auf und nieder zer¬ ſtoͤßet ſich an Fenſtern rudert durch ſtaͤubige Ge¬ ſpinnſte ſchlaͤgt ſeine Fluͤgel endlich um eine hole Blume und der große Orgelton der ewigen Har¬ monie wirft ihn bloß mit einem ſtummen auf und niedergehenden Sturm umher ....

Ach ich kenne jetzt das Leben! Waͤre nicht der Menſch ſogar in ſeinen Begierden und Wuͤnſchen ſo ſyſtematiſch ging 'er nicht uͤberall auf Arrondiſſe¬ mens ſowohl ſeiner Arkadien als des Reiches der Wahrheit aus: ſo koͤnnt' er gluͤcklich ſeyn und mu¬37 thig genug zur Weisheit Aber eine Spiegelwand ſeines Syſtems, ein lebendiger Zaun ſeines Pa¬ radiſes, die ihn beide nicht ins Unendliche ſe¬ hen oder laufen laſſen, ſprengen ihn ſofort auf die entgegen geſetzte Seite zuruͤck, die ihn mit neuen Gelaͤndern empfaͤngt und neuen Schranken zuwirft .... Jetzt, da ich ſo verſchiedene Zuſtaͤnde durchlau¬ fen, leidenſchaftliche, weiſe, tolle, aͤſthetiſche, ſtoi¬ ſche; da ich ſehe, daß der vollkommenſte entwe¬ der meine irrdiſchen Wurzeln in der Erde oder meine Zweige im Aether verbiege und einklemme und daß er, wenn er's auch nicht thaͤte, doch uͤber keine Stunde dauern koͤnnte, geſchweige ein Leben; da ich alſo klar einſehe, daß wir ein Bruch, aber keine Einheit ſind und daß alles Rechnen und Ver¬ kleinern am Bruche nur Approximiren zwiſchen Zaͤh¬ ler und Nenner iſt, Verwandeln des $$\frac{1000}{1001}$$ in $$\frac{10000}{10001}$$ ; ſo ſag 'ich: » meinet wegen! die Weisheit ſey alſo » fuͤr mich bloß Auffinden und Ertragen der » kleinſten Luͤcke im Wiſſen, Freuen und Thun. « Ich laſſe mich daher nicht mehr irre machen und meinen Nachbar auch nicht mehr durch die ge¬ woͤhnlichſte Taͤuſchung, daß der Menſch jede Veraͤn¬ derung an ſich, jede Verbeſſerung ohnehin, aber auch ſogar jede Verſchlimmerung fuͤr groͤßer an¬ ſieht als ſie hinterher iſt.

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Genug! aber ſeit dieſer Bemerkung o noch mehr, ſeit daß das hohe Schickſal mir Freuden gab, damit ich ſie verdiente iſt neues Morgenlicht auf meinen Schattenſteig gefallen, und ich habe nun Muth, mich zu beſſern ..... Der klare Strom der Zeit geht uͤber einen hinabgefallnen Blumenboden ſchoͤner Stunden, auf dem ich einmal ſtand und zu dem ich ganz hinunterſchauen kann o wenn ſich dieſe Eden-Aue wieder aufwaͤrts hebt und ich kann an deiner Hand, darauf treten und neben dir nieder¬ knieen und dankend bald zum Morgenhimmel bald uͤber die wehenden Blumenfelder dieſes Lebens blik¬ ken: dann ſink 'ich ſtumm an dich zuruͤck und um¬ faſſe dankbar deine Bruſt und ſage: » ach Emanuel, durch dich verdien' ich's ja erſt. « O ich ſag 'es heute, geliebter Lehrer, und bleibe du recht lange ne¬ ben deinem Schuͤler auf der Erde, ſo lange bis er wuͤrdig iſt, dich zu begleiten aus ihr. «

So lang dieſes Schreiben auch war, ſo liebte Viktor ſeinen Lehrer doch zu ſehr und haßte die monarchiſche Unart, Menſchen zu Werkzeugen zu machen, zu ſehr als daß er's ihm nicht geradezu haͤtte ſagen ſollen, daß dieſer Brief nicht ſowohl ſeine Exiſtenz als ſeinen Geburtstag dem Briefe39 an ſeine Geliebte verdanke. Mit folgenden leiſen Worten traͤgt er darin ſeine Bitte, ſie zu ſehen vor:

» Wenn ich wuͤßte, daß ich die ſchoͤne Seele, die jetzt neben dem erhabnen Emanuel, neben dem Fruͤhling und[unter] ihren ſchoͤnen Gedanken gluͤcklich ſeyn wird, nur einen Augenblick durch dieſes Blatt be¬ klemmte oder ſtoͤrte: o recht gerne opferte ich dieſe ſeelige Stunde auf, um ſie vielleicht zu verdienen. Aber nein, ewige Freundin, Ihr weiches Herz be¬ gehrt mein Schweigen nicht! Ach der Menſch muß ſo oft Kaͤlte und Kummer verbergen, warum noch gar Liebe und Freude? Und ich wuͤrd 'es auch heute nicht koͤnnen.

O wenn ein Erdenmenſch in einem Traum durch das Elyſium gegangen, wenn große unbekannte Blu¬ men uͤber ihn zuſammengeſchlagen waͤren, wenn ein Seeliger, ihm eine von dieſen Blumen gereicht haͤtte mit den Worten: » dieſe erinnere dich, wenn du er¬ » wachſt, daß du nicht getraͤumt haſt! « wie wuͤrde er ſchmachten nach dem elyſiſchen Lande ſo oft er die Blume anſaͤhe. Unvergeßliche! Sie haben in der Schimmernacht, wo mein Herz zweimal erlag, aber nur einmal vor Schmerz, einem Menſchen ein Eden gegeben, das hinausreicht uͤber ſein leben; aber mir war bisher als wuͤrd 'ich wacher aus der zuruͤckge¬40 benden Traumnacht Siehe! da behielt ich aus dem paradiſiſchen Traum eine Blume*)Den Florhut., die Sie mir gelaſſen haben, damit ich unausſprechlich gluͤck¬ lich bliebe und damit meine Sehnſucht ſo groß wuͤrde wie meine Seeligkeit. Warum zieht dieſer Flor alle heiſſe Thraͤnen tief aus meinem Herzen herauf, warum ſeh 'ich hinter dieſem gewebten Ge¬ gitter die Augen aufgehen, die ſo weit von mir ſind und die mein Inneres ſo wehmuͤthig bewegen? O nichts befriedigt die liebende Seele als was ſie mit der geliebten theilt darum ſchau' ich den Fruͤh¬ ling mit ſo ſuͤßem Wallen an: denn ſie genießet ihn auch, ſag 'ich darum gefaͤllſt du mir ſo, du lieber Mond und Abendſtern: denn du uͤberſpinnſt mit dei¬ nen Silberfaͤden auch ihre Schatten und ihre Mai¬ blumen darum vertief ich mich ſo gern in jedes ſchattirte Thal Ihres Eldorados*)Die Proſpekte von Maienthal.; denn ich denke: in den vergroͤßerten Schatten, in duftenden Bluͤten dieſer Bilder wandelt ſie jetzt und die Mondsſichel wendet die Blitze der Sonne gemildert auf Ihr Auge zuruͤck. Wenn ich dann zu freudig werde, wenn der Abendregen der Erinnerung auf die heiſſen Wangen faͤllt, wenn ſich meine Entzuͤckung41 auf einem einzigen bebenden langen Dreiklang des Klaviers auf und niederwiegt: dann thut dem taumelnden Herzen das Zittern und Schweigen und die unendliche Liebe zu weh, dann ſehn 'ich mich nur nach dem kleinſten Laut, womit ich der Geliebten meines Herzens ſagen darf, wie ich ſie liebe, wie ich ſie ehre, daß ich fuͤr ſie leben will, daß ich fuͤr ſie ſterben will. O mein Traum, mein Traum tritt mir jetzt wie eine Thraͤne an's Herz! In der Nacht des dritten Oſtertags traͤumte mir: ich und Emanuel ſtaͤnden in einer dunkeln Nachtgegend eine große Senſe am weſtlichen Ho¬ rizont warf wiederſcheinende laufende Blitze auf die hohen Fluren, die ſogleich vertrockneten und erblichen Wenn aber ein Blitz in unſer Auge flatterte: ſo zog ſich unſer Herz ſuͤß zergehend empor in der Bruſt und unſere Koͤrper wurden leichter zum weg¬ ſchweben. » Es iſt die Senſe der Zeit, ſagte Ema¬ » nuel, aber von was hat ſie wohl den Wieder¬ » ſchein? « Wir ſchaueten nach Morgen und dort hing tief in der Ferne und in der Luft ein weites dunkelgluͤhendes Land aus Duft, das zuweilen blitzte. » Iſt das nicht die Ewigkeit? « ſagte Emanuel. Da ſanken vor uns lichte Schneeperlen wie Funken nieder wir blickten auf und drei goldgruͤne Para¬ diesvoͤgel wiegten ſich oben und zogen ewig in einem kleinen Kreis hinter einander umher und die fallen¬42 denden Perlen waren aus ihren Augen oder ihre Au¬ gen ſelber Hoch uͤber ihnen ſtand der Vollmond im Blauen, aber auf der Erde war doch kein Licht, ſondern ein blauer Schatten: denn das Himmelsblau war eine große blaue Wolke, bloß an einer Stelle vom Monde geoͤfnet, der nur auf die drei Paradies¬ voͤgel und unten auf eine helle von uns abgekehrte Geſtalt Schimmer niedergoß Sie waren dieſe Ge¬ ſtalt und wendeten ihr Angeſicht bloß gegen Morgen, gegen die haͤngende Landſchaft als ob ſie etwas da ſogleich erblicken wuͤrden. Die Paradiesvoͤgel ſaͤeten die Perlen haͤufiger in Ihre Augen: » es ſind die » Thraͤnen, die unſere Freundin weinen muß « ſagte Emanuel; auch fielen ſie dann aus ihren Augen, aber lichter und blieben glimmend auf dem Blumenboden ſtehen. Das Blau auf der Erde wurde ploͤtzlich hel¬ ler als das Blau am Himmel und eine ſchiefe Hoͤle, deren Muͤndung gegen die Ewigkeit aufklafte, wuͤhlte ſich ruͤckwaͤrts durch die Erde gegen Abend bis nach Amerika hinab, wo die Sonne in die Oefnung ſchien und ein Strom von Abendroͤthe ſo breit wie ein Grab ſchoß aufwaͤrts aus der Erde und legte ſich mit ſeinem Abendſcheine an die neblichte Ewigkeit wie duͤnne Flammen an. Da zitterten Ihre Arme ausgebreitet, da zitterten Ihre Lieder voll ſehnſuͤchti¬ ger Wonne, da konnten wir und Sie die erleuch¬ tete Ewigkeit ganz ſehen. Aber ſie wechſelte ſchil¬43 lernd unter dem Sehen, wir konnten das nicht den¬ ken und behalten, was wir ſahen, es waren unfa߬ liche Geſtalten und Farbenſpiele, ſie ſchienen nahe, ſchienen fern, ſchienen mitten in unſern Gedanken zu ſeyn Woͤlkgen aus der Erde aufziehend ſchwebten um die gluͤhende Ewigkeit und jede hob einen auf ihr ſtehenden ſingenden Menſchen hinauf zu dieſer Lichtinſel, die ſich gegen die Erde ſpaltete bloß mit einer unabſehlichen Allee von weißen Baͤumen, aus Licht und Schnee gegoſſen und ſtatt Bluͤten Purpur¬ blumen treibend Und wir ſahen unſere drei Schat¬ ten erhaben an den lichtweiſſen Hain hinuͤbergewor¬ fen liegen und auf Klotildens Schatten hingen die Purpurblumen wie Kraͤnze nieder ein Engel um¬ flog den holden Schatten und laͤchelte ihn zaͤrtlich an und beruͤhrte an ihm die Stelle des Herzens Da erbebteſt du ploͤtzlich, Klotilde, wandteſt dich um gegen uns, ſchoͤner als der Engel in der Ewigkeit, dein ganzer Boden glimmte unter den gefallnen Thraͤ¬ nen und wurde durchſichtig Und als deine nieder¬ ſinkenden Perlen jetzt den Boden in eine aufdringende Wolke aufloͤſeten: reichteſt du uns eilig die Hand und ſagteſt: die Wolke hebt, wir ſehen uns wieder Ach mein zerfloſſenes Herz faßte ſein Blut nicht mehr, ich kniete nieder, aber ich konnte nichts ſagen, ich wollte meine Seele in einen einzigen Laut zer¬ ſchmelzen, aber die gebundne Zunge vermochte keinen44 und ich ſtarrte die aufſteigende Unſterbliche an mit unendlicher und troſtloſer Liebe Ach, dacht' ich, das Leben iſt ein Traum; aber ich koͤnnt 'ihr's vielleicht ſagen, wie ich ſie liebe, waͤr' ich nur erwacht.

Dann erwacht 'ich O Klotilde, kann es der Menſch ſagen, wie ſehr er liebe?

H.

Sein Karakter und der Inhalt dieſes Traums ſchließen den Argwohn der Erdichtung aus Uebri¬ gens wenn ihm auch Klotilde den eingehuͤllten Wunſch, ſie in Maienthal zu ſehen, verſagt: ſo muß ſie es doch auf einem Blaͤttgen und mit drei Zeilen thun, die er dann tauſendmal leſen kann und die das Bilder - und Siegelkabinet, worin ſchon Hut und Proſpekte liegen, um ein Anſehnliches bereichern. Inzwiſchen ſtand er in ſeinem ſchoͤnen Alpenthal zwiſchen zwei hohen Bergen, auf deren jedem ſich der Stof zu einer Schneelauvine regte vielleicht iſt ſchon oben eine im erquetſchenden Gange und er kann ſie noch nicht ſehen. Die erſte Lauvine, die ſein geringſter Laut uͤber ihn herunterwerfen kann, iſt ſein tolles Verhaͤltniß mit ſeiner hoͤfiſchen Be¬45 kanntſchaft. Er kann ſich ruͤhmen, ſie ſaͤmtlich auf¬ gebracht zu haben, die Fuͤrſtin, Joachimen, Mat¬ thieu. Aber auch ohne das, muß ſchon irgend ein Konduktor bloß weil er nicht auf dem gemein¬ ſchaftlichen Iſolirſchemel des Thrones mit ſteht mit einem verjuͤngten Blitze in ſeine Finger oder Naſe einſchlagen: in Kollegien und an Hoͤfen bleibt ohne Verbindung keiner aufrecht, es iſt da wie auf den Galeeren, wo alle Sklaven ihre Ruder zugleich bewegen muͤſſen, wenn keiner die Schneide der Kette empfinden ſoll. Aber Viktor ſagte zu ſich: » ſey kein » Kind! ſey kein umgekehrter Fuchs, der ſaure » Trauben, bloß weil er ſie nicht mehr erſpringen » kann, fuͤr ſuͤß ausgiebt! Ich ſchmeichle mir, du » kannſt Kurial-Herzen entrathen, die wie ihre Ge¬ » richte nur uͤber einem Waͤrmbecken voll flimmern¬ » den Weingeiſt erſt aufgewaͤrmt werden muͤſſen. » Beim Himmel, ein Menſch wird doch eſſen koͤnnen, » wenn auch das was er anſpieſſet nicht von einem » Gardeſoldaten aus der Kuͤche geholt, dann einem » Pagen eingehaͤndigt, dann von einem Kammerherrn » oder ſonſtigen Ordonanzkavalier ſervirt worden iſt. » Nur meinen Vater wenn's nichts verſchlaͤgt! « Das wars eben: am Sohne war nichts zu faͤllen, ſondern am Vater*)Weil die Hofleute auch hierin den erſten Chriſten gleichen,, fuͤr den man den Wald und46 Opferhammer wahrſcheinlich ſo lang aufgehoben ſchwe¬ ben laͤſſet, bis er mit ſeinem Kopfe darunter ſteht, der ohne ſeine Zuruͤckkunft nicht zu haben iſt.

Aber ein Paſtorfido fragt den Henker nach der erſten Schneelauvine. Auf den Harmonikaglocken ſeiner Phantaſie hoͤren die aͤuſſern Kakophonien des Schickſals wie das Wagen-Gerolle des Pflaſters auf einem Saitenbezuge, in ſanft aufliegendem Ertoͤnen auf. Bei ihm war, wie bei den Aſtrologen, der April gleich meinem Buche, dem Abendſterne d. h. der Venus geweihet.

Hingegen die andere Schneelauvine lag ſchon im voraus auf ſeiner Bruſt der moͤgliche Bruch mit Klotildens Bruder. Einen Eiferſuͤchtigen bekeh¬ ren die zwoͤlf Apoſtel und die zwoͤlf kleinen Prophe¬ ten nicht; wenn er am Sonntage kurirt iſt: ſo wird er am Montage wieder krank, am Dienſtage raſet er und am Mitwoche koͤnnt ihr ihn wieder los¬ binden, er iſt matt und klug und paſſet nur auf. Der eiferſuͤchtige Krebs auf der Bruſt iſt nie ganz zu ſchneiden, wenn ich großen Operateurs glau¬ ben ſoll. Dasmal war noch dazu etwas Wahres dran; auch ſchaffet es der Eiferſuͤchtige zeitig bei;*)die nur ſolche Statuen zerſchlugen, die an Gotes ſtatt Anbetung[empfangen] hatten. 47 Eiferſucht erzwingt Untreue und das gequaͤlte Weib will ſo viel an ihr iſt den Mann nicht in Irrthum laſſen. Ich kann mir die Muͤhe nicht machen (ſon¬ dern der Leſer,) in meiner Biographie meinem Hel¬ den alle kleine Fugen und Efloͤcher nachzuzaͤhlen, wodurch er bisher ſeinen Flamin in ſein verliebtes Herz ſehen und hoͤren laſſen: dieſe Aſtloͤcher ſind deſto groͤßer, da er vor dem dritten Oſtertag eben darum unvorſichtiger war weil er unſchuldiger war oder vielmehr ungluͤcklicher.

Dazu kam, daß Flamin der den theuern Ev¬ angeliſten Matthaͤus taͤglich aufrichtiger und ofner fand (wie ein ausgeſchoſſenes Zuͤndloch) ſeinen treuen Baſtian taͤglich fuͤr hinterliſtiger und undurch¬ ſichtiger anſah. Ich wollt 'der Regierungsrath waͤre geſcheuter; aber kompakte dichte Seelen, wie Viktors ſeine, die mehrere Kraͤfte und eben darum mehrere Seiten haben, ſcheinen freilich weniger po¬ roͤs zu ſeyn, ſo wie vollloͤthige Autores weniger deutlich ein Menſch, der euch alle ſeine in einan¬ der ſchillernden Farben ſeines Herzens mit Offenheit aufdeckt, verliert dadurch den Ruhm der Offenheit einer, der wie Viktor fremde Kniffe aus Laune ſammelt und vormacht, ſcheint ſie nachzumachen ein veraͤnderlicher, ein ironiſcher, ein feiner Menſch iſt in eingeſchraͤnkten Augen ein falſcher. Dies von48 Haus aus. Auch ſprang Viktor, wenn's ohne Laͤrm anging, langen Erwaͤhnungen Klotildens, d. h. langen Vorſtellungen aus dem Wege; und eben dieſe Flucht, vor Hinterliſt, eben ſeine jetzige groͤ¬ ßere Menſchenfreundlichkeit gegen Flamin verſchatte¬ ten gerade ſeine edle Geſtalt; und uͤber den ver¬ drehenden Argwohn troͤſtete ihn nichts als die ſuͤße Betrachtung, daß er dem Bruder ſeiner Geliebten und ſeines Herzens zu Gefallen den ſchoͤnſten Tagen in Maienthal den Ruͤcken kehre.

31. Hunds¬49

31. Hundspoſttag.

Klotildens Brief Nachtbote Riſſe und Schnitte im Bande der Freundſchaft.

Ich wollt 'es in die Litteraturzeitung ruͤcken laſſen, ich haͤtte Herrnſchmidts osculologia zu meinen (gelehrten) Arbeiten vonnoͤthen Naͤmlich zu die¬ ſem Kapitel: ich wollte daraus ſehen, wie man zu Herrenſchmidts Zeiten mit den Weibern umging. Zu Jean Paul's Zeiten geht man ſchlecht mit ihnen um, in Romanen naͤmlich. Bloß der Englaͤnder kann vortrefliche Weiber portraitiren Den mei¬ ſten deutſchen Roman-Formern ſchlagen die Weiber zu Maͤnnern um, die Koketten zu H., die Statuen zu Klumpen, die Blumenſtuͤcke zu Kuͤchenſtuͤcken. Daß die Schuld mehr an den Malern als den Ori¬ ginalen liege, wiſſen nicht nur die Originale ſelber, ſondern auch der Berghauptmann ſchon daraus, weil die Romanenleſerinnen alle noch romantiſcher ſind als die Romanheldinnen, noch feiner und zuruͤckhal¬ tender. Der Berghauptmann thut hier, ohne die Abſicht zu haben, daß ihn acht vornehme Weiber in Mainz, wie den Weiber - und Meiſterſaͤnger Hein¬Heſperus. III Th. D50rich Frauenlob, zu Grabe tragen einen gedruckten Eidſchwur (d. h. Schwurſchwur,) daß er die meiſten ſeiner Zeitgenoſſinnen beſſer antraf als ſie der gute ofne, aber leere rohe Kopf des Verf. des Alcibiades und Nordenſchilds zeichnen kann. In der That wenn die Weiber nicht den Maͤnnern alles verziehen, ſo¬ gar den Autoribus, (und zwar taͤglich ſiebenzigmal und ſie reichen den andern Backen dar, wenn der eine durch Kuͤſſen beleidigt worden:) ſo koͤnnt 'es kein Buͤcherverleiher erklaͤren, wie Menſchen, deren Kopf doch ſchwerer, deren Zirbeldruͤſe kleiner iſt, die ſechs Knorpelringe der Luftroͤhre mehr haben naͤmlich 20 uͤberhaupt, wahrſcheinlich zum mehrern Reden deren Bruſtbein kuͤrzer und deren Bruſt¬ knochen weicher ſind als bei den Maͤnnern, wie doch ſolche Menſchen weiblichen Geſchlechts noch die Magd oder den Kerl in eine Leſebibliothek mit dem Auftrag ſchicken koͤnnen: » einen Ritterroman fuͤr meine Mademoiſelle! « Meine Feder-Kollegen in Ruͤckſicht der Weiber bin ich nach der Bergſpra¬ che bloß von der Feder, nicht von Feuer noch von Leder werden zur Erziehung der Leſerinnen wie nach Leſſing die Juden zur Erziehung der Voͤl¬ ker nur darum gewaͤhlt, weil ſie roher ſind als die Eleven.

Jede Frau iſt feiner als ihr Stand. Sie gewinnt mehr durch die Kultur als der Mann. Die weibli¬51 chen Engel (aber auch die weiblichen Teufel) halten ſich nur in den hoͤchſten feinſten Menſchen-Schub¬ faͤchern auf; es ſind Schmetterlinge, an denen der Samt Fittich zwiſchen zwei rohen Mannsfingern zum nackten haͤutigen Lappen wird es ſind Tulpen, deren Farbenblaͤtter ein einziger Griff des Schickſals zu einem ſchmutzigen Leder ausdruͤckt.

Ich bringe das alles vor, damit H. Kozebue und der Verfaſſer des Alcibiades und das ganze roman¬ tiſche Schifsvolk es meiner Klotilde nicht uͤbel neh¬ men, daß ſie mehr ihr eignes Geſchlecht als das be¬ ſagte Volk nachahmt, um ſo mehr, da ſie vorſchuͤ¬ tzen kann, ſie habe dieſes noch nicht geleſen.

Durch Agathen kam ſehr bald eine von Emanuel kouvertirte Antwort Klotildens an, die innen lega¬ zions maͤßig geſiegelt, geometriſch beſchnitten und kallygraphiſch geſchrieben war, weil Frauenzimmer alle Dinge, die ſinnliche Aufmerkſamkeit verlan¬ gen, beſſer betreiben als wir und weil ſie denn kaum vier aus meiner Bekanntſchaft brauch 'ich aus¬ zunehmen gerade im Gegenſatz der Maͤnner deſto ſchoͤner ſchreiben, je beſſer ſie denken. Lavater ſagt, der ſchoͤnſte Maler gebiert die ſchoͤnſten Gemaͤlde; und ich ſage, ſchoͤne Haͤnde ſchreiben eine ſchoͤne Hand.

Klotildens Brief ſtellet ſich mit einer Luſthecke und einem lebendigen Zaun voll Bluͤten unſeremD 252Doktor in den Steig und laͤſſet ihn nicht nach Mai¬ enthal. Denn er heiſſet ſo:

Wuͤrdigſter Freund,

» Kein Maͤdgen iſt vielleicht ſo gluͤcklich als eine Dichterin; und ich glaube, hier in dieſem aufge¬ ſchmuͤckten Thale wird man zuletzt beides. Sie ſind uͤberall gluͤcklich, da Sie ſogar an einem Hofe ein Dich¬ ter ſeyn koͤnnen, wie mir Ihre ſchoͤne poetiſche Epi¬ fiel beweiſet. Aber die Phantaſie malet gern aus Schminkdoſen das wahre Maienthal kann der Ihrigen nicht ſoviel geben als Sie in die drei Land¬ ſchafts-Blaͤtter deſſelben zu legen wiſſen. So oft ich und Sie einerlei durch Phantaſie erſetzen muͤſ¬ ſen: ſo iſt blos bei Ihnen der Erſatz groͤßer als das Opfer.

Wenn ich Ihnen das Vergnuͤgen, H. Emanuel zu ſehen, durch Ueberreden haͤtte verſchaffen koͤnnen: ſo haͤtt 'ichs gern gethan; aber ich war zuletzt aus Gewiſſenhaftigkeit nicht beredt genug, um ihn zu einer Reiſe zu Ihnen zu bringen, die ſeine ſieche Bruſt der Gefahr des Verblutens ausſetzte. Sehen Sie ihn fuͤr einen Fruͤhling an, den man alle Jah¬ re neun Monate lang erwarten muß.

Ach die Beſorgniß fuͤr meinen unvergeßlichen und unerſetzlichen Lehrer wirft einen Schatten uͤber den jetzigen ganzen Fruͤhling wie ein Grabmal uͤber53 einen Blumengarten. Ich habe niemals einen Fruͤh¬ ling ſo gern und ſo freudig angeſehen wie dieſen ich kann oft noch bei Mondſchein an die Baͤche hin¬ ausgehen und eine Blume aufſuchen, die vor dem fließenden Spiegel zittert und um die ein Mond oben und einer unten ſchimmert und ich ſtelle mir das Blumenfeſt in Morgenland vor, bei dem man (wie man ſagt) zu Nachts um jede Gartenblume ei¬ nen Spiegel und zwei Lichter ſetzt. Aber doch kann ich nicht zum Blumenflor meines Lehrers hinuͤber¬ blicken, ohne zu weich zu werden, da ich denken muß, wer weiß ob ſeine Tulpen nicht laͤnger ſtehen als ſeine geknickte Geſtalt. Hat denn die ganze Ar¬ zeneikunſt kein Mittel, das ſeine Hoffnung zu ſter¬ ben vereitelt? Ich glaube, er ſtimmt mich nach und nach in ſeinen melancholiſchen Ton, womit ich mich vor einem andern als dem Freunde Emanuels laͤcherlich machen wuͤrde; aber eine ſtille verborgene Freude bricht auch gern in Schwermuth aus; » nur » in der kalten, nicht in der ſchoͤnen Jahreszeit un¬ » ſers Schickſals ſagten Sie einmal, thun die war¬ » men Tropfen weh, die aus den Augen auf die » Seele fallen, ſo wie man blos im Winter die Blu¬ » men nicht warm begießen darf. » Und warum ſollt 'ich Ihrer offenherzigen Seele nicht alle Schwaͤ¬ chen der meinigen offenbaren? Dieſes Zimmer, worin meine Giulia ihr ſchoͤnes Leben endigte, die¬54 ſer Spiegel ſogar, der mir, als ich mich vor Schmerz von ihrem Sterben wegkehrte, meine erblaſſende Schweſter noch einmal zeigte, die Fenſter, aus de¬ nen mein[Auge] ſo oft des Tages auf einen trauri¬ gen dornenvollen Roſenſtrauch und auf einen ewig geſchloßenen Huͤgel kommen muß, alles das darf ja wohl meinem Herzen einige Seufzer mehr geben als eine Gluͤckliche ſonſt haben ſoll. Ich weiß nicht, ſagten Sie oder Emanuel es: » der Gedanke des Todes muß nur unſer Beſſerungsmittel aber nicht unſer Endzweck ſeyn; wenn in das Herz wie in die Herzblaͤtter einer Blume die Grabeserde faͤllt, ſo zerſtoͤret ſie, anſtatt zu befruchten. » Aber auf mein Laub hat wohl das Schickſal und Guilia ſchon einige Erde geworfen. Und ich trage ſie gern, da ich ſeit Ihrer Freundſchaft nun zu einem Herzen fluͤchten kann, vor dem ich meines oͤfnen darf, um ihm darin alle Kuͤmmerniße, alle Seufzer, alle Zwei¬ fel, alle Fragen einer gedruͤckten Seele zu zeigen. O ich danke dem Allguͤtigen, daß er mir ſoviel als er mir in meinem Lehrer zu entziehen drohet, ſchon voraus in ſeinem Freunde wieder giebt meine Freundſchaft wird unſern Emanuel nachreichen bis in die andre Welt und ſeinen Liebling begleiten durch dieſe; und ſollte einmal auf uns beide der ge¬ meinſchaftliche Schlag ſeines Todes fallen, ſo wuͤr¬ den wir unſere vereinigten Thraͤnen geduldiger ver¬55 gießen und ich wuͤrde vielleicht ſagen: ach, ſein Freund hat mehr verlohren als ſeine Freundin!

Klotilde.

Das Schlagen meines fremden Herzens miſſet mir das Schlagen des gluͤcklichern ab. Aber eh 'ich er¬ zaͤhle, was Viktors Freude uͤber dieſen Brief anfangs ſtoͤrte und dann verdoppelte, ſey es mir erlaubt, zwei gute Reflexionen zu machen. Die erſte iſt: die ver¬ groͤßerte Empfindſamkeit iſt in einer ſtolzen Bruſt (wie Klotildens), die ſonſt die Seufzer zuruͤckholte und nur weibliche Satiren uͤber uns Herren aus¬ ſchickte, das ſchoͤnſte Zeichen, daß ihr Herz im Sonnen¬ ſchein der Liebe zergehe. Denn dieſe kehret die Weiber um: ſie macht aus einer Kolumbine eine Youngin, aus einer Ordentlichen eine Unordentliche, aus einer Feinen eine Offenherzige, aus einer Putz¬ macherin und Putztraͤgerin eine Philoſophin und wie¬ der umgekehrt. Und du, liebe Philippine, pruͤfe die zweite Reflexion, da du jetzt ſo gut biſt wie dein eigner Bruder: iſt nicht das Verhehlen der Liebe das ſchoͤnſte Entdecken derſelben? Zeigt nicht ein Schleier ein moraliſcher, mein' ich das ganze Geſicht und iſt fuͤr nichts unzugaͤnglich als fuͤr den Wind den moraliſchen, mein 'ich ? De¬56 cket nicht das glaͤſerne Gehaͤuſe der Damenuhr das ganze darauf gefirniſte Uhrportrait am Boden auf und wendet blos das Beſchmutzen nicht das Be¬ ſchauen ab? Und was wirſt du fuͤr Reflexionen machen wenn ich dir dieſe zwei vorleſe!

Dieſer Brief ſtaͤrkte zugleich ſeinen Wunſch um Klotilde zu ſeyn und ſeine Kraft ihn aufzugeben bis des andern Tags in der Toilette-Stunde ein Zufall alles aͤnderte. Matthieu der faſt mehr Be¬ ſuche bei Feinden als bei Freunden ablegte kam vom Apotheker herauf. Er ſah die Proſpekte von Mai¬ enthal nnd den Florhut; und da er wußte, daß ſei¬ ne Schweſter Joachime beides habe: ſo ſagte er ſcherzhaft: » ich glaube, Sie wollen ſich verkleiden, oder man hat ſich entkleidet. » Viktor flatterte mit einem leeren luſtigen » Beides! » daruͤber. Er nahm nicht gern den Namen der Liebe oder eines Weibes vor einem Menſchen in den Mund, der an keine Tugend glaubte, am wenigſten an weibliche, der zwar wie andre Spinnen auf andere Muſik, ſich an ſeinem Faden auf die Liebe niederließ, der aber wie Maͤuſe aus Liebe zu den Toͤnen, uͤber die Saiten kroch und ſie zerſprengte. Viktor war ungern (vor ſeinem Hofleben) mit ſolchen philoſophiſchen Ehren¬ raͤubern unter unbeſcholtenen Maͤdgen, weil es ihm ſchon wehe that, an den Geſichtspunkt der erſtern erinnert zu werden. » Von meiner Tochter, ſagt '57er, muͤßten ſie nicht einmal das Daſeyn erfahren, weil ſie einen ſchon dadurch beleidigen, daß ſie ſie denken. »

Matthieu ſprach von dem naͤchſten patriotiſchen Klub (den 4 Mai am Geburtstag des Pfarrers) und fragte, ob er dabei waͤre. Agathe aber hatte ihn ſchon geſtern (am vorletzten April) daran erinnert. Endlich fuͤhrte Maz ſeine Frage vor, » ob er nicht » auch zu Pfingſten von der Parthie ſey er habe » mit dem Regierungsrathe (Flamin), der dazu im¬ » mer Ferien brauche, eine kleine Luſtreiſe abgekartet » nach Groskuſſewiz zum Grafen O er habe da » zu thun, noch einige Logis des Hofſtaats den Kuſ¬ » ſewizern zu bezahlen, und den Grafen O. zu » einem guͤtlichen Vergleich uͤber das neuliche Mi߬ » verſtaͤndniß zu diſponiren, daher er den Juriſten » mithaben muͤſſe vielleicht waͤren die Englaͤnder » bei dieſem Kongreſſe das Reiſekorps koͤnne dann » ſo große Vergnuͤgungen haben wie ein corps diplo¬ » matique, nachdem es vorher eben ſolche Geſchaͤfte » gehabt. » Mein Sebaſtian hatte ſeine lange ſtumme Aufmerkſamkeit mit einem kalten » Nein » beſchloßen, weil die Ausduͤnſtung dieſer falſchen flie¬ genden Katze mit einem aͤtzenden Gift ſein unbe¬ ſchirmtes Herz uͤberzog. » Was hab 'ich (dacht' er » unter jener Einladung) dieſem Menſchen gethan, » daß er mich ewig verfolgt daß er mit einem58 » Meſſer, deſſen eine Seite vergiftet iſt oder beide, » meinen Jugendfreund unter unſern doppelten » Schmerzen, von meiner Seele ſchneidet daß er » ſeine Minier-Hoͤlen bis an fremde Orte fortfuͤhrt, »[um] mich in allen Stellungen uͤber ſeinem Pulver » zu haben. » Viktor mußte naͤmlich nach allem be¬ ſorgen, daß die Pfingſt-Reiſe eine Entdeckungsreiſe ſey, worauf Joachime dem Bruder wie Ritter Mi¬ chaelis den Morgenlandsfahrern, Fragen uͤber die Uhrbriefſache, uͤber Toſtato u. ſ. w. mitgebe, um wohl gar beim Fuͤrſten eine Anklage daraus zu bil¬ den. Er hielt das Untere ſeiner Karte, d. h. ſeines tugendhaften Schmerzens ſo, daß es Matthieu nicht ganz ſehen konnte, um dieſem eine boßhafte Freude zu entziehen. Dieſer, der nicht eine Spi¬ tzenmaske, ſondern eine eiſerne und noch dazu eine mit einem Halſe trug, hatte oft eine ſolche Kaͤlte, daß man ſeinen wuͤthigen Zorn nicht begrif und umgekehrt aber jene hatte er im Lager, dieſen in der Akzion gegen den Feind. Wenn ihn jemand ſogleich aufbrachte, war's ein gutes Zeichen und bedeutete, daß er nichts gegen ihn im Schilde fuͤhre.

Aber nach dem Remarſch des Evangeliſten den er ungern den Florhut finden laſſen, welchen er uͤberhaupt eingeſperret haͤtte, waͤre Flamin oͤfter ge¬ kommen war Viktor vergnuͤgt uͤber einen neuen59 Einfall. Denn am Hute ſchlugen Blumen aus und der war der Gluͤckstopf, aus dem er eine frohe Stunde zog, naͤmlich den Vorſatz, auf Pfingſten zu verreiſen, aber nach Maienthal. Er hielt ſich ernſtlich vor, daß ihm und Klotilden die zu weit getriebene Schonung eines eiferſuͤchtigen Bruders, deſſen irre Hoffnungen ja keine Schweſter zu ſtaͤrken verpflichtet ſey, noch dazu durch die menſchenfeindliche Inſpirazion Matthieus erſchweret und vereitelt werde daß alſo ihr Abſondern ſo wenig erleichtere als ihr Beſuchen verſchlage daß es indeſſen ſchoͤn ſey, den Bruder zu ſchonen und blos in ſeine Abweſen¬ heit einen verdaͤchtigen Ausflug zu verlegen, bis ihn einmal die heruntergezogne Binde in der Unge¬ treuen die Schweſter entdecke und im Nebenbuhler den ſchonenden Freund und daß es immer beſſer ſey, ſie in Maienthal als bei ihrer Zuruͤckkunft in ſeiner Naͤhe zu ſprechen und daß der uͤber ſeine Abſtammung belehrte Bruder ihm einmal doch blos vorruͤcken koͤnne, er habe ihm keine Taͤuſchungen ge¬ nommen als unangenehme. O die Liebe und die Tugend haben ein nacktes Gewiſſen und entſchuldi¬ gen ihre himmliſchen Freuden laͤnger und mehr als andere ihre hoͤlliſchen!

Als Viktor noch dazu daran dachte, daß den Tagen der Liebe ſobald das Laub und die Bluͤthen abfallen und daß Emanuel und ſelber Klotilde zwei60 hart ans Ufer des Grabes geruͤckte Blumen ſind, deren loſe nackte Wurzeln ſchon erſtorben hinunter¬ haͤngen: ſo war ſein Entſchluß befeſtigt und er ſchrieb an Emanuel die Nachricht ſeiner Ankunft zu Pfing¬ ſten, um Klotilden durch keinen Ueberfall zu erzuͤr¬ nen und um ihr noch dazu die Gelegenheit eines Verbotes zu laſſen. Seine Wendung war die: » Wenn es ſein ſokratiſcher Genius erlaube (d. h. » Klotilde), der ihm immer ſage, was er nicht » thun ſolle: ſo komm 'er zu Pfingſten, da ohnehin » die Stadt da veroͤde, da Flamin auf 4, 5 Tage » nach Kuſſewitz reiſe » ꝛc.

Als er den Brief fertig hatte: fiel ihm ein, daß er gerade heute an dieſem 29 April vor einem Jah¬ re die ganze Nacht gereiſet ſey, um mit dem erſten Mai am Morgen durch den Nebel ins Pfarrhaus zu treten. » Ich kann ja wieder dieſe ſchwuͤle Zephyr¬ » Nacht nicht unter dem Zudeck ſondern unter den » Sternen verbringen. Ich kann in Einem fort » ins Abendroth nach Maienthals Bergen ſchauen. » Ich kann ja lieber den halben Weg darauf zu¬ » gehen oder gar den ganzen. Ich kann mich » auf einen Berg ſtellen und ins Doͤrfgen ſchauen » Wahrlich ich kann dann mein Billet hier irgend » einem Maienthaler inkognito einhaͤndigen und wie¬ » der Reißaus nehmen noch vor Tags. »

61

Um ſieben Uhr Nachts ging er wie das Meer von Oſten nach Weſten. Orion, Kaſtor und Andro¬ meda blinken in Weſten nicht weit vom Abendroth uͤber den Gefilden der Geliebten und werden wie dieſe bald aus einem Himmel in den andern unter¬ gehen. Das von lauter Hoffnungen erſchuͤtterte Herz, ſeine erhitzten Gehirnkammern, an denen das mit ſympathetiſcher Dinte gezeichnete Mai¬ enthal immer lichter und farbiger vortrat, dieſes innere halb ſchmerzliche Charivari und Schellenge¬ laͤute der Freude raubte ihm anfangs das Vermoͤgen, den in griechiſcher Schoͤnheit aufgebaueten Fruͤhlings¬ tempel in eine ſtille helle Seele aufzufaſſen. Die Natur und die Kunſt werden nur mit einem reinen Auge aus dem die zwei Arten von Thraͤnen wegge¬ wiſchet ſind, am beſten genoßen.

Aber endlich uͤberdeckte das ausgebreitete Nacht¬ ſtuͤck ſeine heiſſen Fieberbilder und der Himmel drang mit ſeinen Lichtern und die Erde mit ihren Schatten in ſein erweitertes Herz. Die Nacht war ohne Mondlicht, aber ohne Wolken. Der Tempel der Natur war wie andere Tempel erhaben verdun¬ kelt. Er konnte ſich aus den Laufgraͤben lan¬ ger Thaͤler, aus Waͤlder-Souterrains und aus dem ſchillernden Nebel ſeiner Traͤume und der Wieſen nicht eher erheben als in der Mitternachtsſtunde, wo er einen Berg wie einen Thron beſtieg und ſich62 da auf den Ruͤcken legte, um die Augen in den Him¬ mel unterzutauchen und ſich abzukuͤhlen vom Traͤu¬ men und Laufen. Das hereinhaͤngende Himmelsblau ſchien ihm eine duͤnne blaue Wolke, ein in blaue Duͤnſte zerſchlagnes Meer zu ſeyn und eine Sonne um die andere that mit ihren langen Strahlen dieſe blaue Fluth ein wenig auseinander. Der Arkturus, der dem liegenden Menſchen gegenuͤber ſtand, ſtieg ſchon von der Zinne des Himmels herab und drei große Sternbilder, der Luchs, der Stier, der große Baͤr zogen weit voraus unter das Abendthor. Dieſe naͤhern Sonnen wurden von entruͤckten Milch¬ ſtraßen mit einem Hof umſchwommen und tauſend große in die Ewigkeit geworfne Himmel ſtanden in unſerem Himmel als weiſſe ſpannenlange Duͤfte, als lichte Schneeflocken aus der Unermeßlichkeit, als ſil¬ berne Kreiſe aus Reif. Und die Schichten anein¬ andergedruͤckter Sonnen, die erſt vor dem tauſend¬ aͤugigen Auge der Kunſt den Nebelſchleier fallen laſ¬ ſen, ſpielten wie Streife unſerer Sonnenſtaͤubgen, im gluͤhenden durch das Unermeßliche brennenden Sonneuſtrahl des Ewigen. Und der Wiederſchein ſeines durchgluͤhten Thrones lag hell auf allen Son¬ nen

Ploͤtzlich ſtellen ſich naͤhere zerſchmolzene Licht¬ woͤlkgen, naͤhere Nebel aufgeflogen aus Thau unter der Verſilberung, tief herab vor die Sonnen und63 der Silberblick des Himmels laͤuft mit zertragenen dunkeln Flocken an. Viktor begreifet die uͤber¬ irdiſche Entzuͤndung nicht und richtet ſich bezaubert empor. ... und ſiehe, der gute verwandte nahe Mond, der ſechſte Welttheil unſerer kleinen Erde, war ſtill und ohne das Freudengeſchrei des Morgens neben der Triumphpforte der Sonne hereingetre¬ ten in die Nacht ſeiner Mutter-Erde mit ſeinem halben Tage.

Und als jetzt die Schatten von allen Bergen ran¬ nen und durch die aufgedeckten Landſchaften nur in Baͤchen zwiſchen Baͤumen zogen und als der Mond dem ganzen dunkeln Fruͤhling in der Mitternacht ei¬ nen kleinen Morgen gab: ſo faßte Viktor nicht naͤchtlich-melancholiſch, ſondern morgendlich-verjuͤngt den großen runden Spielraum der jaͤhrlichen Schoͤ¬ pfung in ſein erwachtes Auge, in ſeine erwachte Seele und er uͤberſchauete den Fruͤhling unter dem innern Freudengeſchrei mitten in der weiten Ver¬ ſtummung, unter dem Gefuͤhle der Unſterblichkeit im Kreiſe des Schlafes.

Auch die Erde, nicht nur der Himmel, macht den Menſchen groß!

Ziehet in meine Seele und in meine Worte, ihr Mai-Gefuͤhle, die ihr in der Bruſt meines Viktors ſchluget, da er uͤber die knoſpende ſchwellende Erde ſah, von Sonnen uͤber ſeinem Haupte bedeckt, von64 gruͤnenden Leben umſtrickt, das von Gipfeln zu Wur¬ zeln, von Bergen zu Furchen reichte, und von einem zweiten Fruͤhling unter ſeinen Fuͤßen getragen, da er ſich hinter der durchbrochenen Erdrinde die Sonne mit einem Glanztage unter Amerika ſtehend dachte. Steige hoͤher, Mond, damit er den quellenden, geſchwollenen, dunkel-gruͤnen Fruͤhling leichter ſehe, der mit kleinen blaßen Spitzen aus der Erde dringt bis er ſich herausgehoben voll gluͤhender Blumen, voll wogender Baͤume damit er die Ebenen er¬ blicke, die unter fetten Blaͤttern liegen und auf de¬ ren gruͤnem Wege das Auge zu aufgerichteten Blu¬ men ruͤckt, an denen die zerſpaltenen Reitze des Lich¬ tes wachſen und ſich befeſtigen und zu den in Bluͤ¬ then zerſpringenden Buͤſchen und zu den langſamen Baͤumen, deren gleiſſende Knoſpen in den Fruͤhlings¬ winden auf und nieder ſchwanken Viktor war in Traͤumen geſunken, als auf einmal das kalte An¬ wehen der Fruͤhlingsluft, die jetzt mehr mit kleinen Wolken als mit Blumen ſpielen konnte, und das Rauſchen der Fruͤhlingsbaͤche, die neben ihm von allen Bergen und uͤber jedes dunklere Gruͤne weg¬ ſchoßen, ihn erweckte und beruͤhrte. Da war der Mond ungeſehen geſtiegen und alle Quellen glimm¬ ten und die Maiblumen traten weißbluͤhend aus dem Gruͤn und um die regen Waſſerpflanzen huͤpften Silberpunkte. Da hob ſich ſein wonneſchwererBlick65Blick, um zu Gott zu kommen, von der Erde auf und von den gruͤnenden Raͤndern der Baͤche und ſtieg auf die herumgebognen Waͤlder, aus denen die eiſernen Funken und Dampf-Saͤulen*)Von den Eiſen - und Kohlenhütten. uͤber die Gipfel ſprangen, und zog auf die weiſſen Berge, wo der Winter in Wolken ſchlaͤft, aber als der heilige Blick in dem Sternen-Himmel war und zu Gott hinaufſehen wollte, der die Nacht und den Fruͤhling und die Seele geſchaffen hat: ſo fiel er mit zuruͤckſinkendem Fluͤgel und weinend und fromm und demuͤthig und ſeelig zuruͤck .... Seine ſchwe¬ re Seele konnte nur ſagen: Er iſt!

Aber ſein Herz ſog ſich voll Leben an der unend¬ lichen, quellenden, wehenden Welt um ihn, uͤber ihm, unter ihm, worin Kraft an Kraft, Bluͤthe an Bluͤthe reicht, und deren Lebensquellen von einer Erde in die andere ſpruͤtzen, und deren leere Raͤume nur die Steige der feinern Kraͤfte und der Aufent¬ halt der kleinern ſind die ganze unermeßliche Welt ſtand vor ihm, deren ausgeſpanter Waſſerfall, in Duͤfte und Stroͤme, in Milchſtraßen und Herzen zerſprungen, zwiſchen den zwei Donnern des Gi¬ pfels und des Abgrunds, reiſſend, geſtirnt, geflammt herabfaͤhrt aus einer vergangnen Ewigkeit und nie¬Heſperus. III. Th. E66derſpringt in eine kuͤnftige und wenn Gott auf den Waſſerfall ſieht, ſo mahlt ſich der Zirkel der Ewigkeit als Regenbogen auf ihn und der Strom verruͤckt den ſchwebenden Zirkel nicht. ...

Laſſet uns wieder kleinere Gefuͤhle ſuchen. Er ſtand auf und wandelte im Gefuͤhle der Unſterblich¬ keit durch das um ihn pulſirende Fruͤhlingsleben weiter; und er dachte, daß der Menſch mitten unter den Beiſpielen der Unvergaͤnglichkeit den Unterſchied zwiſchen ſeinem Schlaf und Wachen irrig zum Un¬ terſchiede zwiſchen Sein und Nichtſein zerdehne. Jetzt war ſeinen kraͤftigen ſtrotzenden Gefuͤhlen jedes Getoͤſe willkommen, das Schlagen der Eiſenhaͤmmer in den Waͤldern, das Rauſchen der Fruͤhlingswaſſer und der Fruͤhlingswinde und das aufpraſſelnde Reb¬ huhn.

Um drei Uhr Morgens ſah er Maienthal liegen. Er trat auf den von fuͤnf einzelnen Tannenbaͤumen gehobnen Berg, auf dem man durch's ganze Dorf und wieder hinuͤber zum andern Berge ſchauen kann, wo die Trauerbirke ſeinen Emanuel beſchattet. Die uͤberwachſene Zelle des letztern konnt 'er nicht er¬ blicken; aber am Stifte, wo ſeine Freundin traͤum¬ te, ſchimmerten alle Fenſter im ausfunkelnden Mon¬ denlicht. In ſeiner Bruſt war noch der Rauſch der Nacht und auf ſeinem Angeſicht das Brennen der Traͤume aber das Thal zog ihn in die Erde her¬67 aus und gab ſeinen Freudenblumen bloß einen fe¬ ſtern Boden; und der Morgenwind kuͤhlte ſeinen Athem und der Thau ſeine Wangen ab. Die Thraͤ¬ nen ſtiegen in ſeine Augen, als ſie auf die weiß ver¬ hangnen Fenſter fielen, hinter denen eine ſchoͤne, eine weiſe, eine geliebte und eine liebende Seele ihre un¬ ſchuldigen Morgentraͤume vollendete. Ach, es traͤu¬ me dir, Klotilde, von deinem Freunde, daß er dir nahe iſt, daß er ſeine uͤberſtroͤmenden Augen auf deine Zelle wendet und daß er verſchwindet wenn du erſcheinſt und daß er doch ſeeliger werde von Mi¬ nute zu Minute ach er traͤumt ja auch und wenn die Sonne aufgeht, iſt das geliebte Thal wie dein Traum mit dem Sternenhimmel verſunken. O die Berge, die Waͤlder, hinter denen eine geliebte Seele wohnt, die Mauern, die ſie umſchließen, ſchauen den Menſchen mit einem ruͤhrenden Zauber an und haͤngen vor ihm wie holde Vorhaͤnge der Zu¬ kunft und Vergangenheit.

Mit jedem Sterne, der oben im Himmel zuruͤck¬ ſank, wachte unten auf der Erde eine Blume auf Der Weg von der Nacht zum Tage wurde ſchon mit Halbfarben belegt kleine Nebel ſtiegen an der Kuͤſte des Tages auf und Viktor war noch auf dem Berge. Sein Beſorgniß, daß ſich die weiſſe Fenſterhuͤlle rege und ihn zeige, war ſo groß wie ſein Wunſch, daß die Beſorgniß immer groͤßer wer¬E268de! Zuweilen wankte ein Vorhang, aber keiner ging auf. Auf einmal wecken die Vogelkehlen eine Zauberfloͤte an dem Fuße ſeines Berges und der ſtille Julius kam der Sonne, die ihm nicht mehr leuchte¬ te, mit ſeinen Morgentoͤnen entgegen. Da entſchlei¬ erte ſich ploͤtzlich Klotildens Fenſter und ihre ſchoͤnen hellen Augen nahmen den erfriſchten Morgen in die wache fromme Seele auf. Viktor trat, der Entfer¬ nung ungeachtet, von Geſtraͤuch hinter Geſtraͤuch; aber die Flucht vor den geliebten Augen fuͤhrte ihn der Floͤte naͤher: er wollte jedoch eben ſo wenig vor Emanuel, den er in der Nachbarſchaft des Blinden glaubte, erſcheinen als vor Klotilden. Da ihn nur noch einige Gebuͤſche von den Toͤnen ſchieden: ſah er auf dem Berge ſeinen großen Freund unter der Trauerbirke. Nun eilt 'er froh und zitternd zu ſei¬ nem Julius herab und fand ihn mit dem Lilienange¬ ſicht, ſchoͤn wie den juͤngern Bruder eines Engels, umflogen und umſungen von Voͤgeln, an einer Birke lehnen: » welche Geſtalten, welche Herzen, dacht' er, ſchmuͤcken dieſes Paradies. « Wie haͤtt 'er ſich an einem ſolchen großen Morgen, an einem ſo heiligen Orte, gegen einen ſo guten Juͤngling verſtellen und ihm etwan mit der nachgemachten Stimme ſeines italieniſchen Bedienten den Brief an Emanuel uͤber¬ geben koͤnnen! Nein, das konnt' er nicht; er ſagte mit leiſer Stimme, um ihn nicht zu erſchrecken: lie¬69 ber Julius! Dann ſank er langſam an den wei¬ chen Menſchen voll Liebe und umarmte an Einer Bruſt drei Herzen; und reichte ihm den Brief: » gieb ihn deinem Emanuel! « und floh mit dem waͤrmſten Druck der zarteſten Hand, den Berg tiefer hinab und davon.

Gerade um dieſe Stunde an dieſem Tage vor ei¬ nem Jahr verſchwand auch Giulia aus Maienthal und nahm nichts von dem ſchoͤnen Blumenboden mit als einen Grabeshuͤgel.

Als er jetzt hinter einer Geſtraͤuch'allee dem Orte der Seeligen entronnen war: machte ſeine naͤchtliche Erheiterung einer unbezwinglichen Wehmuth Platz. Die aufgehende Sonne zog alle hellen Farben aus ſeinem naͤchtlichen Traum » hab 'ich denn wirk¬ » lich Maienthal und Julius und alle Geliebte ge¬ » ſehen oder iſt nur auf einer jeden den Mond ſchil¬ » lernden Wolke ein zerfloſſenes Schattenſpiel vor¬ » uͤber geronnen? « ſagt' er der Tag bruͤtete die friſche Nachtluft ſeiner Seele zu einem ſchwuͤlen Flattern des Suͤdwinds an Anſtatt daß der Menſch ſonſt wie Raguel, in der Mitternacht Graͤ¬ ber aushauet und in der Morgenſonne ſie wieder verſchuͤttet, kehrte heute Sebaſtian es um.

Eigentlich war es nicht ganz ſo: ſondern das ſchnelle Vorſpringen und Einſinken der geliebten Ge¬ ſtalten; die vergroͤßerte Sehnſucht darnach, der ruͤh¬70 rende Kontraſt des Morgen-Getuͤmmels mit der Nacht-Pauſe, des Sonnenfeuers mit der Monds - Epiktetslampe, und die mit der Ermuͤdung der Phan¬ taſie und des Koͤrpers verknuͤpfte traͤumende Ermat¬ tung der Schlafloſigkeit, alle dieſe Dinge druͤckten aus dem Herzen und Thraͤnendruͤſen unſers weichen Nachtwandlers unwillkuͤhrliche, ſuͤße, ſtroͤmende Thraͤ¬ nen aus, die keinen Gegenſtand betrafen die weder vor Freude noch Kummer floſſen, ſondern vor Sehnſucht.

Auf einmal ließ der ſchoͤne nebelloſe erſte Maitag das Andenken an den vorjaͤhrigen, wo er wie ein Fruͤhling und homeriſcher Gott, im Nebel ankam, voruͤbergehen und der gute Menſch ſchauete mit den Thautropfen in den Augen die Thautropfen in den Blumen an und ſagte unausſprechlich geruͤhrt: » ach vor einem Jahre kam ich ſo gluͤcklich, wurde » ſo ungluͤcklich, und bin wieder ſo gluͤcklich o » ihr fliehenden, ſpielenden, nachtoͤnenden, zitternden » Jahre des Menſchen! « und das Feiertags-Ge¬ laͤute aus allen Doͤrfern (es war Philippi Jakobi) ſetzte mit dem ſanften Beben eines Echo alle ſeine Trauerſaiten in ein weiteres Zittern.

» O vor einem Jahre (toͤnten ihn die Glocken an) begleiteten wir Giulia wie dich, aus Maienthal her¬ aus. « Dann zog vor der Sonne, die am Himmel ihre weiſſen Bluͤten aufſchlug, der warme Gedanke71 ſein erweichtes Herz aus einander: » vor Einem Jahre, an dieſem Morgen, ging dir dein Flamin entgegen und vergoß an deiner gluͤhenden Bruſt ſo viele Freudenthraͤnen und am Ende des heutigen Tages zog er dich wieder an ſein Herz und ſagte gleichſam ahndend; vergiß mich nicht, verrath mich nicht und wenn du mich verlaſſen willſt, ſo laß mich mit dir untergehen! «

» O du Treuer (ſagten alle ſeine Gedanken,) wie » troͤſtet es mich heute, daß ich einmal alle meine » Wuͤnſche gern den deinen aufgeopfert habe, um dir » getreu zu bleiben§)Es war, als er in der Laube mit ſeinem Vater für Klotil¬ dens Verbindung mit Flamin ſprach und als er ſich vorſetzte, vor derſelben ſogar ihre Freundſchaft zu ent¬ behren. Nein, ich kann ihm nichts » verbergen, ich gehe jetzt zu ihm. « Er ging ge¬ rade Flamin, um (wiewohl ohne Meineid gegen den Lord und mit Schonung der Eiferſucht) es zu beken¬ nen, daß er auf Pfingſten nach Maienthal verreiſe. Sein auseinander gegangnes Herz bedurfte ein entge¬ gen weinendes Auge ſo ſehr ſein feines Ehrgefuͤhl verſchmaͤhte es ſo ſehr, eine fremde Reiſe znr ſpani¬ ſchen Wand der eignen zu machen ſeiner erneuer¬ ten Liebe that das kleinſte Verhehlen vor ſeinem Freunde ſo weh Matthieu war aus dieſem him¬72 melblauen Eden unter der Gehirnſchaale ſo gaͤnzlich verſtoßen daß er, je laͤnger er dachte und lief, deſto mehr aufſchließen wollte. Er wollt es naͤmlich ſeinem Flamin ſogar entdecken, daß er heute Nachts die Einladungskarte eigenhaͤndig an den Blinden abge¬ reicht: durch eine Taͤuſchung wurde ihm die Pfingſt¬ reiſe durch die heutige zulaͤßiger und dieſen eignen Geſichtspunkt ſah er fuͤr einen fremden an.

Aber ſo weit trieb ſeine traͤumeriſche und nacht¬ trunkne Seele ihre gefaͤhrliche Ergießung nicht. Denn beim Eintritt zog ein Maifroſt auf Flamins Geſicht den aufbrechenden Bluͤtenkelch ſeines Her¬ zens ein wenig zuſammen. Er bat Flamin mit ſei¬ ner kontraſtirenden Waͤrme des Geſichts um einen Spaziergang an dieſem hellen Tage. Drauſſen wurde der Abſtich noch ſchneidender, da Flamin ſei¬ nen Spazierſtock bis zum Knicken einſtieß, Blumen koͤpfte, Laub abſchlug, mit dem Stiefelabſatz Fußſta¬ pfen aushieb, indeß Viktor in Einem fort zu reden ſuchte, um ſeine Seele in der mit gebrachten Waͤrme Waͤrme zu erhalten.

Es freuet mich an ihm, daß er ſein von den heu¬ tigen Entbehrungen mazerirtes uͤberrinnendes Herz gerade in eines ergießen wollte, dem er die Entbeh¬ rungen ſchuld zu gehen hatte. Endlich ſagte er, um das erſchwerte Geſtaͤndniß nur von der Seele zu werfen, eilend: » auf Pfingſten geh 'ich nach Maien¬73 » thal « und ging fliegend zu den Worten uͤber: » O gerade heute vor einem Jahre gingſt du mit. «

Flamin unterfuhr ihn und das Eisgeſicht wurde wie ein Hekla, von Flammen zerſpalten: « So ſo! Zu Pfingſten? » Nach Kuſſeviz gehſt du nicht » mit uns! Laß mich doch einmal recht ausreden, » Viktor! « Sie blieben alſo ſtehen. Flamin ſtreifte die Bluͤten und Blaͤtter von einem Schlehen¬ aſt mit blutiger Hand und blickte ſeinen ſanften Freund nicht an, um nicht erweicht zu werden. » Heute vor einem Jahre, ſagſt du? Sieh da ging » ich eben Abends mit dir auf die Warte und wir » verſprachen uns entweder Treue oder Mord » Du ſchwurſt mir, dich hinabzuſtuͤrzen mit mir, » wenn du mir alles genommen haͤtteſt, alles Bin » ich denn blind? Seh 'ich denn nicht, die Maſchine¬ » rie mit ihrer und deiner Reiſe iſt abgekartet? » Was thuſt du mit den Maienthaler Landſchaften » gerade jetzt? Wem gehoͤrt der Hut? Und was » ſoll ich mir aus allem nehmen? Wem, wem? » ſag's ſag's O Gott! wenn's wahr waͤre! Hilf » mir, Viktor! « Dem gemißhandelten heute er¬ ſchoͤpften Vittor ſtanden die bitterſten Thraͤnen in den Augen, die aber Flamin, der ſich durch ſein ei¬ gnes Sprechen erzuͤrnte, jetzt ertragen konnte. Nie¬ mals nahm dieſer in einer Ergrimmung Vorſtellungen an: gleichwohl erwartete er ſie und ſtaunte uͤber74 ſein Rechthaben und uͤber das fremde Verſtummen und begehrte, daß man widerſpraͤche. Er quetſchte ſeine Hand in die Schlehenſtacheln. Sein Auge brannte in das weinende hinein. Viktor bejammerte den feſten Schwur vor ſeinem Vater und ſah auf die zitternde Wage worauf der Eid und die ſcho¬ nende Freundſchaft ſich ausglichen. Er ſammelte noch einmal alle Liebe in ſeiner Bruſt und breitete die Arme auseinander und wollte mit ihnen den Straͤubenden an ſich ziehen und konnte doch nichts ſagen als: » Ich und du ſind unſchuldig; aber bis » mein Vater koͤmmt, eher kann ich mich nicht recht¬ » fertigen. « Flamin druͤckte ihn von ſich ab: » Wozu das? So wars im Gartenkonzert[auch] » Sag' lieber geradezu, willſt du ſie heirathen? » Schwoͤr 'daß du nicht willſt? O, Gott zoͤger' » nicht ſchwoͤr 'ſchwoͤr! Ja ja, Matthieu! » Kannſt du noch nicht? Nu ſo luͤg wenigſtens! «

» Oh! ſagte Viktor und Blutſtroͤme ſchoſſen » verfinſternd durch ſein Gehirn und uͤber ſein Ange¬ » ſicht beleidigen darfſt du mich doch nicht gar » zu ſehr, ich bin ſo gut wie du, ich bin ſo ſtolz wie » du vor Gott iſt meine Seele rein « Aber Flamins Blut an der Schlehenſtaude druͤckte Viktors zuͤrnende Erhebung nieder und er hob bloß das un¬ beſcholtene Auge voll Freundſchafts-Thraͤnen in den hellern ſanftern Himmel. » Nur die Heirath ver¬75 » ſchwoͤrſt du doch nicht? Gut, gut, du haſt mich » erwuͤrgt mein Herz haſt du zerſtampft, und » mein ganzes Gluͤck ich hatte niemand wie dich » du warſt mein einziger Freund, jetzt will ich ohne » einen zum Teufel fahren Du ſchwoͤrſt nicht? » O ich reiſſ 'mich von dir blutig und elend und als » dein Feind wir ſcheiden uns gehe nur weg! es iſt aus, ganz! Adieu! Er entfloh mit » dem in den Weg hauenden Stock und ſein zerruͤt¬ » teter Freund zu Fuͤßen liegend der Wahrheit, die das Flammenſchwerd gegen den Meineid aufhebt, und in Thraͤnen ſterbend vor der Freundſchaft, die auf das weiche Herz den ſchmelzenden Blick voll Bitten wirft, Viktor, ſag' ich, rief dem fliehenden Geliebten im Sterben nach: » Lebe wohl, mein treuer » Flamin! mein unvergeßlicher Freund! ich war dir » wohl treu! Aber ein Schwur liegt zwiſchen » uns Hoͤrſt du mich noch? eile nicht! Fla¬ » min, hoͤrſt du mich? ich liebe dich noch, wir finden » uns wieder, und komm wenn du willſt. « ... Er rief ſtaͤrker, obwohl mit erſtickten gedaͤmpften Toͤnen nach: » redliche, theure theure Seele, ich habe dich » ſehr geliebt und noch und noch ſey nur recht » gluͤcklich Flamin Flamin, mein Herz bricht da » du mein Feind wirſt. « Flamin ſah ſich nicht mehr um, aber ſeine Hand war wie es ſchien an ſeinen Augen. Der Jugendfreund ſchwand aus76 ſeinen Augen wie eine Jugend und Viktor ſank un¬ gluͤcklich nieder unter dem ſchoͤnſten Himmel, mit dem[Bewußtſeyn] der Unſchuld, mit allen Gefuͤhlen der Freundſchaft! O die Tugend ſelber giebt kei¬ nen Troſt, wenn du einen Freund verloren haſt und das maͤnnliche Herz, das die Freundſchaft durch¬ ſtochen hat, blutet toͤdtlich fort, nnd aller Wundbal¬ ſam der Liebe ſtillet es nicht!

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32. Hundspoſttag.

Phyſiognomie Viktors und Flamins Siedpunkt der Freund¬ ſchaft prächtige Hofnungen für uns.

Wer haͤtt 'es von Cicero gedacht, (wenn er's nicht geleſen haͤtte,) daß ein ſo bejahrter geſcheuter Mann ſich in ſeiner Johannis-Inſel hinſetzen und An¬ faͤnge, Exordien, praͤexiſtirinde Keime im voraus auf den Kauf verfertigen wuͤrde? Inzwiſchen hatte der Mann den Vortheil, daß er wenn er einen Torſo uͤber irgend etwas ſchrieb, die Wahl unter den Koͤ¬ pfen hatte, wovon er einen dem Rumpfe nach der Korpuſkularphiloſophie aufſchrauben konnte. Von mir, an dem nichts Geſetztes iſt, kann's nicht Wun¬ der nehmen, daß ich auf meinem Moluckiſchen Fra¬ ſkati ganze Zaſpeln von Anfaͤngen im voraus gewai¬ fet und gezwirnt habe. Wenn nachher der Spitz ei¬ nen Hundstag bringt: hab' ich ihn ſchon angefangen und ſtoße nur den hiſtoriſchen Reſt gar an die Ein¬ leitung. Gegenwaͤrtigen Anfang hab 'ich fuͤr heute erleſen.

Anfangs aber wollt 'ich freilich dieſen nehmen:

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Mich quaͤlet bei meinem ganzen Buche nichts als die Angſt, wie es werde uͤberſetzt werden. Dieſe Angſt iſt keinem Autor zu verdenken, wenn man ſieht, wie die Franzoſen die Deutſchen und die Deut¬ ſchen die Alten uͤberſetzen. Im Grunde iſt's warlich ſo viel als wird man exponirt von den untern Klaſ¬ ſen und den Lehrern derſelben. Ich kann jene Leſer und dieſe Klaſſen in Ruͤckſicht ihrer Seelenkoſt, die durch ſo vielen Medien vorher geht, mit nichts ver¬ gleichen als mit den armen Leuten in Lapland: wenn da die reichen ſich in dem[Trinkzimmer] mit einem Likoͤr, der aus einer theuren Wurzel geſotten wird, berauſchen: ſo lauert an der Hausthuͤre das arme Volk, bis ein bemittelter Lappe heraus koͤmmt und p ſſ t: das vertirte Getraͤnk, die Vulgata von ge¬ branntem Waſſer koͤmmt dann den armen Teufeln zu Gute.

Aber dieſen Anfang heb 'ich mir auf fuͤr den Vorbericht zu einer Ueberſetzung.

Es gehoͤrt zu den ſchoͤnen Gaukeleien und Natur ſpielen des Zufalls, deren es recht viele giebt, daß ich dieſes Buch gerade in der Philippi Jakobi Nacht 1793 anfing, wo Viktor die Hexen-Farth zum Maienthaliſchen Blocksberg unter die Zauberer und Zauberinnen vornahm und wo er 1792 aus Goͤttin¬ gen anlangte.

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Ich kann nicht ſchreiben, der Leſer kann ſich's leicht vorſtellen, wie Viktor die erſten Maitage ver¬ lebte oder vertrauerte: denn er kann ſich's nicht leicht vorſtellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande, die ihn mit Flamin verſchlangen, fuͤr duͤnne wenige Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechſen; es ſind aber weiche Nerven und feſte Muſkeln das Bind¬ werk ihrer Seelen. Er ſelber wußte nicht, wie ſehr er ihn liebe als da er damit aufhoͤren ſollte. In dieſen gemeinſchaftlichen Irrthum fallen wir alle, Held, Leſer und Schreiber, aus Einem Grunde: wenn man einem Freunde, den man ſchon lange liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben konnte aus Mangel der Gelegenheit: ſo quaͤlet man ſich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn. Aber dieſer Vorwurf ſelber iſt der ſchoͤnſte Beweis der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zuſammen, ihn ſelber zu bereden, er werde ein kaͤlterer Freund. Die Veſperturnire um Klotilde, dieſe Diſputationen pro loco thaten ohnehin das ihrige; aber immer kraͤnkte er ſich mit der Selbſtrezenſion, daß er zu¬ weilen ſeinem Freunde kleine Opfer abgeſchlagen, z. B. ſeinetwegen Verſaͤumung einer Luſtpartie, das Wegbleiben aus gewiſſen Regierungsraths-Haͤuſern, die Flamin haßte. Aber in der Freundſchaft ſind große Opfer leichter als kleine man opfert ihr lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das80 Immobiliar-Vermoͤgen als eine kleine angenehme Unart, ſo wie euch manche Leute lieber einen Wech¬ ſel ſchenken als ein ſo großes leeres Papier. Die Urſache iſt, große Aufopferungen macht der Enthu¬ ſiasmus, kleine die Vernunft. Flamin, der ſelber niemals kleine machte, foderte ſie vom andern mit Hitze, weil er ſie fuͤr große nahm. Viktor hatte ſich hieruͤber weniger vorzuruͤcken; aber Klotilde be¬ ſchaͤmte ihn, deren laͤngſte und kuͤrzeſte Tage wie bei den meiſten ihres Geſchlechts lauter Opfertage waren. Auch wurde ſeine natuͤrliche Delikateſſe, die jetzt durch ſein Hofleben den Zuſatz der kuͤnſtli¬ chen gewonnen hatte, tiefer als ſonst von ſeines Freundes Ecken verletzt. Die feinen Leute geben ihrem innern Menſchen (wie ihrem aͤuſſern) durch Mandelkleien und Nachthandſchuhe weiche Haͤnde, blos um das Untere der Karten beſſer zu fuͤhlen, um niedliche halbe Damen-Ohrfeigen zu geben, aber nicht wie die Wundaͤrzte um damit Wunden hand¬ zuhaben.

Zum Ungluͤck ſchrieb ihm dieſer Wahn der Er¬ kaͤltung ein aͤuſſeres freundliches Beſtreben vor, Waͤrme bei Flamin zu zeigen; da nun der Regie¬ rungsrath nicht bedachte, daß auch das Gezwung¬ ne eben ſo oft von Aufrichtigkeit entſtehen koͤnne als das Ungezwungne von Falſchheit: ſo hatte der Teufel immer mehr ſein Beſtia-Spiel (wo eineFreund¬81Freundſchaft der hohe Einſatz war) bis ſolcher am Hexentage es gewann.

Aber am 4ten Mai ſoll er alles wieder verlieren denk 'ich. Denn Viktor, deſſen Herz bei der ge¬ ringſten Bewegung wieder den Verband durchblutete, nahm ſich vor, nicht nur am 4ten Mai dem Ge¬ burtstag des Hofkaplans in St. Luͤne beizuwohnen, ſondern auch einen Geburtstag der erneuerten Freund¬ ſchaft mit Flamin zu begehen. Er wollte gern den erſten, zweiten, zehnten Schritt thun, wenn nur je¬ ner ſtehen bliebe und keinen zuruͤck thaͤte. Denn er kann ihn nicht vergeſſen, er kann ſeine Entbehrung nicht verwinden, ſo leicht ihm ſonſt die freiwillige war. Er druͤckt alle Abende Flamins ſchoͤnes Bild, das gemacht war aus ſeiner Liebe fuͤr ihn, aus ſei¬ ner unbeſtechlichen Rechtſchaffenheit, ſeinem Felſen - Muth, ſeiner Liebe zum Staat, ſeinem Talent, ſo¬ gar aus ſeinem Aufbrauſen, das aus dem doppelten Gefuͤhl des Unrechts und der eignen Unſchuld kam, dieſes erweichende Bild druͤckte er an das aufgeriſ¬ ſene Herz und wenn er ihn am Morgen auf das Kollegium gehen ſah, ſo liefen ihm die Augen uͤber und er pries den Bedienten gluͤcklich, der ihm die Akten nachtrug. Wenn der 4te Mai des großen Versoͤhnungstages mit dem Soͤhnopfer nicht ſo nahe waͤre: ſo wuͤrde er die kleine Julia an ſich angewoͤh¬ nen muͤſſen als einen dritten Stand zwiſchen den 2Heſperus. III. Th. F82andern, als einen Leitton zwiſchen Diſſonanzen. Blos die Hoffnung des Maies ſetzte ſeinen Gedanken ſtatt der Neſſeln-Brennſpitzen, Roſenſtacheln an. Der Jugendfreund, lieber Leſer, der Schulfreund wird nie vergeſſen, denn er hat etwas von einem Bruder an ſich wenn du in den Schulhof des Le¬ bens tritſt, das eine Schnepfenthaler Erziehungsan¬ ſtalt iſt an eine berliniſche Realſchule, ein breslaui¬ ſches Eliſabethanum, ein Scherauiſches Marianum: ſo begegnen dir die Freunde zuerſt und eure Ju¬ gendfreundſchaft iſt der Fruͤhgottesdienſt des Le¬ bens.

Viktor wuſte Flamins Verſoͤhnlichkeit gewiß vor¬ aus, er ſah ihn ſogar ſchon oͤfter am Fenſter ſtehen, und zum Erker hinuͤber ſchielen, aus dem ein freundliches um alle Mißdeutungen des Point d'hon¬ neur unbekuͤmmertes Auge frei und gerade zum Se¬ nior ſchauete aber das nahm doch ſeine Thraͤnen nicht weg, ſondern ſie wurden vermehrt durch die erſte Wiedererblickung des ſo ſchoͤnen betrauerten ge¬ liebten Angeſichts. Flamin hatte eine große maͤnnli¬ che Geſtalt, ſeine ineinander und zuruͤckgedraͤngte ſchmale Stirn war der Horſt des Muths, ſeine durchſichtigen blauen Augen die ſeine Schweſter Klotilde auch hatte und die ſich recht gut mit einer feurigen Seele vertragen, wie ja auch die alten Deutſchen und das Landvolk beides haben waren83 von einem denkenden Geiſte entzuͤndet ſeine gepre¬ ſten und eben darum dunkelroͤtheren uͤbervollen Lip¬ pen waren in die menſchenfreundliche Erhebung zum Kuße befeſtigt; blos die Naſe war nicht fein genug ſondern juriſtiſch oder deutſch gebildet. Die Naſe großer Juriſten ſieht meines Erachtens ſo elend aus wie die Naſe der Juſtiz mit der ſie aber nichts ge¬ mein hat als die Form. Nicht zu erklaͤren iſts beilaͤufig warum die Geſichter großer Theologen ſie muͤſten denn noch etwas anderes Großes ſeyn etwas von der typographiſchen Pracht der deut¬ ſchen Bibeln an ſich haben. Viktors Geſicht hinge¬ gen hatte am wenigſten unter allen von juriſtiſchem Matgold und von theologiſcher Packpapier - und Kur¬ rent-Gemeinheit: ſeine Naſe lief die Schaͤrfe und den Stirn-Einſchnitt abgezogen griechiſch-gerade gerade nieder die ſpitzigen Mundwinkel betrugen (wenn er aber nicht lachte) vielleicht uͤber I′′′′′ formirten mit einer ſolchen Naſen-Schneide das Ordens-kreutz das ſatiriſche Leute tragen; ſeine weite Stirne woͤlbte ſich zu einem hellen und geraͤumigen Chor einer geiſtigen Rotunda worin eine ſokratiſch¬ gleichbeleuchtete Seele wohnt aber weder dieſe Helle noch jene Stirne gatten ſich mit angeborner wil¬ der Feſtigkeit obwohl mit erworbener; ſeine Phantaſie dieſer große Gewinn hatte wie mehr¬ mals gar keine Lotteriedeviſe auf ſeinem Geſicht; F 284ſeine Achataugen aus Neapel verkuͤndigten und ſuch¬ ten ein liebendes Herz; ſein blondes Mouſſelin-Ge¬ ſicht kontraſtirte wie Hof mit Krieg, gegen Flamins braunes elaſtiſches den zwei Gluthwangen als Grund dienendes Angeſicht. Uebrigens war Flamins See¬ le ein Spiegel, der unter der Sonne nur mit einem einzigen Punkte flammte; an Viktors ſeiner aber waren mehrere Kraͤfte zu ſchimmernden Facetten aus¬ geſchliffen. Klotilde hatte mit ihrem Bruder dieſes ganze Feuerzeug und dieſe Schwefelminen des Tem¬ peraments gemein; aber ihre Vernunft deckte alles zu der reiſſende Blutſtrom, der ſich bei ihm von Felſen zu Felſen ſchlug, zog bei ihr ſchon ſtill und glatt durch Blumenwieſen.

Ich ſaͤh 'es gern, er erneuerte wieder mit dem Regierungsrath den Kontrakt der Freundſchaft: ich wuͤrde dann ſeine Pfingſt-Reiſe nach Maienthal zu beſchreiben kriegen, die vielleicht das Septleva und das Beſte wird, wozu es noch der menſchliche Ver¬ ſtand gebracht hat. Aus dieſem Septleva wird aber nichts, wenn ſie nicht wieder Friede machen: neben jede Blume in Maienthal, neben jede Entzuͤckung wuͤrde ſich dem Freunde die abgegraͤmte Geſtalt des Freundes ſtellen und fragen: » kannſt du ſo gluͤcklich » ſeyn da ich's ſo wenig bin? »

Geſcheuter waͤr 'es, es waͤren Moͤnche oder Hof¬ leute: dann waͤre beiden zuzumuthen, daß ſie, da85 die Freundſchaft die Ehe der Seelen iſt, enthalt¬ ſam im Zoͤlibate der Seelen verblieben ....

Eben beim Schluße dieſes Kapitels bringt der Hund das neue und ich flechte beide gar ineinander und fahre fort:

Ohne ſonderliche Aergerniß uͤber das Ausbleiben der Antwort aus Maienthal, ging Viktor den 4ten Mai einſam nach St. Luͤne und mit jedem Schritte, um den er naͤher kam, wurde ſeine Seele weicher und verſoͤhnlicher. Als er ankam

Es giebt in jedem Hauſe Tage, die in der Lita¬ nei vergeſſen wurden verdammte, verteufelte, verhenkerte Tage wo alles Diagonal geht und die Queere wo alles keift und knurrt und mit dem Schwanze wedelt wo die Kinder und der Hund nicht Muck! ſagen duͤrfen und der Erb - Lehn - und Gerichtsherr des Hauſes alle Thuͤren zuwirft und die Haus-Souverainin das Schnarrkorpus-Re¬ giſter des Moraliſirens*)Die meiſten Weiber ſind nicht eher Galgenpatres (eigent¬ lich-Galgenmatres) und Kaſernenpredigerinnen als bis ſie Teufelstoll ſind, wie Sterne die meiſten Einfälle hatte, wenn er nicht wohl war. zieht und den Silberton der Teller und Schluͤſſelbunde anſchlaͤgt wo man lauter alte Schaͤden aufſtoͤbert, alle Waldfrevel der Maͤuſe und Motten, die zerknickten Paraſol - und86 Faͤcherſtaͤbe und daß das Schieß-Pulver und der wohlriechende Puder und das Kavalierpapier dum¬ pfig geworden und daß der Wurſtſchlitten ausgeſeſſen iſt zu einem hoͤlzernen Eſel, und daß der Hund und das Kanapee im Haͤaͤren begriffen ſind wo alles zu ſpaͤt kommt, alles verbraͤt, alles uͤberkocht und die Kammerdonna die Stecknadeln ins Fleiſch der Frau wie in eine Puppe treibt und wo man, wenn man ſich bei dieſer hundsfoͤttiſchen Krankheit ohne Materie genugſam ereifert hat ohne Urſache, ſich zufrieden giebt wieder ohne Urſache

Als Viktor anlandete in der Pfarre: hoͤrt 'er den Geburtshelden des Tages, den Pfarrer, in ſei¬ nem Muſeo doziren und ſchreien. Er goß ſeinen h. Geiſt in die langen Ohren ſeiner Katechumenen aus, in die keine feurigen Zungen zu bringen wa¬ ren. Er handhabte eine Dunſin aus einer Einoͤde (einem einzigen Hauſe im Walde), vor der er den Unterſchied des Loͤſe - und des Bindeſchluͤſſels aufklaͤ¬ ren wollte. Es war aber nicht zu machen: der Ka¬ plan und Wiedergebohrne hatte ſchon Stunde uͤber die Schulzeit mit dem Aufklaͤren zugebracht; die Dunſin vergrif ſich immer in den Schluͤſſeln, als waͤre ſie eine Weltdame. Der Kaplan hatte ſeinen Kopf darauf geſetzt auf die Illuminazion des ihrigen er ſtellte ihr alles vor, was Eiſen¬ holz und Eiſenſteine geruͤhrt haͤtte, ſeinen heutigen87 Geburtstag, die allgemein verſalzene Luft, die an¬ derthalben Supernumerar-Stunden, um ſie zu uͤber¬ reden, daß ſie den Unterſchied begriffe ſie thats nicht, ſie ſah' ihn nicht ein er ließ ſich zu Sup¬ pliken herab und ſagte: » Schatz, Lamm, Beſtie, » Beichttochter, faſſ 'es, fleh' ich mache deinem » Seelenhirten die Freude und repetir 'ihm den auſ¬ » ſerordentlichen Unterſchied zwiſchen Bind - und Loͤ¬ » ſeſchluͤſſel mein' ich's denn nicht redlich mit » dir? Aber mein Pfarramt fodert es von mir, » daß ich dich nicht wie ein Vieh ohne einen Schluͤſ¬ » ſel zu kennen weglaſſe. Ermanne dich nur und » ſprich 'mir nur Wort fuͤr Wort nach, theuer er¬ » kaufte Chriſten Beſtie. » Das that ſie endlich und da ſie fertig war, ſagt' er freudig: So gefaͤllſt du deinem Lehrer und merk 'ferner auf. » Drauſ¬ ſen rekapitulirte ſie es wieder und ſie hatte alles gut gefaſſet, ausgenommen, daß ſie ſtatt der Bind und Loͤſeſchluͤſſel allemal vernommen hatte Bind und Loͤſeſchuͤſſeln.

Die Drillinge wollten erbaͤrmlicher Weiſe erſt nach dem Eſſen kommen Die Seele der Appel dampfte eben darum ein Wildprets-Fumel aus und roch wie angebrannte Milchſuppe der Regierungs¬ rath war angelangt, aber leider wieder auf die Fel¬ der hinausgelaufen bis zum Eſſen Agathens Ge¬ ſicht war wie ein Felſenkeller von der Kaͤlte ihres88 Bruders gegen Viktor ausgeſchlagen: Nur die Pfarrerin war die Pfarrerin, nicht blos Ein Vater¬ land ſondern Ein Liebesathem reihete ihr Herz an ſein Herz und es war ihr unmoͤglich, auf ihn zu zuͤrnen. Sie liebte ein Maͤdgen, wenn er's lobte; waͤre ſie ohne Mann geweſen: ſo wuͤrde ſie entweder billetdoux-Stellerin oder billetdoux-Traͤgerin fuͤr ihn geweſen. So lieben Weiber: ohne Maaß! Oft haſſen ſie auch ſo. Dazu ſetzet nun mein Korreſpondent noch, daß er aus dem Baddorfe ei¬ nen ganzen Zeugenrotul zum Beweiſe extrahiren koͤnnte, daß die Pfarrerin nicht blos allemal ſondern auch am heutigen Ventos - und Pluvios-Tage es mit ungeſchminkter Faſſung einer Chriſtin auszuhal¬ ten und zu erleben vermochte, wenn eine etwas fal¬ len ließ, eine Taſſe oder ein Wort. Zu ſo etwas zur Apathie gegen einen gegenwaͤrtigen gaͤnzlichen Verluſt einer Terrine, eines Spuͤhlnapfes, einer compotiére iſt vielleicht eben ſo viel Geſundheit als Vernunft von noͤthen.

Endlich trat abends der Hofjunker ein und ſagte, Flamin ſey noch im Garten. Viktor nahm es auf als waͤr 'es ihm geſagt und ging hinaus und trug ſein beklommenes Herz einer andern bangen entgegen. Flamin fand er in einer uͤberlaubten Ecke hinaufſtarrend mit den Augen zum Wachsbilde des verſtoſſenen Geliebten, Viktors Herz ging wie zwi¬89 ſchen Thraͤnen ſchwer in der uͤbervollen Bruſt. Fla¬ mins Geſicht war nicht mit dem Panzer des Zorns, ſondern mit dem Leichenſchleier des Kummers bedeckt. Viktor bewillkomte ihn mit der ſanften Stimme ei¬ nes gedruͤckten Herzens, aber dieſer ſagte alle Gedan¬ ken und Worte nur halb. Viktor ſchauete tief in die Seele, die um die Freundſchaft trauerte: denn nur ein Herz ſieht ein Herz, nur der große Mann ſieht große Maͤnner, ſo wie man Berge nur auf Bergen erblickt. Er hielt es daher fuͤr kein Zeichen des Grolls, da Flamin langſam von ihm weg¬ ging; aber er mußte, ſo einſam da gelaſſen, ſeine Augen von der geweihten Erde des Gartens, wo ih¬ re Freundſchaft ſonſt die Bluͤten geoͤfnet hatte, und von der Opferlaube, wo er bei ſeinem Vater fuͤr Klotildens und Flamins Verknuͤpfung geſprochen, und von der hohen Warte, dem Thabor der freund¬ ſchaftlichen Verklaͤrung, von allen dieſen Begraͤbni߬ ſtaͤtten einer ſchoͤnern Zeit mußt' er die Augen ab¬ wenden, um die aͤrmere zu ertragen. Allein das, was er nicht anſchauen wollte, ſtellte er ſich deſto heller vor.

Jetzt dehnte die Gebet - und Abendglocke ihre melancholiſchen Bebungen aus bis an die Herzen der Menſchen die vergangnen Zeiten ſchickten die Toͤ¬ ne und die Abendklagen ſanken wie heiſſe Bitten, in die getrennten Freunde: O ſoͤhnet euch aus und90 » gehet zuſammen! Iſt denn das Leben ſo lang, daß » die Menſchen zuͤrnen duͤrfen, ſind denn der guten » Seelen ſo viele, daß ſie einander fliehen koͤnnen? » O dieſe Toͤne zogen um viele Aſchen-Leichen, um » manches erſtarrte Herz voll Liebe, um manchen » geſchloſſenen Mund voll Grimm, o Vergaͤngliche, » liebet, liebet euch! » Viktor ging willig (denn er weinte) dem Freunde nach und fand ihn am Bet¬ te ſtehen, worauf Eyman deſſen Namens-F. in Kohlrabipflanzen gruͤnen ließ: er ſchwieg, weil er wußte, daß zu allen ſympathetiſchen Kuren ge¬ ſchwiegen werden muß. O eine ſolche ſchweigende Stunde, wo Freunde wie Fremdlinge neben einan¬ der ſtehen und mit dem Verſtummen das alte Er¬ gießen vergleichen, hat zu viele Herzensſtiche und tauſend erdruͤckte Thraͤnen und ſtatt der Worte die Seufzer!

Viktor ſo nahe am Freund wollte, da unter dem Gelaͤute ſeine ſchoͤnere Seele wie Nachtigallen unter Konzerten, immer lauter wurde, von Minute zu Minute an dieſes ſchoͤne edle Geſicht, an dieſe zum Verſoͤhnungskuß geruͤndeten Lippen fallen aber er erſchrack vor der neulichen Abſtoſſung. Er ſah jetzt, wie Flamin ins Bett immer weiter trat und die Herzblaͤtter der Kohlrabi langſam umtrat und auseinander quetſchte: endlich merkte er, dieſes Zerknirſchen des gruͤnenden Namens ſey blos die91 ſtumme Sprache der Troſtloſigkeit, die ſagen wollte: » ich haſſe mein gequaͤltes Ich und ich moͤcht 'es » zermalmen wie meinen Namen hier: fuͤr wen ſoll » er? » Das riß Blut aus Viktors Herzen und weggekehrte Thraͤnen aus ſeinem Auge und er nahm ſanft die lang entzogne Hand, um ihn wegzufuͤhren vom Selbſtmorde des Namens. Aber Flamin drehte ſein zuckendes Angeſicht ſeitwaͤrts nach dem waͤchſer¬ nen Schatten ſeines Freundes und ſah, ſtarr abge¬ kruͤmmt, hinauf. » Beſter Flamin! » ſagte Viktor mit dem ſchoͤnſten geruͤhrteſten Laute und druͤckte die brennende Hand. Da riß ſie Flamin aus ſeiner heraus und ſtieß mit den zwei Handbal¬ len die Thraͤnentropfen in die Augen zuruͤck und athmete laut und ſagte erſtickt: Viktor! und wandte ſich mit großen Thraͤnen um und ſagte noch dumpfer: liebe mich wieder! Und ſie ſtuͤrzten zuſammen und Viktor antwortete: » ewig und ewig lieb' ich dich, du haſt mich ja nie beleidigt » und Flamin ſtammelte gluͤhend und ſterbend: » nimm nur » meine Geliebte und bleibe mein Freund » Und Viktor konnte lange nicht reden und ihre Wangen und ihre Thraͤnen brannten vereinigt aneinander bis er endlich ſagen konnte: » o du! o du! du edler Menſch! Aber du irreſt dich irgendwo! Nun verlaſſen wir uns nicht mehr, nun wollen wir ewig ſo bleiben. Ach wie unausſprechlich wer¬92 den wir uns einmal lieben, wenn mein Vater koͤmmt! «

Hier holte ſie die vielleicht um beide beſorgte Pfarrerin ab und Flamin ehrte ſie, was er ſelten that, in ſeiner Erweichung mit einer kindlichen Um¬ armung; und aus vier verweinten Augen las ſie ent¬ zuͤckt die Erneuerung ihres unvergaͤnglichen Bundes.

Nichts beweget den Menſchen mehr als der An¬ blick einer Verſoͤhnung, unſere Schwaͤchen werden nicht zu koſtbar durch die Stunden ihrer Vergebung erkauft, und der Engel, der keinen Zorn empfaͤnde, muͤßte den Menſchen beneiden, der ihn uͤberwindet. Wenn du vergiebſt, ſo iſt der Menſch, der in dein Herz Wunden macht, der Seewurm, der die Muſchelſchaale zerloͤchert, welche die Oefnungen mit Perlen verſchließet.

Dieſe Ausſoͤhnung zog, gleichſam eine mit dem Gluͤck nach ſich der brumaire Abend wurde zu ei¬ nem floréal-Abend die Drillinge aßen vom ge¬ bratnen Ruhm der Appel nach Der Pfarrer hatte mit keinen Schluͤſſeln weiter zu thun als mit Loͤſe¬ ſchluͤſſeln, den geiſtigen Muſikſchluͤſſeln und das Geburtsfeſt war zu einem Foͤderationsfeſte aufgebluͤ¬ het, zu einem Oppoſitionsklub, wo ſich alles, aber in einem hoͤhern Sinne als Quaͤker und Kaufleute93 Freund nannte. Die Drillinge hielten altbrittiſche Reden, die nur freie Menſchen verſtehen konnten. Viktor wunderte ſich uͤber die allgemeine Freimuͤthig¬ keit vor einer ſo geſtachelten Schmeiß-Mouche wie Matthieu war aber die Englaͤnder fragten nach nichts. Der Pfarrer ſchickte Herzensgebete ab und ſagte, er ſeines Orts nehme wenig Notiz davon und bitte nur leiſer zu haranguiren, damit er nicht in den Ruf kaͤme, als ob er pietiſtiſche Konventikel in ſeiner Pfarre zuließe. » Inzwiſchen ſteif 'er ſich » ganz auf den Herrn Hofmedikus und H. Hofjun¬ » ker, die ihn gegen Fiskulate gewißlich decken wuͤr¬ » den: ſonſt wuͤrd' er Frau und Sohn nicht mit » drein ſprechen laſſen. » Die Pfarrerin zog die Erinnerungen an ihr freies Vaterland den beſten Verlaͤumdungen und Moden vor. Viktor mußte heute ſein Verſprechen halten, ſeine republikaniſche Orthodoxie außer Zweifel zu ſetzen; und da er's vor unſern Ohren gab, wollen wir auch mit ſehen, wie er's haͤlt und ob er ein Alt-Britte iſt.

Er ahmte meiſtens den Styl nach, den er zu¬ letzt geleſen oder wie heute gehoͤrt hatte; da¬ her ſprach er in Sentenzen wie der eine brennend - kalte Englaͤnder.

» Kein Staat iſt frei als der ſich liebt; das » Maaß der Vaterlandsliebe iſt das Maaß der » Freiheit. Was iſt denn nun dieſe Freiheit! 94» Die Geſchichte iſt der La Morgue-Platz*)Ein vergitterter Platz in Paris, wo man die in der Nacht gefundnen Todten ausſtellet, damit jeder Verwandter den ſeinigen ausſuche., wo » jeder die todten Verwandten ſeines Herzens ſucht: » fragt die großen Todten aus Sparta, Athen und » Rom, was Freiheit iſt? Ihre ewigen Feſttage » ihre Spiele ihre ewigen Kriege ihre ſteten » Opfer des Vermoͤgens und Lebens ihre Verach¬ » tung des Reichthums, des Handels und der Hand¬ » werker koͤnnen den kameraliſtiſchen Landesflor nicht » zum Ziel der Freiheit machen. Aber der konſe¬ quente Deſpot muß den ſinnlichen Wohlſtand ſeiner » Plantage betreiben. Der Druck und die Milde, » die Ungerechtigkeit und die Tugend eines Einzelnen » machen ſo wenig den Unterſchied zwiſchen ſklavi¬ » ſcher und freier Regierungsform aus, daß Rom » eine Sklavin war unter den Antoninen, und eine » Freie unter dem Sylla**)Groß iſt die Seele, die wie er unter lauter Feinden aller Gewalt entſagt größer iſt das Volk, vor dem mans thun durfte. Ein anderes wäre den Läuſen Syllas zuvorge¬ kommen.. Nicht jeder Bund, » ſondern der Zweck des Bundes, nicht das Vereini¬ » gen unter gemeinſchaftliche Geſetze, ſondern der In¬ » halt derſelben geben der Seele die Fluͤgel des Pa¬ » triotismus: denn ſonſt waͤre jede Hanſa, jeder Han¬95 » delsbund ein pythagoreiſcher und zeugte Spartaner. Das, wofuͤr der Menſch Blut und Guͤter giebt, muß etwas Hoͤheres als beides ſeyn; das eigne Leben und Vermoͤgen zu beſchuͤtzen, hat der Gute nicht ſo viel Tapferkeit als er hat wenn er fuͤr frem¬ des kaͤmpft; die Mutter wagt nichts fuͤr ſich und alles fuͤr das Kind kurz nur fuͤr das Edlere in ſich, fuͤr die Tugend oͤfnet der Menſch ſeine Adern und opfert ſeinen Geiſt, nur nennt der chriſtliche Maͤrtyrer dieſe Tugend Glauben, der wilde Ehre, der republikaniſche Freiheit. Nehmt zehn Men¬ ſchen, ſperrt ſie in zehn verſchiedene Inſeln: keiner wird den andern (ich habe keine Kosmopoliten ge¬ nommen) wenn er ihn auf ſeinem Kahn begegnet, lieben oder beſchuͤtzen, ſondern ihn bloß wie ein un¬ ſchuldiges gutgebildetes Thier unbeſchaͤdigt voruͤber¬ fahren laſſen. Werft ſie aber ſaͤmtlich auf Eine In¬ ſel*)Viktor nahm zu ſeinem Bunde zehn Perſonen, vielleicht weil gerade ſo viele zu einem Tumulte gehören, hommel rapsod. observat. CCXXV.: ſo werden ſie gegenſeitige Bedingungen des Beiſammenlebens des Unterſtuͤtzens u. ſ. w., d. h. Geſetze machen jetzt haben ſie oͤftern Genuß und Gebrauch des Rechts, folglich ihrer Perſoͤnlichkeit, die ſie von bloßen Mitteln unterſcheidet, folglich ih¬ rer Freiheit. Vorher auf ihren zehn Inſeln waren96 ſie mehr ungebunden als frei. Je mehr die Ge¬ genſtaͤnde ihrer Geſetze ſich veredeln, deſto mehr ſehen ſie, daß das Geſetz den innern Menſchen mehr angehe als der Schuthaufen, den es beſchirmt, das Recht mehr als das Eigenthum und daß der edle Menſch ſeine Guͤter, ſeine Gerechſame, ſein Leben verfechte, nicht wegen ihrer Wichtigkeit, ſondern we¬ gen ſeiner Wuͤrde. Ich will die Sache von einer andern Seite beſchauen, um den Satz zu vertheidi¬ gen, womit ich die Rede anfing. Wenn ein Volk ſeine Verfaſſung haſſet: ſo geht der Zweck ſeiner Verfaſſung d. h. ſeiner Vereinigung verloren. Liebe der Verfaſſung und Liebe fuͤr ſeine Mitbuͤrger als Mitbuͤrger iſt eins. Ich hole ſo aus: Waͤren alle Menſchen weiſe und gut: ſo waͤrrn ſie alle einander aͤhnlich, folglich gewogen. Da das nicht iſt: ſo er¬ ſetzt die Natur dieſe Guͤte durch Surrogate der Aehnlichkeit, z. B. durch Gemeinſchaft des Zwecks, durch Beiſammenleben u. ſ. w. und haͤlt durch dieſe Baͤnder der ehelichen, der Geſchwiſter, und der Freundesliebe unſere glatten ſchluͤpferigen Herzen zuſammen in verſchiedenen Entfernungen. So erzieht ſie unſer Herz zur hoͤheren Waͤrme. Der Staat giebt ihm eine noch groͤßere, denn der Buͤrger liebt ſchon mehr den Menſchen im Buͤrger als der Bru¬ der im Bruder, der Vater im Sohn. Vaterlands¬ liebe iſt nichts als ein eingeſchraͤnkter Kosmopolitis¬mus;97mus; und die hoͤhere Menſchenliebe iſt des Weiſen große Vaterlandsliebe fuͤr die ganze Erde. In mei¬ nen juͤngern Jahren war mir oft die Menge der Menſchen ſchmerzlich, weil ich mich unvermoͤgend fuͤhlte, 1000 Millionen auf einmal zu lieben; aber das Herz des Menſchen nimmt mehr in ſich als ſein Kopf und der beſſere Menſch muͤßte ſich verach¬ ten, deſſen Arme nur um einen einzigen Planeten reichten ....

Jetzt ſetz 'ich wie in einer Komoͤdie nur die Namen der Akteurs vor die Anmerkungen. Der kalt-philoſophiſche Balthaſar: » Daher muß die » ganze Erde einmal ein einziger Staat werden, eine » Univerſalrepublik: die Philoſophie muß Kriege, » Menſchenhaß, kurz alle moͤgliche Widerſpruͤche mit » der Moral ſo lange gut heiſſen als es noch zwei » Staaten giebt. Es muß einmal einen National¬ » konvent der Menſchheit geben, die Reichen ſind die » Munizipalitaͤten. «

Matthieu: » jetzt leben wir alſo erſt im 11ten » Oktober und ein wenig im vierten Auguſt. «

Viktor: » wir ſehen gleich dem David, den ſa¬ » lomoniſchen Tempel nur in Traͤumen und die » Stiftshuͤtten im Wachen; aber die PhiloſophieHeſperus. III Th. G98» waͤre jaͤmmerlich, die von den Menſchen nichts fo¬ » derte als was dieſe bisher ohne Philoſophie leiſte¬ » ten. Wir muͤſſen die Wirklichkeit dem Ideal, aber » nicht dieſes jener anpaſſen. «

Der heiß philoſophiſche Melchior: die meiſten » jetzigen Bewegungen ſind nur Griffe die ein unter » dem Trepan Schlafender nach der blutigen Gehirn¬ » baut thut. Aber die fallende Stalaktite der Re¬ » gentſchaft tropfet endlich mit der ſteigenden Stal¬ » agmite des Volkes zur Saͤule zuſammen. «

Flamin: » ſetzen aber nicht Sparter Heloten » voraus und Roͤmer und deutſche Sklaven, und Eu¬ » ropaͤer Neger? Muß ſich nicht immer das Gluͤck » des Ganzen auf einzelne Opfer gruͤnden, ſo wie » ein Stand ſich dem Ackerbau widmen muß, damit » ein anderer dem Wiſſen obliege? «

Kato der aͤltere: » dann ſpei 'ich auf's Ganze » wenn ich das Opfer bin, und verachte mich, wenn » ich das Ganze bin. «

Balthaſar: beſſer iſt's, das Ganze leidet frei¬ » willig eines einzigen Gliedes wegen, als daß dieſes » wider ſeine gerechte Stimme fuͤr das Ganze » leide. «

Mathieu: » fiat justitia et pereat mundus. «

Viktor: » Auf deutſch: das groͤßte phyſiſche Ue¬ » bel muß man vorziehen dem kleinſten moraliſchen, » der kleinſten Ungerechtigkeit. «

99

Melchior: durch die phyſiſche von der Natur » gemachte Ungleichheit der Menſchen wird irgend » eine politiſche ſo wenig entſchuldigt als durch Peſt » der Mord, durch Mißwachs das Kornjudenthum. » Sondern umgekehrt muß eben die politiſche Gleich¬ » heit das Surrogat der phyſiſchen ſeyn. Im deſpo¬ » tiſchen Staat kann die Aufklaͤrung wie das Wohl¬ » leben an Intenſion groͤßer ſeyn, aber im freien iſt » ſie an Extenſion groͤßer und unter alle vertheilt. » Denn Freiheit und Aufklaͤrung erzeugen einander » wechſelſeitig. «

Viktor: » Wie Unglaube und Deſpotie. Ihre » Behauptung zeigt den Voͤlkern zwei Wege, einen » langſamern aber gerechtern, und einen, der beides » nicht iſt. Die wilden Eingriffe in's Ziffer¬ » blattsrad der Zeit, das tauſend kleine Raͤder » drehen, verruͤcken es mehr als ſie es beſchleunigen, » oft brechen ſie ihm Zaͤhne ab*)Denn es giebt keine großen Begebenheiten aus kleinen Ur¬ ſachen, ſondern nur große aus 1000000 kleinen Urſachen, wovon man immer die letzte fuͤr die Mutter der großen Geburt ausgiebt. Iſt denn das Zündpulver die Ladung des Geſchoſſes?: haͤnge an's » Gewicht des Uhrwerks, das alle Raͤder treibt; d. » h. ſey weiſe und tugendhaft, dann biſt du groß und » unſchuldig zugleich und baueſt an der Stadt Got¬G 2100» tes, ohne den Moͤrtel des Bluts und ohne die » Quader der Todtenkoͤpfe. «

Hier wird dieſe politiſche Predigt ausgelaͤutet, unter der Viktor ſeiner ſokratiſchen Menſur und Maͤßigung ungeachtet doch dieſe wilden Koͤpfe zu Freunden des ſeinigen machte. Dem einzigen Matthieu war nur um Spott zu thun, auf den er jeden Ernſt zuruͤckfuͤhrte, anſtatt umzukehren. Er hatte in einem individuellen Grade jene Unverſchaͤmt¬ heit von Stand, gewiſſe Thorheiten zugleich zu be¬ gehen und zu verſpotten, gewiſſe Thoren zugleich zu ſuchen und zu verachten und gewiſſe Weiſe zugleich zu meiden und zu loben. Wo er nur konnte, be¬ warf er den gutmuͤthigen Fuͤrſten von Flachſenfingen mit ſatiriſchen Diſtelkoͤpfen und zeigte eine Feindſe¬ ligkeit gegen den Ehemann, die ſonſt das Zeichen ei¬ ner zu großen Freundſchaft gegen die Frau iſt. So ſagte er heute in Beziehung auf Jenners oder Januars Neigungen, die mit ſeinem Monats - und Heiligen-Namen kontraſtiren: » fuͤr den H. Ja¬ nuarius in Puzzolo*)Für dieſe Statue konnte nämlich kein Bildhauer eine zweite Naſe machen, die paßte denn die erſte war abge¬ brochen endlich nach 400 Jahren fand ein Kind in einem großen Fiſche die marmorne, die anlag. Labaths Reiſen 5. Theil. war ein Fiſch der D. Kuhl¬ pepper. «

101

Ich geſteh 'es, ich habe unter dem ganzen Klub wieder den naͤrriſchen Gedanken gehabt, den ich mir ſchon oft, ſo toll er iſt, nicht aus dem Kopfe ſchla¬ gen konnte denn er wird freilich ein wenig da¬ durch beſtaͤtigt, daß ich wie ein Atheiſt nicht weiß, wo ich her bin und daß ich mit meinem franzoͤſiſchen Namen Jean Paul durch die wunderbarſten Zufaͤlle an ein deutſches Schreibepult getrieben wurde, auf dem ich einmal der Welt jene weitlaͤuftig berichten will wie geſagt, ich halt' es ſelber fuͤr eine Narr¬ heit, wenn ich mir zuweilen einbilde, es waͤre moͤg¬ lich, daß ich etwan da in der orientaliſchen Ge¬ ſchichte die Beiſpiele davon tauſendweiſe da ſind gar ein anonymer Knaͤſenſohn oder Schachsſohn oder etwas aͤhnliches waͤre, das fuͤr den Thron gebildet werde und dem man nur ſeine edle Geburt verſtecke, um es beſſer zu erziehen. So etwas nur zu uͤberle¬ gen, iſt ſchon Tollheit; aber ſo viel iſt doch richtig, daß aus der Univerſalhiſtorie die Beiſpiele nicht aus¬ zukrazen ſind, wo mancher bis in ſein 28tes Jahr ich bin um zwei aͤlter nicht ein Wort davon wußte, daß ein aſiatiſcher oder anderer Thron auf ihn warte und wo er nachher, wenn er darauf kam, praͤchtig herunter regierte. Setze man aber, ich wuͤrde aus einem Jean ohne Land ein Johann mit Land, ſo ging 'ich ſofort auf's Billard und ſagte je¬ dem, wen er vor ſich haͤtte. Waͤre einer von mei¬102 nen Landskindern mit da und ſtieße: ſo wuͤrd' ich ihn dort gleich regieren und eine Landstochter ohne Bedenken Ich wuͤrde mit Bedacht verfah¬ ren und nur mit Subjekten aus meiner Billard-Ge¬ ſpannſchaft die wichtigern Aemter beſetzen, weil der Regent den kennen muß, den er vozirt, welches er beim Spiel bekanntlich am erſten kann Ich wuͤrde meinen Landſaſſen und allen durch ein Generalregle¬ ment auf alle Zeiten ſtrenge befehlen, gluͤcklich und wohlhabend zu ſeyn und wer arm wuͤrde, den ſetzte ich zur Strafe auf halben Sold; und ich denke, wenn ich die Armuth ſo nachdruͤcklich unterſagte, ſo wuͤrd 'es zuletzt ſo viel ſeyn als regierten Saturn und ich mit einander Ich wuͤrde in meinem Staate nicht wie ein Sultan in ſeinem Harem, phy¬ ſiſche Stumme und Zwerge begehren ſondern morali¬ ſche Ich geſteh' es, ich haͤtte eine eigne Vorliebe fuͤr Genies und ſtellte bei allen, ſogar beim elende¬ ſien Poſten die groͤßten Koͤpfe an. Ich wuͤrde mich vor nichts fuͤrchten (Feinde ausgenommen) als vor der Kopfwaſſerſucht, vor der ein gekroͤntes Haupt oder ein infulirtes in Aengſten ſeyn muß, wenn es wie ich in dem D. Ludwig oder auch in Tiſſot von den Nerven geleſen hat, daß dergleichen durch ſtarke Binden um den Kopf am erſten entſtehe, welches ich noch mehr von meiner Krone befahre, zumal103 wenn der Kopf der hinein getrieben wird, dick iſt und ſie eng ....

Wir kommen wieder zur Geſchichte. Den an¬ andern Tag kehrten Viktor und Flamin, in den ſchoͤnen neu angezognen Schlingen des freundſchaftli¬ chen Bundes, nach Flachſenfingen zuruͤck. Jetzt konnte Viktor durch Maienthals Himmelspforte ein¬ gehen, wenn Klotilde ſie nicht verriegelte. Alles kam auf Emanuels Antwort an. Die Mailuͤfte wehten, die Maiblumen dufteten, die Maienbaͤume rauſchten. O wie fachte dieſes Wehen die Sehnſucht an, alle dieſe Seligkeiten in Maienthal zu genießen und das Entreebillet zum ſchoͤnſten Konzertſaal der Natur vom Freunde zu bekommen. Es kam keines: denn es war ſchon gekommen durch den Zeidler Lind aus Kuſſeviz, der als Feudal-Poſtillon vom Grafen O an Matthieu geſendet worden und den Weg uͤber Maienthal genommen hatte. Es war von Emanuel:

Horion!

Komm 'eher, Geliebter! Eil' in unſer Edenthal, das ein Gartenſaal der Natur mit gruͤnenden Waͤn¬ den zwiſchen lauter Gaͤngen iſt, die aus dem Him¬ mel in den Himmel laufen Die blumigen lichten Stunden ruͤcken vor dem Auge des Menſchen vor¬ uͤber wie die Sterne vor dem Sehrohre des Him¬104 melsmeſſers Bluͤtenſchlingen aus Jelaͤngerjelieber ſind dir gelegt und mit Duͤften zugedeckt: und wenn du darin gefangen biſt, faſſen die aufwallenden Duͤfte dich mit einer Wolke ein und unbekannte Arme drin¬ gen durch die Wolke und ziehen dich an drei Herzen voll Liebe! Ich habe ſchon Maiblumen aus dem Walde ausgehoben und neben mich gepflanzt deine Stadt iſt ja auch ein Wald um dich ſtille Maiblu¬ me Ich habe ſchon zwei Balſaminen und fuͤnf Sommerievkojen verſetzt; aber meine erſte ver¬ ſetzte Balſamine war Klotilde. Du ſiehſt, der Fruͤhling ſtreckt ſich mit ſeinen uͤppigen treibenden Saͤften auch durch meine aufknoſpende Seele und der Mai ſpaltet an ihr wie ich jetzt an den Nelken, alle Knoſpen auf. Erſcheine, erſcheine, eh ich wieder truͤbe werde und ſage dann deinem Julius, wer den Engel war, der ihm den Brief an mich gereicht.

Emanuel.

Julius hatte wahrſcheinlich dabei wieder an jenen andern Brief gedacht, den ihm ein bis jetzt unbekann¬ ter Engel zum Aufſiegeln auf dieſe Pfingſten gege¬ ben Aber was gehen mich hier Engel und Briefe an? Kourir-ſchreiben will ich jetzt, damit ich das 32te Kapitel hinaus gemacht habe, eh der Hund mit105 ſeinem 33ten Pfingſtkapitel auftritt, das nicht bloß weil es 32 Kapitel-Ahnen hat ſondern wegen der wahrſcheinlichen[Ausgießung] eines freudigen H. Geiſtes darin oder wegen eines ganzen Tauben¬ flugs von H. Geiſtern und wegen den hiſtoriſchen Ge¬ maͤlden darin und wegen meiner eignen Anſtren¬ gung ein Kapitel (glaubt man) werden muß, der¬ gleichen in jeder dyoniſiſchen Periode kaum ein hal¬ bes und in jeder konſtantinopolitaniſchen ein ganzes kann geſchrieben werden Der Pfingſt-Hundstag kann lang ausfallen, aber gut und goͤttlich Phi¬ lippine wird den Bruder ruͤtteln und ſagen (ſie ſchmeichelt gern:) Paul! Paul oder Paulus war auch im dritten Himmel, aber ſo hat er ihn nicht beſchrieben in ſeinen Briefen an die Roͤmer! « Ich wollte ſelber, ich koͤnnte meinen 33ten Hunds¬ tag leſen eh 'ich ihn gemacht haͤtte ....

Das Viele, was ich noch mit Wenigem und mit der bisherigen Eile herzuwerfen habe, iſt laut den Kuͤrbis-Akten das: Viktor freuete ſich eben ſo wie ich, auf die Pfingſt-Evangelien. Sein Gewiſſen ſetzte ſeinem Genuſſe nicht das duͤnnſte Speiſegelaͤn¬ der, nicht den niedrigſten Weinſtein weiter in den Weg und er konnte wie eine unſchuldige Freude zur geliebten Klotilde gehen und ſagen: nimm mich an. Er that jetzt die Kondolenz - und Krankenviſiten bei Hofe regelmaͤßig ab und ſchor ſich um kein Wort106 voll Hoͤllenſtein und um kein Auge voll Baſiliskengift. Er verdoppelte die ſchoͤnern Beſuche bei Flamin, um deſſen edle Verſoͤhnung mit einer waͤrmern Freund¬ ſchaft zu belohnen und er druͤckte auf die vergangne Geſchichte und auf den Gegenſtand der Eiferſucht das Sekretsinſiegel des ſchonenden Schweigens. Seine Traͤume ſtellten zwar bei ihrem Theater voll Schat¬ tenſpielen und Lufterſcheinungen Klotildens Geſtalt nicht an, (gerade die geliebteſten Geſichter verſaget der Traum) aber indem ſie ihn in die alten dun¬ keln Regenmonate fuͤhrten, wo er wieder ungluͤcklich und ohne Liebe und ohne die theuerſte Seele war, ſo gaben ſie ihm durch die nieder geregnete Nacht einen hellern Tag und die verdoppelte Wehmuth wurde zur verdoppelten Liebe Und wenn er am Morgen nach ſolchen Traͤumen vom vergangnen Traum, durch den Maien-Reif neben den uͤppigen Freudentropfen der Weinreben und unter dem Morgenwind, der ihn mehr trug als kuͤhlte, hinaus¬ trat, um die feſten weſtlichen Waͤlder, die mit ei¬ nem gruͤnen Vorhang die Opernbuͤhne ſeiner Hof¬ nung verhingen, wie theure Reliquien mit den ſeh¬ nenden Augen zu betaſten Ein Rezenſent der ſich an meine Stelle ſetzt, kann mir unmoͤglich bei dieſer Kuͤrze der Zeit und auf meiner Extrapoſtkut¬ ſche des Phoͤbuswagen (jetzt in den kuͤrzern Tagen) zumuthen, einem Vorſatz ſeinen Nachſatz zu geben.

107

Sogar der ſteilrechte Klimax des Barometers und das wagrechte Stroͤmen des Oſtwindes faßten die Segel ſeiner Hofnung an und zogen ihn in das ſtille Meer der Pfingſt-Zukunft und in den Kalen¬ der von 1793, um zu ſehen, ob der Mond zu Pfingſten voll waͤre Beim Himmel er wird's wenigſtens halb, welches noch viel beſſer iſt, weil man ihn ſo¬ gleich bei der Hand mitten am Himmel hat wenn man ſeinen Abend anfangen will ....

Ich hab's doch durch auſſerordentliches Rennen dahin gebracht, daß ich mit dem 32ten Hundspoſttage fertig bin, eh Spizius mit ſeinem Freudenpokal am Halſe uͤber das indiſche Meer geſetzt iſt. Und da ich ohnehin nach der capitulatio perpetua mit dem Leſer (bei der bekanntlich die Fuͤrſten - und Staͤdte¬ bank in's Gras beiſſet) jetzt einen Schalttag machen muß: ſo will ich dazu die Hunds-Vakanz verwen¬ den; aber ich flehe alle meine Tagwaͤhler und Kunden, die bisher am Springſtabe des Zeigefingers uͤber die Schalttage weggeſetzt ſind, ernſthaft an, es bei dieſem nicht zu thun, erſtlich weil ich erboͤtig bin, mich erſchießen zu laſſen, wenn ich in dieſem Schalttage mein obwohl unter mehrern Regierungen beſtaͤtigtes Schalttags-Privilegium, die witzigſten und tiefſinnigſten Sachen vortragen zu duͤrfen, nur im geringſten exerzire und zweitens weil der Hund ſchon am Schalttage in den Hafen laufen und mir108 Fakta bringen kann, die ich nicht im 33ten Hunds¬ tage auftiſche ſondern ſchon am VIII. Schalt¬ tage oder an der VIII. Sansculotide.

Der Inhalt davon iſt gleich der Gegenwart ein toller Vorbericht vor der Zukunft.

Ich muß ſagen, wenn erſtlich Bellarmin (der katholiſche Vorfechter und Kontradiktor) behauptet, jeder Menſch ſey ſein eigner Erloͤſer woraus mei¬ nes Erachtens folgt, daß er auch ſeine eigne Eva und Schlange fuͤr ſeinen antiken Adam iſt wenn zweitens die Feder eines auſſerordentlich guten Au¬ tors eine Lichtputze der Wahrheit, ſo wie umgekehrt bei dem inhaftirten H. von Moſer die Lichtputze die Feder war wenn drittens der Deſpotismus ſtatt der lebendigen Baumſtaͤmme zuletzt (denn er ſagt in die Welt hinein wie blind) den Thron-Saͤgebock ſel¬ ber zerſaͤgen kann ferner muß ich ſagen, wenn viertens jede Handlung (ſogar die ſchlimmſten) wie Chriſtus zwei unaͤhnliche Geſchlechtsregiſter hat wenn vollends fuͤnftens ein und der andere Rezen¬ ſent ſein kritiſches Auge, womit er alles beſieht, nicht auf dem Scheitel Wirbel traͤgt (wie etwan Muhammeds Seelige, um die Schoͤnheiten nicht zu ſehen) noch auf der Bruſt wie der Rieſe Poly¬ phem, noch wie Argus hinten und vornen ſondern wirklich vornen gleich unter dem Magen uͤber dem Gedaͤrm mitten im Nabel, wenn dieſer Mann noch209 [109] dazu kein anderes Herz beſitzt als das leinene, das die Naͤhterin unten im Winkel des Hemdjabots ein¬ flickt und das auf der Herzgrube aufliegt, die man geſcheuter die Magengrube nennen ſollte endlich muß ich ſagen (wenigſtens kann ich's) wenn ſechſtens wahrer Zuſammenhang, ſtrenge Paragraphen-Ver¬ kettung vielleicht die groͤßte Zierde und Seele der ungebundnen Rede iſt, die aber einem gebund¬ nen Klaviere gleicht und wenn daher der Verſtand, wie eine epiſche Handlung, am Ende der (rhetori¬ ſchen und der Zeit -) Periode anfangen muß, weil ſonſt gar keiner da waͤre ....

Es wird aber auch keiner mehr kommen. Aber jene vier Punkte ſehen wie die Haſenfaͤrthe im Schnee aus. Kurz: der Spitzhund unſer bio¬ graphiſcher Handlanger und Kommiſſionaͤr, liegt ſchon unter dem Tiſche und hat einige elyſiſche Fel¬ der und Himmelreiche abgeladen. Da ich ohne¬ hin im obigen nicht wußte was ich haben wollte (ich will nicht geſund vor dem Publikum ſitzen, wenn ich's gewuſt habe): ſo erwieß mir der Hund einen wahren Liebesdienſt, daß er dem Perioden den Nach¬ ſatz-Schwanz ſo zu ſagen gar abbiß. Es war ohne¬ hin mein Plan blos zu narriren und zu haſeliren in einem ellenlangen Perioden bis der Hund mir die Angſt uͤber die Zweifelhaftigkeit der Pfingſtreiſe be¬ nommen haͤtte. Ueberhaupt wollt 'ich nie Worte110 und Gedanken mit einander aufwenden, ſondern dieſe ſparen, wenn ich jene verthat: Peuzer ſchrieb laͤngſt an die Regenſpurger und Wetzlaer: viele Gedanken brauchen einen kleinen Wortfluß, aber je groͤßer der Bach iſt, deſto kleiner kann das Muͤhl¬ rad ſeyn. Einen rechtſchaffenen Rezenſenten kraͤnkt ein lakoniſches Buch auch ſchon darum (nicht blos weil das Publikum es nicht verſteht), weil ein Deut¬ ſcher ja an den Juriſten und Theologen die beſten Muſter vor ſich hat, weitſchweifig zu ſchreiben und zwar mit einer Weitlaͤufigkeit, die vielleicht denn der Gedanke iſt die Seele, das Wort der Leib unter den Worten jene hoͤhere Freundſchaft der Menſchen ſtiftet, die nach Ariſtoteles darin beſteht, daß Eine Seele (Ein Gedanke) in mehrerern Koͤr¬ pern (Worten) zugleich wohnet.

Ich hebe Viktors Vigilie, den h. Abend vor Pfingſten jetzt an. Es war ſchon Sonnabend der Wind ging (wie die Wiſſenſchaften) von Morgen das Queckſilber ſprang in der Barometerroͤhre (wie heute in meinen Nervenroͤhren) faſt oben hin¬ aus. Flamin war friedlich von ſeinem Freunde am Freitag geſchieden und kehrte vor fuͤnf Tagen nicht zuruͤck. Viktor will morgen am erſten Pfingſt¬ tag vor der Sonne aufbrechen, um am dritten wie¬ der zuruͤckzukommen, wenn ſie in Amerika ausſteigt. (Ich wollt 'er blieb' laͤnger) Es iſt ein ſchoͤ¬111 ner blauer Montag in der Seele (jeder blaue Tag iſt einer) und eine ſchoͤne Diſpenſation von der Trauerzeit des Lebens, wenn man (wie mein Held) das Gluͤck hat, an einem h. Abend, unter dem Ge¬ betlaͤuten, und wenn der Mond ſchon uͤber die Haͤu¬ ſer herauf iſt, vor den Proſpekten in die ſchoͤnſten Pfingſttage und in die ſchoͤnſten Pfingſtgeſichter, ru¬ hig und ſchuldlos in Zeuſels Erker zu ſitzen, alle Voreſſen der Hoffnung anzuſchneiden, alle Vorſteck¬ roſen und Anzeigen des ſchoͤnſten Morgens zu ſam¬ meln und unter dem merkantiliſchen Gaſſen-Praͤlu¬ dien des Feſtes den zweiten Theil der Mumien gerade in den Freudenſektoren zu leſen, wo ich mei¬ nen und Guſtavs Einzug in das himmliſche Jeruſa¬ lem zu Lilienbad abzeichne. Alles das hatte wie geſagt der Held ....

Aber als er, der zwiſchen ſeiner Pfingſtreiſe und jener Badreiſe ſo viele Verwandſchaft ausfand, endlich mit ſeiner bewegten Seele an die Zerſtoͤrung jenes Jeruſalems kam: ſo ſagte er mit dem erſten traurigen Seufzer fuͤr heute: » O du gutes Schick¬ ſal, ein ſolches Schlachtmeſſer, eine ſolche Beinſaͤge lege nie am Herzen meiner Klotilde an: ach ich ſtuͤrbe wenn ſie ſo ungluͤcklich wuͤrde wie Beate. « Und er dachte weiter nach, wie die rothen Mor¬ genwolken der Hoffnung nur ſchwebender erhoͤhter Regen ſind und wie oft der Schmerz der bittere112 Kern der Entzuͤckung iſt, gleich dem Reichsapfel des deutſchen Kaiſers, der zwar 3 Mark und 3 Loth ſchwer aber innen mit Erde ausgefuͤllet iſt ....

Beim Himmel! wir verſalzen uns da alle mit Nachtgedanken den h. Abend ohne Noth und es weiß keiner von uns warum er ſo ſeufzet. Ich habe ja das ganze Pfingfeſt ſchon kopeilich vor mir und es ſteht kein einziges Ungluͤck darin, es muͤßte denn Viktor noch einen vierten Pfingſttag als Nach¬ ſommer anſtoßen und in dieſem muͤßte es etwas ab¬ ſetzen. Ich geſteh 'es, ich bin gern aͤſthetiſcher frère terrible und ſetze der Welt, die in meine un¬ ſichtbare Mutter-Loge ſich hineinlieſet, gern den Degen auf die Bruſt und dergleichen Streiche mehr das koͤmmt aber davon, weil man in der Jugend Werthers Leiden lieſet und beſitzt, von dem man wie ein Meßprieſter, ein unblutiges Opfer veranſtal¬ tet eh' man die Akademie bezieht. Ja wenn ich noch heute einen Romen verfaßte: ſo wuͤrd 'ich da der blauroͤckige Werther an jedem jungen Amoroſo und Autor einen Quaſichriſtus hat, der am Karfrei¬ tage eine aͤhnliche Dornenkrone aufſetzt und an ein Kreutz ſteigt es auch wieder ſo machen ....

Aber es iſt Zeit, daß ich mein Maienthal oͤfne und jeden einlaſſe. Ich will nur nicht laͤnger verheimlichen, daß ich geſonnen bin, dieſes ganze Paphos und Rittergut an den Leſern gar zu ver¬ſchenken,113ſchenken, wie Ludwig der XI. die Grafſchaft Bou¬ logne der h. Maria zuwarf. Ich gedenke dadurch vielleicht uͤber andre Autores, die ihren Leſern nur ihre Kiele beſcheeren, eben ſo weit vorzuſtechen, als der Koͤnig uͤber den alten Lipſius, der der Maria nur ſeine ſilberne Feder teſtirte. Anfangs wollt 'ich dieſes Elyſium mit ſeinen dreimaͤchtigen Wieſen und Nadelhoͤlzern ſelber behalten, weil ich im Grunde ein armer Teufel bin und wirklich nicht mehr einzu¬ nehmen habe als ein Prinz von Wuͤrtemberg ſonſt, naͤmlich 90 fl. rhn. Apanage und 10 fl. zu einem Ehrenkleide, und weil ich mir auf die mir von Gott und Rechtswegen zuſtaͤndige 2 Quadratmeilen Landes denn ſoviel wirft die ganze Erde bei ihrer glei¬ chen Zerſchlagung nach einem guten Partageplan auf den Mann aus wahrlich ſo wenig Rechnung ma¬ che, daß ich die zwei Meilen an jeden gern um ei¬ nen elenden Schaf-Pferch abſtehen will. Und was mich am meiſten zuruͤckzog, dieſe Schenkung unter den Lebendigen mit meinem Maienthal zu ma¬ chen, war die Sorge, daß ich ein Feudum Leuten, Leſern, Landboten, Knaͤſen zuwende, die tauſendmal groͤßere Woiwodſchaften und Chatoullguͤter innen ha¬ ben und die man aufbringt, wenn man ſie der Ma¬ ria aͤhnlich macht, die aus einer Himmels-Koͤnigin eine Graͤfin von Boulogne wurde, oder dem roͤmi¬Heſperus. III. Th. H114ſchen Kaiſer, der zugleich am Kroͤnungstage ein Mitglied des Marienſtifts zu Aachen werden muß.

Aber was koͤnnen denn alle ihre Majorate ih¬ re Deutſchmeiſtereien ihre Afterlehn und ihre patrimonia Petri (eine Anſpielung auf mein patri¬ monium Pauli) und ihre großvaͤterlichen Guͤter und alles ihr auf das Erdenſchiff geladne Schiffs¬ guth, kurz ihre europaͤiſchen Beſitzungen auf der Erde, was koͤnnen ſag 'ich dieſe Hollaͤndereien fuͤr Produkte liefern, die vor den Maienthaliſchen nur von weitem beſtaͤnden? Und wachſen auf ihren Kronenguͤtern himmelblaue Tage, Abende voll ſeeli¬ ger Thraͤnen, Naͤchte voll großer Gedanken? Nein, Maienthal traͤgt hoͤhere Blumen als die das Vieh abreiſſet, ſchoͤnere Heſperiden-Aepfel als die Obſtkammern bewahren, uͤberirdiſche Schaͤtze auf un¬ terirdiſchen, Eden-Kompetenzſtuͤcke wie Klotilde und Emanuel ſind, und alles was unſre Traͤume malen und unſre Freudenthraͤnen begießen.

Und eben das entſchuldigt mich, wenn ich das Maienthaliſche Freuden-Tafelgut tauſend Kom¬ petenten abſchlage, wenn ich als deſſen Lehnprobſt mit dieſem Schwaͤbiſchen Schupflehn nicht beleh¬ nen kann ſolche Leute, die auch zu keinem unfiguͤrlichen Feudum taugen, moraliſche Blinde, Lahme, Minoren¬ ne, Spadonen ꝛc. und hier muß ich mir viele Feinde machen wenn ich aus den Vaſallen und Mit¬115 belehnten, denen man das Maienthal mit allen ſei¬ nen poetiſchen Nutznießungen zu Lehn giebt, nament¬ lich alte Saalbader ausſtoße, die den Ritterſprung der Phantaſie nicht mehr thun koͤnnen. 47 Schee¬ rauer und 103 Flachſenfinger, deren Herzen ſo kalt ſind wie ihre Knieſcheiben oder wie Hundsſchnautzen die groͤſten Miniſter und andere Große, an de¬ nen wie an großen gebratnen Fleiſchklumpen blos die Mitte noch roh iſt, naͤmlich das Herz ½ Bil¬ lion Oekonomen, Juriſten, Kammer - und Finanzraͤthe und Plus - d. h. Minusmacher, in denen die Seele wie an Adam der Leib aus einem Erdenkloße geknaͤ¬ tet worden, die einen Herzbeutel haben aber kein Herz, Gehirnhaͤute ohne Gehirn, Pfiffigkeit ohne Philoſophie, die ſtatt des Buchs der Natur nur ih¬ re Manualakten und Steuerbuͤcher leſen endlich die, die nicht Feuer genug haben, um vor dem Feuer der Liebe, der Dichtkunſt, der Religion zu entbrennen, die ſtatt weinen, greinen ſagen, ſtatt dichten, reimen, ſtatt empfinden, raſen ....

Bin ich denn toll, daß ich mich hier ſo erboße, als wenn ich nicht auf der andern Seite das ſchoͤn¬ ſte Leſer-Kollegium, das ich zum primus adquirens des Maienthaliſchen Maͤnner - und Kunkellehns er¬ hebe, vor mir haͤtte; eine myſtiſche moraliſche Per¬ ſon, die es einſieht, daß der Nutzen nur eine nie¬ drigere Schoͤnheit und die Schoͤnheit ein hoͤhererH 2116Nutzen iſt? Es iſt allen Empfindungen eigen (aber nicht den Einſichten) daß man ſie nur allein zu haben glaubt. So haͤlt jeder Juͤngling ſeine Lie¬ be fuͤr ein auſſerordentliches Meteor, daß nur ein¬ mal in der Welt ſey, wie der Stern der Liebe, der Abendſtern oft mit einem Kometen gleichſieht. Aber es wird nicht lauter Flachſenfinger und Hollaͤnder geben, die auf die Alpen gehen, weniger um große Gedanken und Erhebungen als um Stuͤhle*)Nach Scheuchzer ſind Alpen die beſte Arznei gegen Ver¬ ſtopfung. zu haben, oder zu Schiffe gehen, nicht um auf das erhabne Meer den Blick des Artiſten zu werfen, ſon¬ dern um die Hektik zu verfahren. ... Sondern es wird uͤberall in jedem Marktfleck, auf jeder In¬ ſel ſchoͤne Seelen geben, die der Natur am Buſen ruhen die die Traͤume der Liebe achten, wenn auch ſie ſelber aus ihren eignen wach geworden die mit rauhen Menſchen umpanzert ſind, vor denen ſie ihre Idyllenphantaſien uͤber das zweite Leben und ihre Thraͤnen uͤber das erſte verhuͤllen muͤſſen die ſchoͤnere Tage geben als ſie empfangen dieſem ganzen ſchoͤnen Bunde mach 'ich das ver¬ ſchenkte Feudum von Maienthal, wovon ſchon ſoviel Redens war, endlich auf und gehe als inveſtirender Lehnhof mit einigen Freunden und Freundinnen und meiner Schweſter vorn an der Spitze voran hinein.

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Poſtſkript oder eigenhaͤndige Diſpenſazionsbul¬ le: der Berghauptmann kann nicht laͤugnen, daß der S. T. Verfaſſer dieſer Biographie dadurch, daß der Hund faul iſt, und daß dieſe Poſttage voluminoͤſer ſind, und daß er in dieſem Kapitel gar zwei in ei¬ nes zuſammengeſchmolzen hat, hinlaͤnglich bei denen entſchuldigt iſt, die das Recht haben ihn zu fragen, warum er erſt in der Mitte des Septembers oder Fructidors den 32 Poſttag hinausgebracht. Vier Monate weit ſitzet er noch mit ſeiner Beſchreibung von der Geſchichte ab. 1793.

J. P.

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1. Pfingſttag. (33. Hundspoſttag.)

Polizeiordnung der Freude Kirche der Abend die Blütenhöle.

Viktor war am Pfingſtmorgen kaum aus ſeinem Schlafe, obwohl nicht aus ſeinen Traͤumen erwacht: ſo ſagte ihm das Leiſereden aller ſeiner Gedanken, die elyſiſche Stille durch ſein ganzes Herz, daß heute ſeine Sabbathswochen angehen. Ohne Vorwuͤrfe und Vorſaͤtze eines Fehltrittes, ohne einen Seufzer ſeines Gewiſſens ging er unſchuldig der Freude und der Liebe entgegen. Je zaͤrter und weicher eine Blu¬ me der Freude iſt, deſto reiner muß die Hand ſeyn, die ſie abbricht und blos thieriſche Weide vertraͤgt den Schmutz; ſo wie diejenigen, die den Kaiſerthee abpfluͤcken, ſich vorher alle grobe Koſt verſagen, um das aromatiſche Laub unbeſudelt abzunehmen. Viktor hatte drauſſen kaum Morgenroͤthe genug, um auf ſeiner breiten Stundenuhr vom Zeidler Lind die erſte Stunde ſeines Sabbaths zu ſehen; aber dieſe Uhr, der Schrittzaͤhler auf dem ſo ſchoͤnen Le¬ benswege des Bienenvaters, und der Fruͤhgottes¬ dienſt der Natur, der in Stille beſteht, machten119 ſeinen Vorſatz feſter, ſein jetziges Leben dem zwei¬ ten nach dem Tode als einen ſtillen, kuͤhlen, geſtirn¬ ten Fruͤhlingsmorgen vorauszuſchicken.

» Bei euch ſchwoͤr 'ich ſagt' er, als nach und » nach immer mehr Lerchen aus ihrem Thau mit » Singen in die kanoniſche Hora ſtiegen ich will, » ſogar in der Freude gelaſſen bleiben ganze dreißig » Jahre lang in einem fort, wenigſtens drei ganze » Pfingſttage ich will ein Univerſitaͤts und Haus¬ » freund, aber nicht ein pastor fido der Freude ſeyn » Handelt nicht der Menſch, als muͤßte ſein Le¬ » bensſteig eine Bruͤcke zuſammengeſchobener Honig¬ » waben ſeyn, durch die er Motten-artig ſich durch¬ » zukaͤuen habe, als waͤren ſeine Haͤnde nur zwei Zu¬ » ckerzangen der Luſt? Ich will wieder meinen » Freuden und meinen Schmerzen den Scherz als ei¬ » nen Zaum anlegen. Die warmen Thraͤnen der » Melancholie, beſonders die der Entzuͤckung, eine » Art heiſſer Daͤmpfe die ſtaͤrker treiben und zerſetzen » als Schießpulver und papinianiſche Maſchinen, will » ich wohl noch vergießen, aber vorher ein wenig » kuͤhlen. Und wenn ich Klotilde nicht jeden Vor¬ » mittag anſichtig werde: ſo will ich blos ſagen: ein » Menſch kann nicht immer im dritten Himmel ſeyn, » er muß auch manchmal im erſten uͤbernachten. » Er hat vielleicht mehr Recht als Kraft: aber es iſt wahr, die Geſundheit des Herzens entfernet120 ſich gleich weit von hiſteriſchen Zuckungen und von phleg¬ matiſcher Agonie und die Entzuͤckung graͤnzet naͤher an den Schmerz als die Ruhe. Aber keine Ruhe und Kaͤlte iſt etwas werth als die erworbene der Menſch muß der Leidenſchaften zugleich faͤhig und maͤchtig ſeyn. Die Ueberſtroͤmungen des Wil¬ lens gleichen denen der Fluͤße, die alle Brunnen eine Zeitlang verunreinigen: nehmet ihr aber die Fluͤße weg, ſo ſind die Brunnen auch fort.

Das Morgenroth deckte eine ferne Sonne nach der andern zu; und als endlich die nahe aufgegangen war oder vielmehr die Natur: ſo konnte Viktor ſehen und leſen und mein Werk (die bekannten Mu¬ mien) aus der Taſche ziehen. Ein Buch war fuͤr ihn in der treibenden freien Natur eine Garten¬ ſcheere ſeiner uͤppig aufſchießenden Traͤume und Freuden. Dieſer mit einem ganzen Fruͤhling pran¬ gende Morgen, dieſes Schimmern auf allen Baͤchen, dieſes Summen aus Bluͤten in Bluͤten, dieſes haͤn¬ gende blaue Meer, woruͤber die Sonne wie ein Bu¬ centauro ſchiffte, um auf den Meeres-Grund der Erde den Vermaͤhlungsring zu werfen, eine ſolche Gegenwart wuͤrde neben einer ſolchen Zukunft ſchon in der dritten Stunde ihm die Kraft genommen ha¬ ben, ſeiner neuen Konſtituzion zufolge uͤber ſeine Wonne zu regieren und immer ſoviel Ruhe zu be¬121 wahren als zur Mitteltinte zwiſchen einem ent¬ zuͤckten und einem truͤben Tage noͤthig iſt ich ſa¬ ge, er wuͤrde das nicht vermocht haben ohne ſeinen Biographen, ich meine, wenn er nicht mein Buch vorgenommen haͤtte, in deſſen zweiten Theile er noch den Schulmeiſter Wuz zu leſen hatte. Aber dieſes gelehrte Opus ſetzte getrau 'ich mir ohne Eigen¬ duͤnkel zu ſchmeicheln ſeiner Entzuͤckung die or¬ dentlichen Graͤnzen. Denn ſo indem er leſend ging (wie andre, z. B. Rouſſeau und ich, leſend diniren und bald aus dem Teller bald aus dem Bu¬ che einen Biſſen nehmen) indem er dem Leben des Schulmeiſters ſo lange zuſchauete, bis ein neues Thal aufging oder ein neues Waͤldgen indem er bald dieſem abgedruckten Kantor bald einem leben¬ den zuhorchte, vor deſſen Pfingſtliedern er vorbei ging: ſo konnte er ſeine Ideen bei allen ihren Ron¬ dos und Roͤſſelſpruͤngen in einer ſolchen ſchoͤnen Ball¬ ordnung und Kirchenzucht erhalten, daß er ſo gluͤck¬ lich war als der geleſene Wuz. Ich ſchrie ihm noch dazu in Einem fort aus meinen Mumien zu, ge¬ ſcheut zu ſeyn und auf meinen Schulmeiſterlein als einem Fluͤgelmann der Freuden-Handgriffe acht zu geben und jeden Tag, jede Stunde auszukernen. » Ich bin ohnehin verdammt (ſagt' er) wenn ich's » nicht thue: iſt denn nicht, du guter Gott, ſchon » das Gefuͤhl der Exiſtenz ein ſtehendes Vergnuͤ¬122 » gen, und der erſte ſuͤße Imbis nach jedem Erwa¬ » chen? » Er dachte zwar daran, daß die Kultur uns Brillen gebe und die Zungenwaͤrzgen nehme und uns die Freuden durch die beſſere Definizionen der¬ ſelben verguͤte (ſo wie der Seidenwurm als Raupe Geſchmack aber keine Augen, und als Schmetter¬ ling Augen ohne jenen hat) er geſtand ſich zwar zu, er habe zuviel Verſtand, um ſoviel Vergnuͤgen zu haben wie der Auenthaler Schulman und er philoſo¬ phire dazu zu tief; aber er beſtand auch darauf: » ei¬ » ne hoͤhere Weisheit muͤſſe doch (weil ſonſt der All¬ » weiſe der Allungluͤckliche ſeyn muͤßte) wieder aus » dem ſchwuͤlen Auditoriums Parterre den Weg in » ein Blumenparterre finden. Hohe Menſchen tra¬ » gen wie die Berge den ſuͤßeſten Honig. » ...

Ob er gleich ſchon im letzten Dorfe, gleichſam der Vorſtadt von Maienthal, auslaͤuten hoͤrte: ſo erzuͤrnte er ſich doch nicht uͤber die Verſpaͤtung des Eintritts. Ja um ſich ſelber zu zeigen, er ſey der Philoſoph Sokrates, ſchritt er mit Fleiß traͤger fort und libirte nicht wie der Athener den Freudenbecher, ſondern fuͤllte ihn gar noch nicht. » Werde immer, » ſagt 'er zu einem aus Lilien Samenſtaub zuſam¬ » mengelaufenen Woͤlkgen, vor mir fruͤher uͤber die » G[u]ten geweht, du Wolkenſaͤule vor dem gelobten » Land! Und dein kleiner Schatten ſilhouettire » ihnen den feſtern, der traͤger nachkoͤmmt und den123 » das Himmelblau ſpaͤter einſaugt! » Und eh 'ihn der herumgekruͤmte Fußſteig vor das mit Blumen behangne Portal des Thales ſtellte, worin die ge¬ liebte Wiege und Baumſchule ſeiner ſchoͤnen dreitaͤ¬ gigen Zukunft ſtand: ſo hielt ihn noch eine zuge¬ knoͤpfte Diſtel auf, um deren hermetiſch verſiegelte Honiggefaͤße ein weiſſer Schmetterling ſeine dritte Parallele zog und die muſiviſchen Diſteln auf Le Bauts Diele traten vor ihm ins Leben und zeigten ihm alle Stacheln der Vergangenheit und er fand es jetzt unbegreiflich, wie er ſeine Schmerzen ertra¬ gen koͤnnen, und leichter, den Freudenhimmel zu tra¬ gen ....

Er zog Linds Uhr heraus, um die Geburtsminu¬ te ſeiner Honig - und Flitterzeit zu wiſſen gerade um 11 Uhr trat er vor das nette Dorf, vor das Treibhaus ſeines Himmels, vor die Pflanzſtadt ſei¬ ner Hoffnung, vor Eden .... Ach das ſaͤuſelnde in Lauben verwachſene Doͤrfgen ſchien alle ſeine bluͤ¬ henden Zweige als Arme um ihn zu legen und ihn an ſich zu ſtricken; es war gruͤn und weiß und roth nicht angeſtrichen, ſondern uͤberlaubt und uͤber¬ bluͤht. Und als er unter dem Auslaͤuten um ſich die Umarmung ſeines Emanuels geitzig aufzuſparen und um den Maienthaliſchen Kirchengeſang mit ei¬ nem von der Natur geoͤfneten Herzen zu beſchleichen in das lange ſaubere Doͤrfgen ſtahl und den124 Freundſchafts-Zoll auf eine Minute bei Emanuels Hauſe umfuhr: ſo war ihm, als wenn ſein unſchul¬ diges menſchenliebendes Herz ſich in den ſtillen Gaſ¬ ſen mit den Voͤgeln auf den die Fenſterſcheiben ver¬ gitternden Kirſchenzweigen wiegte und mit den Bienen in den Kirſchenbluͤten ſchwankte. » Komm nur her¬ ein, (ſchien alles zu ſagen) du guter Menſch, wir ſind alle gluͤcklich und du ſollſt es auch werden. » Er trat an die blanke Kirche, deren blendende Ue¬ bertuͤnchung dem Himmelsblau durch den Kontraſt ein erhabenes Dunkel zuwarf, und ſein pochendes Herz zitterte gluͤcklich mit der wogenden Orgel darin und mit der vor dem Kirchthore raſchelnden einge¬ ramten Birke und mit dem trocknen vom Morgen¬ wind gebognen Maienbaum mitten im Dorfe ...

» Aber, ſagt mein Leſer, konnte denn ſein Auge ſo lange die ſchoͤnern Proſpekte und ſein Herz die geliebtere Schoͤnheit entrathen und ſtatt der Abtei nur die Kirche aufſuchen? » O er ſah zu allererſt nach jener und ſein bebendes Auge lief um alle Fen¬ ſter ſeines Sonnentempels; aber da er daran alle Fenſter offen und leer, und alle Gardinen aufgezogen antraf: ſo vermuthete er, daß die ſchoͤnen Konklavi¬ ſtinnen deſſelben und darunter die Konklaviſtin ſeiner Bruſt da waͤren, wo er ſie ſuchte

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und fand: im Tempel. Er ſtieg unter dem Heruntertraben der Kirchgaͤnger ungehoͤrt hinauf in die auſſen leer ſcheinende adeliche Frontloge, dieſe Konſole und dieſe Blumengeſtelle der Stifts-Non¬ nen. Es war heute nichts drinnen als entfalne Bir¬ kenblaͤtter: denn die ſaͤmtlichen Nonnen und die Aeb¬ tiſſin und die Ex-Nonne Klotilde ſtanden unten in der Kirche und faßten den Altar mit einem Chor von ſingenden Engeln ein und empfingen daran das Abendmal. Mit einem Freudenſchauer blickte er die Koͤnigin ſeines Himmels an, die ſo theuer Ge¬ liebte und ſo Unverdiente, dieſen glaͤnzenden Engel, der ſeine Huͤlle aus Erdenſchnee mit der himmliſchen Waͤrme zu Thraͤnen zerſchmilzt, um bald unſichtbar zu werden. Sein Geiſt bog ſich als ſie kniete: » Himmelsfrieden trinke (ſagt 'er) aus dem Ordens¬ » kelch des großen Menſchen, unter deſſen Gedanken » keine Wolke und kein Seufzer war o der Ge¬ » danke, den du jetzt mit ſo feſter Andacht anſchau¬ » eſt, muͤſſe immer leuchtender und unbeweglich wie » eine Sonne werden und immer ein warmes Abend¬ » licht uͤber die muͤde Seele werfen! » Dieſer En¬ gel im Trauerkleide zog jetzt in ſeinem Innern durch eine Todtenauferweckung alle Tugenden ſeines Lebens und alle Fehler deſſelben herauf und gab jenen einen Himmel und dieſen ihre Hoͤlle: daher war er jetzt zu heilig, um eine Heilige zu ſtoͤren durch ſeine Er¬126 ſcheinung, wenn anders ihr ruhendes nur in fromme Ruͤhrungen eingeſenktes Auge, das nicht einmal auf die naͤhern frommen Schoͤnheiten zur Hoͤhenmeſſung der Taille fiel, ſich bis zu ihm haͤtte verſteigen koͤn¬ nen. Die Birke am erſten Fenſter der Empor nahm er als belaubten Faͤcher vor: dieſer gruͤne an ſei¬ nen Wangen ſpielende Schleier bedeckte ſeine Auf¬ merkſamkeit und ſeine Freudenthraͤnen vor der gan¬ zen Kirche. Der Ort wo er ſo gluͤcklich war, ſchien, nach einer Glas Inſkripzion zu urtheilen, ſonſt der gewoͤhnliche Stand Klotildens geweſen zu ſeyn: denn Giulia's ihrer war darneben, wie ich gewiß weiß, weil auf dem Logenfenſter ein von einem Kranz um¬ faßtes G und K eingeſchnitten war mit den Worten von Giuilia: » So vereinen uns die Blumen des Lebens und der Zirkel der Ewigkeit » ....

Viktor ſchlich ungeſehen und fruͤh und ſeelig ſich aus dieſer Bilderblinde weggeſtellter Goͤttinnen fort und trug das von der Liebe gefuͤllte Herz an die ofne erhabne Bruſt der Freundſchaft an Emanuel. Er ſah ſchon deſſen Stiftshuͤtte im Tempel der Natur als ſeine Entzuͤckung aufgeſchoben wurde durch eine fruͤhere. Julius lag im bluͤhenden Graſe, von deſſen Wellen beſpuͤhlt, und hielt einen Kirſchen¬ zweig voll ofner Honigkelche in der Hand, um die Bienen an ſich zu ziehen und ſich an ihrem ſummen¬127 den Schweben uͤber den Bluͤten zu beluſtigen. Vik¬ tor umſchlang ihn und vergaß in der Entzuͤckung ſeinen Namen zu nennen » biſt du mein Engel? » ſagte er » Ich bin nur dein Viktor! » O komm, o komm! » ſagte der entzuͤckte Blinde wie ein Wohl¬ laut bebend und zog den Freund zu Emanuels Haus; aber er fuͤhrte ihn, hinter der Wolke ſeiner Augen, den laͤngern Weg und drehte ſich noch dazu bei je¬ dem vierten Schritte um, zu einer erneuerten Um¬ ſchlingung.

Als ſie an's Waſſerrad kamen, das ſeine Gie߬ kannen laut auf die Blumenſaaten ausſchuͤttete und deſſen zerſplitterte Blitze an den Fenſtern und an der Stubendecke Emanuels flatterten: ſo ſagte der Blin¬ de: umfaſſe mich noch einmal recht ſehr. » Aber unter dem Getoͤſe der Regenguͤße und unter der Be¬ taͤubung der Liebe wurden ſie von andern Armen als den ihrigen zuſammengedruͤckt und die zwei jungen ſtummen Herzen wurden an ein großes Drittes an¬ gereiht und der erhabne Indier ſchauete wie ein Gott der Liebe zwiſchen ſie und ſagte: » o ihr gu¬ » ten Juͤnglinge, bleibet immer ſo und weinet fort » in euerer ſeeligen Liebe! Sei geſegnet, mein » Horion, ſey willkommen im großen Fruͤhling um » uns her! » und als Emanuel und Vikto an128 einander ſanken, ſo war es als ob alle Blumenbeete ſich vor Wonne niederboͤgen, als ob alle Wellen weiſſer flammten unter daruͤber fliegenden uͤberirdi¬ ſchen Blitzen, als ob die Zephyre von Seufzern der Liebe anſchwoͤllen, als ob hoͤhere Weſen im freudi¬ gen Uebermaße fluͤſtern muͤßten: ach, ihr guten Men¬ ſchen, liebet ja ganz wie wir!

Ein Arm aus einem Paradieſesfluße trug dieſe liebende Dreieinigkeit hebend in die uͤbergruͤnten Zimmer und hier ſah erſt Viktor, daß der Fruͤh¬ ling auf Dahores Wangen war und der Sommer in ſeinen Augen, ſo wie zwoͤlf Wonnemonate in ſei¬ nem Herzen. Die weiſſen Trauerroſen auf ſeinen Wangen, die immer als Mauerkronen des Todes dem Johannistage entgegenzubluͤhen ſchie¬ nen, waren den rothen gewichen kurz Ema¬ nuels Geſtalt gab die Hoffnung, daß er uͤber ſeinen Tod ein falſcher Prophet geweſen ſey.

In dieſem wehenden Zimmer, deſſen goldne Wand¬ leiſten Lindenaͤſte und deſſen Hauteliſſen Lindenblaͤtter und uͤber deſſen Thuͤr als dessus de porte der Wie¬ derſchein und die Nebenſonnen des ſchimmernden Waſſer¬ rades zitterten, in dieſem vom Wonnemeer der Natur umbrauſeten Eiland von Zimmer, durch deſſen ofne Fenſter die Zephyre Schmetterlinge und Bienen uͤberdie129die Fenſterblumen in die Linden warfen, gingen mei¬ nem Helden, dem noch dazu das Mittagsgelaͤute wie ein Gelaͤute zu einem Friedensfeſte der Erde vorkam, die Blumen der Freude, worin er watete, bis an das Herz Emanuels Poeſie klang ihm in dieſer epiſchen Berauſchung wie Proſe; er war eingeſunken in ein Blumengebuͤſch und erblickte oben daruͤber ei¬ nen geneſenen Unſterblichen, der die Bluͤten Ueber¬ huͤllung auseinander bog und noch hoͤher eine ewige Pfingſtſonne im endloſen Blau und naͤher das Sprießen des Blumenlaubes und das Bienen¬ gewimmel daruͤber und eine goldne Morgenroͤthe als Einfaſſungsgewaͤchs rund um die ganze bunte rauchende Waldung geſchlungen .....

Beim Himmel! nur in einer[ unfiguͤrlichen] ſolchen Blumen-Holzung zu liegen, waͤre ſchon et¬ was geſchweige gar in einer metaphoriſchen! Viktor war fromm aus Freude, aus Ueberfuͤllung ſtill, aus Dankbarkeit genuͤgſam. Der Anblick des gemeinſchaftlichen Lehrers gab zwar Klotildens Bilde waͤrmere Farben und ſeiner Seele hoͤhere Flammen, aber ſeinen Wuͤnſchen keine Unerſaͤttlichkeit und keine Ungeduld.

Emanuel kam ſogleich auf dieſe geliebte Schuͤle¬ rin: nicht, gar nicht als ob Klotilde ihm den drit¬ ten Oſterfeiertag klar erzaͤhlt haͤtte oder als obHeſperus. III. Th. I130Emanuel ihn errathen haͤtte, ſondern dieſer unſchul¬ dige-erhabne Menſch wußte nur den Unterſchied zwi¬ ſchen Liebe und Freundſchaft nicht und er haͤtte ſo gut von ſich als von Viktor geſagt, er liebe ſie. Und eben dieſe kindliche Unbefangenheit, die einer ofnen weiblichen Herzenskammer keine Durchgangs¬ gerechtigkeit, keine Breſchen ablauerte, ſondern die eignen entbloͤßte, und die keine Geſtaͤndniſſe erangel¬ te, keine verargte, keine benutzte, dieſe mußte mit dem gordiſchen Nervenknoten der Sympathie die ſcheueſte weibliche Seele an eine ſo ofne maͤnnliche binden. Ja, ich glaube, Klotilde haͤtte ihre Liebe leichter ihrem Lehrer als ihrem Geliebten bekannt. Da ihm dieſer Emanuel nun erzaͤhlte, wie er ihr alle Szenen ſeines vorigen Hierſeyns vorgemalet habe und alle ſeine Entzuͤckungen und ſein Ge¬ ſtaͤndniß der Freundſchaft fuͤr ſie wie er ihr ſeine Briefe vorgeleſen und wie der zweite (jener troſtloſe in der Nacht des Stamiziſchen Konzerts) ſo viele Thraͤnen in ihre Augen getrieben und da Viktor ſah, wie ſehr ſein Freund ihre Liebe wie einen zu¬ gehenden Tulpenkelch auseinander gehaucht habe: ſo fachte dieſes ſeine Liebe fuͤr ſie, ſeine Freundſchaft fuͤr ihn bis zur Andacht an und er kuͤßte ſeelig ver¬ legen den Blinden. Aus dieſer verdoppelten Liebe erklaͤrt 'ſich jetzt Klotildens leichte Einwilligung in ſeine Pfingſtreiſe.

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Er haͤtt 'es jetzt fuͤr einen Engels - und Petrus - Abfall von der Freundſchaft gehalten, bei Emanuel nicht geradezu anzufragen, wenn er dieſe Geliebte der Tugend ſehen duͤrfe. » Jetzt! « ſagte dieſer, der ungeachtet ſeiner indiſchen achtenden Milde gegen die Weiber die Naſenringe, Bindeſchluͤſſel und Daͤm¬ pfer unſerer Harams-Dezenz nicht kannte. Aber Viktor handelte anders und dachte doch eben ſo. Er hatte ſchon im Auslande gefragt: » Warum laͤßt » man die elende Reichspolizeiordnung fuͤr Maͤdgen » ſtehen, daß ſie z. B. nicht einzeln, ſondern immer » wie Nuͤrnberger Juden unter der Eſkorte einer Al¬ » ten oder wie die Moͤnche Paarweiſe auswandeln » muͤſſen? Nicht etwan als ob mich das genirte, » wenn ich einen Roman ſpielte, ſondern nur wenn » ich einen ſchriebe, wo ich mich an das weibliche » Marſchreglement auf Koſten des kunſtrichterlichen » halten und ein Geleite von Auxiliar-Weibern Weibern » durchs ganze Buch mit mir zum Verhak meiner » Heldin herumſchleppen wuͤrde. Muͤßt' ich nicht, » wenn ich ſie nur uͤber die Hausthuͤre hinaus haben » wollte, mit einer Kronwache von Siegelbewahrerin¬ » nen neben ihr herziehen? Waͤr 'ich nicht durch dieſe » verdammte Mitbelehnſchaft und Kompagniehandlung » mit der Tugend es fehlte an einer Proprehand¬ » lung genoͤthigt, meiner Heldin wider alle Wahr¬ » ſcheinlichkeit Freundinnen aufzuheften? Ich wuͤrd¬J 2132» es zwar einem ſpaniſchen Maͤdgen verdenken, wenn » ſie mir ihren Fuß, und einem tuͤrkiſchen, wenn ſie » ihr Geſicht vorwieſe und einem Deutſchen, wenn » es allein zum beßten Juͤngling ginge; aber eben » weil die tollſten blauen Geſetzte, die doch blauer » Dunſt an blauen Montagen werden, zum wahren » Sittengeſetze fuͤr ſie werden; ſo aͤrger 'ich mich » uͤber die jaͤmmerliche Kleinherzigkeit und wuͤnſche » nichts verboten zu ſehen als das Walzen und » Fallen. « ... Er hat hier vielleicht Satire in pet¬ to: denn ernſthaft davon zu ſprechen, hat dieſe Heils-Ordnung, daß ſich Maͤdgen bei uns allemal wie Memoriale, in Duplikaten einreichen muͤſſen, offenbar die Abſicht, ſie alle an einander zu gewoͤh¬ nen weil ſie ihre Freundſchaft haben muͤſſen zu Viſiten zweitens ſollen Geſchwiſter einander aus den Haaren kommen weil ſie nicht wiſſen wenn ſie einander beduͤrfen zu Ruͤckbuͤrgen ihrer Tu¬ gend und zu Liebes-Sekundawechſeln drittens ge¬ ben dieſe Menſchenſatzungen der weiblichen Tugend durch den kleinen Sitten-Dienſt (weil große Verſuchungen zu ſelten ſind) taͤgliches Religionsexer¬ zizium und hoͤhere Wichtigkeit und verhalten ſich wie die Talmudiſchen Artikel zur Bibel, wiewohl ein rechter Jude lieber gegen die Bibel als den Talmud verſtoͤßt viertens verdanken wir dieſen ſymboli¬ ſchen Buͤchern des Wohlſtandes die fruͤhere Bildung133 des weiblichen Scharfſinns, dem wir leider keine an¬ dern Gelegenheiten der Aufmerkſamkeit verſchaffen als die der Schwur auf jene Buͤcher giebt ....

Aber zuruͤck oder weiter! Viktor tadelte und be¬ folgte zugleich, wie ein gutes Maͤdgen, die weibli¬ chen Ordensregeln: der Hof hatte ihn beherzter, aber auch feiner gemacht und unter den Weibern wurd 'er wie jeder mit dem Linienblatt des Zeremoniels verſoͤhnt. Daher wollt' er erſt am zweiten Pfingſt¬ tage eine ordentliche Ambaſſaden Audiens bei der Aebtiſſin abthun, da heute alles zu ſpaͤt war und er uͤberdies in die ſchoͤnen frommen Bewegungen druͤ¬ ben nicht wie ein Haarſtern fahren wollte. Und ſeine Zufriedenheit ſagte ihm ja auch, wie wenig die Nachbarſchaft eines geliebten Herzens verſchieden iſt von der Gegenwart deſſelben, die ohnehin nichts iſt als eine naͤhere Nachbarſchaft.

Inzwiſchen uͤberwand er ſich doch ſo weit, daß er mit ſeinen Zwillingsbruͤdern des Herzens hin¬ ausging in's Koloſſeum der Natur, ob er gleich ſich nicht verbarg, drauſſen werd 'er den Schrecken ha¬ ben, Klotilden zu begegnen. Und Emanuel verrin¬ gerte dieſe Sorge ſchlecht, da er ihm geſtand, ſie waͤre bisher alle Tage mit ihrem verwundeten Leben um die Teiche wie um baquets und durch die Flur wie durch Feldapotheken gegangen Eilet end¬ lich hinaus, ihr drei guten Menſchen, in's Jubi¬134 leum des Fruͤhlings, das die Erde jaͤhrlich zum An¬ denken der Schoͤpfung begeht Eilet, eh' die Mi¬ nuten auf eurem Leben wie die breiten Wellen auf den zwei Baͤchen, jetzt noch fliehend, und ſchillernd, und toͤnend, zerſpringen und ausloͤſchen an einer Trauerweide eilet eh 'die Blumen eurer Tage und die Blumen der Wieſe von dem Abende uͤberzo¬ gen werden, wo ſie ſtatt der Lebens - und Feuerluft nur giftige verhauchen und genießet den erſten Pfingſttag eh' er verrinnt!

Und er iſt verronnen, und ein Sommer liegt heute ſchon wie ein Grab auf ihm; aber die drei guten Menſchen haben geeilt und ihn genoſſen eh 'er ſich entfaͤrbte .... Sie wandelten unter die aus allen Geſtraͤuchen fliegende Zephyre hinein, die die Saͤemaſchinen der Blumen ſind ſie traten vor die fuͤnf Taſchenſpiegel der Sonne, vor die Teiche, da die Fluͤſſe Pfeilerſpiegel ſind und die bunten Ufer die Spiegeltiſche ſie ſahen wie die Natur gleich Chriſtus ihre Wunder verbirgt, aber ſie ſahen auch die Brautfackel des vermaͤhlenden Maies, die Sonne, und eine Hochzeitkammer in jedem ſingenden Gipfel und ein Brautbett in jedem Blumenkelch ſie, die Hochtzeitgaͤſte der Erde ſchlugen die Biene nicht weg, die um ſie honigtrunken taumelte, und trieben die aͤzende Mutter nicht auf, vor der der junge Vo¬ gel mit zitternden Fluͤgeln zerfloß und als ſie auf135 alle Erden-Stufen des ewigen Tempels, deſſen Saͤu¬ len Milchſtraßen ſind, geſtiegen waren: ſo ſank die Sonne, wie die Gedanken des Menſchen, einer an¬ dern Welt entgegen. ...

Die Fontaine im Garten des Endes*)So hieß der Park der Abtei, den der Horion in ſei¬ nem romantiſchen Geſchmack anfangen aber nicht vollen¬ den laſſen, weil er auf die Inſel der Vereinigung fiel. Ich webe die Beſchreibung davon nur ſtückweiſe in die Begeben¬ heiten ein., die mitten auf dem Abhange des ſuͤdlichen Berges ſich empor richtet und hoch uͤber den Berg wegſchimmert, trug ſchon auf ihrer kryſtallnen duͤnnen Saͤule einen von der Abendſonne zu einem Rubin umgegoſſenen Schaft und dieſe glimmende aufgeblaͤtterte Roſe zog ſich wie andere entſchlafende Blumen ſchon zu einer rothen Spitze ein und die haͤngenden Marſchſaͤu¬ len der Muͤcken im letzten Strale ſchienen zu ſagen: morgen wird es wieder ſchoͤn, geht zuruͤck, ach ihr ſpielt doch laͤnger in der Sonne als wir.

Sie gingen zuruͤck; aber als Viktor im Abend die fuͤnf hohen weiſſen Saͤulen am weſtlichen Ende des geliebten Gartens blinken ſah: wurde ſein erhoͤh¬ tes Herz ſehnſuͤchtig und beklommen und er wehrte ihm nicht zu ſeufzen: » gute Klotilde! ach ich moͤchte » wohl dich heute noch ſehen, ach mein Herz iſt voll » Freudenthraͤnen uͤber dieſen heiligen Tag und ich136 » moͤchte es wohl ausſchuͤtten vor dir. « Und als der ganze Park der Abtei ſich ſtolz neben den Abend¬ himmel ſtellte und in ihre Herzen trat: ſagte auf einmal Emanuel der ſich immer gleich blieb, ſo¬ gar in ſeinen Entzuͤckungen: » ich will es der Aebtiſſin ſchon heute ſagen, damit unſere Klotilde ſich auf morgen freut « und er trennte ſich ..... Schoͤner Menſch! der du in vier Wochen aus dieſem Blumenfruͤhling zu gehen hofft in die Sterne uͤber dir du denkſt mehr die Unſterblichkeit als den Tod, dich hat keine drohende Rechtglaͤubigkeit ſon¬ dern die indiſche Blumen-Lehre erzogen, darum biſt du ſo ſeelig du biſt ohne Zorn wie jeder Ster¬ bende und ohne Gier und ohne Angſt in deiner Seele, wie am Pole wenn jeden Morgen die ſchwuͤle[Sonne] ausbleibt, geht der Mond der zweiten Welt, den ganzen Tag, die ganze Nacht nicht unter!

Viktor fuͤhrte jetzt allein den Blinden nach Haus und beide ſchwiegen und umarmten ſich mit Bruder - Thraͤnen hinter jeder Verhuͤllung und fragten einan¬ der weder[um] die Urſachen der Umarmung noch der Thraͤnen. Da ſie durchs ſtille Dorf waren und dem Park der Abtei vorbei kamen: ſah Viktor ſeinen Geliebten aus der letzten Laube in das blendende Kloſter treten. Es war ihm als kennte ihn ſchon jede darin, als muͤßt 'er ſich verſtecken. Der Gar¬137 ten der Begeiſterung ſollte in dem Thale nur das Blumenbeet in einer Wieſe ſeyn und nicht durch grelle Schranken an der Natur zuruͤckprallen, ſon¬ dern ſanft wie ein Traum in's Wachen durch bluͤ¬ hende, belaubte Graͤnzen in ſie uͤberhaͤngen und uͤber¬ fließen durch Hopfengaͤrten, durch gruͤne dicht zuſam¬ mengeruͤckte Zaͤune um Fruchtfelder und durch ver¬ ſaͤete Kindergaͤrtgen. Eine weite Kaſtanien-Kolonna¬ de, von zwei Baͤchen in Silber gefaſſet, ſchloß ſich frei und weit gegen die fuͤnf von Bluͤten durchbroch nen Teiche auf. Der noͤrdliche Berg richtete ſich dem Parke gegenuͤber wie eine Teraſſe empor und fuͤhrte das Eden ſcheinbar uͤber ungeſehene Thaͤler fort.

Viktor wich jedem aufgehenden Fenſter des Klo¬ ſters durch die Kaſtanien aus, unter die er ſeinen Blinden fuͤhrte und hinter denen er naͤher und doch unbeobachtet beobachten konnte. Auf dem aus gruͤ¬ nenden Dachlatten verwachſenen Wetterdach der Allee lag der Abend wie ein Herbſt, mit rothem durchfal¬ lenden Schimmer. Er ging trotz der Gefahr der Er¬ tappung bis in die Mitte, wo die Allee in[zwei] Arme zerſpringt; aber hier nahm er den rechten Arm der belaubten Halle, der ſich mit ihm vom Kloſter wegbog ſo wie von einer Nachtigal, die mit¬ ten im Garten aus einer geheiligten Dornhecke ihre Jungen und ihre Toͤne ausſandte. Die Allee that138 ihm durch ihre ſanften Entfernungen von den〈…〉〈…〉 ra¬ vourarien der gefiederten Prima Donna die Dienſte eines Daͤmpfers und Lautenzugs leiſe wurd 'er von den Kruͤmmungen, die die allmaͤhlige Verdunke¬ lung und Verengerung der Allee verbargen, fortgezo¬ gen zwiſchen den nachfliegenden Toͤnen der Nachti¬ gal, zwiſchen den duͤnner durch die Blaͤtter tropfen¬ den Abendſtralen, zwiſchen den zwei Baͤchen, die jetzt innerhalb des Kaſtanien-Korridors dahin ſchluͤpf¬ ten Die Baͤche gingen enger an einander und lie¬ ßen nur fuͤr die Liebe Raum Der Portikus ſenkte ſich tiefer herein Die zerſtreuten Blumen der zwei Ufer draͤngten ſich zuſammen und gingen in Ge¬ ſtraͤuche uͤber Die Geſtraͤuche verwuchſen zur Gar¬ tenwand und beruͤhrten ſich anfangs in loſe und durchſichtig zuhaͤngenden Gipfeln und endlich in fin¬ ſter zuſammengeſtrickten Und die Allee und der unter ihr aufgewachſene Laubengang gruͤnten in ein¬ ander hinein, um mit ihren zuſammenfallenden Bluͤ¬ ten-Huͤllen nur eine einzige Nacht zu machen Dann verſperrte in der gruͤnen Daͤmmerung ein Je¬ laͤngerjelieber Geſpinſt und Bluͤten Geniſte die Laube, aber fuͤnf aufſteigende Stufen lockten zum Zerreiſſen des bluͤhenden Vorhangs an Und wenn man ihn zertheilte: ſank man in ein Bluͤten-Gekluͤft in eine enge durchwachſene Gruft, gleichſam in einen vergroͤ¬ ßerten Blumenkelch In dieſer delphiſchen Hoͤle139 der Traͤume war der Polſter aus hohem Graſe ge¬ macht und die Arme des Sitzes aus Bluͤtenzweigen und die Ruͤcken-Lehne aus gedraͤngten Blumen und die Luft aus dem Hauche von ſtaͤubendem Zwergobſt Dieſes Blumen-Allerheiligſte wurde nur von Bie¬ nen und Traͤumen bewohnt, nur von weiſſen Bluͤten erhellt, es hatte ſtatt des Abendroths nur den Pur¬ pur der Nachtviole, ſtatt des Himmelblaues nur den Azur der Hollunderbluͤte, und der Seelige darin wurde nur von Bienenfluͤgeln und von den um ihn verſammelten fuͤnf Muͤndungen der Baͤche in den Schlummer eingeſungen, in welchem die ferne Nach¬ tigal die Harmonika - und Abendglocken des Traumes anſchlug ....

Und da heute Viktor die fuͤnf Stufen betrat und die aus Bluͤten gewobene Tapetenthuͤr des Him¬ mels auseinander that: ſiehe! da o du Seeliger diſſeits des Todes! ruhte darin eine Heilige mit weinenden Augen, in Philomelens verklungne Klagen untergeſunken ... Du, Klotilde warſt es, und dach¬ teſt an Ihn mit weicherer Seele, und mit groͤßerer Liebe und er an dich jetzt mit der erwiederten! Ach wenn zwei liebende Menſchen einander in der naͤmlichen Ruͤhrung begegnen: dann erſt ach¬ ten ſie das menſchliche Herz und ſeine Liebe und ſein Gluͤck! Decke, Klotide, mit keiner Bluͤte die Thraͤnen zu, unter denen deine Wangen erroͤthen,140 weil jene nur vor der Einſamkeit niederfallen ſoll ten! Zittere, aber nur vor Freude, wie die Sonn zittert, wenn ſie aus einer Wolke am Horizont her¬ ausruͤckt! Schlage dein von Blumen verhangnes Auge noch nicht nieder, das zum erſtenmal ſo ruhig geoͤfnet und mit einem ſolchen Strom der Liebe an den Menſchen ſinkt der dein ſchoͤnes Herz verdient und der alle deine Tugenden mit ſeinen belohnt! .. .. Viktor wurde vom Blitze der Freude getroffen und mußte im ſuͤßen Laͤcheln der Entzuͤckung erſtarren, da die Himmliſche hinter dem Blumengewoͤlk wie ein Mond hinter einem in voller Bluͤte ſtehenden Eden aufging und in der weiblichen Verklaͤrung der Liebe einen in ein Gebet zerfloßnen Engel glich.

Der Blinde wußte noch nichts vom dritten Be¬ gluͤckten. Sie bewegte ſuͤß-verwirrt die Hand nach einem zu duͤnnen Zweige, um ſich von der tie¬ fen Grasbank aufzuheben; dem Geliebten war als reichte ihm aus den Wolken des zweiten Lebens dieſe Hand ein zweites Herz und er zog ſie zu ſich an und ſank mit ſeinem ſtummen uͤberfließenden Angeſicht durch die Bluͤten auf ihre ſchoͤnen klopfenden Adern nieder. Aber kaum hatte Klotilde beide ſtam¬ melnd willkommen geheiſſen unter dem Heraustreten aus dem gruͤnen Kloſet: ſo erſchien ihnen der Engel Emanuel, der aus dem Kloſter geeilet war, um141 die Freundin aufzuſuchen .... Er ſagte nichts, aber er ſah beide mit einer namenloſen Wonne an, um zu finden, ob ſie ſich recht freueten und gleichſam um zu fragen: » ſeid ihr denn jetzt nicht recht gluͤck¬ lich, ihr Guten, liebt ihr euch denn nicht unaus¬ ſprechlich? « O, zum Mitleiden gehoͤrt nur ein Menſch, aber zur Mitfreude ein Engel; es giebt nichts ſchoͤneres als den glaͤnzenden Chriſtuskopf, auf dem das Weglegen der erhabnen Moſisdecke den ſtil¬ len frohen Antheil an fremden unbeſcholltenen Freu¬ den, an fremder reiner Liebe zeigt; und es iſt eben ſo goͤttlich (oder noch goͤttlicher) einer fremden Liebe mit einem ſtumm-gluͤckwuͤnſchenden Herzen zuzu¬ ſchauen als ſie ſelber zu haben. ... Emanuel, dein groͤßeres Lob wird in verwandten Seelen aufbehal¬ ten, aber auf keinem Papier!

Auf dem Kreuzwege der Allee theilte ſich der ſchoͤne Bund auseinander und der linke Zweig der¬ ſelben fuͤhrte Klotilde neben der Nachtigal vorbei in die Wohnung der ſanften Herzen zuruͤck. Viktor kam, von der vergroͤßerten Liebe fuͤr drei Menſchen zugleich aufgeloͤſet, in den dunkeln nur von unterge¬ henden Sternen erleuchteten Zimmern Emanuels an und fand da einen gedeckten Tiſch, den die feine Aebtiſſin dem Gaſte oder dem Wirthe geſendet hatte, (weil Emanuel Abends nur Obſt genoß.) Man will142 alles mit der Geliebten theilen, ſogar die Kuͤche. Emanuel zuͤndete nach Oſtern kein animaliſches Licht mehr an. Im Helldunkel, aus Mondes-Silber und Lindengruͤn zuſammengegoſſen, bluͤhte das ſeelige Klee¬ blatt unter dem Abendſtern. Viktor machte heute durch ſeine mediziniſche Schilderungen der Nachtkaͤlte den ſiechen Freund abtruͤnnig von den Nachtwand¬ lungen und ging nur allein mit dem Blinden noch hinaus an die Schlafſtaͤtte der verſtummten Natur ..... Seelig iſt der Abend, der der Vorhof eines ſeeligen Morgens iſt Der Maifroſt hatte die Sterne vom warmen Dunſthauch gereinigt und das Blau des Halb-Himmels vertieft, um eine ſchoͤne Nacht zum Buͤrgen eines ſchoͤnen Tages zu machen Alles ſchwieg ums Doͤrfgen, ausgenommen die Nachtigal im Garten und die rauſchenden Maikaͤfer, dieſe Herolde eines hellen Tages Und als Viktor nach Hauſe ging mit einem empor geſeufzeten Dank fuͤr dieſe Pfingſtſtunden, von denen jede der andern die Zuckerſtreubuͤchſe gab, um die engen Minuten ei¬ nes ſtillen Menſchen zu verſuͤßen; als er vorbeiging vor den gedaͤmpften Beichtliedern, die hier ein zwoͤlf¬ jaͤhriger Menſch, der morgen zum Abendmal ging, dort einer neben ſeiner Mutter ſang; und als end¬ lich ein verhauchtes Abendlied aus der Abtei, das gleichſam auf einem einzigen Lautenton fortſchwamm, den ſchoͤnen Tag mit einer Kadence zu Ende fuͤhrte143 und da vom ſanften Tage nichts mehr uͤbrig war als ſein Nachhall im Herzen der Gluͤcklichen und im Abendliede des Kloſters, als ſein Wiederſchein in der ziehenden Abendroͤthe am Himmel und in dem befrie¬ digten noch laͤchelnden Angeſicht des ſchlafenden Ema¬ nuels: ſo ſahen in Viktor die ſtummen Freuden wie Gebete aus, die ungeſtoͤrten Thraͤnen wie uͤberlau¬ fende Tropfen aus dem Freudenkelch, ſeine Stille wie eine gute That und ſein ganzes Herz wie die warme Freudenzaͤhre eines hoͤhern Genius ....

Viktor fuͤhrte den blinden Geliebten leiſe an ſeine Lagerſtelle, wo der Traum ſeine zerritteten Augen operirte und ihnen die kleinen Landſchaften ſeiner Kindheit mit Morgenfarben heller um ſie ſtellte Und Viktor legte ſich unentkleidet, dem tief herabge¬ ruͤckten Monde gegenuͤber, auf die Bauſtelle unſerer ſchoͤnern Luftſchloͤſſer, auf den Reſonanzboden der Kindheit, wo der Morgentraum den geheiligten Men¬ ſchen aus der Wuͤſte des Tages auf den Berg Mo¬ ſis fuͤhrt und ihn ſchauen laͤßt in das dunkle gelobte Land der Ewigkeit ....

Der erſte Pfingſttag, lieber Leſer, hat in dieſem Wonne-Dreiklang verhallt; aber in dieſen drei hohen Feſten von Freude wird wie bei denen im Kalender das zweite noch ſchoͤner, und das dritte144 am ſchoͤnſten. Ich werde mit dem Steigen meiner Feder durch dieſe drei Himmel gar nicht eilen ja wenn ich gewiß wiſſen koͤnnte, daß die Akteurs und Figuranten in dieſer Geſchichte mein Werk nie¬ mals zu ſehen bekaͤmen, ich wuͤrde (zur Graͤnzen¬ verruͤckung dieſes Edens) gar manches dazu machen, was nicht hiſtoriſch wahr waͤre.

2. Pfingſt¬145

2. Pfingſttag. 34. Hundspoſttag.

Der Morgen Die Aebtiſſin Der Waſſerſpiegel ſtummer Injurienprozeß Der Regen und der ofne Himmel.

Um zwei Uhr zog der Morgenwind lauter und kuͤh¬ ler durch Viktors ofnes Zimmer und ruͤttelte ſchon Thautropfen von geglaͤttetem Laub das nahe Blaͤtter-Gefluͤſter wirbelte ſich durch ſeine Ohren in ſeine Traͤume Die Lerche fuhr als Ouvertuͤre des Tages hoch in's Himmels-Grau hinauf und laͤutete das Trommetenfeſt des Morgens ein Dieſer Wek¬ ker wurde durch ein Traͤumen zum herumfliegenden Nachhall, das ſich mit dem Morgen vermiſchte und unter dem ſanften Einfallen des nachbarlichen Getoͤ¬ nes ſchloß er langſam die Augen auf und traͤumte weiter, und that ſie wieder zu und erwachte mehr und der Schlaf fuhr nicht wie ein dickes Leichentuch aus Nacht hinweg, ſondern wallete wie ein Schleier aus Morgenduft empor und ſeine Seele ſchloß ſich, ohne eine einzige Bewegung mit dem Koͤrper zu ma¬ chen, mit dem ſtillen Erwachen eines Blumenkelchs vor dem Morgen auseinander ....

Jetzt bin ich ſchon wieder im Sieden und Flammen und doch nehm 'ich mir, ſo oft ich ein¬Heſperus. III Th. K146tunke vor, die Kunſtrichter zu gewinnen und mit meiner Feder zu ſchreiben wie mit einem Eiszapfen. Aber es iſt mir unmoͤglich erſtlich weil ich in die Jahre komme. Bei den meiſten Menſchen hoͤrt zwar wie bei den Voͤgeln das Singen mit der Liebe auf; aber bei denen, die ihren Kopf zu einem Treibhaus ihrer Ideen machen, geben die Jahre d. h. die Exer¬ zirtage darin der Phantaſie wie den Leidenſchaf¬ ten einen hoͤhern Wuchs. Dichter gleichen dem Glaſe, das im Alter bei dem Zerfallen bunte Farben annimmt. Aber zweitens, wenn ich auch erſt in meinem zwanzigſten Jahre bluͤhete: ſo koͤnnt 'ich doch jetzt nicht froſtig ſchreiben, maßen der Winter vor der Thuͤr' iſt. Rouſſeau ſagt, im Stockhauſe braͤchte er das beſte Gedicht auf die Freiheit heraus da¬ her die ſtaatsgefangnen Franzoſen ſonſt beſſere Proſa daruͤber edirten als die freiern Britten daher dich¬ tete Milton im Winter. Ich nahm oft im Sommer meine Schreibtafel hinaus und wollte ihn an dieſes Silhouettenbrett anpreſſen und dann abreiſſen; aber die Phantaſie kann nur Vergangenheit und Zukunft unter ihr Kopierpapier legen und jede Gegenwart ſchraͤnkt ihre Schoͤpfung ein ſo wie das von Ro¬ ſen deſtillirte Waſſer nach den alten Naturforſchern gerade zur Zeit der Roſenbluͤte ſeine Kraft einbuͤßet. Daher mußt 'ich allemal warten bis ich untreu wur¬ de, eh' ich mit meinem Reißzeug an die Liebe147 gehen konnte. ... Aber ein Menſch, der jetzt auf einer molukiſchen Inſel gegen den Nachſommer hin den Fruͤhling grundirt und auszeichnet, muß ihr aus mehr als dem Grunde, weil der fliegende Sommer der ſehnen-erregende Nachklang und die Silberhoch¬ zeit des Fruͤhlings iſt, mit viel zu hellen Saftfarben den Gallerieinſpektoren einhaͤndigen.

Die bunt ausgenaͤhete Beſchreibung von Viktors Aufenthalt in Maienthal kann ſo lang werden wie die von Voltairens ſeinem in Paris, mit deren Ho¬ norar der magere Spaßvogel den Miethzinß ſeiner chambres garnies haͤtte beſtreiten koͤnnen. Denn eben hat der Hund gar einen vierten Pfingſttag ab¬ geliefert und die trinomiſche Wurzel der Freudenpo¬ tenz zu einer quadrinomiſchen ausgebreitet. Da in dieſer Freuden-Quadruplick wiederum kein Jammer ſteht, kein Mord, keine Landplage, ſondern nichts als Gutes: ſo fang 'ich freudig die uͤbrigen Bilder dieſes Fruͤhlings an meiner dunkeln Kammer auf und ſchwebe nicht in der Angſt, daß ich meinen Helden (Knef hat mir alle Pfingſttage uͤbermacht und ſendet nur ein kleines Supplement gar nach) wie etwan meinen Guſtav, aus dem zuſammen geſtuͤrzten Schutt ſeines Luſt - und Sommerhauſes zu ziehen habe.

Emanuel that Vormittags ſein Schreibpenſum in ſeinen aſtronomiſchen Tabellen ab, um den ganzenK 2148Nachmittag mit ſeinem Gaſte bei der Aebtiſſin zu verbringen; auch trug er ihm eine kleine Kollabora¬ torſtelle bei ſeinen Blumen an, naͤmlich die Rosma¬ rinbluͤten auszupfluͤcken und uͤber das Nelkenpoſta¬ ment den Sonnenſchirm zu ſpannen. Bei Emanuel hingen auch in der proſaiſchen Ruhe des Tages, im¬ mer die Fluͤgel noch weit unter den Halbfluͤgeldecken hervor. Viktor hielt die Bitten ſeines Lehrers fuͤr Geſchenke. Da er drauſſen am Rosmarin abblatte¬ te: ſo oͤfnete die aufgehende Sonne das Ventile des Windes und dann fingen, von ihm angeweht, alle Regiſter der großen Weſen-Orgel zu gehen an und vor ſeinem Ohre wogte der Tremulant der Baͤche, ſchrie das Floͤtenwerk der Voͤgel und braußte das 32fuͤßige Pedalregiſter der Waldungen. Ein einge¬ pfarrter kleiner Kopf um den andern, der ſeine zwoͤlf Jahre ſamt eben ſoviel Herkules Arbeiten des Ge¬ daͤchtnißes zum h. Abendmal trug, ſchlich hinter dem Vater mit einem Kranz-Knauf und uͤberhaupt mit Goldflittern geſtickt und aufgeſteift vor ihm voruͤber. Welchen ſchoͤnen zweiten Pfingſttag, der ſonſt voll Regenwolken iſt, habt ihr Kleinen jetzt! Viktor goͤnnte recht gern der Grandetza des Dorfes, d. h. den Vollſpaͤnnern und dem Schulmeiſters Sohn den Haarformer und Zopfprediger Meuſeler, der am zweiten Pfingſttag die benachbarten Doͤrfer friſirte und der mit ſeinem Puder-Weihwedel die letzte149 Pfingſt-Ausgießung auf die kleinen Koͤpfe betrieb, die der Pfarrer ſchon ſechs Wochen eingefeuchtet hatte. Viktors Herz ſchlug vor Freude als wenn er ein Kind mit darunter haͤtte oder eines waͤre, als die bunte gepuderte Weſenkette mit huͤpfenden Flit¬ tern, mit hochſtaͤmmigen Blumenſtraͤußern, mit ſchwarz-gleiſſenden geiſtlichen Muſenalmanachs, vor dem Kommando - und Hirtenſtab ihrer zwei Konſuln, ſingend und beſungen und eingelaͤutet und angebla¬ ſen durchs Kirchen-Triumphthor einzog. Ach Kin¬ dern ſteht die Freude noch ſchoͤner wie uns, ſo wie ein ungluͤckliches, ein bettelndes, dem das Schickſal das erſte Kindergaͤrtgen zertritt und vor deſſen Au¬ gen beim erſten Aufſchlagen ins Sein nichts haͤngt als ſchwarzes ungeſtaltes Morgengewoͤlke, unſer Herz betruͤbter macht als der Vater deſſelben ....

» Beeret jede Minute eures erſten Triumphtages » ab, ihr guten Kinder, und ich wollte, die Predigt » wuͤrde recht lang, damit ihr den ſchoͤnen Anzug » laͤnger anbehieltet! » ſagte Viktor und ſah ſich nach dem Kloſter um, deſſen Fenſter voll unkenntlicher Zuſchauerinnen waren: er ſetzte ſich vor, beim Re¬ marſche der Kinder-Prozeſſion ſich unter den Fen¬ ſtern das mit dem ſchoͤnſten Inhalt auszuſuchen durch ein Taſchenperſpektiv. Gehe nur, guter menſchen¬ freundlicher Menſch, der die ſchoͤnen Seelen liebt wie die ſchoͤne Natur und die kalten ertraͤgt wie die150 Wintergegend, und der ſich nie raͤchte, gehe nur an den Baͤchen auf und ab, weil da der Fußſteig der Fiſcher iſt und weil du auf deinen dichteriſchen Ring¬ rennen keinem Bauern nur einen Zwieſelwagen voll Heu wie ihn die Kinder aus Haſelruthen flechten niedertreten willſt! Fuͤlle den Zwiſchenraum zwi¬ ſchen dem erſten und dem dritten Himmel wo du zu Mittag nicht mit Abraham ſondern mit deiner Klo¬ tilde am Tiſche der Aebtiſſin ſitzeſt, mit einem zwei¬ ten, naͤmlich mit dem Umarmen der ganzen Natur, die nie holder in die Seele hineinſchauet als wenn auf ihr nicht weit von der Seele eine Geliebte wohnt!

Ein Wandelgang zwiſchen zwei zuſammenblitzen¬ den Baͤchen und zwiſchen ihren lakirten von Schaum¬ wuͤrmern beſchneieten Weiden uͤberzieht das ganze Innere bis auf jeden Winkel einer dunkeln Thraͤne mit Morgenglanz. Noch dazu ſchauete Viktor immer uͤber die Wieſe hinauf zu Emanuels ofnem Fenſter und ließ ſich ein Laͤcheln von ihm wie eine laufende Welle voll Licht herunterwehen. Noch dazu blieb er nicht da, ſondern ging zweimal hinauf und ſtoͤrte ihn mitten in ſeinem Schreiben durch ein kindliches Umfaſſen. Noch dazu legt 'er ſeinen Augen Meilenſtiefel an und lief uͤber die ganze ſich hier baͤumende, dort ſich buͤckende, hier leuchtende,151 dort ſchattende Landſchaft, um eine Poſtkarte und Reiſeroute zu den ſchoͤnſten Stellen fuͤr die Nachmit¬ tagsſpaziergaͤnge mit Klotilden ſchon hier voraus zu mappiren und zu ſkizziren, weil Nachmittags die Entzuͤckungen vielleicht die Wahl der Entzuͤckungen verfaͤlſchen! Und ſo ſchuf die Natur in ſeinem Geiſte ihren Morgen und ihren Fruͤhling noch ein¬ mal aus dem Erdenklos des erſten Fruͤhlings, d. h. aus der heiſſen Sonne, aus dem kuͤhlen Bache, aus dem Schmetterling, den der Mai aus der Huͤlfe ſchaͤlte, aus den illuminirten Muͤcken, die die ge¬ baͤhrende Erde aus dem Larvenſamen wie fliegende Bluͤmgen hervortrieb. Da ſchloß er unter dem Spazen - und Schwalbengetobe im Dorfe und unter dem Feldgeſchrei der Lerchen und vor den blendenden Wellen der Baͤche, da ſchloß er die Augen zu und ließ ſeine Seele in das klingende Meer und in das vom Augenlied gemalte Helldunkel untertauchen; aber dann waͤre ſein Herz erdruͤckt worden von der Schoͤpfungsfluth, die uͤber daſſelbe ging aus allen Roͤhren und Betten und Muͤndungen des Lebens um ihn, aus dem verſtrickten Geaͤder des Lebensſtroms, der zugleich durch Blumen-Rinnen, durch Baum - Goſſen, durch weiße Muͤcken-Adern, durch rothe Blut-Roͤhren und durch Menſchennerven ſchießt .. er waͤre Freuden-ohnmaͤchtig ertrunken im tiefen weiten Lebens-Ozean, den Lebensſtroͤme durchkreutzen152 und nachfuͤllen, haͤtt' er nicht wie jener Ertrunkne ein Glockengelaͤute in die Wellen hinunterge¬ hoͤrt ...

Kurz die Kirche war aus und er mußte hin¬ ter einen Blaͤtter-Jagdſchirm gehen, um, wenn die kleinen Abendmals-Paniſten aus der nachor¬ gelnden Kirche und unter den nachtrompetenden Thurm vorbei zoͤgen, dann mit dem Taſchenperſpek¬ tiv zuzuſchauen, wer zuſchaue aus dem Kloſter. Klotildens Angeſicht ſchwebte, wie durch Magie vor¬ gerufen aus der zweiten Welt, dicht am Glaſe und er konnte unvertrieben ſeine Schmetterlingsfluͤgel um dieſe Blume ſchlagen: er konnte frei in ihre großen Augenhoͤlen wie in zwei mit Thau-Glanz gefuͤllte Blumenkelche ſinken. Er ſah nie einen ſo reinen Schnee des Augapfels um die blaue Himmelsoͤfnung die weit in die ſchoͤnere Seele ging; und wenn ſie das Auge in den Garten niederſchlug, ſtand das große verhuͤllende Augenlied mit ſeinen zitternden Wimpern eben ſo ſchoͤn daruͤber wie eine Lilie uͤber einer Quelle. Die Liebe faͤngt ſich wie das Zeich¬ nen und der keimende Menſch beim Auge an. Da die Kinder voruͤber waren: ſo wandte Klotilde ihr Angeſicht langſam und frei gegen Emanuels Laub¬ huͤtte und ſchauete mit dem weiten ſehnenden Blicke der Liebe heruͤber ....

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Und mit einer ſolchen Liebe, die wie ein Herz in ſeinem Ich pochte, kam Viktor ſamt ſeinen zwei Freunden droben im Kloſter an. Die Aebtiſſin (ihr Name wird mir gar nicht berichtet, nicht einmal ein falſcher) empfing ihn mit einem hohen Air, das ihr Stand nicht gegeben, ſondern gemildert hatte. Ihre Seele wurde gekroͤnt geboren. Die ** Fuͤr¬ ſtin, deren Oberhofmeiſterin ſie war, ſpielte zuwei¬ len gern das Kind (Kinder erwiederns umgekehrt und repraͤſentiren ihre Repraͤſentanten); aber ob ſie gleich einen dreißigjaͤhrigen Stolz beſaß, ſo fiel ſie doch ihrem Steckenpferd in den Zuͤgel, ſobald die monar¬ chiſche Oberhofmeiſterin erſchien, die im ganzen Lan¬ de (die Schwanen ausgenommen) den Kopf am mei¬ ſten zuruͤckbog. Eine Frau wie dieſe, deren Blicke Throninſignien und deren Worte mandata sacrae caesareae majestatis propria waren, hatte aus den Haͤnden der Natur ſelber die Huldigungsmuͤnze und das Throngeruͤſte, um ihren Reichsapfel gegen die Schoͤnheitsaͤpfel junger Maͤdgen abzuwaͤgen eine ſolche konnte die Klotilden beherrſchen und formen. Ihre jetzige Seele war von drei Meiſtern gemalt: der Hintergrund von der Welt der Vorgrund von der Kirche der Mittelgrund von der Tugend. Ihre aszetiſche Beſtandtheile ſetzten ſie auf eine ſon¬ derbare Weiſe in einige chymiſche Verwandſchaft mit Emanuels indiſchen.

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Ich kenne nichts ruͤhrenders und ſchoͤneres als die weibliche Verbeugung aus jener tiefen Achtung, mit der gute Maͤdgen ihre Liebe allein zu ſagen wagen. Gluͤcklicher Viktor! deine Klotilde empfing dich mit ſo vieler Achtung wie ihren Lehrer. Nur die Ko¬ kette wird durch die Liebe befehlshaberiſcher (ein kieſelſteinernes Juriſten Wort!); aber die Stolze wird dadurch beſcheiden und ſanft. Nie er froher als in dieſem transparenten Luftſchloß, vor deſſen ofnen Fenſtern ein blauer Horizont und naͤher brauſende und mit Muſik beſetzte Alleen ruhten, als in dieſer geputzten Orangerie aufbluͤhender Maͤdgen, anſtatt daß ein Gymnaſium eine Menagerie iſt und ein Schweſternhaus eine Volerie. Viktor, der Weiber noch beſſer zu lenken verſtand als Maͤnner, war im arbeitenden Ameiſenhaufen dieſer lebhaften Maͤdgen ſo geſund wie in einem Ameiſenbad und war ein zweiter Bienenvater Wildau, der ſich aus dieſem Immenſchwarm bald einen Bart komponirte, bald einen Muff. Es gehoͤrt mehr maͤnnlicher Verſtand zu einer gewiſſen feinen Galanterie als die haben, die ſie in ihren Satiren mit der faden vermengen; ſo wie nur Gebirge den ſuͤßeſten Honig darbieten. Der Ernſt muß den Scherz grundiren, die Achtung und das Wohlwollen das Lob. Viktor konnte leichter vor zwei, als vor 32 weiblichen Augen in Verlegen¬ heit gerathen, die uͤbrigens der groͤbſte Donatſchnizer155 und Germanismus in der weiblichen Grammatik iſt. Er hatt 'es laͤngſt gelernt, die fluͤchtigen Salze des weiblichen Witzes mit den fixen des maͤnnlichen zu binden, ſo wie das, in großen Zirkeln jede Seele, jede Raupe auf das rechte Nahrungsblatt zu ſetzen.

Fuͤr ihn, der einmal geſagt: » ich wollte, ich » haͤtte wenigſtens viermal des Jahrs mit Damen zu » konverſiren, bei denen man ſo viel Tournure an¬ » bringen muͤßte, daß man gar nicht wuͤßte, was man » wollte und die fein bis zum Unſinn waͤren » fuͤr ihn war eine hohe Dame wie die Aebtiſſin, die man ſeit dem Niederlegen ihres Oberhofmeiſter¬ thums ein klein, klein wenig mit einer Prezioͤſen verwechſeln konnte, ein wahres Labſal: denn er konnte ihr doch die phyſiognomiſchen Fragmente vom Hofe mit tauſend Wendungen, d. h. ein Voll¬ geſicht durch fuͤnf Punkte vorzeichnen. Aber er hatte dabei die noch edlere Abſicht, ſeine anbetende Aufmerkſamkeit, ſein in Geſtalt einer Thraͤne ins Auge tretende Herz von ſeiner geliebten Klotilde wegzurufen, um ihr eine ganz andere Aufmerkſamkeit zu erſparen als die ſeinige. Auf eine ſonderbare Weiſe zog immer gerade ſein ſatiriſches Gefuͤhl ſei¬ nen ernſten Gefuͤhlen, ſeiner erweichten Seele die Moſis Decke ab er ſchaͤmte ſich naͤmlich keiner Thraͤne, blos weil er wußte, daß ihn ſeine Laune156 gegen den Verdacht der Uebertreibung und gegen den Spoͤtter beſchuͤtzen koͤnnte; ſo wie wieder umgekehrt ſein ſchillernder Witz unter Thraͤnen wie Phosphor unter Waſſer, ſein Licht aufbehielt und naͤhrte.

Zum Gluͤck machte jetzt Emanuel, der mitten unter dem Diner in den Garten gegangen war, da er wieder kam, die Petizion eines Spazierganges Denn in ſeiner Seele ſtanden nur große Ideen noch vom Leben uͤbrig wie in Aegypten nur Tempel, keine Haͤuſer nachblieben; und ſeine Unwiſſenheit in kleinen Dingen muß kleinen Dingern laͤcherlich ſeyn. Die Aebtiſſin hatte Klotilde als Unterkoͤnigin der feurigen Nonnen neben ſich auf den Thron genom¬ men. Viktor ſtellte mit ſeiner einzigen Perſon das churmaͤrkiſche Pupillenkollegium unter dieſen flattern¬ den Grazien vor. Klotilde uͤbergab den Blinden gerade einem ganzen Tauben-Fluge der lebhafteſten Wegweiſerinnen, weil ſie alle um das Bootmanns - und Zeigefinger Amt beim Blinden warben: ſie liebten ihn alle wegen ſeiner himmliſchen Schoͤnheit und Faſſade, aber (da er die ihrige nicht ſah) nur ſo wie ſie einen ſchoͤnen Knaben von fuͤnf Jahren herzen: .. Zu einer andern Zeit wuͤrde Viktor ſich gewiß umgeſehen und fein angeſpielet haben, daß die Schoͤnheit die Blindheit fuͤhre; aber heute ſah er ſich nur um aus andern Urſachen.

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Endlich war die Inſel der Seeligen, die ſchon durch den Nebel ſeiner Kindertraͤume weit, weit vor¬ geſchimmert hatte, jetzt der Boden unter ſeinen Fuͤßen und er machte jetzt die Entdeckungsreiſen durch ſeinen Himmel er und Klotilde ſchwiegen einige Minuten, weil ihre Herzen ſanft vor Freude zu wallen anfingen, daß ſie endlich allein nebeneinander und vor der großen Eſplanade des Fruͤhlings ſtan¬ den. Unter dem ſeeligen Laͤcheln, dem ſtummen Buchſtaben der Wonne und unter zitternden Athem¬ zuͤgen, dieſer h. Sankritſprache der Liebe, waren ſie ſchon am erſten Teiche, uͤber deſſen Kryſtallſpie¬ gel ſich eine Bruͤcke wie vergoldetes Laubwerk ſchlaͤn¬ gelt. Sie ſtockten in der Mitte dieſer glatten Mond - und Spiegelſcheibe geblendet, weil der Son¬ nenſchirm nicht gegen zwei Sonnen auf einmal, die im Waſſer dazu gerechnet, decken konnte: ſie kehrten ſich halb um und ſuchten mit den Blicken im malen¬ den Waſſer das tiefere Himmelsblau und zwei ſtille begluͤckte Geſtalten auf, die einander mit ihren feuch¬ ten Augen anblickten. O ſein Auge ruhte warm in ihren wiedergeſtralten wie die Sonne in der unter¬ irdiſchen Sonne und ſein zitternder Blick wurde das lange Beben und Aushalten eines einzigen Tones: denn die im Waſſer wohnende Goͤttin ſank mit ihren Augen ſeiner Seele entgegen, weil ſie die verdoppelte Entfernung ſeiner Geſtalt benutzen wollte, die ſich158 auf 10 Fuß belief. Um endlich das uͤbermaͤchtige Entzuͤcken zu ſchließen, fuͤhrt 'er ſeine Augen weg von dieſer Glasmalerei und richtete ſie (d. h. er verdoppelte es blos) an das Original ſelber; und das Ineinanderrinnen der Blicke, das Zuſammenzit¬ tern der Seelen warf in den engen Augenblick die Gefilde eines langen Himmels. Und ſie ſahen, daß ſie ſich gefunden hatten und daß ſie ſich geliebt hat¬ ten, und daß ſie ſich verdienten. Aber unter dem Weitergehen konnte Viktor nur das ſagen: » o moͤch¬ » ten Sie ſo unausſprechlich gluͤcklich ſeyn wie ich » heute. » Und ſie antwortete leiſe, wie ein unter weiche blaͤtterloſe Bluͤten verhauchter Zephyr ſo lei¬ ſe: » ich bin es wohl. » .... Ach ich habe mir oft es vorgemalt, wenn wir uns alle einander ſo liebten wie zwei Liebende, wenn die Bewegungen al¬ ler Seelen wie bei dieſen, gebundne Noten waͤren, wenn die Natur uns allen zugleich den Nachklang ihres bis uͤber die Sterne reichenden Saitenbezuges ablockte, anſtatt daß ſie nur ein liebendes Paar wie ein Doppelklavier bewegt dann wuͤrden wir ſehen, daß ein Menſchenherz voll Liebe ein unermeßliches Eden einſchloͤße, und daß die Gottheit ſelber eine Welt erſchuf, um eine zu lieben.

Aber ich will wieder ſo ſchreiben wie Klotilde ſprach, die den dichteriſchen Geiſt nur durch Tha¬ ten, nicht durch Worte offenbarte, gleich Schauſpie¬159 lern, die den Reim und das Sylbenmaas ihres Dichters im Sprechen zu umgehen wiſſen.

Das Dorf oder das Wirthshaus vielmehr gab ihrer Himmelsleiter eine vierte Sproße, den vierten Pfingſttag Der Englaͤnder Kato der aͤltere fuhr heraus, der aus Kuſſewiz mit einem wandernden Orcheſter Prager Virtuoſen von ſeiner Geſellſchaft weggelaufen war, um das Maienthal auch zu ſehen. Er konnte nie in ſeinem Leben auf etwas warten. Er ſagte zu Viktor, morgen komm 'er zu ihm, heu¬ te beſchau' er die beſaͤeten Proſpekte und paſſe mit der Ouvertuͤre der Prager nur auf das Auslaͤuten der Veſperpredigt. Endlich ſagt 'er ihm, daß Fla¬ min und Matthieu uͤbermorgen verreiſeten und wie¬ der zuruͤckgingen nach Kuſſewiz und folglich da laͤn¬ ger verweilten als ſie gewollt. Dieſe Gegenwart des Englaͤnders und die ſpaͤtere Zuruͤckkehr des Ei¬ ferſuͤchtigen machte auf einmal den letzten Willen in Viktor feſt, auch den vierten Pfingſtlag als die vier¬ te Saite auf dieſes Freuden-Tetrachord aufzuziehen. Und da an dieſem vierten Tage gerade das durch alle Heftlein dieſes Buchs laufende Raͤthſel mit dem Engel in die Entzifferungskanzlei der Zeit getragen wird, weil Julius den Brief deſſelben Klotilden zum Vorleſen uͤbergiebt: ſo konnt' er ſich weiß machen, er bliebe deswegen; und zu ſich ſagen: » Wunders¬ » halber ſollte man's doch abwarten, was es mit160 » dem Engel fuͤr eine Bewandniß habe. » Guter Held! du vermengſt jeden Engel mit deinem und ich wuͤßte nicht, warum nicht! ...

Jetzt lief ein Wolkenſchatten uͤber ſie, gleichſam als Vorlaͤufer eines dunklern, der ihre Seelen ſuchte. Denn Viktor, der vor einem ſchoͤnen Herzen niemals ſeines verſperren konnte, der in der Heiligung der Liebe alle Verſtellung verſchmaͤhte, erzaͤhlte Klotil¬ den mit jener Herzlichkeit, die ſich ſo leicht mit Feinheit vermaͤhlen laͤßt, die Urſachen von Mat¬ thieus Reiſe, naͤmlich ſeine eigne kleine Thorheit in Kuſſewiz, wo er der Fuͤrſtin das geſchriebene billet¬ doux mitgab. Er haͤtt 'ihr auch ohnedas dieſe Er¬ oͤfnung machen muͤſſen, um der fremden eines An¬ klaͤgers vorzubauen. Aber er ſetzte bei Klotilde vor¬ eilig die Chronologie ſeiner kleinen Annalen voraus und merkte nicht an, daß er das Billet geſchrieben, eh' er wußte, daß Klotilde noch frei und nur Fla¬ mins Schweſter ſey*)Denn erſt als er Kuſſewiz zurück kam, erfuhr er auf der Inſel von ſeinem Vater die Verwandſchaft Klotildens.. Sie ſchwieg lange. Er be¬ fuͤrchtete dieſe Pantomime des Zuͤrnens; und wagt 'es nicht, ſich davon zu uͤberzeugen durch einen Blick in ihr Angeſicht. Endlich bat ſie ihn an ihrem Lieblings-bow¬ ling green, wo in der groͤßten Vertiefung des Thalsgruͤner161gruͤner Schatten ſeine gemalten Zweige im Sonnen und Waſſerſcheine wiegt, da bat ſie ihn weder mit kalter noch ſtolzer Stimme, ſondern mit einer faſt geruͤhrten, ſie ein wenig auf ihrer Lieblings Gras¬ bank, deren Seitenlehnen große Blumen waren, aus¬ ruhen zu laſſen. Als er vor ihr ſtand: ſo erblickte er erſchrocken in ihrem beſeelten Angeſicht nicht einen mit der Hoͤflichkeit ringenden Groll, ſondern den ruͤhrenden Kampf gegen das Schickſal, das ihr den Liebling ihrer Seele verdunkelte, den unei¬ gennuͤtzigen Schmerz uͤber die geſchloßene Narbe, die ſie aus ſeiner Tugend wegwuͤnſchte. Ihr war, ihm war als wenn das vorige Jahr ſich wieder erhoͤbe von ſeinem Todtenkiſſen aus Freudenblumen, die es beiden ertreten hatte: ſie waren recht traurig, Klotilde war kaum ihrer Augen maͤchtig und Viktor kaum ſeiner Zunge bis dieſem endlich das Mi߬ verſtaͤndniß einleuchtete. Er ſagte ihr daher leiſe und auf engliſch: » haͤtte ſein Vater ihm alle ſeine » Eroͤfnungen fruͤher gemacht, ſo haͤtt 'er ihm mehr » als einen Kampf, mehr als eine truͤbe Stunde und » zuerſt die vorige Thorheit erſpart. »

In der hoͤhern Liebe iſt der Zorn nur Trauer uͤber den Gegenſtand. Klotilde ſetzte gleichwol die Sonnenfinſterniß ihrer ſchoͤnen Minen fort aber es kam nicht von Fortdauer des vorigen Seufzers, noch von dem gewoͤhnlichen Unvermoͤgen, eine aus¬Heſperus. III. Th. L162geſoͤhnte Seele ſogleich in ein zuͤrnendes Geſicht zu uͤbertragen, ſondern die Unzufriedenheit mit ihrer eignen Voreiligkeit ſah allemal wie eine mit einer fremden aus. Daher ſtand ſie auf, um ihm ihren Arm und gleichſam das nahe liegende Herz wieder zu geben. Viktor erlaubte ſich den Bruch des dop¬ pelſtimmigen Schweigens nicht Emanuel kam nach und da ſagte Klotilde bewegt als wenn ſie erſt aufs Vorige antwortete: » ach ich bin meinem Bruder » nur zu ſehr verwandt von der Seite meiner Feh¬ » ler. » Meinte ſie Flamins Eiferſucht, oder Arg¬ wohn, oder wahrſcheinlicher ſein Temperament? Viktor wandte ſich zu ihr, um ſie gleichſam fuͤr das um Verzeihung zu bitten, was ſie geſagt und ihre Augen ſagten: » o ich haͤtte dich nicht verkennen » ſollen » und ſeine ſagten: » ich haͤtte dich, auch » ungekannt, nie verlaͤugnen ſollen » und ihre Herzen machten Friede und der Oelzweig wand zwi¬ ſchen den alten Blumen der Freude ihre Seelen an einander.

Emanuel fuͤhrte ſie, als ihr leitendes Geſtirn, auf ſeine lieben Berge, dieſe Frontlogen der Erde nur von ſeinem Berg mit der Trauerbirke wehrte er ſie aus unbekannten Gruͤnden freundlich ab ; und ſein leichtes Aufſteigen gab ihnen die Freude uͤber die Geneſung ſeines Athems. Endlich kamen ſie auf den Thron der Gegend, auf den Berg, wo163 Viktor am Morgen nach der durchreißten Nacht uͤber Maienthal geſchauet hatte. O wie zog ſich die le¬ bendige Ebene Gottes, der Vorgrund einer Sonne und eines Edens, in ſo unbaͤndigen, gruͤnenden, athmenden, wehenden Maſſen dahin! Wie hing der Himmel voll Berge aus Duft, voll Eißfelder aus Licht! Und ein ſanfter Morgenwind ſchlich ſich aus dem mit Wolkenflor verhangnen Morgenthor und ſpielte mit Himmel und Erde, mit dem gelben Bluͤm¬ gen und mit der breiten Wolke daruͤber, mit der Augenwimper unter einer Thraͤne und mit durch¬ wuͤhlten Kornfluren! Wie wird das Auge ſo groß, wenn gejagte Nachtſtuͤcke der Wolkenſchatten dem hellen Sonnenſchein der Erde durchſchneiden, wie wird das Herz ſo groß, wenn der Morgenwind die gefluͤgelten Schatten bald uͤber Berge ſchleudert, bald in Glanzteiche, bald in gebuͤckte Saaten! Aber rund auf die Waͤlder hatten ſich ſtille Eißber¬ ge aus Wolken gelagert. Ach dieſes mit Tag und Nacht gefleckte Gefilde, dieſer Wall aus Nebel¬ gletſchern ſtellte ja Viktors Herz in den alten Traum zuruͤck, wo er Klotilde auf einem Eißberg mit aus¬ gebreiteten Armen ſah! Ach auf dieſer uͤber den ſuͤdlichen Berg reichenden Felſenſpitze konnte er die Inſel der Vereinigung dunkel mit ihren Gipfeln und mit ihren weiſſen Tempel liegen ſehen, und dasL[2]164trinkende Herz taumelte voll vom gemiſchten Trank aus Sehnſucht und Wehmuth und Liebe.

Dann ſagt 'er es ihr gern, daß er an jenem Morgen ſie hier geſehen habe, wo er dem Blinden das Blaͤttgen an Emanuel gegeben, und daß er ſich doch ihren Beſuch verſaget gieb ihm nur, Klotilde, den großen warmen Blick voll Dank fuͤr ſein Schonen deines Bruders, fuͤr ſein edles Lieben und fuͤr ſein Ueberſchleiern dieſes Liebens! Sie ſah ihn an und als ihr Auge warm von einer Thraͤ¬ ne wurde, neigte ſich der Himmel auf einem Son¬ nenwoͤlkgen zu ihnen nieder und beruͤhrte die ver¬ wandten Menſchen mit heiſſen herunterflatternden Tropfen. O du gute Erde, du gute Natur! Du ſympathiſirſt oͤfter (und allemal) mit guten Menſchen als oft gute Menſchen ſelber! Vor ihn trat der Traum, Klotildens Thraͤnen den Fußboden in ein hebendes Woͤlkgen zertheilten ...

Aber der heranziehende Abend und die kleinen herunterrollenden zerriſſenen Perlenſchnuͤre von Re¬ gentropfen riefen die ſchoͤnen Menſchen in die Zim¬ mer zuruͤck. Die Maͤdgen, die mit den Blinden nicht einmal den Berg ganz erklettert hatten, kehr¬ ten ſchon um und gingen voraus. Emanuel entfern¬ te ſich auf ſeinen Trauerberg, um dort ſeine Blu¬ men dem Regen aufzudecken. Als unſere zwei lie¬ benden Menſchen unten im rauchenden Thale anka¬165 men: o wie himmliſch wurde der Abend und die Erde: Am großen Abendhimmel uͤber ihnen be¬ wegten ſich Tulpenbeete von rothem Gewoͤlke, zwi¬ ſchen denen blaue Streifen wie dunkle Baͤche liefen. Hinter ihnen ſtanden unter der Sonne Berge, wie Veſuve, in Flammen, und die Waldung, wie ein feuriger Buſch und das uͤber die Blumen laufende Steppenfeuer ergrif die Wolkenſchatten. Und alle Lerchen hingen mit ihren Ripienſtimmen der Natur nahe am rothen Deckenſtuͤcke des Abends und jeder tiefere Sonnenſtrahl hielt eine ſummende Weſenkette von Muͤcken. Und in der Schaͤferei am Berge liefen rufend hundert Muͤtter an hundert Kinder zu¬ ſammen und das ſtille Schaf eilte laͤrmend an ſein durſtiges niederknieendes Lamm

Großer Abend! nur im Thal Tempe bluͤheſt du noch und verwelkeſt nicht; aber in wenig Minuten, Leſer, brechen erſt alle ſeine Bluͤten praͤchtig auf!

Klotilde und Viktor gingen enger und waͤrmer aneinander gedruͤckt unter dem ſchmalen Sonnen¬ ſchirm, der beide gegen den fluͤchtigen Regen ein¬ bauete. Und mit Herzen, die immer ſtaͤrker ſchlu¬ gen und ſtatt des Blutes gleichſam andaͤchtige Freu¬ den-Thraͤnen umtrieben, erreichten ſie den Park; die warmen Toͤne der Nachtigal zogen ihnen daraus ent¬ gegen; die abgewehten Toͤne des muſikaliſchen Ge¬ folges, womit der Englaͤnder jetzt uͤber die Berge166 ging, floßen ihnen wie Blumenduͤfte nach. Aber ſiehe, als die Erde noch die Vergoldung im Feuer der Sonne trug, als noch die Abendfontaine wie eine Fackel oben brannte, als in einem großen Eichenbaum des Gartens, in dem bunte Glaskugeln ſtatt der Fruͤchte eingeimpfet waren, zwanzig rothe Sonnen aus den Blaͤttern funkelten ſiehe da floß eine erwaͤrmte Wolke auseinander und tropfte ganz in das Abendfeuer und auf die glimmende Waſſer¬ ſaͤule .....

Die den Baͤumen naͤhern Nonnen flogen unter das Laub; aber Klotilde, die den langſamen Gang ſchoͤner und tugendhafter fuͤr eine weibliche Seele fand, ging ohne Eile der nachbarlichen » Abendlaube » zu, die, uͤber den Garten erhoben, ihr dichtes Blaͤt¬ terwerk nirgends aufthut als vor der untergehenden Sonne. Nein, es war ein Engel, es war Klo¬ tildens Schweſter, Giulia, die auf der zarten Wol¬ ke ruhte und durch ſie ihre Freudenthraͤnen fallen ließ, um ihre Freundin, deren Arm in des Gelieb¬ ten ſeinem wie in einem Verbande lag, in die glim¬ mende Laube zu draͤngen, wo zwei ſchoͤne Herzen vor Wonne ſterben ſollten. Klotilde verweilte noch un¬ ter dem Perlen - und Goldſand-Regen und glich den ſtillen Tauben um ſie her, die auf allen Daͤchern ihre reinen Fluͤgel wie bunte Regenſchirme ausein¬167 anderſchlugen und dem Bade unterhielten und vor dem Eintritte zog ſie Viktor zuruͤck, der Wonne¬ beklommen ſagte: » o Gott! » und auf Emanuels Laube hinblickte, auf der das Portal des Paradieſes aus muſiviſchen Steinen aufgefuͤhrt ſich anfing und ſich durch den Himmel hinuͤberwoͤlbte uͤber die Abend¬ laube und mit dem himmliſchen Zauberkreis die drei ſchoͤnen Seelen einfaßte

Und als ſie in die dunkle Laube traten, die nur eine kleine Oefnung gegen die durch den Regen her¬ einbrennende Sonne hatte: ſtanden ihnen die Thraͤ¬ nen in den Augen. Und vor der Oefnung lag das Abendgefilde, mit den wankenden Feuerſaͤulen, zwi¬ ſchen denen der goldne Fluß der zerſchmolzenen Son¬ ne ſchlug, und mit den Auen, die bis an die Blu¬ men in einem Meer von Lichtkuͤgelgen ſtanden. Und herabgefallene Regenbogen lagen mit ihren Truͤmmern auf den Bluͤtenbaͤumen. Und kleine Luͤftgen wehten das Lauffeuer in den Wieſenblumen an und warfen Funken aus den Bluͤten. Und das Menſchenherz wurde von den Wonneſtroͤmen fortge¬ zogen und ſchwam brennend in ſeinen eignen Thraͤ¬ nen.

Wie eine Verklaͤrte ſchauete Klotilde in die Son¬ ne und ihr Angeſicht wurde erhaben zugleich von der Sonne und von ihrer Seele. Und ihr Freund ſtoͤrte die ſchoͤne Seele nicht; aber er nahm das weiſſe168 Tuch aus ihrer Hand und trocknete die aus der Laube tropfenden Farbenkoͤrner mit Blumenſtaub umzogen ſanft hinweg, und ſie gab ihm freiwillig ihre Hand. Als ſie ihre Augen voll Thraͤnen auf ihn wandte: ließ er die Thraͤnen ſtehen; aber ſie nahm ſie ſelber und ſchauete ihn mit einer Liebe an, uͤber die bald die alte Thraͤne zog, und ſagte mit einem Laͤcheln, das ſeetig weiter floß: » mein ganzes » Herz iſt unausſprechlich geruͤhrt; vergeben Sie » ihm, theuerſter Freund, heute alles worin es bis¬ » her dem Ihrigen nicht aͤhnlich war! » ...

Siehe da wurde die warme Wolke in den Garten gleichſam wie ein ganzer Paradieſesfluß nie¬ dergeſchuͤttet und auf den Stroͤmen floßen ſpielend Engel herab .... und als die Wonne nicht mehr weinen und die Liebe nicht mehr ſtammeln konnte, und als die Voͤgel jauchzeten und die Nachtigal durch den Regen ſchmetterte, und als der Himmel freudig¬ weinend mit Wolkenarmen an die Erde fiel: ja, dann zitterten zwei begeiſterte Seelen zuſammen und ruheten ohne Athem aneinander mit den zuckenden Lippen feſt auf den zuckenden Lippen und Wange an Wange gepreſſet im gluͤhenden zitternden Schauer dann quollen endlich wie Lebensblut aus dem ge¬ ſchwollnen Herzen, große Wonnethraͤnen aus den liebenden Augen in die geliebten uͤber. Das Herz maaß die Ewigkeit ſeines Himmels mit großen won¬169 ne-ſchweren Schlaͤgen die ganze Sichtbarkeit, die Sonne ſelber war dahingeſunken und nur zwei See¬ len ſchlugen aneinander einſam in der ausgeleerten daͤmmernden Unermeßlichkeit, geblendet von Thraͤnen¬ ſchimmer und vom Sonnenglanz, uͤbertaͤubt vom Himmelsbrauſen und vom Echo der Philomele, und erhalten von Gott im Erſterben aus Wonne ...

Klotilde bog ſich ab, um die Augen abzutrock¬ nen; und ihr ſtummer Liebling ſank um und kniete vor ihr und druͤckte ſein Angeſicht auf ihre Hand und ſtammelte: » o du Herz aus meinem Herzen, » o du ewig, ewig Geliebte, ach koͤnnt 'ich fuͤr » dich bluten, fuͤr dich untergehen » Und ploͤtzlich ſtand er wie von einer unermeßlichen Begeiſterung gehoben auf und ſagte leiſer, ſie anſchauend: Freun¬ din, dich, Gott und die Tugend lieb' ich ewig. »

Ich will endigen: der Nachklang dieſer großen Stunde loͤſet mein Inneres auf. Sie traten aus der Laube der Himmel hatte ſich wie ihr Herz erſchoͤpft in Freudenthraͤnen und war blos heiter die Sonne war zugleich mit der großen Minute un¬ tergangen. Viktor ging langſam als wenn er vor einem weiten Elyſium vorbeiginge, das empfang¬ ne Eden auf ſeinem Herzen tragend, heim in Daho¬ re's ſtille Wohnung. Dahore ſank ſitzend einge¬ ſchlummert ſanft hinuͤber und heruͤber, und Viktor, ob er gleich gern ſein Herz an einer zweiten aͤhnli¬170 chen Bruſt auspochen laſſen wollte, verſagte ſich es doch und lehnte ſich langſam an den wankenden Lehrer. Er hielt recht lange das ſchlummernde Haupt an ſeiner brauſenden Bruſt. Sein Freuden¬ gewitter kuͤhlte ſich ab zum heitern Himmel und die erquickten Freudenblumen ſchloßen die Duft-Kelche der Erinnerung auf. Dahore ſchlug die Arme um ſeinen Liebling und dann erſt wurde er wach: denn es hatte ihm getraͤumt, er umarme ihn, und als er aufwachte, war er froh, daß es ihm nicht blos ge¬ traͤumet hatte.

Genug! und ihr, ihr Menſchen, die ich lie¬ be, ruht 'aus an der Erinnerung oder an der Hoff¬ nung; und leget zugleich mit mir dieſe kleinen Blaͤt¬ ter aus den Haͤnden!

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3. Pfingſttag oder 35. Hundspoſttag oder Burgunder-Kapitel.

Der Engländer Wieſenball ſeelige Nacht die Blütenhöle.

Bei den Menſchen wie bei den Geitzigen ſchlaͤgt es immer nur Viertel zur frohen Stunde, aber gleich einer ſchlechten Uhr ſchlaͤgt es die Schaͤferſtunde un¬ ſerer Hoffnung nie aus. Aber in Ruͤckſicht der Pfingſttage iſt das grundfalſch ſie ſind praͤchtig und wie man ſonſt die Ausgießung des h. Geiſtes in alten Kirchen durch das Herunterwerfen der Blumen vorſtellte: ſo bilden wir ſie in Maienthal durch das Auswerfen figuͤrlicher ab. Ich habe daher gar eine Flaſche Burgunder aufgeſiegelt und neben die Din¬ tenflaſche geſtellt, um erſtlich durch mein groͤßeres Feuer in dieſem Kapitel die Natur - und Kunſtrich¬ ter auf meine Seite zu bringen, die leichter den Stab uͤber Autoren als eine Lanze mit Autoren bre¬ chen und um zweitens uͤberhaupt den Wein zu trinken, welches ſchon an ſich Endzwecks und Teleo¬ logie genug iſt. Ein wahres Schlaraffenland und Himmelreich haͤtten wir, wenn auch der Leſer bei172 ſolchen Kapiteln etwas Spirituoͤſes zu ſich naͤhme Betrinkt ſich der Autor allein, ſo geht der halbe Ef¬ fekt zum Henker; und es iſt ein Ungluͤck, daß die Rezenſenten nichts zu leben und zu trinken haben: ſie koͤnnten mir als einem Stern zur Refrakzion durch ihren Dunſtkreis dienen und mich hoͤher und breiter zeigen als ich ſtaͤnde.

Viktor war kaum in's naſſe Gras des Morgens gelaufen, als er den Englaͤnder mit dem Kopfe un¬ ter den Gießkannen des Waſſerrades aufjagte. Er vergab dieſem Kato dem aͤltern gern alle ſeine Son¬ derbarkeiten und das Idiotikon ſeiner tollen Natur und ſeinen Kometen-Gang: denn er war in ſeinem achtzehnten Jahr ſelber ein ſolcher Schwanzſtern ge¬ weſen und ſah dieſen fuͤr eine auf ſich geſchlagene Kometenmedaille an. Ob gleich der Britte Sonder¬ barkeit ſuchte: ſo wußte Viktor aus eigner Erfah¬ rung, daß er's nicht aus Eitelkeit (man kann wenn man will, aus allen Handlungen, ſogar aus den un¬ ſchuldigſten, Eitelkeit extrahiren wie aus allen Koͤr¬ pern Luft) ſondern aus Laune geſchah, fuͤr welche der Genuß einer exzentriſchen Rolle, man mag ſie leſen oder ſpielen eben ſo viele Reize hat wie fuͤr das Gefuͤhl der Freiheit und der innern Kraft. Eitle erliegen dem Laͤcherlichen, dem der Sonderling trotzt; und jene haſſen, dieſe ſuchen ihre Ebenbil¬ der. Das einzige, was Viktor ihm veruͤbelte, war173 daß er andern kleine Schonungen bloß darum nicht erwies, weil er auch keine begehrte; und eben dieſer vom Humor unzertrennliche Krieg mit allen kleinen Schwaͤchen und Erwartungen der Menſchen hatte dem menſchenliebenden Viktor dieſe exzentriſche Bahn verleidet. Das Ungluͤck macht daher leichter Son¬ derlinge als das Gluͤck.

Ihm gab die Freude uͤber die Schilderungen, die ihm Kato von Flamins aͤhnlichen Himmelfarthen und Freudenfeuern machte, den Gedanken ein, ſeine Qua¬ terne ſchoͤner Tage durch etwas anders zu verdienen als durch ſeine vorigen truͤben naͤmlich dadurch, daß er auch fremde ſeinen aͤhnlich machte. Kurz er redete es mit dem aͤltern Kato ab dem's recht lieb war, die Prager zu etwas zu verwenden, naͤmlich Abends in der Kuͤhle, damit den Maientha¬ liſchen Kindern einen Wieſen-Ball zu geben. Was hatten beide dazu noͤthig als was ſie ſogleich tha¬ ten in die Taſche und in die Boͤrſe zu greifen und dem Nachtwaͤchter loci mehr zu geben als das Heu ſeiner großen Wieſe zu Johannis werth ſeyn konnte, die heute zu einem Tanzſallon ausgemaͤhet werden mußte? Der Mann gab ſie ohnehin mit tau¬ ſend Freuden her, weil ſein Sohn heute Hochtzeit hatte. Die zwanzig Maienbaͤume, die Kato in den Redoutenſaal pflanzen wollte, ſtanden ſchon als Ar¬ tochthonen inkorporirt darin. Und als ſie noch bei174 den Eltern des ſaubern Dorfes ſonſt aber gleicht der arme Ackerbauer dem Schweine, das nach Ae¬ lian hist. 1. 2. ſeine Profeſſion erfand die jun¬ gen Tanz-Moitiſten mit der groͤßten Ernſthaftigkeit Bauern und Damen finden ſich nicht in Sonder¬ barkeiten zuſammen gebettelt und gepreſſet hat¬ ten: ſo war alles richtig.

Das befreundete Trio fand am Mittagstiſche der Aebtiſſin den geſtrigen Tag. Viktor war uͤberall ſo¬ gleich zu Hauſe, er blieb nicht Gaſt, damit der an¬ dre nicht Wirth bliebe. Man findet ſonſt Maͤdgen ſelten ſo wieder als man ſie verließ, ſo wie ihr Em¬ pfang allemal waͤrmer oder kaͤlter iſt als ihr Billet vorher; aber in Klotildens zergehenden Zuͤgen kuͤn¬ digte ein unendlicher Zauber die Erinnerung von ge¬ ſtern an, wo ſie aus zwei Gruͤnden ihr Herz allen ſeinen auf dem Altar der Natur und der Tugend geheiligten Flammen uͤberlaſſen hatte. Erſtlich war ſie geſtern waͤrmer, weil ſie vorher kaͤlter geweſen im kleinen Zank, den bloß ihr Geſicht uͤber die Kuſſe¬ vizer Affaire gehabt: nichts macht die Liebe ſuͤßer und zaͤrter als ein kleines Keifen und Frieren vor¬ her, ſo wie die Weintrauben durch einen Froſt vor der Leſe duͤnnere Schaalen und〈…〉〈…〉 eſſern Moſt gewin¬ nen. Zweitens betragen ſich in einem hohen Grade der Ruͤhrung und Liebe die beßten Maͤdgen gerade ſo wie die guten.

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Ich habe erſt drei Kaffeetaſſen Burgunder zu mir genommen, weil ich zur Karnation und Roͤthelzeich¬ nung des Nachmittags vielleicht nicht mehr brauche aber o Himmel, die Nacht! Meine Schuld iſt's nicht, wenn es der Nachwelt nicht zu Ohren koͤmmt, daß die meiſten Nachmittags der Hitze we¬ gen aus dem Garten blieben. Aber ſie ſehen aus den Zimmern die Wieſe, den Zimmerplatz eines ſchoͤ¬ nen Abends, wo die Kinder ſchon im voraus herum¬ liefen, das Gras hinaustrugen, und mit Virtuoſen auf Bierhebern das Trommetenfeſt eroͤfneten. Es wuͤrde zu geringfuͤgig ſeyn, wenn ich's anmerken wollte, daß mehrere Jungen durch geſchoſſene rothe Kappen oder Kronen todt hingeſtreckt wurden, weil ſie Haſen vorſtellten, der Muͤtzen-Schuͤtze Jaͤger, und die Reſtanten Windhunde; man kann's aber me¬ taphoriſch nehmen und dann wird's ſatiriſch und er¬ heblich genug.

Die Freude zarter Menſchen iſt verſchaͤmt, ſie zeigen lieber ihre Wunden als ihre Entzuͤckungen, weil ſie beide nicht zu verdienen glauben oder ſie zei¬ gen beide hinter dem Schleier einer Thraͤne. Vik¬ tor war ſo und ſah in jeder Freude ſeufzend nach Weſten, ich weiß nicht ob er an den Untergang der Sterne und der Menſchen dachte oder an die Schwarzen, deren Ketten bis in unſere Halbkugel heraufklirren, oder an naͤhere Weiſſe, fuͤr die man176 die zerſprengten wieder loͤthet mit Blut Aber dieſes Schauen nach ſeiner Keblah zwang ihn ſeine Entzuͤckung zu verdienen. Die geſtrige und heu¬ tige war ſo groß, daß er geruͤhrt zum Genius der Erde ſagte: » ſo groß kann meine ſchwache Tugend » nicht werden. « Es half ihm nichts, daß er ſich ſelber vor ſeinem Gewiſſen herauszuſtreichen ſuchte und dieſem vorſtellte, wie viel ſchoͤne Minuten und frohe Pulsſchlaͤge er hier in dieſem Seifersdor¬ fer Thal austheile an ſeine Freunde, und an ſeine Freundin, die durch ihn geneſe, und an die Kinder, die er jetzt ſchon ſpringen ſehe und Abends noch mehr es fruchtete beim Gewiſſen etwas, aber doch nicht genug, als er es fragte, ob er denn vor der Sphaͤrenmuſik dieſer Tage die Ohren zuhalten ſollte; ob er nicht ſeine Leidenſchaften uͤberwunden habe und ob nicht der groͤßere Spielraum und die groͤßere Thaͤtigkeit eines Menſchen bloß in der groͤ¬ ßern Zahl beſiegter Leidenſchaften beſtehe, ſo daß alſo eine Hofdame, ja ſogar ein Koͤnig keinen kleinern Wirkungskreis innen habe als der nuͤtzlichſte Buͤrger; und ob nicht der Menſch wie ſehr kleine Kin¬ der bloß in die Erdenſchule geſendet worden, um ſtille ſeyn zu lernen aber der evchariſtiſche Re¬ ligionskrieg des alten und neuen Adams hoͤrte bloß durch eine Entzuͤckung auf, naͤmlich durch die Ent¬ ſchließung, ſobald ihn ſein Vater die Hand - undBein¬177Beinſchellen des Hofes abnehme, mehr zu kuriren als der Stadt - und Landphyſikus und alles gratis und meiſtens bei Armen.

Nur auf ein Wort, Leſer! Tugend kann nicht der Gluͤckſeligkeit wuͤrdig machen, ſondern nur wuͤrdi¬ ger, weil die ſchon Exiſtenz bei uns wie bei den nicht-moraliſchen Thieren ein Recht an Freude giebt weil Tugend und Freude inkommenſurable Groͤ¬ ßen ſind, und man nicht weiß, wird ein ſeeliges Jahrhundert durch ein tugendhaftes Jahrzehend ver¬ dient oder umgekehrt weil die Jahre der Freude vor den Jahren der Tugend laufen, ſo daß der Tu¬ gendhafte ſtatt der Zukunft erſt die Vergangenheit, ſtatt des Himmels erſt die Erde zu verdienen haͤtte.

Der Nachmittag lief wie eine lichte Quelle uͤber bunte Kleinigkeiten wie uͤber Goldſand hinuͤber, uͤber kleine Freuden und uͤber große Hofnungen, uͤber zarte Aufmerkſamkeiten und uͤber den Blumenſtaub wohlwollender Feinheiten, der das beſte Heftpulver der Herzen iſt. Viktor fuͤhlte, daß eine Geliebte, die viel Verſtand hat, der Liebe einen eignen pikanten Geſchmack mittheile; ſie ſelber fuͤhlte, daß das Herz, das man mit weichen bekleideten Haͤnden und nicht mit rohen Griffen abgepfluͤckt, ſich beſſer konſervire, ſo wie Borsdorferaͤpfel laͤnger ſich halten, die man nur mit Handſchuhen abgenommen. Ob gleich nach mei¬Heſperus. III. Th. M178nen Tabellen die Liebe gerade am Tage nach dem erſten Kuſſe am hoͤchſten, naͤmlich auf 112° Fahrenh. oder 10° de l'Isle ſteht: ſo war doch mit Viktors Liebe zugleich ſeine Ehrfurcht geſtiegen o die Liebe erhebt, worin die Gunſtbezeugungen nicht kuͤhner ſondern bloͤder machen!

Unſer Freund fuͤhlte, wie gluͤcklich in der Freude das Anſichhalten mache und wie ſehr der mouſſi¬ rende Freuden-Pokal durch einige Meſſerſpitzen hin¬ eingeworfnes Temperirpulver ſich aufhelle und ver¬ edle. Nach einem Nachmittag, wo die ganzen Stunden reizend waren, ohne daß man einzelne auſ¬ ſerordentliche Minuten haͤtte herausheben koͤnnen wie die Faſanenfedern nicht einzeln, ſondern in gan¬ zen Buͤſchen glaͤnzen nach dieſem Nachmittag zog alles in den Garten, aber Emanuel zuerſt. Der In¬ dier vertrug wie Grasmuͤcken keine Zimmer und ſchwieg darin oder las nur und zwar bloß was mich nicht wundert den ernſthaften Shakeſpear ......

Unter dem großen Abendhimmel, den keine Wolke einſchraͤnkte, thaten ſich die Seelen wie Nachtviolen auf. Emanuel war der Zizerone und Gallerieinſpek¬ tor dieſes maleriſchen Gartens. Er fuͤhrte ſeinen Freund und die andern zu ſeinem kleinen Blumen¬ gaͤrtgen, das am hoͤchſten im Park lag. Der Park lief naͤmlich den Berg hinab mit fuͤnf gleichſam aus179 dieſem Schubladenweiſe herausgezognen Terraſſen und Stockwerken. Dieſe fuͤnf Ebenen, dieſe einge¬ hauene gruͤnende Stufen, hielten eben ſo viel ver¬ ſchiedene Gaͤrten, Baum-Staudengaͤrten ꝛc. empor daher wurde durch jeden neuen Standpunkt wie durch einen metamorphotiſchen Spiegel aus dem al¬ ten Garten ein neuer zuſammengeruͤckt. Den ab¬ ſchuͤſſigen Park faßten auf beiden Seiten zwei Schlangengaͤnge hoher, wankender, brennender Blumen wie zwei hinunter wehende Treppengelaͤnder ein und hinter jeder Blumen-Schlangenlinie ringelte ſich oben vom Berge ſilbernes Geaͤder mit hellem duͤn¬ nem auf - und niederſpringenden Gewaͤſſer herab*)Man hielt den in Bogen auf - und niedergehenden Silber¬ faden für herunterrieſelnde Quelle; aber die Bogen mehrerer ſchief-ſpringender Fontainen waren in ſolche Ent¬ fernungen geſtellt, daß der eine den andern fortſetze., das in der Abendſonne eine in aufrechten Windungen daliegende Goldſchlange oder Ichor Schlagader wur¬ de. Auf der oberſten letzten Terraſſe ſtanden einan¬ der die Abend - und die Morgenlaube als die Pole des Gartens gegenuͤber und die Abendfon¬ taine glimmte uͤber jener und die Morgenſon¬ taine uͤber dieſer empor und beide ſahen zu eiander wie Mond und Sonne heruͤber.

Und gerade an der Abendfontaine hatte Emanuel ſeinen Zwiſchengarten. Denn er liebte als IndierM 2180phyſiſche Blumen wie poetiſche, und ihm war im December ein Blumenbuch eine gewiegte Blumenau und ein Nelkenblaͤtterkatalog war fuͤr ihn die Huͤlſe und Chryſalide des Sommers. Er fuͤhrte ſeine Ge¬ liebten auf der blumigen Region des Berges durch die unſchuldigen Blumen hindurch die wie gute Maͤdgen weder Sonne noch Erdreich zum eignen Le¬ ben dem fremden nehmen vor der Goldquaſte der Tulpe vorbei vor den Miniaturfarben des Ver¬ gißmeinnicht vor den bunten Glocken die auch wie die lauten in den Giesloͤchern der Erde gegoſ¬ ſen werden vor den Ohrroſen des Auguſts, naͤm¬ lich den Roſen vor dem Kato, der nicht der lu¬ ſtige Englaͤnder ſondern eine ungeflammte Aurikel iſt, die bei H. Klefeker in Hamburg zu haben vor der geliebten Agathe, die an die andere in St. Luͤne erinnerte und die eine ſchoͤne Schluͤſſelblume iſt. ..

Endlich kamen ſie an die Adendlaube und an Da¬ hore's Blumen, naͤmlich an ſchneeweiſſe Hyazinthen in deren Verſchattung die durchſtrahlte Abendfontai¬ ne eine bleiche Roͤthe tuſchte. O wie ſchoͤn, wie ſchoͤn wehte da die Waͤrme der Abendſonne heruͤber und die Kuͤhle des Abendwindes! Aber warum ſinket, Klotilde, dein Auge und dein Haupt hier ſo traurig gegen die Blumen zu? Iſt's, weil die Fon¬ taine erliſcht, weil die Sonne untergeht? Nein, ſondern weil die weiſſen Hyazinthen in der Blumi¬181 ſtenſprache Julia heiſſen o weil der Gottesacker heruͤberſieht, deſſen hohe wankende Grasblumen mit ihren Wurzeln uͤber zwei geliebten Augen ſtehen, uͤber den Augen der blaſſen Hyazinthe Giulia, die das heutige Feſt nicht erlebte. Aber Klotilde verbarg ſich, um nichts zu ſtoͤren.

Das ausfunkelnde Gold der Waſſer-Silberſtange und die zuruͤckſchlagende Abendlohe an allen Fenſtern zogen die Augen zur Sonne, die unter ihre Buͤhne ſank Aber ein rollendes Feuerrad des Allegro, womit die Harmoniſten auf der Wieſe die weichende Sonne begleiteten, nahm die Augen zu den Ohren herab und unten auf der eingehuͤllten Wieſe ſtieg ein neues Theater der Freude mit neuen Schauſpielern empor .... Zwei Roſen waren in den Himmel ge¬ pflanzt, die rothe, die Sonne, die uͤber der zweiten Halbkugel ihre Bluͤten aufthat, und die weiſſe, der Mond, der in unſere niederhing; aber Sonnengold und Lunensſilber und Abendſchlacken wurden noch von einem rauchenden Zauberdufte eingeſogen und man konnte noch nicht die Schatten vom ſilbernen Grunde des Mondlichts abſondern und niederflattern¬ de Bluͤten wurden noch mit Nacht-Schmetterlingen vermengt.

Die Gluͤcklichen gingen durch die Kaſtanienallee hinab zu den juͤngern Gluͤcklichen, zu den Kindern, die, kuͤhner durch die Gegenwart ihrer Mutter, zwan¬182 zig Freiheitsbaͤume in veraͤnderlichen Gruppen umzin¬ gelten und umkreiſeten und nur auf tiefere Schatten warteten, um ſchneller zu tanzen. Der Englaͤnder wurde von Klotilde wie ein Freund ihrer zwei Freunde empfangen. Das Brautpaar, dem die Wieſe als Erbſchaft gehoͤrte, hatte die eigne Muſik gegen dieſe vertauſcht und das Bundesfeſt deſſelben ruͤckte in ſeinem Budesfeſte unſerem Helden den heitern Tag naͤher, wo er er auch ſeine Klotilde Braut nennen durfte; aber er hatte jetzt nicht den Muth, ſein erroͤthendes Geſicht gegen dieſe zu wenden, weil er dachte, ſie denke daſſelbe und ſey auch roth. Nur ein Liebender kann mit dem Enthuſiasmus eines Brautpaars ſympathiſiren; und nie ſtiegen ſchoͤnere Wuͤnſche fuͤr eines auf als fuͤr dieſes in zwei See¬ len voll Liebe. Eine vierjaͤhrige Schweſter der Braut druͤckte ſich an Klotilden an jene war die kleine Luna dieſer Venus bei ihren Spaziergaͤngen und dieſe entlud gern ihre Liebe in die kleine Hand, die der ihrigen den Vorzug vor einem Moitiſten ließ.

Der Mond gab jetzt durch den Widerſchein der Sonne, womit er dieſes Kinderparadies verſilberte, der Freude helleres Kolorit und unter dem vertieften Schatten der Maienbaͤume wuchs der kindliche Muth. Alles war begluͤckt alles feſſelnlos alles fried¬ lich kein giftiges Auge warf Blitze keine ein¬ zige Haͤrte ſtoͤrte das metriſche Leben in melodi¬183 ſcher Fortſchreitung klangen dir Minuten im Silber¬ tone voruͤber und verfingen und hielten ſich in dem ausſchlagenden Roſendickigt der Abendroͤthe auf Der laue flatternde Aether des Fruͤhlings ſog an den Bluͤten ſich voll Duͤfte und trug ſie wie Honig in die Bruſt des Menſchen Und als die Pulſe voller ſchlugen, ſpielten ſtumme kuͤhlende Blitze um die Nebel des Horizonts und der Mond zog Lebens¬ luft*)Im Mondſchein ſondern die Pflanzen Feuer - oder Lebens¬ luft ab. aus den Blaͤttern, um auf ihr den abgezognen Geiſt ihrer Kelche geſuͤnder zuzufuͤhren.

Viktor und der Englaͤnder und Emanuel und Klotilde nebſt einigen von ihren Freundinnen ſtanden unten wie gebende Goͤtter der Freude neben den Kin¬ dern und wurden durch den Genuß der fremden La¬ bung trunken. Unſer Freund hatte eine zu heilige Liebe, um ſie (zumal ſo vielen Fremden und dem Englaͤnder) zu zeigen und legte dem unbaͤndigen tan¬ zenden Herzen Zuͤgel an. In der edeln Liebe iſt das Opfer und waͤre ſie es ſelber ſo angenehm wie der Genuß; aber noch leichter wird es neben einem Emanuel, der das iſt das ſchimmernde Ordens¬ kreuz der hoͤhern Menſchen gerade in der Freude ſeine Augen zu dem hoͤhern Leben aufhebt und zur184 Wahrheit. Dieſesmal verdoppelte noch dazu das Gefuͤhl ſeiner ſteigenden Geſundheit ſein Schmachten nach dem geweiſſagten Verſcheiden. Sein verherr¬ lichtes Angeſicht, ſeine uͤberirrdiſchen Wuͤnſche und ſein ſtilles Ergeben waren gleiſam der zweite hoͤhere Mondenſchein, der in den dunklern fiel; und er ſtoͤrte das wachſende Elyſium gar nicht, da er z. B. ſagte: » der Sterbliche haͤlt ſich hier fuͤr ewig, weil » das Menſchengeſchlecht ewig iſt; aber der fortgeſtoßene » Tropfe wird mit dem unverſiegendem Strome ver¬ » wechſelt; und keimten nicht immer neue Menſchen » nach, ſo wuͤrde jeder die Fluͤchtigkeit ſeiner Lebens¬ » terzie tiefer empfinden « oder da er ſagte: » wenn der Menſch nicht unſterblich wird, ſo wird » es auch kein hoͤheres Weſen und die Schluͤſſe ſind » dieſelben; dann brennte der ſtehende Gott aus dem » kaͤmpfenden und erloͤſchenden Sinn einſam heraus, » gleich der Sonne, die, wenn es keinen Erdendunſt¬ » kreis gaͤbe, aus einem ſchwarzen Himmel lodern und » die gewoͤlbte Nacht durchſchneiden aber nicht erhel¬ » len wuͤrde « oder da er ſagte: der Gang des » Menſchengeſchlechts zur h. Stadt Gottes gleicht dem Gange einiger Pilgrimme, die nach Jeruſalem wallfarthen und allemal nach drei Schritten vor¬ waͤrts wieder einen ruͤckwaͤrts thun « Oder end¬ lich da er auf ſeines Viktors Bemerkung, daß die Beſſerung nur die groben Fehler, nicht die feinen185 Gewiſſensbiſſe aufhebe und daß ein Heiliger ſo viel Klagen von ſeinem Gewiſſen erhalte als der Schlim¬ me, da er darauf ſagte: » unſere Entfernung von » der Tugend findet man wie die von der Sonne, durch » genauere Berechnungen bloß groͤßer: aber die » Sonne fließet, aller veraͤnderlichen Rechnungen un¬ » geachtet, immer mit derſelben Waͤrme in unſer » Angeſicht. «

Ploͤtzlich lief der Englaͤnder zu den Spielern und foderte um die achromatiſchen Spruͤnge und Laͤu¬ fer ſeiner Ideen in Muſik geſetzt zu ſehen von ihnen das beſte Adagio und eilte in das » Florge¬ » zelt « oben hinauf, das der Lord Horion aus ei¬ ſernen Boͤgen und daruͤber geſpannten ſchwarzen Dop¬ pelflor erbauen ließ, um fuͤr ſeine damals erkranken¬ den Augen den Sonnenſchein in Mondſchein umzu¬ ſetzen. Da jedes Herz bei der erſten Beruͤh¬ rung vom Adagio in ſeelige Thraͤnen zerſpringen mußte: ſo zerlegte die Wonne, die ſich zu verhuͤllen ſuchte, den ruhenden Kreis und alle floſſen auseinan¬ der, um, (jeder unter ſeinem eignen Ueberlaubung) ungeſehen zu laͤcheln und ungehoͤrt zu ſeufzen wie Kurgaͤſte eines Geſundbrunnen zertheilte, begegnete, entfernte man ſich in zufaͤlligen Richtungen.

Der ſchoͤne Blinde ruhte oben nicht weit von der Nachtigal gleichſam an der Quelle der harmoniſchen Stroͤme und Klotilde blickt 'ihn trauernd an, ſo oft186 ſie an ihm voruͤber ging und dachte vielleicht: » arme verſchattete Seele, die Seufzer der Muſik » dehnen dein ſehnſuͤchtiges Herz aus und du ſiehſt » nie, wen du liebſt, wer dich liebt. « Emanuel ging einſam den langen Weg zu ſeinem Berge mit der Trauerbirke hinauf und zuruͤck. Viktor irrte den ganzen Garten hindurch: er kam vor verhuͤllten Obeliſken, Saͤulen und Wuͤrfeln voruͤber, die den Platz ſteinerner Faunen beſſer beſetzten; er trat in die dunkle nur von der Abendroͤthe ſchattirte Abendlaube, wo er geſtern zu gluͤcklich war fuͤr einen Sterblichen und zu weich fuͤr einen Unſterblichen; er draͤngte ſich durch einen Ring von Buͤſchen, aus denen ein ſtrahlendes Springwaſſer vorragte und ſchloß geblen¬ det die Augen zu als er darin in kuͤnſtlich belaubten Pfeilerſpiegeln einen mit Mondsſilber geſaͤttigten Waſſerbogen in zuruͤckweichenden Erbleichungen mil¬ lionenmal aufgewoͤlbt und aus weiſſen Regenboͤgen in Mondsſicheln und endlich in Schatten zuruͤckge¬ fuͤhrt erblickte.

O wie oft hatt 'er nicht in ſeinen Kindertraͤu¬ men, in ſeinen Landſchaftsgemaͤlden, die er ſich von den Tagen des Paradieſes entwarf, dieſe Nacht ge¬ ſehen und kaum gewuͤnſcht, weil er ſie auf der rau¬ hen Erde nie zu erleben hofte; und jetzt ſtand dieſe Eden-Nacht mit allen um ſie haͤngenden Bluͤten und Sternen ausgeſchaffen vor ihm? Und wer von187 uns hat nicht in irgend einer zauberiſch beleuchteten Stelle ſeiner Phantaſie und ſeiner Hofnung ein eben ſo großes Nachtſtuͤck einer kuͤnftigen Fruͤhlingsnacht aufgeſtellt, wo er wie in dieſer mit allen Freun¬ den auf einmal (nicht immer allein) gluͤcklich iſt wo wie in dieſer die Nacht nur als ein Schleier durchſichtig uͤber den Tag geworfen iſt, wo der ro¬ the Guͤrtel, den die Sonne beim Einſteigen in's Meer abgelegt, bis an den Morgen auf dem Rand der Erde ſchimmernd liegen bleibt wo die langen Seelentoͤne der Nachtigal laut durch das auseinan¬ der rinnende Adagio ziehen und ſich aus dem Echo erheben wo wir lauter befreundeten Seelen be¬ gegnen und ſie trunken anblicken und durch das Laͤ¬ cheln fragen: o du biſt doch auch ſo gluͤcklich wie ich? und wo das fremde Laͤcheln es bejahet eine Nacht, o Gott, wo du unſer Herz voll und doch ruhig gemacht, wo wir weder zweifeln noch zuͤr¬ nen noch fuͤrchten, wo alle deine Kinder an dei¬ ner Bruſt in deinen Armen ruhen und die Haͤnde ihrer Geſchwiſter halten und nur mit halb geſchloſſe¬ nen Augen ſchlummern um ſich anzulaͤcheln? Ach da der Seufzer, womit ich dieſes ſchreibe und ihr es leſet, es uns daran erinnert, wie ſelten ſolche Fruͤhlingsnaͤchte auf unſere Erde fallen: ſo veruͤbelt es mir nicht, daß ich das ſchwelgeriſche Gemaͤlde die¬ ſer Nacht nur langſam vollfuͤhre, damit ich einmal188 in meinen alten Tagen mich an der gemahlten Stunde der jetzigen Begeiſterung erquicke und etwan ſagen koͤnne: ach du wußteſt es damals wohl, daß du niemals eine ſolche Nacht erleben wuͤrdeſt, dar¬ um warſt du ſo weitlaͤuftig. Und was anders als verſteinerte Bluͤten eines Klima, das auf dieſer Erde nicht iſt, graben wir aus unſerer Phantaſie aus ſo wie man in unſrem Norden verſteinerte Palmbaͤume aus der Erde holt ....

Viktor ging zum ſtillen Julius an der Nachtigal¬ lenhecke und legte ihm Nachtviolen in die Hand und kuͤßte ihn auf das verhangne Auge, das nicht ſehen aber doch weinen konnte vor Freude und die be nachbarte Nachtigal hielt nicht innen unter dem Kuß. Viktor kam den Garten hinauf als Ema¬ nuel herunterkam, und neben der Morgenfontaine ſahen ſie einander an und Emanuels Angeſicht leuch¬ tete im Wiederſchein der Wellen als wenn er vor dem Engel des Todes ſtaͤnde und zerfloͤſſe, um zu ſterben und er ſagte: » Der Unendliche druͤckt uns » heute an ſich warum kann ich nicht weinen, da » ich ſo gluͤcklich bin. « Und als ſie wieder ausein¬ ander waren: rief er ſeinem Viktor zuruͤck und ſag¬ te: » ſchau wie bluͤhendroth der Abend gegen Mor¬ gen zieht wie ein Sterbender, als wenn ihn die Toͤ¬ ne fortruͤckten ſchau die Sterne haͤngen wie Bluͤ¬ ten aus der Ewigkeit in unſere Erde herein ſchau189 die große Tiefe wieviel Fruͤhlinge gruͤnen heute auf ſo viel tauſend darin ziehenden Erden. «

Als Viktor vor der Sonnenuhr voruͤberging, die mit einem Maasſtabe aus Schatten uns andern Schatten ihre engen gluͤcklichen Inſeln zuzaͤhlte und als ihm der Mond auf der Wage mit ſeiner innenſtehen¬ den Schattenzunge die letzten Minuten dieſer frohen Stunde vorwog, weil er nach Mitternach hin zeigte gleich ſam als wenn er ſchriebe: es iſt ſogleich voruͤber: ſo trat der Englaͤnder allein langſam und niederblickend aus dem Florgewebe und ging unter die Toͤne, um ſie wegzu¬ fuͤhren mit dem ganzen Himmel um ſie. Viktor, der im ſtillen Meer der tiefſten Freude nicht mehr nach Gegenden ſteuerte ſondern zufrieden darauf tau¬ melte und ruhte und in der Zukunft nichts begehrte als die Gegenwart, wandelte jetzt nur auf den lan¬ gen Terraſſen hin und her, anſtatt den Garten auf und abzuſteigen er ſtand gerade auf der oberſten, auf der Blumenteraſſe, an der Morgenfontaine und ſah den daͤmmernden Weg hinuͤber zur blinkenden Abendfontaine und der Schnee des Mondes lag tie¬ fer und weiſſer gefallen die gluͤckſelige Ebene hinab und dieſes bluͤhende Zuckerfeld kam ſeinem traͤumen¬ den Herzen wie eine in dieſe Erde hereinreichende Landſpitze der Inſel der Seeligen vor und er ſah ja lauter ſeelige Menſchen auf dieſem Zaubergefilde gehen, ruhen, tanzen, hier einſam, dort in Paaren, dort190 in Gruppen und unſchuldige Menſchen, ſtille Kinder, ſanfte tugendhafte Maͤdgen und er ſchauete zum ge¬ ſtirnten Himmel auf und ſein Auge voll Thraͤnen ſagte zum Allguͤtigen: o gieb auch meinem guten Vater und meinem guten Flamin eine ſolche Nacht als er ploͤtzlich die Toͤne wie abgewehet ver¬ nahm und den Britten mit den Kindern ziehen ſah und das Schwanenlied eines Maͤſtoſo wurde voraus¬ getragen vor der entfliehenden Jugend ....

Viktor ging oben mit den wegſchwimmenden Toͤ¬ nen und die Sterne ſchienen mitzuſchwimmen und die Gegend mitzugehen auf einmal ſtockt er am Ende der Blumenterraſſe, vor der Abendfontaine, vor den Ebenbildern Giulias, den weiſſen Hyazinthen, vor der Freundin Giulias, vor Klotilde ... Au¬ genblick! der nur in der Ewigkeit wiederholt wird, ſchimmere nicht zu ſtark, damit ich es ertragen kann, bewege mein Herz nicht zu ſehr, damit es dich be¬ ſchreiben kann! Ach beweg 'es nur wie die zwei Herzen, denen du erſchienſt, du begegneſt uns allen nicht mehr ..... Und Klotilde und Viktor ſtanden unſchuldig vor Gott und Gott ſagte: weint und liebt wie in der zweiten Welt bei mir! Und ſie ſchaue¬ ten ſich ſprachlos an in der Verklaͤrung der Nacht, in der Verklaͤrung der Liebe, in der Verklaͤrung der Ruͤhrung und Wonnezaͤhren deckten die Augen zu und hinter den erleuchteten Thraͤnen ſtiegen um ſie191 verklaͤrte Welten aus der dunkeln Erde auf und die Abendfontaine legte ſich glimmend wie eine Milch¬ ſtraße uͤber ſie heruͤber und der Sternenhimmel ſchlug funkelnd uͤber ſie zuſammen und das entweichende Vertoͤnen ſpuͤhlte die aufgehobnen Seelen vom Er¬ denufer loß. ... Siehe! da trieb ein kleines We¬ hen die entfliegenden Laute heiſſer und naͤher an ihr Herz und ſie nahmen ihre Thraͤnen von den Augen; und als ſie umher ſchaueten in der Gegenwart: ſo bewegte das melodiſche Wehen alle Bluͤten im Gar¬ ten und die große Nacht, die mit Rieſengliedern im Mondſchein auf der Erde ſchlief, regte vor Wonne ihre Kraͤnze aus abgeſchatteten Gipfeln und die zwei Menſchen laͤchelten zitternd zugleich und ſchlugen mit ein¬ ander die Augen nieder und hoben ſie mit einander auf und wußten's nicht. Und Viktor konnte endlich ſagen: O! moͤge das edelſte Herz, das ich kenne, ſo unaus¬ ſprechlich ſeelig ſeyn wie ich und noch ſeeliger! So viel hab' ich nicht verdient. Und Klotilde ſagte in einem ſanften Tone: ich bin den ganzen Abend allein geblieben bloß um vor Freude zu weinen, aber er iſt zu ſchoͤn fuͤr mich und die Zukunft. ... Die umkehrenden Geſpielinnen kamen den Garten herauf und beide mußten auseinander ſcheiden; und als Vik¬ tor noch mit erſtickten Lauten ſagte: » Ruhe wohl, du edle Seele ſolche Freudenthraͤnen muͤſſen im¬ mer in deinen Augen ſtehen, ſolches melodiſche Ge¬192 toͤne muͤſſe immer um deine Tage rinnen Ruhe wohl du himmliſche Seele « und als ein Blick voll neuer Liebe und ein Auge voll neuer Thraͤnen ihm dankte; und als er ſich tief, tief buͤckte vor der Heiligen Stillen Beſcheidnen, und aus Ehrfurcht nicht ein¬ mal ihre Hand kuͤßte: ſo umarmte in der Unſichtbar¬ keit ihr Genius ſeinen Genius vor Entzuͤcken, daß ihre zwei Kinder ſo gluͤcklich waren und ſo tugen¬ haft.

O wie wohl that jetzt ſeiner uͤberſchuͤtteten Seele ſein geliebter Dahore, dem er unter den lauten Ka¬ ſtanien nachkam und an den er mit allen ſeinen Thraͤ¬ nen der Wonne, mit allen ſeinen Liebkoſungen des trunknen Herzens fallen durfte: » mein Emanuel, » ruhe ſanft! Ich bleibe heute Nacht unter dieſem » guten warmen Himmel um uns her. « » Bleibe » nur, Guter, (ſagte Emanuel) eine ſolche Nacht » zieht durch keinen Fruͤhling mehr. .... Hoͤrſt du » (fuhr er fort, als die in die Unermeßlichkeit ent¬ » ruͤckten Toͤne gleichſam wie Abendſterne des unter¬ » gegangnen Glanzes, wie Herbsſtimmen des wegzie¬ » henden Sommergeſangs in die ſehnſuͤchtige Seele » hineinriefen) hoͤrſt du das ſchoͤne Vertoͤnen? ſiehe, » eben ſo toͤne am laͤngſten Tage meine Seele aus, » eben ſo liege dein Herz an meinem und ſo ſage wie » heute: ruhe wohl! « ...

Dem193

Dem letzten Geliebten entſunken ſchwankte Viktor im gemiſchten Zwielicht der wehmuͤthigen Begeiſte¬ rung zuruͤck durch die vom Mondlicht durchbrochne gleichſam von Stralen tropfende Allee, um in der Bluͤtenhoͤle, wo er zuerſt Klotilde hier gefunden, das traͤumende Haupt an ein Kopfkiſſen von Bluͤtenkel¬ chen anzulehnen .... Und als er langſam und allein und mit elyſiſchen Erinnerungen und Hofnungen durch den in die Allee gewachſenen Laubengang zwi¬ ſchen den einwiegenden Baͤchen hinwankte: ſo ſchwam¬ men noch niedrige Wogen des weggetragnen Getoͤnes in die Phantaſie mehr als in die Ohren und nur die Nachtigal regierte laut uͤber die beſeelte Nacht. O! da ſank unnenbar begluͤckt und wonneſchwer der letzte Menſch dieſer Nacht von den fuͤnf Stufen ſeines himmliſchen Bettes durch die Zweig Vergitterung in das dunkle Bluͤten Souterrain hinein Be¬ thauete Sproſſen fielen kuͤhlend an ſeine entzuͤndete Stirne, er legte die zwei Arme ausgeſtreckt auf zwei Armlehnen von Zwergbaͤumen und ſchloß entzuͤckt die heiſſen Augenlieder zu und das Forttoͤnen der Nach¬ tigal und der fuͤnf Quellen um ihn wehten ihn ei¬ nige Strecken weit in den daͤmmernden Wahnſinn des Traumes hinuͤber aber die in Freuden Jubel hinausſchreiende Nachtigal ſchlug durch ſeinen Traum und als er die Augen, in halbe Traͤume verſchlagen, aufthat, ſchoß der Blitz des Mondes durch das weiſſeHeſperus. III. Th. N194Geſtraͤuch dennoch, von den vorigen Sze¬ nen befriedigt, laͤchelte er nur halb auſſer ſich und uͤberhuͤllte das Auge wieder und ließ ſich ganz in den harmoniſchen Schlummer hinunter .... nur ewige gebrochne Laute ſang er noch in ſich ... nur eini¬ gemal regte er noch die liegenden Arme zu Umfaſſun¬ gen .... und nur im Erſterben des Schlummers und der Wonne ſtammelte er Einmal noch dunkel: Geliebte! ...

Und ſo ſchoͤn, großer Allguͤtiger, laſſ 'uns andere Menſchen in der letzten Nacht entſchlafen wie Vik¬ tor in dieſen und laſſ' es auch unſer letztes Wort ſeyn: Geliebte!

195

4. und letzter Pfingſttag. 36. Hundspoſttag.

Hyazinthe Die Stimme vom Vater Emanuels Brief vom Engel Flöte auf dem Grab Zweite Nachtigal Ab¬ ſchied Piſtolen Geiſtererſcheinung.

Eben iſt der Anhang zum vierten Freudentage einge¬ laufen. Ich komme nach dem Seufzer, womit man gewoͤhnlich am Tage nach den Feſttagen ſagt, daß man ſie begrabe, wieder vor das bluͤhende Bette meines Freundes und oͤfne den gruͤnenden Vorhang; gegen neun Uhr erſt zog ihn eine nah 'an ſeinen Haͤnden ſchlagende Grasmuͤcke muͤhſam aus einem tiefen Traummeer. Aber die Schattenfiguren, die der Hohlſpiegel des Traums in der Luft aufgerichtet hatte, waren alle vergeſſen; nur die Thraͤnen, die ſie ihm ausgepreſſet, ſtanden noch in ſeinen Augen und er entſann ſich nicht mehr, warum er ſie vergoſ¬ ſen hatte. Es war hente Quatember, der wie an¬ dere Wetter - und Mondsveraͤnderungen unſer Traum - Echo lauter und vielſylbiger macht. In einer ſon¬ derbaren Erweichung ſchlug er die Augen auf vor der weiſſen Daͤmmerung des Apfelbluͤten Ueberhangs, vor dem Wirwar des gruͤnen Geſpinſtes ſeine Hand jagte die Grasmuͤcke durch das Gebuͤſch N2196es war ſchwuͤl um dieſen Schatten, die Baumgipfel waren ſtumm und alle Blumen gerade Bienen bogen ſich von Sandkoͤrngen herab in die Quellen um ihn und ſchlurften Waſſer von den Weiden tropf¬ ten weiſſe Flocken und alle Riechflaͤſchgen der Bluͤ¬ ten und die Rauchgefaͤße der Blumen uͤbergoßen ſei¬ ne Schlafſtaͤtte mit einem ſuͤßen ſchwuͤlen Dunſt ...

Er fuͤhrt ſeine rechte Hand ans naſſe Auge und erblickt darin mit Erſtaunen eine weiſſe Hyazinthe, die ihm jemand heute mußte hineingeleget haben .. Er verfiel auf Klotilde; und ſie war's auch gewe¬ ſen: vor einer halben Stunde trat ſie an dieſes Blu¬ men-Bette ließ ſogleich das Geſtraͤuch leiſe wie¬ der zuſammenſchlagen zog es aber doch wieder auseinander, weil ſie die Thraͤnen des vergeſſenen Traums uͤber das Angeſicht des gluͤhenden Schlaͤfers rinnen ſah ihre ganze Seele wurde nun ein wei¬ cher ſegnender Blick der Liebe und ſie konnte ſich nicht enthalten, das Denkmal ihres Morgenbeſuchs, die Blume, in die Hand zu legen und eilte dann leiſe in ihr Zimmer zuruͤck.

Er trat eilig in den leuchtenden Tag, um die Geberin einzuholen, deren Morgengabe er leider aus Beſorgniß der Zerſtoͤrung ſo wenig wie ſie ans Herz anpreſſen durfte. O wie that es ihm wehe, als er im Freien vor dem herrnhutiſchen Gottesacker der heimgegangnen Himmelsnacht, vor dem ruhen¬197 den Garten ſtand und als er auf die kahlen ausge¬ maͤhten eingetretenen Tanztenne und auf die ver¬ ſtummte Nachtigallenſtaude blickte und auf die Ber¬ ge, woran die Kinder ſchmutzig weideten vom geſtri¬ gen Schmucke entkleidet! Da erſchien der vergeſſene Traum wieder und ſagte: weine noch einmal, denn das Roſenfeſt deines Lebens beſchließet ſich heute und der letzte von den vier Fluͤßen des Paradieſes trock¬ net in wenig Stunden gaͤnzlich aus! O ihr ſchoͤ¬ nen Tage, ſagt 'Viktor, ihr verdient es, daß ich euch verlaſſe mit einer Erweichung ohne Maaß und mit Thraͤnen ohne Zahl! Er floh aus dem zu hartem Tageslicht in die Zelle aus Flor, damit ſie den hellen Vorgrund des Tages zu einem daͤmmernden Hintergrund ummalte mit dem geſtrigen Mondſchein uͤberdeckt; und unter dieſem Leichenſchleier der erbli¬ chenen Nacht ſetzte er ſich vor, dem verarmenden Herzen heute ſeine letzten Freuden ganz im Ueber¬ maaß zu goͤnnen, naͤmlich ſeine Thraͤnen. Er trat aus dem Flor, aber der naͤchtliche Mondſchein wich nicht von der Flur; er ſchaute auf in den blauen Himmel, der uns mit Einer langen Flamme beta¬ ſtet, aber die zugehuͤllten Sterne der Winternacht ſchickten herausquellende kleine Stralen an die ver¬ dunkelte Seele; er ſagte ſich zwar: » der Eißberg, auf dem bisher meine Vernunft halbe Bergpredigten abgelegt, iſt unter der Freudenglut zu einem Maul¬198 wurfshuͤgel eingelaufen » aber er ſetzte hinzu: » heu¬ » te frag' ich nach nichts. »

Er kam zu Emanuel mit Augen voll Thraͤnen. Dieſer ſagte ihm, daß ſich das erſte Glied der ge¬ ſtrigen Blumenkette, naͤmlich der Britte mit ſeinen Leuten, ſchon in der Nacht abgeloͤſet habe. Aber je laͤnger er Emanuel anſah und an morgen dachte denn morgen lehnt auch er vor Tag's die Garten¬ thuͤre dieſes Paradieſes leiſe hinter ſich zu, heute Nachmittags nimmt er von der Aebtiſſin und Abends von der Geliebten Abſchied, um dieſe nicht im Ab¬ leſen der bekannten Engels-Epiſtel zu hemmen deſto druͤckender waren ſeine Augen geſpannt und er ging lieber mit einem ſich ſelber vollblutenden Her¬ zen hinaus ins Freie und fuͤhrte den Blinden mit, der nichts errieth, nichts erblickte und vor dem man ohnehin wie vor einem Kinde gern ſein Innerſtes entkleidete.

Aber dieſesmal war Julius in derſelben Erwei¬ chung, weil er den ganzen Morgen den Engel in ſeiner daͤmmernden Seele ſpielen und fliegen ſehen. Die Sehnſucht nach dem Engel bruͤtete ſein ruhen¬ des Herz zum Pochen an und er ſagte mit einem ungewoͤhnlichen Schmerz: » wenn ich nur ſehen koͤnn¬ » te, nur etwas, nur meinen Vater, oder dich! » Die uͤberſtaͤubten Erinnerungen an ſeine Kindheit wurden aufgeſchuͤttelt; und aus dieſer in Wolken199 ſtehenden Zeit trat beſonders Ein Tag heraus vor ihn morgenhell, blau und voll Geſang, und trug drei Geſtalten auf ſeinem Nebelboden, Julius eigne und die der zwei Kinder, von denen er ſich vor ih¬ rer Einſchiffung nach Deutſchland geſchieden hatte es entfloßen ihm Tropfen, ohne daß er es merk¬ te, da er gerade dieſem Viktor, der das Folgende gethan hatte, das Kuͤßen und Umhaͤngen und Nach¬ rufen des einen Kindes malte, das ihn am meiſten liebte und immer trug. » und ich denke, fuhr er » fort, jeder, den ich gern hoͤre, habe das Geſicht » dieſes guten Kindes und auch du. Oft wenn ich » einſam dieſe Geſtalt in meinem Dunkeln anſchaue » und warme Tropfen auf den Lippen ſpuͤre und in » eine ſchmachtende ſchlummernde Wonne falle: mein '» ich, es quelle Blut aus meinen Lippen und mein » Herz ſiedet aber mein Vater ſagt, wenn dann » meine Augen ploͤtzlich aufgethan wuͤrden und ich » ſaͤhe meinen Engel an oder das gute Kind oder » einen ſchoͤnen Menſchen, dann wuͤrde ich ſterben » muͤſſen vor Liebe. » O Julius, Julius, (rief ſein Viktor) wie edel iſt dein Herz! Das gute Kind, das du ſo liebſt, wird bald mein Vater an dich legen, es wird dich ſo kuͤſſen, ſo lieben, ſo druͤcken wie ich jetzt.

Er fuͤhrte ihn zum Eſſen zuruͤck; er ſelber aber blieb bis Nachmittags unter dem Himmel und ſein200 Herz legte ſtille Trauer an unter Baͤumen voll Bie¬ nen neben Geſtraͤuchen voll aͤzenden Voͤgeln, auf al¬ len bisherigen Spaziergaͤngen und Sonnenwegen die¬ ſes ſterbenden Feſtes und es ſtanden alle Kinder¬ ſtunden aus dem Winterſchlafe bei Gedaͤchtnißes auf und beruͤhrten ſein Herz, aber es zerfloß. O wenn uns weit entlegne Minuten mit ihrem Glo¬ ckenſpiel antoͤnen, ſo fallen große Tropfen aus der weichen Seele, wie das naͤhere Heruͤberklingen fer¬ ner Glocken Regen bedeutet. Ich verdenke dir nichts, Viktor, du biſt doch nur weich, aber nicht weichlich ſo gut dir dein Biograph deine Erweichung nachzuſchreiben und dein Leſer ſie nach¬ zufuͤhlen vermag, ohne die feſten Muskeln des Her¬ zens abzuſpannen, eben ſo gut vermagſt du es auch und nur ein Mann, der bittere Thraͤnen erpreſſen kann, wird ſuͤße verhoͤhnen und keine ſelber ver¬ gießen.

Endlich ging Viktor zur letzten Freude, in den Garten des Endes, um mit ſanften Thraͤnen in der Abtei von allen Freundinnen abzuſcheiden. Ein ſonderbarer Vorfall verſchob es ein wenig: denn in¬ dem er von Emanuel wegging, ſtieß ihm Julius auf, der aus dem Garten kam und ihm ſagte, » wenn » er zu Emanuel wolle, er ſei im Garten. » Sie erhoben einen freundſchaftlichen Streit, weil jeder ihn gerade jetzt geſprochen haben wollte. Viktor201 ging mit ihm zu Dahore zuruͤck und hier erzaͤhlte Julius ſeinem Lehrer jedes Wort des vorgeblichen Gartengeſpraͤchs mit ihm: » z. B. uͤber Viktor, uͤber Klotilde, uͤber ſeinen heutigen Abſchied, uͤber die bisherigen frohen Tage. »

Waͤhrend der Erzaͤhlung wurde Emanuels Ange¬ ſicht glaͤnzend als wenn Mondsſchimmer davon nie¬ derfloͤße und anſtatt dem geliebten Kinde die Un¬ moͤglichkeit ſeiner Erſcheinung im Garten vorzuſtel¬ len, raͤumte er ſie ihm ein und ſagte entzuͤckt: » ich » werde ſterben! Es war mein abgeſchiedener Va¬ » ter ſeine Stimme klingt wie meine er ver¬ » hieß mir in ſeinem Sterben, aus der zweiten Welt » in dieſe zu kommen eh 'ich von hinnen ginge. » Ach ihr Geliebten druͤben uͤber den Graͤbern, ihr » denkt alſo noch an mich o! du guter Vater, » dringe jetzt mit deinem toͤdlichen Glanze vor mich » heran und loͤſe mich an deinem Munde auf! »

Er wurde noch mehr darin befeſtigt, weil Julius dazu erzaͤhlte, die Geſtalt habe ſich von ihm den Brief des Engels reichen laſſen, ihn aber nach einem kleinen Liſpeln wieder zuruͤckgegeben. Das Siegel war unbeſchaͤdigt. Emanuels freudiger Enthuſias¬ mus uͤber dieſe Steganographie des Todes ſetzte un¬ zufriedene Schluͤße aus ſeiner bisherigen Geſundheit voraus. Viktor lehnte ſich nie gegen die erhabnen Irrthuͤmer ſeines Lehrers auf; ſo ſtellte er z. B.202 niemals die Gruͤnde, die er hatte und die ich im naͤchſten Schalttage anzeigen will, dem unſchuldigen Wahn entgegen: » aus dem Traume und aus der » Unabhaͤngigkeit des Ichs vom Koͤrper koͤnne man » auf die〈…〉〈…〉 uͤnftige nach dem Tode ſchließen im » Traume ſtaͤube ſich der innere Demant ab und ſau¬ » ge Licht aus einer ſchoͤnern Sonne ein. » Vik¬ tor erſchrack daruͤber, aber aus andern Gruͤnden: Julius nahm beide an den Ort der Unterredung mit, der in der verfinſterten Allee neben der Bluͤtenhoͤle war. Niemand war da, nichts erſchien, Blaͤtter li¬ ſpelten, aber keine Geiſter, es war der Ort der Seeligkeit, aber der irdiſchen.

Viktor ging in den andern, in die Abtei. Klo¬ tilde war nicht droben, ſondern im verſchlungnen Labyrinth des Parks, wahrſcheinlich um dem Inha¬ ber vom Engels-Briefe, Julius, die Gelegenheit des Vorleſens zu erleichtern. Er nahm, als die Sonne gerade den Fenſterſcheiben gegenuͤber brannte, von der guten Aebtiſſin mit jener feinen geruͤhrten Hoͤflichkeit Abſchied, auf die ſich in ihrem Stande der hoͤchſte Enthuſiasmus einſchraͤnkte. Die feine Aebtiſſin ſagte ihm: » ſein Beſuch ſey ſo kurz, daß » er unverzeihlich waͤre, wenn nicht Viktor es da¬ » durch gutmachte, daß er ihren zweiten Fruͤhlings¬ » Gaſt (Klotilden) uͤberredete, den ihrigen zu verlaͤn¬203 » gern: denn auch dieſe verlaſſe ſie bald. » Er ſchied mit einer geruͤhrten Achtung von ihr: denn ſein weiches Herz wußte eben ſo gut hinter der Spitzenmaske der Feinheit und Welt, als hinter der Leder-Kruſte der Rohheit das fremde weiche aus¬ zufuͤhlen.

Als er freilich in den Garten eilte: ſtiegen die Thraͤnen ſeines Herzens hoͤher und waͤrmer und ihm war als muͤßte er den im Angeſichte der Sonne aufgehenden Mond umſchließen, als er dachte! » ach » wenn deine bleiche Flocke heute lichter droben » haͤngt, wenn du allein niederſchaueſt, bin ich ge¬ » ſchieden von meiner Schaͤferwelt oder ſcheide noch. » Und unten ruhte neben der Nachtigallenhecke ſein Julius, der helle Thraͤnenſtroͤme vergoß denn die¬ ſer ganze Abend wimmelt von immer groͤßern Meer¬ wundern des Zufalls er eilt zu ihm herab, der Brief des ſogenannten Engels iſt geoͤfnet in ſeiner Hand, Viktor ſagt leiſe: Julius, warum weineſt du ſo? » O Gott, ſagte dieſer gebrochen: » fuͤhre » mich unter eine Laube! » Er leitete ihn zur uͤberflorten. Julius ſagte darin: » recht! hier brennt » die Sonne nicht! » und ſchlug den rechten Arm um Viktor und gab ihm den Brief und legte den Arm herum bis an ſein Herz und ſagte: du guter Menſch!204 ſage mir, wenn die Sonne nieder iſt und lies mir noch einmal den Brief des Engels vor! »

Viktor fing an: » Klotilde! » » An wen iſt » er? » ſagt 'er. » An mich! (ſagte Julius) und » Klotilde hat mir ihn ſchon vorgeleſen; aber ich » konnte ſie wegen ihrem Weinen nicht verſtehen und » ich war auch zu betruͤbt. Ich werde vor Kum¬ » mer ſterben, du gute Giulia, warum haſt du mir » es nicht vor deinem Tode geſagt. Die Todte » hat ihn geſchrieben, lies nur! » Er las:

Klotilde!

» Ich huͤlle meine erroͤthenden Wangen in den Leichenſchleier. Mein Geheimniß ruht in meinem Herzen verborgen und wird mit ihm unter den Lei¬ chenſtein gelegt. Aber nach einem Jahre wird es aus dem zerfallenen Herzen dringen o dann bleib 'es ewig in deinem, Klotilde! und ewig in deinem, Julius! Julius, war nicht oft eine ſchweigende Geſtalt um dich, die ſich deinen Engel nannte? Legte ſie nicht einmal als die Todtenglocke ein bluͤ¬ hendes Maͤdgen einlaͤutete, eine weiſſe Hyazinthe in die Hand und ſagte: Engel pfluͤcken ſolche weiſſe Blumen? Nahm nicht einmal eine ſtumme Geſtalt deine Hand und trocknete ſich damit ihre Thraͤnen ab und konnt' es nicht ſagen, warum ſie weine? Sagte nicht einmal eine leiſe Stimme: lebe wohl, ich werde dir205 nicht mehr erſcheinen, ich gehe in den Himmel zu¬ ruͤck? Dieſe Geſtalt war ich, o Julius: denn ich habe dich geliebt und bis in den Tod. Siehe! hier ſteh 'ich am Ufer der zweiten Welt, aber ich ſchaue nicht hinuͤber in ihre unendlichen Gefilde, ſondern ich kehre mein Angeſicht noch ſinkend nach dir zu¬ ruͤck, nach dir und mein Auge bricht an deinem Bilde. Jetzt hab' ich Dir alles geſagt. Nun komm, ſtillender Tod, lege langſam die weiſſe Hya¬ zinthe um und theile bald das Herz auseinander, da¬ mit Julius darin die verſchloßene Liebe ſehe. Ach wirſt denn du eine Todte in deine Seele neh¬ men? Wirſt du weinen, wenn du dieſes leſen hoͤ¬ reſt? Ach wenn mein zugedeckter, zerdruͤckter Staub dich nicht mehr beruͤhren kann, wird mein entfern¬ ter Geiſt von deinem geliebt werden? Aber ich beſchwoͤre dich, o Unvergeßlicher, geh 'an dem Ta¬ ge, wo dir dieſes Thraͤnenblatt vorgeleſen wird, da gehe wenn die Sonne untergeht, hinauf zu meinem Grabe und bringe dem bleichen Angeſicht darunter, das der alte Huͤgel ſchon entzwei druͤckt, und dem zerronnenen Herzen, das fuͤr nichts mehr ſchlagen kann, da bringe der Armen, die dich ſo ſehr geliebt und die deinetwegen ſich unter die Erde gehuͤllet, dein Todtenopfer bring' ihr auf deiner Floͤte die Toͤne meines geliebten Liedes: das Grab iſt tief und ſtille. Sing es leiſe nach, Klotilde und beſuch '206mich auch. Ach arme Giulia, richte deine Seele auf und erliege jetzt nicht, da du deinen Julius dir an deinem Grabe denkeſt! Wenn du das Todten¬ opfer bringſt, ſo wird zwar mein Geiſt ſchon hoͤher ſtehen, ich werde ein Jahr jenſeits der Erde gelebet haben, ich werde die Erde ſchon vergeſſen haben aber doch, aber o Gott, nenn du die Toͤne uͤber meinem Grabe ins Elyſium dringen lieſſeſt, dann wuͤrd' ich niederſinken und heiße Thraͤnen vergießen und die Arme ausbreiten und rufen: ja! hier in der Ewigkeit lieb 'ich ihn noch es geh' ihm wohl auf der Erde, ſein weiches Herz ruhe weich und lange auf dem Leben drunten. Nein, nicht lange! Komm herauf, Sterblicher, zu den Unſterblichen, damit dein Auge geneſe und die Freundin erblicke, die fuͤr dich geſtorben iſt!

Giulia. »

» Ich will gehen ſagte Julius ſtockend, aber » mit Zuckungen im Geſicht wenn auch die Son¬ » ne nicht hinab iſt: Mein Vater ſoll mich bis zum » Untergange troͤſten, damit mein Herz nicht ſo hef¬ » tig an die Bruſt anſchlaͤgt, wenn ich am Grabe » ſtehe und das Todtenopfer bringe. » Laß mich nichts ſagen, Leſer, von der Beklemmung, womit207 ich weiter gehe, noch von dieſer zu weichen Giu¬ lia, die wie eine Morgenſonnenuhr, vor dem Mit¬ tage im Schatten und Kuͤhlen war, die wie eine Taube die Fluͤgel dem Regen und Weinen ausein¬ ander faltete noch von ihren Schweſtern, die im zweiten Jahrzehend das Skelet des Todes ganz mit Blumen uͤberhaͤngen, daß ſie ſeine Glieder nicht ſe¬ hen koͤnnen und die ihren weißen Arm blos auf ei¬ nen Myrthenzweig der Liebe ſtuͤtzen wie auf einen Aderlaßſtock und ruhig dem Verbluten ſeiner zer¬ ſchnittenen Adern zuſchauen!

Ich haͤtte nicht einmal dieſes geſagt, wenn nicht Viktor es gedacht haͤtte, deſſen Herz ein unendlicher Gram und eine unendliche Liebe toͤdtlich auseinander zogen: denn ach wie weit war nicht ſeine unerſetzli¬ che Klotilde ſchon auf dem Wege, ihrer Freundin nachzukommen und das ungeliebte Herz in der Erde zu verbergen, wie man im Froſte Nelken nieder¬ legt?

Die Sonne ſtieg tiefer der Mond ſtieg hoͤher Viktor ſah Klotilden wie eine Heilige, wie einen aͤtheriſch verkoͤrperten Engel in einer gegen Abend geoͤfneten Niſche ruhen das kleine geſtern ge¬ nannte Maͤdgen ſpielte auf ihrem Schoos mit einer neuen Puppe ihm war als ſeh 'er ſie gen Himmel ſchweben und als ſie ihre großen Augenlieder aus den Thraͤnen fuͤr die geſchiedne Freundin, deren208 Geheimniß ſie laͤngſt errathen und verborgen hatte, gegen den aufhob, der ſie heute durch ſeinen Abſchied vermehrte; und als ſie auch ſein Angeſicht in Ruͤh¬ ung zerſchmolzen ſah: ſo erdruͤckten die gleichen Trauergedanken in beiden ſogar die erſten Laute des Empfangs und beide wanten ihr Geſicht ab, weil ſie uͤber die Trennung weinten. » Haben Sie (ſagte Klotilde, wenigſtens mit einer gefaßten Stim¬ me) eben mit Julius geſprochen? » Viktor ant¬ wortete nicht, aber ſeine Augen ſagten Ja, indem ſie blos heftiger ſtroͤmmten und ſie unverwandt an¬ ſchaueten. Sie ſchlug ſie tief nieder, mit einem klei¬ nen Erroͤthen fuͤr Giulia. Das kleine Kind hielt die uͤber die großen Tropfen heruͤberfallenden Augenlie¬ der fuͤr ſchlaͤfrig und zog der Puppe das ſchmale mit Heu gepolſterte Kopfkiſſen weg, breitete es Klotilden hin und ſagte unſchuldig: » da leg' dich drauf und ſchlaf 'ein! » Es ſchauerte ihren Freund, da ſie ant¬ wortete: » Heute nicht, Liebe, auf Kiſſen mit Heu ſchlafen nur die Todten. » Es ſchauerte ihn, da er auf ihrem bewegten Herzen eine ſchneeweiße Feder¬ nelke, in deren Mitte ein großer dunkelrother Punkt wie ein blutiger Tropfen iſt, erzittern ſah. Die fuͤrchterliche Nelke ſchien ihm die Lilie zu ſeyn, die der Aberglaube ſonſt im Korſtuhle des Prieſters an¬ traf, deſſen Sterben prophezeiet werden ſollte.

Sie209

Sie heftete ſchmerzlich ihren Blick auf die tiefe Sonne und den Gottesacker, hinter dem dieſe in den Maitagen wie ein Menſch unterging. » Verlaſſen » Sie dieſe Ausſicht, Theuerſte (ſagt 'er ohne Hoff¬ » nung des Gehorſams) eine ſchoͤne zarte Huͤlle » wird von einer ſchoͤnen zarten Seele am leichteſten » zerſtoͤrt. Ihre Thraͤnen thun Ihnen zu wehe. » Aber als ſie unbefangen erwiderte: » ſchon lange nicht » mehr nur in fruͤhern Jahren brannten mir da¬ » von die Augenhoͤlen und der Kopf wurde betaͤubt » » und als der Gedanke an die bewoͤlkte Perſpektive ihrer verweinten Tage ihm das Herz aus dem Bu¬ ſen wand: ſo erſtarb das Sonnenlicht auf ihren Wangen Thraͤnenſtroͤme brachen gewaltſam aus ihren Augen er wandte ſich um druͤben auf dem Gottesacker ſank der Verhuͤllte auf dem Huͤgel der Verhuͤllten nieder die Sonne war ſchon un¬ ter die Erde, aber die Floͤte hatte noch keine Stim¬ me, der Schmerz hat nur Seufzer und keine Toͤ¬ ne ... Endlich richtete der ſchoͤne Blinde ſich un¬ ter zuckenden Schmerzen empor zum Todtenopfer und die Floͤtenklagen ſtiegen von dem feſten Grabe auf in das Abenbroth drei Herzen zergingen wie die Toͤne, wie das vierte eingeſunkne. Aber Klotilde riß ſich gewaltſam aus dem ſtummen Jammer auf und ſang zu dem Todtenopfer leiſe das himmliſcheHeſperus. III. Th. O210Lied, um das die Verſtorbne ſie gebeten hatte und das ich mit unausſprechlicher Ruͤhrung gebe:

Das Grab iſt tief und ſtille,
Und ſchauderhaft ſein Rand;
Es deckt mit ſchwarzer Huͤlle
Ein unbekanntes Land.
Das Lied der Nachtigallen
Toͤnt nicht in ſeinen Schooß;
Der Freundſchaft Roſen fallen
Nur auf des Huͤgels Mooß.
Verlaßne Braͤute ringen
Umſonſt die Haͤnde wund;
Der Waiſen Klagen dringen
Nicht in der Tiefe Grund.
Doch ſonſt an keinem Orte
Wohnt die erſehnte Ruh ';
Nur durch die dunkle Pforte
Geht man der Heimath zu.

O Salis! in dieſem Doch ſind alle unſere verweh¬ ten Seufzer, alle unſere vertrockneten Thraͤnen und heben das ſteigende Herz aus ſeinen Wurzeln und Adern und es will ſterben!

211

Die Stimme der edeln Saͤngerin unterlag der Wehmuth, aber ſie ſang doch die letzte der Strophen die¬ ſes Sphaͤren-Liedes, obwohl leiſer in der ſchmerz¬ haften Ueberwaͤltigung:

Das arme Herz hienieden
Von manchem Sturm bewegt,
Erlangt den wahren Frieden
Nur wo es nicht mehr ſchlaͤgt.

Ihre Stimme brach, wie ein Auge bricht oder ein Herz .... Ihr Freund huͤllte ſein Haupt in die Blaͤtter der Laube das ganze Erdenleben zog wie eine Klage voruͤber. Klotildens ſchwere Vergan¬ genheit, Klotildens duͤſtere Zukunft ruͤckten zuſam¬ men vor ſeinem Auge und warfen im dunkeln den Leichenſchleier uͤber dieſen Engel und zogen ſie ver¬ huͤllet in das Grab zur Schweſter .... Er hatte ſogar den Abſchied vergeſſen ... er hatte nicht den Muth, die große Szene um ſich anzuſchauen und die Gebeugte neben ſich ...

Er hoͤrte die Kleine gehen und ſagen: ich hole dir ein groͤßeres Kiſſen unter den Kopf.

Klotilde ſtand auf und faßte ſeine Hand er kehrte ſich wieder um in die Erde und ſie ſchaue¬ te ihn an mit einem verweinten aber zaͤrtlichen Auge, deſſen Tropfen zu rein waren fuͤr dieſe ſchmutzigeO2212Welt, aber in dieſem großen Auge ſtand etwas gleichſam wie die fuͤrchterliche Frage: » lieben wir uns nicht vergeblich fuͤr dieſe Welt? » Und ihr ſchlagendes Herz erſchuͤtterte die blutige Nelke. Der Mond und der Abendſtern glimten einſam wie eine Vergangenheit im Himmel. Julius ruhte ſtumm und niedergedruͤckt mit umſchließenden Armen auf dem eingeſunknen Huͤgel, der auf den Staub ſeines zerſplitterten Paradiſes gewaͤlzet war.

Die Toͤne der Nachtigal ſchlugen jetzt gleich ho¬ hen Wellen an die Nacht da ermannte er ſich, um ihr Lebe wohl zu ſagen ...

Leſer! erhebe deinen Geiſt zu keiner Entzuͤckung, denn ſie wird bald in einem Krampf erſtarren aber ich erhebe meine Seele dazu, weil ſogar das toͤdtliche Niederſtuͤrzen an der Pforte des Paradiſes ſchoͤn iſt unter dem Weggehen daraus!

Dem erſten Rufe der vertrauten Nachtigal ant¬ wortete ploͤtzlich noch hoͤher eine neue hergeflatterte von dicken Bluͤten gedaͤmpfte Nachtigal, die immer unter dem Singen flog und jetzt aus der Bluͤtenhoͤle ihr melodiſches Schmachten ziehen ließ. Die zwei Menſchen, die das Scheiden verſchoben und fuͤrchte¬ ten, irrten betaͤubt der gehenden Nachtigal nach und waren auf dem Wege zur ſeeligen Bluͤtenhoͤle: ſie wußten nicht, daß ſie allein waren; denn in ihrem Herzen war Gott; vor ihrem Auge ſchimmerte die113 ganze zweite Welt voll auferſtandner Seelen. End¬ lich erhohlte ſich Klotilde, kehrte um vor der Nach¬ tigal und gab das traurige Zeichen der Trennung. Viktor ſtand am Ufer ſeiner bisherigen gluͤckſeli¬ gen Inſel alles, alles war nun voruͤber er blieb ſtehen, nahm ihre zwei Haͤnde, konnte ſie noch nicht anſchauen vor Schmerz, bog ſich mit Thraͤnen nieder gegen ihre Schulter, richtete ſich auf als er leiſe reden konnte: » Lebe wohl mehr kann mein » ſchweres Herz nicht recht wohl lebe, viel beſſer » als ich weine nicht ſo oft wie ſonſt, damit du » mich nicht etwan verlaſſen mußt. Denn ich gin¬ » ge dann auch. » Lauter und feierlicher fuhr er fort: » denn wir koͤnnen nicht mehr geſchieden wer¬ » den hier unter der Ewigkeit reich 'ich dir mein » Herz und wenn es dich vergiſſet: ſo zerquetſch' » es ein Schmerz, der uͤber die zwei Welten reicht » .... (Leiſer und zaͤrtlicher) Weine morgen nicht, » Engel und die Vorſehung gebe dir Ruhe. » Wie ein Verklaͤrter an eine Verklaͤrte neigte er ſich zuruͤckgezogen an ihren heiligen Mund und nahm in einem leiſen andaͤchtigen Kuſſe, in dem die ſchwe¬ benden Seelen nur von Ferne mit aufgeſchlagnen Fluͤgeln zitternd einander entgegen wehen, mit leiſer Beruͤhrung von den zerfloſſenen weichenden Lippen die Verſieglung ihrer reinen Liebe, die Wiederho¬214 lung ſeines bisherigen Edens und ihr Herz und ſein Alles

Aber hier wende die ſanftere Seele die die Donnerſchlaͤge des Schickſals zu ſehr erſchuͤttern ihr Auge von dem gelben großen Blitze weg der ploͤtz¬ lich durch das ſtille Eden faͤhrt!

» Schurke! » ſchrie der herausſtuͤrzende Fla¬ min mit ſpruͤhenden Blicken, mit ſchneeweiſſen Wan¬ gen, mit wie Maͤhnen herunterhaͤngenden Locken, mit zwei Taſchenpiſtolen in den Haͤnden » da » nimm, nimm, Blut will ich » und ſtieß ihm das Mordgewehr entgegen, Viktor draͤngte Klotilden weg und ſagte: » o Unſchuldige! vermehre deine Schmerzen nicht! » Flamin rief in neuer Entflam¬ mung: » Blut! Treuloſer, nimm, ſchieß! » Matthieu fiel ihm in den rechten Arm, aber der linke drang bebend dem Viktor das Geſchoß auf. Viktor riß es zu ſich weil die Muͤndung um Klotil¬ den herumwankte. » Du biſt ja mein Bruder » rief die arme Gemarterte blos durch Todesangſt vom Tode der Ohnmacht weggequaͤlt. Flamin warf mit beiden Armen alles von ſich und ſagte graͤßlich¬ leiſe lang gedehnt in wuͤthiger Erſchoͤpfung: » Blut! Tod! » Klotilde ſank um Viktor blickte215 auf ſie und ſprach gegen ihn: » feuer 'nur, hier iſt mein Leben! » Flamin ſchrie laut » du zuerſt! » Viktor ſchoß, hob den Arm weit empor, um in die Luft zu ſchießen und der zerſplitterte Gipfel wurde von ſeiner Kugel heruntergeſtuͤrzt. Klotilde wachte auf, Emanuel flog her, warf ſich an ſeines Schuͤlers Herz, ſeiner ſeit Jahren zum erſtenmale von Leidenſchaft auseinandergeriſſenen Bruſt quoll das ſieche Blut aus, Flamin ſchleuderte ſtolz ſeine Piſtole weg und ſagte zu Matthieu: komm! es iſt der Muͤhe nicht werth » und ging mit ihm davon.

Als Klotilde Emanuels Blut auf ihres Geliebten Kleidern ſah, hielt ſie ihn fuͤr getroffen und legte ihr Tuch auf das Blut und ſagte: » ach das haben Sie nicht um mich verdient. » Emanuel athmete wieder durch ſein Blut hindurch, niemand konnte weiter ſprechen, niemand uͤberlegen, jeder fuͤrchtete ſich, zu troͤſten, die toͤdtlich zermalmten Herzen ſchieden mit verbiſſenem Weh auseinander: blos Viktor, den das graͤßliche Wort » Schurke » bei jeder Erinnerung wie ein Dolch durchſtieß, ſagte noch zur Schweſter: » ich lieb 'ihn nicht mehr, aber » er iſt ungluͤcklicher als wir, ach er hat alles verlo¬ » ren und nichts behalten als einen Teufel »

Naͤmlich Matthieu. Dieſer hatte heute die Stimme Emanuels, die mit Julius geſprochen und die Dahore fuͤr des Vaters ſeine gehalten, und216 nachher die Stimme der Nachtigall, der Viktor nachgegangen, nachgemacht, um den Regierungsrath durch ſeine eigne Ohren und Augen von Viktors Liebe gegen Klotilden zu uͤberfuͤhren.

Viktor fuͤhrte den ſchwachen Lehrer in die indi¬ ſche Huͤtte. Er fuͤhlte jetzt nach ſo vielen aufloͤſenden Tagen ſeine Nerven durch dieſes Ungewitter gekuͤhlt und geſtaͤhlt; der Seelenſchmerz und die Aufopferung hatten ſein Blut, wie engere verſperrende Wege die Stroͤme, ſchneller und heftiger gemacht und die Lie¬ be zu Klotilden war maͤnnlicher und kuͤhner durch den Gedanken geworden, daß er ſie nun ganz ver¬ diene. Nichts giebts auſſer Groß-muth und Sanft-muth ſchoͤneres als das Buͤndniß derſelben.

Emanuel war nichts mehr als matt und ſetzte ſich, da der Abend ſchwuͤl auf allen bruͤtete, mit Viktor auf die Grasbank ſeines Hauſes, um mit der zuckenden Bruſt aufrecht zu bleiben und eine ſanfte Freude glaͤnzte in ſeinen Minen uͤber jeden gefallnen Blutstropfen, weil jeder ein rothes Siegel auf ſeine Hoffnung zu ſterben war. Aber als Viktor das muͤde Haupt des guten Mannes an ſeinen Bu¬ ſen nahm und ihn darauf entſchlummern ließ: ſo wurde ihm im ſtillen Abend wieder weh und ſein Herz ſchmerzte ihn erſt. Er dachte ſich es einſam, wie ſich druͤben heiſſe Schwerter durch die ſchuldloſe blutende Seele ziſchend ziehen wuͤrden er fuͤhlte,217 wie nun das zweiſylbige, zweyſchneidige Zornwort Flamins durch das ganze Band ihrer Freundſchaft geſchnitten er ſtellte ſich das neben ihm bluͤhende Theater der ſchoͤnen Tage veroͤdet vor und das Voruͤberwehen der Freuden, die uns nur wie Schmet¬ terlinge in weiten Kreiſen umſpielen, indeß der Ner¬ venwurm des Grams ſich tief in unſere Nerven ein¬ beiſſet. Ach endlich lehnt 'er ſich weinend an den ſchlummernden Vater und druͤckte ihn leiſe und ſag¬ te: » ach ohne Freundſchaft und Liebe koͤnnt' ich die Erde nicht ertragen » Und endlich wurde auch ſeine zerſetzte und verſiegte Seele vom ſchweren Koͤr¬ per in den dicken Schlaf gedruͤckt und hinab gezogen.

Leſer! der letzte Augenblick in Maienthal iſt der groͤßte erhebe deine Seele durch Schauder und ſteige auf Graͤber wie auf hohe Gebirge, um hinuͤber zu ſehen in die andere Welt!

Um Mitternacht, wo die Phantaſie die verhuͤll¬ ten Todten aus den Saͤrgen zieht und ſie aufgerich¬ tet in die Nacht um ſich ſtellt und aus der zweiten Welt unbekannte Geſtalten zu uns verſchlaͤgt ſo wie unkenntliche Leichname aus Amerika an die Kuͤ¬ ſten der alten Welt antrieben und ihr die neue ver¬218 kuͤndigten in der Geiſterſtunde ſchlug Viktor die Augen auf aber unausſprechlich heiter. Ein vergeſ¬ ſener Traum hatte die heutige Vergangenheit mit allem ihrem Getoͤſe und Gewoͤlke weit hinabgeſenkt der lichte Mond ſtand oben in der blauen Ver¬ finſterung wie die ſilberne Spalte und quellen-helle Muͤndung, aus der der Lichtſtrom der andern Welt in unſere bricht und in aͤtheriſchen Dufte nieder¬ ſinkt. Wie iſt alles ſo ſtill und ſo licht, ſagte Viktor, iſt dieſe daͤmmernde Gegend nicht aus mei¬ nem Traume uͤbrig geblieben, iſt das nicht die ma¬ giſche Vorſtadt der uͤberirdiſchen Stadt Gottes Eine voruͤbereilende Stimme ſagte: Tod! ich bin ſchon begraben.

Emanuel oͤfnete daruͤber die Augen, warf ſie durch das Laubwerk in den uͤber das Doͤrfgen erhoͤh¬ ten Kirchhof und ſagte mit einer Zuckung ſeines ganzen Weſens: » Horion wach 'auf, Giulia hat die » Ewigkeit verlaſſen und ſteht auf ihrem Grabe. » Viktor blickte fieberhaft hinauf; und in einem ſchneidenden Eisſchauer wurden alle warmen Gedan¬ ken und Nerven des Lebens hart und ſtarr, da er oben am Grabe eine weiſſe verſchleierte Geſtalt ru¬ hen ſah. Emanuel riß ſich und ſeinen Schuͤler auf und ſagte: wir wollen hinauf auf das Theater der Geiſter; vielleicht ergreift die Todte meine Seele und nimmt ſie mit. » ... Fuͤrchterlich ſchwiegen219 die Gegenden um ihren Weg ... die Menſchen fahren aus dem Fußboden wie ſtumme Knechte, wie Maſchinen zur Bedienung, und fallen wieder hinun¬ ter, wenn ſie abgeleeret ſind ... Das Menſchen¬ geſchlecht zieht wie ein fliegender Sommer durch den Sonnenſchein und das bethauete Gewebe haͤngt ſich flatternd an zwei Welten an und in der Nacht ver¬ gehts ... So dachten die zwei Menſchen auf der Walfahrt zur Todten ſie wunderten ſich uͤber ih¬ re eigne ſchwere Verkoͤrperung und uͤber das Ge¬ raͤuſch ihrer Tritte. Emanuel knuͤpfte ſeinen Blick auf die verſchleierte Geſtalt, die jetzt niederkniete er dachte, ſie hoͤre ſeine Gedanken und fliege zu ſei¬ nem Herzen durch das Mondlicht heruͤber ...

Die Bruſt der zwei Menſchen hob ſich gleichſam unter zwei Leichenſteinen auf und nieder, da ſie die uͤbergraßten langen Stufen zum Kirchhof aufſtiegen und das ſchwere Thor, das mit verwitterten, wegge¬ waſchenen Auferſtandenen angemalet war, beruͤhrten und aufdrehten. Das warme Erdenblut friert ein und das weiche Gehirn gerint zu einem einzigen Schreckenbilde, wenn von der Ewigkeit und von der Pforte der Geiſterwelt die große Wolke wegruͤckt: Emanuel rief auf der Buͤhne der Todten wie auſſer ſich: » ſchauderhafter Geiſt, ich bin ein Geiſt wie » du, du ſtehſt auch unter Gott, willſt du mich toͤd¬ » ten: ſo toͤdte mich durch keinen Schauer, durch220 » keine zermalmende Geſtalt, ſondern laͤchle wie die » Menſchen und drehe ſtill mein Herz ab. « Da ſtand die verhuͤllte Geſtalt auf und kam Emanuel grif wild nach ſeinem Freund, huͤllte ſich in das An¬ geſicht deſſelben und ſagte angedruͤckt: » An dir ſterb '» ich, an deinem warmen Herzen o lebe gluͤcklich, » wenn du nicht mit mir erkalteſt, ach! ziehe mit! « ..

» Ach, Klotilde: « ſagte Viktor: denn ſie war die Geſtalt. Sie war ſtumm wie das Geiſterreich, denn die beſuchte Todte umklammerte noch ihr Herz; aber ſie war groß wie ein Geiſt daraus: denn der aͤtheriſche Lichtnebel des Mondes, der Stand auf Todten, der Blick in die Ewigkeit, die hohe Nacht und die Trauer erhoben ihre Seele und man vergaß faſt, daß ſie weinte. Emanuel hielt ſeine Fluͤgel noch ausgebreitet uͤber die Szene und ſchauete erha¬ ben uͤber die Graͤber: » Wie alles hier ſchlaͤft und » ruht auf dem großen gruͤnen Todtenbette! Ich » moͤchte darauf erliegen Sprach jetzt nichts? » Die Gedanken der Menſchen ſind Worte der Gei¬ » ſter Wir ſind ſchleichende Nachtvoͤgel im daͤm¬ » mernden Dunſtkreis, wir ſind ſtumme Nachtwand¬ » ler, die in dieſe Hoͤlen fallen, wenn ſie erwachen » Ihr Todten! verſtaͤubet nicht ſo ſtumm, ihr » Geiſter, die ihr aus euren begrabnen Herzen » zieht, flattert nicht ſo durchſichtig um uns! » O der Menſch waͤre auf der Erde eitel und Aſche221 » und Spielwerk und Dunſt, wenn er nicht fuͤhlte, » daß er's waͤre o Gott, dieſes Gefuͤhl iſt un¬ » ſere Unſterblichkeit! «

Klotilde, um ihn von dieſer verheerenden Begei¬ ſterung herabzuziehen, nahm ihn bei der Hand und ſagte: » Leben Sie wohl, Verehrungswuͤrdiger, ich » nehme heute noch Abſchied, weil ich morgen aus » Maienthal gehe leben Sie gluͤcklich, gluͤcklich, » bis wir uns wieder ſehen; mein Herz vergiſſet Ihre » Groͤße nie aber ich ſehe Sie bald wieder « ..... Ihre Wehmuth, uͤber den Gedanken an ſein geweiſ¬ ſagtes Sterben, ihre Furcht eines ewigen Abſchieds erdruͤckten die andern Worte, denn ſie wollte mehr ſagen und waͤrmer danken. Emanuel ſagte: » Wir » ſehen uns nicht wieder, Klotilde: denn ich ſterb '» in vier Wochen. « O Gott! nein! ſagte Klotilde mit dem innigſten heiſſeſten Tone. » Mein guter » Emanel, ſagte Viktor, quaͤle dieſe Gequaͤlte nicht » Faſſe dich, Gemarterte, unſer Freund bleibt ge¬ » wiß bei uns. « Hier hob Emanuel groß ſein Auge in den Himmel und ſagte mit einem Blick, in dem eine Welt war: » Ewiger! koͤnnteſt du mich bis¬ » her ſo getaͤuſcht haben? Nein, nein, am laͤng¬ » ſten Tage ziehen mich deine Sterne auf und deine » Erde kuͤhlt mein Herz Und dich, du gute Klo¬ » tilde, du Seele vom Himmel, dich ſeh ich alſo » heute gewiß, bei Gott! zum letztenmal mit deinen222 » ſchoͤnen Wangen und in deiner Erbengeſtalt ich » ſegne dich und ſage dir Lebewol, aber ſchwer und » truͤbe, weil ich noch ſo viele Tage leben ſoll ohne » dich. Ziehe ſanft umweht durch's Leben, halte » dein Herz hoch uͤber den bunten Dunſt der Erde » und uͤber ihre Wetterwolken du hoͤrſt mich ja » nicht, du bitter-weinendes Angeſicht, Gott gieße » Troſt in deine Seele, ſcheide froher! dein » Freund iſt bei mir, wann ich von hinnen gehe. « Hier faßte Viktor die Haͤnde der wankenden ver¬ weinten Geſtalt, die ſich vergeblich die Thraͤnen ab¬ ſtreifte, um den Lehrer noch einmal zu ſehen und in die Seele zu druͤcken; und als Viktor ohne Beſin¬ nung aber emporgehoben rief: » Giulia! Seelige! mil¬ » dere das Weh deiner Freundin in dieſer Stunde, » halte dieſes brechende Herz « ſo ſagte Emanuel un¬ beſchreiblich zaͤrtlich beide anblickend: » Ich ſegne » euch ein wie ein Vater, heiliges Seelen-Paar! » Nie verlaſſet, nie vergeſſet einander! O ihr ſee¬ » ligen Geiſter hier uͤber dem glimmenden Moder der » zerſtuͤckten Saͤrge, gebet dieſen zwei Herzen Frieden » und Gluͤck und wenn ich einmal geſtorben bin, » will ich um eure Seelen ſchweben und ſie beruhi¬ » gen Und du, Ewiger unter deinen Sternen, » mache dieſe zwei Menſchen ſo gluͤcklich wie mich » o nimm ihnen nichts, nichts auf der Erde als » das Leben Gute Nacht, Klotilde! « ....

223

Die Pfingſttage ſind voruͤber!

Und dir, gutes Schickſal, dank 'ich, daß du mir die Geſundheit zur Freude gereicht, ein ſolches fluͤch¬ tiges goldnes Zeitalter abzuſchatten, da mein ſchwa¬ ches ſo ungleich pulſirendes Herz nicht verdient, ſol¬ che Entzuͤckungen nachzumalen Und dir, mein lie¬ ber Leſer, moͤge das Pfingſtfeſt irgend einen Brand¬ ſonntag oder eine Marterwoche deines Lebens ver¬ ſuͤßet haben!

224

Neunter Schalttag.

Viktors Aufſatz über das Verhältniß des Ichs zu den Organen.

Viktor war eben ſo ſehr dem ausſchließenden Ge¬ ſchmack in der Philoſophie als in der Dichtkunſt feind. In allen Syſtemen ſelber der Ketzer des Epiphanias und Walchs druͤckt ſich die Geſtalt der Wahrheit, wie im Thierreich die menſchliche, wiewohl in immer kuͤhnern Zuͤgen ab. Kein Menſch kann eigentlichen Unſinn glauben, obwohl ſagen. Sonderbar iſt's, daß gerade die konſequenten Syſteme, ohne das Atomen-Klinamen des Gefuͤhls, am weiteſten auseinander laufen. Die Syſteme wer¬ fen wie die Leidenſchaften nur im Fokalabſtande den hellſten Lichtpunkt auf den Gegenſtand; wie jaͤm¬ merlich laͤuft z. B. die große Theorie von der Selbſt¬ beherrſchung aus dem Chriſtenthum in den Stoi¬ zismus dann in den Myſtizismus dann in den Monachismus und der Strom ſikert endlich ausgedehnt im Fohismus ein wie der Rhein im Sand! Die kantiſche Theorie hat mit allen kon¬ ſequenten Syſtemen dieſe Verſandung, und mitden225den unkonſequenten jenes Gefuͤhls-Klinamen*)Das Orientiren durch die praktiſche Vernunft.[ge¬ mein], das die vertrocknenden Arme wieder zur einer labenden Quelle zuſammenfuͤhrt. Die zwei Haͤnde der reinen Vernunft, die einander in der Antinomie zerkratzten und ſchlugen, legt die praktiſche friedlich zuſammen und druͤckt ſie gefalltet an's Herz und ſagt: hier iſt ein Gott, ein Ich und eine Unſterblich¬ keit!

Viktor befruchtete ſeine Seele vorher durch die große Natur oder durch Dichter und dann erſt erwartete er das Aufgehen eines Syſtems. Er fand (nicht erfand) die Wahrheit durch Aufflug, Umher¬ ſchauen und Ueberſchauen, nicht durch Eindringen, mikroſkopiſches Beſichtigen und ſyllogiſtiſches Herum¬ kriechen von einer Sylbe des Buchs der Natur zur andern, wodurch man zwar deſſen Woͤrter aber nicht den Sinn derſelben bekoͤmmt. Jenes Kriechen und Betaſten gehoͤrt, ſagt 'er, nicht zum Finden, ſondern zum Pruͤfen und Beſtaͤtigen der Wahrheit; wozu er ſich allezeit von Bayle Schul¬ ſtunden geben ließ: denn niemand lehrt die Wahrheit ſchlechter finden und beſſer pruͤfen als Scharfſinn oder Bayle, der ihr Muͤnzwardein aber nicht ihr Berg¬ mann iſt.

Heſperus. III. Th. P226

Der Aufſatz.

Schrieb 'ich ihn in Goͤttingen: ſo koͤnnt' ich ihn in Paragraphen und gruͤndlicher machen, weil mich die Flachſenfinger nicht ſtoͤrten. Indeſſen muß er doch hier geſchrieben werden, damit ich an mir ſel¬ ber einen Schirmherrn und Anwald gegen die Jun¬ ker habe, die meinen Geiſt in meinen Koͤrper verwan¬ deln wollen.

Das Gehirn und die Nerven ſind der wahre Leib unſers Ichs; die uͤbrige Einfaſſung iſt nur der Leib jenes Leibes, die naͤhrende und ſchirmende Borke je¬ nes zarten Marks. Und da alle Veraͤnderungen der Welt uns nur als Veraͤnderungen jenes Markes erſcheinen: ſo iſt der Mark - und Breiglobus mit ſei¬ nen Streifen der eigentliche Weltglobus der Seele. Der umgekehrte Nervenbaum entſprießet aus dem geſchwollnen Foͤtus-Gehirn wie aus einem Kerne, dem es auch aͤhnlich ſieht und ſteigt mit Sinnen-Ae¬ ſten als Ruͤckenmarksſtamm empor bis zum zerglieder¬ ten Gipfel des Pferdeſchweifs. Dieſes markige Ge¬ waͤchs iſt auf den Adernbaum wie eine zehrende para¬ ſitiſche Pflanze geimpft. Und wie jeder Zweig ein kleinerer Baum iſt, ſo ſind denn das alles iſt nicht Aehnlichkeit des Witzes ſondern der Natur die Nervenknoten vierte Gehirnkammern im Kleinen. 227Die Nerven-Enden blaͤttern ſich ausgebildet, auf der Retina, auf der Schneideriſchen Haut, in der Geſchmacksknoſpe ꝛc. zu Bluͤten auf. Daher wird z. B. nicht mit dem Fortſatze des Sehenervens ge¬ ſehen, ſondern mit ſeiner zarten Staubfaͤden-Zerfa¬ ſerung: denn die große wankende Gemaͤldegallerie auf der Netzhaut kann unmoͤglich durch eine Bewe¬ gung des Nervengeiſts (oder was man nehmen will: denn auf Bewegung laͤuft es doch hinaus) ſich zuruͤck¬ ſchieben in's Gehirn, wobei noch dazu die zwei Gal¬ lerien der zwei Augen durch die zwei Zinken des Sehenervens durchruͤcken und in deſſen Stiel zu Ei¬ nem Gemaͤlde zuſammenfallen muͤßten.

Folglich muß das Bild im Auge ꝛc. wenn es zu etwas dienen ſoll, vorn an der Spitze des Nervens empfunden werden mit Einem Wort, es iſt noch naͤrriſcher die Seele in den Zwinger der vierten Gehirnkammer d. h. in einen Porus dieſes Knollen¬ gewaͤchſes zu ſperren als es waͤre, wenn einer, der wie ich ein beſeelendes Ich in die Blume ſetzt, daſ¬ ſelbe in's Souterrain des dumpfen Kerns heftete. Lieber wollt 'ich die Seele doch in das feinſte Honig¬ gefaͤß der Sinnen, in die Augen verlegen als in's unempfindlichere Gehirn, wenn ich nicht uͤberhaupt glaubte, daß ſie wie eine Hamadryade jedes Nerven¬ aͤſtgen dieſer Thierpflanze bewohne und waͤrme und rege. Der unterbundne oder durchſchnittne NerveP 2228bringt zwar keine Empfindung mehr zu, aber nicht wegen unterbrochener Kommunikation mit der Seele und ihrer Wohn Gehirnkammer, ſondern weil ihr der naͤhrende Lebensgeiſt abgeſchnitten iſt: denn die Nerven brauchen wie alle feinere Organiſationen ſo ſehr fortdauernden Koſt Zuguß, daß der ſtok¬ kende Herz und Arterienſchlag in Einer Minute alle ihre Kraͤfte aufhebt.

Ich gehe weiter und ſage um zwei Irrthuͤ¬ mern zu widerſprechen vorher heraus: dieſe Or¬ gane empfinden nicht, ſondern werden empfunden; zweitens die Organe ſind nicht die Bedingung aller Empfindung uͤberhaupt, ſondern nur einer ge¬ wiſſen.

Das letzte zuerſt: da das Organ (d. h. ſeine Veraͤnderung,) das ſo gut ein Koͤrper iſt als irgend ein grobes Objekt, deſſen ſeine jenes an die Seele legt, dennoch von dem geiſtigen Weſen unmittelbar und ohne ein zweites Organ empfunden wird: ſo muͤſſen alle koͤrperliche Weſen dem geiſtigen ſo gut Empfindungen geben als die Nerven, und eine un¬ verkoͤrperte Seele iſt nur darum nicht moͤglich, weil ſie im Falle des abgeloͤſeten Koͤrpers alsdann das ganze materielle Univerſum als einen plumpern truͤge.

Meine erſte Behauptung war: man ſollte nicht ſagen, empfindende Organiſation ſondern em¬229 pfundne. Die Nerven empfinden nicht den Gegen¬ ſtand, ſondern veraͤndern nur den Ort wo er empfun¬ den wird, und ihre Veraͤnderungen und die des Ge¬ hirns ſind nur Gegenſtaͤnde des Empfindens, nicht Werkzeuge deſſelben oder gar es ſelber. Aber warum?

Ich habe mehr als ein Darum. Ein Koͤrper iſt nur der Bewegung faͤhig, ob ſie gleich freilich nur der Schein der gedachten Zuſammenſetzung und das Reſultat der in einfache Theile verhuͤllten Kraͤfte iſt. Die Saite, die Luft, die Gehoͤrknoͤchelchen, die Gehoͤr¬ nerven erzittern; aber die Erzitterung der letztern erklaͤ¬ ret ſo wenig das Empfinden eines Tons als das Erzittern der Saite es koͤnnte, wenn die Seele an dieſe gekettet waͤre. So iſt trotz aller Bilder im Auge und Gehirn das Erſehen derſelben doch noch ungethan und uner¬ klaͤrt; oder iſt wohl darum, weil die Sinne Spiegel voll Bilder ſind, etwan das geiſtige Auge entbehr¬ lich oder erſetzt? Und ſetzt die Veraͤnderung des Ner¬ vens (d. h. die Empfindung) nicht eine zweite in ei¬ nem zweiten Weſen voraus, wenn ſie ſoll bemerkt werden? oder ſtellet ſich in dieſem Weſen wieder eine Bewegung die Bewegung vor?

Dieſes bringt mich aufs Gehirn. Dieſer groͤßte und groͤbſte Nerve der Reſonanzboden aller an¬ dern haͤlt der Seele die Schattenriſſe derer Bil¬ der vor, die von den andern zugefuͤhrt wurden. Im230 Ganzen glaub 'ich dient das Gehirn mehr den Mu¬ ſkelnnerven, den Glieder Zuͤgeln, die da in der Hand der Seele zuſammenlaufen, und mehr allen uͤberhaupt als naͤhrende Wurzel; aber weniger dient es als Reiszeug der mahlenden Seele. Da unſere meiſten Vorſtellungen auf grundirende Geſichtsbilder aufgetragen ſind: ſo denken wir wahrſcheinlich mehr mit dem Sehnerven als mit dem Gehirn. Warum bemerkte Bonnet, daß tiefes Denken die Augen und ſcharfes Sehen das Gehirn ermuͤde? Warum ſtum¬ pfen gewiſſe Ausſchweifungen zugleich das Gedaͤcht¬ niß und die Augen ab? Die auſſerhalb des Auges gaukelnden Fieberbilder der Kranken und der lebhaf¬ ten Menſchen wie Kardan, der im dunkeln ſah was er feurig dachte, erklaͤren ſich aus meiner Ver¬ muthung.

Ueber das Gehirn hat man zwei Irrthuͤmer; aber der Himmel bewahre meine Freunde nur vor dem einen. Denn vor dem andern kann ſie Reimarus bewahren, der recht erwieſen hat, daß das Gehirn keine Aeolsharfe mit ziternden Fibern noch eine dunkle Kammer mit geſchobnen Bildern iſt, noch eine Spiel¬ welle mit Stiften fuͤr jede Idee, die der Geiſt um¬ dreht, um an ſich ſeine Ideen ab und vorzuorgeln. Iſt nun nicht einmal die vorher beſtimmte Harmonie des Gehirns und des Geiſtes oder das Akkompagne¬ ment beider begreiflich: ſo iſt die Identitaͤt der¬231 ſelben gar unmoͤglich; und eben vor dieſem Irrthum hat eben der oben gedachte Himmel meine Freunde zu bewahren. Der Materialiſt muß erſtlich alles das aufſtellen, was Reimarus umgeſtoßen hat; er muß im Gehirnbrei die Millionen Bilderkabinetter von 70 Jahren petrifiziren und doch wieder wie Ei¬ dophyſika beweglich machen und die gemiſchten Kar¬ ten Bilder an jede Terzie austheilen; er muß dar¬ auf ſehen, daß dieſe beſeelten tanzenden Bilder in Reih und Glied gezwungen werden. Und dann geht doch ſeine Noth erſt recht an: denn nun muß er wenn wir ihm auch zugeben, daß die Bilder ſich ſel¬ ber ſehen, die Gedanken ſich ſelber denken, daß jede Vorſtellung alle andere und ſogar das Ich, wie eine Monade das All, dunkel nachſpiegle, und daß ſonach jede Idee eine ganze Seele ſey nun muß er (ſa¬ gen wir,) erſt einen Generaliſſimus herſchaffen, der dieſes unermeßliche fluͤchtige Ideenheer kommandire und ſtelle, einen Setzer, der das Ideen-Buch nach einem unbekannten Manuſkript ſetze und, wenn Traͤu¬ me, Fieber, Leidenſchaften alle Schriftkaͤſten in ein¬ ander geſchuͤttet haben, alle Lettern wieder alphabe¬ tiſch lege. Dieſe regelnde Einheit und Kraft ohne welche die Symmetrie des Mikrokosmus ſo wenig als des Makrokosmus, der vorge¬ ſtellten Welt ſo wenig wie der wirklichen zu erklaͤren ſteht nennen wir eben einen Geiſt. 232Freilich iſt durch dieſe unbekannte Kraft weder die Entſtehung noch die Folge der Ideen vermittelt und erklaͤrt; aber bei der bekannten der Materie, bei der Bewegungskraft, iſt's nicht bloß unbegreiflich ſondern gar unmoͤglich; und Leibniz kann leichter die Bewegung aus fremden dunkeln Vorſtellungen erklaͤ¬ ren als der Materialiſt Vorſtellungen aus Bewegun¬ gen. Dort iſt die Bewegung nur Schein und exiſtirt nur im zweiten betrachtenden Weſen, aber hier waͤre die Vorſtellung Schein und exiſtirte im zweiten vorſtellenden Weſen.

Ich habe oft mit Weltleuten, die gut beobachten und elend ſchließen, mich gezankt, weil ſie bei der kleinſten Abhaͤngigkeit der Seele vom Koͤrper z. B. im Alter, Trunke ꝛc. die eine zum bloßen Re¬ petirwerk des andern machten; ja ich habe ſogar ge¬ ſagt, kein Tanzmeiſter ſey ſo dumm daß er ſo ſchloͤſ¬ ſe: » weil ich in bleiernen Schuhen plump, in hoͤl¬ » zernen flinker, und in ſeidnen am beſten tanze: ſo » ſeh ich wohl, daß die Schuhe mich mit beſondern » Springfedern aufſchnellen; und da ich kaum mit » bleiernen Schuhen aufkann, ſo braͤcht 'ich's barfuß » nicht zu einem einzigen Pas. « Die Seele iſt der Tanzmeiſter, der Koͤrper der Schuh.

Wir faſſen keine Einwirkung weder von Koͤrpern auf Koͤrper, noch von Monaden auf Monaden; mit¬ hin eine von Organen auf das Ich noch minder. 233Dieſes wiſſen wir, daß die Kohaͤſion und Guͤterge¬ meinſchaft zwiſchen Leib und Seele immer einerlei oder hoͤchſtens in den Zeiten groͤßer iſt, wo ſie an¬ dere kleiner vermuthen; denn der groͤßte Tiefſinn, die heiligſten Empfindungen, der hoͤchſte Aufſchwung der Phantaſie beduͤrfen gerade das waͤchſerne Flug¬ werk des Koͤrpers am meiſten, wie es auch ſeine dar¬ auf kommende Ermattung verbuͤrgt; je unkoͤrperlicher der Gegenſtand der Ideen iſt, deſto mehr koͤrperliche Hand - und Spanndienſte ſind zu deſſen Feſthaltung vonnoͤthen und hoͤchſtens in die Zeiten der dummen Sinnlichkeit, der geiſtigen Abſpannung, des dunkeln Bloͤdſinns muͤßte man die Zeiten der Loskettung vom Koͤrper fallen laſſen. Sogar die moraliſche Kraft, womit wir aufſchießende uͤppige Triebe des Leibes niedertreten, arbeitet mit koͤrperlichem Brech - und Handwerkszeug; und die Seele bietet nur das Ge¬ hirn gegen den Magen auf. Dazu koͤmmt, daß die Graͤnzen und die Hinderniſſe einer ſolchen Lo߬ feſſelung und Ankettung eben ſo wenig anzugeben waͤren als die Urſachen derſelben. Noch weniger koͤnnen, wie einige meinen, im Traume die Bande der Seele ſchlaffer und laͤnger werden. Der Schlaf iſt die Ruhe der Nerven nicht des ganzen Koͤrpers. Die unwillkuͤrlichen Muskeln, der Magen, das Herz arbeiten darin fort, nicht viel weniger als im wa¬ chenden Liegen. Nur die Nerven und das Gehirn,234 d. h. das Denken und Empfinden ſtocken. Daher erquickt der Schlummer reitende und fahrende Men¬ ſchen, die alſo mit nichts als den Nerven ruhen. Daher werden Nervenſchwache, die jede Ruhe abmat¬ tet, vom traumloſen Schlaf erfriſcht. Beilaͤufig ohne die Theorie der Desorganiſation, die negative und poſitive Nerven-Elektrizitaͤt annimmt, ſind die Me¬ teore des Schlafes unerklaͤrlich z. B. unerklaͤrlich iſt dann, warum gerade Opium, Wein, Manipuliren, Thierheit, Kindheit, Plethora, nahrhafte Koſt, Ge¬ ruͤche auf der einen Seite Schlaf befoͤrdern und Tortur, Ermattung, Alter, Maͤßigkeit, Gehirndruck, Winter, Blutverluſt, Furcht, Gram, Phlegma, Fett, geiſtige Abſpannung ihn auf der andern auch erre¬ gen. Hoͤchſtens im tiefen Schlafe, wo der Nervenkoͤrper ruht, koͤnnte man die Seele vom Irr¬ diſchen loßgekettet denken; im Traum hingegen eher enger angeſchloſſen, weil der Traum ſo gut wie das tiefe Denken, das wie er die fuͤnf Sinnenpforten ab¬ ſchließt, ja kein Schlafen iſt. Daher zehren Traͤume die Nerven ſo ſehr aus, zu deren innern Ueberſpan¬ nungen jene noch aͤuſſere Eindruͤcke geſellen. Daher verleiht der Morgen dem Gehirn und dem Traum gleiche Belebung. Daher geht dem ſchlafenden Thiere ausgenommen den weichlichen zahmen Hund das ungeſunde Traͤumen ab. Daher giebt ſchon Ariſtoteles ungewoͤhnliche Traͤume fuͤr Vorlaͤu¬235 fer des Krankenwaͤrters aus. Daher hab 'ich jetzt getraͤumt genug und der Leſer geſchlafen genug.

37. Hundspoſttag.

Der Amaroso am Hofe Präliminarrezeſſe der Hochzeit Rettung des höflichen Krümmens.

Am Morgen nach jener großen Nacht nahm Viktor von dieſer geweihten Grabeserde ſeiner ſchoͤnſten Tage mit unverhuͤllten Thraͤnen Abſchied. Er ſah ſich oft um nach dieſen Ruinen ſeines Palmyra, bis nichts davon uͤbrig ſtand als der Bergruͤcken als Brandmauer. » Wenn du nach vier Wochen wieder » hieher geheſt, dachte er, ſo iſt's nur, um dem To¬ » desengel zuzuſehen, wie er deinen Emanuel auf den » Altar und unter das Opfermeſſer legt. « Er ſagte ſich's, wie theuer er dieſes Laubhuͤttenfeſt durch den Verluſt eines Freundes bezahle; wie dieſer ohne ei¬ nen ſolchen Erſatz einen eben ſo großen Verluſt er¬ leide. Denn er fuͤhlte daß das fuͤrchterliche Wort » Schurke « als eine ewige Felſenwand zwiſchen ihre auseinander getheilten Seelen nun getreten ſey Er ſtellte ſich zwar vor und recht gern, was den ver¬ gangnen Freund loßſprach, beſonders die Verhetzung336 [236] durch Matthieu, und Flamins Zuhorchen als er Klo¬ tilden ewige Liebe zuſchwor; ja er verfiel ſogar dar¬ auf, daß der Evangeliſt den armen Flamin vielleicht beſondere (die vom Apotheker vorgeſchlagnen) Moti¬ ven einer Liebe, durch deren Gegenſtand die Gunſt des Fuͤrſten feſtzumachen war, weit im Hintergrunde ſehen laſſen aber ſein Gefuͤhl ſagte ihm unauf¬ hoͤrlich: » er haͤtte doch nicht glauben ſollen! Ach haͤtteſt du mich doch, (ſagte er geruͤhrt bei der Erblickung der Stadt) mit Kugeln oder mit andern Schmaͤhungen durchbohrt, damit ich dir haͤtte leicht vergeben koͤnnen aber gerade mit dieſem fortfreſ¬ ſenden Giftlaute! « Er hat Recht: die Beleidi¬ gung der Ehre wird darum nicht kleiner, weil ſie der andere aus voller Ueberzeugung des Rechts be¬ geht. Denn die Ueberzeugung iſt eben die Beleidi¬ gung; und die Ehre eines Freundes iſt ſo etwas Großes, daß die Zweifel an ihr faſt nur durch eignes Geſtaͤndniß entſtehen duͤrfen. Aber ſo werden aus kleinen Verhehlungen leicht Trennungen wie aus Ne¬ beln im Maͤrz Gewitter im Julius. Nur eine vollendete edle Seele vermag es, den gepruͤften Freund nicht mehr zu pruͤfen zu glauben, wenn die Fein¬ de des Freundes laͤugnen zu erroͤthen wie uͤber ei¬ nen unreinen Gedanken, wenn ein ſtummer verfliegen¬ der Argwohn das holde Bild beſchmutzt und wenn endlich die Zweifel nicht mehr zu bezwingen237 ſind, ſie noch lange aus den Handlungen fortzuwei¬ ſen um lieber in eine kameraliſtiſche Unvorſichtigkeit zu fallen als in die ſchwere Suͤnde gegen den heili¬ gen Geiſt im Menſchen. Dieſes feſte Vertrauen iſt leichter zu verdienen als zu haben.

Im laͤrmenden Hammer - und Muͤhlenwerk der Stadt war ihm wie in einer oͤden Waldung. An zarte Seelen verwoͤhnt kamen ihm die ſtaͤdtiſchen alle ſo ſtachlicht und ungeſchliffen vor: denn die Liebe hatte wie die Tragoͤdie ſeine Leidenſchaften gereinigt indem ſie ſolche erregte. Alles hing ſo verfallen ſo verraſet zum Einbrechen heruͤber indeß die glat¬ ten Spiegelwaͤnde in Maienthal maſſiv und leuchtend aufſtiegen! denn die Liebe iſt das einzige was das Herz des Menſchen bis an den Rand vollgießet wie¬ wohl mit einem bald einſinkenden Nektar Schaume; ſie allein faſſet ein Gedicht von etlichen tauſend Mi¬ nuten ab ohne den klirrenden R-Buchſtaben, wie der Dominikaner Carbone uͤber ſie ein eben ſo großes Gedicht unter dem Namen L' R-sbandita ohne ein einziges R verfertigte Daher iſt ſie wie die Krebſe in den Monaten ohne R am ſchoͤnſten.

Das erſte was er in Flachſenfingen zu machen hatte war ein Brief an Klotilde - Denn da der Evangeliſt Maz um aller Wahrſcheinlichkeit nach in alle Welt ausgehen und das Evangelium vom Schuß - Duel zwiſchen den zwei Freunden allen Voͤlkern pre¬238 digen wird: ſo war nichts anders fuͤr den heiligen Ruf ſeiner Geliebten zu thun als ſie in eine Braut zu verwandeln durch eine oͤffentlich erklaͤrte Verlo¬ bung. Flamins neues Ereifern konnte gegen Klotil¬ dens Rechtfertigung in keine Betrachtung kommen. Der Ausruf » du biſt mein Bruder, « den die Kon¬ vulſionen der Angſt Klotilden entriſſen hatten, war natuͤrlich fuͤr Flamin unbegreiflich und ohne Wir¬ kung geblieben; fuͤr den lauernden Maz aber war er ein herrlicher Kernſpruch und ein dictum probans ſeines Lehrgebaͤudes von ihrer Verſchwiſterung geworden. Im Briefe alſo ging Viktor ſeine Freundin um die ſtumme Erlaubniß zu ſeinem Werben an: er uͤberließ es ihr ſchweigend, die uneigennuͤtzigſten Mo¬ tiven ſeiner Bitte zu errathen.

Er erſchien jetzt auf dem Kriegsſchauplatz der Seelen, von dem man ſelten eine genaue Karte er¬ wiſcht, am Hofe: ſeinem mit Paradieſen ange¬ fuͤllten Herzen kamen ſogar die Zimmer vor wie Glaskaͤſten einer ausgebaͤlgten Volerie, die man mit Streuglanz, Konchylien und Blumen uͤberſaͤet, und die lebendigen Stuͤcke der Zimmer wie getrocknetes, mit Arſenik oder Holz ausgeſtopftes Gevoͤgel, durch die Schlangen war Drath gefuͤhrt, wie durch die Schwaͤnze der großen Thiere und die Baumlaͤufer am Thron ſtanden auf Drath So ſehr wurde er bloß durch das Pfingſtfeſt der Gegenfuͤßler von239 uns, die wir bei kaͤlterem Blute das Erhabene und Edle eines Hofs leicht bemerken. Das Neueſte was er da hoͤrte war, daß der Fuͤrſt in Geſellſchaft der Fuͤrſtin zum Geſundbrunnen in St. Luͤne abreiſe, um die gichtbruͤchigen Fuͤße wie dieſe die Augen heil zu baden. Viktor war wirklich nicht ganz tolerant, da er bei ſich dachte: » wenn ihr's nicht beſſer haben wollt, ſo geht meinetwegen zum T « Das Paulli¬ num war fuͤr ihn ein Hazhaus und jedes Vorzimmer eine Marterkammer: der Fuͤrſt behandelte ihn nicht hoͤfiſch-hoͤflich, ſondern kalt, welches ihm deſto weher that, da es bewies, er habe ihn geliebt Die Fuͤr¬ ſtin ſtolzer Bloß Matthieu der mit Leuten am liebſten ſprach, die ihn toͤdtlich haßten, hatte ein Ge¬ ſicht voll Sonnenſchein Von dieſem und von ſei¬ ner Schweſter und einigen Ungenannten hatt 'er leichtes Schlangengift der Perſiflage uͤber ſein Duel einzunehmen und zu verwinden, das wohl der Ma¬ gen wie anderes Schlangengift verdaut, das aber in Wunden geſpruͤtzt das Lebensblut aufloͤſet Ge¬ raͤth denn nicht ſogar mein Korreſpondent in Eifer und ſchickt mir ſeinen Eifer durch meinen capsarius*)So hieß der römiſche Sklave, der den Kindern die Schul¬ bücher nachtrug. den Hund zu und ſagt: » Es bleibe doch einer ein¬ » mal kalt, der warm iſt naͤmlich verliebt, und den » noch nicht der Tod kalt gemacht, er verbleib 'es240 » ſage ich vor dem ſtechenden Laͤcheln einer Hof¬ » Schweſterſchaft uͤber ſeine empfindſame Liebe, zu¬ » mal vor ſolchen hoͤhern Damen, die Gottheiten » ſind denen allemal (wie bei den Szythen) der » Fremde geopfert wird und denen (wie die Gallier » von ihren Goͤttern glaubten) Uebelthaͤter, roués, » Orleans die liebſten Opfer ſind! Oder er hoͤre » ſich, wenn er auch das hinnimmt, gelaſſen von ei¬ » nem Evangeliſten uͤber ſeine Liebe perſifliren, der » darin folgende Grundſaͤtze erfindet und geſteht: La » décense ajoute aux plaisirs de l'indécense: la » vertu est le sel de l'amour; mais n'en prénés » trop l'aime dans les femmes les accés co¬ » lére, de douleur, de joie, de peur: il y a tou¬ » jours dans leur sang bouillant quelque chose » qui est favorable aux hommes C'est la la » finesse demeure courte, qu'il faut de l'enthusias¬ » me Les femmes s'étonnent rarément d'etre » crues foibles; c'est du contraire qu'ils s'etonnent » un peu. L'amour pardonne toujours a l'amour, » rarément a la raison Gluͤcklich ſind, (ſeufzet Knef) Antagoniſten, die einander pruͤgeln duͤrfen. «

Der Evangeliſt warf einen baizenden Tropfen auf Viktors Herznerven, da er trotz ſeiner Wiſſen¬ ſchaft um Flamins adeliche Abſtammung, ihn damit aufzog, » daß er wie ein franzoͤſiſcher Aequilibriſt ſich » mit Buͤrgerlichen zwar nicht vermaͤhle, aberdoch241» doch ſchieſſe. « Und es ging ihm durch die Seele, ſeinen ausgeſtohlnen Freund ſo ſehr an Freun¬ den verarmt zu ſehen, daß dieſer Matthieu der letzte und der Stammhalter war, der ſich nicht ein¬ mal vor Viktor die Muͤhe gab, in den hoͤhern Zir¬ keln die Rolle eines Freundes von Flamin zu neh¬ men und fortzuſpielen. Einem guten Menſchen wird das weiche Herz gleichſam in eine Quetſchform eingeſchraubt, wenn er vor Leuten ſtehen muß (wie hier Viktor vor ſo vielen) die ihn haſſen und belei¬ digen anfangs iſt er heiter und kalt und freuet ſich, daß er ſich nichts darum ſchiert aber er ruͤ¬ ſtet ſich unwiſſend mit immer mehr Verachtung, um der Beleidigung etwas entgegenzuſtellen end¬ lich meldet ſich der Anwachs der Verachtung durch das unbehagliche Gefuͤhl der entfliehenden Liebe an und des eindringenden Haſſes und das bittere Schei¬ dewaſſer ergreift und zerfrißt ſein eignes Gefaͤß, das Herz Dann werden die Schmerzen ſo groß, daß er die alte Menſchenliebe, die das warme Element ſeiner Seele war, wieder in Stroͤmen in den Buſen rinnen laͤßt. Bei Viktor kam noch etwas zur Er¬ bitterung ſeine Erweichung: man iſt nie kaͤlter als nach großer Waͤrme, ſo wie Waſſer nach dem Kochen eine groͤßere Kaͤlte annimmt als es vorher hatte. Liebe, Rauſch und zuweilen die aus dem An¬ blick der Natur getrunkne Begeiſterung machen unsHeſperus. III Th. Q242gegen unſere Lieblinge zu gut und gegen unſere An¬ tipoden zu hart. Als nun Viktor in dieſer bittern Laune neben einem Spieltiſch zuſah und uͤber die ganze Aſſemblee ſich innerliche Vorleſungen hielt, lectures upon heads*)So nannte Steevens ſein ſatiriſches Kollegienleſen uͤber Köpfe aus Pappendeckel, dem halb London zulief., wo er ſich ſtatt der Koͤpfe aus Pappendeckel bloß mit dickern behalf: ſo fiel durch die Erinnerung an die ſtille Menſchenduldung, womit Klotilde ſich in eben dieſe Menſchen ihren Eltern zu Liebe bequemet hatte, der ganze Eispanzer, der ſich um ſein Herz wie um eine Blume gelegt hatte, zerfloſſen herab und ſein erwaͤrmtes Herz ſagte mit der erſten heutigen Freude: » Warum haſſ 'ich » denn dieſe eben ſo gequaͤlten als quaͤlenden Geſtal¬ » ten ſo hart? Sind ſie nur meinetwegen, haben ſie » nicht auch ihr Ich? Muͤſſen ſie ſich mit dieſem » mangelhaften, gepeinigten Selbſt nicht durch die » ganze Ewigkeit ſchleppen? Wird nicht jeder von » irgend einer fremden Seele noch geliebt, warum » willſt denn du nur Stof zum Abſcheu an ihnen » ſehen und aus jeder Mine, aus jedem Laute Saͤure » ziehen? Nein, ich will die Menſchen bloß » lieben, weil ſie Menſchen ſind. « Ja wohl! die Freundſchaft kann Vorzuͤge begehren, aber die Menſchenliebe bloß Menſchengeſtalt. Da¬ her haben wir eben alle eine ſo kalte, eine ſo wech¬243 ſelnde Menſchenliebe, weil wir den Werth der Menſchen mit ihrem Recht vermengen und nichts an ihnen lieben wollen als Tugenden.

Unſerem Viktor wurde ſo leicht wie nach einem Gewitter: das Bitterſte, womit uns Beleidigungen angreifen, iſt daß ſie uns zu haßen noͤthigen. Auf der andern Seite fuͤhlte er jetzt, wie unrein unſer fuͤr Tugend ausgegebene Widerſtand gegen Schlimme ſey und wie ſauer es ſelber einer edeln Seele wer¬ de, Feinde zu bekaͤmpfen ohne ſie anzufeinden denn dieſes iſt noch ſchwerer als ſie zu begluͤcken und zu beſchuͤtzen ohne ſie zu lieben.

So ſtrichen einige Wochen unter ſeinen erzwung¬ nen Landungen am feindlichen Hofe voruͤber denn die Bitte ſeines Vaters beherrſchte ſein Herz und unter vergeblichen Hoffnungen auf Klotildens Ent¬ ſcheidung und unter thraͤnenden Zuruͤckſehnen in die innehaltenden Tage der Liebe und in die verheer¬ ten Tage der Freundſchaft. Klotildens Schweigen willigte aber eben in ſeine Ankunft ein; doch melde¬ te er ihr durch einen zweiten Brief noch zum Ueber¬ fluß das Datum derſelben. Uebrigens wurde ihm, ſo an den Thron wie an einen Baum gebunden, ſo aus allen Gegenſtaͤnden ſeiner Liebe herausge¬ ſchleudert, ſo auf nichts geheftet als auf eine von weitem donnernende Zukunft, in der ſein Emanuel nach 14 Tagen unter die Erde einſinkt und ſeineQ 2244Klotilde in tauſend Schmerzen die Gegenwart ſchwuͤl und eng. Um ihn ging ein unreifes Gewit¬ ter herum und wie an den Tag - und Nachtgleichen, ruhten die Wolken unbeweglich wie ein großer Ne¬ bel uͤber ihm und das verborgne Arbeiten im hohen Gewoͤlke des Schickſals hatte noch nicht das Zuſam¬ menfließen in Thraͤnen entſchieden oder das Zerthei¬ len in Blau.

Endlich ging er nach St. Luͤne ... Warlich nur wehmuͤthig-begluͤckt! O! konnt 'er auf den Luͤner Fußſteig blicken oder auf das Pfarrhaus, das die Buͤhnen der begrabnen Freundſchaft bedeckte, oh¬ ne das Auge uͤberfließend abzuwenden, ohne daran zu denken, wie viel eitler das Lieben als das Leben der Menſchen ſey, wie das Schickſal gerade die waͤrmſten Herzen zur Zerſtoͤrung der beſten anwende, (ſo wie man nur Brennſpiegel zum Einaͤſchern der Edelſteine gebraucht) und wie manche ſtille Bruſt nichts iſt als der geſunkne Sarg eines erblaßten ge¬ liebten Bildes? Es iſt ein namenloſes Gefuͤhl, einen Freund lieben zu wollen aus Erinnerung und ihn fliehen zu muͤſſen aus Ehre: Viktor wuͤnſchte, er duͤrfte ſeinem bethoͤrten Liebling vergeben; aber vergeblich: das arſenikaliſche Wort das mich in ſei¬ nem Namen ſchmerzt, blieb trotz aller, aller verſuͤſ¬ ſenden Saͤfte, mit denen er's einwickelte, doch un¬ aufgeloͤſet und freſſend und toͤdlich in ſeiner Seele245 liegen. Guter Flamin! ein Fremder koͤnnte dich lie¬ ben, ich z. B. aber dein Jugendfreund nicht mehr!

Viktor ſchritt zoͤgernd vor dem Bilder - und Muſikſaal ſeiner nachgeſpiegelten und nachgetoͤnten Kindheit vorbei, vor dem Pfarrhaus, desgleichen vor der ſcheuernden Apollonia die er gern tiefer gruͤßte als ſein Stand zuließ, und vor dem alten Mops, der ſich in keinen Familienzwiſt einmengte, ſondern ihn freimuͤthig mit dem Schwanz invitirte. Nicht ſein Stolz hielt ihn ab, die (vorgeblichen) Eltern ſeines Opponenten zu beſuchen, ſondern die Aengſtlichkeit that's, die ihn beſorgen ließ, die gu¬ ten Menſchen wuͤrden ſich vielleicht vor ihm im ver¬ legnen Kampfe zwiſchen Hoͤflichkeit, zwiſchen alter Liebe und neuem Groll abquaͤlen. Aber er beſchloß, durch einen Brief an die edelmuͤthige Pfarrfrau ſei¬ ne Liebe zu befriedigen nnd ihre Empfindlichkeit.

Dann trat er vor ſeine Geliebte! Ich hab 'es vor-vorgeſtern unter dem Leſen der deutſch-fran¬ zoͤſiſchen Geſchichte, wo bekanntlich auch der ge¬ kroͤnte Name Klotilde regiert, an den verdoppelten Schlaͤgen meines Herzens gemerkt, wie mir erſt ſeyn wuͤrde, wenn ich dieſe Klotilde, die ich ſeit drei viertel Jahren gelobt habe, vollends gar ſaͤhe: denn daß Knef ſo wie der Hund keine Spitzbuben ſind, und daß die ganze Hiſtorie nicht blos vorgefallen iſt, ſondern auch noch vorfaͤllt, erſeh' ich aus hundert246 Zuͤgen, die wohl keine Phantaſie erfinden kann. Wuͤrde der Biograph der Heldin anſichtig: dann entſtaͤnde nichts als ein neues Heft und ein neuer Held, welcher ich waͤre ....

Sie war krank: jener Abend war wie ein Sto߬ vogel auf ihr Herz gefahren und hatte die blutigen Krallen noch nicht herausgezogen. Ihre Seele ſchien der Engel zu ſeyn, der die entſeelte Huͤlle eines Frommen huͤtet. Der Kammerherr begegnete dem Hofmedikus als ob er von keinem Duelleriren wiſſe. Was ſonſt Muͤtter thun, that der Vater: er vergab jedem, der von Stande war und der die Tochter wollte. Der Antrag, den ihm Viktor endlich mach¬ te, frappirte ihn nur, weil er bisher gedacht hatte, dieſer verſchieb 'ihn blos wegen der Ungewißheit uͤber Klotildens Erbſchaft und Verwandſchaft. Sei¬ ne Antwort beſtand in unendlichen Vergnuͤgen, un¬ endlicher Ehre ꝛc. und andern Unendlichkeiten: denn bei ihm war alles eine; daher auch Platner mit Recht behauptet, der Menſch koͤnne im Grunde blos das Endliche nicht denken. Le Baut haͤtte die Toch¬ ter hergegeben, wenn er auch nicht gewollt haͤtte: er konnte ins Geſicht nichts abſchlagen, nicht ein¬ mal eine Tochter. Auch konnte keiner kommen und um Klotilden anſuchen, der nicht in irgend eines feiner Projekte (ſeine vier Gehirnkammern lagen bis247 an die Decke davon voll) hineingepaſſet haͤtte. Na¬ tuͤrlicher Weiſe war ibm alſo ein Schwiegerſohn jetzt am meiſten erwuͤnſcht, da ihm etwan die Tochter gar mit Tod abgehen koͤnnte, ohne daß er ſie noch zu einem Springſtab und Hebebaum ſeines Leibes gebraucht haͤtte und da ihm zweitens das Duell - Gerede das Herz anfras; nicht als ob er nicht durch geſunde wurmfoͤrmige Bewegungen die haͤrteſten Dinge verdauet haͤtte, ſondern weil er wie gebil¬ dete Menſchen ohne Ehre, bei kleinen Beleidigun¬ gen gern mit Laͤrmkanonen und Feuertrommeln er¬ ſchien, um ſich das Recht zu erſchleichen, bei voll¬ ſtaͤndigen, aber ergiebigen und mit Silberadern durch¬ zognen Entehrungen mauſeſtill da zu liegen. Das einzige was der Kammerherr nicht gern ſah, was er aber ſogleich dadurch hob, daß er dem Hofmedikus das Wort (uͤber die Tochter) gab, das war, daß er vorher das naͤmliche Wort (in geheim) unſerem Matz gegeben hatte. Da ihm der bald wiederkom¬ mende Lord mehr ſchaden und helfen konnte als der Miniſter: ſo brach er gern das alte Wort, um das neueſte zu halten; denn nicht blos den letzten Willen, ſondern auch jeden kann der Menſch aͤn¬ dern wie er will und wenn er ein Mann von Wort iſt, ſo wird er gern ganz entgegengeſetzte Verſpre¬ chungen thun, um ſich zum Halten zu noͤthigen. Was konnte die Schwiegermutter, die Kammerher¬248 rin, die immer die Waffentraͤgerin und Liguiſtin des Evangeliſten war, weiter dabei machen als ein freundliches Geſicht und die Bemerkung: niemand iſt ſchwerer zu regieren als ein Ehemann, den jeder regiert.

Die Formalien der Verlobung ſelber warteten auf die Zuruͤckkehr des Lords und auf andere Ver¬ haͤltniſſe. Laſſet mich nichts ſagen von der durch ſo viele Leiden veredelten Liebe dieſes Paars: wenn mit der Liebe ſich gar die Menſchenliebe noch ver¬ maͤhlt (welches mancher gar nicht verſtehen wird); wenn im Athem der Liebe alle andere Reitze des Herzens ſchoͤner werden, alle feine Gefuͤhle noch feiner, jede Flamme fuͤr das Erhabne noch hoͤher, wie in der Feuer - und Lebensluft jeder Funke ein Blitz und jedes Johanniswuͤrmgen eine Flamme wird; wenn beide Menſchen einander ſelten mit den Augen, und oft mit den Gedanken begegnen; wenn Viktor ein Herz faſt zu behalten ſcheuet, dem er ſoviel koſtet, ſo viel dunkle Tage, ſo viel Sorgen und faſt einen Bruder; und wenn Klotilde eben dieſes zarte Scheuen erraͤth und ihn fuͤr ihre Lei¬ den belohnt: dann iſt's unmoͤglich vielen Menſchen den Umriß einer ſolchen Aetherflamme, geſchweige die Farben derſelben zu geben; fuͤr wenige iſt's unnoͤthig.

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Viktor blieb einige Tage, beſuchte aber natuͤr¬ lich die Britten und ihren fortdauernden Klub nicht. Le Baut fand dieſes vorſichtig, » denn man wiſſe von ſicherer Hand, es ſeyen Jakobiner und verkapte Franzoſen. « Viktor nahm endlich ehe die zwei gekroͤnten Badgaͤſte mit einigem Gefolge anka¬ men Abſchied von ſeiner Verlobten, in deren Augen wie in ſeinen bei der Nachricht, daß er nach Maienthal abgehe des laͤngſten Tages wegen, Thraͤ¬ nen ſtanden, die mehr als einen Schmerz bezeich¬ neten.

Wir Leſer wollen unterdeſſen uns vom Kammer¬ herrn beurlauben, der mit ſeinen diagonalen Augen¬ braunen bei der Naſenwurzel konvergiren ſie in Geſtalt des mathematiſchen Wurzelzeichens mit wahrer verbindlicher Hoͤflichkeit ſich von uns trennt. Ich weiß, wenn wir fort ſind, laͤßt er uns Gerech¬ tigkeit widerfahren und macht zuviel aus uns: denn er verlaͤumdet nie, weder aus Boßheit noch Leicht¬ ſinn, und wen er verlaͤumdet, den hat er die ernſt¬ hafte Abſicht zu ſtuͤrzen, weil er lieber ungluͤcklich als ſchwarz macht. Als ich ihn ſich ſo buͤcken ſah ge¬ gen uns: verfertigte ich in Gedanken halbe Satire auf ihn, wovon das Wahre und Ernſthafte das ſein mag: daß die Menſchen wirklich dazu erſchaffen ſind, ſich ſo krum zu machen wie der spiritus asper iſt. Ich baue eben nicht darauf viel, daß Geometer ge¬250 ſchrieben haben, wenn die Goͤtter eine Geſtalt an¬ naͤhmen, ſo muͤßt 'es die vollkommenſte, die eines Zirkels ſeyn: ich koͤnnte zwar daraus folgern, ein krummer Ruͤcken waͤre wenigſtens eine Annaͤherung zur Goͤttergeſtalt, weil's ein Bogen und Segment aus einem Zirkel waͤre aber ich mag nicht: denn das Phyſiſche iſt Kinderei dabei und nur in ſo fern von Belang, als es das innere Kruͤmmen und Krie¬ chen der Seele theils anzeigt, theils (z. B. durch Verengerung der Bruſt) befoͤrdert. Sogar am Hofe wuͤrde man das aͤuſſere Kruͤmmen erlaſſen, wenn man gewiß wiſſen koͤnnte, daß das edlere, innere der Denkungsart da waͤre ohne das Zeichen, denn da nach Kant Unterwuͤrfigkeit und Niederſchlagung un¬ ſers Eigenduͤnkels die Foderung der reinern und der chriſtlichen Moral iſt: ſo muß einer, der gar keine moraliſchen Vorzuͤge hat, mit dem Selbſtbewußtſeyn davon noch tiefer nieder als zur Demuth, die ſchon der Tugendhafte hat, er muß zu dem ſinken, was ich ein edles Kriechen nenne. Ich geſtehe, ich ver¬ achte die Uebung nicht, die darin die kleinen Re¬ geln der Lebensart gewaͤhren, die ja ohnehin nichts ſeyn ſoll als die Tugend in Kleinigkeiten, die Re¬ geln naͤmlich, daß man ſich buͤckt wenn man wider¬ ſpricht wenn man lobt wenn man eine Belei¬ digung erfaͤhrt wenn man eine anthut wenn man den andern buͤckt wenn man gerade eben251 des Teufels werden moͤchte. Aber gut iſt's, daß eine ſolche Tugend der Kruͤmmung ihre eigne Exer¬ zierplaͤtze hat und nicht vom Zufall abhaͤngt. Am Hofe wuͤrde ein Menſch mit geradem Leibe und Geiſte als hoͤfiſch-tod ausgeſchoſſen werden wie ein Krebs mit einem geraden Schwanze, den nur krepirte Krebſe fuͤhren. Wenn ſonſt die Einſiedler niedrige Zellen erwaͤhlten, um nicht aufrecht zu ſte¬ hen: ſo braucht der Weltmann das nicht; ihn druͤ¬ cken die hohen Speiſeſaͤle, die Luſttempel, die Tanz¬ ſallons deſto tiefer nieder, je hoͤher ſie ſind. Es waͤre ſchlimm, wenn dieſe ſo wichtige Tugend der Niederbuͤckung erſt eine beſondere geiſtige oder koͤr¬ perliche Staͤrke, die ſich ja niemand geben kann, vorausſetzte; aber gerade umgekehrt will ſie nur Schwaͤche haben, welches bei Pferden nicht ſo iſt, die den Schwanz nicht mehr niederbringen, wenn deſſen Sehnen abgeſchnitten ſind. Wenn die Phari¬ ſaͤer Blei in den Muͤtzen fuͤhrten, um ſich das Buͤ¬ cken zu erleichtern*)Die Phariſäer thaten es wie gewiſſe Juden, die auch immer gekrümt einherzogen und darum Krümlinge hieſ¬ ſen um Gott, der die ganze Erde ausfüllt, ein wenig Platz zu machen. Altes und neues Judenthum. 2 B. S. 47.: ſo thut das Blei, das man auf die Welt bringt und das im Kopfe liegt, viel¬ leicht noch groͤßere Dienſte. Daher iſt's eine ſchoͤne252 Einrichtung, daß aus großen Seelen, denen wie langen Staturen das Buͤcken ſauer faͤllt, zum Gluͤck (aber zu ihrer Strafe) nichts wird, anſtatt, daß mittelmaͤßig, die ſich nichts daraus machen, gedei¬ hen und eine ſchoͤne Krone treiben: ſo ſah ich oft beim Brodbacken, daß jeder maͤßige Laib im Back¬ ofen ſich ſchoͤn erhob und woͤlbte, der große aber blieb platt und miſerabel ſitzen. Wir waͤren aber bedauernswuͤrdig, wenn eine Tugend, die den Werth des buͤrgerlichen Menſchen ausmacht, dieſe Tugend, nicht blos wie Kinder zu werden, ſondern wie Foͤ¬ tus, die ſich im Mutterleibe zuſammenſtuͤlpen, wenn dieſe nur an den hoͤchſten Orte gediehe, wie man faſt denken ſollte, da der Hofmann nach dem Falle auf ſeinem Landgute ſchon wieder aufrecht geht anſtatt daß die Schlange vor dem Falle und unter dem Verfuͤhren nicht kroch. Allein in allen buͤr¬ gerlichen Verhaͤltnißen ſind Erziehungsanſtalten zu Kruͤmlingen vorhanden; die Luft haͤngt voll vom geiſtlichen und weltlichen Arme und von andern Haͤn¬ den, die uns ordentlich einkrempen und noch hoͤher ſind die allerlaͤngſten angebracht, die uͤber ganze Voͤlker reichen. Der Gelehrte ſelber buͤckt ſich am Schreibepult unter der Geburt der Dedikazionen und Dedukzionen und Urthel. Durch das bloße graue Alter reift ſowohl der Koͤrper zum verknoͤcherten Buͤcklinge als die Seele. Und die niedrige Geiſt¬253 lichkeit arbeitet ſich, weil ſie immer niederwaͤrts ins Grab ſieht, in die gekruͤmte Attituͤde hinein. Ich ſchließe mit dem Troſte, daß Buͤcken Aufgebla¬ ſenheit nicht ausſchließe, ſondern ein; da eben der Zirkel, deſſen Segment man wird, unzaͤhlig um die geſchwollne Kugelflaͤche laͤuft. ....

Ich wuͤrde wahrhaftig dieſes Extrablatt eines uͤberſchrieben haben ſo daß es alſo der Leſer haͤt¬ te uͤberſpringen koͤnnen wenn ich nicht gewollt haͤtte, daß er's laͤſe, um ſich zu zerſtreuen, und die truͤben Stunden meines Viktors leichter mit ihm auszudauern. Denn jeder Glockenſchlag iſt der aus einer Todtenglocke gehende Todtenmarſch ſeiner ſchoͤ¬ nern geſcheiterten Stunden. Viktor war kaum ei¬ nige Tage zu Hauſe: ſo ging das gekroͤnte Paar ins Bad. Ohne es zu wiſſen, that und beantworte er ſich den ganzen Tag die Fragen: was werden bei¬ de, was Flamin, was Matthieu der nicht ſein Brautfuͤhrer, ſondern ſein ſabiniſcher Raͤuber ſeyn will zur Verlobung ſagen?

Noch am Morgen, wo er nach Maienthal ab¬ reißte, empfing er zwei neue Knochenſplitterungen des Muths. Der Apotheker konnte ſich das Ver¬ gnuͤgen nicht verſagen, dem Hofmedikus ſeines zu nehmen, indem er die (wahrſcheinlich falſche) Both¬ ſchaft brachte, der Hofjunker habe den Kammer¬ herrn gefordert wegen des uͤber Klotilden gebrochnen254 Verſprechens. Wenig oder nichts iſt an der Both¬ ſchaft ſchon darum, weil der Apotheker nur ſein Eigenlob loßhuſten und in das Lob Viktors verklei¬ den wollte, daß dieſer mit ſo unendlicher Feinheit ſeine neulichen Winke, den Evangeliſten zu unter¬ graben, zu vollfuͤhren gewußt. Die Winke waren wie man ſich erinnert, die zwei Vorſchlaͤge, der Liebhaber der Fuͤrſtin und der Ehemann Klotildens zu werden, um den Fuͤrſten zu gewinnen und wie ein Schwein die Klapperſchlange, Mazen, ohne Schaden zu verſchlucken. Man muß der von einem Wurmſtock von Schmerzen angenagten Seele Vik¬ tors vergeben, daß er aufbraußte und mit einem Auge voll tiefſter Verachtung Zeuſeln anfuhr: » ich weiß nicht, wer verdiente, ſolche Vorſchlaͤge anzu¬ hoͤren wenn's nicht einer iſt, der ſie machen kann. »

Der Korreſpondent hoͤrt traurig und kurz mit den Worten auf: » abends kam Viktor ſpaͤt und mit geſchwollnen Augen in Maienthal an, um zu ſehen, ob am andern Tage der ſchoͤnſte Lehrer und der groͤßte Freund verwelke! » Wir koͤnnen uns alle denken wie die Umarmung eines Geliebten we¬ nige Schritte von ſeinem Grabe ſeyn mußte Der Freund, der uns ſein Sterben drohet, greift ſchmerz¬ haft unſere Seele an, auch wenn wir es bezweifeln wir koͤnnen uns alle das naſſe Auge denken, das255 Viktor uͤber die noch bluͤhende Staͤtte ſeines ver¬ welkten Roſenfeſt's geworfen. Was ihn troͤſtet, iſt die Unwahrſcheinlichkeit des prophezeyten Ster¬ bens, da Emanuel ſich wie ſonſt befindet, und da der Selbſtmord noch unmoͤglicher bei dieſem from¬ men Geiſte iſt, der den Selbſtmoͤrder ſchon laͤngſt mit dem Hummer verglich, der die eine Scherre, die er ſelber mit der andern aus Stumpfſinn zer¬ knirſcht und kneipt, nicht herauszieht ſondern ab¬ ſprengt. Moͤge mir der Leſer zur Beſchreibung des laͤngſten Tages*)So nennte Emanuel immer den Johannistag, obwohl nicht ganz aſtronomiſch-richtig., die ich einſam unter der er¬ hebenden Stille der Nacht machen werde, ein Herz wie des Indiers mitbringen, das gleich alten Tem¬ peln ſtumm und dunkel, aber weit und voll heiliger Bilder iſt!

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38. Hundspoſttag.

Die erhabene Vormitternacht Die ſeelige Nachmitternacht Der ſanfte Abend.

Heute uͤbergeb 'ich Emanuels laͤngſten Tag, der nun erloſchen und abgekuͤhlt unter den Tagen der Ewig¬ keit liegt, mit bleichen Abriſſen den Phantaſien der Menſchen. Meine Hand zittert und mein Auge brennt vor den Szenen, die jetzt in Leichenſchleiern um mich treten und ſo nahe an mir die Schleier aufheben. Ich ſchließe mich heut Nacht ein ich hoͤre nichts als meine Gedanken ich ſehe nichts als die Nachtſonnen, die uͤber den Himmel ziehen ich vergeſſe die Schwaͤchen und die Fle¬ cken meines Herzens, damit ich den Muth erhalte, mich zu erheben als waͤr' ich gut, als wohnt 'ich auf der Hoͤhe, wo um den großen Menſchen wie Sternbilder nichts als Gott, Ewigkeit und Tugend liegen. Aber ich ſage zu denen, die beſſer ſind zum ſtillen großen Herzen, das ſeine Pflichten ver¬ mehrt, indem es ſie erfuͤllt und das ſich beim Wachsthum ſeines Gewiſſens taͤglich blos mit groͤßern Verdienſten befriedigt zu den hohenMenſchen,257Menſchen, die die Hand des Todes warm gedruͤckt haben, die ihn, wenn er auf Morgenauen herum¬ geht, friedlich fragen koͤnnen: » ſucheſt du mich heu¬ » te » zur lechzenden Seele, die ſich unter dem Zypreſſenbaum kuͤhlet zu den Menſchen mit Thraͤnen, mit Traͤumen, mit Fluͤgeln, zu allen die¬ ſen ſag 'ich: » Verwandte meines Emanuels, euer » Bruder ſtrecket nach euch ſeine Hand durch die » kuͤrzeſte Nacht aus, ergreifet ſie, er will von euch » Abſchied nehmen! «

Die erhabene Vormitternacht.

Viktor ſtand aus ſeinen Traͤumen, in denen er nichts als Graͤber und Trauergeruͤſte fuͤr ſeinen Freund geſehen hatte, wehmuͤthig auf; aber er faßte beim Morgengruß geheime Hoffnungen, da er ihn ohne Fieber, ohne Beklemmungen, ohne Aenderun¬ gen in ſeinen angeblichen Todesmorgen treten ſah. Ihm war jetzt blos vor dem Eindruck bange, den die getaͤuſchte Hoffnung des Scheidens auf das ſchon halb aus dem irdiſchen Boden geriſſene und von Erde entbloͤßte Herz des Geliebten machen wuͤrde. Dieſer hingegen hielt noch ſeine Traͤume feſt, denen ſogar ſeine naͤchtlichen Nahrung gaben; und er ſah ſehnend in das ungeſtirnte Blau und berechnete den langen Weg bis zur zwoͤlften Nachtſtunde, wo aus dem Himmel die Sterne und der Tod mit ſeinemHeſperus. IIl. Th. R258dunkeln unermeßlichen Mantel, in dem er uns durch ſein kaltes Reich traͤgt, vordringen wuͤrden. Sein Herz lag in einer unbeſchreiblichen Mittagsruhe, die zum Theil von koͤrperlichen Ermatten und vom ſchoͤnen Tag herkam. Eine innere Windſtille, die nirgends ſo groß und ſo magiſch iſt als in Seelen, an denen Wirbelorkane hin und her geriſſen haben, uͤberdeckte ſein ganzes Weſen mit einer ſehnſuͤchti¬ gen Wonne, die in andern Augen als ſeinen in Thraͤnentropfen zerfloſſen waͤre.

O Ruhe, du ſanftes Wort! Herbſtflor aus Eden! Mondſchein des Geiſtes! Ruhe der Seele, wenn haͤltſt du unſer Haupt, daß es ſtill liege, und unſer Herz, daß es nicht klopfe? Ach eh 'jenes bleich und dieſes ſtarr iſt, ſo kommſt du oft und geh'ſt du oft und nur unten bei dem Schlafe und bei dem Tode bleibeſt du, indeß oben die Stuͤrme die Menſchen mit den groͤßten Fluͤgeln gleich Paradießvoͤgeln am meiſten umherwerfen!

Emanuels Ruhe, womit er die Gaſtrolle des Lebens bis aufs letzte Merkwort ausſpielte, womit er alles einpackte zurechtſtellte anbefahl verabſchiedete, trieb im gequaͤlten Freunde Thraͤnen und Stuͤrme zuſammen Viktors Herz war zwar vom Schickſal uͤber einem ſteinigten Weg wund ge¬ ſchleift, aber die Entzuͤndungen deſſelben kuͤhlte jetzt der Gedanke des Todes ſanft ab; doch konnt 'er es259 beim groͤßten Unglauben an Emanuels Tod nicht aushalten, es zu hoͤren, wie ihm Emanuel den blinden Julius, dem man dieſen Tod verbarg, von weitem mit den leiſen Worten uͤbergab: » hab' ihn » lieb wie ich, verſorge, beſchirme den Armen bis » du ihn dem Lord Horion uͤbergeben kannſt. » Sei¬ ne bebenden Haͤnde konnten kaum ein Paket an die¬ ſen Lord annehmen, das ihm der Liebling mit zaͤrt¬ lichen Augen und mit den Worten reichte: » wenn » dieſe Siegel geoͤfnet werden, ſo haben meine Eide » aufgehoͤrt und du erfaͤhr'ſt alles. » Denn ſein zar¬ tes Gewiſſen verſtattete ihm nur den Inhalt, nicht das Daſeyn von Geheimniſſen zu verbergen. Es wird uns nicht wundern, da Viktors Adern eine Wunde um die andere empfingen, daß er, um nicht durch Wallungen ihr Bluten zu vermehren, den Floͤtenſpieler bat, heute nicht zu ſpielen: Muſik haͤtte an dieſem Tag uͤber ſein zerfloſſenes Herz zu¬ viele Gewalt gehabt.

Den Morgen verbrachten ſie in Abſchiedsbeſuchen bei alten Steigen, Lauben und Anhoͤhen; aber Ema¬ nuel machte hier nicht die grelle, tobende Forcerolle des fuͤnften Akts; er ſchlug auf einer Erde, wo der Tod graſet, keinen unphiloſophiſchen Laͤrmen daruͤber auf, daß er die Blumen und die Saaten nicht maͤ¬ hen und das gruͤne Obſt nicht gelben werde ſehen:R 2260ſondern mit einem hoͤhern Entzuͤcken, das ſich jen¬ ſeits des Erden-Lenzes noch ſchoͤnere verſprach, machte er ſich von jeder Blume loß, ging er durch jedes Laub Gewinde und Schatten Nachtſtuͤck hin¬ durch, zog er ſeine in der Erde liegende verklaͤrte Geſtalt aus jedem Spiegelteiche und eine liebevolle¬ re Aufmerkſamkeit auf die Natur zeigte an, daß er heute Nachts dem naͤher zu komnen hoffte, der ſie geſchaffen. Er verſuchte und Viktor vermied von allem dieſen zu reden. » Nur nicht zum letztenma¬ » le! » ſagte dieſer. » Nicht? (ſagte Emanuel) » Geſchieht nicht alles nur Einmal und zum letzten¬ » male? Scheidet uns nicht der Herbſt und die » Zeit ſo gut wie der Tod, von allem? Trennt » ſich nicht alles von uns, wenn wir uns auch nicht » von ihm trennen? Die Zeit iſt nichts als ein » Tod mit ſanftern duͤnnern Sicheln; jede Mi¬ » nute iſt der Herbſt der vergangnen und die zweite » Welt wird der Fruͤhling einer dritten ſeyn. » Ach wenn ich einmal wieder aus der Blumenflaͤche » einer zweiten weiche, und wenn ich am himmli¬ » ſchen Sterbetag das Zwielicht von der Erinnerung » zweier Leben ſehe o in der Zukunft ruht » eine Anlage zur unendlichen Wonne ſo gut wie zur » Qual, warum ſchauert der Menſch nur vor die¬ » ſer? » Viktor beſtritt die kuͤnftige Erinnerung. » Ohne Erinnerung (ſagte Emanuel) giebt's kein Le¬261 » ben, nur Daſeyn, keine Jahre, nur Terzien » kein Ich, nur Vorſtellungen deſſelben Ein » Weſen zerfaͤhrt in ſo viel Millionen Weſen als es » Gedanken hat Erinnerung iſt blos Bewußtſeyn » der gegenwaͤrtigen Exiſtenz » Auch der Dichter philoſophirt, wenigſtens fuͤr Dichtung und gegen Philoſophie. Viktor dachte: » du Guter! mir, » nicht dir macht 'ich dieſe Einwuͤrfe. »

Es war gegen Mittag: der Himmel war rein aber ſchwuͤl; die Blumen meldeten das Zuſammen¬ ziehen der Blitze durch ihr Verſchließen an; alle Auen waren Rauchaltaͤre, und Duͤfte gingen als Pro¬ pheten der Gewitterwolken voraus. Mit der phy¬ ſiſchen Gewittermaterie haͤufte ſich in Viktor die moraliſche an er dachte daran, daß oft ein heißer Tag den Schwindſuͤchtigen das Leben nehme; er verwechſelte zuweilen die Bitterkeit des Abſchieds mit der Wahrſcheinlichkeit deſſelben: denn der von der Luftperſpektiv der Furcht be¬ trogne Menſch findet ein Schreckenbild deſto naͤ¬ her, je groͤßer es iſt; er weinte, wenn er bloß daran dachte, daß er weinen koͤnnte : aber gleich¬ wol wuͤrde die Vernunft die Oberhand uͤber die Gefuͤhle behalten haben, haͤtte nicht beide folgender Zufall betaͤubt.

262

In Maienthal wohnte ein Wahnſinniger, den man blos das tolle Todtengebein hieß. Aus drei Gruͤnden wurd 'er ſo genannt: erſtlich weil er ein Kno¬ chenpraͤparat von Magerheit war zweitens weil er die fixe Idee herum trug, der Tod ſetze ihm nach und woll' ihn an der linken Hand, die er deswegen immer verdeckte, ergreifen und wegziehen drittens weil er vorgab, er ſeh 'es denen die bald ſterben wuͤrden, am Geſichte an, uͤber das ſich alsdann ſchon die Einſchnitte und Abſzeſſe der Verweſung ausbreiteten. In Moritz Erfahrungsſeelenkunde*)Im 2ten Stück des 2ten Bandes. iſt ein aͤhnlicher Menſch beſchrieben, der auch im Stande ſeyn ſoll, die Vorpoſten des Todes und ſei¬ ne zerreibende Hand auf Geſichtern voraus zu ſehen, die andern glatt und roth vorkommen, wenn er ſie mit dem Hoͤllenſtein der Verweſung ausgeſtrichen erblicket. Dieſes Todtengebein war's was in der Nacht des 4ten Pfingſttages, als Klotilde auf dem Kirch¬ hof war, ausrief: Tod! ich bin ſchon begraben. Viktor und Emanuel gingen unter dem Gelaͤute der zwoͤlften Stunde nach Hauſe und vor einem Huͤgel voruͤber, woran das Todtengebein beklemmt ſaß: es bohrte ſich die linke Hand, wornach der Tod grif, tief unter die Achſel: » brrrr! (ſagt 'es ſchuͤttelnd zu263 » Emanuel) Er hat dich, aber mich nicht! Lauter » Moder haͤngt an dir runter! Die Augen ſind weg! » Brr! »

Die Worte der Wahnſinnigen ſind dem Men¬ ſchen, der an der Pforte der unſichtbaren Welt horcht, merkwuͤrdiger als die des Weiſen, ſo wie er aufmerkſamer den Schlafenden als den Wachenden, den Kranken als den Geſunden zuhoͤrt. Viktors Blut erſtarrte unter dem eiskalten Grif in ſein warmes Leben. Das tolle Gebein rannte fort, die linke Hand mit der rechten verbauend. Viktor nahm ſei¬ nes Freundes linke, blickte zur warmen Sonne auf und ſuchte ſich zu verbergen und zu erwaͤrmen und konnte nichts ſagen. Unten am tiefblauen Him¬ mel tauchten kleine Nebel auf, die Keime eines Abendgewitters; und in der ſchwuͤlen Luft flog nichts als Gewuͤrm.

Emanuel war ſtiller und faſt aͤngſtlich; aber es war nicht die Bangigkeit der Furcht, ſondern jene Bangigkeit der Erwartung mit der wir allemal auf die Falten und Bewegungen des Vorhangs großer Szenen blicken. Die ſtechende Sonne erhielt das Paar zu Hauſe. Dem vom ſchwuͤlen Dunſtkreiß ge¬ druͤckten Emanuel wurde faſt der letzte Nachmittag zu lange. Aber ſein Freund ſah in dieſem Dunſt¬ gewoͤlbe immer ein moderndes Angeſicht haͤngen, das ſich in das geliebte friſche einzuarbeiten ſchien und264 immer hoͤrt 'er das tolle Todtengebein in ſeine Oh¬ ren ſagen: » ſeine Augen ſind raus! »

In der ſchwuͤlen Stille wo die Sonne die Mi¬ nirgaͤnge des Donners grub und lud, und wo die zwei Freunde vor den Ohren des blinden Julius nur mit Blicken von der heutigen Zukunft reden durften ſtand gegen 4 Uhr ein faͤchelnder Abendwind auf der alle haͤngende Fluͤgel und Haͤupter erfriſchte. Ema¬ nuel ließ dieſe kuͤhlen Wogen herein die einwie¬ gend und beruhigend uͤber die gebuͤckten Blumen am Fenſter liefen und an den ſchwankenden Falten der Vorhaͤnge niederfloſſen und verirrt durch das duften¬ de Laubwerk des Zimmers plaͤtſcherten. Da kam ei¬ ne unendliche Stille eine aufloͤſende Wonne, ein unausſprechliches Sehnen in Emanuels Herz. Seine Kindheitsfreuden die Zuͤge ſeiner Mutter die Bilder indiſcher Gefilde alle geliebte verſtaͤubte Geſtalten Der ganze gleitende Wiederſchein des Jugendmorgens floß vor ihm glimmend voruͤber Eine wehmuͤthige Sehnſucht nach ſeinem Vaterland, nach ſeinen geſtorbnen Menſchen dehnte ſeinen Bu¬ ſen mit ſuͤßen Beklemmungen aus Dieſes immer¬ gruͤne Palmenlaub der Jugenderinnerung legte er als kuͤhlendes Kraut um ſeine und Horions Stirne und den ganzen erſten Kreiß ſeines Daſeyns trug er aus dem indiſchen Eden in dieſes enge Gehaͤuſe vor ſei¬ ne zwei letzten Geliebten heruͤber. Aber da er ſo265 die Aſche der Freuden-Phoͤnixe auf dem Altar der Abendſonne aufhaͤufte da er ſo am Ausgange uͤber alle hintereinander liegende elyſiſche Felder ſeines Lebens hinuͤberſah da vor ihm die ganze Erde und das Leben, mit Morgenthau und Morgenroth uͤberzogen, ſich in den daͤmmernden Spielplatz des Menſchen verwandelten: ſo war er ſeiner Ruͤhrung und ſeines zerſchmolznen Herzens nicht mehr maͤch¬ tig, ſondern im ſeeligen Zittern, im bebenden Dank gegen den Ewigen bat er den Blinden, die Floͤte zu nehmen und ihm das Lied der Entzuͤckung, das er ſich allemal am Morgen des neuen Jahrs und ſeines Geburtstages ſpielen ließ, als Echo des aus¬ toͤnenden Lebens nachzuſenden.

Julius nahm die Floͤte. Horion ging hinaus unter einen laut rauſchenden Baum und ſah in die tiefere Abendſonne. Emanuel ſtellte ſich am wehen¬ den Fenſter dem Purpurſtrom des Abendlichtes ent¬ gegen und das Lied der Entzuͤckung fing an und floß in Stroͤmen in ſein Herz und um die eingeſunkne Sonne.

Und da die Sphaͤren-Laute von der Sonne aus¬ zuwallen ſchienen, die in der Abendroͤthe wie ein Schwan, in Melodien aufgeloͤſet in Goldrauch und in Freudenthau vor Gott aus Entzuͤcken ſtarb und da vor Emanuel alle Blumen, womit die ewi¬266 ge Guͤte unſer Herz bedeckt, und alle Wonnegefilde, durch die ihre ſanfte Hand den ungewiſſen Menſchen fuͤhrt, wie Engel voruͤberflogen und da er die kuͤnftigen Himmel naͤher ruͤcken ſah, in die der Weg des Lebens geht und da er ſah dieſe unendlichen Arme alle wunde Herzen decken, uͤber alle Jahrtau¬ ſende reichen, alle Welten tragen und ihn, ihn klei¬ nen Erdenſohn doch auch: o da konnte er unmoͤglich das volle Herz mehr halten, es brach ihm vor Dank und aus ſeinen Augen fielen die erſten Thraͤnen ſeines Daſeyns. Dieſe heilige Tropfen verwiſchte er nicht: in ihnen zerlief die Abendroͤthe in ein lo¬ derndes Meer; die Floͤte verhallete; Horion fand die ſchimmernden Augen noch; Emanuel ſagte: o ſieh 'ich weine vor Freude uͤber meinen Schoͤpfer. Dann gab es unter den erhabnen Menſchen, an die¬ ſer heiligen Staͤtte keine Worte mehr der Tod hatte ſeine Geſtalt verloren eine erhabne Trauer betaͤubte die Schmerzen der Trennung die Sonne, mit Erde bedeckt, beruͤhrte mit ihren aufgerichteten Stralen den Himmel und die Nacht und den Boden der Wolken die Erde ſchimmerte magiſch wie eine Traum-Landſchaft, und doch war es leicht aus ihr zu weichen, denn den Himmel bedeckten die an¬ dern Traum-Landſchaften.

Die Erden der Nacht (die Planeten) traten ſchon auf, die Sonnen der Nacht (die Fixſterne) gingen267 ſchon nach ihnen hervor, der Mond hatte ſchon das ſuͤdoͤſtliche Gewitter um ſich gehuͤllt: als Emanuel ſah, daß es Zeit ſey, die Szenen des Thals zu endi¬ gen und auf ſein Thabor zu gehen, um dem Tod das Fluͤgelkleid ſeiner Seele zu geben. Stockend bat er ſeinen Viktor, ein wenig voraus zugehen, damit er nicht das Trennen vom Blinden ſaͤhe und ſich et¬ wan durch eine Theilnahme verriethe: denn bei dem Blinden hatte Viktor die Reiſe in die andre Welt nur fuͤr eine auf dieſer ausgegeben. Er ſtellte ſich ungluͤcklich hinaus vor die verſtummten ſchwuͤlen Ge¬ filde, in denen einmal die Paradieſes-Stroͤme ſeiner Liebe gegangen waren, auf denen er einmal an Klo¬ tildens Seite ſchoͤnere Abende geſehen hatte: auf der Erde war Todtenſtille wie in einer Kirche zu Nachts, blos den Himmel umbrauſete ein auf die Erde ge¬ kruͤmmtes Bleigewoͤlk und der Tod ſchien von Wolke zu Wolke zu gehen und ſie zur Schlacht zu ordnen.

Endlich hoͤrt 'er Julius Weinen. Emanuel floh heraus, aber in ſeinen Augen hingen ſchwerere Tro¬ pfen als ſeine erſten waren. Und da der verlaſſene Blinde ſein dunkles Haupt unter der Hausthuͤr von ſeinen Freunden wegdrehte, entweder weil er ihren Weg nicht wußte oder weil er horchen wollte, wel¬ chen ſie naͤhmen, ſo konnte Viktor dem Gebeugten, der in einer doppelten Nacht wohnte, kaum vor in¬268 niger Wehmuth zuruͤck rufen, er (Viktor) komme nach Zwoͤlfen wieder.

In dem kahlen Abendgruß » gute Nacht, ſchlaft wohl « den Emanuel gab und bekam, war mehr Thraͤnenſtof als in ganzen Elegien und Abſchiedsre¬ den: ſo ſehr ſind die Worte nur die Inſkriptionen auf unſern Stunden und die Ripienſtimmen und die Bezifferung unſerer Grundnoten.

Sobald Emanuel vor den Nachthimmel, vor den daran angeketteten Orkan und vor ſeinen Todtenberg trat: ſo hoben Engel ſeine erweichte Seele wieder er ſah den Tod vom Himmel ſteigen und auf ſeinem Grabe den Freiheitsbaum aufrichten er ſah die freundlichen Sterne naͤher kommen und es waren die himmliſchen Augen ſeiner Freunde und aller ſeeligen Weſen. Viktor durfte ſeine dichteriſchen Hofnungen durch keine Gruͤnde ſtoͤren: vielmehr wurd 'er ſelber von Stunde zu Stunde tiefer in den Glauben an ſeinen Tod hineingezogen; wenigſtens fuͤrchtete er, daß der heutige Entzuͤckungs-Sturm die muͤrbe Wohnung dieſes ſchoͤnen Herzens und ſeiner Seufzer zertrennen und daß der Tod ſo lange um die edle Seele ſchlei¬ chen wuͤrde bis er ſie an ihren Fluͤgel, wenn ſie in Wonne ſie aufrichtete, vom Leben pfluͤcken koͤnnte wie Kinder den Schmetterling ſo lang umgehen bis er auf ſeiner Blume die Schwingen an einander ge¬ falltet in die raͤuberiſchen Finger erhebt.

269

Emanuel verſchob durch Umwege das Erſteigen des Berges, um ſeinen gebrochnen Freund, deſſen Augen nicht mehr trocken wurden, von einer Sonne in die andre zu heben, damit er in dieſer hohen Stellung aus Lichtern herunterblickte auf dieſe Schat¬ tenerde und darauf den befreundeten Leichnam vor Kleinheit kaum bemerkte. » Darum (ſagt 'er) wird » ja dieſe Erde alle Tage verfinſtert, wie Kaͤfiche der » Voͤgel, damit wir im Dunkeln leichter die hoͤheren » Melodieen faſſen. Gedanken, die der Tag zu ei¬ » nem dunkeln Rauch und Nebel macht, ſtehen in » der Nacht als Flammen und Lichter um uns, wie » die Saͤule, die uͤber dem Veſuv ſchwebt, am Tage » eine Wolkenſaͤule ſcheint und zu Nachts eine Feuer¬ » ſaͤule iſt. « Viktor merkte die Abſicht, zu troͤſten und wurde deſto untroͤſtlicher und ſchwieg immer.

Sie gingen nicht an der Seite des Berges zur Trauerbirke hinauf, ſondern an ſeinem langſam auf¬ ſteigenden Ruͤcken. Sie uͤberſahen jetzt das Theater der Nacht, uͤber welches der Mond und das Gewit¬ ter verhuͤllet heraufruͤckten. Emanuel ſtand ſtill und ſagte: » o blick hinauf und ſieh die ewig funkelnden » Morgenauen; die um den Thron des Ewigen lie¬ » gen haͤtte aus dem Himmel nie ein Stern ge¬ » ſchienen, nur dann wuͤrde ſich der Menſch aͤngſtlich » in den letzten Schlaf, auf einer wie ein Leichenge¬ » woͤlbe uͤberbauten dunkeln Erde ohne Oefnung le¬270 » gen. « Vor den Augen, die 'ſich an Sonnen hefteten, ſchweiften blinkende Johanniswuͤrmgen und eine Fledermaus ziſchte nach einem grauen Nacht¬ ſchmetterling drei Johannisfeuer, vom Aberglau¬ ben angeſchuͤrt, zogen drei ferne Huͤgel aus der Nacht alles Leben ſchlief unter ſeinem Blatt, un¬ ter ſeinem Zweig, naͤher an ſeiner Mutter und in den herumgeſtreueten Traͤumen waren Gewitter Fiſche taumelten wie Leichen auf der Waſſerflaͤche, als Vorboten des Donners.

Ploͤtzlich fing Emanuel mit einer unpaſſenden nicht genug bezwungnen Stimme an: » wahrlich wir » wuͤrden gefaßter neben dem Genius ſtehen, der die » letzten Schlummerkoͤrner auf die Augen unſrer Lie¬ » ben fallen laͤßt, wenn ſie nachher nicht in Kirchen¬ » gewoͤlben, in Kirchhoͤfen ſondern auf Auen aus¬ » ſchliefen, unter dem Himmel oder als Mumien in » Zimmern .... Jetzt, mein Geliebter (ſie hoͤrten » ſchon das Wehen der Trauerbirke) herrſche alſo » uͤber deine Phantaſie: du wirſt neben der Birke » meine Ruhehoͤle offen ſehen ich habe ſie ſeit » vier Wochen mit Blumen ausgeſaͤet und uͤberklei¬ » det, die jetzt meiſtens bluͤhen du legſt mich mor¬ » gen ohne alles andre ſo in meinem Schlafklei¬ » de unter die Blumen und deck 'es morgen zu » gieb aber nicht, du Guter, meinem kleinen Blu¬ » menſtuͤck ſolche harte Namen wie andre Menſchen271 » morgen ſag' ich; heute geh ſogleich heim zu » deinem Julius, wenn ich .... « (geſtorben bin, wollt 'er ſagen, konnt' aber die weiche Umſchreibung vor Ruͤhrung nicht finden. )

Ach das gebrochne Auge riß Horion mit einem Seufzer heraus aus der kalten ofnen Grotte ſeines Geliebten und er konnte nicht hinabſehn zu dem Blu¬ menflor darin. Er ſchluchzete laut und ſah aus Thraͤnen zergangen, in Emanuels Angeſicht, um zu ſehen ob er lebe oder ſterbe. Zwei Johanniswuͤrm¬ gen durchkreuzten einander in glimmendem Bogen uͤber dem Grabe, ſie ſenkten ſich daneben hin und loͤſchten aus, denn ihr Licht vergeht mit ihrer Be¬ wegung.

In Viktors Wunden grif jetzt der Donner mit ſeinem erſten Schlag den oͤſtlichen Horizont deckte ein zerfließender Blitz und die Flamme lief uͤber die Alpengebirge die Gewitterſtange auf dem Pulver¬ thurm ſchimmerte, ſeine Gewitterſtuͤrmer erklangen, die Irrwiſche ſpielten um den Thurm und mitten in der Luft ruͤckte ein ſchwebender Lichtpunkt fuͤrchter¬ lich auf ihn zu.

In Maienthal wurde elf Uhr ausgerufen um zwoͤlf Uhr glaubte Emanuel dahin zu ſeyn. End¬ lich fiel Dahore, ſelber vom fremden Kummer uͤber¬ mannt, an ſeinen Freund und ſagte: » was haſt du » mir noch zu ſagen, mein Geliebter, mein unaus¬272 » ſprechlich theurer Freund? Meine Stunden ſind » dahin unſer Lebewohl koͤmmt ſage deins und » ſtoͤre dann mein Sterben nicht Sey ſtill wenn » der Tod den Berg herauf ſteigt und jammere nicht » nach wenn er mich erhebt Was haſt du mir » noch zu ſagen, mein ewig Geliebter? « » Nichts » mehr, du Engel des Himmels, ich kann auch nicht « ſagte der verblutete Menſch und legte das gedruͤckte Haupt mit Thraͤnenſtroͤmen auf Emanuels Schulter.

» Nun ſo brich dein Herz von meinem ab und » lebe wohl ſey gluͤcklich, ſey gut, ſey groß ich » habe dich ſehr geliebt, ich werde dich noch einmal » lieben und dann unendlich Guter! Treuer! » Sterblicher wie ich! Unſterblicher wie ich! «

Die Gewitterſtuͤrmer laͤuteten heftiger der ſchwebende Lichtpunkt trat an den Pulverthurm alle eingehuͤllte Wolken-Vulkane tobten neben ein¬ ander und warfen ihre Flammen zuſammen und die Donner gingen wie Sturmglocken zwiſchen ihnen die zwei Menſchen lagen an einander dicht, ſtumm, keuchend, druͤckend, zitternd vor dem letzten Wort.

» O ſprich noch einmal, mein Horion, und nimm » Abſchied von deinem Freund ſage nur zu mir: » Ruhe wohl! und laſſe den Sterbenden. «

Horion ſagte: » Ruhe wohl! « und ließ ihn. Seine Thraͤnen hoͤrten auf und ſeine Seufzer ver¬ ſtummten. Der Donner ſchwieg fuͤrchterlich. DieNatur273Natur ordnete ſtumm ihr Chaos im Gewitter. Kein Blitz ſchimmerte durch das Trauergeruͤſte am Him¬ mel. Blos das Todtengelaͤute der Gewitterſtuͤrmer ſprach noch fort und der Lichtpunkt ruͤckte noch fort.

Unter der weiten Stille lag der Schlaf, die Traͤu¬ me und eines Freundes troſtloſes Herz.

In dieſer Ewigkeits-Stille trat Emanuel ohne eine fremde Hand an die hohe Pforte, die ſchwarz hinaufſteigt uͤber die Zeit.

Die Stille iſt die Sprache der Geiſterwelt, der Sternenhimmel ihr Sprachgitter aber hinter dem Sternengitter erſchien jetzt kein Geiſt, und Gott nicht.

Es kam die Minute wo der Menſch ſeinen Koͤr¬ per anſieht und dann ſein Ich und dann ſchaudert. Das Ich ſteht allein neben ſeinem Schatten ein Schaumglobus von Weſen zittert, kniſtert und wird niedriger und man hoͤrt die Blaͤsgen verſchwin¬ den und iſt eines.

Emanuel ſchauete hinein in die Ewigkeit, ſie ſah wie eine lange Nacht aus.

Er ſah um ſich, ob er keinen Schatten werfe, ein Schatten wirft keinen Schatten.

Ach ein Stummer legt den Menſchen in die Wiege, ein Stummer druͤckt ihn in's Grab Wenn er eine Freude hat, ſieht es aus als lachte ein Schlafender wenn er jammert und weint, ſiehtHeſperus. III. Th. S274es wie das Weinen im Schlafe Wir blicken alle zum Himmel auf und bitten um Troſt; aber droben im unendlichen Blau iſt keine Stimme fuͤr unſer Herz nichts erſcheint, nichts troͤſtet uns, nichts antwortet uns.

Und ſo ſterben wir ....

O Allguͤtiger, wir ſterben froher; aber der arme Emanuel kaͤmpfte in der ſtillen Finſterniß mit grimmigen Gedanken, die er ſo lange nicht geſehen hatte und die nach ſeinem erbleichenden Angeſicht krallten. Aber dieſe Larven rennen davon, wenn ein freundliches Bruderangeſicht vor dich tritt und dich umarmt. Horion richtete ſich auf und er¬ waͤrmte den Gebeugten durch einen ſtummen Abſchied wieder. Ein Sturmwind ſtuͤrzte ſich aus dem klaren Weſten in die ſtumme arbeitende Hoͤlle und jagte alle Blitze und alle Donner heraus Siehe da flog aus dem zuruͤckgewehten Gewoͤlke der lichte Mond wie ein Engel des Friedens in das unbeſu¬ delte Blaue heraus Da unterſchied ſich im Lichte Emanuel von ſeinem Schatten Da beſchien der Mond einen Regenbogen aus blaſſen Farbenkoͤrnern, der in Suͤdoſten (der Pforte nach Oſtindien) durch die dunkle Fluthſaͤulen drang und ſich uͤber die Alpen bog Da ſah Emanuel die vorige Himmelsleiter wieder uͤber die Erdennacht ge¬ lehnt Da kam die Entzuͤckung ohne Maas und er rief mit ausgebreiteten Armen: » ach dort in275 » Morgen, in Morgen, uͤber die Straße nach dem » Vaterland, nach Morgenland, da ſchimmert » der Triumphbogen, da oͤfnet ſich die Ehrenpforte » da ziehen die Sterbenden hindurch « ...

Und da es jetzt zwoͤlf Uhr ſchlug: ſo breitete er ſeine Haͤnde verzuͤckt gegen den Himmel, der blau war uͤber dem Berge, und gegen den Mond, der hei¬ ter neben dem Gewitter ruhte, und rief brechend mit ſeeligen Thraͤnen: » Habe Dank, Ewiger, fuͤr » mein erſtes Leben, fuͤr alle meine Freuden, fuͤr » dieſe ſchoͤne Erde. «

Um Maienthal zogen Julius Floͤtentoͤne und er ſah auf die Erde nieder.

» Und bleibe du geſegnet, du gute Erde, du gu¬ » tes Mutterland, bluͤhet ihr Gefilde Hindoſtans, » lebe wohl, du ſchimmerndes Maienthal mit deinen » Blumen und mit deinen Menſchen und ihr Bruͤ¬ » der alle kommt mir nach einem langen Laͤcheln ſee¬ » lig nach Jetzt, o Ewiger, nimm mich hinauf » und troͤſte die zwei Bleibenden. «

Die Todesengel ſtanden auf allen Wolken und zogen ihre blitzenden Schwerter aus den Naͤchten ein Donner ſchlug hinter dem andern wie wenn auf¬ geworfen wuͤrde eine Gefaͤngnißthuͤr des Erdenlebens nach der andern.

Der ſchreckliche Lichtpunkt hatte ſich verkrochen aus der Mitte der Luft in den Pulverthurm.

S 2276

Die Todesſtunde war ſchon voruͤber und doch das Leben noch nicht.

Emanuel zitterte ſehnend und bange, weil er noch kein Sterben fuͤhlte bewegte die Haͤnde als wenn er ſie jemand geben wollte ſtarrte in die Blitze als wenn er ſie auf ſich ziehen wollte ....

» Tod! faſſe mich, rief er auſſer ſich, ihr ge¬ » ſtorbnen Freunde! o Vater! o Mutter! brecht ab » mein Herz, nehmet mich ich kann, ich kann » nicht mehr leben. «

Da fuhr in's Gewitter eine lodernde raſſelnde Weltkugel hinauf und der Pulverthurm zerſchoß wie eine auseinander geſprengte Hoͤlle.

Der Knall warf den flammenden Emanuel erblaßt in ſein Blumengrab; der ganze donnernde Oſten zit¬ terte; der Mond und der Regenbogen wurden zuge¬ huͤllt ....

Die ſeelige Nachmitternacht.

Viktor regte, ſinnlos darniedergeworfen, endlich den Arm und taſtete damit an das kalte Angeſicht, aus dem heute das tolle Todtengebein dieſe Nacht geleſen hatte und das aus dem Grabe ragte gen Himmel gekehrt. Er warf ſich troſtlos daruͤber und druͤckte ſeins an das bleiche. Eh noch ſeine Thraͤ¬ nen durch den harten Schmerz ſich durchgeriſſen hat¬ ten: trugen die Wolken ihre Sturmfaͤſſer und ihre Leichenfackeln zuruͤck und durchſichtige Schaumflocken uͤberfloſſen weichend den Mond und ſenkten ſich end¬277 lich uͤber das ganze Thal und uͤber das ſtille Paar in tauſend warmen Tropfen nieder, die den Men¬ ſchen ſo leicht an ſeine erinnern. Der von Einem der drei Englaͤnder aufgeſprengte Pulverthurm hatte das Seetreffen der brennenden Wolken zertrennt.

Das zerſtuͤckte Gewitter hatte ſich in kleinen Wolken herumgezogen und ſtand uͤber der Mitter¬ nachtsroͤthe in Nordoſten, als die kalte Betaͤubung die zwei Menſchen noch zuſammen heftete: endlich kam von oben herab eine heiſſe Hand zwiſchen ihre Angeſichter und eine furchtſame Stimme fragte: » ſchlafet ihr? «

» O Julius, (ſagte Horion) komm in's Grab, » dein Emanuel iſt geſtorben. « ...

Ich mag die grauſamen Minuten nicht zaͤhlen, die zwei Ungluͤckliche liegen lieſſen mit dem Stachel¬ guͤrtel des Jammers an einen Erblaßten gebunden. Aber ſchoͤnere kamen, die vorher jedes Woͤlkgen aus dem Himmel druͤckten und den angelaufnen Mond abwiſchten und dann die heiſſen Augen oͤfneten vor der gereinigten abgekuͤhlten Silbernacht.

» Ach iſt er wohl nur ohnmaͤchtig « ſagte Viktor ſehr ſpaͤt. Sie richteten ſich ſeufzend auf. Sie zo¬ gen muͤde den Geliebten aus dem Grabe. Sie woll¬ ten ihn in ſeine Wohnung hinuntertragen, um da die Sonnenwende dieſer ſchoͤnen Seele wie der Jo¬ hannisſonne wieder zu erzwingen. Mit den duͤnnen Kraͤften, die ihnen der Gram noch uͤbrig gelaſſen,278 und mit dem wenigen Licht, das noch in zwei naſſe Augen kam, rangen ſie ſich mit dem zerknickten En¬ gel, indeß zwei arbeitende Schatten neben ihnen fuͤrchterlich einen dritten im Schimmer trugen, vom Berge in die Wieſen herunter: hier ging Viktor allein in's Dorf, um vielleicht einen troͤſtlichern als einen Leichenwagen zu beſorgen. Der Blinde hielt ſich an einen Birkenbaum, Emanuel ſchlief wie die andern Blumen und auf ihnen, vor dem Monde. .. Aber Julius hoͤrte ploͤtzlich den Todten reden und ihn durch das Gras ſtreifen; und er rannte von Ent¬ ſetzen verfolget, davon ....

Genius der Traͤume! der du durch den neblich¬ ten Schlaf der Sterblichen trittſt und vor der ein¬ ſamen in einen Leichnam geſperrten Seele die gluͤck¬ lichen Inſeln der Kindheit herauf zieheſt, ach der du darin unſern verweſ'ten Freunden wieder Wangen¬ bluͤte giebſt und unſerm armen wahnſinnigen Herzen vergangne Himmel zeigſt und Eden-Wiederſchein und rinnende Auen auf Wolken! Magiſcher Genins! trete in dieſe heilige Nacht vor einen Menſchen, der nicht ſchlaͤft und wende deinen uͤberflorten Spie¬ gel auf mein ofnes Auge, damit ich darin die elyſi¬ ſche Lichtwelt, die mit unſerm Erdſchatten kaͤm¬ pfet, in der doppelten Verfinſterung als eine blaſſe Luna ſehe*)Die Sonne wird in ihrer Verfinſterung durch den Mond von uns in beflorten Spiegel angeſchaut. und mahle!

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Die entzuͤckte Stimme des Todten rief: » ſey ge¬ » gruͤßet, du ſtilles Elyſium! o du ſchimmerndes Land » der Ruhe! nimm den neuen Schatten auf ach » wie glimmſt du ſanft wie weheſt du ſanft » wie ruheſt du ſanft. « ...

Emanuels Augen waren aufgegangen; aber in ſei¬ nem Gehirn brannte der elyſiſche Wahnſinn, er ſey geſtorben und erwache in der zweiten Welt. O du Ueberſeeliger! dich umfing ja auch ein blinkendes Eden ach dieſes Schimmern, dieſes Wehen, die¬ ſes Duften, dieſes Ruhen war zu ſchoͤn fuͤr eine Erde Der Mond uͤberwebte mit Silberfaͤden wie mit fliegendem Sommergeſpinnſte das Nacht Gruͤn von Blatt zu Blatt, von Baͤumen zu Baͤumen reichte die Funkendecke des uͤberſtrahlten Regens uͤber allen Waſſern wankten flimmernde Nebelbaͤnke ein leiſes Wehen warf tropfende Edelſteine von den Zweigen in die Silberfluͤſſe die Baͤume und Berge ſtiegen wie Rieſen in die Nacht der ewige Himmel ſtand uͤber den fallenden Funken, uͤber den eilenden Duͤften, uͤber den ſpielenden Blaͤttern, allein unveraͤnderlich mit feſten Sonnen mit dem ewigen Welten-Bogen, groß, kuͤhl, licht und blau So glimmte, ſo duftete, ſo liſpelte, ſo zauberte niemals ein Thal ....

Emanuel umarmte den funkelnden Boden und rief aus der brennenden, der Wonne erliegenden ſtok¬280 kenden Bruſt: » ach iſt es denn wahr? halt 'ich dich » wirklich, mein Vaterland? ach in ſolchen Ge¬ » filden der Ruhe werden die Wunden geheilt, die » Thraͤnen geſtillt, keine Seufzer gefodert, keine » Suͤnden begangen, ach da zerfließet ja das kleine » Menſchenherz vor zu voller Wonne und erſchaft ſich » wieder, um wieder zu zerfließen ... .. So hab ich » dich laͤngſt gedacht, ſeeliges, magiſches, blendendes » Land, das an meine Erde graͤnzt .... O! liebe » Erde, wo biſt du wohl? «

Er hob das trunkne Auge in den mit Sternen bethaueten Himmel und ſah den erniedrigten Mond gelb und matt in Suͤden haͤngen: dieſen ſah er fuͤr die Erde an, aus der ihn der Tod in dieſes Elyſium getragen habe. Hier zerging ſeine Stimme in Ruͤh¬ rung uͤber den geliebten erſten Garten ſeines Lebens und er redete die oben uͤber die Sterne fliehende Erde an:

» Kugel der Thraͤnen! Wohnung der Traͤume! » Land voll Schatten und Flecken! Ach auf dei¬ » nen breiten Schattenflecken*)Unſere Erdmeere ſehen in der Ferne wie die Flecken des Mondes aus. werden jetzt die gu¬ » ten Menſchen beben und unterſinken! ... Ein » Ring aus Nebeln**)Der Mondhof. umkreiſet dich und ſie ſehen281 » das Elyſium nicht. .... Ach wie ſtill traͤgſt du » durch den ſeeligen ſtillen Himmel dein Schlachtge¬ » ſchrei deine Stuͤrme deine Graͤber: deine » Dunſtkugel ſchließet wie ein Sarg alle deine Klag¬ » ſtimmen um dich ein und du rinneſt mit uͤberdeck¬ » ten Gebeugten bloß als eine blaſſe ſtille Kugel uͤber » das Elyſium hinuͤber! ...

» Ach ihr Theuern, mein Horion! mein Ju¬ » lius, ihr ſeid noch droben im Gewitter, ihr deckt » meinen Leichnam zu, ihr blickt weinend gen Him¬ » mel und koͤnnt das Elyſium nicht ſehen. ... O! » daß ihr durch das naſſe Gewoͤlk des Lebens ſchon » durchwaͤret aber vielleicht hab 'ich ſchon lange » geſchlafen und gewacht, vielleicht geht die Zeit auf » der Erde anders als in der Ewigkeit ach daß » ihr hernieder kaͤmet in die ſtillen Gefilde! « Er ſah im magiſchen vergroͤßernden Schimmer zwei Geſtal¬ ten gehen. » O wer iſts? « rief er entgegenfliegend. » O Vater! o Mutter! ſeid ihr hier? « Aber da er naͤher kam: ſauk er in vier andre Arme und ſtam¬ melte: » ſeelig, ſeelig ſind wir jetzt, mein Horion, » mein Julius! « Endlich ſagt' er: » wo ſind » meine Eltern und meine Bruͤder und die drei Bra¬ » minen? ach ſie wiſſen nicht, daß ihr Dahore in » Elyſium iſt. «

Viktor ſah troſtlos dem wahnſinnigen Entzuͤcken ſeines Geliebten zu und ſagte weder Ja noch Nein. 282Dieſer ſchauete himmliſch laͤchelnd und liebe-ſtroͤ¬ mend in Julius Angeſicht und ſagte: » blick mich an, » du haſt mich auf der Erde nicht geſehen. « » Du » weiſt ja, daß ich blind bin, mein Emanuel! « ſagte der Blinde. Hier floh der Wahnſinnige mit wegzuk¬ kenden[Augen] und mit einem Seufzer gegen den Mond von den Freunden hinweg und ſagte leiſe zu ſich: » die zwei Geſtalten ſind nur Schattentraͤume » aus der Erde ich will ſie nicht anſehen, damit » ſie zerfließen So reichet alſo der Schatten - und » der Traumkummer der Erde bis in's Eden herun¬ » ter Ich bin wohl noch im Todtentraum, » denn die Gegend hier ſieht wie die Gegenden in » meinen Lebenstraͤumen aus oder iſt dieſes nur » der Vorhof des Himmels, weil ich meine Eltern » nicht finde. « .... Er ſah gegen die hohen Ster¬ ne: » wo ſteh ich jetzt unter euch? Neue Himmel » liegen an neuen Himmeln Ach ſehnet man » ſich hier denn auch? « ...

Er ſeufzete, und wunderte ſich, daß er ſeufzete. Er lehnte ſich an den perlenden Blumeuhuͤgel, gekehrt mit dem Ruͤcken gegen die geliebten Schatten, und mit den Augen gegen das anglimmende Morgenroth und ſuchte und traͤumte aber endlich deckte die Morgenkuͤhle die ſuchenden, geblendeten, brennenden Augen, die heute bald auf Schreckgeſtalten bald in Wonnemeere gefallen waren, mit leiſem Schlummer283 und mit aͤhnlichen Traͤumen zu. ... » Ruhe ſanft, » du muͤder Menſch! « ſagte ſein Freund; aber der Schlaͤfer ergluͤhte mit dem Horizont und der alte Wahnſinn ſpielte in ihm weiter. ...

Ein Traum und der Morgen legten fuͤr ihn ein noch hoͤheres Elyſium an.

Ihm traͤumte, Gott werde von einem Sonnen - Throne ſteigen und in Geſtalt eines unſichtbaren un¬ endlichen Zephyr-Wehens uͤber das Elyſium gehen.

Der erſte Morgen des Sommers haͤufte um ihn den Brautſchmuck der Erde er durchzog die Ge¬ filde mit Perlenbaͤnken von Thau und warf uͤber die wuͤhlenden Baͤche das Zitter - und Glanzgold des herabgeſchwommenen Morgenroths und legte den Buͤſchen das Armgeſchmeide von brennenden Tro¬ pfen an Aber erſt als er alle Blumen auseinan¬ der geſpalten alle freudig-zitternde Voͤgel in den Glanzhimmel geſtreuet in alle Gipfel Singſtim¬ men gehuͤllt als er den verwelkten Mond unter die Erde verſenkt und die Sonne wie einen Goͤtter¬ thron uͤber aufgebluͤhte Wolkenguirlanden aufgerich¬ tet und uͤber alle Gaͤrten und um alle Waͤlder in einander gewundne Regenbogen von Thau gehangen hatte und als der Seelige traͤumend ſtammelte: » Allguͤtiger, Allguͤtiger, erſcheine im Elyſium! « Da weckte ihn der langſam flieſſende Morgenwind und fuͤhrte ihn in die tauſendſtimmigen Jubelchoͤre284 der Schoͤpfung hinein und ließ ihn erblindend in's brauſende flammende Elyſium taumeln.

O ſiehe! da uͤberfloß ein unermeßliches Athmen kuͤhlend, regend, liſpelnd das ganze entbrannte Pa¬ radies und die kleinen Blumen bogen ſich ſchweigend nieder und die gruͤnen Aehren walleten ſaͤuſelnd zu¬ ſammen und die erhabnen Baͤume zitterten und brau¬ ſten aber nur die große Bruſt des Menſchen trank den unendlichen Athem in Stroͤmen ein und Emanuels Herz zerfloß eh 'es ſagen konnte: » Das » biſt du, Alliebender! «

Du, der du mich hier lieſeſt, laͤugne Gott nicht, wenn du in den Morgen trittſt oder unter den Sternenhimmel, oder wenn du gut oder wenn du gluͤcklich biſt!

Aber, ungluͤcklicher Emanuel!

Du ſaheſt fuͤnf ſpielenden Trauermaͤnteln zu und hielteſt die ſchoͤnen Schmetterlinge fuͤr ſeelige Pſy¬ chen Du hoͤrteſt hinter deinem Huͤgel in die Erde hauen als mache man ein Grab Du ſaheſt deinen guten Blinden an und ſagteſt doch: » Schatte! wei¬ » che ........... Fuͤrchte dich vor Gott, der » voruͤberging, und verſchwinde! « Aber du ſagteſt vorher noch etwas, was ich heute nicht enthuͤlle

Mein Herz zittert vor der kuͤnftigen Zeile!

Heulend vor Schmerz, grinzend vor freudiger Wuth ſprang das tolle Todtengebein in die ſeelige285 Ebene hinter dem Huͤgel hervor und trug in ſeiner Rechten eine abgehauene blutige Hand und ſchuͤttelte aus dem linken Stumpfe, dem ſein Wahnſinn ſie ab¬ gehacket hatte, rieſelnde Blutboͤgen und druͤckte mit dem rechten Arme ein Grabſcheit an ſich, um die Hand zu begraben und ſchrie jubelnd und greinend: » der Tod erſchnapte mich daran, ich hab ſie aber ab¬ » gezwickt und wenn er das Grab der Fauſt ſieht, » iſt er ſo dumm und denkt, ich lieg 'drinn. .. Ach! » Du da! Leg dich doch in den Sarg zu Bett'; er » hat dir die Augen ausgebohrt und das Maul mit » Moder beklebt. ... Brr! «

» O Allguͤtigor, du haſt mich verdammt! « ſtam¬ melte Emanuel: aus ſeiner zermalmten Lunge, riß ſich das gejagte Blut und der Troſtloſe ſchwankte ſterbend auf die vollgebluteten Blumen ſeines verlor¬ nen Himmels nieder. ...

So nimmt ein Tag dem andern den Himmel und eh der beraubte Menſch dort in das letzte Paradies eintritt, hat er hier zu viele verloren! Ach eine von Wunden geoͤfnete Bruſt tragen wir in jede Fruͤh¬ lingsluft dieſes Lebens und in den Aether des zwei¬ ten; und ſie muß erſt zugeſchloſſen werden, eh 'ſie ſich fuͤllen kann! ...

Der ſanfte Abend.

Gegen Mittag macht 'er die muͤden Augen auf,286 aber blos um ſie in's Grab fallen zu laſſen das der Tod neben ihm unter ſeinem Schlafe aufgeſchloſſen hatte. Aber der eine Wahnſinnige war der Arznei¬ gott des andern geweſen: ſein Traum vom Elyſium war ausgetraͤumt kurz vorher eh' er erfuͤllet zu werden ſchien und er war wieder vernuͤnftig. Vik¬ tor ſah aus allen Zeichen daß wenigſtens gegen Sonnenuntergang der Tod mit ſeinem Obſtpfluͤcker dieſe weiſſe Frucht von ihrem Gipfel brechen werde; aber er ſah es ruhiger als geſtern: da er ſchon die Pro¬ berolle der Troſtloſigkeit gemacht hatte ſo ſaͤgten die Inſtrumente des Grams keinen neuen Riß in's Herz ſondern gingen nur im alten blutig hin und her. Wer einen im Sarg Erwachten nach Jahren zum zweitenmal hineintraͤgt trauert ſchwerlich ſo heftig wie das erſtemal.

Mit welchen veraͤnderten Augen erwachte Ema¬ nuel in der Abendſtube wo er geſtern die erſten Thraͤnen vor Freude vergoſſen hatte! Seine Seele hatte wie der traurige Baum von Goa am Tage das naͤchtliche Gedraͤnge von Bluͤten fallen laſſen; ſeinem erkalteten Haupte kehrte die Erde nicht mehr die Auen-Seite der Dichtkunſt zu ſondern die lichte der kalten Vernunft. Er geſtand jetzt daß er die edlern Theile ſtines innern Menſchen auf Koſten der unedlern vollbluͤtig gemacht das ſeine Todes-Hof¬287 nung zu groß geweſen wie ſeine dichteriſchen Fluͤgel¬ federn daß er die Erde nicht aus der Erde, ſon¬ dern zu ſehr aus dem Jupiter betrachtet, auf deſſen Sternwarte ſie zu einem Feuerfunken einkriechen mußte und daß er alſo die Erde verloren, ohne doch den Jupiter dafuͤr zu bekommen. Vergeblich widerſprach ihm Viktor mit dem wahren Satze, daß der hoͤhere Menſch gleich den Mahlern mit Waſſer¬ farben, allezeit ſein Lebensſtuͤck mit dem Hinter¬ grunde und mit dem Himmel anfangen, den Oelmahler und niedere Menſchen zuletzt machen; ſeine Antwort war die Klage, daß er leider nicht fortgemahlet bis zum Vorgrunde. Endlich warf er ſich auch vor, daß er zu viele Umſtaͤnde bei einer ſo kleinen Trennung gemacht als der Tod wenigſtens fuͤr den der gehe, ſey, da die andern Trennungen auf der Erde doch laͤnger, herber und doppel¬ ſeitig waͤren.

Sie kamen dadurch auf die Erkennungen jen¬ ſeits dieſes Theaters. Viktor ſagte, er koͤnne Ver¬ muthungen uͤber die Erde hinaus nicht ſo verſchreien wie mancher Weiſe: denn wir muͤßten doch uͤber die Erde hinausvermuthen, und denken, wir moͤchten bejahen oder verneinen. » Ohne die Fortdauer der » Erinnerung (ſagte er) iſt mir die Fortdauer meines » Ichs ſo viel wie die eines fremden d. h. keine: ſo288 » bald ich mein jetziges Ich vergeſſe, ſo koͤnnte ja je¬ » des fremde ſtatt meiner unſterblich ſeyn. Auch » folgt der Untergang meiner Erinnerung nicht aus » der irrdiſchen Abhaͤngigkeit von meinem Koͤrper; » denn dieſe Abhaͤngigkeit haben alle geiſtige Kraͤfte » mit ihr gemein und es muͤßte dann aus dieſer Ab¬ » haͤngigkeit auch der Untergang der andern folgen; » und was bliebe denn noch zur Unſterblichkeit uͤbrig? « Emanuel ſagte: der Gedanke der Wiedererkennung, ſo viel er auch Sinnliches vorausſetze, ſey ſo ſuͤß und hinreiſſend, daß wenn ſich die Menſchen ge¬ wiß davon machen koͤnnten, keiner eine Stunde hier wuͤrde zoͤgern wollen, beſonders wenn man den Him¬ mels-Gedanken ausmahlte, alle große und edle Men¬ ſchen auf einmal zu finden. » Ich habe mir oft » (ſagt 'er) die kuͤnftige Erinnerung nach Analogie » der jetzigen vorphantaſirt, und mußte immer vor » Entzuͤckung aufhoͤren, wenn ich mir dachte, wie in » jener Erinnerung die Erde zu einer dunkeln Mor¬ » gen-Aue und unſer Leben zu einem weit entruͤckten » mit Mondſchein erhellten Tag eingehen werde » O wenn wir ſchon vor dem Bilde einiger Kin¬ » derjahre zerfließen, wie ſanft wird uns einmal » das Bild aller Kinderjahre anblicken. « Viktor wehrte dieſe toͤdtlichen Entzuͤckungen ab und nach¬ dem er zum Uebergange geſagt, » eine Verbindung » muß in jedem Fall dieſe Erde mit der zweiten ha¬» ben »289» ben « kam er auf etwas anders, das ihm in dieſer Nacht ſo aufgefallen war ........................................

Ich verhuͤll 'es heute noch was Viktor fragte und was Emanuel entdeckte: die neue Perſpektive wuͤrde unſer Auge zu lange vom großen Kranken ab¬ ziehen.

Der Blinde hielt aͤngſtlich die heiſſe Hand deſſel¬ ſelben in Einem fort, um den geliebten Vater nicht zu verlieren; und wenn ihm Emanuel lange ſanften Troſt uͤber ſeinen Tod, gleichſam kuͤhle Blaͤtter unt die entzuͤndeten Schlaͤfe herumgelegt hatte: ſo ſagte er nichts als innigſt flehend: » ach Vater, wenn ich dich nur geſehen haͤtte, nur Einmal! «

Emanuel ſchien gefaßt zu ſeyn; aber er taͤuſchte ſich: ſeine jetzige Gleichguͤltigkeit gegen die Erde war im Grunde ſchneidender als die naͤchtliche, die bloß ein anderer mit den Zaubertraͤnken der Phantaſie ver¬ miſchter Genuß des Lebens war. In ſeine Reue uͤber ſeinen dichteriſchen Selbſtmord ſchien ſich faſt Freude uͤber die Folgen zu mengen. Daher ſagte er mit einem ruͤhrend gewiſſen Blicke: » heute gegen » Abend werd 'er gewiß gehen und ſeine zwei letzten » und beſten Freunde nicht mehr mit dieſen Verzoͤge¬ » rungen des Abſchieds quaͤlen Der Genius der » Welten werde ihm ſeinen letzten Fehler vergebenHeſperus. III. Th. 290» und auf die hieſige Entfernung von ihm, die » ihm zu lange wurde, dort keine zweite folgen laſ¬ » ſen. »

Je laͤnger er ſprach, deſto mehr ruͤckte das alte Bluͤten-Eden wieder in ſeine matte Seele ein. Jetzt that er eine ſonderbare Herz zerſchneidende Bitte an ſeine Freunde. Da bekanntlich das Gehoͤr den Sterbenden am laͤngſten bleibt, indes ſchon alle andere Sinnen ſich gegen die Erde zugeſchloſſen ha¬ ben: ſo ſagte Emanuel zu Viktor » ſo bald du ſie¬ » heſt, daß es ſich mit mir aͤndern will, ſo gieb dei¬ » nem Julius die Floͤte, und du! ſpiele mir dann » das alte Lied der Entzuͤckung, damit ich an » den Toͤnen ſterbe, wie ich ſchon oft wuͤnſchte, und » ſpiele es auch noch einige Minuten nach dem En¬ » de fort. »

Er dachte jetzt daruͤber nach, wie ſchoͤn um ſei¬ ne letzten Gedanken Toͤne ziehen wuͤrden, wie Vo¬ gelgeſang um die untergehende Sonne; und in ſei¬ nem erloſchenen Geiſte flogen wieder die alten Fun¬ ken auf: » ach ich werde ſeelig von hinnen ziehen. » O meine Seele konnte in dieſer Nacht ſchon » dieſem Erdboden einen uͤberirdiſchen Schmuck an¬ » legen und ihn fuͤr Eden halten: ach erſt, wenn der » Boden ſchoͤner und die Seele groͤßer iſt ... »

Er wurde wieder ohnmaͤchtig, aber der Puls ſchlug noch leiſe. Und hier in dieſem Hinbruͤten291 war es, wo er von der Erde als letzte Gabe den ſchauderhaft-ſuͤßen Traum empfing, in welchen der Koͤrper die Gefuͤhle ſeiner Kraͤnklichkeit miſchte und den er nach ſeiner Wiederbelebung mit einem neuen Nachtraͤumen erzaͤhlte. Es iſt der letzte ſanfte Drei¬ klang unſers Koͤrpers mit unſerer weichenden Seele, daß er ihr noch in ſeiner Aufloͤſung (wie wir von Ohnmaͤchtigen, von Scheintodten unter dem Waſ¬ ſer ꝛc. wiſſen) der Seele ſuͤße Spiele und Traͤume zufuͤhrt.

Traum Emanuels, daß alle Seelen Eine Wonne vernichte.

Er ruhte verklaͤrt in einem durchſichtigen farbicht¬ dunkeln Tulpenkelch, der ihn hin und her wiegte, weil ein ſanftes Erdbeben die Tulpenlaube auf der gebognen Stuͤtze zu taumeln zwang. Die Blume ſtand in einem magnetiſchen Meer, das den Seeli¬ gen immer ſtaͤrker zog; endlich druͤckte er, hinausge¬ ſogen, ſie nieder und ſank als eine Thauperle aus dem umgebognen Kelche heraus ...

Welch 'eine Farben-Welt! Ein Flockengewimmel von Aethergeſtalten wie ſeine ſtand ſchwebend uͤber einer weiten Inſel, um welche ein rundes Gelaͤnder von großen Blumen aufgeblaͤttert ſpielte mitten uͤber den Himmel der Inſel flogen Abendſonnen hin¬ ter Abendſonnen tiefer neben ihnen liefen weißeT 2292Monde nah am Horizont kreiſeten Sterne und ſo oft eine Sonne oder ein Mond hinunterflog, ſchaueten ſie himmliſch wie Engels Augen durch die großen Blumen am Ufer hindurch. Die Sonnen wurden von den Monden durch Regenbogen geſchie¬ den, und alle Sterne liefen zwiſchen zwei Regenboͤ¬ gen und ſtickten ſilbern die bunte Ringkugel des Him¬ mels. Ueber einander ſtiegen hinauf bunte Wolken, in denen ein Kern von Gold, von Silber, von Edelſteinen brannte von Schmetterlingsfluͤgeln waren Staubwolken abgeſtreift, die wie fliegende Farben den Boden uͤberhuͤllten und aus dem Ge¬ woͤlke blitzten reißende Lichtfluͤſſe, die ſich alle in einander verſchlangen .. ...

Und in dieſem Farben Getuͤmmel ging eine ſuͤße Stimme umher und ſagte uͤberall: vergehet ſuͤßer am Lichte.

Aber die Seelen erblindeten nur und vergingen noch nicht.

Da uͤberfielen Abendwinde und Morgenwinde und Mittagswinde mit einander die Aue und weh¬ ten die hell blauen und gold gruͤnen Wolken nieder, die aus Blumenduft entſtanden waren, und falteten den Blumenring am Horizonte auf und trieben den ſuͤßen Rauch an die Herzen der Seeligen. Der Bluͤtennebel ſchlang ſie in ſich ein, das Herz wurde in die dunkeln Duͤfte wie in ein Gefuͤhl aus der293 tiefſten Kindheit eingetaucht und wollte, vom heißen Blumendunſte uͤberfloſſen, darin auseinander tropfen. Jetzt kam die unbekannte Stimme naͤher und liſpelte ſanft: vergehet ſuͤßer am Duft.

Aber die Seelen taumelten nur und vergingen noch nicht.

Tief in der Ewigkeit aus der Mitternacht bog ſich auf und nieder ein einziger Ton ein zweiter ſtand in Morgen auf ein dritter in Abend endlich toͤnte aus der Ferne der ganze Himmel und die Toͤne uͤberſtroͤmten die Inſel und ergriffen die erweichten Seelen ... Als die Toͤne auf der In¬ ſel waren, weinten alle Menſchen vor Wonne und Sehnſucht ... Dann liefen ploͤtzlich die Sonnen noch ſchneller, dann ſtiegen die Toͤne noch hoͤher, und verloren ſich wirbelnd in eine ſchneidende, un¬ endliche Hoͤhe ach dann gingen alle Wunden der Menſchen wieder auf und waͤrmten ſanft mit dem rinnenden Blute jede Bruſt, die in ihrer Wehmuth erſtarb ach dann kam ja alles fliehend vor uns was wir hier geliebet haben, alles was wir hier verloren haben, jede theure Stunde, jedes beweinte Gefild ', jeder geliebte Menſch, jede Thraͤne und je¬ der Wunſch Und als die hoͤchſten Toͤne ver¬ ſtummten und wieder einſchnitten und laͤnger ver¬ ſtummten und tiefer einſchnitten: ſo zitterten Har¬ monikaglocken unter den Menſchen, die auf ihnen294 ſtanden, damit das einſchneidende Schwirren jeden Bebenden zerlegte. Und eine hohe Geſtalt, um die ein dunkles Woͤlkgen zog, trat auf in einem weißen Schleier und ſagte melodiſch: » vergehet » ſuͤßer an Toͤnen. »

Ach! ſie waͤren vergangen und gern vergangen an der Wehmuth der Melodie, wenn jedes Herz das Herz, nach dem es ſchmachtete, an ſeiner Bruſt ge¬ halten haͤtte; aber jeder weinte noch einſam ohne ſeinen Geliebten fort.

Endlich ſchlug die Geſtalt den weißen Schleier auf und der Engel des Endes ſtand vor den Menſchen. Das Woͤlkgen, das um ihn ging, war die Zeit ſo bald er das Woͤlkgen erreichte, ſo wuͤrd 'er es zerdruͤcken und die Zeit und die Men¬ ſchen waͤren vernichtet.

Als der Engel des Endes ſich entſchleiert hatte: laͤchelte er die Menſchen unbeſchreiblich lieblich an, um ihr Herz durch Wonne und durch das Laͤcheln zu zertreiben. Und ein ſanftes Licht fiel aus ſeinen Augen auf alle Geſtalten und jeder ſah die Seele vor ſich ſtehen, die er am meiſten liebte und als ſie einander vor Liebe ſterbend anſchaueten und auf¬ geloͤſet dem Engel nachlaͤchelten: grif er nach dem nahen Woͤlkgen aber er erreichte es nicht.

Ploͤtzlich ſah jeder neben ſich noch einmal Sich das zweite Ich zitterte durchſichtig neben dem295 erſten und beide laͤchelten ſich zerſtoͤhrend an und wurden mit einander hoͤher das Herz, das im Menſchen bebte, hieng noch einmal bebend im zwei¬ ten Ich und ſah ſich darin ſterben

O da mußte jeder von ſeinem Ich zu ſeinem Ge¬ liebten wegfliehen und, ergriffen von Schauder und Liebe, die Arme um fremde theure Menſchen winden Und der Engel des Endes oͤfnete die Arme weit und druͤckte das ganze Menſchengeſchlecht in Eine Umarmung zuſammen Da glimmt, duftet, toͤnt die ganze Au da ſtocken die Sonnen, aber die Inſel wirbelt ſich ſelber um die Sonnen Die zwei geſpaltnen Ichs rinnen in einander ein die liebenden Seelen fallen an einander wie Schneeflo¬ cken die Flocken werden zur Wolke die Wolke ſchmilzt zur dunkeln Thraͤne

Die große Wonnethraͤne, aus uns allen gemacht, ſchwimmt durchſichtiger und durchſichtiger in der Ewigkeit

Endlich ſagte leiſe der Engel des Endes: ſie ſind am ſuͤßeſten vergangen an ihren Ge¬ liebten.

Und er zerdruͤckte weinend das Woͤlkgen der Zeit.

In Emanuels Augen glaͤnzten die Fieberbilder296 des Todes, mit denen ſich jeder Schlaf, ſogar der letzte anfaͤngt. Sein Geiſt hing wiegend in ſeinen ſchlaffen Nerven, von ſanften Luͤften angeweht: denn er war ſchon in jener zerſetzenden Nerven-Entzuͤ¬ ckung der Ohnmaͤchtigen, der Gebaͤhrenden, der Ver¬ bluteten, der Sterbenden. Aber ſeine ausgeleerte Bruſt ſtieg leichter auf, ſein ziehender Geiſt dehnte den Lebensfaden duͤnner aus.

Viktor wuͤrde den Troſt der dumpfen Betaͤubung genoſſen haben, womit uͤber einander gehaͤufte Schmerzen uns zuſammendruͤcken, wenn er nicht dem armen B〈…〉〈…〉 nden jede Minute dieſe Schmerzen, d. h. alle Zuruͤſtungen des Todes haͤtte ſagen muͤſſen. Ach der Blinde beſorgte vielleicht, ſeinem Lehrer zu ſpaͤt mit dem Liede der Entzuͤckung nachzurufen.

Es kam der Abend. Emanuel wurde ſtiller und ſein Auge ſtarrer und es ſchien die Phantaſien ſeines arbeitenden Gehirns in der Stube zu ſehen, bis der Goldſtreif der vorgeſunknen Abendſonne, den ein Spiegel auf ihn richtete, gleichſam wie ein Blitz durch ſeine Traumwelt fuhr. Leiſe, aber mit ande¬ rer Stimme ſagte er: » in die Sonne! » Sie verſtanden ihn und ruͤckten ſein Bette und ſein Haupt dem ſchoͤnen Abendregen der Abendſonne, dem er ſonſt ſo oft ſein weiches Herz aufgeſchloſſen hatte, entgegen. Viktor erſchrack, da ſeine Augen der Sonne ungeblendet und unbeweglich offen ſtanden.

297

Es war erhaben-ſtill um drei zerruͤttete Men¬ ſchen: blos ein Abendluͤftgen flatterte in den Linden¬ blaͤttern des Zimmers, und eine Biene zog um die Lindenbluͤten; aber drauſſen auſſerhalb dem Theater der Beaͤngſtigung ruhte ein ſeeliger Abend auf den roth uͤberſonnten Fluren unter freudigen, flatternden, ſingenden, trunknen Weſen.

Emanuel ſchauete ſtill in die Sonne, die tiefer in die Erde drang: er krallte nicht am Deckbette wie andre, ſondern hob ſeine Arme empor wie zu einem Fluge oder zu einer Umarmung. Viktor nahm ſeine geliebten Haͤnde, aber ſie hiengen ohne Druck in ſeine nieder. Und als die Sonne wie eine lo¬ dernde Welt am Gerichtstage, unterſank in einer aufſchießenden letzten Lohe: ſo blieb der Stille mit kalten Augen an der leeren Stelle der Sonne und merkte den Untergang nicht; und Viktor ſah ploͤtzlich wechſelnde Blitze der Todesſenſe gelb uͤber das un¬ verruͤckte Antlitz gehen Da gab er zerruͤttet dem Julius die Floͤte und ſagte gebrochen: ſpiele das Lied der Entzuͤckung, jetzt ſtirbt er.

Und Julius preßte mit ſtroͤmenden verfinſterten Augen den ſchluchzenden Athem in die Floͤte und er¬ hob ſeine Seufzer zu himmliſchen Toͤnen, um die entrinnende Seele unter ihrer Auswurzelung mit dem Nachklange der erſten Welt, mit dem Verklan¬298 ge der zweiten Welt zu verhuͤllen und zu betaͤu¬ ben

Und als unter dem Liede das Laͤcheln uͤber einen unbekannten Traum in dem letzten Schweiß ausfloß und als eine bloße Zuckung der Hand die Hand des troſtloſen Freundes druͤckte, und als die Zuckung mit dem Augenlied winkte und weiter hinab die blaſſen Lippen oͤfnete und verging, und als die Abend¬ roͤthe die bleiche Geſtalt bedeckte Siehe da trat der Tod, kalt gegen die Erde und unſern Jam¬ mer, eiſern, aufgerichtet und ſtumm, durch den ſchoͤnen Abend unter die Lindenbluͤte hin zur uͤber¬ deckten Seele im beruhigten Leichnam und reichte die verhuͤllte Seele mit unermeßlichem Arm von der Erde durch unbekannte Welten hindurch in Deine ewige warme vaͤterliche Hand, die uns geſchaffen hat in das Elyſium, fuͤr das du uns gebildet haſt unter die Verwandten unſers Herzens in das Land der Ruhe, der Tugend und des Lichts ....

Julius ſtockte aus Schmerz und Horion ſagte: ſpiele das Lied der Entzuͤckung fort, er iſt erſt ge¬ ſtorben. Unter den Toͤnen druͤckte Horion dem Geliebten die Augen zu und ſagte mit einem Herzen uͤber der Erde: » Nun ſchließet euch zu der Geiſt iſt uͤber der Erde, dem ihr das Licht gegeben du blaſſe geheiligte Geſtalt, du geheiligtes Herz,299 der Engel in dir iſt ausgezogen und du faͤllſt in die Erde zuruͤck » Und hier umſchlang er doch einmal die leere kalte Huͤlle und druͤckte das Herz, das ja nicht mehr ſchlug, ihn nicht mehr kannte, an ſein heißes an: denn die Floͤtentoͤne riſſen ſeine bleichen Wunden zu weit auseinander O es iſt gut, daß bei dem Menſchen, wenn er im grimmigen Weh zu feſtem Eiß erſtarrt, keine Toͤne ſind: die weichen Toͤne leckten aus der durchborten Bruſt alles trau¬ rige Blut und der Menſch wuͤrde an ſeinen Qualen ſterben, weil er vermoͤchte, ſeine Qualen auszu¬ druͤcken ....

Hier falle mein Vorhang vor alle dieſe Sze¬ nen des Todes, vor Emanuels Grab und vor Ho¬ rions Schmerz! Ich und du mein Leſer wollen nun aus dem fremden Sterbezimmer gehen, um in naͤhere zu ſchauen, wo wir ſelber erliegen, oder wo unſere Theuerſten erlagen. Wir wollen in jenen Zimmern unſer Todtenbette erblicken, aber unſer Auge falle nicht nieder; die Flamme der Liebe und der Tugend lodert aufwaͤrts uͤber die Verwe¬ ſungen wir ſehen um das Todtenbette eine Bah¬ re als Ruhebank, auf die alle Laſten abgelegt ſind und das auseinandergedruͤckte Herz auch wir ſehen um das Todtenbette eine große unbekannte Geſtalt, die vom Ebenbilde Gottes den Erden-Rahmen300 bricht Aber wenn das Herz groß wird neben un¬ ſerem Ruheort, ſo wird es weich neben dem frem¬ den Wenn du, mein Leſer, und wenn ich jetzt mit dieſer bewegten Seele in die Zimmer blicken, wo wir die ewigen Wunden der Erde empfingen, ſo werden uns die blaſſen Geſtalten, die darin ihre Todtenaugen noch einmal gegen uns aufheben, zu ſehr erſchuͤttern und verwunden. Ach, das duͤrft ihr auch, ihr geliebten Stummen was haben wir euch denn noch zu geben als eine Thraͤne, die uns ſchmerzet, als einen Seufzer, der uns beklemmt Ach wenn der Trauerflor auf unſerem Ange¬ ſicht ſobald zerreißet wie der Leichenſchleier auf eurem wenn der Grabesmarmor mit eurem Na¬ men ſich auf eurer Leiche umkehren muß, um eine neue mit ihrem neuen Namen zu bedecken o! wenn wir alle die ewige Liebe, das ewige Erinnern ſo leicht vergeſſen, das wir euch in eurer letzten Stunde verſprochen haben: ach ſo iſt ja in die¬ ſen brauſenden Tagen des Lebens eine ſtille Stunde wie dieſe heilig und ſchoͤn, wo wir uns gleichſam an die eingefallnen Graͤber mit den Ohren niederle¬ gen und tief aus der Erde, obwol jeden Tag dunk¬ ler, die Stimmen, die wir kennen, rufen hoͤren: » vergeſſet uns nicht vergiß mich nicht, mein » Sohn mein Freund meine Geliebte, vergiß » mich nicht! «

301

Nein wir wollen euch auch nicht vergeſſen. Und wenn es uns[immerhin] zu wehe thut: ſo rufe doch jeder von uns in dieſer Minute die theuerſten Ge¬ ſtalten aus ihren Ruheſtaͤtten vor ſich und ſchaue die verweßten Zuͤge, die wieder geoͤfneten Augen voll Liebe, die ſo lange geſchloſſen waren, und das theure aufgedeckte Angeſicht recht lange an, bis ihm die alten Erinnerungen an die ſchoͤnen Tage ihrer Liebe das Herz zerbrechen und er nicht mehr wei¬ nen kann.

302

39. Hundspoſttag.

Große Entdeckung neues Unglück und Trennungen

Ich will jetzt enthuͤllen, was ich im vorigen Kapi¬ tel verbarg Da Emanuel an jenem elyſiſchen Morgen des Wahnſinns zu Julius geſagt hatte: » Schatten! weiche! » ſo fuhr er fort: » gaukle den blin¬ » den Sohn meines Horions (des Lords) nicht » nach, der mich noch fuͤr ſeinen Vater haͤlt » fuͤrchte dich vor Gott, der voruͤberging, und ver¬ » ſchwinde! » Und zu Viktor wandte er ſich: » Schatten! wenn du nicht weißt, wer du biſt und » deinen Vater Eyman nicht kennſt: ſo falle wie¬ » der auf die Erde hinab und in den Schatten hin¬ » ein, den dort mein Viktor wirſt. » Und da Viktor am andern Tag den Sterbenden auf dieſe Worte fuͤhrte: ſo fragte er beklommen: » ach hab '» ich's denn nicht im Wahnſinn geſagt, als ich waͤhn¬ » te, im Lande jenſeits der Erden-Eide zu ſeyn? » und kehrte ſtumm das erſchrockene Angeſicht gegen die Wand ....

Er hatt 'es alſo im Wahnſinn des Todes her¬ ausgeſagt, daß Julius der Sohn des Lords, und303 Viktor der Sohn des Pfarrers Eyman iſt .... Aber welche helle weite Beleuchtung giebt nicht die¬ ſer Vollmond unſerer ganzen Geſchichte, auf die bis¬ her nur eine Mondsſichel ſchien?

Ich geſteh 'es, ſchon beim erſten Kapitel fiel es mir auf, daß Viktor ein Arzt war: jetzt iſt's er¬ klaͤrt; denn der mediziniſche Doktorhut war die be¬ ſte Montgolfiere und das Wuͤnſchhuͤtlein fuͤr einen buͤrgerlichen Legaten des Lords, um damit leichter um den Thron zu ſchweben und auf den muͤrben Jenner einzuwirken; auch konnte Sebaſtian nach ſeiner kuͤnftigen Devalvazion und nach dem Verluſt des Federhuts am beſten in den medizinſchen ſein taͤgliches buͤrgerliches Brod einſammeln ſah der Lord. Das war Ein Grund, warum dieſer jenen fuͤr ſeinen Sohn ausgab. Ein anderer iſt: Viktor war der Rolle beim Fuͤrſten durch ſeine Laune, Ge¬ wandheit, Gefaͤlligkeit u. ſ. w. am meiſten gewach¬ ſen, wozu noch die empfehlende Aehnlichkeit trat, die er mit dem fuͤnften bis jetzt noch verlornen Soh¬ ne, den Jenner ſo liebte, in allem, das Alter aus¬ genommen, beſaß. Da nur ein Leibarzt der Guͤnſt¬ ling ſeyn ſollte: ſo konnte der Lord keinen von den fuͤrſtlichen Soͤhnen dazu nehmen, weil dieſe Juriſten werden mußten, um in die kuͤnftigen Aemter einzu¬ paſſen. Seinen eignen Sohn Julius konnt' er nicht brauchen, weil er blind war beilaͤufig! der304 Lord war auch einmal blind und vermehret alſo die Beiſpiele der von Vater auf Sohn forterbenden Blindheit durch ſeines ; aber auch ohne die Blindheit konnt 'er wegen ſeiner uneigennuͤtzigen De¬ likateſſe unmoͤglich ſeinen Sohn die Vortheile der fuͤrſtlichen Gunſt erbeuten laſſen, indeß er die eignen Soͤhne Jenners von ihnen entfernte.

Du guter Mann ohne Hoffnung! wenn ich jetzt deine dichteriſche Erziehung des Blinden mit deinen kalten Grundſaͤtze vergleiche, wenn ich berechne, wie du abgeſtorben den lyriſchen Freuden verhaͤr¬ tet fuͤr die Thraͤnen des Enthuſiasmus gleichwol die mit Augenliedern verhangne dunkle Seele deines Julius von ſeinem Lehrer fuͤllen laͤſſeſt mit dichteri¬ ſchen Blumenſtuͤcken mit Thauwolken der Ruͤh¬ rung und mit dem Nebelſtern des zweiten Le¬ bens: ſo vermehret es eben ſo ſehr meine Schmer¬ zen als meine Hochachtung, daß du nichts auf der Erde findeſt, was du an dein ausgehungertes Herz druͤcken kannſt, und daß du dein auf leeren Thraͤ¬ nendruͤſen verwelktes Auge kalt aufhebſt gegen den Himmel und auch da nichts ſieheſt als ein wuͤſtes oͤdes Blau!

Dieſe ſchmerzliche Betrachtung machte Viktor noch fruͤher als ich. Aber zur Geſchichte! Die vergangne zog tauſend Stacheln durch ſein Herz. Wir kennen jetzt unſern ſonſt frohen Sebaſtian nichtmehr305mehr er hat vier Menſchen verloren, gleichſam um die vier Pfingſttage damit abzuzahlen: Emanuel iſt verſchwunden, Flamin iſt ein Feind geworden, der Lord ein Fremder und Klotilde eine Fremde. Denn er ſagte zu ſich: » Jetzt, da ſie ſo weit uͤber » mich geruͤckt iſt, will ich〈…〉〈…〉 er Leidenden, der ich » ſchon ſo viel genommen, nicht gar alles koſten, » nicht gar die liebe ihres Vaters und ihren Stand » ich will nicht auf ihre in der Unwiſſenheit » meiner Verhaͤltniſſe geſchenkte Liebe dringen. » Nein, ich will gern meine Seele von der theuerſten » abloͤſen unter tauſend Wunden meiner Bruſt und » mich dann einſam hinlegen und zu Tod bluten. » Jetzt wurd 'ihm dieſer Vorſatz leicht: denn nach dem Tode eines Freundes nehmen wir ein neues ſchweres Ungluͤck gern auf unſere Bruſt, es ſoll ſie eindruͤcken, denn wir wollen ſterben.

Doch hatte das Schickſal in ſeinen zwei Armen noch zwei Geliebte gelaſſen: ſeinen Julius und ſeine Mutter. In jenem liebt er ſo viele ſchoͤne Bezie¬ hungen; ſogar das war eine, die es macht, daß man allzeit den liebt, mit dem man verwechſelt wuͤrde; und er wollte Vaterſtelle bei jenem vertreten wie der Lord bei ihm, um dieſem edeln Manne Edel¬ manne nicht ſowol zu danken als nachzueifern. Und noch heißer umfing er mit ſeiner Seele die vor¬ trefliche Pfarrerin, der ſchon bisher ſein Herz inHeſperus. III Th. U306der ſanften Waͤrme eines Sohnes entgegengeſchlagen hatte. Ach wie wohl haͤtte es der kindlichen Bruſt, von der der bisherige Vater geſtoßen war, in ihrem Sehnen gethan, ans muͤtterliche Herz gedruͤckt zu werden und von der Mutter die Worte zu hoͤren: » guter Sohn, warum koͤmmſt du ſo ungluͤcklich und » ſo ſpaͤt zu mir? » Aber er durfte nicht, weil er ſonſt den Schwur, die Abkunft Flamins unter der Decke des Geheimniſſes zu laſſen, gebrochen haͤtte.

Er ſperrte ſich vier Tage mit dem Blinden ins Sterbhaus ein er ſah niemand beſuchte das trauernde Kloſter nicht, wo aus allen ſchoͤnen Augen aͤhnliche Thraͤnen floſſen that Verzicht auf den duftenden Park und auf den blauen Himmel und ließ den Blumenflor des Verſtorbenen nachwelken. Er troͤſtete den verlaſſenen Blinden und den ganzen Tag ruhten ſie aneinander geſchlungen und malten ſich weinend ihren Lehrer und ſeine Lehren und die lichten Stunden ihrer Kindheit vor. Endlich am 4ten Tage fuͤhrte er den Blinden auf immer aus dem ſchoͤnen Maienthal die Abend¬ glocke ſandte ihnen weit das Todtengelaͤute eines ganzen eingeſargten Lebens nach Julius weinte laut aber Viktor hatte, nur ein feuchtes Auge und troͤſtete nicht ſich, ſondern den Blinden; denn ſeine Seele war jetzt anders als man errathen wird: ſeine Seele war erhoͤht uͤber dieſes Abend-Leben, ſein Verſtorbner hielt ſie wie ein Genius hoch em¬307 por uͤber die Wolken und uͤber die Spiele einer klei¬ nen Zeit. Viktor ſtand auf dem hohen Ge¬ birg wo man am Begraͤbniß-Tage eines Freundes ſteht, unten am Gebirge ging das Todtenmeer des Abgrunds weit hin*)Anſpielungen auf den mit abgebildeten Ländern und Inſeln erfüllten Nebel, den man am Morgen vom Aetna herunter ſieht. und ſog an einem aus¬ gedehnten zitternden Nebel, der ſich auf dem Meere aufrichtete und auf dem Nebel wa¬ ren bunte Staͤdte gefaͤrbt und ſchwankende Land¬ ſchaften hingen in ihm und die kleinen Voͤlker mit rothen Wangen liefen auf den Landſchaften aus Duft und alles, Voͤlker und Staͤdte tropften wie Thraͤ¬ nen hinab ins ſaugende Meer blos am Hori¬ zont war unten im duͤſtern Nebel ein angeglomme¬ ner Saum wie Morgenglut: denn eine Sonne ſteigt hinter der Daͤmmerung auf und dann iſt der Nebel vergangen und eine neue gruͤne feſte Welt liegt in die Unermeßlichkeit hinein.

Er wollte die ganze Nacht gehen, aber er wurde durch etwas Fuͤrchterliches im naͤchſten Dorfe das Obermaienthal heiſſet, angehalten. Er erkannte in der Wagenremiſe des Gaſthofs den Wagen des Kam¬ merherrn am Wappen. Er ließ den Blinden auf einer ſteinernen Bank an der Thuͤre nieder, wo die¬ ſer dem Geraͤuſche des Heu Abladens zuhorchte. Viktor bekam drinnen auf ſeine Frage die Nachricht:U 2308» es waͤren zwei Damen droben, die eine kenne man » nicht « (er entdeckte aber im erſten Abriß ihres An¬ zugs ſogleich die Pfarrerin) » die andere ſey oft » hierdurch paſſirt, es ſey die Tochter des Obriſt¬ » kammerherrn und habe Ganz-Trauer an, weil ihr » Vater vor einigen Tagen todtgeſchoſſen worden im » Duell mit dem Regierungsrath Flamin, und beide » reiſeten, wie ihre Leute ſagten, nach England. »

Er ſchrie vergeblich, halb im Blut und Qual erſtickend: es iſt unmoͤglich, mit dem Hofjunker von Schleunes meint ihr. » Aber es war doch Fla¬ min war im Gefaͤngniß Matthieu auſſer Landes Le Baut ſchon unter der Erde .... Fodert aber die Geſchichte dieſes Mordes jetzt nicht! Viktor zog langſam die Uhr des gluͤcklichen Zeidlers heraus und ſah ſtarr den Zeiger froher Stunden an, der ſchon einige Tage unaufgezogen ſtockte; in ihm rieth etwas der wilden Verzweiflung an, er ſollte ſie gegen den ſteinernen Boden ſchleudern und ſchmet¬ tern. Aber drei Lauten-Hauche der Floͤte, mit der der Blinde eine ſchoͤnere waͤrmere Vergan¬ genheit vor die erſtarrte Seele zog, loͤſeten ſein gerinnendes Herz in ein naſſes Auge auf und er hob es uͤberfließend empor und ſagte blos: » Vergieb » mir's, Allguͤtiger ach ich will gern nur wei¬ » nen! » Wenn die Schmerzen in uns zu reiſſend werden: ſo knirſcht etwas in uns gegen das Schick¬309 ſal und das Herz ballet ſich gleichſam zur Wehre ergrimmt zuſammen aber dieſe Staͤrke iſt Laͤ¬ ſterung, o! es iſt ſchoͤner gegen dich, Allguͤtiger, mit dem entzweigepreßten Herzen hinzurinnen und zur Thraͤne zu werden und ſo lange zu lieben und zu ſchweigen bis man ſtirbt!

Die bekannten Floͤtentoͤne drangen in Klotildens dicke Regenwolke des Grams ſie zitterte ans Fen¬ ſter ſie ſah den Blinden aber ſie ging ſchnell zuruͤck und huͤllte ihr Herz tiefer in die kalte Wolke denn jetzt wußte ſie alles, der Blinde war der Todesbote, daß ihr großer Freund die Erde und die Troſtloſen verlaſſen habe. » Mein Lehrer iſt auch todt » ſagte ſie zur Begleiterin; und als Viktor um eine Unterredung bitten ließ: konnte ſie nur ſprach¬ loß mit dem Kopfe nicken Dann bat ſie die Pfar¬ rerin, in ein anderes Zimmer zu treten, weil ihr der Anblick Viktors aus vielen Gruͤnden druͤckend ſeyn mußte. Viktor ſtieg die Treppe gleichſam zu einem Blutgeruͤſt hinauf, auf dem ihm das Schick¬ ſal ſein Herz herausnehmen werde, naͤmlich die gu¬ te Klotilde, von der er heute ſowol durch ihre Reiſe als durch ſeinen Vorſatz ſie zu entbehren abgeſchie¬ den wurde. Als er aufmachte und die Bekuͤmmerte erblickte bleich und muͤde an die Wand gelehnt; und als beide einander mit niedergeſunknen Haͤnden in310 die rothgeweinten Augen ſahen und bebten in dem duͤſtern Zwiſchenraum zwiſchen dem Anblick und dem erſten Wort wie in der ſchrecklichen Zeit zwiſchen dem Feuer eines großen Geſchoſſes und zwiſchen der Ankunft der Kugel und da endlich Klotilde leiſe fragte: » es iſt alles wahr? » und er ſagte: alles! ſo legte ſie ihr ſchoͤnes Haupt langſam um gegen die Wand und wiederholte in einem fort, aber leiſe¬ klagend, mit den ſanften gedaͤmpften Trauertoͤnen des ermuͤdeten Jammers die Worte: » ach! mein » guter Lehrer! mein unvergeßlicher Freund! Ach » du großer Geiſt! du ſchoͤne Himmelsſeele, warum » zogeſt du ſo bald meiner Giulia nach! O, » theuerſter Freund, zuͤrnen Sie nicht, ich wuͤnſchte » jetzt blos zu ſeyn, wo mein Vater iſt, im ſtillen » Grabe. » Viktor fing bebend die Frage an: » hat ihn Flamin ..... » aber er konnte nicht dazu ſetzen: » umgebracht »: denn ſie richtete das Haupt empor und blickte ihn an mit einem ſchwel¬ lenden, mit einem arbeitenden unſaͤglichen Schmerz und dieſer Schmerz war ihr Ja.

Sie wollte, von der Thraͤnenverblutung erſchlafft und zuckend unter den Erinnerungen, die wie Ge¬ hirnbohrer die Seele betaſteten, endlich an der Wand zuſammenſinken; aber ihr Geliebter faßte ſie mit unausſprechlichem Mitleid auf und erhielt ſie311 aufgerichtet an ſeiner Bruſt und ſagte: » komm ', un¬ » ſchuldiger Engel, komm' an mein Herz und weine » dich aus daran wir ſind ungluͤcklich, aber un¬ » ſchuldig o ruhe ſanft aus, gequaͤltes Haupt, » ruhe ſanft unter meinen Thraͤnen. » Aber im hoͤchſten Weh fing allzeit eine Bergluft um ihn zu flattern an, ihm war als richtete das Hebeiſen die eingebrochne Hirnſchale auf, als zoͤge Lebensluft durch die angebohrte, innen modernde Bruſt hinein; es war ihm darum ſo, weil ihm das Leben der Menſchen klein wurde, der Tod groß und die Erde zu Staub. » Schlafe, Gequaͤlte ſagt 'er zu Klo¬ » tilde, die welkend an ihm lehnte verſchlafe das » Weh das Leben iſt ein Schlaf, ein gedruͤckter » heiſſer Schlaf, Wampyren ſitzen auf ihm, Regen » und Winde fallen auf uns Schlafende und wir » greifen vergeblich aus zum Erwachen o das » Leben iſt ein langer, langer Seufzer vor dem » Ausgehen des Athems O daß aber die elende » Lufterſcheinung gerade dieſe gute Seele, gerade » dich, dich ſo quaͤlen darf! » » Ach wenn doch » die zu traurige Floͤte aufhoͤrte! Mein Herz zer¬ » ſpringt vor Quaal » ſagte die beladene Seele; aber ihr Frennd riß grauſam alle Quellen ihrer Thraͤnen weiter auf und goß ſeine in die ihrigen und malte ihr die Vergangenheit ab: » vor vier Wochen war » es anders, da gingen die Floͤtentoͤne uͤber ein ſchoͤ¬312 » neres Land durch gluͤcklichere Klagen der Nachtigal » hindurch in unſere Herzen, die damals ſo froh » waren am erſten Pfingſttage fand ich dich, als » die Nachtigal ſchlug am zweiten ſank ich vor » Wonne und Hochachtung vor dir nieder, als der » Regen um uns glaͤnzte am dritten ging oben an » der Abendfontaine ein weiter Himmel auf und ich » ſah einen einzigen Engel glaͤnzend und laͤchelnd dar¬ » innen ſtehen Unſere drei Tage waren Traͤu¬ » me von ſchoͤnen Blumen, denn Traͤume von Blu¬ » men bedeuten Jammer » Er hatte bisher ſeine weiche Seele gegen dieſes grauſame Gemaͤlde verhaͤr¬ tet; aber als er gar mit gepreßter Stimme dazu ge¬ fuͤgt hatte: » Damals lebte unſer Emanuel noch und » beſuchte abends ſein ofnes Grab .... »: ſo mußte ſein Herz zerreißen und alle Thraͤnen quollen uͤber das tief hineingedruͤckte Schwert wie blutige Tro¬ pfen heraus und er ſagte, ſie heftiger an ſich fas¬ ſend: » O komm', wir wollen weinen ohne Maaß: » wir wollen uns nicht troͤſten. Wir ſind nicht » lange mehr beiſammen: o ich moͤchte mich jetzt » zerruͤtten durch Kummer Erhabner Dahore! » ſchau dieſe Sterbende an und ihre Thraͤnen um » dich und vergelt 'ihre Trauer und gieb der muͤden » Seele einmal Ruhe und deinen Frieden und alles » was den Menſchen fehlt! »

313

Die zwei Seelen ſanken, verſchlungen, hin in ei¬ ne einzige Thraͤne und die Stille der Trauer heiligte den Augenblick und mehr laſſet mich mit meinem beklommenen Athem nicht davon ſagen.

Wie erwachend zog ſie ihr Haupt von ſeinem Herzen und nahm mit einem entkraͤfteten Laͤcheln ſeine Hand denn ſie liebte ihn aller Ungluͤcks - Zufaͤlle ungeachtet unausſprechlich und war eben auf dem Wege nach Maienthal, um ihn noch einmal zu erblicken und ſagte: » ich gehe nach England » zu meiner Mutter, um den Lord auszufinden und » zu erbitten, daß er fruͤher komme und ſich ins » Mittel ſchlage, und fremde Schmerzen und meine » endige. » Ihr Stocken, das ihr Blick ausfuͤll¬ te, entdeckte ihm ſoviel als es der ungluͤcklichen Pfarrfrau verſchwieg, die im Nebenzimmer vieles hoͤren konnte was ſie verdeckte, war, daß ſie bei dem Lord die Beſchleunigung der Entdeckung, daß Flamin der Sohn des Fuͤrſten ſey, betreiben wollte. Auſſerdem ruͤckte dieſer Weg ihre Augen von ſo vie¬ len Bildern des Grams, ſo wie ihre Ohren von ſo vielen Kakophonien des Geſpoͤttes hinweg. Freilich war die Abſicht, auf dem Kutſchkiſſen und auf dem Schiffe die Mozion wie eine Eiſentinktur einzuneh¬ men, nur ihr Vorwand bei Hofe geweſen, wo man314 ehrerbietige Unwahrheiten nicht blos vergiebt ſondern auch verlangt.

Viktor verhies ihr, in dunkler Ahndung ſeiner Kraft und Uneigennuͤtzigkeit denn der Ungluͤckliche opfert leichter und freigebiger als der Gluͤckliche auf » er wolle wie eine Schwe¬ ſter fuͤr ihn ſorgen. « Ihre Augen trugen einan¬ der ihre Geheimniſſe und eben darum ihre Liebe vor und Klotilde floß von weinender Liebe uͤber, erſt¬ lich der Reiſe wegen, (weil fuͤr ihr Geſchlecht eine Reiſe der Seltenheit wegen etwas Wichtiges iſt) zweitens des Kummers wegen, da die Liebe ein weib¬ liches Herz in ganzer Trauer waͤrmer macht als eins in halber, wie Brennſpiegel ſchwarz gefaͤrbte Dinge ſtaͤrker erhitzen als weiſſe.

Gerade heute, wo ſie ihm mit ſo viel erneuter Liebe in die Augen blickte, ſollt 'er von ihr abgeriſ¬ ſen werden. Er verſchonte ſie zwar mit der Entdek¬ kung ſeiner Geburt und ſeiner ewigen Trennung, um an ihr reiſſendes Herz nicht neue ziehende Qualen zu haͤngen; aber er wollte dieſe letzte Minute ſeiner ſchoͤnen Liebe dieſe Nachleſe und dieſen Nachflor ſeines Lebens ganz abernten. Ach er wollte ſie an¬ ſchauen wie nie er wollte ihr die Hand druͤcken heftig wie nie er wollte ihr ein Lebewol ſagen wie ein Sterbender Denn es iſt alles rief unaufhoͤrlich ſein Innerſtes zum letzten letztenmale!315 Nur kuͤſſen wollt' er ſie nicht: eine ſcheue Ehr¬ furcht, der Gedanke an die ausgeſpielte Liebhaber¬ rolle verbot es ihm, von ihrer Unwiſſenheit einen eigennuͤtzigen Gebrauch zu machen. Aber als er den letzten Blick der Liebe auf ſie richten wollte: ſo ſchlug das Schickſal alle die geſchlifnen Waffen, die bisher in ſeine Nerven gedrungen waren, noch einmal in die blutenden Oefnungen, wie man in die Wunden der Ermordeten die alten Inſtrumente wie¬ der haͤlt, um zu ſehen, obs dieſelben ſind, ach es waren dieſelben das Zimmer benebelte gleich¬ ſam ein Lichterdampf die Floͤtentoͤne erſtickten im innern Brauſen er mußte ſie anſehen und konnte doch nicht vor Waſſer er mußte ſie lange, faſſend anſehen, weil er ihr ſchoͤnes Angeſicht als ein Me¬ daillon, als ein Schattenbild des Schatten-Edens auf ewig niederlegen wollte in ſeiner Seele Endlich konnt 'er's, mit tauſend, tauſend Schmerzen blickte er ihr bethraͤntes Angeſicht, durch das die Tu¬ gend wie ein Herz ſchlug, ergreifend an und ſchattete es ab in ſeiner oͤden Seele bis auf jede Linie, bis auf jeden Tropfen So viel nahm er mit von ihr, mehr nicht; ihr lies er alles, ſein Herz und ſeine Freude Ach weiche Klotilde! wenn du es errathen haͤtteſt! Das Schluchzen ſeiner Mutter riß ihn ans Nebenzimmer, er ſtieß die Thuͤr' auf, rief zer¬ truͤmmert der weggekehrten Mutter zu: » Theuerſte!

316» Beim Allmaͤchtigen, Ihr Sohn iſt kein Moͤrder » und kein Verlorner « und druͤckte die ihm hin¬ ter dem Ruͤcken gegebne Han ſinnlos zuſammen.

Seht dem duͤſtern Augenblicke, meine Freunde, jetzt nicht zu, wo er zum letztenmale Klotildens Hand nimmt und ſein Herz von ihrem ſpaltet und doch nur ſagt: » Reiſe gluͤcklich, Klotilde, lebe ruhig, Klo¬ tilde, werde froh, Klotilde! «

Und weit vom Dorfe fiel er neben dem Blin¬ den auf die Knie mit einem ſtummen Gebet fuͤr das trauernde Herz, das er nun zum letztenmal verloren hatte.

Erſt Morgens um 4 Uhr kam er ohne Muͤdigkeit und ohne Thraͤnen und ohne Gedanken in Flachſen¬ fingen mit dem Blinden an.

317

40. Hundspoſttag.

Das mörderiſche Duel Rettung der Duelle Gefängniſſe als Tempel betrachtet Hiobsklagen des〈…〉〈…〉 fa〈…〉〈…〉 rers Sa¬ gen meiner biographiſchen Vorzeit, Kartoffelnſtecken.

Indem ich in den 40ten Tag mit der Anmerkung einſchreiten will: » die Hiſtorie des Duels iſt noch » voll Banal-Chiffern und ein wahrer unbezifferter » Generalbaß « langt ein Stuͤck vom 43ten an und beziffert den Baß und punktirt die Konſonanten. Dieſem jungen Vorlauf aus dem 43ten Kapitel hat man es zu danken, daß ich die Schuß Hiſtorie mit froherem Muth erzaͤhlen kann.

Man wird es nicht errathen, wer uͤber Klotildens Verlobung am meiſten aufkochte der Evangeliſt naͤmlich. Ihn verdroß die kuͤhne Treuloſigkeit des Kammerherrn, uͤber deſſen Hoͤflichkeit er bisher durch Grobheit regiert hatte, darum ſo ſehr, weil ein menſchliches Kompoſitum aus Kraftloſigkeit und Schmeichelei wie le Baut uns unſaͤglich erbittert, wenn es von Schmeicheleien zu Beleidigungen uͤbergeht. Noch mehr hetzte ihn, der Flamin auf¬ hetzte, die Witwe des Kammerherrn auf und ſchuͤrte318 in ſein Elementarfeuer ſanftes Oel und einige Zuͤn¬ deruthen nach: ſie haßte Klotilden, weil dieſe geliebt wurde, und unſern Helden, weil er nicht wie der Evangeliſt die Stiefmutter uͤber die Stieftochter er¬ hob. Eine Frau, die fuͤr einen Mann in den Tod gegangen iſt, d. h. in einen kurzen Schlaf (welches der Tod fuͤr Fromme iſt,) naͤmlich in eine Ohnmacht wie eben die Frau Wittwe im 8ten Poſttage darf ſchon dieſen Mann haſſen, wenn er ſich nicht lieben laͤſſet. Der Evangeliſt, der bisher Klotildens und Viktors Liebe nur fuͤr die zufaͤllige Galanterie einer Minute gehalten und der die fluͤchtige Verbin¬ dung mit ſeiner Schweſter Joachime auch fuͤr keine laͤngere angeſehen hatte, war teufelstoll uͤber den Fehlſchuß im erſten Falle und uͤber den Koͤnigsſchuß im zweiten: und beſchloß, ſich und ſeine Schweſter, die er mehr als ſeinen Vater liebte, an jedem zu raͤchen.

Er hinterbrachte dem Regierungsrath zuerſt ob¬ wohl ohne 24 blaſende Poſtillons den Sieg Viktors uͤber ſie beide. Flamin haͤtte im eingeſperrten Gruͤn gern den einen Welttheil am andern zerſplittert; aber Maz faßte ſich und waͤlzte alles auf den Kam¬ merherrn: » dieſer ſey ein kleiner Filou und ein gro¬ » ßer Hofmann er habe vielleicht mehr als der » Liebhaber Klotildens Badreiſe nach Maienthal ver¬ » mittelt er und nicht ſo ſehr Viktor, ſuche aus319 » der Tochter ein Nachtgarn des fuͤrſtlichen Herzens » und einen gradus ad Parnassum des Hofes zu ma¬ » chen. « Indeſſen verbarg er dem Rathe (um unpar¬ theiiſch zu ſeyn,) doch nicht, daß der Apotheker uͤberall aus Erbitterung gegen Sebaſtian ausſagte, dieſer habe den Plan dieſer Heirath als eines Erhoͤ¬ hungs-Mittels blos von ihm, von Zeuſeln. Flamin grif bei ſolchen Knochen Zerſplitterungen des Her¬ zens nur zur Stahlkur des Degens, zum Bleiwaſſer der Kugeln und zum Kauteriſireiſen des Saͤbels; und da ihn das Duel mit dem adelichen Viktor verwoͤhnt hatte, wollt 'er's in der erſten Hitze dem Dreiknoͤ¬ pfler le Baut auch vorſchlagen, als Maz den tournir¬ unfaͤhigen Roturier auslachte. Flamin vermaledeite in vergeblichem Grimm ſeinen Ahnen-Defekt, der ihn hinderte, ſich erſchießen zu laſſen von einem Ah¬ nen-Beguͤterten; ja er waͤre da er ſchnell an¬ gluͤhte und doch langſam erkaltete faͤhig geweſen, blos einer adelichen Injurie wegen (wie ſchon ein¬ mal einer that) Soldat zu werden, dann Offizier und Edelmann, blos um nachher den ſtifts - und ſchußfaͤ¬ higen Injurianten vor ſeine Piſtolenmuͤndung zu zitiren.

Aber der treue Maz deſſen fleckige Seele ſich vor jedem anders drehte, der Sonne gleich, die nach Ferguſon ſich ihrer Flecken wegen um ſich wendet, um allen Planeten gleiches Licht zu ſchenken 320 wußte zu rathen: er ſagte, er wolle in ſeinem eignen Namen den Kammerherrn fodern und zwar auf ein vermummtes Duel und dann koͤnne in der Verkap¬ pung Flamin ſeine Rolle nehmen, indeß er ſelber un¬ ter dem Namen des dritten Englaͤnders dabei waͤre und die zwei andern als Sekundanten.

Flamin wurde durch Schnelligkeit uͤbermannt; aber nun fehlte es wieder an etwas das noch weni¬ ger als der Adel zu einem Fechterſpiel zu entrathen iſt an einer guten ordentlichen Beleidigung. Maz war zwar mit Vergnuͤgen bereit, dem Manne eine anzuthun, die zu einem Duelle qualifizirte; aber der Mann mit dem kammerherrlichen Dieterich ließ be¬ fahren, er werde ſie vergeben und niemand kaͤme zum Schuß. Recht gluͤcklicherweiſe entſann ſich der Evangeliſt, daß er ja ſelber ſchon eine von ihm erhalten habe, die er nur nuͤtzlich und redlich zu ver¬ wenden brauche: » le Baut hab 'ihm ja vor zwei » Jahren die Tochter ſo gut wie verſprochen; und ſo » gleichguͤltig dieſer Meineid an ſich ſey, ſo behalt' » er doch als Vorwand zur Zuͤchtigung fuͤr einen » groͤßern Fehler ſeinen guten Werth. « ... So nimmt auf einer ſchmutzigen Zunge die Wahrheit die Geſtalt der Luͤge an, ſobald ſich die Luͤge nicht in die der Wahrheit kleiden kann.

Ich bin in Angſt, man denke, daß Matthieu ei¬ nem Kammerherrn, zumal einem, bei dem Verſpre¬chen321chen und Halten weitlaͤuftige Vettern waren, die Machtvollkommenheit zu luͤgen mehr abſpreche als einem Hofjunker und daß er vergeſſe wie man uͤber¬ haupt uͤber den Strom des Hofs und Lebens wie uͤber jeden phyſiſchen nie gerade hinuͤber gelange ſon¬ dern die Quere und ſchief. Aber der Schlimme ver¬ achtet den Schlimmen noch mehr als er den Guten haſſet. Noch dazu handelte er alſo nicht blos aus Leidenſchaft ſondern auch aus Vernunft: wurde Fla¬ min todgemacht, ſo mußte er von Agnola, die jetzt immer mehr die Fuͤrſtin des Fuͤrſten wurde und fuͤr die natuͤrlicherweiſe ein Nachflor von Jenners und des Lords vorigen Saͤmereien ein Diſteln Gehege war, das Schießgeld und Meßgeſchenk empfangen und eine hoͤhere Stelle auf der Meritentafel des Hofs; ferner konnte dann der Lord nicht mehr zum Thor hereinrollen und hinterbringen: » Ew. » Durchlaucht Sohn iſt zu haben und am Leben. « Wurde der Kammerherr erlegt, ſo wars auch nicht zu verachten: dieſer vorige Elektrizitaͤts und Inſultraͤger der fuͤrſtlichen Krone war doch zum Teu¬ fel und der Lord mußte ſich wenigſtens ſchaͤmen, durch ſein Schweigen den Regierungsrath in das moͤrderi¬ ſche Verhaͤltniß mit einem Manne verflochten zu ha¬ ben, dem er in jedem Falle oͤffentlich die Vereh¬ rung eines Sohnes abzutragen hatte. Maz konn¬ te nicht verlieren noch dazu konnte er ſeineHeſperus. III. Th. X322Wiſſenſchaft um Flamins Abkunft verſtecken oder auf¬ decken wie es Noth war.

Da gar die Englaͤnder die Sekundanten ſeyn konnten: ſo ſagte Flamin Ja; aber le Baut ſagte Nein als er das Manifeſt und Kriegsinſtrument von Mazen erhielt: des Todes war er faſt ſchon uͤber ein Todes-Rezept ohne das Ingredienz der Kugel. Ich werde einen Hofmann nie ſo verkleinern, daß ich vorgebe, er lehne einen ſolchen Kartoffelnkrieg aus Tugend ab oder aus Feigherzigkeit ſolche Men¬ ſchen zittern gewiß nicht vor dem Tode, ſondern blos vor einer Ungnade, aber eben die letztere, die le Baut vom Miniſter und Fuͤrſten beſorgte, ſchreckte ihn ab. Er hielt daher auf feinem Papier und mit feinen Wendungen, die den Streuſand uͤber¬ ſchimmerten, Mazen die vorige Freundſchaft vor und verbindliche Abmahnungen von dieſem auffallen¬ den » Gozsurthel « und erklaͤrte ſich uͤberhaupt bereit¬ willig, gern alles zu leiſten, was ſeine Ehre belei¬ digte, falls er nur nicht durch das Luſttreffen gegen das Duelmandat verſtoßen muͤßte. Aber er mußte Maz ſchrieb zuruͤck, er verbuͤrge ſich fuͤr das Ge¬ heimniß ſo wie fuͤr das Schweigen der Sekundan¬ ten und er ſchlage ihm zum Ueberfluß vor, ſich einander zu Nachts und in Masken die Drachen - Pechkugeln zu inſinuiren; » uͤbrigens bleib 'er auch » in Zukunft ſein Freund und beſuch' ihn, denn nur323 » die Ehre fodere ihm dieſen ab. » ... Und dem Kammerherrn auch: denn dieſe Leute verſchlucken wohl große, aber nicht kleine Beleidi¬ gungen, ſo wie die von tollen Hunden Gebiſſenen zwar feſte Sachen aber keine fluͤßigen hinunterbrin¬ gen und damit iſt in meinen Augen ein Hofmann wie Le Baut genugſam entſchuldigt, wenn er ſich ſtellt als waͤr 'er ein redlicher Mann oder als ginge er von denen ſehr ab, die das ganze Jahr ihre Eh¬ re zum Pfand einſetzen und das Pfand wie Reichs¬ pfandſchaften oder wie vornehme lebendige Pfaͤnder der Liebe nie einloͤſen.

Auf den Abend, wo Viktor in Maienthal trau¬ ernd eintraf, war alles feſtgeſetzt das Kriegsthea¬ ter war zwiſchen St. Luͤne und der Stadt.

Extrablatt zur Rettung der Duelle.

Ich glaube, der Staat beguͤnſtigt die Duelle, um der Vermehrung des Adels Graͤnzen zu ſtecken wie eben darum Titus die Juden einander fodern ließ. Da immerfort Edelleute gemacht werden, aber keine Buͤrgerliche da noch dazu allemal ein Buͤr¬ gerlicher daran gewendet und eingeriſſen werden muß, eh 'die Reichskanzlei einen Edelmann auf ſei¬ ner Bauſtaͤtte auffuͤhren kann da die ſtehenden Armeen und die Kroͤnungen zugleich zunehmen und folglich die Bauten Adelicher mit: ſo wuͤrde derX 2324Staat ſicher eher zuviel als zu wenig Edelleute (wie doch nicht iſt) beſitzen, waͤre ihnen nicht gegenſeiti¬ ges Erſchießen oder Erſtechen verſtattet. In Ruͤck¬ ſicht der kleinen Fuͤrſten, die in der Kanzlei-Baͤcke¬ rei gemacht werden, waͤre weiter nichts zu wuͤn¬ ſchen, als daß zugleich auch Unterthanen ein oder ein Paar Rudel mit jedem Fuͤrſten mit abfielen von der Drehſcheibe; ſo wie ich uͤberhaupt auch nicht weiß, warum die Reichskanzlei nur Poeten machen will, da ſie doch eben ſo gut Hiſtoriker, Biographen, Rezenſenten von ihrer Salpeterwand abkratzen koͤnn¬ te. Man wende mir nicht ein, am Hofe ſchieße man ſich ſelten: hier hat die Natur ſelber auf eine andere Art wohlthaͤtige Graͤnzen der Hofleute geſteckt, etwan ſo wie bei den Hamſtern, bei denen Bech¬ ſtein die weiſe Abſicht ihrer Entvoͤlkerung darin fin¬ det, daß ſie, ſo boshaft-bißig ſie auch ſonſt das Ihrige verfechten, gleichwol ihre Brut nicht zum Ihrigen rechnen, ſondern ſie gern fahren laſſen. Auch duͤrfte D. Fenk mehr Recht haben, der ihre Partei nimmt und ſagt, er gebe zu, ſie nuͤtzten nichts den wichtigern Gliedern des Staats dem Lehr - dem Bauernſtande ꝛc., aber doch viel den klei¬ nern unnuͤtzen Gliedern, den Meßhelfern des Luxus, den Friſeurs, der Lakaienſchaft ꝛc. und ein Unpar¬ theiiſcher muͤſſe ſie mit den Brenneſſeln vergleichen,325 auf denen ſich, da ſie fuͤr Menſchen und große Thiere wenig Nuzen haben, die meiſten Inſekten bekoͤſtigen.

Ende dieſes rettenden Extrablattes.

Flamins Seele arbeitete ſich den ganzen Tag in Bildern der Rache ab. In einem ſolchen Sieden des Bluts wurden ihm moraliſche Leberflecken zu Bein¬ ſchwarz, die Druckfehler des Staats kamen ihm wie Donatſchnitzer vor, die peccata splendida des Regie¬ rungskollegiums wie ſchwarze Laſter. Heute ſah er noch dazu den Fuͤrſten immer vor Augen, den er in den Clubs der Drillinge und noch mehr in Hinſicht auf Klotilden toͤdtlich haßte. Er verſchmaͤhte das be¬ laſtete Leben und in dieſer Hitze, worin alle Mate¬ rien ſeines Innern in einem einzigen Fluß zerlaſſen waren, ſuchte die innere Lawa eine Erupzion in ir¬ gend einem Wagſtuͤck. Seine heutige Ergrimmung war am Ende eine Tochter der Tugend, aber die Tochter wuchs der Mutter uͤber den Kopf. Die Drillinge, die obwohl nicht mit der Zunge, doch mit dem Kopfe ſo wild waren wie er, zuͤndeten gar den ganzen Schwaden ſeiner vollen Seele an.

Endlich ritten zu Nachts die 2 Sekundanten, und Flamin und der in den 3ten Englaͤnder verlarvte Matthieu auf den Schießplatz hinaus. Flamin kaͤmpfte entflammt mit ſeinem aufſteigenden dampfen¬ den Hengſt. Spaͤter trug in Kourbetten ein Schim¬326 mel den Kammerherrn daher. Stumm miſſet man die Mord - und Schußweite und tauſchet das Ge¬ ſchoß. Flamin als Beleidigter bricht zuerſt wie ein Sturm gegen den andern loß; und auf dem ſchnau¬ benden Pferde und im Zittern des Grim[m]s ſchießet er ſeine Kugel uͤber das fremde Leben hinaus. Der Kammerherr feuerte abſichtlich und offenbar weit vor dem Gegner vorbei, weil die Niederlage des (vermeintlichen) Matthieu ſein ganzes Hofgluͤck mit niedergeſchlagen haͤtte. Matthieu, ſchon unter den Zuruͤſtungen des Gefechtes ſchaͤumend, und noch mehr ergrimmt uͤber das Verfehlen ſeines Wechſel - Ziels, und zu ſtolz, um ſich vor den Englaͤndern mit dem Geſchenk ſeines Lebens unter einem frem¬ den Namen und von einem ſo veraͤchtlichen Wider¬ part beſchaͤmen zu laſſen, ſties ſeine eigene Maſke herab, und Flamins ſeine dazu und rit kalt auf den Kammerherrn zu und ſagte: um ihn durch die Entdeckung ſeines ahnenloſen Gegners zu demuͤthi¬ gen: » Sie haben ſich im Stande geirrt aber » jetzt ſchießen wir uns « ... Le Baut ſtotterte ver¬ wirrt und beleidigt aber Matthieu draͤngte ſein Pferd zuruͤck ſtand ſchrie ſchoß mit verſtei¬ nertem Arme und traf und zerſtoͤhrte toͤdtlich das kahle Leben des armen Le Baut ... Blitzſchnell ſag¬ te er allen: » zum Grafen O! « und trabte mit dem Bewußtſeyn der fruͤhen, leichten Vergebung von327 Seiten des Fuͤrſtenpaars und der Wittwe uͤber die Graͤnze hinuͤber nach Kuſſeviz.

Flamin wurde ein Eisberg dann ein Vulkan dann eine wilde Flamme dann ergrif er die Haͤnde der Britten und ſagte: » ich, blos ich hab '» den hier getoͤdtet. Mein Freund haͤtte nichts mit » ihm gehabt. Aber da er fuͤr mich geſuͤndigt hat: » ſo iſts Pflicht, daß ich fuͤr ihn buͤße Ich will » ſterben; ich gebe mich bei den Richtern fuͤr den » Moͤrder aus, damit ich hingerichtet werde und » ihr muͤſſet wie ich ausſagen. » Aber er ent¬ deckte ihnen jetzt einen viel hoͤhern Antrieb zu ſeiner kuͤhnen Luͤge: wenn ich ſterbe, ſagt' er immer gluͤ¬ hender, ſo muͤſſen ſie mich auf dem Richtplatz ſa¬ gen laſſen, was ich will. Da will ich Flammen un¬ ter das Volk werfen, die den Thron einaͤſchern ſol¬ len. Ich will ſagen: » ſeht, hier neben dem Richt¬ » ſchwert bin ich ſo feſt und froh wie ihr, und ich » habe doch nur Einen Nichtswuͤrdigen aus der Welt » geworfen. Ihr koͤnntet Blutigel, Woͤlfe, und » Schlangen und einen Laͤmmergeier zugleich fangen » und einſperren ihr koͤnntet ein Leben voll Frei¬ » heit erbeuten, oder einen Tod voll Ruhm. Sind » denn die tauſend aufgeriſſenen Augen um mich alle » ſtarblind, die Arme alle gelaͤhmt, daß keiner den » langen Blutigel ſehen und wegſchleudern will, der » uͤber euch alle hinkriecht und dem der Schwanz328 » abgeſchnitten iſt, damit wieder der Hofſtaat und » die Kollegien hinten daran ſaugen? Seht, ich » war ſonſt mit dabei und ſah wie man euch ſchin¬ » det und die Herren vom Hofe haben euere » Haͤute an. Seht einmal in die Stadt: gehoͤren » die Pallaͤſte euch, oder die Hundshuͤtten? Die » langen Gaͤrten, in denen ſie zur Luft herum gehen, » oder die ſteinigen Aecker, in denen ihr euch todt » buͤcken muͤſſet? Ihr arbeitet wohl, aber ihr habt » nichts, ihr ſeid nichts, ihr werdet nichts hin¬ » gegen der faullenzende todte Kammerherr da neben » mir » .... Niemand laͤchelte; aber er kam zu ſich. Die Drillinge, fuͤr die der Koͤrper und die Zeit und der Thron eine Brandmauer, oder ein Ofenſchirm ihrer in ſich ſelber zuruͤckbrennenden Freiheitslohe w〈…〉〈…〉, gelobten ihm gebundne Zungen, feſte Herzen und thaͤtige Haͤnde; doch waren ſie ſchweigend entſchloſſen, ihn nach der ſpruͤhenden Rede mit ihrem Blute zu retten und ſeine Unſchuld zu enthuͤllen. Eine Folge dieſes Freiheits-Dythram¬ ben war, daß Kats der aͤltere den Tag darauf den Pulverthurm bei Maienthal, der das einzige Pulver¬ magazin im Lande war, (Kornmagazine hatte man nicht ſo viele) ins Gewitter aufſprengte, als er nach Kuſſeviz zu Mathieu ritt.

Nun trugen ſie die Luͤge ins Dorf, Flamin habe die Verkappung Matzens benutzet und in einer aͤhnli¬329 chen dem Kammerherrn, den er wegen eigner Ah¬ nen Glaze nicht erſchießen konnte, mit der Piſtole das Lebenslicht ausgeputzt. Der Regierungsrath wurde auf einer kleinen ſcheinbaren Flucht inhaftiert und als eine goͤttliche Statue allein in jenen Tem¬ pel geſetzt, der wie die alten Tempel ohne Fenſter und Geraͤthſchaft war, und den die darin ſeßhaften Goͤtter wie Diogenes ſein Faß mit Inſkripzionen verſehen, und den der gemeine Mann blos ein Ge¬ faͤngnis nennt. Ich will aber vor allen Dingen dieſe und die folgenden Worte ein Extrablatt benennen. Die Kapelle oder das Filial eines ſol¬ chen Tempels heiſſet man ferner ein Hundeloch. Die Prieſter und Sodalen dieſer Pagoden ſind die Stockmeiſter und Stadtknechte. Ueberhaupt ſind die Zeiten nicht mehr, wo die Großen gleichguͤltig ge¬ gen Wahrheiten waren: jetzt ſuchen ſie einen Mann, der wichtige geſagt hat, vielmehr auf und ſetzen ihm nach und machen ihn (mit mehr Recht als die Tyrier ihren Gott Herkules) in beſagten Tempeln mit Ketgen und eiſernen postillions d'amour feſt, damit er da auf dieſem Iſolierſchemel (Iſolatorio) ſein elektriſches Feuer und Licht beſſer beiſammen behalte und an¬ haͤufe. Iſt einmal ein ſolcher Merkur ſo fixiert und hat er mit den Fixſternen außer dem Lichte auch die330 Unbeweglichkeit lange genug gemein gehabt: ſo kann man ihm, wenn mehr aus ihm geworden iſt, endlich gar an den Dreifuß ſo heißt der Galgen als ein haͤngendes Siegel der Wahrheit ſchaffen, wo er zur ordentlichen aufgetrockneten Naturalie aus¬ doͤrret, weil er ſonſt als kein taugliches Exemplar in das herbarium vivum des philoſophiſchen Martyro¬ logiums geklebt werden kann. Ein ſolches Haͤngen iſt eine wuͤrdigere und nuͤtzlichere Nachahmung der Kreuzigung Chriſti, als ich in ſo vielen katholi¬ ſchen Kirchen an Karfreitagen ſah, und im Grunde um nichts ſchwaͤcher als die, ſo Michel Angelo ver¬ anſtaltete, der den Menſchen, der ihm zum Getreu¬ zigten ſaß, oder vielmehr hing, re vera kreuzigte. Daher ſind in katholiſchen Laͤndern neben den un¬ blutigen Meßopfern mehrere blutige; denn ein ſolcher Quaſichriſtus, der nicht in den dritten Him¬ mel, aber doch in den Zitterungshimmel*)Die alten Aſtronomen ſchalteten zwiſchen den Fixſternen und den Planeten einen Zitterungshimmel ein, um ihm die kleinen Anomalien der letztern ſchuld zu geben. (coelum trepidationis) erhoͤht wird durch ein wenig Hanf, ſoll deswegen erlegt man ihn ſeinen Lehren durch ſeinen Tod die Dienſte erweiſen, den der hoͤ¬ here Kreuzestod einmal erwies. Und warlich die Todten predigen fort fuͤr die Wahrheit ſterben, iſt ein Tod nicht fuͤr das Vaterland, ſondern331 fuͤr die Welt die Wahrheit wird wie die medi¬ zeiſche Venus in dreißig Truͤmmern der Nachwelt uͤbergeben, aber dieſe wird ſie in eine Goͤttin zuſam¬ menfuͤgen und dein Tempel, ewige Wahrheit, der jetzt halb unter der Erde ſteht, ausgehoͤhlt von den Erbbegraͤbniſſen deiner Maͤrtyrer, wird ſich endlich[uͤber] die Erde heben, und eiſern mit jedem Pfeiler in einem theuern Grabe ſtehen!

Ende!

Kato ritt dem nach Kuſſeviz gefluͤchteten Mat¬ thieu nach und legte ihm mit franzoͤſiſcher Bered¬ ſamkeit den Plan Flamins, zu ſterben, und ihren eignen, ihn zu retten vor. Maz genehmigte alles, aber er glaubte nichts: er blieb noch außer Landes. Doch erbat er ſich, es ihm nicht uͤbel zu nehmen, wenn er Flamins edle Aufopferung mit etwas ver¬ gaͤlte, was wider ihren Plan, aber uͤber ihre Hof¬ nungen waͤre. Will er etwan dem Fuͤrſten es ſagen, daß ſein Sohn in der Haft ſitzt?

In drei Minuten gehen die Leſer und ich in die Apotheke zum Helden, wenn nur vorher berichtet worden iſt, daß als der leere blutige Gaul des Kam¬ merherrn und die Drillinge mit der luͤgenhaften Hiobspoſt des Mordes ans Pfarrfenſter kamen, der Hofcaplan eingeſeift und halb raſiert war. Er mußte daher ſtill ſitzen und nur langſam unter dem332 Meſſer reden: » o Jammer uͤber allen Jammer » ſcheer 'Er doch fixer zu, mein H. Feldſcheer » Frau, heule nur wenigſtens » Er ſchwenkte in ſeiner verhaltenen Pein die Hand ſchlotternd, um den Arm und das Kinn nicht zu erſchuͤttern: » Um » Gottes Willen, kann Er mich denn nicht hurtig » ſchinden? Er hat einen armen Hiob unter » dem Meſſer es iſt mein letzter Bart man » wird mich und mein Haushalten gefaͤnglich einzie¬ » hen Du Rabenkind, dein Vater kann deinet¬ » wegen dekollirt werden, du Kain du! » Er lief an alle Fenſter: » Daß Gott erbarm'! das wird » ſchon im ganzen Pfarrſpiel ruchtbar Siehſt du » Frau, einen ſolchen Satanas haben wir mit einan¬ » der erzogen und geboren, du biſt ſchuld Was » lauſcht Er denn da, ſcheer 'Er ſich einmal fort zu » ſeinen Kunden, H. Feldſcheer, und ſchwaͤrz' er ſei¬ » nen Seelenhirten nirgends an, und breit 'ers nicht » aus » Jetzt kam die ſanfte Klotilde, nieder¬ geſenkt und mit dem Schnupftuch in der Hand, weil ſie errieth, was das Herz einer untroͤſtlichen Mutter beduͤrfe, naͤmlich zwei liebende Arme, als ei¬ nen Verband um die zerſchmetterte Bruſt, und tau¬ ſend Balſamtropfen fremder Thraͤnen auf das unter den Splittern ſchwellende Herz. Sie ging auf die Mutter mit ofnen Armen zu und ſchloß ſie darin ſprachlos weinend ein. Der naͤrriſche Pfarrer fiel333 ihr zu Fuͤßen und ſchrie: » Gnade! Gnade! wir » ſaͤmtlich wuſten um nichts. Ich hab' den Todt¬ » ſchlag erſt unter dem Balbieren gehoͤrt. Ich be¬ » jammre nur Dero Herrn Vater und ſeine Relik¬ » ten. Ich und meine Frau ſind geſtraft genug, » daß ich jetzt nicht Senior Conſiſtorii werden kann; » und unſern Pathenbrief an Se. Durchlaucht un¬ » terſchlag ich auch, und wenn meine Frau auf der » Stelle niederkaͤme. » Die zwei Freundinnen zogen ſich in ein Kabinet; und hier goß Klotilde das erſte Wundwaſſer auf die blutende Seele, indem ſie mit ihr die Reiſe nach London verabredete.

Einige meiner Leſer werden mir ſchon vorgeflo¬ gen ſeyn, und in den Erker Viktors hineingeſchaut haben, um ſeinen von vier Waͤnden verſteckten Gram zu finden fuͤrchterlich ſteht die Einſamkeit vor ihm und faltet ihm ein großes ſchwarzes Gemaͤlde mit zwei weißen Graͤbern auf; in einem großen Grabe liegt die verlorne Freundſchaft, im andern die verlorne Hofnung. Ach er wuͤnſcht das dritte, worein auch er ſich verloͤre. Er hatte die erhabne Stimmung Hamlets. Der verhuͤllte Julius kam ihm wie ein zuckender Todter vor. Er mied ganz den Hof: denn ſein Selbſtgefuͤhl war viel zu be¬ ſcheiden und ſtolz, um mit dem geſtohlnen Adel und den erſchlichenen Rechten eines Lords Sohnes ein fluͤchtiges Gepraͤnge zu treiben. Auch ſetzte ſich an334 ſeinem Herzen eine kleine Froſtbeule durch den Ge¬ danken an, daß der Lord, nach der Unart aller Staatsleute und Staatsmaſchinenmeiſter, die Men¬ ſchen zu handhaben nur wie Koͤrper, nicht wie Gei¬ ſter, nur wie Karyatiden, nicht wie Miethleute des Staatsgebaͤudes, kurz blos wie Taͤnzerinnen von Golkonda*)Neun Tänzerinnen verſtricken ſich zu einem Elephanten für den König, eine macht den Rüſſel, viere die Beine, viere den Rumpf. Hiſtorie aller Reiſ. 10. Band. die ſich zum Laſtvieh eines einzigen Rei¬ ters mit ihren Gliedern zuſammenſchlingen und ver¬ ſchraͤnken daß der Lord, ſag 'ich, dieſe ſonſt er¬ habene Seele, auch ſeinen Viktor zu ſehr zum Ar¬ beitszeuge ſeiner Tugend verbrauchet hatte. Aber er vergabs dem Mann, dem er doch nichts vorzu¬ werfen hatte, als daß er nur die Guͤtigkeiten eines Vaters gehabt, ohne die Rechte deſſelben.

Da Viktor niemand den Hof mehr machte: ſo wollte natuͤrlich der Apotheker ihm auch keinen mehr machen. Jener laͤchelte dazu und dachte: » ſo ſollte » jeder gute Hofman handeln, und wie ein geſchick¬ » ter Faͤhrmann in ſeinem Boote, allemal die Seite » verlaſſen, die ſinkt, und auf die andere uͤbertre¬ » ten. » Zeuſel trat uͤber zum beguͤnſtigten Brunnen¬ doktor Kuhlpepper, deſſen Einſichten man die Hei¬ lung Jenners zuſchrieb, die vom Sommer herkam, und er legte ſich hin, um mit ſeiner kleinen Schlangen¬335 zunge die Fuͤße zu lecken in deren Ferſe er vorher mit ſeinem Giftgebiß geſtochen hatte aber Gro¬ biane vergeben nie: Kuhlpepper verachtete den » Neunundneunziger » und der Neunundneunziger wieder meinen Hofmedikus wiewol er ihn aus Furcht wie der Fuͤrſt aus Gemaͤchlichkeit we¬ der vor den Kopf noch aus dem Hauſe zu ſtoßen wagte.

Armer Viktor! der Ungluͤckliche braucht Thaͤtig¬ keit wie der Gluͤckliche Ruhe; und doch mußteſt du gebunden in die Zukunft wie in ein ausgedehntes her¬ antreibendes Gewitter ſchauen Du konnteſt ſie weder verdraͤngen noch lenken noch beſchleunigen, und hatteſt nicht einmal den Troſt, dem Schmerze die Waffen zu ſchmieden, und wie Simſon den Krampf der Qual durch Erſchuͤtterungen der Saͤu¬ len auszulaſſen und auszuloͤſchen! Er konnte nicht einmal fuͤr den gefangenen Liebling etwas thun, den er in einen noch groͤßern Jammer getrie¬ ben: denn Flamins Leiden fuͤhrten wieder die Freundſchaft fuͤr ihn in ſeinen Buſen ein obwol verkappt in den Domino der Menſchenliebe. Er muſt 'es erwarten aber er konnt es nicht errathen ob der Lord komme oder lebe welches beides durch deſſen Schweigen und durch die Unſichtbarkeit des fuͤnften Fuͤrſtenſohnes wenig fuͤr ſich hatte. Zuletzt ſtand er in Furcht vor dem Schlaf zu¬336 mal dem mittaͤglichen: denn der Schlummer legt zwar ſeine Sommernacht uͤber unſere Gegenwart wie uͤber eine Zukunft, er zieht zwei Augenlieder gleichſam wie den erſten Verband uͤber die Wunden des Menſchen und deckt mit einem kleinen Traume ein Schlachtfeld zu; aber wenn er wieder weg geht mit ſeinem Mantel, ſo fallen die hungrigen Schmerzen deſto heißer auf den nackten Menſchen los, unter Stichen faͤhrt er aus dem ruhigern Trau¬ me empor, und die Vernunft muß die ausgeſetzte Kur den vergeßnen Troſt von vorn anfangen. Und doch du gutes Schickſal! zeigteſt du un¬ ſerem Viktor noch einen abendroͤthlichen Streif an ſeinem weiten Nachthimmel: es war die Hofnung, von Klotilden, die ſein Herz nicht mehr die Seinige nennen durfte, vielleicht einen Brief aus London zu erhalten ....

Ich wollte dieſes Kapitel erſtlich mit der Nach¬ richt ſchließen, daß die Kapitel in immer weiterm Zeitraume und in kleinerm Format einlaufen welches das Ende der Hiſtorie bezeichnet, und nachher mit der Bitte es nicht uͤbel zu nehmen, daß die Leute darin immer romantiſcher agieren und ſpekulieren: das Ungluͤck macht romantiſch, nicht der Biograph.

Aber ich ſchließe gar nicht eben der letztern Bitte wegen , ſondern friſche lieber im Kopf desLeſers337Leſers das Bild des alten luſtigen Viktors ein we¬ nig auf, den er ſich kaum mehr wird denken koͤnnen. Es iſt ein ungemein gluͤcklicher Zufall, daß mir der Hund am dritten Hundspoſttage eines und das an¬ dre Faktum eingeliefert, das ich damals gar ausge¬ laſſen habe. Deswegen kann ichs jetzt unvermuthet rapportieren. Es muß ordentlich mir und dem Le¬ ſer das groͤſte Vergnuͤgen machen, wenn meine Schilderei ſie war damals ſchon ganz fertig hier auf dieſem Blatte aufgehangen wird.

Der Hiatus des dritten Kapitels, morin ich Vik¬ tors Ankunft aus Goͤttingen im Pfarrhaus male, lautet vollgemacht alſo:

» Der Kaplan hatte das Eigne mancher Leute daß er mitten im Freuden - und Viſiten-Choc an ſeine winzigſten Funkzionen dachte, z. B. am Hoch¬ zeittage an ſeine Maulwurfsfallen. Heute ſchnitt er in der Geſindeſtube waͤhrend der Lord dem Hof¬ medikus die geheime Inſtrukzion ertheilte die Saͤe-Kartoffeln entzwei. Er konnte die Sekzion dieſer Fruͤchte wenigen anvertrauen, weil er wuſte, wie ſelten ein Menſch Stereometrie des Auges ge¬ nug beſas, um eine Kartoffel in zwei gleiche Kegel - oder Kugelſchnitte zu zerfaͤllen. Er haͤtte lieber die Saͤezeit verſeſſen, als einen Keimglobus in ungleiche Sektores zerlegt und ſagte: » nur Ordnung will ich haben. » Es kann meinen Helden verſchatten,Heſperus. III. Th. D338wenn es auskoͤmmt und durch den Druck muß es ja und wenn es zumal Nuͤrnberger Patriziern und Leuten in Aemtern und Reichsgerichtlichen membris zu Ohren koͤmmt, daß Viktor Nachmittags hinter dem Kaplan und Appeln einen Ehrenzug auf den Krautacker hielt, und daſelbſt das vollfuͤhrte, was man in einigen Provinzen Kartoffelnſtecken nennt. Man ließ ihm das Lob, daß er in eben ſo ſymmetriſchen Diſtanzen wie der Kaplan, die unter¬ irdiſche Brodfrucht dem Boden einverleibe; uͤber¬ haupt ſannen beide der Kartoffelnallee ſcharf nach und ihre Augen waren die Linientheiler der Beete. Der Kaplan hatte ſchon vorher dem Ackerpflug hin¬ ter einem Diopterlineal nachgeſehen und nachgehol¬ fen, damit das Feld, um das ich und die reichsge¬ richtlichen membra jetzt ſtehen, in gleiche Prismata oder Beete ausgeſchnitten wurde. Als beide Abends nach Hauſe kamen mit großem Ernſt und kleinen Waͤmſern: ſo hatt 'ihn das ganze Haus lieb zum Freſſen; und die Pfarrerin fragte ihn, was er in ſeinem Wams, wenn ihm die Kammerherrin begeg¬ net waͤre, gemacht haͤtte, eine Verbeugung, eine Entſchuldigung oder nichts?

» O du liebes Deutſchland! (rief er und ſchlug » die Haͤnde zuſammen) ſoll ſich denn das ganze » Land keinen Spas machen als den der Hof dekre¬ » tiert? » (Viktor ſah hier den alten tauben Kut¬339 ſcher Zeuſel an: denn jede humoriſtiſche Ergießung richtete er ordentlicher Weiſe an den, der ſie am wenigſten verſtand; ich wills aber hier an die Patri¬ zier und membra gerichtet wiſſen) » Giebts denn, » mein lieber Mann, hier zu Lande nichts als Gal¬ » gen und Zimmerleute und Juſtizbeamten, ich meine » ſo, daß alſo die erſtern keine Axt anruͤhren, wenn » nicht die letztern damit den erſten Hieb gethan? » Will Er denn alle Narrheiten wie die Moden von » oben herabbekommen, wie ein Wind allemal in den » obern Luftregionen ſauſet eh 'er unten an unſere » Fenſter anpfeift? Und wo iſt denn ein Reichs¬ » abſchied oder ein Vikariatskonkluſum, das einem » Reichs-Deutſchen verboͤte, naͤrriſch zu ſeyn? Ich » hoffe, Zeuſel, es ſoll noch eine Zeit kommen, wo » Er und ich und jeder ſo viel Verſtand hat, daß er » ſeinen eignen hat und ſeine eigne aus ſeinem » Fleiſch und Blut gezeugte Privat-Narrheit, als » Autodidaktus in jeder Toll - und Weisheit. » O ihr armen Menſchen! fangt doch nach den Fluͤ¬ » gel - und Schwanzfedern der Freude unter den for¬ » cierten Maͤrſchen euerer Tage! O ihr Armen! » Will denn kein guter Freund einen Imperialfo¬ » lianten zuſammenſchmieren und euch darthun, daß » ihr wenig Zeit habt gleich dem Teufel in der Apo¬ » kalypſis? Ach der Genius verſpricht ſo wenig » die Hofnung haͤlt ſo wenig Der Saͤe - undY 2340» Pflanztage der Freude ſtehen im berliniſchen Ka¬ » lender ſo wenig wenn ihr nun vollends ſo » dumm waͤret und ganze Stunden und Olympiaden » voll Luft als Eingemachtes wegſetztet und aufhoͤbet » im Keller, um, der Henker weiß wenn, daruͤber zu » gerathen uͤber ganze eingepoͤkelte marinierte 50, » 60 Jahre ich ſage, wenn ihr nicht an » jeder Stundentraube die Minuten-Beere auskelter¬ » tet wenigſtens mit einigen Zitronendruͤckern » was wuͤrde denn am Ende daraus werden? ... » weiter nichts als die Moral zu meiner erſten und » letzten Fabel, die ich einmal vor einem Hanovera¬ » ner gemacht » ...

Ich wollt ', der Leſer wollte ſie: denn ſie lau¬ tet ſo:

» Der dumme Hamſter, heißt der Titel. Dieſen » brachte einmal der volle Kropf einer Taube, den » er ausfraß, auf die Preisfrage, ob es nicht beſſer » waͤre, wenn er ſtatt einzelner Koͤrngen lieber Tau¬ » ben mit ganzen Kornmagazinen am Halſe eintruͤge. » Er thats. An einem langen Sommertag inhaf¬ » tierte er einen halben Taubenflug mit gefuͤllten » Kroͤpfen; aber er riß keinen Kropf entzwei, ſon¬ » dern ſparte ſich hungernd alles zuſammen auf » Abend und Morgen, erſtlich um recht viel Tauben » zu inkarzerieren, zweitens um den Koͤrner-Knaul » Abends durchgeweicht zu ſchmauſen. Er ſchlizte341 » endlich Abends ſeinen Zehend-Offizianten die » Kroͤpfe auf, ſechſen, neunen, allen kein Koͤrngen » war mehr da, die Inhaftaten hatten alles ſchon » ſelber verdaut; und der Hamſter war ſo dumm ge¬ » weſen wie ein Geizhals. »

So weit der dritte und der vierzigſte Hundspoſt¬ tag. Armer Viktor!

Poſtſkript: die Geſchichte verſieret jetzt im Monat Auguſt und der Geſchichtſchreiber vorn am Oktober blos ein Monat liegt zwiſchen beiden.

342

41. Hundspoſttag.

Brief zwei neue Inziſionen des Schickſals des Lords Glaubensbekenntniß.

Man ſchenke einem Menſchen, der wie ein Pferd, in der Naͤhe der Nacht und der Heimath ſtaͤrker laͤuft, den zehnten Schalttag: am Ende eines Lebens und eines Buchs macht der Menſch wenig Aus¬ ſchweifungen.

Ich hab 'es ſchon geſagt, daß nichts das Seelen - und Ruͤckenmark mehr aus einem Menſchen preſſet, als wenn ihm ſein Ungluͤck kein Handeln vergoͤnnt: das Schickſal hielt unſern Viktor noch feſt mit der einen Hand, um ihn wund zu ſchlagen mit der an¬ dern, als in dieſen Trauerwochen das Schoͤpfrad der Zeit zwei neue Thraͤnenkruͤge im Herzen der Men¬ ſchen einſchoͤpfte und in die Ewigkeit hinausgoß. Erſtlich kam die truͤbe Nachricht wie Trauergelaͤute an Viktors Ohr, daß ſein ehemaliger Jugendfreund Flamin einen Schritt, zu dem es ohne das Ueber¬ werfen mit ihm nie gekommen waͤre, wol mit dem Tode buͤßen werde. Einige Tage nach den Kaniku¬ larferien gerade als vor einem Jahre der arme343 Gefangne ſein neues Amt mit ſo vielen menſchen¬ freundlichen Hofnungen angetreten hatte zog je¬ nes Geruͤcht wie eine Peſtwolke aus den Seſſions¬ zimmern heraus. Viktor fluͤchtete eilig und un¬ glaͤubig und doch zitternd zum Apotheker, um ihm die Widerlegung abzufragen. Dieſer ſchlug vor ihm eben weil er den Hofmedikus verachtete und be¬ ſchaͤmen wollte aufrichtig alle Kurial-Rapport¬ zettel und Cercle - oder Kreisrelazionen aus einander und las ihm daraus ſo viel vor: es ſei nicht an¬ ders. Viktor hoͤrte, was er ſchon vorausſetzte, daß jetzt der Fuͤrſt den Laufzaum oder das Stangengebiß ſeiner eignen Frau umhabe, und daß ſie ihm durch Klotildens Entfernung naͤher komme und mit dem Ohr - und Ringfinger den in den Naſenring eingefaͤdelten Zuͤgel bewege, als waͤre ſie in der That nichts geringeres als ſeine Maitreſſe, wel¬ ches ein neues trauriges Beiſpiel iſt, wie leicht in den jetzigen Zeiten eine feine Ehefrau ſich die Rechte einer Kebsfrau erſchleiche. Zeuſel fand es natuͤrlich, » daß ſie, als die Freundin des Miniſters, » der ſo wie ſein Sohn Matthieu der Freund des » Kammerherrn geweſen, den Tod des letztern an » Flamin zu raͤchen ſuche, und daß der Miniſter, um » ſeine Hand beſſer in die Griffe der Parzenſcheere » zu bringen und dem Regierungsrath den Lebensfa¬ » den entzwei zu ſchneiden, ſelber die fortdauernde344 » Entfernung ſeines Sohns verhaͤnge und unterhalte, » damit dieſer nicht etwan den ungluͤcklichen Liebling » decke. » Nicht ein wahres Wort war daran, das wußte Viktor beſſer; aber deſto ſchlimmer: ach verraͤth nicht alles, daß Matthieu die Fuͤrſtin durch Winke uͤber Flamins Geburt in ſein treuloſes In¬ tereſſe gezogen, um wie Zauberer, in der Ferne und durch wenige Karaktere umzubringen? Wuͤrd' ihn wol blos die Furcht vor der Ruͤge der Ausfoderung ſo lange außer den Graͤnzſteinen des Landes feſthal¬ ten? Noch dazu bruͤtete die Fuͤrſtenſonne den miniſterialiſchen Kroͤtenlaich immer lebendiger an. Es iſt wahr und Viktor laͤugnete es nicht , man darf erwarten von der Fuͤrſtin, daß ſie die Matthaͤus « oder Jakobsleiter, auf der ſie das fuͤrſt¬ liche Herz erſtieg, da ſie vorher nur an Jenners Hand reichte , mit der Zeit umſchnellen wird mit dem Fuß, ſo wie der Marder ſich vom ſchlaf¬ trunknen Adler in die Hoͤhe reißen laͤßt und ihn erſt droben ſo lange zerhackt, bis der Traͤger faͤllt und ſtirbt: aber jetzt iſt, glaub 'ich, ihre fortdauernde Dankbarkeit gegen Schleunes ſchon genugſam fuͤr den Rechtſchaffenen dadurch entſchuldigt, daß noch mehr zu holen ſteht von der unvollendeten Gabe. Ein alter Geſetzmacher ſetzte auf jeden Undank Strafe; ich glaube, man verfaͤllt in den naͤmlichen Fehler wie er, wenn man jede Dankbarkeit tadelt

345und beſtraft, da oft der Eigennuͤtzigſte am Hofe zu ihr ſeine guten Gruͤnde haben kann.

Viktor ging truͤbe in ſein Zimmer und ſah das Portrait Flamins an und ſagte: » o! das wolle der » Himmel nicht, daß du Armer nicht mehr zu retten » waͤreſt. » Viktor konnte ſich uͤberhaupt drei Tage nach einer Beleidigung nicht mehr raͤchen: » ich ver¬ » gebe jedem, ſagt 'er ſonſt, nur Freunden und Maͤd¬ » gen nicht, weil ich beide zu lieb habe. « Aber welche Hand, welchen Zweig konnt' er dem ſinken¬ den Flamin hinunterreichen ins Gefaͤngniß? Alles was er vermochte, war zum Fuͤrſten zu gehen mit einer nackten Bitte um deſſen Begnadigung. Tauſend Aufopferungen unterbleiben, weil man nicht ganz gewiß iſt, daß ſie ihre rechten Fruͤchte bringen. Aber Viktor gieng doch: er hatte ſich die goldne Regel gemacht: fuͤr den Andern auch dann zu handeln, wenn der Erfolg nicht gewiß zu hoffen iſt. Denn wollten wir erſt dieſe Gewißheit abwarten: ſo wuͤrden Aufopferungen eben ſo ſelten als unverdienſtlich werden.

Er gieng zum Fuͤrſten nach langer Zeit zum er¬ ſtenmal hatte den Nachtheil wider ſich, eine lan¬ ge Abweſenheit mit einer Bitte zu endigen ſprach mit dem Feuer des Einſamen fuͤr ſeinen Flamin flehte den Fuͤrſten um den Aufſchub des Schickſals deſſelben an, bis der Lord wiederkehrte erhielt die346 Reſoluzion: » Ihr H. Vater und ich muͤſſen es blos » der Juſtiz uͤberlaſſen » und wurde kalt und ſtolz verabſchiedet.

Jetzt gerade am 5. September dieſes Jahres, wo eine große Sonnenfinſterniß die Seele wie die Erde truͤbe und bange machte, jetzt hatte das Waſſerrad des Schickſals den erſten Thraͤnenkrug in ſeiner Bruſt gefuͤllt es waͤlzte ſich weiter und der zweite floß uͤber: Klotildens Brief kam den 22. Sep¬ tember zu Herbſtes Anfang an.

» Theurer Freund!

» Ihr H. Vater war in London noch zu Anfang des Februars und hatte viel franzoͤſiſche Kor¬ reſpondenz; dann gieng er ab nach Deutſchland, und ſeitdem weiß meine Mutter nichts von ihm. Das Schickſal wache uͤber ſein wichtiges Leben. An drei Eiden*)Dieſe Eide der Verſchwiegenheit hatte ſich bekanntlich der Lord von Viktor, von Klotilde und von ihrer Mutter un¬ ter jenem tragiſchen Apparat, der beſonders in weibliche[Herzen] ſo ſtark eingreift, ablegen laſſen., die ſeine Abweſenheit unaufloͤslich macht, haͤngen viele Thraͤnen, viele Herzen und o Gott! ein Menſchenleben. Ich lege ein Blatt von Ih¬ rem H. Vater bei, das er bei meiner Mutter ge¬ ſchrieben und worin eine Philoſophie iſt, die meinen Geiſt und meine Ausſichten immer truͤber machen. 347Ach, ob ſie gleich einmal ſagten: weder die Furcht noch die Hofnungen des Menſchen treffen ein, ſon¬ dern immer etwas anders; ſo hab 'ich doch das traurige Recht, meiner Bangigkeit und allen Traͤu¬ men der Angſt zu glauben, da ich mich bisher in nichts irrte als in der Hofnung. Wie ungenuͤg¬ ſam iſt der Menſch Ach wenn auch alles ein¬ traͤfe und ich zu ungluͤcklich wuͤrde: ſo wuͤrd' ich doch ſagen: wie koͤnnt 'ich jetzt zu ungluͤcklich ſeyn, wenn ich nicht einmal zu gluͤcklich geweſen waͤre?

Sie werden mir es gern vergeben, daß ich uͤber London und uͤber den Eindruck ſchweige, den es auf ein ſo zerſtreuetes Herz wie meines machen konnte: das thaͤtige Gewuͤhl der Freiheit und der Schimmer des Luxus und des Handels beklemmen eine kummer¬ hafte Seele blos und machen nicht froher, wenn man es nicht vorher iſt. Sei gluͤcklich, geliebte Vaterſtadt, ſagte mein Herz, ſei es lange und ſehr, wie ichs in dir geweſen bin in meiner Jugend! Aber dann eil 'ich lieber mit meiner Mutter auf ihr Landhaus zu, wo einmal drei gute Kinder*)Viktor, Julius, Flamin. ſo froͤhlich gruͤnten und da werd 'ich unausſprechlich erweicht und dann bild' ich mir ein, ich ſei hier gluͤcklicher, als unter den Gluͤcklichen. Ich bilde348 mir es wol nur ein: denn wenn ich da das geſam¬ melte Spielzeug dieſer guten Kinder, ihre Exerzi¬ zienbuͤcher und ihre engen Kleider anſchaue; wenn ich mich unter drei an einander geſaͤete Kirſchbaͤume ſetze, die ſie ſcherzend in dem zu engen Kindergarten eingelegt hatten; und wenn ich dann denke, auf die¬ ſer Buͤhne zogen ſie ihre Herzen fuͤr ein gluͤcklicheres Leben groß als ſie gewonnen, fuͤr eine hoͤhere Tu¬ gend als die Verhaͤltniſſe zugelaſſen, und fuͤr beſſere Menſchen als ſie gefunden haben: dann werd 'ich ſehr betruͤbt, und dann iſt mir als muͤſt' ich weinen und duͤrft 'ich ſagen: auch ich bin in England ge¬ boren und wurde in Maienthal erzogen.

Ach ich kann mein Herz nicht verbergen, wenn ich den Namen dieſer großen Seele ſchreibe Er war hier oft auf einem Berge, wo eine auseinander¬ gefallene Kirche liegt, und wo er auf eine noch nicht umgeworfene Saͤule ſtieg, um ſein Auge zu den Sternen zu erheben, wo er nun wohnt Ich wollte Ihnen jetzt das ſchreiben, was mir meine Mutter von ſeinem Abſchied erzaͤhlte: aber les thut mir zu wehe und ich werd es Ihnen muͤndlich ſagen. Ich beſuche dieſen Berg ſehr oft, weil man in die ganze Ebene nach Oſten hinunterſehen kann: hier haͤngt noch der alte Baum mit ſeinen Wurzeln und Zweigen in den Steinbruch hinunter, der voll zer¬ ſtuͤckter Tempelſaͤulen liegt; Emanuel nahm oft349 Abends das Kind dahin, das er am meiſten liebte*)Sie weiß es wol, daß es Viktor war. und das, wenn er auf der Saͤule betete, mit dem einen Arm um den Baum geſchlungen, ſehnſuͤchtig und ſingend uͤber die weite Gegend hinuͤber blickte und ſich hinauslehnte und ohne es zu wiſſen in ſuͤ¬ ßer Beklommenheit uͤber die eignen Toͤne und die entlegnen Gefilde weinte und uͤber das blaſſe Mor¬ genroth, das von der Abendroͤthe zuruͤckglimmte. Einmal da der Lehrer das Kind fragte: warum biſt du ſo ſtill und ſingeſt nicht mehr? gab es zur Antwort: » ach ich ſehne mich in die Morgenroͤthe, ich » moͤchte darin liegen und dadurch gehen und in die » hellen Laͤnder dahinter hineinſchauen. » Ich ſetze mich oft unter jenen Baum und lehne den Kopf an ihn und verfolge ſtumm die Entfernung bis an den Horizont, der vor Deutſchland ſteht, und niemand ſtoͤrt mein Weinen und mein ſtilles Beten.

Ich war heute zum leztenmale dort, denn mor¬ gen gehen wir mit meiner Mutter, ohne die mein verwaiſtes Herz nicht mehr leben kann, nach Deutſch¬ land zuruͤck zum beſten Freunde der treueſten Freunde. Cl.

O du gute Seele!

350

Hart klingt jetzt das ſonderbare Blatt vom Lord, das kein Brief ſondern eine kalte Schutzrede ſeines kuͤnftigen Betragens zu ſeyn ſcheint.

» Das Leben iſt ein leeres kleines Spiel. Wenn mich meine vielen Jahre nicht widerleget haben: ſo iſt eine Widerlegung durch die wenigen uͤbrigen we¬ der noͤthig noch moͤglich. Ein einziger Ungluͤcklicher wiegt alle Trunkne auf. Fuͤr uns nichtige Dinge ſind nichtige Dinge gut genug; fuͤr Schlaͤfer Traͤu¬ me. Darum giebt es weder in noch auſſer uns et¬ was Bewundernswerthes. Die Sonne iſt in der Naͤhe ein Erdball, ein Erdball iſt bloß die oͤftere Wiederhohlung der Erdſcholle. Was nicht an und fuͤr ſich erhaben iſt, kanns durch die oͤftere Sez¬ zung ſo wenig werden, als der Floh durchs Mikro¬ ſkop, hoͤchſtens kleiner. Warum ſoll das Gewitter erhabner ſein als ein elektriſcher Verſuch, ein Re¬ genbogen groͤßer als eine Seifenblaſe? Loͤſ 'ich eine große Schweitzergegend in ihre Beſtandtheile auf: ſo hab' ich Tannennadeln, Eiszapfen, Graͤſer, Tro¬ pfen und Gries. Die Zeit vergeht in Augen¬ blicke, die Voͤlker in Individuen, das Genie in Gedanken, die Unermeßlichkeit in Punkte: es iſt nichts groß. Ein oft gedachter trigonometriſcher Satz wird zum identiſchen, ein oft geleſener Ein¬ fall ſchaal, eine alte Wahrheit gleichguͤltig. Ich behaupte wieder: was durch Stufen groß351 wird, bleibt klein. Wenn die Dichtungskraft, die entweder Bilder oder Leidenſchaften mahlt, nicht in der Erfindung des alltaͤglichſten Bildes ſchon zu bewundern iſt, ſo iſt es nirgends. In die Stelle eines andern kann ſich jeder in irgend einem Grade ſetzen. Die Begeiſterung iſt mir verhaßt, weil ſie eben ſo gut durch Likoͤre als durch Phantaſien entſteht, und weil man in und nach ihr am meiſten ſich zum Haß und zur Wolluſt neigt. Die Groͤ¬ ße einer erhabnen That beſteht nicht in der Ausfuͤh¬ rung, die auf koͤrperliche Armſeligkeiten, auf Bewe¬ gen, Stehen auslaͤuft, nicht im einfachen Ent¬ ſchluß, weil der entgegengeſetzte, z. B. der zu mor¬ den eben ſo viel Kraft bedarf als der, zu ſterben, nicht in der Seltenheit weil wir alle uns dieſel¬ be Tuͤchtigkeit dazu, nur aber nicht die Motiven dazu empfinden, nicht in allen dieſem, ſondern in unſerer Prahlerei. Wir halten unſern allerletz¬ ten Irrthum fuͤr Wahrheit, unſer Heute fuͤr fromm, und jeden kuͤnftigen Augenblick fuͤr den Kranz und Himmel der vorigen. Im Alter hat der Geiſt nach ſo vielen Arbeiten, nach ſo vielen Stillungen den¬ ſelben Durſt, dieſelbe Quaal. Da alles ſich verkleinert in einem hoͤhern Auge: ſo muͤßte ein Geiſt oder eine Welt, um groß zu ſeyn, es ſogar vor dem ſogenannten goͤttlichen Auge ſeyn; aber dann muͤßt 'er oder ſie groͤßer ſeyn als Gott, weil352 man nie ſein Ebenbild bewundert. In meiner Jugend gab ich in einem Trauerſpiel dem Helden alle jene Grundſaͤtze und ließ ihn kurz vorher, eh' er ſich den Dolch ins Herz trieb, noch ſagen: » aber » vielleicht iſt der Tod erhaben: denn ich faſſ 'ihn » nicht. Und ſo will ich denn die Blutboͤgen, die » aus dem Herzen aufſpringen und ſo ſpielend das » Menſchenhaupt und Menſchen-Ich in der Hoͤhe er¬ » halten wie ein Springbrunnen die darauf gelegte » Hohlkugel ſchwebend traͤgt, dieſe Fontaine will ich » mit dem Dolche ableiten, damit das Ich nieder¬ » falle » Ich ſchauderte damals uͤber dieſen Karakter: aber ich dachte nachher uͤber ihn nach und es wurde mein eigner! »

Fuͤrchterlicher Menſch! Dein Blut-Strahl und das Ich daruͤber iſt vielleicht ſchon umgefallen, oder bricht bald darnieder Und eben dieſe ſchwarze Weiſſagung iſt auch im Herzen Klotildens und Viktors. O moͤchteſt du, anderer gebuͤck¬ ter Mann, den ich hier vor dem Publikum nicht nennen darf, es errathen, daß ich dich meine, daß du eben ſo wie der ungluͤckliche Lord dein eignes Ich abfriſſeſt gleich blutſaugenden Leichen, und daß du in der Sternennacht des Lebens noch einen eignen toͤdtlichen Nebel um dich traͤgſt! O derAnblick353Anblick eines großmuͤthigen Herzens, das ſich blos durch Ideen huͤlflos macht, und das unzugaͤnglich und betaͤubt in ſeiner Laube aus philoſophiſchen Giftbaͤumen liegt, faͤrbt oft Tage ſchwarz! Glau¬ be nicht, daß der Lord irgendwo Recht habe! Wie kann er etwas klein finden, ohn 'es gegen etwas Großes zu halten? Ohne Achtung gaͤb' es keine Verachtung, ohne das Gefuͤhl der Uneigennuͤtzigkeit keine Bemerkung des Eigennutzes, ohne Groͤße keine Kleinheit. So wenig du aus dem Schwanken der Saiten die Thraͤnen des Adagio, oder aus den Blutkuͤgelgen und dreifachen Haͤuten eines ſchoͤnen Geſichts deine Achtung fuͤr daſſelbe erklaͤrſt: eben ſo wenig kannſt du dein Entzuͤcken fuͤr das Geiſtige in der Natur mit den koͤrperlichen Faſern derſelben rechtfertigen wollen, die nichts ſind als die Floͤten - Anſaͤtze und Disklappen der ungeſpielten Harmonie. Das Erhabne wohnt nur in den Gedanken, es ſei des Ewigen, der ſie ausdruͤckt durch Buchſtaben aus Welten, oder des Menſchen, der ſie nachlieſet!

Ich verſchiebe die Widerlegung des Lords auf ein anderes Buch, obwol dieſes eine eben ſo gute iſt.

Heſperus. III Th. Z354

42. Hundspoſttag.

Aufopferung Valetreden an die Erde Memento-mori - Spatziergang Herz von Wachs.

Es giebt einen Schmerz, der ſich mit einem gro¬ ßen Saugeſtachel ans Herz legt und Thraͤnen durſtig zieht das ganze Herz rinnt und quillt und druͤckt zuckend die innerſten Faſern zuſammen, um zu einem Thraͤnenſtrom zu werden und fuͤhlt den Zug des Schmerzens nicht unter der toͤdtlich-ſuͤßen Ergies¬ ſung. ... So toͤdtlich ſuͤß ſchmerzte unſern Viktor Klotildens Brief.

Aber toͤdtlich-bitter war der des Lords. » O die¬ » ſer muͤd-gequaͤlte Geiſt rief er aus ſehnte » ſich ja ſchon auf der Inſel der Vereinigung nach » Todten-Ruhe ach er iſt gewiß ſchon aus der » ſchwuͤlen Erde geflohen, die ihm ſo klein und druͤk¬ » kend vorkam. « War das: ſo waren alle Schwuͤre, an deren Erlaſſung Flamins Leben hieng, ewig ge¬ macht und dieſer verloren. War's nicht, ſo war wenigſtens keine Zuruͤckkehr zu hoffen, da Emanuels Tod und Geſtaͤndniß, Flamins Gefangenſchaft und alle bisherigen Zufaͤlle, die der Lord alle erfahren355 konnte, ſeinen ganzen ſchoͤn linierten Plan ausgeſtri¬ chen hatten. Jetzt rief's laut in Viktors Seele: » rette den Bruder deiner Geliebten! « Ja, es war ein Mittel dazu da; aber der Meineid war's wenn er naͤmlich den begieng, daß er dem Fuͤrſten entdeckte, wer Flamin ſei: ſo war er erloͤ¬ ſet. Aber ſein Gewiſſen ſagte: Nein! » Der » Untergang einer Tugend iſt ein groͤßeres Uebel als » der Untergang eines Menſchen nur Sterben, » aber nicht Suͤndigen muß ſeyn ach ſoll es mich » noch mehr koſten, mein Wort zu brechen, als mich » bisher koſtete, es zu halten? «

Bekanntlich war am Tage der heurigen Tag - und Nachtgleiche, wo er die zwei Londner Blaͤtter empfangen hatte, ein kalter ſchneiender regnender Sturm, aus dem nachher der Sommer gleichſam zum zweitenmal aufbluͤhte. Viktor gruͤbelte wei¬ ter nach. Er zog jenen großen Tag auf der Inſel der Vereinigung noch einmal mit allen Minuten vor ſich und fand, daß er dem Lord durchaus geſchwo¬ ren hatte, immer ſtill zu ſchweigen, ausgenommen eine Stunde vor ſeinem eignen Tode. Wir wer¬ den noch wiſſen, daß er ſich dieſen Separatartikel damals ausbedungen, weil er einmal Flamin zuge¬ ſchworen hatte, ſich mit ihm von der Warte zu ſtuͤrzen, wenn ſie ſich feindlich trennen muͤßten und weil er jetzt, da ihm Klotildens Verſchwiſterung, be¬Z 2356richtet wurde, voraus befuͤrchtete, es koͤnne zu je¬ nem Trennen und Stuͤrzen kommen: Dann wollte er ſich wenigſtens die Freiheit vorbehalten, nur ei¬ ne Stunde vor dem Sterben ſeinem Freunde zu ſagen, daß er unſchuldig und die Geliebte Flamins nur eine Schweſter ſei.

» Alſo eine Stunde vor meinem Tode darf ich al¬ » les offenbaren? O Gott! Ja! Ja! » ich will ſterben damit ich reden kann! « rief er entzuͤndet, pochend, aufgeweht, uͤber das Leben gehoben. Der Sturmwind ſchlug die Giesbaͤche des Himmels und die zerſtaͤubten Eisfelder an die Fenſter und der Tag ſank dunkel unter in der zu¬ ſammenſchlagenden Fluth .... » O (ſagte unſer » Freund) wie ſehn 'ich mich aus dieſem ſchwarzen » Sturm des Lebens hinaus in den ſtillen lichten » Aether an die feſte unbewegliche Bruſt des To¬ » des, die den Schlaf nicht ſtoͤrt ....

Wenn er dem Fuͤrſten es entdeckte, daß Flamin ſein eigner Sohn ſei: ſo war dieſer errettet und er brauchte nur eine Stunde darauf ſich umzu¬ bringen.

Und das wollt 'er gern: denn was hatt' er auf der Erde noch als Erinnerungen? O, der Erin¬ nerungen zu viel, der Hoffnungen zu wenig! Wen kuͤmmert ſein Fall? die Geliebte, die ihn doch entbehret, oder ihren Bruder, den er rettet357 und fliehet oder ſeinen guten Lord, der vielleicht ſchon im Erdball ruht, oder ſeinen Emanuel, deſ¬ ſen liebende Arme ſchon zerfallen? » Ja bloß die¬ » ſen geht mein Sterben an, (ſagt 'er): denn Da¬ » hore wird ſich ſehnen nach ſeinem treuen Schuͤler, » er wird in einer Sonne die Arme oͤffnen und auf » den Weg zur Erde niederſchauen und ich werde her¬ » aufkommen mit einer großen Wunde auf der Bruſt » und mein ſtroͤmendes Herz wird nackt auf der » Wunde liegen o Emanuel, verſchmaͤh' mich » nicht, werd 'ich ſchreien, ich war ja ungluͤcklich, » ſeit du geſtorben biſt, nimm mich an und heile » die Wunde! «

» Siehſt du meinen Vater? » ſagte der blin¬ de Julius, und ſein Angeſicht nahte ſich einer laͤ¬ chelnden Entzuͤckung. Viktor erſchrack und ſagte: ich rede mit ihm, aber ich ſehe ihn nicht! Aber das hielt ſein Erheben an. Er war bisher der Paraklet und Krankenwaͤrter des armen blinden geweſen: er konnt 'ihn nicht verlaſſen, er mußte den Retraiteſchuß des Lebens verſchieben auf Klotildens Ankunft, damit dieſe den Huͤlfloſen be¬ ſchirme. Ach der gute Nachtwandler, und Nacht¬ ſitzer (im eigentlichen Sinn) hatte anfangs jeden Tag ſeinen Viktor gebeten, ihm ins Auge zu ſte¬ chen und das Licht wieder zu geben, eh' ſein theue¬ re Vater auseinander gefallen waͤre, damit er das358 ſchoͤne von Wuͤrmern untergrabene Angeſicht nur ein mal ſaͤhe, nur noch ein mal, ja er wollte wenig¬ ſtens die kalte Larve blind betaſten das hatt 'er anfangs gebeten; aber in wenig Wochen hatt' er ſei¬ ne Arme unter dem Todten weggezogen und ſie ganz (wie ein wahres Kind) mit aller ſeiner liebkoſenden Liebe um den immer bei ihm zu Hauſe bleibenden Viktor geſchlungen. Sogar zu Nachts reichten ſie ſich aus ihren zwei nahen Betten die warmen Haͤnde zu und giengen, ſo verknuͤpft, in die Abendlaͤnder der Traͤume hinein. Den kindlichen Blinden hatte ſogar das fortklingende Getoͤſe des Stadtgetuͤm¬ mels, das ſeinem Dorfe abgegangen war, ge¬ troͤſtet ....

Viktor erwartete alſo vorher die Ankunft Klotil¬ dens ach er haͤtt 'es auch ohne den Blinden ge¬ than. Mußt' er nicht ſeine gute Mutter noch einmal ſehen, ſeine unvergeßliche Geliebte noch ein¬ mal hoͤren? Ich kann es uͤbrigens nicht ver¬ heimlichen, daß ihm nicht bloß die Rettung Flamins, ſondern eigentlicher Lebensekel die Hand bei ſeinem Todesurtheil fuͤhrten. Im Urtheil des moͤrderiſchen Ekels ſtanden als Entſcheidungsgruͤnde der erhabne Sonnenuntergang Emanuels. Viktors gelaͤufige Nachtgedanken uͤber unſer Lukubrieren des Lebens ſeine gaͤnzliche Umſtuͤrzung ſeiner buͤrgerlichen Verhaͤlt¬ niſſe das aͤhnliche vergangene oder kuͤnftige Muſter359 des Lords ſein Lechzen nach einer That voll Staͤrke und am meiſten die Todeskaͤlte um ſeine nackt gelaſſene Bruſt, die ſonſt von ſo vielen warmen Herzen zugedeckt wurde. Man kann Liebe und Freundſchaft nur ſo lange entbehren, als man ſie noch nicht genoſſen hat aber ſie verlieren und ohne Hoffnung verlieren, das kann man nicht, ohne zu ſterben. Seinem Gewiſſen macht 'er den optiſchen Betrug und coups de théatre vor, daß er es fragte, ob er nicht ſeinen Freund aus dem Waſſer mit Gefahr des Lebens holen, ob er nicht vom Brette, das nur Einen truͤge, in die Wellen ſtuͤrzen duͤrfe, um den Tod zum Kaufſchilling eines andern Lebens zu machen? Zwei ſonderbare Vor¬ ſtellungen verſuͤßeten ihm ſeinen Todes-Entſchluß am meiſten.

Die erſte war, daß er am Todestage (nach der Entdeckung beim Fuͤrſten) hingehen koͤnnte ins Ge¬ faͤngniß zu Flamin und ſeine Hand anfaſſen und ſa¬ gen durfte: komm heraus heute ſterb 'ich fuͤr dich, damit ich dir beweiſen kann, daß Klotil¬ de deine Schweſter war und ich dein Freund ich loͤſche das ſchwarze Wort das erſt am Todestage vergeben werden kann, mit meinem unſchuldigen Blute aus, und der Tod druͤckt mich wieder in deinen Arm. O ich thu' es gern, damit ich dich nur noch einmal recht lieben und zu dir ſagen360 kann: mein guter, theuerer, unvergeßlicher Ju¬ gendfreund! Dann wollt 'er ihm mit tauſend Thraͤnen um den Hals fallen und ihm alles verge¬ ben: denn neben dem Tode und nach einer großen That kann und darf der Menſch dem Menſchen alles, alles verzeihen.

Die weichere Seele erraͤth leicht die zweite Ver¬ ſuͤßung ſeines Todes. Dieſe, daß er noch ein¬ mal zur Geliebten hingehen und es vor ihr denken ob wol nicht ſagen konnte: ich falle fuͤr dich. Denn er fuͤhlte es jetzt doch, daß die beſchloſſene Scheidung durch das Leben zu ſchwer ſei und nur eine durch Sterben leicht o recht leicht und ſuͤß, empfand er, iſts, vor der Geliebten das naſſe Au¬ ge zu ſchlieſſen, dann nichts mehr weiter anzuſehen auf der Erde, ſondern mit den hohen Flammen des Herzens und mit dem an die Bruſt angedruͤckten theuren Bilde wie die eingeſargte Mutter mit dem todten Liebling, blind an den Rand dieſer Welt zu treten und ſich hinabzuſtuͤrzen ins ſtille, tiefe, dun¬ kle, kalte Todtenmeer. ... » Du biſt, ſagt 'er oft, in mein Ich gemalt und nichts macht dein Bild von meinem Herzen los; beide muͤſſen, wie in Italien Mauer und Gemaͤlde darauf, mit ein¬ ander verſetzet werden. » Und da jetzt nichts mehr nach ſeinem Koͤrper zu fragen brauchte: ſo durft' er die Thraͤnen die ihn zerruͤtteten, ab¬361 ſichtlich vorreitzen er wollte ordentlich etwas von ſeinem Leben Klotilden bringen, daher macht 'er einige Tage hinter einander die Proberolle der blutigſten Abſchiedsſzene bis zur Erſchoͤpfung und zeichnete ſeinen Schmerz mit Dinte ab und ſagte zu ſich, wenn ihn daruͤber Kopfſchmerzen und Herz¬ klopfen befielen: » ſo kann ich doch etwas fuͤr ſie leiden, wenn ſie es auch nicht weiß. «

Hier iſt ein ſolches Trauerblatt.

» O du Engel! Thaͤt 'es dir nur nicht zu wehe, » ſo gieng' ich zu dir und fuͤllete vor deinen Augen » mein Herz ſo lange mit Thraͤnen an, mit Bildern » der ſchoͤnern Zeit, mit den bitterſten Schmerzen, » bis es zerſprengt waͤre und ſaͤnke oder ich erleg¬ » te mich in deiner Gegenwart, ach es waͤre ſuͤß » wenn ich mein Herz mit Blei zerſchlitzte, indem » es an deinem Buſen lehnte und wenn ich dann » mein Blut und Leben an deiner Bruſt abrinnen » lieſſe. Aber o Gott! nein, nein! Sondern, » Gute, laͤchelnd will ich zu dir gehen, wenn du wieder » koͤmmſt laͤchelnd will ich vor dir weinen, als waͤr '» es bloß vor Freude uͤber deine Wiederkehr nur » die Federnelke mit dem rothen Tropfen werd' ich » von dir bitten, damit mein geſchmuͤcktes Herz un¬ » ter der letzten Blume des Lebens verweſe. Ich wer¬ » de wol ſo nah vor dir bluten, himmliſche Moͤrde¬ » rinn, wie die Leiche vor der Moͤrderinn, aber » doch nur innerlich, und jeder Blutstropfen wird362 » bloß von einem Gedanken auf den andern fallen. » Dann endlich werd 'ich lang' verſtummen und gehen und » auf immer und nur ſagen und mehr nicht: » Denk 'an » mich, Geliebte, aber ſey gluͤcklicher als bisher. « » Wo werd' ich dann gehen nach einer Stun¬ » de? Ich werde gehen auf dem oͤden ſtummen We¬ » ge zum giftigen Buhan*)Dieſer Giftbaum ſteht in einer kahlen Wüſte, weil er alles um ſich tödtet und der Miſſethäter reiſet einſam zu ſeinem Gift, aber er kehret ſelten zuruͤck. Upas-Baum, zum » einſam ſtehenden Tode und dort ganz allein ſterben, » ganz allein. Die Todten ſind Stumme, » ſie haben Glocken und ein Stummer wird im » Blauen ſchweben und die Todtenglocke laͤuten. ... » O Klotilde Klotilde, dann iſt unſere Liebe auf der » Erde voruͤber! «

Kennſt Du, Leſer, noch die Stimme, die in ſei¬ nem Innern allzeit unter dem Weineu der Muſik im Tonfall der Verſe erklang? Hier klingt ſie wieder. Aber ſein Orkan des Entſchluſſes machte bald ſanfteren Thaten und Stunden Platz, ſo wie der Ae¬ quinokziumsſturm ſich in ſtille Nachſommertage auf¬ loͤſete. Der Gedanke: » in einigen Wochen fluͤchteſt » du unter die Erde « machte ihn zum Freigebor¬ nen und zum Engel. Er verzieh jedem, ſogar dem Evangeliſten. Er fuͤllte ſeine kleine Sphaͤre mit ei¬363 nem Lebens-Nachflor von Tugenden; und widmete ſeine kurzen Stunden nicht ſuͤßen Phantaſien, ſon¬ dern duͤrftigen Kranken. Er unterſagte ſich jeden Aufwand, um ſeinem Julius das vaͤterliche Vermoͤ¬ gen ungeſchmaͤlert zu laſſen. Er war weder eitel noch ſtolz. Er ſprach freimuͤthig uͤber und gegen den Staat; denn was iſt ſo nahe neben dem Sturm - und Wetterdache des Sargdeckels wol zu fuͤrchten? Aber eben weil er bloß die Liebe zum Guten, und keine Leidenſchaften und keine Feigheit in ſeinem Innern ſpuͤrte: ſo widerſtand er ſanft und ruhig; denn ſobald nur der Menſch fuͤr ſich ſelber uͤberfuͤhrt iſt, daß er Muth fuͤr den Noth¬ fall verwahre: ſo ſucht er nicht mehr, ihn vor an¬ dern auszukramen. Der Gedanke des Todes machte ihn ſonſt zu humoriſtiſchen Thorheiten geneigt; jetzt aber nur zu guten Handlungen. Ihm war jetzt ſo wohl, ihm erſchienen die Menſchen und die Sze¬ nen um ihn in dem milden ſtillenden Abendlichte, worin er beide allemal in den Krankheiten ſeiner Kindheit erblickte. Es ſchien als wollt 'er (und es gelang ihm) durch dieſe Froͤmmigkeit ſein Gewiſſen zur leſerlichen Unterſchrift ſeines eigenhaͤndigen To¬ desurtheils beſtechen. Wie dem verewigten Emanuel kamen ihm die Menſchen wie Kinder vor, das Er¬ denlicht wie Abendlicht, alles ſanfter, alles ein we¬ nig kleiner, er hatte keine Angſt und Gier; die Er¬364 de war ſein Mond: jetzt errieth er erſt die Seele ſeines Dahore ....

Und du, mein Leſer, fuͤhleſt du nicht, du wuͤrdeſt dich ſo nahe vor der Kloſterpforte des Todes eben ſo veredeln? Aber ich und du ſtehen ja ſchon davor: iſt unſer Tod nicht ſo gewiß als Viktors ſeiner, wiewol in einem laͤngern Zwiſchenraum? O wenn jeder nur gewiß glaubte, nach 50 Jahren an einem beſtimmten Tage fuͤhrte ihn die Natur auf ihren Richtplatz: er waͤr 'anders; aber wir alle wer¬ fen das Bild des Todes aus unſerer Seele wie die Schleſier es am Laͤtare-Sonntag aus den Staͤdten werfen. Der Gedanke und die Erwartung des To¬ des beſſern ſo ſehr als die Gewißheit und Wahl deſ¬ ſelben.

Jetzt zogen die ſchoͤnen blauen Nachſommertage des heurigen Oktobers auf zarten Phalaͤnenfluͤgeln von Spinnengeweben uͤber den Himmel. Viktor ſagte zu ſich: » ſchoͤner Erdenhimmel, ich will noch » einmal unter dir wandeln! gutes Mutterland, ich » will dich noch einmal mit deinen Bergen und Waͤl¬ » dern uͤberſchauen und dein Bild in die unſterbliche » Seele heften, eh 'dein gelbes Gruͤn mein Herz » uͤberwaͤchſet und darin einwurzelt, ich will dich » ſehen, St. Luͤne meiner Kindheit, und meine ſchoͤn¬ » nen Pfingſtwege, und dich du ſeeliges Maienthal,365 » und dich du guter alter Bienenvater*)Zeidler Lind in Kuſſeviz. und will dir » deine Freudenſtunden Uhr zuruͤckgeben und » dann werd 'ich genug gelebt haben. «

Er fragte ſich: » bin ich denn reif fuͤr die Obſtkam¬ » mer des Kirchhofs? Aber iſt denn jeder Menſch » reif? iſt er nicht im 90ſten Jahr ſo unvollendet » wie im 20ſten? » Ja wol! der Tod nimmt Kinder ab und Feuerlaͤnder; der Menſch iſt Som¬ merobſt, das der Himmel brechen muß, eh 'es〈…〉〈…〉 ei¬ tigt. Die andere Welt iſt keine gleichgeſchnittene Allee und Orangerie, ſondern die Baumſchule un¬ ſerer hieſigen Saamenſchule.

Ehe Viktor mit Kuͤſſen und Weinen vom Blin¬ den gieng: beſchied er Abends vorher die arme Ma¬ rie ins Kabinett und empfahl ihr (wie dem italieni¬ ſchen Bedienten) die Pflege des Blinden. Aber ſei¬ ne Abſicht war, der zerbrochenen kraftloſen Seele die Hoffnung einiger 100 fl. ſo viel durft 'er ſchon als Erbſchaft von ſeinem bemittelten Vater Eyman begehren voraus zu geben und anzukuͤndi¬ gen. Der Eigennutz dieſer Erniedrigten, der andere kalt gemacht haͤtte, ruͤhrte gerade ſein Innerſtes: ſchon laͤngſt hatt' er geſagt: » man ſollte mit keinem » Menſchen Mitleid haben, der philoſophiſch oder » erhaben daͤchte, am wenigſten mit einem Gelehr¬366 » ten bei einem ſolchen giengen die Weſpen-Stiche » des Schickſals kaum durch den Strumpf hingegen » mit der armen Poͤbelſeele leid 'er und wein' er un¬ » endlich, die nichts groͤßeres kenne als die Guͤter » der Erde und die, ohne Grundſaͤtze, ohne Troſt, » bleich,[huͤlflos], zuckend und erſtarret niederfalle vor » den Ruinen ihrer Guͤter. » Es verdoppelte da¬ her bloß ſein Mitleiden, da dieſe Marie in ſinnloſer Dankbarkeit vor ihm mit abgeriſſenen Dankſagungen Ausrufungen Freudenguͤſſen mit Rockkuß, einfaͤltigem Lachen und Niederknieen wechſelte.

Als er den andern Morgen gieng zuerſt auf St. Luͤne, und vor dem Marienkloſter voruͤber¬ kam, wo einmal die Adoptivtochter des Italieners Toſtato einen ſechſten Finger opfern wollte: ſo kam Marie aus einer Glieder-Bude*)Um mehrere Kapellen (S. Schlötzers Briefwechſel Th. III. Heft XVIII. 45.) ſtehen Waarenlager von wächſernen Glie¬ dern und Thieren, die man als Ohren und Armgehenke für Heilige kauft, damit die Originale geneſen. heraus und hatte zwei waͤchſerne Herzen erhandelt. Viktor brachte durch langes und kuͤnſtliches Fragen aus ihr heraus: ſie wolle das eine, das ihres vorſtelle, der h. Ma¬ rie umhenken, weil ihres ihr nicht mehr ſo wehe thue und nicht ſo eingepreſſet ſei wie vorige Woche. Ueber das zweite wollte ſie lange nicht heraus; endlich geſtand ſie: es ſei Viktor ſeines, das ſie367 der h. Mutter Gottes opfern wollte, weil ſie dachte, es thu 'ihm auch recht weh', da er ſo bleich ausſehe und ſo oft ſeufze. » Gieb mirs, Liebe, (ſagt 'er zu tief bewegt) ich will mein Herz ſelber » opfern. «

» Ja, wiederholt 'er unter dem ſtillen Himmel drauſſen, ich will das Herz da drinnen opfern es iſt auch von Wachs und der Mutter Erde, will ichs, damit es heile heile .... »

Laſſet ihn immer weinen, meine Freunde, jetzt da er laͤchelnd die ſtille blaſſe Erde anblickt, hinauf bis zu ihren Bergen voll Duft. Denn Weichheit der Empfindung vertraͤgt ſich gern mit Apathie und Paſ¬ ſauer Kunſt gegen das verletzende Geſchick laſſet ihn immer weinen, da er dieſe blumenloſe gleichſam in die Seite des fliegenden Sommers ſich einſpin¬ nende Erde anſieht und ihm iſt als muͤſſ 'er nieder¬ fallen und die kalte Aue wie eine Mutter kuͤſſen und ſagen: bluͤhe fruͤher wieder auf als ich, du haſt mir Freuden und Blumen genug gegeben! Das ſtille Auseinandergehen der Natur, auf deren Leiche die vollbluͤhende Zeitloſe gleichſam wie ein Todtenkranz ſtand, legte durch dieſes aufloͤſende Reiben ſeine Kraͤfte ſanft auseinander er war ermuͤdet und ge¬ ſtillt die Natur ruhte um ihn, er in ihr die Erſchoͤpfung ſtoß beinahe in eine ſuͤße kuͤtzelnde Ohn¬ macht uͤber die Thraͤnendruͤſe ſchwoll und druͤckte368 nicht mehr, eh' ſie uͤbertrat, ſondern ihr Waſſer lief wie Thau aus Blumen leicht und ohne Stocken nieder wie das Blut durch ſeine Bruſt.

Er ſah jetzt St. Luͤne liegen, aber gleichſam ent¬ ruͤckt von ihm in einem Mondſchein. Er gieng nicht hindurch, ſondern auſſen herum: » werde immer » breiter und lauter, ſchoͤner Ort, nie umzingle dich » ein Feind! « Mehr ſagt 'er nicht. Denn als er vor dem Kirchhof voruͤbergieng: dacht er: » haben » denn nicht dieſe auch alle von dem Orte Abſchied » genommen; und thu' ichs allein? « Blos der Zuruͤckblick nach dem Pfarr-Schieferdach entzuͤndete noch einen Blitz des Schmerzens durch den Gedan¬ ken an die muͤtterlichen Thraͤnen uͤber ſeinen Tod; aber er ſagte ſich bald den Troſt, daß das an Flamin gewoͤhnte Mutterherz der Pfarrerin den Kum¬ mer uͤber das Opfer heilen werde durch die Freude uͤber den geretteten Liebling.

Er gieng nun auf Maienthal zu und zog mit Fleiß ſeine traͤumenden Gedanken von deſſen erhab¬ nen Stellen ab, um Abends bei der Ankunft) deſto mehr Schmerz zu genieſſen. Aber nun ſpann ſich ſein Ich in ein neues Gedankengewebe ein: er uͤberdachte jetzt das Vergnuͤgen, ohne alle Kranken¬ naͤchte hell und gerade, nicht liegend ſondern aufge¬richtet369richtet wie der Rieſe Caͤnaͤus*)Die Zentauern konnten ihn nicht mit Bäumen umſchlagen, ſondern mußten ihn ſtehend in die Erde drücken. Orph. Argonaut. 168. in die Erde einzu¬ ſinken er fuͤhlte ſich geſchirmet gegen alle Unfaͤlle des Lebens und gereinigt von der ſtets in jedem Her¬ zen fortnagenden Furcht alles dieſes und die Freude an erfuͤllten Pflichten und an bezwungnen Trieben und die Lichter des blauen gleichſam im Blumenſtaube ſtehenden Tages klaͤrten ſeinen umge¬ ruͤttelten Lebensſtrom ſo auf, daß er zuletzt laͤnger (wenns ihm nicht ſein Beſchluß verboͤte) im hellen Strome haͤtte ſpielen wollen .... So groß wird durch die Verachtung des Todes die Schoͤnheit des Lebens ſo gewiß iſt jeder, der mit kaltem Blut ſich das Leben abſpricht, vermoͤgend, es zu ertragen ſo wahr raͤth Rouſſeau, vor dem Tode eine gute That zu unternehmen, weil man jenen dann entbehren kann .... Als Viktor ſo dachte: trat das Schickſal vor ihn und fragte ihn zuͤrnend: willſt du ſterben? Er antwortete » ja! » da er vor Sonnenuntergang in Obermaienthal Klotildens Wagen, den er da bei der Abreiſe geſehen, jetzt wie¬ der erblickte. Jetzt fiel die Todeswolke uͤber die Ge¬ gend nieder. Er eilte voruͤber am Fenſter ſah er ſeine Mutter und die Lady, die Mutter Flamins Heſperus. III. Th. Aa370ſein Inneres brauſte ſein Auge gluͤhte trocken denn er waͤhlte unter den Waffen des Todes Warum gieng er ſo ſpaͤt, im Dunkeln, mit einem ſtuͤrmenden Innern, das alle ſuͤßen Traͤume verfinſter¬ te, noch nach Maienthal? Er wollte zu Ema¬ nuels Grabe: nicht um da zu trauern, nicht um da zu traͤumen; ſondern um ſich da eine Hoͤhle zu[ſuchen], naͤmlich die letzte. Der reiſ¬ ſende Gram hatte ein Gemaͤlde ſeines Sterbens entworfen und er hatte den Riß gebilligt: er wollte naͤmlich neben der Trauerbirke ſein Grab aushoͤlen, ſich hinlegen, ſich darin toͤdten, und ſich dann von dem blinden Julius, der nichts wiſſen und ſehen kann, mit Erde uͤberſchuͤtten laſſen und ſo, verhuͤllt, un¬ bekannt, namenlos aus dem Leben fliehen an die modernde Seite ſeines Emanuels ....

Schwarze Leichenzuͤge von Raben flogen langſam wie Gewoͤlke durch den ſonnenloſen Himmel und ſenkten ſich wie Gewoͤlke in die Waͤlder nieder. Der halbe Mond hieng uͤber die Erde ein klei¬ ner fremder Schatten ſo groß wie ein Herz lief fuͤrch¬ terlich neben ihm, er ſah auf, es war der Schat¬ ten eines langſam ſchwebenden Geiers. Er riß ſich durch Maienthal, er ſah nicht den entblaͤtterten Garten und Dahores verſchloſſenes Haus, ſondern lief durch die Kaſtanienallee der entgegen.

Aber unter den Kaſtanien am Orte, wo ihn Fla371 min toͤdten wollte, ſah er Klotildens welke Feder¬ nelke mit dem blutigen Tropfen liegen .... Und da noch eine Lerche, die letzte Saͤngerin der Na¬ tur, uͤber dem Garten zitterte und allen Fruͤhlingen des Lebens mit zu heiſſen Toͤnen nachrief und das Herz mit einem unendlichen toͤdtlichen Sehnen durch¬ ſchnitt: ſo weinte mein Viktor laut hinauf und als er oben auf dem Grabe die großen duͤſtern Thraͤnen abgewiſcht hatte, ſtand Klotilde vor ihm.

Er erzitterte einmal und verſtummte .... Sie kannte kaum die abgebleichte Geſtalt und fragte zitternd: » Sie ſinds? Sehen wir uns wieder? » Seine Seele war auseinandergetrieben und er ſagte, aber in anderem Sinn: wir ſehen uns wieder. Sie bluͤhte, durch die Reiſe geneſen. Aber Blut war in ihrem Schnupftuch es war das Blut, das Emanuel unter dem Duell in der Allee aus ſeinem Buſen vergoſſen. Er ſtarrte fragend das Blut an ſie wies ſanft auf das Grab und ver¬ huͤllte ihr weinendes Auge. Mit der Frage: » Iſt » Ihr H. Vater gekommen? « wollte die Gute ſanft ablenken aber ſie lenkte ihn an ſein Grab ſein Auge ſuchte wild den Raum zur letzten kuͤhlen Grot¬ te des Lebens ſie hatte ihren ſanften Geliebten niemals ſo geſehen und wollte ſeine Seele mildern durch ſtilles Erinnern an Emanuel ſie fuͤllte dieAa 2372leere Stelle ihres Briefes aus und erzaͤhlte, wie ge¬ faſt und ſtill der Todte aus England gegangen und vorher beim Abſchiede in eine auſſerordentlich tiefe Hoͤhle des verfallnen Tempels alle ſeine oſtindiſchen Blumen, drei Portraite, beſchriebene Palmblaͤtter und geliebte Aſchenſammlungen hinabgeſenkt habe ....

Viktor war auſſer ſich er ſtemmte ſeine Hand aufs thaukalte naſſe gelbe Grab, er weinte in Einem fort und konnte die Geliebte nicht mehr ſe¬ hen er ſtuͤrzte an ihren bebenden Mund und gab ihr den Abſchiedskuß des Todes. Er durfte ſie kuͤſſen, denn Todten haben keinen Rang. Er fuͤhlte ihre ſtroͤmenden Thraͤnen und eine fuͤrchterliche Sehn¬ ſucht ergriff ihn, dieſe Thraͤnen hervorzureitzen; aber er konnte nur nicht reden. Er erſtickte ihre Worte durch Kuͤſſe und ſeine durch Quaal. Endlich konnte er ſagen: lebe wohl! Sie wand ſich erſchrocken los und blickte ihn an mit groͤßern Thraͤnen und ſagte: » wie iſt Ihnen? Sie brechen mir das Herz? » Er ſagte zuckend: » nur meines muß brechen! « und riß das Herz von Wachs heraus und quetſchte es auf dem Grabe auseinander und ſagte: » ich opfere » dir mein Herz, Emanuel, ich opfere dir mein » Herz. » Und als Klotilde fuͤrchtend entflohen war: konnt 'er ihr nur mit erſchoͤpften Toͤnen noch tau¬ ſendmal nachrufen: lebe wohl, lebe wohl!

373

43. Hundspoſttag.

Matthieu's vier Pfingſttage und Jubileum.

Es iſt ein Kunſtgrif, daß ich wahre Spitzbuben - Szenen in den hoͤhern Staͤnden vorher franzoͤſiſch niederſchreibe und dann vertiere, wie Boileau ſeine welken Verſe vorher in Proſe aufſetzte. Da mir am 43. Hundstage gelegen iſt weil der edle Maz darin ſeinen Flamin ſogar mit Aufopferung ſeiner Tugend und des Lords zu retten ſucht : ſo gedenk ich ihn aus dem Franzoͤſiſchen, worin ich ihn ge¬ ſchrieben, ſo getreu ins Deutſche zu uͤberſetzen, daß mein franzoͤſiſcher Autor ſelber mir ſeinen Beifall ſchenken ſoll.

Kaum hoͤrte Matthieu, daß Klotildens und Fla¬ mins Mutter aus London gekommen: ſo marſchierte dieſer Reinecke aus ſeinem Fuchsbau nach Flachſen¬ fingen, weil er ſich die Ehre, Flamin zu erloͤſen, von niemand nehmen laſſen wollte. Er grif, ſeines Feuers ungeachtet, dem Zufall ſelten vor, ſondern er paßte und ſchob nur da oder dort nach: wie in einem Roman, ſo haͤkeln ſich im Leben tauſend374 leiſ 'zuſammengeruͤckte Geringfuͤgigkeiten endlich feſt in einander und ein guter Maz zwirnet aus zertra¬ genen Spingeweben des Zufals zuletzt einen ordent¬ lichen ſeidnen Strick fuͤr ſeinen Nebenmenſchen. Er ließ ſich kuͤhn beim Fuͤrſten eine geheime Audienz auswirken, » weil er lieber der Strafe (wegen der » Foderung zum Duel) entgegenkommen, als uͤber » einige wichtige Dinge laͤnger ſchweigen wolle. » Wichtige und gefaͤhrliche waren laͤngſt bei Jenner verwandt, jetzt aber gar identiſch, weil ihn die Fuͤr¬ ſtin an jedem Morgen mit einigen Strophen aus dem Buß - und Eulenliede uͤber Aufruhr, Anker¬ ſtroͤme und Propagandiſten anſang. Sie und Schleu¬ nes blieſen in Ein Horn, wenigſtens Eine Me¬ lodie.

Maz trat ein und langte das große Wichtige hervor die kahle Bitte um Flamins Leben. Jen¬ ner ſagte ein eben ſo kahles Nein; denn der Menſch iſt eben ſo unwillig auf den, der ihn in eine unge¬ gruͤndete Furcht, als auf den, der ihn in eine ge¬ gruͤndete jagt. Matthieu repetierte kalt ſein Geſuch: » ich bitte Ew. Durchlaucht blos, nicht zu glauben, » daß ich jemals die bloße Freundſchaft fuͤr eine hin¬ » laͤngliche Entſchuldigung einer ſolchen kuͤhnen Bitte » halten wuͤrde die Pflicht eines Unterthanen iſt » meine Entſchuldigung. » Jenner, den das un¬ hoͤfliche Zuruͤckziehen verdroß, brach es ab: » der375 » Schuldige kann nicht fuͤr den Schuldigen bitten. » » Gnaͤdigſter Herr ſagte Maz, der ihn in » Furcht und Harniſch zugleich zu jagen ſuchte zu » jeder andern Zeit als in der unſrigen wuͤrd 'es » eben ſo ſtraͤflich ſeyn, gewiſſe Dinge zu errathen » oder zu weiſſagen als ſie zu beſchließen in der » unſrigen ſind dieſe drei Dinge leichter. Auf den » Tag, wo der Regierungsrath ſein Leben verlieren » ſollte, iſt ein Plan berechnet, den einige zur Erhal¬ » tung des ſeinigen auf Koſten des ihrigen gemacht » haben. » Der Fuͤrſt entruͤſtet uͤber die Kuͤhnheit, die ſonſt nicht in der Bouger'ſchen Schneelinie der Hoͤfe, ſondern nur in der demo¬ kratiſchen Aequatorlinie wohnt ſagte mit dem Todesurthel, das Maz laͤngſt in ſein Geſicht hinein haben wollte: » Ich werde Ihnen morgen die Nah¬ » men der Elenden abfodern laſſen, die ihr Leben » Preis geben wollen, um die Gerechtigkeit zu ſtoͤ¬ » ren » ..... Hier fiel dieſer vor ihm nieder und ſagte ſchnell: » mein Name iſt der erſte jetzt » iſts meine Pflicht, ungluͤcklich zu werden mein » Freund hat niemanden getoͤdtet, ſondern ich er » iſt nicht der Sohn eines Prieſters, ſondern der » erſtgeborne Sohn des getoͤdteten H. le Baut » ...

So lang 'es noch Pfeilerſpiegel gab, ſo ſah nie ein ſo beſtuͤrztes auseinandergefahrnes Geſicht aus376 ihnen als heute. Jenner ließ ihn abtreten, um ſich wieder zuſammenzuleſen.

Wir wollen jetzt in der Antichambre drei Worte uͤber den Abweſenden reden. Mir ſagte einmal ein feiner Mann, er habe einmal zu einem großen Welt¬ kenner geſagt: » der Fehler der Großen waͤre, ſich » ſelber nichts zuzutrauen, und daher wuͤrden ſie » von jedem gelenkt; » und der Weltkenner habe geantwortet: er treff 'es. Jenner liebte Mazen nicht, und das blos ſeines ſatiriſchen und wolluͤſti¬ gen Geſichts wegen aber nicht etwan ſeiner La¬ ſter wegen. Ich ſetze voraus, der Leſer wird doch Hoͤfe genug geſehen haben auf dem Theater, wo die hoͤhern Staͤnde ihre Begriffe von Landleuten und wir unſere von ihnen abholen , um zu wiſſen, was man da haſſet keine Laſterhaften, nicht ein¬ mal Tugendhafte, ſondern beide liebt man wirklich gerade wie daſige Bratſchiſten, Wezlaer Prokurato¬ ren, Intendanten, wenn man ſie noͤthig hat.

Der Junker kam wieder vor. Jenner hatte das ſuͤße vaͤterliche Wallen uͤber die Neuigkeit, da er bisher alle ſeine Kinder verloren gegeben, geſtillt; aber er begehrte jetzt den Beweis, daß Flamin der (angebliche) Sohn des Kammerherrn ſei. Ums Duel kuͤmmerte er ſich gar nicht. Der Beweis war der aufrichtigen Seele leicht zu fuͤhren: die Seele berief ſich geradezu auf die Mutter, die eben gerade377 aus London eingetroffen, um den Sohn zu retten und auf die Schweſter ſelber die Seele hatte wieder die Praͤmiſſe, das beide Kenntniß davon haͤt¬ ten, zu erweiſen Matthieu berief ſich auf den Brief der Mutter, den er vor einigen Jahren dem blinden Lord mit der angenommenen Stimme Klo¬ tildens vorgeleſen, und auf der Schweſter Ausruf unter dem Duel im Maienthaler Park: » es iſt mein » Bruder » und zuletzt fuͤhrt 'er noch einen Haus¬ zeugen in der Sache auf, den Nachſommer, der jetzt bald erſcheinen und das Aepfel-Muttermal, das Le Bauts Sohn auf der Schulter trage, neu aufmalen werde.

Matthieu hatte zu viel Hochachtung gegen ſeinen Fuͤrſten und Herrn, um den Herrn des Sohns den Vater des Sohns zu nennen. Jetzt hoͤrte er damit auf: » Er wiſſe nicht, aus welchen Gruͤnden der » Lord Horion bisher Flamins Abkunft verborgen » habe welche es auch waͤren, alle Entſchuldigun¬ » gen deſſelben waͤren auch ſeine, warum er ſelber » bisher geſchwiegen um ſo mehr, da ihm der » Beweis dieſer Abſtammung ſchwerer fallen muͤſſen, » als dem Lord Nur jetzt durch die Ankunft der » Mutter ſei die Leichtigkeit des Beweiſes ſo » groß wie die Nothwendigkeit deſſelben Al¬ » les was er thun koͤnnen als ein Hausfreund des378 » Kammerherrn, ſei geweſen, Flamins Vertrauter zu » werden, um ſein Waͤchter zu werden. »

Dadurch wurde nothwendig der Fuͤrſt auf die Materie des Duels zuruͤckgefuͤhrt, die jener anfangs nach wenigen Winken fallen laſſen: es war ſeine Methode, von einer ihm wichtigen Angelegenheit bald abzubrechen, uͤber andere Dinge eben ſo lange zu ſprechen, dann jene wieder vorzuholen und ſo das Wichtige unter eben ſo große Lagen von Unwichti¬ gem zu verpacken, wie die Buchhaͤndler konfiszierte Buͤcher bogenweiſe unter weißes oder anderes Pa¬ pier verſchlichten. Auch war jetzt Flamins Unſchuld am Mord fuͤr Jenner wichtiger: dieſer fragte alſo natuͤrlicher Weiſe, warum er ſeinen Freund dem Scheine des Duels ausgeſetzet habe?

Matthieu ſagte, es werde lange und es ſei kuͤhn, Se. Durchlaucht um ſo viel[Aufmerkſamkeit] zu fle¬ hen. Er hob an zu rapportieren, was die Hunds¬ poſttage bisher rapportiert hoben. Er log wenig. Er hinterbrachte, er habe, um Flamins Liebe fuͤr ſeine unbekannte Schweſter Klotilde zu brechen, wenigſtens mehren wollt 'er ſie ihn eiferſuͤch¬ tig machen wollen, aber er habe ihn mit niemand entzweien koͤnnen als mit dem Liebhaber: ja, es habe nicht einmal etwas gefruchtet, daß er ihn ſel¬ ber den Ohrenzeugen der ſehr verzeihlichen Untreue Klotildens werden laſſen, ſondern jener habe noch379 zuletzt uͤber die Verlobung der Schweſter eine Wuth geaͤußert, die er durch nichts als durch die Vorſpie¬ gelung eines verkappten Duels mit dem Vater be¬ friedigen koͤnnen denn um einen zweiten Kampf zwiſchen Vater und Sohn, den das Schweigen des Lords angezettelt, abzuwenden, hab' er ihn ſelber unternommen, aber leider zu ungluͤcklich.

So weit der Edle: die uns bekannten wahren Einſchiebſel unterſchlag 'ich. Jenner, der jetzt dem Evangeliſten fuͤr die Wegnahme einer Furcht gewo¬ gen wurde, in die er ihn ſelber geſetzt hatte, that die natuͤrliche Frage: » warum Flamin den Mord auf ſich nehme. » Matthieu: » ich fluͤchtete ſo¬ » gleich, und es ſtand nicht bei mir, ſeine Unwahr¬ » heit, deren ich mich nicht verſehen konnte, zu ver¬ » huͤten; aber es ſtand bei mir, ſie zu widerlegen. » Jenner: » Fahren Sie in Ihrer Freimuͤthigkeit fort, » ſie iſt Ihre Schutzſchrift, weichen Sie nicht aus! » Matthieu mit einer freiern Mine: » was ich zu ſa¬ » gen wußte, hab' ich ſchon geſagt im Anfange, um » ihn zu retten; und jetzt iſt er gerettet. » Jen¬ ner ſann zuruͤck, begrif nichts und bat: » noch deut¬ » licher! » Matthieu mit der abſichtlichen Mine eines Menſchen, der Verſilberungen ſeines Vortrags zurechtmacht: » aus Großmuth wuͤrd 'er fuͤr den ge¬ » ſtorben ſeyn, der fuͤr ihn geſuͤndigt hatte, (fuͤr Ma¬ » zen), wenn ihn nicht ſeine Freunde retteten. » Jen¬380 ner ſchuͤttelte unglaͤubig den Kopf. » Denn, fuhr » jener fort, da er ſeinen hoͤhern Stand nicht » kennt, ſo nahm er einige franzoͤſiſche Grund¬ » ſaͤtze leichter an, die ihm ſeinen Tod eben ſo ſehr » erleichtert haͤtten, als einige Englaͤnder ſie wuͤr¬ » den beim Volke genutzt haben, um ihn zu verhuͤ¬ » ten. » Zum Beweis fuͤhrt' er den angezuͤndeten Pulverthurm nebenher an.

Jenner ſah ſtaunend ein Licht uͤber eine dunkle Hoͤle gleiten und durchſah die Hoͤle. ...

Man thut dem vortreflichen Evangeliſten Unrecht, wenn man denkt, es thu 'ihm genug, blos ſeinen Freund gerettet zu haben: ſein gutes Herz war auch noch darauf aus, dem Lord eine Ehrenſaͤule zu ſetzen und ihn unter die Saͤule als Grundſtein zu legen. Er quartierte gern (wie in Hamlet) in dem Schau¬ ſpiel wieder eines ein und zog zwei Theatervorhaͤnge auf. Wir wollen uns in die Frontloge ſetzen. Sein bisheriges Betragen gegen den Regierungsrath zeigt genug, wie weit wahre Freundſchaft zu treiben faͤhig war, ohne andere Freunde, z. B. die Fuͤrſtin vor den Kopf zu ſtoßen: denn fuͤr die letztere war der Wiederfund des verlornen Sohns des Fuͤrſten ohne ſonderlichen Nachtheil, da der Sohn als jako¬ biniſcher Logenmeiſter und als Rebell gegen den Stief - und den Vater zugleich praͤſentiert wurde, und da noch dazu der Lord ſo entſetzlich dabei ver¬381 lor. Aber weil Maz ſich nichts dabei vorzuwerfen hatte als ſein Uebermaas an Menſchenliebe: ſo ſuchte er dieſem Uebermaaß durch ein entgegengeſetz¬ tes in der Bosheit zu begegnen, weil Bako ſchreibt: Uebertreibungen werden am beſten durch entgegen¬ geſetzte kuriert. Nach ſeinen zu feurigen Begriffen von der Freundſchaft konnt' er auch kein aͤchter Freund des Lords ſeyn, da man nach Montaigne nur Einen aͤchten, wie Einen Liebhaber haben kann, und der Lord ſchon einen dergleichen an Jennern aufzeigte.

Man vergoͤnne mir, mit drei Worten kurz zu ſeyn und angenehm: wenn die Araber 200 Nahmen fuͤr die Schlange haben, ſo ſollten ſie gar den 201ten dazu legen, den eines Hoͤflings ferner erlaube man mir zu ſagen, daß ein Mann von Einfluß und Ton durch ſogenannte Blutſchuld eben ſo gut bluͤhe, als ein ganzer Staat durch elendere metalliſche.

Jenner war jetzt vorbereitet, alles zu glauben, was die vorigen ſonderbaren Dinge erklaͤrte. Eine Luͤge, die einen Knoten loͤſet, iſt uns glaublicher als eine, die einen knuͤpft. Matthieu fuhr fort: » er » habe allen republikaniſchen concerts spirituels bei¬ » gewohnt, um Maasregeln gegen Flamins Anſtek¬ » kung zu nehmen; und er uͤbertreibe die Freund¬ » ſchaft gegen die drei Englaͤnder und den Lords¬ » Sohn (Viktor) nicht, wenn er jene und dieſen382 » mehr fuͤr Arbeitszeug irgend einer andern verborg¬ » nen Hand anſehe, als fuͤr Arbeiter an einem Plane » ſelber. Das beſtaͤtige der bisher vom unſchul¬ » digen Flamin gemachte Mißbrauch. » Um Vik¬ tor zu entſchuldigen, ſagt 'er wobei er ihn im¬ mer den Hofmedikus benamſete, ſo daß Jenner in dieſer Verfaſſung an einen Hofvergifter eher dachte, als an etwas anderes um alſo ein vortheilhaftes Licht auf dieſen zu werfen, ſagt' er, ſelbiger liebe blos das Vergnuͤgen und fuͤhre nur gehorſam das aus, was ſein Vater entworfen Viktor habe ſich in einen Italiener verkleidet, um die Prinzeſſin zu beobachten; und um es nachher dem Lord, auf deſ¬ ſen Befehl ers vermuthlich gethan, in einer gehei¬ men Zuſammenkunft auf einer Inſel zu berichten Als Italiener hab 'er der Fuͤrſtin eine Uhr uͤberreicht, in die er ein Blaͤtgen verſteckt haͤtte, worin er den hoͤhern Rang vergeſſen, um dem ſeinigen zu ſchmei¬ cheln

Der Fuͤrſt, der ſeine Gemahlin mit groͤßerer Ei¬ ferſucht liebte als ſeine Braut, fegte mit dem ſchla¬ genden Puterhahns-Fluͤgel den Boden und machte den Naſen-Zapfen lang und fragte ſtolz: wie er das wiſſe? Matthieu verſetzte ruhig: von Viktor » ſelber denn die Fuͤrſtin wiſſ 'es ſelber » nicht « ......

Mir verdankt es der Leſer, daß er tauſend Dinge383 beſſer weiß Agnola wuſte den Inhalt der Uhr gewiß recht gut; ja ich ſtelle mir ſogar vor, ſie ha¬ be, da ihr die erzuͤrnte Joachime Viktors gerades Geſtaͤndniß ſeines concepit hinterbrachte, Mazen oder Joachimen erlaubt, den gegenwaͤrtigen Ge¬ brauchszettul zu entwerfen, nach welchem hier der Eheherr das Sebaſtianſche Billetdoux einzunehmen bekoͤmmt.

» ſie habe vielmehr (fuhr er fort) ſeiner » Schweſter lange darauf die Uhr mit dem Blaͤtgen » geſchenkt Joachime hab 'es in Viktors Gegenwart » herausgezogen und der hab' es fuͤr ſchicklich gehal¬ » ten, ihr eben dieſes frei zu bekennen, was ſie und » er ſelber aus Ehrfurcht noch nicht der Fuͤrſtin ent¬ » deckt haͤtten Inzwiſchen ſei ihm ſeine Schwe¬ » ſter darauf ausgewichen worauf er ſich Klo¬ » tilden genaͤhert, vielleicht nach einer vaͤterli¬ » chen Inſtrukzion, um den Bruder in naͤhern » Verhaͤltniſſen zu haben Aber allemal miſch 'er » in vaͤterliche Plane des Ehrgeizes eigne des Ver¬ » gnuͤgens und ſei gutgeſinnt, ſo wie die Englaͤnder, » die er fuͤr verkapte Franzoſen halte »

Der Fuͤrſt verſteckte unter der ganzen Projekzion dieſer Deſſeins ſeine Furcht unter Zorn; Matthieu, der die Maſke und das Geſicht ſah, ſchnitt bis¬ her alles nach jener zu und machte den ſcheinbaren Mangel an Furcht zum Deckmantel ſeiner Kuͤhnheit,384 ſie zu erregen. Und ſo gieng er vom Fuͤrſten weg in einen unbeſtimmten ſpaßhaften Arreſt fuͤr den Mord: Jenner fieng aber an die Sachen und Zeu¬ gen zu unterſuchen.

Vor dem Berichte des Erfolges laſſet mich es gern geſtehen daß Maz der Edle ſchon luͤgen kann um ſo mehr da er die Wahrheit als Sparwerk ſei¬ nes Luͤgen-Moͤrtels hinſetzt. Wie im polniſchen Steinſalzbergwerk laͤſſet der gute Luͤgner beim Un¬ tergraben immer ſo viele Wahrheiten zu Saͤulen ſte¬ hen als gegen das Einbrechen des Gewoͤlbes noͤthig ſind. Ueberhaupt iſt jede Luͤge ein gluͤckliches Zei¬ chen daß es noch Wahrheit in der Welt giebt: denn ohne dieſe wuͤrde keine geglaubt und alſo keine verſucht. Bankeroute machen dem Rechtſchaffenen Freude als neue Belege des unerſchoͤpften Religions¬ fonds von fremder Ehrlichkeit die vorhanden ſeyn muſte wenn ſie ſollte betrogen werden. So lange noch Kriegs - und Friedenstraktaten ſchaͤndlich gebro¬ chen werden ſo lange iſt noch Hofnung genug da und ſo lange fehlet es Hoͤfen an aͤchter Redlichkeit nicht: denn jeder Bruch eines Vertrags ſetzet vor¬ aus daß man einen gemacht hat und gemacht koͤnnte keiner mehr werden wenn kein einziger mehr gehalten wuͤrde. Es iſt mit den Luͤgen wie mit den falſchen Zaͤhnen die der Goldfaden nur an ein Paar aͤchtr Reſtanten ſchließen kann.

385

Jenner fing die Muͤnzprobazionstage des Mat¬ thaͤiſchen Evangeliums an.

1) Der Pfarrer wurde zitirt, um in Gegenwart der landesherrlichen Hoheit zu bekennen, was er fuͤr Zuſammenrottungen im Prieſterhauſe geduldet. Der ſchlug in Oemlers Paſtoraltheologie nach, um zu er¬ ſehen, wie ſich ein Pfarrer zu benehmen habe, der gehenkt werden ſoll. Ohne Murren legte er jetzt den Hals vor kleinern maͤßigen Ungluͤcksfaͤllen auf den Block und unter das Beil, vor dem Rattenkoͤ¬ nig, der durch ſeine Behauſung ſauſete, vor dem Strumpfband, das unter dem Gehen langſam uͤber die Knieſcheibe abglit und vertauſchte die Aengſt¬ lichkeit des Gluͤcklichen gegen die Angſt des Un¬ gluͤcklichen. Im Verhoͤre ſagt 'er, er habe an heili¬ ger Staͤtte und an anderer auf die Klubs ſo gut als einer geſchmaͤhlet und ſich deswegen den Girtan¬ ner gekauft. Auf die Frage: ob Flamin ſein Sohn ſei? verſetzte er traurig: er hoffe, ſeine Frau breche ſeine und ihre Ehe nicht. Als er wieder nach Hauſe kam, nahm er, um nur nicht in der Angſt der Verhaftung zu ſeyn, einen Buͤndel alter Predigt - Manuſkripte in einen Steinbruch hinein und memo¬ rirte ſie da auf drei, vier Sonntage voraus.

2) Klotilde und die Lady ſagten alles ſchriftlich ſo aus, wie Maz verſprochen: denn jetzt war durch die Entdeckung von Flamins Abkunft, die ſieHeſperus. III. Th. B b386dem Hofmedikus zuſchrieben die eiſerne Birn des Eides aus ihrem Munde genommen und ſie waren freudig uͤber dieſe Breſche und ofne Jubeljahrsthuͤr des Gefaͤngniſſes ihres Geliebten.

3) Viktor bekannte ſich ruhig und gern zum Ver¬ faſſer des Hirten - oder Schaͤferbriefes in der Uhr.

4) Alle Suͤnden-Kerbhoͤlzer in Kuſſeviz und uͤber¬ all griffen in einander ein; ſogar aus Viktors vori¬ gem Mittleramt, das er ſonſt beim Fuͤrſten fuͤr Ag¬ nola verſah, aus ſeinen kleinen Unbeſonnenheiten, aus ſeinen Satiren, aus ſeiner Hoſen-Einkleidung der Soldatenjungen, aus ſeiner Reiſe mit dem Fuͤr¬ ſten wurde nun lauter Zugwerk und Grundſtriche ei¬ ner gegen den Thron entworfnen Schlachtordnung zuſammenbuchſtabiert. Ueberhaupt war's nothwendig, Jenner muſte, je mehrere Sehroͤhre er auf dieſes Me¬ teor der Luͤge richtete, es nur deſto groͤßer er¬ blicken.

Ich habe die Fuͤrſtin vergeſſen, die ſich bei Jen¬ ner ſehr beleidigt und unwiſſend anſtellte und kaum mit der Strafe zufrieden war, daß dem Helden der Hundspoſttage der Hof verboten wurde Der Hof, dir guter Viktor! der du bald die Erde dir verbie¬ ten willſt!

Jenner uͤberſah leicht vergangne Beleidigungen, aber er ruͤgte ſtreng zukuͤnftige. Und da noch387 dazu Maz wie eine Klapperſchlange ſo klapperte, nicht um zu warnen, ſondern um, wie auch die Neuern an der andern fanden, den Raub ſteif und ſcheu zu machen: ſo war der Lord ſo uͤber alle Thronſtufen aus Jenners Herzen herabgepurzelt, daß es ihm nicht einmal etwas helfen konnte, wenn er ſogleich aus der Luft heraustraͤte Flamin war ohne ihn gefunden. Den drei Englaͤndern ſchickte man die Erlaubniß in das Haus, nach ihrer Inſel (England) abzuſegeln, wenn ſie wollten. Sie ließen zuruͤckſagen, ſie brauchten nur Einen Tag, um auf ihrer Inſel anzukommen und warteten nur auf ihren Reiſegefaͤhrten. Unter der Inſel meinten ſie aber die Inſel der Vereinigung und unter dem Reiſegefaͤhrten den gefeſſelten Flamin, den ſie mit bereden wollten.

Es gefaͤllt mir, daß meinem Viktor der Hof verboten wurde. Das Hof-Verbot iſt ſonſt eine Wohlthat dieſen Namen verdient nun wol eine Eximirung von den Hofdienſten , die ſonſt nicht immer an den Wuͤrdigſten ertheilt wird, ſondern oft einem Teufel wie Louvois, ſo gut als einem Apoſtel wie Teſſin. Heiſſet aber das nicht einer vorzuͤglichen Gnade, einem Orden pour le mérite allen Werth benehmen, wenn man ſie Filouen zu¬ wirft, da ſie doch nur fuͤr den rechtſchaffenſten, frei¬ muͤthigſten, aͤlteſten Mann am Hofe als die groͤßteBb 2388und letzte Belohnung, als ein Tref - und Spies¬ folgedank, als eine Ovazion ſollte aufgehoben blei¬ ben?

Im naͤchſtrn Kapitel kann man ſich auf einen Laͤrm gefaßt machen, dergleichen man in wenig deut¬ ſchen Kapiteln hoͤrt: die Laͤrmkanonen der Hofpar¬ thei, das Herabpoltern der Buͤhnen und das Um¬ ſchmeißen der Stuͤhle nach gehegtem peinlichen Ge¬ richt werd 'ich bis in meine Inſel heruͤber hoͤren koͤnnen. Der ſchwarzhaarige und ſchwarzherzige Hof¬ junker wird, wenn er aus dem Arreſt los iſt, mit ſeiner ironiſchen Miene und mit der eignen leiſen Stimme die Ripienſtimme ſeines boshafteſten Hohns wie bei andern des erhabenſten Enthuſias¬ mus uͤberal herumſtreichen und ſagen: er wuͤn¬ ſche der Lord erſchiene, er habe bisher in ſeinen Sachen nach Vermoͤgen gearbeitet. Am Hofe iſt man zuweilen erhaben durch eine vorſtechende Bos¬ heit, wie nach Burke kein Geruch erhaben iſt als der allerſtinkendſte, und kein Geſchmack als der bit¬ terſte. Und eben ſo verbirgt da jeder die mitleidige Theilnahme am fallenden Guͤnſtling leicht, aͤhnlich dem weiſen Vater, der beim Fall eines Kindes das mitleidige Geſicht unter ein luſtiges verſteckt.

Den 21. Oktober kommt Matthieu los und darf zu Flamin gehen er hat ſich's ausgebeten und389 ihm die Freiheit und die Standeserhoͤhung mit ein¬ ander anſagen ..... In wenig Tagen koͤnnten die Begebenheiten und mein Protokol derſelben aus einem Zeit-Stundenglaſe rinnen, wenn der Hund ordentlich kaͤme; aber der kommt wenn er will.

390

44. Hundspoſttag.

Die Bruderliebe die Freundesliebe die Mutterliebe die Liebe.

Der Hund iſt da, aber der Lord nicht der Laͤrm iſt klein, aber die Freude nicht alles iſt vorbereitet, aber doch unerwartet das Laſter be¬ hauptet das Schlachtfeld, aber die Tugend die ely¬ ſiſchen Felder. Kurz es iſt recht naͤrriſch, aber recht huͤbſch.

Ich denke, das iſt das letzte Kapitel dieſes Buchs. Ich ſchaue ordentlich den Poſthund mei¬ nen pommeriſchen Boten*)Auf der[Univerſität] Paris dauert noch der Bote von Pommern fort, der jährlich nach Pommern ꝛc. abgieng, um von den Eltern Briefe fuͤr die Pariſer Studenten ab¬ zuholen. der Schwanz ſein Botenſpies mit Ruͤhrung an und mich aͤrgerts, daß er mit Adam gefallen und einen Knochen unter dem verbotenen Baum gefreſſen hat: denn im Para¬ dies leuchteten die erſten Hundseltern wie Diaman¬ ten und man konnte durch ſie ſehen, wie Boͤhme behauptet. Eben darum, da der Berghauptmann391 bald ausgeſchrieben hat, verzeih 'man's ihm, daß er in dieſem Kapitel der Liebe feuriger und angeneh¬ mer iſt, als je und uͤberhaupt jetzt ſchreibt als waͤr' er beſeſſen.

Anfangs ziehen den Himmelswagen noch Trauer¬ pferde .... Sehr fruͤh, den 21 Oktober 1793 war's, wo der Hofjunker in's Stockhaus Flamins lief, aus dem eignen und dieſem darin buͤßenden Bruder alles verkuͤndigte, ſeine Entlaſſung ſeine Verſchwiſterung mit Klotilden ſeine Einkindſchaft in's fuͤrſtliche Haus ſeine aufſteigende Laufbahn und zugleich die Amneſtie des moͤrderiſchen Boten, die eigne naͤmlich. O wie gluͤhte die Freude uͤber Matthieu's Losſprechung und Vorſprache und uͤber die eigne Standeserhoͤhung ſeine ſtockenden Adern an. Denn Flamin beſtieg den hoͤhern Stand als eine Anhoͤhe, um ſeine Wohlthaten und Projekte weiter zu werfen; Viktor hingegen war uͤber ſeinen Standes Bankerut froh geweſen, weil er Stille be¬ gehrte wie jener Getoͤſe. Viktor wollte mehr ſich, jener mehr andere umbeſſern. Flamin ſtieß lebendi¬ ges Schiffsvolk uͤber den Bord ins Meer, und na¬ gelte den Staats-Bucentauro mit Ruderſklaven voll, um ihn ſchneller gegen Winde anzutreiben. Viktor aber erlaubte ſich, nur Eine Leiche zur Erleichterung des Kaperſchiffs zu machen ſeine eigne. Er ſagte zu ſich: » wenn ich nur den Muth allezeit heilig392 » aufbewahre, mich ſelber aufzuopfern: dann » brauch 'ich keinen groͤßern; denn der groͤßere » opfert doch geſtohlne Guͤter Das Schickſal » kann Jahrhunderte und Inſeln opfern, um Jahr¬ » tauſende und Welttheile zu begluͤcken;*)Und auch da nur in Beziehung auf Unſterblichkeit und Wi¬ dererſatz. Wir fühlen keine Ungerechtigkeit, wenn ein We¬ ſen ein Plantagenneger, ein anderes ein Sonnenengel wird; aber ihre Schöpfung beginnt ihre Rechte und der Ewige kann ohne Ungerechtigkeit nicht einmal mit den Schmerzen des winzigſten Weſens die Freuden aller beſſern kaufen, wenn es nicht jenem wieder vergütet wird. der Menſch » aber nichts als ſich. «

Jubelnd lief Flamiu mit ſeinem Erloͤſer nach St. Luͤne, um die treue Schweſter in der untreuen Ge¬ liebten dankend und abbittend zu umfaſſen ach als die hohe Warte in ſeine Augen aufſtieg: ſo zog ſich blutig und ſchmerzhaft wie ein Augenfell die Decke von ihnen herab, die bisher die Unſchuld ſeines be߬ ten Freundes, Viktors, verfinſtert hatte. » Ach » wie wird er mich haſſen! O haͤtt 'ich ihm » mehr getrauet! « ſeufzete er und nichts freuete ihn » mehr: denn den Schmerz eines guten Menſchen, der ungerecht geweſen, auch in der Meinung der volle¬ ſten Gerechtigkeit, kann nichts troͤſten, nichts als viele viele Aufopferungen. Er ſchlich ſich ſeufzend nicht zur neuen Mutter, ſondern ſank den treuen Drillingen ſanft an das unbeleidigte Herz. Die red¬393 lichen Seelen bewillkommeten alle den Evangeliſten als einen helfenden Freund; und dieſe bunte Spinne kroch mit ihren unreinen Spinnwarzen auf allen die¬ ſen edeln Gewaͤchſen einer offnen Liebe herum: die Spinne hoͤrte alles, ſogar die Abrede, daß die Eng¬ laͤnder den Befehl, nach der Inſel abzugehen, nach dem Buchſtaben nehmen und ſich in die engliſche In ſel des Lords ſo lange einſperren wollten, bis Fla¬ min und die Lady mit ihnen allen in ihre groͤßere Inſel ins Souterrain und Werkhaus der Freiheit in den klaſſiſchen Boden aufgerichteter Menſchen abzuſchiffen im Stande waͤren.

Denſelben Morgen zog der Kaplan in ſeinen Steinbruch und legte ſich da vor Anker, weil er noch nichts wußte. Drauſſen verſaß er die Angſt und Nachts zog er wieder ein. Er gieng da mit niemand um als ſeinem Koͤrper wie manche ſich mit ihrer Seele, ſo unterhalten ſich andere mit ih¬ rem Koͤrper und ſah von Zeit zu Zeit nicht die Natur, ſondern ſein Waſſer an, um daraus da deſſen Farbenloſigkeit, nach der Phyſiologie Kum¬ mer bedeutet die Kenntniß zu ſchoͤpfen, ob er ſich ſehr abhaͤrme oder nicht; wiewol kein Proto¬ medikus fuͤr ihn ſtehen wird, daß er nicht urinam chyli oder sanguinis fuͤr dito potus wird angeſehen haben. Da die Aerzte behaupten, daß Seufzer nuͤ¬ tzen, den Puls ſchneller und die Lungenfluͤgel leich¬394 ter machen ein Regent kann alſo ganzen Laͤn¬ dern auf einmal nuͤtzen, wenn er ſie zu ſeufzen noͤ¬ thigt: ſo ſchrieb ſich Eyman eine beſtimmte An¬ zahl Seufzer vor, die er zum Beſten ſeiner Lunge taͤglich zu holen hatte.

Denſelben Morgen gieng die Lady zur Pfarrerinn, um ihr zu ſagen, daß Flamin ein Unſchuldiger, aber ihr Sohn nicht mehr ſei; und Klotilde gieng mit ihr, um die Haͤnde der zwei Toͤchter zu nehmen und ihnen zu ſagen, ihr habt einen andern Bruder. Denn Viktor hatte ſeine Abkunft noch verhehlt. » O Gott! (ſagte die verarmende Pfarrerinn und ſchloß Flamins Mutter und Schweſter an die ſchmach¬ tende Mutterbruſt, die mit heißen Seufzerzuͤgen ei¬ nen Sohn begehrte) » wo iſt denn mein Kind? » Fuͤhren Sie mir meinen wahren Sohn zu! » Ach ich ahndete es wohl, daß mich das Duell » doch ein Kind koſten wuͤrde! O! er findet alles » wieder, aber ich buͤße alles ein. O Sie ſind » eine Mutter und ich bin eine Mutter, helfen Sie » mir! « Klotilde ſchauete ſie mit dem weinen¬ den Wunſche des Troſtes an; aber die Lady ſagte: » Ihr Sohn lebt und iſt auch gluͤcklich, aber mehr » kann ich nicht ſagen. «

Und denſelben Morgen war dieſer Sohn, unſer Viktor, nicht gluͤcklich. Ihm war, bei dem Ge¬ ruͤchte von Flamins Loskettung, und von Mat¬395 thieus Dienſtfertigkeit, als wenn er das Ziſchen und den Kugelpfif des herabſchieſſenden Stoßvogels vernaͤhme, der bisher unverruͤckt gleichſam mit ange¬ nageltem Fittich hoch im Blauen uͤber dem Raub geruhet hatte. Verarget es dem Doktor nicht gar zu ſehr, daß ihn die verlorne Gelegenheit kraͤnk¬ te, ſeinen Freund aus dem engen Gefaͤngniß und ſich aus dem weiten des Lebens los zu machen. Denn er hat zu viel verloren und iſt zu einſam: die Men¬ ſchen kommen ihm wie die Leute in dem polniſchen Steinſalzbergwerk vor, die herumtappen mit einem an dem Kopf gebundnen Licht, das ſie ein Ich nennen, vom genußloſen Blinken des Salzes um¬ zingelt, weis gekleidet und mit rothen Binden, als waͤren es Aderlaßbinden Die Sprache ſeiner Be¬ kannten iſt wie die der Sineſer, einſylbig Er muß dem erniedrigenden Tag entgegen leben, wo Jenner und die Stadt die Niedrigkeit ſeines Stan¬ des ihm zum Betrug anrechnen. Vor jedem Auge ſteht er in einem andern Lichte oder Schatten vielmehr, Matthieu haͤlt ihn fuͤr grob, Jenner fuͤr intriguant, die Weiber fuͤr taͤndelnd, ſo wie Ema¬ nuel fuͤr fromm und Klotilde fuͤr zu warm denn jeder vernimmt an einem vollſtimmig beſetzten Menſchen nur ſein Echo. Welches Herz konnt 'ihn[nun] noch bewegen ſeines ohnehin nicht das Ruder im Sklavenſchiff des Lebens laͤnger zu halten? 396O Eines konnt' es, ein maͤchtiges warmes, das muͤtterliche: » ſtuͤrze dich nur aus der Erde ſagte » ſein Gewiſſen dann ſtirbt dir deine Mutter voll » Liebe nach und tritt in der zweiten Welt vor dich » mit ſo vielen Thraͤnen, mit allen heiſſen[Wunden] » und ſagt: Sohn, dieſer Schmerz iſt dein Werk! « Er gehorchte und ſah ein, wenn es edel iſt, fuͤr eine Geliebte zu ſterben, ſo ſei es noch edler fuͤr eine Mutter zu leben.

Daher beſchloß er, noch heute Abends Abends, damit die Nacht ſich vor einige verwit¬ ternde Ruinen der beſſern Zeit, vor einige voruͤber¬ ziehende Nachtleichen der Erinnerung ſtellte nach St. Luͤne zu gehen, ſeine Mutter zu rufen und ihr muͤdes ſieches Herz wenigſtens mit Einer Freudenblume zu ſtaͤrken und ihr da ihn kein Eid mehr band zu ſagen: Du giebſt mir jetzt zum zweitenmal das Leben. Wie wohl wurd 'ihm! Ein einziger guter Vorſatz bettet und luͤftet das ſcharfe Siechbette und Krankenſopha eines zerriſſe¬ nen Lebens.

Aber am Abende, ihr guten Bedraͤngten, am Abende nicht des Lebens ſondern des 21 Ok¬ tobers wird euch leichter und friſcher werden und die Kugel euerer Fortuna wird ſich aus der Wetter¬[ſ]eite in die Sommerſeite drehen!

Abends kam Viktor in St. Luͤne an, und huͤllte397 ſich in die Laube des Pfarrgartens ein: in der Lau¬ be hatt 'er Klotilden die erſten Thraͤnen der Liebe gegeben. Das Pfarrhaus, das Schloß, die Warte, die zwei Gaͤrten lagen wie verfallne Ritter¬ ſchloͤſſer um ihn, aus denen alle Freuden und Be¬ wohner laͤngſt gezogen ſind! Alles ſo ſtill, ſo ſte¬ hend um ihn die Bienen ſaßen ſtumm auf dem Flugbrett neben hingerichteten Drohnen ſogar der Mond und ein Woͤlkgen ſtanden feſt neben einander die Wachsmumie war mit dem ſtarren Geſicht gegen das ſtille Zimmer gewandt! Endlich kam die Pfarrerin durch den Garten, um ins Schloß zu gehen. Er wußte, wie ſehr ſie ihn wieder lieben mußte, da ſeine Treue gegen den eiferſuͤchtigen Fla¬ min jetzt ans Licht gekommen war. O ſie ſah ſo muͤde und kraͤnklich aus, ſo rothgeweint und ver¬ blutet und veraltet! Ihn dauerte es, daß er erſt ein gleichguͤltiges Wort ſagen mußte, um ſie in die Laube zu rufen. Als ſie hineintrat: erhob er ſich, und buͤckte ſich tief und legte ſich ausloͤſchend an die theuere Bruſt, hinter der eine Welt voll Seufzer und ein Herz voll Liebe war und ſagte: » O Mutter ich bin Dein Sohn nimm mich auf, » dein Sohn hat nichts, er liebt nichts mehr auf der » ganzen weiten Erde nichts mehr als dich O » liebe Mutter, ich habe viel verloren bis ich dich » fand Warum ſiehſt du mich ſo an? Wenn398 » du mich verſchmaͤheſt: ſo gieb mir deinen Segen » und laß mich entfliehen. ... O! ich wollte ohne¬ » hin nur deinetwegen leben bleiben. « Sie ſchaue¬ te ihn, zuruͤckgebogen, mit einem naſſen Blick voll unausſprechlicher Zaͤrtlichkeit und Trauer an: iſt's denn wahr? » O Gott! wenn Sie mein Sohn waͤ¬ » ren Ach, gutes Kind! ich habe dich laͤngſt » geliebt wie eine Mutter. Aber taͤuſche mich » nicht, mein Herz iſt ſo wund! « Der Sohn ſchwur. ... und hier ſinke der Vorhang langſam an der muͤtterlichen Umarmung herab und wenn er Sohn und Mutter ganz bedeckt: ſo ſchaue ein gu¬ tes Kind in ſeine eigne Seele zuruͤck und ſage: hier wohnet alles was du nicht beſchreiben kannſt!

Jetzt Abends ſchlich der Kaplan vom Felde heim und durch den Garten hindurch und rief ſeinem neuen Sohne entgegen: Ach! Herr Hofmedikus, » ich ſchwinde laͤſterlich ein. Ich ſehe ja offenbar » aus wie ein ecce homo und Fabrikant. Es wird » mir zugeſetzt ich ſoll eine persona miserabilis. » einen souffre douleurs, einen Patropaſſianer abge¬ » ben. « Da Viktor ihm berichtet hatte: » es ſei » alles voruͤber, der Regierungsrath ſei los und un¬ » ſchuldig: « ſo blickte Eymann feſt auf die Warte und ſagte: » wahrlich droben ſitzt der Rath und gukt '» ruͤber « und wollte hinauf zu ihm; aber Viktor hielt ihn ſanft und ſagte zaͤrtlich: » ich bin Ihr Sohn «399 und offenbarte ihm alles. » Wie? Sie? » Du? Der Sohn eines ſo vornehmen Lords » waͤre mein Sohn? Meinen Herrn Gevatter » haͤtt' ich gezeugt? Das iſt unerhoͤrt, ein Bru¬ » der der Pathe des andern zwei Sebaſtian hab '» ich auf einmal im Hauſe. » Er wurde die Pfar¬ rerin anſichtig und fieng einen Hader an, wel¬ ches allemal ein Zeichen ſeiner Freude war. » So, » Frau? Das weiſt du heute den ganzen Tag und » mich laͤſſeſt du drauſſen im Steinbruch im Noth¬ » ſtall ſitzen, mitten im Harm und ich laͤute bis » Nachts an der Armenſuͤnderglocke? Haͤtteſt du nicht » den Kalkanten hinaus laſſen koͤnnen zum Notifizieren? » Das war recht ſchlecht die Frau ſteckt zu Hauſe » und trinkt Bitterwaſſer, in das ihr ganze Zucker¬ » faͤſſer und Konfektteller hineingeworfen ſind und » der Mann haͤlt ſich in Steinbruͤchen auf und ſaͤuft » ſeine bittern Extrakte aus einem Brechbecher fort. » Sie antwortete nie darauf.

Jetzt erfuhr erſt Viktor von ſeiner Mutter, daß Flamin bloß fuͤr den Freund (Matthieu) und fuͤr das Vaterland habe ſterben wollen daß er ſeine eiferſuͤchtige Ungerechtigkeit bereue und die verſcherzte Freundſchaft bejammere und daß ſie ihn eben darum abhole, um ihn in die Haͤnde der wahren Mutter und vor das Angeſicht der gekraͤnkten Schweſter zu fuͤhren. Es war heute am Morgen menſchliche400 Schwaͤche geweſen, daß das erfrorne Glied der Freundſchaft, ſein Herz, ein wenig kaͤlter und un¬ empfindlicher gegen Flamin geworden war, da er deſ¬ ſen Rettung aus dem Gefaͤngniß vernahm aber es war jetzt Abends menſchliche Guͤte, daß Flamins großer Entſchluß zu ſterben, wie eine ruſſiſche Froſt¬ ſalbe ſeinem ſtarren Herzen Waͤrme und Bewegung wiedergab. Sein Inneres regte ſich gewaltſam, quoll auf, uͤberſtroͤmte den erdruͤckten Groll und das Bild des Jugendfreundes ſtand auf und ſagte: » Viktor, » gieb dem Schuldfreund wieder deine Hand o er » hat ſo viel gelitten, und ſo edel gehandelt. « Thraͤ¬ nen ſchoſſen ihm aus den zuckenden Augen, als er ſich jetzt entſchloß, auf die Warte zu gehen und zum alten Liebling zu ſagen: » es ſei vergeſſen » komm 'wir wollen mit einander zu deiner Schweſter » gehen. « Er gieng allein auf die Warte, um ihn nachher der Lady vorzuſtellen. Die Pfarrerin ſprang einige Minuten von Viktor ab, um ſeine zwei Schweſter zu benachrichtigen und zu bringen und den blinden Julius aus der Stadt fuͤhren zu laſſen, da¬ mit in der goldnen Halskette der Liebe kein Gelenk abgienge.

Welche Himmelsleiter, in der jede Minute eine hoͤhere Sproſſe iſt, ſteht in dieſer Nacht auf derwan¬401wankenden Erde und gute Menſchen ſteigen hinter einander hinauf!

Unten an der Treppe der casa santa der Verſoͤh¬ nung arbeitete Viktors Herz gewaltſam im heiſſen durchwuͤhlten Blute. Flamin ſah ihn langſam hin¬ aufſteigen; aber er kam ihm nicht entgegen, weil es ungewiß war, komme Viktor zuͤrnend oder ver¬ gebend. Als dieſer endlich oben war: ſo ſtuͤzte Fla¬ min ſein abgekehrtes Geſicht beſchaͤmt in das Ge¬ zweig; denn er konnte dem ſo ſehr gemißhandelten Geliebten nicht ins Auge blicken, bis er wußte, daß er ihm verziehen habe. Sie ſchwiegen ſchauerlich neben einander unter dem rieſelnden Lindengipfel ſie erriethen einander nicht ganz und das machte das Schweigen fuͤrchterlicher und das Verſoͤhnen zweifel¬ haft. Endlich reichte ihm Flamin, heftig athmend und mit dem ins Laub gelegten Geſicht die zuckende Hand entgegen. Da Viktor dieſe ſtumme um Ver¬ ſoͤhnung flehende Hand zittern ſah: ſo tropften ſie¬ dende Thraͤnen durch ſein Herz und zertrennten es und nur aus Wehmuth und liebender Schonung verſchob er es, die demuͤthige Hand zu nehmen. Aber hier kehrte ſich Flamin (im falſchen Argwohn) ſtolz, erroͤthend und voll Thraͤnen und voll alter Liebe um und ſagte: » ich bitte dich recht gern um Verge¬ » bung, daß ich gegen dich Engel ein Teufel war;Heſperus. III. Th. Cc402» aber dann wenn du mir keine ertheilſt, ſo ſchleu¬ » dere ich mich hinunter, damit mich nur der Teufel » holt. « Sonderbar! dieſes Erpreſſen der Ver¬ zeihung zog Viktors offne Seele ein wenig zuſam¬ men; aber er umfaßte doch den freundſchaftlichen Wilden und ſagte mit der milden Stimme der ſtil¬ len Liebe: » aus dem Grunde der Seele hab 'ich dir » heute vergeben; aber geliebt hab' ich dich immer » und allezeit und in wenig Wochen wuͤrd 'ich fuͤr dich » geſtorben ſeyn, um dein Leben zu retten. « Jetzt traten ihre Seelen nahe und unverhuͤllt vor einander und deckten ihr Leben auf und da ſich beide alles erzaͤhlt hatten und als Viktor ihm eroͤffnet hat¬ te, daß er an ſeine Stelle eingeruͤckt und der Sohn der beraubten Mutter geworden ſei: ſo wollte Fla¬ min vor Reue vergehen, und druͤckte verſchaͤmt ſein Angeſicht tiefer nur an Viktors Bruſt und ihre Seelen feierten neuvermaͤhlt auf dem Traualtar der Warte ihre Silberhochzeit unter der Brautfackel des Mondes und ihre Seligkeit wurde von nichts erreicht als von ihrer Freundſchaft.

Sie wandelten im zaͤrtlichen Taumel langſam in Le Bauts Garten und der Strom der Wonne wurde immer tiefer; aber eiskalte Wellen wie vom Fluſſe Styx erſchreckten ploͤtzlich den ſanft erwaͤrmten Vik¬ tor, da er in die Trauerlaube kam, wo er gerade heute vor einem Jahre am 21. Oktober alſo iſt403 heute Klotildens Geburtstag aus ſeinem zerruͤtte¬ ten Herzen ihr Bild geriſſen hatte, und wo er wie¬ der ankam, um es aus den alten Narben vielleicht wieder auszureiſſen Denn das Senken ſeines Stan¬ des hatt 'ihn ein wenig ſtolzer gemacht, und ſeine Liebe fuͤr Klotilden ſcheuer. Die Wahrheit zu ſagen, ſo glaubt' er's ſelber nicht recht, daß ihr ſeine niedrige Abkunft unbekannt geweſen: er ſchloß vielmehr das Widerſpiel aus dem Antheil, den ſie der Lord an ſeinen Briefen und an allen Geheim¬ niſſen nehmen laſſen aus ihrem anfaͤnglichen Kampf gegen ihre aufkeimende Liebe und aus dem kleinen Stolze gegen ihn am erſten Tage aus ih¬ rem Lobe der Mesalliance aus ihrer Beguͤnſti¬ gung der Liebe Giulia's gegen Julius, den ſie als Lords Sohn kannte aus ihrer leichten Einwilli¬ gung in die Verlobung, die ihr Vater ja nach der Erkennung nicht mehr zugelaſſen haͤtte und aus andern Zuͤgen, die man bei der zweiten Leſung die¬ ſes Werks leichter ſelber ſammelt. Wie geſagt, dieſe Hoffnung, daß ſie ihn allemal gekannt, wieder¬ legte einige Einwuͤrfe ſeiner Delikateſſe und ſeiner Reſignation; und bluͤhte heute noch hoͤher auf unter ſo vielen Freuden und ſchoͤnen Zufaͤllen. Ach! wenn er ohne alle Hoffnung geweſen waͤre: ſo haͤtt 'er ja mitten im Kreiſe ſo vieler Begluͤckten als dieCc 2404letzte Opferleiche todt niederfallen muͤſſen! Aber das etwas im Menſchen, das ihm allemal einen gro¬ ßen Verluſt ſo wahrſcheinlich und einen großen Ge¬ winnſt ſo unwahrſcheinlich vormalt, quaͤlte, verei¬ nigt mit wehmuͤthigen Erinnerungen ihn jetzt.

Er bat daher Flamin, ihn ein wenig in der Laube zu laſſen und allein, da die Pfarrerin ſchon im Garten war in die befreundeten Arme der gefun¬ denen Schweſter und Mutter zu eilen: er komme bald nach. Als Flamin fort war: fieng Viktor im¬ mer vor Klotildens Erſchuͤtterung zu zittern an, die ſich ihrer vielleicht jetzt bei der Nachricht ſeiner Ab¬ ſtammung bemeiſtern werde; und es druͤckte ihn ſehr, da er dachte, daß fuͤr alle im Garten die Trauer von dem ſchwarzausgeſchlagnen Trauerzimmer der Erde abgenommen werde, nur fuͤr ihn wohl nicht.

Aber da kam, von neuen Entzuͤckungen wieder¬ ſcheinend, ſeine Mutter und trocknete ihm eh 'ſie fragte, erſt die Augen ab. Ihre neuen Entzuͤckun¬ gen kamen davon her, daß Klotilde, da ihr von der Pfarrerin ſeine Abkunft erzaͤhlet wurde, ihr um den Hals gefallen und ſie um Verzeihung des ſo langen Verhehlens, des ſo lange fortgeſetzten Raubes des Kindes gebeten und daß die Lady ſie erſucht, ih¬ ren Sohn ſchneller zu bringen. Viktor konnte vor weinendem Entzuͤcken nichts ſagen, als: » iſt denn405 meine gute Agathe und der Blinde noch nicht da? « Und beide ſtanden hinter ihm; und er verbarg das Uebermaaß ſeiner Wonne unter Liebkoſungen der Schweſter und des Freundes: ſein weiter Leidens¬ kelch war ja ganz mit Freudenthraͤnen vollgegoſſen.

Als er den ſchoͤnen Weg zu den lieblichen Ver¬ buͤndeten antrat im gehenden Zirkel drei liebender Seelen: ſo kamen ſie ihm alle entgegen mit glaͤnzen¬ den Zuͤgen mit ſchwimmenden Blicken mit verſchmerzten Erinnerungen, oder vielmehr mit ge¬ noſſenen, denn von den zertretenen Freudenblumen auf dem Lebenswege wehet Wohlgeruch auf die jetzi¬ ge Stunde heruͤber, wie ziehende Heere oft aus Steppen den Wohlgeruch zerquetſchter Kraͤuter ausſchicken. Die Lady wurde von ihren zwei Kin¬ dern gefuͤhrt und ſagte verbindlich-laͤchelnd: » hier » ſtell ich Ihnen meine geliebten Kinder vor, ſetzen » Sie die Freundſchaft gegen ſie fort, die Sie ihnen » bisher gegeben haben. « Ihr Sohn Flamin flog, » gleichguͤltig gegen Sitte, an ſeinen Hals. Klotilde buͤckte ſich tiefer als ſie vor einem Fuͤrſten gethan haͤtte und in ihrem Auge ſchwamm die Frage der wehmuͤthigen Liebe: » biſt du noch ungluͤcklich? hab '» ich noch dein Herz? Warum iſt dein Auge benetzt, » warum deine Stimme gebrochen? « Viktor er¬ wiederte mit eben ſo viel Zaͤrtlichkeit als Anſtand, indem er ſich gegen die Lady wandte: » Sie konuten406 » an keinem ſchoͤnern Tage Ihren Sohn wieder fin¬ » den als am Geburtstage Ihrer Tochter. « ....

Daran hatte in den bisherigen Wirbelwinden kei¬ ner gedacht. Welches frohe Chaos! Welch eine herzliche liebende Sprachverwirrung der Improviſa¬ tori von edlen Gratulanten! Welch ein geruͤhrter Augendank Klotildens fuͤr ein ſo verbindliches Ge¬ daͤchtniß!

Man zog jetzt trunken durch den kuͤhlen Garten in das Schloß. O wenn Schweſterliebe, Kindes¬ liebe, Mutterliebe, Geliebten-Liebe und Freundſchaft neben einander auf den Altaͤren brennen: ſo thut es dem guten Menſchen wohl, daß das Menſchenherz ſo edel iſt und den Stoff zu ſo vielen Flammen ver¬ wahrt, und daß wir Liebe und Waͤrme nur fuͤhlen, wenn wir ſie auſſer uns vertheilen, ſo wie unſer Blut uns nicht eher warm vorkoͤmmt, als bis es auſſerhalb den Adern gefloſſen im Freien iſt. O Liebe! wie gluͤcklich ſind wir, daß du von einer zweiten Seele angeſchauet, dich wieder erzeugſt und verdoppelſt, daß warme Herzen warme ziehen und ſchaffen wie Sonnen Planeten, die groͤßern die klei¬ nern und Gott alle und daß ſelber der dunkle Planet nur eine kleinere, uͤberzogene, eingehaͤuſige Sonne iſt .... Aber zuruͤck! Alle Seelen ſtanden heute hoch auf ihrer Alpe und ſahen wie auf ei¬ ner phyſiſchen den Regenbogen des Menſchen¬407 gluͤcks als einen großen vollendeten Zauberkreis zwiſchen der Erde und Sonne haͤngen. Im Schloſſe bat die Lady ihre Tochter, allein in das dunkle Zimmer der Mundharmonika zu gehen, ſie woll 'ihr das Angebinde des Geburtstags geben. Klotildens Auge nahm vom bleibenden Freund mit einem zweiten Dank fuͤr ſeine Seele einen zaͤrtlichen Abſchied.

Nach ihrer Entfernung gab ihm die Lady einen Wink, mit ihr hinter den andern nachzubleiben da ſank er gern vor Klotildens Mutter, die um ihre Einwilligung in ſeine Liebe noch nicht gebeten war, mit den Worten auf das Knie: » wenn Sie » meine Bitte nicht errathen: ſo hab ich nicht den » Muth, ſie anzufangen. « Sie hob ihn auf und ſagte: » Bitten, die ſo ſtillſchweigend geſchehen, wer¬ » den eben ſo ſtille erfuͤllt aber jetzt kommen Sie » lieber und ſehen zu, womit ich meine Tochter be¬ » ſchenke. « Aber er mußte erſt lange die Hand benetzen und kuͤſſen, die ihm den Lindenhonig eines ganzen Lebens reichen will.

Beide giengen nun in dieſem aus dem tauſend¬ jaͤhrigen Reiche heruͤbergeſchickten Abende ins dunkle Zimmer zur Tochter. Warum entfloſſen Klotilden Thraͤnen vor Wonne, noch eh 'die Mutter ſprach? weil ſie ſchon alles errathen konnte. Die Mut ter fuͤhrte den Geliebten an die Geliebte und ſagte408 zur Braut: » nimm hin das Angebinde deines Ge¬ » burtstages. Wenige Muͤtter ſind reich genug, ein » ſolches zu geben aber auch wenige Toͤchter ſind » gut genug, es zu erhalten. « Das Brautpaar wurde vom Druck der ſchweren Wonne, des großen ſtummen Dankes vor ihr niedergedruͤckt auf die Knie und theilte ſich in die zwei wohlthaͤtigen Haͤnde der Mutter; aber dieſe zog ſie ſanft aus fremden weg und legte den Liebenden die ihrigen in einander und ſchluͤpfte davon mit dem Laute: » hieher will ich » unſre Gaͤſte bringen! «

O ihr zwei endlich begluͤckten, neben einan¬ der knieenden guten Seelen! wie ungluͤcklich muß ein Menſch ſein, der ohne eine Thraͤne der Freude, oder wie gluͤcklich einer, der ohne eine Thraͤne der Sehnſucht euch ſehen kann jetzt ſtumm und wei¬ nend einander in die Arme fallen nach ſo vielen Losreiſſungen endlich verknuͤpft nach ſo vielen Verblutungen endlich geheilt nach tauſend tau¬ ſend Seufzern doch endlich begluͤckt und unaus¬ ſprechlich begluͤckt durch Herzensunſchuld und durch Seelenfrieden und durch Gott! Nein, ich kann heute meine naſſen Augen nicht von euch wenden ich kann heute die andern guten Menſchen nicht an¬ ſchauen und abzeichnen ſondern ich lege meine Augen mit den zwei Thraͤnen, die der Gluͤckliche und der Ungluͤckliche hat, feſt und ſanft auf meine409 zwei ſtillen Geliebten im dunkeln Zimmer, wo ein¬ mal der Hauch der Harmonikatoͤne ihre zwei Seelen wie Gold - und Silberblaͤttgen an einander wehte O da ſich mein Buch jetzt endigt und meine Ge¬ liebten entweichen: ſo ziehe dich langſam weg, dunk¬ les Allerheiligſtes mit deinen zwei Engeln toͤne lange nach, wenn du aufflieheſt mit deinen melodi¬ ſchen Seelen, wie Schwanen zu Nachts mit Floͤten¬ toͤnen uͤber den Himmel ziehen Aber ach ſteht nicht ſchon hoch und weit von mir das Allerheiligſte und haͤngt als Silberwoͤlkgen am Horizont des Traums? O dieſe guten Menſchen, dieſer gu¬ te Viktor, dieſer gute Emanuel, dieſe gute Klotil¬ de, alle dieſe Fruͤhlings-Traͤume ſind aufgeſtiegen und mein Herz blickt ſchmerzlich auf und rufet ohne Hoffnung nach: Fruͤhlings-Traͤume, wann kommt » ihr wieder. ? «

O warum wuͤrd 'ichs thun, wenn nicht die Freunde, die wir ſo feſt an den Haͤnden faſſen, auch Traͤume waͤren, die aufſteigen? Aber dieſen rufet das auf dem Grabſtein zuckende zuruͤckgefallne jammernde Herz nicht nach: Fruͤhlingstraͤume, wann kommt ihr wieder?

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Nachtrag zum 44. Hundspoſttag.

Nichts

Da dieſer Nachtrag zu einem Poſttaͤglein zu klein war: ſo wartete ich immer auf den Hund und auf neuen biographiſchen Pfeifenthon und Teig Da aber die poste aux chiens ausbleibt, ſo will ich nur die wenigen kakophoniſchen Toͤne, die ich aus dem liebenden Konzert des vorigen Kapitels herausge¬ than, hier auf meine Noten ſetzen. Es iſt lauter verdruͤßliches Zeug, was ich hier noch nachzuholen habe, und eben jene Knartoͤne koͤnnen wieder eine neue Lauwine herabwerfen und neuen Unfug[ſtiften]. Es iſt nur dumm, daß ſo das Buch aus und doch nicht aus iſt, da der Hund von einem Hund ganz unerwartet weg iſt wie Schnupftaback.

Die ſtiefmuͤtterliche Kammerherrin, die vom bio¬ graphiſchen Geiſter - und Koͤrperbanner ſeit langem aus dieſen Blaͤttern Landes verwieſen iſt, war bei der Ankunft der Lady aus ſehr natuͤrlicher Antipa¬ thie wegmarſchiert auf ein kleines Landgut. Reiſe zu, du biſt ohnehin meine Amancebada nicht! 411 Matthieu war im vorigen Kapitel nach ſeiner alten Kuͤhnheit unter lauter Widerſachern ſeines dunkel¬ braunen Ichs ein wenig da geblieben; und ſaß im Schloſſe, als die gluͤckliche Prozeſſion aus dem Gar¬ ten einzog. Er wuſte noch nicht, daß der Hofmann Viktor wahrhaftig nichts iſt als ein bloßer platter Pfarrſohn. Anfangs ſetzte er den antiken Spas ſei¬ ner Liebeserklaͤrung gegen Agathen fort und reizte den Pfarrer zu Komplimenten und Dankadreſſen fuͤr die Dienſte an, die er allen heute erwieſen. Als er aber zu viel Gleichguͤltigkeit gegen ſeine kalte Bosheit vorfand, benahm er ſeiner Verachtung die Zweideutigkeit. Ueberhaupt war ſein Herz aufrichtig und ſtellte ſich lieber boshafter als tugendhafter an als es war: er haßte jene Verſtellung, wodurch ſich mancher Hoͤfling leicht jene Miene des Tugendhaft¬ ten giebt, die am beſten durch Lavaters Bemerkung zu erklaͤren iſt, daß der Zornige auf ſeinem Geſicht die Mienen deſſen den er haſſet, bekomme.

Endlich errieth Matthieu die Geheimniſſe und der Pfarrer beſtaͤtigte ſie ihm. Ein ſolches Waſſer fuͤr ſeine Schneide - und Saͤgemuͤhle, auf der er Menſchen fuͤr ſein Throngeruͤſte zurechtſchnitt, war noch nie auf ihn zugefloſſen wenn er dieſes neue Falſum, dieſen neuen entſetzlichen abſcheulichen Be¬ trug, den der Lord dem Fuͤrſten geſpielt, dem Fuͤr¬ ſten vortraͤgt: ſo muß, ſchließet er Jenner412 außer ſich kommen vor Erſtaunen uͤber Horions Luͤ¬ gen und uͤber Matthieu's Wahrheiten. Jetzt hielt ers fuͤr Pflicht, zu laͤcheln zwar, aber nicht mehr ſchadenfroh wie Maz, ſondern ordentlich ver¬ achtend wie ein Hof-Lehnman ſoll: auch fuͤhlte er, wie ſehr es unter ſeiner Wuͤrde ſei, ſich laͤnger in dieſes buͤrgerliche Quodlibet, ohne es doch zum Nar¬ ren zu haben, mit einquirlen zu laſſen. Er gieng mithin um die Nouvelle aus ſeinem Saͤetuch in gutes Land auszuwerfen nach einem kurzen aber aufrichtigen Gluͤckwunſche zur Vermaͤhlung noch die¬ ſelbe Nacht an den Hof zuruͤck und der Teufel folgte ihm als Kammermohr anſtaͤndig hin¬ terdrein.

Ich wollte, der Spitzbube thaͤte keinen Tritt mehr in meine biographiſche Schreibſtube und casa santa: er iſt ſich ſo vieler unmoraliſcher Huͤlfsquellen be¬ wuſt, daß er ordentlich im Kraftgefuͤhl derſelben mit den Suͤnden ſpielt und immer einige mehr wagt als er braucht; ſo wie er z. B. in der Maienthaler Allee mit der Stimme der Nachtigall aus bloßem Uebermuth Viktor und Klotilde in ſeine Naͤhe lockte, obgleich Flamin beide ohne jene Philomelenmaſchi¬ nerie haͤtte belauſchen koͤnnen. Von dieſer Seite wuͤnſch 'ich faſt gar nicht mehr, daß der Poſthund weiter koͤmmt: ich muß zu ſehr beſorgen, daß Mat¬ thieu neuen Kroͤtenlaich und eine neue Eſſigmutter413 des Elends an die Waͤrme Jenners bringt, damit ſie neues giftiges ſcharfes Ungluͤck aushecke; denn er wird es gewiß hoͤchſten Orts berichten, daß die drei Englaͤnder ſich in die Inſel wie in eine Katakombe verſtecken daß Flamin ſich ihnen zugeſelle daß Viktor bisher einen belogen, deſſen Unterthan er ſei noch anderer Dinge zu geſchweigen, die die miniſterialiſche Spionin und Kammerherrin von le Baut mittheilt und ſein ſo anti klubbiſtiſcher Vater anſchwaͤrzt, die jene zeichnet und dieſer kolo¬ riert. Und wenn ich bedenke, daß in dieſer Bio¬ graphie ein kleines Ungluͤck immer die Eierſchale und das Eiweis eines großen war; ſo bin ich ſehr geneigt zu glauben, daß der Ausdruck des Pfarrers am 21. Oktober mehr Wiz als Wahrheit enthalte: » daß ſie gegenwaͤrtig alle ſtatt des Thraͤnenbrods » den Brautkuchen der Freude anſchnitten. » ....... Ihr guten Menſchen! worin mag jetzt in dieſer Mi¬ nute euer Buſen auf und niedergehen, im weichen duͤnnen Aether der Freude, oder im Gewitter-Bro¬ dem der Angſt?

414

45ſtes oder letztes Kapitel.

Knef Stadthof Schweisfuchs Räuber Schlaf Schwur Nachtreiſe Gebüſch Ende ....

Ich ſage nur ſo viel voraus, ſo lange man noch Dinte und Johannisbeerwein aus Federſpuh¬ len verzapfte; ſo lange noch Kiele geſchnitten wur¬ den, um Friedensinſtrumente zu machen oder ver¬ kohlet, um Kriegsinſtrumente zu machen (denn die Kohle des Schießpulvers bereitet man aus Federn) und noch laͤnger vorher, ſo lange iſt der ſonderbare Kaſus gar noch nicht vorgefallen, den ich der Welt jetzt zu berichten habe. Wie geſagt, ich ſage nur das voraus, der Kaſus iſt leiblich.

Weil der Poſthund ſeit dem 44. Kapitel von dieſem gelehrten Werke die Hand oder Pfote abge¬ zogen: ſo wollt 'ichs allein hinausmachen und nur noch ein letztes Kapitel aber nicht dieſes als Schlußleiſten und Schwanengeſang gar anſtoßen, da¬ mit das opus einmal auf die Poſt und auf die Welt kaͤme. Gute Rezenſenten dacht' ich, laͤſſeſt du uͤber den Mangel an einer Finalkadenz, ſich mit dem Poſt¬415 Hunde und biographiſchen Leithaͤmmel ſo lange herum¬ beißen als ſie wollen. .... Es war ſchon gegen das Ende des Oktobers und meiner Robinſo¬ nade auf der Johannisinſel, als der alte gute Frei¬ tag dieſes Robinſons, mein D. Fenk von ſeiner langen botaniſchen Alpenreiſe, nach Scheerau heim¬ kehrte, aber ſogleich wieder in die See ſtach und auf meinem Johannitermeiſterthum ausſtieg.

Wir ſetzten uns nieder zu zwei oder drei Gaͤn¬ gen mit hiſtoriſchen Eingeſchneizes (Ragout) von Reiſeanekdoten. Zuletzt macht 'ich ihn wie alle Gelehrte thun auf das aufmerkſam, was ich ſchriebe, auf mein neueſtes Opusculum, das ſo ver¬ dammt hoch vor uns aufgebettet ſtand wie ein Ster¬ nenkegel: » es iſt ganz fluͤchtig, (ſagt' ich) von mir » gefallen, oft zu Nachts, ſo wie Voltaire oder die » Pfauhennen im Schlafe Eier aufs Stroh herunter » ſpringen laſſen. Ich habe die Welt mit die¬ » ſem Legat von drei Heftlein gern bedacht; aber » das Legat wartet noch aufs letzte Kapitel ſonſt » wird die Hundsarbeit im edeln Sinn eine im » ſchlechten. Er las das ganze Vermaͤchtniß vor meinen Augen durch welches fuͤr einen Autor eine naͤrriſche ſchwuͤle Empfindung iſt und ſchwepperte oft mit den zwei Armen auf und nieder und wollte den Verfaſſer roth machen durch uͤber¬ treibendes Lob; aber es war nichts, denn ein Ver¬416 faſſer hat ſich jedes ſchon vorher tauſendmal ertheilt und iſt zugleich ſeine eigne Fleiſchwage, ſein eignes Fleiſchgewicht und ſein eignes Fleiſch, weil er wie ein Tugendhafter mit ſeinem eignen Beifall zufrieden iſt.

» Der Held deiner Poſttage ſagt 'er iſt » ein wenig nach dir ſelber geboſſelt. » Das, verſetzte ich, entſcheide die Welt und der Held, wenn mich beide kennen lernen; es thuns aber alle Autores, ihr Ich ſteht entweder abgezeichnet vor dem Titelblatt oder darhinter mitten im Werke, wie der Maler Markus Gerard in allen ſeinen Land¬ ſchaften eine Frau anbrachte, die p ſte.

Nun aber denke man ſich mein ſtaunendes Haͤn¬ dezuſammenſchlagen, als der Doktor mir das Laͤnd¬ gen nannte, wo die ganze Geſchichte vorgieng: *** heißet das Laͤndgen. « Ich duͤrfe nur hin, ſagt 'er, » ſo koͤnnt' ich das 45ſte Schwanz-Kapitel aus der » Quelle ſchoͤpfen. Bei ſeinem Durchmarſch waͤre » man in Flachſenfingen erſt uͤber dem 40. Hunds¬ » poſttage her geweſen. Wenn ich eigne Pferde neh¬ » men wollte (das will ich, ſagt 'ich, ich kaufe mir » noch hente eigne): ſo koͤnnt' ich vielleicht einem » vornehmen Paſſagier nachkommen, der, wenn ihn » nicht alles troͤge, der Lord leibhaftig waͤre. » We¬ gen einiger Loth Teufelsdreck, die Fenk unterweges brauchte, war er ſogar bei Zeuſeln in der Apothekegewe¬417geweſen, dem, ſagt 'er, die Zahl 99 ſo leſerlich wie dem Nummernvogel (Catalanta) die Zahl 98 aner¬ ſchaffen ſei.

Verdenken kann man's warlich keinem Autor, der nach ſeinem 45ten Schwanz - und Schleppenkapitel krebſet und fiſchet, daß er wie unſinnig weglief aufpackte anſchirrte einſaß fortjagte und ſo wuͤthig zufuhr im Voruͤberſchießen vor Hotels, vor Landhaͤuſern, vor Prozeſſionen, vor Sternen und Naͤchten, daß ich nicht etwan in ** Tagen, ſondern ſchon in *** Tagen (mancher wird gar denken, ich mache Wind) in den Gaſthof zum goldnen Loͤwen beſtaͤubt aber ungepudert hineinſprang. Beſagter Gaſthof liegt naͤmlich in der Stadt Hof, die ihrer ſeits wieder in etwas groͤßerem liegt, naͤmlich im Voigtland. Ich nenne mit Fleiß weder die Tage meiner Reiſe noch das Thor, wodurch ich zu Hof einſchoß, damit ich's nicht neugierigen Schelmen und mouchards durch die Marſchroute verrathe, wie Flachſenfingen heiſſet. Hof konnt 'ich ohne Scha¬ den herausnennen, weil man von da aus ſobald man uͤber die Thore hinaus iſt nach allen Punk¬ ten des Kompaſſes fahren kann; und ſo kann man da, (welches recht gut iſt) auch aus allen Orten an¬ kommen, aus Moͤnchberg, Kotzau, Gattendorf, Sach¬ ſen, Bamberg, Boͤheim und von der Siebenhitz und aus Amerika und aus den Spitzbubeninſeln.

Heſperus. III. Th. Dd418

Nicht weit vom goldnen Loͤwen (im Grunde im Habergaͤßchen) ſtand ein vornehmer Englaͤnder und ſah zu, wie ſeine vier rauchende Pferde eine Medi¬ zin von gemeinen Salpeter und Roßſchwefel ge¬ gen das Verſchlagen einbekamen. Der Fremde der ungefaͤhr ſo viel Jahre haben mochte als dieſes Buch Tage war ſchwarz gekleidet, lang, ehrwuͤr¬ dig, reich (nach der Equipage zu urtheilen) und ſchoͤn gebildet. Sein heller und fixirter Blick lag wie ein Fokus-Punkt zuͤndend auf den Menſchen ſein Geſicht war glatt und kalt auf ſeiner Stirne ſtand die lothrechte Sekante als der Taktſtrich der Geſchaͤfte, als Exklamazionszeichen uͤber die Muͤhen des Lebens mit bleichen wagrechten Linien war dieſer Taktſtrich raſtriert, beide Arten von Linien waren gleichſam wie Zeichen in die zu hohe Stirne eingeſchnitten, wie hoch das Thraͤnenwaſſer der Truͤbſal ſchon an dieſer Stirne, an dieſer Seele auf¬ geſtiegen ſei. » Ich wollte den Lord Horion » dacht 'ich anders geſchildert haben, wenn mir » dieſes Geſicht eher vorgekommen waͤre. Viel¬ leicht denkt der Leſer, das war der Lord ſelber.

Als der Englaͤnder mein Terzett von Schweis¬ fuͤchſen erblickt hatte: gieng er gerade auf mich zu und leitete ein Tauſchprojekt ein und wollte meinen Fuchs mit einem Rappen einwechſeln. Er hatte die Phantaſie der vornehmen Ruſſen, mit einem ordent¬419 lichen Zento ungleichfaͤrbiger Pferde zu fahren ſo wie er die ſchoͤnere Sitte der Neapolitaner hatte, ein freies lediges Pferd wie einen Hirſch neben dem Wagen hertanzen zu laſſen Daher des Roß - Quodlibets halber, wollt 'er meinen elenden Fuchs erſtehen, der, die Wahrheit zu ſagen, nirgends ſein eignes Haar trug als hinten auf dem Buͤrzel. Ich ſagte es ihm geradezu um ihm keinen Argwohn eines Eigennutzes und einer Abſicht zu laſſen , » meine drei Fuͤchſe ſaͤhen wie die drei Furien aus und ſtellten die drei Kavitaͤten der Anatomie ein wenig vor; blos der Schweisgaul, den er wolle, ſei herr¬ lich gebauet, beſonders um den Kopf herum, und ich verloͤr' ihn ungern gerade jetzt, da mir der Kopf erſt recht einſchlagen will. » » So? » ſagte der Britte. » Natuͤrlich, ſagt 'ich: denn ein Pferdekopf » iſt das beſte Mittel gegen Wanzen; und der muß » nun bald wie eine reife Pflaume vom Gaul abfal¬ » len den Kopf kann ich in[mein] Bettſtroh » thun. » Der Englaͤnder laͤchelte nicht einmal; un¬ ter dem ganzen Handel regte er keinen Finger, keine Miene, keinen Muſkel. Erſt als ich ſelber geſagt hatte: » wenn nur die drei Parzen ſo lange auf den » Beinen bleiben, bis ich das 45te Kapitel abgeholt » habe auf der Achſe »: ſo fiel es mir auf, daß er mich auf eine entfernte Art mehr zu ſtudieren und auszufragen getrachtet als den Schweisfuchs undDd 2420ich gerieth auf die Hypotheſe, ob er nicht gar den ganzen Roßtauſch nur zum Deckmantel ſeines ver¬ daͤchtigen Rekognoſzieren-Fragens gemißbraucht habe.

Der Leſer leſe nur weiter! Der Englaͤnder fuhr mit meinem Fuchs-Muſkelnpraͤparat davon und ich ſpaͤter hintennach mit dem Rappen, der ſo ſchwarz und gleiſſend war wie der alte Adam des Menſchen.

Aber ich muß erſt ſagen was ich in Hof wollte, dediziren wollt 'ich. Anfangs ſollte jedes dieſer Heftlein einer Freundin zugeeignet werden; aber ich muſte beſorgen, es wuͤrde mich gereuen, weil ich mich jeden Monat mit einer andern mit allen auf einmal nie zu zanken pflege. Ich moͤchte wiſſen, unter welcher geographiſchen Breite der Mann laͤge, der nicht mit ſeiner Freundin tauſend¬ mal oͤfter keifte als mit ſeinem Freund. Der Bio¬ graph muſte alſo aus Noth, weil er zu veraͤnderlich iſt mit ſeinen drei Heftlein queer aus dem gold¬ nen Loͤwen uͤber die Gaſſe ziehen und zu dem einzi¬ gen ins Haus gehen, gegen den er ſich nicht aͤndert und der's auch nicht thut und zu ihm ſagen: » hier, » mein lieber guter Chriſtian Otto dedizir' ich dir » wieder etwas drei Heftlein auf einmal huͤbſch » waͤr 'es, wenn du jedes wieder an die Deinigen » dedizirteſt, dreie langen gerade zu Ich reite421 » nun dem 45ten Kapitel nach, und du, ſchneide und » raupe indeß an den 44 andern Rabatten ſo viel » ab als du willſt.

Und hier, mein Treuer, muſt du das letzte Kapi¬ tel auch gar haben und ich ſetze nur noch dazu: » dieſen Heſperus, der als Morgenſtern uͤber meinem friſchen Lebensmorgen ſteht, kannſt du noch anſchauen, wenn mein Erdentag voruͤber iſt; dann iſt er ein ſtiller Abendſtern fuͤr ſtille Menſchen, bis auch er hinter ſeinem Huͤgel untergeht. «

Ich bin ein wenig aus der Melodie heraus, ich ſinge mich aber wieder hinein, wenn ich erzaͤhle, daß mich in der Hauptkirche mein ehemaliger Stuben¬ kamerad, jetziger theologiſcher Kandidat J. P. Friede¬ rich Richter ungemein erbauete durch zwei gute Theile; im erſten Theile zeigte er ſeinen Hoͤfern aus der Epiſtel, daß ſie einander in der fluͤchtigen Luft¬ erſcheinung des Lebens nicht raufen, ſondern recht lieben ſollten, ohne Ruͤckſicht auf die Nummern der Haͤuſer und im zweiten Pars that er dar, ſie ſollten ſich im kurzen abnehmenden Lichte des Lebens von Zeit zu Zeit einen und den andern Spas ma¬ chen .....

Als ich kaum einige Stunden Tage Wo¬ chen gefahren (denn die Wahrheit ſag 'ich nicht) und gegen Mitternacht in meinem Wagen bergauf in ei¬ nem dicken Forſte eingeſchlafen war: ſo ſtuͤrzten zwei422 Haͤnde, die von hinten durch das Ruͤckenfenſter ſich hereingearbeitet hatten eine Bienenkappe uͤber mei¬ nen Kopf, ſchnallten ſie hurtig um den Hals mit ei¬ nem Vorlegſchloß, verſchraͤnkten und verdeckten meine Augen, und mich ſelber ergriffen, hielten und banden zehn bis zwoͤlf andere Haͤnde. Das Schlimſte bei ſo etwas iſt, daß man denkt, man wird todt¬ geſchlagen und von ſeinen Juwelenkaͤftgen entbloͤſt: nun kann man aber einen Antor, der ſein Buch noch nicht hinaus gemacht hat, nicht aͤrgerlicher und ver¬ drießlicher machen, als wenn man ihn erſchlaͤgt. Kein Menſch will in einem Plane ſterben; und doch traͤgt jeder zu jeder Stunde des Tages zugleich auf¬ knospende, gruͤne, halb reife und ganz reife Plane. Ich ſuchte alſo mein Leben mit einer Tapferkeit zu verfechten weil mir um's 45te Kapitel und deſſen Kunſtrichter zu thun war , daß ich ich kann es ſagen vier bis fuͤnf Prinzenraͤuber leicht uͤber¬ meiſtert haͤtte, waͤr' es nicht ein halb Dutzend ge¬ weſen. Ich ſtreckte das Gewehr, behauptete aber das Schlachtfeld, naͤmlich das Kutſch-Kiſſen und merkte uͤberhaupt, daß man den Berghauptmann nicht ſowol todt machen wollen als blind. Es wurde noch abentheuerlicher mein eigner Kerl wurde nicht vom Throne ſeines Bocks geſtuͤrzt mein Wagen blieb auf dem Wege nach Flachſenfin¬ gen zwei Herren ſetzten ſich zu mir hinein, die423 nach ihren Maͤdgenhaͤnden zu urtheilen, von Stande waren und noch ſonderbarer, es boll ein Hund, der, dem Bellen nach, als Meshe! fer und Mit¬ meiſter an dieſem gelehrten Werke gearbeitet hatte.

Wir ſoupirten und goutirten unter freiem Himmel. Hier wurde mir ein chirurgiſches Ordens¬ band auf bloßen Leib umgethan, weil ich unter den Viertelsſchwenkungen und Hand-Evoluzionen meiner Gegenwehr ungluͤcklicherweiſe mein Schulterblatt in eine Spitze getrieben hatte. Eſſen konnt 'ich recht gut, weil das blecherne Kanarienbauer-Thuͤrgen an meiner Bienenkappe weit aufgedrehet war. O lieber Himmel! wenn das Publikum den Verfaſſer der Hundspoſttage haͤtte ſeine Viktualien in die aufhaͤn¬ genden Thorfluͤgel von Blech einſchieben ſehen: er waͤre vergangen! Unter dem Eſſen lockte ich den Hund mit dem Namen: Hofmann! zu mir: er kam wirklich; ich fuͤhlte ihn aus, ob an ſeinem Halſe kein 45tes Kapitel hinge er war leer.

Nach einem langen Wechſel von Fahren Eſ¬ ſen Schweigen Schlafen Tagen Naͤch¬ ten wurd 'ich endlich in eine See geſetzt und ſo lan¬ ge herum gefahren (oder kam's von einem Schlaf¬ trunk) bis ich ſchlief wie eine Ratte. Was darauf424 geſchah: mach' ich ſo wunderbar es immer iſt erſt bekannt, wenn ich die Bemerkung ausgeſchrieben habe daß zwar die große Freude und der große Schmerz die edlern Neigungen in uns beleben und vergnuͤgen, daß aber die Hoffnung, und noch weit mehr die Angſt den ganzen Wurmſtock elender Begierden, den Infuſionslaich kleiner Gedanken an¬ bruͤten und auseinander ringeln und ins Nagen brin¬ gen ſo, daß alſo der Teufel und der Engel in uns eine aͤrgere Paritaͤt ihrer zwei Religionen als ſelber in Augsburg bei zwei andern iſt, zu er¬ halten wiſſen und daß jede von den zwei Religions¬ partheien im Menſchen eben ſo gut ihren eignen Nachtwaͤchter, Zenſor, Wirth, Zeitungsſchreiber beſoldet als wie geſagt in Augsburg ....

Ich hatte die Augen noch geſchloſſen, als ein Lispeln, von tauſend Gipfeln weiter gewir¬ belt, mich umſchwamm, das getriebene Luftmeer zog durch enge Aeolsharfen und ſchlug daran Wellen und die Wellen uͤberſpuͤhlten mich mit Melodien eine hohe Bergluft, von einer voruͤberſchieſſenden Wolke herzuſchlagend, fuhr wie ein Waſſerſtrahl kuͤhl an meine Bruſt ich oͤffnete die Augen und dachte, ich traͤumte, weil ich ohne die eiſerne Maske war ich war an die fuͤnfte Saͤule auf der oberſten Stufe eines griechiſchen Tempels gelehnt, deſſen425 weiſſer Fußboden die Gipfel taumelnder Pappeln umzingelten und die Gipfel von Eichen und Ka¬ ſtanien liefen nur wie Fruchthecken und Gelaͤnder¬ baͤume wallend um den hohen Tempel und reichten dem Menſchen darin nur bis an das Herz.

Ich muß ja dieſe wuͤhlende Gipfelſaat kennen, ſagt 'ich, dort haͤngen Trauerbirken die Arme da drauſſen knieen Staͤmme vor dem Donner, der ſie getroffen flattern nicht 9 Floͤre und zerſtaͤubte Fontainen in gefleckten Zweigen durch einander und die Gewitter haben hier ihre fuͤnf eiſernen Szepter (Gewitterableiter) in die Erde gepflanzt. Das iſt doch gewiß ein Traum von der Inſel der Vereinigung, die ſo oft bisher den Nebel des Schlafs mit Strahlen durchſchnitten und himmliſch und ziehend meine Seele angeſchimmert hat.

Es war kein Traum. Ich ſtand von der Stufe auf und wollte in den griechiſchen durchhellten Tem¬ pel, der bloß aus einem griechiſchen Dache und fuͤnf Saͤulen und der ganzen um ihn gelagerten Erde be¬ ſtand, eintreten, als mich acht Arme umfaßten und vier Stimmen anredeten: » Bruder! wir ſind deine Bruͤder. « Eh 'ich ſie anſchauete, eh' ich ſie anredete: fiel ich gern mit ausgebreiteten Armen zwiſchen drei Herzen die ich nicht kannte, und ver¬426 goß Thraͤnen an einem vierten, das ich nicht kannte und hob endlich, nicht fragend ſondern begluͤckt, die Augen von den unbekannten Herzen auf in ihr An¬ geſicht und unter dem Anſchauen ſagte hinter mir mein geliebter D. Fenk! » Du biſt der Bruder Fla¬ » mins und dieſe drei Englaͤnder ſind deine leiblichen » Bruͤder. « ... Die Freude zuckte durch mich wie ein Schmerz ich druͤckte mich ſtumm an die Lip¬ pen der vier Umarmten und Umarmenden aber ich ſtuͤrzte dann an den aͤltern Freund und ſagte gebro¬ chen: » guter, lieber Fenk! ſag 'mir alles! Ich bin » zerruͤttet und bezaubert von Dingen, die ich doch » nicht faſſe. »

Fenk gieng laͤchelnd mit mir wieder zu den vier Bruͤdern und ſagte zu ihnen: » ſeht, das iſt euer » fuͤnfter auf den ſieben Inſeln verlorner Bruder und » euer Biograph dazu nun hat er endlich ſein » 45ſtes Kapitel erwiſcht. « Nun wandte er ſich an mich: » Du ſiehſt doch (ſagt 'er), daß das die » Inſel der Vereinigung iſt daß die Drillinge da » die drei Soͤhne des Fuͤrſten ſind, die unſer Lord » bringen wollte. Deinetwegen, weil du ſchon » lange von den ſieben Inſeln weg biſt, iſt er durch » alle Marktflecken und um alle Inſeln von Europa » gefahren. Endlich ſchrieb ich ihm. « ....

» Du biſt gewiß auch (unterbrach ich ihn) mein » Korreſpondent mit dem Hund geweſen. «

427

» Fahr nur fort, ſagt 'er. «

» Und Knef iſt der umgekehrte Fenk und haſt » dich bei Viktor fuͤr einen Italiener, der kein » Deutſch kann, ausgegeben und ihm den ganzen » Tag ſeine eigne Konduitenliſte fuͤr den Lord abge¬ » ſchrieben, und fuͤr mich im Grunde auch, um ſein » und mein Spion zu ſeyn. «

» So iſt's und habe alſo (ſagt 'er) dem Lord » auch geſchrieben, dein franzoͤſiſcher Name Jean Paul » mache dich verdaͤchtig und da du noch dazu ſelber » nicht weißt, wo du her biſt, und dazu gerechnet » dein naͤrriſches Stuͤck Lebensweg, der wie in einem » engliſchen Garten nicht eine Meile lang gerade aus » geht «

» Der Biograph, ſagt 'ich, ſollte uͤberhaupt ſein » eigner ſeyn. « *)Und ich mache hier mit Vergnügen dem Publikum zu meiner eignen Lebensbeſchreibung Hoffnung, womit ich es, wenn ich nur noch einige nöthige Kapitel daraus erlebt ha¬ be, unter dem Titel beſchenken werde: Jean Pauls Apoſtel¬ geſchichte, oder deſſen Thaten, Begebenheiten und Meinun¬ gen.

» Jetzt wird mir's unbegreiflich, wie ich nur » nicht gleich darauf fallen koͤnnen: denn deine Aehn¬ » lichkeit mit Sebaſtian, die der fuͤnfte Sohn des » Fuͤrſten haben ſollte, merkteſt du laͤngſt ſelber 428 » und dein Stettiner-Doſenſtuͤck auf dem Schulter¬ » blatt, das die Herren da alle aufhoben, und das » der Lord vorgeſtern ſelber unter deinem Verbande » angeſehen. «

» So, ſo! (ſagt 'ich) Deswegen bekam alſo euer » Biograph die Falkenhaube, die Ruͤckenwunde, den » huͤbſchen Rappen und der Fremde in Hof war der » Lord?

Kurz bei allem dieſen hatte der Lord ſich gar voͤl¬ lig uͤberzeugt, daß ich der waͤre, den er ſo lange ge¬ ſucht; denn vorher hatte er ſchon lange das Schrei¬ ben von Fenk durch funfzehn Haͤnde erhalten, in¬ dem es von Hamburg oder auch aus dem Lande Ha¬ deln nach Ziegenhain in Niederheſſen lief, dann in die Herrſchaft Schwabek, dann in die Grafſchaft Holzapfel, nach Schweinfurt, nach Scheer Scheer, und doch wieder zuruͤck nach ** und *** und endlich nach Flachſenfingen, wo er's erſt erhielt: dort, in der Inſel der Vereinigung, war er lange verſteckt geweſen, bis ihn das Schreiben, der endi¬ gende Oktober, der die Muttermaͤhler gleichſam mit rother Dinte durchzog, und am meiſten die drei aus St. Luͤne exilirten Britten, die auf der Inſel ausſtiegen, nach Scheerau oder vielmehr nach Hof im Voigtland abzureiſen zwangen. Hier ſtieß ich ihm auf, und mein altes Geſicht, das er ſofort mit ei¬429 nem juͤngern Nachſtich vom fuͤnften Fuͤrſtenſohne zu¬ ſammenhielt, warf ſogleich im » Habergaͤßgen « uͤber alles das reichlichſte Licht.

Sobald er das wußte, ließ er mich allein hinter meiner Bienen-Blechkappe[und] Moſis Decke fahren, und eilte voraus zum Fuͤrſten gerade eine Minute fruͤher eh 'es zu ſpaͤt war. Denn Matthieu hat¬ te alles verrathen; und die Drillinge wollte man eben aus der Inſel, worein ſie geflohen waren, und unſern Viktor aus ſeiner Mutter Hauſe, worin er ſchon Hof und Adel uͤber Pazienten und Wiſſenſchaf¬ ten und Braut vergeſſen hatte, abholen zum Ver¬ haft. Aber der Lord deſſen Seele eine petro¬ graphiſche Karte erhabener Ideen war griff den Fuͤrſten mit ſeiner Allmacht an zog die Schleier von der ganzen Vergangenheit ab trotzte ihm erſchuͤtterte ihn zerfaſerte die Strick-Seele von Maz legte ihm die h. Dokumente des großen alles mit dem Tode beſchwoͤrenden Emanuels vor und die der Mutter und meiner Bruͤder berief ſich auf die Feſtons von den fuͤnf in Blute ſtehenden Schultern denn es war der 30 Oktober (heute iſt der 31ſte) und ſagte, den 31ſten woll' er das al¬ les noch auf eine Weiſe beſiegeln, wie noch kein Menſch es gethan

Edler Mann! Du verzehrſt nichts weiter auf430 der Erde als dich, und biſt ein Sturmvogel, durch deſſen Fett ein Docht (Philoſophie) gefaͤdelt iſt und den jetzt ſein eignes Licht ausbrennt und verkohlt mir ahndet, als wenn deine ſchoͤne Seele bald auf einer andern, auf einer hoͤhern Inſel der Vereinigung ſeyn werde als auf dieſer irrdiſchen!

Ich ſchreibe dieſes den 31. Oktober Vormittags um 10 Uhr auf der Inſel.

Abends um 6 Uhr in Maienthal.

Womit wird dieſes Buch noch enden? mit einer Thraͤne oder mit einem Jauchzen?

Der D. Fenk warf bis um 2 Uhr (wo der Lord erſt kommen wollte) den Koch - oder Lumpen-Zucker der Laune auf unſere Minuten und Schmerzen; ſein naͤrriſches rothes Geſicht war das violette Zuckerpa¬ pier der Suͤßigkeit. Denn mein guter Sebaſtian war mit Klotilden in Maienthal. Jener lachte mich in Einem fort aus als einen Dauphin. Es iſt mir aber aus der Geſchichte recht gut bekannt, daß in Frankreich ſchon unter Ludwig XIV das jetzige Gleichheitsſyſtem obwol erſt fuͤr Prinzen da war, die der Koͤnig gleich machte, ſie mochten als Meſtitzen,431 oder Kreolen oder Quarteronen*)Quarteronen ſind Kinder von Terzeronen, die wieder Kin¬ der von Mulatten und Weiſſen ſind. oder Quinteronen oder Eingeborne des Throns ans Leben ausgeſtiegen ſeyn. Da man nun eben ſo gut in Deutſchland neue Geſetze und Novellen der Reichsgeſetze hervorzubrin¬ gen vermag als auſſer den Graͤnzen deſſelben: ſo koͤnnt 'es ja bei meinen Lebzeiten geſchehen, daß le¬ gitimirte Prinzen fuͤr thronfaͤhig erklaͤrt wuͤrden wodurch ich freilich zur Regierung kaͤme. Gut waͤrs fuͤr Flachſenſingen, wenns geſchaͤhe, weil ich mir vorher die beßten franzoͤſiſchen und lateiniſche Werke uͤber das Regieren kaufen und es darin ſo ſtudiren will, daß ich nicht fehlen kann. Ich glaube, ich darf mir vorſetzen, das arme Menſchengeſchlecht, das ewig im erſten April lebt und das nie vom Gaͤngelwagen ſteigt blos mehrere Raͤder werden dem Wagen angeſetzt ein wenig auf die Beine zu bringen durch meinen Szepter Sonſt war ein Edelmann und das Pferd eines engliſchen Bereiters im Stande, den Hut abzuziehen, ein Piſtol los zuſchieſſen, Taback zu rauchen, zu wiſſen, ob eine Jungfer in der Geſellſchaft war u. ſ. w.; jetzt aber haben ſich Pferd und Edelmann durch die Kultur ſo von einander getrennt, das es eine wahre Ehre iſt, letzerer zu ſeyn, und daß es meinem Adel nichts432 ſchadet (ob ich's gleich anfangs beſorgte), daß ich mehr als gemeine Kenntniſſe habe. In unſern Ta¬ gen ſind die adelichen Vorderpferde nicht mehr ſo weit wie vor hundert Jahren vor den buͤrgerlichen Deichſelpferden am Staats-Wagen vorausgeſpannt; daher iſt's Pflicht, wenigſtens Klugheit, (auch fuͤr einen neuen Edelmann wie mich), daß er (oder ich) ſich herablaͤſſet und das Gefuͤhl ſeines Standes warum ſoll mir das nicht ſo gut gelingen wie an¬ dern? unter die Verzierung einer gefaͤlligen leich¬ ten Lebensart verſteckt und ſich uͤberhaupt auf keine Ahnen etwas einbildet als auf die kuͤnftigen, de¬ ren ſaͤmmtliche Verdienſte ich mir nicht groß genug denken kann, weil die Erde noch blutjung und erſt im Fluͤgelkleide und wie Pohlen, im polniſchen Roͤck¬ gen iſt.

Ich komme zuruͤck. Um 2 Uhr kam der Lord mit ſeinem blinden Sohn, gleichſam die Philoſophie mit der Dichtkunſt. Schoͤner ſchoͤner Juͤngling! die Unſchuld hat deine Wangen gezeichnet, die Liebe deine Lippen, die Schwaͤrmerei deine Stirne. Der Lord mit der Laudons Stirne und mit einem heute mehr als in Hof verdunkelten ſchattigem Geſicht, an das die Flitterwochen der Jugend und die Mar¬ terwochen des ſpaͤtern Alters vermiſchtes Helldunkelwar¬433warfen, dieſer trat heute faſt waͤrmer zu uns, ob¬ wol mit lauter Zuͤgen des Gefuͤhls, daß das Leben ein Schalttag ſei und daß er nur die Menſchenliebe, nicht die Menſchen liebe. Er ſagte, wir ſollten ihm und dem Hofmedikus den Gefallen thun, letztern noch heute in Maienthal zu beſuchen und herzubrin¬ gen, weil er hier ohne Augenzeugen noch allerlei Anordnungen fuͤr die Ankunft des Fuͤrſten zu vollen¬ den habe; wir ſollten aber zu Nachts mit Viktor niederkommen, weil unſer H. Vater morgen ſehr fruͤhe eintraͤfe. Der Blinde konnte als Blinder da bleiben. Es fiel mir nicht auf, daß er dem guten verhuͤllten Julius verbarg, daß er ſein Vater war, denn er ſagte zwei - und dreideutig: » da der Gute » ſchon einmal den Schmerz einen Vater zu verlieren » uͤberſtanden hat, ſo muß man ihm dieſem Schmer¬ » ze nicht zum zweitenmale ausſetzen. « Aber das fiel mir auf, daß er uns bat, ihn fuͤr das, was er bis¬ her fuͤr Flachſenfingen thun wollen, dadurch zu be¬ lohnen, daß wir's thaͤten und ihm endlich zu ver¬ ſichern, daß wir in den Staatsaͤmtern die wir be¬ kommen wuͤrden, ſeine kosmopolitiſchen Wuͤnſche, die er uns ſchriftlich uͤbergab, erfuͤllen wuͤrden, we¬ nigſtens ſo lange bis er uns wiederſaͤhe. Der Fuͤrſt hatt 'ihm dieſelbe feierliche Verſicherung geben muͤſſen. Wir ſahen zu ihm hinauf wie zu ei¬Heſperus. III. Th. Ee434nem bewoͤlkten Kometen und ſchwuren mit Trauer.

Wir traten den Weg nach Maienthal an. Ein Englaͤnder erzaͤhlte uns, daß er hinter dem Trauer¬ gebuͤſch der Schlafkammer der Mutter des Blin¬ den, der Geliebten des Lords, die unter einer ſchwarzen Marmorplatte ausruht einen zweiten Marmor habe aufgeſtellt geſehen, den die anflattern¬ den Flortuͤcher uͤberdecken ſollten und doch nicht konnten. O da ſah jeder von uns ſich beklommen nach der Inſel um, wie nach einer unterminirten Stadt, eh 'ſie zerriſſen aufgeſchleudert wird. Aber meine Sehnſucht, Viktor und Maienthal, die¬ ſen klaſſiſchen Boden meiner waͤrmſten Traͤume, zu erblicken, uͤbertaͤubte die Angſt.

Endlich erſtiegen wir den ſuͤdlichen Berg und das bunte Eden wuchs mit ſeiner Blaͤtter-Fuͤlle und mit dem Gewimmel ſeiner pulſirenden Zweige rau¬ ſchend ins Thal hinab druͤben lag in Aeſten wie ein Nachtigallenneſt Emanuels ſtille Huͤtte, in der jetzt mein Viktor war naͤher an uns braußte die Kaſtanienallee und oben drauſſen ruhte der abgemaͤhte Kirchhoff Mir war, da ich alles dieſes bis¬ her nur im Traum der Phantaſie geſehen, jetzt wie¬ der als zoͤgen Traͤume heran und der undurchſichtige Boden wurde ein transparenter von Duft-Gebilden435 und ich ſank voll Wehmuth auf den Berg .... Ich gieng endlich hinab wie in ein gelobtes Land, aber meine ganze Seele wickelte ein weicher Leichenſchleier ein.

Und mein Viktor riß den Schleier weg und druͤckte ſeine warme Seele an meine und wir ſchmol¬ zen ein zu einem gluͤhenden Punkt. O ich will ihm nachher, wenn er wiederkoͤmmt aus der Abtei, noch einmal und noch waͤrmer an die Bruſt fallen[und] ihm dann erſt meine Liebe recht ſagen ... O Vik¬ tor, wie biſt du ſo milde und ſo harmoniſch, ſo ver¬ edelt und ſo erweicht, wie ſchoͤn in der Freuden¬ thraͤne, wie groß in der Begeiſterung! Ach Men¬ ſchenliebe, die du dem innern Menſchen das griechi¬ ſche Profil und ſeinen Bewegungen Schoͤnheitslinien und ſeinen Reizen Brautſchmuck giebſt, verdopple deine Wunder und Heilungskraͤfte in meiner hekti¬ ſchen Bruſt, wenn ich Thoren ſehe, oder Suͤnder, oder unaͤhnliche Menſchen, oder Feinde, oder Fremde!

Viktor,[der] nie die Angſt eines Menſchen noch groͤßer machte, gab uns einige Beruhigung uͤber den Lord. Er gieng zu Klotilden ins Stift, um uns bei ihr und der Aebtiſſin anzumelden der ſpaͤte Beſuch wird durch die Nothwendigkeit der naͤchtli¬ chen Zuruͤckkehr entſchuldigt. Bis er wiederkoͤmmt, halt 'ich mit meiner Geſchichte ſtill. Ich ſah ihm nach auf ſeinem Wege zur Braut, und ſeine Hand,Ee 2436ſein Auge und ſein Mund waren voll Gruͤße fuͤr je¬ den, beſonders fuͤr verſchmaͤhte Menſchen, fuͤr Greiſe, fuͤr alte Witwen. Die Freude[meines] Helden wird die meinige: die Zeit arbeitet an dem ſchoͤnen Tage, wo ſein Herz auf immer mit dem verlobten ver¬ ſchmilzt, wo er, ohne ein Gelenke der entzwei ge¬ ſchnittenen Floh - und Affenkette des Hofes, frei durch die Natur geht, nichts iſt als ein Menſch, nichts macht als Kuren ſtatt der Kour, nichts liebt als die ganze Welt, und zu gluͤcklich iſt um beneidet zu werden. Dann will ich einmal, mein Baſtian, Abends im Mondſchein unter Linden-Dampf und Linden-Geſums bei dir eſſen, und mich auf den Bal¬ len gerade ausgepackter abgedruckter Hundspoſttage ſetzen. Uebrigens bin ich ob ich mir gleich mein eignes Ich ſitzen ließ, um ſeines abzufaͤrben nur ein elender zerfloſſener ausgewiſchter Schieferabdruck von ihm, nur eine ſehr freie paraphraſirte Verſion von dieſer Seele; und ich finde, daß ein gebildeter Pfarrſohn im Grunde beſſer iſt als ein ganz ungebil¬ deter Prinz, und daß die Prinzen nicht wie die Poe¬ ten geboren, ſondern gemacht werden.

Ich hoffe, ich habe ſo lange Materie zum Schrei¬ ben bis er wiederkoͤmmt. Ich habe uͤberhaupt in meiner Biographie als Supernumerarkopiſt der Na¬ tur allzeit die Wirklchkeit abgeſchrieben z. B. bei Flamins Karakter hatt 'ich einen Dragonerrittmei¬437 ſter im Kopf bei Emanuels ſeinem dacht' ich an einen großen Todten, einen beruͤhmten Schriftſteller, der gerade am Tage, wo ich Emanuels Traum von der Vernichtung mit ſuͤßer ſchauernder Trunkenheit ſchrieb, aus der Erde gieng und halb unter ſie Die Goͤttin Klotilde fuͤgt 'ich aus zwei weiblichen Engeln zuſammen und ich werde in wenig Minuten ſelber ſehen ob ich ſie getroffen. Fatal iſt's, daß ich aus Gewohnheit den Leuten dieſes Buchs in der Konverſazion die hundspoſttaͤglichen Namen gebe, da doch Flamin eigentlich ** heißet, und Viktor **, und Klotilde gar **. Es waͤre zu wuͤnſchen, ich hab' es nicht verſchworen ich machte die wah¬ ren Namen nach dem Tode einiger moraliſcher Ma¬ roden und Peſtkranken dieſer Hefte, oder nach meinem eignen der Welt bekannt. Thu 'ich's, ſo wird das ge¬ lehrte Europa hinter alle die Gruͤnde kommen, die das politiſche ſchon weiß, welche den Berghauptmann ab¬ gehalten haben, in einige Partien ſeiner Hiſtorie (zumal uͤber den Hof) ſo viel Licht einfallen zu laſſen als er wirkiich haͤtte geben koͤnnen; und ich erwarte, ob nach der Ausſtellung dieſer Gruͤnde der Zeitungsſchreiber Y und der Geſandſchaftſekretair Z, die zwei groͤſten Feinde des Flachſenfingiſchen Hofes und meiner Perſon noch behaupten werden, ich ſei dumm. Ja ich bin ſo kuͤhn, mich hier oͤf¬ fentlich auf den ** Agenten in ** zu berufen, ob438 ich nicht manche Perſonen in der Geſchichte ganz ausgelaſſen habe, die darin mit agiret hatten und in meiner biographiſchen[Zuckermuͤhle] als unter¬ ſchlaͤchtige Raͤder mit im Gange geweſen waren; noch mehr, ich gebe meinem Widerſacher-Paar ſo¬ gar die Erlaubniß, die weggelaſſenen Perſonnagen ſie haben einige Gewalt, zu ſchaden der Welt zu nennen, wenn dieſer doppelte Geier das Herz dazu hat ....

Der gute Spizius Hofmann wedelt jetzt und ſpringt vor mir in die Hoͤhe. Guter fleißiger Poſt¬ hund! biographiſche Egerie des Jean Pauls! ich werde dich zur Aufmunterung ſobald ich Zeit habe, ausſchinden und nett ausbaͤlgen und mit einer Heu - Wurſtfuͤlle durchſchießen, um dich in eine oͤffentliche Rathsbibliothek als dein eignes Bruſtbild neben an¬ dere Gelehrte von Rang einzuſtellen! Meuſel iſt ein billiger Mann, den ich in einem eignen Privat¬ ſchreiben um einen Siz im gelehrten Deutſchland fuͤr den Spiz anſprechen will; dieſer Gelehrte wird ſo gut wie ich nicht einſehen, warum ein ſo fleißiger Handlanger und Kompilator und Spediteur der Ge¬ lehrſamkeit als mein Hund iſt, blos darum ein elen¬ deres kaͤlteres Schickſal erleiden ſoll als[andere] ge¬ lehrte Handlanger, blos darum ſag 'ich, weil er ei¬ nen Schwanz traͤgt, der ſein Steis-Toupee vorſtellt. Blos der ſetzt das arme Vieh unter den Gelehrten herunter.

439

Ich ſeh jetzt Viktor durch die Lauben des Gartens von Lichtern begleitet: ich will nur noch eiligſt herwerfen daß ich in der mit entblaͤttertem Geſtraͤuch vergitterten Sakriſtei Emanuels ſitze. Eile nicht ſo Sebaſtian der du wegen deiner bisherigen Verwechslungen den drei oder vier Pſeudo-Sebaſtia¬ nen in Portugal gleichſt eile nicht damit ich nur noch zu meiner Schweſter ſagen kann: du geliebte Ex-Schweſter, dein toller Bruder ſchreibt ſich von, aber du haſt nur ſeine Bruſt, nicht ſein Herz verlo¬ ren. Wenn ich nach Scheerau komme, will ich mich um nichts ſcheeren und an dir unter dem Umarmen weinen und endlich ſagen: es hat nichts auf ſich. Mein Geiſt iſt dein Bruder deine Seele iſt meine Schweſter und ſo veraͤndere dich nicht verſchwiſter¬ tes Herz.

Der gute Viktor geht haſtig. Ach Menſchen die der Schmerz oft erkaͤltet hat, haben weder in den koͤrperlichen noch moraliſchen Bewegungen die langſame Symmetrie des Gluͤcks, ſo wie Leute, die im Waſſer waten, große weite Schritte thun. O armer Viktor! warum weineſt du jetzt ſo und kannſt dich gar nicht trocknen? ....

440

Fruͤh um vier Uhr in der Inſel der Vereinigung.

Ach iſt es lange, daß ich fragte: wird ſich dieſes Buch mit einer Thraͤne ſchließen? Viktor kam heute Nachts um 8 Uhr mit zwei großen unbeweg¬ lichen Thraͤnen auf dem Augenrand zuruͤck und ſagte: wir wollen nur ein wenig ſchnell auf die Inſel zu¬ ruͤckeilen; Klotilde bittet uns ſelber darum, ſie lie¬ ber ein anderesmal zu ſehen. » Ein Ungluͤck » (habe ihr getraͤumt) richte ſich jetzt groß und » hoch wie eine Meerſchlange auf und werfe ſich nie¬ » der auf Menſchenherzen wie jene auf Schiffe und » druͤcke ſie hinunter. » Sie war mit jeder Minute banger und enger geworden wie man an einer dum¬ pfen Stelle wird, uͤber der noch der Blitz zielet und ziſcht. Was ſetzte das anders voraus, als daß der Lord ſeiner treuen Freundin Dinge entdeckt hatte, die wir in dieſer Nacht zu erleben beſorgten? Und wir konnten uns alle die Sorge nicht mehr verheh¬ len, daß ſein muͤder Geiſt vielleicht wie Lykurg das Siegel ſeiner Leiche auf ſeine Verſicherung druͤk¬ ken wolle, daß wir Jenners Soͤhne ſind, ferner auf unſern Schwur, gut zu ſeyn, und auf den fuͤrſtlichen, meinen Bruͤdern zu folgen bis er wiederkomme.

» Weine nicht ſo ſehr, Viktor! (ſagt 'ich), es iſt » doch noch nicht gewiß. » Er trocknete ſich ſtill441 und gern die Augen ab und ſagte blos: » ſo wollen » wir denn auf die Inſel jetzt gehen es wird » ſchon neun Uhr. »

Wir giengen fern, fern vor der fleckigen Trauer¬ birke voruͤber, die ihr abgeriſſenes Laub der welken Huͤlle des großen Menſchen nachwarf. Viktor konnte vor Schmerz nicht hinuͤberſehen; aber ich blickte mit einem kalten Zittern nach ihrem Schwan¬ ken im heitern Nachthimmel. Erſt ſeit einigen Ta¬ gen, wo Viktor gluͤcklicher geworden war, hatte ſich der Staub Emanuels gleichſam wieder in eine blaſſe Geſtalt zuſammengezogen und ſich auf das Todten¬ gruͤn herausgeſtellt und die Arme weit fuͤr ſeinen al¬ ten Liebling aufgethan und Viktor jammerte und ſchmachtete und wollte vergeblich ſich ſterbend an den weißen Schatten preſſen.

Er laͤchelte ſchmerzlich, da er uns und ſich durch die Worte zerſtreuen wollte: » der naͤrriſche Menſch » duckt (buͤckt) ſich wie ein Vogel, wenn nur das » Ungluͤck von weitem auf ihn zugeht. » Seine Thraͤ¬ nen machten ihn zum Blinden und ich und Flamin waren ſeine Fuͤhrer, dennoch gruͤßte er in ſeinem Schmerze einen Nachtboten.

Ich habe nichts geſagt (denn ich kann nicht) vom Garten des Endes, dem verbluͤhenden Boden abgebluͤhter abgelaubter Freudentage.

Ueber die Stoppeln und uͤber die Puppen der442 Nachtſchmetterlinge, der Gaukler in kuͤnftigen Fruͤh¬ lingsnaͤchten und uͤber den feſten unterirdiſchen Win¬ terſchlaf fuhren die einſamen Nachtwinde ach der Menſch muſte wol denken: » Luͤfte, kommt ihr nicht uͤber Graͤber her, uͤber theure, theure Graͤ¬ ber?

Ich ſagte: wie ſchmal iſt der blasgruͤne Zwiſchen¬ raum von Erde zwiſchen Menſchenleibern und Men¬ ſchengerippen. Viktor ſagte: ach die Natur ruht ſo viel, und warum unſer Herz ſo wenig?

Es war gegen Mitternacht. Der Himmel blinkte naͤher an der Erde, der Schwan, die Leier, der Herkules*)Der Schwan iſt die Giulia, die Leier des Apollo Ema¬ nuel u. ſ. w. ſchimmerten untergeſunken durch ein anderes Himmelblau. Großer Himmel ſagte je¬ des Herz gehoͤreſt du fuͤr den Menſchengeiſt, nimmſt du ihn einmal auf, oder gleichſt du nur dem Deckengemaͤlde eines Dohms, das die gemauerten Schranken verbirgt und mit Farben die Ausſicht in einen Himmel aufthut, der nicht iſt? Ach jede Gegenwart macht uner Seele klein und eine Zu¬ kunft nur macht ſie groß.

Viktor war außer ſich und ſagte wieder: » Ruhe! » dich geben weder die Freude noch der Schmerz, » ſondern[nur] die Hofnung. Warum ruht nicht alles » in uns wie um uns? »

443

Da ſchlug der von allen Waͤldern nachgelallte Knall eines Schuſſes durch die ſtille Nacht und die Inſel der Vereinigung ſchwamm im Nachtblau auf und ihr weißer Tempel hieng uͤber ihr und neben dem Trauergebuͤſch, das uͤber das Zerfallen eines jungen Herzens hinuͤberwuchs, ſchoſſen gen Himmel neun ſchmale Flammen, die an den neun Floͤren aufliefen, gleichſam Freudenfeuer zu einem Friedensfeſte.

Bleich, eilend, ſeufzend, ſchweigend beruͤhrten wir das erſte Ufer der Inſel. Das Waſſer war vom Boden trocken eingeſogen. Das ſchwarze Morgen¬ thor hatte ſich weit aufgeriſſen und ſeine weiße Far¬ benſonne an Baͤume gelehnt und verdeckt. Viele Leichenfackeln auf weißen Gueridons knuͤpften ſich ans Morgenthor an, giengen den langen gruͤnen Weg hinein, flimmerten uͤber Ruinen, Sphinxe und Marmortorſo's und endigten ſich dunkel im Trauer¬ gebuͤſch.

Flatterndes Getoͤne der Aeolsharfen wurde am Eingang von langen Toͤnen durchzogen. Unter dem Morgenthor ruhte ſtill der Blinde und ſpielte froh auf ſeiner Floͤte ſo wie eine Taube in den Don¬ ner fliegt.

Er fiel freudig an ſeinen Viktor und ſagte: » es » iſt gut, daß du koͤmmſt; ein ſtiller langer Mann » hat ſich eine halbe Viertelſtunde an mein Herz ge¬444 » legt und in meine Hand geweint und mir ein » Blatt an dich gegeben. »

Viktor riß das Blatt zu ſich, es hieß: » Ihr alle » habt geſchworen, ſo lange meine Bitten zu erfuͤllen » bis Ihr mich wieder hoͤrt; aber decket den ſchwar¬ » zen Marmor nicht auf. » Der Lord hatt 'es dem blinden Sohne gegeben. Viktor rief: » o Va¬ » ter, o Vater, ich konnte dir alſo nichts belohnen! » und ſank an die Bruſt des Sohns. Er wollte ſich von ihr reißen, aber der Blinde umklammerte ihn und laͤchelte freudig unwiſſend in die Nacht. Wir eilten ins Trauergebuͤſch und indem darin die zwei Leichenfackeln ausbrannten, ſo ſahen wir, daß ein zweites Grab darin ausgehoͤhlt war, deſſen friſche Erde daneben lag daß ein ſchwarzer Marmor die Hoͤle zudeckte, und daß das ſchwarze Kleid des Lords ein wenig aus der Hoͤhle vorſah, und daß er ſich darin getoͤdtet hatte. Und auf ſeinem ſchwar¬ zen Marmor ſtand wie auf dem Marmor ſeiner Ge¬ liebten, ein blaſſes Aſchenherz, und unter dem Her¬ zen ſtand mit weißen Buchſtaben:

Es ruht.

Ende des Buchs.

About this transcription

TextHesperus, oder 45 Hundsposttage
Author Jean Paul
Extent457 images; 85012 tokens; 15785 types; 592512 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationHesperus, oder 45 Hundsposttage Eine Biographie Drittes Heftlein Jean Paul. . [2] Bl., 444 S. MatzdorffBerlin1795.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Yw 1160-3<a> Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=773328602

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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ShelfmarkSBB-PK, Yw 1160-3<a> R
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