PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Italieniſche Forſchungen
Dritter Theil.
Berlinund Stettin,in der Nicolai’ſchen Buchhandlung.1831.
[II]
ὡς ἂν εἴ τινες εὐψύχου καὶ καλοῦ σώματος γεγονότος διεῤῥιμμένα τὰ μέρη ϑεώμενοι, νομίζοιεν ἱκανῶς αὐτόπται γίγνεσϑαι τῆς ἐνεργείας αὐτοῦ τοῦ ζώου καὶ καλλονῆς.
(Polyb. hist. lib. 1. )
[III]

Vorbericht.

Seit Vaſariiſt für die Geſchichte Raphaelsund ſeiner Zeitgenoſſenſchaft nichts Umfaſſendes, nichts Er - ſchöpfendes geleiſtet worden. Vereinzelte Briefe, Nach - richten von bis dahin überſehenen Gemälden, neue Aus - legungen von bekannten, gaben den Stoff, bald zu einem eigenen Schriftchen, bald zu erläuternden An - merkungen einzelner Stellen des Vaſariund anderer Schriftſteller der älteren Zeit; oder ſie wurden den beiden Ausgaben der Künſtlerbriefe beygegeben. Doch ungeachtet der verſprechenden Titel vieler Kunſtbücher hat Niemand bisher unternommen, in den handſchrift - lichen Urkunden jener denkwürdigen Zeit ſich ernſtlich nach neuen Thatſachen umzuſehn, deren Mittheilung doch eben ſo lehrreich, als anziehend ſeyn dürfte.

Während einer früheren längeren Anweſenheit in Italienhatte ich mehr, um mich zu unterhalten, als in entſchiedener Abſicht geſammelt, was eben ſich dar -*IVbot; in der Folge geſtaltete ſich aus dieſen Materia - lien ein Buch, welches, ungeachtet der großen Män - gel ſeiner Redaction, doch in dem, freylich beſchränkten Kreiſe ungeheuchelter Kunſtfreunde mit vielem Danke aufgenommen wurde, eben weil es aus den Quellen geſchöpft iſt und eigene Anſichten enthält. Vielleicht wird es in dieſer Art Literatur, welche compilatoriſche Arbeiten überſchwemmt haben, Veranlaſſung ſeyn, künf - tig Autoritäten, denen man bald blindlings zu folgen, bald ohne Gründe zu widerſprechen gewohnt war, ei - ner ſtrengen, aber gerechten Kritik zu unterwerfen; zudem, nach der Stellung und Lage eines Jeden, auch die handſchriftlichen Quellen zu benutzen, aus dieſen neue Thatſachen, oder Berichtigungen angenommener Irrthümer an das Licht zu ziehn, endlich die Kunſt - geſchichte nicht länger als ein Aggregat von Zufällig - keiten und abgeriſſenen Thatſachen, ſondern als ein zu - ſammenhängendes, gleichſam organiſches Ganze aufzu - faſſen.

War nun freylich meine Arbeit nicht eigentlich darauf angelegt, alles Erreichbare in ſich einzuſchlie - ßen, ſo konnte ich doch den Wunſch nicht bewältigen, ihr durch Einiges über die Epoche der höchſten Ent - wickelung der neueren Kunſt, beſonders über Raphael, gleichſam den Schlußſtein zu geben. Verſchiedene bis - her, theils nicht erſchöpfte, theils noch ganz unberührte Quellen der Geſchichte dieſer Zeit waren mir ihrer Stelle nach bekannt: das Hausarchiv der Gonzaga zuV Mantuafür Giulio Romanound Tizian, der Medi - zeer zu Florenzfür die Regierungen Leo X.und Cle - mens VII., endlich einige Handſchriften beſonders der florentiniſchen Bibliotheken. Nicht ohne Hoffnung war ich, auch in dem Hauſe Baglioni, ſelbſt in Rom, ei - niges noch Ungenutzte aufzufinden. Ich kehrte in der Abſicht, dieſe Quellen zu benutzen, nach Italienzu - rück. In den erſten Monaten meines neuen Aufent - haltes feſſelten mich Unfälle; in der Folge verwickelte ich mich in verſchiedene Beſorgungen für das König - liche Muſeum zu Berlin, welche mich früher, als ich anfänglich beſtimmt hatte, an die deutſche Grenze und in die Heimath zurückführten.

Der Wunſch, die Geſchichte Raphaelsund ſeiner großen Zeitgenoſſen durch bisher unbeachtete That - ſachen zu bereichern, das Ungewiſſe und Irrige aus Quellen erſter Hand feſtzuſtellen und zu berichtigen, mußte demnach, da zur Rückkehr in meine andere Hei - math wenig Hoffnung iſt, vielleicht für immer aufgege - ben werden. Doch belehrten mich verſchiedene Werke, welche über Raphaelauch ohne Zuziehung noch un - benutzter Quellen verfaßt worden ſind, daß es ſo vie - ler Vorarbeiten nicht bedürfe, daß Jeder aus ſeinem Geſichtspunkte über den allgemeinen Charakter und die beſonderen Werke Raphaelsviel Neues auffaſſen und ausſagen könne.

Unter dieſen Werken iſt das älteſte: Braun, G. Chr., RaphaelsLeben und Werke,Wies -VIbaden, 1815. 8., eine bloße Compilation, vornehm - lich aus den Schriften der weimariſchen Kunſtfreunde und des verewigten Fernow. Es ſcheint dem Verfaſ - ſer nicht allein an eigener Anſchauung, nein ſogar an nöthiger Bekanntſchaft mit dem Zeitalter Raphaelszu fehlen.

Hierauf folgte: Iken, C. J. L., die vier italieniſch. Hauptſchulen der Malerey, nebſt der raphaeliſchen, genealogiſches Tableau, Bremen, 1821. Fol. Eine bloße Tabelle.

Rehberg, Friedrich, Rafael aus Urbino, München, 1824. 2 Theile mit 38 lithogra - phirten Tafeln, Fol. Die eigenthümlichen An - ſichten, Gefühle und Urtheile eines achtenswerthen Künſtlers, welche, als für ſich beſtehend, von mir nicht benutzt werden durften.

Quatremère de Quincy, hist. de la vie et des ouvrages de Rafaëletc. Paris, 1824. 8. Dieſes Werk giebt ſich theils als eine hiſtoriſche Un - terſuchung, theils als eine äſthetiſche Kritik der Werke Raphaels. In Bezug auf die letzte bemerke ich, daß ich in der allgemeinen Auffaſſung des künſtleriſchen Charakters Raphaelsganz mit dem Verfaſſer überein - ſtimme, ſeine Schilderungen, vornehmlich der Bilder, welche vormals in Parisvereinigt waren, im Ganzen mit Vergnügen und Belehrung geleſen habe. Indeß iſt er in der Kritik ſeiner hiſtoriſchen Autoritäten min - der glücklich. Die Manier und den Charakter desVII Vaſarihat er nicht ſtudirt, wie es nöthig iſt, um zu unterſcheiden, wo er meldet, wo nur ſchwatzt, wo er weiß, wo nur vermuthet. Im Allgemeinen ſetzt er in deſſen Angaben eine Zuverläſſigkeit voraus, welche man, ehe ſie erprobt iſt, denſelben nirgend einräumen darf. Zudem folgt er mit blindem Glauben den neueren ita - lieniſchen Schriftſtellern, unter dieſen beſonders den Entſcheidungen des Lanzi. Auf eine ſehr zweydeutige Stelle in deſſen Kunſtgeſchichte, auf eine Note der modernen Editoren des Vaſari, ſtützt er die Angabe: das Bild im Hauſe des MarcheſeRinucciniſey daſ - ſelbe, welches Raphaelfür denCanigianigemalt habe; des Münchener Bildes erwähnt er gar nicht, entweder weil er davon keine Kunde erlangt hatte, oder weil er die Sache für abgemacht hielt. Doch wird ſeine hiſtoriſche Strenge beſonders durch den Um - ſtand verdächtig daß der Verf. für die Angabe, die bekannte Jardinière ſey für Sienagemalt, den Va - ſaricitirt, welcher die Jardinière ſo wenig gekannt zu haben ſcheint, als die übrigen frühe nach Frankreichgelangten Bilder von Raphael, oder doch in RaphaelsGeſchmack. Na[ch]des Vf. eigener Definition (p. 135.), der ich beypflich〈…〉〈…〉 e, verſteht Vaſariüberall bey dem Worte, Madonna, ein Bruſtbild der Jungfrau mit dem Kinde. J[e]nes Bild aber für Sienanennt er ſowohl im Lebe[n] Raphaels, als in dem anderen des Ridolfo Ghirla[n]dajo(welchem letzten Vaſarihöchſt wahrſcheinlich d〈…〉〈…〉 e Notiz von dieſem Bilde verdankt),VIII ſchlechthin: Madonna. Daß Vaſarian jener Stelle die Jardinière bezeichnet habe, iſt eine Vermuthung des Mariette, welche Bottariin den Künſtlerbriefen bekannt gemacht. Mariettewollte Kunde beſitzen, daß Franz I. dieſes Bild von ſieneſiſchen Verkäufern er - ſtanden habe, und ſchloß daraus (doch etwas verwe - gen), es ſey daſſelbe, welches Vaſarials von Ridolfobeendigt leichthin erwähnt. Bekanntlich wird die ra - phaeliſche Abkunft der Jardinière in Zweifel gezo - gen, hat man neuerlich ein Duplicat aufgefunden, wel - ches vorzüglicher ſeyn ſoll, worüber nur an der Stelle zu entſcheiden iſt. Unter allen Umſtänden enthält das Werk des Vaſarikeine Zeugniſſe für d[i]e Aechtheit des einen oder des andern Duplicats. Ueberhaupt be - fürchte ich, daß Hr. Q.ſein Studiun dieſes wichti - gen Schriftſtellers darauf eingeſchränk[t]habe, die Le - bensbeſchreibung des Raphaelzu dur[c]hblättern, weil er (p. 130. Anm.) behauptet, daß [V]aſarider ſoge - nannten Madonna Franz I. gar nicht erwähne. Im Leben Raphaelsfreylich nicht; doch wohl im Leben des Giulio Romano, dem Vaſaride[n]größten Theil der Ausführung dieſes Bildes beymißt, worin er wahr - ſcheinlich den mündlichen Mittheilunger des Giulioge - folgt iſt.

In Anſehung des Bildniſſes aus dem Hauſe Al - toviti giebt ſich der Verfaſſer der Ausl[e]gung desMiſ - ſiriniganz ohne Einſchränkung hin.[W]ederMiſſirini, nochWikar, dem die neue Conjectur eigentlich ange -IX hört, haben, da ſie doch nun einmal auf Vaſariſich ſtützen wollen, das Bildniß ſich recht angeſehen, wel - ches Vaſariin einem ſehr manierten Holzſchnitte dem Leben Raphaelsvorangeſtellt hat. Es iſt abſcheulich gemacht; doch ſieht man, woher Vaſaries entnom - men; denn die Beleuchtung, die Haltung des Kopfes, der etwas vorgedrängte, geſchwellte Mund, wie end - lich die Parthieen des Haares, laſſen nicht bezweifeln, daß jener unbekannte Formſchneider einer ſehr flüch - tigen Zeichnung nach dem Bilde des Hauſes Altoviti gefolgt ſey. Allein auch die Sprachgründe des italie - niſchen Gelehrten ſind nicht ſo unumſtößlich, als der Verfaſſer anzunehmen ſcheint. Miſſirinihat die Elo - cution des Vaſarinicht genug berückſichtigt und, zu Ende ſeiner Deduction, dieſe wieder umgeſtoßen, in - dem er ſagt: das possessivum, um auf das Sub - ject bezogen zu werden, erheiſche den Zuſatz, proprio. Denn es iſt dieſer Zuſatz einleuchtend nur eine Ver - ſtärkung, keine Umwandlung des Sinnes. Dieſelbe Conſtruction umfaßt bei Vaſarizwey in ſehr verſchie - denen Epochen Raphaelsgemalte Bilder; übrigens iſt es nicht nöthig das: fece a Bindo, ſo buchſtäblich zu nehmen, ſowohl in Anſehung der verknüpfenden Erzählungsweiſe des Vaſari, als beſonders des Um - ſtandes, daß in dem zweyten, der Madonna dell impannata, von RaphaelsHand keine Spur ſich zeigt. Bindokonnte beide Gemälde aufgekauft haben; das zweyte verhandelte er an den Herzog Coſimo I.

X

Einwendungen dieſer Art, deren ich gelegentlich verſchiedene geltend zu machen habe, nehmen jedoch dem Werke nicht den eigenthümlichen Vorzug vieler franzöſiſchen, practiſch angelegt zu ſeyn, die Materien gut vertheilt, ſie in eine bequeme Ueberſicht gebracht zu haben. Es erfreute ſich daher einer frühen Ue - bertragung in das Italieniſche, unter dem Titel: Isto - ria della vita e delle opere di Rafaello Sanzio da Urbino, del S. Quatremereetc. voltata in Italiano, corretta, illustrata ed ampliata per cura di Francesco Lunghena. In Milanoper Frco Sansogno 1829. XII u. 847 Seiten gr. 8., woraus auf eine anſehnliche Vermehrung, ſey es brauch - barer, oder anderer Notizen zu ſchließen iſt. Ich kenne dieſe Arbeit nur durch Auszüge, welche mir in Brie - fen und beſonders im Kunſtblatte (11. Nov. 1830.) zu Geſicht gekommen ſind. Aus den letzten ſehe ich, daß darin behauptet wird, Raphaelhabe des IngegnoSibyllen in der Kirche S. Francesco zu Aſiſibenutzt, oder vor Augen gehabt, als er in, la pace, malte; eine der unhaltbarſten Behauptungen der Welt, da jene Sibyllen zu Aſiſi, wie ich gezeigt habe, geringe Pro - ducte eines Zeitgenoſſen, nicht des Perugino, ſondern der Alloriund des Vaſariſind, des Adone Doni von Aſiſi, und nur durch eine Kette von Vermuthungen, Mißverſtändniſſen und falſchen Schlüſſen den Ruf er - langt haben, jenem gewiß ganz alten, doch als Künſt - ler faſt unbekannten Meiſter anzugehören. Entſtel -XI lungen der Namen, z. B. S. Domenico de Caglizu Urbino, für zu Cagliim Staate von Urbino, oder S. Hortulanus, für Herkulanus, werden auf Rechnung des Auszuges, oder der Correctur zu ſetzen ſeyn. Doch ſchien mir nach dieſen Proben nicht un - umgänglich nöthig, die angekündigten Vermehrungen zu benutzen, welche ich vor der Hand auf ihrem Werthe beruhen laſſe.

Demungeachtet bezweifle ich nicht, daß unter den von Lunghenanachgetragenen älteren Arbeiten Ra - phaelsviele die Probe halten. Manche habe ich nach eigener Bekanntſchaft angeführt und halte ſelbſt den we - nig wichtigen Sebaſtiandes Kupferſtechers Longhizu Maylandfür ächt, obwohl für das Fragment eines größeren Bildes. Dieſes mag, gleich der Pietà des GrafenToſi, gelegentlich der Verſetzung desSpoſa - liziovon Caſtelloin die Lombardeygelangt ſeyn.

Der bezeichnete Auszug erwähnt des Gemäldes nicht, welchem Herr Longhidurch einen ſchon angekün - digten ſauberen Kupferſtich ſeine Sanction zu geben ſucht; indeß ſchreibt man mir aus Italien, daß ſo - wohl dieſes lombardiſche Cento, als manche andere Gegenſtände der Speculation darin aufgeführt wer - den, was ſeyn mag, doch von mir nicht geradehin zu behaupten iſt.

Das Beſtreben, möglichſt vollſtändig zu verzeich - nen, was in der Welt für RaphaelsArbeit gilt, hat beſonders die beiden letzten Werke nicht ſelten überXII die Grenzen des Möglichen und Wahrſcheinlichen hin - ausgeführt. Allein ungeachtet des Umfanges darin vereinigter Notizen von ſehr verſchiedenem Werthe, und meines eigenen viel eingeſchränkteren Planes, habe ich das Verzeichniß der früheren Werke Raphaelsnoch um einige weniger beachtete Stücke erweitern können. Ueberhaupt ſchmeichle ich mir, die Jugendarbeiten Ra - phaelsin eine beſſere Folge und Ordnung gebracht zu haben, als die angenommene. Eine ernſtliche Be - ſchäftigung mit den Schulen zu Fulignound Peru - gia, von welcher im vorangehenden Bande Rechen - ſchaft abgelegt worden, hatte mich in den Stand ge - ſetzt, durch den Nebel zu ſehen, welchen die Druck - ſchriften ſeit Vaſariüber die Jugend Raphaelsver - breitet haben. Die verſchiedenen Epochen des Pietro Perugino, welche doch ſchon Vaſari, zwar allgemein - hin, doch ganz richtig bezeichnet, waren von den Ver - faſſern der lettere Perugine, von Lanziund anderen neueren Schriftſtellern nie gehörig unterſchieden wor - den; der Andrea di Luigi, genannt Ingegno, war, bis ich das hiſtoriſch Sichere aufgedeckt, Gegenſtand der lächerlichſten Träumereien; ſelbſt den Pinturicchiokannte man wenig, unterſchied ſeine eigene Arbeiten durchaus nicht von denjenigen, welche er mit Hülfe ſehr ver - ſchiedener Künſtler auf Unternehmung gemalt hat. So wenig vorbereitet, mußte es dem Hiſtoriker, wie ſelbſt dem Kenner ſchwer fallen, Raphaelsfrüheſte Arbeiten von den verwandten und ähnlichen der Schulen, anXIII deren Wirkſamkeit er Theil nahm, zu entwirren. Al - lein aus demſelben Grunde wird es auch nur denen, welche, meinen Angaben im vorangehenden Bande folgend, mit jenen Schulen ſich ernſtlich bekannt ma - chen, ganz möglich ſeyn, zu beurtheilen, was ich über RaphaelsJugend Neues aufgeſtellt habe. Nicht min - der wird die Prüfung meiner Vermuthungen einer ſehr thätigen Theilnahme des Ridolfo Ghirlandajoan der Ausführung eines der berühmteren Werke Ra - phaelseine genauere Bekanntſchaft mit den Arbeiten jenes Florentiners vorausſetzen, als die Kunſtfreunde ſich zu erwerben pflegen.

Die Abhandlung, welche dieſen Band beſchließt, iſt die abgekürzte Bearbeitung einer Unterſuchung, welche, anfänglich für den erſten Band beſtimmt, nunmehr in dieſem letzten ihre Stelle gefunden hat. So viel als möglich habe ich darin die Wiederholung deſſen ver - mieden, was ich bey früherer Unterdrückung des Gan - zen in einige der erſten Abhandlungen ſchon aufge - nommen hatte. Gern hätte ich gelegentlich der Um - arbeitung neuere Forſchungen verglichen und benutzt. Indeß fehlt dem neuen, intereſſanten Werke Boiſſe - rée’sbisher die hiſtoriſche Erläuterung, liegt dieſe über - haupt nicht im Plane der Mollerſchen Denkmäler, wie anderer, unſer Vaterland und Frankreichſpeciell an - gehender Bilder und Bilderwerke; in England, wo freylich in früherer Zeit ſehr viel geſchehen iſt, behan - delt man die Architectur des Mittelalters gegenwärtigXIV ganz als Geſchmacksſache; in Italienendlich wird die Kenntniß der Kunſtbeſtrebungen des Mittelalters, welche man neuerlich durch einen Nachſtich des Werkes von d Agincourtmehr verwirrt, als befördert hat, gegen - wärtig mehr, als jemals vernachläſſigt. Was uns Tra - montanen ſchon unſer Alterthum, iſt den Italienern, welche den Trümmern des claſſiſchen ſo nahe ſtehen, ſchon etwas modernes. Selbſt in den früheren Zei - ten wurden gelehrte Benedictiner, Pfarrer, Bibliothe - kare, ein Muratori,Goriund andere, mehr durch ein kirchliches, oder diplomatiſches, als durch ein rein kunſt - hiſtoriſches Intereſſe bewogen, Alterthümer des Mit - telalters abzubilden, zu erläutern und herauszugeben.

[XV]

Verzeichniß der Abhandlungen.

  • Erſter Theil.
  • I. Haushalt der Kunſt,Seite 1 133.
  • II. Verhältniß der Kunſt zur Schönheit,134 157.
  • III. Betrachtungen über den Urſprung der neueren Kunſt,157 179.
  • IV. Ueber den Einfluß der gothiſchen und longobardiſchen Einwan - derungen auf die Fortpflanzung römiſch-altchriſtlicher Kunſtfertigkeiten in der ganzen Ausdehnung Italiens,180 195.
  • V. Zuſtand der bildenden Künſte von Karl des GroßenRegierung bis auf Friedrich I.Für Italiendas Zeitalter äußerſter Entartung,196 249.
  • VI. Zwölftes Jahrhundert. Regungen des Geiſtes, techniſche Fort - ſchritte bey namhaften Künſtlern,250 282.
  • VII. Dreyzehntes Jahrhundert. Aufſchwung des Geiſtes der ita - lieniſchen Kunſt; raſcher Fortſchritt in Vortheilen der Darſtellung. Einfluß der Byzantiner auf die Entwickelung der italieniſchen Male - rey,282 355.
  • Zweiter Theil.
  • VIII. Duccio di Buoninſegnaund Cimabue. Sieneſer und Flo - rentiner. 1250 1300,Seite 1 38.
  • IX. Ueber Giotto,39 75.
  • X. Ueber die beſſeren Maler des vierzehnten Jahrhunderts. Zur Mehrung und Berichtigung ihrer Geſchichte,76 122.
  • XVI
  • XI. Urkundliche Erörterung: Weshalb man den neuen Dom zu Sienaunvollendet gelaſſen und ſich begnügt hat, den alten ſchöner zu ſchmücken und zu erweitern. Nebſt anderen Beyträgen zur Geſchichte der italieniſchen Bauhütten. Dreyzehntes und vierzehntes Jahrhun - dert,123 163.
  • XII. Von einigen Dunkelheiten und Verwechſelungen des vier - zehnten und folgenden Jahrhunderts. Alberto di Arnoldo;Piero Che - lini; Lorenzo da Viterbo; Bernardo Roſſellini; Urbano da Cortona; Antonio di Federigo,164 209.
  • XIII. Entwurf einer Geſchichte der umbriſch-toscaniſchen Kunſt - ſchulen, für das funfzehnte Jahrhundert,210 383.
  • XIV. Die unumgängliche Vielſeitigkeit in den Beziehungen, die Hinderniſſe der Entwickelung, die Urſachen des vorzeitigen Verfalles der neueren Kunſt,384 420.
  • Dritter Theil.
  • XV. Ueber Raphael von Urbinound deſſen nähere Zeitgenoſſen:
  • XVI. Ueber den gemeinſchaftlichen Urſprung der Bauſchulen des Mittelalters,158 228.
XV.
[1]

XV. Ueber Raphael von Urbinound deſſen naͤhere Zeitgenoſſen.

III. 1[2][3]

I. Was Raphaelvor allen neueren Künſtlern auszeichnet.

Obwohl ſeit etwa dreihundert Jahren in den geſtaltenden Kuͤnſten verlockende Theorieen und blendende Erſcheinungen unablaͤſſig die eine die andere verdraͤngt haben, nirgend ein ſicherer Geſchmack gegen die vorwaltende Neigung zum Neuen und Wechſelnden ſich behaupten konnte, ſo erhielt ſich den - noch im Verlaufe dieſer Zeit eine gewiſſe unentſchiedene Mei - nung von dem uͤberlegenen Verdienſte Raphaels, wurden ſeine Werke von denen, welche vom Copiren ſich Nutzen verſprechen, ſtets als beſonders muſterhaft anempfohlen. In dieſem Be - ginnen der aͤſthetiſchen Praxis liegt ein Widerſpruch, welcher allein aus dem Kampfe des Gefuͤhls gegen den machtvollen Einfluß theoretiſcher Richtungen zu erklaͤren iſt.

Dieſen letzten hielt bey den Alten das lebendigſte, rich - tigſte Gefuͤhl voͤllig die Wage. Die neuere Bildung hinge - gen beguͤnſtigt in Dingen des Geſchmackes den Einfluß jeg - licher, den Anſchein eines methodiſchen Fortſchreitens bewah -1 *4renden Doctrin. Bey jenen blieb das Urtheil uͤber die groͤ - ßeren Kuͤnſtler unangefochten, weil fuͤr deren ſehr zugaͤngliche Werke das Gefuͤhl immerfort Zeugniß ablegte. Unter uns aber, wo ſogar in der Sprache die lebendige Modulation muͤndlicher Mittheilung durch Schrift und Druck zuruͤckge - draͤngt, die unmittelbare Anſchauung geiſtvoller Kunſterzeug - niſſe durch den Kupferſtich erſetzt wurde, gelangten Viele, welche den unmittelbaren Erzeugniſſen des Geiſtes gegenuͤber verſtummen, weil fuͤr das Ueberſchwengliche das Maaß ihnen verſagt iſt, doch dahin, des aͤſthetiſchen Materiales gleichſam im Auszuge ſich zu bemaͤchtigen, durch Umfang der Kunde und Beleſenheit ſich geltend zu machen; wohingegen uͤber die aͤchten Kunſtwerke, bey deren weiter Verſtreuung, nur Wenige ein ſicheres und ſelbſtſtaͤndiges Urtheil ſich bildeten. So konnten, in den letzten Jahrhunderten, Theorieen, deren conſequente Anwendung das Vortreffliche herabſetzen, hinge - gen das Geringe und Schlechte hervorheben wuͤrde, doch, gegen die richtigeren Entſcheidungen eines gebildeten Gefuͤhles, bey der Menge Einfluß erlangen, und ſo lange darin ſich be - haupten, bis ſie durch neue verdraͤngt wurden. Auch erlangte aus demſelben Grunde Einiges, welches alte Schriftſteller poetiſch, Anderes, was ſie fluͤchtig ausgeſprochen, oder ſophi - ſtiſch hervorgeſponnen, ein Anſehn, ja auf die Thaͤtigkeit mo - derner Kunſt einen Einfluß, welcher, nach dem Zeugniß der Denkmale antiker Kunſt, im Alterthume ihm keinerzeit in glei - chem Maaße iſt eingeraͤumt worden.

Freylich erheiſcht auch der Genuß, beſonders aber die Hervorbringung des Schoͤnen, ein gewiſſes Verſtaͤndniß. In - deß wird die Begriffsentwickelung der aͤſthetiſchen Praxis, da ſie unmittelbar aus dem Beduͤrfniß entſpringt, nothwendig iſt,5 in allen Dingen dem Beduͤrfniß auch ſich anpaſſen, anwend - bar, brauchbar ſeyn wollen; waͤhrend die Theorie, als freyes Geiſtesproduct, ſchon durch redneriſche Methodik und formelle Conſequenz ſich auszeichnen und ſelbſt befriedigen kann. Im Reſultat beider Richtungen entſteht der Unterſchied vornehm - lich daher: daß die Praxis auch mit der Hervorbringung des Schoͤnen ſich beſchaͤftigt, die Theorie aber nur mit dem Schoͤ - nen ſelbſt, wie und aus welchem Geſichtspunkt daſſelbe ihr ſich darbieten moͤge. Der Theoretiker fuͤhlt alſo nicht leicht das Beduͤrfniß, die Schoͤnheit, als etwas fuͤr ſich Denkbares, von den ſchoͤnen Erſcheinungen abzuſondern, befuͤrchtet wohl ſelbſt, das Schoͤne moͤge durch Zergliederung in ſeine Ele - mente in ſich aufgehoben, vernichtet werden; wohingegen die Hervorbringung des Schoͤnen unablaͤſſig darauf hinleitet, die Schoͤnheit abgeſondert aufzufaſſen, ihren abgeſonderten Begriff bis in deſſen verborgenſte Theilungen zu verfolgen. Denn Kunſtwerke, wie ſie gleich einem einzigen, vollen Guſſe erſcheinen ſollen, entſtehen doch aus einer langen Folge von Ueberlegungen und Handlungen, in welchen bald die Schoͤn - heit im Allgemeinen, bald ganz untergeordnete Schoͤnheiten das Augenmerk des Kuͤnſtlers ſind, wie ſelbſt, nach geendig - tem Werke, der genaueren Beurtheilung und Wuͤrdigung des Kenners.

Wer koͤnnte beſtreiten wollen, daß bei Auffaſſung umfaſ - ſender Begriffe jedes unzeitige Hervorkehren des Untergeord - neten, als eines Beſchraͤnkteren, ſtoͤrend ſey? Alſo nicht ohne Grund beſcheidet ſich die Praxis, in der Beſtimmung des all - gemeinen Begriffes der Schoͤnheit, mit dem Vorbehalte, in deſſen innere Fuͤlle naͤher einzugehen, und mit Beſeitigung aller Emphaſe, welche ſie den ſchoͤnen Erſcheinungen, dem6 Schoͤnen, aufbewahrt, nur dasjenige anzudeuten, was ohne Einſchraͤnkung und Ausnahme die Schoͤnheit von anderen, beſonders aber von ſolchen Begriffen unterſcheidet, denen ſie ſcheinbar naͤher verwandt iſt.

Nicht bloß durch Schoͤnheit, auch durch Guͤte und Wahrheit kann der Geiſt hoͤchlich erfreut werden. Allein es zeigt ſich die Guͤte im Weſen, die Wahrheit in der Ueberzeu - gung, die Schoͤnheit nur im Scheine; weßhalb ein tiefer Den - ker unſerer Zeit ſie die kraftloſe nennt. Alſo iſt die Schoͤn - heit, auch zugegeben, daß ſchoͤne Erſcheinungen (Schoͤnes) Vorſtellungen von Gutem und Wahrem erwecken koͤnnen, doch an ſich ſelbſt weder Guͤte, noch Wahrheit; vielmehr: Er - freulichkeit des Scheines, des Anſcheins, der Apparenz, deren Urſachen verſchiedene ſind. Freylich wird hiedurch dieſer Be - griff nur beſtimmt, nach außen begrenzt, nicht aber ſchon er - ſchoͤpft. Sehn wir daher unverzuͤglich, welche andere Begriffe die aͤſthetiſche Praxis ſeit den aͤlteſten Zeiten jenem allgemei - neren untergeordnet hat.

Ueberall, wo es die Fuͤlle giebt, ſucht man durch Ein - theilung Ueberſichtlichkeit und Ordnung zu erſchaffen. Weß - halb denn ſollte nicht auch der Kuͤnſtler die einzelnen Schoͤn - heitsgeſetze, deren Gewalt und Macht ihm taͤglich bemerklich wird, mit Schaͤrfe auffaſſen, ſie unterſcheiden, und jedes fuͤr ſich bezeichnen? Muß es doch dem Kuͤnſtler ſich aufdraͤngen, daß jener wohlgefaͤllige Eindruck auf den Geſichtsſinn, den er bey Verſchmelzung ſeiner Tinten, Sammlung ſeiner Lichter, oder bey Abſchleifung und aͤußerer Beendigung ſeiner Formen - gebilde allein bezweckt, auf ganz anderen Geſetzen beruhe, als die Uebereinſtimmung in geometriſchen Verhaͤltniſſen und An - reihungen, welche bey Anordnung und Zuſammenſtellung der7 materiellen Theile des Werkes ſeine Aufmerkſamkeit ausſchließ - lich in Anſpruch nahm; daß von noch anderen Geſetzen der Eindruck abhaͤngig ſey, welchen beſtimmtere, durch das Kunſt - werk anzuregende Vorſtellungen auf das Gefuͤhl bewirken wer - den. Schoͤnheitsgeſetze aber, von denen das eine in dem be - ſchraͤnkten Organismus eines menſchlichen Sinnes, das an - dere, gleich der muſicaliſchen Harmonie, in weitumfaſſenden Naturnothwendigkeiten, das dritte im ſittlichen Gefuͤhle ge - gruͤndet iſt, noͤthigen, auf durchaus und ſchon in den Grund - lagen geſchiedene Schoͤnheiten zu ſchließen: die ſinnliche An - nehmlichkeit; die Schoͤnheit geometriſcher Verhaͤltniſſe und Anreihungen; die Erfreulichkeit durch ſinnliche Wahrnehmun - gen mittelbar in der Seele angeregter, beſtimmterer Vorſtel - lungen.

Indeß koͤnnen dieſe allgemeineren Unterſcheidungen der aͤſthetiſchen Praxis nicht genuͤgen; es erheiſcht ihr Beduͤrfniß, denſelben viele andere, noch ſpeciellere Begriffe unterzuordnen. Der ſinnlichen Annehmlichkeit: Schmelz, Contraſt, Ton, Hal - tung, Harmonie der Tinten, gefaͤllige Textur der Koͤrper; der Schoͤnheit der Raumverhaͤltniſſe, deren verſchiedene Gattungen, etwa, das Gedraͤngte, Schlanke, Bewegte, Geſammelte. End - lich unterſcheidet ſie jene beſtimmteren Vorſtellungen, welche, durch ſinnliche Wahrnehmungen in der Seele angeregt, in dieſer befriedigende Gefuͤhle erwecken, in Anmuth, Reiz, Wuͤrde, Erhabenheit, und ſo viele andere, in dem Gedaͤchtniß der Ge - bildeten vorhandene und leicht aufzufindende Begriffe. Dieſe und die uͤbrigen ihnen verwandten Begriffe ſind auch in die Kunſtſprache der Theorie uͤbergegangen, wo ſie, bey ganz ver - ſchiedener Ableitung, ihre richtige Stellung nicht immer zu finden wiſſen, daher im Wege ſtehen, und aus dieſem Grunde8 haͤufig jenen allgemeineren Begriffen, denen ſie wahrhaft un - tergeordnet ſind, hoͤchſt willkuͤhrlicher Weiſe nur beygeordnet werden.

Aus Uebelwollen, vielleicht auch nur aus Mißverſtaͤndniß, hat man mir eingeworfen, vielmehr mich beſchuldigt, ich be - zwecke, das Schoͤne, oder den Inbegriff der ſchoͤnen Erſchei - nungen, nach jedesmaligem Vorwalten der einen Schoͤnheit uͤber die andere in verſchiedene Claſſen abzutheilen; etwa gleich einer beſtimmten, doch ſchon veralteten Richtung der Theorie, in ein ſinnlich und geiſtig, aͤußerlich und innerlich Schoͤnes. Es iſt nicht ſchwer, einzuſehn, daß hier Begriffe mit Dingen verwechſelt werden, daß man auf dieſe uͤbertraͤgt, was nur jene gilt. Vielleicht veranlaßte ich die ungerechte Beſchuldi - gung durch Beyſpiele, deren ich, nach allgemeinem Gebrauche, mich bedient habe, um jene Begriffe zu einer gewiſſen An - ſchaulichkeit zu bringen. Allein ſelbſt, wenn ich verſaͤumt haͤtte, dieſen Grund, ſo wie die Seltenheit ſolcher ganz reinen Beyſpiele, hervorzuheben, verſteht es ſich doch aus ſich ſelbſt, daß es der Praxis, eben weil ſie, uͤber Allgemeines verſtaͤn - digt, die ſchoͤnen Erſcheinungen als Concretionen auffaßt, in welchen jene allgemeineren Eigenſchaften auf das innigſte und in hoͤchſt verſchiedenem Verhaͤltniß verſchmolzen ſind, viel fer - ner liege, als der Theorie, das Schoͤne nach einem moͤglichen, doch ſtets verdeckten und ungewiſſen Vorwalten der einen Schoͤnheit uͤber die andere zu claſſificiren. Wo das Beduͤrf - niß eintritt, auch das Schoͤne einer uͤberſichtlichen, ordnenden Eintheilung zu unterwerfen, wird alſo die Praxis, in Erwaͤ - gung, daß die Art und das Verhaͤltniß des Zuſammentreffens verſchiedener Schoͤnheiten zu einem ſchoͤnen Ganzen nothwen - dig durch deſſen eben vorwaltenden Charakter bedingt wird,9 vielmehr nach dieſem ihr Schoͤnes unterſcheiden, beſtimmen, benennen wollen. Hierin iſt ihr die Theorie bereits in das Handwerk gefallen; denn was ſind jene Ideale der Alters - ſtufen, der Geſchlechter, beſtimmter ſittlicher und ſonſtiger Charaktere Anderes, als ſo viele Verſuche, das Schoͤne nach dem Charakter des Ganzen zu claſſificiren? Doch, in Erwaͤ - gung der unermeßlichen Mannichfaltigkeit in den Individuen denkbarer Charakterverſchiedenheiten, bezweifle ich die Moͤglich - keit einer durchaus erſchoͤpfenden Claſſification des einzelnen Schoͤnen, deſſen Beduͤrfniß wohl uͤberhaupt, mit Ausnahme der Compendien, nicht ſehr dringend iſt.

Die aͤſthetiſche Praxis alſo, was man auch ihr willkuͤhr - lich unterlegen wolle, geht davon aus: urſpruͤnglichen Schoͤn - heitsgeſetzen Unveraͤnderlichkeit, abſtracten Schoͤnheitsbegriffen Allgemeinheit einzuraͤumen, den ſchoͤnen Erſcheinungen aber, als einem (durch den Charakter) Bedingten, unbegrenzbar Mannichfaltigen, unablaͤſſig Fortſchreitenden, ſich Verjuͤngen - den, abzuſprechen, was man eben Allgemeinheit nennt. Die Theorie hingegen verwirft, beſtreitet, daß die Schoͤnheit, als ein fuͤr ſich Denkbares, abſtract aufgefaßt werde, bemuͤht ſich, aus einem daher unbefriedigten Verlangen nach Allgemeinem, Durchwaltendem, Geſetzmaͤßigem, das einzelne Schoͤne zu ei - nem Allgemeinen, das Bedingte alſo zu einem Unbedingten, zu erheben. Wiederholte Verſuche, aus dem Einzelnen, wel - ches Neigung und Zufall jedesmal in Gunſt gebracht, aͤußere Grenzen und materielle Normen des Schoͤnen abzuleiten; Schoͤnheitslinien und Normalformen; Definitionen des Schoͤ - nen, welche eigentlich nur Verzeichniſſe ſind von willkuͤhrlich angenommenen Requiſiten; wem koͤnnten ſie fremd ſeyn?

Aus dieſen Umſtaͤnden nun erklaͤrt es ſich, daß, waͤhrend10 in der aͤſthetiſchen Praxis RaphaelsWerke die hoͤchſte Stelle einnahmen, die Theorie, wohin ſich ihre Vorliebe wenden mochte, doch ſtets an denſelben zu tadeln fand. Die Praxis, welche ſchoͤn nennt und als ein Schoͤnes bewundert, was Schoͤnheiten darlegt, den Werth und Gehalt ſchoͤner Erſchei - nungen nach dem Werthe in ihnen vorwaltender Schoͤnheiten abmißt, fand in RaphaelsWerken nothwendig die groͤßte Be - friedigung. Die Theorie hingegen legte ihre abſtracten Requi - ſite, oder materielle Normen des Schoͤnen, welche ſie freylich meiſt auf empiriſchem Wege feſtſetzt und ableitet, daher haͤu - fig nach neuen Erfahrungen oder Geluͤſten umgeſtaltet, als Maaßſtab an jedes anerkannt Vortreffliche, alſo auch an Ra - phaelsWerke, unterwarf dieſe immer neuen vergleichenden Pruͤfungen, deren Reſultat nie guͤnſtig ſeyn konnte, da nicht leicht ein Einzelnes dem anderen durchgehend gleich ſieht. Dieſer Anwendung der Theorie begegnen wir indeß auch bey Kuͤnſtlern, welche in den neueren Jahrhunderten nicht ſelten die Praxis des Gefuͤhles theoretiſchen und kritiſchen Neigungen aufgeopfert haben.

Unſtreitig beſaß Vaſariein lebhaftes Gefuͤhl fuͤr Schoͤn - heit, fuͤr aͤchtes Kuͤnſtlerverdienſt; wir duͤrfen daher annehmen, daß in ſeiner Kuͤnſtlergeſchichte Raphaelsnicht alle Lobſpruͤche aus Manier und conventioneller Hoͤflichkeit entſpringen. Doch iſt es unlaͤugbar, daß in dieſer unbillig gedraͤngten und fluͤch - tigen Lebensbeſchreibung die allgemeine Anſicht des Verfaſſers ſeinen Huldigungen Feſſeln anlegt, bisweilen zu denſelben in offenen Widerſpruch tritt. Schon bey den Anhaͤngern und Schuͤlern des Michelangelo Buonarotahatte die Anſicht ſich feſtgeſetzt, es enthalte deſſen, zwar einſichtsvolle, doch fruͤher zur Manier gediehene Formengebung eine unumſtoͤßliche Norm11 des großartig, wohl auch des unbedingt Schoͤnen. Davon war auch Georg Vaſari, der Wortfuͤhrer dieſer Schule, ganz durchdrungen. Mit bedeutungsvoller Zuruͤckhaltung (er mochte das noch friſche Andenken Raphaelsſcheuen) deutet er nun an zwey Stellen an, daß Raphael, was nach ſeiner Anſicht an ihm das Beſte war, fruͤher dem Carton von Piſa, ſpaͤter der Decke in der ſixtiniſchen Capelle ſich abgelauſcht habe. Der Theorie nach blieb alſo dem Raphaelſchon damals kaum ein eigenthuͤmliches Verdienſt.

Nachdem in der Folge die Schule des Buonarota, in immer ſchwaͤcherer Wiederholung uͤbereinkoͤmmlicher Formen, bis zum Ohnmaͤchtigen ſich erſchoͤpft hatte, daher nun auch andere Verdienſte erſten Ranges zu billiger Anerkennung ge - langten, ward im Tizian, bald auch im Coreggio, ebenfalls irgend ein abſolut Schoͤnes entdeckt und wiederum, zugleich mit jener michelangelesken Großartigkeit der Umriſſe als Maaß - ſtab an RaphaelsWerke angelegt*)S. Lettere sulla pittura etc. Roma1754. To. I. p. 82. ff. Briefe Annibale’san ſeinen Oheim Ludwig Caracci.. Als endlich, in noch ſpaͤterer Zeit, die Kunſt ihre Praxis faſt aufgegeben hatte, nur mit ihrer Theorie noch beſchaͤftigt ſchien, ſollten RaphaelsMalereyen, um die Probe zu halten, ſogar bildneriſche Schoͤn - heiten darlegen, wurden ſie daher mit beſtimmten antiken Sta - tuen, in welchen man nunmehr endlich das Aechte, unbedingt Schoͤne entdeckt zu haben glaubte, ganz im Einzelnen ver - glichen**)Weimariſche Kunſtfreunde..

Freylich nun konnte man dem glanzvollen Localton des Tizian, den kraͤftigen Gegenſaͤtzen des coreggesken Helldunkels,12 den großartig geſchwungenen, feſten Umriſſen*)Lettere sulla pitt. etc. To. V. Lett. XLI. che in quanto a certa fierezza e terribilità di disegno M. Angelonon tenga senza dubbio la prima palma. des Michel - angelo, wie endlich der zierlichen Gediegenheit ganz bildneri - ſcher Formen, in RaphaelsWerken hoͤchſt ſelten und nur an ſolchen Stellen begegnen, wo die allgemeine Aufgabe, oder beſondere Abſicht des Kuͤnſtlers deren Eintreten geſtattete. Es ergab ſich daher aus dieſen verſchiedenen Vergleichungen, daß RaphaelsArbeiten, wenn auch darin einige ganz gelungene Parthien, recht lobenswerthe Gliedmaßen vorkommen, doch eigentlich keine einzige ganz muſterhafte (den angelegten Nor - men genau entſprechende) Geſtalt enthalten**)Beſonders naiv in einem Aufſatze der Propyläen; doch liegt derſelbe Sinn ſchon in dem: altro che Rafaello, des Annibale..

Es giebt keinen Ausweg, auf irgend eine Weiſe iſt hier ein Irrthum. Angenommen, daß Raphaelein geringer Kuͤnſt - ler ſey, wie er doch ſeyn muͤßte, wenn alles zur Schoͤnheit Gehoͤrige ihm fehlte; weßhalb denn mit ihm rechten, weil er etwa nicht leiſtet, was jedesmal fuͤr das Hoͤchſte und Beſte gilt? Iſt er aber im Gegentheil ein vortrefflicher Kuͤnſtler, ſo duͤrfte aus ſeinem Nichtuͤbereintreffen mit den Vorſtellungen, welche man jedesmal vom Schoͤnen ſich hat bilden wollen, mit ungleich mehr Sicherheit auf deren Beſchraͤnktheit, oder gaͤnzliche Irrigkeit zu ſchließen ſeyn, als auf Maͤngel oder Un - vollkommenheiten des Kuͤnſtlers.

Ohne Beguͤnſtigung vorgefaßter Meinungen angeſtellt, wuͤrden demnach jene ſo oft wiederholten Vergleichungen der Verdienſte Raphaelsmit denen anderer Kuͤnſtler und Kunſt - epochen vielmehr die Zweifel hervorgerufen haben: ob die13 Eigenſchaften, welche in RaphaelsWerken vermißt werden, an ſich ſelbſt vereinbar ſeyen; ob Raphaeljenen, in ſeinen Werken vermißten, ganz einſeitigen Vorzuͤgen ſein eigenthuͤm - liches Wollen mit gutem Nutzen habe aufopfern koͤnnen.

Unerklaͤrlich iſt es, wie techniſch hoͤchſt gewandte Maͤn - ner, die Caracci und ihre Zeitgenoſſen, uͤber die materielle Un - vereinbarkeit der Virtuoſitaͤten, welche ſie zu verſchmelzen ſtreb - ten, ſo dauernd ſich haben taͤuſchen wollen. Wie koͤnnte denn der lichte Localton des Tizianmit den ſtarken Contraſten des Helldunkels in den Gemaͤlden des Coreggio, wie der maleriſche Schmelz dieſer beiden mit den feſten Umriſſen des Michelan - geloausgeglichen werden? wie endlich, nach den Anforderun - gen einer ſpaͤteren Zeit, die bildneriſche Formengediegenheit mit dem zugleich noch immer in Anſpruch genommenen maleriſchen Reize? Ein gelehrter, ruͤckſichtsvoller Umriß wuͤrde die maleri - ſchen Stroͤmungen von Licht und Schattenmaſſen, welche in den Gemaͤlden des Coreggiobewundert werden, gleichſam in ein vorgezeichnetes Strombette einengen, Zerſtuͤckelungen der Maſſen, Haͤrten hervorrufen, aufheben, was an dem Meiſter des Helldunkels geehrt wird. Michelangelesker Schwung, co - reggeske Grazie, widerſtrebt nothwendig jener verbreiteten Hel - ligkeit des Tizian, welche nur mit ſeinen, hoͤchſt einfachen Um - riſſen auszugleichen iſt. Endlich ſtellt ſich die Unvereinbarkeit eines bildneriſch vollendeten Umriſſes mit maleriſchem Reize in den Beyſpielen vieler neueren, beſonders der franzoͤſiſchen Schulen, auch denen ſehr anſchaulich vor den Sinn*)So ſchließe ich aus vielen öffentlichen Beurtheilungen moderner Kunſtproducte., welche14 in den Stylgeſetzen der einzelnen Kunſtarten Verſchiedenheiten nicht einraͤumen wollen.

Indeß, waͤren nun auch dieſe in RaphaelsWerken ver - mißten Vorzuͤge ganz ſo vereinbar, als man nicht ſelten ge - waͤhnt hat, ſo duͤrften ſie doch an ſich ſelbſt des Opfers einer großen Eigenthuͤmlichkeit nicht werth ſeyn. Große Mei - ſter ſind, Tizian, Coreggio, Michelangelo, uͤberraſchender bey erſter Bekanntſchaft ihrer Werke, als die meiſten Raphaels. Stellen wir aber im Geiſte eine groͤßere Menge ihrer Ge - maͤlde zuſammen, oder ſehen wir zufaͤllig viele derſelben vor uns vereinigt, ſo ſcheint, da alle daſſelbe Wollen ausdruͤcken, in gewiſſem Sinne eins das andere entbehrlich zu machen. Auch muß es Kundigen auffallen, daß in denſelben die ange - woͤhnten Formen nicht ſelten dem dargeſtellten Gegenſtande widerſprechen, daß Michelangeloauch das Zarte rieſenhaft, Coreggioauch das Maͤnnliche und Starke weich und ſchmel - zend nimmt und behandelt; daß endlich Tizianauch in hiſto - riſchen Darſtellungen nie zum Energiſchen ſich erhebt.

RaphaelsBilder hingegen, wenn wir von den Logen zu den Stanzen, von dieſen unmittelbar in die vaticaniſche Ge - maͤldeſammlung uͤbergehn, dort, oder im Pallaſt Pitti, oder im vormaligen Muſeo zu Paris, ſie in groͤßter Menge vor uns vereinigt ſehn, unterſtuͤtzen, ergaͤnzen ſich gegenſeitig, erhoͤhen eins das Intereſſe des anderen, weil in ihnen das Subjective nicht in dem Maaße vorwaltet, als in jenen, weil der Wille, weil die Faͤhigkeit, den gerade ſich darbietenden Gegenſtand richtig aufzufaſſen, ihn bis in ſein innerſtes Mark zu durch - dringen, von der Gemuͤthsart und geiſtigen Eigenthuͤmlichkeit des Kuͤnſtlers nur im gehoͤrigen Maaße, von angewoͤhnten Richtungen und Handhabungen aber durchaus nicht beſchraͤnkt15 wird. Kunſtwerke tragen nothwendig das Gepraͤge des Gei - ſtes, welcher ſie hervorgebracht; gewiß hat auch Raphaeldie Milde ſeiner Geſinnung, die Ruhe und Beſonnenheit ſeines Geiſtes nie verlaͤugnen koͤnnen. Allein eben in dieſen Haupt - zuͤgen ſeiner Eigenthuͤmlichkeit iſt jene Objectivitaͤt gegruͤndet, welche ungeachtet ſo vieler Unaͤhnlichkeit in der aͤußeren Er - ſcheinung doch RaphaelsWerke denen der Alten vergleichbar macht, ihnen, ſollten ſie denn auch der uͤberraſchenden Virtuo - ſitaͤt anderer Meiſter entbehren, doch ſo viel beſchaͤftigende Mannichfaltigkeit, ſo viel tiefen Gehalt verleiht.

Doch, indem ich die Faͤhigkeit, gegebenen oder ſelbſtge - waͤhlten Gegenſtaͤnden der kuͤnſtleriſchen Darſtellung ganz ſich hinzugeben, ſie zu durchdringen, in ihnen neu aufzuleben, als den meiſt unterſcheidenden Charakterzug Raphaelsauffaſſe, darf ich nicht unerwaͤhnt laſſen, was Anſpruch zu haben ſcheint, davon ausgenommen zu werden.

Das erſte, was hier auffaͤllt, iſt jenes an Nachahmung grenzende ſich Anſchmiegen an die Vorbilder, welche im Laufe ſeines Jugendlebens ihm ſich dargeboten haben, beſonders an Pietro Perugino, welcher, ſeit Vaſari, fuͤr RaphaelsLehrmei - ſter gilt. Dieſe Erſcheinung indeß kann nur auf den erſten Blick befremden, da es bey naͤherer Unterſuchung ſich zeigt, daß dem Lehrling, Schuͤler und Gehuͤlfen im alten Sinne des Wortes die Kunſt und Art des Meiſters fuͤr einige Zeit der Gegenſtand war, den er vor anderen ins Auge faßte, wetteifernd zu erreichen, man koͤnnte ſagen, darzuſtellen ſtrebte. Daß Raphaelhierin es weiter gebracht als, ſelbſt den Spagnanicht ausgenommen, alle uͤbrige Schuͤler und Geſellen des Perugino, begruͤndet demnach keinen Einwurf. Zudem zeigt ſich gerade in ſeinen fruͤheſten Arbeiten viel unabhaͤngiges Ur -16 theil; denn das Einzelne, der ganzen Zuſammenſtellung Un - tergeordnete, iſt darin haͤufig durch Vergleichungen mit dem Leben verbeſſert, zu gleichguͤltigen oder ganz widrigen Manie - ren des Meiſters ausgewichen, ſo daß man ſagen duͤrfte, Ra - phaelhabe in den Arbeiten der bezeichneten Art den Peruginozugleich erreicht und uͤbertroffen. Da nun ſchon in dieſen Nachahmungen umbriſcher Meiſter (wir werden ſehen, daß Peruginowohl nicht allein auf RaphaelsJugendarbeiten ein - gewirkt hatte) ſo viel eigenes Urtheil, ſo viel ſelbſtſtaͤndiger Wille verborgen liegt, ſind die Uebergaͤnge von ihnen zu den nachfolgenden, unabhaͤngigeren Arbeiten Raphaelsgewoͤhnli - chen Sinnen kaum bemerklich; was wiederum erklaͤrt, daß die Kunſtgeſchichte, wie ſie beſtand und noch beſteht, der fruͤ - heren Haͤlfte der Wirkſamkeit unſeres Meiſters nicht mehr als zwei Manieren zutheilt; zu viel und zu wenig.

Ob man uͤberhaupt die mancherlei Kunſt - und Bildungs - ſtufen Raphaels, nachdem ſie vorausſetzlich genauer aufgefaßt, ſcharfſinniger unterſchieden worden, als gemeinhin geſchieht, mit einigem Grunde Manieren (Gewoͤhnungen der Hand) nennen koͤnne, iſt eine Frage fuͤr ſich. Ich gebe zu, daß eine gewiſſe eigenthuͤmlich markige Pinſelfuͤhrung ſeine Theilnahme an aͤlteren Arbeiten im Geſchmacke des Peruginoeben ſowohl bekundet und uͤber jeden Zweifel erhebt, als ſpaͤter ſeine Retouchen in den Werken ſeiner Freunde, oder in den Vor - arbeiten und Anlagen ſeiner Schuͤler. Indeß, da die Wen - dungen ſeines Pinſels, ſelbſt des vertreibenden, uͤberall eben ſo geiſtreich, als bewußt den Formen folgen, ſichtlich durch - hin vom Gegenſtande herbeygefuͤhrt und geboten werden, ſo wird uns RaphaelsModellirung nicht wohl fuͤr Manier gel - ten koͤnnen, vielmehr als eine nothwendige Folge jener Ob -jecti -17jectivitaͤt erſcheinen muͤſſen, welche ihn von ſeinen Zeitgenoſſen, ich denke, guͤnſtig unterſcheidet. Eine andere Eigenſchaft ſei - ner Arbeiten iſt die Sauberkeit in deren Raͤndern, einfaͤrbigen Grundflaͤchen und aͤhnlichen Nebendingen; doch auch dieſe kann nicht wohl fuͤr Manier gelten, da ſie aus Ordnungs - liebe, Gewiſſenhaftigkeit und billiger Beruͤckſichtigung der An - ſpruͤche des Abnehmers entſpringt. Endlich ſcheint ſelbſt jene Eigenthuͤmlichkeit ſeiner Pallette, der weißliche Grundton in den Lichtern ſeiner Carnation, der Vorbereitung ſeiner Ge - maͤlde anzugehoͤren; denn in ſolchen, deren Oberflaͤche nicht angegriffen iſt, verdecken ihn waͤrmere Tinten, denen er, als Unterlage ein erfreuliches Licht verleiht. Die Veranlaſſung fuͤhrt hier die Bemerkung herbey, daß unter allen Malern der einzige Raphaelſich bemuͤht hat, jenen lichten Glanz zu be - nutzen und auszudruͤcken, welcher im menſchlichen Antlitz aus dem Hervortreten der Knochenbildung, in der Stirne, laͤngs der Naſe, unter den Augen, auch wohl am Kinn, zu entſte - hen pflegt. Die großen Coloriſten der lombardiſchen Schulen moͤgen dem taͤglichen Vorbilde mehr fleiſchiger Bildungen nach - gegeben, auch ſonſt das Beduͤrfniß ſtrenger Formen weniger gefuͤhlt haben; denn gewiß zeigen jene Theile in den Koͤpfen des Tiziandieſelbe Weichheit, denſelben Ton, als die anſto - ßenden Muskelbildungen, in denen des Coreggioaber etwas von der unverhaͤrteten Beſchaffenheit der Kinderkoͤpfe. Dieſes jedoch der Ehrfurcht vor unvergleichbaren Vorzuͤgen ganz un - beſchadet.

Es iſt demnach der vulgaͤren Kunſtgeſchichte nicht einzu - raͤumen, daß Raphaeljemals von Manieren ſich habe beherr - ſchen laſſen. Suchen wir nun zu verhindern, daß man, den Namen, nicht das Vorurtheil aͤndernd, zum Style ſeine Zu -III. 218flucht nehme, dem großen Kuͤnſtler nicht mehr Manieren, ſon - dern verſchiedene Style beymeſſe.

Aus den Forderungen des jedesmaligen Gegenſtandes, deſſen begeiſterte Auffaſſung vorausgeſetzt, ergeben ſich in den Kunſtwerken viele und mehrfaͤltige Schoͤnheiten. Einige in - deß, und keinesweges veraͤchtliche, aus der Kunſt an ſich ſelbſt, aus der Stellung, Anordnung und Vertheilung im Raume, aus gehoͤriger Handhabung des Stoffes, in welchem man bil - det oder Geſtalten erſcheinen macht. Dem Wortgebrauche neuerer Kuͤnſtler mich anſchließend, habe ich in einer der fruͤ - heren Abhandlungen, ſchoͤne Anordnung, den allgemeinen, bil - lige Beruͤckſichtigung, gewandte Beſeitigung der Anſpruͤche des Stoffes, in welchem man gerade ſich ausdruͤcken will, den be - ſonderen (maleriſchen oder bildneriſchen) Styl genannt. Daß ſolche, von den Forderungen des Gegenſtandes ganz unab - haͤngige Kunſtvortheile denkbar, beachtenswerth ſeyen, daß de - ren Anwendung die Geſammtſchoͤnheit der Kunſtwerke bedinge, wird nicht wohl mit Zuverſicht gelaͤugnet, uͤberzeugend wider - legt werden koͤnnen. Hingegen mag man uͤber die Wahl des wortes noch ſtreitig ſeyn, eine andere Benennung an deſſen Stelle ſetzen, welche vielleicht den Begriff ungleich zweckmaͤßi - ger bezeichnen wird, als Styl; ein Wort, welches ich eben nur, dem Gebrauche mich anzuſchließen, gewaͤhlt habe.

In dieſem Sinne genommen beſaß nun freylich Raphaelmehr Styl, als irgend ein anderer unter den groͤßeren Kuͤnſt - lern der neueren Zeit. Ein ſolcher Styl iſt indeß nicht, wie die Style der Italiener, der Manier faſt gleichbedeutend, wie dieſe, Gewoͤhnung, Unart, ſo oder anders mit Stoff und Ge - genſtand umzugehn: ſondern religioͤſe Unterwerfung unter all - gemeine, unveraͤnderliche Schoͤnheitsgeſetze, ſey es aus einem feinſinnigen Gefuͤhle, oder aus deutlicher Erkenntniß.

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Bey groͤßter Verſchiedenheit der Aufgaben finden ſich in ſeinen Werken, von den jugendlichſten bis zu den ſpaͤteſten, doch an keiner Stelle Spuren jener Verwirrung, jener un - gleichen, Leerheiten aufdeckenden Anhaͤufung, welche in neueren Gemaͤlden ſo gewoͤhnlich und ſelbſt in ſonſt vortrefflichen vor - kommen. Bildniſſe, oder Zuſammenſtellungen von wenigen und wenig bewegten Figuren halten ohne Zwang die Mitte der Flaͤche; ihre Umriſſe naͤhern ſich anmuthsvoll dem Rande, ohne ihn je zu beruͤhren, zeichnen ihre Aus - und Einbeugun - gen gegen den Grund mit einem Liniengefuͤhle, welches an muſicaliſche Modulationen erinnert. Schwieriger indeß, als im Geſammelten, wird das Princip dieſer Schoͤnheit, ohne Beeintraͤchtigung des Gegenſtandes, auch im Bewegten feſtge - halten; daher ſetzt nichts den Styl Raphaelsin ein glaͤnzen - deres Licht, als eben der Tempelraub des Heliodor in den Stanzen des vaticaniſchen Palaſtes. Bekanntlich hatte man in der reflectirenden Kunſtepoche der Caracci verſucht, die geometriſche Anordnung der Gemaͤlde unter beſtimmte Regeln und Vorſchriften zu bringen, welche, wenn ſie uͤberhaupt auf - zufinden ſind, nicht vielmehr dem Gefuͤhle hier Alles zu uͤber - laſſen iſt, doch gewiß damals viel zu beſchraͤnkt und beſchraͤn - kend aufgefaßt wurden. Nach ſolchen, ſchwerfaͤllige und er - zwungene Gruppirungen beguͤnſtigenden Regeln, welche in der Theorie langezeit ſich in Kraft erhalten haben, ward gelegent - lich auch der Heliodor beurtheilt und angegriffen. Der leere Raum in der Mitte des Bildes, die Ungleichheit der Maſſen in den beiden einander ſcheinbar entgegengeſetzten Gruppen, des Volkes und der Krieger, ſchienen unvereinbar mit den an - genommenen Grundſaͤtzen der Compoſition, des Kunſtausdruckes fuͤr die Zuſammenſtellung der materiellen Theile eines Gemaͤl -2 *20des. Oeffentlich ward dieſes lange vorwaltende Urtheil zuerſt im Ardinghello angegriffen, gezeigt, daß es hier galt, in die Bewegung der Boten des raͤchenden Gottes die Schnelligkeit des Blitzes zu legen, daher der Raum, den ſie eben durch - meſſen, noch unbeſetzt, der Volkshaufe noch zuruͤckgedraͤngt er - ſcheinen mußte; was in der That das Gewaltige und Ueber - menſchliche des Vorganges ganz unvergleichlich ausdruͤckt. Habe nun auch freylich die Aufgabe dem Componiſten, als ſolchem, hier eigenthuͤmliche Schwierigkeiten entgegengeſtellt, ſo verdiene er darum nur um ſo mehr Bewunderung, weil er ſie mit groͤßtem Erfolg uͤberwunden. Denn er laſſe das Volk in ſchraͤger Richtung ſich in den Mittelgrund draͤngen, ſtelle daher nicht dieſes, ſondern den Pabſt auf ſeinem Tragſeſſel (auch an dieſer alluſoriſchen Epiſode haben zu peinliche Kri - tiker Anſtoß genommen) der Gruppe verjagter Krieger gegen - uͤber, wodurch das etwa begehrenswerthe Gleichgewicht ganz wiederhergeſtellt werde. Uebrigens muͤſſe die Mitte des Bil - des auch geleert bleiben, damit der Hoheprieſter, deſſen Gebet die ganze Handlung motivirt, deutlich gezeigt werden koͤnne.

Gleiche Sicherheit des Geſchmackes zeigte Raphaelin Solchem, was nicht mehr, wie jenes, dem allgemeinen, jeg - liche Kunſt, auch die Baukunſt, umfaſſenden Style, ſondern ausſchließlich dem maleriſchen angehoͤrt.

In der Bildnerey beruhet die Darſtellung auf einer ge - wandten Handhabung reeller Formen. Da nun hingegen die Malerey des bloßen Anſcheines von Formen ſich bedient, wel - chen ſie kuͤnſtlich auf einer Flaͤche hervorruft, ſo muß ein - leuchtend in ihr jegliches der Apparenz Entgegenwirkende, oder ſie Aufhebende, ſehr ernſtlich zu vermeiden ſeyn. Dahin ge - hoͤren Localtoͤne, welche durch eine ungehoͤrige Farbe, durch21 zu viel Dunkelheit oder Helle, Zuſammenhaͤngendes durchſchnei - den, alſo, was als Form erſcheinen ſoll, in Flecke verwan - deln. Dieſes Geſetzes gewaͤrtig ſuchte Raphaelden Localton des Haares durch deſſen Helligkeit mit dem Hauptlichte der Stirne in Zuſammenhang zu bringen, die Lichtparthieen ſeiner Gewaͤnder, ohne lineariſche Schoͤnheiten zu vernichten, mit Anmuth in breitere Flaͤchen zu vereinigen, Eindruͤcke und Ver - tiefungen durch ſanfte Uebergaͤnge in die anſtoßenden Lichter zu verſchmelzen.

Das Reſultat der eben beſchloſſenen Bemerkungen koͤnnte den Einwurf herbeyfuͤhren: daß Raphael, da ſein reiner Ge - ſchmack in Dingen der Anordnung und maleriſchen Behand - lung nie ſchwankt, nie ganz ſich verlaͤugnet, den Styl, den ich als ein Allgemeines auffaſſe, in ſein Eigenthuͤmliches ver - wandelt habe, nach welchem ſein maleriſcher Charakter nun eben ſo ſicher ſich beſtimmen laſſe, als nach der Objectivitaͤt, welche ich oben hervorgehoben. Indeß kann der Styl, als etwas dem Handwerke der Kunſt Gehoͤrendes, erlernt, durch reflectirende Beobachtung und practiſche Nachahmung erwor - ben werden; Raphael dal Colle, Domenico Alfani, Giulio Romanound andere ſind dem von Urbinoin dieſem Kunſt - vortheile oft ſehr nahe gekommen. Hingegen vermochten ſie nicht, die Objectivitaͤt ihres Meiſters und Vorbildes zu errei - chen, weil deſſen gluͤcklichſte Einigung liebevoller Hingebung und deutlicher Verſtaͤndigung auf Anlagen und bildenden Le - bensereigniſſen beruht, welche nicht wohl ſich abſichtlich her - beyfuͤhren laſſen. Das ganz Unvergleichbare in Raphaelskuͤnſtleriſchem Weſen bleibt alſo, was ich bereits bezeichnet habe und nunmehr durch die verſchiedenen Epochen ſeiner thaͤtigen Laufbahn verfolgen will.

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II. RaphaelsJugendwerke.

Georg Vaſariberichtet uns, daß Raphael, als Knabe, unter der Leitung ſeines Vaters, Giovanni Sanzio, in der Malerkunſt den erſten Grund gelegt habe, aus deſſen Schule ſodann in die bluͤhendere, beruͤhmtere des Peter von Perugiagelangt ſey. Dieſe Angabe ſtimmt zu den Sitten und Ver - haͤltniſſen jener Zeit. Denn wer dazumal der Kunſt ſich zuwen - dete, ward ſchon als Knabe in die Lehre gegeben, damit er, was zum Handwerke gehoͤrt, erlerne, ehe das erwachende Selbſtgefuͤhl, das ſteigende Bewußtſeyn ungewoͤhnlicher Na - turgaben gegen niedrige und trockene Beſchaͤftigungen verderb - liche Unluſt erwecke.

Seitdem, beſonders durch Lanzi, auch fuͤr dasjenige Schoͤne und Liebenswerthe, welches aͤltere Kunſtformen ſo haͤufig in ſich einſchließen, die Empfaͤnglichkeit geweckt wor - den, hat man nach Arbeiten des Giovanni Sanzioſich um - geſehn, auch zu wiſſen begehrt, wie Raphaelin fruͤheſter Ju - gend wohl ſich angelaſſen habe.

In Urbinowerden verſchiedene Stuͤcke dem Vater bey - gemeſſen, welche Herr Johann Metzger, der bekannte floren - tiniſche Kenner, mir, dem jener Ort ſtets unzugaͤnglich geblie - ben, als anmuthsvoll und anziehend beſchreibt. Das eine, Maria mit dem Kinde, von einer Mauer in Sanzio’sHauſe23 abgeſaͤgt und gegenwaͤrtig in der Wohnung der Familie Sa - lozio, wenn ich den Namen richtig ſchreibe; in einem anderen Hauſe derſelbe Gegenſtand a Tempera; endlich in S. Francesco ein Altarblatt, Maria auf dem Throne, umgeben von vier Heiligen, Johannes B., Franciscus, Sebaſtianund Hierony - mus. Neben dem letzten knieet angeblich die Familie des Sanzio, der kleine Raphaelzur Seite der Mutter. Vielleicht war das Gemaͤlde ein Geſchenk des Kuͤnſtlers an das unver - moͤgende Kloſter, was ihm das Recht geben konnte, ſeine Fa - milie darin einzufuͤhren.

Durch eigene Beſichtigung wurden mir zwey Gemaͤlde von ungleichem Verdienſte, doch aͤhnlichem, bleygrauem Tone bekannt, beide mit Aufſchriften. Deren eine, auf einem Bilde der oͤffentlichen Gallerie zu Mayland, iſt freylich an vielen Stellen unreinlich nachgeholt und lautet verdaͤchtig, wie folgt: IOHANNESSANTIS VRB. P. Die Charaktere der an - deren, auf dem ungleich ſchoͤneren Bilde der koͤnigl. Gallerie zu Berlin, Nro. 215 der erſten Abtheilung, haben ein aͤchte - res Anſehn; auch ſcheint der anmuthsvolle Knabe zur Rech - ten in ſeinem Hemdchen den ſpaͤteren Bildniſſen Raphaelsin etwas zu gleichen, was auch fuͤr die Echtheit der Aufſchrift eine guͤnſtige Stimmung erweckt.

Ferner zeigt man zu Urbinoin der Sacriſtey des Kirch - leins S. Andrea ein rundes Bild auf Holz, welches Raphaelnoch in der Schule ſeines Vaters gemalt haben ſoll: eine heilige Familie, S. Joſeph eingeſchloſſen. In dieſem Bilde glaubt Herr Metzger, bey den jugendlichſten Unvollkommen - heiten, doch den Genius Raphaelsund ſogar beſtimmte, in ſpaͤterer Zeit wiedereingekehrte Eigenthuͤmlichkeiten, beſonders der Faͤrbung, wahrgenommen zu haben.

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Unter den Truͤmmern einer der aͤlteſten florentiniſchen Sammlungen fand ich vor einigen Jahren ein rundes Bild, welches mir in dieſe fruͤhe Epoche Raphaelseinzufallen ſchien. Der Gegenſtand, die Madonna mit beiden Kindern und zween halberwachſenen Engeln, deren einer das Kind der Mutter zur Verehrung entgegenhaͤlt, der andere, niederknieend, den kleinen Johannesdem Jeſuskinde zu empfehlen ſcheint, findet ſich Stuͤck fuͤr Stuͤck in einem Bilde des Peruginoaus ſeiner beſten Zeit (von 1480 90), gegenwaͤrtig im Hauſe der Gra - fen Mozzi zu Florenz, bey der Bruͤcke alle grazie. Von die - ſem Bilde iſt das unſrige eine Art Copie, doch nur der Zu - ſammenſtellung, der Motive, nicht der Charaktere und einzel - nen Ausgeſtaltungen in den Lagen, Wendungen, Koͤpfen und Haͤnden. In dieſen zeigen ſich bey wenig aͤußerer Fertigkeit ſo viel richtige, tiefbegruͤndete Wuͤnſche und Abſichten, als in dieſer Epoche und Schule, auf einer ſo beſcheidenen Stufe der techniſchen Entwickelung, nur dem Raphaelbeyzumeſſen ſind. Auch die ungemein ſchoͤne, zierliche Landſchaft, der friſche Lo - calton der Carnation, die ſaubere Umraͤnderung der Tafel in glaͤnzendem Schwarz, ſcheinen fuͤr meine Vermuthung zu ſpre - chen. Da endlich ſelbſt mein Berichtgeber in Dingen der Stadt Urbinodarin eine Annaͤherung an jenes Bildchen zu Urbinowahrzunehmen glaubte, der Preis aber auf zwanzig Zecchinen zu bringen war; ſo ſchwankte ich nicht laͤnger, die - ſes jugendlich anmuthsvolle Bild fuͤr die Sammlungen der Majeſtaͤt des Koͤnigs von Preußenzu erſtehen. Im Muſeo zu Berlinhat es in der erſten Abtheilung die Nummer 222.

Mit Sicherheit weiß ich nichts anzufuͤhren, was jenen fruͤheſten, wohl auch noch bezweifelten Jugendarbeiten unmit - telbar ſich anſchloͤſſe. Hatte Raphael, wie doch nicht ohne25 Grund angenommen wird, ſchon in der Schule und Werk - ſtaͤtte ſeines Vaters eigene, ganz lobenswerthe Bilder beendigt, ſo wird er in die Werkſtaͤtte des Perugino(wenn nicht auch noch anderer Meiſter) ſchwerlich als Lehrling, vielmehr ſo - gleich als Geſelle und Theilnehmer an den Arbeiten des Mei - ſters eingetreten ſeyn. Als Pietroin Perugiaſich niederließ, war er bereits den funfzigen nahe, war er, jenes edle Be - ſtreben, welches ihn bis dahin uͤber die meiſten Zeitgenoſſen erhoben hatte, gegen einſeitigen Erwerbsgeiſt vertauſchend, von einem großen Kuͤnſtler zu einem gluͤcklichen Unternehmer von maleriſchen Erzeugniſſen aller Art herabgeſunken. Seine da - maligen und ſpaͤteren Arbeiten ſind daher großentheils das Werk ſeiner Gehuͤlfen und Schuͤler. Wer aber unter ſo vie - len haͤtte mehr Huͤlfe gewaͤhren koͤnnen, als eben Raphael? Ich glaube deſſen tiefeindringende, belebende Theilnahme an verſchiedenen der ſpaͤteren Werke des Peruginodeutlich wahr - zunehmen*)Ich ſetze hier voraus, daß der Charakter, die Kunſtepochen des Pietro, aus einer früheren Entwickelung (Th. II. S. 336. f.) bekannt ſind..

In untergeordnetem Maaße zeigt ſich dieſelbe ſchon in jenem Altargemaͤlde, welches vor etwa zwanzig Jahren aus dem Kloſter zu Vallombroſain die Gallerie der florentiniſchen Kunſtſchule gelangt iſt**)S. dieſe Forſch. Th. II. S. 346. die Anmerk.. Der Entwurf gehoͤrt unſtreitig dem Pietro, welcher eben damals, ſey es, um Zeit und Ar - beit zu erſparen, oder auch um den Wuͤnſchen ſeiner Goͤnner zu entſprechen (das Einbrechen einer ganz neuen Kunſtzeit mochte bey Vielen Bedenklichkeiten erwecken), die maleriſche Gruppirung ſeiner fruͤheren Arbeiten gegen horizontale Auf -26 ſtellungen und regelmaͤßig figurirte Glorien zu vertauſchen be - gann. Hingegen verrathen die Koͤpfe, Wendungen, Lagen in den Formen, wie in den Motiven an mehr als einer Stelle etwas jugendlich Raphaeliſches. Beſonders der Erzengel Mi - chael zur Rechten des horizontalen Vorgrundes, welcher, ſchon ausgebildeter, in dem Gemaͤlde der Karthauſe von Paviavon Neuem vorkommt, zeigt jenen kleinen gerundeten Mund, jene eigenthuͤmliche Einfachheit in den Formen der Stirn und Naſe, den ſo hoͤchſt genuͤglichen Ausdruck, dem wir, in Raphaelsfruͤhe - ſten Arbeiten mehr als ein Mal begegnen werden. Hingegen iſt der Sehnſuchtsausdruck in den beiden Hauptfiguren karikirt, miß - lungen; Beweis genug, daß Peruginoin dieſem Bilde nicht ſelbſt die Hand angelegt, vielmehr daſſelbe Juͤnglingen uͤber - laſſen hatte, welche Vieles erreichen, Einiges verbeſſern moch - ten, nur nicht eben dieſes meiſt Eigenthuͤmliche ihres Meiſters.

Das bezeichnete Gemaͤlde zeigt das Jahr 1500. Nach der Aufſchrift an einem Pfeiler im Wechſelgerichte (Cambio) zu Perugiawaren deſſen Mauergemaͤlde in demſelben Jahre bereits in Arbeit*)Ueber deren ſpätere Beendigung ſ. Mariottilett. perugine, lett. VI. p. 258.. Der Zeit nach konnte Raphaelauch in dieſem umfaſſenden, jenem Altarbilde an vielen Stellen nicht unaͤhnlichen Werke die Hand angelegt haben. Wirklich er - innern die Sibyllen und Propheten des ſchoͤnſten Bildes an mehr als eine Epiſode in den bekannteren Arbeiten des jungen Raphael. Freylich werden dieſe Figuren ſeit einiger Zeit dem Ingegnobeygemeſſen; indeß habe ich die Grundloſigkeit die - ſer Meinung bereits aufgedeckt**)Forſchungen. Th. II. p. 330..

Endlich erſchien mir auch das treffliche Altargemaͤlde der27 Karthauſe unweit Pavia, welches Vaſariim Leben des Pe - ruginoals deſſen Arbeit bezeichnet und mit Lobſpruͤchen uͤber - haͤuft, als durchaus raphaeliſirt, im Ganzen, wie in den Theilen, voͤllig umgegoſſen.

In dieſer fruͤhen Zeit ward die Kunſt gewerbsmaͤßig ſo - wohl betrieben, als beguͤnſtigt; weßhalb ich nicht bezweifle, daß jenes ſchoͤne Gemaͤlde dem weitberuͤhmten Pietroaufge - tragen worden; ſein hoffnungsvoller Schuͤler oder Geſelle war hoͤchſt wahrſcheinlich damals ſelbſt dem Namen nach in der entfernten Lombardeyganz unbekannt. Da nun auch in der Anordnung und Farbenwahl einiger Einfluß des Meiſters be - merklich wird, ſo erklaͤre ich mir, daß Vaſari, welcher nach vielen Umſtaͤnden die Karthauſe zu Pavianur fluͤchtig kann geſehen haben, bey der Kunde von jener Beſtellung ſich be - friedigte. Ueberhaupt iſt Vaſari, den der Umfang ſeiner Un - ternehmung von genauer Erforſchung des Einzelnen abgeleitet, nie dahin gelangt, die verſchiedenen Epochen des Perugino, und in deſſen ſpaͤteren Arbeiten die Hand ſeiner vorzuͤglich - ſten Gehuͤlfen befriedigend zu unterſcheiden.

Bey Aufhebung des Kloſters, in ſeiner Geſammtheit des groͤßten Wunders der Lombardey, ſind die groͤßeren Abthei - lungen dieſes Altarbildes durch Ankauf in das Haus desDuca Melziuͤbergegangen; der Karthauſe blieb, in dem Gie - belfelde des alten Rahmens, Gott der Vater mit dem Sym - bol des heiligen Geiſtes. Dieſer Giebelſchmuck fand und fin - det ſich noch in einem aͤlteren Altargemaͤlde Raphaelszu Neapelund in dem alten Rahmen der Grablegung Borgheſe, in der Kirche S. Francesco zu Perugia; alſo war dieſe, frey - lich der umbriſchen Schule ſeit lange gelaͤufige, Verzierung auch dem Raphaelehrwuͤrdig und beliebt.

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Unter den uͤbrigen Tafeln, denen im Hauſe Melzi, hat man das groͤßere Mittelbild zur Ausgleichung verkleinert, auch ſonſt mit Barbarey beſudelt. In dieſem Stuͤcke verehrt die Jungfrau das Kind, welches ein herangewachſener Engel ihr darreicht; wie oben, in dem aͤlteren Bilde eine Vorſtellung des Perugino, doch ſichtlich mit Luſt ergriffen und ſeelenvoller entwickelt. In der Luft ſchweben drey Engel, der Groͤße nach entfernt, doch hart gezeichnet, bunt colorirt, weßhalb der Re - ſtaurator verſucht hat, ſie durch Beſchmutzungen zuruͤckzuſetzen, was jedoch den Zweck verfehlt. Das Kind und der Engel ſind ebenfalls retouchirt; hingegen iſt der ſchoͤne Kopf der Madonna ganz wohl erhalten.

Auf dem Seitenbilde zur Linken der Erzengel Michael, zwar in der Stellung jenes anderen in dem Altarbilde aus Vallombroſa, doch die Beine weniger geſpreizt und ausgebo - gen, nach einem beſſeren Modell; die Hand auf dem Schilde ſehr gluͤcklich nach dem Leben, nicht in der angenommenen Manier des Perugino, ſondern wahr und zierlich; auch ſind hier die Geſichtszuͤge weniger kindiſch, als des Georgin jenem offenbar aͤlteren Gemaͤlde des Jahres 1500. Auf dem anderen Seitenbilde zur Rechten fuͤhrt der Schutzengel den jungenTobias, beyde Figuren trefflich aus dem Typus des Pietrozu hoͤherer Lebendigkeit hervorgebildet. In der Faͤr - bung iſt das Ganze, ſo weit es bey gegenwaͤrtigem Zuſtande noch zu beurtheilen iſt, jenem aͤlteren Bilde der florentiniſchen Akademie noch immer nahe verwandt.

Schon ungleich entſchiedener ſcheint mir Raphaelin einem anderen, kleineren Bilde ſich auszuſprechen, welches neuerlich aus einem Hauſe Baglioni zu Perugiain den Be - ſitz des mehrgedachten Herrn Metzgergelangt, und, wenn ich29 nicht irre, verkaͤuflich iſt. Madonna mit dem Kinde, Halb - figur, etwa zwei Drittheile gemeiner menſchlicher Groͤße. Im Ausdruck groͤßte Ruhe und Genuͤglichkeit; in den Formen viel Wahrheit, Ergebniß antheilvoller Beobachtung; in der Carnation mehr Impaſto, als dem Peruginogewoͤhnlich war, ſchwaͤrzliche Schatten, deren waͤrmere Ueberzuͤge die Zeit ver - zehrt haben koͤnnte, da keine Firnißlage die Oberflaͤche be - ſchuͤtzt. In Anſehung dieſer Zeichen groͤßerer Selbſtſtaͤndigkeit darf angenommen werden, daß Raphaeldas Bild ſchon auf eigene Rechnung gemalt habe, wie es denn in vieler Hinſicht von den angefuͤhrten zu ſeinen Arbeiten in Città die Caſtelloden Uebergang bildet.

Dieſen letzten geht indeß eine Epoche voran, die ſehr viel Raͤthſelhaftes aufzeigt, deren Erfahrungen, Neigungen, Maximen oft muͤſſen in der Erinnerung wieder aufgeſtiegen ſeyn, da ſie auch in den ſpaͤteren Jugendarbeiten Raphaelsmehr als einmal ſich verjuͤngt haben.

Wir entſinnen uns aus einer fruͤheren Abhandlung*)Th. II. S. 314. ff., daß Niccolò Alunnozu Fulignoeiner kraͤftigen, braͤunlichen Faͤrbung geneigt war, welche Peruginound Pinturicchionur voruͤbergehend, auch dann nur bedingt, Andrea di Luigi von Aſiſihingegen ohne Vorbehalt angenommen. Den maleriſchen Charakter des Ingegno, uͤber welchen Vaſari, und, nach ihm Lanziund Fiorilloganz widerſtrebende Dinge melden, ſuchte ich nach einem Bilde zu beſtimmen, welches damals bey Herrn Metzgergeſehen wurde, nunmehr in den Beſitz eines florentiniſchen Kunſtfreundes, des Herrnvon Volkmann, uͤber - gegangen iſt. Von ebenfalls abweichender Auffaſſung der30 Formen abgeſehn, unterſchied ſich dieſe Arbeit, wie uͤberhaupt, ſo beſonders von den ſpaͤteren Werken des Pietrodurch einen braͤunlichen Ton, ungemeine Kraft in den dunkleren Tinten. Dieſelbe Eigenthuͤmlichkeit der Faͤrbung zeigte ſich in einigen Malereyen al Fresco zu Aſiſi, deren Urheber bisher unbekannt iſt, welche indeß mit vieler Wahrſcheinlichkeit dem einzigen damals in Aſiſiausgezeichneten Meiſter beyzumeſſen ſind. Sie ſetzten hier um ſo mehr Abſichtlichkeit voraus, als es verhaͤltnißmaͤßig ſchwieriger iſt, in Frescomalereyen warme und kraͤftige Tinten hervorzubringen. Urkundliche Nachrichten, welche ich auf dieſe Veranlaſſung mitgetheilt, uͤberzeugten uns, daß Andrea den Gebrauch ſeines Geſichtes, den er, nach Va - ſari, ſchon um’s J. 1480 ſoll eingebuͤßt haben, noch um 1510 beſaß; ferner, daß er ſchon 1483 zu Aſiſiein anſaͤſſiger Mei - ſter war und ſeiner Vaterſtadt auch in der Folge treu geblie - ben iſt. Obwohl nun Vaſari, nach ſo viel unnachdenklich er - zaͤhlten Unvereinbarkeiten an dieſer Stelle auf Glaubwuͤrdig - keit wenig Anſpruch hat, ſo trifft doch ſeine, der Zeit nach, irrige Kunde von paͤbſtlichen Beguͤnſtigungen mit den geſchicht - lichen Urkunden im Allgemeinen uͤberein*)Th. II. S. 327., was vorausſetzt, daß ſein uns unbekannter Berichtgeber jene Nachrichten nicht aus der Luft gegriffen, ſie, wenn auch fluͤchtig, doch aus acht - baren Quellen geſchoͤpft habe. Demnach kann auch dem, was Vaſarivon freundſchaftlichen Beruͤhrungen mit dem Ingegnoerzaͤhlt, etwas Wahres zum Grunde liegen, wobey ſich dar - bietet, daß jene anſehnlichen Stellen, welche Julius II. dem Ingegnoſicher verliehen hat, wohl auch durch die Verwen - dung Raphaelserlangt ſeyn moͤchten. Allein, da Ingegno31ſchon im Geburtsjahre Raphaelsein anſaͤſſiger Meiſter war, muß ſein Verhaͤltniß zu Raphael, wenn ein ſolches je ſtatt - gefunden, nicht, wie es Vaſariangiebt, als Freundſchaft unter Juͤnglingen aufgefaßt werden, ſondern als des Schuͤlers, oder doch Gehuͤlfen zu ſeinem Meiſter. Auch wenn es nicht in der Abſicht liegt, wird doch nothwendig das Wohlwollen des erfahrenen Meiſters gegen den Neuling in Rath, Anweiſung, Unterricht, uͤbergehen.

Wir beſitzen keine Hauschronik des Peruginogleich jener des Francesco Francia, aus welcher Malvaſta*)Felsina pittrice, vita di Francesco Francia. den Vaſariin Vielem berichtigt hat; keine aufklaͤrenden Briefe, noch an - dere Urkunden, aus welchen mit Sicherheit gezeigt werden koͤnnte, in welchem Jahre ſeines Lebens, unter welchen Um - ſtaͤnden und Bedingungen Raphaelin die Werkſtaͤtte des Pietroeingetreten iſt. Die unbeſtimmten, ich moͤchte ſagen, leichtſinnigen Angaben des Vaſariwerden demnach die Moͤg - lichkeit nicht ausſchließen, daß Raphael, ehe er als Gehuͤlfe dem Peruginoſich angeſchloſſen, eine gewiſſe Zeit mit dem Andrea di Luigi, als Schuͤler, oder als Geſelle, gearbeitet habe.

Verſchiedenes ſcheint zu bezeugen, daß eine ſolche Ver - bindung den Beruͤhrungen Raphaelsmit dem Pietro von Pe - rugiavorangegangen ſey. Setzen wir, daß ich richtig geſe - hen habe, als ich in den eben bezeichneten Bildern des Peru - gino RaphaelsHand wahrzunehmen glaubte, ſo zeigt ſich unſer Kuͤnſtler in dieſen, das fruͤheſte vom J. 1500 etwa ausgenommen, ſchon ungleich reifer, maͤnnlicher, vorgeruͤckter, als in einigen ſeiner Gemaͤlde im braͤunlichen Tone. Deren32 unſchuldigſtes, ſubjectiv kindlichſtes, mindeſt gewandtes iſt unſtreitig jene kleine Madonna, welche zu Berlinaus der Sol - lyſchen Sammlung in die Gallerie des Muſeums gelangte und in der erſten Abtheilung mit Nro. 223. bezeichnet iſt. Die Unvollkommenheit der Uebergaͤnge in den nackten Formen des Kindes, die enge Anlage der inneren Geſichtstheile, ſtehen ſichtlich unter der Kunſtbildung, welche ein ſo faͤhiger Juͤng - ling ſchon in der Schule und Werkſtaͤtte des Peruginoerlan - gen konnte und wirklich darin erlangt hat. Hingegen iſt in der Pinſelfuͤhrung, iſt im Impaſto ein richtigeres Princip der Oelmalerey, als Peruginoje aufgefaßt hatte. Giovanni Sanziomalte a tempera; RaphaelsBilder in Urbino, das andere, welches ich nach Berlingebracht, ſind ebenfalls a tem - pera gemalt. Lernte Raphaeldie Oelmalerey vom Ingegno? Fuͤhrte dieſes Intereſſe beide Kuͤnſtler zuſammen? Gewiß naͤ - hert ſich Raphaelin ſeinen braͤunlichen Jugendarbeiten mehr der Faͤrbung des Alunnound Ingegno.

Sehe ich in dieſem Bildchen auf den gerundeten Mund, die Kleinheit der inneren Formen, den verhaͤltnißmaͤßig weiten und vollen Umriß des Geſichtes, ſo laͤugne ich nicht, daß Raphaelbald nach dieſem Bilde in dem Erzengel jenes flo - rentiniſchen mit dem J. 1500 die Hand koͤnne angelegt haben, deſſen Geſichtsformen dieſelbe kindliche Weiſe darlegen. Sehe ich hingegen auf das Princip der Faͤrbung, ſo ſchließt ſich an das Bildchen im Muſeo zu Berlinein groͤßeres naͤher an, welches Raphael, nach der Angabe des Vaſari, fuͤr die Non - nen der peruginiſchen Kirche S. Antonio di Paduagemalt, darin das Chriſtuskind, auf ausdruͤckliches Verlangen der gu - ten Kloſterfrauen, in ein weißes, rothgeſticktes Hemdchen ge - kleidet hat. Seit laͤngerer Zeit war dieſes kraftvolle, etwasdunkle33dunkle Gemaͤlde an das Haus Colonna verkauft, dort wahr - ſcheinlich, da Bottarinicht anzugeben wußte, wohin es gera - then ſey, nicht aufgeſtellt worden; in der Folge, vor etwa zwanzig Jahren, gelangte es aus dieſem Hauſe in die koͤnigl. Gallerie zu Neapel.

Dieſes große Altargemaͤlde iſt ſchon ganz meiſterlich ge - zeichnet und gemalt. Deſſenungeachtet zeigt ſich darin keine andere Verwandtſchaft zum Perugino, als jene allgemeine, welche die umbriſchen Schulen damaliger Zeit von denen der benachbarten Laͤnder unterſcheidet. Das Bild iſt, wie die mei - ſten des Alunno, ſehr ſchmahl und hoch; die Compoſition entbehrt daher jener gluͤcklichen Verhaͤltniſſe, welche den Peru - ginoauszeichnen. Zu den Fuͤßen des Thrones macht der kleine Johannesmit dem Chriſtuskinde ſich zu ſchaffen, wel - ches die Haͤndchen anmuthsvoll zu ihm herabreicht; auch die - ſes ein Motiv des Alunno. Zu beiden Seiten S. Petrusund Paulusin tiefgluͤhenden rothen und gelben Gewaͤndern. Im Antlitze der Madonna zeigt ſich ſchon hier jener, vom Peru - ginoganz abweichende Charakter, dem wir ſpaͤter auch in den Madonnen der Kappelle Ancagani, des Hauſes Conteſtabile, ſelbſt noch in der Kroͤnung der vaticaniſchen Gallerie begeg - nen werden.

Abweichung von der Art des Pietro Perugino, Ruͤckkehr oder Hinneigung zu jener, wie ich annehme, aͤlteren Foͤrmlich - keit des Raphaelglaube ich in verſchiedenen anderen Ge - maͤlden zu entdecken, welche zum Theil unſtreitig etwas juͤnger ſind, als obige. Das aͤlteſte vielleicht jenes reiche anmuths - volle, al guazzo auf feines Leinwand gemalte Bild der An - betung der Koͤnige, ſonſt in der Kappelle des Hauſes Anca - gani zu Spoleto, jetzt im Handel. Dieſem ziemlich analogIII. 334eine Pietà in gleicher Manier, auf gleichem Stoffe, welche in das Muſeum zu Berlingelangt iſt (1ſte Abtheil. Nro. 226.). Der alterthuͤmlichen Randverzierung ungeachtet iſt die Ma - donna im Hauſe Conteſtabile zu Perugiaſichtlich ſchon etwas neuer.

Uns, die wir an eine langſame, ſich zuruͤckhaltende Bil - dungsart gewoͤhnt ſind, wird es unſaͤglich ſchwer, die Blitzes - ſchnelle in den Oscillationen der Entwickelung alter Kuͤnſtler im Auge zu behalten. Es verwirrt uns, wenn wir ſehen, daß Kuͤnſtler von der Stufe, welche ſie ſchon eingenommen, ſich zuruͤckwendend, aͤltere Eindruͤcke, welche vergeſſen ſchienen, wie - derum auffriſchen, ins Leben rufen, mit dem neu Erworbenen vermaͤhlen. Selten iſt die Entwickelungsgeſchichte ſelbſt be - ruͤhmter Kuͤnſtler umſtaͤndlich bekannt; auch Raphaelszu ſum - mariſch, um ſchon daraus die Verſchiedenartigkeit der Erſchei - nungen ſeines Jugendlebens erklaͤren zu koͤnnen. Alſo werden wir von der Annahme ausgehen muͤſſen, daß er, ſeit ſeinem Austritt aus der vaͤterlichen Schule, unabhaͤngiger gelebt und gewirkt habe, als geglaubt wird, daher, nach Gelegenheit, bald beym Perugino, bald wieder bey einem Anderen in Arbeit ſich verdungen, abwechſelnd wieder auf eigene Rechnung ge - malt habe. Hierin ſtreitet nichts gegen die Sitten und Ver - haͤltniſſe jener Zeit, in welcher nur der eigentliche Lehrling ge - bunden war. Auch ſtehet ihm nichts entgegen, als ein Theil des kleinen Erziehungsromanes beym Vaſari, welcher in deſſen Manier liegt, in allen Kuͤnſtlerleben ſich wiederholt, daher auf hiſtoriſche Glaubwuͤrdigkeit weniger Anſpruch hat, als auf poetiſchen Reiz*)Der Patre Pungileoniverſichert uns in ſeinen über den Gio - vanni Santizu Urbinoangeſtellten Unterſuchungen, von welchen ich erſt,.

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Klar iſt es, daß in der Geſchichte Raphaelsfuͤr alle jene jugendlichſten Erſcheinungen weder ein Grund, noch ſelbſt ein paßlicher Raum vorhanden ſeyn wuͤrde, waͤre es unum - gaͤnglich, dem Vaſarihier ohne Einſchraͤnkung beyzupflichten. Er ſetzt den Anfang der Laufbahn, der ſelbſtſtaͤndigen Wirk - ſamkeit Raphaelsin deſſen Arbeiten fuͤr Città di Caſtello. Dieſe ſind indeß ſchon ſehr ausgebildet; wir muͤßten alſo, um die ſpaͤtere Entſtehung jener jugendlicheren Erſcheinungen zu erklaͤren, Ruͤckſchritte annehmen. Wie willkuͤhrlich! Nun iſt ferner das Vorzuͤglichſte der Bilder fuͤr Caſtello, das Spoſa - lizio, mit dem Jahre 1504 bezeichnet. Von dieſem Zeitpunct bis zu dem Eintritt Raphaelsin einen ganz neuen, zum Ge - waltigſten ihn fortreißenden Wirkungskreis (zu ſeiner Ankunft in Rom) blieben uns demnach nur vier kurze Jahre, welche ohnehin ſchon genug der Wunder, der kuͤnſtleriſchen Umwand - lungen, der verſchiedenſten Leiſtungen aufzuweiſen haben; ſo daß alſo, wie oben kein rechter Grund, ſo hier nicht einmal ein Raum fuͤr jene kindlich jugendlichſten Arbeiten vorhanden waͤre, wenn wir nicht annehmen, daß ſolche ſaͤmmtlich vor dem Jahre 1504 gemalt worden ſind.

Unter den Arbeiten fuͤr Città di Caſtellogilt dem Lanzi(nach einer Angabe der Einwohner, ſagt er) ein Altarblatt in*)nachdem Vorſtehendes ſchon geſchrieben war, nähere Kunde erhalten, daß derſelbe ſchon im Jahr 1494 geſtorben iſt (ſ. das Teſtament und den Todtenſchein des Giovanni Santiin Pungileoni’sElogio storico di Giovanni Santi. Urbino. 1822. p. 135. ff.). Dieſem dürfte, wenn nicht aus den Urkunden ſelbſt, nichts entgegenzuſtellen ſeyn. Da Raphaelſich nun um dieſe Zeit im eilften Jahre befand, er aber, wie wir geſe - hen, erſt gegen das Jahr 1500 in die Schule des Pietro Peruginoge - kommen ſeyn möchte, ſo gewinnen durch dieſen Umſtand alle obige Ver - muthungen ganz ungemein an Wahrſcheinlichkeit.3 *36S. Niccola di Tolentino fuͤr das aͤlteſte; es ſey in ſeinem ſieb - zehnten Jahre, alſo um 1500, gemalt worden. Laͤge es uͤber - haupt in des Lanzihiſtoriſcher Manier, Data zu vergleichen, hieraus Folgen zu ziehn, ſo wuͤrde er, annehmend, daß Ra - phaelſchon 1500 auf eigene Rechnung gemalt habe, noth - wendig auf die oben entwickelten, oder ihnen aͤhnliche Reſul - tate gelangt ſeyn. Das Bild ſelbſt, welches Vaſariaus Fluͤchtigkeit, oder weil er es nicht anerkannte, ganz uͤbergeht, habe ich ſo wenig, als Caſtellouͤberhaupt, geſehen; kann auch nicht angeben, ob es noch an derſelben Stelle, oder gleich den uͤbrigen veraͤußert ſey. Indeß, wenn auch Manches in den ſehr allgemeinen Angaben des Lanzi(die Spruͤche in den Haͤnden der Engel, die architectoniſche Einfaſſung des Gan - zen) die Moͤglichkeit nicht auszuſchließen ſcheint, daß in jenen oͤrtlichen Traditionen einiger Grund, das Bild alſo dem be - ſchriebenen der Nonnen des heiligen Anton von Paduaetwa gleichzeitig ſey; ſo wird doch, da Lanzidie fruͤheren Kunſt - ſtufen des Raphaelnicht hinlaͤnglich unterſchieden hat, auf deſſen Zeitangabe ſo wenig, als auf ſein Kunſturtheil zu bauen ſeyn. Um ſo weniger, da ihm das Bild des Gekreuzigten, damals noch zu Caſtelloin der Kirche S. Domenico, beynahe gleichzeitig (circa quel tempo) zu ſeyn ſchien.

Dieſes Gemaͤlde, welches gegenwaͤrtig zu Romdie Gal - lerie des Cardinal Feſchverſchoͤnt, zeigt am Fuße des Kreu - zes die Worte: RAPHAEL VRBINASP.; das Jahr iſt nicht angedeutet. Es bildet indeß, ungeachtet der truͤgeriſchen Verſicherung des Vaſariund Lanzi, daß man daſſelbe von den Werken des Peruginokaum unterſcheiden koͤnne, doch ſo - wohl in der Anordnung, als in der Zeichnung und im Auf - trage, bereits den Uebergang zu einer beſtimmten, neueren37 Richtung Raphaels. Es muß daher, wenn auch nur um Monate, doch immer ſpaͤter ſeyn, als das beruͤhmte Spoſa - lizio. Das letzte Werk, dem Vaſari, Fortſchritte annehmend (als wenn jedes Spaͤtere nothwendig auch ein Beſſeres ſey), ebenfalls den Vorzug gab, enthaͤlt an dem Tempelgebaͤude des Mittelgrundes die unverdaͤchtige Aufſchrift: RAPHAEL VR - BINASMDIIII. Dieſe Jahreszahl wird uns fuͤr das Jahr der Vollendung gelten muͤſſen; wohl ſelbſt fuͤr den Anfang des Jahres, da Raphaelſchon im Verlaufe des folgenden jenen ganz neuen Weg eingeſchlagen hatte, zu welchem das Bild des Cardinal Feſchden Uebergang macht, und auf wel - chen wir ſpaͤter zuruͤckkommen werden.

Ueber die Anordnung, den allgemeinen und beſonderen Charakter der einzelnen Figuren habe ich nichts zu ſagen; durch beliebte Kupferſtiche iſt das Bild auch bey denen be - kannt, welche das Original nicht geſehen haben. Nur be - merke ich, daß in dem noch wohlerhaltenen, doch leider der Sonne bisweilen ausgeſetzten Originale die Pinſelfuͤhrung geiſtreich modellirend, der Auftrag paſtos und markig iſt, auch bereits durch jene ſchon beruͤhrten, weißlichen, doch lichtvollen Toͤne der Carnation ſich auszeichnet, welche unter den ſpar - ſamen aͤußeren Kennzeichen raphaeliſcher Gemaͤlde das ſtand - hafteſte, untruͤglichſte ſeyn moͤchten; auch, daß in den Koͤ - pſen, beſonders in den aͤltlichen, viele Bildniſſe vorkommen; endlich, daß in dem Bau der Geſtalten bereits jene Neigung zum Schlanken, ja uͤbermaͤßig Verlaͤngerten hervortritt, welche, wie ich nachweiſen werde, in der nun bald eintretenden Epoche Raphaelswiederholt ſich bemerklich macht*)Der Padre Guglielmo della Valle, zum Vaſari, will, daß im Oratorio zu Città della Pievedie Anbetung der Könige mit dem J. 1504,.

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Doch, ehe ich dieſe erſten Symptome einer voruͤbergehen - den Hinneigung zum Willkuͤhrlichen, Fluͤchtigen, bis zum Ge - zierten Anmuthigen, weiter verfolge, werde ich Einiges dem Spoſalizio ſich naͤher Anſchließende, ihm wahrſcheinlich Gleich - zeitige, oder nahe Vorangehende einſchalten muͤſſen.

Unter den Arbeiten der bezeichneten Claſſe gewaͤhre ich bereitwillig der Pietà des GrafenToſi zu Bresciadie erſte Stelle. Die Hoͤhe dieſer kleinen Tafel betraͤgt etwa fuͤnf Viertheile eines rheiniſchen Fußes; die Breite drey. Nach dem Herkommen, eine entkleidete Halbfigur; die Stellung, die Lagen der Glieder und Formen, hier nach einem wunderbaren Schoͤnheitsgefuͤhle in den engen Raum wohl eingeordnet. Der Ausdruck in dem ſchoͤnen Antlitz, die reinen, zuͤchtigen Formen, die edle Haltung des Bildes, der rechte Arm, bis zum Ge - lenke anliegend, von dieſem aus ſanft erhoben zum Segnen.

Leider hat dieſes koͤſtliche Bildchen der Reſtaurator ſo glatt gerieben, daß nur an einzelnen Stellen, unter den Augen,*)welche gemeiniglich dem Pietrobeygemeſſen wird, von RaphaelsHand a fresco gemalt ſey. Im Allgemeinen iſt dem Urtheil dieſes anmaßlichen Mannes wenig zu trauen; indeß giebt ſeine Beſchreibung des Werkes, welches ich nicht geſehen, ſeiner Vermuthung einen Anſtrich von Wahr - ſcheinlichkeit. Ein deutſcher Künſtler, welcher des della ValleVermu - thung nicht kannte, ſchrieb mir: Die Anbetung der Könige von Pietrogehört zu dem Minderwichtigen, welches von dieſem Meiſter mir zu Ge - ſicht gekommen. Nahe geſehn, erſcheint es als eine farbige Kreidezeich - nung, ſo ſtark iſt es ſchraffirt. Dieſe Angabe ſcheint jene Vermuthung zu unterſtützen. Der Künſtler ſuchte Pietro, fand etwas von ihm Ab - weichendes, daher ſein Mißfallen. Die Schraffirungen, welche Raphaelnoch in der Diſputa beybehalten, ſind das Zeichen eines ungeübten Ma - lers al fresco, welcher mehr beabſichtigt, als er auf ein Mal hervorbrin - gen kann. Es verlohnte, an Ort und Stelle zu unterſuchen, ob das Werk des jungen Raphaelwerth ſey.39 an der linken Hand, einige Spuren raphaeliſcher Modellirung wahrzunehmen ſind. Auch zeigt es an vielen Stellen unwill - kommene Retouchen.

Der linke Arm ſchließt ſich, wie abſichtlos den Blick auf die Seitenwunde lenkend, dem Leibe naͤher an, als der ſegnende rechte. Mit dem gluͤcklichſten Tact fuͤr das Ange - meſſene iſt beſonders in der Hand das Modell benutzt; ſonſt der Oberarm, wie es auf fruͤheren Stufen den redlichen Zeich - nern wohl begegnet, etwas lang genommen, die einzelnen For - men zu ſehr hervorgehoben. Raphaelſcheint eben damals ein beſtimmtes jugendliches Modell fleißig benutzt zu haben, welches in den Figuren des Spoſalizio, der Bekleidung unge - achtet, ſich fuͤhlbar macht, und in der bekannten Sammlung von Handzeichnungen, ſonſt im Beſitze des Malers Boſſi, jetzt in der Akademie der Kuͤnſte zu Venedig, wiederholt, in Studien, vorkommt.

Dieſe Zeichnungen, gegenwaͤrtig ſieht man ſie vereinzelt an den Waͤnden eines inneren Zimmers der Anſtalt aufge - ſtellt, enthalten zugleich mit aͤlteren und neueren Stuͤcken eine nicht unwichtige Zahl von Studien Raphaels, deren aͤchte meiſt der Epoche des Spoſalizio angehoͤren. Es finden ſich unter denſelben Studien zu Figuren der Libreria im Dome von Siena, zum Kopfe des Johannesin der Kroͤnung der Jungfrau, ſonſt in S. Francesco zu Perugia, jetzt in der vaticaniſchen Gallerie.

Schoͤner, tiefer, gefuͤhlvoller, dem Bilde zu Bresciaaͤhn - licher iſt freylich die wundervolle Zeichnung der Bibliothek Ambroſiana zu Mailand, in der Sammlung des weyland Pa - dre Reſta, . b. Dort wird ſie dem Piero della Francescazugeſchrieben, ein Name, auf welchen Alles paßt, weil mit40 demſelben gegenwaͤrtig keine Vorſtellung zu verbinden iſt; den ſelbſt Vaſariſichtlich mehr aus Patriotismus beguͤnſtigt. In - deß, unangeſehn, daß unſere Zeichnung im Saume ein R. zeigt, welches nicht zufaͤllig, noch eingeſchoben zu ſeyn ſcheint, bezeugt Form, Wendung, Ausdruck, Zeichnungsart, daß ſie dem Raphael von Urbino, und zwar der Epoche ſeiner Wirk - ſamkeit angehoͤre, welche uns gegenwaͤrtig beſchaͤftigt.

Sie iſt auf grundirtem, mit Bleyweiß uͤberzogenem Pa - pier in Sepia, Zinnober und Weiß ſchraffirt. Der Gegen - ſtand: jugendlicher Chriſtuskopf, etwas zur Seite geneigt, der Hals bis zum Anſatze der Schulter. Der Kopf iſt jenem in der eben beſchriebenen Pietà nicht unaͤhnlich, doch wahrſchein - licher vorbereitendes Studium zu einem anderen Bilde, wel - ches, aus dem Hauſe Inghirami veraͤußert, im Jahre 1818, von der Majeſtaͤt Ludwigs, Koͤnigs von Bayern, fuͤr Deſſen reiche Kunſtſammlung erſtanden wurde.

Der Gegenſtand des bezeichneten Bildes iſt die Aufer - ſtehung des Erloͤſers. Obwohl die Figur des Heilands, wel - cher hier nicht ſchwebt, ſondern auf dem Rande des Grabes ſteht, an verwandte Motive des Peruginoerinnert, ſo iſt doch das Antlitz beſeelter, in den Formen des nackten Oberleibes, beſonders jedoch in den Haͤnden mehr unmittelbare Beobach - tung und Kenntniß der Natur, als ſelbſt in den beſten Ar - beiten des Pietroje ſich verraͤth. Wenn die ſchlafenden Sol - daten ihm frey nachgeahmt ſind, ſo iſt doch der fliehende im Mittelgrunde neu, die Landſchaft reicher, mehr Kraft und Klarheit in der Carnation. Auf dem Schilde des einen Waͤch - ters zeigen ſich Spuren der Worte: RAPHAELSANTIVS. Indeß iſt ihre Aechtheit der Uebermalung willen zweifelhaft. Auch pflegen auf den Altarſtaffeln die Aufſchriften nicht an - gebracht zu werden.

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Mit dieſem Bilde zugleich ward ein gleich großes, die Taufe Chriſti, erſtanden; beide ſcheinen, ihrer oͤligen Ueber - zuͤge ungeachtet, a tempera gemalt zu ſeyn; vielleicht, weil ſie, obwohl in Oel, doch wie a tempera behandelt ſind, was in den fruͤheren Arbeiten Raphaelsnicht ohne Beyſpiel iſt. Gewiß ſind beide Ueberreſte einer Altarſtaffel von beſonders ſorgfaͤltiger Behandlung und ungewoͤhnlicher Hoͤhe; denn an den Ruͤckſeiten waren, als ich ſie ſah, Spuren der Saͤge be - merklich, welche das fruͤher ſtaͤrkere Brett in ſeiner Dicke durchſchnitten hatte. Ich ſetze hier als bekannt voraus, daß bey Gemaͤlden, welche von Anbeginn die Beſtimmung erhal - ten, in Rahmen aufgehaͤngt zu werden, die Tafeln auch dar - auf eingerichtet, das iſt, in gehoͤrigem Maaße verduͤnnt wer - den. Bey verſchiedenen aͤlteren Gemaͤlden Raphaels, denen dieſe Zierde vormals ſicher nicht gefehlt hat, verſaͤumte Vaſaridie Gegenſtaͤnde des Gradino anzugeben. Es koͤnnen daher noch immer vergeſſene Arbeiten dieſer Art an das Licht treten. Kuͤrzlich brachte man ſolche Stuͤcke zu Romin den Handel, deren Aechtheit, ich habe ſie nicht geſehn, von Kennern aner - kannt, doch ihr trauriger Zuſtand nur um ſo mehr bedauert wurde. Auch ſcheint die Anbetung der Koͤnige in der Gal - lerie des koͤniglichen Schloſſes Chriſtiansburg zu Copenhagen, obwohl ſehr glatt gerieben, auch ihrer Velaturen beraubt, einem raphaeliſchen Gradino derſelben Kunſtſtufe entnommen zu ſeyn. Drey kleine Runde, welche auf ſchwarzem Grunde zwey Schutzheilige von Perugia(S. Lodovicound S. Erco - lano), und das mittlere eine Pietà enthalten, wurden mir, als Ueberreſte des Gradino der Kroͤnung der Jungfrau, ſonſt in S. Francesco zu Perugia, von den Vorſtehern dieſer Ge - meinde abgetreten. Ich hatte das Gluͤck, ſie der koͤniglichen Hoheit des Kronprinzen von Preußendarbringen zu duͤrfen,42 deſſen fuͤr jedes Edle und Hohe empfaͤngliche Gemuͤth dieſes Opfer zu wuͤrdigen gewußt. Der bekannteſte Kunſtfreund, HerrWikar, Maler, zu Rom, beſitzt ein viertes Rund mit einer heiligen Katharina, welches demſelben Gradino angehoͤrt und mit den uͤbrigen Stuͤcken gedient hat, entweder kleine Vorſpruͤnge zu verzieren, oder auch laͤngere Abtheilungen von einander abzuſondern. Auch dieſer mit den aͤußeren Kennzei - chen Raphaelsſehr vertraute Kenner, vormals aͤſthetiſcher Commiſſar der franzoͤſiſchen Republik in der Zeit ihrer Aus - breitung uͤber Italien, war der Abkunft ſeines Fragments ſehr gewiß, was die Vermuthung erweckt, er kenne deſſen Urſprung.

Zwey Zeichnungen, deren ſchon Vaſariallgemeinhin er - waͤhnt, ſtehen nach ihrem Charakter dem Spoſalizio ſehr nahe; die eine im Hauſe Baldeſchi zu Perugia, die andere unter den Handzeichnungen der florentiniſchen Gallerie der Uffizj; beide Entwuͤrfe fuͤr Wandgemaͤlde des Chorbuͤchergemaches (libre - ria) im Dome zu Siena, beide in derſelben Manier, braun mit Sepia getuſcht, und, kaum noch bemerklich, mit Deckweiß nachgehoͤht.

Hier begegnen wir von Neuem jener vorwitzigen Will - kuͤhrlichkeit, welche der modernen Kunſthiſtorie ſo haͤufig fuͤr Kritik und Kennerſchaft gilt. Vaſari, die Quelle, aus welcher hier allein geſchoͤpft wird, ſagt im Leben des Pinturicchio: Raphaelmachte die Entwuͤrfe und Cartons fuͤr ſaͤmmt - liche Darſtellungen, und dagegen im Leben Raphaels: er habe fuͤr jenes Werk einige Zeichnungen und Cartons ge - macht. Vaſariwar demnach nicht gewiß, ob Raphaelnur einige, oder alle Darſtellungen entworfen; ob er nur Skizzen und Entwuͤrfe, oder ausfuͤhrliche Zeichnungen in der Groͤße43 der Gemaͤlde gemacht habe. Gegen das letzte ſprechen zwei gleich erhebliche Umſtaͤnde. Der eine: daß nun ſeit dreyhun - dert Jahren kein eigentlicher Carton irgend einer der zahlrei - chen Darſtellungen der Libreria an das Licht getreten iſt; der andere: daß die Gemaͤlde ſelbſt in keinem Theile ſo ſtreng, durch Beobachtung, oder ernſtliche Ueberlegung ausgebildet er - ſcheinen, daß man genoͤthigt, oder nur berechtigt waͤre, anzu - nehmen, ſie ſeyen mit Huͤlfe und nach der Vorſchrift von Cartons im eigentlichen Sinne ausgefuͤhrt, deren Gebrauch uͤberhaupt damals noch nicht allgemein war.

Es bliebe demnach nur ſo viel auszumachen, welcher von beiden entgegengeſetzten Angaben des Vaſariman zu fol - gen habe. Lanziverſichert*) Lanzi, sto. pitt. scuola Rom. ep. seconda. : es befriedige ihn die erſte mehr, als die andere; ſeine Gruͤnde ſind indeß von ſo leichtem Ge - halt und ſo leichtfertig hingeworfen, daß ſie der Kritik keine Anknuͤpfungspunkte darbieten. Auch wird es unnoͤthig ſeyn, ſie ernſtlich zu nehmen, theils weil ſie darauf nicht Anſpruch machen, theils, und beſonders, weil es ſich aus dem Thatbe - ſtande ergiebt, daß jene Darſtellungen aus dem Leben Pius II. in der Libreria des Domes nicht wohl ſaͤmmtlich von Raphaelkoͤnnen entworfen ſeyn.

Daß bisher nirgendwo andere, als die genannten Zeich - nungen ſind geſehn und erwaͤhnt worden, moͤchte dem Zufall beyzumeſſen ſeyn, weßhalb ich auf dieſen Grund verzichten will. Allein woher die Zeit nehmen? Sehr genau wiſſen wir nicht, wann man begonnen habe, in der Libreria zu malen; doch in Anſehung des Umfanges der Unternehmung und der Gewißheit, daß ſie laͤngſt vor dem Todesjahre Pius III. 44(1503) muß in Arbeit genommen ſeyn, wird es hoͤchſt un - wahrſcheinlich, daß Raphaelden erſten Gedanken des Ganzen gefaßt, und die einzelnen Darſtellungen ſaͤmmtlich entwor - fen habe. Wie jung mußte er ſeyn, als das Werk begonnen wurde; wie mannichfach ſahen wir ihn waͤhrend eben dieſer Jahre beſchaͤftigt. Indeß bedarf es, eine ganz willkuͤhrliche Annahme zu widerlegen, keiner ſo weit hergeholten Gruͤnde; die Sache ſpricht fuͤr ſich ſelbſt; denn mit Ausnahme derje - nigen Darſtellungen, deren Entwuͤrfe von RaphaelsHand noch vorhanden ſind, widerſtreben alle uͤbrigen dem Charakter ſelbſt ſeiner fruͤhen und fruͤheſten Zuſammenſtellungen durchaus, un - terbricht und verknuͤpft in ihnen keine Art gegenſeitiger Be - ziehung die quadrataͤre Anhaͤufung ihrer zahlreichen Figuren.

Vaſariſpricht unter allen Umſtaͤnden nur von Entwuͤr - fen und Zeichnungen; doch, nicht befriedigt durch die moͤg - lichſt weite Ausdehnung des Sinnes ſeiner Angaben, gefaͤllt man ſich, dem Raphaelſelbſt deren maleriſche Ausfuͤhrung beyzumeſſen. Wer den naiven Localpatriotismus italieniſcher Staͤdter kennt, den wird es nicht befremden, wenn auch die Sieneſer einem der geruͤhmteſten Werke ihrer Stadt durch einen ſolchen Namen groͤßeres Anſehn zu verleihen wuͤnſchen. Dieſe haben den Bottariuͤberredet*)S. denſelben zum Vaſari, in der röm. und neueren Edd., dem wiederum Lanzigefolgt iſt. Bottariindeß begnuͤgt ſich, in dem letzten, gegen die Kirche gewendeten Bilde, der nach 1503 gemalten Kroͤnung Pius III. , RaphaelsHand, ſogar deſſen Faͤrbung wahrzunehmen (ſeine Faͤrbung in einem Mauergemaͤlde? wo - her nimmt er die gleichartigen und gleichzeitigen Gegenſtaͤnde der Vergleichung?). Lanziaber ſagt zu dieſer Bemerkung:45 es ſcheint alſo, daß Raphaelbis zu der letzten Darſtellung fortgefahren habe, an dem Werke zu arbeiten, knuͤpft an dieſe Worte Lobſpruͤche auf das Ganze, als eines Werkes, welches dem Raphaelin Anſehung ſeiner Jugend die groͤßte Ehre bringe, faſt unerklaͤrlich ſey, ſo daß er durch den Kunſt - vortheil weltmaͤnniſch leichter Tranſitionen RaphaelsTheil - nahme an der maleriſchen Ausfuͤhrung des Werkes behaup - tet, ohne der Muͤhe ſich unterzogen zu haben, ſie zu zeigen und zu beweiſen.

Sichtlich haben in der Libreria viele Gehuͤlfen die Hand angelegt; in der Kroͤnung des Aeneas Sylviuszum officiellen Poeten iſt des SoddomaHand, Geiſt und Geſchmack unver - kennbar. Man vergleiche dieſes Bild mit den faſt gleichzeiti - gen Wandgemaͤlden im großen Hofe des Kloſters Monte Uliveto maggiore. An anderen Stellen macht ſich Pacchia - rottobemerklich, hier den al guazzo Gemaͤlden auf Leinwand aͤhnlich, welche in der Kirche der Olivetaner außerhalb des Staͤdtchens S. Gimignanogezeigt werden. Anderen, minder bekannten Gehuͤlfen iſt das Geringere in dieſen Ausfuͤhrungen beyzumeſſen, Einiges dem Unternehmer ſelbſt. RaphaelsHand indeß verraͤth ſich nirgends; nicht einmal in den beiden Ge - maͤlden, welche ſicher nach ſeinem Entwurfe ſind ausgefuͤhrt worden.

Jegliche Spur jenes lebendigen, feinen Naturells, wel - ches in beiden Zeichnungen ſich ausdruͤckt, jener bis in das Untergeordnete ſinnvollen Abſichtlichkeit, welche in beiden die Bewunderung der Kenner macht, iſt in deren maleriſcher und vergroͤßerter Ausfuͤhrung ausgeloͤſcht. Die zierliche Beſtimmt - heit in der Andeutung der Formen in Stirn und Naſe, im Kinne, in den Backen, welche in beiden Zeichnungen ſo oft46 an die Koͤpfe des Spoſalizio erinnert, iſt in den ſo viel groͤ - ßeren Gemaͤlden nicht allein, wie bey eigener Ausfuͤhrung haͤtte eintreten muͤſſen, nicht weiter gebildet, ſogar durchaus verwiſcht. Die jugendliche Figur zu Pferde, welche fuͤr Ra - phaelsBildniß gilt, hat in der Zeichnung (der florentini - ſchen) eine durchaus verſtandene, ſchoͤn motivirte Bekleidung; in dem Gemaͤlde hingegen ſinnloſes, ſteifmaniertes Gefaͤlte. Beſſer iſt allerdings die Ausfuͤhrung des anderen Bildes, deſ - ſen Zeichnung zu Perugia; ich glaube, daß Pinturicchiodarin ſelbſt Hand angelegt habe. Deſſenungeachtet treffen auch dieſe manche der obigen Vorwuͤrfe, ſind darin Zuſaͤtze und Abaͤn - derungen des urſpruͤnglichen Entwurfes enthalten, welche deut - lich an den Tag legen, daß Raphaelweder die Zeichnung ſelbſt in Sienagemacht, noch deren vergroͤßerte Ausfuͤhrung geleitet haben konnte.

Der Gegenſtand des letzten iſt: die erſte Begegnung Kai - ſer Friedrichs III. mit ſeiner Braut, einer Prinzeſſin von Por - tugall. Dieſes Ereigniß fand an einem Thore von Sienaſtatt, wo man zu deſſen Andenken eine Saͤule aufgerichtet hat. Pinturicchioließ dieſe Stelle, ſogar das Denkmal, auf - nehmen und im Hintergrunde der Darſtellung anbringen; im Vorgrunde fuͤhrte er Bildniſſe ein, von ausgezeichneten ſiene - ſiſchen Perſonen. Allein die raphaeliſche Zeichnung im Hauſe Baldeſchi enthaͤlt, weder die Andeutung der Bildniſſe, noch im Hintergrunde Anderes, als die einfachſte Andeutung von Linien der Gegend von Perugia. Es haͤtte, waͤre dieſe Zeich - nung in Sienaentſtanden, nahe gelegen, alsbald den Hinter - grund anzudeuten, wie der Unternehmer ihn wollte. Die Com - poſition der Figuren mußte ſo eingerichtet werden, daß nahe Gebaͤude nicht gaͤnzlich verdeckt wurden. Daß man die neuen47 Figuren, daß man den Hintergrund, beide ohne raphaeliſches Liniengefuͤhl, in die Compoſition eingeſchoben, eingedraͤngt habe, iſt nicht ſchwer aufzufaſſen.

Raphaelſcheint demnach dieſe groͤßte Unternehmung des Pinturicchionur abweſend unterſtuͤtzt zu haben. Vaſarihin - gegen erzaͤhlt: Pinturicchiohabe den Raphael, als einen trefflichen Zeichner (verſtehe, Erfinder), nach Sienaberufen, wo derſelbe ihm einige Zeichnungen (Entwuͤrfe) machte. Daß er jedoch damit nicht fortgefahren, ſey daher entſtanden, daß Raphael, als er von einigen zu Sienaanweſenden Malern die Cartons von Michelangelound Lionardo, fuͤr den großen Saal des alten Palaſtes, habe ruͤhmen hoͤren, jene Arbeit be - ſeitigend nach Florenzgezogen ſey. Ob Vaſari, welcher der poetiſchen Neigung, Uebergaͤnge zu machen, Entſchließungen zu motiviren, uͤberhaupt nachzugeben gewohnt iſt, hier eben - falls nur ſich ausgedacht habe, was den Umſtaͤnden angemeſ - ſen ſchien, oder im Gegentheil achtbaren Quellen und Tradi - tionen gefolgt ſey, iſt nicht ſo leicht auszumachen. Nach Flo - renzkonnte Raphaeleben ſowohl uͤber Siena, als auf einem anderen Wege gereiſet ſeyn, den Freund im Vorbeyziehn be - ſucht, obwohl, nach den Gruͤnden, welche ich angegeben, nicht leicht an der Arbeit anweſend Theil genommen haben. Doch fragt es ſich, ob die Zeit, in welcher das Werk noch in Ar - beit war, mit Raphaelserſter florentiniſcher Reiſe zuſammen - falle; woruͤber Vaſariweder Auskunft ertheilt, noch ſelbſt er - theilen konnte, weil er, der uͤberhaupt die ſicheren Zeitbeſtim - mungen nicht hinreichend wuͤrdigte, auch in dieſer Beziehung verſaͤumt hat, ſich eine Gewißheit zu erwerben, welche damals ganz leicht mußte zu erlangen ſeyn.

Aus den Aufſchriften zweyer Gemaͤlde, glaube ich, deren48 Charakter hinzugenommen, darlegen zu koͤnnen, daß Raphaelserſte Ausflucht nach Florenzzu Ende des Jahres 1504, oder zu Anfang des folgenden, kurz an der Grenze beider Jahre ſich muͤſſe ereignet haben. Das Spoſalizio, mit dem Jahre 1504, zeigt, nach meinen Wahrnehmungen, noch keine Spur der Bekanntſchaft mit florentiniſchen Richtungen und Vorbil - dern*)S. Lett. sulla pitt. etc. ed. Mil. To. I. lett. 1. prima octobris 1504, den Brief, worin die Herzogin von Urbinoden Raphaeldem Gon - faloniere von Florenz, Soderini, empfiehlt. Der Brief der Herzogin hat in allen Formen das Anſehn der Aechtheit; auch iſt kein Grund denkbar, weßhalb ein ſolcher Brief erdichtet worden ſey. Unter dieſen Umſtänden wird man deſſen Aechtheit nicht wohl um eines einzigen Satzes willen verwerfen können, deſſen gezwungene und fehlerhafte Con - ſtruction, auch abgeſehen von der Unvereinbarkeit mit den Entdeckungen des Pungileoni, den Verdacht erweckt, daß der Abſchreiber ihn nicht rich - tig geleſen und nach ſeiner Anſicht darin geändert habe. Dieſer Satz lautet nach dem Abdrucke der obigen Ausgabe der Lettere sulla pit - tura. Et perchè il padre so che é molto virtuoso et é mio af - fezionato et così il figliuolo discreto e gentile giovane, per ogni rispetto lo amo sommamente etc. In dieſer Lesart überzeugt mich das: so che é, keinesweges; es iſt eben ſo gezwungen, als unrichtig; das so, nach der Analogie damaligen Brief - und Converſationsſtyles, iſt ſicher nichts anderes, als: suo; die Stelle aber, wo der Abſchreiber che é geleſen, wenn Pungileoni’sAngaben richtig ſind, nothwendig irgend ein praeteritum; das zweite é offenbar eingeſchoben. Einem wenig ge - übten Leſer der Schriftarten jener Zeit konnte die Abbreviatur: sta0, d. i. stato, leicht als: che, erſcheinen. Die Einſchiebung dieſes che macht aber den ganzen Satz verworren und falſch. Allem Anſehn nach hat alſo die Herzogin geſchrieben: Et perché il padre suo stato é molto virtuoso et mio affezionato, et così il figliuolo (sendo) discreto e gentile giovane etc. Denn unter allen Umſtänden iſt nach figliuolo das Zeitwort ausgefallen, ſey es in der Abſchrift, oder ſchon im Originale durch ein Verſehen, welches nicht ohne Beyſpiel iſt. Die Abſchrift,. Hingegen iſt an dem Wandgemaͤlde im Kloſter S. Se -49Severo zu Perugia, mit dem Jahre 1505, die Einwirkung frem - der, den Schulen von Perugia, Fuligno, von anderen Staͤdten der Oſtſeite Mittelitaliens durchaus nicht angehoͤrender Vor - bilder ganz unverkennbar; mehr auf ſchon ſicherer Kenntniß beruhender Schwung in der Zeichnung, in den Gewaͤndern jenes Maſſige, Breite, welches unter den Neueren Maſacciozuerſt verſucht hat. Indeß war Raphaelzu keiner Zeit ein platter Nachahmer; das neue maleriſche Element fand ihn ſchon vorbereitet, ergriff ihn, weil es mit ſeinen eigenthuͤmlich - ſten Wuͤnſchen und Abſichten wunderbar uͤbereintraf, ihn uͤber ſich ſelbſt aufklaͤrte.

*)welche Bottaribekannt gemacht, iſt nach einem Exemplar genommen, welches vordem in dem jetzt erloſchenen Hauſe Gaddi vorhanden war, und gegenwärtig wohl ſich ganz verloren hat. Es fragt ſich indeß, ob dieſes Exemplar der Originalbrief geweſen; dieſen vermuthe ich vielmehr im Archiv der Riformagioni zu Florenz, welches mir nie geöffnet worden iſt. Gewiß wird man den Brief nicht, wie es ſeit Pungileonihäufig geſchieht, ganz verwerfen dürfen, ehe man das Original geſehen und ge - prüft hat. Daß der Abſchreiber geändert habe, erhellt ſchon aus der Orthographie des Abdruckes. Quatremère de Quincy, hist. de la vie et des ouvrages de Raphael, p. 19. entlehnt aus dieſem Briefe (den er ohne Nachweiſung wiederum mittheilt) das Dat einer zweyten Reiſe nach Florenz, welche er, nach Lanzi, aus den eingeſtanden verworrenen Nachrichten des Vaſarihervordeutet. Beide gehen von der Meinung aus, Raphaelhabe in Sienagemalt, von dort aus Florenzzum erſten Male beſucht. Wie konnten ſie aber hierin dem Vaſariglauben, nach - dem ſie den Beweggrund, Michelangelo’sCarton, chronologiſch als falſch erwieſen hatten? Iſt Vaſariüberhaupt ein Schriftſteller, dem man auf’s Wort glauben muß? Sind ſeine Angaben, wo ſie zur Hälfte falſch ſind, wie hier, nothwendig zur anderen wahr? Erweislich hat Raphaelin Sienanicht gemalt; erweislich war der Carton des Michelangelodamals noch nicht vorhanden; erweislich zeigt ſich in Raphaelsperuginiſchen Werken vor dem Jahr 1505 keine Spur der Bekanntſchaft mit floren - tiniſchen Vorbildern: demnach iſt des Vaſarileichtſinnige Angabe hier nur eben ein Uebergang, wie tauſend andere ſeines weitläuftigen Werkes.

III. 450

Schon in dem Spoſalizio zeigt es ſich deutlich, daß Ra - phaeluͤber den eingeſchraͤnkten Kreis peruginiſcher Stellungen hinausſtrebte, daß er ſeinen Geſtalten leichtere, belebtere Wen - dungen zu geben trachtete, mit den Gelenken ſich ernſtlich be - ſchaͤftigte, auf deren Kenntniß ſo Vieles beruht: Anmuth der Lage und Wendung, gegenſeitige Beziehung und richtiger Aus - druck der einzelnen Geſtalten. Gelenkigkeit wird aber durch einen ſchlanken Bau beguͤnſtigt; daher gleichzeitig ſelbſt bis zur Uebertreibung ſchlanke Figuren, in den Studien, wie in den ausgefuͤhrten Gemaͤlden. Gleichzeitig ſtreift die Anmuth ſeiner Lagen und Wendungen nicht ſelten an das Gezierte. Es lag dem herrlich begabten, allein noch unerfahrenen Juͤng - linge nahe, dieſe Richtung, deren endliches Ziel unverwerflich iſt, voruͤbergehend bis uͤber die Grenze des Moͤglichen und Gefaͤlligen hinauszufuͤhren.

Die aͤußeren Grenzen der Epoche, in welcher Raphaeljene fluͤchtigen, etwas gezierten, doch geiſtreich entworfenen Gemaͤlde hervorbrachte, koͤnnen mit Zuverſicht angegeben wer - den. Das Wandgemaͤlde im Kloſter S. Severo zu Perugiahat das Jahr 1505*)Zur linken der Ergänzungen Perugins lieſt man: Rafael de UrbinodominoOctaviano Stephani Volaterranipriore sanctam Tri - nitatem angelos astantes sanctosque pinxit A. D. M. D. V.; und gegen - über Petrus de CastroPlebis Perusinus tempore dominiSilvestri Ste - phani Volaterraniad dextris et sinistris dive ........ sanctos san - ctasque pinxit A. D. M. D. XXI. . Das Altargemaͤlde der Ortſchaft Peſciablieb aber, als Raphael1508 in Romſich niederließ, noch unvollendet zu Florenzzuruͤck. Freylich nun umfaßt der bezeichnete Zeitraum, von 1505 bis 1508, zugleich mit dieſen etwas fluͤchtigen Werken jene emſigen, uͤberlegten, gruͤndlichen51 Studien und Gemaͤlde, welche gemeiniglich der florentiniſchen Epoche Raphaelsuntergeordnet werden. Allein es darf uns nicht eben befremden