PRIMS Full-text transcription (HTML)
die ſchoͤnſten Sagen des klaſſiſchen Alterthums.
Dritter Theil. Die letzten Tantaliden. Odyſſeus. Aeneas.
Mit einem Titelbilde.
[I][II]
[figure]
[III]
Die ſchönſten Sagen des klaſſiſchen Alterthums.
Nach ſeinen Dichtern und Erzählern
Dritter Theil.
Mit einem Titelbilde.
Stuttgart.Verlag von S. G. Lieſching.1840.
[IV][V]

Vorwort.

Mit dieſem dritten Bande hat der Sagenkreis des klaſſiſchen Alterthums, ſoweit derſelbe auf allgemeines Verſtändniß Anſpruch machen kann, ſeinen Schluß in unſrem hiermit beendigten Werke gefunden, und der Verfaſſer glaubt verſichern zu dürfen, daß kein weſentliches Element dieſer Sage, das überhaupt Gegenſtand der unſerer Zeit überlieferten Erzählung oder Dichtung iſt, übergangen worden ſey. Anfangs, als der Plan des Aufnehmbaren von ihm entworfen wurde, hielt derſelbe es faſt für unmöglich, die Schick¬ ſale der letzten Tantaliden einer Leſewelt, die zum großen Theile vorausſichtlich aus Frauen und Kindern beſtehen ſollte, un¬ verkürzt mitzutheilen. Das Verlangen nach Vollſtändigkeit ermuthigte ihn jedoch zu dem Verſuche, auch dieſe Schwierigkeit zu überwinden,VI und er hofft, daß das gerechte Urtheil, welches in den früheren Bän¬ den zarte Schonung verletzbarer Ohren und mit heiliger Scheu zu behandelnder Gemüther anerkannt hat, ſich auch auf die Bearbei¬ tung des genannten Stoffes erſtrecken werde. Bei der möglichſt hergeſtellten Harmonie der Tragiker iſt beſondere Rückſicht auf dieſe Forderung der Sittlichkeit, welche ſelbſt der freieſte Schönheitsſinn anerkennen wird, genommen worden.

In der Behandlung der Odyſſee war eine ſolche Vorſicht nicht nöthig. Hier brauchte ſich der Darſteller nur ſo ſtreng als möglich an das Originalkunſtwerk des Alterthums zu halten, um den rührendſten Eindruck der Unſchuld und Sittenreinheit zu machen. Wer ſich überzeugen will, daß die menſchliche Natur, ſo untüchtig durch ſich ſelbſt zum vollkommen Guten, doch keineswegs vollkommen untüchtig zum Guten iſt, der ſtärke ſeinen Glauben an die Menſch¬ heit, welcher der frömmſten Religionsüberzeugung nicht zuwider¬ läuft, an dieſem Werke des grauen Heidenthums.

Die Aeneis hat dem Verfaſſer am meiſten zu ſchaffen gemacht. Hier die Längen abzuſchneiden, ohne das Ziel des Weges ſelbſt un¬ zugänglich zu machen; alle jene Zuthaten erſonnener Volksſage, die, nach einer Ilias und Odyſſee, in ihrem prunkenden Scheine ſelbſt einem Kinde fühlbar werden müßten, zu entfernen, ohne den ZuſammenhangVII der originellſten und lieblichſten Erfindungen, die bald einen Theil der poetiſchen Geſchichte des Gedichtes, bald unſchätzbare Epiſoden bilden, unerkennbar zu machen, oder gar zu zerſtören: dieß em¬ pfand der Bearbeiter als keine kleine Aufgabe; zumal da dieſelbe noch von keinem modernen Erzähler der Sagen des Alterthums verſucht worden war. Sein Beſtreben ging dahin, durch Zuſammendrängen weſentlicher Schönheit dem kunſtvollen Werke des Römers für die Jugend einen Reiz der Neuheit und gewiſſermaßen der Kurzweilig¬ keit zu geben, den man im Originale vergebens ſucht.

Und ſo möchten denn alle dieſe Sagen zuſammen, als der In¬ begriff der claſſiſchen Heroenmythen, ſich durch gewiſſenhafte und dem Zwecke des Buches angemeſſene Bearbeitung ihres Inhalts, zahlreiche Freunde bei den Jungen, und manche auch bei den Alten erwerben. Mit dieſem Wunſche entläßt der Verfaſſer ſein Werk, das für ihn zugleich der Wiederhall zwanzigjähriger öffentlicher und häuslicher Beſchäftigungen iſt.

G. Schwab.

[VIII][IX]

Inhalts-Ueberſicht.

Erſtes Buch. Die letzten Tantaliden.
  • Seite.
  • Agamemnon's Geſchlecht und Haus3
  • Agamemnon's Ende8
  • Agamemnon gerächt14
  • Oreſtes und die Eumeniden29
  • Iphigenia zu Tauri43
Zweites Buch Odyſſeus. Erſter Theil.
  • Telemach und die Freier67
  • Telemach bei Neſtor80
  • Telemach zu Sparta86
  • X
  • Seite.
  • Verſchwörung der Freier92
  • Odyſſeus ſcheidet von Kalypſo, und ſcheitert im Sturm95
  • Nauſikaa100
  • Odyſſeus bei den Phäaken107
  • Odyſſeus erzählt den Phäaken ſeine Irrfahrten. (Cikonen. Lotophagen, Cyklopen, Polyphem.) 123
  • Odyſſeus erzählt weiter. (Der Schlauch des Aeolus. Die Läſtrygonen. Circe.) 137
  • Odyſſeus erzählt weiter. (Das Schattenreich.) 152
  • Odyſſeus erzählt weiter. (Die Sirenen. Scylla und Cha¬ rybdis. Thrinakia und die Heerden des Sonnengottes. Schiff¬ bruch. Odyſſeus bei Kalypſo.) 160
  • Odyſſeus verabſchiedet ſich von den Phäaken170
Drittes Buch. Odyſſeus. Zweiter Theil.
  • Odyſſeus kommt nach Ithaka175
  • Odyſſeus bei dem Sauhirten182
  • Telemach verläßt Sparta191
  • Geſpräche beim Sauhirten197
  • Telemach kommt heim201
  • Odyſſeus gibt ſich dem Sohne zu erkennen205
  • Vorgänge in der Stadt und im Palaſt209
  • Telemach, Odyſſeus und Eumäus kommen in die Stadt213
  • Odyſſeus als Bettler im Saal220
  • Odyſſeus und der Bettler Irus225
  • Penelope vor den Freiern229
  • XI
  • Seite.
  • Odyſſeus abermals verhöhnt232
  • Odyſſeus mit Telemach und Penelope allein235
  • Die Nacht und der Morgen im Palaſte243
  • Der Feſtſchmaus247
  • Der Wettkampf mit dem Bogen250
  • Odyſſeus entdeckt ſich den guten Hirten254
  • Die Rache259
  • Beſtrafung der Mägde267
  • Odyſſeus und Penelope269
  • Odyſſeus und Laertes275
  • Aufruhr in der Stadt durch Athene geſtillt283
  • Der Sieg des Odyſſeus286
Viertes Buch. Aeneas. Erſter Theil.
  • Aenens verläßt die trojaniſche Küſte293
  • Den Flüchtlingen wird Italien verſprochen298
  • Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien302
  • Aeneas an der Küſte Italiens. Sicilien und der Cyklopen¬ ſtrand. Tod des Anchiſes306
  • Aeneas nach Karthago verſchlagen311
  • Venus von Jupiter mit Rom getröſtet. Sie erſcheint ihrem Sohne316
  • Aeneas in Karthago321
  • Dido und Aeneas327
  • Dido's Liebe bethört den Aeneas330
  • Aeneas verläßt auf Jupiters Befehl Karthago334
XII
Fünftes Buch. Aeneas. Zweiter Theil.
  • Seite.
  • Der Tod des Palinurus. Landung in Italien. Latinus. Lavinia
  • 347 Lavinia dem Aeneas zugeſagt352
  • Juno facht Krieg an. Amata. Turnus. Die Jagd der Trojaner355
  • Ausbruch des Krieges. Aeneas ſucht bei Evander Hülfe361
  • Der Schild des Aeneas367
  • Turnus im Lager der Trojaner371
  • Niſus und Euryalus375
  • Sturm des Turnus abgeſchlagen382
  • Aeneas kommt ins Lager zurück387
  • Aeneas und Turnus kämpfen. Turnus tödtet den Pallas391
  • Turnus von Juno gerettet. Lauſus und Mezentius von Aeneas erſchlagen394
Sechstes Buch. Aeneas. Dritter Theil.
  • Waffenſtillſtand405
  • Volksverſammlung der Latiner408
  • Neue Schlacht. Kamilla fällt413
  • Unterhandlung. Verſuchter Zweikampf. Friedensbruch. Aeneas meuchleriſch verwundet420
  • Aeneas geheilt. Neue Schlacht. Sturm auf die Stadt427
  • Turnus ſtellt ſich zum Zweikampf und erliegt. Ende. 431
[1]

Erſtes Buch.

Die letzten Tantaliden.

Agamemnons Geſchlecht und Haus. Agamemnons Ende. Agamemnon gerächt. Oreſtes und die Eumeniden. Iphigenia zu Tauri.

Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 1[2][3]

Agamemnons Geſchlecht und Haus.

Troja war gefallen. Die heimſegelnde Flotte der Hellenen, vom Sturme halb vernichtet, hatte ſich in ihren Ueberbleibſeln wieder zuſammengefunden, und auf der beruhigten See fuhren die Abtheilungen der Griechen jede ihrer Heimat zu. Agamemnon, deſſen Schiffe, von der Herrſcherin Juno beſchützt, keinen Schaden genom¬ men hatten, ſteuerte rüſtig auf die Küſte des Peloponne¬ ſes los. Schon nahete er dem ſpitzigen Felſenhaupte des Vorgebirges Malea in Lakonien, als ihn plötzlich aufs Neue das Ungeſtüm eines Orkanes ergriff und ihn mit allen Fahrzeugen in die offene Flut des Meeres zurück¬ warf. Seufzend mit aufgehobenen Händen flehte der Völkerfürſt empor zum Himmel und bat die Götter, ihn nicht nach ſo vielem Ungemach und nach mühſelig voll¬ brachtem Willen der Himmliſchen im Angeſichte ſeiner Heimat mit ſo vielen tapferen Männern verderben zu laſ¬ ſen. Er wußte nicht, daß dießmal der Sturm ſein Freund und von warnenden Gottheiten ihm zugeſendet war: denn ihm wäre beſſer geweſen, an die fernſte Barbarenküſte verſchlagen, in der Verbannung ſein Leben zu beſchließen, als ſeinen Fuß in den heimiſchen Königspallaſt Mycene's zu ſetzen.

Auf Agamemnons Geschlecht ruhete ein Fluch; von ſeinem Urahn Tantalus her war es unter Gräueln1*4erwachſen; ruchloſe Gewalt hatte die einen ſeiner Glieder geſtürzt, die andern erhoben; durch einen ungeheuren Frevel im eigenen Hauſe ſollte auch Agamemnon das Ziel ſeines Lebens finden. Der Urgroßvater Tantalus hatte den zum Mahle geladenen Göttern ſeinen Sohn Pelops gekocht zu ſchmauſen vorgeſetzt, und nur ein Wunder hatte dieſen Stammhalter des Geſchlechts ins Leben zurückgerufen. Pelops, ſonſt unſträflich, ermordete ſeinen Wohlthäter Myrtilus, den Sohn Merkurs, und half durch dieſen Mord den Fluch des Hauſes weiter ſpinnen. Myrtilus nämlich, der Stallmeiſter des Köni¬ ges Oenomaus, deſſen Tochter Hippodamia Pelops durch den Sieg im Wagenrennen gewinnen ſollte, ließ ſich überreden, die Nägel aus dem Wagen ſeines Herrn zu ziehen und wächſerne ſtatt der eiſernen einzuſtecken. Dadurch ging der Wagen des Oenomaus auseinander und Pelops gewann den Sieg und die Jungfrau. Als aber Myrtilus die verſprochene Belohnung forderte, ſtürzte ihn Pelops, um keinen Zeugen ſeines Betruges zu haben, ins Meer. Vergebens ſuchte er den über dieſen Frevel zürnenden Gott Merkurius zu verſöhnen, baute dem Sohn ein Grabmal und dem Vater einen Tempel: er und ſein Geſchlecht waren der Rache des Gottes verfallen.

In den Söhnen des Pelops, Atreus und Thyeſtes, wirkte der Fluch kräftig fort. Atreus war König zu Mycene, Thyeſtes neben ihm König im ſüdlichen Theile des Argoliſchen Landes. Der ältere Bruder beſaß einen Widder, der goldene Wolle trug; nach dieſem gelüſtete Thyeſtes, den jüngeren; er verführte die Gemahlin des Bruders, Aerope, zur Untreue und erhielt von ihr das goldene Lamm. Als Atreus das doppelte Verbrechen5 ſeines Bruders inne ward, hielt ihn keine Ueberlegung ab; er handelte wie der Großvater: heimlich ergriff er die beiden kleinen Söhne des Thyeſtes, Tantalus und Pliſthenes, ſetzte ſie geſchlachtet beim gräßlichen Gaſt¬ mahle dem Bruder vor, und gab ihr Blut, zum Weine gemiſcht, dem unſeligen Vater zu trinken. Dem zuſchauenden Sonnengotte kam über dieſer Unmenſchlichkeit ein ſolches Entſetzen an, daß er ſeinen Wagen rückwärts lenkte, Thyeſtes aber floh vor dem entſetzlichen Bruder nach Epirus zu dem Könige Thesprotus. Das Land des Atreus ward von Dürre und Hungersnoth heimge¬ ſucht, und der befragende König erhielt vom Orakel die Antwort, die Landplage werde aufhören, wenn der vertriebene Bruder zurückberufen ſey. So machte ſich Atreus ſelbſt auf den Weg, den Thyeſtes in ſeiner Zu¬ fluchtsſtätte aufzuſuchen, und führte ihn mit einem Sohne Namens Aegiſthus, in die alte Heimat zurück. Auch dieſer Aegiſthus war das Kind eines Gräuels und in ſeinem Aſyle von Thyeſtes erzeugt. Aber er hatte ge¬ ſchworen, ſeinen Vater an dem Atreus und deſſen Kin¬ dern zu rächen. Das erſte vollführte er bald, nachdem die Brüder zuſammen nach Mycene zurückgekehrt waren. Ihre Freundſchaft war dort von kurzer Dauer geweſen, und Atreus hatte den Bruder in den Kerker geworfen. Da erbot ſich Aegiſthus trügeriſcher Weiſe dem Oheim, indem er ſich über den Gräuel ſeiner Geburt entrüſtet ſtellte, den eigenen Vater umzubringen. In den Kerker eingelaſſen, verabredete er mit ſeinem Vater die Rache, zeigte dem Atreus ein blutiges Schwert, und als dieſer, über den geglaubten Tod des Bruders fröhlich, am Meeresufer ein Dankopfer anſtellte, ſtieß ihm Aegiſthus6 daſſelbe Schwert in den Leib, Thyeſtes kam aus ſeiner Haft hervor und bemächtigte ſich auf kurze Zeit des brüderlichen Reiches; aber der älteſte Sohn des Atreus, Agamemnon, ſtellte ihm nach und rächte mit dem Schwert an ihm des Vaters Mord. Aegiſthus blieb verſchont, er ward von den Göttern zum Fluche des Geſchlechtes aufgehoben und regierte als König in dem alten Antheile ſeines Vaters im ſüdlichen Lande.

Wie nun Agamemnon in den Krieg vor Troja ge¬ zogen war, und ſeine Gemahlin Klytämneſtra, über die Opferung ihrer Tochter Iphigenia grollend, im tiefen Mutterſchmerze zu Hauſe ſaß, da däuchte dem Aegis¬ thus die rechte Zeit gekommen, auch dem Atriden mit ſeiner Rache zu nahen. Er erſchien im Königspallaſte zu Mycene, und der Wunſch, am unmenſchlichen Gat¬ ten ſich zu rächen, gab ſie nach langem Widerſtreben der Verführung des Böſewichts preis, daß ſie als mit einem zweiten Gemahle Pallaſt und Reich Agamemnons mit ihm theilte. Von ihrem rechtmäßigen Gatten lebten in deſſen Hauſe damals drei Geſchwiſter der entrückten Iphigenia: ihr zunächſt am Alter die kluge Jungfrau Elektra, eine jüngere Schweſter Chryſothemis, und ein kleiner Knabe, Oreſtes. Vor ihren Augen nahm Aegis¬ thus von dem Ehebund und Pallaſte des Vaters Beſitz. Das frevelnde Paar, als ſich der Kampf vor Troja zu ſeinem Ende neigte, war jetzt nur darauf bedacht, daß der heimkehrende Agamemnon mit ſeiner furchtbaren Kriegerſchaar ſie nicht unvorbereitet überraſchen möchte. Seit Jahren war auf den Zinnen des Pallaſtes ein Wächter aufgeſtellt, dem ein nächtliches Fackelzeichen von der Meergränze des Landes her die Nachricht von7 der Eroberung Troja's und der Ankunft des Königes geben ſollte. War die Kunde einmal gekommen, ſo ſollte es an Zurüſtungen nicht fehlen, dem König Agamemnon einen feſtlichen Empfang zu bereiten und ihn in die Falle zu locken, noch bevor er den wahren Zuſtand der Dinge in ſeiner Heimat erführe.

Endlich erglänzte die Fackel bei Nacht. Der Wäch¬ ter eilte von der Zinne herab und meldete der Herrin das erblickte Zeichen. Mit Ungeduld erwarteten Klytäm¬ neſtra und ihr Buhle den Morgen; und die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, als ſchon ein Herold, von dem heimkehrenden König abgeſandt, mit Oliven¬ zweigen ſein Haupt beſchattend, auf den Pallaſt von Mycene zugeſchritten kam. Die Königin ging ihm mit verſtellter Freundlichkeit entgegen. Doch ſorgte ſie, daß der Bote ſich im Königshauſe nicht umſehen konnte, und als dieſer in einer langen Erzählung ſeiner Siegesfreude Luft machen wollte, unterbrach ſie ihn haſtig und ſprach: Bemühe dich nicht, am beſten werde ich das Alles aus dem Munde meines königlichen Gemahles ſelbſt er¬ fahren. Kehre zurück und beſchleunige ſeinen Weg. Sage ihm, wie erwünſcht er mir und der Stadt komme, und daß ich ſelbſt mich zum Aufbruch anſchicken werde, ihn nicht nur als meinen verehrten und geliebten Gatten, ſondern auch als den herrlichen Eroberer einer weltbe¬ rühmten Stadt nach Würden zu empfangen.

8

Agamemnons Ende.

Als der König Agamemnon im Sturme von dem Vorgebirge Malea zurückgeworfen worden war, trieb ihn der Wind mit ſeinem Schiffzuge nach dem ſüdlichen Geſtade des Landes, wo einſt ſein Oheim Thyeſtes ge¬ herrſcht hatte, und jetzt der Fürſtenſitz des Aegiſthus war. Er warf die Anker aus und wartete günſtigen Fahrwind in einer ſicheren Hafenbucht ab. Ausgeſchickte Kund¬ ſchafter brachten ihm die Nachricht, daß der König des Landes, Aegiſthus, mit ſeiner Gemahlin Klytämneſtra, ſeit dieſe von Aulis zurückgekehrt, in nachbarlicher Freund¬ ſchaft gelebt habe, ja daß derſelbe, ſchon ſeit geraumer Zeit nach Mycene berufen, in der Königin Namen das Reich Agamemnons verwalte. Der Völkerfürſt erfreute ſich dieſer Nachricht und ſuchte nichts Arges darunter. Er dankte den Göttern, daß der alte Rachegeiſt aus ſeinem Hauſe verſchwunden ſey. Ihm ſelbſt, der ſo viel Griechen - und Barbarenblut vor Troja nothgedrungen vergoſſen hatte, war der Durſt nach Blutrache ver¬ gangen, und ſein Inneres dachte nicht daran, den Mör¬ der ſeines Vaters, der doch ſelbſt nur gerechte Rache genommen hatte, zu ſtrafen. Auch das Herz ſeiner Ge¬ mahlin glaubte er durch den langen Zeitraum beſchwich¬ tiget. Unter fröhlichen Hoffnungen lichtete er die Anker bei günſtigem Wind und lief mit ſeinen Kriegern wohl¬ behalten in den Hafen ſeiner Heimat ein.

Sobald er hier den Göttern ein Dankopfer für Rettung und beglückte Fahrt am Ufer dargebracht hatte,9 folgte er mit ſeiner Kriegerſchaar dem abgeſandten Herold. Vor der Stadt Mycene kam ihm das geſammte Volk, ſeinen Vetter Aegiſthus, der im ganzen Lande als könig¬ licher Verwalter des Reiches galt, an der Spitze, ent¬ gegen. Alsdann erſchien auch, von den Frauen ihres Hauſes begleitet und von den ſtreng bewachten Kindern umgeben, die Königin Klytämneſtra. Wie man bei er¬ heuchelter Freude pflegt, empfing ſie den Gemahl mit allen erſinnlichen Ehrenbezeugungen und mit übertriebener Ehrfurcht, ja ſtatt ihn zu umfangen, warf ſie ſich vor ihm auf die Kniee nieder und ergoß ſich in Glückwün¬ ſchungen und Lobſprüchen. Agamemnon aber eilte freu¬ dig auf ſie zu, erhob ſie vom Boden, umarmte ſie und ſprach: Was denkſt du, Leda's Tochter, daß du, wie eine Sklavin den Barbarenherrn, fußfällig im Staube dich wälzend, mich empfängſt? und was ſollen dieſe herrlichen geſtickten Teppiche, die unter meinen Fußtritt gebreitet ſind? So empfängt man unſterbliche Götter und nicht ſterbliche ſchwache Menſchen. Ehre mich ſo, daß die Himmliſchen mich nicht beneiden!

Nachdem er die Gattin ſo begrüßt und die Kinder umarmt und geküßt, wandte er ſich um zu Aegiſthus, der mit den Häuptlingen der Stadt ſeitwärts ſtand, reichte ihm brüderlich die Hand und ſagte ihm freund¬ lichen Dank für die ſorgfältige Verwaltung des Landes. Dann löste er die Riemen ſeiner Schuhe und ging bar¬ fuß über das koſtbare Gewebe der Teppiche durch die ganze Stadt bis zu ſeinem Pallaſte. In ſeinem Gefolge befand ſich auch Kaſſandra, die weiſſagende Tochter des Priamus, die in der Beute dem Völkerfürſten, der ſie von den ruchloſen Händen Ajax des Lokrers befreit hatte,10 zu Theil geworden war. Sie ſaß mit geſenktem Haupt und niedergeſchlagenen Augen auf einem hohen, auch mit anderer Beute beladenen Wagen. Als Klytämneſtra die edle Geſtalt der Jungfrau gewahr wurde, überſchlich ſie ein Gefühl der Eiferſucht, zu welchem ſie freilich am wenigſten berechtigt war, gewaltiger aber noch befiel ſie ein Schrecken, als ſie den Namen der Gefangenen er¬ kundet und erfahren hatte, daß ſie die wahrſagende Prieſterin der Pallas in ihrem durch Ehebruch entweih¬ ten Hauſe beherbergen ſollte. Die höchſte Gefahr däuchte ihr deswegen, länger mit ihrem verruchten Vorhaben zu zögern, und ſchnell war ihr argliſtiger Entſchluß gefaßt, die fremde Jungfrau auf eine Stunde mit dem Gatten zu verderben. Doch verbarg ſie ſorgfältig ihr Inneres vor der Seherin, und als der ganze Zug vor dem Kö¬ nigspallaſte zu Mycene angekommen war, trat ſie freund¬ lich zu dem Wagen und rief ihr zu: Steige herab, traurige Jungfrau, und gib dem Verdruſſe Abſchied! Mußte doch ſelbſt Alkmene's unbezwinglicher Sohn, Her¬ kules, einſt in die Knechtſchaft wandern und ſein Haupt unter das Joch einer fremden Herrin beugen! Wem das Schickſal einen ſolchen Zwang zugedacht hat, der darf ſich glücklich preiſen, wenn er unter Herren kommt, bei denen alter Reichthum zu Hauſe iſt, denn wer das Glück erſt kurz und unverhofft geerntet hat, pflegt hart und übermüthig gegen Knechte zu ſeyn. Sey getroſt, du ſollſt Alles bei uns erhalten, was billig iſt!

Kaſſandra veränderte ihre Miene nicht bei dieſen Worten, lange blieb ſie ohne Regung auf dem Stuhl ihres Wagens ſitzen, die Dienerinnen mußten ſie nöthi¬ gen, ihren Platz zu verlaſſen. Endlich ſprang ſie vom11 Sitze, wie ein geſcheuchtes Wild, ihr Herz wußte Alles, was ihr bevorſtand, ſie war gewiß, daß der Schluß des Schickſals nicht zu ändern ſey; und, hätte ſie ihn ändern können, ſie hätte doch der Rachegöttin den Feind ihres Volkes nicht entziehen wollen, und weil er doch ihr Retter war, ſo verdroß es ſie nicht, mit ihm zu ſterben.

Im Pallaſte wurden der Fürſt Agamemnon und alle mit ihm Angekommenen durch Zurüſtungen zu einem prächtigen Gaſtmahle getäuſcht. Bei dieſem Mahle hätte er von den gedungenen Knechten des Aegiſthus wie ein Stier an der Krippe erſchlagen werden ſollen. Die Ankunft der Wahrſagerin aber beſtimmte die Königin und ihren Ehebrecher, die Entſcheidung nicht auf dieſen Hinterhalt auszuſetzen, ſondern raſcher und einſamer zu Werke zu gehen.

Agamemnon, von der Fahrt ermüdet, und vom Wege durch das Land nach der Stadt beſtäubt, verlangte nach einem erquicklichen Bade, und Klytämneſtra erklärte ihm mit liebreicher Zuvorkommenheit, daß ſie dieſes Be¬ dürfniß längſt vorhergeſehen und daß ein warmes Bad für ihn bereit gehalten ſey. Der König betrat ahnungs¬ los das Badegewölbe ſeines Pallaſtes, legte Panzer, Waffen und alle Gewande ab, und beſtieg wehrlos und entkleidet den Badebehälter. Da brachen Aegiſthus und Klytämneſtra aus ihrem Verſtecke hervor, warfen ihm ein feſtgewundenes Netz über den Leib und durchbohrten ihn mit wiederholten Dolchſtichen. Sein Hülferuf drang aus dem unterirdiſchen Gemache, wo die Bäder ſich befanden, nicht hinauf in den obern Pallaſt. Unmittel¬ bar nachher ward Kaſſandra, die einſam durch die dun¬ keln Vorhallen des Königspallaſtes hin und her irrte, niedergemacht.

12

Sobald die doppelte Unthat geſchehen war, gedach¬ ten die Mörder, auf ihren Anhang vertrauend, ſie nicht länger zu verbergen. Die beiden Leichname wurden im Pallaſte ausgeſtellt; Klytämneſtra berief die Häupter der Stadt und ſprach ohne Rückhalt und ohne Scheu: Ver¬ arget mir, Freunde, meine bisherige Verſtellung nicht. Ich habe dem Todfeinde meines Hauſes, dem Mörder meines geliebteſten Kindes ſeine Blutſchuld nicht anders bezahlen können; ja ich habe ihn ins Netz gelockt, wie einen Fiſch habe ich ihn gefangen; mit drei Dolchſtichen, im Namen des unterirdiſchen Pluto geführt, habe ich meine Tochter gerächt. Es iſt Agamemnon, mein Gatte, von meiner eigenen Hand umgebracht, ich läugne es nicht. Hat er doch, als handelte es ſich von dem Tode eines Schlachtviehes, ſein eigenes Kind, mir das liebſte, geopfert, um mit meinem Mutterſchmerze die thraciſchen Winde zu beſänftigen. Verdiente ein ſolcher Frevler zu leben, verdiente er ein ſo ſchönes, ein ſo frommes Land zu beherrſchen? Iſt's nicht gerechter, daß Aegiſthus euch befehle, der keinen Kindermord auf dem Gewiſſen hat, der in Atreus und im Atriden nur Erbfeinde ſeines Vaters gerächt hat? Ja es iſt billig, daß ich ihm die Hand reiche, daß ich Pallaſt und Thron mit ihm theile, der das Werk der beleidigten Mutterliebe, das Werk der Gerechtigkeit mir vollbringen half. Er iſt ein Schild meiner Kühnheit; ſo lang er und ſein Anhang mich be¬ ſchützt, wird Niemand es wagen, mich wegen meiner That zur Rechenſchaft ziehen zu wollen. Was dieſe Sklavin betrifft (mit dieſen Worten deutete ſie auf Kaſſandra's Leichnam) ſo war ſie die Buhlerin des Treuloſen; ſie hat die Strafe des Ehebruchs erlitten,13 und ſoll den Hunden zum Zerfleiſchen vorgeworfen werden.

Die Häupter der Stadt blieben auf dieſe Rede ſtumm. An Gegenwehr war nicht zu denken: Die Be¬ waffneten des Aegiſthus umgaben den Pallaſt; Waffen¬ geklirr ertönte und drohende Laute ließen ſich hören. Die Krieger Agamemnons, deren eine weit kleinere Schaar aus dem männervertilgenden Kriege von Troja heimge¬ kehrt war, waren in der Stadt zerſtreut und hatten ſorglos die Waffen von ſich gelegt. Der wilde Anhang des Aegiſthus durchzog die Stadt in voller Rüſtung und metzelte Jeden nieder, der gegen den gräßlichen Mord ſeines Fürſten ſich auflehnte.

Die Frevler verſäumten auch nichts, ihre Herrſchaft zu befeſtigen. Alle Ehrenſtellen, alle Kriegsämter wurden unter ihre treuſten Anhänger vertheilt. Die Töchter Agamemnons betrachteten ſie als gefahrloſe Weiber; aber zu ſpät fiel ihnen ein, daß in dem jungen Oreſtes, dem jüngſten Kinde Agamemnons und Klytämneſtra's, dem Vater ein Rächer nachwachſe. Obgleich er kaum zwölfjährig war, hätten ſie ihn doch gerne getödtet, um ſich von aller Furcht der Strafe zu befreien. Aber ſeine kluge Schweſter Elektra, beſonnener als die Mör¬ der, hatte ſogleich nach der That Sorge für ihn getragen, und ihn heimlich dem Sklaven, dem ſeine Aufſicht an¬ vertraut war, übergeben. Dieſer hatte ihn nach Phanote im Lande Phocis gebracht, und ihn dort als ein heiliges Unterpfand dem befreundeten Könige Strophius über¬ geben, der ſein zweiter Vater wurde und ihn mit ſeinem eigenen Sohne Pylades ſorgfältig erzog.

14

Agamemnon gerächt.

Elektra führte inzwiſchen im Königspallaſte ihres ermordeten Vaters das traurigſte Leben, und nur die Hoffnung, ihren Bruder einſt, zum Manne herange¬ wachſen, als Rächer in den väterlichen Hallen erſcheinen zu ſehen, friſtete ihr kummervolles Daſeyn. Von der Mutter wurde ihr die bitterſte Feindſchaft zu Theil; im eigenen Stammhauſe mußte ſie mit den Mördern ihres Vaters wohnen und ihnen in Allem unterwürfig ſeyn; auf ſie kam es an, ob ſie darben, oder den nothdürftigen Unterhalt empfangen ſollte. Auf dem Thron Agamem¬ nons ſah ſie den Aegiſthus in königlicher Herrlichkeit ſitzen, ſah ihn in deſſen ſchönſte Gewande, welche die Vorrathskammern des Pallaſtes füllten, gekleidet, ein¬ hergehen, und den Schutzgöttern des Hauſes an derſelben Stelle Trankopfer ſpenden, wo er ſeinen Blutsverwandten ermordet hatte. Sie war Zeuge der zärtlichen Vertrau¬ lichkeit, mit welcher die freche Mutter den Beſudelten behandelte; denn dieſe, mit Lächeln über das hinſchlü¬ pfend, was ſie Gräuliches begangen hatte, ordnete all¬ jährlich Feſtreigen an dem Tage an, an welchem ſie den Gatten trügeriſch dahingewürgt, und brachte noch dazu den Rettungsgöttern jeden Monat reichliche Schlachtopfer dar. Die Jungfrau verzehrte ſich bei dieſem empörenden Anblicke in geheimem Gram, denn es war ihr nicht einmal frei zu weinen vergönnt, ſo ſehr ihr Herz darnach begehrte. Was weinſt du, Gott¬ verhaßte, rief ihr die Mutter zornig zu, ſo oft ſie15 dieſelbe in Thränen fand, ſtarb denn dir allein der Vater? hat denn kein Sterblicher zu trauern als du? Möchteſt du doch in deinem thörichten Jammer ſchmählich vergehen! Zuweilen ward ihr böſes Gewiſſen durch ein eitles Gerücht aufgeſchreckt, als ſey Oreſtes aus der Fremde im Anzug; dann wüthete ſie am rückhaltloſeſten gegen die unglückliche Tochter. Nun, wäre es nicht deine Schuld, rief ſie ihr zu, wenn er käme? Biſt nicht du es, die ihn aus meiner Hand hinweggeſtohlen und heimlich davongeſchickt hat? Doch wirſt du dich deiner Anſchläge nicht freuen; der verdiente Lohn ereilt dich, ehe du es denkſt! In ſolchen Scheltworten ſtand ihr dann der verworfene Gatte Aegiſthus bei, und vor beider Flüchen verbarg ſich Elektra in die dunkelſte Kammer des Hauſes.

Jahre waren ſo dahingeſchwunden, während welcher ſie unaufhörlich auf die Erſcheinung ihres Bruders Oreſtes harrte, denn dieſer hatte bei ſeiner Flucht, ſo jung er war, doch der Schweſter das Verſprechen hinterlaſſen, zur rechten Zeit, wenn er Manneskraft in ſeinem Arme mitbringen könnte, da zu ſeyn. Jetzt aber zögerte der längſt herangereifte Jüngling ſo lange, und die nahen wie die fernen Hoffnungen erloſchen allmählig in dem troſtloſen Herzen der trauernden Jungfrau.

Bei ihrer jüngeren Schweſter Chryſothemis, die nun auch längſt herangewachſen war, aber nicht das männliche Gemüth Elektra's beſaß, fand die treue Toch¬ ter Agamemnons keine Unterſtützung ihrer Plane, und wenig Troſt in ihrem Schmerz. Doch geſchah dieß nicht aus Gefühlloſigkeit, ſondern nur aus Schwäche des weiblichen Herzens. Chryſothemis gehorchte der16 Mutter und widerſetzte ſich nicht halsſtarrig ihren Be¬ fehlen wie Elektra. So kam ſie denn auch eines Tages mit Opfergeräthe und Grabesſpende für Verſtorbene im Auftrage der Mutter vor das Thor des Pallaſtes ge¬ gangen und trat der Schweſter hier in den Weg. Elektra ſchalt ſie über dieſen Gehorſam und fand es ſchnöde, daß ein Kind ſolchen Mannes des Vaters vergeſſen und der ruchloſen Mutter ſtets gedenken könne. Willſt du denn, erwiederte ihr Chryſothemis, ſo lange Zeit hin¬ durch niemals lernen, Schweſter, leerem Grame dich nicht fruchtlos hinzugeben? Glaube nur, daß mich auch kränkt, was ich ſehe, und nur aus Noth ziehe ich mein Segel ein. Dich aber, dieß vernahm ich von den Grau¬ ſamen, wollen ſie, wenn du nicht aufhörſt zu klagen, ferne von dem Elternhauſe in einen tiefen Kerker werfen, wo du den Strahl der Sonne niemals wieder ſchauen ſollſt. Bedenke dieß, und gib nicht mir die Schuld, wenn jene Noth einbricht! Mögen ſie es thun, antwortete Elektra ſtolz und kalt, mir iſt am wohlſten, wenn ich recht ferne von euch Allen bin! Aber wem bringſt du dieſes Opfer da, Schweſter? Es iſt von der Mutter unſerm verſtorbenen Vater beſtimmt, Wie, für den Ermordeten? rief Elektra ſtaunend. Sprich, was bringt ſie auf ſolche Gedanken? Ein nächtliches Schreckbild, erwiederte die jüngere Schwe¬ ſter. Sie hat, ſo geht die Sage, unſern Vater im Traume geſchaut, wie er den Herrſcherſtab, den er einſt trug und jetzt Aegiſthus trägt, in unſerm Hauſe ergriff und in die Erde pflanzte. Dieſem entſproßte alſobald ein Baum mit Aeſten und üppigen Zweigen, der über ganz Mycene ſeinen Schatten verbreitete. Durch dieſes17 Traumbild geſchreckt und zu banger Furcht aufgeregt, ſchickt ſie mich heute, wo Aegiſthus nicht zu Hauſe iſt, des Vaters Geiſt mit dieſem Grabesopfer zu verſöhnen. Theure Schweſter, ſprach Elektra auf einmal in bittendem Tone, ferne ſey, daß die Spende des feind¬ ſeligen Weibes das Grab unſeres Vaters berühre! Gib das Opfer den Winden, vergrab 'es tief in den Sand, wo auch kein Theilchen davon die Ruheſtätte unſers Va¬ ters erreichen könne. Meinſt du, der Todte im Grabe werde das Weihgeſchenk ſeiner Mörderin frohen Muthes empfangen? Wirf du vielmehr Alles hin, ſchneide dir und mir ein paar Locken des Haupthaares ab und bring ihm dieſes unſer demüthiges Haar und meinen Gürtel da, das Einzige was ich habe, als wohlgefälliges Opfer dar. Wirf dich dazu nieder und flehe zu ihm, daß er aus dem Erdenſchooß als Beiſtand gegen unſere Feinde heraufſteige, daß der ſtolze Fußtritt ſeines Sohnes Oreſtes bald erſchalle und ſeine Mörder niedertrete. Dann wollen wir ſein Grab mit reicheren Opfern ſchmücken! Chry¬ ſothemis, zum erſtenmale von der Rede der Schweſter ergriffen, verſprach zu gehorchen, und eilte mit dem Opfer der Mutter hinaus ins Freie.

Sie hatte ſich noch nicht lange entfernt, ſo kam Klytämneſtra aus den innern Hallen des Pallaſtes und fing in gewohnter Weiſe auf ihre ältere Tochter zu ſchmähen an: Du biſt heute wieder ganz ausgelaſſen, ſcheint es, Elektra, weil Aegiſthus, der dich doch ſonſt in Schranken hielt, heute fort iſt. Schämſt du dich nicht, anders als es einer ſittſamen Jungfrau geziemt, den Deinen zur Schande vor das Thor zu gehen und mich da wohl bei den aus - und eingehenden Mägden zu verklagen? Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 218Nimmſt du noch immer den Vater zum Vorwande deiner Anklage, daß er durch mich geſtorben ſey? Nun wohl, ich läugne dieſe That nicht, aber nicht ich allein bin es, die ſie verrichtete, die Göttin der Gerechtigkeit ſtand mir zur Seite; und auf ihre Seite ſollteſt auch du treten, wenn du vernünftig wäreſt. Erfrechte ſich nicht dieſer dein Vater, den du unaufhörlich beweinſt, allein im ganzen Volke, deine Schweſter ſich und Menelaus zum Vortheil hinzuopfern? Iſt ein ſolcher Vater nicht ſchänd¬ lich und ſinnlos? Würde der Todten gewährt zu ſprechen, gewiß ſie würde mir Recht geben! Ob aber du, Thö¬ rin, mich ſchiltſt, das gilt mir gleich.

Höre mich an, erwiderte Elektra, Du geſtehſt meines Vaters Mord. Das iſt Schande genug, mag dieſer Mord nun gerecht geweſen ſeyn oder nicht. Aber nicht um der Gerechtigkeit willen haſt du ihn erſchlagen! Die Schmeichelei des ſchnöden Mannes trieb dich dazu, der dich jetzt beſitzt. Mein Vater opferte fürs Heer und nicht für ſich, nicht für Menelaus. Widerſtrebend, gezwungen that er es, dem Volke zu lieb. Und wenn er es für ſich, wenn er es für ſeinen Bruder gethan hätte, mußte er deßwegen von deiner Hand ſterben? mußteſt du deinen Mordgenoſſen zum Gemahl nehmen, und die allerſchimpflichſte That auf die allerverruchteſte folgen laſſen? oder heißeſt du das vielleicht auch Ver¬ geltung für den Opfertod deines Kindes? Schnöde Brut, rief Klytämneſtra zornglühend ihr entgegen, bei der Königin Diana! du büßeſt mir dieſen Trotz, iſt nur erſt Aegiſthus zurückgekommen. Wirſt du dein Geſchrei einſtellen und mich ruhig opfern laſſen?

Klytämneſtra wandte ſich von der Tochter ab und19 trat an den Altar des Apollo, der vor dem Pallaſte wie vor allen Häuſern der Griechen aufgeſtellt war, Haus und Straße zu behüten. Das Opfer, das ſie dar¬ brachte, war beſtimmt, den Gott der Weiſſagungen wegen des Traumgeſichtes zu verſöhnen, das ihr in der letzten Schreckensnacht im Schlafe vorgekommen war.

Und es ſchien als wolle der Gott ſie erhören. Noch hatte ſie nicht ausgeopfert, als ein fremder Mann auf die ſie begleitenden Dienerinnen zuſchritt und nach der Königswohnung des Aegiſthus ſich erkundigte. Von dieſen an die Fürſtin des Hauſes gewieſen, beugte er die Kniee vor ihr und ſprach: Heil dir, o Königin, ich bin gekommen, dir ein willkommenes Wort von dei¬ nem und deines Gemahles Freunde zu verkündigen. Mich ſendet der König Strophius aus Phanote: es ſtarb Oreſtes; damit iſt mein Auftrag zu Ende. Dieß Wort iſt mein Tod, ſeufzte Elektra und ſank an den Stufen des Pallaſtes nieder. Was ſagſt du, Freund, ſprach haſtig Klytämneſtra, den Altar mit einem Sprunge verlaſſend. Kümmere dich nicht um jene Närrin dort! Erzähle mir, erzähle!

Dein Sohn Oreſtes, hub jener an, von Ruhm¬ begier getrieben, war nach Delphi zu den heiligen Spielen gekommen. Als der Herold den Anfang des Wettlaufes verkündigte, ſo trat er herein in den Kreis, eine glän¬ zende Geſtalt, von Allen angeſtaunt. Ehe man ihn recht ſeinen Anlauf nehmen ſah, dem Wind oder dem Blitze gleich, war er am Ziele und trug den Siegespreis davon. Ja, ſo viel der Kampfrichter Heroldsrufe ergehen ließ, in dem ganzen fünffachen Kampfe der doppelten Renn¬ bahn, erſchallte jedesmal als Name des Siegers,2 *20Oreſtes, der Sohn Agamemnons, des lkerfürſten vor Troja. Dieß war der Anfang ſeiner Wettkämpfe. Aber, wenn ihn die höhere Gewalt der Götter irre macht, ſo entgeht auch der Stärkſte ſeinem Looſe nicht. Denn als nun am andern Tage wiederum bei Sonnenaufgang das Wettrennen der geflügelten Roſſe ſeinen Anfang nahm, war auch er unter vielen andern Wagenlenkern zur Stelle. Vor ihm waren auf dem Kampfplatz ein Achaier, ein Spartaner und zwei wohlerfahrene Roſſe¬ lenker aus Libyen erſchienen. Auf ſie folgte Oreſtes als der Fünfte, mit theſſaliſchen Roſſen; dann, mit einem Viergeſpann von Braunen, kam ein Ae olier; als ſiebenter ein Wettrenner aus Magneſia, der Achte ein Kämpfer aus Aenia mit ſchönen Schimmeln, beide Thracier, aus Athen ein Neunter, und zuletzt auf dem zehenten Wagen ſaß ein Böotier. Nun ſchüttelten die Kampfrichter die Looſe, die Wagen wurden in der Ordnung aufgeſtellt, die Trompete gab das Zeichen, und dahin jagten ſie alle, die Zügel ſchwingend und den Roſſen Muth ein¬ rufend. Das Erz der Wagen dröhnte, der Staub flog empor, keiner ſparte die Geiſſel. Hinter jedem Wagen ſchnaubten ſchon die Roſſe eines andern. Bereits lenkte der Aenianer der letzten Säule zu und drängte, ſein linkes Roß ſtraff am Zügel haltend, die Nabe dorthin, während er das rechte, das Nebenroß, frei laufen ließ. Anfangs flogen auch die Wagen alle aufrecht dahin, bis die hartmäuligen Pferde des Aenianers ſcheu wurden und gegen den Wagen des Libyers anrannten. Durch dieſen Einen Fehler gerieth Alles in Verwirrung, Wa¬ gen ſtürzten an Wagen, und bald war das Feld mit Trümmern bedeckt. Nur der kluge Athener wich ſeitwärts,21 hemmte ſeine Roſſe, und ließ im innern Kreiſe den Strudel der Wagen ſich in einander wühlen. Hinter dieſem drein kommend trieb als der letzte Oreſtes ſeine Roſſe an. Wie dieſer nun Alles geſtürzt und in Unord¬ nung und den Athener allein noch übrig ſieht, klatſcht er mit der Peitſche ſeinem Viergeſpann ins Ohr, und ſo fährt bald, beide Führer im Sitz aufrecht und vor¬ gelehnt, das kühne Paar mit einander in die Wette. Oreſtes war auf der langen Bahn auch wirklich glück¬ lich vorwärts gekommen, und ließ, auf dieß ſein Glück vertrauend, allmählig mit dem Zügel nach. Da wandte ſich ſein linkes Roß, bog um, und ſtreifte kaum merklich die letzte Säule der Bahn. Und doch war der Stoß ſo groß, daß die Nabe mitten durch brach, der Arme vom Wagenſitze glitt, und an ſeinem Zaume dahinge¬ ſchleift wurde. Als er auf den Boden ſank, flogen ſeine Roſſe in wilder Flucht durch die Bahn; das Volk jam¬ merte laut auf, denn der ſchöne Jüngling wurde bald am Boden hingeſchleift, bald ſtreckte er ſeine Glieder gen Himmel. Endlich hemmten die Wagenlenker ſelbſt mit Mühe ſein Geſpann und löſten den Geſchleiften ab, der ſo mit Blut befleckt, ſo entſtellt war, daß ſelbſt ſeine Freunde den Leib nicht mehr erkannten. Der Leichnam wurde ſofort ſchleunig auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und wir Abgeordnete aus Phocis bringen in einer klei¬ nen Urne von Erz den jämmerlichen Ueberreſt ſeines ſtattlichen Leibes, damit ſein Vaterland ihm ein Grab gönne!

Der Bote endete: Klytämneſtra aber fühlte ſich von widerſprechenden Gefühlen bewegt; ſie ſollte ſich eigentlich über den Tod des gefürchteten Sohnes freuen; aber22 doch regte ſich das Mutterblut mächtig in ihr, und ein unwiderſtehlicher Schmerz verkümmerte ihr das Gefühl der Sorgloſigkeit, dem ſie ſich mit dieſer Nachricht end¬ lich hingeben zu dürfen glaubte. Elektra dagegen war nur von Einem Gefühle, dem gränzenloſeſten Jammer beſeſſen, und machte dieſem in lauten Wehklagen Luft. Wohin ſoll ich fliehen, rief ſie, als Klytämneſtra mit dem Fremdling aus Phocis in den Pallaſt gegangen war, jetzt erſt bin ich einſam, jetzt erſt des Vaters beraubt; nun muß ich wieder die Dienſtmagd der ab¬ ſcheulichſten Menſchen, der Mörder meines Vaters ſeyn! Aber nein, unter demſelben Dache mit ihnen will ich künftig nicht mehr wohnen, lieber werfe ich mich ſelbſt hinaus vor das Thor dieſes Pallaſtes, und komme draußen im Elend um. Zürnt einer der Hausbewohner darob? wohl, er gehe heraus und tödte mich! das Leben kann mich nur kränken, und der Tod muß mich erfreuen!

Allmählig verſtummte ihre Klage und ſie verſank in ein dumpfes Brüten. Wohl mochte ſie ſtundenlang ſo in ſich vertieft auf der Marmortreppe am Eingange des Pallaſtes, den Kopf auf den Schooß gelegt, geſeſſen haben, als auf einmal ihre junge Schweſter Chryſothe¬ mis voll Freude daher gejagt kam und nach keinem An¬ ſtande fragend, mit einem Jubelruf die Schweſter aus ihrem brütenden Kummer weckte. Oreſtes iſt gekommen, rief ſie; er iſt ſo leibhaftig da, wie du mich ſelbſt hier vor dir ſieheſt! Elektra richtete ihr Haupt auf, blickte die Schweſter mit weitaufgeriſſenen Augen an, und ſprach endlich: Redeſt du im Wahnſinn, Schweſter, und willſt meiner und deiner Leiden ſpotten? Ich melde, was ich gefunden, ſprudelte Chryſothemis heraus,23 lachend und weinend zugleich. Höre, wie ich auf die Spur der Wahrheit kam. Als ich an das überwachſene Grab unſers Vaters kam, da ſah ich auf der Höhe Spuren einer friſchen Opferſpende von Milch, und zu¬ gleich ſeine Ruheſtätte mit mancherlei Blumen bekränzt. Staunend und ängſtlich durchſpähete ich den Ort, und als ich Niemand gewahr wurde, wagte ich es, weiter zu forſchen. Da entdeckte ich am Rande des Grabmals eine friſch abgeſchnittene Locke. Auf einmal ſteigt in meiner Seele, ich weiß nicht wie, das Bild unſeres fernen Bruders Oreſtes auf, und mich ergreift eine Ahnung, daß er, nur er es ſey, von welchem dieſe Spur herrühre. Unter heimlichen Freudenthränen greife ich nach der Locke, und hier bringe ich ſie. Sie muß, ſie muß von des Bruders Haupte geſchnitten ſeyn!

Elektra blieb bei dieſer unſicheren Kunde unglaubig ſitzen, und ſchüttelte das Haupt. Ich bedaure dich deiner thörichten Leichtgläubigkeit wegen, ſprach ſie, du weißeſt nicht, was ich weiß. Und nun erzählte ſie der Schweſter die ganze Botſchaft des Phociers, ſo daß der armen Chryſothemis, die ſich von Wort zu Wort mehr um ihre Hoffnung betrogen fand, nichts übrig blieb, als in den Weheruf Elektra's mit einzuſtimmen. Ohne Zweifel, ſagte Elektra, rührt die Locke von irgend einem theilnehmenden Freunde her, der dem jämmerlich umge¬ kommenen Bruder am Grabe des ermordeten Vaters ein Andenken ſtiften wollte! Und doch hatte ſich die Hel¬ denjungfrau unter dieſen Geſprächen wieder ermannt und machte der Schweſter den Vorſchlag: da die letzte Hoff¬ nung, den Vater durch die Hand des Sohnes zu rächen, mit Oreſtes erloſchen ſey, die große That gemeinſchaftlich24 mit ihr ſelbſt zu vollführen, und den Miſſethäter Aegis¬ thus zu tödten. Beſinne dich, ſprach ſie, du haſt das Leben und ſein Glück lieb, Chryſothemis! Nun hoffe nur nicht, daß Aegiſthus je geſtatten werde, daß wir uns vermählen, und des Agamemnons Geſchlecht, ihm und den Seinigen zur Rache, aus uns erneut hervor¬ ſproſſe. Willſt du aber meinem Rathſchlage gehorchen, ſo verdienſt du dir den Ruhm der Treue um Vater und Bruder, wirſt in Zukunft frei herangewachſen leben, wirſt durch einen würdigen Ehebund beglückt werden. Denn wer ſähe ſich nicht gerne nach einer ſo edlen Toch¬ ter um? dazu wird alle Welt uns zwei Geſchwiſter prei¬ ſen, am Feſtmahl und in der Volksverſammlung werden wir für unſere Mannesthat nichts als Ehre ärnten! da¬ rum folge mir, du Liebe! hilf dem Vater, dem Bruder; rette mich, rette dich ſelbſt aus der Noth! Bedenke doch, wie ein ſchimpfliches Leben Edelgeborene ſchändet!

Aber Chryſothemis fand den Vorſchlag der plötzlich begeiſterten Schweſter unvorſichtig, unklug, unausführ¬ bar. Auf was vertraueſt du denn, fragte ſie. Haſt du Männerfauſt und biſt nicht ein Weib? Steheſt du nicht den mächtigſten Feinden, deren Glück von Tage zu Tage ſich feſter begründet, gegenüber? Wahr iſts, wir leiden Hartes; aber, ſiehe zu, daß wir uns nicht noch Unerträglicheres zuziehen. Einen ſchönen Ruf können wir freilich gewinnen; aber nur durch einen ſchmählichen Tod! Und vielleicht iſt Sterben nicht das Schlimmſte, und es würde uns noch Schnöderes zu Theil als der Tod. Drum, ehe wir ſo rettungslos verderben, laß dich erflehen, Schweſter, bezwing 'deinen Unmuth! Was du mir anver¬ traut haſt, will ich als das tiefſte Geheimniß bewahren!

25

Deine Rede überraſcht mich nicht, erwiederte mit einem tiefen Seufzer Elektra. Ich wußte wohl, daß du meinen Vorſchlag weit von dir werfen würdeſt. So muß ich denn ganz allein, mit eigenen Händen, an das Werk gehen. Wohl, es iſt auch ſo recht! Weinend umſchlang ſie Chryſothemis. Aber die hohe Jungfrau blieb unerbittlich. Geh, ſprach ſie kalt, zeige nur Alles deiner Mutter an. Und als die Schweſter wei¬ nend den Kopf ſchüttelte und davon ging, ſo rief ſie ihr nach: Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!

Sie ſaß noch immer unbeweglich auf der Schwelle des Pallaſtes, als zwei junge Männer in der Begleitung anderer mit einer Todtenurne dahergeſchritten kamen. Der ſchönſte und blühendſte von ihnen wandte ſich an Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Aegis¬ thus, und gab ſich als einen der Abgeſandten aus Pho¬ cis kund. Da ſprang Elektra auf, und ſtreckte die Hände nach der Urne aus. Bei den Göttern, Fremdling! rief ſie, wenn Ihn dieß Gefäß verhüllet, ſo gieb es mir, auf daß ich mit ſeiner Aſche den ganzen, unglück¬ ſeligen Stamm bejammere!

Wer ſie auch ſeyn mag, ſprach der Jüngling, die Jungfrau aufmerkſamer betrachtend, gebet ihr die Urne. Sicherlich hegt ſie keine Feindſchaft gegen den Todten, iſt vielmehr eine Freundin, oder gar ein ihm anverwandtes Blut! Elektra faßte die Urne mit beiden Händen, drückte ſie wieder und immer wieder ans Herz, und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: O du Ueberreſt des geliebteſten Menſchen! Wie mit ganz an¬ derer Hoffnung habe ich dich ausgeſandt und begrüße dich jetzt, da du ſo zurückkehreſt! Wär 'ich doch lieber26 geſtorben, anſtatt dich in die Ferne hinaus zu ſenden; dann wäreſt du an demſelben Tage am Grabe des Va¬ ters als Schlachtopfer geſunken, wäreſt nicht in der Verbannung umgekommen und von Fremdlingshänden beſtattet worden! So war denn all meine Pflege, all meine ſüße Mühe umſonſt! Das Alles iſt mit dir ge¬ ſtorben; der Vater iſt todt, ich ſelbſt bin todt, ſeitdem du nicht mehr lebſt: die Feinde lachen, unſere Raben¬ mutter tobt in wilder Luſt, denn jetzt fürchtet ſie keine heimliche Rachebotſchaften, an mich von dir gerichtet, mehr. Ach, nähmeſt du mich doch mit auf in deine Urne; ich bin vernichtet, laß mich dein Nichts mit dir theilen!

Als die Jungfrau ſo jammerte, konnte ſich der Jüngling, der an der Spitze der Geſandten ſtand, nicht länger halten und ſeine Zunge nicht mehr zwingen. Iſts möglich, rief er, dieſe Jammergeſtalt ſoll Elektra's edles Bild ſeyn? O gottlos, o frevelhaft entſtellter Leib! Wer hat dich ſo zugerichtet? Elektra blickte ihn ver¬ wundert an, und ſprach: Das macht, ich muß, den Mör¬ dern meines Vaters dienen, gezwungen von der verruch¬ ten Mutter, und mit der Aſche in dieſer Urne iſt alle meine Hoffnung dahin! Stell 'dieſen Aſchenkrug weg! rief der Jüngling mit thränenerſtickter Stimme, und als Elektra ſich weigerte und die Urne feſter ans Herz drückte, da ſprach er weiter: weg mit der leeren Urne, es iſt ja Alles nur Schein! da ſchleuderte die Jungfrau das Gefäß von ſich und rief in Verzweiflung: Wehe mir! wo iſt ſein Grab denn? Nirgends, war die Antwort des Jünglings; den Lebendigen wird kein Grab gemacht! So lebt er, lebt er? Er27 lebt, wenn anders ich ſelbſt vom Lebenshauch beſeelt bin; ich bin Oreſtes, bin dein Bruder, erkenne mich an die¬ ſem Mahlzeichen, mit dem der Vater mich am Arme gezeichnet! Glaubſt du nun, daß ich lebe? O Lichtſtrahl in der Nacht! rief Elektra und lag in ſeinen Armen.

In dieſem Augenblicke kam der Mann aus dem Pallaſte, welcher der Königin die falſche Todesbotſchaft aus Phocis überbracht hatte; es war der Pfleger des jungen Oreſtes, dem einſt Elektra ſelbſt den Knaben über¬ geben, und der ihn auf ihren Befehl ins Land der Pho¬ cier geleitet hatte. Als er mit kurzen Worten der Jung¬ frau dieſes kund that, reichte ſie ihm erfreut die Hand und ſprach: O du einziger Retter dieſes Hauſes! Welchen Dienſt haben mir dieſe theuren Hände, dieſe treu bemüh¬ ten Füße geleiſtet! Wie verbargſt du dich ſo lange un¬ entdeckt? Wie habt ihr doch Alles angelegt und verab¬ redet? Aber der Pfleger ſtand ihren ungeſtümen Fragen nicht Rede. Es wird die Zeit kommen, da ich dir Alles mit Gemächlichkeit erzählen kann, edle Königs¬ tochter! Jetzt aber drängt die Stunde zum Angriff, zur Rache! Noch iſt Klytämneſtra allein im Hauſe, noch bewacht ſie kein Mann drinnen; denn Aegiſth verweilt noch in der Ferne! wenn ihr aber noch einen Augenblick zögert, ſo habt ihr mit Vielen und Ueberlegenen den Kampf zu wagen! Oreſtes ſtimmte ein und eilte mit ſeinem treuen Freunde Pylades, dem Sohne des Königes Strophius aus Phocis, der an ſeiner Seite gekommen war, und mit allen andern Begleitern in den Pallaſt, und Elektra, nachdem ſie flehend den Altar Apollo's umfaßt hatte, folgte ihnen.

28

Wenige Minuten waren verfloſſen, als Aegiſthus zurückkehrend in den Pallaſt trat, und haſtig nach den Phociern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die Freudenbotſchaft von Oreſtes Tode gebracht hätten. Die erſte, die ihm im Innern des Königshauſes begegnete, war Elektra und er richtete mit höhnendem Uebermuth auch an ſie die Frage: Sprich, du Hochfahrende, wo ſind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet ha¬ ben? Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete ruhig: Nun, ſie ſind drinnen, ihrer lieben Wirthin zugeführt! Und melden ſie, fuhr er fort, auch wahr¬ haftig ſeinen Untergang? O ja, erwiederte Elektra, nicht nur dieß, ſondern ſie haben ihn ſelbſt bei ſich. Das iſt das erſte erfreuliche Wort, das ich von deinen Lippen höre! ſprach hohnlachend Aegiſthus: doch, ſiehe, da bringen ſie ja den Todten ſchon!

Frohlockend ging er dem Oreſtes und ſeinen Beglei¬ tern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem Innern des Pallaſtes in die Vorhalle trugen. O froher Anblick, rief der König und heftete ſeine gierigen Augen darauf, hebet ſchnell die Decke auf; laßt mich ihn des Anſtands halber beklagen; es iſt ja doch verwandtes Blut! So ſprach er ſpottend. Oreſtes aber entgegnete: Erhebe du ſelbſt die Decke, Herrſcher! dir allein ge¬ bührt es, liebevoll zu ſehen und zu begrüßen, was unter dieſer Hülle liegt! Wohl, antwortete Aegiſthus, aber ruf 'auch Klytämneſtra herbei, daß ſie ſchaue, was ſie gerne ſehen wird. Klytämneſtra iſt nicht ferne, rief Oreſtes. Indem lüftete der König die Decke, und fuhr mit einem Schrei des Entſetzens zurück: nicht die Leiche des Oreſtes, wie er gehofft hatte der blutige29 Leichnam Klytämneſtra's zeigte ſich ſeinen Blicken. Weh mir, ſchrie er, in welcher Männer Netze bin ich Un¬ glückſeliger gerathen? Oreſtes aber donnerte ihn mit tiefer Stimme an: Weißeſt du denn nicht ſchon lange, daß du zu Lebendigen als zu Todten ſpracheſt? Sieheſt du nicht, daß Oreſtes, der Rächer ſeines Vaters, vor dir ſteht? Laß mich reden! ſprach zuſammenge¬ ſunken Aegiſthus. Aber Elektra beſchwor den Bruder ihn nicht anzuhören. Verſtummend ſtießen ihn die Ankömm¬ linge hinein in den Pallaſt, und an demſelben Orte, wo er einſt den König Agamemnon in Bade gemordet, fiel Aegiſthus wie ein Opferthier, unter den Streichen des Rächers.

Oreſtes und die Eumeniden.

Oreſtes hatte, als er die Rachepflicht für den Va¬ ter an der Mutter und ihrem Buhlen übte, nach dem Willen der Götter ſelbſt gehandelt und ein Orakel des Apollo hatte ihm befohlen zu thun, was er gethan. Aber die Frömmigkeit gegen den Vater hatte ihn zum Mörder an der Mutter gemacht. Nach der That erwachte die Kindesliebe in ſeiner Bruſt und der durch eine andere Na¬ turpflicht gebotene Frevel gegen die Natur, den er im gräßlichen Zwieſpalte der Pflichten begangen hatte, ließ ihn den Rächerinnen ſolcher Frevel, den Erinnyen oder Rachegöttinnen (Furien) anheimfallen, welche die Griechen aus Furcht auch die Eumeniden, das heißt, die Gnädigen, oder: die uns gnädig ſeyn mögen, benannten. Töchter der Nacht und ſchwarz wie dieſe, von entſetzlicher Geſtalt,30 übermenſchlich groß, mit blutigen Augen, Schlangen in den Haaren, Fackeln in der einen Hand, in der andern aus Schlangen geflochtene Geißeln, verfolgten ſie den Muttermörder auf jedem Schritt und Tritt, und ſandten ihm ins Herz die nagenden Gewiſſensbiſſe und die quä¬ lendſte Reue.

Sogleich nach der That jagten ihn die Eumeniden fort vom Schauplatze derſelben, und als ein wahnſinniger Flüchtling verließ er die wieder gefundenen Schweſtern, das Vaterhaus Mycene und ſein Vaterland. In dieſer Noth blieb ihm ſein treuer Freund Pylades, den er in einem Augenblicke der Beſinnung mit ſeiner Schweſter Elektra verlobt hatte, redlich zur Seite, kehrte nicht in ſeine Heimath Phocis und zu ſeinem Vater Strophius zurück, ſondern theilte alle Wanderungen in der Irre mit ſeinem wahnſinnig gewordenen Freunde. Außer die¬ ſer treuen Seele hatte Oreſtes keinen menſchlichen Be¬ ſchützer in ſeinem Elend. Aber der Gott, der ihm die Rache befohlen hatte, Apollo, war bald ſichtbar, bald unſichtbar an ſeiner Seite und wehrte die ungeſtüm nachdringenden Erinnyen wenigſtens vom Leibe des Ver¬ folgten ab. Auch ſein Geiſt wurde ruhiger, wenn der Gott in der Nähe war.

So waren die Flüchtlinge auf ihren langen Irr¬ fahrten endlich ins Gebiet von Delphi gekommen, und Oreſtes hatte im Tempel des Apollo ſelbſt, deſſen Zutritt den Erinnyen verwehrt war, eine Freiſtätte für den Au¬ genblick gefunden. Der Gott ſtand mitleidig zu ſeiner Seite, wie er auf dem Aeſtrich des Heiligthums ausge¬ ſtreckt, von Müdigkeit und Gewiſſensangſt abgemattet, ge¬ ſtützt auf ſeinen Freund Pylades, ausruhte, und ſprach31 ihm Hoffnung und Muth mit den Worten ein: Unglück¬ licher Sohn, ſey getroſt. Ich werde dich nicht verrathen; mag ich nahe, oder ferne ſeyn, ſo bin ich dein Wächter, und nie werde ich deinen Feindinnen feige weichen! Du ſieheſt auch, wie dort drauſſen die grauenvollen, alten Mägde, deren Umgang Götter, Menſchen und ſelbſt Thiere ſcheuen, die ſonſt tief drunten in den Finſterniſſen des Tartarus wohnen, vom bleiernen Schlafe durch mich ge¬ bändiget, meinem Tempel ferne liegen. Dennoch verlaß dich nicht auf ihren Schlummer; er wird nicht lange dauern, denn mir iſt immer nur kurze Macht über die greiſen Göttinnen vom Schickſale verliehen. Deßwegen mußt du bald wieder auf die Flucht; doch ſollſt du nicht länger ohne Ziel umher irren. Richte vielmehr deine Schritte nach Athen, der ehrwürdigen alten Stadt mei¬ ner Schweſter Pallas Athene; dort will ich dir für ein gerechtes Gericht ſorgen, vor welchem du deine Stimme erheben und deine gute Sache vertheidigen kannſt. Keine Furcht ſoll dich darum bekümmern; ich ſelbſt ſcheide jetzt von dir, aber mein Bruder Hermes (Merkurius) wird dich bewachen und ſorgen, daß mein Schützling nicht verletzt werde.

So ſprach Apollo. Noch bevor er jedoch ſeinen Tempel und den Oreſtes verließ, war das Schattenbild Klytämneſtra's im Traum vor die Seelen der ſchlum¬ mernden Rachegöttinnen getreten, und hatte ihnen die zornigen Worte zugehaucht: Iſts auch recht, daß ihr ſchlafet? Bin ich ſo ganz von Euch verlaſſen, daß ich ungerächt in der Nacht der Unterwelt umherirren muß? Das Gräßlichſte habe ich von meinen nächſten Bluts¬ verwandten erduldet, und kein Gott zürnt darüber, daß32 ich von den Händen des eignen Sohnes ermordet ge¬ fallen bin? Wie viele Trankopfer, von meiner Hand euch ausgegoſſen, habt ihr geſchlürft, wie viele nächt¬ liche Mahle habe ich euch aufgetiſcht. Das Alles tretet ihr jetzt mit Füßen, und eure Beute laſſet ihr entrinnen, wie ein Reh, das mitten aus den Netzen davon hüpft! Höret mich, ihr Unterirdiſchen! Ich bins, Klytämneſtra, die ihr zu rächen geſchworen, und die ſich jetzt in euren Traum einmiſcht, an euren Schwur euch zu erinnern.

Die ſchwarzen Göttinnen konnten des Zauberſchla¬ fes nicht ſo bald los werden, ſie fuhren fort tief auf¬ zuſchnarchen, und erſt die lauten Worte des Schattens, die in ihren Traum hineintönten: Oreſtes, der Mutter¬ mörder, entgeht euch! rüttelten ſie endlich aus dem Schlummer empor. Eine erweckte die andere, wie wilde Thiere ſprangen ſie vom Lager auf, und ohne Scheu ſtürmten ſie in den Tempel Apollo's ſelbſt hinein, und hatten ſchon die Schwelle überſchritten: Jupiterſohn, ſchrien ſie ihm entgegen, du biſt ein Betrüger! du junger Gott trittſt die alten Göttinnen, die Töchter der Nacht, mit Füßen, du wagſt es, uns dieſen Götterverächter und Mutterfeind vorzuenthalten, du haſt ihn uns geſtohlen, und willſt doch ein Gott ſeyn! Iſt das auch vor den Göttern Recht? Apollo dagegen trieb die nächtlichen Göttinnen mit ſcheltenden Worten aus ſeinem ſonnigen Heiligthum: Fort von dieſer Schwelle, rief er, ihr Greuelhaften! Ihr gehört in die Höhle der Löwen, wo Blut geſchlürft wird, ihr Scherginnen des Schickſals, und nicht in den heiligen und reinen Sitz eines Orakels! Vergebens beriefen ſich die Rachegöttinnen auf ihr Recht und ihr Amt. Der Gott erklärte den Verfolgten für33 ſeinen Schützling, weil er in ſeinem Auftrag als der fromme Sohn ſeines Vaters Agamemnon gehandelt, und ver¬ trieb die Eumeniden von der Schwelle ſeines Tempels, daß ſie, die Macht des Gottes fürchtend, weit rückwärts flohen.

Dann übergab er den Oreſtes mit ſeinem Freunde der Obhut Merkurs, des Gottes, in deſſen Schutze die Wanderer ſtehen, und kehrte in den Olymp zurück. Die beiden Freunde aber ſchlugen, wie der Gott ihnen be¬ fohlen hatte, den Weg nach Athen ein, während die Erinnyen ihnen, aus Scheu vor der goldenen Ruthe des Götterboten, nur aus der Ferne zu folgen wagten. All¬ mählig jedoch wurden ſie kühner; und als die beiden Freunde glücklich in der Stadt Pallas Athene's ange¬ kommen waren, heftete ſich ihnen die Schaar der Rä¬ cherinnen dicht an die Ferſen und kaum war Oreſtes mit ſeinem Freund im Tempel der Athene (Minerva) angekommen, ſo ſtürmte auch ſchon der grauenvolle Chor durch die offenen Pforten deſſelben herein.

Oreſtes hatte ſich vor der Bildſäule der Göttin niedergeworfen, ſtreckte ſeine offenen Arme betend nach ihr aus und rief in der heftigſten Aufregung ſeines Ge¬ müthes: Königin Athene, auf Apollo's Befehl komme ich zu dir. Nimm einen Angeklagten gnädig auf, deſſen Hände nicht mit unſchuldigem Blute befleckt ſind, und der doch müde iſt von ungerechter Flucht und abgeſtumpft vom Flehen in fremden Häuſern. Ueber Städte und Einöden komme ich daher, gehorſam dem Orakel deines Bruders, liege hier in deinem Tempel und vor deinem Bilde, und erwarte deinen Richterſpruch, o Göttin!

Nun erhob auch der Chor der Furien, die hinter ihm herannaheten, ſeine Stimme, und ſchrie: Wir ſind dirSchwab, das klaſſ. Alterthum III. 334auf der Spur, Verbrecher! Wie der Hund dem ver¬ wundeten Rehbock, ſind wir deinen Fußſtapfen gefolgt, die von Blute triefen! Du ſollſt kein Aſyl finden, Mut¬ termörder! dein rothes Blut wollen wir dir aus den Gliedern ſaugen, und dann das blaſſe Schattenbild mit uns hinunter in den Tartarus führen! Nicht Apollo's, nicht Athene's Gewalt ſoll dich von der ewigen Qual befreien! Mein Wild biſt du, mir genährt, für meinen Altar beſtimmt! Auf, Schweſtern, laßt ihn uns mit unſrem Reigen umtanzen und ſeine beſchwichtigte Seele durch unſre Geſänge zu neuem Wahnſinn aufregen!

Und ſchon wollten ſie ihr furchtbares Lied anſtim¬ men, als plötzlich ein überirdiſches Licht den Tempel durchleuchtete, die Bildſäule verſchwunden war, und an ihrer Stelle die lebendige Göttin Athene ſtand, mit ern¬ ſten blauen Augen auf die Menge herniederblickend, die ihre Tempelhallen füllte, und den unſterblichen Mund zu der himmliſchen Rede erſchließend.

Wer hat ſich in mein Heiligthum gedrängt, ſprach die Göttin, während ich am Skamander von den Gebeten der abziehenden Griechen gerufen, das Beuteloos mir betrachte, das die frommen Söhne des Theſeus opfernd mir dort hinterließen? Was für ungewohnte Gäſte muß ich in meinem Tempel gewahren? Ein Fremdling hält meinen Altar umfaßt, und Weiber, keinem gezeugten Sterblichen ähnlich, haben ſich in drohender Stellung hinter ihn geſchaart. Redet, wer ſeyd ihr alle und was wollet ihr?

Oreſtes, von Furcht und Zittern ſprachlos, lag noch immer auf dem Boden, die Erinnyen aber ſtanden unverzagt hinter ihm, und nahmen das Wort. Jupiters35 Tochter, ſprachen ſie, ohne Umſchweif ſollſt du Alles aus unſrem Munde hören. Wir ſind die Töchter der ſchwarzen Nacht, und Furien nennt man uns drunten zu Hauſe! Wohl kenne ich euer Geſchlecht, ſprach Minerva, und euer Ruf iſt oft ſchon zu mir gedrungen. Ihr ſeyd die Rächerinnen des Meineids und des Ver¬ wandtenmordes: was kann euch in mein reines Tem¬ pelhaus führen?

Dieſer Menſch, der hier zu deinen Füßen deinen Altar durch ſeine Gegenwart beſudelt! ſprachen ſie. Er hat ſeine eigene Mutter erſchlagen. Richte du ſelbſt ihn, wir werden dein Urtheil ehren, denn wir wiſſen, du biſt eine ſtrenge und gerechte Göttin!

Wenn ihr mir denn den Richterſpruch übertraget, antwortete Pallas Athene, ſo ſprich du zuerſt, Fremd¬ ling, was kannſt du gegen die Ausſagen dieſer Unter¬ irdiſchen vorbringen? Nenne mir zuerſt dein Vaterland, dein Geſchlecht und dein Schickſal, und alsdann reinige dich von dem Frevel, der dir Schuld gegeben wird. Solches geſtatte ich dir, weil du vor meinem Altare knieend liegſt, und ihn als demüthiger Schützling um¬ faſſet hältſt! Auf alles Jenes aber antworte mir ohne Gefährde!

Jetzt erſt wagte Oreſtes den Blick vom Boden zu erheben, richtete ſich auf, doch ſo, daß er immer noch vor der Göttin auf den Knieen lag, und ſprach: Kö¬ nigin Athene! Vor allen Dingen ſey dir die Beſorg¬ niß um dein Heiligthum benommen! Ich habe keinen unſühnbaren Mord begangen; ich umfange deinen Altar nicht mit unſauberen Händen! Ich bin gebürtig aus Argos, und du kennſt meinen Vater wohl. Es iſt Aga¬3 *36memnon, der Völkerfürſt, der Führer der griechiſchen Flotte vor Troja, mit dem du ſelbſt Ilios herrliche Veſte zerſtöret haſt. Dieſer, nach Hauſe zurückgekehrt, iſt keines ehrlichen Todes geſtorben, ſondern meine Mutter, die mit dem fremden Manne buhlte, hat ihn in ein trüge¬ riſches Netz gewickelt und umgebracht; das Bad war der Zeuge ſeines Mordes. Da bin ich nach langer Zeit, der ich ſeitdem in der Verbannung gelebt, zurück gekom¬ men ins Vaterland, und habe den Vater gerächt, und, ich läugne es nicht, habe des geliebten Vaters Mord mit Mord an der Mutter gerächt. Und zu dieſer That hat dein eigener Bruder Apollo mich aufgemuntert und ſein Orakel hat mir mit großer Seelenqual gedroht, wenn ich die Mörder meines Vaters nicht beſtrafte. Nun ſollſt du Schiedsrichterin ſeyn, o Göttin, ob ich mit Recht oder Unrecht gehandelt. Auch ich unterwerfe mich deinem Richterſpruch!

Die Göttin ſchwieg eine Weile nachdenklich; dann ſprach ſie: Die Sache, die entſchieden werden ſoll, iſt freilich ſo dunkel, daß ein menſchliches Gericht nicht damit fertig würde; darum, obwohl ich ſterbliche Richter für ſie wählen will, iſt es doch gut, daß ihr euch mit eurem Rechtsſtreit an eine Unſterbliche gewendet. Denn ich ſelbſt will das Gericht verſammeln, in meinem Tempel den Vorſitz führen und bei ſchwankendem Urtheile den Ausſchlag geben. Inzwiſchen ſoll dieſer Fremdling unter meinem Schirm unangetaſtet in unſrer Stadt leben. Ihr aber, finſtre, unerbittliche Göttinnen! beflecket dieſen Bo¬ den nicht ohne Noth mit eurer Gegenwart. Gehet hinab in eure unterirdiſche Behauſung und erſcheinet nicht eher wieder in dieſem Tempel, bis der anberaumte Tag des37 Gerichtes herbeigekommen ſeyn wird. Einſtweilen ſammle jede Partie Zeugen und Beweiſe: ich ſelbſt aber will die beſten Männer dieſer Stadt, die meinen Namen führt, ausleſen, und zur Aburtheilung dieſes Streites beſtellen.

Nachdem die Göttin ſodann den Tag des abzuhal¬ tenden Gerichtes feſtgeſetzt hatte, wurden die Parteien aus dem Tempel entlaſſen. Die Rachegöttinnen gehorch¬ ten dem Ausſpruche Minerva's ohne Murren, ihre Schaar verließ den Boden von Athen und ſie ſtiegen wieder zur Unterwelt hinab; Oreſtes mit ſeinem Freunde wurde von den Bürgern Athens gaſtlich aufgenommen und verpflegt.

Als der Gerichtstag erſchienen war, berief ein He¬ rold die auserwählten Bürger der Stadt auf einen Hügel vor derſelben, der dem Mars oder Ares heilig war, und deßwegen der Areopag oder Aresberg hieß, wo die Göt¬ tin in Perſon ihrer harrte und Klägerinnen und Ange¬ klagter bereits ſich eingefunden hatten. Aber noch ein Dritter war erſchienen und ſtand dem Angeklagten zur Seite. Es war der Gott Apollo. Als die Erinnyen dieſen erblickten, erſchracken ſie und riefen zornig: Kö¬ nig Apollo, kümmere du dich um deine eigenen Ange¬ legenheiten! Sprich, was haſt du hier zu ſchaffen? Dieſer Mann, erwiederte der Gott, iſt mein Schützling, der in meinem Tempel zu Delphi ſich in meinen Schirm begeben, und ich habe ihn von dem vergoſſenen Blut entſündigt. Darum iſt es billig, daß ich ihm beiſtehe; und ſo bin ich denn erſchienen, einentheils für ihn zu zeugen, aiderntheils als ſein Anwalt vor dem ehr¬ würdigen heimlichen Gerichte dieſer Stadt, das meine38 himmliſche Schweſter Athene in ihrem Tempel verſammelt hat, aufzutreten. Denn ich bin es, der ihm den Mord der Mutter, als eine fromme, den Göttern wohlgefäl¬ lige That, angerathen hat!

Mit ſolchen Worten trat der Gott ſeinem Schützling noch näher. Die Göttin erklärte nun das Gericht für eröffnet und forderte die Erinnyen auf, ihre Klage vor¬ zubringen. Wir werden kurz ſeyn, nahm die Aelteſte unter ihnen, als Sprecherin, das Wort. Angeklagter! beantworte uns Frage um Frage: Haſt du deine Mutter umgebracht oder läugneſt du's? Ich läugne nicht, ſprach Oreſtes, doch erblaßte er bei der Frage. So ſprich, wie haſt du's vollbracht? Ich habe ihr, antwortete der Angeklagte, das Schwert in die Kehle gebohrt. Auf weſſen Rath und Anſtiften haſt du es gethan? Der hier neben mir ſteht, erwiederte Oreſtes, der Gott hat mirs durch einen Orakelſpruch befohlen; und er iſt da, mir dieß zu bezeugen. Darauf vertheidigte ſich der Angeklagte kürzlich gegen die Richter, daß er in Klytämneſtra nicht mehr die Mutter, ſondern nur die Mörderin des Vaters geſehen, und Apollo als Anwalt ließ eine längere und beredtere Vertheidigung folgen. Die Rachegöttinnen blieben auch nicht ſtumm, und wenn der Gott mit ſchwarzen Farben den Mord des Gatten den Richtern vor Augen geſtellt, ſo ſchilderten ſie dagegen mit giftig funkelnden Augen den Frevel des Muttermordes. Und als ihre Rede zu Ende war, ſagte die Sprecherin: Jetzt haben wir alle unſre Pfeile aus dem Köcher verſendet; wir wollen ruhig erwarten, wie die Richter urtheilen werden!

Minerva hieß die Stimmſteine, jedem einen ſchwarzen39 für die Schuld, einen weißen für die Unſchuld des Beklagten, unter die Richter vertheilen, die Urne, in welche die Steine zu legen waren, wurde in der Mitte des umzäunten Platzes aufgeſtellt und ehe die Richter ſich zum Abſtimmen anſchickten, ſprach die Göttin noch von der erhöhten Stelle herab, auf welcher ſie als Vorſitze¬ rin des Gerichtes ihren Thronſeſſel eingenommen hatte, indem ſie ſich aus demſelben erhob und in ihrer ganzen himmliſchen Hoheit daſtand: Höret dieſe Beſtimmung der Gründerin eurer Stadt, Bürger von Athen! jetzt wo ihr den erſten Streit wegen vergoſſenen Blutes richtet! Für alle Folgezeit ſoll dieſer Gerichtshof in euren Mauern beſtehen. Hier auf dieſem heiligen Marshügel, wo einſt im Amazonenkriege gegen Theſeus die feindlichen Hel¬ dinnen ihr Lager hatten und dem Gotte des Krieges ihr Opfer darbrachten, ſoll, nach dem Orte benannt, der Areopag ſein Blutgericht halten, und durch fromme Scheu die Bürger Tag und Nacht zurückſchrecken. Aus den heiligſten Männern der Stadt gebildet ſtifte ich ihn, unzugänglich dem Gewinne, ehrwürdig, ſtreng, einen wachſamen Schutz für die Schlafenden im ganzen Lande. Ihr alle Einwohner ſollet ſeine Würde ſcheuen und ihn ſchirmen als eine heilſame Stütze einer Stadt, wie kein anderes Volk in Griechenland oder unter den Ausländern ſie beſitzt. Dieß ſey für die Zukunft verordnet. Nun aber, ihr Richter, erhebet euch, ſcheuet euren Eid, und leget zur Entſcheidung des Streites eure Stimmen in die Urne nieder!

Schweigend erhuben ſich die Richter von den Sitzen und traten einer um den andern an die Urne, und die Stimmſteine rollten nach einander hinein. Als Alle40 abgeſtimmt hatten, traten auserleſene, durch einen Eid verpflichtete Bürger hinzu und zählten die ſchwarzen und die weißen Steine ab. Da befand es ſich, daß die Zahl beider gleich war, und die Entſcheidung der vorſitzenden Göttin zukam, wie ſie ſich im Beginne des Gerichtes dieſelbe vorbehalten hatte. Athene ſtand abermals von ihrem Sitze auf und ſprach: Ich bin von keiner Mut¬ ter geboren, bin das alleinige Kind meines Vaters Ju¬ piter und aus ſeiner Stirne entſprungen, eine männliche Jungfrau, des Ehebundes unkundig, doch die geborne Beſchützerin der Männer. Ich werde nicht auf die Seite des Weibes treten, das ſeinen Ehegatten freventlich er¬ ſchlagen hat, dem ſchnöden Buhlen zu gefallen. Nach meines Herzens Meinung hat Oreſtes wohl gethan, er hat nicht die Mutter umgebracht, ſondern die Mörderin des Vaters. Er ſiege! Damit verließ ſie den Rich¬ terſtuhl, ergriff einen weißen Stimmſtein und fügte ihn den andern weißen Steinen hinzu. Dieſer Mann, ſprach ſie ſodann feierlich, auf ihren Thron zurückgekehrt, iſt durch Stimmenmehrzahl von dem Vorwurf ungerechten Mordes freigeſprochen!

Als das Urtheil gefällt war, bat Oreſtes die Göt¬ tin um das Wort und ſprach in tiefer Bewegung ſeines Herzens: O Pallas Athene, die du mein Geſchlecht und mich des Vaterlands Beraubten gerettet haſt, in ganz Griechenland wird man deine Wohlthat preiſen und ſagen: So wohnet denn jener Argiver wieder in der Väter Pallaſt, erhalten durch die Gerechtigkeit Mi¬ nerva's, und Apollo's, und des Göttervaters, ohne deſſen Willen auch das nicht geſchehen wäre. Ich aber ziehe heim, dieſem Land und Volke ſchwörend, daß für41 ewige Zeiten kein Argiver kommen ſoll, die frommen Athener zu bekriegen! Ja wenn lange nach meinem Tode einer meiner Landsleute es wagen wollte, dieſen meinen Eid zu verletzen, ſo wird von der Väter Gruft aus noch mein Geiſt ihn ſtrafen und ihm Unheil auf den Weg ſenden, daß er ſeine verfluchten Plane gegen dieſe Stadt nicht ausführen kann. Lebe denn wohl, du erhabene Beſchützerin des Rechtes, und du, frommes Volk der Athener; möge dir in jedem Kriege und in allen Dingen Sieg und Heil zu Theile werden!

Unter ſolchen Segenswünſchen verließ Oreſtes den heiligen Hügel des Mars, geleitet von ſeinem Freunde, der während des ganzen Gerichts nicht von ſeiner Seite gewichen war; die Rachegöttinnen wagten es nicht, ge¬ gen den Spruch der Göttin ſich an dem Freigeſprochenen zu vergreifen, auch ſcheueten ſie die Gegenwart Apollo's, der bereit war, den Ausſpruch des Gerichtes aufrecht zu erhalten. Aber die Sprecherin des Chores ſtand von dem Sitze der Klägerinnen auf und in übermenſch¬ licher Größe dem Gott und der Göttin als ebenbürtig entgegenſtehend, ließ ſie, mit der rauhen Stimme der Töch¬ ter der Nacht, ihre trotzige Einſprache gegen das Urtheil alſo vernehmen: Wehe uns, die uralten Geſetze habt ihr zu Boden getreten, ihr jüngeren Götter, habt ſie uns älteren Göttern aus den Händen gerungen! Ver¬ achtet, machtlos zürnend ſtehen wir da. Doch ſoll euch euer Urtheil gereuen, ihr Athener! Alles Gift unſres erzürnten Herzens werden wir über dieſen Boden aus¬ ſchütten, wo die Gerechtigkeit verachtet worden iſt. Der Fraß ſoll über alle Pflanzen, das Verderben über alles Leben kommen; mit Unfruchtbarkeit und Peſt wollen wir42 Land und Stadt heimſuchen, wir, die gekränkten, die beſchimpften Göttinnen der Nacht!

Als Apollo dieſen fürchterlichen Fluch vernahm, trat er ins Mittel und ſprach beſänftigend zu den mäch¬ tigen Göttinnen: Folget mir, ihr Gnädigen! Zürnet nicht allzuſehr über das gefällte Urtheil! Seyd ihr doch nicht beſiegt worden; aus der Urne iſt die gleiche Zahl ſchwarzer und weißer Steine hervorgegangen; das Gericht iſt nicht zu eurer Schmach ausgefallen, nur die Barm¬ herzigkeit hat geſiegt, nur die Billigkeit hat den Ange¬ klagten, der zwiſchen zwei heiligen Pflichten wählen und eine von beiden verletzen mußte, gerettet! Und das haben wir Götter gethan, nicht die Richter dieſes Landes; und Jupiter hat es gut geheißen! Darum laſſet euren Grimm nicht an dem unſchuldigen Volke aus. Verſpreche ich euch doch in ſeinem Namen, daß ihr ein Heiligthum und einen würdigen Sitz in ſeinem Lande erhalten ſollet, daß ihr auf glänzenden Altären der gerechten Stadt euren Sitz nehmen werdet, verehrt als die unerbittlichen Göttinnen gerechter Rache von allen Bürgern dieſer Stadt!

Dieſe Verſicherung bekräftigte auch Athene ſelbſt: Glaubet mir, ehrwürdige Göttinnen, ſetzte ſie hinzu, wenn ihr in einem andern Lande euren Sitz aufſchla¬ get, daß euch das gereuen, daß ihr euch nach dem verſchmähten ſehnen werdet. Die Bürger dieſer Stadt ſind bereit euch in hohen Ehren zu halten: Chöre von Männern und Frauen werden euren Ruhm feiern, neben dem Tempel des vergötterten Königes Erechtheus ſollt ihr ein geweihetes Heiligthum erhalten! Kein Haus wird geſegnet ſeyn, das euch nicht verehrt!

Solche Verſprechungen beſänftigten allmählich den43 Zorn der ſtrengen Rachegöttinnen, ſie gelobten ihren gnädigen Sitz in dem Lande zu nehmen, fühlten ſich hoch geehrt, daß ſie gleich Athenen und Apollo Altäre und Heiligthum in der berühmteſten Stadt beſitzen ſoll¬ ten,*)Vergl. B. 1. S. 329. und endlich wurde ihr Sinn ſo milde, daß ſie auch ihrerſeits das feierliche Verſprechen vor den anwe¬ ſenden Göttern ablegten, die Stadt zu ſchirmen, böſe Wetter, Sonnenſtich, giftige Seuchen von ihrem Gebiete abzuhalten, die Herden des Landes zu ſchirmen, den Bund der Ehen zu ſegnen, und im Einverſtändniſſe mit ihren Halbſchweſtern, den Parzen oder Schickſalsgöttin¬ nen, das Wohl des ganzen Landes auf alle Weiſe zu befördern. Ja ſie wünſchten dem ganzen Volke ewige Eintracht und holden Frieden, und ihr ſchwarzer Chor brach unter Dankſagungen des himmliſchen Geſchwiſter¬ paares auf, und verließ von der ganzen Einwohnerſchaft unter Lobgeſängen begleitet den Areopag und die Stadt.

Iphigenia zu Tauri.

Von Athen hatten ſich die beiden Freunde, Oreſtes und Pylades, der erſte nun wieder von ſeiner Schwer¬ muth geneſen, nach Delphi zu dem Orakel Apollo's gewendet und dort fragte Oreſtes den Gott, was er weiter über ihn beſchloſſen hätte. Der Spruch der Prie¬ ſterin lautete dahin, daß der Königsſohn von Mycene die Endſchaft ſeiner Noth erreichen ſollte, wenn er nach44 den Gränzen der tauriſchen Halbinſel, in die Nachbar¬ ſchaft der Scythen, ſich begeben hätte, wo Apollo's Schweſter Diana oder Artemis ein Heiligthum beſitze. Dort ſollte er das Bildniß der Göttin, das nach der Sage dieſes Barbarenvolkes vom Himmel gefallen war und daſelbſt verehrt wurde, durch Liſt oder andere Mittel rauben und, nach beſtandenem Wageſtück, daſſelbe nach Athen verpflanzen, denn die Göttin ſehne ſich nach mil¬ derem Himmelsſtriche und griechiſchen Anbetern, und ihr gefalle das Barbarenland nicht mehr. Wäre dieſes glücklich vollführt, ſo ſolle der landesflüchtige Jüngling am Ziele ſeiner Noth ſtehen.

Pylades verließ ſeinen Freund auch auf dieſer rau¬ hen Wanderung nach einem gefahrvollen Ziele nicht. Denn das Volk der Taurier war ein wilder Menſchen¬ ſtamm, der die an ſeiner Hufe Geſtrandeten und andere Fremde der Jungfrau Artemis zu opfern pflegte. Den gefangenen Feinden hieben ſie den Kopf ab, ſteckten ihn an einer Stange über den Rauchfang ihrer Hütten, und beſtellten ihn ſo zum Wächter ihres Hauſes, der Alles von der Höhe herab für ſie überſchauen ſollte.

Die Urſache, warum das Orakel den Oreſtes in dieſes wilde Land unter den grauſamen Völkerſtamm ſandte, war aber dieſe. Als Agamemnons und Klytäm¬ neſtra's Tochter auf Anrathen des griechiſchen Sehers Kalchas, im Angeſichte der Griechen, am Strande von Aulis geopfert werden ſollte, und der Todesſtreich ge¬ fallen war, der eine Hindin anſtatt der Jungfrau ge¬ troffen hatte,*)B. II. S. 44. da ſtahl die erbarmungsvolle Göttin45 Artemis das Mägdlein aus den Blicken der Griechen weg, und trug ſie durch das Lichtmeer des Himmels auf ihren Armen über Meer und Land nach dieſem Tau¬ rien, und ließ ſie hier in ihrem eigenen Tempel nieder. Dort fand ſie der König des Barbarenvolkes, Thoas mit Namen, und beſtellte ſie zur Prieſterin des Dianen¬ tempels, wo ſie im Dienſte der Göttin des fürchterlichen Brauches pflegen, und, wie die alte Sitte des rohen Landes heiſchte, jeden Fremdling, deſſen Fuß dieß Ufer betrat, und meiſtens waren es Landsleute von ihr, Griechen, die dieſes jammervolle Loos traf, der Landesgöttin opfern mußte. Indeſſen hatte ſie nur das Todesopfer einzuweihen. Niedrigere Diener der Göttin mußten daſſelbe ſodann in das Heiligthum hinein zur grauſen Schlachtbank ſchleppen.

Jahre ſchon hatte die Jungfrau ihres traurigen Amtes wartend, übrigens hochgehalten vom Könige und um ihrer milden, griechiſchen Sitte und ihrer eigenthüm¬ lichen Liebenswürdigkeit willen verehrt vom Volke, fern von der Heimath und gänzlich unbekannt mit den Ge¬ ſchicken ihres Hauſes, vertrauert, als es ihr einsmals in der Nachtruhe träumte, ſie wohne fern von dieſem Barbarenſtrand im heimathlichen Argos, und ſchlafe von den Sklavinnen des Elternhauſes umringt. Da fing auf einmal der Rücken der Erde zu beben und zu zittern an, und ihr war, als flöhe ſie aus dem Pallaſte, ſtände draußen und müßte ſehen und hören, wie das Dach des Hauſes zu wanken begann, und der ganze Säulenbau bis auf den Grund erſchüttert, zu Boden raſſelte. Ein einziger Pfeiler ſo dünkte ihr vom väterlichen Hauſe blieb übrig. Mit einemmal bekam dieſer Pfeiler46 Menſchengeſtalt, aus dem Säulenknauf wurde ein Haupt, von blondem Haupthaar umwachſen, und dieſes fing an in vernehmlichen Lauten zu reden, deren Inhalt jedoch der Jungfrau entfallen war, als ſie wieder erwachte. Im Traum aber geſchah es noch, daß ſie, ihrem Frem¬ denmord befehlenden Amte getreu, den Menſchen, der ein Pfeiler ihres Vaterhauſes geweſen war, als zum Tode beſtimmt, mit dem Weihwaſſer beſprengte, und dazu bitterlich weinen mußte, bis ſie der Traum verließ.

Am Morgen, der auf dieſelbe Nacht folgte, war Oreſtes mit ſeinem Freunde Pylades am tauriſchen Ufer¬ ſtrande ans Land geſtiegen und beide ſchritten auf den Tempel der Artemis zu. Bald ſtanden ſie vor dem Bar¬ barengebäude, das eher einem Zwinger, denn einem Götterhauſe glich, und blickten ſtaunend an dem hohen Mauerringe empor. Endlich brach Oreſtes das Schwei¬ gen. Du treuer Freund, ſprach er, der auch dieſes Weges Gefahr mit mir getheilt hat, was fangen wir an? Wollen wir den Treppenkranz, der ſich um den Tempel ſchlingt, erklimmen? Aber wenn wir droben ſind, werden wir nicht in dem unbekannten Gebäude wie in einem Labyrinthe umhertappen? Und werden nicht eherne Schlöſſer uns den Zugang zu den Gemächern verſchließen? Würden wir aber, indem wir Einlaß ſuchen, indem wir öffnen, an dem Thore von den Wachen, die ohne Zweifel bei dem Heiligthum aufgeſtellt ſind, erhaſcht, ſo ſind wir des Todes. Denn das wiſſen wir ja, daß Griechenmord den Altar dieſer unerbittlichen, Göttin unaufhörlich beſpritzt! darum, wäre es nicht ge¬ rathener, zu dem Schiffe zurückzukehren, deſſen Segel uns hierher gebracht hat?

47

Ey, erwiederte Pylades, das wäre wahrlich das erſtemal, daß wir mit einander die Flucht ergriffen! Heilig ſoll uns der Ausſpruch Apollo's ſeyn! doch, wahr iſts, fort müſſen wir von dieſem Tempel! das Klügſte iſt, wir verbergen uns in den dunkeln Grotten, die das Meer beſpült, ferne von unſrem Fahrzeug, damit Keiner, der es erblickt, dem Herrſcher dieſes Landes von uns melden könne, und wir nicht von Waffengewalt, die ge¬ gen uns ausgeſendet wird, übermannt werden. Wenn aber dann die Nacht anbricht, dann laß uns friſch ans Werk ſchreiten. Die Lage des Tempels kennen wir nun ſchon; irgend eine Liſt wird uns ins Innere des Tem¬ pelraumes führen, und haben wir das Götterbild einmal auf den Armen, ſo iſt mir vor dem Rückwege nicht mehr bange. Tapfre ſtürzen ſich muthig in die Gefahr! haben wir rudernd nicht einen unermeßlichen Weg zu¬ rückgelegt? Nun wäre es doch ſchmählich, wenn wir am Ziele umkehrten, und ohne die Beute, die der Gott uns bezeichnet hat, heimkehrten!

Wohlgeſprochen, rief Oreſtes, es geſchehe, wie du räthſt! Wir wollen uns verbergen, bis der Tag vor¬ über iſt, die Nacht kröne unſer Werk!

Die Sonne ſtand ſchon höher am Himmel, als auf die Prieſterin Diana's, die an der Schwelle ihres Tem¬ pels ſtand, ein Rinderhirte, der mit ſchnellen Schritten vom Meergeſtade herbeigeeilt kam, zuſchritt. Er brachte die Meldung, daß ein Paar Jünglinge, wohlgefällige Schlachtopfer der Göttin Artemis, am Ufer gelandet ſeyen. Bereite nur, erhabene Prieſterin, ſprach er, je eher je lieber das heilige Waſſerbad, und ſchicke dich zu dem Werke an! Was für Landsleute ſind die48 Fremdlinge? fragte Iphigenia traurig. Griechen, erwiederte der Hirt; weiter wiſſen wir nichts, als daß der eine von ihnen Pylades heißt, und daß ſie unſre Gefangenen ſind. Laßt hören, fragte die Prie¬ ſterin weiter, wo geſchah's, und wie ſinget ihr ſie? Wir badeten eben, erzählte der Hirt, unſre Rin¬ der im Meere, und warfen eins ums andere in das Waſſer, das ſtrömend durch die Felſen fällt, welche man die Symplejaden heißt. Es findet ſich dort ein hohler, durch¬ brochener, ſtets vom Waſſer beſchäumter Felsſturz, eine Grotte für die Schneckenfiſcher. Hier gewahrte ein Hirte von unſrer Schaar ein paar Jünglingsgeſtal¬ ten, und ſie kamen ihm ſo ſchön vor, daß er ſie für Götter hielt, und vor ihnen niederfallen wollte. Ein anderer aber, der neben ihm ſtand, ein frecher ungläu¬ biger Menſch, war nicht ſo thöricht; er lachte, als er ſeinen Kameraden die Knie beugen ſah, und ſprach: Sieheſt du denn nicht, daß es ſchiffbrüchige Seeleute ſind, die ſich in jene Felſenkluft gelagert haben, um ſich zu verbergen, weil ſie voll Angſt von dem Gebrauche gehört haben, daß wir hier zu Lande die Fremden, die an unſern Strand gerathen, zu opfern pflegen! Dieſe Rede gefiel der Mehrzahl, und wir ſchickten uns an, Jagd auf die Opfer zu machen. Da trat der eine der Fremdlinge zu der Felskluft heraus, ſchüttelte ſein Haupt und warf es wild umher, Arme und Hände ſchlotterten ihm; laut aufſtöhnend, vom Wahnſinne ge¬ packt, rief er: Pylades, Pylades! ſieheſt du dort nicht die ſchwarze Jägerin, den Drachen aus dem Ha¬ des, wie ſie mich zu morden begehrt, wie ſie mit den wilden Schlangen züngelnd auf mich zufährt? Und das49 die andre, die Feuerathmende, die hat ja meine eigene Mutter im Arm, und drohet ſie auf mich zu ſchleudern! Weh mir! Sie erwürgt mich! Wie ſoll ich ihr entflie¬ hen? Von allen dieſen Schreckbildern, fuhr der Hirte fort, war weit und breit nichts zu ſehen, ſondern er hielt wohl das Gebrüll der Rinder und das Hundegebell für Stimmen der Furien. Uns aber faßte alle ein Schre¬ cken, zumal da der Fremdling ſein Schwert von der Seite zog und ſich wie raſend auf die Rinderſchaar warf, und ihnen das Eiſen in die Bäuche ſtieß, daß ſich bald die Meeresfluth roth färbte. Endlich ermannten wir uns, blieſen mit unſern Muſcheln das Landvolk zuſam¬ men und nahten uns den bewaffneten Fremdlingen in einem geſchloſſenen Haufen. Der Raſende, den die Zu¬ ckungen des Wahnſinns allmählig verlaſſen hatten, ſtürzte nun, am Mund von Schaume triefend, zu Boden. Wir alle wandten uns ihm zu mit Werfen und Schleu¬ dern, während ſein Genoſſe ihm den Schaum abwiſchte und ſeinen eigenen Mantel ihm gewandt um den Leib ſchlug. Bald aber ſprang der Darniedergeworfene mit vollem Bewußtſeyn wieder auf und wehrte ſich ſeines Lebens. Zuletzt jedoch mußten ſie der Ueberzahl weichen, wir umſchloſſen ſie in einem Kreiſe; die wiederholten Steinwürfe machten, daß ihnen die Waffen aus den Händen fielen und ihre Kniee ermattet zu Boden ſanken. Nun bemächtigten wir uns ihrer und geleiteten ſie zu Thoas, dem Beherrſcher des Landes. Dieſer hatte ſie kaum zu Geſichte bekommen, als er auch ſchon befahl, die Gefangenen dir als Todesopfer zuzuſenden. Flehe nur, o Jungfrau, daß du recht viel ſolche Fremdlinge abzuſchlachten bekommſt, denn es ſcheinen recht herrlicheSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 450Griechen zu ſeyn. Tödteſt du Solcher Viele, ſo büßt Griechenland deine Todesangſt nach Gebühr und du biſt gerächt dafür, daß ſie dich in der Bucht von Aulis um¬ bringen wollten!

Der Hirte ſchwieg und erwartete die Befehle der Richterin, die ihm auch wirklich auftrug, die Fremd¬ linge zu holen. Als ſich Iphigenia allein ſah, ſprach ſie zu ſich ſelber: O mein Herz, ſonſt wareſt du doch immer barmherzig gegen die Fremdlinge, ſchenktest gerne deinen Stammesgenoſſen eine Thräne, ſo oft dir grie¬ chiſche Männer in die Hände fielen! Nun aber ſeit der Traum dieſer Nacht mir die bittre Ahnung eingeflößt hat, daß mein geliebter Bruder Oreſtes das Licht der Sonne nicht mehr ſieht nun ſollet ihr Alle, die ihr nahet, mich grauſam finden! Sind doch die Unglücklichen den Beglückten immer abhold! O ihr Griechen, die ihr mich wie ein Lamm zum Opferherde ſchlepptet, wo mein eigener Vater der Schlächter war! O, nie ver¬ geſſe ich dieſe Schreckenszeit! Ja wenn Jupiter mir mit friſchen Winden den Mörder Menelaus einmal herbei¬ führen wollte, und die trügeriſche Helena

Sie ward in ihrem Selbſtgeſpräch unterbrochen durch das Herannahen der Gefangenen, die ihr in Feſſeln vorgeführt wurden. Als ſie dieſelben kommen ſah, rief ſie ihren Führern entgegen: Laſſet den Fremden die Hände frei; die heilige Weihe, die ſie empfangen ſollen, ſpricht ſie von allen Banden los! Dann gehet in den Tempel und beſtellet Alles, was dieſer Fall erfordert! Hierauf wandte ſie ſich zu den Gefangenen und redete ſie an: Sprechet, wer iſt euer Vater, eure Mutter, wer eure Schweſter, wenn ihr eine habt, die jetzt eines51 ſo ſchmucken, ſtattlichen Bruderpaares beraubt, allein in der Welt ſtehen ſoll? Woher kommet ihr, bejam¬ mernswürdige Fremdlinge? Ihr hattet wohl eine weite Fahrt bis zu dieſen Ufern. Doch bereitet euch zu einer weiteren; denn jetzt geht eure Fahrt hinunter ins Schat¬ tenreich!

Ihr erwiederte Oreſtes: Wer du auch immer ſeyeſt, o Weib, was beklagſt du uns? Wer das Henkerbeil ſchwingt, dem ſteht es übel an, ſein Opfer zu tröſten, ehe er den Streich führt; und wem der Tod ohne Hoff¬ nung droht, dem will auch das Jammern nicht geziemen! Keine Thränen, weder von dir noch von uns! Laß das Geſchick ergehen!

Welcher von euch beiden iſt Pylades? das laſſet mich zuerſt wiſſen! fragte nun die Prieſterin. Dieſer hier! ſprach Oreſtes, indem er auf ſeinen Freund hin¬ deutete. Seyd ihr Brüder? Durch Liebe, antwortete Oreſtes, nicht durch Geburt! Wie hei¬ ßeſt denn aber du? Nenne mich einen Elenden, erwiederte er, am beſten iſts, ich ſterbe namenlos; dann werd 'ich doch nicht zum Geſpötte! Die Prieſterin verdroß ſein Trotz und ſie drang in ihn, ihm wenigſtens ſeine Vaterſtadt zu nennen. Als der Name Argos im Ohr klang, zuckte es ihr durch die Glieder und ſie rief heftig: Bei den Göttern, Freund, ſtammſt du wirklich dorther? Ja, ſprach Oreſtes, von Mycene, wo mein Haus einſt beglückt war. Wenn du von Argos kommſt, Fremdling, fuhr Iphigenia mit geſpannter Er¬ wartung fort, ſo bringſt du wohl auch Nachrichten von Troja mit? Iſts wahr, daß es ſpurlos vertilgt iſt? Kam Helena zurück? Ja, beides iſt ſo, wie du fragſt! 4 *52 Wie gehts dem Oberfeldherrn? Agamemnon, deucht mich, hieß er, der Sohn des Atreus? Oreſtes ſchau¬ derte bei dieſer Frage: Ich weiß nicht, rief er mit abgewandtem Haupte. Sprich mir von dieſem Gegen¬ ſtande nicht, o Weib! Aber Iphigenia bat ihn mit ſo wei¬ cher flehender Stimme um Nachricht, daß er nicht zu wider¬ ſtehen vermochte. Er iſt todt, ſprach er, durch die Gemahlin ſtarb er grauſenhaften Todes! Ein Schrei des Entſetzens entfuhr der Prieſterin Diana's. Doch faßte ſie ſich und fragte weiter: Sprich nur das noch! lebt des armen Mannes Weib? Nicht mehr, war die Antwort, ihr eigener Sohn hat ihr den Tod ge¬ geben, er übernahm das Rächeramt für ſeinen ermordeten Vater: doch gehet es ihm ſchlimm dafür! Lebt noch ein anderes Kind Agamemnons? Zwei Töch¬ ter, Elektra und Chryſothemis. Und was weiß man von der Aelteſten, die geſchlachtet ward? Daß eine Hindin an ihrer Statt ſtarb, ſie ſelbſt aber ſpurlos verſchwunden iſt. Auch ſie iſt wohl ſchon lange todt! Lebt der Sohn des Gemordeten noch? fragte die Jungfrau ängſtlich. Ja, ſprach Oreſtes, doch im Elend, vertrieben, überall und nirgends! O trü¬ geriſche Träume, weichet! ſeufzte Iphigenia vor ſich hin. Dann hieß ſie die Diener ſich entfernen, und als ſie mit den Griechen allein war, ſprach ſie flüſternd zu ihnen! Vernehmet etwas, Freunde, das zu eurem und meinem Vortheile dient, wenn wir einig ſind. Ich will dich retten, Jüngling, wenn du mir ein Briefblatt in deine und meine Heimath Mycene, an die Meinigen gerichtet, nehmen willſt! Ich mag mich nicht retten, ohne den Freund, antwortete Oreſtes; ich bin ein53 Unglücklicher, von dem er nicht gewichen iſt. Wie ſollte ich Ihn in der Todesnoth verlaſſen? Edler, brü¬ derlich geſinnter Freund! rief die Jungfrau. O wäre mein Bruder, wie du! denn wiſſet, Fremdlinge, auch ich habe einen Bruder, nur daß er ferne aus meinen Augen iſt. Aber beide kann ich euch nicht entlaſſen: das duldet der König nimmermehr. Stirb denn du, und laß deinen Pylades ziehen; welcher von euch mir das Blatt beſorgt mir gilt es gleich! Wer wird mich opfern? fragte Oreſtes. Ich ſelbſt; auf Befehl der Göttin, antwortete Iphigenia. Wie, du, das ſchwache Mädchen, ſchwingſt auf Männer dein Schwert? Nein, ich benetze nur mit dem Weihwaſſer deine Locken! Die Tempeldiener ſinds, die das Schlachtbeil ſchwingen! Dein verbranntes Gebein empfängt ſodann ein Felſenſchild. O daß mich meine Schweſter be¬ ſtattete, ſeufzte Oreſtes. Das iſt freilich nicht möglich, ſagte die Jungfrau gerührt, wenn deine Schweſter im fernen Argos weilt. Doch, lieber Lands¬ mann, ſorge nicht, ich will deinen Scheiterhaufen mit Oele löſchen, und mit Honig beträufeln, und deine Gruft ausſchmücken, als wäre ich deine leibliche Schweſter! Jetzt aber laß mich gehen, die Zuſchrift an die Meinen zu beſtellen!

Wie die Jünglinge allein, nur in der Ferne von Dienern bewacht waren, hielt ſich Pylades nicht länger: Nein, rief er, bei deinem Tode leben kann ich nicht! dieſe Schmach verlange nicht von mir. Ich muß dir in den Tod folgen, wie ich dir aufs weite Meer gefolgt bin. Phocis und Argos würden mich der Feigheit zeihen. Alle Welt denn böſe iſt die Welt würde ſagen,54 ich, um die Heimath mir zu gewinnen, hätte dich ver¬ rathen, dich getödtet, dir nach dem Reich, nach dem Erbe getrachtet, zumal da ich dein künftiger Schwager bin und um deine Schweſter Elektra ohne Mitgift gefreit habe. Jedenfalls alſo will ich, muß ich mit dir ſterben! Oreſtes wollte nichts von dieſem Entſchluſſe hören, und noch ſtritten ſie, als Iphigenia, das beſchriebene Blatt in der Hand, zurückkehrte. Als ſie den Empfänger Py¬ lades ſchwören laſſen, daß er den Brief gewiß den Ih¬ rigen abliefern wolle und dagegen geſchworen, ihn zu retten, beſann ſich die Jungfrau, und, auf den Fall, daß das Schreiben durch irgend einen Unglücksfall von der See verſchlungen würde, während der Ueberbringer mit dem Leben davonkäme, wollte ſie ihm den Inhalt überdieß auch noch mündlich mittheilen, Melde, ſprach ſie, dem Oreſtes, dem Sohne des Agamemnon: Iphi¬ genia, die in Aulis vom Opferheerde entrückt wurde, lebt, und beſtellet an dich, was folgt. Was höre ich, fiel ihr Oreſtes ins Wort, wo iſt ſie? ſteht ſie von den Todten auf? Hier ſteht ſie, ſagte die Prieſterin, doch, ſtöre mich nicht! Lieber Bruder Oreſtes! ehe ich ſterbe, hole mich aus der fernen Bar¬ barei nach Argos; erlöſe mich vom Opferheerd, an dem ich im Dienſte der Göttin die Fremdlinge morden muß. Thuſt du es nicht, Oreſtes, ſo ſeyen du und dein Haus verflucht!

Die beiden Freunde konnten lange vor Staunen keine Worte finden, bis zuletzt Pylades das Blatt aus ihren Händen nahm und gegen den Freund gewendet und ihm den Brief überreichend, ausrief: Ja, ich will den Eid auf der Stelle halten, den ich geleiſtet. Da nimm,55 Oreſtes, ich händige dir das Schreiben ein, welches die Schweſter Iphigenie dir überſchickt. Oreſtes warf es auf den Boden und umſchlang die Wiedergefundene mit den Armen. Sie wollte ihm wehren, ſie konnte es nicht glauben, bis Erzählungen aus der innerſten Geſchichte des Atridenhauſes ihn ihr als denjenigen beglaubigten, der er von Pylades bezeichnet ward. O Geliebteſter, rief die Jungfrau jetzt, denn das biſt du und nichts Anderes, du der Meine, der Meine, der Einzige, der Bruder! Aus dem geliebten Argos kommend! Wie ju¬ gendlich zart wareſt du, als ich dich verließ, im Arme des Pflegers ruhend, ſorglos und glücklich! Ja, glück¬ lich, wie wir beide in dieſem Augenblick es ſind. Doch Oreſtes war ſchon zur Beſinnung gekommen und ſein Antlitz hatte ſich umwölkt. Freilich ſind wir jetzt glücklich, ſprach er, aber wie lange wird es währen? Iſt nicht der Jammer, der Untergang uns gewiß? Auch Iphigenia bedachte ſich voll Unruhe: Was erſinne ich nun, ſagte ſie bebend, wie erlöſe ich dich aus dem Reiche des Barbarenfürſten, wie ſende ich dich frei vom Tode nach Argos zurück, daß du nicht mit ſamt deinem Freunde am Opferheerde dem Stahl erliegen mußt? Aber ſchnell, ehe der Herr dieſes Reiches, ungeduldig über den ver¬ zögerten Tod der Gefangenen, erſcheint, erzähle mir, Bruder, und verſchweige mir nichts von den entſetzlichen Ereigniſſen in unſrem unglücklichen Hauſe.

Oreſtes meldete ihr mit gedrängten Worten Alles, wie es ſich begeben, und ſchloß das Fürchterliche mit einer guten Kunde, mit der Verlobung Elektra's und ſeines Freundes. Während der Erzählung hatte ſich die Jungfrau, ſo ganz ſie Ohr war, doch auch mit der56 Rettung ihres geliebten Bruders im Geiſte beſchäftigt, und zuletzt hatte ſich ihr ein glücklicher Gedanke dar¬ geboten. Ich habe, rief ſie, endlich, dünkt mir, den rechten Weg erdacht. Dein Seelenleiden, das ſich bei eurer Gefangennehmung am Strande noch einmal regte, ſoll mir zum Vorwande bei dem König dienen. Du kommeſt, ſage ich ihm, wie denn dieß die Wahrheit iſt, als Muttermörder von Argos. Deßwegen ſeyeſt du unrein und noch nicht entſündiget, um als angenehmes Opfer der Göttin dargebracht zu werden. Erſt müſſe ein Waſſerbad im Meere die Blutſpur abwaſchen, welche deinem Leibe noch von dem entſetzlichen Mord anklebe. Und weil du, im Tempel der Göttin dargeſtellt, ihr Bild als Schutzflehender berührt habeſt, ſo ſey auch dieſes verunreinigt worden, und bedürfe einer Reinigung in der Meeresfluth. Da nun mir, der Prieſterin, allein ver¬ gönnt iſt, das heilige Bildniß zu berühren, ſo trage ich ſelbſt daſſelbe auf meinen Armen und in eurer Begleitung (denn auch dich, Pylades, nenne ich als Theilhaber der Blutſchuld, wie du es denn auch in der That wareſt) an den Meeresſtrand, dort wo euer Schiff in der Bucht verſteckt vor Anker liegt. Dieß Alles ſoll durch Ueber¬ redung des Königes geſchehen, denn hintergehen ließe ſich der Wachſame nicht. Das weitre Gelingen des Planes, wenn wir einmal am Schiff angekommen ſind, iſt eure Sache, ihr Freunde!

Dieß Alles war zwiſchen den Geſchwiſtern und ih¬ rem Freund im Vorhofe des Tempels verhandelt worden, ferne von den Dienern und Wachen. Jetzt wurden die Gefangenen den Aufſehern wieder übergeben und Iphi¬ genia führte ſie in das Innere des Tempels. Nicht lange57 darauf erſchien Thoas, der König des Landes mit einem anſehnlichen Gefolge und fragte nach der Tempelwächterin, denn der Verzug gefiel ihm nicht, und er konnte nicht begreifen, warum die Leiber der Fremdlinge nicht ſchon lange auf den Hochaltären der Göttin brannten. Wie er nun eben vor dem Tempel angekommen war, trat Iphigenia zu den Pforten deſſelben heraus und trug die Bildſäule der Göttin auf den Armen. Was iſt das, Agamemnons Tochter, rief der König erſtaunt, warum trägſt du dieſes Götterbild von dem heiligen Geſtelle in deinen Armen fort? Es iſt Abſcheuliches geſchehen, o Fürſt! erwiederte die Prieſterin mit bewegter Miene, die Opfer, die am Strande erjagt worden, ſind nicht rein; das Standbild der Göttin, als ſie ſich ihm näher¬ ten, es ſchutzflehend zu umfangen, drehte ſich freiwillig auf ſeinem Sitze und ſchloß die Augenlieder. Wiſſe, dieſes Paar hat Grauſenhaftes verübt. Und nun er¬ zählte ſie dem Könige, was im Weſentlichen Wahrheit war, und ſtellte das Verlangen an ihn, die Fremdlinge ſamt dem Bilde entſündigen zu dürfen. Um ihn recht ſicher zu machen, verlangte ſie, daß die Fremden wieder gefeſſelt würden, und ihre Häupter als Frevler vor dem Strahl der Sonne verhüllt; auch begehrte ſie Sklaven zur Sicherheit, die im Gefolge des Königs erſchienen waren. Nach der Stadt auch dieß hatte die Jung¬ frau ſchlau in ihrem Sinne ausgedacht ſollte der Fürſt einen Boten ſenden, der den Bürgern befehle, ſich, bis die Entſündigung vorüber ſey, innerhalb der Mauern zu halten, um von der alles verpeſtenden Blutſchuld nicht angeſteckt zu werden. Der König ſelbſt ſollte in ihrer Abweſenheit im Tempel bleiben, und für die Ausräucherung58 des geſammten Gewölbes beſorgt ſeyn, damit die Prie¬ ſterin daſſelbe nach ihrer Rückkehr gereinigt wieder¬ finde. Sobald die Fremden aus dem Thore des Tem¬ pels träten, ſollte der König ſein Antlitz ins Gewand hüllen, damit der Gräuel ſich ihm nicht mittheilen könnte. Und wenn es dir, ſchloß die Prieſterin ihren Antrag, auch dünken ſollte, als ſäumte ich lang am Meeres¬ ſtrande: werde darum nicht ungeduldig, o Herrſcher; bedenke, welchen großen und beſteckenden Frevel es zu entſündigen gilt!

Der König willigte in Alles und verhüllte ſich das Haupt, als bald darauf Oreſtes und Pylades aus dem Tempel geführt wurden, und es währte nicht lange, ſo war Iphigenia mit den Gefangenen und einigen Tra¬ banten des Königes auf dem Wege zum Meeresufer aus dem Geſichtskreiſe des Tempels verſchwunden. Thoas begab ſich in das Innere deſſelben, und ließ dort die von der Prieſterin gebotene Räucherung vornehmen, die bei der Größe des Gebäudes eine geraume Zeit erforderte.

Nach mehreren Stunden kam ein Bote vom Meeres¬ ufer daher geeilt. Treuloſe Weiberſeelen! fluchte er vor ſich hin, als er erhitzt und keuchend vor der Tempel¬ pforte ſtand und an das verſchloſſene Thor pochte. Holla, ihr, Leute drinnen, ſchrie er, öffnet die Rie¬ gel; thut dem Herrn zu wiſſen, daß ich als Ueberbringer ſchlimmer Neuigkeit vor dem Thore ſtehe! Die Thür¬ flügel öffneten ſich, und Thoas ſelbſt trat aus dem Tempel. Wer iſt's, ſprach er, der mit ſeinem Lärm den Frieden dieſes heiligen Hauſes zu ſtören ſich herausnimmt? Vernimm, o König, welche Botſchaft ich dir bringe, hub der Diener an. Die Prieſterin des Tempels,59 dieſes Griechenweib, iſt mitſamt den Fremden und dem Standbild unſerer erhabenen Schutzgöttin aus dem Lande entronnen! das ganze Entſündigungsfeſt war eine Lüge! Was ſagſt du? rief der König, der Unmögliches zu hören glaubte. Welcher böſe Geiſt hat dieſes Weib ergriffen? Wer iſt es, mit dem ſie flieht? Ihr Bruder Oreſtes, erwiederte der Bote, derſelbe, den ſie hier dem Opfertode geweiht zu haben ſchien. Hör 'die ganze Geſchichte, und dann ſinne auf Mittel, wie wir die Flüchtigen verfolgen und beifahen, denn ihre Fahrt iſt lang und dein Speer kann ſie ſchon noch er¬ reichen! Als wir ans Geſtade des Oceans gelangt waren, wo das Schiff des Oreſtes vor Anker lag, winkte Iphigenia uns, die wir die Fremdlinge in Feſſeln daher¬ führten, Halt zu machen, damit wir dem heiligen Brand¬ opfer und der beſchloſſenen Feier fern blieben. Sie ſelbſt nahm den Fremden die Feſſeln ab, hieß ſie vorangehen, und trug ſie, ihnen folgend. Zwar ſchien uns dieſes ſchon etwas verdächtig, indeſſen glaubten deine Diener, o Herr, es ſich doch gefallen laſſen zu müſſen. Hierauf, damit es ſchien, als würde mit der Sühnungshandlung wirklich der Anfang gemacht, ſang die Prieſterin Zauber¬ formeln ab, und ſprach in fremden Weiſen allerlei Gebete. Wir aber hatten uns gelagert und harrten. Endlich kam uns der Gedanke, das entfeſſelte Paar könnte die wehrloſe Frau getödtet haben und entſprungen ſeyn. Wir machten uns daher auf, und eilten der Felſenbucht zu, die uns den Anblick der Prieſterin und der Fremdlinge entzogen hatte. Als wir dicht an den Felſenſtrand ge¬ langt waren, ſahen wir ein Griechenſchiff auf dem Waſ¬ ſerſpiegel ſchwebend, und an fünfzig Ruderer auf ſeinen60 Bänken; am Hintertheile des Schiffes, noch auf dem Ufer, ſtanden die beiden Fremden, der Feſſeln entledigt; die Einen lichteten die Anker und hängten ſie ein, Andere ſchlugen Zugbrücken, wanden an den Tauen, ließen Lei¬ tern für die Fremdlinge nieder. Da beſannen wir uns denn freilich nicht länger; wir hatten das ganze Trug¬ gewebe vor uns, und ergriffen das Weib, das auch noch am Strande verweilte. Oreſtes aber, ſein Geſchlecht und Vorhaben laut verkündend, wehrte ſich mit Pylades für ſeine Schweſter, die wir ſchleifend zwingen wollten, uns zu folgen. Da weder wir noch die Fremdlinge Schwer¬ ter hatten, ſo ſetzte es einen hartnäckigen Fauſtkampf. Indeſſen zwangen uns die Griechenjünglinge zum Rück¬ zuge, da auch die Schützen vom Hintertheile des Schiffes uns mit Pfeilen aus der Ferne ſcharf zuſetzten. Zu gleicher Zeit warf eine mächtige Meereswoge das Schiff ans Land, und es fehlte wenig, ſo wäre es geſcheitert. Da nahm Oreſtes Iphigenien auf den Arm, die ſelbſt das Bild auf den Armen trug, ſprang ins Waſſer und ſchnell die Leiter des Schiffes hinan. Dort legte er die Schweſter mit ſamt dem Himmelsbilde Dianens auf dem Verdecke nieder. Ihm nach war Pylades geſprungen, und als Alle glücklich im Schiffe ſich befanden, brach das Schiffsvolk in dumpfen Jubel aus, und ruderte friſch durch die ſalzige Fluth. So lange das Schiff durch die Hafenbucht fuhr, glitt es in ſanftem Laufe dahin; als es aber in die offene See gelangt war, ſauſte ein mäch¬ tiger Windſtoß auf daſſelbe herein und trieb es, trotz aller Anſtrengungen der Ruderer, an das Geſtade zurück. Da ſprang Agamemnons Tochter flehend empor und rief laut: Tochter Latona's, jungfräuliche Artemis, du61 ſelbſt verlangteſt ja durch das Orakel deines Bruders Apollo nach Griechenland, rette mich mit dir, mich, deine Prieſterin, dorthin, und vergieb mir den kühnen Betrug, den ich mir gegen den Beherrſcher dieſes Landes erlaubt habe, dem ich gezwungen ſo lange dienen mußte. Du ſelbſt ja haſt auch einen Bruder und liebſt ihn, du Himmliſche! drum ſich auch unſere Geſchwiſterliebe gnädig an! Zu dieſem Gebete der Jungfrau ſtimmten, die entblößten Arme ums Ruder geſchlungen, die Schiffer alle den ſtehenden Geſang, Päan genannt, an, wie ihnen befohlen ward. Dennoch trieb das Schiff immer mehr an den Strand, und ich bin geradenweges hierher geeilt, um dir zu melden, was ſich am Ufer dort begeben. Darum ſende du nur auf der Stelle Fangſtricke und Feſſeln ans Geſtade; denn wenn das brauſende Meer nicht bald ruhig wird, ſo iſt den Fremdlingen jeder Weg zur Flucht verſperrt. Der Meeresgott Poſeidon (Neptun) denkt mit Zorn an die Zerſtörung ſeiner Lieblingsſtadt Troja zurück; er iſt ein Feind aller Griechen und des Atridengeſchlechts insbeſondere. So wird er denn, wenn mich nicht Alles trügt, die Kinder Agamemnons heute in deine Gewalt geben!

Mit Ungeduld hatte der König Thoas das Ende des langen Berichtes abgewartet, und ließ nun auf der Stelle an alle Bewohner ſeines rauhen Küſtenlandes den Befehl ergehen, die Roſſe aufzuzäumen, dem Meeres¬ ſtrande zuzuſprengen, das Griechenſchiff, wenn es durch die Wellen ans Land geſchleudert wäre, zu faſſen und unter dem Beiſtande der Göttin Artemis die flüchtigen Verbrecher einzufangen. Das Fahrzeug ſollte mit allen Ruderern verſenkt werden, die beiden Fremdlinge aber62 mit der treuloſen Prieſterin wollte er vom ſchroffſten Felſen ins Meer hinabſtürzen, oder bei lebendigem Leib mit dem Pfahle ſpießen laſſen.

Und ſchon jagte er an der Spitze ſeines reiſigen Volkes dem Meeresufer zu, als plötzlich eine himmliſche Erſcheinung den Zug hemmte, und den König wider Willen ſtille zu ſtehen zwang. Pallas Athene, die er¬ habene Göttin, war es, deren Rieſengeſtalt von einer lichten Wolke umgeben, über der Erde ſchwebend, dem Heereszug den Weg vertrat und deren Götterſtimme wie Donner über die Häupter der Taurier hinrollte: Wo¬ hin, wohin jageſt du, König Thoas, erhitzt und athem¬ los mit deinem Volke? Schenke den Worten einer Göttin Gehör! Laß die Haufen deines Heeres ruhen, laß meine Schützlinge frei abziehen! Das Verhängniß ſelbſt hat, durch den Ausſpruch Apollo's, den Oreſtes hierher ge¬ rufen, daß er, von den Furien befreit, ſeine Schweſter ins Vaterland zurückgeleite, und das heilige Bildniß der Artemis in meine geliebte Statt Athen bringe, wohin ſie ſelbſt begehret hat! Die Flüchtlinge trägt deßwegen Poſeidon, der Meeresgott, mir zulieb auf unbewegter Meeresfläche in ihrem Ruderſchiffe dahin, und Oreſtes wird in Athen der Tauriſchen Artemis Bild in einem heiligen Hain und neuen, herrlichen Tempel aufſtellen, und Iphigenia wird auch dort ihre Prieſterin ſeyn, dort ſterben, dort ihre fürſtliche Gruft finden. Du, o Thoas, und du Volk der Taurier, gönnt ihnen Allen ihr Ge¬ ſchick und zürnet nicht!

Der König Thoas war ein frommer Verehrer der Götter. Er warf ſich vor der Erſcheinung nieder, und ſprach anbetend: O Pallas Athene! Wer Götterwort63 vernimmt und ſein Ohr nicht ihm zuneiget, der denkt verkehrt. Kampf mit allmächtigen Göttern bringt keine Ehre. Mögen deine Schützlinge mit dem Bildniß der Göttin ziehen, wohin ſie ſollen, mögen ſie das Bild glücklich in deinem Reiche aufſtellen. Ich ſenke meine Lanze vor den Göttern. Laßt uns umwenden, und in die Mauern unſerer Stadt zurückkehren.

Es geſchah, wie Athene verkündet hatte. Die Tau¬ riſche Artemis erhielt ihren Tempel und behielt ihre Prie¬ ſterin Iphigenia in Athen. Oreſtes ſetzte ſich zu Mycene als beglückter König auf den Thron ſeiner Väter, und gewann mit der einzigen, lieblichen Tochter des Mene¬ laus und der Helena, Hermione, die vergebens an Neopto¬ lemus, den Sohn des Achilles, verlobt worden war, und die ihm der Bräutigam mit Verluſt ſeines eigenen Lebens laſſen mußte, auch das Königreich Sparta, und zuvor noch hatte er Argos erobert. So beſaß er ein mächtige¬ res Reich, als je ſein Vater beſeſſen. Seine Schweſter Elektra ſetzte ihr Gemahl Pylades auf den Thron von Phocis. Chryſothemis ſtarb unvermählt; Oreſtes ſelbſt erreichte ein Alter von neunzig Jahren. Da regte ſich der alte, erlöſchende Fluch der Tantaliden noch einmal: eine Schlange ſtach ihn in die Ferſe, daß er ſtarb.

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Zweites Buch.

Odyſſeus. Erſter Theil.

Telemach und die Freier. Telemach bei Neſtor. Telemach zu Sparta. Verſchwörung der Freier. Odyſſeus ſcheidet von Kalypſo und ſcheitert im Sturm. Nauſikaa. Odyſſeus bei den Phäaken. Odyſſeus erzählt den Phäaken ſeine Irrfahrten. (Cikonen, Lotophagen, Cyklopen, Polyphem. ) Odyſſeus erzählt (Der Schlauch des Aeolus. Die Läſtrygonen. Circe. ) Odyſſeus er¬ zählt weiter. (Das Schattenreich. ) Odyſſeus erzählt weiter. (Die Sirenen. Scylla und Charybdis. Thrinakia und die Heerden des Son¬ nengottes. Schiffbruch. Odyſſeus bei Kalypſo. ) Odyſſeus verab¬ ſchiedet ſich von den Phäaken.

Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 5[66][67]

Telemach und die Freier.

Die Heimkehr der Griechen von Troja war voll¬ bracht, und, ſo viele der Helden den Schlachten während des Krieges oder dem Sturm auf der Heimfahrt entronnen waren, befanden ſich jetzt zu Hauſe glücklich oder un¬ glücklich. Nur Odyſſeus, der Sohn des Laertes, Ithaka's Fürſt, war noch auf der Irrfahrt und von einem ſelt¬ ſamen Schickſale betroffen. Nach mancherlei Abenteuern, ſaß er in der Ferne auf einer rauhen, mit Wäldern bedeckten, einſamen Inſel, mit Namen Ogygia, wo ihn eine hohe Nymphe, die Göttin Kalypſo, die Tochter des Atlas, in ihrer Grotte gefangen hielt, weil ſie ihn zum Gemahl begehrte. Er aber blieb der zurückgelaſſenen Gattin, der edlen Pe¬ nelope, treu; und endlich jammerte ſein auch die Götter im Olymp; nur Neptunus oder Poſeidon, der Gott des Meeres, der alte Feind der Griechen, zürnte auch dieſem Helden unverſöhnlich, und wenn er ihn nicht zu vertilgen wagte, ſo legte er ſeiner Heimfahrt doch allenthalben Hinderniſſe in den Weg, und trieb ihn in der Irre umher. Und ſo war er es auch, der ihn an jene unwirthliche Inſel geworfen hatte.

Nun aber wurde doch im Rathe der Himmliſchen beſchloſſen, daß Odyſſeus aus den Banden der Inſelfürſtin Kalypſo befreit werden ſollte. Auf die Fürbitte Minerva's wurde Hermes (Merkur), der Götterbote, nach dem ogy¬ giſchen Eilande geſchickt, um der ſchönen Nymphe den unwiderruflichen Rathſchluß Jupiters zu verkündigen, daß dem Dulder die Wiederkehr in ſeine Heimath68 beſtimmt ſey. Athene ſelbſt (Minerva) band ſich die am¬ broſiſchen, goldenen Sohlen unter die Füße, womit ſie über Waſſer und Land dahinſchwebt, nahm ihre mächtige Lanze, mit der gediegenen, ſcharfen Spitze von Erz, mit welcher ſie ſo manche Helden in der Schlacht bezwungen hatte, zur Hand, ſchwang ſich ſtürmend von dem felſigen Gipfel des Olympus herab, und bald ſtand ſie auf der Inſel Ithaka, die an der Weſtküſte Griechenlands liegt, am Palaſte des fernen Odyſſeus, vor der Schwelle des Hofes, da wo der Weg zum hohen Thore des Königs¬ hauſes führte. Ihre Göttergeſtalt war verwandelt, und die Lanze in der Hand glich ſie dem tapfern Mentes, dem Könige der Taphier.

Im Hauſe des Odyſſeus ſah es traurig aus. Die ſchöne Penelope, die Tochter Ikarions, blieb mit ihrem jungen Sohne Telemach nicht lange Meiſter in dem verlaſſenen Palaſte. Als Odyſſeus, nachdem ſich längſt die Nachricht von Troja's Fall und von der Rückkehr der andern Helden verbreitet hatte, allein nicht heimkehrte, verbreitete ſich allmählig mit im¬ mer größerer Sicherheit die Sage von ſeinem Tode, und es fanden ſich aus der Inſel Ithaka ſelbſt, auf welcher noch andere mächtige und reiche Leute auſſer dem Fürſten Odyſſeus wohnten, nicht weniger als zwölf, und von der benachbarten Inſel Same vier und zwanzig, von Zazynth zwanzig, ja von Dulichium zwei und fünfzig Freier mit einem Herold, einem Sänger, zween geübten Köchen und großem Sklavengefolge bei Penelope ein, die, unter dem Vorwand, um die Hand der jungen Wittwe zu werben, Alle im Hauſe und vom Gute des abweſen¬ den Fürſten zehrten und den frecheſten Uebermuth trieben;69 und dieſes Unweſen hatte nun ſchon über drei Jahre gewährt.

Als Athene in der Geſtalt des Mentes ankam, fand ſie die üppigen Freier eben an der Pforte des Hauſes mit Steineſchieben beſchäftigt, und diejenigen, die nicht gerade den Stein ſchoben, lagen auf den Häuten von Rindern hingeſtreckt, die ſie ſelbſt dem Odyſſeus aus den Ställen genommen und geſchlachtet hatten. Herolde und aufwartende Diener eilten hin und her; die einen miſch¬ ten in gewaltigen Krügen den Wein unter das Waſſer, andere ſäuberten die umhergeſtellten Tiſche mit Schwäm¬ men, und zerlegten das reichlich aufgetragene Fleiſch. Der Sohn des Hauſes, Telemachus ſelbſt, ſaß mit einem Herzen voll Betrübniß unter den Freiern, und gedachte an ſeinen herrlichen Vater, ob er nicht endlich käme, die Schaaren der Frechen zu zerſtreuen und ſich wieder in den Beſitz ſeiner Habe zu ſetzen. Wie er die Göttin in der Geſtalt des fremden Königs erblickte, eilte er ihr an der Pforte entgegen, faßte die Rechte des vermeintlichen Gaſt¬ freundes, und hieß ihn willkommen. Als ſie Beide in den gewölbten Saal des Palaſtes eingetreten waren, und Athene ihre Lanze in den Speerkaſten, der ſich an der Hauptſäule befand, zu den Lanzen des Odyſſeus gelehnt hatte, führte Telemachus ſeinen Gaſt zu Tiſche an einen Thronſeſſel mit ſchön gewirktem Polſter, hieß ihn ſitzen und ſchob ihm einen Schemel unter die Füße; er ſelbſt ſtellte ſeinen Seſſel neben den ſeinen; eine Dienerin brachte in goldener Kanne Waſchwaſſer für die Hände des Fremdlings; die ehrbare Schaffnerin trug Brod und Fleiſch herbei, ſein Diener zerlegte die Speiſen, und um die goldenen gefüll¬ ten Becher wandelte, Wein einſchenkend, der Herold. Bald70 darauf traten auch einer um den andern die Freier ein, und ſetzten ſich alle auf ſtattliche Lehnſeſſel; die Herolde beſprengten ihnen die Hände, die Mägde reichten ihnen Brod in Körben, die Diener füllten ihnen den Becher bis zum Rand, und ſie machten ſich, als kämen ſie nicht eben vom Schmauſe, über das leckere Mahl her. Dann gelüſtete ſie nach Reigentanz und Geſang, der Herold reichte dem Sänger Phemius die zierliche Harfe, und dieſer, von den trotzigen Freiern gezwungen, ſchlug die Saiten an und begann den herzerfreuenden Geſang.

Während nun dieſe dem Liede horchten, neigte Telemach ſein Haupt nahe an das ſeines Gaſtes und flüſterte der verwandelten Göttin in's Ohr: Wirſt du mir, lieber Gaſtfreund, was ich dir ſage, nicht verargen? Siehſt du, wie dieſe Menſchen hier fremdes Gut ohne Erſatz verpraſſen? das Gut meines Vaters, deſſen Ge¬ bein vielleicht am Meeresſtrand im Regen modert, oder auf den Wellen umhergetrieben wird? Er kommt wohl nicht wieder heim, ſie zu ſtrafen! Aber du ſage mir, edler Fremdling, wer biſt du, wo hauſeſt du, wo deine Eltern? Biſt du vielleicht ſchon vom Vater her unſer Gaſtfreund? Ich bin, erwiederte Minerva, Men¬ tes, der Sohn des Anchialus, und beherrſche die Inſel Taphos; ich kam zu Schiffe hierher um in Temeſa Erz gegen Eiſen einzutauſchen. Frage deinen Großvater Laertes, den Greis, der, wie man ſagt, ferne von der Stadt, in Kummer auf dem Lande ſich abhärmt: er wird dir ſagen, daß unſere Häuſer ſeit der Altväter Zeiten in Gaſtfreundſchaft mit einander leben. Ich kam, weil ich glaubte, dein Vater ſey wieder daheim. Dem iſt nun freilich nicht ſo; aber doch lebt er gewiß noch;71 er iſt wohl irgendwo an eine wilde Inſel verſchlagen und wird mit Zwang dort feſtgehalten. Ja, mir ſagt es mein weiſſagender Sinn, er weilt nicht lange mehr, er macht ſich bald los, und kehret heim! Du biſt doch deines Vaters leiblicher Sohn, lieber Telemachus. Wie du ihm am Haupte, zumal an den freundlichen Augen gleicheſt! Denn wiſſe, ich habe deinen Vater gekannt, ehe er gen Troja fuhr. Seitdem ſah ich ihn nicht mehr. Doch, ſage mir, was iſt denn das für ein Gewühl in deinem Hauſe? Feierſt du denn ein Gaſtmahl, oder ein Hochzeitfeſt?

Telemach antwortete mit einem Seufzer: Ach lie¬ ber Gaſtfreund, ehemals mochte wohl unſer Haus angeſehen und begütert heißen; jetzt iſt es anders; alle dieſe Män¬ ner aus der Nachbarſchaft, die du hier ſieheſt, umwerben meine Mutter, und verzehren unſer Gut. Sie ſelbſt kann eine verabſcheute Wiedervermählung nicht abſchlagen und nicht vollziehen. Zudeſſen verwüſten dieſe Schlem¬ mer mein Haus und in Kurzem werden ſie mich ſelbſt umbringen! Mit zornigem Schmerz antwortete die Göttin: Wehe, wie ſehr bedarfſt du des Vaters, Jüng¬ ling! Wohl empfehle ich dir, zu bedenken, wie du dieſen läſtigen Schwarm aus dem Palaſte fortdrängeſt! Laß mich dir einen Rath geben. Morgen erhebe dich unter ihnen, und heiße ſie, einen Jeglichen in das Seinige, ſich zerſtreuen; deiner Mutter aber ſage: wenn ihr eigenes Herz nach einer Vermählung begehrt, ſo ſoll ſie in den Palaſt ihres königlichen Vaters heimkehren, dort mag die Hochzeit angeordnet, mag die Brautgabe bereitet werden. Du ſelbſt aber rüſte das beſte Schiff, das du haſt, mit zwanzig Ruderern aus, und begieb dich auf den Weg, den72 lange abweſenden Vater zu ſuchen. Zuerſt gehe nach Pylos im Lande Elis, frage dort den ehrwürdigen Greis Neſtor; erfährſt du da nichts, ſo wende dich nach Sparta zum Helden Menelaus, denn dieſer iſt der letzte von den Grie¬ chen, der heimgekehrt iſt. Hörſt du vielleicht dort, daß dein Vater lebe, daß er wiederkehre; nun dann ertrag 'es noch ein Jahr. Vernimmſt du aber, daß er geſtorben ſey: alsdann kehre heim, opfre Todtenopfer und erricht' ihm ein Denkmal. Findeſt du die Freier noch immer in deinem Hauſe, ſo ſinne darauf, wie du ſie durch Liſt oder öffentlich tödteſt. Biſt du doch nicht mehr unmündig und dem Knabenalter längſt entwachſen! Höreſt du nicht, welchen Ruhm der Jüngling Oreſtes unter den Menſchen geärntet hat, daß er ſeines Vaters Mörder, Aegiſthus, erſchlagen? Du biſt ſo groß und ſtattlich; halte dich wohl; mach 'daß auch dich einſt ſpätere Geſchlechter loben! Telemach dankte dem Gaſtfreunde für ſeinen guten Rath und ſeine väter¬ liche Geſinnung, und da dieſer ſich zum Aufbruch an¬ ſchickte, wollte er ihm ein Gaſtgeſchenk mit auf den Weg geben; der verſtellte Mentes verſprach aber wieder zu kommen und auf dem Rückweg es abzuholen.

Dann enteilte die Göttin und verſchwand; denn wie ein Vogel durchflog ſie den Kamin, Telemach ſtaunte über dem Verſchwinden des Fremden tief in der Seele; er ahnte, daß es ein Gott geweſen, und ſann in ſich ge¬ kehrt ſeinem Rathe nach.

Im Saale dauerte indeſſen Saitenſpiel und Geſang fort: der Sänger meldete die traurige Heimfahrt der Griechen von Troja, und alle Freier horchten. Droben im Söller ſaß inzwiſchen die einſame Penelope, und der Hall des Liedes drang zu ihr empor. Da ſtieg auch73 ſie mit zwo Dienerinnen die Stufen ihrer hohen Woh¬ nung herab und trat zu den Freiern in den Saal ein, doch in einen dichten Schleier gehüllt; eine der Mägde ſtand ihr zur Seite, und weinend begann ſie, zu Phemius dem Sänger gewendet: Du weißeſt ja ſonſt viele herz¬ erquickende Lieder, guter Sänger! Erfreue ſie damit; aber dieſen Jammergeſang, der mir beſtändig das Herz im Buſen quält, den laß ruhen! Gedenke ich doch auch ohne das beſtändig des Manne, deſſen Ruhm durch ganz Griechenland reicht, und der noch immer nicht heimgekehrt iſt! Aber Telemach redete freundlich zu der Mutter: Tadle doch den lieblichen Sänger nicht, daß er uns mit dem erfreut, was ihm gerade das Herz entzündet. Nicht den Sängern, Jupitern müſſen wir Schuld geben, der ihnen die Lieder eingiebt, und ſie begeiſtert, wie er will! Laß ihn deßwegen immerhin das Leid der Danaer beſingen! Odyſſeus iſt es ja nicht allein, der den Tag der Wiederkehr verlor; wie viel andere Griechen ſind untergegangen! Du ſelbſt, liebe Mutter, kehr 'ins Frauengemach zurück, beſorge dort deine Ge¬ ſchäfte, die Spindel und den Webeſtuhl, und leite das Tagwerk deiner Frauen! Das Wort gebührt den Män¬ nern und vor allem mir, der ich die Herrſchaft im Hauſe zu führen habe.

Penelope verwunderte ſich über die verſtändige und beſtimmte Rede des Knaben, den ſie früher nie ſo hatte ſprechen hören, und der auf einmal zum Jüngling gereift ſchien; ſie kehrte nach dem Söller zurück und be¬ weinte dort ihren Gemahl in der Einſamkeit. Den Freiern aber, die zu toben und beim Becher Muthwill zu treiben anfingen, trat Telemachus auch entgegen, und rief in74 die Verſammlung hinein: Freuet euch immerhin beim Mahle, ihr Freier! aber lärmet mir nicht ſo! denn das iſt eine Luſt, dem Sänger in Stille zuzuhorchen! Mor¬ gen wollen wir Rathsverſammlung halten; da will ich euch frank und frei den Vorſchlag machen, nach Hauſe zu gehen, denn es iſt Zeit, daß ihr euch an eurer eigenen Habe wärmet, und nicht des fremden Mannes Erbgut vollends aufzehret!

Die Freier biſſen ſich auf die Lippen, als ſie ſolche Reden hörten, und konnten über die entſchloſſenen Worte des Jünglings nicht genug ſtaunen. Aber von ſeinem Vorſchlage, zum Vater Penelope's Ikarion zu wandern, wollten ſie nichts hören, und zankten ſich trotzig mit ihm herum. Endlich brachen ſie auf und auch Telemach ging zur Ruhe.

Am andern Morgen ſprang er zeitig vom Lager, kleidete ſich an und hängte das Schwert um die Schul¬ tern. Dann trat er aus der Kammer hervor und gebot den Herolden, die Verſammlung der Bürger zu berufen und lud auch die Freier zu derſelben ein. Als das Volk ſich gedrängt eingefunden hatte, erſchien der Fürſtenſohn, die Lanze in der Hand; Pallas Athene hatte ſeiner Ge¬ ſtalt Hoheit und Anmuth verliehen, ſo daß alles Volk den Kommenden anſtaunte. Selbſt die Greiſe machten ihm ehrerbietig Platz, und er ſetzte ſich auf den Stuhl ſeines Vaters Odyſſeus. Da erhub zuerſt der Held Aegyptius, von Alter gebückt und reich an Erfahrung, er, deſſen älteſter Sohn Antiphus ſchon mit Odyſſeus vor Troja gezogen war und erſt auf dem Rückwege ver¬ unglückte, deſſen zweiter Sohn Eurynomus mit unter den Freiern ſich befand, während die zwei jüngſten Söhne75 noch des Vaters Geſchäfte zu Hauſe betrieben, ſich in der Volksverſammlung und ſprach: Seit Odyſſeus fort iſt, ſind wir nicht verſammelt geweſen. Wem iſt denn auf einmal eingefallen, uns zuſammen zu berufen? Iſt es ein älterer Mann, oder ein jüngerer, und welches Bedürfniß treibt ihn? Hörte er etwa Kunde von einem heranziehenden Kriegsheere? Oder hat er einen Antrag zum Beſten des Landes zu machen? Nun, gewiß iſt es ein Biedermann, der alſo gehandelt hat; Jupiter ſegne ihn, was er auch im Herzen vorhaben mag!

Telemach erfreute ſich des glücklichen Vorzeichens, das in dieſen Worten lag, erhub ſich von ſeinem Stuhle und ſprach, mitten unter die Verſammlung eintretend, nach¬ dem der Herold Piſenor ihm das Scepter gereicht, in¬ dem er ſich zuerſt dem greiſen Aegyptius zuwandte: Edler Greis! der Mann, der euch berufen hat, iſt nicht ferne: ich bins, denn der Kummer und die Sorge bedrängen mich. Erſt habe ich meinen trefflichen Vater, euren Beherrſcher, verloren, und jetzt ſtürzt mein Haus ins Verderben, und alle meine Habe geht in Trümmer! Mit unerwünſchter Bewerbung ſieht ſich meine Mutter Penelope von Freiern umdrängt. Dieſe ſträuben ſich, meinem Vorſchlage ſich zu fügen und bei der Mutter Vater Ikarion um die Tochter zu werben. Nein, von Tag zu Tage wenden ſie ſich an unſer Haus, opfern Rinder zum Mahle, halten bei unſern Schafen und Zie¬ gen Schmaus, und trinken mir den funkelnden Wein ohne Scheu aus dem Keller. Was vermag ich gegen ſo viele? Erkennet doch ſelbſt, ihr Freier, euer Unrecht, habt auch Scheu vor Andern, vor der Nachbarſchaft, bebet endlich vor der Rache der Götter! Wann hat76 euch mein Vater beleidigt, wann habe ich ſelbſt euch Schaden zugefügt, deſſen Erſatz ihr von mir zu nehmen berechtigt wäret? So aber ladet ihr mir unverdienten Schmerz auf die Seele!

So ſprach Telemachus, vergoß Thränen dazu und warf zornig ſeinen Scepter auf die Erde. Die Freier ſaßen ſchweigend umher und keiner, auſſer Antinous, dem Sohne des Eupithes, wagte es, ihm ein heftiges Wort auf ſeine Rede zu erwiedern. Dieſer aber erhub ſich und rief laut: Trotziger Jüngling, welche Schmähung erlaubſt du dich gegen uns? Nicht die Freier haben alles das verſchuldet, ſondern deine eigene Mutter, die ränkevolle! Drei Jahre, und bald das vierte, ſind dahin, und immer noch ſpottet ſie des Wunſches des Achajer. Allen verheißt ſie Gunſt, bald dieſem bald jenem Manne ſendet ſie Botſchaft zu; aber im Herzen denkt ſie ganz anders. Wohl durchſchauen wir ihre Liſt. In ihrer Kam¬ mer hat ſie ein großes Gewebe angefangen und zur Ver¬ ſammlung der Freier hat ſie geſprochen: Ihr Jünglinge, wartet mit der Entſcheidung und der Hochzeit nur ſo lange, bis ich das Leichengewand für meines Gemahles alten Vater Laertes fertig gewirkt habe, daß, wenn er der¬ einſt ſtirbt, keine Griechin mich tadeln kann, wenn der an¬ geſehene Mann als Leiche nicht feſtlich eingekleidet da läge! Mit dieſem frommen Vorwande gewann ſie unſere Herzen. Nun ſaß ſie auch wirklich den Tag über da, und wirkte an ihrem großen Gewebe, in der Nacht aber beim Kerzenlichte, da trennte ſie heimlich Alles wieder auf, was ſie am Tage gewoben hatte. So entging ſie unſern Aufforderungen drei Jahre lang und täuſchte edle Griechenſöhne. Eine der Dienerinnen, welche ſie Nachts77 belauſcht hatte, hat uns dieſes hinterbracht, und ſo über¬ raſchten wir ſie ſelbſt, während ſie damit beſchäftigt war, ihr Gewebe zu zertrennen. Darauf nöthigten wir ſie, das Werk zu vollenden. So geben wir dir denn zur Antwort, Telemachus, daß dir allerdings vergönnt ſeyn ſoll, die Mutter hinweg und zu ihrem Vater zu ſenden; aber du ſollſt ihr auch gebieten, ſich Demjenigen zu ver¬ mählen, den ihr Vater ausleſen wird, oder den ſie ſich ſelbſt erwählt. Wenn ſie aber die edlen Griechen noch länger verhöhnt, und mit ihrem Truggewebe betrügen will, ſo zehren wir auch noch länger von deinem Gute, und nicht eher weichen wir von deinem Heerde und be¬ geben uns an den unſrigen, als bis deine Mutter einen Gatten gewählt hat.

Darauf antwortete Telemach: Antinous, mit Zwang kann ich meine Mutter nicht aus dem Hauſe verſtoßen, ſie, die mich geboren und erzogen hat, mag nun mein Vater noch leben oder todt ſeyn. Weder Ikarion, ihr Vater, noch die Götter könnten ein ſolches Verfahren billigen. Nein, wenn ihr ſelbſt noch Gefühl für Recht und Unrecht habt, ſo verlaſſet mein Haus, und beſorget euch eure Gaſtmahle anderswo, oder verzehret wenigſtens eure eigene Habe und laſſet die Bewirthung im Kreiſe herumgehen. Wenn es euch aber behaglicher dünkt, das Erbe eines einzelnen Mannes ohne Wiedererſtattung zu verſchlingen nun, ſo thut es! Ich aber werde die Ewigen laut anflehen, daß mir Jupiter zur wohlverdien¬ ten Bezahlung an euch verhelfe!

Während Telemach ſo ſprach, ſchickte ihm Jupiter ein Himmelszeichen. Zwei Adler des Gebirges ſchweb¬ ten mit ausgebreiteten Schwingen herab aus den Lüften78 und um einander her: als ſie der Verſammlung über den Häuptern waren, ſchauten ſie drohend herab, und fingen dann an, ſich ſelbſt mit den Klauen Hals und Kopf zu zerkratzen, dann erhoben ſie ſich wieder und ſtürmten rechts hin über Ithaka's Stadt. Dieß deutete der an¬ weſende greiſe Vogelſchauer Halitherſes auf großes Ver¬ derben, das den Freiern drohe. Denn noch am Leben ſey Odyſſeus und nahe ſchon, und der Tod ſey allen jenen Männern bereitet. Aber der Freier Eurymachus, des Polybus Sohn, ſpottete des Zeichens und ſagte: Geh 'du nach Hauſe und verkündige deinen eigenen Kindern ihr Geſchick, alberner Greis! Uns wirſt du nicht bethören. Viel Vögel fliegen unter den Strahlen der Sonne herum, aber nicht alle bedeuten etwas! Gewiſſer iſt nichts, als daß Odyſſeus in der Ferne ſtarb! Uebri¬ gens beharrten die Freier auf ihrem Anſinnen, daß die Mutter Telemachs ſelbſt das Haus verlaſſen, zu ihrem Vater Ikarion ziehen und dort wählen ſolle.

Da drang Telemachus nicht weiter in ſie, ſondern er begehrte vom Volke nur ein ſchnellſegelndes Schiff und zwanzig Ruderer, um zu Pylos und zu Sparta nach dem verſchollenen Vater zu fragen. Lebe der, ſo wollte auch Telemach noch ein Jahr zuſehen; ſey er todt, ſo möge ein anderer die Mutter nehmen. Jetzt erhub ſich Mentor, der Freund und Altersgenoſſe des Odyſſeus, dem dieſer, in den Kampf vor Troja ziehend, die Sorge des Hauſes anvertraut hatte, daß er, unter der Ober¬ aufſicht ſeines Vaters Laertes, Alles in Ordnung erhielte. Dieſer ereiferte ſich zornig gegen die Freier und rief: Kein Wunder, wenn ein Scepter tragender König Recht und Billigkeit vergäße, ſtets zürnte und grauſam frevelte:79 verdienen es die Menſchen doch nicht anders! Wer in dieſem Kreiſe gedenkt jetzt noch des freundlichen väter¬ lichen Herrſchers Odyſſeus? Praſſen doch dieſe Freier ungeſtraft von ſeinem Gute! Und nicht ihnen verdenke ich es, die da im Wahne handeln, als kehre Odyſſeus nicht wieder! Aber dem andern Volke verarg 'ichs, das ſtumm daſitzt und zuſchauen mag, und auch nicht mit einem Wörtchen es verſucht, die frevelnden Freier im Zaum zu halten, ſo überlegen es ihnen an Zahl iſt!

Aber Leokritus, einer der frechſten Freier, ſpottete des Scheltenden und ſprach: Laß immerhin den Odyſ¬ ſeus kommen, du alter Schadenfroh; wir wollen ſehen, ob er mit uns fertig wird, wenn er uns bei'm Mahle überraſcht! Und glaubet mir nur, Penelope ſelbſt, ſo ſehr ſie nach ihm zu ſchmachten ſcheint, würde ſeiner Ankunft ſich am wenigſten freuen. Mög 'ihn das böſe Verhängniß vertilgen! Nun, laßt uns ſcheiden, ihr Männer! Mögen Mentor und der alte Vogelſchauer Halitherſes die Reiſe des Knaben Telemachus beſchleu¬ nigen. Aber, was wollen wir wetten, er ſitzt noch nach Wochen hier unter uns, und erſpäht ſich hier in Ithaka ſelbſt die Botſchaft nach ſeinem Vater. Nimmermehr vollendet er die Reiſe!

Lärmend trennten ſich die Freier und die ganze Volksverſammlung that, ohne einen Beſchluß gefaßt zu haben, das Gleiche. Jeder ging in ſeine Wohnung, und die Freier lagerten ſich wieder im Palaſte des Odyſſeus.

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Telemach bei Neſtor.

Telemach ging hinab ans Meergeſtade, und, die Hände in der Fluth waſchend, rief er zu dem unbekann¬ ten Gotte, der Tags zuvor in Menſchengeſtalt bei ihm in ſeiner Wohnung erſchienen war. Da nahete ihm Pallas Athene, dem Freunde ſeines Vaters, Mentor, an Geſtalt und Stimme ähnlich, und ſprach: Telemach, wenn du hinfort nicht zaghaft und beſinnungslos ſeyn willſt, wenn der Geiſt deines Vaters, des klugen Odyſſeus, nicht ganz von dir gewichen iſt, ſo hoffe ich, daß du deinen Entſchluß ausführeſt! Ich bin der alte Freund deines Vaters, ich will dir für ein ſchnelles Schiff ſorgen, und dich ſelber begleiten! Telemach, der nicht anders glaubte, als daß Mentor ſelbſt zu ihm geredet, eilte entſchloſſen nach Hauſe; auf dem Wege begegnete er dem jungen Freier Antinous, der ihm lachend die Hand hinbot und ſprach: Unbändiger, trotziger Jüngling, zürne nicht län¬ ger! Lieber geſchmauſt und getrunken mit uns, wie bis¬ her! Laß die Bürger für deine Reiſe ſorgen, und wenn ſie dir Schiff und Mannſchaft gerüſtet haben, dann magſt du meinethalben nach Pylos fahren! Aber Telemach erwiederte: Nein, Antinous, es iſt mir unmöglich, län¬ ger ſchweigend mit euch ausſchweifenden Männern am Mahle zu ſitzen! Ich bin kein Knabe mehr; ihr habt es hinfort mit einem muthigen Manne zu thun, mag ich nun gen Pylos fahren, oder auf unſrem Eilande ver¬ bleiben! Aber ich will gehen, und nichts ſoll mir die beſchloſſene Fahrt vereiteln! So ſprechend, zog er leicht ſeine Hand aus der Hand des Freiers und eilte in die81 Vorrathskammer ſeines Vaters hinab, wo Gold und Erz in Haufen lag, koſtbare Gewande im Kaſten ruhten, Krüge voll duftigen Oeles und Fäſſer mit balſamiſchem Weine gefüllt an die Mauer gelehnt umherſtanden. Hier fand er die wachſame Schaffnerin Eurykléa, ſchloß hinter ſich die Pforte riegelfeſt, und ſprach zu ihr: Mütterchen! Geſchwind ſchöpf 'und fülle mir zwölf Henkelkrüge mit Wein und ſpünde ſie wohl mit Deckeln, ſchütte mir auch zwanzig Maaße feingemahlenen Mehls in Schläuche, und rüſte Alles zuſammen auf einen Haufen. Denn vor Nacht noch, wenn die Mutter ſchon im Schlafgemach iſt, komme ich, und hohle Alles ab. Erſt nach zwölf Tagen, oder wenn ſie mich ſelbſt vermißt, darfſt du ihr ſagen, daß ich fort bin, den Vater zu ſuchen! Weinend ſchwur ihm dieſes die gute Schaffnerin zu, und that wie er befohlen.

Indeſſen hatte Minerva ſelbſt Telemachs Geſtalt angenommen, Genoſſen für die Reiſe geworben und von einem reichen Bürger, Noëmon, ein Schiff zur Reiſe ge¬ borgt. Dann betäubte ſie den Sinn der Freier, daß ihnen die Becher aus den Händen fielen, und ein tiefer Schlummer, wie Berauſchten zu geſchehen pflegt, ſich ihrer bemächtigte. Endlich nahm ſie Mentors Geſtalt wieder an, geſellte ſich zu Telemach, und ermunterte ihn, die Fahrt nicht länger zu verſchieben. Bald ſtanden beide am Meere, fanden dort die Genoſſen, ließen die Zehrung zu Schiffe bringen und beſtiegen das Fahrzeug. Als die Woge ſchon um den Kiel ſchlug und der Wind die Segel ſchwellte, brachten ſie den Göttern ein Trankopfer dar und fuhren bei günſtiger Luft die ganze Nachtpfeil¬ ſchnell dahin.

Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 682

Mit Sonnenaufgang lag Neſtors Stadt Pylos vor den Augen der Schiffenden. Dort brachte gerade das Volk in neun Rotten geſchaart dem Meeresgotte neun ſchwarze Stiere zum Opfer dar; verbrannte ſie dem Gott und ſchmauste von den Ueberbleibſeln. Da landeten die Männer aus Ithaka, und Telemach, von Athene als Mentor geführt und zu keckem Gruße aufgemuntert, eilte unter die Verſammlung des pyliſchen Volkes. Hier ſaß Neſtor mit ſeinen Söhnen: Freunde rüſteten das Mahl, Diener ſteckten das Fleiſch an Spieße und brieten es. Als nun die Pylier Fremdlinge ans Ufer ſteigen und herannahen ſahen, eilten ſie ihnen ſogleich in dichten Haufen entgegen, boten ihnen die Hände zum Gruß, und nöthigten den Telemach und ſeinen Führer zu ſitzen. Insbeſondere ergriff ſie Piſiſtratus, der Sohn Neſtors, beide bei der Hand, nöthigte ſie freundlich am Gaſtmahl Theil zu nehmen, und wies ihnen am Uferſande des Meeres auf dickwolligen Fließen zwiſchen ſeinem Vater Neſtor und ſeinem Bruder Thraſymedes den Ehrenſitz an. Dann legte er ihnen von dem beſten Fleiſche vor, füllte zwei goldene Becher mit Wein, trank ihnen unter Hand¬ ſchlag zu, und ſprach zu der verſtellten Athene: Bring dem Poſeidon das Trankopfer mit Gebet, o Fremdling, und laß auch deinen jüngeren Freund alſo thun! Bedürfen doch alle Sterbliche der Götter! Athene nahm den Be¬ cher, flehte vom Meeresgotte Segen auf Neſtor, ſeine Söhne und alle Pylier herab, und bat um Vollendung deſſen, weßwegen Telemach zu Meere dahergekommen. Dann ſchüttete ſie von dem Trank zu Boden, und hieß ihren jungen Begleiter ein Gleiches thun.

Darauf wandte man ſich zu Trank und Speiſe,83 und als Hunger und Durſt geſtillt waren, begann der greiſe Neſtor das freundliche Geſpräch, und forſchte nach dem Geſchlecht und der Abſicht der Fremden. Telemach beant¬ wortete ihm Beides, und als er auf ſeinen Vater Odyſſeus reden gekommen war, ſprach er mit Seufzen: Verge¬ bens ſuchten wir bisher ſein Schickſal zu erkunden. Wir wiſſen nicht, kam er auf dem Feſtlande von Feinden um, oder hat ihn die Brandung des Meeres verſchlungen. Darum flehe ich dich, mir ſeinen traurigen Tod zu ver¬ kündigen, magſt du nun Augenzeuge geweſen ſeyn, oder ihn nur von einem Wanderer vernommen haben. Schone mich nicht aus Mitleid, ſondern erzähle mir nur Alles getreulich!

Lieber Jüngling, antwortete Neſtor, weil du jener Zeit der Trübſal gedenkſt, ſo höre Alles, wie es ergangen. Der Alte holte dann nach Greiſenſitte weit aus, meldete von dem Tode der größten Helden noch unter Iliums Mauern ſelbſt, von dem Hader der beiden Atriden, endlich von ſeiner eigenen Rückfahrt; aber von Odyſſeus wußte er ſo wenig als der fragende Telemach ſelbſt. Dagegen erzählte er ihm weitläufig den Tod Aga¬ memnons zu Mycene und die Rache des Oreſtes. End¬ lich rieth er ihm nach Sparta zum Fürſten Menelaus zu gehen, der erſt neulich von fern entlegenen Menſchen, an deren Küſte ihn der Sturm verſchleudert, zurückgekehrt ſey. Da dieſer am längſten unter allen Griechenhelden auf der Fahrt geweſen, ſey es auch am eheſten glaublich, daß er irgendwo etwas von dem Geſchicke des Odyſſeus vernommen.

Athene billigte als Mentor den Vorſchlag und er¬ wiederte hierauf: der Abend iſt unter unſern Geſprächen6*84eingebrochen; erlaube jetzt, o lieber Greis, meinem jun¬ gen Freunde, dich in deinen Pallaſt zu begleiten und dort zu ruhen. Ich ſelbſt will nach unſrem Schiffe ſehen, und meine Genoſſen ermuntern, alles Nöthige anzuordnen. Dann will ich mein Nachtlager auch daſelbſt nehmen. Am andern Morgen fahre ich dann zum Volk der Kau¬ konen, wo ich eine Schuld einzufordern habe. Meinen Freund Telemach aber ſende du ſelbſt Neſtor hatte dieß ſo angeboten mit deinem Sohne auf einem wohlgezimmerten Wagen, mit deinen leichtfüßigſten Roſſen beſpannt, nach Sparta.

So ſprach Minerva, und ſiehe da, pötzlich ver¬ wandelte ſie ſich in einen Adler und flog empor zum Himmel. Alle ſahen ihr ſtaunend nach, Neſtor ergriff den Jüngling Telemachus bei der Hand und ſprach: du darfſt nicht verzagen und nicht troſtlos werden, mein Lieber, da ſchon in deiner Jugend beſchirmende Götter dich begleiten! Denn kein Anderer war dein Ge¬ noſſe als Jupiters Tochter, Athene, die auch deinen tapfern Vater vor allen andern Argivern immer beſonders geehrt hat! Dann richtete der Greis ein frommes Gebet an die Göttin, gelobte ihr ein jähriges Rind am andern Morgen zu opfern, und führte mit Söhnen und Eidamen ſeinen Gaſt zur Nachtruhe nach Pylos in den Königs¬ palaſt. Hier wurde noch einmal ein Trankopfer dar¬ gebracht und ein Umtrunk gethan. Alsdann begab ſich ein jeder zur Ruhe. Telemach erhielt ſeine Lagerſtatt in einem zierlichen Bettgeſtelle unter der hohen Halle des Hauſes und neben ihm legte ſich der tapfere Piſi¬ ſtratus, Neſtors Sohn, zur Ruhe.

Kaum ſchimmerte die Morgenröthe in den Palaſt,85 ſo erhob ſich der rüſtige Greis Neſtor vom Lager, trat vor die Schwelle und ſetzte ſich auf die ſchönen weißen Marmorquadern nieder, die als Ruheſitze an den Flü¬ gelthoren des Palaſtes angebracht waren, und wo ſchon vor Alters ſein Vater Neleus oft geſeſſen. Um ihn verſammelten ſich ſeine ſechs Söhne und der letzte, Piſi¬ ſtratus, brachte auch den Gaſt aus Ithaka mit, der den König Neſtor begrüßte, dann aber die Verſammlung wieder verließ. Nun wurde die Kuh herbeigeholt, die Neſtor als Opfer der Athene gelobt hatte; der Gold¬ ſchmied Laerkes wurde gerufen, der die Hörner des Rinds vergolden mußte, die Mägde im Palaſt rüſteten ein Feſtmahl, ſetzten Stühle, brachten Holz und friſches Waſſer herbei. Vom Schiffe heraus kamen Telemachs Freunde. Die Söhne Neſtors führten die Kuh an den vergoldeten Hörnern herbei, ein anderer trug Waſſer¬ becken und Opfergerſte herbei, der Vierte brachte die Axt, das Opfer zu ſchlachten, ein Fünfter hielt die Schale hin, um das Blut des Thieres aufzufangen. Als das Opferthier den Streich mit der Axt erhalten hatte, ſchlachtete es unter dem Flehen der Gemahlin und der Töchter Neſtors der ſechste Sohn Piſiſtratus. Die beſten Stücke wurden der Göttin verbrannt und dunkler Wein darauf geſchüttet; das übrige ward an Spieße geſteckt und gebraten.

Telemach war bei dem Opfer nicht zugegen gewe¬ ſen, er hatte ſich entfernt, um ſich von der Reiſe im warmen Bade zu erholen, und trat jetzt in den ſchönen Leibrock gekleidet und in einen prächtigen Mantel gehüllt unter die Verſammelten wieder ein. Nun ſetzte man ſich zum Schmaus und Becher und nach dem fröhlichen86 Mahle ſchirrte man die ſchönſten Roſſe vor den Wagen, der den jungen Gaſtfreund nach Sparta bringen ſollte. Die Schaffnerin legte Brod, Wein und andere Speiſen hinein, und Telemach beſtieg den Wagenſitz. Neben ihn ſetzte ſich Piſiſtratus in den Seſſel, faßte die Zügel und ſchwang treibend die Geißel. Die Roſſe flogen dahin; bald lag die Stadt Pylos hinter ihnen und den ganzen Tag ging es im Fluge fort, ohne daß die Thiere zu ruhen begehrten.

Als die Sonne ſich zum Untergang neigte und die Pfade ſchattiger wurden, kamen ſie nach der Stadt Pherä, wo ein edler Griechenheld, Namens Diokles, der Sohn des Orſilochus, hauste. Dieſer nahm die reiſenden Für¬ ſtenſöhne gaſtlich auf und ſie ruheten in ſeiner Burg die Nacht über. Am andern Morgen fuhren ſie weiter durch üppiges Waizenfeld und endlich mit dem Abendſchatten kamen ſie zu der großen, zwiſchen Bergen gelegenen Stadt Lacedämon oder Sparta.

Telemach zu Sparta.

Freunde und Nachbarn umgaben den Fürſten Me¬ nelaus zu Sparta im Pallaſte beim fröhlichen Schmauſe; ein Sänger rührte die Harfe im dichten Gedränge; zwei Gaukler machten luſtige Sprünge im Kreiſe; der Beherr¬ ſcher des Landes feierte das doppelte Verlobungsfeſt zweier Kinder, der lieblichen Hermione, Helena's Tochter, die damals dem muthigen Sohne des Achilles, Neoptolemus,87 als Braut entgegengeſandt werden ſollte, und eines Sohnes von einem Nebenweibe, Megapenthes, den er einer edeln Spartanerin verlobte. Unter dieſem Getümmel hielten am Thore der Königsburg Telemach und Piſiſtratus mit ihrem Wagen, und ein Krieger des Menelaus, der ſie zuerſt erblickte, meldete dem Fürſten die Ankunft der Frem¬ den, und fragte an, ob die Roſſe abgeſpannt, oder die Fremden, wegen der feſtlichen Feier im Hauſe, einer Herberge zur Bewirthung zugewieſen werden ſollten. Ey, Held Eteoneus, antwortete ihm Menelaus ärger¬ lich, du warſt doch ſonſt nie ein Thor; heute aber redeſt du wie ein Kind! Wie viele Gaſtfreundſchaft habe ich ſelbſt bei andern Menſchen genoſſen; und ich ſollte um irgend einer Urſache willen Fremdlinge von meinem Heerd abweiſen? Hurtig die Roſſe abgeſpannt, und die Männer zum Gaſtmahl hereingeführt! Der Krieger verließ eilends mit vielen Dienern den Saal, und die ſchäumenden Roſſe wurden vom Wagenjoch abgelöst, und vor reichlichen Haber an die Krippe im Stalle ge¬ ſtellt, auch der Wagen wurde eingethan. Die Gäſte wurden in den herrlichen Pallaſt geführt, und ihnen der Staub des Weges durch ein erquickendes Bad ab¬ gewaſchen. Dann wurden ſie dem Könige Menelaus zu¬ geführt und nahmen an ſeiner Seite beim köſtlichen Mahle Platz. Staunend betrachtete ſich Telemach die Pracht des Palaſtes und der Bewirthung und flüſterte ſeinem Freunde ins Ohr: Sieh nur, Piſiſtratus, das Erz, das rings in dem gewölbten Saale glänzt, das Gold und Silber, das ſchimmernde Elfenbein! Welch unend¬ licher Schatz! Jupiters Pallaſt auf dem Olymp kann nicht herrlicher ſeyn! Mich erfüllt dieſer Anblick mit88 Staunen! Telemach hatte nicht ſo leiſe geſprochen, daß Menelaus nicht die letzten Worte vernommen hätte. Lieben Söhne, ſagte er daher lächelnd, mit Jupiter wetteifre kein Sterblicher! Sein Palaſt iſt unvergäng¬ lich, und all ſein Beſitz! Aber das iſt wahr; unter den Menſchen wird ſich nicht leicht einer mit mir im Reich¬ thume meſſen können, habe ich ihn doch auch nach vielen Leiden und Irrfahrten eingethan und brauchte acht Jahre, bis ich wohlbehalten in der Heimath wieder ankam. Auf Cypern, in Phönicien, in Aegypten, Aethiopien, Libyen bin ich geweſen. Das iſt ein Land, ihr Freunde! Dort kommen die Lämmer gleich mit Hörnern auf die Welt; die Schafe werfen dreimal des Jahres, und nie fehlt es dem Herrn und dem Hirten an Fleiſch, Milch und Käſe! Während ich mir in dieſen Landen viel koſtbare Habe ſammelte, hat mir zu Mycene ein Anderer den Bruder erſchlagen, ein Meuchelmörder, durch die Liſt ſeines treuloſen Weibes ſo daß ich bei all meinem Beſitze doch nicht recht fröhlich herrſchen kann! Doch, das habt ihr wohl Alles ſchon von euren Vätern ver¬ nommen, wer ſie auch ſeyn mögen! Und gerne wär 'ich mit dem Drittel meines Gutes zufrieden, wenn nur die Männer noch lebten, die vor Troja gefallen ſind; Und doch keinen von ihnen betraure ich ſo innig, als Einen, der mir Schlaf und Speiſe verleidet, wenn ich ſein gedenke! Denn ſo viel erduldete doch kein anderer Grieche, als Odyſſeus! Und nun weiß ich nicht einmal, ob er lebt oder todt iſt! Vielleicht trauern um ihn längſt ſein alter Vater Laertes, und ſeine züchtige Gemahlin Penelope, und ſein junger Sohn Telemachus, der noch ein Säugling war, als er ihn verließ.

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So ſprach Menelaus und, ohne es zu wollen, machte er dem Telemach das Herz ſo weichmüthig, daß ihm die Thränen von den Wimpern herabrollten, und er den Purpurmantel mit beiden Händen feſt vor die Augen drücken mußte. Dem Könige Sparta's blieb dieß nicht verborgen und er erkannte in dem Jüngling alsbald den Sohn des Odyſſeus.

Indeſſen wandelte auch die Fürſtin Helena aus ihrem duftenden Frauengemache hervor, einer Göttin an Schönheit gleich; ſie umringten anmuthige Dienerinnen: die eine ſtellte ihr den Seſſel hin; eine andere breitete den wollenen Teppich unter; die dritte brachte ihr einen ſilbernen Korb, das Gaſtgeſchenk der Königin von Theben in Aegypten; er war mit geſponnenem Garne gefüllt, und die volle Spindel lag darüber. So ſetzte ſich die Königin auf den Seſſel, ſtellte die Füße auf den Sche¬ mel, und begann ihren Gemahl neugierig nach dem Geſchlechte der neuangekommenen Männer zu fragen. Sah ich doch auf der Welt noch keinen Menſchen, der dem hochgeſinnten Odyſſeus ſo ähnlich wäre, wie der Eine der Jünglinge hier! So ſprach ſie leiſe zu ihrem Gemahl, und dieſer antwortete ihr: Auch mir, o Frau, kommt es ſo vor. Füße, Hände, Blicke der Augen, Haupt - und Scheitelhaare, Alles iſt daſſelbe an Beiden! Auch tropften dem Jüngling bittere Zähren von den Wimpern, als ich vorhin unſerer Noth und des Odyſſeus gedachte!

Piſiſtratus, Telemachs Begleiter, vernahm dieſe Reden und ſagte laut: Du redeſt recht, König Mene¬ laus, dieſer iſt des Odyſſeus Sohn, Telemachus; er aber iſt zu beſcheiden, dreiſt mit dir zu ſprechen. Ihn90 hat mit mir Neſtor, mein Vater, geſandt, denn er hofft von dir Nachricht von ſeinem Vater zu erhalten. Ihr Götter, rief nun Menelaus aus, ſo iſt wirklich der Sohn des geliebteſten Mannes mein Gaſt, des Mannes, dem ich ſelbſt ſo gerne alle Liebe erwieſen hätte, wenn er auf der Heimkehr in meinem Hauſe einſpräche!

Als nun der König fortfuhr ſo ſehnlich von ſeinem alten Freunde zu reden, da mußten alle weinen, Helena und Telemach und Menelaus ſelbſt, und auch Neſtors Sohn weinte, denn er mußte an ſeinen Bruder Antilo¬ chus denken, der vor Troja, ſeinen Vater rettend, gefallen war.

Endlich bedachten ſie, daß es fruchtlos und nicht heilſam ſey, dem Gram beim Abendſchmauſe nachzuhän¬ gen, und wollten, nachdem die Diener ihnen mit Waſſer die Hände beſprengt, alle zur Nachtruhe aufbrechen. He¬ lena aber, die als Jupiters Tochter in allerlei Wunder¬ künſten erfahren war, warf noch vorher ſchnell in den letzten Becher Weins, den ſie tranken, ein Mittel, das allen Kummer und die Erinnerung an alle Leiden aus der Seele vertilgte. Wenn ein Menſch von dieſer Mi¬ ſchung trank, ſo benetzte ihm den ganzen Tag über keine Thräne die Wangen, und wären ihm Vater und Mut¬ ter geſtorben, wären ihm Sohn oder Bruder vor ſeinen Augen vom Schwert des Feindes durchbohrt worden. Da wurden ſie alle fröhlich und ſprachen noch lange in die Nacht hinein. Endlich wurde den Gäſten ihr Bett von prächtigen Purpurpolſtern und Teppichdecken unter der Halle bereitet; Menelaus und Helena aber begaben ſich in das Innere des Pallaſtes.

Am andern Morgen fragte der Fürſt ſeine Gaſtfreunde91 über die Abſicht ihrer Reiſe weiter aus, und vernahm, wie es zu Ithaka, im Hauſe ſeines Freundes Odyſſeus, ſtehe. Als er hörte, wie ſich die Freier dort gebärdeten, rief er entrüſtet aus: Ha, die Elenden, die im Lager des gewaltigen Mannes zu ruhen gedenken! Wie der Löwe zurückkommt, dem eine Hindin ihre Jungen ins Neſt gelegt hat, während er im grünen Thale weidet, wird Odyſſeus kommen und ihnen ein Ende voll Ent¬ ſetzen bereiten! denn wiſſe, was mir in Aegypten der Meeresgott Proteus von ihm geweiſſagt hat, als er, in mancherlei Geſtalten verwandelt, endlich von mir ge¬ bunden und gezwungen ward, die Schickſale der heim¬ kehrenden Griechenhelden mir kund zu thun. Den Odyſſeus, ſprach der Gott, ſah ich im Geiſt auf einer einſamen Inſel Thränen der Sehnſucht vergießen. Dort hält ihn die Nymphe Kalypſo mit Gewalt zurück, und ihm gebricht's an Schiffen und Ruderern um in die Heimath zurückzukehren. Nun weißeſt du Alles, lie¬ ber Jüngling, was ich dir über deinen Vater zu berichten vermag. Bleib nun noch ein eilf oder zwölf Tage bei uns, dann will ich dich mit köſtlichen Geſchenken ent¬ laſſen.

Aber Telemach dankte und ließ ſich nicht zurück¬ halten. Nun ſchenkte ihm Menelaus einen ſilbernen Miſchkrug mit goldenem Rande von unvergleichlich ſchö¬ ner Arbeit, ein Werk des kunſtreichen Gottes Hephäſtus ſelbſt, und ein köſtliches Frühmahl von Ziegen und Scha¬ fen wurde dem Abſchied nehmenden Gaſtfreunde bereitet.

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Verſchwörung der Freier.

Während dieß in Pylos und in Sparta vorging, freuten ſich auf der Inſel Ithaka die Freier von Tag zu Tag im Palaſte des Odyſſeus, wie zuvor, und er¬ götzten ſich mit Scheibenſchießen, Speerwürfen und an¬ deren Spielen. Einſt, als nur Antinous und Eurymachus, die vornehmſten und ſchmuckſten unter ihnen, ſeitwärts vom Spiele ſaßen, trat zu dieſen Noëmon, der Sohn des Phronios, und ſprach zu ihnen: Können wir etwa vermuthen, ihr Freier, wann Telemachus von Pylos zurückkehrt? das Schiff, auf dem er fährt, habe ich ihm geliehen, und jetzt brauche ich es ſelbſt, um damit nach Elis zu ſegeln, wo ich mir aus meinem Stutengarten gern ein Roß holte, um es zu zähmen und zuzurichten.

Die beiden anderen ſtaunten. Sie hatten gar nichts von der Abfahrt des Jünglings gewußt, ſondern gemeint, er habe ſich auf ſeine Beſitzungen im Lande, auf ſeine Ziegenweiden, und zu ſeinen Schweineheerden begeben. Sie meinten er habe Noëmons Schiff mit Gewalt ge¬ nommen und fuhren zornig auf. Dieſer aber beſänftigte ſie und ſprach:

Ich ſelbſt habe es ihm willig gegeben. Wer hätte auch einem bekümmerten Mann es verſagen können? das wäre gar zu hart geweſen! Zudem folgten ihm die edel¬ ſten Jünglinge, und als Führer trat Mentor mit ihm ins Schiff oder war es vielleicht ein Gott, der deſſen Geſtalt angenommen; denn ich meine den Helden noch am geſtrigen Morgen hier geſehen zu haben! So ſprach93 Noëmon, verließ die Freier und ging zurück in ſeines Vaters Haus. Dieſe aber wurden beſtürzt und unmuthig bei der unerwarteten Nachricht. Sie ſtanden von ihren Sitzen auf und traten mitten unter die Andern, die eben, vom Kampfſpiele ruhend, im Kreiſe gelagert ſaßen. Zürnend vor Aerger ſtellte ſich Antinous unter ſie und ſprach mit funkelnden Augen: Dieſer Telemach hat ein großes Werk unternommen, trotzig iſt er auf die Fahrt ge¬ gangen, an die wir nimmermehr glauben wollten! Möge ihn Jupiter vertilgen, ehe er uns Schaden zufügt! Drum, wenn ihr mir einen Schnellſegler und zwanzig Ruderer ſchaffen wollt, ihr Freunde, ſo laure ich ihm auf der Meerſtraße, die Ithaka von Samos trennt, auf und ſeine Entdeckungsreiſe ſoll mit Schrecken endigen! Alle riefen dem Sprecher Beifall zu, und verſprachen ihm Alles zu verſchaffen, was er bedürfte. Dann brachen die Freier auf und zogen ſich von Spiel und Rath in den Palaſt zurück.

Aber ihre Berathſchlagung war nicht unbelauſcht geblieben. Medon, der Herold, der im Herzen den ſchänd¬ lichen Freiern längſt abhold war, obgleich er in ihren Dienſten ſtand, der auſſerhalb des Hofes, doch nahe genug geſtanden, hatte jedes Wörtchen gehört, das An¬ tinous ſprach. Er eilte nach den Gemächern Penelope's und erzählte ſeiner Herrin Alles, was er vernommen. Herz und Knie erbebten der Fürſtin, als ſie die böſe Kunde gehört, und lange blieb ſie ſprachlos; der Athem ſtockte ihr, und ihre Augen waren mit Thränen gefüllt. Spät erſt begann ſie: Herold! Warum reiſet aber auch mein Sohn? Iſt ihm nicht genug, daß ſein Vater untergegangen iſt? Soll der Name unſeres Hauſes ganz94 von der Erde vertilgt werden? Und da Medon ihr keinen Aufſchluß zu geben vermochte, ſank ſie weinend an der Schwelle ihres Gemaches nieder und rings um ſchluchzten die Mägde mit ihr. Warum iſt er auch auf die Fahrt gegangen, ohne es mir zu ſagen! Gewiß hätte ich ihn auf beſſere Gedanken gebracht! Rufe mir doch eine den alten Knecht des Hauſes, Dolios, daß er gehe und dem greiſen Laertes dieß Alles melde! Vielleicht daß der alte Mann einen Rath in ſeinem erfahrenen Herzen findet! Da that Euryklea, die alte Schaffnerin, ihren Mund auf und ſprach: Und wenn du mich tödteſt, Herrin! ich will dirs nicht verhehlen. Ich ſelbſt habe um Alles gewußt; ich reichte ihm, was er begehrte; aber ich mußte ihm einen Eidſchwur thun, vor dem zwölften Tage, oder ehe du ihn ſelbſt vermißteſt, nichts von ſeiner Reiſe zu melden. Jetzt aber rathe ich dir, dich gebadet und geſchmückt auf den Söller mit deinen Dienerinnen zu begeben, und Athene, Jupiters Tochter, um ihren göttlichen Schutz für deinen Sohn anzuflehen.

Penelope gehorchte dem Rathe der Greiſin, und legte ſich nach dem feierlichen Gebet ungegeſſen und kummervoll ſchlafen. Da ſandte ihr Athene im Traum das Gebilde ihrer Schweſter Iphthime, die Gemahlin des Helden Eumelos, die ihr Troſt einſprach und die Wiederkehr ihres Sohnes verkündigte. Sey getroſt, ſprach ſie, deinen Sohn begleitet eine Führerin, um die ihn andere Männer beneiden dürften. Pallas Athene ſelbſt iſt an ſeiner Seite; ſie wird ihn gegen die Freier ſchirmen; ſie hat auch mich dir zugeſandt. So redete die Geſtalt und verſchwand an der verſchloſſenen Thüre. Penelope erwachte aus dem Schlummer voll Freudigkeit95 und Muth. Sie baute auf den Wahrheit verkündenden Morgentraum.

Inzwiſchen hatten die Freier ungehindert ihr Schiff gerüſtet und Antinous hatte es mit zwanzig tapferen Ru¬ derern beſtiegen. Mitten in der Meerſtraße, welche die Inſeln Ithaka und Same trennt, lag ein Felſeneiland voll ſchroffer Klippen. Auf dieſes ſteuerten ſie los und legten ſich dort in einen lauernden Hinterhalt.

Odyſſeus ſcheidet von Kalypſo, und ſcheitert im Sturm.

Jupiters Bote, Merkur, ſchwang ſich aus dem Aether in's Meer, eilte wie eine Möwe durch die Wogen, und kam, wie in der Götterverſammlung beſchloſſen worden war, auf Ogygia, der Inſel Kalypſo's, an. Auch fand er die ſchöngelockte Nymphe wirklich zu Hauſe. Auf dem Heerd brannte eine lodernde Flamme, und der Dunſt des geſpaltenen, brennenden Zedernholzes wallte würzig über das Eiland hin. Kalypſo aber ſang mit klangreicher Stimme in der Kammer und wirkte dazu mit goldener Spule ein herrliches Gewebe. Die Grotte, in welcher ihre Gemächer waren, beſchattete ein grünender Hayn mit Erlen, Pappeln und Zypreſſen, in welchen bunte Vögel niſteten, Habichte, Eulen und Krähen. Auch ein Weinſtock breitete ſich über das Felſengewölbe aus, voll reifender Trauben, die aus dichtem Laube hervorblickten. Vier Quellen entſprangen in der Nähe und ſchlängelten ſich nachbarlich dahin und dorthin; von ihnen bewäſſert96 grünten ſchwellende Wieſen mit Veilchen, Eppich und andern Kräutern und Blumen durchſäet.

Der Götterbote bewunderte die liebliche Lage der Nymphenwohnung, dann wandelte er in die geräumige Kluft. Kalypſo erblickte den Nahenden und erkannte ihn auch alsbald: denn ſo ferne ſie auch von einander woh¬ nen mögen, ſo ſind ſich doch die ewigen Götter von Geſtalt nicht unbekannt. Den Odyſſeus fand jedoch Mer¬ kur nicht zu Hauſe. Er ſaß, wie er gewohnt war, jammernd am Geſtade, und ſchaute mit Thränen in den Augen auf das öde Meer ſehnſüchtig hinaus.

Als Kalypſo die Botſchaft des Gottes vernahm, den ſie voll Herzlichkeit empfangen hatte, ſtutzte ſie und ſprach endlich: O ihr grauſamen, eiferſüchtigen Götter! duldet ihrs denn gar nicht, daß eine Unſterbliche ſich einen Sterblichen zum lieben Gemahl erkieſe? Verarget ihr mir den Umgang mit dem Manne, den ich vom Tode gerettet habe, als er, an den geborſtenen Kiel ſeines Schiffes ſich ſchmiegend, an meine Küſte geſchleudert ward? Alle ſeine tapfern Freunde waren in den Ab¬ grund verſunken; ſein Schiff hatte der Blitz getroffen; einſam ſchwamm er auf den Trümmern einher. Ich empfing den armen Schiffbrüchigen freundlich, ſtärkte ihn mit Nahrung, ja ich verhieß ihm zuletzt, ihm Un¬ ſterblichkeit und ewige Jugend zu verleihen. Doch weil gegen Jupiters Rath keine Ausflucht etwas vermag ſo mag er denn wieder hinaus fahren auf das unend¬ liche Meer. Nur muthet mir nicht zu, daß ich ihn ſelbſt fortſchicke; fehlt es doch meinen Schiffen an Beman¬ nung und an Rudergeräthe! Doch ſoll es ihm an97 meinem guten Rathe nicht fehlen, daß er ganz unverſehrt das Ufer ſeines Heimathlandes erreiche.

Hermes (Merkur) war mit dieſer Antwort wohl zufrieden und enteilte wieder zum Olymp. Kalypſo ging ſelbſt an den Meeresſtrand, wo der trauernde Odyſſeus ſaß, trat nahe zu ihm hinan und ſprach: Armer Freund, dein Leben darf dir nicht fürder in Schwermuth dahin¬ ſchwinden. Ich entlaſſe dich. Auf, mächtige Balken gehauen, mit Erz zum Floß gefügt, und mit hohen Brettern umſäumt! Allerlei Labſal, Waſſer, Wein und Speiſe lege ich dir ſelbſt hinein, verſehe dich mit Ge¬ wanden, ſende günſtigen Wind vom Lande; mögen dich die Götter glücklich in die Heimath geleiten!

Mißtrauiſch blickte Odyſſeus die Göttin an und ſprach: Gewiß, du ſinneſt auf etwas ganz anderes, ſchöne Nymphe! Nimmermehr beſteige ich einen Floß, wenn du mir nicht den großen Göttereid ſchwöreſt, daß du mir nicht irgend ein Uebel zum Schaden ausgedacht haſt! Aber Kalypſo lächelte, und, ſanft mit der Hand ihn ſtreichelnd, antwortete ſie: Aengſtige dich nicht mit ſolchen eiteln Gedanken! Die Erde, der Himmel und der Styx ſeyen meine Zeugen, daß ich nichts Böſes mit dir vorhabe! Ich rathe dir das, was ich mir ſelbſt in der Noth ausdenken würde! Mit dieſen Worten ging ſie voran, Odyſſeus folgte, und in der Grotte nahm ſie noch den zärtlichſten Abſchied von ihm.

Bald war der Floß gezimmert, und am fünften Tage ſchwoll das Segel des Odyſſeus im Winde. Er ſelbſt ſaß am Ruder und ſteuerte kunſterfahren durch die Fluth. Kein Schlaf kam ihm über die Augen, beſtändig blickte er nach den Himmelsgeſtirnen und richtete ſich nachSchwab, das klaſſ. Alterthum III. 798den Zeichen, die ihm Kalypſo beim Scheiden angegeben hatte. So fuhr er ſiebzehn Tage durch das Meer. Am achtzehnten erſchienen ihm endlich die dunklen Gebirge des phäakiſchen Landes, das ſich ihm entgegenſtreckte, und trübe dalag, wie ein Schild im dunkeln Meere. Jetzt aber ward ihn Poſeidon gewahr, der eben von den Aethiopen heimkehrte und über die Berge der Solymer hinſchritt. Er hatte der letzten Rathsverſammlung der Götter nicht beigewohnt, und merkte, daß dieſe ſeine Entfernung benutzt hatten, den Odyſſeus aus der Schlinge zu ziehen. Nun, ſprach er bei ſich ſelbſt, er ſoll mir doch noch Jammers genug erfahren! Und jetzt ver¬ ſammelte er die Wolken, regte das Meer mit dem Drei¬ zack auf, und rief die Orkane zum Kampfe mit einander herbei, ſo daß Meer und Erde ganz in Dunkel gehüllt wurden. Alle Winde pfiffen um den Floß des Odyſſeus her, daß dieſem Herz und Kniee zitterten, und er zu jam¬ mern anfing, daß er den Tod nicht von den Speeren der Trojaner gefunden. Als er noch ſo ſeufzte, rauſchte eine Welle von oben herab, und der Floß gerieth in einen Wirbel: er ſelbſt taumelte weit von dem erſchütter¬ ten Fahrzeug, das Ruder fuhr ihm aus der Hand, der Floß war in Stücke gegangen; Maſtbaum und Segel¬ ſtangen trieben da und dort über das tobende Meer hin. Odyſſeus aber war in die Brandung untergetaucht, und das naſſe Gewand zog ihn immer tiefer hinab. Endlich kam er wieder empor, ſpie das Salzwaſſer, das er ge¬ ſchluckt hatte, aus, und ſchwamm den Trümmern des Floſſes nach, deren größtes Stück er endlich auch glücklich erreichte und ſich mitten darauf niederließ. Wie er nun auf dem zerriſſenen Floſſe dahintrieb, gleich einer Diſtel99 im Winde, da erblickte ihn die Meeresgöttin Leukothea, und es erbarmte ſie des armen Dulders. Wie ein Waſſerhuhn flog ſie aus dem Strudel empor, ſetzte ſich auf das Gebälk und ſprach zu ihm: Laß dir rathen, Odyſſeus! Zieh dein Gewand aus, überlaß den Floß dem Sturm; ſchnell, umgürte dich hier mit meinem Schleier unter der Bruſt, und dann verachte ſchwim¬ mend alle Schrecken des Meers! Odyſſeus nahm den Schleier; die Göttin verſchwand, und, obgleich er der Erſcheinung mißtraute, ſo gehorchte er dem Rathe doch. Während Neptun ihm die wildeſte Woge ſandte, daß das Bruchſtück des Floſſes ganz auseinanderging, ſetzte er ſich, wie ein Reiter, auf einen einzelnen Balken, zog das lange beſchwerende Gewand, das Kalypſo ihm geſchenkt hatte, aus, und ſprang mit dem Schleier umgürtet in die Fluth.

Poſeidon ſchüttelte ernſthaft das Haupt, als er den entſchloſſenen Mann den Sprung wagen ſah und ſprach: So irre denn durch die Meeresfluth, von Jammer um¬ ringt! Gewiß, du ſollſt das Elend noch ſatt kriegen! Mit dieſen Worten verließ der Gott die See und zog ſich nach ſeinem Palaſte zurück. Odyſſeus wogte nun noch zwei Tage und Nächte auf der See umher; da erblickte er endlich ein waldiges Ufer, wo die Brandung an Klippen donnerte, und eine hochſchwellende Woge trug ihn, ehe er einen Entſchluß faſſen konnte, von ſelbſt dem Geſtade entgegen. Mit beiden Händen umfaßte er eine Klippe; aber, ſiehe da eine Woge kam und ſchleu¬ derte ihn wieder ins Meer zurück. Er ſuchte ſein Heil nun wieder im Schwimmen und fand endlich ein beque¬ mes, ſeichtes Ufer und eine ſichere Bucht, wo ein kleiner7 *100Fluß ſich ins Meer ergoß. Hier flehte er zum Gotte dieſes Stromes, der ihn hörte, das Waſſer beſänftigte und ihm möglich machte, ſchwimmend das Land zu erreichen. Ohne Stimme und Athem ſank er auf den Boden, aus Mund und Naſe ſtrömte ihm das Meerwaſſer, und, erſtarrt von der fürchterlichen Anſtrengung, ſank er in eine Ohnmacht. Als er wieder aufzuathmen anfing und das Bewußtſeyn ihm zurückkehrte, löste er ſich den Schleier der Göttin Leukothea dankbar ab und warf ihn in die Wellen zurück, daß ihn die Geberin wieder erfaſſen konnte; dann warf er ſich unter die Binſen nieder und küßte die wiedergewonnene Erde. Den nackten Mann fror und die Nachtluft wehte ſchneidend von Morgen her. Er beſchloß den Hügel hinanzugehen, und ſich in die nahe Waldung zu bergen. Hier fand er ein Lager unter zwei verſchlungenen dichten Olivenbäumen, einem wilden und einem zahmen, die ſo dick belaubt waren, daß kein Wind, kein Regen und kein Sonnenſtrahl ſie je durch¬ drang. Dort häufte ſich Odyſſeus von der Menge ge¬ fallener Baumblätter ein Lager, legte ſich mitten hinein, und deckte ſich wieder mit Blättern zu. Ein erquickender Schlaf ergoß ſich bald über ſeine Augenlieder und ließ ihn alles überſtandene und bevorſtehende Leid vergeſſen.

Nauſikaa.

Während Odyſſeus von Anſtrengung und Schlaf über¬ wältigt im Walde lag, war ſeine Beſchützerin Athene lieb¬ reich für ihn bedacht. Sie eilte in das Gebiet der Phäa¬ ken, auf dem er angekommen war, welche die Inſel Scheria101 bewohnten und hier eine wohlgebaute Stadt gegründet hatten. Dort herrſchte ein weiſer König, mit Namen Alcinous, und in ſeinen Palaſt begab ſich die Göttin. Sie ſuchte hier das Schlafgemach Nauſikaa's auf, der jungfräulichen Tochter des Königes, die an Schönheit und Anmuth einer Unſterblichen ähnlich war. Dieſe ſchlief, von zwei Mägden, die ihre Bettſtellen an der Pforte hatten, bewacht, in einer hohen, lichten Kammer. Athene nahte ſich dem Lager der Jungfrau leiſe, wie ein Lüftchen, trat ihr zu Häupten, und in eine Geſpielin verwandelt, ſprach ſie zu ihr im Traume: Ei du träges Mädchen, wie wird dich doch die Mutter ſchelten! Haſt du auch gar nicht für deine ſchönen Gewande geſorgt, die ungewaſchen im Schranke liegen! Wenn nun einmal deine Vermählung herankommt und du etwas Schönes für dich ſelbſt brauchſt, und für die Jünglinge, die deine Brautführer ſeyn werden! Wie ſoll es dann werden? Schmucke Kleider empfehlen jedermann, und auch deine lieben Eltern haben an nichts eine größere Freude! Auf, erhebe dich mit der Morgenröthe, ſie zu waſchen: ich will dich begleiten und dir helfen, damit du geſchwin¬ der fertig wirſt. Du bleibſt doch nicht lange mehr unver¬ mählt; werben doch ſchon lange die Edelſten unter dem Volke um die ſchöne Königstochter!

Der Traum verließ das Mädchen; eilig erhob ſie ſich vom Lager, und ſuchte die Eltern in ihrer Kammer auf. Dieſe waren bereits aufgeſtanden; die Mutter ſaß am Heerde mit Dienerinnen und ſpann purpurne Seide, der König aber begegnete ihr unter der Pforte; er hatte ſchon einen Rath der angeſehenſten Phäaken beſtellt, und wollte ſich eben in denſelben verfügen. Da faßte ihn die ihm102 entgegenkommende Tochter bei der Hand und ſprach ſchmei¬ chelnd: Väterchen, willſt du mir nicht einen Laſtwagen anſpannen laſſen, damit ich meine koſtbaren Gewande zur Wäſche nach dem Fluſſe führen kann. Sie liegen mir ſo ſchmutzig umher. Auch dir ziemt es, in reinen Kleidern im Rathe dazuſitzen! So wollen auch deine fünf Söhne, von welchen drei noch unvermählt ſind, be¬ ſtändig in friſchgewaſchener Kleidung umhergehen, und fein ſchmuck beim Reigentanz erſcheinen. Und am Ende liegt doch Alles auf mir!

So ſprach die Jungfrau; daß ſie aber an die eigene Vermählung dabei denke, das mochte die Blöde ſich und dem Vater nicht geſtehen. Dieſer aber merkte es doch, und ſprach: Geh, mein Kind, ein geräumiger Korb¬ wagen und Maulthiere ſollen dir nicht verſagt ſeyn; be¬ fiehl den Knechten nur anzuſpannen! Nun trug die Jungfrau die feinen Gewande aus der Kammer und belud den Wagen; die Mutter fügte Wein in einem Schlauche, Brod und Gemüſe hinzu, und als ſich Nau¬ ſikaa in den Wagenſitz geſchwungen, gab ſie ihr noch die Oelflaſche mit, ſich zugleich mit den dienenden Jung¬ frauen zu baden und zu ſalben. Die Jungfrau war eine geſchickte Wagenlenkerin, ſie ergriff ſelbſt Zaum und Geißel und lenkte die Thiere mit den Dienerinnen dem anmuthi¬ gen Ufer des Fluſſes zu. Hier lösten ſie das Geſpann, ließen die Maulthiere im üppigen Graſe weiden und trugen die Gewande am Waſchplatz in die geräumigen Behälter, die zu dieſem Behufe gegraben waren. Dann wurde von den emſigen Mädchen die Wäſche mit den Füßen geſtampft, gewaſchen und gewalkt, und endlich wurden alle Kleider der Ordnung nach am Meeresufer103 ausgebreitet, wo reingeſpülte Kieſel eine Steinbank bil¬ deten. Alsdann erfriſchten ſich die Mädchen ſelbſt im Bade und nachdem ſie ſich mit duftigem Oele geſalbt, verzehrten ſie das mitgebrachte Mahl fröhlich am grünen Ufer und harrten, bis ihre Wäſche an den Sonnen¬ ſtrahlen getrocknet wäre.

Nach dem Frühſtücke erluſtigten ſich die Jungfrauen mit Tanz und Ballſpiel auf der Wieſe, nachdem ſie ihre Schleier und was von Kleidern ſie hindern konnte, ab¬ gelegt. Nauſikaa ſelbſt ſtimmte zuerſt den Geſang dazu an, an hohem Haupt und edlem Angeſichte vor allen den reizenden Mädchen hervorragend. Die Jungfrauen thaten ihr alle nach, und ihre Fröhlichkeit war groß. Wie nun die Königstochter einmal den Ball nach einer Geſpielin warf, da lenkte ihn die unſichtbar gegenwärtige Göttin Athene ſo, daß er in die Tiefe des Flußſtrudels fallen mußte, und das Mädchen verfehlte. Darüber kreiſchten die Spielenden alle auf, und Odyſſeus, deſſen Lager in der Nähe unter den Olivenbäumen war, er¬ wachte. Horchend richtete er ſich auf und ſprach zu ſich ſelber: In welcher Menſchen Gebiet bin ich ge¬ kommen? Bin ich unter wilde Räuberhorden gerathen? Doch deucht mir, ich hörte luſtige Mädchenſtimmen, wie von Berg - oder Quellennymphen! Da bin ich doch wohl in der Nähe von geſitteten Menſchenkindern!

So ſprach er zu ſich, und indem er mit der ner¬ vichten Rechten aus dem verwachſenen Gehölz einen dichtbelaubten Zweig abbrach und ſeine Blöße damit be¬ deckte, tauchte er aus dem Dickicht hervor, und, von der Noth gedrängt, erſchien er wie ein wilder Berglöwe unter den zarten Jungfrauen. Er war von dem Meeres¬104 ſchlamm noch ganz entſtellt: die Mädchen meinten ein Seeungeheuer zu ſehen und flüchteten ſich, die einen da, die andern dorthin, auf die hohen waldigen Anhöhen des Geſtades. Nur die Tochter des Alcinous blieb ſtehen; Athene hatte ihr Muth ins Herz eingeflößt, und ſie ſtand gegen den Fremdling gekehrt. Odyſſeus beſann ſich, ob er die Knie der Jungfrau umfaſſen, oder aus ehrerbie¬ tiger Ferne ſie anflehen ſollte, ihm ein Kleid zu ſchenken und den Weg nach Menſchenwohnungen zu zeigen. Er hielt das Letztere für ziemlicher und rief ihr daher von Weitem zu: Seyeſt du eine Göttin oder eine Jung¬ frau, ſchutzflehend nahe ich mich dir! Biſt du eine Göttin, ſo achte ich dich Dianen gleich an Geſtalt und Schönheit; biſt du eine Sterbliche, ſo preiſe ich deine Eltern und deine Brüder ſelig! Das Herz muß ihnen im Leibe beben über deine Schönheit, wenn ſie ſehen, wie ſolch ein herrlich Geſchöpf zum Reigentanz einher¬ ſchreitet. Und wie hochbeglückt iſt der, der dich als Braut nach Hauſe führt! Mich aber ſieh du gnädig an, denn ich bin in unausſprechlichen Jammer geſtürzt. Geſtern ſind es zwanzig Tage, daß ich von der Inſel Ogygia abgefahren bin; vom Sturm ergriffen wurde ich auf dem Meer umhergeworfen, und endlich als Schiff¬ brüchiger an dieſe Küſte geſchleudert, die ich nicht kenne, wo mich Niemand kennt! Erbarme dich mein; gieb mir eine Bedeckung für meinen Leib, zeige mir die Stadt, wo du wohneſt. Mögen dir die Götter dafür geben, was dein Herz begehrt, einen Gatten, ein Haus, und Frieden und Eintracht dazu!

Nauſikaa erwiederte auf dieſe Anrede: Fremdling, du ſcheinſt mir kein ſchlechter und kein thörichter Mann105 zu ſeyn. Da du dich an mich und mein Land gewen¬ det haſt, ſoll es dir weder an Kleidung noch an ſonſt etwas mangeln, was der Schutzflehende erwarten kann. Ich will dir auch die Stadt zeigen, und den Namen unſeres Volkes ſagen. Phäaken ſind es, die dieſe Felder und dieſes Reich bewohnen; ich ſelbſt bin die Tochter des hohen Königes Alcinous. So ſprach ſie und rief die dienenden Mädchen, indem ſie ihnen Muth einflößte und wegen des Fremdlings ſie zu beruhigen ſuchte. Die Mägde aber ſtanden und ermahnten eine die andere, hin¬ zuzutreten. Endlich gehorchten ſie der Fürſtin, und nach¬ dem ſich Odyſſeus an einem verſteckten Orte des Ufers gebadet, legten ſie ihm Mantel und Leibrock, die ſie aus den Gewanden hervorſuchten, zur Bedeckung in das Ge¬ büſch. Als der Held ſich den Schmutz vom Leibe ge¬ waſchen und ſich geſalbt hatte, zog er die Kleider an, die ihm die Fürſtentochter geſchenkt hatte und die ihm wohl zu Leibe ſaßen. Dazu machte ſeine Beſchützerin Athene, daß er ſchöner und völliger von Geſtalt anzu¬ ſchauen war; von dem Scheitel goß ſie ihm ſchön ge¬ ringeltes Haar, und Haupt und Schultern glänzten von Anmuth. So in Schönheit ſtrahlend trat er aus dem Ufergebüſche und ſetzte ſich ſeitwärts von den Jungfrauen.

Nauſikaa betrachtete die herrliche Geſtalt mit Stau¬ nen und begann zu ihren Begleiterinnen: Dieſen Mann verfolgen gewiß nicht alle Götter. Einer von ihnen muß mit ihm ſeyn und hat ihn jetzt in das Land der Phäa¬ ken gebracht. Wie unanſehnlich erſchien er anfangs, als wir ihn zuerſt erblickten, und jetzt wahrhaftig gleicht er den Bewohnern des Himmels ſelbſt! Wohnte doch ein ſolcher Mann unter unſerem Volke und wäre ein ſolcher106 mir zum Gemahl vom Geſchick erkoren! Aber auf, ihr Mädchen, ſtärket mir den Fremdling auch mit Trank und Speiſe! Dieß geſchah, Odyſſeus und trank und labte ſich an der lang entbehrten Nahrung.

Hierauf wurde der Wagen mit den gewaſchenen und getrockneten Gewanden wieder bedeckt, die Maul¬ thiere vorgeſpannt und Nauſikaa nahm auf dem Wa¬ genſitz ihren Platz ein. Den Fremdling aber hieß ſie zu Fuße mit den Dienerinnen hinter dem Wagen folgen. Dieß thue, ſprach ſie freundlich zu ihm, ſo lang es durch Wieſen und Aecker geht; bald aber wirſt du die Stadt gewahr werden; eine hohe Mauer umſchließt ſie, ihre beiden Seiten denn ſie liegt ganz am Meere ſchließt ein trefflicher Hafen mit ſchmalem Zugange ein. Dort iſt auch ihr Marktplatz und ein herrlicher Tempel des Meeresgottes Poſeidon, wo Seile, Segeltücher, Ruder und andere Schiffgeräthe bereitet und verkauft werden. Denn mit Köcher und Bogen machen ſich unſere Phäa¬ ken nicht viel zu ſchaffen, aber tüchtige Seeleute, das ſind ſie! Wenn wir nun in der Nähe der Stadt ſind, dann, guter Fremdling, vermeide ich gerne das loſe Ge¬ ſchwätz der Leute, denn dieſes Volk iſt übermüthig; da könnte wohl ein Bauer, der uns begegnet, ſagen: Was folgt doch der Nauſikaa für ein ſchöner, großer Fremd¬ ling? Wo fand ſie doch den auf? Er wird ſicher¬ lich ihr Gemahl! Das wäre mir ein herber Schimpf. Gefiele es mir doch an einer Freundin nicht, wenn ſie ſich, ohne Wiſſen der Eltern, zu einem Fremden geſellte, vor der öffentlichen Vermählung! Drum, wenn du an ein Pappelgehölz kommſt, das der Athene heilig iſt, und aus dem ein Quell entſpringt, der ſich durch die Wieſe107 ſchlängelt, kaum einen Heroldsruf von der Stadt entfernt, dort verweile ein wenig; nur ſo lange, bis du anneh¬ men kannſt, daß wir in der Stadt angekommen ſind; dann folg 'uns nach, du wirſt den herrlichen Palaſt meines Vaters leicht aus den andern Häuſern heraus¬ kennen. Dort umfaſſe die Kniee meiner Mutter; denn wenn ſie dir wohl will, ſo darfſt du ſicher ſeyn, deiner Väter Heimath wieder zu ſchauen!

So ſprach Nauſikaa und fuhr auf dem Wagen da¬ hin, doch langſam, daß die Mägde und Odyſſeus folgen konnten. Am Hayn Athene's blieb dann der Held zu¬ rück und betete ſtehend zu Minerva, ſeiner Beſchirmerin. Athene hörte ihn auch, nur fürchtete ſie die Nähe ihres Bruders Poſeidon, und erſchien ihm deßwegen nicht öffentlich in dem fremden Lande.

Odyſſeus bei den Phäaken.

Die Jungfrau war ſchon in dem Palaſt ihres Va¬ ters angekommen, als Odyſſeus den heiligen Hayn ver¬ ließ, und gleichfalls den Weg nach der Stadt einſchlug. Athene entzog ihm auch jetzt ihre Hülfe nicht. Daß kein muthwilliger Phäake den wehrloſen Wanderer krän¬ ken konnte, verbreitete ſie, für ihn ſelbſt unbemerkt, rings um ihn her Nacht, und ganz nahe vor den Thoren konnte ſie es doch nicht laſſen, ihm in ſichtbarer Geſtalt als ein junges Phäakenmädchen, den Waſſerkrug an der Hand, zu begegnen. Töchterchen, redete der Held ſie an, willſt du nur nicht den Weg zur Wohnung des108 Königes Alcinous zeigen? Ich bin ein verirrter Fremd¬ ling, komme aus fernen Landen und kenne hier Nie¬ mand! Recht gerne, guter Vater, ſagte die Göttin in Mädchengeſtalt, mein ehrlicher Vater wohnt ganz nahe dabei! Aber geh nur ganz ſtille mit mir: die Leute ſind hier den Fremden nicht ſonderlich gewogen; das kecke Leben zur See macht ſie trotzig! Unter die¬ ſen Worten ging Athene ſchnell voran, und Odyſſeus folgte, aber kein Phäake wurde ihn gewahr. Gemäch¬ lich konnte er den Hafen, die Schiffe, die gethürmten Mauern der Stadt anſtaunen; endlich ſprach Minerva: Dieß iſt, fremder Vater, das Haus des Alcinous, wandle nur getroſt hinein; dem muthigen Manne ge¬ lingt Alles! Doch eins laß mich dir ſagen: ſuche vor allen Dingen die Königin auf. Sie heißt Arete, und iſt die Nichte ihres eigenen Gemahls. Der vorige Kö¬ nig nämlich, Nauſithous, ein Sohn Poſeidons und der Periböa, der Tochter des Gigantenbeherrſchers Eury¬ medon, hinterließ zwei Söhne, unſern König, Alcinous, und einen andern, Rhexenor. Der letztere lebte nicht lange und hinterließ eine einzige Tochter; und dieß iſt unſere Königin Arete. Alcinous ehrt ſie, wie nur irgend ein Weib auf der Erde geehrt werden kann, und ebenſo verehrt ſie auch alles Volk, denn ſie iſt voll Verſtandes und Geiſtes, und weiß ſelbſt Männerzwiſte mit ihrer Weisheit zu entſcheiden. Wenn du ſie gewinnen kannſt, ſo ſey getroſt.

So ſprach die verſtellte Göttin und enteilte. Odyſſeus ſtand ſtille in Betrachtung des herrlichen Palaſtes ver¬ ſunken. Das hochragende Haus ſtrahlte wie die Sonne. Tief hinein von der Schwelle erſtreckten ſich nach beiden109 Seiten Wände von gediegenem Erz, mit Simſen aus bläulichem Stahl. Die innere Wohnung verſchloß eine goldene Pforte; die Pfoſten, auf eherner Grundlage ruhend, waren von Silber mit ſilbernem Kranze, der Ring an der Pforte war von Gold; goldene und ſilberne Hunde, ein Werk Vulkans, ſtanden rechts und links, wie Wächter der Königswohnung, aufgepflanzt. Als er in den Saal gekommen war, ſah er ringsum Seſſel mit fein¬ gewirkten Teppichen bedeckt, auf welchen die Fürſten der Phäaken bei'm Königsmahle zu ſitzen pflegten; denn die¬ ſes Volk liebte beſtändig Speiſe und Trank. Auf hohen Geſtellen ſtanden goldene Bildſäulen, Jünglinge vorſtel¬ lend, mit brennenden Fackeln in der ausgeſtreckten Hand, welche bei'm nächtlichen Schmauſe den Gäſten leuchteten. Fünfzig Dienerinnen waren durch den Palaſt des Kö¬ niges verbreitet; die einen mahlten auf der Handmühle Getreide, die andern woben, noch andere wirbelten ſitzend die Spindel. Die Weiber ſind dort ſo gute Weberinnen, wie die Männer Schiffsleute. Außerhalb des Hofes brei¬ tete ſich ein Garten aus, eine Hube ins Gevierte, mit einer Ringmauer umgeben und mit Bäumen voll der ſaf¬ tigſten Birnen, Feigen und Granaten, Oliven und Aepfel bepflanzt; dieſe trugen Sommer und Winter, denn immer wehte warme Weſtluft im Phäakenlande; ſo daß zu glei¬ cher Zeit an den einen Bäumen Blüthen prangten, an den andern Früchte hingen. Daneben ſtreckte ſich auf ebenem Boden eine Weinpflanzung hin, wo ein Theil der Trauben im Sonnenſtrahle kochten, andere der Win¬ zer ſchon ſchnitt, wieder andere erſt als Herlinge aus der Blüthe ſchwollen und noch andere ſich allmählig färbten. Am andern Ende des Gartens dehnten ſich ſchön geordnete110 Beete voll duftender Blumen; auch floſſen in dem Raume zwei Quellen: die eine durchſchlängelte den Garten, die andere quoll unter der Schwelle des Hofes am hohen Palaſte ſelbſt; und aus ihr ſchöpften ſich die Bürger ihr Waſſer.

Nachdem Odyſſeus alle die Herrlichkeiten eine gute Weile bewundert, betrat er den Palaſt und eilte nach dem Saale des Königes. Hier waren die vornehmen Phäaken zu einem Schmauſe verſammelt. Weil aber der Tag ſich neigte, gedachten ſie des Schlafes, und ſpen¬ deten eben am Schluſſe des Mahles dem Hermes ein Trankopfer. Odyſſeus durchwandelte noch in Nebel ge¬ hüllt ihre Reihen, bis er vor dem Königspaar angelangt war. Da zerfloß auf Athene's Wink das Dunkel um ihn her; er warf ſich vor der Königin Arete ſchutzflehend nieder, umfing ihre Kniee und rief: O Arete, Rexenors hohe Tochter, flehend liege ich vor dir und deinem Ge¬ mahl! Mögen die Götter euch Heil und Leben ſchenken, ſo gewiß ihr mir, dem Verirrten, Wiederkehr in die Hei¬ math bereitet! denn ferne von den Meinigen ſtreife ich ſchon lange in der Verbannung umher! So ſprach der Held und ſetzte ſich am Heerd in die Aſche nieder, neben dem brennenden Feuer. Die Phäaken ſchwiegen alle bei dem unerwarteten Anblicke ſtaunend; bis endlich der graue, welterfahrere Held Echeneos, der älteſte unter den Gäſten, das Schweigen brach und vor der Verſamm¬ lung zu dem Könige gewendet, alſo begann: Fürwahr, Alcinous, es ziemt ſich nicht, daß irgendwo auf der Erde ein Fremdling in der Aſche ſitze. Gewiß denken meine Mitgäſte, wie ich, und erwarten nur deinen Befehl. Laß darum den Fremden auf einem der ſchmucken Seſſel111 gleich uns Platz nehmen und erhebe ihn aus dem Staub! Die Herolde ſollen neuen Wein miſchen, daß wir dem Jupiter, dem Beſchirmer des Gaſtrechts, auch noch ein Trankopfer bringen; und die Schaffnerin mag den neuen Gaſt mit Speiſe und Trank laben!

Dieſe Rede gefiel dem guten König; er nahm den Helden ſelbſt bei der Hand, erhub ihn und führte ihn zu einem Seſſel an ſeiner eigenen Seite, indem der Lieb¬ ling des Königes ſelbſt, ſein Sohn Laodamas, ihm Platz machen mußte. Auch ſonſt geſchah alles, wie Eche¬ neos gerathen, und Odyſſeus ſchmauste geehrt in der Mitte der Helden. Als das Opfer dem Jupiter darge¬ bracht war, erhub ſich die Verſammlung und der König lud alle Gäſte auf den andern Tag zu einem gleichen Freudenmahle ein. Dem Fremdling aber, ohne auch nur nach ſeinem Namen und Geſchlechte zu fragen, verſprach er, nach gaſtlicher Beherbergung, ſichere Entſendung nach der Heimath. Als er aber den Helden, den Athene noch immer mit einem Schimmer überirdiſcher Hoheit umgeben hatte, näher betrachtete, da ſetzte er noch hinzu: Soll¬ teſt du aber einer der Unſterblichen ſeyn, welche ja manch¬ mal in ſichtbarer Geſtalt die Menſchen bei ihren Feſten beſuchen: dann freilich bedarfſt du unſerer Beihülfe nicht, und es iſt an uns, dich um deinen Schutz zu bitten!

Denke doch das nicht in deinem Herzen, ant¬ wortete Odyſſeus dem Könige beſchämt, gleiche ich doch an Wuchs und Geſtalt nicht den unſterblichen Göttern ſondern bin ein Sterblicher wie ihr Alle es ſeyd! Ja wenn ihr einen Menſchen kennet, der euch auf Erden der unglückſeligſte deucht, ſo nehme ich es mit ſeiner Trübſal112 auf! Und ſo dachte ich denn auch jetzt an nichts anders, als meinen Hunger an eurem Tiſch zu ſtillen, und ihr konntet auch daran wohl ſehen, daß ich ein recht armer, ſterblicher Menſch bin!

Als die Gäſte den Saal verlaſſen hatten und das Königspaar allein mit dem Fremdling im Saale zurück¬ geblieben war, betrachtete Arete die ſchön gewirkten Klei¬ der des Mannes, Mantel und Leibrock, erkannte darin ihr eigenes Gewebe und ſprach: Zuerſt muß ich dich nun doch fragen, o Fremdling, woher und wer du biſt und wer dir dieſe Gewande gegeben hat? Sagteſt du nicht, daß du auf dem Meere umherirrend hierher ge¬ kommen ſeyeſt? Odyſſeus antwortete hierauf mit einer getreuen Erzählung ſeiner Abentheuer auf Ogygia bei Kalypſo und ſeiner traurigen, letzten Fahrt, und verſchwieg zuletzt auch die Begegnung Nauſikaa's und ihren Edel¬ muth nicht.

Nun, das iſt ſchon recht von meiner Tochter ge¬ handelt, ſprach, als die Erzählung zu Ende war, lächelnd Alcinous; aber eine Pflicht hat ſie doch vergeſſen: dich ſogleich mit den Dienerinnen ſelbſt in unſer Haus zu führen! Hüte dich, o König, antwortete Odyſſeus, deine treffliche Tochter deßwegen zu tadeln. War ſie doch bereit, ſo zu handeln, wie du meinſt; und ich ſelbſt weigerte mich, aus Blödigkeit; denn ich fürchtete, du könnteſt ein Aergerniß daran nehmen; wir Menſchen¬ kinder ſind alle ſo gar argwöhniſch! Nun, ich bin nicht ohne Urſache zum Jähzorn geneigt, antwortete ihm der König; indeſſen iſt Ordnung in allen Dingen gut. Aber wenn doch die Götter es fügen wollten, daß ein Mann wie du meine Tochter zur Gemahlin begehrte;113 wie gerne wollte ich dir Haus und Beſitzungen gewäh¬ ren, wenn du bei uns bliebeſt! doch mit Zwang will ich Niemand bei mir halten, und morgen noch ſollſt du freies Geleite von mir bekommen; ich gebe dir Schiff und Ruderer wohin du fahren willſt, und wäre deine Hei¬ math ſo weit, als die entfernteſte Inſel, nach welcher wir Schiffahrt treiben!

Odyſſeus vernahm dieſes Verſprechen mit innigem Danke, verabſchiedete ſich von ſeinen königlichen Wirthen und erholte ſich auf weichem Nachtlager von allen er¬ duldeten Mühſeligkeiten.

Am andern Morgen in aller Frühe berief der Kö¬ nig Alcinous das Volk zu einer Verſammlung auf den Marktplatz der Stadt; ſein Gaſt mußte ihn dorthin be¬ gleiten, da ſetzten ſich beide neben einander auf zwei ſchön behauene Steine. Inzwiſchen durchwandelte die Göttin Athene, in einen Herold verwandelt, die Straßen der Stadt und trieb die Häupter des Volkes an, der Verſammlung beizuwohnen. Endlich füllten ſich die Gänge und Sitze des Marktes mit den zuſammenſtrömenden Bürgern. Alle ſchauten mit Bewunderung auf den Sohn des Laertes, dem Minerva, ſeine Beſchirmerin, immer noch eine überirdiſche Hoheit in Wuchs und Geſtalt verliehen hatte. Alsdann empfahl der König in einer feierlichen Rede dem Volke den Fremdling, und ermunterte daſſelbe ihm ein gutes Ruderſchiff mit zweiundfünfzig phäakiſchen Jünglingen zur Verfügung zu ſtellen. Zu¬ gleich lud er die anweſenden Häupter des Volkes zu einem Feſtmahle, das dem Fremden zu Ehren gegeben werden ſollte, in ſeinen Palaſt ein und befahl auch den De¬ modokus zu berufen, den göttlichen Sänger, dem ApolloSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 8114die Gabe des Liedes verliehen hatte und der mit ſeinem begeiſterten Geſange das Herz der Gäſte erfreuen ſollte.

Nachdem die Volksverſammlung aufgehoben war, rüſteten die Jünglinge, wie ihnen befohlen war, das Schiff, brachten Maſt und Segel hinein, hängten die Ruder in lederne Schleifen und ſpannten die Segeltücher auf. Dann begaben ſie ſich in den Palaſt des Königes. Hier waren Hallen, Höfe und Säle ſchon voll von Ge¬ ladenen, denn Jung und Alt hatte ſich eingefunden. Zwölf Schafe, acht Schweine und zwei Stiere waren für das Mahl geſchlachtet worden, und der liebliche Feſtſchmaus dampfte ſchon. Auch den Sänger führte der Herold herbei, dem die Muſe Gutes und Böſes be¬ ſcheert hatte; das Licht der Augen hatte ſie ihm genom¬ men, dafür aber das Herz ihm mit lichten Geſängen aufgehellt. Dieſem ſtellte der Herold einen Seſſel an der Säule des Saales, mitten unter den Gäſten; da¬ rauf hängte er über dem Haupte des Sängers die Harfe an einen Nagel, und führte ihm die Hand, daß der Blinde ſie finden konnte. Vor ihn hin ſtellte er einen Tiſch mit dem Speiſekorb und dem immer vollen Becher, daß er nach Herzensluſt trinken konnte. Wie nun das Mahl vorüber war, hub der Sänger ſein Lied an aus den ſchon damals berühmt gewordenen Heldenliedern von Troja. Der Inhalt ſeines Geſanges aber war der Streit zweier Helden, deren Name auf Aller Lippen war, des Achilles und des Odyſſeus.

Als unſer Held ſeinen Namen nennen und im Liede feiern hörte, mußte er das Haupt im Gewande verber¬ gen, damit man die Thräne nicht gewahr würde, die ſich ihm aus den Augen ſtahl. So oft der Sänger115 ſchwieg, enthüllte er ſein Geſicht und griff zum Becher. Wenn aber das Lied von neuem begann, verhüllte er ſein Haupt wieder. Keiner bemerkte es, als der ihm zunächſt ſitzende König, der ihn tief aufſeufzen hörte. Er hieß daher dem Geſang ein Ende machen, und befahl den Fremdling auch durch Kampfſpiele zu ehren. Unſer Gaſt, ſprach er, ſoll auch den Seinigen zu Hauſe melden kön¬ nen, wie wir Phäaken es im Fauſtkampf, Ringen, Sprung und Wettlauf allen Sterblichen zuvorthun! So wurde das Mahl aufgehoben und die Phäaken folgten dem Rufe ihres Königs. Eilend begab ſich Alles auf den Markt. Dort erhoben ſich eine Menge edler Jünglinge; darunter auch drei Söhne des Alcinous ſelbſt, Laodamas, Ha¬ lius und Klytoneus. Dieſe drei maßen ſich zuerſt mit einander im Wettlauf, auf einer Sandbahn, die ſich vor ihnen weithin erſtreckte. Auf dieſer flogen ſie auf ein gegebenes Zeichen ſtürmend dahin, und durchſtäubten das Gefilde; Klytoneus war es, der den andern es bald zuvor that und das Ziel als Sieger erreichte. Dann wurde der Ringkampf verſucht; in dieſem ſiegte der junge Held Euryalus; darauf kamen die Springer; hier zeigte ſich der Phäake Amphialus als den Ueberlegenen; im Scheibenſchwingen gewann es Clareus, endlich im Fauſt¬ kampfe Laodamas der Königsſohn.

Dieſer erhob ſich jetzt in der Verſammlung der Jünglinge und ſprach: Freunde, wir ſollten doch auch erforſchen, ob der Fremdling etwas von unſern Kämpfen verſteht. Geſtalt, Schenkel und Füße verſprechen nichts Schlechtes, ſeine Arme ſind nervicht, ſein Nacken iſt voll Kraft, ſein Wuchs iſt mächtig. Und ſcheint er gleich von Gram und Elend gebrochen, ſo mangelt es8 *116ihm doch noch nicht an Jugendſtärke! Du haſt recht, ſprach jetzt Euryalus, darum gehe hin, o Fürſt, und fordre ihn ſelbſt zum Wettſtreite auf! Laodamas that dieſes mit freundlichen, höflichen Worten.

Doch Odyſſeus erwiederte: Verlanget ihr das von mir, mich zu kränken, ihr Jünglinge? Die Trübſal nagt an mir, und keine Luſt zum Wettkampfe bewegt mein Herz! Ich habe genug geſtrebt und erduldet, und jetzt verlangt mich nach nichts Anderem, als nach der Heimkehr in mein Vaterland! Laodamas antwortete ihm unwillig: Fürwahr, Fremdling, du gebärdeſt dich nicht wie ein Mann, der ſich aufs Kämpfen verſteht; du magſt wohl ein Schiffshauptmann und zugleich Kaufherr ſeyn, ſo ein Waarenmäkler; als ein Held erſcheinſt du nicht. Odyſſeus runzelte bei dieſem Worte die Stirne und ſprach: Das iſt keine feine Rede, mein Freund, und du erſcheinſt als ein recht trotziger Junge. Verleihen doch die Göt¬ ter nicht einem und demſelben Manne die Gaben der Schönheit und Anmuth und das Geſchenk der Beredt¬ ſamkeit und der Weisheit; mancher iſt von unanſehnli¬ cher Geſtalt, aber ſeinen Worten iſt ein Reiz verliehen, daß alle, die ſie hören, davon entzückt werden; und auch ein Solcher ragt in der Volksverſammlung hervor, und man ehrt ihn, wie einen Unſterblichen. Dagegen ſieht oft einer aus, wie ein Gott, und an ſeinen Worten iſt wenig Witz. Dennoch bin ich kein Neuling im Wett¬ kampfe, und als ich meiner Jugend und meinem Arme noch vertrauen konnte, nahm ich es mit den Tüchtigſten auf. Jetzt haben mich Schlachten und Stürme freilich heruntergebracht. Doch, du haſt mich herausgefordert, und ich wills auch ſo verſuchen!

117

So ſprach Odyſſeus und erhub ſich vom Sitz, ohne den Mantel abzulegen. Er ergriff eine Scheibe, größer, dicker und ſchwerer, als die, nach welchen die Phäaken¬ jünglinge zu langen pflegten, und warf ſie kräftig, daß der Stein laut hinſauste; unter ſeinem Schwunge bückten ſich die umherſtehenden Phäaken, und er flog weit über das Ziel hinaus. Schnell machte Athene, in einen Phä¬ aken verſtellt, das Zeichen, wo der Stein gefallen war, und ſprach: Dein Zeichen ſoll auch ein Blinder erken¬ nen, Mann, ſo weit liegt es von allen andern ab! In die¬ ſem Kampfe biſt du ſicher, nie beſiegt zu werden! Odyſſeus freute ſich, daß er einen ſo guten Freund im Volke ge¬ funden habe, und ſprach mit leichterem Herzen: Nun, ihr Jünglinge, ſchleudert mir dorthin nach, wie ihr es vermöget! Und ihr, die ihr mich ſo ſchwer beleidigt habt, kommt her und verſuchet euch mit mir in welchem Kampfe ihr wollet; ich werde keinem ausweichen! Mit jedem will ich kämpfen, nur nicht mit Laodamas, denn wer ſtritte auch gerne mit dem, der ihn bewirthet? Beſonders gut verſtehe ichs, den Bogen zu ſpannen, und wenn viele Genoſſen mit mir in die Wette ſchößen, ich wäre doch der erſte, der meinen Mann mit dem Pfeil träfe. Nur Einen kenne ich, den Griechen Philoktetes; der hat es mir oft zuvorgethan vor Troja, ſo oft wir uns dort im Schiffe übten! Auch mit dem Wurfſpieße treffe ich nicht weniger ſicher und ſchieße ſo weit, wie ein Anderer mit dem Pfeile. Nur im Wettlaufe, da möchte vielleicht ein Anderer es mir zuvorthun, ſelbſt unter euch; denn das ſtürmiſche Meer hat mir viel Kraft genommen, zumal da ich Tage lang ohne Nahrung auf meinem Fahrzeuge ſaß.

118

Als die Jünglinge dieſes vernahmen, verſtummten ſie alle, nur der König nahm das Wort und ſagte: Wohl haſt du uns deine Tüchtigkeit enthüllt, o Fremd¬ ling, und hinfort ſoll dich kein Menſch mehr wegen dei¬ ner Stärke tadeln. Wenn du nun daheim bei Gattin und Kindern ſitzeſt, ſo denk 'auch an unſre Mannlichkeit zurück. Als Fauſtkämpfer und Ringer thun wir uns freilich nicht hervor, aber im Wettlaufe ſiegen wir, und auf die Schifffahrt verſtehen wir uns auch. Schmaus, Saitenſpiel, Reigentanz darin ſind wir auch Meiſter; den ſchönſten Schmuck, das lindeſte Bad, das weichſte Lager die findet man bei uns! Auf denn, ihr Tänzer, ihr Schifflenker, ihr Läufer, ihr Sänger! zeigt euch vor dem Fremdlinge, daß er zu Hauſe etwas von euch zu erzählen hat. Und bringet auch die Harfe des Demo¬ dokus her. Sogleich machte ſich ein Herold auf und ſchaffte die Harfe herbei. Neun auserwählte Kampf¬ ordner ebneten den Raum für den Tanz und umzirkten die Schaubühne. Ein Spielmann ſtellte ſich mit der Harfe in die Mitte, und der Tanz der blühendſten Jüng¬ linge begann; im ſchönſten Takte, im raſcheſten Schwunge hoben ſie ihre Füße. Odyſſeus ſelbſt mußte ſtaunen; er hatte noch nie ſo behenden und anmuthigen Tanz geſehen. Dazu ſang der Sänger ein liebliches Lied von den heiterſten Geſchichten aus dem Leben der Götter. Nachdem der Reigentanz lange genug gedauert, hieß der König ſeinen Sohn Laodamas und den geſchmeidigen Halius den Einzeltanz mit einander aufführen; denn mit ihnen wagte es Niemand, ſich zu meſſen. Dieſe nahmen einen zierlichen purpurrothen Ball zur Hand, und der eine ſchwang ihn, indem er ſich rücklings dazu beugte,119 hoch in die Luft empor: der andere, emporſpringend, fing ihn, ehe er wieder mit den Füßen auf den Boden trat, ſchwebend in der Luft auf. Dann tanzten ſie in leichten, wechſelnden Schwenkungen um einander her, und andere Jünglinge, die im Kreiſe umherſtanden, klatſchten mit den Händen dazu. Odyſſeus wandte ſich bewundernd zu dem Könige und ſprach: In der That, Alcinous, du kannſt dich der geſchickteſten Tänzer auf dem ganzen Erdboden rühmen. In dieſer Kunſt habt ihr eures Gleichen nicht! Alcinous that ſich auf dieſes Urtheil nicht wenig zu gute. Höret ihrs, rief er ſeinen Phäaken zu, wie der Fremdling über uns ur¬ theilt? Er iſt doch ein ſehr verſtändiger Mann, und er verdient es wohl, daß wir ihm auch ein anſehnliches Gaſtgeſchenk reichen. Wohlan! zwölf der Fürſten des Landes, und ich ſelbſt der dreizehnte, ſollen ihm jeder einen Mantel und einen Leibrock herbeibringen und zu dem ein Pfund des köſtlichſten Goldes. Das wollen wir ihm zu einer großen Gabe vereint ſchenken, damit er mit fröhlichem Herzen von uns ſcheide. Und außerdem ſoll Euryalus es verſuchen, mit freundlichen Worten ihn ganz mit uns auszuſöhnen. Alle Phäaken riefen ihm Beifall zu. Ein Herold ging, die Geſchenke zu ſammeln. Euryalus nahm ſein Schwert mit ſilbernem Heft und elfenbeinerner Scheide, übergab es dem Gaſte und ſprach dazu: Väterchen, haben wir ein tränkendes Wort gegen dich fallen laſſen, ſo ſollen es die Winde verwehen! dir aber mögen die Götter fröhliche Heimfahrt verleihen! Heil und Freude dir! Auch dir, antwortete Odyſ¬ ſeus, möge dich deine Gabe nie reuen! Mit dieſem Wort hängte er ſich das ſchmucke Schwert um die Schulter. 120Es war um Sonnenuntergang, als die Geſchenke ankamen, und alle vor der Königin niedergelegt wurden. Sie hieß Alcinous auch noch eine zierliche Lade für die Gewande herbeiſchaffen; darein wurden die Gaben gelegt und für Odyſſeus in den Palaſt getragen. Dort fügte der König, der ſich mit der ganzen Geſellſchaft in ſeine Wohnung begeben hatte, noch andere Gaben an köſt¬ lichen Gewanden hinzu, und außerdem ein herrliches goldenes Gefäß. Dem Gaſte wurde ein Bad bereitet, indem zeigte ihm die Königin ſelbſt alle die köſtlichen Geſchenke in der offenen Lade und ſprach dazu: Be¬ trachte dir den Deckel ſelbſt genau und verſchließe die Lade, daß dich ja keiner, wenn du etwa ſchläfſt, wäh¬ rend der Heimfahrt beraube, und die ſchöne Kiſte da¬ vontrage! Odyſſeus ſchlug den Deckel ſorgfältig ein, und verſchloß die Lade mit einem vielfach verſchlungenen Knoten; dann erquickte er ſich im warmen Bade, und wollte nun wieder in die Geſellſchaft der zu Schmaus und Trunk niedergeſeſſenen Männer zurückkehren. Da fand er vor dem Thürpfoſten des Saales beim Eingang in denſelben die holdſelige Jungfrau Nauſikaa ſtehen, welche er ſeit ſeinem Einzuge in die Stadt nicht mehr erblickt hatte, und welche ſeither züchtiglich und ferne von den Männerfeſten im Frauengemache verſchloſſen gelebt; nun aber wollte ſie zum Abſchiede den edeln Gaſt auch noch einmal begrüßen. Nachdem ſie einen langen bewundern¬ den Blick auf die edle Heldengeſtalt des Mannes gewor¬ fen, ſprach ſie endlich, indem ſie den Hineintretenden ſanft aufhielt: Heil dir und Segen, edler Gaſt! Ge¬ denke meiner auch im Lande deiner Väter, da du mir ja doch dein Leben verdankeſt! Gerührt antwortete ihr121 Odyſſeus: Du edle Nauſikaa, wenn mich Jupiter den Tag der Heimkunft erleben läßt, ſo werde ich dich, meine Retterin, täglich wie eine Gottheit anflehen! Mit die¬ ſen Worten betrat er den Saal wieder und ſetzte ſich an der Seite des Königes nieder. Hier waren die Diener eben damit beſchäftigt, das Fleiſch zu zerlegen und den Wein aus den großen Miſchkrügen in die Becher ein¬ zuſchenken. Auch der blinde Sänger Demodokus wurde wieder eingeführt und nahm ſeinen alten Platz an der Mittelſäule des Saales ein. Da winkte Odyſſeus dem Herold, ſchnitt vom Rücken des vor ihm liegenden ge¬ bratenen Schweines das beſte Stück ab, ſtreckte es ihm auf einer Platte hin und ſagte: Herold, reich dem Sänger dieſes Fleiſch; obgleich ich ſelbſt in der Ver¬ bannung bin, ſo möchte ich ihm doch gerne etwas Liebes erweiſen. Stehen doch die Sänger bei dem ganzen Menſchengeſchlecht in Achtung, weil die Muſe ſelbſt ſie den Geſang gelehrt hat und mit ihrer Huld über ihnen waltet. Dankbar empfing der blinde Sänger die Gabe.

Nach dem Mahle wandte ſich Odyſſeus noch ein¬ mal an Demodokus: Ich preiſe dich vor andern Sterb¬ lichen, lieber Sänger! ſprach er zu ihm, daß dich Apollo oder die Muſe ſo ſchöne Lieder gelehret hat! Wie lebendig und genau du das Schickſal der griechiſchen Helden zu ſchildern verſtehſt, als hätteſt du Alles mit angeſehen und mit angehört! Fahre nun fort, und ſing 'uns auch noch die ſchöne Mähr vom hölzernen Roſſe und was Odyſſeus dabei gethan hat! Der Sänger ge¬ horchte freudig und Alles lauſchte ſeinem Geſange. Als der Held ſo ſeine Thaten preiſen hörte, mußte er wieder heimlich weinen, und nur Alcinous bemerkte es. Er122 gebot daher dem Sänger Stillſchweigen und ſprach im Kreiſe der Phäaken: Beſſer iſts, die Harfe ruhet nun; denn wahrlich, ihr Freunde, nicht Jedermann zur Luſt ſingt der Sänger jene Mähre. Seit wir am Mahle ſitzen und das Lied ertönt, hört unſer ſchwermüthiger Gaſt nicht auf, ſeinem Grame nachzuhängen, und wir ſtreben vergebens ihn zu erheitern. Und doch muß einem fühlenden Manne ein Gaſt ſo lieb ſeyn, wie ein Bruder. Nun denn, Fremdling, ſo ſag' uns redlich, wer ſind deine Eltern, welches iſt dein Vaterland? Einen Namen führt doch jeder Menſch, ſey er von edler oder von ge¬ ringer Abkunft! dein Land müſſen wir ohnedem wiſſen und deine Geburtsſtadt, wenn dich meine Phäaken heim¬ bringen ſollen. Weiter brauchen ſie nichts; ſie bedürfen auch der Piloten nicht: haben ſie nur den Namen des Orts, ſo finden ſie die Fahrt durch Nacht und Nebel!

Auf dieſe freundliche Rede erwiederte der Held eben ſo liebreich: Glaube doch ja nicht, edler König, daß euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr iſt es eine Wonne, einem ſolchen zuzuhören, wenn er ſeine götter¬ gleiche Stimme vernehmen läßt, und ich weiß mir nichts Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei feſtlicher Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, wäh¬ rend die Gäſte in langen Reihen ſitzen, vor jedem ſein Tiſch voll Brods und Fleiſches ſteht, und der Schenk fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wün¬ ſchet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben Gaſtfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und Gram verſinken. Denn wo ſoll ich anfangen und womit enden? Doch, höret vor allen Dingen mein Geſchlecht und mein Vaterland!

123

Odyſſeus erzählt den Phäaken ſeine Irrfahrten.

Cikonen. Lotophagen. Cyklopen. Polyphen.

Ich bin Odyſſeus, der Sohn des Laertes; die Menſchen kennen mich und der Ruhm meiner Klugheit iſt über die Erde verbreitet. Auf der ſonnigen Inſel Ithaka wohne ich, in deren Mitte ſich das waldige Ge¬ birge Neriton erhebt; rings umher liegen viele kleinere bewohnte Eilande, Same, Dulichium, Zazynthus. Meine Heimath iſt zwar rauh; doch nähret ſie friſche Männer, und das Vaterland iſt einem jeden das Süßeſte! Wohlan nun, vernehmet von meiner unglückſeligen Heim¬ fahrt von der trojaniſchen Küſte! Von Ilium weg trug mich der Wind nach der Cikonenſtadt Imarus, die ich mit meinen Genoſſen eroberte. Die Männer vertilgten wir; die Frauen ſamt der andern Beute wurden ver¬ theilt. Nach meinem Rathe hätten wir uns nun eilig davongemacht. Aber meine unbeſonnenen Begleiter blie¬ ben ſchwelgend bei der Beute ſitzen, und die entflohenen Cikonen, durch ihre landeinwärts wohnenden Brüder ver¬ ſtärkt, überfielen uns beim Schmaus am Geſtade. Die Uebermacht ſiegte. Sechs Freunde von jedem unſrer Schiffe blieben auf dem Platze, wir andern entgingen dem Tode nur durch ſchleunige Flucht.

Alſo ſteuerten wir weiter weſtwärts, froh der To¬ desgefahr entronnen zu ſeyn, aber von Herzen traurig über den Tod unſerer Genoſſen. Da ſandte Jupiter uns einen Orkan aus Norden. Meer und Erde hüllten ſich124 in Wolken und Nacht; mit geſenkten Maſten flogen wir dahin, und ehe wir die Segel eingezogen hatten, krach¬ ten die Stangen zuſammen und die Segeltücher zerriſſen in Stücke. Endlich arbeiteten wir uns ans Geſtade und lagen dort zwei Tage und Nächte vor Anker, bis wir die Maſten wieder aufgerüſtet und neue Segel aufgeſpannt hatten. Wir ſteuerten nun wieder vorwärts und hatten alle Hoffnung, bald in die Heimath zu gelangen, wäre nicht, eben als wir ums Vorgebirge Malea, an der Südſpitze der Pelopsinſel von Griechenland, herumſchiff¬ ten, der Wind plötzlich in Nord umgeſchlagen und hätte uns ſeitwärts in die offene See hineingetrieben. Da wurden wir nun neun Tage vom Sturm herumgeſchleu¬ dert; am zehnten gelangten wir ans Ufer der Lotopha¬ gen, die ſich von nichts als Lotosfrucht nähren. Hier ſtiegen wir ans Geſtade und nahmen friſches Waſſer ein. Dann ſandten wir zwei unſerer Freunde auf Kund¬ ſchaft aus, und ein Herold mußte ſie begleiten. Dieſe gelangten in die Volksverſammlung der Lotophagen, und wurden von dieſem gutmüthigen Volke, dem es nicht in den Sinn kam, etwas zu unſerem Verderben zu unter¬ nehmen, auf das freundlichſte empfangen. Aber die Frucht des Lotos, welche ſie ihnen zu koſten gaben, hat eine ganz eigenthümliche Wirkung, Sie iſt ſüßer als Honig, und wer von ihr koſtet, der will nicht mehr von der Heimkehr wiſſen, ſondern immer in dem Lande blei¬ ben. So mußten wir denn auch unſre Genoſſen auf¬ ſuchen und, während ſie weinten und widerſtrebten, mit Gewalt nach den Schiffen zurückführen.

Auf unſrer weiteren Fahrt kamen wir nun zu dem wildlebenden grauſamen Volke der Cyklopen. Dieſe bauen125 das Land gar nicht, ſondern überlaſſen alles den Göttern. Auch wächſt wirklich dort alle mögliche Nahrung ohne Zuthat des Pflanzers und Ackermanns: Waizen, Gerſte, die edelſten Reben voll großbeeriger Trauben; und Ju¬ piter giebt in mildem Regen ſeinen Segen dazu. Auch halten ſie keine Geſetze, treten in keine Rathsverſamm¬ lung zuſammen; ſondern alle wohnen auf den felſigten Gebirgshöhen, rings in gewölbten Erdhöhlen; da richtet ſich der Cyklop, wie er mag, mit Weibern und Kindern ein; übrigens bekümmert ſich keiner um den andern. Außerhalb der Bucht, in mäßiger Entfernung vom Cy¬ klopenlande, erſtreckt ſich eine bewaldete Inſel voll wilder Ziegen, die, von keinem Jäger geängſtet, hier ſorglos graſen. Kein Menſch wohnt darauf; die Cyklopen ſelbſt, die den Schiffbau nicht verſtehen, kommen auch nicht dahin. Bewohner könnten ſich die Inſel leicht zum blü¬ bendſten Lande umſchaffen, denn der Boden iſt höchſt fruchtbar: feuchte, ſchwellende Wieſen breiten ſich über den Strand aus, das unbenützte Ackerfeld iſt locker, der Boden fett; die gelegenſten Hügel böten ſich dem Wein¬ bau dar. Auch iſt ein vor allen Winden geſchirmter Hafen da, ſo ſicher, daß man die Schiffe weder anzu¬ binden noch vor Anker zu legen braucht. Der Bucht zugekehrt quillt das reinſte Waſſer perlend ans der Fel¬ ſenkluft, und grünende Pappeln ſtehen rings umher. Dorthin geleitete ein ſchirmender Gott unſre Schiffe in der dunkeln Nacht. Als der Morgen anbrach, betraten wir das Eiland, und erlegten auf fröhlicher Jagd ſo viele Ziegen, daß ich jedem meiner zwölf Schiffe ihrer neune zutheilen konnte, und noch ihrer zehen für mich behielt. Da ſaßen wir denn am lieblichen Ufer den ganzen126 Tag und thaten uns bis zum ſpäten Abend recht gütlich mit dem friſchen Ziegenfleiſch und altem Weine, den wir in der Cikonenſtadt erbeutet hatten und in Henkelkrügen mit uns führten.

Am andern Morgen wandelte mich die Luſt an, das gegenüberliegende Land, von deſſen Bewohnern, den Cy¬ klopen, wie ſie geartet ſeyen, ich noch nicht wußte, aus¬ zukundſchaften; ich fuhr daher mit vielen Genoſſen auf meinem Schiffe hinüber. Als wir dort landeten, ſahen wir am äußerſten Meeresſtrand eine hochgewölbte Felſen¬ kluft, ganz mit Lorbeergeſträuch überſchattet, wo ſich viele Schafe und Ziegen zu lagern pflegten; ringsum¬ her war von eingerammelten Steinen und hohen Fichten und Eichen ein Gehege erbaut. In dieſer Umzäunung hauste ein Mann von rieſiger Geſtalt, der die Heerde einſam auf entfernten Weiden umhertrieb, nie mit Andern, auch nicht mit Seinesgleichen, umging und immer nur auf boshaften Frevel ſann. Das war eben ein Cyklop. Während wir nun das Geſtade mit den Augen muſter¬ ten, wurden wir alles dieſes gewahr. Da wählte ich mir zwölf der tapferſten Freunde aus, hieß die übrigen an Bord bleiben und mir das Schiff bewahren, und nahm einen ledernen Schlauch voll des beſten Weines zu mir, den mir ein Prieſter Apollo's in der Cikonen¬ ſtadt Iſmaros geſchenkt hatte, weil wir ſeiner und ſeines Hauſes geſchont. Dieſen nebſt guter Reiſekoſt in einem Korbe trugen wir, und gedachten damit den Mann zu kirren, der ſchon auf den erſten Anblick unbändig und keinem Geſetz unterworfen erſchien.

Als wir bei der Felskluft angekommen waren, fan¬ den wir ihn ſelbſt nicht zu Hauſe, denn er war bei127 ſeinen Heerden auf der Weide. Wir traten ohne weiteres in die Höhle ein, und wunderten uns über die innere Einrichtung. Da ſtanden Körbe von mächtigen Käſe¬ laiben ſtrotzend umher; in den Ställen, die in der Grotte angebracht waren, ſtand es gedrängt voll von Lämmern und jungen Ziegen, und jede Gattung war beſonders eingeſperrt. Körbe lagen umher, Kübel voll Molken, Bütten, Eimer zum Melken. Anfangs drangen die Ge¬ noſſen in mich, von dem Käſe zu nehmen, ſo viel wir könnten, und uns davon zu machen, oder Lämmer und Ziegen nach unſerem Schiffe hinzutreiben, und dann wie¬ der zu unſern Freunden nach der Inſel hinüberzuſteuern. Hätte ich ihrem Rathe doch gefolgt! Aber ich war allzu begierig, den ſeltſamen Bewohner der Höhle zu ſchauen, und wollte lieber ein Gaſtgeſchenk erwarten als mit einem Raube von dannen ziehen. Deßwegen zünde¬ ten wir ein Feuer an und opferten. Dann nahmen wir ein Weniges von dem Käſe und aßen. Nun warteten wir, bis der Hausherr heimkäme.

Endlich nahete er, auf ſeinen Rieſenſchultern eine ungeheure Laſt trockenen Scheiterholzes tragend, das er geſammelt, um ſich ſein Abendmahl damit zu kochen. Er warf ſie zu Boden, daß es fürchterlich krachte und wir alle vor Angſt zuſammen fuhren und uns in den äußer¬ ſten Winkel der Grotte verſteckten. Da ſahen wir denn, wie er ſeine fette Heerde in die Kluft eintrieb, doch nur die, welche er wollte; Widder und Böcke blieben draußen in dem eingehegten Vorhofe. Nun rollte er ein mäch¬ tiges Felsſtück vor den Eingang, das zweiundzwanzig vierrädrige Wagen nicht von der Stelle hätten ſchaffen können. Dann ſetzte er ſich gemächlich auf den Boden,128 melkte der Reihe nach die Schafe und Ziegen, legte die ſäugenden ans Euter, machte die eine Hälfte der Milch mit Lab gerinnen, formte Käſe daraus, und ſtellte ſie in Körben zum Trocknen hin; die andere Hälfte ver¬ wahrte er in großen Geſchirren; denn das war ſein täglicher Trunk. Wie er mit Allem fertig war, machte er ſich ein Feuer an, und nun geſchah es, daß er uns in unſerem Winkel erblickte. Auch wir ſahen jetzt erſt ſeine gräßliche Rieſengeſtalt genau. Er hatte wie alle Cyklopen nur ein einziges funkelndes Auge in der Stirn, Beine wie tauſendjährige Eichenſtämme und Arme und Hände groß und ſtark genug, um mit Granitblöcken Ball zu ſpielen.

Wer ſeyd ihr, Fremdlinge! fuhr er uns mit ſei¬ ner rauhen Stimme an, die klang, wie ein Donner im Gebirge, woher kommt ihr über das Meer gefahren? Iſt die Seeräuberei euer Geſchäft, oder was treibt ihr? Bei dem Gebrüll bebte uns das Herz im Leibe. Doch nahm ich mich zuſammen und erwiederte: Ach nein; wir ſind Griechen, kommen von der Zerſtörung Troja's zurück, und haben uns während der Heimfahrt auf dem Meere verirrt. So nahen wir deinen Knieen und flehen dich um Schutz und eine Gabe an. Ja, ſcheue die Götter, lieber Mann! und erhöre uns. Denn Jupiter beſchirmt die Schutzflehenden und rächt ihre Mißhandlung!

Aber der Cyklop erwiederte mit gräßlichem Lachen: du biſt ein rechter Thor, o Fremdling, und weiſſeſt nicht, mit wem du es zu thun haſt! Meinſt du wir kümmern uns um die Götter und ihre Rache? Was gilt den Cyklopen Zeus der Donnerer und alle Götter mit ein¬ ander! Sind wir doch viel vortrefflicher als ſie! Wills129 mein eigen Herz nicht, ſo ſchone ich weder dich noch deine Freunde! Aber ſage mir jetzt, wo du das Schiff geborgen haſt, auf welchem du hergekommen biſt? Wo liegt es vor Anker, nah oder ferne? So fragte der Cyklop voll Argliſt, ich aber war bald mit einer ſchlauen Erfindung bei der Hand. Mein Schiff, guter Mann, antwortete ich, hat der Erderſchütterer Poſeidon nicht weit von eurem Ufer an die Klippen geworfen und zer¬ trümmert; ich allein mit dieſen zwölf Geſellen bin ent¬ ronnen! Auf dieſe Rede antwortete das Ungeheuer gar nicht, ſondern ſtreckte nur ſeine Rieſenhände aus, packte zwei meiner Genoſſen, und ſchlug ſie, wie junge Hunde, zu Boden, daß ihr Blut und Gehirn auf die Erde ſpritzte. Dann zerhackte er ſie Glied für Glied zur Abend¬ koſt und fraß ſich an ihnen ſatt, wie ein Löwe in den Bergen. Eingeweide, Fleiſch, ja das Mark mitſammt den Knochen verzehrte er. Wir aber ſtreckten die Hände zu Jupiter empor, und jammerten laut über die Frevelthat.

Nachdem ſich das Unthier ſeinen Wanſt gefüllt und den Durſt mit Milch gelöſcht, warf er ſich der Länge nach in der Höhle zu Boden, und nun beſann ich mich, ob ich nicht auf ihn losgehen und ihm das Schwert zwiſchen Zwerchfell und Leber in die Seite ſtoßen ſollte. Aber ſchnell bedachte ich mich eines Beſſern. Denn was hätte uns das geholfen? Wer hätte uns den unerme߬ lichen Stein von der Höhle gewälzt? Wir hätten zu¬ letzt alle des jämmerlichſten Todes ſterben müſſen. De߬ wegen ließen wir ihn ſchnarchen und erwarteten in dumpfer Bangigkeit den Morgen. Als dieſer erſchienen und der Cyklop aufgeſtanden war, zündete er wieder ein Feuer an und fing an zu melken. Als er Alles beendigt, packteSchwab, das klaſſ. Altherthum. III. 9130er wieder zwei meiner Begleiter, und verzehrte ſie zu unſerem Entſetzen, wie das erſtemal, zum Frühſtück. Dann trieb er die feiſte Heerde aus der Höhle, nach¬ dem er den Fels abgehoben, ging ſelbſt mit hinaus und pflanzte den Stein wieder davor, wie man den Deckel auf den Köcher ſetzt. Wir hörten ihn mit gellendem Pfeifen ſeine Heerde in die Berge treiben; wir aber blie¬ ben in der Todesangſt zurück und jeder erwartete, daß das nächſtemal die Reihe, gefreſſen zu werden, an ihn kommen werde. Ich ſelbſt bewegte fortwährend Entwürfe der Rache in meinem Herzen, wie ich es angreifen ſollte, dem Ungeheuer zn vergelten. Endlich kam mir ein Ge¬ danke, der nicht übel war. Drinnen im Stalle lag die mächtige Keule des Cyklopen aus grünem Olivenholz; er hatte ſie ſich abgehauen, um ſie zu tragen, wenn ſie dürre geworden wäre; uns erſchien ſie an Länge und Dicke dem Maſt eines großen Schiffes gleich. Von die¬ ſer Keule hieb ich mir einen Pfahl von der Dicke, wie ein Arm ihn umſpannen kann, reichte denſelben den Freun¬ den und hieß ſie ihn glatt ſchaben, dann ſchärfte ich ihn oben ganz ſpitz und brannte ihn in der Flamme hart. Dieſen Pfahl verbarg ich mit aller Sorgfalt im Miſte, deſſen es haufenweiſe in der Höhle gab. Dann loosten meine Genoſſen, wer es wagen ſollte, den Brandpfahl dem Ungeheuer mit mir ins Auge zu drehen, wenn er im Schlummer läge. Es traf gerade die vier tapferſten der Freunde, die ich mir ſelbſt ausgewählt hätte, und der fünfte war ich.

Am Abend kam der gräßliche Hirte mit ſeiner Heerde heim. Dießmal ließ er nichts im Vorhof, ſondern trieb alles mit einander in die Höhle; vielleicht argwöhnte er131 etwas, oder ſchickte es auch, wie ihr bald hören werdet, ein Gott zu unſern Gunſten ſo. Uebrigens fügte er, wie bisher, den Stein wieder in die Oeffnung, that Alles wie ſonſt, und fraß auch zwei aus unſerer Mitte. In¬ zwiſchen hatte ich eine hölzerne Kanne mit dem dunkeln Wein aus meinem Schlauche gefüllt, näherte mich dem Ungeheuer und ſprach: Da, nimm Cyklop, und trink! auf Menſchenfleiſch ſchmeckt der Wein vortrefflich. Du ſollſt auch erfahren, was für ein köſtliches Getränk wir auf unſerem Schiffe führten. Ich brachte ihn mit, um ihn dir zu ſpenden, wenn du Erbarmen mit uns trügeſt und uns heim ließeſt. Aber du biſt ja ein ganz entſetz¬ licher Wüthrich; wie mag dich künftig ein anderer Menſch beſuchen! Nein, du biſt nicht billig mit uns verfahren!

Der Cyklop nahm die Kanne ohne ein Wort zu verlieren und leerte ſie mit durſtigen Zügen; man ſah ihm das Entzücken an, in welches ihn die Süſſigkeit und Kraft des Trankes verſetzte. Als er fertig war, ſprach er zum erſtenmale freundlich: Fremdling, gieb mir noch eins zu trinken; und ſage mir auch, wie du heißeſt, da¬ mit ich dich auf der Stelle mit einem Gaſtgeſchenk er¬ freuen kann. Denn auch wir haben Wein hier zu Lande, wir Cyklopen. Damit du aber auch erfahreſt, wen du vor dir haſt, ſo wiſſe: Polyphemus iſt mein Name. So ſprach der Cyklop, und gerne gab ich ihm von Neuem zu trinken. Ja, dreimal ſchenkte ich ihm die Kanne voll, und dreimal lehrte er ſie in der Dummheit. Als ihm der Wein die Beſinnung zu umnebeln anfing, ſprach ich ſchlauer Weiſe: Meinen Namen willſt du wiſſen, Cy¬ klop? Ich habe einen ſeltſamen Namen. Ich heiße der Niemand; alle Welt nennt mich Niemand, Mutter,9 *132Vater hießen mich ſo und bei allen meinen Freunden bin ich ſo geheißen. Darauf antwortete der Cyklop: Nun ſollſt du auch dein Gaſtgeſchenk erhalten; den Niemand, den verzehre ich zuletzt nach allen ſeinen Schiffsgenoſſen, Biſt du mit der Gabe zufrieden, Niemand?

Dieſe letzten Worte lallte der Cyklop nur noch, lehnte ſich rückwärts und taumelte bald ganz zu Boden. Mit gekrümmtem, feiſten Nacken dehnte er ſich ſchnar¬ chend im Rauſch, ja Wein und Menſchenfleiſch brach er in der Trunkenheit aus ſeinem Schlunde heraus. Jetzt ſteckte ich ſchnell den Pfahl in die glimmende Aſche, bis er Feuer fing, und als er ſchon Funken ſprühte, zog ich ihn heraus und mit den vier Freunden, die das Loos getroffen hatte, ſtießen wir ihm die Spitze tief ins Auge hinab, und ich, in die Höhe gerichtet, drehte den Pfahl, wie ein Zimmermann einen Schiffsbalken durchbohrt. Wimpern und Augenbraunen verſengte die Gluth bis auf die Wurzeln, daß es praſſelte, und ſein erlöſchendes Auge ziſchte, wie heißes Eiſen im Waſſer. Grauenvoll heulte der Verletzte auf, ſo laut, daß die Höhle von dem Ge¬ brüll wiederhallte; und wir, vor Angſt bebend, flüchteten in den äußerſten Winkel der Grotte.

Polyphem riß ſich indeſſen den Pfahl aus der Au¬ genhöhle, von dem das Blut triefend herunterrann; er ſchleuderte ihn weit von ſich, und tobte wie ein Unſin¬ niger. Dann erhub er ein neues Zettergeſchrei und rief ſeine Stammesbrüder, die Cyklopen, herbei, die im Ge¬ birge umherwohnten. Dieſe kamen von allen Seiten her¬ an, umſtellten die Höhle und wollten wiſſen, was ihrem Bruder geſchehen ſey. Er aber brüllte aus der Höhle heraus: Niemand, Niemand bringt mich um, ihr Freunde! 133Niemand thut es mit Argliſt! Als die Cyklopen das hörten, ſprachen ſie: Nun, wenn Niemand dir etwas zu Leide thut, wenn dich keine Seele angreift, was ſchreieſt du denn ſo? Du biſt wohl krank; aber gegen Krankheit haben wir Cyklopen keine Mittel! So ſchrieen ſie und eilten wieder davon. Mir aber lachte das Herz im Leibe.

Der blinde Cyklop tappte indeſſen in ſeiner Höhle umher, immer noch vor Schmerzen winſelnd. Er nahm den Felsſtein vom Eingange, ſetzte ſich dann unter die Pforte, und taſtete mit den Händen umher, um einen Jeden von uns zu fangen, der Luſt hätte, mit den Schafen zu entwiſchen; denn er hielt mich ſo einfältig, daß ich es auf dieſe Weiſe angreifen würde. Ich aber kam inzwiſchen an tauſenderlei Planen herum, bis ich den rechten ausfindig machte. Es ſtanden nämlich ge¬ mäſtete Widder mit dem dichteſten Fließe um uns her, gar groß und ſtattlich. Die verband ich ganz geheim mit den Ruthen des Weidengeflechtes, auf welchem der Cy¬ klop ſchlief, je drei und drei; und der mittlere trug unter ſeinem Bauche immer einen von uns Männern, der ſich an ſeiner Wolle feſthielt, indeſſen die beiden andern Wid¬ der rechts und links, die heimliche Laſt beſchirmend, ein¬ hertrollten. Ich ſelber wählte den ſtattlichſten Bock, der hoch über alle andern hervorragte. Ihn faßte ich am Rücken, wälzte mich unter ſeinen Bauch und hielt die Hände feſt in den gekräuſelten Wollenflocken gedreht. So unter den Widdern hängend erwarteten wir mit unter¬ drückten Seufzern den Morgen, Er kam; und die männ¬ liche Heerde ſprang zuerſt hüpfend aus der Höhle auf die Weide. Nur die Weibchen blöckten noch mit ſtrotzenden134 Eutern in den Ställen. Ihr geplagter Herr betaſtete jedem Widder, der hinausging, ſorgfältig den Rücken, ob kein Flüchtling darauf ſitze; an den Bauch und meine Liſt dachte er in ſeiner Dummheit nicht. Nun wandelte auch mein Bock langſam zur Felſenpforte, ſchwerbeladen mit Wolle, noch ſchwerer mit mir, der ich unter allerlei Ge¬ danken mich dahintragen ließ. Auch ihn ſtreichelte Po¬ lyphemus und ſprach: Gutes Widderchen, was trabſt du ſo langſam hinter der übrigen Heerde aus der Höhle heraus? Du leideſt ja ſonſt nicht, daß andere Schafe dir vorangehen; du biſt ſonſt immer der erſte bei den Wiesblumen und am Bach, und Abends der allererſte wieder im Stalle? Betrübt dich das ausgebrannte Auge deines Herrn? Ja, hätteſt du Gedanken und Sprache, wie ich, gewiß, du ſagteſt mir, in welchem Winkel ſich der Frevler mit ſeinem Geſindel verbirgt: dann ſollte mir ſein Gehirn von der Höhlenwand ſpritzen, und mein Herz wieder froh werden vom Leide, das der Niemand über mich gebracht!

So ſprach der Cyklop und ließ den Widder auch hinausgehen. Und nun waren wir alle draußen. So wie wir ein wenig von der Felskluft entfernt waren, machte ich mich zuerſt von meinem Bocke los, und löste dann auch meine Freunde ab. Wir waren unſrer leider nur noch ſieben, umarmten uns mit herzlicher Freude und jammerten um die Verlorenen. Doch winkte ich ihnen, daß keiner laut weinen, ſondern daß ſie mit den geraubten Widdern ſich ſchnell nach unſern Schiffen mit mir aufmachen ſollten. Erſt als wir wieder auf unſern Ruderbänken ſaßen und durch die Wogen dahin ſchifften, auf einen Heroldsruf vom Ufer entfernt, ſchrie ich dem135 am Uferhügel mit ſeiner Heerde bergwärts hinan klim¬ menden Cyklopen meine Spottrede zu: Nun, Cyklop, du haſt doch keines ſchlechten Mannes Begleiter in dei¬ ner Höhle gefreſſen! Endlich ſind dir deine Frevelthaten vergolten worden, und du haſt die Strafe Jupiters und der Götter empfunden!

Als der Wütherich dieſes hörte, wurde ſein Grimm noch viel größer. Er riß einen ganzen Felsblock aus dem Gebirge heraus, und warf ihn nach unſerem Schiffe. Auch hatte er ſo gut gezielt, daß er das Ende unſeres Steuerruders nur um ein Weniges verfehlte. Aber von dem niederſtürzenden Blocke ſchwoll die Fluth an und die rückwärts wallende Brandung riß unſer Schiff wieder ans Geſtade zurück. Mit aller Gewalt mußten wir die Ruder anſtrengen, um dem Ungeheuer aufs neue zu ent¬ fliehen und vorwärts zu kommen. Nun fing ich aber¬ mals an zu rufen, obgleich mich die Freunde, die einen zweiten Wurf befürchteten, mit Gewalt abhalten wollten. Höre, Cyklop, ſchrie ich, wenn dich je einmal ein Menſchenkind fragt, wer dir dein Auge geblendet, ſo ſollſt du eine beſſere Antwort geben, als du ſie deinen Cyklopen ertheilt haſt! Sag 'ihm nur: der Zerſtörer Troja's, Odyſſeus, hat mich geblendet, der Sohn des Laertes, der auf der Inſel Ithaka wohnt! So rief ich. Heulend ſchrie der Cyklop herüber: Wehe mir! So hat ſich denn die alte Weiſſagung an mir erfüllt! Denn einſt befand ſich unter uns ein Wahrſager mit Namen Telemus, des Eurytus Sohn, welcher hier im Lande der Cyklopen alt geworden iſt. Dieſer hat mir gewahr¬ ſagt, daß ich dereinſt durch Odyſſeus das Geſicht ver¬ lieren ſollte. Da meinte ich dann immer, es ſollte ein136 ſtattlicher Kerl daher kommen, ſo groß und ſtark, wie ich ſelber einer bin, und ſollte ſich mit mir im Kampfe meſſen. Und nun iſt dieſer Wicht gekommen, dieſer Weich¬ ling, hat mich mit Weine berückt und mir im Rauſch das Auge geblendet! Aber komm doch wieder, Odyſſeus! Dießmal will ich dich als Gaſt bewirthen, will dir vom Meeresgott ſicheres Geleite erflehen, denn, wiſſe, ich bin der Sohn Poſeidons. Auch kann nur er, und kein Anderer, mich heilen! Jetzt aber fing er an zu ſeinem Vater Neptunus zu beten, daß er mir die Heimkehr nicht vergönnen ſolle. Und kehrt er jemals zurück, endete er, ſo ſey es wenigſtens ſo ſpät, ſo unglücklich, ſo verlaſſen als möglich, auf einem fremden Schiffe, nicht auf dem eigenen; und zu Hauſe treffe er nichts als Elend an!

So betete er, und ich glaube, der finſtere Gott hat ihn gehört. Auch ergriff er einen zweiten, noch viel grö¬ ßeren Felsblock und ſchleuderte ihn uns nach. Auch die߬ mal verfehlte er uns nur um ein Weniges. Doch wider¬ ſtanden wir dem Gegenſtoße der Fluth und ruderten getroſt vorwärts. Bald waren wir auch wieder bei der Inſel angekommen, wo die übrigen Schiffe geborgen in der Bucht lagen und die Freunde, ſchon lange traurig am Strande gelagert, uns erwarteten. Sie empfingen uns, als wir anlandeten, mit einem lauten Freudenrufe. Als wir ans Land geſtiegen, war unſer erſtes Geſchäft, die Heerde des Cyklopen, die wir geraubt hatten, unter unſere Freunde zu vertheilen. Den Widder jedoch, unter deſſen Bauche ich entflohen war, ſchenkten mir meine Genoſſen im voraus von der Beute. Denſelben brachte ich ſogleich dem Jupiter zum Opfer dar, und verbrannte137 ihm die Schenkel des Thieres. Der Gott verſchmähte jedoch das Opfer und ließ ſich von uns nicht verſöhnen. Sein Beſchluß war, daß unſere Schiffe alle, und außer mir auch alle meine Freunde, untergehen ſollten.

Doch davon hatten wir keine Ahnung. Wir ſaßen vielmehr den ganzen Tag, bis die Sonne ins Meer ſank, vergnügt bei einander, ſchmauſten und tranken, als wären wir aller Sorgen ledig. Dann legten wir uns am Strande zum Schlummer nieder und ſchliefen beim Wogenſchlage ein. Sobald jedoch der Himmel ſich wieder röthete, ſaßen wir auch ſchon alle auf unſern Schiffen und ruder¬ ten weiter, der Heimath entgegen.

Odyſſeus erzählt weiter.

Der Schlauch des Aeolus. Die Läſtrygonen. Circe.

Hierauf, fuhr Odyſſeus fort, gelangten wir an eine Inſel, welche Aeolus, der Sohn des Hippotes, ein vertrauter Freund der Götter, bewohnte. Dieſes Eiland war ſchwimmend in der Fluth; eine eherne Mauer umgab daſſelbe mit ſtarrendem Erz und ihre Grundlage war ein glatter Fels, der rings um das Inſelland herumlief. Dieſer Aeolus hatte in ſeinem Palaſte ſechs Söhne und ſechs Töchter, und feierte mit ihnen und der Gattin alle Tage ein Feſt. Der gute Fürſt beherbergte uns einen ganzen Monat, und befragte uns recht eifrig über Troja, die Macht der Griechen und ihre Heimkehr. Ueber alles dieſes gab ich ihm genaue Auskunft, und als ich ihn endlich bat, unſere Heimfahrt zu befördern, bezeigte138 er ſich in Allem höchſt willig, und ſchenkte uns einen dickaufgeſchwollenen Schlauch, aus der Haut eines neun¬ jährigen Stiers bereitet. In dieſem waren ſämmtliche Winde eingeſchloſſen, die über die Erde dahin zu wehen pflegen; denn Aeolus war vom Vater Jupiter zum Ver¬ walter der Winde beſtellt, und hatte die Macht empfan¬ gen, welche Winde er wollte, los zu laſſen, und ihnen wieder Ruhe zu gebieten. Er ſelbſt nun band uns den Schlauch mit einem glänzenden Seile von Silberfaden in meinem Schiffe feſt und ſchnürte ihn ſo zuſammen, daß auch nicht die kleinſte Luft herauskonnte. Doch hatte er ſich darum der Winde nicht ganz entäußert, vielmehr von allen Gattungen noch genug zu Hauſe. Das zeigte er ſogleich. Denn als wir uns eingeſchifft hatten, ließ er unſern Schiffen den ſanfteſten Weſtwind nachwehen, der uns ſchnell und leicht in die Heimath bringen ſollte. Aber es wurde uns nicht ſo gut, ſondern unſere eigene Thorheit brachte uns in großes Unglück.

Schon ſegelten wir neun Tage und Nächte lang auf dem Meere vorwärts, und in der zehnten Nacht waren wir ſo nahe an meiner Heimathinſel Ithaka, daß wir die Wachtfeuer des Ufers erblicken konnten. Da mußte mich müden Mann der Schlummer beſchleichen, denn ich hatte mich unaufhörlich damit beſchäftigt, das Segel meines Schiffes zu ſtellen, um deſto ſchneller das Vaterland zu erreichen, und dieſes Geſchäft mochte ich keinem Andern anvertrauen. Während ich nun ſchlief, ſpannen meine Schiffsgeſellen ein Geſpräch darüber an, was wohl in dem Schlauch ſein möchte, welchen mir der König Aeolus zum Gaſtgeſchenke gegeben hätte. Da zeigte ſich, daß ſie alle in dem Wahn befangen waren,139 ich führe Silbers und Goldes genug in dem Sacke bei mir, und endlich fing einer der Lüſternſten alſo an: Der Odyſſeus iſt doch auch überall hoch geachtet und geehrt! Wie viel Beute hat er nicht nur von Troja mit hinweggebracht. Und wir, die wir alle die näm¬ lichen Gefahren und Mühſeligkeiten ausgeſtanden haben, wir kehren ſämmtlich mit leeren Händen in die Heimath zurück! Jetzt hat ihm Aeolus auch vollends einen Sack voll Silbers und Goldes gegeben! Wie wär's, wenn wir hineinguckten und auch erführen, wie viel Schätze da drinnen verborgen ſind? Dieſer böſe Rath leuchtete den übrigen Geſellen ſogleich ein. Der Schlauch wurde aufgelöſt, und kaum war das Band los, ſo brausten alle Winde mit einander daraus hervor, und die Winds¬ braut riß alle unſre Schiffe wieder hinaus in die offene See.

Ich ſelbſt fuhr über dem Brauſen aus dem Schlafe empor. Als ich das Unglück ſah, das angerückt war, überlegte ich einen Augenblick bei mir, ob ich nicht lieber über Bord ſpringen und mich in dem Abgrund begraben ſollte. Doch faßte ich mich wieder, und beſchloß zu bleiben, und alles, was da kommen könnte, zu ertragen. Die Wuth der Orkane warf uns an die Inſel des Aeo¬ lus zurück. Hier ließ ich die Meinigen auf den Schif¬ fen und eilte mit einem einzigen Freund und dem Herolde in die Burg des Fürſten, den ich mit ſeiner Gemahlin und ſeinen Kindern gerade beim Mittagsmahle traf. Sie ſtaunten alle nicht wenig über unſre Zurückkunft, als ſie aber vollends die Urſache vernahmen, erhob ſich der Verwalter der Winde zornig von ſeinem Sitze und rief mir entgegen: Verruchter Menſch, offenbar verfolgt140 dich die Rache der Götter! Einen ſolchen darf ich weder beherbergen noch geleiten! Geh mir aus dem Hauſe, Verworfener! Mit dieſem Fluche jagte er mich, den Seufzenden, von dannen, und ſchwermuthsvoll ſchifften wir weiter. Meinen Geſellen ſchwand aller Muth beim Ruder; es war ſchon wieder der ſiebente Tag vergangen, und nirgends wollte ſich ein Land zeigen.

Endlich kamen wir an eine Küſte und zu einer thurmreichen Stadt. Die letztere hieß Telepylus, und war der Sitz der Läſtrygonen. Das Alles wußten wir jedoch noch nicht und von der Stadt erblickten wir auch nichts. Der Hafen, in welchen wir einfuhren, war vor¬ trefflich, enggeſchloſſen und von allen Seiten durch ſchroffe Felſen geſchirmt, ſo daß das Gewäſſer in der Bucht ſtets ruhig und wellenlos war. Ich knüpfte mein Schiff zuerſt im Hafen an, erklomm das felſige Ufer, und ſchaute mich auf den Steinzacken, nach der Landſeite gewendet, um. Nirgends entdeckte ich gebautes Feld, keinen Ackers¬ mann, keine Stiere. Nur Rauch, wie von einer großen Stadt, ſah ich gen Himmel aufſteigen. Da ſchickte ich zur Erkundigung zwei auserleſene Freunde voraus mit einem Herold. Dieſe ſtiegen ans Land und fanden bald einen Weg, der über eine Waldung der Anhöhen jenem Rauche zuging und ſie endlich in die Nähe der Stadt führte. Vor dieſer begegneten ſie einer waſſerſchöpfenden Jungfrau, der rüſtigen Tochter des Läſtrygonenköniges Antiphates. Sie ſtieg eben zu der Quelle Artacia hinab, wo die Einwohner ihr Waſſer holten. Das Mädchen, über deſſen Größe ſie ſich nicht genug wundern konnten, bezeichnete ihnen freundlich ihres Vaters Wohnung und gab ihnen die gewünſchte Auskunft über Land, Stadt141 und Beherrſcher. Als ſie nun aber in die Stadt und an den Palaſt kamen, ſo erſtarrten ſie erſt vor Entſetzen. Da ſtand die Gemahlin des Läſtrygonenköniges vor ihnen, ſo rieſengroß, wie der Gipfel eines Berges. Denn die Läſtrygonen waren Rieſen und Menſchenfreſſer. Auch rief die Königin ſogleich ihrem Gemahl und dieſer griff zum Gruße nach dem einen der Geſandten und befahl ſogleich, ihn für ſich zum Abendeſſen zuzurüſten. Die zwei andern nahmen in der Todesangſt die Flucht nach den Schiffen. Der König aber rief brüllend die ganze Stadt unter die Waffen, und über tauſend Läſtrygonen, lauter Rieſen, den Giganten ähnlich, kamen heraus und ſchleuderten große Feldſteine nach uns, ſo daß man auf den Schiffen nichts als das Geſchrei Sterbender und das Zuſammenkrachen der getroffenen Schiffsbalken hörte. Nur mein eigenes Schiff war von mir hinter einem Felſen ſo angebunden worden, daß es die Steine nicht treffen konnten. Als nun die übrigen Schiffe am Ver¬ ſinken waren, nahm ich von ihrer Mannſchaft in daſſelbe auf, ſo viel meiner Freunde noch unverletzt waren, und entrann mit ihnen auf meinem Schiffe unverſehrt aus dem Hafen. Die andern Fahrzeuge alle verſanken mit einer Unzahl Todter und Sterbender in den Abgrund.

Nun fuhren wir auf dem einzigen Schiffe zuſam¬ mengedrängt weiter und kamen wieder an eine Inſel mit Namen Aeäa. Hier wohnte eine ſehr ſchöne Halb¬ göttin, die Tochter des Sonnengottes und der Oceanus¬ tochter Perſe, und Schweſter des Königes Aretes. Sie hieß Circe und hatte einen herrlichen Palaſt auf der Inſel. Wir aber wußten nichts von ihr. Wir fuhren in eine Bucht der Inſel ein, legten unſer Schiff vor142 Anker, und lagerten uns, müde von der Anſtrengung, voll Verdruß und Betrübniß, im Ufergraſe. Am dritten Morgen machte ich mich, mit Schwert und Lanze be¬ wehrt, auf, das Land auszukundſchaften. Endlich ward ich einen Rauch gewahr, und dieſer ſtieg aus Circe's Palaſt auf. Doch ging ich nicht ſogleich auf die Spur los, ſondern durch frühere Gefahren gewitzigt kehrte ich erſt zu meinen Freunden zurück und ſandte Späher aus. Wir hatten auch alle ſchon lange keine genügende Nahrung zu uns genommen. Da erbarmte ſich auf meinem Rückwege der Götter einer über uns, und ſchickte mir einen Hirſch mit hohem Geweih in den Weg, der durſtig aus dem Walde zum Bache hinunter in raſchen Sätzen ſtürzte. Ich erſchoß ihn im Laufe, indem ich ihn mit meiner Lanze mitten in den Rückgrat traf, daß ſie unten am Bauche wieder hervordrang. Dann zog ich die Lanze, mit dem Fuß auf das Thier geſtemmt, aus der Wunde, machte mir ein Seil von Weidenruthen, band es dem Wild um die Füße und trug es ſo um den Nacken gehängt zu dem Schiffe, indem ich mich, bei der unge¬ wohnten Laſt, unter dem Gehen auf meine Lanze ſtützen mußte.

Meine Begleiter fuhren freudig empor, als ſie die ſchöne Waldbeute auf meinen Schultern erblickten. Geſchwind wurde das Thier geſchlachtet, und ein Feſtſchmaus an¬ geſtellt, indem man, was von Brod und Wein zu fin¬ den war, auf dem Schiffe zuſammenſuchte. Nun meldete ich ihnen von dem Rauche, den ich entdeckt hatte. Aber meine Freunde wurden ganz muthlos, denn alle mußten an die Höhle des Cyklopen und den Hafen des Läſtry¬ gonenköniges denken, wo uns die Hoffnung beidemal143 ſo grauſam irre geführt hatte. Ich allein blieb muthig unter ihren Thränen. Ich theilte alle meine Genoſſen, ſo viel ihrer mir geblieben waren, in zwei Schaaren und gab der einen mich ſelbſt, der andern den Eurylo¬ chus zu Anführern. Dann ſchüttelten wir Looſe in einem ehernen Helme. Das Loos traf den Eurylochus, und er mußte ſich ſofort mit zweiundzwanzig Genoſſen, die ihm nur unter Seufzern folgten, auf den Weg machen, nach der Seite, von welcher ich den Rauch hatte auf¬ ſteigen ſehen.

Dieſe Schaar fand bald den herrlich aus behauenen Steinen aufgeführten Palaſt der Göttin Circe in einem anmuthigen Thale der Inſel verſteckt. Wie ſtaunten aber meine Genoſſen, als ſie in der Umzäunung des Hofes und vor der Pforte des Wohnhauſes Wölfe mit ſpitzigem Gebiß und Löwen mit zottigen Mähnen umherwandeln ſahen. Voll Angſt erblickten ſie die gräßlichen Ungeheuer und dachten ſchon darauf, wie ſie ſich aus dem unheim¬ lichen Orte durch die ſchleunigſte Flucht retten möchten. Aber ſchon waren ſie umringt von den wilden Thieren. Dieſe thaten ihnen jedoch nichts zu leide, ſtürzten auch nicht, wie ſolche Beſtien pflegen, mit einem Satze auf ſie zu, ſondern ſie näherten ſich ihnen langſam und ſchmei¬ chelnd, und trugen ihre langen Schweife wedelnd auf¬ gerichtet, wie Hunde, wenn ſie dem Herrn entgegen gehen, der ihnen gute Biſſen von einem Schmauſe mit¬ bringt. Es waren dieß, wie wir nachher erfuhren, lauter durch die Zauberkünſte Circe's verwandelte Menſchen.

Da die Thiere ihnen nichts anhatten, faßten meine Freunde wieder Muth und näherten ſich der Pforte des Palaſtes. Aus dieſem hörten ſie die wohlklingende Stimme144 Circe's, die eine vortreffliche Sängerin war, erſchallen. Sie ſang zu ihrer Arbeit; denn ſie ſaß eben über dem Gewebe eines großen wundervollen Gewandes, wie es nur Göttinnen zu wirken verſtehen. Der erſte, der einen Blick in den Palaſt geworfen hatte und ſich dieſes An¬ blicks erfreute, war der Held Polites, der mir beſonders befreundet war. Auf ſeinen Rath riefen unſre Freunde die Bewohnerin heraus, und ſie erſchien auch wirklich freundlich an der Pforte und nöthigte alle Angekomme¬ nen herein, mit Ausnahme ihres Führers Eurylochus, der ein beſonnener Mann war, und, durch die früheren Vorfälle gewarnt, irgend einen Betrug witterte.

Die Andern führte Circe gar holdſelig in ihren Palaſt ein und hieß ſie auf hohen, ſchmucken Seſſeln Platz nehmen. Alsdann brachte man Käſe, Mehl, Honig und ſüßen pramniſchen Wein herbei, woraus ein Gericht köſtlicher Kuchen von Circe geknetet wurde; während dieſer Arbeit aber miſchte ſie unvermerkt unheilbringende Säfte unter den Teig, welche die Armen von Sinnen bringen und ſie ihres Vaterlandes vergeſſen machen ſollten. Und wirklich wurden ſie alle mit einander, ſo wie ſie von der verführeriſchen Speiſe gekoſtet hatten, in borſtige Schweine verwandelt, fingen an zu grunzen, und wur¬ den von der Zauberin ſammt und ſonders in die Kofen getrieben. Hier ließ ihnen Circe ſtatt der köſtlichen Biſſen Steineicheln und Kornellen, wie andern Schwei¬ nen, zur Nahrung vorwerfen.

Eurylochus hatte von weitem das Alles zum Theile mit angeſehen, zum Theile geſchloſſen. Er eilte, was er nur konnte, zu unſrem Schiffe zurück, um das ſchreckliche Schickſal unſrer Freunde mir und den Zurückgebliebenen145 zu verkündigen. Als er aber bei uns ankam, konnte er anfangs kein einziges Wort hervorbringen, weil ihm die entſetzliche Angſt noch immer die Sprache raubte; aus ſeinen Augen ſtürzten Thränen und ſeine Seele war ganz in Jammer verſenkt. Wie wir nun alle voll Verwunderung in ihn drangen zu ſprechen, fand er endlich Worte und erzählte das jämmerliche Schickſal der andern Freunde. Auf dieſe Schreckensbotſchaft warf ich augenblicks mir das Schwert um die Schultern und den Bogen darüber, dann befahl ich ihm, mich auf der Stelle den Weg nach dem Palaſte zu führen. Er aber umſchlang mir mit beiden Armen die Knie und flehte mich an, zurück bleiben zu dürfen, und ſelbſt zurück zu bleiben. Glaube mir, ſchluchzte er, du kehreſt weder ſelbſt um, noch bringſt du Einen der verlorenen Freunde zurück. O laß uns von dieſem verwünſchten Strande fliehen! Ihm nun erlaubte ich zu bleiben; ich ſelbſt aber gehorchte der Nothwendigkeit und ging. Auf dem Wege begegnete mir ein blühender Jüngling, mit dem holdeſten Reiz der Jugend geſchmückt und ſtreckte mir den goldenen Stab entgegen, an welchem ich Hermes, den Boten der Himmliſchen, erkannte. Er faßte mich freundlich bei der Hand und ſprach: Armer, was renneſt du ſo, aller Gegend unkundig, durch das Waldgebirg? Deine Freunde ſind bei der Zauberin Circe in Schweine¬ ſtälle geſperrt. Willſt du gehen, ſie zu erlöſen? Eher wirſt auch du zu den Andern geſteckt werden! Nun wohl, ich will dir ein Mittel an die Hand geben, dich zu be¬ wahren. Wenn du dieſes Heilkraut bei dir trägſt, (und mit dieſen Worten grub er eine ſchwarze Wurzel mit milchweißer Blüthe aus dem Boden, und nannte ſieSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 10146mir Moly,) ſo vermag ihr Betrug nicht dir zu ſchaden. Sie wird dir nämlich ein ſüßes Weinmuß bereiten, und ihre Zauberſäfte darein mengen. Dieſes Kraut aber wird ſie verhindern, dich in ein Vieh zu verwandeln. Wenn ſie dich dann mit ihrem langen Zauberſtabe berührt, ſo reiß du dir nur dein ſcharfes Schwert von der Hüfte, und renn 'auf ſie los, als wollteſt du ſie ermorden. Dann zwingſt du ihr leicht einen heiligen Eid ab, daß ſie kei¬ nerlei Tücke an dir üben wolle. Du magſt alsdann ohne Gefahr bei ihr wohnen und ihr in Allem zu Willen ſeyn, und wenn ihr vertraut geworden ſeyd, wird ſie dir auch deine Bitte nicht abſchlagen und dir deine Freunde zurückgeben!

So ſprach Hermes und verließ mich, in den Olymp zurückkehrend. Ich ſelbſt eilte unruhig und nachdenklich dem Palaſte der Zauberin entgegen. Auf meinen Ruf öffnete ſie die Pforte und hieß mich freundlich herein¬ treten, was ich, obwohl mit einem Herzen voll Ingrimm, auch that. Nun führte ſie mich zu einem herrlichen Thronſeſſel, rückte mir einen Schemel unter die Füße, und mengte ſofort in goldener Schale wirklich ihr Wein¬ muß. Sie konnte kaum erwarten, bis ich es ausgeleert, und ohne im mindeſten an meiner Verwandlung, die auf der Stelle eintreten würde, zu zweifeln, berührte ſie mich mit ihrem Stabe, und ſprach: fort mit dir in den Schweineſtall, zu deinen Freunden! Ich aber riß das Schwert von der Seite und rannte wie mordbegierig auf die Zauberin ein. Nun ſchrie ſie laut auf, warf ſich zu Boden und umfaßte meine Kniee, indem ſie mir jammernd entgegenrief: Wehe mir! Wer biſt du, Ge¬ waltiger, den mein Trank nicht zu verwandeln vermag? 147Noch kein anderer Sterblicher hat der Stärke meines Zaubers widerſtanden. Biſt du vielleicht der erfindungs¬ reiche Odyſſeus ſelbſt, deſſen Ankunft, wenn er von Troja zurückkehrte, mir Hermes ſchon lange geweiſſagt hat? Wenn du es biſt, ſo ſtecke dein Schwert in die Scheide, und laß uns Freunde werden! Ich aber veränderte meine drohende Stellung nicht, und antwortete: Wie kannſt du verlangen, Circe, daß ich mich freundlich ge¬ gen dich erweiſen ſoll, da du meine Begleiter in deinem Hauſe zu Schweinen umgewandelt haſt? Muß ich nicht vermuthen, daß du nur darum dich ſo zuvorkommend gegen mich beträgſt, um auch meinem Leibe irgend ein Leid anzuthun? Ich kann nur alsdann dein Freund werden, wenn du mir einen heiligen Eid ſchwörſt, mir auf keinerlei Weiſe ſchaden zu wollen! Die Göttin be¬ ſchwur auf der Stelle, was ich verlangte, und nun war auch ich zufrieden und überließ mich ſorglos der Nacht¬ ruhe.

Früh Morgens waren vier Dienerinnen, lauter ſchöne und edelgeborene Nymphen, damit beſchäftigt, die Säle ihrer Herrin in Ordnung zu bringen. Die eine bedeckte die Thronſeſſel mit herrlichen purpurnen Polſtern, eine zweite ſtellte ſilberne Tiſche vor die Seſſel und ſetzte goldene Körbe darauf, die dritte miſchte in einem ſilbernen Kruge den Wein und vertheilte goldene Becher auf den Tiſchen umher; von der vierten endlich wurde friſches Quellwaſſer herbeigetragen, der Keſſel auf den Dreifuß geſetzt und die Glut darunter geſchürt, bis das Waſſer kochte. Dieſes mußte mir zu einem erquickenden Bade dienen, und als ich darauf geſalbt und angekleidet war, ſollte ich in Circe's Geſellſchaft das Morgenmahl10 *148genießen. Aber obgleich reichliche Speiſen vor mir auf meinem Tiſche ſtanden, ſtreckte ich doch nicht die Hände darnach aus, ſondern ſaß, ſchweigend und kummervoll meiner ſchönen Wirthin gegenüber. Als dieſe mich end¬ lich nach der Urſache meines ſtummen Grames fragte, da ſprach ich: Welcher Mann, der noch ein Gefühl für Recht und Billigkeit hat, könnte ſich auch an Speiſe und Trank erfreuen, ſo lange er ſeine Freunde im Elende weiß? Wenn du willſt, daß ich mit Luſt bei dir genieſſen ſoll, ſo laß mich meine lieben Genoſſen mit Augen ſehen!

Circe ließ ſich nicht lange bitten, ſie verließ das Gemach, ihren Zauberſtab in der Hand, Draußen ſchloß ſie die Thüre des Kofens auf, und trieb alle meine Freunde heraus, die mich, der ich inzwiſchen auch her¬ beigekommen war, in der Geſtalt neunjähriger Schweine umwimmelten. Nun ging ſie bei allen umher und be¬ ſtrich jeden mit einem andern Safte. Auf einmal ſchäl¬ ten ſie ſich nun aus der borſtigen Hülle und wurden alle zu Männern und zwar jünger und ſchöner, als ſie vorher geweſen waren. Freudig eilten ſie auf mich zu und reichten mir dir Hände; als ſie aber ihres elenden Schickſals gedachten, fingen ſie alle zu weinen und zu jammern an. Die Göttin ſprach darauf ſchmeichelnd zu mir: Nun, lieber Held, habe ich ja deinen Willen gethan. Thu 'du nun mir auch den Gefallen, und laß dein Schiff ans Ufer ziehen, birg ſeine Ladung in den Felſengrotten des Ufers und laß es dir dann mit deinen lieben Genoſſen wohl bei mir ſeyn!

Ihre Schmeichelrede gewann mein Herz. Ich ſuchte das Schiff und die zurückgebliebenen Freunde auf, die mich ſchon lange für todt beklagt hatten und nun mit149 Freudenthränen auf mich zuſtürzten. Als ich ihnen den Vorſchlag machte, das Schiff ans Ufer zu ziehen und bei der Göttin einzukehren, zeigten ſich auch ſogleich alle willig, nur Eurylochus wehrte die Genoſſen ab und ſprach zu ihnen: Habt ihr denn ein gar ſo großes Ver¬ langen nach eurem Verderben, daß ihr in den Palaſt der Zauberin eingehen wollt, die uns Alle in Löwen, Wölfe und Schweine verwandeln und zwingen wird, in dieſer ſcheußlichen Geſtalt ihr Haus zu hüten? Wie iſt der Cyklop mit unſern Freunden umgegangen, als der Unverſtand des Odyſſeus uns ihm in die Hände gelie¬ fert? Als ich dieſe Schmähung hörte, empfand ich einige Luſt in mir, das Schwert zu ziehen und ihm den Kopf vom Rumpfe zu ſchlagen, obgleich er nahe mit mir verwandt war. Die Freunde ſahen die Bewegung, die ich machte, fielen mir in den Arm und brachten mich zur Beſinnung.

Nun brachen wir Alle auf, und Eurylochus ſelbſt, durch meine Drohung erſchreckt, weigerte ſich nicht zu folgen. Inzwiſchen hatte Circe unſre Freunde gebadet, mit Oele geſalbt und herrlich bekleidet, und wir fanden ſie Alle ganz fröhlich beim Schmaus verſammelt. Da war ein Weinen und Umarmen und Begrüßen! Die Göttin ſprach Allen Muth ein und that uns ſo viel Liebes, daß wir von Tag zu Tag fröhlicher wurden und das ganze Jahr über bei ihr blieben. Wie aber nun das Jahr zu Ende ging, riefen mich meine Be¬ gleiter und ermahnten mich, endlich der Heimkehr einge¬ denk zu ſeyn. Sie bewegten mir auch mit ihrer Rede das Herz, und noch an demſelben Abend umfaßte ich Circe's Kniee und flehte ſie an, Wort zu halten, und150 mich, wie ſie mir anfangs gelobt hatte, zur Heimath zu entſenden. Die Zauberin antwortete: Du haſt recht, Odyſſeus; es geziemt mir nicht, dich länger mit Zwang bei mir zu halten, aber bevor du heim kommſt, müßt ihr doch noch einen Umweg machen. Ihr müßt das Reich des Hades oder Pluto, und der Perſephone oder Proſerpina, das Schattenreich beſuchen, und die Seele des blinden Greiſen, des thebaniſchen Propheten Tireſias um die Zukunft befragen; denn dieſem iſt auch im Tode noch ſein voller Geiſt und die Sehergabe durch Pro¬ ſerpina's Gunſt verblieben; die Seelen der andern Todten ſind alle nur wandelnden Schatten gleich.

Als ich dieſen Beſchluß vernahm, fing ich zu wei¬ nen und zu jammern an; mir graute vor der Behauſung der Todten und ich fragte, wer mich denn geleiten ſollte, denn eine Schifffahrt in die Unterwelt hat noch kein Sterb¬ licher bei Leibes Leben unternommen. Laß dich die Sorge um das Geleite deines Schiffes nicht bekümmern, antwortete mir die Göttin, richte nur getroſt den Maſt in die Höhe, und ſpanne die Segel aus! Der Nordwind wird euch ſchon hintreiben; biſt du einmal am Geſtade des Oceanus, des Stromes, der die Erde umgürtet, ſo landeſt du an einem niedrigen Ufer, wo du Erlen, Pap¬ peln und Weidenbäume beiſammen erblickſt. Dieß iſt der Hayn Perſephone's; dort iſt auch der Eingang in die Unterwelt. Hier, in einem Thale bei einem Felſen, wo die ſchwarzen Ströme Pyriphlegeton und Kocytus, der letztere ein Arm des Styx, ſich in den Acheron oder die Unterwelt ſtürzen, wirſt du eine Kluft finden, durch welche der Weg in das Schattenreich geht. Da gräbſt du eine Grube und bringſt den abgeſchiedenen Seelen ein151 Todtenopfer von Honig, Milch, Wein, Waſſer und Mehl dar, gelobſt ihnen auch ein Schlachtopfer, wenn du nach Ithaka heimkommſt, und noch außerdem dem Tireſias einen ſchwarzen Widder; dann opferſt du noch zwei ſchwarze Schafe, ein männliches und ein weibliches, und blickſt dem vereinigten Strome durch die Kluft in die Tiefe nach, während deine Genoſſen die Thiere den Göttern verbrennen und zu ihnen beten. Da werden dir die Seelen der Todten erſcheinen und die Luftgebilde werden herauf ans Licht zu dringen begehren, und von dem Blute der Todtenopfer koſten wollen. Du aber wehreſt ſie mit dem Schwerte ab und erlaubſt ihnen nicht, näher zu gehen, bis du den Tireſias befragt haſt. Denn dieſer wird bald herannahen und dir auch über deine Heimfahrt Aufſchluß geben.

Dieſe Rede tröſtete mich einigermaßen. Am andern Morgen verſammelte ich meine Freunde und wollte ſie zum Aufbruche mahnen. Nun hatte ſich einer von ihnen, mit Namen Elpenor, der jüngſte von Allen, aber weder beſonders muthig noch ſehr verſtändig, vom ſüßen Weine Circe's trunken, von den Freunden entfernt und, um küh¬ lere Luft zu athmen, auf dem platten Dache des Palaſtes gelagert. Dort war er am vorigen Abend eingeſchlum¬ mert und hatte die Nacht über in ungeſtörtem Schlafe gelegen. Als er nun durch das Gewühl der ſich erhe¬ benden und zur Verſammlung eilenden Freunde plötzlich aufgeweckt wurde, fuhr er empor und vergaß in der Betäubung, wo er war; anſtatt ſich zur Treppe zu wenden, taumelte er über das Dach hinaus und fiel den hohen Palaſt herunter, ſo daß ihm das Genick zer¬ brach und ſein Geiſt auf der Stelle zum Hades fuhr.

152

Ich aber ſammelte meine Begleiter um mich her und ſprach: Ihr meinet nun wohl, theure Freunde, nun gehe es geraden Weges ins liebe Vaterland? Aber ach, dem iſt leider nicht ſo; die Göttin Circe hat uns eine ganz andere Fahrt vorgeſchrieben. Wir ſollen hinunter in das ſchreckliche Reich des Hades, und dort die Seele des thebaniſchen Sehers Tireſias wegen unſerer Heim¬ fahrt befragen! Als meine Genoſſen dieſes hörten, da brach ihnen faſt das Herz vor Kummer; ſie jammerten laut und rauften ſich die Haare aus. Aber ihre Klage half ihnen nichts. Ich befahl ihnen aufzubrechen, und mit mir zum Schiffe zu wandeln. Circe war uns vor¬ ausgeeilt, ſie hatte die zwei Opferſchafe uns ins Schiff bringen und dort anbinden laſſen, auch uns mit Honig, Wein und Mehl für das Opfer reichlich verſorgt. Als wir ankamen, ſchlüpfte ſie mit einem ſtummen Abſchieds¬ gruße leicht an uns vorüber. Wir aber zogen das Schiff ins Meer, richteten den Maſt und die Segel, und ſetzten uns betrübt auf die Ruderbänke. Ein günſtiger Fahrwind, den uns Circe ſchickte, blies in die Segel und bald waren wir wieder auf der hohen See.

Odyſſeus erzählt weiter.

Das Schattenreich.

Die Sonne tauchte ins Meer, fuhr Odyſſeus nach einer Pauſe fort den horchenden Phäaken zu er¬ zählen, als wir von einem wunderbaren Fahrwinde153 vorwärts getrieben, am Ende der Welt beim Geſtade der Cimmerier, das in ewigem Nebel liegt und von den Sonnenſtrahlen niemals beleuchtet wird, am Strome Oceanus, der die Welt umgürtet, anlangten. Wir kamen an den Fels und die Zuſammenſtrömung der Todtenflüſſe, wie es uns Circe bezeichnet hatte, und opferten ganz nach ihrer Vorſchrift. So wie das Blut aus den Gur¬ geln der Schafe in die Grube floß, tauchten tief aus der Unterwelt die Seelen der Abgeſchiedenen nach der Felſenkluft empor, in welcher wir uns, den Strom zur Seite, befanden. Jünglinge und Greiſe, Jungfrauen und Kinder kamen, auch viele Helden mit klaffenden Wunden und in blutbeſudelten Rüſtungen; ſchaaren¬ weiſe, mit hohlem, grauſenvollen Stöhnen umflatterten ſie, nach Art der Schatten, die Opfergrube, ſo daß mich ein Entſetzen ankam. Schnell ermahnte ich die Genoſſen, nach Circe's Rath die geopferten Schafe zu verbrennen und zu den Göttern zu flehen. Ich ſelbſt riß das Schwert von der Hüfte, und wehrte den Luftgebilden, vom Opfer¬ blute zu lecken, bevor ich den Tireſias befragt hätte.

Zu allererſt nun nahte ſich mir die Seele unſres Freundes Elpenor, deſſen Leib noch unbegraben in Circe's Wohnung lag. Mit Thränen im Auge klagte mir der Schatten ſein Verhängniß, und beſchwor mich, nach der Inſel Aeäa zurückzufahren und ihm ein ehrliches Begräb¬ nis, angedeihen zu laſſen. Ich verſprach es ihm und das Schattenbild lagerte ſich mir gegenüber. So ſaßen wir in wehmüthigem Geſpräche, dort die Schattengeſtalt, hier ich, das Schwert quer über dem Opferblute haltend. Bald geſellte ſich zu uns auch die Mutter des Verſtor¬ benen, Antiklea, die ich noch lebendig verlaſſen hatte,154 als ich gegen Ilios aufbrach. Sie ſah mich bittend und ſchmerzlich an und entfernte ſich endlich mit dem Sohne.

Nun erſchien die Seele des Thebaners Tireſias, einen goldenen Stab in der Rechten. Er erkannte mich ſogleich und hub an: Edler Sohn des Laertes, was trieb dich, das Sonnenlicht zu verlaſſen und dieſen Ort des Entſetzens zu beſuchen? Aber ziehe nur dein gezück¬ tes Schwert von der Grube zurück, damit ich von dem Opferblute trinke und ſo in den Stand geſetzt werde, dir dein Schickſal zu weiſſagen. Ich wich bei dieſem Worte von der Grube und ſtieß mein Schwert in die Scheide. Nun trank der Schatten von dem ſchwarzen Blut und fing alsbald zu wahrſagen an: Du forſcheſt bei mir, Odyſſeus, nach einer fröhlichen Heimkehr ins Vaterland; aber ein Gott wird ſie dir ſchwer machen, und du kannſt dich der Hand des Erderſchütterers nicht entziehen. Du haſt ihn ſchwer dadurch beleidigt, daß du ſeinem Sohne Polyphemus das Auge geblendet haſt. Dennoch ſoll dir die Rückkehr nicht ganz abgeſchnitten ſeyn; halte nur dein und deiner Genoſſen Herz im Zaume. Zuerſt landet ihr auf der Inſel Thrinakia: wenn ihr dort die heiligen Rinder und Schafe des Sonnengottes unberührt laſſet, ſo dürfte euch die Heimfahrt wohl ge¬ lingen. Verletzet ihr ſie aber, dann weiſſage ich deinem Schiff und deinen Freunden Verderben. Wenn du ſelbſt auch entrinneſt, ſo kommſt du ſpät, elend und einſam nach Hauſe, auf einem fremden Schiff. Auch dort fin¬ deſt du nur Jammer; übermüthige Männer, die dein Gut verpraſſen und um dein Weib Penelope freien. Wenn du dieſe, ſey es mit Liſt oder Gewalt, bezwungen und getödtet, und ruhiges Glück dir lange gelächelt hat, ſo155 nimm, doch erſt am Abende deines Lebens, dein Ruder auf die Schulter und wandere immer fort und fort, bis du zu Menſchen kommſt, die das Meer nicht kennen, keine Schiffe haben, ihre Speiſe mit keinem Salze würzen. Und wenn dir dort in der Fremde ein Wanderer be¬ gegnet, und dir ſagt, du trageſt des Worflers Schaufel auf dem Rücken, dann ſtoße das Ruder in die Erde, bring dem Poſeidon ein Opfer und wandre wieder heim. Endlich wird dich, während dein Reich blühet, ein fried¬ licher Greiſentod auf dem Meere hinwegnehmen.

Dieß war der Inhalt ſeiner Weiſſagung. Ich dankte dem Seher, aber ein neuer Gegenſtand, der ſich mir zeigte, legte mir eine Frage auf die Zunge. Was ſehe ich dort? ſprach ich zu ihm. Das iſt ja der Schatten meiner Mutter! Wie ſtumm ſitzt ſie am Opferblute, ohne ihren Sohn anzuſchauen! Wie mache ich es, ehrwür¬ diger Greis, daß ſie mich erkenne? Vergönne ihr nur, erwiederte der Seher, vom Opferblute zu trin¬ ken, ſo wird ſie ihr Schweigen bald brechen. Da wich ich von der Grube mit dem Schwerte zurück und die Mutter trank. Urplötzlich erkannte ſie mich, heftete ihr thränendes Auge auf mich und ſprach: Lieber Sohn, wie kamſt du lebendig in die Todesnacht herab? Haben dich der Ocean und die andern furchtbaren Ströme nicht gehindert? Irreſt du noch immer ſeit Troja's Fall um¬ her und kommſt nicht von deiner Heimath Ithaka? Nachdem ich ihr hierüber Aufſchluß gegeben hatte, be¬ fragte ich die Mutter über ihren Tod, denn ich hatte ſie lebend verlaſſen, als ich gen Troja zog. Auch wie es ſonſt bei uns zu Hauſe ſtehe, fragte ich ſie mit pochendem Herzen. Und der Schatten erwiederte: Deine156 Gattin, nach der du ſo ängſtlich fragſt, weilt in deinem Hauſe mit unerſchütterlicher Treue, und Tag und Nacht weint ſie um dich. Deinen Szepter führt kein anderer, ſondern dein Sohn Telemachus verwaltet dein Gut. Dein Vater Laertes hat ſichs auf's Land zurückgezogen, und kommt nie mehr in die Stadt; dort ſchläft er nicht in einer Fürſtenkammer, nicht in einem weichen Bette; neben dem Heerdfeuer liegt er, wie andere Knechte, auf dem Stroh, in ein ſchlechtes Kleid gehüllt, den ganzen Win¬ ter über; im Sommer bettet er ſich unter freiem Him¬ mel auf ein Bündel Reiſig; und das Alles thut er aus Jammer über dein Geſchick. Ich ſelbſt bin dem Gram über dich, mein lieber Sohn, erlegen, und keine Krank¬ heit hat mich dahingerafft.

So ſprach ſie und machte mich vor Sehnſucht er¬ beben. Als ich ſie aber in die Arme ſchließen wollte, zerſtob ſie wie ein Traumbild. Nun kamen andere Schat¬ ten daher, viele Gattinnen berühmter Helden. Sie tranken alle von dem Opferblute und erzählten mir ihre Geſchicke. Als die Frauen nacheinander wieder verſchwunden waren, ward mir ein Anblick zu Theil, der mir das Herz im Buſen bewegte. Es kam nämlich die Seele des Völker¬ fürſten Agamemnon heran. Schwermüthig bewegte ſich der große Schatten nach der Opfergrube und trank von dem Blute. Da blickte er auf, erkannte mich und fing zu weinen an. Vergebens ſtreckte er die Hände aus, mich zu erreichen; in den Gliedern war keine Spannkraft; er ſank zurück zur Ferne und antwortete von dort aus auf meine ſehnlichen Fragen: Edler Odyſſeus, ſprach er, mich hat nicht, wie du wähnſt, der Zorn des Mee¬ resgottes verderbt, nicht Feinde auf der Veſte haben157 mich bezwungen. Wie man den Stier an der Krippe erſchlägt, hat mich mein Weib Klytämneſtra mit ihrem Buhlen Aegiſthus im Bade erſchlagen, mich, der ich nach Hauſe voll Sehnſucht nach Frau und Kindern gekommen war. Darum rathe ich dir, Odyſſeus, zeige dich nicht allzugefällig gegen die Gattin, vertrau 'ihr aus Zärtlichkeit nicht ein jegliches Geheimniß an. Doch du haſt ein verſtändiges und tugendhaftes Weib, du Glücklicher! Und das Knäblein, das an ihrer Bruſt lag, als wir Griechenland verließen, dein Telemachus, wird, als Jüngling, voll herzlicher, voll kindlicher Liebe ſeinen Vater empfangen. Mein ruchloſes Weib hat mir nicht einmal gegönnt, die Augen an dem Anblicke meines Sohnes zu laben, bevor ſie mich ermordete! Dennoch rathe ich dir, heimlich und nicht öffentlich, am Geſtade Ithaka's zu landen: denn es iſt doch keinem Weibe zu trauen!

Mit dieſem finſtern Worte wandte ſich der Schatten um, und verſchwand. Nun kamen die Seelen des Achilles und ſeines Freundes Patroklus, des Antilochus und des großen Ajax. Zuerſt trank Achilles, erkannte mich und ſtaunte. Ich erzählte ihm warum ich gekommen. Als ich aber den berühmteſten Griechen auch im Hades, als Gebieter der Geiſter, ſelig pries, erwiederte er mißmuthig: Sprich mir nichts Tröſtliches vom Tode, Odyſſeus! Lieber wollte ich als Taglöhner auf Erden das Feld be¬ ſtellen, ohne Eigenthum und Erbe, als über die ſämmt¬ liche Schaar der Todten herrſchen! Dann mußte ich ihm vom Heldenleben ſeines Sohnes Neoptolemus erzäh¬ len, und als er viel Gutes und Rühmliches über ihn vernommen, wandelte der erhabene Schatten zufriedenen158 und mächtigen Schrittes der Tiefe wieder zu und verlor ſich in derſelben.

Auch die andern Seelen der Abgeſchiedenen, die in¬ zwiſchen von dem Blute getrunken hatten, ſtanden mir nun Rede. Nur der Schatten des Ajax, den ich einſt im Streit um die Waffen des Achilles beſiegt und der ſich deßwegen entleibt hatte, ſtellte ſich ſeitwärts und zürnte. Mit ſanften Worten redete ich ihn an: Telamons Sohn, kannſt du denn auch im Tode den Unmuth nicht ver¬ geſſen, in welchen dich die Rüſtung des Achilles verſetzt hat, welche die Götter den Argivern doch nur zum Fluche beſtimmt hatten? Denn durch ſie biſt du, der ein Thurm war in der Feldſchlacht, dahingeſunken, daß wir dich nächſt Achilles bejammern mußten. Doch iſt keiner von uns an deinem Tode ſchuldig; es war ein Ver¬ hängniß, das dir und uns Jupiter zugeſandt hat. Darum, edler Fürſt, bezwinge dein Gemüth, nahe mir, rede mit mir! Aber der Schatten antwortete nichts, ſondern ging ins Dunkel zu andern abgeſchiedenen Seelen.

Nun erblickte ich auch die Schatten längſt verſtor¬ bener Helden: den Todtenrichter Minos; den gewaltigen Jäger Orion, welcher die Keule in der Hand, Schatten¬ bilder von Luchſen und Löwen aufſcheuchte; den Tityus, dem für ſeine Frevel zwei Geier, von jeder Seite einer, an der Leber fraßen; den Tantalus, der dürſtend mitten im Waſſer ſtand, daß es ihm das Kinn beſpülte, aber ſo oft er trinken wollte, wich die Welle zurück und ver¬ ſiegte, daß der ſchwarze Boden zu ſeinen Füßen ſichtbar wurde; auch ragten Bäume voll Früchten über ſein Haupt herein, voll Birnen, Feigen, Granaten, Oliven, Aepfeln: wenn er aber, der Hungernde, ſie mit den159 Händen haſchen wollte, da ſchwang der Sturm die Aeſte aufwärts den Wolken zu, und ſeine Hand griff in die leere Luft. Auch den Siſyphus ſah ich, den vergebliche Pein ab¬ quälte: er war bemüht, ein großes Felſenſtück einen Berg empor zu ſchieben; angeſtemmt, mit Händen und Füßen arbeitete er ſich ab, und wälzte den Stein die Berghöhe hinauf. So oft er aber ſchon glaubte ihn auf dem Gipfel droben zu haben, glitt ihm das Felsſtück aus den Händen und rollte ſchändlicher Weiſe den Berg hinunter. Da begann denn ſeine Anſtrengung von neuem: der Angſtſchweiß floß ihm von den Gliedern, und das Haupt hüllte eine Wolke von Staub ein. Ihm zunächſt ſtand der Schatten des Herkules, doch nur ſein Schatten, denn er ſelbſt lebt als Gemahl der Jugend¬ göttin ein ſeliges Leben unter den Olympiſchen. Sein Schatten aber ſtand, finſter, wie die Nacht, hielt den Pfeil auf der Bogenſehne und blickte ſchrecklich umher, als wollte er ihn eben gegen den Feind abſchnellen. Ein prächtiges Wehrgehenk, mit allerlei Thiergeſtalten ge¬ ſchmückt, hing ihm über die Schultern.

Auch er verſchwand, und nun kam noch ein ganzes Gedräng anderer Heldenſeelen. Gerne hätte ich den Theſeus und ſeinen Freund Pirithous herauserkannt. Aber bei dem grauſenvollen Getöſe der unzähligen Schaaren kam mich plötzlich eine ſolche Furcht an, als ſtreckte mir die Meduſe ihr Gorgonenhaupt entgegen. Eilig verließ ich mit meinen Genoſſen die Kluft und wandte mich wie¬ der zum Geſtade des Aeanus und zu unſrem Schiffe zu. Dann ſegelten wir, wie ich es dem Schatten Elpenors verſprochen hatte, nach Circe's Inſel zurück.

160

Odyſſeus erzählt weiter.

Die Sirenen. Scylla und Charybdis. Thrinakia und die Heerden des Sonnengottes. Schiffbruch. Odyſſeus bei Kalypſo.

Nachdem wir die Gebeine unſres verunglückten Ge¬ noſſen, fuhr Odyſſeus fort, auf der Inſel Aeäa ver¬ brannt und zur Erde beſtattet, auch dem Todten einen Grabhügel aufgehäuft hatten und eine Denkſäule darauf geſetzt, und von Circe ſehr freundlich empfangen und bewirthet worden waren, fuhren wir, von ihr vor allerlei Gefahren gewarnt und reichlich mit Lebensmitteln ver¬ ſorgt, weiter.

Das erſte Abenteuer, das wir zu beſtehen hatten und von welchem uns Circe geweiſſagt, erwartete uns am Eilande der Sirenen. Dieſes ſind ſangreiche Nym¬ phen, die jedermann bezaubern, der auf ihr Lied horcht. Am grünen Geſtade ſitzen ſie und ſingen ihre Zauber¬ lieder dem Vorüberfahrenden zu. Wer ſich zu ihnen hin¬ überlocken läßt, iſt ein Kind des Todes, und man ſieht deßwegen an ihrem Ufer moderndes Gebein genug umherliegen. Bei der Inſel dieſer verführeriſchen Nym¬ phen angekommen, hielt unſer Schiff ſtille, denn der Fahrwind, der uns bisher gelinde vorwärts getrieben, hörte mit einemmal auf zu wehen, und das Gewäſſer ſchimmerte wie ein Spiegel. Meine Begleiter nahmen die Segel von den Stangen, falteten ſie zuſammen, legten ſie im Schiffe nieder, und ſetzten ſich ans Ruder, um161 das Schiff ſo vorwärts zu bringen. Ich aber gedachte an das Wort, das Circe, die mir dieſes Alles voraus¬ ſagte, geſprochen hatte. Wenn du an die Inſel der Si¬ renen kommſt und ihr Geſang euch droht, ſo verkleide die Ohren deiner Freunde mit Wachs, daß ſie nichts hören; begehrſt du aber ſelbſt ihr Lied zu vernehmen, ſo befiehl, daß man dich, an Händen und Füßen gefeſſelt, an den Maſt binde, und je ſehnlicher du deine Freunde bitteſt, dich loszubinden, deſto feſter ſollen ſie die Seile ſchnüren!

Daran dachte ich jetzt, zerſchnitt eine große Wachs¬ ſcheibe und knetete ſie mit meinen nervichten Fingern; das weiche Wachs ſtrich ich ſodann meinen Reiſegenoſſen in die Ohren. Sie aber banden mich auf mein Geheiß aufrecht unten an den Maſt; dann ſetzten ſie ſich wie¬ der an die Ruder und trieben das Fahrzeug getroſt vor¬ wärts. Als die Sirenen dieſes heranſchwimmen ſahen, ſtanden ſie in der Geſtalt reizender Mägdlein am Ufer und ſtimmten mit wunderſüßer Kehle ihren hellen Geſang an, der alſo lautete:

Komm, preisvoller Odyſſeus, erhabener Ruhm der Achajer, Lenke das Schiff ans Land, um unſere Stimme zu hören. Denn noch ruderte Keiner vorbei im dunklen Schiffe, Eh 'er aus unſerem Munde die Honigſtimme gehöret: Jener ſodann kehrt fröhlich zurück, und Mehreres wiſſend. Denn wir wiſſen dir Alles, wie viel in den Ebenen Troja's Argos Söhn' und die Troer vom Rath der Götter geduldet, Alles was irgend geſchah auf der vielernährenden Erde.

So ſangen ſie. Mir aber ſchwoll das Herz im Buſen vor Begierde ſie zu hören; ich winkte meinen Freunden mit dem Kopfe, mich loszubinden. Aber ſie mit ihren tauben Ohren ſtürzten ſich nur um ſo raſcherSchwab, das klaſſ. Alterthum III. 11162auf's Ruder und zwei von ihnen, Eurylochus und Peri¬ medes, kamen herbei und legten mir, wie ich früher befohlen hatte, noch viel ſtärkere Stricke an und ſchnür¬ ten auch die alten feſter zuſammen. Erſt als wir glück¬ lich vorüber geſteuert und ganz auſſer dem Bereiche der Sirenenſtimmen waren, nahmen meine Freunde ſich ſelbſt das Wachs aus den Ohren und mir löſten ſie die Feſſeln wieder. Ich aber dankte ihnen herzlich für ihre Beharr¬ lichkeit.

Kaum waren wir etwas vorwärts gerudert, als ich von ferne Waſſerſtaub und eine mächtige Brandung ge¬ wahr wurde. Das war die Charybdis, ein täglich drei¬ mal unter einem Fels hervorquellender und wieder zurück¬ wallender Strudel, der jedes Schiff verſchlingt, das in ſeinen Rachen geräth. Meinen Begleitern fuhren die Ruder vor Schrecken aus der Hand; ſie floſſen dem Strome nach, und das Schiff ſtand ſtille. Ich ſelbſt ſprang von meinem Sitze auf, durcheilte das Schiff und ſprach den Freunden, von Mann zu Manne gehend, Muth ein. Lieben Freunde, ſagte ich, wir ſind ja keine Neulinge in den Gefahren. Was auch kommen mag, ein größeres Leid als in der Höhle des Cyklopen, kann uns nicht betreffen; und doch half euch dort meine Klugheit hinaus. Drum, gehorchet mir nur Alle. Bleibt feſt auf euren Bänken ſitzen, und ſchlaget muthig mit den Ru¬ dern denn ſie hatten ſie wieder gefangen auf die Brandung los. Ich denke, Jupiter hilft uns durch ſchleunige Flucht aus dieſer Noth. Du aber, Steuer¬ mann, nimm alle deine Beſinnung zuſammen und lenke das Schiff durch Schaum und Brandung ſo gut du kannſt! Arbeite dich an den Fels hin, damit du nicht163 in den Strudel geratheſt! So hatte ich die Freunde vor dem Strudel Charybdis gewarnt, von welchen mir Circe erzählt hatte; aber von dem Ungeheuer Scylla, das gegenüber drohete, ſchwieg ich noch weislich; ich fürchtete, die Genoſſen möchten mir vor Schrecken wieder die Ruder fahren laſſen, und ſich im innern Schiffsraume zuſammendrängen.

Eines andern Gebotes hatte ich jedoch vergeſſen, das Circe mir auch gegeben. Sie hatte mir nämlich ver¬ boten, mich zum Kampfe mit dieſem Ungeheuer zu rüſten; ich hüllte mich aber in meine volle Waffenrüſtung, nahm zwei Speere in die Hand und ſtellte mich ſo auf's Verdeck, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen. Aber obgleich mir die Augen vom Umherſchauen ſchmerz¬ ten, konnte ſie mein Blick doch nicht entdecken, und ſo fuhr ich denn voll Todesangſt in den immer enger wer¬ denden Meerſchlund hinein. Dieſe Scylla hatte mir Circe ſo geſchildert: Sie iſt kein ſterblicher Gegner, vielmehr ein unſterbliches Unheil, und Tapferkeit vermag nichts gegen ſie; die einzige Rettung iſt, ihr zu entfliehen. Sie wohnt gegenüber der Charybdis in einem ſein ſpitzes Haupt in die Wolken ſtreckenden Fels, ewig von dunkelem Gewölk umfangen, von keinem Sonnenſtrahl erleuchtet, und ganz aus glattem Geſteine aufgethürmt. Mitten in dieſem Fels iſt eine Höhle, ſchwarz wie die Nacht, in dieſer haust die Scylla, und giebt ihre Gegenwart nur durch ein fürchterliches Bellen kund, welches über die Fluth herüber hallt, wie das Geſchrei eines neugebornen Hundes. Dieſes Ungeheuer hat zwölf unförmliche Füße und ſechs Schlangenhälſe, auf jedem derſelben grinſt ein ſcheu߬ licher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die ſie11 *164flätſcht, ihre Opfer zu zermalmen; halb iſt ſie einwärts in die Felskluft hinabgeſenkt, ihre Häupter aber ſtreckt ſie ſchnappend aus dem Abgrunde hervor und fiſcht nach Seehunden, Delphinen und wohl auch größern Thieren des Meeres. Noch nie hat ſich ein Schiff gerühmt, ohne Verluſt an ihr vorübergekommen zu ſeyn; gewöhn¬ lich hat ſie, ehe ſichs der Schiffer verſieht, in jedem Rachen einen Mann zwiſchen den Zähnen, den ſie aus dem Schiff geraubt hat.

Dieſes Bild hatte ich vor meiner Seele und ſpähte vergebens umher. Indeſſen waren wir mit dem Schiffe ganz nahe an die Charybdis gerathen, die die Meeres¬ fluth mit ihrem gierigen Rachen einſchlürfte, und wieder herausſpie; die brauste wie ein Keſſel über dem Feuer, und weißer Schaum flog empor, ſo lange ſie die Fluth herausbrach; wenn ſie dann die Woge wieder hinunter ſchluckte, ſenkte ſich das trübe Waſſergemiſch ganz in die Tiefe, der Fels donnerte und man konnte in einen Ab¬ grund von ſchwarzem Schlamm hinunterſehen. Während nun unſere Blicke mit ſtarrem Entſetzen auf dieſes Schau¬ ſpiel gerichtet waren, und unwillkürlich mit dem Schiffe zur Linken auswichen, waren wir unverſehens plötzlich der bisher nicht entdeckten Scylla zu nahe gekommen und ihre Rachen hatten auf Einen Zug ſechs meiner tapfer¬ ſten Genoſſen vom Bord hinweggeſchnappt; ich ſah ſie mit ſchwebenden Händen und Füßen zwiſchen den Zäh¬ nen des Ungeheuers hoch in die Lüfte gezückt; noch aus ſeinen Rachen herauf riefen ſie mich hülfeflehend bei Namen: einen Augenblick darauf waren ſie zermalmt. So viel ich auf meiner Irrfahrt erduldet habe, ein jam¬ mervollerer Anblick iſt mir nicht geworden!

165

Jetzt aber waren wir auch glücklich zwiſchen dem Strudel der Charybdis und den Felſen der Scylla hin¬ durch, die von der Sonne glänzende Inſel Thrinakia lag vor uns, und noch auf dem Meere hörten wir das Gebrüll der heiligen Rinder des Sonnengottes und das Blöcken ſeiner Schafe. Durch ſo viel Unglück gewitzigt, dachte ich auf der Stelle an die Warnung des blinden Tireſias in der Unterwelt und kündigte den Genoſſen an, daß er und Circe mich gewarnt, die Inſel des Helios zu fliehen, weil uns dort noch das allerjämmerlichſte Schickſal bedrohe. Dieſe Erklärung betrübte meine Be¬ gleiter über die Maßen, und Eurylochus ſagte ärgerlich: Du biſt doch ein grauſamer Mann, Odyſſeus, ganz von Stahl, und haſt kein Gelenk 'im Nacken! Wie, willſt du im Ernſt uns, den von Anſtrengung und Er¬ müdung Entkräftigten nicht gönnen, einen Fuß ans Land zu ſetzen und uns auf dieſer Inſel mit Speiſe und Trank zu erquicken; ſondern blindlings ſollen wir in der Stille der Nacht hinausfahren durch die ſchwarzen Meer¬ einöden? Wenn nun plötzlich im Dunkel der unbändige Südwind, oder der pfeifende Weſt herangewirbelt käme! Laß uns wenigſtens dieſe finſtere Nacht am Ufer ver¬ paſſen, das uns ſo gaſtlich zuwinkt!

Wie ich dieſen Widerſpruch hören mußte, da merkte ich wohl, daß ein feindſeliger Gott Böſes über uns be¬ ſchloſſen hatte. Ich ſagte daher nur: Eurylochus, es iſt keine Kunſt, mich abzuzwingen, den einzelnen Mann eurer ſo viele. So gebe ich euch denn nach. Aber einen heiligen Schwur müßt ihr mir thun, dem Sonnengott kein Rind oder auch nur ein Schaf abzuſchlachten, wenn ihr etwa ſeine Heerden anſichtig werden ſolltet. Begnüge166 ſich vielmehr jeder mit der Koſt, mit der uns die gute Circe verſorgt hat! Dieſen Eid leiſteten mir Alle willig; darauf ließen wir das Fahrzeug in eine Bucht einlaufen, aus der ſich ſüßes Waſſer in die geſalzene Fluth ergoß. Alle ſtiegen aus dem Schiff, und es währte nicht lange, ſo war das Nachteſſen bereit. Nach dem Mahle bewein¬ ten wir die Freunde, welche von der Scylla verſchlungen worden waren, aber mitten unter den Thränen über¬ wältigte uns müde Seefahrer der Schlummer.

Es mochte noch ein Drittel der Nacht übrig ſeyn, als Jupiter einen entſetzlichen Sturm ſandte, ſo daß wir mit der Morgenröthe eilig unſer Fahrzeug in eine Meer¬ grotte in Sicherheit brachten. Noch einmal warnte ich die Genoſſen vor dem Rindermorde, denn bei der unge¬ ſtümen Witterung ſahen wir einem längeren Aufenthalte auf der Inſel entgegen. Auch verweilten wir wirklich einen vollen Monat allda, weil beſtändiger Südwind blies, der nur auf kurze Zeit mit dem Oſtwind abwech¬ ſelte; es war uns aber einer entgegen, wie der andere. So lange von Circe's Vorrath noch Speiſe und Wein übrig war, hatte es keine Noth. Als wir aber alle Nah¬ rung aufgezehrt hatten und der Hunger bei uns ſich ein¬ ſtellte, gingen meine Begleiter anfangs auf den Fiſch - und Vogelfang aus, und ich ſelbſt machte auch einen Ausflug längs dem Ufer, ob mir kein Gott oder kein Sterblicher begegnen möchte, der mir einen Ausweg aus dieſer Noth anzeigte. Als ich weit genug von den Freun¬ den entfernt war, und mich ganz in der Einſamkeit ſah, wuſch ich meine Hände, um ſie rein emporſtrecken zu können, in der Fluth, warf mich demüthig auf die Kniee167 und flehte zu allen Göttern um Rettung. Sie aber ſchickten mir einen wohlthätigen Schlummer.

Während ich nun ſo ferne war, erhob ſich Eury¬ lochus unter meinen Begleitern, und gab ihnen einen verderblichen Rath: Hört mein Wort, ſprach er, ſchwer¬ bedrängte Freunde. Zwar iſt jeder Tod den Menſchen ſchreckhaft, aber das entſetzlichſte Geſchick iſt doch der Hungertod! Wohlan, was bedenken wir uns, die ſchön¬ ſten von den Rindern des Helios den Göttern zu opfern, und uns am übrigbleibenden Fleiſche zu ſättigen? Sind wir nur glücklich nach Ithaka gekommen, ſo wollen wir ihn ſchon verſöhnen, und ihm einen herrlichen Tempel bauen, auch köſtliche Weihgeſchenke darin aufſtellen. Schickt er uns aber im augenblicklichen Zorn einen Sturm zu und bohrt unſer Schiff in den Grund nun, ſo will ich lieber in einem Augenblick meinen Athem in die Fluthen verhauchen, als ſo jämmerlich auf dieſer einſamen Inſel verſchmachten!

Dieß Wort gefiel meinen hungrigen Genoſſen. So¬ gleich machten ſie ſich auf, trieben die allerbeſten Rinder von der Heerde des Sonnengottes herbei, die in der Nähe weideten, und nachdem ſie zu den Göttern gefleht, ſchlachteten ſie dieſelben, weideten ſie aus, und brachten die Eingeweide mit den in Fett eingewickelten Lenden den Unſterblichen dar. Wein zum Trankopfer hatten ſie kei¬ nen, weil aller längſt verzehrt war; die Eingeweide und Schenkel wurden daher nur mit Quellwaſſer beſprengt. Die reichlichen Ueberreſte ſteckten ſie an Spieße und eben ſetzten ſie ſich zum Mahle, als ich dem die Götter den Schlaf wieder von den Augenliedern geſchüttelt herankam und mir der Opferduft ſchon von weitem168 entgegendampfte. Da jammerte ich zum Himmel empor: O Vater Jupiter und ihr andern Himmliſchen! Zum Fluche habt ihr mich in Schlummer geſenkt. Denn wel¬ cher That haben ſich meine Freunde vermeſſen, während ich ſchlief!

Inzwiſchen war dem Sonnengotte durch eine die¬ nende Göttin ſchon die Nachricht von dem großen Frevel zugekommen, der an ſeinem Heiligthume verübt worden war. Zornig trat er in den Kreis der Olympiſchen und klagte ihnen die Unbill. Jupiter ſelbſt fuhr zürnend von ſeinem Throne auf, als er Solches hörte, zumal da Helios drohte, den Sonnenwagen zum Hades hinabzulen¬ ken und der Erde nicht mehr zu leuchten, wenn die Verbrecher nicht zur vollen Strafe gezogen würden. Leuchte du, ſagte zu ihm Zeus, immerhin den Göt¬ tern und den Menſchen, Helios, ich will den verfluchten Räubern ihr Schiff bald mit meinem Donnerkeil treffen, daß es in Trümmer gehe und zerſchmettert in den Ab¬ grund verſinke! Dieſe Worte Jupiters hat mir die edle Göttin Kalypſo gemeldet, die es durch ihren Freund, den Götterboten Hermes erfahren hat.

Als ich nun bei dem Schiffe und den Genoſſen an¬ gekommen, fuhr ich ſie an und ſchalt ſie im tiefſten Unmuth. Leider aber war Alles zu ſpät, und die Rinder lagen geſchlachtet vor mir. Aber entſetzliche Wunderzei¬ chen bezeugten den geſchehenen Frevel; die Häute krochen umher, als wären ſie lebendig, das rohe und gebratene Fleiſch an den Spießen brüllte wie Rinder zu brüllen pflegen. Doch meine hungrigen Begleiter kehrten ſich daran nicht. Sechs Tage hinter einander ſchmausten ſie. Erſt am ſiebenten Tage, als alles Ungewitter169 vorüber ſchien, ſtiegen wir wieder zu Schiffe, und fuhren in die offene See hinaus. Als wir dahin ſteuerten, und das Land ſchon längſt aus den Augen verloren hatten, breitete Jupiter ein ſchwarzblaues Gewölk gerade über unſere Häupter aus, und das Meer unter uns wurde immer dunkler. Plötzlich brach ein wüthender Orkan aus Weſten auf uns los, beide Taue des Maſtbaumes zerriſſen, daß derſelbe krachend rückwärts ſank, und alles Geräthe auf das Schiff goß. Die ganze Laſt ſtürzte dem am Steuerende ſitzenden Piloten auf den Kopf und zerknirſchte ihm den Schädel, ſo daß er wie ein Taucher ins Meer hinabſank und die Wellen den Leichnam ver¬ ſchlangen. Jetzt fuhr ein Blitz mit krachendem Donner auf das Schiff hernieder und durchſchmetterte es, daß es voll von Schwefeldampf wurde. Meine Freunde ſtürzten aus dem Fahrzeug, wie ſchwimmende Krähen und zappelten um das Schiff her, wogten auf und nieder, und verſanken endlich Alle. Bald war ich ganz allein auf dem Schiffe und irrte darauf umher, bis die Flan¬ ken ſich vom Kiel ablösten; der liegende Maſtbaum krachte vollends hernieder auf den entblösten Kiel, und ſo fuhr das offene Wrak dahin. Ich hatte indeſſen die Beſin¬ nung nicht verloren, ergriff ein ledernes Seil, das noch an dem Maſt herunterhing und band damit Maſt und Kiel zuſammen. Dann ſetzte ich mich darauf und ließ mich in der Götter Namen von dem tobenden Sturme dahinſchleudern.

Endlich hörte der Orkan zu wüthen auf und der Weſt legte ſich; darüber erhub ſich aber der Südwind, und verſetzte mich in neue Angſt; denn nun war ich in Gefahr der Scylla und Charybdis wieder zugetrieben zu170 werden. Und dieß geſchah auch: der Morgen dämmerte kaum, als ich Scylla's ſpitzen Säulenfels gewahr wurde und die gräßliche aus - und einſprudelnde Charybdis ge¬ genüber erblickte. Dieſe verſchlang, als ich bei ihr an¬ gekommen war, augenblicklich mit ihrem Strudel den Maſt; ich ſelbſt ergriff die Aeſte eines von ihrem Fels überhan¬ genden Feigenbaums, ſchmiegte mich daran und hing da in der freien Luft, wie eine Fledermaus. So ſchwebte ich über der Charybdis bodenlos, bis Maſt und Kiel aus ihrem Schlunde wieder hervorſprudelten. Dieſen Augenblick erſah ich, war mit einem Sprung wieder auf meinem alten Sitz und ruderte nun auf dem ſchmalen Kiele mit den Händen auf dem Wirbel fort. Dennoch wäre ich verloren geweſen, wenn Jupiters Gnade meine Balken nicht von dem Fels der Scylla abgelenkt, und glück¬ lich aus dem durchwogten Felſenſchlunde herausgeleitet hätte. Neun Tage trieb ich nun noch auf der See umher; in der zehnten Nacht brachten mich gnädige Götter end¬ lich auf Kalypſo's Inſel, Ogygia. Dieſe hehre Göttin pflegte und erquickte mich .... doch warum will ich euch davon erzählen? Habe ich doch ſchon geſtern, dir, edler König, und deiner Gemahlin dieß mein letztes Abenteuer berichtet!

Odyſſeus verabſchiedet ſich von den Phäaken.

Odyſſeus ſchwieg und ruhte von ſeiner langen Er¬ zählung aus. Die Phäaken, die mit Entzücken zugehört, waren Alle noch in ſeine Rede verſunken und ſchwiegen auch. Endlich brach Alcinous das Stillſchweigen und ſprach: Heil dir, edelſter der Gäſte, den mein Königs¬ haus jemals aufgenommen hat! da du in meiner171 Wohnung eingekehrt biſt, ſo hoffe ich, du werdeſt nicht mehr vom rechten Wege in die Heimath abirren und bald im Hauſe deiner Väter alles Elend, das du erduldet haſt, vergeſſen! Höret nun auch ihr, lieben Freunde und be¬ ſtändige Gäſte meines Palaſtes! In einer ſchönen Lade liegen bereits herrliche Kleidungsſtücke für unſern edeln Gaſt bereit, dazu künſtlich gearbeitetes Gold, und man¬ ches andre Geſchenk, das ich und die Fürſten unter euch ihm beſtimmt haben. Hierzu füge ein jeder von uns noch einen großen Dreifuß und ein Becken. Die Volksverſammlung wird uns für dieſe großen Geſchenke, die freilich dem Einzelnen ſchwer fallen würden, genü¬ gend entſchädigen!

Allen gefiel dieſe Rede, und die Verſammlung der Gäſte wurde aufgehoben. Am andern Morgen brachten die Phäaken ſämtliche Erz-Geſchenke auf das Schiff, und Alcinous ſelbſt ſtellte Alles ſorgfältig unter die Bänke damit die Ruderer nicht dadurch gehindert würden. Hierauf kehrten Alle mit einander in den Palaſt des Königes zurück und dort wurde das Abſchiedsmahl gerü¬ ſtet. Nach dem Opfer, das Jupitern von dem geſchlach¬ teten Rinde dargebracht wurde, begann der Feſtſchmaus, und der von allem Volk hochgeehrte blinde Sänger De¬ modokus ſang herrliche Lieder dazu.

Odyſſeus aber war mit ſeiner Seele nicht gegen¬ wärtig. Oft ſchaute er durch die Fenſter des Saales nach dem Stand der Sonne und wünſchte ſehnlich ihren Untergang, ſo ſehnlich wie einen Bauern, der den ganzen Tag über den Pflug über ſeinen Acker gelenkt hat, nach der Abendkoſt verlangt. Und endlich ſprach er ohne Scheu zu ſeinen königlichen Wirth: Geprieſener Held172 Alcinous, geuß das Trankopfer aus, und entlaſſe mich! du haſt ja ſchon gethan, was meines Herzens Wunſch iſt. Die Geſchenke liegen auf meinem Schiffe, die Fahrt iſt bereit. Mögen die Himmliſchen dich ſegnen; möge ich mein Weib untadelhaft zu Hauſe finden und Kind, Ver¬ wandte und Freunde wohlbehalten!

In ſeinen Wunſch ſtimmten alle Phäaken laut und von Herzen ein. Alcinous befahl dem Herolde Ponto¬ nous, allen Gäſten umher die Becher noch einmal zu füllen. Nun ſtand jeder von ſeinem Sitze auf und wie auf Einen Wink brachten ſie das Trankopfer für ihres Gaſtes glückſelige Rückkehr den olympiſchen Göttern dar. Da erhub ſich Odyſſeus, reichte ſeinen Becher der Königin Arete und ſprach: Lebe wohl für immer, hohe Königin, bis dich Alter und Tod, die allen Men¬ ſchen bevorſtehen, langſam beſchleichen! Ich kehre jetzt heim. Freue du dich zu Hauſe deiner Kinder, deines Volks, und deines edeln Gemahls!

So ſprach Odyſſeus und verließ die Schwelle des Palaſtes. Auf des Königes Befehl, der ihm ſcheidend die Hand mit herzlichem Drucke gereicht, geleitete ihn ein Herold, und auf Arete's Geheiß drei Dienerinnen bis ans Schiff. Die eine trug die ſchönen Gewande, Mantel und Leibrock, die andere die verſchloſſene Lade, die dritte Speiſe und Wein. Alles wurde wohl im Schiffe geborgen. Auf dem Verdeck aber wurde ein zottiges Fell und Leinwand darüber ausgebreitet. Da ſtieg Odyſ¬ ſeus ſchweigend ein und legte ſich darauf zum Schlummer nieder. Die Ruderer ſetzten ſich auf die Bänke. Das Schiff ward losgebunden, und wogte fröhlich unter dem Schlage der Ruder dahin.

[173]

Drittes Buch.

Odyſſeus. Zweiter Theil.

Odyſſeus kommt nach Ithaka. Odyſſeus bei dem Sauhirten. Telemach verläßt Sparta. Geſpräche beim Sauhirten. Telemach kommt heim. Odyſſeus giebt ſich dem Sohne zu er¬ kennen. Vorgänge in der Stadt und im Palaſt. Odyſſeus als Bettler im Saal. Odyſſeus und der Bettler Irus. Pe¬ nelope vor den Freiern. Odyſſeus abermals verhöhnt. Odyſſeus mit Telemach und Penelope allein. Die Nacht und der Morgen im Palaſte. Der Feſtſchmaus. Der Wettkampf mit dem Bo¬ gen. Odyſſeus entdeckt ſich den guten Hirten. Die Rache. Beſtrafung der Mägde. Odyſſeus und Penelope. Odyſſeus und Laertes. Aufruhr in der Stadt durch Athene geſtillt. Der Sieg des Odyſſeus.

[174]175

Odyſſeus kommt nach Ithaka.

Der Schlummer des Odyſſeus war ſüß, aber auch ſo tief wie der Tod. Das Schiff aber flog ſchnell und ſicher dahin, wie ein Wagen mit vier Hengſten durch die Ebene, oder wie ein Habicht durch die Luft fliegt. Es war als wüßte es, welch einen Schatz es an dem Manne trage, der in Klugheit mit den Himmliſchen wetteiferte, und mehr Leiden erduldet hatte, als irgend ein Sterblicher. Jetzt aber hatte er im ruhigſten Schlafe Alles vergeſſen, was er jemals in Schlachten und auf den Meereswellen Herbes erfahren.

Als der Morgenſtern am Himmel ſtand und den Tag ankündigte, ſteuerte das Schiff in vollem Laufe ſchon auf die Inſel Ithaka zu, und bald lief es in die ſichere Bucht ein, welche dem Meeresgotte Forkys ge¬ widmet war. Zwei Landſpitzen mit gezackten Felſen laufen hier zu beiden Seiten in das Meer hinaus und bilden für die Schiffe einen ſicheren Hafen. Im Mittelpunkte der Bucht ſtand ein ſchattiger Oelbaum, und neben demſelben war eine liebliche Grotte, in deren tiefer Dämmerung Meernymphen ihren Wohnſitz hatten. In derſelben ſtanden ſteinerne Krüge und Urnen gereiht, in welchen Bienen Honig bereiteten; auch Webſtühle von Stein konnte man da ſehen, mit purpurnen Fäden bezogen, welche die Nymphen zu wundervollen Gewanden woben. Zwei nie verſiegende Quellen rannen durch die Grotte, die einen gedoppelten Eingang hatte, gegen176 Mitternacht für die Menſchen, gegen Mittag eine ver¬ borgene Pforte für die unſterblichen Nymphen, welche nie ein Sterblicher betrat. Bei dieſer Höhle landeten die Phäaken, hoben den ſchlummernden Odyſſeus mit ſamt Teppich und Polſter aus dem Schiff, und legten ihn vor der Grotte unter dem Oelbaum im Sande nieder. Hierauf wur¬ den auch alle die Gaben ausgeſchifft, welche ihm Alcinous und ſeine Fürſten als Geſchenke mitgegeben, und ſie leg¬ ten Alles ſorgfältig ſeitwärts vom Wege, damit nicht etwa ein vorübergehender Wanderer den Fortſchlummern¬ den berauben möchte. Den Helden aus dem Schlafe zu wecken wagten ſie nicht, denn derſelbe däuchte ihnen von den Göttern ſelbſt ihm zugeſendet. Hierauf ſetzten ſie ſich wieder ans Ruder und fuhren ihrer Heimath zu.

Aber der Meeresgott Poſeidon grollte den Phäaken, daß ſie mit Hülfe der Pallas ihm ſeine Beute entriſſen hätten, und erbat ſich vom Göttervater die Erlaubniß, an ihrem Schiff Rache nehmen zu dürfen. Dieſer gönnte ſie ihm, und als das Schiff der Inſel Scheria, dem Lande der Phäaken, ſchon ganz nahe war, und mit vollen Segeln einherwogte, ſtieg Poſeidon aus den Wel¬ len empor, ſchlug es mit der flachen Hand, und ver¬ ſchwand wieder in der Flut. Das Schiff aber mit Allem was darauf war, wurde plötzlich in einen Felſen ver¬ wandelt, und wurzelte im Meeresboden feſt. Die Phäaken, welche auf die Nachricht, daß ihre Landsleute zurückkom¬ men, nach dem Strande geeilt waren, konnten nicht genug ſtaunen, als das Schiff, welches eben noch in vollem Fluge begriffen war, plötzlich in ſeinem Laufe gehemmt, ſtille ſtand. Aber Alcinous erhob ſich in der Verſammlung und ſprach: Weh uns, gewiß erfüllt ſich177 jetzt an uns die uralte Weiſſagung, von welcher mir mein Vater erzählt hat. Poſeidon, ſagte mir dieſer, zürne uns in ſeinem Herzen, daß wir, die gewandten Schiffer, jeden Fremdling glücklich in ſeine Heimath brin¬ gen. Einſt aber werde ein phäakiſches Schiff, das auch von einer ſolchen Begleitung heimkehre, von ihm am Ufer verſteinert werden, und unſre Stadt als ein Felskamm umziehen. Darum wollen wir in Zukunft uns nicht mehr einfallen laſſen, den Fremden das Geleite zu geben, die als Schutzflehende in unſre Stadt kommen; dem zür¬ nenden Meeresgott aber wollen wir zwölf Stiere opfern, damit er ſich erbarme und unſre Stadt nicht ganz mit einem Gebirge von Felſen einſchließe. Die Phäaken erſchracken, als ſie dieſes hörten, und rüſteten ſich in aller Eile zu dem Opfer.

An Ithaka's Strande war Odyſſeus indeſſen vom Schlummer erwacht, aber, ſo lange ſchon von der Hei¬ math entfernt, erkannte er ſie nicht mehr. Zudem hatte Pallas Athene um ihn ſelbſt einen Nebel gebildet, damit er unkenntlich würde, und ſeine Gattin und Mitbürger ihn nicht früher zu erkennen vermöchten, ehe die Freier durch ſeine Hand ihre Miſſethat gebüßt hätten. So er¬ ſchien denn jetzt dem Helden Alles, die geſchlängelten Pfade, die Meeresbuchten, die himmelan ragenden Fel¬ ſen, die Bäume mit ihren hohen Wipfeln, in fremder Geſtalt. Er fuhr vom Boden auf, blickte bang umher, ſchlug ſich an die Stirne und rief wehklagend: Ich Unglückſeliger, in welche neue Fremde bin ich wieder gekommen, unter welche Unholde von Menſchen? wohin rette ich mich mit dem geſchenkten Gute? Wär 'ich doch bei dem Volke der Phäaken geblieben, wo ich ſo freundlichSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 12178gepflegt worden bin! Jetzt aber haben ſie mich frei¬ lich auch verrathen: ſie verſprachen, mich nach Ithaka zu führen, und haben mich hier in dem fremden Lande ausgeſetzt. Vergelte es ihnen Jupiter der Rächer! Ge¬ wiß haben ſie mir auch von meinem Gute geſtohlen!

Der Held blickte ſich um, ſah Dreifüße, Becken, Gold, Kleider, Alles in beſter Ordnung umher ſtehen und liegen, fing an zu muſtern und zu zählen: und ſiehe da, ihm mangelte nichts. Als er nun nachdenklich und die Heimath betrauernd am Strande umherirrte, geſellte ſich zu ihm die Göttin Athene in Geſtalt eines zarten Jünglings, eines Schafhirten, aber wie ein Königsſohn mit feinen Gewanden angethan, ſchönen Sohlen an den Füßen und einem Spieß in der Hand. Odyſſeus war froh, einem Menſchen zu begegnen, und fragte ihn mit freundlichen Worten, auf welchem Gebiet er ſich befinde, ob es ein Feſtland oder eine Inſel ſey. Du mußt aus der Ferne daher kommen, antwortete die Göttin, wenn du erſt nach dem Namen dieſes Landes zu fragen brauchſt. Ich verſichere dich, man kennt es im Weſten und im Oſten. Zwar iſt es gebirgig, und Roſſe kann man hier keine tummeln, wie im Argiverlande; arm iſt es aber deßwegen nicht; Wein und Getreide gedeiht herrlich. Ziegen und Rinder hat es in Menge, dazu die ſchönſten Waldungen, und Quellwaſſer genug. Auch durch ſeine Bewohner iſt es berühmt worden. Frage nur das tro¬ janiſche Land, das doch ferne genug iſt, das wird dir etwas von der Inſel Ithaka zu erzählen wiſſen!

Wie herzlich froh war Odyſſeus, als er den Namen ſeines Vaterlandes nennen hörte! Doch hütete er ſich wohl, ſich dem vermeintlichen Hirten ſogleich zu erkennen179 zu geben. Er ſtellte ſich, als käme er mit der Hälfte ſeines Gutes von Creta, der fernen Inſel her, wo er die andere Hälfte ſeinen Söhnen zurückgelaſſen. Mord, an dem Räuber ſeiner Habe verübt, habe ihn genöthigt, ſich aus der Heimath zu flüchten. So erzählte er eine weit¬ läufige Fabel. Als er zu Ende war, lächelte Pallas Athene, fuhr ihm ſtreichelnd über die Wange und verwan¬ delte ſich plötzlich in eine ſchöne, ſchlanke Jungfrau. Wahrhaftig, ſprach ſie zu ihm, das müßte ein Aus¬ bund von Schlauheit ſeyn, der dich in Liſten beſiegte, und wenn es auch eine Gottheit wäre! Selbſt im eige¬ nen Lande legſt du die Verſtellung nicht ab! Doch, reden wir nicht länger davon; biſt du doch der Klügſte aller Sterblichen, wie ich die Einſichtsvollſte unter den Göt¬ tern. Mich haſt du aber doch nicht erkannt, haſt nicht geahnt, daß ich auch zuletzt noch in allen Gefahren neben dir ſtand, und dir die Liebe des Phäakenvolkes zu Wege brachte. Jetzt aber bin ich gekommen, um dir das geſchenkte Gut verbergen zu helfen, zugleich um dir zu ſagen, was für Prüfungen dich im eigenen Palaſte erwarten und Rath darüber mit dir zu pflegen.

Staunend blickte Odyſſeus an der Göttin empor und antwortete ihr: Wie ſollte auch ein Sterblicher dich erkennen, erhabene Tochter Jupiters, wenn du in allerlei Geſtalten verkleidet ihm begegneſt! Habe ich dich doch nicht mehr in deiner eigenen Geſtalt geſehen, ſeit Troja zerſtört ward, nur daß du im Phäakenlande dich mir zu erkennen gegeben und mir den Weg in die Stadt gezeigt. Jetzt aber beſchwöre ich dich bei deinem Vater: ſage mir, iſt's wirklich wahr, daß ich im geliebten Va¬ terlande bin, und tröſteſt du mein Herz nicht mit einer12 *180Täuſchung? Ueberzeuge dich mit deinen eigenen Augen, antwortete Minerva, erkennſt du nicht die Bucht des Forkys, den Oelbaum dort, die Nymphengrotte, wo du ſo manche Sühnopfer dargebracht haſt, und jenes finſtere Waldgebirg, es iſt ja das dir wohlbekannte Neriton! So ſprach Athene und zerſtreute ſchnell den Nebel vor den Augen des Helden, daß das Heimathland klar vor ihm lag. Erfreut warf ſich Odyſſeus auf die mütterliche Erde nieder, ſie zu küſſen, und betete zu den Nymphen, den Schutzgöttinnen des Ortes, wo er ſtand. Hierauf half ihm die Göttin die Habe, die er mitgebracht hatte, in der Felskluft verbergen, und als Alles wohl verſteckt und ein Stein davor gewälzt war, ſetzten ſich Göttin und Held unter den Olivenbaum, und berathſchlagten über den Untergang der Freier, von deren frechen Wer¬ bungen in ſeinem eigenen Hauſe, ſo wie von der Treue ſeiner Gattin, Athene ihrem Schützling ausführlichen Bericht erſtattete. Wehe mir, rief Odyſſeus, als er Alles vernommen, hätteſt du mir nicht alle dieſe Um¬ ſtände verkündigt, gnädige Göttin, ſo hätte mich zu Hauſe ein eben ſo ſchmählicher Tod erwartet, wie den Agamemnon in Mycene. Wenn aber du mir ernſtlich deine Hülfe gewähreſt, ſo fürchte ich, der einzelne Mann, ſelbſt dreihundert Feinde nicht.

Hierauf erwiederte die Göttin: Sey getroſt, mein Freund, nimmermehr werde ich dich verſäumen. Vor allen Dingen will ich dafür ſorgen, daß kein Menſch auf dieſem Eilande dich erkenne. Das Fleiſch um deine ſtattlichen Glieder ſoll zuſammenſchrumpfen, dein braunes Haar vom Haupte ſchwinden; deinen Leib hülle ich in einen Kittel, in welchem Jedermann dich nur mit Abſcheu181 betrachtet; deine ſtralenden Augen mach 'ich blöde: ſo daß du nicht nur den Freiern, ſondern auch deinem Weib und deinem Sohne ganz entſtellt erſcheineſt. Zuerſt nun heiße ich dich deinen redlichſten Unterthan aufſuchen, den Hirten, der die Schweine bewacht, und mit treuer Seele an dir hängt. Bei der Quelle Arethuſa am Ko¬ rarfelſen wirſt du ihn finden, wie er ſeine Heerde hütet; dort ſetzeſt du dich zu ihm und erkundigſt dich nach Al¬ lem, was zu Hauſe vorgeht. Unterdeſſen eile ich nach Sparta und rufe deinen lieben Sohn Telemachus zurück, der dort beim Fürſten Menelaus nach deinem Schickſale geforſcht hat. Ei, warum haſt du ihm nicht lieber Alles gleich geſagt, fragte Odyſſeus etwas ärgerlich, da dir doch Alles bekannt war? ſollte etwa auch er im Elend auf dem Ocean umherirren gleich mir, während Fremde ſein Gut verpraßten? Aber die Göttin ſprach ihm Muth und Troſt ein und ſagte: Aengſtige dich nicht um deinen Sohn, mein Lieber! ich ſelbſt habe ihn ge¬ leitet, und meine Abſicht bei ſeiner Reiſe war, den Jüng¬ ling in der Fremde zu bilden und ihn ſich Ruhm gewin¬ nen zu laſſen, damit auch er den Freiern als ein Mann entgegentreten könnte. Auch drückt ihn keineswegs ein Leiden; ruhig ſitzt er im Palaſte des Menelaus, und nichts, was ſein Herz nur wünſchen mag, fehlt ihm. Es iſt wahr, die Freier haben ihm zu Schiffe einen Hinterhalt geſtellt und ſind darauf gefaßt, ihn umzu¬ bringen, bevor er die Heimath wieder erreicht. Ich aber fürchte nichts für ihn. Ehe dieß geſchieht, wird noch viele von den Freiern ſelbſt der Boden decken!

So ſprach die Göttin und berührte den Helden leicht182 mit ihrem Stab, worauf ihm ſogleich die Glieder zuſam¬ menſchrumpften, und er in einen zerlumpten, ſchmutzigen Bettler verwandelt wurde. Sie reichte ihm den Bettel¬ ſtab, nebſt einem garſtigen geflickten Ranzen an einem geflochtenen Tragbande, und verſchwand.

Odyſſeus bei dem Sauhirten.

In dieſer Geſtalt wandelte der ganz unkenntlich ge¬ machte Held über die Höhen des Waldgebirges hin, nach der Stelle, die ihm ſeine Beſchützerin bezeichnet hatte, und wo er wirklich den treueſten ſeiner Knechte, den Sauhirten Eumäus antraf. Er fand dieſen auf der Hochebene des Gebirges, wo er ſeiner Heerde ringsum aus ſchweren Steinen, die er ſelbſt herbeigeſchleppt, ein Gehege gebaut und es mit Hagedorn umpflanzt hatte. Innerhalb deſſelben ſtanden, einer an dem andern, zwölf Kofen, in deren jedem fünfzig Mutterſchweine zur Zucht eingeſperrt lagen; die männlichen, in weit geringerer Anzahl, ruhten außerhalb der Ställe. Von dieſen ließen nämlich die Freier Tag für Tag dem Sauhirten einen gemäſteten Eber zu ihren Schmäuſen abfordern, und es waren ihrer nur noch dreihundert ſechzig. Die Heerde bewachten vier Hunde, die ſo wild ausſahen, wie rei¬ ßende Wölfe.

Der Sauhirt war gerade damit beſchäftigt, ſich ſchönes Stierleder zu Sohlen zu ſchneiden, ſeine Knechte183 hatten ſich Alle zerſtreut: drei waren mit den ausgetrie¬ benen Schweinen auf der Weide; ein Vierter war nach der Stadt geſchickt worden, um den übermüthigen Freiern das verlangte Maſtſchwein zu bringen.

Die Hunde wurden zuerſt den herannahenden Odyſſeus gewahr und ſtürzten bellend auf ihn los; dieſer legte den Stab aus der Hand und ſetzte ſich. Gewiß hätte er nun in ſeinem eigenen Gehöfte die Schmach erfahren müſſen, von ſeinen Hunden angefallen zu werden, wenn der Sauhirt nicht aus der Thüre ſeiner Hütte hervor¬ geeilt und, das Sohlenleder aus den Händen laſſend, den Thieren Einhalt gethan und ſie mit Steinen aus einander geſcheucht hätte. Dann wandte er ſich zu ſeinem Herrn, den er für einen Bettler hielt und ſprach: Wahr¬ haftig, es hätte wenig gefehlt, o Greis, ſo hätten dich die Hunde zerfleiſcht, und du hätteſt mir zu der Trübſal, die ich ſchon habe, noch weitern Kummer bereitet! Iſt es doch genug, daß ich hülflos um meinen armen, fernen Herrn jammern muß. Hier ſitze ich und mäſte ſeine fetteſten Schweine für andere Leute zum Schmaus, wäh¬ rend er ſelbſt vielleicht im Elende nicht einmal ein Stück¬ chen trockenes Brod zu verzehren hat und in der Fremde herumirrt, wenn er anders das Tageslicht noch ſieht! Komm in die Hütte, armer Mann, und laß dich mit Wein und Speiſe erquicken, und wenn du ſatt biſt, ſage mir, von wannen du biſt und was für Gram du erduldet haſt, daß du ſo gar jämmerlich ausſiehſt!

Beide betraten die Hütte, der Sauhirt ſtreute dem Ankömmling Laub und Reiſig auf den Boden, breitete ſeine eigene Lagerdecke, ein großes, zottiges Gemsfell,184 darüber und hieß ihn ſich niederlaſſen. Als Odyſſeus dankbar ſeine Freude über einen ſo gütigen Empfang ausſprach, antwortete ihm Eumäus: Sieh, Alter! Man ſoll keinen Gaſt verſchmähen, auch den geringſten nicht. Meine Gabe iſt freilich nur klein. Wäre mein guter Herr zu Hauſe geblieben, ſo hätte ich es wohl noch beſſer; Haus, Gut und Weib hätte er mir gegeben, und ich könnte Fremdlinge anders bewirthen! Nun aber iſt er zu Grunde gegangen. Möchte doch Helena's Stamm im Unheil vergehen, die ſo viele Tapfere ins Verderben geſtürzt!

So ſprach der Sauhirt, umſchlang ſich ſeinen Leib¬ rock mit dem Gürtel und ging hin zu den Kofen, wo ihm die Ferkel ſchaarenweiſe lagen. Von denen nahm er zwei, und ſchlachtete ſie zur Bewirthung ſeines Gaſtes, zerſchnitt das Fleiſch, ſteckte es an Spieße, beſtreute es mit weißem Mehl, und legte das Gebratene friſch an den Spießen dem Gaſte vor. In eine hölzerne Kanne goß er aus dem Kruge ſüßen alten Wein, ſetzte ſich dem Fremdling gegenüber und ſagte: nun, fremder Mann, ſo gut wir es haben! Es iſt eben Ferkelfleiſch, denn die Maſtſchweine eſſen mir die Freier weg, dieſe gewaltthätigen Menſchen, die weniger Götterfurcht im Herzen haben, als die frechſten Seeräuber! Wahrſchein¬ lich haben ſie von dem Tode meines Herren Kunde, daß ſie um ſeine Gattin gar nicht werben, wie andere Leute, ſondern niemals zu den Ihrigen heimkehrend, in aller Ruhe fremdes Gut verpraſſen. Tag und Nacht ſchlachten ſie nicht ein - und zwei -, nein mehreremal, und leeren dazu ein Weinfaß ums andere. Ach, mein Herr war ſo reich, wie zwanzig andere zuſammen! Zwölf Rinderheerden,185 eben ſo viele Schaf -, Schweine - und Ziegenheerden beſitzt er auf dem Lande, die ihm theils Hirten, theils Mieth¬ linge verſehen. In dieſer Gegend allein ſind eilf Zie¬ genheerden, welche wackre Männer hüten: auch ſie müſſen den Freiern alle Tage den auserleſenſten Geisbock ablie¬ fern. Ich bin ſein Oberhirt über die Schweine, auch ich muß Tag für Tag den beſten Eber auswählen, und den unerſättlichen Schwelgern zuſenden!

Während der Hirt ſo ſprach, verſchlang Odyſſeus, wie einer der nicht denkt, was er thut, haſtig das Fleiſch und trark den Wein in raſchen Zügen, ohne ein Wort zu ſprechen. Sein Geiſt war ganz mit der Rache be¬ ſchäftigt, die er an den Freiern zu nehmen vorhatte. Als er ſatt gegeſſen und getrunken, und der Hirt ihm den Becher noch einmal voll gefüllt, trank er ihm freundlich zu und ſprach: Bezeichne mir doch deinen Herrn näher, lieber Freund! Es wäre gar nicht unmöglich, daß ich ihn kennte, und irgendwo einmal begegnet hätte; denn ich bin gar weit in der Fremde herumgekommen! Aber der Sauhirt antwortete ihm ganz unglaubig: Meinſt du, wir werden einem umherirrenden Manne, der uns von unſerm Herrn etwas erzählen will, ſo leicht Glau¬ ben beimeſſen? Wie oft iſt es ſchon geſchehen, daß Landfahrer, die nach einer Pflege verlangten, vor meine Herrin und ihren Sohn gekommen ſind, und ſie mit ihren Mährchen über unſern armen Herrn bis zu Thrä¬ nen gerührt haben, bis man ihnen Mantel und Leibrock dargereicht und ſie wohl bewirthet hatte. Ihm aber haben gewiß Hunde und Vögel ſchon lange das Fleiſch von den Gebeinen verzehrt, oder die Fiſche haben's gefreſſen, und die nackten Knochen liegen am Kieſelſtrande. Ach,186 nimmermehr bekomme ich einen ſo gütigen Herrn, er war gar zu freundlich, gar zu liebreich. Wenn ich an ihn denke, iſt mir gar nicht, als dächte ich an meinen Ge¬ bieter, ſondern wie ein älterer Bruder ſteht er mir vor der Seele.

Nun, mein Lieber, antwortete ihm Odyſſeus, weil dein ungläubiges Herz ſo zuverſichtlich ſeine Rück¬ kehr läugnet, ſo ſage ich dir mit einem Eidſchwur: Odyſſeus kommt. Meinen Lohn, den Mantel und Leib¬ rock verlange ich erſt, wenn er da iſt; denn ſo entblößt ich bin, mit einer Fabel möchte ich mir nichts verdienen, ich haſſe die Lügner bis auf den Tod. So höre denn, was ich dir bei Jupiter, bei dieſem deinem gaſtlichen Tiſche, und bei dem Heerde des Odyſſeus ſchwöre: wann dieſer Monat abgelaufen iſt, wird er eintreten in ſein Haus und die Frechen züchtigen, die es wagen, ſein Weib und ſeinen Sohn zu beſchweren. O Greis, erwiderte Eumäus, ich werde dir ſo wenig den Lohn für deine Botſchaft zu entrichten haben, als Odyſſeus nach Hauſe zurückkehrt. Fasle nicht, trinke ruhig deinen Wein, und ſprich von etwas Anderem. Deinen Eid laß gut ſeyn! Von Odyſſeus hoffe ich nichts mehr; mir macht jetzt nur ſein Sohn Telemach Sorge; in ihm hoffte ich einſt an Leib und Seele den Vater wieder zu ſchauen. Aber ein Gott oder Menſch hat ihm den Sinn bethört: er iſt gen Pylos gefahren, um nach dem Vater zu forſchen; unterdeſſen legten ſich die Freier zu Schiff in einen Hin¬ terhalt, und werden mit ihm den letzten Sprößling vom uralten Stamme des Akriſius vertilgen. Doch, erzähle du, Greis, mir jetzt dein eigenes Leiden, wer biſt du, und was brachte dich nach Ithaka?

187

Odyſſeus machte ſich den Scherz, und erzählte dem Sauhirten ein langes Mährchen, in dem er ſich für den verarmten Sohn eines reichen Mannes von der Inſel Kreta ausgab, und die bunteſten Abenteuer von ſich erzählte. Auch den Krieg vor Troja hatte er mit¬ gemacht, und den Odyſſeus dort kennen gelernt. Auf der Heimkehr verſchlug ihn der Sturm an die Küſte der Thesproten, bei deren Könige er wieder etwas von Odyſſeus vernommen haben wollte. Dieſer ſey der Gaſt jenes Fürſten geweſen und habe ihn kurz vor der An¬ kunft des Bettlers verlaſſen, um zu Dodona beim Orakel den Rathſchluß Jupiters zu vernehmen.

Als er mit dem langen Gewebe ſeiner Lügen zu Ende war, ſprach der Sauhirt ganz gerührt: Unglück¬ licher Fremdling, wie haſt du mir das Herz im Leibe aufgeregt, indem du mir deine mühſeligen Irrfahrten ſo ausführlich geſchildert! nur eines glaube ich dir nicht: nämlich das, was du mir von Odyſſeus ſagſt. Was brauchſt du auch ſo in den Wind hinein zu lügen! Mir iſt es ganz entleidet, nach meinem Herrn umherzufragen und zu forſchen, ſeit mich ein Aetolier angelogen hat, der wegen eines Todtſchlags flüchtig, in mein Gehege kam, und mir betheuerte, daß er ſelbſt ihn auf der Inſel Kreta bei Idomeneus ſeine vom Sturm zerſchmetterten Schiffe ausbeſſernd und ergänzend angetroffen habe. Im Sommer, oder doch im Herbſte, komme er mit ſeinen Genoſſen und unendlichem Gute gewiß zurück. Darum, du Unglücklicher, bemühe dich nicht, meine Gunſt durch ſolche Lügen erſchmeicheln zu wollen, das Gaſtrecht iſt dir ja ohnedem geſichert.

Guter Hirt, antwortete Odyſſeus, ich will dir188 einen Vergleich vorſchlagen. Wenn jener wirklich zurück¬ kommt, ſo ſollſt du mich mit Mantel und Leibrock nach Dulichium entlaſſen, wohin mein Herz verlangt; kommt aber dein Herr nicht heim, ſo hetze die Knechte gegen mich, daß ſie mich von einer Felſenſpitze ins Meer ſtür¬ zen, damit andern Bettlern die Luſt zu lügen vergeht. Ei, das wäre ein ſchöner Ruhm für mich, fiel ihm der Sauhirt in die Rede, wenn ich meinen Gaſt, den ich in die Hütte geführt und bewirthet habe, hintendrein erſchlüge! Da könnte ich ja in meinem Leben nicht mehr zu Jupiter beten! Doch das Abendeſſen wird bald her¬ ankommen, und es iſt an der Zeit, daß meine Knechte heimkehren, dann wollen wir wieder fröhlich ſeyn. Wirk¬ lich kamen auch bald darauf die Schweine mit ihren Hütern herbei und wurden grunſend in die Kofen getrie¬ ben. Jetzo befahl der Hirt, ein fünfjähriges Maſtſchwein zur Ehre ſeines Gaſtes zu ſchlachten. Ein Theil wurde unter Gebet den Nymphen und dem Gotte Hermes ge¬ opfert, einen andern reichte er den Hütern, das beſte Rückenſtück wurde ſeinem Gaſte zu Theil, obgleich er in ſeinen Augen nur ein Bettler war.

Das rührte den Odyſſeus in der Seele, und er rief dankbar aus: Möge dich, guter Eumäus, Jupiter ſo lieben, wie du mich, der in ſolcher Geſtalt zu dir kam, geehrt haſt. Der Sauhirt ſprach ihm freundlich zum Mahle zu, und während ſie ſich fröhlich in der Hütte ſättigten, bedeckten draußen Wolken den Mond, der Weſtwind ſauſte, und bald ergoß ſich der Regen in Strömen. Den Helden fing es in ſeinen Bettlerlumpen zu frieren an, und um den Hirten zu verſuchen, ob er in ſeiner Aufmerkſamkeit ſo weit gehen würde, ihm ſeinen189 warmen Mantel abzutreten, fing er wieder an, ein recht erlogenes Mährchen zu erzählen. Höret mich, ſprach er, Eumäus, und ihr andern Hirten! Der gute Wein bethört mich nun einmal, zu ſchwatzen, und entlockt mir Worte, die vielleicht beſſer verſchwiegen blieben. Als wir einſt vor Troja uns in einen Hinterhalt gelegt, wir drei, Odyſſeus, Menelaus und ich, mit einer Schaar von Kriegern, ſchmiegten wir uns, der Burg gegenüber, zwi¬ ſchen Rohr und Sumpf, unter unſre Rüſtungen, und es wurde Nacht. Der Nordwind kam mit einem Schnee¬ geſtöber, und bald hatte der Froſt unſre Schilde mit einem Rande von Glatteis umzogen. Den beiden Andern that dieſes nicht viel, ſie hatten ſich in ihre Mäntel ge¬ wickelt, und ſchlummerten, von der Kälte unangefochten, unter ihren Schilden. Ich dagegen hatte beim Weggehen unbedachtſamer Weiſe meinen Mantel den Freunden zu¬ rückgelaſſen, denn auf eine ſolche Kälte hatte ich keines¬ wegs gerechnet, ſondern war nur im Gürtel und mit dem Schilde ausgegangen. Nun war noch ein Drittel von der Nacht übrig, und die Morgenkälte am ſchnei¬ dendſten. Da ſtieß ich endlich meinen Nachbar, den ſchlafenden Odyſſeus, mit dem Ellbogen an, und ermun¬ terte ihn mit den Worten: Du, wenn die Nacht noch lange währt, ſo bringt mich der Froſt um. Ein böſer Dämon hat mich verführt, im bloßen Rocke ohne Mantel zu gehen! Wie das Odyſſeus hörte, der bekanntlich ein Mann, zum Rath ſo gut wie zur Schlacht war, ſo flü¬ ſterte er mir zu: Still, daß kein Achaier uns hört; dir ſoll bald geholfen ſeyn! Dann richtete er ſich vom Lager auf, ſtützte ſein Haupt auf den Ellbogen und rief über die Schläfer hin: Freunde, die Götter haben mir einen190 warnenden Traum geſendet: wir haben uns zu weit von den Schiffen entfernt, will nicht einer gehen, und dem Agamemnon die Aufforderung bringen, uns noch mehr Streitgenoſſen zu ſchicken? Auf dieſe Worte ſprang einer unſrer Krieger, Thoas, der Sohn des Andrämon, dienſt¬ bereit vom Boden auf, legte ſeinen Mantel von ſich, und eilte zu den Schiffen. Ich aber wickelte mich behaglich in denſelben und ſchlief nun getroſt bis zur Morgenröthe. Ja, wär 'ich noch der junge ſtattliche Mann wie da¬ mals, ſo würde mir, aus Liebe wie aus Scheu, wohl auch irgend ein Sauhirt im Gehege hier ſeinen Mantel zum Schirme gegen den Nachtfroſt leihen. Jetzt kümmert ſich freilich kein Menſch in meinen Lumpen um mich!

Das iſt ein ſchönes Gleichniß, ſagte Eumäus lachend, das du uns da erzählt haſt, Fremdling, drum ſoll es dir auch jetzt weder an Kleidung, noch an irgend etwas Anderem mangeln. Morgen mußt du freilich wie¬ der mit deinen Lumpen fürlieb nehmen; denn wir ſelbſt haben nichts Uebriges zum Anlegen, wenn aber der Sohn des Odyſſeus glücklich heimkehren ſollte, ſo wird er dich ganz gewiß mit Mantel und Leibrock beſchenken, und dich geleiten laſſen, wohin du wünſcheſt. So ſprechend erhob ſich Eumäus, und bereitete ſeinem Gaſte nicht weit vom Feuerherd ein Bett, das er ihm aus Schaf¬ pelzen und Ziegenhäuten zurecht machte, und nachdem ſich Odyſſeus darauf niedergelegt, deckte er ihn mit einem dichten großen Mantel zu, den er ſelbſt bei den heftigen Winterſtürmen anzuziehen pflegte.

So lag denn der Held warm gebettet, und ſchickte ſich zum Schlummer an; neben ihm legten ſich auch die Knechte zum Schlafe nieder; aber Eumäus wählte191 ſein Nachtlager nicht in der Hütte, denn er mochte nicht entfernt von ſeinen Schweinen ſchlafen; er nahm viel¬ mehr die Waffen zur Hand und begab ſich hinaus zu den Ställen, das Schwert um die Schulter gegürtet und in einen dichten Mantel gehüllt. Auch ein zottiges Ziegenfell nahm er mit zur Unterlage, und in der Hand trug er einen ſcharfen Spieß, Hunde und Männer, die etwa herannahen könnten, damit zu ſchrecken. So legte er ſich, vor dem ſchneidenden Nordwinde geſchirmt, vor die Kofen ſeiner Schweine. Odyſſeus war noch nicht eingeſchlafen, als der Sauhirt in dieſem Aufzuge die Hütte verließ. Er blickte ihm theilnehmend nach und freute ſich innerlich im Herzen, einen ſo ehrlichen und getreuen Knecht zu beſitzen, der das Gut ſeines Herrn, den er längſt für verloren hielt, mit ſo gewiſſenhafter Sorgfalt verwaltete. In dieſem Gefühl überließ ſich der Held dem erquicklichen Schlummer.

Telemach verläßt Sparta.

Pallas Athene, die Göttin, wandelte inzwiſchen nach Sparta, und fand dort die beiden Jünglinge aus Pylus und aus Ithaka bei dem Fürſten Menelaus auf ihr Nachtlager hingeſtreckt. Piſiſtratus, der Sohn des Neſtor, lag in ſüßem Schlafe; den Telemach aber labte kein Schlummer. Er wachte die ganze Nacht hindurch aus Bekümmerniß über das Schickſal ſeines Vaters. Da ſah er auf einmal die Tochter Jupiters vor ſeinem Bette192 ſtehen, die alſo zu ihm ſprach: Du thuſt nicht wohl daran, Telemachus, fern von deinem Hauſe dich in der Irre umherzutreiben, während in deinem Palaſte zügel¬ loſe Männer dein Gut unter ſich vertheilen. Wohlan, bitte den Fürſten Menelaus unverzüglich um die Heim¬ fahrt, ehe deine Mutter eine Beute der Freier wird. Denn bereits ſtürmen Vater und Brüder auf ſie ein und verlangen, daß ſie den Eurymachus zum Gemahl erkieſe, der allerdings mit ſeinen Geſchenken alle Andern über¬ troffen hat, und ſich noch zu reichlicherer Bräutigams¬ gabe erbietet. Wenn ſie aber dieſen wählt, dann magſt du ſelbſt zuſehen, wie es dir ergehen wird! Eile daher zurück, und im ſchlimmſten Fall übergieb deine Güter einer getreuen Dienerin, bis dir die Götter einmal eine würdige Gemahlin beſcheren. Aber noch eines vernimm: in der Meerenge zwiſchen Ithaka und Same liegen die tapferſten Freier in einem Hinterhalte, und ſind dazu ge¬ rüſtet, dich umzubringen, ehe du dein Vaterland wieder erreicheſt. Steure deswegen fern von den andern Inſeln und fahre nur in der Nacht: für guten Wind wird ein Gott ſorgen. Haſt du ſodann das nächſte Ufer von Ithaka erreicht, ſo ſende deine Genoſſen alle ſogleich nach der Stadt, du ſelbſt aber begieb dich vor allen Din¬ gen zu den treuen Hirten, der deine Schweine bewacht; bei ihm bleibſt du bis an den Morgen, und von dort aus meldeſt du der Mutter Penelope deine glückliche Zu¬ rückkunft aus Pylos!

Nachdem ſie alſo geſprochen, flog die Göttin wieder zum Olymp empor. Telemach aber weckte den Sohn Neſtors, indem er ihn mit dem Fuß an die Ferſe ſtieß, und rief: Wach auf, Piſiſtratus, ſchirre die Roſſe vor193 den Wagen, und laß uns die Heimfahrt beginnen. Wie, antwortete der Sohn Neſtors noch im halben Schlummer, wir werden doch im Dunkel der Nacht nicht auf die Fahrt gehen wollen? Warte doch, bis der Morgen kommt: dann legt uns der König Menelaus ſchöne Geſchenke in den Wagenſeſſel und entläßt uns mit freundlichen Abſchiedsworten. Während ſie ſo noch länger miteinander über die Abreiſe unterhandelten, er¬ ſchien die Morgenröthe, und Menelaus erhub ſich noch vor den Jünglingen von dem Lager. Als ihn Telemachus in der Ferne durch die Halle wandeln ſah, warf er ſich ſchnell in ſeinen Leibrock, ſchlug den Mantel um die Schultern, trat zu dem Fürſten und bat ihn um Ent¬ laſſung in die Heimath. Freundlich entgegnete ihm Me¬ nelaus: Lieber Gaſt, ich bin weit entfernt, dich länger aufhalten zu wollen, wenn du dich nach Hauſe ſehneſt. Ich ſelbſt kann den Wirth nur tadeln, der durch läſtige Freundſchaft ſich gegen ſeinen Gaſtfreund als ein Feind beweist. Es iſt eben ſo arg, einen Eilenden aufzuhalten, als einen Zögernden an die Heimkehr zu erinnern. Warte nur ſo lange, bis ich dir Geſchenke in den Wagen ge¬ legt, und die Weiber dir einen Schmaus bereitet haben. Edler Fürſt, antwortete Telemachus, ich wünſche nur deßwegen heimzukehren, um nicht, während ich nach dem Vater forſche, ſelbſt zu Grunde zu gehen: denn es war¬ ten allerlei Gefahren auf mich, und im väterlichen Palaſte wird mein Erbgut aufgezehrt. Als Menelaus dieſes hörte, ſorgte er in aller Eile für das Mahl, und ver¬ fügte ſich mit Helena und Megapenthes in die Vorraths¬ kammer. Hier ſuchte er ſelbſt einen goldenen Becher heraus, ſeinem Sohne Megapenthes gab er einen ſchönenSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 13194ſilbernen Krug zu tragen, und aus dem Kaſten ſuchte Helena das unterſte ihrer ſelbſtgewirkten Gewande her¬ vor, welches das ſchönſte und größte von allen war. Mit dieſen Gaben kehrten ſie zu dem Gaſtfreunde zurück; Menelaus reichte ihm den Becher, ſein Sohn ſtellte den Krug vor ihm auf, und Helena ging mit ihrem Gewand in den Händen ihm entgegen und ſprach: Nimm dieſes Geſchenk, lieber Sohn, als ein Andenken aus der Hand Helena's: am Hochzeittage ſoll es deine junge Braut tragen; bis dahin mag es im Gemache deiner Mutter liegen. Du aber kehre mit fröhlichem Herzen in das Haus deiner Väter zurück.

Telemach empfing die Gaben mit ehrerbietigem Danke, und ſein Freund Piſiſtratus legte ſie, jedes Einzelne be¬ wundernd, im Wagenkorbe nieder. Dann führte Mene¬ laus die Gäſte noch einmal in ſeinen Saal, und der Abſchiedsimbiß wurde genoſſen. Als ſie ſchon auf dem Wagen ſaßen, trat Menelaus, mit einem vollen Becher in der Rechten, noch einmal vor die Roſſe, brachte zu glücklicher Abfahrt den Unſterblichen eine Opferſpende dar, trank mit einem Handſchlage den Jünglingen zu, ſagte ihnen Lebewohl, und gab ihnen einen Gruß an ſeinen greiſen Freund Neſtor auf. Während Telemach noch dankte und ſeinen Wunſch ausſprach, den Vater Odyſſeus im Palaſte heimgekehrt zu treffen, und ihm von des Menelaus Gaſtfreundſchaft Bericht abſtatten zu kön¬ nen: ſiehe da flog ein Adler, mit einer zahmen Gans aus dem Hofe in den Klauen, von ſchreienden Männern und Weibern verfolgt, rechts her gerade vor die Roſſe der Jünglinge. Alle freuten ſich über dieſes Zeichen, Helena aber ſprach: Höret meine Weiſſagung, ihr Freunde!195 wie der Adler, aus ſeinem Neſt im Gebirge gekommen, die Gans weggerafft hat, die ſich vom Fett unſrer Woh¬ nung mäſtete: ſo wird Odyſſeus nach langer Irrfahrt und Qual als Rächer in die Heimath zurückkehren, oder iſt ſchon zurückgekehrt, den gemäſteten Freiern zum Ver¬ derben! Geb 'es Jupiter ſo, antwortete Telemach, dann, edle Fürſtin, will ich dich zu Hauſe ſtets wie eine Göttin anflehen.

Und nun eilten die beiden Gäſte mit dem Wagen davon. Am Abend übernachteten ſie, gaſtreich gepflegt, wieder in der Burg bei dem gütigen Helden Diokles zu Pherä, und am zweiten Tage erreichten ſie glücklich die Stadt Pylos. Aber ehe ſie hineinfuhren, wandte ſich Telemach bittend an ſeinen jungen Freund: Lieber Pi¬ ſiſtratus, ſprach er, ſo befreundet unſere Väter ſind, ſo innig dieſe Fahrt uns beide vereinigt hat: verarge mir's nicht, wenn ich die Stadt nicht betreten will, daß dein greiſer Vater mich nicht aus lauter Liebe mit Zwang in ſeiner Wohnung zurückhalte, denn du weißeſt ja ſelbſt, wie ſehr ich meine Heimkehr beſchleunigen muß. Piſiſtratus fand ſein Geſuch natürlich, lenkte mit ſeinen Roſſen an der Stadt vorüber, und brachte den Freund geradenwegs an den Strand zu ſeinem Schiffe. Hier nahm er recht herzlichen Abſchied von ſeinem Freunde und ſprach: Beſteige nur raſch dein Schiff und fahre davon; denn erführe mein Vater, daß du da biſt, er würde gewiß ſelbſt kommen und dich nöthigen, in ſeinem Palaſt einzukehren. Telemach gehorchte ſeinen Worten, die Genoſſen beſtiegen das Schiff und ſetzten ſich auf die Ruderbänke, er ſelbſt aber ſtellte ſich noch auf dem Strande hinten an das Steuerruder des Schiffes und13 *196brachte ſeiner Beſchützerin Athene unter Gebet ein Opfer dar.

Während er dieß that, näherte ſich ein Mann mit haſtigen Schritten dem äußerſten Ufer, ſtreckte ſeine Hände nach Telemach aus und rief: Bei deinem Opfer, Jüng¬ ling, bei den Göttern und bei der Wohlfahrt deines Hauptes und der Deinigen flehe ich zu dir: ſage mir, wer du biſt und wo du wohneſt. Als Telemach ihm Alles der Wahrheit nach kurz zugerufen, fuhr er fort zu bitten: Auch ich bin auf der Wanderſchaft begriffen. Ich bin der Seher Theoklymenus, mein Geſchlecht ſtammt aus Pylos, ich ſelbſt aber hauſete zu Argos. Dort hab 'ich im Streit und Jähzorn einen Mann aus mächtigem Geſchlecht erſchlagen, und bin ſeinen Brüdern und Ver¬ wandten, die mir den Tod geſchworen haben, entronnen. Hinfort bleibt mir nichts übrig, als wie ein Verbannter durch die Welt zu irren. Du aber, guter Jüngling, be¬ trachte mich als einen Schutzflehenden und laß mich zu dir ins Schiff, denn meine Verfolger ſind mir auf den Ferſen!

Telemach, der einen milden Sinn hatte, nahm den Fremdling gern in ſein Schiff auf, und verſprach ihm, auch in Ithaka für ſeinen Lebensunterhalt zu ſorgen. Er empfing zuerſt den Speer aus den Händen des Fremden, und legte ihn auf's Verdeck nieder; dann beſtieg er ſelbſt mit dem Seher das Schiff und ſetzte ſich mit ihm an das Steuerende; die Seile, mit welchen das Fahrzeug am Geſtade angebunden war, wurden abgelöst, der Maſt aus Fichtenholz in die mittlere Vertiefung des Schiff¬ bodens geſtellt und hoch aufgerichtet, die weißen Segel197 mit Riemen an den Stangen aufgeſpannt, und unter dem Sauſen des günſtigſten Windes flog das Schiff davon.

Geſpräche bei'm Sauhirten.

In der Hütte des Sauhirten zu Ithaka ſaß Odyſſeus mit Eumäus und den andern Hirten am Abende dieſes Tages vergnüglich bei der Nachtkoſt, und um ihn zu verſuchen, wie lang er ihm wohl Herberge gönnen werde, ſprach er nach dem Eſſen zu ſeinem Wirth: Morgen, mein Freund, will ich an meinem Bettelſtab in die Stadt gehen, um euch nicht länger beſchwerlich zu fallen. Da rathe mir denn, und gieb mir einen Be¬ gleiter mit, der mir den Weg zeige, denn ich will in der Götter Namen die Stadt durchirren und ſehen, wo ich ein wenig Wein und Brod erhalte. Auch möchte ich gern in den Palaſt des Königs Odyſſeus gehen und dort ſeiner Gemahlin Penelope ſagen, was ich von ihm weiß. Am Ende würde ich auch den Freiern gegen Unterkunft und Speiſe meine Dienſte anbieten; verſtehe ich mich doch trefflich auf's Holzſpalten, Feueranmachen, Bratſpießwenden, Speiſevorlegen und Weinvertheilen, und auf andere derlei Geſchäfte, wie ſie Vornehme von den Geringern zu fordern pflegen. Aber der Sauhirt run¬ zelte die Stirn und erwiederte: Gaſt, was kommt dir für ein Gedanke in den Sinn, willſt du dich ganz ins Verderben ſtürzen? meinſt du, die trotzigen Freier wer¬ den nach deinen Dienſten lüſtern ſeyn? Die haben ganz andere Diener, als du einer wäreſt! Jünglinge in den198 zierlichſten Kleidern, mit blühendem Antlitze, das Haupt von Salben duftend, ſtehen ihnen zu Gebot und bedie¬ nen die prächtigen Tiſche, welche ſtets mit Fleiſch, Brod und Wein belaſtet ſind. Bleib du bei uns, wo deine Geſellſchaft weder mir noch den Meinigen beſchwerlich iſt, und warte auf den guten Sohn des Odyſſeus, der dich mit aller Nothdurft wohl verſorgen wird!

Odyſſeus nahm das Anerbieten dankbar an und bat darauf den Hirten, ihm auch zu erzählen, wie es den Eltern ſeines Herrn gehe, ob ſie noch leben, oder ſchon in den Hades hinabgeſtiegen ſeyen. Laertes, der Vater, lebt noch, antwortete ihm Eumäus, aber er beweint untröſtlich den entfernten Sohn und die Gattin, die der Gram um den Verlorenen umgebracht hat. Auch ich muß dieſe gute Frau beweinen; iſt doch ſie es, die mich mit ihrer Tochter Ktimene faſt wie einen Sohn aufge¬ zogen hat. Als ſpäter die Tochter nach Samos ver¬ mählt wurde, ſtattete mich die Mutter reichlich aus und ſchickte mich hierher auf's Land. Jetzt muß ich freilich Vieles entbehren, und nähre mich ſo gut ich kann von meinem Amte hier. Penelope, die jetzige Königin, kann nichts für mich thun; ſie iſt von den Freiern umgeben und bewacht, und ein ehrlicher Diener kann gar nicht bis zu ihr durchdringen. Guter Sauhirt, fragte Odyſſeus weiter, woher ſtammeſt du denn, und wie biſt du in den Dienſt dieſes Hauſes gekommen? Der Hirt ſchenkte ſeinem Gaſte den Becher wieder voll und erwie¬ derte: Trink, mein guter Alter, und laß dich die lange Geſchichte nicht verdrießen, hier zwingt uns ja Niemand, früh zu Bette zu gehen, und wir können die ganze Nacht durch ſchwatzen. Dort über Ortygia hin liegt eine nicht199 ſonderlich bevölkerte, aber fruchtbare und geſunde Inſel mit Namen Syria, mit zwei Städten. Ueber beide herrſchte als mächtiger Fürſt mein Vater Kteſius, der Sohn des Ormenos. Als ich noch ein kleiner Knabe war, landeten dort trügeriſche Seefahrer aus Phönizien, die allerlei niedliche Waaren auf ihrem Schiffe zum Verkauf mitbrachten, und lang an unſrer Küſte blieben. Nun hatten wir damals ein phöniziſches Weib, ſchön und ſchlank von Geſtalt, die mein Vater als Sklavin erſtan¬ den hatte, und die wegen ihrer kunſtreichen Arbeiten ſehr beliebt war, in unſerer Wohnung. Dieſe wurde mit einem der phöniziſchen Krämer, ihrer Landsleute, ver¬ traut, und hängte ihr Herz an ihn. Der Schiffer verſprach ihr, ſie mit ſich als ſeine Gattin in ſeine und ihre Hei¬ math nach Sidon zu bringen, und die treuloſe Sklavin gelobte ihm dagegen, aus meines Vaters Hauſe nicht nur die Hände voll Gold als Fährlohn mitzubringen, ſondern auch noch etwas Beſſeres. Ich erziehe nämlich, ſagte ſie, den kleinen Sohn des Fürſten, er iſt ſchon recht geſcheut für ſein Alter, und läuft ſo mit, wenn ich Gänge außer dem Hauſe zu machen habe. Dieſen bringe ich euch auf das Schiff, und ihr werdet keinen kleinen Gewinn von ihm machen.

So ſprach das falſche Weib und ging nach dem Palaſte zurück, als wenn nichts geſchehen wäre; denn die Kaufleute verweilten noch ein ganzes Jahr auf der Inſel. Als ſie ſich endlich mit dem ſchwer beladenen Schiffe zur Heimfahrt rüſteten, erſchien ein liſtiger Mann mit einem goldenen Halsbande im Palaſte meines Va¬ ters, und bot es zum Verkauf an. Mutter und Mägde umſtanden ihn im Saal, faßten es Eine um die Andere200 mit der Hand, muſterten es mit den Augen, feilſchten um den Preis. Während deſſen gab der Mann (denn es war ein Bote der Phönizier) dem Weib einen heim¬ lichen Wink. Kaum hatte er das Haus verlaſſen, ſo nahm dieſe mich an der Hand und entführte mich aus dem Palaſt. Im Vorſaal fand ſie Tiſche und Becher für Gäſte des Vaters aus der Rathsverſammlung ge¬ rüſtet. Da ſah ich, wie ſie ſchnell drei goldene Gefäße hinwegnahm und im Wurf ihres Gewandes verbarg; in meiner Einfalt beſann ich mich nicht darüber, ſondern folgte ihr. Die Sonne war eben am Untergehen, als wir im Hafen anlangten und mit der übrigen Mann¬ ſchaft das Schiff beſtiegen.

Wir fuhren mit günſtigem Winde ab und mochten etwa ſechs Tage lang geſteuert ſeyn, als das verräthe¬ riſche Weib, vom Pfeile Diana's, wie man ſagt, ge¬ troffen, plötzlich im Schiffsraume todt zu Boden fiel, wie ein Seehuhn, das der Jäger geſchoſſen. Man warf ſie über Bord den Fiſchen zur Beute und ich kleines Kind blieb allein, ohne einen Menſchen, der ſich meiner an¬ genommen hätte, auf dem Schiffe. Die Phönizier aber landeten endlich in Ithaka, wo mich der alte Laertes von den Kaufleuten erhandelte. Auf dieſe Weiſe habe ich zuerſt unſre Inſel mit Augen geſehen.

Nun, ſprach Odyſſeus, du darfſt doch nicht ganz unzufrieden mit deinem Schickſale ſeyn, denn Ju¬ piter hat dir zu dem Böſen doch auch Gutes beſcheert, und einem freundlichen Mann in die Hand gegeben, der es dir an nichts fehlen ließ, und auf deſſen Gute du noch immer in Gemächlichkeit lebſt! Ich Armer dagegen irre in beſtändiger Verbannung umher!

201

Unter ſolchen Geſprächen war ihnen die Nacht faſt ganz dahingegangen und ſie ſchliefen nur noch weniges, bis die anbrechende Morgenröthe ſie weckte.

Telemach kommt heim.

An demſelben Morgen landete Telemach mit ſeinen Begleitern an Ithaka's Geſtade. Dem Rathe Minerva's gehorchend, hieß er dieſe ohne Verzug nach der Stadt fortrudern, verſprach ihnen am andern Morgen durch ein fröhliches Mahl den Dank für die Reiſe zu be¬ zahlen, und ſchickte ſich zum Wege nach den Hirten an. Aber wo ſoll ich hingehen, mein Sohn, fragte den Scheidenden Theoklymenus, wer in der Stadt wird mich aufnehmen? ſoll ich etwa geradenweges auf den Palaſt deiner Mutter zugehen? Hätte unſer Haus, antwortete Telemach, ein anderes Anſehen, als es gegen¬ wärtig hat, ſo würde ich dir unbedenklich dazu rathen, ſo aber würdeſt du von den Freiern doch nicht vorge¬ laſſen, und meine Mutter webt im einſamſten Gemache des Hauſes an einem Gewande. Da wäre es noch klüger, dich in das Haus des Eurymachus zu begeben, der ein Sohn des in Ithaka hoch angeſehenen Mannes, des Polybus, und der erſte unter denen iſt, die ſich um meine Mutter bewerben! Während er noch redete, flog ein Habicht mit einer Taube vorüber, deren Gefieder er berupfte. Da führte der Seher den Jüngling bei der Hand auf die Seite und ſagte ihm ins Ohr: Sohn,202 wenn meine Kunſt mich nicht ganz täuſcht, ſo gilt dieſes Zeichen deinem Hauſe. Nie wird ein anderes Geſchlecht auf Ithaka walten: ihr ſeyd die ewigen Beherrſcher die¬ ſes Landes!

Ehe nun Telemach von Theoklymenus Abſchied nahm, empfahl er dieſen noch ſeinem vertrauteſten Freunde, dem Piräus, dem Sohne des Klytius, daß er den Fremdling in ſeine eigene Wohnung aufnehmen und liebreich pflegen möchte, bis Telemach in die Stadt käme. Dann ſchied er, und die Genoſſen fuhren weiter.

Inzwiſchen rüſteten Odyſſeus und der Sauhirt in der Hütte das Frühſtück und die Knechte trieben die Schweine hinaus. Als ſie behaglich beim Mahle ſaßen, ließen ſich draußen Fußtritte hören und die Hunde wurden laut, doch ohne zu bellen; ſie ſchienen vielmehr einem Herankommenden zu ſchmeicheln. Gewiß, ſagte Odyſſeus zu dem Hirten, beſucht dich ein Freund oder Bekann¬ ter: denn gegen Fremde geberden ſich deine Hunde ganz anders, das hab 'ich erfahren!

Das Wort war noch nicht ganz ausgeredet, als ſein lieber Sohn Telemach unter der Hüttenthüre ſtand. Der Sauhirt ließ das Trinkgeſchirr vor freudiger Be¬ ſtürzung aus der Hand ſinken, eilte ſeinem jungen Herrn entgegen, umſchlang ihn, und bedeckte ihm weinend Antlitz, Augen und Hände mit ſeinen Küſſen, als wäre er vom Tode erſtanden. Ein alter Vater kann ſeinen einzigen ſpätgeborenen Sohn, wenn dieſer nach zehn Jahren aus der Fremde kommt, nicht herzlicher bewillkommnen. Jener trat erſt über die Schwelle, als er von ſeinem Diener vernommen, daß in der Mutter Hauſe nichts Neues vor¬ gefallen ſey. Dann übergab er dem Hirten ſeine Lanze203 und ging in die Hütte. Sein Vater Odyſſeus wollte dem Hereintretenden auf ſeinem Sitze Platz machen, Telemach aber hielt ihn und ſagte freundlich: Bleib nur ſitzen, Fremdling, der Mann da wird mir ſchon meinen Platz anweiſen. Inzwiſchen bereitete Eu¬ mäus ſeinem jungen Herrn ein weiches Polſter aus grü¬ nem Laube, darüber er einen Schafpelz deckte. Nun ſetzte ſich Telemach zu den Beiden, und der Sauhirt tiſchte eine Schüſſel mit gebratenem Fleiſche auf, ſtellte den Brodkorb dazu, und miſchte in der hölzernen Kanne den Wein. So ſchmauſten ſie alle drei zuſammen. Da fragte denn Telemach den Diener nach dem Fremdlinge, und dieſer brachte kürzlich vor, was Odyſſeus an ihn hingefabelt. Er hat ſich jetzt, beſchloß er ſeine Ant¬ wort, aus einem thesprotiſchen Schiffe geflüchtet und kam in mein Gehege; ich gebe ihn dir in die Hände, thue mit ihm, wie du willſt. Dein Wort ängſtet mich, erwiederte Telemach, wie kann ich den Mann in meinem Hauſe, ſo wie es dort ausſieht, beſchirmen? behalte du ihn lieber hier; ich will ihm Rock und Mantel auf den Leib, Beſchuhung an die Füße, und um die Lenden ein zweiſchneidiges Schwert ſchicken, auch Speiſe genug, damit er dir und deinen Knechten nicht beſchwer¬ lich falle. Nur kann ich nicht darein willigen, daß er ſich unter die Freier begebe, denn dieſe ſchalten und walten gar zu frech im Hauſe, ſelbſt ein gewaltiger Mann vermöchte nichts gegen ſie.

Odyſſeus der Bettler drückte ſeine Verwunderung darüber aus, daß die Freier, dem Sohne des Hauſes zum Trotze, ſich ſo viele Unarten herausnehmen dürften. Haßt dich denn etwa, fragte er den Telemach, das204 Volk, oder liegſt du mit Brüdern im Streite, oder gibſt du dich von freien Stücken ſo tief herunter? Wär 'ich ſo jung wie du und der Sohn des Odyſſeus, oder gar er ſelber käme zurück (denn noch iſt ja die Hoffnung dazu noch nicht ganz verloren!) eher ſollte mir ein Frem¬ der den Kopf von der Schulter hauen, ja lieber wollte ich in meinem eigenen Hauſe ſterben, als daß ich ſo ſchändliche Thaten länger mit anſchaute!

Darauf antwortete Telemach: Nein, lieber Gaſt, das Volk haßt mich nicht; auch habe ich keine Brüder, die mich anfeindeten, ich bin das einzige Kind im Hauſe; aber feindſelig geſinnte Männer von allen Inſeln umher und von Ithaka ſelbſt werben in Unzahl um meine Mut¬ ter. Sie weicht ihnen aus, ohne ihnen wehren zu kön¬ nen, und in Kurzem wird mein Haus und Gut verwü¬ ſtet ſeyn. Dann wandte er ſich zu dem Sauhirten und ſprach: Du aber, Väterchen, thu 'mir den Gefal¬ len und eile hinein in die Stadt zu Penelope meiner Mutter, und ſag' ihr, daß ich da bin, doch ſo, daß es ja kein Freier vernimmt. Soll ich, fragte Eu¬ mäus, nicht den Umweg über deinen Großvater Laertes machen, und ihm deine Heimkehr auch zu wiſſen thun? Seitdem du nach Pylos gefahren biſt, erzählen ſie, habe er keine Speiſe und keinen Trank mehr genoſſen, und nicht mehr nach den Feldarbeiten geſehen, in beſtändiger Betrübniß ſitze er dort, von den Gliedern ſchwinde ihm das Fleiſch. So betrübt es iſt, antwortete Telemach, ſo kann ich dich doch den Umweg nicht machen laſſen. Nicht bald genug kann mir die Mutter wiſſen, daß ich wieder gekommen bin! So ſprach er und trieb den Diener an. Der Sauhirt langte ſich ſeine Sohlen205 hervor, band ſie ſich unter die Füße, griff zu ſeiner Lanze und eilte fort.

Odyſſeus gibt ſich dem Sohne zu erkennen.

Pallas Athene, die Göttin, hatte nur den Augen¬ blick abgewartet, wo Eumäus die Hütte verlaſſen haben würde. Da erſchien ſie unter der Thüre in Geſtalt einer ſchönen Jungfrau, doch nicht dem Telemach ſichtbar, ſondern nur ſeinem Vater und den Hunden; dieſe aber bellten nicht, ſondern verkrochen ſich winſelnd nach der andern Seite des Hofes. Dem Odyſſeus winkte die Göttin; er verſtand ihr Gebot und verließ auf der Stelle die Hütte. An der Hofmauer fand er ſeine Beſchützerin ſtehen, die zu ihm ſprach: Jetzt, Odyſſeus, brauchſt du dich nicht länger vor dem Sohne zu verbergen. Beide mit einander möget ihr zum Verderben der Freier in die Stadt eingehen. Ich ſelbſt werde euch auch nicht lange fehlen; denn ich brenne vor Begierde, dieſe Frevler zu bekämpfen! So ſprach die Göttin und berührte den Bettler mit ihrem goldenen Stab. Da war ein Wunder zu ſehen. Mantel und Leibrock wie früher umgab des Helden ſich verjüngende Geſtalt wieder; ſein Wuchs ſtrebte empor, ſein Antlitz bräunte ſich, die Wangen wurden voller, die Haare dicht, und um das Kinn ſproßte wieder das gekräuſelte ſchwarze Barthaar. Nach¬ dem ſie ſolches vollbracht hatte, verſchwand Athene.

Als Odyſſeus wieder in die Hütte eintrat, ſah ihn der Sohn mit Staunen an, glaubte einen Gott zu206 erblicken, und mit abgewandten Augen ſprach er: Fremd¬ ling, du ſiehſt ganz anders aus als vorhin; andre Kleider haſt du an; deine ganze Geſtalt iſt verwandelt, du biſt fürwahr einer der Himmliſchen! laß dir opfern und ſchone unſer. Nein, ich bin kein Gott, rief Odyſ¬ ſeus, erkenne mich doch, Kind, ich bin ja dein Vater, um den du dich ſo viel gegrämt haſt! Die ſo lange gewaltſam gehemmten Thränen ſtürzten ihm bei dieſen Worten aus den Augen; er eilte auf den Sohn zu und umfing ihn unter Küſſen. Aber Telemach konnte es noch immer nicht glauben. Nein, nein, rief er, du biſt nicht mein Vater Odyſſeus, ein böſer Dämon täuſcht mich, damit ich nur noch tiefer ins Leid verſinke. Wie vermöchte ſich auch ein Menſch aus eigener Kraft ſo zu verwandeln! Staune doch den heimkehrenden Vater nicht ſo gränzenlos an, lieber Sohn, erwiederte Odyſ¬ ſeus, ich bin es, der nach zwanzig Jahren in die Hei¬ math zurückkommt, und kein Anderer. Das Wunder iſt ein Werk der Göttin Athene, ſie hat mich ſo umgeſchaf¬ fen, daß ich bald als ein Bettler einhergehe, bald als ein Jüngling; denn den Göttern wird es leicht, einen Sterblichen bald zu erniedrigen, bald zu erhöhen.

So ſprach Odyſſeus und ſetzte ſich. Jetzt erſt wagte es der Jüngling, unter heißen Thränen ſeinen Vater zu umſchlingen; in beiden regte ſich der lange Gram, ſie fingen an laut zu weinen, und ihre Klage tönte ſo herz¬ zerreiſſend, wie der Ruf der Vögel, denen man ihre Jungen geraubt hat, ehe ſie flügg geworden ſind. Als ſie ſich genug ausgeweint, fragte endlich Telemach den Vater, auf welchem Wege er in die Heimath gekommen ſey, und nachdem ihm der Vater Beſcheid gegeben, ſagte207 der Letztere: Und jetzt bin ich da, mein Sohn, auf Athene's Befehl, daß wir uns über den Mord unſerer Feinde berathen. Nenne mir die Freier der Reihe nach, daß ich wiſſe, wie viel ihrer ſind, und ob wir beide allein zu ihrer Bekämpfung hinreichen, oder ob wir uns nach Bundesgenoſſen umſehen ſollen. Ich habe zwar immer von deinem Ruhme gehört, mein Vater, erwie¬ derte Telemach, und daß dein Arm ſo ſtark ſey, wie dein Rath verſtändig. Das aber war ein ſtolzes Wort, und nimmermehr vermöchten wir zwei etwas gegen ſo Viele. Es ſind ihrer nicht nur zehn oder zwanzig, es ſind viel viel mehr: aus Dulichium allein zweiund¬ fünfzig der muthigſten Jünglinge, mit ſechs Dienern; aus Same vierundzwanzig, aus Zacynth zwanzig, aus Ithaka ſelbſt zwölf. Mit ihnen ſind der Herold Medon, ein Sänger und zwei Köche. Darum, wenn es möglich iſt, laß uns auf weitere Vertheidiger denken. Be¬ denke, ſprach Odyſſeus darauf, daß Athene und Jupiter unſere Bundesgenoſſen ſind, die, wenn ſich einmal in meinem Palaſte der Krieg erhoben hat, uns nicht lange werden auf ihre Hülfe warten laſſen. Du ſelbſt nun, lieber Sohn, geh mit dem nächſten Morgen in die Stadt zurück, und ſetze dich unter die Freier, als wäre nichts geſchehen. Mich wird der Sauhirt, nachdem ich wieder zum greiſen Bettler umgeſtaltet worden bin, dir nachführen. Welchen Schimpf ſie alsdann mir auch im Saale anthun mögen, und wenn ſie nach mir werfen und mich an den Füßen über die Schwelle ziehen, du mußt dein Herz bezähmen und es ertragen. Mit Worten magſt du ſie zu beſänftigen ſuchen; aber ſie werden dir nicht folgen: denn ihr Verderben iſt beſchloſſen. Auf208 einen Wink von mir wirſt du ſodann die Rüſtungen, die wir im Saale umherhängen haben, in einer der obern Kammern des Hauſes verbergen. Vermiſſen ſie die Freier und fragen darnach, ſo ſagſt du nur, du habeſt ſie wegſchaffen laſſen, weil ſie vom Rauche des Kamines geſchwärzt, den Glanz, mit dem ſie unter Odyſ¬ ſeus geſchimmert, verloren haben, Für uns beide läſſeſt du nur zwei Schwerter, zwei Speere und zwei ſtier¬ lederne Schilde zurück, damit wir ſie zum Kampf ergreifen können, wenn Jene, in der Verblendung, die ihnen die Götter ſenden werden, ſich an uns wagen. Uebrigens darf kein Menſch vernehmen, daß Odyſſeus zurückgekehrt iſt, ſelbſt Laertes, ſelbſt der Sauhirt nicht, ja nicht ein¬ mal Penelope, deine Mutter. Unterdeſſen wollen wir unſere Dienſtmannen und das Geſinde prüfen, wer davon uns noch ehrt und fürchtet, und wer unſer vergeſſen hat und dich verachtet. Lieber Vater, erwiederte Te¬ lemach, du ſollſt mich gewiß nicht nachläſſig finden; aber ich glaube nicht, daß die Prüfung viel helfen wird. Es währt gar zu lange, bis du im Lande umhergehſt, um jeden Einzelnen auszuforſchen, indeſſen Jene dir im Palaſte gemächlich dein Gut verpraſſen. Zwar die Weiber im Hauſe auszukundſchaften, das will ich ſelbſt übernehmen, aber die Männer in den einzelnen Höfen das verſparen wir lieber für die Zukunft, wenn wir einmal im Palaſte Meiſter ſind. Odyſſeus gab ſeinem Sohne Recht und freute ſich über ſeine Beſonnenheit.

209

Vorgänge in der Stadt und im Palaſt.

Das Schiff, das den Telemach und ſeine Genoſſen von Pylos nach Ithaka gebracht hatte, war inzwiſchen im Hafen der Stadt angekommen, und die Begleiter des Königsſohnes hatten einen Herold zu ſeiner Mutter Pe¬ nelope geſendet, um ihr die Botſchaft von der Heimkehr des Sohnes zu überbringen. Mit derſelben Nachricht kam gleichzeitig der Sauhirt vom Lande her, und beide trafen ſich im Hauſe des Königes. Da ſagte der Herold zu Penelope laut vor allen Dienerinnen: Dein Sohn, o Königin, iſt wiedergekommen. Eumäus aber ſagte ihr im Geheim und ohne Zeugen, was ihm ſein junger Herr aufgetragen hatte, insbeſondere, daß ſie durch eine Schaffnerin ſeinem Großvater Laertes die fröhliche Bot¬ ſchaft auch zukommen laſſen möchte. Als der Sauhirt Alles ausgerichtet, eilte er wieder heim zu ſeinen Schwei¬ nen. Die Freier aber erfuhren die kurze Nachricht von der Heimkehr Telemachs, die der Herold gebracht hatte, durch die treuloſen Dienerinnen. Unmuthig ſetzten ſie ſich zuſammen auf die Bänke vor dem Thor, und Eu¬ rymachus ſprach hier in der Verſammlung: Das hätten wir doch nimmermehr gedacht, daß der Knabe dieſe Fahrt ſo trotzig vollenden würde. Laßt uns nur geſchwind ein Schiff ausrüſten, einen Schnellſegler, unſern Freunden im Seehinterhalte die Botſchaft zu bringen, daß ſie ver¬ gebens auf ihn warten und nur wieder umkehren dürfen.

Während Eurymachus ſprach, hatte ein andererSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 14210Freier, Amphinomus, das Geſicht umgewandt und einen Blick auf den Hafen der Stadt geworfen, den man von dem Vorhofe des Palaſtes aus mit den Augen erreichen konnte. Er ſah das Schiff, in welchem ſich diejenigen der Freier befanden, die auf den Hinterhalt ausgefahren waren, wie es eben mit vollen Segeln in den Hafen einlief. Es bedarf keiner Botſchaft um unſere Freunde, rief er, hier ſind ſie ja ſchon; ſey es, daß ein Gott ſie von Telemachs Heimkehr benachrichtiget hat, ſey es, daß er ihnen entkommen iſt, und ſie ihn nicht einzuholen vermochten. Die Freier erhoben ſich und eilten nach dem Meeresſtrande. Dann begaben ſie ſich mit den Neuangekommenen auf den Markt, wo ſie Niemand ſonſt aus dem Volke zuließen, ſondern ihre abgeſonderte Verſammlung veranſtalteten. Hier trat der Anführer der Ausrüſtung, der Freier Antinous, unter den Anweſenden auf und ſprach: Wir ſind nicht Schuld, daß der Mann uns entronnen iſt, ihr Freunde! Späher um Späher hatten wir den Tag über auf den Höhen des Geſtades aufgeſtellt, und wenn die Sonne untergegangen war, blieben wir nie die Nacht über auf dem Lande, ſondern wir kreuzten beſtändig auf der Meerenge und waren nur darauf bedacht, den Telemachus zu erhaſchen und in aller Stille umzubringen. Ihn aber muß einer der Unſterblichen heimgeleitet haben; denn nicht einmal ſein Schiff iſt uns zu Geſichte gekommen! Dafür wollen wir ihm hier in der Stadt ſelbſt den Untergang bereiten. Denn der Jüngling wird klug und wächſt uns allmählig über den Kopf. Auch das Volk wird uns am Ende aufſäßig: bringt er es unter die Leute, daß wir ihm auflauerten, ihn zu morden, ſo fallen ſie am Ende über211 uns her und jagen uns aus dem Lande. Ehe dieß ge¬ ſchieht, laßt uns ihn aus dem Wege räumen: in ſeine Beſitzungen theilen wir uns; den Palaſt laſſen wir der Mutter und ihrem künftigen Gemahl. Gefällt euch aber mein Gedanke nicht, wollt ihr ihn leben und im Beſitze ſeiner Güter laſſen: nun, dann wollen wir ihm auch die Habe nicht länger verzehren, dann laßt einen Jeden von ſeiner eigenen Heimath aus um die Fürſtin ſich mit Brautgeſchenken bewerben, und ſie wähle den, der ihr am meiſten gibt und vom Schickſale begünſtigt wird! Als er ſeine Rede geendigt hatte, entſtand ein langes Schweigen unter den Freiern. Endlich erhob ſich Am¬ phinomus, der Sohn des Niſus, aus Dulichium, der edelſte und beſtgeſinnte unter den Freiern, der ſich durch ſeine klugen Reden auch der Königin Penelope am meiſten zu empfehlen wußte, und ſagte ſeine Meinung in der Verſammlung. Freunde, ſprach er, ich möchte doch nicht, daß wir den Telemach heimlich ums Leben bräch¬ ten! Es iſt doch etwas Gräßliches, ein ganzes Königs¬ geſchlecht im letzten Sprößlinge zu morden. Laßt uns lieber vorher die Götter befragen: erfolgt ein günſtiger Ausſpruch Jupiters, ſo bin ich ſelbſt bereit ihn zu tödten; verwehren es uns die Götter, ſo rathe ich euch, von dem Gedanken abzuſtehen.

Dieſe Rede gefiel den Freiern wohl; ſie ſchoben ihren Plan auf und kehrten in den Palaſt zurück. Auch dießmal hatte ſie ihr Herold Medon, der heimliche An¬ hänger Penelope's, belauſcht und der Königin von Allem Nachricht gegeben. Dieſe eilte, jedoch dicht verſchleiert, mit ihren Dienerinnen in den Saal zu den Freiern hinab und redete in heftiger Gemüthsbewegung den Urheber14 *212des tückiſchen Vorſchlages alſo an: Antinous, du frecher Unheilſtifter, mit Unrecht rühmt dich Ithakas Volk als den verſtändigſten unter deinen Genoſſen; nie biſt du das geweſen. Du verachteſt die Stimme der Unglücklichen, auf welche doch Jupiter ſelbſt horcht, und biſt verwegen genug, auf den Tod meines Sohnes Telemach zu ſinnen. Erinnerſt du dich nicht mehr, wie dein Vater Eupithes, von ſeinen Feinden verfolgt, weil er Seeräuberei gegen unſere Verbündeten getrieben, ſchutzflehend in unſer Haus geflohen kam? Seine Verfolger wollten ihn tödten und ihm das Herz aus dem Leibe reißen; Odyſſeus aber war es, der die Tobenden abhielt und beſänftigte. Und du, ſein Sohn, willſt zum Danke das Gut des Odyſ¬ ſeus verſchwenden, wirbſt um ſeine Gattin, und willſt ſein einziges Kind ermorden? Du thäteſt beſſer daran, auch die Andern von ſolchem Frevel abzuhalten.

Statt ſeiner antwortete Eurymachus: Edle Pene¬ lope, ſey nicht bekümmert um das Leben deines Sohnes. Nie, ſo lange ich lebe, wird es ein Mann wagen, Hand an ihn zu legen. Hat doch auch mich Odyſſeus manch¬ mal als Kind auf den Knieen gewiegt und mir einen guten Biſſen in den Mund gegeben! Deßwegen iſt mir auch ſein Sohn der geliebteſte unter allen Menſchen, den Tod ſoll er nicht zu fürchten haben, wenigſtens nicht von den Freiern: kommt er von Gott, dann kann ihm freilich Niemand ausweichen! So ſprach der Falſche mit der freundlichſten Miene, im Herzen aber ſann er auf nichts als Verderben.

Penelope kehrte wieder in ihr Frauengemach zurück, warf ſich aufs Lager und weinte um ihren Gemahl, bis ihr der Schlummer die Augen zudrückte.

213

Telemach, Odyſſeus und Eumäus kommen in die Stadt.

An demſelben Abende kam der Sauhirt in ſeine Hütte zurück, während Odyſſeus und ſein Sohn Tele¬ mach gerade damit beſchäftigt waren, ein geſchlachtetes Schwein zur Nachtkoſt zuzubereiten. Der erſtere, vom Stab Athenes berührt, war bereits wieder zum zerlump¬ ten Bettler eingeſchrumpft, daß Eumäus ihn nicht zu erkennen vermochte. Kommſt du endlich, Sauhirt, rief dem Eintretenden Telemach zuerſt entgegen, und was bringſt du Neues aus Ithaka? Lauern die Freier noch immer auf mich, oder ſind ſie von ihrem Hinter¬ halte zurück? Eumäus meldete ihm, was er von den beiden Schiffen geſehen, und Telemach winkte vergnügt lächelnd ſeinem Vater, doch ſo, daß es der Sauhirt nicht bemerkte. Nun ſchmausten ſie traulich mit einan¬ der alle drei und legten ſich dann zur Ruhe.

Am andern Morgen frühe gürtete ſich Telemach, nach der Stadt zu gehen, und ſprach zu Eumäus: Al¬ ter, ich muß jetzt nach der Mutter ſehen. Du ſelbſt komm nach mit dieſem armen Fremdling, daß er ſich in den Häuſern umher ſeine Broſamen und ſeinen Wein erſtehe; ich kann unmöglich aller Welt Laſt auf mich laden und habe genug an meinem eigenen Kummer zu tragen. Hält ſich der Greis dadurch für beleidigt, deſto ſchlimmer für ihn! Odyſſeus, der ſich über die geſchickte Verſtellung ſeines Sohnes im Herzen nicht genug wun¬ dern konnte, ſagte nun auch ſeinerſeits: Lieber Jüngling,214 ich ſelbſt begehre nicht länger hier zu bleiben; ein Bettler bringt ſich in der Stadt immer beſſer fort, als auf dem Lande. Geh 'du denn immerhin, und wenn ich mich in meinen Lumpen noch ein wenig am Feuer gewärmt habe und die Luft milder geworden iſt denn die Stadt iſt, wie man mir ſagt, weit von hier entfernt, ſo mag dein Diener da mich begleiten.

Nun eilte Telemach in die Stadt. Es war noch ziemlich früh am Tage, als er vor ſeinem Palaſte an¬ kam, und die Freier hatten ſich noch nicht eingefunden. Er lehnte ſeine Lanze an eine Säule des Einganges und ſchritt über die ſteinerne Schwelle in den Saal. Hier war die Schaffnerin Euriklea damit beſchäftigt, die ſtatt¬ lichen Thronſeſſel mit ſchönen Vließen zu bedecken. Als ſie den Jüngling anſichtig ward, eilte ſie mit Freuden¬ thränen auf ihn zu und hieß ihn willkommen; auch die andern Mägde umringten ihn und küßten ihm Hände und Schultern. Jetzt trat auch ſeine Mutter Penelope aus der Kammer, ſchlank wie Artemis und ſchön wie Aphrodite. Weinend ſchloß ſie ihren Sohn in die Arme und küßte ihm Antlitz und Augen. Kommſt du, kommſt du, mein ſüßes Leben, rief ſie ſchluchzend, nimmer¬ mehr hoffte ich, dich wiederzuſehen, ſeit du heimlich und ohne meinen Willen nach Pylos geſchifft warſt, um Er¬ kundigung vom lieben Vater einzuziehen! Nun ſage mir doch, was bringſt du für Nachrichten, liebes Kind? Ach Mutter, antwortete Telemach, der ſeine wahren Gefühle mit Gewalt in den Buſen zurückdrängen mußte, rege mir, der ich ſelbſt eben erſt dem Verderben ent¬ flohen bin, den Gram um den Vater nicht wieder auf. Bade du dich jetzt, lege reine Gewande an, und gelobe215 droben in dem Söller mit deinen Jungfrauen den Göttern köſtliche Dankopfer, wenn ſie einſt uns die Vergeltung gönnen. Ich ſelbſt will zum Markte hingehen, um einen Fremdling ins Haus zu führen, der mich auf der Fahrt begleitet hat, und deſſen Pflege ich bis zur eigenen Wie¬ derkehr einem Freunde anempfohlen habe. Penelope folgte ſeinem Rath, und Telemach eilte, den Speer in der Hand, von ſeinen Hunden begleitet, auf den Markt. Athene hatte ihm beſondere Anmuth verliehen, daß den Kommenden alle Bürger anſtaunten, und auch die Freier verſammelten ſich ſogleich um ihn und ſagten ihm viel Schönes ins Angeſicht, während ſie im Herzen über ihren böſen Entwürfen brüteten. Telemach verweilte jedoch nicht in ihrem Gedränge. Er ſetzte ſich zu drei alten Freunden ſeines Vaters, Mentor, Antiphus und Halitherſes, und erzählte ihnen, was er durfte. Jetzt führte auch Piräus ſeinen Gaſtfreund Theoklymenus an der Hand daher und Telemach begrüßte beide; Piräus aber wandte ſich an ſeinen Freund und ſprach: Lieber Telemach, ſchicke doch auf der Stelle Dienerinnen in mein Haus, daß ſie die Geſchenke in Empfang nehmen, die dir Menelaus mitgegeben hat. Freund, erwie¬ derte Telemach, die Sachen liegen beſſer bei dir. Wiſſen wir doch noch nicht, welche Wendung die Sache nimmt. Fall 'ich von dem Meuchelmorde der Freier und theilen ſie mein Erbgut, ſo gönne ich jene köſtlichen Gaben dir beſſer als ihnen; ſtrafe dagegen ich ſie mit dem Unter¬ gange, dann komm du und bringe fröhlich dem Fröhlichen jene Schätze!

So ſprach Telemach, faßte den landesflüchtigen Seher Theoklymenus bei der Hand und führte ihn vom216 Markte weg in ſeinen Palaſt. Dort nahmen beide ein erquickendes Bad, und genoſſen in Penelopes Geſellſchaft, welche ihnen gegenüber an der zierlichen Spindel ſaß, das Frühſtück im Saal. Da ſprach denn die Mutter Telemachs traurig zu ihrem Sohne: Eigentlich thu 'ich beſſer daran, Telemach, zum Söller hinaufzuſteigen und dort einſam das Lager zu benetzen wie bisher; denn dir gefällt es ja doch nicht, mir zu erzählen, was du vom heimfahrenden Vater gehört haſt. Liebe Mutter, antwortete Telemach, gerne will ich dir Alles der Wahrheit nach verkündigen, was ich vernommen habe, wenn es nur Tröſtlicheres wäre! So liebreich mich der greiſe Neſtor zu Pylos aufnahm, ſo wußte er mir doch gar nichts vom Vater zu melden; aber er ſendete mich mit ſeinem eigenen Sohne zu Wagen gen Sparta. Dort ward ich von dem großen Helden Menelaus gaſtlich aufgenommen, und ſah auch die Königin Helena, um welche Trojaner und Griechen ſo Vieles erduldet haben. Hier erfuhr ich endlich Weniges vom geliebten Vater, was dem Fürſten Menelaus der Meergott Proteus in Aegypten mitgetheilt hatte. Dieſer hatte ihn auf der Inſel Ogygia in Kummer verſunken geſehen. Dort hält den Odyſſeus die Nymphe Kalypſo wider Willen in ihrer Grotte zurück und es fehlt ihm an Schiffen und Rude¬ rern, um die Heimath zu erreichen.

Als der Seher Theoklymenus die Fürſtin bei dieſer Nachricht ſehr bewegt ſah, unterbrach er ſeinen Gaſtfreund und ſagte: Königin, dieſer weiß nicht Alles. Vernimm du meine Weiſſagung: fürwahr, Odyſſeus ſitzt bereits irgendwo im Gefilde ſeiner Heimath, oder er ſchleicht heimlich umher, auf das Verderben der Freier ſinnend! 217Dieß hat mir ein Vogelzeichen geſagt, das ich deinem Sohn auf der Stelle ſo gedeutet habe. Möchte ſich dein Wort erfüllen, edler Gaſt, antwortete Penelope mit einem Seufzer, mein Dank dafür ſollte nicht aus¬ bleiben.

Während dieſe drei ſich ſo im Wechſelgeſpräch un¬ terhielten, freuten ſich die Freier vor dem Palaſte auf dem Pflaſter des Hofes wie gewöhnlich mit Scheiben¬ ſchießen und Speerwerfen, und brachen endlich auf die Erinnerung des Herolds zum Mittagsmahl ins Innere des Palaſtes auf. Unterdeſſen hatten ſich in der Hütte des Eumäus auch dieſer und ſein Gaſt zum Weg in die Stadt angeſchickt: Odyſſeus der Bettler hatte den hä߬ lichen geflickten Ranzen umgeworfen, und der Sauhirt ihm den Stab in die Hand gegeben. So wanderten beide dahin und überließen das Gehöft den Knechten und Hunden zur Bewachung. Sie waren ſchon an dem Stadtbrunnen angekommen, der von den Vorfahren des Odyſſeus ſchön in den Felſen gefaßt worden war; ein Pappelhain war in die Runde gepflanzt, und aus den Steinen ſprang der hohe helle Waſſerſtrahl. Hier er¬ reichte ſie Melanthius der Hirte mit zwei Knechten, der den Freiern die beſten Ziegen aus der Heerde zum Schmaus in die Stadt hinein trieb. Als dieſer das wandernde Paar erblikte, fing er laut an zu ſchimpfen. Wahr¬ haftig, da heißt es recht, ein Taugenichts führt den andern, und gleich zu gleich geſellt ſich gern. Wohin führſt du den heißhungrigen Bettler, verdammter Sau¬ hirt, daß er an den Thürpfoſten müßig ſtehe und um Brocken bettle? Gäbeſt du ihn mir zum Hüter meines Gehegs, daß er die Ställe ausfegte und den Zicklein218 Laub vorwärfe, ſo könnte er, mit Ziegenkäſe gefüttert, noch Fleiſch um ſeine dürren Lenden ſich wachſen ſehen! Aber freilich, er hat nichts gelernt, er kann nichts, als ſich den gefräßigen Bauch füllen. So rief Jener und gab ihm in der Bosheit einen Ferſentritt in die Hüfte; aber Odyſſeus wich nicht aus dem Fußſteig. Im Her¬ zen beſann er ſich freilich, ob er ihm nicht mit ſeinem Stab einen Streich über das Haupt verſetzen ſollte, daß er nicht mehr aufſtände; aber er bezwang ſein Herz und duldete die Schmach. Eumäus hingegen ſchalt den Unverſchämten ins Geſicht und ſprach, nach dem Brun¬ nen gewendet: Ihr heiligen Quellnymphen, Jupiters Töchter! hat euch jemals Odyſſeus köſtliche Opfer dar¬ gebracht, ſo gewähret mir meine Bitte, daß endlich ein¬ mal der Held Odyſſeus heimkehre! Er würde dieſem trotzigen Müßiggänger den Uebermuth bald vertreiben; iſt ein ſolcher doch der unbrauchbarſte Hirte von der Welt, und verſteht nichts, als den ganzen Tag in der Stadt herumzulungern! Du Hund, erwiederte Me¬ lanthius ſchimpfend, du wäreſt werth, daß man dich auf den Inſeln drüben als Sklave verkaufte und ein gutes Stück Geld aus dir löste. Möchte doch der Bo¬ gen Apollo's oder der Dolch der Freier deinen Telemach treffen, auf welchen du pocheſt, daß er zu Grunde ginge wie ſein Vater! Mit ſolchen Scheltworten ging er an ihnen vorüber und ſetzte ſich im Palaſte mitten unter die Freier, gerade dem Eurymachus gegenüber, an die Tafel; denn dieſe hatten ihn gern und theilten ihm ſtets von ihrem Schmauſe mit.

Jetzt waren auch Odyſſeus und der Sauhirt vor dem Königspalaſt angekommen. Als jener ſein Haus219 nach ſo langer langer Zeit wieder erblickte, bewegte ſich ihm das Herz im Leibe; er faßte ſeinen Begleiter an der Hand und ſprach: Fürwahr, Eumäus, das muß die Wohnung des Odyſſeus ſeyn! welch ein Palaſt, welch eine Reihe von Gemächern! Wie wohl umſchloſſen iſt der Vorhof mit Mauern und mit Zinnen; welch mäch¬ tige Thorflügel bilden den Eingang; wahrlich dieſe Burg iſt unbezwinglich! Auch merke ich wohl, daß viele Menſchen da drinnen ein Gaſtmahl begehen; duftet es doch bis zu uns heraus von Speiſen, und die Harfe des Sängers, der den Schmaus mit ſeinen Liedern würzt, ſchallt aus dem Saale hervor!

Sie berathſchlagten nun mit einander und beſchloſſen, daß der Sauhirt vorangehen und ſich für den Odyſſeus im Saal umſehen, dieſer aber ſo lange vor dem Thor warten ſollte. Während ſie noch miteinander ſprachen, erhub ein alter Haushund an der Thüre Haupt und Ohren von ſeinem Lager. Er hieß Argos; Odyſſeus ſelbſt hatte ihn noch aufgezogen, ehe er gen Troja ſchiffte. Er begleitete ſonſt die Männer auf die Jagd, jetzt aber lag er, im Alter verachtet, vor der Thüre auf einem Düngerhaufen, mit Ungeziefer bedeckt. Als dieſer den Odyſſeus bemerkte, ſchien er ihn trotz der Verkleidung zu kennen, er ſenkte die Ohren und wedelte mit dem Schwanz; aber näher herangehen konnte er vor Schwäche nicht mehr. Odyſſeus wiſchte ſich heimlich eine Thräne aus dem Auge, als er es bemerkte; dann ſprach er, ſeinen Schmerz verhehlend, zu dem Sauhirten: Der Hund, der hier auf dem Miſte liegt, ſcheint ein¬ mal ſo übel nicht geweſen zu ſeyn, man ſieht es ſeinem Wuchſe noch an! Freilich, erwiederte Eumäus, er220 war der liebſte Jagdhund meines unglücklichen Herrn; da hätteſt du ihn in den waldigen Thälern ſehen ſollen, wie weidlich er durchs Geſtrüppe dem Wild nachſpürte! Jetzt aber, ſeit ſein Herr dahin iſt, liegt er hier ver¬ achtet, und die Mägde geben ihm nicht einmal das nöthige Futter!

Mit dieſen Worten ging der Sauhirt in den Pa¬ laſt; der Hund aber, nachdem er im zwanzigſten Jahre ſeinen Herrn wiedergeſehen, ſenkte ſeinen Kopf und ſtarb.

Odyſſeus als Bettler im Saal.

Im Innern des Hauſes wurde Telemach zuerſt den Sauhirten gewahr und rief ihn heran. Eumäus ſchaute ſich vorſichtig um, ergriff den leeren Stuhl, auf welchem der Fleiſchzerleger vor dem Mahle zu ſitzen pflegte, und ſetzte ſich auf einen Wink an den Tiſch ſeines Herrn, dieſem gegenüber, wo ihm ſofort der Herold Fleiſch und Brod reichte. Bald nach ihm wankte auch Odyſſeus der Bettler am Stabe herein und ſetzte ſich innerhalb der Pforte auf die Schwelle von Eſchenholz nieder, an den einen der ſchön geſchnitzten Thürpfoſten aus Cypreſſen¬ holz gelehnt. Sobald Telemach ihn erblickte, langte er aus dem vor ihm ſtehendem Korb ein ganzes Brod, nahm dazu eine Hand voll Fleiſch, und gab beides dem Sau¬ hirten mit den Worten: Hier, mein Freund, reiche dieſe Gaben dem Fremdling, und ſag 'ihm, er ſoll ſich der Scham entſchlagen, und bei den Freiern herum¬ betteln! Odyſſeus empfing die Gabe ſegnend mit beiden221 Händen, legte ſie ſich vor die Füße auf ſeinen Ranzen und fing an zu eſſen. Das ganze Mahl über hatte der Sänger Phemius die Gäſte mit ſeinem Lied ergötzt; jetzt ſchwieg er, und man hörte nur noch den wilden Lärm der Schmauſenden durch den Saal. In dieſem Augen¬ blicke näherte ſich die Göttin Athene unſichtbar dem Odyſſeus und trieb ihn an, Brocken von den Freiern einzuſammeln, um die billiger Denkenden von den rohen unterſcheiden zu lernen. Aber dennoch war ihnen Allen miteinander das Verderben von der Göttin zugedacht: es ſollte nur Einer milderen Todes ſterben, als der Andere. Odyſſeus befolgte das Geheiß der Göttin, er ging ſtehend von Mann zu Mann und ſtreckte ſeine Hand hin, ſo geläufig, als wäre er ſeit lange den Bettel ge¬ wohnt. Manche zeigten ſich mitleidig und gaben ihm, und es entſtand ein Fragen unter den Freiern, woher der Mann wohl kommen möge. Da ſagte zu ihnen der Ziegenhirt Melanthius: Ich habe den Burſchen zuvor ſchon geſehen: der Sauhirt hat ihn herein gebracht! Dieſen fuhr jetzt der Freier Antinous zornig an: Du berüchtigter Sauhirt, ſag' uns, warum haſt du dieſen Menſchen in die Stadt geführt? Haben wir nicht Land¬ ſtreicher genug, daß du uns auch noch dieſen Freſſer in den Saal ſchleppſt? Harter Mann, antwortete Eu¬ mäus gelaſſen, den Seher, den Arzt, den Baumeiſter, den Sänger, der uns durch ſeine Lieder erfreut, ſie Alle beruft man wetteifernd in die Paläſte der Großen; den Bettler hat Niemand berufen: er kommt von ſelber; aber man ſtößt ihn auch nicht hinaus! Und das ſoll auch dieſem nicht geſchehen, ſo lange Penelope und Telemachus dieß Haus bewohnen. Aber Telemach hieß ihn ſchweigen222 und ſagte: Bemühe dich mit keiner Antwort, Eu¬ mäus, du kennſt ja die böſe Gewohnheit dieſes Man¬ nes, Andere zu beleidigen. Dir aber, Antinous, ſage ich: du biſt nicht mein Vormünder, daß du mir gebie¬ ten dürfteſt, dieſen Fremdling aus dem Hauſe zu treiben. Gieb ihm vielmehr und ſchone meines Gutes nicht! Aber freilich, du willſt lieber ſelbſt verzehren, als Andern geben! Siehe da, wie der trotzige Knabe mich ſchmäht, rief Antinous dagegen, wollte jeder Freier dieſem Bettler eine Gabe reichen, er brauchte drei Monate lang das Haus nicht wieder zu betreten! Damit ergriff er ſei¬ nen Fußſchemel, und als Odyſſeus auf ſeinem Rückwege zu der Schwelle eben an ihm vorüberging, und auch ihn noch um eine Gabe anflehte, wobei er von langen Bettlerfahrten durch Aegypten und Cypern ihm vorjam¬ merte, rief dieſer unwillig: Welch ein Dämon hat uns dieſen zudringlichen Schmarotzer geſandt! Weiche von meinem Tiſch, daß ich dir dein Aegypten und Cypern nicht geſegne! Und als Odyſſeus murrend ſich zurück¬ zog, warf ihm Antinous den Fußſchemel nach, daß die¬ ſer ihm rechts auf die Schulter fuhr, dicht ans Hals¬ gelenk. Odyſſeus ſtand unverrückt wie ein Fels und ſchüttelte ſchweigend ſein Haupt, voll von Entwürfen. Dann kehrte er zur Schwelle zurück, legte den mit Gaben gefüllten Ranzen zu Boden, und klagte niederſitzend den Freiern die Kränkung, die ihm Antinous angethan. Dieſer aber rief dem Bettler zu: Schweig 'und friß, du Fremd¬ ling, oder packe dich, ſonſt zieht man dich an Hand und Fuß über die Schwelle, daß dir die Glieder bluten!

Dieſe Rohheit empörte ſelbſt die Freier; einer aus ihnen erhub ſich und ſprach: Antinous, du haſt nicht223 wohl daran gethan, den Unglücklichen zu werfen. Wie nun, wenn es ein Himmelsbote wäre, der Menſchen¬ geſtalt angenommen? denn ſolches geſchieht ja manch¬ mal! Aber Antinous achtete nicht auf dieſe Warnung. Telemach ſelbſt ſah ſchweigend die Mißhandlung ſeines Vaters, und drängte ſeinen Ingrimm in den Buſen zurück.

In ihrem Frauengemache konnte Penelope durch die offenen Fenſter Alles vernehmen, was im Saale geſchah. So hörte ſie auch, wie es dem Bettler dort erging und empfand Mitleiden mit ihm. Sie ließ in der Stille den Sauhirten zu ſich hereinrufen und befahl ihm, jenen kommen zu heißen. Vielleicht, ſetzte ſie hinzu, weiß er mir etwas von meinem Gemahl zu berichten, oder hat ihn gar ſelbſt geſehen, denn er ſcheint weit in der Welt umhergewandert zu ſeyn. Ja, antwortete Eu¬ mäus, wenn die Freier ſchweigen und hören möchten, er könnte Vieles erzählen. Drei Tage ſchon beherberge ich ihn, und ſeine Berichte entzücken mein Herz, als wären ſie das Lied eines Sängers. Er iſt von Kreta, und mit deinem Gemahl, wie er behauptet, durch väter¬ liches Gaſtrecht verbunden. Und ſo will er denn auch wiſſen, daß Odyſſeus gegenwärtig im Lande der Thes¬ proter lebe, und nächſtens mit vielem Gute heimkehren werde. Geh, ſagte Penelope bewegt, rufe den Fremdling herbei, daß er mir ſelbſt erzähle! Dieſe üppi¬ gen Freier! Es fehlt uns nur ein Mann, wie Odyſſeus war; käme dieſer, ſo würden er und Telemach den Trotzigen bald vergelten! Als ſie ſo ſprach, nieste eben Telemachus im Saale ſo laut, daß das Gewölbe wie¬ derhallte. Penelope mußte lächeln und ſprach zum Sau¬ hirten: Hörſt du, wie mein Sohn mir zuniest, iſt das224 nicht eine gute Vorbedeutung? rufe mir geſchwind den Fremdling herbei!

Eumäus meldete dem Bettler den Befehl Penelope's, dieſer aber erwiederte: Wie gerne möchte ich der Kö¬ nigin erzählen, was ich von Odyſſeus weiß; und ich weiß viel von ihm: aber das Betragen der Freier flößt mir Beſorgniß ein. Eben jetzt, wo ich durch den Wurf des böſen Mannes dort ſo ſchwer gekränkt worden bin, hat ſich weder Telemach noch ein Anderer meiner ange¬ nommen. Darum ſoll Penelope für jetzt ihr Verlangen bewältigen, bis die Sonne untergegangen iſt, dann ſoll ſie mich an ihren Heerd ſitzen laſſen, denn mich friert in meinen Lumpen: ſo will ich ihr alles Mögliche erzählen. So begierig Penelope auf den Fremdling war, ſo konnte ſie ſeinen Gründen doch nicht Unrecht geben, und be¬ ſchloß, ſich zu gedulden.

Eumäus kehrte unter das Gewühl der Freier zurück und flüſterte ſeinem jungen Herrn ins Ohr: Ich will mich jetzt wieder nach meinem Gehege aufmachen, Herr, ſorge du hier für das Nöthige, zumal aber für dich ſelbſt, und ſey vor jeder Gefahr auf der Hut, welche von Sei¬ ten der argliſtigen Freier dich bedrohen könnte. Auf die Bitte Telemachs verweilte jedoch der Sauhirt noch bei Tiſche, bis es Abend geworden war; dann brach er auf und verſprach, am frühen Morgen mit auserleſenen Schweinen wieder zu kommen.

225

Odyſſeus und der Bettler Irus.

Die Freier waren noch immer beiſammen, als ein berüchtigter Bettler aus der Stadt in den Saal trat, ein ungeheurer Vielfraß, groß von Geſtalt, aber ohne alle Leibeskraft; von Haus aus hieß er Arnäus, aber die Jugend der Stadt nannte ihn mit einem Unnamen, Irus, was einen Boten bezeichnete, denn er pflegte um Lohn Botendienſte zu thun. Die Eiferſucht führte ihn herbei, denn er hatte von einem Nebenbuhler gehört, und ſo kam er heran, den Odyſſeus aus ſeinem eigenen Hauſe zu vertreiben. Weiche von der Thüre, Greis, rief er beim Eintreten, ſiehſt du nicht, wie mir Alles mit den Augen zuwinkt, dich am Fuß hinauszuſchleppen? Geh freiwillig und zwinge mich nicht dazu! Finſter blickte ihn Odyſſeus an und ſprach: Die Schwelle hat Raum für uns beide. Du ſcheinſt mir arm zu ſeyn wie ich. Beneide mich nicht, wie ich ſelbſt dir deinen Antheil gönne. Reize meinen Zorn nicht und fordere mich nicht zum Fauſtkampf heraus: ſo alt ich bin, ſo möchten dir doch bald Bruſt und Lippen bluten, und das Haus dürfte morgen Ruhe vor dir haben. Jetzt fing Irus nur noch ärger zu poltern an: Was ſchwatzeſt du da, Freſſer, ſprach er, was plauderſt du wie ein Hökerweib? Ein paar Streiche von mir rechts und links ſollen dir Backen und Maul zerſchmettern, daß dir die Zähne auf den Bo¬ den fallen wie aus einem Schweinsrüſſel. Haſt du Luſt, es mit einem Jüngling aufzunehmen, wie ich einer bin?

Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 15226

Mit lautem Lachen kehrten ſich die Freier dem ha¬ dernden Paare zu, und Antinous ſprach: Wiſſet ihr was, Freunde, ſehet ihr dort die Blutwürſte, in Ziegen¬ magen gefüllt, auf den Kohlen braten? Dieſe laßt uns den beiden edeln Streitern als Kampfpreis ausſetzen: wer von beiden Sieger iſt, nehme ſich davon, ſo viel er mag, und kein anderer Bettler außer ihm ſoll ins Künftige dieſen Saal betreten!

Allen Freiern gefiel dieſe Rede. Odyſſeus indeſſen ſtellte ſich zaghaft, als ein vom Elend entkräfteter Greis; er verlangte zum Voraus das Verſprechen von den Freiern, daß ſie ſich mit ihren jugendlichen Händen nicht zu Gunſten des Irus in den Kampf einlaſſen wollten. Sie gelobten ihm dieſes willig, und auch Telemach ſtand auf und ſprach: Fremdling, wenn du es vermagſt, ſo bemeiſtere Jenen immerhin. Ich bin der Wirth, und wer dich verletzt, der hat es mit mir zu thun. Die Freier alle nickten dieſen Worten Beifall zu. Odyſſeus gürtete ſein Gewand und ſtülpte die Ermel auf. Da erſchienen (denn unvermerkt verherrlichte Athene ſeinen Wuchs) nervige Schenkel und Arme, mächtige Schultern und Bruſt, ſo daß die Freier ſtaunen mußten, und Nach¬ bar zum Nachbar ſprach: Welche Lenden der Greis aus ſeinen Lumpen hervorſtreckt! Wahrlich, dem armen Irus wird es übel gehen. Dieſer fing auch an zu zagen; die Diener mußten ihn mit Gewalt umgürten, und ſeine Gelenke ſchlotterten. Antinous, der ganz Anderes von dieſem Wettkampf erwartet hatte, wurde voll Aergers und ſprach: Großſprecher, wäreſt du nie geboren, daß du vor dem kraftloſen Greis erbebeſt! Ich ſage dir, wenn du beſiegt wirſt, ſo wanderſt du mir zu Schiffe227 nach Epirus zum König Echetus, dem Schrecken aller Menſchen: der wird dir Naſe und Ohren abſchneiden und ſie den Hunden vorwerfen! So ſchrie Antinous, Jenem aber zitterten die Glieder nur noch mehr. Den¬ noch führte man ihn hervor, und beide erhuben ihre Hände zum Kampf. Odyſſeus beſann ſich einen Augen¬ blick, ob er den Elenden mit einem einzigen Streiche tödten ſollte, oder ihm nur einen ſanften Schlag ver¬ ſetzen, um keinen Argwohn bei den Freiern zu erwecken. Das letztere ſchien ihm klüger, und ſo gab er ihm denn, als beide hintereinander gekommen waren und Irus ihn mit der Fauſt rechts auf die Schulter getroffen hatte, nur eine leichte Schlappe hinter das Ohr. Dennoch zerbrach er ihm den Knochen, daß das Blut aus dem Munde ſchoß, und Irus ſich zähneklappend und zappelnd auf dem Bo¬ den wand. Unter unbändigem Lachen und Klatſchen der Freier zog ihn Odyſſeus weg von der Pforte, zum Vor¬ hof und zum Hauptthore hinaus, lehnte ihn an die Hof¬ mauer, und indem er ihm den Stab in die Hände gab, ſprach er ſpottend: Da bleib 'du ſitzen auf der Stelle, und verſcheuche Hunde und Schweine! Dann kehrte er in den Saal zurück und ſetzte ſich mit ſeinem Ranzen wieder auf die Schwelle.

Sein Sieg hatte den Freiern Achtung eingeflößt, ſie kamen lachend zu ihm her, reichten ihm die Hände und ſprachen: Mögen dir Jupiter und die Götter geben, was du begehreſt, Fremdling, daß du uns den über¬ läſtigen Burſchen zur Ruhe gebracht haſt, der nun zum König Echetus wandern mag! Odyſſeus ließ ſich den Wunſch als ein gutes Vorzeichen gefallen. Antinous ſelbſt legte ihm einen mächtigen Ziegenmagen vor, der15 *228mit Fett und Blut gefüllt war, Amphinomus aber brachte zwei Brode aus dem Korb herbei, füllte einen Becher mit Wein, und trank ihn unter Handſchlag dem Sieger zu, indem er ſagte: Auf dein Wohlergehen, fremder Vater, mögeſt du künftig von aller Trübſal frei ſeyn! Odyſſeus blickte ihm ernſthaft ins Auge und erwiederte: Amphinomus, du ſcheinſt mir ein recht verſtändiger Jüngling zu ſeyn, und biſt eines angeſehenen Mannes Kind. Nimm dir mein Wort zu Herzen! Es giebt nichts Eitleres und Unbeſtändigeres auf Erden, als der Menſch iſt; ſo lang ihn die Götter begünſtigen, meint er, die Zukunft könne ihm nichts Böſes bringen; und wenn nun das Traurige kommt, ſo findet er keinen Muth in ſich, es zu ertragen. Ich ſelbſt habe das erfahren, und habe, im Vertrauen auf meine Jugendſtärke, in glücklichen Tagen auch manches gethan, was ich nicht hätte ſollen. Drum warne ich einen Jeden, im Uebermuthe nicht zu freveln, und rathe ihm, die Gaben der Götter in Demuth zu empfangen. So iſt es auch nicht klug, daß die Freier ſich jetzt ſo trotzig geberden, und der Gattin des Mannes ſo viel Schmach anthun, der ſchwer¬ lich lange mehr von ſeiner Heimath entfernt, der viel¬ leicht ſo nahe iſt! Möge dich, Amphinomus, ein guter Dämon aus dem Hauſe hinwegführen, ehe du Jenem begegneſt! So ſprach Odyſſeus, goß eine Spende aus, trank und gab dann den Becher dem Jüngling zurück. Der Freier ſenkte nachdenklich ſein Haupt, und ſchritt betrübt durch den Saal, als ahnete ihm etwas Schlim¬ mes. Dennoch entrann er dem Verhängniſſe nicht, das ihm Athene beſtimmt hatte.

229

Penelope vor den Freiern.

Jetzt legte es Pallas Athene der Königin in die Seele, vor den Freiern zu erſcheinen, einem Jeden von ihnen ſein Herz recht mit Sehnſucht zu füllen, und ſich durch ihr Betragen vor dem Gemahl, deſſen Gegenwart ſie freilich noch nicht ahnte, und vor ihrem Sohne Te¬ lemach im vollen Glanz ihrer Seelenhoheit und ihrer Treue zu zeigen. Die alte vertraute Schaffnerin billigte ihren Entſchluß: Geh nur, Tochter, ſprach ſie, und berathe deinen Sohn mit einem Worte zur rechten Zeit: aber nicht ſo, wie du jetzt biſt, deine ſchönen Wangen von Thränen entſtellt, mußt du hinuntergehen; ſondern bade und ſalbe dich zuvor, und alsdann zeige dich den Freiern. Aber Penelope antwortete kopfſchüttelnd: Muthe mir das nicht zu, gute Alte; alle Luſt mich zu ſchmücken, iſt mir vergangen, ſeit mein Gemahl mit ſeinen Schiffen gen Troja fuhr. Aber rufe mir meine Dienerinnen Au¬ tonoe und Hippodamia, daß ſie im Saale mir zur Seite ſtehen; denn unbegleitet zu den Männern hinabzugehen verbietet mir ja die Schaam.

Während Eurynome die Schaffnerin mit dieſem Auftrage ſich entfernte, verſenkte Athene die Gattin des Odyſſeus auf Augenblicke in einen ſüßen Schlummer, daß ſie ſich ſanft in ihrem Seſſel ſtreckte, und verlieh ihr die Gaben überirdiſcher Schönheit; das Geſicht wuſch ſie ihr mit Ambroſia, womit ſich Aphrodite zu ſalben pflegt, wenn ſie mit den Grazien den Reigen führen230 will; ihren Wuchs machte ſie höher und voller; ihre Haut ließ ſie wie Elfenbein ſchimmern. Dann verſchwand die Göttin wieder; die beiden Mägde kamen mit Ge¬ räuſch hereingeeilt, Penelope erwachte aus ihrem Schlum¬ mer, rieb ſich die Augen und ſprach: Ei wie ſanft habe ich geſchlafen, möchten mir die Götter nur auf der Stelle einen ſo ſanften Tod ſenden, daß ich mich nicht länger um meinen Gemahl härmen und im Hauſe Kum¬ mer ausſtehen müßte! Mit dieſen Worten erhub ſie ſich aus dem Seſſel und ſtieg aus den obern Gemächern des Palaſtes zu den Freiern hinab. Dort ſtand ſie in der Pforte des gewölbten Saales ſtill, die Wangen mit dem Schleier umhüllt, in jugendlicher Schönheit; zu beiden Seiten ſtand ſittſamlich eine Dienerin. Als die Freier ſie ſahen, ſchlug ihnen Allen das Herz im Leibe, und jeder wünſchte und gelobte ſich, ſie als Gattin heim¬ zuführen. Die Königin aber wandte ſich an ihren Sohn und ſprach: Telemach, ich erkenne dich nicht, fürwahr, ſchon als Knabe zeigteſt du mehr Verſtand denn jetzt, wo du groß und ſchön, wie der Sohn des edelſten Man¬ nes vor mir ſtehſt! Welche That haſt du ſo eben im Saale begehen laſſen? Haſt geduldet, daß ein armer Fremdling, der in unſerer Behauſung Ruhe ſuchte, auf's Unwürdigſte gekränkt worden iſt? Das muß uns ja vor allen Menſchen Schande bringen!

Ich verarge dir deinen Eifer nicht, gute Mutter, erwiederte hierauf Telemach, auch fehlt es mir nicht an der Erkenntniß des Rechten, aber dieſe feindſeligen Männer, die um mich her ſitzen, betäuben mich ganz, und nirgends finde ich einen, der mich unterſtützte. Doch iſt der Kampf des Fremden mit Irus gar nicht ausgegangen, wie es231 die Freier wünſchten, möchten dieſe doch eben ſo gezwun¬ gen ihr Haupt hängen laſſen, wie jener Elende draußen an der Schwelle des Hofes daſitzt! Telemach hatte dieſes ſo geſprochen, daß die Freier es nicht hören konnten, Eurymachus aber rief ganz trunken von dem Anblicke der reizenden Königin: Ikarius Tochter, wenn dich alle Achajer in ganz Griechenland ſehen könnten, wahrhaftig es erſchienen morgen noch viel mehr Freier zum Schmauſe, ſo weit übertriffſt du alle Weiber an Geſtalt und Geiſt! Ach Eurymachus, antwortete Penelope, meine Schönheit iſt dahin, ſeit mein Gemahl mit den Griechen gen Troja fuhr! Käme er wieder zurück und beſchirmte mein Leben, ja dann möchte ich wieder aufblühen; jetzt aber traure ich. Ach, als Odyſſeus das Ufer verließ, und mir zuletzt die Hand reichte, da ſprach er: Liebes Weib, die Griechen werden, denk 'ich, wohl nicht alle geſund von Troja heimkehren: die Tro¬ janer ſollen des Streites kundige Männer ſeyn, treffliche Speerſchleuderer, Bogenſchützen, Wagenlenker. So weiß denn auch ich nicht, ob mein Dämon mich zurückführen, oder dort wegraffen wird. Beſchicke du Alles im Haus, und ſorge mir für Vater und Mutter wo möglich noch zärtlicher, als du bisher gethan haſt. Und wenn dein Sohn herangewachſen iſt, und ich nicht mehr heimkehre, dann magſt du dich vermählen, wenn du willſt, und unſre Wohnung verlaſſen. So ſprach er, und nun wird Alles wahr! Weh mir, der entſetzliche Tag der Hoch¬ zeit naht heran, und unter welchem Kummer gehe ich ihm entgegen! Denn dieſe Freier da haben ganz andere Sitte, als man ſonſt bei Brautbewerbern findet. Wenn Andere eines anſehnlichen Mannes Tochter zum Weibe232 begehren, ſo bringen ſie Rinder und Schafe zum Schmauſe mit, und Geſchenke für die Braut, und verpraſſen nicht fremdes Gut ohne alle Entſchädigung!

Mit inniger Luſt hörte Odyſſeus dieſe klugen Worte. Für die Freier übernahm Antinous die Antwort und er¬ wiederte: Edle Königin, gern wird dir Jeder von uns die köſtlichſten Gaben darbringen, und wir bitten dich, entziehe dich unſern Geſchenken nicht. Aber in unſere Heimath kehren wir nicht zurück, bis du dir den Bräu¬ tigam aus unſerer Mitte auserkoren haſt. Alle Freier ſtimmten in dieſe Rede ein. Diener wurden abgeſchickt, und bald kamen die Geſchenke heran. Für Antinous wurde ein gewirktes buntes Gewand, an dem zwölf gol¬ dene Spangen hinabliefen, die mit ſchön gebogenen Haken in die Schlußringe eingriffen, herbeigebracht; für Eury¬ machus ein kunſtvolles goldenes Bruſtgeſchmeide, mit anderem edlen Metall eingelegt, das wie die Sonne ſtrahlte; für Eurydamas ein Paar Ohrenringe, jeder in drei Diamanten ſpielend; aus Piſanders Palaſt wurde ein Halsband voll der köſtlichſten Kleinode dahergetra¬ gen, und ſo reichte ihr auch Jeder der andern Freier ein beſonderes Geſchenk dar. Dienerinnen des Hauſes kamen, nahmen die Geſchenke in Empfang, und Penelope ſtieg mit denſelben wieder in den Söller empor.

Odyſſeus abermals verhöhnt.

Die Freier vergnügten ſich jetzt, bis der Abend her¬ einbrach, im Tanze, und ſchwärmten ganz ausgelaſſen. 233Als es dunkel wurde, ſtellten die Mägde drei Feuer¬ lampen zur Beleuchtung im Saale umher, und legten getrocknete Scheiter, mit Kienſpänen gemiſcht, hinein. Während ſie nun in die Wette die Glut anfachten, ge¬ ſellte ſich Odyſſeus zu ihnen und ſagte: Ihr Mägde des Odyſſeus, des allzu lange abweſenden Herrn, höret, euch ziemete beſſer, droben bei eurer ehrwürdigen Fürſtin zu ſitzen, die Spindel zu drehen und Wolle zu kämmen. Für das Feuer im Saale laſſet mich ſorgen! Und blieben die Freier bis zum hellen Morgen da, ich will nicht müde werden; ich bin ans Dulden gewöhnt!

Die Mägde ſahen einander an und ſchlugen ein Ge¬ lächter auf. Endlich ſprach eine junge ſchöne Dienerin, Melantho, welche von Penelope wie ein Kind aufge¬ zogen worden, die aber jetzt mit dem Freier Eurymachus in ſchändlichem Einverſtändniſſe lebte, die frechen Schmäh¬ worte: Du elender Bettler, du biſt ein rechter Narr, daß du nicht in eine Schmiedeeſſe, oder andere Herberge ſchlafen geheſt, und hier, wo ſo viel edlere Männer ſind als du, uns Geſetze vorſchreiben willſt. Sprichſt du im Rauſche, oder biſt du beſtändig ein ſolcher Thor? oder ſchwindelt dir, weil du den Irus beſiegt haſt? Nimm dich in Acht, daß nicht ein Beſſerer ſich erhebt, dir Rechts und Links mit derber Hand das Haupt zerſchlägt, und dich von Blute triefend aus dem Palaſte verſtößt! Hündin, antwortete Odyſſeus finſter, ich gehe, deine frechen Worte dem Telemach zu melden, daß er dich in Stücke zerhaue. Die Mägde meinten, er habe im Ernſte geredet, und ſein Wort ſcheuchte ſie auseinander, daß ſie mit bebenden Knieen aus dem Saale flohen. Nun ſtellte ſich Odyſſeus ſelbſt ans Geſchirr, fachte die Flammen234 an, und hing ſeinen Rachegedanken nach. Athene aber ſpornte das Herz der üppigen Freier zum kränkenden Spott, und Eurymachus ſagte zu ſeinen Geſellen, daß ein lautes Gelächter entſtand: Der Mann iſt wahr¬ haftig als eine lebendige Leuchte von einem Gott in dieſen Saal geſchickt worden: ſchimmert nicht ſein Kahlkopf, auf dem auch kein einziges Härchen mehr zu erblicken iſt, gerade wie eine Fackel? Und zu Odyſſeus gewen¬ det, ſprach er: Hör Burſche, hätteſt du nicht Luſt, dich mir zum Knechte zu verdingen, mir auf meinen Gütern die Dornen einzuſammeln und Bäume zu pflan¬ zen? an Koſt und Nahrung ſollte dir's nicht gebrechen. Aber ich merke wohl, du bettelſt lieber, und füllſt dir deinen Bauch mit Almoſen, was keinen Schweiß koſtet. Eurymachus, antwortete Odyſſeus mit feſter Stimme, ich wollte es wäre Frühling und wir mähten mit ein¬ ander in die Wette Gras auf der Wieſe, du hielteſt die Senſe und ich hielte ſie, und beide müßten wir nüchtern bis ſpät in die Nacht arbeiten: es ſollte ſich zeigen, wer es länger aushielte! Ober ich wollte, wir ſtänden beide an der Pflugſchaar: du ſollteſt ſehen, wie ich die Furche in Einem Zug durchſchnitte! Oder es wäre Krieg und ich trüge Schild und Helm, dazu zwei Lanzen; du ſoll¬ teſt ſehen, ob ich nicht in den vorderſten Reihen kämpfte, und gewiß, es fiele dir nicht ein, mich höhnend an mei¬ nen Magen zu erinnern! Trotziger Menſch, du dünkeſt dich groß und gewaltig zu ſeyn, weil du dich nur erſt mit Wenigen, und dazu nicht mit den Edelſten gemeſſen haſt; aber wenn einmal Odyſſeus in die Heimath zu¬ rückkäme, da möchten dir bald dieſe Hallen, ſo weit ſie der Werkmeiſter gebaut hat, zu eng werden für die Flucht!

235

Jetzt wurde Eurymachus erſt recht grimmig. Elen¬ der, ſchrie er, empfang auf der Stelle den Lohn für deine trunkenen Reden! Mit dieſem Zuruf ſchleuderte er einen Fußſchemel nach Odyſſeus, dieſer aber warf ſich zu den Knieen des Amphinomus nieder, daß der Sche¬ mel über ihm hin, und dem Mundſchenken an die rechte Hand fuhr, ſo daß dieſem die Weinkanne mit hellem Klang auf den Boden rollte, er ſelbſt aber mit einem Schrei rückwärts zu Boden fiel.

Die Freier lärmten indeſſen fort und fluchten dem Fremdlinge, daß er eine ſolche Störung in ihre Freuden bringe, bis Telemach höflich, aber beſtimmt ſeine Gäſte einlud, ſich zur Nachtruhe zu begeben. Da erhub ſich Amphinomus in der Verſammlung und ſprach: Ihr habt billige Worte vernommen, meine Freunde, wider¬ ſetzet euch ihnen nicht; auch den Fremdling ſoll Niemand hinfort, weder ihr, noch ein Diener im Palaſte, mit Wort oder Werken kränken! Füllet die Becher noch ein¬ mal zur Opferſpende, und dann laßt uns nach Hauſe wandeln. Der Fremdling aber bleibe hier unter dem Schutze des Telemachus, an deſſen Heerd er ſich geflüch¬ tet hat. Es geſchah, wie Amphinomus gerathen hatte, und bald verließen die Freier den Saal.

Odyſſeus mit Telemach und Penelope allein.

Im Saale ſtanden jetzt nur noch Odyſſeus und ſein Sohn. Geſchwind laß uns jetzt die Rüſtungen verwahren, 236ſagte jener zu dieſem. Telemach aber rief die Schaffnerin heraus und ſagte: Mütterchen, halte mir die Mägde drinn 'zurück, bis ich des Vaters Waffen aus dem be¬ ſtändigen Dampf in die Kammer getragen. Schon recht, antwortete Euryklea, daß du endlich auch ein¬ mal darauf denkſt, des Hauſes zu warten und dein Gut zu beſchirmen, Sohn! Aber wer ſoll dir die Fackel vor¬ tragen, wenn ich keine Dienerin mit dir gehen laſſen darf? Der Fremdling dort, erwiederte Telemach lächelnd, wer aus meinem Brodkorb ißt, darf mir nicht müſſig ſtehen! Nun trugen Vater und Sohn die Helme, die Schilde, die Lanzen, Alles mit einander in die Kam¬ mer, und vor ihnen her ſchritt mit goldener Lampe Pallas Athene, und verbreitete Licht überall. Welch ein Wunder, ſagte Telemach leiſe zum Vater, wie ſchim¬ mern die Wände des Hauſes! wie deutlich ſehe ich jede Vertiefung, jeden Fichtenbalken, jede Säule, und Alles leuchtet wie Feuer! Fürwahr es muß ein Gott bei uns ſeyn, ein Himmelsbewohner! Sey ſtille, Sohn, ant¬ wortete ihm Odyſſeus, und forſche nicht, das iſt ſo der Brauch der Unſterblichen. Lege dich jetzt ſchlafen, ich ſelbſt will noch ein Weniges aufbleiben, und Mutter und Dienerinnen auf die Probe ſtellen.

Telemach entfernte ſich, und Penelope trat jetzt aus ihrer Kammer, ſchön wie Artemis und Aphrodite. Sie ſtellte ſich ihren eigenen, köſtlich mit Silber und Elfen¬ bein ausgelegten Seſſel zum Feuer, und ſetzte ſich auf den Schafspelz, der ihn bedeckte. Dann kam eine Schaar von Mägden, die räumten Brod und Becher von den Tiſchen, ſtellten dieſe ſelbſt bei Seite und ſorgten aufs Neue für Beleuchtung und Heizung des Saales in den Geſchirren. 237Hier geſchah es, daß Melantho den Odyſſeus zum zwei¬ tenmale höhnte. Fremdling, ſagte ſie, du wirſt doch nicht die Nacht über dableiben und im Palaſte herum¬ lungern wollen? Begnüge dich mit dem Genoſſenen, und geh auf der Stelle aus der Thüre hinaus, wenn nicht dieſer Feuerbrand dir nachfliegen ſoll! Odyſſeus ſchaute ſie finſter an und entgegnete: Unbegreifliche, warum biſt du ſo erbittert auf mich? weil ich in Lum¬ pen gehe und bettle? Iſt das nicht das gemeinſame Schickſal aller Umherirrenden? Einſt war auch ich glück¬ lich, wohnte im reichen Hauſe, gab dem wandernden Fremdling, wie auch ſein Ausſehen ſeyn mochte, was er bedurfte. Auch Diener und Dienerinnen hatte ich genug; doch das Alles hat mir Jupiter genommen. Bedenke, Weib, daß es dir auch ſo gehen könnte; wie, wenn die Fürſtin einmal dir ernſtlich zürnete? wenn gar Odyſſeus heimkäme? Noch iſt die Hoffnung dazu nicht ganz ver¬ ſchwunden! Oder wenn Telemach, der kein Kind mehr iſt, an ſeiner Stelle handelte?

Penelope hörte, was der Bettler ſprach, und ſchalt die übermüthige Dienerin: Schamloſes Weib, ich kenne deine ſchlechte Seele wohl, und weiß, was du thuſt; du ſollſt es mir mit deinem Kopfe büßen! Haſt du doch ſelbſt von mir gehört, daß ich den Fremdling ehre, und ihn in meinen eigenen Gemächern über den Gemahl be¬ fragen will, und dennoch wagſt du's, denſelben zu ver¬ höhnen! Melantho ſchlich eingeſchüchtert davon, die Schaffnerin mußte dem Bettler einen Stuhl hinſtellen, und nun begann Penelope das Geſpräch: Vor allen Dingen, Fremdling, ſagte ſie, nenne mir dein Haus und Geſchlecht. Königin, antwortete Odyſſeus, du238 biſt eine untadelhafte Frau, auch deines Gatten Ruhm iſt groß; dein Volk, dein Land hat ein gutes Lob. Du aber frage mich nach Allem, nur nicht nach meinem Geſchlecht und nach meiner Heimath, ich habe zu viel Weh erduldet, als daß ich daran erinnert werden dürfte. Wenn ich es aufzählen ſollte, ſo müßte ich troſtlos kla¬ gen, und würde von den Dienerinnen, oder gar von dir ſelber mit Recht geſcholten. Hierauf fuhr Penelope fort: Du ſieheſt, Fremdling, daß es auch mir nicht beſſer ergangen iſt, ſeit mein geliebter Gemahl mich ver¬ laſſen hat. Du kannſt die Männer ſelbſt zählen, die um mich werben und mich bedrängen, und denen ich ſeit drei Jahren durch eine Liſt entgangen bin, die ich jetzt nicht mehr fortſetzen kann. Damit erzählte ſie ihm von ihrem Gewebe, und wie der Betrug durch die Mägde entdeckt worden war. Hinfort kann ich, endete ſie, der Vermählung nicht mehr ausweichen; meine Eltern drängen mich, mein Sohn zürnt über die Ver¬ ſchwendung ſeines Erbguts. So ſiehſt du, wie es mir ergeht. Nun wohlan, verſchweige mir auch dein Ge¬ ſchlecht nicht, Mann, du biſt doch nicht der fabelhaften Eiche oder dem Felſen entſproſſen!

Wenn du mich nöthigeſt, erwiederte Odyſſeus, ſo will ich es dir wohl ſagen. Und nun fing der Schalk an, ſein altes Lügenmährchen von Kreta zu erzählen. Dieſes ſah der Wahrheit ſo ähnlich, daß Penelope in Thränen zerfloß, und es den Odyſſeus im innerſten Herzen erbarmte. Dennoch ſtanden ihm die Augenſterne wie Horn oder Eiſen unbeweglich unter den Augenliedern, und er war beſonnen genug, die Thränen zurückzuhalten. Als die Königin lange genug geweint, begann ſie von239 Neuem: Jetzt muß ich dich doch auch ein wenig pfrüfen, Fremdling, ob es wirklich wahr iſt, wie du erzähleſt, daß du meinen Gemahl in deinem Hauſe bewirthet haſt. Sage mir doch, welches Gewand er trug, wie er aus¬ ſah, wie ſein Gefolge war. Du verlangſt etwas Schwe¬ res nach ſo langer Trennung, erwiederte Odyſſeus, denn es geht nun ins zwanzigſte Jahr, daß der Held bei uns auf Kreta landete. Doch ſoviel ich mich erinnere, war ſein Kleid zwiefach, purpurn, von langer Wolle, eine goldene Spange daran, die mit doppelten Röhren ſchloß; vorn war ein prächtiges Stickwerk angebracht, ein Rehlein, das zwiſchen den Vorderklauen eines Hun¬ des zappelte; unter dein Purpurmantel ſchaute der feinſte ſchneeweiße Leibrock hervor. Ein bucklichter Herold mit einem Lockenhaar und braunem Geſichte, Namens Eury¬ bates, folgte ihm. Von Neuem mußte die Königin weinen, denn alle Zeichen trafen genau ein. Odyſſeus tröſtete ſie mit einem neuen Mährchen, in das er jedoch manche Wahrheit einmiſchte, von ſeiner Landung auf Thrinakia, und ſeinem Aufenthalt im Lande der Phäaken. Das Alles wollte der Bettler vom Könige der Thespro¬ ten wiſſen, wo Odyſſeus vor ſeiner Reiſe zum Orakel nach Dodona ſich zuletzt aufgehalten, und große Schätze hinterlegt habe, die der Bettler ſelbſt geſehen zu haben vorgab. Somit ſey ſeine Rückkunft ſo gut als gewiß.

Aber ſeine Worte vermochten Penelope nicht zu über¬ zeugen. Mir ahnet im Geiſte, ſprach ſie mit geſenktem Haupte, daß das niemals geſchehen wird. Sie wollte nun den Mägden befehlen, dem Fremdling die Füße zu waſchen, und ihm ein gutes warmes Lager zu bereiten. Odyſſeus ſchlug jedoch den Dienſt von den verhaßten240 Dienerinnen aus, und wollte nicht anders denn wie bisher auf ſchlechtem Stroh liegen. Nur wenn du ein altes redliches Mütterchen haſt, Königin, ſprach er, das ſo viel im Leben duldete, wie ich ſelbſt, das mag mir die Füße waſchen. Nun ſo erhebe dich, ehrliche Euryklea, rief Penelope, waſche dieſem da die Füße, der gerade ſo alt iſt, wie dein Herr. Ach, ſagte ſie mit einem Blick auf den Bettler, ſolche Füße, ſolche Hände hat vielleicht jetzt auch Odyſſeus, pflegen doch die Menſchen im Unglück frühe zu altern! Die alte Schaffnerin weinte bei dieſen Worten, und als ſie ſich anſchickte, dem Fremdlinge die Füße zu waſchen, und ihn nun ſchärfer ins Auge faßte, da ſprach ſie: Es haben uns ſchon viele Fremdlinge beſucht, aber dem Odyſſeus ſo ähnlich an Stimme, Geſtalt und Füßen, wie du, iſt mir noch nie ein Menſch erſchienen! Ja das haben Alle geſagt, die uns beide geſehen, antwor¬ tete Odyſſeus gleichgültig, während er am Feuerheerde ſaß, und ſie die zum Fußwaſchen beſtimmte Wanne mit kaltem und kochendem Waſſer miſchend füllte. Als ſie ſich an die Arbeit machte, rückte Odyſſeus vorſichtig in's Dunkel, denn er hatte von ſeiner frühen Jugend her über dem rechten Kniee eine tiefe Narbe, wo ihm ein¬ mal aus einer Jagd ein Eber mit dem Zahne ſeitwärts ins Fleiſch gefahren war. An dieſem Maal fürchtete Odyſſeus von der Alten erkannt zu werden, und rückte deßwegen mit den Füßen aus dem Licht. Aber es war vergebens. Sowie die Schaffnerin mit den flachen Händen über die Stelle fuhr, erkannte ſie die Narbe unter dem Druck und ließ vor Freude und Schrecken das Bein in die Wanne gleiten, daß das Erz klang und das241 Waſſer überſpritzte. Athem und Stimme ſtockten ihr, und ihr Auge füllte ſich mit Thränen. Endlich faßte ſie den Helden beim Knie: Odyſſeus, mein Sohn, wahrlich, du biſt es, rief ſie, ich habe es mit Hän¬ den gegriffen. Aber Odyſſeus drückte ihr mit ſeiner Rechten die Kehle zu, mit der Linken zog er ſie an ſich und flüſterte: Mütterchen, willſt du mich verderben? Du redeſt freilich wahr, aber noch darf es kein Menſch im Palaſte wiſſen! Schweigſt du nicht, und es gelingt mir, die Freier zu bezwingen, ſo erwartet dich daſſelbe Schickſal, wie die gottloſen Mägde. Welch ein Wort ſprichſt du da, antwortete die Schaffnerin ruhig, als er ihr die Kehle wieder losgelaſſen, weißt du nicht, daß mein Herz feſt iſt wie Fels und Eiſen, hüte dich nur vor den andern Mägden im Palaſte! ich will dir Alle nennen, die dich verachten. Es braucht das nicht, ſprach Odyſſeus, ich kenne ſie ſchon, und du darfſt ruhig ſeyn! Inzwiſchen hatte Euryklea ein zweites Fußbad geholt, denn das erſte war ganz ver¬ ſchüttet. Nachdem er nun wohl gebadet und geſalbt war, beſprach ſich Penelope noch eine Weile mit ihm. Mein Geiſt ſchwankt hin und her, ſagte ſie, guter Fremd¬ ling, ob ich bei meinem Sohne bleiben ſoll, aus Scheu vor meinem Gemahl, der ja doch vielleicht noch lebt, und für jenen unſer Gut verwalten, oder ob mich der edelſte unter den Freiern, der die herrlichſte Brautgabe bietet, heimführen ſoll. So lange Telemach noch ein Kind war, ließ mich ſeine Jugend nicht heirathen; nun er aber das Jünglingsalter erreicht hat, wünſcht er ſelbſt, daß ich aus dem Hauſe gehe, weil ſein Erbgut ſonſt doch nur vollends verſchwelgt wird. Aber jetztSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 16242erkläre mir auch noch einen Traum, lieber Mann, da du doch ſo klug zu ſeyn ſcheinſt. Ich habe zwanzig Gänſe im Hauſe, und ſehe ihnen immer mit Luſt zu, wie ſie ihren Waizen, mit Waſſer gemiſcht, freſſen. Da träumt mir nun, ein Adler komme vom Gebirge her, und breche meinen Gänſen die Hälſe; alle lagen gemordet, wild durcheinander im Palaſt, der Raubvogel aber ſchwang ſich in die Lüfte. Ich fing laut an zu ſchluchzen, und träumte weiter. Mir war, als kämen die Frauen aus der Nachbarſchaft, mich in meinem Grame zu tröſten. Auf einmal kehrte auch der Adler zurück, ſetzte ſich auf das Geſimſe, und fing an, mit Menſchenſtimme zu reden: Sey getroſt, ſprach er, Ikarius Tochter, das iſt ein Geſicht und kein Traum: die Freier ſind die Gänſe, ich ſelbſt, der ich ein Adler war, bin Odyſſeus, ich bin zurückgekommen, alle Freier umzubringen. So ſprach der Vogel und ich wachte auf. Sogleich ging ich, nach meinen Gänſen zu ſchauen, aber dieſe ſtanden ganz ruhig am Trog und fraßen. Fürſtin, erwiederte der ver¬ ſteckte Bettler, es iſt gewiß ſo, wie dir Odyſſeus im Traume ſagte, das Geſicht kann gar keine andere Bedeutung haben: er wird kommen, und kein Freier wird am Leben bleiben.

Aber Penelope ſeufzte und ſprach: Träume ſind doch nur Schäume, und morgen kommt der entſetzliche Tag, der mich vom Hauſe des Odyſſeus ſcheiden wird. Da will ich den Wettkampf beſtimmen; mein Gemahl pflegte manchmal zwölf Aexte hintereinander aufzuſtellen; dann trat er in die Ferne zurück, und ſchnellte den Pfeil vom Bogen durch alle zwölf hin¬ durch. Wer nun von den Freiern dieſes Kunſtſtück mit des Odyſſeus Bogen, den ich immer noch aufbewahre,243 vollbringt, dem will ich folgen. Thue das, ehrwür¬ dige Königin, ſprach Odyſſeus entſchloſſen, beſtimme morgen auf der Stelle den Wettkampf: denn eher kommt dir Odyſſeus, als daß jene ſeinen Bogen ſpannen, und durch die zwölf Löcher der Aexte den Pfeil ſchnellen.

Die Nacht und der Morgen im Palaſte.

Die Königin ſagte dem Fremdling gute Nacht, Odyſſeus begab ſich in den Vorſaal, wo ihm Euryklea ein Bett bereitet hatte, das er ſich gefallen ließ. Ueber eine ungegerbte Stierhaut waren Schafspelze zum Lager gebreitet, und den Liegenden deckte ein Mantel zu. Lang wälzte er ſich ſchlaflos auf ſeinem Lager; die ſchändli¬ chen Mägde, die mit den Freiern zuhielten, ſtürmten unter Scherz und Gelächter an ihm vorüber, daß ſie ihm das Herz im Innerſten empörten. Aber der Held ſchlug an ſeine Bruſt, ſtrafte ſich ſelbſt und ſprach im Geiſte: Duld 'es, mein Herz, haſt du doch ſchon Här¬ teres ertragen! Weißeſt du nicht mehr, wie du beim Cy¬ klopen ſaßeſt, und ihm zuſehen mußteſt, wie das Unge¬ heuer deine Genoſſen fraß? Dulde! So bezwang er ſein Herz; doch warf er ſich noch lange hin und her und ſann auf Rache gegen die Freier, als ſich auf ein¬ mal Athene in Jungfrauengeſtalt über ſein Haupt neigte, und ſeinen bangen Gedanken, wie er über ſo Viele Meiſter werden ſollte, mit den Worten ein Ziel ſetzte: Kleinmüthiger, verläßt man ſich doch ſchon auf einen geringeren Freund, auf einen Sterblichen, der nicht ſo16 *244reich an Rathſchluß und an Kraft iſt; ich aber bin eine Göttin, und beſchirme dich in jeder Gefahr; und wenn dich fünfzig Schaaren voll Mordluſt umringten, dennoch würdeſt du es hinausführen! Ueberlaß dich im¬ merhin dem Schlummer, denn endlich tauchſt du aus der Trübſal auf. So ſprach ſie und bedeckte ihm die Augenlieder mit ſüßem Schlaf.

Penelope ihrerſeits erwachte nach einem kurzen Schlummer, ſetzte ſich aufrecht in ihrem Bette hin und fing laut an zu weinen. Unter Thränen richtete ſie ihr Gebet an die Göttin Artemis: Jupiters heilige Tochter, rief ſie flehend, träfe doch auf der Stelle dein Pfeil mein Herz, oder raffte mich ein Sturmwind hinweg und wärfe mich ans fernſte Ufer des Oceanus, ehe ich meinem Gemahl Odyſſeus untreu werden und mich dem ſchlechteren Manne vermählen muß! Erträglich iſt das Leiden, wenn man den Tag durchweint, und doch die Nacht über Ruhe hat; mich aber peinigt ein Dämon ſelbſt im Schlafe mit den ſchmerzlichſten Träumen! So war mir im Augenblicke noch, als ſtände mein Gatte mir zur Seite, herrlich von Geſtalt, ganz wie er mit dem Kriegsheere von dannen zog, und mein Herz war voll Freude, denn ich meinte zuverſichtlich, daß es Wahr¬ heit ſey! So ſchluchzte Penelope, und Odyſſeus vernahm die Stimme der Weinenden. Es war ihm ganz bange vor der Zeit erkannt zu werden. Eilig raffte er ſich auf, verließ den Palaſt, und unter freiem Himmel betete er zu Jupiter um ein günſtiges Zeichen für ſeine Plane. Da erſchien ein gewaltiges Licht am Himmel, und ein plötzlicher Donner rollte über dem Palaſte hin. In der nahen Mühle des Palaſtes hielt eine Müllerin ſtill, die245 die ganze Nacht durch gemahlen, blickte zum Himmel empor und rief: Wie doch Jupiter donnert, und iſt weit und breit kein Gewölk zu ſehen! er hat wohl irgend einem Sterblichen ein Zeichen gewährt! O Vater der Götter und Menſchen, möchteſt du auch meinen Wunſch erfüllen, und die verfluchten Freier vertilgen, die mich Tag und Nacht in der Mühle das Mehl zu ihren Schmäu¬ ſen bereiten laſſen! Odyſſeus freute ſich der guten Vor¬ bedeutung, und kehrte in den Palaſt zurück.

Hier wurde es allmählig laut, die Mägde kamen und zündeten das Feuer auf dem Heerd an; Telemach warf ſich in die Kleider, trat an die Schwelle der Frauen¬ gemächer, und rief der Schaffnerin mit verſtellten Wor¬ ten: Mütterchen, habt ihr den Gaſt auch mit Speiſe und Lager geehrt, oder liegt er unbeachtet da? Die Mutter ſcheint mir ganz die Beſinnung verloren zu haben, daß ſie den ſchlechten Freiern ſo viel Ehre erweist, und den beſſeren Mann ungeehrt läßt! Du thuſt meiner Herrin Unrecht, antwortete Euryklea, der Fremdling trank ſo lange und ſo viel Wein, als ihm beliebte, und Speiſe verlangte er auch keine mehr. Man bot ihm ein köſtliches Lager an, aber er verſchmähte es, mit Mühe ließ er ſich ein ſchlechteres gefallen.

Nun eilte Telemach, von ſeinen Hunden begleitet, auf den Markt in die Volksverſammlung. Die Schaff¬ nerin aber befahl den Mägden, Alles zu dem bevorſte¬ denden Schmauſe des Neumondfeſtes zuzubereiten, und nun legten die Einen purpurne Teppiche auf die ſchmu¬ cken Seſſel, Andere ſcheuerten die Tiſche mit Schwäm¬ men, wieder Andere reinigten die Miſchkrüge und die Becher, und ihrer zwanzig eilten an den Quellbrunnen,246 Waſſer zu ſchöpfen. Auch die Diener der Freier kamen heran, und ſpalteten Holz in der Vorhalle. Der Sau¬ hirt kam mit den fetteſten Schweinen herbei, und grüßte ſeinen alten Gaſt aufs Freundlichſte. Melanthius mit zwei Gaishirten, brachte die auserleſenſten Ziegen, die von den Knechten in der Halle angebunden wurden. Dieſer ſprach im Vorübergehen zu Odyſſeus mit höhni¬ ſchem Ton: Alter Bettler, biſt du immer noch da, und weichſt nicht von der Thüre? wir nehmen wahrſchein¬ lich nicht Abſchied von einander, bevor du meine Fäuſte gekoſtet! Gibt es denn gar keine andere Schmäuſe, denen du nachzuziehen haſt? Odyſſeus erwiederte auf dieſe Schmähworte nichts, ſondern ſchüttelte nur das Haupt.

Nun betrat ein ehrlicher Mann den Palaſt: es war Philötius, der den Freiern ein Rind und gemäſtete Ziegen zu Schiffe herbeigebracht hatte. Dieſer ſprach im Vorübergehen zu dem Sauhirten: Eumäus, wer iſt doch der Fremdling, der jüngſt in dieſes Haus kam? er gleicht an Geſtalt ganz und gar unſerm König Odyſſeus. Geſchieht es doch wohl, daß das Elend auch einmal Könige zu Bettlern umgeſtaltet! Dann nahte er ſich dem verkleideten Helden mit einem Handſchlage und ſprach: Fremder Vater, ſo unglücklich du ſcheineſt, ſo möge es dir wenigſtens in Zukunft wohl ergehen! Mich überlief der Schweiß, als ich dich ſah, und Thrä¬ nen traten mir in die Augen, denn ich mußte an Odyſ¬ ſeus gedenken, der jetzt wohl auch, in Lumpen gehüllt, in der Welt umherirrt, wenn er anders noch lebt! Schon als Jüngling hat er mich zum Hüter ſeiner Rinder ge¬ macht, deren Zucht vortrefflich gedeiht, leider aber muß ich ſie Andern zum Schmauſe daherführen! Auch wäre247 ich längſt vor Aerger aus dieſem Lande geflohen, wenn ich nicht immer noch hoffte, Odyſſeus kehre dereinſt zurück, und jage dieſen Schwarm auseinander. Kuh¬ hirt, erwiederte ihm Odyſſeus, du ſcheinſt kein ſchlechter Mann zu ſeyn; ja beim Jupiter ſchwöre ich dir, heute noch, und ſo lange du im Palaſte biſt, kehrt Odyſſeus heim, und deine Augen werden es ſchauen, wie er die Freier abſchlachtet! Möchte Jupiter es wahr machen, ſagte der Rinderhirt, meine Hände ſollten auch dabei nicht feiern!

Der Feſtſchmaus.

Die Freier, nachdem ſie in ihrer Verſammlung ſich über Telemachs Ermordung beſprochen, kamen allmählig auch im Palaſte an. Sie legten ihre Mäntel ab, die Thiere wurden geſchlachtet, gebraten und vertheilt; Die¬ ner miſchten den Wein in Krügen, der Sauhirt reichte die Becher umher, Philötius in zierlichen Körben die Brode, den Wein ſchenkte Melanthius, und das allge¬ meine Mahl begann.

Den Odyſſeus ſetzte Telemachus abſichtlich an die Schwelle des Saales auf einen ſchlechteren Stuhl, und ſtellte einen armſeligen Tiſch davor. Hier ließ er ihm gebratenes Eingeweide auftragen, füllte ſeinen Becher mit Wein, und ſprach: Hier ſchmauſe ruhig, und ich rathe Niemanden, dich zu ſchmähen! Antinous ſelbſt ermahnte ſeine Freunde, den Fremdling gewähren zu laſſen, denn er merkte wohl, daß derſelbe unter Jupiters248 Schutz ſtehe; aber Athene ſtachelte die Freier heimlich zum Spott. Es war unter ihnen ein ſchlechtgeſinnter Mann, mit Namen Kteſippus, aus der Inſel Same: Ihr Freier, höret, ſprach dieſer mit höhniſchem Lächeln, zwar hat der Fremdling längſt ſeinen Antheil, ſo gut wie wir ſelber, und es wäre auch nicht recht, wenn Telemach einen ſo vornehmen Gaſt überginge! Doch will ich ihm noch ein beſonderes Gaſtgeſchenk verehren, er mag die Schaffnerin damit bezahlen, die ihm den Schmutz vom Leibe gewaſchen hat! So höhnend zog er einen Kuhfuß aus dem Korbe, und ſchleuderte ihn mit ſeiner nervigten Hand nach dem Bettler. Aber Odyſſeus beugte mit dem Haupte aus und drängte den Zorn mit einem gräßlichen Lächeln in die Bruſt zurück; der Knochen fuhr an die Mauer.

Jetzt ſtand Telemach auf und rief: Schätze dich glücklich, Kteſippus, daß du den Fremdling nicht getrof¬ fen haſt: wäre es geſchehen, ich hätte dir die Lanze durch den Leib geſtoßen, und dein Vater hätte dir eine Leichenfeier ſtatt der Hochzeit rüſten können! Drum er¬ laube ſich keiner mehr eine Ungebühr in meiner Woh¬ nung, lieber bringet mich ſelbſt um, als daß ihr die Fremdlinge beleidiget, es wäre mir auch beſſer, zu ſter¬ ben, als immer ſo ſchändliche Thaten mit anzuſehen! Alle verſtummten, als ſie ſo ernſtliche Worte hörten; endlich ſtand Agelaus, der Sohn des Damaſtrus, unter ihnen auf und ſprach: Telemach hat recht! Aber er und ſeine Mutter ſollen jetzt ein Wort in Güte mit ſich reden laſſen. So lange noch irgend eine Hoffnung vorhanden war, daß Odyſſeus jemals in ſeine Heimath zurückkeh¬ ren könne, ſo war es begreiflich, wenn man die Freier249 hinhielt. Jetzt aber iſt es keinem Zweifel unterworfen, daß jener niemals zurückkommt. Wohlan denn, Tele¬ mach, tritt zu deiner Mutter, beſtimme ſie, den edel¬ ſten unter uns Freiern, und der die meiſten Gaben bie¬ tet, zu wählen, damit du ſelbſt hinfort ungeſchmälert dein väterliches Erbe genießen kannſt!

Telemach erhob ſich von ſeinem Sitz und ſprach: Beim Jupiter! auch ich verzögere die Wahl nicht länger, vielmehr ſpreche ich ſchon lange der Mutter zu, ſich einen von ihren Bewerbern zu erwählen. Nur mit Ge¬ walt werde ich ſie nie aus dem Hauſe treiben. Dieſe Worte Telemachs wurden mit einem unbändigen Ge¬ lächter von den Freiern aufgenommen, denn ſchon ver¬ wirrte Pallas Athene ihren Geiſt, daß ſie grinſend ihre Geſichter verzerrten; auch aßen ſie das Fleiſch halb roh und blutig hinein, plötzlich füllten ſich ihre Augen mit Thränen, und ſie gingen von der größten Ausgelaſſen¬ heit zur tiefſten Schwermuth über. Dieß alles bemerkte der Seher Theoklymenus wohl. Was iſt euch, ſprach er, ihr Armen? eure Häupter ſind ja wie in Nacht ge¬ hüllt, eure Augen ſind voll Waſſers, und aus eurem Munde tönen Wehklagen! Und was ſchaue ich, an allen Wänden trieft Blut, Halle und Vorhof wimmeln von Geſtalten des Hades, und die Sonne am Himmel iſt ausgelöſcht! Die Freier aber verfielen wieder in ihre vorige Luſtigkeit, und fingen aus Leibeskräften zu lachen an. Endlich ſprach Eurymachus zu den Andern: Dieſer Fremdling, der ſich erſt ſeit kurzem in unſerer Mitte befindet, iſt wahrhaftig ein rechter Narr. Schnell, ihr Diener: wenn er hier im Saale nichts als Nacht ſieht, ſo führt ihn hinaus auf Straße und Markt! 250 Ich brauche deine Begleiter nicht, Eurymachus, ant¬ wortete Theoklymenus entrüſtet, indem er aufſtand. Au¬ gen, Ohren und Füße geſund, iſt bei mir der Verſtand noch auf dem rechten Platz; ich gehe von ſelbſt, denn der Geiſt weiſſagt mir das Unheil, das euch naht, und dem keiner von euch entflieht. So ſprach er und verließ eilig den Palaſt, ging zu Piräus, ſeinem vorigen Gaſtfreund, und fand bei dieſem die freundlichſte Auf¬ nahme.

Die Freier aber fuhren fort, den Telemach zu verhöhnen. Schlechtere Gäſte, als du, Telemach, ſprach einer von ihnen, hat doch kein Menſch in der Welt beherbergt: einen ausgehungerten Bettler, und einen Narren, der wahrſagt! Wahrhaftig, du ſollteſt mit ihnen durch Griechenland reiſen, und ſie für Geld auf den Märkten ſehen laſſen! Telemach ſchwieg und ſchickte ſeinem Vater einen Blick zu, denn er erwartete nur das Zeichen, um loszubrechen.

Der Wettkampf mit dem Bogen.

Jetzt war auch Penelope's Zeit gekommen. Sie nahm einen ſchönen Schlüſſel aus Erz mit elfenbeinernen Griffe zur Hand, eilte damit, von Dienerinnen be¬ gleitet, in eine ferne Hinterkammer, wo allerlei koſt¬ bare Geräthe des Königs Odyſſeus aus Erz, Gold und Eiſen aufbewahrt waren. Unter andern lag hier auch ſein Bogen, und der Köcher voller Pfeile, beides251 Geſchenke eines lacedämoniſchen Gaſtfreundes. Als Pene¬ lope die Pforte aufgeſchloſſen, ſchob ſie die Riegel zurück. Dieſe krachten, wie ein Stier im Felde brüllt, die Thür¬ flügel öffneten ſich, und Penelope trat ein und muſterte die Käſten, wo Kleider und Geräthe verwahrt lagen. Da fand ſie auch Bogen und Köcher an einem Nagel hängen, ſtreckte ſich und nahm beide herab. Der Schmerz überwältigte ſie, ſie warf ſich auf einen Stuhl, und Bogen und Köcher auf dem Schooße, ſaß ſie lang in Thränen da. Endlich erhob ſie ſich; die Waffen wur¬ den in eine Lade gelegt, mit welcher ihr die Dienerinnen folgten. So trat ſie mitten unter die Freier in den Saal, ließ Stille gebieten, und ſprach: Wohlan, ihr Freier, wer mich erwerben will, der gürte ſich, es gilt jetzt einen Wettkampf! Hier iſt der große Bogen meines erhabenen Gemahls: wer ihn am leichteſten ſpannt, und durch die Löcher von zwölf hintereinander aufgeſtellten Aexten hinſchnellt, dem will ich folgen als ſeine Gemah¬ lin, will dieſen Palaſt meines erſten Gatten mit ihm verlaſſen.

Hierauf befahl ſie dem Sauhirten, den Freiern Bogen und Pfeile vorzulegen. Weinend empfing Eumäus die Waffen aus der Lade, und breitete ſie vor den Kämpfern aus; und auch der Rinderhirt weinte. Das ärgerte den Antinous. Dumme Bauern, ſchalt er, was macht ihr mit euren Thränen unſerer Königin das Herz ſchwer! Sättigt euch beim Mahle, oder weinet vor der Thüre draußen! Wir aber, ihr Freier, wollen uns an den ſchweren Wettſtreit machen; denn dieſen Bogen da zu ſpannen, dünkt mir gar nichts Leichtes. Unter uns Allen iſt kein Mann wie Odyſſeus, ich erinnere252 mich ſeiner noch wohl, obgleich ich damals noch ein kleiner Knabe war, und kaum reden konnte! So ſprach Antinous, im Herzen aber dachte er ſich die Bogenſehne ſchon geſpannt, und den Pfeil durch die Aexte hindurch¬ geflogen. Ihm aber war der erſte Pfeil aus der Hand des Odyſſeus beſchieden.

Jetzo ſtand Telemach auf und ſprach: Fürwahr Jupiter hat mir meinen Verſtand genommen! Meine Mutter erklärt ſich bereit, dieſes Haus zu verlaſſen und einem Freier zu folgen, und ich lache dazu. Wohlan, ihr Freier, ihr waget den Wettkampf um ein Weib, wie in ganz Griechenland keines mehr iſt. Doch das wiſſet ihr ſelbſt, und ich brauche meine Mutter euch nicht zu loben. Drum ohne Zögern den Bogen geſpannt! hätte ich doch ſelbſt Luſt, mich im Wettkampf zu ver¬ ſuchen; dann, wenn ich euch beſiegte, würde mir die Mutter das Haus nicht verlaſſen! So ſprach er, warf Purpurmantel und Schwert von der Schulter, zog eine Furche durch den Eſtrich des Saales, bohrte die Aexte, eine um die andere in den Boden, und ſtampfte die Erde wieder feſt. Alle Zuſchauer bewun¬ derten ſeine Kraft und Pünktlichkeit. Dann griff er ſelbſt nach dem Bogen und ſtellte ſich damit auf die Schwelle. Dreimal verſuchte er, den Bogen zu ſpannen, dreimal verſagte ihm die Kraft. Nun zog er die Sehne zum viertenmal an, und jetzt wäre es ihm gelungen; aber ein Wink des Vaters hielt ihn mitten in der An¬ ſtrengung zurück. Ihr Götter, rief er, entweder bin ich ein Schwächling, oder noch zu jung, und nicht im Stand, einen Beleidiger von mir abzuwehren! So ver¬ ſucht es denn ihr Andern, die ihr kräftiger ſeyd als ich! 253Alſo ſprechend, lehnte er Bogen und Pfeil an den Thür¬ pfoſten, und ſetzte ſich wieder nieder auf den Thron¬ ſeſſel, von dem er aufgeſtanden war.

Mit triumphirender Miene erhob ſich jetzt Antinous und ſprach: Auf denn, ihr Freunde, fangt an dort hinten, von der Linken zur Rechten, wie der Weinſchenke den Umgang hält! Da ſtand zuerſt Leiodes auf, der ihr Opferer war, und immer zu hinterſt im Winkel am großen Miſchkruge ſaß; er war der einzige, dem der Unfug der Freier zuwider war, und der die ganze Rotte haßte. Dieſer trat in die Schwelle und bemühte ſich ver¬ gebens, den Bogen zu ſpannen. Thu 'es ein Anderer, rief er, indem er die Hände ſchlaff herabſinken ließ, ich bin der Rechte nicht! und vielleicht iſt keiner in der Runde, der es vermag. Mit dieſen Worten lehnte er Bogen und Köcher an den Pfoſten. Aber Antinous ſchalt ihn und ſprach: Das iſt eine ärgerliche Rede, Leiodes, weil Du ihn nicht ſpannen kannſt, ſoll es auch kein Anderer vermögen? Auf, Melanthius, ſagte er dann zum Ziegenhirten, zünd' ein Feuer an, ſtell 'uns den Seſſel davor, und bring uns eine tüchtige Scheibe Speck aus der Kammer, da wollen wir den ausgedörr¬ ten Bogen wärmen und ſalben, dann ſoll es beſſer gehen! Es geſchah, wie er befohlen, aber es war vergebens. Umſonſt bemühte ſich ein Freier nach dem andern, den Bogen zu ſpannen. Zuletzt waren nur noch die beiden tapferſten, Antinous und Eurymachus, übrig.

254

Odyſſeus entdeckt ſich den guten Hirten.

Nun geſchah es, daß ſich beim Hinausgehen aus dem Palaſte der Rinderhirt und der Sauhirt begegneten, und ihnen folgte auf dem Fuße der Held Odyſſeus. Als ſie Pforte und Vorhof hinter ſich hatten, holte er jene ein, und ſprach zu ihnen leiſe und vertraulich: Ihr Freunde, ich möchte wohl ein Wort mit euch reden, wenn ich mich auf euch verlaſſen kann; ſonſt ſchwiege ich lieber. Wie wär 'es, wenn den Odyſſeus jetzt plötz¬ lich ein Gott aus der Fremde zurückführte? würdet ihr die Freier vertheidigen, oder ihn? redet unverhohlen, ganz wie es euch ums Herz iſt. O Jupiter im Olymp, rief der Rinderhirt zuerſt, wenn mir dieſer Wunſch ge¬ währt würde, wenn der Held käme! du ſollteſt ſehen, wie ſich meine Arme regen würden! Ebenſo flehte Eumäus zu allen Göttern, daß ſie dem Odyſſeus Heim¬ kehr verleihen möchten.

Als nun dieſer ihres Herzens Geſinnung erkannt hatte, da ſprach er: Nun denn, ihr Kinder, ſo ver¬ nehmt's: ich ſelber bin Odyſſeus! Nach unſäglichen Leiden komme ich im zwanzigſten Jahr zurück in meine Heimath, und ich ſehe, daß ich euch beiden willkommen bin, euch allein unter allem Geſinde; denn keinen unter Allen hörte ich jemals um meine Wiederkehr zu den Göttern flehen. Dafür will ich auch jedem von euch, wenn ich die Freier bezwungen habe, ein Weib geben, Aecker ſchenken, Häuſer bauen, ganz nahe bei meinem255 Hauſe, und Telemach ſoll euch behandeln wie ſeine leib¬ lichen Brüder. Damit ihr aber an der Wahrheit mei¬ ner Ausſage nicht zweifelt, ſo erkennet hier die Narbe von jener Wunde, die der Eber dem Knaben auf der Jagd beigebracht hat. Damit ſchob er die Lumpen ſei¬ nes Kleides auseinander, und entblöſte die große Narbe. Jetzt fingen die beiden Hirten zu weinen an, umſchlangen ihren Gebieter; küßten ihm Geſicht und Schultern. Auch Odyſſeus küßte die treuen Knechte, dann aber ſprach er: Hänget eurem Grame nicht nach, lieben Freunde, daß uns Keiner im Palaſt verrathe. Auch wollen wir Alle nur einzeln, Einer nach dem Andern hineingehen. Dann werden es die Freier nicht geſtatten wollen, daß auch mir Bogen und Köcher gereicht werde; du aber, Eu¬ mäus, wandle nur keck mit dem Bogen durch den Saal und reiche mir ihn. Zugleich befiehlſt du den Weibern, die Pforten des Hintergemachs feſt zu verriegeln; und wenn man auch inwendig im Saale Lärmen von Män¬ nerſtimmen und Stöhnen hört, ſo ſoll ſich keine aus der Thüre wagen, ſondern ruhig bei der Arbeit verharren. Dir aber, treuer Philötius, ſey das Hofthor anvertraut: riegle es feſt zu, und binde das Seil ums Schloß.

Nach dieſer Weiſung begab ſich Odyſſeus in den Saal zurück, und die Hirten folgten ihm, einer um den andern. Eurymachus drehte jetzt eben den Bogen uner¬ müdet über dem Feuer um, aber es gelang ihm nicht, die Sehne zu ſpannen, und unmuthig ſeufzend ſprach er: Ei wie kränkt es mich! Nicht ſo ſehr um Penelope's Hand gräme ich mich: denn es giebt der Griechinnen noch genug in Ithaka und anderwärts; ſondern daß wir gegen den Helden Odyſſeus ſo ganz kraftlos erſcheinen256 ſollen; darüber werden uns die Enkel noch verſpotten! Antinous aber wies den Freund zurecht und ſagte: Rede nicht ſo, Eurymachus, es feiert heute das Volk ein großes Feſt: da ziemt es eigentlich gar nicht, den Bogen zu ſpannen. Laßt uns das Geſchoß hinweglegen, und wieder eins trinken; die Aexte mögen immerhin im Saale ſtehen bleiben, dann opfern wir morgen dem Apollo und vollbringen den Bogenkampf!

Jetzt wandte ſich Odyſſeus an die Freier und ſprach: Ihr thut wohl daran, heute zu raſten: morgen wird euch hoffentlich Apollo der Fernhintreffer Sieg verleihen. Einſtweilen geſtattet mir es, den Bogen zu erproben, und zu verſuchen, ob in den elenden Gliedern noch etwas von der alten Kraft geblieben iſt. Fremdling, fuhr Antinous bei dieſen Worten des Helden auf, biſt du ganz von Sinnen? bethört dich der Wein? willſt du Hader beginnen, wie der Centaure auf der Hochzeit des Pirithous? Bedenke, daß dieſer zuerſt das Verderben ſelbſt fand, ſo ſoll auch dich das Unheil treffen, ſobald du den Bogen ſpannſt, und du wirſt keinen Fürſprecher mehr unter uns finden! Nun miſchte ſich auch Pe¬ nelope in den Streit. Antinous, ſprach ſie mit ſanfter Stimme, wie unziemlich wäre es, den Fremdling vom Wettkampf ausſchließen zu wollen! Fürchteſt du etwa, wenn es dem Bettler gelänge, den Bogen zu ſpannen, er würde mich als Gattin heimführen? Schwerlich macht er ſich ſelbſt dieſe Hoffnung. Bekümmere ſich nur deßwegen keiner von euch in ſeinem Herzen! Das wäre ja unmöglich, unmöglich! Nicht das fürchten wir, o Königin, antwortete ihr Eurymachus hierauf; nein! ſondern wir fürchten nur die Nachrede bei den Griechen,257 daß nur ſchlechte Männer, von denen keiner vermocht hat, den Bogen des unſterblichen Helden zu ſpannen, um ſeine Gattin geworben haben: zuletzt aber ſey ein Bettler aus der Fremde gekommen, der habe den Bogen ohne Anſtrengung geſpannt, und durch die Aexte ge¬ ſchoſſen! Der Fremdling iſt nicht ſo ſchlecht, als ihr wähnet, ſprach darauf Penelope; ſehet ihn nur recht an, wie groß und gedrungen ſein Gliederbau iſt! Auch er rühmt ſich eines edlen Mannes als Erzeugers. So gebet ihm denn den Bogen: ſpannt er ihn, ſo ſoll er nichts weiter von mir haben, als Mantel und Leibrock, Speer und Schwert, und Sohlen unter die Füße. Da¬ mit mag er hinziehen, wohin ſein Herz begehrt. Nun fiel Telemachus ein und ſagte: Mutter, über den Bogen hat kein Achaier zu gebieten, als ich, und keiner ſoll mich mit Gewalt davon abhalten, und wollte ich ihn dem Fremdling auf der Stelle ſchenken, damit in die weite Welt zu gehen. Du aber, Mutter, geh 'in dein Frauengemach zu Webeſtuhl und Spindel, das Geſchoß gebührt den Männern. Staunend fügte ſich Penelope der entſchloſſenen Rede des verſtändigen Sohns.

Und nun brachte der Sauhirt den Bogen, während die Freier ein wüthendes Geſchrei erhoben: Wohin mit dem Geſchoß, du Raſender? Juckt es dich, von deinen eigenen Hunden bei den Schweineſtällen zerriſſen zu wer¬ den? Erſchrocken legte er den Bogen von ſich; aber Telemach rief mit drohender Stimme: Hierher mit dem Bogen, Alter, du haſt nur Einem zu gehorchen, ſonſt jage ich dich mit Steinen hinaus, obgleich ich der Jün¬ gere bin. Wäre ich nur den Freiern überlegen, wie ich dir es bin! Die Freier lachten, und ließen von ihremSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 17258Zorne nach. Der Sauhirt reichte dem Bettler den Bo¬ gen, dann befahl er der Schaffnerin, die Pforten des Hintergemachs zu verriegeln, und Philötius eilte aus dem Palaſte und verſchloß ſorgfältig die Pforte des Vorhofs.

Odyſſeus aber beſchaute ſich den Bogen von allen Seiten, ob in der langen Zeit die Würmer nicht das Holz zernagt hätten, und ſonſt etwas an ihm gebräche; und unter den Freiern ſprach wohl ein Nachbar zu dem andern: Der Mann ſcheint ſich auf den Bogen nicht übel zu verſtehen! Hat er wohl ſelbſt einen ähnlichen zu Hauſe, oder will er ſich einen darnach bilden? Seht doch, wie ihn der Landſtreicher in den Händen hin und her dreht!

Nachdem Odyſſeus den gewaltigen Bogen von allen Seiten geprüft, ſpannte er ihn nur leichthin, wie der Sänger die Saiten eines Lautenſpiels; griff mit der rechten Hand in die Sehne und verſuchte ihre Spann¬ kraft. Dieſe gab einen hellen Ton von ſich, wie das Zwitſchern der Schwalbe. Die Freier alle durchzuckte ein Schmerz, und ſie erblaßten. Jupiter aber donnerte vom Himmel mit heilvoller Vorbedeutung. Da faßte Odyſſeus muthig den Pfeil, der auf dem Tiſche aus dem Köcher geſchüttet, vor ihm lag, faßte den Bogen, zog die Sehne und die Kerbe, und ſchnellte, mit ſicherem Auge zielend, den aufgelegten Pfeil ab. Keine Axt verfehlte der Schuß: der Pfeil flog vom vorderſten Oehr hindurch bis aus dem letzten. Dann ſprach der Held: Nun, der Fremdling in deinem Palaſte hat dir keine Schande gebracht, Telemachus! meine Kraft iſt noch ungeſchwächt, ſo ſehr mich die Freier verhöhnt haben. Jetzt aber iſt es Zeit, daß wir den Achaiern den259 Abendſchmaus geben, noch eh 'es Nacht wird, dann folge Lautenſpiel und Geſang, und was ſonſt noch das feſtliche Mahl erfreuen mag.

Mit dieſem Worte gab Odyſſeus ſeinem Sohne den heimlichen Wink. Schnell warf ſich dieſer ſein Schwert um, griff zum Speer, und ſtellte ſich gewappnet neben den Stuhl ſeines Vaters.

Die Rache.

Da ſtreifte ſich Odyſſeus die Lumpen rückwärts von den Armen, und Bogen und Köcher voll Geſchoſſen in der Hand, ſprang er auf die hohe Schwelle, hier ſchüt¬ tete er ſich die Pfeile vor ſeinen Füßen aus, und rief in die Verſammlung hinab: Der erſte Wettkampf wäre nun vollbracht, ihr Freier! nun folgt der zweite; und jetzt wähle ich mir ein Ziel, wie es noch kein Schütze getroffen hat; und doch gedenke ich es nicht zu verfehlen. So ſprach er, und zielte mit dem Bogen auf Antinous. Dieſer hob eben den gehenkelten goldenen Pokal, und führte ihn ahnungslos zum Munde. Da fuhr ihm der Pfeil des Odyſſeus in die Gurgel, daß die Spitze aus dem Genick hervordrang. Der Becher entſtürzte ſeiner Hand; dem Erſchoſſenen fuhr ein dicker Blutſtrahl aus der Naſe, und während er zur Seite ſank, ſtieß er den Tiſch ſammt den Speiſen mit dem Fuße um, daß dieſe auf den Boden rollten. Als die Freier den Fallenden gewahrten, ſprangen ſie tobend von ihren Thronſeſſeln17 *260auf; rings durchforſchten ſie die Wände des Saales nach Waffen: aber da war kein Speer und kein Schild zu ſehen. Nun machten ſie ſich mit grimmigen Schelt¬ worten Luft: Was ſchießeſt du auf Männer, verfluch¬ ter Fremdling? Unſern edelſten Genoſſen haſt du getöd¬ tet. Aber es iſt dein letzter Schuß geweſen, und bald werden dich die Geyer freſſen. Sie meinten nämlich, er habe ihn, ohne es zu wollen, getroffen, und ahneten nicht, daß ſie Alle das gleiche Schickſal bedrohe. Odyſſeus aber rief mit donnernder Stimme zu ihnen herunter: Ihr Hunde, ihr meinet, ich komme nimmermehr von Troja zurück: deßwegen verſchwelgtet ihr mein Gut, ver¬ führtet mein Geſinde, warbet bei meinem Leben um mein eigenes Weib, ſcheutet Götter und Menſchen nicht! Jetzt aber iſt die Stunde eures Verderbens gekommen!

Wie ſie ſolches hörten, wurden die Freier bleich, und Entſetzen ergriff ſie. Jeder ſah ſich ſchweigend um, wie er entfliehen möchte; nur Eurymachus faßte ſich und ſprach: Wenn du wirklich Odyſſeus der Ithaker biſt, ſo haſt du ein Recht, uns zu ſchelten, denn es iſt viel Unziemliches im Palaſt und auf dem Lande geſchehen. Aber der, der an Allein ſchuldig war, liegt ja bereits von deinem Pfeil erſchoſſen. Denn Antinons iſt's, der das Alles angeſtiftet hat, und zwar warb er nicht ein¬ mal ernſtlich um deine Gemahlin, ſondern er ſelbſt wollte König in Ithaka werden, und gedachte deinen Sohn heimlich zu ermorden. Doch der hat ja nun ſein Theil: du aber ſchone deiner Stammesgenoſſen; laß dich ver¬ ſöhnen! Jeder von uns ſoll dir zwanzig Rinder zum Erſatz für das Verzehrte bringen, auch Erz und Gold, ſo viel dein Herz verlangt, bis wir dich wieder günſtig261 gemacht haben! Nein, Eurymachus, antwortete Odyſſeus finſter, und wenn ihr mir all euer Erbgut bötet, und noch mehr, ich werde nicht ruhen, bis ihr mir Alle mit dem Tod eure Miſſethaten gebüßt habt. Thut was ihr wollt, kämpfet oder fliehet, Keiner wird mir entrinnen!

Herz und Knie zitterte den Freiern. Noch einmal ſprach Eurymachus, und zwar jetzt zu ſeinen Freunden: Lieben Männer, dieſes Mannes Hände wird Niemand mehr aufhalten, ziehet die Schwerter, wehrt ſein Geſchoß mit den Tiſchen ab: alsdann werfen wir uns auf ihn ſelber, ſuchen ihn von der Schwelle zu verdrängen; dann zerſtreuen wir uns durch die Stadt und rufen unſere Freunde auf. So ſprach er, zog ſein Schwert aus der Scheide, und ſprang mit gräßlichem Geſchrei empor. Da durchbohrte ihm der Pfeil des Helden die Leber; das Schwert ſank ihm aus der Hand, er wälzte ſich mit ſammt dem Tiſche zu Boden, warf Speiſen und Becher zur Erde, und ſchlug mit der Stirne auf den Eſtrich. Den Seſſel ſtampfte er mit den Füßen hinweg; es waren die letzten Zuckungen, und er lag todt auf dem Boden. Nun ſtürmte Amphinomus gegen Odyſſeus hinan, um ſich mit dem Schwerte Bahn durch den Eingang zu machen. Aber dieſen erreichte Telemachs Speer im Rücken zwiſchen den Schultern, ſo daß er vorn aus der Bruſt hervordrang, und der Getroffene auf das Angeſicht zu Boden fiel. Telemach entzog ſich nach dieſer That dem Gewühle der Freier durch einen Sprung, und ſtellte ſich zu ſeinem Vater auf die Schwelle, dem er einen Schild, zwei Lanzen und einen ehernen Helm zubrachte. Dann eilte er ſelbſt zur Thüre hinaus, und in die Rüſtkammer. 262Hier ſuchte er für ſich und die Freunde noch weitere vier Schilde, acht Lanzen und vier Helme mit wallen¬ dem Roßſchweif aus. Damit waffneten ſie ſich, er und die beiden treuen Hirten. Die vierte Rüſtung brachten ſie dem Odyſſeus, und ſo ſtanden nun alle Vier neben einander.

So lange dieſer noch Pfeile hatte, ſtreckte er mit jedem Schuß einen Freier darnieder, daß ſie übereinander taumelten. Dann lehnte er den Bogen an den Thür¬ pfoſten, warf ſich eilig den vierfachen Schild über die Schultern, ſetzte ſich den Helm auf's Haupt, deſſen Buſch fürchterlich nickte, und faßte dann zwei mächtige Lanzen. In dem Saale war noch eine Seitenpforte an¬ gebracht, die in einen Gang führte, der in die Haus¬ flur auslief. Die Oeffnung der Pforte war aber eng und faßte nur einen einzigen Mann. Dieſes Pförtchen hatte Odyſſeus dem Eumäus zur Hut anvertraut; nun aber, da jener ſeine Stelle verlaſſen, ſich zu waffnen, blieb es unbewacht. Einer von den Freiern, Agelaus, bemerkte dieſes. Wie wäre es, rief er, Freunde, wenn wir uns durch die Seitenpforte flüchteten, und ſo in die Stadt gelangten, um das Volk aufzuwiegeln, dann hätte der Mann bald ausgewüthet! Sey kein Thor, ſagte Melanthius zu ihm, der Ziegenhirt, der in der Nähe ſtand, und auf der Seite der Freier war, Pforte und Gang ſind ſo enge, daß nur ein einzelner Mann hindurch kann, und wenn ſich von jenen Vieren nur Einer davor ſtellt, ſo wehrt er uns Allen. Laß lieber mich unbemerkt hinausſchlüpfen, ſo hol 'ich euch Waffen genug vom Söller. Dieß that der Ziegenhirt, und kam auf wiederholte Gänge mit zwölf Schilden, und263 ebenſo vielen Helmen und Lanzen zurück. Unerwartet ſah Odyſſeus ſeine Feinde mit Rüſtungen umhüllt, und lange Speere in den Händen bewegend. Er erſchrak und ſprach zu ſeinem Sohne Telemach: Das hat uns eine der falſchen Mägde, oder der arge Gaishirt zuge¬ richtet! Ach, Vater, ich bin ſelbſt daran ſchuld, erwiederte Telemach, ich habe vorhin, als ich die Waffen holte, die Thüre der Rüſtkammer in der Eile nur ange¬ lehnt. Der Sauhirt eilte nun hinauf zur Kammer, um ſie zu verſchließen. Durch die offene Thüre ſah er, wie drin ſchon wieder der Gaishirt ſtand, weitere Waffen zu holen. Er eilte mit dieſer Nachricht nach der Schwelle zurück. Soll ich mich des Schalks bemächtigen? fragte er ſeinen Herrn. Ja, erwiederte dieſer, nimm den Rinderhirten mit, überfallet ihn in der Kammer, drehet ihm Hände und Füße auf den Rücken, und hänget ihn mit einem ſtarken Seil an die Mittelſäule der Kammer, daß er in Qualen harre. Dann ſchließet die Thüre zu, und kehret zurück. Die Hirten gehorchten. Sie beſchlichen den Falſchen, wie er eben im Winkel der Kammer nach Waffen umherſpähte. Als er wieder zu der Schwelle kam, in der einen Hand einen Helm, in der andern einen alten verſchimmelnte Schild, packten ſie ihn, warfen den Schreienden zu Boden, feſſelten ihm Hände und Füße auf dem Rücken, knüpften an einen Haken der Decke ein langes Seil, ſchlangen es um ſei¬ nen Leib, und zogen ihn an der Säule bis dicht an die Balken empor. Wir haben dich ſanft gebettet, ſprach der Sauhirt, ſchlaf wohl! Nun verſchloſſen ſie die Pforte, und kehrten auf ihre Poſten zu den Helden zurück. Unverhofft geſellte ſich zu den Vieren ein fünfter264 Streiter: es war Athene in Mentors Geſtalt, und Odyſ¬ ſeus erkannte die Göttin freudig. Als die Freier den neuen Kämpfer bemerkten, rief Agelaus zornig hinauf: Mentor, ich ſage dir, laß dich durch Odyſſeus nicht verleiten, die Freier zu bekriegen, ſonſt ermorden wir mit Vater und Sohn auch dich und dein ganzes Haus. Athene enbrannte bei dieſen Worten, ſie ſpornte den Odyſſeus an und ſprach: Dein Muth ſcheint mir nicht mehr derſelbe zu ſeyn, Freund, wie du ihn zehn Jahre lang vor Troja bewieſeſt. Durch deinen Rath ſank dieſe Stadt: und nun, wo es gilt, in deiner eigenen Hei¬ math Palaſt und Gut zu vertheidigen, zageſt du den Freiern gegenüber? So ſprach ſie, ſeinen Muth an¬ zufeuern, für ihn zu ſtreiten gedachte ſie nicht. Denn plötzlich ſchwang ſie ſich in Vogelgeſtalt empor, und ſaß, einer Schwalbe gleich, auf dem rußigen Gebälk der Decke. Mentor iſt wieder hinweggegangen, der Prahler, rief Agelaus ſeinen Freunden zu, die Viere ſind wieder allein. Laßt uns nun den Kampf wohl überlegen; nicht Alle zugleich werfet eure Lanzen, ſondern ihr Sechſe da zuerſt; und zielet mir fein Alle nur auf Odyſſeus: liegt er nur erſt, ſo kümmern uns die Andern wenig! Aber Athene vereitelte ihnen den gewaltigen Wurf: des einen Lanze durchbohrte den Pfoſten; des andern fuhr in die Thür, andern blieb ſie in der Wand ſtecken. Jetzt rief Odyſſeus ſeinen Freunden zu: Wohl gezielt und ge¬ ſchoſſen! und alle Vier ſchickten ihre Lanzen ab, und keiner fehlte: Odyſſeus traf den Demoptolemus, Tele¬ mach den Euryades, den Elatus der Sauhirt, der Rin¬ derhirt den Piſander, welche miteinander in den Staub ſanken. Einen Augenblick flüchteten ſich die noch übrigen265 Freier in den äußerſten Winkel des Saals: bald aber wagten ſie ſich wieder hervor und zogen die Speere aus den Leichnamen. Dann ſchoßen ſie neue Lanzen ab; die meiſten fehlten wieder, nur der Speer des Amphimedon ſtreifte dem Telemach die Knöchelhaut an der einen Hand, und des Kteſippus Lanze ritzte dem Sauhirten die Schul¬ ter über dem Schild. Beide wurden zum Lohne von den Verletzten durch Lanzenwürfe getödtet, und der Sau¬ hirt begleitete ſeinen Wurf mit den Worten: Nimm dieß, du Läſterer, für den Kuhfuß, mit dem du meinen Herrn beſchenkteſt, als er noch im Saale bettelte.

Den Eurydamas hatte der Wurf des Odyſſeus nie¬ dergeſtreckt. Jetzt erſtach er mit der Lanze Agelaus, den Sohn des Damaſter; Telemach jagte dem Leokritus den Speer durch den Bauch; Athene ſchüttelte ihren verderb¬ lichen Aegisſchild von der Decke herab, und jagte den Freiern Entſetzen ein, daß ſie wie Kinder, von der Bremſe geſtochen, oder wie kleine Vögel vor den Klauen des Habichts, im Saale hin und her irrten. Odyſſeus und ſeine Freunde waren von der Schwelle herabgeſprungen, und durchwütheten mit Morden den Saal, daß überall Schädel krachten, Röcheln ſich erhob, und der Boden von Blute floß.

Einer der Freier, Leiodes, warf ſich dem Odyſſeus zu Füßen, umklammerte ſeine Knie und rief: Erbarme dich! nie habe ich Muthwillen in deinem Hauſe getrie¬ ben, habe die Andern gezähmt, aber ſie folgten mir nicht! Ich bin ihr Opferer und habe nichts gethan, ſoll ich denn auch fallen? Wenn du ihr Opferer biſt, erwiederte Odyſſeus finſter, ſo haſt du wenigſtens für ſie gebetet! und nun raffte er das Schwert des266 Agelaus, das dieſer im Tode ſinken laſſen, vom Boden auf, und hieb dem Leiodes, während er noch flehte, das Haupt vom Nacken, daß es in den Staub hinrollte.

Nahe an der Seitenpforte ſtand der Sänger Phe¬ mius, die Harfe in den Händen. Er überlegte in der Todesangſt, ob er ſich durch das Pförtchen in den Hof zu retten ſuchen, oder die Kniee des Odyſſeus umfaſſen ſollte. Endlich entſchloß er ſich zu dem Letztern, legte die Harfe zwiſchen dem Miſchkrug und Seſſel zu Boden, und warf ſich vor Odyſſeus nieder. Erbarme dich meiner, rief er, ſeine Kniee umſchlingend, du ſelbſt bereueteſt es, wenn du den Sänger erſchlagen hätteſt, der Götter und Menſchen mit ſeinem Lied erfreut. Ich bin der Lehrling eines Gottes, und wie einen Gott will ich dich im Geſange feiern! Dein Sohn kann es mir bezeugen, daß ich nicht freiwillig hierherkam, daß ſie mich gezwungen haben, zu ſingen! Odyſſeus hob das Schwert, doch zögerte er; da ſprang Telemach herzu und rief: Halt, Vater, verwunde mir dieſen nicht, er iſt unſchuldig; auch den Herold Medon, wenn er nicht ſchon von den Hirten oder dir ermordet iſt, laß uns verſchonen, er hat mich ſchon als Kind im Hauſe ſo ſorglich gepflegt, und wollte uns immer wohl. Medon, der, in eine friſche Rinderhaut gehüllt, unter ſeinem Seſſel verborgen lag, hörte die Fürbitte, wickelte ſich los, und lag bald dem Telemach flehend zu Füßen. Da mußte der finſtere Held Odyſſeus lächeln, und ſprach: Seyd getroſt, ihr Beide, Sänger und Herold, Tele¬ machs Bitte ſchützt euch. Gehet hinaus und verkündiget den Menſchen, wie viel beſſer es ſey, gerecht, als treu¬ los zu handeln. Die zwei eilten aus dem Saale, und267 ſetzten ſich, noch immer vor Todesangſt zitternd, im Vorhofe nieder.

Beſtrafung der Mägde.

Odyſſeus blickte umher, und ſah keinen lebenden Feind mehr. Sie lagen hingeſtreckt in Menge, wie Fiſche, die der Fiſcher aus dem Netz geſchüttet. Da ließ Odyſ¬ ſeus durch ſeinen Sohn die Schaffnerin berufen. Sie fand ihren Herrn unter den Leichen wie einen Löwen ſtehen, der Stiere zerriſſen hat, dem der Rachen und die Bruſt von ſchwarzem Blute triefen, und deſſen Auge funkelt. So ſtand Odyſſeus, an Händen und Füßen mit Blut bedeckt. Frohlockend jauchzte die Schaffnerin, denn der Anblick war groß und fürchterlich. Freue dich, Mutter, rief ihr der Held ernſthaft entgegen, aber jauchze nicht: kein Sterblicher ſoll über Erſchlagene jubeln! Dieſe hier hat das Gericht der Götter gefället, nicht ich. Jetzt aber nenne mir die Weiber des Palaſts: welche mich verachtet haben, welche treu geblieben ſind. Es ſind fünfzig Dienerinnen im Hauſe, antwortete Euryklea, die wir Kleiderwirken, Wollekämmen, das Hausweſen beſtellen gelehrt haben. Von dieſen haben ſich zwölfe von euch abgewendet, und weder mir, noch Penelope gehorcht, denn dem Sohn überließ die Mutter das Regiment über die Mägde nicht. Nun aber laß mich meine ſchlummernde Herrin erwecken, o König, und ihr die Freudenbotſchaft verkünden. Wecke jene noch nicht, antwortete Odyſſeus, ſondern ſchicke mir268 die zwölf treuloſen Mägde herunter. Euryklea gehorchte, und zitternd erſchienen die Dienerinnen. Da rief Odyſ¬ ſeus ſeinen Sohn und die treuen Hirten zu ſich heran, und ſprach: Traget nun die Leichname hinaus, und heißet die Weiber Hand anlegen. Dann heißet ſie die Seſſel und Tiſche mit Schwämmen ſäubern, und den ganzen Saal reinigen. Wenn dieß geſchehen iſt, führt mir die Mägde hinaus zwiſchen Küche und Hofmauer, und machet ſie Alle mit dem Schwerte nieder, daß ihnen der Muthwill ausgetrieben wird, dem ſie ſich mit den Freiern überlaſſen haben! Wehklagend und weinend ſammelten ſich die Weiber auf einen Haufen, aber Odyſ¬ ſeus trieb ſie zum Werke und war hinter ihnen her, bis ſie die Todten hinausgetragen, Seſſel und Tiſche geſäu¬ bert, den Eſtrich reingeſchaufelt und den Unrath vor die Thüre geſchleppt hatten. Dann wurden ſie von den Hirten zum Palaſte hinaus, zwiſchen Küche und Hof¬ mauer gedrängt, wo kein Ausweg war. Und nun ſprach Telemachus: Dieſe ſchändlichen Weiber, die mein und meiner Mutter Haupt verunehrt haben, ſollen keines ehr¬ lichen Todes ſterben! Mit dieſen Worten knüpfte er von Pfeiler zu Pfeiler, das Küchengewölbe entlang, ein ausgeſpanntes Seil, und bald hingen die Mägde, mit der Schlinge um den Hals, alle zwölf neben einander, wie ein Zug Droſſeln im Netze, und zappelten nur noch eine kurze Weile mit den Füßen in der Luft.

Jetzt wurde auch der boshafte Ziegenhirt Melan¬ thius über den Vorhof herbeigeſchleppt und in Stücke gehauen. Als Telemach und die Hirten dieß vollbracht hatten, war das Werk der Rache beendigt, und ſie kehrten zu Odyſſeus in den Saal zurück.

269

Hierauf befahl Odyſſeus der Schaffnerin Euryklea, Glut und Schwefel auf einer Pfanne zu bringen, und Saal, Haus und Vorhof zu durchräuchern. Noch ehe ſie aber dieſes Geſchäft vornahm, brachte ſie ihrem kö¬ niglichen Herrn Mantel und Leibrock. Du ſollſt mir, ſprach ſie, lieber Sohn, und unſer Aller Herr, nicht mehr ſo mit Lumpen bedeckt im Saale daſtehen, du, die herrliche Heldengeſtalt. Das wäre ja ganz unziemlich. Odyſſeus aber ließ die Kleider noch liegen, und hieß die Alte an ihr Geſchäft gehen. Während dieſe nun den Saal und das ganze Haus durchräucherte, rief ſie auch die treu gebliebenen Dienerinnen herbei. Dieſe drängten ſich bald um ihren geliebten Herrn, hießen ihn mit Freuden¬ thränen willkommen, drückten ihr Angeſicht auf ſeine Hände, und konnten ſich mit Küſſen nicht erſättigen. Odyſſeus aber weinte und ſchluchzte vor Freuden; denn jetzt erkannte er, wer ihm treu geblieben war.

Odyſſeus und Penelope.

Als das Mütterchen mit der Räucherung fertig war, ſtieg es empor zum Söller, um jetzt endlich der gelieb¬ ten Herrin zu verkündigen, daß ihr Gemahl Odyſſeus es ſey und kein Anderer, der in die Heimath zurückgekom¬ men. Die Füße der Alten trippelten hurtig, aber die Kniee verſagten ihr beinahe. So trat ſie vor das Lager Penelope's, und, die Schlummernde weckend, ſprach ſie: Liebe Tochter, erwache, du ſollſt mit deinen eigenen270 Augen dasjenige ſehen, worauf du von Tag zu Tage gewartet haſt: Odyſſeus iſt daheim; Odyſſeus iſt endlich im Palaſte! Er hat die trotzigen Freier, die dich ſo ſehr geängſtigt, die ſeine Habe verzehrten, die ſeinen Sohn beſchimpften er hat ſie erſchlagen!

Penelope rieb ſich den Schlummer aus den Augen und ſagte: Mütterchen, du biſt eine Thörin; die Götter haben dich mit Blödſinn geſchlagen. Was weckſt du mich mit deiner lügenhaften Botſchaft aus dem ſanfteſten Schlummer? Seit Odyſſeus ausgefahren iſt, habe ich nicht mehr ſo feſt geſchlafen! Hätte mich eine Andere mit dieſem Mährchen getäuſcht, ich würde ſie nicht nur mit ſcheltenden Worten fortſchicken; und auch dich ſchützt nur dein Alter; aber auf der Stelle geh 'mir hinunter in den Saal.

Tochter, ſpotte nicht, entgegnete die Schaffnerin, der Fremdling iſt's, der Bettler, deſſen Alle im Saale ſpotteten. Dein Sohn Telemach wußte es längſt, aber er ſollte das Geheimniß verbergen, bis Rache an den Freiern genommen war.

Als ſie ſolches hörte, ſprang die Fürſtin vom Lager, und ſchmiegte ſich an die Alte, und unter einem Strome von Thränen ſprach ſie: Mütterchen, wenn du wirklich die Wahrheit redeſt, wenn Odyſſeus wirklich im Palaſt iſt: ſage mir, wie bewältigte er die Freier, die zahllos verſammelten? Ich ſelber habe es weder geſehen noch gehört, antwortete Euryklea, denn wir Frauen ſaßen voll Angſt in den feſtverſchloſſenen Gemächern; aber das Aechzen hörte ich wohl; und als mich endlich dein Sohn herbeirief, da fand ich deinen Gemahl daſtehen, von271 Leichen umringt; denn die Freier alle lagen auf dem Boden übereinander geſtreckt. So blutig er anzuſchauen war, er hätte dir doch gefallen, Tochter; jetzt aber liegen die Leichname alle weit draußen vor der Hofpforte; das ganze Haus iſt von mir mit reinigendem Schwefel durchräuchert worden: du kannſt ohne alles Grauen hin¬ abſteigen. Alte, ich kann es immer noch nicht glau¬ ben, ſprach Penelope, es iſt ein Unſterblicher, der die Freier erſchlagen hat. Aber Odyſſeus ach nein, der iſt ferne, der iſt nicht mehr am Leben! Ungläubiges Herz, entgegnete kopfſchüttelnd die Schaffnerin, ſo will ich dir noch ein untrüglicheres Zeichen angeben. Du kennſt ja die Narbe, die von des Ebers Zahne herrührt; nun damals, als ich auf deinen Befehl dem Bettler die Füße wuſch, da erkannte ich ſie, und wollte dirs auf der Stelle verkündigen: aber er ſchnürte mir die Gurgel zu und litt es nicht. So laß uns denn hinabgehen, ſagte Penelope, vor Furcht und Hoffnung zitternd; und ſo ſtiegen ſie beide mit einander hinab in den Saal und ſchritten über die Schwelle. Hier ſetzte ſich Penelope, ohne ein Wort zu reden, im Glanze des Heerdfeuers dem Odyſſeus gegenüber. Er ſelbſt ſaß an der Säule mit geſenkten Augen, und wartete auf ihr Wort. Aber Staunen und Zweifel machte die Königin ſtumm: bald glaubte ſie ſein Angeſicht zu erkennen, bald deuchte es ihr wieder fremd, und ihre Augen ruhten nur auf den Lumpen des Bettlers. Endlich trat Telemach zur Mut¬ ter, und ſprach halb lächelnd, halb ſcheltend: Böſe Mutter, wie kannſt du ſo unempfindlich bleiben? Setze dich doch zum Vater, forſche, frage! Welches andere Weib, wenn ihr Gatte nach ſo viel Jammer im272 zwanzigſten Jahre heimkehrt, würde ſich ſo geberden! Haſt du denn allein ſtatt des Herzens einen Stein im Buſen?

Ach lieber Sohn, erwiederte Penelope, ich bin in Staunen verloren; ich kann ihn nicht anreden, ich kann ihn nicht fragen, ich kann ihm nicht gerade ins Angeſicht ſchauen! Und doch iſt er es wirklich, er iſts, mein Odyſſeus, er iſt zurückgekommen in ſein Haus! Doch werden wir einander ſchon erkennen, und viel ſiche¬ rer, denn wir haben geheime Zeichen, die Niemand ſonſt be¬ kannt ſind. Da wandte ſich Odyſſeus mit ſanftem Lächeln an ſeinen Sohn und ſprach: Laß die Mutter immerhin mich verſuchen; ſie verachtet mich, weil ich in ſo gar häßliche Lumpen gehüllt bin. Nun wir wollen ſehen, wie wir ſie überzeugen. Jetzt aber thut anderes noth. Wer auch nur einen einzigen Mann aus dem Volke ge¬ tödtet hat, der flieht Haus und Heimath, auch wenn jener nur wenige Rächer hinterläßt. Wir aber haben die Stützen des Landes, die edelſten Jünglinge der Inſel und der Nach¬ barſchaft erſchlagen, was thun wir? Vater, ſagte Te¬ lemach, da mußt du allein ſorgen. Du giltſt in aller Welt für den klügſten Rathgeber. So will ich euch denn ſagen, erwiederte Odyſſeus, was ich für das Klügſte halte. Du, die Hirten, Alles was im Hauſe iſt, ihr nehmet vor allen Dingen ein Bad und ſchmücket euch aufs allerbeſte; auch die Mägde kleiden ſich in ihre beſten Gewande; der Sänger aber nimmt die Harfe zur Hand, und ſpielt uns Allen einen Reihentanz auf. Wer dann über die Straße geht, wer in der Nähe wohnt, meint nicht anders, als das Feſt dauere noch fort im Hauſe, und ſo verbreitet ſich wohl das Gerücht von der Ermordung273 der Freier nicht eher in der Stadt, als bis wir unſere Beſitzungen auf dem Lande erreicht haben; dann wird uns ein Gott eingeben, was weiter zu thun iſt.

Bald ertönte das ganze Haus von Harfenſpiel, Geſang und Tanz. Auf der Straße ſammelten ſich die Einwohner und ſprachen zu einander: Nun iſt kein Zweifel! Penelope hat ſich wieder geheirathet, und im Palaſte wird das Vermählungsfeſt gefeiert. Die böſe Frau, konnte ſie nicht erwarten, bis der Gemahl ihrer Jugend zurückgekehrt wäre? Endlich gegen Abend verlief ſich das Volk. Odyſſeus hatte ſich in dieſer Zeit gebadet und geſalbt. Athene aber goß ihm jetzt wieder Anmuth um das Haupt; ſein dunkles Haar umringelte in vollem Wuchſe den Scheitel, und einem Unſterblichen gleich ſtieg er aus der Badwanne. So trat er in den Saal und ſetzte ſich wieder in ſeinen Thronſeſſel, der Gemahlin gegenüber. Seltſame Frau, ſprach er, die Götter haben dir doch ein fühlloſes Herz verliehen, kein anderes Weib wird ſo hartnäckig ihren Gatten vei¬ läugnen, wenn er im zwanzigſten Jahre nach ſo viel Trübſal heimkehrt. So wende ich mich denn an dich, Euryklea, Mütterchen, daß du mir irgendwo mein Lager bereiteſt; denn dieſe hier hat ein eiſernes Herz in der Bruſt!

Unbegreiflicher Mann, ſprach jetzt Penelope, nicht Stolz, nicht Verachtung, kein ähnliches Gefühl hält mich von dir zurück; ich weiß noch recht gut, wie du ausſaheſt, als du Ithaka zu Schiffe verließeſt. Wohl denn, Euryklea bereite ihm das Lager, außerhalb des Schlafgemachs, richte es wohl zu mit Vließen, Mänteln und Teppichen.

Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 18274

So verſuchte Penelope ihren Gemahl, Odyſſeus aber blickte unwillig auf und ſprach: Das war ein kränkendes Wort, Frau, meine Bettſtelle vermag kein Sterblicher zu verrücken, und wenn er alle Jugendkräfte anſtrengte. Ich ſelbſt habe mir die Lade gezimmert, und es iſt ein großes Geheimniß daran. Mitten auf dem Platze, wo wir den Palaſt anlegten, ſtand im blühendſten Saft ein ſchattiger Olivenbaum, und war wie eine Säule gewachſen. Da ließ ich die Wohnung ſo anlegen, daß derſelbe innerhalb des Schlafgemaches zu ſtehen kam. Als nun die Kammer ſchön aus Steinen erbaut und die Decke von Holz zierlich gebohnt war, kappte ich die Krone des Oelbaumes ab, den Stamm fing ich an von der Wurzel aus zu behauen und zu glätten. So bildete ich ſcharf nach der Richtſchnur den Fuß des Bettes, und meißelte dieſes ſelbſt bis zur Voll¬ endung aus; dann wurde die Lagerſtatt von mir künſt¬ lich mit Gold, Silber und Elfenbein durchwirkt, und von ſtarker Stierhaut Riemen darin für die Betten aus¬ geſpannt. Dieß iſt unſer Lager, Penelope! ob es noch ſteht, weiß ich nicht, wer es aber anders geſtellt hat, der mußte den Oelbaum von ſeiner Wurzel trennen.

Die Kniee zitterten der Königin, als ſie das Zei¬ chen erkannte. Weinend erhob ſie ſich vom Stuhle, lief auf ihren Gatten zu, umſchlang ihm den Hals mit offe¬ nen Armen, küßte ſein Haupt und küßte es wieder, und begann: Odyſſeus, du biſt ja immer ſo gut, ſo voll Verſtandes geweſen, zürne mir nicht! Die ewigen Götter haben Leid über uns verhängt, weil es ihnen zu ſelig däuchte, wenn wir unſer junges Leben in Eintracht miteinander verbringen, und auf ſanftem Wege dem275 Alter nahen ſollten. Du mußt mir nicht gram ſeyn, daß ich dich nicht auf der Stelle zärtlich willkommen geheißen habe. Mein armes Herz war in beſtändiger Angſt, es möchte mich irgend ein ſchlauer Betrüger täuſchen. Jetzt, nachdem du mir genannt haſt, was kein Sterb¬ licher außer dir und mir und unſerer alten Pförtnerin Ak¬ toris, die mir aus dem väterlichen Hauſe hieher gefolgt iſt, wußte, jetzt iſt mein hartes Herz beſiegt und überzeugt!

Die halbe Nacht verging den Gatten unter gegen¬ ſeitiger Erzählung des unendlichen Elendes, das ſie beide in den zwanzig verfloſſenen Jahren erduldet, und der Königin kam kein Schlaf in die Augenlieder, bis ihr Gemahl von allen ſeinen Irrfahrten ihr den ausführlich¬ ſten Bericht abgeſtattet hatte.

Endlich begab ſich Alles im Palaſte zur erwünſchten Ruhe, und ſuchte Erholung von den erſchütternden Be¬ gebenheiten des Tages.

Odyſſeus und Laertes.

Am andern Morgen hatte ſich Odyſſeus in aller Frühe reiſefertig gemacht. Liebes Weib, ſprach er zu Penelope, wir beide haben bisher den Becher des Lei¬ dens bis zur Neige geleert, du mein Ausbleiben bewei¬ nend, ich durch Jupiter und andere Götter von der Heimkehr ins Vaterland abgehalten. Jetzt, nachdem wir beide wieder vereinigt ſind, unſere Herrſchaft, unſer Be¬ ſitz uns wieder geſichert iſt, ſorge du für alles Gut, das mir im Palaſte noch geblieben iſt. Was die Freier in18 *276ihrer Ueppigkeit uns verpraßt haben, das werden uns theils die Geſchenke, mit welchen ſie zuletzt ihre Bewer¬ bung unterſtützt haben, theils Raub und Gaben, die ich aus der Fremde mitbringe, reichlich erſetzen, ſo daß unſere Meierhöfe bald wieder gefüllt ſeyn werden. Ich ſelbſt aber will mich jetzt auf das Landgut hinaus be¬ geben, wo mein guter alter Vater mich ſchon ſo lange betrauert. Ich rathe dir aber, da das Gerücht von der Ermordung der Freier ſich doch allmählig in der Stadt verbreiten muß, daß du mit deinen Dienerinnen dich in die Frauengemächer zurückzieheſt, und Niemand Gelegenheit gebeſt, dich zu ſchauen und zu befragen.

So ſprach Odyſſeus, warf ſich ſein Schwert um die Schulter, und weckte nun auch ſeinen Sohn Tele¬ mach und die beiden Hirten, die ſofort alle drei auf ſeinen Befehl gleichfalls die Waffen ergriffen, und mit dem erſten Frühlichte, den Helden an der Spitze, durch die Stadt eilten. Ihre Beſchirmerin aber, Pallas Athene, hüllte die Wandelnden in einen dichten Nebel, ſo daß kein einziger Bewohner der Stadt ſie erkannte.

Es dauerte nicht allzu lange, ſo hatten die vier Wanderer den lieblich gelegenen, wohl geordneten Mei¬ erhof des greiſen Laertes erreicht. Es war eines der erſten Güter, das der Vater des Odyſſeus zum Ererb¬ ten an ſich gebracht hatte. In der Mitte des Hofes lag, von Wirthſchaftsgebäuden umringt, das Wohnhaus. Hier aßen und ſchliefen die Knechte, die ihm das Feld beſtellten. Eben daſelbſt wohnte auch eine alte Sicili¬ erin, die auf dem einſamen Landgute den alten Mann mit größter Sorgfalt pflegte. Als ſie nun vor der Wohnung ſtanden, ſprach Odyſſeus zum Sohn und zu277 den Hirten: Betretet ihr einſtweilen das Haus und ſchlachtet ein auserleſenes Maſtſchwein für unſer Mit¬ tagsmahl. Ich ſelbſt will aufs Feld hinaus gehen, wo der gute Vater ohne Zweifel bei der Arbeit iſt, und ihn auf die Probe ſtellen, ob er mich wohl noch erkennt. Es wird nicht lange währen, ſo kehre ich mit ihm zu¬ rück, und wir feiern dann zuſammen das fröhliche Mahl. Odyſſeus reichte ſeinen Genoſſen Schwert und Speer, und dieſe wandten ſich der Wohnung zu.

Er nun ſchlug den Weg nach den Pflanzungen ſeines Vaters ein, und kam zuerſt durch den Wurzgar¬ ten. Vergebens ſah er ſich hier nach dem Oberknechte Dolius, ſeinen Söhnen und den übrigen Knechten um. Sie waren Alle ins Feld hinausgegangen, um Dorn¬ ſträucher zu ſuchen, und damit die Einfriedigung um die Baumpflanzung herzuſtellen. Als der König in dieſer letzteren angekommen war, fand er endlich den alten Vater ſelbſt, zwiſchen den ſchönen Reihengängen ſeiner Bäume ſtehend, wie er eben beſchäftigt war, ein kleines Bäumchen umzugraben. Der Greis ſah einem alten Knechte nicht unähnlich: er hatte einen groben, ſchmutzi¬ gen, an vielen Stellen geflickten Leibrock an; um die Beine trug er ein paar alte Felle von Ochſenleder, um ſich damit gegen die Dornen zu ſchützen; an den Hän¬ den Handſchuhe; auf dem Kopf eine Mütze von Gais¬ fell. Als Odyſſeus ſeinen Vater in dieſem elenden Aufzuge erblickte, gebeugt vom Alter, die Spuren des tiefſten Kummers auf dem Geſichte, mußte ſich der Held vor Schmerz an den Stamm eines Birnbaums lehnen, und weinte bitterlich. Am liebſten hätte er den Vater unter Küſſen umarmt, und ihm auf einmal geſagt, daß278 er ſein Sohn, und ins Land der Väter zurückgekehrt ſey. Doch konnte er der Verſuchung nicht widerſtehen, auch den Vater auszuforſchen, und mit leiſem Tadel ſein Herz auf die Probe zu ſtellen. So trat er denn während der Greis mit gebücktem Haupte eifrig die Erde um den jungen Baumſproß auflockerte, dieſem näher und begann alſo: Greis, du ſcheinſt dich recht gut auf den Gartenbau zu verſtehen. Reben, Oliven -, Feigen -, Birn - und Aepfelbäume, alle ſind aufs beſte gepflegt; auch den Blumen - und Gemüßbeeten fehlt es nirgends an der nöthigen Sorge. Aber an Einem fehlt es dir doch, und nimm es mir nicht übel, daß ich dirs ehrlich ſage: du ſelbſt ſcheinſt nicht gehörig gepflegt zu werden, Alter, daß du in ſolchem Schmutz und ſo häßlicher Kleidung einhergeheſt! Von deinem Herrn iſt das nicht wohlge¬ than. Auch ſcheint mir deine eigene Trägheit nicht an dieſer Behandlung ſchuld zu ſeyn. Betrachtet man deine Geſtalt und Größe, ſo findet ſich gar nichts knechti¬ ſches an dir, du haſt vielmehr ein königliches Anſehen; ein Mann wie du verdiente es, gebadet und wohlgeſpeist auszuruhen, wie man's den Alten gönnen mag. So ſage mir doch, wer iſt dein Herr, und für wen beſtellſt du dieſen Garten? Und iſt dieſes Land wirklich Ithaka, wie mir ein Mann, dem ich eben begegnete, geſagt hat? es war übrigens ein unfreundlicher Menſch; er antwor¬ tete mir nicht einmal, als ich ihn fragte, ob der Gaſt¬ freund noch lebe, den ich hier beſuchen will. In meiner Heimath habe ich nämlich vor langer Zeit einen Mann be¬ herbergt, es iſt noch nie ein lieberer Gaſt über meine Schwelle gekommen. Dieſer ſtammte von Ithaka und er¬ zählte mir, daß er ein Sohn des Königs Laertes ſey; ich279 bewirthete den werthen Freund aufs allerbeſte und reichte ihm ein ſtattliches Ehrengeſchenk, als er von mir ſchied: ſieben Talente des feinſten Goldes, einen ſilbernen Krug mit den ſchönſten Blumengewinden vom ſelben Metall, zwölf Teppiche, ebenſoviele Leibröcke und Mäntel, und vier ſchmucke kunſtbegabte Mägde, die er ſich ſelbſt ausleſen durfte.

So fabelte der erfindungsreiche Odyſſeus. Sein Va¬ ter aber hatte bei dieſer Nachricht das Haupt vom Boden aufgerichtet; Thränen waren ihm in die Augen getreten, und er ſprach: Freilich, guter Fremdling, biſt du in das Land gekommen, nach welchem du frägſt. Aber es wohnen muthwillige, frevelhafte Menſchen darin, die du mit allen deinen Geſchenken nicht zu erſättigen vermöchteſt. Der Mann, welchen du ſuchſt, iſt nicht mehr da. Hätteſt du ihn noch lebend auf Ithaka getroffen, o wie reichlich hätte er deine ſchönen Geſchenke dir vergolten! Aber ſage mir, wie lang iſt es her, daß dein unglücklicher Gaſtfreund, mein Sohn, dich beſucht hat? Denn er iſt es geweſen, mein armer Sohn, der jetzt vielleicht irgendwo im tiefen Meeresgrunde liegt, oder deſſen Fleiſch die wilden Thiere und die Raubvögel verzehrt haben. Nicht die Eltern haben ihm das Todtenhemde angezogen, nicht ſeine edle Gattin Penelope hat ſchluchzend am Bette des Gatten geweint und ihm die Augen zugedrückt! Aber wer und woher biſt denn du, wo iſt dein Schiff, wo ſind deine Genoſſen? Oder kamſt du auf einem ge¬ dungenen Fahrzeug als Reiſender, und biſt allein an unſerm Ufer ausgeſtiegen?

Ich will dir nichts vorenthalten, edler Greis, antwortete Odyſſeus, ich bin Eperitus, der Sohn des280 Aphitas aus Alibas; ein Sturm hat mich wider Wil¬ len von Sikanien an euer Geſtade getrieben, wo mein Schiff nicht ferne von der Stadt vor Anker liegt. Fünf Jahre ſind's, daß dein Sohn Odyſſeus meine Heimath verlaſſen hat. Er gieng fröhlichen Muthes, und Glücks¬ vögel begleiteten ihn. Wir gedachten uns noch oft als Gaſtfreunde zu ſehen, und uns gegenſeitig ſchöne Gaben zu verehren.

Dem alten Laertes wurde es Nacht vor den Au¬ gen, mit beiden Händen langte er nach der ſchwarzen Erde, ſtreute ſie ſich auf ſein ſchneeweißes Haupt, und fing laut zu jammern an. Jetzt wallte dem Sohn das Herz über; der Athem wollte ihm die Bruſt zerſprengen: er ſtürzte auf ſeinen Vater zu, umſchlang ihn unter Küſſen und rief: Ich ſelbſt bin es, Vater, ich ſelbſt, nach welchem du frägſt! im zwanzigſten Jahre bin ich in die Heimath zurückgekommen. Trockne deine Thränen, gib allem Jammer Abſchied, denn ich ſage dir's kurz: alle Freier habe ich in unſerem Palaſte erſchlagen!

Staunend blickte ihn Laertes an, und rief endlich laut aus: Wenn du wirklich Odyſſeus, wenn du mein heimgekehrter Sohn biſt, ſo gib mir ein unzweifelhaftes Zeichen, auf daß ich glaube! Vor allen Dingen, erwiederte Odyſſeus, ſieh hier die Narbe, lieber Vater, die von der Wunde des Ebers auf jener Jagd herrührt, als ihr mich ſelbſt, du und die Mutter, zu ihrem guten alten Vater Autolykus ſchicktet, daß ich die Gaben, die er mir einſt verheißen hatte, bei ihm abhohlen ſollte. Aber du ſollſt auch noch ein zweites Zeichen haben: ich will dir die Bäume zeigen, die du mir einſt geſchenkt haſt. Denn als ich noch ein kleines Kind war, und dich in281 den Garten begleitete, da gingen wir zwiſchen den Rei¬ hen umher, und du zeigteſt und benannteſt mir die ver¬ ſchiedenen Gattungen. Dreizehn Birnbäume haſt du mir geſchenkt, zehn Aepfelbäume, vierzig kleine Feigenbäume und fünfzig Weinreben dazu, die jeden Herbſt voll prächtiger Trauben ſtehen müſſen. Der Greis konnte nicht mehr zweifeln, er ſank am Herzen ſeines Sohnes in Ohnmacht. Dieſer hielt ihn aufrecht in den nervigen Armen. Endlich, als ſein Bewußtſeyn zurückgekehrt war, rief er mit lauter Stimme: Jupiter und ihr Götter alle, ja ihr lebet noch, ſonſt wären die Freier nicht beſtraft worden! Aber jetzt ängſtigt mich eine neue Sorge um dich, mein Sohn. Die edelſten Häuſer in Ithaka und den Inſeln ſind durch dich verwaist: die Stadt, die ganze Nachbarſchaft wird ſich gegen dich erheben. Sey guten Muthes, lieber Vater, ſprach Odyſſeus, und laß dich das jetzt nicht bekümmern. Folge mir zu deinem Wohnhauſe, dort harren ſchon dein Enkel Telemach, der Rinderhirt und der Sauhirt, und haben uns das Morgeneſſen bereitet.

So gingen ſie beide zuſammen in das Landhaus, wo ſie den Telemach und die Hirten ſchon mit Zerle¬ gung des Fleiſches beſchäftigt fanden, und der rothe Feſtwein eingeſchenkt in den Pokalen perlte. Noch vor dem Schmauſe wurde Laertes auf Veranſtaltung ſeiner treuen alten Dienerin gebadet und geſalbt, und legte zum erſtenmale nach langen Jahren wieder ſein ſchönes fürſtliches Gewand an. Während er ſich damit beklei¬ dete, nahte ſich ihm unſichtbar die Göttin Pallas Athene, und verlieh auch dem Greiſe aufrechten Wuchs und Hoheit der Geſtalt. Als er wieder zu den Andern ein¬282 trat, blickte ſein Sohn Odiſſeus verwundert an ihm empor und ſprach: Vater, ſicherlich hat einer der un¬ ſterblichen Götter dir Geſtalt und Wuchs verherrlicht! Ja, bei allen Göttern, ſagte Laertes, wäre ich, wie ich mich heute verjüngt und kräftig fühle, geſtern bei dir im Saale geſtanden und hätte an deiner Seite ge¬ kämpft: fürwahr, es wäre mancher Freier ſterbend vor mir ins Kniee geſunken!

So wechſelten ſie miteinander freudige Geſpräche, und ſetzten ſich endlich Alle ums Mahl. Jetzt kam auch der alte Meier Dolius ſammt ſeinen Söhnen, müde von der Feldarbeit, zurück. Ueber die Schwelle getreten, ſahen ſie den König Odyſſeus daſitzen, erkannten ihn und ſtanden ſtaunend, wie in den Boden gewurzelt. Odyſſeus aber redete ihnen freundlich zu: Geſchwind Alter, ſetze dich mit deinen Söhnen zu uns ans Mahl, wir harren ſchon lang auf euch! nehmt euch ein ander¬ mal Zeit zum Staunen. Da eilte Dolius mit ausge¬ breiteten Armen auf den Helden zu, ergriff ſeine Hand und bedeckte ſie mit Küſſen. Lieber Herr, Heil dir und Segen, rief er, nachdem du unſer Aller Wunſch er¬ füllt haſt, und endlich heimgekommen biſt! Sage mir, weiß es Penelope ſchon, oder ſollen wir ihr Botſchaft zukommen laſſen? Sie weiß Alles, antwortete Odyſſeus, du darfſt dich nicht bemühen. Da ſetzte ſich Dolius zum Mahle; ſeine Söhne drängten ſich um Odyſſeus, drückten ihm die Hände und hießen ihn will¬ kommen; dann nahmen auch ſie an der Seite ihres Vaters Platz, und Alles ſchmauſte fröhlich zuſammen.

283

Aufruhr in der Stadt durch Athene geſtillt.

In der Stadt Ithaka eilte inzwiſchen das Gerücht durch alle Straßen und verkündigte das grauſame Ver¬ hängniß, das die Freier getroffen hatte. Von allen Seiten her drängten ſich jetzt die Blutsverwanden der Gefallenen nach dem Palaſte des Odyſſeus, wo ſie an einer abgelegenen und abgeſonderten Stelle des Hofes die Leichname der Ihrigen aufgeſchichtet fanden. Unter lauten Wehklagen, darein ſich Drohungen miſchten, tru¬ gen ſie die Todten, ein Jeder den Seinigen hinaus, und beſtatteten ſie: die aber aus andern Städten und Inſeln waren, wurden auf ſchnellen Fiſcherkähnen in ihre Heimath geſendet. Dann verſammelten ſich die Väter, Brüder und Anverwandten der Freier insgeſammt auf dem Markte, und in der zahlreichen Volksverſamm¬ lung trat Eupithes auf. Dieß war der Vater des An¬ tinous, des jugendlichſten und trotzigſten Freiers, des erſten, der von Odyſſeus Pfeile gefallen war. Der Vater war ein mächtiger, hochangeſehener noch rüſtiger Mann, dem unheilbarer Schmerz um den Tod ſeines Sohnes an der Seele nagte. Dieſer vergoß Thränen vor dem Volke und ſprach: Freunde, gedenket an das mannichfaltige Unglück, das der Mann, den ich vor euch verklage, über Ithaka und die Nachbarſtädte gebracht hat! Vor zwanzig Jahren entführte er uns ſo viele und ſo tapfere Männer auf ſeinen Schiffen; verlor die Schiffe, verlor die Genoſſen. Endlich allein wieder heimgekehrt, hat284 er die edelſten Jünglinge unſeres Volksſtamms erſchlagen. Auf denn, ehe ſich der Verbrecher hinüber auf die Pe¬ lopsinſel nach Pylos oder Elis rettet, folget ihm nach, ergreifet ihn! Wir könnten ſonſt vor Schmach die Augen nicht wieder aufſchlagen. Ja für unſere ſpäteſten Ge¬ ſchlechter wär 'es noch eine Schande, wenn wir, ihre Ahnen, die Mörder unſerer leiblichen Söhne und Brü¬ der nicht beſtraft hätten. Ich wenigſtens könnte nicht mehr mit gutem Gewiſſen leben: über ein kurzes, ſo zöge der Schatten des Sohnes mich zu ſich hinab! Darum ihnen nach, wenn ihr Männer ſeyd! greifen wir Vater und Sohn, ehe ſie uns übers Meer entrinnen!

Erbarmen ergriff die ganze Verſammlung, als ſie den Mann unter Thränen alſo reden hörten. In dieſem Augenblicke kamen aus dem Palaſte des Königes Phe¬ mius der Sänger und der Herold Medon gewandelt, und traten auf dem Markt in den Kreis der Verſam¬ melten. Die Männer ſtaunten nicht wenig, die beiden längſt auch verloren geachteten noch am Leben zu ſehen. Hierauf erbat ſich Medon der Herold das Wort, und ſprach zu dem verſammelten Volk: Männer von Ithaka, höret meine Rede. Was Odyſſeus vollbracht hat, das hat er, ich kann es euch beſchwören, nicht ohne den Rathſchluß der Unſterblichen vollendet. Ich ſelbſt habe den Gott geſehen, der ihm in Mentors Geſtalt immer zur Seite war, und bald dem Odyſſeus das Herz kräf¬ tigte, bald umher tobend im Saale, die Beſinnung der Freier zerrüttete. Das Werk dieſes Gottes iſt es, daß ſie ſterbend über einander taumelten.

[Entſetzen] ergriff das verſammelte Volk, als es den Herold ſo ſprechen hörte. Als der erſte Eindruck vorüber285 war, nahm ein ergrauter Held, Halitherſes, der Sohn Maſtors, der allein unter Allen auf die Vergangen¬ heit zurückzublicken und hinüber zu ſchauen in die Zu¬ kunft verſtand, in der Verſammlung das Wort, und ſprach: Höret, ihr Einwohner von Ithaka, was ich euch zu Gemüthe führen will. Ihr ſelbſt ſeyd ſchuld an Allem, was geſchehen iſt. Warum waret ihr ſo träge, warum habt ihr meinen und Mentors Rath nicht befolgt, und habt eure üppigen Söhne nicht im Zaume gehalten, als ſie Tag für Tag hingingen, dem abweſenden Manne ſein Gut verpraßten, und unwürdige Forderungen an ſeine Gemahlin richteten, als käme er nimmermehr zurück? Ihr ſelbſt habt euch Alles dasjenige zuzuſchreiben, was jetzt im Palaſte vorgefallen iſt. Und wenn ihr klug ſeyd, ſo werdet ihr mit nichten den Mann verfolgen, der ſich nur der Feinde ſeines Hauſes erwehrt hat. Thut ihr es, ſo komme das Unheil über euch, das ihr euch ſelbſt herbeiziehet.

Halitherſes trat unter das Volk zurück, und unter der Verſammlung entſtand Getümmel und Zwieſpalt. Die eine Hälfte erhob ſich zornig und ſtürmiſch, die andere beharrte bei der Berathung. Die aufgeregte Hälfte hielt es mit den Vorſchlägen des Eupithes; dieſer Theil der Bürger warf ſich in die Rüſtungen, kam auf dem Blach¬ felde vor der Stadt zuſammen, und nun ſtellte ſich Eu¬ pithes an die Spitze der Heerſchaar und machte ſich mit ihr auf, den Tod ſeines Sohnes und der andern Freier zu rächen.

Sobald Pallas Athene vom Olymp herab den Aus¬ zug dieſes Haufens gewahr wurde, trat ſie vor ihren Vater Jupiter und ſprach: Herr der Götter, eröffne286 mir, mit welchem Rathe deine Weisheit ſich trägt. Willſt du die ruhigen Einwohner Ithaka's durch Krieg und Zwietracht züchtigen, oder gedenkſt du den Streit beider Parteien im Frieden beizulegen? Was willſt du ſchon Beſchloſſenes erforſchen, Tochter! antwortete Jupiter, haſt du nicht ſelbſt mit meinem Willen den Beſchluß gefaßt und vollzogen, daß Odyſſeus endlich als ein Rächer in ſeine Heimath zurückkehre? Nachdem dir dieß gewährt worden iſt, ſo thue auch ferner, was dir gefällt; willſt du aber mein Gutdünken wiſſen, ſo iſt es dieſes: nachdem Odyſſeus die Freier geſtraft hat, werde ein heiliger Bund beſchworen, und er ſey und bleibe ihr König für immer. Uns aber laß dafür ſorgen, daß aus dem Geiſt aller Betheiligten die Ermordung ihrer Söhne und ihrer Brüder vertilgt werde; gegenſeitige Liebe ſoll unter Allen herrſchen wie zuvor; Einigkeit und Wohlſtand ſollen unerſchüttert bleiben.

Jupiters Entſcheidung war der Göttin hochwillkom¬ men. Sie verließ das Felſenhaupt des Olymp, durch¬ flog die Luft, und ließ ſich auf der Inſel Ithaka nieder.

Der Sieg des Odyſſeus.

Auf dem Landgute des Laertes war das Mahl vor¬ über. Sie ſaßen noch um den Tiſch gelagert, als der Held nachdenklich zu ſeinen Freunden ſprach: Mir däucht, unſere Gegner werden in der Stadt auch nicht gefeiert haben, und es dürfte nicht überflüſſig ſeyn, wenn einer aus dem Hauſe ſich aufmachte, die Straße auszukundſchaften. Auf der Stelle ſtand einer von287 den Söhnen des Dolius auf und ging, ſeinem Worte gehorſam, über die Schwelle des Hauſes. Er brauchte ſich nicht weiter von der Wohnung zu entfernen, denn er ſah einen gewaltigen Heerhaufen im vollem Anmarſche begriffen. Erſchrocken kehrte er zu den verſammelten Freun¬ den in den Saal des Hauſes zurück und rief: Sie kommen, Odyſſeus, ſie kommen, ſie ſind ganz in der Nähe! Werft euch eilig in die Rüſtungen. Da fuh¬ ren die Tafelnden vom Tiſche auf, und hüllten ſich augenblicklich in ihre Waffen. Es waren Odyſſeus, ſein Sohn und die Hirten zu vieren, und ſechs Söhne des Dolius, endlich, ſo grauköpfig ſie waren, Dolius und Laertes ſelbſt. Auch ſie hatten ſich gerüſtet und gegürtet. Odyſſeus ſtellte ſich an die Spitze, und der kleine Trupp trat aus der Pforte des Hauſes hervor.

Kaum waren ſie im Freien, als ſich in Mentors Geſtalt der gewaltigſte Bundesgenoſſe zu ihnen geſellte, die erhabene Göttin Pallas Athene. Dieſer Anblick er¬ füllte den Helden Odyſſeus, der ſie auf der Stelle er¬ kannte, mit der freudigſten Hoffnung. Telemach, ſprach er zu ſeinem Sohn, erfülle jetzt die Erwartungen, die dein Vater von dir hegt. Zeige dich in der Schlacht da, wo die tapferſten Männer fechten, und mache dei¬ nem Stamm Ehre, der ſich von jeher durch Tapferkeit und Muth unter allen Sterblichen ausgezeichnet hat. Kannſt du nach der Schlacht mit den Freiern an mei¬ ner Kampfluſt noch zweifeln, Vater? erwiederte Tele¬ mach. Du wirſt ſehen, daß ich deinen Stamm nicht ſchände! Solcher Worte freute ſich Laertes, der Vater und Großvater. Welch ein Tag iſt dieß, ihr Götter, rief er, wie frohlockt mein Herz! Einen Wettkampf288 der Tapferkeit beginnen ihrer drei: Vater, Sohn und Enkel! Da nahte Pallas Athene dem Greis, und flü¬ ſterte ihm ins Ohr: Sohn des Akriſius, mir lieb vor allen deinen Streitgenoſſen, richte dein Gebet an Jupi¬ ter und Jupiters Tochter: dann wage einen kühnen Lan¬ zenſchwung. So ſprach Athene und erfüllte die Bruſt des Alten mit Muth. Er flehte zu Zeus und Athene, und ſandte die Lanze ab. Der Wurf des Laertes fehlte nicht: er traf das Helmviſir des feindlichen Anführers Eupithes, und dieſes vermochte den kräftig geſchwunge¬ nen Speer nicht zu hemmen, er durchbohrte die Wange des Feindes, und der Vater des Antinous raſſelte mit ſeinen Waffen getödtet in den Staub. Odyſſeus aber, und Telemach und alle ihre Genoſſen wütheten im Vor¬ derkampfe mit Schwert und Lanze, und ſie hätten alle Feinde vertilgt, und keiner hätte die Heimath wiederge¬ ſchaut, wenn nicht plötzlich Pallas Athene ihre Götter¬ ſtimme hätte ertönen laſſen, und ihr lauter Zuruf alle Streiter mitten im Kampfe gehemmt hätte. Laßt ab, ihr Ithaker, laßt ab, rief ſie, vom unſeligen Kriege; ſchonet Menſchenblut und trennet euch!

Entſetzen ergriff die Herangekommenen bei dieſem Donnerlaute, die Waffen fielen den Erſchrockenenen aus der Hand und rollten auf die Erde, wie vom Sturm¬ wind umgewendet drehten ſich die Feinde und flohen der Stadt zu, nur darauf bedacht, ihr Leben zu retten. Odyſſeus und die Seinigen aber waren beim Rufe der Bundesgenoſſin nicht erſchrocken: hoch ſchwangen ſie Lan¬ zen und Schwerter, und Odyſſeus flog an der Spitze der Verfolgenden, fürchterlich ſchreiend vorwärts, wie ein Adler, der einem Raube zuſtürzt. Vor ihnen allen289 her aber zog wie im Gewitterflug Athene, noch immer in Mentors Geſtalt.

Doch Jupiters Befehl ſollte erfüllt, und der Friede nicht länger geſtört werden, ſein Blitz ſchlug vor der Göttin in den Boden, und die Unſterbliche ſelbſt bebte vor dem Strahle zurück. Sohn des Laertes, ſprach ſie, zu Odyſſeus rückwärts gewendet, jetzt laß ab vom Kampfe, bezähme dein Herz, du möchteſt dem allmäch¬ tigen Donnerer mißfallen! Mit williger Seele ge¬ horchten Odyſſeus und ſeine Schaar, und Athene zog mit ihnen Allen in die Stadt zurück, und auf den Marktplatz von Ithaka. Herolde wurden ausge¬ ſendet und alles Volk zur Verſammlung entboten. Und nun erfüllte ſich Jupiters Verſprechen; aus allen Herzen war der Groll gewichen. An Geſtalt und Stimme Mentorn ähnlich, erneuerte Pallas Athene ſelbſt zwiſchen Odyſſeus und den Häuptern der Stadt und Gegend den Bund des ewigen Landfriedens, und dieſe huldigten mit dem geſammten Volke dem Helden als ihrem König und Schutzherrn. Jubelnde Schaaren begleiteten ihn nach dem Palaſte zurück, aus welchem ihm Penelope, zu wel¬ cher der Ruf des Sieges und des Friedens gedrungen war, mit allen ihren Dienerinnen, bekränzt und feſtlich ge¬ ſchmückt, entgegen trat. Lange glückliche Jahre verlebte das wieder vereinigte Gattenpaar. Erſt in ſpäter Zeit erfüllte ſich an Odyſſeus, was ihm einſt Tireſias in der Unterwelt von ſeinen letzten Schickſalen geweiſſagt hatte.

Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 19
[290][291]

Viertes Buch.

Aeneas. Erſter Theil.

Aeneas verläßt die trojaniſche Küſte. Den Flüchtlingen wird Italien verſprochen. Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien. Aeneas an der Küſte Italiens. Sicilien und der Cyklopenſtrand. Tod des Anchiſes. Aeneas nach Karthago verſchlagen. Venus von Jupiter mit Rom getröſtet. Sie erſcheint ihrem Sohn. Aeneas in Karthago. Dido und Aeneas. Dido's Liebe bethört den Aeneas. Aeneas verläßt auf Jupiters Befehl Karthago.

19 *[292][293]

Aeneas verläßt die trojaniſche Küſte.

Seinen Vater Anchiſes auf den Schultern, ſeinen Sohn Askanius an der Hand, geſchützt von ſeiner Mutter Venus, war der trojaniſche Held Aeneas dem Brande ſeiner eroberten Vaterſtadt entronnen*)S. Bd. II. S. 421 422., und am Fuße des Idagebirges, wo dieſes in das Meer ausläuft, in der kleinen Hafenſtadt Antandros angekommen. Hier ſammelten ſich um ihn befreundete Flüchtlinge in großer Anzahl, Männer, Frauen und Kinder, lauter un¬ glückliche, des Vaterlands verluſtige Menſchen, und alle bereit, unter ſeiner Anführung eine neue Heimath auf¬ zuſuchen. Noch ungewiß, wohin ſie das Geſchick führen, wo es ihnen Ruhe vergönnen würde, fingen ſie mit Hülfe der geretteten und zuſammengeſchoſſenen Habe ſich eine Flotte zu zimmern an, die mit dem erſten Beginne des Frühlings fertig war, unter Segel zu gehen. Der älteſte Trojaner, der ſich in ihrer Mitte befand, der greiſe Held Anchiſes ſelbſt gab das Zeichen zum Aufbruch, und ſagte zuerſt dem unterjochten Geburtsland ein ewiges Lebewohl. Weinen und Wehklagen ertönte von den Schiffen, als ſie ſich von der Heimathküſte loßrißen, und bald war dieſe aus den Blicken der Flüchtlinge ver¬ ſchwunden.

Nach einer ununterbrochenen Fahrt von mehreren Tagen landete die Flotte an dem Geſtade Thraciens, das vor Zeiten der wilde Verächter des Bacchus, der König Lykurgus beherrſcht ha te, deſſen jetzige Bewohner294 aber, ſo lange der Staat der Trojaner noch beſtand, durch gleichen Götterdienſt und Gaſtfreundſchaft mit die¬ ſen aufs genaueſte verbunden waren. Doch hatte dieß Verhältniß eine grauſame Störung erlitten, denn als das Glück von Troja zu wanken begann, und Ajax der Te¬ lamonier vom Schiffslager der Griechen aus einen Streif¬ zug zur See gegen die mit Priamus verbündeten Thra¬ cier unternommen hatte, lieferte Polymneſtor, der treu¬ loſe König des Landes, den jungen Sohn des trojani¬ ſchen Königs, Polydorus, den Griechen aus und erkaufte ſich mit dieſer Gabe den Frieden. Der Jüngling aber wurde von den Belagerern unter den Mauern Troja's und vor den Augen des Vaters geſteinigt. *)S. Bd. II. S. 75 84.

Doch Aeneas wußte nicht, an welchem Ufer er mit ſeinen Schiffen vor Anker gegangen war. Voll Freude, eine wirthliche Küſte erreicht zu haben, betrat er mit ſeinen Freun¬ den das Land, und ohne von den Eingebornen gehindert zu werden, ſchritten ſie zu einer Niederlaſſung, und leg¬ ten den Grund zu einer neuen Stadt, in deren ruhi¬ gem Beſitze ſie ſich von den Schlägen des Schickſals zu erholen gedachten, und welcher Aeneas, als das Haupt der Auswanderer, ſeinem eigenen Namen nach den Na¬ men Aenos beilegte. Der Bau war ſchon im Werden, und der fromme Held wollte für ſein Werk den Schutz der Unſterblichen erflehen, und brachte Jupiter dem Göt¬ tervater und ſeiner eigenen Mutter Venus einen untad¬ lichen Stier am Geſtade zum Opfer. In der Nähe be¬ fand ſich ein luſtiger Hügel, auf welchem Kornellen und Myrthen in üppigem Wuchſe wucherten. Nach dieſem295 Wäldchen hatte ſich Aeneas begeben, um die friſch er¬ richteten Raſenaltäre mit Laub und Zweigen zu bedecken. Da erfuhr er ein Grauſen erregendes Wunder. Sobald er einen Strauch aus den Wurzeln reißen wollte, quollen aus dieſen ſchwarze Blutstropfen und floßen auf den grünen Waldboden, daß dem Helden ſelbſt in den Adern das Blut erſtarrte. Angſtvoll warf ſich Aeneas auf die Erde und flehte zu den Nymphen des Waldes, und zu Bacchus, dem Schutzgotte der thraciſchen Fluren, die Schrecken ab¬ zuwenden, mit welchen dieſes Wunderzeichen ihm drohte. Dann ergriff er mit erneuter Kraft ein drittes Bäum¬ chen, und mit dem Knie auf dem Boden geſtemmt, ver¬ ſuchte er, es zu entwurzeln. Da ließ ſich ein klägliches Stöhnen aus dem Boden vernehmen, und endlich kam ihm eine Stimme zu Ohren, welche in verlorenen Tönen ſprach: Was quäleſt du mich, unglücklicher Aeneas? meine Seele wohnt in dieſem Boden, in den Wurzeln und Aeſten dieſes Waldes, in welchem ich als Kind einſt ahnungs¬ los ſpielte. Ich bin dein Namensgenoſſe, dein Verwandter, Aeneas, bin Polydorus, der Sohn des Priamus, der einſt von ſeinem Pflegevater an die Griechen verrathen und vor deinen Augen unter Troja's Mauern zerſchmet¬ tert ward. Mein Gebein iſt von mitleidigen Thraciern geſammelt und hier im Vaterlande beſtattet worden. Verletze meine Freiſtätte nicht, du ſelbſt aber fliehe dieſes Ufer, das dir und allen Trojanern mit Unheil droht, denn noch herrſcht das Geſchlecht des Verräthers in dieſem Lande.

Als Aeneas ſich vom erſten Schrecken erholt hatte, kehrte er zu den Seinigen zurück und meldete das Ge¬ ſicht zuerſt ſeinem Vater, und dann den andern Häuptlingen296 des ausgezogenen Volkes. Alle vereinigten ſich, mit ihm die verruchte Stätte des entweihten Gaſtrechts zu ver¬ laſſen. Die begonnenen Arbeiten wurden eingeſtellt, und nachdem ſie dem unglücklichen Polydorus ein Todtenfeſt gefeiert, ſchoben die Trojaner ihre Schiffe wieder vom Strande, beſtiegen ſie und verließen mit ihnen den Ha¬ fen. Günſtiger Wind führte ſie bald weit in die offene See hinaus, und nach glücklicher Fahrt erſchien ihnen mitten im Meer, unter vielen andern Inſeln, ein wunder¬ liebliches kleines Eiland, das ſich lachend aus den Fluten emporhob. Seine Name war Delos, es war einſt eine ſchwimmende Inſel geweſen, und Apollo war auf ihr geboren und hatte ſich ihrer, als ſie wie unentſchloſſen um andere Inſeln und Küſtenländer herumirrte, mitleidig angenommen, und ſie in der Mitte der Cykladeninſeln in dem Meeresgrunde befeſtigt, daß ſie hinfort den Stür¬ men trotzen und glückliche Bewohner nähren konnte. Die Menſchen, die ſich dort anſiedelten, hatten dankbar ihre Stadt dem Apollo geweiht, und waren gaſtliche, gute Leute. Dorthin ſteuerte Aeneas mit ſeiner Flotte, und ein ſicherer Hafen nahm die müden Seefahrer auf. Sie landeten und betraten die Stadt, die dem Fernhintreffer Phöbus Apollo gewidmet war, mit tiefer Ehrfurcht. Ihr König Anius, der zugleich Prieſter des Phöbus war, wandelte, mit der heiligen Binde um die Schläfe, und dem Lorbeer in der Hand, den Ankömmlingen ent¬ gegen, und erkannte in dem greiſen Anchiſes einen alten Gaſtfreund. Unter Gruß und Handſchlag wurden Ae¬ neas und ſeine Genoſſen in die Mauern aufgenommen, und wallfahrteten vor allem andern in den alterhümlichen Tempel des Schutzgottes der Inſel. Aeneas warf ſich297 in tiefer Ehrfurcht vor dem Haus Apollo's nieder, und betete mit aufgehobenen Händen: Gib uns, du großer Beſchützer des trojaniſchen Volkes, ein eigenes Haus, gönn 'uns eine bleibende Stadt; laß das Geſchlecht dei¬ ner Schützlinge nicht ausſterben, hilf ihnen ein zweites Troja gründen! Sprich, wer ſoll unſer Führer ſeyn? wohin ſchickſt du uns? Gib uns ein Zeichen, großer Gott, offenbare dich unſern Seelen!

Kaum hatte der Held ſolches geſprochen, als die Schwelle des Gottes, der Lorbeerhain, der den Tempel umgab, und das ganze Gebirge ringsumher ſichtlich und fühlbar erbebte, und aus den offenen Hallen des Tem¬ pels ertönte vom Dreifuße das Orakel heraus: Aus¬ dauerndes Volk der Dardaner, ihr kehret in den Schooß eines Landes zurück, das ſchon den Stamm eurer Ahn¬ herren getragen hat. Eure alte Mutter ſuchet ihr auf: von dort aus wird das Haus des Aeneas in ſeinen ſpä¬ teſten Enkeln alle Länder der Erde beherrſchen.

Bei der Stimme des Gottes hatten ſich alle demü¬ thig zur Erde niedergeworfen. Als ſie den günſtigen Ausſpruch vernommen hatten, ſprangen ſie freudig wieder auf; ein jubelndes Getümmel entſtand, und ſie befragten ſich untereinander, von welchem Lande wohl Apollo ſpreche, und wo den Irrenden eine neue Heimath winke.

Als ſie ſo untereinander berathſchlagten, erhob der ehrwürdige Held Anchiſes, der Vater des Aeneas, der in die Kunden der Vorwelt eingeweiht war, ſeine Stimme: Laßt mich euch, ihr Häupter des Volkes, ſprach er, eure Hoffnungen deuten. Mitten im inſelreich¬ ſten Meere liegt eine Inſel, aus welcher Jupiter, der Göttervater ſelbſt abſtammt. Sie heißt Kreta und iſt298 auch die Wiege unſeres Volksſtammes. Und wie Troja's Hauptgebirg, heißt auch die waldige Bergkette, die ſich durch dieſes Inſelland zieht, das Idagebirg. Zu ſeinen Füßen dehnen ſich die fruchtbarſten Fluren, und mit hundert Städten iſt das Land geſchmückt. Dorther ſoll unſer Stammvater Teucer ins troiſche Land gekommen ſeyn, dorther all unſer Götterdienſt ſtammen, und gewiß, dorthin führt uns auch jetzt Apollo's Befehl, laſſet uns ihm folgen! Die Reiſe dorthin iſt nicht allzuweit, ſchickt uns Jupiter Fahrwind, ſo befindet ſich unſere Flotte am drit¬ ten Morgen im Angeſichte der Inſel Kreta.

Den Flüchtlingen wird Italien verſprochen.

Ueber dieſe Deutung waren die Auswanderer hoch erfreut. Ehe ſie wieder zu Schiffe gingen, ſchlachteten ſie dem Meeresgotte Neptunus (Poſeidon) und dem Apollo, der ſie mit ſeinem Orakel getröſtet hatte, jedem einen Stier, und den mächtigſten Winden Lämmer, dem wilden Sturm ein ſchwarzes, dem ſanften Zephyr ein weißes. Dann verließen ſie den Hafen von Delos, und ihre Schiffe durchflogen mit dem günſtigſten Fahr¬ winde die Wellen; es war das Inſelmeer der Cykladen, das Gewäſſer ſchien ganz von Eilanden zu wimmeln, die da und dort mit ihren ſchneeweißen Marmorfelſen aus den Fluten ſtiegen. Der heiterſte Himmel begünſtigte die Fahrt; in die Wette ſteuerten die Fahrzeuge dahin, und von allen Seiten ertönte fröhliches Geſchrei der Schif¬ fenden: Auf, ihr Freunde, Kreta geſucht, das theure Heimathland unſerer Väter aufgefunden!

299

Am dritten Morgen hatte die Flotte wirklich, wie es von Anchiſes vorausgeſagt worden war, den lachen¬ den Strand der Inſel Kreta erreicht, und als die Flücht¬ linge ausgeſchifft waren, und ſich von den Einwohnern wohl aufgenommen ſahen, fing Aeneas abermals mit großer Begierde die erſehnten Mauern einer Pflanzſtadt zu gründen an. Die Flotte war ans Ufer gezogen, und unter den fleißigen Händen der Pflanzer ſtiegen bald Mauern und Häuſer empor, und ſie fingen an ſich wohnlich einzurichten. Nach Pergamus, der Burg von Troja, gab Aeneas der neuen Stadt den Namen Per¬ gamus, und auch ſie erhielt ihre geſonderte Burg auf einem Hügel. Schon beſchäftigte ſich die Pflanzung mit den erſten bürgerlichen Einrichtungen; unter dem jungen Volke der Auswanderer wurden Ehen geſchloſſen, Aecker wurden vertheilt, und die Häupter des Volks traten zu¬ ſammen und beriethen ſich über die Geſetze des erneuten Volkes: da bedrohte ein neues Unglück die armen Flücht¬ linge mit gänzlichem Verderben. Ein glutheißer Sommer brannte ringsum die Felder aus, ohne Nahrung erkrankte die Saat, Gras und Kräuter verdorrten, auf den Bäu¬ men verwelkten die Blüthen ohne Früchte; ein ſchreck¬ liches Sterben riß unter den Menſchen ſelbſt ein, und was der Tod verſchonte, das ſchleppte ſieche Leiber her¬ um. Auf einer Verſammlung, in welcher der zuſammen¬ ſchmelzende Haufen über ſeine troſtloſe Lage berathſchlagte, ſtand Anchiſes mit bekümmertem Herzen auf und rieth ſeinen Unglücksgefährten, die Schiffe wieder zu beſteigen, rückwärts nach dem Cykladenmeere zu ſteuern, und wieder auf der Inſel Delos das Orakel dieſes Gottes um gnä¬ digen Aufſchluß anzuflehen, wohin ſie die Schifffahrt300 ferner zu richten hätten, und welches Ziel ihrer Noth beſtimmt ſey. Dieſem Rathe trat das geſammte Volk bei, und ſie beſchloßen, alles bewegliche Eigenthum auf die Schiffe zurückzubringen, ſobald dieſes geſchehen ſey, die Anker zu lichten, und die faſt vollendete Stadt zu verlaſſen.

Als alle Vorbereitungen getroffen waren, und unter fortdauerndem Elende die letzte Nacht herankam, welche ſie unter Kreta's unglücklichem Himmel zuzubringen ge¬ dachten, lag Aeneas, müde von Sorgen, und doch ſchlaf¬ los, auf ſeinem Bette, und ſein Geiſt brütete in der ſtil¬ len Finſterniß. Jetzt ſtellte ſich ein plötzliches Geſicht ſeinen Augen dar. Der Vollmond brach eben aus den Wolken und erhellte mit ſeinen Strahlen die Räume ſei¬ nes Schlafgemachs. Da ſchienen in voller Beleuchtung hart vor dem Liegenden die heiligen Hausgötter der Troja¬ ner, die er aus dem wüthenden Feuer ſeiner Vaterſtadt gerettet hatte, zu ſtehen. Ihr Mund that ſich auf, ihre nie vernommene Stimme ſprach zu ihm, und was ſie redeten, waren Worte des Troſtes: Apollo ſelbſt, ſo lautete ihre Rede, ſchickt uns in deine Behauſung. Du ſollſt uns vertrauen: wir, die wir aus dem Brande Troja's dir folgten, und auf deiner Flotte mit dir durch die ſtürmiſche Meeresfluth gefahren ſind, wir werden deinem Geſchlecht einen Wohnſitz finden, den Ruhm dei¬ ner Enkel verherrlichen, und ihrer Stadt die Herrſchaft der Welt verleihen. Du ſelbſt biſt dazu erkoren, deinen großen Nachkommen dieſen Sitz vorzubereiten, und darfſt deßwegen die langen Beſchwerden der Flucht nicht ſcheuen. Freilich, den Ort, wo du dich jetzt angeſiedelt, mußt du verlaſſen, nicht dieſes Ufer hat der deliſche Apollo301 gemeint, nicht auf Kreta ſollteſt du dich anbauen; nein, weit von hier liegt das Land, auf welches dich der Göt¬ terſpruch hinweißt, die Griechen nennen es Heſperien: es iſt ein uraltes Land, mächtig durch die Waffen ſeiner Bewohner, reich durch den Segen ſeines Bodens. Seine erſten Bewohner hießen Önotrier, von den jüngern ſoll es jetzt Italien genannt werden, und das Volk Italer¬ volk, nach dem Namen eines einheimiſchen Königes Italus. Dieß iſt der Sitz, der euch von euren Ahnen her gehört, dorther ſtammen eure Väter Dardanus und Jaſius, die älteſten Begründer eueres Geſchlechts. Wohlan, mach 'dich auf, melde deinem betagten Vater fröhlich dieſes unzweifelhafte Wort, Italien ſoll er aufſuchen: die Gefilde Kreta's verweigert euch Jupiter.

Ein kalter Angſtſchweiß hatte den Helden überlau¬ fen, ſo lange die Götter vor ihm ſtanden und ſprachen; doch als ſie verſchwunden waren, fühlte er ſich von ih¬ ren Worten wunderbar getröſtet, raffte ſich vom Lager auf, ſtreckte die flachen Hände betend, wie die Alten pflegten, gen Himmel empor, und brachte auf ſeinem Hausheerde den heimiſchen Göttern ein Trankopfer dar. Nachdem dieſes fröhlich vollbracht war, eilte Aeneas zu ſeinem alten Vater, und meldete ihm ausführlich das Nachtgeſicht. Dieſem gingen die Augen des Geiſtes auf: er erkannte den doppelten Urſprung der Trojaner, den einen von Dardanus, den andern von Teucer, und ſah nun wohl ein, daß er in der Verwechslung der beiden alten Stammländer ſich getäuſcht habe. Lieber Sohn, ſprach er, jetzt erſt erinnere ich mich, daß die Seherin Kaſſandra allein es war, welche mir das Geſchick der Zukunft richtig geweiſſagt hat. Sie verkündigte unſerem302 Geſchlecht ein Land, welches ſie bald Hesperien, bald Italien benannte. Das geſchah aber, als Troja noch lange ſtand, und wer dachte damals im Ernſte daran, daß jemals teukriſche Männer ihre Heimath verlaſſen, und nach den fernen Küſten Hesperiens auswandern würden? ja, wer achtete damals überhaupt nur auf die Reden Kaſſandra's, die für eine Närrin und keine Sehe¬ rin galt! Jetzt aber laßt uns dem Wort Apollo's nach¬ geben, und auf ſeine Warnung dem beſſeren Winke folgen.

So ſprach Anchiſes. Inzwiſchen hatte ſich das Volk zur beſchloſſenen Abfahrt nach Delos verſammelt; als es nun die neue Weiſung der Götter vernommen, brach es in einen lauten Jubel aus. Alles rüſtete ſich; nur we¬ nige Kranke und Geneſende blieben in der neugegründe¬ ten Pflanzſtadt zurück. Durch ſie wurde die neue Anſie¬ delung der Trojaner erhalten; glücklichere Zeiten kamen, die kleinen Ueberbleibſel vermehrten ſich, und in ſpäten Tagen blühte auf der Inſel Kreta noch Pergamus die Troerſtadt.

Die Andern aber richteten die Segel, und bald ſteuerte die Flotte wieder auf der hohen See.

Sturm und Irrfahrten. Die Harpyien.

Als kein Land mehr ſichtbar, und rings herum nur Himmel und Gewäſſer war, ſammelte ſich über den Häuptern der Schiffenden ein graues Gewölk, das Nacht und Sturm herbeiführte, und die Woge fing in ſchwar¬ zer Finſterniß zu ſchauern an. Sofort brachten Orkane303 das Meer in Aufruhr, Berge von Fluthen ſtiegen auf, die Flotte ward auseinander geworfen, und die Schiffe trieben zerſtreut über den ſtrudelnden Abgrund hin. Die ſchwarzen Wetterwolken raubten das Tageslicht und hüll¬ ten Alles in eine dichte Regennacht, welche nur Blitz auf Blitz aus den zerriſſenen Wolken erhellte. Dieſes fürchterliche Ungewitter dauerte drei Tage und drei ſtern¬ loſe Nächte, und während dieſer Zeit wußte ſelbſt der erfahrene Steuermann der Flotte, Palinurus, nicht mehr, wo ſich in dem blinden Dunkel die Schiffenden befanden, und welcher Himmelsgegend die umhergeworfenen Fahr¬ zeuge zugetrieben wurden. Endlich am vierten Tage legte ſich der Sturm allmählig, ein fernes Gebirg zeigte ſich am Horizont. Dieſer Anblick gab den Verzweifelnden den geſchwundenen Muth wieder: als ſie dem Lande näher gekommen waren, zogen ſie die Segel ein, warfen ſich über die Ruder, und wühlten mit aller Anſtrengung in dem noch immer empörten Meeresſchaum.

Das Land, welches die Verirrten aufnahm, gehörte einer der beiden Strophadeninſeln an, die ſich im großen ioniſchen Meere befinden, der Pelopsinſel gegenüber. Es war ein unwirthliches, durch ſchauerliche Bewohner ver¬ rufenes Land. Die Harpyien, die gefräßigen Ungeheuer, ſeitdem ſie die Wohnung des Königes Phineus verlaſſen hatten, und von ſeinem unglücklichen Tiſche verſcheucht worden waren, hatten an dieſem Geſtade den häßlichen Sitz aufgeſchlagen. Dieſe grauſenhaften Scheuſale waren, wie bekannt, ein Vogelgezücht mit Jungfrauengeſichtern, die aber, beſtändig vom Hunger gebleicht, entſetzlich an¬ zuſchauen waren. An den Händen hatten ſie Krallen, mit welchen ſie alle Speiſe ergriffen, deren ſie ſich304 bemächtigen konnten, und mit dem ekelhaften Abfluß ihres Leibes beſudelten ſie jeden Ort, an dem ſie erſchienen.

Von dieſen Bewohnerinnen des ihnen gänzlich un¬ bekannten Ufers hatten Aeneas und ſeine Fluchtgenoſſen keine Ahnung. Sie liefen in den Hafen ein, der vor ihnen lag, und waren ganz fröhlich, als ſie ſich wieder auf feſtem Lande befanden. Der erſte Anblick des Ge¬ ſtades zeigte ihnen auch nichts Unheimliches: Heerden von Rindern und Ziegen gingen luſtig auf der Weide, ohne alle Hüter. Der ausgeſtandene Hunger hieß die Gelandeten nicht lange zögern: ſie fuhren mit dem Schwert unter das Vieh, brachten Jupiter und den Göttern ein Schlachtopfer dar, und ſetzten ſich ſelbſt zum leckeren Schmaus am Ufer in die Runde. Sie erfreuten ſich aber des Mahles noch nicht lange, als ſie plötzlich von den nahen Hügeln her einen lauten Flügelſchlag wie von vielen Vögeln vernahmen. Als wären ſie vom Sturm¬ winde herbeigeführt, erſchienen plötzlich die Harpyien, fielen über die Speiſen her, zerrten daran herum, und beſudelten Alles mit ihrer abſcheulichen Berührung. Allent¬ halben ertönte ihre gräßliche Stimme und verbreitete ſich ihr ſcheußlicher Peſthauch. Die Tafelnden flüchteten ſich mit ihrer Opfermahlzeit an eine abgelegene Stelle, unter einen hohlen Felſen, der rings von ſchattigen Bäu¬ men eingeſchloſſen war. Hier zündeten ſie Feuer auf neuen Raſenaltären an, und ſtellten auch ihr Mahl wie¬ der auf. Aber aus den heimlichſten Winkeln, und von ganz anderer Himmelsgegend her kam wieder derſelbe ſauſende Schwarm, machte ſich mit ſeinen Krallenfüßen an die Beute, und befleckte das Mahl auf alle Weiſe. Aeneas und die Seinigen griffen endlich zu dem letzten305 Mittel, ſie verbargen ihre Schwerter und Schilde rings¬ umher im Gras, und als die häßlichen Vögel ſich wie¬ der im Schwarme herniederſenkten und die krummen Ufer umflatterten, brachen ſeine Genoſſen auf das Zeichen eines ihrer Freunde, der vom Felſen herab ſeine Beobachtungen anſtellte, los und verſuchten es, die Unthiere mit ihren Schwertern zu erlegen. Aber keine Gewalt vermochte das Gefieder zu durchdringen, keine Wunde ſaß auf ihren Rücken feſt: eilige Flucht entzog ſie den Streichen, ſie ließen ihre Beute angefreſſen zurück, und überall Spuren voll Unflaths. Nur eine von den Harpyien, Celäno mit Namen, ſetzte ſich auf den höchſten Felſen, und brach in die prophetiſchen Fluchworte aus: Iſt es nicht genug, uns Rinder und Ziegen gemordet zu haben, ihr trojaniſchen Fremdlinge? müßt ihr uns unſchuldigen Harpyien auch noch aus dem Heimathlande vertreiben? Nun ſo höret die Prophezeihung, die mir Phöbus an¬ vertraut hat, und die ich euch als Rachegöttin verkündige. Ihr fahret nach Italien, ihr werdet es auch erreichen, ſein Hafen wird euch aufnehmen: aber nicht eher um¬ gebet ihr die euch verheißene Stadt mit Mauern, als bis euch ein gräßlicher Hunger, die Strafe für das Unrecht, das ihr an uns beginget, zwingen wird, von euren eigenen Tiſchen zu nagen, und dieſelben aufzu¬ zehren. So ſprach ſie, ſchwang die Fittige, und floh in die Waldung zurück. Den Trojanern erſtarrte das Blut in den Adern vor Schrecken; ſie wußten nicht, hatten ſie es mit fluchwürdigen Vögeln, oder mit mäch¬ tigen Göttinnen zu thun. Endlich hob der Vater Anchi¬ ſes ſeine Hände flehend gen Himmel und betete zu den Göttern um Abwendung alles Unheils. Dann rieth erSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 20306ſeinem Sohn und den Genoſſen der Flucht, ſich in aller Eile wieder einzuſchiffen.

Aeneas an der Küſte Italiens. Sicilien und der Cyklopenſtrand. Tod des Anchiſes.

Nach langen Irrfahrten und mancherlei Abentheuern erſchien endlich eine niedrige Küſte mit dämmernden Hü¬ geln aus der Ferne. Italien, rief zuerſt der Held Achates, der das Land vor den Andern erblickt hatte. Italien! riefen einfallend unter Freudengeſchrei die ju¬ belnden Genoſſen. Der Greis Anchiſes bekränzte einen geräumigen Becher und füllte ihn bis zum Rande mit Wein. Auf dem Hinterverdecke ſtehend, flehte er die Meeresgötter um günſtigen Wind und leichte Fahrt an. Auch wehte wirklich die erbetene Luft kräftiger, immer näher flogen ſie einem ſich vor ihren Augen erſchließen¬ den Hafen, und von einem Hügel des Landes winkte ihnen ein ſchöner Minerventempel. Vertrauensvoll roll¬ ten ſie die Segel zuſammen, und drängten die Schiffe nach dem Strande. Der Hafen bildete, von der öſtlichen Brandung des Meeres ausgehöhlt, einen Bogen, an vorgelagerten Klippen ſpritzte die Meerfluth ſchäumend auf, eine Mauer gethürmter Felſen ſenkte rechts und links ihre Arme ins Meer herab, und der Tempel, in der Mitte der Bucht gelegen, trat in den Hintergrund. Hier erblickten ſie am Geſtade als erſtes Vorzeichen vier ſchnee¬ weiße Roſſe, die hier und dort im tiefen Graſe weideten. Roſſe bedeuten Krieg, rief Anchiſes aus, mit Kriege droht uns dieſes Land, ſo gaſtlich es ausſieht. Laßt uns307 Minerva, die auf uns herniederblickt, anbeten, und eilig mit unſern Schiffen umkehren!

Sie thaten nach dem Rathe des Alten, und flogen zurück in das Meer. Nun ſchifften ſie an mancherlei Küſtenländern vorüber, immer dem Süden zu, vorbei am Meerbuſen von Tarent, an der Stadt Kroton mit ihrem Junostempel, an dem klippenvollen Skylation. Schon tauchte aus der fernen Fluth Sicilien mit ſeinem Aetna, ſchon von Weitem hörten ſie jetzt ein gewaltiges Toſen des Meeres, Brandung um die Felſen, am Geſtade ge¬ brochenen Laut: aus tiefem Abgrunde ſprudelte die Fluth empor, und Sand unter Waſſerſchaum ſtäubte in die Luft. Das iſt die Charybdis, rief der länderkundige Anchiſes, das gräßliche Felſenriff. Werft euch an die Ruder, Gefährten, reißet uns aus der Todesgefahr. Eifrig lenkten Alle mit den Schiffen zur Linken um, Pa¬ linurus mit dem krachenden Schiffſchnabel voran. Bald flogen die Schiffe aus den Wölbungen des Strudels zu den Wolken empor, und wenn die Wogen verrollten, verſanken ſie wie in die Unterwelt, und dieß geſchah zu dreien Malen. Als ſie der Gefahr glücklich entronnen waren, geriethen ſie, aller Bahn unkundig, an den Strand der Cyklopen, wo ein geräumiger Hafen ſie auf¬ nahm. In ihrer Nähe hörten ſie hier den feuerſpeienden Berg Aetna donnern, der bald ſchwarzes Gewölk, Pech¬ qualm und glühende Aſche in die Luft emporwirbelt, bald das Eingeweide des Berges, Steine und geſchmolzene Felſen hinaufſchleudert, und vom unterſten Grunde aus brauſend ſiedet. Der Leib des Giganten Enceladus, vom Blitze Jupiters verſengt, ſoll hier in den Gründen der Erde liegen, und der mächtige Aetna, über denſelben20 *308geworfen, ſende, ſagt man, den Flammenhauch des Rieſen aus ſeinem Schlund empor; ſo oft jener, unter der drückenden Laſt ermattet, ſeine Seite wechſelt, bebt die ganze Inſel von dumpfer Erſchütterung, und ein Rauch hüllt den Himmel in ſeinen Schleier.

Aeneas und ſeine Genoſſen waren bei Nacht an die Inſel verſchlagen worden, und der Berg war ihnen noch dazu von Wäldern verdeckt. Auch umzog den verfinſter¬ ten Himmel ein dickes Gewölk, und hinter ſeinen Schich¬ ten verbargen ſich der Mond und die Sterne. So hörten ſie die ganze Nacht hindurch nur das fürchterliche Toſen, ohne die Urſache deſſelben errathen zu können. Als der Morgenſtern am Himmel ſtand, und Aurora die Schat¬ ten vertrieb, ſahen die Flüchtlinge, die ſich am Strande gelagert, einen fremden ſeltſamen Mann, ganz in Lum¬ pen gehüllt, ein rechtes Jammerbild des Elendes, plötz¬ lich aus den Wäldern hervortreten, und die Hände flehend nach ihnen zu dem Ufer ausſtrecken. Abſcheulicher Schmutz entſtellte ihn, die Fetzen ſeines Gewandes waren mit Dornen zuſammengeheftet, ſein langes verwirrtes Bart¬ haar flog im Winde. Uebrigens erkannte man auch in dieſem jämmerlichen Aufzuge noch den Griechen, der einſt vor Troja gekämpft hatte. Als dieſer in der Ferne tro¬ janiſche Rüſtungen ſah, ſtutzte er einen Augenblick und hemmte ſchüchtern ſeine Schritte. Bald aber rannte er entſchloſſen wieder vorwärts zum Ufer, und flehte wei¬ nend zu den Ankömmlingen hinüber: Bei den Geſtirnen, bei den Göttern, beim Himmelslichte beſchwöre ich euch, Trojaner, nehmet mich fort mit euch, wohin es auch gehen mag! Ich weiß wohl, ich bin einer vom Danaer¬ heer, ich habe eure Stadt befehdet, habe ſie zerſtören309 helfen. Nun, ſeyd ihr unverſöhnlich, ſo reißet mich in Stücke, und verſenkt mich im tiefſten Waſſer: wird mir ſo doch der Troſt zu Theil, von Menſchenhänden zu ſter¬ ben! So ſprach der Unglückliche, umfaßte die Kniee des Helden Aeneas und ſchmiegte ſich feſt an ihn an. Da ermahnten ihn Alle, ſein Geſchlecht, ſeinen Namen, ſein Schickſal zu melden, und der ehrwürdige Greis An¬ chiſes reichte ihm ſelbſt die Hand, und nöthigte ihn, vom Boden aufzuſtehen. Allmählig erholte ſich der Arme von der Furcht. Ich ſtamme, begann er, aus Ithaka, und war ein Genoſſe des erfahrungsreichen Helden Odyſ¬ ſeus. Achemenides iſt mein Name: weil mein Vater Adamaſtus arm war, entſchloß ich mich, mit gegen Troja zu ziehen. Es war mein Unheil; den Gefahren des Krieges glücklich entronnen, wurde ich hier in der ſcheu߬ lichen Höhle des Cyklopen, als Odyſſeus und meine an¬ dern Begleiter, ſo viele der Menſchenfreſſer noch nicht geopfert hatte, die Höhle mit Liſt verließen, krank und elend in einem Winkel der Kluft liegend, vergeſſen. Ich hatte es mit angeſehen, wie das Ungethüm von meinen armen Freunden ein Paar ums andere verſchlang, und mit Hand angelegt, als der einäugige Rieſe von Odyſ¬ ſeus im Rauſche geblendet ward. Ich ſelbſt bin nur durch ein Wunder aus ſeiner Höhle entkommen; aber, umringt vom ungeſchlachten Volke der Cyklopen, brachte ich ſeit vielen Tagen mein Leben in Hunger und Todes¬ angſt hin. Auch ihr, unglückliche Fremde, wenn ihr nicht die Beute dieſes abſcheulichen Rieſenvolkes werden wollet (denn gleich Polyphem irren über hundert in dieſem un¬ wirthlichen Gebirg umher), auch ihr beſteiget eilig die Schiffe wieder, und löſet die Seile vom Strand! Drei310 Monate ſind es, daß ich zwiſchen Höhlen und Wildlagern mein Leben fortſchleppe, mich von der ärmlichen Koſt der Waldbeeren und Wurzeln ernährend, ſtets auf der Lauer vor dem Rieſengeſchlechte, vor deſſen toſenden Tritten und brüllenden Stimmen ich erbebe. Da ſah ich dieſe Flotte dem Ufer nahen; ihr mich zu ergeben, brach ich auf, weſſen ſie auch ſeyn mochte.

Kaum hatte er dieſes geſprochen, als die Trojaner auch ſchon auf der Höhe des Berges den Cyklopen Po¬ lyphem gewahr wurden, den unförmlichen Rieſen mit dem geblendeten Auge, einen behauenen Fichtenſtamm als Stock in der Hand, inmitten ſeiner Schafheerde, ſeines einzigen Troſtes im Unglück, einherſchlendernd. Am Meere angekommen, ging er mitten in die Fluthen hinein, die ihm doch noch nicht einmal bis an die Hüfte gingen. Hier bückte er ſich, und wuſch aus dem ausgeſtochenen Auge das immer noch fließende Blut, ſtöhnend und zähne¬ knirſchend. Bei dieſem gräßlichen Anblicke beſchleunigten die Trojaner ihre Flucht, nahmen den bejammernswür¬ digen Flüchtling, obgleich er ihr Stammfeind war und ihre Stadt hatte zerſtören helfen, mit ſich zu Schiffe, und hieben ſtillſchweigend die Seile ab. Jetzt vernahm der Rieſe den Ruderſchlag und wandte ſeine Schritte, noch immer in der Fluth, dem Schalle des Geräuſches zu. Mit Mühe entging das letzte Schiff ſeinen haſchen¬ den Händen, und als er vergebens in die Luft griff, erhob er ein ſo ungeheures Gebrüll, daß die Klüfte des Aetna wie von einem langen Donner wiederhallten, und das ganze Cyklopengeſchlecht, in den hohen Bergen aus¬ geſtört, zum Geſtade herabgerannt kam. Wie luſtige Eichen311 oder Cypreſſen ragten ihre Häupter gen Himmel, und ſie ſchickten der abſegelnden Flotte drohende Blicke nach.

Um der Scylla und Charybdis zu entgehen, ſegelte dieſe rückwärts, längs dem Geſtade der Inſel hin, von Achemenides berathen, der dieſen Weg früher mit Odyſ¬ ſeus zurückgelegt hatte. Auf dieſer Fahrt traf den Aeneas ein großer Schmerz. Sein greiſer Vater Anchiſes, von den Anſtrengungen, Gefahren und Schrecken der Reiſe ermattet, ſollte Italien, das gelobte Land ſeiner Sehn¬ ſucht, nicht mehr erreichen. Er wurde zuſehends ſchwä¬ cher, ſeine Sinne ſchwanden, ſeine Zunge erlahmte, und ohne nur ein Lebewohl ſagen zu können, gab er in den Armen ſeines Sohnes den Geiſt auf, als ſie eben in den Hafen der ſicilianiſchen Stadt Trepanum eingelaufen waren.

Die trojaniſchen Flüchtlinge veranſtalteten dem ehr¬ würdigen Vater ihres Führers ein feierliches Leichen¬ begängniß. Doch hing Aeneas nicht lange der Trauer nach. Die Verheißung der Götter trieb ihn, das Volk, welches ſich ihn zum Beſchützer erkoren hatte, dem Lande der Ahnen entgegenzuführen, und das verſprochene Reich dort zu gründen.

Aeneas nach Karthago verſchlagen.

Kaum hatte die Flotte Sicilien aus dem Geſichte, und ſegelte fröhlich auf der hohen See dahin, als Juno (Here), die alte Feindin der Trojaner, die vom Olymp auf den Schiffszug herniederblickte, bei ſich ſelber ſprach: Wie, ſollte mein Beginnen auf halbem Wege ſtehen312 bleiben? ſollte Troja nicht ganz zerſtört, ſein Volk und Königsgeſchlecht nicht mit der Wurzel vertilgt ſeyn? Soll dieſer Eidam des Priamus, ſoll ſein Enkel wirklich von Italien Beſitz nehmen? Konnte nicht Pallas die heim¬ kehrende Flotte der Griechen auseinanderſchlagen, und mit Orkanen das Meer durchwühlen, nur um die Schuld Ajax des Lokrers zu rächen: und ich, die Königin der Götter, Jupiters Gemahlin und Schweſter, ſoll dieſes eine Volk Jahre lang vergebens bekämpfen? Solche Gedanken bewegte ſie in ihrem zornigen Herzen, und eilte in das Gebiet der Stürme, nach der Grotte des Aeolus, des Königs der Winde. Auf ihren Befehl und ihre Bitten, mit reizenden Verſprechungen gemiſcht, ließ dieſer ſämmtliche Winde aus ihrem Verſchloſſe los; dieſe ſtürz¬ ten wie Heere zur Feldſchlacht heraus, wirbelten durch die Länder, legten ſich, Oſt und Süd, Weſt und Nord, zugleich auf das Meer, und reizten die Wogen gegen einander auf, in deren Mitte die Flotte des Trojaners ſchwamm. Ein Jammergeſchrei erhob ſich unter den Männern, die Taue raſſelten, während Blitz auf Blitz zückte, und die Donner durch den Himmel rollten. Aeneas pries in dieſem Augenblicke alle diejenigen glücklich, die unter Troja's Mauern zu ſeiner Vertheidigung gefallen waren, er beneidete ſeine Freunde Sarpedon und Hektor um den Tod durch die Hand des Tydiden und des großen Achilles. Aber ſeine Seufzer verwehte der Nord¬ orkan, der die Segel der Schiffe nach vorn riß, und dieſe ſelbſt auf fürchterlichen Waſſerbergen bis in die Wolken ſchleuderte. Die Ruder zerbrachen, die Meer¬ fluth brach ein, und die Schiffe legten ſich wie ſterbend auf die Seite. Drei von den Fahrzeugen ſchleuderte der313 Südwind auf verborgene Klippen, drei ſtieß der Oſtwind von der hohen See auf ſeichte Sandbänke; auf eines, das lyciſche Bundesgenoſſen mit ihrem Führer Orontes trug, wälzte ſich eine ungeheure Welle nieder, und warf den Steuermann kopfüber ins Meer; dann drehte der Wir¬ bel das Schiff dreimal in der Runde herum, und der Abgrund verſchlang es. Auch das mächtige Schiff des Ilioneus und Achates, das Schiff des Abas und Aletes überwältigte der Sturm, und das Meerwaſſer drang durch die lockern Fugen der Planken ein.

Jetzt endlich nahm der Meeresgott Neptunus von dem brauſenden Aufruhr Kunde, und wunderte ſich über die losgelaſſenen Orkane. Er erhob aus den wilden Wo¬ gen ſein ruhiges Haupt, und ſchaute ſich ringsum. Da erblickte er das Geſchwader des Aeneas allenthalben im Meere zerſtreut, und die Schiffe ſeiner Lieblinge, der Trojaner, von den Wogen bedeckt und in Regengüſſen gehüllt. Auf der Stelle erkannte er den Groll und die Ränke ſeiner Schweſter Juno, rief den Oſt und Weſt gebietriſch zu ſich her, und ſprach zu ihnen: Was für ein Trotz hat euer freches Geſchlecht ergriffen, ſo ohne meinen Befehl Himmel und Meer untereinander zu mi¬ ſchen, und die Wogen bis an die Sterne zu thürmen? ich will euch! Doch für diesmal ſey eure einzige Strafe, die Meeresfluth auf der Stelle zu verlaſſen; geht und ſagt eurem Herrn, nicht ihm ſey der Dreizack und die Herrſchaft über die See verliehen worden, ſondern mir; ihm gehören Felſen und Grotten, wo euer Gemach iſt; dort mag er in verſchloſſenem Kerker über euch herr¬ ſchen, bis man euch braucht!

So ſprach er, und unter dem Sprechen glättete er314 die ſchwellenden Wogen, verſcheuchte die geballten Wol¬ ken und erheiterte die Luft, daß die Sonne wieder ſchien. Seine Meeresgötter mußten die Schiffe, die zwiſchen Klippen gerathen waren, von den zackigen Felſen hinweg¬ drängen; er ſelbſt hob die auf den Sandbänken aufſitzen¬ den mit ſeinem Dreizacke, wie mit einem Hebel, und machte ſie wieder flott; dann gleitete er auf ſeinem Wa¬ gen, von Seeroſſen gezogen, leicht über den Saum der Fluth hin, und das Getöſe des Meeres ſchwieg überall, wohin der Gott mit verhängtem Zügel die Roſſe lenkte, und einen Blick über die Waſſer warf, wie bei einem Volksaufruhr der gemeine Pöbel, der voll Trotzes mit fliegenden Fackeln und Steinen umhertobte, plötzlich ſchweigt und horchend ausblickt, wenn ein Mann von Tugend und Verdienſt erſcheint.

Die müden Seefahrer ſahe[n]eine Küſte vor ſich liegen, rafften ihre Kräfte zuſammen, und ſteuerten dem Lande entgegen. Es war Afrika's Geſtade. Bald nahm ſie ein ſicherer Port auf. Auf der einen Seite ſonnige Wälder auf ſanften Hügeln, auf der andern ein Gehölz voll ſchwarzer Schatten an ſteiler Höhe, im Hintergrunde der Bucht eine Felſengrotte mit Quellen und Moosbän¬ ken. Dorthin fuhr mit ſeinen ſieben Schiffen, dieß war der ganze Ueberreſt der Flotte, der Held Aeneas. Die Trojaner ſtiegen aus und lagerten ſich in ihren triefen¬ den Gewanden dem Ufer entlang. Der Held Achates ſchlug an einem Kieſel Feuer, fing de Gluth in trockenen Blättern auf, nährte ſie mit dürrem Reiſig, und fachte ſie durch Schwingen zur Flamme an Dann wurde das Bäckergeräthe und das vom Waſſer halb verdorbene315 Getreide aus den Schiffen ausgeladen, und das gerettete Korn mit dem Mühlſteine zermalmt.

Unterdeſſen erſtieg Aeneas klimmend einen Felſen mit ſeinem treuen Waffenträger Achates, und ließ oben die Blicke über die weite Meeresfläche hinſchweifen, ob er nichts von den vom Sturme verſchlagenen Schiffen er¬ blicken könnte, vom Antheus, vom Kapys mit den Fahr¬ zeugen der Phrygier, von der Flagge des Kaikus; aber kein Schiff begegnete ſeinem Blick: nur drei Hirſche ſah er unten am Strande, denen eine ganze Heerde folgte, deren Nachzügler bis tief in ein Thal hinein weideten. Schnell ließ er ſich Bogen und Pfeile reichen und ſtreckte den Führer der Heerde nieder, einen Hirſch mit hochäſti¬ gem Geweih; und er ruhte nicht, bis er ſieben Thiere erlegt hatte, ſoviel als die Zahl ſeiner Schiffe war. Dann kehrte er zur Bucht zurück; die Beute ward ein¬ geholt und unter die Freunde vertheilt. Auch ſtattliche Krüge mit Wein ließ Aeneas aus den Schiffen herbei¬ holen, die ein Gaſtfreund an der ſiciliſchen Küſte ihm geſchenkt, und mit dem ſüßen Tranke flößte er Troſt in ihre kummervollen Herzen. Freunde, ſprach er, ſind wir doch lange mit Trübſal vertraut, ſelbſt mit größerer als dieſe gegenwärtige iſt, darum laßt uns hoffen, daß ein Gott auch ihr ein Ende machen werde. Rufet nur den alten Muth zurück; in ſpäter Zeit werdet ihr euch mit großer Luſt an alle dieſe Leiden erinnern. Denkt nur daran, daß das Ziel ſo vieler Noth und Gefahr Italien iſt, daß uns dort unſer Geſchick ruhige Sitze zeigt, daß dort ein zweites Troja emporblühen wird!

Der Held ſprach freilich dieſe Hoffnungsworte mit kummervollem Herzen, und er mußte ſeinen tiefen Schmerz316 gewaltſam in die Seele zurückdrängen. Indeſſen ſchlach¬ teten und brieten die Genoſſen das Wildpret, und lab¬ ten ſich an Schmaus und Wein, über die verlorenen Genoſſen zwiſchen Furcht und Hoffnung getheilt ſich unterhaltend.

Venus von Jupiter mit Rom getröſtet. Sie erſcheint ihrem Sohne.

Auf der Zinne des Olymp ſtand Jupiter der Göt¬ tervater und heftete die Blicke, die über Meer und Land und Völker geflogen waren, endlich auf die afrikaniſche Küſte, in das libyſche Reich der Königin Dido, wo eben Aeneas gelandet hatte. Zu dem Sinnenden trat ſeine Tochter Venus, in ihren glänzenden Augen ſchwam¬ men Thränen, und ſie ſprach traurig: Was hat dir mein Aeneas gethan, allmächtiger Beherſcher der Men¬ ſchen und der Götter, daß ihm, nachdem er ſchon ſo viel Unheil erduldet hat, der ganze Erdkreis um Italiens willen verſchloſſen wird? Haſt du nicht ſelbſt mir ver¬ heißen, daß dorther aus dem erneuerten Blute des trojaniſchen Stammvaters im Laufe der Jahre dereinſt das Römervolk kommen und die Herrſchaft über Land und Meer erhalten ſollte? Nur dieſe Verheißung ſöhnte mich mit dem Falle Troja's aus; was hat deinen Sinn ſo auf einmal verwandelt?

Der Vater lächelte die Göttin huldvoll an, herzte ſie mit einem Kuß, und ſprach mit dem Blicke, mit welchem er die Wolken vom Himmel verſcheucht: Sey getroſt,317 Töchterchen, das Loos deiner Schützlinge bleibt unver¬ rückt. Laviniums Mauern in Italien werden ſich erhe¬ ben, in mächtigem Kriege wird Aeneas dort ſiegen, trotzige Völker bändigen, Geſetz und Ordnung gründen. Drei Jahre wird er in Latium herrſchen, ſein Sohn Askanius oder Julius wird den Sitz der Herrſchaft von Lavinium nach Alba longa verlegen. Drei Jahr¬ hunderte wird dort das Geſchlecht des Priamus auf dem Throne ſitzen, bis eine Prieſterin der Veſta aus dem Königshauſe dem Kriegsgott Zwillingsknaben gebiert. Von dieſen wird Romulus, von einer Wölfin geſäugt, ſeinem Vater Mars neue Mauern bauen, und der Stifter des Römervolks werden. Die Römer aber mache ich zu Herren der Welt, und ihrer Herrſchaft ſey kein Ziel geſetzt. Juno ſelbſt, welche deinen Sohn jetzo quält, wird ſich mit dieſen ſeinen Enkeln verſöhnen, und ſie mit mir begünſtigen, und der größte Römer wird ein Nachkomme des Julus ſeyn und Julius heißen. Sein Ruhm wird zu den Sternen ſich erheben, er ſelbſt, dein Nachkomme, Tochter, wird in den Himmel unter die Götter aufgenommen werden. Unter den Menſchen aber wird nach beendigten Kriegen der ewige Friede wohnen, eiſerne Riegel werden die Pforten der Zwietracht ſchließen, die, mit hundert Ketten gefeſſelt, vergebens mit den blutigen Zähnen knirſchen wird.

So ſprach Jupiter und ſandte ſofort ſeinen Sohn, den Götterboten Merkur (Hermes) nach Karthago, um dort den Trojanern gaſtliche Herberge zu bereiten. Dieſes Land war ein uralter Sitz phöniziſcher Pflanzer, und Juno beſchirmte das Reich mit beſonderer Huld. Ihre Rüſtung, ihr Wagen waren dort aufbewahrt, und längſt318 war es Wunſch und Beſtreben der Göttin, hier ein Welt¬ reich zu begründen. Jetzt aber beherrſchte dieſes libyſche Reich Dido, die Wittwe des Phöniziers Sychäus, welche hier die neue Stadt und Burg Karthago erbaut hatte.

Am andern Morgen machte ſich Aeneas, nur von ſeinem Freund Achates begleitet, zwei Wurfſpieße in der Hand, auf, um das neue Land zu erforſchen, an deſſen Geſtade ihn der Sturm geworfen hatte. Da be¬ gegnete ihm mitten im Walde ſeine Mutter Venus in Geſtalt einer bewaffneten Jägerin, wie Sparta's Jung¬ frauen ſich zu tragen pflegen: ein Bogen hing ihr über den Schultern, das Haar flatterte frei in den Lüften, das leichte Gewand war bis ans Knie aufgeſchürzt. Sagt mir doch, ihr Jünglinge, ſo redete ſie die ſchreitenden Helden an, habt ihr keine meiner Geſpielinnen geſehen, in Luchspelz gekleidet, mit übergehängtem Köcher? Nein, entgegnete ihr Aeneas, aber wer biſt du, Jungfrau? in deinem Antlitz und deiner Stimme iſt etwas Uebermenſchliches, biſt du eine Nymphe, biſt du eine Göttin? Doch, wer du auch ſeyeſt: ſag uns, in wel¬ chem Lande ſind wir? Der Sturm hat uns an dieſes Geſtade verſchlagen, und wir irren ſchon lang in der Welt umher. Hierauf erwiederte Venus lächelnd: Wir tyriſchen Mädchen pflegen uns immer ſo zu tra¬ gen, und ich bin darum nicht Apollo's Schweſter, weil du mich mit dem Köcher bewaffnet ſiehſt. Du biſt unter Tyriern, Fremdling, in einem Reiche der Phönizier, in der Nähe von Agenors Stadt; dennoch iſt der Welt¬ theil, in welchem du dich befindeſt, Afrika, das Land iſt libyſch, und das Volk wild und kriegeriſch. Eine Königin herrſcht über uns, Dido; auch ſie ſtammt aus319 Tyrus, und war dort die geliebte Gattin des reichen Phöniziers Sychäus. Aber ihr Bruder Pygmalion, der König von Tyrus, ein unmenſchlicher Tyrann, haßte den Schwager, und um die Liebe der Schweſter unbe¬ kümmert, erſchlug er ihren Gatten, geblendet von Gold¬ gier, heimlich am Altare der Götter. Der blaſſe Schat¬ ten des Gemordeten erſchien ſeiner Gemahlin im Traume, mit einer tiefen Schwertwunde in der Bruſt, und ent¬ ſchleierte ihr das geheime Verbrechen; er rieth ihr zu ſchleuniger Flucht aus dem Vaterlande, und bezeichnete ihr die unterirdiſche Stelle, wo der alte verborgene Reichthum des Königs, Silber und Gold, ihre Fahrt zu unterſtützen, bereit läge. Dido folgte ſeinem Winke; der Tyrannenhaß ſammelte viele Gefährten um ſie. Was von Schiffen bereit lag, wurde mit dem Golde des kar¬ gen Pygmalion angefüllt. So gelangten ſie an die Küſte Afrikas und an den Ort, wo du jetzt bald die gewaltigen Mauern der neuen Stadt Karthago, und ihre himmelanſteigende Burg erblicken wirſt. Hier erkaufte ſie Anfangs nur ein Stück Landes, welches Byrſa oder Stierhaut genannt wurde, nach der That. Denn ſie verlangte nur ſoviel Feldes, als ſie mit einer Stierhaut zu umſpannen vermöchte. Dieſe Haut aber ſchnitt ſie in ſo dünne Riemen, daß dieſelbe den ganzen Raum einſchloß, den jetzt Byrſa, die Burg Karthago's, einnimmt. Von dort aus erwarb ſie mit ihren Schätzen immer größeres Gebiet, und ihr königlicher Geiſt grün¬ dete das mächtige Reich, das ſie jetzt beherrſcht. Nun wißt ihr, wo ihr ſeyd, ihr Männer. Aber wer ſeyd denn ihr, woher kommt ihr und wohin wandert ihr? Mit dieſen Fragen veranlaßte die Göttin eine rührende320 Erzählung ſeines Schickſals aus dem Munde ihres Sohnes, deſſen Klage ſie jedoch bald unterbrach: Wenn meine Eltern mich nicht umſonſt die Deutung des Vo¬ gelflugs gelehrt haben , ſagte ſie, ſo verkündige ich dir die Rettung deiner verſchlagenen Schiffe, und die Rückkehr deiner Freunde. Denn ich ſah am offenen Himmel in freudigem Zuge zwölf Schwäne fliegend, die kurz zuvor ein Adler, der Vogel Jupiters, ausein¬ ander geſcheucht hatte. In langem Zuge ſuchten ſie theils das Land zu gewinnen, theils ſchwebten ſie ſchon über dem gewonnenen: ſo erreichten auch deine Genoſſen ſchon zum Theile den Hafen, zum Theil nähern ſie ſich ihm mit vollen Segeln. Du aber geh immerhin auf dem betretenen Pfade fort. So ſprach die Jungfrau und wandte ſich um. Ihr roſiger Nacken erglänzte von überirdiſchem Licht, ihre ambroſiſchen Locken verbreiteten einen himmliſchen Wohlgeruch, ihr Kleid wallte blendend zu den Ferſen hernieder, ihre Geſtalt erſchien übermenſch¬ lich, ihr ganzer Weggang verkündigte die Göttin. Jetzt erkannte Aeneas plötzlich ſeine Mutter, und rief die Fliehende vergebens zurück. Dieſe aber umhüllte die Wanderer mit einer dichten Umkleidung von Nebel, daß Niemand ſie ſchauen und ihre Abſichten erforſchen könnte. Sie ſelbſt ſchwebte hoch durch die Lüfte nach ihrem Lieblingsſitze Paphos.

321

Aeneas in Karthago.

Die beiden Wanderer gingen rüſtig im Nebel dahin, immer dem Fußpfade nach. Bald hatten ſie den Hügel erſtiegen, der ſich hoch über die Stadt erhob, und auf die gegenüberſtehende Burg hinunterſah. Mit Staunen betrachtete Aeneas den ſtolzen Königsbau, der ſich da erhob, wo früher nur armſelige Bauernhütten geſtanden hatten, die hohe ſteinerne Pforte der Stadt, die breiten gepflaſterten Straßen, den Lärm und das Gewühl darin. Noch aber wurde an der Stadt gebaut, die Tyrier be¬ trieben das Werk mit allem Eifer: die Einen waren mit den Stadtmauern beſchäftigt, die Andern mit der Vollendung der Burg, zu deren Höhen ſie Quaderſteine emporwälzten; Viele bezeichneten mit Furchen erſt den Platz, auf welchem ſich ihr Haus erheben ſollte. Der größere Theil der Einwohnerſchaft war auf dem Markt¬ platze verſammelt, wählte den Senat und die Richter des Volks, und berathſchlagte über die Geſetze des neuen Staates. Noch Andere gruben bereits an den Häfen, Andere legten den Grund zu einem Theater, und hieben dazu mächtige Säulen als Zierden der künftigen Bühne aus dem Felſen. Das Ganze war anzuſehen wie ein Bienenſchwarm, der eben ſchwärmt.

In ihrem Nebelgewande geborgen, befanden ſich Aeneas und ſein Begleiter bald in der Mitte des be¬ ſchäftigten Volkes, und gingen unerkannt hindurch. Mit¬ ten in der Stadt befand ſich ein ſchöner Hain, vollSchwab, das klaſſ. Alterthum. 21322des kühlſten Schattens, wo, nach langen Stürmen und Meerfahrten, die Phönizier oder Pöner zuerſt ein Glückszeichen, das ihnen Juno ſandte, ausgegraben hatten, ein Pferdshaupt, wodurch ihnen Kriegsglück und Nah¬ rung vorbedeutet ward. Hier baute die Königin Dido der Juno einen prächtigen Tempel; Stufen, Thorpfoſten und Thürflügel, Alles war von Erz. In dieſem Haine faßte ſich der Held Aeneas erſt wieder einen getroſten Muth, und gab ſich in ſeiner verzweifelten Lage kühneren Gedanken der Hoffnung hin. Denn während er ſich in dem herrlichen Tempel umſchaute und über die präch¬ tigen Kunſtwerke, die ſich darin befanden, ſtaunte, ſtieß er auf eine Reihe von Wandgemälden, in welchen die Schlachten Troja's dargeſtellt waren. Priamus, die Atriden, Achilles, Rheſus und Diomed, fliehende Grie¬ chen, und wieder Trojaner, der Knabe Troilus, von ſeinen Pferden geſchleift, Trojanerinnen mit fliegen¬ dem Haar im Tempel der Pallas, Hektors geſchleppte Leiche, Penteſilea mit ihren Amazonen, Alles erkannte der Held Aeneas, ja am Ende entdeckte er auch ſich ſelbſt, wie er von der Mauer herab den ungeheuren Stein auf die Feinde ſchleudert.

Während er dieſes Alles unter Schmerz und Luſt mit Verwunderung ſich beſchaute, nahte die Königin Dido ſelbſt, im höchſten Glanze jugendlicher Schönheit, von einem großen Gefolge tyriſcher Jünglinge umgeben, dem Tempel. Unter der Wölbung des Portales ſetzte ſie ſich, von Bewaffneten umringt, auf einen hohen Thron, und theilte dem Volke, das ſich um ſie verſam¬ melte, theils nach billiger Schätzung, theils durch's Loos die Arbeiten in der neuen Stadt aus, ſprach Recht,323 gab Geſetze. Da ſahen Aeneas und Achates plötzlich mitten in dem Gewühle ihre verloren geachteten Freunde und Genoſſen, den Sereſtus, den Kleanthus, und viele andere Teukrer, welche der Sturm von ihnen getrennt und an andere Küſten verſchlagen hatte. Freude und Angſt ergriff ſie bei dieſem Anblick: ſie glühten vor Be¬ gierde, ihnen die Rechte zu traulichem Handſchlage zu reichen, und doch machte ſie das Unbegreifliche der Sache wieder irre: ſie hielten deßwegen in ihrem Ne¬ belgewölke an ſich und warteten zu, ob ſie nicht im Ver¬ lauf der Dinge das Schickſal der Freunde aus ihrem eigenen Munde erfahren würden. Denn es waren, wie ſie ſahen, auserwählte Männer von jedem Schiffe. Auch drängten ſie ſich bald aus der Menge hervor, traten in die Vorhalle des Tempels ein, und als ihnen das Wort von der Königin vergönnt wurde, hob ihr Führer Ilio¬ neus zu ſprechen an: Edle Königin, wir ſind arme Trojaner, die der Sturm von Meer zu Meere geſchleu¬ dert hat. Wir richteten den Lauf unſerer Flotte nach dem fernen Italien, als ein unvermutheter Orkan uns unter die Klippen ſchleuderte, wo viele unſerer Schiffe ohne Zweifel zu Grunde gegangen ſind. Die Ueber¬ bleibſel der Flotte haben euer Geſtade erreicht. Aber was ſind das für Menſchen, unter die wir gerathen ſind? welches Barbarenvolk duldet ſolche Gebräuche? Man verwehrt uns, den Strand zu betreten, man droht mit Kriege, mit Verbrennung unſerer Schiffe. Wenn ihr von Menſchlichkeit nichts wiſſet, ſo ſcheuet doch wenigſtens die Götter! Aeneas war unſer Führer es gibt keinen größeren und frömmern Helden! Wenn das Schickſal uns dieſen Mann erhalten hat, ſo wird21 *324euch der Dienſt, den ihr uns erweiſet, niemals gereuen. Darum geſtattet uns, die lecken Schiffe ans Land zu ziehen, in euren Wäldern Schiffsbalken zu zimmern und Ruder zu verfertigen. Finden wir unſern König und unſre Freunde wieder, dann dürfte uns wohl die Fahrt nach dem verheißenen Italien glücken. Hat aber ihn die libyſche Fluth verſchlungen, und iſt unſere Hoffnung dahin, nun dann gib uns wenigſtens ſicheres Geleite, mächtige Königin, daß wir zu unſerem Gaſtfreunde am ſiciliſchen Strande, von dem wir herkommen, wieder zu¬ rückkehren können.

Die Königin ſenkte vor den Männern den Blick auf die Erde und antwortete kurz: Verbannet die Angſt aus euren Herzen, Trojaner, mein Schickſal iſt ſo hart, mein Reich iſt ſo jung, daß ich genöthigt bin, die Gränzen des Landes ringsumher durch ſtrenge Wachen ſicher zu ſtellen. Troja's Stadt aber und ihr unglück¬ liches Volk, ihre Helden, ihren Waffenruhm, ihre fürch¬ terliche Zerſtörung kennen wir gar wohl. Unſre Stadt iſt nicht ſo abgelegen, daß ſie nichts von ihrem Schick¬ ſale wüßte; unſre Herzen ſind nicht ſo unempfindlich, daß es uns nicht rührte. Möget ihr euch denn Hesperien zum Wohnſitz erwählen, oder Siciliens Inſel: in beiden Fällen getröſtet euch meiner Hülfe, ich will euch mit allem Nöthigen verſehen, und in Frieden ziehen laſſen; es wäre denn, daß ihr euch lieber hier im Lande an¬ ſiedeln wolltet! Wollet ihr das, ſo ſteht euch frei, eine Stadt zu gründen, und meine Geſetze ſollen euch denſel¬ ben Schutz verleihen, wie meinen eigenen Unterthanen. Was euren König betrifft, ſo ſende ich auf der Stelle ſichere Männer an meine Ufer und im Lande umher,325 um ihn auszuſpähen, ob er nicht, irgendwo geſtrandet, in Wäldern oder in Städten umherirrt.

Die beiden Helden in der Wolke brannten vor Be¬ gierde, den Nebel zu durchbrechen, als ſie ſolches hörten. Hörſt du es, Sohn der Göttin, flüſterte zuerſt Achates ſeinem erhabenen Freunde zu, die Schiffe, die Freunde Alle ſind gerettet; nur Einer fehlt, den wir ſelbſt ins Meer ſinken ſahen; ſonſt entſpricht Alles den Verheißungen deiner Mutter. Kaum war dieſes geſprochen, als die Nebelwolke ſich von ſelbſt theilte und in den offenen Aether verſchwand. Da ſtand nun Aeneas im heiteren Lichte, wie ein Gott an Schultern und Haupte glän¬ zend: ſeine Mutter hatte ihm ſchönes wallendes Locken¬ haar auf Haupt, das Purpurlicht der Jugend auf die Wangen, und in das heitere Auge den Strahl der Huld gezaubert. Wie ein Wunder ſtand er vor Allen da, wandte ſich zur Königin und ſprach: Da bin ich, nach dem ihr verlanget, aus den Wellen Libyens gerettet, ich der Trojaner Aeneas! Edle, großmüthige Königin, die du die Trümmer deines unglücklichen Volkes erbarmungs¬ voll in deine Stadt aufgenommen haſt, keiner von allen Trojanern, die über die ganze Erde zerſtreut ſind, kann dir würdigen Dank bezahlen; mögen dir die Himmli¬ ſchen vergelten! Selig ſind die Eltern, die dich gezeugt haben! ſo lange die Erde ſtehet, wird dein Name bei uns von Ruhme ſtrahlen, welches Land uns auch rufen mag! So ſprach Aeneas und eilte auf ſeine Freunde zu, die Rechte, die Linke ihnen in die Wette darreichend. Als ſich Dido vom erſten Erſtaunen erholt hatte, ſprach ſie: Sohn der Göttin, welches Schickſal verfolgt dich durch ſolche Gefahren? Du biſt alſo jener Aeneas,326 welchen einſt Anchiſes, dem Trojaner, die erhabene Göt¬ tin Venus an den Wellen des Simois geboren hat! Wohl hab 'ich Vieles von den Schickſalen deines Ge¬ ſchlechts und deines Volkes, von meinem Vater Belus vernommen. Als dieſer in Cypern kriegte, kam der Ar¬ giver Teuker, Telamons Sohn, zu ihm, der dort nach dem trojaniſchen Krieg eine Niederlaſſung gegründet hatte; dieſer erzählte viel von euren Heldenthaten. Er war zwar euer Feind im Kriege, aber zugleich euer Bluts¬ verwandter, denn auch er rühmte ſich, vom alten Geſchlechte der Teukrer abzuſtammen; ſeine Mutter Heſione, welche Telamon als eine Kriegsgefangene vom ſeinem Freunde Herkules zum Geſchenk erhalten hatte, war eine Tochter des trojaniſchen Königs Laomedon. Nun aber, ihr Männer, tretet getroſt in unſere Häuſer ein, auch ich bin eine Verbannte, auch ich fand nach langen Mühſalen erſt in dieſem Lande Ruhe. Ich bin wohl vertraut mit dem Jammer, und verſtehe mich auf den Beiſtand Unglücklicher.

So ſprach Dido, und führte den Helden unverzüg¬ lich in ihren Palaſt, auch ordnete ſie in allen Tempeln ein prächtiges Opferfeſt an. Das Innere der Burg wurde mit königlichem Prunke ausgeſchmückt, und in den ſchönſten Sälen des Palaſtes ein Feſtmahl zugerüſtet. Kunſtvolle Purpurteppiche prangten überall, ſchweres Silber belaſtete die Tiſche, goldene Pokale mit erhabener Kunſtarbeit ſchimmerten allenthalben.

Indeſſen ließ dem edlen Aeneas ſeine Vaterliebe keine Ruhe; er ſchickte den treuen Diener Achates ſchleunig zu der Flotte, dem Knaben Askanius die frohe Botſchaft zu verkündigen, und ihn ſelbſt herbeizuführen. 327Auch allerlei Ehrengeſchenke, die er aus dem Schutthaufen Troja's gerettet, befahl er herbeizubringen: einen präch¬ tigen Mantel mit goldgewirkten Bildern, den Schleier Helena's, ein Wundergeſchenk ihrer Mutter Leda, den ſie aus Sparta mitgebracht, den Scepter der Ilione, der älteſten Tochter des Priamus, ein Halsgeſchmeide von Perlen, und eine Krone, von Gold und Edelſteinen glänzend. Mit dieſen Aufträgen eilte Achates nach den Schiffen.

Dido und Aeneas.

Aber die himmliſche Mutter des Helden war nicht beruhigt über ſein Schickſal, ſie fürchtete die doppelzüngigen Tyrer und das betrügliche Königshaus. Auch daß Juno, die Todfeindin des Aeneas, Schutzgöttin des Landes war, machte ihr ſchwere Sorge. Sie ſann deßwegen auf eine ganz neue Liſt. Ihr Sohn, der Liebesgott, ſollte die Geſtalt des Knaben Askanius annehmen, und an ſeiner Stelle in Karthago's Hofburg erſcheinen. Würde nun Dido den holden Jungen beim königlichen Schmauſe auf den Schooß nehmen, und ihn harmlos herzen und küſſen, ſo ſollte ihr Amor das heimliche Feuer und bethörende Gift der Liebe einhauchen.

Der Liebesgott gehorchte dem Gebote ſeiner Mutter, er entledigte ſich in aller Eile ſeiner Flügel, und wandelte in Kurzem, vergnügt über die Rolle, die er zu ſpielen hatte, dem kleinen Julus oder Askanius täuſchend ähn¬ lich, an der Hand des Achates, der keinen Betrug ahnte,328 der Königsſtadt entgegen. Den wahren Askanius hatte Venus im Schlummer in ihr eigenes Gebiet, in den Hain Idalia's, entführt, und ihn dort in duftenden Majo¬ ran unter kühle Schatten gelegt.

Als Achates mit dem kleinen Gott an der Hand in Karthago's Burg eintraf, hatte ſich die Königin ſchon auf einem goldenen, mit köſtlichen Teppichen ge¬ polſterten Throngeſtelle in der Mitte des Saales nieder¬ gelaſſen; Aeneas und die trojaniſchen Helden kamen von allen Seiten herbei, und lagerten ſich die Tiſche entlang auf purpurne Polſter; Diener boten Reinigungswaſſer und Handtücher herum, und langten das Brod aus den Körben hervor; fünfzig Mägde ſtanden in langen Rei¬ hen in der Küche, vor den dampfenden Speiſen an flam¬ menden Heerden; andere hundert Mägde und eben ſo viele ſchmucke Diener thürmten die Gerichte auf den Tiſchen umher, und ſtellten die goldenen Becher vor die Gäſte. Auch die Tyrier kamen jetzt ſchaarenweiſe her¬ bei, und lagerten ſich auf das Gebot ihrer Königin an den Tafeln. Die Geſchenke des Aeneas wurden herum¬ gegeben und bewundert. Dann richteten ſich aller Blicke auf den kleinen vermeintlichen Julus, der mit heuchleri¬ ſchen Umarmungen ſich an den Hals ſeines Vaters warf, ſeinen Mund mit Küſſen bedeckte, und wunderkluge Worte dazu ſprach. Die arme Dido beſonders, die ſchon von dem Gott ihrem Verderben geweiht war, konnte ihr Ge¬ müth gar nicht ſättigen, und blickte bald den Knaben, bald die Geſchenke mit immer funkelnderen Augen an. Der kleine Liebesgott riß ſich endlich von dem erheuchel¬ ten Vater los und eilte auf die Königin zu. Dieſe nahm ihn arglos auf die Arme, blickte ihn liebreich an und329 herzte ihn zärtlich, ohne zu ahnen, welch ein mächtiger Gott ſich ihr anſchmiege. Amor aber, den liſtigen Be¬ fehlen ſeiner Mutter gehorſam, verwiſchte allmählig das Bild des verſtorbenen Gemahls in ihrem Geiſt, und reizte die erſtorbenen Gefühle ihrer Bruſt zu neuer leben¬ diger Neigung.

Der Schmaus ging zu Ende, die Gerichte wurden von den Tafeln genommen, gewaltige Weinkrüge aufge¬ ſtellt, und die Becher aufs Neue gefüllt. Lautes Rau¬ ſchen wälzte ſich durch die Säle des Palaſtes; die Nacht war herbeigekommen, und flammende Kronleuchter hingen von dem goldenen Deckengetäfel herunter. Jetzt ließ ſich Dido die herrlichſte Schaale, ſchwer von Gold und Edel¬ ſteinen, reichen, und füllte ſie bis zum Rande mit Wein; ſie war längſt der Mundbecher aller tyriſchen Könige. Dieſe hielt die Königin, von ihrem Throne ſich erhebend, hoch in der Rechten, und in dieſem Augenblicke ver¬ ſtummte der Lärm in den Sälen des Palaſtes. Jupiter, ſprach ſie mit feierlicher Stimme, mächtiger Beſchirmer des Gaſtrechtes, laß dieſen Tag den Tyriern und unſern trojaniſchen Freunden günſtig ſeyn, und unſere ſpäten Enkel mögen deſſelben noch mit Luſt gedenken! Auch du, Freudengeber Bacchus, auch du, huldreiche Juno, ſey mit uns! So ſprechend, goß ſie das Trankopfer auf den Tiſch aus, nippte dann von der goldenen Schaale ſelbſt, und bot ſie dem tyriſchen Häuptlinge, der ihr zu¬ nächſt ſaß. Nun machte der Pokal bei Tyriern und Trojanern die Runde, und derweil ſang ein lockiger Sän¬ ger zur goldenen Zither ſinnvolle Lieder vom Urſprunge der Welt, der Menſchen und der Thiere. Als der Ge¬ ſang zu Ende war, hing Dido an dem Munde des330 erzählenden Aeneas, vernahm ſeine Schickſale mit pochen¬ dem Herzen, und ſchlürfte in langen Zügen das Gift der ſüßen Liebe ein.

Dido's Liebe bethört den Aeneas.

Die Mienen, die Worte des Helden gruben ſich der Königin tief ins Herz. Als die Gäſte den Palaſt längſt verlaſſen hatten, und ſie wenige ſchlafloſe Stunden auf ihrem Lager zugebracht, ſuchte ſie das Gemach ihrer ge¬ liebten Schweſter und vertrauteſten Freundin Anna auf, und begann dieſer ihr ganzes Herz aufzuſchließen. Schweſter Anna, ſprach ſie, mich ängſtigen wunder¬ bare Träume. Welch ein ſeltener Gaſt hat unſere Woh¬ nungen betreten, welche Waffen, welcher Muth, welche Blicke! Man ſieht ihm wohl an, daß er von den Göt¬ tern abſtammt! Und welches Geſchick hat er erfahren, welche Kriege durchgekämpft, welche Fahrten beſtanden! Wahrhaftig, Schweſter, wenn ich nicht unwiderruflich beſchloſſen hätte, mich durch das Band der Ehe keinem Manne mehr zu geſellen, ſeit der Tod mich um meine Erſtlingsliebe betrogen hat: dieſer einzigen Schwäche könnte ich vielleicht unterliegen. Aber eher ſoll mich die Erde verſchlingen, eher der Blitz mich treffen, ehe ich meinem ermordeten Gemahl die Treue breche; er hat meine Liebe mit ſich fortgenommen, er behalte ſie auch im Grabe! Thränen erſtickten ihre Stimme, und ſie vermochte nicht weiter zu ſprechen.

Ihre Schweſter blickte ſie mitleidig an, und erwiederte:331 Dido, ich liebe dich mehr als mein Leben, willſt du deine holde Jugend denn ganz im Wittwengram verjammern? meinſt du, der Staub deines Gatten kümmre ſich um deine Entſagung? kommt es dir denn gar nicht in den Sinn, in welchem Gebiete du hauſeſt, daß du auf der einen Seite von kriegeriſchen Gätulen, von un¬ bändigen Numiderſtämmen, von ungaſtlichen Sandbänken, auf der andern Seite von waſſerloſen Wüſten eingeſchloſ¬ ſen biſt? Und welche Kriege drohen dir von Tyrus her, von deinem unverſöhnlichen Bruder? Glaube mir, durch Gunſt unſerer Schutzgöttin Juno iſt es geſchehen, daß die trojaniſchen Schiffe hier gelandet ſind. Schweſter, wie mächtig würde unſere Stadt, wie mächtig das Reich durch eine ſolche Vermählung werden! Wie wird ſich der Ruhm der Pöner ſteigern, von den Waffen der Troja¬ ner begleitet. Sey klug, liebe Schweſter, opfere den Göttern, ſtelle Gaſtgebote an, umſtricke die Helden mit Zögerungen aller Art, ſo lange ihre Flotte noch zerſchellt iſt, und die Winde den Schiffenden zuwider ſind.

Anna entflammte mit dieſen Worten Dido's glühende Seele noch mehr, und ſchläferte alle Scheu in ihrem Herzen ein. Sie gingen zuſammen in die Tempel und opferten den Göttern. Dann führte Dido den geliebten Helden durch ihre Stadt, zeigte ihm den ſidoniſchen Kö¬ nigsglanz, und feierte ihrem Gaſt zu Ehren ein neues Mahl; wieder herzte ſie den Askanius, das Ebenbild ſeines Vaters, wieder konnte ſie nicht ſatt werden, den Helden von Troja's Leiden erzählen zu hören.

Dieß Alles war der Göttermutter Juno vom Olymp herab nicht entgangen. Der rechte Zeitpunkt, den Helden für immer um das verheißene Italien zu betrügen, und332 das Volk der Trojaner in fremden Stämmen ſich ver¬ lieren zu laſſen, ſchien ihr gekommen. Sie ſuchte ihre Tochter Venus auf, und begann heftig, doch freundlich zu ihr: Wahrhaftig, du und dein Knabe, ihr habt einen ſchönen Sieg davon getragen! Doch wozu noch länge¬ ren Hader? Laß 'uns ein Ehebündniß, und damit ewi¬ gen Frieden ſchließen! Du haſt, was du mit ganzer Seele ſuchteſt: Dido glüht von Liebe zu Aeneas. Wohlan! laß' uns die Völker verſchmelzen, ſie mag dem trojaniſchen Gatten dienen, und die Tyrier ſollen ſeine Hochzeitgabe ſeyn.

Venus merkte die heimliche Abſicht der Heuchlerin wohl; ſie erwiederte aber ganz willfährig: Wie könnte ich ſo thöricht ſeyn, dir dieſes zu verweigern, Mutter? wie könnte ich es wagen wollen, in endloſem Kampfe mich mit dir zu meſſen? Ich fürchte nur, Jupiter möchte den Verein beider Völker nicht geſtatten. Doch, du biſt ja ſeine Gemahlin, dir ziemt es, ſein Herz durch Bitten geneigt zu machen. Was du zuwege bringſt, iſt mir recht. Laß das meine Sorge ſeyn, erwiederte Juno vergnügt, vor allen Dingen muß der Bund geſchloſſen werden. Laß mich nur die Geſchicke lenken, Geſchehenem wird Jupiter ſeine Billigung nicht verſagen. Zuſtim¬ mend und freundlich nickte Cythere, aber im Herzen ſpot¬ tete ſie des Betrugs.

Am nächſten Morgen veranſtaltete die Königin eine große Jagd, ihren fremden Gäſten zu Ehren. Auser¬ leſene Jünglinge mit Schlingen, Netzen, breiten Jagd¬ ſpießen, von Reitern und Spürhunden begleitet, verließen die Thore. Vor dem Palaſte ſtand der Zelter der Königin, mit Gold geſchmückt und mit Purpurdecken behangen,333 und käute muthig an ſeinem beſchäumten Gebiß; an der Pforte harrten die Pönerfürſten. Endlich trat Dido her¬ aus, umdrängt von großem Jagdgefolge; ſie trug ein bunt geſticktes ſidoniſches Jägerkleid; darüber einen mit goldener Schnalle aufgeſchürzten Purpurrock; ein goldenes Diadem umſchlang ihre Stirne, und von der Schulter hing ihr der goldene Köcher. Vier Trojaner waren in ihrem Zuge, darunter auch der muntere Julus. Endlich ſchloß ſich der Schönſte von Allen, Aeneas, mit ſeinem vertrauteſten Helden ebenfalls der Begleitung an.

Als die Geſellſchaft das Gebirg erreicht hatte, zer¬ ſtreute ſie ſich bald auf der unwegſamen Wildbahn; von den Felſenkuppen ſah man bald Gemſen über die Hügel her ſtürzen; auf der andern Seite verließen Hirſche in ſtäubender Flucht ihre Berge, drängten ſich in bange Haufen zuſammen, und durchrannten die offenen Felder. Mitten im Thale tummelte der Knabe Julus oder As¬ kanius ſein muthiges Pferd, und flog damit bald an dieſen, bald an jenen Jägern vorüber; das ſchüchterne Wild war ihm viel zu gering, immer hoffte er, es werde ein ſchäumender Eber angelaufen kommen, oder ein Löwe mit gelber Mähne hinter dem Hügel hervorſchreiten.

Die Jäger waren ſo ganz in ihre Luſt vertieft, daß ſie nicht merkten, wie der Himmel ſich zu verdunkeln be¬ gann, und das drohende Ungewitter, das ſich in den Wolken zuſammenzog, erſt entdeckten, als der Wind durch die Bäume ſauste, und plötzlich Regen und Hagel her¬ niederſtrömte. Tyrier und Trojaner ſuchten, zerſtreut und verirrt, durch Felder und Wälder ſich verſchiedenen Schutz vor dem Unwetter. Während nun angeſchwollene Wald¬ ſtröme von den Bergen ſtürzten, und ein Zufluchtsort334 vom andern vereinzelt und abgeſchnitten wurde, fanden ſich durch Juno's Veranſtaltung die Königin Dido und der Trojanerheld Aeneas zugleich in der nämlichen Grotte zuſammen, um vor dem immer tobenderen Ungewitter Schutz zu finden. Mit dem Aufruhre der Natur, beim Leuchten der Blitze und dem Krachen des Donners ent¬ feſſelte ſich auch die bisher zurückgehaltene Neigung der Königin; ſie vergaß aller weiblichen Scheu, und geſtand dem Helden ihre glühende Liebe. Da ſchwanden dem bethörten Aeneas die göttlichen Verheißungen, er erwie¬ derte ihre Zärlichkeit und verſiegelte mit einem leichtſin¬ nigen Schwur die Ausbrüche ihrer Leidenſchaft.

Aeneas verläßt auf Jupiters Befehl Karthago.

Das Ungewitter war vorüber, die Jagdgeſellſchaft hatte ſich wieder zuſammen gefunden, und Aeneas kehrte an Dido's Seite nach der Stadt und in den Palaſt zu¬ rück. Ein Freudenfeſt folgte auf das andere, keiner Abfahrt ward gedacht, und der Winter kam heran.

Jetzt machte ſich Fama, die Göttin des Gerüchtes, auf und durchflog die Städte Libyens. Dieſe, ein We¬ ſen von ſeltſam beweglicher Geſtalt, iſt die Tochter der Mutter Erde, und die jüngſte Schweſter der Giganten. So oft ſie aus ihrer Verborgenheit hervorgeht, iſt ſie Anfangs ganz klein und ſchüchtern, aber im Fortſchreiten wächſt ſie an Kräften und Größe, erhebt ſich bald in die Lüfte; und während ihre Füße über den Boden335 gleiten, verbirgt ſich ihr Scheitel in den Wolken. Ihre Geſtalt iſt gräßlich, ihr Haupt ganz mit Flaumfedern bedeckt, ſo viel Federn, ſo viel funkelnde Augen darunter, ſo viel Zungen und Mäuler, die nie ſchweigen, ſo viel immer geſpitzte Ohren. Nachts ſtiegt ſie zwiſchen Erd 'und Himmel einher, rauſcht durch die Schatten, und nie ſchließen ſich ihre Augenlieder zum Schlummer. Den Tag über aber lauſcht ſie hingekauert, bald am Giebel der Häuſer, bald auf den Zinnen der Thürme, und ſchreckt Stadt und Land mit ihrem krächzenden Rufe, und es iſt ihr einerlei, ob ſie Wahrheit verkündet, oder Lug und Betrug meldet.

Dieſes häßliche Weſen füllte auch jetzt mit mancher¬ lei Gerüchten die Länder Afrika's an, und erzählte ſcha¬ denfroh Alles durcheinander, was geſchah und nicht ge¬ ſchah: Ein Fremdling ſey gekommen, ein Mann aus trojaniſchem Geſchlecht, Aeneas mit Namen, dieſen habe ſich die reizende Königin Dido zum Gemahl erkoren; ſie vergeſſe der Sorge für ihre Herrſchaft, die Zügel der Regierung entgleiten ihren Händen, und das Paar durch¬ ſchwelge in Pracht und Ueppigkeit den Winter. Solche Sagen ließ die häßliche Göttin durch den Mund des Volkes gehen. Dann richtete ſie ihren Lauf plötzlich nach Numidien zu dem Könige Jarbas, deſſen Hand kürzlich von Dido verſchmäht worden war. Dieſem entflammte ſie das gekränkte Herz durch ihre Zuflüſterungen zum wildeſten Grimme. Er war ein Sohn Jupiters und einer libyſchen Nymphe, und hatte ſeinem Vater hundert prächtige Tempel in Numidien erbaut, wo ſtets geſchäf¬ tige Prieſter opferten, und die Pforten immer mit Blu¬ men bekränzt waren. Dieſer, von dem bitteren Gerüchte336 in Wuth verſetzt, warf ſich jetzt vor die Altäre, und flehte mit rückwärts gehobenen Händen zum Himmel empor: Allmächtiger Zeus, dem die mauriſchen Völker alle dienen, ſieheſt du das und ſendeſt deinen Blitz nicht? Ein landflüchtiges Weib, das für Geld ſich ein Städt¬ chen gegründet hat, der ich in meinem Gebiete das Ufer zum Pflügen, das Land zum Beherrſchen verliehen habe, ein ſolches Weib hat trotzig meine Hand verſchmäht, ergibt ſich dem glatten Trojaner und läßt den Weichling meines Raubes genießen? Und wir ſind ſolche Thoren, und hören nicht auf, in deinen Tempel dir Geſchenke darzubringen, und glauben an deine Weltregierung!

So betete er und faßte ſeines Vaters Altar. Ju¬ piter hörte ihn, und richtete ſeinen Blick vom Olymp auf Karthago. Dann berief er ſeinen Sohn Merkurius. Was hat Aeneas, ſprach er zornig, im feindlichen Lande zu ſchaffen? Nicht dazu habe ich ihn zweimal den Waffen der Griechen, und ſo oft den Stürmen entriſſen. Rom ſoll er mir gründen! Auf der Stelle ſoll er da¬ von ſchiffen, ich will's! und das ſollſt du ihm von mir verkünden, Wie ein Vogel durcheilte der Gott mit ſeinen fliegenden Sohlen die Luft; bald war er in Karthago, und fand hier den Helden Aeneas, wie er eben den Bau neuer Paläſte überwachte. Sein Schwert funkelte von Edelſteinen; ſein Mantel, den Dido ſelbſt gefertigt, glühte von Purpur; er glich vom Kopf bis zur Sohle einem tyriſchen Fürſten, und nicht mehr einem Trojaner. Da ſtellte ſich Merkur, allen Andern unſicht¬ bar, neben ihn, und ſchalt ihm ins Ohr: Weiberſklave, hier ſteheſt du, deiner Beſtimmung und deines Reiches vergeſſend, und baueſt einer Fremden die Stadt! Weißeſt337 du nichts mehr von deinem Sohn Askanius, und von der Römerherrſchaft, die du gründen ſollſt? Wiſſe, Ju¬ piter ſendet mich vom Olymp, dich zu ſtrafen, dich fort¬ zutreiben!

Der Gott war entflogen, ehe ſich Aeneas von ſeiner Betäubung erholen konnte, aber das Göttergebot hallte in ſeiner Seele nach, und geſtattete ihm nicht mehr an Anderes zu denken, als an ſchleunige Flucht. Nachdem er ſeinen Vorſatz von allen Seiten geprüft und erwogen, berief er ſeine vertrauteſten Genoſſen zu ſich an einen einſamen Ort, und befahl ihnen, in aller Stille die Flotte zu rüſten, die Genoſſen am Strande zu verſammeln, die Waffen in Bereitſchaft zu halten, aber die Urſache dieſes neuen Beginnens aufs Vorſichtigſte zu verheimlichen. Er ſelbſt wolle, noch bevor Dido den vom Himmel er¬ zwungenen Treubruch ahne, die günſtigſte Stunde aus¬ ſpähen, um ihr ſo mild als möglich den Beſchluß des Schickſals beizubringen.

Aber wer kann ſich vor einem liebenden Herzen verbergen? Die Königin merkte den Betrug; war ſie doch ſchon bange, als Alles noch ſicher war. Jetzt hatte ihr die tückiſche Fama gemeldet, daß die Trojaner ihre Flotte rüſten und die Abfahrt betreiben. Wie wahnſin¬ nig irrte ſie in den Straßen ihrer Stadt umher, und endlich trat ſie vor ihren Geliebten ſelbſt, und ſprach zu ihm: Treuloſer, du hoffteſt dein Verbrechen mir zu ver¬ hehlen, und dich ſchweigend aus meinem Lande zu ſchlei¬ chen, meine Liebe, meine Hand, mein Tod kann dich nicht zurückhalten? Mitten im Winter betreibſt du die Fahrt, Grauſamer, und willſt dich lieber den Nord¬ winden in den Arm werfen, als in meinen Armen ruhen? Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 22338Warum flieheſt du mich, Aeneas? Bei dieſen Thränen, bei deinem Handſchlag, bei unſerer begonnenen Ehe be¬ ſchwöre ich dich, wenn ich Gutes um dich verdient habe, wenn etwas an Dido dir ſüß war, ſo ändere deine Ge¬ ſinnung, ſo erbarme dich meines ſinkenden Hauſes; um deinetwillen haſſen mich die Völker Libyens, ja die Tyrier ſelbſt, um deinetwillen habe ich der Zucht entſagt, die mich unſterblich machte. Gaſtfreund, denn Gatte biſt du nicht mehr, wem läßeſt du die Sterbende zurück? Soll ich warten, bis mein Bruder Pygmalion meine Mauern ſtürmt, bis der Numidier Jarbas mich in die Gefangen¬ ſchaft führt?

So ſprach die verzweifelnde Dido. Aeneas aber, von Jupiter gewarnt, zeigte keine Regung in ſeinem Blicke, und preßte den Kummer ins Herz zurück. End¬ lich erwiederte er kurz: So lange ich mich ſelbſt kenne, Königin, ſo lange mein Geiſt in dieſen Gliedern ſich regt, werde ich Dido's Wohlthaten nicht vergeſſen. Glaube nicht, daß ich mich wie ein Dieb davonſtehlen wollte; wir ſind nicht vermählt, ich habe nie die Braut¬ fackel angeſprochen, nicht zu ſolchem Bunde bin ich zu dir gekommen. Erlaubte mir das Geſchick, nach freier Wahl mein Leben einzurichten, ſo würde ich zuerſt die geliebte Heimath Troja und des Priamus Haus wieder aufrichten; aber nach Italien heißt mich Apollo ſteuern, dort iſt mein Herz und mein Schatz, dort iſt mein Va¬ terland. Darf ich meinen Sohn um das verheißene Reich betrügen? Jupiter ſelbſt verbietet es mir; Merkur, ſein Bote, iſt mir leibhaftig erſchienen. Deßwegen quäle dich und mich nicht länger mit Klagen; nicht freiwillig ſuche ich Italien auf!

339

Seitwärts gewendet, blickte ſchon lange die Königin den Redenden an, ließ die Augen rollen, maß ihn ſchwei¬ gend von der Sohle bis zum Scheitel, und brach endlich in die Worte der Entrüſtung aus: Keine Göttin hat dich geboren, nicht Dardanus iſt dein Ahn, aus den Felſen des Kaukaſus biſt du entſproſſen, hyrkaniſche Tiger haben dich geſäugt! Hat er bei meinen Thränen auch geſeufzt? Hat er nur das Auge verwendet, die Liebende beweint, bedauert? Als Bettler an den Strand geworfen, habe ich ihn aufgenommen, die Flotte, die Genoſſen aus dem Rachen des Todes ihm zurückgegeben, ihn zu meines Thrones Gemeinſchaft erhoben: und nun ſchützt er ein Orakel des Apollo, nun gar die Ankunft eines Götter¬ boten vor, und einen Befehl der Himmliſchen, als ob dieſen der Treubruch am Herzen läge! Nun wohl, ich ſtreite nicht, ich halte dich nicht, ſuche dein Italien im Sturm! Wenn es noch Götter gibt, wird meine Rache dich in den Klippen finden! Mein Schatten zieht dir nach, und wenn du büßeſt, werd 'ich es in der Tiefe des Hades vernehmen! Athem und Stimme verſagten der Unglücklichen, und ſie wurde von den Armen ihrer Dienerinnen aufgefangen.

Wohl fühlte ſich Aeneas verſucht, den Kummer Dido's durch liebreichen Troſt zu lindern, und ſeine eigene große Liebe zu der Königin bewegte ihm den Geiſt, doch vermochte ſie nicht ihn wankend zu machen; er blieb dem Gebote der Götter treu und wanderte nach ſeiner Flotte. Dieſe war bald ſegelfertig, und Dido mußte es von der Zinne ihrer Burg mit anſehen, wie das Ufer von den Abziehenden wimmelte. Anna, ſprach ſie zur herbeigerufenen Schweſter, ſieheſt du das22 *340Getümmel längs des ganzen Geſtades? hörſt du die Segel in den Lüften ſchwirren, ſiehst du, wie die Schif¬ fer die Verdecke bekränzen? Ach, hätte ich das geahnt, ich würde es auch zu ertragen vermögen! Jetzt aber bitte ich dich Schweſter, thu 'es mir Armen zu lieb'; dich hat ja der Verräther immer geehrt, hat dir ſeine geheimſten Gefühle anvertraut: geh 'zu ihm, Schweſter, rede den ſtolzen Feind mit unterthänigen Worten an. Frag' ihn, ob ich denn eine Griechin ſey, die zu Aulis Troja's Untergang mitbeſchworen habe, ob ich die Aſche ſeines Vaters Anchiſes frevelnd in die Lüfte geſtreut, daß er ſolche Rache an mir zu nehmen beſchloſſen? Heiß 'ihn wenigſtens beſſere Zeit zur Flucht, günſtigere Winde erwarten; ich verlange ja nicht, daß er auf Italien verzichte; ich will nur eine Friſt für meine wahnſinnige Liebe, will nur Muße, bis ich mein Schickſal begreifen und trauen gelernt habe!

Alſo flehete ſie und die geängſtigte Schweſter ging und trug dem Helden die Thränen Dido's noch einmal vor. Ihn aber vermochte kein Menſchenwort ferner zu erweichen; ein Gott verſchloß dem gefühlvollen Manne das ſonſt jedem Schmerz offene Ohr. Wie wenn die Nordwinde den uralten Stamm einer Eiche, von beiden Seiten her ihn faſſend, auszuwühlen ſich abmühen: die Wipfel rauſchen, der Stamm bebt, fallende Blätter decken den Boden; ſie aber haftet feſt im Felſenboden und ſo hoch ihr Scheitel in die Luft ragt, ſo tief ſtreckt ſie ihre Wurzeln hinunter in die Tiefe gerade ſo wurde der Held von den beiden Schweſtern mit Bitten bedrängt, und er fühlte auch in ſeinem edlen Herzen alle die Qualen; aber er blieb unbeweglich, wie die Eiche.

341

Jetzt erſt erkannte Dido den Willen des Schickſals und wünſchte ſich den Tod; ja, ſie mochte den Himmel über ſich nicht mehr ſehen. Noch mehr beſtärkte ſie in ihrem Entſchluſſe zu ſterben, das ſchreckliche Zeichen, das ihr der Himmel beim neueſten Opfer vor Augen ſtellte, wo der aus der Schaale gegoſſene helle Wein ſich in ſchwarzes Blut verwandelte. Dieſes Vorzeichen erzählte ſie Niemand, ſelbſt der Schweſter nicht. Seitdem dachte ſie nur darauf, wie ſie alle die Ihrigen täuſchen und ſich auf die ſicherſte Weiſe den Untergang bereiten könnte. Deßwegen trat ſie mit heiterer Miene, Hoffnung in den Augen und das gräßliche Vorhaben ſorgfältig verbergend, vor die Schweſter und ſprach: Preiſe mich glücklich, liebe Anna! Ich habe ein Mittel gefunden, das mir den Treuloſen entweder zurückgeben, oder mich von meiner Liebe befreien muß. Eine Aethioperin, die in den Heſ¬ peridengärten des Tempels dieſer Göttinnen pflegt, iſt hier und verſpricht mir durch ihren Zaubergeſang, ent¬ weder das Herz des Geliebten zu gewinnen, oder mein eigenes der Liebe los und ledig zu machen. Sie hat aber dazu gewiſſe Gebräuche vorgeſchrieben: nun nehme ich ſelbſt in einer Sache, die mich ſo nahe betrifft, nicht gerne meine Zuflucht zu magiſchen Künſten, deßwegen beſchwöre ich dich, liebſte Schweſter, errichte mir, wie die Zauberin vorgeſchrieben, im innern Schloßhofe heim¬ lich einen Scheiterhaufen, lege darauf die Waffen des ungetreuen Mannes, die er in ſeinem Gemache zurück¬ gelaſſen hat, ſeine Gewande, die Betten ſeines Lagers. Alle Ueberbleibſel des Schändlichen möchte ich vertilgen und überdem ordnet es die Prieſterin ſo an.

Dido ſprach und verſtummte, indem Todtenbläſſe342 ſich über ihr Antlitz verbreitete. Ihre Schweſter Anna muthmaßte indeſſen nicht, daß ſich hinter tiefem ſeltſa¬ men und neuen Opfergebrauch ein Gedanke des Selbſt¬ mords verſtecke; ſie ahnte nicht, von welcher Raſerei das Gemüth ihrer Schweſter ergriffen ſey; auch befürchtete ſie nichts Schlimmeres als beim Tode des erſten Ge¬ mahls ihrer Schweſter, des Tyriers Sychäus, und ging ſich ihres Auftrags zu entledigen.

Sobald aber der Holzſtoß ſich in die Luft erhob, aus Kien und Eichenholz aufgeſchichtet, erſchien die Kö¬ nigin ſelbſt, bekränzte ihn mit Cypreſſenzweigen und zog Blumenketten rings um ihn her. Dann legte ſie Schwert, Gewande und Bildniß des Aeneas darauf, und ringsum ſtanden Altäre aufgerichtet. Die fremde Seherin mit fliegendem Haare, rief alle Götter der Unterwelt an, und goß einen eigenen Höllentrank auf den brennenden Schei¬ terhaufen aus; Kräuter, die mit Eicheln im Monden¬ ſchein abgemäht worden waren, wurden darauf geworfen und noch allerlei Beſchwörungen vorgenommen. Dann kehrte die trauernde Königin zur letzten Nachtruhe auf Erden in ihren Palaſt zurück.

Aeneas lag indeſſen, nachdem die Abfahrt beſchloſ¬ ſen war, auf dem Hinterverdecke des Schiffes, dem Schlum¬ mer hingegeben. Da erſchien ihm noch einmal der Gott Merkurius im Traume und ſchien ihn zu ermahnen: Sohn der Göttin, wie kannſt du in ſo gefährlicher Lage ſchlummern? Sieheſt du nicht, wie viele Gefahren dich umringen? Hörſt du die günſtigen Weſtwinde nicht ſauſen? Betrug, gräßliche Frevel der Nachgier wälzt die verlaſſene Königin in ihrem Herzen! Wirſt du nicht fliehen, ſo lange du noch kannſt? Erſchrocken ſprang343 der Held vom Lager auf und trieb die Genoſſen zur ſchleunigen Flucht an.

Die Morgenröthe war inzwiſchen angebrochen, die Königin hatte den Söller beſtiegen, ſah den Strand leer und die Flotte mit ſchwellenden Segeln auf der hohen See. Schmerzvoll ſchlug ſie mit der Hand an ihre Bruſt, raufte ſich die blonden Locken aus, und nach langem Wehklagen rief ſie ihre Amme Barce, und befahl ihre theure Schweſter Anna herbeizurufen. Sobald ſie ſich allein ſah ſtürmte ſie in den innern Hof der Burg und beſtieg vom Taumel des Wahnſinns getrieben das hohe Gerüſt, auf welchem das Schwert ihres treuloſen Ge¬ liebten lag; dieſes zog ſie aus der Scheide, warf ſich auf das Bett und die Kleider des Helden, die zu oberſt ausgebreitet lagen, und ſprach von dem hohen Holzſtoße herab in die einſamen Lüfte die Abſchiedsworte: Ihr ſüßen Ueberbleibſel glücklicherer Tage, nehmet dieß Leben von mir, erlöſet mich von aller Betrübniß! Dido hat ausgelebt, hat den vorgeſchriebenen Lauf des Schickſals geendigt. Nicht als ein kleiner Schatten wird ſie zur Unterwelt hinabſteigen! Ich habe eine herrliche Stadt gegründet, habe Mauern erblickt, von mir aufgebaute habe meinen Gemahl Sychäus gerächt, meinen feindſee¬ ligen Bruder beſtraft! In Allem wäre ich glücklich ge¬ weſen, hätte der Trojaner mit ſeiner Flotte nicht an Li¬ byens Küſte gelandet! Sie konnte vor Schmerz nicht weiter ſprechen, drückte ihr Geſicht in den Pfuhl und ſtieß ſich das Schwert in die Bruſt.

Auf ihr Stöhnen eilten ihre Dienerinnen aus dem Palaſt und ſahen ſie zuſammengeſunken, den Stahl von Blut geröthet, die Hände beſpritzt. Lautes Jammergeſchrei344 tönte durch die Gemächer und tobte durch die er¬ ſchütterte Stadt. Mitten im Laufe denn ſie war auf den Ruf der Alten mit dem letzten Opfergeräthe her¬ beigeeilt vernahm Anna die entſetzliche That. Sie ſchlug ſich die Bruſt mit den Fäuſten, zerfleiſchte mit den Nägeln ihr Antlitz und ſtürzte durch das Gedränge des ſich ſammelnden Volkes in den Hof der Königsburg hinab. Schweſter, Schweſter! rief ſie der Sterbenden ſchon von weitem zu, was haſt du gethan, wie haſt du mich betrogen? Warum haſt du mich nicht zur Gefähr¬ tin deines Todes erkohren? du haſt mich doch getödtet; das Volk, deine Väter, die ganze Stadt haſt du ge¬ mordet! Unter ſolchen Wehklagen erſtieg ſie die Stu¬ fen des Holzſtoßes, und umarmte die kaum noch Athem holende Schweſter, die mit Mühe den Blick erhob und deren ſchwarze Wunde aufs Neue zu bluten anfing. Drei¬ mal ſtrebte ſie vergebens ſich aufzurichten und hauchte zuſammengeſunken den Geiſt in den Armen der Schweſter aus.

[345]

Fünftes Buch.

Aeneas. Zweiter Theil.

Der Tod des Palinurus. Landung in Italien. Latinus. La¬ vinia. Dieſe dem Aeneas zugeſagt. Juno facht Krieg an. Amata. Turnus. Die Jagd der Trojaner. Ausbruch des Krie¬ ges. Aeneas ſucht bei Evander Hülfe. Turnus beim Lager der Trojaner. Niſus und Euryalus. Sturm des Turnus abge¬ ſchlagen. Aeneas kommt ins Lager zurück. Aeneas und Tur¬ nus kämpfen. Turnus tödtet den Pallas. Turnus von Juno ge¬ rettet. Lauſus und Mezentius von Aeneas erſchlagen.

[346][347]

Der Tod des Palinurus. Landung in Italien. Latinus. Lavinia.

Aeneas mußte das Ende Dido's, das ſein Leicht¬ ſinn herbeigeführt hatte, obgleich ihm von den Göttern ſelbſt geboten worden war, ſie zu verlaſſen, mit neuen Irrfahrten und wiederholten Unglücksfällen büßen. Ein Sturm verſchlug ihn rückwärts nach Sicilien, wo er vom Könige Aceſtes, deſſen Mutter eine Trojanerin war, gütig aufgenommen wurde, und dem Schatten ſeines Vaters Anchiſes, welchen er ein Jahr zuvor bei Drepanum begraben hatte, bei der Wiederkehr dieſes Tages herrliche Leichenſpiele feierte. Inzwiſchen warfen die trojaniſchen Frauen, von der Botin Juno's, Iris, angereizt und der langen Seefahrt überdrüſſig, Feuer in die Flotte, daß vier der ſchönſten Schiffe verbrannten; die übrigen ret¬ tete Jupiter durch einen Regenguß. In der folgenden Nacht erſchien dem kummervollen Helden ſein Vater An¬ chiſes im Traum und brachte ihm Jupiters Befehl, die älteren Weiber und unkriegeriſchen Greiſe in Sicilien zurückzulaſſen: er ſelbſt ſolle mit dem Kern der Mannſchaft nach Italien ſegeln.

Der Held gehorchte dem Götterwinke, gründete zu Ehren ſeines königlichen Wirthes die Stadt Aceſta in Sicilien und vervölkerte ſie mit den Greiſen und den alten Müttern ſeiner Flotte; er ſelbſt brach mit den kräftigſten Männern, den Jünglingen, Frauen, Jungfrauen und Knaben der Auswanderung auf und verließ die Küſte. 348Dießmal gewährte ihm Neptunus, durch die Bitten der Liebesgöttin bewältigt, ſicheres Meer und glückliche Fahrt. Zuletzt wurden ſie bei dem günſtigſten Winde und blaue¬ ſten Himmel ſo ſorglos, daß die Ruderer ſelbſt in einer heitern Nacht ſich unter ihre Ruderbänke legten und dem tiefſten Schlafe überließen. Der verführeriſche Gott des Schlafes hatte ſich von dem am hellen Nachthimmel funkelnden Geſtirnen des Aethers herabgeſenkt, und nahte in der Geſtalt des Helden Phorbas ſelbſt dem wachſa¬ men Steuermanne Palinurus, der auf dem hohen Ver¬ deck am Steuer ſaß: Sohn des Jaſius, ſprach er leiſe zu ihm, ſieheſt du nicht, wie das Meer die Flotte ſelber treibt und die ſanftwehende Luft dich einlädt, end¬ lich einmal auch ein Stündlein dir Ruhe zu gönnen? Lege doch dein Haupt nieder, entziehe die ermüdeten Augen der ſteten Arbeit, komm, laß mich ein wenig dein Amt für dich übernehmen! Palinurus vermochte kaum den ſchläfrigen Blick gegen den Redenden aufzuheben und ſprach: Was ſprichſt du? Ich ſoll das tückiſche Ele¬ ment nicht kennen, wenn es Ruhe heuchelt, und ihm ver¬ trauen? Ich, den ſo oft der Betrug des heitern Himmels hintergangen hat! So ſprach er und klammerte ſich an das Ruder, indem er ſich zwang, ſeine Augen nach den Sternen zu richten. Aber der Gott träufelte ihm in einem Zweige ein paar Tropfen vom Lethe auf ſeine Schläfe, und plötzlich ſchloßen ſich ſeine Augen. Da nickte er über das Verdeck, daß es zuſammenbrach, der Gott gab ihm einen Stoß und Palinurus ſtürzte mit ſamt dem Steuer kopfüber in die Wellen. Der Schlaf erhob ſich wie ein Vogel in die Luft. In den Wogen349 erwachte der arme Steuermann und rief umſonſt, ver¬ ſinkend, die Hülfe ſeiner ſchlafenden Genoſſen an.

Die Flotte verfolgte indeſſen, unter dem verſproche¬ nen Schutze des Meergottes, auch ohne Steuermann ih¬ ren Weg, und endlich war Italiens Küſte erreicht. Er fuhr das Geſtade entlang und landete zuletzt in dem Hafen von Cajeta. Damals hatte er dieſen Namen noch nicht, und erhielt ihn erſt von der alten treuen Amme des Helden, welche Cajeta hieß, nach der Landung hier ſtarb, und ehe der Zug weiter ging, an dem Orte feier¬ lich beigeſetzt wurde. Dann begab ſich Aeneas noch ein¬ mal mit ſeinen Gefährten zu Schiffe und gelangte glück¬ lich in den Hafen von Oſia. Hier ſah er vom Meer aus ein großes Gehölz; zwiſchen dieſem brach der Tiber¬ ſtrom, gelb von Sande, unter reißenden Wirbeln ſich ſeine Bahn ins Meer. Bunte Vögel umflatterten unter lieblichem Geſange den Ausfluß und durchſchwebten den Hain.

Das italiſche Land, in welchem ſich die trojaniſchen Auswanderer nun befanden, war das alte Latium, das Gebiet der Laurenter. Seine ruhigen Städte und Felder beherrſchte ein ſchon alternder König, mit Namen Lati¬ nus, ein Sohn des Faunus und ein Urenkel des Gottes Saturnus. Das Geſchick hatte dieſem Fürſten keinen Sohn gegönnt; aber um ſeine einzige ſchon herangereifte ſchöne Tochter Lavinia warben aus Latium und ganz Italien viele Fürſtenſöhne, vor Allen der ſchönſte aller Jünglinge, der Sohn Daunus des Rutulerköniges und ihn begünſtigte die Mutter Lavinia's, die Königin Amata, vor allen Andern. Aber ſchreckhafte Götterzeichen ſetzten ſich dieſer Verbindung entgegen. In den hohen Höfen der350 latiniſchen Königsburg ſtand ein Lorbeerbaum, welchen der alte König ſchon angetroffen und dem Phöbus ge¬ weiht hatte, als er den Palaſt gründete. Nun beſetzte einſt plötzlich den Gipfel des Baumes ein dichter Bie¬ nenſchwarm, der mit lautem Geſumſe durch die heitere Luſt herbeigeflogen kam; Füße an Füße klammernd, hing der ganze Schwarm, wie eine Blumendolde plötzlich vom grünenden Aſte des Baumes herunter. Man rief einen Wahrſager herbei, der das Zeichen deuten ſollte. Dieſer ſprach: Ich ſehe einen Mann und ein Heer vom Auslande herbeiziehen, aus Einer Himmelsgegend nach Einer Himmelsgegend, und ſehe ihn zu oberſt in dieſer Burg herrſchen! Und wiederum geſchah ein neues Zei¬ chen. Als die Jungfrau Lavinia mit ihrem Vater am Altare ſtand, und dieſer die Opferflamme anfachte, da ſchien es, als fingen die Locken der Jungfrau Feuer, ihr Haar brenne, die Krone von Gold und Edelſteinen glühe, und verſtreue, in Rauch und Flammen gehüllt, Gluth durch den ganzen Palaſt. Das wurde nun vol¬ lends für ein bedeutſames und grauſenhaftes Wunder gehalten: zwar Lavinia ſelbſt ſo lautete die Deutung der Seher gehe einem herrlichen Geſchick und großen Ruhm entgegen, aber dem Volke weiſſage dieſes Zeichen einen fürchterlichen Kriegsbrand. Latinus befragte dar¬ über das Orakel ſeines Vaters Faunus. Aber auch dieſes wahrſagte ihm einen fremden Eidam, aus deſſen Stamm ein Geſchlecht erwachſen werde, dem die Herr¬ ſchaft der ganzen Welt beſtimmt ſey.

Am Tibergeſtade ſtreckte ſich der gelandete Aeneas mit ſeinem Sohne Julus und den übrigen Trojanerfür¬ ſten unter einem hohen, ſchattigen Baume nieder, und351 bereitete ein Mahl. In der Eile nahmen ſie ſich nicht einmal die Mühe, das Geräthe aus den Schiffen her¬ beizuholen, ſondern ſie buken breite Weizenkuchen, die ih¬ nen ſtatt der Tiſche und Teller dienten, und auf welchen ſie die Speiſen ausbreiteten. Als der kleine Verrath, den ſie mit zu Lande gebracht, verzehrt und ihr Hunger noch nicht geſtillt war, ergriffen ſie Teller und Tiſche von Weizenmehl und biſſen rüſtig ein. Da ſagte der kleine Julus lachend: Wir verzehren ja unſere eigenen Tiſche! Dieſer Scherz fiel Allen mit ſchwerem entſcheidenden Ge¬ wicht ins Ohr. Freudig ſprang Aeneas vom Boden auf und rief: Heil dir, du fremdes Land! du biſt's, das mir vom Geſchicke verheißene! Auf heitre Weiſe wird erfüllt, was uns die Harpie Celäno als etwas Entſetzliches prophezeit hatte. Der Hunger werde uns an unbekannten Geſtaden, ſo krächzte ſie, nöthigen, die eigenen Tiſche zu verzehren. Wohlan denn, es iſt ge¬ ſchehen, der Spruch hat ſich erfüllt, von dem auch mein Vater Anchiſes mir geweiſſagt hatte. Wenn dieſes ge¬ ſchieht, ſprach er, dann iſt das Ende der Mühſeligkeiten da, dann bauet Häuſer!

Jetzt erkundigten ſich die Fremdlinge, welche, das fruchlbare Land durchſtreifend, bald auf Wohnungen ſtießen, nach dem Volk und Könige des Landes und ſchnell ward eine Geſandtſchaft an Latinus, den König der Laurenter beſchloſſen.

352

Lavinia dem Aeneas zugeſagt.

Der Sohn des Anchiſes wählte aus allen Schiffen des Geſchwaders die ausgezeichnetſten Männer, hundert an der Zahl, als Redner oder Geſandte, die an den Laurenterkönig abgeſchickt werden ſollten. Dieſe traten, bebänderte Oelzweige, gleich Schutzflehenden, in den Händen, die Reiſe an und gelangten bald in die Stadt der Latiner. Vor der Stadt tummelte ſich die Jugend Latiums zu Wagen und Roß, andere vergnügten ſich mit Wurfſpießwerfen und Bogenſchießen, mit Fauſtkampf und Wettrennen. Als nun die fremden Geſandten kamen, eilte ein Bote zu Roß in die Stadt voran und brachte dem alten Könige die unerwartete Botſchaft, daß eine Schaar großer, herrlicher Männer friedlich herannahe. Dieſer befahl ſogleich, ſie in ſeine Wohnung zu rufen und verſammelte alle die Seinigen um den Thron ſeiner Ahnen.

Der Palaſt des Königs war groß und herrlich, in der oberſten Burg der Stadt gelegen. Hundert Säulen trugen ihn, und ein heiliger Hain umringte ihn mit hohen, Ehrfurcht gebietenden Bäumen. Im Innern deſ¬ ſelben ſaß auf einem hohen Throne Latinus und beſchied die Trojaner vor ſich. Als ſie eingetreten waren, ſprach er mit freundlichem Angeſichte: Euer Geſchlecht iſt mir nicht unbekannt, ihr Dardaniden, und ihr waret mir ver¬ kündiget, noch als ihr lang auf dem Meere umherirrtet. Möget ihr nun durch Stürme hieher verſchlagen, oder353 abſichtlich gekommen ſeyn! wiſſet, daß ihr an keiner ungaſtlichen Küſte gelandet habt. Verkennet in uns Latinern nicht das harmloſe Geſchlecht des Saturnus, das ohne Zwang und Geſetz Billigkeit übt, und den alten, frommen Gebräuchen des Gottes mit edler Freiheit folgt! Auch erinnere ich mich wohl noch (obgleich die Sage durch viele Jahrhunderte verdunkelt iſt), daß euer Ahn¬ herr Dardanus aus dieſer unſerer Gegend abſtammen ſolle.

Ihm erwiederte Ilioneus, der von Allen zum Sprecher auserſehen war: Kein Orkan hat uns an dein Geſtade genöthigt, erhabener Sohn des Faunus, kein Geſtirn hat uns in der Richtung des Weges ge¬ täuſcht! Mit freiem Willen erreichten wir dein Ufer, und bewußte Abſicht hat uns an daſſelbe geführt. Wir ſind aus einem herrlichen Reiche vertrieben worden, und der Erzvater unſeres Geſchlechtes iſt Jupiter ſelbſt. Auch unſer Fürſt und Anführer Aeneas, der Sohn der Göttin Venus, iſt Jupiters Enkel, und er ſelbſt iſt es, der uns in deinen Palaſt geſendet hat. Den Sturm, der Troja niedergeriſſen, kennt alle Welt; auch dir iſt er nicht un¬ bekannt geblieben. Dieſer Verwüſtung ſind wir entflohen und flehen euch um einen Fleck an, wo wir die Götter unſerer Heimath aufſtellen können, um ein ſicheres Ufer, um Waſſer und Luft, die ein gemeinſames Gut aller Sterblichen ſind! Es wird Italien nie gereuen, Troja in ſeinen Schooß aufgenommen zu haben. Stammt doch Dardanus von hier, und ruft uns hierher zurück. Auch trieb uns ein beſonderes Gebot der Götter, dieſes Land aufzuſuchen. Damit du aber erkenneſt, o König, daß wir in Wahrheit diejenigen ſind, für welche wir uns aus¬ geben, ſo verehrt dir unſer Führer Aeneas die Geſchenke,Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 23354die wir für dich mitgebracht haben, und die freilich nur kleine Ueberbleibſel aus Troja's Brande ſind: dieſen goldenen Pokal, aus welchem der Vater unſeres Helden, Anchiſes, ſein Trankopfer zu verrichten pflegte; dieß Ge¬ wand des hohen Königs Priamus, das er trug, wenn er dem zuſammengerufenen Volke Recht ſprach, endlich ſeinen heiligen Kopfſchmuck, ſeinen Scepter und andere Gewande, ein kunſtvolles Werk trojaniſcher Frauen¬ hände!

Während Ilioneus ſprach, hatte der alte König Latinus die Augen unbeweglich zu Boden geſenkt, wie ein tief Nachdenkender: er gab wenig auf die herrlichen Geſchenke Achtung, welche die Geſandten vor den Stu¬ fen ſeines Thrones ausbreiteten: wohl bewegte er in ſeinem Herzen den Orakelſpruch ſeines Vaters Faunus. Auf einmal wurde ihm klar, dieſer und kein Anderer ſey der verheißene Bräutigam ſeiner Tochter, dieſer zur ge¬ meinſchaftlichen Beherrſchung des Reiches auserſehen; aus ihm werde das Geſchlecht aufſprießen, das beſtimmt ſey, über die ganze Erde zu herrſchen. Da erheiterte ſich ſeine Miene, er richtete ſein Haupt auf und ſprach: Mögen die Götter unſer Werk und ihre Verheißung ſegnen. Ich gewähre eure Wünſche, Trojaner, und eure Geſchenke nehme ich an. Nur ſoll Aeneas ſelbſt zu mir kommen, und ſich vor dem Angeſicht eines Freundes nicht ſcheuen. Ihr aber überbringet ihm mein Anerbieten. Mein iſt eine einzige Tochter, die mir das Orakel mei¬ nes Vaters, verbunden mit andern Wunderzeichen, nicht vergönnt, einem einheimiſchen Manne zu vermählen. Aus dem Auslande ſoll mir, nach der Weiſſagung, der Gatte meiner Tochter kommen.

355

Nachdem er ſo geſprochen, ließ der alte König aus ſeinem herrlichen Marſtall, in welchem an hohen Krip¬ pen dreihundert der ſchmuckſten Roſſe ſtanden, für jeden Trojaner ein mit Purpur gedecktes Pferd herbeiführen; goldene Ketten hingen den Roſſen bis an die Bruſt her¬ ab, das Geſchirr und der Zaum ihres Mundes war von Gold. Dem Aeneas ſelbſt aber ſandte er einen Wagen ſamt einem Doppelgeſpann, ſchnaubende Roſſe aus un¬ ſterblichem Saamen gezeugt.

Juno facht Krieg an. Amata. Turnus. Die Jagd der Trojaner.

Dieſes Glück des Aeneas konnte ſeine Feindin Juno nicht mit gleichgültigen Augen betrachten. Sie rief die Furie Alekto aus der Unterwelt herauf, um die Eintracht im Keime zu zerſtören. Dieſe ſchwebte zuerſt nach La¬ tium und nahm Beſitz von dem ſtillen Gemache der Amata; ſie warf der Königin, der ohnedem ſchon peinliche Sorgen über das Herannahen der Trojaner und die er¬ ſehnte Vermählung ihrer Tochter Lavinia mit dem Ru¬ tulerfürſten Turnus das Herz zernagten, heimlich aus ihrem Schlangenhaare eine der Nattern auf die Bruſt, damit ſie von dieſem Scheuſal angefreſſen, das ganze Haus in Verwirrung bringe. Die Schlange verwandelte ſich ſofort in Amata's goldenen Halsring, in ihren lan¬ gen Schleier, ihr Lockengeſchmeide und durchſchlüpfte und umirrte ihr ſo alle Glieder. Zu gleicher Zeit träu¬ felte ſie unvermerkt ihr Gift auf die Haut, und dieſes fing an den Leib zu durchrieſeln. So lang es noch nicht bis ins Mark der Gebeine durchgedrungen war,23 *356zeigte ſich noch nicht ſeine volle Wirkung; es äußerte ſich nicht anders, als wie natürliche Gemüthsbewegungen ſich zu offenbaren pflegen: Amata fing an zu weinen und über die Vermählung iher Tochter zu klagen: Grauſa¬ mer Gatte, ſagte ſie zu ſich ſelbſt, du haſt weder mit mir noch mit deiner Tochter Mitleid! Wo iſt deine frü¬ here Sorge um die Deinigen, wo das heilige Wort, das du ſo oft deinem Blutsverwandten Turnus gegeben haſt? An heimathloſe Flüchtlinge verſchenkſt du unſer Kind!

Solche Klagen richtete ſie auch an ihren Gemahl ſelbſt. Aber als ſie ihn feſt und unwiderruflich auf ſei¬ nem Beſchluſſe beharren ſah, da erſt durchſtrömte ſie das Schlangengift der Furie ganz und ſie tobte wie wahn¬ ſinnig durch die Stadt. Nun war Alekto zufrieden, und hatte hier das Werk, das ihr Juno aufgetragen, voll¬ bracht. Sofort ſchwang ſie ſich in die Hauptſtadt der Rutuler, welche die Geliebte Jupiters, Danae, gegründet haben ſoll, und die von Alters her den Namen Ardea führte. Hier fand ſie im Innerſten des Königspalaſtes den Fürſten Turnus in tiefem Schlafe. Da legte Alekto ihre Furienkleider ab, und nahm die Geſtalt eines alten Weibes an, mit häßlichen Runzeln auf der Stirne und unter dem Schleier hervorquellenden grauen Haaren, um welche ſich ein Olivenzweig ſchlang, ſo daß ſie ganz und gar der greiſen Kalybe, der Tempelprieſterin Juno's glich. In dieſer Geſtalt trat ſie vor den ſchlummernden Jüngling und ſprach: Iſt es auch möglich, Turnus, kannſt du ohne Zorn es mit anſehen, wie alle deine Hoffnung vereitelt und der Scepter der dich erwartete, an trojaniſche Landfahrer verſchenkt wird? Mich ſendet Juno ſelbſt zu dir: du ſollſt dein Volk waffnen, ſollſt357 zum freudigen Kampf aus den Thoren ziehen, am Strande den Phrygiern ihre bunten Schiffe verbrennen und ſie ſelbſt vertilgen! Lachend erwiederte im Traume der Jüngling: Alte! daß die Trojanerflotte in die Tiber eingelaufen iſt, und Juno meiner gedenkt, wußte ich ſchon längſt, das andere ſind Schreckbilder, mit denen dich dein Alter quält. Warte du der Götterbilder und des Tem¬ pels. Krieg und Frieden laß den Mann betreiben!

Die Furie durchbebte ein Zorn bei dieſen Worten, und der Jüngling empfand ihren Schauer auf der Stelle. Er hörte das Ziſchen ihrer Hydern, ſein Blick erſtarrte und er wollte noch mehreres erwiedern, als die nächt¬ liche Geſtalt, plötzlich übermenſchlich groß geworden, den Aufgerichteten mit einem Stoß aufs Lager zurückwarf, aus dem Haare zwei Schlangen hervorzog, mit ihnen, wie mit einer Peitſche zu klatſchen anfing und dazu mit ſchäumendem Munde ſprach: Meinſt du noch, ich ſey ein verſchimmeltes altes Weib, und verſtehe mich nicht auf den Zwiſt der Könige? Erkenne die Rachegöttin in mir, die Krieg und Tod in ihrer Hand trägt! In die¬ ſem Augenblicke warf ſie ihre Fackel, die der Jüngling in ihrer Furienhand geſchwungen ſah, ihm auf die offen¬ liegende Bruſt, ſo daß der ſchwarze, qualmende Brand ſich feſt in ſein Fleiſch heftete. Seine Glieder und Ge¬ beine überſtrömte ein Schweiß. Waffen! ſchnaubte er noch in der Beſinnungsloſigkeit des Schlafes; Waffen ſuchte er erwacht in ſeinem Bette, erſtanden in ſeinem Hauſe; raſende Kriegswuth tobte in ſeiner Bruſt, wie die Welle in einem ſiedenden Keſſel unter dem Reiſig¬ feuer aufhüpft. Sobald der Morgen angebrochen war, beſchickte er die Häuptlinge ſeines Volkes, und hieß ſie358 zu den Waffen gegen den treuloſen König Latinus grei¬ fen, und ſich zum Kampfe gegen Beide, Latiner und Trojaner, rüſten.

Während ſo Turnus den Muth ſeiner Landsleute ſtachelte, flog die Furie zuletzt auch noch an den Tiber¬ ſtrand, wo Julus mit ſeinen Begleitern, in den dichten Uferwäldern eben dem Wild auf die Jagd nachging. Hier beſeelte Alekto die Spürhunde mit plötzlicher Wuth, berührte ihre Naſen mit dem bekannten Geruch und jagte ſie ganz hitzig einem Hirſche nach. Dieſes Wild war beſonders herrlich und von Geweihen hoch: die Knaben des Tyrrhus, welcher der Oberhirte über die Heerden des Königs Latinus war, hüteten ſein; denn er war vom Euter ſeiner Mutter weggenommen und in den Wäldern des Königs aufgefüttert worden. Die Tochter des Tyrrhus, Silvia, hatte das Thier ganz an ihre Befehle gewöhnt, ſie kämmte es, wuſch es in lauterer Waldquelle und ſchmückte ſeine Hörner mit weichen Blu¬ menkränzen; es ließ ſich willig von ihr ſtreicheln, war an den Tiſch ſeines Herrn gewöhnt, irrte frei in den Wäldern umher und ſtellte ſich jeden Abend freiwillig in der Wohnung des königlichen Hüters.

Auf die Spur dieſes ſchönen zahmen Hirſches führte die Furie des Askanius Rüden, während er eben den heißen Uferſand, nach Kühlung begehrend, verlaſſen hatte und den Tiberſtrom hinabſchwamm. Askanius faßte das herrliche Wild ins Auge, drückte den Pfeil vom Bogen ab und ſandte ihn tief in das Gedärme des Thieres. Der verwundete Hirſch fuhr aus dem Waſſer, kam blutig zum wohlbekannten Hauſe ſeines Herrn, ſchleppte ſich ächzend in den Stall, und erfüllte, wie ein um359 Mitleid Flehender, das ganze Haus mit Gewinſel an. Jam¬ mernd entdeckte zuerſt Silvia ihren Liebling, und rief mit lautem Geſchrei die Bauern der Umgegend zu Hülfe. Dieſe kamen mit angebrannten Pfählen und Keulen be¬ waffnet: Tyrrhus ſelbſt rief ſeinen Geſellen herbei, der juſt eine ſtämmige Eiche mit dem Beil ſpaltete; und als Alekto den rechten Zeitpunkt erſehen, ſtellte ſie ſich auf den Giebel des Hofgebäudes und ließ durch das ge¬ wundene Horn den lauten Hirtenruf in die Gegend hin¬ austönen. Von allen Seiten ſtrömte jetzt tobendes Bauernvolk herbei, aber auch dem Askanius kam die trojaniſche Mannſchaft zu Hülfe. Bald waren es auf der andern Seite auch nicht mehr blos mit Prügeln bewaffnete Haufen; es hatten ſich zwei ordentliche Schlacht¬ reihen gebildet: Schwerter wurden gezogen, Bogen ge¬ ſpannt.

Der erſte Pfeilſchuß von Seiten der jagenden Tro¬ janer, die ſich gegen die anſtürmenden Feinde zur Wehr ſetzten, traf den älteſten Sohn des Tyrrhus, Almo, in die Kehle, daß ihm Stimme und Leben zugleich ſchwand. Nun begann ein allgemeines Gemetzel unter den Hirten. Der ehrlichſte und begüterſte Bauer in ganz Latium, der alte Galäſus, der fünf Rinder - und fünf Schaafheerden beſaß, und hundert Pflüge über ſeine Aecker gehen hatte, war aus den Schaaren des Bauernvolkes hervorgetreten, um den Frieden zu vermitteln; aber er wurde nicht an¬ gehört und ein Pfeilregen bedeckte ihn, unter dem er ſter¬ bend erlag. Jetzt ſtürzten die überwältigten Hirten aus dem Kampfe in die Stadt, und trugen ihre Erſchlagenen, den Almo, den Galäſus und viele Andere wehklagend durch die Thore. Sie riefen die Götter laut um Hülfe360 an, eilten auf den Königspalaſt zu und verſammelten ſich um Latinus, ihren Herrn. Auch Turnus fand ſich ſchreiend und tobend ein, mit der lauten Anklage, daß die Herrſchaft des Landes an die Trojaner verrathen werde. So umringten ſie Alle, in Klagen und Lärm wetteifernd, die Königsburg des Alten. Dieſer aber ſtand unbeweglich, wie ein Fels im Meere. Dennoch vermochte er dem blinden Toben in die Länge nicht Widerſtand zu leiſten. Wehe mir, rief er endlich, ich fühl 'es wohl, uns reißt der Sturm fort. Armes Volk, du wirſt gegen den Willen der Götter kämpfend, dieſen Frevel mit deinem eigenen Blute büßen! Auch du Tur¬ nus, wirſt dem Strafgerichte des Himmels nicht ent¬ gehen! Ich aber glaubte ſchon im Hafen zu ſeyn, und hoffte in Ruhe zu enden, nun gönnt ihr mir nicht ein¬ mal einen friedlichen Tod!

Der Götterkönigin Juno, der Feindin Troja's, dauerte der Verzug zu lange. In der Latinerſtadt ſtand ein Tempel des Krieges mit zwiefachen Pfoſten, von hundert ehernen Riegeln verſchloſſen; ſein Hüter iſt Janus, der uralte Städtegott der Latiner. Wenn die Häupter des Volkes blutigen Kampf auf Leben und Tod beſchließen, ſo öffnet der König ſelbſt im feierlichen Kriegsgewande die knarrenden Pfoſten. Die¬ ſes zu thun, ermahnte das Volk jetzt auch ſeinen König Latinus, er aber weigerte ſich dieſes gräßlichen Dienſtes und verbarg ſich in die tiefſte Einſamkeit ſeines Palaſtes. Da ſchwang ſich Juno ſelbſt vom Himmel hernieder, ſtieß mit eigener Götterhand an die widerſtrebenden Pfo¬ ſten, drehte die Angeln, und donnernd fuhren die eher¬ nen Pforten des Kriegstempels auseinander.

361

Ausbruch des Krieges. Aeneas ſucht bei Evander Hülfe.

Ganz Italien, ſo ruhig und friedſam es vorher war, gerieth in plötzlichen Brand. In allen Häuſern wurden die Schilde geglättet, die Speere geſpitzt, die Aexte am Schleifſtein gewetzt; die Trompeten riefen zum Marſche, die Fahnen flatterten. Alle Männer griffen zu den Waffen, die Einen zogen zu Fuß ins Feld, die Andern wirbelten hoch zu Roſſe den Staub des Weges auf; Streitwagen flogen hinter ſchnaubenden Pferden daher, die Ebenen glänzten von Gold und Eiſen, von Panzer und Schwert. Aus allen Städten Hesperiens kamen die erſten Sprö߬ linge der alten Heldengeſchlechter hervor, deren Ahnen zum Theile Götter und Götterſöhne waren. Unter den erſten ſchritt in männlicher Schönheit Turnus voran, ſeine herrlichen Waffen in der Hand, um einen ganzen Scheitel über die Andern hervorragend. Ein dreifa¬ cher Buſch wehte von ſeinem Helm, auf deſſen Kup¬ pel die glutathmende Chimära abgebildet war; auf ſei¬ nem Schilde war in getriebener Arbeit Io abgebildet, wie ſie eben zur Kuh wird, und ihr Hüter Argos und ihr Vater Inachus ihr den Strom aus der Urne gießt. Hinter Turnus und ſeine Helden drängten ſich die La¬ tiner und Rutuler, Aurunker, Sikaner und eine Menge auſoniſcher Völkerſchaften; beſchildete Fußgänger, vor Allen Mezentius mit ſeinem Sohne Lauſus, Aventinus, der Sohn des Herkules und der Rhea, Katillus und362 Koras, die Brüder des Tiburtus aus Tibur und viele Andere; dann kam die Reiterei der Volsker, ſchimmernd in Erzpanzern, geführt von ihrer jungfräulichen Fürſtin Kamilla. Dieſe hatte ihre weiblichen Hände nie an Minervas Rocken und Webſtuhl gewöhnt, im rauhen Männerkampfe war ſie aufgewachſen, auf ihrem flüch¬ tigen Roſſe hatte ſie mit den Winden in die Wette laufen gelernt; ſie flog ſo luftig dahin, daß ſie über die Saatflur geſprengt wäre, ohne ein Hälmchen zu rühren, ohne eine Aehre zu verletzen, und über die Meerfluth, ohne die Sohlen zu netzen. Alt und Jung blickte ihr verwundert nach, wie ſie mit ihrer Schaar durch Städte und Dörfer zog, den königlichen Purpur über die runden Schultern geworfen, das reiche Haar mit einer goldnen Nadel aufgebunden, Köcher und Bogen auf der Achſel, und die ſcharfe Lanze in der Hand.

Dieſe gewaltigen Kriegsrüſtungen erfüllten den Aeneas und ſeine Trojaner mit ſchweren Sorgen. Da erſchien jenem im Traume der Flußgott Tiberinus, und ſtieg in meerblauem Kleide, die Haare mit einem Schilf¬ kranze beſchattet, zwiſchen Pappelſtauden in Greiſenge¬ ſtalt aus dem Strom empor. Göttlicher Held, ſprach er, verzage nicht. Der Groll der Himmliſchen gegen dich iſt verſchwunden. Damit du nicht wähneſt, ein nichtiges Traumbild zu ſchauen, will ich dir ein Zeichen ſagen. Unter den Eichen des Ufers wirſt du ein großes Mutterſchwein liegend finden, das dreißig Friſchlinge ge¬ boren hat: dort iſt die Stelle, wo nach dreißig Jahren dein Sohn Askanius die verheißene Stadt Alba, Roms Mutterſtadt, gründen wird. Für jetzt aber merke, wie du dich gegen die Gefahr zu ſchützen haſt, die dich363 bedroht. Nicht weit von hier, im Tuskerlande, haben ſich arkadiſche Pelasger, vom alten Könige Pallas ab¬ ſtammend, unter ihrem Fürſten Evander angeſiedelt, und auf einem hohen Hügel die Stadt Pallanteum, nach dem Namen ihres Ahnherrn gegründet. Ob es gleich Griechen ſind, ſo darfſt du ſie doch nicht ſcheuen, denn es ſind unverſöhnliche Feinde des Latinervolks. Mit die¬ ſen ſollſt du dich verbünden, und ſie werden deine Kampf¬ genoſſen werden. Opfere der Göttermutter Juno, ſobald du erwachſt, und überwinde ihren Zorn durch Demuth. Alsdann begieb dich auf den Weg zu Evander.

Der Gott verſchwand, und der erwachte Aeneas befolgte ſeinen Rath. Zwei Schiffe wurden aus der Flotte herausgewählt und mit auserleſenen Freunden be¬ mannt. Noch ehe der Held mit ihnen abging, erfüllte ſich das verkündigte Zeichen. Am Saume des Waldes, unter einer mächtigen Eiche, ſchneeweiß ſchimmernd, er¬ blickte man ein Schwein mit dreißig Jungen. Der Mah¬ nung des Stromgottes eingedenk, opferte Aeneas die Mutter und ihre ganze Zucht der mächtigen Göttin Juno, und verſöhnte durch ein ſo herrliches Opfer ihr grollendes Herz. Dann ſchiffte er ſich auf der Tiber ein, die, von dem Flußgotte gebändigt, glatt und eben dalag, wie der Spiegel eines Landſees. Die Wellen ſelbſt ſtaunten und der Uferwald wunderte ſich, als ſie bunte Verdecke und Männer mit hellen Schilden den Strom faſt ohne Ruderſchlag heraufziehen ſahen. Jene aber fuhren Tag und Nacht durch lange Krümmungen zwiſchen grünenden Hainen auf dem ſpiegelhellen Waſ¬ ſer dahin. Endlich am andern Morgen ſahen ſie von ferne Mauern, Häuſer und eine Burg auf hohem Berge364 ſchimmern. Sogleich drehten ſie ihre Schiffſchnäbel dem Lande zu, wo der Berg, auf welchem die Stadt Pallanteum gelegen war, ſich mit ſeinem Fuße in den Fluß verlor.

Es war gerade der Tag, an welchem der Arkadier¬ könig Evander, ſeinen Sohn Pallas an der Seite, mit dem kleinen Rathe ſeiner Stadt und den angeſehenſten Jünglingen, in einem benachbarten Haine dem Herkules ein feierliches Opfer darbrachte. Der Weihrauch und das Blut dampfte auf den Altären, und das Opfermahl hatte ſchon begonnen. Als nun die Arkadier die hohen Schiffe zwiſchen den dunkeln Uferwäldern unter leiſem Ruderſchlage herbeiſchwimmen ſahen, erſchracken ſie vor dem plötzlichen Anblicke, und wollten den Schmaus ver¬ laſſen. Doch der muthige Jüngling Pallas verbot ihnen, das Feſt zu unterbrechen, er ſelbſt ergriff ſeine Lanze, flog ihnen entgegen, und rief noch vom Hügel hinab: Was führte euch auf dieſe ungewohnte Bahn, ihr Männer, woher ſeyd ihr? wohin trachtet ihr? Bringet ihr uns Krieg oder Frieden? Aeneas antwortete von dem hohen Verdecke ſeines Schiffes, indem er das Zei¬ chen des Friedens, den Olivenzweig, hoch in der ausge¬ ſtreckten Rechten hielt: Trojaner ſieheſt du, Jüngling, Männer, zum Kampfe mit den Latinern gerüſtet, welche uns Flüchtlinge mit Waffengewalt aus ihrem Lande vertreiben wollen. Wir kommen zum Könige Evander, um ihn um ſein Bündniß und um Hülfe zu bitten. Als Pallas den großen Trojanernamen hörte, ſtaunte er, und rief in freudiger Beſtürzung: Willkommen, Gaſt, wer du auch ſeyeſt, tritt immerhin vor meinen Vater, und nimm in unſerer Wohnung fürlieb!

365

Pallas hatte den Ausgeſtiegenen mit traulichem Handſchlage begrüßt, und bald wiederholte der Held ſein Geſuch vor dem Könige der Arkadier, ohne jedoch ſich ſelbſt zu nennen. Jener aber hatte Augen, Angeſicht und Geſtalt des Redenden lang mit Schärfe gemuſtert, und erwiederte endlich: Wie gern nehme ich dich auf, tapferer Sohn Troja's, dein Geſchlecht, dein Name verbirgt ſich mir nicht. Wort, Stimme und Ge¬ ſtalt deines großen Vaters Anchiſes ſteigt wieder in mei¬ ner Seele auf; wohl entſinne ich mich noch des Helden Priamus, als er, mit ſeinen Helden auf der Fahrt gen Salamis, das Reich ſeiner Schweſter Heſione, der Ge¬ mahlin Telamons, zu beſuchen, auch durch unſer Arka¬ dien gezogen kam. Mir ſproßte damals der erſte Flaum um die jungen Wangen, und mit Ehrfurcht betrachtete ich den König und die Häupter ſeines Volkes, vor Allen aber den herrlichen Anchiſes. Ich konnte mein Verlan¬ gen nicht bezähmen, ihn anzureden und ihm meine Rechte darzubieten. Er folgte mir als Gaſtfreund in unſere Wohnung, und beim Abſchied verehrte er mir Köcher und Pfeile, ein golddurchwirktes Kriegsgewand, und zwei vergoldete Zäume, herrliche Gaben, die jetzt mein Sohn Pallas beſitzt. Darum dürfet ihr euch zum Voraus als meine Verbündete betrachten, und morgen frühe ſchon ſollt ihr, verſtärkt durch unſern Beiſtand, nach eurem Lager zurückkehren. Unterdeſſen begehet mit uns dieſes ſchöne Jahresfeſt, das wir nicht verſchieben dürfen. So ſprach er, hieß die aufgeräumten Becher und Speiſen wieder zurückbringen, und die Trojaner auf den Raſenbänken Platz nehmen: den Aeneas ſelbſt aber führte er zu einem herrlichen gepolſterten Seſſel aus366 Ahorn, über dem ein zottiges Löwenfell gebreitet war. Der Prieſter des Altares und auserleſene Jünglinge brachten geröſtete Stücke der Stiere herbei, häuften das Brod in Körben auf, und reichten in die Wette Wein herum.

Den reichlichen Schmaus würzte der König Evan¬ der mit einer ſchönen Erzählung von der Veranlaſſung dieſes Opfers, indem er mit den Fingern ſeinen Gäſten eine Felſenkluft wies, in welcher der gräßliche Halb¬ menſch Kakus, der Sohn des Vulkanus, gehaust, der dem Herkules die erbeutete Rinderheerde des Rieſen Ge¬ riones ſtahl, und von Herkules bezwungen wurde. Für den Sieg über dieſes Unthier brachten die dankba¬ ren Arkadier noch immer dem Herkules, als Schutzgotte der Gegend, ein Jahresopfer dar.

Ueber dieſer Erzählung war der Abend herange¬ rückt, und nach vollendetem Opfer begaben ſich Alle in die Stadt. Dieſe war nur klein, wer hätte ahnen können, daß einſt die Weltſtadt Rom an ihrer Stelle ſtehen ſollte? die Arkadier waren ein ländliches Hirten¬ volk, und hatten aus ihrer Heimath keine Schätze mit¬ gebracht. Aber Muth und nervige Arme konnten ſie den Trojanern zum Beiſtand anbieten. Deßwegen gefiel es dem Aeneas doch in dem Hauſe Evanders, das mehr einer Hütte denn einem Palaſte glich, und er ſank auf einem weichen Blätterlager, über welche das zottige Fell eines Bären gebreitet war, in ſanften Schlummer.

367

Der Schild des Aeneas.

Mittlerweile ging Vulkanus, von ſeiner Gattin Ve¬ nus durch Bitten getrieben, in die Aetnakluft der Cyklopen, die Waffen des Aeneas, die ihm den Sieg über die La¬ tiner verſchaffen ſollten, zu ſchmieden. Er nahte ſich der donnernden Höhle, die ganz von Feuereſſen durchflammt war. Gewaltige Schläge auf dem Ambos ſtöhnten wiederhallend weit hinaus in die Ferne, im Gewölbe ſprühten ziſchende Stahlſchlacken, und aus den Oefen ath¬ mete unaufhörliche Glut. Dort in der weiten Kluft ſchmie¬ deten das Eiſen Tag und Nacht hindurch, mit aufgeſtülpten Aermeln, die rußigen Cyklopen, Brontes, Steropes und Pyrakmon, mit unzähligen Knechten. Die Einen waren gerade an einem halbfertigen Blitzſtrahl, der mit zwölf Zacken geſchmiedet wurde, und ſie ſchweißten eben die drei Hagelſpitzen, die drei Regenſpitzen, die drei Glut¬ ſpitzen und die drei Sturmwindſpitzen daran, und miſch¬ ten Flamme, Donnergeroll und Entſetzen darunter. Die Andern verfertigten dem Mars Räder und Wagen, wie¬ der Andere aus Gold und Drachenſchuppen den glatten Aegisſchild der Pallas mit dem Meduſenhaupte.

Weg mit Allem, rief Vulkanus, in die Höhle tretend, auf Anderes eure Gedanken gerichtet, ihr Cy¬ klopen! dem tapferſten Manne ſollt ihr jetzt ſeine Kriegs¬ waffen ſchmieden; da gilt es Kraft, Kunſt und Erfah¬ rung: an's Werk ohne Verzug! Die Cyklopen kann¬ ten ſchon die kurzangebundene Weiſe ihres Herrn, und machten ſich raſch an die Arbeit. Bald floß das Erz368 und Gold in Bächen, in den Oefen zerſchmolz der Stahl. Ein gewaltiger Schild wurde geformt, und Scheiben auf Scheiben ſiebenfach geſchmiedet; Einige ſetzten die Blas¬ bälge in Bewegung; Andere verkühlten das ziſchende Erz im Löſchtroge. Dann wurde die Maſſe mit der Zange umgedreht, und die Hämmernden ſchwangen die Arme im Takt, und ſchlugen auf den Ambos, daß die Höhle ſchmetterte.

Am andern Morgen übergab der greiſe Evander, der nicht ſelbſt mit in den Krieg ziehen konnte, vierhun¬ dert arkadiſche Reiter, dazu den Troſt und die Hoffnung ſeines Alters, ſeinen eigenen Sohn Pallas, dem ſchei¬ denden Gaſtfreunde, und beſchenkte noch auſſerdem alle ſeine Trojaner mit Roſſen, den Aeneas ſelbſt mit dem herrlichſten, das ein gelbes Löwenfell bedeckte, und deſ¬ ſen Klauen vergoldet waren. Dann ergriff Evander die Hand ſeines abziehenden Sohnes, drückte ſie an ſeine Bruſt, und ſprach unter Thränen: Ach, daß mir Ju¬ piter die vergangenen Lebensjahre zurückbrächte, und ich wäre, wie ich einſt unter Präneſte's Mauern war, als ich den König Herilus, der drei Leben von ſeiner Mut¬ ter, der Nymphe, mitbekommen hatte, dreimal in den Or¬ kus hinabſchickte, bis er nicht mehr wiederkam! Jetzt kann ich nichts, als dich und unſern Freund den Göt¬ tern empfehlen, mögen ſie mich erhören, mögen ſie dir fröhliche Wiederkehr bereiten! Möge mir kein Schreckens¬ bote je das Ohr verwunden! Mit dieſem Abſchiede ſank der greiſe Vater zuſammen, und wurde von den Dienern in die Wohnung zurückgetragen.

Die Reiter aber zogen aus den offenen Thoren, mit ihnen Aeneas und ein Theil der trojaniſchen369 Mannſchaft, den andern hatte der Held mit den Schiffen auf dem Strome zurückgehen laſſen. Als ſie in einem ent¬ legenen Thale zwiſchen finſteren Tannenwaldungen ange¬ kommen waren, und, vom langen Zuge ermüdet, ihrer Roſſe und der eigenen Leiber pflegten, und Aeneas an einem kühlenden Waldwaſſer, abgeſondert von der ganzen übri¬ gen Schaar, unter einer Eiche ſich gelagert, erſah ſeine Mutter Venus den günſtigen Augenblick, ſenkte ſich mit den friſchgeſchmiedeten Waffen aus dem Gewölke des Aethers hernieder, legte ſie dem Sohne zu Füßen, machte ſich dieſem ſichtbar, und ſprach: Schau her, Kind, welch ein Geſchenk dir die Gunſt meines Gemahls be¬ reitet hat. Jetzt darfſt du dich nicht mehr beſinnen, die ſtolzeſten Laurenter, ja den wilden Rutuler Turnus ſelbſt zum Kampfe herauszufordern. Aeneas ſtaunte. Beſe¬ ligt von der Gegenwart ſeiner göttlichen Mutter und der großen Ehre, konnte er ſich an dem funkelnden Waffen¬ geſchmeide gar nicht ſatt ſehen, und wendete bald den buſchigen Helm, bald das gediegene Schwert, bald den Erzpanzer, der röthlich wie Blut, oder wie die Sonne durch Wolken ſtrahlend, glühte, bald die goldenen Bein¬ ſchienen und den ſchlanken Speer in ſeinen Händen um. Am längſten aber verweilten ſeine Blicke auf dem kunſt¬ reichen, mit unerſchöpflicher Bilderpracht in erhabener Arbeit überſäeten Schild. Auf dieſem hatte der Gott des Feuers eine ganze Reihe von Begebenheiten abgebildet, in welche ſich Aeneas vergebens mit ſeiner Beſchauung vertiefte, denn es waren die Schickſale und Triumphe der Römer, des Volkes, das erſt in ſpäter Zukunft dem Stamme ſeines Sohnes Julus entſproſſen ſollte. In der Mitte des Schildes war eine Wölfin abgebildet, derSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 24370Zwillingsknaben am Euter hingen, zu welchen ſie liebkoſend ihren Hals zurückbeugte, und die ſie mit der Zunge be¬ leckte. Jeder Knabe aus unſerer Zeit hätte dem Aeneas ſagen können, daß die Kinder Romulus und Remus hießen. Dann war eine Stadt abgebildet, wo im hohen Theater von kräftigen Männerhänden Frauen als ein Raub davongetragen wurden; es war Rom und der Raub der Sabinerinnen; dann vor Jupiters Altar zwei bewaffnete Herrſcher mit Sühnopfern und mit Bundes¬ ſchalen in der Hand: Romulus und Tatius. Nicht ferne davon ſchleifte ein König mit ſeinem Viergeſpann einen Verbrecher zu Tode: Tullus Hoſtilius den falſchen Metius. Auf einer halbabgebrochenen Brücke ſtand ein¬ äugig ein Vertheidiger, und durch den Strom ſchwamm eine Jungfrau, indeß ein zorniger Kriegerkönig am jen¬ ſeitigen Ufer thronte; es waren Kokles, Klölia und Por¬ ſena der Etrusker. Auf einer hohen Burg mit Paläſten und Tempeln ſtand ein bewaffneter Wächter, und ſilberne Gänſe flatterten durch goldene Hallen, während am Fuße des Berges Barbaren auf der Lauer ſtanden: Man¬ lius und die Gallier. Und ſo kam eine Geſchichte um die andere, bis auf Katilina, Kato, Cäſar und Auguſtus herab. Unkundig aller dieſer Dinge, freute ſich Aenas des Schildes, wie ein Kind ſich des Bilderbuches freut, dann kleidete er ſich in die himmliſchen Waffen, faßte den Schild mit der Linken, und im Gefühle hohen Göt¬ terſchutzes miſchte er ſich wieder in den Zug der Sei¬ nigen.

371

Turnus im Lager der Trojaner.

Während dieß in Tuscien vorging, ſchickte Juno, deren Groll gegen Aeneas doch noch nicht gedämpft war, ihre Botin Iris zu dem Rutuler Turnus. Dieſe mel¬ dete dem Anführer der Feinde, daß Aeneas ſein Lager, ſeine Genoſſen, ſeine Flotte verlaſſen und ſich nach dem Reich Evanders gewendet habe, und befahl ihm, das trojaniſche Lager zu ſtürmen. Turnus folgte auf der Stelle dem Ruf. Der Held Meſſapus voran, Tyrr¬ hus und ſeine Söhne in der Hinterhut, mit dem Kerne des Heeres Turnus ſelbſt, zogen ſie durchs offene Feld nach dem Geſtade der Tiber. Plötzlich ſah Kaikus, der Wächter der vorderſten trojaniſchen Warte, ein dunkles Staubgewölke vom Felde wirbelnd aufſteigen. Brüder, rief er rückwärts gewendet, es verfinſtert ein nahender Schwarm die Luft, Waffen herbei, ſchnell auf die Lager¬ mauern, der Feind iſt da! Auf dieſe Nachricht ſtürzten die auf dem Felde zerſtreuten Trojaner durch alle Thore ins Lager zurück, und ſammelten ſich, wie es Aeneas für unvorhergeſehene Fälle ſcheidend befohlen hatte, auf den Schanzen und Mauern, obgleich ſie Scham und Zorn vielmehr zum offenen Gefechte getrieben hätte. Sie ſperrten alſo die Thore, und vollzogen in allem die Ge¬ bote ihres Führers, indem ſie den Feind auf den Zinnen und in den hohlen Thürmen erwarteten.

Turnus aber eilte dem Heere, das ihm zu langſam vorwärts ging, mit zwanzig auserleſenen Reitern voran,24 *372und erſchien, auf einem thraciſchen gefleckten Schimmel, unvermuthet vor den Mauern des Lagers. Wer wagt ſich zuerſt an den Feind? fragte er, rückwärts gewen¬ det, ſeine kleine Schaar, und ſchleuderte ſeinen Wurfſpieß durch die Lüfte hinan. Jubelnd thaten ſeine Genoſſen ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerſeelen, die ſich hinter ihren Mauern verſchanzt hielten, und es nicht wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzuſteigen. Indeſſen ſpähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm mit dem rothen Federbuſch auf dem Haupte, ringsum die Mauern des Lagers aus, und ſuchte einen unbemerkten Zugang. Es ſchnaubt ein Wolf bei Wind und Regen die halbe Nacht hindurch, um den vollen Schaafſtall her¬ um, und ergrimmt über das Blöcken der Schaafe und Lämmer, die drinnen in Sicherheit ſitzen. Endlich fiel ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und Wellen umgeben, ſich geborgen an die eine Seite des Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er ſeine Freunde, dieſe in Brand zu ſtecken, ergriff ſelbſt zuerſt die flam¬ mende Fackel und ſofort bewehrte ſich die geſammte Jugend des allmählig nachgerückten Heeres mit Feuer¬ bränden, die von den Heerden der benachbarten Hütten geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abge¬ wendet hätte. Schon damals nämlich, als Aeneas am Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in das fremde Land tragen ſollte, flehte Cybele, die Mutter aller Götter, zum allmächtigen Zeus: Sohn, gib mir, was ich von dir verlange! Ich habe dem dardaniſchen Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen ſchönen373 Hain von Ahornbäumen und Kiefern fällen laſſen. Nun aber ängſtet mich die Sorge, meine geliebten Bäume, zu Schiffen umgewandelt, möchten ein Raub der Stürme werden. Darum erhöre meine Bitte, laß es dem Holz zu Gute kommen, daß es auf dem Ida gewachſen iſt, und ſchütze die Schiffe vor aller Gefahr. Das kann ich nicht, erwiederte Jupiter, ich vermag dem von ſterb¬ lichen Händen Erbauten nicht Unſterblichkeit auf Erden zu verleihen, doch was ich für ſie thun kann, das will ich. So viel ihrer, ausgedient, das Ziel und den Hafen Auſoniens erreichen, die will ich von der ſterblichen Form befreien und wie die Töchter des Nereus ſollen ſie als Göttinnen des Meeres ein ſeliges Leben in den Fluthen führen.

Dieſes Wort ging jetzt in Erfüllung. Als Turnus den Brand in die Schiffe werfen wollte, verbreitete ſich von Morgen her ein Strahlengewölk über den Himmel, und ein grauenvoller Schall aus den Lüften durchlief die Schaaren der Trojaner und der Rutuler. Bemühet euch nicht ſo ängſtlich, rief es, ihr Trojaner, meine Schiffe zu ſchirmen. Eher wird Turnus das Meer verbrennen, als ſie! Ihr aber, Schiffe, ſchwimmet erlöst dahin, ſeyd Meeresgöttinnen, die Mutter der Götter will es ſo! Bei dieſem Worte wurden die Schiffe plötzlich lebendig, zerriſſen jedes ſeine Seile, mit welchen ſie angebunden waren, tauchten mit den Schnäbeln wie Delphine ins Meer unter, und ſchwammen, wieder aufgetaucht, in Ge¬ ſtalt ſchöner Jungfrauen durch die Meeresfluth. Ent¬ ſetzen ergriff die Rutuler. Meſſapus, ihr vorderſter Führer, ſchreckte mit ſcheuem Geſpann auf ſeinem Wa¬ gen zuſammen, ja der Tiberſtrom ſelbſt zog ſich mit ſeinen374 Wellen ſchaudernd vom Meere zurück. Nur der tollkühne Turnus ließ die Hoffnung noch nicht fahren. Merket ihr nicht, Freunde! ſprach er, daß dieſes Wunder allein gegen die Trojaner gerichtet iſt? Jupiter ſelbſt hat ihnen ihre Hülfe entriſſen, alle Hoffnung zur Heimkehr iſt ihnen mit der Verwandlung ihrer Schiffe abgeſchnitten, und die Rutuler brauchen keine Feuerbrände mehr! Das Land aber iſt in unſern Händen. Tauſende in ganz Italien waffnen ſich für uns. Mich ängſtigen keine Götterſprüche und Verheißungen, deren ſie ſich rühmen. Auch mir iſt mein Schickſal beſtimmt, und es lautet auf Vertilgung dieſes verruchten Geſchlechtes mit dem Schwerte!

Auch mit der That blieb Turnus ſo unverdroſſen, wie mit dem Worte. Dem Meſſapus wurde das Ge¬ ſchäft übertragen, die Thore mit Kriegern zu umſtellen, und die Wälle rings mit Feuern zu umzingeln, und unter ihm verſahen unter vierzehn auserleſenen Haupt¬ leuten je hundert Jünglinge, ſchimmernd von Gold und mit rothbebuſchten Helmen, den Dienſt. Dieſe machten einander ablöſend die Runde und die Feiernden lagerten ſich ins Gras und thaten ſich beim Weinkruge gütlich. Die Trojaner von ihren Wällen herab ſchauten dieſes und hielten die Zinnen auf's vorſichtigſte mit Bewaff¬ neten beſetzt. Nicht ohne Beſorgniß umwandelten ſie die Thore, verſahen die Bollwerke mit Brücken, und brach¬ ten den nöthigen Vorrath von Geſchoßen herbei. Das Ganze leitete Mneſtheus und Sereſtus, welche Aeneas vor ſeiner Abfahrt über das Lager geſetzt hatte. Und ſo wachte denn das ganze Heer innerhalb der Lagermauern.

375

Niſus und Euryalus.

Unter dem trojaniſchen Heere befanden ſich zwei kühne Jünglinge: Niſus und Euryalus. Niſus, ein Sohn des Hyrtalus, einer der beſten Speerwerfer und Pfeilſchützen, hatte ſich aus dem Idagebirge an den auswandernden Helden angeſchloſſen. Euryalus war der ſchönſte unter allen teukriſchen Knaben, und der erſte Flaum der Jugend ſproßte ihm um die Wangen. Beide waren durch die innigſte Freundſchaft verbunden, ſtürzten ſich immer zuſammen in die Schlacht, und hüteten auch jetzt eines der Thore, nebeneinander Wache haltend. Ich möchte doch wiſſen, fing da zuerſt Niſus an, ob die Götter uns dieſe Thatenluſt in der Seele auf¬ wecken oder ob ſeine blinde Begier einem Jeden der Gott iſt! Mir iſt dieſe träge Ruhe läſtig, und ſchon lange treibt mich der Geiſt, etwas Rechtes zu unterneh¬ men. Sieh, wie ſich die Rutuler ihrem blinden Ver¬ trauen hingeben! Nur hier und da glänzt um die Mauern ein Feuer, faſt alle liegen von Wein und Schlafe begraben da, und das tiefſte Schweigen herrſcht ringsum. So vernimm denn, Freund, welcher Gedanke in mir auf¬ geſtiegen iſt. Alle unter uns, Volk und Väter verlan¬ gen, daß Aeneas herbeigerufen werde, und daß man ihm zu dem Ende ſichere Boten zuſchicke, die uns Kunde von ihm zurückbringen. Wenn man nun dir dem Zu¬ rückbleibenden verſpräche, was ich für dich fordern will, denn mir genügt an der Ehre : was meinſt du? 376Ich könnte am Fuße des Hügels dort den Weg nach dem Tuskerlande und den Berg von Pallanteum wohl finden!

Euryalus wurde von Staunen bei dem Vorſchlage ſeines Freundes ergriffen, denn auch ihn beſeelte jugend¬ liche Ruhmbegierde. Alſo wollteſt du, ſprach er zu ſeinem feurigen Genoſſen, mich, den unbärtigen Kna¬ ben, als Theilnehmer an der herrlichen That verſchmähen? Wie könnte ich auch dich allein in eine ſolche Gefahr hinauslaſſen! Nein, ſo hat mich mein Vater Opheltes nicht erzogen, und auch du haſt mich bisher nicht ſo kennen gelernt. Auch ich achte das Leben gering, und erkaufe willig mit ihm den Ruhm! Nie habe ich ſo etwas von dir befürchtet, erwiederte Niſus, aber wenn mich irgend ein Unfall, oder ein Gott, wie es bei ſolchen Entſchlüſſen wohl zu gehen pflegt, ins Ver¬ derben riſſe, ſo wünſchte ich, daß du mich überlebeſt. Deine Jugend iſt des Lebens werther, als ich. Auch hätte ich gern einen, der meinen Leichnam, aus der Schlacht gerettet, oder mit Löſegeld erkauft, in den Bo¬ den verſcharrt, oder wenn dieß Glück mir nicht beſchie¬ den wäre, wenigſtens dem Abweſenden ein Todtenopfer brächte und einen Denkſtein errichtete. Wie könnt 'ich auch deiner armen Mutter, die allein von ſo vielen Müttern es verſchmäht hat, in Sicilien zurückzubleiben, und dir auf die weite Wanderung gefolgt iſt, ſo bitteren Schmerz bereiten? Aber Euryalus erwiederte: Du hältſt mir umſonſt nichtige Beweggründe vor, mein Vor¬ ſatz iſt unerſchütterlich, laß uns eilen. So ſprach er, und weckte ſogleich die nächſten Wachtpoſten, die zur Ablöſung beſtimmt waren. Nachdem ſie dieſen das377 Wächteramt übertragen hatten, eilten ſie beide vor den hohen Rath der Trojaner. Denn die Fürſten des Heeres be¬ riethen ſich bis tief in die Nacht hinein über die wich¬ tigſten Angelegenheiten der neuen Pflanzung. Während ſie nun mitten im Lager, an die Speere gelehnt und auf die Schilde geſtützt, im Kreiſe ſtanden, und Rath darüber pflogen, was zu beginnen ſey, und wer dem Aeneas die Nachricht zu bringen hätte, da baten Niſus und Euryalus herbeigeeilt um augenblicklichen Zutritt in die Verſammlung. Askanius, der an ſeines Vaters Stelle, ſo jung er war, im Rathe ſaß, hieß die Unge¬ duldigen eintreten, und Niſus als den älteren zuerſt reden. Höret uns günſtig an, ſprach dieſer zu den Helden, und meſſet, was wir euch vorſchlagen, nicht nach den Jahren ab. Wir haben die Gegend ausge¬ kundſchaftet. Dort, am Scheidewege des Thores, das wir bewachen, in der Nähe des Meeres, finden ſich Lücken in den Wachtfeuern der Feinde: dort iſt Raum, um ſich durchzuſchleichen. Wenn ihr uns erlaubet, das Glück zu benutzen, ſo wollen wir als Boten zu Aeneas gehen, und ihr ſollt uns bald mit Begleitern und mit Beute zurückkehren ſehen.

Mit Bewunderung vernahmen die Helden den Ent¬ ſchluß der Jünglinge. Nun, ihr Götter, rief Aletes, der Ergrauteſte unter ihnen aus, ihr ſeyd noch nicht geſon¬ nen, die Trojaner zu vertilgen, da ihr uns ſo ent¬ ſchloſſene Jünglingsherzen erwecket! So ſprach er, und legte ſeine Hände auf Beider Schultern. Dann rief der zarte Jüngling Askanius: Guter Niſus, lieber Euryalus, in euren Schooß lege ich mein Glück und meine Hoffnung, laſſet mich meinen Vater wieder ſchauen! 378Wenn er zurück iſt, ängſtigt mich nichts mehr. Zwei ſilberne Becher, zwei köſtliche Dreifüße, zwei Talente Goldes, den ſchönen alten Krug, den Dido meinem Vater geſchenkt hat, das Alles ſollt ihr jetzt ſchon haben, und wenn wir ſiegen, noch viel mehr. Haſt du das herrliche Roß geſehen, Niſus, das Turnus reitet, und ſeine goldene Rüſtung? Sie ſeyen dein. Zwölf Gefangene wird euch mein Vater verleihen, Männer mit vollen Waffenrüſtungen, und Frauen, und vom Felde des La¬ tinus herrliche Güter. Du aber, ſo ſprach er zu Eu¬ ryalus gewendet, verehrter Jüngling, deſſen Jugend meine Jahre nachſtreben, dich begrüße ich ſchon jetzt von ganzem Herzen als Kampfgenoſſen und unzertrennlichen Freund. Darauf nahm Euryalus das Wort: Es ſoll kein Tag kommen, ſprach er, an dem ich mich mei¬ nes tapfern Entſchluſſes unwürdig zeige. Aber vor allen Geſchenken bitte ich dich um eines, Julus. Meine Mutter, vom alten Königsgeſchlechte des Priamus ſtam¬ mend wie du, hat ſich nicht abhalten laſſen, mit mir auszuwandern, und ich verlaſſe ſie ohne Abſchied, denn ich könnte ihren Thränen nicht widerſtehen. Nimm du dich der Verlaſſenen an, tröſte ſie in der Noth, wenn das Schickſal mich nicht zurückkehren läßt! In der Seele des Askanius erwachte bei dieſen Worten die Liebe zum Vater noch heftiger, er fing laut zu weinen an, und verſprach ihm unter Thränen Alles. Auch die Helden ergriff tiefe Rührung; Mneſtheus zog ſich die Löwenhaut von der Schulter, und warf ſie dem Niſus um; Aletes tauſchte mit ihm den Helm, und Euryalus empfing aus der Hand des Julus ſein eigenes Schwert mit goldenem Griff, in der Scheide von Elfenbein.

379

So gewaffnet wurden ſie von allen Edeln, Jüng¬ lingen und Greiſen, bis ans Thor begleitet. Bald wa¬ ren ſie über die Gräben hinaus, und kamen im Dunkel der Nacht an die ſchlafenden Poſten der Rutuler. Dieſe lagen voll Trunks und Schlafes, zerſtreut auf dem Ra¬ ſen, zwiſchen Wagenrädern, Riemen und umherlie¬ genden Waffen. Die Gelegenheit ruft, ſprach Niſus leiſe zu ſeinem jungen Freund, halte du mir den Rücken frei, ich will dir aufräumen, und uns eine Gaſſe machen. Während er ſo mit gedämpfter Stimme ſprach, hieb er den erſten Wächter, den Vogelſchauer des Königs Tur¬ nus, Rhamnes, der aus voller Kehle ſchnarchend dalag, ſammt drei ſorgloſen Knechten nieder; dann den Waffen¬ träger des Remus, den er mitten unter ſeinen Roſſen überraſchte, und ihm den geſenkten Hals abhieb, und dann den Herrn ſelbſt. Auch Euryalus war nicht müßig; beide tobten wie Löwen in den Hürden, und richteten ein furchtbares Gemetzel unter den Wächtern an. Ja, Euryalus drang ſchon bis zu den Wachtfeuern des Ru¬ tulerfeldherrn Meſſapus vor, die im Verglimmen waren, und deſſen angebundene Wagenroſſe gemächlich das Gras abweideten. Aber Niſus rief ihn zurück. Siehſt du nicht, ſprach er warnend, daß das Morgenlicht ſchon anzubrechen droht? Rache iſt ja geübt und Bahn ge¬ brochen. So ließen ſie auch alle Beute liegen, und Euryalus nahm nur den Pferdeſchmuck des Rhamnes mit, und ſchlang ſich ſeinen Schwertgurt um die Schul¬ ter; auch ſetzte er ſich freudig den bebuſchten Helm des Meſſapus aufs Haupt, den er bei den vorderſten Wacht¬ feuern aufgeleſen, und der ihm gerade paßte. Darauf verließen ſie das feindliche Lager, und gewannen das Freie.

380

Aber um dieſelbe Zeit zogen aus der Latinerſtraße dreihundert Reiter mit Schilden unter ihrem Führer Volſcens, welche dem Fürſten Turnus Botſchaft vom Könige zu bringen hatten, dieſer Straße. Sie waren ſchon ganz nahe am Lagerwall, als ſie von ferne die beiden eilenden Geſtalten bemerkten, und im dämmernden Frührothe den unbeſorgten Euryalus der erbeutete Helm mit ſeinem tückiſchen Schimmer verrieth. Bewaffnete Männer, ſchrie Volſcens bei dieſem Anblicke, wo eilet ihr hin? Jene antworteten nicht, ſondern flüch¬ teten ſich in den Wald, und vertrauten auf die Däm¬ merung. Aber die Reiter, der Nebenwege kundig, warfen ſich in das Gehölz, und verſperrten alle Ausgänge mit Wachen. Der Wald war mit dichten Eichen und wil¬ den Geſträuchen bewachſen, und kaum ſichtbar ſchimmerte der Fußpfad durch das Dickicht. Den Euryalus hemmte die Beute, und die Furcht täuſchte ihn über die Rich¬ tung des Weges. Niſus aber entkam glücklich aus dem Wald, und eilte ſchon ſorglos auf die Seen zu, die ſpäter den Namen Albanerſee erhielten. Jetzt erſt ſtand er ſtille, und ſah ſich vergebens nach dem fehlenden Freunde um. Euryalus, rief er wehklagend, wo biſt du, Armer, wo find 'ich dich? und nun warf er ſich aufs Neue in den verworrenen Wald. Dort ver¬ nahm er bald Roſſegeſtampf, Lärm, und die Trompeten der Nachhut, und es währte nicht lange, ſo ward er das ganze Reitergeſchwader anſichtig, das den über¬ mannten Euryalus mit ſich fortſchleppte. Was ſollte er thun? welche Hoffnung war, den armen Jüngling zu befreien? ſollte er ſie aufgeben, und ſich den Tod in den ſtarrenden Schwertern ſuchen? Er hielt inne, dann drehte381 er mit zurückgebogenem Arme plötzlich den Speer empor, und zum Mond emporblickend, der blaß am morgend¬ lichen Himmel ſtand, betete er: Luna, Beſchützerin der Wälder, Latona's Tochter, wenn dir je mein Vater für mich geopfert, wenn ich ſelbſt je dir meine Jagd¬ beute geweiht, lenke meinen Speer, und laß dieſe Rotte mich zerſtreuen! So ſprach er, und ſchleuderte mit Leibeskraft ſeine Lanze. Dieſe drang dem abgekehrten Rutuler Sulmo in den Rücken und zur Bruſt heraus, daß er ſich zuckend auf dem Boden wälzte. Erſchrocken ſchauten ſich die Reiter in der Runde um. Da flog das zweite Geſchoß des Niſus, und durchbohrte einen andern Rutuler, dem Tagus, knirſchend beide Schläfe. Volſcens, der Anführer der Reiter, gerieth in Wuth, denn nirgends erblickte er den Speerſchwinger; grimmig rief er: So bezahle denn du mir mit deinem Blute für beide! und ging mit emblöstem Schwerte auf den Eu¬ ryalus los. Vor Entſetzen ſchreiend, brach Niſus jetzt aus ſeinem Verſtecke hervor. Ich bin der Thäter, rief er, auf mich nur richtet eure Schwerter, der ganze Betrug rührt von mir her! Ich ſchwör' es euch, dieſer iſt unſchuldig, nur Liebe zum unglücklichen Freund war ſein Vergehen! Sein Rufen kam zu ſpät, Volſ¬ cens hatte dem Knaben ſchon das Schwert durch die Bruſt geſtoßen, dieſer wälzte ſich im Tode, die ſchönen Glieder überſtrömte das Blut, und ſein Hals neigte ſich auf die Schultern, wie eine purpurne Blume, vom Pfluge durchſchnitten, dahinſinkt, wie ein blühender Mohnſtengel ſein vom Regen belaſtetes Haupt zur Erde ſenkt. Da warf ſich Niſus in den Feind, ſtieß den Andrang der Reiter rechts und links zurück, ging382 gerade auf den Führer Volſcens los, und bohrte ſein blitzendes Schwert in des ſchreienden Feindes Mund, daß er ſterbend vom Roſſe fiel. Dann warf er ſich über den Leib ſeines getödteten Freundes, und ruhte, ganz von den Geſchoſſen der Reiter durchbohrt, über dem Leichnam im Frieden des Todes.

Die Reiterſchaar zog den erſchlagenen Feinden die Rüſtung ab, trug ihre Leichname mit dem ihres Anführers Volcens in das Lager des Turnus, und bald mußten die Trojaner von den Thürmen ihres Lagers herab mit Grauſen die von ſchwarzem Blute noch triefen¬ den geſpießten Köpfe der beiden Jünglinge ſchauen, die ſie mit ſo zuverſichtlichen Hoffnungen entlaſſen hatten. Die Kunde des Unglücks verſchonte auch die Mutter des Euryalus nicht. Sie wurde von ihr am Webeſtuhl über der Tagesarbeit getroffen. Da entrollte das Schifflein ihren Händen, ſie zerraufte ſich das Haar, ſie rannte nach dem Walle in die vorderſten Reihen der Streiter, keine Gefahr achtend, und brach in ein Klagegeheul aus, daß es die feſteſten Krieger erſchütterte. Unter vielen Thränen befahl endlich Julus und mit ihm der weiſe Ilioneus zwei alten Helden, ſie aus den Reihen der Männer hinwegzuziehen und unter ihren Armen in die Wohnung zu geleiten.

Sturm des Turnus abgeſchlagen.

Schmetternd ertönten die Trompeten der Rutuler. Ein Schrei erhub ſich in dem ganzen Lager, und der383 Wiederhall von den Bergen antwortete. Von allen Seiten ſtürmten die Feinde heran, rückten unter den Schilddächern vor; mühten ſich, die Gräben auszufüllen und die Schan¬ zen einzureißen, und ſchon legten ſie an den Stellen, wo die Verfechter des Lagers dünner auf den Zinnen ſtan¬ den, die Sturmleiter an die Mauern. Die Trojaner dagegen, durch die lange Vertheidigung ihrer Vaterſtadt im Belagerungskampfe wohl geübt, verſtreuten Geſchoſſe aller Art, wälzten Steine und Felsblöcke auf die Schild¬ dächer, und ſtießen die Emporkletternden mit Spießen darnieder. Schon ſetzten die angerückten Rutuler das blinde Gefecht nicht mehr fort, ſondern lenkten ihre Schritte rückwärts von den Mauern, und verſuchten es nur mit Lanzenwürfen, die Teukrer vom Walle hinwegzu¬ treiben. Endlich richteten ſie alle ihre Streitkräfte auf einen hoch emporragenden Thurm, der durch ſchwebende Brücken mit der Lagermauer verbunden war. Dieſen zu erobern, ſtrengten ſich die Rutuler in die Wette an: die Trojaner aber vertheidigten ihn, indem ſie jetzt von der Zinne herab Steine wälzten, jetzt durch hohle Schie߬ ſcharten Pfeile hinunter ſchnellten. Endlich ſchleuderte Tur¬ nus eine Brandfackel, die, an die Seite des Thurmes ſich anhängend, das Getäfel ergriff. Ehe die Vertheidiger ſich flüchten konnten, ſtürzte das unterhöhlte Gebälk zuſammen, und krachend ſetzte ſich der Thurm zu Boden. Die Einen fielen mit ihm, von den eigenen Waffen durch¬ bohrt, die Andern ſpießten ſich in die Trümmer des Hol¬ zes; und Viele von denen, die noch unverſehrt waren, ſahen ſich bald von den Schaaren des Turnus umringt, und wurden niedergehauen. Endlich erwehrten ſich die Trojaner der Zudrängenden. Der Knabe Askanius, der384 bisher nur fliehendes Wild mit ſeinen Pfeilen zu erlegen gewohnt war, durchbohrte dem Remulus, der kürzlich des Turnus jüngere Schweſter gefreit hatte, und, auf dieſe Auszeichnung ſtolz prahlend auf die Teukrer eindrang und ſie feige Phrygier ſchalt, das Haupt mit einem ſicheren Pfeilſchuß. Die Trojaner jubelten, und die erſchreckten Feinde machten einen Schritt rückwärts. Julus wollte ſie verfolgen. Da ſtellte ſich ihm Apollo ſelbſt, dem alten Waffenträger ſeines Großvaters, der ihm vom Vater beigegeben war, an Geſtalt und Stimme gleich, in den Weg, und ſprach: Sohn des Aeneas, Dir ge¬ nüge, daß du Einen Helden ungeſtraft erlegt haſt; dieſen Beginn deines Ruhmes hat Apollo dir vergönnt, für jetzt aber meide den Krieg! Die Fürſten Iliums er¬ kannten die Gegenwart des Gottes, und hielten den Julus vom weitern Kampfe ab. Sie ſelbſt aber erneuerten das Gefecht, und der Schlachtruf tönte um die äuſſerſten Bollwerke der Mauer fort. Als die innerhalb der Thore aufgeſtellten trojaniſchen Wächter hörten und ſahen, wie ihre Freunde draußen ſo muthig und kraftvoll kämpften, faßten Pandarus und Bithias, die Söhne Alkanors vom Berg Ida, ſtark und ſchlank wie ihre heimiſchen Tannen, den trotzigen Entſchluß, das ihnen vom Feldherrn an¬ vertraute Thor zu öffnen, und im Uebermuthe den Feind in die Mauern einzuladen. Sie ſelbſt aber ſtanden in¬ wendig mit blinkenden Schwertern rechts und links am Eingang, und von ihren hohen Helmen nickten die Feder¬ büſche. Als die Rutuler die Thorftügel offen ſahen, ſtürmten ſie, ohne ſich zu beſinnen, hinein. Aber vier oder fünf ihrer Helden, mit einem ganzen Gefolge von Kriegern, fielen unter den Stößen und Streichen der385 beiden Jünglinge, oder wurden in ſchmählicher Flucht zum offenen Thore hinausgetrieben.

Jetzt wagten die Trojaner, ſich ſchon in dichtern Schaaren zuſammenzurotten, ein regelmäßigeres Handge¬ menge entſpann ſich, und die Rutuler wurden rückwärts gedrängt. Als Turnus, der auf einer andern Seite ſtritt, die Nachricht von dieſer neuen Wendung des Kampfes erhielt, ſtürzte er, von gräßlichem Zorne ge¬ ſpornt, mit einer auserleſenen Schaar von Kriegern her¬ bei, und warf ſich über eine Bahn von trojaniſchen Leichen auf das geöffnete Lagerthor. Seine mächtige Lanze aus der Ferne geſchleudert, durchbohrte den Bithias, daß der Boden von ſeinen fallenden Rieſengliedern bebte, und der Schild auf den Liegenden herniederraſſelte. Die Trojaner flohen zurück in das Thor und nach drängten ſich die ſiegenden Rutuler. Da faßte Pandarus mit einem Blick auf die ausgeſtreckte Leiche ſeines Bruders, die Thorflügel in ihren Angeln, und warf ſie, mit den Schultern angeſtemmt, in die Wölbung zurück, daß das Thor verſchloſſen war, und viele Trojaner im Gefechte draußen, viele Rutuler in die Mauern eingezwängt, zu¬ rückblieben. Aber der Unbeſonnene hatte nicht bedacht, daß mitten unter den Eingeſchloſſenen Turnus ſelbſt ſich befand, wie ein Tiger, der in den Stall eingelaſſen iſt. Voll Entſetzens erkannten die Trojaner das ſchreckliche Geſicht und die rieſigen Glieder. Nur Pandarus, ein Rieſe wie er, erſchrack nicht. Voll Erbitterung über die Ermordung ſeines Bruders, ſtellte er ſich ihm ent¬ gegen und rief: Hier biſt du nicht im Palaſte der Schwiegermutter, ſchmachtender Bräutigam, im Feindes¬ lager ſtehſt du, und wirſt nicht wieder hinauskommen! Schwab, das klaſſ. Alterthum III., 25386Turnus lächelte nur, und erwiederte ganz ruhig: Bind 'an, wenn du es wagſt, und beginne nur den Zweikampf: und wenn du ein Hektor wäreſt, ſo ſollſt du deinen Achil¬ les finden! Pandarus ſchleuderte darauf ſeinen Wurf¬ ſpieß ab, in dem die Rinde noch mit allen Knoten ſaß; aber Juno lenkte das Geſchoß ab, und die Lanze flog in den Thorflügel. Jetzt bäumte ſich Turnus und ſchwang ſein Schwert: Dieſem Streiche wirſt du nicht entfliehen, ſchrie er, und ſpaltete ihm die Schläfe mitten durch die Stirne, daß das Haupt in gleiche Theile zerhauen, dem Zuſammenſinkenden von den Schultern herunterhing.

Zitternd ſtäubten die Trojaner auseinander; und wäre dem Sieger jetzt der Gedanke gekommen, das Thor wieder zu öffnen und ſeine Freunde hereinzulaſſen, ſo wäre es um die neue Anſiedlung Troja's geſchehen ge¬ weſen. So aber ließ er ſich von der Mordluſt bethören, und drang von Sieg zu Siege mit den Seinen immer tiefer in das Innere des Lagers ein. Schon war die Verwirrung bis zu Sereſtus und Mneſtheus gedrungen, die in der Mitte der Mauern befehligten. Da brachte zuerſt Mneſtheus die fliehenden Freunde mit den Worten zur Beſinnung: Wohin wendet ihr euch, Unſinnige, was für andere Mauern, was für andere Burgen be¬ ſitzet ihr? Soll ein einziger Mann, ringsumſchloſſen von euren Wällen, ungeſtraft ein ſolches Gemetzel unter euch anrichten? Habt ihr euer Vaterland, euren Führer Ae¬ neas, die Götter eurer Heimath ſo ſchamlos vergeſſen? Mit ſolchen Reden beſchämte und kräftigte er die Fliehen¬ den, daß ſie in eine dichte Rotte zuſammengedrängt, wie¬ der Stand hielten. Den Turnus hatte der ſiegreiche Kampf ſelbſt allmählig ermüdet. Zum Thore zurückzu¬387 dringen konnte er nicht mehr hoffen; ſo kämpfte er ſich mühſam vorwärts, wo das Lager ohne Mauern an den Fluß grenzte. An den Sandbänken des Stromes ange¬ langt, zog er ſich mit ſchnelleren Schritten, doch noch ohne Flucht, zurück, und wenn ihm der Feind zu nahe auf dem Leib kam, trieb er ihn immer noch ſiegreich mit dem Schwerte zurück. Nun flogen aus der Ferne von allen Seiten Geſchoſſe nach ihm, von den anpral¬ lenden Steinen erklang ſein Helm, der Buſch war zer¬ fetzt, der Schild ſteckte voll Speere und ward ſo ſchwer, daß ſeine Linke ihn kaum mehr zu halten vermochte. In dieſem Augenblicke ſtürmte auch Mneſtheus in blitzenden Waffen auf ihn zu, und wie flüſſiges Pech rannte ihm der Schweiß über den Leib. So war er fechtend am Rande des Fluſſes angekommen. Da zum erſtenmale kehrte Turnus dem Feinde den Rücken, und warf ſich in voller Rüſtung in die Wogen des Tiberſtroms. Die¬ ſer nahm den Kommenden willig auf, und trug ihn mit ſanften Wellen aus dem Bereiche des Lagers an's Ge¬ ſtade, wo er bald, von Blut und Staube rein gewaſchen, bei den Seinigen ankam.

Aeneas kommt ins Lager zurück.

Jupiter hatte in einer Götterverſammlung die Klagen ſeiner Gemahlin Juno und die Fürbitten ſeiner Tochter Venus angehört, und beſchloſſen, ohne Einmiſchung der Himmliſchen, Alles dem Schickſale zu überlaſſen, und ſo dauerte denn die Belagerung der trojaniſchen Niederlaſ¬25 *388ſung, und der Kampf der Rutuler und Trojaner um die Mauern fort.

Inzwiſchen war Aeneas, mit ſeiner Heeresabthei¬ lung und der arkadiſchen Reiterei, in der blühenden tus¬ kiſchen Stadt Agylla angekommen. Dieſe hatte ihren grauſamen König Mezentius vertrieben, und da der Ver¬ jagte zu Turnus entflohen war, ſo lebten die Bewohner der Stadt in tödtlicher Feindſchaft mit Rutulern und Latinern. Deßwegen wurde Aeneas von dem jetzigen Beherrſcher derſelben, dem Könige Tarchon, ſobald er ihm Geſchlecht und Namen gemeldet, und ihm von den Kriegsrüſtungen des Turnus und Mezentius erzählt hatte, mit offenen Armen aufgenommen. Der König vereinigte nicht nur die eigene Streitmacht mit ihm, ſon¬ dern rief auch alle hetruriſchen Bundesſtädte zur Theil¬ nahme an dem Kampfe auf. Es währte nicht lange, ſo ſah ſich der Trojaner an der Spitze einer furchtbaren Flotte, und ſegelte, nachdem er arkadiſche und tuskiſche Reiter auf dem Landwege vorangeſchickt hatte, mit dreißig Schiffen von der hetruriſchen Meeresküſte ab. Wie er nun in der Nacht aus Vorſicht ſelber am Steuer ſaß, und den Lauf ſeines Schiffes, dem die andern folgten, regierte, umringte ihn auf einmal ein Chor tanzender Nymphen. Es waren die Schiffe der Trojaner, welche Cybele, um ſie von den Brandfackeln des Turnus zu retten, jüngſt an der Mündung der Tiber verwandelt hatte. Sie erkannten, belebt und beſeelt, ihren Herrn; die beredteſte faßte ſein Schiff mit der Rechten, ragte mit dem Rücken aus dem Waſſer hervor, ſtreichelte be¬ ſänftigend die Fluth mit der Linken und ſprach: Wachſt du, Götterſohn? O wache, und laß den Wind in die389 Segel blaſen! Wir ſind Fichten vom Idagebirge, deine treuen Schiffe, jetzt durch Cybele's Erbarmen dem Brande der Rutuler entzogen und in Meeresgöttinnen umge¬ wandelt. Eile, Freund, dein Sohn Askanius, von Wall und Graben umſchloſſen, iſt von den Rutulern belagert, und der Kampf tobt um ſeine Mauern. Deine Reiter zwar ſind angekommen und ſtehen nicht ferne vom Lager, aber Turnus weiß es, und iſt entſchloſſen, Kriegsvolk zwiſchen ſie und das Lager zu werfen. Auf denn, be¬ flügle deinen Lauf! wenn der Tag anbricht, wirſt du in der Tibermündung ſeyn; dann ergreife den funkelnden Goldſchild, den Vulkanus dir gab, und ſtrecke ihn dem Lager deiner Genoſſen entgegen. Sey getroſt, der mor¬ gende Tag wird dir Sieg verleihen!

So ſprach ſie, und gab im Hinuntertauchen dem Hinterverdecke des Schiffes einen Stoß, daß es ſchneller als Lanzen und Pfeile durch die Wellen fuhr. Als hätten ſie Flügel, eilten dem Feldherrnſchiff auch die andern Schiffe nach, und mit dem erſten Morgenlichte hatte der Sohn des Anchiſes ſein Lager im Angeſicht. Da gedachte er des Befehls der Nymphe; er ergriff ſeinen flammen¬ den Schild, ſtellte ſich damit aufs Vorderverdeck, hielt ihn mit der Linken hoch in die Lüfte, und ſtreckte ihn ſeinen Freunden entgegen. Wie eine Sonne, die aus den Fluthen taucht, ſchien er den Trojanern, die den Schiffs¬ zug vom Walle herab gewahr wurden, entgegen. Sie erhoben ein Jubelgeſchrei, und ihre Lanzenwürfe verdop¬ pelten ſich. Die Rutuler und ihre Führer begriffen von dieſer plötzlichen Begeiſterung der Feinde nichts, bis ſie auf einmal hinter ſich das Meer von Segeln angefüllt, und eine Flotte an den Strand laufen ſahen. Da390 leuchtete ihnen wie ein blutrother Komet, oder wie der peſt¬ drohende Syrius, Aeneas im Schmucke ſeiner Götter¬ waffen entgegen: ſeine Helmkuppel ſtrahlte wie ein Brand, Glut entſtrömte dem Federbuſch, die goldene Schildbuckel ſpie weit und breit Feuerſtrahlen aus.

Dennoch verließ den tollkühnen Turnus das Selbſt¬ vertrauen nicht, er hoffte den landenden Feinden den Strand durch Schnelligkeit abzugewinnen, und ſie vom Ufer zu verdringen. Die Stunde iſt gekommen, rief er den Seinen zu, die ihr ſo ſehnlich herbeigewünſcht habt. Jetzt könnt ihr eure Gegner zermalmen, der Kriegsgott ſelbſt hat ſie euch in die Hand gelegt. Denkt eurer Weiber und Kinder, ſetzt den Thaten eurer Väter die Krone auf! So lange die Schritte der Ausgeſtiege¬ nen noch ſchwanken, ſo lange ſie noch ſtraucheln, em¬ pfanget ſie am Strande! Das Glück begünſtigt die Kühnen!

Indeſſen wurden die landenden Trojaner und ihre Bundesgenoſſen aus dem Schiffe des Aeneas theils auf Brücken ans Land geſetzt, theils ſchwangen ſie ſich mit Hülfe der Ruder an daſſelbe, oder ließen ſich von den rückprallenden Wellen ans Ufer tragen. Der König Tarchon aber, der mit der übrigen Flotte folgte, beſchaute ſich das Ufer und erſah ſich eine Stelle, wo das Meer in der Mündung des Fluſſes nicht mit gebrochenen Wo¬ gen rauſchte, nicht aus der Tiefe gährte, ſondern ſich frei dem flachen Uferſande zuwälzte. Dorthin befahl er Plötzlich die Schiffsſchnäbel zu drehen und rief ſeinen Ge¬ noſſen zu: Jetzt, meine Freunde, rudert friſch drauf los, bohrt euch mit den Kielen eine Furche ins Feindesland, mag das Schiff auch ſcheitern, wenn es nur den Strand391 gewonnen hat! Die Etrusker, wie ſie ſolches hörten, ruderten drauf los und trieben die beſchäumten Schiffe vorwärts, bis die Schnäbel das Trockene erreicht, und alle Kiele unverſehrt im Sande aufſaßen, nur Tarchons eigenes Schiff nicht. Dieſes blieb an einer ſchrägen Sandbank hängen, die ſich unter den Fluthen hinzog; lange ſchwankte es und bot den Wellen Trotz. Endlich brach das Getäfel auseinander, und ſchüttete die ganze Ladung ſeiner Männer mitten in die Fluth aus, unter zerbrochene Ruder und umherwogende Balken hinein. Nur mit Mühe rettete ſich Tarchon mit den Seinigen an's Land.

Aeneas und Turnus kämpfen. Turnus tödtet den Pallas.

Als Turnus die Feinde gelandet ſah, ſtand er von der Belagerung ab, raffte ſein Heer in Eile zuſammen, ſtellte es längs dem Geſtade auf, und ließ die Hörner zum Angriff blaſen. Auch Aeneas hatte die Seinigen, Trojaner und Bundesgenoſſen, geordnet und warf ſich zuerſt, um den Kampf ſpielend zu beginnen, auf die Schaaren des latiniſchen Hirtenvolkes, und richtete un¬ ter ihnen eine große Niederlage an. Dann wandte er ſich gegen die Helden der Feinde ſelbſt, und in erbitter¬ tem Streite wurde bald von beiden Seiten gefochten. Heer ſtieß an Heer, Fuß hing an Fuß, Mann drängte ſich an Mann, und lange ſchwankte die Schlacht.

Seitwärts vom Hauptkampfe, wo ein Waldſtrom Felſen in den Weg gewälzt und entwurzelte Bäume am392 Ufer umher zerſtreut hatte, kämpfte Pallas, der junge Sohn des Königs Evander, mit ſeinen Arkadiern. Der unebene Boden erlaubte dieſen nicht, ſich der Pferde zu bedienen, und weil ſie des Fußkampfes nicht gewohnt wa¬ ren, boten ſie endlich den eindringenden Latinern und Rutulern den Rücken. Nur allmählig brachte der Zuruf ihres jungen Führers ſie wieder zum Stehen. Bei dem Ruhm und bei den Siegen meines Vaters, bei meiner eigenen Hoffnung beſchwöre ich euch, ihr Männer, ſchrie er, haltet Stand, vertraut euren Ar¬ men, und nicht euren Füßen! Wir haben keine Wahl, entweder vorwärts ins trojaniſche Lager, oder rückwärts in die See! Mit dieſen Worten führte er ſie auf's Neue gegen den Feind, und focht wie ein junger Löwe, indem er mit Lanze und Schwert, bald dieſen, bald jenen niederſtreckte. Nun ſammelte ſich die Streitkraft ſeiner Genoſſen wieder gedrängt um ihn her, und Schritt für Schritt gewannen die Arkadier wieder Boden, bis ihnen Lauſus, der heldenmüthige Sohn des Mezentius, Einhalt that. Die Arkadier zogen ſich auf ihre Freunde, die Etrusker und Trojaner zurück, aber unter allen wüthete der italiſche Held mit ſeinen tödtlichen Streichen. End¬ lich ſahen ſich Lauſus und Pallas einander gegenüber, beide Jünglinge, an Alter wenig verſchieden, beide herr¬ lich von Geſtalt, beide frühem Tod in dieſem Treffen vorbeſtimmt. Doch ſollte keiner von des andern Hand fallen: denn beide erwartete das Verhängniß unter den Händen eines größeren Feindes.

Turnus, der mit ſeinem Streitwagen das Heer durch¬ flog, erblickte das Paar, wie ſie eben voll Kampfluſt auf¬ einander losgingen. Halt, rief er von ſeinem Wagen393 herab, ich allein will mit Pallas kämpfen, mir allein iſt ſein Leben beſtimmt: möchte ſein Vater Evander doch zuſchauen! Verwundert richtete der Jüngling den ſpä¬ henden Blick nach der Stelle, von der herab der trotzige Ruf erſchollen war; dann maß er ſich ſeinen neuen Gegner mit großen Augen, und rief endlich muthig zu ihm empor: Entweder erbeute ich heute eine Feldherrn¬ rüſtung, oder einen rühmlichen Tod; in beides wird mein Vater ſich ergeben, darum ſpare dein Drohen! So ſprach er und ſchritt in die Mitte der Gaſſe hervor, die des Turnus Zuruf eröffnet hatte. Auch Turnus ſprang von ſeinem Doppelgeſpann, wie ein Löwe herbeifliegt, wenn er ferne vom Berg herab einen kämpfenden Stier in der Ebene erblickt hat. Als Pallas ihn auf Schu߬ weite vor ſich ſah, ſchleuderte er den Speer mit aller ſeiner Jugendkraft ab, und riß ſofort das Schwert aus der Scheide. Der Lanzenwurf war gut gezielt, er durch¬ brach dem Turnus den Rand des Schildes, ſeinen Rie¬ ſenleib aber ſtreifte er nur. Jetzt wiegte Turnus lange ſeinen Wurfſpieß mit der ſcharfen Eiſenſpitze, und ſprach dazu: Nun merk 'auf, ob mein Geſchoß nicht beſſer durchdringt. Dann flog ſein Speer, und fuhr dem Jünglinge durch Schild, Panzer und Buſen bis tief ins Herz. Vergebens zog dieſer den Speer noch warm aus der Wunde, die Seele entfloh mit dem ſtrömenden Blute, und er ſank todt unter den raſſelnden Waffen auf den Boden. Turnus ſetzte den linken Fuß auf den Todten, löste ihm den ſchönen Gürtel vom Leibe, auf welchem der Centaurenkampf in getriebenem Golde abgebildet war; das Grab, ſprach er dann, verweigere ich dem Jüng¬ linge nicht: bringet ihn immerhin ſeinem Vater Evander,394 ihr Arkadier! So ſprach Turnus und flog auf ſeinen Streitwagen zurück. Wehklagend trugen die Arkadier ihren erſchlagenen Königsſohn aus der Schlacht, und Etrusker und Trojaner, von den vordringenden Rutulern gemäht, zogen ſich ihnen in verworrener Flucht nach.

Zu Aeneas, der auf einem andern Flügel des Hee¬ res focht, kam die Botſchaft vom Weichen der Seinigen. Da raffte ſich der Held mit den muthigſten Genoſſen auf, brach ſich mit dem Schwert eine breite Bahn durch den Feind und ſuchte den Turnus. Vor ſeinen Augen ſchwebte ihm Evanders gaſtlicher Tiſch und der holde Jüngling Pallas, der ihm mit ſo vielen Vaterthränen anvertraut worden war. Schmerz und Racheluſt erfüllten ſeine Heldenbruſt. Vier Söhne des Sulmo, vier Söhne des Ufens griff er lebendig aus den Feinden heraus, und ließ ſie aus der Schlacht führen, um als Sühnopfer für Pallas zu bluten. Keinen Mann, keinen flehenden Jüng¬ ling ſchonte er, der dem Raſenden in den Weg trat, welcher wie ein brauſender Bergſtrom oder die nächtliche Windsbraut wüthete. Zu gleicher Zeit brach der Jüng¬ ling Askanius mit den eingeſchloſſenen Trojanern, den günſtigen Zeitpunkt erſehend, aus dem Lager hervor.

Turnus von Juno gerettet. Lauſus und Mezentius von Aeneas erſchlagen.

Die Rutuler wären verloren geweſen, wenn nicht Juno den Göttervater im Olymp demüthig um die Er¬ laubniß angefleht hätte, Turnus ihren Führer, aus der395 Hand des Aeneas zu retten und der Schlacht zu ent¬ führen. Verlangſt du nur Verzug ſeines Todes, ſprach Jupiter, ſo mag es immerhin ſeyn! Wenn du aber damit das Schickſal des ganzen Krieges zu ändern ver¬ meinſt, ſo hegeſt du eine vergebliche Hoffnung. Wei¬ nend erwiederte Juno: O daß dein Herz mir gewährte, was dein Mund mir verweigert! Soll mein unſchuldiger Schützling ſo traurig endigen? Doch ich danke dir ſchon für den Aufſchub; vielleicht lenket dich deine Milde doch noch auf gnädigeren Beſchluß!

Juno, von Gewölken umgürtet, ließ ſich vom Sturm durch die Lüfte tragen, und hatte bald das Lager der Laurenter erreicht. Hier ſchuf ſie aus einer hohlen Wolke ein weſenloſes Schattengebild, das an Geſtalt dem Hel¬ den Aeneas täuſchend ähnlich war, bekleidete es mit einem Schatten von Panzer, Schild und Helm, der herrlichen Rüſtung des Götterſohnes nachgebildet, ver¬ lieh ihm den Schritt des Wandelnden, und, ohne ſeinen Geiſt, den Hall ſeiner Stimme. So flog die Geſtalt dahin, wie ein Traumbild, das unſere Sinne trügt, miſchte ſich unter die vorderſten Reihen der Kämpfenden, reizte den Turnus mit Geſchoßen und forderte ihn zum Kampfe heraus. Turnus eilte der Geſtalt entgegen und warf die Lanze nach ihr, da wandte jene den Tritt und bot ihm den Rücken. Mit gezogenem Schwerte, unter höhniſchem Rufe, folgte Turnus, und merkte nicht, daß er ſchon die Schlachtlinie verlaſſen hatte. Zunächſt am Strande lag eines der hetruriſchen Schiffe, dorthin warf ſich das fliehende Bild des Aeneas, und ſchien ſich za¬ gend in ſeine Schlupfwinkel zu verbergen. Nicht langſamer folgte Turnus, ſprang über die Brücke, und faßte Fuß396 auf dem Vorderverdeck. Jetzt hatte Juno ihren Zweck erreicht. Kaum hatte Turnus den Bord berührt, ſo riß ſie das Seil ab, und ließ das Schiff von der gerade zurückrollenden Ebbe hinaus in den See tragen.

Inzwiſchen tobte der rechte Aeneas im Kampfe fort, und begehrte umſonſt nach dem entfernten Feind. Sein Schattenbild aber verließ den Winkel, in dem es ſich geborgen, und flatterte, von Turnus ungeſehen, in die Luft. Als dieſer ſeinen Feind nicht fand, und vom Mee¬ reswirbel dahingeriſſen wurde, ſchaute er nach dem Lande zurück, rathlos und ohne Dank für ſeine Rettung. All¬ mächtiger Vater, rief er, die Hände gen Himmel er¬ hend, hielteſt du mich ſo großer Schande würdig, wollteſt du mich ſo hart beſtrafen? Alle meine Freunde habe ich im grauſamen Todeskampfe zurückgelaſſen: wie kehr 'ich zu ihnen zurück? O daß der Meeresabgrund ſich unter mir aufthäte, daß die Winde mein Schiff an einer Klippe zerſchellten! Erſt gedachte er ſich ins Schwert zu ſtürzen, und hatte es ſchon aus der Scheide gezogen, doch ein Verſuch, zu den Seinigen zurückzukehren, däuchte ihm für dieſe ſelbſt erſprießlicher, und ſo ſprang er, ge¬ waffnet wie er war, ins Meer. Aber Juno trieb die Wellen ihm entgegen. Der Strom nahm ihn mit ſich fort, und erſt bei ſeiner Vaterſtadt Ardea ſpülten ihn die Wellen ans Land.

Die Schlacht vor den Lagermauern wüthete fort. Die Trojaner waren im Vortheile und jauchzten. Aber der vertriebene König von Agylla, der Etrusker Mezen¬ tius, der wildeſte Bundesgenoſſe der Rutuler, der bisher bei der Hinterhut gehalten hatte, brach jetzt vor, und ſtürzte ſich auf die Feinde. Als die Etrusker ihren397 Todfeind herankommen ſahen, ſtürmten ſie in ihrem alten Haſſe Alle auf den Einen los, und bedrängten ihn von allen Seiten mit ihren Geſchoſſen. Er aber ſtand wie ein Fels im Meere feſt, ſtreckte Etrusker und Phryger, wer ihm nahte, zu Boden. Bald war der Kampf wie¬ der ins Gleiche geſetzt; ſchon konnten ſich die Trojaner nicht mehr Sieger nennen. Mezentius hatte eine Gaſſe in die Feinde gebrochen, und furchtbar ſchritt ſeine hohe Geſtalt in den mächtigen Waffen einher. Da ward Aeneas, der inzwiſchen auf der andern Seite des Tref¬ fens getobt hatte, den furchtbaren Feind aus der Ferne gewahr, ließ plötzlich vom Gefechte ab, und kehrte ſich ihm entgegen. Dieſer aber hemmte ſeinen Schritt auf Schußweite von ſeinem Feind, ergriff mit der Linken die Hand ſeines Sohnes Lauſus, der ihm ſchon lang an der Seite geſtritten hatte, hob mit der Rechten den Wurf¬ ſpieß, ſchwenkte ihn in den Lüften, und rief: Wohlan du mein Arm, der du von jeher mein Gott warſt, denn ich kenne keinen andern, und du mein Speer, jetzt gilts! Du aber, mein Sohn Lauſus, ſollſt das lebendige Sie¬ geszeichen über dieſen Räuber werden, wenn du mir in der erbeuteten Prachtrüſtung deſſelben prangeſt! Nun warf er den ziſchenden Wurfſpieß ſeinem Gegner zu; dieſer aber prallte vom Schilde des Aeneas zurück und traf den Antores, einen edlen argiviſchen Auswanderer, der mit Evander nach Italien gekommen war, und nun zuſammenſinkend ſeinem fernen griechiſchen Vaterlande einen Seufzer der Sehnſucht zuſchickte. Darauf ſchleu¬ derte auch Aeneas ſeinen Speer ab. Dieſer durchbohrte den dreifachen Erzſchild des Feindes, und fuhr dieſem in die Weiche. Als Aeneas das Blut des Etruskers fließen398 ſah, riß er erfreut ſein Schwert von der Hüfte und drang wüthend auf den Bebenden ein. Geſpießt von der Lanze und entkräftet zog ſich Mezentius mit dem durch¬ bohrten Schilde zurück. Thränen rollten ſeinem guten Sohne Lauſus aus den Augen, als er den Vater ver¬ wundet ſah; er brach mit ſeinem Schilde vor, und lief dem Trojaner, der ſchon mit ſeiner Rechten zum tödt¬ lichen Streich ausholte, unter die drohende Klinge, in¬ dem er dem Vater den Schild vorhielt. Ihm folgten ſeine Genoſſen mit großem Geſchrei, und alle ſchleuderten Geſchoſſe, ſo daß Aeneas mitten in ſeinem Grimm ſtille¬ halten und ſich mit ſeinem Schilde bedecken mußte. Von Lanzen umhagelt, rief er dem Lauſus zu: Wahnſinniger, was renneſt du in den Tod? Deine Liebe betrügt dich über deine Kräfte! Als aber Lauſus nicht wich, ver¬ doppelte ſich der Grimm des Helden, und nun rannte ihm Aeneas das Schwert, tief eintauchend, mitten durch den Leib, das den Weg ohne Mühe durch den leichten Schild und den goldgeſtickten Rock des Jünglings, das Kunſtwerk der zärtlichen Mutter, gefunden hatte. Aber als Aeneas in das erbleichende Antlitz des ſterbenden Knaben ſah, da erbarmte ihn ſein, und das Bild der kindlichen Liebe durchbebte ſein eigenes Vaterherz. Er reckte die Hand nach dem Sinkenden aus und rief: Un¬ glückſeliger Jüngling, du hätteſt eine beſſere Gabe von mir für dein rühmliches Thun verdient! Deine leichte Rüſtung und dein Goldkleid, deſſen du dich freuteſt, ſoll nicht von dir genommen werden. Wie du biſt, ſollſt du bei deinen Vätern ſchlafen dürfen, und ſo wenigſtens ſollſt du inne werden, daß du einem großmüthigen Feind erlegen biſt! So ſprach Aeneas, hob ihn ſelbſt von399 der Erde empor, daß das ſchmucke Lockenhaar nicht von Staub und Blute beſudelt würde, und ermahnte ſeine erſchrockenen Genoſſen, den Leichnam in Empfang zu nehmen.

Der verwundete Mezentius hatte ſich indeſſen an den Tiberſtrand gerettet, und ſtillte, an einen Uferbaum gelehnt, das Blut ſeiner Wunde mit dem Waſſer des Fluſſes. Sein eherner Helm hing an einem Aſte, ſeine ſchwere Rüſtung lag im Graſe, junge, erleſene Streit¬ genoſſen ſtanden um ihn her, er ſelbſt, ſchwach und keu¬ chend, ſtützte ſich das Haupt mit der Hand, und ſein hangender Bart fiel ihm auf die Bruſt herab. Gar oft fragte er nach ſeinem Sohne Lauſus, viele Boten ſandte er, die ihn herbeirufen, die ihm ſeines geängſteten Vaters Befehle bringen ſollten. Da nahte ſich die weinende Schaar der Freunde, die den entſeelten Jüngling mit ſeiner klaffenden Bruſtwunde auf dem Schilde dahertrugen. Mezentius, Unheil vorahnend, verſtand ihr Wehklagen ſchon in der Ferne. Als ſie angekommen waren, ſtreute er Staub auf ſein graues Haar, ſtreckte die Hände gen Himmel, und klammerte ſie dann um den Leichnam. Iſt's möglich, rief er, geliebter Sohn, konnte mich die Lebensluſt ſo bethören, daß ich dich ſtatt meiner in die Hand des Feindes rennen ließ? muß dein Tod mein Leben ſeyn? Wehe mir, jetzt erſt wird mir die Ver¬ bannung aus dem Etruskerlande zur unerträglichen Qual! Jetzt erſt fühle ich meine Wunde! Iſt's möglich, daß ich noch lebe, daß ich das Tageslicht und die Menſchen nicht verlaſſe? Aber ich will ſie verlaſſen! Mit dieſen Worten richtete er ſich auf bis zur kranken Hüfte, und ſo tief die Wunde ſaß, verlangte er doch ſein Roß. Dieß400 war ſeine Luſt, dieß war ſein Troſt: noch aus allen Gefechten hatte es ihn ſiegreich zurückgetragen. Auch das Streitroß ſchien über den Jammer ſeines Herrn zu trauern, es ſtand mit geſenktem Haupte da, und die Mähne floß regungslos über den Hals. Wir haben lange gelebt, guter Rhöbus, redete der wunde Held ſein Pferd an, wenn irgend etwas auf der Erde lang iſt; aber heute noch wirſt du als Sieger mit mir den Lauſus rächen, und Haupt und Rüſtung des Mörders blutig heimtragen, oder wir fallen mit einander, denn du wirſt, hoff 'ich, keinen Trojaner tragen wollen! Schnell waffnete ſich der Greis, ſo gut es die Wunde erlaubte, wieder; das Erz des Helmes umleuchtete ſein Haupt, der Roßſchweif flatterte in den Lüften, ſeine Hand hielt ein Bündel Speere; ſo trug ihn Schmerz, Wahn¬ ſinn und Muth hoch zu Roſſe wieder in die Schlacht.

Das gebe Jupiter und Apollo, rief Aeneas er¬ freut, als er den Gegner wieder auf ſich zu kommen ſah, daß du den Zweikampf mit mir erneureſt! Und nun eilte er ihm mit gehobenem Speer entgegen. Mezentius rief dagegen: Glaubſt du mich noch ſchrecken zu kön¬ nen, nachdem du mir den Sohn entriſſen haſt? Ich fürchte den Tod nicht, ich frage nach keinem Gott, ſter¬ ben will ich, aber dir ſende ich zuvor dieſe Gabe! Sprachs und ſandte einen erſten Speer nach ſeinem Feind, und einen zweiten und einen dritten, indem er ihn dreimal dazu mit ſeinem Roß umkreiſte. Aeneas drehte ſeinen Schild nach den Würfen, und fing die Geſchoſſe, eins um das andere mit der goldnen Schutz¬ waffe auf. Dann brach er hervor und ſchleuderte ſeine eigene Lanze dem Streitroſſe des Feindes in die Schläfe. 401Das Thier bäumte ſich, ſtreckte ſeine Vorderhufen in die Lüfte, ſchüttelte den Reiter ab, und deckte ihn fallend mit dem Rücken. Ein Schrei ſtieg aus den beiden Hee¬ ren gen Himmel. Aeneas aber flog herbei, riß das Schwert aus der Scheide, und rief höhnend: Wo iſt nun der wilde Mezentius, wohin hat ſich der Trotzende verkrochen? Grauſamer, ſeufzte der Gefallene vom Boden empor, ſpotteſt du mein im Tode noch? ſterb 'ich doch den edeln Tod in der Schlacht! Nur um Eine Gunſt bitte ich dich; gönne meinem Leib die Decke des Bodens; du weißeſt, daß mich wilder Haß alter Unter¬ thanen umringt: wehre ihre Wuth von mir ab, gönne mir Ein Grab mit meinem Kind! So ſprach er und reichte den Hals dem Schwerte des Feindes dar, ſein Blut ſtrömte auf die Rüſtung und ſein Leben war dahin.

Schwab, das klaſſ. Alterthum. 26
[402][403]

Sechſtes Buch.

Aeneas. Dritter Theil.

Waffenſtillſtand. Volksverſammlung der Latiner. Neue Schlacht. Kamilla fällt. Unterhandlung. Verſuchter Zweikampf. Friedensbruch. Aeneas meuchleriſch verwundet. Aeneas geheilt. Neue Schlacht. Sturm auf die Stadt. Turnus ſtellt ſich zum Zweikampf und erliegt. Ende.

26 *[404][405]

Waffenſtillſtand.

Die Morgenröthe ſtand über dem Schlachtfelde, das die Trojaner als Sieger inne hatten. Aeneas richtete auf einem Hügel ein Siegeszeichen auf. Der Stamm einer rieſigen Eiche, von dem alle Aeſte abgehauen waren, wurde mit der funkelnden Waffenrüſtung des Feldherrn Mezentius bekleidet: rechts wurden der blutige bebuſchte Helm, die zerbrochenen Speere des Fürſten, ſein Panzer, der zwölfmal von Geſchoſſen getroffen und durchbohrt war, aufgehängt; links der eherne Schild, und an ſei¬ nem Gurte das Schwert in der Scheide von Elfenbein. Der geſammte Haufe der trojaniſchen Führer drängte ſich um das Denkmal, und Aeneas weihte die Beute unter feierlichem Flehen dem Schlachtengott.

Alsdann wandten ſie ihre Schritte nach dem Lager, wo der greiſe Arkadier Acötes, der als Waffenträger und Gefährte ſeinem geliebten Zögling gefolgt war, den entſeelten Leib des Pallas hütete, den eine Schaar von Dienern und theilnehmenden Trojanern und Trojanerinnen mit aufgelöstem Haar umſtand, und der in einer bedeck¬ ten Halle der Lagerburg untergebracht war. Als Aeneas durch die Pforte trat, erhob ſich lautes Stöhnen, alle Anweſenden ſchlugen an die Bruſt, und die Burg dröhnte von Jammer. Wie nun Aeneas das Haupt des Pallas, mit dem blaſſen Angeſichte, auf dem Polſter erblickte, und in der jugendlichen Bruſt die offene Speerwunde, da rief er, indem ihm die Thränen aus den Augen hervorquollen: Unglückſeliger Knabe, hat dir das trügeriſche Glück,406 das dich ſo ſchmeichleriſch begleitete, nicht vergönnt, das Reich, das du deinen Freunden gründen halfeſt, zu ſchauen, und als Sieger in die Heimath zurückzukehren! Nicht ſolches habe ich deinem Vater Evander verſprochen, als er mich beim Scheiden umarmte, und ſprach: Hüte dich, du gehſt in den Kampf mit einem ſtreitbaren und harten Volk! Weh 'uns, vielleicht bringt in dieſem Augen¬ blicke dein Vater den Göttern Gelübde für dich dar, in welchem wir deinen Leichnam beſtatten! So ſprach er weinend, und befahl, die Leiche auf ein Geflecht von Eichenzweigen zu legen und ins Lager zu tragen. Dort ward der Jüngling auf einem hohen Grashügel mit¬ ſammt der Tragbahre niedergelaſſen, und lag da nun wie ein gepflücktes Veilchen oder eine welkende Hyazinthen¬ blüthe, von welcher Schönheit und Farbenſchimmer noch nicht ganz gewichen ſind. Aeneas ſelbſt brachte zwei purpurne, mit Gold durchwobene Feiergewande, von Dido's eigener Hand gewirkt, herbei: in das eine hüllte er den Leib des Jünglings, das andere ſchlang er um ſein Lockenhaupt. In dieſem Schmucke ſollte der Todte ſei¬ nem Vater nach Pallanteum zurückgeſchickt werden. Dem Zuge ſchloſſen ſich erbeutete Gefangene, Pferde mit Waffen beladen, Acötes, der alte Diener des Jünglings, der ſich das Haar zerraufte und die Bruſt mit Fäuſten ſchlug, und zuletzt Aethon, das Streitroß des Königs¬ ſohnes an, das mit geſenktem Kopf einherſchritt, und Thränen vergoß wie ein Menſch. Dann kamen die Für¬ ſten der Etrusker und Arkadier, und ein Trauergefolge von Trojanern, alle mit geſenkten Waffen. Aeneas ſah dem Zuge der Begleitenden nach, bis er aus ſeinen407 Augen verſchwand, rief dem Todten ein letztes Lebewohl zu, und kehrte wieder in das Lager zurück.

Indeſſen waren aus der Stadt des Latinus Geſandte mit Oelzweigen in der Hand angekommen, und flehten um die Erlaubniß, die Leiber der Ihrigen beſtatten zu dürfen. Dieſen erwiederte Aeneas voll Huld, indem er ihnen ihre Bitte ſogleich gewährte: Welche Verblen¬ dung, ihr Latiner, hat euch unſere Freundſchaft ver¬ ſchmähen laſſen, und in dieſen großen Krieg verwickelt! Ihr begehret Frieden für eure Todten? wie gerne ge¬ währte ich ihn auch den Lebenden! Auch wäre ich ge¬ wiß eurem Lande niemals genaht, wenn dieſer Wohnplatz mir nicht durch das Schickſal angewieſen worden wäre. Dazu führe ich keineswegs Krieg mit eurem Volke. Nicht dieſes, nur euer König hat unſern Bund verſchmäht, und ſich lieber den Waffen des Turnus anvertraut. Will Turnus den Krieg mit der Fauſt enden, will er die Trojaner durchaus nicht in dem Lande dulden, nun ſo werfe er ſich in ſeine Rüſtung und kämpfe mit mir, Mann für Mann. Behalte dann Recht, wem ein Gott und ſeine Fauſt das Leben verleiht. Jetzt aber gehet, und legt eure armen Mitbürger auf den Scheiterhaufen.

Als die Geſandten ſo milde Worte aus dem Munde des Trojanerfürſten hörten, ſahen ſie, ſchweigend vor Staunen, einander an. Endlich ſprach der greiſe Dran¬ ces, von jeher ein Feind des Turnus: Held von Troja, was ſoll ich mehr an dir bewundern, deine kriegeriſche Tugend, oder deine Gerechtigkeit? Wir gehen, voll Dank unſerer Vaterſtadt deine Willensmeinung zu verkünden, und, wenn es möglich iſt, den König Latinus mit dir zu verſöhnen. Alle Geſandte beſtätigten dieſe Rede mit408 ihrem Beifallrufe. Es wurde ein Waffenſtillſtand auf zwölf Tage geſchloſſen, und nun ſchweiften im Schutze deſſelben Latiner und Trojaner durcheinander ungefährdet auf den waldigen Berghöhen umher; die Eſche, die Fichte ſank unter dem Streiche der Axt; die Eiche, die Ceder, die Buche wurde mit Keulen geſpalten, und ſeufzende Wagen, ſchwer mit Holz beladen, fuhren der Stadt der Latiner zu.

Inzwiſchen war das Gerücht von dem Tode des Pallas zur Stadt des Evander gedrungen, die bisher nur von den Siegen ihres Königsſohnes vernommen und geträumt hatte. Unausſprechliche Niedergeſchlagenheit be¬ mächtigte ſich des Königes und aller Bürger. Leichen¬ fackeln in der Hand, ſtürzten die Arkadier zu den Tho¬ ren hinaus, und, vom langen Zuge der Flammen leuchtete der Weg. Auf der andern Seite kam ihnen die weh¬ klagende Schaar der Phrygier mit dem Leichnam entgegen.

Als die Frauen der Arkadier den Zug auf die Häu¬ ſer der Stadt zukommen ſahen, erfüllten ſie die Straßen mit lautem Heulen. Jetzt vermochte auch den König Evander keine Gewalt mehr zurückzuhalten; er ging der Schaar entgegen, und als die Tragbahr niedergeſtellt ward, warf er ſich über die Leiche ſeines Sohnes, und ließ ſeinem Schmerz in lautem Schluchzen und abge¬ brochenen Worten des Jammers den Lauf.

Volksverſammlung der Latiner.

Trojaner und Latiner hatten ihre Todten unter Thrä¬ nen und Opfern beſtattet, die lauteſte Wehklage und409 längſte Betrübniß aber war bei den Letztern. Trauernde Mütter, Wittwen, Schweſtern, Knaben, ihrer Väter beraubt, irrten durch die Stadt umher, verfluchten den Krieg und das Eheverlöbniß des Turnus. Dieſe Stim¬ mung verſtärkte noch der Abgeſandte Drances, indem er verſicherte, daß nur Turnus von Aeneas verlangt, nur er zur Entſcheidung des Krieges durch einen Zweikampf herausgefordert werde. Auf der andern Seite wurde auch Turnus von der entgegengeſetzten Meinung eifrig verthei¬ digt, ihn deckte der mächtige Name der Königin Amata; ſein eigener Ruhm und die errungenen Siege verherr¬ lichten ihn in den Augen des Volkes.

Die Niedergeſchlagenheit der Latiner vermehrte in¬ deſſen eine Botſchaft, durch welche eine lang gehegte Hoffnung vereitelt wurde. Im untern Theile Ita¬ liens, in Daunien, ſaß, auf der Rückkehr von Troja durch die Nachſtellungen ſeiner treuloſen Gattin von ſei¬ ner Heimath Aetolien zurückgehalten, der große Griechen¬ held Diomedes, der Sohn des Tydeus, und hatte dort die Stadt Argyripa gegründet. Gleich beim Ausbruche des Krieges hatte Turnus zu dieſem alten Feinde der Trojaner einen Rutulerhelden, Namens Venulus, abge¬ ſchickt, welcher demſelben meldete, daß Trojaner, von Aeneas, dem Schwiegerſohne des Königs Priamus an¬ geführt, im Latinerlande ſich feſtgeſetzt haben, und ein zweites Troja gründen wollen. Gegen dieſe verhaßten Ankömmlinge hatte Turnus die Hülfe des Königes Dio¬ medes verlangt. Mitten in jener Aufregung nun kam Venulus, der Botſchafter des Turnus, aus der griechi¬ ſchen Pflanzſtadt des Diomedes zurück und brachte keine günſtige Antwort mit. Damit war die letzte Hoffnung410 des alten Königes Latinus verſchwunden. Niedergebeugt von Kummer, berief er die Häupter des Volkes zu einer großen Verſammlung in ſeinem Königspalaſt, ſetzte ſich mit düſterer Stirne auf ſeinen Herrſcherthron, und hieß den zurückgekommenen Boten mit ſeinen Begleitern Be¬ richt erſtatten.

Bürger, begann hier Venulus, wir ſahen den Helden Diomedes und die Pflanzſtadt der Argiver, unter den Eichenwäldern des Berges Garganus auf der ſchö¬ nen Anhöhe gelegen. Als wir ihm Namen und Heimath geſagt, unſre Geſchenke vor ihm ausgebreitet und ihm gemeldet hatten, wer uns mit Krieg heimſuche, erwie¬ derte uns der große Fürſt mit freundlichem Angeſichte: O ihr glücklichen Völker Auſoniens, ihr unter der Obhut des guten Saturnus lebenden, welch 'ein Schickſal ſtört auch euch aus der Ruhe auf? Wir Sieger Troja's ſind die elendeſten unter allen Sterblichen! Selbſt Priamus müßte uns bemitleiden, wenn er ſchaute, wie ſchwer wir unſern Uebermuth büßen müſſen. Der Lokrer Ajax hat im Meere ſein Grab gefunden; Agamemnon liegt im eigenen Haus erſchlagen; Menelaus irrt in Egypten um¬ her; Ulyſſes zitterte vor den Cyklopen. Auch mir haben die Götter die Wiederkehr in meine Heimath mißgönnt; erlaſſet mir die Erzählung! Ich bin kein Mann des Glückes mehr, ſeit ich es gewagt habe, die unſterbliche Venus im Kampfe zu verwunden! Darum reizet mich nicht zu neuen Gefechten! Seit Troja gefallen iſt, bin ich kein Feind der Trojaner mehr, denke auch nicht mit Freuden an das Uebel zurück, das ich ihnen zugefügt. Die Geſchenke, die ihr mir von Hauſe bringet, über¬ reichet ſie dem Aeneas! Ich habe mich im Kampfe mit411 ihm gemeſſen: glaubet mir's, er iſt ein gewaltiger Mann, wenn er ſich mit ſeinem Schild emporbäumt und im Wir¬ bel die Lanze dreht! Wären nach Hektors Tode noch zwei Männer wie er in Troja geweſen, ſo hätte die Welt nichts von unſerm Siege zu erzählen. Darum, bietet die Hände zum Frieden, ſo lange es noch Zeit iſt: ſeinen Waffen ſeyd ihr nicht gewachſen.

Als Venulus ſeinen Bericht geendigt hatte, entſtand ein murrendes Toſen in der Volksverſammlung, wie ein Gießbach durch Felſen rauſcht. Wie die bewegten Lippen endlich ſtille wurden, ſprach der König Latinus von ſei¬ nem hohen Throne herab: Wir führen einen unglück¬ ſeligen Krieg, ihr Bürger, mit unbezwinglichen Männern, mit einem Göttergeſchlecht. Beherziget deßwegen, was ich euch verkünden will. Nicht ferne von der Tiber, gegen Abend, beſitze ich ein altes Gebiet, von Rutulern und Aurunkern bebaut und beweidet, und von Fichten¬ bergen begränzt. Dieſes will ich den Trojanern abtreten, und ſie zu Reichsgenoſſen aufnehmen: dort mögen ſie ſich anſiedeln und die verheißene Stadt begründen. Ziehen ſie es aber vor, ein anderes Land aufzuſuchen, ſo wollen wir ihnen Erz, Schiffsbauzeug und Hände darreichen, um ſich fünfzig Ruderſchiffe zu bereiten und auszurüſten. Außerdem ſollen hundert Geſandte aus den edelſten Ge¬ ſchlechtern von Latium ſich aufmachen, mit Friedens¬ zweigen in der Hand, und ihnen Gold, Elfenbein, und Mantel und Thron als Reichskleinodien darbringen.

Da ſtand der alte Drances in der Verſammlung auf, ein reicher beredter Mann, obwohl kein Held im Kampfe mehr, der ſeit langer Zeit den Ruhm des Tur¬ nus mit Scheelſucht betrachtete, und rief: Vortrefflicher412 König, es fehlt nur Eines noch! Du ſollteſt zu den herrlichen Geſchenken, die Du den Trojanern zu ſenden befiehlſt, auch noch die Hand deiner Tochter Lavinia hinzufügen, und ſo den Frieden mit einem ewigen Bund verſiegeln! Jetzt entbrannte das Herz dem Turnus, der eben erſt von ſeiner Vaterſtadt zurückgekehrt, ſich unter die Volksverſammlung gemiſcht hatte. Aus der tiefſten Bruſt emporathmend, rief er: O Drances, ſo oft der Krieg Fäuſte verlangt, biſt du mit der Zunge da! Jetzt aber gilt es nicht, den Rathſaal mit Worten anzufüllen: die Feinde umringen unſere Stadt, gefochten will es ſeyn! Was wird uns der Aetolier Diomedes und ſeine Pflanzſtadt helfen, wenn unſer eigener Arm wenn Latium, wenn ganz Volskerland, das ſich für uns erhoben hat, es nicht vermag? Wenn es ſich aber nur um meine Seele handelt, die iſt euch längſt ge¬ weiht; wenn es wahr iſt, daß Aeneas mich allein heraus¬ fordert, ich bin Turnus, er ſoll mich finden!

Während die Latiner ſo ſich über die Lage ihres Reichs zankten, kam Aeneas mit ſeinem ganzen Ge¬ folge heran, und plötzlich ſtürmte die Botſchaft durch den Palaſt, daß Trojaner und Etrusker vom Tiber¬ ſtrome hergezogen kommen.

413

Neue Schlacht. Kamilla fällt.

Die Verſammlung ſtäubte auseinander, aus der ganzen Stadt warf ſich Alles in Haſt auf die Mauern. Die Stadtthore wurden mit Gräben verſchanzt, Steine wurden aufgehäuft, Palliſaden in den Boden gerammelt, das Schlachthorn ſchmetterte, Mütter und Männer ſtell¬ ten ſich in bunten Reihen auf den Mauerkranz. Auf einem hohen Wagen fuhr die Königin Amata, und an ihrer Seite ihre Tochter Lavinia, die Urſache ſo vielen Leides, ihre reizenden Augen auf den Boden geſenkt, durch den Schwarm der Frauen nach der Burg der Stadt, um dort im Tempel der Minerva Gebet und Opfer darzubringen.

Turnus ſelbſt gürtete ſich eilig zum Kampfe. Bald ſtarrte er im ſchuppigen Erzharniſche, legte ſich die Gold¬ ſchienen an die Beine, und ſchnallte ſich das Schwert an die Seite. Dann ſetzte er ſich den goldenen Helm aufs Haupt, und eilte, funkelnd vom Kopfe bis auf die Sohlen, und frohlockend in Siegeshoffnung, von der Königsburg hinab. Unter dem Thore begegnete ihm Kamilla, hinter ſich den Zug ihrer Volsker. Als ſie den Helden erblickte, ſprang die jungfräuliche Königin vom Roſſe, und ihr folgte das ganze Geſchwader. Dann ſprach ſie zu dem Rutulerfürſten: Turnus, wenn an¬ ders ein Starker mit Recht auf ſich ſelbſt vertraut, ſo ge¬ lobe ich heute, die Schaar des Aeneas zu beſtehen, und mich allein mit meinen volskiſchen Reitern ihm entgegenzu¬ werfen.

414

Solch Anerbieten war dem Helden willkommen. Dieſer Muth, erwiederte er, erhebt dich, o Jung¬ frau, hoch über dein Geſchlecht und in den Rath der Männer. Von nun an ſollſt du die ganze Kriegsarbeit mit mir theilen. Meine Späher melden mir, daß Aeneas ſeine leichten Reitergeſchwader vorausgeſandt hat, er ſelbſt mit dem ſchweren Heerhaufen ſchreitet über den Bergrücken auf die Stadt zu. Dort will ich ihm in einem waldumwachſenen Hohlweg einen Hinterhalt be¬ reiten und beide Schlünde des engen Pfades mit Krie¬ gern beſetzen. Du dagegen ſollſt die etruskiſchen Reiter mit deiner Reiterei empfangen, und ich gebe dir den Helden Meſſapus mit den latiſchen Geſchwadern bei. Die Oberfeldherrnſchaft aber ſey dir ſelbſt anvertraut, unvergleichliche Jungfrau!

Nach dieſen Anordnungen ging Turnus ſeinen eige¬ nen Weg. Durch ein enges Thal mit vielen Krüm¬ mungen, das von beiden Seiten eine ſchwarze Bergwand voll Waldes begränzte, führte ein ſchmaler Fußpfad. Drüberhin, zuoberſt auf dem Bergesgipfel, lag, zwiſchen Wäldern verborgen ein ebnes Feld, wo ſich ein ſicherer Hinterhalt aufſtellen ließ, und von wo aus man nach Belieben rechts oder links angreifen oder aber von der Höhe herab Steine ins Thal hernieder wälzen konnte. Dorthin zog Turnus mit ſeinen Schaaren und lagerte ſich auf der Höhe und in den Wälderſchluchten.

Während dieſes geſchah, rückten die Trojaner und ihre etruskiſchen Bundesgenoſſen mit den Reitergeſchwa¬ dern immer näher an die Mauern. Die Roſſe brausten durch die Ebene, eine eiſerne Saat von Spieſſen ſtarrte, und die Felder ſchienen von den erhobenen Waffen zu415 brennen. Gegenüber erſchienen die Latiner, Meſſapus mit ſeinem Bruder Korax an der Spitze, und die Rei¬ terei der Volsker von Kamilla angeführt. Als die Heere einander auf Speerwurfs Weite nahe gekommen waren, ſtanden ſie einen Augenblick ſtill und brachen dann plötz¬ lich mit Geſchrei hervor, ermunterten ihre Roſſe und von allen Seiten flogen Geſchoſſe wie Schneeflocken, ſo daß die Luft ganz verdunkelt wurde. Sobald die feindlichen Schaaren Speer gegen Speer mit einander kriegten, fing die Schlachtordnung der Latiner zu wan¬ ken an, ſie warfen bald die Schilde auf den Rücken, und lenkten ihre Roſſe nach der Stadt hin. Aber ihre Flucht war nur verſtellt; ſobald ſie bei den Mauern an¬ gekommen waren, drehten ſie ſich wieder, und warfen ſich, wie die Ebbe, die in die Fluth umſchlägt, mit er¬ neutem Feldgeſchrei auf die verfolgenden Etrusker, die nun ihrerſeits wieder zurückwichen. So ging es zwei¬ mal, und erſt das drittemal wurde das Treffen zur ſtehenden Schlacht, wo Alle ſich unter einander mengten und Mann ſich Mann zum Kampfe auswählte. Jetzt erſcholl bald ein Geächze von Sterbenden; Waffen und Leichen wälzten ſich im Blutbade, halblebende Roſſe la¬ gen unter Leichnamen vermiſcht und andere bäumten ſich über ihren abgeworfenen Reitern.

Mitten im Morde frohlockte, einer Amazone gleich gekleidet und aufgeſchürzt, die Volskerin Kamilla, ſandte bald Pfeile vom Bogen, bald ſchlanke Lanzen mit der Hand, bald griff ſie zur Streitaxt und auf ihrer Schul¬ ter ſchallte klirrend ihr goldener Köcher. Wenn ſie auch einmal mit ihrem Roſſe umlenkte, und weichend über den Plan hinflog, ſo wendete ſie doch noch den Bogen416 rückwärts und ſchickte im Fliehen noch einen Pfeil ab. Ein auserleſenes Gefolge von tapfern Jungfrauen um¬ gab ſie, Lavina, Tulla und Tarpeja, welche ſie ſich ſelbſt zur Geſellſchaft auserkoren hatte und die in Krieg und Frieden ihre treuen Begleiterinnen waren. Eine Menge Phrygier ſtürzten unter ihren Würfen und Strei¬ chen. Endlich begegnete ihr im Kampf auch einer der tapferſten Apeninnenbewohner, als ſie eben dem kühnen Orſilochus durch den Helm das Haupt geſpalten hatte, der ſtreitbare Sohn des Aunus, ein Ligurier. Der Anblick der furchtbaren Jungfrau ſchreckte ihn, und als er ſah, daß es ihm nicht mehr möglich war, dem Kampfe zu ent¬ rinnen, und die ihn bedrängende Feindin abzulenken, ſann er auf eine neue Liſt und rief: Was iſt es denn ſo ein Großes, wenn ein Weib ſich einem tapfern Roſſe anvertraut! Entſag 'einmal dem flüchtigen Umherſchweifen, ſteige von deinem Pferde, und verſuche den Kampf mit mir auf ebenem Boden, dann wollen wir ſehen, ob dein windiges Prahlen Stand hält! Dieſe Worte waren ein Stachel in das Herz der Jungfrau, ſie übergab ihrer nächſten Gefährtin das Pferd, und ſtellte ſich dem Jünglinge, nur mit Schwert und Schild bewaffnet, zum gleichen Fußkampfe. Der Jüngling aber glaubte ſeinen Betrug gelungen; ohne abzuſteigen gab er ſeinem Pferde die Sporen, und ergriff mit umgewandtem Zügel die Flucht. Betrüger! rief die Heldin, als ſie ihn fliehen ſah, du ſollſt die Künſte deiner Heimath umſonſt ver¬ ſucht haben, und deine Liſt wird dich nicht zum ſchelmi¬ ſchen Aeneas zurückbringen! Zugleich eilte ſie mit geflü¬ gelten Sohlen dem Roſſe voran, fiel ihm in die Zügel, und ſtieß von vorn dem Reiter das Schwert in den Leib.

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Aber auch auf der Gegenſeite erhob ſich ein gewal¬ tiger Held, der Etruskerkönig Tarcho. Dieſer trieb bald zu Roſſe weichende Schaaren vor ſich her, belobte die Seinigen mit ermunterndem Zurufe, nannte jeden mit Namen, friſchte die Zurückgedrängten zu neuem Kampfe auf, und trieb unbekümmert um den Tod ſein Roß mitten in die Schlacht hinein. Hier ſtieß er auf den Venulus, dem er ſich ſtürmiſch entgegenwarf, ihn vom Pferde riß und mit der rechten Hand umſchlingend auf ſeinem eigenen Roſſe im Flug davon trug.

Mit Blicken und Geſchrei folgten die ſtaunenden Latiner dem Eilenden, der im Laufe ſeinem Feind mit dem abgebrochenen Schafte ſeiner eigenen Lanze zwiſchen die Fugen der Rüſtung eine Todeswunde zn verſetzen ſtrebte. Venulus aber erwehrte ſich des Streichs und hielt die Hand vor die Kehle. So war das Paar an¬ zuſchauen wie ein Adler, der eine geraubte Schlange durch die Luft entführt; das blutende Thier ringelt ſich, bäumt ſich immer höher und ziſcht mit dem Munde; der Vogel aber läßt es nicht aus dem krummen Schnabel fahren und peitſcht die Lüfte mit ſeinen Flügeln. Dem Glück und Beiſpiel ihres Führers folgten die Etrusker, und ſtürmten wieder muthiger voran.

Auch Kamilla fand einen kühnen Gegner in den Reihen der Etrusker. Der Held Arruns ſchwärmte mit ſeinem Speer um die raſche Amazone her, und wich ihr nicht von der Seite, nach welcher Stelle des Treffens die Wuth ſie auch führen mochte. Nun verfolgte Kamil¬ la gerade den phrygiſchen Cypele'sprieſter Chloreus, deſſen ſchuppiger Erzpanzer mit goldenem Geflechte wie ein ge¬ fiedertes Gewand ſich um ſeinen Leib legte, und den einSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 27418Ueberwurf von dunklem Purpur bedeckte. Ein goldner Helm ſtrahlte auf ſeinem Haupte, ein Köcher aus Gold tönte um ſeine Schultern und vom Bogen ſchoß er die ſchärfſten Pfeile. Sein ausländiſches Waffengeſchmeide machte die volskiſche Jungfrau lüſtern, und ſie verfolgte ihn, ſey es um die trojaniſche Wehr als Siegesbeute in einem italiſchen Tempel aufzuhängen, ſey es um ſelbſt in dem erbeuteten Golde zu prangen. Als ſie nun ganz mit Sinn und Blick auf dieſen Feind gerichtet war, und den Arruns aus den Augen gelaſſen hatte, ſchnellte dieſer zu Apollo flehend, daß er die Schmach der verbündeten Waffen tilgen, und auch ihn nicht einem Weib unter¬ liegen laſſen wolle, plötzlich und unverſehens den Speer. Phöbus nickte ihm den halben Wunſch zu. Die umringen¬ den Volsker hörten die Lanze daher rauſchen und ſuchten mit den Augen ihre Königin. Sie ſelbſt aber dachte an nichts, bis ihr das Geſchoß in der Bruſt haftete und ihr jungfräuliches Blut aus der Wunde drang. Zitternd eilte die Schaar ihrer Gefährtinnen herbei und ſie fa߬ ten ihre Herrin in den Armen auf. Arruns aber, über ſeine eigene That wie erſchrocken, entfloh vor Freude und Furcht bebend, wie ein Wolf, nachdem er einen Farren oder einen Haſen erwürgt hat, noch ehe die Pfeile ihn verfolgen, plötzlich vom Wege abweicht und mit eingezogenem Schweif ſich in die Waldungen flüchtet. Gerade ſo ſtahl ſich Arruns hinweg und miſchte ſich haſtig fliehend unter die Reiter. Kamilla aber zog ſter¬ bend an dem Eiſen, deſſen Spitze ihr eine tiefe Wunde in die Rippen gewühlt hatte, ihre Augen brachen, der Purpur der Wangen wich von ihrem Angeſichte. Mit ſchwachem Athem ſprach ſie zu Akka, der liebſten ihrer419 Geſpielinnen: Fleuch, du liebe, und überbring dem Turnus meine letzten Befehle, denn um mich her wird Alles Nacht: Er ſoll hinfort den Kampf leiten und die Stadt vor den Trojanern beſchützen! So ſprach ſie, ließ die Zügel fahren, und glitt, noch immer widerſtrebend, vom Roſſe auf den Boden herab, neigte dann Haupt und Hals und verſchied.

Die Volsker erhoben ein Geſchrei der Verzweiflung bei ihrem Tode, und nach ihrem Fall entbrannte die Schlacht noch wilder. Da traf auch den Mörder Kamilla's, den Etrusker Arruns ein Pfeil von unſichtbarer Hand abgeſchoſ¬ ſen; es war Diana's Schuß, die ihre geliebte Jägerin rächte. Die Freunde des Getödteten ſchritten zum fortlau¬ fenden Kampf über ſeinen Leichnam und dieſer blieb vergeſſen im Staube liegen. Nach dem Tode der Führerin be¬ gann nun zuerſt das Reitergeſchwader Kamilla's zu flie¬ hen, darauf auch die Rutuler. Alle flogen mit abge¬ ſpannten Bogen, die Roſſe antreibend, über das Blach¬ feld hin. Eine ſchwarze Wirbelwolke von Staub wälzte ſich den Stadtmauern entgegen, von den Zinnen ſtieg ein Jammergeſchrei der Mütter in die Lüfte; und bald waren die Thore von den nachfolgenden Schaaren faſt zugleich mit den Feinden erreicht und unter Gemetzel drangen die Sieger in die Stadt ein. An andern Stel¬ len wurden von den verzweifelten Bürgern die Stadtpforten vor den Flüchtenden geſchloſſen und dieſe, zu den Feinden hinausgeſperrt, erlagen den Geſchoſſen der ſiegreichen Feinde vor den Thoren.

Unterdeſſen drang die Schreckenskunde auch zu Turnus in das dunkle Waldthal, denn Akka ſuchte ihn in ſeinem Hinterhalte auf und brachte ihm von dem Tod27 *420ihrer Herrin und der verlornen Schlacht unzweifelhafte Nachricht. Von Wuth und Schmerz im Innerſten zer¬ riſſen verließ dieſer auf der Stelle das Gehölz und ſtürmte nach der Ebene hinab. Kaum hatte er ſeinen Verſteck verlaſſen, als Aeneas vom Gebirge her in die Schluch¬ ten des Thales mit den Seinigen ſorglos eingedrungen kam und bald aus der finſtern Waldung heraustretend auf der Ebene vor der Stadt ſichtbar wurde. Da ſah er den Heerhaufen des Turnus vor ſich her ziehen. Auch dieſer hörte Heeresritt und Roßgeſchnaube hinter ſich, erkannte umgewandt den grimmigen Aeneas und ſtellte ſich in Schlachtordnung ihm gegenüber auf. Wäre nicht die Sonne ſchon im Sinken geweſen, auf der Stelle hätten beide Heere den Kampf der letzten Entſcheidung ausgefochten.

Unterhandlung. Verſuchter Zweikampf. Friedens¬ bruch. Aeneas meuchleriſch verwundet.

Als Turnus ſah, daß die Latiner, von den Feinden gedemüthigt, ihre Blicke alle auf ihn allein richteten, und ihn an ſein Verſprechen zu erinnern ſchienen, überflog eine Schaamröthe ſein Geſicht und ſein Herz ſchlug ihm wieder ſtolzer in der Bruſt. Wie ein verwundeter Löwe ſich wieder ernſtlich zur Wehr ſetzt, die zottige Mähne fröhlich ſchüttelt und den Speer des Jägers, der ihm im Leibe ſitzt, zerbricht, mit den blutigen Zähnen dazu knirſchend, ſo entbrannte der Ungeſtüm des hohen Jüng¬ lings wieder. Er trat vor ſeinen Schwiegervater Lati¬421 nus und ſprach: An mir ſoll der Verzug nicht liegen, wenn nur die feigen Trojaner ihr gegebenes Wort nicht brechen! Laß 'Opferthiere herbeiſchaffen, Vater, und ſchließe den Bund. Entweder ſchickt mein Arm heute noch den aſiatiſchen Flüchtling zum Orkus hinunter, und rächt unſere Schande, oder ich erliege ſeinem Schwert und er mag deine Tochter Lavinia als Gattin heimführen! Ihm antwortete Latinus mit ruhigem Herzen: Je mehr du an trotziger Tapferkeit Alle beſiegeſt, hochherziger Jüngling, deſto mehr iſt es meine Pflicht, dich zu be¬ rathen, und Glücksfälle des ſorgfältig zu überlegen! Von Daunus deinem Vater her iſt ein großes Reich dein, und du haſt ihm manche Stadt durch Eroberung hinzugefügt! Gold und Gunſt wird dir durch Latinus zu Theil. Latium hat noch genug andere Bräute, die auch nicht unedlen Stammes ſind. Laß mich dir die ganze Wahrheit ſagen, ſo ſchmerzlich ſie dir auch ſeyn mag. Einem von den vorigen Freiern meine Tochter zu geben, verhinderte mich der Warnungs¬ ſpruch von Göttern und Menſchen, dir zu Lieb aber, getrieben durch die Verwandtſchaft, durch die Thränen meiner Gemahlin, überwand ich alle Zweifel, nahm dich zum Eidam an, und habe mich in dieſen ungeſeg¬ neten Krieg eingelaſſen. Unſer Schickſal ſieheſt du. Du allein ſteheſt dem Frieden im Wege. Entſage meiner Tochter und verlange nicht von mir, das erſt auf den zweifelhaften Ausgang eines Zweikampfes ankommen zu laſſen, was du mir ſogleich als Gewißheit zu gewähren vermagſt! Denk' an das ungetreue Kriegsglück! Erbarme dich auch deines bejahrten Vaters, den der Gram um dich in deiner Vaterſtadt Ardea verzehrt.

422

Aber keine Worte vermochten den Rutuler umzu¬ ſtimmen, ja er wurde durch dieſe ſanfte Rede nur noch wilder geſtimmt. Nicht einmal die Bitten, die Thränen und Umarmungen der Königin wirkten auf ſein Herz. Da kam endlich, von den Wehklagen ihrer Mutter aufgeſchreckt, auch ſeine Braut Lavinia herbeigeeilt. Thränen rannen ihr über die heißen Wangen, und die große Verſchämtheit jagte ihr Glut über das Angeſicht. Wie Elfenbein von Purpur überlaufen, wie Lilienſchnee von Roſen angeſchimmert ſo ſpielten die Farben auf ihrem jungfräulichen Antlitz. Turnus heftete einen Blick auf die Geliebte, und ſeine Gedanken verwirrten ſich einen Augenblick; aber die Hoffnung, den verhaßten Nebenbuhler zu beſiegen, entflammte ihn noch mehr zum Streit und er ſprach zu der Königin gewendet: Mut¬ ter, ich bitte dich, verfolge mich nicht mit deinen Thränen, mit deiner bangen Ahnung; Turnus hat keine Wahl mehr! dann rief er einen ſeiner Streitgenoſſen und ſagte zu ihm: Du, Idmon, eile zum trojaniſchen Führer, und verkündige ihm ein Wort, das ihn nicht freuen wird. Er ſoll am nächſten Morgen ſeine Troja¬ ner nicht zum Streite führen, wie ich meine Rutuler nicht: wir laſſen die Heere von allem Streite ruhen, aber wir beide, ſobald die Sonne am Himmel aufge¬ gangen iſt, wollen mit unſerem Blute den Krieg ent¬ ſcheiden, nur auf dieſe Weiſe ſoll das Schlachtfeld be¬ ſtimmen, wem Lavinia als Gattin folgen wird.

Nun ließ Turnus, ins Innere der Burg zurückge¬ kehrt, ſeine ſchneeweißen, windſchnellen Roſſe vorführen, wappnete ſich, ergriff die unbeſiegte Lanze und übte423 ſich mit rollenden Augen in ſpielendem Stoß. Auch Aeneas, mit der Botſchaft des Rutulerfürſten zufrieden, wappnete ſich mit ſeiner göttlichen Rüſtung. Kaum be¬ ſtrahlte der Tag die höchſten Gipfel der Berge mit frühem Sonnenlichte, als ſchon Rutuler und Trojaner vor den Mauern der mächtigen Latinerſtadt das Feld für den Zweikampf ihrer Feldherrn abmaßen und in der Mitte den gemeinſamen Göttern Raſenaltäre aufbauten. Waſſer und Feuer zum Opfer, Kränze für die Prieſter, Thiere und Altäre wurden herbeigebracht. Dann ergoß ſich das geſammte Volk der Italer aus den Tho¬ ren der Stadt; von der andern Seite eilte das verbün¬ dete Heer der Trojaner und Etrusker herbei. Auf ein gegebenes Zeichen zog ſich jeder auf ſeinen Platz zurück und ein geräumiges Feld blieb zum Kampfe offen. Die Krieger ſtießen ihre Spieße in die Erde und lehnten die Schilde an. Aus der Stadt ſtrömte jetzt auch noch unbewaffneter Pöbel heraus, ſelbſt ſchwache Mütter und gebückte Greiſe. Innerhalb der Stadt beſetzten ſich Thürme und Dächer mit Zuſchauern und auf den höch¬ ſten Thoren ſaßen der Schauluſtigen genug.

Jetzt nahten die Könige: Latinus kam auf einem vierſpännigen Prunkwagen einhergefahren; von ſeiner Stirne blitzte ein Diadem mit zwölf goldenen Strahlen, zum Zeichen, daß er vom Sonnengotte abſtamme. Tur¬ nus erſchien mit einem Zwiegeſpann von weißen Roſſen, zwei Wurfſpieße in der Hand ſchüttelnd. Auf der an¬ dern Seite eilte aus dem trojaniſchen Lager Aeneas her¬ vor, und ſeine Rüſtung ſamt Schild ſtrahlte wie Ster¬ nenſchimmer; an ſeiner Seite ging Askanius, ſein kräftig424 heranblühender Sohn. Dann brachte ein Prieſter in reinem Gewande ein borſtiges Ferkel und ein langwol¬ liges Lamm, und ſtellte die Thiere an die brennenden Altäre. Die Fürſten wandten ſich mit ihrem Angeſichte der aufgegangenen Sonne zu, ſtreuten geſalzenes Mehl auf die Opfer, ſchoren ihnen die Scheitel mit dem Stahle, und goßen das Dankopfer auf die Altäre. Dann beſchworen dort Aeneas, hier Latinus mit feierlichen Gebeten den Ver¬ trag: würde Aeneas beſiegt, ſo ſollten die Trojaner unter Julus Latium auf der Stelle räumen, und nach Pallan¬ teum, der Stadt Evanders, ſich zurückziehen; wäre der Sieg ſein, ſo ſollten ſich Italer und Trojaner, jedes Volk frei und ſelbſtſtändig, vereinigen, Latinus herrſchen, Aeneas die Tochter des Königs gewinnen und eine Stadt ſich und ſeinem Volke bauen und nach ihrem Namen Lavinia nennen.

Den Rutulern erſchien längſt der Kampf als ein ungleicher: ihre Herzen gährten ungeduldig, und der Ausgang däuchte ihnen, bei des Aeneas überwiegender Heldenkraft, ſehr unſicher. Ihre Sorge vermehrte ſich, als ſie ihren Führer Turnus mit bleichem Antlitz und eingefallenen Wangen ſchweigend vortreten und mit geſenktem Haupte vor dem Altare ſtehen ſahen. Seiner Schweſter Juturna entgingen dieſe Eindrücke nicht; ſie, eine unſterbliche Nymphe, verwandelte ſich ſchnell in die Geſtalt des Helden Camers, der durch mächtige Ahnen und eigene Thaten in großem Anſehen bei dem Rutu¬ lervolke ſtand, und miſchte ſich mitten unter das Heer. Rutuler, flüſterte ſie da, ſchämt ihr euch nicht, für euch viele ſtreitbaren Männer, die ihr ſo gut kämpfen könnet, nur eine einzige Seele dem Tode darzubieten? Sind wir unſern Gegnern etwa an Kräften nicht425 gewachſen? Zählet einmal Trojaner, Arkadier und Etrus¬ ker: ihr werdet finden, daß, wenn wir uns Mann gegen Mann ſchlagen wollten, kaum Jeder von uns Rutulern und Latinern ſeinen Gegner finden würde! Turnus freilich wird zu den Göttern, an deren Altar er ſich weiht, ruhmvoll emporſteigen, wenn er fällt; wir aber werden unſer Vaterland verlieren, um trotzigen Zwingherren dienſtbar zu ſeyn: und es geſchieht uns Recht; warum ſaßen wir auch unthätig hier im Graſe, während wir hätten kämpfen können!

So ſprach Juturna und ſie that noch mehr. Sie ſchickte den Italern ein ſinnbethörendes, günſtiges Vor¬ zeichen vom Himmel. Ein Goldadler Jupiters ſchwebte durch den lichten Aether, ſcheuchte das Ufergevögel des Stromes auf, ſchwang ſich dann plötzlich zu den Wellen hinab, und packte mit den Klauen den ſchönſten Schwan. Die Rutuler ſahen ſtaunend zum Himmel auf, wo alle die Vögel in einem luftverdunkelnden Schwarm, von der Flucht umgewendet, plötzlich ihren Feind, den Adler, der ſich mit ſeiner Beute dem Himmelsgewölbe zuſchwang, verfolgten, bis dieſer durch die Uebermacht bezwungen, und ſeine Laſt erſchöpft, den Raub aus den Klauen fahren und in den Fluß fallen ließ, dann ſich wieder emporſchwang, und in den Lüften verſchwand. Rutuler und Latiner begrü߬ ten dieſe Erſcheinung mit Freudengeſchrei, legten die Hand an den Schwertgriff und lauſchten ihrem Seher Tolum¬ nius, der ihnen das Zeichen günſtig deutete, und ſie zu den Waffen greifen hieß. Zugleich warf er ſelbſt zu¬ erſt ſein Geſchoß auf die gegenüberſtehenden Feinde, daß es ziſchend die Luft durchfuhr. Ein Lärm erhob ſich, Verwirrung kam in alle Reihen, alle Herzen geriethen426 in Aufruhr. Ihm gegenüber ſtanden nämlich neun ſchöne, ſchlanke Brüder, Söhne des Arkadiers Gylippus und einer einzigen edlen etruskiſchen Mutter. Einem von dieſen ſtattlichen Jünglingen war der Speer des Tolumnius an der Gürtelſchnalle mitten durch den Leib geflogen und hatte ihn in den Sand hingeſtreckt. Die acht Brüder des Gefallenen, von Schmerz um den Bruder entbrannt, ſchwangen ihre Lanzen, zückten ihre Schwerter; gegen ſie ſtürzte ſich die Macht der Rutuler. Nun brachen alle Arkadier, Trojaner und Etrusker los. Die Altäre wurden vom Gedränge zerwühlt, ein Sturm von Pfei¬ len durchlief die Luft, ein eiſerner Speerhagel ergoß ſich, Latinus ſelbſt floh mit den Götterbildern, durch den Bruch des Bündniſſes vertrieben; die Einen ſchirrten ihre Wagen an, die andern ſchwangen ſich aufs Roß, und andere ſtürzten ſich mit gezogenen Schwertern ins Handgemenge. Ein fürchterliches Morden erhob ſich.

Aeneas aber ſtreckte die unbewehrte Rechte gen Himmel, warf ſich unverhüllten Hauptes mitten unter die Seinigen und rief: Wo rennet ihr hin, Freunde, wel¬ che plötzliche Zwietracht hat ſich erhoben? Hemmt doch eure Wuth; der Bund iſt ja geſchloſſen, die Bedingun¬ gen ſind feſtgeſetzt. Wer hindert uns Führer am Kampf? Aber indem er noch ſprach, ſchwirrte von unbekannter Hand ein Pfeil daher, und verwundet mußte der Held den Kampfplatz verlaſſen.

So wie Turnus ſah, daß Aeneas den Platz räumte, und die Führer der Trojaner in Verwirrung geriethen, verlangte er Pferde und Waffen, ſchwang ſich auf den Wagen, lenkte die Zügel in die Schlacht, und richtete mit ſeinen Speeren Verheerung unter den Feinden an,427 oder zermalmte ſie unter ſeinen Rädern. Während er ſo auf dem Schlachtfelde Leichen auf Leichen häufte, brachten Mneſtheus und Achates im Geleite des Aska¬ nius den verwundeten Aeneas ins Lager zurück, blutend und Schritt für Schritt auf ſeinen Speer geſtützt. Ver¬ gebens ſtrengte er ſich an, den im Leibe haftenden Pfeil am zerbrochenen Rohre herauszuziehen; er verlangte, daß die Wunde ausgeſchnitten werde: Japis, der Arzt, erſchien; auf ſeinen Speer geſtützt ſtand vor ihm der Held, unbewegt unter ſeinen weinenden Genoſſen. Der Alte aber, in der Heilkunſt wohlerfahren, brauchte kein gewaltſames Mittel, ſondern ſuchte mit wirkſamen Heil¬ kräutern den Pfeil in der Wunde locker zu machen, faßte das Eiſen mit packender Zange, rüttelte mit der Hand an dem Rohr; doch alle ſeine Kunſt war nicht vermö¬ gend, das Geſchoß herauszuziehen. Und während er ſich vergebens abmühte, ſah man ſchon die Staubwolke der feindlichen Reiter, dichte Geſchoſſe fielen bereits ins Lager und das Geſchrei der Kämpfenden näherte ſich.

Aeneas geheilt. Neue Schlacht. Sturm auf die Stadt.

Da erbarmte ſich Venus ihres gefährdeten Sohnes. Sie pflückte auf dem Idagebirge der Inſel Aetna das herrliche Kraut Diktamnum mit ſeinen ſaftigen Blättern und purpurnen Blumen, brachte es, in eine dichte Wolke gehüllt, ins Lager herbei, und träufelte von ſeinem Safte heimlich und Allen ungeſehen in den Keſſel, in welchem die Heilkräuter des Arztes brodelten, dazu miſchte ſie428 noch Tropfen Ambroſias und das duftende Panaceenkraut. Japis ahnete hiervon nichts, aber als er noch einmal die Wunde mit ſeinem Kräuterſafte wuſch, ſiehe da ent¬ floh plötzlich der Schmerz aus dem Leibe des Helden, zu innerſt in der Wunde verſiegte das Blut; der Pfeil folgte von ſelbſt und zwanglos der berührenden Hand und fiel aus dem Leibe heraus. Sichtlich waren dem geheilten Aeneas die Kräfte zurückgekehrt. Was zögert ihr? rief der Arzt ganz ſchnell dem Helden die Waffen gebracht! das iſt nicht aus menſch¬ licher Macht, nicht nach den Geſetzen der Heilkunſt er¬ folgt, das hat ein Größerer gethan, denn ich, und zu größeren Thaten treibt er dich an, o König!

Aeneas, nach Kampfe lechzend, legte ſchnell Schie¬ nen und Panzer an, zürnte allem Verzug und war froh, als er endlich den Helm auf dem Haupte ſitzen hatte, und den Speer in den Händen ſchwang. In voller Waffenrüſtung umarmte er ſeinen Sohn Askanius, küßte ihn ſtreifend durch das Helmgitter und ſprach: Lerne von mir die Tapferkeit, mein Kind, und die wahre Be¬ harrlichkeit, das Glück aber lerne von Andern! Dann ſchritt die gewaltige Heldengeſtalt aus den Lagerthoren; Antheus und Mneſtheus mit dichter Reiterſchaar dräng¬ ten ſich ihm nach; alles Volk ſtrömte aus dem Lager und ein wolkiger Staub verkündigte dem Turnus die Nahenden. Ein Schauder lief ihm durch Mark und Beine. Auch ſeine Schweſter Juturna wandte ſich mit ihm bebend vor Furcht, zur Flucht, und bald tobte der Trojanerheld in der Schlacht wie eine Windsbraut. Da fiel auch der Seher Tolumnius, der zuerſt das Geſchoß in die Reihen der Feinde geſchleudert hatte. 429Die Halbgöttin Juturna aber ſtieß auf ihrer Flucht den Metiskus, den Wagenlenker ihres Bruders, vom Sitze, ſchwang ſich in ſeiner Geſtalt ſelbſt zum Bruder empor, ergriff die Zügel, und ſchwirrte nun mit ihm wie eine Schwalbe mitten durch den Feind, bald da, bald dort ihn zeigend, dann wieder abwegs ihn führend, ſo daß Niemand ihn zum Kampf einholen konnte. Auf allen Wendungen verfolgte Aeneas den Flüchtigen, blieb ihm unaufhörlich auf der Spur und rief ihn durch zerſprengte Geſchwader von Feinden aus der Ferne zum Kampf herbei. So oft er aber nahe kam, drehte Juturna den Wagen auf die Seite, und ermüdete durch ſeine Beu¬ gungen den vergebens nachfolgenden Helden. Nun rannte der Latiner Meſapus, der eben zwei Speere in der Lin¬ ken wiegte, herbei, und ſchleuderte einen davon mit ſicherem Schwunge dem Trojaner entgegen. Aeneas ſtand ſtille, ſammelte ſich in die Rüſtung und bückte ſich ins Knie. Der Speer fuhr über ihn hin, doch ſo, daß er ihm den Helmbuſch vom Scheitel ſtieß. Da rief Aeneas die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bundes auf und ſtürzte ſich zum ſchonungsloſen Morde tief unter die Feinde.

Dann legte ihm ſeine Mutter Venus den Anſchlag ins Herz, ohne Verzug ſeine Streitmacht ſeitwärts zu wenden und die Latiner durch unerwartete Noth in Ver¬ wirrung zu ſetzen. Während er den dahin rollenden Wagen des Turnus noch immer verfolgte, fiel ſein Blick auf die Mauern, und er ſah ſich die Stadt an, die noch immer unberührt vom Kriege, verſchont und in Ruhe dalag. Plötzlich rief er ſeine Helden Mneſtheus, Sergeſtus und Sereſtus herbei und beſetzte die Höhen;430 das übrige Trojanerheer zog den Helden nach, und drängte ſich, ohne Schilde und Lanzen niederzulegen, in einem Kreis um ſeinen Führer.

Da ſtand nun Aeneas in der Mitte und ſprach von einer Erhöhung herab: Zögert nicht, meine Befehle zu erfüllen. Jupiter ſteht auf unſerer Seite. Wenn die Feinde ſich nicht heute unterwerfen, ſo ſtürze ich die Stadt des Latinus und mache ihre rauchenden Giebel dem Boden gleich! Soll ich etwa warten, bis es dem Turnus beliebt, den Kampf mit mir zu beſtehen? Nein, hier, vor euch liegt das Ziel des Krieges; eilet mit Fackeln herbei, mahnet ſie mit Flammen an ihr Bünd¬ niß! So ſprach er und ſein ganzes Heer bildete auf der Stelle einen Keil und drängte ſich in dichter Maſſe der Stadt zu; die Sturmleitern werden angelegt, Fackel¬ brände leuchten, an den Thoren tobt der Sturm und fallen die Wachen; Pfeile und Lanzen ſtiegen über die Mauern. Vor Allen im Heere hob Aeneas ſeine Rechte hoch gen Himmel, wälzte alle Schuld auf den König Latinus und rief die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bündniſſes an.

Unter den geängſteten Bürgern entſtand Zwietracht: die Einen verlangten, man ſollte die Stadt den Troja¬ nern aufthun, die Thore entangeln, den König Latinus ſelbſt zurückrufen und zum Abſchluſſe des Friedens zwin¬ gen: andere ſchleppten Waffen herbei und ſannen auf die Vertheidigung der Mauern. Die Königin Amata, als ſie vom Dache des Palaſtes aus den Feind heran¬ nahen ſah, die Mauern erſtürmt, Brände auf die Häu¬ ſer geworfen, nirgends den Turnus oder ſonſt ein Rutulerheer den Feinden entgegengeſtellt: klagte ſich ſelbſt431 laut als die Urheberin alles dieſes Unheiles an, zerriß ſich ihr Purpurgewand und erhenkte ſich am Deckenge¬ bälk ihres Frauengemachs. Als die Frauen der Latiner dieſes Ende ihrer Herrin vernommen hatten, tönte ein lautes Jammern aus den Gemächern. Lavinia, ihre Tochter, raufte ſich die goldenen Locken aus und zerſchlug ſich Bruſt und Wangen. Bald verbreitete ſich der Ruf der Trauer durch die ganze Stadt; Latinus, der jam¬ mervolle Gatte, zerriß ſein Gewand und jammerte durch den Palaſt, ſich ſelbſt anklagend, daß er den Trojaner nicht ſogleich in die Stadt aufgenommen und ſich zum Eidam auserkoren habe.

Turnus ſtellt ſich zum Zweikampf und erliegt. Ende.

Turnus ſetzte indeſſen auf dem äuſſerſten Plane des Schlachtfeldes noch wenigen Fliehenden nach, aber ſeine Roſſe liefen allmählig langſamer und müder. Da ſcholl ihm von Ferne aus der zerrütteten Stadt verworrenes Geſchrei und Getöſe entgegen, und er fing an zu ahnen, daß dort ſich ein großes Unglück ereignet haben müſſe. Er fiel der Schweſter, die noch immer in Geſtalt des Wagenlenkers Metiskus neben ihm im Wagen ſaß, in die Zügel, zog ſie an und hielt in dumpfer Betäubung die Roſſe zurück. Juturna aber ſprach ärgerlich zu ihm: Was beſinnſt du dich, Turnus, willſt du auf der Bahn des Sieges ſtille ſtehen? Hier laß uns die Tro¬ janer verfolgen, für die Vertheidigung der Häuſer mögen432 Andere ſorgen! Turnus blickte ſie lange ſtaunend an und ſprach: So hab 'ich mich doch nicht getäuſcht! Mir war längſt, als wenn nicht mein Wagenlenker Me¬ tiskus mir zur Seite ſäße, ſondern, als wenn du es wäreſt, geliebte Schweſter! Ja, ich habe dich ſchon er¬ kannt, als deine Liſt das Bündniß der Könige trennte! Auch jetzt verbirgſt du dich mir umſonſt, o Göttliche! Aber ſage mir, wer ſandte dich vom Olympus herab und hieß dich um meinetwillen die Beſchwerden der Sterblichen erdulden? Biſt du etwa dazu abgeſandt, den Tod deines armen Bruders zu ſchauen? Denn habe ich eine andere Ausſicht? Sah ich nicht die edelſten und tapferſten Rutuler um mich her fallen? Nun muß ich es auch noch mit anſehen, daß die Stadt erſtürmt und verwüſtet wird! Und ich ſollte nicht mit meiner Fauſt die Worte des neidiſchen Drances widerlegen, ſollte ſchimpflich mich dem Kampfe entziehen? Und mein Land, mein Volk ſollte den Turnus fliehen ſehen? Iſt denn der Tod ſo etwas gar Unſeliges? Ihr Götter der Unter¬ welt, ſeyd Ihr mir wenigſtens geneigt, weil die Neigung der Himmliſchen ſich von mir abkehrt! Vorwurfslos, ein fleckenfreier Geiſt, will ich, des Ruhmes meiner Alt¬ vordern werth, zu euch hinunterſteigen!

Kaum hatte er die Worte geſprochen, als mitten durch die Feinde auf einem ſchäumenden Roſſe der Ru¬ tuler Saces, dem das Angeſicht von einem Pfeilwurfe blutete, herangeſtürmt kam und den Turnus flehend beim Namen rief: Komm, Turnus, komm, du biſt unſere letzte Hoffnung! Aeneas iſt in der Stadt, bedroht die Burg; Feuerbrände fliegen nach den Häuſern: der König zweifelt ſchon, wen er zum Eidam wählen ſoll; die433 Königin iſt durch eigene Hand gefallen, nur Meſſapus und Atinas halten das Treffen noch an den Thoren auf. Turnus hielt die Roſſe wieder an und ſtarrte, zwiſchen Schaam, Kummer, und raſende Liebe getheilt, in die Weite mit den irren Blicken hinaus. Endlich rollten ſeine Augen wieder in ihren Kreiſen und ſeine Blicke fielen auf die Latinerſtadt. Siehe, dort wallte von Stockwerk zu Stockwerk des höchſten hölzernen Mauerthurmes die Feuer¬ ſäule des Brandes empor, jenes Thurmes, den er ſelbſt aus rieſigen Balken gezimmert, auf Räder geſetzt und durch mächtige Zugbrücken mit der Stadt verbunden hatte. Jetzt, Schweſter, rief er, jetzt beſiegt uns das Glück; halte mich nicht länger auf; laß uns folgen, wohin das ſtrenge Geſchick mich ruft! Ich bin ent¬ ſchloſſen mit Aeneas zu kämpfen; mag kommen, was da will, ruhmlos ſollſt du mich nicht ſehen!

So ſprach er, ſprang vom Wagen auf die Erde, ſtürzte durch die Lanzen der Feinde dahin und durch¬ brach, die trauernde Schweſter zurücklaſſend, die Schaaren der Trojaner. Wie ein Felsblock, vom Gipfel des Gebirges losgeriſſen, in die Tiefe hinabrollt, vom Boden emporhüpft, Wälder, Heerden und Männer im Sturze mit ſich fortreißt: ſo ſtürmte Turnus durch die zerſprengten Reitergeſchwader heran zu den Stadtmauern, wo der Kampf am dichteſten war, winkte mit der Hand und begann laut zu rufen: Hört auf zu kämpfen, Ru¬ tuler! Hemmt eure Geſchoße, ihr Latiner! Mir allein gebührt ſich, mit den Waffen über das Bündniß zu ent¬ ſcheiden! Als die Streitenden dieſes hörten, entſtand eine Gaſſe, und Aeneas, der den Ruf des Turnus ver¬ nommen hatte, verließ die Höhen, brach jedes andereSchwab, das klaſſ. Alterthum. III. 28434Geſchäft ab, hüpfte vor Freuden auf und rauſchte in den ſchallenden Waffen einher. Der greiſe Latinus ſelbſt mußte ſtaunen, wie er die zwei gewaltigen Männer, aus zwei verſchiedenen Welttheilen ſtammend, auf einander zu¬ ſchreiten ſah, um den Hader durch das Schwert zu ent¬ ſcheiden.

Jene beiden aber ſtürzten, wo von den zurückwei¬ chenden Streitern ein offener Platz im Gefilde gelaſſen war, in reißendem Lauf hervor, warfen die Speere ge¬ geneinander und rannten dann mit Schild und Schwert zum Kampfe an, daß der Grund erbebte. Nun folgte Hieb auf Hieb; die Kämpfenden riefen Glück und Tapferkeit zu Hülfe. Endlich ſtreckte ſich Turnus mit ganzem Leibe hervor und langte zuverſichtlich, ſich bloß gebend, zu einem entſcheidenden Schwertſtreiche aus. Trojaner und Latiner, in banger Erwartung, ſchrieen laut auf. Aber die treuloſe Klinge brach dem Rutuler mitten im Hiebe, und gab ihn preis, wenn er nicht das Heil in der Flucht ſuchte! Als er nämlich beim Wieder¬ ausbruche des Krieges den Streitwagen beſtieg, da hatte Turnus in der Eile an der Stelle ſeines vom Vater ererbten Wunderſchwertes die Klinge ſeines Wagenlen¬ kers Metiſkus ergriffen. Dieſe hielt ihm auch gut aus, ſo lange er nur in den Rücken flüchtiger Trojaner ein¬ zuhauen hatte; aber ſie war eben doch nur ein menſchliches Schwert, und als ſie auf der von dem Gotte Vulkanus geſchmiedeten Wehr des Helden Aeneas aufzuſitzen kam, brach ſie ihm wie mürbes Eiſen mitten im Streich ent¬ zwei und die Stücke lagen ſchimmernd im gelben Sande.

Nun warf ſich Turnus, unſicher kreiſend, bald da, bald dorthin auf die Flucht, doch konnte er nicht entrin¬435 nen, denn auf zwei Seiten umſchloßen ihn die Trojaner in dichtem Gedränge, auf der dritten hemmte ſeinen Lauf ein Sumpf, und auf der vierten, hinter Latinern und Rutulern, erhoben ſich zugangslos die Mauern der Stadt. Auch verfolgte den Fliehenden, obgleich noch von der alten Pfeilwunde entkräftet und im Laufe ſelbſt ermüdet, Aeneas und bedrängte mit dem Fuße den Fuß des Bebenden. Jetzt erſt entſtand unter den zuſchauen¬ den Heeren ein rechtes Geſchrei, Ufer und Hügel umher erſchollen und donnernd ſtieg der Ruf zum Himmelsge¬ wölbe empor. Auf der Flucht rief der geängſtete Turnus dieſem und jenem Rutuler mit Namen zu und verlangte ſein eigenes Kampfſchwert. Aeneas aber bedrohte Jeden, der ihm nahen würde, mit unausbleiblichem Verderben, und ſchreckte mit der Drohung, ſich auf die Stadt zu werfen und ſie zu zerſtören, alle Herannahenden zurück.

So durchkreiſten ſie die Bahn fünfmal, denn es galt kein Spiel und keinen geringen Kampfpreis. In einem wilden Oelbaume, der ſich in mitten des Kampf¬ platzes befand, und dem Faunus geweiht war, dem die glücklich gelandeten Schiffer hier Weihgeſchenke aufzu¬ hängen pflegten, ſteckte der Speer des Aeneas vom erſten Kampfwurfe her und hatte ſich in der Wurzel des Bau¬ mes gefangen. Beim Vorübereilen kam dem trojaniſchen Helden der Gedanke, ſeinen Speer herauszuziehen und dem Feind, den er im Laufe nicht einzuholen vermochte, mit der Lanze zu verfolgen. Außer ſich vor Schrecken ſah dieß Turnus und richtete ſein Gebet an den ein¬ heimiſchen Gott Faunus mit den Worten: O Faun und gütige Göttin des italiſchen Bodens, wenn ich euch immer die ſchuldigen Ehren erwieſen habe, erbarmt euch28 *436meiner jetzt, haltet den Speer des Gegners feſt! Die Lan¬ desgötter hörten den Flehenden, und Aeneas bemühte ſich vergebens, die Lanze aus dem feſtzuſammenhaltenden Holze des zähen Stammes herauszuziehen. Während ſich nun der Held hitzig anſtemmte und abquälte, rannte die Schweſter des Turnus, die Nymphe Juturna, wieder in die Geſtalt ſeines Wagenlenkers Metiſkus verwandelt, vor und händigte ihrem Bruder ſein rechtes, gefeietes Schwert ein. Ve¬ nus aber, entrüſtet, daß einer gewöhnlichen Nymphe ein ſo kühnes Werk erlaubt ſeyn ſollte, trat auch herbei und half dem Aeneas den Speer aus der tiefen Wurzel hervorziehen.

Nun waren beide Kämpfer mit friſchen Waffen ver¬ ſehen und von neuem Muthe beſeelt; beide richteten ſich in die Höhe, der eine ſchwang ſein Schwert, der andere bäumte ſich mit dem Speer, und ſo ſtanden ſie mit flie¬ gendem Athem einander zum letzten Kampfe gegenüber. Da ſprach Jupiter, der aus dem goldenen Gewölke des Olymp dem Streite zuſah, zu ſeiner Gemahlin Juno: Endigen wir endlich dieſen Krieg! Du weißeſt und be¬ kenneſt es ja ſelbſt, daß Aeneas vom Geſchicke dem Him¬ mel beſtimmt ſey! Wozu ſteifeſt du nun ſeinen Feind und gibſt ihm durch Juturna ſein Schwert wieder in die Hand? Du haſt die Trojaner über Land und Meer verfolgt, den Krieg entzündet, den Palaſt in Trauer verſenkt, das Brautfeſt durch Jammer geſtört. Weitere Verſuche verbiet 'ich dir! Juno antwortete dem zürnenden Gemahl mit geſenktem Antlitz: Wider Wil¬ len habe ich, weil dein Befehl mir heilig war, die Erde und den Turnus verlaſſen. Hätte ich dir nicht gehor¬ chen wollen, ſo würdeſt du mich jetzt nicht hier in den437 Wolken das Unrecht erdulden ſehen, ſondern ich ſtände, mit Flammen umgürtet, vorn im Trojanertreffen. Daß ich der Nymphe Juturna gerathen, in der Noth ihrem Bruder beizuſtehen, iſt wahr; aber daß ſie ohne mein Zuthun dem Bruder das Schwert gereicht, das ſchwöre ich dir beim Styx! Auch will ich mich des Kampfes gar nicht mehr annehmen, und bitte dich nur um Eines: Wenn Turnus erlegen iſt und Aeneas die Königstoch¬ ter heimführt: zwinge die Latiner nicht, ihren alten Volksnamen aufzugeben und ſich Trojaner zu nennen, zwinge ſie nicht, ihre Sprache zu vertauſchen, nicht, fremde Gewande, Sitten und Gebräuche anzunehmen, laß ſie das Volk bleiben, das ſie geweſen ſind, laß auch den Römerſtamm aus italiſcher Wurzel emporwachſen! Troja aber ſey und bleibe gefallen mit ſamt ſeinem Namen!

Lächelnd erwiederte der Göttervater ſeiner Gemah¬ lin: Kind des Saturnus, geliebte Schweſter, was für Zorneswellen wälzeſt du noch in deinem Innern? Be¬ zähme doch deinen vergeblichen Groll. Was du begeh¬ reſt ſoll dir ja gewährt ſeyn. Latium ſoll Sprache, Sitten und Namen beibehalten. Der Trojaner ſoll ſich mit dem Volke verſchmelzen und nur ſo ſich anſiedeln; er ſoll die Opfergebräuche des Landes annehmen, er ſoll ganz zum Latiner werden. Die Römer, das neue Ge¬ ſchlecht, das aus dem vermählten Blute der Italer und Teukrer entſtehen wird, ſollen das Volk ſeyn, das dir, o Juno, die meiſte Ehre erweiſen wird! Die Göttin nickte dem Gemahl freudig zu, und änderte, zufriedenge¬ ſtellt, ihre Geſinnung.

Nun dachte Jupiter darauf, die Schweſter des Turnus aus dem Kampfe zu entfernen. Drei Zwillings¬438 kinder, Töchter der Rache, mit Schlangengürteln und Windesflügeln, Diren genannt, ſtehen immer vor Jupi¬ ters Throne bereit, und werden von ihm zu den Sterb¬ lichen hinabgeſandt, wenn er Seuchen, Krieg und andere Todesnoth unter ihnen erregen will. Eine von dieſen ſchickte Jupiter vom Aether herab, und befahl ihr, der Nymphe als ein unheilbringendes Zeichen zu begegnen. Die Dire flog zur Erde hinab, wie ein Pfeil, und ſo¬ bald ſie die beiden feindlichen Heere erblickte, zog ſie ſich ſchnell in die Geſtalt eines kleinen Käuzchens zuſammen, wie es als Unglücksvogel auf Scheiterhaufen oder ver¬ laſſenen Häuſergiebeln zu ſitzen pflegt. In dieſer Geſtalt um¬ flatterte die Dire das Angeſicht des Turnus, kreiſte her¬ nieder zu ſeinem Schild und ſchlug auch dieſen mit den Fittigen. Dem kämpfenden Helden ſträubte ſich das Haupthaar und ſeine Glieder erſtarrten bei dieſem un¬ heilvollen Anblicke. Juturna aber raufte ſich das Haar aus und ſchlug ſich an die Bruſt, denn ſie erkannte die Uebermacht Jupiters und fluchte ihrer eigenen Unſterb¬ lichkeit. Sie bedeckte ſich den Leib mit dem grünen Flu¬ thengewande und tauchte verzweifelnd in den nahen Ti¬ berſtrom unter.

Aeneas drang jetzt heran, ſchüttelte ſeinen baum¬ langen Speer voll Wuth und rief dem Gegner zu: Was zögerſt du noch Turnus, was ſträubeſt du dich länger? Nicht zum Wettkampfe haben wir uns vereinigt, ſondern zum Waffenkampf! Sammle jetzt, was du von Kunſt und Muth beſitzeſt! Turnus ſchüttelte das Haupt und entgegnete: Nicht deine hitzigen Worte ſchrecken mich, du Trotziger: mich ſchreckt das Götterzeichen und die Feindſchaft Jupiters! Mehr ſprach er nicht, ſondern439 faßte einen gewaltigen Stein ins Auge, der neben ihm im Felde lag, und einen Markſtein vorſtellte. Zwölf Männer, wie ſie jetzt ſind, würden ihn kaum auf den Nacken heben können. Dieſen faßte der Rutulerheld mit der Hand, richtete ſich empor und wollte ihn im Laufe gegen den Feind ſchleudern. Aber er kannte ſich ſelbſt nicht mehr, denn er fühlte ſeine Arme kraftlos, ſeine Kniee ſchlottern, ſein Blut zu Eis erſtarren. Der Felſenſtein, durch die leere Luft gewirbelt, erreichte ſein Ziel gar nicht, er ſank entkräftet auf den Boden, wie man oft im Traume einen Anlauf nimmt, und doch nicht gehen und nicht ſprechen kann. Turnus wandte ſich unwillkührlich zur Flucht um, und ſäumte, die Rutuler und die Mauern der Stadt vor ſich erblickend, in ver¬ zagender Angſt, und den Speerwurf des Feindes erwar¬ tend. Vergebens ſah er ſich nach ſeinem Wagen, ver¬ gebens nach der leitenden Schweſter um.

Auch zauderte der Trojaner nicht und ſchleuderte aus Leibeskräften die Todeslanze, die wie ein Felsſtück vom Geſchütze abgeſendet, oder wie ein Blitzſtrahl daher¬ geſauſt kam. Durch Schildrand und Panzer fuhr ſie dem Feind in die Hüfte, und getroffen vom Stoße ſank der gewaltige Turnus zuſammenbrechend ins Knie.

Die Rutuler ächzten laut auf, daß die hohe Wal¬ dung umher wiederhallte. Turnus lag gedemüthigt auf dem Boden, ſtreckte flehend ſeine Rechte zu dem Sieger empor und ſprach: Ich hab 'es ſo verdient; ich ver¬ lange keine Schonung für mich; brauche dein Glück! Aber wenn der Jammer meines Vaters dich zu rühren vermag er iſt mir, was dir Anchiſes war ſo er¬ barme dich des greiſen Daunus. Gieb mich oder,440 willſt du dieſes nicht, ſo gieb meinen entſeelten Leib den Meinigen zurück! Ich gebe mich ja beſiegt; Lavinia ſey dein; ſetze deinem Haß ein Ziel!

Aeneas ſtand ausholend zum Streich, ſeine Blicke roll¬ ten über den Liegenden hin, doch hielt er die bewehrte Rechte zurück; und ſchon wollte ſeine Seele ſich zum Mitleid kehren, als er zum Unheil des Beſiegten hoch an deſſen Schulter das Wehrgehenk des arkadiſchen Fürſtenſohnes Pallas erblickte, des holden Jünglings, den Turnus er¬ ſchlagen hatte. Da entbrannte ſein Schmerz und Zorn aufs neue, und ſchrecklich im Grimme rief er: Wie? du, den der Raub der Meinigen ſchmückt, ſollteſt mir entrinnen? Pallas, Pallas opfert dich mit dieſem Stoß, und nimmt Rache an dem verfluchten Blut! So ſprach Aeneas, und tauchte ſtürmiſch ſein Schwert in die ihm entgegengeſtreckte Bruſt des Feindes. Turnus ſank zu Boden; Kälte durchrieſelte ihm die Glieder, und unwillig floh ſein Schatten aus dem erſtarrenden Leibe hinab zur Unterwelt.

About this transcription

TextDie schönsten Sagen des klassischen Alterthums
Author Gustav Schwab
Extent465 images; 106385 tokens; 15037 types; 716378 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie schönsten Sagen des klassischen Alterthums Nach seinen Dichtern und Erzählern Dritter Theil Gustav Schwab. . XII, 440 S. LieschingStuttgart1840.

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LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Kinderliteratur; core; ready; ocr

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