PRIMS Full-text transcription (HTML)
Problematiſche Naturen.
Problematiſche Naturen.
Roman
Dritter Band.
Berlin. Verlag von Otto Janke. 1861.
[1]

Erſtes Kapitel.

Am nächſten Tage hatte ſich der Himmel wieder aufgeklärt. Die Morgenſonne war in dichtem Nebel verhüllt geweſen, aber einige Stunden ſpäter zerriß ſie den grauen Schleier und goß ihr goldenes Licht verſchwenderiſch auf die regengetränkte Erde. In dem Schloßgarten war es ſo paradieſiſch friſch und duftig, wie am erſten Schöpfungstage. Die Blumen hoben die Köpfe wieder und wenn noch hier und da Tropfen an den bunten Kelchen hingen, ſo glichen ſie jetzt in dem funkelnden Sonnenſchein hellen Freudenthränen; die Vögel jubelirten in den dichten Laubkronen der Bäume, und das kleine Gewürm, das ſo ruhig in den Ritzen, unter den Blättern, unter den Steinen auf Sonnenſchein gewartet hatte, regte ſich wieder in ſeiner ganzen geſchäftigen Emſigkeit.

Und um die grauen Mauern des Schloſſes, die jetzt im roſigen Licht gebadet waren, ſchoſſen eiligeF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 12Schwalben und auf den Dächern, in den Dachrinnen, in den Stuckornamenten ſetzten die zankſüchtigen Spatzen die unterbrochenen Streitigkeiten wieder fort. In dem großen Saal, wo an den Wänden die Porträts der Grenwitzer Barone und Baroneſſen hingen in langer Reihe von dem halb fabelhaften Sven von Grenwitz bis hinab auf die Bilder der Großtante Grenwitz wie ſie als achtzehnjähriges Mädchen geweſen war, und Oskar's der mit dem Wodan ſtürzte, und Harald's, dem es beſſer geweſen wäre, er hätte ſich am Sarge ſeines Vaters todt geweint tanzten die Staubatome, welche aus den alten Prunkmeubeln mit den verblichenen Damaſtüberzügen aufſtiegen in den ſchrägen Lichtſäulen, die durch die drei hohen Bogen¬ fenſter fielen.

Unten im Wohnzimmer nahmen der Baron und die Baronin ein frugales Frühſtück ein. Sie ſahen reiſefertig aus und Anna-Maria hatte ſogar ſchon einen Hut mit weit vorſpringenden Flügeln, wie ſie in den zwanziger Jahren Mode geweſen waren, auf dem Kopfe. Denn der große Reiſewagen hielt ſchon vor der Thür. Die vier ſchwerfälligen Braunen we¬ delten ſich bedächtig mit den langen Schweifen die Fliegen ab, und der ſchweigſame Kutſcher klatſchte regelmäßig alle fünf Minuten mit der Peitſche, aus3 purer Gewohnheit und nicht etwa, um die Reiſeluſtigen zur Eile zu ermahnen, was dem ſeiner Herrſchaft ſchuldigen Reſpect ebenſo ſehr widerſprochen hätte, als ſeinem phlegmatiſchen Naturell.

Ich wußte es ja ſchon vorher, ſagte die Ba¬ ronin, ihrem Gemal ein Glas halb voll Moſelwein ſchenkend trink das, lieber Grenwitz, es wird Dich zu der langen Fahrt ſtärken ich wußte es ja vor¬ her. Er ſchlägt unſre freundliche Einladung aus, weil er ſich nicht ganz wohl fühle! lächerlich!

Er ſieht wirklich, ſeitdem wir in Barnewitz waren, recht angegriffen aus, liebe Anna-Maria, ſagte der alte Baron, und dann iſt es auch wol nicht ganz in der Ordnung, daß wir ihn auffordern mitzufahren in dem Augenblicke, wo der Wagen ſchon vor der Thüre ſteht. Wir hätten das auch wol früher thun müſſen.

Ich begreife Dich nicht, lieber Grenwitz, ſagte die Baronin; Du thuſt doch gerade, als ob Herr Stein unſers Gleichen wäre! Da iſt es gar kein Wunder, wenn der junge Menſch ſich vor Hochmuth nicht zu laſſen weiß. Zu einer Fahrt in die Nach¬ barſchaft ihn eine Woche vorher auffordern! Das fehlte noch! Haben wir doch ſelbſt über die Helgolän¬ der Reiſe noch nicht einmal mit ihm geſprochen!

Ich hätte es längſt gethan, wenn Du nur einen1*4beſtimmten Entſchluß hinſichtlich ſeiner faſſen könnteſt; ſagte der alte Herr, ſich hinter dem Ohre krauend.

Ich habe jetzt meinen Entſchluß gefaßt, ſagte die Baronin gereizt: in dieſem Augenblick gefaßt. Wenn er uns nicht einmal auf einer dreitägigen Fahrt in die Nachbarſchaft begleiten will, wenn es ihm zu umſtändlich iſt, bei unſeren Bekannten, die ihm alle mit der größten Herablaſſung entgegengekommen ſind, mit uns einen Abſchiedsbeſuch zu machen, ſo zeigt er ja deutlich, daß er gar nicht Abſchied zu nehmen ge¬ denkt, und ſo mag er denn auch bleiben, wo er will.

Aber liebe Anna-Maria, ſagte der Baron, das iſt doch am Ende nicht ganz daſſelbe, und dann, wo ſoll er unterdeſſen bleiben? und wie ſollen wir mit den beiden Knaben allein fertig werden?

Ich ſage Dir ja, lieber Grenwitz, entgegnete die Baronin, es iſt mir ganz gleich, wo er bleibt, ganz gleich. Er geht ja im Allgemeinen ſo gern ſeine eigenen Wege, ſo mag er es auch in dieſem Fall. Er kann eine Fußreiſe durch die Inſel machen, oder ſeinen Freund Oldenburg beſuchen, oder ſchlimmſten Falls hier bleiben, obgleich ſein Hierbleiben allerdings Umſtände machen würde. Uns iſt er auf der Reiſe, die ſo ſchon koſtſpielig genug iſt, eine ganz überflüſſige Laſt. Er wird ſich wie gewöhnlich nur um Bruno5 bekümmern, die Sorge um Malte gütigſt uns ſelbſt überlaſſen. Bleibt er hier, ſo muß Bruno ſchon noth¬ gedrungen ſich mehr an Malte anſchließen, und da es ſich während dieſer Zeit doch nur um eine Aufſicht der Knaben handelt, ſo übergebe ich die unſerm Jo¬ hann eben ſo gern und lieber noch als Herrn Stein. Ja, wir können auf der Rückreiſe, wenn wir Helene noch bei uns haben, nicht einmal alle in einem Wagen fortkommen. Nein, nein! er bleibt hier; ich bin jetzt mit mir darüber ganz im Reinen vollkommen im Reinen.

Ich weiß nicht ſagte der alte Herr verdrießlich.

Aber ich weiß es, ſagte die Baronin aufſtehend; das pflegte Dir ja ſonſt genug zu ſein, lieber Gren¬ witz. Komm, es iſt die höchſte Zeit, das wir auf¬ brechen, wenn wir zu Mittag noch beim Grafen Grieben ſein wollen. Da kommt Malte. Biſt Du auch warm angezogen, lieber Junge? Wo ſteckt denn der Bruno?

Oben beim Doctor. Er will nicht mit, wenn der Doctor zu Hauſe bleibt.

Siehſt Du, lieber Grenwitz, da haben wir's, eine vortreffliche Erziehung, in der That! Sogleich gehe hinauf, Malte! Bruno ſoll ſich ſofort fertig machen, hörſt Du: ſofort!

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Ich werde mich wohl hüten, erwiederte Malte, das magſt Du ihm ſelber ſagen.

Das werde ich, ſagte die Baronin und zog die Schelle. Ich laſſe Herrn Doctor Stein bitten, ſagte ſie zu dem eintretenden Bedienten, auf einen Augenblick zu mir zu kommen.

Der Bediente verſchwand, die Baronin ging mit ſchnellen Schritten in dem Gemache auf und ab.

Nur um Himmelswillen keine Scene, liebe Anna - Maria, ſagte der alte Herr, der ebenfalls aufge¬ ſtanden war, ängſtlich.

Die Baronin antwortete nicht, denn in dieſem Augenblicke öffnete ſich die Thür, und hereintraten Oswald und Bruno, Bruno mit düſterem, trotzigen Geſicht und die Spuren eben geweinter Thränen in dem dunklen Auge, aber vollkommen reiſefertig, den mit Wachsleinen überzogenen Strohhut in der Hand.

Sie befehlen, gnädige Frau? ſagte Oswald, ſich vor der Baronin verbeugend.

Die Baronin war durch dieſe unerwartete Löſung der ſchwierigen Frage ein wenig aus der Faſſung gebracht.

Ich hörte, Bruno weigere ſich, uns zu beglei¬ ten, ſagte ſie, und da wollte ich

Verzeihen Sie, gnädige Frau, unterbrach ſie7 Oswald, von einer Weigerung Bruno's, einem aus¬ drücklichen Wunſche Ihrerſeits nachzukommen, kann wohl ſelbſtverſtändlich nicht die Rede ſein. Bruno hätte mir gern Geſellſchaft geleiſtet, das iſt Alles. Es bedurfte natürlich nur eines Wortes, ihn daran zu erinnern, daß er meinethalben nicht die Rückſichten aus den Augen ſetzen dürfe, die er gegen Sie und den Herrn Baron zu nehmen hat.

Nun, das dachte ich mir doch gleich, ſagte die Baronin, die im Innern ſehr froh war, der Scene mit Oswald, vor dem ſie, ohne es ſich ſelbſt geſtehen zu wollen, eine ſie demüthigende aber unüberwindliche Scheu empfand, überhoben zu ſein. Es wird ihn nicht gereuen, ſich unſeren Wünſchen accommodirt zu haben. Das Wetter iſt herrlich und wir werden, denke ich, recht vergnügt ſein. Wie Schade iſt es, lieber Herr Doctor, daß Sie nicht auch von der Partie ſein können! Nun, wir hoffen, Sie bei unſerer Rückkehr, die in zwei bis drei Tagen erfolgen wird, wieder in vollem Wohlſein zu treffen. Ah, Made¬ moiſelle! iſt Alles bereit? Nun, dann laß uns auf¬ brechen, lieber Grenwitz. Adieu, lieber Herr Doctor! Adieu, mademoiselle, n'oubliez pas ce que je vous ai dit! Ah, Herr Timm! wahrhaftig, ich hätte Sie beinahe vergeſſen

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Eben ſo ſchmeichelhaft, wie natürlich, ſagte Herr Timm! der mit der Reißfeder hinter dem Ohr und etwas ſtark derangirter Toilette ſoeben erſchienen war, um ſich den Herrſchaften zu empfehlen, und jetzt der Baronin in den Wagen half. Bon voyage! grüßen Sie den alten Grafen Grieben beſtens von mir! famoſer alter Herr, der einen capitalen Rhein¬ wein führt. All right! Hotte, ! und Herr Timm verſetzte dem ihm zunächſt befindlichen Pferde einen derben Schlag mit der flachen Hand, und warf dann den Inſaſſen des Wagens, der ſich jetzt in Be¬ wegung ſetzte, eine Kußhand zu.

Gott ſei Dank, ſagte er, als die Kutſche in dem Thor verſchwunden war, und rieb ſich vergnügt die Hände. Nun ſind wir doch einmal unter uns Mädchen! Was fangen wir nun vor Entzücken an? Qu'en dites-vous, Monsieur le Docteur? qu'en dites-vous, Mademoiselle?

Ich habe ein paar Briefe zu ſchreiben, und werde mich deshalb auf mein Zimmer begeben; ſagte Os¬ wald, in das Haus gehend.

So wollen wir eine franzöſiſche Lection im Gar¬ ten nehmen, kleine Marguerite; ſagte Herr Timm, den Arm der jungen Dame ohne Umſtände in den ſeinen legend.

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Ich nicht habe die Zeit, ſagte die hübſche Fran¬ zöſin, und verſuchte ihren Arm loszumachen.

Dummes Zeug! ſagte Albert, wenn Du nicht jetzt haſt die Zeit, wo die alte Vogelſcheuche fort iſt, wann wollen Sie Zeit haben! Kommen Sie! Venez! komm, Du kleiner Zieraffe! Wir haben ſchon ſo ſchöne Fortſchritte gemacht in der Conjugation von aimer: J'aime, tu aimes nous aimons

Und Albert zog die ſich nicht allzuſehr ſträubende Marguerite in den Garten, und wer ſich für dies ro¬ mantiſche Paar intereſſirte, konnte es bis zum Mittag daſelbſt Arm in Arm umherſchweifen ſehen, und die Beobachtung machen, daß es den verſchiedenen Bos¬ kets und den dichteren Baumgängen entſchieden den Vorzug vor den offenen Plätzen gab, was bei der großen Hitze des Tages am Ende auch ganz natür¬ lich war.

Es war am Nachmittage und Oswald ſaß wieder an ſeinem Schreibtiſche, den er nur, um mit Albert und Marguerite ein kurzes und von ſeiner Seite ſehr ſchweigſames Mittagsmahl einzunehmen, verlaſſen hatte, als ihm ein Billet gebracht wurde. Oswald war, ſeitdem er auf Grenwitz lebte, ſo wenig gewohnt, dergleichen zu empfangen, daß er den Bedienten, der es ihm einhändigte, ganz erſtaunt fragte: von wem?

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Von Baron Oldenburg, erwiederte dieſer; des Barons Wagen hält vor der Thür.

Oswald erbrach das Billet und las:

Lieber Freund! Wenn Sie die lehrbegierige Brut loswerden können und ſonſt nichts Beſſeres zu thun haben, wollen Sie nicht einem einſamen Hypochonder auf ein paar Stunden Geſellſchaft leiſten und ſich bei der Gelegenheit überzeugen, wie gut unſerm Heide¬ blümchen die Verſetzung in das fremde Erdreich be¬ kommt? Mein Kutſcher iſt der Ueberbringer dieſes. Er hat den Auftrag, mit Ihnen oder auf Ihnen zurück¬ zukommen. Alſo wählen Sie! Ihr Oldenburg.

Oswald ſchwankte, was er thun ſollte. Mit dem Sonnenſchein war die Sehnſucht nach Melitta mächtig in ſeinem Herzen erwacht. Er konnte es nicht be¬ greifen, daß er drei volle Tage hatte vorübergehen laſſen, ohne auch nur einen Verſuch zu machen, ſie zu ſehen. Und dennoch, trotzdem er wußte, daß die Wolke, die ſich an dem Ballabend zwiſchen ſie und ihn gelagert hatte, längſt verſchwunden war, trotzdem er ihr ſein Unrecht tauſend und tauſendmal im Herzen abgebeten hatte, ſcheute er ſich, den erſten Schritt zur Verſöhnung zu thun. Wer kennte nicht die Wider¬ ſprüche, in die ſich ein junges Herz ſo leicht verirrt, wenn Stolz und Liebe ſich in ihm ſtreiten! und11 Oswald's ſtolzes Herz ſollte noch manchen Schlag thun, bis es die Liebe lernte, die echte Liebe, von der es in jener wunderbar ſchönen und tiefſinnigen Stelle der Schrift heißt, daß ſie nicht hoffärtig iſt und ſich nicht erbittern läßt und Alles duldet und Alles glaubt. Die wahre Liebe lebt nur in Herzen, die viel erfah¬ ren und viel erduldet haben, wie an den Bäumen, die der herbſtliche Wind ſchon ihres ſommerlichen Blätterſchmuckes zu berauben anfängt, die ſüßeſten und köſtlichſten Früchte hängen.

Oswald nahm einen Briefbogen, um dem Baron zu ſchreiben, daß er ſeiner Einladung nicht Folge leiſten könne, und ſchon im nächſten Augenblick hatte er ſeinen Hut ergriffen und eilte hinab. Derſelbe elegante Holſteiner, in welchem er mit dem Baron von Barnewitz zurückgekommen war, hielt mit den zwei feurigen Rappen beſpannt vor dem Portale. Der Kutſcher, ein hübſcher Mann mit einem ungeheuren Barte, lächelte ihm, in Erinnerung des neulich erhal¬ tenen ſchweren Trinkgeldes, freundlich zu. Als er einſtieg, rief Albert über die Gartenmauer:

Können Sie mich nicht mitnehmen, Monsieur le docteur?

Nicht wohl! ſagte Oswald.

Nun, dann fahren Sie allein! rief Albert, zum12 Teufel , ſetzte er hinzu, als der Wagen davon rollte. Du haſt recht, Marguerite , ſagte er zu der kleinen Franzöſin, die jetzt aus dem Gebüſch, in welchem ſie ſich vor Oswald verſteckt hatte, hervorkam: Der Doctor iſt wirklich ein fat, wie Du ſagſt, und ich werde nächſtens auch anfangen, ihn zu haſſen.

Unterdeſſen rollte der Gegenſtand dieſes in Herrn Timm's anſpruchsloſem Gemüth aufſteigenden Haſſes durch das kleinere Thor dem Feldweg zu, der um den Wall herum in den Buchwald führte, welcher ſich von hier bis an den Strand zog, und den man paſſiren mußte, wenn man von Grenwitz nach Cona, dem Stammgut der Oldenburger, wollte. Es war eine köſtliche Fahrt in den hohen, kühlen Büchenhallen, wo durch die dichten grünen Baumkronen der blaue Him¬ mel leuchtete, und links, wenn zwiſchen den mächtigen Stämmen das Unterholz weniger üppig wucherte, von Zeit zu Zeit das blaue Meer herüberblitzte, im An¬ fang ſelten und nur auf Augenblicke, dann, je näher ſie dem Saum des Waldes kamen, öfter und länger, bis es plötzlich bei dem Ausgang aus dem Walde da lag, blau und unermeßlich, blitzend im prächtigen Sonnenſchein.

Der Weg führte auf der Höhe des Ufers hin, manchmal ſich ſo dem Rande nähernd, daß man das13 Branden der Wogen zwiſchen den großen Steinen des Strandes deutlich vernahm, dann wieder auf wei¬ tere Entfernung zurückweichend. Rechts ſchweifte das Auge über ungeheure Kornbreiten, die den Rücken des Plateaus bedeckten. Die langen kräftigen Halme bogen ſich unter der Laſt der Aehren, und wehten hinüber und herüber vor dem lauen Wind, der von dem Meere her über ſie dahinfuhr. Hier und da flatterte eine Lerche, deren Neſt allzudicht am Wege war, empor und ſtieg ſingend in den blauen Himmel.

Dann ſenkte ſich der Weg in ein muldenförmiges Thal, durch das ein ziemlich bedeutender Bach, der Abfluß des Faſchwitzer Moores, dem Meere zueilte. An dem Bach entlang und bis hart an's Meer lag ein Dorf, das meiſtens von Fiſchern bewohnt wurde, die dem Baron Grenwitz zinspflichtig waren. Der Wagen mußte das Dorf paſſiren, das mit ſeinen klei¬ nen ſauberen Häuschen und den kleinen mit Muſcheln eingefaßten Gärtchen vor den Thüren einen freund¬ lichen Eindruck machte. Vor der Thür eines der grö¬ ßeren Häuſer, das ſich durch ein Schild, auf welchem ein Schiff mit vollen Segeln durch grasgrüne ſchaum¬ gekrönte Wogen fuhr, als Wirthshaus ankündigte, hielt ein Reiter auf einem wundervollen braunen Voll¬ blutpferde. Er trug einen langen Ueberrock, und Os¬14 wald konnte das Geſicht nicht ſehen, da der Reiter ſich eben niederbeugte, ein Glas Branntwein entgegen¬ zunehmen, das eine blauäugige, blonde Schifferdirn mit einem allerliebſten Stumpfnäschen ihm präſentirte.

Das Pferd iſt unter Brüdern ſeine zweihundert Louisd'or werth, ſagte der Kutſcher, welcher ein Kenner war.

Wer iſt der Herr? fragte Oswald.

Weiß nicht; ich konnte ſein Geſicht nicht ſehen.

Hinter dem Fiſcherdorfe ſtieg der Weg ziemlich ſchnell zu einer bedeutenderen Höhe, als von welcher er auf jener Seite herabgeſunken war. Auch nahm die Landſchaft hier einen anderen Charakter an. Das Terrain war weniger eben; ſtatt des gelben nickenden Kornes bedeckte braunes Haidekraut den Boden, der hier und da auf große Strecken eine mit kleinen und großen Steinen und ödem, nur ſpärliche Gräſer trei¬ bendem Sande bedeckte Wüſte war. Auch die Luft ſchien weniger warm, und man hörte, da ſich der Weg näher am Rande des hohen ſteilen Ufers hinzog, deutlicher das Brauſen des Meeres. Ein Seeadler zog hoch oben in der blauen Luft ſeine Kreiſe, einige¬ mal ſchwebte ſein blauer Schatten über den ſonne¬ beſchienenen, ſteinigen Weg.

Iſt es noch weit bis Cona? fragte Oswald.

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Der Hof liegt dort hinaus, ſagte der Kut¬ ſcher, mit dem Peitſchenſtiel rechts über die Haide deutend; Sie können ihn von hier aus nicht ſehen. Ich fahre den Herrn Doctor nach dem Schweizer¬ häuschen.

Und wo liegt das?

Gerade vor uns, in den Tannen.

Ein Wäldchen von hohen Tannen krönte den höch¬ ſten Punkt des Ufers, zu dem jetzt der Weg, der immer ſteiler und ſteiniger wurde, ziemlich raſch hin¬ aufführte. Als Oswald ſich, um die zurückgelegte Strecke zu überſchauen, im Wagen umwandte, erblickte er in der Entfernung von vier bis fünfhundert Schrit¬ ten den Reiter, der vorhin vor dem Wirthshauſe ge¬ halten hatte. Er ritt mit derſelben Geſchwindigkeit, in welcher der Wagen fuhr, und als dieſer zufällig hielt, weil eine Schnalle an dem Riemenzeug auf¬ gegangen war, hielt er ebenfalls ſein Pferd an, ſo lange bis das Fuhrwerk ſich wieder in Bewegung ſetzte. Oswald, dem dies Benehmen aufgefallen war, bat den Kutſcher nach einigen Minuten abermals zu halten. Er wandte ſich um: der Reiter hielt ebenfalls. Er ließ dies Manöver noch ein paar Mal wiederholen, ſtets mit demſelben Erfolg.

Das iſt doch ſonderbar, ſagte Oswald.

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Ja, ſagte der Kutſcher; ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat.

In dieſem Augenblick verließ der Reiter den Weg und trabte quer über die Haide nach der Richtung fort, in welcher, wie der Kutſcher ſagte, hinter dem Kamm des Plateaus, der Gutshof von Cona lag.

Der Wagen hatte jetzt die Tannen erreicht, die ſo dicht ſtanden, daß man vom Meere nichts mehr ſehen und nur noch ſein Brauſen hören konnte, das ſich mit dem Wehen des Windes in den hohen Bäu¬ men vermiſchte. Dann blitzte es bei einer Wendung des Weges wieder auf und vor, ihnen, auf einem freien, nach dem Meere zu offenen Platze lag ein aus Holz im Schweizerſtyl aufgeführtes Haus, Oldenburg's Sommerwohnung.

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Zweites Kapitel.

Als der Wagen auf dem von hohen Bäumen um¬ ragten und mit braunen Nadeln wie mit einem Tep¬ pich überdeckten Platze vor der Thür hielt, erſchien Oldenburg oben auf der Gallerie, welche die zwei Stockwerke trennte und ſich um das ganze Haus zog, und grüßte freundlich hinab. Im nächſten Augenblick war er an der Thür und ſchüttelte Oswald mit Herz¬ lichkeit die Hand.

Alſo doch! ſagte er; ich fürchtete ſchon, es wäre Ihnen ergangen, wie den meiſten Leuten, die, wenn ſie einmal mit mir zuſammen geweſen ſind, für alle Ewigkeit genug haben.

Ich weiß nicht, Herr Baron, ob Sie ſich den meiſten Leuten ſo zeigen, wie Sie ſich mir gezeigt haben, ſagte Oswald; wäre dies der Fall, ſo habe ich für mein Theil nicht den Geſchmack der meiſten Leute.

Wahrlich, ein Selam in optima forma! ſagteF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 218Oldenburg lachend; ein paar alte graubärtige Söhne Mohammed's könnten es nicht beſſer. Es fehlt blos noch, daß wir zum Schluß unſre eignen Fingerſpitzen küſſen! Aber kommen Sie in's Haus, da können wir die Sache noch bequemer haben.

Sie traten auf einen kleinen Flur, von welchem man auf einer niedrigen breiten Treppe in das obere Stockwerk auf ein Entrée gelangte, das von oben Licht empfing. Aus dieſem gingen ſie in ein weites, ziem¬ lich hohes Gemach, zwiſchen deſſen zwei Fenſtern eine Glasthür auf die breite Gallerie führte, die eine un¬ beſchränkte Ausſicht auf das Meer gewährte, und ob¬ gleich noch ziemlich dreißig Fuß zwiſchen dem Hauſe und dem ſcharf abfallenden Rande des Ufers lagen, unmittelbar über der Brandung, welche tief unten zwiſchen den Rollſteinen und auf den Kieſeln des Strandes murmelte, zu hängen ſchien.

Der Blick von dieſem erhabenen Standpunkte auf das blaue, unermeßliche Meer und auf das hohe weiße Kreideufer, das ſich nach links in einem weiten Halb¬ mond hinziehend, zuletzt in einem Vorgebirge endigte, welches der Buchwald von Grenwitz krönte, war ſo unbeſchreiblich großartig, daß Oswald einen lauten Ruf der Bewunderung nicht unterdrücken konnte.

Nicht wahr? ſagte Oldenburg, ſich neben Os¬19 wald auf die Brüſtung der Gallerie lehnend, es war ein geſcheidter Einfall meines würdigen Großvaters, an dieſem Punkte, nebenbei einem der höchſten der ganzen Inſel, ein Haus zu bauen. Ich habe den alten Mann mit ſeinem langen eisgrauen Barte noch gekannt, und ſehe ihn im Geiſte noch hier auf dieſer Gallerie ſitzen und, wie der König von Thule, mit ſeinen verlöſchenden Augen auf das heilige Meer ſchauen, das er verehrte, wie ein Enkel ſeine alte Großmutter ehrt, und liebte, wie ein Jüngling die Geliebte ſeiner Seele liebt. Ich wollte, er hätte mir außer ſeiner Figur auch ſeine unermeßliche Fähigkeit, für Naturſchönheit ſchwärmen zu können, vererbt. Leider bin ich in der letzten Beziehung in demſelben Grade zu kurz gekommen, wie in der erſten zu lang.

Iſt das Ihr Ernſt? ſagte Oswald.

Wahrhaftig, ſagte Oldenburg, und ich habe mich auf meinen Reiſen oft genug deshalb geſchämt, und meine äſthetiſche Verſtocktheit, die mich auf den ſchönſten Punkten, wo Andre vor Vergnügen Purzel¬ bäume ſchlugen oder ſentimentale Thränen weinten, geradezu nichts empfinden ließ, verwünſcht. Vergebens, daß ich, wie die engliſchen Miſſes an meiner Seite: beautifully, very fine indeed! ſeufzte, vergebens, daß ich Tag und Nacht die herrlichſten Naturſchilde¬2*20rungen von Byron und Lamartine las, bis ich ſie auswendig wußte es half Alles nichts. Ich brachte es nicht weiter, wie der arme Werther, als ihm die ewige Natur wie ein lackirtes Bild erſchien; und ein paar Bettelbuben, die ſich auf dem Sande des Stran¬ des balgten, und ein armer Fellah, der ſein Waſſer¬ rad drehte, waren mir intereſſanter, als der Golf von Neapel und der Nil. Ich habe nur an Menſchen und Menſchentreiben meine Freude von der Natur verſtehe ich ein für alle Mal nichts.

Aber warum verbannen Sie ſich denn in dieſe Einſamkeit? warum wohnen Sie, da Sie es doch haben können, anſtatt hier an dieſem nordiſchen Strande, nicht lieber an dem Boulevard des Capu¬ cines, oder in London auf dem Pall-Mall?

Aus demſelben Grunde, aus welchem man den Falken, bevor man ihn auf die Gazellenjagd nimmt, vierundzwanzig Stunden faſten läßt um meinen Hunger nach meiner Lieblingsnahrung zu ſchärfen. Wenn ich hier ein paar Wochen gehauſt habe, ſind meine Sinne wieder friſch und empfänglich, und das Schauſpiel des Menſchentreibens hat wieder ſeinen alten Reiz für mich.

Und wie lange gedenken Sie diesmal hier zu bleiben?

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Ich weiß noch nicht. Meine Solitude, ſo taufte nämlich mein Großvater dieſen ſeinen Lieblings¬ ort gefällt mir diesmal beſſer, als ſonſt wohl. Ich habe in den letzten Jahren ein etwas buntes Leben geführt und ſo viel Adamskinder der verſchie¬ denſten Racen und Culturzuſtände durcheinander ge¬ ſehen, daß zuletzt einer genau ſo ausſah, wie der an¬ dere, ein Beweis, daß meine Sinne vollkommen abge¬ ſtumpft waren und eine längere Hungercur nöthig iſt. Daß ich nicht ganz verhungere, dafür ſollen Sie und die Czika ſorgen.

Und wo iſt denn unſer kleiner Findling?

Irgendwo auf der Haide, wo ſie ſich in den blühenden Ginſter legt und in den Himmel ſtarrt, oder am Strande, wo ſie zwiſchen den Felsblöcken umherklettert und vor Vergnügen in die Hände klatſcht, wenn eine Welle ihre nackten Füße benetzt. Bis zu Schuhen hat ſie es nämlich noch nicht gebracht, das heißt: ich habe ſie noch nicht dazu bringen können. Ich laſſe ihr überhaupt abſolute Freiheit, ſeitdem ſie mir gleich am zweiten Tage, als ich ſie bei dem ſchauder¬ haften Wetter nicht herauslaſſen wollte, ſehr energiſch er¬ klärte: Czika ſtirbt, wenn Czika nicht in den Regen darf.

Sehnt ſie ſich denn nicht nach ihrer Mutter zurück?

Glauben Sie wirklich, das das braune Weib, das22 ich übrigens nur ganz flüchtig geſehen habe, des Kin¬ des Mutter iſt?

Unbedingt. Die Aehnlichkeit zwiſchen Ezika und der braunen Gräfin iſt unverkennbar.

Von wem habe ich doch dieſen Ausdruck ſchon gehört? ſagte Oldenburg nachdenklich, von Ihnen neulich, ohne Zweifel; aber er kam mir gleich ſo be¬ kannt vor. Stammt die Bezeichnung von Ihnen?

Nein, von Frau von Berkow, ſagte Oswald, den Blick feſt auf Oldenburg richtend.

So, ſo, ſagte der Baron.

Es war das erſte Mal, daß Melitte's Namen unter den beiden Männern Erwähnung geſchah, und es war bezeichnend genug, daß ſofort eine Pauſe in dem Geſpräche eintrat.

Bei welcher Gelegenheit hat denn Frau von Berkow die Bekanntſchaft der Zigeunerin gemacht? fragte der Baron nach einiger Zeit.

Oswald erzählte in kurzen Zügen die Geſchichte von der braunen Gräfin, ſo wie ſie ihm Melitta mit¬ getheilt hatte.

Oldenburg lächelte. Ja, ja, ſagte er, jetzt er¬ innere ich mich. Frau von Berkow hat mir die Anecdote ſchon vor ein paar Jahren erzählt. Die Geſchichte iſt allerliebſt, beſonders für den, welcher23 ſich für Frau von Berkow intereſſirt, weil ſie für den liebenswürdigen, aus Muthwillen, Schalkheit und Gutmüthigkeit wunderbar gemiſchten Charakter dieſer Dame unendlich bezeichnend iſt.

Der Baron ſagte das einfach und ſo ruhig, als hätte es niemals eine Zeit gegeben, wo er für ein Lächeln dieſer Dame ſein Leben auf's Spiel geſetzt haben würde.

Aber wollen wir nicht hineingehen, fuhr er fort, ich ſehe, Hermann, mein Rabe und Factotum, hat einen Tiſch mit allerlei Appetitlichem gar zierlich ge¬ deckt, und dort kommt auch Thusnelda, ſeine Ge¬ mahlin und meine Amme, um uns feierlich zum Ves¬ perbrod zu laden.

Eine alte, ſehr würdig ausſehende Frau von ſtatt¬ lichem Umfange erſchien in der Glasthüre, machte einen tiefen Knix und ſagte:

Herr Baron, es iſt angerichtet.

Schön, ſagte Oldenburg; haſt Du die Czika nicht geſehen?

Ich dachte, ſie wäre beim Herrn Baron, ant¬ wortete die Matrone, ängſtlich umherblickend.

Nein. Bring ſie doch herauf, wenn ſie unter¬ deſſen kommen ſollte. Du kannſt Dich einmal nach ihr umſehen. Kommen Sie, Doctor, ich hoffe, der24 weite Weg hat Sie hungrig, zum mindeſten durſtig gemacht; Thusnelda hat für beide Fälle geſorgt.

Oswald ſchaute ſich, während ſie an dem mit Er¬ friſchungen aller Art reichlich beſetzten Tiſche Platz nahmen, in dem Zimmer um. Der weite Raum wurde durch einen großen Schreibtiſch von Eichenholz und durch Stühle und Sophas von mancherlei For¬ men, die den Platz häufig zu verändern ſchienen, weſentlich verringert. An den Wänden ſtanden Eichenſchränke mit Büchern angefüllt. Bücher lagen auf den Tiſchen, den Sophas, den Stühlen, Bücher lagen auf dem Boden. Einige ſchöne Büſten nach der Antike, und ein paar große Kupferſtiche waren der einzige Schmuck des im übrigen offenbar auf Eleganz nicht den mindeſten Anſpruch machenden Zimmers; zwiſchen zwei der Schränke, wo ein Kupfer¬ ſtich hingehörte, war eine grünſeidne Gardine, die ent¬ weder ein ungeſchickt angebrachtes Fenſter oder ein Bild verdeckte, welches der Beſitzer aus dieſem oder jenem Grunde dem Blicke neugieriger Beſucher nicht ausgeſetzt wünſchte.

Sodann wurde ſeine Aufmerkſamkeit wieder von dem Baron ſelbſt in Anſpruch genommen, der ihm heute in einem langen, gelben, leinenen Rock, welcher ſeiner langen, hagern Figur gar ſeltſam ſtand, ein25 ganz Anderer zu ſein ſchien. Mehr aber noch, als der veränderte Anzug war es der veränderte Aus¬ druck des Geſichtes, der Oswald auffiel. Der höhniſche Zug um den Mund, den ſelbſt der dichte Bart nicht ganz verdecken konnte, die ſcharfen kleinen Fältchen auf der hohen Stirn, um die Augen und die Naſen¬ flügel Alles war von einem freundlichen Lächeln ausgelöſcht, das den grauen, ſonſt ſo ſtechenden Augen einen Ausdruck von Milde und Gutmüthigkeit gab, den Oswald, ſo weit er auch von ſeinem Vorurtheil gegen den Baron zurückgekommen war, niemals für möglich gehalten haben würde. Ja, der Gedanke, daß ein Weib dieſen ſeltſamen Mann von ganzem Herzen lieben könnte, ſchien ihm nicht mehr ſo wunderlich, wie auf dem Balle in Barnewitz. Er dachte an das Blatt in Melitta's Album, er dachte an ſeine eigenen Worte: Dieſer Mann wird niemals glücklich ſein, weil er niemals wird glücklich ſein wollen, und an Melitta's Antwort: Darum iſt dieſer Mann aus meinem Leben losgelöſt, wie ſein Bild aus dieſem Album, und er ſagte ſich jetzt: er hätte glücklich ſein können, wenn er gewollt hätte; warum wollte er es nicht? was trennte dieſe Beiden? wer von ihnen ſprach das Wort, das ſie wie es ſcheint auf ewig trennte?

Dieſe Gedanken erweckten heute in Oswald nicht26 mehr jene wilde Eiferſucht, die ſein Herz an dem Tage, wo er dem Baron zuerſt im Walde begegnete, und hernach auf dem Balle in Barnewitz, zerfleiſcht hatte aber das geheimnißvolle Dunkel, welches über dieſen Vorgängen lag, das er nicht lüften konnte und, was ſchlimmer war, nicht einmal zu lüften wagte, erfüllte ſeine Seele mit jener Trauer und jenem Mit¬ leid, das wir mit uns ſelbſt empfinden, wenn wir da in unſerer Andacht geſtört werden, wo wir ſo gern aus vollem, überſtrömendem Herzen anbeten möchten.

Oswald ſuchte dieſer trüben Stimmung Herr zu werden; es war ihm, als ob des Barons ſcharfe Augen leſen könnten, was in ſeiner Seele vorging. Indeſſen ſchien dieſer vollkommen unbefangen und ganz von dem Thema ihres Geſprächs in Anſpruch genommen, das, wie erklärlich, ſich hauptſächlich um Czika und die braune Gräfin drehte. Beide Männer verſuchten ihren Scharf¬ ſinn vergeblich an der Löſung der vielen Räthſel dieſer wunderbaren Angelegenheit. Was hatte die braune Gräfin beſtimmt, ihr Kind, an welchem ſie doch mit großer Liebe zu hängen ſchien, ſo ohne Weiteres fremden Männern zu überlaſſen? Woher nahm ſie zu dieſer Entſagung den Muth in dem Augenblicke, wo ſie durch die brutalen Scherze der jungen Edelleute (der Reitknecht des jungen Graf Grieben hatte Oldenburg's Kutſcher27 die Sache erzählt) und durch den, allerdings blos ſcherz¬ haft gemeinten, Raub der Kleinen ſo außer ſich ge¬ bracht war? Hatte ſie das Kind Oswald, oder dem Baron, oder hatte ſie es Beiden geſchenkt? oder hatte ſie es ihnen nicht geſchenkt, ſondern verkauft, und hatte ſie nur den Zahlungstermin einen Monat hinaus¬ geſchoben, in der Hoffnung, daß die beiden Männer, oder auch einer von ihnen, das ſchöne Kind während dieſer Zeit lieb gewinnen und demnach gern einen größeren Preis zahlen würde?

Meine größte Furcht, ſagte Oldenburg, iſt, daß die braune Gräfin der noch nicht einmal abge¬ ſchloſſene Handel gereut und ſie mir das Kind wieder raubt, oder auch die Czika ſelbſt der Sehnſucht nach ihrem Wanderleben nicht widerſtehen kann und eines ſchönen Morgens verſchwunden iſt. Ich geſtehe, daß es ein harter Schlag für mich ſein würde. Ihre Prophezeihung, daß ich in der ſüßen Dirn einen Schatz gefunden habe, köſtlicher als Alladin's Wunder¬ lampe, ſcheint in Erfüllung zu gehen. Ich ſage mit dem weiſen Nathan: ich bliebe, oder richtiger: ich wäre des Mädchens Vater doch ſo gern! ich möchte ſo gern dieſer bis jetzt ſtummen Seele eine Sprache entlocken, und in dieſer Sprache meinen eigenen Ge¬ danken veredelt und verſchönert wieder hören! ich28 möchte ſie an mich ketten mit allen Banden, durch die ein Vater an ſeine Tochter, eine Tochter an ihren Vater gefeſſelt ſein kann verſteht ſich, um ſie nach¬ träglich alle dieſe Bande zerreißen und ſich dem erſten beſten Gelbſchnabel in die Arme werfen zu ſehen, deſſen Rock um einen Grad beſſer ſitzt, als die ſeiner Nachbarn. Aber bis dahin möchte ich wenigſtens, daß ſie mein wäre! Ich ſtehe jetzt in den Jahren, wo man ſich, wenn man nicht zufällig ein Swift iſt, der bekanntlich die Kinder hätte freſſen mögen, aber nicht aus Liebe nach Kindern ſehnt, wie ein müder Wanderer nach einem Stab, die erſchlaffenden Glieder zu ſtützen. Wenn wir fühlen, daß wir den höchſten Punkt auf unſerem Lebenswege erreicht haben und es nun unaufhaltſam bergab geht, und das Land unſerer Jugend hinter dem Kamm des Hügels allgemach ver¬ ſchwindet, da möchten wir fröhliche Kinderſtimmen von drüben ertönen hören, die uns unſere eigene ſelige Jugendzeit wieder in die Erinnerung rufen. Sie werden mich fragen, weshalb ich denn dieſer ſpie߬ bürgerlichen Tendenz nicht nachgebe und heirathe? oder Sie werden mich das auch nicht fragen, denn Sie werden ſich ſelber ſagen, daß für Jemand, der ſich die zehn beſten Jahre ſeines Lebens in allerlei liai¬ sons dangereuses und innocentes unausgeſetzt29 bewegt hat, das Heirathen eine moraliſche Unmöglich¬ keit iſt. Ich will keine Frau, die ſo blaſirt wäre, nicht von mir hören zu wollen: ich liebe Dich! und wie kann ich das, ohne mir ſelbſt lächerlich vorzu¬ kommen, zu ihr ſagen, wenn ich es ſchon ſo und ſo vielen anderen in allen mir bekannten Sprachen ge¬ ſagt habe? Nein, nein! mit ſolchen Geſinnungen mag man Türke werden und ſich einen Harem anſchaffen, aber für die monogamiſche Ehe im höchſten, reinſten Sinne, wo ſie eine wunderbare Alchymie iſt, die aus den Zweien Eines macht, für dieſe Ehe, die auch ich heilig halte, iſt man wahrlich zu ſchlecht.

Und doch, ſagte Oswald, liegt in der wahren Liebe eine reinigende und heiligende Macht, vor der alle Zweifel an uns ſelbſt verſchwinden, wie der Nebel vor den Strahlen der Sonne. Die wahre Liebe wiſcht, wie der echte Haß von der Tafel der Erinnerung weg alle thörichten Geſchichten und macht uns mit einem Schlage aus wüſten Barbaren zu zartfühlenden, feinſinnigen Hellenen. Die rohe Kraft, die vorher ſich nur bethätigen wollte, gleichviel ob ſie ſchaffte oder zerſtörte, nimmt jetzt Form an, und wo ſie früher einen Siva ſchuf, deſſen glühender Blick alle Creatur verzehrt, ſchafft ſie jetzt einen olympiſchen Zeus, der Alles, was iſt, mit Vateraugen ſegnet.

30

Sehr ſchön geſagt, erwiederte der Baron, wollen Sie nicht dieſe Liebfrauenmilch verſuchen, der Wein macht ſeinem Namen Ehre ſehr ſchön geſagt, auch wol wahr nur nicht für problematiſche Naturen.

Was nennen Sie problematiſche Naturen?

Es iſt ein Goethe'ſcher Ausdruck und kommt in einer Stelle vor, die mir viel zu denken gegeben hat. Es giebt problematiſche Naturen, ſagt Goethe ich glaube in Dichtung und Wahrheit die keiner Lage gewachſen ſind, in der ſie ſich befinden, und denen keine genug thut. Daraus, fügt er hinzu, entſteht der ungeheure Widerſtreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt. Es iſt ein grauſiges Wort, denn es ſpricht in olympiſcher Ruhe das Todesurtheil über eine, beſonders in unſeren Tagen, weit verbreitete Gattung guter Menſchen und ſchlechter Muſikanten. Da iſt Czika!

Wo?

Hinter Ihnen.

Oswald wandte ſich um. In der offenen Thür, die auf den Balcon führte, ſtand das ſchöne Kind, vom rothen Licht der untergehenden Sonne umfloſſen. Ihr üppiges, blauſchwarzes Haar fiel von beiden Seiten über die ſeine Stirn auf die Schultern, die aus einer blauen türkiſchen Blouſe hervorragten, welche31 mit einem dünnen, rothſeidenen Shawl um die ſchlanke Hüfte gegürtet war. Türkiſche Beinkleider reichten bis zu den nackten Füßen. Als ſie einen Fremden in dem Zimmer erblickte, hatte ſie ſich leiſe, wie ſie ge¬ kommen war, wieder wegſtehlen wollen, bis der Aus¬ ruf des Barons ſie bannte und Oswald ſich umge¬ wandt hatte. Bei ſeinem Erblicken flog ein freudiges Lächeln über ihr ernſtes, dunkles Geſicht, und die braunen Gazellenaugen ſchauten beinahe zärtlich zu ihm empor, als er jetzt, eine ihrer Hände in der ſeinen haltend und mit der andern ihr das üppige Haar ſchlichtend, vor ihr ſtand.

Czika kennt Dich, ſagte ſie; Du biſt ſehr gut. Du haſt die Armen lieb, die Armen haben Dich lieb.

Eine Liebeserklärung! ſagte Oldenburg, der am Tiſche ſitzen geblieben war, lachend, die wie vielſte, Doctor. in den letzten acht Tagen! Doctor, Sie ſind ein gefährlicher Menſch und ich werde mich genöthigt ſehen, Ihnen mein Haus zu verbieten.

Warum biſt Du nicht immer hier? ſagte Czika, ihre großen Augen von dem Baron wieder zu Oswald wendend. Czika will mit Dir an dem großen Waſſer ſitzen, Czika will Dir Blumen auf der Haide pflücken. Warum biſt Du nicht immer hier?

Er kann nicht immer hier ſein, Czika, ſagte der32 Baron, aber er wird recht oft herkommen. Nicht wahr, Doctor?

Die Thür nach dem Vorſaal wurde geöffnet und Madame Müller, oder Thusnelda, wie ſie der Baron nannte, ſchaute herein.

Ich kann ſie nicht ah! da iſt ſie ja. Wo biſt Du denn geweſen, mein Herzenspüppchen? komm, ich will Dich ein wenig zurecht machen. Wie Du wieder ausſiehſt ganz voll Haidekraut, wie ge¬ wöhnlich; was ſollen die Herren von uns denken ...

So ſprach die Matrone, das Kind mit ſanfter Ge¬ walt an der Hand aus dem Zimmer führend.

Sie müſſen wiſſen, daß eine große Liebe zwiſchen den Beiden beſteht, ſagte der Baron. Meine alte Amme hat viel blühende Kinder gehabt, die alle früh¬ zeitig geſtorben ſind. Anderer Frauen Herz wird durch ſolches Unglück oft verhärtet, aber Thusnelda's Herz iſt weich geblieben, und jetzt liebt ſie die Czika, als wäre ſie ihr Erſtgeborenes. Das iſt nun aber gerade, als wenn eine Taube einen Falken ausgebrütet hätte. Czika's Tendenzen zu einem möglichſt ungebundenen Daſein bringen die arme alte Dame alle Tage zehn¬ mal in die größte Noth und Verzweiflung. Und dann iſt noch ein Umſtand. Thusnelda iſt gut kirchen¬ fromm und Czika hat horribile dictu gar33 keine Religion es müßte denn irgend ein geheim¬ nißvoller Sterndienſt ſein, die ſie begeht, wenn ſie ſich des Nachts von ihrem Lager ſtiehlt und auf der Höhe des Strandes im Mondenſcheine tanzt, wie Thusnelda es mit Grauſen und Schaudern geſehen zu haben ſchwört. Uebrigens glaube ich Thusnelda in dieſem Falle. Ich habe wenigſtens ſchon früher die Beobachtung gemacht, daß, wenn die Zigeuner Gegenſtände der Anbetung haben, es Sonne, Mond und Sterne ſind.

Haben Sie auf Ihren Reiſen nicht öfter Ge¬ legenheit gehabt, mit dieſem intereſſanten Volke in nähere Berührung zu kommen?

O ja, ſagte der Baron, ſogar in ſehr nahe Berührung; beſonders einmal in Ungarn vor zwölf Jahren etwa.

Der Baron ſchwieg, ſchenkte ſich ein Glas Wein ein und trank es in mehren Abſätzen langſam aus, die Augen auf die Tiſchdecke geheftet, wie Jemand deſſen Gedanken von einer Erinnerung ganz in An¬ ſpruch genommen ſind.

Nun , ſagte Oswald, wie war das?

Was? ſagte der Baron, wie aus einem Traum erwachend; ja ſo, Sie wollen wiſſen, was ich in Ungarn mit den Zigeunern zu thun hatte.

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 334

Ich vermuthe, es ſteckt dahinter eine romantiſche Geſchichte.

Allerdings , ſagte der Baron; ich ſelbſt ſtand damals noch in den Jahren, wo jeder Menſch, er müßte denn zufällig ein geborner Stockfiſch ſein, ein lebendiges Stück Romantik iſt. Ich ſchwärmte für Eichendorff's mondſcheindurchleuchtete Zaubernächte, für Brunnen und Wälderrauſchen, und vor allem ſchwärmte ich für ſchlanke Mägdelein mit und ohne Guitarre am blauen Bande.

Meine ganze Weltanſchauung war in einem emi¬ nenten Grade romantiſch, vor allem meine Moral. Das ganze Leben hatte für mich nicht mehr Bedeu¬ tung, als ein Schattenſpiel an der Wand, und das einzige Reelle, was ich gelten ließ, war die ſouve¬ räne Ironie. Mit einem Worte: ich war ein char¬ manter Kerl, und wenn man mich an den erſten beſten Galgen gehangen hätte, ſo wäre das nur mir zur gerechten Straff, anderen aber zum abſcheulichen Exempul geweſen.

Ich hatte damals das Studiren in Bonn und Heidelberg gerade herzlich ſatt. Ich hatte in tauſend Büchern vergeblich nach der Löſung des Räthſels ge¬ ſucht, über dem ſich ſchon ſo viel beſſere Köpfe als ich den Kopf zerbrochen haben, und wollte es nun35 einmal auf andere Weiſe anfangen. Ich ſchrieb an meinen Vormund und drückte ihm meinen Wunſch aus, ein paar Jahre zu reiſen. Der Vormund bil¬ ligte dieſen Plan höchlichſt, wie er denn Alles billigte, was mein Spatzenkopf ausheckte nur um mich los zu werden ſchickte mir Wechſel und Empfehlungs¬ briefe, und ich begab mich auf die Wanderſchaft. Ich reiſte durch Süddeutſchland, die Schweiz, Oberitalien. Wenn Sie aber einen auch nur oberflächlichen Bericht dieſer Reiſe von mir verlangten, ſo käme ich in die größte Verlegenheit. Ich weiß von den Gegenden noch gerade ſo viel, wie von Landſchaften, die man im Traume ſieht. Zuletzt war ich in Ungarn. Der Zufall, der überhaupt mein Reiſemarſchall war, hatte mich dort hingeführt. Ich war in Wien mit einem jungen ungariſchen Edelmann bekannt geworden, deſſen Vater am Fuße des Tetragebirges reich begütert war. Er hatte mich eingeladen, mit ihm zu kommen; ich war dieſer Einladung gefolgt. Wir führten ein ſehr idylliſches Leben, deſſen Hauptingredienzien Würfel, Wein und Weiber waren. Herr von Kryvan hatte ein paar ſehr ſchöne Schweſtern, in die ich mich der Reihe nach verliebte. Sodann begeiſterte ich mich für die franzöſiſche Geſellſchafterin der alten Frau von Kryvan, die eben friſch von Paris gekommen war,3*36und die jungen Ungarinen durch die Grazie ihrer Ma¬ niren, ihr Conſervationstalent und ihren Geſchmack in Sachen der Toilette beſchämte.

Als ich einſt, voll von dem Bilde dieſer Huld¬ göttin, die ich nebenbei einige Jahre darauf in Paris unter weſentlich andern Verhältniſſen wieder traf für den Augenblick glaubte ich an die Echtheit ihrer Perlen und ihrer Tugend als ich einſt, ſage ich, träumend in dem Walde umherlief, der ſich von Kry¬ van weit in das Gebirge hinauf erſtreckte, führte mich mein Reiſemarſchall auf eine Lichtung im Walde, die ſich eine Zigeunerbande zu ihrem temporären Wohn¬ ort erwählt hatte. Kleine Hütten aus Lehm und Reiſig in ſehr archaiſtiſchem Stile aufgeführt, eine Feuerſtelle, an der ein altes Mütterchen einen Mar¬ der briet, Thierfelle und Lumpen an den Zweigen der Bäume zum Trocknen aufgehängt das war das Bild, das ſich meinen erſtaunten Blicken darbot. Die ganze Bande war abweſend, mit Ausnahme beſagter alter Hexe, einiger ganz kleiner Kinder, die ſich in paradieſiſcher Nacktheit im Sande wälzten, und eines Zigeunermädchens von fünfzehn Jahren etwa

Der Baron ſchenkte ſich ein Glas voll und trank es mit einem Zuge aus.

Von fünfzehn Jahren etwa vielleicht war ſie37 auch älter es iſt das Alter von Zigeunermädchen ſchwer zu beſtimmen. Sie war ſchlank, und geſchmei¬ dig, wie ein Reh, und ihre dunklen Augen leuchteten in einem ſo magiſch ſinnlich-überſinnlichen Feuer, daß mich ein Schauder des Entzückens packte, als ich tief und tiefer hineinſchaute, während ſie unter allerlei wunderlichen Manipulationen mir aus der flachen Hand mein Schickſal verkündete. Mein Schickſal war in ihren Augen viel deutlicher zu leſen, als in meiner Hand. Ich war entzückt, berauſcht, außer mir; die Welt war für mich verſunken. Sie erinnern ſich, daß ich damals Zwanzig Jahre und Romantiker vom reinſten Waſſer war und daß ein Zigeuner ſein, ſich von Mardern nähren und ſich in den Augen eines Zigeunermädchens ſonnen, der Weisheit letzter Schluß und das höchſte Ziel menſchlichen Strebens ſei, war für mich über allen Zweifel erhaben. Ich blieb bei den Zigeunern ich weiß nicht, wie viel Tage. Meine Freunde im Schloſſe glaubten, die Wölfe hätten mich zerriſſen. Da eines Abends die Sonne war ſchon hinter die Bergwand geſunken, die unſern La¬ gerplatz nach Norden ſchirmte die Bande war noch nicht von ihrem Streifzuge zurück ich ſaß mit der Zingarella am Fuß einer alten Eiche und war ſelig in meiner jungen Liebe da

38

Ich glaube gar, wir bekommen noch Beſuch unterbrach ſich der Baron; war das nicht eine fremde Stimme?

Ich hoffe nicht, ſagte Oswald.

Die Thür wurde geöffnet, der alte Herrmann ſchaute herein und ſagte:

Herr von Cloten wünſcht ſeine Aufwartung zu machen, Herr Baron; ſind Sie zu Hauſe?

Bewahre, ſagte der Baron; aber freilich, ich kann ihn nicht gut abweiſen; er kommt um mich hm, hm!

Laſſen Sie ſich durch mich in der Ausübung Ihrer Gaſtfreundſchaft nicht ſtören, ſagte Oswald, aufſtehend.

Bleiben Sie! bleiben Sie! ſagte der Baron; er wird ſich hoffentlich nicht lange aufhalten. Er kommt in einer gewiſſen Angelegenheit, in welcher er meinen Rath haben will. Das iſt Alles. Führe ihn herauf, Hermann!

Einen Augenblick darauf trat Herr von Cloten ein. Er war in Reitfrack und Stulpenſtiefel und ſchien einen weiten Ritt gemacht zu haben. Wenigſtens ſah er ſehr erhitzt aus. Oswald's Anweſenheit ſchien ihn zu ärgern, oder verlegen zu machen; wenigſtens be¬ grüßte er ihn mit auffallender Förmlichkeit, nachdem er dem Baron die Hand geſchüttelt hatte.

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Sehr warm heute, näſelte er, auf einem Stuhl, den ihm der Baron anbot, am Tiſche Platz nehmend; Robin trieft von Schweiß; habe Ihrem Reitknecht ge¬ ſagt, ihn mit Stroh abzureiben. Conſervirt die Pferde merkwürdig. Angenehmer Wein, Liebfrauenmilch? famoſer Wein hatten neulich auch welchen in Barne¬ witz nicht halb ſo gut. Apropos Barnewitz gut bekommen, Baron? War etwas vor der Zeit fortge¬ fahren Hitze wirklich abominabel

Wollen Sie nicht ablegen, Cloten?

Danke, danke! Will gleich wieder fort; wollte nur einmal, weil gerade in der Nähe war auf Grenwitz Alles ausgeflogen dort vorſprechen, zu ſehen, wie es ſteht.

Aber Sie werden doch ein paar Minuten Zeit haben.

Keinen Augenblick auf Ehre, ſagte Herr von Cloten, ſein Glas leerend und aufſtehend, ſpreche morgen vielleicht wieder vor. Adieu, Baron.

Von Cloten verbeugte ſich wiederum ſehr förmlich vor Oswald und ſchritt, von dem Baron begleitet, nach der Thür.

Bitte, bitte, derangiren Sie ſich nicht; ſagte Cloten.

Ich will mir nur Ihren Robin einmal anſehen, 40ſagte der Baron, und dann zu Oswald: entſchuldigen Sie mich für ein paar Augenblicke, Herr Doctor.

Oswald war allein; das auffallend kühle Benehmen des jungen Edelmanns hatte, wie ſehr er denſelben auch verachten zu dürfen glaubte, doch ſeinen leicht verletzlichen Stolz beleidigt. Er ging erregt in dem Gemache auf und ab. Sein Adelshaß hatte wieder neue Nahrung bekommen; auch Oldenburg's Benehmen ſchien ihm während Cloten's Viſite weniger herzlich geweſen zu ſein.

Ich ſage es ja, murmelte er durch die Zähne, wo zwei zuſammen ſind, iſt der Kaſtengeiſt mitten unter ihnen und ſie fließen zuſammen wie Queckſilber.

Sein Blick haftete auf dem grünſeidenen Vorhang zwiſchen den beiden Bücherſchränken, der ſeine Auf¬ merkſamkeit ſchon vorhin erregt hatte.

Welches iſt denn dies verſchleierte Bild? irgend ein wollüſtiger Correggio vermuthlich; auf jeden Fall ein Beitrag zur intimeren Kenntniß dieſes wunder¬ lichen Mannes. Sie entſchuldigen meine Neugierde, Monsieur le Baron!

Oswald zog mit einem Ruck der ſeidenen Schnur den Vorhang zurück; und der Jüngling zu Sais, als er den Schleier von dem heiligen Bilde der Iſis hob, kann kaum erſchütterter geweſen ſein, wie es Oswald41 war, als er anſtatt eines farbetrunkenen italieniſchen Gemäldes in einer Niſche eine Büſte aus keuſchem weißen Marmor erblickte, die, obgleich in antikem Haarſchmuck und ein wenig idealiſirt, nichts war, als ein ſprechend ähnliches Porträt Melitta's. Das war ihr reiches, welliges Haar, das war ihre ſchöne zarte Stirn, die feine gerade Naſe, das waren die weichen, ſelbſt noch im Marmor thaufriſchen Lippen!

Ehe ſich Oswald von ſeinem Erſtaunen, der Ge¬ liebten ſich ſo plötzlich gegenüber zu ſehen, nur ſo weit erholen konnte, den Vorhang wieder über das Bild zu ziehen, trat der Baron in das Zimmer.

Entſchuldigen Sie meine Indiscretion, ſagte Oswald, ſich ſchnell faſſend; aber wer heißt Sie auch, verſchleierte Bilder in einem Sanctuarium auf¬ ſtellen, zu dem Sie jedem Fremden den Zutritt ge¬ währen.

Sie haben Recht, ſagte der Baron, ohne eine Spur von Verwirrung; dieſer grüne Schleier iſt, wie andere Schleier auch, geradezu provocirend, und neben¬ bei iſt es ſehr thöricht, die Copie zu verſchleiern, da Jedermann das Original unverſchleiert ſehen kann, wenn er ſich die Mühe giebt, nach Palermo zu reiſen, und ſich eine Erlaubniß verſchafft, die Villa Serra di Falco beſuchen zu dürfen.

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In der That! sagte Oswald, den die unver¬ wüſtliche Ruhe, mit welcher ihm der Baron dies Märchen aufzuheften ſuchte, ein wenig ärgerte: alſo bei Palermo? ich war ſchon verſucht, das Original weniger weit zu ſuchen.

Sie meinen im Berliner Muſeum? ſagte der Baron; es exiſtirt dort allerdings eine Muſe, die mit dieſem Bilde große Aehnlichkeit hat, aber der Unter¬ ſchied iſt doch, wenn ſie genauer vergleichen, ſehr bedeutend.

Allerdings, ſagte Oswald; die Naſe iſt an jenem Bilde energiſcher; auch iſt die Haltung des Kopfes eine andere, und überhaupt die Aehnlichkeit mit Frau von Berkow, die an dieſer Büſte ſo frappant iſt, weniger auffallend.

Finden Sie? ſagte der Baron, aufſtehend und vor das Bild tretend. Wahrhaftig, Sie haben Recht. Es iſt wirklich eine flüchtige Aehnlichkeit zwiſchen dieſem Bilde und Frau von Berkow. Nun, das macht mir das Bild nicht ſchlechter, denn ich ge¬ ſtehe, daß es wenige Damen auf der Welt giebt, an die ich mich ſo gern erinnern ließe, als an dieſe, ebenſo liebenswürdige wie geiſtreiche Frau.

Der Baron zog den Vorhang wieder über das43 Bild, als wünſchte er, jetzt das Geſpräch darüber ab¬ zubrechen.

Kommen Sie, Doctor, ſagte er, ſetzen Sie ſich wieder und thun Sie, als ob Cloten, dieſer geiſt¬ reichſte Jüngling, nicht hier geweſen wäre.

Ich glaube, es iſt die höchſte Zeit, daß ich auf¬ breche, ſagte Oswald; die Sonne iſt im Untergehen ich möchte gerade heute nicht ſpät nach Hauſe kommen.

Wie Sie wollen, ſagte der Baron; man ſoll den kommenden Gaſt willkommen heißen und den da¬ voneilenden nicht halten. Ich habe große Luſt, Sie eine Strecke zu begleiten. Sind Sie Reiter?

Ein wenig.

So wollen wir reiten, wenn es Ihnen recht iſt. Ich nehme einen meiner Leute mit. Entſchul¬ digen Sie mich für einen Augenblick. Ich will nur ein wenig Toilette machen und die nöthigen Be¬ fehle geben.

Sie ſitzen gut zu Pferde, Doctor, ſagte der Baron, als ſie eine Viertelſtunde ſpäter auf der Höhe des Strandes langſam dahinritten. Es iſt wirklich merkwürdig, welch wunderbares Talent Sie in dieſen Dingen zeigen. Ich glaube, es giebt keine körperliche44 Geſchicklichkeit, in der Sie es nicht in kurzer Zeit zur Meiſterſchaft bringen könnten.

Es iſt das um ſo merkwürdiger, ſagte Oswald, weil ich doch eigentlich in Folge meiner plebejiſchen Geburt und Erziehung gar keine Anſprüche auf dieſe ariſtokratiſchen Vorzüge machen kann.

Schade, daß ich nicht Cloten bin, ſagte der Baron.

Weshalb?

Weil ich dann die Ironie in Ihren Worten nicht im Entfernteſten ahnen, im Gegentheil durch Ihre rührende Beſcheidenheit von der an Haß grenzen¬ den Abneigung gegen Sie zurückkommen würde.

Iſt Herr von Cloten ſo gegen mich geſinnt?

Denken Sie denn, daß es einem Dandy lieb iſt, wenn ein Anderer ſich ihm im Piſtolenſchießen, Tanzen, Courmachen u. ſ. w., kurz in Allem überlegen zeigt, was der größte Stolz ſeiner kleinen Seele iſt? Weiber und weibiſche Männer verzeihen dergleichen nie. Ich habe mich an dem Abend in Barnewitz königlich über die Geſichter amüſirt, die, natürlich hinter Ihrem Rücken, von einigen dieſer geiſtreichen Jünglinge ge¬ ſchnitten wurden, und mir leider den billigen Spaß gemacht, durch allerlei kleine Teufeleien dieſe Püppchen noch mehr in Harniſch zu bringen.

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Warum leider? ich verſichere Sie, daß mir an der guten oder ſchlechten Meinung dieſer Herren ſehr wenig gelegen iſt.

Ohne Zweifel; aber Sie ſind, ſo lange Sie in dieſer Gegend bleiben, genöthigt, mit dieſen Leuten zu verkehren, und es iſt eine Regel der allergewöhnlichſten Klugheit, daß man ſeinen Mitreiſenden nicht gefliſſent¬ lich auf die Hühneraugen tritt. Wer zum Teufel kommt denn da querfeldein von Cona her?

Dieſer Ausruf des Barons galt dem geheimni߬ vollen Reiter, welchen Oswald bei ſeiner Ankunft be¬ merkt hatte, und der jetzt wieder quer über die Haide herantrabte, und ungefähr vierhundert Schritte vor ihnen auf den Weg gelangte.

Oswald erzählte dem Baron, was ihm mit dem Reiter begegnet war.

Das müſſen wir doch unterſuchen, ſagte der Baron; laſſen Sie uns einmal Trab reiten.

Sie hatten kaum ein paar Schritte zurückgelegt, als der Reiter vor ihnen, wie auf Verabredung, ſein Pferd ebenfalls in Trab ſetzte. Es ſchien, als ob er ſich einige Male verſtohlen umſchaute; doch war dies bei dem Dämmerlichte, das jetzt herrſchte, nicht mehr deutlich zu erkennen.

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Verſuchen wir es einmal mit Galopp , ſagte Os¬ wald; ich ſehe, der Geheimnißvolle macht es gerade ſo, wie heute Nachmittag.

Sie befanden ſich jetzt auf der weiten ebenen Fläche, die, ſich allmälig zum Fiſcherdorfe ſenkend, dem ſtei¬ nigen und weniger ebenen Terrain des Vorgebirges, auf welchem Oldenburg's Villa lag, folgte. Der Boden war nur mit einer dünnen Erdſchichte, in welchem ſpärliches Haidekraut wuchs, überkleideter Fels und erdröhnte vom Hufſchlag der Pferde, die jetzt wacker ausgriffen.

Der Geheimnißvolle war, ſo wie ſein Ohr den ſchnelleren Hufſchlag vernahm, dem Beiſpiel gefolgt und galoppirte jetzt, immer in derſelben Entfernung, vor ſeinen Verfolgern her.

Stern chase is a long chase, ſagte Oldenburg, dem die Sache großes Vergnügen zu machen ſchien. Der Burſche iſt übrigens ausgezeichnet beritten. Se¬ hen Sie nur, wie das Thier den Boden kaum mit den Hufen zu berühren ſcheint. Weißt Du nicht, Karl, wer es ſein kann?

Nein, Herr, ſagte der Reitknecht, der jetzt in einer Linie mit den beiden Herren ritt; es kann Niemand aus unſerer Gegend ſein, ſonſt müßten wir ihn ſchon geholt haben.

47

Karl ſchmeichelt ſich nämlich mit dem Gedanken, daß er die beſten und ſchnellſten Pferde weit und breit unter ſeinem Commando hat, bemerkte der Baron.

Er hält es auch nicht lange mehr aus, Herr! ſagte Karl.

Das müſſen wir abwarten, meinte der Baron.

Sollen wir nicht, um dem Dinge ein Ende zu machen, die Pferde einmal laufen laſſen? ſagte Os¬ wald nach einigen Minuten; es muß ſich dann ja zeigen, ob wir ihn einholen können, oder nicht.

Meinetwegen, ſagte Oldenburg, en avant!

Die drei Reiter ließen ihren Pferden die Zügel. Die edlen Thiere, wie entzückt über die ihnen ge¬ währte Freiheit, und als wüßten ſie, daß ihr Ruf als beſte Renner der ganzen Gegend heute auf dem Spiele ſtand, ſtürmten mit gewaltiger Geſchwindigkeit dahin, zuerſt Bruſt an Bruſt, bis Oldenburg's Rappe die Spitze nahm und behauptete, ſo oft auch eins der beiden andern Pferde ihm den Rang ſtreitig zu machen ſuchte.

Der Geheimnißvolle hatte, als ſeine Verfolger ihre Pferde in Carriere ſetzten, ſie bis auf zweihundert Schritt herankommen laſſen. Schon glaubten ſie die Jagd ihrem Ende nahe und der Reitknecht ſeine und ſeiner Pferde Ehre gerettet, als plötzlich der Mann48 vor ihnen ſeinem Renner die Sporen gab und ſeinen Kopf tief hinab bis faſt auf die Mähne des Thieres beugend mit einer Schnelligkeit dahinſchoß, die bald die Unmöglichkeit ihn einzuholen ſelbſt dem wüthenden Reitknecht klar machte.

Ich glaube, es iſt der Teufel ſelber, ſagte er durch die Zähne.

Oldenburg lachte; ich glaube es auch, rief er; wir wollen die Sache aufgeben.

Es dauerte einige Zeit, bis die aufgeregten Pferde ſich beruhigen konnten. Der Geheimnißvolle ſtürmte mit unverminderter Geſchwindigkeit weiter und war ſchon nach wenigen Minuten in dem Hohlwege, der nach dem Fiſcherdorfe hinunterführte, verſchwunden.

Eine, halbe Stunde ſpäter langten ſie vor dem Thore von Grenwitz an. Oswald ſtieg ab und über¬ gab die Zügel ſeines Pferdes dem Reitknecht, um dem Baron die Hand zu ſchütteln.

Wenn Sie ſich nicht allzuſehr gelangweilt haben, ſagte dieſer, ſo wollen wir das Experiment in den nächſten Tagen wiederholen. Leben Sie wohl!

Oswald gelangte auf ſeine Stube, ohne auf dem ſtillen Hofe, in dem ſtillen Hauſe auch nur einem Menſchen begegnet zu ſein. Als er ſich in das offene Fenſter lehnte und in den ſchon vom Abenddunkel er¬49 füllten Garten hinabſah, bemerkte er zwei Geſtalten, die flüſternd und toſend in den Gängen auf - und ab¬ ſchritten. Es waren Albert und Marguerite. Sie hatten offenbar die ſchöne Gelegenheit, in der Con¬ jugation von aimer weiter zu kommen, nicht unbenutzt verſtreichen laſſen.

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 4
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Drittes Kapitel.

Mein Herr! Nach allen Seiten gleichmäßig zu reüſſiren gelingt Keinem, ſelbſt nicht dem vom Glück am meiſten begünſtigten Ritter. Werden Sie es da¬ her begreiflich finden, wenn Jemand, der mit einigem Staunen die Fortſchritte beobachtet hat, die Sie in der Gunſt einer gewiſſen Dame machten, das Ge¬ heimniß des Zaubers Ihrer Perſönlichkeit kennen zu lernen und zu dem Zwecke Ihre nähere Bekannt¬ ſchaft zu machen wünſcht? Und würden Sie wol, um ihm dies Vergnügen zu gewähren, die Güte haben heute Abend 11 Uhr einen Spaziergang aus dem kleinen Thore von Grenwitz zu machen? Sie würden vierhundert Schritte von demſelben auf dem Feldwege nach Berkow einen Wagen treffen, in den Sie nur zu ſteigen brauchten, um an den Ort des Rendezvous zu gelangen. Dort ſollen Sie Alles finden, was zur51 Anknüpfung eines intimeren Verhältniſſes unter Gent¬ lemen nöthig iſt.

Es iſt wol nicht beſonders nothwendig, Sie daran zu erinnern, daß dieſe delicate Angelegenheit in Ge¬ heimniß gehüllt bleiben muß. Der Lenker des Wa¬ gens wird aus der Antwort Moi auf ſeinen Anruf: qui vive? hören, daß Sie der Rechte ſind. Au revoir, Monsieur!

So lautete der Inhalt eines expreſſen Briefes, den der Poſtbote aus dem nächſten Städtchen am Abend des folgenden Tages Oswald brachte.

Er las das ſonderbare Schreiben mehrmals, bevor er ſich von ſeinem Erſtaunen erholen konnte. Wer war der Jemand , der ſeine nähere Bekanntſchaft zu machen wünſchte? wer die Dame, um die es ſich handelte? War das Geheimniß der Waldkapelle ent¬ weiht worden? hatte Jemand die Scene in der Fenſter¬ niſche auf dem Balle in Barnewitz belauſcht? Konnte Herr von Cloten der Herausforderer ſein? Das auf¬ fallend kühle Benehmen dieſes jungen Edelmannes bei der zufälligen Begegnung geſtern ſchien dafür zu ſprechen. Oder war dieſe Begegnung nicht zufällig, und ſtand der geheimnißvolle Reiter damit in Ver¬ bindung? war es nur ein Spion Cloten's? Aber war die Unterredung zwiſchen Herrn von Barnewitz4*52und dem Baron, bei welcher Oswald ein ſo unfrei¬ williger Zeuge geweſen war, nicht Beweis genug, daß Cloten nach einer ganz anderen Seite hin in Anſpruch genommen und mit ſeinen eigenen Angelegenheiten vollauf beſchäftigt war?

Oswald ließ die Reihe der jungen Edelleute, deren Bekanntſchaft er auf dem Balle gemacht hatte, an ſeinem Geiſte vorübergehen, und ſein Verdacht blieb ſchließlich auf dem jungen Grafen Grieben haften, jenem langen, blonden Jüngling, der ſo komiſche An¬ ſtrengungen machte, den ſtarken Geiſt zu ſpielen und ſich die Gunſt der übermüthigen Emilie zu erwerben, und in beiden Bemühungen ſo unglücklich geweſen war. Er konnte am erſten der Erfinder der Phraſe von dem vom Glück begünſtigten Ritter ſein.

Was ſollte er thun? Sollte er ſich der vielleicht nichts weniger als edlen Rache der jungen Edelleute aus¬ ſetzen? ſollte er in einen Kampf gehen, in welchem er die Wahl der Waffen, der Zeugen, des Ortes, kurz Alles ſeinem Gegner zu überlaſſen gezwungen war? Konnte es ihm ein billig denkender Mann verargen, wenn er die Herausforderung eines Namenloſen unbeachtet ließ?

Aber hatte er es denn mit billig denkenden Män¬ nern zu thun? hatte er nicht die Erfahrung gemacht, bewies nicht Alles, was er ſah und hörte, daß in53 dieſen bevorzugten Kreiſen ſubjectives Belieben für Recht galt und die frivolſte Laune des Augenblicks die Richtſchnur des Handelns war? Fand ſich dieſer Zug nicht ſelbſt bei denen, welche Geiſt und Charakter ſo hoch über den gewöhnlichen Troß ihrer Standes¬ genoſſen erhob: bei Oldenburg und Melitta?

Und würde ihm ein Ablehnen der Herausforderung nicht als Feigheit, nicht als ein Mangel jenes feinen Ehrgefühls ausgelegt werden, auf welches ſich der Adel ſo viel zu Gute thut?

Nein, nein; er mußte den Fehdehandſchuh auf¬ nehmen, wie verächtlich auch die Hand ſein mochte, die ihm denſelben aus dem Dunkel heraus vor die Füße geſchleudert hatte. Er mußte den Junkern zeigen, daß er ſich nicht fürchtete, allein, ohne Freunde, waffen¬ los ihrer Rache gegenüber zu treten.

Sein Blut kochte. Er ging erregt im Zimmer auf und ab.

Nur zu, nur zu! murmelte er durch die Zähne; ich wollte, ſie ſtellten ſich mir gegenüber, einer nach dem andern, mein Haß würde mir die Kraft geben, ſie Alle niederzuſchmettern. Es iſt ganz recht ſo, ganz recht! Was habe ich hier zu thun unter dieſen Wölfen? Zerriſſen werden oder zerreißen das hätte ich mir von vornherein ſagen können.

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Oswald fühlte, wie aus dem tiefſten Grunde ſeiner Seele, in den ſein Auge noch nie gedrungen war, es aufſtieg mit dämoniſcher Gewalt. Eine wilde Leiden¬ ſchaft, ein heißer Durſt nach Rache, ein wahnſinniges Verlangen, zu zerſtören, zu vernichten, erfaßte ihn; der ganze fanatiſche Haß gegen den Adel, den er als Knabe empfunden, wenn er ſeinem Vater in dem Garten hinter der Stadtmauer die Piſtolen lud, mit denen jener auf die Aſſe ſchoß, die eben ſo viele Her¬ zen von Adligen bedeuteten; wenn er auf der Schul¬ bank im Livius von dem Uebermuth der Tarquinier las, oder auf ſeiner Stube die thränenreiche Geſchichte der Emilia Galotti. Und das waren keine Märchen! Hier in dieſem Schloſſe, vielleicht in denſelben Zim¬ mern, die er jetzt bewohnte, war ein Opfer adliger Grauſamkeit verblutet; hier hatte die arme unglück¬ liche, ſchöne Marie mit tauſend heißen Thränen die Thorheit bezahlt, den Worten des adligen Verführers geglaubt zu haben.

Sie war als Opfer gefallen, denn ſie war ein ſchwaches Weib, und Thränen waren ihre Waffen, Thränen, die kein Erbarmen fanden. Dieſe Thränen waren noch nicht geſühnt. Wie? wenn er als Rächer für ſie aufſtände, wenn er dieſe Thränen eines Bür¬ germädchens ſühnte in dem Blut eines Adligen? ...

55

Solche Gedanken wirbelten durch Oswald's Ge¬ hirn, während er für den Fall eines ſchlimmen Aus¬ gangs den er übrigens ſonderbarer Weiſe kaum für möglich hielt, ſo ſchnell hatte er ſich in die Rolle eines Rächers gefunden einige flüchtige Vorberei¬ tungen traf, das heißt, die Briefe, von denen er nicht wünſchte, daß ſie jemals in fremde Hände fielen, ver¬ brannte und überhaupt etwas Ordnung in ſeine Pa¬ piere brachte; ſchließlich auch ein paar Zeilen an Pro¬ feſſor Berger ſchrieb, die er aber hernach wieder zer¬ riß und in den Ofen warf.

Tant de bruit pour une omelette, ſagte er; das Lumpenvolk iſt nicht werth, daß man ſeinethal¬ ſo viel Umſtände macht.

Mit Ungeduld erwartete er die bezeichnete Stunde.

Es ſchlug zehn auf der Schloßuhr. Er hörte, daß die Leute zu Bette gingen, auch aus Albert's Zimmer ſchimmerte Licht in den dunklen Garten hinab. Es ſchlug halb elf. Oswald machte ſorgfältig Toilette, nahm eine Roſe aus einem Blumenſtrauß, den er ſich heute im Garten gepflückt hatte, und ſteckte ſie ins Knopfloch.

Dann ging er leiſe aus ſeinem Zimmer die enge Treppe, auf welcher Marie in jener ſtürmiſchen Herbſt¬ nacht ſich aus dem Schloß geſtohlen hatte, hinab in56 den Garten, durch den Garten nach dem Gitterthor, welches neben dem Schloß auf den Hof führte und von dem man nur noch ein paar Schritte zu dem kleinen Thor hatte, vor welchem ihn der Wagen er¬ warten ſollte.

Der nächtliche Himmel war mit Wolkendunſt be¬ deckt, durch welchen nur ſpärliche Sterne leuchteten; es war ſo finſter, daß Oswald, bis ſich ſein Auge an das Dunkel gewöhnt hatte, den ſo bekannten Weg mit Vorſicht gehen mußte, um nicht rechts oder links in den Graben zu gerathen.

Plötzlich tauchte ein großer Gegenſtand aus dem Dunkel vor ihm auf, und in demſelben Augenblick rief eine tiefe, rauhe Stimme: qui vive!

Moi , antwortete Oswald.

Er ſah die deutlichen Umriſſe einer langen Geſtalt, die ihm die Thür des Wagens öffnete und den Schlag herabließ.

Sobald er eingeſtiegen war, wurde die Thür hin¬ ter ihm geſchloſſen und ſofort zogen auch die Pferde an; er konnte nicht erkennen, ob die Geſtalt neben dem Kutſcher Platz genommen hatte, oder der Kutſcher ſelbſt war.

Kutſcher und Pferde mußten den Weg ſehr genau kennen, oder in dunkler Nacht ſo gut ſehen können,57 wie am hellen Tage; denn der Wagen bewegte ſich mit einer Schnelligkeit, gegen die ſelbſt ein ungedul¬ diger Liebender nichts hätte einwenden können. Der Weg war gut, und wenn auch hie oder da ein Stein im Geleiſe lag, ſo hing der Wagen in ſo vortreff¬ lichen Federn, daß man den dadurch verurſachten Stoß kaum ſpürte.

Oswald lehnte ſich in die ſchwellenden Kiſſen. Der weiche Sammet ſchien einen feinen Wohlgeruch auszuſtrömen, der den engen Raum erfüllte, wie das Boudoir einer hübſchen Frau. Ja, es war Oswald, als ob es daſſelbe Parfüm ſei, das Melitta zu führen gewohnt war. Und plötzlich war es ihm, als ſäße Melitta neben ihm, als berühre ihre warme weiche Hand ſeine Hand, als fühlte er das Wehen ihres Athems an ſeiner Stirn, als legten ſich ihre Lippen leicht wie ein Hauch auf ſeinen Mund.

Und vor dieſem wonnigen Traum verſank die Wirklichkeit in nichts. Oswald vergaß, was er vor¬ hatte; er dachte nicht daran, was ſeiner harrte; er wußte nicht mehr, wo er war und nur ſie, ſie allein erfüllte ſeine ganze Seele. Wie eine Sturm¬ fluth von Seligkeit überkam ihn die Erinnerung an ihren Liebreiz, ihre Güte, ihre holde Rede und ihren ſüßen Kuß. Mit wunderbarer Klarheit zogen die köſt¬58 lichen Bilder der einzig wonnigen Stunden, die er an ihrer Seite, zu ihren Füßen verlebt hatte, durch ſeine Erinnerung, von jener erſten Begegnung auf dem Raſenplatze hinter dem Schloſſe von Grenwitz bis zu dem Augenblick, wo ſie, mit Thränen in den lieben Augen, ſich von ihm wandte in jener Nacht unſeligen Angedenkens, wo der Dämon der Eiferſucht die ſcharfen Krallen in ſein zuckendes Herz ſchlug.

Vergieb mir, Melitta; vergieb mir! ſtöhnte er, ſeinen Kopf in die Kiſſen drückend.

Da plötzlich hielt der Wagen. Die Thür wurde aufgeriſſen; die lange Geſtalt, die ihm den Schlag herabgelaſſen hatte, half ihm ausſteigen, reichte ihm die Hand, führte ihn einige Stufen hinauf zu einer hohen Fenſterthür, durch deren rothe Vorhänge ein mattes Licht ſchimmerte. Die Thür that ſich auf, und Oswald ſah ſich in dem Gartenſaal von Melit¬ ta's Schloß und Melitta ſchlang ihre Arme um ſeinen Hals und Melitta's Stimme flüſterte: ver¬ gieb mir, Oswald! vergieb mir!

Du Grauſamer! ſagte Melitta, als der erſte wilde Sturm des Entzückens mit ſeinen Thränen¬ ſchauern der Wonne vorübergebrauſt war; wie haſt Du nur ſo viele Tage Dein Herz vor mir verſchlie¬59 ßen können, und wußteſt doch, daß ich da draußen ſtand und um Einlaß bettelte! Aber ich will Dich nicht ſchelten. Du biſt ja hier und nun iſt Alles wieder gut.

Sie legte ihren Kopf an ſeine Bruſt und ſchaute durch Thränen lächelnd zu ihm empor: nicht wahr, lieb Herz, nun iſt Alles wieder gut? nun iſt Melitta wieder, was ſie Dir vorher war, was ſie Dir ewig ſein wird trotz aller hübſchen ſechzehnjährigen Mäd¬ chen, ſie mögen Emilie heißen oder

Melitta!

Oder Melitta! denn es giebt nur eine Melitta und wenn tauſend ſo hießen und dieſe eine bin ich. Und daß Du dieſen wichtigen Umſtand vergeſſen konn¬ teſt, welche Umſtände haſt Du mir dadurch bereitet, mir und dem armen alten Baumann! Ich will von mir nichts ſagen, denn Leid will Freud und Freud will Leid haben, und wenn man rechtſchaffen liebt, kommt es auf ein paar Thränen, ein paar durch¬ wachte Nächte, ein paar angefangene und wieder zer¬ riſſene Briefe mehr oder weniger nicht an; aber der arme Baumann! Denke Dir nur! ich war am erſten Tage ganz ruhig, denn ich dachte: er wird ſchon kom¬ men, und Dich fußfällig um Verzeihung bitten; als Du aber nicht kamſt, nicht am zweiten, nicht am drit¬60 ten Tage, da ſank mir der Muth und ich mag wohl recht troſtlos ausgeſehen haben, denn wie ich hier, den Kopf aufgeſtützt ſaß, fühlte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter und als ich aufſchaue, ſteht der gute alte Baumann da und ſagt: ſoll ich einmal nachſehen, wo er ſo lange bleibt? Ach ja, lieber Baumann , ſagte ich. Da ging die treue Seele, ohne weiter ein Wort zu ſagen fort, und kam erſt ſpät am Abend wieder. Hat Er ihn geſehen? Zu Be¬ fehl; er iſt wohl und munter; ich bin mit ihm in die Wette geritten.

So war der alte Baumann der geheimnißvolle Reiter?

Natürlich und er lachte in ſeiner ſtillen Weiſe, wie er erzählte, daß Ihr ihn gejagt hättet, als wollte er ſagen: dieſe Kinder! dachten, ſie könnten mich über¬ holen auf dem Brownlock!

Das war der Brownlock, von dem mir Bruno ſchon ſo viel vorgeſchwärmt hat; ja freilich! nun er¬ klärt ſich Alles!

Nicht wahr? nun erklärt ſich auch, weshalb ſich Baumann hinſetzte und nach meinem Dictat den Brief ſchrieb. Der Alte wollte nicht und ſagte: ein Duell iſt kein Kinderſpiel und das heißt den Scherz zu weit treiben; aber ich lachte und weinte, bis er es61 doch that und heute Morgen noch einmal auf den Brownlock ſtieg und in die Stadt ritt, und heute Abend nach Grenwitz fuhr.

Und wenn ich nun der Herausforderung nicht ge¬ folgt wäre?

Das deutete auch Baumann an und ich antwor¬ tete ihm: ſchäme Er ſich, Baumann, ſo etwas zu ſagen.

Oswald lachte: Natürlich! wir müſſen uns jedes Mal ſchämen, ſo oft wir etwas ſagen oder thun, was nicht in die Welt paßt, wie ſie ſich in Euren Köpfen malt.

Melitta antwortete nicht und Oswald ſah, daß ein Schatten über ihr Geſicht flog. Er ließ ſich vor ihr auf ein Knie nieder und ſagte, ihre herabhängende Hand ergreifend:

Habe ich Dich beleidigt, Melitta?

Nein , ſagte ſie; aber dieſe Bemerkung hätteſt Du vor acht Tagen nicht gemacht.

Wie meinſt Du das?

Komm, ſteh auf! laß uns ein wenig in den Gar¬ ten gehen. Es iſt ſo ſchwül in den Zimmern: mich verlangt nach der kühlen Nachluft.

Sie gingen hinab in den Garten und wanderten Arm in Arm zwiſchen den Beeten, bis ſie zu der nie¬62 drigen Erdterraſſe gelangten, wo Oswald, als er an jenem Sonntag Nachmittag den Beſuch auf Berkow machte, Melitta getroffen hatte. Sie ſetzten ſich unter den Tannenbaum, der ſeine Aeſte ſchützend über ſie breitete, auf eine der Bänke. Die Nacht war laut¬ los ſtill; die Bäume ſtanden unbeweglich, wie in tie¬ fem Schlaf; würziger Blumenduft erfüllte die warme thauloſe Luft; Glühwürmchen irrten wie leuchtende Sterne durch das Dunkel.

Du haſt mir auf meine Frage noch immer nicht geantwortet, Melitta? ſagte Oswald, was haben denn die letzten acht Tage an mir verändert? bin ich nicht mehr derſelbe, der ich war, nur daß die bittere Reue, Dir weh gethan zu haben, meine Liebe zu Dir nur noch tiefer und inniger gemacht hat?

Melitta antwortete nicht; plötzlich ſagte ſie, ſchnell und leiſe:

Biſt Du ſeit dem Sonntag in Barnewitz oft mit ihm zuſammengeweſen?

Mit wem, Melitta?

Nun mit mit Baron Oldenburg. Gott ſei Dank, nun iſt es endlich heraus! Es iſt recht kindiſch und thöricht, daß ich mich bis jetzt ſtets geſträubt habe, Oldenburgs zu erwähnen, und Dir zu ſagen, welches meine Beziehungen zu dem Manne waren,63 und doch fühlte ich, daß Du ein Recht hatteſt, es zu wiſſen, und daß ich die Pflicht habe, von meiner Ver¬ gangenheit, wo ſie Dir dunkel ſcheinen muß, den Schleier zu heben. Dies Gefühl wurde zuletzt, be¬ ſonders, als ich ſeit geſtern wußte, daß Du mit dem Baron auf einem intimen Fuße ſtandeſt, ſo ſtark, daß ich Dich um jeden Preis hier zu haben wünſchte, und da verfiel ich denn auf den kindiſch dummen Einfall.

Ich habe nicht, wie Du ſagſt, das Recht zu einer ſolchen Neugier, Melitta; antwortete Oswald. Für die Liebe, die Du mir gewährſt, muß ich dankbar ſein und bin ich dankbar, wie für eine holde Gnade des Himmels. Ja, ich geſtehe, es gab eine Zeit, wo meine Liebe noch den Zweifel kannte, aber da war ſie noch nicht die echte Liebe. Jetzt iſt es mir undenkbar, ich könnte je aufhören Dich zu lieben, und Deine Liebe könnte jemals aufhören. Ja, es iſt mir, als ob dieſe Liebe, wie ſie ewig ſein wird, auch ſchon von Ewigkeit geweſen wäre. Ob Du ſchon früher geliebt haſt, ich weiß es nicht; es iſt möglich, aber ich verſtehe es nicht und würde es nicht verſtehen, wenn Du es mich auch ausdrücklich verſicherteſt.

Und ich verſichre Dich, ſagte Melitta, ſich zärt¬ an den Geliebten ſchmiegend; ich habe nie geliebt.64 bis ich Dich ſah; denn, was ich früher Liebe nannte, war nur die unbefriedigte Sehnſucht nach einem Ideal, das ich im tiefſten Herzen trug, das ſich mir niemals zeigen wollte, und das, jemals zu finden, ich ſchon ſeit Jahren die Hoffnung aufgegeben hatte.

Und Du glaubſt, ich ſei dies verkörperte Ideal? Arme Melitta! wie bald wirſt Du aus dieſem Traum erwachen! Erwache, Melitta! erwache noch iſt es Zeit!

Nein, Oswald, es iſt zu ſpät. Es giebt eine Liebe, die ſtark iſt wie der Tod, und aus ihr giebt es kein Erwachen. Nein! kein Erwachen! Ich fühle es, ich weiß es. Und wenn Du Dein Antlitz von mir wendeteſt, und wenn Du mich von Dir ſtießeſt Dir gegenüber habe ich keinen gekränkten Stolz, keine verletzte Eitelkeit nur Liebe, unergründliche, unermeßliche, unerſchöpfliche Liebe. Bis jetzt wußte ich nur, daß ich lieben könne; wie ſehr ich lieben könne, haſt Du mich erſt gelehrt ....

Und nun kann ich auch ruhig über die Zeit ſprechen, in der ich Dich noch nicht kannte denn jenes Leben war nur ein Scheinleben und Alles, was ich fühlte und dachte, war nur ein unbeſtimmtes Träumen ohne Zuſammenhang und Sinn. Jetzt weiß ich es, jetzt, wo ich in dem Sonnenſtrahl Deiner65 Liebe die Augen aufſchlug und nun das Leben ſo durchſichtig klar vor mir liegt, daß mir die dichte Nacht, die uns umgiebt, heller däucht, wie ſonſt der lichteſte Tag, und die dunkelſten Räthſel meines Her¬ zens gelöſt ſind. Jetzt kann ich von der Melitta der früheren Zeit ſprechen, wie von einem fremden We¬ ſen, für deſſen Thun und Laſſen ich mich nicht ver¬ antwortlich fühle; jetzt kann und will ich Dir erzäh¬ len, was es für eine Bewandniß mit dem Bilde in meinem Album hat, dem losgelöſten Blatt, deſſen Vor¬ handenſein Dich damals ſo erſchreckte, liebes Herz. Ja, ja, ich hab es wol bemerkt Du entfärbteſt Dich und konnteſt nicht faſſen, wie ich Dich um Dein Urtheil über den Mann befragen konnte, den Du für meinen Geliebten halten mußteſt. Und doch war das Oldenburg nie, oder es müßte in der Liebe tau¬ ſend Grade geben, von denen der niedrigſte von dem höchſten ſo weit entfernt iſt, wie die Erde von dem Himmel.

Ich kannte Oldenburg ſchon von meiner früheſten Kindheit an. Salchow, das Gut meines Vaters, grenzt an Cona, wo Du geſtern warſt. Meine Tante, die nach dem frühen Tode meiner Mutter meine Er¬ ziehung leitete, und Oldenburg's Mutter waren ſehr gute Freundinnen und kamen faſt täglich zuſammen. F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 566Natürlich auch wir Kinder. Oldenburg war ein paar Jahre älter als ich, aber da die Mädchen den Knaben ſtets in der Entwickelung voraus ſind, ſo wurde der Unterſchied des Alters von uns nicht empfunden, wir ſpielten und arbeiteten zuſammen, und hielten gute Kameradſchaft für gewöhnlich; denn es kam auch manchmal zu heftigem Wortwechſel und Zank und Thränen. Ich gab ſelten Veranlaſſung dazu, denn ich war wenig rechthaberiſch und ſtets zu Conceſſionen bereit, aber Adalbert war über die Maßen empfind¬ lich, ſtörriſch und eigenwillig. Die Doppelnatur ſeines Weſens, die er ſpäter auszugleichen ſich be¬ mühte und vor weniger Scharfſichtigen auch meiſtens zu verbergen wußte, lag damals offen zu Tage. Es war unmöglich, ſich nicht für ihn zu intereſſiren, aber ich glaube, es gab Niemanden, der ihn wirklich liebte. Er fühlte das, und dies Gefühl, welches er wie eine geheime Wunde ſtets mit ſich herumtrug, machte ihn ſchon ſehr früh zu einem Hypochonder und Menſchen feind. Was half es ihm, daß Jedermann ſeine emi¬ nenten Gaben bewunderte, daß Niemand an ſeinem Muth, ſeiner Wahrheitsliebe zweifelte! ſein ſtörriſches, eigenſinniges Weſen ſtieß Alle zurück, verletzte Alle; ja ſelbſt ſeine lange, unſchöne Geſtalt und ſeine täp¬ piſchen, linkiſchen Bewegungen trugen dazu bei, die67 Herzen der Menſchen von ihm zu wenden. Wenigſtens war es ſo bei mir, da ich mich von Jugend auf zu allem, was ſchön und anmuthig war, unwiderſtehlich hingezogen fühlte, und einen wahren Abſcheu vor dem Häßlichen und Formloſen hatte. Ich konnte mich nicht überwinden, Adalbert zu lieben, obgleich er mit großer, aber freilich ſtets hinter Schroffheit und Kälte ſorg¬ ſam verſteckter Zärtlichkeit an mir hing und manch¬ mal, wenn ſeine Leidenſchaftlichkeit über die künſtliche Ruhe, die er zur Schau trug, ſiegte, mir in den herbſten, bitterſten Ausdrücken meine Liebloſigkeit, meinen Leichtſinn, meinen Wankelmuth vorwarf.

Dies Verhältniß blieb, bis Adalbert mit ſechzehn Jahren das Gymnaſium bezog, denn er hatte es bei ſeinem Vormunde ſeine Mutter war jetzt auch ge¬ ſtorben durchgeſetzt, daß er ſtudiren durſte. Er kam nur noch ſelten und immer nur auf wenige Tage nach Cona. Dann war ich zwei Jahre lang in Pen¬ ſion. So kam es, daß wir uns, bis er nach Heidel¬ berg ging, nur im Vorübergehen ſahen. Als er von der Univerſität und ſeiner erſten größeren Reiſe zu¬ rückkehrte, war ich ſchon zwei Jahre verheirathet ge¬ weſen.

Es dauerte eine geraume Zeit, bis er einen Be¬ ſuch auf Berkow machte. Unſer Wiederſehen war5*68eigenthümlich genug. Er ſchien den ganzen, ſo verän¬ derten Zuſtand nur als ein fait accompli hinzu¬ nehmen, dem man ſich beugt, weil man muß. Er beläſtigte mich nicht mit Fragen; er verlangte keine vertrauliche Mittheilung, auf die der einzige Freund meiner Kinder - und Mädchenjahre doch wohl An¬ ſpruch hatte. Er machte mir auch keine Vorwürfe; er ſagte mir nicht, daß er mich geliebt, daß er auf meine Hand gehofft hatte, obgleich ich nachher erfuhr, daß dies doch der Fall geweſen, und daß er, als ihn die Nachricht von meiner Verheirathung in Heidel¬ berg traf, faſt in Raſerei gefallen war und wochen¬ lang, monatelang an einer unbeſieglichen Schwermuth gekrankt hatte. Er ſuchte ſich durch eigene Beobach¬ tung ein möglichſt klares Bild meines jetzigen Ver¬ hältniſſes zu verſchaffen. Ich ſah, daß ihm nichts entging, daß keine meiner Aeußerungen von ihm un¬ berückſichtigt, keine meiner Mienen von ihm unbeobach¬ tet blieb. Dieſes Bewußtſein, unter der Controle eines ſo ſcharfſichtigen Auges zu ſtehen, war nichts weniger als behaglich, zumal wenn, wie in dieſem Falle, ſo Vieles hätte anders ſein können, anders ſein müſſen. Es trat bald wieder daſſelbe Verhält¬ niß ein, welches früher zwiſchen uns geherrſcht hatte, nur daß die heftigen Scenen wegblieben, die damals69 durch ſeine Leidenſchaft gelegentlich herbeigeführt wur¬ den. Wie er mir früher alle hübſchen Muſcheln, Steine und Blumen, die er am Strande, zwiſchen den Klippen, auf den Wieſen gefunden hatte, zutrug, ſo theilte er mir jetzt alles mit, was er Intereſſantes auf den vielen Feldern des Wiſſens, auf denen ſich ſein unerſättlicher und unermüdlicher Geiſt umhertrieb, entdecken konnte: bald ein ſchönes Gedicht, bald eine tiefſinnige Sentenz, und er empfand es jetzt nicht weniger ſchmerzlich, daß ich mit den geiſtigen Schätzen nicht haushälteriſcher umging, als mit den Blumen, die ich vertrocknen ließ, und den Steinen und Muſcheln, die ich wegwarf. Ich wußte, daß ich keinen treueren Freund hatte, als ihn, und er, daß ſich in das Ge¬ fühl, welches ich für ihn empfand, auch nicht die min¬ deſte Liebe miſchte; um ſo uneigennütziger war ſeine Freundſchaft, und um ſo unverantwortlicher die Lau¬ nenhaftigkeit, mit der ich ihn behandelte.

Seine Freundſchaft ſollte bald eine traurige Ge¬ legenheit finden, ſich zu bethätigen. Die Schwermuth, in die Carlo kurz nach Julius Geburt gefallen war, nahm einen immer krankhafteren Charakter an. Aus¬ brüche einer unberechenbaren Laune, die Vorboten der letzten fürchterlichen Kataſtrophe, wurden immer häu¬ figer. Er wollte jetzt Niemand um ſich haben, als70 Adalbert, was um ſo auffallender war, als er, der Lebemann, den tiefſinnigen, melancholiſchen, und um ſo viel jüngeren Baron den Jüngling von Sais nannte er ihn früher ſtets verlacht, verſpottet und eigentlich wohl gehaßt hatte. Jetzt begleitete er ihn auf Tritt und Schritt, jetzt war Oldenburg's Stimme die einzige, welche die finſtern Dämonen, die um ſein Haupt die Flügel ſchlugen, auf Augenblicke wenigſtens verſcheuchen konnte. Und die Aufopferung, mit der Oldenburg ſich dieſem Liebesdienſt unterzog, iſt nicht hoch genug anzuerkennen und ich müßte ſie ihm, ſo lange ich lebe, danken. Dann kam die Kataſtrophe. Oldenburg ſtand mir in dieſen ſchweren Tagen treu zur Seite; oder genauer: er nahm alle Laſt und Ver¬ antwortung ſo ganz auf ſich und leitete Alles mit ſolcher Energie und Umſicht, daß ich nur immer Ja zu ſagen hatte.

Carlo war in eine Anſtalt im ſüdlichen Deutſch¬ land gebracht und ich war allein hier auf Berkow, mich ganz der Erziehung meines Julius, der damals fünf Jahre alt war, und dem ich auf Oldenburg's Rath ſchon jetzt in Bemperlein einen Freund und Lehrer gegeben hatte, widmend. Oldenburg kam jetzt ſeltener als früher, aber doch noch immer ſehr häufig, wie mir ſchien. Ich glaubte zu bemerken, daß ſich71 ein Ton von Zärtlichkeit in die Freundſchaft miſchte, die ich einzig von ihm wünſchte und erwartete; und kaum hatte ich dieſe Bemerkung gemacht, als ich mich ſchon berechtigt glaubte, ihn, ſo ſchonend wie möglich freilich, auf die allzugroße Häufigkeit ſeiner Beſuche aufmerkſam zu machen. Es war dies vielleicht ent¬ ſetzlich undankbar von mir; aber uns Frauen wird es auch entſetzlich ſchwer, gegen den dankbar zu ſein, den wir nicht lieben.

Den nächſten Tag ſchon war Oldenburg abgereiſt; Niemand wußte wohin. Dann wollte ihn ein halbes Jahr ſpäter Einer in London geſehen haben; ein An¬ derer ſah ihn ein Jahr darauf in Paris. Er war bald hier, bald dort, ruhelos umhergetrieben von ſeinem wilden Herzen und ſeinem unerſättlichen Wiſſensdurſt.

So waren vier Jahre verfloſſen, die in meinen Verhältniſſen ſehr wenig geändert hatten. Oldenburg's gedachte ich ſelten und immer wie eines Verſtorbenen. Da es iſt nun drei Jahre her ließ ich mich von meinem Vetter und meiner Couſine bereden, ſie auf der Reiſe nach Italien zu begleiten. Als wir eines Abends im Mondenſchein das Coliſeum beſuchten, ſtand plötzlich Oldenburg vor uns. Endlich! ſagte er leiſe, indem er mir die Hand drückte. Er wollte uns ganz zufällig getroffen haben; hernach geſtand er72 mir, daß er in Paris, ich weiß nicht durch wen? unſern Reiſeplan erfahren, uns ſchon von München aus verfolgt und immer verfehlt habe, bis es ihm endlich hier gelang, uns einzuholen. Ich muß ge¬ ſtehen, daß ich mich über dies Zuſammentreffen auf¬ richtig freute und es mit einiger Genugthuung em¬ pfand, daß es kein zufälliges war. Es vereinigte ſich Alles, um Oldenburg bei mir einen guten Empfang zu bereiten. Man ſchließt ſich auf Reiſen ſelbſt an Fremde leicht an: wie ſollte uns der Freund unſerer Jugend, wenn wir ihn plötzlich in fernen Landen treffen, nicht willkommen ſein? Oldenburg hatte Ita¬ lien ſchon mehrmals bereiſt und kannte jeden Meiſter von jedem Altargemälde in jeder Kloſterkirche Seine lehrreiche Unterhaltung ſtach gegen das banale Ge¬ ſchwätz meiner Verwandten gar ſehr zu ſeinem Vor¬ theile ab, und dazu kam, daß Oldenburg durch die vielfache Berührung mit der feinſten Geſellſchaft jetzt die ſchroffen und rauhen Seiten ſeines Weſens be¬ deutend abgeſchliffen hatte. Sein Auftreten war, wie Du es jetzt ſiehſt, das heißt, bei aller bis an Nach¬ läſſigkeit ſtreifenden Ungezwungenheit, doch im ſchönſten Sinne des Wortes ariſtokratiſch. Mit einem Worte: er machte jetzt einen Eindruck auf mich, den ich früher nie für möglich gehalten hätte. Es war nicht Liebe,73 was ich für ihn empfand, aber es war doch auch mehr als die kühle Freundſchaft, welche ich ihm bis jetzt entgegengebracht hatte. Aber ſeltſam, in dem¬ ſelben Maße, in welchem ich die geheime Antipathie, die ich ſchon von meinen Kinderjahren her gegen ihn hatte, einer beinahe herzlichen Zuneigung weichen fühlte, wurde ſein Benehmen gegen mich ſchroffer und kälter. Er richtete ſeine Unterhaltung, wenn wir beiſammen waren, faſt ausſchließlich an meine Couſine und be¬ handelte mich wie ein verzogenes Kind, dem man den Willen thut, nur damit es nicht anfängt zu weinen. Das verletzte meine Eitelkeit und dieſer verletzten Eitel¬ keit und der Eiferſucht, die ich gegen meine Couſine empfand, zu Liebe, legte ich es ernſtlich darauf an, mir Oldenburg's Zuneigung, die ich durch eine mir unbekannte Urſache verloren zu haben glaubte, wieder zu gewinnen. Das bewirkte alsbald eine völlige Um¬ wandlung in Oldenburg's Betragen. Er überſchüttete mich jetzt mit Aufmerkſamkeiten, er ſchien Hortenſe vollkommen vergeſſen zu haben, und ſobald wir allein waren, zeigte er eine Leidenſchaft, die mich zuerſt in Verwunderung und dann in Schrecken ſetzte. Dabei wußte er jeder eigentlichen Erklärung ſorgfältig aus¬ zuweichen und mich ſtets in Zweifel zu erhalten, ob dies nur eine ſeiner tollen Launen war, die er ge¬74 legentlich annimmt und ablegt, wie ein Kleid, oder der Ausdruck einer wirklichen tiefgewurzelten Neigung. Es war unmöglich, Oldenburg in dieſer Zeit nicht zu bewundern. Sein Genius zeigte ſich glänzender, wie je zuvor; die Fülle von Geiſt, die er verſchwenderiſch entfaltete, war in der That außerordentlich. Er war die Seele jeder Geſellſchaft; man riß ſich förmlich um ihn, und da er franzöſiſch, engliſch, italieniſch und ich weiß nicht, wie viel Sprachen außerdem, ſo gut wie deutſch ſpricht, ſo ſchien jede Nation ihn als einen der ihrigen anſehen zu dürfen und zu wollen. Wenn er nun mich zur Königin jedes Feſtes machte, wenn er Alle zwang, mir zu huldigen, wenn er alle Schätze ſeines reichen Geiſtes mir entfaltete, um ſie mir zu Füßen zu legen, ſo iſt es wol natürlich, daß ich da¬ gegen nicht gleichgültig bleiben konnte, daß ich mir eine kurze Zeit lang einbildete, ihn zu lieben. Ohne ihn geradezu aufzumuntern, ließ ich ihn doch gewähren, wenn er mich in Augenblicken, wo wir allein waren, mit dem vertraulichen Du unſerer Kinderjahre an¬ redete, wenn er in Geſellſchaft mir jene Aufmerkſam¬ keiten erwies, die man ſonſt nur von einem erklärten Liebhaber entgegenzunehmen gewohnt iſt.

Still, Melitta, mir war, als hörte ich Jemand im Garten.

75

Ich hörte nichts.

Sind wir hier auch vor jeder Störung ſicher?

Vollkommen. Indeſſen, laß uns in's Haus zurück¬ kehren; mir däucht, der Nachtthau beginnt zu fallen.

Sie erhoben ſich und gingen Arm in Arm nach der Treppe, die von der Terraſſe in den Garten führte. Als ſie die letzte Stufe hinabſtiegen, ſtand plötzlich ein Mann vor ihnen. Das Zuſammentreffen war für Oswald und Melitta ſo unerwartet, daß ſie unwillkürlich zurückzuckten. Indeſſen war an ein Aus¬ weichen nicht mehr zu denken, und überdies hatte Herr Bemperlein denn Niemand anderes war es ſie ſchon erkannt, denn die Sterne leuchteten jetzt in voller Pracht, und aus den Fenſtern des Gartenſaales fiel ein Lichtſchimmer den Gang hinab, gerade in die Ge¬ ſichter der Beiden.

Mein Gott, gnädige Frau, wie kommen Sie hier¬ her? rief Herr Bemperlein.

Ich gebe die Frage zurück, ſagte Melitta, und dann zu Oswald, deſſen Arm ſie nicht losgelaſſen hatte, leiſe: Sei ruhig, Herz; er verräth uns nicht.

Es iſt doch Julius kein Unglück zugeſtoßen? Sprechen Sie, lieber Bemperlein, ich habe keine Ge¬ heimniſſe vor Oswald.

Herr Bemperlein ergriff Oswald's Hand und76 drückte ſie, als wollte er ſagen: ich weiß jetzt Alles, rechnet auf mich.

Nein, ſagte er; Julius iſt wohl und munter, aber ich bekam heute einen Brief von Dr. Birkenhain, dem zufolge es mit dem Befinden Herrn von Berkow's ſo ſchlecht ſteht, daß man täglich ſein Ende erwartet. Seltſamer Weiſe iſt er bei vollkommener Beſinnung und verlangt dringend nach Ihnen. Dr. Birkenhain hielt es für ſeine Pflicht, Ihnen dieſen Wunſch eines Sterbenden mitzutheilen. Jedenfalls wird dies der Inhalt des eingelegten Briefes an Sie ſein. Ich habe ihn ſelbſt gebracht, damit Sie ſofort über meine Dienſte verfügen könnten, im Falle Sie ſich zu einer Reiſe entſchließen ſollten. Der Wagen, in welchem ich gekommen bin, wird jetzt wol ſchon vor dem Hauſe halten; ich hatte den kürzeren Weg durch den Garten vorgezogen.

Die Drei waren in den Gartenſaal getreten. Me¬ litta hatte Oswald's Arm losgelaſſen und ſich der Lampe genähert, den Brief zu leſen, welchen Bem¬ perlein ihr überbracht hatte. Oswald ſah, daß ſie ſehr blaß geworden war, und daß ihre Hand, die den Brief hielt, zitterte. Bemperlein ſtand, den Blick von Melitta auf Oswald, von Oswald auf Melitta wendend, da, wie Jemand, der, aus einem ſchweren77 Schlaf erwachend, ſich noch nicht von der Wirklichkeit deſſen, was er vor ſeinen Augen ſieht, überzeugen kann.

Melitta hatte den Brief geleſen: Da, Oswald, ſagte ſie, lies und ſage, was ſoll ich thun.

Oswald durchflog das Schreiben, welches, wie Bemperlein ſchon geſagt hatte, Melitta auffor¬ derte, ſich ſofort auf den Weg zu machen, falls ſie den ſterbenden Gatten noch einmal zu ſprechen wünſche.

Du mußt reiſen, Melitta, ohne Frage, ſagte Oswald, den Brief wieder zuſammenfaltend. Du würdeſt es Dir nie vergeben können, wollteſt Du jetzt dieſe Pflicht nicht erfüllen.

Melitta warf ſich ſtürmiſch in die Arme ihres Ge¬ liebten: Es war von vornherein mein Wille zu reiſen; ich wollte ihn nur von Dir beſtätigt hören, ſagte ſie. Ich reiſe noch in dieſer Nacht, noch in dieſer Stunde. Wollen Sie mich begleiten, lieber Bem¬ perlein?

Ich bin in dieſer Abſicht hierher gekommen, gnä¬ dige Frau, ſagte Herr Bemperlein, und habe den Reiſeplan ſchon entworfen. Wenn wir in einer Stunde etwa aufbrechen, ſind wir noch vor Sonnenaufgang an der Fähre. Drüben nehmen wir Extrapoſt bis P.,78 von da Eiſenbahn. So ſind wir übermorgen Nacht ſpäteſtens an Ort und Stelle.

Sie guter, treuer Freund, ſagte Melitta, Bem¬ perlein's beide Hände in die ihren nehmend und herz¬ lich drückend.

Bitte, bitte, gnädige Frau! rief Herr Bemper¬ lein, ganz im Gegentheil, wollte ſagen, nur meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.

Ich will mich ſogleich zur Reiſe fertig machen, ſagte Melitta, ein Licht ergreifend. Bleibe ruhig hier, Oswald. Wenn Jemand von den Leuten Dich ſehen ſollte, biſt Du mit Bemperlein gekommen; es wird Dich aber Niemand ſehen.

Melitta hatte das Zimmer verlaſſen. Bald hörte man in dem eben noch ſo ſtillen Hauſe das Geräuſch von eiligen Schritten, von Thüren, die haſtig auf - und wieder zugemacht wurden, von dumpfen Stimmen, die ängſtlich durcheinander ſprachen.

Von den beiden Männern wagte in den erſten Minuten keiner das Schweigen zu brechen. Beide fühlten das Wunderliche der Situation, in die ſie ſo urplötzlich gerathen waren; vor allem Bemperlein, der ſich innerlich noch immer nicht von ſeinem tiefen Er¬ ſtaunen erholen konnte. Melitta ſtand in ſeinen Augen ſo unerreichbar hoch da, daß er ſchlechterdings79 nicht zu begreifen vermochte, wie es irgend einem Sterblichen gelingen könnte, ſich zu dieſer Höhe zu erheben, und auf der andern Seite war er ſeit vielen Jahren ſo daran gewöhnt, Alles, was ſie that, für gut und recht und unverbeſſerlich zu halten, daß er von dieſer Regel ſelbſt jetzt eine Ausnahme zu machen nicht den Muth hatte.

Wir ſehen uns auf eine gar ſeltſame Weiſe wie¬ der, Herr Bemperlein, ſagte Oswald endlich.

Ja wohl, ja wohl! ſagte Herr Bemper¬ lein. Mein Kommen war weder erwartet, noch er¬ wünſcht, ich begreife das vollkommen die arme gnädige Frau! aber welchen Muth ſie hat, welche Schnelligkeit des Entſchluſſes! ich habe es ja immer geſagt: ſie iſt aus beſſerem Stoffe, als wir an¬ deren Menſchenkinder. Ein wahres Glück, daß Dr. Birkenhain den geſcheidten Einfall hatte, nicht direct an ſie zu ſchreiben. So kann ich, wenn auch nicht viel, doch etwas wenigſtens zu ihrer Unterſtützung thun.

Sie Glücklicher! ſagte Oswald. Sie dürfen für ſie wirken und ſchaffen; und ich kann nichts thun, nichts als ihr eine glückliche Reiſe wünſchen und ſo¬ dann die Hände müßig in den Schooß legen.

Ich bedaure Sie von ganzem Herzen, wahr¬80 haſtig, ſagte Herr Bemperlein. Es iſt eine ſchwere Aufgabe, die Ihnen zugemuthet wird; aber wo viel Licht iſt, da iſt auch viel Schatten. Wir werden fleißig ſchreiben Sie ſollen von jedem Schritte, den wir thun, Nachricht erhalten. Und dann hoffe ich, daß unſere Reiſe nicht lange dauert, und vor allem, daß Herr von Berkow ſchon geſtorben iſt, wenn wir in N. angekommen.

Das hoffen Sie? und doch ſcheinen Sie dieſe Reiſe für nothwendig zu halten?

Gewiß, ſagte Herr Bemperlein. Es giebt ge¬ wiſſe traurige Pflichten, die man erfüllen muß, nicht der Welt wegen, die uns nicht ſchelten könnte und ſchelten würde, wollten wir ſie unerfüllt laſſen; nicht des Andern wegen, dem unſere Opferfreudigkeit zugute kommt, und den wir vielleicht weder lieben noch achten, ſondern um der Achtung willen, die wir vor uns ſelber haben. Doch was demonſtrire ich Ihnen noch lange vor, was Sie ſo gut und noch beſſer wiſſen wie ich. Sie haben ja auch zu dieſer Reiſe gerathen, obgleich Sie doch am meiſten dabei verlieren. Es muß eine ſchauerliche Empfindung ſein, ſo plötzlich aus allen ſeinen Himmeln geriſſen zu werden. Seltſam! ſeltſam! je länger ich über dies Alles nachdenke, deſto begreiflicher wird es mir. Ja, ja daß Sie81 die herrliche Frau lieben, das iſt ja ſo natürlich, ſo ich möchte ſagen: logiſch das Gegentheil würde baarer Unſinn ſein: Es muß ſie Jeder lieben, und um ſo mehr lieben, je edler ſein Herz, je empfäng¬ licher ſeine Seele für das Gute und Schöne iſt. Ihr Herz iſt edel, Ihre Seele klingt harmoniſch mit allem Schönen zuſammen; ſo müſſen Sie auch dieſe ſchönſte und beſte Frau von ganzem Herzen, von ganzer Seele lieben. Und auf der anderen Seite: iſt ſie nicht frei? wenn auch nicht vor den Menſchen, ſo doch vor dem Richter, der in's Verborgene ſieht? hat ſie ihren Gemahl jemals geliebt? konnte ſie ihn lieben, dem ſie verkauft wurde um ſchnödes Geld verkauft von dem eigenen Vater, als ſie noch viel zu jung und unſchuldig war, das Bubenſtück auch nur zu ahnen, geſchweige denn zu durchſchauen? O! mein Blut kocht, wenn ich daran denke! nein, nein! ſie durfte Sie lieben, ſie mußte Sie lieben, ſie, deren Herz ganz Liebe und Güte iſt. Ich freue mich, daß es ſo ge¬ kommen iſt, ich wünſche Ihnen Glück von ganzem Herzen. Ich bin ein einfacher, unbedeutender Menſch und würde im Gefühl dieſer meiner Unbedeutenheit nimmer den Blick zu ſolcher Höhe zu erheben wagen; aber, wenn ich einen Andern kühn und ſtolz auf dieſer Höhe wandeln ſehe, ſo erfüllt das meine Bruſt mitF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 682Bewunderung, die von Neid frei, ganz frei iſt, und noch einmal: ich wünſche Ihnen Heil und Segen von ganzem Herzen!

Herr Bemperlein ergriff Oswald's beide Hände und drückte ſie mit Lebhaftigkeit. Die Augen ſtanden ihm voll Thränen; er war innerlichſt erſchüttert.

Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen, ſagte Oswald gerührt. Das Urtheil eines Mannes, den ich ſo tief achte, iſt mir tauſendmal mehr werth, als das Urtheil der dummen, blinden Welt. Die Welt wird unſere Liebe verketzern und verdammen, aber die Welt weiß nichts von Gerechtigkeit.

Nein, ſagte Herr Bemperlein, und dennoch iſt ſie unſere Richterin, deren Ausſpruch wir uns fügen müſſen, wir mögen wollen oder nicht. Und dieſer Gedanke iſt es, welcher für meine Augen einen tiefen Schatten auf das ſonnige Bild einer ſo reinen, un¬ eigennützigen Liebe wirft. Doch ich will Ihr Herz, das in dieſem Augenblicke ſchon ſchwer genug iſt, nicht noch ſchwerer machen. Dem Starken und Muthigen hilft das Glück. Sie ſind ja ſtark und muthig, und ſind es doppelt und dreifach, weil Sie lieben. Es ſoll ja der Glaube Berge verſetzen können. Was dem Glauben gelingt, kann der Liebe nicht un¬ möglich ſein. Doch ſtill, da kommt die gnädige Frau.

83

Die Thür wurde geöffnet und Melitta erſchien im Reiſeanzug. Der alte Baumann war bei ihr.

Ich bin bereit, lieber Bemperlein, ſagte ſie zu dieſem, und dann, ſich in Oswald's Arme werfend: Leb wohl, liebes Herz! leb wohl!

6*
[84]

Viertes Kapitel.

Die Baronin Grenwitz war aus mehr denn einem Grunde feſt entſchloſſen, Oswald auf der projectirten Badereiſe nach Helgoland nicht mitzunehmen, und ſie hatte während der dreitägigen Viſitentour vielfach bei ſich überlegt, wie ſie, ohne ſich ſelbſt doch gar zu viel zu vergeben, dieſen Entſchluß ausführen könnte. Wie erfreut war ſie deshalb, als Oswald bei ihrer Zu¬ rückkunft (es war den Tag nach Melitta's Abreiſe) ihre leiſeſte Anſpielung, ob es ihm nicht lieber wäre, dieſe Zeit ganz zu ſeiner Erholung zu verwenden, be¬ gierig ergriff; als er erklärte, während dieſer Zeit nicht einmal auf dem Schloſſe bleiben, ſondern eine Reiſe, vielleicht durch die Inſel, die er noch nicht kannte, vielleicht nach der Reſidenz zu ſeinen Freun¬ den machen zu wollen. Anna-Maria freute ſich ſo ſehr über dieſes ganz unerwartete Entgegenkommen, daß ſie nicht einmal über die Motive, die Oswald85 dazu beſtimmt haben mochten, nachdachte, eben ſo we¬ nig wie über ſein düſteres zerſtreutes Weſen, und über die Gleichgültigkeit, mit der er den Vorbereitun¬ gen zur Reiſe zuſah und ſchließlich am Tage der Ab¬ reiſe von Allen, ſelbſt von Bruno Abſchied nahm. Vielleicht ärgerte er ſich, daß man ihn nicht mitnahm, vielleicht wußte er nicht, wo er bleiben ſollte. Gleich¬ viel, wenn er nur nicht auf dem Schloſſe blieb, wenn er nur, wie er es wirklich that, in demſelben Augen¬ blicke, wo die Familienkutſche, beſpannt mit den vier ſchwerfälligen, von dem ſchweigſamen Kutſcher gelenk¬ ten Braunen langſam und würdevoll zu dem Haupt¬ thor hinausfuhr, den leichten Ränzel auf dem Rücken durch das andere Thor in die weite Welt hinein¬ wanderte.

Aber Herr Albert Timm durfte bleiben! Er machte nicht ſo lächerliche Anſprüche, wie der hochmüthige Oswald; er war mit Allem zufrieden! und dann konnte er in der Einſamkeit des Schloſſes ſo unge¬ ſtört arbeiten und die ſchleunige Vollendung der Flur¬ karten war von ſo großer Wichtigkeit! Mademoiſelle war angewieſen, es Herrn Timm an nichts fehlen zu laſſen. Daß es vielleicht nicht ganz ſchicklich ſei, ein junges Mädchen von zwanzig Jahren und einen jun¬ gen Mann von ſechsundzwanzig unter der Aufſicht86 einiger Dienſtleute, über welche das junge Mädchen das Commando führte, auf einem einſamen Schloſſe zurückzulaſſen, war ſonderbarer Weiſe der ſo überaus ſtrengen Baronin gar nicht in den Sinn gekommen. Die tugendhafte Frau würde die Naſe gerümpft, würde es unverantwortlich, unverzeihlich gefunden haben, wenn ſie gehört hätte, daß der junge Graf Grieben mit Fräulein von Breeſen fünf Minuten nur in einem Zimmer allein geweſen ſei, aber der Geometer Albert Timm und ihre Wirthſchafterin Marguerite Roger du lieber Himmel! ſich um das Schickſal ſolcher Leute auch noch den Kopf zu zerbrechen das iſt offenbar zu viel verlangt! Und Marguerite hatte nicht einmal Eltern, denen man vielleicht verantwort¬ lich geweſen wäre ſie hatte gar keine Verwandten wie kann man für Jemand verantwortlich ſein, der ganz allein in der Welt daſteht! Man hatte Frau Paſtor Jäger gebeten, ſich von Zeit zu Zeit zu über¬ zeugen, daß den Befehlen der Baronin ſtrenge Folge geleiſtet würde Frau Paſtor Jäger war eine vor¬ treffliche Frau, die kleine Marguerite ſtand alſo unter vortrefflicher Aufſicht.

Die kleine Marguerite ſtand unter ſo vortrefflicher Aufſicht, daß Albert die weiſe Fürſorge, welche die Baronin getroffen hatte, nicht genug loben konnte. 87 Ich wollte, ſie kämen nicht wieder, ſagte er zu der hübſchen Genferin, während ſie Arm in Arm im Garten umherſpazierten; ich wollte, ſie kippten zwiſchen Helgoland und der Düne, wo es am tiefſten iſt, mit dem Boote um, und wir könnten hier, wie jetzt, herr¬ lich und in Freuden leben bis an unſer ſeliges Ende. Was meinſt Du, kleine Marguerite, möchteſt Du wohl Frau Rittergutsbeſitzerin Timm von Grenwitz auf Grenwitz ſein? Das wäre doch famos! Dann wollte ich Dir Wagen und Pferde halten, ja, und auch eine Wirthſchafterin, die Du eben ſo quälen könnteſt, wie Du jetzt gequält wirſt.

Ich bin ſchon zufrieden mit Wenigem, wenn ich es nur kann theilen mit Sie.

Sehr edel gedacht, aber beſſer iſt beſſer, und übrigens heißt es in dieſem Falle, nicht Sie, ſondern Ihnen, oder vielmehr Dir, denn bei uns zu Lande nennen ſich Leute die ſich lieben Du, beſonders wenn ſie die reſpectable Abſicht haben, ſich gelegent¬ lich zu heirathen.

Und Sie mich wirklich wollen 'eirathen? Ach, ich es kann glauben kaum! Was will ein Mann, comme vous, dem die ganze Welt iſt offen,' eirathen ein armes Mädchen, die nicht einmal iſt 'übſch.

Das iſt meine Sache. Und nebenbei biſt Du88 jedenfalls 'übſcher und reicher, als ich. Dreihundert Thaler

Dreihundert fünfundzwanzig Thaler, ſagte Ma¬ demoiſelle Marguerite eifrig.

Deſto beſſer das iſt immer ſchon etwas für den Anfang. Wenn ich mein baares Vermögen dazu rechne, Herr Timm griff in die Taſche und brachte einige Münzen zum Vorſchein haben wir dreihundert fünfundzwanzig Thaler, ſiebenzehn Silber¬ groſchen und acht Pfennige. Das iſt ein ganzes Capital.

Wir uns dafür werden kaufen ein kleines Haus.

Verſteht ſich.

Ich werde geben Unterricht im Franzöſiſchen.

Natürlich.

Und Du wirſt ſein fleißig und arbeiten.

Comme un forçat o, es wird ein ſcharmantes Leben werden, und Herr Timm faßte die kleine Franzöſin um die Taille und walzte mit ihr in der Laube, in welcher ſie ſich befanden, umher.

Ich nun muß hinein, den Leuten zu geben Ves¬ perbrot; ſagte Marguerite, ſich losmachend.

So lauf, Du kleiner Grasaff; aber komm bald wieder, ſagte Herr Timm.

89

Herr Timm ſah, der Enteilenden nach. Dummes kleines Frauenzimmer, ſagte er; glaubt wahrhaftig, ich werde ſie heirathen. Das fehlte auch noch für dreihundert Thaler, die ich früher an ein paar Aben¬ den verſpielt habe! Es iſt wirklich großartig, was ſich dieſe Mädchen nicht alles einbilden! Und dabei iſt dieſe gar nicht ſo dumm, wie ſie ausſieht und ſcheint trotz ihres fürchterlichen Deutſch ihren Goethe gründ¬ lich ſtudirt zu haben: thut keinem Dieb nur nichts zu Lieb, als mit dem Ring am Finger hm, hm! ich werde ihr wahrhaftig einen Ring kaufen müſſen. Die dreihundert Thaler wären freilich ſo übel nicht. Dieſe verdammten Gläubiger! nicht einmal in dieſem Winkel laſſen ſie einen ungeſchoren ...

Herr Timm faßte in die Bruſttaſche und holte einige Briefe von verdächtigem Anſehen hervor, die er, nachdem er ſich in die Ecke einer Bank geſetzt, einen nach dem andern, entfaltete und eifrig ſtudirte. Sein ſonſt ſo luſtiges Geſicht verdüſterte ſich dabei zuſehends. Verdammt, murmelte er, die Kerle werden wirklich unverſchämt. Wenn ich den brum¬ menden Bären doch nur ſo ein paar hundert Thaler in den Rachen werfen könnte, ſo ſchwiegen ſie doch für eine Weile wenigſtens.

Hm, hm! die dreihundert Thaler, welche die kleine90 Marguerite im Sparkaſſenbuche hat, kämen mir wirklich gelegen. Es wäre am Ende nur zu ihrem Vortheil, wenn ich ſie darum ärmer machte. Denn daß ich mein Verſprechen, ſie zu 'eirathen, ohne die dringendſte Noth nicht halten werde, liegt doch für jeden Verſtändigen auf der Hand. Fühle ich mich nun ihr gegenüber nicht blos moraliſch, ſondern auch anderweitig verpflichtet, ſo hat ſie immerhin eine Chance mehr. Ich kann ihr ja vor¬ ſchwindeln, ich könne das Geld beſſer anlegen oder der¬ gleichen. Wenn die dummen Dinger verliebt ſind, glauben ſie ja Alles, was man ihnen aufbindet. Und kann ſie das Geld beſſer anlegen, als wenn ſie ſich damit einen charmanten Kerl von Mann erkauft, der ſie im andern Falle nicht' eirathen würde? Me her¬ culem! ich fühle mich ordentlich gehoben durch den Gedanken, auf dieſe Weiſe der Wohlthäter des Mäd¬ chens zu werden. Ich will die Kleine doch gleich ein¬ mal in's Gebet nehmen. Weigert ſie ſich, ſo werde ich ſie freilich ihrer Klugheit wegen achten müſſen, aber mit unſerer Liebe iſt es aus!

Albert erhob ſich und ging, die Hände auf dem Rücken, wie es ſeine Gewohnheit war, wenn ſein ſcharfſinniger Kopf an der Löſung eines Problems arbeitete, langſam nach dem Schloſſe. Marguerite ſchaltete noch in der Küchenregion; Albert verfügte91 ſich auf ſein Zimmer, um noch einige Minuten unge¬ ſtört über ſeine Aufgabe nachzudenken.

Er beugte ſich über die Karte, die auf dem großen Reißbrett aufgeſpannt war, und an der er ſeit der Abreiſe der Familie, d. h. ſeit beinahe acht Tagen nicht das Mindeſte gearbeitet hatte.

Wenn das ſo fort geht, wird ſich Anna-Maria über meine Fortſchritte wundern, murmelte er; es iſt wirklich überraſchend, welch 'ein ausgebildetes Ta¬ lent zur Faulheit, oder höflicher ausgedrückt: zum dolce far niente in mir ſteckt. Es giebt offenbar im Leben verwunſchene Lazzaronis, wie es verwunſchene Prinzen in Märchen giebt; und ich bin augenſcheinlich ſo ein, in die Jammergeſtalt eines im Schweiße ſeines Angeſichts ſein Brod eſſenden Geometers verwunſche¬ ner Sohn des ſonnegetränkten Neapels. Aber wie kommt es denn eigentlich, daß ich ſeit einer Woche ſo ganz meiner natürlichen Tendenz folge? Die kleine Marguerite iſt doch nicht allein daran ſchuld? rich¬ tig jetzt beſinne ich mich ich brauche eine Karte aus der Regiſtratur und ließ mir ſchon vor acht Tagen den Schlüſſel dazu geben. Die muß ich mir wenigſtens holen, ſonſt bei meiner heißen Liebe zur kleinen Marguerite! bleibt dieſe angefangene Karte ein Fragment in Ewigkeit.

92

Albert ging in die Regiſtratur, ein großes Gemach in dem Erdgeſchoß des alten Schloſſes, deſſen Wände von oben bis unten mit Repoſitorien voller ganz oder halb vergilbter Acten und Schriftſtücke der verſchie¬ denſten Art, von denen gar manches für einen fleißigen Alterthümler von hohem Intereſſe geweſen ſein würde, bedeckt waren. Während er in einem dieſer Repoſi¬ torien nach der alten Flurkarte kramte, fiel ihm ein kleines Bündel Briefe in die Hände, das er wol, wie ſchon einige andere ähnliche, in das Verſteck, aus welchem er ſie unverſehens hervorgeholt hatte, zurück¬ geſchleudert haben würde, wenn nicht die Aufſchrift: An den Baron Harald von Grenwitz, Hochgeboren auf Grenwitz, ſeine Neugierde erregt hätte. Da eine übertriebene Discretion durchaus nicht zu den hervor¬ ſtechenden Eigenſchaften des Herrn Timm gehörte, ſo löſte er ohne weiteres den rothen Faden, mit welchem die Briefe zuſammengebunden waren, und begann die¬ ſelben einen nach dem andern zu leſen eine Be¬ ſchäftigung, die ihn ſo ausnehmend intereſſirte, daß er alles Andere darüber vergaß und ſelbſt das Rollen eines Wagens überhörte, der vor dem Portale ſtill hielt und deſſen höchſt unerwartete Ankunft eine nicht geringe Senſation in dem Schloſſe hervorrief.

[93]

Fünftes Kapitel.

Während der acht Tage, die ſeit der Abreiſe der Familie verfloſſen waren, hatte Oswald in der Ein¬ ſamkeit eines Fiſcherdorfes, Namens Saſſitz, nicht weit von Berkow und Grenwitz, von allem Verkehr mit der Welt abgeſchloſſen, gelebt. Wie er nach Saſ¬ ſitz gekommen war, wußte er ſelbſt kaum.

Seit ihm Melitta ſo plötzlich geraubt war, hatte ihn eine grenzenloſe Gleichgültigkeit gegen Alles er¬ griffen, was nicht in irgend einer Beziehung zu ihr ſtand, die jetzt ſeine ganze Seele erfüllte. In dieſer Apathie hatte er ſich ſelbſt von Bruno ohne Schmerz getrennt. Auf die Wünſche der Baronin ging er um ſo bereitwilliger ein, als er ſich in ſeiner augenblick¬ lichen Stimmung nach Einſamkeit ſehnte, wie ein Kranker nach Ruhe. So ſagte er denn zu Allem: Ja, und als er den Wagen, welcher die Familie davon führte, ſich in Bewegung ſetzen ſah, fiel es ihm wie94 eine ſchwere Laſt vom Herzen. Er wünſchte den Zu¬ rückbleibenden, Herrn Timm und Mademoiſelle, flüch¬ tig Lebewohl und wanderte, einen leichten Ränzel, der noch aus ſeiner Studentenzeit ſtammte, auf dem Rücken, zum andern Thore hinaus, wie der Held eines Mär¬ chens, ohne eine Ahnung davon zu haben, wohin er ſeine Schritte lenken ſollte, und wo er heute Nacht ſein Haupt zur Ruhe legen würde.

Die Sonne brannte heiß; Oswald fiel es ein, daß es im Walde friſch und kühl ſein müſſe. So bog er denn rechts vom Wege ab und bald rauſchten über ihm die Tannen des Forſtes, der halb zu Gren¬ witz und halb zu Berkow gehörte. Das Rauſchen der hohen Bäume lullte ihn in ſüße Träume. Träumend wanderte er weiter, bis er plötzlich auf die Lichtung heraustrat, wo in dem Schutze der vielhundertjährigen, breitaſtigen Buche Melitta's Kapelle lag.

Die Thür des Häuschens war verſchloſſen, die grünen Jalouſien vor den Fenſtern warm herunter¬ gelaſſen, die Treppe und die Veranda waren ſorgſam gefegt, wie es die ſtrenge Ordnungsliebe des alten Baumann, der jetzt das Regiment in Berkow führte, erheiſchte. Oswald ſetzte ſich auf die Stufen der Treppe und ſtützte den Kopf in die Hand. So ſaß er in Nachdenken verſunken, während in den Zweigen95 der Buche über ihm ein Waldvöglein ſein eintöniges Lied mit dem ſtets gleichen melancholiſchen Refrain ertönen ließ ... Wie einſam er ſich fühlte wie einſam und wie verlaſſen! Dem Kinde gleich, das auf weitem öden Moore den Weg zum Hauſe der lieben Eltern verloren hat. Hier an dieſer ſelben Stelle hatte er in der Nacht vor der Geſellſchaft in Barnewitz mit Melitta geſeſſen ſie hatte den Kopf an ſeine Bruſt gelehnt gehabt und ſüßeſte, köſtlichſte Worte der Liebe hatte ihr holder Mund geflüſtert. Jetzt war es ſtill, ſo ſtill um ihn her, daß er das Klopfen ſeines eigenen Herzens hörte. Sehnſüchtige Gedanken an die Entfernte glitten durch ſeine Seele, wie Vögel, die den Süden ſuchen, durch den weiten Himmelsraum ...

Ein Sonnenſtrahl, der heiß und ſtechend durch das Laubdach auf ihn fiel, mahnte ihn, daß es Zeit ſei, aufzubrechen. Eile hatte er freilich nicht. Es war noch früh am Nachmittage, und irgend einen, gleichviel welchen Ort, wo er ſein Quartier für die Nacht aufſchlagen konnte, mußte er immer noch er¬ reichen. So ſchlenderte er durch den Wald auf einem Wege hin, den er noch nicht betreten hatte und der ihn, ehe er ſich's verſah, an den Strand des Meeres führte. Nun wanderte er am Strande fort, bald auf96 der Höhe des Ufers, wenn die See, wie es häufig geſchah, unmittelbar den Fuß der Kreidefelſen beſpülte, bald auf dem feſten körnigen Sande des ſchmalen Vorſtrandes. Hier und da hatte einer der kurzen waſſerreichen Bäche, die aus dem Innern der Inſel dem Meere zueilen, das Ufer durchbrochen und eine Schlucht gehöhlt, die jedesmal mit einer faſt ſüdlich üppigen Vegetation bedeckt war. Aber mit Ausnahme dieſer wenigen grünen Oaſen zeigte ſich dem Auge nichts als kahler Fels, nackter Sand, das eintönige blaue Meer, auf dem hier und da ein weißes Segel ſchwamm, und der eintönige blaue Himmel, an dem hier und da eine weiße Sommerwolke unbeweglich ſtand. Und zu dieſem eintönigen Bilde die einförmige Muſik der brandenden Wellen und dann und wann der gelle Schrei der Möve oder das melancholiſche Pfeifen der kleinen Strandläufer ...

Die Monotonie dieſer Linien, dieſer Farben, dieſer Töne wäre für ein glückliches, lebensfrohes Gemüth unerträglich geweſen, aber ſie paßte wunderbar zu Oswald's Seelenzuſtand. Es giebt Stunden, wo wir Regenwetter oder eine öde Landſchaft wie Freunde willkommen heißen, auf deren Geſichtern ſchon die Theilnahme, die ſie an unſerm Schmerze nehmen, ausgeprägt iſt; Stunden, wo uns Sonnenſchein und97 Vogelſang und das muntere Plätſchern des geſchwätzi¬ gen Baches wie eine Beleidigung erſcheinen. Oswald's Schwermuth harmonirte mit dieſer tief ernſten Natur, die von Glück und Freude nichts zu wiſſen ſchien, deſto mehr aber von dem Jammer und der Qual des Lebens. Klang der gelle Schrei, das ſchrille Pfeifen der Meeresvögel nicht wie Klaggeſang? war es nicht, als ob das Meer in den Wellen, die ſich in monoto¬ nen Cadenzen unaufhörlich am Strande brachen, das verworrene Räthſel der Exiſtenz wie im halben Wahn¬ ſinn vor ſich hinmurmelte? ... Und ſein eigenes Leben kam ihm ſo ziel - und zwecklos vor, wie dies ſein Umherirren zwiſchen den Uferklippen. Glich es nicht ſeinem Fußtritte auf dem harten Sande, wo die nächſte Welle ſchon die leichte Spur gänzlich verwiſchte? Wa¬ rum geboren werden, Anderen und ſich ſelbſt Schmer¬ zen und Sorgen ohne Zahl bereiten, wenn Alles doch zu nichts führt? wenn die Vergangenheit ſich hinter uns aufthürmt wie das ſteile unerſteigliche Ufer, die Zukunft uns angähnt wie das öde wüſte Meer, und die Gegenwart ein ſchmaler Streifen Sand iſt, den die unbarmherzig glühende Sonne nur deshalb ſo grell zu erleuchten ſcheint, um ihn in ſeiner ganzen troſtlos dürftigen Nacktheit zu zeigen? ... Und wenn wirklich einmal das Glück uns zu lächeln ſcheint, ſo ſcheintF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 798es auch eben nur, ſo iſt es eben nur eine trügeriſche Spiegelung, die eine ſchadenfrohe Fee aus dem un¬ wohnlichen tückiſchen Meere aufſteigen läßt, damit ſie in dem Augenblicke verſinkt, wo wir das palmenge¬ ſchmückte, palaſtumſäumte Ufer zu berühren glauben ...

Ein Dörfchen, dem ſich Oswald mit raſchen Schrit¬ ten näherte, lag in dem innerſten Winkel einer tiefen, von hohen Kreidefelſen bis auf einen ſchmalen Aus¬ gang nach dem Meere zu rings umſchloſſenen Bucht, wo das Waſſer ſo ſtill und glatt war wie in einem Gartenteich. Einige der Hütten lagen hart am Strande, andere waren an den Ufern eines Baches, der ſich an dieſer Stelle in's Meer ergoß, in der tiefen breiten Schlucht, die er ſich gewühlt hatte, erbaut. Vor den Thüren waren kleine mit Muſcheln eingefaßte Gärt¬ chen; auf den mit weißem Sande ausgefüllten Gängen zwiſchen den Häuſern hingen Netze zum Trocknen an langen Stangen; ein paar rothhaarige Buben waren eifrigſt mit Antheeren eines umgeſtülpten Bootes be¬ ſchäftigt; vor einer der größeren Hütten ſaßen ein paar Frauen, Netze flickend.

Oswald näherte ſich den Frauen, die, als ſie ſei¬ nen Schritt vernahmen, neugierig von ihrer Arbeit aufſahen, und fragte, ſie begrüßend, ob es ihm ver¬ ſtattet ſei, ſich hier etwas auszuruhen, und ob er99 einen Trunk Waſſer und ein Stück Brod haben könne?

Stine, ſagte die ältere von den drei Frauen, eine Matrone von ſtattlichem Umfang und mit einem überaus gutmüthigen, wettergebräunten Geſicht, zu einem der beiden jungen Mädchen an ihrer Seite: ſteh auf und laß den Herren ſitzen. Siehſt Du nicht, daß er zum Umfallen müde iſt? Geh ins Haus und bring, was wir haben. Setzen Se ſich, junger Herr. Se ſind gewiß auch ein Maler?

Warum meinen Sie das? fragte Oswald, den angebotenen Platz annehmend.

Nu, ein vernünftiger Menſch klettert nicht bei der Hitze am Strande herum; das können nur Leute, die hier (ſie deutete dabei mit dem Zeigefinger auf die Stirn) nicht ganz richtig ſind. Nu, nicht für ungut, Herr Maler. Ich hab ſchon einen von Ihren Ka¬ meraden bei mir wohnen gehabt, der zwei Wochen hier geblieben iſt; und wenn Se eben ſo ein ordent¬ licher, ehrlicher Menſch ſind, ſo können Se auch bei Mutter Karſten wohnen; aber die Wände dürfen Se nicht vollkritzeln, das ſag 'ich Ihnen gleich im Voraus.

Oswald mußte lächeln, als er ſo ohne Umſtände zu einem auf einer Studienreiſe begriffenen Land¬7*100ſchafter gemacht wurde. Wie? wenn er ſich die harm¬ loſe Rolle, die ihm aufgenöthigt wurde, gefallen ließ? Es war ihm ſo gleichgültig, wo er blieb Alles, was er wollte, war Einſamkeit und konnte er eine tiefere Einſamkeit finden, wie hier in dieſer ſtillen Bucht unter dieſen gutmüthigen, kindlichen Menſchen, die nichts dagegen haben würden, wenn er halbe Tage lang zwiſchen den Felſen des Strandes umherirrte? Und dann war er doch hier in der Nähe von Ber¬ kow, von dem er ſich nicht allzu weit entfernen durfte, da er mit Melitta verabredet hatte, daß, im Falle ſich ihre Abweſenheit in die Länge zöge, der alte Baumann, der in Berkow zurückgeblieben war, die Correſpondenz zwiſchen ihnen vermitteln ſollte.

So wollen Sie mich ein paar Tage hier behal¬ ten? fragte er.

Ja, aber die Wände dürfen Se nicht voll¬ kritzeln , ſagte Mutter Karſten.

Das verſpreche ich, ſagte Oswald lächelnd.

Dann können Se bleiben, ſo lange Se wollen. Das iſt recht, Stine, rück den Tiſch näher an den Herrn, und, hörſt Du, hol auch von dem alten Cog¬ nac, den der Claus Jochen aus England mitgebracht hat, das bloße Waſſer thut nicht gut bei der unver¬ nünftigen Hitze

101

Oswald war beinahe ſchon acht Tage in Saſſitz und er bereute es keinen Augenblick, der Einladung Mutter Karſten's gefolgt zu ſein. Er ſtand in ſehr großer Gunſt bei Mutter Karſten. Er hatte auch nicht ein Strichelchen auf die weißgetünchten Wände der kleinen Kammer, die er bewohnte, gezeichnet; er hatte ſtets ein freundliches Wort für Jeden, ſelbſt für den ſteinalten, halb blödſinnigen Vater von Mutter Karſten, der den ganzen Tag in ſeinem Lehnſtuhle in der Sonne ſaß und unverwandt auf das Meer hin¬ ausſtarrte, wenn ihm nicht, was freilich oft geſchah, die alten noch immer ſcharfen Augen vor Müdigkeit zufielen. Mutter Karſten erklärte, daß Oswald ein eben ſo ordentlicher, ehrlicher Menſch ſei, wie ſein Vorgänger, daß es aber bei ihm hier (mit der be¬ zeichnenden Bewegung des Fingers nach der Stirn) noch weniger richtig ſei, als bei jenem. Was Mutter Karſten zu dieſem Ausſpruch veranlaßte, war der allerdings verdächtige Umſtand, daß der junge Menſch, welcher doch nun einmal verrückt genug war, eine in ihren Augen ſo überflüſſige Hantierung zu treiben, nicht nur nicht die wieder übertünchten Wände ſeiner Schlafkammer mit Kohlenſkizzen von Schiffen unter vollem Segel, einſamen Klippen, über denen Möven flatterten und originellen Matroſengeſichtern bedeckte,102 wie ſein Vorgänger weiland, ſondern überhaupt gar nicht zeichnete und malte, ſondern den lieben langen Tag nichts that, als am Strande umherlaufen, oder auf einem der kleinen Ruderboote mutterſeelenallein ſo weit aufs Meer hinausfahren, daß man ihn vom Strande aus kaum noch ſehen konnte. Wie und wo¬ mit er ſich auf dieſen ſtundenlangen Spaziergängen und Fahrten die Zeit vertrieb, war Mutter Karſten ein unergründliches Räthſel, würde ſelbſt dann für ſie noch immer ein Räthſel geweſen ſein, wenn ſie ge¬ ſehen hätte, daß Oswald, ſobald er ſich allein wußte, einen Brief, den ihm vor ein paar Tagen ein alter, ſonderbar ausſehender Mann gebracht hatte, aus der Taſche nahm und ihn wieder und immer wieder ſtu¬ dirte, als ob er ihn nicht ſchon längſt Buchſtab für Buchſtab und Zeichen für Zeichen auswendig gewußt hätte. Der ſonderbar ausſehende alte Mann, der ſo ein hochbeiniges, langhalſiges Pferd ritt, wie ſie der Claus Jochen in England geſehen hatte , war näm¬ lich Niemand anders geweſen als der alte Baumann auf dem Brownlock. Oswald hatte ihm gleich am nächſten Tage nach ſeiner Ankunft in Saſſitz mitge¬ theilt, daß er ſich entſchloſſen habe, bis auf Weiteres hier zu bleiben (auch nach Grenwitz hatte er dieſelbe Botſchaft geſchickt, mit der Bitte, ihm etwa ankom¬103 mende Briefe nachzuſenden), und einen Tag ſpäter konnte die treue Seele ſchon einen Brief der vielge¬ liebten Herrin in Oswald's Hände legen. Es waren wenige Worte nur, auf der Reiſe, in einer Stadt Mitteldeutſchlands, kurz vor dem Schlafengehen in einem Hotel geſchrieben wenige Worte, verwirrt und traurig, aber ſüß und köſtlich, wie Küſſe von ge¬ liebten Lippen in dem Augenblicke der Trauung ... Er hatte Baumann ſeine Antwort mitgegeben und erwartete nun täglich einen zweiten ausführlicheren Brief mit einer Ungeduld, die keineswegs eine durch¬ aus freudige war.

Es iſt die Klage aller auf das Ideale gerichteten Geiſter, daß nichts auf Erden reinlich ſei, und daß, ſo oft wir auch verſuchen, in lichtere Regionen aufzu¬ ſteigen, uns ein peinlicher Erdenreſt zu tragen bleibt, der uns ſehr bald wieder auf das Niveau des ewig Geſtrigen herabzieht.

Das hatte Oswald nun ſchon ſo oft in ſeinem Leben erfahren; es hatte ihn ſchon ſo viel Freuden vergällt, ſo viel gute Menſchen und ſchlechte Muſi¬ kanten verleidet, es drohte jetzt auch ſeiner Liebe ver¬ derblich zu werden. Erſt hatte er an ſich ſelbſt die ſchlimme Entdeckung machen müſſen, wie tief verbor¬ gen der Verrath in einem Herzen lauert, das ſich104 bis in ſeine geheimſten Tiefen ganz von Liebe erfüllt glaubt. Zwar hatte er ſich über die Scene in der Fenſterniſche auf dem Balle in Barnewitz mit der Entſchuldigung zu tröſten geſucht: ich war außer mir; ich wußte nicht was ich that; aber kann Eiferſucht eine Entſchuldigung für Treuloſigkeit ſein? Und dann: war dieſe Eiferſucht denn nun wenigſtens todt? war ſie nicht, als er Melitta's Bild in dem Zimmer des Barons hinter dem Vorhang entdeckte, in hellen Flammen aufgeſchlagen? Hatte er nicht der Erzäh¬ lung Melitta's mit athemloſer Spannung gelauſcht, immer fürchtend, daß jetzt jetzt ein Umſtand er¬ wähnt werden möchte, der ſeinen Verdacht, daß ſie den merkwürdigen Mann dennoch vielleicht ohne es ſelbſt zu wiſſen geliebt habe, beſtätigen würde? hatte ſie nicht geſagt; ich glaubte ihn zu lieben? und nun gerade in dem Augenblicke, wo die Er¬ zählung bis zu der Kataſtrophe gekommen war, die Alles und auch die Feindſchaft, die jetzt offenbar zwiſchen ihr und dem Baron herrſchte, erkären mußte wird ihr eine Botſchaft gebracht, ſo ſonderbarer, ſo unheimlicher Art, ſo ganz geeignet, Oswald's ohne dies ſchon verſtörtes Gemüth ganz und gar zu ver¬ wirren! Nicht genug, daß ihm in Baron Oldenburg ein Nebenbuhler, den zu verachten unmöglich war, in105 Fleiſch und Blut gegenüberſtand hier kommt ein Gemal, das Geſpenſt eines Gemals, aus einer ſieben Jahre langen Wahnſinnsnacht emporgetaucht und winkt ſie zu ſich an ſein Sterbebett ſie, ſeine Ge¬ liebte, ſeine Melitta Oswald fühlte, daß er ſelbſt wahnſinnig werden würde, wollte er dieſen Ge¬ danken zu Ende denken. Er hatte es ſo ganz und gar vergeſſen, daß Melitta jemals vermält geweſen war, daß ſie jemals in den Armen eines andern Mannes, gleichviel, ob ſie ihn geliebt und um ſo gräßlicher, wenn ſie ihn nicht geliebt geruht, daß ſie jemals die Liebkoſungen eines andern Mannes ent¬ gegengenommen hatte er zerknitterte den Brief Melitta's, er hätte laut aufſchreien mögen vor wil¬ dem Schmerz, er hätte ſein Haupt an den Fels¬ blöcken zerſchellen mögen ... Warum dieſes Gift in den köſtlichen Trank ſeiner Liebe? warum mußte das leuchtende Gewand ſeines Engels in dem Schmutz des Lebens ſchleifen? warum mußte die duftige Blüthe vom ſchnöden Wurm benagt werden? und wäre ſie denn nur jetzt wenigſtens frei aber ſie iſt es nicht ſelbſt dann nicht, wenn jenes Geſpenſt aus der Nacht des Wahnſinns in die Nacht des Todes ſinkt. Sie iſt die Mutter ihres Kindes ſeines Kindes, und dieſe Rückſicht, die ſie jetzt für einen106 Augenblick vergeſſen hat, wird in den Vordergrund treten und mich wird ſie aufgeben aufgeben müſſen. Und wozu ſoll es auch führen? ſo lange dies heim¬ liche Verhältniß dauert, das ein tückiſcher Zufall ſei¬ nes Geheimniſſes berauben kann, ſteht ihr guter Ruf auf eines Scheermeſſers Schneide und kann aus dieſem Verhältniſſe jemals ein anderes werden? kann ich, der Freiheitsſchwärmer, jemals daran denken, die Ariſtokratin zu heirathen? daran denken, mich in die Geſellſchaft der verhaßten Menſchen zu drängen, die den Parvenü ſtets über die Achſel anſehen würden? nie! nie! Lieber leben, wie dieſe armen Fiſcher, die täglich mit Gefahr des Lebens ſelbſt dem grauſamen Meer den kärglichen Unterhalt abringen müſſen ...

So irrte Oswald's Geiſt in einem Labyrinth von ſchmerzlichen Zweifeln ruhelos umher, wie er ſelbſt zwiſchen den Uferklippen auf dem öden Strande ruhe¬ los umherirrte, und wer weiß, zu welchem verderb¬ lichen Ausgang dies beſtändige Brüten über demſel¬ ben qualvollen Räthſel geführt haben würde, wenn nicht ein Ereigniß eingetreten wäre, das ihn ſehr gegen ſeine Vermuthung und ſeinen Wunſch, zwang, in die Geſellſchaft, die er jetzt ſo gründlich haßte, zu¬ rückzukehren.

[107]

Sechstes Kapitel.

Als er nämlich an einem der folgenden Tage gegen Abend nach einer Abweſenheit von mehren Stunden ſich wieder dem Dorfe näherte, ſah er vor der Thür von Mutter Karſten's Wohnung einen mit zwei Pferden beſpannten Wagen halten. Dies war etwas ſo ganz Außerordentliches in dem von allem Verkehr abge¬ ſchnittenen Saſſitz, daß Oswald ſich wol denken konnte, es müſſe auch etwas ganz Beſonderes ſich unterdeſſen ereignet haben. Um den Wagen und an die Thür des Häuschens drängten ſich Frauen und Kinder und die paar Männer, die nicht mit auf dem Fiſchfang waren. Sie wollten wiſſen, ob der alte Steffen, Mut¬ ter Karſten's Vater, diesmal wirklich ſterben müſſe, oder ob es dem jungen Doctor, nach dem Mutter Karſten vor einigen Stunden die raſche Stina geſchickt hatte, gelingen werde, ihn noch einmal von ſeinem böſen Stickhuſten zu curiren.

108

So erzählten ſie Oswald mit verſtörten Mienen und gegen die Gewohnheit redſelig, als er fragend unter ſie trat. Denn Vater Steffen war der Patriarch des Dorfes, von Allen geehrt, auch von Oswald, der auf dieſe Nachricht hin, ohne ſein Incognito zu be¬ denken, in das Haus und die Wohnſtube eilte. Der ſilberhaarige Greis ſaß in ſeinem Lehnſtuhl, matt und bleich, aber, wie es ſchien, der Gefahr entriſſen Dank der rechtzeitigen Hülfe des Doctor Braun, der ſo eben vor den Dankſagungen der tief gerührten Mutter Karſten, ihrer Töchter und eines halben Dutzend anderer Frauen nach der Thür retirirte.

Gut, daß Sie kommen, rief er dem eintretenden Oswald entgegen; ich habe einen Auftrag an Sie; wollen Sie mir erlauben, daß ich mich deſſelben, da meine Zeit kurz gemeſſen iſt, ſogleich entledige?

Der Doctor ergriff Oswald ohne Umſtände unter dem Arm, ihn mit ſich fort zum Hauſe hinaus ziehend.

Entſchuldigen Sie mein Ungeſtüm, ſagte er, als ſie, Arm in Arm, am Strande hinſchritten; aber einmal trafen Sie mich in voller Flucht vor den Dank¬ ſagungen der guten Leute, und zweitens betrachte ich Sie, trotzdem wir uns leider bis jetzt nur einmal geſehen, als einen alten Bekannten, denn ich habe mich, ſeitdem wir uns vor ein paar Wochen in der109 Hütte von Mutter Clauſen ſo zufällig begegneten, in Gedanken ſehr viel mit Ihnen beſchäftigt. Aber nun zu meinem Auftrag! Sie wiſſen jedenfalls noch nicht, daß die Familie Grenwitz von der großen Badereiſe, auf die ich ſie vor ein paar Tagen geſchickt hatte, wohlbehalten wieder zurück iſt?

Nein! ſagte Oswald mit nicht geringer Ver¬ wunderung.

Wie ſollten Sie auch in dieſem von aller menſch¬ lichen Cultur abgeſchnittenen Dorfe der Ichthyophagen! Genug, die Familie iſt wieder da. Der Baron (ſo erzählt die glaubwürdige Anna-Maria) hatte in Ham¬ burg einen fürchterlichen Fieberanfall. Der herbei¬ gerufene Arzt erklärte es für Wahnſinn, unter dieſen Umſtänden die Reiſe über's Meer anzutreten und rieth zur Umkehr. Sein Rath wurde von Anna-Maria, die von vornherein gegen die Reiſe war, höchlichſt ge¬ billigt bref! ſie packten ſich ſammt und ſonders, und Fräulein Helene dazu, die ſie aus der Penſion abholten, in die große Familienkutſche und ſind wieder hier ſeit geſtern Abend. Es wurde natürlich ſofort nach mir geſchickt. Ich bin heute Nachmittag dort geweſen, und da ich zufälliger Weiſe erwähnte, ich müſſe noch nach Saſſitz, bat mich die Baronin, die von Ihrem hieſigen Aufenthalte unterrichtet war, Ihnen110 zu ſagen, daß man ſich in Grenwitz ganz ausnehmend freuen würde, Sie möglichſt bald wieder innerhalb des Schloßwalles zu ſehen. Ich erwiederte, wie mir die Ausführung dieſes Auftrages zu ganz beſonderem Vergnügen gereiche und daß ich Ihnen zur Rückfahrt meinen Wagen und meine Geſellſchaft anbieten würde was ich denn, hochachtungsvoll und ergebenſt, hiermit gethan haben will.

So ſprach Doctor Braun, freundlich und lebhaft, wie es ſeine Gewohnheit war, die grauen Augen mit den braunen, leuchtenden Sternen forſchend auf Os¬ wald heftend. Ich komme Ihnen recht ungelegen, geſtehen Sie es nur! ſetzte er hinzu.

Durchaus nicht! erwiederte Oswald, das heißt, ich weiß, wie Achill, als man ihm die Briſäis raubte, den Boten von ſeiner Botſchaft wol zu unterſcheiden.

Und wer iſt die ſchöne Briſäis, die ich Ihnen entführe? fragte der Doctor.

Die Einſamkeit, erwiederte Oswald.

Nun, daraus mache ich mir kein großes Ge¬ wiſſen, ſagte der Andere lachend; die Einſamkeit iſt wie der Duft einer Giftpflanze, ſüß aber betäubend und mit der Zeit geradezu verderblich, ſelbſt für die ſtärkſten Conſtitutionen. Wollen Sie meinem Rathe folgen? laſſen Sie die ſchöne Briſäis Einſamkeit in111 Gottes Namen ziehen, zu wem ſie will; ſetzen Sie ſich zu mir in den Wagen und kutſchiren Sie mit mir nach Grenwitz, wo Sie überdies ein Mädchen finden ſollen, bei deſſen Erblicken Sie ausrufen werden: Hier iſt mehr denn Briſäis!

Fräulein Helene?

Fräulein Helene, auch ein griechiſcher Name, und der einen beſſeren Klang hat, wie der andere. Aber die Sonne, oder vielmehr Helios, ſenkt ſeinen Wagen und meine Pferde werden ungeduldig. Sie kommen doch mit?

Ohne Zweifel, ſagte Oswald

Eine Viertelſtunde ſpäter rollte der Wagen mit den beiden jungen Männern bereits auf der Höhe des Ufers nach Grenwitz zu, das nur eine Stunde Weges entfernt war. Oswald hatte Mutter Karſten hoch und theuer verſprechen müſſen, bald wieder nach Saſſitz zu kommen, und überhaupt zeigte die große Herzlich¬ keit, mit der ſich beim Abſchied Alt und Jung um ihn drängte und ihm ihr Adjes, Herr Maler, nach¬ rief, daß er ſich während ſeines kurzen Aufenthaltes, ohne es darauf anzulegen, die Gunſt des harmloſen Völkchens in einem hohen Grade erworben hatte.

Der Abend war wunderſchön. Der rothe Sonnen¬112 ball hing am Horizonte und goß einen Zauberſchimmer über die öde Küſtenlandſchaft. In dem hohen Haide¬ kraut rechts und links vom Wege zirpten die Cicaden; Schwalben ſchoſſen hoch oben in der überaus klaren, weichen Luft. Oswald fühlte ſich zum erſten Male ſeit langer Zeit beinahe heiter, und er mußte im Stillen dem klugen Manne an ſeiner Seite recht ge¬ ben, daß man die Freuden der Einſamkeit doch zu theuer erkaufe.

Wie leid thut es mir, ſagte er, daß wir un¬ ſerem Vorſatz, uns häufiger zu ſehen, ſo wenig treu geblieben ſind.

L’homme propose et Dien dispose, erwiederte Doctor Braun. Wir wollen es in Zukunft beſſer zu machen verſuchen. Sie bleiben ja, wie ich höre, noch lange in dieſer Gegend, und ich werde auch wol meinen Plan, nach Grünwald überzuſiedeln, noch ſo bald nicht ausführen können.

Sie wollen nach Grünwald?

Vorläufig wenigſtens. Ich concurrire hier mit einem trefflichen Manne, der jedenfalls ein viel ge¬ wiegterer Praktiker iſt, wie ich Gelbſchnabel, trotzdem aber durch mich in den Schatten geſtellt wird, weil ich das Glück gehabt habe, ein paar gute Kuren zu machen, wie ſie's nennen, und weil die Leute immer113 nach dem Neuen laufen, auch wenn es nicht das Beſſere iſt. Zwei Aerzte aber trägt die Gegend nicht, und mein College iſt alt und hat eine zahlreiche Familie zu ernähren; ich bin jung und vorläufig nur verlobt, folglich werde ich ihm den Platz räumen.

Das iſt ſehr edel.

So ſcheint es, aber ſcheint auch nur. Ich gieße das reine Waſſer nur fort, weil ich noch reineres in Ausſicht habe. Mein Schwiegervater iſt einer der bedeutendſten Aerzte in Grünwald. Die Hälfte ſeiner Praxis iſt mir, wenn er ſich zur Ruhe ſetzt, wozu er ſich noch immer nicht entſchließen kann, gewiß, und da meine Braut eine Grünwalderin iſt, jedes Fiſchlein ſich aber in ſeinem Teich am wohlſten fühlt, ich über¬ dies die Geſellſchaft der Cyklopen und Ichthyophagen, mit denen ich hier verkehren muß, herzlich ſatt habe, ſo ſehen Sie, daß mein Edelmuth die Grenzen des Erlaubten noch keineswegs überſchreitet.

Iſt es zu indiscret nach dem Namen Ihrer Fräulein Braut zu fragen?

Bewahre: Sophie Robran.

Ich hatte während meines Aufenthaltes in Grün¬ wald öfter das Vergnügen, mit Fräulein Robran in Geſellſchaft zuſammenzutreffen. Mein würdiger Freund,F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 8114der Profeſſor Berger nennt ſie den einzigen Schwan in einer gewaltigen Heerde von Gänſen.

So waren Sie längere Zeit in Grünwald?

Ich komme eben von dort her, nachdem ich ein halbes Jahr in den ſchattig-ſtillen Straßen der trefflichen Stadt ein äußerſt idylliſches Leben geführt, und unter Berger's Auſpicien meine Examina abſol¬ virt hatte. Aber Sie werden jetzt mit größerem Recht über meine Indiscretion klagen was be¬ ſtimmte Sie, wenn Sie dieſe Brücke der Lahmen und Blinden hinter ſich haben, der Wirkſamkeit in einem größeren Kreiſe, für die Sie doch offenbar vorzüglich befähigt ſind, das Stillleben eines Hauslehrers in einer adligen Familie vorzuziehen, wo es Ihnen ge¬ radezu unmöglich wird, Ihre Kräfte frei zu entfalten?

Was mich dazu beſtimmte? antwortete Oswald, ich weiß es ſelbſt kaum. Einmal wohl der gründ¬ liche Abſcheu vor dem, was die Menſchen mit jenem, für ein planetariſches Gemüth ſo äußerſt bedenklichen Ausdruck: eine feſte Anſtellung, bezeichnen; ſodann der Einfluß Berger's, der mir dringend rieth, mich nicht vor der Zeit zu binden, ſondern noch ein paar Jahre in der Welt herumzuſinbadiſiren, wozu ich jetzt, wenn meinen Zöglingen die Flügel erſt noch ein wenig ge¬ wachſen ſein werden, ſogar contractlich verpflichtet bin.

115

Wiſſen Sie, daß ich fürchte, oder vielmehr hoffe, Sie werden nicht im Stande ſein, dieſem Rath Ihres wunderlichen Freundes bis zum Ende zu folgen?

Weshalb?

Weil Sie erlauben, daß ich ganz offen bin weil Sie ſich hier in einer ſchiefen Stellung befinden, die über kurz oder lang unleidlich für Sie werden muß. Eine ſolche Stellung iſt nur gut für Je¬ mand, der, weil er nicht auf eignen Füßen ſtehen kann, gezwungen iſt, ſich an Andere anzulehnen; der von Jugend auf gewohnt iſt, ſeinen Willen, ſeine Meinung dem Willen und der Meinung Anderer unterzuordnen, oder beſſer noch, der überhaupt gar keinen eigenen Willen und keine eigene Meinung hat. Von dem Allen iſt bei Ihnen das Gegentheil der Fall. Sie ſind viel zu bedeutend für dieſe unbedeutenden Menſchen. Sie ärgern ſich über dieſe Menſchen, und vice versa. Das iſt einmal nicht anders, wo ſo heterogene Ele¬ mente eine Verbindung eingehen ſollen. Sie halten die Baronin für das, was ſie iſt, für eine dünkel¬ hafte, adelsſtolze, trotz ihrer Beleſenheit bornirte, eng¬ herzige, geizige Perſon, die Baronin hält Sie für das, was Sie nicht ſind: für einen unendlich in ſich ver¬ liebten, hochmüthigen Narren. Sie leben in einem Hauſe, Sie eſſen an einem Tiſch, und haben doch ſo8 *116wenig Berührungspunkte, als ob Sie durch eine Welt getrennt wären; Sie bleiben bei einander, weil Keiner aus dieſem oder jenem Grunde das Wort der Trennung ſprechen will, bis ein Augenblick kommt, der den Einen und den Andern gebieteriſch zur Entſchei¬ dung drängt. Habe ich nicht recht?

Ich kann es nicht in Abrede ſtellen.

Sehen Sie. Und die Sache wird, glaube ich, jetzt noch ſchlimmer werden.

Warum jetzt.

Bis jetzt hatten Sie in dieſem Narrenhauſe nur ein edles Geſchöpf, das Sie lieben und bemitleiden konnten: den köſtlichen Bruno; jetzt, wenn Sie zu¬ rückkehren, werden Sie noch einen zweiten Clienten, oder vielmehr eine zweite Clientin finden. Ich fürchte, das arme Kind iſt, um die erſte Rolle in einer Familientragödie zu übernehmen, aus der Idylle ihres Hamburger Penſionats hierher nach Grenwitz ge¬ ſchleppt worden. Ich fürchte, es ſteht eine ſchwere Gewitterwolke über dem ſchönen Haupt des unglück¬ lichen Mädchens. Sie werden, wie ich Sie kenne, verſuchen wollen, den Schlag abzuwenden, und un¬ tröſtlich ſein, daß Sie es nicht vermögen. Sie blicken mich mit großen Augen fragend an, und ich ſehe, daß Sie von den Geheimniſſen der Familie, in der Sie117 ſchon ſeit einem Vierteljahre leben, noch ſo gut wie nichts wiſſen. Die Sache iſt die: Anna-Maria lebt in beſtändiger Furcht vor dem Tode des alten Barons, weil, wenn der Baron ſtirbt, ſie nicht nur einen alten Gemahl, ſondern auch die angenehme Ausſicht verliert, ſich aus dem Ueberſchuß der Revenüen nach und nach ein bedeutendes Vermögen zurücklegen zu können. Deshalb iſt ihr Malte lange nicht ſo wichtig. Den¬ noch fürchtet ſie auch für den, da bei ſeinem Tod das Majorat ganz aus dieſer Linie heraus an eine noch jüngere fallen würde, die durch Felix von Grenwitz, einen Ex-Lieutenant und notoriſchen Roué, repräſentirt wird. Und nun kommt die Teufelei: um, wenn auch der Baron und ſelbſt Malte vor der Zeit ſterben ſollten, doch immer noch, ſo zu ſagen, die Hand im Spiele zu haben, hat Anna-Maria eine Heirath zwiſchen Fräulein Helene und dem ausgezeichneten Vetter Felix projectirt. Das arme Kind weiß nichts von dieſem intereſſanten Plan, deſto mehr aber, fürchte ich, der ausgezeichnete Felix, der in wenigen Tagen nach Gren¬ witz kommen wird, um fern von dem aufregenden ſtädtiſchen Treiben in der Stille des Landlebens ganz ſeiner angegriffenen Geſundheit zu leben, wie die Baronin ſagt. Mit einem Worte: es iſt die alltäg¬ liche Miſère von Soll und Haben, das ganz gemeine118 Brimborium, durch welches ein unſchuldiges Püppchen geknetet und zugerichtet wird, und Ihnen wird das Glück zu Theil werden, dieſem erhebenden Schauſpiel als unbefangener Beobachter beiwohnen zu dürfen.

Das wird nimmermehr geſchehen, rief Oswald.

Sie wollen alſo Ihre Stelle aufgeben?

Ich muß es wohl, oder eine Sturmfluth von Leidenſchaft brauſte durch Oswald's Seele. Er dachte an die unglückliche Marie, die jetzt oft mit auf der Bruſt gefaltenen Händen wie eine ſchmerzensreiche Heilige durch ſeine Träume glitt, er dachte an Me¬ litta, die verkauft worden war von ihrem eigenen Vater! Jetzt ſollte ſich das Bubenſtück wiederholen vor ſeinen Augen

Nimmermehr, nimmermehr! rief er.

Sie wollen alſo Ihre Stelle aufgeben?

Nein; wenigſtens nicht, bevor ich, ſo oder ſo, die Ausführung dieſes ſchurkiſchen Planes vereitelt habe; bevor ich gethan habe, was ich konnte, ihn zu vereiteln!

Aber was werden Sie thun können? Lieber Freund, die Großmuth iſt eine Tugend, der wir genau auf die Finger ſehen müſſen, damit ſie uns nicht die Hel¬ denkrone, von der wir träumen, in eine klingende Schellenkappe verwandelt. Denken Sie an den edlen Junker aus der Mancha, und wie ſein ritterlicher119 Leib geſchunden und geprügelt wurde für die Wallun¬ gen ſeines guten Herzens! Und dann: wiſſen Sie denn, ob die Andromeda, deren Perſeus Sie werden wollen, überhaupt befreit ſein will? Ich kenne den Baron Felix nicht vielleicht iſt er beſſer, als ſein Ruf; ich habe nicht drei Worte mit Fräulein Helene geſprochen vielleicht iſt ſie keineswegs ſo lieb und gut, wie ſie ſchön iſt.

Sie iſt es, ſie iſt es, verlaſſen Sie ſich darauf; rief Oswald eifrig.

Gut, daß Sie noch nicht dreißig Jahre alt ſind; ſagte der Doctor lachend.

Weshalb?

Sie wiſſen, was den Schwärmern, nach Goethe's Ausſpruch, in dem bezeichneten Lebensalter zukommt? der Tod an demſelben Kreuze, welches ſie bis dahin keuchend durch das Leben ſchleppten. Aber da ſind wir ſchon nahe am Thor. Wollen Sie mir erlauben, daß ich Sie hier abſetze? Ich habe noch einen Beſuch im Dorfe zu machen und dieſer Weg führt direct hin, während ich über den Schloßhof einen langen Umweg machen muß. Uebermorgen komme ich wieder nach Grenwitz. Hoffentlich geht Ihr Puls dann ruhiger. Ich ſagte Ihnen ja gleich: Die Ein¬ ſamkeit iſt reines Gift für Ihre Natur. Adieu!

[120]

Siebentes Kapitel.

Es war ein köſtlicher Anblick, den der Schloßhof von Grenwitz in dem Augenblick gewährte, als ihn Oswald durch das finſtere Thor betrat, ein Anblick, wol geeignet, ein ſchmerzlich zuckendes Herz zur Ruhe zu wiegen. Während die höchſten Kuppen der ge¬ waltigen Linden, die auf das Portal des Schloſſes zuführten, und die Zinne des Thurmes noch vom rothen Abendlichte angeſtrahlt waren, lag ſchon tiefer Schatten unter den Bäumen, neben dem Walle, über dem langen Graſe, das überall zwiſchen den Steinen des Pflaſters emporwuchs. Aus den Kronen der Lin¬ den, die mit weißem Blüthenſchnee überdeckt waren, ſtrömte ein ſüßer Duft, der die ganze Atmoſphäre erfüllte. Rings umher war es ſo ſtill, daß man deutlich das geſchäftige Summen der Inſecten ver¬ nahm; auf dem Rand des Brunnens mit der kopf¬ loſen Najade ſaß ein Vöglein und ſang der unter¬121 gehenden Sonne nach; hoch oben in der roſigen Luft ſchoſſen noch immer einzelne Schwalben, als könnten ſie ſich heute, wo es doch gar ſo wunderſchön ſei, gar nicht entſchließen, zur Erde zurückzukehren.

Langſam, faſt zögernd, ſchritt Oswald dem Schloſſe zu. Er fühlte tief den Zauber dieſer Abendſtunde und wußte, daß das erſte Menſchenwort denſelben zerſtören würde. Aber er begegnete Niemandem. Der ganze Hof war wie ausgeſtorben. Er ſtieg die Wendeltreppe hinauf und ging durch die langen Corridore, die von ſeinem Fußtrit wiederhallten, auf ſein Zimmer. Die Fenſter waren geöffnet, und der Lehnſtuhl in der Niſche hatte den rechten Platz, auf dem Tiſche vor dem Sopha ſtand eine Vaſe, angefüllt mit friſchen Blumen, der Kopf des Apollo von Belvedere hatte ſich eine ſchmale Krone von Epheu gefallen laſſen müſſen. Es war aufgeräumt in dem Zimmer, aber ſo, wie es nur von Jemand geſchehen kann, der die Eigenheiten des Be¬ wohners ganz genau kennt. Offenbar hatte hier Bru¬ no's Hand gewaltet.

Oswald fühlte ſich durch das ſtumme und doch ſo beredte Willkommen auf das angenehmſte berührt. Es war wie eine warme Hand, die freundlich die ſeine drückte, wie ein Hauch, der liebevoll ſeinen Namen flüſterte. Der Sturm in ſeiner Seele, welchen die122 Worte des Doctors erregt hatten, war vorübergebrauſt, und an die Stelle des wilden Zornes eine ſchwermuths¬ volle Trauer getreten, daß die Menſchen dieſer herr¬ lichen Erde nicht werth ſeien und in ihres Sinnes Thorheit ſich, gegen das Geſchick, Schmerzen und Qualen ohne Zahl bereiteten ...

Oswald hatte, den Kopf in die Hand geſtützt, am Fenſter geſeſſen. Da war es ihm, als hörte er von dem Raſenplatze an der anderen Seite des Schloſſes her Stimmen erſchallen. Er erinnerte ſich, daß es wol an der Zeit ſei, die Geſellſchaft aufzuſuchen und zu begrüßen. Er kleidete ſich um, nahm eine Nelke aus dem Blumenſtrauß und ging hinunter.

Als er die Thür des Wohnzimmers öffnete, aus welchem die Fenſterthür nach dem Raſenplatz führte, hörte er die Stimmen deutlicher, und als er ein paar Schritte in das leere Zimmer hinein gethan hatte, ſah er auch ſchon einen Theil der Geſellſchaft, die auf dem Raſen mit dem Lieblingsſpiel der Baronin, dem Reifenſpiel, eifrigſt beſchäftigt war. Er näherte ſich leiſe der Thür und blieb auf demſelben Platze ſtehen, von welchem aus Melitta an jenem Nach¬ mittage ihn zum erſten Male erblickt hatte, als er Arm in Arm mit Bruno unter den Bäumen hervortrat.

Die Geſellſchaft beſtand aus dem Baron und der123 Baronin, Mademoiſelle Marguerite und Herrn Timm, Malte und Bruno und einer jungen Dame, die Os¬ wald den Rücken zugewandt hatte, ſo daß er nur die ſchlanke, leichte Geſtalt, deren reizende Formen ein einfaches weißes Gewand gar anmuthig hervortreten ließ, und das üppig dichte, leicht gekräuſelte, blau¬ ſchwarze Haar bemerken konnte, welches in der Mitte geſcheitelt und hinten in vielen Zöpfen zuſammen¬ geſteckt, die Linien des wundervoll ſchön geformten Kopfes in weichen Umriſſen nachzeichnete.

Oswald's Blicke waren, wie von einem Zauber, an dieſe jugendliche Geſtalt gefeſſelt, die, ohne den Platz zu verlaſſen, beinahe regungslos daſtand, und nur in regelmäßigen Zwiſchenräumen die Arme hob, um den Reif aufzufangen, den Bruno, ihr Nachbar, mit nie fehlender Sicherheit ſtets ſo ſchlenderte, daß er in einem Halbbogen unmittelbar auf ihren Stock her¬ abſchwebte, oder den eben aufgefangenen Reif weiter zu ſchicken an Malte, der ihn jedes zweite Mal fallen ließ und ſich bitter beklagte, Helene werfe ſo ſchlecht, und Helene thue es ihm nur zum Aerger, und es müſſe ein Anderer an Helenen's Stelle treten.

So komm hierher, Helene, ſagte die Baronin, Du wirfſt auch wirklich ſehr ſchlecht.

Mutter und Tochter tauſchten mit den Plätzen,124 und Oswald konnte jetzt Helene voll in's Antlitz ſehen ...

Es war eins der Geſichter, die man nie wieder vergißt, wenn man einmal mit fühlenden Augen hin¬ eingeſchaut, an die ſich noch der Greis über ein halbes Jahrhundert weg mit wehmüthiger Freude erinnert, wie er ſich an einen warmen Sommerabend erinnert, als er ein kleiner Schulknabe mit den Brüdern im Garten ſpielte und aus der Laube das Lachen der großen Mädchen klang; eins der Geſichter, die uns, wenn wir noch ſo traurig ſind, anlächeln, wie ein Sonnenblick an einem düſtern Herbſttage, die, wenn es in unſerm Herzen noch ſo öde iſt, uns wieder an Poeſie und Alles, was ſchön und göttlich iſt, glauben machen.

Oswald ſtand in Bewunderung verloren, wie man vor einem wunderherrlichen Gemälde anbetend ſtehen bleibt. Es war nicht das liebliche Oval des reizenden Geſichtes; es waren nicht die großen, dunkeln, träu¬ meriſchen Augen, die aus den langen ſchwarzen Wim¬ pern mit einem ſo zauberiſchen Lichte leuchteten; es waren nicht die vollen roſigen Lippen, die ſo freundlich lächeln konnten; es war nicht das dunkle Incarnat des ſammetweichen Teints es war eben Alles in Allem. Wer kann die Sonnenſtrahlen fangen? wer125 die Töne der Nachtigall auf Noten bringen? wer die Schönheit zergliedern? Oswald verſuchte es auch nicht; er fühlte nur, daß er etwas Schöneres nie im Leben geſehen habe, nie wieder ſehen werde, und es war ihm, als ob ein holder Traum, den er oft und oft geträumt, nun endlich in Erfüllung gegangen, als ob die blaue Blume, nach der er allüberall vergeblich ge¬ ſucht, nun endlich gefunden ſei ...

Oswald wollte die Geſellſchaft begrüßen, aber es war, als ob ſein Fuß an den Boden gefeſſelt wäre. Eine ihm unerklärliche Angſt ergriff ihn, ein banges Zagen, als ob jetzt etwas Ungeheures geſchehen müſſe, als werde in dieſem Augenblick von geheimen Mächten des Schickſals über das Wohl und Wehe ſeines Lebens entſchieden ... er hätte fliehen mögen, weit, weit fort, in die tiefſte Einſamkeit ...

Da bemerkte er, daß der alte Baron, dem es draußen zu kühl werden mochte, aus dem Kreiſe aus¬ geſchieden war und ſich dem Hauſe näherte. Er raffte ſich gewaltſam empor und trat durch die Fenſterthür dem Kommenden entgegen. Sein Erſcheinen wurde natürlich ſofort bemerkt und ein allgemeines: ah, Herr Stein! ſieh da, Herr Doctor! bewillkommnete ihn, während Bruno, den Anderen voraus, mit ein paar mächtigen Sprüngen bei ihm war und ihn um¬126 armt hatte, ehe er an Jene herantreten und ſie be¬ grüßen konnte.

Das iſt ja charmant, Herr Doctor; ſagte die Baronin mit ihrem gnädigſten Lächeln. Wir waren ſchon untröſtlich bei dem Gedanken, Sie noch wochen¬ lang entbehren zu müſſen und nun ſind Sie ſchon wieder in unſrer Mitte. Was ſagen Sie denn, daß wir ſo bald wieder umkehren mußten! Der arme Grenwitz, er iſt recht krank geweſen! Geh hinein, lieber Grenwitz; es iſt wirklich ſchon recht kühl draußen. Wir wollen Alle hineingehen Und unſer kleiner Kreis hat ſich unterdeſſen vergrößert. Wo iſt denn Helene Hélène, venez ici, ma chère! Laſſen Sie mich Ihnen meine Tochter Helene vorſtellen; ich habe ihr Hoffnung gemacht, daß Sie die Güte haben wollen, ihr zu helfen, die vielen, vielen Lücken in ihren Kenntniſſen etwas auszufüllen, denn Sie glau¬ ben nicht, welch eine Stümperei eine ſolche Penſio¬ nats-Erziehung in wiſſenſchaftlicher Hinſicht iſt! Nicht wahr, Sie werden die Kleine in die Zahl Ihrer Schüler aufnehmen? Mademoiselle, n'avez vous pas vu mon fichu? ah le voilà, merci bien! et dites donc, qu'on allume la lampe! Ich denke, wir bleiben Alle etwas im Salon beiſammen.

Ohne Zweifel, ſagte Herr Timm, der gegen127 ſeine Gewohnheit bis jetzt ſehr ſtill geweſen war; ſaure Wochen, frohe Feſte, Tages Arbeit und Abends eine gemüthliche Bowle, wie der alte Geheimrath ſagt. Das ſoll keine Anſpielung ſein, gnädige Frau, bei Leibe nicht!

Aber es wäre Ihnen doch nicht unlieb, wenn ich es für eine Anſpielung nähme, ſagte die Ba¬ ronin, die heute Abend entſchloſſen ſchien, Alles zu bezaubern.

Ich müßte lügen, wollte ich das Gegentheil be¬ haupten, ſagte Herr Timm, die Hand aufs Herz legend; und Sie wiſſen, gnädige Frau, daß mir alle Lüge in den Tod verhaßt iſt.

Eh bien! ſagte die Baronin, und Sie ſollen die Ingredienzien ſelbſt beſtimmen; wollen Sie ſich darüber mit Mademoiſelle in Einvernehmen ſetzen?

Famos, ſagte Herr Timm, gnädige Frau, ich muß Ihnen die Hand küſſen; und nachdem er den Worten die That hatte folgen laſſen, zog er die kleine Franzöſin bei Seite, ihr das Recept zu einer famo¬ ſen Bowle mitzutheilen.

Man war vielleicht eine Stunde plaudernd im Salon beiſammen geweſen, Herr Timm hatte einige komiſche Lieder eigener Compoſition am Clavier recht hübſch vorgetragen, einige komiſche Scenen, in denen er zu128 gleicher Zeit als zwei oder drei verſchiedene Perſonen auftrat und mit zwei oder drei verſchiedenen Stim¬ men redete, aufgeführt, kurz, er hatte Alles, was in ſeinen Kräften ſtand, gethan, um die nach den erſten zehn Minuten ziemlich einſylbige Geſellſchaft zu unterhalten, und trotz alledem die von ihm ſelbſt ge¬ braute Bowle auch ziemlich allein ausgetrunken als die Baronin zum Aufbruch mahnte. Herr Timm erbat ſich als einzigen Ehrenſold für ſeine künſtleriſchen Bemühungen am heutigen Abend die Erlaubniß, den Damen vom Hauſe die Hand küſſen zu dürfen, eine Erlaubniß, die ihm von der Baronin mit gnädiger Bereitwilligkeit, von Fräulein Helene aber nicht zugeſtanden wurde, die kurz und trocken, und die ſchönen Brauen ein wenig zuſammenziehend, bemerkte, der Künſtler müſſe ſeinen Lohn in ſich ſelbſt tragen. Herr Timm wollte dagegen Einwendungen erheben, aber Oswald ſchnitt die weiteren Auseinan¬ derſetzungen ab, indem er gute Nacht wünſchte und mit Bruno (Malte hatte ſich ſchon früher entfernt) das Zimmer verließ und ſo Herrn Timm, der in demſelben Theile des Schloſſes wohnte, zwang, ſich ebenfalls zu empfehlen. Ueberhaupt hatte Oswald ſeinen neuen Freund heute Abend nicht gerade freund¬ lich behandelt und es gehörte die ganze Gutmüthigkeit129 und Anſpruchsloſigkeit dieſes Letzteren dazu, ſich da¬ durch in keiner Weiſe ſtören zu laſſen, und in ſeinem übermüthigen Geſchwätz fortzufahren, bis ſie ſich, vor ihren Thüren angekommen, trennten.

Gott ſei Dank! ſagte Oswald, als er ſich mit Bruno in ſeinem Zimmer allein ſah; endlich ſind wir den läſtigen Schwätzer los. Und ich habe dich noch gar nicht um Verzeihung bitten können, daß ich neulich beim Abſchied ſo kalt und gleichgültig war, Dir noch nicht danken können, daß Du brüderlich Alles ver¬ geſſen haſt mir ein ſo freundliches Willkommen be¬ reitet haſt. Nicht wahr, dieſe Blumen ſind von Dir?

Ja

Und der Epheukranz dort um die Stirn des Apollo iſt von Dir?

Ja

Und Du haſt den Lehnſtuhl an die rechte Stelle gerückt?

Ja

Du lieber, lieber Junge! komm, wir wollen uns Beide hineinſetzen, und nun ſollſt Du mir von Dei¬ nen Irrfahrten erzählen, von den Städten, die Du geſehen, von den Kyklopen, die Du geblendet, von den Leiden, die Du erduldet haſt in Deiner lieben SeeleF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 9130 Alles, der Ordnung gemäß, weißt Du, wie Po¬ lyphem ſeine Schaafe melkt.

Oswald hatte ſich in den Stuhl geworfen und Bruno zu ſich gezogen. So ſaßen ſie; und der Knabe ſchmiegte ſich innig an ſeinen einzigen Freund, und fing an zu erzählen, erſt mit ſatyriſcher Laune die Hinfahrt ſchildernd, wie bald der Baron und bald Malte nicht hatten rückwärts fahren können, wie zu¬ letzt Beide auf dem Bock geſeſſen hatten, und der Poſtillon im Wagen und wie er, Bruno, vergnügt geweſen ſei, als immer neue Städte und Dörfer vor ſeinen Blicken auftauchten, und nun zuletzt das große Hamburg.

Dann nahm ſeine Erzählung einen andern Ton an. Er ſchilderte mit allem Ernſte den Eindruck, welchen die Stadt auf ihn gemacht hatte, die großen ſtattlichen Häuſer, das Gedränge in den Straßen, das Treiben im Hafen, die vielen Schiffe, das Alſter¬ baſſin, in welchem ſich die großen Lichter ſpiegelten, und welche zauberiſche Wirkung das herrorbringe, wenn man langſam am Rande hinſpaziere, und wie er einmal beinahe ins Waſſer gefallen wäre, wenn ihn Helene nicht gehalten hätte. Und nun nachdem Helenens Namen erſt einmal genannt war, tauchte er immer wieder auf, wie ein leuchtender Stern aus131 treibenden Wolken: wie Helene geweint habe, als ſie von Hamburg abreiſten, wie ſie auf das Wort ihrer Mutter: es ſcheint Dir recht viele Freude zumachen, zu Deinen Eltern zurückzukehren, die Thränen ge¬ trocknet, aber auch auf der ganzen Reiſe kaum einmal wieder gelächelt habe. Denn ſie ſei ſehr ſtolz, aber auch ſehr, ſehr gut gegen Alle, die ſie lieb habe, zum Beiſpiel gegen ihren Vater, und auch gegen ihn (Bruno), obgleich er durchaus nicht behaupten wolle, daß ſie ihn lieb habe ſo arrogant ſei er durchaus nicht aber ſo viel ſei gewiß, daß ſie eines Abends, als es ſchon ſehr ſpät war und er, von dem vielem Fahren müde, die Augen nicht mehr aufhalten, vor all dem Rütteln und Schütteln aber nicht zum Schlafen kommen konnte, es ſich ruhig gefallen ließ, als ſein Kopf in der Schlaftrunkenheit auf ihre Schulter ſank, und dort wol eine halbe Stunde liegen blieb. Das werde er ihr nie vergeſſen und wenn er einmal Ge¬ legenheit haben ſollte, ihr einen Dienſt zu leiſten, dann wünſche er nur, daß es dabei um Hals und Kragen gehe, ſonſt hätte es doch keine rechte Art.

So ſprach der Knabe und ſeine Worte fielen dicht wie Feuerfunken aus einem Gebäude, das in hellen Flammen ſteht und ſeine Wangen glühten. Oswald bemerkte wol, daß das ſchöne Mädchen einen großen9 *132Eindruck auf den wilden Knaben gemacht hatte, aber wie groß, wie allmächtig dieſer Eindruck war, welche Revolution in dieſer frühreifen, übermächtigen Natur eine erſte, wie ein Lavaſtrom hereinbrechende Liebe hervorgebracht hatte das ahnte er nicht. Er ſcherzte über ſeines Lieblings feurigen Enthuſiasmus, um ſo witziger und feiner, als er denſelben in nicht geringem Grade theilte, und Bruno, der ſich von Oswald Alles gefallen ließ, lachte mit und lächelnd und ſcherzend ſagten ſie ſich gute Nacht. Bruno ging in ſeine Kammer, Oswald ſetzte ſich wieder in den Lehnſtuhl ...

Auf dem Tiſch vor dem Sopha brannte die Lampe, aber ſo dunkel, daß man das Flimmern des Mondes, der eben über die Buchen des Walles heraufſtieg, wol in der Stube bemerkte; ein einzelner Stern in der Nähe der Mondſichel ſchimmerte aus dem tiefen Blau des nächtlichen Himmels. Durch das offene Fenſter ſtrömte die weiche balſamiſche Nachtluft es war ſo ſtill, daß man die fallenden Thautropfen deutlich hörte. Und jetzt, während Oswald ſaß und lauſchte, klangen, wie die Töne einer Aeolsharfe, auf einem Fügel mit kunſtgeübter Hand angeſchlagene Ac¬ corde zu ihm herüber, erſt leiſe, leiſe als fürchtete man die Nacht aus dem Schlafe zu wecken, dann133 ganz allmälig lauter. Die Accorde floſſen zuſammen zu der Melodie eines Liedes, und bald begann eine weiche Altſtimme das Lied zu der Melodie zu ſingen ... Oswald konnte die Worte nicht vernehmen, aber ſie ſchienen ſanft und traurig zu ſein, wie die Melodie, deren einfache rührende Klage wunderbar zum Herzen ſprach ...

Dieſe Muſik zu dieſer Stunde würde Oswald entzückt haben, auch wenn er nicht hätte ahnen können, wer die Sängerin war. Jetzt aber, wo er wußte, daß es Niemand ſein konnte, als das ſchöne Mädchen, vor dem ſich heute Abend, wie vor einer überirdiſchen Erſcheinung, ſeine Seele anbetend geneigt hatte, bei deſſen Anblick es über ihn gekommen war, wie die Offenbarung einer höheren Welt klangen die tief¬ ſten Seiten ſeines Herzens mit, und wie der Gläu¬ bige, was in ihm wogt und drängt, in ein Gebet zu gießen verſucht, ſo fühlte Oswald den Drang, in Worten auszuſprechen, was ſeine Seele ſo mächtig erregte. Er erhob ſich wie trunken, aus dem Sitz am Fenſter; er ſchritt an den Tiſch und ſchrieb kaum wiſſend, was er ſchrieb:

Nie, ſeit der wunderbaren heil'gen Stunde,
Die Milton's hoher Genius beſang,
Als von des erſten Menſchen reinem Munde
Das erſte ſüße Wort der Liebe klang,
134
Und alle Vöglein ſangen's in der Runde,
Und jedes Blümlein aus der Knospe ſprang
Nie iſt ein Weib auf Erden je erſchienen,
Denn, ſo wie Dir, die Engel ſichtbar dienen.
O, Du biſt lieb! lieb, wie der Gott der Träume,
Der uns Vergeſſenheit der Schmerzen bringt,
So hold, wie Mondſchein, der durch Blüthenbäume
In unſer lauſchig dunkles Zimmer dringt
Süß, wie Dein Sang, der durch die ſtillen Räume
In tiefer Nacht zu mir herüberklingt
Du biſt ſo ſchön, daß man wie ſie Dich nannte,
Für die der Krieg um Troja einſt entbrannte.
Geheimnißvolle hehre Macht des Schönen!
Als unſer Heiland biſt Du uns geſandt.
Du ſollſt uns wieder mit uns ſelbſt verſöhnen,
Die wir zu ſtürmiſch durch die Welt gerannt;
Und wie mit ſeiner Harfe goldnen Tönen,
Iſai's Sohn des Saulus Weh gebannt,
So wird aus Deinen liebetiefen Augen
Manch 'düſtrer Blick ſich Licht und Hoffnung ſaugen.
Aus Deinen holden Augen! wo ſie ſtrahlen
In ihrer dunklen, märchenhaften Pracht,
Da ſind vergeſſen alle Erdenqualen,
Da wird es hell in tiefſter Leidensnacht,
Wo ſie erglänzen, wird in kummerfahlen,
Geſenkten Stirnen Leben neu entfacht
In müden Pilgern, die in allen Landen
Die blaue Blume ſuchten und nicht fanden.
O Blume, Mädchen! nie leg ab die Krone,
Die jetzt auf Deinem jungen Haupte ruht,
Gieb nimmer Raum dem frevelhaften Hohne,
Daß, was ſo engelſchön, nicht engelgut!
135
Wie heute ſtets, in heil'ger Unſchuld, wohne,
In aller guten Geiſter treuer Hut,
Auf daß getroſt in trüber Erdenferne
Verirrte Wandrer folgen Deinem Sterne ...

Oswald trat wieder ans Fenſter; der Mond und der Stern waren von einer ſchweren Wetterwolke be¬ deckt, die hinter ihnen her über den Wall heraufge¬ zogen war; der Geſang war verſtummt, lauter rauſchte der Nachtwind in den Bäumen ...

Er ſchloß das Fenſter und ſuchte ſein Lager auf. Es umfing ihn ein ſchwerer Schlaf, durch den be¬ ängſtigende Träume zogen. Bald befand er ſich in Feuersgefahr, bald ſollte er von wilden Thieren zer¬ riſſen werden, bald überfiel ihn jene Angſt, deren un¬ ſägliches Grauſen nicht von dieſer Welt zu ſtammen ſcheint; aber ſtets, in dem Augenblicke der höchſten Noth, trat ihm ein Engel zur Seite, und ſtreckte ſchützend ſeine Hand über ihn, und dieſer Engel trug die Züge Melitta's.

[136]

Achtes Kapitel.

Als Oswald am nächſten Morgen unter den Pa¬ pieren auf ſeinem Schreibtiſch kramte, fiel ihm ein Briefchen in die Hände, das er geſtern Abend über¬ ſehen hatte. Er erkannte ſogleich die Handſchrift, welche mit ihren bald kühnen und großartigen, bald kritzlich verworrenen Zügen ſo problematiſch war, wie der Charakter des Schreibers. Das Billet war von Oldenburg und lautete:

So eben erhalte ich eine Nachricht, die mich nöthigt, ſofort eine größere Reiſe anzutreten, von der ich nicht zu beſtimmen vermag, wie lange ſie dauern wird. Unter acht Tagen ſchwerlich. Ich ſchreibe dieſen Brief, um ihn auf Grenwitz abzugeben, im Falle ich Sie nicht perſönlich ſprechen ſollte, was mir ſehr leid thun würde, da ich Ihnen Vieles zu ſagen hätte. Unſere Czika nehme ich mit, da mir die So¬ litüde während meiner Abweſenheit kein ſicherer Auf¬137 enthalt für das Kind ſcheint. Bis zu dem Termin, den uns die Zigeunerin geſtellt hat, bin ich jedenfalls zurück. Bis dahin leben Sie wohl!

In großer Eile und noch größerer Freundſchaft

A. v. O.

Oswald fühlte ſich durch dieſen Brief eigenthüm¬ lich berührt, denn er ahnte mit jener Divinationsgabe, die in Herzensangelegenheiten eine ſo große Rolle ſpielt, irgend einen Zuſammenhang zwiſchen dieſer plötzlichen Abreiſe Oldenburg's und der Abreiſe Me¬ litta's. War es, daß er in der letzten Zeit wiederum ſo viel über das Verhältniß der Beiden, das ihm durch Melitta's in der Mitte abgebrochene Erzählung in einem ganz neuen Lichte erſchienen und doch noch lange nicht hinreichend aufgehellt war, nachgedacht hatte; war es nur der Umſtand, daß der Brief Ol¬ denburg's ſo dunkel gehalten war genug, Oswald empfand es als eine Art Beleidigung, daß er nach dieſer Seite hin fort und fort auf Räthſel ſtieß. Er nahm ſich vor, noch heute nach Berkow hinüberzugehen und bei'm alten Baumann anzufragen, ob ein Brief Melitta's für ihn da ſei.

Dann nahmen ſeine Gedanken eine andere Rich¬ tung, als ſein Auge auf die Verſe fiel, die er geſtern Abend geſchrieben hatte. Er mußte lächeln, als er138 ſie jetzt durchlas. Da hat Dir Deine leidige Phan¬ taſie wieder einmal einen rechten Streich geſpielt; ſprach er bei ſich. Es braucht Dir nur Jemand von einem hübſchen Mädchen zu erzählen, das einen Andern, als Deine Hoheit, heirathen ſoll, und Du ge¬ räthſt in einen Paroxysmus des Mitleidens mit dem jungen Mädchen und in einen Paroxysmus des Haſſes gegen den jungen Mann. Und hernach brauchſt Du das Mädchen nur ſelber zu ſehen und zu finden, daß ſie große dunkle leuchtende Augen hat und überhaupt intereſſanter ausſieht, als die Backfiſche im Allgemeinen, und ein Knabe braucht Dir nur eine halbe Stunde von beſagtem Backfisch vorzuſchwärmen, ſo fühlſt Du Dich gemüßigt, ſo überſchwängliche Verſe zu ſchreiben wie dieſe hier, die ich in das Feuer des Ofens ſtecken würde, wenn wir uns nicht unglücklicherweiſe in den Hundstagen befänden.

Indeſſen Oswald ſtellte das Autodafé nicht an, obgleich die Flamme eines Lichtes dieſelben Dienſte gethan haben würde, wie das Feuer im Ofen, ſondern legte das Blatt ſehr ſorgfältig in ſein Pult ver¬ muthlich, es zur Erinnerung an eine ſchwache Stunde aufzubewahren, da er ſonſt ziemlich frei von der Affenliebe war, welche junge angehende Dichter für die Kinder ihres Geiſtes zu empfinden pflegen.

139

Der Morgen grüßte ſo freundlich aus dem thau¬ friſchen Garten herauf, daß Oswald dem Verlangen, ein wenig zwiſchen den blumenreichen Beeten und in den ſchattigen Laubgängen umherzuſchlendern, nicht widerſtehen konnte. Ueberdies war es noch ſehr früh noch beinahe zwei Stunden Zeit die Knaben ſchliefen noch.

Oswald eilte hinab und ſuchte ſeinen Lieblings¬ platz auf, den mächtigen Wall, der Schloß und Garten und Hof umfaßte und auf welchem es ſich unter den Buchen und Nußbäumen gar anmuthig promenirte, beſonders am Morgen, wenn die rothen Sonnen¬ ſtrahlen durch die wehenden Zweige blitzten und die halbwilden Enten noch luſtiger als ſonſt auf dem grün überwachſenen Graben ihr Weſen trieben.

Oswald ſchlenderte langſam dahin, die reizenden Einzelheiten des wonnigen Morgens mit allen Sinnen genießend, heute um ſo mehr, als die Lieblichkeit, die ſanfte Schönheit, die ihn hier rings umher anlächelte, gar ſeltſam mit der öden Monotonie der Meeresküſte, die er in der letzten Zeit beſtändig vor Augen gehabt hatte, contraſtirte. Heute Morgen war es ihm bei¬ nahe unbegreiflich, wie er ſich von ſeiner düſtern Laune ſo ganz habe beherrſchen laſſen können. Der Doctor hatte Recht: die Einſamkeit iſt ein ſüßes be¬140 rauſchendes und zuletzt tödliches Gift. Ich muß den Doctor öfter zu Rathe ziehen. Ein klarer Kopf, der die Dinge und Menſchen und Verhältniſſe ſtets in dem rechten Lichte ſieht. Aber in Betreff der zwiſchen Fräulein Helene und ihrem Vetter projectirten Hei¬ rath irrt er ſich doch. Erſtens iſt ſie noch viel zu jung, zweitens iſt ſie viel zu ſchön und drittens will ich es nicht. Hören Sie, Madame la Baroneſſe: ich will es nicht! Sie werden Ihr ſauberes Project nicht ausführen, wenn Sie auch noch ſo ſehr mit ihren großen herrſchſüchtigen Augen rollen und ſich zu Ihrer ganzen ſtattlichen Höhe emporrichten.

Es war ein Glück, daß Oswald dieſe Worte nicht pathetiſch in den ſtillen Garten hineindeclamirte, ſon¬ dern nur leiſe durch die Zähne murmelte, denn wie er eben um eine Ecke des Walles bog, die durch ein dichtes weit vorſpringendes Gebüſch noch ſchärfer ge¬ macht wurde, fand er ſich plötzlich Fräulein Helene, die von der andern Seite kam, gegenüber. Dies Zu¬ ſammentreffen war für beide Theile ſo überraſchend, daß das junge Mädchen nur mit Mühe einen leiſen Schrei unterdrückte, und Oswald, ſehr gegen ſeine Gewohnheit, geradezu verlegen wurde und nicht wußte, ob er die junge Dame anreden, oder grüßend ſtumm vorübergehen ſolle.

141

Aus dieſem Zweifel wurde er durch Fräulein He¬ lene befreit, die es vielleicht ganz begreiflich fand, daß der junge Hauslehrer, von deſſen Unterhaltungsgabe ſie geſtern Abend keine beſonders große Meinung be¬ kommen hatte, nicht die Geiſtesgegenwart habe, aus dem Stegreife eine Converſation zu beginnen; und deshalb glaubte, daß eine harmloſe Bemerkung ihrer¬ ſeits über den ſchönen Morgen das für die Situation Paſſendſte ſein dürfte.

Der ſchöne Morgen hat Sie auch herausgelockt, wie ich ſehe.

Ja, mein Fräulein. Der Morgen iſt in der That ſehr ſchön.

Köſtlich. Haben Sie immer ſo herrliches Wetter in der letzten Zeit gehabt?

Immer; das heißt, einige Regentage ausge¬ nommen.

Wenn man den Himmel ſo blau ſieht, ſollte man ſchlechtes Wetter für ein Märchen halten, meinen Sie nicht auch?

Gewiß.

Fräulein Helene mochte glauben, daß dieſe geiſt¬ reiche Unterhaltung nun lange genug gedauert habe, und da ſie zufällig an einer Stelle angelangt waren, wo eine ſchmale Treppe von dem Wall hinab in den142 Garten führte, ſo hielt ſie es in ihrem und ihres einſilbigen Begleiters Intereſſe für gerathen, dieſe Gelegenheit, die Scene abzubrechen, nicht unbenutzt zu laſſen.

Haben Sie eine Ahnung, welche Zeit wir haben?

Halb ſieben.

Schon? Da muß ich eilen, in's Schloß zurück¬ zukommen, ehe Mama meine Abweſenheit bemerkt.

Fräulein Helene nickte vornehm mit dem Kopfe, ſtieg leicht die Treppe hinab und ging langſam zwiſchen den Blumenbeeten dem Hauſe zu.

Dem Glücklichen ſchlägt keine Stunde, ſagte Oswald bei ſich, als er der jugendlich ſchlanken Ge¬ ſtalt nachſchaute, glücklich habe ich ſie alſo durch meine meteorologiſchen Bemerkungen nicht gemacht; und ihre Eile in's Schloß zu gelangen war weniger groß, als die von mir fortzukommen. Jedenfalls ſcheint ſie noch Zeit genug zu haben, ſich ein reizendes Bouquet zu pflücken. Ohne Zweifel für mich. Ich habe augenſcheinlich eine vollſtändige Eroberung ge¬ macht. Wie ſie mich mit ihren wunderbaren Augen, ſo mitleidig halb und halb verächtlich, anblickte, als wollte ſie ſagen: ich thue Dir wol einen großen Ge¬ fallen, wenn ich Dich mit Deiner Blödigkeit allein laſſe! Sie iſt ſtolz, ſagt Bruno; gewiß, aber wie143 köſtlich ſteht ihr dieſer Stolz; wie kann ein Mädchen mit dieſem Geſicht, dieſen Augen, dieſem Haar anders als ſtolz ſein. Es iſt die Atmoſphäre, in die ſie ſo nothwendig gehört, wie ein Adler in die höchſten Lüfte. Der Adler iſt auch ſtolz und kein Menſch nimmt es ihm übel .... Wie ſchön das Mädchen iſt! eine prächtige Schönheit, die das helle Sonnenlicht nicht zu ſcheuen braucht, die nur noch ſchöner zu werden ſcheint, je köſtlicher der Rahmen iſt, der ſie umgiebt. Eine unheimliche Schönheit, die uns feſſelt und er¬ ſtarren macht, wie die der tödtlich ſchönen Meduſe. Dies Mädchen eine Blume? wo waren meine Augen geſtern? ſie iſt kein lyriſches Gedicht voll Vogelſang und Sonnenſchein, ſie iſt eine ſchwermüthige Ballade, in der Schwerter klirren und Herzen verbluten, wäh¬ rend oben aus dem Thurme ein weißes Tüchlein weht. Und halt! jetzt weiß ich's: es iſt das leib¬ haftige Gottſeibeiunsgeſicht der Grenwitzer, wie Albert vortrefflich ſagt Zug für Zug! es iſt das Geſicht Harald's in's Weibliche überſetzt, dieſelben dämoniſchen Augen, derſelbe berauſchend ſinnliche Zug in den vollen, faſt zu vollen Lippen, dieſelbe Kraft in dem üppig dichten blauſchwarzen Haar, das ſich über der breiten, feſten Stirn aufträufelt! Vortreffliche Frau Mama! Sie irren ſich ſehr, wenn Sie glauben, daß dieſe144 Stirn ſich ſo gutwillig unter ihre Beſchlüſſe beugen wird; ausgezeichneter Baron Felix, Sie müſſen Ihrem Namen wahrhaftig Ehre machen, wenn Sie in dieſem Falle reüſſiren wollen! Der Morgen iſt in der That köſt¬ lich, und man ſollte wirklich, wenn man den Himmel ſo blau ſieht, ſchlechtes Wetter für ein Märchen halten

Oswald hatte ſich in der letzten Zeit ſo ausſchlie߬ lich mit ſeinen eigenen Angelegenheiten beſchäftigt, daß es ihm jetzt ein Bedürfniß ſchien, ſich zur Abwechſe¬ lung einmal auch um die anderer Leute zu bekümmern. Die Baronin war erſtaunt über das Intereſſe, mit welchem er heute bei Tiſch, und mehr noch in einer längeren Unterredung, die ſie nach der Mahlzeit hatten, auf ihre Gedanken einging und verſchiedene von ihr aufgeworfene Fragen betreffs des Unterrichts erörterte: ob es nicht bei der großen Hitze zweckmäßiger ſei, die Lectionen um ſieben, ſtatt wie bisher um acht zu be¬ ginnen? ob man die Nachmittagsſtunden nicht lieber ganz ausfallen laſſen wolle? ob die Bücher, aus wel¬ chen Helene bis jetzt Geſchichte und Literatur ſtudirt habe, für ſie noch brauchbar ſeien? ob zwei Lectionen wöchentlich für Helenen's Fortbildung hinreichten? und ob er den Morgen oder den Abend für die geeignetere Zeit halte?

145

Auch der alte Baron war auf das Angenehmſte überraſcht, als er heute an Oswald einen aufmerk¬ ſamen Zuhörer der langen Geſchichte ſeiner kleinen Leiden fand. Er hatte Oswald, der ihn ſtets mit vieler Höflichkeit behandelt hatte, im Herzen immer für einen braven und liebenswürdigen jungen Mann gehalten, trotz des entſchiedenen Widerſpruchs ſeiner Anna-Maria und der mindeſtens zweifelhaften Zu¬ ſtimmung des Paſtors Jäger; und er war ordentlich froh, daß er dieſer Geſinnung heute, wo auch die Ba¬ ronin ſie zu theilen ſchien, endlich einmal einen Aus¬ druck geben konnte. Ueberhaupt ſchien die Reiſe einen ſehr günſtigen Einfluß auf die Baronin gehabt zu haben. Mademoiſelle Marguerite, der man in dieſer Beziehung wol ein Urtheil zutrauen durfte, behauptete gegen Albert, ſie iſt verändert totalement, ſie hat mich nicht geſcholten ein einziges Mal den ganzen Tag; worauf der ſinnige Albert erwiederte: ja, ich finde ſelbſt, der alte Drache iſt heute beinahe genie߬ bar. Mit einem Worte, es herrſchte heute ein ſo gutes Einvernehmen, wie noch nie in der Geſellſchaft auf Schloß Grenwitz. Jeder ſchien die Gründe, die er hatte, mit Dieſem oder Jenem weniger zufrieden zu ſein, vergeſſen oder doch in den Hintergrund ge¬ ſchoben zu haben. Die Motive, die dabei maßgebendF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 10146waren, mochten allerdings für die Einzelnen ſehr ver¬ ſchieden ſein; da aber das Reſultat für Alle angenehm war, ſo nahm man bereitwilligſt für baare Münze, was der Andere dafür bot natürlich, um ſich das Recht zuzuſprechen, Jenem mit derſelben Münze zu bezahlen.

Oswald hatte die Begegnung mit Fräulein Helene am Morgen nicht vergeſſen und ſich des Eindrucks, den er dabei auf die ſtolze, junge Dame gemacht haben mußte, wol bewußt, ſah er es nicht ungern, daß ihm im Laufe des Tages mehr als eine Gelegenheit wurde, ſeine natürlichen Vorzüge geltend zu machen. Bei Tiſche um eine Erzählung deſſen, was ihm während der Abweſenheit der Familie begegnet war, gebeten, gab er eine Schilderung ſeines einſamen Lebens in Saſſitz, wobei er ſich eine halb humoriſtiſche und halb ſentimentale Rolle zutheilte, natürlich ohne das ro¬ mantiſche Dunkel, welches über ſeinem dortigen Auf¬ enthalte lag, im mindeſten zu lüften. Die derbe Mutter Karſten wurde zu einem Heldenweib, ihr rothhaarigen Töchter Stine und Line zu ſchönen Waſſernixen und der alte halb blödſinnige Vater Steffen zu einem weiſen Merlin; die Kreidefelſen der Küſte wuchſen in's Ungeheure und die Brandung donnerte zwiſchen den Klippen des Strandes mit wahrhaft Oſſianiſcher147 Majeſtät. Die Geſellſchaft, obgleich ſie die Ueber¬ treibungen wol herausfühlte, horchte mit athemloſer Spannung, und Oswald empfand es als den ſchönſten Lohn ſeiner phantaſtiſchen Improviſation, daß die großen, glänzenden Augen Helene's während ſeines Vertrages mit einem Ausdruck halb der Verwunde¬ rung und halb des Zweifels unverwandt auf ihn ge¬ richtet waren.

Er war ſo ganz die Seele der Geſellſchaft ge¬ worden, daß man es ihm ernſtlich übel zu nehmen ſchien, als er gleich nach der Abendmahlzeit erklärte, den verabredeten Spaziergang durch den Buchenwald nach dem Strande nicht mitmachen zu können, da morgen Poſttag ſei und er einige ſehr wichtige Briefe zu ſchreiben habe. Wenn Oswald die bekannte Regel, ſich in dem Augenblicke aus einer Geſellſchaft zurück¬ zuziehen, wo man ſich ihr unentbehrlich gemacht hat, durch dieſe Weigerung befolgen wollte, ſo konnte er mit der beabſichtigten Wirkung vollkommen zufrieden ſein. Fräulein Helene wenigſtens ließ ſich herab, ihn direct zum Bleiben aufzufordern, und wandte ſich, als er bei ſeinem Vorhaben beharrte, ſo kurz von ihm weg, daß ihr Unmuth nur zu erſichtlich war.

Indeſſen Oswald hatte diesmal andere und beſſere Gründe, die ihn nicht zu bleiben beſtimmten. Der10*148funkelnde Stern, der ſoeben über ſeinem Horizonte aufgegangen war, hatte ihn nicht ſo verblendet, daß er das Geſtirn, welches nun ſchon ſo lange mit nim¬ mer verlöſchendem, ſtets gleichem, treuem, lieblichem Licht auf ihn herabblickte, darüber vergeſſen hätte. Er hatte ſchon geſtern in Saſſitz mit Beſtimmtheit auf einen Brief gehofft; er fürchtete, daß der alte Bau¬ mann noch am Abend, nachdem er mit dem Doctor weggefahren, vergeblich nach ihm gefragt haben würde. Wohl hatte er Mutter Karſten geſagt, daß er nach Grenwitz zurückgehe, aber dorthin konnte natürlich der alte Baumann einen Brief Melitta's, der ſo leicht in andere Hände fallen konnte, nicht bringen. Und doch hatte Oswald eine große Sehnſucht nach dem längſt erwarteten Brief!

So ſtahl er ſich denn, gleich nachdem die Geſell¬ ſchaft den Schloßhof verlaſſen hatte, durch den Gar¬ ten nach dem großen Thor, aus dem man faſt un¬ mittelbar in den Tannenwald zwiſchen Grenwitz und Berkow gelangte. Es dunkelte ſchon unter den hohen Bäumen mit den weit überhangenden Aeſten. Das von der Hitze des Tages durchwärmte Holz ſtrömte jetzt am kühleren Abend würzigen Duft aus. In dem weiten Revier herrſchte eine faſt unheimliche Stille.

Und jetzt in dieſer feierlichen Abendſtunde, in die¬149 ſem hehren Waldestempel überkam die Erinnerung an Melitta Oswald's Herz mit aller Macht. Ihre hohe, und bei aller lieblichen Fülle ſo jungfräuliche Geſtalt, ihr reiches, braunes Haar, das in ſo weichen Wellen von dem Scheitel zum Nacken herabfloß, ihre dunkeln zärtlichen Augen; ihre reizende Schalkhaftig¬ keit, ihr liebliches neckiſches Weſen und ach! vor allem ihre unendliche Güte und Liebe wie deutlich ihr Bild vor ſeiner Seele ſtand! wie heiß er ſich ge¬ lobte, der Lieben, Guten, Holden nie, auch nur in Gedanken untreu zu werden, und komme, was da wolle, ihre Liebe mit unendlicher Liebe zu er¬ wiedern.

Da ertönte Hufſchlag durch den ſtillen Wald und bald tauchte aus dem Halbdunkel ein Reiter auf, der in raſchem Trabe daherkam. Oswald durchfuhr ein freudiger Schrecken, als er in dem Reiter den alten Baumann auf dem Brownlock erkannte.

Einen Brief? Haben Sie einen Brief? rief er mit einer Heftigkeit, die Brownlock einen Schritt zur Seite ſpringen machte.

Ruhig, Brownlock, ruhig, ſagte der Alte, dem Pferde den ſchlanken Hals hätſchelnd; guten Abend, junger Herr! Ich habe Sie ſchon in Saſſitz geſucht, allwo ich erfahren, daß Sie ſich am geſtrigen Tage150 zurück nach Grenwitz begeben. Nun wollte ich ſo eben dorthin reiten

Aber, wenn Sie mich nicht ſelbſt getroffen hätten? und unter welchem Vorwande wollten Sie ſich bei mir einführen laſſen?

Doch gleichviel wo iſt der Brief?

Hier! ſagte der Alte, der unterdeſſen vom Pferde geſtiegen war, ein nicht unbedeutendes Packet aus der tiefen Taſche ſeines langen Ueberrockes holend.

Geben Sie!

Nur Geduld, junger Herr! Ich habe an Alles gedacht. Dies Packet iſt, wie Sie ſehen, wohl zuge¬ bunden und verſiegelt, und trägt die Aufſchrift: Hier¬ bei die bewußten Bücher mit beſtem Dank zurück. Die andern wird Ihnen Baumann zuſtellen, ſobald ich ſie durchgeleſen habe und die Unterſchrift: Ihr ergebenſter B. das kann ja wohl ſo gut Bemper¬ lein als Baumann heißen, nicht wahr?

Der alte Baumann hatte, während er ſprach, die Schnur um das Packet gelöſt und aus einem der drei Bücher, die es enthielt, einen Brief genommen, den Oswald haſtig erbrach und gegen das Licht hielt, um ihn zu leſen. Aber das Dunkel unter den hohen Bäumen war bereits zu dicht; er vermochte nur noch die Ueberſchrift: liebſtes Herz, mit Mühe zu entziffern.

151

Ich kann nichts mehr ſehen, ſagte er traurig.

Wären Sie in Saſſitz geblieben, wie Sie neu¬ lich wollten, oder hätten Sie geſtern nur dem alten Baumann ein Wort zukommen laſſen, ſo wären Sie noch bei guter Tageszeit in Beſitz dieſes Briefes von meiner gnädigen Frau geweſen.

Oswald fühlte wohl den Vorwurf, der in dieſen ſehr ruhig geſprochenen Worten lag und es wurde ihm nicht ſchwer, dem treuen Diener und Freunde Melitta's ſein Unrecht einzugeſtehen.

Verzeihen Sie mir, ſagte er, daß ich Ihnen die zweifache Mühe gemacht habe, ich habe meine Unbe¬ ſonnenheit den ganzen Tag hindurch ſchon verwünſcht und ich bin ſchwer genug dafür beſtraft, denn hier halte ich den theuren Brief in den Händen, und kann doch nicht erfahren, wie es ihr, wie es Frau von Berkow geht, ob ſie wohl iſt, ob ſie glücklich in N. angekommen iſt, und tauſenderlei, was ich Alles wiſſen möchte und was ohne Zweifel hier ſteht und er verſuchte noch einmal den Brief zu leſen.

Nu, nu! ſagte der alte Baumann; wegen meiner haben Sie nun ſchon keine Sorge nicht; ſo eine Meile oder zwei mehr oder weniger, darauf kommt es mir und dem Brownlock nicht eben an. Und was die Nachrichten betrifft, die Sie zu haben152 wünſchen, ſo weiß ich davon auch eine oder die andere mitzutheilen, ſintemalen Herr Bemperlein mir einen Schreibebrief überſandt hat, in welchem die Reiſe und was ſich bei der Ankunft zugetragen, Alles ausführ¬ lich berichtet iſt.

Der alte Mann hatte den Zügel über den Arm gehängt und ging neben Oswald her, der ſeine Schritte beeilte, um möglichſt bald nach Grenwitz und auf ſein Zimmer zu kommen.

Die gnädige Frau Gott behüte ſie, ſagte der Alte, iſt mit Herrn Bemperlein nach Verlauf von drei Tagen glücklich an Ort und Stelle ange¬ kommen. Herr Bemperlein hat ſich ſogleich mit Dr. Birkenhain in Vernehmen geſetzt und erkundet, daß Herr von Berkow noch lebe, auch noch immer ſeiner Be¬ ſinnung mächtig, aber zu ſchwach ſei, um den Beſuch der gnädigen Frau entgegenzunehmen. Das hat nun ſo gedauert bis zum Tage vor dem Abgang des Briefes, allwo die gnädige Frau in Begleitung des Herrn Bemperlein und des Herrn

Der Alte unterbrach ſich und huſtete.

Nun, weſſen? fragte Oswald, deſſen Verdacht in Betreff des Barons Oldenburg wieder erwachte.

Nun, des Herrn Doctors natürlich, weſſen ſonſt, ſagte der Alte; ja, was wollte ich doch gleich ſagen,153 Sie haben mich durch Ihre Frage ganz aus dem Text gebracht richtig: alſo in Begleitung des Herrn Bemperlein und hm, hm! des Herrn Doc¬ tors auf wenige Minuten nur bei dem Baron von Berkow geweſen ſind. Er hat ſie gleich erkannt, aber der gnädige Herr ſoll ſich ſo verändert haben, daß er der gnädigen Frau, wie ſie ſelbſt geſagt hat, wie ein vollkommen fremder unglücklicher Mann erſchienen iſt. Geſprochen hat er nur ein paar Worte, von denen aber nur das eine: Engel, zu verſtehen geweſen iſt. Dann ſind ſie wieder fortgegangen, und alsbald hat der gnädige Herr wieder die Beſinnung verloren und angefangen zu phantaſiren, und der Doctor meinte, das werde wol nun bis zu ſeinem Ende ſo fortgehen, welches denn der Herr Gott in ſeiner Gnade recht bald möge eintreten laſſen, damit der arme Mann von ſeiner Qual befreit iſt und die arme gnädige Frau endlich einmal wieder frei aufathmen kann!

Amen; ſagte Oswald.

Denn ſehen Sie, junger Herr, fuhr der Alte fort, die gnädige Frau hat nicht viel Freude gehabt ihr liebes Leben lang, und das thut mir weh, denn ich habe ſie lieb, als wäre ſie mein eigenes Kind, ja, und wol noch lieber. Denn ich habe freilich ſelbſt nie welche gehabt, aber ich ſehe154 doch, wie es andere Väter mit ihren Kindern machen, und daß ſie ſich nicht ſchämen, nicht blos wie kein Vater, ſondern nicht einmal wie ein Chriſtenmenſch an ihren Kindern zu handeln. Und der Vater von der gnädigen Frau nun, er war mein gnädiger Herr, und ich habe unter ihm die Campagne mit¬ gemacht, und von den Todten ſoll man nichts Uebles reden aber zu Ihnen darf ich es ſchon ſagen, weil Sie uns doch nun nicht mehr fremd ſind ja, das war ein böſer Herr, oder auch eigentlich nicht böſe, aber wild und leichtſinnig, wie der jüngſte Offi¬ zier in ſeinem Regiment. Je toller ein Streich war, deſto lieber war es ihm; na, und tolle Streiche und ſchlechte Streiche, die ſehen ſich manchmal zum Ver¬ wechſeln ähnlich. So dachte er ſich nicht Böſes da¬ bei, wenn er, noch als Verheirateter, den Frauenzim¬ mern gerade ſo nachſtellte, wie er es ſonſt gethan, aber der armen gnädigen Frau, welche eine gar gute, liebe Dame war, brach darüber das Herz, und ſie ſtarb, als ihr einziges Kind erſt zwei Jahre alt war. Da gab es nun eigentlich Niemand, der für das arme Ding ſorgte, als den alten Baumann. Ich hab's herumgetragen und habe mit ihm geſpielt, und hernach, als es größer wurde, habe ich mit ihm ſchreiben und leſen gelernt, was ich damals noch nicht konnte, und155 ein bischen franzöſiſch und was noch ſonſt in meinen alten Kopf hineinwollte. Und hernach habe ich ſie reiten gelehrt, daß ihr nun wol ſo leicht keine darin gleichkommt; und ſo bin ich wieder mit ihr jung ge¬ weſen und hab 'mich nie nach Kindern geſehnt, denn ſie war ja mein liebes, herziges Kind, obgleich ich nur ein armer unwiſſender Reitersmann und ſie ein fürnehmes, hochadliges Fräulein war. Und ich habe manchmal ſo in meinem Sinn gedacht: ob ſie es nicht beſſer im Leben gehabt hätte, wenn ſie wirklich mein Kind geweſen wäre. Denn vornehm ſein und reich ſein, das iſt Alles recht gut, aber ich meine doch, wen Gott lieb hat, den läßt er arm geboren werden. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, mein eigen Fleiſch und Blut um ſchnöden Mammon zu verkaufen; ich hätte nie vor meinem Kinde auf den Knien gele¬ gen und geflennt: dein Vater iſt ehrlos, wenn Du nicht den und den heirateſt, von dem ich wol weiß, daß Du ihn nicht liebſt, der aber ſo viel Geld hat, daß er all meine Schulden bezahlen kann und doch noch genug für euch Beide behält. Und es ſtand gar nicht einmal ſo ſchlimm mit Herrn von Barnewitz. Was er im Spiel verloren hatte, konnte er auch im Spiel wieder gewinnen, und hat's auch hernach zum Theil wieder gewonnen, ſo daß er ſpäter, wenn er156 zu viel getrunken, oft zu mir geſagt hat: hätte ich ge¬ wußt, Baumann, daß ich noch ſolch Glück im Pharao haben würde, da hätte der es war ein häßliches Wort und ein ordentlicher Menſch bringt es nicht gern über die Lippen, da hätte ich Herrn von Berkow auch was anders gegeben, als meine Tochter. Mein einziger Troſt iſt nur, daß ers nicht lange mehr treibt, und dann kann ſie ja noch immer einen andern heiraten. Nun, der gnädige Herr trieb es ſelbſt nicht lange mehr, aber doch noch lange genug, daß er das Unglück, welches er angerichtet hatte, mit ſeinen leiblichen Augen ſehen konnte. Da hätte er gern ſein Leben drum gegeben, um ungeſchehen zu machen, was geſchehen war; aber wer ſich mit dem Teufel einläßt, darf ſich nicht wundern, wenn der liebe Gott nichts von ihm wiſſen will. So war die ſchöne junge Frau eine Witwe und war es doch auch wieder nicht. Reichthum hatte ſie nun, die Hülle und Fülle; aber mir däucht, ſie wäre doch glücklicher geweſen, wenn ſie unter einem Strohdach mit einem braven Mann gelebt hatte, als ſo mutterſeelenallein in dem großen, öden Hauſe. Nun war freilich der Julius da, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und ein Kind iſt noch immer keine Familie. Sehen Sie, junger Herr, das hat mein altes Herz oft bluten157 machen, und wenn ich die liebe gnädige Frau ſo des Abends allein durch den einſamen Garten wandeln ſah, da habe ich oft den lieben Gott gebeten, er ſolle den armen Herrn von Berkow in Gnaden zu ſich nehmen, und verſtatten, daß die arme gnädige Frau doch einmal in ihrem Leben glücklich wird, wie es doch andere Frauen ſind, die nicht werth ſind, daß ſie ihr die Schuhriemen löſen. Reich braucht der Mann nicht zu ſein, denn ſie hat, wenns doch ja Reichthum ſein ſoll, genug für Beide, aber Kopf und Herz muß er auf dem rechten Fleck haben und lieb muß er ſie haben, mehr wie ſeinen Augapfel. Und wenn ich einen ſolchen Mann wüßte, und ihr einen ſolchen Mann verſchaffen könnte, und ich ſähe ſie nun glück¬ lich an der Seite dieſes Mannes, da wollte ich auch beten: nun, Herr, laſſe Deinen Diener in Frieden fahren. Aber da ſind wir ja ſchon am Thore. Nun, wohlſchlafende Nacht, junger Herr! Wenn Sie morgen früh vielleicht eine Antwort auf den Brief von der gnädigen Frau fertig haben, ſo will ich einen Büchſenſchuß weiter in den Wald hinein zwiſchen fünf und ſechs darauf warten. Die gnädige Frau würde ſich doch freuen, wenn Sie recht bald ſchrieben.

Ich werde pünktlich um fünf dort ſein, ſagte Oswald.

158

Na, auf eine halbe Stunde kommt es ſchon nicht an, ſagte der alte Baumann, ſein Pferd beſteigend. Die Poſt geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich wünſche nochmals wohlſchlafende Nacht.

Der alte Mann faßte ſalutirend an ſeine Mütze, lenkte den Brownlock herum und trabte durch die Tannen zurück nach Berkow.

Oswald eilte auf ſeine Stube, ohne Jemand zu begegnen, da die Geſellſchaft von ihrem Spaziergang noch nicht zurück war. Mit zitternder Hand öffnete er den Brief und durchflog ihn mit athemloſer Haſt, um ihn dann langſam wieder und wieder zu leſen, wie man Briefe lieſt, von denen jedes einzelne Wort uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.

Als er ſich ſpät am Abend hinſetzte, die Antwort zu ſchreiben, ertönte derſelbe Geſang, der ihn geſtern Abend in ſo überſchwängliche Begeiſterung verſetzt hatte; heute aber ſchloß er das Fenſter, denn er fühlte, daß ſeine Bewunderung für das ſchöne Mäd¬ chen doch im Grunde ein Verrath an ſeiner Liebe zu Melitta war, obgleich er natürlich, nach Menſchen¬ weiſe, die anklagende Stimme ſeines Gewiſſens mög¬ lichſt zu überhören verſuchte.

[159]

Neuntes Kapitel.

Leider ſollte ihm jeder folgende Tag Gelegenheit geben, ſich in dieſer ſchlimmen Kunſt zu üben.

Gleich am nächſten Morgen, als er von ſeinem Gang in den Wald, wo Baumann an der bezeichneten Stelle ſeiner harrte und den Brief entgegennahm, zurückkehrte, konnte er es ſich nicht verſagen, noch ein wenig in dem Garten zu promeniren. Er wollte eigentlich nur einige Minuten bleiben, nur eben ein¬ mal auf dem Wall die Runde um den Garten machen; aber er hatte die Promenade nun ſchon zweimal vom großen Thor bis wieder zum großen Thor gemacht und begann ſie eben zum dritten Male, denn der Morgen war allerdings köſtlich und, wenn ihn ſeine Augen nicht täuſchten, ſo ſchimmerte durch die Büſche und Bäume auf der andern Seite ein helles Ge¬ wand. Ohne Zweifel eines der Mädchen aus dem Dorfe, die im Garten arbeiteten. Wie erſtaunt war160 er deshalb, als er bald darauf in der ihm Begeg¬ nenden Fräulein Helene erkannte. An ein Ausweichen war nicht zu denken. Es führten von dem Wall nur ſehr wenige ſchmale Treppen in den Garten hinab. So blieb ihm freilich nichts übrig, als, die Hände auf dem Rücken, und die Vögel, die über ihm durch die Zweige flatterten und die Enten unten auf dem Graben mit geſpannter Aufmerkſamkeit beobachtend, langſam weiter zu ſchlendern, und ein ganz klein wenig überraſcht zu ſein, Fräulein Helene genau um dieſelbe Zeit und an derſelben Stelle, wie geſtern, zu begegnen.

Fräulein Helene erwiederte ſeinen Gruß mit jener vornehmen Ruhe, die dem etwas düſtern Charakter ihrer Schönheit ſo gut ſtand, obgleich ſie für ein Mädchen von dieſem jugendlichen Alter faſt zu kalt und vornehm ſchien. Vielleicht wäre ihr Gruß nicht ganz ſo förmlich geweſen, wenn Oswald ſelbſt nicht jede Spur einer freudigen Regung gefliſſentlich unter¬ drückt hätte. Eine kurze, nichts weniger als geiſtreiche Unterhaltung über das Wetter, ein paar gleichgültige Fragen Oswald's über den Spaziergang von geſtern Abend und ein paar kurze Antworten Helene's folgten. Darauf abermalige höflich kühle Begrüßung von beiden Seiten. Fräulein Helene ſetzte ihren Spaziergang161 fort, Oswald hatte ſeine Promenade, die er regel¬ mäßig zwiſchen ſechs und ſieben auf dem Walle mache eine Angabe, die mit der Wahrheit nicht beſonders genau übereinſtimmte beendet und begab ſich auf ſein Zimmer. Schade, daß dieſe prächtige Schönheit doch nur die Hülle einer ziemlich alltäglichen Pſyche zu ſein ſcheint, ſprach er bei ſich. Was Profeſſor Berger wohl ſagen würde, wenn er ſeine liebliche Knospe jetzt zu einer dunkelrothen Roſe entfaltet ſähe? ob er wieder einen Sonettenkranz flechten und auf das üppige Haar drücken würde? Guter Berger, war es ein Stück des guten oder des böſen Engels, die ſich ewig in Deiner großen Seele bekämpfen, daß Du mich hierher in's Lager unſerer Feinde ſchickteſt? Ich ſollte Dir viel ruhmreiche Trophäen zurückbringen, Scalps erſchlagener Irokeſen, die wir in unſerem Wigwam aufhängen wollten, um unſere Freude daran zu haben wie würdeſt Du erſtaunen, wenn Du hörteſt, wie oft ſchon Dein Unkas nur mit genauer Noth dem Scalpirtwerden entgangen iſt! Aber das eine Verſprechen will ich halten: ich werde mich nicht in dieſe frühbeſungene Schönheit verlieben nein, und wenn ſie eben ſo geiſtreich wäre, wie ſie ſchön iſt.

Als Oswald zur Mittagstafel nach unten kam, wurde er auf's angenehmſte durch die Gegenwart desF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 11162[Doctor] Braun überraſcht, der vor einigen Minuten gekommen war und die Einladung der Baronin, zu Mittage auf dem Schloſſe zu bleiben, angenommen hatte.

Der Doctor erwies ſich in dem größeren Kreiſe als ein eben ſo bequem geſelliger, fein gebildeter Mann, wie ihn Oswald bis dahin gekannt hatte; ja, Oswald hatte jetzt noch mehr Gelegenheit, die aus¬ gezeichnete Unterhaltungsgabe und die ſichere Haltung des jungen Arztes zu bewundern. Und was noch mehr für Doctor Braun einnehmen mußte, und ihm auch wirklich Aller, wenigſtens aller Verſtändigen, Herzen gewann, war, daß er ſich ſeiner Vorzüge ent¬ weder wirklich nicht bewußt war, oder wenigſtens nicht bewußt zu ſein ſchien. Nichts lag ihm ferner als ein Geltenmachen ſeiner Perſon; im Gegentheil, er hatte ſeine Freude daran, wenn er Andere zur Entwickelung ihrer Anſichten bringen konnte: und ſo war er ein nicht minder geduldiger und guter Zu¬ hörer, als gewandter Sprecher zwei Tugenden, die ſich ſo ſelten zuſammen finden.

Oswald ſah mit einigem Erſtaunen, daß, wenn der Doctor irgend Jemand in der Geſellſchaft aus¬ zeichnete, es nur Fräulein Helene ſein konnte, und mit nicht minder großer Verwunderung, daß die junge163 Dame dem Doctor gegenüber offenbar einen Theil ihrer vornehmen Kälte ablegte. Sie hatten ſchon vor Tiſche zuſammen muſicirt, eine Sonate à quatre mains geſpielt; ſodann hatte Helene einige Lieder ge¬ ſungen, die ihr der Doctor begleitete. Bei Tiſche ſaßen ſie nebeneinander und unterhielten ſich lebhaft über die verſchiedenen Style in der Muſik, wobei der Doctor eine ſehr detaillirte Kenntniß des General¬ baſſes und Fräulein Helene zum mindeſten ein leb¬ haftes Verſtändniß für muſikaliſche Dinge entwickelte; und als er ſich gleich nach Tiſch empfahl, bedauerte ſie ſeine Eile ſo lebhaft, bat ihn ſo dringend, ihr die verſprochenen Noten recht bald zu ſchicken nein, lieber ſelbſt zu bringen, damit ſie dieſelben gleich zu¬ ſammen durchgehen könnten, daß der Doctor, wenn er es darauf angelegt hatte, einen möglichſt günſtigen Eindruck auf die junge Dame zu machen, mit ſeinem Erfolge ganz wohl zufrieden ſein durfte.

Sie ſind nicht muſikaliſch? fragte er Oswald, dem er noch für ein paar Minuten, bis die Pferde angeſchirrt wurden, auf ſein Zimmer gefolgt war.

Nein, und die Eintracht ſüßer Töne lockt mich ſo wenig, daß ich geſtern Abend, als Fräulein Helene die Barcarole ſang, von der Sie ſo entzückt waren, ſogar das Fenſter ſchloß.

11 *164

Das iſt in der That merkwürdig. Ich erinnere mich nicht, eine ſo weiche, ſo ich möchte ſagen myſtiſche Altſtimme gehört zu haben.

Sollte die Schönheit der Sängerin nicht die Reinheit des Urtheils in etwas trüben?

Nein, ich verſichere Sie, daß ich ganz objectiv urtheile; obgleich ich gern zugebe, daß eine ſo dämo¬ niſche Schönheit mehr in das Reich der Träume, als in die reale Welt zu gehören ſcheint.

Der Doctor hatte ſich in Oswald's Lehnſtuhl ge¬ ſetzt und blies den Rauch der Cigarre, die er ſich eben angezündet, in blauen Wolken durch das offene Fenſter.

Es iſt eine Schönheit, ſagte er, die einen Maler zur Verzweiflung bringen könnte, weil ſie ſich gerade in ihrer duftigſten Blüthe durch Linien und Farben gar nicht mehr ausdrücken, ſondern ſich nur in Muſik überſetzen läßt. Ich wollte Beethoven hätte ſie geſehen, oder Robert Schumann; und dann ſollten Sie die geiſterhafte, dämoniſche Compoſition hören, zu welcher dieſe Erſcheinung die Beiden begeiſtert hätte.

Aber, wer von uns Beiden iſt denn nun der Schwärmer? fragte Oswald lächelnd; Sie oder ich?

Sie, ſagte der Doctor, denn der höchſte Grad der Extaſe iſt tiefes Schweigen. Wer noch Worte165 für ſeine Begeiſterung findet, hat die Zügel noch in der Hand. Und dann kann ich ein ſchönes Mädchen¬ bild ſehen, und auch dafür ſchwärmen, ohne daß mir, wie Sie ſehen, die Cigarre auch nur einen Grad weniger gut ſchmeckte. Sie aber ſind im Stande darüber Eſſen und Trinken und Alles zu vergeſſen mir ſich, Hals über Kopf, in die Charybdis Ihrer Begeiſterung zu ſtürzen, ohne auch nur daran zu denken, ob Sie im Stande ſein werden, jemals wie¬ der zum roſigen Lichte aufzutauchen.

Wiſſen Sie das ſo gewiß?

Ganz gewiß; ich habe Ihnen in der letzten Zeit ein eingehendes Studium gewidmet, und gefunden, daß Sie eines der vortrefflichſten Exemplare einer in unſeren Tagen ziemlich weit verbreiteten Species ge¬ neris humani ſind, Nachkommen des weiland vom Teufel geholten Doctor Fauſtus, Fauſtuli posthumi, ſo zu ſagen, die den langen Docentenbart abge¬ ſchnitten, auch nicht im romantiſchen Rittercoſtüm, ſondern einfach im modernen Frack einherſpazieren; im Uebrigen aber auf gut fauſtiſch von Begierde zu Genuß taumeln, und im Genuß nach Begierde ver¬ ſchmachten.

Problematiſche Naturen, nennt ſie der Baron Oldenburg, bemerkte Oswald.

166

Eine ſehr gute Bezeichnung, ſagte der Doctor. Freilich der Baron muß es wiſſen, der iſt ſelbſt von der Brüderſchaft und ich vermuthe, daß er einen ziem¬ lich hohen Grad einnimmt. Wenigſtens nach Allem, was ich von ihm höre, denn geſprochen habe ich ihn nie, und nur einmal flüchtig geſehen.

Der Baron iſt ein räthſelhafter Charakter, über den es ſehr ſchwer hält, ſich ein richtiges Urtheil zu bilden.

Wäre er ſonſt eine problematiſche Natur? Ich höre, Sie ſind ein ſpecieller Freund des Barons, einer von den wenigen, die er, wie es heißt, auf Er¬ den hat. Und gerade deshalb ſpreche ich offen. Ich kann es nicht billigen, daß ein Mann von den emi¬ nenten Gaben des Barons ſein Leben in Müßiggang verdämmert in einem geſchäftigen Müßiggang, der ſchwerſte Vorwurf, der meiner Meinung nach einen Mann in unſerer Zeit treffen kann, wo es wahrlich ſo viel, ſo viel zu thun giebt.

Was kann der arme Baron dafür, daß ihm der Speck und das Brod des Alltagsleben nicht ſchmeckt?

Glauben Sie denn, daß es mir ſchmeckt? ſagte Doctor Braun, und ſeine Wangen rötheten ſich und ſeine Augen leuchteten; glauben Sie, daß der herr¬ liche Gott Apollo, als er die Rinder des Admet wei¬167 dete und im Schatten der Eiche das ſchnöde Sklaven¬ mahl verzehrte, ſich nicht zurückſehnte nach der Am¬ broſia und dem Nektar auf den goldenen Tiſchen im Hauſe des Zeus? Dennoch trug er ſein Loos und duldete das Verhängniß, wie der noch viel herrlichere Jeſus von Nazareth das ſeinige. Und ich muß ge¬ ſtehen, mir erſchien es immer als eine grobe Incon¬ ſequenz, daß des Menſchen Sohn von allen, zum we¬ nigſten von den ſtärkſten menſchlichen Banden los und ledig dargeſtellt wird. Sollte er den Leidenskelch wirk¬ lich bis auf den letzten bitterſten Tropfen leeren, mußte er durch die ſtille Nacht auf dem Oelberge die Stimmen eines angebeteten Weibes, geliebter Kin¬ der zu hören glauben, die ängſtlich nach dem Gatten, dem Vater riefen. Denn menſchlich allem Menſch¬ lichen ergeben ſein, und dennoch die himmliche Ab¬ kunft nicht vergeſſen und dennoch bis an den Tod mit den reißenden Wölfen der Tyrannei und Lüge kämpfen und das ſchwere Kreuz des ganz Gemeinen und ewig Geſtrigen, das auf uns laſtet, bis nach Golgatha tragen das erſcheint mir als das eigentliche Loos des Menſchenſohns!

Der Doctor war aufgeſprungen; er ging ein paar Mal mit raſchen Schritten in dem Gemache auf und ab, dann blieb er vor Oswald ſtehen, ſtreckte ihm168 mit herzgewinnender Freundlichkeit die Hand entgegen und ſagte: Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie durch dies oder jenes Wort, das vielleicht weniger überlegt war, gekränkt haben ſollte. Aber ich gerathe jedes¬ mal in Aufregung, wenn ich eine hohe Intelligenz feiern, oder in einer falſchen Richtung thätig ſehe. Das erſte iſt die Sünde gegen den heiligen Geiſt, die un¬ ſerer Sünden größte iſt, die zweite iſt nicht ganz ſo groß, aber kommt jener faſt gleich. Von jener ſpreche ich Sie los, dieſer erkläre ich Sie für ſchuldig. Sie wiſſen, wie ich über Ihre Stellung hier ſchon neulich dachte; jetzt, nachdem ich Sie zum erſten Male in dem Kreiſe ſelbſt geſehen habe, finde ich das Verhältniß noch viel bedenklicher. Geben Sie es auf, ehe es zu ſpät iſt! Es mag eine entſetzliche Indiscretion ſein, daß ich mir erlaube, ſo zu Ihnen zu ſprechen; aber Sie wiſſen, wir Aerzte haben einmal das Recht, in¬ discret zu ſein. Sind Sie mir bös?

Ich wäre der lächerlichſte Narr, wenn ich ſo ſchwach ſein könnte, antwortete Oswald. Im Ge¬ gentheil, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir eine Theilnahme zeigen, die ich ſogar nicht verdient zu haben mir bewußt bin. Aber ich glaube, Sie ſehen die Dinge ein wenig zu ſchwarz

Blos zu ſchwarz? ſagte der Doctor lachend;169 ich ſehe ſie weder grau noch ſchwarz, ich ſehe ſie gar nicht; ich bin blind, ſtockblind auf beiden Augen. Adieu, mon cher, adieu. Wenn ſie ſich über kurz oder lang nicht mehr ſo kerngeſund fühlen ſollten, wie zu dieſer Stunde ſo ſchicken Sie nur zu mir! Sie ſollen ſehen, daß ich nicht blos ein Arzt für die Geſunden bin, ſondern auch für die Kranken.

Mit dieſen Worten eilte der Doctor zur Thür hin¬ aus, und einen Augenblick ſpäter hörte Oswald das Knirſchen der Räder ſeines Wagens auf dem Kies vor dem Portale.

[170]

Zehntes Kapitel.

Es iſt bekanntlich das Schickſal faſt jeden guten Raths, daß er entweder zu ſpät kommt, oder in dem Augenblick, wo er gegeben wird, ausgeführt werden müßte, und nur leider aus dieſem oder jenem Grunde nicht ausgeführt werden kann. So war es auch in dieſem Fall. Der Rath des Doctors war vortreff¬ lich; das ſah ſelbſt Oswald ein, um ſo mehr als er noch vor ganz kurzer Zeit über ſeine ſchiefe und ganz unhaltbare Situation in dieſer hochadligen Familie nicht viel anders gedacht hatte, als der Doctor. Aber einen Ausweg aus dieſem Labyrinth vermochte er nicht zu entdecken; wenigſtens nicht für den Augen¬ blick. Daß er in der letzten Zeit über ſeine Liebe zu Melitta alles Andere vergeſſen und an eine Verän¬ derung, die ihn ſofort von der Geliebten entfernen mußte, am wenigſten gedacht, ja die Möglichkeit einer ſolchen als das größte Unglück angeſehen hatte, war171 ſo natürlich. Und[auch] jetzt, wo durch Melitta's Reiſe und durch den wahrſcheinlichen Tod des Herrn von Berkow die Gegenwart und die Zukunft gleich dunkel und verworren ſchien, konnte er ſich unmöglich über einen Punkt entſcheiden, der für Melitta nicht weniger wichtig war, als für ihn ſelbſt. Und dann, ganz abgeſehen von ſeinem Verhältniß zu Melitta, hatte er ſo gar keinen oſtenſibeln Grund, die Stel¬ lung, zu der er ſich auf mehre Jahre verpflichtet hatte, aufzugeben, daß er einen Bruch hätte gewalt¬ ſam herbeiführen müſſen. Ein ſolcher Staatsſtreich aber würde zu jeder Zeit für Oswald's Hamlet-Natur etwas Peinliches und Widerliches gehabt haben, und jetzt, wo die Baronin, gegen die er ſich doch in einem ſolchen Falle wenden mußte, ſich offenbar bemühte, mit ihm, ebenſo wie mit aller Welt, in Frieden und Freundſchaft zu leben, fehlte es ihm ſogar an dem Allerwichtigſten, an einem Gegner, welcher den von ihm hingeſchleuderten Fehdehandſchuh hätte aufnehmen können und mögen.

Ueberdies hatte er noch ganz kürzlich der Baronin den Gang des Unterrichts der Knaben bis zu der Zeit, wo er mit ihnen die projectirte große Reiſe durch Deutſchland, England, Frankreich, vielleicht auch Ita¬ lien antreten würde, ausführlich geſchildert, mit einem172 warmen Intereſſe, das, wenn es ſeine Abſicht war die Ausführung dieſes Planes einem Andern zu über¬ laſſen, mindeſtens unerkärlich ſchien. Auch auf den Wunſch der Baronin, mit Fräulein Helene die durch ihren Fortgang von der Penſion unterbrochenen Stu¬ dien wieder aufzunehmen, war er bereitwilligſt einge¬ gangen; und morgen ſchon ſollten dieſe Lectionen, an denen auch die lernluſtige Baronin manchmal theilzu¬ nehmen verſprach, ihren Anfang nehmen.

Und, abgeſehen von dem Allen, ſo hätte er ja doch, ging er von Grenwitz fort, auch Bruno verlaſſen müſſen, Bruno, den er ſo brüderlich liebte, deſſen glänzende Fähigkeiten zu entwickeln, ihm eine ſo köſt¬ liche Aufgabe däuchte, den in die Wiſſenſchaft und hernach in das Leben einzuführen, bisher einer ſeiner liebſten Wünſche geweſen war!

Die kurze Reiſe ſchien, wie auf Alle, ſo auch auf Bruno, einen ſehr wohlthätigen Einfluß gehabt zu haben. Er hatte viel von ſeinem trotzig düſtern Weſen abgelegt; er ſuchte jetzt die Geſellſchaft, die er früher im Verein mit Oswald gemieden hatte, auf und gab auch Oswald gute Worte, an Spaziergängen und andern gemeinſamen Vergnügungen Theil zu nehmen. Er ahnte nicht, daß Oswald ihm durchaus kein großes Opfer brachte, wenn er dieſen Bitten nachgab, ja daß173 dieſer ſich nur zum Schein bitten ließ, um vor ſich ſelbſt die Inconſequenz, deren er ſich in dieſer Be¬ ziehung ſchuldig machte, zu beſchönigen. Bruno, von Oswald mit ſeinem Intereſſe an Dingen und Perſo¬ nen, die ihm ſonſt gleichgültig oder verhaßt geweſen waren, geneckt, ſagte, er wiſſe nicht, was mit einem Male über ihn gekommen ſei; ihm ſei zu Muthe, wie einem Vogel, der, aus ſeinem Käfig entflogen, die Freiheit wieder erlangt habe, wie einer Blume, wenn nach Sturm und Regen die Sonne wieder ſcheine. Und wirklich, Bruno war ausgelaſſen wie ein Vogel und in dieſer ſeiner Heiterkeit, ſchön wie eine Blume, die eben dem Lichte den vollen Kelch erſchließt. Es war unmöglich, den herrlichen Knaben nicht zu be¬ wundern: ſeine Freundlichkeit war eben ſo hinreißend liebenswürdig, wie ſein Trotz abſtoßend und oft ge¬ radezu beleidigend war. Alle waren miteinander dar¬ über einig, daß eine merkwürdige Veränderung mit Bruno vorgegangen ſei; was aber dieſe Veränderung hervorgebracht hatte, das wußte, das ahnte Keiner.

Dennoch hätte der Grund derſelben einem ſcharf¬ ſichtigen Beobachter nicht entgehen können, und würde auch wol Oswald nicht entgangen ſein, wenn er mit ſeinen eigenen Herzensangelegenheiten nicht ſo vollauf beſchäftigt geweſen wäre. Schon die Unterhaltung mit174 Bruno am erſten Abend hätte ihm einen Aufſchluß geben müſſen. Wie Helene's Name dort wieder und immer wiederkehrte, ſo ließ ſich jetzt Alles, was der Knabe ſagte und that, ſchließlich auf Helene zurück¬ beziehen, obgleich er allerdings, dem Vogel gleich, der durch Hin - und Herflattern den Verfolger von ſeinem Neſt fortzulocken ſucht, ſorgfältig darauf bedacht war, Andere vorzuſchieben und ſich für Helene gerade am wenigſten zu intereſſiren ſchien. Denn nicht nur die Schande, auch die Liebe wird heimlich geboren und in Heimlichkeit gepflegt und genährt, zumal wenn das Herz, das ſie gebar, jung und unſchuldig iſt, ſo un¬ ſchuldig, daß es kaum weiß, wie ihm geſchah, und nur das Eine fühlt, daß ein Gott es berührt hat. Was iſt nur mit dem Knaben, fragten ſich die Andern, wenn ſie ſahen, wie ſeine dunkeln Augen leuchteten, wie ſtolz und kühn ſeine Haltung, wie elaſtiſch ſein Schritt war; wenn ſie ſeine Stimme hörten, die bald ſo weich war, wie lauer Abendwind, bald in der Auf¬ regung des Spiels, oder wenn ſonſt etwas ſeine Ener¬ gie herausforderte, klar und ſcharf und machtvoll wie Trommetenton.

Und wenn es wirklich manchmal ſchien, als ob Bruno nur ſeiner ſchönen Couſine zu Liebe dem Ein¬ ſiedlerleben entſagt habe, ſo konnte dies um ſo we¬175 niger auffallen, als Alle mehr oder weniger ſeit der Reiſe ſich verändert hatten, und Alle mehr oder we¬ niger dem neu aufgegangenen glänzenden Stern hul¬ digten. Oder weshalb war die Baronin jetzt ganz Freundlichkeit und Güte? Weshalb erſchien ſie bei Tiſch jetzt ſtets mit einem lächelnden Geſicht und be¬ mühte ſich, die Unterhaltung während der Mahlzeit nicht in's Stocken gerathen zu laſſen? weshalb ließ der Baron, zum großen Aerger des ſchweigſamen Kutſchers, ſobald nur der Wunſch ausgeſprochen war, dieſen oder jenen weiter gelegenen Punkt zu beſuchen, die ſchwerfälligen Braunen anſpannen während ſo etwas vor der Reiſe geradezu ein Ereigniß hätte ge¬ nannt werden müſſen? weshalb hatte Herr Timm jetzt zum erſten Male ſeinen Frack aus der Ecke des melancholiſchen Koffers hervorgeſucht und mit dem Frack, wie es ſchien, eine etwas weniger nachläſſige Haltung und eine etwas weniger burſchikoſe Sprache? weshalb klang der Ton von Mademoiſelle Margueri¬ te's Stimme jetzt etwas weniger ſcharf, wie ſonſt? und weshalb hatte ſie ſich gerade jetzt darauf beſonnen, daß ſie ein paar recht hübſche ſeidene Schleifen beſitze, die ſchon ſeit Jahren in ihrer Commode müßig ge¬ legen hatten? weshalb gab ſich jetzt ſelbſt Malte beim Reifenſpiel Mühe, die Spielregeln zu beobachten und176 den ihm zugeſchleuderten Reifen womöglich aufzu¬ fangen?

Ob Fräulein Helene wußte, daß ſie die Urſache aller dieſer großen und kleinen Veränderungen war? Es war ſehr ſchwer, zu ſagen, ob Fräulein Helene etwas bemerkt hatte oder nicht; ja, ob ſie ſich über etwas freute oder nicht, ob ſie heiter war oder nicht; ob Jemand in der Geſellſchaft für ſie vorhanden war, oder nicht. Ihre ſtolze ruhige Miene veränderte ſich ſehr ſelten, und das lächeln, zu dem ſie ſich gelegent¬ lich herabließ, war, obgleich außerordentlich reizend, doch ſo flüchtig, daß man nicht wol den Antheil, den ihr Herz etwa dabei hatte, beſtimmen konnte. Sie war gegen ihre Eltern ganz die gehorſame, aufmerk¬ ſame Tochter, gegen ihren Bruder die ältere Schwe¬ ſter, die, wenn ſie die Schwächen des Bruders ſchonen ſoll, auch ihrerſeits reſpectirt zu werden wünſcht; gegen Mademoiſelle Marguerite ganz die freundliche Herrin, die ſich in jedem Augenblicke des Unterſchiedes der Stellung bewußt bleibt; gegen Oswald und Albert ganz die vornehme junge Dame, welche von der Pen¬ ſion her noch ſehr gut weiß, wie tief die Verbeugung vor Herren in niedrigeren Lebensſtellungen ſein muß und nur für Bruno ſchien ſie eine herzlichere Zu¬ neigung zu haben, nur ihm gegenüber ließ ſie ein177 wenig von der ruhig vornehmen Haltung nach, die ſie im Uebrigen ſo wenig ablegen zu können ſchien, wie die dunkle Farbe ihres reichen Haares, oder den tiefen Glanz ihrer großen grauſchwarzen Augen.

Aber wenn ſelbſt die Baronin ſich gegen ihren Gemahl über Helene's faſt allzuſchroffes Weſen be¬ klagte, wenn ſie die Bemerkung machte, die lange Ab¬ weſenheit ſcheine denn doch Helene ihrer Familie etwas entfremdet zu haben, ſo war dies freilich nur zu wahr, aber die Schuld daran traf weniger die junge Dame, als die Baronin ſelbſt. Sie war es geweſen, auf deren Wunſch Helene ſo lange Jahre fern von ihrem elterlichen Hauſe geweſen war; ſie hatte dem ſchwachen Gemahl, wenn er ſich nach der geliebten Tochter ſehnte, auseinandergeſetzt, wie vortheilhaft für die Tournüre und für die Bildung einer jungen Dame es ſei, wenn ſie ſo früh wie möglich in die ſtrenge Schule eines Muſterpenſionats komme und ſo lange wie möglich dort bleibe; ſie hatte ſchon vorher, wenn die Kleine ſich liebevoll an ſie ſchmiegen wollte, nur eine kalte Miene und ein paar kühle franzöſiſche Redensarten für ſie gehabt, bis das Kind, größer geworden, die Hoffnungsloſigkeit des Verſuchs, einen Weg zum Mut¬ terherzen zu finden, einſah und ſie fortan mit Lieb¬ koſungen, die nicht erwiedert wurden, verſchonte. DieF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 12178arme Kleine mußte das Unrecht, kein Knabe zu ſein und nichts zur Sicherung des Majorats in der Fa¬ milie thun zu können, ſchwer büßen, und ſie hätte wol noch lange, von der Mutter halb vergeſſen, in der Verbannung leben können, wenn dieſe nicht endlich auf den Gedanken gekommen wäre, ob Helene durch eine Heirath mit ihrem Couſin Felix, dem Majorats¬ erben der Grenwitz'ſchen Güter nach Malte's Tode, nicht doch vielleicht mittelbar zur Erhaltung der Herr¬ ſchaft beitragen könne. Daß dieſer Gedanke ſich würde ausführen laſſen, daran zweifelte die energiſche Frau nicht. Felix hatte nicht nur das Project höchlichſt gebilligt, ſondern ſchon alle Schritte gethan, die ihm die Baronin als nothwendige Präliminarien zum ab¬ zuſchließenden Heirathscontract bezeichnete. Er hatte ſeinen Abſchied genommen; er hatte die Garniſons¬ ſtadt, den Schauplatz ſeiner Heldenthaten, verlaſſen und ſich auf ſeine Güter begeben, vermuthlich um ſich die Stellen anzuſehen, wo einſt die ſchönen Waldungen ſtanden, die er erbarmungslos hatte umhauen laſſen, um die dringendſten Gläubiger zu befriedigen. Baron Felix hatte die Gewohnheit, Jedem, der ihm Geld lieh, Alles zu verſprechen, was man verlangte warum ſollte er nicht der Baronin verſprechen, ihre Tochter zu heirathen, wenn ſie ſich anheiſchig machte, ſeine179 Schulden, die drückendſten wenigſtens, zu bezahlen und ihm zu helfen, die in Grund und Boden gewirth¬ ſchafteten Güter wieder nutzbar zu machen? Von dieſer Seite ſah die Baronin alſo nicht das kleinſte Hinderniß der Ausführung ihres Projects. Von Sei¬ ten Helene's erwartete ſie eben ſo wenig einen ernſt¬ lichen Widerſtand, oder genauer, hatte ſie bis zu dieſem Augenblick einen ſolchen nicht erwartet. Sie hatte vergeſſen, daß ſie ihre Tochter drei Jahre lang nicht geſehen, daß drei Jahre viel zu ändern ver¬ mögen und unter anderm auch aus einem trotzigen, aber doch aus Furcht und Gewohnheit gehorſamen vierzehnjährigen Mädchen eine ſiebenzehnjährige ſtolze junge Dame machen können, die unterdeſſen verlernt hat, vor ihrer Mutter zu zittern und unter Leitung einer ſtrengen, aber hochherzigen Erzieherin viel zu ſelbſtändig geworden iſt, um ihren Willen ſo ohne Weiteres dem eines Anderen, er ſei auch, wer er ſei, unterzuordnen.

Dies erkannte die Baronin faſt auf den erſten Blick, als ſie im Empfangsſaale der Penſion ihre Tochter zur Thür hereintreten ſah. An der Tournüre der jungen Dame, die ohne Haſt, aber auch nicht zu langſam, auf die Mutter zuſchritt, ihr die dargebotene Hand küßte und dann einen Schritt zurücktretend, wie12*180weiterer Befehle gewärtig, in ruhiger Haltung ſtehen blieb, war ſicher nichts auszuſetzen; aber die großen Augen blickten ſo ſtolz und gelaſſen, und die Worte fielen ſo gemeſſen von den ausdrucksvollen Lippen, daß die Mutter fühlte, bei dieſer ihrer Tochter, die ihr ſo fremd erſchien, könne ſie auf kindlichen Ge¬ horſam, auf einen Gehorſam aus Liebe, mit Sicher¬ heit nicht rechnen. Das große Project, welches ſie ſo ganz fertig im Kopf trug, erſchien ihr plötzlich in ſehr ungewiſſem Lichte, und die erſten Worte, die ſie nach dieſer Begegnung zu ihrem Gemahl ſprach, waren: Ich glaube, lieber Grenwitz, wir werden in der Heirathsangelegenheit recht vorſichtig zu Werke gehen müſſen. Du würdeſt mich verpflichten, wenn Du mir die Sache vollkommen überließeſt. Eine ungeſchickte Einleitung, ja nur eine Andeutung zur unrechten Zeit könnte leicht Alles verderben; eine Aufforderung, welcher der gute alte Mann um ſo lieber nachkam, als ſelbſt ſein felſenfeſter Glaube an die Unfehlbarkeit ſeiner Anna-Maria nicht im Stande geweſen war, die Bedenken, welche er gegen das Heirathsproject hatte, gänzlich zu beſeitigen.

Die Baronin ſah ein, daß im Falle Couſin Felix vor Helene's Augen keine Gnade finden ſollte und dieſer Fall war zum mindeſten nicht unmöglich 181 durch Einſchüchterung, durch Gewaltmaßregeln nichts ausgerichtet werden könnte, und daß Güte nicht nur der ſicherſte, ſondern auch der einzige Weg ſei. So war ſie denn gütig, nach ihren Begriffen äußerſt gütig gegen die ſchöne Tochter, und damit die Andern nicht merkten, worauf dies Alles hinausging, oder auch nur um in der Uebung zu bleiben, war ſie es gegen dieſe auch. Seltſamerweiſe indeſſen ſchien gerade die, für welche dieſe Gnadenſonne leuchtete, am wenigſten da¬ durch erwärmt zu werden. Helene veränderte ihre ruhig abgemeſſene Haltung, ihr höflig kühles Weſen auch nicht im Mindeſten: die von der Baronin ſtets ſo gerühmte Penſion hatte in der Erziehung Fräulein Helene's offenbar ein Meiſterſtück geliefert.

Und dennoch war dieſes junge Herz, das ſo kalt, ſo unzugänglich ſchien, warmer Gefühle wol fähig. Sie hatte, als ſie von ihren Freundinnen und der hoch verehrten Lehrerin Abſchied nahm, heiße Thränen geweint, die ſie freilich, als die Mutter eine Bemerkung darüber machte, ſofort trocknete; ſie erwies dem Vater manche Aufmerkſamkeiten, auf welche die bloße Höflich¬ keit nie verfällt; ſie konnte ein armes Kind nicht blos beſchenken, ſondern auch an die Hand nehmen und freundlich mit ihm ſprechen. Ihre Freundinnen, deren ſie allerdings immer nur ſehr wenige beſaß, hatten182 niemals Urſache gehabt, über Liebloſigkeit von Seiten Helene's zu klagen; und die Briefe, die ſie von Gren¬ witz aus nach Hamburg ſchrieb, waren der Beweis, daß ſie wenigſtens gegen die, welche ſie liebte, weder kalt noch verſchloſſen war. So ſchrieb ſie unter anderem an Mary Burton, eine junge ſchöne Engländerin, die ſie von allen Freundinnen am meiſten liebte und die einen großen Einfluß auf ſie ausgeübt hatte.

Doch das ſind tempi passati, meine gute Mary? ich muß nun lernen mich an der Muſik zu ergötzen, ohne ſie zuſammen mit Dir zu hören, und eine Ge¬ ſellſchaft erträglich zu finden, in der ich nicht Deinen holden Augen begegne. Biſt jetzt freilich fehlſt Du mir überall, und auch die andern; bis jetzt halte ich es nur für eine Möglichkeit, auch ohne euch froh ſein zu können. Glaube indeſſen nicht, daß man mir hier unfreundlich begegnet! im Gegentheil, ich muß geſte¬ hen, daß mir die Meinigen über all mein Erwarten liebenswürdig entgegen gekommen ſind. Von meinem Vater hatte ich es freilich nie anders erwartet, aber Du haſt ja die Briefe meiner Mama geleſen! Du meinteſt ja, ſie glichen ſich wie eine Schneeflocke der anderen auch ſie iſt viel weniger ſtreng, als ich ſie von früher her kannte und als ſie in ihren Briefen erſcheint. Sie läßt mir alle nur möglichen Freiheiten;183 ich kann was wir uns in der Penſion immer als das Höchſte dachten thun und laſſen, was ich will. Meine Zimmer liegen im Erdgeſchoß des alten Schloſſes, dicht über dem Garten, in welchen aus meinem Sa¬ lon eine Thür mit ein paar Stufen hinabführt. So lebe ich ganz ungeſtört, obgleich ich mit wenigen Schritten über die Corridore in die Wohnzimmer ge¬ langen kann. Du weißt, ich fürchtete ſchon, hier nicht meiner großen Leidenſchaft, des Abends ſpät, wenn Alles rings um mich her ſtill iſt, zu muſiciren, folgen zu können. So bin ich dieſer Sorge vollkommen überhoben, und ich habe auch ſchon jeden Abend von dieſer Freiheit den ausgedehnteſten Gebrauch gemacht. Ich ſtöre ja Niemanden, es müßten denn einige Her¬ ren ſein, die ebenfalls in dieſem Theile des Schloſſes irgendwo über mir hauſen, glücklicherweiſe zur Kate¬ gorie derer gehören, die man in eurer aufrichtigen Sprache ſo glücklich mit dem Ausdruck Nobody be¬ zeichnet. Es ſind nämlich der Hauslehrer, ein ge¬ wiſſer Herr Stein, und ein Geometer, der für Papa arbeitet, und den ariſtokratiſchen Namen Timm führt. Sie können Beide für hübſche Männer gelten, oder, um ganz aufrichtig zu ſein, ich vermuthe faſt, daß Du den Herrn Stein handsome and very gentle¬ manlike indeed finden würdeſt; aber Du brauchſt184 deshalb nicht zu glauben, daß ſie, oder einer von ihnen, einen beſonderen Eindruck auf mich gemacht hätten. Ich habe eine Antipathie gegen Leute in dergleichen untergeordneten Stellungen, wie etwa gegen Kattun¬ kleider oder böhmiſche Diamanten. Das mag recht gut ſein für Bürgermädchen und Gouvernanten, aber für uns paßt es nicht. Ich ſehe die Herren des Mittags, des Abends im Uebrigen exeſtiren ſie nicht für mich. Herrn Stein begegne ich außerdem noch jeden Morgen früh im Garten, denn die Vögel ſingen hier ſo dicht unter meinen Fenſtern, daß man aufſtehen muß, man mag wollen oder nicht. Ich wäre dieſen Begegnungen gern überhoben, aber was läßt ſich thun? Ich kann dem armen Menſchen, der her¬ nach von ſieben bis elf den Knaben Unterricht er¬ theilt, nicht wohl verbieten, die einzige freie Morgen¬ ſtunde, die er hat, zu benutzen, und wenn ich ſelbſt ſpäter ginge, ſo käme ich wieder um den ſchönſten Genuß; alſo: ich muß es mir gefallen laſſen non son 'rose senza spine! Uebrigens iſt dieſer Stein, trotzdem er nur ein böhmiſcher Diamant iſt, ſo fein geſchliffen, daß ihn ein weniger geübtes Auge leicht mit einem echten verwechſeln könnte. Er hat, was man bei Leuten aus den unteren Ständen ſo ſelten findet, viel Haltung und Selbſtbeherrſchung. Er hat185 eine Weiſe, mit der ruhigſten Miene von der Welt, Jemandem, er ſei, wer er ſei, eine Schmeichelei oder eine Malice zu ſagen, die wirklich in Erſtaunen ſetzt.

So ſagte er geſtern, als wir uns zum dritten Male zur ſelben Zeit und an demſelben Orte auf dem Walle begegneten und daſſelbe Geſpräch über das Wetter geführt hatten, ob wir nicht in Zukunft bis eine Veränderung des Wetters einträte, ganz ein¬ fach weiter nichts, als: wie geſtern ; ſagen wollten? Wir wären denn doch nicht ganz ſtumm an einander vorübergegangen, was für Hausgenoſſen immer etwas Peinliches habe, und dabei wären doch die Koſten der Converſation beinahe bis auf Null reducirt, eine Erſpar¬ niß, die ſelbſt für den Geiſtreichſten hierbei eine halb ironiſche Verbeugung nicht ganz unbedeutend ſei. Das war doch ziemlich ſtark; aber wie geſagt, er bringt dergleichen mit ſo ruhigem Lächeln vor, daß man niemals weiß, ob er es im Scherz oder im Ernſt ſagt. Auch ſcheinen Alle, ſelbſt Mama, einen ziem¬ lichen Reſpect vor ihm zu haben. Zwiſchen Bruno und ihm exiſtirt ein ganz eigenthümliches Verhältniß, gar nicht wie zwiſchen Lehrer und Schüler, ſondern wie zwiſchen zwei Freunden, die innigſt verbrüdert ſind, etwa wie Oreſt und Pylades; und wirklich, es iſt ein reizender Anblick, wenn man ſie Arm in Arm186 zuſammen durch den Garten ſchlendern ſieht. Dieſe rührende Freundſchaft hindert indeſſen Bruno nicht, ſich bei jeder Gelegenheit als mein Ritter zu geriren. Der Junge ſieht mir wahrlich an den Augen ab, was ich will und wünſche; oder vielmehr er ahnt und weiß es, ohne daß er mich nur anzuſehen brauchte. Es iſt mir manchmal ordentlich unheimlich dabei. Wenn ich auf dem Spaziergange denke, Du könnteſt auch wohl ohne Tuch gehen, ſagt Bruno ſicher: ſoll ich Dir das Tuch ein wenig tragen, Helene? Bei Tiſch, wo er neben mir ſitzt, reicht er mir nur, was ich gern habe, anderes läßt er vorübergehen und ſagt: daß ißt Du doch nicht, Helene! Er iſt ein zu lieber Junge, ob¬ gleich eigentlich dieſer Name nicht mehr recht auf ihn paßt, denn er wird nächſtens ſechszehn Jahr, und iſt groß und ſtark und ſchön, wie ein junger Achill. Ich glaube, er würde für mich durchs Feuer gehen; ins Waſſer wenigſtens iſt er geſtern ſchon für mich ge¬ ſprungen. Wir gingen des Abends auf dem Wall ſpazieren und ein plötzlicher Windſtoß warf meinen run¬ den Strohhut Du kennſt ihn ja in den Graben. Mein armer Hut! rief ich. Willſt Du ihn wieder haben? fragte Bruno. Ei natürlich, ſagte ich, aber nur im Scherz, denn ich weiß, daß der Graben ſehr tief iſt und an dieſer Stelle war er noch dazu187 wohl zwanzig Schritt breit, und der Hut ſchwamm mitten drauf. Aber Bruno war mit zwei Sprüngen den Wall hinab und ins Waſſer hinein. Ich war wirklich erſchrocken und ich glaube, ich ſtieß ſogar einen leichten Schrei aus. Beruhigen Sie ſich, ſagte Herr Stein außerdem war glücklicherweiſe Niemand zugegen Bruno ſchwimmt wie ein Neu¬ foundländer, und ſelbſt wenn er nicht wieder heraus¬ käme, ſo iſt er ritterlich im Dienſte der Damen ge¬ ſtorben. Das iſt immer ein Troſt. Glücklicher¬ weiſe kam Bruno nach ein oder zwei ängſtlichen Mi¬ nuten wieder ans Land geſchwommen, und Herr Stein half ihm beim Herausſteigen, dann gingen ſie beide lachend von dannen und ließen mich mit dem naſſen Hut in der Hand ein rührendes Bild ganz allein ſtehen. Uebrigens ſcheint mir Herr Stein doch übel genommen zu haben, daß ich ſeinen Liebling in dieſe Gefahr brachte. Wenigſtens iſt er heute Morgen nicht auf der Promenade erſchienen, bei Tiſche ſehr einſilbig geweſen und hat die Literaturſtunde, die er mir wöchentlich zweimal giebt, abſagen laſſen, weil er Kopfſchmerz habe , was ihn freilich, wie ich von meiner Stube aus beobachten kann, nicht hindert, in der glühenden Nachmittagsſonne draußen im Garten mit unbedecktem Haupt eine halbe Stunde lang, die188 Arme untereinander geſchlagen, auf einem Fleck zu ſtehen und in das Waſſerbecken eines Brunnens zu ſtarren, von dem eine hochgeſchürzte Najade lächelnd auf ihn herabſchaut es iſt ein wunderlicher Heiliger

Die junge Dame mochte in dieſem Briefe, der jedenfalls von ihren geheimſten Gedanken mehr ent¬ hüllte, als ſie ſelbſt wol wußte, durchaus der Wahr¬ heit haben die Ehre geben wollen und derſelben auch überall ſo ziemlich nahe gekommen ſein; aber in Hin¬ ſicht des Grundes zu Oswald's zerſtreutem und düſterm Weſen an dieſem leuchtenden Sommertage irrte ſie ſich doch.

[189]

Elftes Kapitel.

Es war an dem Abend deſſelben Tages, an wel¬ chem Helene von ihrem Schreibtiſche aus Oswald am Brunnen der Najade beobachtete, daß in einem Zimmer des Hotels Bellevue in dem Kurort N., be¬ rühmt durch Dr. Birkenhain's große Heilanſtalt für Geiſteskranke, zwei Perſonen, eine Dame und ein Herr, in der Nähe der geöffneten Balkonthür ſaßen. Es dämmerte bereits; Kurgäſte kamen beſtäubt von ihrer Nachmittags-Promenade zurück, von Zeit zu Zeit rollte eine elegante Kutſche vorüber, in welcher, vornehm in die ſchwellenden Kiſſen gedrückt, ſchön ge¬ ſchmückte Frauen ſaßen. Dann wurde es ſtiller auf der Straße; drüben über den Gärten ſchimmerte der Abendſtern aus dem ſafranfarbenen Himmel. Die Dame in der Thür des Balkons hatte die Augen auf den Stern gerichtet, der Herr, der tiefer im Zimmer ſaß, die ſeinen auf das Antlitz der Dame. Die Bei¬190 den hatten ſeit einer halben Stunde kaum ein Wort geſprochen: jetzt ſtand der Herr auf, trat nahe an den Stuhl der Dame heran und ſagte leiſe:

Ich will fort, Melitta!

Wann kommen Sie morgen wieder?

Ich komme morgen nicht wieder; ich will fort von N., heute Abend noch.

Aber Sie wollten doch ſo lange hier bleiben, als irgend möglich, das heißt: bis die Zuſammenkunft mit der braunen Gräfin Ihre Abreiſe nothwendig macht.

Ich wollte es, aber es kann nichts nützen. Ich habe noch heute ausführlich mit Birkenhain geſprochen; er hält es für unmöglich, daß Carlo noch einmal vor ſeinem Ende zum vollen Bewußtſein erwacht. Und geſetzt auch, er thäte es, was hat er davon, daß ich zugegen bin? Kam ich doch neulich noch zur rechten Zeit; und was wollte er von mir? nichts mich fragen; ob das Teſtament ſicher verwahrt iſt; das war Alles.

Aber Carlo könnte ja doch ſeinen Willen ändern

Nein. Als er damals das Teſtament in meiner und des alten Baumann Gegenwart aufſetzte, war er, obgleich ſchon krank und hinfällig, doch noch bei vollem Verſtande; er hat Sie zur Univerſalerbin ein¬191 geſetzt, mit Fug und Recht. Er wußte, daß er Ihnen wenigſtens dieſes Zeichen ſeiner Reue ſchuldig war. Er wollte damit ſagen: ich bin nicht ganz ſo ſchlecht als Du gedacht haſt; ich ſehe wenigſtens ein, daß ich Dich unglücklich gemacht habe, und würde das Ge¬ ſchehene ungeſchehen machen, wenn ich nur könnte.

Brechen wir ab von dieſem Thema! ſagte Me¬ litta, aufſtehend und ſich für einen Augenblick auf das Geländer des Balkons lehnend, um in die ſchon dunkelnde Straße hinabzublicken. Dann trat ſie wie¬ der in das Zimmer zurück und ſagte:

Reiſen Sie direct nach Cona zurück?

Nein, ich will die Zeit, die mir noch bleibt, zu einer Rheinreiſe benutzen; vielleicht komme ich wieder über N.

So laſſen Sie mir die Czika bis dahin; es ſoll ein Pfand ſein, daß Sie hierher zurückkommen.

Wünſchen Sie es, Melitta?

Sie ſind wieder einmal ſehr gut gegen mich ge¬ weſen.

Alſo bloße Dankbarkeit?

Und Freundſchaft.

Leben Sie wohl, Melitta!

Reiſen Sie glücklich, Oldenburg!

Der Baron ging mit langſamen Schritten nach der192 Thür; dort angelangt, blieb er ſtehen, dann kam er noch einmal zurück und ſagte:

Haben Sie immer geglaubt, daß ich Ihr Freund ſei, Melitta?

Ja.

Haben Sie je geglaubt, daß ich Sie liebe?

Melitta ſchwieg.

Nie? zu keiner Zeit? fragte der Baron mit dumpfer Stimme.

Laſſen Sie das Vergangene vergangen ſein!

Nein, Melitta, laſſen Sie uns davon ſprechen. Ich finde eine Gelegenheit wie dieſe vielleicht nicht zum zweiten Mal im Leben, wieder; nein, nie! Denn das alte gute Verhältniß zwiſchen uns iſt todt, ſeit¬ dem ich unſinnig genug war, Ihnen zu zeigen, daß ich Sie liebte und über dieſen Schlund, der da zwiſchen uns aufklaffte, giebt es keine Brücke. Für den Augenblick hat uns die Noth zuſammengeführt; ſobald ich aus dieſem Zimmer gehe, ſind wir uns wieder Fremde. Melitta, um unſerer alten Freund¬ ſchaft willen, bei der Erinnerung an die gemeinſam verlebte ſelige Jugendzeit, ſagen Sie mir, haben Sie nie geglaubt, daß ich Sie liebte?

Ich weiß es nicht

Das iſt hart, ſagte der Baron leiſe; das iſt193 hart. Er ließ ſich auf einen Stuhl ſinken, ſtützte den Arm auf die Lehne und verbarg ſein Geſicht in der Hand.

Er ſtand wieder auf, ging, die Arme über der Bruſt kreuzend, mit langen Schritten in dem Gemache auf und ab und ſprach, als ob er mit ſich ſelbſt redete: Was beklagen ſich denn die Menſchen, die lieben und wieder geliebt werden, wenn ſie, ſo oder ſo, um ihre Hoffnungen betrogen wurden? oder die, welche lieben, und wenn ihre Leidenſchaft auch nicht erwiedert wird, doch wenigſtens den Troſt haben, daß man ihren Kummer ehrt, daß man Mitleid mit ihren Qualen hat? Nein lieben, lieben, wie nur ein Erdenſohn lieben kann, mit allen Kräften ſeiner Seele, mit jedem Blutstropfen in ſeinen Adern, und dann erfahren nicht, daß man uns nicht wieder liebt pah, was iſt das! nein, erfahren, daß man uns für einen Lügner hält, für einen Spaßmacher, einen Schäker ha, ha, ha! das iſt das Wahre! das iſt ein Labſal, wie es Teufel armen Gefolterten glühend in den lechzenden Mund träufeln ...

Und wenn ich nicht an Ihre Liebe glaube, wer iſt denn Schuld daran? wer hatte die Scene im Garten der Villa Serra di Falco arrangirt? ich oder Sie?

F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 13194

Wie? ſagte der Baron ſtehen bleibend; ſind Sie wirklich ein ſolcher Neuling in der Liebe, daß ich Ihnen in allem Ernſt die Erklärung zu dieſer Farce geben muß? Glauben Sie wirklich, daß ich dem doch ſonſt ſo leicht nichts entgeht Sie nicht ſchon längſt hinter den Myrthengebüſchen bemerkt hatte, ehe ich zu Hortenſe's Füßen ſank, und die Sonne, obgleich ſie untergegangen war, und den Mond, ob¬ gleich er nicht ſchien und die Sterne, die es beſſer wu߬ ten, zu Zeugen meiner heißen Liebe anrief? das hätten Sie auch nur einen Augenblick für Ernſt gehalten?

Was war es denn?

Eine Allegorie. Ich wollte Ihnen zeigen: ſieh! dies bleibt mir übrig, wenn Du meine Liebe ver¬ ſchmähſt! Du zwingſt mich, der ich immerdar vor einer Heiligen anbeten möchte, in den Armen einer Buhlerin Vergeſſenheit zu ſuchen. Melitta, Melitta; geſtehe es! Du wußteſt recht gut, daß dies eine Farce war; aber es war Dir bequem, ſie für Ernſt zu nehmen. Du wollteſt von mir befreit ſein, ſelbſt um den Preis eines Mißverſtändniſſes!

Und wenn dies mein Wille geweſen wäre, und ich will annehmen, es war mein Wille iſt es nicht des Mannes Pflicht, den Willen einer Frau, noch dazu einer Frau, die er liebt, zu ehren?

195

Habe ich es nicht gethan? bin ich nicht noch in derſelben Nacht auf ein Wort, ja auf einen Wink hin, abgereiſt, bin ich nicht drei lange Jahre wie Ahasver ruhelos durch alle Lande geirrt, und habe ich, als ich dann endlich zurückkehrte zurückkehrte, weil mir eine Ahnung ſagte, daß Dir ein Unglück be¬ vorſtände nicht jede Gelegenheit mit Dir zuſam¬ menzutreffen, ſorgfältig vermieden? war es mein Wille, daß ich Dich auf dem Balle in Barnewitz traf? iſt es mein Wunſch geweſen, der uns hier zu¬ ſammenführte? Nein, Melitta, Du kannſt nicht über mich klagen. Ich habe meine Liebe zu Dir lange, lange Jahre denn ich liebe Dich, ſeitdem ich den¬ ken kann, ſeitdem ich weiß, daß Nachtigallengeſang und Sonnenſchein und Wogenrauſchen köſtlich ſind tief verſteckt im Herzen getragen; und wenn ich einen Augenblick thöricht genug war, die Hoffnungsloſigkeit dieſer Leidenſchaft zu vergeſſen, ſo habe ich dieſe Thor¬ heit ſchwer genug gebüßt. Wußte ich doch ſchon als Knabe, daß Du Dein Pferd und Deinen Hund lieber hatteſt, als mich; und doch bezwang ich den ſchwer verletzten Stolz, und doch demüthigte ich mich wieder und immer wieder vor Dir; ich, der ich nie in meinem Leben eine Bitte über die Lippen bringen konnte!

Der Baron ſetzte ſeine ruheloſe Wanderung durch13 *196das Zimmer wieder eine Zeit lang ſchweigend fort, dann blieb er abermals vor Melitta ſtehen, und ſagte:

Ich habe mich noch tiefer gedemüthigt. Ich habe geſehen, daß das Weib, nach der ſich meine Seele ſehnt, wie der Gekreuzigte nach einem Labetrunk, von einem andern geliebt wird; habe geſehen, daß ſie dieſen Andern wieder liebt mit jener Liebe, um die ich Gott auf meinen Knieen tauſend und tauſendmal mit heißen Thränen gebeten habe und habe nicht mit der Wimper gezuckt; ich habe der Schlange Eifer¬ ſucht den Kopf zertreten ja, und mehr! ich habe redlich verſucht, dieſen Glücklichen nicht zu haſſen, ich bin ihm entgegengekommen mit Gruß und Handſchlag, ich habe mir ſein Vertrauen, ſeine Liebe zu erwerben geſucht, nicht um zum Verräther an ihm und an Dir zu werden, ſondern weil ich fühlte, daß mir Dein Glück theurer war, als Alles, und daß der, welchen Du liebteſt, auch von mir geliebt werden oder von meiner Hand ſterben müſſe.

Sie ſind fürchterlich, Oldenburg! rief Melitta, ſich halb vom Stuhle erhebend; ſoll denn nicht der geheimſte Winkel meines Herzens vor Ihnen verbor¬ gen bleiben?

Ich bin nicht fürchterlich, ſagte der Baron; ich bin nur unbequem; das iſt das Recht des Freundes. 197Glaube nicht, daß ich mich auf krummem Wege in Dein Geheimniß geſtohlen habe! Ich habe nur die Augen nicht geſchloſſen, das iſt Alles. Oder glaubſt Du, man lerne nicht zuletzt die leiſeſte Regung in einem Geſicht verſtehen, das man ſtets im Wachen und ach, wie oft im Traume! vor ſich ſieht? Und dann, wenn man die Hoffnung, je geliebt zu werden, aufgegeben hat, ſo will man wenigſtens die Ueberzeu¬ gung haben, daß derjenige, welchem dieſes Glück zu Theil wird, auch kein Unwürdiger iſt.

Oldenburg!

Er iſt kein Unwürdiger, aber ich bin Dein Freund, Melitta! er iſt Deiner auch nicht würdig, noch nicht würdig. Er hat viele große und ſchöne Eigenſchaften, ich weiß es wol; aber ſein Charakter iſt noch nicht im dreimal heiligen Feuer des Unglücks geſtählt, und ſo weiß er auch das Glück noch nicht zu ſchätzen. Er hat eine unendliche Empfänglichkeit für Alles, was ſchön und anmuthig iſt, und deshalb betet er Dich an; aber, weil er ſeiner Natur nach eben für Alles empfänglich iſt, wird es ihm unendlich ſchwer, nicht über dem Anmuthigeren und Schöneren das Schöne und Anmuthige zu vergeſſen; das heißt: treu zu ſein. Er iſt ein Dichter, und eines Dichters Liebe iſt das Ideal. Er wird das köſtlichſte Gefäß198 verächtlich bei Seite ſchieben, weil ſein feines Auge doch irgendwo einen Flecken daran bemerkt hat; er wird Alles, was ihm die Erde bietet, gierig ergreifen und verächtlich wieder fortwerfen, weil es eben irdiſch, weil es, und wäre es noch ſo himmliſch, doch immer mit einem Erdenreſt behaftet iſt.

Sie ſagen mir nichts, Oldenburg, was ich mir nicht ſchon hundert und tauſendmal ſelbſt geſagt hätte.

Ich weiß es. Die Beurtheilung ſolcher Naturen kann Ihnen nicht ſchwer werden, denn auch Sie ſind dieſem Dämon unterthan. Aber Sie ſind ein Weib, und über euch hat der Dämon nicht, wie über uns, unbedingte Gewalt. Ihr, und wenn ihr euch auch noch ſo ſehr ſträubt, laßt euch zuletzt doch in der Liebe Feſſeln ſchlagen und ſeid ſtolz auf dieſe Feſſeln; der Mann, und wenn er im Anfang noch ſo ſehr mit dem neuen Schmucke prunkt, ſchleudert ihn zuletzt doch von ſich. Und ſo wird es geſchehen.

Nein, nein!

Ja, Melitta; es wird geſchehen und jetzt weiß ich auch, welches dieſes Unglück iſt, das ich über Deinem theuren Haupte wie eine finſtere Wetterwolke ſchweben ſah. Glaube es mir, der Schlag wird über kurz oder lang auf Dich niederſchmettern, und wenn199 Du dann zerſchmettert am Boden liegſt und nicht mehr leben magſt und doch nicht ſterben kannſt dann, Melitta, dann vielleicht wirſt Du die Qualen begreifen, die ich erduldet; dann wirſt Du mir im Herzen das Unrecht abbitten, das Du mir gethan! Wollte Gott, Du kämeſt nie zu dieſer Erkenntniß! Der Preis iſt ungeheuer! aber, aber Du wirſt ihn doch bezahlen müſſen. Leb wohl, Melitta! ver¬ zeihe, daß ich Dir weh gethan habe; es wird nicht wieder geſchehen; es iſt das erſte, und es iſt das letzte Mal, daß ich ſo zu Dir geredet. Leb wohl, Melitta! Melitta, haſt Du kein freundliches Wort zum Ab¬ ſchied für mich?

Melitta hatte das Geſicht in die Hände gedrückt; bei der Dämmerung, die in dem Gemache herrſchte, waren nur noch eben die Umriſſe ihrer Geſtalt zu er¬ kennen. Sie wollte, oder konnte nicht antworten.

Der Baron hielt ſeine beiden Hände über das ſchöne gebeugte Haupt.

Gott ſegne Dich, Melitta! ſagte er, und die Stimme des ſtolzen, harten Mannes klang weich und mild wie eines Vaters Stimme.

Als Melitta die Thür ſich hinter dem Baron ſchließen hörte, ſprang ſie von dem Stuhle auf, und that raſch einige Schritte, als wollte ſie ihn zurück¬200 rufen. Aber mitten im Zimmer blieb ſie wieder ſtehen.

Nein, nein! murmelte ſie, es iſt beſſer ſo, ich darf ihm keinen Schimmer von Hoffnung laſſen.

Sie ging langſam wieder zu ihrem Stuhl zurück. Sie ſetzte ſich wieder, ſie bedeckte wieder das Geſicht mit den Händen. Und nun brachen die lange zurück¬ gehaltenen Thränen in Strömen aus ihren Augen. Ich weiß es ja, daß es ſo kommen wird; murmelte ſie; aber weshalb den kurzen Traum des Glücks ſo grauſam ſtören!

[201]

Zwölftes Kapitel.

Der Poſtbote, welcher am Abend den Brief Hele¬ ne's nach der Stadt trug, war am Morgen deſſelben Tages ſchon einmal dageweſen. Er hatte Oswald ein Schreiben aus Grünwald von einem ſeiner dorti¬ gen Bekannten gebracht, der auch zu gleicher Zeit einer von den Wenigen war, mit denen Profeſſor Berger in einem intimeren Verhältniſſe ſtand. Der Bekannte, ein Docent an der Univerſität, ſchrieb Os¬ wald, daß er ihm die ſchleunige Nachricht von einem Ereigniſſe ſchuldig zu ſein glaube, das ſeit geſtern Nachmittag die ganze Stadt in die größte Beſtürzung verſetzt habe. Profeſſor Berger ſei ganz plötzlich, zum wenigſten ohne daß irgend Jemand eine Ahnung von ſeiner Krankheit gehabt habe, wahnſinnig geworden. Er ſei um vier Uhr, wie gewöhnlich, in ſeine Vorle¬ ſung über Logik gekommen, habe angefangen zu doci¬ ren, ſcharfſinnig, geiſtreich, wie immer. Dann hätte202 ſeine Rede begonnen, verworren und immer verwor¬ rener zu werden, ſo daß ein Student nach dem an¬ dern die Feder niedergelegt und den Nachbar voll Verwunderung und Schrecken angeſtarrt habe. Wiſſen Sie, meine Heren, habe Berger gerufen, was der Jüngling von Sais erblickte, als er den Schleier hob, der das große Geheimniß barg, das große Geheim¬ niß, welches der Schlüſſel ſein ſollte zu den verwor¬ renen Räthſeln des Lebens? Sehen Sie, meine Her¬ ren, hier nehme ich meinen Kopf auseinander, die eine Hälfte in dieſe, die andere in jene Hand was erblicken Sie in dem Kopfe des berühmten Profeſſor Berger, zu deſſen Füßen Sie ſitzen, ſeinen weiſen Worten zu lauſchen, und ſie mit abſcheulich kritzelnden Federn in Ihre langweiligen Hefte zu ſchreiben? was erblicken Sie? genau daſſelbe, was der Jüngling von Sais erblickte, als er den Schleier von der Wahrheit hob: Nichts! abſolut gar nichts, nichts für ſich, nichts an ſich, an und für ſich: nichts! und daß dieſes hohle, öde Nichts des Pudels Kern ſei, daß all unſer beſtes Streben nichts ſei, wir unſer Herz¬ blut an nichts und wieder nichts ſetzen, ſehen Sie, meine Herren, das hat den Jüngling von Sais toll gemacht, das hat mich verrückt gemacht, und wird auch Sie um den Verſtand bringen, wenn Sie irgend¬203 welchen aus Ihren Spatzenköpfen zu verlieren haben. Und nun, meine Herren, machen Sie Ihre dummen Hefte zu, damit das abſcheuliche Kritzeln endlich ein¬ mal aufhört und ſtimmen Sie mit mir in das tief¬ ſinnige und erhebende Lied ein: O, da ſitzt ne Flieg 'an der Wand! Berger habe darauf mit lauter Stimme und das Katheder mit den Fäuſten bearbeitend ange¬ fangen, zu ſingen, ſei dann in dem Auditorium an den Wänden entlang gelaufen, nach imaginären Fliegen haſchend, habe dann jedesmal die Hand geöffnet, hin¬ eingeſchaut, und triumphirend gerufen: Nichts meine Herren, ſehen Sie, nichts und wieder nichts!

Der Bekannte ſchloß den Brief mit der Mitthei¬ lung, daß Profeſſor Berger ſogleich am folgenden Tage auf den Rath ſeiner Aerzte nach R. in die be¬ rühmte Heilanſtalt des Dr. Birkenhain transportirt ſei; er habe Alles gutwillig mit ſich geſchehen laſſen, nachdem man ihm vorgeredet: man wolle ihm das große Ur-Nichts zeigen ...

Oswald war durch den Inhalt dieſes Briefes tief erſchüttert. Er hatte in Berger ſeinen Freund und Lehrer geliebt und geehrt; er hatte ſich des wunder¬ lichen Mannes Liebe in hohem Grade erworben; er hatte tiefere Blicke, als wol irgend Jemand ſonſt, in dieſen unendlich reichen Geiſt gethan. Wie oft hatte204 er dem Außerordentlichen mit entzücktem Schweigen zugehört, wenn dieſer von einem ſcharfſinnigen und genau formulirten Satze ausgehend, plötzlich aus dem Gebiete der Logik in eine Welt gerieth, die ſich ihm nur durch eine höhere Intuition erſchließen konnte, und nun Traum an Traum und Geſicht an Geſicht reihte, ſo phantaſtiſch, ſo märchenhaft, aber auch ſo himmliſch ſchön und rein, daß Oswald alles Andere darüber vergaß und leibhaftig in dieſer Fata Morgana umherzuwandeln glaubte, bis der Magier mit einem Worte höhnenden Schmerzes und wilder Verzweiflung die köſtliche Spiegelung verſinken ließ! Und nun war dieſer reiche edle Geiſt zerſtört! und dieſe hohe In¬ telligenz in des Wahnſiuns öde Nacht geſunken! ... Oswald erſchien dies ſo ungeheuer, ſo unfaßbar, daß ihm war, als ſei die Welt aus den Fugen gegangen; als müſſe jetzt, nachdem dieſe erhabene Säule geſtürzt, Alles in grauſe Trümmer zerfallen. Wenn dies ge¬ ſchehen konnte, was war dann noch unmöglich? Dann war ja auch wol Freundſchaft ein Märchen und Liebe eine Fabel dann mochte ja auch wol etwas mehr hinter dem Zufall zu ſuchen ſein, der ihm heute Morgen den augenblicklichen Aufenthaltsort Oldenburg's ver¬ rieth. Als Oswald nämlich einen Blick auf die Aufſchriften der Briefe warf, welche der Poſtbote aus205 ſeiner Taſche genommen hatte und durch die Hand laufen ließ, um den für Oswald beſtimmten heraus¬ zuſuchen, fiel ihm einer auf, auf welchem die Adreſſe offenbar von Oldenburg's höchſt eigenthümlicher und ſchwer mit einer andern zu verwechſelnder Handſchrift war. Der Brief war an des Barons Verwalter in Cona adreſſirt. Weshalb ſollte der Baron nicht an ſeinen Verwalter ſchreiben dürfen? Aber Oswald erfuhr auch zugleich durch den Poſtſtempel den Ort, von welchem aus dieſer Brief abgeſandt war; und dieſer Ort war derſelbe, wohin man Berger geſchickt hatte, derſelbe, wo Herr von Berkow ſeit ſieben Jah¬ ren und wo Melitta ſeit vierzehn Tagen war, das heißt, zwei Tage länger, als die geheimnißvolle Reiſe Oldenburg's gedauert hatte! In dem ausführlichen Briefe Melitta's, den Oswald vor einigen Tagen durch Baumann erhielt, hatte ſie des Barons Anweſenheit mit keinem Worte erwähnt; Baumann ſelbſt aber mußte durch Bemperlein davon unterrichtet geweſen ſein, denn er war in Verlegenheit gerathen, als er die Perſonen nannte, die bei dem Beſuche, welchen Melitta ihrem ſterbenden Gemahl machte, zugegen ge¬ weſen waren. Warum dieſes geheimnißvolle Weſen bei einem Manne, der die Geradheit und Offenheit ſelbſt ſchien? war er dazu beauftragt, oder hatte er,206 der die Verhältniſſe ſeiner Herrin ſo genau kannte, ſeine beſondern, gewichtigen Gründe, die Wahrheit zu verheimlichen?

Dies waren die ſchlimmen Gedanken, die durch Oswald's Hirn zogen, als er im heißen Nachmittags¬ ſonnenſchein barhaupt an dem Brunnen der Najade ſtand und bewegungslos in das Waſſer ſtarrte, wäh¬ rend Fräulein Helene an ihrem Schreibtiſch Betrach¬ tungen darüber anſtellte, ob ſie ſelbſt vielleicht die Urſache dieſer Verſtimmung ſei. Ehe ſie indeſſen dar¬ über zu einem Reſultat gekommen war, klopfte es an ihre Thür. Das junge Mädchen ſchloß ſofort ihre Schreibmappe und ſchien ganz in Lamartine's Voyage en Orient vertieft, als ſich auf ihr Herein! die Thür öffnete und die Baronin in's Zimmer trat.

Störe ich Dich, liebe Helene?

Durchaus nicht, liebe Mama! ſagte das junge Mädchen aufſtehend und ihrer Mutter entgegengehend.

Du bliebſt heut ſo außergewöhnlich lange auf Deinem Zimmer, daß ich doch ſehen wollte, was Dich denn ſo ſehr feſſelte. Lamartine's Voyage? nun, ein recht hübſches Buch, aber ein wenig überſpannt, wie mir ſcheint. Freilich, in meinen Jahren bekommt man eine etwas andere Anſicht von dem Leben, und ſo auch von den Büchern und den Menſchen. Aber ich207 freue mich, daß Du nicht müßig biſt, daß Du das Talent haſt, Dich zweckmäßig zu beſchäftigen. Ich fürchtete ſchon, die Monotonie unſers Lebens hier würde doch gar zu ſehr von dem muntern Treiben in der Penſion abſtechen, und Du würdeſt dieſen Unter¬ ſchied ſchmerzlich empfinden. Wir können Dir hier ſo wenig bieten! das war immer mein Refrain, wenn der gute Vater darauf drang, Dich endlich einmal aus der Penſion zu nehmen.

Aber ich verſichere Dich, liebe Mama, Du haſt Dir ganz unnöthige Sorge meinethalben gemacht, ſagte Fräulein Helene, die dargebotene Hand der Mut¬ ter an die Lippe ziehend; ich fühle mich hier ſehr glücklich, und wie wäre das auch anders möglich! Bin ich nicht im elterlichen Hauſe, wo mir Alle mit Liebe oder doch mit Freundlichkeit entgegenkommen? habe ich nicht Alles, was ich nur wünſchen kann? Ich wäre wahrlich ſehr, ſehr undankbar, könnte ich das auch nur einen Augenblick vergeſſen.

Du biſt ein gutes, verſtändiges Kind, ſagte die Baronin, ihre ſchöne Tochter auf die Stirn küſſend, ich werde noch recht viel Freude an Dir erleben. Das iſt meine ſichere Hoffnung, wie es mein tägliches Gebet iſt. Ach, meine liebe Tochter, glaube mir, ich bedarf gar ſehr dieſes Troſtes, wenn ich nicht den208 vielen Sorgen, die auf mich einſtürmen, unterliegen ſoll.

Die Baronin hatte ſich auf ein kleines Sopha geſetzt; ſie ſchien ſehr erregt und trocknete ſich mit dem Taſchentuche die naſſen Augen.

Was haſt Du, liebe Mama? ſagte Fräulein Helene mit wirklicher Theilnahme; ich bin nur ein einfältiges unerfahrenes Mädchen, aber wenn Du Ver¬ trauen zu mir haben kannſt, theile Dich mir mit. Wenn ich Dir auch nicht rathen und helfen kann, ſo vermag ich doch vielleicht Dich zu tröſten, und das würde mir eine unendliche Freude bereiten.

Liebes Kind, ſagte die Baronin, Du biſt ſo lange komm, ſetze Dich hier zu mir und laß uns einmal recht vertraulich mit einander reden Du biſt ſo lange vom elterlichen Hauſe entfernt geweſen und warſt noch ſo jung, als Du es verließeſt, daß Du nothwendigerweiſe von unſern Verhältniſſen ſo gut wie gänzlich ununterrichtet biſt. Du glaubſt, wir ſeien reich, ſehr reich; aber es iſt beinahe das Gegen¬ theil der Fall, für uns Frauen wenigſtens. Das ganze große Vermögen fällt nach des Vaters Tode den der allmächtige Gott in ſeiner Gnade noch recht lange verhüten möge an Deinen Bruder. Mir bleibt, außer einer ſehr geringen Wittwepenſion, nichts209 und Du, mein armes Kind, gehſt gänzlich leer aus.

Aber, Mama, ich hörte doch immer, daß Stan¬ tow und Bärwalde dem Vater gehörten, und daß er darüber ganz frei verfügen könne?

Du irrſt, mein Kind; die beiden Güter gehören nicht dem Vater. Sie werden ihm vielleicht einſt ge¬ hören, wenn ſich der eigentliche Erbe bis zu einer gewiſſen Zeit nicht meldet. Ich kann über dieſen Punkt nicht ausführlich ſein, liebes Kind, weil ich dabei gewiſſe Verhältniſſe Deines Onkels Harald be¬ rühren müßte, über die man mit einem jungen Mäd¬ chen lieber nicht ſpricht. Genug, auf die Güter können wir mit Beſtimmtheit nicht rechnen. Alles, was uns bleibt, ſind einige Tauſend Thaler, die Dein Vater und ich bis jetzt von unſerer Rente haben erübrigen können.

Liebe Mama, mache Dir meinethalben keine Sorge, ſagte Fräulein Helene; ich bin in Hamburg nicht verwöhnt, und der Luxus, mit dem mich hier Deine Güte umgeben hat, iſt mir etwas ganz Neues. Ich werde auch mit Wenigem zufrieden und glücklich ſein können und dann, der gute Vater iſt ja jetzt, Gott ſei Dank, wieder ſo munter und rüſtig, hat ſich von dem Fieberanfall in Hamburg ſo auffallend ſchnellF. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 14210erholt, daß wir uns ſeiner Liebe und Fürſorge gewiß noch recht lange werden erfreuen können.

Das gebe Gott! ſagte die Baronin; aber ich fürchte, wir müſſen uns auf das Schlimmſte gefaßt machen. Der Vater iſt keineswegs ſo rüſtig, wie Du glaubſt. Er kränkelt fortwährend, obgleich er es uns ſo wenig wie möglich merken läßt. Der Hamburger Arzt ſchilderte mir des Vaters Zuſtand als ſehr be¬ denklich. Sollte er uns entriſſen werden, dann wür¬ deſt Du leider Gelegenheit erhalten, die Stichhaltigkeit Deiner Grundſätze zu erproben. Aber, mein Kind, Du kennſt das Leben nicht. Es läßt ſich leicht von Armuth ſprechen, wenn man ſie nur von Hörenſagen kennt. Ich kenne ſie aus Erfahrung; ich war ein armes Mädchen, als mich Dein Vater heirathete; ich weiß, was es heißt, ein Kleid wenden und wieder wenden, weil man kein Geld hat, ein neues zu kaufen; ich weiß, welchen tauſendfachen Demüthigungen ein armes Mädchen von Adel ausgeſetzt iſt.

Es wird anders und beſſer kommen, als Du denkſt, theuerſte Mama. Ich weiß nicht, iſt es meine Jugend oder iſt es der ſchöne leuchtende Sommertag ich kann unſere Lage nicht in dem trüben Lichte ſehen. Ich werde

Mich mit einem reichen und würdigen Mann ver¬211 heirathen? ſagte die Baronin mit einem Lächeln, das ihr ſehr ſonderbar ſtand.

Aber Mama

Ich weiß es wohl, daß Du etwas Anderes ſagen wollteſt, meine Tochter. Es iſt ein Scherz von mir, aus dem hoffentlich ein recht erfreulicher Ernſt wird. Du ſtehſt in den Jahren, wo es einem jungen Mäd¬ chen wohl erlaubt iſt, in Zucht und Ehren einem ſolchen Gedanken in ihrem Herzen Raum zu geben. Wohl ihr, wenn ſie ihre Wahl auf einen Würdigen lenkt, beſſer noch, wenn ſie dieſelbe ihren Eltern über¬ läßt, die nur ihr Glück wollen und durch die reiche Erfahrung eines langen Lebens in dieſem Bemühen unterſtützt werden.

Aber Mama, dahin hat's doch noch lange Zeit.

Sehr wahrſcheinlich, mein Kind; indeſſen man kann nicht wiſſen, was der Himmel über Dich be¬ ſchloſſen hat. Ihm muß man in dieſen, wie freilich auch in den andern Dingen des Lebens Alles an¬ heimſtellen. Aber, wer iſt nur der Mann, welcher dort ſo lange unbeweglich am Baume ſteht; ich habe meine Lorgnette in meinem Zimmer gelaſſen.

Es iſt Herr Stein, Mama; er ſteht dort ſchon ſeit einer halben Stunde mindeſtens; ich glaube, er iſt feſtgewachſen.

14 *212

Ein wunderlicher Menſch, dieſer Stein; ſagte die Baronin. Er hat für mich geradezu etwas Unheim¬ liches. Es iſt ſchlechterdings unmöglich, aus ihm klug zu werden. Wie gefällt er denn Dir, liebe Helene?

Aber, Mama, ich habe wirklich noch nicht darüber nachgedacht: und bei ſolchen Leuten kann eigentlich doch von Gefallen oder Misfallen kaum die Rede ſein. Ich dächte, ſie wären ſich alle gleich oder wenigſtens ſind die Unterſchiede ſo gering, daß man ſie nicht wohl bemerken kann; der Eine heißt Stein, der Andere Timm das iſt doch im Grunde Alles.

Du haſt recht, liebe Tochter, ſagte die Baronin. Dieſe Leute ſind Statiſten, man ſieht ſie nur, wenn die handelnden Perſonen einmal abgetreten ſind. Glücklicherweiſe kann ich Dir in allernächſter Zukunft eine andere und beſſere Geſellſchaft verſprechen.

Und die wäre?

Dein Couſin Felix. Ich erhielt ſoeben einen Brief von ihm der Poſtbote iſt noch draußen in der Küche, Du kannſt ihm einen Brief mitgeben, wenn Du vielleicht ein paar Zeilen nach Hamburg ſchreiben willſt er meldet uns ſeinen Beſuch auf morgen oder übermorgen an. Aber war das nicht Deines Vaters Stimme? Adieu, liebes Kind; mache213 Dich zurecht, wir wollen etwas früher eſſen und dann noch eine Viſite bei Plüggens machen.

Die Baronin küßte ihre Tochter auf die Stirn und verließ das Zimmer. Fräulein Helene holte eilig den auf die Seite geſchobenen Brief wieder hervor, um noch dazu zu ſchreiben: Mama, die mich ſoeben verläßt, iſt doch wirklich ſehr gut und freundlich zu mir. Sie ſpricht mit einer Offenheit, die mich in Erſtaunen ſetzt, von unſern Verhältniſſen. Sie kün¬ digte mir einen Beſuch an: Couſin Felix (der Lieute¬ nant). Es wird wohl durch ihn etwas mehr Leben nach Grenwitz kommen, denn auf Herrn Stein ſcheint man nicht mehr rechnen zu können. Er ſteht noch immer am Brunnen. Adieu, dearest, dearest Mary! ...

[214]

Dreizehntes Kapitel.

Wer ſich für Albert Timm ſpecieller intereſſirte, konnte bemerken, daß dieſem Herrn in den letzten Tagen irgend etwas Beſonderes zugeſtoßen ſein mußte. Zwar ließen ſich der ſchwarze Frack, den er jetzt be¬ ſtändig trug, die größere Sorgfalt, die er auf ſeine Toilette verwandte, und andere mit ſeinem äußeren Menſchen geſchehene Veränderungen füglich durch die Anweſenheit Fräulein Helene's und die gehobenere Stimmung, welche durch dieſelbe in die Geſellſchaft auf Schloß Grenwitz gekommen war, erklären, aber wie ſollte man den Ernſt deuten, der jetzt häufig auf ſeiner weißen Stirn und in ſeinen hellen blauen Augen lag? wie die Schweigſamkeit, zu der er, der ſonſt keine Minute ſtill ſein konnte, ſich oft auf Stunden verurtheilte? wie vor allen Dingen den raſt¬ loſen Fleiß, mit welchem er jetzt halbe Tage lang über ſein Reißbrett gebeugt ſtand und zeichnete und215 tuſchte? Allerdings hatte Herr Timm während der kurzen Abweſenheit der Familie nur den harmloſen Freuden eines angenehmen ländlichen Aufenthaltes ge¬ lebt bis zu dem Augenblicke, wo er, von einer plötz¬ lichen Anwandlung von Fleiß ergriffen, in die Re¬ giſtratur ging, die alten Flurkarten zu holen, und bei dieſer Gelegenheit ein kleines, mit einem rothſeidenen Faden zuſammengebundenes Packet Briefe fand, in deren Lectüre er durch das Rollen des Wagens, wel¬ cher die Familie Grenwitz ſo unverhofft zurückbrachte, geſtört wurde. Indeſſen, es war ganz gegen Albert's Natur, über ein dolce far niente, dem er ſich län¬ gere oder kürzere Zeit hingegeben, Reue zu empfin¬ den; und überdies arbeitete er ſo ſchnell und gewandt, daß es ihm ein Kleines war, auch größere Verſäum¬ niſſe in ſehr kurzer Zeit nachzuholen. Die Flurkarten alſo, weder die neuen noch die alten, waren es ſicher nicht, über denen er ſich den Kopf zerbrach. Davon würde man ſich überzeugt haben, wenn man an dem Nachmittage einen Blick in ſein Zimmer, das er, ſehr gegen ſeine Gewohnheit, hinter ſich abgeſchloſſen, ge¬ worfen hätte.

Herr Timm ſaß auf dem kleinen Sopha in ſeiner Stube, ein Bein untergeſchlagen, den Kopf in die Hand geſtützt, und aus ſeiner Cigarre mächtige216 Wolken blaſend, offenbar in tiefes Nachdenken ver¬ loren. Neben ihm auf dem Sopha lagen die Briefe, die er in dem Repoſitorium der Regiſtratur gefunden. Es waren ihrer nicht viele, alle von derſelben zier¬ lichen Hand auf ziemlich graues Papier geſchrieben, wie man es noch vor einigen Jahrzehnten ganz all¬ gemein ſelbſt zu Briefen benutzte. Die Briefe mußten wohl dieſes Alter haben, denn die Tinte war ganz vergilbt und konnte ſo einigermaßen das Datum er¬ ſetzen, das in ſämmtlichen Briefen fehlte.

Es muß ſich etwas mit dieſen Briefen anfangen laſſen , ſagte Albert, leiſe mit ſeinem beſten Freunde und einzigen Vertrauten, ſeinem eigenen lieben Selbſt, redend, ich weiß nur nicht gleich was. Wenn es mir gelänge, die Antworten dazu zu finden, ſo müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein ſo ſchlauer Kopf, wie der meine, dem großen Geheimniß nicht bis in ſeine verborgenſte Höhle nachſpürte. Auf der richtigen Spur, deute ich, bin ich ſchon jetzt. Daß Mutter und Kind geſtorben ſein ſollten, iſt ſo un¬ wahrſcheinlich wie möglich. Die Marie war allem Anſchein nach ein wahres Kernmädel und das bischen Jammer und Kummer wird ihr das Herz ſchon nicht gebrochen haben. Das Kind aber aus dieſer wilden Ehe hat ſich jedenfalls des legitimen Vorrechts aller217 illegitimen Sprößlinge, weniger hoch, als wohlgeboren zu ſein, zu erfreuen gehabt. Die Mutter alſo, oder das Kind, oder Beide leben noch. Leben Sie aber und ich wünſche und hoffe es ſo wiſſen ſie ent¬ weder nichts von dem koſtbaren Codicill zum Teſta¬ mente des ſeligen Bruder Liederlich, oder ſie ſind da¬ von unterrichtet. In dem letzteren Fall, der nicht ſehr wahrſcheinlich iſt, denn vor einer ſo fetten gebratenen Taube den Mund zu verſchließen, über¬ ſtiege doch Alles, was ich von menſchlicher Dumm¬ heit bis jetzt gehört und geſehen habe, und das will ſehr viel ſagen, müßte man ſie zu beſtimmen ſuchen, von ihrem guten Rechte Gebrauch zu machen; in dem erſten Fall, dem bei weitem wahrſcheinlicheren, müßte man ihrer erbarmungswürdigen Unwiſſenheit freundlichſt zu Hülfe kommen; in jedem Falle und da liegt der Haſe im Pfeffer müßte man erſt wiſſen, wo ſie denn überhaupt zur Zeit ſich befinden. Daß ſie ſich in allzugroßer Nähe einen Zufluchtsort geſucht haben ſollten, iſt nicht anzunehmen. Denn einmal würde ſie Harald, der jedenfalls keine Mittel unbenutzt ließ und das Geld nicht ſchonte, nach der Flucht gefunden haben, zweitens pflegen die Leute bei ſolchen Gelegenheiten ſo weit zu laufen, als es irgend möglich iſt, und drittens ſcheint dieſer Monſieur218 d'Eſtein ein viel zu ſchlauer Fuchs geweſen zu ſein, um ſich vor dem Löwen, der ihm auf der Fährte war, nicht ſicher mit ſeinem Täubchen zu verſtecken. Ueber¬ haupt iſt dieſer Monſieur eine ſehr irrationale Größe, die ſich in meiner Rechnung als ein äußerſt ſtörender Factor erweiſt. Wenn er nicht bald nachher geſtor¬ ben iſt, ſo hat er jedenfalls noch viel Unſinn ange¬ richtet, vielleicht ſogar die kleine Marie geheiratet, das Kind adoptirt und die Beiden zurück nach Frankreich, oder nach Amerika oder ſonſt wohin, wo für mich die Welt mit Brettern zugenagelt iſt, geführt, und mir ſo den ganzen Spaß verdorben. Das wäre ſchändlich, denn die Geſchichte könnte wirklich über alle Begriffe ſpaßhaft werden. Ich möchte wohl die Geſichter von den Beiden ſehen, wenn ich vor ſie träte und ſagte: meine armen Schelme, was gebt Ihr mir, wenn ich euch zu einem hübſchen Vermögen von einigen hun¬ derttauſend Thälerchen verhelfe? oder auch und das wäre nicht minder bequem, ja vielleicht ein gut Theil bequemer wenn ich mich eines ſchönen Nach¬ mittags bei der guten Anna-Maria introducirte und ſagte: Entſchuldigen Sie meine Gnädigſte, wenn ich ſtöre; aber ich habe unter den Papieren meines Vaters, der, wie Sie wiſſen, mit Ihrem verſtorbenen Vetter Harald in Geſchäftsverbindung ſtand, gewiſſe219 Papiere aufgefunden, die mich in den Stand geſetzt haben, die rechtmäßigen Beſitzer von Stantow und Bärwalde mit ziemlicher Gewißheit angeben zu kön¬ nen. Mein Rechtlichkeitsgefühl und die ſpecielle Ver¬ ehrung, die ich für Sie und Ihr Fräulein Tochter empfinde, liegen ſich nun ſehr bedeutend in den Haa¬ ren. Das erſtere befiehlt mir, von meiner Entdeckung den pflichtſchuldigen Gebrauch zu machen, die letztere heißt mich, die Sache zu vertuſchen. Wie wär 'es, hochverehrte Frau, wenn ſie meiner vollkommen un¬ eigennützigen Verehrung mit einigen tauſend Thalern, die ich, auf Ehre, ſehr nothwendig brauche, zu Hülfe kämen?

Dieſer Gedanke ſchien für Herrn Timm etwas Begeiſterndes zu haben. Er ſprang vom Sopha auf, und ging mit raſchen Schritten, lebhaft geſticulirend, in ſeinem Gemache auf und ab. Das könnte eine wahre Schatzgrube für mich werden , murmelte er; ich wollte das ſtolze Weib ängſtigen, daß ihre großen grauen Augen noch einmal ſo groß würden; ich wollte ihr Daumſchrauben anſetzen und jedesmal, wenn ich Geld brauchte, die Schraube etwas feſter anziehen. Sie würde Alles und Jedes thun, ehe ſie es auf einen Proceß ankommen ließe. Dann wäre ich ſo ein Stück von Herr im Hauſe: dann könnte ich die Nar¬220 renmaske fallen laſſen und mich einmal in meiner wahren Geſtalt zeigen. Dann könnte ich beſtimmen, wen Fräulein Helene heiraten ſoll, ja könnte ſie ſelber heiraten, wenn ich wollte, und jedenfalls der Ankunft meines guten Freundes Felix, die mir die gute Anna - Maria eben in allem Vertrauen mittheilte, mit aller Ruhe entgegen ſehen. Zwar bin ich auch ſo nicht be¬ ſonders unruhig darüber, denn Freund Felix war der würdige Schüler ſeines Meiſters und ſchlug die Volte nicht ſchlechter als ich, und wenn ihn ſein alter Adel nicht geſchützt hätte, ſo wäre es ihm wahrſcheinlich nicht beſſer ergangen. So freilich kam der Fähndrich Baron Felix von Grenwitz mit einer Warnung davon und der Fähndrich Albert Timm mußte ſpringen. Ich bin doch neugierig auf unſer Wiederſehen. Vielleicht kennt er mich nicht mehr; vielleicht wird er verſuchen, den unbequemen Gaſt möglichſt bald aus dem Hauſe und ſich aus den Augen zu ſchaffen. Ha, wie ſollte ſich das Blatt wenden, wenn dieſe verdammten Briefe nicht ſo frauenzimmermäßig gerade über die wichtigſten Punkte flüchtig weghuſchten!

Albert ſetzte ſich wieder auf das Sopha und begann die Briefe, obgleich er ſie jetzt ſchon ſo ziemlich aus¬ wendig wußte, noch einmal der Reihe nach er hatte ſie ſorgfältig numerirt zu leſen.

221

Nr. 1. Mein Herr! Ich kenne Sie nicht und wenn Sie derſelbe ſind, der ſich vor einigen Wochen im Thiergarten ſo unaufgefordert in die Unterhaltung miſchte, die ich mit meinem Begleiter führte und ſich von dem letzteren eine ſo derbe Zurechtweiſung zuzog; derſelbe, der mich jetzt allabendlich, wenn ich aus dem Geſchäft nach Hauſe gehe, verfolgt ſo werden Sie es begreiflich finden, daß ich ſehr wenig Luſt verſpüre, Sie kennen zu lernen. Ich bitte, verſchonen Sie mich mit Ihren Zudringlichkeiten, zu welchen ich vor allem auch Ihre Briefe rechne. Ich würde dieſen, wie die andern, unbeantwortet gelaſſen haben, wenn ich nicht fürchtete, durch fortgeſetztes Schweigen Ihre Kühnheit zu begünſtigen. Sollte es wirklich Männer geben, welche der directen Bitte einer Frau, und noch dazu einer unbeſchützten und ſchutzloſen Frau, wider¬ ſtehen können?

Marie Montbert.

Nr. 2. Mein Herr! Sie ſcheinen allerdings die Wege zu kennen, durch die man ſich die Verzeihung einer Frau, die man beleidigt hat, gewinnt. Welches auch die Motive waren, von denen ſie bei Ihrer Handlung geleitet wurden, Sie haben viel Thrä¬ nen getrocknet. Sie haben eine ganze Familie von der Verzweiflung gerettet. Ich ſelbſt konnte nichts mehr222 für meine armen Landsleute thun als nur Gott bitten, ihnen einen Retter zu ſenden. Er hat Sie ge¬ ſandt. Beweiſen Sie ſich dieſer Gnade würdig! Be¬ denken Sie, daß, wer Lohn begehrt, ſeinen Lohn dahin hat, und laſſen Sie nicht Ihre Linke wiſſen, was Ihre Rechte that.

Ihre ergebene Dienerin Marie Montbert.

Nr. 3. Was wiſſen Sie von dem Schickſale meines Vaters? um Gotteswillen, mein Herr, ſpielen Sie nicht mit dem Herzen eines Kindes! Sie wollen von einem Obriſt der großen Armee, in deſſen Regiment er den Feldzug nach Rußland mitmachte, ganz genaue Einzelheiten über ihn während der Campagne und die näheren Umſtände bei ſeinem Tode kurz vor dem Uebergang über die Bereſina erfahren haben. Es klingt das Alles ſo unwahrſcheinlich und doch, woher könnten Sie es wiſſen, wenn nicht aus ſicherer Quelle? auch der Name des Obriſten, wie ich aus Briefen meines Vaters an meine Mutter erſehe, ſtimmt, Ich weiß nicht, was ich glauben ſoll aber weshalb mir dieſe Mittheilungen, die, ich geſtehe es, von unendlichem Werth für mich ſind, nicht in meiner Wohnung ich will ſagen: in der Wohnung der guten Frau, die bei mir ſeit langen Jahren Mutter¬223 ſtelle vertritt, machen? Weshalb dieſes geheimnißvolle Rendezvous? Weshalb ein Kind, das Nachricht von dem Tode ſeines Vaters erwartet, zwingen, einen Schritt zu thun, den dieſer Vater, wenn er lebte, niemals billigen würde? Ich werde nicht umſonſt an Ihr Herz appelliren; ich weiß, daß es der Großmuth fähig iſt.

Meine Wohnung iſt Marienſtraße 21. Wenn Sie die drei engen Treppen nicht ſcheuen, ſo werde ich Morgen Sonntag, zwiſchen 10 und 12 Uhr zu Ihrem

Empfang bereit ſein.

Ihre ergebenſte Dienerin Marie Montbert.

Nr. 4. Sie beſtehen auf dem Rendezvous, das, wie Sie ſagen, durchaus kein geheimnißvolles ſei, denn es fände auf offener Straße, an einem der belebteſten Punkte der Stadt und zu einer Zeit, wo die Straßen noch von Fußgängern ſchwärmten, ſtatt. Sie wollen mir die Gründe, die Sie beſtimmen, meinen Wunſch, ſo ſchmerzlich es Ihnen auch ſei, nicht zu erfüllen, ſelbſt ſagen, und Sie ſchwören mir, ich werde dieſe Gründe, wenn ich ſie erfahren, billigen. Sind Sie deſſen ſo gewiß? Aber freilich, Sie ſind der Ge¬ ber ich die Empfängerin ich muß mich wol Ihren Wünſchen fügen; daß Sie mich täuſchen wollten,224 will ich, kann ich nicht denken. Sie ſind einmal ſo großmüthig gegen Arme und Hülfloſe geweſen, Sie können das andere Mal gegen ein armes, hülfloſes Mädchen nicht ſo ungroßmüthig ſein. M. M.

Nr. 5. Herr Baron! Nochmals meinen innigſten, herzlichſten Dank! Dank auch für die Zartheit, mit welcher Sie Alles eingeleitet hatten! Wie bitter Un¬ recht habe ich Ihnen gethan? Aber konnte ich ahnen, daß Sie mich mit dem Herrn Obriſten von St. Cyr ſelbſt bekannt machen würden? daß ich aus dem Munde dieſes Veteranen in meiner geliebten Mutterſprache den Heldentod meines Vaters ſollte erzählen hören? Sie wollten nicht, daß der Obriſt die Tochter eines Helden, den letzten Sproß einer einſt reich begüterten, angeſehenen Familie in ſo dürftigen Verhältniſſen fände; Sie wollten mir die Verlegenheit erſparen, den Grafen von St. Cyr und den Baron von Grenwitz in einer Dachkammer zu empfangen. Sie zogen es vor, mich als Erzieherin in einer Ihnen nahe verwandten Fa¬ milie vorzuſtellen und es war am Ende recht und billig, daß ich in Ihrer Geſellſchaft den kranken und von der Reiſe angegriffenen alten Herrn in ſeinem Hotel aufſuchte. Nochmals vielen, vielen Dank! auch dafür, daß Sie auf dem langen Rückwege vom Hotel225 bis zu meiner Wohnung den friſchen Schmerz durch ein Schweigen ehrten, das Ihnen bei Ihrem lebhaften Naturell gewiß nicht leicht geworden iſt. Wodurch habe ich denn nur das Intereſſe, welches Sie an meinem Schickſal nehmen, verdient? Ich bin doch wahrlich recht unartig und unfreundlich gegen Sie ge¬ weſen! Sie fragten mich zuletzt, ob ich jetzt glaube, daß Sie es gut mit mir meinen? Dieſer Brief mag Ihnen darauf Antwort geben. Sie verlaſſen morgen die Stadt reiſen Sie glücklich, und laſſen Sie ſich durch die beifolgende kleine Arbeit ich habe ſie in dieſer Nacht gefertigt manchmal erinnern an Ihre

dankbare Marie Montbert.

Nun iſt das Püppchen geknetet und zugerichtet, ſagte Albert, der mit einem gar ſeltſamen und un¬ heimlichen Eifer wie ein Beſchwörer, der die Re¬ cepte eines Nebenbuhlers in der ſchwarzen Kunſt ſtu¬ dirt die ſchon mehrmals geleſenen Briefe wieder las. Dieſer Harald das muß man ihm laſſen war der richtige Rattenfänger. Ich möchte nur wiſſen, was für eine Sorte von Obriſt das geweſen ſein mag, der dem dummen Dinge das Märchen von der Be¬F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. III. 15226reſina aufband. Vielleicht der Teufel Oberſter, jeden¬ falls einer ſeiner Helfershelfer die Sache muß dem braven Harald ein ſchmähliches Geld gekoſtet haben. Indeſſen, es wurde zweckmäßig verthan, denn in Nr. 6 hat er ſchon ſehr bedeutende Progreſſen gemacht.

Nr. 6. Kaum kann ich zu mir ſelbſt kommen! Sie wieder hier! und hier um meinetwillen! hier, weil die Sehnſucht nach mir Ihnen keine Ruhe ließ! Mein Gott, mein Gott! wohin ſoll dies führen! Sie ſind ein reicher Edelmann ich bin ein blutarmes Mädchen, das, mögen meine Ahnen geweſen ſein, wer ſie wollten mit ſeiner Hände Arbeit ſich das täg¬ liche Brod verdient. Meine Vernunft ſagt mir, daß aus dem Allen für mich nur Unglück über Unglück erfolgen kann, daß ich Sie fliehen ich weiß nicht, was ich Ihnen geſtern geſagt, was ich Ihnen ver¬ ſprochen habe geben Sie mir mein Wort zurück! Ich kann Sie heute ich darf Sie nie, nie wieder ſehen. Ich beſchwöre Sie, reiſen Sie wieder ab. Sie müſſen es, wenn Sie mich wirklich lieben. Leben Sie wohl viel tauſendmal!

Ihre Marie.

Was ſo ein acht Tage Abweſenheit nicht Alles bewirken können, ſagte Albert, ſich die Cigarre, die227 ihm in dem Eifer des Leſens ausgegangen war, wieder anzündend, Ihre Marie! ausgezeichnet! wie ſich der biedere Harald wol in's Fäuſtchen gelacht haben mag, als er dieſe thränenreiche Epiſtel denn hier ſind noch die Spuren davon las. Aber weiter!

Nr. 7. Nehmen Sie den köſtlichen Schmuck, den heute ein unbekannter Mann für mich abgegeben hat, wieder. Womit habe ich es verdient, daß Sie ſo niedrig von mir denken? Daß ich Sie liebe, liebe, trotzdem meine Vernunft mir deshalb die entſetzlichſten Vorwürfe macht, Sie wiſſen es; ich habe es nicht länger vor Ihnen verbergen können, verbergen wollen; aber weshalb mir nicht wenigſtens den Troſt laſſen, daß dieſe meine Liebe rein von jedem unedlen Neben¬ gedanken iſt! Dieſe koſtbaren Rubinen, dieſes rothe Gold es brennt in meiner Hand wie glühende Kohlen laſſen Sie mich, wie Sie mich fanden! Wenn das arme, ſchmuckloſe Mädchen Ihre Liebe ge¬ winnen konnte, ſo ſehen Sie ja ſelbſt, daß Armuth und Dürftigkeit ſich recht gut mit Liebe verträgt.

M. M.

Sehr hübſch geſagt, äußerte Albert, dieſen Brief zu den andern legend; aber doch ſehr dumm! Ar¬ muth und Liebe vertragen ſich gerade ſo gut, wie15*228Waſſer und Feuer. Ich möchte die feurige Liebe kennen, die nicht ausginge, wenn ihr ein Eimer Ar¬ muth über den Kopf geſchüttet wird! Pah, das muß ich beſſer wiſſen! Ich glaube, ich wäre albern genug, die kleine Marguerite zu heirathen, wenn ich ein Mann in Amt und Würden mit vom Staat garantirter guter Beköſtigung wäre, aber da ich nichts weiter bin als ein armer Teufel mit einem famoſen Appetit und wahren Patent-Magen, ſo wäre es doch reiner Selbſt¬ mord, wollte ich die ſchon knapp genug zugemeſſene tägliche Ration noch mit einem Andern theilen. Liebe! Unſinn! Liebe iſt höchſtens ein ganz wünſchenswerthes Deſſert zum Diner des Lebens. Ein gutes Diner ohne Deſſert bon! ein Diner mit Deſſert noch beſſer, aber ein Deſſert ohne Diner! nun, für Frauen¬ zimmer mag auch das genügen; aber mit meiner Con¬ ſtitution verträgt es ſich nicht. Ob die gute Marie, wenn ſie noch lebt, wie ich ſehr ſtark hoffe, jetzt nicht doch manchmal beklagt, daß ſie die koſtbaren Rubinen und das rothe Gold anderen jungen Damen, die es weniger verdienten, zugewandt hat? Im nächſten Brief wird die tugendhafte kleine Perſon ſogar ganz übermüthig.

Nr. 8. Sieh, ſieh, mein Lieber; alſo auch eifer¬ ſüchtig können Sie ſein! wer hätte dem Baron Ha¬229 rald von Grenwitz ſolche bürgerliche Schwächen zu¬ getraut! Ich ſoll eine andere Wohnung beziehen; weshalb? Damit ich im Winter nicht vor Froſt und im Sommer vor Hitze umkomme; nicht alle Tage ein paar Mal Gefahr laufe, mir auf den engen, ſteilen Treppen den Hals zu brechen? bewahre! nur weil die Madame Schwarz, bei der ich wohne, dem gnädigen Herrn nicht gefällt, und weil der gnädige Herr in Erfahrung gebracht hat, daß ein junger Franzoſe, ein Monſieur d'Eſtein, mit mir auf demſelben Flure wohnt, daß ich mit beſagtem Monſieur auf einem ſehr ver¬ trauten Fuße ſtehe, ja mit demſelben, ſelbſt des Abends ſpät, Arm in Arm, auf der Straße geſehen worden bin! Entſetzlich! Aber, im Ernſt, theuerſter Harald, Sie haben wahrlich keine Urſache, ſich zu beklagen. Die Madame Schwarz iſt eine ſehr ehrbare, ausge¬ zeichnete Frau, der ich unſäglich viel verdanke und die, ſo lange ich denken kann, eine Mutter für mich geweſen iſt; und was Monſieur d'Eſtein anbetrifft, ſo wird Ihre Eiferſucht ſich wol wieder ſchlafen legen, wenn ich Ihnen ſage, daß es derſelbe kleine, ältliche Herr iſt, an deſſen Arm Sie mich zum erſten Mal im Thiergarten ſahen. Monſieur d'Eſtein könnte den Jahren nach mein Vater ſein, wie er denn auch der Freund meines Paters war. Er ſtammt wie wir aus230 einer Familie franzöſiſcher Réfügiés und wäre wol ſchon längſt in das geliebte Land ſeiner Väter zurück¬ gekehrt, da er hier gar keine Verwandte, ja nicht ein¬ mal Freunde hat, wenn er nicht fürchten müßte, dort, wo alle Welt die Sprache ſpricht, in der er hier Un¬ terricht ertheilt, Hungers zu ſterben. Er iſt ſehr wunderlich, aber das bravſte Herz von der Welt. Er würde für mich durch's Feuer gehen und au déses poir ſein, wenn er nur die leiſeſte Ahnung von un¬ ſerem Verhältniſſe hätte. Dies Alles würde ich Ihnen ſchon geſtern Abend geſagt haben; aber ich wollte einmal ſehen, ob Sie auch Widerſpruch ver¬ tragen könnten. Sind Sie jetzt zufrieden? Au revoir, Monsieur le Baron!

Votre très-méchante Marie M.

Dies iſt die einzige Notiz über dieſen Monſieur d'Eſtein, ſagte Albert, den Brief auf den Schooß ſinken laſſend und nachdenkliche Wolken aus ſeiner Cigarre blaſend; ohne Zweifel derſelbe, welcher in der Erzählung der Alten als Schacherjude wieder auf¬ tritt, um das Terrain vorläufig zu recognosciren, und hernach die Entführung der bedrängten Unſchuld be¬ werkſtelligt. Ich fürchte, es ſind hier einige Briefe verloren gegangen, denn als der nächſtfolgende ge¬231 ſchrieben wurde, waren die Affairen ſchon ſehr weit gediehen.

Nr. 9. Soeben erhalte ich den was ſoll ich es verſchweigen! längſt erwarteten Brief Ihrer Frau Tante. Sie ſchreibt mir mit zitternder, aber doch leſerlicher Hand, daß ſie das Lebensglück ihres geliebten Großneffen höher ſtelle, als die Ruhe der wenigen Tage, die ſie noch zu leben habe; ja daß ſie ſich freue, eine ſo dringende Veranlaſſung zu haben, nach dem Stammſitz ihrer Väter, dem Orte ihrer Ge¬ burt, wo ſie denn nun auch zu ſterben gedenke, eine Reiſe, die letzte vor der großen Reiſe, anzutreten. Sie werde am 13. von St. abreiſen, und bereits vor mir in Grenwitz angekommen ſein, da Sie ein tête-à-tête mit meinem wilden Neffen ſo ſehr fürchten, liebes Kind ... Ich wie nicht ſagen, unaus¬ ſprechlich mich ſo viel Güte und Liebe rührt! wie dankbar ich der herrlichen alten Dame bin, wie ich mich freue, ihr die welken, lieben Hände zu küſſen! Ja, Harald, wenn ſie, die Greiſin, die Aelteſte Deines ritterlichen Geſchlechts mich Deiner würdig gefunden hat, wenn ſie unſere Liebe ſegnet, dann will ich mit tauſend Freuden die Deine ſein. Nur Eines ſchmerzt mich, daß ich mich bei Nacht und Nebel wie ein Dieb von hier, von der Frau, die ich232 wie eine Mutter liebe, von dem Manne, der mir Vater und Bruder geweſen iſt, fortſchleichen ſoll. Und doch es geht nicht anders. Du haſt recht: ſie würden mir den Abſchied nur noch ſchwerer machen; ſie würden das Ganze ein romantiſches Abenteuer ſchelten. Sie kennen Dich ja nicht, Sie wiſſen ja nicht, wie treu und gut Du biſt. Aber Lebewohl darf ich ihnen doch wenigſtens ſchriftlich ſagen! ihnen in ein paar Worten für alle Güte und Liebe danken und ſie über den Schmerz, den ich ihnen jetzt bereiten muß, auf eine fröhliche Zukunft vertröſten. Ach, wäre dieſe Zukunft doch erſt Gegenwart! Ihr neuer Kammerdiener, der mir übrigens viel weniger ge¬ fällt, als der alte mit dem treuen, ehrlichen Geſicht, meldete mir geſtern Abend, daß alle Vorbereitungen auf übermorgen früh getroffen ſeien. Es iſt mir lieb, daß ich in Ihrer Equipage und in Begleitung Ihrer Leute fahren ſoll; der Gedanke einer ſo weiten Reiſe hat ſo viel weniger Peinliches für mich. Auf bal¬ diges, köſtliches Wiederſehen, Du Vielgeliebter! M. M.

Nun iſt das Vögelchen in's Garn gegangen, ſagte Albert, dieſen Brief, den letzten, zu den andern legend, und alle wieder ſorgfältig mit dem rothſeidenen Bande zuſammenbindend; das Uebrige könnte man233 ſich zur Noth denken, wenn man es nicht aus der langen Geſchichte der alten Hexe, der guten Freundin meines ausgezeichneten Freundes Stein, wüßte. Ich glaube, die Alte könnte noch mehr erzählen, wenn ſie wollte. Ich muß mir Ihre Gunſt zu erwerben ſuchen und mir freien Zutritt in ihre Salons verſchaffen. Sollte ſie nicht noch Manches aus dem Nachlaſſe von Fräulein Unſchuld in ihrem Beſitz haben, das zu weiteren Entdeckungen führen könnte? Die Kleine hat jedenfalls bei der eiligen nächtlichen Flucht ihre Kiſten und Kaſten nicht zu ſorgfältig ausgekramt, und die Alte eine gute Nachleſe an Bändern, Strümpfen, Schuhen und warum nicht auch Briefen? gehalten. Das Alles mag in ſicherer Ruhe in der großen, höl¬ zernen Lade, auf der ich mir an jenem Nachmittage die Rippen wund gelegen habe, ſeiner Auferſtehung entgegenſehen. Das iſt ein Gedanke!

Albert war aufgeſprungen und hatte ſich vor den Spiegel geſtellt, wahrſcheinlich um zu ſehen, wie ſich ein ſo geiſtreicher Kopf denn eigentlich ausnehme. Das iſt ein Gedanke, und er warf ſeinem Spie¬ gelbilde eine Kußhand zu, welche dieſes in Anbetracht der Vortrefflichkeit des Originals freundlich erwiederte ein ganz famoſer Gedanke, den ich ausführen muß, es koſte, was es wolle. Vielleicht war der234 Schacherjude ein wirklicher rechter Iſraeliter und Ab¬ geſandter des Monſieur d'Eſtein; vielleicht hat er der Kleinen nur einen Brief überbracht, in welchem der Plan der Flucht entworfen war, und dieſer Brief fände ſich, und mit dem Briefe in der Hand könnte man der Flüchtigen auf die Spur kommen.

Herr Timm hielt plötzlich in ſeinem Monologe inne und ſein Geſicht verdüſterte ſich: Verdammt, murmelte er, nun fehlt es wieder am Beſten, an dem nervus rerum, an der Wünſchelruthe, mit der ich den Schatz heben könnte. Offenbar werde ich zur Erreichung meines Zweckes einige Reiſen machen müſſen, zum mindeſten in die Reſidenz, um Marien¬ ſtraße Nr. 21 drei Treppen hoch im Hofe gewiſſe Erkundigungen anzuſtellen; aber Reiſen koſten Geld und mein actives Vermögen beſteht jetzt aus fünf Silbergroſchen, von denen einer, glaube ich, nicht ein¬ mal echt iſt. Ich muß eine Zwangsanleihe bei der kleinen Marguerite machen. Es geht wahrlich nicht anders. Ich wollte es ja auch neulich ſchon, als plötzlich die intereſſante Familie wieder einrückte und unſerm idylliſchen Leben ein Ende machte. Freilich dieſe verdammten Karten müſſen erſt fertig; ſonſt läßt mich Anna-Maria nicht aus ihren Klauen. Ich muß ſchon in den ſauren Apfel beißen.

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Und Herr Timm zündete ſich eine friſche Cigarre an, entriegelte die Thür, beugte ſich über ſein Rei߬ brett, und zeichnete mit einem Eifer, als ob er in der Welt keine andere Pläne kenne, als die, mit wel¬ cher ſich ein tüchtiger Geometer von Berufswegen ab¬ geben muß.

Ende des dritten Bandes.

Druck von F. Hoffſchläger in Berlin.

About this transcription

TextProblematische Naturen
Author Friedrich Spielhagen
Extent249 images; 43119 tokens; 7965 types; 290293 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationProblematische Naturen Dritter Band Friedrich Spielhagen. . 235 S. JankeBerlin1861.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, 7 Y 274-3http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=860743225

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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