PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I][II]
Die Verwaltungslehre.
Siebenter Theil.
Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.1868.
[III]
Innere Verwaltungslehre.
Drittes Hauptgebiet. Die wirthſchaftliche Verwaltung. (Volkswirthſchaftspflege.)
Erſter Theil. Die Entwährung Grundentlaſtung, Ablöſung, Gemeinheitstheilung, Enteignung und Staatsnothrecht in England, Frankreich und Deutſchland.
Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.1868.
[IV][V]

Vorwort.

Mit dem vorliegenden Bande betritt der Verfaſſer dasjenige Gebiet der Verwaltungslehre, von welchem er ſich ſelbſt ſagen muß, daß es wohl bei der gegenwärtigen Entwicklung der Wiſſenſchaft und der Erfahrungen nicht mehr möglich ſein dürfte, daß Ein Menſch im Stande ſei, es gründlich zu bewältigen. Schon jetzt ſind viele Theile dieſes Gebietes zu ſelbſtändigen Fachwiſſenſchaften geworden, deren Kenntniß und Beherrſchung ein volles Menſchenleben erfordern. Und das Bewußtſein, das ihn bei dem Beginne dieſer Arbeit erfaßt hat, wird daher naturgemäß jeden erfaſſen, der in gleicher Weiſe Aehnliches unternimmt das Bewußtſein, daß ſeine Kraft nicht mehr ausreicht, einer ſolchen Aufgabe zu genügen.

Damit aber tritt uns die Frage entgegen, ob es denn über - haupt noch eine wirthſchaftliche Verwaltungslehre als Ganzes geben könne, wenn niemand die Kraft hat, ſie im Einzelnen zu bewäl - tigen? Und wenn es eine ſolche geben muß und ewig geben wird, was iſt dann ihre Aufgabe im Ganzen, da ſie dieſelbe im Einzelnen zu löſen nicht mehr im Stande iſt?

Wir glauben, die Antwort liegt nicht ferne.

So tief verſchieden und ſo unendlich reich auch alle einzelnen Gebiete der wirthſchaftlichen Verwaltung ſein mögen, dennoch ſind ſie innerlich Eins. Sie ruhen auf derſelben Grundlage, ſie werden begriffen aus demſelben Princip; ſie werden beherrſcht von denſelben Geſetzen. Und wenn die Kraft des Einzelnen nicht ausreicht, um jedes derſelben zu erſchöpfen, ſo iſt ſie allerdings groß genug, ſie alle in ihrem höheren Zuſammenhange zu begreifen. Und das iſt es, was der Wiſſenſchaft der wirthſchaftlichen Verwaltung übrig bleibt.

In Wahrheit aber iſt das weder ein dem Umfange nach Ge - ringes, noch iſt es ein Werthloſes. Denn ſo mächtig und hoch - bedeutend auch die Maſſe des Einzelnen hier wie immer ſein mag, und ſo entſcheidend auch die Wichtigkeit desjenigen iſt, was wirVI praktiſches Leben und Bedürfniß nennen mögen, immer hat das Allgemeine ſeinen Einfluß und ſeinen Werth für die richtige Erkennt - niß auch des Einzelnſten. Es iſt überflüſſig, darüber zu reden. Aber ſelbſt das bloß formale Syſtem gehört zu denjenigen Dingen, die man in ihrer ganzen Bedeutung erſt würdigen lernt, wenn man in dieſelben tiefer eindringt. Ein Syſtem, das nichts iſt als eine zweckmäßige Ordnung des Stoffes, iſt in Wahrheit kein Syſtem. Das wahre Syſtem bedeutet vielmehr das organiſche Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen; es zeigt, wie der Theil durch das Ganze ſeine Beſtimmung und ſeine Grenze empfängt; es iſt der Träger derjenigen Gewalt, welche aus dem Ganzen hervorgehend im Einzelnen lebt; es gibt kein Verſtändniß und keine vollſtändige Beherrſchung dieſes Einzelnen ohne ein Verſtändniß und ein klares Bild ſeines Zuſammenhanges mit dem Ganzen; und das bietet allein das Syſtem. Ein wahres Syſtem iſt daher niemals die Grund - lage der Behandlung des Stoffes, ſondern es iſt ſelbſt wieder nur das Ergebniß des höheren Weſens deſſelben; darum wird es nie fertig, ehe man das ganze Gebiet vollſtändig durchgearbeitet hat; daher iſt man ſich über die Sache im Ganzen erſt einig, wenn man ſich über die ſyſtematiſche Ordnung im Einzelnen klar iſt; und wenn man daher nach dem Verhältniß der Wiſſenſchaft der wirth - ſchaftlichen Verwaltung zu den einzelnen Gebieten fragt, ſo kann man jetzt antworten, daß die erſtere vor allen Dingen das zu geben hat, was die letztere nie ohne dieſelben empfangen können, das Syſtem als formalen Ausdruck der organiſchen Auffaſſung des Geſammtlebens aller einzelnen Theile.

Möge man nun das Streben des Verfaſſers zunächſt von dieſem Standpunkte aus auffaſſen.

Was nun die Behandlung des vorliegenden erſten ſpeciellen Theiles, der Entwährungslehre, betrifft, ſo iſt dieſelbe allerdings etwas anders geworden, als was manche ſich darunter vielleicht vorſtellen mögen.

Ich habe zu dem, was in der Arbeit enthalten iſt, nichts im Allgemeinen hinzuzufügen, als daß ſich dieſelbe in der That zu den Elementen der Geſchichte der europäiſchen Agrarver - faſſung auf Grundlage der Geſchichte der Geſellſchaft hat geſtalten müſſen. Der nächſte Werth dieſer Arbeit beſteht viel - leicht zumeiſt darin, daß noch niemals jemand verſucht hat, eineVII ähnliche zu unternehmen. Es war nicht leicht, gerade hier in die engliſchen und franzöſiſchen Verhältniſſe einzudringen und noch ſchwieriger, aus der ſcheinbar tiefen Verſchiedenheit derſelben wieder einmal zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß die europäiſchen Rechts - und Verwaltungsverhältniſſe viel weniger von einander abweichen, als man gewöhnlich annimmt. Es zeigte ſich hier wieder einmal, daß der größte Fehler unſerer ſonſt ſo achtungs - werthen deutſchen Rechtsgeſchichte darin beſteht, eben nur deutſche Rechtsgeſchichte ſein zu wollen, und nicht zu begreifen, daß ſie ſelbſt nur ein Zweig an dem Baume der großen europäiſchen Rechts - geſchichte iſt und ſich als ſolchen erkennen muß, will ſie ſich über - haupt aus gelehrtem Detail zu einer wirklichen geiſtigen Bedeutung erheben. Ich geſtehe es offen, daß ich zu hoffen wage, in der vorliegenden Arbeit einen Theil der Grundlagen dieſer Rechts - geſchichte Europa’s gegeben zu haben. Unſere größeren Nachfolger werden darüber urtheilen.

Das Enteignungsrecht im Beſonderen hat endlich in der Ent - währungslehre ſeine richtige Stellung gefunden, und die Vergleichung zeigt uns auch hier, daß wir Deutſche darin wie in der Entlaſtung hinter England und Frankreich weſentlich zurückſtehen. Ich will hier auf Einzelnes nicht eingehen. Aber das Reſultat ſteht wohl feſt, daß die gewaltige Macht, welche jene beiden Länder über die ganze Welt und namentlich über Deutſchland ausgeübt haben und ja zum Theil noch ausüben, auf der früheren und großartigen Durchführung des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in den Rechtsord - nungen des Grundbeſitzes, alſo ſpeciell in der Durchführung der Entlaſtung beruht. Und das iſt von ſo hoher Bedeutung, daß wir glauben müſſen, es ſei dieſe Entlaſtungs - und Entwährungslehre unter allen Gebieten der praktiſchen Staatswiſſenſchaften dasjenige, welches am meiſten ſich eignet, die wahre Vorbildung für die Staatskunſt der Zukunft zu werden.

Schließlich muß ich bedauern, die neueſte Arbeit über die Enteignung von Dr. G. Meyer (das Recht der Expropriation 1868) nicht haben benützen zu können. Der Verfaſſer zeichnet ſich vor allen bisherigen Behandlungen dadurch aus, daß er mit richtigem Gefühl die Agrarverhältniſſe Roms an die Spitze der Enteignungs - lehre ſtellt, und ſo den Zuſammenhang von Entlaſtung und Ent - eignung erkennt. Allein ſeine ſtrenge, juriſtiſche Beſchränkung aufVIII die Enteignung läßt ihn ſpäter dieſen Zuſammenhang wieder ver - lieren, und während der hiſtoriſche Theil daher die erſten Anklänge des Verſtändniſſes der Entwährung enthält, iſt der dogmatiſche eine fleißige und ſehr tüchtige Bearbeitung des Enteignungsrechts. Ueber ſeine principielle Löſung der Frage wollen wir hier nicht rechten. Es gibt eben keine ſolche Löſung, die nicht zugleich die Entlaſtung, die Ablöſungen u. ſ. w. umfaßte, kurz, es gibt keine Löſung der Enteignungsfrage für ſich, ſondern nur eine Löſung der Entwährungsfrage. Daß er als guter Deutſcher das römiſche Recht ſehr gründlich, und die lebendige Welt des deutſchen Rechts - lebens im 17. und 18. Jahrhundert, namentlich das dominium eminens ſehr kurz und ungründlich behandelt, liegt wohl mehr in unſrer allgemeinen verkehrten Bildung auf den deutſchen Univerſi - täten, als an ihm ſelber. Eben ſo iſt es bezeichnend, daß er viel genauer die deutſche Literatur als die Geſetzgebung kennt; der §. 7 iſt wohl der ſchwächſte Theil des Buches, während der dogmatiſche Theil mit großer Gründlichkeit und Umſicht ausgearbeitet iſt. Die Frage nach dem, für das Enteignungsverfahren competenten Organe iſt bei ihm leider in der Frage nach dem zur Beſtimmung der Entſchädigung geeigneten Behörden einigermaßen untergegangen; was er S. 318 ff. ſagt, iſt nicht mit voller Klarheit über die Sache geſchrieben. Das franzöſiſche Recht iſt keineswegs genug gewürdigt; daß er das engliſche Recht nicht weiter kannte, als Cox und May, die gar nicht davon ſprechen, und Gneiſt und Thiel, denen die Hinweiſung auf die Lands Clauses entgangen iſt, iſt wohl ſehr zu entſchuldigen (S. 331). Vom Staatsnothrecht geſchieht gar keine Erwähnung. Im Ganzen iſt jedoch das Werk als ein höchſt werth - voller Beitrag zur Lehre von der Entwährung anzuerkennen.

Die gründliche Umarbeitung meiner erſten Auflage der voll - ziehenden Gewalt, für deren freundliche Aufnahme ich ſchon hier meinen Dank ausſprechen darf, wird die Fortſetzung der wirthſchaft - lichen Verwaltung, zunächſt die Behandtung des Waſſer -, Feuer - und Verſicherungsweſens, wohl einige Zeit hinausſchieben.

Wien, Anfang Juni 1868.

L. Stein.

[IX]

Inhalt.

  • Die wirthſchaftliche Verwaltung. (Volkswirthſchaftspflege.)
  • Einleitung.
  • Seite
  • I. Begriff und Inhalt der wirthſchaftlichen Verwaltung oder Volks - wirthſchaftspflege3
  • II. Unterſchied der Volkswirthſchaft, der Staatswirthſchaft und der wirthſchaftlichen Verwaltung5
  • 1) Die Volkswirthſchaft5
  • 2) Die Staatswirthſchaft8
  • 3) Die wirthſchaftliche Verwaltung oder Volkswirthſchaftspflege10
  • III. Elemente der Geſchichte der wirthſchaftlichen Verwaltungslehre12
  • 1) Die Scheidung von Volkswirthſchaft und Volkswirthſchaftspflege12
  • 2) Die drei Schulen oder Syſteme der Nationalökonomie ſind als Syſteme der wirthſchaftlichen Verwaltung aufzufaſſen17
  • 3) Die einzelnen Syſteme in ihrer nationalen und adminiſtrativen Bedeutung22
  • a) Das Merkantilſyſtem in England, Frankreich und Deutſch - land23
  • b) Das Syſtem der Économistes oder die Phyſiokraten und die reine landwirthſchaftliche Verwaltung30
  • c) Die Lehre von Adam Smith und ihr Verhältniß zur wirthſchaftlichen Verwaltung37
  • IV. Das Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung47
  • V. Einige Bemerkungen zur Geſchichte der Organiſation der wirth - ſchaftlichen Verwaltung61
  • Allgemeiner Theil.
  • Erſtes Gebiet. Die Verwaltung und das bürgerliche Recht oder die Entwährung.
  • I. Die allgemeinen Begriffe und Rechtsgrundſätze67
  • I. Der formale Begriff der Entwährung67
  • II. Die Elemente der Bildung des geſellſchaftlichen Rechts überhaupt71
  • X
  • Seite
  • III. Die Entwährung als ein Rechtsbegriff der ſtaatsbürgerlichen Geſell - ſchaftsordnung74
  • IV. Das Syſtem der Entwährung. Geſellſchaftliche Natur der Grund - entlaſtung, Gemeinheitstheilung, Ablöſung, Enteignung und des Staatsnothrechts77
  • V. Das öffentliche Recht der Entwährungen, ſeine ſyſtematiſche Stelle und ſeine Principien84
  • VI. Elemente der Geſchichte der Entwährungen. Charakter der Geſetz - gebung von Frankreich, England und Deutſchland88
  • II. Die einzelnen Entwährungen93
  • Die Grundentlaſtung93
  • I. Der formale Begriff derſelben93
  • II. Die Geſchichte der Unfreiheit der Geſchlechterordnungen Europa’s in der Grundherrlichkeit. Die Grundverhältniſſe der Befreiung durch die Staatsidee. Der Begriff der Selbſtverwaltung96
  • Englands Entlaſtungsweſen108
  • Erſte Epoche. Von der Eroberung bis auf Karl II. 109
  • Zweite Epoche. Von 12. Ch. II. c. 24 bis zum 19. Jahrhundert124
  • Dritte Epoche. Die Grundentlaſtung. 6. 7. Will. IV. 71. 4. 5. Vict. 35. 9. 10. Vict. 73134
  • Frankreichs Grundentlaſtung140
  • Deutſchlands Grundentlaſtung150
  • I. Allgemeiner Charakter150
  • II. Die Ausbildung der bäuerlichen Unfreiheit durch die Geſchlechter bis nach dem dreißigjährigen Krieg152
  • III. Der Uebergang der bäuerlichen Unfreiheit in die Rechtswiſſenſchaft und das Privateigenthum der Grundherrlichkeit an ihren öffentlichen Rechten. (Eſtor. Hauſchild, das deutſche Privatrecht des 18. Jahr - hunderts) 157
  • IV. Der Beginn des Kampfes mit dem Geſchlechterrecht. Das Domi - nium eminens und ſeine Geſchichte. (Die drei Epochen: Hugo Grotius. Biener. Poſſe. Runde. Das Dominium eminens ver - ſchwindet und das Princip des Entwährungsrechts überhaupt tritt an ſeine Stelle. Das Jus eminens und ſein Unterſchied vom Dominium eminens) 164
  • V. Das Verhältniß der ſtaatswiſſenſchaftlichen Literatur zur Grund - entlaſtung. (Juſti, Berg, Runde, Fichte; die romantiſche Schule in der Bauernfrage: Adam Müller. Die hiſtoriſch-juriſtiſche Rich - tung: die Entſchädigung; die landwirthſchaftliche Richtung: Thaer und Stüve) 178
  • VI. Die wirkliche Entlaſtung durch Geſetzgebung und Verwaltung des Staats191
  • 1) Der Kampf der Staatsgewalt gegen Leibeigenſchaft und Patri - monialgerichtsbarkeit192
  • XI
  • Seite
  • 2) Die erſte Hälfte des 19. Jahrhunderts202
  • 3) Die eigentliche Grundentlaſtung ſeit 1848217
  • Die Ablöſungen234
  • I. Begriff und Verhältniß zu Entlaſtung und Gemeinheitstheilung234
  • II. Die germaniſchen Grunddienſtbarkeiten und Verhältniß zur römi - ſchen servitus237
  • III. Die Grunddienſtbarkeiten und ihre Ablöſung242
  • IV. Die Bannrechte249
  • V. Die Realgerechtigkeiten252
  • Die Gemeinheitstheilungen253
  • I. Weſen und Verhältniß zur Geſchlechterordnung der Dorfverfaſſung253
  • II. Englands Gemeinheitstheilung. (Die Enclosures, die Enclosure Act und Commission) 265
  • III. Das Gemeindegut, die Weide - und die Walddienſtbarkeiten in Frankreich. (Die Allotissements, die vaine pâture, der parcours, die droits d’usage und das Cantonnement) 270
  • 1) Die Allotissements272
  • 2) Der parcours und die vaine pâture275
  • 3) Die droits d’usage und das Cantonnement277
  • IV. Deutſchlands Gemeinheitstheilungsweſen279
  • 1) Die hiſtoriſchen Grundlagen279
  • 2) Die Zeit der polizeilichen Auftheilungen. Juſti. Friedrich II. Wöllner. Runde. Frank280
  • 3) Die Gemeinheitstheilung des 19. Jahrhunderts. Knaus285
  • Die Enteignung292
  • I. Der Begriff der Enteignung. Entwicklung aus dem geſellſchaftlichen Recht293
  • II. Das Princip des Enteignungsrechts299
  • III. Die Elemente der Geſchichte des Enteignungsrechts. (Die drei Epochen. Die Epoche des Dominium eminens und der Regalität. Die Epoche des Verordnungsrechts mit dem Uebergange in die bürgerlichen Geſetzbücher. Die Epoche des Verfaſſungsrechts. Ueber - gang in die Verfaſſungsurkunden. Entſtehung der Enteignungs - geſetze) 301
  • IV. Englands Enteignungsrecht. Die Lands Clauses Act 8. Vict. 18. 1845309
  • V. Frankreichs Expropriationsgeſetzgebung312
  • VI. Das Enteignungsrecht in Deutſchland. Charakter des gegenwärtigen Zuſtandes314
  • VII. Syſtem des Enteignungsrechts319
  • Das Rechtsprincip des Enteignungsverfahrens. (Die Enteignung als ein Akt der innern Verwaltung. Enteignungsgeſetz und Enteignungs - verordnung. Stellung des Gerichts und ſeiner Thätigkeit. Die rechtliche Natur der Enteignung) 319
  • XII
  • Seite
  • Erſter Theil. Das Enteignungsverfahren und ſein Recht324
  • 1) Die Genehmigung des Unternehmens325
  • 2) Die Genehmigung des Enteignungsplanes327
  • 3) Der Enteignungsſpruch und der Uebergang des Eigenthums332
  • Zweiter Theil. Das Entſchädigungsverfahren und ſein Recht336
  • 1) Die Feſtſtellung der Entſchädigung337
  • 2) Das Auszahlungsverfahren340
  • Das Staatsnothrecht342
  • I. Weſen deſſelben342
  • II. Unterſchied des Nothverordnungsrechts vom eigentlichen Staats - nothrecht, und des Staatsnothrechts von der Enteignung. Geſetz - gebung344
  • III. Das Syſtem des Staatsnothrechts345
  • 1) Die Enteignung des Staatsnothrechts346
  • 2) Die Entſchädigung des Staatsnothrechts347
[1]

Die wirthſchaftliche Verwaltung.

(Volkswirthſchaftspflege.)

Einleitung. Einleitung.

Stein, die Verwaltungslehre. VII. 1[2][3]

I. Begriff und Inhalt der wirthſchaftlichen Verwaltung oder Volkswirthſchaftspflege.

Indem wir jetzt zum dritten großen Hauptgebiet der inneren Ver - waltung übergehen, müſſen wir mit einer Aufgabe beginnen, die zwar keineswegs zu den angenehmen gehört, aber die dennoch unerläßlich iſt.

In keinem Theile der geſammten Staatswiſſenſchaft nämlich gibt es eine ſolche faſt unabſehbare Maſſe von Vorarbeiten für die eigent - liche Verwaltungslehre, als in demjenigen, der ſich auf die volks - wirthſchaftlichen Verhältniſſe bezieht. Dieſelben ſind theils ſelbſtändig aufgetreten, theils erſcheinen ſie in einzelnen Abhandlungen und Unter - ſuchungen aller Art, theils ſind ſie mit der gewöhnlichen Volkswirth - ſchaftslehre ſo verſchmolzen und verflochten, daß ſie mit ihr ein faſt untrennbares Ganze bilden. Allein, ſo hart das Urtheil auch klingen mag, ſo müſſen wir es dennoch ausſprechen, daß hier auf allen Punkten eine vollſtändige Verwirrung oder doch Unklarheit und Syſtemloſigkeit der Begriffe herrſcht, die, wie wir glauben, in gar keinem andern Theile der Wiſſenſchaften überhaupt ihres Gleichen hat. Es iſt nicht bloß keine Einigung über Begriff und Wort erzielt, ſondern ſie wird auch nicht einmal angeſtrebt; ja was für die wiſſenſchaftliche Entwicklung das Uebelſte iſt, es wird kaum noch empfunden, daß dieſe Verwirrung da iſt, und die beinahe vollſtändige Willkür in der Behandlungsweiſe erzeugt, welche unſere Zeit in dieſer Beziehung auszeichnet. Es iſt dabei unmöglich geworden, ſich irgend etwas Beſtimmtes bei den Aus - drücken zu denken, welche man hier gebraucht, um alle dieſe Gebiete je nach individuellem Ermeſſen zuſammen zu faſſen, zu ſcheiden, halb oder ganz zu verſchmelzen, von einem zum andern überzugehen. Schon die Worte, welche man gebraucht, zeigen jene vollſtändige Unklarheit, die über dieſem weiten Felde wie ein dunkler Nebel ſchwebt. Bald wird man in der reinen Nationalökonomie ganze Ausführungen finden, welche bereits Anwendungen derſelben ſind; bald nennt man das,4 was aus der Vermengung der Nationalökonomie und der Volkswirth - ſchaftspflege entſteht, angewandte Nationalökonomie, ohne ſich zu fra - gen, wer ſie anwendet, und noch weniger, ob dieſe Anwendung nicht eine weſentlich andere iſt, wenn der Einzelne und wenn der Staat ſie macht; bald ſpricht man von Nationalökonomik, mit einem bar - bariſchen Worte ein unaufgelöstes Verhalten ſehr verſchiedener Dinge zudeckend; bald ſpricht man von Staatswirthſchaft und Staatswirth - ſchaftslehre, Nationalökonomie, Finanzen und Volkswirthſchaftspflege darunter begreifend, ohne ihr Verhältniß zu beſtimmen; bald hat man daneben eine Polizeiwiſſenſchaft und neben dieſer wieder ein Ver - waltungsrecht. Bald aber bemüht man ſich grundſätzlich um gar keinen ſyſtematiſchen Begriff, und mithin auch um gar keine ſyſtema - tiſche Behandlung, läßt ſich hin und wieder mit einer Formeldefinition begnügen, reiht dann Paragraphen an Paragraphen, ohne irgend welchen leitenden Gedanken, wirft in das leere Gefäß eines ſolchen Paragraphen allerlei Material hinein, was irgendwie damit im Zu - ſammenhang ſteht, geſchichtliche, philoſophiſche, ſtatiſtiſche, literariſche, praktiſche Notizen, und dazu in rückſichtsloſer Vermengung franzöſiſche, deutſche, engliſche Citate, auch intereſſante ſpaniſche, ruſſiſche, ſchwe - diſche Kleinigkeiten, nimmt Nationalökonomie, Technik, Verwaltung, Geſetzgebung hinzu, und dieß wird ſo eine Wiſſenſchaft. Es iſt nicht möglich, auf dieſer Baſis weiter zu arbeiten.

Denn in der That, nicht um Einzelkritik und nicht um dialektiſche Experimente handelt es ſich, wenn wir nicht umhin können, dieſe Art und Weiſe auf das Entſchiedenſte zu bekämpfen. Und auch das iſt nicht einmal das Letzte, was wir darüber zu ſagen haben, daß wir dadurch unſern eigenſten Werth, den des organiſchen Beherrſchens des geiſtigen Stoffes, die große Function, welche dem deutſchen Geiſte verliehen iſt, an der Nachahmerei der engliſchen und franzöſiſchen Un - klarheit und ihrer intereſſanten Darſtellungsweiſe verlieren, ohne doch mit Notizengelehrſamkeit den Glanz und die praktiſche Fülle derſelben erſetzen zu können. Niemand leiſtet das Beſte, wenn er nicht ſeinem eigenſten Weſen Ausdruck zu ſchaffen vermag. Wir Deutſche aber ſind doch das Volk der Denker, das iſt des unterſcheidenden, ordnenden, organiſchen Gedankens. Und deßhalb werden wir nur dann das Höchſte leiſten, wenn wir auch in der Staatswiſſenſchaft das organiſche Wiſſen zur Geltung bringen. Doch das iſt nicht das Einzige, nicht einmal das Wichtigſte um deſſentwillen wir die Feder zu dieſen Bemerkungen ergreifen.

Denn keine Wiſſenſchaft überhaupt kann zur vollen Entwicklung gelangen, wenn ſie nicht ihr eigenes Princip kennt, und mit Bewußtſein5 ihren Stoff als den ihrigen zu beherrſchen und zu erleuchten weiß. Alle andern Wiſſenſchaften ſind ſich über ſich ſelber einig; und das iſt die Grundlage ihrer Größe. Nur die Wiſſenſchaft des wirthſchaft - lichen Lebens iſt es nicht, am wenigſten die der Verwaltung deſſelben. Und dennoch fordert man von der letzteren, daß ſie ihrem Weſen nach für wirthſchaftliche Zwecke thätig ſein ſoll. Sagt mir nicht die ein - fachſte Logik, daß ich nicht im Stande bin, dieſe Aufgabe der Ver - waltung zu verſtehen, wenn ich nicht die Nationalökonomie das Objekt von der Verwaltung dem Subjekt ſtreng unterſcheide? Haben nicht beide ihr Weſen für ſich? Muß ich daher nicht ver - nünftiger Weiſe damit beginnen, daß ich zuerſt jedes von beiden in dieſem ſeinem Weſen für ſich betrachte, um wiſſen zu können, wie das eine mit dem andern agiren ſoll? Muß ich dieſe Unterſcheidung nicht auf jedem Punkte feſthalten und durchführen? Und iſt ein genügen - des Ergebniß denkbar, wenn ich den bequemen Ausdruck der An - wendung an die Stelle des Nachdenkens über die Natur des An - wendenden ſetze, die doch über Inhalt und Gränze der Anwendung entſcheidet? Doch es führt nicht weiter, mehr über dieſe Dinge hier zu reden. Wir unſererſeits hoffen, daß dieſe Epoche eine über - wundene iſt. Zu der Arbeit des wahrhaft deutſchen Geiſtes aber, durch den wir aus der franzöſiſch-engliſchen Nachahmerei heraus zu einer organiſchen Wiſſenſchaft gelangen, wollen wir hier, was an uns iſt, beitragen. Und unſere nächſte Aufgabe wird es daher ſein, den logiſchen und organiſchen Begriff der wirthſchaftlichen Verwaltung oder Volkswirthſchaftspflege aus ſeiner Vermengung mit den verwandten Begriffen oder Vorſtellungen von Volkswirthſchaft, Staatswirthſchaft, Polizei und andern heraus zu heben und damit die Baſis unſerer Wiſſenſchaft zu finden. Das nun iſt freilich unmöglich, ohne jeden jener Begriffe zunächſt für ſich zu beſtimmen.

II. Unterſchied der Volkswirthſchaft, der Staatswirthſchaft und der wirthſchaftlichen Verwaltung.

1) Die Volkswirthſchaft.

Die große, gewaltige Erſcheinung, welche der Volkswirthſchafts - lehre zum Grunde liegt, iſt die die ganze Menſchheit umfaſſende und die ganze Geſchichte erfüllende Thatſache, daß der Menſch die Welt der natürlichen Dinge ſeinen Zwecken unterwirft und dem natürlichen Leben eine perſönliche Beſtimmung gibt. Wir nennen den Proceß, durch den dieß geſchieht, die Volkswirthſchaft, nach ihrem letzten6 Theile, und die Wiſſenſchaft der Begriffe und Geſetze, auf welchen er beruht, die Volkswirthſchaftslehre.

Die Volkswirthſchaftslehre hat drei Hauptgebiete: die Güterlehre, Wirthſchaftslehre und die Volkswirthſchaftslehre.

a) Die Güterlehre beruht ihrem höheren, ethiſchen Standpunkte nach darauf, daß die Erfüllung des Lebens der Perſönlichkeit nicht bloß in dem phyſiſchen Daſein der Perſon und nicht bloß in der geiſtigen Welt liegt, ſondern daß ſich dieſelbe auch das rein natürliche Daſein unterwirft und ihren Zwecken dienſtbar macht. In der Güterlehre ſehen wir daher eine zweite Welt, eine zweite Ordnung der Dinge, ſich über die rein natürliche ausbreiten. Es iſt der Menſch, der dem natürlichen Daſein den Stempel ſeines Daſeins aufdrückt. Er reißt mit ſeiner Arbeit die Dinge aus dem Kreiſe ihrer natürlichen Exiſtenz heraus; er ändert und geſtaltet ſie; er trennt das natürlich Verbundene und verbindet das Getrennte; er gibt ihnen einen neuen Zweck, der nicht in ihrem natürlichen Daſein liegt, und indem er ſie ſo in dem Leben der Natur erfaßt und in das der Perſönlichkeit aufnimmt, macht er aus dem natürlichen Daſein ein Gut. Der gewaltige, die ganze Welt umfaſſende Proceß, mit welchem alle die Millionen Menſchen auf dieſe Weiſe die natürliche Welt dem menſchlichen Willen unterwerfen und ſie zu einem Theile und Inhalt der menſchlichen Beſtimmung erheben, indem ſie aus den Dingen und Weſen Güter erzeugen, nennen wir das Güterleben. Das Güterleben hat ſeine Grundbegriffe, ſeinen Organismus, ſeine Geſetze zunächſt für ſich. Dieſe darzuſtellen iſt die Aufgabe des erſten Theiles der Wiſſenſchaft der Nationalökonomie, des Güterlebens.

Dieſe nun kann allerdings in verſchiedener Weiſe aufgefaßt werden. Allein wie immer man ſich dieſelbe denken mag, ſtets wird dieß Güter - leben eine der großen Bedingungen der perſönlichen Entwicklung, das Gut eine, durch das Weſen der Perſönlichkeit ſelbſt geforderte und unmittelbar erzeugte Erfüllung der letzteren ſein. Es iſt daſſelbe mit allen ſeinen Momenten ein organiſches Element des perſönlichen Lebens; die in ihm gegebene Herrſchaft über das natürliche Daſein iſt zugleich eine Vorausſetzung und ein Maß für die Verwirklichung der Idee der Perſönlichkeit. Es iſt kein Zweifel, daß in dieſem Leben der Güter auf dieſe Weiſe zugleich ein ſehr praktiſches und ein hohes ethiſches Moment liegt. Das Verſtändniß des letzteren iſt es, welches das erſtere über die Linie einer mechaniſchen Ordnung und äußeren Zweckmäßigkeit erhebt. Die innere und formelle Verbindung beider iſt es, welche die Grundbegriffe und Geſetze, die dieß Leben der Güter bilden und be - herrſchen, zur Wiſſenſchaft der Güter, zur Nationalökonomie im höheren Sinne des Wortes macht.

7

Auf dieſe Weiſe enthält das, was wir die Lehre vom Güterleben an ſich nennen, die großen und allgemeinen Grundbegriffe für Gut, Werth und Güterentwicklung, welche auf dem allgemeinen Weſen der Perſönlichkeit und des natürlichen Daſeins beruhen und daher für alle Einzelnen, für alle Zeiten und Völker eine gleichmäßige, unerſchütter - liche Gültigkeit haben. Die Darſtellung des Güterlebens an ſich gibt daher das, was wir als die ewigen, unabänderlichen organiſchen Geſetze der Nationalökonomie zu bezeichnen haben. Es iſt kein Zweifel, daß die Verwaltungslehre dieſe Geſetze vorauszuſetzen, und ſie, da keine ſtaatliche Macht oder Einrichtung ſie zu verändern vermag, ein - fach als maßgebend anzuerkennen hat.

Bezeichnet man dieſe allgemeinen Geſetze und Erſcheinungen des Güterlebens nun als den erſten Theil der Güterlehre, ſo entſtehen der zweite und dritte Theil derſelben dadurch, daß nicht etwa das Güterleben, ſondern das Weſen der Perſönlichkeit, die ſich in ihm be - wegt, ein anderes wird.

Die Perſönlichkeit iſt nämlich in der Wirklichkeit zunächſt eine einzelne Perſon, und an ſie und das Weſen der Individualität knüpft ſich der zweite Theil, die Wirthſchaftslehre.

b) Die Wirthſchaftslehre. Jede einzelne Perſönlichkeit, ihrem Weſen nach frei und ſelbſtbeſtimmt, weiß nämlich ſich ſelbſt ihr eigenes Güterleben zu bilden. Sie erzeugt ſich mit ihrem Kapital und ihrer Arbeit, mit ihrer Conſumtion und Reproduktion, ihre eigene, ihr perſönlich angehörige Güterordnung. Dieſelbe gewinnt dadurch ihre individuelle Geſtalt und ihr individuelles Leben. Dieſe indi - viduelle Geſtalt des Güterlebens iſt es, welche wir die Wirth - ſchaft nennen. Die Wirthſchaft iſt das Güterleben als individuelle Perſönlichkeit; ſie iſt der wirthſchaftliche Körper der Perſon. Wo aber mehrere ſolche Perſönlichkeiten als Einheit zuſammentreten und ein gemeinſchaftliches Güterleben erzeugen, ſprechen wir von einer Unter - nehmung. Es iſt kein Zweifel, daß Wirthſchaft und Unternehmung die beiden Formen ſind, in denen ſich das Güterleben verwirklicht. Wie der einzelne Menſch die Wirklichkeit des Begriffs des Menſchen iſt, ſo ſind Wirthſchaft und Unternehmen die Wirklichkeit des Begriffs des Güterlebens.

c) Die Volkswirthſchaft. Dieſe Wirthſchaften und Unter - nehmungen erſcheinen nun wieder äußerlich zuſammengefaßt durch Land und Volk. Land und Volk ſind die beiden Formen, in denen für die ihnen angehörigen Wirthſchaften und Unternehmungen gleichartige Bedingungen geboten werden: im Lande die natürlichen, im Volke die geiſtigen. Dieſelben weiſen daher die einzelnen Wirthſchaften und8 Unternehmungen auf einander an; ſie geben denſelben durch die in ihnen liegenden objektiven, unabweisbaren Momente eine gewiſſe Ge - meinſchaft in Auffaſſung und Thätigkeit, in Stoff und Arbeit, in Produktion und Conſumtion, in Kapitalbildung, Credit und äußerer wirthſchaftlicher Sitte; und dieſe Gemeinſchaft, auf den Thatſachen des Landes und Volkes baſirt, erzeugt das, was wir die Volks - wirthſchaft nennen.

Dieß nun ſind die elementaren Begriffe der Nationalökonomie. Die Wiſſenſchaft des Güterlebens hat ſie auszuführen. Um von ihr weiter zu gelangen, müſſen wir eben den Begriff der Perſönlichkeit als die Grundlage der Geſtaltung des Güterlebens weiter entwickeln.

2) Die Staatswirthſchaft.

Diejenige Geſtalt der Perſönlichkeit nun, welche eine neue Geſtalt des Güterlebens neben und über Wirthſchaft und Volkswirthſchaft erzeugt, iſt der Staat. Es liegt uns fern, hier auf den Begriff des Staats an ſich zurückzukommen; allein ſo viel Vorſtellungen ſich auch über das Weſen des Staats kreuzen und ſcheiden, darüber ſind alle einig, daß er ſein ſelbſtändiges wirthſchaftliches Leben, das nach ſeiner Natur, und bei jedem wirklichen Staate nach ſeiner Individualität geartet iſt, nicht bloß theoretiſch haben muß, ſondern auch praktiſch hat. Und dieſe individuelle Wirthſchaft des perſönlichen Staats nennen wir die Staatswirthſchaft.

Begriff und Inhalt der Staatswirthſchaft entſtehen daher durch die Anwendung des Begriffs der Wirthſchaft auf den Staat; und dieß iſt zugleich der Punkt, der die Staatswirthſchaft von der Volkswirth - ſchaftspflege definitiv ſcheidet. Das Weſen jeder Wirthſchaft nämlich beruht darauf, daß in ihr die einzelne, wirthſchaftende Perſönlichkeit ihr eigener perſönlicher Zweck iſt, und alle Elemente und Geſetze des Güterlebens nur gebraucht, um das eigene Intereſſe zu fördern. Die Gränze ihrer Thätigkeit iſt hier deßhalb nur da gegeben, wo das was ſie nimmt, zuletzt ihrem eigenen Intereſſe nachtheilig, aber das was ſie thut, ihrem eigenen Intereſſe vortheilhaft werden kann. Jede Wirthſchaft, und ſo naturgemäß auch die Staatswirthſchaft, hat zuletzt nur ſich ſelbſt im Auge. Die Wirthſchaft kennt an ſich kein Opfer, keine Hingabe, keine Sorge für Andere als für ſich, ſie nimmt jedes andere wirthſchaftliche Leben nur ſo weit in ſich auf, als es Nachtheil oder Vortheil bringt; ohne dieſes Weſen der Wirthſchaft iſt ſie ſelbſt gar nicht denkbar. Iſt dem ſo, ſo iſt dem auch ſo für den Staat und ſeine Wirthſchaft; ſie iſt nur für den Staat als Individuum vor -9 handen; es iſt ein vollſtändiger Widerſpruch, in den Begriff der Staats - wirthſchaft die Förderung der Einzelwirthſchaft außerhalb ihrer wirthſchaftlichen Verpflichtung aufzunehmen, ſo ſehr wie es ein Wider - ſpruch wäre, die Hülfe an andere als einen Theil einer Einzelwirth - ſchaft zu ſetzen. Die Grundbegriffe der Staatswirthſchaft liegen daher in dem Weſen des wirthſchaftlichen Güterlebens des Staats, die Ge - ſetze derſelben in dem Weſen des perſönlichen Staatsintereſſes; die allgemeine Entwicklung hat mit derſelben nur ſo weit zu thun, als das Staatsintereſſe durch das Volksintereſſe bedingt erſcheint; und die Geſammtheit jener Begriffe und Geſetze bilden die Staatswirth - ſchaftslehre.

Auf dieſer Grundlage iſt nun auch der Inhalt derſelben leicht verſtändlich. Die Staatseinnahmen (oder die Finanzen im engern Sinne) erſcheinen als die Produktion, die Staatsausgaben als die Conſumtion in der Staatswirthſchaft, und die Reproduktion iſt das - jenige ſtaatswirthſchaftliche Geſetz, nach welchem die Ausgaben ſo ein - gerichtet werden müſſen, daß ſie, im ganz ſpeciellen Intereſſe der Staatswirthſchaft, ſelbſt wieder die Staatseinnahmen befördern und vermehren. Die Lehre von den Einnahmen heißt nun die Finanz - wiſſenſchaft; bei den Ausgaben dagegen bietet die Staatswirthſchaft nur noch die Mittel dar, welche die Verwaltung anwendet, um das wirthſchaftliche Wohl zu befördern. Hier nun ſcheinen, für die Staats - ausgaben, Staatswirthſchaft und Volkswirthſchaftspflege zuſammen zu fallen, und das iſt der Grund, weßhalb bedeutende Männer, wie Lotz und Kraus, ſie wirklich verſchmolzen haben. Allein es iſt klar, daß formell die wirthſchaftlichen Aufgaben des Staats nicht bloß da exiſtiren, wo es ſich um Ausgaben handelt, ſondern daß es Aufgaben, und ent - ſcheidende, gibt, die es mit Ausgaben gar nicht zu thun haben; im Gegentheil ſind die Ausgaben nur die materielle Bedingung für einen Theil jener Aufgaben; wir erinnern nur an die Enteignungsrechte, an die Grundlage für Straßen - und Bahnnetze, an das Maß und Ge - wichtsweſen, an hundert andere Dinge, die überhaupt nicht exiſtiren würden, wenn es nur eine Staatswirthſchaft gäbe, da bei ihnen keine Ausgaben vorkommen. Dem Weſen nach aber iſt das Princip der Ausgaben des Staats ſein eigenes Intereſſe, und wenn Staats - wirthſchaft und Verwaltung gleich wären, ſo würde der leitende Ge - danke für die erſtere immer nur die Vermehrung der Einnahmen und nie das Wohl der Bürger ſein, das auch bei verringerten Einnahmen ſteigen kann. Man muß daher ſagen, daß der Begriff der Staats - wirthſchaftslehre in dem Theile, der die Ausgaben betrifft, die Lehre nicht von dem Princip, ſondern von dem materiellen Maßſtabe10 für die Volkswirthſchaftspflege abgibt. Ohne Staatswirthſchaft gibt es für das Staatsleben zwar Geſetze, aber keine auf materielle Mittel gebaute Ausführung derſelben. Das iſt die Stellung der Staats - wirthſchaft.

3) Die wirthſchaftliche Verwaltung oder Volkswirthſchaftspflege.

Die Volkswirthſchaftspflege iſt demnach weder die Volkswirthſchaft, noch die Staatswirthſchaft, ſondern ſie iſt die Anwendung des großen Princips der Verwaltung auf das wirthſchaftliche Leben überhaupt. Ihr Begriff, ihre Gränze und das Weſen ihres Syſtems werden daher jetzt leicht klar ſein.

1) Ihrem Begriffe nach beruht die wirthſchaftliche Verwaltung weder auf den Geſetzen der Nationalökonomie, noch auf den Forde - rungen der Staatswirthſchaft, ſondern auf der in der Natur der be - ſchränkten Einzelkraft liegenden Thatſache, daß der Einzelne viele Bedingungen ſeiner individuellen wirthſchaftlichen Entwicklung nicht herſtellen kann, ohne welche nach den in der Volkswirthſchaftslehre gegebenen Geſetzen der wirthſchaftliche Fortſchritt unmöglich iſt. Ihrem Princip nach beruht ſie auf dem allgemeinen Geſetz, daß die höchſte Entwicklung des Ganzen ſtets durch die höchſte Entwicklung des Ein - zelnen auch im wirthſchaftlichen Leben gegeben iſt, und daß ſomit die Vollendung der Idee der Perſönlichkeit auch in der wirthſchaftlichen Welt in der Vollendung des Einzelnen beſteht. Ihrem Inhalt nach iſt ſie demnach die Geſammtheit der Thätigkeit des Staats, ver - möge deren derſelbe dem Einzelnen die für ihn unerreichbaren Bedin - gungen ſeiner individuellen wirthſchaftlichen Entwicklung durch die Kraft und die Mittel der Gemeinſchaft gibt.

Während daher die Verwaltung der Volkswirthſchaft ihre Geſetze aus der Güterlehre und ihre Mittel aus der Staatswirthſchaft nimmt, nimmt ſie ihr Princip aus dem Weſen des Staats. Und an dieß Princip knüpft ſich nun die zweite Frage nach der Gränze der Volks - wirthſchaftspflege.

2) Dieſe Gränze für die Thätigkeit der Volkswirthſchaftspflege entſteht ihrerſeits, indem der Einzelne, deſſen Entwicklung das Ziel der - ſelben iſt, auch im Staate eine ſelbſtändige Perſönlichkeit bleibt. Dieſe ſeine Selbſtändigkeit fordert nämlich, daß der Staat ihm nicht etwas arbeitslos gebe, ſondern daß in allem, was die Verwaltung für das wirthſchaftliche Leben des Einzelnen thut, der Einzelne den Gebrauch und Werth dieſer Leiſtungen erſt durch ſeine eigene individuelle Arbeit ſich gewinnen müſſe. Die Volkswirthſchaftspflege ſoll daher nie Güter11 geben, ſondern nur die Bedingungen des Erwerbs derſelben. Sie ſoll ſie nie vertheilen, ſondern die Vertheilung der freien Arbeit unter - ordnen. Sie ſoll den Erwerb nie begränzen, ſondern nur beſchützen. Sie ſoll ſtets da beginnen, wo die Kraft des Einzelnen ihrer Natur nach aufhält, und ſtets da aufhalten, wo die Einzelkraft beginnt. In dieſer ihrer Begränzung liegt einerſeits die äußere Freiheit des wirthſchaftlichen Lebens, andererſeits die innere Tüchtigkeit. Jede Verwaltung, die dieſe Gränze überſchreitet, wird zu einem Widerſpruche mit ſich ſelbſt und zu einem Unheil für die Volks - wirthſchaft.

Aus der Verbindung jenes Princips für das Weſen der Volks - wirthſchaftspflege mit dieſem Grundſatz für ihre Gränze ergibt ſich nun die Grundlage deſſen, was wir das Syſtem derſelben nennen müſſen.

3) Das Syſtem der Volkswirthſchaftspflege liegt nämlich dem - gemäß weder in dem Begriff der Volkswirthſchaft, noch in dem der Staatswirthſchaft, ſondern entſteht vielmehr an denjenigen Verhält - niſſen, welche ihrerſeits die Bedingungen für die Einzelwirthſchaft ent - halten. Wir werden es unten genauer darſtellen. Die Verwaltung bildet ſich auch hier in dieſem Theile wie im Ganzen nicht durch die Entwicklung ihres an ſich einfachen Grundgedankens, ſondern durch die Anwendung deſſelben auf das wirthſchaftliche Leben des Volkes aus. Und daher iſt es denn auch natürlich, daß ſie nicht bloß eine Geſchichte, ſondern vielmehr in den verſchiedenen Epochen eine höchſt verſchiedene Geſchichte gehabt hat, und daß in der Volkswirthſchaftspflege die ex - tremſten Grundſätze zum geltenden Recht geworden ſind. Dieß nun werden wir ſogleich darſtellen. Hier darf nur noch das Eine bemerkt werden, was wiederum Volkswirthſchaft und Staatswirthſchaft von jener auf das Klarſte ſcheidet. Da nämlich jene Bedingungen nicht im Begriff von Gut oder Staat, ſondern in den gegebenen Lebensverhält - niſſen der natürlichen oder perſönlichen Kräfte und Zuſtände liegen, ſo kann man auch zu keiner vollſtändigen Volkswirthſchaftspflege gelangen, ſo lange man ſie mit der Volks - oder Staatswirthſchafts - lehre verſchmilzt. Alle ſogenannten angewandten Nationalökono - mieen, alle Staatswirthſchaftslehren und ſelbſt die Polizeiwiſſenſchaft ſind daher nicht bloß zufällig und vorübergehend, ſondern principiell unvollſtändig, abgeſehen von der Syſtemloſigkeit, der ſie eben ſo nothwendig unterliegen, da es ja doch abſolut unmöglich iſt, aus den Begriffen von Gut und Werth z. B. auf die beſte Einrichtung der Poſt oder des Bauweſens eher zu gelangen, als von dem Begriffe der Staatsausgaben zum Inhalt des geltenden Rechts über geiſtiges12 Eigenthum oder Expropriation. Und dieſes wird im weitern Verlaufe der Darſtellung ſich genauer ergeben.

Dieß nun ſind die Elemente des Begriffs der Volkswirthſchafts - pflege. Wie es nun möglich geworden iſt, zu der gegenwärtig geltenden Unklarheit und Verwirrung zu kommen, das zeigt ſich allerdings in ſehr einfacher Weiſe, wenn man die ſtaatswiſſenſchaftliche Natur oder den Charakter der engliſchen und franzöſiſchen Literatur einerſeits und den Gang der Geſchichte andererſeits ins Auge faßt.

III. Elemente der Geſchichte der wirthſchaftlichen Verwaltungslehre.

1) Die Scheidung von Volkswirthſchaft und Volks - wirthſchaftspflege.

Wir glauben nun, daß nichts den tiefen Unterſchied von Volks - wirthſchaft, Staatswirthſchaft und Volkswirthſchaftspflege, und die Nothwendigkeit einer durchaus ſelbſtändigen Behandlung der letztern ſo beſtimmt erſcheinen läßt, als die Darſtellung der Elemente der Geſchichte der wirthſchaftlichen Verwaltung. Wollte man dieſe Geſchichte im Einzelnen gründlich verfolgen, ſo müßte man bei der thatſächlichen Ver - ſchmelzung jener drei Gebiete die Geſchichte der geſammten Staats - wiſſenſchaft ſchreiben. Dieß liegt außerhalb der Aufgabe der Verwal - tungslehre. Allerdings iſt die letztere nun dadurch in der Lage, etwas behandeln zu müſſen, was ſie eigentlich als ihre Vorausſetzung anzunehmen verpflichtet iſt. Sie kann daher der mißlichen Alternative nicht entgehen, entweder zu viel oder zu wenig vollſtändig zu werden, ſelbſt für ihre eigenen Zwecke. Allein noch kann ſie ihrerſeits dieſen Widerſpruch nicht vermeiden. Sie muß ihn mildern, indem ſie die leitenden Gedanken angibt, nach denen jeder bei jedem Werke ſich die eigene Beurtheilung über das Verhältniß deſſelben zur obigen Frage ſelbſt formuliren könne. Dieſe leitenden Gedanken, deren tiefere Begründung einer andern Ar - beit überwieſen werden muß, ſind folgende.

I. Das was man wohl auch die reine Nationalökonomie etwa im Gegenſatz zur angewandten, nennt, von der gründlich verkehrten Vorſtellung ausgehend, als ob es irgend einen Theil der National - ökonomie gäbe, der nicht bei jedem wirthſchaftlichen Leben zur Er - ſcheinung gelangte, oder das, was wir eben die Güter - und Volks - wirthſchaftslehre in ihrer Selbſtändigkeit nennen, iſt ein Theil der Erkenntniß des Lebens der Perſönlichkeit ſelbſt, das in dem Weſen derſelben, alſo unabhängig von Staat und Verwaltung als ein ewig lebendiges Gebiet deſſelben gegeben iſt. Um daſſelbe in dieſer Selbſt -13 ſtändigkeit zu erkennen, muß man von dem Weſen der Perſönlichkeit, und innerhalb deſſelben von Begriff und Inhalt der That ausgehen; denn das Gut iſt das perſönliche Ergebniß der wirthſchaftlichen Arbeit, wie der Begriff das der geiſtigen; jenes iſt die wirthſchaftlich lebendige, dieſes die geiſtige ſelbſtändig gewordene That der Menſchen. Die ganze geiſtige Welt aber hat niemals nach Begriff und Weſen der That geſucht. Daher hat von jeher für die reine Nationalökonomie die wahre Baſis gefehlt; ſie hat in Ermanglung derſelben niemals ſelbſtändig werden können, und es gilt daher, daß nie und nirgends die Nationalökonomie aus ſich ſelbſt heraus entſtanden iſt. Die wahre Geſchichte der National - ökonomie wird erſt dann gefunden werden, wenn man davon ausgeht, daß das, was wir die Nationalökonomie in all ihren Formen, und ſelbſt bei den Deutſchen nennen, erſt da erſcheint, wo die wirthſchaftlichen Lebensverhältniſſe der Völker zum Gegenſtande der Ver - waltung ihrer Staaten werden. Und ſelbſt nachdem ſie in dieſer Weiſe auftritt, wird ſie Jahrhunderte hindurch nirgends Gegenſtand einer ſelbſtändigen Unterſuchung und Darſtellung, ſondern ſie wird nur unter - ſucht und herbeigezogen, ſo weit ſie als Beweis oder Ziel für die volkswirthſchaftliche Thätigkeit des Staats nothwendig er - ſcheint. Alles, was darüber hinausgeht, bleibt gänzlich unerörtert; alles was von der Nationalökonomie in Frage kommt, wird unbewußt nur von dem Geſichtspunkte betrachtet, von welchem aus es als Gegenſtand oder Motiv für die Geſetzgebung zu gelten vermag. Daher verſchmilzt das, was unſere Zeit die Nationalökonomie nennt, Jahrhunderte lang ſo eng mit den praktiſchen Gebieten der Staatswiſſenſchaften, daß weder der Name noch die Thatſache derſelben ſelbſtändig erſcheinen, und bekannt - lich haben noch jetzt weder die Franzoſen noch die Engländer weder ein Wort noch einen Begriff für die Nationalökonomie, noch jetzt iſt ſie ihnen nicht ein ſelbſtändiger Theil der Staatswiſſenſchaft, ſondern die Geſammtheit der im öffentlichen Leben und in der Staatsverwaltung zur Geltung kommenden wirthſchaftlichen Geſetze und Begriffe; ſie können weder das Wort Gut, noch das Wort Volkswirthſchaft recht über - ſetzen; der Standpunkt ihrer Auffaſſung iſt die Économie politique, political Economy; ſo lange das deutſche Volk ſich über die Sphäre der Schülerſtellung bei dieſen Völkern nicht erheben kann, wird es auch bei uns nicht beſſer werden.

II. Aus dieſem Grunde aber hat ſich zunächſt ergeben, daß man auch den Umfang der Verwaltungslehre gründlich falſch verſtanden, und ihn mit dem der Anwendung wirthſchaftlicher Begriffe und Geſetze identificirt hat. Dadurch iſt eine Geſtaltloſigkeit in die ganze Auffaſſung hinein gerathen, die für eine wiſſenſchaftliche Behandlung14 geradezu unglaublich iſt. Bald werden ganze Gebiete weggelaſſen, bald willkürlich einzelne Momente hervorgehoben, bald notizenweiſe andere erledigt, bald, und das iſt noch das Günſtigſte, die Volkswirthſchafts - pflege als alleiniger Repräſentant der ganzen Verwaltung hingeſtellt, bald auch wieder in die Polizeiwiſſenſchaft der Verſuch einer Syſtemi - ſirung gemacht. Das Schlimmſte iſt, daß über das wahre Verhältniß gar kein Bewußtſein vorhanden iſt, und keines angeſtrebt wird, was freilich nur auf Baſis abſtrakter wiſſenſchaftlicher Grundbegriffe begonnen und erreicht werden kann. Wir müſſen noch einmal wieder - holen, daß ohne gründliche Aenderung dieſes Verhältniſſes an einen wahren Fortſchritt nicht zu denken iſt. Um ihn aber zu machen, muß man wohl den Punkt bezeichnen, von dem er auszugehen hat, und der daher auch dieſer Seite der Geſchichte der menſchlichen Wiſſenſchaft zu Grunde liegt.

III. Offenbar kann nun die Selbſtändigkeit der Volkswirthſchafts - lehre und der Volkswirthſchaftspflege nur dann gewonnen werden, wenn man dasjenige Element an die Spitze der letztern ſtellt, das weſentlich von dem ganzen Gebiete der erſtern verſchieden, und eben dadurch ein ganz neues Gebiet zu erſchaffen beſtimmt und fähig iſt. Dieß Element iſt der perſönliche Staat, als ein ſelbſtändiger Wille und ein ſelb - ſtändiger, thätiger Organismus. So wie dieſer Begriff in irgend einer, beinahe gleichgültig welcher, Formulirung feſtſteht, ſo ergibt ſich, daß dieſer Staat die Volkswirthſchaft weder erzeugt, noch daß er ſie, oder daß ſie ihn ausfüllt, ſondern daß vielmehr die großen, unabhängig vom Staate gegebenen Thatſachen und Geſetze der Volkswirthſchaft zum Gegenſtande des Staatswillens werden, weil ſie die elementaren Grund - verhältniſſe für ſeine Intereſſen darbieten. Erſt hier zeigt es ſich dann, daß die höchſte Selbſtherrlichkeit des Staats nicht ſo weit geht, um an den von ihm gänzlich unabhängigen Geſetzen der Volkswirthſchaft auch nur das Geringſte ändern zu können; daß ſie daher ein, vom Staatswillen ganz unabhängiges Gebiet bilden, und daher Gegenſtand einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft ſein können und ſein müſſen. Das Entſtehen der Volkswirthſchaftslehre iſt daher mit dem Punkte gegeben, wo der Begriff des Staats ſich von dem der Güter ſcheidet, und jeder in ſeiner Beſonderheit aufgefaßt wird. Und daher ſcheint es zweifellos, daß die wahre Grundlage ſowohl der Geſchichte der National - ökonomie, als die der Verwaltungslehre keine andere iſt, als der Proceß der Unterſcheidung und Trennung der Güterlehre und des Staatsbegriffes. Während die wahre Volkswirthſchaftspflege erſt da beginnt, wo es ſich darum handelt, das Verhältniß der an und für ſich beſtehendenden Geſetze der Volkswirthſchaft auf die Zwecke15 des Staats anzuwenden, enthält dagegen die wirthſchaftliche Verwaltung diejenigen Aufgaben des Staats, welche durch das Weſen deſſelben für das wirthſchaftliche Leben gegeben ſind. Daraus ergeben ſich die entſcheidenden Elemente für die Geſtalt und Geſchichte der letztern.

IV. Es folgt nämlich zuerſt, daß ein Volk und eine Literatur, die keinen Begriff vom Staate haben, auch niemals zu einer Lehre von der Verwaltung überhaupt, oder im beſondern zur Volkswirthſchafts - pflege gelangen können. Es wird vielmehr ein ganz anderer Proceß, und damit auch eine ganz andere Geſtalt jener Wiſſenſchaften eintreten. Da nämlich der Staat die Verwaltung überhaupt, und mithin auch die volkswirthſchaftliche Verwaltung im beſondern ſeiner Natur nach pflegen muß, ſo wird er ſtets ein beſtimmtes Recht der Volkswirth - ſchaftspflege, eine poſitive volkswirthſchaftliche Geſetzgebung und Ver - waltung erzeugen, ſeinerſeits ganz gleichgültig dagegen, ob die Wiſſen - ſchaft Volkswirthſchaftslehre und - Pflege zu unterſcheiden verſteht. So wie das geſchehen iſt, wird ſich nun allerdings die Wiſſenſchaft dieſes poſitiven Rechts bemächtigen, und es wird dieſelbe im Anſchluß an die Beſtimmungen deſſelben eine Geſetzes - und Rechtskunde der wirth - ſchaftlichen Verwaltung des Staats werden. Dieß iſt wieder theils ſyſtematiſch der Fall, wie in Frankreich als droit administratif, oder in Deutſchland als die ſog. Verwaltungsrechte oder Geſetzkunden ; theils aber auch ſtückweiſe für einzelne Geſetze, was ſich in allen Län - dern wiederholt. Von einem allgemeinen, aus dem Weſen des Staats fließenden, den ganzen Stoff beherrſchenden und erleuchtenden Princip iſt dabei natürlich keine Rede; eine Wiſſenſchaft kann man das wohl kaum nennen. Daneben aber wird die Vermengung der volkswirth - ſchaftlichen und verwaltungsrechtlichen Begriffe und Geſetze einfach in hundert verſchiedenen Formen fortdauern, manche im Einzelnen nützliche Anregung erzeugen, aber unvermeidlich anſtatt einer ihrer ſelbſt gewiſſen Wiſſenſchaft, wie die Logik, oder Rechtswiſſenſchaft, oder Heilkunde u. ſ. w. eine unabſehbare Verwirrung hervorbringen. Denn dieſe Be - handlungsweiſe wird und muß eine gänzlich ſyſtemloſe ſein, da ihre beiden verſchmolzenen Elemente, Volkswirthſchaft und Verwaltung eben zwei weſentlich verſchiedene Syſteme enthalten. Es wird daher bei viel Trefflichem im Einzelnen und Ganzen weder eine Volkswirthſchaft, noch eine Verwaltung erſcheinen. Und das iſt in der That der gegen - wärtige Zuſtand.

Daran knüpft ſich dann eine weitere Folge, welche man in jenem chaotiſchen Zuſtande bequemer Behandlung gar nicht zu erkennen vermag.

V. Da nämlich, wie geſagt, trotzdem der Staat ſeine wirthſchaft -16 liche Verwaltung nicht liegen läßt, ſondern zum Theil mit großer Energie fortſetzt, ſo ergibt ſich leicht, daß die Volkswirthſchaftslehre, die ſelbſt ohne Syſtem iſt, ſich unbewußt dem an Macht und Bedeutung weit überwiegenden Gange der Verwaltung anſchließt; ſie wird ihre Hauptaufgabe darin ſuchen, eben dieſes Syſtem und dieſe Maßregeln der Verwaltung zu erklären, zu fördern, auch zu bekämpfen; ſie wird aus einer Wiſſenſchaft zu einem großen Commentar der wirklichen Ver - waltung; ſie findet ſich ſelbſt nur in demjenigen, was ſie für oder gegen jene Richtung der Verwaltung zu ſagen weiß, und ſchließt damit, das verwaltungsrechtliche Princip für das nationalökono - miſche zu halten, und eine beſtimmte Grundauffaſſung für die Thä - tigkeit der Verwaltung in wirthſchaftlichen Dingen für eine Schule der Volkswirthſchaftslehre anzuſehen. Damit iſt denn der Boden feſter Beſtimmungen verloren; jetzt erſcheinen die Begriffe der reinen Nationalökonomie nur noch in dem Lichte, in welchem jene ihres eigenen Weſens unbewußte Verwaltungs - lehre ſie fordert oder braucht; ſie werden nur ſo weit herbeigezogen, als man ſie braucht; ſie werden nur in ſo weit entwickelt, als ſie auf jene volkswirthſchaftlichen Maßregeln Bezug haben; und da es keine ſolche gibt, die nicht mit großen und allgemein wirthſchaftlichen Intereſſen in Berührung ſtünden, ſo kann es geſchehen, daß jetzt in der Volks - wirthſchaft ſtatt eines wiſſenſchaftlichen Syſtems vielmehr Parteien und Parteiintereſſen entſtehen, jede mit ihrer Volkswirthſchafts - lehre als Troß und Dienerin des beſtimmten adminiſtrativen Zweckes, den man ins Auge faßt. Damit verliert denn die reine Wiſſenſchaft ihren Werth, und die Wahrheiten gewinnen die alte Eigenſchaft, um ſo ernſtlicher bekämpft zu werden, je weniger ſie ſich den ſpeciellen Zwecken dienſtbar erzeigen können. Die Volkswirthſchaftslehre aber, will ſie in einem ſolchen Zuſtand noch Bedeutung haben, muß von ihrer Stellung herabſteigen, und aus einer großen organiſchen Wiſſen - ſchaft zu einer geiſtigen Räumlichkeit werden, in die man Ueberflüſſiges hineinſtellt oder Nothwendiges aufbewahrt, eine ordnungs - und vor allen Dingen charakterloſe Sammlung von Einzelheiten, die für und gegen alles Gründe und Citate hat, ein Nachſchlagebuch für jedes Intereſſe, eine bereite Dienerin, die niemandem abſolut wider - ſpricht, allen in etwas nützt, dafür aber auch ſelbſtändig weder Mühe noch Gefahr, weder tiefen Ernſt noch ernſte Tiefe hat, und zu einer Berieſelungs-Anſtalt für alle möglichen Anſichten des ſogenannten praktiſchen Lebens wird. Das iſt zum Theil die Lage dieſer Wiſſen - ſchaft geworden; nirgends deutlicher iſt dieſelbe, als in dem bekannten Streit über Freihandel und Schutzzoll, die durchaus volkswirthſchaftliche17 Begriffe ſein ſollten, während ſie verwaltungsrechtliche Principien ſind. Nirgends aber wird die Sache ernſter, als in der ſocialen Frage, wo man die Geſellſchaftslehre zu einem Theil der Nationalökonomie ge - macht, und dieſe mit der (geſellſchaftlichen) Verwaltung ſo verſchmolzen hat, daß man in vollſtändiger Verwirrung der Begriffe den Socialis - mus und Communismus, Vorſchußkaſſen und Armenweſen, Credit - organiſation und Gütertheilung als volkswirthſchaftliche Begriffe fungiren läßt, die Forderungen, welche Ein Intereſſe an die Verwaltung ſtellt, als abſolutes Geſetz der reinen Nationalökonomie bezeichnend, ohne ſich zu erinnern, daß die Verwaltung als Thätigkeit des Staats den einzigen Charakter der letzteren, die Vertretung der Harmonie aller In - tereſſen enthalten muß. Doch es iſt hier nicht der Ort, darauf ein - zugehen.

Dieß nun, denken wir, wird ſich klarer herausſtellen, wenn wir jetzt den kurzen Nachweis liefern, daß das, was man auch hiſtoriſch die nationalökonomiſchen Schulen nennt, in der That nichts anderes iſt, als eine Reihe von Principien der wirthſchaftlichen Verwal - tung auf Grundlage nationalökonomiſcher Begriffe und Intereſſen.

2) Die drei Schulen oder Syſteme der Nationalökonomie ſind als Syſteme der wirthſchaftlichen Verwaltung aufzufaſſen.

Indem wir es eigener Arbeit nunmehr überlaſſen, die Geſchichte der Nationalökonomie und die der Verwaltung im Einzelnen mit Wür - digung aller Geſichtspunkte und Namen und Beleuchtung aller bedeu - tenden Erſcheinungen zu behandeln, dürfen wir doch die Behauptung hier begründen und bis zu einem gewiſſen Grad auch entwickeln, daß in der That in jenen Schulen oder Syſtemen nicht wie man auch noch in neueſter Zeit feſt gehalten hat, die Grundlagen der Geſchichte der Nationalökonomie, ſondern vielmehr die der Verwaltung des wirthſchaftlichen Lebens gegeben iſt. Und die Sache ſelbſt iſt, mit Beziehung auf den geſammten Gang der europäiſchen Entwicklung in der That ſo einfach, daß auch weniges für vorurtheilsfreie Auf - faſſung genügen wird.

Zu dem Ende müſſen wir zuerſt bezeichnen, wie dieſe Syſteme entſtanden ſind, und was ſie eigentlich bedeuten.

Die Geſchichte Europas zeigt uns bekanntlich mit dem 17. Jahr - hundert den Keim einer Neugeſtaltung aller europäiſchen Dinge, den wir bereits früher auf den Beginn des Kampfes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnungen und ihres Princips mit der Geſchlechter - undStein, die Verwaltungslehre. VII. 218Ständeordnung zurückgeführt haben. Doch iſt das, warum es ſich hier handelt, nicht die Entwicklungsgeſchichte der Geſellſchaft. Es iſt vielmehr die, der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft entſprechende Staats - idee, welche uns an der Schwelle dieſer Zeit entgegentritt. Der Staat, im Königthum vertreten, iſt bis zu dieſer Epoche auf allen Punkten in der Gewalt der herrſchenden geſellſchaftlichen Klaſſen. Daß er als ſolcher, frei von ihnen, ja ihnen gegenüber, eine auf ſich ſelbſt ruhende Exiſtenz haben könne und ſolle, das fiel niemandem ein. Jetzt aber löst er ſich aus dieſer Gebundenheit los; er ſtellt ſich ſelbſtändig dem Adel, der Geiſtlichkeit, dem Bürgerſtande gegenüber; er nimmt die Rechte und Funktionen, die er bisher allein in ihrem Namen be - ſeſſen und ausgeübt, für ſich als ſein in Anſpruch; er erzeugt ſich ſeine Organe im Beamtenthum, ſeine Macht im ſtehenden Heer, ſeine Symbole im Wappen und Titel, ſeine Wirthſchaft in den Fi - nanzen, ja ſeine Begriffe in Imperium, potestas und Obrigkeit. Er wird eine Macht für ſich, kämpft gegen die geſellſchaftlichen Gewalten, reißt ſich von ihrem Einfluß los, und beginnt ſeinen eigenen Weg. Wir haben ihn im Allgemeinen nicht weiter zu verfolgen.

Allein auf dieſem Wege muß er mit Einer Erkenntniß beginnen, die alle andern überragt. Die materiellen Mittel ſeiner Exiſtenz liegen nicht allein in ſeinem Willen, die materielle Aufgabe ſeiner Thätig - keit auch nicht allein in ſeiner eigenen Finanz. Indem er jetzt alle beherrſcht, muß er dieſe Aufgabe für alle erfüllen, dieſe Mittel von allen nehmen. Und in dem Kampfe der Staaten untereinander wird es bald klar, daß die Macht und der Glanz des einen Staates gegen - über dem andern keineswegs in Würde und Alter beſtehe, ſondern in der wirthſchaftlichen Kraft, in dem Reichthum und Vermögen ſeiner Angehörigen. Da und nirgends anders iſt die Quelle des Wohlſeins und der Kraft des jungen Königthums. Und bald zeigen erſchöpfende Kriege und verderbliche Hofwirthſchaft gleich nachdrücklich, daß darüber kein Zweifel ſtattfinden könne. Der Staat aber, hoch über jedes einzelne Recht und jedes einzelne Intereſſe erhaben, erkennt, daß ſeine Pflicht, für das Wohl ſeiner Angehörigen zu ſorgen, mit ſeinem ſpeciellen In - tereſſe identiſch ſei. Er will dieß thun, weil er es um ſein ſelbſt willen thut; er muß es thun, weil die Bedingungen ſeiner eigenen Macht in den Bedingungen des Wohles ſeiner Angehörigen liegen. Aber noch iſt das Leben der Völker ein einfaches, noch iſt auch das Gebiet der Aufgaben des Staats kein vielfach verworrenes, in tauſend Geſtalten auftretendes; noch iſt auch kein Bewußtſein davon lebendig, daß jenes Leben in ſich ſelbſt Geſetze trage, die unabänderlich daſtehen, wie die Geſetze der Natur. Der junge ſelbſtändige Staat19 hat daher noch Grund zu dem Glauben, daß er mit Einem Grund - gedanken, mit Einer Richtung, mit Einem Princip das wirthſchaftliche Wohlſein ſeines Volkes, die wirthſchaftliche Entwicklung deſſelben beherr - ſchen könne. Er bildet ſich daher zunächſt Einen ſolchen leitenden Ge - danken für ſeine ganze, auf das volkswirthſchaftliche Leben des Volkes gerichtete Thätigkeit aus; dieſen Gedanken verwirklicht er in hundert Formen, in hundert Maßregeln; er wird zu einem Syſtem, und dieß Syſtem, theoretiſch behandelt, nennt die folgende Zeit eine Schule. So ſind die Schulen entſtanden.

Das Erſte nun, was uns dabei klar wird, iſt das, daß alle dieſe Schulen genau daſſelbe wollen den wirthſchaftlichen Wohl - ſtand des Volks, zunächſt um des Staats willen. In dem letzten Zweck, in der unterſten Baſis, der Vorſtellung vom reichen Staatsbürger, gibt es daher keine verſchiedenen Syſteme. Dieſe beginnen offenbar erſt da, wo der Staat ſich die Frage aufſtellen muß, nicht was er will, denn das weiß er ja ohnehin, ſondern wie er es will wo der Staat ſich die Frage aufſtellt, welche Maßregeln er nun ergrei - fen müſſe, um ſein Ziel, den Reichthum des Volkes zu erlangen. Offenbar nun hängen dieſe Maßregeln vor allem von der weitern Frage ab, worin denn dieſer Reichthum des Volkes beſtehe. Die Antwort auf dieſe Frage hätte nun allerdings die reine Nationalökonomie geben ſollen; allein dieſelbe exiſtirte eben nicht. Der Staat aber konnte nicht warten, bis ſie etwa entſtanden wäre. Er mußte viel - mehr, ohne ſich viel um wiſſenſchaftliche Grundlagen zu kümmern, eben aus ſeiner Selbſtändigkeit heraus, dasjenige für Volksreichthum halten, was am meiſten geeignet war, ſeine Wirthſchaft zu heben. Es kam deßhalb gar nicht zu der Frage, was an und für ſich Reichthum ſei, ſondern nur zu der, welche Art des Reichthums ihm am faßbarſten Vortheil bringe, das iſt, die Einnahmen ſeiner Kaſſe vermehre. Es war natürlich, daß das als Reichthum überhaupt galt. So geſchah es, daß man den Begriff der Güter mit demjenigen verwechſelte, was den Staat reich machte; daß eine reine Güterlehre daraus nicht ent - ſpringen könne, war um ſo klarer, als die Folge jener Auffaſſung nicht etwa die war, daß der Staat mit ſeinen Forderungen da aufhören müſſe, wo die Bedingungen des Einzelwohles angegriffen würden, ſondern daß es ſich überhaupt nur darum handle, vermöge des Einzelwohles den Staat zu bereichern. So konnte es jetzt verſchiedene Schulen geben, je nachdem dieſer Zweck bei dieſer oder jener Art der Güter leichter erreicht werden konnte. Das Weſen dieſer Schulen überhaupt beſtand demnach darin, das Syſtem von Verwaltungsmaßregeln zu entwickeln, welches die beſten Mittel für die Vermehrung des Volksreichthums20 durch die Verwaltungsmaßregeln des Staats enthielt. Die einzelne Schule dagegen entſtand, indem ſich jene Ideen und Forderungen der Art von Gütern anpaſſen mußten, in der man den Reichthum des Volkes ſah. Die Stellung der Nationalökonomie in dieſen Schulen war nun ſehr einfach. Die Schulen ſelbſt ſind zwar nicht die Geſchichte der Nationalökonomie, aber ſie enthalten dieſelbe. Im Mer - kantilſyſtem iſt die letztere noch gar nichts, als ein einfaches Beweis - mittel, ein Correlat des großen Syſtems der Volkswirthſchaftspflege, das wir mit jenem Worte bezeichnen, ohne Bewußtſein ihrer Selbſtän - digkeit, ohne eigene Begriffe und Definitionen. Die Nationalökonomie erſcheint hier faſt nur in den Folgen, welche das Merkantilſyſtem an - ſtrebt. Im phyſiokratiſchen Syſtem dagegen beginnt die Güterlehre, ihre erſte Selbſtändigkeit zu entwickeln. Allerdings wird ſie noch eigent - lich nicht um ihrer ſelbſt willen unterſucht; daß es eine Lehre von den Gütern gebe, die einen Werth und eine Bedeutung habe, auch ohne praktiſche Anwendung für die Verwaltung, wird nicht erkannt, ſondern höchſtens geahnt. Aber doch iſt das Verhältniß ſchon ein ganz anderes. Die nationalökonomiſche Grundlage des Merkantilſyſtems iſt eine Be - hauptung, die des phyſiokratiſchen Syſtems aber ſchon ein Beweis. Die Geſetze der Nationalökonomie ſcheiden ſich hier zuerſt von den Ge - ſetzen des Staats, welche von jenen gefordert werden; aber auch jetzt noch ſtehen die erſtern noch nicht um ihrer ſelbſt willen da; ſie werden noch immer nur deßhalb geſucht und entwickelt oder geglaubt, um einen Beweis für die Forderungen zu haben, die man in ihrem Namen an die Verwaltung ſtellt. Deßhalb findet auch in den nationalökonomiſchen Grundſätzen derſelben kein Fortſchritt, keine Bewegung ſtatt, während die adminiſtrative Anwendung nach allen Richtungen hin ſich ausdehnt. Dieß wird erſt anders in dem ſogenannten Induſtrie-Syſtem, deſſen Gründer Adam Smith iſt. Hier iſt die Scheidung zwiſchen National - ökonomie und Verwaltungslehre im Principe vollbracht; das iſt der erſte und prägnante Charakter dieſer Schule; aber ſie wird in der Wirklichkeit nicht durchgeführt, und darauf beruht der zweite Cha - rakter derſelben. Dieſelbe bietet daher ein durchſtehendes Gemiſch von rein nationalökonomiſchen und adminiſtrativen Begriffen, Geſetzen und Maßregeln; aber während die Elemente der Güterlehre in Arbeit und Werth hier zum erſtenmal zur Geltung gelangen, fehlt der Begriff des Staats und der der Verwaltung. Dagegen tritt ein anderes, dieſes Syſtem von den früheren tief unterſcheidendes Merkmal auf. Durch das Eingehen auf die ſelbſtändigen Elemente der reinen Güterlehre entſteht die Erkenntniß, daß die Geſetze derſelben an ſich von der Ver - waltung ganz unabhängig, und die Meinung, daß die Intereſſen der21 Nationalökonomie im Gegenſatze zu den Intereſſen des Staats daſtehen. Die Nationalökonomie tritt daher der Staatsverwaltung direkt und faſt feindlich gegenüber, und dennoch kann ſie derſelben nicht entbehren. So entſteht in dem geſammten Gebiete jenes Syſtems eben das veränder - liche Verhältniß, das daſſelbe bis zum heutigen Tage charakteriſirt. Die neue Nationalökonomie, ohne Verſtändniß des Staatsbegriffes und des Weſens der Verwaltung und in der Selbſtgewißheit ihrer eigenen Ge - ſetze, ordnet ſich die erſtere als einen immanenten Theil unter; ſie fordert, daß die Verwaltung des wirthſchaftlichen Lebens gleichſam als ein Moment an ihr ſelbſt erſcheinen ſolle; ſie negirt den nationalöko - nomiſchen Charakter aller derjenigen Thätigkeiten des Staats, die nicht mit ihren einfachen Principien in äußerer Harmonie ſtehen; ſie löst da - herden Begriff und Inhalt der ſelbſtändigen Verwaltungs - lehre in lauter rein nationalökonomiſche Sätze und For - derungen auf, zerbröckelt den in der Rechtsphiloſophie ſich erhaltenden ſelbſtändigen Staatsbegriff, weist ſeine Anwendung auf ihr Gebiet als eine ihr fremde Potenz ab, und verliert dadurch den lebendigen Zuſammenhang zwiſchen ſich und der Verwaltung, der noch in der phyſiokratiſchen Schule beſtanden hat. Die Verwaltung ihrerſeits, ob - wohl des Werthes der Nationalökonomie ſich wohl bewußt, hat ſich unterdeſſen mit mächtigen und großen Schritten weiter gebildet. Es iſt gar keine Frage, daß ſie trotz jener Verſchmelzung dennoch etwas ſehr Selbſtändiges neben der Güterlehre iſt. Sie geht daher ihren eigenen Weg in Geſetzen, Verordnungen und Anſtalten; das was ſie ihrerſeits ſchafft und ſchaffen will, ſtellt ſich mit gleicher Berechtigung neben jene Nationalökonomie; es bedarf auch ſeinerſeits der wiſſenſchaftlichen Ver - arbeitung, und ſo entſteht das Verwaltungsrecht, deſſen Begriff und Inhalt wir von Frankreich empfangen, während die älteſte Nationalökonomie engliſchen Urſprungs iſt. Das Verwaltungsrecht ſeinerſeits aber iſt weſentlich poſitiv, es kann nur de lege lata handeln, es kann ſich, an das Gegebene ſtreng anſchließend, nicht auf Gebiete beziehen, die kein poſitives Recht haben, es iſt daher beſchränkt auf ſein Gebiet; es iſt eine mehr interpretative, als rationelle Lehre. Es genügt daher nicht. Es muß neben ihm ein Syſtem geben, das das Ganze umfaßt, und nach einem organiſchen Bilde trachtet, dem Staate ent - ſprechen, den es zum Ausdruck bilden ſoll. So entſteht die Polizei - wiſſenſchaft. Allein dieſe hat nirgends einen feſten Boden, da ihr zwar die Aufgabe des Staats, nicht aber der Begriff deſſelben klar wird. Sie hat weder die Kraft, ſich denſelben ſelbſt zu verſchaffen, noch die, ihn von der Rechtsphiloſophie aufzunehmen. Sie kann daher auch nicht in ordnungsloſe Geſtalt der Nationalökonomie eingreifen; ſie22 bleibt ein machtloſes Scheinbild neben dieſer und dem Verwaltungs - recht; ſo iſt hier auf allen Punkten die ganze Ordnung der Begriffe aufgelöst; nur die Nationalökonomie überragt durch ihre Maſſe alle übrigen Theile, ohne doch genügen zu können, und in dieſem Zuſtand verläuft das Induſtrieſyſtem. Es iſt nun wohl klar, daß wir auf dieſem Wege zu keinem rechten Abſchluß gedeihen. Der Fortſchritt, der uns zur Beherrſchung dieſes mächtigen Gebietes der inneren Geſchichte Europas bringen wird, liegt offenbar zunächſt darin, daß wir jene Schulen oder Syſteme als die Grundlage der ſich entwickelnden Volkswirthſchaftspflege und nicht mehr als die der Nationalökonomie anſehen. Allein dabei iſt nur Eins feſtzuhalten, das man betonen muß.

Jedes dieſer Syſteme iſt nämlich nicht etwa ein Syſtem der wirth - ſchaftlichen Verwaltung im Ganzen, ſondern es enthält ſtets nur eine ganz beſtimmte Anforderung an dieſe Verwaltung. Eben darum geht es mit ſeinem Inhalt keineswegs unter, ſondern es erhält dieſen Inhalt und ſeine Forderung als eine dauernde, wenn auch in verän - derter Geſtalt, in allen Zeiten und Wandlungen der Volkswirth - ſchaftspflege. Die Geſchichte jener Syſteme hat daher mit der Zeit ihrer Geltung und Herrſchaft keineswegs abzuſchließen; man ſoll und kann ihre Wirkung und ihren Inhalt bis in alle Zeiten verfolgen. Sie ſind daher nicht ſelbſt die Geſchichte der Verwaltung, aber keine Geſchichte der Verwaltung kann ohne ſie vollſtändig ſein.

Eben deßhalb muß man ſich für die letztere wohl dahin einigen, daß dieſelbe zwar in ihrem höchſten Principe durch jene Syſteme aus - gedrückt wird, daß aber in Beziehung auf den Inhalt der wirthſchaft - lichen Verwaltung jeder Theil ſeine eigene Geſchichte hat. Dadurch wird nun der Stoff, der uns hier vorliegt, ſo mächtig, wie gar kein anderer der ganzen Wiſſenſchaft. Der Verwaltungslehre als Ganzem bleibt daher vor der Hand wohl nur Eins erreichbar; das iſt das Zuſammenfaſſen aller dieſer ſelbſtändigen Theile in Ein organiſches Ganze. Wir werden dieß verſuchen.

Doch mag es uns geſtattet ſein, im obigen Sinne einen Blick auf jene drei Syſteme in ihrer hiſtoriſchen Bedeutung und Entwicklung zu werfen.

3) Die einzelnen Syſteme in ihrer nationalen und adminiſtrativen Bedeutung.

Indem wir uns nun dieſen einzelnen Syſtemen und ihrer kurzen Charakteriſtik zuwenden, tritt uns Eine Thatſache entgegen, die für ihr Verſtändniß entſcheidend wirkt.

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In der That nämlich haben dieſe drei Syſteme allerdings für ganz Europa gegolten. Allein von der Verwaltung ausgehend und für ſie beſtimmt, werden ſie dem Weſen nach für alle gleich, doch in der Wirklichkeit von der individuellen, nationalen Geſtalt des concreten Staatslebens der einzelnen Staaten erfaßt und nehmen dadurch ſelbſt eine ſpecifiſche, nationale Geſtalt an. Sie ſind andere in jedem Staate. Es genügt nicht, einfach ihre Theorie hinzuſtellen; man muß ſie in den einzelnen Staaten je nach der Beſonderheit derſelben wirkſam ſehen; und das wieder beruht darauf, daß ſie ſich an beſtimmte prak - tiſche Zuſtände und Aufgaben der Verwaltung anſchließen und ihre Verſchiedenheit von der Verſchiedenheit der Verhältniſſe empfangen, auf die ihr Princip angewendet wird. Die Geſchichte Europas iſt auch hier eine Geſchichte großer individueller Geſtaltungen auf gleichartiger Grundlage; in dem Verſtändniß dieſes Elementes des Werdens ruht ſein Reichthum.

Wir werden daher, wenn auch nur in Andeutung, die einzelnen Syſteme von dieſem Standpunkt charakteriſiren. Ihren allgemeinen Inhalt dürfen wir als bekannt vorausſetzen.

a) Das Merkantilſyſtem in England, Frankreich und Deutſchland.

England. Daß und warum England, ſeinem ganzen auf Selbſt - verwaltung beruhenden Staatsleben nach, von jeher unfähig war und iſt, ein Eingreifen der Regierung in das Leben des Volkes zu erzeugen oder zu ertragen, iſt ſchon früher bezeichnet. Wenn daher trotzdem hier ein Syſtem für die Verwaltung der wirthſchaftlichen Intereſſen auftreten und zur Geltung gelangen konnte, ſo mußte ſich daſſelbe naturgemäß zunächſt und vor allem auf dasjenige Gebiet beziehen, auf dem der Einzelne und ſogar die Selbſtverwaltung ohnmächtig iſt. Das iſt die Thätigkeit der Staatsverwaltung für den auswärtigen Verkehr, bei der die Rückwirkungen derſelben auf den inneren dann der Natur der Sache überlaſſen werden. Und dieß iſt das Verhältniß des Mer - kantilſyſtems in England.

In England zuerſt iſt das Merkantilſyſtem überhaupt nie zu einem Syſtem der inneren wirthſchaftlichen Verwaltung geworden, ſondern tritt von Anfang an als das Princip für die Volkswirthſchafts - pflege im internationalen Verkehr auf. Und zwar iſt das nicht bloß der Charakter deſſelben in der Theorie des 17. Jahrhunderts ſeit Man und Culpepper, ſondern eben ſo ſehr des wirklich geltenden Rechts. Das Merkantilſyſtem mit ſeinen nationalökonomiſchen Grund - gedanken des Geldreichthums wird für die Verwaltung zur Forderung24 nach dem Schutze der eigenen Flagge und der inneren Produktion, zur Grundlage des Krieges mit Holland um den Alleinhandel im trans - atlantiſchen Verkehr, zum Anſtoß der Verträge mit Portugal und an - dern Staaten. England will den Staat und ſeine Einmiſchung in ſein wirthſchaftliches Leben ſchon unter dem Merkantilſyſtem nur da, wo allein der Staat als ſolcher zu functioniren fähig iſt und die Kraft des Einzelnen nicht ausreicht, in dem Gegenſatz der Intereſſen der ganzen Nation gegenüber den andern Nationen. Das war ſchon im 17. Jahrhundert der Charakter der engliſchen Volkswirthſchaftspflege und das iſt er noch. Das Merkantilſyſtem als Princip der Verwaltung unterſcheidet ſich in England daher von dem aller andern Staaten genau ſo, wie der Charakter dieſes Staates ſelbſt von den übrigen des Continents. Jede Einmiſchung der Regierung in die inneren Angelegenheiten wird auch unter dem Merkantilſyſtem grundſätzlich ab - gewieſen. Nicht erſt Adam Smith hat dieß Princip ausgeſprochen, ſondern er hat es nur auch auf den internationalen Verkehr ausgedehnt; ſein Freihandel iſt nichts anderes, als die Befreiung von jeder ſelb - ſtändigen Einmiſchung der Verwaltung auf dem einzigen Gebiete, auf dem die Nation ſie bisher zugelaſſen oder gefordert. Von dem, was wir den Colbertismus nennen, iſt in England gar keine Rede, eben ſo wenig unter der Herrſchaft des Merkantilſyſtems als ſpäter. Da exiſtirt keine Befreiung der Gewerbe, keine Erleichterung des inneren Handels, kein Kampf mit Monopolen, weil England ſie nicht hatte; es exiſtirt kein Verſuch, den Stand der Kaufleute und Producenten zu heben oder zur Ehre zu bringen, weil England deſſen nicht bedurfte; da entſteht kein Verſuch, Muſterfabriken, Kunſtſchulen oder ähnliches anzulegen, weil Englands Selbſtverwaltung, die ſtolze Selbſtgewißheit des Individuums, dem widerſprach. Von einem Syſtem der Volks - wirthſchaftspflege auf Grundlage der Principien des Merkantilſyſtems iſt daher auch damals keine Rede; die Verſchiedenheit von dem ſich büreaukratiſch organiſirenden Frankreich und dem an einzelnen Maß - regeln herum experimentirenden, auch hier einheitsloſen Deutſchland iſt eine durchgreifende; das verwaltungsrechtliche Princip des engliſchen Merkantilſyſtems iſt: Schutz des Verkehrs nach Außen und völlige Selbſtverwaltung ohne alle Regierungsthätigkeit im Innern. Nicht einmal das Nächſtliegende, das Bankweſen und das Straßenweſen, ordnet die Regierung; von einem Waſſerweſen, von einem Schifffahrts - weſen (die merchants chipping Act iſt bekanntlich erſt 1854 gegeben), von einer Wieſenpolizei, von einem Grundbuchsweſen, von Land -, Forſt - oder Bergbauordnungen im Sinne des Merkantilſyſtems iſt keine Spur vorhanden. Vergleicht man Englands Merkantilſyſtem mit dem25 des Continents, ſo iſt es keine Frage, daß daſſelbe überhaupt gar nicht vom Standpunkt einer nationalökonomiſchen Theorie, ſondern nur von dem des engliſchen Staatslebens aus verſtanden werden könne.

Weſentlich anders iſt dagegen das Bild des Merkantilſyſtems in Frankreich. Die Gewalt des perſönlichen Staats und der Gedanke, daß die höchſte Entwicklung des Einzelnen nur durch die Macht und den Glanz des Staats begründet werden könne dieß ſpecifiſche Princip der romaniſchen Völker iſt bereits durch Richelieu feſt begründet. Es ſteht feſt, daß die Selbſtändigkeit des Einzelnen eine Gefahr für das Ganze iſt. Es folgt, daß wie in andern Dingen, ſo auch in volks - wirthſchaftlichen Intereſſen, der Fortſchritt des Einzelnen nur durch die Thätigkeit des Ganzen gewonnen werden kann. So wie daher im Merkantilſyſtem die entſcheidende Wichtigkeit der volkswirthſchaftlichen Entwicklung für den Staat zum Bewußtſein kommt, und die Regierung Ludwigs XIV. des Geldes und wieder des Geldes bedarf, ſo beginnt der Staat es als ſeine erſte Aufgabe anzuſehen, die geſammte Volks - wirthſchaftspflege im Sinne jener Principien in die Hand zu nehmen. Auf dieſe Weiſe entſteht das erſte, als ein Ganzes aufgefaßte und mit blendendem Glanze durchgeführte Syſtem der Volkswirthſchaftspflege in Europa. Und zwar iſt daſſelbe in Beziehung auf den internationalen Verkehr allerdings dem engliſchen natürlich gleichartig. Daß er den Schutz der einheimiſchen Produktion durch Navigationszölle und Schutzzölle gegen fremde Concurrenz will, iſt natürlich, und nicht das Eigenthüm - liche des franzöſiſchen Merkantilſyſtems. Daſſelbe beſteht vielmehr cha - rakteriſtiſch in dem großartig durchgeführten Verſuch, durch alle der Verwaltung zu Gebote ſtehenden Mittel die innere induſtrielle Produktion zu fördern. Es iſt wahr, daß die Volkswirthſchafts - pflege, die ſich daraus ergiebt, weſentlich nur eine Sorge für die höhere Induſtrie iſt; allein das iſt ſie in einem Maße, die ganz Europa blendet, und die allenthalben durch ihre glänzenden Erfolge zur Nach - ahmung oder wenigſtens zur Bewunderung hinreißt. Frankreich ſelbſt erkennt das; es folgt auf allen Punkten willig und dankbar der mäch - tigen Hand, die es leitet; es will auch in der Induſtrie beherrſcht werden von der Staatsgewalt, und es wird beherrſcht. Unter dem mächtigen Schutze der höchſten Gewalt regt ſich die induſtrielle Tüchtig - keit der Nation; ſie tritt alsbald ſiegreich auf dem ihr eigenthümlichen Gebiete auf; es iſt die Kunſt und der Geſchmack im Dienſte der wirth - ſchaftlichen Produktion, es iſt der unerſchöpfliche freie Werth, der ſich zur Baſis der induſtriellen Stellung Frankreichs mit der Welt macht, und die Regierung mit richtigem Verſtändniß des Charakters ihrer Nation geht voran. Sie errichtet Manufakturen und Fabriken, ſie26 gründet Sèvres und die Gobelins, ſie ehrt den Fabrikanten, ſie fördert die Kunſt und Wiſſenſchaft, ſie ſchafft die Académie und die École des Beaux-Arts; ſie geht weiter und gründet die großen Handelsgeſell - ſchaften mit ihren mächtigen Mitteln; ein allgemeines Wohlbehagen breitet ſich über das Ganze aus; ſelbſt die Finanzen gelangen zu einem nie geahnten Aufſchwung; und ſo iſt der wahre Kern des Merkantil - ſyſtems in Frankreich nicht mehr dieſe oder jene nationalökonomiſche Anſchauung, ſondern vielmehr der Gedanke, daß die Volkswirth - ſchaft nur unter der Hand der leitenden Regierung ihre höchſte Entwicklung erlangen könne.

Dieſes ächt franzöſiſche Syſtem iſt nur wenig durch eine eigene Literatur vertreten. Es war der große, ſtaatsmänniſche Blick eines einzelnen Mannes, der dieß vermochte. Hier wie immer hat Frank - reichs Schickſal auf der Individualität ſeines Herrſchers geruht. Das dankbare Volk aber nannte das Syſtem, das aus der abſtracten Lehre der Merkantiliſten zu einem praktiſchen Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung geworden, und dem es ſeine induſtrielle Stellung in der Welt bis zum heutigen Tage dankt, mit gutem Recht nicht etwa das Merkantilſyſtem, ſondern den Colbertismus. Der Colbertismus iſt keine Nationalökonomie; er iſt die auf den Principien des Merkantil - ſyſtems gebaute innere Volkswirthſchaftspflege der höheren Induſtrie. Der Colbertismus iſt der Beginn der Volkswirthſchafts - pflege überhaupt; er gehört ganz der Verwaltungslehre. England war unfähig, ihn zu ertragen, Deutſchland war unfähig, ihn zu er - zeugen, und der Mangel eines Begriffs der Verwaltung und ihrer Scheidung von der Nationalökonomie macht es auch jetzt noch ſchwer, ihn recht zu verſtehen. Aber es iſt kein Zweifel, daß in ihm der Keim aller wirthſchaftlichen Verwaltung liegt, die noch immer ihre ganze Bedeutung für Europa nicht entfaltet hat. Denn in ihm zuerſt tritt der Staat als Staat handelnd auf; und jetzt erſt iſt es möglich, daß er auch Fehler begehe, die dann die Grundlage der Erkenntniß des Wahren werden. Und ſchon das 18. Jahrhundert thut eben in dieſer Richtung einen mächtigen Schritt vorwärts.

Was nun endlich das Merkantilſyſtem in Deutſchland betrifft, ſo iſt die Geſtalt, welche daſſelbe hier annimmt, eben ſo bezeichnend für dieß große Volk und ſeinen ganzen ſtaatlichen Charakter, als für Frankreich und England. Auch in Deutſchland muß man Weſen und Wirkung jenes Syſtems nicht etwa auf ſeinen einfachen nationalökono - miſchen Grundgedanken, ſondern auf die Elemente des öffentlichen Rechts zurückführen. Als im 17. Jahrhundert der Reichthum als eine der großen Grundlagen der ſtaatlichen Macht den Herrſchern zum27 Bewußtſein kommt, beſitzt Deutſchland als Ganzes überhaupt keine Verwaltung. Es beſteht aus lauter einzelnen Souveränetäten. Der deutſche Reichstag iſt gänzlich machtlos; die einzelnen Souveräne aber ſind innerhalb ihrer Territorien daſſelbe, was Ludwig XIV. in Frank - reich war, oder wollten es doch ſein. Wenn daher auch das deutſche Volk als Ganzes ſich einen volkswirthſchaftlichen Colbertismus hätte ge - fallen laſſen, ſo gab es doch niemanden, der ihn hätte einführen können. Die deutſchen Reichstage bleiben daher bei einem ſchwachen Verſuch ſtehen, namentlich im 16. Jahrhundert, wenigſtens negativ gewiſſe polizeiliche Maßregeln für die Volkswirthſchaft durchzuführen, Schutzzölle aufzuſtellen, allerlei Luxus zu verbieten u. a. m.; allein das Ganze bleibt ohne Bedeutung. Die Religionswirren und der dreißigjährige Krieg drücken jeden Aufſchwung zu Boden. Erſt nach demſelben bricht ſich ein ge - meinſames Bewußtſein Bahn. Und hier iſt es nun keinen Augenblick zu verkennen, daß auch auf dem Gebiete der Volkswirthſchaft nicht der engliſche, ſondern der franzöſiſche Gedanke zur Geltung gelangt. Auch in Deutſchland wollen die Regierungen die Völker durch ihr polizeiliches Eingreifen reich machen; das iſt der ſpecifiſche Charakter dieſer Epoche. Nur hat natürlich Deutſchland eben ſo wenig einen Colbert, wie es einen Ludwig XIV. hat. Ihre Stelle vertritt vielmehr auch hier die Wiſſenſchaft, und das deutſche Merkantilſyſtem erſcheint daher als die erſte Aufnahme volkswirthſchaftlicher Grundſätze in die neue Polizei - wiſſenſchaft. Hier nun muß man wohl das 17. und 18. Jahrhundert ziemlich beſtimmt ſcheiden. Als die beiden Hauptvertreter dieſer Zeiten kann man Seckendorff und Juſti anſehen. Seckendorff iſt der Erſte, der auf einer für ſeine Zeit wahrhaft großartigen Baſis die Volks - wirthſchaftspflege in die Staatswiſſenſchaft aufgenommen hat. Allerdings geht Klock de Aerario (1651) ihm voraus, in vieler Beziehung mit weiterem und freierem Blick, aber dennoch eigentlich ohne ſyſtematiſche Auffaſſung. Klock hat die Grundſätze des Merkantil - ſyſtems einſeitig vertreten, aber im Grunde iſt er kein Volkswirth, ſondern der erſte Vertreter der Finanzwiſſenſchaft in Deutſchland, und Vauban und Boisguillebert in Frankreich müſſen ihm als ſeine bedeutendſten Nachfolger zur Seite geſtellt werden. Seckendorff dagegen drückt der ſpäteren Zeit den Stempel der ſpecifiſch deutſchen Entwicklung auf. In Deutſchland war von jeher die Einheit ſeines Lebens nur in der Wiſſenſchaft, der Arbeit des Geiſtes, vorhanden, und Seckendorff iſt es, der die ganze volkswirthſchaftliche Verwaltung in dieſem Sinne zu einem Theile der deutſchen Wiſſenſchaft vom Staate gemacht hat. In ſeinem Teutſchen Fürſtenſtaat (1655) erſcheint dieſelbe als der Ander Hauptpunkt der Regierung, welcher beſteht in Aufrichtung guter28 Ordnung und Geſätze für die Wohlfahrt und gemeinen Nutz deß Vatter - landes. (Ander Theil C. VIII.) Allerdings iſt der Standpunkt Secken - dorffs charakteriſtiſch. Er ſpricht nur von Ordnung; die Geſetze ſollen Frieden und Ruhe herſtellen und namentlich eine gute Für - ſichtige Anſtalt und Ordnung über alle Handthierung und Nahrung im Lande einrichten. Von einem poſitiven Eingreifen iſt eigentlich noch keine Rede; er hat kein eigentlich nationalökonomiſches Princip und die Ideen des Merkantilſyſtems ſind ihm offenbar ſo wenig be - kannt, als die engliſche Literatur. Sein Buch iſt dagegen anzuſehen als die Grundlage der ſpäteren Polizeiwiſſenſchaft in ihrer An - wendung auf die Volkswirthſchaft; er will auf allen Punkten den negativen Schutz gegen die innere Störung aller Produktionszweige, des Handels, der Gewerbe und auch der Landwirthſchaft; der in ihm zuerſt klar ausgeſprochene, wenn auch nicht philoſophiſch erfaßte Eudämonismus erſcheint noch bloß als Gericht und Polizei, beides aber ſtets zur Wohlfahrt und gemeinem Nutz des Landes. Während nun das philoſophiſche Princip durch Pufendorf und beſonders durch Wolff in großartiger Weiſe entwickelt wird, wartet das volkswirthſchaftliche noch ein ganzes Jahrhundert, ehe es ſich zu einem wiſſenſchaftlichen Syſtem entwickelt, und dieß Syſtem iſt dann allerdings nichts als eine ausgearbeitete Theorie des Merkantilſyſtems. Der Hauptvertreter dieſer Richtung iſt J. G. v. Juſti. Seine erſte bedeutende Arbeit iſt Staatswirthſchaft, oder ſyſtematiſche Abhandlung aller ökonomiſchen und Cameral-Wiſſenſchaften (1755, 2 Bde). Dieß Werk, das Kautz ein wenig mit Uebergehung Seckendorffs das erſte ſyſtematiſche Werk über Volks - und Staatswirthſchaft in Deutſchland nennt, iſt aller - dings die erſte ſyſtematiſche Ausführung des Eudämonismus auf der nationalökonomiſchen Grundlage des Merkantilſyſtems; allein es iſt nicht richtig, es bloß für ſich zu betrachten. Denn es iſt vielmehr eine Vorarbeit Juſti’s, die noch einſeitig am Merkantilſyſtem hängt und vielmehr den Schlußpunkt ſeiner Herrſchaft in Deutſchland als den Mittelpunkt derſelben bildet. Juſti ſelbſt iſt raſch über denſelben hinweg gelangt. Schon fünf Jahre ſpäter ſchrieb er ſein Hauptwerk, das erſte wiſſenſchaftliche Syſtem der innern Verwaltung überhaupt, ſeine Polizeiwiſſenſchaft (1760 61, 2 Bde. 4.). Allerdings wird in dieſem Werke die Policey die Grundveſte der Glückſeligkeit der Staaten (§. 6). Aber hier unterſcheidet Juſti bereits die un - beweglichen Güter von den beweglichen, und geht ſo ſelbſt den Phyſiokraten vorauf, den engen Standpunkt der Merkantiliſten zum Theil überwindend. Er ſagt ſchon §. 11: Die Beſchaffenheit der un - beweglichen Güter im Lande muß mit dem gemeinſchaftlichen Beſten29 beſtändig in der genaueſten Verbindung und Uebereinſtimmung ſtehen; in §. 18 erkennt er zweitens: der Nahrungsſtand im Lande muß alle - zeit ſowohl mit der Wohlfahrt der einzelnen Familien als dem gemeinen Beſten in Verbindung ſtehen, und endlich erkennt er (§. 19 ff. ), daß der ſittliche Zuſtand der Unterthanen ſowohl für die einzelnen Fami - lien als für das gemeine Beſte vom größten Einfluß iſt. Hier erkennt man deutlich das Durchgreifen der Wolffſchen Idee; es iſt die Erhebung zu einer ſyſtematiſchen, großartig angelegten Verwaltungslehre über - haupt, die aber ſchon bei Juſti nicht recht zu Stande kommt, weil auch ihm die unklare Vorſtellung von dem Gemeinen Beſten an die Stelle des beſtimmten Begriffs vom Staat tritt, ohne den die Ver - mengung von Nationalökonomie und Verwaltungslehre unvermeidlich bleibt und ſelbſt die merkantiliſtiſche Vorſtellung vom Werthe des Gel - des und der Induſtrie überragt, welche jene Zeit charakteriſirt. Durch alles dieß zuſammengenommen kommt Deutſchland zwar nicht in ſeiner ſtaatlichen Ordnung, wohl aber in ſeiner Wiſſenſchaft zu einem Syſtem der Volkswirthſchaftspflege, wie es theoretiſch kein ander Volk aufzu - weiſen hat. Die praktiſche Durchführung der Ideen des Merkanti - lismus jedoch konnte nur in den einzelnen Staaten verſucht werden. Und hier traten wie immer die beiden deutſchen Großmächte, Oeſterreich und Preußen, an die Spitze; Oeſterreich weſentlich auf literariſchem Gebiet durch Becher und namentlich durch W. J. Horneck: Oeſterreich über alles, wenn es nur will (1654), ein Mann, der es bewies, daß es Deutſchland nicht an einem Colbert, ſondern nur an einem Reiche fehlte, das ihn verſtanden hätte. Die übrigen deutſchen Staaten waren damals wie jetzt für große Gedanken zu klein. Die Geſchichte dieſer Zeit und ihrer Erſcheinungen iſt noch zu ſchreiben; erſt wenn die deutſchen Kulturhiſtoriker die Kraft haben werden, Männer wie Horneck ſo meiſterhaft zu individualiſiren, wie es Roſcher in Hildebrands Jahrbüchern gethan, wird man wiſſen, was Leo geahnt, daß die Hälfte des innern Lebens auch dieſer Epoche in der nach den Grundſätzen des Merkantilſyſtems vorſchreitenden Volkswirthſchaftspflege beſtanden hat. Hier können wir es nur andeuten.

Faßt man nun den Einfluß des Merkantilſyſtems auf Europa und ſpeciell in Beziehung auf die wirthſchaftliche Verwaltung und die Nationalökonomie auf, ſo ergibt ſich folgendes Reſultat. Das Merkantilſyſtem iſt nie und nirgends zu einem Syſtem der National - ökonomie geworden, wohl aber iſt es dasjenige Syſtem, welches die Bedeutung der Volkswirthſchaft für das Geſammtleben zuerſt zum öffentlichen Bewußtſein gebracht hat. Es hat dadurch die wirthſchaft - lichen Lebensverhältniſſe des Volkes zuerſt in das Gebiet der Verwaltung30 hineingezogen, und iſt die erſte große Erſcheinung der europäiſchen Volkswirthſchaftspflege. Dabei iſt es einſeitig in ſeiner Zeit wie in ſeinen Grundgedanken; aber dieſer Grundgedanke iſt unbewußt ein Ausdruck der entſtehenden ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, denn es iſt der erſte große Vertreter des Gedankens, daß die (das Geld ver - dienende) gewerbliche Arbeit des Volkes die Staaten reich mache. Es zwingt daher zum Nachdenken über die Geſetze, welche die Arbeit und den Erwerb durch Arbeit beherrſchen; aber es ſelbſt iſt noch keine Erkenntniß dieſer Geſetze. Es hat daher die Elemente der Nationalökonomie in ſich; aber es iſt dennoch nicht bloß ein reines, ſondern zunächſt einſeitiges Syſtem von wirthſchaftlichen Ver - waltungsprincipien und - Maßregeln. Das zweite große Gebiet der Arbeit, die landwirthſchaftliche Produktion, iſt ihm faſt gänzlich un - bekannt; doch erſcheint das Hinausgehen über die Arbeit des gewerb - lichen Lebens und den Credit bereits in den Banken, und zum Theil in den Handelsmagazinen, die jedoch in bezeichnender Weiſe beide nur als große Thatſache ohne alle Theorie daſtehen. Man ſieht, daß die Bahn geöffnet iſt; aber noch iſt eigentlich kein feſtes Reſultat, keine dauernde Grundlage gewonnen.

b) Das Syſtem der Économistes oder die Phyſiokraten und die reine land - wirthſchaftliche Verwaltung.

Die gewöhnliche Meinung iſt bekanntlich, daß die Schule der Phyſiokraten erſt durch Quesnay begründet ſei. Es iſt der Glanz ſeines allerdings etwas ſchematiſchen, aber doch immerhin großartigen Syſtems, das zu dieſer Anſicht auch bedeutende Männer verleitet hat. Dennoch iſt Quesnay eben ſo wenig der Erſte auf der von ihm ein - zuſchlagenden Bahn, als ſein Syſtem die Aufgabe und Abſicht hatte, vor allen Dingen eine rein nationalökonomiſche Theorie zu gründen. Denn gerade bei Quesnay zeigt es ſich am klarſten, wie die National - ökonomie entſtanden iſt. Sie iſt nichts an und für ſich, ſondern ſie iſt für ihn, und allerdings hier zum erſtenmale in der Geſtalt einer wirklichen Wiſſenſchaft, die großartige Begründung eines auf das Tiefſte in die geſellſchaftlichen und volkswirthſchaftlichen Verhältniſſe eingreifen - den Syſtems der wirthſchaftlichen Verwaltung, das wie es in Quesnay ſeinen Theoretiker, in Turgot ſeinen Praktiker und in Mirabeau ſeinen Socialiſten hatte. Es iſt wahr, daß erſt die Phyſiokraten der Na - tionalökonomie die theoretiſche Fähigkeit eigener Exiſtenz gegeben haben; aber die Franzoſen haben die letztere dennoch nicht ſelbſtändig auszu - tragen vermocht; bei ihnen iſt auch dieſe Schule zu einem Syſtem der31 Volkswirthſchaftspflege geworden, das allerdings viel großartiger und wir möchten ſagen ſeiner ſelbſt bewußter iſt, als das der Merkanti - liſten. Und dieß iſt im Allgemeinen nicht ſchwierig zu erkennen.

So heilſam auch Colberts Syſtem mit all ſeiner Einſeitigkeit ge - wirkt hatte, ſo haben dennoch die Kriege und der tyranniſche Luxus Ludwigs XIV. ſein ganzes Werk vernichtet. Das Elend Frankreichs wuchs von Jahr zu Jahr, und Vauban konnte ſchon in ſeiner Dîme royale (1698) die furchtbare Rechnung aufſtellen: Von je zehn Fran - zoſen iſt Einer ein Bettler; von den übrigen ſind fünf verarmt und außer Stande, jenen Bettlern ein Almoſen zu geben; von den übrigen vier ſind drei in ſehr ungünſtigen Verhältniſſen; auf das letzte Zehntel, den Adel, die Geiſtlichkeit, die Beamteten und den noch wohlhabenden Bürgerſtande, kann man kaum 100,000 Familien rechnen, und von dieſen wieder nur ein Zehntel als wirklich reich annehmen. (Dîme royale. Écon. fr. p. 36. 37.) Die Noth, neben der die Unwirthſchaft und die Verſchwendung hier wie immer ihre beiden Begleiter, mit gleichem Schritt einhergingen, ließ allmählig die Ueberzeugung entſtehen, daß der Merkantilismus nicht ausreiche; ſie zwang die Männer, welche ihr Vaterland liebten, zuerſt den Thatſachen ins Auge zu ſehen, dann über den Ruin der Finanzen nachzudenken, und endlich nach einem ganz andern Ausgangspunkte für die Aufgaben des Staats zu ſuchen, damit er ſelber wieder gut mache, was er verdorben hatte. So tritt ſchon hier auf allen Punkten der Staat in ſeiner Verwaltung ſtatt der allgemeinen Begriffe und Grundſätze der Nationalökonomie in den Vor - dergrund, und danach geſtaltet ſich nun die folgende Literatur, die in ihren Principien zwar Nationalökonomie, in ihren Ausführungen jedoch Verwaltungslehre und namentlich Volkswirthſchaftspflege iſt. Aus dem erſten der obigen Elemente entſprang die erſte volkswirthſchaftliche Statiſtik, die aus den obigen Gründen zugleich eine finanzielle war, und damit den Grund einerſeits zu einer hiſtoriſchen Betrachtung der volkswirthſchaftlichen Verwaltung, andererſeits zu einer rationellen Unterſuchung des Syſtems der Finanzen legte, aus dem dann ein halbes Jahrhundert ſpäter erſt das Steuerprincip Quesnays hervorging. Die beiden Männer, welche hier Bahn brachen, ſind Boisguillebert und Vauban. Boisguilleberts beide bekannteſten Arbeiten ſind der Détail de la France sous le règne présent (L. XIV. 1697) und das Factum de la France, ou moyen très facile de rétablir les finances de l’État (1707); für die Geſchichte der phyſiokratiſchen Schule nicht minder wichtig iſt ſein Traité de la nature, culture, commerce et intérêt des Grains, tant par rapport au public qu’à toutes les conditions d’un État, in der er zuerſt die Freiheit des Kornhandels32 als Grundlage der Herſtellung des wahren Kornpreiſes fordert zum Theil in Paradoxen (wie P. II: Ou l’on fait voir que plus on en - lèvera de blés en France, et moins on aura à craindre les ex - trêmes chertés). Zu einem Syſtem gelangt Boisguillebert jedoch ſo wenig, als ſein Zeitgenoſſe Vauban in ſeiner Dîme royale (1698), eine Arbeit, welche nicht bloß ein für die damalige Zeit hochwichtiges Syſtem der Staatseinnahmen vertrat, ſondern durch die an den großen Mathematiker der Befeſtigungskunſt erinnernde Genauigkeit ſeiner Auf - zeichnungen über die beſtehenden Grundlaſten in den Seigneuries die Koſten des Landbaus, die Schätzungs - und Verkehrspreiſe der Grund - ſtücke und des Korns eines der bedeutendſten leider ſehr wenig be - nutztes hiſtoriſches Document bildet. Beiden Männern aber iſt das gemeinſam, was eigentlich die Kraft der phyſiokratiſchen Schule aus - machte: das Verſtändniß der Bedeutung der Landwirthſchaft neben der Induſtrie; hält man ſie neben die eigentlichen Phyſiokraten, ſo erkennt man unzweifelhaft, daß die Grundgedanken der letzteren durch - aus nicht neu, ſondern nur eine organiſche Formulirung der Beobach - tungen und Ergebniſſe waren, die ſchon im Anfange des 18. Jahr - hunderts feſtſtanden. Denn beide ſind in gleicher Weiſe für die Befreiung des Handels und der inneren Produktion; vor allem aber iſt beiden das große ſociale Bewußtſein lebendig, das die wichtigſte Thatſache der ganzen phyſiokratiſchen Schule bildet. Boisguillebert ver - ſteht es bereits, die Klaſſe der Reichen von der der Armen zu ſcheiden und darauf eine Reihe von Beobachtungen über die Kornpreiſe zu gründen (ſo namentlich Traité des Grains, ch. VI). Vauban dagegen iſt ſchon in ſeiner ganzen Arbeit von dem Bewußtſein durchdrungen, que le même peuple qu’on accable et qu’on méprise est le véri - table soutien de l’État. Schon hier aber wendet ſich die große ſociale Frage nicht eben den Geſetzen der Nationalökonomie oder der Geſellſchaftslehre, ſondern dem Staate zu; in ihm, ſeinem Begriffe, ſeinen Kräften und ſeinen Verpflichtungen culminirt dieſe wiſſenſchaft - liche Richtung, ohne es klar zu wiſſen und doch die folgende Zeit mit ſich fortreißend. Denn es iſt der Charakter der franzöſiſchen Entwicklung überhaupt, der hier in demſelben Geiſte wie unter Colbert, wenn auch von einem andern Standpunkte aus, vertreten wird. Das Gewicht jener unverkennbaren Thatſachen wendete aber naturgemäß den Blick von der abſtrakten Theorie ab, und vielleicht hätte ſchon damals die Verwaltung eine neue Bahn eingeſchlagen, wenn nicht Laws Experi - mente wieder alle Vorſtellungen verwirrt und die Gedanken und Hoff - nungen einſeitig auf das Geldweſen zurückgerichtet hätten. Die erſten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts vergeſſen in dem Papierſchwindel33 aller Art die Beachtung ſowohl der Landwirthſchaft als der ſocialen Unterſchiede; noch einmal waren Nationalökonomie und Finanzwiſſen - ſchaft nichts als die Kunſt, Geld für den Staat zu machen; noch ein - mal fällt die geiſtige Arbeit in die Fragen des Merkantilſyſtems; die übrigens hochbedeutenden Arbeiten Laws über Münzen und Banken (Considérations sur le Numéraire (nach Locke’s Considerations of the consequences of the raising of the interest and of raising of the value of money, 1691), und ſeine Mémoires sur les Banques) wurden weiter ausgearbeitet von Dutot (Réflexions sur le commerce et les Finances) und Melon (Essai politique sur le commerce, 1734) und öfter, ſo daß ſelbſt Montesquieu, hier der Sache nicht Herr und ohne rechtes Verſtändniß für das Weſen und die Bedeutung der capitalloſen Arbeit und ihrer Gefahren, das ganze Gebiet der Land - wirthſchaft mit ihrem damaligen unfreien Recht auf das Klima und ſeinen Einfluß reducirt (L. XVI. ) und ſich bloß mit dem Handel und dem Gelde jenen beiden Hauptelementen des Merkantilſyſtems in ihrem Verhältniß zur Verfaſſung beſchäftigt, geiſtreich wie immer und tief einſchneidend, aber hier einſeitiger als irgendwo (L. XX. XXI. und XXXI.). Auf dieſe Weiſe zeigt uns die erſte Hälfte des 18. Jahr - hunderts die Zeit des Schwankens zwiſchen den beiden großen Rich - tungen der Volkswirthſchaftspflege, der gewerblichen Arbeit und der Landwirthſchaft, beide durch große Anſichten und große Arbeiten ver - treten, noch ohne rechte Herrſchaft über die Frage und ohne Entſcheidung. Und das iſt nun das große Verdienſt und die wahre hiſtoriſche Stellung Quesnays, daß er eben mit dem Glanze ſeiner Theorie dieſe Ent - ſcheidung, und zwar eben in dem Sinne der Volkswirthſchaftspflege, gebracht hat. Wir haben über ſein Syſtem als ſolches nichts zu ſagen. Allein wenn je ſo iſt es hier klar, ſo wie man einen Blick auf die treffliche Zuſammenſtellung ſeiner Werke von Daire wirft, daß er ſein Tableau économique nicht aufgeſtellt hat, um eine neue national - ökonomiſche Theorie zu begründen. Mitten in den entſcheidenden Orga - nismus der Regierung geſtellt, war es ihm von Anfang an klar, daß es die wirthſchaftliche Verwaltung ſei, auf die es ankomme; und unmittelbar an das Tableau ſchließen ſich daher die Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole, et notes sur ce sujet (1758; die Originalausgabe iſt nicht mehr vor - handen). Dieſe maximes générales ſind in der That weſentlich ein Syſtem der Verwaltung; die einfachen Principien deſſelben ſind: die balance en argent, chose futile; dagegen préférence pour l’agricul - ture, liberté de culture, entière liberté du commerce, circulation complète, impôt non destructeur, und endlich l’aisance pour lesStein, die Verwaltungslehre. VII. 334pauvres citoyens. Mit dieſen Grundſätzen, getragen durch die Neuheit und den Glanz des erſten nationalökonomiſchen Syſtems, das die Geſchichte unſerer Wiſſenſchaft kennt, und das in den Problèmes éco - nomiques auch dialektiſch entwickelt ward, beginnt für Frankreich eine neue Auffaſſung der Idee der Verwaltung. Der Grundgedanke dieſer phyſiocratiſchen Volkswirthſchaftspflege iſt: der Staat ſoll eine Be - ſteuerung einrichten, welche den Landmann nicht mehr ruinirt; die Verwendung ſeiner Einnahmen ſoll nicht mehr auf den luxe de déco - ration gehen; er ſoll daran feſthalten, daß er nicht ſo ſehr auf die Zunahme der Bevölkerung als auf die der Einnahmen zu ſehen habe; zu dem Ende ſoll er die volkswirthſchaftliche Bewegung ſowohl in Be - ziehung auf Gewerbe als auf Handel frei geben (pleine liberté de la concurrence, M. XXV.). Die Verwaltung namentlich ſoll in Ver - wendungen der Staatsgelder für öffentliche Zwecke nicht ſparſam ſein; car de très grandes dépenses peuvent cesser d’être excessives par l’augmentation des richesses (M. XXVII. ); ja die Verwaltung ſoll ſogar die nationalökonomiſche Bildung neben der juriſtiſchen aufſtellen: l’étude de la jurisprudence humaine ne suffit pas pour former les hommes d’État; il est nécessaire que ceux qui se destinent aux emplois de l’administration soient assujettis à l’ordre naturel le plus avantageux aux hommes réunis en société (M. II.). Das iſt offenbar keine Nationalökonomie mehr; das iſt ſchon etwas, was man in unſerer Zeit ein ſehr beſtimmtes Programm der wirthſchaftlichen Verwaltung nennen würde. Für Quesnay iſt die Nationalökonomie, deren orga - niſche Geſetze ihm die Ordre naturel bilden und für welche ſein Tableau nur die ſchematiſche Darſtellung iſt, von dem Gouvernement auf das Beſtimmteſte geſchieden; das letztere hat ſeine ganz feſtſtehende Function, und die Nationalökonomie iſt ihrerſeits nur das Subſtrat dieſer Thä - tigkeit der Verwaltung. So ſind hier die Grundlagen des Verſtänd - niſſes der letzteren gelegt, und wenn er nicht ſchon damals die ſelbſtän - dige Volkswirthſchaftspflege von der Güterlehre ſchied, ſo war wohl die Haupturſache davon, daß Frankreich eben auf ſeinen Univerſitäten die Staatswiſſenſchaften auch in der Form des Jus naturae ſo gut als gar nicht lehrte, und daher aus dieſen einfachen Principien kein Syſtem zu machen verſtand. Man gelangte daher nicht einmal zu einer Po - lizei - oder Cameralwiſſenſchaft, wie in Deutſchland; Güterlehre und wirthſchaftliche Verwaltung verſchmelzen wieder in Eins und der Name der Économistes, den die Phyſiokraten annahmen, bedeutete nur die große Forderung, daß die Verwaltung ſich an die Principien der Nationalökonomie anſchließen ſolle, und das Bewußtſein, daß ſie un - mächtig bleiben müſſe, wenn ſie mit ihnen in Widerſpruch trete, wie35 es Dupont de Nemours am klarſten in ſeinem Abrégé des prin - cipes d’Économie politique (2me section, société, Ed. Daire p. 371) ausſpricht: La société donc ne peut se faire des lois qu’en dedans du cercle tracé par les lois naturels. Daneben erhält ſich aber mit gleicher Beſtimmtheit in dieſer ganzen Schule das Verſtändniß, daß aus dieſer Verſchiedenheit der Geſetze des Güterlebens und der Ver - waltung nicht eben ein Gegenſatz zwiſchen Volk und Staat hervorgehe, ſondern daß vielmehr die höchſte Aufgabe der Verwaltung zugleich die höchſte Identität der Intereſſen für beide enthalte. Quesnay hält dieſen Grundton ſeiner ganzen Auffaſſung feſt, und die Verhältniſſe machten es wohl erklärlich, daß er die finanzielle Frage in dem be - kannten Satz zum Ausgangspunkte nahm: Pauvre paysan, pauvre royaume; pauvre royaume, pauvre roi. Seine Schule aber kommt faſt auf jedem Punkte auf den Satz zurück, que l’intérêt du sou - verain est identique avec celui des sujets. Dieß allgemeinſte Princip der wirthſchaftlichen Verwaltung durchdringt die ganze phyſiokratiſche Schule, wenn es auch nur auf die Vor - und Nachproduktion ange - wendet wird, und die beiden Haupterſcheinungen, die ſich aus den Werken Quesnays entwickeln, gehören darum in der That der Ver - waltung und nicht mehr der Güterlehre. Wir dürfen ſie hier nicht verfolgen; aber ſie ſind bedeutend genug, um der künftigen Geſchichte als Grundlage zu dienen. Was Colbert für die volkswirthſchaftlichen Principien des Merkantilſyſtems geweſen, das wollte Turgot für die der Phyſiokraten ſein. Turgots Miniſterium iſt die direkte Anwendung der phyſiokratiſchen Verwaltungslehre auf die franzöſiſchen Zuſtände; es iſt der große Verſuch, zuerſt den Handel und das Gewerbe und dann den Bauern durch die Maßregeln der Regierung frei zu machen. Aber er vermochte nicht einmal das negative Element ſeiner Schule durchzuſetzen, jene liberté de la concurrence; zu der poſitiven Seite derſelben, zur Idee der Grundentlaſtung, die der phyſiokratiſchen Schule ihre höchſte volkswirthſchaftliche Begründung verdankt, ohne daß ſie dieſelbe doch auszuſprechen gewagt hätte, hat auch Turgot ſich nicht erhoben: vielleicht eben deßhalb nicht, weil ſie ſelbſt die gründ - liche Umgeſtaltung der ſocialen Ordnung vorausſetzte, die niemand deutlicher kommen ſah, als eben die Phyſiokraten. Denn ſie ſind die wahren Socialiſten des 18. Jahrhunderts. Ihr Kampf gegen die Merkantiliſten wird zu einer in furchtbarem Ernſt ihnen entgegentretenden Ahnung der kommenden Revolution, die in der Ver - zweiflung an dem guten Willen der herrſchenden Klaſſe und an dem Verſtändniß ihrer Gefahren prophetiſch den nahenden Vernichtungskampf der ſtändiſchen Ordnung vorherſieht. Modérez votre enthousiasme,36 aveugles admirateurs des faux produits de l’industrie! Avant de crier miracle, ouvrez les yeux et voyez combien sont pauvres, du moins malaisés, ces mêmes ouvriers qui ont l’art de changer vingt sous en une valeur de mille écus. Au profit de qui passe donc cette multiplication énorme des valeurs? Quoi? ceux par les mains desquels elle s’opère ne connaissent pas l’aisance? Ah, - fiez-vous de ce contracte! (Mercier de la Rivière, Ordre na - turel et essentiel des sociétés politiques, I. p. 199, cf. 280, 81.) Und neben dieſen Ausbrüchen des Gefühls ein Mann wie Mirabeau mit ſeinem Ami de l’homme (1770), der erſte, der die eudämoniſtiſche Idee der Verwaltung auf allen Punkten mit ſpecieller Beziehung auf die niedere Klaſſe durchführt! Gewaltig waren dieſe Geiſter, und tief war ihr Verſtändniß deſſen, was den Keim der Gefahr in ſich trug. Aber dennoch waren ſchon damals die Dinge zu weit gediehen, um noch mit einzelnen, wenn auch noch ſo großartig angelegten Verwaltungs - maßregeln geändert werden zu können.

Das nun iſt die phyſiokratiſche Schule in ihren Hauptrichtungen. Allerdings iſt ſie zunächſt und vor allem eine franzöſiſche Erſcheinung. Allein ſie ſteht ſo wenig vereinzelt wie die Merkantiliſten Englands. Jene eigenthümliche Auffaſſung, welche die Bewegung und das Leben der Geiſter eben nur in der Bücherwelt findet und es ſtets an einzelne literariſche Namen knüpft, ohne ſich um alles andere zu kümmern, was neben und über denſelben vorgeht, hat auch hier eine höchſt enge und einſeitige Anſchauung jener Schule erzeugt. In der That nämlich ſind die Phyſiokraten nur eine ganz beſtimmte Geſtalt der großen Bewegung, welche das 18. Jahrhundert charakteriſirt und alle continentalen Länder ergreift. Dieſe Bewegung iſt keine geringere, als die Richtung der Verwaltung in Geſetzen und Thätigkeit auf die Hebung der nie - deren landwirthſchaftlichen Klaſſe und der Rohproduktion überhaupt. Die Phyſiokraten, über die ſelbſt die Literaturgeſchichte ihre Vorgänger, deren wir erwähnt haben, vergißt, ſind nichts als der franzöſiſche, auf dem erſten nationalökonomiſchen Syſtem begründete Ausdruck dieſer neuen Bahn, welche die Volkswirthſchaftspflege einſchlägt. Es wird daher die Aufgabe der künftigen Geſchichtſchreibung ſein, die Geſammtheit aller dieſer großen Maßregeln nicht als eine Schule der Nationalökonomie, welche letztere nur beiläufig darin vor - kommt, ſondern als eine neue Epoche der wirthſchaftlichen Verwaltung zuſammenzufaſſen. Selbſt in England, wo die Verwaltung der inneren Angelegenheiten ſtets auf dem niedrigſten Standpunkt ſteht, erkennt man deutlich in Literatur wie in Praxis dieſe Richtung. Die großen Arbeiten von Arthur Young und zum Theil auch die von John37 Stuart löſen ſich von der einſeitig merkantiliſtiſchen Färbung los, und namentlich der erſtere iſt bekanntlich der erſte eigentlich landwirthſchaft - liche Schriftſteller Englands. In Deutſchland aber tritt jener Grund - zug des 18. Jahrhunderts noch viel deutlicher zu Tage. Hier beginnt die Verwaltung wirklich praktiſch in die landwirthſchaftlichen Verhält - niſſe einzugreifen, und zwar in zwei Richtungen; zuerſt in den erſten großen Verſuchen, eine durchgreifende Aenderung in der Lage der unfreien ländlichen Beſitzer hervorzubringen, gemeſſene Frohnden ſtatt der un - gemeſſenen einzuführen, Ablöſungen auf dem Wege freier Vereinbarung zu erzielen, namentlich aber die Leibeigenſchaft vollſtändig aufzuheben; dann in der Herſtellung eigener Organe für die landwirthſchaftliche Verwaltung, den Landesökonomie-Collegien und ähnlicher Inſtitute, deren Geſchichte die Vorläuferin der gegenwärtigen Miniſterien der Landwirthſchaft und der öffentlichen Bauten bildet. Wir werden unten in der Geſchichte der Entlaſtungen, Ablöſungen und Gemeinheits - theilungen, und ſpäter in der Landwirthſchaftspflege das Einzelne dar - ſtellen. Hier möge zunächſt nur die Thatſache feſtſtehen, daß die phy - ſiokratiſche Schule ſich von dieſem großen europäiſchen Hintergrund nur durch ihren ſyſtematiſchen Inhalt und durch den großartigen, wenn auch mißlungenen Verſuch Turgots abhebt, während gegenüber der allerdings viel bedeutenderen literariſchen Bewegung in Frankreich in der Verwaltung Deutſchlands viel mehr wirklich geſchieht, als jene theokratiſche Schule Frankreichs dort möglich machen konnte. Und erſt in dieſem Sinne kann man von jenem Syſtem als dem Führer und Haupt einer zweiten ſelbſtändigen Epoche der Volkswirthſchaftspflege und der neueren Verwaltung des geſammten Europas reden.

In ganz ähnlicher Weiſe muß nun der eigentliche Charakter der Schule von Adam Smith eben ſo ſehr in dem Verhältniß zur Verwal - tung, als in ihrem nationalökonomiſchen Inhalt geſucht werden. Und dieß wollen wir gleichfalls hier kurz andeuten.

c) Die Lehre von Adam Smith und ihr Verhältniß zur wirthſchaftlichen Verwaltung.

Es kann natürlich auch nicht entfernt unſere Abſicht ſein, hier die ohnehin wohlbekannte Lehre von Adam Smith im Allgemeinen darzu - ſtellen. Indem wir dieſelbe nach allen Seiten hin vorausſetzen, müſſen wir jedoch den Standpunkt deſſelben in Beziehung auf die Verwaltung, die Gründe, warum er einen ſo mächtigen Anklang namentlich in Deutſchland fand, und endlich die Geſtalt der Volkswirthſchaftspflege, wie ſie aus dieſem Einfluſſe Adam Smiths hervorgeht, ſo kurz und beſtimmt als möglich charakteriſiren.

38

Das achtzehnte Jahrhundert iſt im Guten wie im Böſen die Zeit der polizeilichen Bevormundung des Volks. Die ganze Theorie des Eudämonismus, wie ſie Chriſtian Wolf zuerſt zu einem Syſteme ver - arbeitet, iſt zum Inhalt der ganzen innern Verwaltung, namentlich alſo auch der Volkswirthſchaftspflege geworden. Die Abſichten dabei waren meiſt vortrefflich, die Mittel oft ſehr rationell, das Ziel ein großes. Allein das größere Element der perſönlichen Selbſtändigkeit, der Drang nach Selbſtthätigkeit im Volke, kurz das Bedürfniß nach ſtaatsbürgerlicher Freiheit war bereits ſo groß, daß auch das Beſte, was die Regierungen boten und gaben, unwillig oder gar nicht angenommen wurde, weil die Völker die Herren auch ihres eigenen Glücks ſein wollten. So ent - ſtand jene tiefe Spaltung zwiſchen Volk und Staat, die ſich bis auf den heutigen Tag fortſetzt, jenes tiefe Mißtrauen des erſteren gegen den letzteren, das bis zur entſchiedenſten Negation geht; und es war daher natürlich, daß jeder, der ſeine Anſichten auf dieſen Gegenſatz baute, als Bundesgenoſſe jener faſt unwiderſtehlichen Zeitrichtung be - grüßt wurde.

Da trat Adam Smith mit ſeiner Wealth of Nations auf. Er vertritt zwei Gedanken, die ſo tief in das Leben eingegriffen haben, wie wenig andere, nicht ſo ſehr wegen ihrer Wahrheit, als wegen ihrer Harmonie mit dem ganzen Entwicklungsgange der ſtaatlichen und geſell - ſchaftlichen Ideen jener Epoche. Der eine iſt ein allerdings rein national - ökonomiſcher, der andere aber iſt das verwaltungsrechtliche Princip der Smithſchen Schule; und es iſt ſchwer zu ſagen, welches von beiden das hiſtoriſch bedeutendſte geweſen iſt, obwohl man faſt nur das erſtere erkannt hat. Dieß nun war der Gedanke, daß die Quelle des Werthes und damit des Reichthums die Arbeit ſei. Die Arbeit aber iſt, im Gegenſatze zum Beſitze oder Kapital das nationalökonomiſche Lebensprincip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft; die Idee, daß der Reichthum aus der Arbeit als ſolcher hervorgehe, war zugleich die Idee, daß in ihr die Quelle der wirthſchaftlichen Gleichheit und der einzigen möglichen Hebung der niederen Klaſſe liege. Es war nicht anders möglich, als daß dieſer Grundſatz auf einen dankbaren Boden fiel und volles Verſtändniß fand; an ihn knüpft ſich die ganze Nationalökonomie des Jahrhunderts, das Adam Smith folgt. Doch das zu verfolgen, iſt nicht unſere Sache. Der zweite Grundgedanke Adam Smiths da - gegen war der, daß die wahre Quelle alles Gedeihens der Wirthſchaft durch die Arbeit in dem freien Verſtändniß des Einzelnen von ſeinem eigenen Intereſſe liege. Jeder wird am beſten ſelbſt wiſſen, was ihm am nützlichſten iſt; das iſt das Smithſche Selfintrest. Die Conſequenz davon iſt die entſchiedene Verurtheilung der polizeilichen39 Bevormundung auch in wirthſchaftlicher Hinſicht; er fordert unbedingt an ihrer Stelle die freie Selbſtbeſtimmung des Einzelnen; er erklärt geradezu, es ſei eine impertinence and presumtion of the Government, to watch over the industry of private people. Das waren Gedanken, welche dem Engländer vollkommen geläufig waren; dem Continente waren ſie neu, und mußten in jener Zeit als das Evangelium der wirthſchaftlichen Freiheit der neuen ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft begrüßt werden. Und die nächſte natürliche Folge war die, daß diejenige Nationalökonomie, welche die Wahrheit dieſes Princips durch die abſoluten Grundſätze der Güterlehre bewies, an und für ſich als die wahre Nationalökonomie begrüßt wurde. Man nahm das wirth - ſchaftliche Princip um der freiheitlichen Conſequenz willen und bewies das freiheitliche Princip wieder durch die wirthſchaftlichen Conſequenzen des Syſtems. Das Loſungswort der Nationalökonomie ward durch Adam Smith die Arbeit, das Loſungswort der geſammten Staats - wiſſenſchaft dagegen die Freiheit.

Das iſt es nun, was der ganzen theoretiſchen Bewegung auf dieſen beiden Gebieten in unſerem Jahrhundert ihre Geſtalt gegeben hat. Wir überlaſſen dabei die nationalökonomiſche Seite der Geſchichte der Volks - wirthſchaftslehre; aber der Gang der Volkswirthſchaftspflege bedarf doch einiger Bemerkungen.

Adam Smith hatte ſein Princip der wirthſchaftlichen Freiheit in ächt engliſcher Weiſe aufgefaßt, als die einfache Negation des Staats und ſeiner Berechtigung in volkswirthſchaftlichen Dingen. Die erſte große Folge davon war, daß man von ihm aus die Nationalökonomie principiell von der übrigen Wiſſenſchaft ſcheiden, und ſie als eine ſelbſtändige Wiſſenſchaft behandeln lernte. Man kann, namentlich bei der gegenwärtig herrſchenden Verwirrung aller Begriffe auf dieſem Ge - biete, nicht oft und nachdrücklich genug darauf hinweiſen, daß bis zum Anfang unſeres Jahrhunderts überhaupt keine ſelbſtändige Na - tionalökonomie exiſtirt hat, ſondern daß ſie nur als begründendes Moment an der Volkswirthſchaftspflege vorkommt; ſelbſt Quesnay konnte ſie aus dieſer Verſchmelzung nicht herausreißen. Erſt jetzt beginnt man zu verſtehen, daß es eine Nationalökonomie gibt, und von da an fängt die eigentlich nationalökonomiſche Literatur an, ihre Stellung einzu - nehmen. Allein ſie ſteht beinahe ausſchließlich auf den Schultern von Adam Smith. Nun ließ ſich aber, trotz aller Macht dieſer Lehre, denn doch nicht ſo einfach das Daſein, die Nothwendigkeit, ja die Function des Staats und ſeiner Verwaltung nicht bloß in Recht und Verfaſſung, ſondern auch in der Volkswirthſchaft abweiſen. Die große, ſyſtematiſch ausgearbeitete ſtaatsrechtliche Literatur ſtand aufrecht da; die Rechts -40 philoſophie behandelte vor allem den Staat; fehlte auch gänzlich der eigent - liche Begriff der Verwaltung, ſo erhielt ſich doch die alte Polizeiwiſſen - ſchaft nach ihrem ganzen Umfang. Das Staatsrecht mußte daher von der Nationalökonomie wenigſtens nach wie vor gewiſſe Anſtalten, wie Münze, Poſt, andere Regalien fortwährend behandeln; die Rechts - philoſophie konnte am Ende nicht läugnen, daß die idealen Aufgaben des Staatsbegriffes denn doch auch zum Theil im Gebiete der materiellen Elemente des Daſeins liegen; die Polizeiwiſſenſchaft hatte von jeher die volkswirthſchaftliche Verwaltung in ihrer Weiſe behandelt. Adam Smith hatte für England leichtes Spiel gehabt; aber in Deutſchland war es denn doch mit jenem kahlen Begriff des Selfinterest nicht gethan. So wie daher ſeine Lehre in Deutſchland Platz griff, mußte die Frage ent - ſtehen, wie ſich nunmehr jene neue ſelbſtändige Nationalökonomie zu der Staatslehre, die man in England gar nicht kannte, verhalten werde.

Es iſt ein eigener Theil der Geſchichte der deutſchen Wiſſenſchaft, der uns dieſen merkwürdigen Proceß der Theilung und wieder der Ver - ſchmelzung jener Richtungen zeigt; aber er kann erſt dann und von dem - jenigen geſchrieben werden, der ſich über den Begriff und den ſelbſtändigen organiſchen Inhalt der Güterlehre vollkommen klar iſt. Wir ſind noch mitten in demſelben. Es muß uns daher hier, wollen wir nicht alle uns zu Gebote ſtehenden Gränzen unſerer Aufgabe überſchreiten, ge - nügen, die Hauptgeſtaltungen anzugeben, die aus jener Bewegung hervorgehen, indem wir die allgemeinen Grundlagen als hinreichend bekannt vorausſetzen.

Wir glauben nun, daß es unſerem Zwecke am meiſten entſprechen wird, wenn wir jene Bewegung in die drei Hauptepochen eintheilen, in denen ſie verläuft, und an die ſich im Weſentlichen wohl die künftige Geſchichte dieſes Gebietes der Staatswiſſenſchaft anſchließen wird. Wir bezeichnen ſie in Kürze als die der Staatswirthſchaftslehre, die der Volkswirthſchaftspflege, und die der angewandten Na - tionalökonomie.

Ohne allen Zweifel iſt nun die erſte Epoche die bei weitem reichere und bedeutendere, und überragt an Umfang wie an Tiefe die folgenden ſo ſehr, daß nicht einmal eine Vergleichung recht möglich iſt.

Als nämlich mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts das Werk von Adam Smith nach Europa kam, traf es den deutſchen Geiſt in der vollen, kräftigen Bewegung, welche überhaupt eine neue, freiere Geſtaltung des geſammten Staatslebens ſuchte und forderte. Damals dachte man noch viel über Weſen und Inhalt des Staats nach; der Begriff des Staats, jung und lebendig, wenn auch unklar, fühlte daß er alle menſchlichen Verhältniſſe in ſich aufnehmen und verarbeiten41 müſſe, ohne doch denſelben ihre Selbſtändigkeit in der oberflächlichen Weiſe zu nehmen, wie es die ſchon trivial gewordene Polizeiwiſſenſchaft zu thun gewohnt war. Die großartige Auffaſſung der Lehre von Adam Smith imponirte daher dieſer geiſtigen Arbeit der Deutſchen, aber ſie unterjochte ſie keineswegs. In dem Suchen nach der neuen Staats - idee, welche aus der letzteren geboren werden ſollte, konnte jenes ein - ſeitige Princip der Negation der Staatsverwaltung, die leere negative Freiheit des Selfinterest um ſo weniger genügen, als denn doch die Ge - wöhnung an eine wirkliche, und vielfach ſo höchſt wohlthätige Regierung eine tiefgewurzelte war. Ein einfaches Annehmen der Auffaſſung von Adam Smith war daher zwar für ſein nationalökonomiſches Princip der Arbeit ſehr wohl möglich; ſein verwaltungsrechtliches der individuellen Ungebundenheit dagegen iſt nicht einmal recht geſehen, viel weniger angenommen worden. Im Gegentheil ging ſchon mit dem Anfange dieſes Jahrhunderts die deutſche Wiſſenſchaft vielmehr daran, die Idee und das Syſtem der Nationalökonomie in die organiſche Idee des Staats aufzunehmen und mit derſelben wo möglich auf allen Punkten ſyſtematiſch zu verarbeiten. Das nun war wiederum nur von Einem Standpunkt aus möglich. Hätte man ſchon damals in der National - ökonomie gekannt, was ſie wirklich iſt, nicht etwa einen Theil der Staatslehre, ſondern vielmehr ein ganz ſelbſtändiges Gebiet des Lebens der Perſönlichkeit, ſo hätte man einen gemeinſamen höheren Begriff ſuchen müſſen, dem man auch das organiſche Staatsleben als Theil oder Moment deſſelben hätte unterordnen müſſen. Das aber überließ man der Philoſophie, und ſo weit ging daher noch die Tradition der alten Staats - und Rechtslehre, daß man für alle praktiſchen Fragen, alſo auch für die der Wirthſchaft, den Staatsbegriff an die Spitze ſtellen zu müſſen glaubte. So entſtand die Vorſtellung von der Staats - wirthſchaft und ihrer Wiſſenſchaft, der Staatswirthſchaftslehre, welche die Nationalökonomie in irgend einer Weiſe als Theil der Staats - wiſſenſchaft, das iſt als ein Moment an der Wiſſenſchaft vom Staate behandeln wollte, und zwar im Allgemeinen von dem Stand - punkte aus, daß die Nationalökonomie die Geſetze lehre und enthalte, welche der Staat anzuerkennen und zu verwirklichen habe. Das iſt der eigentliche Charakter der Epoche der Staatswirthſchaftslehre, die mit dem Anfange dieſes Jahrhunderts beginnt, und deren letzter großer, hoch - bedeutender Vertreter Lotz iſt (Staatswirthſchaftslehre, 2. Aufl. 1838).

Man kann nun wohl im Allgemeinen ſagen, daß gleich anfangs in dieſer Verſchmelzung das Gefühl vollkommen klar iſt, daß im Grunde dennoch Nationalökonomie und Staatswirthſchaft zwei ſehr verſchiedene Dinge ſeien; allein über das wahre Verhältniß iſt man ſich aus einem42 ſehr nahe liegenden Grunde niemals recht klar geworden. Während man nämlich wenigſtens zum Theil ſehr gut wußte, was eigentlich die Nationalökonomie ſei, hatte man keinen klaren Begriff von der Verwaltung. Man vergaß, daß wenn die Geſetze der National - ökonomie wirkliche Geſetze ſeien, ſie ſich durch eigene Kraft verwirk - lichen müßten; man ſah nicht, daß das, was erſt des Staats bedarf um ins Leben zu treten, dann kein Geſetz mehr iſt. Man kam daher zu der Vorſtellung, daß eben nur das Nationalökonomie ſei, was über - haupt direkt oder indirekt durch die Thätigkeit des Staats vollzogen werden könne. Natürlich war auch das wieder nicht durchführbar, denn die Begriffe von Arbeit und Werth, die Geſetze des Angebots und der Nachfrage waren denn doch ganz unabhängig vom Staate. Und ſo beginnt dieſe Epoche der Staatswirthſchaftslehre gleich anfangs mit einer Richtung, welche die Frage nach dem Verhältniß der National - ökonomie zur Staatswirthſchaft und Wiſſenſchaft zum Grunde legt, während eine zweite Richtung, dieſer Frage nicht Herr und ſie daher auch zur Seite liegen laſſend, unbeirrt von ihr direkt auf die Staats - wirthſchaft eingeht. An der Spitze der erſten Richtung ſteht Soden, der die Frage nach jenem Verhältniß als Einleitung ſeines ganzen Werkes hin und her wirft. Bei ihm verſchwindet aber der ſtrenge Be - griff der Nationalökonomie als der organiſchen Güterlehre in das höchſte Sittengeſetz des Wohlwollens, der Humanität, und demgemäß: Beglückung der Nationalindividuen (die Nationalökonomie, 1. Bd. 1805. §. 17) aber im Princip der Staatsverwaltung liegt dazu keine Pflicht, alſo auch kein Zwangsrecht. Das Princip der Staats - verwaltung iſt nur: Begründung, Sicherung und Bewährung der ſtaatsgeſellſchaftlichen Vortheile, in ſo weit ſie aus der ſtaatsgeſellſchaft - lichen Verbindung unbedingt fließen. Dann fährt er fort, mit wenig Worten die Hauptſache berührend: In dieſer Abſonderung der Begriffe liegt, bei dem unruhigen Geiſte der Regierungen und nach der ihrem Charakter eigenen Tendenz zur Ausdehnung der Macht, das Pal - ladium der bürgerlichen Freiheit. Das war ſehr wahr und ganz aus Adam Smith, aus deſſen Studium überhaupt Sodens Werk hervor - ging; allein die Unklarheit ſeiner Vorſtellung zeigt ſich ſofort wie er weiter kommt; eben hat er das Zwangsrecht geläugnet, in §. 21 deducirt er wieder ſeine Nothwendigkeit; immer mit dem Gedanken, daß die Geſetze der Nationalökonomie die Grundſätze beſtimmen ſoll, nach denen dieß Zwangsrecht ausgeübt wird (ebd). Die Nationalökonomie iſt ihm (§. 25) die ſchöne Haushaltung der Natur ; die Staatswirthſchaft iſt ihm dann wieder identiſch mit der Staatsverwaltung (§. 17). Zu einem rechten Abſchluß gelangt er nicht. Chr. Schlözer, der Gründer43 der wohl ſo genannten deutſch-ruſſiſchen Schule, hat ſich in ſeiner Staats - wirthſchaft oder Lehre vom Nationalreichthum (1804. 2 Bde. ) mit der principiellen Frage gar nicht abzugeben, die Materie aber ohne Syſtem durch einander geworfen. Eben ſo unſicher bleibt Hufeland, trotz dem daß er Soden weit an dialektiſcher Schärfe überragt. In ſeiner Neuen Grundlegung der Staatswirthſchaftskunſt (Bd. 1. S. XXX) will er dieſelbe unter die Staatswiſſenſchaften reihen; auf S. 112 118 dagegen ſcheidet er mit Recht ſtrenge die Nationalökonomie oder Güter - lehre vom Staate. In der That iſt die folgende Zeit über dieſen ganzen Zweifel gar nicht hinausgekommen. Sartorius, Abhandlung über die Elemente des Nationalreichthums (Göttingen 1806) ſchließt die gleiche Unterſuchung damit, daß er die Freiheit der Privatwirthſchaft als Regel, die Einmiſchung des Staats als Ausnahme fordert; freilich fällt bei ihm dieſe Ausnahme ſehr ausgiebig aus, und ein Princip für dieſelbe fehlt gänzlich. Als allmählig mit den zwanziger Jahren der Begriff der Staatswiſſenſchaften an die Stelle der alten Polizeiwiſſen - ſchaft tritt, laſſen die erſteren jene Frage überhaupt fallen, und finden ſie höchſtens mit einer paſſenden Phraſe ab, während ſie in einzelnen Arbeiten noch vielfach verhandelt wird, wie bei Behr, die Lehre von der Wirthſchaft des Staats (1822). Pölitz hat dann verſucht, Staats - wirthſchafts - und Volkswirthſchaftslehre in ihrem Verhältniß zu einander auf die möglichſt einfache Formel zurück zu führen. Er ſagt (Staats - wiſſenſchaft Bd. II. S. 133. 1827) die Staatswirthſchaftslehre unter - ſcheidet ſich dadurch weſentlich von der Volkswirthſchaftslehre, daß dieſe von dem Begriff (er meint die Thatſache) des Volkes und den Grund - bedingungen des Volkslebens, jene vom Begriffe des Staats und den Grundbedingungen des Staatslebens ausgeht. Da er aber vom Staate eben keinen Begriff hat, ſo kommt er ſofort zu dem bezeichnenden Satze, daß die Staatwirthſchaftslehre in den Grundſätzen beſteht, nach welchen jene Grundbedingungen des Volkslebens, nämlich das Recht und die Wohlfahrt unter die Garantie des rechtlich geſtalteten Zwanges geſtellt werden. Rotteck dagegen hat ſie in ſeiner Fort - ſetzung von Aretins Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie Bd. II. Abth. I. S. 259 ff. ſogar ins eigentliche Staatsrecht aufgenommen. Was er eigentlich meint, iſt ſchwer zu ſagen, wie denn überhaupt das Verhältniß zwiſchen Pölitz und Rotteck darin beſteht, daß bei Pölitz die Form klar und das Princip unklar iſt, während Rotteck im Princip klar, in den Begriffen dagegen ſehr unklar erſcheint. Neben dieſer erſten Richtung ſteht nun die zweite, die ohne viel dialektiſchen Zweifel über Weſen und Werth der Nationalökonomie geradezu dem Staate auf Grundlage ihrer Anſchauung von der wirthſchaftlichen Wohlfahrt die44 Aufgabe vindicirt, die ganze Nationalökonomie direkt durch Staats - geſetze und Thätigkeit zu regeln. Hier ſtellt ſich zuerſt Adam Müller in ſeinen Elementen der Staatskunſt 1808 auf den Standpunkt, die landwirthſchaftlichen und gewerblichen Verhältniſſe den höhern Staats - zwecken zu unterordnen; ihm iſt hier wie immer die Regierung der Vater des Volkes. Fichte’s Geſchloſſener Handelsſtaat (1800) iſt in der That nichts anderes, als der erſte große Reflex der franzöſiſchen ſocialiſtiſchen Ideen in einem großen deutſchen Geiſt; er iſt die erſte deutſche Utopie, die wir haben, aber ohne Bewußtſein davon, daß er nur Utopie iſt. Ludens Handbuch der Staatsweisheit oder der Po - litik (1811) iſt im Grunde nur eine geiſtreichere Darſtellung des wirth - ſchaftlichen unfreien Eudämonismus, ohne tiefere Bedeutung. Erſt als unterdeſſen das Studium der eigentlichen Nationalökonomie weiter ge - diehen iſt, gewinnt die Staatswirthſchaft die Tiefe und Breite, die ſie zu einer bedeutenden Erſcheinung macht. Sie wird zu einer voll - ſtändigen Nationalökonomie, die aber mit einer beinahe vollſtän - digen Volkswirthſchaftspflege äußerlich verbunden iſt, ohne daß man recht dazu gelangt wäre, ſich über den Unterſchied beider klar zu werden; höchſtens daß man die reine Staatswirthſchaftslehre als Nationalökonomie der angewandten als Volkswirthſchaftspflege vorauf ſendete, ohne zu einem Verſtändniß des innern Verhaltens zu gelangen. Die beiden bedeutendſten Werke in dieſer Richtung, die eigentlichen Vertreter der Staatswirthſchaftslehre ſind Kraus, Staats - wirthſchaftslehre, 1. Aufl. 1817 (ſehr kurz), 2. Aufl. 1837 in 5 Bdn. von H. v. Auerswald herausgegeben, namentlich aber Lotz, Handbuch der Staatswirthſchaftslehre, 3 Bde. 2. Aufl. 1838, ein Mann, der im Einzelnen von wenigen erreicht, im Ganzen bisher von niemanden übertroffen iſt, und deſſen Arbeit man immer mit größtem Nutzen ſtudiren wird. An ſie ſchließen ſich etwa noch Bülau, der Nachfolger von Pölitz (Handbuch der Staatswirthſchaftslehre 1835), eben ſo glatt, breit und klar, aber nicht ſo umfaſſend im Ganzen, und Schön, Neue Unterſuchung der Nationalökonomie und der natürlichen Volkswirth - ſchaftsordnung (1835). Auch dieſe ganze Richtung iſt ſich principiell einig darüber, daß nirgend ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen der National - ökonomie und der Thätigkeit und Aufgabe des Staats beſtehe, und Mühe genug gibt ſich namentlich Lotz (§. 5. 6. ) dieß Verhältniß wiſſen - ſchaftlich zu formuliren, namentlich zu beſtimmen, wie weit die Staatswirthſchaftslehre den Staatswiſſenſchaften gehört (S. 10.), eine Frage, die uns wunderlich erſcheinen würde, wenn jene Staatswirth - ſchaft ihm nicht als Nationalökonomie erſchienen wäre. Allein zu einem Abſchluß konnte dieſe Richtung nicht gelangen, und wir dürfen wohl45 hier den tiefern Grund dafür wiederholen. Jene Unterſcheidung nämlich iſt nie durchzuführen, ſo lange die Wiſſenſchaft keinen beſtimmten Be - griff vom Staate hat. Es iſt von jeher der große Mangel der praktiſchen Staatswiſſenſchaft geweſen, die Aufſtellung und Durchführung des Staats - begriffes für etwas außerhalb ihres Bereiches liegendes anzuſehen. Sie hat denſelben nicht bloß der Rechtsphiloſophie überlaſſen, ſondern ihn auch gar nicht von derſelben aufgenommen. Sie gelangte dadurch zu dem Widerſpruch, in allen Punkten ihrer Lehre, wo ſie von der Thätig - keit des Staats in ſeiner Verwaltung ſprach, ohne den Begriff deſſelben weiter arbeiten zu müſſen. Sie konnte dadurch natürlich zuerſt zu keinem Syſteme gelangen, da dieſes doch nur durch jenen Begriff gegeben wird, und eben ſo wenig zu einem allgemein gültigen Princip für die einzelnen Functionen, da dieſe gleichfalls nur durch jenes Weſen des Staats gegeben werden. Die Behandlung aller der Volkswirthſchafts - pflege gehörenden Theile der Staatswirthſchaft wird dadurch die einer ſcharfen und gründlichen Beobachtung, ohne daß eine höhere klare Ord - nung herausträte; natürlich fehlt die Vollſtändigkeit, und an die Stelle von Grundſätzen muß zu oft das Gefühl der bloßen Zweckmäßigkeit treten. Das aber konnte bei dem ſich immer höher entwickelnden Or - ganismus des Staats nicht genügen; es war daher natürlich, daß ſich neben der Staatswirthſchaftslehre auch andere Richtungen Bahn brachen, die freilich ihrerſeits eben ſo wenig ausreichten. Wir glauben ſie nur kurz andeuten zu ſollen.

In jener Verwirrung hat Rau das große Verdienſt, formell den alten Standpunkt des vorigen Jahrhunderts, die Dreitheilung in Na - tionalökonomie, Finanzwiſſenſchaft und Volkswirthſchaftspflege aufrecht erhalten, und damit die Scheidung der erſtern von der letztern gründ - lich durchgeführt zu haben. Es iſt nicht überflüſſig, über den Werth, den ſeine Volkswirthſchaftspflege an und für ſich hat, hier zu reden. Allein, indem wir natürlich dabei gänzlich von allem Einzelnen abſehen, auch dieſer Standpunkt war nicht fähig, dem wahren Bedürf - niß zu entſprechen. Nicht wegen des Mangels an Inhalt, und auch nicht wegen des Syſtems dieſes reichen Werkes, ſondern vielmehr deß - halb, weil Rau’s Arbeit nirgends zu dem Bewußtſein gelangt, daß dieſe Volkswirthſchaftspflege ſelbſt wieder nur ein Theil der in - neren Verwaltung iſt, und daher, wie es ſcheint, von der Vor - ſtellung getragen wird und ſie auch wohl bei andern erweckt, als ob die Volkswirthſchaftspflege die innere Verwaltung ſelbſt ſei. Es iſt nicht überflüſſig, zu betonen, daß damit dem Bedürfniſſe der Verwaltung, die mit immer größeren Aufgaben ausgerüſtet ward, nicht genügt werden konnte. Es erzeugte ſich vielmehr daraus eine neue46 Geſtalt dieſer Arbeiten, die in hohem Grade förderlich, dennoch nie für ſich allein ausreicht. Rau hatte gezeigt, wie viel Stoff nicht etwa bloß für das Ganze, ſondern auch für die einzelnen Theile der Volkswirth - ſchaftspflege vorhanden ſei. Die Kraft der deutſchen Arbeit warf ſich daher jetzt gerade auf dieſe einzelnen Gebiete und leiſtete darin ſo Be - deutendes, daß die Maſſe und der Werth dieſer Werke das Bewußtſein und beinahe das Bedürfniß der organiſchen Einheit erdrückte, und bei der deutſchen Gründlichkeit die wohlbegründete Vorſtellung wach rief, daß es ohnehin unmöglich ſei, einen ſolchen Stoff zu bewältigen. Das gewaltige Gebiet der wirthſchaftlichen Verwaltung zerfuhr daher zuerſt in die großen Einzelwerke über Grundentlaſtung, Waſſerrecht, Poſt - recht, Eiſenbahnrecht, Bankweſen, Münzweſen, Land -, Forſt - und Berg - bau, Armen - und Heimathsweſen, Patentrecht, Handelsrecht und an - deres, nach allen Seiten hin Tüchtiges leiſtend, aber gänzlich des Be - wußtſeins der innern Einheit, des organiſchen Zuſammengehörens baar. Nichts wäre verkehrter, als das anzuklagen, oder auch nur nicht hoch zu achten; allein nichts wäre einſeitiger, als damit ſich allein genügen laſſen zu wollen. Denn, auch nur rein formell geſprochen, bilden alle dieſe Zweige denn doch Aufgaben Einer und derſelben höchſten Be - hörde; wie nun ſoll es möglich ſein, die weſentliche Verwaltung für dieſelben herzuſtellen, wenn ſie nicht ſelbſt als nothwendige und orga - niſche Grundlage derſelben exiſtirt und durch die Wiſſenſchaft zum Aus - druck gelangt? Der formale Charakter dieſes Zuſtandes, der eben ſo groß in ſeinen einzelnen Theilen als wichtig in ſeiner praktiſchen Be - deutung iſt, beſteht deßhalb in der geiſtigen oder, wenn man will, or - ganiſchen Heimathloſigkeit aller ſeiner einzelnen Gebiete und das was jenen einzelnen Theilen eben dadurch mangelt, iſt gerade das, was ſich der Theil nicht ſelbſt geben kann: die Begründung und Be - gränzung durch das Ganze. Sie bieten alles für alle, welche mit den Theilen zu thun haben; für die, welche das Ganze verwalten, gibt es bisher keine Wiſſenſchaft, nicht einmal für die wirthſchaftliche, geſchweige denn für die geſammte innere Verwaltung. Es iſt die Auflöſung der alten Staatswirthſchaftslehre in die Einzelgebiete der Volkswirthſchafts - pflege mit all ihren Vortheilen und Nachtheilen, welche den Charakter des gegenwärtigen Zuſtandes bildet.

Da iſt nun noch die neueſte Richtung, die wir in ihrer völligen Unklarheit in Princip und Syſtem nicht beſſer als mit dem völlig un - klaren Namen der angewandten Nationalökonomie bezeichnen können, und die nichts anderes iſt, als ein Zurückfallen in die Kategorien des Anfangs dieſes Jahrhunderts. Sie erkennt ſtillſchweigend ihre Unfähig - keit von dem Einzelnen weiter als bis zum Einzelnen zu gelangen. 47Von einem Begriffe des Staats, von einem tieferen Verſtändniß der Perſönlichkeit, von einem organiſchen Gedanken für Nationalökonomie oder Volkswirthſchaftspflege, geſchweige denn für die Verwaltung über - haupt oder die innere Verwaltung im beſondern, iſt hier keine Rede mehr. Es iſt die Abdication der organiſchen Wiſſenſchaft, die durch hiſtoriſche Unterſuchung um ſo weniger erſetzt werden kann, als das Ergebniß derſelben gleichfalls nur Stoff zum Stoffe häufen muß, wenn man nicht den Werth der geſchichtlichen Erſcheinungen, ſondern nur ihre Thatſache und Geſtalt erkennt. Die große Frage, vor der unſere Wiſ - ſenſchaft ſteht, iſt daher in der That die, ob es uns künftig genügen wird, Beobachtungen zu beſitzen oder das Beobachtete zu beherrſchen.

Dasjenige nun, was wir über das bisherige Syſtem, ſeine An - ordnung, ſeine Mängel und Zufälligkeiten zu ſagen haben könnten, glauben wir hier nicht anführen zu ſollen, da es eben in Individual - kritik auslaufen würde. Statt deſſen glauben wir der Sache und unſrer Auffaſſung am beſten zu entſprechen, wenn wir ſtatt alles Eingehens auf das Einzelne lieber das der wirthſchaftlichen Verwaltung zum Grunde liegende Syſtem hier ſelbſt den einzelnen Theilen vorausſenden. Und wieder verſtatten wir uns, darauf hinzuweiſen, daß für diejenigen, welche eine philoſophiſche Begründung nicht für erforderlich halten, das Kriterium der organiſchen Richtigkeit dieſes Syſtems darin geſucht und hoffentlich gefunden werden möge, daß alle der Volkswirthſchaftspflege angehörigen Begriffe, Geſetze, Anſtalten, hiſtoriſche Erſcheinungen und Fragen ſich vollſtändig und ohne Mühe und Zwang in dieſes Syſtem einfügen. Die Ueberzeugung davon würde nicht bloß einen großen praktiſchen Werth, ſondern zugleich die Ehre haben, wenigſtens auf dieſem Punkte jenen ſogenannten praktiſchen Werth der philoſophiſchen Auffaſſung beweiſen zu können.

IV. Das Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung.

Das Syſtem der volkswirthſchaftlichen Verwaltung als drittes großes ſelbſtändiges Gebiet der geſammten Innern Verwaltung neben die Verwaltung des phyſiſchen und geiſtigen Volkslebens hingeſtellt, beruht nun auf folgenden Grundlagen.

Die Aufgabe der innern Verwaltung in der Volkswirthſchaft be - ſteht nicht darin, die Volkswirthſchaft zu begründen, herzuſtellen, zu leiten, den Volksreichthum zu erzeugen, oder ähnliche Ziele durch die Gewalten des Staats zu erreichen. Sie ſoll nur diejenigen Bedin - gungen der wirthſchaftlichen Entwicklung herſtellen, welche die Ein - zelnen ſich mit eigner Kraft nicht ſchaffen können.

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Sie erſcheint daher auch nur da, wo es ſich um ſolche Bedin - gungen handelt. Sie kann eben deßhalb auch das Syſtem dieſer ihrer Aufgaben nicht etwa in dem der Volkswirthſchaft oder Staatswirth - ſchaft ſuchen wollen. Es iſt unmöglich, ein Syſtem, namentlich der erſteren, für die Volkswirthſchaftspflege zum Grunde zu legen. Ihr Syſtem kann gar nicht das der Grundbegriffe und Grundgeſetze der Volkswirthſchaft ſein, da dieſe niemals das Objekt der Thätigkeit der Verwaltung ſind. Sondern daſſelbe iſt in der That das Syſtem der außerhalb oder über der Einzelkraft liegenden Lebensverhältniſſe der Gemeinſchaft, und zwar inſofern eine Action der Verwaltung für die - ſelben als eine Aufgabe der wirthſchaftlichen Geſammtinter - eſſen erſcheint. Und der, dieſe Aufgabe und ſomit die Thätigkeit der Verwaltung beſtimmende Wille der Verwaltung erzeugt dann das gel - tende Recht derſelben. So iſt dieß Syſtem naturgemäß ein vollkommen ſelbſtändiges und eigengeartetes, und dennoch wohl ein ſehr einfaches.

Die geſammte Volkswirthſchaftspflege und ihr Recht zerfällt zuerſt in den allgemeinen und den beſondern Theil.

Der allgemeine Theil behandelt alle diejenigen Lebensverhältniſſe, welche als Bedingung jeder Art von Wirthſchaft und Unternehmung erſcheinen. Der beſondere Theil dagegen hat nur mit denjenigen zu thun, welche durch die beſondern wirthſchaftlichen Verhältniſſe der ein - zelnen Art der Unternehmung gegeben ſind.

Das was der allgemeine Theil enthält, gehört daher jedem beſon - dern Theile wieder an, und muß gleichſam als Einleitung für jede der Abtheilungen dieſes beſondern Theiles angeſehen werden. Es iſt der Stamm, aus dem die großen Zweige der Verwaltung entſproſſen. Kein einzelner Theil kann daher ohne den allgemeinen als ein voll - ſtändiger betrachtet werden. Der letztere muß vielmehr den erſteren auf allen Punkten gleichſam durchdringen, erheben, verallgemeinern; der erſtere muß den letzteren vorausſetzen und in einzelnen Fällen anwen - den; niemals wird die Behandlung eines einzelnen Gebietes voll - ſtändig, ja nicht einmal recht praktiſch werden, wenn ſie nicht den all - gemeinen Theil gründlich kennt und denſelben als ein in ſich fertiges Ganze anſehen kann. Es iſt einer der größten Mängel der gegenwär - tigen wirthſchaftlichen Verwaltungslehre, daß das organiſche Verhältniß beider Elemente des Syſtems nicht gehörig ausgearbeitet vorliegt; denn allgemein gehaltene Beziehungen des Einen auf das Andere nützen hier nicht viel. Wir erinnern hier nur beiſpielsweiſe an eben das Verhält - niß von Credit und Landwirthſchaft, von Wegweſen und Forſtwirth - ſchaft, von Maß und Gewicht und Bergweſen und anderes. Die Forderung einer ſtrengen Unterſcheidung des allgemeinen Theils, ſeines49 Inhalts und ſeines Rechts von dem beſonderen Theil und ſeinen ein - zelnen Gebieten erſcheint dieſer als die erſte wiſſenſchaftliche Forderung der ganzen wirthſchaftlichen Verwaltungslehre, und wo immer ein be - ſonderer Theil behandelt wird, wird derſelbe ſtets das zugleich weſent - lich Praktiſche dieſer Forderung erkennen.

II. Das Syſtem des allgemeinen Theiles ruht nun auf denjenigen Verhältniſſen des volkswirthſchaftlichen Lebens, welche ihrem Weſen nach durch keine Art der Unternehmung erſchöpft, für keine derſelben auch nur als vorwiegende Bedingung ihrer ſpeciellen Entwicklung angeſehen werden können, ſondern die gleichmäßig die Vorausſetzung der Wohl - fahrt aller bilden. Dieſe nun erſcheinen naturgemäß in drei, durch das Weſen des Lebens überhaupt gegebene Gruppen.

Die erſte hat es mit dem rein perſönlichen Element zu thun, ſo weit daſſelbe nicht von der Kraft und dem Willen des Einzelnen be - herrſcht wird. Dieß perſönliche Element iſt das Recht der Einzelnen. Dieß Recht der Einzelnen erzeugt da, wo ſeine Aufhebung eine Be - dingung des wirthſchaftlichen Fortſchrittes iſt, die Entwährung als erſte volkswirthſchaftliche Funktion der Verwaltung, und mit ihr das Entwährungsrecht. Dieſes nun theilt ſich wieder in die Grund - entlaſtung, die eine vorwiegend ſociale Maßregel iſt, die Ablö - ſungen, welche im Intereſſe der Geſammtproduktion geſchehen, und die Enteignungen (Expropriationen) und Zwangsleiſtungen, welche durch das Intereſſe des Verkehrs gefordert werden.

Das zweite große Element iſt die Natur. Die Verwaltung aber hat es nicht mit der Natur im Ganzen zu thun, und eben ſo wenig mit der Natur, ſo weit ſie nur in der Sphäre der Einzelwirthſchaft er - ſcheint. Die Natur wird erſt da Gegenſtand der Verwaltung, wo ſie als eine, die Geſammtheit aller Intereſſen beſtimmende, und durch den Einzelnen nicht mehr zu bewältigende Kraft erſcheint, der jedoch die Gemeinſchaft durch den Organismus der Verwaltung ihre Gränze vor - ſchreiben und ihre Ordnung geben kann. Das nun iſt der Fall bei Feuer und Waſſer. Für Feuer und Waſſer gibt es daher eine Verwaltung und mithin ein Verwaltungsrecht, das zugleich ein öffentliches, ein bürgerliches und ein polizeiliches iſt. Dieſe Verwaltung des Feuers und des Waſſers iſt wieder, wie es im Weſen jeder elementaren Kraft begründet iſt, zunächſt eine Organiſation des Kampfes mit ihren Gefahren; dann aber tritt die Verwaltung auch poſitiv ordnend hinzu, namentlich beim Waſſer, und endlich ſchreitet ſie, wo dennoch jene Kräfte Schaden gethan, helfend ein, und erzeugt das Verſicherungsweſen. Auf dieſe Weiſe bildet die Verwaltung der elementaren Verhältniſſe das zweite ſelbſtändige Gebiet der volkswirthſchaftlichen Verwaltung in ihrem Allgemeinen.

Stein, die Verwaltungslehre. VII. 450

Das dritte entſteht nun durch das dritte, allen einzelnen Arten der Unternehmung gemeinſame, für alle ohne Ausnahme gleich weſent - liche Bedingung bildende Element. Dieß Element iſt der Verkehr. Der Verkehr wird freilich zunächſt durch die Einzelnen ſelbſt hervor - gerufen; er iſt ſeinem Weſen nach nothwendig und vollſtändig frei. Das Syſtem der Verwaltung iſt daher nicht das Syſtem des Verkehrs ſelbſt; ſondern auch hier ſind es nur diejenigen Bedingungen des Verkehrs, die ſich die Einzelnen nicht ſelbſt ſchaffen können, welche die Aufgabe der Verwaltung und damit das Syſtem derſelben bilden. Nun begreift das Wort Verkehr alle Formen des gegenſeitigen Ueber - ganges von Gütern und Leiſtungen, von Perſonen und Mittheilungen. Alle dieſe Formen ſcheiden ſich nun in drei Hauptgruppen, inſofern es ſich um die Aufgaben der Verwaltung handelt. Wir nennen den erſten Theil den eigentlichen Verkehr, den zweiten den Werthumlauf, den dritten den Creditumlauf. Jeder dieſer Theile fordert ſein eigenes Recht, ſeine eigene Ordnung, ſeine eigene Polizei; gemeinſam iſt ihnen der Sache nach, daß ſie die Bewegung der Perſonen und Güter in ihrem Uebergange vom Einen zum Andern enthalten, und daß die Verwaltung hier diejenigen Bedingungen herzuſtellen hat, welche der Einzelne nicht ſelbſt leiſten kann. Darnach ergeben ſich folgende Grundverhältniſſe.

A. Der Verkehr (im eigentlichen Sinne) ſetzt voraus, daß die materiellen Bedingungen deſſelben von der Verwaltung hergeſtellt wer - den. Dieſe theilen ſich in zwei Hauptarten, die Verkehrsmittel und die Verkehrsanſtalten.

Unter den Verkehrsmitteln verſtehen wir diejenigen öffentlichen Einrichtungen, welche die materiellen öffentlichen Vorausſetzungen der Verkehrsbewegung von Perſonen und Gütern enthalten. Wir umfaſſen dieſe öffentlichen Einrichtungen in ihrer Geſammtheit mit dem Aus - drucke der Verkehrswege. Die Aufgabe der Verwaltung beſteht hier darin, dieſe Verkehrswege herzuſtellen, zu erhalten und zu ſchützen, ſo weit die Macht der Verwaltung reicht, weil natürlich das Vorhanden - ſein und die Güte der Verkehrswege eine der großen Bedingungen der Werthentwicklung iſt, auf der der Fortſchritt der Volkswirthſchaft beruht. Die Vertretung der Geſammtintereſſen, die hiedurch der Verwaltung gegeben iſt, bezeichnen wir im Allgemeinen als das Wegeweſen.

Das Wegeweſen ſeinerſeits ſcheidet ſich nun nach der Natur des Weges in zwei große, weſentlich verſchiedene Theile.

Der erſte Theil umfaßt die Wege zu Land, oder das ganze Straßenweſen, von welchem das öffentliche Bauweſen als eigent - liches Straßenbauweſen den erſten Theil bildet.

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Der zweite Theil beruht dagegen auf dem Waſſer als Mittel des Verkehrs. Hier erſcheint wieder einer von den Punkten, auf wel - chem zwei Gebiete in einander greifen. Man kann nemlich das Waſſer - recht als Theil der elementaren Verwaltung, und man kann es, inſo - fern es dem Verkehrsweſen angehört, als Theil des Verkehrsmittelrechts behandeln. An ſich iſt die Stellung, die man dieſem Theil gibt, nicht weſentlich; will man, ſo kann man das Recht und die Ordnung der Waſſerſtraßen und Waſſerverkehrsplätze am Ende auch in das eigent - liche Waſſerrecht der elementaren Verwaltung aufnehmen, wenn nur das Bewußtſein feſtgehalten wird, daß es eigentlich in das Verkehrs - weſen gehört. Mit richtigem Takt haben jedoch, ſo viel wir ſehen. alle Bearbeitungen des öffentlichen Waſſerrechts dieſen Theil deſſelben ausgeſchloſſen, und höchſtens als Moment für die nähere Beſtimmung der bei ihnen auftretenden Fragen benützt. Denn in der That iſt hier das Element des Verkehrs in ſo großem und vorwiegendem Maße die Hauptſache, daß man über die ſchließlich richtige Stellung in der Behandlung kaum zweifelhaft ſein kann. Dieß nun zeigt ſich am deutlichſten, wenn man eben nicht bloß bei dem Waſſer als Verkehrsmittel ſtehen bleibt. Das eigentliche Verkehrsmittel iſt eben nicht das Waſſer, ſondern die Schifffahrt. Die Schifffahrt tritt zwar zunächſt als Privatunter - nehmen auf, wie das der Laſt - und Fahrwägen. Allein die Natur der Schifffahrt macht dennoch aus ihr ein Verhältniß, das im Bau, in der Leitung, in dem Recht der Schiffe eine Ordnung im Geſammt - intereſſe fordert. Und ſo erſcheint denn das Waſſerverkehrsweſen als das Schifffahrtsweſen im Gebiet des öffentlichen Verkehrsweſens, das wieder theils als das Recht des Waſſerverkehrs, theils als das der Schifffahrt auftritt; beide wieder geſchieden in die Binnen - und die Seeſchifffahrt. Der Waſſerverkehr enthält dann die Ordnung und das Recht zuerſt der Flüſſe und Canäle, dann der Häfen, endlich der offe - nen Seewege im Lootſen - und Leuchtthurmweſen, nebſt den Seeſignalen und dem Rettungsweſen. Das Recht der Schifffahrt dagegen ſpaltet ſich in das öffentliche Recht des Schiffbaus und das der Schiffs - führung. So iſt dieſer Theil des Verwaltungsrechts ein Ganzes.

2) An dieſe Verkehrsmittel als Gegenſtand der Verwaltung ſchließen ſich nun die Verkehrsanſtalten und ihr Recht. Verkehrsanſtalten ſind ſolche Einrichtungen, durch welche die Verwaltung die Beförderung ſelbſt übernimmt. Sie enthalten ein ganzes Syſtem von Inſti - tuten; jedes derſelben iſt von hoher Wichtigkeit, und jedes bildet daher auch ein ſelbſtändiges Rechtsgebiet.

Die erſte Anſtalt iſt unzweifelhaft die Poſt. Man braucht hier vor der Hand über den Begriff des Regals und der Regalität nicht52 zu ſtreiten; gewiß iſt die Poſt ein wirthſchaftliches Hoheitsrecht und damit ein Zweig der Verwaltung der wichtigſten wirthſchaftlichen In - tereſſen. Das Poſtweſen iſt daher ein eigenes Rechtsgebiet, das ſeine eigene Darſtellung fordert.

Die zweite Anſtalt iſt die Eiſenbahn. Das Eiſenbahnweſen iſt eben ſo unzweifelhaft ein Gebiet der Verwaltung; daß die meiſten Ei - ſenbahnen auf Vereinen beruhen, ändert natürlich in dieſer Sache nichts. Das Eiſenbahnrecht iſt ſchon jetzt ein ſelbſtändiger Theil der öffentlichen Rechtslehre.

Den Eiſenbahnen zur Seite ſteht die Dampfſchifffahrt, die ſich von der übrigen Seeſchifffahrt ſo weſentlich in ihren Verhältniſſen und Grundlagen unterſcheidet, daß wir ſie ſelbſt da, wo ſie nicht direkt von der Verwaltung gegründet iſt oder vom Staate ſubventionirt wird, dennoch mit ihrem ganzen Rechtsverhältniß als eine öffentliche Anſtalt betrachten müſſen.

Daß das Gleiche für das Telegraphenweſen der Fall iſt, be - darf keiner weitern Erörterung.

Mit dieſen Gebieten iſt nun das (eigentliche) Verkehrsweſen er - ſchöpft.

B. Der Werthumlauf hat nun zunächſt denſelben Charakter, wie der Verkehr. Es iſt die einzelne Perſönlichkeit, welche denſelben in hundert und aber hundert Verträgen, Traditionen, Zahlungen und Leiſtungen täglich vermittelt. Es iſt eben die zweite große Form des Verkehrs, nur eine beſondere dadurch, daß ſein Objekt hier nicht mehr eine Perſon oder ein Gut, ſondern ſpeciell eben der ſelbſtändige Werth iſt. Was kann dabei der Gegenſtand der Verwaltung ſein?

Offenbar, hier hat die Verwaltung weder die Bewegung zu er - möglichen, noch auch ſie ſelbſt herzuſtellen. Das iſt Sache der Ein - zelnen. Allein Eine Bedingung derſelben gibt es, die der Einzelne ſich in dieſem die ganze Welt umfaſſenden Werthumlauf nicht verſchaffen kann; und das iſt die objektive Gewißheit für das richtige Maß des Werthes, das er im Umlaufe empfängt. Die Aufgabe der Verwaltung entſteht für den Werthumlauf daher an dieſem Punkte. Die Verwal - tung muß ſo viel als möglich die Thätigkeit des Einzelnen erſetzen, mit der er ſich über das Werthmaß die abſolut nothwendige Gewiß - heit verſchaffen mußte. Das nun geſchieht in drei Hauptformen. Die erſte iſt die durch die Verwaltung feſtgeſtellte öffentlich-rechtliche Maß - und Gewichtsordnung, die zweite iſt das Münzweſen, das die Ordnung des Geldes regelt, und das dritte endlich iſt das öffent - liche Recht der Werthpapiere. Dieſe Punkte bezeichnen die Auf - gabe und die Gränze deſſen, was die Verwaltung für den Werthumlauf53 ihrerſeits zu leiſten hat; und es iſt kein Zweifel, daß ſelbſt die einzelnen Beſtimmungen dieſes Verwaltungsrechts auch natürlich auf das Engſte in einander greifen.

C. Der Creditumlauf endlich oder das Creditweſen hat na - mentlich in unſrem Jahrhundert keineswegs bloß ſeinen äußern Um - fang geändert. Man kann nicht nachdrücklich genug darauf hinweiſen, daß der Credit in unſrer Zeit einen ganz andern Charakter hat, als ſelbſt noch vor wenig Jahrzehnten. Der Credit iſt jetzt das geworden, was er zu werden beſtimmt iſt, er iſt aus einer rein volkswirthſchaft - lichen Erſcheinung eine ſociale Potenz geworden. Für den Credit reichen daher die gewöhnlichen bürgerlich rechtlichen Begriffe nicht mehr aus; der Credit iſt bereits, und wird mehr und mehr eine der größten Auf - gaben der Verwaltung werden. Die Entfremdung der bisherigen Ver - waltungslehre vom Begriff und Weſen des Credits iſt nicht aufrecht zu halten; das bezeichnende Wort für ſeine neue Stellung iſt bereits ge - funden; es iſt die Organiſation des Credits. Die Organiſation des Credits bedeutet in der That den Credit als Gegenſtand der innern Verwaltung, und zwar weſentlich als eine der großen ſocialen Auf - gaben der nächſten Zukunft. Nur muß man dabei natürlich die enge Auf - faſſung der Verwaltung fallen laſſen, welche dieſelbe als eine rein ſtaatliche bezeichnet. Die Organiſation des Credits iſt vielmehr das - jenige Gebiet der Verwaltung, in welchem das Vereinsweſen als Organismus der letzteren weſentlich zu wirken berufen iſt. In dieſem Sinne aufgefaßt, entfaltet ſich hier ein hochbedeutſamer Theil der allgemein wirthſchaftlichen Verwaltungslehre. Wir können demſelben natürlich an dieſem Orte nicht vorgreifen; allein auf Grund - lage des obigen Begriffes iſt es nicht mehr ſchwierig, dieſe Organiſa - tion nunmehr in ihren Hauptformen darzulegen.

Die erſte Form des Credits iſt die des Einzelcredits oder rein perſönlichen Credits. Derſelbe hat wieder zwei Theile. Der erſte Theil hat es mit der Creditpolizei oder dem Wucher und ſeinem öffentlichen Recht zu thun; der zweite mit den ſchon ausgeſprochenen ſocialen Anſtalten für den Einzelcredit in den öffentlichen Pfand - und Leihhäuſern und ihren Rechtsverhältniſſen. Die zweite Form des Credits iſt die des Realcredits. Auch dieſe erſcheint zuerſt als ein rein individuelles Verhältniß zwiſchen Schuldner und Gläubiger; allein die öffentliche Natur jedes Verkehrs in Credit gibt ihm auch in dieſem Theile ein eigenthümliches öffentliches Recht, wie es ſeine Natur for - dert und wie es trotzdem das Einzelne ſich daſſelbe nicht ſichern kann. Dieß öffentliche Recht iſt das der Grund - und Hypothekenbücher, die an ſich ein ſelbſtändiges öffentliches Inſtitut ſind, und deren54 Angehörigkeit an das wirthſchaftliche Verwaltungsrecht wohl von nieman - dem ernſtlich bezweifelt werden wird. Daß das Recht der Grund - und Hypothekenbücher in Beziehung auf die Führung derſelben eine öffent - liche Ordnung, in Beziehung auf die bürgerlichen Rechtsverhältniſſe da - gegen, die es ſchafft, ein hochwichtiger Theil desjenigen iſt, was wir das bürgerliche Verwaltungsrecht genannt haben, liegt auf der Hand. Neben dieſem Grundbuchsweſen tritt nun das zweite Element des Real - credits auf in den Realcreditinſtituten aller Art, in denen wieder das Vereinsweſen als das eigentlich ſchöpferiſche Element erſcheint, und die großen Grundformen jener Realcreditinſtitute, die Bodencredit - anſtalten aller Art, hervorruft, während hier die Staatsverwaltung meiſtens gar nicht, zuweilen nur helfend in zweiter Linie auftritt.

Die dritte Form des Credits iſt nun diejenige, welche wir den eigentlichen Credit oder den Geſchäftscredit nennen möchten. Das Weſen dieſes Geſchäftscredits beſteht darin, daß durch denſelben das in den Händen des Einen befindliche Werthcapital für einen Andern ver - wendet wird. Es iſt nun Sache der Nationalökonomie, im Einzelnen nachzuweiſen, wie dieſer Credit zur bewegenden Kraft in dem geſamm - ten volkswirthſchaftlichen Leben unſrer ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft wird. Die Verwaltungslehre hat dieſe entſchiedene Wahrheit von der - ſelben als eine jener Thatſachen anzunehmen, welche die Grundlage der ganzen volkswirthſchaftlichen Entwicklung bilden. Iſt dem aber ſo, ſo folgt, daß dieſer Credit nicht mehr für die Verwaltung gleichgültig bleiben kann. Freilich nun iſt es nicht Aufgabe der letztern, ſelbſt Credit zu geben. Allein der Geſchäftscredit, das geſammte volkswirth - ſchaftliche Leben umfaſſend, wird eben dadurch eine der entſcheidenden Thatſachen des Geſammtintereſſes, und das Verwaltungsrecht des Ge - ſchäftscredits beſteht darnach in der öffentlich rechtlichen Ordnung der - jenigen Verhältniſſe deſſelben, welche zwar als die nothwendige Vor - ausſetzung ſeiner Entwicklung anerkannt werden müſſen, dennoch aber von dem Einzelnen nicht hergeſtellt werden können. Und deßhalb pflegt man wohl die auf das öffentliche Leben des Geſchäftscredits bezüglichen Beſtimmungen der Verwaltung die öffentliche Organiſation des Cre - ditweſens im Beſondern zu nennen.

Dieſe nun hat drei Haupttheile. Der erſte dieſer Theile beſteht in dem, durch das oben angeführte Weſen des Credits geſetzten bürger - lichen Verwaltungsrecht des Geſchäftscredits, der zweite in dem, was das Geſammtleben für den Zahlungscredit fordert, das dritte in dem, was den Unternehmungscredit bedingt. Dieſe drei Be - griffe ſind nun allerdings durch die Nationalökonomie gegeben und be - gründet; allein da die letztere ſie bisher noch nicht verarbeitet hat, und55 wir noch lange zu thun haben, bis wir zur Organiſation des Credits gelangen, ſo möge es uns geſtattet ſein, ſchon hier die Grundzüge der Sache ſelbſt aufzuſtellen.

1) Das bürgerliche Verwaltungsrecht des Geſchäftscredits beruht nationalökonomiſch darauf, daß ſtets der Preis des Credits und die Leichtigkeit, denſelben zu erlangen, weſentlich bedingt werden durch die Leichtigkeit und Sicherheit des Verfahrens, durch welches das Vor - handenſein von Schuld und Forderung einerſeits bewieſen, und dieſe, wenn bewieſen, auch eingetrieben werden kann. Darauf beruht einerſeits die geſchichtliche Entwicklung dieſes Theiles des Verwaltungsrechts, an - derſeits ſein Inhalt. Offenbar nämlich kann ein beſonderes Recht für den Geſchäftscredit nur da entſtehen, wo derſelbe nicht mehr als ein Verhältniß vom Einzelnen zum Einzelnen erſcheint, ſondern als eine das geſammte Geſchäftsleben aller umfaſſende Gewalt auftritt, ohne welche niemand, auch wollend, ſeine Geſchäfte betreiben kann, und deren Macht und Conſequenzen auch die größte individuelle Vorſicht ſich nicht mehr zu entziehen vermag. Es darf uns deßhalb nicht wun - dern, daß wir auch erſt in unſerm Jahrhundert von einem eigenen Creditrecht reden, das weder das alte germaniſche noch auch das römiſche Recht kennt, ja deſſen Grundſätze zum Theil mit den einfachen Principien des letzteren in direktem Widerſpruch ſtehen. Dieſe Grund - ſätze aber beziehen ſich, wie geſagt, auf drei Hauptpunkte: die Con - ſtatirung des Schuldverhältniſſes, die Execution der Creditforderung, und die Folgen der Zahlungsunfähigkeit. Daraus entſtehen die drei großen Rechtsverhältniſſe des bürgerlichen Verwaltungsrechts des Geſchäfts - credits. Sie ſind an ſich bekannt, und es handelt ſich nur darum, ſie eben als einen Theil des Verwaltungsrechtes anzuerkennen. Das ſind zuerſt das Recht der Handlungsbücher, beziehungsweiſe ihre Beweiskraft; dann das Wechſelrecht, in welchem einerſeits die Be - weiskraft, anderſeits aber auch die Executivkraft eine vom bürgerlichen Recht weſentlich verſchiedene und zwar nach den Bedürfniſſen des Ge - ſchäftscredits beſtimmte wird; endlich das Ausgleichsverfahren, deſſen tiefgreifender Unterſchied vom Concursverfahren wiederum nur durch das Weſen jenes Credits bedingt wird. Man kann nun und das iſt auch meiſtens der Fall dieſe drei Gebiete als ſelbſtän - dige Rechtsgebiete behandeln, und es verſteht ſich von ſelbſt, daß da - gegen an ſich nichts zu erinnern iſt. Das, worauf es aber hier an - kommt, iſt, daß man ſie als Theile des Verwaltungsrechts aner - kenne, und das Bewußtſein ihres Zuſammenhangs mit dem Ganzen deſſelben nicht verliere. Und hier iſt die Rechtswiſſenſchaft noch weit hinter der Wirklichkeit zurück. Denn nicht nur, daß alle jene Rechts -56 gebiete noch gar keine ſyſtematiſche Stellung haben, vielmehr gleichſam heimathslos in der Luft ſchweben, ſondern es fehlt auch, wir müſſen ſagen gänzlich das Bewußtſein, daß ſie ganz etwas anders enthalten, als eine beſondere Form des Privatrechts. Man weiß nicht, daß ſie in der That diejenigen öffentlich rechtlichen Modificationen des bürgerlichen Rechts enthalten, welche durch das Weſen des Ge - ſchäftscredits als eines Elementes des geſammten volkswirthſchaft - lichen Lebens bedingt werden. Erſt auf dieſer Grundlage erhalten ſie ihre wahre Bedeutung. Sie iſt die Baſis der Exegeſe im Einzelnen und der Auffaſſung im Ganzen, wie aus ihr, und nicht aus den Principien des bürgerlichen Rechts, die Geſetze hervorgegangen ſind, nach denen ſie ſich richten. Erſt wenn man ſie als Theile des Ver - waltungsrechts behandeln wird, werden ſie in ihrem wahren Weſen verſtändlich ſein. Das genauer zu zeigen, iſt die erſte Aufgabe der Lehre von der Organiſation des Geſchäftscredits.

2) Der Zahlungscredit iſt zweitens nicht eine beſondere Art des Credits, ſondern eine beſondere Form ſeiner Benutzung. Es iſt durchaus nothwendig, ſich eine klare Vorſtellung von demſelben und ſeiner Funktion zu verſchaffen, wenn man die richtige Stellung der Verwaltung auch hier beurtheilen will. Was die Zahlung als ſolche betrifft, ſo braucht nicht erſt dargethan zu werden, daß ſie eine Löſung einer Verbindlichkeit durch Münze iſt. Im Geſchäftscredit aber er - ſcheint nun bekanntlich das Verhältniß, daß die Zahlung des Einen beſtändig von der des Andern abhängig iſt; ſtockt die erſte, ſo ſtocken alle auf dieſelben im geſchäftlichen Wege angewieſenen Zahlungen. Nun iſt dabei das Weſentliche, daß dieſer ſpecifiſche Akt der Zahlungen durch das Vorhandenſein von Werthen aller Art nicht erſetzt werden kann, ſo wenig etwa wie das Trinken durch das Eſſen, oder das Hören durch das Sehen. Die Zahlung beruht nicht auf Gütern, ſondern wird nur vollzogen durch Geld. Es kann jemand ein großes Vermögen haben und zahlungsunfähig ſein; es kann jemand zahlungsfähig ſein, und vollſtändig bankerott. Das Zahlen als ſolches erſcheint daher als ein ſpecifiſches Element des Verkehrs, und doch wieder nicht immer gegeben durch das Vorhandenſein von Werthen, obgleich ſie der zu zahlenden Summe vollſtändig entſprechen. Es wird daher eine der großen Aufgaben der Gemeinſchaft der Intereſſen, die Zahlungen möglich zu machen, ſo weit ſie wenigſtens durch Werthe gedeckt ſind, damit nicht die Stockung der Zahlung für alle auf die Zahlung des Einen angewieſenen andern Geſchäfte leiden. Und das dafür beſtimmte Inſtitut iſt die eigentliche Bank. Das Princip alles Bankweſens iſt es daher, den Zahlungscredit zu organiſiren, und die aus57 dieſer Funktion hervorgehenden Rechte bilden das Recht der Banken, das ganz weſentlich verſchieden iſt von dem der Creditinſtitute. Wir haben dieß in eingehender Weiſe, mit ſpecieller Beziehung auf das Bankweſen und das Bankrecht Englands, Frankreichs und Deutſchlands nachgewieſen in dem Jahrbuch für Geſetzkunde und Statiſtik, 1862 (das Bankweſen Europas und die Geſetzgebung S. 113 165), auf welche Darſtellung wir uns auch für den folgenden Begriff berufen müſſen.

So bildet das Bankweſen den zweiten Theil der Organiſation des Credits. Das Papiergeldweſen iſt nur ein Theil deſſelben; und wieder begegnen wir hier der Thatſache, daß man das letztere eben wegen dieſes Zuſammenhanges ſowohl bei der Behandlung des Werth - umlaufes, als bei der der Organiſation des Credits darſtellen kann. Freilich bringt es die Natur der Banken mit ſich, daß es paſſender in das letztere fällt; es iſt nur nothwendig, ſich den Zuſammenhang mit dem Geldweſen klar zu vergegenwärtigen.

3) Der Unternehmungscredit entſteht endlich da, wo die Arbeit im weiteſten Sinne des Werthkapitals eines andern bedarf. Für ſeinen Unterſchied vom Zahlungscredit verweiſen wir auf den oben citirten Aufſatz. Allerdings nun erſcheint erſt im Unternehmungscredit die wahre gewaltige Kraft des Credits; nur er umfaßt alle Lebens - verhältniſſe, und nur durch ihn erfüllt ſich erſt die eigentlich ſociale Bedeutung des Credits. Er hat daher auch ſeinerſeits nicht eben eine einfache Form, ſondern erſcheint in vielen Formen zugleich, und mit Recht bildet er daher auch dasjenige Gebiet, an welches man zunächſt denkt, wenn von der Organiſation des Credits die Rede iſt. Demnach laſſen ſich alle Verhältniſſe, auf welche er ſich bezieht, auf drei große Grundformen zurückführen, die ihrerſeits wieder dem Vereinsweſen an - gehören, und in denen die Aufgabe der Verwaltung daher nicht durch die ſtaatliche Gewalt, ſondern durch die freie Thätigkeit des Staats - bürgerthums vollzogen wird. In der That verſteht man die mächtige Bedeutung des Vereinsweſens überhaupt erſt gerade auf dem Gebiete dieſer Organiſation des Credits; es iſt das ſeine natürliche Heimath und der Hauptbeweis, daß ohne das Vereinsweſen auch die Selbſt - verwaltung nicht auszureichen vermag. Jene Grundformen ſind aber die folgenden.

Die erſte iſt diejenige, welche wir als die eigentlichen Er - werbsgeſellſchaften bezeichnen. Das Weſen jeder Erwerbsgeſell - ſchaft beſteht darin, daß jedes Mitglied einer, durch die Geſellſchaft aufgeſtellten Unternehmung einen gewiſſen Beitrag leiſtet, daß aus dieſem Beitrag ein Capital wird, das allen gehört, und daß endlich58 dieß Capital zur Produktion von Gütern verwendet wird. Durch dieſe Aufgabe, eine Güterproduktion mit dem Geſellſchaftscapital her - vorzurufen, unterſcheidet ſich die eigentliche Erwerbsgeſellſchaft von den übrigen Erwerbsvereinen. Daß die Grundform des Beitrages in der Aktie beſteht, iſt richtig, aber nicht abſolut weſentlich (Kuxe, Com - manditen). Die Einzahlung auf die betreffenden Aktien iſt aber in der That ein Unternehmungscredit, den das Mitglied der Unterneh - mung gibt, und den wir deßhalb auch an einem andern Orte (Syſtem der Volkswirthſchaft S. 217) den induſtriellen Credit genannt haben.

Die zweite Form iſt die, welche wir als die Creditanſtalten oder Creditinſtitute (crédit mobilier) bezeichnen. Hier wird in ganz gleicher Weiſe ein Unternehmungscapital zuſammen gebracht; die Credit - anſtalten aber unterſcheiden ſich weſentlich von den Erwerbsgeſellſchaften dadurch, daß ihr Zweck nicht mehr die Produktion von Gütern, ſon - dern ein Erwerb durch Gewährung von Credit iſt. Dieſer Credit iſt nun allerdings eben ſo gut wie bei der Bank ein Zahlungscredit, aber er iſt das weder nothwendigerweiſe, noch iſt er darauf geſetzlich beſchränkt, wie bei der Bank. Im Gegentheil iſt es eine der Haupt - aufgaben der Creditanſtalten, Unternehmungscredit zu geben, und ſich ſelbſt bei Unternehmungen zu betheiligen. Auf dieſem Moment be - ruht der große, das ganze Recht derſelben beherrſchende Unterſchied zwiſchen Banken und Creditanſtalten, wie das von uns dargelegt iſt; und hier beginnt die Aufgabe der Verwaltungslehre neben der der Na - tionalökonomie.

Die dritte Form endlich iſt die, welche wir in allen ihren verſchie - denen Geſtalten als die der Vorſchußkaſſen oder Volksbanken zu bezeichnen haben. Auch ſie ſind zugleich für Unternehmungs - und Zahlungscredit beſtimmt. Ihre Organiſation kann eine ſehr verſchie - dene ſein. Sie können entweder auf einem Aktiencapital, oder auf einer gegenſeitigen Haftung, oder auf beiden zugleich, oder auf Ein - lagen, oder auf Pfändern beruhen, wonach natürlich die Organe und innere Ordnung weſentlich modificirt erſcheinen. Immer aber iſt die Organiſation des Credits für das vorwiegend perſönliche Ca - pital, während die beiden obigen Formen weſentlich auf dem Vor - handenſein von Gütern und Werthcapital beruhen. Und das iſt es, was ihnen ihre eigentlich ſociale Stellung gibt. Es liegt wohl außer - halb unſrer Aufgabe, dieß hier weiter zu verfolgen. Uns muß es genügen, dieß hochwichtige Gebiet hier charakteriſirt und in ſeine organiſche Stellung zur Organiſation des Credits überhaupt gebracht zu haben. Die weitere Ausführung gehört dann der beſondern Arbeit.

Dieß ſind nun diejenigen Begriffe und Verhältniſſe, welche als59 Aufgabe der Verwaltung dasjenige bilden, was wir den allgemei - nen Theil der wirthſchaftlichen Verwaltungslehre oder der Volkswirthſchaftspflege genannt haben. Es iſt nunmehr wohl klar, daß dieſe Punkte ohne Unterſchied für alle einzelnen Gebiete der Volks - wirthſchaft, für alle Arten des Capitals und der auf daſſelbe gebauten Produktion gleichmäßig wichtig ſind. Es gibt gar keine Art der letzteren, die nicht aller zugleich bedürfte, die nicht in allen zugleich die unabweisbare Bedingung ihrer Sicherung und Entwicklung zu finden hätte. Es iſt daher gänzlich falſch, ſowohl irgend einen dieſer Theile als Theil eines beſondern Gebietes der Volkswirthſchaftspflege zu behandeln, als auch denſelben bloß für ſich, ohne ſeinen organiſchen Zuſammenhang mit allen andern hinzuſtellen. Es iſt eine der Lebens - fragen der ganzen Verwaltungslehre, ſich über dieſen Punkt einig zu ſein. Und wenn dieß auch nicht mit Einemmale erreicht wird, ſo dürfen wir dennoch nicht müde werden, immer und immer darauf zu - rückzukommen, daß in dieſem allgemeinen Theil der wirthſchaftlichen Verwaltung der wahre Kern und Schwerpunkt alles deſſen liegt, was überhaupt die Verwaltungslehre hier zu leiſten hat.

IV. Denn der beſondere Theil der letztern iſt nun auf Grund - lage des Obigen wohl etwas ſehr Einfaches und leicht zur Anerkennung zu bringen. Er beruht ſeinerſeits auf der beſondern Natur der Arten des Capitals, und enthält diejenigen Ordnungen und Maßregeln, welche vermöge dieſer beſondern Natur für die einzelne Art der auf dieſelbe gebauten Unternehmung als Bedingung ihrer ſpeciellen Ent - wicklung erſcheint. Hier gibt es daher nichts Allgemeines mehr, ſondern hier muß die Specialität herrſchen. Und wir begnügen uns daher, nur eben die einzelnen Theile dieſes beſondern Theiles aufzuführen.

Dieſe ſind die Urproduction mit dem Bergrecht, die Landwirth - ſchaft mit dem Landwirthſchaftsrecht, das Forſtweſen mit ſeiner Ver - waltung und ſeiner Geſetzgebung, zu der man die Jagd und Fiſcherei hinzurechnen muß, dann das Gewerbe mit der Gewerbeordnung, die Induſtrie mit dem Fabrikweſen und den Ausſtellungen, der Handel, der das Zollweſen in ſich aufnimmt, und endlich der geiſtige Erwerb mit dem Nachdruck, Privilegien, Muſter - und Markenrecht. Es iſt wohl nicht füglich thunlich, weiter auf dieſe an ſich einfachen Grundbegriffe und ihren Inhalt hier einzugehen. Daß jeder derſelben eine ſelbſtän - dige Behandlung fordert, bedarf keiner Erörterung.

Damit erſcheint nun das Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung gegeben. Und nun wird es erlaubt ſein, zur leichtern Anſchauung daſſelbe noch in der Form eines Schemas beſonders hier anzuhängen.

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V. Einige Bemerkungen zur Geſchichte der Organiſation der wirthſchaftlichen Verwaltung.

Es wird eine der künftigen Aufgaben der Geſchichte der Staats - wiſſenſchaft ſein, die Geſchichte dieſer Organiſation zu ſchreiben. Und dieſe Geſchichte iſt in der That weder eine bloß formelle Schematiſirung der verſchiedenen Aemter und Stellungen, noch auch eine bloß formale Ausfüllung einer Lücke in der Wiſſenſchaft des Staats. Es iſt viel - mehr kein Zweifel, daß die Entwicklung jenes Organismus zunächſt und im Allgemeinen die Entwicklung des ſelbſtändigen Bewußtſeins des Staats von dieſem hochwichtigen Theile ſeiner Verwaltung iſt; dann aber erſcheint dieſelbe andrerſeits wieder in ihrer individuellen Geſtalt in jedem einzelnen Lande; denn ſie iſt eine weſentlich andre in Eng - land, in Frankreich, in Deutſchland, und in den übrigen Theilen Eu - ropas. Es iſt daher eine große und ſchwere Aufgabe, dieſelbe zu be - handeln. Denn hier genügt es nicht mehr, einfach die Thatſachen der Neubildungen aufzuführen, ſondern man muß, ſoll anders dieſe Arbeit einen Werth haben, jene Neugeſtaltungen und Organiſationen auf ihren Grund, das werdende Verſtändniß von den Aufgaben der Ver - waltung, zurückführen.

Dieſe Aufgabe kann aber die vorliegende Arbeit noch nicht löſen. Denn ihre Vorausſetzung iſt eben die Anerkennung des einheitlichen Syſtems der wirthſchaftlichen Verwaltung ſelbſt. So lange dieſe nicht gewonnen iſt, würde jede vorausgehende Bearbeitung faſt auf jedem Punkte mit Kritik und Erklärungen ſo viel zu thun haben, daß der Umfang in keinem Verhältniß zu dem Reſultate ſtehen würde.

Wir glauben daher, uns mit einigen Bemerkungen hier genügen laſſen zu dürfen.

Der Charakter des geſammten Ganges der Entwicklung einer ſelb - ſtändigen Organiſation der Volkswirthſchaftspflege beruht darauf, daß dieſelbe anfangs mit der ſtaatswirthſchaftlichen (finanziellen) Verwaltung im Ganzen, mit der polizeilichen im Einzelnen namentlich örtlich faſt vollſtändig verſchmolzen erſcheint und daher zu einem Bewußtſein ihrer ſelbſtändigen Aufgabe nicht gelangt. Eine eigene Organiſation für die Volkswirthſchaftspflege ergibt es bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nicht. Dann fängt dieſelbe an, allmählig, aber nur ſtück - und theil - weiſe aufzutreten, und zwar namentlich in den Regalien, bei denen nun zugleich die Verwaltung ihren erſten Charakter empfängt. Die Verwaltungsorgane der Regalien ſind faſt ausnahmslos techniſche Beamtete, die nach dem früheren Standpunkt unter der Finanz - verwaltung ſtehen, und in Deutſchland als die Cameralverwaltung62 auftreten. Von einer Einheit aus einem höheren Geſichtspunkte iſt dabei noch keine Rede. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ent - ſtehen jedoch, namentlich durch die phyſiokratiſchen Bewegungen und durch die Polizeiwiſſenſchaft angeregt, einzelne Organe, wie die Landes - ökonomie-Collegien, die jedoch zu keiner großen Entwicklung gedeihen, da auf allen Punkten die obrigkeitlichen Rechte der Grundherrlichkeiten der Thätigkeit ſolcher Behörden entgegen treten. Alle örtliche Volks - wirthſchaftspflege liegt noch in den Händen der letztern.

Erſt als in Frankreich die letzten Reſte dieſer Grundherrlichkeit be - ſeitigt worden, und die Miniſterien als Organiſationsbaſis der voll - ziehenden Gewalt zur Geltung gelangen, ſcheidet ſich die Volkswirth - ſchaftspflege aus der innern Verwaltung heraus, und es entſtehen einzelne Miniſterien für dieſelbe. Allein dieſe Organiſation iſt gleich anfangs eine höchſt unſichere, und iſt es bis zum heutigen Tage geblieben. Man hatte eben keinen Begriff der Volkswirthſchaftspflege als eines Ganzen, und die Grundlage der miniſteriellen Organiſation war daher nicht der Unterſchied des Syſtems in Miniſterien der Volkswirthſchaft und Miniſterien der ſocialen Verwaltung, ſondern man nahm aus der erſten gewiſſe einzelne, an Bedeutung hervorragende Gebiete heraus, gab dieſem ſelbſtändige Miniſterien, und den Reſt faßte man dann un - geſchieden als Miniſterium des Innern zuſammen, ohne ſich weiter viel Rechenſchaft über das wahre Verhältniß abzulegen. Dazu kam, daß man gewiſſe Gebiete nach wie vor dem Finanzminiſterium über - ließ, namentlich diejenigen, bei denen es ſich um Einnahmsquellen des Staats handelte, wie das Poſt - und Münzregal, zum Theil auch das Bergweſen u. a. m. Wo Zweifel entſtanden, half man ſich durch eigene Commiſſionen und Schöpfung eigener Referate, ohne gerade viel nach einem ſelbſtändigen Syſteme zu fragen. Auch ſetzte man die ein - zelnen wirthſchaftlichen Miniſterien oder ſog. Fachminiſterien wohl dem Miniſterium des Innern gegenüber, gewöhnlich mit ziemlich eng - begränzter Competenz, wie die Handelsminiſterien, die Ackerbaumini - ſterien, die Miniſterien für öffentliche Arbeiten; bald verſchmolz man ſie wieder; bald hob man ſie ganz oder zum Theil auf; kurz, man kann nicht im Zweifel ſein, daß hier ein feſtes Princip durchaus fehlt, und auch nicht gefunden werden wird, bis man ſich über das Weſen der Volkswirthſchaft im Verhältniß zur geſellſchaftlichen Verwaltung, und zweitens über Natur und Inhalt der Oberaufſicht einig ſein wird. Die beſte Quelle für das Beſtehende iſt dabei ſtets für jedes Land das Staatshandbuch.

Dagegen iſt ein zweiter hochwichtiger Moment aufgetreten, und dazu beſtimmt, der ganzen Auffaſſung des Organismus eine neue63 Geſtalt zu geben. Das iſt die ſtarke, und von Jahr zu Jahr zunehmende Bedeutung der beiden andern Grundformen der vollziehenden Gewalt, der Selbſtverwaltungskörper und des Vereinsweſens. Mehr und mehr geſtaltet ſich die Sache ſo, daß wir die allgemeinen Maßregeln und Geſetze den Miniſterien, die wirkliche örtliche und beſondere Ausführung deſſelben dagegen den Selbſtverwaltungen und Vereinen anheimfallen und damit die weſentlichſte Funktion der Regierung in der Oberaufſicht über die Thätigkeit jener Organe beſtehen wird. Die Regierung tritt dadurch von Jahr zu Jahr mehr in die Stellung, welche ihr gerade in der Volkswirthſchaftspflege am meiſten zukommt, die leitende, die Einheit herſtellende Organiſation zu ſein, welche die Verwaltung ſelbſt nur da einführt, wo Sonderintereſſen eine Selbſtverwaltung oder ein Vereinsweſen nicht zulaſſen (z. B. Poſt, Münzen u. ſ. w.), während ſie alle Aufgaben der Volkswirthſchaft, welche von den letzteren übernom - men werden können, demſelben mehr und mehr zuweist. Dieſe Bewe - gung iſt erſt im Beginn; aber ſie wird ihr Ziel erreichen. Und um das zu überſehen, muß man allerdings erſt alle einzelne Gebiete der Volkswirthſchaftspflege einmal vorführen, als Grundlage des Verſtänd - niſſes dieſer neuen Ordnung, und als Baſis auch des Syſtems der vollziehenden Gewalt in ſeiner praktiſchen Anwendung.

Unſere Aufgabe wird es daher zunächſt ſein, bei jedem einzelnen Gebiete der Volkswirthſchaftspflege die betreffende Organiſation deſſelben auch in ihrer hiſtoriſchen Entwicklung zu beleuchten; erſt dann läßt ſich ein allgemeines Bild geben, das auch für beſondere Studien einen Werth haben kann.

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Die wirthſchaftliche Verwaltung. (Volkswirthſchaftspflege.) Allgemeiner Theil. Erſtes Gebiet. Die Entwährung.

Stein, die Verwaltungslehre. VII. 5[66][67]

Allgemeiner Theil.

Erſtes Gebiet. Die Verwaltung und das bürgerliche Recht oder die Entwährung.

I. Die allgemeinen Begriffe und Rechtsgrundſätze.

Wir beginnen das weite Gebiet der volkswirthſchaftlichen Verwal - tung mit einem Begriffe, über den man ſich nicht einig iſt, und mit einem Worte, das im Grunde noch keine feſte wiſſenſchaftliche Bedeu - tung hat. Das was dieſer Begriff und dieſes Wort bisher umfaßt haben, iſt nur zum Theil in die Volkswirthſchaftspflege aufgenommen, zum Theil gehört es zu ganz neuen Zweigen der Wiſſenſchaft. Während ferner die Sache ſelbſt, die wir darſtellen werden, eine allgemein be - kannte iſt, iſt das tiefere Weſen derſelben, der Zuſammenhang mit den höchſten Fragen des Staats und der Menſchheit, unſeres Wiſſens bis - her weder von der Philoſophie noch von der Fachwiſſenſchaft irgend einer Art unterſucht worden. Wir haben daher bei einem mächtigen Material das einzelne Gebiet derſelben zu ſeiner höheren Einheit mit den letzten Faktoren des wirklichen Staatslebens zu bringen. Und darum iſt es un - thunlich, die Sache mit einer einfachen Definition abzuthun, die einem formalen Bedürfniß genügen möchte.

Wir können daher es nicht vermeiden, die Entwährungslehre, deren Inhalt wir als erſte Grundlage der wirthſchaftlichen Verwaltungs - lehre anerkennen müſſen, ihrem allgemeinen Weſen nach zu bezeichnen, um ihr das Recht auf ihre Stellung dauernd zu gewinnen.

Zu dem Ende werden wir zunächſt den formalen Begriff der Ent - währung aufſtellen, und dann auf das Weſen derſelben eingehen.

I. Der formale Begriff der Entwährung.

Unter der Entwährung verſtehen wir im Allgemeinen das Recht und das Verfahren des Staats, vermöge deren derſelbe durch ſeine68 Verwaltung ein wohlerworbenes Privatrecht, deſſen Aufhebung als eine unabweisbar gewordene Bedingung der allgemeinen Entwicklung anerkannt iſt, gegen Rückerſtattung ſeines Werthes, oder gegen Ent - ſchädigung und nach geſetzlichen Formen aufhebt.

Die Entwährung iſt daher zunächſt nichts anderes, als eine ſpecielle Anwendung des Begriffes der Verwaltung und ihres Princips auf das erworbene Recht des Einzelnen. Dieſe Anwendung hat, wie jeder Akt der Verwaltung, die allgemein anerkannte Aufgabe, die Bedingungen der Geſammtentwicklung herzuſtellen, die ſich die Einzelnen nicht mit eigner Kraft herſtellen können. Sie darf daher grundſätzlich auch nur da be - ginnen, wo der Verſuch, jene Privatrechte durch freien Vertrag beſeitigen zu wollen, ſich als ergebnißlos bewieſen haben.

Iſt dem nun ſo, muß man wohl fragen, ob dann wirklich die Entwährung bei dieſen einfachen Grundlagen eine größere Bedeutung hat, und daher die Arbeit und Mühe einer allgemeineren Auffaſſung bedürfen wird.

In der That aber tritt uns ſogleich bei der Entwährung ein tiefer Widerſpruch entgegen, deſſen Erwägung uns auf weitere Fragen führt. Die Entwährungslehre läßt nämlich das Eingreifen, die Aufgabe und das Recht der innern Verwaltung auf dem Punkte eintreten, wo auf den erſten Blick die ganze innere Verwaltung aufhören, und die un - beſtrittene Funktion des zweiten Theiles der Verwaltung, die Rechts - pflege, allein eingreifen ſollte. Während in Bevölkerung, Polizei, Ge - ſundheit und Bildung die Verwaltung das individuelle Leben in ſeinen Grundlagen ſchützt und entwickelt, tritt ſie in der Entwährung dem - jenigen direkt entgegen, was ſelbſt als die erſte Grundlage aller perſönlichen Selbſtändigkeit und Entwicklung vom Staate ſelbſt aner - kannt wird, dem individuellen, wohlerworbenen Rechte des Einzelnen, und hebt es da auf, wo ſeine Unverletzlichkeit als die allererſte Bedingung jeder Freiheit und jedes Fortſchrittes anerkannt wird, im perſönlichen Eigenthum. Es iſt kein Zweifel, daß der Staat dieſe Berechtigung haben muß; es iſt aber auch kein Zweifel, daß dieſe Berechtigung im direkten Gegenſatz zum Weſen der ſelbſtändigen Perſönlichkeit ſteht. Und iſt nun der Staat ſelbſt nur die höchſte Form der Perſönlichkeit, tritt er da nicht mit ſich ſelbſt in Widerſpruch, indem er ein Recht auf Entwährung überhaupt anerkennt und fordert? Kann dann überhaupt noch der Begriff und das Weſen der ſelbſtbeſtimmten Perſönlichkeit der Staatswiſſenſchaft zum Grunde gelegt werden, wenn die erſte Forde - rung der Volkswirthſchaftspflege die iſt, durch den Willen des Staats dasjenige aufheben zu dürfen, was die erſte Forderung für den freien Staatsbürger iſt: die Heiligkeit des bürgerlichen Rechts? Und wenn69 dem doch ſo iſt, wie iſt denn jener Widerſpruch zu löſen, deſſen Exiſtenz und deſſen Härte mit keiner formalen Definition der Entwährung verdeckt werden, deſſen ernſte Conſequenz von keiner Verſicherung, daß der Begriff des Staats an ſich jeden Mißbrauch ausſchließe, beſeitigt werden kann?

Offenbar liegt hier eine Frage vor, deren endgültige Erledigung nicht auf dem Wege der gewöhnlichen juriſtiſchen Deduktion gefunden werden kann. Das römiſche Recht, das weſentlich das Privatrecht des bürgerlichen Lebens und Verkehrs iſt, kennt daher weder den Namen, noch den Begriff, noch die Thatſache der Expropriation; es iſt auch gänzlich vergeblich, bei ihr nach Grundſätzen für die Entwährung ſuchen zu wollen. Die Idee derſelben entſteht erſt mit dem ſiebzehnten Jahr - hundert; aber ſie entſteht bei Männern, deren Gedanken unter der Herrſchaft des römiſchen Rechts erzogen, deren Begriffe mit römiſcher Grundlage und mit römiſchen Namen und Formeln umgeben waren. Ihnen war daher der Gedanke der Entziehung des Eigenthums, zu deſſen Vertretung und Vertheidigung ſie als Juriſten berufen waren, ein Räthſel, und gleichſam ein Fremdling in dem ganzen Gebiete ihrer Auffaſſungen. Die meiſten machten es ſich daher mit der Sache be - quem; ſie wieſen die ganze Frage einfach von ſich; von allen großen römiſchen Juriſten, von den Gloſſatoren bis auf den heutigen Tag hat keiner die Entwährung jemals auch nur unterſucht, geſchweige denn zu einer Entſcheidung gebracht. Aber diejenige Seite der Rechtswiſſen - ſchaft, welche über dieſe enge Grenze hinausging, mußte über das, was wir als Entwährung bezeichnen, dennoch zu einem Reſultate kommen. Sie mußten verſuchen, die Aufhebung des Rechts ſelbſt wieder als ein Recht zu begreifen.

Um dazu zu gelangen, war Eine Vorausſetzung nothwendig. Wir müſſen ſie hier erledigen, um zu dem wahren und eigentlichen Begriffe und Weſen der Entwährung gelangen zu können.

Wollte man nämlich jene Aufhebung des Einzelrechts zum Recht machen, ſo war es von Anfang an klar, daß man dafür einen Stand - punkt ſuchen müſſe, der außerhalb des Privatrechts liege, und auf den die Forderungen und Grundſätze des Privatrechts vollkommen unanwendbar ſind. Denn das leuchtete ſchon Hugo Grotius ein, daß es keineswegs genügen könne, einfach die Entwährung in dem Syſtem des deutſchen Privatrechts unterzubringen, wie Beſeler und Gerber es gethan, um ſie auch zu einem wirklichen Privatrecht zu machen; noch weniger, um ihr Weſen zu erklären. Jenen Standpunkt aber fand ſchon die Literatur in dem Begriffe und Recht des Staats. Der Gedankenkreis, der daraus hervorging, und den alle ſpäteren Unter - ſuchungen bis auf den heutigen Tag nicht überſchritten haben, war70 aber ein einfacher. Der Staat iſt die Quelle der formalen Rechtsbildung durch ſeinen Willen, das Geſetz: der Staat iſt die Quelle des Inhalts der Rechtsbildung, indem ſein Wohl die erſte Vorausſetzung des Wohles aller iſt; der Staat iſt daher berufen und berechtigt, zum formalen, gültigen Recht alles dasjenige zu machen, was er vermöge der Anfor - derungen ſeines Wohles zu fordern berechtigt iſt: salus rei publicae suprema lex. Fordert daher der Staat das Eigenthum des Einzelnen im Namen dieſes öffentlichen Wohles, ſo iſt er berechtigt, dieſe Forde - rung durch ſeinen Willen zum geltenden Recht zu machen, und das Einzeleigenthum wirklich zu entziehen. Dieſe Entziehung iſt die Ent - währung, und das durch den Staatswillen geſetzte Recht für das Verfahren bei dieſer Entziehung iſt das Entwährungsrecht. Das Uebrige iſt Sache der adminiſtrativen Zweckmäßigkeit; das Weſen des Entwährungsrechts iſt aber demgemäß nichts als eine ſpecielle Anwen - dung des Staatsbegriffes auf das perſönliche Eigenthum. Das war die Logik, aus welcher das Entwährungsrecht begründet wurde. Sie ſteht, wie geſagt, noch heutigen Tages feſt. Bedürfen wir mehr?

Offenbar aber iſt hier Ein Punkt nicht erledigt. Allerdings kann der Staat nicht beſtehen, ohne einen Theil der Selbſtändigkeit des Einzelnen zum beſtändigen Opfer zu fordern. Jeder Akt der Finanz - verwaltung, jede Steuer, jeder polizeiliche Akt iſt ein ſolches Aufheben der perſönlichen Freiheit durch den Staat. Allein niemals hat man, und mit Recht, darin etwas geſehen, was dem Weſen der Entwährung analog geweſen wäre. Denn was immer der Einzelne an die Verwal - tung leiſtet, leiſtet er zuletzt für ſich ſelber; die Verwaltung verwaltet eben die Geſammtheit der Einzelleiſtungen für die Intereſſen Aller zu - gleich. Bei der Entwährung jedoch handelt es ſich nicht um den Theil des Einzeleigenthums, der als Leiſtung für die Gegenleiſtung des Staats betrachtet werden muß, ſondern um ein Eigenthum, das dem Einzelnen als Einzelnem genommen wird, und für welches er als Einzelner die allgemeine Gegenleiſtung durch die Thätigkeit der Verwaltung nicht empfängt. Hier reicht daher der Begriff und das Recht der öffent - lichen Leiſtung an den Staat nicht aus. Bei allen öffentlichen Leiſtungen gibt der Staat, wenigſtens dem Princip nach, ſo viel zurück, als er empfängt, und daher ſoll jede öffentliche Leiſtung gleichmäßig jeden treffen, wie die Verwaltung ihrerſeits gleichmäßig für jeden da iſt. Bei der Entwährung trifft einen Einzelnen die Pflicht der Leiſtung, und damit ſind die Grundſätze über die öffentlichen Leiſtungen auf ſie nicht anwendbar. Darüber iſt man ſich einig. Geht man aber einen Schritt weiter, ſo iſt die Entwährung auch durch den Staatsbegriff nicht zu erklären. Denn der Staat iſt die perſönliche Einheit der71 Staatsbürger; wie iſt es möglich, daß er ſeine principielle Baſis, das Staatsbürgerthum, in ſeiner materiellen Baſis, dem Einzeleigenthum, angreife? Eben ſo unmöglich iſt die Begründung der Entwährung vom Standpunkt des allgemeinen Nutzens oder Wohles. Das wahre Ziel des letzteren iſt ja doch nicht das Wohl irgend eines dritten, ſondern nur dasjenige gehört dem öffentlichen Wohl, was die Bedingungen aller individuellen Entwicklung herſtellt. Nun iſt die erſte Bedingung der individuellen Entwicklung die Unverletzlichkeit des Einzeleigenthums; wie kann etwas wahrhaft dem allgemeinen Wohle dienen, das damit beginnt, die Grundlage des Einzelwohles zu untergraben? Doch mag man über alle dieſe dialektiſchen Streitfragen denken wie man will, Ein Punkt über - ragt ſie alle und zeigt, daß es unmöglich iſt, aus den Begriffen von Staat, Recht oder öffentlichem Wohle die Entwährung zu begründen. Das iſt die Unmöglichkeit, für das Recht der Entwährung von jenen Be - griffen aus eine Gränze zu finden. Entſpringt die Entwährung aus Staat, Recht oder öffentlichem Wohle, ſo umfaßt ſie alle Rechte des Ein - zelnen, nicht bloß ſein Eigenthum, ſondern auch ſeine Ehre und ſeinen Glauben; es iſt conſequent, daß es möglich ſein muß, das Recht des Staats auf Glaubensänderung auf derſelben Grundlage dialektiſch nach - zuweiſen, wie das auf Entziehung des Einzelvermögens; daß es möglich ſein muß, von dem Einzelnen im Namen des Staats oder des öffent - lichen Wohles einen Makel für ſeine Ehre, ein Eingreifen in die in - timſten Verhältniſſe des perſönlichen Lebens wie in das Eigenthum zu verlangen; vor allem aber, daß die Entſchädigung bei der Enteig - nung nicht von dem Weſen der Entwährung ſelbſt, ſondern von der Er - kenntniß abhange, daß das öffentliche Wohl ſie fordere: das nun will doch niemand behaupten. Hat daher dieſe Entwährung eine Gränze, ſo liegt ſie offenbar nicht in Staat, Recht oder öffentlichem Nutzen, welche ſelbſt nur als Momente an der Entwährung erſcheinen, ſondern ſie muß auf einer weſentlich andern Grundlage entſtehen. Sie iſt in der That weder ein Rechts - noch ein eudämoniſtiſcher Begriff noch ein Element des Staatsbegriffes, ſondern ſie iſt eine geſellſchaftliche Erſchei - nung und ihr Recht iſt ein geſellſchaftliches Recht, und dieß zu zeigen, iſt die Aufgabe des Folgenden.

II. Die Elemente der Bildung des geſellſchaftlichen Rechts überhaupt.

Es muß uns dabei verſtattet ſein, einige leitende Grundſätze aus der Geſellſchaftslehre und ihrer Rechtsbildung hier herauszunehmen, die eingehende Begründung derſelben andern Arbeitern überlaſſend.

Eine Geſellſchaftsordnung iſt diejenige Ordnung der Menſchen,72 durch welche die großen geiſtigen Aufgaben der Menſchheit zur Aufgabe von Gemeinſchaften werden, und dadurch das ganze Leben jedes ein - zelnen Menſchen, der ſich einer ſolchen Aufgabe widmet, mit allen ſeinen Beziehungen den Forderungen derſelben unterordnet. Die Verſchieden - heit der Geſellſchaftsordnungen entſteht nun dadurch, daß in den ver - ſchiedenen Stadien der Entwicklung der Menſchheit das Bewußtſein über Weſen und Inhalt dieſer Aufgaben, ſo wie über die in dem Menſchen liegenden Bedingungen ihrer Erfüllung ſich herausbildet. Die Entwick - lung der Geſellſchaftsordnungen iſt daher an ſich eine unendlich mannich - fache; allein da die erſte Bedingung aller Erreichung der höchſten Zwecke die bewußte und thätige Einheit der Menſchen iſt, ſo werden die Ge - ſellſchaftsordnungen als die Grundformen dieſer Einheit des Menſchen für die höchſten Zwecke erſcheinen. Darnach unterſcheiden wir den Be - griff der Geſchlechterordnung, in welcher dieſe Einheit als die natür - liche der Familie daſteht, die ſtändiſche Ordnung, in welcher ſie durch den bewußten Willen der Berufsgenoſſen erzeugt wird, und die ſtaats - bürgerliche Ordnung, in welcher ſie auf dem freien Willen der ſelb - ſtändigen Individualität beruht. Jede dieſer Ordnungen will immer daſſelbe, aber ſie will es in anderer Weiſe; in der Geſchlechterordnung beruht die Entwicklung auf der Unterordnung des Einzelnen unter das Altershaupt, in der ſtändiſchen Ordnung auf der Unterwerfung unter die Berufsgemeinſchaft, in der ſtaatsbürgerlichen Ordnung auf der freien Hingabe an den ſelbſtgeſetzten Lebenszweck und der Theilnahme an dem freien Verein. Dieſer Grundſatz nun, nach welchem jeder Einzelne in jeder dieſer Ordnung Platz und Aufgabe für ſeine Theilnahme an der höchſten geiſtigen Arbeit der Menſchheit empfängt, bildet demnach das Princip der einzelnen Geſellſchaftsordnung.

Dieſes Princip fordert, daß ſich alle übrigen Lebensverhältniſſe des Einzelnen ihm unterordnen. Es erzeugt daher gemeingültige Sätze für das Leben des Einzelnen, deren Befolgung als Bedingung für die Erreichung der höchſten Zwecke für Alle anerkannt wird. Dieſe Sätze, durch Alle für jeden Einzelnen im Namen jener höchſten Güter gefordert, werden damit zum Recht. Jede Geſellſchaftsordnung bildet ſich daher ihr eigenes Rechtsſyſtem, deſſen Princip die Unterordnung des Lebens des Einzelnen unter die beſtimmte Ordnung der Geſellſchaft und ihre Forderungen iſt. So entſteht das geſellſchaftliche Recht, als die - jenige Summe von Beſchränkungen des Rechts der ſelbſtän - digen Perſönlichkeit, welche nicht mehr durch die Idee des per - ſönlichen Staats, ſondern durch das ſpecielle Princip der einzelnen Geſellſchaftsordnungen gefordert, und als Bedingung ſeiner Verwirk - lichung angeſehen wird.

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Da nun die drei Geſellſchaftsordnungen ein weſentlich verſchiedenes Princip haben, ſo iſt auch das Recht derſelben ein weſentlich ver - ſchiedenes. Und es iſt klar, daß während die Grundſätze des Rechts, die aus dem reinen Begriffe des Staats oder dem der Einzelperſönlich - keit folgen, ewig dieſelben ſein müſſen, der Wechſel des Rechts nur durch den Wechſel des geſellſchaftlichen Princips entſtehen kann. Der Begriff der Geſellſchaft iſt daher die Grundlage aller Rechtsgeſchichte; mithin auch desjenigen Rechts, welches wir als das der Entwährung bezeichnet haben. Dle Elemente dieſer Rechtsbildung aber ſind folgende.

Unter denjenigen Lebensverhältniſſen, für welche die Geſellſchafts - ordnung das geltende Recht bildet, nehmen nun Grundbeſitz und Erwerb die erſten Stellen ein. Eine Geſellſchaftsordnung iſt erſt dann als eine fertige zu betrachten, wenn ſie die Verhältniſſe des Grundbeſitzes und des Erwerbes ihrem Princip gemäß geordnet hat.

Das Rechtsprincip der Geſchlechterordnung für den Grundbeſitz iſt nun das, daß nur das Geſchlecht das Eigenthum des Grundbeſitzes habe, während der Erwerb nur ſo weit als ein ehrenhafter gilt, als er aus dem Grundbeſitz ſtammt. In der Geſchlechterordnung iſt daher jeder, der einem Geſchlechte nicht angehört, unfähig zum Grundbeſitz, und die gewerbliche Arbeit nimmt die Geſchlechterehre. Daher tritt jede Geſchlechterordnung mit der Forderung auf, das Eigenthum jedes nicht zum Geſchlecht Gehörigen entweder aufzuheben oder von dem Ge - ſchlecht abhängig zu machen, die Perſon deſſelben dagegen als das öffentlichen Rechts ledig hinzuſtellen. So erzeugt jede Geſchlechter - ordnung von den Aſſyrern bis zur neueſten Zeit die Begriffe und öffent - lichen Rechtsverhältniſſe des unfreien Beſitzes und der unfreien Perſon.

Das Rechtsprincip der Ständeordnung für den Beſitz iſt dagegen ein doppeltes. Für den Grundbeſitz fordert es, daß er dem Berufe gehöre, und erzeugt dadurch den körperſchaftlichen Grundbeſitz. Für den gewerblichen Beſitz dagegen erkennt es die Berechtigung des Ge - werbes an, wenn auch als untergeordnet unter die geiſtige Arbeit. Das Gewerbe aber kann ohne freies Einzeleigenthum nicht beſtehen. Die Ständeordnung nimmt daher das Einzeleigenthum am Erworbenen in ſein Rechtsſyſtem auf neben dem Geſammteigenthum am körper - ſchaftlichen Beſitz. Sie iſt mithin ein großer Fortſchritt gegenüber der Geſchlechterordnung; aber ſie macht dieſen Erwerb wieder von der Be - rufskörperſchaft abhängig, und erzeugt daher die unfreie Arbeit, als die Herrſchaft der Körperſchaft über die Arbeit des Einzelnen.

Das Rechtsprincip der ſtaatsbürgerlichen Ordnung für den Beſitz iſt dagegen der Ausdruck des allgemeinen Princips derſelben für die74 Verhältniſſe des Eigenthums, die volle Freiheit des individuellen wirthſchaftlichen Beſitzes und Erwerbes. Sie iſt daher die unverſöhn - liche Feindin ſowohl des unfreien Beſitzes, als der unfreien Perſon und der unfreien Arbeit. Ihr Lebensprincip iſt die, durch kein Recht ge - hemmte freie Entwicklung jeder einzelnen Perſönlichkeit.

Auf dieſer Baſis entwickeln ſich nun Begriff und Syſtem des Ent - währungsrechtes.

III. Die Entwährung als ein Rechtsbegriff der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung.

Es iſt nun klar, daß wenn man ſich jene drei großen geſellſchaft - lichen Rechtsprincipien für Beſitz und Erwerb vergegenwärtigt, keine neue Geſellſchaftsordnung entſtehen kann, ohne das Recht der andern aufzuheben. In der That iſt in der Weltgeſchichte das Auftreten einer Geſellſchaftsordnung ſtets ein Kampf auf Leben und Tod nicht bloß mit der andern im Allgemeinen, ſondern ſpeciell mit dem Rechtsſyſtem der - ſelben für die Beſitzes - und Gewerbeordnung. Auf dieſer Thatſache beruht, wie ſchon geſagt, die Geſchichte des Rechts. Allein für uns liegt das entſcheidende Moment doch auf einem noch höhern Punkte. Nicht nämlich die einfache Beſeitigung des beſtehenden Rechts iſt es, um die es ſich bei dem Wechſel der Geſellſchaftsordnungen handelt. Das nämlich iſt das Weſen dieſes Wechſels, daß in ihm das beſtehende Recht nur als die nothwendige Conſequenz, als die praktiſche Voraus - ſetzung und Folge des beſtimmten geſellſchaftlichen Princips auftritt. Keine neue Geſellſchaftsordnung bekämpft die andere im Namen der materiellen Macht, auch nicht im Namen des materiellen Wohlſeins, auch nicht im Namen des abſtrakten Rechtsbegriffs und auch nicht im Namen des Staats und ſeiner Idee. Sondern ſie fordert das Auf - geben der andern Rechts - und Eigenthumsordnung im Namen derjenigen Berechtigung, welche das höhere ſittliche Ideal gegenüber einer beſtehen - den Rechtsordnung gibt, die daſſelbe nicht zur Geltung gelangen läßt. Denn das Rechtsleben, welches jede Geſellſchaftsordnung für ſich und durch ſich erzeugt, geht ihr eben deßhalb niemals aus dem Begriffe des Rechts der Idee der unverletzlichen Perſönlichkeit hervor, ſondern viel - mehr aus den unabweisbaren Forderungen jener höchſten ſittlichen Auf - gabe, deren organiſche Verwirklichung ſie ſelber ſein will. Jede Geſell - ſchaftsordnung ordnet daher das Recht, welches ſie ſelbſt gebildet hat, denjenigen ethiſchen Forderungen unter, um derent - willen ſie dieß Recht erzeugte. Das iſt das höchſte Princip der geſellſchaftlichen Rechtsbildung.

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Jenes höchſte Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung iſt nun die volle Freiheit und Selbſtthätigkeit der einzelnen Perſönlich - keit. Vermöge dieſes Princips fordert ſie nun, daß alles dasjenige geltende Recht, was mit dieſem ihrem höchſten Princip in Widerſpruch ſteht, aufgehoben werde. Sie fordert dieß aber nicht etwa als ein abſtraktes ſittliches Princip; die Lehre von der Verfaſſung zeigt uns vielmehr ein weſentlich anderes Bild. Jede poſitive Verfaſſung iſt nämlich auch ihrerſeits nichts als diejenige Geſtalt des öffentlichen Rechts, welche aus dem höchſten Princip einer beſtimmten Geſellſchaftsordnung hervorgeht; oder, jede Geſellſchaftsordnung hat ihre, durch ſie erzeugte und nur durch ſie verſtändliche Verfaſſung. Dadurch wird der Staat, der an ſich das Organ der perſönlichen Entwicklung überhaupt, als abſtrakter Idee iſt, in der Wirklichkeit vielmehr das Organ für die Vollziehung aller Forderungen der beſtimmten Geſellſchaftsordnung, welche in ihm lebt und ihn erfüllt. Vermöge dieſes Geſetzes werden dann die Forderungen der Geſellſchaft als Willen des Staats zum gel - tenden Recht; ſie heißen Geſetz und Verordnung. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft macht daher ihr Rechtsſyſtem ſo gut zum geltenden Recht, wie die Geſchlechter - und die Ständeordnung es gethan; an ſie ſchließt ſich daher ſo gut wie an dieſe eine reiche, das ganze Leben des Volkes umfaſſende, auf jedem Punkte eingreifende Rechtsbildung und Geſetz - gebung, deren Inhalt es auf jedem Punkte iſt, die Bedingungen ihres höchſten Princips der vollen individuellen Freiheit und Selbſtbeſtimmung zum geltenden Recht zu machen. Und hier iſt nun der Platz, auf welchem die Entwährung ihre Funktion, ihr Princip, ihr Recht, ja ſogar ihr nunmehr leicht verſtändliches Syſtem empfängt, von dem die unten folgende Darſtellung nur die genauere hiſtoriſche und juriſtiſche Aus - führung enthält.

Es bedarf keiner Erklärung, daß das Rechtsprincip der Geſchlechter - und ſtändiſchen Ordnung für Perſon, Beſitz und Arbeit in direktem Widerſpruch mit dem der ſtaatsbürgerlichen Ordnung ſteht. Die erſte und unabweisbarſte Aufgabe der letzteren iſt es daher, dieß Rechts - ſyſtem der beiden andern Geſellſchaftsordnungen, ſo weit es die freie Selbſtthätigkeit des Einzelnen rechtlich hemmt, aufzuheben und eine Ordnung der Perſonen, des Beſitzes und der Arbeit an die Stelle zu ſetzen, deren Princip und Inhalt durch die Geſammtheit derjenigen Bedingungen gebildet werden, welche eben jene ſelbſtändige individuelle Freiheit möglich machen. So entſtehen jene gewaltigen, in das Leben der Völker auf das Tiefſte eingreifenden Maßregeln, die wir gleich bezeichnen werden, und die die Geſchichte mit ganz beſtimmten Namen benannt hat. Allein die Entlaſtungen, die Gewerbefreiheit, die76 Gemeinheitstheilung, die Enteignung, dieſe Maßregeln ſind als bloße Aufhebung des beſtehenden Rechts zwar eine neue geſellſchaftliche Rechts - ordnung von Beſitz und Arbeit, aber noch nicht die Entwährung. Dieſe enthält ihrerſeits ſelbſt wieder eine zweite ganz beſtimmte Seite in jener Rechtsbildung und zwar als eine ſolche, die wiederum aus dem - ſelben Rechtsprincip hervorgeht, das jene Aufhebung fordert.

Da nämlich die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung die Selbſtän - digkeit der Einzelperſönlichkeit an und für ſich will, ſo muß ſie dieſelbe auch da wollen, wo ſie im Namen dieſes ihres höchſten Princips das für die Einzelperſönlichkeit geltende geſellſchaftliche Recht aufhebt. Das nun erſcheint dadurch, daß ſie dieſe Selbſtändigkeit jenem höchſten Grund - ſatze nach überhaupt nur ſo weit beſchränkt, als dieß für ihr Princip unbedingt gefordert wird, und mithin auch in der Aufhebung der Ge - ſchlechter - und Ständeordnung für Perſonen, Beſitz und Arbeit nur ſo weit geht, als dieſe Aufhebung eine unabweisbare Bedingung der freien Einzelentwicklung wird. Die Aufgabe des Rechts der ſtaats - bürgerlichen Geſellſchaft iſt es daher, die Selbſtändigkeit der Einzelnen, deren Recht aufgehoben wird, auch in dieſer Aufhebung ſo weit zu erhalten, als dieß ohne Beſchränkung der Principien jener Ordnung möglich iſt.

So entſteht neben dem Princip der Aufhebung jener Rechte das zweite, das mit jenem untrennbar verbunden iſt, das Princip der Entſchädigung. Die Entſchädigung, deren Weſen und Entwicklung auch hiſtoriſch von Anfang an ganz richtig gefühlt und verſtanden ward, obwohl man ſie nie wiſſenſchaftlich auflöste, beruht auf der Scheidung von Gut und Werth, die nur durch die Grundbegriffe der National - ökonomie möglich iſt. Sie beruht auf dem Grundſatz, daß das Eigen - thum das Recht auf beide Elemente zugleich enthält, und daß daher die Aufhebung des einen dieſer Elemente ſehr wohl möglich iſt, ohne das Recht auf das andere zu beſchränken. Das Recht auf den Werth eines Beſitzes aber iſt, nach dem Weſen des Werthes, niemals ein Widerſpruch mit dem Princip der freien Entwicklung aller Einzelnen und ihrer Arbeit; es iſt vielmehr ſeiner höheren Natur nach das Gebiet der freien Bethätigung des Individuums ſelbſt. Während daher das Rechtsprincip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft das Eigenthum an all den Gütern aufheben kann, deren individueller Beſitz materiell im Widerſpruch mit der freien Thätigkeit der Einzelnen ſteht, kann ſie demſelben Princip gemäß das Eigenthum am Werth nicht aufheben. Sie muß daher, wo ſie jenes beſeitigt, dieſes von dem Gute trennen, und den Werth als ſelbſtändigen dem Berechtigten zurückgeben. Dieſe Zurückgabe des Werthes heißt die Entſchädigung. Und77 diejenige Aufhebung des Einzeleigenthums, welche demgemäß das Eigen - thum an Werthe unverletzt erhält, während ſie das Eigenthumm am Gute im Namen des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft auf - hebt, iſt die Entwährung.

Auf dieſe Weiſe entwickelt ſich der Begriff und Inhalt der Ent - währung als eines, aus dem Weſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts - ordnung folgenden Rechts, mit ſeiner doppelten, ſcheinbar entgegengeſetz - ten Aufgabe, das der Entziehung des Gutes und das der Herausgabe des Werthes, die beide nur die einfachen Conſequenzen jener höchſten Idee der individuellen Entwicklung ſind, nur daß die erſtere durch die allgemeine, die letztere durch die einzelne Entwicklung gefordert wird. Die Entwährung in all ihren Formen liegt daher nicht im Begriffe des öffentlichen Wohles oder des Rechts an ſich, ſondern vielmehr in demjenigen öffentlichen Wohl und Recht, welches aus der ſtaatsbürger - lichen Geſellſchaft hervorgeht. Die andern Geſellſchaftsordnungen kennen ſie gar nicht. Sie erſcheint daher auch mit dem bei weitem größten Theil ihres Inhalts nicht als eine dauernde Aufgabe des Staats, ſondern nur als ein vorübergehender, überhaupt nur einmal mög - licher Proceß der Aufhebung des Rechts und der Beſitzeszuſtände der Geſchlechter - und Ständeordnung, während gerade dieſe Aufgabe die bei weitem wichtigſte der ganzen Entwährung iſt. Ihr Rechtsprincip liegt demnach im Weſen der Geſellſchaft. Es iſt wahr, daß das vielleicht eine Schwierigkeit bildet, daſſelbe zur Anerkennung zu bringen, aber gewiß iſt zugleich, daß auf dieſer Grundlage die beiden andern Fragen, das Syſtem der Entwährung, und das öffentliche Recht derſelben, ſich in höchſt einfacher Weiſe erledigen.

IV. Das Syſtem der Entwährung. Geſellſchaftliche Natur der Grund - entlaſtung, Gemeinheitstheilung, Ablöſung, Enteignung und des Staatsnothrechts.

Das was wir das Syſtem der Entwährung nennen, entſteht nun, indem das obige Princip der Entwährung auf diejenigen geſellſchaft - lichen Rechte Anwendung findet, welche mit dem eben bezeichneten Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im Gegenſatz ſtehen.

Um nun zu dieſem Syſtem zu gelangen, muß vorher eine große, europäiſche Thatſache feſtgeſtellt werden. Es wird keine Schwierigkeit haben, ſie zuzugeſtehen.

Allerdings nämlich ſcheiden ſich wiſſenſchaftlich die drei großen Grundformen der Geſellſchaft: die Geſchlechterordnung, die ſtändiſche und die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſehr beſtimmt von einander, und78 wenn man ſie einmal in ihrer inneren und äußeren Selbſtändigkeit erkannt hat, ſo iſt es nicht wohl möglich, ſie weiter zu vermiſchen oder zu verwechſeln. Allein in der wirklichen Geſchichte der germaniſchen Völker - und Staatenbildung iſt dieſe Scheidung eben nicht vollzogen. Hier tritt uns vielmehr eine andere, allerdings mit dem ganzen Weſen der Geſellſchaft vollſtändig harmonirende Thatſache entgegen. Es iſt die, daß ſich jene drei Ordnungen nicht ausſchließen, ſondern neben und in einander fortbeſtehen können, und zwar ſo, daß ein Theil des Volkslebens der einen, ein anderer Theil deſſelben der zweiten, ja ein dritter Theil der dritten Ordnung angehört. In dieſem gleichzeitigen Beſtehen, in dieſem ſich gegenſeitig Durchdringen liegt eben der Reich - thum der germaniſchen Welt; ohne daſſelbe wäre ſie eben ſo innerlich öde und geſchichtslos, wie die indiſche und chineſiſche. Es iſt aber ſehr einfach, dieſen abſtrakten Satz durch bekannte Thatſachen zu beſtätigen. Der erſte Blick auf die europäiſche Rechtsgeſchichte genügt, um ſich zu überzeugen, daß das Rechtsſyſtem der unfreien Perſonen und das des unfreien Beſitzes in Leibeigenen und unabhängigem Bauernſtand, das Rechtsſyſtem der unfreien Arbeit in Zünften, Innungen und Vor - rechten aller Art ſchon ſeit Jahrhunderten nicht bloß neben einander, ſondern auch neben dem Princip und der theilweiſen Gültigkeit der perſönlichen und wirthſchaftlichen Freiheit beſtanden hat, die erſten beiden der Geſchlechter - und Ständeordnung, das dritte der ſtaatsbürger - lichen Geſellſchaft angehörig. Es iſt eben ſo bekannt, daß gerade in dieſem Nebeneinander der ewig junge Keim der inneren und äußeren Bewegungen und Gegenſätze des Volkslebens gelegen iſt, und daß dieſe nur aus jenem zu verſtehen ſind.

Iſt dem nun ſo, ſo ergibt ſich von ſelbſt, daß das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft die Aufgabe hatte, nicht etwa bloß zu einer abſtrakten Geltung zu gelangen, ſondern ſeine Verwirklichung vielmehr in der Aufhebung desjenigen geltenden Rechtsſyſtemes für Perſonen, Beſitz und Arbeit zu ſuchen, die mit ihm im Widerſpruche ſtanden. Die Aufgabe deſſelben lag daher zuerſt und zunächſt außer - halb der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſelbſt, das iſt in dem weiten und mächtigen Gebiete desjenigen Rechts, das auf der Herrſchaft der Geſchlechter - und Ständeordnung beruhte; und erſt nachdem dieſes Ge - biet dem neuen geſellſchaftlichen Rechtsleben unterworfen, ward es möglich, die Frage zu beantworten, ob und wie weit der Grundſatz der Entwährung auch auf die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſelbſt An - wendung finden könne und ſolle. Auf dieſe Weiſe nun entſteht ein Proceß der Rechtsbildung, vermöge deſſen die Grundſätze der neuen geſellſchaftlichen Ordnung die ganze Rechtsbildung der frühern für79 Perſonen -, Sachen - und Erwerbsrecht umgeſtalten, und alles aufheben, was dem Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft entgegenſteht. Dieſer Proceß hat im Großen und Ganzen reichlich zweihundert Jahre ge - dauert, und wie wir ſehen werden, iſt er noch keineswegs fertig. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft iſt noch nicht zur vollen Geltung ihrer Grundſätze gelangt, obgleich ihr Sieg über die Rechtsſyſteme der frühern Geſellſchaftsordnungen ohne allen Zweifel ein entſchiedener iſt. Und wir müſſen ſagen, daß dieſer Proceß die wahre Rechtsgeſchichte Europas ſeit dem 17. Jahrhundert enthält. Es iſt ein ganz neues Leben von Gedanken und Principien, das ſich namentlich ſeit dem weſtphäliſchen Frieden in Europa Bahn bricht; eine neue Rechtswelt erſcheint, und die ſogenannte deutſche Reichs - und Rechtsgeſchichte erkennt das an, indem ſie inſtinktartig mit der Epoche abſchließt, wo ihre zwar große aber einſeitige Baſis, die germaniſche Geſchlechterordnung und ihr Recht aufhören die Herrſchaft zu beſitzen. Dieſe neue Rechtsgeſchichte des ſtaatsbürgerlichen Rechts iſt aber keineswegs beſtändig die Geſchichte der Entwährung. Es iſt vielmehr feſtzuhalten, daß die Entwährung ihrerſeits nur als ein wenn auch mächtiger und definitiv entſcheidender, ſo doch immer nur als ein beſtimmter Theil innerhalb derſelben vorkommt; und es iſt durchaus nothwendig, die Gränze dieſes Auf - tretens der Entwährung in jener neuen Rechtsbildung nicht bloß äußer - lich, ſondern auch principiell zu bezeichnen.

Dieſe Gränze nun beſteht darin, daß die Entwährung ihrem Be - griffe nach den Grundſatz der Entſchädigung enthält. Die Ent - währung iſt daher nicht die Aufhebung des Geſchlechter - und Stände - rechts überhaupt, ſondern ſie umfaßt nur diejenigen Aufhebungen, welche die Entſchädigung möglich machen, das iſt diejenigen, bei denen die durch das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beſeitigten Rechte einen nachweisbaren wirthſchaftlichen Werth haben. Das nun iſt aber bei jenen Rechten keineswegs immer der Fall. Da - her dann die natürliche Erſcheinung, daß die neue Rechtsbildung, wenn auch in hundert verſchiedenen Arten und Anwendungen, doch immer in zwei großen Grundformen vor ſich geht, die ſtets neben einander laufen. Die eine hebt einfach die beſtehenden geltenden Rechtsordnungen auf, die andere erzeugt dagegen ein Verfahren, welche dieſe Auf - hebung durch Ermittlung des Werthes mit einer geſetzlichen Entſchädi - gung verbindet; und dieſes Verfahren iſt die Entwährung. Die Entwährung bezieht ſich daher auch nur auf einzelne, ganz beſtimmte Gebiete; ſie umfaßt nur einzelne ganz beſtimmte Fälle; ſie erſcheint als ein ganz beſtimmtes eigenthümliches Verfahren, und während daher jene erſte Seite bloß der Geſetzgebung angehört, wird die Entwährung80 dasjenige Gebiet in dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Ordnung über Geſchlechter - und Ständerecht, welches auf Grundlage der Geſetzgebung Aufgabe der inneren Verwaltung wird. Und demnach gehören beide Gebiete, aus demſelben Rechtsprincip entſprungen, natürlich zu - ſammen; die Rechtsgeſchichte hat ſie von demſelben Standpunkt zu be - handeln, und darin wird die wichtigſte Aufgabe für die Zukunft der - ſelben liegen.

Auf dieſer Grundlage nun iſt das Syſtem der Entwährung leicht zu bezeichnen. Es ſteht daſſelbe in der That nicht etwa ſelbſtändig da, ſondern es enthält diejenigen Gebiete der Aufhebung des Geſchlechter - und Ständerechts, bei denen die Entſchädigung möglich und darum nothwendig wird. Deßhalb muß es uns verſtattet ſein, einen Blick auf das ganze Syſtem der neuen Rechtsbildung zu werfen, um für das der Entwährung darin ſeine Stelle und ſeinen Umfang zu finden.

Das leitende Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung gegenüber der Geſchlechterordnung in Beziehung zunächſt auf die Perſon iſt mit einem Worte das der rechtlichen Gleichheit. Der formale Ausdruck dieſes Princips beſteht darin, daß die Verwaltung des Rechts für alle gleich ſein, das iſt, daß alle ohne Unterſchied vor demſelben Gericht des Staats ihr Recht ſuchen ſollen. Damit iſt die Aufhebung der Grundlage des Geſchlechterrechts, des Syſtems der Geſchlechtergerichte, oder der Verſchiedenheit der Competenz je nach der geſellſchaftlichen Stellung ausgeſprochen. Es folgt ferner, daß der Wille der Einzelnen gleich ſei, das iſt, daß kein Einzelner als Einzelner von dem andern Gehorſam zu fordern habe, ſondern daß nur die Gemeinſchaft aller im perſönlichen Staat über den Einzelnen herrſchen dürfe. Der formale Ausdruck dieſes Princips iſt, daß der Einzelne nur dem Geſetze und nicht ſeinem Herrn zu gehorchen habe. Daran ſchließt ſich der dritte Satz, daß der Beſitz als ſolcher ein Recht auf Verwaltung, Gericht und Polizei nicht mehr geben dürfe; damit ward die letzte Grundlage des feudalen Syſtems, die Grundherrlichkeit, die mit dem Geſchlechter - beſitz verbundene Obrigkeit, unmöglich. Alle dieſe Rechte der Geſchlechter haben nun ihrem Weſen nach keinen wirthſchaftlichen Werth; ſie wer - den daher nicht entwährt, ſondern einfach aufgehoben, und zwar mit allen auch wirthſchaftlichen Conſequenzen und Leiſtungen der bisher untergeordneten Klaſſen, da das Recht der herrſchenden auf dieſe nicht ein ſelbſtändiges Privatrecht, ſondern nur die Folge eines Rechts iſt, das an ſich, nach dem Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, über - haupt kein Privatrecht ſein ſoll. Die Geſammtheit dieſer auf - gehobenen Rechte enthält die Herſtellung der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit.

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In Beziehung auf den Beſitz der Geſchlechterordnung tritt dagegen ein weſentlich anderes Verhältniß ein. Dieſer Beſitz iſt nämlich theils unfrei durch die Unterordnung unter die gutsherrliche Obrigkeit, theils aber auch auf Grundlage des Verkehrsrechts in Grund - ſtücken, das ſich aus dem Princip der Geſchlechterordnung ergeben hat, und das ſtatt einer wirthſchaftlichen Gegenleiſtung eine öffentlich recht - liche, ſtatt des Erwerbs in freies Einzeleigenthum ein unfreies Eigen - thum mit bedingtem, von dem Willen des Grundherrn abhängigem Uebergang von einem zum andern ſetzt. Das Princip der ſtaatsbürger - lichen Geſellſchaft will aber die wirthſchaftliche Conſequenz des Weſens der freien Perſönlichkeit, das, der freien Verfügung des Eigenthümers übergebene Beſitzthum. Seine Verwirklichung empfängt dieſes Princip durch die Aufhebung jener wirthſchaftlichen Rechte des bisherigen Grund - herrn. Dieſe nun erſcheint als nothwendig; aber jene Rechte haben einen wirthſchaftlichen Werth; ſie bilden einen Theil des Vermögens des bisherigen Herrn; ſie dürfen daher nicht einſeitig aufgehoben, ſon - dern es muß eine Entſchädigung gegeben, oder ſie müſſen entwährt werden. So entſteht hier der Begriff der Entwährung; und dieſer hat nun drei Grundformen.

Dieſe drei Grundformen bilden ſich nun nicht eben aus dem Weſen der Entwährung, ſondern vielmehr aus der Verſchiedenheit desjenigen, der der Grundherr iſt; und dieſe Verſchiedenheit geht wieder aus den zwei Grundformen der Geſchlechterordnung hervor.

Die erſte und bei weitem mächtigſte Art des Grundherrn iſt nun der eigentliche Grundherr, der Geſchlechteradel mit ſeinem adlichen Grundbeſitz und der mit ihm verbundenen Obrigkeit. Die Herſtellung des Einzeleigenthums iſt hier nicht die Herſtellung eines Beſitzes, ſon - dern die Befreiung der beſtehenden Grundbeſitzungen von der frühern Begränzung in Eigenthum und Verkehr. Dieſe Herſtellung oder Be - freiung iſt nun diejenige Form der Entwährung, welche wir die Grund - entlaſtung nennen.

Die zweite Art des Grundherrn iſt dagegen die alte Geſchlechter - genoſſenſchaft des herrſchenden Bauerngeſchlechts, deren Beſitz die Gemeindeflur iſt. Die Herſtellung des Einzeleigenthums gegenüber dieſer Geſtaltung des Beſitzes der Geſchlechterordnung erſcheint nun in der Herſtellung des Einzeleigenthums an der Stelle des Geſammt - eigenthums. Die Entſchädigung iſt hier in Form und Weſen eine andere. Sie beſteht in der Theilung des Gemeinguts; ſie iſt daher auch eine Entwährung, aber ſie iſt eine Entwährung der Gemeinde, nicht des Gutsherrn; wir nennen ſie daher die Gemeinheitstheilung.

Die dritte Art iſt nun nichts anderes, als eine in höchſt ver -Stein, die Verwaltungslehre. VII. 682ſchiedenen Formen vorkommende Vermiſchung beider Arten der Grund - herren, des Gutsherrn und der Gemeinde. Auch hier handelt es ſich ſtets um die Herſtellung des Einzeleigenthums an der Stelle der be - ſtimmten Form des Geſammtgutes, die in einem gemeinſamen Gebrauche beſteht. Die Entſchädigung tritt ein, aber ſie hat verſchiedene Geſtalt; es iſt eine dritte Art der Entwährung, die wir als die Ablöſungen bezeichnen.

Dieſes ſind die drei Arten der Entwährung, welche das ſtaats - bürgerliche Recht gegenüber dem Geſchlechterrecht erzeugt. Weſentlich anders dagegen verhält ſich das erſtere gegenüber der Ständeordnung.

Die Ständeordnung entwickelt nämlich für das Einzelrecht zwei Grundformen, welche mit dem Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſell - ſchaftsordnung im Widerſpruche ſtehen, und daher von ihr aufgehoben werden. Aber keine derſelben begründet die Möglichkeit einer Entſchä - digung; beide gehören daher der Geſchichte, aber beide gehören nicht der Entwährung. Demnach iſt es nothwendig, ſie hier zu bezeichnen.

Die Ständeordnung erzeugt nämlich zuerſt den ſtändiſchen Beſitz, den man gewöhnlich mit dem Geſchlechterbeſitz verwechſelt, indem man den letzteren fälſchlich den ſtändiſchen Beſitz nennt. In der That aber iſt der ſtändiſche Beſitz nur derjenige, der der ſtändiſchen Berufs - körperſchaft gehört, und daher den Begriff des Einzeleigenthums und Rechts ausſchließt. Dieſe Berufskörperſchaften ſind die Geiſtlichkeit, die Bildungsanſtalten und die gewerblichen Körperſchaften der Zünfte und Innungen. Die Aufhebung des ausſchließlichen Berufsrechts hat zur Folge, daß die Körperſchaften als ſelbſtändige Corporationen ihre Funktionen aufgeben, und dieſe Funktionen als Aufgabe der innern Verwaltung erſcheinen. In dieſer aber tritt das ſtaatsbürgerliche Princip des Einzeleigenthums in der Geſtalt des ſtaatlichen Gehalts auf; der körperſchaftliche Beſitz wird daher aufgehoben und entweder zur Fun - dirung des Gehaltes oder zu andern Verwaltungszwecken verwendet, und dieſe Form des Beſitzes verſchwindet daher, ohne daß ein Einzel - eigenthum aus demſelben hervorgeht. Das Hauptbeiſpiel dafür ſind bekanntlich die Säculariſationen. Es iſt dem Obigen gemäß nun aller - dings kein Zweifel, daß auch dieſe Maßregeln der obigen Rechtsbildung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft angehören; allein es iſt klar, daß ſie keine Entwährung enthalten, weil hier keine Entſchädigung ſtatt - findet. Es tritt daher hier ſo wenig wie in dem folgenden Falle ein ſpecielles Verfahren der Verwaltung ein, ſondern die einfache Geſetz - gebung genügt; und wenn es daher erklärlich iſt, wie Einige, z. B. Biſchof, die Säculariſationen dem Entwährungsrecht wegen des allge - meinen Princips hinzurechnen, ſo iſt es andererſeits wohl klar, daß ſie83 demſelben in Wahrheit nicht angehören. Daſſelbe gilt von dem zweiten Gebiet.

Dieſes nun bezieht ſich auf die freie Arbeit. Es enthält die Her - ſtellung des freien Verkehrs und des freien Erwerbs, das iſt die Durch - führung des Grundſatzes, daß alle Güter die Fähigkeit haben, Einzel - eigenthum zu werden, und daß alle Arten des Erwerbes jedem Ein - zelnen offen ſtehen. Der formelle Ausdruck dieſes Grundſatzes iſt die Gewerbefreiheit, welche die Aufhebung der Erwerbskörperſchaften der Zünfte und Innungen und ihrer ausſchließlichen Berechtigung zum Inhalt haben. Die weitere Ausdehnung deſſelben liegt in der Auf - hebung aller Privilegien und Monopole, die ihrerſeits die Anwendung des Princips der ſtändiſchen Arbeitsordnung auf den Einzelerwerb ſtatt auf ganze Corporationen entfalten. Auch hier iſt ein wirthſchaft - licher Werth an ſich nicht nachgewieſen, ſo weit es ſich dabei um den Einzelnen handelt, der in ſeinem Einzelgeſchäft dadurch nicht afficirt wird; es tritt daher auch keine Entſchädigung ein, und das ganze weite Gebiet der Herſtellung des freien Verkehrs und der freien Arbeit fällt daher nicht unter das Gebiet der Entwährungslehre, ſo tief es auch in den großen Proceß der ſtaatsbürgerlichen Rechtsbildung eingreift.

Das nun ſind die Anwendungen des Princips der Entwährung auf die Reſte der Geſchlechter - und Ständeordnung, die der vollen Ent - wicklung der ſtaatsbürgerlichen Ordnung entgegenſtehen. Und jetzt ent - ſteht die Frage, ob Begriff und Weſen der Entwährung auch auf die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſelbſt Anwendung finden, nachdem ſie der - ſelben zum Siege über die Geſchlechter - und Ständeordnung verholfen haben.

Es iſt nun kein Zweifel, daß dem ſo iſt. Die beiden Formen, in denen die Entwährung auch gegen das ſtaatbürgerliche freie Einzelrecht zur Geltung kommt, ſind die Enteignung (oder Expropriation) und das Staatsnothrecht. Es genüge hier, ſie anzuführen, da wir unten darauf genauer zurückkommen. Sie enthalten beide die Löſung der Frage, unter welchen Bedingungen auch die Aufhebung des Einzel - eigenthums, das eben die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung ſelbſt erſt geſchaffen hat, dadurch zu einem öffentlichen Recht werden kann, daß dieſe Aufhebung ſelbſt wieder als Vorausſetzung des höchſten Princips der letztern, der vollen Entwicklung der freien Perſönlichkeit erſcheint. Der höhere Rechtsgrund der Enteignung liegt aber hier klar genug darin, daß ſie ſelbſt als Conſequenz deſſelben Princips auftritt, aus dem das Einzeleigenthum eben hervorgeht. Denn das letztere iſt erſt hier in ſeinem ganzen Weſen zur Geltung gelangt; das Einzeleigen - thum tritt hier zuerſt auf nicht als ein an und für ſich daſeiendes,84 ſondern als eine nothwendige Conſequenz des Weſens der freien Per - ſönlichkeit, und findet daher auch, eben vermöge des Rechts der Ent - eignung ſeine Gränze da, wo eben jene Idee der freien perſönlichen Entwicklung, die es erzeugt hat, es auch wieder aufhebt, in der Ent - eignung. Dieß nun darzuſtellen iſt die Aufgabe des ſpeciellen Theils. Mit dem Vorhergehenden aber iſt demnach das Syſtem und zugleich die organiſche Stellung der Entwährung überhaupt bezeichnet. Faſſen wir das Ergebniß in Einem Satz zuſammen, ſo ergibt ſich jetzt folgendes.

Die Entwährung iſt derjenige Theil der Bildung des Rechts aus der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, welcher zu ſeiner Vorausſetzung die Entſchädigung des bisher Berechtigten hat, und zwar ſowohl im Verhältniß zu dem Rechtsſyſtem der Geſchlechter - und Ständeordnung, als zu dem der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſelbſt. Ihre Gebiete aber gehören nur der erſten und letzten Ordnung an, weil es nur hier eine Entſchädigung gibt. Dieſelben ſind: die Entwährung des Geſchlechter - rechts in Grundentlaſtung, Gemeinheitstheilung und Ab - löſung, und die Entwährung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in Enteignung und Staatsnothrecht.

Steht nun dieß feſt, ſo iſt es auch nicht mehr ſchwierig, das all - gemeine Recht der Entwährung in Beziehung auf den Staat zu bezeichnen.

V. Das öffentliche Recht der Entwährungen, ſeine ſyſtematiſche Stelle und ſeine Principien.

Auch hier hat es entſcheidenden Werth, den formalen Begriff an die Spitze der Ausführungen zu ſtellen.

Die Entwährung liegt demnach im Weſen der geſellſchaftlichen Rechtsbildung, und iſt ein ganz beſtimmtes Gebiet derſelben. Sie muß aber, wie jeder andere Theil, durch den Willen des Staats zum gel - tenden Recht erhoben werden. Und demgemäß empfängt die Entwährung ihr öffentliches Recht, inſofern ſie mit ihrem Princip und ihrer Ver - wirklichung zum Inhalt der Geſetzgebung und zur Aufgabe der Verwaltung wird.

Das Princip der Entwährung, inſofern es eine Beſchränkung der Grundlage des freien Staatsbürgerthums iſt, kann daher auch nur in demjenigen Willensakt oder Geſetze des Staats ausgeſprochen werden, welcher eben das Staatsbürgerthum ſelbſt geſetzlich als Gruundlage des Staatslebens anerkennt; das iſt das Staatsgrundgeſetz oder die Verfaſſung. Durch die Anerkennung der Entwährung wird daſſelbe damit zu einem allgemeinen verfaſſungsmäßigen Rechte der Staats - bürger.

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Die wirkliche Entwährung iſt jedoch die Anwendung dieſes Grund - geſetzes auf den einzelnen Fall, eine beſtimmte geſellſchaftliche Rechts inſtitution und ein beſtimmtes Gut. Dieſe Anwendung iſt principiell Sache der vollziehenden Gewalt, und geſchieht durch die Verordnung. Jede einzelne, wirkliche Entwährung geſchieht daher nach einem Ver - ordnungsrecht.

Nun kann natürlich das Verfahren der vollziehenden Gewalt ſelbſt wieder Gegenſtand eines Geſetzes ſein, und mithin dem Verordnungs - recht eben nur die Anwendung dieſer geſetzlichen Vorſchriften über das Verfahren in jedem einzelnen Falle überlaſſen ſein. Es iſt auch an ſich möglich, und das iſt eben aus hiſtoriſchen Gründen der wirkliche Gang der Dinge geweſen, daß die Entwährungen der Geſchlechterrechte Entlaſtung, Gemeinheitstheilung und Ablöſung als an ſich vor - übergehende, nur einmal für die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft vor - handene Akte der Verwaltung nothwendige Entwährungen überhaupt nicht in das Staatsgrundgeſetz aufgenommen, ſondern durch ſpecielle nur auf ſie ſelbſt bezügliche, Einzelgeſetze hergeſtellt werden. In dieſem Falle wird es geſchehen, daß die Verfaſſungen ſich um die Geſchlechter - entwährungen überhaupt nicht mehr kümmern und ſie nicht ſpeciell berückſichtigen, ſondern nur den Rechtsgrundſatz der Enteignung auf - nehmen. Alsdann erſcheint das öffentliche Entwährungsrecht in zwei Hauptformen: erſtlich in den Specialgeſetzen für Entlaſtung, Ab - löſung und Gemeinheitstheilung, nebſt den Ausführungsverord - nungen dieſer Entwährungen, die dann zuweilen auch als Geſetze erlaſſen werden; zweitens in dem Enteignungsgeſetz, das in ſeinem Princip in der Verfaſſung anerkannt iſt, aber zu ſeinem Inhalt das geſetzliche Syſtem für das Verfahren der Regierung bei der wirklichen Enteignung hat, während die Enteignungsverordnung alsdann die Anwendung dieſes ſpeciellen Enteignungsgeſetzes auf ein einzelnes Gut nnd ſein Recht enthält.

Darnach ergibt ſich, daß jedes Enteignungsgeſetz im eigentlichen Sinne ein Geſetz für das Verfahren bei der wirklichen Enteignung iſt. Und darnach kann es kein Zweifel ſein, wohin ſowohl die Ent - laſtungen u. ſ. w., als die Enteignungen gehören. Alle Entwährung nämlich erſcheint darnach als Funktion der inneren Verwaltung welche im Namen des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft das Einzeleigenthum gegen Entſchädigung aufhebt.

Aus dieſem Weſen des Entwährungsrechts folgen nun auch die leitenden Principien für ſeinen Inhalt, die für alle fünf Formen der Entwährung geltend und daher in jedem Entwährungsgeſetz enthalten ſein müſſen.

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Man wird dieſelben ſcheiden müſſen in die formalen, auf das Ver - fahren, und in die materiellen, auf das Gut bezüglichen Elemente des öffentlichen Entwährungsrechts.

Die formalen Elemente ſind folgende:

Der erſte Grundſatz iſt der, daß die Entwährung auf einem Ge - ſetze (ſ. oben) beruhe, aber im einzelnen Falle durch eine Verfügung im Namen des Staats ausgeſprochen werden muß, deren Vorausſetzung und Form das Entwährungsgeſetz zu beſtimmen hat, widrigenfalls die Regierung einſeitig durch ihre Verordnungen darüber zu entſcheiden voll - kommen berechtigt iſt.

Der zweite Grundſatz iſt, daß das Verfahren bei der Aufhebung des Eigenthums oder Rechts von dem Verfahren bei der Herausgabe des Werthes, oder das eigentliche Enteignungs - und das Ent - ſchädigungsverfahren ſelbſtändig getrennt werden muß.

Der dritte Grundſatz iſt, daß der auf dieſe Weiſe geſetzlich ge - ordnete Proceß der Entwährung auch nur durch die Organe des Staats ſelber, und nie durch die Betheiligten in Vollzug geſetzt werden darf, da die Entwährung nie für ein Einzelintereſſe, ſondern nur im Namen des ſtaatsbürgerlichen Princips geſchehen ſoll, deſſen Vertreter der Staat iſt. Daher iſt auch das ganze, aus der Entwährung entſtehende Rechts - und Verkehrsverhältniß kein Privatrecht, kein Kauf u. ſ. w. (ſ. unten bei der Enteignung), ſondern ein Theil desjenigen Rechts - gebietes, das wir als das bürgerliche Verwaltungsrecht bezeichnet haben.

Was nun die materiellen Elemente des Entwährungsrechts betrifft, ſo ſind ſie folgende.

Die erſte, auf das Gut als Objekt der Entwährung bezügliche Regel für alle Entwährung liegt im Weſen der innern Verwaltung, nach welchem überhaupt die Thätigkeit des Staats nur da eintreten ſoll, wo die Einzelnen ſich ſelbſt durch eigene Kraft nicht mehr zu helfen vermögen. Das Recht und die Aufgabe der Entwährung durch die Ver - waltung darf daher auch nur da eintreten, wo die Aufhebung des be - treffenden geſellſchaftlichen und wirthſchaftlichen Rechtes ſich als unab - weisbar gewordene, aber dennoch durch die freie Vereinbarung der Einzelnen nicht erreichbare Vorausſetzung irgend eines Geſammt - intereſſes herausgeſtellt hat, oder ſo lange der Staat ſich das betreffende Objekt ſelbſt nicht zu produciren vermag, was bei beweglichen Gütern wohl faſt ausnahmslos der Fall iſt. So lange daher die eigene Pro - duktion ſolcher Güter, oder aber eine freie Vereinbarung über Rechte und unbewegliche Güter möglich iſt, ſoll der Staat mit ſeinem Ent - währungsrechte nicht eintreten. Es muß daher als Rechtsprincip bei87 jeder Entwährung gelten, daß die Verwaltung die freie Vereinbarung zu veranlaſſen und zu befördern hat, bevor ſie zur Entwährung ſchreitet; es folgt freilich, daß ſie dabei die Bedingungen vorſchreiben muß, unter denen die freiwillige Entwährung allein dem Intereſſe genügt, um deſſentwillen ſie vollzogen iſt, und zwar ſowohl in Beziehung auf In - halt und Umfang der zu entwährenden Rechte, als in Beziehung auf die Zeit, in der die Entwährung ſelbſt geſchehen muß. Demgemäß wird man das obige erſte materielle Rechtsprincip aller Entwährung am beſten bezeichnen, indem man ſagt, daß jede vom Staate ausgeſprochene Ent - währung den Charakter und die Stellung einer ſubſidiären Verwal - tungsmaßregel haben muß.

Die zweite große Bedingung aller Entwährung iſt nun die, daß nicht mehr Rechte und Güter der Entwährung unterzogen werden dürfen, als zur Erreichung des Zweckes unbedingt nothwendig iſt. Es iſt klar, daß hierin das Princip der Selbſtändigkeit und Unverletzlichkeit der Perſönlichkeit und ihres bürgerlichen Rechtes zur Erſcheinung kommt. Die Anwendung dieſes Grundſatzes aber tritt in zwei Hauptpunkten auf.

Zuerſt muß der Staat bei jedem Akte der Entwährung das Ob - jekt derſelben genau in Art und Umfang beſtimmen, ſo daß mit dieſer Beſtimmung die Gränze für das an ſich unverletzliche Privatrecht des Einzelnen wieder hergeſtellt wird; denn es gibt keine allgemeine Ent - währung, ſondern nur die eines beſtimmten einzelnen Objektes.

Zweitens aber muß, nachdem das Objekt beſtimmt iſt, von dieſem Entwährungsobjekte auch nur dasjenige Moment aufgehoben werden, das eben dem Geſammtintereſſe wirklich entgegen ſteht. Wo daher die Zwecke der Verwaltung mit der Entwährung Eines Momentes des Gutes, namentlich des zeitweiſen Beſitzes oder des Gebrauches auszu - reichen vermag, da ſoll die Entwährung des Eigenthums nur dann eintreten, wenn der Eigenthümer ſelbſt es fordert, weil die Gränze des entwährten wirthſchaftlichen Moments eine unbeſtimmte (lange Dauer der Occupation, ſtarker Verbrauch) iſt.

Drittens endlich muß das Entſchädigungsverfahren die Entſchä - digung ſo einrichten, daß ſie dem Berechtigten auch wirklich zukommt; ein Grundſatz, der für die Haftung der Behörde für die Entſchädigungs - berechtigten maßgebend iſt.

Viertens endlich muß das Entſchädigungsverfahren vor allen Dingen den Werth und ſeine Feſtſtellung vor den Privatintereſſen ſichern. Darauf beruht Wichtigkeit und Inhalt des Schätzungver - fahrens, das mithin die Grundlage des ganzen Entſchädigungsver - fahrens wird.

Dieß nun ſind die Elemente jedes öffentlichen Entwährungsrechts. 88Bevor wir nun auf dieſer Grundlage zu den einzelnen Entwährungen übergehen, ſcheint es von Wichtigkeit, das geltende Recht der Entwäh - rung in den verſchiedenen Staaten zu charakteriſiren.

VI. Elemente der Geſchichte der Entwährungen. Charakter der Geſetzgebung von Frankreich, England und Dentſchland.

Die eben bezeichnete Natur der Entwährungen hat nun auch die hiſtoriſche Entwicklung deſſelben ſowohl in Theorie als in Geſetzgebung beſtimmt. Es iſt zwar kein Zweifel, daß alle Arten der Entwährung auf demſelben Principe ruhen und daher auch innerlich ein Ganzes bilden; eben ſo gewiß iſt es, daß die Principien für das Verfahren in allen dieſen Arten dieſelben ſind. Allein die höhere Einheit, welche ſie alle umfaßt, iſt doch zuletzt nur das Weſen der ſtaatsbürgerlichen Ge - ſellſchaft, und bei dem Verfahren die Idee und Aufgabe der inneren Verwaltung. Beide Begriffe aber fehlten. Und ſo war es natürlich, daß vermöge des Mangels auf dem erſten Punkte die ganze Entwäh - rungslehre und ihr Recht niemals als ein Ganzes aufgefaßt und nie - mals ſyſtematiſch behandelt worden iſt, während durch den Mangel einer organiſchen Verwaltungslehre alle Gebiete der Entwährung ohne eigentliche Heimath in der Wiſſenſchaft daſtehen. Es iſt auch nicht ein - mal verſucht worden, ihnen ihre rechte Stelle anzuweiſen; und eben ſo wenig haben wir den Verſuch gefunden, ſelbſt in der neueſten Zeit bei den eingehenden Behandlungen des Expropriationsrechts nicht, alle jene Arten unter Einem Geſichtspunkt zuſammen zu faſſen.

Der Charakter der Rechtsbildung für die Entwährung beruht daher darauf, daß jede einzelne Art der Entwährung ihre eigene Geſchichte und ihre eigene Literatur hat. Und es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als bei jedem einzelnen Theile dieſer Geſchichte und Li - teratur ſelbſtändig nachzuholen.

Demnach ſteht wohl die Aufgabe der Verwaltungslehre feſt, jene höhere Einheit in all dieſen ſo eng verwandten, aus derſelben großen Quelle entſpringenden Erſcheinungen feſtzuhalten. Wir haben dieß verſucht, und als nächſten Ausdruck dieſes Grundgedankens den Geſammtnamen der Entwährung aufgeſtellt, der von allen Worten am beſten die beiden Momente, die Entziehung des Eigenthums und die Entſchädi - gung, bezeichnet, und dadurch eben die Entwährung von den übrigen Theilen der ſtaatsbürgerlichen Rechtsbildung unterſcheidet. Daß wir dabei den Ausdruck Enteignung ſtatt der Expropriation gebrauchen, bedarf wohl keiner Motivirung.

Denſelben Charakter, wie die Literatur, hat nun auch die Geſetz -89 gebung; und hier mag es wohl geſtattet ſein, einige Worte hinzuzu - fügen, welche den Ueberblick erleichtern.

Zuerſt mangelt allerdings auch der Geſetzgebung das Bewußtſein, daß alle Formen der Entwährung zuletzt einem und demſelben Princip und der Geſchichte der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gemeinſam ange - hören. Daher finden wir denn auch hier dieſelbe Erſcheinung, daß die Geſetzgebungen über Entlaſtung, Auftheilung und Enteignung ganz un - abhängig und ganz ohne Beziehung auf einander entſtanden ſind und als lauter ſelbſtändige Geſetze daſtehen. Der materielle Grund dafür lag wohl darin, daß allerdings das Entlaſtungs - und Auftheilungs - weſen überhaupt nur einmal auftreten kann, während die Enteignung als ein dauerndes Element des öffentlichen Rechts erſcheint. Und da nun der Proceß, der den Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bedeu - tet, in ſehr verſchiedenen Abſtufungen und Formen auftritt, ſo iſt auch eine formelle Gleichartigkeit der Entwährungsgeſetzgebung weder zu er - warten, noch auch vorhanden. Dennoch iſt die Grundlage für alle Staaten Europas dieſelbe; und daher iſt bei aller formellen Ungleichheit in den Rechtsſätzen eine ſo große Gleichheit, wie vielleicht in gar keinem andern Theile des ganzen Verwaltungsrechts. Es iſt deßhalb ſehr leicht, dieſe gemeinſame Grundlage zu bezeichnen, und auf derſelben die poſitive Geſtalt der Entwährungs-Rechtsbildung zu charakteriſiren.

So wie man zunächſt anerkennt, daß dieſelbe der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in ihrem Kampfe mit der Geſchlechter - und Ständeordnung angehört, ſo erklärt es ſich, weßhalb das ganze römiſche und canoniſche Recht von dem Entwährungsrecht auch nicht einmal eine Vorſtellung haben. Wenn hochbegabte Männer wie Aeneas Syl - vius (De ortu et auctoritate imperii c. 17) die Nothwendigkeit eines ſolchen Rechts ahnen, ſo ſtehen ſie eben damit ſchon hoch über ihrer Zeit. Denn natürlich kann auch in der germaniſchen Welt unter der Herrſchaft der Geſchlechter - und der Ständeordnung von dem Princip oder Inhalt der Entwährung in keiner Richtung die Rede ſein, um ſo weniger, als das römiſche Recht keinen Anſtoß dazu gab. Erſt mit dem 17. Jahrhundert, in dem das Princip der ſtaatsbürgerlichen Ge - ſellſchaft ſeine erſten Strahlen auf die Wiſſenſchaft wirft, entſteht mit der Staatswiſſenſchaft zugleich die Frage, wie ſich denn das Imperium oder Dominium, die Obrigkeit oder das Königthum, nicht bloß zu der Geſetzgebung im Allgemeinen, ſondern ſpeciell auch zum Privatrecht verhalte. Und ſchon hier wird der Grundgedanke ausdrücklich und als etwas ganz unbezweifeltes ausgeſprochen, daß das wahre Bedürfniß des Staats, die necessitas Imperii, das Recht auf Aufhebung auch des Privateigenthums enthalte. Von da an iſt dieß Princip nie90 wieder bezweifelt oder beſtritten worden; es ſteht feſt als eine der großen Forderungen der neuen Ideen des Staats, jedoch natür - lich ohne daß man ſich über die geſellſchaftliche Grundlage Rechenſchaft ablegt. Denn das Entſtehen dieſes Princips iſt in der That zugleich der Beginn des großen Kampfes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft gegen das Geſchlechter - und Ständerecht, und natürlich wendet ſich dieſer Kampf zunächſt dem härteſten Theil des letzteren, der Lage des urſprünglich freien Bauern zu, in dem dunklen Bewußtſein, daß es keinen wahrhaft definitiven geſellſchaftlichen Fortſchritt gebe, ſo lange der Bauernbeſitz und die Perſon der unteren Klaſſen noch in der Geſchlechterabhängig - keit bleibt. Die große Frage nach der Grundentlaſtung wird daher das eigentliche Schlachtfeld zwiſchen der neuen und der alten Rechtsbildung; das was hier geſchieht, überragt ſo ſehr alle andern Gebiete der Entwährung, daß von denſelben neben jener ſo gut als gar keine Rede iſt; in ihr zeichnet ſich daher auch der ganze Entwick - lungsgang des Sieges der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft deutlicher ab, als irgendwo ſonſt, und das Bewußtſein wird allgemein, daß die neue Ordnung des öffentlichen Rechts trotz aller Verfaſſung und aller Frei - heitsprincipien nicht entſchieden iſt, ſo lange die Grundentlaſtung nicht durchgeführt iſt. Dieſe Geſchichte der Grundentlaſtung iſt daher das Hauptgebiet der Entwährungsgeſchichte; an ſie ſchließen ſich die Gemein - heitstheilung und Ablöſung als ſehr untergeordnete Momente an, und die Enteignung, die bereits den vollendeten Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft vorausſetzt, kommt eben deßhalb erſt mit dem neunzehn - ten Jahrhundert zu einer ſelbſtändigen Bedeutung, ohne daß man doch recht ihren Zuſammenhang mit dem Entlaſtungsweſen erkannt hätte. Das ſind die allgemeinſten Grundzüge der Entwicklung dieſes Theiles der europäiſchen Rechtsbildung. Es iſt kaum nöthig, zu wiederholen, daß ſie ohne den Begriff der drei Geſellſchaftsformen gar nicht verſtanden wird, daß ſie aber auch für das Weſen und Princip derſelben vielleicht den bedeutſamſten praktiſchen Beweis bildet, den die Wiſſenſchaft kennt.

Demgemäß wird es nun wohl auch klar ſein, daß der Gang und die Stadien der Bildung des poſitiven Entwährungsrechts wieder in jedem einzelnen Lande in höchſt einfacher und durchſichtiger Weiſe mit dem Gange jener Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zuſammen hängen. Die folgende Darſtellung hat dieß für jedes einzelne Gebiet ſpeciell nachzuweiſen; hier möge nur das allgemeine Bild der Sache Platz finden.

In Frankreich bricht ſich das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſell - ſchaft, von keiner Regierung verſtanden und vertreten, die gewaltſame Bahn in der Revolution, und der ganze Proceß der Entlaſtung drängt ſich daher in die Jahre von 1789 bis 1795 zuſammen. Das Princip91 der Entwährung wird im Allgemeinen bereits in der Décl. des droits anerkannt; die Enteignung tritt, eben weil die Entlaſtung bereits eine fertige Thatſache iſt, dann ſelbſtändig und von ihr geſchieden ſeit 1807 auf, und gipfelt in dem Geſetze von 1841. Die ganze Entlaſtung und Ablöſung iſt in dieſer Zeit im franzöſiſchen Recht bereits überwunden und vergeſſen; es gibt daher in Frankreich weder Entlaſtungs - noch Ab - löſungsgeſetze; nur in der Gemeinheitstheilung, in dem alten Geſchlechter - rechte der vaine pature und des droit de parcours erhält ſich ein ſelb - ſtändiger Reſt des alten Rechts, zuſammenhanglos und unverſtanden daſtehend; das ganze Entwährungsrecht Frankreichs iſt durch dieſen Gang der Dinge zum bloßen Enteignungsrecht des Geſetzes von 1841 geworden.

Weſentlich anders iſt es in England. Hier iſt der Gegenſatz zwiſchen der Geſchlechter - und ſtaatsbürgerlichen Ordnung bei weitem nicht ſo ſcharf ausgedrückt; allein nichts iſt verkehrter, als zu glauben, daß er nicht gleichfalls dort beſteht. Der ganze Charakter des engliſchen Geſchlechterrechts im Verhältniß zum Continent beſteht nämlich darin, daß es zwar eine eben ſo große Unfreiheit des Beſitzes dort gibt, wie im übrigen Europa, allein keine Unfreiheit der Perſon und des Erwerbes. Die Freiheit der letzteren macht daher die Unfreiheit des erſteren ſo erträglich, daß England überhaupt erſt in der Mitte unſeres Jahrhunderts an die Entlaſtung und Gemeinheitstheilung denkt, wäh - rend das Princip des Privatrechts die Idee der Enteignung auch erſt in derſelben Zeit, und zwar nicht als allgemeines Princip der Verfaſ - ſung, wie in Frankreich und Deutſchland, ſondern nur als Ausnahms - geſetz für induſtrielle Unternehmungen erſcheinen läßt. Die Geſetzgebung iſt daher hier ſehr unvollſtändig, und beſteht bloß in dem Entlaſtungs - geſetze 45. Vict. 35 und 9. 10. Vict. 75, und dem ganz ſpeciellen Ent - eignungsgeſetz in der Lands Clauses Act. Von einer theoretiſchen Be - handlung iſt hier keine Rede.

In Deutſchland endlich muß man wieder davon ausgehen, daß hier wie auf allen andern Gebieten zwei Rechtsbildungen neben ein - ander beſtehen und ſich gelegentlich kreuzen und hemmen. Das ſind die des deutſchen Volkes im allgemeinen, und die der einzelnen Staaten im beſondern. Die Bewegung beginnt hier jedoch im 18. Jahrhundert, und zwar mit den erſten, noch ziemlich geſtaltloſen Verſuchen, die Grund - entlaſtungen auf dem Wege freiwilliger Vereinbarung durchzuführen; zugleich wird die Gemeinheitstheilung ſelbſtändig aufgenommen, aber mehr verſuchsweiſe und ohne großen Erfolg; dann tritt aber mit dem Anfang unſeres Jahrhunderts das allgemeine Princip der Entwäh - rung in der Geſetzgebung auf, nur in höchſt verſchiedener Weiſe; denn92 während Preußen und Oeſterreich es in ihren bürgerlichen Geſetzgebungen als geltendes, aber ziemlich unausgeführtes Recht hinſtellen, wird es in den neuen Verfaſſungen ſeit 1818 allmählig zu einem Grundrecht. Aber trotzdem gibt es Jahrzehnte hindurch noch weder ein Grundent - laſtungs - noch ein Enteignungsgeſetz, und deßhalb auch ſo gut als gar keine Jurisprudenz derſelben. Die Ausbildung jenes Entwährungs - princips zu einer vollſtändigen Geſetzgebung erfolgt daher ſtoßweiſe, und höchſt ungleichmäßig in den verſchiedenen Staaten. Es bedarf wohl keiner weiteren Erklärung mehr, weßhalb die großen Revolutionen Frank - reichs ſtets den Anſtoß zur Weiterbildung gaben, und zwar weſentlich auf dem Gebiete des Entlaſtungsweſens, während das Enteignungsweſen vielfach zurückbleibt. Das ganze Entlaſtungsweſen ſchließt ſich demgemäß an die Epoche von 1830 und 1848 und zwar weſentlich als ſpecielle Entlaſtungsgeſetzgebung, während die Ablöſungen immer erſt ſpäter kommen, und die Gemeinheitstheilungen durch das neugeſtaltete Gemeinde - weſen, namentlich ſeit 1848, eine ganz andere Richtung einſchlagen. Ueber dieſen hochwichtigen, ja entſcheidenden Erſcheinungen wird nun die Enteignungsgeſetzgebung faſt ganz vernachläſſigt; nur einige Staaten gelangen zu einer ſolchen; die meiſten aber führen das Princip der Ent - eignung zu einer wirklichen Geſetzgebungnur in ſpecieller Beziehung zu den Eiſenbahnen aus, ſo daß die größten Staaten, Oeſterreich und Preu - ßen, überhaupt noch einer eigentlichen Enteignungsgeſetzgebung entbehren. Dadurch ſind nun auch zwei Gebiete der Literatur entſtanden, die ſich trotz ihrer inneren Verwandtſchaft gegenſeitig gar nicht kennen und berück - ſichtigen, die Literatur der Entlaſtungen und Gemeinheitstheilungen, die ſehr umfangreich und gründlich, und die des Enteignungsrechts, die naturgemäß verhältnißmäßig unbedeutend geblieben iſt. Zu einer einheit - lichen Rechtsbildung iſt man nicht gelangt, eine einheitliche Literatur muß erſt den Gedanken der Gemeinſamkeit dieſer Erſcheinungen erobern.

Auf dieſer Grundlage werden wir nun im beſondern Theil jede einzelne Entwährung in ihrer Geſchichte und Literatur unterſuchen. Das Geſammtergebniß der obigen Bemerkungen aber iſt, daß die Ge - ſchichte des Entwährungsrechtes und ſeiner Bildung daher ein Theil der geſellſchaftlichen Geſchichte Europas iſt ein Standpunkt, der allein eine Verbindung der verſchiedenen Formen und Epochen derſelben zuläßt. Und die Verwaltungslehre, indem ſie dieſelbe in dieſem Sinne auffaßt, wird daher auch den gegenwärtigen Zuſtand des Entlaſtungs - und Ablöſungsweſens nur als einen hiſtori - ſchen Moment, das Recht der Expropriation und der Zwangsenteignung dagegen als einen dauernden Theil des Verwaltungsrechts aufzufaſſen haben.

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II. Die einzelnen Entwährungen.

Die Grundentlaſtung.
I. Der formale Begriff derſelben.

Die Grundentlaſtung bildet nun, dem Obigen zufolge, den erſten und wichtigſten Theil der Entwährung, die erſte große Anwendung des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und damit Anfang und Ende ihres Sieges in den Völkern Europas.

Ihr formaler Begriff iſt zunächſt folgender:

Die Grundentlaſtung iſt dem formalen Begriffe nach diejenige Entwährung, welche die Geſammtheit aller, mit hiſtoriſch beſtimmten einzelnen Grundbeſitzungen verbundenen öffentlichen Rechte aufhebt, indem ſie die Beſitzer für den wirthſchaftlichen Werth dieſer Rechte nach geſetzlich beſtimmten Vorſchriften wenigſtens zum Theil entſchädigt.

Das Grundentlaſtungsrecht enthält ſeinerſeits die Geſammtheit von Beſtimmungen, nach welchen die aufzuhebenden Rechte feſtgeſtellt, und das Entſchädigungsverfahren geordnet wird.

Es iſt daher kein Zweifel, daß das geſammte Grundentlaſtungs - weſen dem öffentlichen, und ſpeciell dem innern Verwaltungsrechte an - gehört. Es iſt eine beſtimmte Anwendung des allgemeinen Entwährungs - rechts des Staats. Allerdings aber iſt es nicht zu verkennen, daß es eine zweifache Natur hat. Es gehört einerſeits der Verwaltung der geſellſchaftlichen Entwicklung an, indem es die öffentliche Stellung der Grundherrlichkeiten beſeitigt, und das gleiche Recht jedes Grundbeſitzes herſtellt. Andererſeits aber gehört es der inneren Verwaltung, indem es jene öffentlichen Rechtszuſtände der Grundherrlichkeiten, welche ein unbeſiegbares Hinderniß für den Einzelnen waren, aufhebt, und da - mit die freie volkswirthſchaftliche Entwicklung Aller möglich macht. Faßt man es in ſeinem Verhältniß zur geſellſchaftlichen Ordnung, ſo gehört es der Geſellſchaftslehre; faßt man es in ſeinem Verhältniß zum Privat - recht des Einzelnen, ſo gehört es der Volkswirthſchaftspflege. Man muß es daher formell als Uebergang beider Gebiete in einander an - ſehen. Wir nun ſtellen es an die Spitze der volkswirthſchaftlichen Ver - waltung, weil es mit dem Element, mit welchem es der Geſellſchafts - lehre angehört, ein nur einmaliges und hiſtoriſches, mit dem jedoch, mit welchem es in der Volkswirthſchaftspflege erſcheint, ein dauerndes und organiſches Moment der Verwaltung iſt.

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Indem wir auf dieſe Weiſe das ganze Entlaſtungsweſen in die Verwaltungslehre aufnehmen, iſt es nunmehr nothwendig, nachdem ſein ſocialer Charakter entwickelt iſt, ſein Verhältniß zum Staat, das iſt ſeinen adminiſtrativen Charakter zu bezeichnen.

Auch dieſer hängt aufs engſte mit dem geſellſchaftlichen Weſen der Entlaſtung zuſammen.

Jede Geſellſchaftsordnung erzeugt neben dem Großen, Glänzenden und Dauernden, das nur ſie hervorbringen kann, zugleich auf Grund - lage des geſellſchaftlichen Intereſſes ihrer Klaſſen die ihr eigenthümliche Geſtalt der geſellſchaftlichen Unfreiheit. Das Weſen dieſer Unfreiheit beſteht in allen Geſellſchaftsordnungen darin, durch eine beſtimmte Form der Vertheilung des Beſitzes dem Recht auf öffentliche Herrſchaft den Charakter des Privatrechts zu verleihen. Das freiheitliche Element kämpft nun gegen eine ſolche Ordnung; und ſo entſteht die große hiſto - riſche Frage, ob überhaupt eine beſtimmte Geſellſchaftsordnung fähig ſei, eine höhere und freiere Geſtaltung aus ihren eigenen Elementen heraus zu erzeugen.

Die Geſellſchaftslehre zeigt nun, daß dieß nur ſo lange möglich iſt, als die Rechte der herrſchenden Klaſſe noch nicht mit Beſitz und Erwerb identificirt worden ſind. Sobald dieß aber eingetreten iſt, ver - liert die betreffende Geſellſchaftsordnung die Fähigkeit, aus ſich ſelber heraus fortſchreiten zu können. Der Fortſchritt zu einer höheren Ge - ſtaltung iſt dann nur dadurch möglich, daß die Gewalt, die über jedem geſellſchaftlichen Intereſſe ſteht, der Staat helfend einſchreitet. Der Organismus, durch den er dieſe ſeine Hilfe vollzieht, iſt die Ver - waltung. Und der Gang dieſer Verwaltung iſt dabei ſtets der, daß zuerſt das abſtrakte Rechtsprincip der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit an - erkannt wird, daß dann einzelne Verwaltungsmaßregeln verſucht werden, und dabei heftige Kämpfe aller Art entſtehen; daß aber der Staat erſt dann den definitiven Sieg über die vorhandene ſociale Unfreiheit gewinnt, wenn er die Beſitz - und Erwerbsverhältniſſe in der Weiſe ordnet, daß ſie der freien individuellen Entwicklung und der Rechtsgleichheit nicht mehr entgegen ſtehen. Das Eingreifen in die wirthſchaftlichen Verhältniſſe und ihr Recht bildet daher ſtets den Schlußpunkt einer jeden großen geſellſchaftlichen Bewegung.

Die Geſchichte Europas zeigt nun, daß die Geſchlechterordnung, die in allen europäiſchen Völkern herrſcht, auf ſich ſelbſt angewieſen, von der urſprünglichen Freiheit und Gleichheit immer tiefer in die Herrſchaft der herrſchenden Klaſſe und die Unfreiheit der Beherrſchten verſinkt. Die höhere Idee des Staats, im Königthum verkörpert, erſcheint daher als das gewaltige Element der Befreiung der beherrſchten Klaſſe der95 Geſchlechterordnung, und die Grundentlaſtung iſt derjenige große, zu - gleich ſociale und wirthſchaftliche Akt des Staats, durch welchen er dieſen Proceß der geſellſchaftlichen Befreiung durch die Herſtellung der wirth - ſchaftlichen abſchließt. Das iſt das Weſen und die hiſtoriſche Stellung der Grundentlaſtung.

Die Grundentlaſtung kann daher niemals als eine für ſich beſtehende Maßregel richtig verſtanden werden. Sie iſt vielmehr ein Glied in einer großen Kette von Kämpfen und Bewegungen, die mit dem Ent - ſtehen der germaniſchen Reiche beginnen, und die ihrerſeits mit der Grundentlaſtung ſelbſt nicht enden. Sie iſt zwar einerſeits die Folge großer theils geiſtiger, theils wirthſchaftlicher Erſcheinungen, aber ſie iſt zugleich die Grundlage neuer geſellſchaftlicher, wirthſchaftlicher und damit öffentlich rechtlicher Ordnungen. Man kann ſie daher für ſich betrachten, und daraus entſteht die poſitive Darſtellung des Grund - entlaſtungsrechts; man kann ſie bloß vom wirthſchaftlichen Geſichts - punkte aus auffaſſen, und damit erſcheint ſie rein als eine Maßregel der Volkswirthſchaftspflege; allein ihre ganze Bedeutung liegt erſt in ihrem inneren und äußeren Zuſammenhang mit jenen Elementen der europäiſchen Geſchichte, und damit zugleich in dem Verſtändniß deſſen, was ſie ihrerſeits, wenn vollendet, zu erzeugen beſtimmt iſt. Und das nun darf man daher auch an die Spitze des Folgenden ſtellen.

Die Grundentlaſtung nämlich bedeutet, wie wir oben entwickelt haben, den hiſtoriſchen Wendepunkt in dem Leben der europäiſchen Völker, in welchem die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung definitiv an die Stelle der Geſchlechterordnung tritt, wie die Gewerbefreiheit den Punkt bezeichnet, auf welchem jene erſtere ſich über die Ständeordnung erhebt. Sie bedeutet ſpeciell in geſellſchaftlichem Sinne die ſtaatsbürger - liche Gleichheit ohne Rückſicht auf den Umfang des Grundbeſitzes; ſie bedeutet volkswirthſchaftlich die Verſchmelzung der Natur des beweg - lichen Kapitals mit dem unbeweglichen, und das Aufheben der Unter - ſchiede, die auf der Scheidung derſelben in Einzel - und Volkswirthſchaft beruhen; ſie bedeutet endlich im öffentlichen Recht das Eintreten der Selbſtverwaltung in die Landgemeinde, mit all ihren großen und be - deutſamen Folgen. Sie iſt daher durch dieſe Momente zwar der Ab - ſchluß Einer Epoche der innern Geſchichte, aber auch der Beginn einer andern, beſſeren und freieren. Sie iſt der entſcheidende Beweis für die Bedeutung und den Werth der Staatsidee, ohne welche jede Geſellſchaftsform durch ihren Beſitz und ihre Intereſſen ſtarr wird. Sie iſt aber endlich, und das iſt nicht ihr letzter Werth, die höchſte An - erkennung des an ſich unverletzlichen perſönlichen Rechts, indem ſie die abſoluten Principien der Entwährung und der von ihr geforderten96 Entſchädigung ſelbſt in dem Gebiete der geſellſchaftlichen Gegenſätze zur Gültigkeit bringt, in denen ohne ſie die geſellſchaftlichen Bewegungen als wilde, allen verderbliche, und von der Unfreiheit zu noch größerer Unfreiheit führende Bürgerkriege auftreten. Sie iſt eben dadurch die Signatur eines wahrhaft lebensfähigen Staates; denn kein Staat iſt fähig, dem dauernden Fortſchritt zu dienen, wenn er ein Recht verletzt, das zu verletzen nicht eine unabweisbare Bedingung ſeine eigenen Exi - ſtenz war. Das iſt dasjenige, was wir neben der formalen Beſtimmung der Grundentlaſtung als die höhere, der Verwaltungslehre angehörende Idee derſelben bezeichnen müſſen. Und auf dieſer Grundlage entſteht die Aufgabe der folgenden Darſtellung.

Dieſe nun wird zuerſt die großen, für ganz Europa gemeinſamen Elemente der Geſchlechterherrſchaft und ihrer Unfreiheit charakteriſiren, nicht um etwas Neues zu ſagen, ſondern um die Grundlage für die geſellſchaftliche Rechtsbildung der einzelnen Culturvölker zu geben, auf der die geſellſchaftliche und legislative Individualität der letzteren in ihrem rechten Lichte erſcheinen kann.

II. Die Geſchichte der Unfreiheit der Geſchlechterordnungen Europa’s in der Grundherrlichkeit. Die Grundverhältniſſe der Befreiung durch die Staatsidee. Der Begriff der Selbſtverwaltung.

Wenn wir es wagen, im Folgenden mit kurzen Zügen die Geſtalt der Unfreiheit der Geſchlechterordnung in der Grundherrlichkeit für die Darſtellung der Entlaſtung voraufzuſenden, ſo iſt dieß nur dadurch möglich, daß wir jede quellenmäßige Begründung im Einzelnen weg - laſſen, und die Kenntniß derſelben auf allen Punkten vorausſetzen. Wir müſſen dabei das Recht in Anſpruch nehmen, daß das Ganze den ungültigen Beweis für das Einzelne darbieten dürfe. Dieß iſt das Verhältniß des Folgenden zur bisherigen Rechtsgeſchichte, die leider noch immer ſtatt nach organiſchem Verſtändniß nur nach Thatſachen und Quellen zu ſuchen verſteht.

Da die Verwaltungslehre endlich ſich nicht auf Deutſchland be - ſchränken ſoll und kann, ſo müſſen wir ſchließlich darauf aufmerkſam machen, daß wir bei dieſer Darſtellung Kategorien aufzuſtellen haben, welche für die europäiſchen und nicht mehr bloß für die deutſchen rechts - geſchichtlichen Verhältniſſe gültig ſind. Wir können daher auch uns nicht an ſtreng deutſche Ausdrücke binden, ſondern müſſen mehr die Sache ſelbſt als die einzelnen oft ſehr zufälligen Geſtaltungen derſelben ins Auge faſſen.

I. Die germaniſche Geſchichte beginnt mit derjenigen Geſtalt der Geſchlechterordnung, welche wir in der Dorf - und Gauverfaſſung finden. 97Ihre Grundlage iſt die Ausſchließlichkeit des Eigenthumsrechts an dem Grund und Boden für die Gemeinde mit periodiſcher Vertheilung an die einzelnen Geſchlechter und dem Geſammteigenthum an der unge - theilten, übrigbleibenden Gemeinde als Dorfmark, der Allmende, der Hutweide; die getheilte Hufe iſt für den Kornbau, die Gemeindeweide für die Viehzucht beſtimmt. Gleich Anfangs aber treten zwei Klaſſen in dieſer erſten Form der Geſchlechterordnung auf, der freie Bauer und die Maſſe der Hörigen, Leute, Laſſen u. ſ. w. Dieſelben haben ſchon damals kein Eigenrecht am Grundbeſitz; der Grundbeſitz iſt aus - ſchließlich in den Händen der Freien, der herrſchenden Klaſſe. So - mit iſt der Grundzug der ganzen germaniſchen Geſellſchaftsordnung der Geſchlechter, die Verſchmelzung des Grundbeſitzes mit Freiheit und Herrſchaft der Klaſſe, bereits mit dem Anfang aller germaniſchen Entwicklung gegeben; und an dieſen Punkt knüpft ſich nun die ganze folgende Geſchichte der inneren Bewegungen der germa - niſchen Völkerſchaften.

Die Völkerwanderung und die damit verbundene Eroberung fügt nämlich dieſen beiden Klaſſen eine dritte hinzu. Das iſt die der Herren. Die Herren entſtehen zum größten Theil aus der Geſammtheit derjenigen, denen die Könige die an die Dorfniederlaſſungen nicht vertheilten Grund - beſitzungen ſchenkten. Dieſe Herren ſind anfangs unter mannigfachen Namen nur Großgrundbeſitzer, jedoch meiſt zugleich die königlichen Heer - führer, welche die freien Bauern zum Kriegsdienſt für den König zwingen. Allmählig werden ſie, namentlich unter den Karolingern, die Stellvertreter des Königs, und mit der Leitung aller öffentlichen An - gelegenheiten im Namen des letzteren betraut. Perſönlich ſind ſie nicht einmal alle freigeboren; ihre Stellung beruht auf dem Königthum an das ſie ſich anſchließen, und auf dem großen Beſitz, den ſie meiſtens als beneficium für die gelobte fides vom Könige innehaben. Sie ſind aber keineswegs allenthalben vorhanden, ſondern meiſt nur da, wo große Domänen zu vergeben waren. Noch iſt von einer Unterdrückung der freien Bauern aus der alten Geſchlechterordnung wenig die Rede. Die alten Bauerndörfer beſtehen in altem Recht neben und zum Theil mitten unter ihnen. Aber ſchon entſteht der Gedanke, daß der Bauer dem Könige unterworfen ſei. An dieſen Gedanken und jene neue Vertheilung des Grundbeſitzes ſchließen ſich nun die bekannten Ereigniſſe des Mittelalters, und ſein im Einzelnen unendlich verworrenes, im Ganzen dagegen höchſt einfaches Rechtsſyſtem.

Sowie nämlich mit der karolingiſchen Dynaſtie das alte Königthum verſchwindet, ſo ſieht jeder der einzelnen Herren ſich als Succeſſor in die Rechte und Beſitzthümer deſſelben an, ſo weit er ſie ſelber beſitzt. Stein, die Verwaltungslehre. VII. 798Es wird jetzt dem freien Bauern gegenüber das, was bis dahin der König geweſen, der Träger und Vertreter der Staatsidee und der In - haber aller ihrer Rechte. Der Dienſt gegen den König hat aufgehört, und die Herrſchaft des Staats iſt die Herrſchaft des Herren. Aber principiell iſt durch denſelben Proceß eigentlich auch der freie Bauer ſouverain geworden, da er doch zuletzt nur unter der Gewalt und dem Recht des Königs ſtand. Mit dem Wegfallen des Königthums ſtehen daher jetzt zwei herrſchende Klaſſen neben einander, zwar mit gleichem Recht, aber mit ſehr verſchiedenen Machtverhältniſſen. Der Kampf zwiſchen beiden um die Herrſchaft war damit unvermeidlich, denn der Staat mit ſeiner Gewalt mangelte, um ihn aufzuhalten. Dieſer Kampf wird nun im 10. und 11. Jahrhundert ziemlich auf dem ganzen Continente ausgekämpft und zwar durch das Fauſt - und Fehderecht. Der Charakter der Epoche des Fehderechts, deſſen Natur man nirgends deutlicher ſieht als in Frankreich (ſ. Stein, franzöſiſche Rechtsgeſchichte, die erſten Abtheilungen) beſteht darin, daß vermöge des Verſchwindens der Staatsidee die Gewalt der Einzelnen gegeneinander zu einem, ſogar poſitiv ausgearbeiteten, Rechtsſyſtem wird. Dieſe Gewalt wird aber nicht bloß als Fehde von einem Grundherrn gegen den andern ausgeübt, ſondern eben ſo ſehr von dem Grundherrn gegen die Glieder der zweiten herrſchenden Klaſſe, die freien Bauern. Sie werden jetzt dem Herrn unterworfen, theils durch phyſiſche Gewalt, theils unterwarfen ſie ſich freiwillig. Die einzelnen freien Bauernhöfe, die ganzen freien Dörfer werden den Herrſchaften incorporirt; aus den beiden Grundformen des Beſitzes, dem Herrnbeſitz und dem alten Geſchlechterbeſitz der freien Bauern, entſteht Eine; der Herr ſtellt ſich im Namen des alten König - thums an die Spitze aller öffentlichen Funktionen und Rechte des Dorfes und Gaues; Gericht, Buße und Polizei werden ſein; und dieſer, durch dieſe Unterwerfung und Einverleibung des alten Geſchlechterbauernthums unter die Herrſchaft und den Herrn entſtehende öffentlich rechtliche Körper iſt nun die Grundherrlichkeit.

Dieſe Grundherrlichkeit, ihrem Weſen nach in ganz Europa gleich, iſt nun aber in ihrem einzelnen Inhalt ſehr verſchieden geſtaltet. Dieß nun beruht zuerſt darauf, daß die ihr unterworfenen Geſellſchafts - gruppen nicht Eine in ihrer Rechtloſigkeit gleiche Maſſe bildete, ſondern wie geſagt, ſelbſt aus einer herrſchenden und beherrſchten Klaſſe beſtand. Form und Inhalt der Unterwerfung unter die Grundherrlichkeit mußte daher je nach den Verhältniſſen ſehr verſchieden erſcheinen. Doch treten natürlich hier ſofort die beiden Elemente alles perſönlichen Lebens, die Perſon und der Beſitz als dasjenige in den Vordergrund, was für jene innere Rechtsgeſtaltung der Grundherrlichkeiten die entſcheidenden99 Kategorien abgibt. Der Grundherr konnte nämlich die Perſon unfrei machen und den Beſitz frei laſſen; er konnte aber auch den Beſitz unfrei machen, während die Perſon frei blieb; er konnte endlich beides zugleich unfrei machen. Es gab daher je nach der inneren Bildungsgeſchichte dieſer kleinen Grundherrlichkeiten in denſelben theils freie Perſonen, theils unfreie, und andererſeits theils freie Grundſtücke, theils un - freie. Ferner war es klar, daß das Maß und die Art der Unfrei - heit, der Umfang der Leiſtungen, die ſie mit ſich brachte, und die Symbole und den Namen, mit denen ſie anerkannt ward, eine faſt un - endliche Verſchiedenheit zuließen. Dabei nun trat alsbald das Geſetz ein, das auch hier über die Geſellſchaftsbildung entſcheidet. Die Unter - ſchiede in der Freiheit der Perſonen wurden alsbald überragt durch die Unterſchiede in der Freiheit des Beſitzes, und wenn man daher dieſe letzten in feſte Kategorien gebracht hat, ſo darf man ſagen, daß man die Grundlagen des inneren Rechtszuſtandes der Grundherrlichkeiten gewonnen hat.

Dieſe Kategorien ſind folgende.

Die bisher freien Geſchlechterhufen erkennen den Grundherrn als den Nachfolger des Königthums im Lehnrecht an, und ſtellen ſich unter ſein Obereigenthum.

Oder der Grundherr gibt dem perſönlich Freien ein Theil ſeines eigenen Grundes und Bodens, bald mit dem Rechte der Erbpacht, bald mit dem der Zeitpacht.

Oder der Grundherr beſitzt den Unfreien auf unfreiem Boden, als eine ihm ſomit unbedingt perſönlich und wirthſchaftlich unterworfene Perſönlichkeit.

Natürlich nun hat jede dieſer Kategorien auch ihre eigenthümlichen Leiſtungen, deren Charakter und Name für die Zukunft von entſchei - dender Bedeutung wird.

Die Kategorie der perſönlich freien Lehnsbauern gibt nur irgend eine ſymboliſche Leiſtung, durch welche die Lehnsherrlichkeit anerkannt wird.

Die Kategorie der Bauern auf überlaſſenem Grunde muß natür - lich Leiſtungen nach Maßgabe des Ueberlaſſungsvertrages leiſten. Dieſe Leiſtungen heißen Frohnden und (die grundherrlichen) Zehnten. Sie ſind urſprünglich beſtimmt von beiden Seiten, und heißen daher die gemeſſenen Frohnden.

Die Kategorie der Unfreien auf unfreiem Grunde hat weder ein perſönliches noch ein wirthſchaftliches Recht. Der Herr beſtimmt ein - ſeitig ihre Leiſtungen. Und ſo entſtehen die ungemeſſenen Frohnden, und anſtatt der gemeſſenen Zehnten die unbegränzte Abgabenpflicht des Leibeigenen (taillable de haut en bas).

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Es iſt nicht thunlich, die einzelnen Gruppen dieſer Leiſtungen hier weiter auszuführen. Das Bild des Ganzen zeigt uns jedoch ſchon hier zwei Grundformen des Grundbeſitzes, den wirthſchaftlich herrſchenden der Herren, und den wirthſchaftlich dienenden der alten Geſchlechter. Schon hier iſt daher der Beſitz und ſeine wirthſchaftliche Organiſation die Baſis der geſellſchaftlichen Herrſchaft der Herren über Bauern und Eigenleute. Die alte zweite Kategorie der herrſchenden Klaſſe, der freie Bauer, iſt verſchwunden; es gibt nur noch Unterſchiede innerhalb der untern Klaſſe: die alte Geſchlechterordnung iſt gebrochen. Alle kleineren Unterſchiede, Namen und Verhältniſſe ordnen ſich dieſer That - ſache unter. Sie bildet das erſte Element der Grundherrlichkeit.

Das zweite große Element derſelben hat nun einen weſentlich andern Charakter. Während das erſte der Geſchlechterordnung ange - hört, ſtammt das zweite aus der ſtändiſchen Ordnung. Es tritt zuerſt auf mit der ſtrengen Scheidung des geiſtlichen Berufs von der übrigen Geſellſchaft, und bildet durch ſeine wirthſchaftliche Baſis den geiſt - lichen Stand. Der geiſtliche Stand hat ſeine Beſitzverhältniſſe in dop - pelter Form. Einmal wird er ſelbſt Grundherr durch ſeinen Grund - beſitz, und ſteht als Grundherr unter all den eben charakteriſirten Ver - hältniſſen. Dann aber fordert er für ſeine Leiſtungen eine Abgabe von allen, die dieſe Leiſtung genießen. Dieſe Abgabe iſt der Zehnte. Der Zehnte iſt daher an und für ſich keine grundherrliche Abgabe; er gehört der ſtändiſchen Geſellſchaft. Er verbindet ſich aber, wie die grundherrlichen Abgaben, gleichfalls mit dem Grundbeſitz, und wie die Funktion der Geiſtlichkeit eine dauernde, allgemeine und gleichartige iſt, ſo fordert die letztere auch den Zehnten als ein der Kirche über - haupt zuſtehendes Recht. Die Frage, wie weit dies der letzteren ge - lungen, dürfen wir hier übergehen. Wohl aber müſſen wir ſein Ver - hältniß zu den grundherrlichen Laſten hier hervorheben. Der Zehnte hat für die letzteren die Bedeutung, daß er zum Maßſtab wird für das, was auch die Grundherren zu fordern haben. Die Arbeits - leiſtungen oder Frohnden entziehen ſich nun zwar dieſer Meſſung durch den Zehnten; allein die Abgaben der zweiten und zum Theil der dritten Klaſſe nehmen vielfach dieß Maß an, mit dem Maße den Namen, und ſo beginnen die Abgaben an die Gutsherren allmählig hauptſächlich als Zehnten aufzutreten. Das hat in der richtigen Be - urtheilung der letzteren viele Verwirrungen hervorgerufen, da man es ſchwer vereinigen konnte, daß dieſelben als urſprünglich ſtändiſche Ab - gabe doch weſentlich unter den grundherrlichen erſcheinen. Das wahre Verhältniß iſt nun wohl klar. Sie ſind, wo ſie als grundherrliche auftreten, niemals neue, ſondern nur Bemeſſung und Formulirung101 alter Abgaben, natürlich oft unter höchſter Bedrückung des Bauern - ſtandes und höchſt ungleichmäßig durchgeführt, aber ihre eigentliche Natur doch niemals verläugnend. Die kirchlichen Zehnten hängen da - gegen mit der Grundherrlichkeit gar nicht zuſammen, und haben ſich daher auch Jahrhunderte lang nach Beſeitigung der letzteren erhalten, wie in England und Holland. Sie ſind daher mit dem Steuerweſen verbunden, und verſchwinden erſt mit deſſen Organiſation, während die Aufhebung der grundherrlichen Leiſtungen auf ganz andern Grün - den beruht. Doch davon unten.

Aus dieſem Eingreifen des ſtändiſchen Rechts entſteht nun aber ein weiteres Element der grundherrlichen Herrſchaft, nämlich das grund - herrliche Gewerberecht, namentlich das Verkehrsrecht mit Getränken und das Produktions - und Verkehrsrecht für das Müllergewerbe. Daran knüpft ſich die Entſtehung der Realgerechtigkeiten und der Bannrechte, in denen das Recht auf gewiſſe Erwerbszweige zum Eigenthum der Grundherren wird. An dieſen Punkt ſchließen ſich zum großen Theil die Ablöſungen an; ſie bilden den Uebergang von den Entlaſtungen zum zweiten Gebiet der Entwährung. Hier aber er - ſcheinen ſie zunächſt als Theil der Grundherrlichkeit; und in Verbin - dung der übrigen Rechte der letzteren mit dieſer Gruppe von Rechten iſt nun der Grundherr faſt der unbedingte wirthſchaftliche Herr aller ſeiner Gutsangehörigen. Das ſteht feſt mit dem 13. Jahrhundert. Aber die Vollendung dieſer herrſchenden Stellung empfängt die Grund - herrlichkeit doch erſt durch das dritte, im Grunde wichtigſte Moment.

Dieſes dritte Moment beſteht nämlich darin, daß nunmehr der Grundherr alle im Weſen des Staats liegenden Aufgaben und Rechte als ſein Recht anſieht, und dieſelben mit ſeinem Grund und Boden untrennbar verbindet. Er iſt der Herr der örtlichen Finanz - wirthſchaft, der Rechtspflege und der Polizei.

Wir nennen nun alle dieſe Rechte, da unter ihnen nur die Rechts - pflege zum klaren Bewußtſein der Zeit kam und daher auch das Ge - richt als Organ derſelben alle dieſe Funktionen ausübte, die grund - herrliche oder Patrimonialgerichtsbarkeit. Erſt mit dieſer grundherrlichen Gerichtsbarkeit erſcheinen Begriff und Inhalt der Grund - herrlichkeit abgeſchloſſen. Die Grundherrlichkeit iſt durch dieß Privat - recht des Herrn auf alle jene Rechte der Verwaltung im weiteren Sinne nicht bloß im Großgrundbeſitz, und die Grundherren ſind ver - möge ihres Beſitzes nicht bloß die geſellſchaftlich herrſchende Klaſſe, ſon - dern die Grundherrlichkeit iſt vielmehr jetzt ein, durch und vermöge des Beſitzes gebildeter und nach Privatrecht erblich gewordener Verwal - tungskörper. Jetzt erſt iſt die geſellſchaftlich herrſchende Klaſſe auch102 die ſtaatlich herrſchende; ſie herrſcht nicht bloß in der Verfaſſung, ſon - dern auch in der Verwaltung, und ſie herrſcht in derſelben nicht bloß vermöge des Beſitzes, ſondern auch vermöge der Idee des Staats und ſeines Rechts, die ſie innerhalb der Grundherrlichkeit vertritt. Jetzt nehmen auch die von ihr von der beherrſchten Klaſſe geforderten Lei - ſtungen einen anderen Charakter an; ſie erſcheinen nicht mehr als bloß wirthſchaftliche, ſondern als öffentlich rechtliche Leiſtungen; der Grund - herr bekommt das Recht, die Angehörigen zu zwingen zu neuen Leiſtungen, die er für wirkliche oder angebliche öffentliche Aufgaben und Funktionen fordert; daß dieſelben dann mit den alten Namen be - legt werden, ändert natürlich dieß Verhältniß nicht; und ſo entſtehen Zehnten und Frohnden, welche für Verwaltungszwecke auferlegt und gefordert werden, wie namentlich Schulzehnten, Wegefrohnden u. ſ. w., die mit dem Grundbeſitz des Herrn an ſich nichts zu thun haben, ſon - dern in der That Naturalſteuern ſind, welche aber der Grundherr als Patrimonialrichter einfordert. Hier iſt der Rechtstitel nicht mehr Lehn oder Hörigkeit, ſondern hier iſt er ſchon die ſtaatliche Gewalt; und damit nimmt die herrſchende Klaſſe jetzt auch die ſtaatliche Idee in ihrer Stellung auf, indem nunmehr der Begriff und Name der ( hohen ) Obrigkeit mit der Stellung der Grundherren identificirt wird. Dieſe Stellung aber empfängt nun dadurch ihren Abſchluß, daß der Grund - herr als perſönlicher Inhaber der Gerichtsbarkeit ſtets der geſetzliche Richter in eigener Sache iſt, und daher der beherrſchten Klaſſe keine Möglichkeit mehr offen bleibt, ſich gegen die Auflagen der Guts - herren oder die Willkür der grundherrlichen Polizei zu ſchützen, da das Gericht dem gehört, den der Bedrückte verklagen ſoll. Das iſt der Höhepunkt der geſellſchaftlichen Unfreiheit, wie ſie durch das Zuſammen - wirken der Sonderintereſſen der Geſchlechter - und Ständeordnung auf dem Lande ſich herausbildet. Aus jenen drei großen Elementen be - ſteht nun der Zuſtand der Gutsherrlichkeiten und der Bauern bis auf die neueſte Zeit. Natürlich hat ſich derſelbe zu dieſer vollſtändigen Herrſchaft der erſteren und Unfreiheit der letzteren wieder allenthalben gleichmäßig, noch auch ohne die heftigſten Kämpfe entwickelt. Ueber - blickt man die Karte des lehnrechtlichen Europas, ſo ſieht man die ver - ſchiedenſten Spielarten der Abhängigkeit, unter den verſchiedenſten Na - men, die jedoch unter oft ganz örtlicher Geltung allgemeine europäiſche Verhältniſſe bedeuten. Eins aber iſt allen dieſen Variationen einer derſelben Thatſache gemein das iſt das Streben der Grundherren, alle drei Klaſſen der alten Geſchlechterordnung in die möglichſt gleiche Unfreiheit hinabzudrücken, und alle mit möglichſt gleicher Härte aus - zubeuten. Und bei völligem Mangel an ſtaatlicher Gewalt und roheſter103 Willkür der Herren keine Hoffnung auf Hülfe! Da verſuchen denn die alten Reſte der freien Bauerngeſchlechter, ſich ſelbſt zu helfen. Sie greifen zu den Waffen. Die Bauernkriege entſtehen, und wälzen ſich wie eine große elementare Erſcheinung über ganz Europa hin. Ihr Er - gebniß aber war vorauszuſehen. Die Bauernkriege waren keine Erhebung des Volkes, ſondern nur ein letzter verzweifelter Kampf der früher herrſchenden Klaſſe der bäuerlichen Geſchlechterordnung, der Freibauern und der Zinsbauern, gegen die neue herrſchende Klaſſe des Adels. Daß die Städter ſich davon frei hielten, iſt bekannt; aber auch die Leibeigenen erſchienen nicht. Dieſer Kampf iſt daher hoffnungslos. Der Bauer unterliegt. Und jetzt hat das Sonderintereſſe der Grundherren keine Gränze mehr. Die große Frage, ob die Geſchlechterordnung durch ihre eigenen Elemente ſich ſelber helfen und ihre Entwicklung zu einer freieren Geſtaltung auf eigener Grundlage ausführen könne, iſt definitiv gelöst; ſie iſt durch den Gang der Geſchichte dazu für unfähig erklärt. Wenn jetzt nicht ein anderer ganz neuer Faktor in die Bewegung hineintritt, ſo iſt der Fortſchritt der Völker für eine beſſere Zukunft unmöglich.

Dieſer Faktor nun, der einzige, der über allen Gewalten und Intereſſen der Geſchlechterordnung erhaben iſt, iſt der Staat, und zwar in der Geſtalt, in der er ſich als ſelbſtändiger über jene Ord - nungen und Bewegungen erhebt als das Königthum mit ſeiner Ver - waltung.

Mit dem Königthum beginnt daher der Proceß einer neuen Rechts - bildung, die allenthalben zu ihrem gleichartigen Inhalt den Kampf gegen jene Unfreiheit hat, wie ſie die Geſchlechterordnung in der an - gegebenen Weiſe aus ſich erzeugt. Dieſe Befreiung der niederen Ge - ſchlechterklaſſe iſt die größte That des Königthums; auf ihr beruht ſeine wahre Macht, denn hier handelt es am meiſten im Geiſte der neuen geſellſchaftlichen Entwicklung, und nie und nirgends hat daſſelbe das Bewußtſein von dieſer ihm eingeborenen Aufgabe ganz verloren.

Allein wie nun die Geſchlechterunfreiheit weder eine plötzlich ent - ſtandene, noch eine in ſich einfach geſtaltete iſt, ſo konnte auch jener Kampf des Königthums, der ſie beſeitigte, nicht mit einem einzigen Akte beendet werden. Um ſo weniger, als das Königthum ſelbſt keines - wegs ein reines war, ſondern vielmehr auf allen Punkten mit der Geſchlechterherrſchaft zuſammenhing. Es hat daher auch nur wenig unmittelbar eingegriffen; es iſt vielmehr die Geſammtheit von höheren ethiſchen, juriſtiſchen und wirthſchaftlichen Elementen des Volkslebens, die wir, um das Königthum kryſtalliſirt, eben den Staat im engeren Sinne als ein ſelbſtändiges perſönliches Leben nennen, und die hier104 mit all ihren verſchiedenartigſten Kräften theils bewußt, theils unbewußt thätig wird. Und dieſe Arbeit iſt eine lange und nach Zeit und Ort ſehr verſchiedene. Es würde eine unabſehbare Aufgabe ſein, ſie hier ganz zu verfolgen. Wir müſſen uns daher entſchließen, hier nur die Fun - damente dieſer Geſchichte aufzuſtellen. Dieſelben haben ihren Werth nicht durch die Vollſtändigkeit im Einzelnen, ſondern dadurch, daß ſie uns das geben, deſſen die Verwaltungslehre in dieſem Gebiete bedarf, ein klares Geſammtbild von der Bewegung, welche die ſtaatsbür - gerliche Freiheit aus der unfreien Geſchlechterordnung erzeugt, und damit das, worauf es hier ankommt, die Beſtimmung der Stellung, welche ſpeciell die Grundentlaſtung als eine beſtimmte Stufe in dieſer großen hiſtoriſchen Entwicklung einnimmt.

Man kann nämlich dieſe vielleicht größte, wenn auch faſt vol - lendete Arbeit der inneren Verwaltung in vier Hauptmomente theilen.

Das erſte, was das Königthum braucht, um jene Unfreiheit zu brechen, iſt ein ſelbſtändiger, das iſt nicht mehr innerhalb der Ge - ſchlechterordnung und ihres Rechtsſyſtems ſtehender Rechtstitel für ſein Eingreifen in Verhältniſſe, welche ihrerſeits die ganze Geſtalt des Ge - ſchlechterrechts ausfüllen.

Das zweite, was ſich daran anſchließt, iſt die Aktion, welche auf Grundlage dieſes Rechtstitels nun auch wirklich auf dem Wege der entſtehenden inneren Verwaltung in die unfreie Ordnung hineingreift, und ſie durch Geſetzgebung, durch Gericht und Polizei wirklich um - geſtaltet.

Das dritte iſt dann die ſelbſtändige Bewegung des jungen Staats - bürgerthums, das theils durch das bei der herrſchenden Klaſſe ent - ſtehende Verſtändniß der nothwendigen Bedürfniſſe des Volkes, theils durch die Wiſſenſchaft des Rechts, des Güterlebens und ſelbſt der Staats - wirthſchaft die bereits erſchütterte unfreie Ordnung der Geſchlechter innerlich angreift, und ſie im Geiſte des Volkes als unhaltbar und mit den höchſten Intereſſen deſſelben im Widerſpruche ſtehend, ſo lange und ſo vielſeitig darſtellt, bis ſie in ihren einzelnen Punkten unhalt - bar wird.

Wenn das geſchehen iſt, ſo erſcheint der vierte Theil des Proceſſes, die wirkliche Grundentlaſtung. Dieſe hat ihrerſeits ſtets zwei Stadien. Das erſte iſt die freie, die durch freies Uebereinkommen der Betheiligten ſtattfindet, aber der Regel nach nur in ſehr beſchränktem Maße zur Ausführung gelangt. Der Grund, weßhalb ſie ſo geringe Bedeutung hat, liegt im Weſen der Sache; denn die Grundentlaſtung ſoll die ganze ſtaatsbürgerliche Freiheit herſtellen, während die freie Abfindung ſich nur auf die wirthſchaftlichen Verhältniſſe, und noch dazu in105 ungenügender Weiſe bezieht. Erſt das zweite Stadium, die geſetzliche und eigentliche Grundentlaſtung vollendet den Befreiungsproceß der Ge - ſchlechterordnung. Sie iſt der Abſchluß der erſten großen Epoche, und ſomit der Beginn der zweiten; und dieſe zweite darf hier charakteriſirt werden, weil man ſie noch zu vielfach in ihrer Bedeutung nicht anerkannt hat.

In der That ſind nämlich alle jene vier Momente oder Stadien der Auflöſung der Geſchlechterherrſchaft mit ihrem Abſchluß in der Grundentlaſtung nur negativer Natur. Sie beſeitigen Uebelſtände und Unfreiheiten. Sie ſind eben deßhalb nur die Vorbereitung einer neuen poſitiven Ordnung; und dieſe nun iſt es, welche man als das wahre und höhere Ziel jener ganzen Bewegung ins Auge faſſen muß.

Im Allgemeinen iſt es kein Zweifel, daß das Ergebniß dieſer Be - wegung im poſitiven Sinne die Herſtellung der ſtaatsbürgerlichen Ord - nung an der Stelle der Geſchlechterordnung iſt. Es iſt dieſelbe der Proceß, durch welchen die erſtere, die innerhalb des Gebietes und der Heimath des beweglichen Capitals und der geiſtigen Güter ſich als Berufs - und Gewerbefreiheit Bahn bricht, nunmehr auch auf dem Ge - biete des unbeweglichen Capitals, des Grundbeſitzes, zur völligen Herr - ſchaft gelangt. Denn jede Geſellſchaftsordnung iſt erſt dann eine fertige, wenn ſie das Recht des Grundbeſitzes nach ihren Principien geordnet hat. Nun beſtand das Grundrecht der Geſchlechterordnung eben in der Grundherrlichkeit, das iſt das Eigenthumsrecht des Grundherrn an den öffentlichen Rechten und Funktionen des Staats. Indem nun die Grundentlaſtung dieſes Eigenthumsrecht aufhebt, fällt die öffentliche Funktion in Finanzen, Rechtspflege und Innerem wieder an den Staat zurück. Und damit iſt denn das unmittelbare Verhältniß der ländlichen Gemeinde zum Staat in Verfaſſung und Verwaltung hergeſtellt; die alte grundherrliche Gemeinde iſt jetzt eine Verwaltungs - gemeinde geworden.

So wie das feſtſteht, tritt nun die weitere für das geſammte Staatsleben entſcheidende Folge ein. Die Gemeinde iſt jetzt ein organi - ſcher Theil der vollziehenden Gewalt geworden, während unter der Grundherrlichkeit dieſe örtliche vollziehende Gewalt ein Eigenthumsrecht des Grundherrn war. Die Ordnung und das innere Recht der Ge - meinde, bis dahin geſetzt und abhängig durch die hiſtoriſche Entwicklung der Geſchlechterherrſchaft, werden mithin jetzt beſtimmt durch den allge - meinen Charakter des öffentlichen Rechts im Staat. Nun haben wir in der Lehre von der vollziehenden Gewalt gezeigt, daß die Gemeinde ihrem Weſen nach das Organ der örtlichen Selbſtverwaltung iſt, und was dieſelbe bedeutet. Es iſt klar, daß unter der Grundherrlichkeit keine freie Selbſtverwaltung möglich iſt. So wie dagegen die Grund -106 entlaſtung dieſe Grundherrlichkeit aufhebt, tritt die Möglichkeit der Selbſtverwaltung für die Gemeinde ein; erſt mit der Grundent - laſtung iſt die Möglichkeit einer freien Landgemeindeord - nung gegeben. Das iſt das Element in der Grundentlaſtung, welches der Zukunft angehört. Sie iſt keine Landgemeindeordnung, aber ſie muß eine ſolche erzeugen. Alle Landgemeindeordnungen vor der definitiv durchgeführten Grundentlaſtung ſind nothwendig unvollkommen und keine wahre Gemeindeordnungen; ſie können die Selbſtverwaltung vor - bereiten, aber dieſelbe geben, können ſie nicht. Die Grundentlaſtung ihrerſeits macht daher zunächſt eine neue, ſelbſtändige Landgemeindeord - nung überhaupt nothwendig; der Charakter dieſer Landgemeindeordnungen aber, von der Geſchlechterordnung unberührt, wird dann zum Aus - druck des Princips, welches in jedem einzelnen Staat für die Aner - kennung und Ausbildung der Selbſtverwaltung überhaupt gilt. Und ſo kann man ſagen, daß erſt die Grundentlaſtung die vollſtändige Entwicklung und Geltung der eigenen und eigentlichen Natur jedes Staats bedingt; ſo lange ſie nicht vollſtändig und rein durchgeführt iſt, ſteht noch immer das grundherrliche Recht zwiſchen dem Staat und demjenigen Gemeindeleben, auf welchem er ſelbſt beruht, ſo lange gibt es noch immer zwei Grundformen der Gemeinde, die Stadt - und die Landgemeinde, die darin ſo weſentlich verſchieden ſind, weil die erſte der ſtaatsbürgerlichen, die zweite der Geſchlechterordnung angehört. Nach der Grundentlaſtung zerfällt dieſer Unterſchied, und damit tritt für die ganze Selbſtverwaltung des Staats die Frage ein, ob die Natur derſelben, und wie weit ſie die Selbſtverwaltung überhaupt zulaſſen, zu erzeugen und zu ertragen vermag. Und ſo wird der Zeitpunkt der Grundentlaſtung der entſcheidende Zeitpunkt für die geſammte innere Entwicklung des Staats. Es iſt unmöglich, ſich darüber zu täuſchen. Und es iſt daher für jede allgemeinere Auffaſſung nicht möglich, bei der Grundentlaſtung als ſolcher ſtehen zn bleiben, oder ſie vom bloß land - wirthſchaftlichen oder rein juriſtiſchen Geſichtspunkt aufzufaſſen. Sie iſt vielmehr gerade im obigen Sinne ein Stück der inneren Entwicklungs - geſchichte des Staatslebens überhaupt, und ihre wahre Bedeutung liegt damit weſentlich in ihrem Verhältniß zu der von ihr erzeugten, auf ihr beruhenden Selbſtverwaltung der Landgemeinde.

Iſt dem nun ſo, ſo ergibt ſich der dritte Geſichtspunkt für die höhere Auffaſſung der Grundentlaſtung. Derſelbe läßt ſich jetzt ſehr ſehr kurz bezeichnen. Während jener Proceß, deſſen Schlußpunkt die Grundentlaſtung iſt, in allen europäiſchen Staaten bei großer äußerer Verſchiedenheit innerlich gleichartig erſcheint, iſt die Folge derſelben, die Geſtalt der neuen Landgemeinde ſpeciell und das Auftreten der107 Selbſtverwaltung ein wirklich verſchiedener in den verſchiedenen Ländern. Denn während die Grundentlaſtung einen Theil des geſellſchaftlichen Lebens der europäiſchen Völker bildet, das ſich, auf gleicher Grundlage entſtanden, auch gleichartig entwickelt, iſt die neue Stellung der Land - gemeinde der Ausdruck der ſtaatlichen Individualität, die ſich weſentlich in dem Verhältniß der Staatsverwaltung zur Selbſtverwaltung äußert. Daher dann die obwohl lange nicht genug beachtete, ſo doch überraſchende Erſcheinung, daß ſich die rechte Individualität des Staatslebens der europäiſchen Völker in der That erſt nach dem, mit der Grundent - laſtung definitiv entſchiedenen Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts - ordnung herausbildet. Was eigentlich Deutſchland, England und Frankreich ihrer individuellen Natur nach ſind, das tritt erſt zu Tage, nachdem der Befreiungsproceß von der Geſchlechterherrſchaft abgeſchloſſen iſt. Und dieſe Individualität der einzelnen Staaten iſt nicht etwa eine Abſtraktion, ſondern eine höchſt concrete Thatſache, welche eben vermöge des Gemeindeweſens alle Theile des geſammten Staatslebeus durchzieht, und auf jedem Punkte der Verwaltung zur Geltung gelangt, indem ſie die Frage nach der inneren Freiheit, die Frage nach der organiſchen Theil - nahme des Volkes an ſeiner Verwaltung neben der ſeiner Theilnahme an der Verfaſſung zur Entſcheidung bringt. Jetzt erſt zeigt es ſich in Europa, daß die Verfaſſung nur die Hälfte der Freiheit des Volkes iſt, und daß eine verfaſſungsmäßige Freiheit ohne eine durchgebildete Selbſtverwaltung doch zuletzt nur einen geringen Werth hat. Und dem entſprechend be - ginnt jetzt erſt, wir möchten ſagen inſtinktmäßig, die Hochachtung vor dem engliſchen Staatsleben, in welchem eben vermöge der früh entwickel - ten Grundentlaſtung die Selbſtverwaltung ſo früh begonnen, und die ganze Organiſation des Staats durchdrungen hat. Der Begriff und die Bedeutung des Selfgovernment wird dem Continent, und nament - lich den Deutſchen erſt nach der Grundentlaſtung verſtändlich, obgleich ſelbſt die bedeutendſten Männer den wahren Zuſammenhang, weßhalb ihre engliſchen Arbeiten ſo dankbar aufgenommen worden, nicht immer recht verſtehen, und weßhalb andrerſeits die gründlichſten Unterſuchungen über die Grundentlaſtung für ſich, wie die von Judeich, verhältnißmäßig unbeachtet vorübergehen. Das ſind alles ſehr natür - liche und wohlmotivirte Erſcheinungen; denn der Geiſt jedes lebendigen Volkes iſt ſtets der Zukunft zugewendet, und ſchätzt das, was ihr an - gehört, ſtets höher als das, was die Vergangenheit in der Gegen - wart aufrecht hält. In jedem Falle aber ſteht wohl das feſt, daß wir nunmehr nicht einfach zur Darſtellung der Grundentlaſtung an ſich übergehen können. Wir müſſen auch ſie in ihrer individuellen Geſtalt betrachten, und ihre Entwicklung je nach den Verhältniſſen jedes einzelnen108 Volkes darſtellen. Denn tief verſchieden ſind hier wie immer die drei großen Culturvölker, und es iſt eine der größten Erſcheinungen des europäiſchen Lebens, denſelben großen hiſtoriſchen Gedanken in den drei Ländern, welche an der Spitze der Civiliſation der Welt ſtehen, wenn auch nur in den Grundzügen ſeiner Entwicklung wirken zu ſehen. Die deutſche Wiſſenſchaft aber wird, ſo lange ſie ihre Beſchränkung auf Deutſchland nicht aufgibt, und ſo lange ſie ſich begnügt, höchſtens die fremden Entwicklungen unvermittelt neben die eigene zu ſtellen, nur den Körper, nicht aber den Geiſt der Wiſſenſchaft der Geſchichte zu geben im Stande ſein. Und wir wiederholen und werden wiederholen dieſen Kampf gegen die deutſche Beſchränktheit auf dieſem Gebiet, ſo unbehaglich es auch vielen ſein mag, das zu hören; denn die größere Auffaſſung wird bei der Breite und Tiefe unſerer deutſchen geiſtigen Kräfte und Strebungen doch ſiegen.

Von dieſem Standpunkt aus wollen wir nun verſuchen, die Ge - ſchichte jenes Kampfes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im Gebiete der Entlaſtung nach den drei großen Culturvölkern England, Frankreich und Deutſchland darzuſtellen, die allein wahrhaft große und hiſtoriſche Individualitäten in der Geſchichte auch dieſer Rechtsbildung ſind. An ſie ſchließen ſich dann die kleineren Staaten an, die zu verfolgen uns zu weit führen würde, die aber auch eigentlich wenig wahrhaft Eigen - thümliches, ſondern nur den allerdings oft höchſt intereſſanten Reflex der großen Bewegung darbieten, welche ſich in den drei leitenden Geſchichtsvölkern individualiſirt. Ihre weitere Verarbeitung wartet auf die Europäiſche Rechtsgeſchichte.

Englands Entlaſtungsweſen.

Schon Englands Entlaſtungsweſen zeigt uns, weßhalb es unthun - lich iſt, eine unmittelbare Vergleichung der[Entlaſtung] in den ver - ſchiedenen Ländern Europas anzuſtellen; aber eben ſo ſehr liefert es den Beweis, daß dennoch hier ganz genau dieſelben Grundverhältniſſe vorhanden, und dieſelben Elemente wirkſam geweſen ſind.

Wie reduciren daher dieß Gebiet, das im Einzelnen eben ſo reich und ſchwierig iſt als die deutſche und franzöſiſche Geſchichte der Ge - ſchlechterunfreiheit, auf die oben aufgeſtellten großen europäiſchen Grund - formen derſelben und ihrer Geſchichte. Und dieſe werden wir nun am beſten in drei Epochen theilen, von denen die erſte die älteſte Zeit bis Karl II. enthält, und weſentlich in dem Uebergang der villenage zum109 copyhold beſteht; die zweite enthält die Aufhebung des Lehnſyſtems für die freeholds und tenements in capite, ändert aber wenig an den Verhältniſſen, die ſich aus der erſten für den unfreien Grundbeſitz ent - wickeln; die dritte endlich iſt die des 19. Jahrhunderts mit ihrer eigent - lichen Entlaſtung ſowohl der Zehnten als der copyholds.

Erſte Epoche. Von der Eroberung bis auf Karl II.

Man kann wohl mit gutem Recht ſagen, daß Englands eigentliche Geſchichte erſt mit der Schlacht von Haſtings beginnt, welche derſelben den, von da an unverwiſchbaren Stempel der innern Gleichartigkeit und der äußern Einheit aufdrückt.

Die Eroberung der Normannen trifft auf denſelben Zuſtand der urſprünglichen Geſchlechterordnung, den wir allenthalben bei den ger - maniſchen Völkern antreffen. Es ſcheiden ſich im Weſentlichen zwei Klaſſen, die der herrſchenden Bauerngeſchlechter, und die der perſönlich und wirthſchaftlich Unfreien, dieſelben, die wir als servi bei den Deutſchen, als traels bei den Skandinaven finden, und deren Urſprung wir hier dahingeſtellt ſein laſſen. Dieſe Leibeigenen gehen in die folgende Epoche über, und es iſt kein Zweifel, daß alles das, was von den ſpäteren villanis oder villeins geſagt, grundſätzlich nur das alte ger - maniſche Recht derſelben iſt, wie es auf dem ganzen Continent er - ſcheint. Bractons Definition der villanis iſt die ganz allgemeine des urſprünglichen Leibeigenen ille qui tenet in villenagio (ſ. unten) faciet quidquid ei praeceptum fuerit, nec scire debet sive quid facere debet in crastino, et semper tenebitur ad incerta (L. Angl. IV. 1. 28) oder, wie Blackſtone es auf die folgende Zeit anwendet: a sort of people in a condition of downright servitude used and employed in the most servile works, and belonging both they, their children and effects to the Lord of the soil (II. 6.). Sie waren daher früher wie ſpäter ein rein ſachliches Eigenthum und konnten, wie das Gut, das ſie beſaßen verkauft und vererbt werden. Long after 1225 they were con - sidered as a saleable commodity (Eden, State of the poor I. 35.), mit Beiſpielen noch aus dem 14. Jahrhundert (1339), ſo auch in der Magna Charta c. 4. und 9. Henr. III. c. 4. Ein eignes Eigenthum hatten ſie nicht quando cunque placuerit, (dominus) auferre peterit a villano sive magnagium suum et omnia bona (Bracton I. 9). Und wenn die Schilderungen, die noch Thomas Morus in ſeiner Utopia 1516) von dem Zuſtande eines großen Theiles der niederen Bevölkerung gibt, auch auf England Anwendung finden (S. 18 30 der Glasgower110 Ausgabe von 1750), ſo mag es noch lange ſehr traurig mit den Verhält - niſſen dieſer Klaſſe ausgeſehen haben, ihm erſcheint der geſammte Zu - ſtand aller damaligen Staaten Europas als quaedam conspiratio divitum, de suis commodis reipublicae nomine tituloque tractan - tium (p. 261), das große Geſetz der ſocialen Rechtsbildung ahnend, daß jede Geſellſchaftsordnung ihre Intereſſen durch ihre Verwaltung und Geſetzgebung zur Geltung bringt. (Ueber den weiteren Inhalt von Thomas Morus vergl. Wiskemann, Darſtellung der in Deutſch - land zur Zeit der Reformation geltenden national-ökonomiſchen An - ſichten. Jablonowsk Preisſchrift 1861.) Ueber Englands Zuſtände ſ. Wachsmuth, Europäiſche Sittengeſchichte IV. 407. ff.

Es würde uns zu weit führen dieß weiter zu verfolgen. Die Schei - dung beider Geſchlechterklaſſen war eine abſolute, und dieſelbe wie im im übrigen germaniſchen Europa. Das iſt die Grundlage der Unfrei - heit und Geſchichte der Freiheit in der Geſchlechterordnung Englands.

In dieſen Zuſtand tritt nun die normanniſche Eroberung hinein. Das was ſie zunächſt bringt, iſt die neue herrſchende Klaſſe der Sieger, die Lords. Die Normannen bilden eine große Geſchlechtergruppe für ſich; die alten angelſächſiſchen Geſchlechterbauern werden durch ſie aus der herrſchenden zur Mittelklaſſe, und ſofort entſteht hier derſelbe Proceß, dem wir in ganz Europa begegnen: der Verſuch der jetzt herrſchenden Klaſſe, die neue Mittelklaſſe zu der Stellung der niederen Klaſſe hinab - zudrücken, und der Kampf der erſteren gegen die neuen Herren, um die bedrohte Freiheit zu retten, wenn auch die Herrſchaft nicht mehr zu retten war.

Dieſer Kampf iſt nun hier wie in Frankreich und Deutſchland ſo - wohl ein allgemeiner beider Klaſſen gegeneinander, als ein örtlicher und in den beſonderen Verhältniſſen einzelner Landestheile ſehr verſchieden geführter geweſen. Das erſte erſcheint in den großen Bewegungen, die ſich an den ſagenhaften Robin Hood anſchließen, und viel ernſter und nachdrücklicher in dem Bauernaufſtande des Wat Tyler. Derſelbe iſt offenbar ein Aufſtand desjenigen Theiles der alten Bauerngeſchlechter, der durch die neuen Lords theils direkt um ſeine Unabhängigkeit ge - bracht war, theils auf unfreiem Grund ſitzend mit perſönlicher Freiheit ſich die Herrſchaft nicht gefallen laſſen wollte. Der Bundſchuh Wat Tylers fordert vom Könige die Aufhebung der perſönlichen Hörigkeit (slavery), Freiheit des Kornhandels auf den Märkten, und eine feſte Grundabgabe ſtatt der Leiſtungen des villenage requests which though extremly reasonable in themselves, the nation was not sufficiently prepared to receive (Hume, History of England II. p. 246) und die daher auch für den Augenblick zugeſtanden, ſpäter zurückgenommen111 wurden (Rymer, Foedera VII. 217; vgl. Eden State of the poor and history of the labouring classes in England I. 55). Was die einzelnen Gewaltthätigkeiten betrifft, ſo liegen ſie wie ſo manche andere unter dem Schutte der Geſchichte begraben, und nur der Kampf der ſpäteren Geſetzgebung gegen das Unrecht der Geſchlechter gibt davon Zeugniß ( The king remembereth, that great inconveniences daily do increase by desolation and pulling downe, and willfull waste of houses an townes within this realme, and laying to pasture lands which customably have beene used in tillage etc. 1448) weßhalb das Statute verbietet, Bauernhöfe niederzulegen (pull down), die mit wenigſtens 20 Acres Land als tillage oder husbandry bewirthſchaftet werden; und noch unter Heinrich VII. mußte die Errichtung von in - closures and large farms auf Koſten der mittleren Beſitzer ſtrenge ver - bieten (4. Henry VII. 16; vgl. Hallam, History of England III. 65. Eden, I. 73). An den Individuen lag es daher gewiß nicht, wenn die Geſchlechterunfreiheit nicht mit all ihrer Härte und ihrer Unfreiheit auch in England wie im übrigen Europa zur Geltung kam. Hier waren andere Elemente thätig; und dieſe ſind es in der That, welche die innere Geſchichte der engliſchen Geſellſchaft entſchieden haben.

Dieſe Elemente beſtanden einerſeits in dem rein quantitativen Ver - hältniß der neuen herrſchenden Klaſſe zu der früheren beherrſchten, theils in der eigenthümlichen Stellung, welche das Königthum durch die Er - oberung eingenommen hatte.

Offenbar kann nämlich die herrſchende Geſchlechterklaſſe, wenn die unterworfene noch ſtreitbar iſt, die letztere nur dann ganz unfrei machen, wenn ſie an Zahl ſo mächtig iſt, daß ſie des Sieges durch die Waffen gewiß bleibt, und die unterworfene nicht ſelbſt beſtändig in ihrem eigenen Intereſſe zu den Waffen rufen muß. Das aber war in England bei den Normannen nicht der Fall; denn die ganze Summe derſelben die tenentes in capite, da von den milites und tenentes wohl nur ein Theil Normannen waren betrug etwa 1400, ja nebſt den letzteren mit 2899 etwa 3200, wogegen die socemanni allein 23,000, die villani aber 102,702 ausmachten, abgeſehen von den bordariis, cottariis und servis, die zwar auch mit etwa 100,000 aufgezählt werden, aber nicht in Waffen ſtanden wie die socemanni (vgl. Gneiſt, Geſchichte des Selfgovern - ment S. 60 über das Doomesdaybook). Eben ſo entſcheidend war die Thatſache, daß viele von den tenants in capite ſo große Grund - beſitzungen hatten, daß ſie weder dieſelben ganz bewirthſchaften noch beherrſchen konnten. So beſaßen nach der Eroberung der Earl Moreton 793 Höfe (manors), der Earl Allen 442, der Biſchof Odo von Bayeux 432, William Earl Warrens 228 (nach Dugdale, Baronage). Die ganze112 Grafſchaft Norfolk hatte nur 66 Grundherren, Hugh de Alvincis bekam vom Könige Wilhelm dem Eroberer das ganze Palatinat von Cheſter. (Eden I. 54.) Eine völlige Unterwerfung war daher gleich anfangs faktiſch unthunlich und die Eroberer mußten ſich begnügen eine gewiſſe Oberherr - lichkeit auszuüben, die mehr durch die Natur der gegebenen Verhältniſſe als durch ihren guten Willen beſtimmt ward. Dieſe Oberherrlichkeit nun kann in Princip und Entwicklung nicht verſtanden werden, ohne das, was die Engländer unter ihrem feodal system im Gegenſatz zu dem alten Recht verſtehen.

Dieſes feodal system beruht darauf, daß der König durch die Er - oberung rechtlich als einziger Eigenthümer alles Grundes und Bodens angeſehen wird. Diejenigen, welche vom Könige direkt mit Herrſchaften, Grafſchaften und Ländern belehnt werden, ſind die te - nants in capite. Alle diejenigen, welche einen Grundbeſitz innerhalb der vom Könige an den tenant in capite belehnten Marken haben, erſcheinen daher zwar auch als ſitzend auf dem Grund und Boden des Königs, aber als Vaſallen der tenants in capite; dieſe können wieder subtenentes haben; immer aber bleibt der König nicht bloß Lehens - herr, ſondern Obereigenthümer. Der ſchlagendſte Unterſchied zwiſchen dieſem Syſtem des Grundbeſitzes und dem des Continents beſteht daher darin, daß es keinen Unterſchied zwiſchen Allodium und Feudum gibt, ſondern daß alles Land Feudum des Königs iſt, und daher für alle Grundbeſitzer das Princip der Gleichheit des Rechts an dem Grund und Boden gilt, wenn auch innerhalb dieſer Gleichheit gewiſſe Stufen vorhanden ſind, die aber doch zuletzt alle in jenem Rechte des Königs zuſammen laufen. Auch der niedrigſte villein, wenn er ein - mal zu irgend einem Grundbeſitz gelangt war, gleichviel in welcher Form, ſtand daher dem Rechte nach nicht bloß unter dem verleihenden Lord of the manor, ſondern zugleich unter dem Könige als eigentlich und wahrem Eigenthümer, den der Lord nur vertrat. Das war die Seite jenes feodal system, mit dem daſſelbe in ſo entſcheidender Weiſe in die innere Rechtsbildung und geſellſchaftliche Entwicklung Englands ein - gegriffen hat, und das ſo wenig Gneiſt als Zöpfl (Alterthümer des deutſchen Reiches und Rechtes I. Nr. V.) richtig erkannt haben. Die Geſchichte der Freiheit in der Geſchlechterordnung hat es nun nicht mit dem Verhältniß der vermöge dieſes feodal system herrſchenden Klaſſe zum Königthum, ſondern eben mit dem der unterſten beherrſchten Klaſſe zu den herrſchenden Beſitzern zu thun, was die bisherigen Bearbeiter, die mehr an den Staat, als an das Volk dachten, ſo gut als gänzlich überſehen haben. In der That kam es jetzt nur darauf an, auch dem unterſten villein in ein rechtlich beſtimmtes Verhältniß zum Grund und113 Boden zu bringen, um ihn die erſte Stufe der Freiheit betreten zu laſſen. Die einfache Folge jenes Princips, die ſelbſt Blackſtone und Eden, die beiden objektivſten Beurtheiler dieſer Erſcheinungen, nicht ge - hörig hervorheben, war nämlich die, daß jedes Recht, welches ein Glied der unterſten Klaſſe durch einen Lord of the manor oder tenens in capite auf irgend einen Grundbeſitz erwarb, als eine Modifikation des königlichen Eigenthumsrechts erſchien, und daher die Dis - poſitionen des Lord über den Grundbeſitz auch des villein als unter königlichem Recht und Gericht ſtehend, anerkannt werden mußten. Der König als Eigenthümer konnte daher auch das Recht des Lord auf den villein ändern, ohne in das Privateigenthum in der Weiſe einzugreifen, wie auf dem Continent, da er ſtets wenigſtens dem ab - ſtrakten Princip nach über ſein eigenes Grundſtück entſchied. Man kann dieſe wichtige Thatſache nicht hoch genug anſchlagen, und hat ſehr Un - recht mit Macaulay und Anderen ſie für das Verſtändniß Karls II. bei Seite liegen zu laſſen, ebenſo wie diejenigen, welche ſich dieſelbe nicht vergegenwärtigen, weder ganz Seldens Vertheidigung des Königs, noch auch die Theorie Hobbes richtig würdigen werden. Hobbes iſt näm - lich in der That der erſte, der für die geſammte Entwährungslehre jenes poſitiv rechtliche, auch noch von Blackſtone anerkannte Verhältniß zu einem theoretiſchen Princip ausarbeitete, indem er den Begriff des Privateigenthums als des Eigenthumes der Einzelnen gegenüber dem Einzelnen von dem des Staats oder königlichen Eigenthum als dem Eigenthum des Königs im Gegenſatz zu dem des Einzelnen zuerſt ſtrenge unterſchied, und während er das individuelle Eigenthumsrecht im erſten Sinne als unverletzlich erklärt, daſſelbe im zweiten dem königlichen unter - wirft: Ex quo intelligitur, singulos cives suum sibi proprium habere, in quod nemo concivium suorum jus habet, quia iisdem legibus tenetur; non autem proprium ita habere quidquam, in quod non habeat jus ille qui habet imperium summum, cujus mandata sunt ipsae leges, cujus voluntate voluntas singulorum continetur (De Cive L. IV. 15). Es iſt wohl ſehr leicht, dieſe abſtrakte Formulirung auf jenes höchſte Eigenthumsrecht zurückzuführen, und zugleich zu verſtehen, wie dieſe Theorie auf dem Continent mit ſeinem Allod und ſeiner ört - lichen Souveränität den heftigſten Widerſtand finden mußte. Faßt man aber das obige Verhältniß in denjenigen Punkten zuſammen, in denen es für das Entlaſtungsweſen Englands von entſcheidender Bedeutung war, ſo ergeben ſich folgende Sätze, deren praktiſche Anwendung ſchon ſeit dem 13. Jahrhundert in England wirkſam iſt.

Erſtlich kann der König als Eigenthümer auch desjenigen Grundes, den der niederſte villein beſitzt, das Recht des letzteren durch ſeineStein, die Verwaltungslehre. VII. 8114Geſetze ändern und ſeinen Grundbeſitz befreien, weil er zuletzt ja doch nur über ſeinen eigenen Grund entſcheidet.

Zweitens iſt es unmöglich, eine völlige Identificirung der ſtaat - lichen Gewalt mit dem Grund und Boden jemals in der Weiſe für die einzelnen Grundherren herzuſtellen, wie auf dem Continent, weil der König als wirklicher letzter Eigenthümer zugleich Innehaber deſſelben ſtaatlichen Rechts bleibt, das durch ſeine Verſchmelzung mit dem Grund und Boden eben die Grundherrlichkeit bildet. Eine Patrimonialgerichts - barkeit iſt daher rechtlich in England gar nicht in der Weiſe möglich, wie auf dem Continent.

Drittens endlich folgt, daß wenn und wo der Lord dem Un - freien ein Recht auf Grund und Boden in irgend einer Weiſe zugeſteht, der letztere damit in ein unmittelbares Verhältniß zum Könige, über deſſen Recht ja verfügt worden iſt, tritt, und daß daher von dieſem Augenblick an beide, Lord und villein, dem Gerichte des Königs unterworfen werden.

Auf Grundlage dieſer Sätze wird es nun einleuchten, daß ſchon das große Princip des feodal system eine ſolche Unterdrückung der niederſten Klaſſe durch die Grundherren grundſätzlich unmöglich machte, wie ſie auf dem Continent eintritt. Die Stellung der Lords iſt von Anfang an eine andere als die der franzöſiſchen und deutſchen Grund - herren; und es iſt klar, daß daher auch der ganze Proceß der Erhebung der niederſten Klaſſe zur ſtaatsbürgerlichen Freiheit ein weſentlich anderer ſein mußte, als auf dem Continent, obgleich die übrigen Elemente ganz genau dieſelben waren.

Um das nachzuweiſen, mag es uns geſtattet ſein, die Grundzüge der Geſchlechterordnung Englands hier zu bezeichnen, wie ſich dieſelben durch das Eintreten der Klaſſe der Lords in das alte angelſächſiſche Dorf und ſeine Bauern und Leibeigenen geſtaltete. Der Entwicklungs - proceß der Freiheit oder der Entlaſtung iſt dann bis auf den heutigen Tag, wie wir glauben, vollkommen klar.

Die Eroberung theilt nämlich das ganze Land in lauter Groß - grundbeſitze, die entweder Einzelnen oder als ganzer Complex einem Lord verliehen werden. Jeder dieſer Beſitze heißt (ſpäter) ein manor. Der Lord kann von ſeinen vielen manors einzelne wieder an andere Freie natürlich im Anfange Normannen gegen Waffendienſt verleihen. Die Lords haben daher ihre Vaſallen; jene erſcheinen im Doomesday - book als proprietors, reſp. thanes oder tenentes in capite, dieſe als tenentes im Allgemeinen oder subtenentes (die milites gehören der ſpäteren Zeit); das iſt die herrſchende Klaſſe.

Die alte herrſchende Klaſſe der freien Bauern tritt nun in ein115 neues Verhältniß. Sie ſind perſönlich nach wie vor frei, und ihr Beſitz gehört wie der manor ſelbſt dem Könige. Allein da ſie ſchon bei der Eroberung Eigenthümer waren, ſo konnte eine eigentliche Ver - leihung nicht ſtattfinden, ſondern nur eine Unterordnung unter den manor des Lords, innerhalb deſſen Gränzen ſie lagen. Dieſe Unter - ordnung ward nun dadurch, im Gegenſatz zu den folgenden, ausge - drückt, daß ſie zwar zu allen öffentlichen Dienſten auf Befehl des Lords im Namen des Königs verpflichtet, aber zu keinen perſönlichen oder wirthſchaftlichen Leiſtungen gegen den Lord durch ihren Grundbeſitz ge - bunden waren. Ein ſolcher Grundbeſitz hieß dann ein liberum tene - mentum, engliſch free tenure, mit dem Ausdrucke, der aus dem feodal system hervorgeht; der angelſächſiſche Ausdruck dagegen war socage, und der Grundbeſitz hieß daher free oder common so - cage, was dann ſpäter als Gegenſatz zu dem unfreien Grundbeſitz auch wohl privileged tenure genannt ward, obgleich natürlich von einem wirklichen privilege keine Rede war. Die ganze geſellſchaftliche Klaſſe bildet die Klaſſe der sochemanni des Doomesdaybook. Es iſt im Weſentlichen die Gruppe der Freibauern in Deutſchland.

Neben dem Grundbeſitz dieſer sochemanni lag nun der große Grund - beſitz des Lord, der waste, die herrſchaftlichen Gelände, das eigentliche Gut, das aber nicht wie auf dem Continent Allod und feudum unterſchied, ſondern unter gleichartigem Recht als eine tenure be - ſtand. Um dieß nun zu bebauen, begannen natürlich die Lords als - bald die freien Männer aus den angelſächſiſchen Geſchlechtern, die wohl meiſt als zweite und dritte Söhne der freien Hufner oder sochemanni keinen Grundbeſitz hatten, mit Höfen zu beleihen, die aus dieſem Gutsgrund gebildet werden. Ein ſolcher Beliehener war nach dem Lehensbegriff der Mann des Lord, ſein homo; perſönlich frei, ſaß er auf unfreiem Gut. Und hier beginnt nun der Uebergang zu der niederen Klaſſe.

Der Lord hatte nämlich auch dieſe in Geſtalt der alten Leibeigenen überkommen und zwar höchſt wahrſcheinlich in doppelter Geſtalt. Theils nämlich hatten dieſe Leibeigenen unter gewiſſen Bedingungen ſchon eine kleine Bauernſtelle aus der angelſächſiſchen Zeit in Beſitz, theils nicht. Grundſätzlich machte das für das Recht beider Klaſſen der Unfreien natürlich keinen Unterſchied. Allein in der Wirklichkeit ließ ſich die, durch das Vorhandenſein oder dieſen Mangel an Grundbeſitz gegebene Verſchiedenheit der ganzen geſellſchaftlichen Stellung denn doch wohl keinen Augenblick verkennen. Denn die erſte Klaſſe erſchien natürlich an die Scholle, das iſt in Wahrheit an ihre wirthſchaftlichen Bedürfniſſe, ge - bunden, und die principiell unzweifelhafte Berechtigung zur Verfügung116 über ſie fand ihre Gränze darin, daß der Werth ihres, dem Lord gehöri - gen Grundbeſitzes von ihrem Daraufbleiben abhängig war. Sie bildeten daher bald auch in der rechtlichen Auffaſſung eine Klaſſe für ſich, die an - fänglich wieder in Unterklaſſen getheilt auftritt (villani, bordarii, cottarii), dann aber als ein geſellſchaftliches Ganzes aufgefaßt werden und im (Geſellſchafts -) Recht der manor erſcheinen unter dem Geſammtnamen der villeins regardant. Neben ihnen beſtehen dann die ganz be - ſitzloſen Leibeigenen, die im Doomesdaybook als servi auftreten, nachher aber bald als villeins en gros, bei denen das Individuum noch ganz ohne alles Recht iſt, bezeichnet werden. Das iſt die Geſtalt der Geſellſchaftsordnung.

Den Grundformen derſelben entſprechen nun auch die Ordnungen in Beziehung auf die beiden großen öffentlichen Funktionen jener Epoche, das Heerweſen und das Gericht. Das Heerweſen beruht einerſeits auf der Dienſtpflicht des Lords gegen den König, der die Dienſtpflicht des tenens gegen den Lord entſpricht; natürlich konnte unmittelbar nach der Eroberung der sochemann kein Waffenrecht haben; er war ja die unterworfene Klaſſe. Allein ſchon 1181 nimmt das Königthum auch die letztere in die Assize of Arms auf, und damit ſtellt ſich der sochemann auf ſeiner socage rechtlich und ge - ſellſchaftlich wenn er ſehr reich iſt, neben den Lord, und immer neben den homo des Lord. Mit der Assize of Arms beginnt zwiſchen der höchſten und zweithöchſten Klaſſe der engliſchen Geſchlechter jener eigen - thümliche Proceß, auf welchem die heutige engliſche Geſellſchaftsord - nung ihrer einen Seite nach beruht, daß nicht das Recht, ſondern der Umfang des Beſitzes die geſellſchaftliche Stellung des Ein - zelnen bedingt. Doch dieß gehört nicht der eigentlichen Entlaſtungs - geſchichte an. Das Gerichtsweſen ſpaltet ſich dagegen wie allenthalben zuerſt in zwei große Theile, zu denen dann ein drittes, zuletzt ent - ſcheidendes Moment hinzukommt. Der Lord hält Gericht als Vorſitzer der freien Männer ſeiner Grundherrhaft, und empfängt damit die con - tinentalen Titel des Dux, Comes, Vicecomes, Marchio u. ſ. w. Dann aber hält er Gericht über alle diejenigen Fälle, in denen es ſich um das Eigenthum, und namentlich um den Grundbeſitz handelt. Dieß Gericht, deſſen Objekt natürlich namentlich die Leiſtungen der auf dem Grunde der Lords ſitzenden Hinterſaſſen, der perſönlich Freien, ſo wie der Unfreien war (die costums), hieß daher die customary court; da - mit eng verwandt iſt die court of ancient demesne (Blackſtone II. 6). Doch müſſen wir das Genauere hier übergehen, obgleich Gneiſt die letztere ganz wegläßt. Da nun aber der König zuletzt der Eigenthümer aller Beſitzungen iſt, und in jedem Court über ſeine Rechte in letzter117 Inſtanz verhandelt wird, ſo hat er auch das Recht, einen Gerichtshof zu berufen, unter dem beide gutsherrlichen Gerichtshöfe ſtehen; und dieß geſchieht durch die reiſenden Richter in ihren Circuit Courts, die urſprünglich keine adminiſtrative, ſondern rein feudale Inſtitutionen ſind, aber für die innere Weiterentwicklung von höchſter Bedeutung werden.

Offenbar iſt nun in dieſer Geſtalt der Geſchlechterordnung das Ge - biet der eigentlichen Unfreiheit, alſo auch das Gebiet, auf welchem die Freiheit durch die Entlaſtung gewonnen werden muß, das der villeins. Und hier nur unterſcheiden ſich ſofort die obigen Klaſſen in ganz be - ſtimmter Weiſe, noch ehe die Entlaſtungsbewegung eintritt, die eben durch dieſe Unterſcheidung leicht verſtändlich wird.

Wo nämlich der Lord ein Grundſtück an einen freien Mann verlieh, da war es natürlich, daß der letztere vorher die Bedingungen abmachte, unter denen er in den Dienſt des Herrn trat. Dieſe Be - dingungen ſind die gutsherrlichen Leiſtungen, servitiae. Der perſönlich unfreie villein war in dieſer Beziehung ganz rechtlos; wollte ſich der perſönlich Freie nicht demſelben ganz gleichſtellen, da der Beſitz beider ſchon gleich war, ſo mußte er jene servitia rechtlich feſtſtellen. Auf dieſe Weiſe entſtand eine Mittelklaſſe der Unfreien hier wie auf dem Continent diejenige, welche zwar, wie Bracton ſagt, villana faciunt servitia, aber certa et determinata. Es iſt der ganz unzweifel - hafte Begriff der gemeſſenen Frohnden, dem wir hier begegnen, und höchſt wahrſcheinlich ſind es dieſe, über welche das Court of ancient demesne ſtattfand. Ihnen gegenüber ſtand dagegen der perſönlich un - freie villein. Derſelbe hatte anfänglich gar kein Recht, weder auf ſeine Arbeit, noch auf ſeinen Grundbeſitz; er mußte daher unbedingt nach dem Willen des Herrn dienen; und daher denn der zweite Begriff der servitia villana indeterminata, der ungemeſſenen Frohnden. Dieß ſind alles einfache und klare Verhältniſſe, die ganz denen des Continents entſprechen. Aber die eigenthümliche Geſtalt der engliſchen Agrarver - faſſung tritt nur da ein, wo die beiden oben erwähnten Elemente, die Größe des unbebauten Grundbeſitzes und das Princip des königlichen Rechts auf dieſelben einzuwirken beginnen.

Wir werden nun dieſen Proceß, der bis zur Gegenwart ſeine Wirkungen äußert, ganz kurz als den des Ueberganges von der villainage zum copyhold bezeichnen. Gelingt es, denſelben feſtzuſtellen, ſo iſt die ganze engliſche Agrarverfaſſung in dieſer ihrer ſocialen Seite wie wir glauben, vollkommen klar. Derſelbe hat mit dem liberum te - nementum oder freehold wenig zu thun, denn ſein Gebiet iſt eben die Hebung der unterſten Klaſſe, und nicht das Verhältniß der mittleren118 der sochemanni, zum Lord, in welchem die bisherige Geſchichtſchreibung ihre Aufgabe begränzt hat.

Dieſer Uebergang der villenage zum copyhold hat nämlich zwei Faktoren, die bei aller ihrer Einfachheit ſtreng geſchieden ſein wollen.

Der erſte dieſer Faktoren iſt das Verhältniß des villein zum Lord of the Manor, der zweite das Verhältniß deſſelben zum Könige.

Es iſt bemerkt worden, daß die Lords große Grundbeſitzungen hatten, welche bei der dünnen Bevölkerung ſehr ſchwer zu cultiviren waren. Sie hatten daher das höchſte Intereſſe, die angelſächſiſche Be - völkerung, in deren Mitte ſie lebten, zur Arbeit zu veranlaſſen. Sie mußten froh ſein, wenn die Bauernſöhne ſich dazu hergaben, auf ihrem Grunde ſich mit gemeſſenen Frohnen niederzulaſſen; ſie mußten aber auch zufrieden ſein, wenn der Leibeigene tüchtig arbeitete und ſeine Abgaben in Dienſten leiſtete, denn er war keinswegs leicht zu erſetzen. Im Sinne der wirthſchaftlichen Intereſſen ſtanden daher bald diejenigen, welche ungemeſſene Frohnden leiſteten, mit denen gleich, die nur gemeſſene zu leiſten hatten. Die feſte Geſtalt der engliſchen Landwirth - ſchaft trug dazu bei, dieſe Frohnden in beſtimmter, landwirthſchaftlich geregelter Reihenfolge zu ordnen, und der Lord war froh, wenn der Gang ſeiner Wirthſchaft unter Hülfe ſeiner villeins ſich gleichſam von ſelber regelte. Da nun die letzteren doch noch immer vom Lord abhängig waren, ſo hielten ſie natürlich feſt zu ihm; es entſtand ein gegenſeitiges Verhältniß der Treue, das vom Vater auf Sohn ging, und nicht den Charakter einer Pacht, deren Größe ſich nach dem Reinertrage richtete, ſondern eben eines grundherrlichen Vertrages hatte, gerade wie bei den villeins mit feſten Frohnden; der Gedanke, daß man den villein wirk - lich vom Gute treiben könne, verſchwindet; die Frohnden ſtellen ſich durch Uebung feſt, und werden faktiſch determinata, gemeſſene. Der perſönlich unfreie villein ſteht daher jetzt thatſächlich dem perſönlich freien gleich. Der Lord aber läßt über alle ſeine Grundholden all - mählig ein Regiſter aufnehmen, ein Polyptichon, ein Grundbuch über das, was die Holden je nach ihren Grundbeſitzungen zu leiſten haben; dieß Verzeichniß heißt dann die Court roll. Dieſe Court rolls ent - ſtehen weſentlich ſeit Henry III. Previous to the reigns of Henry the third and Edward the first they are not much (?) noted in ancient records; but in the period immediatly subsequent it was ex - tremely essential for the Baron, to assertain the position of his es - tate, so that he seldom failed to obtain full information relative to his material rights. (Eden I. S. 12.) In dieſer Court roll ſind nun theils die Verträge aufgezeichnet, nach welchen die perſönlich Freien den unfreien Grund gegen die servitia determinata übernommen haben,119 theils aber auch diejenigen Leiſtungen, welche der villein von Alters her für ſeinen Beſitz wirklich leiſtete. Nun nannte man darnach den Beſitz der erſten Klaſſe, deren Ueberlaſſungsvertrag, die servitia definirt, das villenagium privilegiatum (ſ. oben), denn am Ende war es aller - dings richtig, daß es ein privilegium war, wenn der Grundbeſitz des Herrn, an ſich zu ungemeſſener Frohnde verpflichtet, vertragsmäßig nur gemeſſene leiſtete; den Beſitz der zweiten dagegen nannte man das vil - lenagium purum. Allein die lange Uebung, der custom, ließ allmählig den Gedanken verſchwinden, daß der Lord das Recht habe, die Be - gränzung der Frohnden auf dem villenagium purum jeden Augenblick aufzuheben und neue Frohnden einzuführen, oder gar das, den villein jeden Augenblick davon zu jagen, oder wenigſtens nach ſeinem Tode eine andere Familie einzuſetzen. Denn das engliſche Recht hielt ſchon damals an dem Grundſatz feſt, custom is the life of common law und dieß common law ward von den alten Angelſachſen, deren soche - manni in den Höfen des Königs als Geſchworenen auch wohl im Intereſſe ihres Stammes nachdrücklich gehandhabt. War alſo einmal der villein unter custom, ſo galt dieſe custom, die gewohnheitsrechtliche Bemeſſung der Frohnden und der gewohnheitsrechtlich erbliche Beſitz, wenn ſie im court roll ſtanden, als common law. Wer daher ſeine Rechtstitel und ſeine Leiſtungen für den Fall eines gerichtlichen Verfahrens ſichern wollte, der ließ ſich einen Grundbuchsauszug, eine copy of the court roll geben, und beſaß nun ſein Grundſtück auf den Rechtstitel dieſer copy er war ein copyholder. Das iſt die Entſtehung und Natur des copyholds in der Geſchlechterordnung Englands. Ihre Bedeutung iſt eine doppelte. Erſtlich ſtellte der copyhold den villein mit dem perſönlich freien Beſitzer einer privileged villenage die man wegen der Freiheit des Beſitzers, der der Regel nach ein sochemann ſein mochte, auch villein-socage nannte gleich, und hob damit die perſön - liche Leibeigenſchaft auf; zweitens ſtellte derſelbe den Grundbeſitzer und ſein Recht unter den königlichen Richter, und machte damit die Will - kür des Herrn zu nichte. So wie das einmal der Fall war, mußte der Begriff des villenagium überhaupt verſchwinden, da ſein Charakter, die grundſätzliche Ungemeſſenheit der Frohnde und die Entlaſtbarkeit der Inſaſſen, mit dem copyhold vernichtet waren. Der copyhold ward daher ein allgemeines Recht des Grundbeſitzes und ſtellte ſich allmählig neben das liberum tenementum der alten sochemanni; es iſt der erſte große Schritt der Entlaſtung im engliſchen Recht, der Ausdruck der erſten Erhebung aus der Unfreiheit der Geſchlechterordnung zum freien Grundbeſitz.

Dieſem zunächſt wirthſchaftlichen Proceß tritt nun zur Seite ein120 juriſtiſcher, der nicht mindere Beachtung verdient, um ſo mehr, als man ihn von dieſer Seite nur zu oft überſieht. Das war das Auf - treten des königlichen Rechts.

Es iſt ſchon oben bemerkt, daß die Ueberlaſſung des Grundes auch an den villein das Recht des Königs betraf, da der Letztere Eigenthümer des Ganzen war, und daß daher eine Patrimonialjurisdiktion im con - tinentalen Sinne als Privateigenthum an der Gerichtsbarkeit und Po - lizei gar nicht entſtehen konnte. Allein die weitere Folge war, daß jene Ueberlaſſung alsbald die Perſon der villeins ſelbſt frei machte, ob - gleich keine perſönliche Freilaſſung vorhergegangen war, for this was dealing with the villein at the footing of a freeman wie Black - ſtone ſagt II. 6. it was in some of the customes giving him an ac - tion against his lord, and in others, vesting an ownership in him entrely inconsistent with his former state of bondage. A villein ſagt Eden I. S. 14, thus circumstanced, was no longer a villein. So entſteht denn der juriſtiſche Grundſatz, daß die Ueberlaſſung an irgend einen Pächter überhaupt nicht unter vierzig Jahren zugelaſſen werden ſolle, was freilich nicht zur allgemeinen Geltung kommt (Black - ſtone I. 9 nach dem Mirror of Justice II. 27). Ebenfalls hatte jene copy - hold die perſönliche Befreiung und das große Princip der Gleichſtellung des villein und baron vor dem königlichen Richter zu Folge, und das Gericht befeſtigte ſomit formell, was die custom thatſächlich eingeführt. Die Bahn für die Befreiung aus der Geſchlechterunfreiheit war ge - brochen.

Dieß war der ziemlich einfache und allgemeine Entwicklungsgang, der in England aus dem urſprünglich hörigen einen freien Mann gemacht, und ihm vermöge jener copy of the court roll eine vollkommen ſelb - ſtändige, rechtlich unantaſtbare Stellung gegeben hat. Es iſt nun ſelbſt - verſtändlich, daß da, wo der Lord of the Manor aus Verſehen oder auch aus Böswilligkeit keine Court roll aufgezeichnet hatte, der villain die Möglichkeit hatte, dieß Recht ſeines Beſitzes und ſeiner Perſon durch ein Verdict der Geſchworenen anerkennen zu laſſen, da dieſer Fall nie - mals in dem unfreien Hofgericht zur Entſcheidung gebracht worden, weil er vermöge des Princips des feodal system als ein Recht des Grundes und Bodens ein königliches Recht betraf. Nur darf man nicht, wie ſelbſt Sugenheim geneigt iſt zu thun, glauben, daß einerſeits mit dieſem copyhold die ganze Frage der freien Agrarverfaſſung im Weſentlichen erledigt worden ſei, und eben ſo wenig darf man wie Maurer, Zöpfl und Gneiſt, den zweiten großen, neben dem obigen Proceß herlaufenden Befreiungsakt der perſönlich unfreien Nichtbeſitzer, der villains en gros (ſ. oben) darüber vergeſſen.

121

In der That enthält der Uebergang vom villein auf ſeine privi - leged tenure zum copyholder nur zwei von den oben erwähnten Klaſſen der Geſchlechterunfreiheit. Er bezieht ſich nur auf die perſönlich Freien, die lange Zeit auf unfreiem Boden ſaßen, und auf die perſön - lich Unfreien, die aus der ungemeſſenen Frohnde der villeins in feſte Rechtsverhältniſſe übertraten. Er hat daher nur mit denen zu thun, welche einen Grundbeſitz haben. Dieſe nun macht er ſo gut als frei, wenn auch der Grund und Boden zum Theil ſehr ſchwere Laſten an den Lord zu tragen hat; die Freiheit derſelben iſt eine Thatſache, lange bevor ſie ein Recht wird. Allein es bleibt noch eine vierte große Klaſſe übrig, und das iſt die der perſönlich Unfreien, die keinen Grund - beſitz haben, die villeins en gros, und die dem Lord urſprünglich leib - eigen angehören. Nun iſt es zwar klar, daß auch dieſe nicht lange in jener abſoluten Unfreiheit bleiben konnten, da neben ihnen alles frei ward. Ein großer Theil derſelben ging nun zwar allmählig in die Klaſſe der villeins regardant als Hinterſaſſen des Lord gegen das servitium über; allein ein anderer Theil erhielt eine ſolche Hufe ent - weder nicht oder wollte ſie vielleicht nicht haben. Das Schickſal dieſer letzten Klaſſe und ihre Befreiung bildet daher das letzte Gebiet der Ge - ſchichte der engliſchen Freiheit der Geſchlechterordnung. Leider iſt es ſehr ſchwierig, die Sache hier im Einzelnen zu verfolgen, da mit der Anknüpfung an den Grundbeſitz der feſte Rechtstitel fehlt. Im Großen und Ganzen aber mögen es zwei Hauptpunkte geweſen ſein, welche auch hier die Entſcheidung brachten.

Der erſte Punkt beſtand in den unmittelbaren Freilaſſungen, den manumissions, die bereits ſeit dem 12. Jahrhundert ſehr all - gemein werden, und hauptſächlich von der Kirche ausgegangen ſind. Schon das große Concilium von Weſtminſter, 1102, erklärte, daß niemand ſich unterfangen ſolle (nemo presumat), den verdammlichen Handel des Verkaufes von Menſchen auf dem Markte weiter zu treiben, der bisher allgemeine Sitte in England geweſen. (Eadwrd bei Eden I, 10.) In dieſer Richtung wirkten dann die einzelnen Geiſt - lichen weiter. Thomas Smith in ſeinem Common wealth (1635) gibt an, daß viele Herren auf Andrängen der Geiſtlichen ihre Leib - eigenen befreiten (S. 250). Sehr gut charakteriſirt Eden a. a. O. S. 10 das Verhältniß: It is not unreasonable to suppose that the clergy, whose learning in a dark age had given them the exclu - sive possession of the Courts of Justice, should in interpreting the law avail themselves of many subtleties which, while they accorded with christian charity at the same time enabled them to lessen the formidable power of their great rivals, temporal122 Lords. Daher auch die Bemerkung Blackſtone’s (II. 9.), daß die Geiſtlichen beſtändig eifrig waren, jedes der Befreiung günſtige Moment zur Geltung zu bringen. Waren ſie doch ſelbſt zum großen Theil aus der unterdrückten Klaſſe hervorgegangen! Wenn daher auch keine Manu - miſſionen in Maſſe vor ſich gingen, wie Sugenheim glaubt, der die villeins regardant und en gros nicht gehörig ſcheidet, ſo löste ſich doch das Verhältniß auf allen Punkten mehr und mehr, und die Entſchei - dung brachte auch hier wieder zuletzt das volkswirthſchaftliche Verhält - niß; nur war es dießmal nicht der Beſitz, ſondern die Arbeit, die mit durchgreifender Wirkſamkeit eintrat.

Trotz dem nämlich, daß der Grundherr, und neben ihm gewiß auch viele subtenentes, ſowohl Normannen als die sochemanni der Angelſachſen auf ihrem liberum tenementum viele ihrer villeins mit Grund und Boden betheilt hatten, blieb doch viel Land übrig, das be - baut werden wollte; und der villein ging in England ſo gut als auf dem Continent in die Stadt zu den Burgenses, die ihn ſchützten, wenn ſie ſeine Arbeit brauchen konnten. A few years after (1331) we find both the spiritual and temporal nobility complaining that their villeins fled into the tradingtowns, where the merchants under colour of their franchise detained their. (Rot. Parl. III. 448. Eden I. 30.) Wollte der Grundherr daher Arbeiter haben, ſo mußte er ihn zahlen; den einen, weil er ihm ſonſt davon ging, den andern, weil er ihm ſonſt überhaupt nicht kam. Die freie Stellung, welche die villeins, zum copyhold übergehend, ſchon im 13. Jahrhundert ge - wannen, hatte daher zur Folge, daß für die Arbeiter eine ähnliche gefordert und gegeben wurde. So entſtand die erſte Arbeiter - und Lohngeſetzgebung in Europa, das Statute of labourers, 1350, für deſſen Inhalt und Geſchichte wir namentlich auf Eden I, S. 28 ff. verweiſen (gab es ein älteres? ſ. Eden a. a. O. S. 34); vgl. auch Sugenheim S. 296, der freilich gleich eine fluctuirende freie länd - liche Arbeiter-Bevölkerung daraus macht; freie Männer waren das wohl nur ſelten, meiſt Leibeigene, aber die große Bedeutung jener Geſetzgebung lag darin, daß ſie den Leibeigenen nunmehr für ſeinen Lohn unter das common und statute law ſtellte, ſo daß ſchon 1259 der servile tenant Recht auf den Lohn, die wages, hatte, ja ſogar auf ſeine Koſten einen Stellvertreter ſtellen durfte (Eden I. 14. 15). So wie aber Lord und villein vor demſelben Gericht zu Recht ſtehen mußten, war von einer eigentlichen Leibeigenſchaft keine Rede mehr, eben ſo wenig, wenn es ſich um die labourers wages, als wenn es ſich um die servitia des villeins handelte. Und ſo geht der Proceß der Befreiung auch der nichtſeßhaften villeins (en gros) neben dem123 der ſeßhaften (regardants auf villein tenure ſitzenden) in ziemlich gleichem Schritte vor ſich. Während aus den letzteren die copyholders werden, werden aus den villeins en gros, den alten serfs oder thraels, die labourers. Das ſind die beiden Elemente der Entwicklung der Freiheit in der Geſchlechterordnung Englands; und es iſt wohl ſchon hier klar, daß dieſe ganze Geſchichte Englands eine weſentlich verſchiedene von der des Continents iſt, obwohl ſie genau aus denſelben Ele - menten hervorgeht.

Allerdings muß man nun nicht glauben, daß alles dieſes weder in den von uns angegebenen einfachen Verhältniſſen verläuft, noch auch daß es plötzlich oder vollſtändig geſchehen iſt. Wir ſehen vielmehr, daß z. B. die Realrechte der Bannmühlen und ſelbſt der Bannöfen der Grundherren noch lange beſtanden (Kenett, Parochial Antiquities 396; die Bäcker - und Müllerſtatute der Gild of Berwik bei Eden I. 21). Auch ſind Klagen genug über die Härte der Herren gegen ihre eigenen Leute; noch im 14. Jahrhundert kommen Verkäufe von Leib - eigenen vor, und Hallam findet noch unter Eduard III. neben 94 copy - holders (hatten ſie ſchon alle wirklich copys, oder nahm man den copyhold nur an?) noch ſechs Leibeigene (Sugenheim S. 299). Ja die Herren verweigerten ſtets direkt die unbedingte geſetzliche Anerkennung der Manumiſſion der villeins, ſo daß Macaulay (History of Eng - land I. 1.) noch ſagen muß, daß that the institute (of villenage) even to this hour, not has been abolished by statute. Doch das war gleichgültig, da das common law ſie beſeitigt hatte (Sugenheim S. 300). Die Unfreiheit war deßhalb nicht weniger gebrochen. Alle villeins haben ein gleichartiges, wenn auch kein gleiches Recht; alle labourers ſtehen unter dem Geſetze; das Gericht gehört nie und nir - gends mehr dem Grundherrn, ſondern dem Könige; der Grundherr des Continents exiſtirt in England überhaupt nicht, ſondern aus dem feudalen Lord iſt ein Großgrundbeſitzer geworden. Das iſt der materielle Schluß der erſten großen Epoche; den formalen bringt nun dafür das wohlbekannte Stat. 12. Ch. II. 24 von 1672. Dieſes Statute, von welchem Blackſtone ſagt, es ſei a greater acqui - sition to the civil property of this kingdom than even magna charta itself (II. 5.) beſtimmt nun folgende Grundſätze, die in Be - ziehung auf das Obige leicht zu erklären ſind. Erſtlich, daß alle Arten von tenures (ſ. unten), die vom Könige oder von einem an - dern gehalten werden, zu einem freien Eigenthum gemacht werden ſollen, daß ſie alſo nach continentalem Begriffe aus einem Lehn zu einem Allod erhoben werden. Das bezeichnet das Geſetz jetzt als Er - hebung aller dieſer tenures into free and common soccage; die124 Beſitzer ſind für ihren Beſitz den alten Lords der normanniſchen Eroberer auch formell gleichgeſtellt. Zweitens als natürliche Folge davon werden alle Arten von Abgaben, die aus dem feodal system von Seiten dieſer subtenentes an den früheren tenants in capite, theils in recognitionem dominii, theils als wirkliche Lehnsabgabe beſtehen, aufgehoben. Dadurch ſind die vom Stat. 12 ausdrücklich angeführten fines for alienation (beim Verkauf des Lehngutes), tenures by homage (der Lehnseid und ſeine Leiſtung), knigths service (ritterlicher Dienſt), and escuage (für die feierliche Aufnahme in das Dienſtverhältniß), aids for marrying this daughter or knigththing the son (Abgabe für die Ausſteuer der Tochter oder den Sohn des Herrn) und endlich alle Leiſtung und alles Obereigenthum des Königs überhaupt all tenures of the king in capite aufgehoben worden. Drittens werden, gleichfalls dem entſprechend, alle auf dieſe Rechte bezüglichen Gerichtsinſtanzen und andere Lehnsleiſtungen courts of ward and li - veries, and all wardships, liveries, primes seisins and ousterlemains) abgeſchafft. Dieß Geſetz iſt das erſte Entlaſtungsgeſetz in der europäiſchen Geſchichte; es hat daſſelbe wohl viel dazu beigetragen, überhaupt die Regierung Karls II. in England noch erträglich zu machen, und wir wundern uns billig, daß Macaulay keine weitere Rückſicht darauf nimmt. Allein allerdings iſt dieß Geſetz nur die Entlaſtung der urſprünglich freien Lehnsbeſitzer, und hat mit der Ent - laſtung des urſprünglich unfreien Beſitzes gar nichts zu thun; die Be - wunderung Blackſtones iſt uns nicht wohl verſtändlich, wenn er ſagt, das Statut von Karl II. habe exstirpated the whole, and demolished booth root and branches of the military tenures. Denn daſſelbe fügt ausdrücklich hinzu save only tenures in franc almoign (ſ. unten) copyholds, and the honorary services (without the slavish parts) of grand serjanty. Das heißt, die aus dem alten Recht hervorgehende Stellung des urſprünglich unfreien Bodens, die zu dieſer Zeit bereits als copyhold allgemein anerkannt iſt, bleibt beſtehen. Damit iſt die Grundlage der zweiten großen Epoche der engliſchen Agrarver - faſſung gegeben, deren rechtliche Natur und Geſtaltung die nunmehr folgende iſt.

Zweite Epoche. Von 12. Ch. II. c. 24 bis zum 19. Jahrhundert.

Setzt man nun als formellen Schlußpunkt der erſten Epoche das obenerwähnte Geſetz, ſo iſt die Grundlage der engliſchen Agrarverfaſſung bis zur neueſten Zeit ſehr leicht zu erklären, nur muß man allerdings125 daran feſthalten, daß es ſich zunächſt gar nicht auf die bisher unfreie Klaſſe, alſo auch nicht auf den copyhold oder die Reſte des villenagium bezieht, ſondern nur auf die ganze Klaſſe des freien Eigenthums, das dem Namen nach nach dem feodal system als Eigenthum des Königs galt. Für dieſe Klaſſe iſt die Anerkennung des freien und vollgültigen Eigenthums durch jenes Geſetz, nämlich das formelle Ende des oben dargeſtellten, ſpecifiſch engliſchen feodal system. Das Obereigenthum der Krone an jeden Grundbeſitz iſt aufgegeben, und an ſeine Stelle tritt das individuelle Eigenthumsrecht des rechtmäßigen Beſitzers. Dieſen Uebergang macht das engliſche Recht durch, ohne daß der Gedanke einer Entſchädigung jemals aufgetreten, und ander - ſeits, ohne daß die Beſeitigung öffentlicher Verwaltungs - oder Polizei - rechte nöthig geweſen wäre, da die Lords eben keine Patrimonialjuris - diction jemals anders als über die villeins en gros beſeſſen, und auch dieſe durch das ſtatutariſche Recht der wages und durch die Manu - miſſionen verloren hatten. Das Ende des feodal system iſt daher die Herſtellung des Privateigenthums an die Stelle des lehnsrecht - lichen Eigenthumsſyſtems für die Großgrundbeſitzer. Allein die weitere Frage iſt nun die, ob jenes Geſetz auch direkte oder indirekte Folgen gerade für die zweite Klaſſe des Grundbeſitzes, die wir bezeichneten, gehabt hat, und ob es damit eigentlich dem Proceſſe der Entlaſtung angehört.

Um dieß zu erklären, müſſen wir auf zwei Ausdrücke hier eingehen, deren Verſtändniß der ſonſt ſo klare Blackſtone nicht ganz beſitzt. Das ſind die beiden Bezeichnungen von tenure oder tenementum, und die von estate.

Der Ausdruck tenure nämlich bedeutet kurz geſagt den Rechts - titel auf den Grundbeſitz, inſofern derſelbe aus dem feodal system ſtammt. Tenere bedeutet den Beſitz unter dem oberſten Recht eines andern halten. Dieß Recht hat nun hier wie immer gewiſſe Modi - fikationen, die theils aus dem lehnsrechtlichen Erwerb des Beſitzes, theils aus den lehnsrechtlichen Verpflichtungen, die mit dem Beſitze ver - bunden ſind, hervorgehen. Jede dieſer Modifikationen heißt nun eine beſondere Art der tenure, die in vier Hauptarten zerfielen, te - nure in capite, tenure in soccage, tenure in villenagium privilegia - tum und tenure in villenagium die erſte die der Barone der nor - manniſchen Eroberer, die zweite die der freien Angelſachſen, die dritte die der Freien auf unfreiem Boden, die vierte die der Unfreien auf unfreiem Gut. Von dieſen tenures betrifft nun das Stat. 12. Ch. II. 24. nur die beiden erſten, und gibt ihnen an der Stelle des Lehns - eigenthums das bürgerliche Eigenthumsrecht. Für dieſe verſchwindet126 daher jetzt der Ausdruck und Begriff der tenure, und an ſeine Stelle tritt der Begriff und das Wort der estates, Grundbeſitz im bürger - lichen Eigenthume; ſie ſind gleich, und wenn man von nun an noch den Ausdruck freehold gebraucht, ſo hat er nur noch die hiſtoriſche Bedeutung, daß dieſe freehold früher unmittelbares Kroneigenthum geweſen iſt; das Verhältniß des Grundbeſitzes zum Könige iſt auf - gehoben. Der copyhold dagegen ſteht zu dem Könige zwar in keinem direkten Verhältniß; doch aber war der König mittelbar Obereigenthümer auch für die copyholder. Und die Frage mußte daher jetzt entſtehen, ob das Rechtsverhältniß des copyholders, das aus der tenure in vil - lenagium purum oder privilegiatum hervorgegangen durch das Stat. 12. Ch. 24 nicht modificirt worden ſei.

Hier nun muß man das formale von dem materiellen Verhältniß wohl unterſcheiden.

In der That nämlich hatte der Lord bis zum Stat. 12. Ch. II. dieß Recht auf dieſe Leiſtungen des copyholders doch im Grunde nur vermöge ſeiner tenure in capite als Vertreter des Königs gehabt. Die Aufhebung der tenures nun macht ihn dagegen zum privatrechtlichen Eigenthümer der Leiſtungen des copyholders; oder, das Recht auf dieſe Leiſtungen entſprang nicht mehr aus der tenure in capite, ſondern aus dem Privateigenthum. Sie bilden daher auch mit dem Eigenthum am Grund und Boden Ein Ganzes und der Begriff der estate enthält daher jetzt für den Großgrund - beſitzer zugleich den Beſitz des Grundes und Bodens, und die Geſammt - heit der Rechte, welche aus der Rent roll über die copyholders entſprin - gen, und die an ſich ja durch Aufhebung des feodal system gar nicht ge - ändert werden. Allein während die tenure des freehold ſomit gegen - über dem Könige verſchwindet, bleibt ſie der hiſtoriſche Rechtsgrund für die Verpflichtungen des copyholders; ſie iſt der juriſtiſche Beweis für den Grundherrn; der title, für ſeinen Beſitz und ſeine Rechte, die estate, und zugleich der juriſtiſche Beweis für den copyholder gegenüber dem älteren Lord auf ſeinen zwar zum Theil ſehr ſchwer belaſteten, aber doch vererblichen und im Verkehr freien Beſitz. Man kann ihn daher zur Bezeichnung der Agrarverhältniſſe nicht entbehren, nur iſt er ſelbſt kein Rechtsverhältniß, ſondern nur der hiſtoriſche Grund des Agrarrechts. Und daher denn erklärt es ſich, daß tenure, estate und title ſelbſt bei den ſonſt vollkommen klaren Juriſten wie Blackſtone und Anderen, noch immer durch einander gebracht werden, und daß der copyholder noch immer als tenant des Herrn erſcheint, was eben ſo wenig richtig iſt, als ob der Beſitzer eines mit Servituten belaſteten Grundſtücks als der Laſſe des praedium dominans erſchiene. Zugleich erhielt ſich juriſtiſch das ganze Syſtem der alten Bezeichnungen der127 Leiſtungen; und ſo ſind ſolche Sätze verſtändlich, die ſonſt gar nicht für die Zeit nach Karl II. zu erklären ſein werden; wie die von Cal - thorpe (On Copyholds 53. 54 ): Copyholds and customary tenants differ not so much in nature as in name, was offenbar falſch iſt für das Princip, wenn es auch richtig iſt für das Objekt des Rechts; for although some be called copyholders, some customary some, tenants by the virge, some base tenants, some bond tenants, and some by one name and some by the other, yet thy do all agree in substance and kind of tenure nur daß es ſtreng genommen eben gar keine tenure mehr gibt; oder wie Blackſtone I. 9: Al - most every copyhold tenant tenant gibt es der Sache nicht mehr beeing thus tenant of the will of the Lord according to the custom of the manor eigentlich ein vollkommener Widerſpruch, da der will of the Lord zwar einmal die Leiſtungen des früheren tenant beſtimmt hat, jetzt aber, da dieſe Leiſtungen Grundlaſten ge - worden ſind, ſelbſt eben ſo wenig bedeutet, als der Wille des Ver - leihers bei einer Servitut, wenn ſie verliehen iſt. Solche Verwirrungen ließen ſich zu hunderten anführen. So gut ſie auch aus der Geſchichte ſich erklären, ſo ſind ſie es dennoch, welche die engliſche Agrarverfaſſung in ihrem ſonſt ſo einfachen Verſtändniß ſchwierig gemacht haben. Hält man jedoch das Obige feſt, ſo wird namentlich Blackſtones Darſtellung vollkommen klar, wenn er eintheilt: Ch. IV. of the feodal system, Ch. V. of the ancient English tenures, Ch. VI. of the modern English tenures, Ch. VII. of freehold estates. Die freehold estates ſind die aus den angeführten hiſtoriſchen Gründen mit keinen Leiſtungen an den früheren Lord belaſteten soccage tenures; die estates less them freehold Ch. IX ſind Grundbeſitzungen, die noch mit den Grundlaſten der Lehnszeit grundbücherlich würden wir ſagen, belaſtet blieben. So einfach nun auch dieß Verhältniß formell erſcheinen mag, ſo trat doch in der Wirklichkeit ein zweites hinzu, das die obige Unbeſtimmtheit in der Bezeichnung nur noch mehr beförderte, und das in mehr als einer Beziehung dieſe ganze Epoche beherrſcht. Das war dasjenige, was auch die Juriſten des vorigen Jahrhunderts, wie Blackſtone, den tenant at will nennen, und das eigentlich die Schwierigkeit der ſpä - teren Agrarverfaſſung bildet.

Um dieſes zu erklären, müſſen wir allerdings einen Schritt zurück - gehen.

Als nämlich die großen Grundherren ſahen, daß die customary tenants eben durch ihren dominirenden Beſitz nach dem custom das Eigenthum an der in tenure gegebenen Hufe genommen, und dieſes Ei - genthum invariabel ward was ja eben das Recht des copyholders128 ausmacht da fühlten ſie, daß dieſe tenure ihnen doch im Grunde, trotz des Beibehaltens der Ausdrücke von tenant und villenagium die Gewalt über den Hinterſaſſen nahmen. Sie begannen daher viel - fach, diejenigen Hufen, die noch nicht in copyhold übergegangen waren, deren Leiſtungen alſo noch nicht durch custom vollkommen beſtimmt er - ſchienen, entweder gegen eigene Verträge, oder wenigſtens gegen das Recht zu überlaſſen, daß ſie zwar nicht die Laſten der Hufe vermehren können gegen die custom, wohl aber nicht gezwungen ſein ſollen, den Beſitzer dauernd zu belaſſen, oder als Erbpächter ſitzen zu laſſen; ſon - dern daß es vielmehr von ihrem Willen abhangen ſolle, ob der Pächter bleibt oder nicht. So war der Beſitzer einer ſolchen Hufe nur durch den Willen des Lord Beſitzer; er war in der That ein tenant at the will of the Lord; er war ein Pächter im neuern Sinn, das was wir den farmer nennen. Damit dann entſtand eine ganz neue Claſſe. Sie war nicht eine Klaſſe von Eigenthümern, wie die free - holders und copyholders, ſondern von Pächtern. Ihre Verpflich - tungen wurden vertragsmäßig feſtgeſtellt; der Vertrag ſelbſt hieß lease, und ſo entſtehen die leaseholders, vertragsmäßige Pächter auf der dem Grundherrn gehörigen Hufe, der estate. Die leaseholders ſind nun wieder je nach dem Rechtsakte, durch den ſie die Pacht gewinnen, tenants und hier ſollte man ſagen farmers for years ge - wöhnliche Pächter, mit Pachtvertrag, der wieder eine Menge von For - men haben kann; oder ſie ſind tenants (farmers) by will, frei künd - bare, jeden Augenblick entlaßbare Pächter so that either of them may determine his will, and quit his connexions with the others at his own pleasure (Blackſtone I. 9) oder ſie ſind tenants by sut - france wo über die Bedingungen gar nichts ausgemacht wird, und ohne Vertrag das Pachtverhältniß durch ſtillſchweigende Verlängerung fortbeſteht. Es iſt kein Zweifel, daß wir in dieſen tenants nicht mehr eine geſellſchaftliche, ſondern eine wirthſchaftliche Klaſſe vor uns haben, wieder alſo von einer Anwendung des Begriffs der Ent - währung keine Rede ſein kann. Allein in der Wirklichkeit war jene Gränze ſehr ſchwer zu ziehen zwiſchen der neuen Klaſſe der farmers und der alten, der copyholders. Denn formell waren ja auch die copy - holders urſprünglich tenants at the will of the lord, nur daß die Bedingungen, unter denen ſie das Eigenthum erworben, oder eben dieſer will of the Lord, nicht mehr als Vertrag erſchien, ſondern als eine Reallaſt. Andrerſeits ſaßen viele von den Hinterſaſſen des manor vielleicht ſchon von älteſter Zeit ſo auf dem Gute, daß es zu keiner gewohnheitsrechtlichen Fixirung der servitia gekommen war, und daß daher weder eine feſte court roll, noch mithin eine copy davon exiſtirte. 129In manchen Fällen ſcheuten ſich beide Theile davor, dieſe Leiſtungen vor Gericht zu bringen, und der Herr ließ dann den alten villein ſitzen, ohne daß es zu irgend einer feſtern Rechtsbildung zwiſchen beiden kam, was man die tenants at suffrance nannte. Offenbar bildete nun die Geſammtheit dieſer Fälle den Uebergang von dem copyhold zu dem freien Pachtvertrag, und da bei ihnen der Hinter - ſaſſe ſtets von dem Willen des Grundherrn abhängt, ſo umfaßte man ſie gleichfalls mit dem Geſammtausdruck tenants by will, ſo daß der letztere jetzt im Grunde drei Klaſſen bedeutet, den copyhold, dem Reſt der alten villeins, die nicht zu einer Fixirung ihrer servitia und daher auch nicht zum Eigenthum gelangt, und deßhalb jeden Augen - blick, oder doch beim Todesfall entfernbar waren, und endlich den wirklichen Pächter, den farmer, der auf Grundlage eines Vertrages auf dem Gute ſaß. Der will war im erſten Fall ſchon gemeinrechtlich in feſte Laſt umgewandelt, im zweiten war er eigentlich reine Willkür, im dritten war ein Pachtvertrag, lease. Die Exiſtenz der letzten beiden Formen war es nun, welche dem Lord noch ſeine Herrſchaft über ſeine Hinterſaſſen ſicherte; zwar war die Abhängigkeit des feodal system und die perſönliche Unfreiheit des villein in dieſer zweiten Epoche ver - ſchwunden, allein die wirthſchaftliche Abhängigkeit blieb. Und dieſe wirthſchaftliche Abhängigkeit erzeugte ein Verhältniß, das faktiſch dem der lehnsrechtlichen tenures und tenants ganz gleich war; es war der des durch den Beſitz beherrſchten Nichtbeſitzes, auf den man daher den lehnsrechtlichen Begriff des tenant (by will) ohne weiteres neben dem des estate anwendete. So iſt die Verſchmelzung dieſer Begriffe und die Unklarheit in den Vorſtellungen entſtanden, die uns neben der völligen Klarheit über das Lehnsweſen ſo wie über das eigentliche - miſche Recht des Miethvertrages ſchon bei den ältern wie Littleton, und nicht minder bei Blackſtone überraſcht; ja ſelbſt die neueſten Schriftſteller ſind durchaus nicht klar geworden, wovon Sugenheim Beiſpiele genug bietet.

Um ſich nun hier eine definitive Grundlage zu ſchaffen, muß man feſthalten, daß der eben bezeichnete Zuſtand der tenure oder der estate by will eben einen Uebergang von der Lehnsepoche zur ſtaatsbür - gerlichen bildet, und daß dieſer Uebergang ſeinerſeits in dem allmäh - ligen Verſchwinden der Reſte der alten tenure by will beſteht, indem ein förmlicher Pachtvertrag, oder eine copyhold, an die Stelle der rein auf der Willkür des Herrn beruhenden Stellung des tenant of will tritt. Denn namentlich dem Bauern war jeder landwirthſchaftliche Aufſchwung unmöglich, wenn kein feſtes Verhältniß zwiſchen ihm und dem Grundherrn eintrat; am Ende hatte aber auch der letztere indirektStein, die Verwaltungslehre. VII. 9130Schaden genug davon. Der ganze zweite Zeitabſchnitt, von dem wir hier reden, enthält daher die allmählige Auflöſung dieſes willkürlichen Verhältniſſes in feſte Pachtverträge, und das Entſtehen der großen Klaſſe der farmer neben der der Eigenthumsbeſitzer, welcher nunmehr der Unterſchied in dem Rechtsverhältniß des Grundes und Bodens ent - ſpricht, der durch die Ausdrücke freehold estates und estates less than freehold, wie bei Blackſtone, nicht glücklich bezeichnet wird, da die freehold estates die laſtenfreien Grundbeſitze ſind, die durch Stat. 22. Ch. II. 24 Eigenthum wurden, während die estates less than freehold ſowohl das belaſtete Eigenthum der copyhold, als das der tenants by will im neueren Sinne bedeutet, während er das Recht der Farmer als estates upon condition kategoriſirt. Man muß ſich von jener Vorſtellung definitiv los machen, da ſie nur verwirrt. Zum Grunde liegt allerdings die Vorſtellung, daß der Lord eine gewiſſe moraliſche Verpflichtung habe, den tenant by will nicht nach Willkür fortzujagen, und dieß Gefühl iſt es, das bei Blackſtone und den andern in jener Verwirrung ſeinen Ausdruck findet. Dem Recht nach hat es keine Bedeutung. Die wirklich vorhandenen rechtlichen Kategorien des Agrar - rechts dieſer Epoche ſind freehold, copyhold und leasehold, und der Entwicklungsgang geht dahin, für alles, was nicht freehold und co - pyhold iſt, einen feſten Pachtvertrag einzuführen, um vermöge des - ſelben die Grundſätze der reinen ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft an die Stelle der alten Geſchlechterordnung zu ſetzen.

Auf dieſe Weiſe ergibt ſich nun, daß das Stat. 12. Ch. II. 24 in ſo fern einen indirekten Einfluß auf das Agrarrecht der niederen Klaſſe hatte, als ſich die Vorſtellung von einer lehnsrechtlichen Abhängigkeit der alten tenants noch erhalten kann ſelbſt bei den copyholders, und daß ſie faktiſch fortbeſteht in den angedeuteten Reſten der alten tenure by will und by suffrance, die wie geſagt erſt allmählig verſchwinden und dem Syſtem der leaseholds mit dem ganz freien farmer Platz machen. Daneben nun wird das zweite große Verhältniß der länd - lichen Unfreiheit, das ſich ganz ſelbſtändig neben dem erſten, oben be - zeichneten entwickelt hatte, die ſtändiſche Grundabhängigkeit von dem Stat. 12. Ch. II. 24 gar nicht berührt. Dieſes beſtand in zwei Haupt - formen; dem franc almoign und dem tithes.

Die tenure in franc almoign, tenementum in libera elemosyna, (free alms Almoſen) entſteht nämlich da, wo der Kirche ein Grundſtück geſchenkt wird. Hier begegnen wir dem Punkte, wo die ſtändiſche Ordnung die Geſchlechterordnung und ihr Recht auch im Grundbeſitze geradezu aufhebt, ein Verhältniß, das wir als ein ſpeci - fiſch engliſches betrachten müſſen, und das nur durch das feodal system131 ganz verſtändlich iſt. Die Kirche wird als eine vollkommen ſelbſtändige Macht, und ihr Dienſt als ein über dem Lehnsdienſt ſtehender an - geſehen this divine service was of a higher and more exalted nature than fealty. (Littleton §. 131 135. Blackſtone I. 6. V.) Demgemäß konnte jeder der Kirche ein Grundſtück ſchenken, ohne daß das Recht des Königs dadurch beeinträchtigt erſchien, und mit dieſer Schenkung hörte die fealty gegen den König auf. Die Klöſter und Kirchen, aber auch die Weltgeiſtlichkeit (the parochial clergy) beſaßen meiſtens unter dieſem Titel ihr Land; ſie nun ihrerſeits konnten wieder dieſes Land den Landwirthen überlaſſen; dadurch entſtand eine eigne Art der tenure, und das war die tenure in franc almoign a tenure of a nature very distinct from all others, beeing not in the last feodal, but merely spiritual (Blackſtone). Die Hinterſaſſen der franc almoign waren nur verpflichtet zu der ſogenannten trinoda necessitas, Wege zu machen, die Burgen zu bauen und Einfälle abzuwehren. Eben wegen dieſer ganz exceptionellen Stellung des franc almoign gegenüber dem feodal system, und wohl auch weil die Kirche den feſten Halt der Angelſachſen gegenüber den Normannen bildete, ſahen die normanniſchen Könige das franc almoign ſtets mit ungünſtigen Augen an, bis Eduard I. das Geſetz erließ, daß nur der König Land unter dieſer tenure verleihen könne (18. Edw. I. Blackſtone I. 6. fine). Was jedoch einmal unter derſelben der Kirche gegeben war, blieb; und wie wir geſehen, hob auch das Stat. 12. Ch. II. 24 die tenure in franc almoign nicht auf; ſie blieb daher beſtehen, und erhält ſich auch in dieſer zweiten Epoche; nur iſt das eine Ausnahme, während das Fol - gende allgemein iſt.

Dieß nun ſind die Zehnten, die tithes, die vielleicht nirgends in ihrer Reinheit ſo ſehr erſcheinen, als eben in England. Hier ſind ſie nämlich weder eine königliche, noch eine lehnsherrliche Abgabe, ſondern nur eine rein ſtändiſche an die Kirche. Da ſie auf das Recht auf den Grund und Boden, die tenure, keinen unmittelbaren Einfluß hat, ſo wird ſie von den Juriſten nicht beachtet. Wohl aber iſt es der Mühe werth, ihren Charakter hier zu bezeichnen. Wir glauben jede Unterſuchung über Ur - ſprung und Weſen derſelben hier bei Seite laſſen zu ſollen. Gewiß iſt aber, daß ſie in dieſer Epoche in ſoweit fortbeſtehn, als jede einzelne Kirche ein wohlerworbenes Recht darauf nachweiſen kann, und daß ſie ſomit als die ſtändiſche Form der Grundlaſt neben der Geſchlechtergrundlaſt, die ſich in copyholds noch erhält (ſ. unten), durch die ganze neue Um - geſtaltung des Geſchlechterrechts gar nicht berührt wird, während auf dem Continent die, dieſe ganze Entwicklung charakteriſirende Ver - ſchmelzung der Geſchlechter - und ſtändiſchen Herrſchaft ſich auch auf132 die Zehnten erſtreckt. Staatszehnten (dîme royale) und herrſchaftliche Zehnten gibt es in England nicht. Die Zehnten haben ihre eigene Geſchichte, und erſcheinen ganz unabhängig von den Grundlaſten eigent - lich erſt da, wo der Proceß der Grundentlaſtung in der folgenden Epoche beginnt.

Dieſes nun ſind die Elemente des Grundrechts oder der Agrar - verfaſſung in dieſer zweiten Epoche. Ihr Charakter liegt jetzt wohl klar vor. Der Grundherr hat den letzten Reſt ſeines Privatrechts an öffentlichen Funktionen als Inhaber der Gerichtsbarkeit über die beſitz - loſen villeins verloren; es gibt keine Spur mehr von einer Patrimo - nialgerichtsbarkeit; die Grundlaſten des copyholders ſind reine grund - bücherliche Servituten (in faciendo); der leaseholder iſt privatrecht - licher Pächter; die wenigen tenants in franc almoign haben ein Ver - hältniß wie die copyholders, und die Zehnten beſtehen als Grundlaſt fort. Damit iſt die Thatſache feſtgeſtellt, daß der continentale Begriff der Grundentlaſtung in England überhaupt nicht Platz greifen kann, indem derſelbe die Verſchmelzung eines öffentlichen Rechts mit dem Privatbeſitz zum Gegenſtande, und den Uebergang des öffentlichen Rechts, das in der Patrimonialjurisdiktion lag, an den Staat oder die Gemeinde zur Folge hatte. Die Entlaſtung in England iſt daher faſt von Anfang an nur eine Ablöſung, und die folgende dritte Epoche iſt daher nichts anderes, als der große Proceß der Ablöſung, welcher die völlige Freiheit des Grundbeſitzes in England definitiv herſtellen ſoll.

Und jetzt können wir zum Schluß dieſer Epoche eine frühere all - gemeine Bemerkung mit ſpecieller Beziehung auf England wieder auf - nehmen. Da nämlich vermöge des feodal system von Anfang an eine Verſchmelzung des öffentlichen Rechts mit dem Privatrecht auf dem Grundbeſitz überhaupt unmöglich war, und da ſich inzwiſchen der kleine und mittlere Grundbeſitz zur völligen Selbſtändigkeit entwickelt, ſo kann auch dasjenige gar nicht entſtehen, was die Grundlage der innern Verhältniſſe des Continents bildet, die Grundherrlichkeit, und nament - lich nicht die grundherrliche, das iſt die gutsunterthänige Ge - meinde. Die Mitglieder der Gemeinde müſſen daher von Anfang an ihre innere Verwaltung ſelbſt übernehmen; und das war um ſo na - türlicher, als die alte angelſächſiſche Gemeinde eigentlich nie ganz untergegangen war. Da der Grundherr nun weder Eigenthümer war, noch auch das Gericht hatte, ſo mußte die Gemeinde gleich anfangs beginnen, die Grundlagen der Selbſtverwaltung bei ſich aus - zubilden; und damit geſchah das, was die Baſis auch noch der gegen - wärtigen Geſellſchaftsordnung Englands iſt; der Lord iſt nicht mehr Herr der Gemeinde, ſondern er iſt nur Großgrundbeſitzer; die133 Gemeinde verwaltet ſich ſelbſt, und der Herr kann ſich höchſtens an die Spitze dieſer Selbſtverwaltung ſtellen, ohne ſie beherrſchen zu dürfen oder zu können. Daraus folgen die Elemente der innern Entwicklung Englands. Einerſeits muß der geſammte Adel, will er noch einen Einfluß auf öffentliche Dinge haben, ihn dadurch gewinnen, daß er nicht wie auf dem Continent im Namen des eigenen Rechts, ſondern im Namen des Königs die ſchwierigern Aufgaben der Ver - waltung freiwillig übernimmt, und ſeine Einnahmen aus den copy - holds und leaseholds für ſeine öffentliche Stellung verwendet. Das thut der Adel in England wirklich; und die ehrende Anerkennung dieſer Bereitwilligkeit blieb weder von Seiten des Bauernſtandes noch von Seiten der Krone aus. Der Bauernſtand umfaßte die Geſammt - heit aller jener Großgrundbeſitzer, wenn ſie nicht durch ſehr großen Beſitz der nobility angehörten, ſondern mit geringerem Maße von freeholds ein angemeſſenes Einkommen verbanden, als die gentry des Landes, die allenthalben ihre freie Arbeitskraft dem öffentlichen Wohle zuwendete, und die daher der freie Bauer auf dem kleinen Grunde, ſei es nun daß derſelbe ein freehold, ein copyhold oder ein leasehold war, als ſein natürliches Haupt anſah. So bildeten ſich hier zwei neue Klaſſen der Geſellſchaft, deren Unterſchied auf dem Beſitz und nicht auf Vorrechten beruht, die gentry und die yeoman, tauſendfach im gegenſeitigen Intereſſe verbunden, und doch vor Recht und Gericht gleich, die ſelbſtändige Freiheit in der Verſchiedenheit der Geſellſchafts - ordnung. Ich wüßte gar keine Darſtellung dieſer Verhältniſſe, die ſich an Klarheit und Einfachheit mit der von Thaer in ſeiner engliſchen Landwirthſchaft (Bd. II. 2. Th. S. 44 ff.) Unterſchied der Stände in England, in Bezug auf landwirthſchaftliche Einrichtungen meſſen könnte, ſelbſt keine engliſche; was Thaer dort ſagt, gibt ein vollkom - menes Bild der Sache; und eben ſo durchgreifend richtig iſt ſeine Dar - ſtellung der Pachtungen (ebend. S. 60 ff. ) mit der Unterſcheidung der Pacht at will, at leases (feſter Termin) und at life; Verhältniſſe, die noch gegenwärtig vollkommen gültig ſind. Hätte Thaer zugleich die Verhältniſſe der Selbſtverwaltung mit aufgenommen, ſo würde Deutſch - land ſchon damals eine Quelle für das Verſtändniß über Fragen und Zuſtände gehabt haben, die Vincke in ſeiner Darſtellung der neueren Verwaltung Großbritanniens 1815 leider nicht berührte, und deren übrige muſtergültige Darſtellung bei Thaer nur für die Landwirthe und nicht für die Staatswiſſenſchaft Deutſchlands von Einfluß wurde. Denn Englands Ordnung beruhte in der That von da an auf der all - mähligen Entwicklung ſeiner Selbſtverwaltung in der Gemeinde. Es iſt klar, daß und warum England keine geſetzlich uniformirte Gemeinde -134 ordnung in der Mitte dieſes langſamen, aber ſichern Bildungsproceſſes ſeiner innern Freiheit haben konnte; der Charakter des Gemeinderechts und ſeiner Bildung hängt im Gegentheil eng mit dem Grundſatz zuſammen, daß die Bauern, denen kein Herr etwas rechtlich ſchuldig war, nunmehr auch ſelbſt ihre eigenen Laſten für jede von der Geſetzgebung der Gemeinde auf - erlegte Pflicht ſelbſt vertheilen und tragen mußten. Daher denn kommt es, daß die Gemeinden ſich in England nicht örtlich wie auf dem Continent auf dem Gebiete des Grundherrn bilden, ſondern vielmehr an den Aufgaben der inneren Verwaltung entſtehen. Jedesmal wenn eine ſolche Aufgabe beſtimmt auftritt und feſte Geſtalt annimmt, bildet ſich die Gemeinde ſelbſt zu dem, dieſe Aufgaben auf Grundlage eigener Steuern vollziehenden Selbſtverwaltungskörper, der urſprünglich die Kirchengemeinde zum Grunde liegt, und an welche ſich dann die Straßen - und Wege -, die Schul - und namentlich die Armengemeinde anſchließen. England iſt daher das Vaterland der Verwaltungsgemeinde, wie es das der Selbſtverwaltung der Landgemeinde iſt; und die Grundlage dieſer großen Thatſache iſt die Freiheit des Grundbeſitzes. Andrerſeits aber entwickelt ſich eben deßhalb dieß Gemeindeweſen auch nicht plötz - lich, ſondern gleichſam ſtückweiſe, nicht durch Geſetze, ſondern durch ſeine Aufgaben und durch ſeine Steuern, und es wird jetzt klar ſein, daß es weder einer beſondern Anſtrengung noch der mit dem neun - zehnten Jahrhundert begonnenen Ablöſungen bedurfte, um die Selbſt - verwaltung des alten Englands und ſeine bäuerlichen Verhältniſſe zum Muſter für das übrige Europa zu machen.

Und jetzt wird es leicht ſein, die dritte und letzte Epoche in Eng - lands Agrarverfaſſung zu charakteriſiren.

Dritte Epoche. Die Grundentlaſtung. 6. 7. Will. IV. 71. 4. 5. Vict. 35. 9. 10. Vict. 73.

Blickt man nun auf die frühere Darſtellung zurück, ſo ergibt ſich als Grundlage der Aufgaben unſers Jahrhunderts in England folgendes.

Allerdings gibt es nämlich in England keine Grundherrlichkeit. Wohl aber bleiben aus der eben dargeſtellten Epoche zwei Formen der Grundlaſten übrig, die eine der Reſt der Geſchlechterordnung, die an - dere die der ſtändiſchen Ordnung. Die erſte dieſer Formen iſt die Ge - ſammtheit aller der Dienſtbarkeiten, welche als mit dem Grund und Boden verbunden, noch auf dem copyhold ruhen. Dieſelben werden gebildet durch die Summe der Verpflichtungen, welche die alte custom oder der ausdrückliche will des Lord of the manor dem alten Ueber - nehmer des villenagium, gleichviel ob es perſönlich frei oder villein135 geweſen, auferlegt, und in der court roll aufgezeichnet oder die der customary court, als nach dem custom zum common law erhoben, an - erkannt hatte. Natürlich waren dieſe Verpflichtungen und Leiſtungen ſehr verſchieden; gemeinſchaftlich aber war ihnen allen, daß ſie mit dem öffentlichen Recht des Grundherrn gar nichts zu thun hatten. Die zweite Form waren die tithes, die Zehnten, welche die Bauern als Glieder der Kirchengemeinde an die Kirche zu entrichten hatten.

Schon im vorigen Jahrhundert beginnt nun eine Bewegung, welche ſich auch gegen dieſe Reſte der alten Unfreiheit wendet. Dieſe Bewegung aber, da jene Reſte keine öffentlichen Rechte des Grundherrn enthalten, iſt keine politiſche. Sie geht vielmehr von der Nationalökonomie aus und fordert im Namen der Geſetze der Arbeit und des Werthes, daß beide Arten der Leiſtungen aufgehoben werden. Der Hauptvertreter dieſer Auffaſſung war Adam Smith, und es war wohl nicht der letzte Grund ſeines Einfluſſes, daß er ſich an die Spitze jener, dem geſunden Sinne des volkswirthſchaftlich gebildeten engliſchen Volkes ſo leicht ver - ſtändlichen Forderung ſtellte. Adam Smith iſt in der That der erſte, der das ganze Verhältniß des abhängigen Bauernſtandes mit derſelben einfachen Klarheit in der Nationalökonomie behandelte, mit der Black - ſtone es für die Jurisprudenz darſtellte. Man ſollte über die Literatur des vorigen Jahrhunderts in England nie ſprechen, ohne dieſe beiden hoch bedeutenden Männer neben einander zu ſtellen. Adam Smith machte darauf aufmerkſam, daß nicht nur die niedere Klaſſe des Volkes in höchſt ungerechter Weiſe durch die höhere ausgebeutet werde, ſondern wies auch darauf hin, daß dieß Verhältniß, das ein zum Theil höchſt drückendes für den Landmann war (metayers und das Urtheil über dieſelben im Bd. II. ), für das ganze Volk verderblich ſei. Er wird dabei bitter und oft ungerecht All for ourselves and nothing for other people, seems in every age of the world to have been the vile maxim of the masters of mankind und mit Recht bekämpft Eden bei aller Hochachtung, die er für Adam Smith hat, dieſe zu weit grei - fende Verurtheilung. In der That konnte ſich England wohl in jener Zeit vor allen Ländern Europas zu ſeinen inneren Zuſtänden Glück wünſchen; aber der Gedanke haftete doch, daß jene Laſten einen tiefen Widerſpruch mit der ganzen volkswirthſchaftlichen Entwicklung enthielten (vgl. unter anderm Macculloch II. 269). Und ſo ſehen wir denn England, zum Theil unter dem gewaltigen Eindruck der franzöſiſchen Revolution und ihrer gänzlichen Beſeitigung aller Feudalreſte, mit dem Anfang unſeres Jahrhunderts an die Arbeit der Ablöſung gehen, welche wie geſagt, das Entlaſtungsweſen in England vertreten.

Blackſtone erzählt, daß ſchon James II. den Gedanken gehabt136 habe, die alten Lehnsleiſtungen, aber freilich wohl nur die der tenentes und subtenentes, nicht die der copyhold, gegen eine Geldleiſtung abzulöſen, und das Stat. 22. Ch. II. 24 war im Grunde nichts anderes, als eine ſolche Geldablöſung, da daſſelbe als Ablöſungspreis eine dauernde Getränkeſteuer an den König ausbedang (Blackſtone II. V). Das Ende des vorigen Jahrhunderts zeigt nun in England denſelben Proceß, der ſtets der geſetzlichen Ablöſung vorangeht, den Verſuch, dieſelbe durch gegenſeitige freie Vereinbarung zu Stande zu bringen. In der That hatte der Zehnte ſchon im 18. Jahrhundert ſeine alte Geſtalt als Naturalzehnte verloren, und war zu einer Geldleiſtung in den meiſten Theilen von England geworden. Dennoch beſtand er zum Theil fort, zum Theil wurde die Leiſtung jährlich neu vereinbart, und die Folgen davon ließen es als unmöglich erſcheinen, dieſen Zuſtand fortdauern zu laſſen (Thaer, engliſche Landwirthſchaft III. 83 ff.) Ja es traten zum Theil direkte und gewaltſame Verweigerungen des Zehnten ein, und daran ſchloßen ſich gerne diejenigen copyholders an, die auch jetzt noch ſtatt einer mäßigen Geldrente an den Grundherrn wirkliche, wenn auch ſtreng gemeſſene Frohnden leiſten mußten (Thaer, engliſche Land - wirthſchaft II. 2. 49. III. 139). Die Bewegungen des Landmannes fielen zuſammen mit denen der Städter, und die Volksvertretung mußte ſich nach heftigem Widerſtand bequemen, die ganze Ablöſungsfrage definitiv in die Hand zu nehmen. Schon 1816 war die Forderung, namentlich in Beziehung auf die Umwandlung der Zehnten ernſthaft aufgetreten; 1822 fanden heftige Debatten im Parlamente ſtatt, und 1824 ward die freiwillige Ablösbarkeit des Zehnten beſchloſſen (Pauli, Geſchichte Englands, Bd. I.; leider nicht mit gehöriger Sachkenntniß und Ausführlichkeit bearbeitet). Bei den ſcharf entgegenſtehenden Intereſſen hat dieſes Geſetz nicht viel Erfolg gehabt. Der Kampf der niedern Klaſſe gegen die höhere, der Arbeit gegen das Capital, hatte allent - halben die Gemüther zu tief erregt, und ſo geſchah hier, was allent - halben geſchehen iſt, daß nämlich die Bewegung des Volkes nach einer Reform des Parlaments, oder nach einer neuen Geſtalt der Verfaſſung, ſich von den Städten auf das Land verpflanzte, und nunmehr eben durch die Verbindung des Bauernſtandes mit dem Städter unwiderſteh - lich ward. Das feſte Capital aſſociirte ſich auch in England mit dem beweglichen, der Grundbeſitz mit dem Gewerbe, um durch eine neue Vertretung eine neue Ordnung der Laſten des Grundbeſitzes zu erzielen. Der Sturm, der 1830 in Paris losbrach, ergriff auch England. Die Reform trat ein und mit ihr ward wie immer die Erhebung der Ablöſung aus einem bloß facultativen Recht zu einer geſetzlichen Pflicht. Das geſchah durch das erſte eigentliche Ablöſungsgeſetz für die Zehnten137 6. 7. Will. IV. 71. 1836. Nachdem auf dieſe Weiſe die Zehnten der ſtändiſchen Epoche beſeitigt waren, konnte die gleichartige Ablöſung der, in der alten copyhold noch erhaltenen Grundlaſten nicht auf ſich warten laſſen. Auch hier beginnt die Geſetzgebung wie bei den Zehnten mit dem Princip der freiwilligen Vereinbarung durch das Stat. 4. 5. Vict. 35 (1841). Allein auch hier zeigt ſich das als nutzlos, und zehn Jahre ſpäter wird dieſe Ablöſung zur geſetzlichen Pflicht gemacht, ſo - bald einer der Betheiligten ſie fordert. 15. 16. Vict. 51. Dazu kam end - lich dasjenige Geſetz, welches dem continentalen Begriffe der Ablöſungen und Gemeintheilungen entſpricht, die Enlcosures Act von 1845, die, wie es ihre Natur mit ſich bringt, nicht eigentlich eine Entlaſtung iſt, ſondern eine Herſtellung des Einzeleigenthums der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft an der Stelle des Geſammteigenthums der älteſten Geſchlechterordnung. Es iſt ſchwer, zu ſagen, wie viel Einfluß auf dieſe Geſetzgebungen die deutſche Entwicklung des freien Grundrechts gehabt hat, um ſo mehr, als uns hier eingehende Darſtellungen fehlen. Allein im Großen und Ganzen iſt dennoch die Sache klar, und läßt eine ſo einfache Darſtel - lung zu, wie ſie namentlich Gneiſt (I. §. 117.) gegeben, und die auch Sugenheim (S. 318), ohne weiter auf die Quellen einzugehen, accep - tirt hat. Doch haben beide Unrecht, die Ablöſung der Zehnten und der Grundlaſten einfach neben einander zu ſtellen, da auch in dieſer Ablöſung der tief verſchiedene Charakter der Geſchlechter - und ſtändiſchen Unfrei - heit wieder zu Tage tritt, während anderſeits beide wieder eben ſo wichtige Punkte mit einander gemein haben. Die Principien der Ent - laſtung, die ſich daraus ergeben, ſind nun folgende.

Gemeinſchaftlich iſt nämlich der Entlaſtung der Zehnten und der - jenigen der Laſten zuerſt der Grundſatz, daß, da das Recht der Be - rechtigten nur ein Privatrecht iſt, daſſelbe auch in ſeinem ganzen Umfang entſchädigt werden muß, während bei der deutſchen Entlaſtung eine der Hauptfragen die nach der Scheidung der für die Gewährung einer Entſchädigung geeigneten und nicht geeigneten Rechte ſein mußte. Zweitens beruht auf dieſem rein privatrechtlichen Charakter jener Rechte der Satz, daß aus demſelben Grunde die Herſtellung der Entſchädigung ganz dem Einzelnen überlaſſen ward; England kennt für ſeine Entlaſtung weder Rentenbanken noch Entlaſtungsobligationen, wie Deutſchland. Dennoch iſt es niemanden zweifelhaft, daß dieſe Entlaſtungen eine ihrem Weſen nach hochwichtige Angelegenheit ſind und in ihrem letzten Reſultate zuſammentreffen. Daher hat man für dieſelben eine und die - ſelbe Behörde eingeſetzt, obgleich das Verfahren wieder ein ſehr ver - ſchiedenes iſt, und obgleich die eigentlichen Ablöſungen und Auftheilungen auch hier ſtrenge von den Entlaſtungen geſchieden ſind.

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Dagegen iſt der weſentliche Unterſchied zwiſchen den Zehnten und den Leiſtungen des copyhold, den ſtändiſchen und den Geſchlechterlaſten, wieder in der Art der Entſchädigung aufrecht erhalten. Und ſo hat England zwei Entlaſtungs - (oder Ablöſungs -) Syſteme neben einander.

a) die Zehntablöſung, jetzt wohl ganz beendigt, hat anfangs nicht zur Aufgabe gehabt, die Zehnten überhaupt zu beſeitigen, da ſie eben den Charakter einer Gemeindeabgabe für kirchliche Zwecke hatte, ſondern nur die Naturalzehnten definitiv in feſte Geldabgaben zu verwandeln. Die Ablöſung ſelbſt ging eben deßhalb auch nicht indi - viduell vor ſich, ſondern kirchſpielsweiſe, und konnte daher freiwillig durch die Majorität der Zehntpflichtigen, wie jede andere rate beſchloſſen werden; nur wenn dieſe Majorität nicht zu Stande kam, trat die Zwangsablöſung ein, die dann urſprünglich als eine feſte Kirchenab - gabe auf den Grundſtücken ruhte, bis auch dafür eine definitive Ab - löſung theils in Land (bis 20 Acres), theils in kleinen Beträgen durch Geld eingeführt ward (9. 10. Vict. 73). Ebenſo ward die Ablöſung der Oſter-Ablationen, Mortuarien, Stolgebühren, Fiſch - und Mineral - zehnten, alſo die ganze Summe der ſtändiſchen Grundlaſten in dieß Ablöſungsverfahren durch 2. 3. Vict. 62 einbezogen. Für dieß Ver - fahren ward eine eigene Grundentlaſtungscommiſſion eingeſetzt, die Tithes Commission, die aus drei vom Miniſterium des Innern und aus zwei vom Erzbiſchof von Canterbury beſtellten Räthen gebildet iſt. Die Geſchäfte dieſer Commiſſion ſind ziemlich abgeſchloſſen (Gneiſt I. §. 117).

b) die Entlaſtung, oder die Ablöſung derjenigen Laſten, welche noch auf den copyholds ruhten, wurde dieſer Commiſſion gleichfalls aufgetragen. Auch hier wie bei den Zehnten begann man mit der frei - willigen Ablöſung (ſ. oben 4. 5. Vict. 35); erſt als die Ablöſung zum Rechte der Betheiligten gemacht ward, ward ſie allgemein. Für dieſe nun iſt im Gegenſatze zu dem Zehnten der Grundſatz anerkannt, daß die Leiſtung für die Ablöſung nicht in Geld, ſondern in Land geſchehen muß; nur die kleinen Antheile bis Pfd. Sterl. ſind in Geld ab - lösbar (nach 8. 9. Vict. 56). Die Commiſſion beſtätigt nach vorgängiger Prüfung und Verhandlung die Ablöſungsreceſſe durch einen Special - Commiſſarius (Gneiſt a. a. O., Sugenheim S. 318. 319). Ueber die eigentlichen Ablöſungen und Auftheilungen ſ. unten.

Dieß nun ſind die Epochen und die rechtlichen Grundſätze für die Geſtalt, welche der Befreiungsproceß aus der Geſchlechterherrſchaft in England durchgemacht hat, und deſſen letzter Abſchluß auch hier durch die Auftheilungen gebildet wird. Zwei Dinge, glauben wir, ergeben ſich aus der obigen Darſtellung. Zuerſt das, daß in England genau139 derſelbe Proceß in ſeinen Elementen ſich vollzieht, der auf dem Con - tinente zu der gegenwärtigen Befreiung des Grundbeſitzes geführt hat. Dann, daß der Unterſchied dieſes Proceſſes von dem continentalen darin beſteht, daß die öffentlich rechtlichen Funktionen der Verwaltung niemals zu einem Privatrecht der Grundherren geworden ſind, und daß daher die Unfreiheit dort niemals eine ſo allgemeine und harte werden konnte, als auf dem Continent. Die engliſche Unfreiheit war daher weſentlich eine wirthſchaftliche, und nur in ſo fern eine geſellſchaftliche, und ſtaatliche, als die wirthſchaftliche Unfreiheit die letztere erzeugt. Und das nun ſind die Gründe, aus denen Englands Selfgovernment her - vorgegangen iſt. Wir aber haben geglaubt, etwas ausführlicher gerade auf dieſem Gebiete ſein zu dürfen, weil das, was wir die engliſche Agrarverfaſſung nennen, ſo oft in unklarer Weiſe dargeſtellt wird, indem man die copyhold noch oft, wie es ſelbſt Gneiſt thut, als eine customary tenure bezeichnet, was ganz geeignet, die Vorſtellungen zu verwirren. Freilich haben auch die Engländer ſelbſt das Weſen des copyhold nicht ganz verſtanden, da allerdings die Laſten der copy - hold formell noch immer auf der alten Court roll beruhen, und durch custom begründet ſind, aber keinen unfreien, ſondern nur einen mit Reallaſten beſchwerten freien Beſitz begründen. Die übrigen deutſchen Arbeiten, wie die von Maurer und Zöpfl, haben den Entwicklungsgang überhaupt, Sugenheim die Agrarverfaſſung nicht berückſichtigt. Es dürfte deßhalb die obige Darſtellung für die Aufklärung über die inneren Zuſtände Englands ihren Werth haben.

Was nun Schottland und Irland betrifft, ſo fordern ſie eigent - lich eine ſelbſtändige hiſtoriſche Bearbeitung, die uns hier zu weit führen würde. Doch werden die folgenden Bemerkungen wohl das Weſentliche im Anſchluß an die Darſtellung Englands charakteriſiren. In Schott - land zunächſt hat das engliſche feodal system niemals Platz gegriffen; der König war nie der höchſte Eigenthümer des Landes. Daher galt für Schottland das continentale Princip des Lehnsweſens, nach welchem der Grundherr zugleich das Privatrecht an den Funktionen der Ver - waltung hatte das iſt, die Grundherrlichkeit mit der vollen privaten und ſtrafrechtlichen Gerichtsbarkeit. Ja es waren ſogar die Zehnten mit der Reformation nicht etwa aufgehoben, ſondern wie auf dem Con - tinent an die Grundherrn übergegangen (ſeit 1560). Darin lag der Hauptgrund des unverſöhnlichen Haſſes der ſchottiſchen Grundherrn gegen die engliſche Herrſchaft, und das Streben, die ſchottiſche Verwal - tung von der engliſchen ſo fern als möglich zu erhalten; darin auch der Grund der Treue an das Haus Stuart, da jene feudalen Vorrechte voraus - ſichtlich nur durch ein, von den großen Grundherren gänzlich abhängiges140 Königthum geſichert erſcheinen konnten. Die ſchottiſchen Herren fühlten mit voller Beſtimmtheit, daß die Vereinigung mit dem das Princip der bäuerlichen Freiheit allenthalben verwirklichenden England zu einer Agrarverfaſſung führen müſſe, welche die ganze ſchottiſche Grundherr - lichkeit definitiv beſeitigen werde. Der letzte Kampf für dieſe Grund - herrlichkeit ward in der Schlacht von Culloden gekämpft (1746). Die Niederlage der Schotten in dieſer Schlacht war nicht bloß die Vernichtung der Stuarts, ſondern vielmehr die der alten Grundherrlichkeit. Faſt unmittelbar nachher ward daher auch die Akte von 1748 erlaſſen, welche die geſammte Grundherrlichkeit in Schottland aufhob, und an die Stelle der Patrimonialgerichte amtliche Gerichte einſetzte the abolition of all sorts of hereditary jurisdiction, and the appointment of the crown of stipendiary sherifs and other judicial officers. Macculloch, Ac - counts I. 429. Daher ſagt mit Recht der Verfaſſer eines vortrefflichen Artikels in Edinb. Review LXIII. (1836): that abolition of hereditary jurisdiction has paved the way for the introduction of a regular system of government. Sugenheim a. a. O. S. 322 ff. Fehlt bei Gneiſt. In Irland wurden Zehnten und Frohndienſte als Folge der Eroberung eingeführt und bildeten den Grund der beſtändigen Empörung des Landvolkes gegen die Herren; in ihnen, und nicht in den kirchlichen Verhältniſſen lag die ewig neue Quelle des Haſſes gegen England; und es iſt nur zu bewundern, daß das Sonderintereſſe der großen Grundherren bis auf die neueſte Zeit jede Beſſerung hat verhindern können. Den erſten Schritt dazu that die Removeable Leasehold Con - version Act 1849, welche die Afterpacht zugleich verbot, und die eben ſo wichtige Incumberd Estates Act (ebend. ), welche den Eigenthums - erwerb der belaſteten Grundſtücke möglich machte. Von da an ſtehen Schottland und Irland im Weſentlichen auf demſelben Standpunkt wie England (ſ. Sugenheim a. a. O. 340 ff.).

Frankreichs Grundentlaſtung.

Wir haben uns bei England länger aufgehalten, weil die agrar - rechtlichen Verhältniſſe deſſelben weder ſehr bekannt, noch von der Li - teratur recht klar dargeſtellt worden. Anders iſt es mit Frankreich.

Frankreichs Rechtsgeſchichte iſt in ihren Grundzügen uns nicht un - bekannt. Wir wiſſen, daß die innere und äußere Verwandtſchaft zwiſchen ihr und der deutſchen eine große und durchgreifende iſt. Wir ſehen allenthalben unter andern Namen dieſelben Grundverhältniſſe wie in Deutſchland auftreten. Die Aehnlichkeit iſt eine weit größere als die mit der Rechtsgeſchichte Englands, ſo groß, daß man die141 deutſche Rechtsgeſchichte zum Theil durch die franzöſiſche verſtehen lernt. Dieſe Sätze gelten auch für das, was wir als die Grundentlaſtung oben bezeichnet haben; zum Theil ſogar in noch entſchiedenerer Weiſe als für die übrigen Rechtsinſtitute. Wir müſſen uns demnach darüber klar ſein, was eigentlich die Aufgabe einer beſondern Darſtellung des franzö - ſiſchen Grundentlaſtungsweſens ſein könne.

Wir finden nun dieſe nicht in den einzelnen Principien und An - wendungen der Grundentlaſtung in Frankreich, ſondern in der Be - ſtimmung des allgemeinen Charakters derſelben.

Während nämlich die Grundentlaſtung in England ſich langſam und gleichſam ſelbſtthätig wirkend ſchon ſeit dem dreizehnten Jahrhun - dert vollzieht, und zwar bis auf die letzten Jahrzehnte ſo gut als gänzlich ohne alle Mitwirkung der Regierung, tritt ſie in Frankreich unvermittelt, plötzlich und rückſichtslos in der Revolution auf, bildet den eigentlich materiellen Kern derſelben, wird ausſchließlich durch die revolutionäre Staatsgewalt vollzogen, und ſchließt daher auch eben ſo ſchnell und definitiv ab, wie ſie begonnen. Während ſie in England hauptſächlich aus dem Intereſſe der Betheiligten hervorgeht, beruht ſie in Frankreich vielmehr auf dem abſtrakten Princip der zum Siege ge - langenden Bewegung der bisher unfreien Klaſſe. Während ſie daher in England kaum recht zur Erſcheinung und zum Bewußtſein der wiſ - ſenſchaftlichen Welt gelangt, weil ſie unmerklich und vielfach von den alten Namen und Rechtsverhältniſſen verdeckt und verſteckt, ſich ziemlich in aller Stille vollzieht, verſchwindet ſie wieder in Frankreich deßhalb, weil ſie nur als einfache, natürliche, einer beſondern Berechtigung gar nicht bedürfende Conſequenz der großen, das ganze Leben des Volkes umfaſſenden geiſtigen und geſellſchaftlichen Bewegung auftritt. Daher iſt es beiden Ländern gemeinſam, daß ſie ſelber den Begriff der Grund - entlaſtung theoretiſch gar nicht kennen, obwohl die Sache bei beiden ſo gut vorhanden war und iſt wie in Deutſchland. Ja es iſt nicht ein - mal möglich, das deutſche Wort Entlaſtung ins Engliſche oder Fran - zöſiſche zu überſetzen. Und daher auch die ſomit leicht erklärliche That - ſache, daß auch die deutſche Grundentlaſtungsliteratur ſich faſt eben ſo wenig mit Frankreich als mit England beſchäftigt. Das Bewußtſein, daß gerade auf dieſem Gebiete eine Thatſache von der höchſten Wich - tigkeit für die Zukunft ſich in ganz Europa zugleich vollzieht, iſt daher nicht zum Durchbruche gelangt; die Gewißheit, daß die Gleich - artigkeit des europäiſchen Lebens weit größer und tiefer iſt, als ſeine Verſchiedenheit, wird nicht gewonnen. Das iſt gerade hier ein wahrer Mangel, wo doch am Ende der entſcheidende Punkt der ganzen innern Entwicklung, die Conſolidirung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts -142 ordnung, an der Stelle der Geſchlechter und ſtändiſchen Ordnung durch das neue Recht des freigewordenen Grundbeſitzes liegt. Wie wir daher verſucht haben, in der Rechtsgeſchichte Englands den Punkt zu finden, wo die Grundentlaſtung entſteht, und den Weg den ſie geht, ſo müſſen wir es auch für Frankreich verſuchen.

Indeſſen müſſen und können wir hier kurz ſein. Wir dürfen die innere Rechtsgeſchichte Frankreichs als eine bekannte vorausſetzen; thäten wir es nicht, wir müßten gegenüber dem, was auf dieſem Gebiete be - reits geſchehen iſt, alle Gränzen unſrer Arbeit überſchreiten. Auch wird hier eben dadurch die kurze Bezeichnung der Grundlagen genügen können.

Frankreichs innere Zuſtände beginnen genau mit denſelben Ele - menten, welche wir als die Grundlagen der Geſchlechterordnung und ihrer Unfreiheit bezeichnet haben. Wir finden hier im Anfange des Mittelalters eben ſo wie in England und Deutſchland den Herrn, den seigneur, dann den Mittelfreien, den homme, der perſönlich frei, auf unfreiem Grunde ſitzt, den Hörigen, den villein, der perſönlich unfrei, auf dem herrſchaftlichen Grunde belaſſen wird, und den perſönlich Un - freien ohne allen Grundbeſitz, den serf. Auch hier verſchmelzen die beiden mittlern Klaſſen in eine und dieſelbe. Und theils während dieß geſchieht, theils nachdem daſſelbe geſchehen iſt, wird die letzte Klaſſe der serfs in die Stellung der villeins hinaufgehoben, die höchſte Klaſſe der Mittelfreien zu derſelben ſo weit als möglich hinabgedrückt, ſo daß wir hier wie im ganzen übrigen Europa zuletzt zwei große Klaſſen ſehen, die der Herren und die der Eigenen, bei denen zwar das Maß der Unterthänigkeit, aber nicht das Princip derſelben verſchieden iſt.

Allein dieß Verhältniß bietet nun einen ganz weſentlich verſchie - denen Punkt von dem Syſteme des engliſchen Rechts dar. Das Land iſt zwar erobert, aber nicht von dem Könige. Es iſt daher nicht das Eigenthum des Königs oder der Krone, ſondern das Eigenthum des Grundherrn ſelbſt. Der König hat am Grund und Boden des letztern überhaupt nicht wie in England das Obereigenthum, ſondern nur ſo weit, als er dieſen Grundbeſitz dem seigneur wirklich zu Lehn aufge - tragen hat. Der Grundherr hat daher zwei Grundformen des Rechts für ſeine Beſitzungen. Dieſelben ſind entweder ſein von dem Könige gar nicht abhängiges Gut, oder ſie ſind verliehenes Gut. Das erſte nun nennen wir die alleu, das alte allodium, das zweite den fief, das alte beneficium. Zwar ſteht der seigneur für beides unter dem König als suzerain, aber für das erſte hat er nur die allgemeine fides zu beſchwören; er darf dem Könige nicht feindlich ſein und muß ihm im Kriege beiſtehen; aber ein weiteres Recht hat der König nicht. Nur für das zweite, den fief, iſt der König Obereigenthümer, und nur für143 dieſes hat der seigneur dem Könige beſtimmte Lehnsdienſte zu leiſten. Alles was mit dem alleu zuſammenhängt, iſt daher voll - kommenes Privateigenthum des seigneur. Mithin auch das ganze Recht deſſelben über alle Hinterſaſſen auf dem alleu. Ueber dieſe hat der König gar kein Recht. Mithin hat er auch kein Recht, ſich hineinzu - mengen in Beziehung auf alles, was der seigneur mit dem Hinterſaſſen ſeines alleu macht. Das Gericht und die Polizei über dieſe Hinter - ſaſſen ſind daher wie das Grundſtück und die Perſon ſelbſt Privat - eigenthum des Herrn. So entſteht der Begriff und der Inhalt der Grundherrlichkeit, der eben, wie geſagt, den ganzen Continent ſo we - ſentlich verſchieden von England erſcheinen läßt. Eine jede europäiſche Rechtsgeſchichte muß von dieſer erſten und entſcheidenden Thatſache aus - gehen. Das iſt der Begriff des continentalen Lehnsweſens im Gegen - ſatz zu dem engliſchen feodal system. Aber erſt an ſeinen Conſe - quenzen wird der Unterſchied ſelber ganz klar.

Offenbar nun enthält jenes franzöſiſch-germaniſche Lehnsſyſtem Eine unentſchiedene Frage. Es iſt die nach dem Verhältniß, in welchem der seigneur nun zu dem Hinterſaſſen auf dem Grund und Boden des feudum, neben dem alleu, ſteht. Hat er auch über ſie dieſelbe Gewalt, hat er daſſelbe Recht, hat er daſſelbe Eigenthum wie über die hommes und villeins ſeines alleu? Und hat er ſie nicht, wer hat ſie? Und hat ſie dem Principe nach der König, der ja der verleihende Eigenthümer iſt, wie wird derſelbe ſie ausüben? Das ſind die Fragen, deren Beantwortung die Baſis der inneren Geſchichte Frankreichs bil - den wird.

Wir haben in unſrer franzöſiſchen Rechtsgeſchichte (Stein, franz. Rechtsgeſchichte als III. Thl. der franz. Rechtsgeſchichte von Warnkönig und Stein) den Verſuch gemacht, den Entwicklungsgang aller dieſer Fragen zu beantworten. Das Hauptergebniß dieſer Unterſuchung iſt folgendes.

Das Königthum Frankreichs hat vollkommen das Bewußtſein dieſer Verhältniſſe, Rechte und Aufgaben, die ihm aus jenem Doppelrecht erwachſen. Es iſt klar, daß das letztere in jenem einfachen Ueberein - anderſtehen beider Rechtsſyſteme nicht fortdauern kann; ſchon darum nicht, weil es unthunlich iſt, die äußere Gränze beider Syſteme im Einzelnen, das iſt in Abgaben, Rechtspflege und Verwaltung feſtzu - halten und durchzuführen. Das Königthum, ſeine Abhängigkeit von den Grundherren durch jene Rechte derſelben fühlend, beginnt daher ſchon im zwölften Jahrhundert den Kampf mit denſelben. Es entfaltet ſeine Kräfte, breitet ſich mit ſeinen Organen, den baillis und sene - chaux über ganz Frankreich aus, greift auf allen Punkten in das Recht der seigneurs hinein, ſtellt auf allen Punkten ſtädtiſche und144 gewerbliche Freibriefe aus, tritt auf allen Punkten mit ſeiner Gerichts - barkeit neben die der seigneurs, und wird aus einem rechtlichen Princip zu einem großen, mächtigen, verwaltenden Organismus. Wir haben a. a. O. dieſen Proceß den Entwicklungsgang, den Kampf und Sieg des organiſchen Königthums genannt. Wir dürfen für das Einzelne auf unſere eingehende Arbeit verweiſen. Im Beginn des vierzehnten Jahrhunderts iſt dieſer Proceß faſt vollendet. Das Königthum hat die Verwaltung des Reiches faſt gewonnen, und das alleu iſt faſt ſchon wie die tenure in capite in England, dem fief in Beziehung auf öffentliche Rechte gleichgeſtellt, und nur noch ein privatrechtliches Ver - hältniß der Grundherren geworden.

Allein die letztern haben die Gefahr, die von dieſer Seite kam, wohl gefühlt. Sie warten nur auf einen gelegenen Augenblick, um die alte Stellung wieder zu gewinnen, und zugleich wo möglich alle Rechte über die Hinterſaſſen ohne Unterſchied das alleu und fief gleich zu machen. Dieſe Gelegenheit kam mit Ludwig X., genannt Hutin, der dem großartigen Auftreten Philipps des Schönen folgte. In ſeiner einjährigen, hülfloſen Regierung (1315) tritt der geſammte Adel Frank - reichs gegen das junge Königthum auf, und erzwingt von demſelben eine Menge von Zugeſtändniſſen, welche wir im Großen und Ganzen als die Herſtellung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit bezeichnen können. Dieſe Errungenſchaft blieb dem Adel, trotz der energiſchen Thätigkeit Philipps des Langen, der zwar das ſo beſchränkte Königthum neu or - ganiſiren, aber ihm ſeine alte Stellung nicht wiedergeben konnte. Von da bildet ſich der Charakter der innern Zuſtände Frankreichs immer beſtimmter als der einfache Gegenſatz zwiſchen Königthum und Grund - herrſchaft aus, während die Lage der niedern Klaſſe faſt ganz aus dem Geſichtskreiſe des erſtern verſchwindet. Seit Ludwig XI. iſt nun der Sieg und die Herrſchaft des centralen Königthums über die Grund - herren entſchieden, aber die niedere Klaſſe iſt dafür den letztern faſt ganz überantwortet; an ſie denkt die Geſetzgebung faſt gar nicht mehr. Nur auf Einem Punkte hat ſie Hochbedeutendes gewirkt, und hier be - gegnen wir einer, dem deutſchen Leben verwandten, wenn auch daſſelbe weit überragenden Erſcheinung. Dieß iſt die Aufzeichnung der cou - tumes, die vor allen Dingen zur Aufgabe hatten, ſo weit möglich die allmählig herausgebildete Gränze der Rechte der seigneurs gegenüber den verſchiedenen Klaſſen der Hinterſaſſen feſtzuſtellen, und ſomit ein feſtes Recht an die Stelle der Willkür zu ſetzen. Allein eine Hülfe brauchte das nicht, weil die Gerichtsbarkeit über die Anwen - dung der coutumes in den Händen deſſelben seigneurs blieb, der ein beſtändiges Intereſſe daran hatte, ſie in jedem einzelnen Falle zu145 überſchreiten. Ihre geſetzliche Aufzeichnung war in England überflüſſig, und fand nur als Privataufzeichnung im gutsherrlichen Grundbuch, der Court roll ſtatt, weil das königliche Gericht über vorkommenden Streit zwiſchen Herrn und villein entſchied; die geſetzliche Aufzeichnung in Frankreich nützte dagegen wenig, weil hier der Inhaber der Berech - tigung zugleich Gerichtsherr über die Rechtsfragen derſelben war. Der Sieg des Königthums gab daher Frankreich unter Richelieu, Mazarin und Louis XIV. einen nie geahnten Glanz nach außen; allein die Unfreiheit des Landvolkes machte es unfähig, die Laſten dieſes Glanzes zu tragen. Für die gänzliche Unterwerfung unter den Hof des Königs gab das Königthum dem Adel ſeine Unfreien preis; die allgemeine Verarmung, das glänzendſte Elend in Europa war die Folge davon. Das war der Zuſtand im achtzehnten Jahrhundert.

Unter dieſen Verhältniſſen würde es nun hier zu weit führen, auf die einzelnen Rechte der Herren und der Eigenen einzugehen, und ſpe - ciell die Reſte der alten serfs (ſ. Repert. de Jurisprudence von Guyot v. serfs Bd. II. ) den taillables de haut en bas, die Rechte der corvées (ſ. die vortreffliche Darſtellung des alten coutümieren Rechts: Institutes coutumières d’Antoine Loysel, avec les notes d’Eusèbe de Lauriére, neu herausgegeben von Dupin und Laboulaye 1846. 2 Bde. 8.) und die justice seigneuriale genauer zu bezeichnen. Das Geſammtreſultat aber, das für die Folge entſcheidend ward, war das, daß in Beziehung auf die grundherrlichen Rechte jeder Unterſchied zwi - ſchen allod und fief verſchwindet, und daß der seigneur die ganze grundherrliche Verwaltung als ſein Eigenthum anſieht. Oeffentliches und bürgerliches Eigenthumsrecht ſind jetzt verſchmolzen; der Begriff und das Recht der Grundherrlichkeit ſind zur vollen Herrſchaft gelangt, und die Geſchlechterordnung iſt mit der ſtändiſchen in Frankreich zu Einem Ganzen verſchmolzen.

Gegen dieſen Zuſtand beginnt nun eine Bewegung, die wir als die Vorläuferin der Revolution, und zwar ſpeciell in Beziehung auf die Grundentlaſtung, anſehen müſſen. Dieſelbe hat zwei Stadien; beide ſind hinlänglich bekannt. Das erſte ward durch die Ueberzeugung ver - treten, daß die Macht und der Reichthum des Königs unter dieſer Un - freiheit des Landmannes wirthſchaftlich zu Grunde gehen. Der Vertreter dieſer Richtung iſt vor allem Vauban in ſeiner Dixme Royale, der erſte Mann, der die Gefahr, die in jenen Zuſtänden lag, offen und mit jenem hohen bürgerlichen Muthe zu bezeichnen wagte, der die Franzoſen ſo oft vor den Deutſchen auszeichnet; neben ihm muß man Boisguillebert mit ſeinen Factum de la France nennen. Sie ſind die Vorgänger des phyſiokratiſchen Syſtems, der in dem Quesnay’ſchen SatzStein, die Verwaltungslehre. VII. 10146gipfelt: pauvre paysan, pauvre royaume; pauvre royaume, pauvre Roi. Allein es iſt merkwürdig im Grunde freilich ganz natürlich wie alle dieſe Männer das Bewußtſein durchdringt, daß alle ihre Wahrheiten wie ihre Vorſchläge nutzlos ſind, eine Ueberzeugung, die ſelbſt Turgot nicht bewältigen kann. Sie ſind im höchſten Grade der Beachtung werth, weil ſie zeigen, wie da, wo es ſich um eine Umge - ſtaltung der Geſellſchaftsordnung handelt, auch die großartigſte Syſtemi - ſirung von Maßregeln gegenüber der kommenden Auflöſung hoffnungs - los bleibt, und dieß Gefühl der Machtloſigkeit ſelbſt in ihren ſchönſten Momenten an der Stirn tragen. Daher darf es uns nicht wundern, daß neben jenen mehr oder weniger praktiſchen Gedanken das Bewußt - ſein von einer unvermeidlichen Gefahr, von einer unmeßbaren Umge - ſtaltung der ganzen Geſtalt des öffentlichen Rechtszuſtandes durchdrang. In der That finden wir ſtatt der erſten Verſuche in Deutſchland, theils durch die Wiſſenſchaft, theils durch die Geſetzgebung, eine frei - willige Ablöſung der unerſchwinglichen Laſten des Bauernſtandes und eine Befreiung des letzteren anzubahnen, in Frankreich vielmehr in den beiden Jahrzehnten vor der Revolution trübe, mahnende Vor - ahnungen der kommenden Umwälzung bei den bedeutendſten Männern, und es iſt kein Zweifel, daß es gerade die phyſiokratiſche Schule war, die dieſen Gefühlen ihre concrete, volkswirthſchaftliche Baſis gab. So ſagt ſchon Quesnay ſelbſt in ſeinen Maximes générales du Gouverne - ment économique d’un Royaume agricole: [Qu’on] ne diminue pas l’aisance des dernières classes des citoyens (er meint die unterſten Klaſſen der Landleute), car elles ne pourraient pas assez contribuer à la consommation des denrées qui ne peuvent être consommées, und bedeutſamer unter andern Mercier de la Rivière (Ordre naturel et essentiel etc. T. I. p. 199. 280. 281. Ed. Doré): Modérez votre enthousiasme, aveugles admirateurs des faux produits de l’industrie. Avant de crier miracle, ouvrez les yeux et voyez combien sont pauvres, du moins malaisés, les mêmes ouvriers qui ont l’art de changer vingt sous en une valeur de mille écus. Au profit de qui passe donc cette multiplication énorme de valeurs? Quoi, ceux par les mains desquels elle s’opère, ne connaissent pas l’aisance? Ah, defiez-vous de ce contraste! So bereitet ſich allmählig das zweite Stadium der obenbezeichneten Bewegung vor, das Stadium der rein negativen, an einer Beſſerung der Dinge verzweifelnden Revolution, Wir haben, ſeit unſer Blick von den rein äußerlichen Thatſachen auf die innere Bewegung der ſocialen Elemente gerichtet worden iſt, uns gewöhnt, jene geiſtigen Erſcheinungen zu beachten und ihre hohe Wich - tigkeit zu verſtehen. Kein Werk über jene merkwürdige Epoche glaubt147 in unſrer Zeit mit Recht ein vollſtändiges zu ſein, wenn es nicht die Bewegung der geſellſchaftlichen Gegenſätze verſteht. Es iſt daher hier nicht nöthig, weiter darauf einzugehen; auch hat namentlich Sugen - heim a. a. O. mit richtigem Verſtändniß viele Quellen geſammelt. Die Revolution war das Ende dieſer Hoffnungsloſigkeit. Wir ſind darüber einig, daß ſie, wie jede tiefgreifende Umwälzung, eine ſociale geweſen. Klar iſt es aber, daß ſie ohne alle Bedeutung hätte bleiben müſſen, wenn ſie nicht, und zwar vor allen Dingen, eine Umwälzung der landwirthſchaftlichen Unfreiheit geworden wäre.

Daß ſie es war, iſt bekannt. Und das nun iſt es auch, was zu - gleich der franzöſiſchen Geſchichte der Entlaſtung ihren faktiſchen und rechtlichen Charakter aufgeprägt hat, denn die franzöſiſche Grund - entlaſtung iſt darnach eine revolutionäre geweſen.

Wenn wir daher von dem Grundentlaſtungsweſen in der europäi - ſchen Geſchichte reden, als einem langſamen organiſchen Proceß, der die Forderungen der Freiheit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft mit denen des Rechts in allen Geſellſchaftsordnungen vereint, ſo iſt es klar, daß wir von einem ſolchen Entlaſtungsweſen in Frankreich gar nicht reden können. Die Entlaſtung iſt hier reine Gewalt; ſie hat überhaupt kein Recht gehabt; und wir würden ſie daher einfach übergehen, wenn nicht auch jene Entlaſtungsfrage in der franzöſiſchen Revolution Elemente und Gedanken angeregt hätte, welche ſich die Grundentlaſtung in Deutſch - land ob mit oder ohne Bewußtſein, iſt ſchwer zu ſagen angeeignet hat.

Man muß nämlich in der Entlaſtungsgeſchichte der Revolution zwei Stadien unterſcheiden, die freilich mehr im Princip als in der Wirklichkeit beſtanden haben. Doch iſt es von großem Werth für das ganze Entlaſtungsweſen, beide wohl von einander zu ſcheiden.

Das erſte iſt der große Akt des 4. Auguſt 1789, dieſer Bartho - lomäus-Nacht des Eigenthums und der Mißbräuche, wie Wachsmuth (Geſchichte Frankreichs im Revolutionszeitalter I. S. 168) ſie nur halb mit Recht nennt. Der 4. Auguſt war nämlich in der That nur die unvermittelte und aus dem Gefühl hervorgehende, aber ganz den Ver - hältniſſen entſprechende erſte Grundentlaſtungsgeſetzgebung Eu - ropas. Sie hob an und für ſich gar kein Eigenthum auf, ſondern ſie enthielt nur das, was die deutſche Grundentlaſtung ein halbes Jahr - hundert ſpäter durch Wiſſenſchaft und Geſetzgebung vollzog, und hätte Frankreichs Volk es verſtanden, nicht bloß frei ſondern auch gerecht zu ſein, ſo wäre es frei geblieben. Der Beſchluß vom 4. Auguſt enthielt nämlich nicht etwa eine revolutionäre Aufhebung aller gutsherrlichen Rechte, ſondern ſtellte die Unterſcheidung auf, die Deutſchland ſpäter als die allein richtige wirklich durchgeführt hat. Wir glauben den148 betreffenden Paſſus hier wiedergeben zu ſollen, weil mit oder ohne Bewußtſein die deutſchen Grundentlaſtungen zum Theil die wört - lichen Wiederholungen deſſelben ſind; ſo gewaltig hat die Natur der Sache gewirkt. Das erſte Decret des 4. Auguſt ſagt im Art. 1: L’assemblée nationale détruit entièrement le régime féodal, et de - créte que, dans les droits et devoirs tout féodaux que censuels, ceux qui tiennent à la main morte réelle ou personelle, et à la servitude personelle sont abolis sans indemnité, et tous autres de - clarés rachétables. Das war der entſcheidende, faſt allein welthiſto - riſch wirkſame Grundſatz der Revolution: es war der definitive Bruch der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft mit der Stände - und Geſchlechterord - nung. Der leitende Gedanke aber, und das unterſcheidende Moment derſelben von der reinen Revolution iſt die Aufnahme des Princips der Entſchädigung für alles, was nicht dem öffentlichen Recht an - gehört. So wird hier dieſer Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zuerſt zu einer Anwendung des Grundbegriffes der Entwährung. Ihr erſtes und allgemeines Princip war daher allerdings die Aufhebung aller grund - und gutsherrlichen Rechte, Befugniſſe und Laſten. Allein ſie theilte dieſe Laſten in die zwei Theile, die durch das Weſen der - ſelben gefordert werden. Sie ſchied nämlich diejenigen Laſten, welche aus dem Lehnsrechte entſtanden, von denen, deren nachweisbare Quelle ein privatrechtliches Vertragsverhältniß war. Sie fühlte vollkommen klar, daß die erſteren eigentlich allein eine einfache Aufhebung zuließen, da ſie in der That den Widerſpruch der Grundherrlichkeit enthielten, wornach öffentliche Rechte und Funktionen des Staats ein Privateigen - thum waren. Die Aufhebung derſelben war ihrem Weſen nach nur ein Zurücknehmen dieſer Rechte von Seiten des Staats, eine neue Or - ganiſirung der Verwaltung deſſelben in Wirthſchaft, Rechtspflege und Innerem. Alle diejenigen Laſten dagegen, deren Grund eine privat - rechtliche Verpflichtung war, wurden nicht ohne weiteres aufgehoben, ſondern ſollten vielmehr abgelöst werden; das iſt, es ſollte für ſie eine Entſchädigung, und zwar mit Eins zu Dreißig gegeben, und dieſe Entſchädigung von Provinz zu Provinz eigends geregelt werden.

Zwei Gründe haben es nun bewirkt, daß dieſes Geſetz nur halb, oder vielmehr ſeinem Geiſte nach gar nicht zur Anwendung kam. Der erſte lag in dem Geiſte der ſocialen Bewegung ſelbſt, die ihrerſeits von abſoluter Negation gegen jedes Recht, das die Grundlage der Ungleich - heit werden konnte, trunken, der herrſchenden Klaſſe den Verluſt an Vorrechten nicht mit dem Gewinn an Capital erſetzen wollte. Es iſt dieſe Seite der Bewegung hinreichend gründlich dargeſtellt. Der zweite Grund dagegen war materieller Natur und verdient ſeine Beachtung,149 weil er die Bedeutung eines zweiten Moments in der deutſchen Grund - entlaſtung in ihr rechtes Licht ſtellt. Nach dem Beſchluß vom 4. Auguſt 1789 ſollte ein großer Theil der Grundlaſten abgelöst werden. Die erſte Bedingung daher wäre nun die Organiſirung entweder eines Ab - löſungscapitals, oder eines Ablöſungscredits geweſen; denn es war phyſiſch unmöglich, damals wie jetzt, das Ablöſungscapital wirklich ſo - fort von dem Einzelnen herbeizuſchaffen. Das aber hätte wieder vor allem eine ſtarke und wohlgeordnete Verwaltung gefordert; und die war es, welche die Revolution eben gebrochen hatte. Allerdings ſetzte die Assemblée nationale eine ſolche und ihre regelmäßige Thätigkeit voraus, und das Decret vom 15. März 1790, dem eine ganze Reihe anderer folgten, welche wiederum die erſte Geſetzgebung über die Durchführung der Grundentlaſtung enthalten, und deren Hauptmomente in dem Ge - ſetz vom 25. Auguſt 1792 und 17. Juli 1793 ausgeführt wurden; allein alle dieſe und viele andere einzelne Beſtimmungen kamen nie zur Geltung (vergl. Laſſalle, Theorie der erworbenen Rechte I. S. 232. 233), weil dem Principe des Staats die Organiſation und die Vollziehung in einer ſelbſtändigen Verwaltung fehlten. Die Ver - nichtung der inneren Verwaltung aber entſtand zum großen Theil da - raus, daß die Grundherren, bisher die Inhaber derſelben, Frankreich verließen; die Emigration gab die Entſchädigung daher in die Hände derer, welche ihre entſchiedenen Gegner waren, und dieſe wußten nur zu gut, daß die Ablöſungscapitalien nur den, im Lager Preußens und Oeſterreichs mit den Waffen in der Hand gegen Frankreich marſchiren - den Emigranten übergeben worden wären. Man braucht ſich nicht zu fragen, ob das auch unter andern Umſtänden möglich geweſen wäre. Das Princip der Entſchädigung war daher zwar an ſich ausgeſprochen, aber die Ausführung derſelben ward durch die Emigration eine Unmög - lichkeit. Es war daher natürlich, daß man ſie verbot; die Beſchlüſſe vom 25. Auguſt 1792 und vom 17. Juli 1793 über die geſetzlichen Entſchädigungen und ihre Auszahlungen machten daher das Princip der Entſchädigung faktiſch unwirkſam, und dieſe Aufhebung war in der That mehr eine Kriegserklärung gegen die Emigranten, als eine Auf - hebung des Eigenthums. Dadurch kam die zweite große Frage der Grundentlaſtung, die Organiſirung des Entſchädigungscapitals und der Entſchädigungszahlung, in Frankreich gar nicht zur Frage; und jetzt erſt trat die Entlaſtung als eine wirkliche Beraubung des Eigenthums der höheren Klaſſen durch die niedere, und damit als jene ernſte Er - ſchütterung des Eigenthumsbegriffes auf, deren Folgen Frankreich und Europa bis auf den heutigen Tag empfinden, und noch lange empfinden werden. Es iſt nutzlos, hier zu fragen, ob die niedere oder höhere150 Klaſſe daran die größere Schuld trugen; gewiß iſt nur die für uns genügende Thatſache, daß erſt damit die eigentliche Entlaſtung in Frankreich ihren Charakter verliert, und daß Deutſchland daher die ganze Frage gleichſam aufs Neue beginnen mußte.

Auf dieſe Weiſe iſt Frankreich zwar das Vaterland des Princips der geſellſchaftlichen Entwährung, aber die wirkliche Entlaſtung, die ohne eine organiſirte Entſchädigung keine Entwährung, ſondern eine geſell - ſchaftliche Revolution iſt, iſt in Frankreich nie zur Geltung gelangt. Das war zuletzt der eigentliche und durchgreifende revolutionäre Akt dieſer Zeit; und nur dieſer Akt hat ſich dauernd erhalten. Denn die franzöſiſche Revolution war eine ſociale, und hatte im Grunde ihre Miſſion mit der Rechtsgleichheit und der auf ihr beruhenden neuen Ordnung des Eigenthums erfüllt, wie es das Weſen jeder ſocialen Revolution iſt. Die große Aufgabe Deutſchlands war es nun, in der - ſelben Umgeſtaltung ſeiner geſellſchaftlichen Ordnung ſtatt der Um - wälzung Weſen und Begriff der Entwährung feſtzuhalten und durch - zuführen.

Deutſchlands Grundentlaſtung.
I. Allgemeiner Charakter.

Eine andere, im höchſten Grade beachtenswerthe Erſcheinung bietet nun Deutſchlands Grundentlaſtung neben derjenigen von England und Frankreich. Die eigenthümliche Natur Deutſchlands, die auch hier wieder zur vollen Geltung gelangt, ſeine Zerſtreuung in eine Menge ſelb - ſtändiger und ſelbſtthätiger Theile, die Beſonderheit der geſellſchaftlichen und wirthſchaftlichen Zuſtände deſſelben und die Verſchiedenheit der Elemente, welche in jedem Theile deſſelben wirken, haben es auch auf dieſem Gebiete mit ſich gebracht, daß die Entlaſtung zunächſt eine große, faſt unerſchöpfliche Maſſe von Verſchiedenheiten darbietet. Es iſt kein Zweifel, daß jeder dieſer Theile ſeine eigene Geſchichte und ſein eige - nes Recht der Grundentlaſtung hat. Und man muß daher, ehe man überhaupt auf den Gegenſtand eingeht, über den Standpunkt einig ſein, den man dieſem Reichthum von Einzelerſcheinungen gegenüber einnehmen will.

Die Bewältigung dieſes höchſt umfangreichen Einzelmaterials be - ruht nämlich auch hier auf dem, was wir die Individualiſirung des Staatslebens überhaupt, der Verwaltung insbeſondere, nach dem Geiſte und der inneren Arbeit der großen Culturvölker genannt haben. Und in dieſer Beziehung erſcheint auch die Grundentlaſtung Deutſchlands151 als eine innere und äußere Einheit, die durch jene Verſchiedenheit ſeiner Theile nicht geändert, ſondern nur erfüllt und reicher gemacht wird.

Während nämlich Englands Grundentlaſtung eigentlich gleichzeitig mit der Grundherrlichkeit der Eroberer beginnt, und ohne Hülfe der Staatsgewalt bis zur neueſten Zeit beſtändig fortſchreitet, und Frank - reichs Entlaſtung durch eine plötzliche gewaltſame Umwälzung mit einem Schlage hergeſtellt wird, iſt Deutſchlands Entlaſtung eine, im Grunde erſt mit dem 17. Jahrhundert entſtehende Arbeit, in welche ſich in merkwürdiger Weiſe die Wiſſenſchaft und die Verwaltung theilen, und die daher wie kein anderes Land mit klarem, ja mit ſyſtematiſchem Bewußtſein aller Betheiligten vorgenommen wird. Und wenn man daher das ganze Entlaſtungsweſen als eines der weſentlichſten Gebiete der Geſchichte der Geſellſchaft, als den organiſchen Proceß des Ueber - ganges von der unfreien Geſchlechterordnung zum Staatsbürgerthum innerhalb der Elemente des Grundbeſitzes anerkennt, ſo iſt die deutſche Grundentlaſtung eine der merkwürdigſten Erſcheinungen in dieſem Theile der Geſchichte der europäiſchen Geſellſchaft, und namentlich diejenigen, ohne welche man ſie nie ganz verſteht, das iſt das Verhältniß des Königthums zur Entwicklung des Staatsbürgerthums. Von dieſem Standpunkte aus werden wir das Grundentlaſtungsweſen Deutſch - lands als ein Ganzes darlegen, und damit die Entwicklung und Be - deutung der Entlaſtung in jedem einzelnen Lande ſpeciellen Arbeiten überlaſſen können, nur ſo weit dieſelben herbeiziehend, als es noth - wendig iſt, um für das Ganze durch das Einzelne ſeinen Beweis zu liefern.

Die Grundlage dieſer Arbeit muß nun der Zuſtand des bäuerlichen Beſitzes, das iſt der unfrei gewordenen Geſchlechterordnung ſein, wie derſelbe im 17. Jahrhundert aus all den Elementen hervorgeht, welche ſeit der Völkerwanderung auf dieſelbe eingewirkt haben.

Auch hier finden wir nun große, in ganz Deutſchland herrſchende Grundverhältniſſe, über die man mit ſich einig ſein muß, will man anders das Weſentliche, um deſſentwillen am Ende doch die Geſchichte allein bearbeitet wird, den großen Proceß des Fortſchrittes zur freieren Ge - ſtaltung der Geſellſchaft, klar erkennen. Wir wiſſen nun recht wohl, daß dieß gerade durch dasjenige höchſt ſchwierig geworden iſt, was das - ſelbe eigentlich hätte am meiſten fördern ſollen. Das iſt die äußerſt genaue, ja bewunderungswürdige Detailkenntniß aller einzelnen Zu - ſtände jener Unfreiheit, die wir der ohne Rivalen daſtehenden deutſchen Gelehrſamkeit verdanken. Man kann dieſelbe nicht hoch genug ſchätzen; aber man darf ſich nicht darüber täuſchen, daß in ihr das Ganze in dem Einzelnen verloren gegangen iſt. Sie hat jenen Geſammtzuſtand in eine ſolche Menge einzelner Namen, Bezeichnungen, Rechtsverhältniſſe152 und Oertlichkeiten aufgefaßt, daß derſelbe dadurch das lebendige Ele - ment des Werdens und Lebens vielfach zu verlieren in Gefahr iſt; am meiſten durch den einſeitigen Grundſatz, daß die Auffaſſung des Ganzen unberechtigt ſein ſoll, ſo lange nicht jede Einzelheit von der - ſelben verarbeitet iſt. Warum ſollen jedoch nicht beide Elemente mit gleichem Rechte neben einander gehen? Die Anſchauung des europäi - ſchen Geſammtlebens aber iſt beſtimmt, der deutſchen Gelehrſamkeit zu zeigen, daß wenn ſie ſelbſt auch keine Gränze hat, ſie doch allein dieſe Gränze nicht ausfüllen kann.

Es wird demnach darauf ankommen, den allgemeinen Charakter jener Zuſtände dadurch zu bezeichnen, daß man die reichen Ergebniſſe der deutſchen Rechtsgeſchichte und des deutſchen Privatrechts, wie ſie durch Männer wie Eichhorn im Ganzen erkannt und durch Männer wie Mittermaier im Einzelnen geſammelt ſind, in ihrem Verhältniß zum hiſtoriſchen Entwicklungsproceß zuſammenfaßt.

II. Die Ausbildung der bäuerlichen Unfreiheit durch die Geſchlechter bis nach dem dreißigjährigen Krieg.

Es iſt keine Frage mehr, daß Deutſchland die Heimath der ur - ſprünglichen bäuerlichen Geſchlechterordnung iſt, mit dem freien Bauern und ſeiner Hufe, der gemeinſamen Almend, und dem unfreien, ſchon von Anfang an leibeigenen Hinterſaſſen. Niemand hat dieß beſſer dar - geſtellt, als Maurer in ſeiner Geſchichte der Markenverfaſſung auf den wir ſpeciell für Deutſchland in erſter Linie verweiſen. Nur hat er nicht beſtimmt genug das Weſen des dritten großen Elements der Geſchlechterepoche in ſeiner Selbſtändigkeit hervorgehoben; er zeigt uns daher mehr Zuſtände, als einen lebendigen Proceß der Geſchichte. In der That nämlich ward jenes einfache Verhältniß vermöge der inneren und äußeren Kriege und andrer Umſtände allmählig durch das dritte Element der Geſchlechterordnung, die herrſchende Klaſſe der Grundherren, überragt. Anfänglich ſtehen hier wie in ganz Europa jene drei Klaſſen unvermittelt neben einander. Die Verhältniſſe des Grundbeſitzes, als der faſt ausſchließlich herrſchenden Form des Capitals, übernehmen jedoch alsbald die Vermittlung weſentlich in derſelben Weiſe, wie im übrigen Europa. Der Herr verleiht ſeinen überflüſſigen Grund und Boden theils an ſeine Leibeigenen, theils auch an die Söhne der freien Bauern, theils behält er am Hofe einige perſönliche Leibeigenen ohne verliehenen Grundbeſitz. Die urſprünglich ganz freien Bauern aber müſſen ſich vielfach dazu verſtehen, ihren ganz freien Grundbeſitz dem großen Grundherrn zu Lehen aufzutragen. Damit beginnt hier153 wie allenthalben der geſellſchaftliche Proceß, der das Mittelalter auszeichnet. Die alte Geſtalt der Geſellſchaft, in welcher der freie Bauer mit vollkommen gleichem Recht neben dem Herrn ſtand, und beide den Leibeigenen als dienende Klaſſe unter ſich haben, beginnt zu verſchwinden und die ganze geſellſchaftliche Ordnung theilt ſich in die zwei großen Klaſſen, die des grundherrlichen Adels, und die des abhängig gewordenen Bauern. Die weitere Geſchichte beſteht dann ihrerſeits wieder in der Fortſetzung des obigen Proceſſes, der nach den Geſetzen der ſocialen Bewegung ſich faſt von ſelbſt vollzieht, und den die großen kirchlichen und internationalen Ereigniſſe nur fördern, ohne ihn doch erzeugt oder weſentlich umgewandelt zu haben. Der Grund - herr beginnt die anfangs noch ſehr tiefgehenden Unterſchiede innerhalb der Klaſſe der Bauern zu bekämpfen, und für alle Abſtufungen derſelben die gleiche Abhängigkeit hervorzurufen. Die Reſte des freien Bauern - ſtandes ringen dagegen mit allen Mitteln. Das Bewußtſein des alten Rechts und des neuen Unrechts lebt in ihnen fort. Sie erheben ſich daher in Deutſchland gerade wie in England und Frankreich mit den Waffen in der Hand. Die Bauernkriege treten auf. Allein ſie haben hier wie in England und Frankreich dasſelbe Schickſal, und im Weſent - lichen beruht dieß Schickſal auf denſelben Gründen. Der Bauer hat die Waffenübung verloren, und iſt dem Ritter gegenüber faſt wehrlos. Aber er hat außerdem auch in Deutſchland nur das Gefühl für ſeine Klaſſe. Er nimmt die Leibeigenen nicht in ſich auf; ſein Aufſtand iſt daher kein Volkskrieg, ſondern nur der Kampf eines Theiles der unterworfenen Klaſſe gegen die herrſchende, wie Sugenheim das mit ſo vielem Rechte betont (a. a. O. S. 367). Er iſt daher unmächtig, wie die Sklavenkriege in Rom. Dazu kommt, daß die Städte ihrerſeits, ſelbſt zu Grundherrn geworden, ſich von den Bauern fern halten. Der eigentliche Bauernſtand unterliegt; und das Ergebniß, geſellſchaftlich ausgedrückt, iſt daher die Unterwerfung des höheren, beſſer berechtigten Theiles der niederen Klaſſe unter daſſelbe Recht und Unrecht, welches bis dahin für den niederen, weniger berechtigten Theil deſſelben ge - golten. Der Begriff und das Recht des freien Bauernthums, bisher eine allgemeine geſellſchaftliche Kategorie, werden zur Ausnahme.

Dennoch ſind einzelne Gebiete Deutſchlands bis zum 17. Jahr - hundert von jener Bewegung gar nicht ergriffen. Noch iſt der ganz freie oder der Lehnsbauer in dieſen Gebieten eine mächtige, neben dem Grund - herrn daſtehende, in ſeiner eigenen und freien Gemeinde ſich ſelber ſeine eigene Dorfſchaft verwaltende Klaſſe von Grundbeſitzern, über die der Herr oft gar keine, oft nur eine ganz geringe Gewalt hat. In tiefer Verſchiedenheit von der adeligen Gutsherrſchaft ſtehen dieſe Frei -154 bauern und Freidörfer als die Reſte der urſprünglichen Geſchlechter - ordnung da, und halten und ſchützen zum großen Theil auch noch die übrigen Standesgenoſſen, die zwar unfrei, aber doch noch nicht unglück - lich ſind. Da kam aber der dreißigjährige Krieg. Von ihm datirt ſich das Unglück Deutſchlands. Das Kaiſerthum wird gebrochen, die ört - liche Souveränetät mit all ihrem Unheil entſteht; die karolingiſche Mon - archie geht zum zweitenmal unter. Aber faſt noch ſchlimmer waren die Folgen für den Bauernſtand. Der Bauer Deutſchlands ward durch dieſen Krieg in ſeinem Wohlſtand vernichtet, und die Achtung vor ihm als Stand, die ſich noch erhalten, ging im rohen Söldnerdienſte un - rettbar verloren. Die Hufen lagen wüſt, die Wohnhäuſer waren abge - brannt, das Vieh erſchlagen, die Söhne und Knechte zum Heere ge - laufen, Peſtilenz und Elend, Armuth und Verzweiflung überall. Das Einzige, was da hätte helfen können, wäre ein landwirthſchaftlicher Credit geweſen, um das Kapital für neue Kultur zu ſchaffen. Aber wer hatte das Geld um es zu leihen, wer hatte Grundbücher und Exe - kution, um Sicherheit zu geben, wer hatte regelrechten Abſatz, um Zinſen und Amortiſation zu bieten? So war keine Hoffnung für den Bauernſtand, ſich ſelbſt zu helfen. Und während ſo mit dem Wohl - ſtande die Kraft deſſelben gebrochen wurde, ward es den Herren nunmehr leicht, die alten rechtlichen Gränzen zwiſchen den verſchiedenen Klaſſen innerhalb des alten Bauernthums allmählig zu verwiſchen. Der Gedanke, daß jene Unterſchiede urſprünglich ſpecifiſche geweſen, verſchwand. Die Unfreiheit ward als Princip angenommen, die Freiheit war die Aus - nahme, und die Bauern hatten keine Kraft mehr, ſich dem zu widerſetzen. Die herrſchende Klaſſe hatte definitiv geſiegt; die Kluft zwiſchen Grund - herren und Bauern war eine unüberſchreitbare geworden.

Dieß nun iſt der Charakter des Entwicklungsganges im Allgemeinen. Er iſt dem franzöſiſchen derſelben Epoche faſt ganz gleich. Doch gibt es Einen Punkt, auf welchem ſich auch hier Deutſchland von Frank - reich unterſcheidet, und der in ſeinen Folgen vieles recht unklar gemacht hat. Das iſt dasjenige, was wir die Oertlichkeit jener Bewegung zur Unfreiheit nennen möchten. Deutſchlands Zuſtände gehen bekanntlich durch das Verſchwinden der kaiſerlichen Macht von Jahrhundert zu Jahrhundert einer immer größeren Souveränetät auch der kleinen Reichsſtände entgegen. Die Folge davon iſt, da faſt zweihundert dieſer kleinen Reichsſtände in der That nur kaiſerlos gewordene Grundherren ſind, daß auch die Geſtalt, welche jene bäuerliche Unfreiheit annimmt, in jedem kleinen Reichstheile als eine ganz beſondere und ſelbſtändige erſcheint, die nach Ortsrecht und Ortsgewohnheit beſtimmt iſt und da - her auch eine große Menge verſchiedener Namen empfängt, von dem155 jeder eine beſtimmte Modifikation jenes allgemeinen Abhängigkeits - verhältniſſes bezeichnet. Der Uebelſtand dabei war, daß die ſpätere Wiſſenſchaft dadurch zu der Meinung kam, daß es ſich um wenigſtens zum Theil ganz eigengeartete und ſpecifiſche Verhältniſſe handle, und deßhalb viel mehr Werth auf alle dieſe kleinen Einzelheiten legte, als es nöthig war. Eine Erſchöpfung aller dieſer Einzelverhältniſſe und Namen iſt jetzt faſt unthunlich, und nicht der Mühe werth; wichtig iſt nur, daß man ſich durch dieſelben nicht abhalten laſſe, die großen Kate - gorien feſtzuhalten, welche alle jene Differenzen und Namen in einfacher Weiſe beherrſchen und dem Folgenden, dem großen Proceß der Be - freiung aus der Geſchlechterherrſchaft zu Grunde liegen. Dieſe beiden großen Kategorien nun, welche aus den urſprünglichen Zuſtänden her - vorgehend, den Grundcharakter auch der ſpäteren Unfreiheit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts enthalten, und deren Unterſcheidung auch für das Entlaſtungsweſen unentbehrlich iſt, ſind nun die der Bauern und die der Leibeigenen. Indem wir dabei für alle Einzelheiten auf das reiche Material bei Runde, Mittermaier und anderen ver - weiſen, müſſen wir ſie etwas genauer charakteriſiren.

Die erſte große Kategorie der unfreien Grundſaßen ward aus denjenigen gebildet, welche bei perſönlicher Freiheit in wirthſchaft - licher Unfreiheit ſtanden. Dieſe wirthſchaftliche Unfreiheit beſtand ihrerſeits theils in Abgaben, theils in Leiſtungen, Frohnden. Dieſelben aber hatten einen weſentlich verſchiedenen Charakter, und dieſer kann nur erkannt werden, indem man auf den Urſprung der Grundherrlichkeit zurückblickt. Man kann jene unfreien Leiſtungen und Giebigkeiten in drei Hauptkategorien theilen.

Die erſte Kategorie enthält diejenigen, welche nur die Bedeutung einer recognitio dominii beſitzen, und bei denen daher der Bauer mit Perſon und Gut nur als Lehnsmann gilt.

Die zweite enthält diejenigen, welche von dem Gutsherrn als Obrigkeit gefordert werden, und bei denen daher der Bauer dem Guts - herrn nicht als Grundherrn, ſondern als dem Herrn und Organ der Verwaltung leiſtet.

Die dritte Kategorie enthält diejenigen, welche der Bauer als Pachtzins leiſtet für Grundſtücke, die ihm der Gutsherr entweder förm - lich als Pacht übertragen hat, oder bei denen das urſprüngliche Eigen - thum des Gutsherrn gar nicht bezweifelt wird.

Alle dieſe drei Unterarten bilden zuſammengenommen die Laſten der Bauern, deren ſpecielle Namen meiſt von den Verſchiedenheiten ihrer Leiſtungen an den Grundherrn herrühren, die übrigens viel weniger in der Sache als in der Form und der Bezeichnung ſich unterſcheiden.

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Die zweite große Kategorie der Unfreien iſt diejenige, welche in perſönlicher, und dadurch zugleich in wirthſchaftlicher Unfreiheit ſtanden. Dieſe Kategorie umfaßt der Name, der Begriff, und das Recht der Leibeigenen. Der Leibeigene iſt niemals Eigenthümer irgend einer Sache, am wenigſten ſeines Grundſtückes; er iſt ein Theil des letzteren; er muß daher unbeſchränkt leiſten, was der Herr gebietet, und kann von ihm mit der Scholle verkauft werden; an ſich iſt dabei gleichgültig, in welcher Weiſe der Grundherr die Abgaben und Leiſtungen beſtimmt; das Weſentliche iſt, daß beide in Deutſchland wie in Frank - reich für dieſe Klaſſe ungemeſſen ſind (taillable de haut en bas); und daß es daher bei derſelben auch gar nicht in Frage kommt, ob dieſelben vom Gutsherrn als Lehnsherrn oder als Obrigkeit gefordert werden.

Offenbar nun ſind dieſe beiden Kategorien an ſich nicht bloß dem Maße der Leiſtungen, ſondern eigentlich dem Princip nach verſchieden; das Recht beider war urſprünglich nur ein weſentlich anderes. Allein mit dem Untergang der Reichsgewalt entſteht dann theils in der Wirk - lichkeit, theils aber auch in der ganzen geſellſchaftlichen Auffaſſung der Gedanke, daß jene Kategorien nicht nach der Qualität, ſondern nur nach der Quantität, dem Umfange ihrer Verpflichtungen nach verſchieden ſeien. Und daran ſchloß ſich dann der naturgemäße Proceß, der eben dieſe Verſchiedenheit der, dem allgemeinen Rechtsprincip nach als gleich - ſtehend angenommenen Klaſſen auszugleichen, und alle Bauern in gleiche Abhängigkeit zu bringen trachtete. Die Coëfficienten dieſes Proceſſes waren jetzt einfach. Der Grundherr hatte anerkannter Weiſe die niedere Polizei; er war die Ortsobrigkeit. Faſt allenthalben hatte aber derſelbe Grundherr auch die Erbgerichtsbarkeit; ſie ward ihm noch im 18. Jahrhundert als ein adliches Recht anerkannt (Fiſcher, Ca - meral - und Polizeirecht I. §. 840 846); was Kamptz (Jahrbuch der preußiſchen Geſetzgebung, Heft 67, S. 236 und 271) darüber bemerkt, bezieht ſich auf die ſpätere Zeit. Dieſe Gerichtsbarkeit umfaßte das ge - ſammte Vermögen und das niedere Strafrecht; mithin auch alle die Fälle, in denen der Grundherr gegen die Bauern Gewalt gethan. Was daher der Grundherr als Obrigkeit forderte, das beſtätigte er als Gerichts - herr. Was er im Eigenintereſſe feſtſtellte, das erkannte er ſelber im Gerichte als Recht. So ſchloß ſich damit zunächſt faktiſch ein Cirkel, deſſen Inhalt die Vollendung der Unfreiheit der Geſchlechter - ordnung war. Was mit dem Auftreten der Herren begonnen, iſt hier ſo ziemlich vollendet. Der Gedanke ſteht im Allgemeinen feſt, daß ſich die ganze Klaſſe der Grundbeſitzer in die höhere und herrſchende des Adels und die niedere faſt in gleicher Rechtsloſigkeit befindliche Maſſe157 den Unfreien ſcheidet. Die letztere iſt das unterſte Glied der damaligen Geſellſchaft geworden. Das Element der Freiheit iſt faktiſch daraus verſchwunden; die letzten Reſte des alten Rechts der unfreien Bauern unterliegen faſt ausnahmslos der grundherrlichen Gerichtsbarkeit, und jetzt kam es nur noch darauf an, auch wiſſenſchaftlich und juriſtiſch durch Geſetz, Theorie und Praxis im Einzelnen zu ſanktioniren, was der Entwicklungsgang der ſich ſelbſt überlaſſenen Geſchlechterordnung thatſächlich hervorgebracht hatte.

Setzt man nun, daß im Allgemeinen das 17. Jahrhundert jene Unfreiheit des Bauernſtandes faktiſch vollendete, ſo kann man ſagen, daß ſie im 18. Jahrhunderte juriſtiſch und zum Theil hiſtoriſch in der Wiſſenſchaft formulirt ward. Es iſt von großem Intereſſe, dieß ins Auge zu faſſen.

III. Der Uebergang der bäuerlichen Unfreiheit in die Rechtswiſſenſchaft und das Privateigeuthum der Grundherrlichkeit an ihren öffentlichen Rechten.

(Eſtor. Hauſchild, das deutſche Privatrecht des 18. Jahrhunderts.)

Als nun mit dem 18. Jahrhundert die Jurisprudenz begann, neben der Interpretation des Corpus Juris auch das deutſche Privatrecht nach franzöſiſchem Vorbilde ſelbſtändig zu behandeln, mußten jene Rechts - verhältniſſe der Unterthänigen ein Hauptgebiet deſſelben bilden. Die Entſcheidung, welche dieſe neue Wiſſenſchaft des deutſchen Privatrechts hier traf, war natürlich für dieß Rechtsverhältniß von durchgreifender Bedeutung.

Es iſt nun wohl überflüſſig zu beweiſen, daß dieſe Entſcheidung von der hiſtoriſchen Bildung der damaligen Juriſten abhängig werden mußte, da ohne eine geſchichtliche Anſchauung jene Verhältniſſe und der ſie beherrſchende Proceß ſchwer verſtändlich ſind. Nun kann man nicht ſagen, daß die Juriſten ohne eine ſolche geſchichtliche Kunde geweſen ſind. Das 17. Jahrhundert hatte in Heineccius ſeinen Eichhorn, in Conring ſeinen Mittermaier, anderer nicht zu gedenken. Allein es iſt charakteriſtiſch, daß die Quellenkunde und daher das Verſtändniß wenig über das 13. Jahrhundert hinausging, und daher von den freien Bauern des Cäſar und Tacitus nichts wußte. Die juriſtiſche Auf - faſſung ließ ſich daher von den gegebenen Zuſtänden überwältigen, und wer weiß, ob nicht die Sonderintereſſen der Herrſcher laut und leiſe nachhalfen und mit Lob und Lohn ſchürten und ſchoben, bis man als urſprüngliche Thatſache und Recht annahm, was erſt durch die Unbill der Zeiten im Leben der ländlichen Geſchlechterordnung entſtanden war? Jedenfalls wird mit dem 18. Jahrhundert ein der früheren158 Zeit ganz unbekannter Grundſatz aufgeſtellt, deſſen Bedeutung und Um - fang die ſpätere Zeit halb mit Unwillen, halb mit Verwunderung bei Seite geſchoben und zu würdigen vergeſſen hat. Nachdem das 17. Jahr - hundert faktiſch die Kluft zwiſchen Bauernſtand und Adel definitiv ge - zogen, trat mit Eſtor zuerſt der Satz in der Theorie auf, daß alle Bauern urſprünglich leibeigen geweſen. Eſtors Abhandlung de praesumtione contra rusticos in causis operarum harumque redemtione erſchien zuerſt als Vorrede zu M. D. Grollmanns Dissertatio triga de operarum debitarum mutatione 1734. Dieſe Ab - handlung, weder groß an Umfang, noch von großem wiſſenſchaftlichen Werth, hat nun in der Geſchichte der Befreiung des Grundbeſitzes eine ſehr bedeutende Stellung. Sie erſcheint nämlich in der Zeit, wo in Deutſchland bereits die erſten Verſuche der Ablöſung auftreten und das territoriale Königthum ſich der Bauern anzunehmen beginnt. Sie iſt daher als der erſte Verſuch anzuſehen, ſich über das wahre Ver - hältniß jener Unfreiheit und ihrer perſönlichen und wirthſchaftlichen Laſten klar zu werden. Dabei mußte nun vor allem die Frage ent - ſtehen, ob und wie weit die faktiſch beſtehenden Laſten auf einem ob - jektiv gültigen Rechtstitel beruhten, oder ob ſie durch Unrecht einge - führt ſeien. Die Unterſuchung dieſer Frage begegnete nun zuerſt jener, noch immer geltenden Verſchiedenheit im Syſtem der bäuerlichen Laſten, die wir oben angegeben haben und die noch immer durch den Unterſchied der Bauern und der Leibeigenen bezeichnet wurden. Man wußte, daß von jeher ein Theil eben jene Leibeigenen der Grundholden unfrei geweſen; man fand, daß ſie jetzt alle unfrei ſeien; wollte man das erklären, ſo mußte man entweder den Grund dieſer Unfreiheit in der Gewalt des Herrn ſuchen, oder man mußte die gegenwärtigen Zu - ſtände im Weſentlichen als die urſprünglichen annehmen und darauf eine juriſtiſche Theorie über das geſammte Bauernrecht bilden, welche dann allerdings die Unfreiheit aus einer hiſtoriſchen Thatſache zu einem geltenden Recht machte. Und in dieſer letzteren Richtung ſehen wir in der erſten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Bewegung entſtehen, an deren Spitze ſich Eſtor ſtellte.

Eſtor nämlich mit ſeiner oben angeführten Abhandlung bezeichnet den Zeitpunkt, in welchem jene juriſtiſche Frage eine beſtimmte Ge - ſtalt annimmt. Er kehrte nämlich einfach das wahre hiſtoriſche Ver - hältniß um. Sein Satz, daß alle Bauern urſprünglich leibeigen ge - weſen, ſollte eigentlich nicht bedeuten, daß die Herren das Recht hätten, die mittelfreien oder eigentlichen Bauern in die Leibeigenſchaft wieder zurückzuführen, ſondern vielmehr das, daß jede Behauptung einer Be - ſchränkung der Rechte des Gutsherrn von dem Bauer nachgewieſen159 werden müſſe, ſo daß wenn derſelbe keinen klaren Rechtstitel auf jene Beſchränkung habe, der Gutsherr berechtigt ſei, unbeſchränkte Dienſte und Abgaben zu fordern donec probetur contrarium. Die Con - ſequenzen dieſes Princips wären wohl ſehr ernſte geweſen, denn gerade die ganze erſte Kategorie der reinen Lehns - und obrigkeitlichen Abgaben und Dienſte des urſprünglich freien Bauern an den Gutsherrn war natürlich faſt ausnahmslos ohne allen beſonderen, nachweisbaren Akt eingeführt; und wäre Eſtors Anſchauung zur vollen Geltung gelangt, ſo würde ſie ſomit nothwendig die ganze perſönlich freie Klaſſe mit wenig Ausnahmen zu Leibeigenen gemacht haben. Natürlich war dieſe Gefahr gerade deßhalb ſo groß, weil der Grundherr zugleich Polizei und Gericht beſaß, und daher ſelbſt über jenen Beweis der Freiheit oder Unfreiheit entſchied. Die wiſſenſchaftliche Welt fühlte das ſehr wohl. Die Oppoſition gegen Eſtor ließ nicht lange auf ſich warten. Schon 1738 ſchrieb J. Leonh. Hauſchild ſein opusculum historico-ju - ridicum de praesumtione pro libertate naturali in causis rusticorum, worin er freilich mehr aus dem jus naturale als aus der hiſtoriſchen Auffaſſung die urſprüngliche Freiheit des Bauernſtandes im Gegenſatz zu Eſtor allgemein behauptete. Eſtor ließ dann ſeine Abhandlung mit einer etwas modificirten Grundlage 1742 wieder erſcheinen. (Fiſcher citirt andere Ausgabe von 1736; Runde hat nur die beiden von 1734 und 1742.) Dagegen ſchrieb dann Hauſchild wieder 1744 ſeine Abhand - lung Beiſchriften von Bauern und Frohnden. Eſtor ſeinerſeits fand einen Vertheidiger in J. J. Reineccius, Dissertatio de rustico quondam servo 1749, wogegen A. R. J. Bunnemann ſeine Ad - sertio de rusticorum libertate et operis contra Reineccium 1750 erſcheinen ließ. Dieſer Streit hatte das Gute, daß man allmählig von den abſtracten Behauptungen ſowohl über das poſitive als aus dem natürlichen Recht abkam, und ſich der hiſtoriſchen Grundlage zuwendete. Allein dieſe war keineswegs genug bekannt; die alte Geſchlechterordnung mit dem freien Bauernſtande des urſprünglichen Dorfes, das allmählige Auftreten der Herren, die allmählige Verwiſchung des Unterſchiedes zwiſchen dem Freibauern und dem Leibeigenen verſtand man nicht; eine größere hiſtoriſche Auffaſſung fehlte gänzlich, und das darf uns nicht wundern, wenn wir auch noch heut zu Tage in Facharbeiten die Ge - lehrſamkeit ſich in der Conſtatirung der einzelnen Thatſachen und Unter - ſchiede ſtatt in der Nachweiſung jenes großen hiſtoriſchen Proceſſes, in welchem ſie alle auftauchen und verſchwinden, ſich erſchöpfen ſehen. Es entſtand daher eine Art von Compromiß in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, der faſt in alle Lehrbücher jener Zeit über - ging, und die Grundlage der Lehre von den bäuerlichen Rechten ward,160 obwohl ſich in derſelben jene beiden Grundanſchauungen dauernd er - hielten, ohne auf das praktiſche Recht weiteren Einfluß zu gewinnen. Wir glauben das Verhältniß am beſten zu bezeichnen, wenn wir zwei der bedeutendſten Namen, welche jene beiden Auffaſſungen vertreten, hier anführen. Fiſcher (in ſeinem Lehrbegriff ſämmtlicher Cameral - und Polizeirechte 1785) ſagte Bd. I. §. 1120: Es wird über die Rechts - frage ſehr geſtritten, ob die heutigen Bauern von den alten Leibeigenen herkommen, oder nicht. Sie iſt allerdings zu bejahen. Denn ob zwar ſchon einige von alten Freigeborenen, von Bürgern und ſogar von Edelleuten herrühren, ſo machen doch dieſe in Betracht des ganzen Haufens eine ſehr unbeträchtliche Anzahl aus, die nur Aus - nahme von der Regel ſind. Das war der Standpunkt, den man als den der Mitte des vorigen Jahrhunderts ziemlich allgemein, wenn auch bald mit Betonung des einen, bald des andern Punktes, bezeichnen kann. Die Literatur iſt nicht unbedeutend. Grupen (Observationes p. 1005) und Selchow (De jure ingenuit. Cap. 1. §. 20) heben ſtärker die urſprüngliche Freiheit heraus; Benkendorf in ſeiner Oeco - nomia forensis P. V. 206 ff. und Weſtphal, teutſches Privatrecht Th. I. Abth. 31. S. 333 mehr die Unfreiheit; daß ſich Eſtor in ſeinen ſpäteren Werken (bürgerl. Rechtsgelehrſamkeit Thl. III. §. 358) daran an - ſchloß, war ganz natürlich. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat dagegen die Rechtsgeſchichte bereits bedeutende Fortſchritte gemacht. Hauſchild ſelbſt hat noch 1771 in ſeinen Juriſtiſchen Abhandlungen von Bauern und Frohndienſten (Quart) alles zuſammengefaßt, was jenen Eſtor’ſchen Streit und ſeine juriſtiſchen Folgen betrifft; die größere Bekanntſchaft mit den alten Rechtsquellen, die kaum einen Zweifel ließen, die Unterſuchung localer Rechtsverhältniſſe, die ſich ſchon damals über Belgien und Holland ausbreitete (England und Frankreich blieben auch damals den gewöhnlichen deutſchen Gelehrten unbekannte Länder) erzeugte ein beſſeres hiſtoriſches Verſtändniß, dem zuletzt Sartorius in ſeiner Geſchichte des deutſchen Bauernkrieges, oder der Empörung in Deutſchland zu Anfang des 16. Jahrhunderts (1795) eine allge - meine Geſtalt gab; und ſo entſtand die Anſicht, der Runde in ſeinen trefflichen, bis jetzt nur in der Breite, kaum in der Tiefe übertroffenen Grundſätzen des deutſchen gemeinen Privatrechts (1795. 2. Aufl. §. 484) den damals wohl allgemein gültigen Ausdruck gab: Der Unterſchied zwiſchen freien und leibeigenen Bauern hat in Deutſchland von den früheſten Zeiten an ſtattgefunden, wiewohl übrigens nicht zu läugnen iſt, daß die Leibeigenſchaft unter den deutſchen Bauern in den älteren Zeiten viel gemeiner (allgemeiner!) und drückender war, als heut zu Tage, und daß auch in den meiſten Provinzen (welches Reiches?) worin161 nunmehr der Bauer nach der Regel perſönlich frei iſt, der größere Theil ehedem leibeigen geweſen ſei. Es iſt klar, daß dieſe hiſtoriſche Auffaſſung über das 12. Jahrhundert nicht zurückgeht; die alte Bauern - ſchaft und das freie Dorf liegen noch unter dem Horizont derſelben, und erſt das 19. Jahrhundert hat hier volles Verſtändniß gebracht.

Aus dieſem doppelten Standpunkt ergab ſich nun auch das allge - meine Princip für die Beantwortung der Hauptfrage, nach den Frohn - den und ihrem Recht. Und hier iſt vielleicht die Stelle, auf welcher die Bedeutung des römiſchen Rechts für die bäuerliche Unfreiheit be - zeichnet werden kann, die in ſo ſehr entgegengeſetzter Weiſe beurtheilt wird. Jene erſte, unfreiere Richtung kam nämlich von ihrem Stand - punkt aus zu der natürlichen Conſequenz, die Fiſcher kurz ausdrückt (a. a. O. §. 1155). Ob zwar ſchon in vielen Gegenden die Dienſte der Leibeigenen gemeſſen ſind, ſo ſind ſie doch im Zweifelsfalle für unge - meſſen zu halten, können aber bloß auf die herkömmliche Weiſe begehrt werden. (Vgl. 1159 und 1279 ff.) Allerdings war dieſer Grundſatz die Folge des Begriffes der Leibeigenſchaft; allein die römi - ſchen Juriſten nahmen dabei einen eigenthümlichen Standpunkt ein. Damals wie jetzt beſchränkt auf die Begriffe und das Verſtändniß des römiſchen Rechts, war ihnen das Weſen der Frohnden und Dienſte überhaupt nicht formulirbar; ſie wollten durchaus eine Servitus quae in faciendo consistit daraus machen (Runde, deutſches Privatrecht, §. 274) und brachten dadurch allerdings in der Theorie einige Ver - wirrung hervor, weßhalb man oft, und auch noch in neueſter Zeit (Sugenheim a. a. O. S. 360) die Einführung des römiſchen Rechts als ein großes Unheil betrachtet hat. Nun iſt es wahr, daß die Eſtor’ſche Richtung ſchon im Anfange des 18. Jahrhunderts bedeutende An - hänger fand, die wie Ludolf (P. II. 232), Leyſer (Specimen 416. Medit. 1), Pertſch (de oper. determinatis et indeterminatis §. 54), Weſtphal (deutſches Privatrecht I. Abth. 32. C. 1. 2) die Ungemeſſen - heit der Frohnden als Princip ausſprechen. Allein andererſeits hielten doch auch wieder dieſelben römiſchen Juriſten daran feſt, daß die einmal gemeſſenen Frohnden nicht mehr überſchritten werden dürfen, ein Grundſatz, der im Weſentlichen denſelben Erfolg hatte, wie die Anerkennung des Court roll für den tenant in villeinage im common law (ſ. oben). Daher fängt jetzt auch die Lehre von der Verjährung an, eine nicht unbedeutende Stelle im Rechte der Leibeigenſchaft einzu - nehmen; namentlich aber werden die Begriffe der Emphyteusis und des Colonats vielfach auf die bloß wirthſchaftlich Unfreien angewendet, und damit der Begriff des freien Vertrages dem der Unterthanſchaft unter - ſtellt. Das römiſche Recht, das die Anerkennung des gleichen perſönlichenStein, die Verwaltungslehre. VII. 11162Rechts bei allen über ein Recht Streitenden grundſätzlich voraus - ſetzt, arbeitet daher der Idee der Rechtsgleichheit zwiſchen Grundherren und Bauern vor, in ganz ähnlicher Weiſe wie das engliſche Common law; und dieſer allgemeine, principielle Erfolg iſt vielleicht viel wich - tiger, als die einzelnen Uebelſtände, die ſeine Anwendung mit ſich brachte. Am wenigſten iſt es richtig, wenn man ſich darauf beruft, daß das römiſche Recht das deutſche Rechtsbewußtſein untergraben und fremde Rechtsideen an deren Stelle geſetzt habe. Denn gerade dieß deutſche Rechtsbewußtſein beruhte auf der traditionellen Unterſcheidung der Klaſſen und der Annahme von Vorrechten der höheren Stände für die das römiſche Recht gar kein Verſtändniß hatte. Die rechtliche Per - ſönlichkeit des germaniſchen Rechtsbewußtſeins war ſtets eine bevorrechtete oder unterworfene; die des römiſchen Rechts dagegen die gleichberechtigte. Das iſt es, was der Ausdruck des gemeinen bürgerlichen Rechts eigentlich bedeutet. Die künftige Rechtsgeſchichte wird dieſe Wahrheiten zu würdigen wiſſen. So hat die römiſche Jurisprudenz vielmehr im Ganzen heilſam gewirkt; man ſieht das am beſten bei den Bannrechten, für welche ſelbſt die deutſchen Juriſten den römiſchen Begriff des Bila - teral-Contracts (do ut des vel facias) und mithin das Princip der Rechtsgleichheit für Herrn und Bauern anerkannten (vgl. Runde a. a. O. §. 281 übrigens nicht klar gegenüber §. 276). Doch muß die ge - nauere Darlegung dieſer Verhältniſſe einer beſonderen Arbeit vorbe - halten bleiben.

Faßt man nun aber das Geſammtergebniß dieſer Bewegung des 18. Jahrhunderts auf dem Gebiete des Rechtsbegriffes der bäuerlichen Unfreiheit zuſammen, als das Reſultat, mit welchem es in das 19. Jahr - hundert hineintritt, ſo erſcheint daſſelbe als das folgende.

Allerdings hat die entſtehende hiſtoriſche Bearbeitung der Frage es feſtgeſtellt, daß die Unfreiheit nicht der allgemeine urſprüngliche Zuſtand des Bauernthums geweſen. Allein die höchſt fleißigen und umſichtigen Bemühungen der Wiſſenſchaft ſcheinen einerſeits zu zeigen, daß bei weitem der größte Theil des Bauernſtandes zu der Zeit, wo die rechts - geſchichtlichen Aufzeichnungen beginnen und mit der daher auch das damalige Studium anfängt, der Zeit des 13. Jahrhunderts, wirklich ſchon in einer mehr oder weniger ausgeſprochenen Unfreiheit geweſen; andererſeits ſteht es ſchon damals feſt, daß die hiſtoriſche Entwicklung der bäuerlichen Unfreiheit nicht in allen Provinzen zu gleicher Zeit und gleich ſtark gewirkt habe, ſo daß kein ſicherer Schluß von einer Provinz auf die andere, ja oft nicht einmal von einem Amte und von einem Dorfe auf das andere erlaubt iſt (Runde §. 480), obwohl ſcharfe Beobachter ſchon damals den großen Unterſchied zwiſchen den163 von den Slaven eroberten Theilen Norddeutſchlands, in denen die Leib - eigenſchaft viel allgemeiner und härter war als im alten eigentlichen Deutſchland, und dem letztern erkannten. (Vgl. Fiſcher I, 1084 89, der übrigens ungenau hier Nord - und Süddeutſchland einander zu all - gemein entgegenſetzt.) Die ſpätere Rechtsgeſchichte hat dieſen hochwichtigen Unterſchied, auf dem namentlich der gegenwärtige, noch ſehr unfreie Zu - ſtand der oſtpreußiſchen Agrarverfaſſung beruht, ganz überſehen; Eichhorn hat überhaupt die Unterſchiede der deutſchen Stämme grundſätz - lich in den Hintergrund treten laſſen; daß aber der ſonſt ſo geiſtvolle und gründliche Sugenheim darauf keine Rückſicht genommen, iſt ein Mangel ſeines vortrefflichen Werkes. Aus dieſen leitenden Principien folgert nun die deutſche Rechtswiſſenſchaft am Ende des vorigen Jahrhunderts den ſehr ernſten Satz, daß bei Beurtheilung jener rechtlichen Verhältniſſe (der Bauern) überhaupt nicht mehr auf die alte Verfaſſung, ſondern allein auf die gegenwärtigen Umſtände Rückſicht zu nehmen ſei und daß der Bauer ſo gut wie jeder andere Unterthan bei dem Grade von Freiheit und Eigenthum geſchützt werden müſſe, zu deſſen Beſitz er wirklich gelangt iſt. In allen Fällen, ſagt Runde, als Hauptvertreter dieſes Standpunkts, muß man zunächſt den Beſitz - ſtand und die Localverfaſſung vor Augen behalten, alsdann aber die Entſcheidungsgründe aus den Bauernrechten hernehmen ein Satz, den bereits Ludolf in ſeiner Abhandlung de juris coloniarii in Ger - mania diversitate ejusque adminiculis generatim (Observ. for. II. obs. 148) und namentlich Struben (de jure Villicorum c. 2 und in ſeinen Rechtlichen Bedenken III. 435) als leitenden und ziemlich all - gemein anerkannten Grundſatz ausgeſprochen hatten. Die Bedeutung dieſer Auffaſſung lag nun darin, daß die grundherrlichen Rechte dadurch auch für die Rechtswiſſenſchaft definitiv den Charakter von Privat - rechten angenommen hatten, alſo als unverletzlich und nicht mehr als von der Verfaſſung d. h. dem öffentlichen Recht der Staaten ab - hängig anerkannt wurden. Den Schlußpunkt dieſer Theorie bildet das Recht auf die Patrimonialgerichtsbarkeit. Sie iſt für dieſelbe gleichfalls ein zum Patrimonio gehöriges veräußerliches Recht, und die Haupt - quelle dieſer Gerichtsbarkeit iſt vielmehr das Eigenthum an der Perſon, und das Obereigenthum an dem ihr verliehenen Gute. Sie iſt daher ſelbſt ein Privateigenthum; ſie hat ihren Charakter als öffentliches Recht gänzlich verloren, und ſelbſt bei ſo freiſinnigen und tüchtigen Männern wie Runde, ergibt ſich der Schlußſatz, der zugleich das Ende des vorigen und den Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts bedeutet. Wenn man, dem an ſich richtigen Grundſatze des allge - meinen Staatsrechts zu Folge, auch nach deutſcher Verfaſſung alle164 Gerichtsbarkeit für einen Ausfluß der höchſten Gewalt betrachtet; ſo verwickelt man die ganze Lehre (von der Patrimonialgerichtsbarkeit) in unauflösliche Schwierigkeiten, welche offenbar beweiſen, daß unſere Vorfahren jene verfeinerte Philoſophie (!) über richterliche und oberſt - richterliche Gewalt nicht kannten, und nicht darnach handelten (§. 702). Freilich hatten die Grundherren nach keiner Philoſophie gehandelt; ſie hatten einfach ihre Gewalt ihren Standes - und Sonderintereſſen dienſt - bar gemacht. Doch blieb das Reſultat. Auch die ſtaatliche Funktion des Gerichts und der Polizei iſt Privateigenthum; heilig und un - verletzlich wie dieſes. Die Entwicklung der Geſchlechterunfreiheit, bis dahin im Kampfe der ſtreitenden Elemente zweifelhaft, hat zwar ihre objektiv rechtlichen Gränzen gefunden, aber ſie iſt auch als bürgerliches Eigenthum dem Schutze des Gerichts anvertraut, und zwar deſſelben Gerichts, das vermöge deſſelben Princips auch Privateigenthum des - jenigen iſt, der über ſeine eigenen gutsherrlichen Rechte und Verhält - niſſe Kläger und Richter in derſelben Perſon zu ſein, ein bürgerliches Eigenthumsrecht hat.

Das iſt der Schluß dieſer Bewegung. Die Frage, ob die Ge - ſchlechterordnung ſich durch ſich ſelbſt zur Freiheit erheben kann, iſt auch in Deutſchland verneint. Die Elemente dieſer Geſchlechterordnung ſind unfähig, das große Princip der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit durch ſich ſelbſt zu entwickeln. Das Ergebniß iſt, daß das Recht der herrſchenden Klaſſe über die beherrſchte, und daß ſogar der Beſitz der öffentlichen Funktionen als Privateigenthum angeſehen, als Privatrecht geſchützt, und demnach mit der untergeordneten Lage der niederen Klaſſe zuſam - mengenommen als die Verfaſſung des Bauernſtandes ſelbſt von der Rechtswiſſenſchaft anerkannt worden.

Soll daher aus dieſem Zuſtand ein Fortſchritt ſtattfinden, ſo muß derſelbe von einem ganz anderen, von der Geſchlechterordnung unab - hängigen und gegen dieſelbe und ihr Recht gleichgültigen Element aus - gehen. Und dieſes Element iſt der Staat.

IV. Der Beginn des Kampfes mit dem Geſchlechterrecht. Das Dominium eminens und ſeine Geſchichte.

(Die drei Epochen: Hugo Grotius. Biener. Poſſe. Runde. Das Dominium eminens verſchwindet und das Princip des Entwährungsrechts überhaupt tritt an ſeine Stelle. Das Jus eminens und ſein Unterſchied vom Dominium eminens.)

Während nun auf dieſe Weiſe die Geſchlechterordnung ihre unfreie Rechtsordnung an die Scholle bindet, beginnt gleichzeitig die eigentliche Staatsbildung auch in Deutſchland in ihren erſten eigentlichen Anfängen165 zum Durchbruch zu gelangen. Sie wird erzeugt durch die höhere Natur des Lebens, vertreten von zum Theil ſehr tüchtigen Perſönlichkeiten, getragen von der Wiſſenſchaft der Gelehrten und von dem Intereſſe und der Thätigkeit des Beamtenthums. Sie beginnt etwa mit dem 16. Jahr - hundert. Sie iſt auf allen Punkten zugleich thätig. Sie wird, kaum entſtanden, von dem Bewußtſein erfaßt, daß ſie die Trägerin der höchſten allgemeinen, ſittlichen und wirthſchaftlichen Intereſſen überhaupt ſei. Sie kann ſich daher auch jenem großen Proceß, der jene Unfrei - heit der Geſchlechterordnung gleichſam kryſtalliſirt, nicht entziehen. Mit ihrem Auftreten beginnt daher eine neue Epoche für dieſelbe. Sie iſt es, welche die Entſcheidung zu bringen hat, da die unfrei gewordenen Geſchlechter ſich ſelber nicht mehr helfen können.

Nun kann kein Lebendiges ganz ſein Weſen verläugnen. Das Weſen des die Staatsidee vertretenden Königthums aber iſt es, in der möglichſt kräftigen und daher auch möglichſt freien Entwicklung aller Angehörigen des Staats ſeine eigene höchſte Kraft und damit ſeine eigenen höchſten In - tereſſen zu ſuchen. Das Königthum kann ſich nicht verhehlen, daß wenn ein Theil der Geſellſchaft von einem andern beherrſcht wird, es zuletzt ſelber unter die Herrſchaft des letzteren fallen muß. Es braucht das nicht theoretiſch zu wiſſen oder zu beweiſen; ſieht und hört ja doch der ein - zelne Menſch, und weiß nicht, wie es geſchieht. Es wird auch unbe - wußt ſeiner Natur folgen, und hier das Seinige thun. Die Aufgabe der Wiſſenſchaft iſt es nur, Weſen, Grund und Folge der Dinge zum Bewußtſein zu bringen. Das iſt ſie jetzt, und das war ſie auch da - mals. Allerdings aber hatte das Königthum, indem es ſich faſt gleich - zeitig mit ſeinem Entſtehen jener Aufgabe der Befreiung der niederen Geſchlechterklaſſen zuwendet, in den gegebenen Verhältniſſen einen ganz beſtimmten Anlaß, die Wiſſenſchaft zu Hülfe zu rufen. Dieſer aber lag in dem Rechtsprincip ſelbſt, auf welchem jene Unfreiheit beruhte.

In derſelben Zeit nämlich, in der das Königthum und in ihm die Staatsidee ſich entwickeln, geſtaltet ſich auch das Rechtsverhältniß der herrſchenden Klaſſe aus einem vorwiegend öffentlichen zu einem privat - rechtlichen um, wie wir geſehen haben. Wenn daher das junge König - thum in dieſe Verhältniſſe eingreifen will, ſo braucht es vor allem Eins; es braucht einen andern Rechtstitel als den ſeiner abſtracten Hoheit, um in die zum Privatrecht des Grundherrn gewordene Unfrei - heit der Bauern und Leibeigenen einzugreifen. Und dieſer Rechtstitel iſt eben das Jus und Dominium eminens, das Obereigenthum, mit deſſen abſtrakter Aufſtellung der Kampf des Königthums gegen jene Unfrei - heit beginnt. Das iſt ſeine Stellung in der Geſchichte der neuen Staatsidee.

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Man wird ſich nun die Sache nicht ſo denken, als hätte das - nigthum ſein dominium eminens ausdrücklich in dieſem Bewußtſein ſeiner ſocialen Aufgabe gefordert. Die ganze Frage entſteht vielmehr von ſelbſt; ſie wird auch nicht ſo ſehr durch die Theorie angeregt, als vielmehr von ihr wiſſenſchaftlich formulirt. Die Literatur derſelben iſt nicht etwa die Frage ſelbſt, ſondern nur ihr Ausdruck, die Form, in der dieſelbe mit Princip und Conſequenz zum Bewußtſein kommt. Eben ſo wenig iſt die deutſche Bewegung hier der engliſchen oder franzöſiſchen gleichartig, oder in ihren Wirkungen gleichzeitig. Denn das König - thum, an welches ſich dieſelbe anſchließt, iſt in England und Frankreich ein doch anderes, als in Deutſchland und daher erſcheint auch die ganze Behandlung des Princips als eine weſentlich verſchiedene in den drei Ländern. In England iſt der König dem anerkannten Rechte des feodal system nach wirklicher Eigenthümer alles Grundes und Bodens bis zum St. 24. Ch. II. 12. Sein jus und dominium eminens war daher an ſich gar nicht fraglich; nur war er, ſo weit nicht eben das feodal system ihm ganz beſtimmte Rechte einräumte, an die Zu - ſtimmung des Parlaments gebunden (ſ. oben). In Frankreich war der König oberſter Lehnsherr, ohne doch eigentlich, mit Ausſchluß der Kronlehen, Obereigenthümer zu ſein; zwar wird nun das Königthum ſeit dem Ende des 15. Jahrhunderts allgewaltig, aber in die droits seigneuriaux greift es nicht ein, da es überhaupt ſeit Ludwig XIII. die innere Entwicklung des Volkes über dem Glanz des verderbten, vom Adel beherrſchten Hofes und über die Machtfragen der Monarchie vergißt. In Frankreich iſt ſeit Richelieu die Frage nach der Herrſchaft der Krone im öffentlichen Recht unbezweifelt für dieſelbe entſchieden, aber die Frage nach der Gewalt über das Privatrecht des Grundherrn eben ſo beſtimmt gegen dieſelbe verneint. Die großen Organe, welche dies Recht der Grundherrſchaft vertraten, waren die Parlamente. Aller - dings ſtrafte der König durch dieſe Parlamente die Ausſchreitungen der Grundherren gegen die Unterthanen, wenn ſie zu wirklichen Ver - brechen ausarteten, wie 1665 in den Grands Jours d’Auvergne und ſonſt (Sugenheim a. a. O. S. 142 162), aber die Rechte ſelbſt ließ er unangetaſtet einer der gewaltigen Gründe, weßhalb die Revo - lution mit der Geſchlechterherrſchaft auch das Königthum vernichtete. Daher hatte Frankreich die Lehre vom dominum eminens des Königs für die Herrſchaft der Krone nicht nöthig, und wollte ſie nicht gebrauchen für die innere Verwaltung. Ganz anders dagegen war es in Deutſch - land. Hier war mit dem Kaiſerthum die Staatsidee ſelber gebrochen, und an ihre Stelle die örtliche Souverainetät getreten, die zuletzt ſelber nur ein Privatrecht auf Selbſtherrſchaft der kleinen Reichsſtände167 wurde. Für dieſe hatte das dominum eminens keinen rechten Sinn, da ſie ohnehin wahre Eigenthümer ihrer Herrſchaften waren, ohne doch Staaten zu ſein, und bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges gab es daher auch hier keinen Raum für jene Frage. Erſt mit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fangen nun die territorialen Staatenbildungen an, und dieſe tragen trotz der mannichfachſten Unterſchiede dennoch einen und denſelben Charakter, den namentlich Preußen und Oeſterreich mit dem 18. Jahrhundert ſofort zur energiſchen Geltung bringen, das iſt die ſtarke Entwicklung aller Actionen der inneren Verwal - tung. Namentlich Preußen, κατ̕ ἐξοχὴν der Verwaltungsſtaat, geht hier ein ganzes Jahrhundert lang mit glänzendem Erfolg, aber auch mit großer Härte, voran. Dieſe innere Verwaltung läßt nun auf allen Punkten jenes Recht der Grundherren, das auf Gerichts - barkeit und Polizei und Polizei hieß und war noch jede Innere Verwaltung ein Privatrecht hatte. Sie war daher als königliche Verwaltung gar nicht möglich, ohne dieſe Grundherrlichkeit in hundert Punkten zu beſchränken, zu verletzen, zu vernichten. Damit trat ſie mit ihrer Staatsidee dem Princip des Privatrechts und der Heiligkeit des Eigenthums entgegen; und dieſes tiefen Gegenſatzes waren ſich die Krone und nicht weniger die Gutsherren recht wohl bewußt. Die erſtere brauchte daher etwas anderes als die einfache Negation jenes Rechts der letzteren; und wenn jener Friedrich Wilhelm I. offen und ſtolz erklärte, er werde dem Junkerthum gegenüber die Souverainetät wie einen rocher de bronze ſtabiliren, ſo bedurfte er trotz ſeiner per - ſönlichen Energie doch auch eines ſichern Rechtstitels dafür. Und dieſen Rechtstitel bot nun der Begriff des dominium eminens. Der - ſelbe bedeutet in der That nicht ein Obereigenthum, ſondern er iſt in ſeiner deutſchen Geſtalt vielmehr das höhere Recht der Staatsidee überhaupt. Dieſer Begriff iſt daher nicht etwa in die gewöhnliche Kategorie der juriſtiſchen Controverſen, etwa aus dem Lehnrecht, zu ſtellen, wie Manche wohl meinen. Er iſt vielmehr ſelbſt zum Theil ein Element, zum Theil ein Ergebniß der Entwicklung der Staatsidee in Deutſchland, und ſeine große Bedeutung namentlich für die ganze Entwährungslehre macht es nothwendig, ihn aus der Vergeſſenheit herauszuziehen, in welche er gerathen iſt, und ihm ſeine Stelle in der Geſchichte des deutſchen Staatslebens zurückzugeben.

Man kann wohl drei Hauptauffaſſungen in dieſem Begriffe unter - ſcheiden, die zugleich für die ganze Auffaſſung des Staatsbegriffes höchſt bezeichnend ſind.

Die erſte dieſer Auffaſſungen können wir die der Gloſſatoren nennen. Sie beruht auf dem Verſuche, das Lehnrecht, namentlich alſo168 die Geſammtheit derjenigen Rechte, welche der Lehnsherr über das feu - dum hat, mit dem römiſchen Begriff des dominium in Uebereinſtim - mung zu bringen. Der Sage nach denn etwas Anderes iſt es doch wohl nicht entſteht dieſe Frage bei einem Streit der beiden Gloſſa - toren Bulgarus und Martinus. Die Geſchichte hat uns den Beginn dieſes Streites, der theoretiſch bald halb Europa umfaſſen ſollte, als Anekdote aufbewahrt. Bekannt iſt die Sitte, die herrſchenden Herren, namentlich die Lehnsherren domini zu nennen; ebenſo bekannt jene vage Vorſtellung aus der Zeit Karls des Großen, welche den Kaiſer von Deutſchland als ſeinen Nachfolger, als den oberſten Lehnsherren der Chriſtenheit anſah, eine Vorſtellung, welche von der Geiſtlichkeit mit Eifer und Abſicht genährt wurde. Die Courtoiſie jener Zeit ſagte daher wohl, der deutſche Kaiſer ſei dominus mundi. Die neu ent - ſtehende römiſche Jurisprudenz verſtand dagegen unter dominus den juriſtiſchen Eigenthümer und forderte ihrerſeits, daß ſich der lehns - rechtliche Begriff des dominium dem römiſchen in irgend einer Weiſe unterordnen ſolle, um dadurch jene Definition zu empfangen. Nun er - zählt Otto Morena in der Historia Laudensi (Muratori VI. 1018), daß eines Tages der Kaiſer Friedrich Barbaroſſa mit Bulgarus und Martinus ausgeritten ſei und bei dieſer Gelegenheit beide gefragt habe, ob er wirklich rechtlich der dominus mundi ſei. Bulgarus ant - wortete ihm, daß er es nicht ſei in Betreff des Eigenthums (quod non erat dominus, quantum ad proprietatem), wogegen Martinus höfiſch erklärte, er ſei wirklicher dominus. Der Kaiſer ſchenkte, dar - über höchlich erfreut, dem Martinus ſein Pferd; Bulgarus aber, als er dieß hörte, ſagte: Amisi equum, quia dixi aequum, quod non erat aequum (Pütter, Specimen juris publici et gentium medii aevi. p. 192). Von da an nun ſcheidet ſich der Begriff des domi - nium in zwei Theile. Der ſtrenge römiſche Begriff bleibt; allein neben ihm entſteht der zweite des dominium feudale, über deſſen Inhalt und Gränzen man ſich auf der Grundlage des römiſchen Rechts nicht klar werden konnte, da man ein Oberrecht des Lehnsherrn über die proprietas des Vaſallen nicht läugnen konnte und doch auch wieder zugeſtehen mußte, daß dominium und proprietas das vollkommen freie und ausſchließliche Recht über die Sache bedeuten, das der Lehnsherr denn doch in Beziehung auf das Eigenthum des Vaſallen nicht hatte. Daher ſehen wir von jetzt an das Beſtreben, jenes Oberrecht des Lehnherrn ſo viel als möglich in juriſtiſche Formulirung zu bringen. So entſtanden zunächſt der Unterſchied von dominium directum und utile; dann der Verſuch, das Rechtsverhältniß des oberſten Lehnsherrn durch Ausdrücke zu bezeichnen, bei denen man die Worte dominium169 und proprietas ſorgfältig vermied, um zu keiner Verwechslung Anlaß zu geben. So ſagt Baldus in C. un. vers. et praem. ergo de alleud. in usibus Feud. : Omnia feuda et praedia censualia et allaudialia a principe procedunt et ad principem redeunt. Was das entſcheidende procedunt juriſtiſch bedeutet, das zu ſagen überließ dann das römiſche Recht dem Lehnsherrn; ſo viel ſtand jedoch feſt, daß es jetzt zwei Arten des Eigenthums gebe; was dagegen nicht recht feſt ſtand, das waren die Gränzen zwiſchen beiden, das Maß des Rechts, welches das dominium directum oder feudale, oder das utile das doch im Grunde die eigentlich römiſche proprietas enthielt beſitzen ſollte. Offenbar lag hier ein Verhältniß zum Grunde, das mit privatrechtlichen Begriffen nicht erſchöpft werden konnte, obwohl es ſich auf privatrechtliche Objekte bezog und im privatrechtlichen Sinne des römiſchen Rechts behandelt wurde. Und dieß Verhältniß kam nun in der zweiten Epoche zum Ausdruck, aber allerdings nicht zur end - gültigen Entſcheidung.

Als nämlich mit dem dreißigjährigen Kriege ſich das Territorial - ſtaatsrecht entwickelt, entſtehen in Deutſchland zwei Klaſſen von Reichs - ſtänden. Die eine Klaſſe beſteht aus wirklichen kleinen und größeren Staaten, welche kleinere und größere Herrſchaften in ſich aufnehmen, und über dieſelben eine eigentliche Verwaltung zu entwickeln beginnen. Die zweite Klaſſe, die kleinen Reichsſtände dagegen, ſind nichts als ſouverain gewordene Grundherrlichkeiten. Da aber die Souverainetät beiden angehört, ſo muß nun auch auf beide der Begriff des domi - nium principis angewendet werden. Offenbar nun aber waren beide Klaſſen in Beziehung auf den ihnen angehörigen Grund und Boden in ſehr verſchiedenem Verhältniß. Die erſte Klaſſe hatte über alles, was nicht proprietas fisci oder principis war, kein eigentliches Eigen - thum, ſondern nur die ſtaatliche Herrſchaft; die zweite Klaſſe dagegen ſolche deutſche Staaten, welche aus der Verbindung einzelner einem Fürſten oder ſeiner Familie eigenthümlich zugehörender Güter (dominium im Sinne der proprietas) entſtanden ſind, haben ein wah - res, über Grund und Boden des Landes ſich erſtreckendes Eigenthum. So noch Runde 1795 (Deutſches Privatrecht §. 101). Da man nun den Ausdruck dominus und mithin auch den Ausdruck domi - nium auf beide Klaſſen urſprünglich ganz gleichmäßig anwenden mußte, weil am Ende beide Lehnsherren und ſouverain waren, ſo ward jetzt von den abſoluten Anhängern der fürſtlichen Gewalt der Begriff der proprietas mit dem des dominium überhaupt verſchmolzen und der Fürſt als dominus quoad proprie - tatem totius terrae angeſehen auch da, wo er gar kein Eigenthumsrecht170 hatte. Dieſe Begriffsverwirrung aber war denn doch nicht bloß zu groß, ſondern auch ſowohl der ſtändiſchen Selbſtverwaltung als ſogar dem Princip des Eigenthums überhaupt zu gefährlich, und es ent - ſtand daher ein Proceß, der die Unterſcheidung zwiſchen dominium und proprietas wieder herſtellte. Nun behielt die Sache anfänglich die große Schwierigkeit, daß man in der lateiniſchen Literatur den Aus - druck dominium auch für die fürſtliche Herrſchaft beibehalten mußte, der jedoch nach wie vor für die Juriſten die proprietas bedeutete (wie C. 1. §. 1. D. d. Scto. Silan. domini appellatione continetur qui habet proprietatem, und vielfach). Es war daher zu einer rechten Klarheit nicht zu gelangen, bis man im 18. Jahrhundert anfing, deutſche Ausdrücke zu gebrauchen; erſt dieſes Auftreten deutſcher Aus - drücke entſcheidet die zweite Epoche.

Es erklärt ſich daher wohl einfach, wenn wir bemerken, daß jener Proceß der Unterſcheidung zwiſchen dominium und proprietas ſo lange unvollſtändig bleibt, als die betreffende Literatur noch lateiniſch iſt, und das iſt im Weſentlichen das 17. Jahrhundert; erſt im achtzehnten, wo man anfängt deutſch zu ſchreiben, greift auch der deutſche Gedanke durch, und dieſen nun bezeichnen die beiden Worte Landeshoheit und Staatseigenthum. An ſie und ihre Bedeutung knüpft ſich ein Stück Literaturgeſchichte, das nicht zu vergeſſen der Mühe werth iſt.

Als nämlich im Anfange des 17. Jahrhunderts die junge königliche Macht in den Hauptländern Europas den Kampf mit dem Lehnsweſen und der Grundherrlichkeit aufnimmt, in Spanien und den Niederlanden mit Philipp II. und ſeinen Nachfolgern, in Frankreich mit Richelieu, in England mit den Stuarts, in Dänemark mit Friedrich III., in den einzeln entſtehenden deutſchen Staaten mit den Landesfürſten, entſteht die theoretiſche Frage, ob die allerdings anerkannte lehnsherr - liche Suzerainetät des Landesherrn auch demſelben das Recht zur Regierung, die Souverainetät gebe. Und in dieſer Frage war es, wo Hugo Grotius mit deutſchen Gedanken, aber in lateiniſcher Sprache den Ausgangspunkt der neuen Theorie bildet, die das 17. Jahrhundert beherrſchte und jenem Manne vorzugsweiſe ſeine Stellung in der Ge - ſchichte der Rechtsphiloſophie gegeben hat. Es iſt die große Bedeutung des Hugo Grotius, die ganze, bereits im 16. Jahrhundert vorhandene Auffaſſung des jus naturae, die in der ſchon vor Hugo Grotius keines - wegs unbedeutenden rechtsphiloſophiſchen Literatur aufgeſtellt war, zu der concreten Frage über das Eigenthumsrecht des Fürſten am Staate und dem Umfang deſſelben kryſtalliſirt zu haben. Die vortreffliche und höchſt gründliche Arbeit von Kaltenborn die Vor - läufer des Hugo Grotius auf dem Gebiete des jus naturae et gentium 171(1848) hat den wir möchten faſt ſagen einzigen Fehler, eben dieſe be - ſtimmte Beziehung auf jene Hauptfrage der europäiſchen Staatenbildung nicht klar und feſt genug erkannt und herausgehoben zu haben; denn in der That war ſie die Grundlage und das Ziel aller Theorien noch lange nach Hugo Grotius, ja faſt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Hugo Grotius aber nahm hier eine ganz entſcheidende Stellung ein. Sein Lib. I. C. 3. iſt das Compendium der Principien ſeines Staats - rechts. Darnach muß man unterſcheiden. Das Recht der Könige und ihrer Herrſchaft (imperium) entſteht entweder aus der Wahl und dem in ihr liegenden Vertrage, oder aus der Eroberung. Das Recht des Königs iſt im erſten Falle ein beſchränktes, aber im zweiten Falle ein unbe - ſchränktes. Dieſes unbeſchränkte Recht umfaßt nun auch das Eigen - thum; ſolche Könige ſind reges pleno jure proprietatis, ut qui justo bello imperium quaesierunt, aut in quorum ditionem populus aliquis ita se dedidit, ut nihil exciperetur lib. 1. cap. 3. §. 11. Bei dieſen Königen entſteht nun die Frage, ob ihr jus proprietatis ſich bloß auf das Recht der Regierung, oder auch auf die Freiheit der Einzelnen er - ſtreckt. Und darauf antwortet Hugo Grotius: At sicut est alia potestas dominica, alia regia, ita et alia libertas personalis, alia civilis, alia singulorum, alia universorum. Hic non de hominum singulorum, sed de populi libertate quaeritur. Cum populus alienatur, non ipsi homines alienantur, sed jus perpetuum eos regendi. So er - ſcheint hier das Princip der perſönlichen Freiheit als die abſolute, von keiner Staatsform zu überſchreitende Gränze der höchſten Staatsgewalt; das war die wahre Baſis des Princips der Reformation, ein neuer Gedanke gegenüber dem alten jus feudale, in welchem der Menſch ſtets in untrennbarer Verbindung mit dem Grundbeſitz und daher auch mit dem Recht des Lehnsherrn über dieſen Grundbeſitz gedacht, und dieſem Rechte des Grundbeſitzes auch perſönlich unterworfen wird. So iſt jener Gedanke des Hugo Grotius, die principielle Scheidung der Per - ſönlichkeit vom Beſitz und ſeiner Abhängigkeit, der theoretiſche Aus - gangspunkt der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und ihrer Scheidung von der ſtändiſchen Geſellſchaftsordnung. Allein während Hugo Grotius auf dieſe Weiſe, wie er es in dem obigen Satze aus - drücklich hervorhebt, den Menſchen frei macht, macht er den Staat nicht frei. Er erkennt vielmehr an, daß es Staaten gebe, deren imperium in der plenitudo juris proprietatis dem Eigenthum des Landesherrn beſtehen könne. Dieſe Staaten nun nennt er die regna patrimonialia, und ſetzt ſie ausdrücklich den regnis quae non in patri - monio sed tanquam in usufructu habentur entgegen. Die erſten kann der König ganz nach ſeiner Willkür regieren, ja quo minus rex172 regnum (patrimoniale) alienet, nihil impedit. Bei den letzteren da - gegen iſt der König an die Zuſtimmung der Stände für ſeine Thronbeſteigung, alſo auch für ſeine ganze Regierung gebunden ut imperium totum valide transeat, populi totius consensu opus est, qui expediri potest per partium legatos, quos ordines vocant. Damit war die erſte Baſis für den Unterſchied der freien und un - freien Verfaſſung gefunden, nicht auf Grundlage eines abſtrakten Be - griffes, ſondern auf derjenigen der hiſtoriſchen Staatsbildung, und einerſeits der Raum für die reine Philoſophie gegeben, die alsbald für jenes Recht des Landesherrn das begriffliche Weſen des Staats als Grundlage nahm, wie in England Hobbes (ſ. oben), in Deutſchland Pufendorf (1667), der in ſeiner Auffaſſung des Staats noch weiter ging als Hugo Grotius und faſt eben ſo weit wie der von ihm nicht citirte, und doch ihm ſo wohl bekannte Hobbes; er ſagt im jus nat. et gent. lib. VII. cap. 6. §. 16: Qui (patrimonialiter imperans) licet victis libertatem personalem et dominium privatum relinquat, sal - tem tamen imperium in ipsos pleno et irrevocabili modo sibi vin - dicare intelligitur. Andererſeits fanden jetzt auch die hiſtoriſchen Stu - dien über das poſitive Recht dieſes Königthums damit einen feſteren Anhaltspunkt, wie wir gleich ſehen werden. Und ſo konnte nun, nach - dem man über das Weſen der Patrimonialſtaaten gegenüber denen der ſtändiſchen einig war, die zweite Frage entſtehen, wie weit denn nun jenes imperium gehe. Das iſt der Punkt, auf welchem ſich hiſtoriſch der Begriff der Landeshoheit von dem des Staatseigenthums, die beide ſchon in dem Unterſchiede der Ausdrücke imperium und dominium liegen, zu ſcheiden, und die Auffaſſung des 18. Jahrhunderts zu bilden beginnt.

Schon Hugo Grotius war ſich darüber klar, daß in jedem Staate unterſchieden werden müſſe zwiſchen dem eigentlichen patrimonium principis, dem perſönlichen Eigenthum des Fürſten an gewiſſen Gütern, und dem, was wir jetzt das Staatseigenthum nennen. Nur wendete er den Unterſchied des Patrimonial - und ſtändiſchen Staates auch auf dieſe Verhältniſſe, die bona publica des römiſchen Rechts an, und kam conſequent zu dem Schluß, daß in den Patrimonialſtaaten auch dieſe bona publieu proprietas des dominus ſeien. Ut enim res est ager (Grundbeſitz) ita et iter, actus, via, sed haec alii (die Patri - monialfürſten) habent jure pleno proprietatis, alii jure usufructuario. (Lib. 1. cap. 3. §. 11.) Offenbar war nun dieſer letztere Begriff des jus usufructuarium eines ſtändiſch begränzten Königthums höchſt un - klar; denn es handelte ſich bei der im 17. Jahrhundert entſtehenden Verwaltung nicht ſo ſehr um den Ertrag, als um das Recht,173 Verwaltungsmaßregeln über dieſe res, die öffentlichen Angelegenheiten, zu erlaſſen. Einen Begriff der Verwaltung aber hatte man nicht; ſo kam man wieder auf den Begriff des dominium und den der proprietas zurück, um das Recht des Königs dadurch zu definiren. Und da nun einmal feſtzuſtehen ſchien, daß zwar das abſtrakte imperium im Weſen des Königthums liege, die Anwendung deſſelben auf die res dagegen ein Eigenthumsrecht vorausſetze, während eine proprietas an denſelben denn doch nicht zugegeben ward, ſo erfand man eine neue Art des Eigenthums, eben das dominium eminens, das iſt diejenige Art des Eigenthums, welche den Rechtstitel für den Erlaß und die Durchfüh - rung von Verwaltungsmaßregeln in Beziehung auf jene mit dem Grundbeſitz verbundenen öffentlichen Angelegenheiten abgeben ſollte. Die Literatur über dieſen ſpecifiſchen Begriff des 17. Jahrhunderts iſt eine ſehr reiche; die bedeutendſten Arbeiten ſind J. Fr. Horn, Dissertatio do - minium supereminens 1658 und Hermann Conring, Dissertatio de dominio eminente 1667. Schon Hugo Grotius hatte den Grund zu dieſer Scheidung des imperium vom dominium, der Scheidung der Staatsidee vom grundherrlichen Fürſtenthum gelegt, indem er das Criterium dafür in die von den höheren Staatsbedürfniſſen, der ne - cessitas, geforderte Aufgaben der Staatsgewalt legt, wobei der Fürſt ſelbſt ſchon nur noch als Haupt der Gemeinſchaft, der civitas, aufgefaßt wird. So ſagt er (lib. III. c. 19): Jus supereminens dominii in res subditorum, quod civitati competit, et ejus nomine a summam potestatem habente exercitur. Id enim jus ad omnes spectat res subditorum. Das iſt eigentlich die erſte hiſtoriſche Definition des Entwährungsrechts, die uns bekannt iſt, und hier iſt es, wo ſich der innere Zuſammenhang deſſelben mit dem alten dominium eminens deutlich zeigt; die civitas iſt hier ſchon unklar der organiſche Staat, der summam potestatem habens das Staatsoberhaupt und die Re - gierung. Doch denkt Hugo Grotius offenbar zunächſt an den Patri - monialſtaat. Bei Chr. Wolff wird die Sache bereits in Formeln ge - faßt; er findet hier wie immer eine an ſich vollkommen klare Definition, wenn er auch die Ausdrücke willkürlich anders gebraucht. Nach ihm iſt ex jure naturali das dominium eminens das jus disponendi de rebus propriis civium salutis publicae causa, die potestas eminens das Recht de ipsis personis civium; das jus eminens begreift beide zugleich, und ſteht dem superior zu; wer das iſt, ſagt er nicht weiter (vgl. §. 976); allerdings aber ſind ihm ſchon dominium et imperium ganz unzweifelhaft duo jura a se invicem prorsus distincta, quorum unum ab altero prorsus independens est (Instit. jur. nat. et gent. §. 1065. 1749. 1. Auflage). Die übrigen Schriftſteller bei Pütter, Beitr. III. 174193 und 378 382. Daraus nun ergab ſich im Weſentlichen für das 18. Jahrhundert folgendes Syſtem von Begriffen. Das imperium muß vom dominium als proprietas unbedingt geſchieden werden (J. P. Slevoigt, de dominio et imperio 1711; J. Fr. Kaiſer, dissertatio de diverso imperii et dominii jure. 1728; vgl. Henr. Coccejus, Introduct. ad. Grotium diss. 12). Das imperium beruht auf der Hoheit, die im Staatsbegriffe liegt; dieſe Hoheit heißt nämlich ſeit Moſer die Landeshoheit im Gegenſatz zur Reichshoheit, was dann Pütter (Instit. jur. publ. §. 28) zu einem allgemein anerkannten Kathederbegriff macht. Dieſe Landeshoheit iſt eben das imperium des 17. und 18. Jahrhunderts, und findet allmählig eine feſte Definition, die von Hertius (dissertatio de superioritate territoriali, opuscul. I. P. 2. p. 27), der Grotius Lehre eben ſo einſeitig auffaßt wie Poſſe, (ſ. unten) und am klarſten von Runde (Deutſches Privatrecht §. 101) am Ende des vorigen Jahrhunderts dahin definirt wird: Die Landes - hoheit begreift alle die gemeine Wohlfahrt des Staats zum Zwecke habenden Rechte der Oberherrſchaft oder Staatsgewalt, mit Ausſchluß der dem Kaiſer vorbehaltenen Regierungsrechte. Die Frage, ob die bona publica dem dominium des Landesherrn gehörten oder nicht, ward dann verſchieden beantwortet; nach dem Syſtem des Hugo Grotius II. c. 2. §. 4. verſchieden im Patrimonial - und im ſtändiſchen Staate als do - minum primi occupatoris, puta populi aut regis (im Patrimo - nialſtaate) ſehr beſtimmt bezeichnet ( talia esse solent flumina, lacus stagna, silvae, montes asperi ) darnach dann Heineccius, (Elem. juris german. I. 367) und eben ſo Vitriarius ſelbſt (Instit. jur. publ. lib. III. T. 18. §. 6); dagegen Hertius a. a. O. §. 43: ad summum imperantem non spectare, nisi lex, mos aut major conjectura (?) exceptionem suggerat. Chr. Wolff ſetzt die res publicae allerdings in dominio totius populi, das jedoch ſein Recht an den Rektor übertragen kann, der dann nicht bloß das imperium, ſondern auch das dominium eminens in rebus publicis hat, wobei jedoch der Gebrauch allein bleibt, während das jus disponendi dem Rektor gehört (Instit. jur. nat. et. gent. §. 1130). Freilich war mit dieſen bonis publicis die Sache nicht erledigt, denn noch immer war der Landesfürſt Lehnsherr und hieß dominus. Zu Lehn aber trugen faſt alle Grundherren ihren Grundbeſitz. Das Lehnrecht hatte nun mit dem imperium nichts zu thun, auch nichts mit den bonis publicis; jetzt handelte es ſich deßhalb darum, ob die Lehnsherrlichkeit ein do - minium eminens oder ein Recht für ſich ſei. Hier war es nun, wo ſich namentlich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Anſichten und Tendenzen zum Theil in ſehr entſchiedener Weiſe theilten,175 und wo der eigentliche Streit über das dominium eminens entſtand. Dieſer Streit nun iſt es, den wir als die dritte Geſtalt oder Epoche in der Lehre vom dominium eminens bezeichnen können. Es iſt, wenn man ihn im Ganzen überſieht, keinen Augenblick unklar, daß es ſich auch dießmal eigentlich nicht um ein Eigenthumsverhältniß, ſondern vielmehr um den großen politiſchen Gegenſatz zwiſchen der herrſchenden abſoluten Monarchie und den freieren Ideen der Volksvertretung handelt, die ſchon bei Hugo Grotius wie bei Moſers Landeshoheit dem Ganzen zum Grunde liegen, und in welchem das dominium eminens nur Ausdruck und Rechtstitel für die unfreiere Auffaſſung iſt, während das privatrechtliche Element ziemlich in den Hintergrund tritt. Man kann deßhalb ſehr klar die zwei politiſchen Richtungen in dieſer juriſtiſchen Frage unterſcheiden.

Eine Richtung nämlich ſtellte ſich einfach auf den Standpunkt des alten Martinus und erklärte, daß die superioritas territorialis in ihrer Anwendung auf den Grund und Boden überhaupt und auf die Lehns - beſitzungen insbeſondere als dominium eminens das wirkliche Eigen - thum des Landesherrn ſei; ſo ſagt der Hauptvertreter dieſer Anſicht Biener (De natura et indole dominii in Germania I. §. 10): Omnia territoria, sine quibus superioritas non intelligitur, in patrimo - nium et proprietatem cesserunt cum omnibus juribus regalibus at - que ipsis adeo subditis et vasallis. (Vgl. ib. lib. II. c. 1.) Eben ſo ſagt Fiſcher (Lehrbuch des Cameral - und Polizeirechts II. §. 451). Vermöge der Verfaſſung des Mittelalters hat der Staat das Ober - eigenthum über alle Grundſtücke, nach dem Sprüchwort Sand und Land gehört der Herrſchaft; doch ſcheidet er ganz beſtimmt davon das Staatseigenthum, unter dem er die alten bona publica verſteht (S. 388), was Poſſe (S. 8) falſch verſtanden hat. So mußte noch Schlözer in ſeinem Staatsanzeiger (Heft 63. S. 358) gegen einen Altmagyaren kämpfen, der die Baſis der deutſchen Staatsgewalt dahin definirte, daß in ſolchen Provinzen, in denen der Regent zugleich Grundherr ſei, der Landesfürſt nach Belieben ſchalten und walten könne ſo ſei der Kurfürſt von Hannover zugleich Grundherr und Eigenthümer ſeines deutſchen Landes; daher hat in Hannover, eigent - lich zu reden, niemand nur eine Handbreit Boden zu ſeinem Eigenthum. Mit Oeſterreich verhält es ſich eben ſo wie mit Han - nover; der Erzherzog iſt Eigenthümer des Landes. In Oeſterreich iſt unſer Erbkönig daher zugleich Eigenthümer wie ein anderer Grund - herr in ſeinen Gütern; in Ungarn iſt er dagegen nur Erbbeamter (vgl. Poſſe a. a. O. S. 5 7). Die Anwendung dieſes Princips auf das öffentliche Recht, die Conſequenz der ausſchließlichen Herrſchaft176 des Landesherrn, die Negation des Rechts der Stände, der ordines des Hugo Grotius, lag auf der Hand; der Patrimonalſtaat des letzteren wurde als die Grundlage des geſammten Staatsrechts an - genommen, und Landeshoheit und Obereigenthum ſo identificirt, daß jetzt principiell die Landeshoheit als Eigenthum in das dominium emi - nens aufgenommen wurde; der Sicherheit halber ward das dominium feudale wieder als Lehnsobereigenthum davon geſchieden, und auf die Einſchränkungen in Veränderungs - und Veräußerungsrecht reducirt. (Böhmer, Instit. jur. feud. §. 35 u. öfter; Fiſcher a. a. O. §. 454.) Dieſer Richtung trat nun die zweite freiere entſchieden entgegen, indem ſie ein ſolches dominium eminens definitiv verwarf, und die Landes - hoheit von dem Begriffe und Recht des Eigenthums auch auf dieſem Gebiete trennte. Zuerſt erſchien Rave, Betrachtung über den Unter - ſchied der Oberherrſchaft und des Eigenthums; 1766 Pütter in ſeinen Beiträgen I. Nr. VI. u. IX. führte die Scheidung weiter auf juri - ſtiſchem Gebiet aus, bis die bedeutende Schrift von A. F. H. Poſſe über das Staatseigenthum in den deutſchen Reichslanden und das Staatsrepräſentationsrecht der deutſchen Landſtände (1794) definitiv mit großer Klarheit und gründlicher Gelehrſamkeit den Satz feſtſtellte, daß das Staatsobereigenthum nur die Befugniß der regierenden Gewalt eine Aufopferung des Privateigenthums und die Beſchränkung der natürlichen Freiheit der Unterthanen zur Beförderung des allgemeinen Wohles oder der allgemeinen Bequemlichkeit nach Verhältniß des dem Ganzen dadurch zu verſchaffenden Vortheils enthalte, daß aber der Grund dieſes Rechts in der aus den Staatszwecken unmittelbar flie - ßenden Staatsgewalt und nicht in einem Eigenthum des Staats an den Unterthanen und dem Landesbeſtande liege (S. 11), ein Satz, den Hufeland in ſeinen Lehrſätzen des Naturrechts §. 396 in ähn - licher Weiſe gegen die naturrechtliche Lehre Pufendorfs, dem Princip des Patrimonialſtaates, daß alles Eigenthum nur Begünſtigung des Staats ſei und Häberlin im Repertorium des Staats - und Lehns - rechts (Artikel: Obereigenthum) publiciſtiſch nachgewieſen hatte, und den endlich Runde in ſeinem deutſchen Privatrecht definitiv formulirt (§. 101): Landeshoheit und Eigenthum ſind zwei ihrem Weſen nach ſo verſchiedene Rechte, daß die Beſtandtheile und Wirkungen des Einen ſchlechterdings nicht als Inbegriff des Andern betrachtet werden dürfen. Man kann ſagen, daß damit die Frage endgültig entſchieden war; die Ideen Bieners und Fiſchers verſchwinden, und damit verſchwindet auch der Begriff und Name des dominium eminens aus der ganzen Literatur. Mit dem 19. Jahrhundert iſt ſeine hiſtoriſche Miſſion vollbracht; es bleibt nur Eines übrig, und das erhält ſich bis177 auf die neueſte Zeit. Wir haben ſpäter darauf zurückzukommen. Es iſt der Begriff des jus eminens, der aber eigentlich mit dem des do - minium emineus direkt nichts zu thun hat. Das jus eminens be - deutet nämlich durchaus nie wenigſtens finde ich keine darauf be - zügliche Stelle ein Obereigenthum, ſondern genau das Nothrecht des Staats, als ratio status extraordinarii, favor oder apex neces - sitatis u. a. m. Natürlich kommt dieſer Begriff erſt da ſelbſtändig zur Erſcheinung, wo das dominium eminens beſeitigt iſt, obgleich er ſchon früh anerkannt iſt. Dieſer Begriff iſt es nun, der ſich in der Literatur des 19. Jahrhunderts erhielt und in den Lehrbüchern, wir können nicht anders ſagen als unverſtanden fortgeſchleppt, und zur größeren Ver - wirrung faſt immer mit dem dominium eminens zuſammengeſtellt wird (ſ. z. B. Klüber, Oeffentl. Recht §. 551; Zachariä, Deutſches Staats - und Bundesrecht II. ), ohne das man ſich über das Weſen beider Rechen - ſchaft abgelegt hätte (ſ. unten). Das dominium eminens aber war jetzt der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und dem öffentlichen Recht der - ſelben, ſowohl der Rechtsphiloſophie als dem deutſchen Privatrecht, ganz unklar geworden, und wird daher, wenn es noch vorkommt, ohne Ver - ſtändniß ſeiner hohen politiſchen Bedeutung in der Geſchichte rein als ein lehnsrechtlicher Begriff wie bei Eichhorn (§. 565), oder als eine Modifikation des Eigenthumsbegriffes wie bei Mittermaier (Deutſches Privatrecht I. §. 156; Albrecht, Gewehre S. 75. 283 ; Beſeler, Erbverträge I. S. 79) angeſehen. Daß es eine geſchichtliche Thatſache und Bewegung enthalte, ſah niemand, und der Mangel an jedem prak - tiſchen Werth erhielt es nur noch nominell. An ſeine Stelle tritt alsbald der Begriff der Expropriation, auf den wir unten kommen.

Dieß iſt, wie wir glauben, das Weſentliche in dem Stück deutſcher Rechtsgeſchichte, das uns das hiſtoriſche Wort dominium eminens be - zeichnet. Und jetzt können wir fragen, welche Bedeutung daſſelbe für unſern eigentlichen Gegenſtand, die Idee und das Recht der Entwäh - rung überhaupt, und ſpeciell für Idee und Recht der Entlaſtung gehabt habe?

Die Antwort liegt, denken wir, in dem Schlußpunkt der Geſchichte des dominium eminens ſelbſt. Aus dem faſt zwei Jahrhunderte wäh - renden Streit hat ſich endlich der Grundſatz hieraus gebildet, daß wie Poſſe und Runde (a. a. O.) ſagen, die regierende Gewalt das Recht habe, für die Beförderung des allgemeinen Wohles, für die Verwirklichung der höchſten Staatszwecke, oder wie die Ausdrücke ſonſt lauten mögen, von dem Unterthanen die Aufopferung ihrer erworbenen Güter und ſelbſt ihres Lebens zu fordern. Damit war dann das gefunden, deſſen die junge Verwaltung gegenüber der Grund -Stein, die Verwaltungslehre. VII. 12178herrlichkeit bedurfte, um die Lage der unterworfenen Geſchlechter - klaſſe, deren Unfreiheit zum Privatrecht des Grundherrn geworden war, auch gegen den Willen der Berechtigten durch eine Verwaltungsmaß - regel durchzuſetzen. Der Rechtstitel der Befreiung des Bauern - ſtandes und der Leib eigenen war gegeben, und das dominium eminens iſt es, an welchem er zum Bewußtſein und zur Geltung ge - langt, obwohl das dominium eminens ſelbſt darüber untergeht. Das iſt das große Ergebniß dieſer Bewegung.

Nachdem nun dieß feſtſtand, kam es zunächſt nur darauf an, die innere und äußere Nothwendigkeit dieſer Befreiung, den volkswirthſchaft - lichen Titel für dieſelbe zu finden, um die Staatsgewalt zur wirklichen Entlaſtung fortſchreiten zu laſſen.

In dieſem Theile der Bewegung ſpielt nun die Staatswiſſenſchaft eine nicht unbedeutende Rolle. Jedoch darf man ſich über ihre Leiſtungen und Forderungen nicht täuſchen, und wir glauben daher, ſie hier charakteriſiren zu müſſen.

V. Das Verhältniß der ſtaatswiſſenſchaftlichen Literatur zur Grund - entlaſtung.

(Juſti, Berg, Runde, Fichte; die romantiſche Schule in der Bauernfrage: Adam Müller. Die hiſtoriſch juriſtiſche Richtung: die Entſchädigung; die landwirth - ſchaftliche Richtung: Thaer und Stüve.)

Wenn wir es unternehmen, hier denjenigen Theil der deutſchen Literatur zu charakteriſiren, der ſich ſeit hundert Jahren mit der Frage nach der Freiheit des Grundeigenthums beſchäftigt hat, ſo müſſen wir zwei Bemerkungen voraufſchicken. Die erſte iſt die, daß wir im Verhältniß zu dem ungemein großen, und noch dazu faſt in lauter kleinen Abhand - lungen zerſplitterten Stoff denſelben keineswegs ganz bemeiſtert haben. Wir müſſen im Gegentheil geſtehen, daß wir wenigſtens in dieſer Be - ziehung weit hinter unſerer Aufgabe zurückgeblieben ſind. Indeſſen haben auch gelehrtere Männer es nicht vermocht, denſelben als Theil einer größeren Arbeit zu bewältigen, wie Mohl in ſeiner großartigen Literatur der Staatswiſſenſchaft Bd. II. 318 f. zeigt, der mit Recht klagt, daß es nicht einmal ein Werk gebe, welches das geſammte Rechtsverhältniß der Bauern in Deutſchland, ſei es geſchichtlich, ſei es rechtlich, darſtellte (vgl. Note 1). Wir werden erſt dann zu einem vollen Bilde dieſer literarhiſtoriſchen Bewegung gelangen, wenn ſich Specialarbeiten aus der Geſchichte der Staatswiſſenſchaften der Sache annehmen, wie die ſchönen B[i]lder von Roſcher über die früheren Nationalökonomen Oeſterreichs in Hildebrands Jahrbüchern,179 oder die nicht minder gründliche und geiſtvolle Arbeit von G. Schmoller ( Zur Geſchichte der nationalen Anſichten in Deutſchland während der Re - formation, 1861). Uns iſt es hier nur möglich, den Gang der Lite - ratur in großen Grundzügen anzugeben; leider haben Sugenheims Arbeiten ihn von dieſer Richtung fern gehalten. Dennoch iſt die Sache ſelbſt ſo bedeutſam für das innere geiſtige Leben der Deutſchen, daß wir das Eingehen auf dieſelbe für eine, auch der tüchtigſten Kraft würdige Aufgabe halten.

Denn dieſe Literatur zeigt uns, daß der deutſche Geiſt auch in ſeinen bedeutendſten Vertretern noch im Beginn unſeres Jahrhunderts ganz unfähig war, ſich in der Weiſe für die freie Entwicklung der niederen Klaſſe, ja für die geſellſchaftliche Freiheit und das wahre Staatsbürgerthum zu begeiſtern, wie der franzöſiſche. Es iſt im Gegen - theil keinen Augenblick zu verkennen, daß die Deutſchen vielmehr mit der größten Vorſicht, zum Theil auf großer Anſchauung, zum Theil aber auch auf ſtrengen Vorurtheilen beruhend, an die Frage nach der Befreiung des Bauernſtandes gehen. Es liegt auf der ganzen, faſt hundert Jahre dauernden Literatur eine gewiſſe Kälte, über die wir ſtaunen müſſen; da iſt mit gar wenig Ausnahmen nirgends die Rede von jenen gewaltigen Ideen, welche Frankreich an die Spitze von Europa hoben; da iſt nirgends jener Schwung der Gedanken, nirgends jene mächtige Rückſichtsloſigkeit des Princips, welche Menſchen und Dinge gleichmäßig und unwiderſtehlich fortreißt, nirgends daher auch die Gewalt über Völker und Staaten, wodurch Frankreich ſich an die Spitze der Civiliſation emporſchwang. Die ganze Frage nach der Be - freiung des Bauernſtandes verläuft ruhig und ſtückweiſe, theoretiſch und methodiſch; ſie iſt durch und durch geſättigt mit der an ſich ſehr achtbaren Angſt, wohlerworbene Rechte zu verletzen; ſie thut dem Einen zu wenig, um dem Andern nicht zu viel zu thun, und während Deutſchland in Philoſophie, Poeſie und gewiſſenhafter Gelehrſamkeit ſich an die Spitze Europas ſtellt, iſt es in dem Verſtändniß der entſcheiden - den ſocialen Fragen ſo weit hinter dem Weſten zurück, daß der Vor - rang Frankreichs und Englands ſelbſt dem für das deutſche Weſen am meiſten Begeiſterten klar war. Lag das an dem tiefen, conſervativen, die ganze Natur des deutſchen Volkes durchziehenden Grundzug der Ach - tung vor dem Unterſchied der ſtändiſchen oder Geſchlechterklaſſen? Lag es an dem nicht minder tiefen Bedürfniß deſſelben, ſich über jedes erſt vollſtändig bewußt ſein zu wollen, ehe es mit poſitiven Maßregeln vor - geht? Lag es an dem Mangel eines einheitlichen Staats, in deſſen Ver - tretungen ſich die Ueberzeugungen zur Begeiſterung entzünden? Lag es an allen dieſen Urſachen zugleich? Gewiß iſt nur, daß wir auf dieſem180 Gebiete vielleicht mit einem ſehr beſonnenen, aber gewiß nicht glänzen - den Theile der Literatur zu thun haben. Der ganzen Entlaſtungsliteratur fehlt auf jedem Punkte die Initiative, und die Verwaltungen der deut - ſchen Staaten ſind mit all ihrer ängſtlichen Beſchränkung auf das Un - vermeidliche dennoch den Schriftſtellern des deutſchen Volkes hier weſent - lich voraus geweſen.

Wir können nun in dieſer Literatur die des vorigen Jahrhunderts von der des gegenwärtigen allerdings ſcheiden; aber wir müſſen leider hinzufügen, daß die Arbeiten der ſiebziger Jahre keinen Schritt hinter den Anſichten zurückſtehen, die wir noch unmittelbar vor 1848 in Werken wie Mohls Polizeiwiſſenſchaft und andern wiederfinden. Der pragmatiſche Gang der Dinge iſt nun im Weſentlichen folgender.

Der Beginn des literariſchen Kampfes für die Befreiung des Bauern - ſtandes lag in dem von uns bereits hervorgehobenen Kampf über die urſprüngliche bäuerliche Unfreiheit zwiſchen Eſtor und Hauſchild, wenn man nicht allgemeinen und vagen Anſichten, wie die von Hugo Grotius (de Jure Belli et Pacis II. 5. 27), daß der Herr auch Verpflichtungen gegen den Leibeigenen habe, Bedeutung beilegen will. Gegen das Ende jenes rechtshiſtoriſchen Kampfes nämlich beginnen die großen Auffaſ - ſungen der Phyſiokraten nach Deutſchland herüber zu reichen. Turgots Ideen, Mirabeaus Buch über den Menſchen, Arthur Youngs land - wirthſchaftliche Reiſe nach Frankreich, die ſeiner Zeit viel beſprochene Broſchüre: Des inconvenients des droits feodaux 1776, in Paris durch Henkershand verbrannt, die erſte praktiſche Anwendung der phyſiokra - tiſchen Lehren auf die beſtehenden Rechtsverhältniſſe der Bauern werden in Deutſchland bekannt, und jetzt entſteht die erſte Bewegung, die ſich der Frage nach der Aufhebung der Leibeigenſchaft und der Frohnden zuwendet. Und hier dürfen wir mit Stolz auf den eigentlichen Gründer der deutſchen Polizeiwiſſenſchaft, Juſti, hinweiſen, der mit glänzender und warmer Ueberzeugung, freilich faſt ganz allein ſtehend, die Sache der Befreiung des Bauernſtandes verſicht, und der faſt allein Deutſch - land gegenüber Frankreich vertritt. Er ſagt (Polizeiwiſſenſchaft I. Bd. 1. Buch, Hauptſtück V. §. 182): Die Freiheit des Bürgers und aller Mitglieder des Staats iſt gleichſam die erſte weſentliche Eigenſchaft aller bürgerlichen Verfaſſung. Die Staaten, worinnen ein Stand oder Klaſſe des Volkes der andern mit Unterthänigkeit oder Leibeigenſchaft verwandt iſt, haben eine ſo monſtröſe Verfaſſung, die nur in den allerbar - bariſcheſten Zeiten habe beſtehen können, die aber geſittete und ver - nünftige Zeiten ohne Schaden nicht fortſetzen können. Daher ſollen die Bauern Eigenthümer der Landgüter ſein und dieß ſoll die Regierung durch hohe Beſteurung der Beſitzer unfreier Güter erzielen,181 §. 183. Es iſt wohl kein Zweifel, daß ihm dabei das im Principe noch mehr als in der Durchführung ſo großartige Syſtem der Grund - ſteuer von Maria Thereſia vor Augen lag, das zuerſt in Europa den Gedanken verwirklichte, auch die Grundſtücke der Herren der Grund - ſteuer direkt zu unterwerfen. In der That handelte es ſich dabei keines - wegs bloß um eine Erhöhung der Grundſteuer ſelbſt, ſondern eben ſo ſehr um das Princip der rechtlichen Gleichheit des herrlichen und bäuerlichen Beſitzes gegenüber dem Geſetze; und von dieſem Gedanken bis zu dem der Anbahnung einer Grundentlaſtung vermöge dieſer Steuer war nur Ein Schritt. Dieſen Schritt deutet Juſti an, und ſeine Ge - danken ſind eben ſo ſehr die des damaligen großartigen Regierungs - ſyſtems in Oeſterreich (das Sugenheim unſeres Wiſſens zuerſt und trefflich durch das richtige Verſtändniß des öſterreichiſchen Grundkataſters charakteriſirt hat (a. a. O. S. 472 u. öfter), als die des bloßen Gelehrten. Wie hoch ſteht übrigens hier jener edle, wenn auch etwas pedantiſche Charakter über den meiſten ſeiner Zeitgenoſſen und Nachfolger, die kaum einmal wagten, auch nur von Ablöſungen der Laſten zu reden, und ſich meiſt nur zur Forderung von gemeſſenen Frohnden ſtatt der unge - meſſenen erheben! Denn auch der ſonſt ſo frei geartete Sonnen - fels bleibt bei dem Kampf der Regierung gegen zu große Güter ſtehen (Handlung §. 85 ff., nicht wie Roſcher citirt 103). Von dem Folgen - den hat eigentlich nur Lotz denſelben Muth gehabt wie Juſti. Die Literatur des vorigen Jahrhunderts kam nicht zum Gedanken eines Eigenthums der Bauern an ihrem Landgute, ſondern beſchränkte ſich auf den Kampf gegen die Frohnden, und es iſt anzuerkennen, daß man im Anfang die Frohnden überhaupt, ohne Unterſchied, beſeitigen wollte (Gedanken von der Abſtellung der Naturaldienſte 1777 Wide - mann über die natürlichſten Mittel, die Frohndienſte aufzuheben 1795); ſchon damals die Umwandlung der unbeſtimmten Gefälle in feſte Renten (Möſer, patriotiſche Phantaſien III. S. 321) und noch da - mals galt das als Phantaſie ! Während auf der einen Seite das Bedenken über die Frage, wie dem Bauernſtande Freiheit und Eigen - thum in den Ländern, wo ihm beides fehlet, verſchafft werden könne (1769) die Aufhebung der Leibeigenſchaft und der Dienſte energiſch vertritt, überkommt andere deutſche Schriftſteller ſchon die Angſt da - vor, daß nur ja nicht zu vieles und zu plötzliches in dieſer Richtung geſchehe, wie Büſch, Geldumlauf III. 97; v. Münchhauſens Haus - vater warnt ſchon geradezu vor der Geldablöſung (1764 T. IV. §. 296, ſ. Roſcher II. §. 125) und der Herr von Benckendorf hat den Muth, zu erklären, daß ungemeſſene Dienſte ſogar ſehr nützlich für den Bauern ſeien (1775, Oeconomia forensis); ja die Schrift von182 Weſtfeld: Ueber die Abſtellung der Herrendienſte 1773, die nach Roſcher a. a. O. die Vortheile der Berechtigten erhöhen will, konnte ſogar als Preisſchrift gekrönt werden. So ſtanden die Anſichten noch am Ende des vorigen Jahrhunderts, und es iſt merkwürdig, zu ſehen, wie die deutſchen Autoren faſt in dem Grade zaghafter werden, in welchem die deutſchen Verwaltungen ernſthafter daran denken, der glanz - vollen Erſcheinung Frankreichs und ſeiner ſtaatsbürgerlichen Freiheit in der Befreiung des Bauernſtandes ein Gegengewicht zu geben. Selbſt die tüchtigſten Männer, die wir ſonſt hochachten müſſen, erheben ſich, wie Berg in ſeinem Polizeirecht (1799) höchſtens dazu, die Leib - eigenſchaft für ein erniedrigendes und gemeinſchädliches Verhältniß zu erklären (I. Buch III. S. 418); er ſtellt noch faſt ſchüchtern die Frage: Sollte die Staats-Polizeigewalt nicht überhaupt berechtigt ſein, die Leibeigenſchaft gänzlich aufzuheben? und kommt zu dem ächt deutſchen Schluſſe: Wenn der Regent ſelbſt Leibherr iſt, ſo kann er ohne Anſtand ſeinen Unterthanen die Freiheit geben; ſind dagegen Bürger des Staats in dem Beſitze der Leibherrſchaft, ſo muß für die damit verbundenen nützlichen Rechte ein billig mäßiger Er - ſatz geleiſtet werden. Auf demſelben Standpunkt ſteht Runde im deutſchen Privatrecht §. 553; ſpeciell erörtert in Eggers Diss. de jure imperantis libertatem personalem perfectam restituendi rusticis glebae adscriptis (1781); ſelbſt Poſſe kommt nicht weiter (ſ. weitere, mir unerreichbar gebliebene Literatur des vorigen Jahrhunderts bei Koch Agrargeſetzgebung, Einleitung. Was half es da, wenn Berg wieder (in Bd. III. ) eine ausführliche Lehre von der landwirthſchaftlichen Polizei und ſchöne Principien über die landwirthſchaftliche Bildung aufſtellte? Hatten doch manche deutſche Verwaltungen gethan, was für jene Göttinger Gelehrten noch kathedermäßig fraglich erſchien (ſ. unten), und während ſie über das Recht diſputirten, drangen die Franzoſen über den Rhein und riſſen mit gewaltigen Händen nieder, was jene kaum theoretiſch anzuzweifeln wagten. Wie klein war in jener Zeit eine Ge - lehrſamkeit, welche die bereits aufgeſtellte Frage nach der Beſeitigung der Frohnden fallen ließ, wo Frankreich durch ſeine bäuerliche Freiheit weit mehr als durch die Taktik Napoleons der erſte Staat Europas ward!

In der That iſt es wohl nur dieſer Zuſtand der Geiſter, dieſer Mangel an wahrhaft bürgerlichem Muthe ſelbſt bei den hochgebildetſten Männern, der uns die Vereinſamung Steins und ſeiner Turgot - ſchen Verwaltung im Beginne unſeres Jahrhunderts erklärt. Stein war vielleicht der einzige Mann in ganz Preußen, der vollkommen klar die Rettung Deutſchlands allein in der Hebung ſeines Bauernſtandes und in der, nur dadurch möglichen Herſtellung des freien und183 tüchtigen Gemeindeweſens erkannte. Wir kommen auf ſeine großen Maß - regeln zurück. So wie dieſelben aber erſcheinen, ſo beginnt auch wieder jene einerſeits naive, andrerſeits leicht erklärliche Angſt, daß der ganze Zuſtand der deutſchen Geſellſchaft, den theils die Geſchlechterordnung in den Städten, ſelbſt in den Familien als Erziehungsprincip herr - ſchend, auf dem Lande aber die Grundlage der ganzen bäuerlichen Rechtsverhältniſſe bildend theils die Ständeordnung und ihre Privi - legien beherrſchte, darüber zu Grunde gehen müſſe. Jetzt entſteht da - her ein Suchen und Streben darnach, jene Geſchlechter - und ſtändiſche Beſchränkung der freien Volksentwicklung, und namentlich die Oppoſition der Grundherrſchaft gegen die Befreiung des Bauern zu motiviren, und die ganze ſociale Bewegung jener Zeit wo möglich in enge Schranken zu bannen. Wir treffen dieſes Streben nur zu oft da, wo wir es am wenig - ſten vermuthen. Die allgemeine Grundlage iſt das, was wir die Romantik der Staatswiſſenſchaft nennen möchten, und das den Unterſchied zwiſchen Stadt und Land, zwiſchen Bürger und Bauer, der zu verſchwinden droht, wiſſenſchaftlich feſthält. Namentlich der ſonſt ſo großartige Fichte ſteht hier ganz auf dem Standpunkt des Mittelalters. Er will nicht weniger, als eine ſtreng geſetzliche Privilegirung aller Arten der Produktion. Es muß einer Anzahl Bürger ausſchließend das Recht zugeſtanden werden, gewiſſe Gegenſtände auf eine gewiſſe Weiſe zu be - arbeiten. Das nennt man eine Zunft. Die Mißbräuche bei denſelben ſollten nicht ſein, aber ſie ſelbſt ſollten ſein denn der Künſtler muß von ſeiner Arbeit leben können, laut des (früher) geführten Be - weiſes. Welch eine eigenthümliche Vorahnung des droit au travail! (Naturrecht II. S. 57. 58. 1796, Gedanken, die Fichte in ſeiner 1800 erſchienenen, in mehr als einer Beziehung höchſt intereſſanten Ar - beit Der geſchloſſene Handelsſtaat. Ein philoſophiſcher Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik. (Stuttgart, Cotta) in eigenthümlicher Weiſe ausführte; doch hat er das ganze Gebiet dann in ſeiner Staatslehre (1800 aus ſeinem Nachlaß) fallen laſſen. In ganz ähnlicher Weiſe will ſelbſt Arthur v. Schlözer (freilich nur der Sohn ſeines Vaters) in ſeiner Schrift: Anfangsgründe der Staatswiſſenſchaft 1807, Thl. II. 67 noch eine geſetzliche Scheidewand zwiſchen den Gewerben von Stadt und Land ziehen, wie Möſer mit ſeinen Phantaſien aus Osnabrück, den contrat social in jenem Winkel Europas auf den Kopf ſtellend, den Grundſatz zurecht machte, daß vermöge eines Originalcontracts die Städte gewiſſe Leiſtungen über - nommen hätten, für welche ihnen als Compenſationsmittel der aus - ſchließliche Betrieb der Manufaktur - und Fabrikgewerbe und des Handels zugeführt worden ſei (Patriotiſche Phantaſien I. Nr. 32. S. 201). 184Bei ſolchen Anſichten, von denen ſich weder der in allen dieſen Fragen reichsgräfliche Soden freihalten (National-Oekonomie II. S. 107), noch deren ſich der weiche Pölitz ſpäter erwehren konnte (Staats-Wiſſen - ſchaft II. S. 145 148) und die erſt Lotz zurecht wies (Handbuch der Staatswirthſchaftslehre Bd. II. §. 94 und S. 104. 1838. 2. Aufl. ) darf es uns kaum wundern, wenn der Gedanke, aus dem der Leibeigen - ſchaft noch nicht einmal entwachſenen Bauern einen Staatsbürger zu machen, indem man ihn vor allen Dingen von Frohnden und Zehnten befreite, keinen rechten Raum in der Theorie gewann, und wenn die tüchtigere Verwaltung des erſten und die Verfaſſungsgeſetzgebung des zweiten Jahrzehnts hier ſchwere Kämpfe durchzumachen hatten.

Die Literatur des 19. Jahrhunderts, die ſich daran anſchließt, macht nun in der That mit verhältnißmäßig wenigen und meiſt ſehr ſchüchteren Ausnahmen nicht einmal einen recht erfreulichen, geſchweige denn einen erhebenden Eindruck. Es iſt kaum der Mühe werth, dieſe Partie der Staatswiſſenſchaft, die Deutſchland nicht gerade zur beſondern Ehre gereicht, genauer durchzugehen. Mohl hat hier mit großem Unrecht die Schuld auf die Geſetzgebung und die bevorzugten Stände allein geſchoben (Literatur der Staatswiſſenſchaft II. S. 39); wenn man ſeiner Sache ſo ungewiß war, wie er ſelbſt als Hauptautorität der Polizei - wiſſenſchaft, ſo durfte man wahrlich von den Verwaltungen nicht ver - langen, daß ſie um eines Hauptes höher ſein ſollten, als die freie Theorie. Baumſtark hat dagegen in ſeiner nüchternen, aller idealen Färbung haaren Weiſe den wahren Kern der Sache und die Schwie - rigkeit, wie ſie theils wirklich vorhanden war, theils mit großem Geſchick benutzt ward, einfach genug bezeichnet. Er ſagt (Kameraliſtiſche En - cyclopädie S. 658, 659): Freies erbliches Grundeigenthum iſt das erſte Beförderungsmittel des landwirthſchaftlichen Gewerbes. Allein mit ihr collidirt die Pflicht zur Sicherung geheiligter (!) Privatrechte, denn jeder Art von gutsbäuerlicher Belaſtung (ſoll heißen Befreiung) ſteht ein wohlerworbenes oder wenigſtens verjährtes gutsherrliches Recht entgegen. An dieſem Dilemma ſcheiterte dieſer ganze Theil der Publiciſtik, und erſt die großen Bewegungen des Volkslebens ſelbſt ſind über dieſe geheiligten Rechte und ihre Gelehrten hinwegge - gangen. Die allgemeine Geſtalt dieſes Ganges der Literatur iſt aber folgende.

Allerdings nämlich erhielt ſich die Grundauffaſſung Juſtis auch ſeit der Herſtellung des deutſchen Bundes, wie andererſeits die deutſche Rechtsgeſchichte die Hauſchild’ſchen Behauptungen über die urſprüng - liche Freiheit des Bauernſtandes beſſer begründete und weiter verfolgte; ſeit Kindlingers Geſchichte der Hörigkeit, insbeſondere der ſogenannten185 Leibeigenſchaft 1819 iſt freilich bis auf Sugenheim nichts Bedeu - tendes in dieſer Richtung geleiſtet. Allein die Vertretung der Ideen einer wirklichen Befreiung des Bauernſtandes verflachen ſich zu ziemlich allgemeinen Phraſen wie bei Jacob, Polizeiwiſſenſchaft Th. II. §. 122, daß kein Recht und kein Geſetz fortdauern ſolle, wenn die Umſtände oder die Einſichten ſich ſo verändern, daß es mit dem allgemeinen Staatszweck oder mit dem weſentlichen Rechte eines Gliedes des Staats in Widerſpruch tritt. Energiſcher im Allgemeinen, aber nicht eingrei - fender im Einzelnen ſind Rottecks Anſichten. Die großen Worte, welche namentlich im Anfange der zwanziger Jahre die von Rotteck und Welker vertretene Richtung namentlich des badiſchen Liberalismus in den Mund nahm ( heilloſes Unrecht, Zins der Sklaverei u. ſ. w.) waren nicht geeignet, in dem ſehr beſonnen gewordenen Deutſchland die Sache der Befreiung des Bauernſtandes zu fördern. Der Ge - danke, daß die Grundlaſt ein wohlerworbenes Recht des Grundherrn ſei, hätte ein viel tieferes Eingehen gefordert; die rechtshiſtoriſche Bil - dung war zu weit vorgeſchritten, um nicht das einfache Zuſammen - werfen von Leibeigenſchaft, Frohnden und Zehnten, wie es z. B. von Rotteck (in der von ihm geſchriebenen Fortſetzung vom Aretins Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie II. 1. S. 268 276) ge - ſchieht, als Gegenargument zu gebrauchen, und die weitere Forderung dieſer Richtung, die am klarſten Rotteck ſelbſt (a. a. O. S. 270) aus - ſpricht: Von allen dieſen Laſten aber fordert der Bauer die unent - geltliche Befreiung, eben darum, weil ſie mit Unrecht ihm aufliegen und weil die Zumuthung des Loskaufs keine Freiſprechung, ſondern eine bekräftigte Verdammung iſt, widerſprach ſogar den einfachen Grundbegriffen des Privateigenthums, da es durch die neuern Unter - ſuchungen unzweifelhaft ward, daß wenigſtens ein Theil dieſer Laſten wirklich ein rein privatrechtliches Verhältniß enthielt. Die Vertreter der Befreiung wurden durch jene Maßloſigkeit vielleicht viel mehr als durch die Gegner eingeſchüchtert; denn die Natur des deutſchen Geiſtes bringt es mit ſich, daß er ſich weit mehr vor dem Unrecht fürchtet, welches er durch Uebertretung oder durch hiſtoriſche Unkenntniß begeht, als vor dem, welches auf einem einſeitigen Syſtem beruht. So ſehen wir denn hier Mohls Ausſpruch beſtätigt, den er wunderlicher Weiſe dem oben angeführten faſt unmittelbar voraufgehen läßt; der große Antheil, den die Wiſſenſchaft an den ſpäteren Verbeſſerungen hat, unterliegt keinem Zweifel; allein ſie ſind mehr durch die allge - meine geiſtige Strömung der Zeit, als durch einzelne Beſtrebungen hervorgerufen worden (Literatur der Staatswiſſenſchaft a. a. O. S. 318.) In der That haben weder Chr. Schlözer in ſeinem Anfang der Staats -186 wiſſenſchaft, noch ſelbſt Krauſe in ſeiner Staatswiſſenſchaft ſich ernſt - lich damit beſchäftigt; man ſieht deutlich, wie ſie die Sache umgehen. Und ſo konnte es kommen, daß, als die Entlaſtungsfrage in den zwanziger Jahren in einzelnen deutſchen Volksvertretungen zur Ver - handlung kam, die Conſervativen geradezu die Beſeitigung der Grund - laſten als einen Widerſpruch mit dem wahren Weſen des Bauernſtan - des aufſtellten, für welchen der Gutsherr Vater, Freund, Erzieher und Beſchützer ſei (Adam Müller, die Gewerbspolizei in Beziehung auf den Landbau, 1824) oder wie derſelbe in der Concordia (Heft II. Wien 1820) ſagt: Die Grundlaſten und die Unfreiheit des Bauernſtandes dürfen nicht beſeitigt werden, weil die Landwirthſchaft das Beharren und Bleiben des Arbeiters, ſeine Adſcription an dem Materiale des Grundſtücks, ſeine unzertrennliche Verbindung mit dem Kapitale verlange (vgl. Lotz, Staatswiſſenſchaft II. S. 92). In dem - ſelben Sinn ſchrieb G. v. Aretin (nicht zu verwechſeln mit J. C. von Aretin, dem oft erwähnten Verfaſſer der Staatswiſſenſchaft der con - ſtitutionellen Monarchie ) ſeine Broſchüre: Die grundherrlichen Rechte in Bayern, eine Hauptſtütze des öffentlichen Wohlſtandes 1819. Dieſer falſche Conſervativismus ſteigert ſich, wie die Gefahr für denſelben wächst, bis zur Poeſie der Unfreiheit, namentlich in Bayern, wo Seinsheim und Moy ſich in den Verhandlungen der bayeriſchen Kammer ausſprachen (1840): möge der landwirthſchaftliche Vortheil auch unzweifelhaft ſein, ſo ſei ſelbſt die Umwandlung der Gutslaſten, geſchweige denn die Aufhebung derſelben politiſch bedenklich, ſie hebe die perſönliche Wechſelbeziehung von Gnade und Ergebenheit auf und ſetze an ihre Stelle ein feſtes Rechnungsverhältniß ohne alle per - ſönlichen Beziehungen (Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 53). Auf dieſe Weiſe darf es uns kaum wundern, wenn ſelbſt Männer wie Rau an - fänglich noch ängſtlich das Zunftweſen gerne erhalten hätten ( Ueber das Zunftweſen und die Folgen ſeiner Aufhebung 1816 ) was er freilich ſpäter änderte und wenn Mohls Polizeiwiſſenſchaft (2. Auf - lage 1844) noch mit höchſter Vorſicht Zehnten und Frohnden ſcheidet und ſich auf keinem Punkte zu einem höheren Geſichtspunkte als dem der Entwicklung der landwirthſchaftlichen Produktion und dem Schutze der beſtehenden Rechte erhebt, während noch Roſcher II. §. 124 (1860) ſich mit der Phraſe hilft mag die Aufhebung einiger (auch der aus der Leibeigenſchaft folgender?) wohl gar aller bäuerlichen Laſten unter verzweifelten (!) Umſtänden ohne Entſchädigung nothwen - dig ſein, ein ungeheures Unrecht und Unglück wird es immer bleiben. Daß man dieß ungeheure Unrecht noch im Jahre 1860 für ein ungeheures Unglück auch in Beziehung auf die ohne Entſchädigung187 in Preußen, Oeſterreich und andern Ländern wirklich aufgehobenen Laſten der alten Leibeigenſchaft erklären, und dafür keinen ernſtlichen Widerſpruch finden kann, würde die Seinsheim, Adam Müller und Moy ſehr gefreut haben. Alle aber kommen in ihren Unterſuchungen nicht auf das, was denn doch der eigentliche Kern der Sache war, die Patrimonialjurisdiktion. Dieſe, die denn doch am Ende die öffentlich rechtliche Organiſirung der Unfreiheit der Ge - ſchlechterordnung iſt, iſt während des ganzen 19. Jahrhunderts ſo gut als gar nicht auch nur berührt, geſchweige denn von der Lite - ratur ernſtlich bekämpft. Es iſt eine der auffallendſten Erſcheinungen in der letzteren, daß bei der gründlichen Unterſuchung über die recht - liche und hiſtoriſche Stellung der Bauern diejenige über die Gutsherr - lichkeit als ſolche faſt gänzlich fehlt, ſelbſt bei Mittermaier, der doch noch der einzige iſt, der ſich ernſtlich damit beſchäftigt (Deutſches Privatrecht I. §. 88.) Und das lag wohl einem großen Theil nach daran, daß man noch nicht erkannt hatte erkennt man es denn jetzt ſchon ganz? wie der Begriff und das Recht der Grundherrlich - keit es eigentlich war, welche die Einführung der Gemeindeverfaſſung namentlich auf dem Lande hindere. Wir kommen darauf unten zurück. Das Geſammtergebniß dieſer Bewegung iſt, daß dieſe rechtsphilo - ſophiſche und hiſtoriſche Richtung der Wiſſenſchaft nicht im Stande war, für die Entwicklung der freieren Geſtaltung die Initiative abzu - geben; man war über den Standpunkt Juſti’s nicht nur nicht hin - ausgekommen, ſondern man hatte ihn im Großen und Ganzen nicht einmal erreicht. Jedenfalls aber ſtand als Princip feſt, daß wenn eine Aenderung geſchehen ſolle, dieſelbe nur gegen Entſchädigung der Berechtigten ſtattfinden könne, da ſie ein Eingreifen in das Privatrecht ſei und nur gerechtfertigt werde durch das allgemeine höhere Intereſſe (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 133) ein Satz, den man fünfzig Jahre früher eben ſo gut gekannt hatte. Die ganze Frage nach der Grundentlaſtung war im 19. Jahrhundert für die theo - retiſche Staatswiſſenſchaft theils in die ſtrenge Unterſcheidung der Arten und Entſtehungsgründe derſelben aufgelöst, theils aber (wie bei Mohl) zu einer reinen Frage nach dem Recht und Weſen der Expropriation geworden, und der Schwerpunkt derſelben lag nicht mehr in dem Juſti’ſchen Unwillen über die unwürdige Verfaſſung des Bauernſtandes, ſondern in dem Mohl’ſchen Beweis des Allgemeinen Intereſſes an der Entlaſtung. Und dieß iſt nun der Punkt, wo ein neues Element in dieſelbe hineintritt, der, an das Allgemeine In - tereſſe anknüpfend, von entſcheidender Bedeutung geworden iſt.

Dieß Moment war die Entſtehung der rationellen Landwirthſchaft188 und die Ausbildung derſelben zu einer Wiſſenſchaft. Auf beide haben die beiden großen Schulen der Franzoſen und Engländer, die phyſio - kratiſchen und die Smith’ſchen Anſichten, entſcheidend eingewirkt. Jene, indem ſie namentlich in Deutſchland die Ueberzeugung hervorriefen, daß die Landwirthſchaft die Hauptquelle des Volks - und dadurch des Staatsreichthums ſei; dieſe, indem ſie für die ganze Volkswirthſchafts - lehre die Wahrheit zum Dogma erhoben, daß nur die möglichſte Frei - heit der wirthſchaftlichen Zuſtände den Flor der Volkswirthſchaft be - gründe. Aus dem Zuſammenwirken beider ging dann zunächſt der Eifer hervor, mit welchem ſich die Regierungen der Hebung der Land - wirthſchaft annahmen, die Organiſirung der Landes-Oekonomie-Col - legien, die Aufnahme der ſpeciellen Landwirthſchafts-Polizei in die Polizeiwiſſenſchaft und der Gedanke, daß der Staat das Recht habe, hier wie auf allen Punkten ſeiner Verwaltung mit ſeinen Geſetzen durchzugreifen. Da es ſich in Deutſchland nicht um eine Nacht des 4. Auguſts handeln konnte, ſo handelte es ſich um eine Beweisführung über die landwirthſchaftliche Nothwendigkeit und Nützlichkeit der Entlaſtung. Dieſe Beweisführung hat die deutſche Literatur über - nommen und ſie wirklich geliefert. Man kann im Allgemeinen ſagen, daß die darauf bezügliche Literatur ſich in drei große, hiſtoriſch ein - ander folgende Gruppen ſcheidet. Die erſte umfaßt die Schriftſteller des vorigen Jahrhunderts ſeit Juſti, welche nachweiſen, daß die Be - ſeitigung der Grundlaſten, Frohnden und Zehnten nicht bloß im All - gemeinen möglich ſei, ſondern auch ohne Benachtheiligung der Berechtigten vor ſich gehen könne. Wir haben ſchon auf ſie hinge - wieſen, und dürfen nur den Wunſch ausſprechen, daß ſie recht bald einmal Gegenſtand der Beſprechung von kundiger Hand werden mögen. Die zweite gehört den erſten dreißig Jahren unſeres Jahrhunderts an. An der Spitze derſelben ſteht Thaer in ſeinen verſchiedenen land - wirthſchaftlichen Werken; von ihm aus geht der dann alle Theile der Volkswirthſchaftspflege durchziehende, in den verſchiedenſten Formen wiederholte Beweis, deſſen geiſtige Baſis immer Adam Smith iſt, daß die unfreie Arbeit die unproduktivſte ſei, und daß daher die Aufhebung der Grundlaſten eine unabweisbare Bedingung des geſammten Volkswohles werde. Wir dürfen für die einzelnen Citate auf Rau, Volkswirthſchaftspflege von §. 53 an, Roſcher, Nationalökonomie II. von §. 107, Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 133 ff. und deſſen Litera - tur der Staatswiſſenſchaft (a. a. O.), beſonders auf Bülau in ſeiner ruhigen, klaren Weiſe: Der Staat und der Landbau; ähnlich, aber etwas verwiſchter, in ſeinem Handbuch der Staatswirthſchaftslehre 1835 §. 46 verweiſen; für den Norden ſpeciell auf Kochs Agrar -189 verfaſſung (Einl.). Es iſt kein Zweifel, daß ſchon mit dem Ende der zwanziger Jahre die wirthſchaftliche Ueberzeugung von der Noth - wendigkeit der Beſeitigung dieſes Hinderniſſes der landwirthſchaftlichen Produktion ganz allgemein feſtſteht, die ſich übrigens um die formale Hauptſache, die gutsherrliche Gerichtsbarkeit, gar nicht kümmerte. Die Gewißheit, daß die Geſetzgebung hier eingreifen werde und müſſe, erzeugt dann ſchon in dieſer Zeit eine Reihe von Vorſchlägen, alle mit der beſtimmt ausgeſprochenen Tendenz, die geheiligten Rechte der Grundherren ſo viel als möglich zu ſchonen; die juriſtiſch-hiſtoriſchen Unterſuchungen halten dabei das Bewußtſein der Unterſcheidung in der rechtlichen Natur der verſchiedenen Laſten feſt, und ſo entſteht eine wahre Fluth von Arbeiten, die alle demſelben Ziele zuſtreben. Dieſer ganzen Richtung fehlt lange Zeit freilich eins, das iſt das klare Ver - ſtändniß von dem, was man von den Regierungen in Beziehung auf die Entſchädigungen der Berechtigten fordern ſolle. Einerſeits war man ſich nicht klar über die Natur derjenige Rechte, für welche man überhaupt Entſchädigung verlangen dürfe, und wie wir gleich bemerken, man iſt es ſich theoretiſch auch nie geworden, wie nament - lich die allgemeinen Werke von Mohl und Rau hinreichend beweiſen, bei denen es in dieſer Beziehung gänzlich an einem Princip fehlte und fehlt. Andererſeits aber, und das war das ſpecifiſch Praktiſche, wußte man die als nothwendig erkannten Entſchädigungen nicht zu organiſiren, da die Entſchädigung durch Abtretung von Land theil - weiſe bedenklich für den Bauernſtand, theilweiſe werthlos für den Gutsherrn werden müſſe (ſchon Hagen, über das Agrargeſetz und deſſen Anwendung. 1814; vergl. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 133 und Rau, neulich Roſcher II. §. 122). Eben deßhalb blieb auch ein Mann, den wir in der Geſchichte der Staatswirthſchaftslehre ſtets als einen eben ſo gründlichen als freiſinnigen und verſtändigen Schrift - ſteller hochſchätzen müſſen, Lotz (in ſeiner Staatswiſſenſchaftslehre II. §. 96 f.) ohne bedeutenden Erfolg. Dagegen beginnt mit Stüve ( Ueber die Laſten des Grundeigenthums in Rückſicht auf das Königreich Hannover 1829), ein Gedanke Platz zu greifen, der von da langſam fortſchreitend die ganze Ablöſungstheorie und bald auch die Ablöſungs - geſetzgebung beherrſcht. Das iſt die Durchführung der Entſchädigung nach beſtimmten Procentualſätzen, vor allem aber die Ermöglichung der Abzahlung durch Bildung eines landwirthſchaftlichen Cre - dits, der die Entſchädigungsſumme gegen Unterpfand hergibt, und die Abtragung der Entlaſtungsſchuld durch den befreiten Bauern raten - weiſe möglich macht. Eigentlich war erſt damit der rechte praktiſche Weg für die Verwaltung gewieſen, und das Entlaſtungsweſen gewinnt190 von da an eine feſte Geſtalt ſowohl in der Praxis als in der Litera - tur. Die ganze dritte Epoche, von 1830 bis 1848, bewegt ſich daher jetzt auf dieſer Baſis und die Entlaſtungsliteratur bildet jetzt einen integrirenden Theil der Thätigkeit der Verwaltungen, zwar ohne eigent - liche Initiative, aber doch als unterſtützender und erklärender, keines - weges zu unterſchätzender Faktor der wirklichen Entlaſtungsgeſetzgebung, zu der wir jetzt übergehen. Wie ſehr iſt es zu bedauern, daß Judeich in ſeinem höchſt achtungswerthen Werke über die Grundentlaſtung nicht eine Geſchichte dieſer Entlaſtungsliteratur gegeben hat, nachdem Kochs Agrargeſetzgebung in dieſer Beziehung ſo gut als gar nichts geleiſtet hat! Die Geſchichte der deutſchen Geſellſchaft würde dadurch einen unſchätzbaren Stoff gewonnen haben, und Judeich hätte jene Geſchichte gewiß geben können, vielleicht auch ſollen.

Was nun die Arbeiten nach 1848 betrifft, ſo haben wir nur zu bemerken, daß Kochs bekannte Agrargeſetze des preußiſchen Staats ſich allein auf die Sammlung der geltenden preußiſchen Geſetze be - ſchränken, während Sugenheim nicht beſtimmt genug die Entlaſtun - gen ſcheidet; übrigens aber als der bedeutend großartigere Nachfolger Kindlingers und Sommers daſteht, und der erſte iſt, dem wir einen Blick in den Befreiungsproceß des Bauernſtandes auch der übri - gen Staaten Europas verdanken; doch fehlt ihm das Bewußtſein von dem juriſtiſchen Elemente, das zu ſehr in das ſociale übergeht. Er wird trotzdem auf lange Zeit hinaus der bedeutendſte Mann in dieſem Ge - biete bleiben. Judeich ( Die Grundentlaſtung in Deutſchland 1863) iſt eine höchſt ſchätzenswerthe Bearbeitung des beſtehenden Entlaſtungs - rechts in den einzelnen deutſchen Staaten, die um ſo dankenswerther iſt, je weniger ſich die Staatswiſſenſchaft bisher um das Poſitive ge - kümmert hat. Daß Rau und Roſcher die ganze Theorie der Ent - laſtung noch immer als einen eminenten Theil der Volkswirthſchafts - pflege theoretiſch und ſyſtematiſch fortführen, nachdem das alles weder einen theoretiſchen noch praktiſchen Werth mehr hat, iſt namentlich für die ſogenannte hiſtoriſche Methode geradezu unbegreiflich, und muß die ganze Lehre verwirren. Alle die verſchiedenen Arten und Formen der Ablöſung waren praktiſch bis die definitiven Geſetze erlaſſen wurden; jetzt ſind ſie nur noch die Zeichen der Arbeit, mit der die Theorie über dieſen Stoff Herr geworden iſt. Das Nähere gehört entweder der Ge - ſchichte oder der Interpretation der Geſetze; die ernſthafte Beſprechung des Stillſtandes, in den Preußens Regierung gerathen iſt, hat auch bei ihnen keinen Platz gefunden.

Faſſen wir nun das Geſammtergebniß dieſer kurzen Geſchichte der Entlaſtungsliteratur ſeit hundert Jahren zuſammen, ſo beſteht191 daſſelbe darin, daß ſie ſelbſt niemals die eigentliche Initiative der Be - freiung gehabt, ſondern ſie den Regierungen überlaſſen hat; daß ſie jedoch einerſeits in ihrer juriſtiſchen Seite den letzteren den Rechtstitel der Entwährung überhaupt für die Rechte der Grundherren gegeben, und ihr dafür das Princip der Entſchädigung zur Geltung gebracht hat, wobei ſie mit großer Gründlichkeit die einzelnen Verhältniſſe der Unfreiheit namentlich bei Frohnden und Zehnten hiſtoriſch unterſucht, aber das Princip für den Punkt, wo die Gränze der Entſchädigung zu beginnen habe, weder geſucht noch gefunden hat; während die volkswirthſchaftliche Seite die ökonomiſche Nothwendigkeit der Ent - laſtung und das Syſtem der Entſchädigung nachweist. Es iſt klar, daß dieſe Literatur der bloß abſtrakte Geiſt des deutſchen Volkes eben ſo wenig fähig war, die Unfreiheit der Geſchlechterordnung zu beſeitigen, wie die bloßen Elemente der letzteren ſelbſt. Nach wie vor iſt es der Staat, der hier die Entſcheidung gebracht. Wir müſſen daher dieß Verhältniß jetzt für ſich darſtellen, und in ſeiner Geſchichte wird die gegenwärtig geltende Grundentlaſtungsgeſetzgebung in ihrer wahren Stellung erſcheinen.

VI. Die wirkliche Entlaſtung durch Geſetzgebung und Verwaltung des Staats.

Wenn es nun einen Theil der Geſchichte des inneren Lebens des Volkes gibt, in welchem die ſpecifiſche Bedeutung und Wirkſamkeit des Staats am meiſten in den Vordergrund tritt, ſo iſt es ohne Zweifel die große Arbeit der Herſtellung der Freiheit der niederen Klaſſe, eine Arbeit, in der die großen Elemente des Geſammtlebens, namentlich aber der tiefe Gegenſatz, der zwiſchen Staat und Geſellſchaft beſteht, am ſchlagendſten zum Ausdruck kommt.

Der dreißigjährige Krieg hatte den Reſt des einheitlichen ſtaat - lichen Lebens vernichtet; mit ſeinem Verſchwinden trat, nach den Geſetzen, welche das Verhältniß zwiſchen Staat und Geſellſchaft regeln, die Herrſchaft des Sonderintereſſes der herrſchenden Geſchlechter - klaſſe rückſichtslos in den Vordergrund, und die Unfreiheit des Bauern - ſtandes beginnt mit der Kaiſerloſigkeit. Jenem eigenthümlichen, groß - artigen Lebensproceß der menſchlichen Gemeinſchaft, der in der leben - digen geiſtigen Stimmung zwiſchen dem Geiſt und dem Gefühle des Volkes und dem individuellen Willen und Erkennen des Staats be - ſteht, und aus dem die mächtigſten Erſcheinungen hervorgehen, fehlte der eine Faktor, der Staat. Keine Wiſſenſchaft war und iſt je im Stande, das zu erſetzen; kein Unglück groß genug, um ohne denſelben Hülfe zu finden. So wie aber die Staatenbildung mit ihrer regierenden192 Gewalt ſich langſam wieder erzeugt, tritt auch jener Proceß wieder ein und ſein entſcheidendes Symptom iſt die Aufnahme des Kampfes mit der herrſchenden Klaſſe, die hier als langſames, aber ſicheres Vor - ſchreiten zur Befreiung des Bauernſtandes erſcheint, und mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung oder die Geſchlechterordnung für Deutſchland erſt mit dem letzten Jahrzehnt endet. Dieſen Proceß nennen wir die Geſchichte der Entlaſtung.

Bei dieſer Geſchichte muß man nun davon ausgehen, daß die eigent - liche Grundentlaſtung nur ein Stadium in derſelben bildet, und daher ihre allgemeinere Bedeutung nicht in den einzelnen für dieſelbe zur Gel - tung gebrachten poſitiven Beſtimmungen, ſondern in dem Verhältniß der - ſelben zum geſammten Entwicklungsgange des Volkslebens findet. Die folgende Arbeit iſt von dieſem Geſichtspunkte ausgegangen. Die eigentliche juriſtiſch-nationalökonomiſche Lehre von Grundentlaſtung und Ablöſung gehört bereits der Geſchichte an, und ihren Inhalt findet man, wie bereits erwähnt, mit jetzt ziemlich werthloſer Breite in Rau und Roſcher; wir werden von derſelben nur ſo viel aufnehmen, als für den Charakter des Entwicklungsganges dieſer Frage unabweislich iſt. Das viel Wich - tigere iſt der letztere ſelbſt. Derſelbe zerfällt in drei große Epochen. Die erſte dieſer Epochen reicht bis zum Anfange dieſes Jahrhunderts; die zweite bis zum Jahre 1848; die dritte umfaßt die jüngſte Zeit. Wir bezeichnen die erſte als die Zeit des Kampfes der Staatsgewalt mit der Leibeigenſchaft und der Patrimonialgerichtsbarkeit, die zweite als die Zeit der volkswirthſchaftlichen, die dritte als die der ſtaats - bürgerlichen Entlaſtung.

1) Der Kampf der Staatsgewalt gegen Leibeigenſchaft und Patrimonialgerichtsbarkeit.

Das 16. Jahrhundert der deutſchen Geſchichte iſt von dem 17. weſentlich verſchieden. Es iſt die letzte Epoche, in welcher das deutſche Reich als Ganzes den großen Verſuch einer Verwaltungsthätigkeit macht. Die Reichstags - und Deputationsbeſchlüſſe und Abſchiede verſuchen ein Verwaltungsrecht zu ſchaffen; die Einſetzung des Reichskammergerichts iſt der Verſuch, demſelben eine ſelbſtändige Organiſation zu geben; der Deputations-Abſchied von 1600 ſtellt ſogar den Grundſatz einer durch - greifenden Organiſation und Controle der Unter -, Ober - und Hofgerichte auf, damit den Unterthanen, daß ſie rechtlos geſtellt worden ſeien, Urſachen zu klagen abgeſchnitten ſei (vgl. Eichhorn, Deutſche Reichs - und Rechtsgeſchichte IV. §. 550). Allein der dreißigjährige Krieg, deſſen furchtbare ſociale Wirkung niemand beſſer als Sugenheim aufgefaßt193 hat, vernichtete alle dieſe Anläufe zu einer Reichsverwaltung. Das Rechtsprincip, das er für Deutſchland zur Geltung bringt, iſt die Souveränetät der Reichsſtände. Die kleinen Reichsſtände aber ſind Ge - ſchlechterherrſchaften. Damit wird die Alleinherrſchaft der herrſchenden Geſchlechter beſiegelt, und von jetzt an empfängt die Unfreiheit der Unter - worfenen den Charakter, den wir bezeichnet haben, den Charakter eines geheiligten Privatrechts der Herren an ihren Unterthanen. Mit dieſem Reſultat beginnt die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts.

Indeſſen waren einige von den neuen Staatenbildungen groß genug, um neben dem Begriff des Eigenthums als Baſis ihres Rechts dem der ſtaatlichen Gewalt, bald imperium, bald Landeshoheit genannt (ſ. oben), Raum zu geben. Das Loslöſen von Kaiſer und Reich hatte für dieſe Territorien wenigſtens das Gute, daß ſie ſich auf ſich ſelber ſtellten und daher jene Idee der Landeshoheit zu einem förmlichen Syſtem der Regierungsgewalt zu entwickeln begannen. Damit trat dieſe Gewalt an die Stelle des alten Reiches, und nun geſchah allmählig das, was den Ausgangspunkt der folgenden Geſchichte bildet. Die großen Landes - herren ſtellten für ihre Territorien Centralbehörden auf, welche alsbald für ſich das Recht der Reichsinſtitutionen, die Oberaufſicht über alle öffentlichen Verhältniſſe in Anſpruch nahmen, ſintemahl ſolchen falls weder einem noch andern inſonderheit wie mächtig und Reich er auch wäre dergleichen Oberſte Herrſchaft und Regierung im Land zukommt, ſondern ſie ſind gegen den Landes-Herrn insgeſammt und inſonderheit für Unterthanen zu achten (Seckendorf, Teutſcher Fürſten - ſtaat, II. Thl. Cap. 1. 1660), denn es iſt die Lands Fürſtliche Regierung in denen Teutſchen Landen nichts anderes, als die Oberſte und höchſte Bottmäßigkeit des ordentlich regierenden Fürſten oder Herrn über die Stände und Unterthanen zu Erhaltung und Behauptung des gemeinen Nutzens und Wolweſens (ebend.). Um dieſe Idee zu verwirk - lichen, beginnt nun eine förmliche ſyſtematiſche Eintheilung des Landes; die alte Vogtei wird zum Amt, der Amtmann wird Diener des Landesherrn, und wie wir es in der franzöſiſchen Rechtsgeſchichte (Das organiſche Königthum S. 402 499) für Frankreich nachgewieſen haben, beginnen nun dieſe landesherrlichen Amtleute ihre Competenz alsbald auch über die örtliche Verwaltung der Grundherrlichkeiten zur Erhal - tung und Behauptung des allgemeinen Nutzens und Wolweſens aus - zudehnen.

Hier nun kommen ſie natürlich ſofort in Conflict mit der Grund - herrlichkeit und ihrem öffentlichen Rechte, und dieſer Conflict war gleich anfangs nicht der eines einfachen Competenzſtreites, ſondern in ihm be - rührten ſich zuerſt die beiden großen Principien, deren Schickſal dasStein, die Verwaltungslehre. VII. 13194Schickſal der folgenden Jahrhunderte ſein ſollte. Es iſt eben deßhalb von entſcheidender Bedeutung, dieſelben hier zu charakteriſiren.

Die geſammte deutſche oder vielmehr die geſammte germaniſche Gerichtsverfaſſung, in der die Staatsidee der Geſchlechterordnung faſt allein für das innere Leben der Völker thätig war, beruht nämlich auf dem Grundſatz, der ſelbſt wieder nur ein Ausfluß des Weſens der Ge - ſchlechterordnung iſt, daß nämlich die Vertheilung und das Recht des Grundbeſitzes die Baſis für die Ordnung und die Competenz der Gerichte ſei. Denn es iſt der Grundbeſitz in jeder Geſchlechter - ordnung, der dem Manne ſeine Stellung gibt. Die Gerichte waren daher nicht bloß eben ſo verſchieden, wie die Arten und Rechte des Grundbeſitzes ſelbſt, ſondern ihre Competenz war durch alle ihre Formen hindurch gegeben und begränzt durch das beſtimmte Recht des Grundes und Bodens, für welches ſie eingeſetzt oder hiſtoriſch entſtanden waren. Daher gibt es namentlich in Deutſchland, der eigentlichen Heimath der Geſchlechterordnung, ſo viele Gerichte, als es Verhältniſſe und Rechte des Grundbeſitzes gibt; ſo ſehr, daß in den bei weitem meiſten Fällen der Name des Gerichts ſchon von vornherein das Recht bezeichnet, für welches es allein beſtimmt iſt. Das Syſtem der alten Gerichts - barkeiten iſt daher identiſch mit dem Syſteme des Grund - rechts der Geſchlechterordnung. Faſt immer erkennt man deßhalb auch auf den erſten Blick an dem Namen der Gerichte ſeine Stellung zu dieſem Syſteme der Grundrechte. Ich finde niemanden, der dieß Verhältniß auf Grund einer wahrhaft ſtaunenswerthen Gelehrſamkeit ſo einfach und beſtimmt ausgeſprochen hätte, als Fiſcher in ſeinem Cameral - und Polizeirecht, der viel klarer und umſichtiger iſt, als der breite und höchſt verworrene Eſtor (Teutſche Rechtsgelahrtheit II. Thl. 1758. Buch 4. S. 845 ff.). Das teutſche Eigenthum iſt entweder Leib - herrlich, Gutsherrlich oder Lehenherrlich. Jedes gab eigenen Gerichts - barkeiten den Urſprung, denn nach teutſchem Rechtsſyſteme war das vollſtändige Eigenthumsrecht eine Quelle der Gerichtsbarkeit (II. §. 42. 43). Daher gibt es eine leibeigenſchaftliche Gerichtsbarkeit, welche der Leibherrſchaft vermög Eigenthumsrecht über ihre Leibeigenen gebührte (§. 44), eine gutsherrliche Gerichtsbarkeit über diejenigen, die ſich theils auf dem gutsherrlichen Grunde anſäßig gemacht, theils Stücke davon zum Untereigenthum empfangen haben (§. 45) und eine lehens - herrliche Gerichtsbarkeit aus dem Lehensobereigenthum (§. 46). In der That aber waren das nur die drei Grundformen, in denen die herr - ſchende Klaſſe die Gerichtsbarkeit über die beherrſchte beſaß; die Erb - gerichtsbarkeit oder Patrimonialgerichtsbarkeit bedeutet hier keine beſondere Gerichtsbarkeit, ſondern nur den Rechtstitel des Beſitzes derſelben für195 den Grundherrn was auch Fiſcher nicht klar wird. Denn jede der einzelnen Klaſſen der Geſellſchaft hatte daneben wieder ihr beſonderes Gerichtsſyſtem. Das rein ſtändiſche, dem Gerichtsſyſtem des Grund - beſitzes der Geſchlechterordnung zur Seite ſtehende Gerichtsſyſtem der Geiſtlichkeit, der Univerſitäten und der Zünfte und Innungen laſſen wir hier weg; auch gehen wir nicht weiter ein auf das Gerichtsſyſtem der herrſchenden Klaſſe. Dagegen iſt dasjenige der beherrſchten Klaſſe vom größten Intereſſe für das, was wir die Agrarverfaſſung jener Zeit nennen würden, und viel zu wenig für das Verſtändniß derſelben benützt. Die Grundlage dieſes Theiles des früheren Gerichtsſyſtemes des deutſchen Bauernſtandes war die Competenz für die Rechtsverhält - niſſe der Mitglieder derſelben Klaſſe in ihren Streitigkeiten unterein - ander. In der That hatte jede Bauernklaſſe, ihre Verſchiedenheit mochte nun auf der beſonderen Art des Pachtcontractes oder auf der Beſchaffenheit oder Benennung ihrer Abgaben beruhen, ihre eigen - thümlichen Gerichte (§. 118). So gab es Meierdinge, Märkerdinge, Hegegerichte, Zeidelgerichte, Laetgerichte, Hofgedinge, Dinghöfe, Erb - fallgerichte, Cour -, Erb - und Leibgewinnsgerichte, und gewiß noch eine Menge anderer Namen und Competenzen (§. 121 123). Da die deutſche Rechtsgeſchichte mit dem dreißigjährigen Kriege ſchließt, ſo hat ſie von dieſen Dingen keine Notiz genommen hat doch nicht einmal Runde ſie berückſichtigt, und Eichhorn ſogar die ganze Patrimonial - gerichtsbarkeit weggelaſſen! Das große Princip jenes Syſtems von Gerichten iſt aber, daß ſie die Rechtsunterſchiede der Klaſſen der Geſellſchaft in ihren Namen, Formen und Competenzen zum Inhalt des öffentlichen Rechts machen, obwohl ſie nur Unterſchiede des Eigen - thums an Grund und Boden ſind, und ſomit das gemeinſame Rechts - bewußtſein der Nation durch eine unüberſehbare Zerſtückelung der Rechts - funktion tödteten. Der Begriff und das Weſen des Rechts ging in lauter Rechten unter, und jede Verſchmelzung der Klaſſen wurde durch dieſe Gerichte ſchon an und für ſich zu einem Unrecht.

Jetzt kam das römiſche Recht. Für das römiſche Recht gibt es keinen Unterſchied des Rechts. Vor dem römiſchen Rechte ſind alle Staatsangehrigen gleich. Die Unterſchiede in Laſten und Forderungen begründen allerdings eine Verſchiedenheit der Rechtstitel, aber weder einen Unterſchied in dem Perſonenrecht, noch in der Competenz. Vom Standpunkt des römiſchen Rechts iſt es ein Unding, um eines beſondern Anſpruches willen ein beſonderes Gericht für berechtigt zu halten. Die neuen Beamteten aber waren römiſche Juriſten. Sie waren daher principiell die Vertreter der Gleichheit vor dem Recht, und daher auch die natürlichen Vertreter des einfachen Gerichtsſyſtems, das ohne196 Rückſicht auf die Klaſſen der Stände und Geſchlechterordnung für alle Rechtsfragen nach dem Recht an ſich Recht ſprach.

Damit trat ein ganz neues Princip zunächſt für den Begriff des Rechts, und dann für das der Gerichte ins Leben. Dies Princip, ge - tragen und vertreten durch das immer mächtiger werdende Beamten - thum, war entſchieden feindlich gegen das Gerichtsſyſtem der Geſchlechter - ordnung. Mit dem Beamtenthum und ſeinem Römiſchen Recht mußte daher ein Kampf beginnen, der in allen Ländern des germaniſchen Rechts gleichartig iſt und der europäiſchen Rechtsgeſchichte angehört. Wir haben von dieſem Kampfe nur das Verhältniß zu jenem Gerichts - ſyſtem aufzunehmen.

Die erſte Folge war nun allerdings die, daß die oben erwähnten eigentlichen Bauerngerichte verſchwinden und den römiſchen Begriffen und Rechten Platz machen. Sie dauern nur noch als eine Art von Schiedsgerichten von Genoſſenſchaften fort, wie ſchon Fiſcher ſie auf - faßt (§. 118). Anders aber war die Frage gegenüber den Guts - und Herrengerichten, auf die es uns ankommt.

Die Lehre vom imperium des jus naturae und das Römiſche Recht hatten zuſammen gewirkt, um den Grundſatz feſtzuſtellen, daß alle Gerichtsbarkeit Ausfluß der Landesherrlichkeit ſei. Anderſeits waren dagegen gerade die grundherrlichen Gerichte das Hauptmittel der herr - ſchenden Klaſſe, um die Bauern in ihrer Unterwerfung zu erhalten. Die Grundherren ſahen ſich daher durch die römiſchen Juriſten ernſtlich in ihrer Stellung gefährdet. Wo die Gerichtsherren, wie in den kleinen deutſchen Reichsſtänden, ſouverän waren, war die Frage bald zu Gunſten des Grundherrn erledigt. Allein in den Staaten begann der Kampf zwiſchen beiden Organen theoretiſch und praktiſch, und bildet ein keines - wegs unwichtiges Moment in der Geſchichte des 18. Jahrhunderts. Es iſt der erſte Kampf der neuen Staatsidee mit dem Geſchlechterrecht im Kleinen, der in dem Ringen der amtlichen Gerichtsbarkeit mit dem Patrimonialgerichte ſich vollzieht, und der Ausfall dieſes Kampfes mußte entſcheiden über die Möglichkeit, durch die junge Staatsgewalt ſchon da - mals die alte und ſtarke Geſchlechterherrſchaft zu brechen.

Wir wiſſen von den Einzelheiten dieſes Kampfes noch ſehr wenig; ihre Darſtellung muß einer ſelbſtändigen Bearbeitung vorbehalten bleiben. Das Ergebniß im Großen und Ganzen aber, mit dem das 18. Jahr - hundert abſchließt, und das ſich auf das 19. überträgt, iſt folgendes.

Dem großen organiſchen Gedanken des 17. Jahrhunderts, daß alle Gerichtsbarkeit Ausfluß des imperium ſei, tritt durch die entſtehenden rechtsgeſchichtlichen Studien des 18. Jahrhunderts die Thatſache ent - gegen, daß die gutsherrliche und leibeigene Gerichtsbarkeit nachweisbar197 nicht auf landesherrlichen Verleihungen, ſondern auf dem hiſtoriſchen Rechte des Grundes und Bodens ſelbſt beruhe. Ein Theil der Juriſten Neigung, perſönliche Beziehungen, öffentliche Stellung mögen damals wie immer vielfach auf die Richtung der Einzelnen eingewirkt haben mußte daher zugeſtehen, daß die Gerichtsbarkeit des Herrn über Leibeigene und Hinterſaſſen die Natur des Privateigenthums be - ſitze; das Recht auf dieſelben identificirt ſich ihnen mit dem Recht auf den Grund und Boden, ſie iſt erblich, wie dieſer; ſie iſt ein Theil des Patrimonii, und heißt daher jetzt Erb - oder Patrimonial-Gerichtsbarkeit. Daß dieſelbe gelegentlich dem Adel beſtätigt wird (wie in Preußen, Fiſcher I. §. 842) ändert die privatrechtliche Natur derſelben nicht; es wird ausdrücklich anerkannt, daß ſie ihren Urſprung aus dem Eigen - thumsrechte genommen habe (Fiſcher a. a. O. §. 842 nebſt der Lite - ratur) und noch am Ende des vorigen Jahrhunderts gilt für die deutſche Jurisprudenz dieſer Satz als unzweifelhaft die ſtillſchweigende Con - ceſſion des Regenten iſt eine ganz untaugliche und nichts aufklärende Hypotheſe (Runde §. 702). Allerdings war die Competenz dieſer Gerichte eben wegen ihrer hiſtoriſchen Stellung fraglich. Eine, an Diſſertationen ſehr reiche Literatur beſchäftigte ſich im ganzen 18. Jahr - hundert mit derſelben (bei Fiſcher a. a. O. §. 841 die bekannteſten). Das Geſammtreſultat aber war, daß die Patrimonial - oder Erbgerichts - barkeit für die geſammte niedere Juſtiz competent ſei; der allgemeine Ausdruck war: daß dieſelbe Polizeigewalt, Heimfallsrecht, Abzugsrecht und das Fiscalrecht mit ſich vereinigt (Fiſcher ebend.)

Das nun war für die große ſociale Frage des Bauernſtandes ein ſehr ernſtes Reſultat. Die ganze Auffaſſung der römiſchen Juriſten und der Beamteten überhaupt ward durch dies Ergebniß weſentlich er - ſchüttert. Die ſtändiſche Richtung der deutſchen Jurisprudenz wußte das gut zu benutzen. Daß die lehre des Römiſchen rechtes von der gerichtsbarkeit von der Teutſchen gänzlich unterſchieden ſei, haben Gund - ling in den digestis über dieſen Titel, Gebauer de jurisdictione, Johann Leonh. Hauſchild von der gerichts-verfaſſung der Teutſchen (Leipzig 1741, 4.) und beſonders Fr. Eſaias Pufendorf de juris - dictione Germanica (Lemgo 1740, 8.) wie ich auch in meinem unter - richte von der abfaſſung der urthel mit mererem gezeigt (Eſtor, Deutſche Rechtsgelahrtheit anderer teil. Marb. 1758. §. 4924). Eben ſo Fiſcher a. a. O. II. §. 24, der in §. 19 die ganze, mit Herm. Con - ring (Diss. de judiciis Reipubl. Germ. Helmst. 1644) beginnende Lite - ratur über dieſe Frage aufführt. Uebrigens hatte auch die entgegen - geſetzte Anſicht ſchon im 18. Jahrhundert eifrige Vertreter, namentlich Selchow (Jur. Germ. Privat. ) vgl. auch Runde a. a. O. In der198 That aber lag der tiefe Unterſchied im ſocialen Sinne des Wortes nicht bloß in dem, dem römiſchen Rechte unverſtändlichen Eigenthum an der Gerichtsbarkeit, ſondern eben ſo ſehr in dem rein polizeilichen Strafrecht der Erbgerichtsbarkeit, das den Bauern ganz in die Hand des Herrn gab. Welche Folgen dieß Recht hatte, davon hat uns Sugenheim eine Reihe von ſchlagenden Beiſpielen geſammelt (S. 376 und öfter). Der Gutsherr als Gerichts - und namentlich als Polizeiherr hatte das Recht, alle ſeinem Erbgerichte unterſtehenden Bauern nach Ermeſſen prügeln zu laſſen; es bedarf keiner weiteren Darlegung, wie ein ſolches, in der Polizei liegendes Recht des Grundherrn jeden Reſt der Selbſtändigkeit der Bauern vernichten mußte; das Gericht des Herrn war nur eine Form der Willkür, und der Zuſtand war trauriger als je. Dazu kam endlich noch das ſogenannte Legen der Bauernhöfe, das Vertreiben der Bauern aus ihren Höfen und die Ver - einigung der letzteren mit dem gutsherrlichen Hofe. Die Art und Weiſe wie dieß geſchah, war verſchieden; bald griff der Gutsherr mit Gewalt durch, bald benutzte er den Vorwand der Nichtentrichtung der gutsherr - lichen Laſten, bald entfernte er die Kinder beim Tode des Vaters. Die vom Hofe getriebenen Bauern mußten dann Taglöhner werden; damit verſchwand der letzte Reſt des Unterſchiedes zwiſchen Bauer und Leib - eigenen, und ſomit gelangte die Geſchlechterordnung bei ihrem letzten Stadium der Unfreiheit an. Es war ein elender Zuſtand.

Und dennoch war es vielleicht gerade dieſer letzte Punkt, der die kaum noch zur rechten Kraft gelangte Staatsgewalt dazu brachte, gegen jene Verhältniſſe einzuſchreiten. Mit dem ſelbſtändigen Landesfürſten - thum war einerſeits das Gefühl der Souveränetät gewaltſam, anderer - ſeits aber auch das Bedürfniß nach Abgaben geſtiegen. Eine Gerichts - barkeit, welche mit Ausnahme des peinlichen Halsgerichts alle Funktionen des Staats erblich als Eigenthum beſaß, mußte das erſtere vernichten, eine völlige Vernichtung des Bauernſtandes mußte die Erfüllung des zweiten unmöglich machen. In Frankreich hatte ſchon Sully den Bauern - ſtand als die wahre Grundlage des Staatsreichthums erkannt; die fran - zöſiſche Literatur, viel höher in ihrer ſtaatsmänniſchen Auffaſſung ſtehend, als die rein juriſtiſche deutſche, gab durch ihren Einfluß den freieren Blick auf die Verhältniſſe; das Beamtenthum drängte vorwärts, die gutsherrliche Gerichtsbarkeit zwar als eine andere, aber zugleich als eine nicht ebenbürtige, ſich untergeordnete betrachtend, und die Noth der Kriege des 18. Jahrhunderts Hand in Hand mit der fürſtlichen Verſchwendung zwang die Regierungen, ſich des zu Grunde gehenden Bauernſtandes anzunehmen. So entſtand, von der Staatsgewalt aus - gehend, eine Bewegung, welche die erſte Hülfe brachte.

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Dieſe Bewegung erſcheint in zwei Hauptformen. Zuerſt tritt ſie auf als Unterordnung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit unter die Beamtengerichte; dann als der Verſuch, den Bauernſtand zu erhalten und zu heben. Letzteres wieder geſchieht theils durch das Verbot des Legens der Bauernhöfe, theils durch Beſchützung der Bauern gegen die wildere Mißhandlung der Herren, theils als Herſtellung der erſten Formen der Verwaltung der Landwirthſchaft in den Landes-Oekonomie - Collegien, theils endlich als direkter Verſuch, die Leibeigenſchaft aufzu - heben.

Jede dieſer großen Maßregeln hat ihre eigene Geſchichte; doch wird es Aufgabe einer ſelbſtändigen Arbeit ſein müſſen, dieſes hochwichtige Gebiet des Kampfes der Regierungen mit der Grundherrlichkeit noch genauer durchzuführen, als das in etwas ſporadiſcher Weiſe bereits von Sugenheim geſchehen iſt, deſſen Arbeit übrigens dauernd an der Spitze dieſes Theiles der Geſchichte Deutſchlands ſteht, und namentlich zuerſt denſelben mit tiefem Verſtändniß und umfaſſender Gelehrſamkeit in ſeinem Verhältniß zum Geſammtleben Europas dargeſtellt hat. Wir haben dazu nur einige wenige Bemerkungen hinzuzufügen. Die Geſchichte der Aufhebung der Leibeigenſchaft beginnt ſchon mit der Verordnung vom 16. December 1702, durch welche Friedrich I. von Preußen be - fahl, daß auf Seinen Domänen die Leibeigenſchaft aufgehoben werden ſolle (Stenzel, Geſchichte des preußiſchen Staats III. 680. Preuß, Friedrich der Große III. 97). Von da an bis zu den letzten geſetzlichen Akten unſeres Jahrhunderts, welche die Leibeigenſchaft wirklich beſei - tigen, zeigt es ſich in immer wiederkehrender Folge, daß man ſich weder über den rechtlichen Inhalt, noch über die eigentliche Bedeutung der Leibeigenſchaft jemals recht klar wurde, namentlich aber über ihr Verhältniß zur Hörigkeit. Das nun beruhte darauf, daß es bereits damals die alte ſtrenge Scheidung zwiſchen Leibeigenen und Bauern, welche die Grundlage der urſprünglichen Geſchlechterordnung war, nicht mehr gab. Der Unterſchied war ein gradueller geworden, ſtatt daß er früher ein qualitativer geweſen. Die Folge daran war, daß jedes Rütteln an der Leibeigenſchaft die ganze Geſchlechterordnung der Grundherrlichkeit erſchütterte, und daß daher die Regierungen einerſeits bei derſelben nicht ſtehen bleiben konnten, ſondern conſequent zum Ver - nichtungskampfe mit der geſammten herrſchenden Stellung des Adels von ihr aus fortſchreiten mußten, während es eben deßwegen anderer - ſeits vollkommen erklärlich war, wenn die herrſchende Klaſſe dem Landes - herrn offen ins Geſicht ſagte, daß ſie ſelbſt nicht gewilligt ſeien, ihr Recht aufzugeben, die letzteren aber nicht berechtigt, es aufzuheben, wie die pommeriſchen Stände ſelbſt gegenüber einem Manne wie Friedrich II. 2001763 rund hinaus erklärten, es ſei unmöglich, dem Willen des Monarchen zu genügen (Sugenheim S. 382). Das Gefühl, daß es ſich bei der Aenderung dieſes Verhältniſſes um das Grundprincip der ganzen damals geltenden Geſellſchaftsordnung handle, war allgemein, und die deutſche, beſchränkte Jurisprudenz that das Ihrige, wie wir geſehen haben, um in dieſem Kampfe das ſtändiſche Element durch die eifrige Herbeiziehung des Begriffes geheiligter Privatrechte zu unter - ſtützen. Die Regierungen wären daher machtlos geblieben, wenn ſie nicht in der Herſtellung eines contribuablen Bauernſtandes ein Be - dürfniß gefunden hätten, das ſtärker war, als alle feudale Jurisprudenz. Um dieſem contribuablen Bauernſtand herſtellen zu können, mußten ſie vor allen Dingen das Legen der Bauernhöfe verbieten; ſie mußten die Flucht der leibeigen gewordenen Bauern aus dem Lande in die Stadt, aus einer Souveränetät in die andere hindern; ſie mußten ſogar mit ihren Maßregeln direkt etwas für die Bauern thun; und um alles das möglich zu machen und wirklich auszuführen, mußten ſie die gutsherr - liche Obrigkeit der landesherrlichen unterordnen. Und das geſchah; freilich in einer Weiſe, welche den ganzen Geiſt des 18. Jahrhunderts ſchlagend charakteriſirt. Aus der Idee des imperium des 17. Jahr - hunderts ging nämlich allerdings der Gedanke hervor, daß alle Ge - richtsbarkeit ein Hoheitsrecht, ein Regal ſei; aus der Theorie des 18. aber auch der zweite Satz, daß die Grundherren auf dieſes Regal ein jus quaesitum hätten. Die Conſequenz war, daß man nirgends zu dem Schluß gelangte, die Patrimonialgerichtsbarkeit aufzuheben, ſondern mir nur zu dem, dieſelbe entweder bloß in ihrer Competenz zu beſchränken, wie in Oeſterreich durch die Errichtung der Kreisgerichte als zweite Inſtanz für die Patrimonialgerichtsbarkeit (Sugenheim S. 104 und öfter; vgl. Kopetz, öſterreichiſche, politiſche Geſetzkunde 1807. I. Bd. §. 15 ff. ) oder die Ausübung der wirklichen Gerichtsbar - keit an dieſelben wiſſenſchaftlichen und amtlichen Bedingungen zu binden, wie die Uebernahme eines eigentlichen Juſtizamtes. Dabei nun ſchied man theils die Juſtiz von der Oekonomie, namentlich in Preußen; dort hatten die Aemter urſprünglich Oekonomie, Juſtiz und Polizei zu verwalten. In der neueren Zeit aber (letzte Hälfte des 18. Jahrhunderts) iſt die letztere davon abgeſondert, und eigenen Juſtiz - amtleuten übergeben worden (Fiſcher a. a. O. §. 83), theils forderte man wenigſtens in Preußen, daß die Gerichtsherrſchaften dazu ſolche Subjekte auswählen, die bei den Landesjuſtizcollegien gehörig vor - bereitet ſind (Corpus Juris Frieder. I. P. 11. Tit. 4 und 8; Reglement über das Juſtizweſen in der Kur - und Neumark Brandenburg I. 4. 5. 6. Fiſcher a. a. O. §. 89). Aehnlich in Sachſen durch Scheidung des201 Gerichtsverwalters vom Gerichtsaktuar (Berger, Oeconom. Jurispr. IV. 6.), wodurch man in Preußen zu dem Grundſatz kam, daß der Gerichtsherr die Juſtiz überhaupt nicht mehr perſönlich, ſondern nur durch einen Juſtizbeamten ausüben dürfe, was übrigens eben nur in Preußen galt (Fiſcher §. 88; vgl. Sugenheim S. 398). Allein der Grundgedanke der Erbgerichtsbarkeit blieb beſtehen, und namentlich in den kleinen deutſchen Reichslanden änderte ſich gar nichts.

Mit dieſem allgemeinen Reſultate ſchließt das 18. Jahrhundert. Auf allen Punkten iſt der Kampf der Staatsidee mit dem Rechte der herrſchenden Klaſſe eröffnet. Die Leibeigenſchaft iſt zum Theil aufge - hoben, die freiwilligen Ablöſungen ſind zum Theil verſucht, die Erb - gerichtsbarkeit iſt zum Theil beſchränkt, das alte Verhältniß iſt in ſeinen Grundveſten erſchüttert. Allein jene geſellſchaftlichen Reſte ſind Privat - rechte geworden, und die Klaſſe der Grundherren hat ſich für die Ver - theidigung derſelben allenthalben erhoben, allenthalben das Landes - recht und die Landesprivilegien gegenüber der Krone dafür aufgerufen allenthalben die gefahrbringende Umgeſtaltung bekämpft, und das neun - zehnte Jahrhundert findet noch nirgends ein faßbares Reſultat. Es hat den großen Proceß der Ablöſung erſt ſelbſt zu ſchaffen.

Und hier nun darf man einen Blick auf das dominium eminens und ſeine ſpecielle Stellung zur Entlaſtung zurückwerfen. Auch hier zeigt ſich ſein inniger Zuſammenhang mit der Staatsidee. Wie der Staat ſelbſt an den ſocialen Gewalten die begränzenden Faktoren ſeiner Entwicklung findet, ſo auch das dominium eminens. Es vermag nicht, in die eigentliche geſellſchaftliche Frage hinabzuſteigen. Seinem hiſtoriſchen Urſprung getreu, bedeutet es auch in dieſer Zeit nur das Verhältniß des Staats zu den Grundherren als herrſchender Klaſſe, und das do - minium (super) eminens erſcheint daher mehr und mehr nur noch als Lehensobereigenthum des Fürſten gegenüber dem Vaſallen. Die Frage, die mit dem 18. Jahrhundert entſteht, die Frage nach dem Recht des Staats, die beherrſchte Klaſſe durch Beſchränkung des Rechts der herr - ſchenden zu heben, nimmt jene Idee des dominium eminens gar nicht in ſich auf. Sie hat den höheren Rechtstitel dafür gegeben, daß die Landesherrn die Selbſtändigkeit der herrſchenden Stände und ihrer Landtage brachten; ſie hat die fürſtliche Gewalt mit dem Recht auf die einzelnen Hoheitsrechte ausgefüllt, und iſt zum juriſtiſchen Princip der höchſten Verwaltung geworden, aber mehr vermag ſie nicht. Es iſt noch immer nur eine höchſte Form des Eigenthums; ſowie es daher einem zweiten Eigenthum ſich gegenüber findet, dem Eigen - thum der Grundherren an allen Rechten der Grundherrlichkeit, ſo iſt es gleichſam paralyſirt. Die damalige Wiſſenſchaft weiß nichts Beſtimmtes202 mit dieſem Begriffe zu machen. Er hat ſeine ſeine hiſtoriſche, aller - dings nicht unbedeutende, Miſſion erfüllt, und beginnt zu verſchwinden. Sein Auftreten in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts iſt ein unſicheres; ihm fehlt jene Selbſtgewißheit, die ſtets der Ausdruck einer höheren Bedeutung iſt; er ſinkt zum Kathederbegriff herab. Die Zeit iſt vorbei, wo man den Fürſten noch abſolut mit dem Staat iden - ficiren, und die Funktion des Staatsoberhaupts daher als eine Form des dominium betrachten kann. Der Ausdruck bleibt zwar in den Lehrbüchern, aber nicht mehr im ſtaatsrechtlichen Bewußtſein des Volks; andere Potenzen traten auf; das 19. Jahrhundert verſteht nicht mehr, was er eigentlich ſeiner Zeit bedeutet haben möge, und wirft ihn daher zuſammen mit dem jus eminens, dem ſogenannten Staatsnothrecht, wo wir wenn auch nicht ihm ſelber, ſo doch ſeinem hiſtoriſchen Schatten begegnen. Denn in der That iſt der ganze Standpunkt des 19. Jahr - hunderts ein ſo weſentlich von dem des 18. verſchiedener, daß auch für die Entlaſtung eine neue Geſchichte beginnt.

2) Die erſte Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Nirgends mehr als im Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts wird es klar, daß man die Grundentlaſtung trotz ihrer entſcheidenden Bedeutung für das Leben des Volkes doch nur als ein Moment an einer höheren, eben nur in ihren machtvollen Erſcheinungen conkret erfaßbaren Entwicklung betrachten darf. Denn in der That iſt nichts unklarer und unfertiger, als die deutſche Grundentlaſtung von 1800 bis 1848; nirgends iſt Einſeitigkeit, nirgends ein feſtes Princip, nir - gends entſcheidende Durchführung; jeder Staat und jedes Land hat ſeine Entlaſtungsverſuche, ſeine Geſetzgebung, ſeine Richtung; die Worte ſelbſt, die Namen mit denen man die Sache bezeichnen will, ſind un - klar, zum Theil widerſprechend geworden; die Wiſſenſchaft iſt rathlos, da ſie keine feſte geiſtige Thatſache findet, an der ſie ſich halten kann; die Definitionen mangeln, die Literatur verſchwindet, höchſtens daß einige allgemeine Phraſen über das Weſen der Entwährung die Ober - fläche berühren; erſt mit den dreißiger Jahren wird das anders, aber auch da gewinnt es nicht jene feſte Geſtalt, mit der wir ſeit 1848 zu thun haben. Es iſt klar, daß hier eine andere, größere Frage in An - regung iſt; ſie erſt wird zur wahren, definitiven Entlaſtung führen.

Dieſe Bewegung iſt nun keine andere als die der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung mit ihren beiden großen Prin - cipien der organiſchen Staatsgewalt und der Gleichheit und Freiheit aller Staatsbürger. Es iſt klar, daß das erſte unmöglich die Erb -203 gerichtsbarkeit anerkennen kann, und daß das zweite, die perſönliche Abhängigkeit des Einzelnen vom Einzelnen, wie ſie die Geſchlechter - ordnung an den Grundbeſitz gebunden hat, unbedingt vernichten muß. Allein die große Frage dieſer Zeit iſt der Weg und das Mittel, um zu dieſem Ziele zu gelangen. Dieſe aber beſtehen in der ſtaatsbürgerlichen Verfaſſung, welche das Geſetz als den organiſchen Geſammtwillen des Volkes anerkennt. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft fordert daher die Verfaſſung; die Verfaſſung das Staatsbürgerthum; das Staatsbürger - thum aber die Befreiung von der Abhängigkeit der Perſon und des Be - ſitzes des Einzelnen vom Einzelnen. Die Verfaſſung iſt daher die formelle Hauptſache, aber die Grundentlaſtung iſt ihre Verwirklichung für den Bauern. Und daher tritt von 1800 bis 1848 die Geſchichte der Grundentlaſtung gegen die der Verfaſſung in den Hintergrund, und wie auch dem Wandernden das Ziel oft eben dadurch unſichtbar wird, daß er ihm näher kommt, ſo ſehen in dieſer Zeit die meiſten Schriftſteller gar nicht, daß die Verfaſſung, nach der ſie ſtreben, doch zuletzt ohne Grund - entlaſtung keinen feſten Boden hat. Man redet wenig von ihr; man ſchiebt ſie zur Seite, aber ſo, wie man die großen Gedanken der Zukunft bei Seite ſchiebt, leiſe und ohne Kampf. Es iſt, als ob alle wüßten, daß die Formfrage erledigt werden müßte, bevor man zur Hauptſache übergeht. Und daher noch immer die Hoffnung der herrſchenden Klaſſe, die Befreiung der Beherrſchten zurückzuhalten, die Grundentlaſtung zu verſchieben oder unvollſtändig zu machen, daher die Unſicherheit der Regierungen, die noch allenthalben unter dem Druck dieſer herrſchenden Klaſſe ſtehen, in allem was ſie für die beherrſchte thut; daher das Fortbeſtehen der alten Namen und Verhältniſſe der bäuerlichen Un - freiheit trotz der Geſetze, die nicht ganz zur Ausführung gelangen, und doch zu viel geben, um unbeachtet zu bleiben; daher denn aber auch der ſtille Zorn des Landmannes, der ſeine Stellung und ihren Wider - ſpruch fühit, einen Widerſpruch, den die freien Städter nur noch empfind - licher machen gegenüber den noch Frohnen leiſtenden, der Erbgerichts - barkeit unterworfenen Bauern; daher die Macht des Liberalismus über das Landvolk; daher die Wahrheit und das tiefe Einſchneiden jenes Wor - tes, das für Deutſchland zuerſt in der Darſtellung des Socialismus und Communismus ausgeſprochen wurde: die nächſte Revolution wird eine ſociale ſein ; daher, und weſentlich nur daher die Gewalt, und darin und weſentlich nur darin das große und dauernde Ergebniß des Jahres 1848.

Betrachtet man nun den Gang der Entlaſtung vor 1848 von dieſem Standpunkt, ſo wird es wohl leicht verſtändlich, wenn wir ſagen, daß dieß ſpecielle Eingehen auf die einzelnen Beſtrebungen und Arbeiten für dieſelbe in Geſetz und Verwaltung nur einen Werth204 hat für die Territorialgeſchichte der einzelne Länder, denn es ſind das eben vereinzelte Vorverſuche für den definitiven Sieg der Neu - geſtaltung der deutſchen Geſellſchaftsordnung ſeit 1848. Wir übergehen ſie hier deßhalb, um ſo mehr als eine Erſchöpfung in der That nur in eigenen Arbeiten möglich iſt. Wohl aber dürfen wir bemerken, daß das einfache Zuſammenwerfen dieſer Erſcheinungen mit denen nach 1848 oder der eigentlichen Grundentlaſtung, die Vorſtellung als gäbe es hier keinen weſentlichen Unterſchied in den großen Stadien der Ent - wicklung bis zu unſerer Zeit, wie es namentlich bei dem ſonſt ſo acht - baren Judeich geſchieht, und ſelbſt bei Sugenheim, von den National - ökonomen wie Rau und Roſcher oder der Polizeiwiſſenſchaft zu ſchweigen, die überhaupt nur ein volkswirthſchaftliches oder polizeiliches Ereigniß in der Sache ſahen, eine einſeitige iſt. Daß auch die Hiſtoriographie, ſelbſt die Geſchichte des 19. Jahrhunderts von dem wahren und dauern - den Ergebniß des 19. Jahrhunderts ſo gut als gar nichts zu erzählen weiß, iſt nur einer von den Beweiſen dafür, daß, wenn Rechts - und Wiſſenſchaftslehre einſeitig ſind, die Geſchichtſchreibung wahrlich auf ihrem bisherigen Standpunkt der geiſtreichen Beobachtung nicht dazu angethan iſt, ihnen einen höheren Geſichtskreis zu verleihen. Doch hier liegen die Aufgaben der Zukunft der Wiſſenſchaft. Wir wenden uns der Vergangenheit des Lebens zu.

Trotz jener Unſicherheit der jungen, mit dem 19. Jahrhundert entſtehenden Staatsgewalt hat dennoch eben jene ſchwankende Bewegung für die Herſtellung der Freiheit des Bauernſtandes auf Einem Punkte ein ſehr feſtes und klares Moment; und der iſt es, der jene Bewegung ſelbſt lebendig erhält. Dieß Moment iſt das durch die franzöſiſchen Kriege und die franzöſiſche Vorherrſchaft erlangte, namentlich ſeit der Schlacht von Jena allen Denkenden feſtſtehende Bewußtſein, daß die Macht der Staaten weſentlich auf der Tüchtigkeit des Bauern - ſtandes beruhe. Mit der Unmöglichkeit, ſich dieſe alles überragende Thatſache zu läugnen, tritt die Unmöglichkeit ein, ſie in der Ver - waltung, namentlich in der wirthſchaftlichen, nicht mehr zu berück - ſichtigen. Die Befreiung des Bauernſtandes wird daher eine volks - wirthſchaftliche Aufgabe der Verwaltung. Zwar ſteht der Anfang der Befreiung, der große Gedanke Steins, viel höher, und es erſcheint bereits in dem contribuablen Bauernſtande das Staatsbürger - thum unſerer Gegenwart. Aber die quantitative Maſſe des Geiſtes der Regierungen folgt ihm nicht. Für ſie kommt es noch nicht darauf an, den Stand der Bauern, ſondern nur die Produktivkraft ſeines Beſitzes zu befreien. Die Grundentlaſtung iſt keine eigentliche Be - freiung des Bauern, ſondern nur eine Hebung ſeiner wirthſchaftlichen205 Verhältniſſe. Der Kampf der Regierungen geht daher auch nicht gegen das, wodurch die erſte, ſondern weſentlich nur gegen das, wodurch die zweite beſchränkt wird. Gewaltſame Bewegungen ändern das an mehreren Orten, allein nur in unvollkommener Weiſe; der beſchränkte Charakter des Ganzen bleibt allenthalben. Die ganze Literatur hält ſich auch, wie bereits dargeſtellt, weſentlich auf dieſem Standpunkt, und zwar bis unmittelbar vor 1848. Daß ihr eben deßhalb bei vielfach praktiſcher Nützlichkeit jeder höhere Schwung, jeder rechte Anklang im Volke fehlt, iſt leicht verſtändlich. Aus jenem ſpecifiſchen Charakter dieſer Epoche gehen nun auch die einzelnen Hauptmomente dieſer ganzen Richtung hervor, welche dem geſammten Entlaſtungsweſen bis 1848 zum Grunde liegen. Wir müſſen ſie ſpeciell bezeichnen, weil ſie erſt uns in den Stand ſetzen, den tiefen Unterſchied der ſogenannten vor - und nachmärzlichen Zeit klar zu machen.

Das erſte und weſentliche Moment iſt die Aufhebung der Leib - eigenſchaft, das iſt das ſachliche Gebundenſein des Bauern an ſeinen Grundbeſitz und die Herſtellung ſeiner perſönlich freien Bewegung. Das zweite eben ſo weſentlich iſt die Beſchränkung der wirthſchaft - lichen Rechte des Grundherrn, die Ordnung der Frohnden und Giebigkeiten. Allein weiter als bis zu der Gränze dieſer Beſtim - mungen geht keine Regierung. Denn an dieſer Gränze beginnt erſt das eigentliche Staatsbürgerthum, und mit ihm der Kampf der noch immer herrſchenden Klaſſe um ihre Stellung, das Bewußtſein, daß mit dem Ueberſchreiten derſelben eine ganz neue Ordnung der Dinge beginnt. Die Staatsidee ſteht noch keineswegs hoch genug, um ſich auf das vollkommene Staatsbürgerthum ſtützen zu können. Die Grundentlaſtung vor 1848 iſt in der That nur eine Beſchränkung der Willkür der Grundherren, nicht aber eine Befreiung der beherrſchten Klaſſe der Geſchlechterordnung. Und daraus folgen nun die übrigen Momente, welche dieſe Epoche charakteriſiren.

Das erſte dieſer Momente iſt zwar die Ablösbarkeit aller grund - herrlichen Laſten, aber nur als freies Uebereinkommen zwiſchen Herrn und Hinterſaßen, nicht als eine Pflicht für beide. Daraus folgen dann die einzelnen Grundſätze, welche dieſen Standpunkt charakteriſiren. Zuerſt greift der Staat in jenen Proceß nicht unmittelbar, ſondern höchſtens ordnend und regelnd ein durch ſeine Beamte; dann gibt er dem Bauernſtand zwar das Recht, das er im Grunde ſtets hatte, ſeine Laſten abzulöſen, aber nicht, was er nicht hatte und ſich nicht verſchaffen konnte, das Ablöſungskapital; es gibt noch keine Renten - bank; endlich, wo aus dieſem Grunde die Ablöſung nicht erfolgen kann, begnügt er ſich mit dem Uebergang der ungemeſſenen Frohnden in206 gemeſſene, und viele meinten, daß damit das Höchſte erreicht ſei. Allein auch in denjenigen Fällen, wo der Staat die Ablöſung vorſchreibt, läßt er ſie weſentlich durch dasjenige Organ vornehmen, welches das größte Intereſſe hat, ſie hinauszuſchieben oder geradezu zu verhindern, den Erbgerichtsherrn. So wird thatſächlich aus der Ablöſung ein nur im Einzelnen gelingender, im Ganzen aber mißlungener Verſuch. Auf allen denjenigen Punkten aber, wo es ſich nicht um Laſten und Leiſtun - gen, ſondern um andere Rechte aus dem alten Geſchlechternexus handelt, tritt auch nicht einmal die Ablösbarkeit ein, ſondern das Verhältniß bleibt geradezu unberührt. Dahin gehört namentlich der Lehnsnexus, den dieſe ganze Epoche mit dem unbeſtimmten Begriff und Inhalt des Obereigenthums beſtehen läßt, und zweitens die Reallaſten und Bannrechte aller Art, die in den meiſten Theilen Deutſchlands eben ſo ungeſchmälert fortbeſtehen, wie früher, und wie neben ihnen die ganze alte ſtändiſche Zunftverfaſſung. Das Geſammtergebniß iſt, daß nicht das bäuerliche Eigenthum, ſondern nur die Produktivkraft der bäuerlichen Wirthſchaften dem Gegenſtand der befreienden Thätigkeit dieſer Epoche bilden; und das charakteriſtiſche Merkmal dafür iſt das einfache Fortbeſtehen der Patrimonialgerichtsbarkeit.

Wenn das Verhältniß der Patrimonialgerichtsbarkeit bis zum Jahre 1848 einmal eine eingehende, an die frühere Rechtsordnung ſich anſchließende und den Geiſt des 19. Jahrhunderts verſtehende Dar - ſtellung finden wird, ſo wird man erkennen, weßhalb Deutſchland unter den großen Völkern Europas erſt jetzt den Rang einzunehmen beginnt, der ihm zukommt. Ein Land und Volk, das das Privateigen - thum an den wichtigſten Funktionen des inneren Staatslebens als ein unerſchütterliches Recht anerkannte, konnte freilich bei den Engländern und Franzoſen nur mit Spott und Mißachtung angeſehen werden. In der That iſt es nur hiſtoriſch aus den wunderbar verwirrten geſell - ſchaftlichen und ſtaatlichen Verhältniſſen Deutſchlands zu begreifen, daß man nicht eben abſolute, ſondern auch verfaſſungsmäßig ſcheinbar voll - ſtändig entwickelte Staaten fand, welche ohne alles Bedenken die ganze Patrimonialgerichtsbarkeit des 18. Jahrhunderts in ſich forttrugen. Und das Beachtenswertheſte iſt, daß die Hälfte aller Männer der Wiſſen - ſchaft in ernſthafteſter Weiſe über die Grundentlaſtung ſchreiben und ſprechen konnte, ohne auch nur zu ahnen, daß ſie ein ewig Unmög - liches bleiben müſſe, ſo lange der alte Grundherr noch Erbgerichtsherr blieb. Es iſt in der That etwas Naives in dieſer Erſcheinung, die ſich nicht bloß bei den Gelehrten der Volkswirthſchaft, ſondern ſelbſt bei den ſtrengſten Fachmännern, wie bei Thaer und Stüve, wiederholt. Wir müſſen leider ſagen, daß dieſe Patrimonialgerichtsbarkeit nicht nur207 bleibt, ſondern daß ſie in Princip und Ausführung ganz und gar auf dem Standpunkt des vorigen Jahrhunderts ſteht. Einen merkwürdigen Eindruck macht es, wenn man in unſerer Zeit den para - graphirten, ſonſt ſo hoch achtbaren Codex des deutſchen Staats - und Bundesrechts von Klüber (1. Auflage 1822, 4. 1840) mit dem vergleicht, was Fiſcher 1785 über die Erbgerichtsbarkeit a. a. O. ſagt. Da iſt dieſelbe bei dem erſteren wie bei dem letzteren eine dingliche Be - fugniß, die der Gerichtsherr im eigenen Namen, bei gehöriger Quali - fikation auch in Perſon verwaltet, als eigenthümliches, immerwährendes Vorrecht; ſie iſt (auch noch nach 1840) veräußerlich; begränzt wird ſie durch die höchſte Aufſicht; jedoch derjenigen Gerichtsbarkeit, welche dem Standesherrn zuſteht, ſind meiſt wieder enge Gränzen geſetzt (§. 368. 369). Den Patrimonialgerichtsherrn betrachtet man wie eine Art Orts - oder Unterobrigkeit, ſeine Dienſtherrſchaft als Gerichts - und Orts - polizeiherrſchaft (§. 370). Die Quellen für die Competenz, die Klüber ziemlich ausführlich mittheilt, ſind eben deßhalb ausſchließlich aus der Literatur des vorigen Jahrhunderts gebildet (ebd.). Da darf uns dann freilich die Klage Sugenheims (S. 473 474) nicht wundern, daß ſie es war, welche einen ſehr weſentlichen Theil der Schuld der Langſamkeit des Ablöſungsverfahrens trug; denn freilich konnte ſie ſich keinen Augenblick verhehlen, daß ſie ſelbſt durch die voll - zogene Ablöſung ſich ſelbſt unmöglich machte. Denn nur die beſchränkte rein nationalökonomiſche Anſicht konnte die naive Meinung erzeugen, die wir in den bedeutendſten Lehrbüchern wieder finden, daß es genüge, den wirthſchaftlichen Vortheil der Entlaſtung auch für den Grundherrn nachzuweiſen, um denſelben für die freiwillige Ablöſung zu beſtimmen. Welchen Werth für den Herrſchenden die Herrſchaft als ſolche hat, das freilich ließ ſich in keine volkswirthſchaftliche Berechnung aufnehmen. Aber betrachtet man die Verhältniſſe von dieſem allgemeinen Stand - punkt, ſo erklärt ſich nunmehr auch leicht die letzte Thatſache, daß nämlich Deutſchland es bis zu 1848 zu keiner rechten Gemeinde - verfaſſung, ja nicht einmal zu einem formalen Begriff der Gemeinde bringen konnte (vgl. Vollziehende Gewalt: Selbſtverwaltungskörper). In der That ſind Gemeinden ohne Eigenthum der Bauern gar nicht möglich; wie viel weniger bei dem Fortbeſtand der Patrimonialjuris - diktion! Und wie konnte der Gedanke der Selbſtverwaltung in einem Lande Raum finden, wo die Polizei und das Gericht nicht einmal dem Staate, geſchweige denn dem freien Staatsbürgerthum gehörte!

Ueberblickt man nun von dieſer Grundlage die Reſte der Ge - ſchlechterordnung in Deutſchland in der Zeit von 1800 bis 1848, ſo iſt es ganz unmöglich, ein vollſtändiges und für alle Theile genügendes208 Bild dieſer auf allen Punkten im Werden begriffenen Verhältniſſe zu geben. Denn in allen Staaten geſchah etwas, in keinem alles. Begriffe und Rechte dieſer Verhältniſſe, Namen und Vorſtellungen erſchienen wirklich als die ewige Krankheit des Dichters, und es muß genügen, einige wenige Andeutungen über den damaligen Zuſtand, den Charakter und die Bewegung der Entlaſtung hier mitzutheilen, indem wir die obigen Kategorien dabei zu Grunde legen.

Zuerſt muß man diejenige Gruppe ausſcheiden, welche bis zum Jahre 1848 für die Befreiung des Bauernſtandes von Staatswegen gar nichts gethan hat. Dahin gehören namentlich Oeſterreich und Mecklenburg. Oeſterreich iſt dann 1848 ſo entſchieden in die Bahn des Fortſchrittes hineingetreten, daß es den meiſten andern Staaten voran - ſteht. In Mecklenburg dagegen herrſcht noch gegenwärtig das alte Syſtem (Mecklenburg bei Sugenheim; Krünitz, Encyklopädie XVIII. 153 177).

Für die übrigen Staaten muß dann ferner die Zeit bis 1830 von der zweiten Epoche bis 1848 geſchieden werden. Im Allgemeinen iſt es zutreffend, wenn man ſagt, daß bis 1830 ſo ziemlich in allen deutſchen Bundesſtaaten die Leibeigenſchaft und die aus ihr her - vorgehenden Abgaben und Leiſtungen unentgeltlich aufgehoben werden, während die Grund - und Reallaſten in einigen Staaten der Ablöſung auf freiwilligem Wege beginnt, während ſie in andern nicht einmal verſucht wird, ſo daß der ganze Zuſtand ein höchſt ungleichartiger iſt, und nach allen Richtungen hin beſtätigt, was wir bereits erwähnt, daß der Charakter der großen Bewegung ein durchgreifend localer ge - weſen iſt. Daſſelbe gilt von den Ablöſungen und Gemeinheitsthei - lungen (ſ. ſpäter); das Jagdrecht dagegen bleibt ſo gut als ohne Ausnahme auf ſeinem feudalen Standpunkte beſtehen.

Dabei tritt nun ein großer Unterſchied zwiſchen den Verfaſſungs - ſtaaten des Südens, Preußen und den übrigen Mittel - und Klein - ſtaaten auf den erſten Blick hervor. Preußen geht allen deutſchen Staaten mit dem großartigen Princip ſeiner Geſetze von 1807 und 1811 voran, bleibt aber in der Ausführung ſo ſehr zurück, daß es ſelbſt nach 1848 keineswegs ſeine Grundentlaſtung zu einer völligen Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft erhoben hat. Die Verfaſſungs - ſtaaten ſind in ihrer Entwicklung untereinander ſehr verſchieden; Würt - temberg und Baden ſind am weiteſten voraus; Bayern bleibt gänzlich zurück, Heſſen bedarf des Stoßes von 1830. Die übrigen Staaten thun ſehr wenig; ſie ſtehen bis zum Jahre 1830 meiſt ganz ſtill und gehen dann ſehr vorſichtig weiter, bis erſt das Jahr 1848 Klarheit in Geſetzgebung und Verwaltung bringt. Alles das gilt nun ſowohl für die Laſten ſelbſt, als für die Patrimonialjurisdiktion. Hätten209 dieſe Einzelheiten irgend eine Wichtigkeit für das Geſammtleben der Nation, ſo würde es eine außerordentlich ſchwierige Aufgabe ſein, ſie genau zuſammenzuſtellen. Wir halten nur feſt, daß die Art der Be - handlung, welche Judeich eingeſchlagen, auch für das Ganze nicht ausreicht, während wir ihm im Einzelnen Vieles verdanken. Doch wun - dern wir uns billig über die Nichtberückſichtigung der Literatur, nament - lich des Werkes von Sugenheim.

Eine kurze Zuſammenſtellung der poſitiven Reſultate ergiebt fol - gendes Bild, bei dem wir erinnern, daß wir nicht im Stande waren, genaue Angaben über die Patrimonialgerichte allenthalben zu finden.

Preußen. Das Allgemeine Landrecht (1791) bleibt vollkom - men unentſchieden, indem es ſich darauf beſchränkt, den Namen der Leibeigenſchaft in den der Erbunterthänigkeit zu verwandeln und nur vorſchreibt, die Hofdienſte ſo viel als möglich in gemeſſene Frohnden umzuändern. Die Reſcripte vom 26. Mai 1795 und 18. Jan. 1796 beſtimmten nichts über die Quantität, ſondern nur über die Qualität der zuzumeſſenden Prügel an die Erbunterthänigen (Sugen - heim S. 414 und 415). Erſt Friedrich Wilhelm III. erklärt, den Bauern zu einem freien, ſelbſtändigen Staatsbürger machen zu wollen. Erſter Verſuch, 1799, die Ablöſung der Frohnden auf den Domainen. Weitere Anſtrengungen der Regierung 1802, 1805. Dann das ent - ſcheidende Edikt vom 8. Oktober 1807, welches das Unterthä - nigkeitsverhältniß überhaupt aufhebt, während alle Verbind - bindlichkeiten, die den bisher Unterthänigen als freien Leuten ver - möge des Beſitzes eines Grundſtücks oder vermöge eines Vertrages obliegen, in Kraft bleiben; doch regulirte die Verordnung vom 24. Oktober 1810 bereits die freiwillige Ablöſung. Jetzt war die Perſon frei, das Gut blieb unfrei; es war noch nicht einmal Eigen - thum. Da gab die Verordnung vom 27. Juli 1808 allen Do - mainen-Inſaſſen das volle und uneingeſchränkte Eigenthum un - entgeltlich, bis das entſcheidende Edikt vom 14. September 1811 allen, auch gutsherrlichen Bauern, dieß Eigenthum verlieh, mit dem Rechte auf Abfindung der Laſten durch Abtretung von Land oder durch eine Rente. Das war ein trefflicher Anfang; allein es mangelten die Hauptſachen: erſtlich blieb die Patrimonialgerichtsbarkeit mit dem Strafrecht für Polizeiübertretungen bis 14 Tagen Gefängniß oder 5 Thlr. Buße und die Leitung der Dorfangelegenheiten (Kamptz, Annalen Bd. 34, S. 346; ſpeciell v. d. Heyde, die Patrimonial - und Polizeigerichtsbarkeit, 5. Aufl. 1845; vgl. Sugenheim S. 471); zweitens das Lehnsrecht und Obereigenthum; drittens das Jagd - recht; viertens aber, was die Hauptſache war, war zwar die AblöſungStein, die Verwaltungslehre. VII. 14210geſtattet, jedoch ohne jede Staatshülfe. Daher blieb der ganze Fortſchritt in Preußen ein halber; der Adel behielt faſt ganz ſeine frühere Stellung; die folgenden Geſetze von 1821, 1829 und 1840 änderten an dem Grunde dieſer Verhältniſſe nichts (vgl. Judeich, Grundentlaſtung S. 36) und die Patrimonialgerichte machten das Durchgreifen der Ablöſungen ſo ſchwer als möglich. Dazu kam end - lich eine ſehr große, zum Theil principielle Verſchiedenheit in der Durchführung je nach den einzelnen Provinzen, wodurch nicht bloß die Ablöſung ſelbſt erſchwert, ſondern auch viel Unmuth durch Vergleichung der beſſer Geſtellten mit den Zurückgeſetzten hervorgebracht ward. Eine einfache Darſtellung wird dadurch ſo gut als unmöglich (vgl. Sugen - heim S. 486, 487, namentlich auch Weber, Handbuch der ſtaats - wirthſchaftlichen Statiſtik der preußiſchen Monarchie, 1840, S. 367). Daher denn die gewaltige Unzufriedenheit des Volkes in den vierziger Jahren; Preußen hatte viel für ſeinen Bauernſtand, aber wenig für deſſen Staatsbürgerthum gethan, und was das Schlimmſte war, es trug die Verantwortung dafür, daß auch die übrigen Staaten Deutſch - lands ſo weit als möglich hinter den Forderungen der Zeit zurück - blieben.

In den Verfaſſungsſtaaten zuerſt kam man auch nur zum Theil weiter. In Baden hob zwar die Verfaſſung von 1818 die Leib - eigenſchaft und die Laſten derſelben, gegen einen angemeſſenen Abkauffuß auf (§. 11) und eine Reihe von einzelnen Geſetzen, die mit 1820 begannen, beſeitigen ſtückweiſe die einzelnen Rechte der Geſchlechterherrſchaft; allein die wirkliche Ausführung dieſer Geſetze ließ ſo viel zu wünſchen übrig, daß die innere Staatsverfaſſung des Großherzogthums während Karl Friedrichs ( 10. Juni 1811) und ſeines Nachfolgers Karl ( 8. December 1818) Regierung zum Theil immer noch auf der Grundlage der Leibeigenſchaft eines großen Theiles der Einwohner fortberuhen ſo ſchreibt noch Pfiſter, Geſchichtliche Entwicklung des Staatsrechts des Großherzog - thums Baden, erſte Aufl. 1836, Bd. II. S. 12. (Vgl. dazu Sugen - heim S. 426.) Das wird wohl den gewaltigen Einfluß hinreichend erklären, den Rotteck und Welcker in dieſem verfaſſungsmäßigſten aller deutſchen Länder haben konnten. Erſt 1830 beginnt eine neue Bewegung, indem durch Geſetz vom 28. Mai 1831 und 28. De - cember 1831 alle Herren frohnden und erſt nach hartnäckigem Wider - ſtande des Adels durch ein Geſetz vom 15. November 1833 auch die ſeit 1819 vielfach beſprochenen Zehnten wirklich und zwar unter wirkſamer Beihülfe der Staatskaſſe ablösbar erklärt worden. Die Patrimonialgerichtsbarkeit war bereits durch Verordnung vom 1. Juni211 1813 aufgehoben (Klüber, Oeffentliches Recht §. 369). Die Geſchichte des Kampfes bis 1831 bei Rotteck, Geſchichte des badiſchen Landtags von 1831. Dennoch blieb eine große Anzahl von einzelnen Lehns - abgaben, die erſt nach 1848 fielen. Einzelne, nicht beherrſchte, An - gaben bei Judeich, S. 111 119. Immer war Baden bis 1848 in der erſten Linie der geſchlechterfreien Staaten.

Württembergs Geſchichte iſt in dieſer Beziehung ebenſo intereſſant, als Bayerns Geſchichte unintereſſant iſt. Kaum zeigt ſich irgendwo der eigenthümliche Kampf zwiſchen Staat und herrſchenden Geſchlechtern greifbarer, als in der Bauernbefreiungsfrage Württembergs; die Be - wegung von 1815 bis 1830 iſt in der That ein Stück Weltgeſchichte im Kleinen. Die mediatiſirten Standesherren wollen das Königthum und namentlich ſeine Regierungsrechte nicht anerkennen; das Königthum wird dadurch gezwungen, ſich auf das Volk zu ſtützen, namentlich auf den Bauernſtand. Das Edikt vom 18. November 1817 hebt die Leib - eigenſchaft unentgeltlich auf, was die Verfaſſung von 1819, §. 25 beſtätigt. Dagegen die heftigſte Oppoſition der Standesherren, die es bis zu einem förmlichen Bunde gegen den König bringt (Urkunde vom 12. December 1815, bei Sugenheim, S. 427). Zwar unter - liegt der Adel; allein bis zu einer zwingenden Maßregel zur Ablöſung der Grundlaſten kam es nicht, trotz der Verordnung vom 13. September 1818, obgleich die Patrimonialjurisdiktion bereits 1809 aufgehoben war. Auch hier gab nun die Revolution von 1830 der großen Unzufrieden - heit des halbfreien Bauernſtandes einen neuen Anſtoß. Die Regierung hatte ſich nach dem Erlaß der Verfaſſung im Weſentlichen mit der Grundherrlichkeit verſöhnt, und das Entlaſtungswerk ſtand von dieſem Augenblick an ſtill, ſo daß in Württemberg, wie faſt im ganzen übrigen Deutſchland der Bauer perſönlich frei, wirthſchaftlich aber unter ſeinen Frohnden, Beeden, Reallaſten und Lehnsrechten ungefähr eben ſo unfrei war, wie im Anfange des Jahrhunderts. Der Blick auf Baden und vielfach auch auf Frankreich ließ daher den Unmuth des Volkes wachſen, und die Regierung mußte nach 1830 nachgeben. So erſchienen die drei Geſetze vom 27., 28. und 29. Oktober 1836, von denen das erſtere eine Reihe von öffentlichen Grundlaſten ablöste, das zweite die grundherrlichen Frohnden auf Antrag der Pflichtigen unter Hülfe des Staates ablösbar erklärte, das dritte den Reſt der Leib - eigenſchaftslaſten gegen Entſchädigung beſeitigte. Allein die Reallaſten blieben (Judeich, S. 86. 87) und Mohl konnte noch in ſeiner Polizeiwiſſenſchaft II. 525 ſagen, daß bis jetzt (1846) nur eine Beſchränkung und Milderung der alten Laſten eingetreten ſei. Auch hier blieb daher der letzte Akt der geſellſchaftlichen Befreiung dem212 Jahre 1848 überlaſſen, trotz der offenbaren Unhaltbarkeit des doppel - gearteten Zuſtandes. In Bayern dagegen erſchöpfte die Regierung ihre Kraft mit der Aufhebung der Leibeigenſchaft durch Edikt vom 31. Auguſt 1808 und die Erklärung der Verfaſſung von 1818 (Tit. IV. 6), daß dieſelbe nebſt allen ihren Wirkungen ohne Entſchädigung aufge - hoben bleiben ſolle. Von einer Beſeitigung der Patrimonialjurisdiktion dagegen war keine Rede; hat doch noch Pözl ſie in ſeinem bayeriſchen Ver - faſſungsrecht bis auf den heutigen Tag neben der Staatsgerichtsbarkeit fortführen zu müſſen geglaubt. Die Verordnung vom 8. Februar 1825 ſowie die Verordnung vom 19. Juni 1832 erklärten im Grunde nur die Ablöſung für erlaubt, und das bayeriſche Staatsrecht jener Zeit wie das von Moy (II. 1. §. 108) enthielt das gemeine Recht der immer noch unerſchütterten wirthſchaftlichen Unfreiheit des Bauernthums. Dem - nach blieben auch die übrigen Staaten eben ſo weit zurück; viele bis 1830 noch viel weiter. Es klingt in unſeren Tagen faſt unglaublich, daß erſt die Bewegung von 1830 in einem großen Theile Deutſchlands die Leibeigenſchaft beſeitigte. So hat Kurheſſen erſt durch ſeine Verfaſſung vom 5. Januar 1831 die Leibeigenſchaft aufgehoben; noch bis 1830 mußte ſich dort der Bauer freikaufen! (Sugenheim, S. 450 452 war doch hier den Söhnen der Bauern und Bürger bis dahin das Studiren verboten!) Zugleich wurden einige der ver - haßteſten Frohnden und Dienſte ſogleich aufgehoben, andere in gemeſſene umgewandelt, und mit Geſetz vom 23. Juni 1832 die Ablösbarkeit überhaupt ausgeſprochen, ohne daß der Staat ſich der Sache weiter angenommen hätte (Judeich S. 97 99). Im Großherzogthum Heſſen war die Leibeigenſchaft allerdings bereits durch die Verfaſſung vom 17. December (Art. 25) beſeitigt, die ungemeſſenen Frohnden durch Art. 26 abgeſchafft; die Frohnden konnten in Renten verwandelt werden, blieben jedoch als Reallaſt; nur die Jagdfrohnden ſchaffte man unentgeltlich ab. Erſt das Geſetz vom 27. Juni 1836 organiſirte die Ablösbarkeit aller Reallaſten, aber die Patrimonialgerichtsbarkeit blieb, ſo wie die meiſten Vorrechte der Standesherren. Im Königreich Sachſen iſt die Leibeigenſchaft nie durch ein förmliches Geſetz auf - gehoben, daher ſie auch noch in einigen Theilen bis 1830 beſtand (Sugenheim, S. 450); dagegen hat Sachſen die Ablöſungsgeſetzgebung mit den Mandaten von 1824, 1828 und vom 13. Auguſt 1830 be - gonnen, die jedoch dieſelbe nicht zur Pflicht machten, ſondern nur die freiwillige Ablöſung befördern ſollten. Erſt das Geſetz vom 17. März 1832 führte eine theilweiſe gezwungene Befreiung des Bauernſtandes von Dienſten und Leiſtungen ein, zunächſt derjenigen, welche aus dem obſolet gewordenen Leibeigenſchaftsverhältniſſe herrührte; allein von213 einer eigentlichen Herſtellung eines freien Eigenthums war auch hier bis 1848 um ſo weniger die Rede, als man die Patrimonialgerichts - barkeit bis 1856 faſt unangetaſtet ließ (Judeich S. 61, Sugenheim S. 450). Im Königreich Hannover hatte man ſeit 1800 gar nichts geändert und gebeſſert. Die nordalbingiſchen Länder waren überhaupt in einem etwas andern Verhältniß als die übrigen Theile Deutſch - lands; hier fehlte einerſeits das bewegende Element des Stadtbürger - thums, das freie des gewerblichen Kapitals, und der Bauer ſtand faſt allein dem Gutsherrn gegenüber. Wie daher überhaupt jede Bewegung, der Fortſchritt wie der Rückſchritt in jenen Gebieten ſehr langſam vor ſich geht, ſo auch die der Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft. Daß Mecklenburg noch in dieſem Augenblick das letzte Stück Mittel - alter iſt, welches wir in Deutſchland beſitzen, iſt bereits erwähnt. Hannover ſeinerſeits pflanzte die alte Hörigkeit, die Zwangsdienſte, die Frohnden in unerſchütterter Ruhe fort bis zum Jahre 1830; es konnte ſich beinahe mit Mecklenburg meſſen. Erſt der Stoß jener Re - volution auf die ganze unfreie Geſchlechterordnung Deutſchlands traf auch Hannover (vgl. Sugenheim, S. 444 450). Das Geſetz vom 10. November 1830 hob auch hier erſt die Leibeigenſchaft auf, und zwar ohne Entſchädigung; das Geſetz vom 23. Juli 1833 erklärte dann die Grundlaſten für ablösbar, jedoch unter den zwei entſcheidenden Be - dingungen, daß erſtlich nur der Verpflichtete auf Ablöſung antragen dürfe und zweitens, daß alle Erbpachtsverhältniſſe nur gegen Kapital - zahlung ablösbar ſein ſollten. Gerade das machte den praktiſchen Er - folg ſehr unbedeutend, um ſo mehr als die Patrimonialgerichtsbarkeit unerſchüttert beſtehen blieb; doch hat Hannover bereits 1840 (Verord - nung vom 8. September) eine Staatskreditanſtalt für die Ablöſung gegründet, welche durch Verordnung vom 18. Juni 1842 zur Landes - kreditanſtalt erhoben wurde (Judeich S. 51 58. Bening, die hannoveriſche Landeskreditanſtalt in Rau und Hanſens Archiv Bd. IX. S. 273 302. 1851.) Aehnlich blieb in Oldenburg die Patrimonial - gerichtsbarkeit; doch war das Verhältniß Oldenburgs überhaupt viel beſſer als dasjenige Hannovers, da hier der Bauernſtand durch den 30jährigen Krieg ſo gut als gar nicht gelitten hatte, und daher die Um - wandlung der alten Hörigkeit bereits 1694 in eine höchſt mäßige Rente ziemlich vollſtändig durchgeführt war; die letzten Reſte der alten Laſten wurden 1820 ziemlich gründlich beſeitigt; hier blieb dem Jahre 1848 daher nur wenig zu thun übrig (Sugenheim, S. 442 nebſt Literatur). In ganz gleichem Verhältniß war Schleswig-Holſtein, und zwar nur für die Mitte und öſtliche Hälfte des Landes, während der Weſten mit ſeinen urfreien Marſchen der Frieſen und Marſen niemals unter214 Adelsherrſchaft geſtanden, den Typus des alten, ſtolzen, freien Bauern darboten. Was endlich die Mitte Deutſchlands betrifft, namentlich die ſächſiſchen Herzogthümer aller Art, ſo ſtanden ſie im Großen und Ganzen auf dem Standpunkt des Königreichs. Bis 1830 werden zwar alle Laſten ablösbar erklärt (Sachſen-Weimar-Eiſenach, Geſetz vom 2. März und 11. Mai 1821; Sachſen-Coburg-Gotha, Verfaſſung von 1821 §. 17); allein erſt die Zeit nach 1830 griff tiefer hinein. Zwar drang die Regierung in Sachſen-Weimar gegen den Adel nicht durch (Judeich, S. 132); in Sachſen-Coburg-Gotha dagegen erſchien das dem ſächſiſchen Geſetze nachgebildete Geſetz vom 16. Auguſt 1835, in Sachſen-Meiningen das Geſetz vom 23. März 1846, in Sachſen - Altenburg erkannte das Grundgeſetz vom 29. April 1831 ſogar alle die Freiheit der Perſon oder des Eigenthums beſchränkenden Zwangs - verhältniſſe ablösbar; wie weit das wirklich Effekt hatte, können wir nicht ſagen (Judeich, S. 132 ff.). Am weiteſten gedieh die Entwick - lung in Braunſchweig, wo ſich bekanntlich die franzöſiſche Revolution im Kleinen wiederholte, wie in Württemberg der Kampf und die Ent - wicklung des organiſchen Königthums. Hier wurden durch die neue Land - ſchaftsordnung vom 12. Oktober 1832 alle Reallaſten für ablösbar (§. 36), und alle Lehen für aufgehoben erklärt (§. 37); unter jenen der Rottzehent ſogar ohne Entſchädigung. Die genaueren Beſtimmungen enthält die Ablöſungsordnung vom 20. December 1834, mit Ergänzung vom 29. Juli 1837 und 14. Mai 1840. Indeſſen gelang es der herr - ſchenden Klaſſe dennoch, einige Reallaſten darunter für nicht ablösbar zu erklären, namentlich gewiſſe Bannrechte. Auch das Jagdrecht blieb; dagegen führte man nach dem Vorbild Hannovers das Landeskredit - inſtitut zugleich mit der Ablöſungsordnung vom 20. December 1834 ein und bildete daſſelbe weiter aus (Geſetz vom 13. November 1837 und 7. März 1842. Judeich, S. 175 179). Ueber die kleineren Bundesſtaaten, in denen dieſelben Grundverhältniſſe herrſchen, vergl. Judeich, S. 183 223.

Faßt man nun das bisher Dargeſtellte in ſeinem Verhältniß zu den elementaren Grundkräften der Geſchichte des 19. Jahrhunderts zuſammen, ſo iſt bei aller oft unüberſehbaren Verwirrung im Einzelnen das Geſammtergebniß klar. Die Idee des Staatsbürgerthums iſt nicht mehr eine vage Abſtraktion der Freiheit, ſondern ſie hat ſich mit be - ſtimmten Forderungen erfüllt. Dieſe nun laſſen ſich ihrerſeits auf zwei feſte Kategorien zurückführen. Einerſeits will dieß Staatsbürgerthum ſeinen organiſchen Antheil an der Bildung der Geſetze, es will eine Verfaſſung; andererſeits will es den Einzelnen von ſeiner Abhängigkeit von dem andern Einzelnen befreien, es will die Entlaſtung. Das erſte215 iſt nicht möglich ohne einen weſentlich andern Begriff vom Staate; der Staat und ſeine Regierung ſollen nicht mehr außerhalb und als anders geartete Gewalten über dem Volke ſtehen, ſondern ein lebendiger Theil des organiſchen Volkslebens ſein; und es iſt klar, daß dieſer tiefe Grundzug in der ſtaatlichen Auffaſſung unſeres Jahrhunderts den Reſten der Staatsidee des vorigen tödtlich feind ſein mußte. Das zweite aber iſt nicht möglich, auch als Forderung nicht, ohne eine eben ſo gründlich geänderte Auffaſſung der Geſellſchaftsordnung und mithin ihres Rechts. In der Geſchlechterordnung ſowie in der mit ihr verbundenen ſtändiſchen Ordnung ſteht eigentlich nirgends ein Herr einem Diener und Knecht gegenüber, ſondern vielmehr ein herrſchender Körper der adelige Stand, die ſtändiſche Körper - ſchaft der beherrſchten geſchlechter - und ſtandesloſen Maſſe; jeder Herr iſt nur Herr als Mitglied dieſes Standes, dieſer Körperſchaft; er iſt nicht in ſeinem Recht, ſondern er iſt in dem Recht ſeines Ge - ſchlechts, ſeines ſtändiſchen Berufs. Eine Aenderung dieſer Herrſchaft über die beherrſchte Klaſſe iſt daher nicht etwa eine einfache Entwährung von Rechten, ſondern geradezu eine Aufhebung des ganzen geſellſchaft - lichen Grundgedankens; ſie iſt nur möglich durch eine andere Idee der Geſellſchaft ſelbſt. Und dieſe iſt es, welche ſich in der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts vollzieht. Die Herrſchaft des Grundgedankens der Geſchlechterordnung iſt es, welche die franzöſiſche Revolution auch für Deutſchland gebrochen hat. Die Idee der Gleichheit bedeutet für das wirkliche Leben Deutſchlands niemals die franzöſiſche Egalité, ſondern vielmehr die Aufhebung der Berechtigung der Geſchlechter als Ganzen auf eine herrſchende Stellung, die Gleichſtellung der einzelnen Glieder der Geſchlechterherren mit jedem Gliede der beherrſchten Klaſſe. Das ſagt man ſich nicht in dieſer Weiſe, aber man fühlt und weiß es darum nicht weniger; die größten hiſtoriſchen Wahrheiten fordern oft am wenigſten die wiſſenſchaftliche Formulirung, um zu gelten. Der Punkt aber, wo man das Daſein jener Auffaſſung am greifbarſten erkennt, iſt eben das Verhältniß zwiſchen Grundherrn und Hörigen. Die Grundlaſt aller Art hat durch jene Idee ihren Charakter geändert. Sie erſcheint nicht mehr als eine Unterwerfung einer niederern Klaſſe unter eine höhere, ſondern als eine Unterwerfung eines Einzelnen unter einen andern Einzelnen. Der Grundherr iſt ein Individuum ge - worden. Und das iſt der Widerſpruch. Kann ein Einzelner einem Einzelnen unterworfen ſein? Und kann er es nicht, ſo muß die Form, in welcher jene Unterwerfung noch fortdauert, aufgehoben werden. Sie muß es für das perſönliche Recht, und ſo entſteht die Aufhebung der Leibeigenſchaft; ſie muß es aber auch für das wirthſchaftliche Leben,216 und ſo entſteht die Beſeitigung der Reallaſten. Beide Gedanken ſind daher die einfachen, aber nothwendigen Conſequenzen des Verſchwindens der Geſchlechterordnung; in ihnen vollzieht ſich dieſelbe. Aber das Organ, durch welches ſie ſich vollzieht, iſt der Staat. Der Staat aber und ſeine Gewalt ſind noch in den Händen der Geſchlechter. Jetzt ent - ſteht eine wunderbare Erſcheinung, wunderbar, obgleich ſie ſich ſo oft wiederholt. Der Staat ſelbſt entwickelt ein Doppelleben. Die höhere, reine Staatsidee tritt auf in den Geſetzen. Die Geſetze wollen und befehlen die Aufhebung der Leibeigenſchaft, die Ablöſung der Grundlaſten. Allein die herrſchenden Elemente der Geſellſchaft be - ſitzen und dirigiren die vollziehende Gewalt, theils in den Aemtern, theils in der Erbgerichtsbarkeit. Dieſe nun ſind zwar unvermögend, das Geſetz zu beſeitigen; aber ſie vermögen ſeine Verwirklichung zu hindern. So ſtockt alles, weil das, was die Deutſchen ihre Verfaſſung nannten, nur die Ordnung der geſetzgebenden und nicht die der voll - ziehenden Gewalt iſt. Dennoch arbeitet die große Idee der ſtaats - bürgerlichen Geſellſchaft weiter; auch jenes Hemmniß in der Vollziehung wird untergraben, zerbröckelt, überwunden. Die Geſchlechter, die Grund - herren vom mediatiſirten Reichsſtand bis zum kleinſten Gutsherrn er - kennen daher die Gefahr. Das Gemeingefühl ihrer geſellſchaftlichen Stellung wird ihnen lebendig. Sie erheben ſich zum Kampfe gegen ihren gefährlichſten Feind. Der iſt nicht in den Städten, nicht in der Wiſſenſchaft, nicht in der Preſſe. Er iſt in der Forderung des Bauernſtandes nach Gleichheit der ſocialen Stellung. Was ſind ſie, die Herren, wenn ſie keine Dienſte, keine Hörigen, keine Reallaſten, keine Patrimonialgerichtsbarkeit haben? Sie ſind nichts als Groß - grundbeſitzer. Der qualitative, der geſellſchaftliche Unterſchied iſt hin, der quantitative, der wirthſchaftliche bleibt allein. Iſt nun Reich - thum Herrſchaft? So wenig wie Brod Wein iſt. Daher gilt es das Aeußerſte. Seit 1815 folgen ſich die nachdrücklichſten Verſuche des Adels, ſeine geheiligten Rechte durch das Königthum zu bewahren. Allein das iſt nun umſonſt. Auch dießmal iſt die Zeit mächtiger als die, welche in ihr leben. Die Geſetze, welche die Leibeigenſchaft auf - heben und die Ablösbarkeit einführen, treten mit elementarer Gewalt auf. Da geſchieht ein Anderes. Die herrſchende Klaſſe muß das Princip der Gleichheit annehmen. Allein ſie nimmt es an, indem ſie die geſellſchaftliche Frage nach der Geſchlechterherrſchaft in die privat - rechtliche des Eigenthums hinüber trägt. Iſt einmal das Recht des Herrn kein Geſchlechterrecht mehr, nun gut, ſo iſt es ein Privatrecht, und Privatrechte ſind nur unter Zuſtimmung der Betheiligten zu ändern. So wird zwar die Ablöſung ausgeſprochen, aber auf die217 Vereinbarung der Pflichtigen und Berechtigten angewieſen. Das iſt der Kern des Standpunktes der erſten Hälfte dieſes Jahrhunderts; es iſt die freie Grundentlaſtung. Und iſt ſie denn nicht ausreichend? Wird nicht der wirthſchaftliche Vortheil den Werth des geſellſchaft - lichen Unterſchiedes aufwiegen? So dachten viele; die meiſten nicht. Denn der Widerſpruch, der auch in dieſer vereinbarten Entlaſtung fort - lebte, iſt klar genug. Iſt einmal die wirthſchaftliche Freiheit ein weſentliches Element der neuen Geſellſchaftsordnung, ſo darf und kann ſie nicht von dem Ermeſſen des Einzelnen, nicht von ſeiner Anſicht über Vortheil und Schaden abhängen. Wer Herr darüber iſt, ob die Entlaſtung vor ſich gehen ſoll, iſt auch Herr über alle, die nicht ent - laſtet ſind. Die vereinbarte Entlaſtung iſt daher im Widerſpruch mit dem Princip der Entlaſtung ſelbſt; die Geſchlechterherrſchaft iſt in ihr dem Grundſatz nach anerkannt, und ſoll der Thatſache nach von Fall zu Fall aufgehoben ſein. Das iſt auf die Dauer nicht möglich. Um ſo weniger, als die übrigen Elemente der Geſchlechterherrſchaft eben deßhalb von jenem Princip theils gar nicht, theils nur halb beſeitigt werden. Es bleibt in den meiſten Staaten das Lehnsweſen, es bleiben viele Reallaſten, es bleiben Bannrechte, es bleiben Jagd - rechte, es bleibt vor allem die Patrimonialgerichtsbarkeit; es bleibt daher die Geſchlechterordnung, aber mitten in ihr lebt die ſtaatsbürger - liche Geſellſchaft. Iſt das für die Dauer möglich? Nein. Und ſo be - reitet ſich in den vierziger Jahren jene Gährung vor, die mit der Revo - lution von 1848 zum Ausbruch kommt. Der Inhalt dieſer Revolution aber iſt jetzt klar. Sie iſt die Herſtellung des vollen ſtaatsbürgerlichen Eigenthums an Grund und Boden, der letzte Akt in der hiſtoriſchen Bewältigung der alten Geſchlechterordnung. Und dieſen haben wir jetzt zu charakteriſiren.

3) Die eigentliche Grundentlaſtung ſeit 1848.

Was nun ſeit 1848 in dieſer wichtigſten aller deutſchen Fragen ge - ſchehen iſt, läßt ſich, denken wir, nunmehr ſehr kurz charakteriſiren. Auch dabei können wir jetzt unbedenklich wiederholen, daß das Einzelne nur einen localen Werth hat, und daher der Geſchichte der einzelnen Terri - torien Deutſchlands anheimfällt. Die Aufgabe der Verwaltungslehre hört auch hier auf dem Punkte auf, wo die der Geſetzeskunde anfängt. Jener gehört der Geiſt, der das Geſetz erzeugte, dieſer die Entwicklung des erzeugten in ſeiner Verwirklichung.

Die Bewegungen des Jahres 1848 haben im Großen und Ganzen nur Eine dauernde Thatſache hinterlaſſen. Das iſt die Herſtellung des218 vollen individuellen Eigenthums am Grund und Boden, und die defini - tive Beſeitigung des Geſchlechtereigenthums und ſeiner Rechte. Die Geſchlechter ſind damit ſeit 1848 das, was ſie ſein ſollen, große hiſtoriſche ſociale Thatſachen im geſellſchaftlichen und ſtaatlichen Leben, aber nicht mehr geſellſchaftliche Rechtskörper. Die letzte Voll - ziehung dieſes Gedankens iſt die eigentliche Grundentlaſtung. Mit ihr geht die alte Geſchlechterordnung zu Grunde. Und neben dieſem Unter - gang ſteht ein zweiter; das iſt der der ſtändiſchen Ordnung. Was die Grundentlaſtung für den Grundbeſitz, das iſt die Gewerbefreiheit für den gewerblichen Erwerb. Ein letzter Akt in dieſer großen Bewegung ſteht noch bevor; es iſt die Beſeitigung der ſtändiſchen Kirche. Doch das iſt ein Gebiet, das uns hier ferner liegt. Wir ſind noch nicht weit genug, um darüber ohne Vorurtheil nachdenken zu können. Die Grund - entlaſtung aber geht voran, wie die Geſchlechterordnung der ſtändiſchen. Die Zukunft gehört dem Princip des Staatsbürgerthums; aber auch dieſes Princip iſt nicht der Abſchluß der Geſchichte, denn es iſt mit ſeinem tödtlichen Feinde, der Idee der ſocialen Bewegung, zugleich groß geworden. Wir aber müſſen hier bei jenem ſtehen bleiben.

In jenem großen Proceß der endgültigen Herſtellung des freien individuellen Eigenthums an der Stelle des unfreien Geſchlechtereigen - thums tritt uns nun wieder der eigenthümliche Charakter Deutſchlands in ſchlagender Weiſe entgegen. In Deutſchland iſt das Volksbewußt - ſein ein gleichartiges und einheitliches Ganze, das Staatsleben dagegen ein verſchiedenes und beſondertes. Die Principien gelten daher ſtets, und ſo auch für die Entlaſtung, gleichmäßig für alle, aber die Geſetze, durch welche ſie werwirklicht werden, ſind weder gleich durchgreifend, noch auch gleichzeitig. Und dabei werden hier, wie immer, die letzteren durch die erſteren überragt; es iſt ein tiefer Charakterzug des deutſchen Lebens, daß eben dadurch das wirklich geltende Recht ſtets hinter den Ideen zurückbleibt, welche im Volke leben. Dafür aber hat die Wiſſenſchaft die nie erſchöpfte Aufgabe, dieſen Widerſtreit auszugleichen; das iſt von jeher die praktiſche Aufgabe der letzteren geweſen und wird es bleiben.

Jene allgemeinen Grundſätze der Grundentlaſtung ſeit 1848 ſind ihrem tiefern Weſen nach von denen der erſten Hälfte unſeres Jahr - hunderts eben ſo ſehr verſchieden, wie die Geſchlechterordnung von der ſtaatsbürgerlichen. Es handelt ſich dabei nicht um einen Fortſchritt von dem Einen zum Andern, ſondern vielmehr um eine ganz neue Grundlage der Entwicklung. Die Geſetze ſeit 1848 haben nicht etwa ausgeführt, was die früheren nicht vermocht, ſondern ſie haben etwas feſtgeſtellt, was die früheren gar nicht gewollt. Während die bisher219 dargelegte Bewegung im Grunde nur die Geſchlechterrechte ſo weit beſeitigen wollte, als ſie der Entwicklung des bäuerlichen Wohl - ſtandes entgegenſtanden, und da aufhörte, wo dieſe aufhörte eine Frage zu ſein, handelt es ſich um das volle und unbeſchränkte Eigen - thum. Während daher die Geſetze vor 1848 des volkswirthſchaftlichen Beweiſes bedürfen, und ihn ſuchen und finden, daß die möglichſte Frei - heit des Bauernſtandes das Nützlichſte für die Geſammtheit ſei, ſtehen die Geſetze nach 1848 auf dem Standpunkt, daß dieſe Freiheit an und für ſich als nothwendig erkannt werden müſſe. Während deß - halb endlich der Schwerpunkt der Ablöſung vor 1848 in der Verein - barung liegt, liegt er ſeit 1848 in dem Willen des Staats, dem Geſetze. Der Bruch mit der früheren Epoche iſt ein principieller; und jetzt erſt kann daher auch aus dieſer Befreiung des Bauernſtandes erſt die Selbſt - verwaltung hervorgehen. Daher ferner wird das Volksbewußtſein Deutſchlands erſt ſeit dieſer Zeit für jenen Begriff empfänglich; daher die charakteriſtiſche Erſcheinung, daß jetzt erſt die Zuſtände Englands ſtudirt, das Intereſſe an der Vergleichung mit den übrigen Völkern ein lebendiges wird; denn jetzt erſt fühlt ſich Deutſchland dieſen ſeinen Nachbarn ebenbürtig. Und von dieſem Standpunkt muß das Princip der vollen Grundentlaſtung aufgefaßt werden.

Darnach nun ergeben ſich die ſeit 1848 für dieſe eigentliche Grund - entlaſtung geltenden allgemeinen Principien zugleich als Baſis für die Vergleichung der betreffenden Geſetzgebungen in folgender Weiſe.

Zuerſt iſt die Entlaſtung nicht mehr ein Recht der Betheiligten, ſondern ſie iſt eine geſetzliche Pflicht. Sie muß ſtattfinden. Aller - dings hat die freie Vereinbarung über die Modalitäten den Vorrang; allein die Entlaſtung ſelbſt iſt nicht von ihr abhängig; ſondern wenn jene nicht ſtattfindet, tritt die geſetzliche ſelbſtthätig ein. Dieſer Grundſatz bildet den Ausgangspunkt für eine Reihe anderer Beſtimmungen, welche nur als die Conſequenzen deſſelben angeſehen werden müſſen. Zuerſt folgt daraus die Aufſtellung eines eigenen amtlichen Organes mit beſtimmten Inſtruktionen für ſeine Thätigkeit; zu dieſer gehört denn auch die Prüfung, eventuell Beſtätigung der etwa vereinbarten Ver - träge. Zweitens wird das Verfahren dabei ein möglichſt kurzes und billiges ſein. Drittens können etwaige Rechtsanſprüche Dritter (wie Pfandrechte und dingliche Servituten) den Proceß der Entlaſtung nicht hindern; nur werden ihre Anſprüche ſicher geſtellt. Viertens aber, und das iſt das Entſcheidende, erkennt der Staat die Nothwendigkeit der Entlaſtung weſentlich dadurch an, daß er den Verpflichteten die nöthigen Kapitalien in irgend einer Form darleiht, ſo daß die - ſelbe nicht mehr, wie meiſtens vor 1848, von dem Kapitalbeſitze220 der meiſt unvermögenden Bauern abhängt, ſondern ein auf der ge - ſteigerten Produktivkraft baſirtes Kreditſyſtem hergeſtellt wird, das unter verſchiedenen Namen (Landeskreditanſtalt, Rentenbank, Grund - entlaſtungsfonds) die Entſchädigungsſumme zu einer öffentlichen Schuld macht, aber die Verzinſung und Rückzahlung dieſer Schuld auf die ent - laſteten Grundſtücke legt. Erſt dadurch wird die Grundentlaſtung zu einer Entwährung im obigen Sinne, und erſt dadurch gewinnt ſie jenen organiſchen Charakter, der Deutſchlands Entlaſtungsweſen auszeichnet. Sie hat gerade durch dieſe Entlaſtungskreditinſtitute nicht den revolu - tionären Willen der Betheiligten, ſondern die Arbeit der Befreiten zum Grunde gelegt, und das iſt ihr weſentlichſter Unterſchied von dem Entlaſtungsweſen Englands und Frankreichs. Fünftens endlich ſind zwar diejenigen Laſten, welche den Charakter von Naturalſteuern haben, von der Ablöſung ausgeſchloſſen, wie die Leiſtungen für Kirchen, Schulen, Wege u. a. m.; allein alle verſtändigen Regierungen arbeiten kräftig dahin, auch an die Stelle dieſer Naturalleiſtungen die rationellen Geld - leiſtungen zu ſetzen, in dem mehr oder weniger klaren Gefühl, daß eine tüchtige Selbſtverwaltung erſt dann möglich iſt, wenn alle Natural - leiſtungen in Geldleiſtungen umgewandelt ſein werden.

In dieſen Punkten iſt nun das Verhältniß des Staats zur Grund - entlaſtung gegeben. Die folgenden enthalten das Verhältniß deſſelben zum ſtaatsbürgerlichen Eigenthumsrecht.

Dieß Verhältniß beruht nun auf dem allgemeinen Grundſatz, daß gar keine aus der Geſchlechterordnung ſtammende Laſt auf dem Grunde und Boden fortdauern, ſondern daß derſelbe von jetzt an ein vollkommen freies Kapital ſein ſoll. Daraus gehen wieder gewiſſe Conſequenzen hervor, die ihrerſeits nur durch die Grundformen der Geſchlechterordnung ſelbſt recht verſtändlich werden. Zuerſt werden nämlich alle Laſten und Beſchränkungen des Eigenthums aufgehoben, und zwar in der Weiſe, daß die Gemeinheitstheilungen und Ablöſungen grundſätzlich durchgeführt werden (ſ. unten), zweitens daß alle gutsherrlichen Real - laſten beſeitigt werden, zunächſt alle Dienſte und Frohnden, dann die aus dem Obereigenthum ſtammenden Giebigkeiten und Rechte, deren Grundlage das Unterthansverhältniß iſt. Drittens daß in manchen Staaten erſt ſpät auch die Idee und die praktiſchen Conſequenzen des ſtaatlichen Obereigenthums, und mit ihnen Begriff und praktiſche Bedeutung des Lehnsverhältniſſes aufgehoben werden. Endlich aber drückt ſich das eigentliche Princip der vollen Grundentlaſtung vier - tens am klarſten darin aus, daß alle derartige Laſten niemals wieder als unablösbare hergeſtellt werden dürfen, damit nicht vermöge des Kapitalverkehrs und vielleicht vermöge der Noth der vertragsmäßige221 Wille des Einzelnen für Grund und Boden Rechtsverhältniſſe erſchaffe, welche ſpäter dem Einzelwillen nicht mehr unterworfen, und daher unfrei ſind. Vereinzelte Ausnahmen in Hannover (nach Geſetz vom 23. Juli 1833), Naſſau (Geſetz vom 18. Juni 1853) und Anhalt - Bernburg (Geſetz vom 31. Auguſt 1859. Vgl. Judeich S. 7). Das ſind die elementaren Beſtimmungen für die künftige ſtaatsbürger - liche Freiheit des Grundbeſitzes.

Daran ſchließen ſich nun als dritter Theil der vollen Grundent - laſtung die Grundſätze für die Entſchädigung. Und hier iſt aller - dings die Uebereinſtimmung nicht vorhanden, welche in Beziehung auf die Aufhebung jener Rechte allgemein feſtſteht. Dennoch geht durch das Entſchädigungsrecht ein gemeinſamer Grundgedanke hindurch, von dem die Abweichungen als Ausnahmen betrachtet werden müſſen.

Dieſer Grundgedanke iſt die Unterſcheidung zwiſchen denjenigen Laſten, für welche die Entſchädigung ausgeſchloſſen iſt, und den - jenigen, für welche ſie geleiſtet werden muß; ſo daß, ſtreng genom - men, nur die letzteren der Lehre von der Entwährung angehören.

Allerdings nun iſt, da die Entſchädigungsfrage bereits durch die Geſetze entſchieden iſt, dieſe Frage nicht eine unmittelbar praktiſche. Dennoch ſind ihre Conſequenzen ſo bedeutſamer Natur, daß wir ſie einen Augenblick berückſichtigen müſſen.

Offenbar nämlich ſcheint die Aufhebung eines Rechtes, das einen wirthſchaftlichen Ertrag hat, ohne Entſchädigung mit dem Weſen des Eigenthums im Widerſpruche zu ſtehen; und nur wenn man von dieſem einfachen Standpunkt ausgeht, läßt es ſich erklären, wenn ſelbſt in unſerer Zeit, wie früher von Stahl, Rechtsphiloſophie II. S. 336 und 538 ff., in neueſter Zeit von Roſcher (ſ. oben) die Entſchädigung unbedingt gefordert wird. Die frühere Literatur iſt über die Ent - ſchädigungsfrage höchſt einſeitig. Die ganze Reihe von Schriftſtellern über die Agrarverfaſſung ſeit der Mitte des vorigen Jahrhunderts be - ſchäftigt ſich überhaupt nicht damit, ob die Entſchädigung eine Gränze haben ſolle oder nicht, ſondern nur damit, wie ſie am zweckmäßigſten hergeſtellt werden könne. Die Unklarheit über dieſen Punkt deckte man mit der Bezeichnung zu, daß man für die Entwährung aller wohl - erworbenen Rechte, der jura quaesita, Entſchädigung zu fordern habe, indem man in dem Doppelſinn dieſes Wortes eine doppelte Entſchädi - gung vorbehielt, da es jetzt darauf ankam, den Begriff des wohler - worbenen Rechtes genau zu beſtimmen. Und jener Theorie galt jedes öffentlich anerkannte Recht zugleich für ein wohlerworbenes. Die verſchiedenen Geſetzgebungen kümmerten ſich jedoch theils gar nicht um dieſe Diſtinktion, theils aber nahmen ſie wirklich vor 1848 die Ent -222 ſchädigung für alle Rechte, auch für die aus der Leibeigenſchaft hervor - gehenden auf, ſo daß erſt ſeit 1848 der Grundſatz feſtſtand, die letz - teren von der Entſchädigung auszuſchließen. Die Frage ſelbſt iſt dann von Laſſalle in ſeiner Theorie der erworbenen Rechte im §. 7 weit - läuftig, ſpeciell die Entſchädigungsfrage S. 225 wieder aufgenommen, ohne daß ihm der Unterſchied der Entwährung von der Aenderung der Rechte klar geworden wäre (ſ. oben). In der That aber iſt die Sache ſehr einfach. Ein wohlerworbenes Recht iſt offenbar nur ein ſolches, welches als Recht des Einzelnen gegenüber dem Einzelnen überhaupt hat erworben werden können. Um das zu können, müſſen beide Parteien der rechtlichen Selbſtbeſtimmung fähig ſein; darüber iſt wohl kein Zweifel möglich. Nun aber war eben der Leibeigene zu keinem Rechts - geſchäfte fähig, und der Herr konnte alſo gar kein Recht gegen ihn er - werben; die Laſten, die er ihm auferlegte, waren für den Leibeigenen eine vis major, und von dem Erwerb eines Rechtes auf dieſelben konnte an und für ſich keine Rede ſein. Eben ſo wenig konnte eine erwer - bende Verjährung ſtattfinden, da der Begriff der Verjährung zwei Rechtsſubjekte vorausſetzt, während hier nur eins der Herr vor - handen war. Auch die Urtheile der Gerichte konnten aus einem Ver - hältniß, welches an und für ſich ſelbſt formell, abgeſehen von dem ethiſchen Widerſpruch mit dem Begriffe der Perſönlichkeit, kein Rechts -, ſondern ein Gewaltsverhältniß war, niemals ein Recht ſchaffen. Der Begriff der Leibeigenſchaft ſchloß daher den Begriff des Rechts auf alles dasjenige aus, was aus der Leibeigenſchaft entfloß; die Einnahmen der Grundherren aus dieſem Titel waren daher Thatſachen, aber keine Rechte. Und es wäre daher an und für ſich falſch geweſen, eine Entſchädigung zu fordern, wo ein Recht auf das zu Beſeitigende nie - mals entſtehen konnte. Wunderlich, wie Laſſalle dieſe einfachen Sätze nicht geſehen hat; noch wunderlicher, daß wir ſie gegen die oben er - wähnten Anſichten noch jetzt vertheidigen müſſen! Die Geſetzgebungen nach 1848 haben ihrerſeits niemals über die Sache Zweifel gehabt; ſie haben unbedingt unter definitiver Aufhebung aller Unterthänigkeit auch alle aus der Leibeigenſchaft und dem Unterthansverhältniß ent - ſpringenden Laſten einſtimmig ohne Entſchädigung aufgehoben.

Allerdings entſtand aber dabei eine zweite, im Einzelnen gar nicht mehr zu löſende Frage. Das war die Frage über die Gränze der - jenigen Rechte oder vielmehr Laſten, welche nur als aus der alten Leibeigenſchaft, bez. Unterthänigkeit auch wirklich entſprungen ſeien. Und hier nun zeigte ſich, wie die bisherige Zeit eigentlich gearbeitet hatte. Der langſame Proceß der Befreiung hatte faktiſch damit geendet, daß er alle alten, meiſt ſo ſcharf zwiſchen den verſchiedenen Klaſſen223 der Geſellſchaft gezogenen Gränzlinien verwiſcht, und an ihre Stelle eine große unklare Maſſe von Verhältniſſen und Rechten geſetzt hatte, bei denen Urſprung und Umfang, Begriff und Titel, ja ſelbſt die Ausdrücke und rechtlichen Definitionen nicht mehr klar erkennbar waren, während dabei zugleich einzelne Reſte der alten Verhältniſſe noch ganz deutlich als Trümmer einer zerbröckelten, ſtarren Klaſſenordnung, namentlich in den Bezeichnungen der Bauernhöfe und ſelbſt in vielen Einzelleiſtungen noch hervorragten. Die Folge war zuerſt, daß dadurch jeder einzelne Staat gezwungen wurde, die Gränze zwiſchen den mit und ohne Entſchädigung aufzuhebenden Rechten nach ſeinen hiſtoriſchen Landesverhältniſſen ſelbſt aufzuſtellen; dann aber folgte ferner, was für die Geſchichte dieſer Geſetzgebung ſehr wichtig iſt, daß man im erſten Anlauf nur ausnahmsweiſe dazu gelangte, alle Reallaſten zugleich zu beſeitigen. Es ergaben ſich faſt in allen Ländern nach der erſten Geſetz - gebung eine Reihe von Rechten oder Laſten, die man durch nachträg - liche Geſetze erſt aufheben und entwähren mußte. Daher hat eigentlich auch nach 1848 in keinem Staate das erſte Grundentlaſtungsgeſetz genügt; aber andererſeits muß die Geſchichte anerkennen, daß die ſpätere Geſetzgebung weſentlich in demſelben Geiſte fortgeſchritten iſt; leider nicht ohne Ausnahmen. Das Einzelne dabei muß der Einzelgeſchichte überwieſen bleiben.

So ſtand der erſte Grundgedanke feſt, daß alle aus der Leib - eigenſchaft fließenden Laſten ohne Entſchädigung, alle übrigen dagegen mit Entſchädigung aufgehoben werden ſollten. Daran ſchloß ſich ein zweites Princip, das ſeinerſeits einen mehr volkswirthſchaftlichen Charakter hatte. Daſſelbe betraf die Form der Entſchädigung.

Für dieſe Form der Entſchädigung gab es drei Arten. Man konnte ſie nach dem engliſchen Vorbild in Land geben; man konnte ſie als feſtes Kapital beſtimmen, und man konnte Renten creiren. Die erſte dieſer Formen ſchien ſchien am nächſten zu liegen; allein ſie hätte den Grund - ſtamm der mittleren Beſitzungen zu vielfach vernichtet, und an ihrer Stelle Latifundien hervorgerufen. Trotz des Beiſpiels von Preußen ward dieſer Weg daher nirgends eingeſchlagen, und ſelbſt in Preußen verläßt man ihn nach 1848. Eben ſo wenig konnte man die unmittel - bare Auszahlung der Entſchädigung fordern, wenn es mit der Ablöſung Ernſt ſein ſollte. Daher ward die Herſtellung einer Rente als Ent - ſchädigungsform allgemein durchgeführt, und hier war es, wo die Regie - rungen mit den Landescreditanſtalten eingriffen, die in der That die wirkliche Durchführung der Entſchädigung erſt möglich gemacht haben. Das war der zweite Punkt in dem Syſteme der Entlaſtung, in dem alle deutſchen Staaten einig waren.

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In ganz entſprechender Weiſe ſchloß ſich daran der dritte Grund - ſatz, daß bei aller Grundentlaſtung auch die Verpflichtungen der Grund - herren gegen die früheren Unterthanen wegfallen, und zwar natürlich in der Weiſe, daß bei unentgeltlicher Aufhebung der Reallaſten jene Verpflichtungen auch unentgeltlich wegfallen, bei Entſchädigungen da - gegen ihre Werthe von der Entſchädigungsſumme abgerechnet werden.

So einfach und natürlich nun auch dieſer Satz daſteht, ſo hatte er dennoch die größte Tragweite von allen. Denn in der That hatten dieſe Verpflichtungen des Grundherren nicht etwa einfache Verpflich - tungen deſſelben bedeutet, ſondern vielmehr die Stelle der Selbſt - verwaltung der Gemeinde vertreten. Der Gutsherr war gerade durch jene Verpflichtungen die Seele und der Schutzherr der Gemeinde geweſen. Sie waren es, auf die ſich die Gemeinde berief, wenn die Ortsangelegenheiten, Schule, Wege, Polizei u. a. ſchlecht beſtellt waren; ſie waren es, auf die ſich der Einzelne verließ, wenn er in Noth kam; ſie waren der örtlich thätige und helfende Staat ge - weſen; durch ſie hatte der Landmann gelernt, ſich um ſeine eigenſten Angelegenheiten nicht mehr zu kümmern. Indem man ſie daher be - ſeitigte, ſchuf man in der That eine Leere, die im Grunde aber die wichtigſten Pflichten der Gemeinde enthielt, ohne einen Verpflichteten an die Stelle des Herrn zu ſetzen. Dieſe Lücke mußte ausgefüllt wer - den, und ſo entſtand der Schlußakt des großen welthiſtoriſchen Dramas der Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft, der Uebergang der alten jetzt in haltslos gewordenen Patrimonialjurisdiktion in die neuen Gemeindeverfaſſungen. Erſt damit iſt die Ent - laſtung aus ihrem rein negativen Stadium in ihr poſitives hinüber - getreten, und jetzt können wir ſagen, daß die Vollendung der Grundentlaſtung erſt mit der Herſtellung der Selbſtverwal - tung auf dem Lande gegeben iſt.

Auch dieſe letzte und höchſte Conſequenz der Grundentlaſtung iſt nun nicht plötzlich entſtanden, ſondern eigentlich erſt ſtückweiſe den Staaten und ihren Verwaltungen zum Bewußtſein gekommen. Es iſt die Geſchichte der Gemeindeordnungen, welche hier meiſt ohne daß man die innere Verbindung zum klaren Bewußtſein brachte die Fortſetzung der Geſchichte der Entlaſtung bildet. Daher denn die ſo hoch beachtenswerthe und doch ſo wenig beachtete Erſcheinung, daß faſt alle deutſchen Staaten in dieſem Jahrhundert zweimal eine Gemeindegeſetzgebung durchgemacht haben; die erſte vor 1848, un - lebensfähig wie die unfertige Entlaſtung vor dieſer Zeit, die zweite nach 1848, als erſte Verſuche der örtlichen Selbſtverwaltung. Ohne hier darauf näher einzugehen, verſtatten wir uns als Baſis weiterer225 Unterſuchung hier nur die nackte Thatſache, ſchematiſch zu regiſtriren. In der That iſt jedes Bild der Entlaſtung in Deutſchland ohne dieſelbe unvollſtändig.

Natürlich iſt hier viel unvollſtändig; wir würden aber zu weit gehen, wenn wir Einzelnes berückſichtigten. Nur das ſei als charak - teriſtiſches Merkmal hervorgehoben: daß Mecklenburg, ohne Entlaſtung,Stein, die Verwaltungslehre. VII. 15226auch noch ohne Gemeindeordnung iſt. Aber das ſteht feſt, daß die Lehre vom Gemeindeweſen eine weſentlich andere werden wird, ſo wie man das Weſen der Entlaſtung und das von ihr erzeugte Staatsbürger - thum im Auge behält.

Auf dieſer Grundlage muß man nun die einzelnen Entlaſtungs - geſetzgebungen Deutſchlands ſeit 1848 vergleichen. Das Bild, das ſich hier zeigt, iſt nicht das eines gewaltigen, alles vor ſich niederwerfenden Aufſchwunges des Volksgeiſtes, ſondern das einer langſamen, ſtück - weiſe vorſchreitenden Arbeit. Der ganze Charakter Deutſchlands faßt ſich in dieſer Arbeit ſeit 1848 zuſammen. Das Princip ſelbſt ward von Deutſchland als einem Ganzen ausgeſprochen, die Ausführung dagegen den einzelnen Theilen überlaſſen. Jenes iſt daher einfach und klar; dieſe iſt zum großen Theil unfertig, vielfach unentſchieden, periodenweiſe vor ſich vorgehend, in vielen weſentlichen Beſtimmungen nicht einmal gleichartig, wenn auch nirgends mit den obigen allge - meinen Principien im Widerſpruch. Der Gang dieſer Entwicklung iſt folgender.

Die Verhältniſſe, die wir oben dargelegt, machen es erklärlich, daß es eine der erſten Aufgaben des deutſchen Parlaments ſein mußte, die freien Grundſätze der vollen Entlaſtung und damit den endlichen Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft als ein Grundgeſetz des deutſchen Reiches aufzuſtellen. So kam der betreffende Theil der Reichsverfaſſung von 1849 zu Stande, der im Grunde nur die Principien der Racht des 4. Auguſt 1789 wiederholt. Dieſelbe beſtimmt bekanntlich in §. 166 zuerſt das Aufhören jedes Unterthänigkeitsverbandes, dann die Auf - hebung aller Patrimonialgerichtsbarkeit, aller grundherrlichen Polizei und der aus denſelben fließenden Exemtionen und Abgaben, ſowie aller aus dem gutsherrlichen Verbande fließenden perſönlichen Abgaben und Leiſtungen, ſowohl der Verpflichteten als der Berechtigten (§. 167) und zwar aller dieſer Laſten ohne Entſchädigung. Dagegen ſollen alle Laſten von Grund und Boden, insbeſondere die Zehnten, ablösbar ſein (§. 168). Die Jagdgerechtigkeit auf fremdem Grund und Boden, wenn ſie nicht nachweisbar auf einem Vertrage beruht, wird ohne, die letztere mit Entſchädigung aufgehoben (§. 169). Ebenſo ſoll der Lehenverband aufgehoben werden (§. 171). Endlich ſoll jedes Grundſtück einer Gemeinde gehören (§. 185). Das waren die Prin - cipien der Reichsverfaſſung. Allein unmittelbar neben denſelben ſteht der Grundſatz, daß die Durchführung den einzelnen Staaten über - laſſen bleiben ſoll. Damit war denn das territoriale Recht und ſeine Rechtsbildung wieder, gerade wie bisher, zur Hauptſache gemacht, und die bedeutendſte innere Frage jener ganzen durch und durch unklaren227 Zeit von dem Organe der Einheit Deutſchlands freiwillig aus der Hand gegeben. Nicht einmal zu dem Grundſatz erhob ſich dieſe Verſammlung, daß die Entlaſtung eine Pflicht der Verwaltung ſein ſolle. Nirgends zeigt ſich die politiſche Unfähigkeit dieſes Körpers ſo ſehr als auf dieſem Punkte er hatte wieder einmal den Schwerpunkt der Bewegung aus ſich ſelbſt hinaus geſchoben, und in die einzelnen Regierungen verlegt. Das Volk fühlte das ſehr deutlich, und wendete mit rich - tigem Inſtinkt den ganzen Nachdruck ſeiner Forderungen eben gegen ſeine einzelne Regierung. Jeder Staat hatte daher alsbald ſeine eigene mehr oder weniger kräftige Revolution, jeder Staat wieder ſeine eigene Geſetzgebung und Verwaltung der Entlaſtung; das was die Reichsver - faſſung beſtimmt hatte, war bald nicht mehr ein hohes Ziel für das deutſche Volk, ſondern das Minimum, unter welches kein Einzel - ſtaat zurückgehen wollte und durfte; und indem daher dieſe Einzelſtaaten alsbald mehr leiſteten, als jene Verfaſſung der deutſchen Theoretiker, erzielten ſie alle, was jeder am meiſten wünſchte, daß das Volk ſich nicht mehr an das Organ ſeiner Einheit, ſondern an die Territorialregie - rung wendete, wo es ſich um ſein wichtigſtes Recht handelte. Von dieſem Standpunkt aus muß die fernere Geſchichte dieſer Frage be - trachtet werden. Merkwürdig, wie die Literatur ihn überſehen hat. Zöpfl, der einzige, der überhaupt auf dieſe Dinge Rückſicht nimmt, beſchränkt ſich auf die Beſtimmungen der Reichsverfaſſung, ohne ſich viel um das Territorialrecht zu kümmern, obgleich das wirkliche Recht erſt durch dieſes gebildet ward; Sugenheim und Judeich kennen nur das Territorialrecht, obgleich das allgemeine Princip deſſelben in der Reichsverfaſſung lag, die Territorialſtaatsrechte von Rönne, Pözl, Stubenrauch, Funke beſchränken ſich ſtrenge zu ſtrenge auf ihr eigenes Gebiet, und ſo iſt hier für die innere Geſchichte im Grunde nur das Material gegeben. Die Elemente der Entwicklung in den ein - zelnen Staaten ſind nun folgende.

Ohne allen Zweifel muß man hier Oeſterreich mit ſeiner groß - artigen und gründlichen, alle deutſche Staaten überragenden Grund - entlaſtung an die Spitze ſtellen. Oeſterreich hatte die Grundentlaſtung bis 1848 gar nicht in die Hand genommen. Um ſo rückſichtsloſer brach dieſelbe ſich im Jahre 1848 Bahn. Das Dekret vom 18. Dec. 1846 hatte allerdings die freiwillige Ablöſung aufgeſtellt, jedoch die - ſelbe einerſeits nur auf die Naturalfrohnden und Zehnten beſchränkt, anderſeits ſie ſelbſt den Betheiligten überlaſſen, ſo daß der Schritt der Regierung ein vollſtändig effektloſer blieb. Da kam die Revolution, und eine ihrer erſten Aufgaben war, ſich der Grundentlaſtung wieder zuzuwenden. Die beiden Dekrete vom 27. März und 9. Mai 1848228 machten einen ſchwachen Verſuch, auf der früheren Baſis der Frei - willigkeit die große Frage zu erledigen. Es war umſonſt; der Bauern - ſtand war zu mächtig in ſeiner Bewegung. So griff das entſcheidende Patent vom 7. September 1848 die Sache an der Wurzel an, und ſtellte mit Einem Schlage die Grundſätze als geltendes Recht auf, über deren Interpretation und Gränzen man ſich in Frankfurt in langathmigen Debatten erging. Dieß Patent iſt die erſte und vollſtändigſte Legali - ſirung des vollen Syſtems der Grundentlaſtung; in dem Bewußtſein, daß es für die verſchiedenartigſten Gebiete und Verhältniſſe gelten ſolle, und daß ſein Erlaß allein im Stande ſein werde, die Ordnung und Ruhe namentlich auf dem flachen Lande zu erhalten und die Scenen der alten Bauernkriege zu vermeiden, hat es ſich weder bei kleinen Detailfragen aufgehalten, noch dem Zufall oder der Willkür der noch immer gewaltigen Grundherrlichkeit etwas überlaſſen dürfen. Es iſt einfach und groß, und trotz alles Wandels in dem übrigen öffent - lichen Recht hat die Regierung an dieſer wichtigſten ſocialen That des Jahres 1848 unwandelbar zum Heile Oeſterreichs feſtgehalten.

Das Syſtem dieſer Entlaſtung iſt an ſich einfach. Erſtes Princip iſt die völlige Aufhebung jedes Unterthansverhältniſſes, vollſtändige Be - ſeitigung aller Patrimonialgerichtsbarkeit; zweites iſt die völlige Auf - hebung jedes rechtlichen Unterſchiedes zwiſchen den Grundbeſitzungen, und damit die Herſtellung des völlig freien Eigenthums; drittes iſt die Anerkennung der Entſchädigung nur für ſolche Abgaben und Lei - ſtungen, welche der Beſitzer eines Grundſtückes als ſolches zu leiſten hatte, oder welche auf nachweisbarem Vertragsrecht beruhen; viertes iſt, daß die ganze Ablöſung von Amtswegen geſchieht. Mit dieſen einfachen Grund - ſätzen iſt nun die geſellſchaftliche Entwicklung Oeſterreichs in ein ganz neues Stadium eingetreten. Auf allen Punkten iſt das Vorrecht beſeitigt und eine neue Ordnung der Dinge beginnt, welche dieſem merkwürdigen Staate die alte hohe Achtung Deutſchlands in vollem Maße zurückzugeben beſtimmt iſt. Die weitere Ausführung jenes großen Geſetzes enthält nun zunächſt das Patent vom 4. März 1849, welches das Verfahren für die Entſchädi - gung beſtimmt; Entſchädigungsfuß iſt der zwanzigfache Betrag; die ganze Entſchädigungsſumme wird dann in drei Theile getheilt, von denen der eine von dem Kronlande übernommen, und der zweite dem Grund - herrn ſelbſt abgeſchrieben wird, als Erſatz für die Leiſtungen des Guts - herrn bei Empfang der Leiſtungen des Verpflichteten; erſt das letzte Drittheil trägt der freigewordene Bauer ſelbſt. Um dieß nun auch wirklich durchzuführen, wurde durch die Patente vom 25. September 1850 und 11. April 1851 für jedes Kronland ein ſogenannter Grundentlaſtungsfonds gebildet. Das Princip deſſelben iſt, daß die229 Entſchädigung als eine Angelegenheit jedes einzelnen Kronlandes be - trachtet, und für Rechnung deſſelben verwaltet wird. Das Kronland zahlt die Entſchädigungsſumme durch die Grundentlaſtungsobligationen aus, nimmt die Jahreszahlungen der Verpflichteten entgegen und verzinst jene Obligationen; die letzteren werden dann planmäßig eingelöst. Damit war die Hauptſache erledigt; nur der Lehnsverband war ge - blieben, und dieſer ward durch Geſetz vom 17. December 1862 gleich - falls gegen Entſchädigung abgelöst. Ueber die eigentlichen Ablöſungen ſ. unten. So hat Oeſterreich die geſellſchaftliche Frage entſchieden; es iſt der wichtigſte Akt ſeiner Geſchichte ſeit einem halben Jahrhundert, und der Anfang einer beſſeren Zeit in allen Gebieten ſeines Staats - lebens. (Ueber das Einzelne vergleiche Judeich, S. 9 34; Sugen - heim, S. 488; Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. 445.)

In einem etwas andern Lichte ſtellt ſich Preußen dar. Es iſt faſt, als ob mit der großen Bewegung im Anfange unſeres Jahr - hunderts das, was wir die ſociale Kraft dieſes Staates nennen, er - ſchöpft worden ſei, und als habe die Regierung, die den Muth hatte, mit Napoleon den Kampf auf Leben und Tod zu eröffnen, nicht den gehabt, ihr eignes Volk ganz frei zu machen. Allerdings gab ſie dem gewaltigen Drucke des Volkes nach, und mit dem Geſetz vom 10. No - vember 1849 beginnt die neue gegenwärtige Epoche des Entlaſtungs - weſens, die ſich in vielen Punkten an die Vorgänge ſeit 1811 an - ſchließen konnte, und die durch das entſcheidende Geſetz vom 2. März 1850 ihre definitive Geſtalt gewinnt. Dieß Geſetz iſt die Ausführung der Artikel 40 und 41 der Verfaſſung vom 31. Januar 1850; ſeinen weſent - lichen Beſtimmungen nach hebt es ohne Entſchädigung alle aus der alten Erbunterthänigkeit hervorgehenden Laſten auf; dagegen werden auch hier für die mit der Abhängigkeit des Grundes und Bodens ver - bundenen Laſten Entſchädigungen gewährt, Rentenbanken errichtet und ein amtliches Verfahren hergeſtellt. Ebenſo ward die Patrimonial - gerichtsbarkeit definitiv aufgehoben durch Verordnung vom 2. Januar 1849 (ſ. Rönne, Staatsrecht I. §. 53), ſowie das Obereigenthum des Staats und das Lehnsweſen durch die betreffenden Artikel der Ver - faſſung von 1850. Allein ſchon 1851 traten Bedenken ein. Das Geſetz vom 5. Juni 1851 hob nämlich die betreffenden Artikel 40 42 der Verfaſſung auf, ohne jedoch über alle in dieſen Artikeln berührten Verhältniſſe neue Beſtimmungen zu geben. Das Geſetz vom 2. Juni 1852 ſchrieb dann allerdings vor, daß keine neuen Lehen errichtet werden ſollen, und daß über Ablöſung der beſtehenden ein Geſetz er - laſſen werden ſolle. Daraus entſtand dann die große Unſicherheit, die dieſen Theil des öffentlichen Rechts in Preußen charakteriſirt (ſ. Rönne,230 Staatsrecht I. §. 95; Laſſalle, Theorie der erworbenen Rechte 1. S. 133), und die, mit andern Erſcheinungen zuſammengehalten, wieder jenes Schwanken in der Landgemeindeordnung hervorrief, das wir an einer andern Stelle genauer darzuſtellen haben. Von zweifelhaftem Werthe mußte unter dieſen Umſtänden die Beſtimmung erſcheinen, daß die durch Geſetz vom 2. März 1850 creirten Rentenbanken ihre Ver - mittlung zur Ablöſung der Grundlaſten mit dem Jahre 1859 einzu - ſtellen haben (Geſetz vom 26. April 1858), was den Reſt der Ent - laſtung nicht erleichtert hat (vgl. Judeich S. 48. 49). Es mangelt in dieſer ganzen Bewegung ſomit jene großartige Sicherheit, welche Willen und Ausführung als ein unzweifelhaftes Ganzes erſcheinen läßt; den Eindruck, daß hier die Herrſchaft der Geſchlechter endgültig beſeitigt ſei, hat man nicht, und die Statiſtik hat gerade auf dieſem Gebiete zu wenig geleiſtet, um dieſen Eindruck durch definitive That - ſachen herzuſtellen.

Im Allgemeinen jedoch wiederholt ſich nun derſelbe Proceß, deſſen Charakter wir oben bezeichnet haben, in den Mittelſtaaten Deutſch - lands. Bayern führte die Grundentlaſtung durch mit Geſetz vom 4. Juni 1848, welches fixirte Grundabgaben ſtatt der Naturaldienſte und Giebigkeiten amtlich herſtellte, und dieſe Abgaben ablösbar machte. Gleichzeitig werden durch zwei Geſetze von demſelben Datum der Lehnsverband ablösbar erklärt, und eine Ablöſungskaſſe errichtet. In Württemberg erſchien 1848 eine ganze Reihe von Ge - ſetzen, die mit dem Geſetz vom 14. April 1848 beginnen, und als deren Schlußſtein Judeich mit Recht das Geſetz vom 24. Auguſt 1849 bezeichnet. Es fehlt in dieſen Geſetzen die Einheitlichkeit der Auffaſſung; und zwar iſt es kaum zweifelhaft, daß die württembergiſche Geſetz - gebung im Grunde nur die Befreiung von den alten Unterthans - leiſtungen wollte; zu der vollen Anerkennung der ſtaatsbürgerlichen Freiheit des Grundbeſitzes hat Württemberg ſich nicht erheben können. Allerdings konnte in Beziehung auf jene Laſten die Verordnung vom 14. December 1852 ſogar beſtimmen, daß alle bis zum 30. Juni 1854 nicht angegebenen Berechtigungen ohne allen Erſatz als aufgehoben angeſehen werden ſollten; dagegen aber ſagt Judeich mit Recht (S. 95) der nicht bäuerliche Lehensverband, die Theilung des Eigenthums in Ober - und Untereigenthum und erbliches Nützungsrecht, die in den Grund -, Unterpfand - und Gerichtsbüchern vorgemerkten Realberech - tigungen und ländlichen Dienſtbarkeiten dauern alſo fort trotz des letzten Geſetzes vom 26. März 1862, das allerdings hier manches Einzelne gebeſſert hat. Der Blick auf dieſen Theil der würt - tembergiſchen Zuſtände iſt ſomit kein wohlthuender; jene Reſte des231 vorigen Jahrhunderts ſind zu unbedeutend, um eine wirkliche Herr - ſchaft der Geſchlechter zu erhalten, und doch bedeutend genug, ein Un - behagen zu erwecken und in der Erinnerung an das Alte die Furcht vor der Wiederkehr wach zu halten. Das Königreich Sachſen hatte ſeinerſeits eigentlich wenig mehr zu thun, als ſein altes Recht von 1832 dahin auszubilden, daß der durch das Geſetz vom 17. März 1832 begonnene Proceß, ſoweit er noch nicht beendet war durch freie Ueber - einkunft, jetzt zu einem gezwungenen Abſchluß gebracht werde. Das war die Bedeutung des (Nachtrags -) Geſetzes vom 15. Mai 1851 mit der Ausführungsverordnung vom 24. Oktober 1851; die Verordnung vom 29. Oktober 1851 ſchloß die Sache ab durch die Beſtimmung, daß jeder Anſpruch auf Entſchädigung, der nicht bis zum 31. Januar 1852 angemeldet ſei, als aufgegeben betrachtet werde. Das Genauere ſehr klar bei Judeich (S. 59 78). In Baden war unterdeſſen in Folge der großen Bewegung von 1830 ſo viel geſchehen, daß das Jahr 1848 nur wenig zu thun übrig fand. Der Reſt der Feudalrechte ward durch Geſetz vom 10. April 1848 aufgehoben; das Jagdrecht dem Grundbeſitz zurückgegeben (Geſetz vom 26. Juli 1848); die Beſitz - veränderungsgebühr gegen den zwölffachen Betrag beſeitigt (Geſetz vom 13. Februar 1851); und der Lehnsverband nach Geſetz vom 21. April 1849 für ablösbar erklärt; die ſogenannten eigentlichen Lehen nach Geſetz vom 19. April 1856; das Geſetz vom 9. Auguſt 1862 hat dann auch für die Lehen an die Stelle der Vereinbarung die geſetzliche Ablöſungs - pflicht aufgeſtellt. Hannover dagegen blieb im Weſentlichen bei ſeiner Geſetzgebung von 1833 ſtehen; nur der Lehnsverband war durch Geſetz vom 19. Juli 1848 und 24. Januar 1851 ablösbar, und das Jagdrecht auf fremdem Boden beſeitigt durch Geſetz vom 29. Juli 1850; dazu kam die Aufhebung der Bannrechte durch Geſetz vom 17. April 1852. Das Kurfürſtenthum Heſſen gab, wie die meiſten übrigen Staaten, gleichfalls dem erſten Drucke der Revolution von 1848 nach, und das Geſetz vom 26. Auguſt 1848 hob alle Lehnsrechte, ſowie den ganzen gutsherrlichen Verband auf, ſowie durch Geſetz vom 1. Juli 1848 das Jagdrecht auf fremdem Grund. Das Geſetz vom 20. Juni 1850 erklärte dann, als zweites Stadium der Bewegung, die Grund - laſten ausnahmslos für ablösbar. Allein zu einer Ablöſungspflicht gedieh man nicht. Die Reaktion trat ſchon damals ſehr energiſch auf; ſchon die Verordnung vom 26. Juni 1854 ſtellte das Jagdrecht wieder her, und die Verordnung vom 21. Juni 1862 konnte die Verfaſſung von 1852 aufheben, ſo daß die Zuſtände von 1831 wieder zur Geltung kamen. Indeſſen haben die Ablöſungsgeſetze der dreißiger Jahre, die Landeskreditkaſſe von 1833 und die Entlaſtungsgeſetze vom 1832 und232 1837 fortgewirkt wie weit, darüber fehlen uns die Nachweiſungen. Im Großherzogthum Heſſen war ſeit 1836 eigentlich nur noch der Reſt des Lehnsverbandes übrig. Das Geſetz vom 7. Auguſt 1848 hob alle Vorrechte der Standesherren auf (mit einer 1860 geordneten Entſchädigung); das Geſetz vom 3. Oktober 1849 erklärte alle, 1836 nicht der Ablöſung unterzogene Laſten für ablösbar; das Geſetz vom 6. Auguſt 1848 führte das volle Eigenthum für die bäuerlichen Erb - pächter ein; das Geſetz vom 2. Mai 1849 hob allen Lehnsverband auf; das Geſetz vom 26. Juli 1848 hatte ſchon früher das Jagdrecht beſeitigt; aber hier wie in Kurheſſen ward das alte Jagdrecht durch Geſetz vom 2. Auguſt 1858 wieder hergeſtellt (Judeich S. 110). So viel war noch in einem der freieſten Staaten Deutſchlands zu thun übrig! In Oldenburg dagegen wurde durch das neue Staatsgrund - geſetz vom 18. Februar 1849 die bisher freiwillige Ablöſung in eine Entlaſtungspflicht umgewandelt, die Jagdrechte abgeſchafft, und der Lehnsverband definitiv aufgehoben, was auch das revidirte Staats - grundgeſetz vom 18. Nov. 1852 ungeändert beſtehen ließ; das Geſetz vom 28. März 1852 hatte ſchon vorher die Aufhebung der Lehnsrechte genauer geordnet. In Sachſen-Weimar geſchah im Weſentlichen das Gleiche durch Geſetz vom 18. Mai 1848, welches gleichfalls die bis - her freiwillige Ablöſung zur Pflicht machte; dieß Geſetz ward weiter ausgeführt durch die weiteren Geſetze vom 6. und 17. Januar 1849, welche das Jagdrecht zuerſt ohne Entſchädigung, dann ward dieſelbe nachträglich gewährt durch Geſetz vom 22. April 1862 aufhob, ferner durch die Geſetze vom 22. Oktober 1851 und 24. Februar 1852, welche alle perſönlichen Laſten aus dem gutsherrlichen Verbande, ſo wie alle Lehnsgelder aufheben; die definitive Aufhebung des Lehns - verbandes erfolgte durch Geſetz vom 29. April 1851, und 1853 wurde eine Privatbank für die Ablöſung durch Statut vom 17. Sept. 1853 errichtet; endlich die Herſtellung neuer unablösbarer Laſten durch Geſetz vom 30. April 1862 verboten. In Sachſen-Coburg wurde das ganze Ablöſungsrecht des Geſetzes vom 16. Auguſt 1835 durch das Geſetz vom 25. Januar 1849 und das Nachtragsgeſetz vom 21. December 1850 aufgehoben, und die volle Entlaſtung nebſt definitiver Beſeitigung des Lehnsverbandes hergeſtellt. Das Jagdrecht, durch Geſetz vom 10. April 1848 ohne Entſchädigung aufgehoben, blieb hier beſeitigt im Staatsgrundgeſetze vom 3. Mai 1852. In Sachſen-Gotha ſtellte das Geſetz vom 20. Oktober 1848 die Entlaſtung als Princip auf und beſtimmte zunächſt das Wegfallen aller perſönlichen Leiſtungen ohne Entſchädigung; dennoch blieb ein Reſt des Lehnsverbandes als grundbücherliche Laſt (Geſetz vom 28. Juni 1856). Dagegen blieb die233 Aufhebung des Jagdrechts nach den Geſetzen vom 24. November 1848 und 17. Auguſt 1849 im Staatsgrundgeſetz von 1852. Die Durchführung der Entlaftung vermöge der Entſchädigung geſchah durch das Geſetz vom 5. November 1853. In Sachſen-Meiningen war die Entlaſtung auf Grundlage des Geſetzes vom 6. Juni 1848 durch das umfaſſende Geſetz vom 5. Mai 1850 durchgeführt, und die am 25. Auguſt 1849 hergeſtellte Landeskreditanſtalt durch Zuſatzgeſetz vom 6. Mai 1850 für die Ablöſung beſtimmt. In Sachſen-Altenburg ging die Entlaſtung ungefähr in gleicher Weiſe vor ſich; Aufhebung aller perſönlichen, ſeit dem Geſetz vom 1837 noch übriggebliebenen Leiſtungen durch Geſetz vom 16. Februar 1849; des Jagdrechts durch Verordnung vom 24. Sep - tember 1848 (mit nachträglicher Entſchädigung, Geſetz vom 22. Februar 1854); endlich des geſammten Lehnsverbandes (Geſetz vom 1. April 1851). Doch iſt die Entlaſtung keine gezwungene. Die Rentenbank funktionirt ſeit 1837. Nur Mecklenburg ſteht noch da als der einzige Staat, der vergeblich verſucht hat, ſich aus den Banden der alten Unfreiheit los zu machen. Allerdings hatte das vereinbarte Staatsgrundgeſetz vom 10. Oktober 1849 das Unterthansverhältniß aufgehoben und die Ablösbarkeit aller Grundlaſten ausgeſprochen (§. 45 bis 50); allein dieß Grundgeſetz ward laut Rechtsſpruch eines nur zu bekannten, von Preußen und Hannover eingeſetzten Schiedsgerichtes vom 11. September 1850 aufgehoben. Seitdem iſt für perſönliche Befreiung des Bauernſtandes, für Sicherſtellung des bäuerlichen Grund - beſitzes und für Entlaſtung deſſelben etwas nicht geſchehen. (Judeich, S. 128.) Für die kleineren Staaten verweiſen wir auf Judeich (S. 183 223); es gelten im Weſentlichen in denſelben die allgemeinen, oben dargelegten Grundſätze.

So ſchließt nun der große Proceß, deſſen Inhalt die Auflöſung der Geſchlechterherrſchaft und die Begründung der ſtaatsbürgerlichen Ge - ſellſchaft iſt. Auch hier wiederholt ſich das für alle Geſellſchaftsordnung geltende Geſetz, daß der endgültige Fortſchritt von einem Zuſtande zum andern immer erſt dann als ein abgeſchloſſener zu betrachten iſt, wenn er in den Rechtsverhältniſſen des Beſitzes zur Geltung kommt. Wir unſererſeits haben dieſen ganzen ſo unendlich wichtigen Theil der Ge - ſchichte hier aufnehmen müſſen, weil nur ſo das eigentliche Weſen der Entwährung als einer geſellſchaftlichen Aktion der Staatsidee voll - ſtändig zur Erſcheinung gelangt. Das Gebiet, das wir hier in ſeinen Umriſſen angedeutet haben, iſt ein Theil der Geſchichte der ſocialen Bewegung in Deutſchland, tief verſchieden von der ſocialen Bewegung Frankreichs und Englands in allem, was äußere Geſtalt, geſetzliche Form, Thätigkeit des Staats und Vertheilung der Zeitepochen betrifft,234 und dennoch vollſtändig gleichartig im Princip und in den Folgen. Den zweiten Theil bildet, wie bereits erwähnt, der Proceß, den wir kurz als die Entſtehung der Gewerbefreiheit bezeichnen, und deſſen Ge - ſchichte unter die Verwaltung der Gewerbe gehört. Beide zuſammen geben in ihren Conſequenzen den gegenwärtigen geſellſchaftlichen Zuſtand des deutſchen Volkes in ſeinen wichtigſten Elementen, als einen neuen und durchgreifenden Beweis, daß die Verwaltungslehre nur durch die Wiſſenſchaft der Geſellſchaft das Verſtändniß ihrer wahren Geſchichte und zuletzt auch ihrer wahren Elemente zu finden im Stande iſt.

Die Ablöſungen.
I. Begriff und Berhältniß zu Entlaſtung und Gemeinheitstheilung.

Das zweite große Gebiet der Entwährung iſt nun dasjenige, welches wir als die Ablöſungen und Gemeinheitstheilungen bezeichnen. Es iſt daher nothwendig, zuerſt das Weſen derſelben gegenüber der Grund - entlaſtung zu beſtimmen; und dieſer wahre Unterſchied beider von einander, aus dem nicht bloß ein verſchiedenes wiſſenſchaftliches Syſtem, ſondern auch eine beſonderte Geſchichte und Geſetzgebung derſelben hervorgegangen iſt, liegt nun ſelbſt wieder in demjenigen, woraus beide hervorgegangen ſind, im Weſen der Geſchlechterordnung und der von derſelben erzeugten Agrarverfaſſung.

Formell iſt nun dieſer, für die innere Entwicklung keineswegs un - wichtige Unterſchied nicht ſchwierig zu beſtimmen.

Während nämlich die Grundlaſten aller Art den allgemeinen, in ganz Europa gültigen Ausdruck der Unfreiheit der beherrſchten bäuer - lichen Klaſſe gegenüber der herrſchenden Klaſſe der Grundherren bilden, und daher allenthalben mit demſelben weſentlichen Inhalt und faſt unter denſelben Formen erſcheinen, tritt neben ihnen eine zweite große Gruppe von Beſchränkungen des individuellen Eigenthums am Grund und Boden auf, die nicht mehr für die ganze Klaſſe der beherrſchten Landleute als ſolche gilt, ſondern vielmehr auf einzelnen und ört - lichen Verhältniſſen beruht, ſehr verſchieden in Umfang und Inhalt iſt, und daher weder mit der bäuerlichen Unfreiheit im Allgemeinen vermiſcht, noch auch in ſich als ein einheitliches Ganze behandelt werden darf. Dieſe Gruppe theilt ſich nun ſelbſt wieder in zwei große Theile. Der erſte dieſer Theile geht, wenigſtens ſeinem Hauptinhalt nach, aus der Grundherrlichkeit hervor, oder verſchmilzt doch ſo innig mit derſelben, daß er als ein integrirendes Moment ihrer Rechte da - ſteht, und die Spuren eines andern Urſprunges faſt unkenntlich235 werden. Dieſen Theil bezeichnen zunächſt wir als die Bauernrechte; denſelben Charakter hat das, was man die Realgerechtigkeiten nennt. Dahin gehören endlich eine Anzahl von Dienſtbarkeiten, die in den meiſten Fällen den Charakter von Grundlaſten annehmen, und daher vielfach denſelben Grundſätzen unterworfen ſind, wie dieſe. Der zweite Theil dagegen geht mit ſeinen hiſtoriſchen Grundlagen der Gutsherrlichkeit noch voran, und knüpft ſich an die älteſte Form der Geſchlechterordnung, die nur noch den Bauern und das Dorf kennt. Daraus entſtehen die uralten Gemeindebeſitzungen, die von der Grundherrlichkeit an ſich vollkommen unabhängig, dennoch mit der - ſelben vielfach in Beziehung treten. Alle dieſe verſchiedenen Rechts - verhältniſſe haben nur Ein gemeinſames Gebiet, durch welches ſie nicht bloß der Geſchichte und dem Recht, ſondern auch der Verwaltungs - lehre angehören; und wie ſie durch ihren Inhalt und ihre Geſtalt das Bild der Rechtsordnung der Geſchlechter erfüllen und vervollſtändigen, ſo ergeben ſie andererſeits das zweite und letzte Gebiet des Entlaſtungs - weſens. Denn alle dieſe verſchiedenen Rechte erſcheinen als objektive Beſchränkungen des freien Einzeleigenthums, in ähnlicher Weiſe, wie die eigentlichen Grundlaſten. Sie ſind wie dieſe der Regel nach nicht durch die freie Selbſtbeſtimmung der Betheiligten entſtanden, ſondern Ausdrücke einer höheren Ordnung menſchlicher Dinge. Sie werden daher auch nicht durch den freien Beſchluß der Betheiligten beſeitigt, ſondern dauern wie eine geſchichtliche Thatſache durch ſich ſelber fort. Sie beſchränken endlich die freie Verfügung der Einzelnen über ihr Gut, und damit die volle Entwicklung der Geſammtheit, ohne durch die Thätigkeit und den Willen der Betreffenden geändert werden zu können. Sie ſind daher in der That kein bürgerliches Recht, ſondern ſie ſind ein nicht unweſentlicher Theil des geſellſchaftlichen Rechtes der Geſchlechterordnung, zum Theil auch der Ständeordnung. Sie ſtehen ferner dadurch im Widerſpruch mit dem erſten Princip der ſtaatsbürger - lichen Geſellſchaft, der individuellen Freiheit; die letztere kann nicht zur vollen Geltung gelangen, ſo lange jene beſtehen; der Kampf gegen ſie beginnt daher mit dem Kampfe gegen die Geſchlechterordnung ſelbſt, geht mit ihm Schritt vor Schritt vorwärts, und es iſt naturgemäß, daß er mit der geſetzlichen, definitiven Aufhebung der Geſchlechterord - nung ſelber abſchließt. In dieſem Proceß der Befreiung von jenen Rechten gelangt nun der an ſich ſehr weſentliche Unterſchied zwiſchen jenen beiden Gruppen dieſer Rechtsverhältniſſe, die wir oben bezeichnet haben, allerdings zur Geltung, aber nicht ſo ſehr in dem Streben nach ihrer Beſeitigung, als in der Form, in der ſie geſchieht; und dieſer Unterſchied ſelbſt wird wieder bedingt durch das Verhalten jeder236 dieſer Gruppen zum Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Die erſte Gruppe enthält nämlich durchgehend in allen ihren Theilen eine theilweiſe Unfreiheit des Grundbeſitzes und zum Theil des Erwerbes, die zweite dagegen nur eine Beſchränkung des freien Verfügungs - rechtes. In der erſten ſteht ein einzelner Berechtigter den einzelnen Verpflichteten gegenüber, wie bei den Reallaſten; in der zweiten da - gegen iſt die Gemeinſchaft als ſolche das Berechtigte, und die einzelnen Mitglieder die Gebundenen. In der erſten handelt es ſich meiſt um gegenſeitige Leiſtungen, in der zweiten um gemeinſame Berechtigungen. Daher kann der Proceß, der die Befreiung von dieſen Beſchränkungen des individuellen Eigenthums zum Inhalt hat, nicht der gleiche ſein, obgleich er in allen ſeinen Formen daſſelbe Ziel hat. In Beziehung auf das Erſte ſchließt ſich vielmehr jene Befreiung einfach an die Ent - laſtung an, erſcheint als Theil derſelben, ja als ihre letzte Erfüllung, und nimmt daher auch die großen leitenden Grundſätze der Entlaſtung, namentlich den der Entſchädigung mit ihrer Vorausſetzung der Werth - ſchätzung und ihrer Baſis der Staatshilfe durch Rentenbanken u. ſ. w. an. Bei dem zweiten dagegen handelt es ſich nicht um eine Entlaſtung, ſondern vielmehr darum, das individuelle Eigenthum an die Stelle des Geſammteigenthums zu ſetzen; daher iſt hier weder von einer Ent - ſchädigung noch auch von einer eigentlichen Staatshülfe die Rede. End - lich aber iſt auch das öffentliche Recht für beide aus demſelben Grunde ein ſehr verſchiedenes. Die Beſeitigung der Rechtsverhältniſſe der erſten Gruppe müſſen vom Staate gefordert werden; er kann dieſelbe eben ſo wenig wie die Grundlaſten als ein dauerndes Element der Agrar - verfaſſung anerkennen, weil er die geſellſchaftliche Herrſchaft einer Klaſſe über die andere nicht dulden kann, ſobald er in das Stadium der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft tritt; die Nothwendigkeit der Auf - hebung dieſer Rechte iſt daher ſchon von dem Augenblick an unzweifel - haft, wo der Kampf mit der Grundherrlichkeit beginnt. Allein ganz anders iſt es mit der zweiten Gruppe, die, wie geſagt, nicht mehr eine Unfreiheit, ſondern nur eine Beſchränkung der Freiheit des Einzel - eigenthums enthält. Beſchränkungen dieſer Freiheit aber gibt es im ganzen Staatsleben. Während die Unfreiheit mit der Staatsidee daher in entſchiedenem Widerſpruche ſteht, iſt es nicht an und für ſich noth - wendig, daß es keine Beſchränkung des Einzeleigenthums durch irgend eine Geſtaltung des gemeinſchaftlichen Eigenthums gebe; ja im Gegen - theile iſt eben dieſe Gemeinſchaft des Eigenthums vielfach die einzige Bedingung, um die Zwecke der Einzelnen zu erreichen. Daher denn wird die Aufhebung dieſer Gemeinſchaft nicht an und für ſich durch das Weſen des Staats, oder durch das der perſönlichen Freiheit237 gefordert; der Staat kann allerdings aus einer Reihe von Gründen dieſelbe fordern, allein er kann ſie auch beſtehen laſſen, wenn die Zwecke der wirthſchaftlichen Verwaltung beſſer durch ſie als durch ihre Aufhebung gefördert werden. Und dieß wird ſich weiter unten genauer zeigen. So ſind jene beiden Gruppen weſentlich von einander verſchieden, trotz der Gleichartigkeit ihres Urſprungs und der Bewegung ihres öffentlichen Rechts. In dieſem Sinne muß man nun auch das öffentliche Recht derſelben ſcheiden, um ſo mehr als die Geſchichte des erſteren, wie die der Entlaſtung eine abgeſchloſſene iſt, während die zweite noch keineswegs als eine fertige anzuſehen iſt. Und auf dieſen Grundlagen nennen wir das öffentliche Recht der erſten Gruppe die Ablöſung, das der zweiten die Gemeinheitstheilung.

II. Die germaniſchen Grunddienſtbarkeiten und Verhältniß zur römiſchen servitus.

Die ziemlich allgemeine Verwirrung in Begriffen und Ausdrücken, welche einerſeits durch die faſt beſtändige Verwechslung der Worte und Begriffe von Entlaſtung und Ablöſung, anderſeits durch die der ger - maniſchen Bann - und Nutzungsrechte mit den römiſch-rechtlichen servi - tutes praed. rustic. entſtanden iſt, zwingt uns hier, als Grundlage dieſes Theiles der Verwaltungslehre einen Schritt weiter zu gehen, und ſtatt einfach das Verhältniß der Ablöſungen formell im Anſchluß an die Ent - laſtung zu erledigen, vielmehr das Weſen ihres Rechtes mit dem Inhalt deſſelben zu verbinden, und wo möglich die Frage nach den germaniſchen (deutſchen) Dienſtbarkeiten und ihrem Verhältniß zu der römiſchen servitus auf die ihr einzig entſprechende Baſis zurückzuführen.

Der formelle Begriff der Ablöſung iſt ein ſehr einfacher. Die Ablöſung iſt die, durch freiwillige Vereinbarung oder durch Geſetz voll - zogene Anwendung der Grundſätze der Entlaſtung auf die germaniſch - (deutſch -) rechtlichen Dienſtbarkeiten.

Unter dem Begriff der Dienſtbarkeit verſtehen wir auch hier diejenigen Verpflichtungen, welche der Einzelne vermöge ſeines Grund - beſitzes gegen den andern gleichfalls in Beziehung auf ſeinen Grund - beſitz hat, ſo daß dieſe Dienſtbarkeiten vielmehr als Rechte des einen Grundbeſitzes an dem andern erſcheinen, welche indem ſie durch den Beſitzer des einen ausgeübt werden, für den Beſitzer des andern als Beſchränkung ſeiner Freiheit ſind.

Jede Dienſtbarkeit iſt daher in der That das Eigenthum an einem beſtimmten einzelnen Gebrauch eines beſtimmten Grundbeſitzes, das aber, entſtanden durch die wirthſchaftlichen Bedürfniſſe des letzteren,238 auch nur als ein Inhalt des wirthſchaftlichen Lebens nicht der Perſon des Beſitzers, ſondern des berechtigten Grundſtückes ſelbſt erſcheint, und dadurch ein Theil des Eigenthums des letzteren wird.

Es ſind daher ſo viele Dienſtbarkeiten möglich, als es möglich iſt, ſelbſtändige Benutzungsformen eines Grundſtückes durch ein anderes zu unterſcheiden. Es iſt an ſich gar keine ſolche Benutzungsform von dem Begriffe der Dienſtbarkeit ausgeſchloſſen. Es macht daher an ſich gar keinen Unterſchied, ob der Weg (Gebrauch zum Uebergehen), das Waſſerholen (Gebrauch des Waſſers, mit ſeiner Bedingung, dem Weg zum Waſſer) u. ſ. w., oder die Benützung der Weide, oder die des Waldes, als Eigenthum eines andern Grundſtückes hingegeben werden. In dem Objekt das iſt der Gebrauchsform liegt daher kein Unterſchied der germaniſchen und römiſchen Dienſtbarkeiten.

Eben ſo wenig beſteht dieſer Unterſchied in der Unauflöslichkeit des in der Dienſtbarkeit gegebenen rechtlichen Verhältniſſes. Denn mag man die Bezeichnung der germaniſchen und römiſchen Dienſtbar - keiten ſonſt ſetzen wo man will, immer ſind ſie alle durch freie Ver - einbarung der Betheiligten zu löſen. Darüber iſt kein Zweifel. Im Gegentheil hört der Begriff der Dienſtbarkeit überhaupt da auf, wo die Aufhebung eines ſolchen Rechtsverhältniſſes nicht mehr von dem Willen der Einzelnen abhängt, und eben daher dem öffentlichen Recht angehört, das iſt, eine von der Verwaltung geforderte, ſomit öffentlich rechtliche Dienſtbarkeit iſt, wie z. B. der Leinpfad u. a. m. Hier iſt wohl eine Verwechslung kaum möglich.

Wenn es daher einen wirklichen und tiefgreifenden Unterſchied zwiſchen der germaniſchen und römiſchen Dienſtbarkeit gibt und daß es einen ſolchen gibt, iſt ja wohl nicht zweifelhaft ſo muß dieſer Unterſchied nicht im Weſen der Dienſtbarkeit an ſich liegen. Wir laſſen hier die ganze, namentlich im vorigen Jahrhundert und auch noch im gegenwärtigen ſo viel ventilirte Frage vorläufig bei Seite, ob die Real - laſten servitutes in faciendo ſeien oder nicht eine Frage, die nur aus der Verzweiflung an einem klaren Begriffe und aus dem Mangel der Kenntniß von der geſellſchaftlichen Grundlage des Rechts entſtehen konnte. Daß aber auch in dem Gebiete der eigentlichen servitus bei völliger Gleichheit aller übrigen Momente ein tiefer Unterſchied zwiſchen germaniſchem und römiſchem Recht beſteht, iſt von jeher gefühlt. Um ſeinen wahren Grund zu ſuchen, muß man allerdings den bisherigen Standpunkt hier wie im ganzen Gebiete der Vergleichung beider großer Rechtsbildungen aufgeben, und nicht einzelne Rechtsverhält - niſſe vergleichen wollen. Man muß vielmehr dieſen wie jeden andern Unterſchied des germaniſchen und römiſchen Rechts auf das Weſen,239 den lebendigen Kern beider Rechtswelten, zurückführen. Wir nun faſſen, ohne hier auf tiefere Erörterung einzugehen, dieſen welthiſtoriſchen Unter - ſchied in ſeine einfachſte Formel zuſammen; der Unterſchied zwiſchen der germaniſchen und römiſchen Dienſtbarkeit und aller Folgeſätze ergibt ſich dann, wie wir glauben, mit voller Klarheit aus jenem oberſten Lebensprincip beider Rechte.

Das römiſche Recht iſt nämlich das großartigſte Rechtsſyſtem für das Rechtsleben grundſätzlich freier und gleicher Individuen, alſo für das vollſtändig freie Eigenthum und den vollſtändig freien Verkehr. Das römiſche Recht iſt daher das Privatrecht der ſtaatsbürger - lichen Geſellſchaftsordnung.

Das germaniſche (deutſche) Privatrecht dagegen enthält diejenigen Beſchränkungen des an ſich für alle gleichen Privatrechts, welche aus der Geſchlechterordnung entſtehen und die Principien und Forderungen derſelben in Beziehungen auf Perſonen, Sachen und Verkehrsleben zur Geltung bringen. Das germaniſche Privatrecht iſt daher das Privat - recht der Geſchlechterordnung. Das deutſche Privatrecht unter - ſcheidet ſich von dieſem germaniſchen Privatrecht dadurch, daß es außer den rechtsbildenden Elementen der Geſchlechterordnung auch noch die der ſtändiſchen Ordnung aufnimmt, und mit den erſteren verarbeitet. In dieſem Punkte ſind das deutſche Privatrecht und das franzöſiſche droit coutumier nur zwei faſt ganz gleichartige Ausdrücke deſſelben Rechtsſyſtems, während das engliſche Privatrecht nur die Geſchlechter - ordnung enthält, und daher die reinſte Form der urſprünglichen Ele - mente darſtellt.

Es iſt nun nicht Sache der Verwaltungslehre, die hiſtoriſchen Verhältniſſe zu verfolgen, die ſich hieraus ergeben. Allein jedes Rechts - gebiet, und ſo auch das der Dienſtbarkeiten, hat nun ſeit dem Mittel - alter jene beiden Grundformen, die einander ebenſo unvermittelt be - kämpfen, wie die Geſchlechter und die ſtändiſche Ordnung überhaupt. Und das gilt nun auch von den Dienſtbarkeiten.

Die römiſch-rechtliche Dienſtbarkeit iſt nämlich darnach diejenige, bei der als Entſtehungs - und damit als Rechtsgrund der Vertrag der Betheiligten, oder eine den Vertrag erſetzende Verjährung angenommen wird. Sie erſcheint daher niemals als Theil und Glied, als Erfüllung und Conſequenz einer andern, größeren und allgemeineren Ordnung des Grundbeſitzes; es iſt dem Römer gar nicht möglich ſie, wie wir ſagen würden, als Theil einer Agrarverfaſſung zu denken. Da ſie nun ihrerſeits auf einer ſolchen nicht beruht, ſo kann ſie auch ohne alle Beziehung zu irgend einer andern allgemeinen Frage verſtanden und ju - riſtiſch beurtheilt werden; man bedarf dazu gar nichts, als den Inhalt240 des Vertrages und die Natur des ganz ſpeciellen Gebrauches und bildet aus beiden das Recht der Servituten. Eben ſo folgt, daß jede einzelne und alle Servituten als Geſammtheit ohne irgend eine weitere Folge, die über die Rechtsſphäre der Betheiligten hinausginge, aufgehoben oder geändert werden können. Es iſt daher dem römiſchen Recht an und für ſich undenkbar, daß die Geſetzgebung ſolche Servituten auf - heben oder verbieten ſollte; ſie ſind eine einfache Erſcheinung des freien Verkehrs zwiſchen freien und gleichen Individuen. Der Begriff der römiſchen servitus ſchließt daher jeden Begriff der Ablöſung aus; weder der Gedanke noch das Wort können im corpus juris vor - kommen; ja man würde die Ablöſung eben ſo wenig ins Lateiniſche überſetzen können, wie das Lehen oder die Grundentlaſtung.

Die germaniſch und deutſch-rechtliche Dienſtbarkeit im weiteren Sinne iſt dagegen ein Rechtsverhältniß zwiſchen Grundſtücken und Per - ſonen, das entweder durch die Klaſſenverhältniſſe der Geſchlechterordnung oder durch die Abtheilungen der Ständeordnung erzeugt wird, und daher ohne Zuthun des Einzelnen entweder aus dem bevorrechteten grundherrlichen Beſitz oder der bevorrechteten ſtändiſchen Körperſchaft (Kirche, Zunft ꝛc. ) hervorgeht. Der Grund und Inhalt dieſer Dienſtbar - keiten im weiteren Sinne ruhen daher nicht auf einem Vertrage, denn es gibt keinen Vertrag, aus dem die Grundherrlichkeit oder die Zunft hervorgegangen wäre, ſondern auf der beſtimmten Geſtalt der Geſell - ſchaft, indem ſie die Ober - und Unterordnung, den geſellſchaftlichen Unterſchied, im Gebiete des Beſitzes und Erwerbes fortſetzen, und ihr damit Natur und Form eines Privatrechts, eventuell eines durch den Einzelnen gegen den Einzelnen geltend zu machenden Rechtes geben. Die Beſeitigung dieſer Rechte iſt daher keineswegs eine Angelegenheit, die zwiſchen einzelnen Contrahenten abgeſchloſſen werden könnte, ſondern ſie iſt eine Angelegenheit der ganzen Geſellſchaftsordnung. Die Dienſt - barkeit und das Bann - und Zunftrecht ſind in dieſem Sinne ſelbſt - verſtändlich, denn ſie ſind mit der größeren Thatſache, der Geſellſchafts - ordnung, von ſelbſt gegeben. Ihr Rechtsgrund iſt dieſe Ordnung ſelbſt. Die Betheiligten können ſie daher auch gar nicht auflöſen, weil eine ſolche Auflöſung das Princip der geſellſchaftlichen Ordnung ſelbſt er - ſchüttern, eine Verletzung oder Bedrohung der mit den Aufhebenden auf gleicher hoher ſocialer Stufe Stehenden ſein würde. Es war gar nicht denkbar, daß die Zünfte die Arbeit Einzelner, oder daß die Geſchlechter jede Dienſtbarkeit des Bauern hätten beſeitigen können; denn auch die ſocialen Ordnungen können nicht gegen die eigene Natur handeln. Das Juriſtenrecht dieſer Dienſtbarkeiten war daher nie die Unterſuchung des Rechts - oder Entſtehungstitels ſolcher Rechte, ſondern241 nur die ihrer Gränze; die Vertheidigung dieſer Rechte war nicht eine Vertheidigung von wirthſchaftlichen, ſondern von viel größeren ſocialen Intereſſen. Die römiſch-rechtlichen Grundſätze über servitutes waren daher hier principiell gar nicht anwendbar, ſo wenig wie bei den Grund - laſten; denn der Römer verſtand weder die Unfreiheit des Beſitzes noch die des Erwerbes. Und daher war es auch undenkbar, dieſe Dienſtbar - keiten und Bannrechte einfach den Parteien zur Beſeitigung im Wege der freien Vereinbarung zu überweiſen, wie das römiſche Recht es hätte thun müſſen. Es war gleich anfangs vollkommen klar, daß ſie als Ausflüſſe der beiden geſellſchaftlichen Ordnungen mit dieſen ſelbſt ſtehen oder fallen mußten. So wie daher die ſtaatsbürgerliche Geſellſchafts - ordnung beginnt, beginnt auch der Kampf gegen dieſelben; aber gleich - zeitig iſt es, und zwar von Anfang an klar, daß dieſer Kampf nur durch Staatsgeſetze zu Ende geführt werden kann. Die Aufhebung jener Rechtsverhältniſſe tritt daher nothwendig erſt mit dem durch die königliche Gewalt gegebenen Siege der neuen freien Geſchlechterordnung ein, geht mit ihr Schritt für Schritt vorwärts, und während ſie in England ſchon im 13. und 14. Jahrhundert ziemlich allgemein geſichert iſt, iſt ſie in Frankreich und Deutſchland von Anfang an ein integri - render Theil der Befreiung des Grundbeſitzes überhaupt, alſo ein Theil der Entlaſtung. Daher hat man beide mit einander ſo oft zuſammen - geworfen, und in der That ſind ſie in ihrer Selbſtändigkeit untrennbar, namentlich wenn man die Ablöſung auf die Dienſtbarkeiten der Ge - ſchlechterordnung begränzt, und wenn man eine ſcharfe äußere Gränze ſtatt der inneren für Entlaſtung und Ablöſung fordert, die unfindbar iſt, weil ſie nach der Natur der Geſchlechter und ſtändiſchen Unfreiheit gar nicht exiſtiren kann. In jedem Falle aber ſcheint nun das klar, daß eine Verſchmelzung des Begriffes und Weſens dieſer Rechtsverhält - niſſe mit dem römiſchen Recht und ſeinen servitutes nicht möglich iſt. Die germaniſch rechtlichen Dienſtbarkeiten haben ſehr oft einen ähn - lichen materiellen Inhalt wie die römiſchen, wenn auch nicht immer; ſtets aber haben ſie einen ganz andern Urſprung und eine ganz andere Natur, denn ſie ſind entweder die Dienſtbarkeiten der Geſchlechter - ordnung, das iſt die eigentlichen Herrenrechte (eigentliche Dienſt - barkeiten), oder die Dienſtbarkeiten, die aus der ſtändiſchen Ordnung in die Geſchlechterordnung übergehen, die Bannrechte, oder endlich die rein ſtändiſchen Dienſtbarkeiten, die Realgewerbe. Alle dieſe Dienſtbarkeiten ſtehen mit dem Begriff und Recht der freien ſtaats - bürgerlichen Perſönlichkeit und ihrem freien Eigenthum im Widerſpruch, haben aber als geſellſchaftliches Recht den Charakter einer öffent - lichen Rechtsordnung und werden daher erſt durch Geſetze beſeitigt, dieStein, die Verwaltungslehre. VII. 16242eine Aufhebung derſelben im Geiſte der neuen Geſellſchaftsordnung zur Pflicht der Betheiligten machen, und die Entſchädigung dafür durch Staatshülfe möglich machen. Dieſe Aufhebung heißt die Ablöſung.

Das nun iſt das Weſen dieſer Rechte und die Natur ihrer Be - ſeitigung. Und jetzt dürfte es ſehr leicht ſein, ohne daß es auch hier wie bei der Grundentlaſtung nothwendig wäre, tiefer in die hiſtoriſchen Verhältniſſe einzugreifen, im einfachen Anſchluß an die Grundherrlich - keit und Unfreiheit das Weſen dieſer einzelnen Rechte zu beſtimmen, und die Geſchichte ihrer Ablöſung an die der Entlaſtung anzuſchließen. Wir bleiben zu dieſem Ende am beſten bei der obigen Eintheilung.

III. Die Grunddienſtbarkeiten und ihre Ablöſung.

Unter den Grunddienſtbarkeiten verſtehen wir diejenigen Dienſt - barkeiten (im allgemein wiſſenſchaftlichen, nicht im römiſch-rechtlichen Sinne), welche aus der Unfreiheit der reinen Geſchlechterordnung in ihrer Beziehung auf den Grundbeſitz hervorgehen. Sie unterſcheiden ſich von den Grundlaſten dadurch, daß ſie nicht in Dienſten der un - freien Beſitzer beſtehen, und auch nicht das ganze Grundſtück umfaſſen, oder auf demſelben als ein immanenter Theil ſeines Rechts ruhen, ſon - dern nur einen ganz beſtimmten Gebrauch des dienenden Grundſtücks gegenüber dem herrſchenden enthalten, oder aber umgekehrt dem un - freien Grundſtück ein Gebrauchsrecht an dem herrſchenden geben.

Die tiefere hiſtoriſche Grundlage dieſer Herrenrechte beſteht nun darin, daß ſie im Grunde eine beſtimmte Geſtalt der Gemeinſchaft des Grundbeſitzes aus der alten Geſchlechterordnung ſind; nur mit dem weſentlichen Unterſchied, daß ſie das Eigenthumsrecht des Grund - herrn an dem urſprünglich gemeinſchaftlichen Grund und Boden ent - halten und zum Ausdrucke bringen. Das wird von großer Bedeutung auch für die Form der Entſchädigung. Jene Rechte erſcheinen nun faſt ausſchließlich in drei Formen: der Weidegerechtigkeit des Grund - herrn (Blumenſuchrecht u. ſ. w.), der Jagdgerechtigkeit deſſelben, und drittens in den Wald - und Forſtgerechtigkeiten der dienen - den Grundſtücke an dem Walde, wo derſelbe, anfänglich früher im Geſammteigenthum der Markgenoſſen, ſpäter zum Privateigenthum der Grundherren wird. Alle drei Rechte ſind die Fortſetzung der Gemein - ſchaft des Eigenthums der Markgenoſſen, aber in ihrer unfreien Form, und hängen ebenſo auf das Engſte mit der Gemeinweide, dem Gemein - wald und der Gemeinjagd zuſammen. Sie bedeuten, daß der Herr bei dem Erwerb des Privateigenthums an dem nichtvertheilten Grund und Boden ſich jene drei Rechte bei der Herſtellung der (unfreien) Grund -243 beſitzungen zurückbehalten hat. Sie weiſen daher nicht auf einen beſondern Rechtstitel hin, ſondern ſie ſind immanente Theile des herr - ſchaftlichen Rechts, und werden daher unbedingt von den Grund - herren in Anſpruch genommen, ohne daß dieſelben einen Beweis für ihre Berechtigung führen, ſondern dieſelbe als ſelbſtverſtändlich an - nehmen; wie Freidank an einer bekannten Stelle ſingt: (76. 5.)

Die vürsten twingent mit gewalt
uelt, steine, wazzer unde walt,
dar zuo wilt unde zam
si taeten lufte gerne alsam
der muoz uns noch gemeine sin.
möhtens uns der sonnen schin
verbieten, wint unde regen,
man müssen zins mit gelde wegen.

Daß dieß nun zum Theil mit Recht geſchah, da wo die Herren (vürsten) Hinterſaßen auf ihrem grundherrlichen Boden niederließen und ſich jene Rechte wirklich vorbehielten, zum großen Theile aber mit Un - recht, wo der Grundherr auch den urſprünglich freien Bauern jenen Rechten eben in der von uns bezeichneten Epoche der gewaltſamen Ver - ſchmelzung der beiden beherrſchten Klaſſen unterwarf, iſt leichtverſtänd - lich; daher der Unmuth der Bauern über Jagd - und Weiderecht, und daher auch das rückſichtsloſe Durchgreifen der Herren in dieſer Be - ziehung ſeit den Bauernkriegen. Eben ſo natürlich iſt die Geſtalt der Wald - und Forſtſervituten der Grundholden gegenüber dem Walde des Grundherrn; denn weder der eigentliche Bauer noch ſelbſt der Leib - eigene verlor jemals ganz die Vorſtellung, daß der Wald als nicht auf getheiltes[Gemeindegut] im Grunde den Gemeindemitgliedern eben ſo gut als der Herrſchaft gehöre, und daher jeder Inſaſſe das Recht habe, ſeinen Bedarf an Holz gerade aus dem ſpäter rein herrſchaftlichen Walde zu holen. Die vielfachen Streitigkeiten über alle jene Rechte enthielten daher ſelten einen Streit über das Rechtsprincip, ſondern waren meiſtens Verſuche, jenen Rechten eine feſte Gränze zu geben; und man kann im Allgemeinen ſagen, daß dieß mit dem Beginne des 18. Jahrhunderts geſchieht. Das iſt nun aber auch zugleich die Zeit, in der der Kampf gegen dieſelben beginnt. Es iſt nicht zu überſehen, daß die Frage nach dieſen Rechten, ſo viel wir ſehen, niemals in den von uns charakteri - ſirten Streit über die Unfreiheit der Bauern im Allgemeinen und über die gemeſſenen und ungemeſſenen Frohnden einbezogen iſt (ſ. oben). Denn bei ihnen trat der Charakter des Privateigenthums viel zu ſehr in den Vordergrund, namentlich in Analogie des römiſchen Servituten -244 rechts. Von Seiten der Rechtswiſſenſchaft beſchränkt ſich, und zwar bis auf die neueſte Zeit, die Theilnahme an dieſer Bewegung zur Frei - heit weſentlich auf die Conſtatirung der rechtlichen Beſchränkung jener Dienſtbarkeiten. Erſt mit dem Entſtehen der Nationalökonomie beginnt der Zweifel, ob ein Aufſchwung der Landwirthſchaft, wie ihn die Phyſio - kraten forderten, ohne Beſeitigung oder doch möglichſt enge Beſchrän - kung jener Rechte möglich ſei. Damit ſchließt ſich dieſe Frage ſo enge an die Bewegung für die Grundentlaſtung an, daß ſie mit derſelben faſt allenthalben zu einem Ganzen verſchmilzt. Doch erhielt namentlich die Lehre des deutſchen Privatrechts auch theoretiſch das Bewußtſein, daß dieſelben im Grunde doch ſelbſtändig zu beachten ſeien, während andererſeits die praktiſche Nationalökonomie die verderblichen Folgen jener Servituten theils für die eigentliche Land -, theils für die Forſt - wirthſchaft ſpeciell behandeln lehrte. (Als Hauptbeiſpiele beider Rich - tungen Mittermaier, deutſches Privatrecht, §. 166 ff., und Rau, Verwaltungspflege, §. 72 ff.) Dieſe Selbſtändigkeit kam nun zum Vor - ſchein, als die wirkliche Entlaſtung begann. Denn hier war es ſogleich klar, daß man den Entſchädigungsmaßſtab der Entlaſtung ſchon aus wirthſchaftlichen Gründen an jene Herrenrechte nicht einfach anlegen könne, ohne zu großer Härte gegen die letzteren zu gelangen. Schließt man dieſe Anmerkung an die obige Geſchichte der Entlaſtung, ſo ergiebt ſich, daß die Ablöſung naturgemäßſtets dem letzten Abſchnitt des Entlaſtungsweſens angehört. Es iſt das Gefühl verbreitet, daß das Beſtehen dieſer Herrenrechte keinen direkten Widerſpruch mit der Freiheit des Eigenthums enthalte, und daß die Ablöſung als volkswirthſchaftliche Entwährungsmaßregel aus der Ent - laſtung als geſellſchaftlicher Entwährung ſich von ſelbſt ergeben werde. Daher denn die Erſcheinung, daß die Ablöſungen (alſo wohl zu unterſcheiden von den Entlaſtungen, obwohl die Ent - laſtungsgeſetze bekanntlich vielfach Ablöſungen hießen) vor 1848 ſo gut als gar nicht zur Geltung kommen, dagegen ſeit 1848 entweder in die neuen Entlaſtungsgeſetze inbegriffen ſind, oder als ganz ſelbſtändige Ge - ſetze erſcheinen. Sie gehören damit in dieſelbe Kategorie wie die Auf - hebung des eigentlichen Lehenrechts, welche gleichfalls erſt ſucceſſiv nach der Entlaſtung in vielen Staaten auftritt (ſ. oben.) Ebenſo erklärt es ſich aus dieſer Natur der eigentlichen Ablöſung, daß die Geſetzgebung über dieſelbe ſchon vor der wirklichen Entwährung zum Rechte vielfach als Landeskulturgeſetze namentlich auf Grundlage der Nothwendig - keit einer tüchtigen Wieſenkultur erſcheint. (Vgl. für Preußen Rönne, Staatsrecht II. §. 377. u. a. O.) Es wird gleichfalls auch hier keiner eingehenden Darſtellung bedürfen, daß aus den gleichen Gründen die245 Geſchichte der Ablöſung zugleich eine weſentlich territoriale iſt, ſich anſchließend an die mehr oder weniger ausgebildete Entwickelung der Verwaltung der Volkswirthſchaft oder, wie ſie gewöhnlich heißt, der Landeskultur, und daher auch in die unbeſtimmte Gruppe der Agrar - verfaſſungen aufgenommen wird. Das, was alle dieſe vereinzelten und zum Theil ſehr verſchiedenen Erſcheinungen der Ablöſung indeß zuſammenhält und ſie für die Verwaltungslehre als ein Ganzes erſcheinen läßt, iſt nun die eben bezeichnete Verbindung mit dem Proceß der Ent - laſtung. Faſt ausnahmslos iſt daher die Ablöſung ſeit 1848 der Ent - laſtung gefolgt, und das Recht derſelben iſt wie die folgenden faſt aus - nahmslos nur noch als hiſtoriſche Thatſache zu betrachten. Wir glauben daher unſerm Zwecke zu genügen, wenn wir kurz die betreffende Geſetz - gebung hier angeben.

Was zunächſt Oeſterreich betrifft, ſo hatte allerdings ſchon das Patent vom 7. September 1848 auch die Ablöſungen in Ausſicht ge - ſtellt, und das Weiderecht (Blumenſuchrecht der Obrigkeit = Grund - herren) ſo wie die gegenſeitige Brachweide ohne Entſchädigung auf - gehoben. Allein die vollſtändige und eigentliche Ablöſung begann erſt mit dem Patent vom 5. Juli 1853, dem die Ausführungsverord - nung vom 3. September 1855 und 31. Oktober 1857 folgten, durch welche eigene noch jetzt thätige Commiſſionen zur Ablöſung, zum Theil aber auch, namentlich bei Forſtdienſtbarkeiten, zur ſtrengen Re - gulirung eingeführt wurden. Die Ablöſung zeigt hier vielleicht am deutlichſten in ganz Deutſchland ihren ſpecifiſchen, von der Entlaſtung verſchiedenen Charakter, indem trotz der entſchiedenen Durchführung der letzteren für die erſtere die Regulirung ſtatt der Ablöſung ein - treten kann, wenn höhere Rückſichten der Landeskultur oder genügendes Einverſtändniß der Berechtigten und Verpflichteten der Ablöſung entgegen ſtehen. Dabei iſt das Jagdrecht vollſtändig aufgehoben, und die Ein - führung neuer ähnlicher Rechte nur unter der ausdrücklichen und behörd - lich genehmigten Beſtimmung der künftigen Ablösbarkeit geſtattet worden (Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. 446. 448. Judeich S. 30).

Denſelben Charakter trägt nun, wenn auch in ganz andern Formen, die Ablöſungsgeſetzgebung Preußens. Preußens Recht zeichnet ſich dadurch aus, daß hier jeder der drei Theile der Ablöſung wieder ſeine eigene Geſchichte hat. Die Forſtſervituten nämlich ſind bereits im vorigen Jahrhundert unter den Geſichtspunkt der verwaltungsrechtlichen Forſtpflege oder der ſog. Forſtpolizei gebracht, und ohne Rückſicht auf Grundherrlichkeit und Bauernrecht den adminiſtrativen Beſtimmungen unterworfen, ſo daß hier für die eigentliche Ablöſung, das Verhältniß zwiſchen Grundherrn und Eigenen, nur wenig übrig blieb. Die246 Geſchichte der Forſtdienſtbarkeiten ordnet ſich daher gänzlich dem Forſt - verwaltungsrecht unter, und die Geſetzgebung betreffs der letzteren iſt, obwohl eine faſt ausſchließlich principielle, dennoch, namentlich ſeit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, eine höchſt fruchtbare. (Die einzelnen Forſtordnungen die erſte für die Neumark von 1500, bei Rönne Staatsrecht II. §. 382.) Die definitive Aufhebung der letzten Forſt - ſervituten fällt dann zuſammen mit der Ablöſungsordnung der Dienſt - barkeiten überhaupt, welche dann wieder mit der Gemeinheitstheilung durch die Gemeinheitstheilungsordnung vom 7. Juni 1821 hergeſtellt ward. Das Princip dieſer Ablöſungen aller Forſt -, Acker - und Weide - ſervituten iſt nun ein vorzugsweiſe landwirthſchaftliches; das ſociale Element des Gegenſatzes von freien und unfreien Grundſtücken kommt dabei anfänglich weder zur Erſcheinung noch zum Bewußtſein. Die Ablöſung ſelbſt hat daher mehr den Charakter einer actio communi divi - dundo; ſie findet ſtatt auf Antrag der Berechtigten wie bei der Gemein - heitstheilung, und die Entſchädigung ſelbſt iſt in der That mehr eine Theilung als eine Entſchädigung, indem die Ablöſung der Regel nach durch Land geſchehen ſoll. Dabei blieben denn allerdings manche Punkte unerledigt, welche erſt im Jahre 1850 entſchieden wurden. Das Geſetz von 1850 hob das Jagdrecht ohne Entſchädigung auf, und das Gemein - heitstheilungsgeſetz vom 19. Mai 1851 führte die Grundſätze der alten Theilungsordnung von 1821 theils in einzelnen Gebieten ein, wo ſie noch gegolten hatte, theils ordnete ſie unerledigte Punkte. Im Ganzen erſcheint alſo das Ablöſungswerk, obgleich viel früher als in Oeſterreich begonnen, doch auch in Preußen erſt nach 1848 (Judeich S. 43. Rönne II. §. 370. 381. 382). Ebenſo wurden in Bayern die Weide - gerechtigkeiten erſt durch Geſetz vom 28. Mai 1852 ablösbar gemacht, jedoch nur auf Majoritätsbeſchluß der Pflichtigen; die Forſtſervituten, die nicht den Charakter von Gegenleiſtungen an ſich tragen, ohne, die übrigen gegen Entſchädigung aufgehoben, und zwar wie in Preußen nicht als geſellſchaftliche, ſondern als forſtwirthſchaftliche Maßregel im Forſtgeſetz vom 28. Mai 1852 (Pözl, Verwaltungsrecht §. 60. 73. Judeich S. 84). Was Württemberg betrifft, ſo wurde das Jagd - recht ohne Entſchädigung aufgehoben durch Geſetz vom 7. Auguſt 1849 und 27. Oktober 1855, eben ſo die meiſten Feldſervituten; jedoch ſchei - nen hier manche einzelne noch zu beſtehen (Judeich S. 95. 96). Baden hob alle Weiderechte gegen Entſchädigung durch Geſetz vom 31. Juli 1848 auf, das Jagdrecht durch Geſetz vom 10. April und 26. Juli 1848. Das Königreich Sachſen hatte dagegen alle Weiderechte bereits 1832 für ablösbar erklärt; das Jagdrecht wurde jedoch erſt in Gemäßheit der Publikation der deutſchen Grundrechte vom 2. März 1849 ohne247 Entſchädigung aufgehoben, doch die Entſchädigung durch Geſetz vom 25. November 1858 wieder eingeführt. In Hannover: Aufhebung des Jagdrechts (Geſetz vom 29. Juli 1850), Ablösbarkeit der Forſtſervi - tuten (Geſetz vom 13. Februar 1850), der Weidegerechtigkeit (auf An - trag der Verpflichteten) nach Geſetz vom 8. November 1856. Im Kurfürſtenthum Heſſen wurden dagegen bereits durch Geſetz vom 29. Februar 1832 alle Jagd - und Forſtgerechtigkeiten ablösbar gemacht, das Jagdrecht durch Geſetz vom 1. Juli 1848 gegen eine kleine Ent - ſchädigung aufgehoben; dagegen durch Verordnung vom 26. Januar 1854 gegen Rückzahlung der Entſchädigungsbeträge wiederhergeſtellt! Die Weidegerechtigkeiten fallen unter das Ablöſungsgeſetz vom 20. Juni 1850. Im Großherzogthum Heſſen trat die Ablösbarkeit der Weide - rechte durch Geſetz vom 7. Mai 1849 ein, das Jagdrecht ohne Ent - ſchädigung durch Geſetz vom 26. Juli 1848 aufgehoben, jedoch nicht bei nachweisbar oneroſem Erwerb; das Geſetz vom 2. Auguſt 1858 ſtellte dagegen das Jagdrecht wieder her! Oldenburg hob die Forſtſervi - tuten ohne Entſchädigung auf im Geſetz vom 1. März 1851; doch iſt die weitere geſetzliche Regulirung der beſtehenden Holz -, Maſt -, Wald - ſtreu und Holzleſeberechtigungen weiteren geſetzlichen, bis jetzt nicht erfolgten Beſtimmungen vorbehalten. Sachſen-Weimar hat die nicht durch oneroſen Vertrag erworbenen Jagdrechte durch Geſetz vom 1. März 1850 gegen Entſchädigung aufgehoben, die Trift - und Hutungs - befugniſſe durch Geſetz vom 22. Oktober 1853 für ablösbar erklärt, Sachſen-Gotha das Jagdrecht durch Geſetz vom 24. November 1848 und 17. Auguſt 1849 aufgehoben, die Trift - und Hutungsbefugniſſe ſind nach dem Ablöſungsgeſetz vom 5. November 1853 ablösbar, ebenſo in Sachſen-Meiningen. Geſetz vom 1. September 1848, Jagd - recht; Geſetz vom 5. Mai 1850, Weiderechte. In Naſſau Auf - hebung des Jagdrechts ohne Entſchädigung durch Geſetz vom 15. Juli 1848, auch hier hergeſtellt durch Verordnung vom 20. September 1855 und Geſetz vom 9. Juni 1860; die Weiderechte fallen unter die allgemeine Ablöſung. In Braunſchweig iſt dagegen das Jagdrecht definitiv aufgehoben, jedoch gegen eine mäßige Entſchädigung, durch Geſetz vom 8. September 1848 und 16. April 1852; die Felddienſtbarkeiten ſind bereits ſeit 20. December 1834, in fernerer Ausführung durch Geſetz vom 18. Februar 1860, nebſt den Forſtſervituten für ablösbar erklärt. Die Ablöſung geſchieht durch Kapital oder Rente. Ueber das Forſtrecht Geſetz vom 3. Juli 1851 und 7. Februar 1857, welche für das alte Recht des Geſammteigenthums an den großen Communionharzforſten und den Sieg der ſtaatlichen Verwaltung über das gemeinſchaftliche Forſteigenthum viele höchſt beachtenswerthe Geſichtspunkte darbieten. 248Die übrigen kleinen Staaten ſ. bei Judeich S. 183 ff., wo aber oft die genaueren Angaben im Einzelnen nicht vollſtändig zu finden ſind. Im Weſentlichen jedoch gelten die allgemeinen Grundſätze hier wie bei der Entlaſtung.

Uebrigens können wir nicht umhin, die Frage nach der Aufhebung des Jagdrechts in ihrem Verhältniß zu den daraus entſtandenen neuen Grundſätzen für die Verwaltung der Jagd hier zu bezeichnen.

Jene Frage nach der Aufhebung des Jagdrechts in ſeiner alten Geſtalt iſt weſentlich auch in Folge dieſer ziemlich entgegengeſetzten Bewegungen in der deutſchen Geſetzgebung ſeit dem letzten Jahrzehent wieder vielfach angeregt und zugleich vom Standpunkt des Privatrechts unterſucht worden. Ein Hauptwerk für die hiſtoriſche Darſtellung des grundherrlichen Jagdrechts bleibt Stiegleben, Geſchichtliche Darſtel - lung der Eigenthumsverhältniſſe an Wald und Jagd in Deutſchland (1832). Stiegleben ſagt ſchon damals die Aufhebung des Jagdrechts auf fremdem Boden als die natürliche Conſequenz der Aufhebung des Unterthanverhältniſſes voraus. Der Standpunkt, den die deutſchen Geſetze im Allgemeinen in Beziehung auf die freie Jagd einnehmen, iſt allerdings ſeit 1848 nicht der der bloßen Ablöſung der grundherr - lichen Rechte, ſondern zugleich die Organiſirung des Jagdrechts nach volkswirthſchaftlichen Principien, mit dem Streben, den Wildſtand gegen die Vernichtung durch unregelmäßige Benutzung der Jagdfreiheit zu ſchützen, und dieſe Beſtimmungen gehören daher unter das Verwal - tungs-Recht der Jagd. Doch mögen hier die leitenden Gedanken, welche als allgemeines Jagdrecht Deutſchlands angeſehen werden können, Platz finden. Die grundſätzlichen Beſchränkungen ſind theils auf die perſön - liche Ausübung der Jagd gerichtet (Jagdſcheine, Waffenpäſſe), theils beſchränken ſie ſachlich die Ausübung, namentlich indem ſie eine gewiſſe Größe oder Geſchloſſenheit der Grundſtücke fordern, endlich indem ſie die Ausübung der Jagd den Gemeinden im Wege der Verpachtung vorſchreiben. Die Hauptbeſtimmungen dafür ſind in den Ablöſungs - geſetzen enthalten. Oeſterreich, Patent vom 7. März 1849. Preußen, Jagdpolizeigeſetz vom 7. März 1850. Bayern, Geſetz vom 30. März 1856. Hannover, Geſetz vom 29. Juli 1850. Baden, Geſetz vom 2. December 1850. Württemberg, Geſetz vom 27. Oktober 1855. Königreich Sachſen, Verordnung vom 13. Auguſt 1849 und Geſetz vom 13. Mai 1851. Mit Recht bemerkt Brünnek im Archiv für Civilpraxis Bd. 648. Heft 1. S. 80 ff., daß die deutſchen Geſetze zum großen Theil die franzöſiſche Geſetzgebung als Muſter gehabt haben; doch iſt das Geſetz vom 30. April 1790 noch reine Ablöſung, während249 die Decrete vom 11. Juli 1810 und 4. Mai 1811 die Grundlagen der Verwaltung enthalten, die dann das Geſetz vom 3. Mai 1844 in einem förmlichen Syſtem abſchließt. Die Verordnung vom 8. Februar 1854 für Schleswig-Holſtein hat die Jagd an die Grundherren zurückgegeben, jedoch mit der geſetzlichen Anerkennung der Ablösbarkeit, welche hier ſpeciell auf die Ablöſung durch die Gemeinden beſchränkt iſt.

IV. Die Bannrechte.

Einen weſentlich verſchiedenen Inhalt von den Grunddienſtbarkeiten haben die Bannrechte. Die formale Bezeichnung derſelben iſt be - kannt genug. Die Bannrechte enthalten die Verpflichtung der Grund - ſaſſen einer beſtimmten Oertlichkeit, gewiſſe Produkte nur von einem einzeln beſtimmten Gewerbe zu kaufen, und ſomit die eigene Produktion dieſer Produkte nicht vorzunehmen. Dieſe Bannrechte empfangen Art und Namen nach den Arten dieſer Produktion: Mühlenbann, Brauerei -, Brennerei -, oft auch Weinzwang (Schenkgerechtigkeit, Propination). Es iſt kein Zweifel, daß dieſe Bannrechte nur zum Theil durch die Grund - herrlichkeit, zum Theil aber auch durch freie Verabredungen der Ge - meinden entſtanden ſind. Sie gehören daher nur zum Theil der Ge - ſchlechterordnung an, und bilden diejenige Form der wirthſchaftlichen Unfreiheit, welche bereits unter die gewerbliche Unfreiheit gezählt werden muß, nur daß ſie vielfach aus der Abhängigkeit des Grundes und Bo - dens entſtanden ſind, und daher auch, abgeſehen von der Befreiung des Gewerbes, mit derjenigen der Grundſaſſen Hand in Hand gehen mußten. Bei ihnen gilt jedoch noch mehr wie bei den Grunddienſtbar - keiten, daß man ſie nicht als einen immanenten Theil der Entlaſtung aus dem obigen Grunde betrachtete, ſondern ihre Aufhebung war viel - mehr die Ausdehnung des Princips des freien Eigenthums auf den freien Erwerb, ein Theil des Kampfes mit der ſtändiſchen Unfreiheit, die erſt durch die Gewerbefreiheit gänzlich beſeitigt wird. Allein ihre Verbindung mit der Abhängigkeit des Grundbeſitzes hat ſie dennoch mit der Geſchichte der Entlaſtung verbunden und zwar als das zweite Gebiet der Ablöſung; nur daß hier die Entſchädigungsfrage zuerſt die - jenige Geſtalt bekommt, welche bereits die Gränze der Entwährung be - zeichnet. Es fragt ſich nämlich bei ihnen, was bei der Entlaſtung und der Ablöſung an ſich gar nicht zweifelhaft iſt, ob überhaupt ein wirth - ſchaftlich beſtimmt berechenbarer Werth dieſer Rechte vorhanden iſt, und ob daher auch bei voller Anerkennung des Princips der Entſchä - digung eine ſolche überhaupt ſtattfinden kann. Von dieſen Geſichts - punkten aus iſt die Geſchichte der Aufhebung der Bannrechte zu beur - theilen. Die leitenden Grundſätze für dieſes, gleichfalls bereits hiſtoriſch250 beinahe ganz beſeitigte Syſtem der Unfreiheit der ländlichen Gewerbs - produktion ſind folgende.

Bereits im vorigen Jahrhundert beginnen die Regierungen, wenn auch nicht im Namen der bäuerlichen und geſellſchaftlichen Freiheit, ſo doch im Namen des volkswirthſchaftlichen Wohles der Bevölkerung, dieſen Bannrechten ſo weit als möglich Grenzen zu ſetzen. Dieſe Grenzen werden anfänglich nur auf die juriſtiſche Natur jener Rechte begründet. Es wird der Grundſatz aufgeſtellt, daß daß Vorhandenſein der Bannrechte bewieſen werden müſſe (Mittermaier §. 531, Runde §. 279); es wird ausdrücklich erklärt, daß aus der Conceſſion eines Privilegiums, z. B. zur Errichtung einer Mühle, noch kein Bann - recht folge (Runde §. 282). Der Berechtigte muß die Anſtalt in gutem Stande erhalten, und wo dieß nicht der Fall iſt, kann der Verpflichtete ſich anderer Anſtalten bedienen (Bad. Landrecht §. 710). Der Einzelne hat auch gegenüber dem Bannrechte das Recht, ſeine eigenen Bedürf - niſſe durch eigene Arbeit zu befriedigen (Preußiſches Landrecht §. 14 49) und andere Punkte. Allein alle dieſe Beſtimmungen mußten ſich, da ſie doch am Ende nur durch koſtſpielige Proceſſe verwirklicht werden konnten, als unpraktiſch erweiſen; das wahre Bedürfniß, die Nothwen - digkeit vollkommen freier gewerblicher Bewegung, mußte von einer andern Seite kommen. Hier nun brach Preußen unter Stein die Bahn. Der Charakter der Stein’ſchen Verwaltung iſt es überhaupt, daß die ſtaats - bürgerliche Freiheit zunächſt als bürgerliche Gewerbsfreiheit zur Geltung kommt, und die Freiheit des Grundbeſitzes erſt in zweiter Linie ein - tritt. Die Anwendung dieſes Princips auf die Bannrechte lag nahe. Das Edikt vom 28. Oktober 1810 hob ganz einfach alle Bannrechte (Mühlen -, Brau -, Brenn - und Schenkzwang) auf, und zwar ohne Entſchädigung, da die Theorie und die Erfahrung beweiſen, daß die Aufhebung der Zwangs - und Bannrechte in der Regel keineswegs die Einnahmen der früher Berechtigten mindert, nur bei merklichem Schaden ſoll eine Entſchädigung eintreten. Dieſem erſten Schritte folgte jedoch um ſo weniger ein zweiter, als überhaupt die Entlaſtung ſeit den Be - freiungskriegen in Stillſtand gerieth; ſelbſt in Preußen kam erſt mit dem 31. Oktober 1825 eine Inſtruktion für das ſchiedsrichterliche Ver - fahren in ſolchen ſtreitigen Fällen zu Stande, und jene Befreiung ward ausdrücklich nur auf die alten Landestheile beſchränkt (Kabinetsordre vom 23. März 1836). Indeſſen dauerte in dieſer ganzen Zwiſchenzeit der theoretiſche Kampf um die Aufhebung jener Bannrechte fort (Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 204); das Princip der Entſchädigung griff an der Stelle der urſprünglichen Entſchädigungsloſigkeit Platz, und ward theils als bloße Ablösbarkeit der Bannrechte ausgeſprochen (Königreich Sachſen,251 Geſetz vom 27. März 1835), theils als wirkliche, wenn auch nur theilweiſe Aufhebung gegen Entſchädigung (Großherzogthum Heſſen, Geſetz vom 25. Februar 1818 und 15. Mai 1819; Oldenburg, Geſetz vom 17. April 1819; Goldmann, die Geſetzgebung von Heſſen S. 101 ff. ), theils als Verpflichtung neben unbedingter Aufhebung des - ſelben (Preußiſche Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845; Hoffmann, die Befugniß zum Gewerbebetrieb; Rau a. a. O.), theils freilich, wie in Baden, unbedingt geläugnet (Verhandlungen der badiſchen Kammer von 1835 I. 73, II. 100, und Geſetz vom 28. Auguſt 1835). Die Unſicherheit in allen dieſen Beziehungen zeigte deutlich, daß die Bann - rechte ſo gut wie die Grunddienſtbarkeiten, am Ende dennoch nur ein Ausdruck der alten Geſchlechterunfreiheit, erſt mit der definitiven Bewäl - tigung der letzteren ſelbſt zu bewältigen ſeien. So kam denn auch hier erſt mit dem Jahre 1848 die Entſcheidung. Seit 1848 iſt die Auf - hebung der Bannrechte neben der Ablöſung der Grunddienſtbarkeiten ein integrirender Theil der Entlaſtung geworden. In Oeſterreich wurden alle Bannrechte mit dem Patent vom 7. September 1848 ein - fach beſeitigt; in Preußen war, wie geſagt, durch die Gewerbeord - nung von 1845 nicht viel mehr zu thun übrig (Rönne, Staatsrecht §. 390). Hannover hob alle Zwangs - und Bannrechte ohne Ent - ſchädigung auf (Geſetz vom 17. April 1852), wenn nicht eine privatrecht - liche Begründung nachgewieſen werden kann. Das Königreich Sachſen vervollſtändigte die bereits durch Geſetz vom 27. März 1838 (Bierzwang und Mahlzwang gegen mäßige Entſchädigung) begonnene Ablöſung durch Geſetz vom 19. Februar 1850, welches alle Bannrechte ohne Ent - ſchädigung beſeitigte (Judeich S. 70, 71). Bayern kam erſt durch die Gewerbeordnung vom 21. April 1862 ſo weit, die Bannrechte nebſt den Realgerechtigkeiten definitiv aufzuheben; das Kurfürſtenthum Heſſen hatte die Aufhebung bereits in der Verfaſſungsurkunde von 1831 §. 36 zugeſichert; das Mühlenbannrecht ward davon ſpeciell durch Geſetz vom 30. December 1839 gegen Entſchädigung beſeitigt (Beſtehen noch Bannrechte? Judeich S. 98). Im Großherzogthum Heſſen hob das Geſetz vom 30. Juli 1848 dieſelben mit allen Handels - und Gewerbsprivilegien zugleich auf; Entſchädigung trat nur ein bei one - roſem Vertrag (Geſetz vom 15. September 1851). Baden gab, unter Aufhebung des Reſtes der alten Bannrechte, durch Geſetz vom 20. März 1853 eine mäßige Entſchädigung; ebenſo Oldenburg mit Geſetz vom 8. April 1851. Sachſen-Weimar ließ das Ablöſungsgeſetz vom 1. April 1848 analog anwenden, hob jedoch die Reſte der Bannrechte ohne Entſchädigung, wo nicht beſondere Rechte nachgewieſen werden konnten, wie durch die Gewerbeordnung vom 30. April 1862 auf (§. 42);252 Sachſen-Coburg-Gotha durch das Staatsgrundgeſetz vom 3. Mai 1852, §. 53; Sachſen-Gotha durch Geſetz vom 1. Oktober 1859; die Entſchädigungen werden regulirt durch Geſetz vom 21. März 1863; Sachſen-Meiningen durch Geſetz vom 16. Juni 1862; Sachſen-Altenburg dagegen ohne Entſchädigung durch Geſetz vom 16. Februar 1849. In Braunſchweig hatte das Geſetz vom 19. Mai 1840 einen Mittelweg getroffen, bis das Geſetz vom 6. Februar 1862 die Freiheit der Gewerbebetriebe allgemein einführte, gegen eine ſehr mäßige Entſchädigung. Die übrigen Staaten bei Judeich S. 179 ff. Das neueſte Geſetz iſt das Ablöſungsgeſetz für Schleswig-Hol - ſtein (Verordnung vom 1. Oktober 1867). Die Grundſätze ſind folgende: die auf privatrechtlichem Titel beruhenden Zwangs - und Bannrechte werden abgelöst, bis zur Ablöſung bleiben ſie noch beſtehen, die Ab - löſung wird aber ſo raſch als möglich gefördert werden. Bei einer Reihe von Gewerben: Apothekern, Hebammen, Landmeſſern, Schiffern und Lootſen u. ſ. w. hat es bei den beſtehenden Verordnungen ſein Bewenden. Bei mehreren Kategorien, Schauſpielunternehmern, Auctio - natoren, Maurern, Dachdeckern, Zimmerleuten, Wirthen und Kleinhänd - lern mit geiſtigen Getränken, bedarf es der Conceſſionirung. Wirthe und geiſtige Getränke ſcheinen der Regierung beſonders unangenehm zu ſein, die einſchlägigen Beſtimmungen ſind ſehr ſcharf. Alle anderen ge - werblichen Beſchränkungen ſind aufgehoben. Es bedarf nur noch der Anzeige, daß man dieſes oder jenes betreiben wolle, und den Nachweis dreier Bedingungen: Volljährigkeit, Dispoſitionsfähigkeit, feſter Wohn - ſitz in den Herzogthümern. So iſt auch dieſer Theil, die Verbindung der Geſchlechterunfreiheit mit der gewerblichen, durch die große Bewegung des Jahres 1848 beſeitigt. Daſſelbe gilt von dem letzten Punkte der Ablöſung, den Realgerechtigkeiten.

V. Die Realgerechtigkeiten.

Die Realgerechtigkeiten bilden den Uebergang von der Geſchlechter - zur ſtändiſchen Unfreiheit. Sie beſtehen in den ſtädtiſchen Gewerben, deren Betriebsrecht mit dem Beſitze eines Grundſtücks verbunden, und unterſcheiden ſich von den Banngerechtigkeiten dadurch, daß ſie zwar das Recht auf den Betrieb für die Beſitzer, nicht aber irgend welche Verpflichtung Dritter, ſich durch dieſe Betriebe verſorgen zu laſſen, ent - halten. Daher können dieſelben Rechte, aus welchen Bannrechte gebildet wurden, wie das Brauerei - und Mühlengewerbe, an andern Orten auch bloße Realgerechtigkeiten ſein (Mittermaier §. 523). Ihre Be - ſeitigung hat daher mit der Entlaſtung nur eine ſehr indirekte Beziehung;253 ihr Verhältniß zur Ablöſung aber charakteriſirt ſich dadurch, daß bei Freigebung der Produktion eine Ablöſung überhaupt nicht begründet erſcheint, da die Realgerechtigkeit überall keine Ausſchließlichkeit des Gewerbes enthielt, und die Gewerbefreiheit nur Allen gab, was ſie keinem Einzelnen zu nehmen brauchte. Sie verſchwinden daher von ſelbſt, aber nicht durch die Entlaſtung, ſondern durch die Einführung der Gewerbefreiheit, und gehören dem Ablöſungsweſen, ja der ganzen Entwährungslehre nur in dem entferntern Sinne an, als ſie einen letzten Ausdruck des Princips bilden, daß das Gewerbe in jeder Hin - ſicht von der alten ſtändiſchen Verbindung mit dem Grundbeſitz be - freit wird.

Die Gemeinheitstheilungen.
I. Weſen und Verhältniß zur Geſchlechterordnung der Dorfverfaſſung.

Die Gemeinheitstheilungen bilden eines von jenen Gebieten der Verwaltungslehre, die durch Inhalt und Geſchichte verſchiedenen Theilen der letzteren zugleich angehören. Sie ſind ein Theil der Landwirth - ſchaftspflege, ſofern man dieſe für ſich betrachtet; ſie ſind ein Theil der Verwaltung der geſellſchaftlichen Ordnung und Entwicklung, und end - lich gehören ſie auch der Entwährungslehre an. Wir nun ſtellen ſie hier unter die letztere, weil ſie eine Seite der großen ſocialen Erſchei - nung bilden, die wir bisher dargeſtellt haben, und das Bild der letz - teren ſowohl an ſich als in Beziehung auf das, was der Staat gethan und zu thun hat, ohne ſie ein unvollſtändiges ſein würde; vorzüglich aber deßhalb, weil das bisher Dargeſtellte am beſten Alles verſtändlich macht, was ſich auf die Gemeinheitstheilung als einen Theil desjenigen Proceſſes bezieht, durch welchen ſich die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft aus der Geſchlechterordnung entwickelt.

Faßt man jene Erſcheinung von dieſem Standpunkt aus auf, ſo werden alle Verhältniſſe deſſelben ſehr einfach.

Das Objekt der Gemeinheitstheilung, die Allmend, Gemeindeflur und Wald, iſt nicht etwa identiſch mit dem Begriffe des Gemeindever - mögens, obgleich es natürlich einen Theil deſſelben bildet. Es hängt aufs Innigſte mit der alten Dorfſchaft zuſammen. Wir ſetzen als be - kannt voraus, daß dieſer Gemeindebeſitz der vermöge der alten Dorf - ſchafts - und Markenverfaſſung nicht aufgetheilte Theil der Gemeinde - mark iſt; daß derſelbe daher der Gemeinſchaft aller Bauern des Dorfes gehört, und daher diejenige Form des Eigenthums enthält, in welcher die alte Geſchlechterordnung der Bauern dorfſchaftsweiſe Eigenthümerin254 iſt. Die Bedeutung dieſes älteſten Geſchlechterbeſitzes kommt nun auch während der Entwicklung der neuen Geſtalt der Geſchlechterordnung durch das Hinzutreten und die Herrſchaft der Grundherrlichkeit nicht weiter zur Geltung. Nur eine Frage entſteht dabei, und dieſe Frage iſt in den verſchiedenen Ländern Europas allerdings verſchieden beant - wortet und hat daher auch zu denjenigen Beſtimmungen Anlaß gegeben, welche formell die ganze Gemeinheitstheilung mit der Entlaſtungslehre in äußern Zuſammenhang bringen. Nachdem die Grundherren nämlich die Herrſchaft über die Gemeinde der altfreien Bauern gewonnen, mußte an vielen Punkten der Zweifel entſtehen, ob der nicht aufgetheilte Theil der Gemarkung dem Dorfe der alten Gemeinſchaft der Bauern - geſchlechter oder dem Gutsherrn als Eigenthum gehöre. Die Ent - ſcheidung dieſer Frage aber iſt eine örtliche. Zunächſt empfing ohne Zweifel auch die ganze Allmend den rechtlichen Charakter derjenigen bäuerlichen Beſitzungen, welchen ſie gehörte; ſie war mit ihnen ganz frei, wie bei den Freidörfern, Lehen bei den Lehnbauern, Eigenthum des Herrn bei den aus Hinterſaſſen beſtehenden Dörfern. Dann aber ſcheint es allgemein gegolten zu haben, daß alle urſprüngliche Allmend, ſo weit ſie nicht von den Bauernſchaften wirklich in Beſitz genommen, bei den Waldungen neben den Grundherren vielfach vom Landesherrn, bei den Gemeindefluren dagegen meiſtens ausſchließlich von den Grund - herren als Eigenthum angeſehen und in Anſpruch genommen ward. Es entſtand daher vielfach ein doppeltes, eigenthümliches und nur hiſtoriſch erklärbares Verhältniß für Waldland und Fluren der Allmend. Was dabei zunächſt die Gemeindeflur oder Gemeindeweide betrifft, ſo ſind hier die Grundverhältniſſe in Europa folgende.

Zuerſt folgte aus der alten Markgenoſſenſchaft der Dorfgeſchlechter, daß die Geſammtheit der anſäßigen Bauern die eigentliche Allmend mit ihrem Vieh unbeſchränkt beweiden konnte. Dann erhielt ſich aber jene Idee des Geſammtgutes in vielen Ländern darin, daß alle Dorf - genoſſen ein gegenſeitiges Weiderecht auf den eigenen Feldern und zwar naturgemäß nach der Ernte hatten. In dieſe Grundverhältniſſe der Bauerngeſchlechterordnung tritt nun drittens die Grundherrlichkeit ein und ändert dieß Recht in zwei Beziehungen. Zuerſt nimmt der Grundherr als der größte Mitbeſitzer der Gemeindemark bei urſprüng - lich freien Bauern daſſelbe Recht für den Gemeindeacker in Anſpruch, das jeder Bauer hatte er trieb ſein Vieh auf die Gemeinweide; und da er nur zu oft faſt allein einen bedeutenden Viehſtand hatte, ſo ward die Weideſervitut des Grundherrn zu einem Haupttheile ſeines grundherrlichen Rechts. Dann gelang es dem Grundherrn in ſehr vielen Gebieten, jenes Weideſervitut auch auf das Eigenthum der255 Bauern ſelbſt auszudehnen; ſo entſtand das Weide - und Blumen - ſuchrecht des grundherrlichen Viehes, das ſtets als etwas von den Grundlaſten Verſchiedenes betrachtet wurde, und daher (ſ. oben) auch nicht ſtets unmittelbar unter die Entlaſtung begriffen, ſondern vielfach in beſonderer Ablöſung beſeitigt ward. Bei dem Walde dagegen war das Verhältniß umgekehrt. Hier behielt die Bauernſchaft allerdings oft einen ihr ſpeciell als Gemeindemark zugetheilten Wald, den Gemeinde - wald, und hat denſelben bis auf den heutigen Tag im Eigenthum; wo aber der große Waldbeſtand nicht aufgetheilt war, und die einzige Benützung noch in der Jagd beſtand, da nahm entweder der Landes - herr als Inhaber des Jagdregals, oder der Grundherr als Jagdherr oft auch vermöge des Jagdregals das Eigenthum der Waldung überhaupt ohne Weiteres in Anſpruch, oft im ſtärkſten Gegenſatze zu der Rechtsanſchauung und Tradition ſeiner Dörfer. Das alte Dorf - markenrecht an allem unaufgetheilten Gut blieb dann nur noch in der Geſtalt des Rechtes der Bauern, aus dem Walde ſich ihren Bedarf an Holz zu holen und zwar urſprünglich gewiß für jede Form des Bedarfs, für Bau - und Brennbedarf aller Art, wobei zugleich der Wald für Vieh und namentlich für Schweine als Gemeindeweide galt und benützt ward. Mit der immer größeren Entwicklung der adelichen Jägerei und zum Theil wohl auch mit der allmälig beginnenden örtlichen Entwal - dung begann denn auch hier der Kampf zwiſchen dem Rechte des Grundherrn und dem der Bauernſchaft, ein Kampf, der einerſeits zum Jagdrecht des Herrn führte und ſogar auf urſprünglich freiem Boden das Jagdrecht für den Grundherrn meiſt gewaltſam gewann, wogegen die alten freien Bauern durch Wilderei kämpften, andrerſeits aber zu einer an vielen Orten genau beſtimmten Berechtigung der Bauern - ſchaften an der Waldbenützung führten und zwar meiſt in Beziehung auf das Holz, dann aber oft auch in Beziehung auf die Waldweide. So war die Geſtalt dieſer Dinge mit dem 18. Jahrhundert geworden; die Walddienſtbarkeiten oder Forſtſervituten, die in Deutſchland erſt mit der Mitte des 19. Jahrhunderts abgelöst worden, können ohne Zurückbeziehung auf die alte Markgenoſſenſchaft nicht richtig beurtheilt werden. In Beziehung auf beide Formen des Gemeingutes aber, die Flur und den Wald, gilt im Allgemeinen, daß erſtlich die alte Dorf - flur der urſprünglich freien Bauern ſo weit ihr Eigenthum bleibt, als dieſelbe wirklich und nachweisbar von der Dorfſchaft in Beſitz genom - men iſt, und daß zweitens das Verhältniß zwiſchen Bauernſchaft und Gemeindeherrlichkeit in hundert verſchiedenen, örtlich und hiſtoriſch ent - ſtandenen Fällen, aber dennoch auf der gemeinſamen geſellſchaftlichen Grundlage in den Weide - und Waldſervituten zum Ausdruck kommt. 256Dieß iſt im Großen und Ganzen der Zuſtand des 18. Jahrhunderts, bei welchem nun derjenige Proceß beginnt, den wir die Gemeinheits - theilung nennen.

Die Grundlage dieſes Proceſſes iſt nun aber für die beiden oben bezeichneten Verhältniſſe nicht gleich. Man muß ſie vielmehr ſtrenge unterſcheiden. Während nämlich die Dienſtbarkeiten zugleich als Theil der grundherrlichen Herrſchaft und der bäuerlichen Unfreiheit erſcheinen, und daher weſentlich dem Proceſſe der Entlaſtung angehören, wie wir bereits gezeigt in der Form der Ablöſung neben derjenigen der Grund - entlaſtung, fällt das Element der Unfreiheit bei dem, im Beſitze der Dorfſchaften wirklich vorhandenen Gemeindegut weg. Bei dieſem Gemeindegute handelt es ſich nicht wie bei jenem um Freiheit oder Unfreiheit; das Verfahren der Staatsregierungen hat hier daher nicht wie bei jenen einen ſocialen Hintergrund; es iſt nicht das Princip der ſtaatsbürgerlichen und rechtlichen Gleichheit, das die letzteren zur Gel - tung zu bringen haben, und daher ſind auch Urſprung und Geſchichte dieſer Maßregeln weſentlich andere, als bei den Dienſtbarkeiten. Mit gutem Recht iſt daher auch die Darſtellung der Gemeintheilungen in den deutſchen Bearbeitungen der Volkswirthſchaftslehre ſtets von der Entlaſtung und Ablöſung getrennt behandelt; die franzöſiſche national - ökonomiſche Literatur dagegen hat ſich um das ganze Verhältniß nicht gekümmert, ſondern aus Gründen, die wir unten darlegen werden, das - ſelbe der öffentlich-rechtlichen Jurisprudenz überlaſſen; auch in England hat ſich keine Literatur darüber gebildet, ſondern die ganze Frage iſt in den betreffenden Parlamentsverhandlungen erſchöpft worden (ſ. unten); erſt J. J. Mill hat die Frage vom ſocialen Standpunkte aufgenom - men, und eben deßhalb die in Deutſchland ſo viel beſprochenen Thei - lungsprincipien nicht berückſichtigt. Man kann daher ſagen, daß die ganze theoretiſche und nationalökonomiſche Gemeinheitstheilungs - literatur Europas faſt ausſchließlich eine deutſche iſt. Der Anſtoß zu der wirklichen Theilung der Gemeindegüter aber mußte dieſer ihrer Natur nach von den ſpeciellen Elementen ausgehen, die in ihnen ſelbſt liegen.

Dieſe Elemente nun ſind doppelt. Das erſte und greifbarſte war das rein volkswirthſchaftliche, das zweite dagegen das adminiſtrative. Dieſe beiden Elemente haben ihrerſeits die Geſchichte der Gemeinheits - theilung in ganz Europa ſo ſehr beſtimmt, daß wir die erſte große Epoche derſelben als die volkswirthſchaftliche, die zweite als die com - munale bezeichnen können. Allerdings iſt nun dieſe Geſchichte je nach den einzelnen Ländern wieder im Einzelnen ſehr verſchieden, allein die Grundlagen derſelben ſind allenthalben gleich, und laſſen ſich trotz des vielfachen Ineinandergreifens recht wohl unterſcheiden.

257

Die volkswirthſchaftliche Epoche der Gemeinheitstheilung beruht zunächſt auf dem Zuſtand der Landwirthſchaft, wie ſie weſentlich durch die Natur der Gemeindeweiden bedingt ward, wobei man die Wald - verhältniſſe faſt gänzlich zur Seite liegen ließ. Dieſe landwirthſchaft - liche Bedeutung der Gemeindeweiden iſt namentlich in Deutſchland ſo oft und ſo gründlich behandelt, daß die Verwaltungslehre bei der Charakteriſirung ihrer beiden Hauptmomente ſtehen bleiben darf. Zu - erſt nämlich erzeugen ſie ein weites, zum Theil unſchätzbares Gebiet an Ackerland, das aber vermöge ſeiner Gemeinſchaft niemals ordentlich bearbeitet ward, und daher faſt ganz ſeine Produktivität verlor. Ge - ſammtgut, verdammt Gut. Eine Entwicklung des Volksreichthums iſt daher unter dem einfachen Fortbeſtehen der Geſammtweide ſo gut als unmöglich. Zweitens aber haben dieſe Geſammtweiden einen eben ſo entſcheidenden Einfluß auf die Einzelwirthſchaft der Bauerngüter. Denn ſie ſind es weſentlich, auf denen die Dreifelderwirthſchaft beruht, ohne daß doch jemals bei ihnen eine tüchtige und nahrhafte Viehweide möglich wäre.

So wie daher, und zwar namentlich durch den direkten und in - direkten Einfluß der Phyſiokraten, die Erkenntniß allgemein wird, daß die Landwirthſchaft die Grundlage des Volkswohlſtandes iſt, ſo ſchließt ſich an dieſe Ueberzeugung dasjenige, was wir die Lehre von der ratio - nellen Landwirthſchaft nennen. Die rationelle Landwirthſchaft beruht nun in allen ihren Punkten auf zwei leitenden Principien. Zuerſt darauf, daß jede vorhandene Naturkraft vollſtändig ausgebeutet werden ſoll; dann darauf, daß dies nur durch Verwendung eines beſtimmten Kapitals auf den Grund und Boden geſchehen kann. Die erſte dieſer Forderungen kann nun unter dem Beſtande der alten Gemeinweiden nicht einmal für die einzelnen Mitbeſitzer, geſchweige denn für die Ge - meinweide ſelbſt erfüllt werden; die zweite iſt bei dieſem Beſtande ju - riſtiſch unmöglich. Mit dem Entſtehen der rationellen Landwirthſchaft, dieſer großen europäiſchen, praktiſchen Conſequenz des phyſiokratiſchen Syſtems muß daher ein Kampf gegen die Gemeinweide beginnen. Wir verfolgen hier dieſen Kampf nicht auf ſein landwirthſchaftliches Gebiet; wohl aber iſt ſeine öffentlich-rechtliche Seite von entſcheidender Be - deutung.

In der That haben nämlich alle jene Folgen der beſtehenden Ge - meinweide Einen gemeinſamen tiefen Grund, den ſich die Landwirthe, Thaer an der Spitze, ſo wenig klar formulirten, wie die ſpäteren Nationalökonomen. Die erſte und unbedingte Vorausſetzung alles wirth - ſchaftlichen Wohlergehens, alſo auch desjenigen der Landwirthe und Bauern, iſt die Individualität des wirthſchaftlichen Lebens. DerStein, die Verwaltungslehre. VII. 17258wahre Fortſchritt fängt an bei der auf ſich ſelbſt angewieſenen Perſön - lichkeit, wie er in ihr endet. Das gilt von der Landwirthſchaft ſo gut als von jedem andern Theile der Volkswirthſchaft. Allerdings ſchließt dieſe Selbſtändigkeit des Einzelnen keinesweges die Gemeinſchaft aus; im Gegentheil wird ſie die letztere vielmehr auf vielen Punkten erzeugen. Allein das Weſentliche iſt eben, daß ſie nicht als eine rein objektive, unveränderliche Thatſache daſtehe, ſondern daß ſie fähig ſei, ſich nach Bedürfniß und Willen des Einzelnen zu geſtalten; das iſt, daß ſie nicht als ein gegebenes hiſtoriſches Recht, ſondern als ein freier Vertrag der Betheiligten erſcheine. Die Gemeinſchaft muß frei ſein, wie die Ein - zelnen, welche ſie bilden. Dieſer Selbſtändigkeit der Einzelnen, dieſer Freiheit der individuellen Bauernwirthſchaft ſtand nun die Gemeinde - weide als eine gegebene, unabänderliche Geſtalt des Eigenthums gegen - über. Es war keinesweges nothwendig, dieſe in ihr vorhandene Ge - meinſchaft unbedingt aufzuheben, und in der That hat die neueſte Zeit dieſelbe vielmehr aufrecht erhalten. Wohl aber war es nothwendig, ihr gegenüber und in ihr vor allen Dingen jene wirthſchaftliche Selbſt - ſtändigkeit der Einzelnen herzuſtellen, und damit die unabweisbare Baſis eines beſſern Zuſtandes zu gewinnen. Dieſe Selbſtändigkeit aber iſt das große Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Daſſelbe hatte ſeine Conſequenzen im gewerblichen Leben der Städte, aber es hatte nicht minder ſeine Conſequenzen für den Landwirth. Die erſte war allerdings die Herſtellung der ſtaatsbürgerlichen Freiheit des Grund - beſitzes überhaupt; die zweite nicht minder wichtige war die Herſtellung des individuellen Grundbeſitzes an der Stelle der geſchichtlichen Gemein - ſchaft deſſelben in der Gemeindemark, wie ſie aus der Geſchlechterord - nung hervorgegangen war. Und die Herſtellung dieſes individuellen Grundbeſitzes, der Sieg des Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nicht mehr in dem Verhältniß zwiſchen Bauern und Grundherrn, ſon - dern zwiſchen Bauern und Bauern iſt die Gemeinheitsthei - lung. Die Gemeinheitstheilung läßt das principielle Einzeleigenthum an die Stelle des hiſtoriſchen Geſammteigenthums treten, und erſt wenn dieß geſchehen iſt, können die Forderungen der rationellen Landwirth - ſchaft und mit ihr die Begründung einer weiteren Entwicklung des Volks - reichthums zur Geltung kommen. Das iſt daher das Verhältniß der hier zuſammenwirkenden Elemente, daß die Gemeinheitstheilung alle ihre Gründe aus der Volkswirthſchaft hernimmt, aber ihr wahres Ziel die Schöpfung des Staatsbürgerthums auch in der bäuerlichen Gemeinde iſt. Und ſo gehört dieſelbe, wenn auch nicht in Objekt und Motivi - rung, ſo doch in Zweck und Erfolg demſelben Proceſſe an, den wir in Entlaſtung und Ablöſung, in Gewerbefreiheit und Aufhebung der259 Privilegien mit dem 18. Jahrhundert entſtehen und mit dem 19. ſich voll - ziehen ſehen, dem Proceß der Herſtellung der ſtaatsbürger - lichen Geſellſchaftsordnung an der Stelle der Geſchlechter - und Ständeordnung.

Dieſem höheren Weſen derſelben entſpricht nun auch der hiſtoriſche Gang, den ſie in dieſer ihrer erſten Epoche vorzugsweiſe in dem Lande der adminiſtrativen Reflexion, in Deutſchland, genommen hat, während ſie in weſentlich anderen Formen in England und Frankreich auftritt. Es iſt für die letzteren charakteriſtiſch, daß zunächſt die Theorie die Ge - meinheitstheilung unbedingt fordert. Es kommt ihr noch gar nicht in den Sinn, daß jene Gemeinſchaft denn doch auch hochbedeutende Elemente beſitzt, welche über die einzelnen Gründe für die Auftheilung weit hin - ausgehen. Ihr erſcheint, wie jeder neuen Idee, alles was gegen ſie in Erwägung kommt, nicht als Ausdruck eines gleichberechtigten, höhern Geſichtspunktes, ſondern als ein Verſuch den alten Standpunkt gegen die neue Ordnung vertheidigen, die Geſchlechterordnung in der ſtaats - bürgerlichen aufrecht halten zu wollen. Sie iſt daher vollſtändig negativ gegen die Dauer des Gemeindeguts. Die Verwaltungen ſtimmen damit vollkommen überein, und greifen um ſo leichter durch, als ſie hier keinem Gegenintereſſe der herrſchenden Klaſſe begegnen. Die Schwierigkeit, die ſie zu bewältigen hat, liegt bei der Gemeinheitstheilung auf einem ganz andern Punkt, als bei der Entlaſtung und Ablöſung. Hier liegt ſie in dem Bauernſtande ſelbſt. Das Ziel und der Werth derſelben beruht eben in der ſelbſtändigen Einzelperſönlichkeit und dieſe war es, welche dem Bauernſtande fehlte. Theils war derſelbe geiſtig noch mitten in der alten Geſchlechterordnung, und vermochte ſich nicht von ihrer Tra - dition loszumachen; theils fehlte ihm die Bildung, die wirthſchaftlichen Erfolge der Auftheilung zu erkennen; theils die geiſtige Zuverſicht, mit der er die neue Geſtalt des Beſitzes und die daraus folgende neue Ord - nung der Wirthſchaft allein mit Vortheil hätte beherrſchen können; theils aber auch fehlte ihm das Kapital, um namentlich die letztere herzuſtellen. Die Verwaltung ſtand daher weit höher als das Volk, und der Zwiſchen - raum zwiſchen ihr und dem letzteren war noch weder durch die Volks - bildung noch durch Kreditanſtalten oder andere Maßregeln ausgefüllt. So entſtand hier die Oppoſition gegen die Auftheilung. Zum großen Theile blieb die letztere auf dem Papier. Die hiſtoriſche Schwerkraft des Beſtehenden war mit dem beſten Willen und der glänzendſten Land - wirthſchaftslehre nicht zu bewältigen. Langſam und ſtückweiſe geht die Auftheilung vor ſich; umſonſt iſt vielfach das Mühen und Streben der Aemter, die Energie der Geſetze, die landwirthſchaftliche Literatur und ihr Beweis des Nutzens der Theilungen. Leider fehlt uns die Statiſtik260 der wirklich geſchehenen Auftheilung, nicht bloß aus dem vorigen, ſon - dern auch aus dem gegenwärtigen Jahrhundert; aber die letzten Maß - regeln zeigen, daß die wirklich aufgetheilten Gemeinden faſt allenthalben in der Minderzahl geweſen ſein müſſen. Das 19. Jahrhundert tritt daher noch mit einer ſehr bedeutenden Maſſe ungetheilter Güter auf; vielfach war daran auch die Schwierigkeit Schuld, ſich mit den Herren in ihren Antheilen zurecht zu finden; endlich traten überhaupt die Ent - laſtungen in den Vordergrund; und ſo blieb für die neue Zeit und ihren Standpunkt noch genug übrig, um der zweiten Epoche eine beträchtliche Subſtanz für die Anwendung ihres neuen Princips darzubieten.

In der That nämlich hatte ſchon das 18. Jahrhundert in der wirklich geſchehenen Auftheilung einen juriſtiſchen Punkt in den Vorder - grund gedrängt, der eigentlich ſchon damals auf weiter gehende Er - wägungen hätte hinleiten müſſen. Nach welchem Maßſtab ſoll denn eigentlich getheilt werden? Sollen nur die Beſitzenden an dem Beſitze ein Recht haben? Mit welchem Grunde will man die Beſitzloſen aus - ſchließen, da der Gemeindegrund denn doch der Dorfſchaft im Ganzen der alten Geſchlechtergenoſſenſchaft als ſolcher und nicht gerade den Ganz - und Halbhufnern gehört? Iſt es vernünftig, den Gemeinde - grund nach dem vorhandenen Viehbeſtande zu theilen, der freilich das Maß der Benutzung, aber doch nicht das Maß des Rechts abgibt? Iſt es vernünftig, ihn nach dem möglichen Beſtande zu vertheilen, der doch beſtändig wechſeln muß? Iſt es richtig, eine Theilung eintreten zu laſſen, die dem Bauern Beſitzungen gibt, welche durch ihre Kleinheit oder ihre Entfernung werthloſer für ſie werden, als das Recht der Gemeindeweide es ſelbſt war? Und iſt es denn endlich richtig, die ganze Gemeinde geradezu vermögenslos, und damit die Aufbringung der künftigen Ge - meindelaſten von der Zahlungsfähigkeit der einzelnen Glieder abhängig zu machen? Und wenn man die Theilung durchführt, was entſteht? Man erzeugt aus der Gemeinſchaft des Dorfes und allen Momenten, die ſich an dieſelbe knüpfen, eine Reihe von Einzelwirthſchaften, denen man das Intereſſe an dem Dorfe ſelbſt genommen hat, ohne ihnen etwas anderes dafür zu geben. Die Gemeindetheilung wird aller - dings die Baſis der individuellen Selbſtändigkeit, aber auch die der Atomiſirung, der Scheidung des Zuſammengehörigen, der Auflöſung einer vielleicht falſch verwalteten, gewiß aber in vieler Beziehung heil - ſamen Gemeinſchaft. Iſt das unbedingt richtig, und unbedingt ein Erſatz für das frühere Geſammtgut?

An dieſe Fragen knüpft ſich nun das erſte Moment, das die Geſetz - gebung unſeres Jahrhunderts gegenüber dem Recht des vergangenen charakteriſirt. Das Princip der unbedingten Verpflichtung zur Auf -261 theilung tritt zurück vor dem der bedingten; und dieſe Bedingung wird der Wille der Betheiligten, der Beſchluß der Gemeindemajorität. Das preußiſche Gemeinheitstheilungsgeſetz von 1820 iſt das erſte auf dem Continente, das dieſen Grundſatz ausſpricht; England hat denſelben ſchon im vorigen Jahrhundert anerkannt (ſ. unten.) Allein auch dieſer Standpunkt hat nicht minder große Bedenken. Soll und kann die rein quantitative Majorität eines Augenblicks über die ganze Zukunft der Gemeinde entſcheiden? Iſt es richtig, die auf einem ganz andern Stand - punkt ſtehenden römiſchen Begriffe und Rechtsſätze der actio communi dividundo hier gelten zu laſſen? Iſt es wahr, daß die Intereſſen Aller am beſten gewahrt werden, wenn die Intereſſen der Majorität zur Geltung kommen? Ohne Zweifel iſt es ein großer Fortſchritt, daß die Stimme der Gemeinde überhaupt gehört wird; aber iſt denn dieſe Ge - meinde in der That nichts anderes, als die Summe der Beſitzenden in der Gemeinde? Und enthält jenes preußiſche Princip nicht die Ent - ſcheidung über die ernſteſte aller Vorfragen, ob denn wirklich nur die Grundbeſitzenden eine Berechtigung an dem Eigenthum haben, das faſt immer das einzige Eigenthum der Gemeinde ſelbſt iſt?

Es iſt, wenn man dieſe Geſichtspunkte vorurtheilsfrei erwägt, kaum zweifelhaft, daß hier ein neuer Faktor in den Vordergrund tritt, der mit der ganzen Entwicklung des inneren Lebens der Staaten Europas und ihrer Befreiung von der Geſchlechterherrſchaft im inneren, tiefen Zuſammenhang ſteht. Das iſt eben das Weſen der Gemeinde ſelbſt. Die Dorfgemeinde der Geſchlechterordnung iſt eigentlich mit wenig Aus - nahmen eine andere Form der Herrſchaft; ſie hat als öffentlich recht - liches Organ ſo gut als gar keine Stellung und Stimme; ſie hat ſo gut als gar keine Funktionen, ſo gut als gar keine Rechte. Zwiſchen ihr und dem Staate ſteht der Grundherr, er iſt der Träger, der Be - ſitzer der örtlichen Regierung und all ihrer Thätigkeit. Die Land - gemeinde iſt zwar ein Objekt, aber ſie iſt als ſolche kein Organ der Verwaltung.

Das nun iſt es, was ſich mit dem 19. Jahrhundert ändert. Auch die Landgemeinde löst ſich allmählig in Deutſchland von der Grund - herrſchaft los; wir haben geſehen, wie die Entlaſtung, wenn auch ſtück - weiſe und unvollkommen, zu wirken beginnt; ſie ſelbſt aber iſt nicht bloß negativ die Befreiung von den Grundlaſten, ſie iſt eben ſo ſehr poſitiv die Schöpfung eines ſelbſtändigen Verwaltungskörpers in den neuen Gemeinden mit freien, aber eben dadurch auch für die Aufgaben der inneren Verwaltung verantwortlichen Gemeindegliedern. Der Guts - herr iſt beſeitigt, aber mit ihm iſt nun auch derjenige beſeitigt, auf dem mit dem Rechte zugleich die Laſt der Verpflichtungen lag, welche262 die Landgemeinde zu leiſten hatte. Und dieſe Verpflichtungen bleiben bei der höheren Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nicht etwa einfach bei der früheren Funktion der Gemeinde ſtehen; im Gegen - theil ſie ſteigern und vermehren ſich von Jahr zu Jahr. Immer größer werden die Laſten; immer neue treten hinzu; die Landgemeinde einſt von der Verwaltung faſt ganz vernachläſſigt, wird allmählig gleich - bedeutend an Wichtigkeit mit der Stadtgemeinde. Wenn ſie nicht mehr völlig ihre Schuldigkeit thut, ſo leidet die Verwaltung des ganzen Staats. Und wird ſie dazu die Kraft haben? Wird ſie ſie namentlich dann haben, wenn die materielle Baſis der Gemeinſchaft, das Ge - meindegut, durch Auftheilung beſeitigt iſt? Wird ſie gute Schulen, gute Wege, gute Brücken, gutes Armen - und Hülfsweſen haben, wenn ſie nichts beſitzt, als die Beiträge ihrer Mitglieder? Und wie nun, wenn ohnehin durch die Befreiung des Grundes und Bodens die Selbſtändigkeit der Bauernwirthſchaft hinreichend gefördert erſcheint, und ohnehin das ſpecifiſche Element der landwirthſchaftlichen Individualität, die Stallfütterung, eintritt, und die wirthſchaftliche Geſtalt der Landwirth - ſchaft in der Geſchlechterordnung, die Dreifelderwirthſchaft ohnehin mit der Entlaſtung aufhört, und der Bauer ohnehin anfängt, den Frucht - wechſel und die Stallfütterung zu treiben, weil er jetzt ein freier Mann iſt, wozu dann die Gemeinheitstheilung? Denn was wird ſie dann ſein und bedeuten? Sie wird, wo ohnehin die rationelle, individuelle Landwirthſchaft der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft durch die Freiheit des Grundbeſitzes eingetreten iſt, alsdann nur den einzelnen Beſitzer reicher, aber die Gemeinde als Geſammtheit arm machen. Und iſt denn das wünſchenswerth, wo doch die Anforderungen nicht bloß an den Beſitzer, ſondern an die ganze Gemeinde gehen? Es iſt klar, ſo wie durch die Entlaſtung die neue ſtaatsbürgerliche Stellung der Ge - meinde als Verwaltungskörper eintritt, und die Selbſtändigkeit der Einzelnen ohnehin gewahrt iſt, iſt der alte Grund zur Gemeinheits - theilung verſchwunden, und das Princip kehrt ſich geradezu um, die ſtaatsbürgerliche Verwaltung muß im Gegenſatze zu der polizeilichen wünſchen, daß die Gemeinde als ſolche ein Vermögen beſitze, um den neuen Anforderungen immer genügen zu können; ſie muß fordern, daß die Verwaltung dieſes Vermögens nicht bloß in der Hand der Majorität der Intereſſenten liege, weil dieß Vermögen jetzt ein Faktor der Staatsverwaltung wird; ſie muß daher die Verpflichtung zur Gemeinheitstheilung beſeitigen, und muß an ihre Stelle jetzt im Geiſte der neuen Idee der organiſchen Verwaltung des Staats, den Grundſatz ſetzen, daß die Veräußerung der Güter der Gemeinde über - haupt, alſo auch die Hingabe der Gemeindeweide an die Einzelnen263 ins Eigenthum derſelben, als öffentlich rechtliche Verwaltungsangelegen - heit nur unter ausdrücklicher Zuſtimmung der Regierung geſchehen dürfe. Für dieſe aber handelt es ſich jetzt nicht mehr bloß um die Selbſtändigkeit und Individualität der Bauernwirthſchaften, wie im vorigen Jahrhundert, ſondern um die allgemeinen Verwaltungsaufgaben der Gemeinden; und ſo wie man dieſe ins Auge faßt, wird jede ver - ſtändige Regierung den Grundſatz feſthalten, daß die ſocialen Elemente und Aufgaben der Gemeindeverwaltung, die Sorge des Ganzen für die niederen Klaſſen, eine ihrer weſentlichen Grundlagen gerade im Gemeindegut habe. Sie wird daher in dem Grade ſich negativer gegen die Auftheilung verhalten, in welchem das Gemeindeleben ſelbſt freier und höher ſteht; und wie im vorigen Jahrhundert die Gemeinheits - theilungen aus landwirthſchaftlichen Gründen entſtanden ſind, ſo werden ſie jetzt durch das Zuſammenwirken intelligenter Gemeinden und vor - ſichtiger Regierungen verſchwinden, und an ihre Stelle eine Ver - waltung des Gemeindeguts treten, welche ſeine Erhaltung mit der möglichſt großen Ertragsfähigkeit deſſelben zu verbinden ſucht. So geſtaltet ſich die zweite Epoche des Princips der Gemeinheitstheilungen. Der Grundſatz derſelben iſt ausgeſprochen in faſt allen Gemeindegeſetzen des Continents: keine Veräußerung des Gemeindevermögens ohne Zuſtimmung der Regierung, alſo keine Gemeinheitstheilung; dagegen möglichſt tüchtige und freie, öffentliche Verwaltung deſſelben, das iſt Verwendung ſeines Ertrages für die Verwirklichung der Zwecke der Verwaltung innerhalb der örtlichen Sphäre des Gemeindelebens.

Dieß ſind die leitenden Grundſätze für das Gemeintheilungs - weſen in Beziehung auf die Gemeindeflur. In Beziehung auf den Gemeindewald dagegen treten andere Erwägungen ein, die freilich bei demſelben Reſultate anlangen. Der Wald hat in unſerem Jahrhundert eine andere Stellung als im vorigen. Seine Exiſtenz iſt als Bedingung der Geſammtproduktion erkannt. Das Recht Einzelner muß ſich dieſer Forderung unterordnen, alſo auch das Recht der Gemeinde. Der Ge - meindewald wird daher überhaupt kein Gegenſtand der Theilung, ſon - dern der öffentlichen Verwaltung und tritt als Glied und Gebiet unter die Forſtverwaltung überhaupt. Damit beginnt hier eine neue Epoche, welche mit dem Auftheilungsweſen gar nichts zu thun hat, ſondern der Verwaltungslehre der Forſten angehört; und dieß wiederholt ſich faſt in ganz Europa.

So iſt nun wenigſtens für die Gemeindeweide der Gang der Dinge zu demſelben Ergebniß gelangt, wie bei der Entlaſtung, wen auch mit weſentlich verſchiedenem Objekt und Recht. Es iſt derſelbe Proceß, voll - zogen durch daſſelbe große Element der europäiſchen Geſchichte. Die264 Geſchlechterordnung iſt auch für die Dorfſchaft bewältigt, und das Princip des freien Einzeleigenthums an ihre Stelle getreten. Allein auch dieſer letzte negative Standpunkt iſt bereits überwunden, und die neue Gemeinſchaft der Landgemeinde an die Stelle der alten Geſchlechter - gemeinſchaft des Bauerndorfes getreten. Das Gemeingut iſt künftig ein Gemeindegut und der Gemeindewald ein öffentlich rechtliches Eigenthum, deſſen Benützung der Gemeinde gehört. Der Abſchluß der alten Epoche wird zum Beginne einer neuen, und an die Stelle der Auftheilung tritt für die Verwaltungslehre die Lehre vom Gemeinde - leben und ſeiner Verwaltung.

Dieß nun ſind die allgemeinen Geſichtspunkte für den Urſprung und die Bedeutung des Gemeindetheilungsweſens. Es iſt durch den innigen Anſchluß deſſelben an die Geſchichte und die gegebene Ordnung der Geſellſchaft leicht klar, daß die poſitive Geſtalt dieſer Bewegung in den einzelnen Ländern Europas eine ſehr verſchiedene geweſen iſt und noch iſt. Es iſt gänzlich einſeitig und zum Theil geradezu falſch, mit den Nationalökonomen auch der neueſten Zeit, wie Rau (Volkswirth - ſchaftspflege §. 85 ff. ), Roſcher (Syſtem §. 79 ff. ), oder mit der Polizei - wiſſenſchaft (Mohl, II. §. 113 ff. ) einerſeits bloß bei dem Geſichts - punkte der Theilung, ihres Nutzens und ihrer Grundſätze ſtehen zu bleiben, anderſeits nur Deutſchland im Auge zu behalten und höchſtens mit Roſcher die tiefliegende Beſonderheit Englands und Frankreichs durch einige Notizen zu erledigen. Es iſt keinem Zweifel unterworfen, daß der alte rein nationalökonomiſche, ja ſogar beſchränkt landwirth - ſchaftliche Standpunkt des vorigen Jahrhunderts ein in unſerer Zeit durchaus überwundener iſt, und daß man die Gemeinheitstheilung in der Gegenwart eben ſo wenig als ein actuelles Rechtsverhältniß oder eine dauernde Frage der Volkswirthſchaft fortführen kann, wie die Entlaſtungslehre. Beide gehören, wie wir gezeigt, der Geſchichte der Geſellſchaft; und wieder zeigt es ſich hier, was wir bei jeder größeren Thatſache zu conſtatiren nicht müde werden dürfen, daß das Ver - waltungsrecht der großen Völker nur auf Grundlage ihrer geſellſchaft - lichen Verhältniſſe einerſeits verglichen, andererſeits in ſeiner Indivi - dualität recht erkannt werden könne.

Wir werden daher auch hier verſuchen, England, Frankreich und Deutſchland als die drei großen Repräſentanten der geſellſchaftlichen Bewegung Europas für das Gemeinheitstheilungsweſen zu charakteriſiren, und die Geſchichte deſſelben mit der allgemeinen inneren Geſchichte dieſer drei Völker in Verbindung zu bringen.

265
II. Englands Gemeinheitstheilung.

(Die Enclosures, die Enclosure Act und Commission.)

Das Gemeinheitstheilungsrecht Englands wird nur dann verſtänd - lich, wenn dasjenige, was dort das feodal system heißt, klar vorliegt. Wir berufen uns dabei auf unſere frühere Darſtellung. Bis zur Er - oberung gilt in ganz England ausſchließlich das alte germaniſche Recht der Geſchlechterdörfer mit Hufen und Almend. Es war Niemanden zweifel - haft, daß die letztere das Geſammtgut der Bauern im eigentlichen Sinne des Wortes ſei; von einem Miteigenthum der Unfreien an derſelben war keine Rede, und konnte es nicht ſein, ſo wenig in England als ſonſt irgendwo. Dieß einfache Verhältniß ward nun durch die Er - oberung weſentlich umgeſtaltet, anders als in Frankreich und Deutſch - land. In England wird der König Obereigenthümer aller Grund - beſitzungen, alſo auch der Almenden. Jeder Grundbeſitzer hält ſeinen Grundbeſitz, alſo auch die mit demſelben verbundenen Rechte, im Namen des Königs. Der Lord aber iſt tenant in capite, als Vertreter dieſes königlichen Obereigenthums. Es iſt daher die ſtreng juriſtiſche Conſequenz dieſes Verhältniſſes, daß allenthalben, wo kein perſönlicher Eigenthümer bis dahin eingetreten iſt, das durch den Lord vertretene per - ſönliche Eigenthum des Königs eintritt; alſo auch bei den Almenden. Daraus zunächſt geht dann der Grundſatz hervor, der ſo viel Grimm und Empörung im engliſchen Bauernſtande hervorgerufen, daß der König per - ſönlicher Eigenthümer aller Forſte ſei; die zweite Conſequenz iſt aber, daß der Lord mit ſeiner tenancy in capite da eintritt, wo der König ſich das Land nicht, wie bei den Forſten, perſönlich reſervirt; die Acker - und Weidealmend wird tenancy des Lords und gehört dem Manor. Nur bleiben auf derſelben Rechtsbaſis die Berechtigungen der Bauern an der Almend, denn auch ſie ſind eigentlich königliche Rechte, die dem Lord nicht anheimfallen, da er ſelbſt dem Könige gegenüber ja kein perſönliches Grundeigenthum hat, wie der Freiherr des Continents. Das, was wir auf dem Continent das Gemeindegut nennen, erſcheint daher in England nicht als eine abgeſchloſſene Flur, ſondern als ein Syſtem namentlich von Weidedienſtbarkeiten der alten Bauern, free - holders oder copyholders, an der früheren Almend gegen die Lords, als tenantes in capite. Da aber die Könige die Almend dem Lord verliehen hatten, ſo gut wie ſeinen eigentlichen Manor, ſo ſchien auch die erſtere als dem Lord gehörig, und heißt daher noch bei Blackſtone the waste of the lord. Der Lord konnte daher auf dieſer urſprüng - lichen Almend gewiß unbedenklich ſeinen tenants at will niederlaſſen,266 ſoweit nicht die free - oder copyholders ihre Dienſtbarkeit dadurch be - einträchtigt glaubten, und das wird ausdrücklich von Blackſtone als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt; praktiſch war die Frage kaum, da bei der dünnen Bevölkerung immer genug Weideland übrig blieb; die Ent - ſcheidung der Gerichte bei etwaigem Streit darüber, ob die Aufſtellung einer tenants at will, ſei es aus der Klaſſe der Freien, ſei es aus der der villeins, das Recht der alten Bauernbeſitzungen beeinträchtige, mußte naturgemäß dahin lauten, daß eine ſolche Beeinträchtigung nicht ſtattgefunden habe, ſo lange der Reſt des waste of the lord für die Weidebedürfniſſe der letztere ausreiche (Blackſtone, II. Ch. 3). Dieß war das im Grunde ſehr einfache Verhältniß bis auf das bekannte Stat. 12. Ch. II. 24.

Als nun dieß Statut Karls II. allen tenants in capite anſtatt ihrer bisherigen tenancy das volle Eigenthum verlieh, mußte die Frage entſtehen, ob die Verleihung dieſes Eigenthums auch die Almend, an welcher die Bauern ihre Servituten hatten, mitumfaßte. Da nun aber überhaupt der Begriff des Privateigenthums an Grund und Boden durch das feodal system Englands aufgehoben war, und die Bauern in jenes Statut gar nicht aufgenommen waren, alſo auch kein Eigen - thum erwarben, ſo mußte man jetzt (nicht immer, wie Roſcher §. 82. S. 15 ſagt) zu der Conſequenz kommen, daß auch die Almend, die unter dem Manor einbegriffen war, dem Lord als Eigenthum gehöre. Dieß ward ſeit 1676 allerdings allgemeiner Grundſatz; allein in vielen Fällen hatten auch die freeholders, die engliſchen Freibauern, an der Almend das alte Gemeinderecht ſich erhalten, und waren daher jetzt mit dem Lord ſelbſt Miteigenthümer, während die copyholders Servitutberechtigte waren, und die tenants at will oder die ſpäteren leaseholders, oder Pächter, jene Servitute als integrirenden Theil ihrer Pacht anſahen. So entſtand eine große Verwirrung der Begriffe und des Rechts, und dieſe ward um ſo größer, als man, wie ſchon er - wähnt, trotz des Stat. 24. Ch. II. 12 fortfuhr und fortfährt, den Begriff und Namen der tenancy auch da zu gebrauchen, wo es ſich, wie bei dem freeholder, gar nicht mehr um tenancy, ſondern um wirkliches, volles Eigenthum handelte, und daher das Recht der copy - holders auf die Weidedienſtbarkeit an der früheren Almend dem Namen nach mit dem Eigenthum des Lord und des freeholders an der letzteren gleichſtellte. So kam es, daß man alle dieſe Verhältniſſe mit dem Geſammtnamen der joint tenancy bezeichnete; und jetzt wird es leicht verſtändlich, weßhalb unter dieſen Umſtänden, bei ſo verſchiedenen und doch ungeſchiedenen Rechten und Rechtstiteln, die einander auf allen Punkten kreuzten, und bei der Schwerfälligkeit und Koſtſpieligkeit der267 engliſchen Proceſſe, alle Betheiligten lieber die ganze Almend ganz un - bebaut liegen ließen, als daß ſie unter Cultur genommen wäre. Damit erklärt ſich, daß bis zum 18. Jahrhundert für das ganze Gebiet der alten Almende nichts geſchah, und England mit ungeheuren Länder - ſtrecken, bis vor die Thore Londons, bedeckt war, die noch am Ende des vorigen Jahrhunderts von dem Parlamentscommittee für die erſten Verſuche zur Verkoppelung auf nicht weniger als 7,800,000 Acres an - geſchlagen wurden (Thaer, Engliſche Landwirthſchaft 11. Bd. 2. Abth. S. 355). Unterdeſſen ſtieg die Bevölkerung, namentlich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, und die Theuerung ward um ſo größer, als die engliſche Korngeſetzgebung durch das in den Händen der Lords befindliche Unterhaus an dem Kornſchutzzoll rückſichtslos feſt - hielt (Kurze Geſchichte dieſer Geſetzgebung bei Thaer a. a. O. S. 114 bis 252). Dieſe Hartnäckigkeit hatte das Gute, daß man begann, den Grund des Uebels da zu ſuchen, wo er wirklich lag, nämlich eben in jener joint tenancy, in dem alten Gemeindegut. Schottland war in dieſer Beziehung mit einem glänzenden Beiſpiele vorangegangen. Hier war bereits 1665 das erſte Theilungsgeſetz Europas erlaſſen, das die Theilung auf den Willen eines jeden Intereſſenten zuließ, für die Vornahme derſelben eine Commiſſion anordnete, und jedem einen Antheil nach Verhältniß ſeines bisherigen Eigenthums zuwies (das Geſetz bei Thaer S. 349). Das Geſetz hat die Wirkung gehabt, daß am Ende des 18. Jahrhunderts alle Gemeinheiten in Schottland (nach Thaer) wirklich aufgetheilt waren. Dieß Beiſpiel Schottlands begann nun im Laufe des 18. Jahrhunderts auch in England Nach - ahmung zu finden. In einzelnen Gegenden verſtändigten ſich die Be - rechtigten über die, bald gänzliche, bald theilweiſe Auftheilung der Gemeinden freiwillig und nach Mac Culloch (Statist. Accounts. I. 556), wurden unter Anna 1439, unter Georg I. 17,660, unter Georg II. 318,778 Acres, unter Georg III. bis 1797 endlich 2,804,000 Acres wirklich getheilt. Die durch dieſe Theilungen entſtehenden Einzel - beſitze hießen dann im Gegenſatz zu der offenen, ungetheilten Gemein - weide (open fields) die inclosures, was Thaer mit Verkoppelung überſetzt. Allerdings nun war das Ergebniß dieſer inclosures ein außer - ordentlich günſtiges, obgleich die Koſten der Einhegung nach Thaer (S. 352) ſehr groß waren; allein die wahre Schwierigkeit der Sache beſtand denn doch in zwei andern Elementen, das eine war das Recht jedes einzelnen Betheiligten, ſich der Auftheilung zu widerſetzen, ein Recht, das noch immer durch kein Auftheilungsgeſetz beſeitigt war; das zweite aber war dagegen die Nothwendigkeit, den ganzen Wirthſchaftsplan der engliſchen Landwirthſchaft gründlich zu ändern, und ſtatt der Dreifelderwirthſchaft,268 die nach Auftheilung der open fields in inclosures nicht mehr möglich war, die Stallfütterung einzuführen, wie ſchon Thaer a. a. O. hervor - hebt. Die letztere Schwierigkeit verurſachte es denn auch wohl, daß man doch nur langſam vorwärts ging, ſo lange es ſich um freiwillige Auftheilungen handelte, bis man endlich begann, ganz im Charakter der engliſchen Verwaltung überhaupt, das Princip der Gemeinheits - theilungsgeſetze durch Parlamentsbeſchlüſſe für jede einzelne Vertheilung zu erſetzen, die inclosure bills, die nach der Natur des engliſchen Par - laments nichts anderes ſind, als in der Form der Geſetze erlaſſene Verordnungen der im Parlamente gegebenen Regierungsgewalt, denen ſich die Einzelnen zu unterwerfen hatten. Wann dieſe inclosure bills entſtanden ſind und welchen Inhalt ſie haben, habe ich nicht finden können. Leider hat Thaer nichts darüber. Allein auch dieſe Parlaments - verordnungen hatten große Uebelſtände. Während Thaer, dem wir die erſte bisher einzige gründliche Darſtellung aller dieſer Verhältniſſe verdanken, die Schwierigkeiten der freien Theilungen vollkommen klar macht, mit tiefem Blick in die ganze engliſche Agrarverfaſſung, die niemand beſſer verſtand, als er (S. 333 338), ſagt er über die in - closure bills mit gutem Recht, daß denſelben die Koſtſpieligkeit die - ſelben zu erwirken, dann die zweifelhafte Art, wie die verſchiedenen An - ſprüche von den Parlamentscommiſſarien werden geſchätzt und befriedigt werden, häufig im Wege ſtehen (S. 338), weßhalb ſie nur bei großen Theilungen praktiſch waren. (Die Koſten bei einer Theilung von 800 Acres in Somerſetſhire betrugen nach dem Report S. 57. 1040 Pf. mit Einſchluß der Einfriedigungen, der Wege u. ſ. w. 2485 Pf., wobei freilich das Endergebniß war, daß die Werthvermehrung per Acre auf 30 Pf., alſo die des Ganzen auf 24,000 Pf. geſchätzt ward.) Dabei gab es keine feſten Grundſätze darüber, wie die verſchiedenen Anſprüche der Gemeinde abgefunden werden ſollen, und faſt alles kam auf die Darlegung der betreffenden Intereſſen und der verwickelten Rechts - verhältniſſe an. Da nämlich ſeit 24. Ch. II. 12 die Lords ſich als Eigen - thümer der open fields und das Recht der Commune nur als Dienſt - barkeit anſahen, ſo ward es Grundſatz, bei Ausfertigung jeder in - closure bill die Einwilligung des Lord ſtets als erſte Bedingung zu fordern, deſſen Anſprüche ſehr willkürlich geſchätzt wurden (Thaer, S. 343). Ebenſo ſchwierig war die Abfindung oder eine Regulirung der tithes. Und ſo kann man mit gutem Recht ſagen, daß nur der emi - nent praktiſche Sinn der Engländer überhaupt die Sache weiter brachte, ohne zur rechten Entſcheidung zu gelangen. Die trüben agrariſchen Verhältniſſe am Ende des vorigen Jahrhunderts, zum Theil wohl auch der Reflex der franzöſiſchen Bewegung und das Vorbild Schottlands269 ließen dann in den neunziger Jahren das Parlament unter John Sinclair einen umfaſſenden Anlauf zum Erlaß eines eigentlichen Ge - meinheitstheilungsgeſetzes machen. Es ward eine eigene Committee vom Parlamente für die ganze Frage niedergeſetzt, und eine große Bewegung gab ſich kund. Theils wurden eine Menge von Vorſchlägen dieſem Committee vorgelegt, theils ward eine das ganze Land umfaſſende Enquête veranſtaltet, die durch eine, dem Board of agriculture unter - ſtellte Committee einen großen Report über die open fields, die bereits ſtattgefundenen inclosures und die durch die letztere geſteigerte Werth - vermehrung nach den einzelnen shires ausarbeitete. Der Auszug aus dieſem Report bei Thaer (S. 357 370). Allein die Sache blieb dennoch ohne durchgreifenden Erfolg, obgleich die Zahl der Theilungen zunahm und die Ertragsfähigkeit der gewonnenen insclosures eben durch die hohen Kornzölle ein glänzender war. (Wie war es für Roſcher möglich, dieſe Folge der Korngeſetzgebung ganz zu überſehen?) Die hohen Kornzölle wurden in der That für England erſt dann ein wirk - licher Nachtheil, als durch die, mit unſerem Jahrhundert raſch fort - ſchreitenden inclosures der ganze Boden allmählig dem Pfluge unter - worfen, und die offene Hüthung in Stallfütterung umgewandelt ward; denn ohne jene Kornzölle hätten die in England nicht weniger großen Hinderniſſe dieſelben gewiß nicht zu Stande kommen laſſen. So aber waren von den 7,800,000 Acres von 1797 bis zum Jahre 1832 nach Mac Culloch wieder neue 2,800,000 open fields verkoppelt, ſo daß jetzt kaum noch ein Drittel des alten waste of the lord unurbar blieb. Und jetzt konnte man, bei der beſtändig ſteigenden Bevölkerung und dem ſteigenden Pachtpreiſe der einzelnen Grundſtücke, noch einmal ernſtlich daran denken, die ganze Verkoppelungsgeſetzgebung in die Hand zu nehmen. So entſtand die Enclosure Act von 1845 (8. 9. Vict. 118). Dieſe Acte umfaßt nicht bloß die eigentliche Gemeinweide (pastures), ſondern auch den Reſt der Walddienſtbarkeiten (estouers) und alle anderen Berechtigungen der commons. Der leitende Grundſatz dabei war, daß man die Theilung (nach dem preußiſchen Muſter von 1820)? durch Auftheilung des Landes an die Berechtigten erzielte, bei kleinen Antheilen jedoch Geld - ablöſungen zuließ. Das ſind die allotments, die Loſe. Daneben ward das Syſtem der allotments auch auf die armen householders ausge - dehnt, von denen jedem ¼ Acre als Hausgarten angewieſen, und für die Vertheilung dieſer allotmėnts eigene allotment-wardens eingeſetzt wurden; auf dieſe allotments aber wird kein Eigenthum, ſondern nur ein Be - nützungsrecht der kleinen Häusler erworben, und die wardens verfügen darüber. Der ganze Proceß ſteht unter der, zu dieſem Zwecke eigens gebildeten Enclosure Commission, die mit 12 Special Commissioners zu270 arbeiten hat. Die Theilung ſelbſt wird auf ſchriftlichen Antrag von einem Drittheil der Intereſſenten begonnen; die Enclosure Commission entſcheidet über die Zuläſſigkeit, ſowie über den, durch die zu dem Ende berufene Generalverſammlung der Betheiligten beſchloſſenen Theilungsplan und ſendet daher eigene Commissioners ab, welche dem ganzen Geſchäfte vorſtehen. Gegen den Ausſpruch dieſer Commissioners geht die Appellation an die Enclosure Commission ſelbſt. Das Re - ſultate, mit dem ganzen Theilungsplan, wird dann noch einmal der Generalverſammlung vorgelegt. Wenn dieſe ihre Zuſtimmung mit zwei Drittheilen der Stimmen gibt, ſo geht der ganze Vorſchlag an das Parlament, das ihn als Public Act dann beſtätigt; der Lord muß jedoch ausdrücklich ſeine Zuſtimmung geben. Dabei hat dieſe Enclosure Act den Grundſatz durchgeführt, daß von der Auftheilung ausgenommen ſind alle Plätze, die der Gemeinde zur öffentlichen Erholung dienen (Towns und Village Greens u. ſ. w.). Die Koſten dieſer Verkoppelung betragen nach Gneiſt bis zur Erledigung des Public Act des Parla - ments nur 20 Pf. Weßhalb durch 16. 17. Vict. 79 beſchloſſen iſt, daß die Enclosure Commission keine neuen Verkoppelungen ohne Zu - ſtimmung des Parlaments beginnen ſoll, iſt im Grunde nicht abzuſehen; ſind es die Mindereinnahmen der Parlamentsglieder, die daran Schuld ſind? In der That iſt der praktiſche Erfolg kein beſonders großer geweſen; bis 1853 waren wirklich aufgetheilt 80,238 Acres, in Ver - handlung begriffen 298,228 Acres (Gneiſt, Engliſches Verfaſſungs - und Verwaltungsrecht I. §. 117. Andere Angaben bei Rau, Ver - waltungspflege 85 nach Porter und Couling).

III. Das Gemeindegut, die Weide - und die Walddienſtbarkeiten in Frankreich.

(Die Allotissements, die vaine pâture, der parcours, die droits d’usage und das Cantonnement.)

Ein ganz anderes, in vieler Beziehung höchſt eigenthümliches Bild bietet nun das Gemeindegut Frankreichs dar. Hier hat ſich auf der gleichen Baſis wie in England und Deutſchland, auf der Grundlage des Geſammteigenthums der Dorfſchaft an der ganzen Dorfmark und ſeines Gegenſatzes, dem Einzeleigenthum, ein noch gegenwärtig gelten - des Syſtem gebildet, das durch den ſog. Code rural und forestier im Einzelnen geordnet und wenig bekannt iſt, obgleich es in der That dem großen Entwickelungsgange des geſellſchaftlichen Grundeigenthums und ſeines Rechts durch und durch angehört, und uns zeigt, wie reich die271 Geſtaltungen ſind, die durch die Hand der Geſchichte aus denſelben Elementen bei den verſchiedenen Völkern ſich zu bilden vermögen.

Das Recht des Gemeindeguts in Frankreich iſt nämlich zwar im Grunde ſehr einfach; aber es kann nur ganz verſtanden werden, wenn man in allen ſeinen Punkten eben auf jene Elemente zurückgeht.

Wir glauben die Zuſtände der Gemeinden vor der Revolution hier nicht weiter erörtern zu ſollen; ſie ſind im Weſentlichen den deutſchen gleich. Die Revolution aber mit ihrem Princip des ſelbſtändigen Staats - bürgerthums führt das letztere nicht langſam und ſchrittweiſe mit ein - zelnen Beſtimmungen auch für die Gemeindegüter durch, ſondern ſie will mit Einem Schlage auf allen Punkten dies gleiche und freie Recht herſtellen. Sofort begegnet ſie nun der Frage, ob und wie weit es für die landwirthſchaftliche Gemeinde überhaupt möglich, oder auch nur zweckmäßig ſei, die alte Gemeinſchaft von Beſitz und Recht, wie ſie aus der urſprünglichen Genoſſenſchaft des Geſchlechterdorfes hervor - gegangen, vollſtändig in lauter ſelbſtändige Grundbeſitzungen der ein - zelnen Bauern aufzulöſen. Und hier nun ergibt es ſich, daß eine ſolche vollſtändige Auflöſung und Aufhebung der Gemeinſchaft nicht thunlich iſt. Der eine Faktor des Rechts des franzöſiſchen Gemeindeguts iſt daher die Erhaltung der alten Gemeinſchaft in jenem Grundbeſitz der urſprünglichen Dorfgenoſſenſchaft. Dagegen hielt die Revolution feſt an dem Princip des vollkommen freien Einzeleigenthums, in dem, wenn auch abſtrakten, ſo doch klaren Bewußtſein, daß die Durchfüh - rung deſſelben eine erſte Bedingung für ihre eigene Sicherheit ſei. Es genügt ihr dabei natürlich nicht, die Freiheit des Bauerngutes von jeder Grundlaſt unbedingt und rückhaltslos herzuſtellen; ſie will auch für das Gemeindegut denſelben Gedanken durchführen, wenigſtens ſo weit dies thunlich iſt. Und ſo entſteht nun der zweite Faktor jenes Rechts, der das ganze Syſtem der Gemeindeverwaltung durchziehende Gedanke, mitten in jener Gemeinſchaft dennoch das Einzeleigenthum wieder herzuſtellen. Das Zuſammenwirken dieſer beiden Faktoren iſt es nun, welches das eigenthümliche Syſtem des franzöſiſchen Rechts der Ge - meindegüter bildet, das als eine Frankreich allein angehörige Ver - mittlung zwiſchen den beiden Principien der vollen Selbſt - ſtändigkeit des Einzelnen und der Erhaltung der Gemeinſchaft, aber der nothwendigen Reſte der Markgenoſſenſchaft angeſehen werden muß.

Dieß Syſtem findet nun zwei Formen des gemeinſamen Beſitzes vor, und hat daher auch zwei Geſtaltungen. Die erſte Form iſt die des eigentlichen Gemeindeguts, aus dem die allotissements entſtehen, die zweite Form iſt der große und höchſt beachtenswerthe Reſt der urſprüng - lichen Markgenoſſenſchaft mit dem parcours und der vaine pâture.

272
1) Die Allotissements.

Die allotissements beruhen darauf, daß die franzöſiſche Revolution und ſpeciell der berühmte Code rural (Loi de 28 Sept. 6 Oct. 1791 sur la police rurale) zwar jedes Eigenthum frei machte, libre comme les personnes qui l’habitent ; allein es fiel ihm natürlich nicht ein, den Gemeinden ihr Gemeindegut zu nehmen. Das Recht dieſer Gemeinde - güter hatte nun bisher unter dem alten Feudalrecht geſtanden. Jetzt war es eine ſtaatsbürgerliche Gütergemeinſchaft; und damit mußte es ſich fragen, ob das Recht derſelben ein bloßes Privat - oder zugleich ein öffentliches Recht ſein ſolle.

Hier nun zuerſt treten uns jene beiden oben erwähnten Faktoren entgegen, und ergänzen das franzöſiſche Syſtem des Gemeindegutes, nach welchem das Eigenthum deſſelben der Gemeinde, die Benutzung aber den Einzelnen übergeben wird. Und es iſt die Stellung und das Weſen der neuen ſtaatsbürgerlichen Gemeinde, welche für Frankreich und damit für Deutſchland maßgebend wird.

Die Commune der Revolution iſt nämlich keine Genoſſenſchaft mit den ſpecifiſchen Unterſchieden des Beſitzenden in Voll - und Halbbauern, Käthnern, Tagelöhnern, Handwerkern und ſo weiter, alſo kein kleiner geſellſchaftlich in ſich organiſirter Körper, ſondern ſie iſt eine adminiſtrative Einheit von lauter ganz gleichberechtigten Staatsbürgern, bei denen Art und Maß des Beſitzes durchaus für alle Rechtsverhältniſſe gleich - gültig ſind. Die Gemeinde iſt daher jetzt nur das unterſte, ſelbſtändige, aber als Einheit aufgefaßte Organ der Verwaltung. Daraus folgt denn erſtlich, daß ſie ſelbſt als dieſe Einheit, und nicht mehr ihre ein - zelnen Mitglieder, perſönliche Eigenthümerin des Gemeindegutes iſt, zweitens, daß ſie mit der Verwaltung dieſes Gemeindegutes unter den - ſelben Grundſätzen ſteht, wie mit allen übrigen Zweigen ihrer Ver - waltung. Das leitende Princip für dieſe Verwaltung iſt nur die Selbſt - beſtimmung unter der Oberaufſicht der höheren Behörde. Die Haupt - äußerung dieſer Oberaufſicht erſcheint aber darin, daß jede auf die Dauer berechnete Maßregel der Gemeindeverwaltung der ausdrücklichen Zu - ſtimmung dieſer Behörde bedarf. Natürlich gehört dann zu dieſen, auf die Dauer berechneten Gemeindebeſchlüſſen weſentlich auch jede Verfü - gung über das Gemeindegut. Das Gemeindegut ſelbſt aber iſt perſön - liches Eigenthum der juriſtiſchen Perſönlichkeit der Gemeinde ſelbſt; damit iſt die alte Idee einer Gemeinſchaft der Bauern als Eigenthümer an dieſem Gute im Princip gebrochen; das Gemeindevermögen aber wird jetzt als die wirthſchaftliche Baſis der Leiſtungen dieſer Gemeinde als Ganzes betrachtet, und ſo ergeben ſich die beiden erſten Grundſätze273 für das Gemeindevermögen, welche Frankreichs Organisation commu - nale aufnimmt und welche von Frankreich aus zum Theil wörtlich in die Gemeindeordnungen Deutſchlands übergegangen ſind: daß das Ge - meindegut als perſönliches, einheitliches, und natürlich damit untheil - bares Vermögen der Gemeinde verwaltet und für die Bedürfniſſe der Gemeinde als Ganzes verwendet werden ſoll; und daß die Gemeinde über die Subſtanz dieſes Vermögens nur unter der Zuſtimmung der höheren Behörden verfügen darf. Dieſe Untheilbarkeit des Gemeinde - gutes iſt nicht bloß an ſich entſchieden anerkannt, ſondern ſogar jede Verfügung verboten, welche eine Theilung des Eigenthums als Conſe - quenz nach ſich ziehen könnte und den Präfekten ausdrücklich zur Pflicht gemacht, ſie zu verhindern (Avis du Conseil d’Etat vom 21. Februar und 21. November 1838). Gemeindewaldungen dürfen ohnehin unter keiner Bedingung aufgetheilt werden (Code forestier, art. 92). In dieſen beiden elementaren Beſtimmungen iſt der Unterſchied zwiſchen Stadt - und Landgemeinde aufgehoben, und ſtatt der Principien der Gemeinheits - theilungen vielmehr der Grundſatz der Selbſtverwaltung der Gemeinde - gründe zum Zwecke der Gemeinde grundſätzlich anerkannt. Die Ge - meindeweide oder - Flur ſteht jetzt unter denſelben Grundſätzen, wie eben die Schulhäuſer, Magiſtratsgebäude, Hallen, Kapitalien u. ſ. w. Das ſchien nun wohl ſehr einfach.

In der Praxis jedoch geſtaltete ſich das ganze Verhältniß vermöge der Natur der Gemeindefluren weſentlich anders. Nachdem der Grund - ſatz des untheilbaren Vermögens anerkannt war, kam es darauf an, die Gemeindeflur nun auch praktiſch zum Ertrag zu bringen. Und hier nun traten die Verhältniſſe der vaine pâture und des parcours, von dem wir ſogleich reden werden, in entſcheidender Weiſe ein. Da dieſe nämlich das Recht auf eine Gemeinde weide wenigſtens zum Theil über - flüſſig machten, ſo konnte eine Benutzung der Gemeindeflur weſentlich nur durch Verleihung von beſtimmten Antheilen an die Mit - glieder der Dorfgemeinde ausgeübt werden. Dieſe Verleihung war daher wohl ſo alt, als jene vaine pâture und der parcours ſelbſt. Für dieſe eben beſtanden deßhalb ſchon aus der früheren Zeit alte Ordnungen, und es war gar nicht die Abſicht des Code rural, an denſelben principiell etwas Weſentliches zu ändern. Dieß zum Theil alte, zum Theil neugeordnete Syſtem der Vertheilung der Benutzung hieß und heißt das Syſtem der allotissements. Nach demſelben wird die ganze Gemeindeflur in Looſe allotissements getheilt; zum großen Theil ſind dieſelben bereits ſeit unvordenklichen Zeiten beſtimmt. Dieſe allotissements theilten ſich ſchon vor der Revolution in drei Kategorien. Sie waren theils erblich, theils auf Lebenszeit, theils fürStein, die Verwaltungslehre. VII. 18274beſtimmte Jahre gegeben; allein es ward grundſätzlich feſtgehalten, daß das Eigenthum der Gemeinde bleibe, ſelbſt bei den erblichen lots, ſo daß bei Ausſterben der berechtigten Familie dieß lot wieder an die Ge - meinde zurückfiel; natürlich in gleicher Weiſe bei den lots à vie. Das Recht der Einzelnen an den lots war daher eine Dienſtbarkeit des Ge - meindeguts, und ward wohl ſchon früher gegen eine beſtimmte, wenn auch nur kleine redevance annuelle überlaſſen. Die Bedingung für den Anſpruch auf ein lot war die Anſäſſigkeit (être établir ou tenir ménage dans la commune); der Einzelne verlor das lot, ſowie er die Gemeinde ſelbſt verließ. Die einzelnen Beſtimmungen über die Größe und Vertheilung dieſer lots waren dann nach den Provinzen, und in den Provinzen wieder nach den Ortſchaften verſchieden; ſie ſind aber in den Coutumes ſelten verzeichnet, weil dieſe weſentlich das Rechts - verhältniß zwiſchen Grundherren und Bauernſchaft, und nicht ſo ſehr die eigentlich bäuerlichen Rechte, zum Inhalte hatten. Die franzöſiſche Revolution traf nun auf dieſe Weiſe ziemlich geordnete Rechtsverhält - niſſe des Gemeindegutes an, und es war natürlich, daß die neue Organisation communale dieſelben nicht angriff. Allein in denſelben war Ein Punkt, der mit dem obigen Princip, Untheilbarkeit des Gemeinde - guts, in tiefem Gegenſatz ſtand. Das war die Erblichkeit und die Verleihung der lots auf Lebenszeit, welche die freie Benutzung und Verwaltung der biens communaux durch die Gemeinde ſelbſt hinderten. Daher ſind eine Reihe von Beſtimmungen erlaſſen, welche jene Rechte aufzuheben trachten, und das freie Verfügungsrecht der Gemeinde her - ſtellen ſollen. Erbliche Verleihungen ſind namentlich ausdrücklich ver - boten (Arr. vom 10. April 1852); neue Verleihungen auf Lebenszeit dürfen nicht ſtattfinden; die allotissements ſollen in Terminen von drei, ſechs, neun, und nur dann auf 30 Jahre ſtattfinden, wenn der Gemeinde - rath keine andere Verwerthung zu treffen weiß. Für die lots wird ein jährlicher Pacht gezahlt. Das Conseil municipal beſchließt über die Ver - theilung und die Pacht der lots; er hat auch das Recht, Beſtimmungen über den Gebrauch derſelben vorzuſchreiben, pour faire participer plus également les habitants à ces avantages; kein neues Gemeindeglied hat die Pflicht, für das Recht auf Betheiligung an dieſen Gemeinde - allotissements etwas zu zahlen; die Jurisprudence hat auch feſtgeſtellt, daß dazu ein einjähriger Aufenthalt nicht nothwendig ſei. Die Frage, ob jemand zur Theilnahme an den biens communaux berechtigt ſei oder nicht, wird nicht durch adminiſtrative Behörden, ſondern durch die Gerichte entſchieden (Arr. vom 30. November 1850 und 8. December 1853); nur das Eine wird vorausgeſetzt, daß die Zutheilung der lots nur an Hausbeſitzer ſtattfinden dürfe (distribution par feux); im Uebrigen hat275 das Conseil municipal vollkommen freie Hand. In eigenthümlicher Weiſe ſchließt ſich daran das Recht der biens des sections. Dies tritt da ein, wo ein gewiſſer Theil der Gemeindeglieder gemeinſam gewiſſe Rechte an den biens communaux ausübt. Dieſer Theil wird als juriſtiſche Perſon behandelt; im Uebrigen ſind dieſe sections Ausnahmen, und werden nicht mit günſtigen Augen betrachtet (vgl. Cass. vom 25. April 1855 und den vortrefflichen Artikel Organisation communale bei Block, Dict.). Ganz conſequent ſchließt ſich daran der weitere Grundſatz, daß, wenn verſchiedene Gemeinden eine gemeinſame Gemeindeflur haben, dafür der Grundſatz des Code civ. art. 815 gilt, nach welchem niemand gezwungen werden kann, im ungetheilten Gut zu bleiben. Die Par - tages entre communes gehen daher nach den allgemeinen Grundſätzen der actio communi dividundo vor ſich; ſpeciell auch die Theilung der Wälder zwiſchen den Gemeinden nach dem Code forestier art. 92.

2) Der parcours und die vaine pâture.

Auf dieſe Weiſe iſt die ſyſtematiſche Benutzung der alten Gemeinde - weide durch die allotissements an die Stelle der Auftheilung getreten. Allein daneben erhält ſich nun ein zweites Verhältniß, deſſen Urſprung nur in der alten Dorfgenoſſenſchaft geſucht werden kann. Es war Grundſatz faſt in allen Coutumes, daß nach geſchehener Ernte die Bauern ihre Heerden gegenſeitig auf die Gründe der Nachbardörfer ſchicken durften, der Regel nach de clocher à clocher, aber nur für bestiaux de leur crû, et non de leur usage (Orléans 145), wodurch namentlich die Viehhändler von der Benutzung dieſes Rechts ausge - ſchloſſen wurden. Zu dem Zweck mußte jeder Grundbeſitzer den Vieh - trieb des Nachbarn und ſelbſt des benachbarten Dorfes durch ſeine Aecker geſtatten. Das erſte Recht nannte man das droit de vaine pâture, das zweite das droit de parcours. Von der vaine pâture war die grasse pâture (Blumenſuchrecht) unterſchieden, die ſich auf das Weide - recht vor den Heuernten bezog (Glossaire du droit français bei Loisel a. a. O. 2. Bd. v. pâture) und ſtets nur den communiers de la paroisse zuſtand, wobei der Regel nach der seigneur gleiches Recht mit dem communiers ſelbſt hatte (Loiſel, Institutes coutumières von Dupin und Laboulaye 1846. Bd. I. §. 247 249). Da dieß Recht offenbar kein grundherrliches Vorrecht, ſondern ein bäuerliches Genoſſenſchafts - recht der urſprünglichen Geſchlechterordnung war, und außerdem mit der ganzen Ordnung der Landwirthſchaft aufs Engſte zuſammen hing, ſo konnte man es aus dem erſten Grunde recht füglich beſtehen laſſen, und mußte es aus dem zweiten nothwendig erhalten.

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So blieben jene beiden Verhältniſſe auch nach der Revolution, als der letzte und doch hochbedeutſame Reſt der alten Geſchlechter-Mark - ordnung, und beſtehen noch gegenwärtig fort. Sie ſpielen aber in der ganzen franzöſiſchen Markverfaſſung eine ſo bedeutſame Rolle, daß der erwähnte Code rural von 1791 ſie faſt zur Hauptſache ſeiner Beſtim - mungen gemacht hat (Tit. I. Sect. IV. ) und ohne ſie irgendwie auf - zuheben, ſich weſentlich damit beſchäftigt, die aus beiden entſpringenden Rechtsverhältniſſe zu ordnen. Hier nun aber trat das allgemeine Princip des freien Privateigenthums in eigenthümlicher Weiſe jenen Rechten gegenüber in Geltung. Der Art. I. der Sect. IV. des Geſetzes vom 28. September bis 6. Oktober nämlich erklärt, daß die servitude de parcours de commune à commune, qui entraîne avec elle le droit de vaine pâture, continuera provisoirement, fondés sur un titre ou sur une possession autorisée par les lois et les coutumes. Die vaine pâture allein (die nur innerhalb der Gemeinde beſteht), ſoll nach den règles et usages locaux ausgeübt werden, unter den ſehr genauen Beſtimmungen, welche das Geſetz ſelbſt gibt. Namentlich ſind alle künſtlichen Wieſen ſchon damals von beiden Dienſtbarkeiten aus - geſchloſſen (art. 9). Die Zahl des Viehes, zu dem jeder Chef de famille als Minimum berechtigt iſt, iſt genau beſtimmt (six bêtes à laine et une vache avec son veau) sans entendre préjudicier aux lois, coutumes et usages locaux et de temps immémorial, qui leur accor - derait un plus grand avantage (art. 14). Dagegen tritt nun das Recht des freien Eigenthums auf in dem Grundſatz der clôture und ſeinen Folgen. Jeder Grundbeſitzer hat das Recht, ſein Grundſtück einzuhegen le droit de clore et de déclore ses héritages - sulte essentiellement de celui de propriété (art. 4). So wie der Einzelne ſein Grundſtück eingehegt hat, hört die vaine pâture und der parcours auf (Art. 5 7). Eingehegt (clos) iſt das Grundſtück (héri - tage), wenn die Einhegung vier Fuß hoch iſt; auch genügt ein Graben von vier Fuß Breite (Art. 6). Neben dieſer erſten Anerkennung des Einzeleigenthums ſteht die zweite, daß jedes Recht der vaine pâture zwiſchen Einzelnen ablösbar iſt, rachetable (Geſetz vom 6. Oktober 1791), wobei jedoch die vaine pâture für die Gemeinden ſelbſt als unablösbar erklärt wurde (Cass. vom 27. Januar 1829. Block a. a. O. Art. 141), ja das Conseil municipal hat nicht einmal das Recht, die vaine pâture durch ſeinen Beſchluß zu beſchränken (Cass. vom 4. Mai 1848). Doch hat daſſelbe das Recht, die Anzahl des Viehes zu beſtimmen, wenn keine coutume locale entgegen ſteht (Cod. rur. art. 30). Nur hat man zugegeben, daß wenn die Intereſſenten die Entſcheidung dem Präfekten übertragen, derſelbe dadurch zur Entſcheidung277 competent wird (Arr. vom 19. Oktober 1853). Zugleich aber ergab ſich, daß derjenige, der durch die clôture ſeinen Grund der vaine pâture und dem parcours entzogen hat, auch im Verhältniß das Recht verliert, ſelbſt Vieh auf die vaine pâture zu ſchicken.

Der Proceß der Gemeinheitstheilung iſt daher in Frankreich ſo gut vorhanden als in England und Deutſchland, nur hat er eine ganz andere Geſtalt. Und es iſt jetzt nicht ſchwer, dieſen Proceß zu charak - teriſiren, ſo weit er die Gemeindefluren und Weiden betrifft. Das Eigenthum bleibt, aber die Benutzung kann individuell werden durch das allotissement; die Geſammtſervituten bleiben, aber ſie können durch die individuelle clôture des héritages aufgehoben werden. So verhält es ſich mit Acker und Weide; etwas anders iſt die Geſtalt dieſer Rechte für die Gemeindewaldung.

3) Die Droits d’usage und das Cantonnement.

Auch bei der franzöſiſchen Gemeindewaldung treten die beiden Grundformen auf, welche wir in Deutſchland finden, und die mit dem alten Grundbeſitzweſen der Dorfſchaft einerſeits und des Königthums anderſeits innig zuſammenhängen, oder hier vielmehr auf dieſem Gebiet zum Ausdruck bringen. Die erſte dieſer Grundformen iſt das Verhält - niß zu den Staatswaldungen, das zweite dasjenige zu den Gemeinde - waldungen.

Was das erſtere betrifft, ſo iſt zwar der König als Haupt des ganzen Volkes Obereigenthümer an allem nicht aufgetheilten Grund - beſitz, aber das Recht der Benutzung für die eigenen Zwecke ſteht den - noch der Gemeinde und ihren Bauern ſo weit zu, als der eigene Wald nicht ausreicht. Die daraus entſpringenden Walddienſtbarkeiten der Staatsforſten hießen nun ſchon vor der Revolution die droits d’usage. Dieſe droits d’usage waren nun in den verſchiedenen Provinzen und ſelbſt Orten ſehr verſchieden; indeß hatte die Natur der Sache ſie in zwei Hauptkategorien getheilt, die wieder in Unterformen zerfielen. Die erſte dieſer Kategorien war das Holzungsrecht, die zweite war das Recht der Waldweide. Das Holzungsrecht enthielt wieder theils das Recht auf Bauholz (die marronnage oder pesselage), theils das Recht auf Brennholz (affouage, affuagium von affuare, Feuer machen), welches letztere theils als Recht auf Fällung von Bäumen (chauffage), theils als Recht auf das bois mort, sec et gisant erſchien. Die Waldweide ihrerſeits iſt wieder entweder das Recht, Hornvieh in den Wald zu ſchicken (panage oder pacage, pascasium) oder Schweine (glanage, oder paisson, pesson et panage, paix et glandée) zur278 Eichelmaſt. Die beſtimmte Ordnung dieſer Rechte war nun ſchon ſeit Jahrhunderten ein ſo wichtiger Theil der bäuerlichen Landwirthſchaft geworden, daß die Geſetzgebung der Revolution nicht daran dachte, hier einzugreifen. Erſt als die franzöſiſche Verwaltung begann, die hohe allgemeine Bedeutung der Waldungen zu erkennen, und deßhalb das große Forſtgeſetz vom 21. Mai 1827, der ſog. Code forestier, er - laſſen wurde, mußten auch dieſe Verhältniſſe definitiv beſtimmt werden. Die Waldſervitutenordnung Frankreichs oder das droit d’usage (dans les forêts de l’État) iſt daher eigentlich eben ſo wenig ein Ablöſungs - als ein Gemeintheilungsrecht, ſondern nichts anderes als eine Forſt - ordnung. Dennoch ſind die leitenden Grundſätze derſelben innig mit der bisher dargeſtellten Auffaſſung der Gemeinde ſo wie des Einzel - eigenthums verknüpft. Der erſte Grundſatz dafür war der, daß es jedem Einzelnen frei ſtehen ſoll, ſeine Walddienſtberechtigung gegen Uebernahme eines beſtimmten individuellen Antheils an dem Walde abzulöſen, der dann ſein Privateigenthum wird. Dieſe Abtheilung heißt das cantonnement und die Regeln dafür ſind durch eigene Erlaſſe be - ſtimmt (Code for. art. 63, wornach jedoch nur die Forſtverwaltung das Recht hat, auf Ablöſung der Servitute durch cantonnement zu provo - ciren; die Auftheilung erfolgt de gré à gré, et en cas de contestation, par les tribunaux. Neuere Entſcheidungen bei Block, v. Cantonne - ment). Der zweite Grundſatz war ſtrenge forſtpolizeiliche Beſchränkung in der Ausübung jener Dienſtbarkeiten, namentlich der Weiderechte; Aufſtellung des Unterſchiedes der bois defensables, Verbot der Ziegen, genauere Bezeichnung der Thiere (Code for. art. 61 85). Der dritte Grundſatz geht wieder von der neuen Idee der Gemeinde aus und bezieht ſich auf die Brennholzgerechtigkeit. Hier erſcheint nicht der Ein - zelne etwa vermöge ſeines Grundbeſitzes berechtigt, ſondern es wird der ganzen Gemeinde ihr Antheil auf gefälltes oder geſammeltes Brenn - holz angewieſen, und dieß nach Vorſchlag des Maire vertheilt (Code for. art. 82). Da, wo die Privatwaldungen, namentlich die der alten Grundherren, unter ſolchen Dienſtbarkeiten ſtehen, iſt die Anwendbarkeit aller Grundſätze des droit d’usage auf die Berechtigten ausdrücklich ausgeſprochen (Code for. T. VIII.). Auf dieſe Weiſe iſt das eigentliche droit d’usage, die gegenwärtig beſtehende Form der germaniſchen Wald - dienſtbarkeit in Frankreich geregelt.

Was nun zum Schluß die eigentliche Gemeindewaldung, die bois des communes, oder bois en jouissance commune betrifft, ſo iſt hier die Untheilbarkeit grundſätzlich ausgeſprochen wie bei der Ge - meindeflur; nur findet eine Auftheilung auf Verlangen ſtatt, wo meh - rere Gemeinden gemeinſame Waldungen haben (Code for. art. 92). 279Die Gemeindewaldungen ſind unbedingt dem allgemeinen Forſtgeſetz unterworfen; die öffentlichen Forſtbeamteten haben die Verwaltung der coupes, die Gemeinde die Forſtpolizei durch die gardes forestiers. Doch hat die Gemeinde daſſelbe Recht wie der Staat, ſich durch cantonnements von den Holzdienſtbarkeiten zu befreien (Code for. art. T. 112). Die Ertragsverwaltung des Holzes geſchieht durch den Maire für die Gemeinde; die Waldweide wird von demſelben unter genauer Angabe der Zahl der Thiere und der Weidezeit, der Wege und der Benutzung für die Gemeindeglieder beſtimmt; Ziegen ſind auch hier unbedingt verboten. (Code for. T. VI. Block a. a. O. 122, ein kurzer und klarer Artikel bei demſelben, v. droits d’usage, von Taſſy).

IV. Deutſchlands Gemeinheitstheilungsweſen.
1) Die hiſtoriſchen Grundlagen.

Wir haben bereits oben dargelegt, wie in ganz Europa wohl Deutſchland dasjenige Land iſt, in welchem die Gemeinheitstheilung weſentlich auf Grundlage der rationellen Verwaltungsprincipien, ohne klares Bewußtſein ihrer ſocialen Bedeutung vor ſich gegangen iſt, und welches ihre Grundlagen waren. Es wird jetzt namentlich im Vergleich zu England und Frankreich nicht ſchwierig ſein, den Charakter dieſes Theiles der deutſchen Geſchichte ohne Zurückgehen auf die allgemeinen hiſtoriſchen Grundlagen zu bezeichnen.

Dabei iſt es wohl von nicht geringem Intereſſe, dieſen Proceß auch hier in ſeine großen geſchichtlichen Epochen einzutheilen. Erſt da - durch iſt die vollſtändige Beurtheilung des Standpunktes möglich, auf dem Theorie und Geſetzgebung unſerer Gegenwart ſtehen; und es zeigt ſich hier wieder nur um ſo deutlicher, daß Deutſchland mit ſeinen Ge - meinheitstheilungsprincipien wie mit ſeinem Entlaſtungsweſen hinter England ſo wie hinter Frankreich weſentlich zurückſteht; hinter England, indem das Princip des freien individuellen Rechts in Deutſchland eben wegen des Mangels eines vollkommen freien Bauernſtandes bis 1848 nicht zur Geltung kam, hinter Frankreich, indem es aus demſelben Grunde keine wahre Landgemeindeordnung beſaß. Die Literatur ſteht daher auch jetzt noch mit wenigen Ausnahmen auf dem beſchränkten landwirthſchaftlichen Standpunkt der Nothwendigkeit der Auftheilung, ohne die Bedeutung der Gemeindefrage zu ahnen; von einem hiſtori - ſchen Bewußtſein iſt dabei keine Rede, und leider haben ſelbſt die Land - wirthſchaftslehrer ſich um die Sache wenig gekümmert, denen allerdings der Geſichtspunkt der Gemeinde ferner lag. Betrachtet man aber dem280 gegenüber die allgemeine Bewegung der Gegenwart, ſo iſt es kein Zweifel, daß wir einer neuen Geſtalt dieſer Frage entgegen gehen.

Was nun die Perioden betrifft, in denen der bisherige Proceß verläuft, ſo wird man die Mitte des vorigen Jahrhunderts bis gegen das Ende deſſelben als die der rein polizeilichen, gezwungenen, die des gegenwärtigen als die der vereinbarten Auftheilung bezeichnen. Gemeinſam iſt beiden die Vorſtellung, daß die Auftheilung eine von der Landwirthſchaftspflege geforderte Maßregel ſei, daß die Ver - waltung ſie ſo viel als möglich zu unterſtützen und zu fördern habe, ſo wie der faſt gänzliche Mangel an jedem Verſtändniß des Gemeinde - lebens. In beiden Epochen geht auch hier die Literatur mit der Ge - ſetzgebung Hand in Hand, und bei aller Beſonderheit iſt doch der Charakter der Entwicklung in allen Theilen Deutſchlands im Weſent - lichen gleich. Der ſtoffliche Inhalt beider Perioden iſt im Weſentlichen folgender.

2) Die Zeit der polizeilichen Auftheilungen. Juſti. Friedrich II. Wöllner. Runde. Frank.

Es iſt höchſt wahrſcheinlich der Anſtoß zu der ganzen Frage von der phyſiokratiſchen Schule ausgegangen, die überhaupt viel mehr Be - deutendes angeregt hat, als man gewöhnlich annimmt. Doch läßt ſich äußerlich ein Einfluß nicht nachweiſen. Feſt ſteht nur, daß der erſte (?), der ſich auf das Entſchiedenſte für die Gemeinheitstheilung ausſprach, wieder der eigentliche Vater der eudämoniſtiſchen Polizeiwiſſenſchaft, Juſti, iſt, der zugleich der ganzen Frage diejenige Stellung gab, welche ſie bis auf die Gegenwart behalten hat. Er verband ſie einerſeits mit der Landwirthſchaftspflege überhaupt, andererſeits mit dem Hauptprincip der geſammten Agrarverfaſſung. Bei ihm tritt bereits die Frage nach den großen und kleinen Gütern, die Zuſammenſetzung und Verkoppe - lung, zugleich mit der Frage der Entlaſtung (ſ. oben) und der Ge - meinheitstheilung auf (Grundfeſten der Polizeiwiſſenſchaft Bd. I. Buch V. Hauptſt. 2. Abſchn. von der Eintheilung der Aecker in gewiſſe Felder. 1760, §. 191). Er ſpricht ſich entſchieden für die Auftheilung aus, und zwar mit ganz beſtimmter Begründung durch die Nachweiſung der Nachtheile der Dreifelderwirthſchaft, an deren Stelle er bereits die Einzelfütterung fordert; namentlich weist er zuerſt die großen Nach - theile der Hut - und Triftgerechtigkeit nach (§. 202), und iſt der erſte, der England als Beiſpiel des Nutzens der Verkoppelung aufführt (§. 204), was ihm bis auf Thaer und auch noch jetzt vielfach ohne gründliches Eingehen auf die Sache nachgeſprochen wird; ebenſo eifert281 er bereits gegen die Zwergwirthſchaft (§. 205), und man hat ihn wohl viel - fach nur deßhalb vergeſſen, weil man eben wenig Beſſeres zu ſagen wußte. Aber unmittelbar an ihn ſchließt ſich die ſpecielle Gemeinheitstheilungs - Literatur des vorigen Jahrhunderts, die durch Wöllners Schrift: Aufhebung der Gemeinheiten in der Mark Brandenburg, nach ihren großen Vortheilen ökonomiſch betrachtet (Berlin 1766) und durch die (anonymen) Gemeinnützigen Anmerkungen über vorſtehenden Traktat, (Berlin 1766) eingeleitet wird. Dieſe Literatur, die, ohne viel Neues zu bringen, bis zu den vierziger Jahren dieſes Jahrhunderts fortgeht, nimmt mit den zwanziger Jahren ſeit dem preußiſchen Gemeinheits - theilungsgeſetz allerdings die beſtehenden Geſetze in ſich auf, hat ſich aber von jenem Standpunkt nie weſentlich entfernt. Die einzelnen kleinen Abhandlungen bei Koch, Agrarverfaſſung des preußiſchen Staates, Vorrede S. X V. Es iſt zu bedauern, daß derſelbe, der vielleicht allein das ganze Material in Händen hatte, das uns unerreichbar blieb, ſich auf die einfache Nomenclatur der Schriftſteller beſchränkt hat. Von wie großem Werthe für die neuere Geſchichte dieſer Frage wäre es ge - weſen, wenn der Verfaſſer dabei eine kurze Charakteriſtik der einzelnen Schriften von irgend einem allgemeinen Standpunkt hinzugefügt hätte! Von den allgemeinen Werken hat Koch leider überhaupt keine Notiz genommen, wie von Juſti, Frank, Thaer u. a. m. Und wie lange werden wir noch die Gelehrſamkeit in Anführungen ſuchen, in der unſere Bücher zuletzt doch hinter jedem Bibliothekskatalog zurückſtehen? Unterdeſſen war mit Juſti das Princip im Allgemeinen ausgeſprochen, mit Wöllner in ſpecieller Anwendung auf den Staat der ſtrengen bureaukratiſchen Verwaltung angewendet, und galt nun von da an als ein unzweifelhafter Grundſatz, bei dem es ſich nur noch um die richtige Modalität der Ausführung handelte. In dieſer Weiſe nahmen die größern Werke denſelben auf; doch iſt dabei der landwirthſchaftlich - polizeiliche Standpunkt von dem juriſtiſchen wohl zu unterſcheiden.

In erſterer Beziehung können wir als Repräſentanten der allgemein wiſſenſchaftlichen Auffaſſung wohl am beſten J. Ph. Frank (Syſtem der landwirthſchaftlichen Polizey mit beſonderer Hinſicht auf Teutſch - land 1791), z. B. im Bd. II. Buch 2, Cap. 3 anführen, bei dem die kleine Literatur von Wöllner bis Benkendorfs Oeconomia forensis angegeben iſt, S. 191 192, und S. 202 warum hat Koch denn nicht wenigſtens Franks Angaben einfach abgeſchrieben? (Sie fehlen bei ihm faſt alle.) Der Standpunkt Franks iſt einfach und trocken der Juſti’ſche. Ueberhaupt gereichen jegliche Gemeindegüter, nur Wal - dungen, Steinbrüche, Erdgruben und öffentliche Gebäude ausgenommen, ſowohl dem Staate als den Gemeinden zum Schaden (§. 2), was282 dann im Einzelnen durchgeführt wird. Von ganz anderer Bedeutung war es freilich, daß Friedrich II. ſich nicht bloß ebenſo entſchieden für dieſelben ausſprach, ſondern namentlich, wie Juſti, mit geiſtvollem Nach - druck auf die allerdings vielfach vermeintliche Blüthe der eng - liſchen Landwirthſchaft nach Aufhebung der Gemeinheiten hinwies. (Oeuvr. posth. V. S. 129 u. 151 ff.) Aber die für die ganze Frage entſcheidende That waren dennoch die großen Werke Thaers (1800), des erſten Mannes in Deutſchland, der wirklich praktiſche Anſchauungen deutſcher und engliſcher Landwirthſchaftszuſtände mit ſicherer, vollkom - men richtiger und geiſtvoller Auffaſſung der ſocialen Verhältniſſe beider Völker verband, und deſſen Werke auch in Beziehung auf die Gemein - heitstheilungen durchſchlagen. Von da an iſt in der deutſchen Literatur mehr als vierzig Jahre hindurch kein Zweifel mehr; wer konnte einem ſolchen Fachmann widerſprechen? Erſt in den vierziger Jahren ge - winnt das Element wieder Raum, das Thaer gar nicht geſehen hat, die Idee der Gemeinde neben und über dem einzelnen Bauern, und Liſt und Knaus, ſo vereinzelt wie ſie ſtehen, haben dennoch für die Sache ſelbſt nicht geringere Bedeutung als Juſti und Thaer. Doch gehören ſie der folgenden Periode.

Was nun neben der Landwirthſchaftspolizei die juriſtiſche Literatur betrifft, ſo muß man auch hier wieder die ſtaatswiſſenſchaftliche von der rein juriſtiſchen Richtung trennen. Die ſtaatswiſſenſchaftliche Rich - tung nahm allerdings die Nothwendigkeit und den Werth der Aufthei - lung als ziemlich ausgemacht an; allein, und das ließ ſie zu keinem ſpeciellen Reſultat über die letztere gelangen, gleich von Anfang an mit beſtimmter Beziehung auf die Frage der Zerſtückelung der Grundſtücke, die Zuſammenlegung und Verkoppelung, kurz als einen Theil der Agrar - verfaſſung überhaupt, wie Juſti es a. a. O. gethan. Dasjenige, was von dieſer Seite zu geſchehen hatte, fiel daher im Allgemeinen unter die Landesökonomie-Collegien des vorigen Jahrhunderts, und findet ſeine Darſtellung in der eigentlichen Landwirthſchaftspflege. Die ſtreng juriſtiſche Frage aber entſtand durch das Auftreten der preußi - ſchen und öſterreichiſchen Verwaltung, welche die Gemeinheitstheilungen im Namen des großen von ihnen zu erwartenden Vortheiles den be - treffenden Gemeinden zur Pflicht machen wollten. Dadurch entſtand dann die Frage, ob der polizeiliche Zwang zur Auftheilung der Ge - meinſchaften auch juriſtiſch zu rechtfertigen ſei; und die Art und Weiſe, wie dieſe Frage behandelt und entſchieden ward, iſt von entſcheidender Bedeutung für die Gemeinheitstheilungsgeſetze des 19. Jahrhunderts geworden. Die Theorie nämlich begann zu unterſcheiden: Unbebaute und ganz unbenutzte Gemeinheitsgüter können Gemeindegliedern283 zur Cultur, jedoch nicht zum Eigenthum, unbedenklich eingeräumt werden; ſo hatte ſchon das bayriſche Culturmandat von 1723 jeder - mann eingeladen, die als Staatseigenthum erklärten öden Strecken in Beſitz zu nehmen und urbar zu machen (Roſcher a. a. O. §. 81, Note 1); ganz ähnlich die badiſche Geſetzgebung (Willich, Auszug VI. 604, 605. Berg, Polizeirecht 3. Bd. S. 267). Allein dabei galt denn doch erſtlich als Grundſatz, daß wohlerworbene und hergebrachte Ge - rechtſame, die die Unterthanen ohne weſentlichen Nachtheil ihres Wohl - ſtandes und Behuf ihres Haushaltes nicht wohl entrathen können, nicht einſeitig aufgehoben werden ſollen (kurbraunſchweigiſche Verordnung, wie in Landesökonomie-Angelegenheiten zu verfahren, vom 22. Nov. 1768, §. 2; hannover’ſcher Landtagsabſchied Art. 18; bei Berg a. a. O. S. 266 267). Wenn aber dennoch das Landes - intereſſe eine ſolche Entziehung für öffentliche Zwecke nothwendig mache, ſo ſoll die Landesherrſchaft der Sache ſelbſt ſich unterziehen und die Eigenthümer verhältnißmäßig entſchädigen (Moſer, die Landeshoheit in Anſehung Erde und Waſſers S. 165, 166). Offenbar war es nun ſchwer, in dieſem Gegenſatz zwiſchen Einzelrecht und öffentlichem Intereſſe die rechte Grenze zu finden, denn zu den Schwierigkeiten der Sache an ſich kam nicht ſelten die zur andern Natur gewordene Gewohnheit des Landmannes, ſolche Gemeindegüter auf eine unwirthſchaftliche Art zu gebrauchen (Berg, Polizeirecht a. a. O. S. 266). Die Frage ent - ſtand nun, ob die Landespolizei das Recht habe, durch ihre Maßregeln den Widerſtand der Bauernſchaften zu brechen. Und hier kam man zu dem juriſtiſch eigenthümlichen Reſultate, daß kein Machtſpruch des Landesherrn bloß wegen der Gemeinnützigkeit der Aufhebung der Ge - meinheit, und eben ſo wenig der Beifall, den er der Stimmenmehrheit, die hier nicht gilt, etwa geben möchte, für die Aufhebung der Ge - meinheit entſcheiden, ſondern nur der wahre Nothſtand als Erhaltung des Staats (Berg a. a. O. S. 272). Zugleich aber kann, wenn ein oder das andere Gemeindemitglied ohne erhebliche Urſache (?) ſeine Einwilligung verweigert, dieſe nach vorgängiger Unterſuchung aus landesherrlicher Macht ergänzt werden. Dieſer letzte Satz war das Reſultat eines längern juriſtiſchen Kampfes, den Runde in ſeinem Rechtsgutachten, im Namen des Göttingiſchen Spruch-Collegii, ab - gefaßt im Jahr 1797, zum Abſchluß brachte (ſ. Deſſen Beiträge zur Erläuterung rechtlicher Gegenſtände Bd. I. N. 1), und daß daher das Amt der landwirthſchaftlichen Polizei ſich darauf beſchränkt, die Vor - theile der Gemeinheitstheilung allgemein bekannt zu machen, die Ge - meinden dazu zu ermahnen und durch Belohnungen und zeitliche Befreiung von Abgaben aufzumuntern (Berg a. a. O. S. 272). Offenbar war284 dieß ein juriſtiſcher Widerſpruch; denn galt die Stimmenmehrheit nicht, ſo konnte auch die Landespolizei ſie nicht herſtellen. Allein dem prak - tiſchen Bedürfniß genügten die obigen Sätze weſentlich auch darum, weil es ungemein ſchwer war, das Eigenthumsrecht bei den großen zum Theil wüſt liegenden Strecken jedesmal nachzuweiſen, und der Landes - herr das Recht in Anſpruch nehmen konnte, wie es in Bayern und Baden geſchah, dieſelben als bona vacantia ſeinerſeits zu vertheilen. Dieſe Standpunkte der Theorie wurden dann auch für die poſitiven Verwaltungsmaßregeln maßgebend.

Preußens Geſetzgebung ging in dieſer Beziehung voran, wenn gleich zum Theil oft mit Willkür. Die erſte Verordnung iſt das Reſcript vom 29. Juli 1763, dem eine Reihe anderer Verordnungen folgten (bei Fiſcher, Cameral - und Polizeirecht III. §. 902). Den Beamten wurde die möglichſte Betreibung der Auftheilung eingeſchärft; der König ließ ſich zu dem Ende eigene Liſten alle drei Monate vor - legen, ertheilte den Gemeinden, die ſich ſelbſt auseinander geſetzt haben, Prämien bis zu 30 Thalern; die Abgaben durften durch die Aufthei - lungen in keiner Weiſe erhöht werden; zur Beſchleunigung der Sache wurden eigene Commiſſarien mit beſonderer Inſtruktion für den Fall eingeſetzt, daß die Gemeinden nicht ſelbſt damit zu Stande kämen; ſpeciell ward vorgeſchrieben, daß die Commiſſarien mit aller Wachſam - keit jede Unterdrückung und Vervortheilung der gemeinen Bauersleute verhindern und daß, wo ganze Gutsherrſchaften an der Auseinander - ſetzung Theil genommen haben, die Juſtizcollegien die Akten ſich vor - legen laſſen und dieſelben genau prüfen ſollen (Kabinetsordre vom 19. Mai 1770 und Reſcript vom 25. December 1770. Fiſcher a. a. O. §. 903 905). In ähnlicher Weiſe betrieb Bayern die Gemeinheits - theilung (Kulturedikt von 1762, Sammlung der bayriſchen Generalien von 1771 S. 449, Moſer, Landeshoheit in Anſehung Erde und Waſſers S. 108), wobei die zweckmäßige Benutzung der überflüſſi - gen Weideplätze zu Wieſe oder Ackerfeld ausdrücklich vorgeſchrieben war; hier ebenſo wie in Baden wurde denen, welche ſolche Verbeſſerungen vornahmen, gemeiniglich auf mehrere Jahre Zehent - und Schatzungs - freiheit bewilligt (badiſche Verordnung vom 10. October 1770 und 13. Auguſt 1771. Inhalt der badiſchen Geſetzgebung N. 605. Berg a. a. O. S. 208). In Braunſchweig ward die Angelegenheit mit gleichem Eifer betrieben (kurbraunſchweigiſche Verordnung, wie in Landesökonomie-Angelegenheiten zu verfahren vom 22. November 1768. Willich a. a. O. II. 384. Berg a. a. O. 266.) In Oeſterreich wurde dagegen, ganz im Sinne der Maßregel, welche den neuen Ka - taſter einführen wollte, die Auftheilung der Hutweiden unbedingt285 nach vorhergegangener Aufmeſſung (bis Ende 1769) eingeführt, wofür den neuen Beſitzern die Zehentbefreiung auf dreißig Jahre zugeſtanden ward; daher ward 1770 eine eigene Commiſſion nach dem Muſter der preußiſchen beſtellt; das Patent vom 14. März 1775 beſtimmte nament - lich den Antheil der Grundherren an der Gemeindeweide (die Hälfte bei bisherigem gemeinſchaftlichem Gebrauch). Stubenrauch Verwal - tungsgeſetzeskunde II. §. 447. Indeſſen haben alle dieſe und ähnliche Vorſchriften jener immerhin höchſt ſtrebſamen Zeit einen gemeinſamen Charakter; die Gemeinheitstheilung erſcheint nämlich ſtets nicht ſo ſehr als ein ſelbſtändiger Akt, ſondern vielmehr als ein Theil des großen Verſuches der Verwaltung, überhaupt die weiten, damals öde liegen - den Landſtrecken unter Cultur zu ſetzen, die niedergelegten Bauernhöfe wieder anzubauen und ſo nur überhaupt erſt einmal die Landescultur wieder lebendig zu machen, die durch den ſiebenjährigen Krieg furchtbar gelitten hatte. Die Gemeinheitstheilungen wurden offenbar weſentlich nur aufgenommen, inſofern das Gemeindeland ſelbſt öde und unbe - nutzt lag; der Gedanke, daß dieſe an und für ſich, auch bei regel - mäßiger Benützung, ſtattfinden ſollen, kommt nicht zur Geltung; von den Aufgaben der Gemeinde als ſolcher iſt noch keine Rede, und dieſe Standpunkte faßt denn am beſten das preußiſche Landrecht zu - ſammen in dem Satz, der den Uebergang zum 19. Jahrhundert bildet: Die von mehreren Dorfseinwohnern oder benachbarten Gutsbeſitzern bisher auf irgend eine Art gemeinſchaftlich ausgeübte Benützung der Grundſtücke ſoll, zum Beſten der allgemeinen Landescultur, ſo viel als möglich aufgehoben werden. In allen Fällen findet jedoch dergleichen Auseinanderſetzung nur in ſo weit ſtatt, als dadurch die Landescultur im Ganzen befördert und gebeſſert wird (Preußi - ſches allgemeines Landrecht I. 17. §. 311, 313). Das Geſammtreſultat der vierzigjährigen Arbeit, die mit Friedrich II. beginnt, iſt daher am Schluſſe des vorigen Jahrhunderts das: im Allgemeinen ſcheint die Auftheilung wünſchenswerth für die Entwicklung der Landwirthſchaft; in jedem beſondern Falle aber muß einerſeits das Intereſſe der ein - zelnen Gemeinde und das Recht der Berechtigten die Entſchei - dung haben. Einen Zwang zur unbedingten Auftheilung gibt es daher nicht; die Regierung kann die Sache höchſtens anerkennen und indirekt befördern.

3) Die Gemeinheitstheilung des 19. Jahrhunderts. Knaus.

Von dieſem an ſich einfachen Standpunkt geht nun die Geſetz - gebung des 19. Jahrhunderts aus. Auch ihr kommt der Begriff und286 die Aufgabe der Gemeinde als ſolcher noch gar nicht zum Bewußtſein, da es bei der zum Theil noch beſtehenden Leibeigenſchaft und der all - gemein beſtehenden Grundherrlichkeit mit Patrimonialjurisdiktion, wie oben gezeigt, eben noch keine Landgemeinde gab. Daß die wahre Frage der Gemeinheitstheilung erſt nach der vollzogenen Ent - laſtung eintreten könne, wurde weder von der Geſetzgebung noch von der Theorie erkannt. Und ſo läßt ſich jetzt der weſentliche Inhalt aller jener den Befreiungskriegen folgenden Geſetzgebungen im einfachen An - ſchluß an die obige hiſtoriſche Entwicklung leicht dahin beſtimmen, daß ſie geſetzlich zuerſt die Form feſtſtellten, unter der jenes Intereſſe der Gemeinde ſeinen Geſammtausdruck finden ſolle, und zweitens den Modus der wirklichen Theilung, wenn die Gemeinde zum Beſchluß der - ſelben in ihrem Intereſſe gelangt iſt.

Indeſſen hat es in Deutſchland nicht bloß dieſe, aus der ſtaats - bürgerlichen Geſellſchaftsordnung hervorgehende rein negative Richtung gegeben. Neben jener Geſetzgebung ſtehen zu gleicher Zeit Männer, welche mit klarem Blick in die Zukunft die großen Bedenken der Thei - lung feſt ins Auge faßten und ſich nachdrücklich gegen dieſelbe erklärten. An der Spitze derſelben ſtehen Fr. Liſt und Knaus, welche die landläufige Nationalökonomie vergeſſen zu haben ſcheint. Liſt hat allerdings nicht die Gemeinde in ſeinen Geſichtskreis gezogen, wohl aber die große landwirthſchaftliche Frage nach den Bedenken gegen die Verkleinerung der Grundbeſitze und ihren ernſten volkswirthſchaftlichen Folgen in ſeiner trefflichen Abhandlung Die Ackerverfaſſung, die Zwerg - wirthſchaft und die Auswanderung (1842. In den geſammelten Schrif - ten von Häuſſer Bd. II. S. 150, namentlich S. 195 ff.) Dagegen iſt Knaus, ſo viel wir ſehen, der Einzige, der die Frage zugleich vom wirthſchaftlichen, adminiſtrativen und ſocialen Standpunkt gründlich be - handelt: Die politiſche Landgemeinde als Grundeigenthümerin (Tüb. Vierteljahrſchrift 1844 S. 441) und zu dem nach allen Seiten hin wohlerwogenen Reſultate gelangt, daß die Auftheilung an und für ſich nicht wünſchenswerth und nicht nützlich, ſondern daß im Gegentheil der Gemeindegrund ein weſentliches Element für die ganze Zukunft des Gemeindeweſens ſei. Es iſt das eine der vortrefflichſten Arbeiten auf dieſem ganzen Gebiet; und namentlich machen wir auf Punkt 5 auf - merkſam, wo der Beweis geführt wird, daß Gemeindegrundeigenthum durch eine kluge Verwaltung und Verwandlung gegen die Gefahr des Unbeſchäftigtſeins des ärmeren Theiles der Gemeinde - genoſſen ſchütze (S. 474 ff.). Knaus blieb mit ſeinen Darſtel - lungen allein; noch umſchwebte den Gemeindegrund die Vorſtellung einer feudalen Genoſſenſchaft; wie ganz anders würde ein ſolches Werk287 zehn Jahre ſpäter gewirkt haben! Doch wird die Zeit bald genug kom - men, wo man den hohen Werth ſolcher zugleich fachmänniſch begrün - deten Anſichten nicht mehr wie Roſcher (§. 83) mit einem wenig wiſſenſchaftlichen Stoßſeufzer erledigt (ohne Knaus zu citiren). Aber trotz dieſer Arbeiten ging die Geſetzgebung ihren Weg nach den beiden angegebenen Richtungen.

Den erſten dieſer Punkte entſcheidet nun die Geſetzgebung des 19. Jahrhunderts dahin, daß zunächſt die gezwungene Auftheilung grund - ſätzlich aufgegeben wird. An ihre Stelle tritt dann entweder, wie namentlich in Oeſterreich, ein vollkommener Stillſtand des Aufthei - lungsgeſchäftes, oder aber ein zweiter Grundſatz, der jene Intention des vorigen Jahrhunderts dahin formulirt, daß die Auftheilungen Sache des freien Beſchluſſes der Intereſſenten ſein ſollen, und zwar ſo, daß die Majorität derſelben über die Auftheilung zu entſcheiden habe. Natürlich war dabei die Frage nach der Conſtituirung dieſer Majorität die Hauptſache; und hier iſt kein eigentlich durchgreifendes Princip zu erkennen. Die Majorität iſt vielmehr ſtets eine örtliche; doch überwiegt bei weitem der Gedanke, daß das Recht der Stimmen nach dem Beſitze beſtimmt wird. Man ſieht daher auf allen Punkten den Gedanken durchgreifen, daß es ſich bei der ganzen Auftheilung weſentlich um die Herſtellung des individuellen Eigenthums an der Stelle des Geſammt - eigenthums handle, und zwar immer mit beſonderer Rückſicht auf die Landescultur. Von einem Intereſſe der Gemeinde als ſolcher iſt bis zum Jahre 1848 noch keine Rede; erſt ſeit der Herſtellung der wahren Landgemeinde wird daſſelbe von Bedeutung, und zwar theils indem das ganze Gemeindegut der Auftheilung entzogen bleibt (Oeſterreich), theils indem man wenigſtens gewiſſe Theile deſſelben als dauerndes Gemeindevermögen erhält (Preußen). Von da an tritt in Beziehung auf das obige Princip eine neue Epoche ein, deren weſentlicher Cha - rakter darin beſteht, daß man jetzt die ganze Auftheilungsfrage ſtets mit den Grundſätzen über die Verwaltung des Gemeindevermögens in Verbindung bringt; die geſetzlichen Vorſchriften über die Theilung treten vor den neuen Gemeindeordnungen der fünfziger Jahre in den Hinter - grund, und dieſelbe ſcheint, wie es die Natur der Sache fordert, im Allgemeinen in Stillſtand zu gerathen. Leider fehlen uns ſtatiſtiſche Nachrichten über dieſen Theil des Gemeindelebens wie über das Ge - meindeleben überhaupt; wir müſſen uns daher einfach an die Geſetze ſelbſt halten. Wir können jedoch nicht umhin, dabei auf einen geiſtvollen Aufſatz von Lette in Fauchers Vierteljahrsſchrift 1866 1. Bd.: Die ländliche Gemeinde als Genoſſenſchaft hinzuweiſen, der die alte Markgenoſſenſchaft mit Recht als Nutzgenoſſenſchaft betrachtet288 und ſich zur Aufgabe ſtellt, den Auflöſungsproceß des bisherigen länd - lichen Gemeindeweſens zur Anſchauung zu bringen (S. 38). Wenn dieſer hochbedeutende Fachmann zugleich die poſitive Geſetzgebung und das ſich in ihr entwickelnde Princip mit demſelben richtigen Blick ver - folgte und ſeine Unterſuchungen nicht bloß auf Preußen beſchränkte, ſo würden wir wohl einen entſcheidenden Beitrag zu den Anſichten von Knaus und zum Theil von Liſt zu erwarten haben.

Der zweite der obigen Punkte, die Modalität der wirklichen Ver - theilung, mußte wie natürlich eine vielbeſtrittene Frage bilden, ſowohl im Princip als in der Ausführung. Im Princip war es zuerſt fraglich, ob man die Auftheilung bloß als eine divisio einer communitas, oder zugleich als ein Mittel, die Lage des kleineren Beſitzers zu verbeſſern, anſehen wolle (Rau a. a. O. §. 87); zweitens ob bloß Grundbeſitzer oder auch andere Gemeindeglieder daran Theil nehmen ſollten. In der Ausführung war es fraglich, ob man nach dem Grundbeſitz oder nach der Benutzung durch Viehſtand theilen wolle. Da nun die Auftheilung an und für ſich falſch war, ſo war es auch geradezu unmöglich, theo - retiſch oder praktiſch zu einem gemeingültigen Reſultate zu gelangen. Die Theorie griff nach allen Seiten umher, ohne ein definitives Ergebniß zu finden, wie namentlich Rau’s gerade auf dieſem Punkte ſonſt treff - liche Darſtellung der ganzen Frage zeigt. Roſcher iſt keinen Schritt weiter gekommen, hat im Gegentheil die Gemeinheitstheilung in ihrer ſelbſtändigen Bedeutung keineswegs genugſam gewürdigt (a. a. O. Bd. II. Cap. 6). Die Praxis hielt an örtlichen Verhältniſſen feſt und ein klares Bild läßt ſich daher hier kaum geben. Nur das ſteht allgemein feſt, daß die Waldungen entweder gar nicht, oder doch nur ausnahms - weiſe und ſtellenweiſe auf Grund beſonderer Verhältniſſe getheilt werden dürfen.

Dieß nun iſt der Charakter des deutſchen Auftheilungsweſens im Gegenſatz zu dem engliſchen und franzöſiſchen. Die geltenden Geſetze, ſo weit ſie uns erreichbar waren, ſind im Weſentlichen folgende.

Oeſterreich zuerſt gab den Standpunkt des Zwanges der Gemein - heitstheilung bereits im Anfange dieſes Jahrhunderts auf; das Hof - decret vom 14. Oktober 1808 beſtimmte, daß die Behörden ſich auf das bloße Anrathen der Auftheilung beſchränken ſollten, was dann das Hofdecret vom 26. December 1811 wiederholte. Der Grund dieſer Be - ſtimmung lag jedoch weſentlich in dem Kampfe der Grundherrlichkeit gegen jene Beſtimmung, welcher das letztere namentlich als eine Be - drohung ihrer Weideſervituten erſchien. Es fehlen alle ſtatiſtiſchen Nach - weiſungen über das, was in dieſer Beziehung geſchehen iſt. Die Ge - meindeordnung vom 17. März 1849 dagegen verpflichtet umgekehrt, wie289 ſchon bemerkt, die Gemeinde vielmehr, alles Eigenthum der Gemeinden unter genaues Inventar zu nehmen, und für die möglichſt große Er - tragsfähigkeit zu ſorgen (§. 73); die Veräußerung iſt grundſätzlich unter - ſagt (§. 74), und darf nur ausnahmsweiſe von der Statthalterei bewilligt werden (vgl. Stubenrauch a. a. O. §. 447). Die Gemeinde - wälder ſind ebenſo für untheilbar erklärt, und unter die gleiche Ober - aufſicht der Landesſtelle geſetzt (Forſtgeſetz vom 3. December 1852. §. 21. Ueber die frühere Zeit Schopf, die öſterreichiſche Forſtverfaſſung 1835. Stubenrauch §. 455). Dieſe Beſtimmungen gelten auch grundſätzlich noch nach den neuen Gemeindeordnungen. Das was hier nun mangelt, iſt demnach nicht mehr das Princip, ſondern irgend eine beſtimmte Regel für die Ausführung; denn die Berechnung des Ertrages und die Mo - dalitäten der Verwendung der Gemeindeflur ſind weſentlich den einzelnen Gemeinden ſelbſt überlaſſen. Das Mittel der Abhilfe und das Element des Fortſchrittes liegt hier jedoch nicht in der Geſetzgebung, ſondern vielmehr in der praktiſchen Thätigkeit der Landesausſchüſſe, die in der Vollziehungsgewalt ihre Stelle finden.

In Preußen erſchien die große, noch jetzt im Weſentlichen gel - tende Gemeinheitstheilungs-Ordnung vom 7. Juni 1821, nebſt Ausführungsgeſetz von demſelben Datum, und Ausdehnung des ganzen Geſetzes auf die einzelnen Geſammtſervituten, die durch jenes Geſetz nicht begriffen waren, durch Geſetz vom 2. März 1850. Dieſelbe hat jedoch im Großen und Ganzen nur die Grundſätze des allgemeinen Landrechts (ſ. oben) zur weiteren Entwicklung gebracht. Auch nach dieſem Geſetze ſoll die Gemeinſchaft möglichſt aufgehoben, oder doch möglichſt unſchädlich gemacht werden, wo ſie beſteht, und zwar ohne Rück - ſicht darauf, ob die Gerechtſame auf einem gemeinſchaftlichen Eigenthum oder auf einſeitigen oder wechſelſeitigen Dienſtbarkeiten beruhe. Grundſatz iſt, daß jeder Einzelne das Recht hat, auf die Theilung anzutragen hier griff der römiſche Begriff durch; wenn jedoch mit der wirklichen Theilung ein Umtauſch der Ländereien verbunden iſt, ſo ſoll ſie erſt Platz greifen, wenn die Beſitzer des vierten Theiles der Ländereien, welche durch den Umtauſch betroffen werden, einverſtanden ſind. Dieß Syſtem der Vertheilung hat nun allerdings die weſentliche Beſchränkung, daß bei einſeitigen Dienſtbarkeiten die Berechtigten ſich jede Art der Entſchädigung gefallen laſſen müſſen (Art. 86. 96). Werden die Berech - tigten nun über die Theilung nicht einig, oder fordern ſie dieſelbe gar nicht, ſo ſoll wenigſtens jeder Verpflichtete das Recht haben, auf eine möglichſt ſtrenge Beſchränkung der Gemeinheiten und ihrer Benützung anzutragen (Geſetz von 1821, Abſchnitt II.). Iſt eine Entſchädigung dabei an Land nicht möglich, ſo kann ſie auch in Renten oder GeldStein, die Verwaltungslehre. VII. 19290geleiſtet werden (Art. 176). (Das Geſetz ſelbſt mit allen Novellen bei Koch, Agrargeſetz des preußiſchen Staats S. 131 197. Vgl. Rönne, Staatsrecht II. §. 370. Rau, §. 86 ff.) Die Gemeindewaldungen ſtehen in dieſer Theilungsordnung unter einem doppelten Recht. Die - ſelbe läßt die Naturaltheilung zu, ſo lange die einzelnen Antheile forſt - mäßig benützt werden können; ſonſt fällt die Waldbenutzung unter die Theilungsordnung ſelbſt. Betrachtet man dieß Geſetz genauer, ſo erſcheint es in der That viel mehr als eine Fortſetzung der Ablöſungen, denn als eine eigentliche Gemeinheitstheilungsordnung; der Begriff der Gemeinde iſt vollſtändig in dem der Gemeinheit untergegangen, und die eigentliche Aufgabe iſt noch die beſchränkte Herſtellung des Einzel - eigenthums an der Stelle des Geſammteigenthums. Das Regulativ vom 30. Juni 1836 ordnete die Vertheilung der Koſten, nebſt der In - ſtruktion vom 25. April 1836 (Koch, S. 432 ff.). Allein ſchon die Verordnung vom 28. Juli 1838 begann, die hier geſtattete unbegränzte Berechtigung zur Provokation auf Theilung zu beſchränken; von ent - ſcheidender Bedeutung ward dagegen die Deklaration vom 26. Juli 1847, nach welcher alles Gemeindevermögen, welches zur Beſtreitung der Laſten der Stadt - und Landgemeinden beſtimmt iſt, durch Gemeinheits - theilung nie in Privatvermögen verwandelt werden darf; eben ſo wenig ſoll derjenige Theil des Vermögens, deſſen Nutzungen den einzelnen Gemeindemitgliedern vermöge dieſer ihrer Eigenſchaft zukommen, der Gemeinheitstheilung unterworfen werden. In dieſen beiden Geſetz - gebungen iſt offenbar der Gegenſatz zu Tage getreten, von welchem wir eben geredet; es iſt keine Frage, daß dieß ganze Verhältniß noch nicht zu einem definitiven, innerlichen und äußerlichen Abſchluß gelangt iſt.

Man kann nun wohl in Beziehung auf die übrigen deutſchen Geſetz - gebungen ſagen, daß ſie im Weſentlichen denſelben, meiſt ziemlich un - klaren Zwitterpunkt des preußiſchen Rechts vertreten; einerſeits den Wunſch, durch die Gemeinheitstheilung die Selbſtändigkeit des Einzel - eigenthums und damit die rationelle Landwirthſchaft herzuſtellen, ander - ſeits aber auch der Gemeinde ihr Vermögen zu laſſen, um ihr die Mittel für ihre immer wachſenden Aufgaben zu geben, ohne daß man auch hier zu einem definitiven Abſchluß in Princip und Ausführung gelangt wäre. Es iſt bereits oben erwähnt, wie enge dieß ganze Verhältniß mit der geſammten Bildung des Gemeindeweſens zuſammenhängt. Das Hauptintereſſe an dieſen einzelnen Geſetzgebungen, die auf keinem Punkte zur rechten Klarheit gediehen ſind, iſt demgemäß ein vorzugsweiſe lokales. Wir müſſen unſrerſeits für die Verwaltungslehre dagegen den Grundſatz feſthalten, daß die wahre Entſcheidung über die ganze Frage erſt dann richtig iſt, wenn in Folge der großen Wirkungen der Grundentlaſtung291 in den Landgemeinden ſich die intelligente Selbſtverwaltung ausgebildet haben wird, und daß man bis dahin den Auftheilungs - proceß ſo viel als mit unabweisbaren Intereſſen vereinbar iſt, ſtatt zu befördern, vielmehr zurückhalten ſoll. Da das Auftheilungsweſen von dieſem Standpunkte ohne eine ſpecielle fachmänniſche Arbeit nicht erledigt werden kann, ſo muß uns die Hoffnung genügen, daß Thaers großartige Auffaſſung vom rein landwirthſchaftlichen Standpunkt einen ſocialen Nachfolger haben möge; möge ein Mann mit der Fachkunde Knaus und mit ſeinem vorurtheilsfreien und großartigen Blick zu den Gedanken, die er ausgeſprochen, die beiden Elemente hinzufügen, deren wir in unſerer Zeit bedürfen, die hiſtoriſche Anknüpfung an die alten Rechte und die neuere organiſche Vergleichung der beſtehenden legislato - riſchen Beſtimmungen. Erſt dann wird die Verwaltungslehre auf dieſem Punkte zur Abgeſchloſſenheit ihrer Anſichten gelangen können. Die be - treffenden Materialien für das poſitive Recht aber ſind, der Unſicherheit des gegenwärtigen Standpunkts entſprechend, noch ſehr zerſtreut. Für Bayern hatte das revidirte Gemeinde-Edikt §. 25 die Theilung nur wegen überwiegender Vortheile geſtattet, mit einem ganzen unklaren Apparat von begutachtenden Organen (Moy, bayeriſches Verfaſſungs - recht II. §. 103). Nach der Verordnung vom 11. März 1814 ſollte dabei ein Gutachten ſachverſtändiger Landwirthe maßgebend ſein. Be - ſtimmter iſt das Geſetz vom 1. Juli 1834; darnach müſſen drei Viertel der Gemeindemitglieder übereinſtimmen, unter welchen jedoch drei Viertel der Großgrundbeſitzer und Schäfereiberechtigten begriffen ſein ſollen (Rau, §. 87). Doch iſt die Veräußerung des Gemeindevermögens nicht ge - ſtattet, wobei nicht beſtimmt iſt, was eigentlich dieß Gemeindevermögen iſt (Pözl, Verwaltungsrecht §. 96). Die badiſche Gemeindeordnung vom 31. December 1831 und Gemeindeordnung vom 5. November 1858, ſowie das ſächſiſche Geſetz über Ablöſungen vom 17. März 1832 ſtehen weſentlich auf dem preußiſchen Standpunkt. Ueber die in Württemberg herrſchende durchgreifende Oertlichkeit und große Verſchiedenheit des Gemeindebezirks und ſeines Rechts, die ſo weit geht, daß man nur mit Mühe von Regel und Ausnahme reden kann, vgl. Mohl, württembergi - ſches Verwaltungsrecht II. §. 170. Das preußiſche Princip der Majorität, unter verſchiedenen Modifikationen, iſt angenommen von der großherzoglich heſſiſchen Theilordnung vom 7. September 1814, der gothaiſchen Theilordnung vom 2. Januar 1832; Hannover begann, wahrſcheinlich auf Thaers Veranlaſſung, ſein Gemeindetheilungsweſen bereits mit der lüneburgiſchen Theilordnung vom 25. Juni 1802, deren Grundſätze dann für die andern Provinzen durch die Geſetze vom 30. April 1824 und 26. Juli 1825 zur Geltung gebracht wurden (vgl. Rau, §. 86 ff.)

292
Die Enteignung.

Während nun die Entlaſtungen, Ablöſungen und Gemeinheits - theilungen derjenige Theil des Entwährungsweſens ſind, welche auf dem Gebiete des Beſitzes und des mit ihm verbundenen öffentlichen Rechtszuſtandes die Unfreiheit der Geſchlechterordnung beſeitigen, er - ſcheint die Enteignung als diejenige Form der Entwährung, welche es mit keiner ſocialen Frage mehr zu thun hat, ſondern ſich innerhalb der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung ſelbſt vollzieht. Sie iſt daher die reine ſtaatsbürgerliche Entwährung, in dem Sinne, den wir bereits oben dargelegt haben.

Eben darum iſt der Gegenſatz dieſer Entwährungsform mit dem Weſen des perſönlichen Eigenthums ein viel ſchärferer, als bei den obigen Erſcheinungen. Denn während bei den letzteren die Eigenthums - verhältniſſe nur als Conſequenz eines öffentlich rechtlichen Fortſchrittes, als der nothwendige und unabweisbare Inhalt einer großen, das ganze Leben der Völker unwiderſtehlich erfaſſenden Umgeſtaltung der Geſell - ſchaftsordnung erſcheinen und ſo die Löſung des größern Widerſpruches uns mit dem Auftreten des kleinern verſöhnt, tritt in der Enteignung in der That ſcheinbar nur ein Intereſſe dem andern gegenüber, das Geſammtintereſſe dem Einzelintereſſe; in dieſem Gegenſatz unterliegt das letztere, und in dieſem Unterliegen muß es um des Intereſſes willen dasjenige zum Opfer bringen, was an ſich für das Intereſſe unantaſt - bar erſcheinen ſollte, das Recht des Einzeleigenthums gerade das - jenige Recht, deſſen Herſtellung die Grundlage der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung zu ſein beſtimmt iſt. Bei der Enteignung treten uns daher ſcheinbar ganz andere Faktoren und Fragen entgegen als bei der Entlaſtung; ſie iſt es, welche die Fundamente der ſtaatsbürgerlichen Ordnung zu erſchüttern droht; ſie ſcheint daher auch einer ganz andern Erklärung, eines ganz andern Princips zu bedürfen; als jene; mit ihr ſcheint es, als ob wir auf ein ganz anderes Gebiet verſetzt würden.

Daher denn auch die Erſcheinung, daß die Literatur einerſeits, die Geſetzgebung andererſeits Entlaſtungen und Enteignungen ſtets als ein - ander ganz fremde Gebiete betrachtet haben. Allerdings liegt der gemeinſame Ausgangspunkt in der vagen Vorſtellung vom öffentlichen Wohle , und allerdings umfaſſen die allgemeinen Theorien des vorigen Jahrhunderts beide Entwährungsgebiete ihrem Keime nach. Allein ſo wie dieſelben feſte Geſtalt gewinnen, entfremden ſie ſich ſo gründlich von einander, daß von einer Gegenſeitigkeit gar keine Rede mehr iſt. Die Rechtsphiloſophie, deren nächſte Aufgabe es geweſen wäre, den höheren Standpunkt inne zu halten, kennt vielmehr lange Zeit hindurch293 alle beide nicht. Die Geſetzgebung hat für die Entlaſtung ſo tief ver - ſchiedene Regeln von denjenigen aufzuſtellen, welche für die Enteignung gelten müſſen, daß ein Zuſammenbringen beider großen Gruppen von Geſetzen nicht wohl denkbar iſt; die Juriſten, von keiner Rechtsphilo - ſophie geleitet, halten ſich einfach an die geltenden, ohne Beziehung zu einander ſtehenden Beſtimmungen; die Hiſtoriker, auch die der deutſchen Reichs - und Rechtsgeſchichte, haben mit der Enteignung ſich überhaupt nicht zu befaſſen, weil ſie eben in der Wirklichkeit noch gar nicht exiſtirt, und eine Verwaltungslehre, welche in einen organiſchen Gedanken beide zuſammengefaßt hätte, gibt es nicht. So war es denn natürlich, daß die tiefen Verſchiedenheiten, welche allerdings in Entlaſtung und Ent - eignung liegen, die allgemeine Vorſtellung begründeten, daß beide mit einander gar nichts zu thun haben. Dazu kam endlich, daß die Ent - laſtungslehre, wie wir geſehen, an Geſetzgebung und Literatur durch die Zeitverhältniſſe in hohem Grade reichhaltig und praktiſch unendlich wichtig ward, während man kaum Anlaß hatte, von der Enteignung überhaupt zu reden. So iſt es denn gekommen, daß die ganze Lehre von der Enteignung nicht bloß an und für ſich etwas dürftig geblieben iſt, ſondern daß ſie weſentlich heimathslos in der ganzen Wiſſenſchaft daſteht, von dem bürgerlichen Rechte bei Seite geſchoben, ohne Geſchichte, auf die Exegeſe der zum Theilung höchſt unvollkommenen Geſetzgebung beſchränkt, ohne Platz in irgend einem Syſtem und damit ohne orga - niſche Begründung ihres Inhalts. Das iſt der gegenwärtige Zuſtand dieſes ſo wichtigen Gebietes des Verwaltungsrechts.

Die Vorausſetzung jedes Fortſchrittes für daſſelbe ſcheint es nun wohl zu ſein, daß wir zunächſt die Gemeinſamkeit des höheren Geſichts - punktes deſſelben in dem allgemeinen Begriffe der Entwährung feſthalten, und den Satz zur Geltung bringen, daß auch die Enteignung nicht ein bürgerliches und nicht ein ſtaatliches, ſondern eben ſo wie die Entlaſtung ein geſellſchaftliches Recht iſt. Und demgemäß iſt es die Aufgabe des Folgenden, dieſen Satz in ſeinem Begriff, ſeiner Rechtsbildung, und ſeinen Conſequenzen durchzuführen, und wieder hier die Haupt - völker und ihr Enteignungsrecht als die großen Individualiſirungen jener Idee in ihrem Enteignungsrechte zu bezeichnen. Damit dürfte daſſelbe dasjenige finden, was es am meiſten entbehrt, ſeine organiſche Stelle in der Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechts.

I. Der Begriff der Enteignung. Entwicklung aus dem geſellſchaftlichen Recht.

Es wird auch wohl hier nicht viel nützen, eine formale Definition an die Spitze zu ſtellen. Das Leben der Völker hat die Enteignung294 in ihrem Weſen und ihrem Recht erzeugt, das Leben derſelben muß ſie auch zum Verſtändniß bringen.

Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft beruht darauf, daß jeder Einzelne aus ſich ſelbſt heraus zur vollen und freien Entwicklung ſeiner Perſön - lichkeit gelange. Sie iſt daher jedem Zuſtande und jedem Rechte feindlich, die ſich dieſer freien individuellen Entwicklung entgegen ſtellen. In dem Bewußtſein, daß ſie damit ein höchſtes perſönliches Princip vertritt, deſſen Verwirklichung zuletzt die höchſte Verwirklichung aller im Weſen der Perſönlichkeit liegenden Idee enthält, macht ſie aus denjenigen Forde - rungen, welche ſich als unabweisbare Conſequenzen jener Idee ergeben, ſelbſtändige Rechtsſätze, denen ſie jedes andere Recht unterordnet, und das Weſen der Enteignung wird daher auch ſeinerſeits ſeine Be - gründung und Entwicklung in dieſem Principe zu finden haben.

Die Wirthſchaftslehre zeigt nun, daß die erſte Bedingung der voll - ſtändigen wirthſchaftlichen Entwicklung jedes Einzelnen in der vollen Freiheit des Erwerbes liegt. Jeder Zuſtand, der dieſe volle Frei - heit des individuellen Erwerbes beſchränkt, iſt daher ein Widerſpruch mit dem Grundprincip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Die Auf - hebung eines ſolchen Zuſtandes wird mithin zum Princip des wirth - ſchaftlichen Rechts derſelben, dem ſich jedes andere Recht des wirth - ſchaftlichen Lebens unterwirft, weil es ſeine ſittliche Berechtigung eben nicht im Weſen des Einzelrechts, ſondern in der höchſten Natur der Perſönlichkeit findet. Im Namen dieſes Rechts hebt die ſtaatsbürger - liche Geſellſchaftsordnung die alte Form des Geſammteigenthums der Geſchlechter - und Ständeordnung auf, und ſetzt an ihre Stelle das freie Einzeleigenthum; wir haben bisher geſehen, in welchen Formen ſie dieß thut, und es iſt kein Zweifel, daß hier der Punkt iſt, wo die Enteignung der Entlaſtung zu folgen hat.

In der That nämlich kann es nun im wirthſchaftlichen Leben Fälle geben, wo eben dieß, auf dieſe Weiſe gewonnene Einzeleigenthum an einem beſtimmten Grundbeſitze zum Hinderniß für die volle Entwicklung des Erwerbes aller Anderen wird. Das Einzeleigenthum kann daher unter dieſer Bedingung in Widerſpruch mit dem höchſten Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft überhaupt gerathen, aus der es doch eben hervorgegangen iſt. Das Einzelrecht tritt in ſolchem Falle in unauf - löslichen Gegenſatz nicht mehr mit dem Begriffe der ſtaatsbürger - lichen Freiheit und Gleichheit, wie in der Entlaſtung und der Auf - hebung der Privilegien ſondern mit dem Rechte Aller auf das, was die Bedingung der wirthſchaftlichen Entwickelung jedes Einzelnen iſt. Auf dieſem Punkte bildet daher die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſich ein neues Recht. Dieſes Recht, als ſtrenge Conſequenz des Weſens295 der letzteren, hat zum Inhalt, daß da, wo das Einzeleigenthum an einem beſtimmten Gute ein Hinderniß der allgemeinen Entwicklung des freien Erwerbes aller Einzelnen iſt, dieß Einzeleigenthum aufgehoben werden muß, in ſo fern und in ſo weit dieſe Aufhebung die Be - dingung jener wirthſchaftlichen Entwicklung Aller iſt. Mit dieſem Rechtsſatze vollendet ſich das wirthſchaftliche Rechtsſyſtem der ſtaats - bürgerlichen Geſellſchaft; er iſt in der That ein immanentes Element in demſelben; er kommt allerdings erſt mit dieſer Geſellſchaftsordnung langſam zum Bewußtſein, aber er gelangt deßhalb nicht weniger un - widerſtehlich zur Geltung. In dieſer ſeiner Geltung hat er dieſelbe Natur wie die Entlaſtung. Er verwirklicht ſich nicht einfach, wie das Urtheil eines Gerichts, ſondern er erſcheint vielmehr als ein Proceß, deſſen Baſis das Bewußtſein der wirthſchaftlichen Geſammtentwicklung, deſſen Inhalt die Beſtimmung des Objects iſt, deſſen Eigenthum um dieſer Geſammtentwicklung willen aufgehoben werden ſoll, und deſſen Schluß in der wirklichen Entziehung dieſes Eigenthums beſteht. Und dieſen, auf jenem geſellſchaftlichen Rechtsſatze beruhenden Proceß nennen wir die Enteignung.

Indem wir auf dieſe Weiſe das Weſen und damit auch den Rechts - begriff der Enteignung eben ſo wie den der Entwährung im Anfange unſerer Darſtellung auf den Begriff und das Weſen der Geſellſchaft zurückführen, möge es uns geſtattet ſein, die Unmöglichkeit einer anderen Begründung dieſes Begriffes kurz nachzuweiſen.

Man hat verſucht, und zwar gleich von Anfang an, das Recht auf Enteignung in das Weſen des Staats zu legen; freilich gewöhnlich ohne weitere Begründung einfach durch die Behauptung, daß der Staat das Recht habe, das Einzeleigenthum aufzuheben, wo ſeine Aufhebung eine Bedingung des öffentlichen Wohles ſei. Nun iſt es klar, daß ſowohl der Staat als auch der Begriff des öffentlichen Wohles zunächſt auf der Grundlage aller Entwicklung, der unverletzlichen und ſelbſtändigen Einzelperſönlichkeit, beruhen. Die Unfreiheit und das öffentliche Verderben beginnen eben da, wo der Einzelne dem Ganzen gegenüber grundſätzlich als rechtlos und unſelbſtändig gilt; weder Staat noch öffentliches Wohl genügen daher, um ihre eigene Baſis, das freie und ſelbſtändige Individuum, um deſſentwillen beide da ſind, desjenigen zu berauben, das ſein Weſen ausmacht, ſeine individuelle Selbſtändigkeit. Von dieſem Standpunkt iſt daher die Enteignung nicht zu erklären, wenn man nicht behaupten will, was man beweiſen ſoll. Eben ſo un - klar iſt die Berufung darauf, daß die Enteignung dadurch ein Recht werde, weil das Geſetz ſie vorſchreibt. Abgeſehen davon, daß Wort und Begriff296 des Geſetzes nicht das Recht, ſondern nur der Gültigkeit deſſelben bedeuten, und man aufhören ſollte das Recht mit dem Elemente der Gültigkeit zu verwechſeln jedermann weiß, wie viel Rechte es gibt und von jeher ge - geben hat, die niemals zum Geſetz geworden ſind iſt es klar, daß das Geſetz das rechtliche Weſen der Verhältniſſe zum Ausdruck bringt, daß alſo das letztere da ſein muß, ehe das erſte erſcheint. Worin liegt alſo dieß rechtliche Weſen der Enteignung, das ich ſelbſtändig muß finden können, ſchon damit ich es durch das Geſetz zum geltenden Recht machen könne? Offenbar, die Thatſache, daß die Enteignung Geſetz iſt, erklärt mir nicht, wie die Enteignung ein Recht ſein könne; und gerade das wird geſucht.

Es erſcheint dabei kaum nöthig, den Unterſchied zwiſchen der Ent - eignung und den Steuern und ſonſtigen Leiſtungen der Einzelnen an den Staat noch ſpeciell nachzuweiſen; denn dieſe beſtehen aus Prä - ſtationen des Einzelnen, für welche der Staat jedem Einzelnen die Be - dingungen ſeiner eigenen Entwicklung, ſo weit ſie eben in der Gemein - ſchaft liegen, herſtellt, ſo daß jeder die von ihm gezahlten Steuern als eine allgemeine (Regie) Auslage für ſeine eigene Wirthſchaft betrachten muß; der Staat verwaltet daher in der That nur die gemeinſamen Leiſtungen zum Beſten jedes Einzelnen. Bei der Enteignung dagegen handelt es ſich um die Leiſtung eines Einzelnen, ohne daß dabei ſein eigenes Wohlergehen der letzte Zweck war, ſondern das aller Anderen. Darin liegt der Unterſchied der Enteignung von der Steuer, und nicht in der Gleichheit der letzteren gegenüber der Individualität der erſteren. Denn es hat auch ſehr ungleiche Steuern gegeben, und Enteignungen haben ganze Volksgruppen umfaßt. Eben ſo wenig kann man die Ent - eignung mit dem eigentlichen Nothrecht des Staats, dem jus eminens (ſ. unten) zuſammenſtellen, da es ſich bei dem letzteren um die Exiſtenz des Staats ſelber handelt, die für jeden eine unabweisbare Bedingung ſeiner eigenen Exiſtenz iſt. So iſt jede Begründung der Enteignung, die am letzten Ort darauf beruht, daß das Einzeleigenthum am Grund und Boden durch die Perſönlichkeit ſelbſt gegeben, und mithin ein im Weſen der letzteren liegendes Recht ſei, ein unlösbarer Widerſpruch mit dieſem Weſen des Rechts ſelber. Eine logiſche Auflöſung deſſelben iſt nur da möglich, wo dieß Einzeleigenthum am Grund und Boden ſelbſt wieder das Ergebniß derjenigen Potenz iſt, welche die Aufhebung dieſes halben Eigenthums auf derſelben Grundlage fordert, von der aus ſie ſelbſt dieß Eigenthum erzeugt hat, der freien individuellen Entwick - lung Aller. Nur indem man erkennt, daß die ſtaatsbürgerliche Geſell - ſchaft dieß Einzeleigenthum in Entlaſtung, Ablöſung und Auftheilung hergeſtellt hat, kann man die Conſequenz ziehen, daß ſie auch be - rechtigt ſei, es wieder aufzuheben. Denn jede Geſellſchaftsordnung297 erzeugt nicht bloß ihre, ihr eigenthümlichen Conſequenzen für die Ordnung des Grundbeſitzes, ſondern mit demſelben Rechte fordert ſie auch, daß der von ihr geſchaffene Einzelgrundbeſitz ſeinerſeits die Bedingungen herſtelle, auf denen ſie ſelber beruht. Und die wahre Rechtsbaſis aller Enteignung iſt es daher, daß ſie als eine Bedingung für das Princip der vollen Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den freien individuellen Erwerb, erſcheine. Es iſt daher gänzlich hoffnungslos, die Enteignung als einen Rechtsbegriff aus dem Weſen von Recht und Staat entwickeln zu wollen; und alle, welche auf dieſen Standpunkt ſtehen, ſind daher auch von dem Gefühl durchdrungen, daß, wenn überhaupt die Enteignung aus dem Recht entſtehen kann, das Recht ſelbſt damit zuletzt zu Grunde gehen müſſe, wie das noch neulich - berlin (a. a. O. unten) ſo lebhaft gezeigt hat. Unfertiger wie Laſſalle kann man allerdings kaum ſein, der einerſeits behauptet, daß bei der Enteignung von einer Rückwirkung, von irgend welcher Kränkung er - worbener Rechte gar nicht die Rede ſein könne (Syſtem der erworbenen Rechte I. S. 198), weil ja das Individuum ſich und Andern nur in ſo weit und auf ſo lange Rechte ſichern kann, in ſo weit und in ſo lange die jederzeit beſtehenden Geſetze dieſen Rechtsinhalt als einen erlaubten anſehen (S. 194), und doch wieder den Satz anerkennt, daß es gegen das Recht kein Recht gibt. Hier iſt Alles klar, bis auf das, worauf es ankommt, nämlich das Recht ſelbſt, denn dieß Recht liegt dieſer Theorie nicht im Weſen der Perſönlichkeit, ſondern in der Anerkennung durch das Geſetz; die Gültigkeit des Rechts iſt mit dem Weſen des Rechts verwechſelt. Daher hat Laſſalle ſich die entſcheidende Frage gar nicht geſtellt, welcher Natur denn ein erworbenes Recht iſt, über welches ſich überhaupt ein Geſetz niemals ausgeſprochen hat. Denn wenn das Geſetz die Bedingung des Erwerbes des Guts iſt, und fehlt, aus welchen Elementen heraus ſoll man denn das ſo weder mit noch gegen das Geſetz, ſondern einfach ohne daſſelbe entſtandene Recht erkennen? Ergibt ſich aber das Weſen deſſelben aus der Perſönlichkeit, ſo tritt derſelbe Gegenſatz auf, der eben die Enteignung ſo ſchwierig macht, der Gegenſatz zwiſchen dem perſönlichen und dem geſetzlichen Rechtsbegriff; und da genügt es wahrlich nicht, einfach dem Geſetze das Recht der Aufhebung des perſönlichen Rechts zuzuſprechen, weil das letztere gar nicht hätte erworben werden können, wenn das ſpätere Geſetz ſchon dageweſen wäre. Denn damit würde es zuletzt gar kein gegenwärtiges Recht, auch nicht das aus einem Geſetze fol - gende, geben, weil immer ein anderes Geſetz kommen kann, welches das alte Recht und Geſetz aufhebt. Auf dieſe Weiſe dreht ſich die Dialektik in einem unauflöslichen Cirkel: Das Einzeleigenthum iſt kein298 unaufhebbares Recht, weil es gar nicht hätte erworben werden können, wenn der Erwerb nicht geſetzlich zugelaſſen wäre; nun hat das Geſetz den Erwerb zugelaſſen, unter der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, ihn wieder aufzuheben; der Grund, warum das Geſetz aber dieſe mögliche Wieder - aufhebung, die Enteignung, feſthält, iſt der, daß das Einzeleigenthum wieder aufgehoben werden kann. Das iſt ein leerer Kreis. Wir werden daher auch von dieſer Seite auf die Quelle aller zeitlichen Rechtsbildung, die Geſellſchaftsordnungen, zurückgewieſen. Wie die Geſchlechterordnung das gemeinſchaftliche Eigenthum des Grundes und Bodens mit gleichem Recht ihrer Mitglieder, die ſtändiſche Ordnung das körperſchaftliche mit organiſcher Vertheilung der Benutzung deſſelben erzeugt, unter Auf - hebung jedes Einzeleigenthums, ſo erzeugt ihrerſeits die ſtaatsbürger - liche Geſellſchaftsordnung alle diejenigen Rechtsgrundſätze, welche die volle Freiheit der individuellen Entwicklung zum Inhalt haben. Für ſie iſt daher die Aufhebung des Einzeleigenthums an Grund und Boden kein Widerſpruch, weil das Einzeleigenthum ſelbſt ihre eigne Conſequenz iſt, und mithin in jedem Falle nur ſo weit geht, als der Grund es zuläßt, aus dem es ſelbſt hervorgegangen. Tritt es daher in Gegenſatz mit jener freien individuellen Entwicklung, ſo wird es ein - fach durch dieſes höhere Princip ſo weit aufgehoben, als das letztere es fordert, wie es hergeſtellt iſt eben durch ſeine Forderung ſelbſt. Und dieß iſt um ſo klarer, als in demſelben Gedanken auch die Gränze der Enteignung liegt. In der That nämlich bildet das Einzeleigenthum am Werthe niemals einen Gegenſatz zu der allgemeinen Entwicklung, ſondern iſt vielmehr das wahre Gebiet der vollkommen freien individuellen Thätigkeit. Die Enteignung kann daher nie das Eigenthum am Werthe des Gutes aufheben, das heißt der Werth muß dem Eigenthümer in ſeiner ſelbſtändigen Geſtalt, als Geld, zurückgegeben, oder es muß der Einzelne entſchädigt werden; und darum war es ſo natürlich, daß die meiſten Theoretiker in der Entſchädigung dasjenige Moment ſahen, das die Enteignung rechtlich möglich mache, obwohl auch ſie allerdings, wie die Enteignung ſelbſt, nur eine Conſequenz des Weſens des geſell - ſchaftlichen Rechts einerſeits und des Werthes andererſeits iſt. Es muß endlich die jüngſte Anſicht hervorgehoben werden, welche, obwohl ſie mit dem ſpecifiſchen Begriff der Enteignung eigentlich nichts zu thun hat, doch als ſittliche Baſis derſelben, wir möchten ſagen halb in Ver - zweiflung über die ganze Frage, aufgeſtellt worden iſt. Am ſchärfſten hat dieſelbe J. H. Fichte in ſeinem Syſtem der Ethik (Bd. II. Abth. 2. S. 76. 77) ausgeſprochen. Der Staat hat darnach das Recht den Einzelnen durch Maßregeln der Geſetzgebung und Verwaltung zur höchſt möglichen Benützung des Eigenthumes anzutreiben, und dieß Princip299 iſt nicht anders auszudrücken, als daß es ſchon nach der gegenwärtig üblichen durchaus unentbehrlichen Praxis gar kein abſolutes Recht des Privateigenthums gibt. Die Enteignung iſt daher nicht mehr eine ganz beſtimmte Verwaltungsmaßregel, welche eine ganz beſtimmte Bedingung der allgemeinen Entwicklung herſtellt, ſondern ſie iſt das höchſte Princip der Volkswirthſchaftspflege ſelbſt. In ähnlicher Weiſe hat Röder, Grund - züge des Naturrechts (S. 556), den alten römiſchen Satz expedit rei - publicae, ne sua re quis male utatur aufgefaßt, und mit weiteren Beiſpielen belegt. Er hat nicht geſehen, daß dieſer Grundſatz ein Rechts - princip der Geſchlechterordnung iſt, und ſich daher nur auf den Grund und Boden bezieht; Fichte aber hat überhaupt das Eigenthum bloß als den durch das Recht anerkannten und damit durch die öffentliche Rechtsmacht geſchützten Beſitz aufgefaßt (S. 72 ff.). Es iſt klar, daß wir hier demſelben Widerſpruch wie bei Laſſalle begegnen. Kommt jenes Recht aus dem Weſen der Perſönlichkeit, wie kann es überhaupt kein abſolutes Recht des Privateigenthums geben? Es gäbe ja dann keine Perſönlichkeit als die der Gemeinſchaft ungefähr die Laſſalle’ſche Vorſtellung, die allerdings den großen Fehler der Hegel’ſchen Lehre trifft. Gibt es aber eine ſolche, wie verhält ſich dann ihr Recht zu dem Geſammtwillen? Und ſollte wirklich die ganze Weltgeſchichte, die nie ohne Einzelperſönlichkeit und Eigenthum geweſen iſt, ſo entſchieden alles Weſen beider mißverſtanden haben? Offenbar läßt ſich auf dieſe Grundlagen, die das Einzelrecht überhaupt nicht anerkennen, auch keine Lehre von der Enteignung des Einzelrechts bauen, ſo wenig wie aus dem Begriff des Rechts das Recht auf Aufhebung des Rechts folgt. Biſchof (a. a. O. S. 51) hofft, daß ſich das Fichte-Princip unter einem reifern Geſchlecht Bahn brechen werde, während die Stahl’ſche Auffaſſung an der Perſönlichkeit ſo feſt hält, daß ſie wieder die Enteignung an und für ſich aufhebt (Philoſophie des Rechts, 3. Aufl. Bd. II. §. 15 18). Es iſt klar, daß keiner dieſer Wege das Weſen derſelben zum Verſtändniß zu bringen vermag.

II. Das Princip des Enteignungsrechts.

Aus dieſem Weſen des Enteignungsrechts folgt nun auch das, was wir das Princip deſſelben nennen. In dem Enteignungsrechte nämlich ſtehen ſich die geſellſchaftliche Forderung an den Einzelnen, ſein Eigenthum aufzugeben, und das eben ſo beſtimmte Princip der ſtaats - bürgerlichen Ordnung, daß dem Einzelnen die ſelbſtändige Unverletz - lichkeit erhalten werden ſolle, einander gegenüber. Das Princip des Enteignungsrechts iſt nun der Grundſatz, der in dieſer Beſchränkung des300 Einzelrechts durch die geſellſchaftliche Entwicklung die rechtliche und wirthſchaftliche Selbſtändigkeit des Einzelnen ſo weit aufrecht hält, als dieß überhaupt für die Erreichung der geſellſchaftlichen Forderung möglich iſt. Aus dem Streben, das Gebiet dieſer Beſchränkung des Einzelrechts auf ihr äußerſtes Maß zurückzuführen, und dadurch das zweite große Element der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den freien Einzelnen, zu erhalten, ergibt ſich nun das, was wir das Syſtem des Enteignungsrechts nennen. Die Grundlage dieſes Syſtems iſt demnach der Satz, daß der Staat nie dasjenige Gut nehmen darf, welches er ſich ſelbſt hätte erwerben können, und daß er, wo er das Gut nimmt, nie mehr nehmen darf, als für ſeine Aufgabe unabweis - bar nothwendig iſt. Das erſte ſchließt die Enteignung unbedingt aus, ſo lange ein freier Erwerb auch des nöthigen Gutes wirthſchaftlich möglich iſt; das zweite erzeugt die[Nothwendigkeit], das zu enteignende Gut erſtlich genau zu beſtimmen, und zweitens in demſelben nur das zu nehmen, was der Staat ſich nicht ſelbſt ohne den Eigner geben konnte; das aber iſt die Subſtanz des Gutes, der Stoff deſſelben, während das zweite organiſche Element des Gutes, der Werth des - ſelben, dem Eigner als Entſchädigung zurückgegeben werden muß. Aus dieſen Momenten entſteht nun das Recht der Enteignung.

Das Recht der Enteignung enthält und bezeichnet demgemäß die Gränze des individuellen Eigenthums, welche die Enteignung bei der Aufhebung deſſelben aufrecht zu halten hat. Das Recht der Enteignung kommt daher weder im Begriffe des Privatrechts, noch in dem der Volkswirthſchaft zur Erſcheinung, ſondern es ſcheint vielmehr als die, aus dem obigen Weſen der Enteignung fließende Gränze für diejenige Thätigkeit des Staats, welche das individuelle Eigenthum wirklich ent - zieht; und für dieſen Begriff des Enteignungsrechts iſt es mithin vor der Hand ganz gleichgültig, ob dieß Recht ein geſetzliches, verord - nungsmäßiges, oder bloß ein Recht an ſich iſt. Denn es wird, da das Weſen der Sache ſelbſt immer daſſelbe iſt, auch ſtets immer das gleiche Recht ſein; und dieß Recht iſt mithin das Recht der Wiſſenſchaft.

Allein eine weſentlich verſchiedene Frage iſt nun allerdings die, ob und wie weit ſich dieß Recht an ſich durch das Zuſammenwirken von Geſetzgebung, Verwaltung und Wiſſenſchaft bereits zu einem geltenden Recht ausgebildet hat. Die Darlegung dieſes Pro - ceſſes des Werdens eines geltenden Rechts aus dem Recht an ſich bildet dann die Rechtsgeſchichte des Enteignungsrechts.

301
III. Die Elemente der Geſchichte des Enteignungsrechts.

(Die drei Epochen. Die Epoche des dominium eminens und der Regalität. Die Epoche des Verordnungsrechts mit dem Uebergange in die bürgerlichen Geſetzbücher. Die Epoche des Verfaſſungsrechts. Uebergang in die Verfaſſungs - urkunden. Entſtehung der Enteignungsgeſetze.)

Wenn es richtig iſt, daß die Enteignung ein geſellſchaftlicher Mo - ment und ihr Recht ein geſellſchaftliches Recht iſt, das nur durch die Verwaltung verwirklicht wird, ſo wird die Grundlage der Geſchichte des Enteignungsweſens zugleich in den großen Epochen der geſellſchaftlichen Entwicklung Europas verlaufen. Und in der That iſt dieß wie bei dem Entlaſtungs - ſo auch bei dem Enteignungsweſen in ſo ſchlagender Weiſe der Fall, daß dieſe Geſchichte ihrerſeits als ein keineswegs unbedeutender Beitrag zur Geſchichte der Geſellſchaft erkannt werden muß.

Es ergibt ſich daraus zunächſt, daß von einer eigentlichen Ent - eignung unter der Geſchlechter - und Ständeordnung gar keine Rede ſein kann. Sie beginnt erſt da, wo die ſtaatsbürgerliche Geſellſchafts - ordnung ihrerſeits ſich aus jenen beiden Formen loszumachen beginnt; und auch hier findet ſie ihre erſte und natürliche Vertretung in der neu entſtehenden Gewalt der Landesregierungen. Die unbedeutenden An - knüpfungen an das Expropriationsrecht, die wir als Spuren im römi - ſchen Rechte finden, ſind von Wendt und ſpäter von Häberlin an - geführt; die Pandekten-Jurisprudenz hat ſie unverſtanden gelaſſen; jeden - falls ſind ſie zu keinem juriſtiſchen Syſtem geworden. Die Rechtslehre Europas konnte daher an dieſe Quelle hier nicht anknüpfen. Sie mußte einen andern Weg einſchlagen. Dieſer lag vor im Gebiete des dominium eminens, auf deſſen Geſchichte wir hier verweiſen; allein zu einem Be - griff und Rechte der Enteignung konnte das dominium eminens nicht führen, und es iſt gänzlich falſch, wenn Biſchof (S. 60) und zu - letzt Thiel (S. 1) ohne weiteres das dominium eminens als Grund - lage oder gar Synonimum der Expropriatio der ſpätern Zeit, oder als die Geſtalt derſelben in der Lehnsepoche anſehn. Denn der weſentliche Unterſchied zwiſchen dominium eminens und expropriatio beſteht darin, daß aus jenem Recht als einem Eigenthum der Krone zwar das Recht der Eigenthumsentziehung, nicht aber das der Entſchädigung folgen kann. In der That ſtehen ſich in dem dominium eminens die Krone und der Einzelne nicht als zwei Gleichberechtigte gegenüber, der letztere iſt vielmehr der erſteren unterworfen, und das dominium eminens ent - hält daher eigentlich gar nicht den Gedanken, daß der dominus dem Andern deſſen Recht entziehe, ſondern nur den daß er ſein eignes Recht gegen den Inhaber geltend macht, was den Begriff der Enteignung302 an ſich ausſchließt. (Vergl. oben die Darſtellung des dominium eminens.) Noch verkehrter iſt es, wenn man mit Biſchof (S. 73) dieß dominium eminens mit dem jus eminens, dem Staatsnothrecht, oder gar mit dem alten Verordnungsrecht, der plenitudo summae potestatis zuſammenſtellt. Wir werden ſpäter Gelegenheit haben, auf die letzteren zurückzukommen. Die Enteignung beginnt erſt da, wo nicht mehr die Krone und der Ein - zelne, ſondern der Staat als Einzelner dem Einzelnen in Beziehung auf einen öffentlichen Zweck entgegen tritt. Und eben deßhalb iſt das Auftreten der Idee der Enteignung auch von Anfang an mit dem Princip der Ent - ſchädigung verbunden, was bei dem dominium eminens nicht der Fall iſt. Das Gebiet nun, auf welchem in dieſem Sinne zuerſt die Enteignung auf - tritt, iſt das der Regalität, und zwar ſpeciell das Bergwerksregal. Es iſt nun allerdings klar, daß das Eigenthum des Staats an den Gütern unter der Erde nicht das Eigenthum an denjenigen Grund - ſtücken enthält, welche den Zugang und Abbau jener Güter möglich machen; das dominium der erſteren gibt daher kein dominium an den letzteren, und die Regalität des Bergbaues enthält daher an ſich eben ſo wenig ein Recht auf Enteignung der Grundbeſitzer in der Lehnszeit, als dieß im römiſchen Recht je der Fall war. Aber hier ließ das Recht auf den erſteren ſtillſchweigend das Recht zur letzteren als ſelbſt - verſtändlich entſtehen, ohne daß man ſich über dieſen Bruch des Privat - eigenthums Rechenſchaft ablegte. Im Bergwerksregal erſcheint daher der erſte Sieg, den das volkswirthſchaftliche Unternehmen über das Einzeleigenthum davon trägt; die erſte Rechtsbildung der ſtaatsbürger - lichen Geſellſchaft. Bergwerke können nicht betrieben werden, ohne eine Enteignung der Beſitzer der Oberfläche. So wie daher das Bergwerks - regal die Geſtalt eines öffentlichen Rechts der Montan-Unternehmungen annimmt, entſteht auch der öffentlich rechtliche Grundſatz, daß der Grub - meiſter den Beſitzer in ſo weit enteignen dürfe, als er dieſes Beſitzes für den Bergbau unbedingt bedarf; ſpeciell darf er Wege anlegen und Holz nehmen für ſeine Zwecke gegen Entſchädigung. Dieſer Grundſatz tritt ſchon im 14. Jahrhundert in einzelnen Fällen auf, und wird dann mit dem 15. und 16. zu einem ziemlich allgemeinen Princip des deutſchen Rechts. Wagner in ſeinem Corpus juris metallici hat dieß zuerſt be - merkt (Vorrede S. XI. ) und Häberlin hat aus Wagners Samm - lung den Grundſatz nachgewieſen, daß, da man den Bergbau ſelbſt, wenn er von Privatperſonen ausgeübt ward, vermöge ſeines öffent - lichen Nutzens als eine öffentliche Angelegenheit anſah (S. 8) dem - gemäß vermöge der Regalität der Bergwerke jeder Grundbeſitzer ver - pflichtet war, den zum eigentlichen Grubenbau nöthigen Grund und Boden abzutreten (S. 28), ein Satz, der ſich dann gleichſam als ſelbſt -303 verſtändlich in den Bergordnungen des 18. Jahrhunderts erhält und bis auf die neueſte Zeit fortpflanzt. Dieſe Bergordnungen (die bayeriſche von 1784, die Joſephiniſche von 1781 und das preußiſche allgemeine Landrecht Th. II. Tit. 16, bei Wagner S. 389 ff., Häberlin S. 24 31) bilden eigentlich das erſte Syſtem des Enteignungsrechts; doch kommt bei demſelben weder Name noch Begriff der Expropriations - rechte zur Geltung. Der Grund davon liegt offenbar in der Vorſtel - lung, daß dieſe Enteignungen noch nicht eben ein allgemeines ſtaats - bürgerliches Rechtsverhältniß enthalten, ſondern immer nur auf ein - zelne, ganz örtliche Unternehmungen angewendet werden, und daher den Charakter des Ausnahmerechts an ſich tragen, und daher auch meiſtens auf den Rechtstitel der Regalität zurückgeführt werden. Dieſer Standpunkt bleibt, als im 18. Jahrhundert daſſelbe Princip auch auf andere Verhältniſſe, namentlich auf das Waſſerrecht und ſpeciell auf die öffentliche Benutzung von Flüſſen und ſchiffbaren Gewäſſern An - wendung findet. Auch hier erſcheint allerdings der Grundgedanke der Waſſerregalität. Allein die Gewäſſer ſind denn doch viel allgemeiner als die Bergwerke, und die Anerkennung der Nothwendigkeit, eine Ent - eignung als Bedingung für die Benutzung ſolcher Gewäſſer eintreten zu laſſen, nimmt daher gleich anfangs den Charakter eines Princips der allgemeinen Enteignung an. Der Hauptvertreter dieſer Richtung iſt Ch. Fritſch (Jus fluviatium, Jenae 1672); zu einem ausgearbeiteten Syſteme wird dieſelbe erhoben durch Cancrin, Abhandlungen von dem Waſſerrecht (4 Bde. Halle 1789 1800), ein Werk aus jener gründ - lichen Zeit, in der man nicht glaubte, das Verwaltungsrecht als Po - lizeiwiſſenſchaft mit einigen allgemeinen Phraſen erledigen zu können. (Vgl. Häberlin S. 31.) Aber auch jetzt noch kommt man noch nicht zu dem Begriffe und Recht einer eigentlichen Enteignung; man ſieht es den Schriftſtellern an, daß ſie ſich ſcheuen, den Rechtstitel der Enteig - nung in einem allgemeinen Grundſatz zu ſuchen; ihre Kategorien ſind noch immer die des Privatrechts; die ſtaatsbürgerliche Verwaltung iſt noch nicht durchgedrungen; es ſind noch die erſten vereinzelten Schritte für die Herſtellung eines allgemeinen Rechtsſyſtems, und in dieſer Ver - einzelung der Anwendung des Enteignungsrechts weſentlich auf Grund - lage der Regalität beſteht der Charakter dieſer erſten Epoche der Ge - ſchichte der Expropriation.

Allein ſchon in der Mitte des 18. Jahrhunderts hat die ganze Auffaſſung des Staats und ſeiner Aufgabe ſich eine neue Bahn ge - brochen. Der Eudämonismus, die Idee, daß der Staat die Pflicht und mithin auch das Recht habe, die Bedingungen des allgemeinen Wohles herzuſtellen, wendet ſich jetzt ganz allgemein dem Einzelrecht zu. 304Die Idee des dominium eminens verſchwindet, aber die des Staats tritt an ihre Stelle. Die Verwaltung jener Zeit erkennt, daß ſie, ſoll ſie überhaupt ihre Aufgabe erfüllen, an den Schranken des Einzel - beſitzes nicht ſtehen bleiben darf. Dieſer Gedanke liegt ſchon unent - wickelt in dem Gegenſatz zwiſchen den beiden Begriffen des imperium und des dominium eminens. Wir können hier nur darauf aufmerkſam machen, daß jene Idee des imperium in der That den Staat und ſeine neue Stellung bedeutet, und den Rechtstitel der Handlungen des Staats in dem ethiſchen Weſen derſelben ſucht, während das dominium die - ſelben auf das hiſtoriſche, feudale Obereigenthum zurückführt, und damit dieſes Recht auch da begränzt, wo das Obereigenthum aufhört, wäh - rend das imperium eine ſolche Grenze nur in der Idee des Staates ſelbſt findet. Der Vater des wiſſenſchaftlichen Begriffes des imperium iſt Hobbes; von ihm geht derſelbe nach Deutſchland hinüber, und findet ſeine Subſtanz an dem bekannten Gegenſatz zwiſchen Kaiſer und Landesherrn; er erzeugt namentlich in der letzten Hälfte des 17. Jahr - hunderts jenen heftigen Kampf, an deſſen Spitze die bedeutendſten pu - bliciſtiſchen Schriften des 17. Jahrhunderts ſtehen, der berühmteſte von allen, der noch immer nicht gehörig ausgenutzte Hippolitus a La - pide: Diss. de ratione status in imperio nostro Romano-Germanico (Freiſtadt 1647) und ſeine großen Nachfolger, der Monzambano von Pufendorf und Leibnitzs Caesarinus Furstenerius. Die Anwen - dung der in dieſen großen publiciſtiſchen Schriften vertretenen Grund - ſätze der, in der Idee des Kaiſerthums liegenden Idee des Staats auf ſpecielle Rechtsfragen iſt in einer Reihe von Schriften enthalten, die Biſchof (S. 73) anführt. Die klarſte Auffaſſung des ganzen Ver - hältniſſes ſchon bei Multz (Repraesentatio Imperii p. 468): Nemini suum auferendum, nisi cum inde universi plus utilitatis praeci - piunt, quam ille solus damnum patitur. Quod tamen ita commu - nibus impensis resarciendum, ut ipsi sua quoque pars imputetur. Hier ſind die Elemente des Enteignungsverfahrens bereits im Weſent - lichen angedeutet, jedoch immer nur theils als Theorie, theils als Aus - nahmsfälle, dem Staatsnothrecht unterworfen (vergl. Biſchof S. 63 f.) Erſt mit dem 18. Jahrhundert formuliren ſich dieſe Vorſtellungen zu einem beſtimmten, allgemeinen Princip, das zwar den Begriff des Noth - rechts oder des jus eminens von dem der Enteignung noch nicht recht zu ſcheiden weiß, aber über die Sache ſelbſt vollkommen klar iſt. Am beſten wohl bezeichnet die damalige Auffaſſung Kreitmayr (vergl. Bayeriſche Städte - und Marktordnung von 1748 bei Häberlin S. 37) in ſeinen Bemerkungen zum Cod. Max. Bavaricus. Kap. vom Eigen - thum (Th. II. C. 2. § 2). Im gleichen gehört das ſogenannte dominium305 eminens daher, kraft deſſen die Landesherrſchaft der Unterthanen Güter im Fall der Noth wegnehmen, und zum gemeinen Beſten verwenden kann, denn, obwohl dieſe Benennung, welche von Hugo Grotius auf das Tapet gebracht worden, etwas hart klingt, und in - ſonderheit zwiſchen Hornio (de dominio eminente), dann Leysero (in Diss. de imperio contra dominium eminens) großer Streit entſtanden, ſo läuft doch das Meiſte hierbei auf eine bloße Logomachie hinaus. Im Hauptwerk läugnet der Landesherrſchaft obverſtandene Gewalt, ſo weit ſie in gehörigen Schranken bleibt, Niemand ab, liegt alſo im Ueberreſt nicht viel daran, wie das Kind getauft werde, und ob es eigentlich dominium eminens oder imperium heißen ſoll. Es war eben der Sieg eines ganz neuen Princips über die alte Vor - ſtellung, und dieſes Princip findet nun in der Geſetzgebung am Schluſſe des 18. Jahrhunderts eine ganz beſtimmte, wenn auch nur noch all - gemein gehaltene geſetzliche Anerkennung. Für die Anlage von Wegen und Chauſſeen bereits durch Edikt vom 18. April 1792 in Preußen ausgeſprochen, und in andern Wegeordnungen des 18. Jahrhunderts angedeutet (Häberlin S. 37 39), wird es mit den beiden großen bürgerlichen Geſetzgebungen des 18. Jahrhunderts, dem öſterreichiſchen bürgerlichen Geſetzbuche §. 365 und dem preußiſchen allgemeinen Landrecht, namentlich Tit. 11, ausdrücklich als allgemeiner Rechtsgrundſatz anerkannt. Damit ſchließt die zweite Epoche. Es macht nicht viel aus, daß das erſte dieſer beiden Geſetzbücher kurz, das zweite in ſeiner gewöhnlichen Weiſe breit iſt; gemeinſam bleibt beiden, und mit ihnen der ganzen deutſchen Jurisprudenz der Satz, daß jede Regierung das Recht zur Enteignung für den allgemeinen Nutzen nach ihrem Ermeſſen gegen angemeſſene Schadloshaltung haben ſolle.

Es iſt nun wohl klar, daß in dieſem Grundſatz zwar einerſeits die große Idee der Verwaltung zur Geltung kommt, daß aber auch andererſeits damit das Einzeleigenthum gegenüber dem ſouveränen Ver - waltungsrecht der Staaten faſt als ſchutzlos erſcheint. Es liegt in jener geſetzlich formulirten Berechtigung des Staats der Keim eines tiefen, die ganze ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft in ihrer erſten Grundlage, der Selbſtändigkeit des Einzelnen, beſtändig bedrohenden Widerſpruchs. Die Verwaltung allein entſcheidet darüber, nicht bloß ob und was enteignet werden ſoll, ſondern eben ſo gut über die Zwecke, für welche die Ent - eignung ſtattfindet. Das Enteignungsweſen beruht hier daher ganz auf der einſeitigen Auffaſſung der Verwaltung, und wir nennen es dem - nach das verordnungsmäßige Enteignungsrecht, in formeller Unterſcheidung von der folgenden Epoche. Dieß Enteignungsrecht iſt in der That eine ernſte Gefahr für den Staatsbürger. Denn dieStein, die Verwaltungslehre. VII. 20306Grenze für jedes Einzeleigenthum iſt jetzt jener unbeſtimmte und unbe - ſtimmbare allgemeine Nutzen; der vagen Vorſtellung deſſelben beugt ſich jeder Staatsbürger; aber wenn jenes allgemeine Wohl das Staats - bürgerthum in ſeiner materiellen Grundlage ſelbſt, dem Beſitze, eigent - lich ohne alle Grenzen bedroht, ſo iſt in Wahrheit die Rechtsbildung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bei dem Punkte angelangt, wo ſie ihre eigene Grundlage angreift, die Freiheit des Einzelnen. So organiſch und nothwendig daher an ſich das Rechtsprincip der Enteignung iſt, ſo fordert es dennoch, einmal anerkannt, auch ſeine Grenze. Damit tritt denn die Epoche ein, welche aus dem rein verordnungsmäßigen ein Syſtem des geſetzmäßigen Enteignungsrechts bilden will, indem ſie das Verfahren der Verwaltung bei der Enteignung geſetzlich formulirt und ſomit die große Frage zu löſen ſucht, wo auf jedem einzelnen Punkte jene Grenze zwiſchen den Forderungen des allgemeinen Wohles und der individuellen Selbſtändigkeit zu ſetzen ſei. Und die Löſung dieſer Aufgabe bildet den Inhalt der dritten Epoche des Enteignungsrechts.

Wir nennen dieſe dritte Epoche wohl am beſten die des ver - faſſungsmäßigen Enteignungsrechts. Denn die erſte Forde - rung dieſer Zeit iſt es, die Aufhebung des Einzeleigenthums nicht mehr von dem rein ſubjektiven Ermeſſen der Behörde abhängig zu machen, ſondern das ganze Enteignungsweſen zu einem geſetzlichen Ver - waltungsrecht zu erheben. Erſt nachdem die abſtrakte Forderung feſtſteht, daß jede Enteignung auf Grundlage eines Geſetzes geſchehen müſſe, tritt die zweite Frage ein, welchen Inhalt dieſes Geſetz haben ſolle. Der Proceß nun, vermöge deſſen ſich aus jenem Princip eine ſyſtematiſche, das ganze Enteignungsweſen umfaſſende Geſetzgebung ge - bildet hat, bezieht ſich demgemäß zuerſt auf das Princip der Geſetz - mäßigkeit der Enteignung, dann auf die Entwicklung dieſes Princips zu einer ſyſtematiſchen Enteignungsgeſetzgebung. Demgemäß hat derſelbe zwei Hauptabſchnitte, die zwar verſchiedene Geſtalt, aber doch im Weſentlichen denſelben Inhalt haben. Auch hier daher muß das vollſtändige Bild erſt durch die Darſtellung der einzelnen Rechtsbildungen in den einzelnen Staaten gegeben werden, was wir unten verſuchen werden. Dennoch iſt es keine Frage, daß in wenig andern Gebieten des Verwaltungsrechts eine ſolche Gleichartigkeit der ganzen Rechts - bildung ſtattgefunden hat, als hier. Und es iſt daher zur richtigen Beurtheilung dieſes wichtigen Gebietes der europäiſchen Rechtsgeſchichte von entſcheidender Wichtigkeit, die allgemeinen Elemente und Stadien ſeiner Entwicklung feſtzuſtellen, als den großen Hintergrund, auf welchem ſich die Individualität der einzelnen Staaten dann mit voller Klarheit abzeichnet.

307

Es liegt nun im Weſen der Enteignung, daß dieſelbe da zuerſt zu einem geſetzlichen Recht wird, wo das principiell freie Staatsbürger - thum die Verwaltung des Staats ſich gegenüber ſieht; in dem Gegen - ſatze beider entwickelt ſich erſt das verfaſſungsmäßige Enteignungsrecht. Die franzöſiſche Revolution war es nun, welche einerſeits die ſtaats - bürgerliche Freiheit, andererſeits aber auch die Gewalt und Berechtigung der ſtaatsbürgerlichen Verwaltung in Europa zuerſt zum Bewußtſein brachte. Sie nahm daher den allgemeinen Grundſatz der Enteignung, wie ſich derſelbe aus dem 18. Jahrhundert ausgebildet hatte, unbedenk - lich auf; allein ſie ſtellt ihn nicht voran, ſondern ſie macht ſein Gegen - theil, das individuelle Eigenthum, aus einem bisher unmittelbaren und nie beſtrittenen Rechtsaxiom zu einem Grundſatze des verfaſſungs - mäßigen Staatsbürgerrechts. Sie ſagt damit im Grunde nichts Anderes, als was niemand bezweifelt; aber indem ſie dieſes Eigen - thumsrecht zu einem Recht der Verfaſſung erhebt, macht ſie es noth - wendig, daß die wirkliche Enteignung nicht mehr kraft einer Verord - nung, ſondern nur noch kraft eines Geſetzes erfolgen könne. Darin liegt die Bedeutung der Geſchichte des franzöſiſchen droit d’expropria - tion. Und dieſem Vorgange ſind die continentalen Staaten faſt aus - nahmslos gefolgt. Schon die Déclaration des droits de l’homme vom 26. Auguſt 1789 ſpricht, im weſentlichen Unterſchied von dem Stand - punkt des 18. Jahrhunderts, den verfaſſungsmäßigen Grundſatz der ſogenannten Heiligkeit des Eigenthums aus. La propriété étant un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé, si ce n’est lorsque la nécessité publique, légalement constatée, l’éxige évidemment, et sous la condition d’une juste et préalable indemnité (art. 17; faſt wörtlich wiederholt in der Declaration von 1793, Art. 19). Der Unter - ſchied dieſes Princips von dem des 18. Jahrhunderts beſteht in der That nur in den Worten légalement constatée. Die Baſis der Ge - ſchichte des Enteignungsrechts iſt von da an die Geſetzgebung über die Art und Weiſe, wie die nécessité publique geſetzlich feſtgeſtellt werden ſoll; die Bildung dieſes Rechts beginnt mit dem erſten Expro - priationsgeſetz von 1810 und ſchließt mit dem definitiven Geſetze von 1841. Die deutſchen Staaten haben genau denſelben Weg eingehalten; faſt alle Verfaſſungen haben mit beinahe wörtlicher Wiederholung jener Artikel der Declaration oder des Art. 545 des Code civil jene Heilig - keit des Eigenthums feierlich anerkannt, zugleich aber meiſtens nach demſelben Vorgange den Grundſatz gleichfalls verfaſſungsmäßig ausge - ſprochen, daß bei Erforderniſſen des öffentlichen Wohles die Enteignung eintreten könne. Dieſe verfaſſungsmäßigen Beſtimmungen ſind nun mehr oder weniger ausführlich; am ausführlichſten bleibt in dieſer ganzen308 Epoche noch immer das preußiſche allgemeine Landrecht; im Großen und Ganzen aber iſt es der gemeinſame Charakter dieſer Beſtimmungen, daß ſie den Grundſatz der Enteignung zum verfaſſungsmäßigen Recht erheben, ohne jedoch ſchon eine eigentliche Enteignungsgeſetzgebung daran anzuſchließen. Und die Entſtehung dieſer letzteren aus dem allge - meinen Princip des erſteren bildet nun den Inhalt des zweiten Theiles dieſer Geſchichte.

Hier iſt nun der Ort, den Charakter und die Entwicklung dieſer eigentlichen Enteignungsgeſetzgebung und damit auch die Stelle zu be - ſtimmen, welche dieſelbe im Syſteme des öffentlichen Rechts einzu - nehmen hat.

Wenn nämlich einmal der Grundſatz der Enteignung geſetzlich aner - kannt iſt, ſo iſt es klar, daß die Anwendung deſſelben auf den einzel - nen Fall Sache der vollziehenden Gewalt iſt. Wenn daher über die Art und Weiſe, wie die letztere dabei vorzugehen hat, kein weiteres Geſetz beſteht, ſo kann die Regierung nur auf dem Wege der Ver - ordnung vorgehen. Dieſes Verordnungsrecht der Regierung beginnt nun, wie es in der Natur der Sache liegt, der Regel nach mit der Verfügung für das Verfahren im einzelnen, concreten Fall. Die Gleichartigkeit ſolcher Fälle läßt dann aus den Verfügungen und der aus ihnen entſtehenden Uebung eine allgemeine Verordnung über das Verfahren bei der Enteignung entſtehen, dem in den einzelnen Fällen nachzukommen iſt. Meiſt nun werden ſolche allgemeine Verord - nungen für beſtimmte gleichartige Kategorien erlaſſen, namentlich für die Enteignung bei Eiſenbahnen. Die Jurisprudenz nimmt dieſe Ver - ordnung als geltendes Recht, und bildet daraus eine Theorie des Ent - eignungsrechts, ohne ſich weiter um den Unterſchied von Geſetz und Verordnung zu kümmern. In vielen Staaten gibt es überhaupt noch keinen durchgreifenden Unterſchied zwiſchen Geſetzgebung und Verord - nung; man läßt ſich einfach mit dem Begriffe des geltenden Rechts genügen, und geltendes Recht iſt ja auch die Verordnung. Für Deutſchland iſt daher die Zeit, welche der verfaſſungsmäßigen Aner - kennung des Enteignungsrechtes folgt, die Rechtsbildung durch das Ver - ordnungsrecht. Und dieß Verordnungsrecht iſt ſeinem Inhalte nach gar nicht ſchlecht; im Gegentheil hat daſſelbe im Weſentlichen das ganze Syſtem des Enteignungsrechts gründlich und tüchtig vorgebildet. Es muß daher die Frage entſtehen, was denn nun noch eigentlich zu wün - ſchen ſei, nachdem das Princip des Rechts geſetzmäßig anerkannt und die Ordnung für die Vollziehung verordnungsmäßig feſtgeſtellt waren. In der Antwort auf dieſe Frage liegt eigentlich der Charakter der - jenigen Rechtsbildung, in der wir uns gegenwärtig befinden.

309

Dieſe nun glauben wir mit Einem Worte bezeichnen zu können. Es ſoll aus dem verordnungsmäßigen Enteignungsrecht, unter beinahe vollſtändiger Beibehaltung ſeines Inhalts, ein geſetzmäßiges ge - macht werden. Der Grund dieſer Forderung wird nirgends klar aus - geſprochen, iſt aber dennoch unzweifelhaft. So lange jenes Recht näm - lich Verordnungsrecht iſt, iſt die Behörde ihrerſeits berechtigt, ſtets neue Verordnungen zu erlaſſen, und in jedem Falle nach ihrem Ermeſſen das Verfahren zu ändern; und zweitens gibt es bei dieſem Verordnungsrecht kein Klagrecht vor dem Gericht, ſondern nur ein Beſchwerderecht vor der höheren Behörde. Iſt ein ſolcher Zuſtand nun ſchon überhaupt kein wünſchenswerther, ſo iſt er es am wenigſten da, wo es ſich um Eigen - thum und Beſitz handelt. Hier genügt es offenbar nicht, daß das Ent - eignungsrecht principiell anerkannt ſei, ſondern es muß auch das Ver - fahren beſtimmten Geſetzen unterworfen ſein, und in dieſer Geſetzmäßigkeit die Sicherung des Eigenthums gegenüber der Verwaltung gefunden und durch die Möglichkeit der Klage ſanctionirt werden. Das iſt die zweite Aufgabe der Rechtsbildung; erſt in dritter Linie erſcheint die Detailaus - arbeitung der einzelnen Punkte. Und die ganze geſchichtliche Entwicklung Deutſchlands geht deßhalb dahin, eben dieſes Recht des Verfahrens bei der wirklichen einzelnen Enteignung zu einem geſetzlichen zu machen.

Das Enteignungsrecht iſt daher ein Geſetz für das Verfahren der Verwaltungsorgane bei den einzelnen Enteignungen. Es iſt daher kein Zweifel, daß es keinem andern Rechtsgebiete als dem des innern Verwaltungsrechts angehört; und wie es im innern Zuſammenhange mit der ganzen Entwährung ſteht, iſt bereits oben nachgewieſen. Dieſer Proceß der Rechtsbildung iſt nun allerdings etwas verſchieden in den verſchiedenen Ländern Europas geſtaltet; wir wollen verſuchen, wenigſtens die drei Grundformen deſſelben hier an - zuſchließen.

IV. Englands Enteignungsrecht.

Die Lands Clauses Act 8. Vict. 18. 1845.

Was hier zuerſt England betrifft, ſo müſſen wir zunächſt den Irr - thum berichtigen, den alle uns bekannte Autoren über das Enteignungs - recht, und zuletzt wieder Thiel begehen, indem ſie meinen, als habe England keine Enteignungsgeſetzgebung. Allerdings iſt es richtig, daß England das Princip der Heiligkeit des Eigenthums und eben ſo wenig den Rechtsgrundſatz der Enteignung für öffentliche Zwecke niemals an - erkannt und bis 1845 auch im einzelnen Falle nicht zugelaſſen hat. Wie aber daſſelbe die Entlaſtung, Ablöſung und Auftheilung vom310 Continent bei ſich aufgenommen und in ſeiner Weiſe verarbeitet hat, ſo hat es auch die Grundſätze der Enteignung, noch dazu in faſt ganz gleicher Form bei ſich recipirt, wie die Geſetzgebung des Continents. Nur muß man dabei von der Stellung des Parlaments ausgehen. Wir haben in der vollziehenden Gewalt bereits auf das Weſen und die Function des engliſchen Parlaments als oberſten Organes zugleich der Verwaltung und Geſetzgebung hingewieſen, und bemerkt, daß die Be - ſchlüſſe deſſelben bei den Private Bills das Weſen von Geſetz und Ver - ordnung ſo innig vermiſchen, daß es unmöglich iſt zu ſagen, ob ſie das eine oder das andere ſind. Man kann deßhalb ſagen, daß in England jede Private Bill eine Special-Geſetzgebung iſt; man kann aber auch ſagen, daß ſie eine Verordnung der geſetzgebenden Gewalt iſt, wie früher die Verordnungen der abſoluten Monarchie. Doch iſt ein ſolcher Streit werthlos. Gewiß iſt gagegen, daß bis zum Jahre 1845 gar kein allgemeines Geſetz über die Enteignung in England beſtand. Allerdings hatte niemals eines der engliſchen Grundgeſetze die Heiligkeit des Eigenthums ausgeſprochen, allein daſſelbe ward ohnehin aufrecht gehalten, und das Parlament, das, wie wir oben geſehen, es erſt ſpäter als ſelbſt die Deutſchen zu einer Entlaſtungsgeſetzgebung gebracht, gelangte daher auch nicht zu der Anerkennung oder Ausführung der Enteignung. Im Gegentheil mußten alle Unternehmungen ſich die erforderlichen Grundſtücke ſelbſt kaufen, und in den meiſten Fällen war es für die Erzielung einer Private Bill ſogar Grundſatz, daß der bereits geſchehene Erwerb ſchon nachgewieſen werden mußte, um nur die Con - ceſſion vom Parlamente zu erhalten. So hatte England bis auf die neueſte Zeit nicht einmal das allgemeine Princip der Enteignung an - erkannt, geſchweige denn ein Specialgeſetz für Enteignung oder gar ein allgemeines Enteignungsgeſetz.

Es iſt nun wohl ſchwer zu ſagen, ob es der ungeheure Aufſchwung des Eiſenbahnweſens, oder auch hier das von England faſt eben ſo oft ſtillſchweigend als von Deutſchland laut präconiſirt nachgeahmte glänzende Beiſpiel Frankreichs war, vermöge deſſen England den erſten, allerdings höchſt vorſichtigen Schritt aus ſeiner beſchränkten Auffaſſung heraus that und ſich eine Enteignungsgeſetzgebung erſchuf. Das war die Lands Clauses Act von 1845, 8. Vict. c. 18. Nur war auch dieſe wieder eine halbe, und die Einſeitigkeit derſelben hängt auf das Engſte mit der Stellung des engliſchen Parlaments zuſammen.

Hält man nämlich an der Unterſcheidung des Rechts der eigent - lichen Enteignung als Aufhebung des Eigenthums und des Rechts der Entſchädigung feſt, ſo iſt der Zuſtand des engliſchen Enteignungsrechts in Folge dieſer Land Clauses Act folgender.

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Die Land Clauses Act hat nämlich das Recht, über die Zuläſſig - keit von Unternehmungen zu entſcheiden, welche der Expropriation be - dürfen, dem Parlament nach wie vor gelaſſen, und das ganze Ver - fahren zum Zwecke der Genehmigung einer ſolchen Unternehmung durch eine Private Bill iſt demnach mit all ſeinen Schwierigkeiten, Koſten und faſt unabſehbaren Weitläuftigkeiten geblieben. Das Parlament agirt für ſolche Conceſſionen als oberſte Verwaltungsbehörde nach wie vor. Allein der Grundſatz, daß eine ſolche Parlaments-Conceſſion erſt dann gegeben werden dürfe, wenn die erforderlichen Grundſtücke bereits er - worben ſeien, ward aufgehoben, und die Land Clauses Act entwickelte nunmehr in der der engliſchen Geſetzgebung unſyſtematiſchen aber ge - ſchäftskundigen Weiſe zwei Principien. Erſtlich daß eine gerichtliche Enteignung (durch justices oder jury) für das nöthige Land von Fall zu Fall vom Parlamente bewilligt werden kann, und zweitens daß ein regelmäßiges Verfahren der Entſchädigung in ſolchen Fällen ſtatt - zufinden habe. Es iſt in dieſem Geſetze ein ſtrenges Feſthalten an dem ſpecifiſch-franzöſiſchen Princip nicht zu verkennen, nach welchem die höchſte oberſte Verwaltungsbehörde den öffentlichen Nutzen einer ſolchen Unter - nehmung ausſpricht, und im Namen deſſelben den Unternehmern das Recht verleiht, die beſtehenden Grundſätze über Enteignung und Ent - ſchädigung für diejenigen Grundſtücke anzuwenden, deren ſie bedürfen, während der Act der Aufhebung des Eigenthums wiederum von einem Gericht ausgeht, die Geſchwornen dagegen die Entſchädigungsbeträge beurtheilen. Der Mangel eines Grundbuchsweſens hat dabei den ganzen Theil wegfallen laſſen, der ſich auf das Grundbuchsrecht der Enteignung bezieht. Andrerſeits hat England ſtrenge feſtgehalten an dem Recht, daß die Bewilligung zu dieſer Enteignung der Land Clauses Act nie von der Regierung, ſondern nur vom Parlamente ausgehen dürfe; ſelbſt in dem Gebiete, wo es am nächſten lag, die Sache der competenten Behörde zu überweiſen, in dem Gebiete des Eiſenbahnbaues. Denn die neueſte Rail ways Construction facilities Act 1864 (27. 28. Vict. 121) gibt allerdings dem Board of trade das Recht, Eiſenbahn-Conceſſionen einſeitig ohne Private Bill zu ertheilen (d. h. das Certificate zu geben), allein das board of trade hat nicht das Recht, der Unternehmung die Rechte der Land Clauses Act, das iſt, das Recht der Enteignung zu geben, ſondern die Unternehmer müſſen, ehe ſie um das Certificate des board of trade einkommen, nachweiſen, daß ſie alle Grundſtücke, die erforderlich ſind, bereits gekauft haben (Art. 6). Nur die Erleich - terung iſt ausdrücklich gewährt, daß wenn das Certificate von dem board of trade nicht ertheilt wird, die Kaufverträge in Beziehung auf die Grundſtücke nicht gültig ſein ſollen (Art. 52). Selbſt da, wo die312 Aufnahme der ganzen Land Clauses Act in eine ſolche Conceſſion, wenn ſie durch den board of trade geſchieht (incorporation of the land clauses act with the certificate), geſchehen iſt, wird genau beſtimmt, daß alle Grundſätze, welche die Land Clauses Act über die Enteignung enthält (Art. 16 68), nicht in das Certificate aufgenommen ſein ſollen (Art. 23).

Dieß iſt der Standpunkt des engliſchen Enteignungsrechts. Da die ſpeciellen Grundſätze weſentlich mit dem franzöſiſchen übereinſtimmen, ſo können wir ſie einfach in das folgende Syſtem aufnehmen, Es iſt aber kein Vorzug für England, daß es auch hier ſeinen geſetzgebenden Körper mit ſolchen verwaltungsrechtlichen Functionen betraut hat; nicht bloß daß die Klagen über die unerhörten Koſten der Conceſſionserwerbung in derſelben unvernünftigen Weiſe ſich ſteigern, wie bei den Gemeinheits - theilungen, auch das ganze Eiſenbahnweſen leidet unter dieſen Verhält - niſſen, wie wir ſpäter bei der Darſtellung des Communicationsweſens zeigen werden.

V. Frankreichs Expropriationsgeſetzgebung.

Es iſt nun wohl gar kein Zweifel, daß, während Deutſchland zuerſt das allgemeine Princip der Enteignung anerkannt und es bereits im 18. Jahrhundert formulirt, Frankreichs Geſetzgebung nicht bloß zuerſt dem Enteignungsweſen ſein verfaſſungsmäßiges Recht, ſondern auch ſeine erſte organiſche Geſetzgebung gegeben hat. Der Gang dieſer franzöſiſchen Geſetzgebung auf dieſem Gebiet aber bietet mehrfaches, nicht geringes Intereſſe.

Nachdem bereits die Déclaration des droits den Grundſatz der Heiligkeit des Eigenthums neben dem der Enteignung auf geſetzlichem Wege ausgeſprochen, formulirte der Code civ. das eigentliche Ent - eignungsrecht im Art. 545 bekanntlich dahin: Nul ne peut être con - traint de céder sa propriété, si ce n’est pour cause d’utilité publi - que, et moyennant une indemnité préalable. Das große Geſetz vom 16. September 1807 entwickelte dieſen Grundſatz zuerſt zu einer förm - lichen Geſetzgebung über das ganze Enteignungsweſen; jedoch iſt das letztere hier noch nicht ein eigenes, ſelbſtändiges Gebiet des Verwaltungs - rechts. Das Geſetz vom 16. September 1807 iſt vielmehr das eigentliche Landescultur-Geſetz des Kaiſerreiches, und in ihm erſcheint die Ent - eignung im T. XI als eine Maßregel der Landescultur, namentlich bei Entwäſſerungen, Eindeichungen, ſelbſt bei Mühlen und Werkſtätten; zugleich wird die Enteignung zum Zweck der Anlage von Wegen, Sand - und Kiesgräben zum öffentlichen Gebrauch u. ſ. w. als Grund der Ent - eignung anerkannt. Es iſt dieß Geſetz der erſte große Verſuch, ſich313 über Weſen und Umfang der utilité publique klar zu werden. Die Nothwendigkeit der Enteignung wird noch durch die Ingénieurs des ponts et chaussées feſtgeſtellt; die Entſchädigung geht vorauf. Das Geſetz vom 30. März 1831 bezog ſich weſentlich auf die Enteignung zu militäriſchen Zwecken, und gehört durch den Nachdruck, den es auf die urgence legt (Art. 2), bereits zum Theil dem Staatsnothrecht an. Weſentlich iſt, daß dieſe Nothwendigkeit durch die Ordonnance royale ausgeſprochen werden muß; das Geſetz von 1831 iſt daher der Punkt, auf welchem ſich das Element des verordnungsmäßigen Ent - eignungsrechts von dem geſetzmäßigen ſcheidet; und die folgenden Geſetze haben damit die Aufgabe, dieſe Scheidung durchzuführen, und darauf das eigentlich franzöſiſche Enteignungsrecht zu begründen. Dies geſchieht durch das Geſetz vom 7. Juli 1833 und durch die Ordonnance vom 18. Februar 1834. Das Geſetz von 1833 nämlich enthält bereits das ganze Syſtem des geſetzlichen Enteignungsrechts; die Verordnung von 1834 dagegen beſtimmt das Verfahren der Behörde, und den Antheil, den dieſelbe an der Enteignung zu nehmen hat, wozu noch die Ordonnanz vom 23. Auguſt 1835 hinzugerechnet werden muß. Die Beſtimmungen des Geſetzes von 1833 werden dann in dem großen Geſetz vom 3. Mai 1841, dem eigentlichen Enteignungsgeſetze Frankreichs, mit mehreren Modificationen revidirt und codificirt, und dieſes Geſetz iſt jetzt das geltende Recht Frankreichs. Die Expropriationsgeſetzgebung des übrigen Europas hat ſich theils bereits an das Geſetz von 1833, theils an das von 1841 angeſchloſſen. Der Charakter dieſer Geſetzgebung iſt einfach. Wir heben ihn hervor, weil er ſeinerſeits das natürliche Syſtem des ganzen Enteignungsrechts begründet. Das Enteignungsverfahren zer - fällt darnach in drei Abtheilungen. Das erſte Stadium deſſelben ent - hält die Feſtſtellung des utilité publique für das Unternehmen, das der Enteignung bedarf; und dieſe wird entweder durch ein eigenes Geſetz (Geſetz von 1833 und 1841 Art. 2), oder durch eine Verordnung des Königs (Ordonnanz von 1834 Tit. II und Geſetz von 1833 und 1841 bei Departementalwegen, Ordonnanz von 1835 mit beſtimmten Formalitäten auch bei Gemeindewegen) ausgeſprochen. Das zweite Stadium iſt die Feſtſtellung der zu enteignenden Beſitzungen, auf welche dann das gerichtliche Enteignungsurtheil folgt. Das dritte iſt die Ver - theilung der Entſchädigung. Man darf ſagen, daß in der That im Großen und Ganzen damit das Enteignungsrecht erſchöpft iſt; der deutſchen Rechtsbildung blieb nichts anderes übrig, als ſich derſelben im Weſentlichen anzuſchließen.

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VI. Das Enteignungsrecht in Deutſchland. Charakter des gegenwärtigen Zuſtandes.

Dennoch iſt bei aller Gleichartigkeit in Weſen und Princip dieſe deutſche Rechtsbildung weder der franzöſiſchen gleich nachgefolgt, noch auch iſt ſie ſelbſt in Form und Umfang gleichartig. Und das hängt wieder mit dem ganzen öffentlichen Recht der vollziehenden Gewalt in Deutſchland zuſammen.

Während nämlich alle deutſchen Staaten das Rechtsprincip der Enteignung und der Entſchädigung als ein unzweifelhaftes anerkannten, war beinahe ausnahmslos der Unterſchied zwiſchen Geſetz und Verord - nung und mithin die Frage nach Aufgabe und Gränze des geſetz - und des verordnungsmäßigen Enteignungsrechts nicht zur Entwicklung ge - diehen. Namentlich in den beiden Hauptſtaaten, Oeſterreich und Preußen, gab es überhaupt bis 1848 keine Verfaſſung, alſo auch kein Geſetz, und man hatte daher weder Luſt noch Willen, den franzöſiſchen Unterſchied zwiſchen loi und ordonnance auf das Enteignungsrecht anzuwenden. Da nun aber die andern Staaten der Süden ſeit 1818, die Mitte und ein Theil des Nordens ſeit 1830 zu wirklichen geſetzgebenden Körpern gelangt waren, ſo konnten dieſe Staaten auch die Enteignungs - geſetzgebung bei ſich weiter ausbilden. Allein dieſe Ausbildung war, da man auch hier vielfach über das Weſen und Recht von Geſetz und Verordnung unklar blieb oder bleiben wollte, eine ſehr verſchiedene. Man kann daher allerdings die beiden oben bezeichneten Perioden in den deutſchen Staaten recht wohl unterſcheiden, die Periode des Princips und die der Durchführung des geſetzlichen Enteignungsrechts; allein der Entwicklungsgang iſt dennoch ein ſehr verſchiedener. In einigen Staaten blieb man ganz bei der allgemeinen Anerkennung des Enteignungsrechts ſtehen; namentlich in Oeſterreich und Preußen, deren bürgerliche Geſetz - bücher auszureichen ſchienen. Hier behielt die Regierung daher aus - ſchließlich das Recht der Genehmigung der Enteignung in ihrer Hand und leitete das Verfahren gleichfalls auf dem Wege der Verordnung. In den Staaten der erſten Verfaſſungsperiode (Bayern, Verfaſſung 1818 §. 8 Abſ. 4, dem die Verordnung vom 14. Auguſt 1815 vorauf - geht, Württemberg 1819 §. 30, Baden 1818 §. 14 Abſ. 4, Heſſen - Darmſtadt 1820 §. 27) wird derſelbe Grundſatz, den das Allgem. Preuß. Landrecht Tit. 17 und das Oeſterreichiſche bürgerliche Geſetzbuch Art. 345 ausſprechen, zwar in die Verfaſſungen aufgenommen, allein von einer Aufrufung des Geſetzes oder von einer Beſtimmung der gerichtlichen Funktion neben der der Regierung iſt anfänglich noch gar keine Rede; man erkennt deutlich, daß dieſe Geſetzgebungen noch ziemlich315 ohne Bewußtſein über das wahre Weſen dieſes Rechts geblieben, und nicht weiter ſind als jene bürgerlichen Geſetzbücher. Die Julirevolution und das franzöſiſche Expropriationsgeſetz von 1833 greifen alsdann allerdings maßgebend hinein. Diejenigen Staaten, welche nach 1830 zu Verfaſſungen gelangen, nehmen das Princip der Expropriation in ihre Verfaſſungsurkunden auf (Sachſen 1831 §. 31, Braunſchweig 1832 §. 33, Altenburg 1832 §§. 54. 55, Hannover 1840 §. 35). Selten iſt die Unklarheit, die über Begriff und das Weſen der Geſetze herrſcht, deutlicher hervorgetreten, als hier; namentlich iſt der §. 35 der hannoveriſchen Verwaltungsgeſetze bezeichnend, die Behörden ſollen nach dem Geſetze urtheilen, wenn ein ſolches über (beſtimmte) Ent - eignungen vorhanden iſt; beſteht ein ſolches Geſetz nicht, ſo entſcheidet die obere Verwaltungsbehörde, gegen Recurs an das Miniſterium des Innern, von dieſem an den König. Wenn aber die Behörden gegen ein beſtehendes Geſetz entſcheiden, ſo iſt offenbar auch nichts anderes übrig, als dieſer Recurs. Wozu iſt dann in der That ein Geſetz vorhanden? Daß die Gerichte in ſolchem Falle über die Action der Behörden zu entſcheiden haben, das fiel niemanden ein. Neben dieſer Gruppe von abſtrakt-verfaſſungsmäßigen Expropriationsbeſtimmungen es wird uns wohl der Ausdruck hier geſtattet ſein erzeugt nun aber einerſeits das franzöſiſche Geſetz von 1833 eine förmliche Geſetz - gebung für die Enteignung, und andrerſeits tritt mit dem ſich ent - wickelnden Eiſenbahnweſen die Nothwendigkeit ein, gewiſſe allgemeine Grundſätze wenigſtens für die Anlage von Eiſenbahnen aufzuſtellen. So entſteht jetzt allmählig diejenige Geſtalt des geltenden Expropriations - rechts, die wir als die noch gegenwärtig geltende bezeichnen müſſen. Das Princip wird auch nach 1848 in allen Verfaſſungen abſtrakt aner - kannt, oft mit den Zuſätzen der erſten Rechtsbildung, wie ſie ſchon im Preuß. Allgem. Landrecht gegeben iſt (Preußiſche Verfaſſung 1850 Art. 9, Heſſen-Kaſſel 1852 §. 22, Coburg-Gotha 1852 §. 49, Olden - burg 1851 Art. 60, Schwarzburg-Sondershauſen 1 49 §. 38, Anhalt-Bernburg 1850 §. 41, Reuß 1852 §. 24, Lübeck 1851 §. 53, Bremen 1854). Eine ſelbſtändige Ausführung zu einem all - gemeinen Enteignungsgeſetze (im oben angeführten Sinn) geben zuerſt Großherzogthum Heſſen, Expropriationsgeſetz vom 6. Juni 1821 (nach dem franzöſiſchen Geſetz von 1810, mit Anwendung auf Provinzial - ſtraßen, Geſetz vom 12. Oct. 1830, und auf Privat-Eiſenbahnen, Geſetz vom 18. Juli 1836), Königreich Sachſen, Geſetz vom 3. Juli 1835, Baden, Expropriationsgeſetz vom 15. Juni 1835, Frankfurt 1836, Bayern 17. Nov. 1837. Specielle Enteignungsgeſetze erſcheinen da - gegen in Preußen und Oeſterreich, und zwar für die Eiſenbahnen316 in den erſten Eiſenbahngeſetzgebungen (Preußen 1838, Oeſterreich, Eiſenbahngeſetzgebung von 1851 und 1854). Dieß iſt im Weſentlichen der Zuſtand des geltenden Rechts der Enteignung in Deutſchland. Es iſt kein Zweifel, daß von einer ſelbſtändigen deutſchen Geſetzgebung hier noch keine Rede iſt; mit Ausnahme von Sachſen-Meiningen (Enteig - nungsgeſetz vom 28. März 1855) hat ſich bisher unſeres Wiſſens kein Staat mit dieſem wichtigen Gebiete ernſtlich befaßt, nicht einmal die franzöſiſche Geſetzgebung von 1841 hat dazu angeregt.

Von um ſo größerer Bedeutung ſollte dagegen die Literatur des Enteignungsweſens ſein, indem ſie den Mangel der Geſetzgebung erſetzte. Indeß hat dieſelbe offenbar noch keine Heimath gefunden, weſentlich wohl deßhalb, weil man die Natur des Enteignungsrechts nicht klar genug erkannte und daher die erſte Vorausſetzung jeder größern Arbeit, das Bewußtſein von dem Punkt, wo ſie ſich an das Ganze anſchließt, nicht gefunden ward. Wir werden daher auch wohl erſt dann ein - greifende Werke darüber beſitzen, wenn wir den leitenden Gedanken des ganzen Rechts da ſuchen, wo er allein zu finden iſt, in der Lehre vom Verwaltungsrecht, und zunächſt in ſeinem organiſchen Zuſammenhange mit der ganzen Entwährungslehre. Die deutſche Literatur hat bisher von Frankreich auf dieſem Gebiete faſt Alles empfangen, Geſetz und Theorie zugleich; was wir Frankreich zurückzugeben haben, iſt der höhere hiſtoriſche und ſyſtematiſche Geſichtspunkt; und dazu an unſerem Theile beizutragen, war die eigentliche Hauptaufgabe des Folgenden, während wir eine Erſchöpfung des Gegenſtands wohl auf eine eigene Arbeit ver - weiſen müſſen.

Es darf uns demnach nicht wundern, wenn wir das Enteignungs - recht in der deutſchen Literatur an vielen Stellen zugleich finden. Man muß die Enteignungsliteratur ſuchen theils in einzelnen heimathloſen, aber ſehr guten Abhandlungen, theils in der Darſtellung des territorialen öffentlichen Rechts, theils in wir möchten ſagen gelegentlichen Anfüh - rungen bei Juriſten und Nationalökonomen, wie bei Beſeler und Gerber (Deutſches Privatrecht), Klüber (Oeffentliches Recht), Rau, Roſcher u. a. Die beiden erſten Gruppen weiſen folgende Arbeiten auf.

Das Hauptwerk iſt noch immer v. Wendt, Neueſter Expropriations - Codex oder vergleichende Darſtellung der wichtigſten (?) älteren und neueren Geſetze und Verordnungen über Enteignung, Kanal - und Straßenbau, Eiſenbahnbau u. ſ. w. (Nürnberg 1837). Da ſeitdem mit Ausnahme Bayerns keine bedeutenden Geſetze erſchienen ſind und die Verfaſſungen von 1848 ſich mit der principiellen Anerkennung des Rechts genügen laſſen, ſo beſitzen wir in Wendts Arbeit ein faſt vollſtändiges Material, das freilich nur den juriſtiſchen Standpunkt zur317 Geltung bringt, und natürlich weder die preußiſche noch die öſterreichiſche Eiſenbahnenteignung, noch das franzöſiſche Geſetz von 1841 kennen konnte. Die umfaſſende Arbeit von W. Goldmann, die Geſetzgebung des Großherzogthums Heſſen in Beziehung auf Befreiung des Grund - eigenthums u. ſ. w. (1831, mit Fortſetzung 1841), hat ſich leider auf das Enteignungsrecht nicht weiter eingelaſſen. Die Entlaſtungs - und Ab - löſungsgeſetze ſind hier vollſtändig bis 1841 mitgetheilt.

Die erſte eingehende Behandlung iſt der Aufſatz von Treichler (Zeitſchrift für deutſche Rechtswiſſenſchaft XII, S. 123 166) Ueber zwangsweiſe Abtretung von Eigenthum und andern Rechten (Expro - priation). Sehr kurz ſind die kleinen Abhandlungen von Mittermaier (Staatslexikon. 2. Aufl. B. V.) und Bopp (Expropriation), Weiske’s Rechtslexikon B. IV und der Art. Expropriation im Staatswörterbuch von Pözl, Bd. 3. Gründlich und umſichtig, aber auch weſentlich juriſtiſch gehalten iſt die Arbeit von Häberlin (Die Lehre von der Zwangsenteignung, Arch. für civ. Praxis B. XXIX, Heft 1 und 2), der zuerſt die Zwangsenteignung des alten Bergregals zur Geltung gebracht hat. Kaleſſa hat in der Zeitſchrift für öſterreichiſche Rechtswiſſenſchaft, 1846, II, S. 470, mehrere einzelne Fragen in ſeinen Betrachtungen über Expropriation namentlich in Bezug auf das Entſchädigungs - verfahren behandelt. Die Abhandlung von Dr. H. Biſchof ( Das Nothrecht der Staatsgewalt in Geſetzgebung und Regierung in Linde Archiv für das öffentliche Recht des deutſchen Bundes, 1860, B. III, Heft 3) hat das Enteignungsrecht nur als Theil und Moment des Noth - verordnungsrechts, das iſt als Beantwortung der Frage aufgefaßt, ob und wie weit die Regierung in Nothfällen das Recht habe, die An - wendung von Geſetzen durch ihre Verordnung aufzuheben; die ganze gründliche aber ſyſtemloſe Arbeit hat 168 Seiten; Enteignungsrecht iſt S. 47 57 behandelt. Was Mayer in ſeinen Grundſätzen des Ver - waltungsrechts (1862, §. 102) ſagt, iſt viel zu kurz und unklar, um brauchbar zu ſein. Erſt mit der wiſſenſchaftlichen Eiſenbahnliteratur wird das Expropriationsrecht ernſtlicher behandelt. Freilich nur mit ſpecieller, oder doch vorwiegender Rückſicht auf den Eiſenbahnbau. Hier hat v. Reden (die Eiſenbahnen Deutſchlands, 1843) das preußiſche (1838), bayriſche (1837), ſächſiſche (1835) und badiſche (1835) Enteignungsgeſetz wörtlich mitgetheilt, bis W. Koch in ſeinem gründlichen Werke Deutſch - lands Eiſenbahnen, Verſuch einer ſyſtematiſchen Darſtellung der Rechts - verhältniſſe aus der Anlage und dem Betriebe derſelben (1858, 2 Bde. ) im 1. Bd. (S. 8 133) eine vollſtändige Bearbeitung des Enteignungs - weſens gegeben hat. Wir bedauern nur, daß dieſe ſchöne und gründ - liche Arbeit für die Rechtswiſſenſchaft offenbar halb verloren gegangen318 iſt, da weder Biſchof noch Thiel ſie gekannt haben; wahrſcheinlich weil Koch die Enteignung nur als Theil des Eiſenbahnrechts auffaßt, was jedenfalls nicht ausreicht. Das letztere gilt in noch höherem Grade von der Behandlung der Sache in Beſchorner, das deutſche Eiſen - bahnrecht mit beſonderer Berückſichtigung des Actien - und Expropriations - rechts, gleichfalls 1858 (Abth. III, S. 42 ff.). Ein paar Abhand - lungen von Michaelis in Fauchers Vierteljahrsſchrift (1866, 1. B.) über Eiſenbahnen und Expropriationen halten ſich ſehr in allgemeinen Sätzen, ohne auf die Sache ſelbſt einzugehen. Das neueſte Werk Ad. Thiel Das Expropriationsrecht und das Expropriationsverfahren, 1866, iſt die ausführlichſte Behandlung des Gegenſtandes; es iſt aber nicht zu verkennen, daß die ſyſtematiſche Ordnung und Beherrſchung des Stoffes neben ſcharfer juriſtiſcher Gründlichkeit in den einzelnen Fragen fehlt, während merkwürdiger Weiſe jede Berückſichtigung der Literatur mangelt, und eben ſo jede hiſtoriſche Aufklärung; namentlich vermißt man mit Verwunderung jede Vergleichung mit den deutſchen Enteig - nungsgeſetzen. Gemeinſam iſt dieſer ganzen Literatur, daß ſie den Zuſammenhang der Enteignung mit der Entwährung nirgends erkennt.

Was nun die zweite literariſche Gruppe betrifft, ſo erſcheint das Expropriationsrecht hier allerdings in vielen Territorialrechten; natürlich aber ſind die Angaben meiſt kurz und ohne inneren Zuſammenhang mit den verwandten Gebieten. Nachdem Klüber im öffentlichen Recht des deutſchen Bundes §. 552 die Expropriation in das öffentliche Recht aufgenommen, folgte zunächſt Mohl in ſeinem württembergiſchen Staats - recht, der die Abtretung in dem Verfaſſungsrecht noch als eine Sicher - ſtellung wohl erworbener Rechte gegen Eingriffe des Staats be - handelt (unter Allgem. Staatsbürgerrecht I, §. 76). Ihm folgt K. E. Weiß, Syſtem des öffentlichen Rechts im Großherzogthum Heſſen (1837); bei ihm iſt die Enteignung eine bürgerliche Pflicht der Heſſen zu dinglichen Leiſtungen (§. 75). Pözl hat dann im bayriſchen Verfaſſungsrecht die Zwangsabtretung als ſpeciellen Theil der Sicherheit des Vermögens behandelt; die genauere Entwicklung des bayeriſchen Geſetzes von 1837 bei Dollmann (Geſetzgebung Bayerns). Stubenrauch gibt in ſeiner öſterreichiſchen Verwaltungsgeſetzkunde nur ganz kurz die für Eiſenbahnen geltenden Beſtimmungen (II, S. 722). Rönne ſtellt das preußiſche Syſtem der einzelnen Beſtimmungen wieder unter die Kategorie der Freiheit und Sicherheit des Eigenthums (II, §. 94). Zöpfl, deſſen Grundſätze des gemeinen deutſchen Staatsrechts im Grunde nur Excerpte der Territorialrechte ſind, hat das Enteignungs - recht an drei Stellen zugleich behandelt und viel Material zuſammen - gebracht, freilich faſt nur aus den Verfaſſungsurkunden, §. 295, §. 433,319 434 und §. 489. Man iſt ſich alſo weder über Umfang noch über die Stelle einig, welche das Enteignungsrecht einnimmt, und hält noch immer an Mohls Auffaſſung feſt, der es zuerſt in die Verfaſſung ge - bracht hat. In der That aber müſſen wir feſthalten, daß dieſe ganze, neben den Arbeiten über das Entlaſtungsweſen höchſt dürftige Literatur erſt ihre natürliche Entwicklung finden wird, wenn man ihr ihre natür - liche Stellung im Verwaltungsrecht zuweist.

VII. Syſtem des Enteignungsrechts.

Geht man nun, dem Obigen gemäß, davon aus, daß die Enteig - nung das, auf dem allgemeinen Rechtsprincip der Entwährung beruhende Verfahren der Verwaltung iſt, durch welches ſie das Einzelgut dem Einzeleigenthum für einen öffentlichen Zweck gegen Entſchädigung ent - zieht, und daß das Recht der Enteignung die Geſammtheit von Be - ſtimmungen enthält, welche für dieſes Verfahren gelten, ſo iſt das Syſtem des Enteignungsrechts wohl ein ſehr einfaches. Daſſelbe ent - hielt zuerſt das Rechtsprincip der Enteignung an ſich, und zweitens die Beſtimmungen für das Verfahren bei der wirklichen Enteignung. Das erſte beſtimmt das rechtliche Weſen und die Stellung der Enteig - nung im öffentlichen Recht, das zweite die Pflichten und Ordnungen für die Thätigkeit der Verwaltungsbehörde bei der Anwendung des Ent - eignungsprincips auf einen beſtimmten Fall. Dieſer zweite Theil hat dann zwei, vollkommen klar geſchiedene Abtheilungen, die durch die beiden naturgemäßen Aufgaben dieſes Verfahrens gegeben ſind. Die erſte Abtheilung enthält die Ordnung und das Recht desjenigen Ver - fahrens, welches das Einzeleigenthum an Güter aufhebt, die eigent - liche Enteignung; die zweite die rechtliche Ordnung, welche für die Rückgabe des Werthes dieſer Güter gilt, oder die Entſchädigung. In dieſe beiden Kategorien ordnen ſie alle bei der Enteignung vor - kommenden Rechts - und Funktionsfragen in einfachſter Weiſe hinein; ihr innerer und äußerer Zuſammenhang aber bedarf wohl keiner wei - teren Darlegung.

Das Rechtsprincip des Enteignungsverfahrens.

(Die Enteignung als ein Akt der innern Verwaltung. Enteignungsgeſetz und Enteignungsverordnung. Stellung des Gerichts und ſeiner Thätigkeit. Die rechtliche Natur der Enteignung.)

Man darf ohne Bedenken behaupten, daß in wenigen Gebieten der Rechtslehre der Mangel eines ſelbſtändigen Verwaltungsrechts ſo320 entſcheidend eingewirkt hat, als gerade bei der Lehre ja zum Theil auch bei den Geſetzen über das Enteignungsrecht. Nirgends aller - dings liegt die Vorſtellung ſo nahe, daß die Zweckmäßigkeit und die Anſicht über das öffentliche Bedürfniß den Rechtstitel für die Aktion der Verwaltung erſetzen dürfe und ſelbſt müſſe, und daß eben dadurch die Baſis aller individuellen, ſtaatsbürgerlichen Selbſtändigkeit, das Eigenthum, dem Gutachten der Verwaltung anheimgegeben ſei. Die natürliche Folge iſt davon geweſen, daß Literatur und Geſetzgebung beide gleich ſehr ihren Schwerpunkt mehr in dem Schutze des Privateigen - thums gegen die Verwaltung, als in der genauen Beſtimmung für das Verfahren der letzteren geſucht haben. Eben daraus erklärt es ſich ferner, weßhalb man ſowohl in Frankreich als in Deutſchland beſtändig daran feſtgehalten hat, ſo viel als nur irgend thunlich ſchien, die Gerichte und ihre Funktion in das Enteignungsverfahren hineinzuziehen, in Frankreich, weil dort die Verwaltung grundſätzlich viel mächtiger iſt als anderswo, in Deutſchland weil der durchgehende Mangel guter Enteignungsgeſetze dem Verordnungsrecht einen viel zu großen Spielraum gelaſſen hat, und das Beſchwerdeverfahren noch in den unklarſten An - fängen iſt. Es wird deßhalb einige Schwierigkeit finden, den folgen - den Standpunkt zur Geltung zu bringen. Und dennoch müſſen wir ihn für den einzig richtigen und zugleich für den einfachſten halten, da er, ſo viel wir ſehen, nicht bloß die einzelnen Fragen leicht zur Löſung bringt, ſondern auch neben dem Rechte des Einzeleigenthums die Funktion der Verwaltung zu ihrer natürlichen Geltung bringt. Auch müſſen wir an der Ueberzeugung feſthalten, daß nur auf dieſem Wege die Verwir - rung, welche durch ganz verſchiedene Specialgeſetzgebungen in das Ent - eignungsrecht gekommen iſt, leicht gelöst, und der Jurisprudenz eine feſte Baſis gegeben werden kann. Freilich muß man dabei ſich über das Weſen von Geſetz und Verordnung einerſeits, und über die Auf - gabe und Competenz von Verwaltung und Gericht andererſeits klar und einig ſein. Die Principien des Enteignungsrechts auf dieſer Grundlage ſind folgende.

Da die Enteignung, im ſchärfſten Gegenſatze zum Einzeleigenthum, aus dem Begriffe und Weſen des bürgerlichen Rechtes nicht erklärt werden kann, ſo erſcheint ſie ihrem ganzen Weſen nach als eine Funktion der Verwaltung, und ihr ganzes Recht iſt Verwaltungs - recht. Sie kann daher auch nur von den Organen der Verwaltung vollzogen werden. Dieſe Vollziehung derſelben durch die Verwaltungs - organe ſteht nun wieder unter dem geſetzlichen Recht. Die Geſetzgebung kann aber dabei auf einem ſehr verſchiedenen Standpunkt ſtehen. Sie kann ſich entweder begnügen mit der allgemeinen Anerkennung des321 Princips der Enteignung, wie der Code civil und das öſterreichiſche bürgerliche Geſetzbuch, oder ſie kann daneben das Verfahren der Ver - waltungsbehörden bei der Enteignung überhaupt ordnen, wie die Ex - propriationsgeſetze Frankreichs, Badens, Bayerns, Sachſens, oder nur einzelne leitende Vorſchriften dafür geben, wie das preußiſche allgemeine Landrecht, oder endlich das Enteignungsrecht nur für einzelne beſtimmte Arten der Enteignung ausführen, wie das namentlich für Eiſenbahnen in Deutſchland vielfach geſchehen iſt. Wie nun immer das geſetzliche Recht geſtaltet ſein möge, ſo iſt es gewiß, daß die Regierung ihrerſeits das Recht hat, den Mangel der Geſetzgebung durch ihre Verordnung zu erſetzen, ſo daß Geſetz und Verordnung zuſammen das öffentlich geltende Recht der Enteignung bilden. Dieß iſt namentlich in Deutſch - land ſehr verſchieden, und es iſt einer der großen Mängel des deutſchen Rechtslebens, daß auch hier keine gemeinſchaftliche und gleichartige Rechts - bildung ſtattgefunden hat. Es iſt Sache der Wiſſenſchaft, dieſen Mangel zu erſetzen.

Während nun auf dieſe Weiſe die Grundſätze für die Thätigkeit der Verwaltung zum geltenden Recht werden, erſcheint die einzelne Enteignung offenbar als die ſpecielle Anwendung deſſelben auf den einzelnen Fall. Die Funktion der Behörde dabei iſt das Enteignungs - verfahren. Das Enteignungsverfahren beſteht daher aus einer Reihe von Verordnungen, Verfügungen und wirklichen Thätigkeiten, deren Inhalt ſtets die Anwendung des beſtehenden geltenden Rechts der Geſetze oder der Verordnungen auf den einzelnen Fall der Enteignung iſt; d. h. die wirkliche Enteignung iſt und bleibt in jedem einzelnen Falle ein Akt der vollziehenden Gewalt. Die Aufgabe der vollziehen - den Gewalt, beziehungsweiſe ihrer Organe und Behörden, beſteht dann darin, ſich in ihrer Aktion den beſtehenden Geſetzen conform zu erhalten. Daraus entſpringt dann das Recht der wirklichen Enteignung, welches mithin die geltenden Beſtimmungen für das Verfahren der Behörde bei der einzelnen Enteignung enthält. Das Recht dieſes Verfah - rens iſt daher nichts anderes, als die beſondere Anwendung des all - gemeinen Princips des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts auf die Thätigkeiten der enteignenden Behörde. Es folgt daraus, daß nach den Principien dieſes Rechts in allen den Fällen, wo das Verfahren dieſer Behörde mit dem Enteignungsgeſetz in Widerſpruch ſteht, von Seiten des Betheiligten die Klage, wo es dagegen mit der Verordnung im Widerſpruche ſteht, die Beſchwerde eintritt. Klage und Beſchwerde haben hier genau dieſelbe Funktion wie immer. Sie dienen dazu, die Uebereinſtimmung der Aktion der Verwaltung im einzelnen Fall mit dem allgemein gültigen Rechte herzuſtellen. Wenn nun, wie in OeſterreichStein, die Verwaltungslehre. VII. 21322und vielen andern Staaten Deutſchlands, ein Enteignungsgeſetz gänz - lich mangelt, oder wie in Preußen eine Einheit in der Geſetzgebung nicht vorhanden iſt, ſo iſt es allerdings richtig, daß dem Einzelnen vielfach der gerichtliche Schutz gegen das Verfahren der Behörde fehlt, und derſelbe bloß auf die Beſchwerde bei den höheren Behörden ange - wieſen iſt. Dieſer Mangel wird um ſo mehr empfunden werden, je weniger man ein geſetzliches Beſchwerdeverfahren hat, und der Einzelne wird dadurch unabweisbar den oft ganz individuellen Anſichten der einzelnen Behörde in der Enteignung unterworfen ſein. Das iſt ganz richtig; allein das iſt kein Fehler der Regierung und des Verwaltungs - rechts, ſondern es iſt einfach ein Mangel der Geſetzgebung. Es iſt Sache der Geſetzgebung, an die Stelle des Verordnungsrechts das geſetzliche Recht zu ſetzen, und damit ein Klagerecht vor den Gerichten möglich zu machen. So lange das nicht geſchehen iſt, iſt die Regierung unbedingt darauf angewieſen und in ihrem vollen Recht, wenn ſie ganz nach ihrem Ermeſſen handelt. Von dieſem Standpunkt muß man bei dieſem Theile des Verwaltungsrechts ausgehen.

Nun hat man verſucht, dem ſich daraus ergebenden Bedenken da - durch vorzubeugen, daß man den Gerichten einen Theil der Funktion der Verwaltung bei der einzelnen Enteignung hat überweiſen wollen. Es iſt klar, daß dieß ſchon principiell falſch iſt; die Gerichte haben ihrem ganzen Weſen nach mit der Enteignung gar nichts zu thun; ſie treten erſt da auf, wo durch die Thätigkeit der Behörde ein geſetzliches Recht des Einzelnen für verletzt erklärt wird, und ihre einzige Funktion kann und ſoll nur die ſein, in ſolchem Falle auch gegen die Be - hörde die rechtliche Haftung auszuſprechen und zur Geltung zu bringen. In der That wäre es ein abſoluter Widerſpruch, durch Thätigkeit und Urtheil des Gerichts die mangelnde Geſetzgebung erſetzen, und dadurch die verordnende Gewalt der Regierung beſchränken zu wollen. Deſto ſchlimmer für den Einzelnen, wenn er durch den Mangel eines Geſetzes unter falſchen Funktionen der Behörde leidet; aber das Gericht zu einem geſetzgebenden oder verwaltenden Organe zu machen, würde alle orga - niſche Entwicklung des Staates ſtören. In Wahrheit aber iſt jene Aufgabe des Gerichts, durch ſein Urtheil die Verwaltung für die richtige Ausführung der Geſetze haftbar zu machen, ohnehin eine hinreichend ſchwierige; es iſt nur ein Mangel an Vertrauen zur Geſetzgebung, wenn man ihm noch weitere Funktionen übergeben will, und das Folgende wird dieß im Einzelnen zeigen. Die weitere Conſequenz einer ſolchen Herbeiziehung des Gerichts iſt aber eben deßhalb eine unvermeidliche Unklarheit über das ganze Enteignungsrecht, wie es das franzöſiſche Geſetz von 1841 zeigt, wo es ganz unthunlich iſt, den Sinn des Art. 1:323 L’expropriation s’opère par autorité de justice mit dem Weſen der Enteignung in rechte Harmonie zu bringen, da auf allen Punkten die geſetzliche Funktion des Gerichts durch die unabweisbare der Verwal - tungsbehörden durchbrochen und vertreten wird. Eben ſo unvollkommen iſt der engliſche Grundſatz, nach welchem die wirkliche Enteignung Sache des Einzelnen, und die Genehmigung durch die Private Bill, beziehungs - weiſe die Beſtimmungen der Lands Clauses Act (ſ. unten) nur den Klagtitel des zur Enteignung Befugten gegen den Enteigneten bilden, ſo daß der Enteigner eventuell erſt einen Proceß gegen den letzteren führen muß, um die Enteignung in Folge eines Rechtsſpruches zu voll - ziehen. Denn damit ſteht das Weſen des öffentlichen Bedürfniſſes im Widerſpruch, das dem Enteignungsrecht zum Grunde liegt, und das die Vollziehung deſſelben von der Verwaltung fordert, ſelbſt wenn man davon abſehen wollte, daß damit den Chicanen und Koſten eines Pro - ceſſes Thor und Thür geöffnet würde. Der Grundſatz, daß die Ver - waltung die Enteignung auf dem Wege der Verordnung und Verfügung durchzuführen, und daß das Gericht die Rechte des Einzelnen gegen Rechtsverletzungen dabei zu ſchützen habe, iſt daher der einzig richtige, und wir dürfen hinzufügen, daß er in Deutſchland auch als der grund - ſätzlich geltende daſteht; was uns in Deutſchland fehlt, iſt auch hier nicht das franzöſiſche Princip des Rechts, ſondern das des wohlgeord - neten Beſchwerdeverfahrens.

Von dieſem Standpunkt aus ergibt ſich nun auch ſehr leicht die richtige Beurtheilung der Frage nach der Natur des Enteignungsrechts. Das an ſich achtungswerthe Streben, das Privatrecht des Einzelnen gegen die vollziehende Gewalt zu ſchützen, iſt wohl der Grund, weßhalb man vielfach angenommen hat, daß die Enteignung ein Kaufgeſchäft enthalte, eine Anſicht, die bekanntlich zunächſt auf eine unglückliche Formulirung des preußiſchen allgemeinen Landrechts beruht. (Vgl. über dieſe Auffaſſung Häberlin, S. 200, mit den dortigen Angaben, und Thiel, S. 2. 3, welche beide dieſe Auffaſſung das Zwangsenteignungs - geſchäft (?) iſt ein auf einem Geſetze beruhender nothwendiger Ver - kauf Häberlin; ebenſo Beſeler, deutſches Privatrecht II. 101. Gründ - lich iſt die Frage dagegen behandelt bei Koch, Eiſenbahnen Deutſchlands Bd. I. S. 45 ff., der uns ein klares Bild der Verwirrung gibt, die entſtehen muß, wenn man durchaus den hier unmöglichen Begriff des Kaufs eventuell ſogar als den logiſchen Unſinn eines Zwangs - kaufes gelten laſſen will. Es iſt nur durch den Mangel an einem richtigen Begriff des öffentlichen Rechts überhaupt zu erklären, daß man dieſe Anſicht hat vertreten können. Wie kann die Enteignung, ein Geſchäft iſt ſie überhaupt nie, da ſie grundſätzlich weder den324 Vortheil des Einen noch den des Andern im Auge haben darf, nicht einmal nach Häberlins eigener ganz richtiger Anſicht das lucrum cessans ein Verkauf ſein, wenn ſie kein Vertrag iſt? Und ſie iſt nie ein Vertrag, weil ſie eben erſt dann eintritt, wenn die vertragsmäßige Unterlaſſung ſich als nicht thunlich erwieſen hat. Sie hat allerdings alles mit dem Verkaufe gemein, nur die beiden Hauptſachen nicht, die wirthſchaftliche, das Kaufgeſchäft, und die juriſtiſche, den Vertrag. Sie iſt eben eine Verwaltungsmaßregel, vermöge deren ſehr häufig ein, dem Kaufe äußerlich ganz ähnlicher Uebergang des Eigenthums vom Einen zum Andern geſchieht; aber ſo wie man auch nur einen Blick auf weiter gehende Verhältniſſe, auf die Auflage von Laſten, auf die Enteignung von Fideikommiſſen, auf das Recht der Hypothekar - gläubiger, auf die Enteignung von Servituten und ſo manches Andere wirft, ja ſelbſt auf die geſetzlichen Vorſchriften über die Zahlungsformen, ſo iſt es klar, daß dieſe Verwaltungsmaßregel nicht einmal der Regel nach die äußeren Formen eines Kaufes hat, ſondern daß im Gegen - theil der Regel nach neben den Vorſchriften über Kauf und Verkauf eine ganze Reihe andrer rechtlicher Grundſätze zur Geltung gelangen. Die Enteignung iſt daher vielmehr ein ganz ſelbſtändiges Rechts - verhältniß, das eben als Ganzes betrachtet ſein will, und das dem bürgerlichen Recht überhaupt nicht angehört, ſondern einen Theil des Verwaltungsrechts bildet, dem wiederum in den verſchiedenen Staaten ſehr verſchieden entwickelte Geſetze zum Grunde liegen, ſo daß der Charakter des geltenden Enteignungsrechts, bei weſentlicher Gleich - artigkeit der leitenden Grundſätze, in dem Antheil beſteht, den je nach den einzelnen Staaten Geſetz und Verordnung an dem geltenden Recht haben.

Auf dieſer Grundlage entſteht nun das wiſſenſchaftliche Syſtem des Enteignungsrechts, und zwar in der Weiſe, daß jeder einzelne Theil des Verfahrens ſein eigenes Princip hat, das wir kurz an - deuten werden. Die Vergleichung des poſitiven Rechts wird dann darin beſtehen, daß man für jeden einzelnen Staat unterſucht, ob und wie weit dieß ſpecielle Princip anerkannt wird, und ob dieſe Aner - kennung durch die Geſetze oder durch Verordnungen ſtattgefunden hat.

Erſter Theil. Das Enteignungsverfahren und ſein Recht.

Das Enteignungsverfahren enthält die Geſammtheit der Thätig - keit der Verwaltung, durch welche für einen beſtimmten öffentlichen Zweck ein beſtimmtes Gut dem Eigenthum eines Einzelnen entzogen, und der für jenen Zweck berechtigten Unternehmung überwieſen wird.

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Die Aufgabe des Enteignungsverfahrens iſt es demnach, zuerſt den Zweck als einen ſolchen anzuerkennen, um deſſentwillen das Privat - eigenthum überhaupt aufgehoben werden ſoll; dann die Güter einzeln zu beſtimmen, deren Enteignung dafür nothwendig iſt; und endlich das Eigenthum wirklich aufzuheben und zu übertragen.

Das ganze Enteignungsverfahren iſt daher eine Funktion der Ver - waltung. Das Recht deſſelben beſteht in den Vorſchriften, welche die Verwaltung in jedem einzelnen Theile dieſes Verfahrens für ihre Ver - ordnungen, Verfügungen und wirklichen Thätigkeiten inne zu halten hat. So weit dieſe letzteren kein Privatrecht und Intereſſe betreffen, iſt es Sache der höheren Behörden, die Innehaltung des beſtehenden Rechts zu überwachen. Wo dagegen der Einzelne ſich verletzt glaubt, hat er entweder das Klage - oder das Beſchwerderecht, je nach der be - ſtehenden Geſetzgebung, um jene Thätigkeit der vollziehenden Behörde auf das öffentliche Recht zurückzuführen.

Das Syſtem dieſes Enteignungsverfahrens und ſeines Rechts iſt daher folgendes.

1) Die Genehmigung des Unternehmens.

Die Genehmigung oder Conceſſion des Unternehmens iſt nun für das Enteignungsverfahren die Erklärung (Verfügung oder Erlaß) der vollziehenden Gewalt, vermöge deren der Zweck des Unternehmens als ein ſolcher anerkannt wird, dem vermöge des allgemeinen Princips der Enteignung das Recht der Enteignung einzelner nothwendiger Güter zugeſprochen wird.

Es verſteht ſich dabei von ſelbſt, daß wenn dieß Recht auf Ent - eignung als ſelbſtverſtändlich für die Unternehmung erſcheint, wie bei Eiſenbahnen, die Genehmigung der Enteignung nicht ausdrücklich her - vorgehoben zu werden braucht, ſondern das Enteignungsverfahren hier ſogleich unter den folgenden Punkt fällt.

Dagegen iſt es hier die erſte Aufgabe der vollziehenden Gewalt, darüber zu entſcheiden, ob die betreffende Unternehmung wirklich einem Zwecke dient, der an ſich nothwendig, nur durch Enteignung verwirklicht werden kann.

Die vollziehende Gewalt hat ſich dabei an das beſtehende Geſetz zu halten. Wo dieß Geſetz ganz allgemein den öffentlichen Nutzen fordert, bleibt es dem Ermeſſen der vollziehenden Gewalt ausſchließlich überlaſſen, jene Genehmigung zu geben. Wo da - gegen (wie im bayeriſchen Expropriationsgeſetz) ſpecielle Gruppen von Unternehmungen aufgeſtellt ſind, welche das Enteignungsrecht fordern326 ſollen, da entſteht die Frage, ob und bei welchem Organe die Bethei - ligten gegen eine Entſcheidung der vollziehenden Gewalt auftreten können. Selbſtverſtändlich iſt, daß ſie das Recht der Beſchwerde gegen jede Genehmigung haben, wenn dieſelbe von der unteren Behörde aus - gegangen iſt. Iſt ſie aber von der höchſten Behörde beſtätigt, ſo iſt eine weitere Beſchwerde unmöglich, und eine Klage bei Gericht eben nur in dem Falle der bayeriſchen Geſetzgebung denkbar, welches darüber entſcheiden müßte, ob das Unternehmen unter einen der geſetzlich auf - geſtellten (ſiebzehn!) Geſichtspunkte fällt oder nicht. Es iſt einleuchtend, daß dieß zu gänzlich unpraktiſchen Reſultaten führen würde; und mit gutem Recht haben ſich die Rechtslehrer, wenn auch aus unbeſtimmteren Gründen, einſtimmig gegen eine ſolche Specifikation erklärt. (Mitter - maier, Treichler, Häberlin; ſ. d. letztere a. a. O. S. 157 und 200). Hier erſcheint daher auch in Frankreich die Thätigkeit des Gerichts trotz des Art. 1 von 1841 gänzlich ausgeſchloſſen.

Welches Organ der vollziehenden Gewalt nun zum Ausſprechen der Genehmigung überhaupt competent ſein ſoll, ſollte von den Geſetzen genau ausgeſprochen werden. Princip ſollte ſein, daß dieſe Competenz davon abhängig gemacht wird, ob die Unternehmung ſich örtlich über die Grenzen der Behörde ausdehnt. Oft ſind jedoch die Competenzen für verſchiedene Arten der Unternehmungen nach der Natur der letzteren auch örtlich verſchieden, z. B. für Bergwerke, Waſſerbauten u. ſ. w. In dieſem Falle ſollte die Competenz zur Entſcheidung über die Genehmigung in der Hand der über beiden ſtehenden höheren Be - hörde liegen. Sehr rationell iſt die franzöſiſche Beſtimmung, daß die Entſcheidung ein arrêt motivé des Präfecten ſein muß, der das Vor - handenſein der utilité publique an und für ſich conſtatirt und auf Grund dieſer Thatſache die Conceſſion gibt. Gänzlich unpraktiſch iſt es, wenn Häberlin S. 168 und Thiel von Specialgeſetzen reden, welche im einzelnen Falle beſtimmen ſollen, ob eine Anlage von öffentlichem Intereſſe verlangt werde; alſo welche die Genehmigung von Statuten u. ſ. w. zu übernehmen haben. Allerdings hat ſich das engliſche Parlament vorbehalten, ſolche Conceſſionen zu ertheilen, und zwar mit dem Enteignungsrecht (Lands Clauses Act a. I.), und dieß Recht dem Board of trade ausdrücklich verweigert (ſ. oben). Allein über das höchſt Unzweckmäßige dieſes Verfahrens dürfte man um ſo mehr einig ſein, als die folgenden Grundſätze das Einzeleigenthum wohl ohnehin ſicher genug ſtellen. Die deutſchen Geſetzgebungen ſind ſich keineswegs klar, wie ſchon Häberlin klagt. Doch haben ſie faſt aus - ſchließlich, ſoweit nicht Specialenteignungsgeſetze, wie für Eiſenbahnen, vorlagen, mit richtigem Tact jede begriffliche oder formale Beſtimmung327 des öffentlichen Nutzens weggelaſſen und ſtatt deſſen ſich mit der Feſt - ſtellung des Organs begnügt, das über das Vorhandenſein deſſelben im einzelnen Falle zu entſcheiden hat. In der preußiſchen Geſetzgebung ſind bei den verſchiedenen Unternehmungen einerſeits und den verſchie - denen für das ganze Enteignungsweſen geltenden zwölf bis vierzehn Geſetzgebungen die Competenzen von Fall zu Fall feſtzuſtellen (vrgl. darüber Rönne, Staatsrecht II. §. 91). Thiel kommt zu keiner recht beſtimmten Angabe (S. 76, 77. 96, 97). Was heißt die Leitung der Unternehmung bei ihm? Im Großherzogthum Heſſen entſcheidet die Regierungsbehörde, in Kurheſſen das Miniſterium, im Königreich Sachſen das Miniſterium des Innern, in Baden das Staatsmini - ſterium (Wendt, Expropr. Codex p. 108 149. Häberlin S. 165, 166), in Oeſterreich die Statthalterei (Stubenrauch II. S. 722. Eiſen - bahngeſetz von 1854). Es ſcheint uns klar, daß es hier weſentlich an einem feſten Principe mangelt, indem man mehr die Arten und den Umfang der Unternehmungen, als die Entſcheidung über den öffentlichen Nutzen ins Auge faßt. Gibt es nicht auch einen örtlichen öffentlichen Nutzen (Straßen -, Wege -, Brückenbau, Gasanlagen ꝛc. ) und genügt es nicht, wenn gegen die Entſcheidung der unteren Behörde die Beſchwerde gegen die höhere offen ſteht? Wir ſehen daher kein Bedenken im Princip der örtlichen Competenz im obigen Sinne aufgefaßt.

2) Die Genehmigung des Enteignungsplanes.

Der Enteignungsplan enthält nun die genaue Angabe der beſtimmten Grundſtücke oder Beſitzungen, welcher die betreffende Unter - nehmung für ihre Ausführung wirklich bedarf. Die Genehmigung dieſes Enteignungsplanes iſt ihrerſeits diejenige Verordnung der Behörde, durch welche die materielle Nothwendigkeit der Enteignung jener be - ſtimmten einzelnen Güter von der Verwaltung ausgeſprochen wird.

Das leitende Princip für dieſe (verordnende und genehmigende) Entſcheidung der Behörde und mithin die Aufgabe, welche ſie dabei zu erfüllen hat, beſteht nun darin, daß erſtlich der Umfang dieſer Ent - eignung im Namen des Princips des Privateigenthums ſo eng als möglich gezogen, und zweitens darin, daß das Einzelne darin ganz be - ſtimmt angegeben werde. Die Verwaltung hat bei der Genehmigung des Enteignungsplanes daher für jedes einzelne Gut die Frage zu be - antworten, ob daſſelbe für das Entſtehen und den Betrieb unum - gänglich erforderlich iſt. Grundſatz iſt daher, daß erſtlich nur ſo viel Enteignung zugelaſſen werde, als das Inslebentreten des Betriebes nach Maßgabe des wahrſcheinlichen Umfanges deſſelben fordert, und328 daß mithin die Enteignung von jedem Gute ausgeſchloſſen werde, deſſen Beſitz nur als Vortheil für die Unternehmung erſcheint; zweitens ſoll nichts der Enteignung unterworfen werden, was ſich die Unter - nehmung durch etwas Anderes würde erſetzen können. Alle Thätigkeit der genehmigenden Behörde ſteht unter den angegebenen Regeln; um ſie damit conform zu machen, gibt es aber kein anderes Mittel, als das der Beſchwerde, die auch hier wieder ihre hohe Wichtigkeit zeigt.

Es folgt daraus, daß jede Unternehmung, die der Enteignung be - darf, die Detailpläne der Behörde vorlegen muß. Es folgt aber ferner, daß da, wo dieſe Detailpläne nicht gemacht werden können, ohne frem - den Grund zu betreten, die Genehmigung für dieſes Betreten zum Zweck des Aufſtellens der Detailpläne vorausgehen kann (Vorgenehmi - gung, Vorconceſſion). Es folgt aber endlich, daß die Vorlage ſich nicht bloß auf die Enteignung eines Gutes, ſondern auch auf Enteig - nung einzelner Momente deſſelben beziehen kann, namentlich auf Her - ſtellung und Ablöſung von Dienſtbarkeiten, Aenderung derſelben, auf die Benützung von Gruben und Aehnliches. Die Behörde hat dabei unzweifelhaft das Recht, eben ſo wohl die Enteignung ſolcher einzelner Momente, als des ganzen Gutes auszuſprechen, indem ſie die folgenden Grundſätze für ihr Verfahren dabei betrachtet.

Allein während die Verwaltung auf dieſe Weiſe ſich ihr eignes Urtheil bildet über die Einzelobjekte der Enteignung, tritt nun ein zweites Moment hinzu, welches dazu beſtimmt iſt, den obigen Grund - ſatz der Beſchränkung der Enteignung auf das Nothwendige eben im Einzelnen durchzuführen. Das iſt die Organiſirung der Betheiligung der Einzelnen an der Beſtimmung der Enteignungsobjekte. Dieſe Organiſirung beſteht darin, daß am beſten natürlich gemeindeweiſe die Detailpläne ausgelegt und die durch die Enteignung Betroffenen aufgefordert oder doch zugelaſſen werden, ihre Aeußerungen über die Anforderungen der Unternehmung abzugeben. Dieſe Aeußerungen werden amtlich protocollirt und bei der ſchließlichen Detailgenehmigung ver - werthet. Grundſatz ſoll ſein, daß jede Einwendung gegen eine Einzel - enteignung mit begründetem Erlaß der betreffenden Behörde erledigt werde; die Beſchwerde gegen den Erlaß ſteht frei. Die Bedeutung dieſer öffentlichen Betheiligung beruht darauf, daß die örtliche Nothwendigkeit örtlich am beſten erkannt, und das örtliche und Einzelintereſſe gegen - über dem Intereſſe der Unternehmung zur vollen Geltung gebracht werde, während die Behörde, allein ſtehend, nur den oft ſcheinbaren techniſchen Bedarf beurtheilen kann. In dieſer Anziehung der Bethei - ligten iſt gleichſam das Element der Selbſtverwaltung vertreten, und die Art und Weiſe, wie ſie eingerichtet wird und zur Geltung gelangt,329 iſt von großer Bedeutung. Darum ſollte auch die bloße Einführung deſſelben nicht genügen, ſondern es ſollte eine möglichſt allgemein gültige Inſtruction für die untern Beamten in Betreff der Abhaltung erlaſſen werden. Die Frage, welche Folge Nichtabhaltung der geſetzlich vorge - ſchriebenen öffentlichen Ladung, beziehungsweiſe die Nichtinnehaltung der geſetzlichen Formen derſelben haben ſoll, iſt nirgends entſchieden. Da es ſich aber hiebei offenbar nicht um das Recht, ſondern um die zur Geltung gelangenden Intereſſen handelt, ſo kann eine Klage oder Be - ſchwerde je nachdem jene Vorſchrift ſelbſt Geſetz oder Verordnung iſt nicht die Ungültigkeit der gegebenen Genehmigung, ſondern nur die Haftung der unterlaſſenden Behörde bis zum Betrage des nachweis - baren Intereſſes zur Folge haben.

Erſt wenn auf dieſe Weiſe die Verwaltung das Material der techniſchen und Intereſſenfragen in Beziehung auf die einzelnen Grundſtücke geſammelt und zur endgültigen Entſcheidung bereitet hat, tritt der Act ein, der die wirkliche Enteignung der einzelnen Güter zum Inhalte hat.

Es iſt bekannt, daß das franzöſiſche Recht zuerſt den Gedanken ausgeführt hat, daß nicht bloß der Regierung ein genauer Detailplan vorgelegt werden, ſondern daß auch die Ladung der Betheiligten ge - meindeweiſe unter möglichſter Oeffentlichkeit geſchehen müſſe. Schon das Geſetz vom 7. Juli 1833 enthält in T. II. die genauen Vorſchriften über das Verfahren dabei, das auf der Niederſetzung einer eigenen Commiſſion beruht, welche ihr Gutachten über die betreffenden Einwen - dungen zu geben, eventuell ſelbſt Vorſchläge über die gemachten Vor - lagen zu machen hat. Das Geſetz von 1841 hat das Geſetz von 1833 faſt wörtlich mit einigen Aenderungen wiedergegeben. Grundſatz iſt, daß wenn dieſe Commiſſion Einwendungen macht, die Entſcheidung als - dann vom Miniſterium, ſtatt vom Präfekten erfolgen muß, mit Aus - nahme von reinen Gemeindeenteignungen. Dieſe Grundſätze ſind im Weſentlichen in die deutſche Expropriationsgeſetzgebung übergegangen. Das engliſche Recht ſteht hier jedoch auf einem ganz anderen Stand - punkt. Die Detailpläne ſind ihm weder Sache der Verwaltung noch der Gemeinden, ſondern ſie erſcheinen ganz im Geiſte des engliſchen Rechts überhaupt vollkommen als eine Privatangelegenheit zwiſchen dem Unternehmer und den einzelnen Eigenthümern, um welche ſich die genehmigende Gewalt (das Parlament oder der board of trade) durch - aus nicht kümmert, ſondern überhaupt erſt zur Genehmigung ſchreitet, wenn die Unternehmer die Sache vorher ſelbſt abgemacht haben. Vor der Lands Clauses Act war eine ſolche Detailgenehmigung um ſo weniger denkbar, als die Unternehmer gezwungen waren, die eventuelle Zuſtimmung aller Grundbeſitzer, deren Parcellen ſie enteignen mußten,330 ihrem Conceſſionsgeſuch bereits beizulegen. Es war daher ihre Sache, den Detailplan zu entwerfen, beziehungsweiſe durch freiwilliges Zugeſtändniß der einzelnen Betheiligten (by agreement) ſich das Recht zum Betreten der Grundſtücke zu erwerben. Die Lands Clauses Act hat nur dieſen letztern Punkt geändert und im Art. 81 ff. beſtimmt, daß die Gründer ſolcher Unternehmungen (the promoters of the under - taking) erſt dann dieß Recht des Betretens haben ſollen, wenn ſie entweder den Parteien den Schätzungswerth der Grundſtücke wirklich bezahlt, oder aber dieſen Werth in der Bank deponirt und die Depo - ſitenſcheine den Parteien übergeben haben (making deposit and giving bond). Dann können ſie auch gegen den Willen der Parteien den Grund betreten; thun ſie das außerdem, ſo zahlen ſie 10 L. Buße. Im Uebrigen beſteht der alte Grundſatz auch jetzt noch in voller Kraft. Die deutſchen Geſetzgebungen, welche es noch nicht zu eignen Enteignungs - geſetzen gebracht haben, haben dieſe ganze Rechtsfrage nur in Beziehung auf die Eiſenbahnen unterſucht und entſchieden; in Oeſterreich gibt die Vorconceſſion jenes Recht der Betretung gegen einfachen Schadenserſatz beim Bahnbau (Stubenrauch II. S. 722); in Preußen gelten darüber ebenfalls keine für das ganze Enteignungsweſen beſtehen - den Vorſchriften; was Thiel über die ganze Sache meint, iſt nicht recht klar (S. 94 98). Seine Darſtellung des obigen Rechtsverhält - niſſes iſt gegeben unter dem Ausdruck Techniſche Vorarbeiten und Feſtſtellung des Parcellenplanes. Die übrigen Schriftſteller haben die Frage nicht unterſucht. Die Frage nach der Herbeiziehung der Be - theiligten iſt in den Expropriationsgeſetzen der deutſchen Staaten faſt ganz nach dem an ſich vollkommen richtigen Vorgang der franzöſiſchen Geſetzgebung entſchieden; ſehr gut und genau das badiſche Geſetz §. 36; das bayriſche Art. 10; Kurheſſen §. 13; Sachſen-Mei - ningen 98. 3. Vgl. Häberlin a. a. O. S. 189, 190. In Preußen iſt noch nichts zur Entſcheidung gekommen. S. Könne a. a. O. Thiel bleibt deßhalb unter merkwürdiger Nichtbeachtung jener ſehr guten ſüddeutſchen Geſetzgebung auf dem Standpunkt der Theorie (Ladung der Intereſſenten, Legitimation, Vollmacht derſelben S. 98 ff. und S. 109 ff., die Feſtſtellung des Verfahrens dabei und die Rechte derſelben). Derſelbe hat dabei für die Verwaltungsbehörde eine weſent - liche Miſſion feſtgehalten; die franzöſiſche Geſetzgebung vergißt zwar die große Bedeutung der Ingenieure nicht, allein dieſe ingenieurs des ponts et chaussées ſind eben wieder Beamtete.

Was nun die Frage betrifft, ob und wie weit die Pflicht zur Her - gabe eines Theiles eines Gutes oder ſeines Gebrauches das Recht für den Enteigneten erzeuge, eine Enteignung für den Reſt des Gutes,331 oder für die Subſtanz deſſelben, und damit die Entſchädigung für das Ganze zu fordern, obwohl das letztere in dem Detailplan nicht auf - genommen iſt, ſo hat von jeher die Schwierigkeit darin beſtanden, hiefür eine ſcharfe geſetzliche Gränze aufzuſtellen. Das franzöſiſche Syſtem iſt, vielleicht eben wegen der ſtarken Parcellirung der Grundſtücke, bei dem Satz ſtehen geblieben, daß der Eigenthümer ein Recht auf die Ent - eignung des Ganzen nur dann habe, wenn der Detailplan einen Theil eines Gebäudes enteignet; bei Grundſtücken ſoll dagegen das Recht nur dann eintreten, wenn das zu enteignende Grundſtück durch den Detail - plan bis auf dreiviertel ſeines Umfanges reducirt wird (Art. 50), wäh - rend alle übrigen Fragen durch den Grundſatz der vollen Entſchädigung ausgeglichen werden. Im Weſentlichen ſind dem franzöſiſchen Geſetz die deutſchen gefolgt (vgl. Häberlin 177 179, Mittermaier und Treichler a. a. O. Auch Thiel bleibt ziemlich allgemein bei dem Begriffe der vollen Entſchädigung ſtehen, ohne genauer auf die Sache einzugehen S. 21 ff.). Eben ſo hat die engliſche Geſetzgebung in der Lands Clauses Act die Enteignung des Ganzen gefordert, wenn bei Durchſchneidung von Grundſtücken auf einer Seite weniger als ½ statute acre übrig bleibt (Art. 93), für Gebäude gilt das franzöſiſche Geſetz (Art. 97). Wir nun halten daran feſt, daß dabei weder die franzöſiſchen noch die analog formulirten Beſtimmungen des badiſchen und heſſiſchen Expropriationsgeſetzes, am wenigſten die unbeſtimmte Faſſung des bayeri - ſchen genügen, ſondern daß man davon ausgehen muß, daß der Be - griff des Ganzen nicht in dem Umfang und der Subſtanz des Gutes, ſondern in ſeinem Werthe zu ſuchen iſt. Wird der Werth des Gutes um die Hälfte verringert, ſo iſt es wirthſchaftlich ſchon nicht daſſelbe Gut mehr, und der Enteignete hat das Recht, die Enteignung des Ganzen zu fordern, ein Satz, der im Grunde ſchon im preußiſchen all - gemeinen Landrecht (I, 11, 9) anerkannt iſt, und ähnlich im preußiſchen Entwurf (§. 7). Damit, glauben wir, wären alle die Schwierigkeiten ge - hoben, die hieraus entſtehen könnten; die Beſtimmung des Werthes richtet ſich dann nach den Grundſätzen über die Feſtſtellung der Ent - ſchädigung, und die Enteignung iſt auf ihre wahre Baſis, die Her - ſtellung des vollen Werthes, zurückgeführt. Selbſtverſtändlich beſteht damit noch keine Nöthigung für den Enteigneten, ſondern nur eine Berechtigung deſſelben. Gerade hiefür iſt dann die Ladung der In - tereſſenten von Wichtigkeit.

An dieſe Beſtimmungen ſchließt ſich nun der letzte Punkt: der (öffentlich rechtliche) Grundſatz, daß nach der Publicirung des Detail - planes keine Aenderungen mit den zur Enteignung beſtimmten Grund - ſtücken vorgenommen, namentlich keine Hypotheken und Servituten332 auferlegt werden dürfen (vgl. Thiel zum franzöſiſchen und ſchweizeriſchen Expropriationsgeſetz, ſowie die preußiſchen Beſtimmungen S. 129 ff.). Davon ſollten jedoch die Arbeiten und Veränderungen des regelmäßigen wirthſchaftlichen Betriebes ausgenommen ſein, außer dem was Thiel (S. 130) mit Recht bemerkt.

3) Der Enteignungsſpruch und der Uebergang des Eigenthums.

Der dritte Akt in der Enteignung iſt nun der Ausſpruch, durch welchen, nach feſtgeſtelltem Detailplan, das Einzeleigenthum an dem beſtimmten Gute wirklich aufgehoben und dem Unternehmer übertragen wird. Die beiden Rechtsverhältniſſe, auf die es dabei ankommt, ſind die Sicherung der Entſchädigung und die Competenz zum Enteignungs - ſpruch.

Was zunächſt die Frage betrifft, ob die Entſchädigung bereits ge - leiſtet ſein muß, ehe die wirkliche Enteignung ſtattfindet, ſo war das erſte Gefühl, das die Geſetzgebung bei der Entſtehung der Enteignung als einer regelmäßigen Aufgabe hatte, daß die Leiſtung der Entſchädi - gung der Enteignung voraufgehen müſſe die indemnité préalable der droits de l’homme. Das praktiſche Leben zeigte bald die Schwierig - keiten, die damit verbunden ſind, während andrerſeits die völlige Sicher - heit der wirklichen Entſchädigung denn doch eine der Hauptbedingungen aller Enteignung bleiben muß. Das franzöſiſche Recht entſchied dieſe Frage in einer, wie wir glauben, nicht richtigen Weiſe. Es macht zunächſt die Enteignung von der Entſchädigung unabhängig, indem das Jugement d’expropriation der Detailplans-Genehmigung folgt, und die Verwaltung nur die Pflicht hat, binnen 6 Monaten die Ent - ſchädigungsfrage zu Ende zu führen (T. V, Art. 55). Iſt vorher die Entſchädigung entſchieden, ſo ſoll der Betrag vor der Beſitzanweiſung gezahlt werden (Art. 53). Natürlich hat das den Uebelſtand, daß unter Umſtänden, wenn der Enteigner zahlungsunfähig wird, nachdem er ſchon Eigenthum erworben hat, der Enteignete auf einen Proceß mit ihm angewieſen iſt. Das engliſche Recht ſchickt gleichfalls nicht bloß die Beſtimmung der Entſchädigungsſumme, ſondern auch die wirkliche Be - zahlung derſelben der Enteignung vorauf, und zwar mit derſelben Be - ſtimmung, wie das franzöſiſche Recht, daß die Depoſition bei verweigerter Annahme genüge (s’ils se refusent à les recevoir, la prise de possession aura lieu après offres et consignation. Art. 53). Nach der Lands Clauses Act haben die promoters zuerſt den ganzen Betrag der Entſchädigung in die Bank zu geben, nachdem man ſich über dieſelben einig geworden (agreed) oder dieſelbe durch Schätzung feſtgeſtellt iſt (awarded, ſ. unten). 333Iſt das geſchehen, ſo ſoll die Bank einen Depoſitenſchein mit der aus - drücklichen Erklärung geben, daß dieſe Summe zu dieſer Entſchädigung beſtimmt ſei. Dann ſoll der Eigenthümer oder ſonſt Berechtigte auf Aufforderung der Unternehmer das Grundſtück denſelben übergeben (the owner of such lands shall, when required to do so by the pro - moters of the undertaking duly convey such land to the promoters) Art. 75, vgl. 76. 77. Das continentale Syſtem der behördlichen Ueber - tragung iſt entſchieden beſſer, da es den Enteigner viel mehr vor Chikanen ſichert. Wie leicht dieſe in England ſind, ſieht man ſchon aus dem Art. 79 der Lands Clauses Act.

Das bisherige preußiſche Recht iſt über dieſe Frage nichts weniger als klar (vgl. Rönne a. a. O. namentlich in Beziehung auf die Eiſen - bahnen). Der neue preußiſche Entwurf will weſentlich nach franzöſiſchem Muſter die Enteignung ſelbſt zwar von der Einzahlung der Entſchädigung unabhängig machen, aber die Beſitzeinweiſung durch die Bezirks - regierung erſt nach der Zahlung, reſp. Deponirung der Entſchädigungs - ſumme zulaſſen (§. 25. 30). Es iſt klar, daß damit nur verwirrte Ver - hältniſſe zwiſchen Eigenthum und Beſitz entſtehen können; es genügt nicht, mit den Motiven zum preußiſchen Entwurf einfach zu conſtatiren, daß damit ein Interimiſticum entſtehe; denn das Interimiſticum iſt eben zu vermeiden; wie denn, wenn der Enteigner vor der Zahlung der Entſchädigung Concurs macht? Auch hilft hier das rechtskräftige Urtheil Thiels (S. 147) gar nichts, da es ſich für den Enteigneten ja nicht mehr um ſein Recht auf die Entſchädigung, ſondern um die wirkliche Zahlung derſelben handelt. Es iſt daher das einfachſte und im ganzen Weſen des Verfahrens liegende Mittel zu beſtimmen, daß der Entſchädigungsſpruch über das beſtimmte Gut nach dem Detailplan erſt dann gefällt werden darf, wenn das competente Amt vorher von dem Enteigner für den ganzen Betrag der Entſchädigung ſicher ge - ſtellt iſt. Man muß feſthalten, daß wenn das Amt das Eigenthum kraft ſeiner Competenz aufhebt, es auch für die wirkliche Entſchädigung zu haften hat; denn die ganze Enteignung, alſo auch die Entſchädi - gung, gehören dem Verwaltungsrecht und nicht dem Privatrecht. Es iſt daher Sache der Verwaltungsbehörde, ſich für den entfallenden Betrag der Entſchädigung ſicher zu ſtellen, und Sache des Enteigners, dieſe Sicherſtellung zu leiſten; ſobald die erſtere glaubt, daß die letztere genügt, kann ſie auf eigene Verantwortung den Enteignungsſpruch fällen und es dann darauf ankommen laſſen, daß das Entſchädigungsverfahren zu Ende geführt werde, womit dem Amte nicht das Recht beſchränkt wird, auch eine höhere Sicherheit, und andrerſeits auch gar keine be - ſondere zu fordern, wenn es eben nur die Haftung für die Entſchädigung334 übernimmt. Die Klarheit über dieſen Punkt hängt jedoch weſentlich von der über den folgenden ab.

Mag nämlich über die Sicherheit oder Auszahlung der Entſchädigung beſtimmt ſein was da will, immer bleibt die Frage, welches Organ zum Ausſpruch über die Enteignung competent ſei, und wie es bei der - ſelben zu verfahren habe. Hier ſind nun der franzöſiſche, der engliſche und der deutſche Standpunkt weſentlich verſchieden. Nach franzöſiſchem Recht gibt zwar die Verwaltungsbehörde (der Préfet) ihr Arrêt über den Detailplan, aber die Aufhebung des Eigenthums ſowie die Uebertragung deſſelben an den Enteigner geſchieht durch ein richterliches Urtheil; wenn aber das gefällt iſt, wird wieder die Beſitzanweiſung von der politiſchen Behörde, dem Maire, vollzogen. Nach engliſchem Recht iſt die Enteignung eigentlich mit dem Uebergeben der Entſchädigung, be - ziehungsweiſe des bank bond, vollzogen, und der Eigner hat die Pflicht, den Beſitz zu übertragen (ſ. oben). Der Enteigner ſteht damit in der Lage eines jeden andern Käufers. Es iſt ſeine Sache, auf Grundlage der Lands Clauses Act den Beſitz zu erſtreiten; die Behörde hat mit dieſem ſeinem Privatrecht gar nichts weiter zu thun. Die Gefahren dieſes Princips liegen auf der Hand. Nach deutſchen Begriffen dagegen ſpricht die Verwaltungsbehörde die Enteignung aus, ohne Inter - vention des Gerichts, das nur bei den Entſchädigungen thätig wird, und übergibt mit dem Eigenthum auch den Beſitz letztern meiſt, wenn die Entſchädigungsſumme gezahlt iſt. Nach dem preußiſchen Entwurf (§. 25. 30. ) enthält der Enteignungsſpruch zugleich die Enteignung und die Beſitzeinweiſung durch die Bezirksregierung. Nach öſterreichi - ſchem Recht iſt daſſelbe der Fall, nur wird das Recht des Eigenthums und des Beſitzes hier vielfach durch den ſogenannten Patentar-Beſitz normirt, indem erſt die Eintragung in das Grundbuch das volle Eigen - thum gibt, was namentlich bei Eiſenbahnparcellen oft geradezu unthun - lich wird. Man hilft ſich, indem man das Enteignungsurtheil in das Grundbuch eintragen läßt, ohne eine grundbücherliche Zuſchreibung der enteigneten Parcellen in die meiſtens gar nicht exiſtirenden Folien der Bahnen zu fordern. Nach ſchweizeriſchem Recht verliert der Eigen - thümer ſofort das Recht auch auf den Beſitz, ſowie die Behörde den Enteignungsſpruch gethan (Thiel S. 147. 148). Bei Häberlin u. a. iſt die Frage gar nicht behandelt.

Offenbar iſt nun die autorité judiciaire hier etwas an ſich durch - aus Ueberflüſſiges und vielmehr die Sache Hinderndes. Es iſt gar nicht abzuſehen, was denn hier eigentlich das Objekt des Richterſpruches ſein ſoll. Hat die Behörde den Enteignungsſpruch gethan, ſo haftet ſie für die Entſchädigung, und es iſt daher gar kein Grund, die Beſitz -335 einweiſung ferner zu verhindern, ſo wie aus der Fortdauer des Beſitzes dem Enteigneten auch gar kein Vortheil erwächst. Conſtatiren kann das Gericht den amtlichen Spruch nicht; ändern kann es ihn auch nicht; ihn aufhalten, heißt nur den Gang der Sache verzögern; unterſuchen, ob das Amt die Entſchädigung geſichert hat, iſt mit dem Weſen des Amts, das den Staat vertritt, im Widerſpruch. Was alſo das franzöſiſche gerichtliche Erkenntniß eigentlich ſoll, iſt in der That nicht abzuſehen. Es hat dagegen den poſitiven Uebelſtand, daß es Beſchwerde und Klage über Unregelmäßigkeiten in dem Verfahren des Amts vor weg nimmt, ohne daß die Betheiligten Zeit gehabt hätten, ſich ſelbſt über den amtlichen Gang des Geſchäfts zu informiren. Dagegen iſt es richtig, daß den Betheiligten ein Rechtsmittel gegen jenen Enteignungsſpruch der (untern) Behörde zuſtehen muß. Und daraus nun ergeben ſich folgende einfache Grundſätze.

Die Betheiligten haben das Recht, ſich nach geſchehenem Enteig - nungsſpruch mit Beſchwerde an die höhere Stelle zu wenden, wo keine Verletzung des Geſetzes vorliegt, ſondern da, wo ſie das Ergeb - niß des Verfahrens, den Inhalt des Spruches, angreifen. Wo es ſich dagegen um die Verletzung der geſetzlich vorgeſchriebenen Formen des Verfahrens handelt, da haben dieſelben das Recht der Klage bei dem Gericht, welches natürlich auch auf Nichtigkeit des ganzen Verfahrens erkennen kann. Zu dem Ende muß für den Enteignungsſpruch eine Friſt zur Gewinnung der Rechtskraft gegeben werden; und zwar in der Weiſe, daß bei der Beſchwerde die Eingabe keinen Suſpenſiv - effect hat, ſondern die volle Enteignung mit ihren Folgen ſofort ein - tritt, während die Behörde für den aus ihrem Verfahren entſtehenden Schaden haftet. Die Klage dagegen muß Suſpenſiveffekt haben. Nach Ablauf der Friſt muß der Enteignungsſpruch volle Rechtskraft haben und Beſitz und Eigenthum müſſen ſofort übergehen. Die Entſchädigungs - frage iſt dann als völlig unabhängig anzuſehen und geht ihren Weg unter Haftung der amtlichen Stelle. Darin liegt die einzig richtige Betheiligung der gerichtlichen Aufgabe an der Enteignung; nur der Mangel an ausreichenden Enteignungsgeſetzen kann das Verlangen nach größerer Theilnahme der Gerichte motiviren.

Endlich folgt aus dem ganzen Weſen des Enteignungsverfahrens, daß das für den Enteigner auf dieſe Weiſe gewonnene Recht zugleich einer beſtimmten, der Enteignung ſpeciell zukommenden Verjährung unterworfen ſein muß, wohl zu unterſcheiden von der Verjährung der Anſprüche auf Entſchädigung. Denn die Grundlage der Enteignung iſt doch der in der Unternehmung bezweckte öffentliche Nutzen; wird er nicht hergeſtellt, und unterbleibt die Unternehmung, ſo verliert der336 Unternehmer mit dem Rechtsgrunde ſein Recht, der Enteignungsſpruch iſt aufgehoben, und die Wiedereignung tritt ein. Die Geſetzgebung ſollte daher eine Friſt als Maximum beſtimmen; die in der Genehmigung enthaltene Verordnung muß das Recht haben, nach der Natur des Unternehmens dieſe Friſt auch zu verkürzen. In ganz gleicher Weiſe fällt mit dem Wegfalle des Unternehmens überhaupt auch das Recht der Enteignung weg und die bereits enteigneten Güter können von dem Enteigneten zurückgefordert werden unter Beſtimmung des Werthes durch die Organe der Entſchädigung; nach franzöſiſchem Recht darf die Summe für die Wiedereignung nie größer ſein, als die der Entſchädi - gung bei der Enteignung (Geſetz von 1841, Art. 60; weſentlich ſo das Schweizer Geſetz von 1850; vgl. Thiel S. 61 64). Warum das letztere daher wieder den Begriff des Rückkaufes aufſucht, iſt nicht abzuſehen; hier ſo wenig wie bei der Enteignung findet überhaupt ein Kaufvertrag ſtatt, ſondern eine Action der Verwaltung mit Ver - waltungsrecht.

Zweiter Theil. Das Entſchädigungsverfahren und ſein Recht.

Es iſt mehrfach, namentlich von Mittermaier, der Ausſpruch ge - than, daß die Entſchädigungsfrage die ſchwierigſte im ganzen Enteig - nungsweſen ſei. Das iſt in der Praxis allerdings oft der Fall; für die Wiſſenſchaft ſcheint ſie jedoch ziemlich einfach.

Die Aufgabe der Entſchädigung iſt es nämlich, dem Enteigneten den Werth des enteigneten Gutes zurückzugeben. Dieſe Aufgabe iſt ohne Zweifel nicht bloß eine Angelegenheit, ſondern auch eine Pflicht der Verwaltung, und das erſte Rechtsprincip der Entſchädigung ſollte daher darin beſtehen, daß die Verwaltung, welche ihrerſeits durch ihren Spruch das Eigenthum nimmt, auch für die Entſchädigung nach bürgerlichem Recht zu haften habe. Es iſt durchaus kein Grund denkbar, welcher politiſch oder juriſtiſch dieſer erſten Forderung des Einzelrechts gegenüber der Enteignung entgegenſtände. In der That bilden alle einzelnen Beſtimmungen des Entſchädigungsverfahrens die Anerkennung dieſes Princips und ſeine praktiſche Ausführung im Ein - zelnen; es müßte daher auch mit Recht gefordert werden, daß die Ge - ſetze dieſe Verpflichtung ausdrücklich anerkannten. Es iſt ein wenn auch mehr principieller Mangel dieſer ganzen Geſetzgebung, daß dieß nicht geſchieht, ſondern daß die Entſchädigung vielmehr den Charakter eines durch die Verwaltung vermittelten Kaufpreiſes hat. Das widerſpricht eben ſo ſehr dem Weſen der Enteignung, als die Verwen - dung des Gerichts dem Principe des Entſchädigungsverfahrens. Aber337 auch die Literatur hat dieſen Standpunkt nicht hervorgehoben, ſondern ſich faſt ausſchließlich auf die juriſtiſche Seite der Frage geſtellt. Der Grund davon iſt der Mangel an richtigem Verſtändniß der Verwaltung gegenüber der Rechtspflege. Vielleicht daß die folgende Auffaſſung hier zu einem richtigeren Standpunkt führt.

Gewiß iſt nämlich, daß das obige Princip, wenigſtens indirekt, in ſo weit nirgends bezweifelt wird, als kein Enteignungsrecht das Entſchädigungsverfahren ganz den Einzelnen überläßt, und daß andrer - ſeits die Frage nach dem amtlichen Entſchädigungsverfahren genau wie jede Verwaltungsmaßregel erſt da eintritt, wo die Entſchädigung durch gütliche Vereinbarung nicht zu Stande kommt. Das allgemeinſte Rechtsprincip aller Entſchädigung iſt daher der Grundſatz, daß das amtliche Entſchädigungsverfahren erſt als ſubſidiäres Verfahren ein - zutreten hat, daß aber in dieſem Falle das Amt auch zur Einleitung, Ordnung und Beendigung deſſelben verpflichtet iſt.

Dieſe Verpflichtung nun iſt es, aus der das Syſtem des Ent - ſchädigungsverfahrens hervorgeht. Daſſelbe nämlich bezieht ſich aus - ſchließlich auf den Werth und ſein Eigenthum, während das Enteig - nungsverfahren ſich auf das Gut bezog, und kann ſomit immer erſt dann eintreten, wenn über das letztere entſchieden iſt. Seine Aufgabe iſt es, zuerſt den Werth feſtzuſtellen, und ihn dann dem Berechtig - ten zu übergeben. In dieſen zwei einfachen Theilen verläuft das ganze Entſchädigungsverfahren.

1) Die Feſtſtellung der Entſchädigung.

Die Feſtſtellung der Entſchädigung als erſte Aufgabe der Verwal - tung beruht auf drei Punkten. Zuerſt muß beſtimmt ſein, welches Organ den Werth des enteigneten Gutes beſtimmen ſoll; dann müſſen die Regeln, nach welchen dieſe Werthbeſtimmung ſtattzufinden hat, feſtgeſtellt werden; endlich muß der Entſchädigungsſpruch in Rechts - kraft erwachſen.

a) Was zuerſt das competente Organ betrifft, ſo muß man da - von ausgehen, daß es nur die Aufgabe dieſes Organes iſt und ſein ſoll, den Werth des enteigneten Objekts feſtzuſtellen. Die Vor - ſtellung, daß dieß oder gar das ganze Entſchädigungsverfahren ganz entſchieden vor die Gerichte gehöre, da es ſich hier nicht mehr um Zweck - mäßigkeit ſondern um Rechtsfragen handle, wie Häberlin S. 213 meint, iſt entſchieden falſch, und zugleich unklar. Denn die obige Be - ſtimmung des Werthes iſt weder eine Sache der Zweckmäßigkeit noch eine Rechtsfrage. Die Funktion des Gerichts iſt auch hier eine ganzStein, die Verwaltungslehre. VII. 22338andere. Für die Beſtimmung des Organs aber gelten zwei Syſteme. Das eine läßt die beeideten Schätzer von der Behörde beſtimmen, das andere ſetzt eigene Geſchworene dafür ein. Jenes iſt das deutſche, das bereits im preußiſchen Landrecht a. a. O. aufgeſtellt und in dem preußi - ſchen Eiſenbahngeſetz von 1838 genauer, wenn auch nur für Eiſen - bahnen, wiederholt worden iſt; eben daſſelbe gilt in Oeſterreich; im Grunde gehört auch das ſchweizeriſche Verfahren dahin, da nach dem Schweizer Expropriationsgeſetz das Bundesgericht Einen, der Bundes - rath den zweiten, die Kantonalregierung den dritten Experten ernennt; nur iſt dabei der Grundſatz nachahmungswerth, daß dieſe Experten Sachverſtändige und Gemeindemitglieder herbeiziehen können. Das franzöſiſche Syſtem dagegen hat bekanntlich das Syſtem der Entſchä - digungsgeſchworenen durchgeführt (franzöſiſches Geſetz von 1841, Art. 41). Vgl. Thiel, S. 132 ff. Die Lands Clauses Act hat dagegen die Abweichung, daß Beträge unter 50 L. von zwei Friedensrichtern ent - ſchieden werden; bei größern Beträgen hat dagegen auf ſchriftliches Verlangen einer Partei (Art. 23) eine Jury einzutreten, jedoch iſt das Verfahren dabei ohne Zweifel die rationellſte Vereinigung des deutſchen und franzöſiſchen Princips, und in jeder Beziehung beachtenswerth. Wenn nämlich die Parteien nicht einig werden, ſo müſſen ſie zuerſt Schätzmänner (arbitrators) wählen, welche ihren Ausſpruch (award) thun; bei Enteignungen für Eiſenbahnen kann das Board of trade einen arbitrator wählen, wenn eine Partei im Rückſtande iſt. Die Schätzmänner wählen einen Vorſitzenden (umpire) und legen ihre Schätzung den Parteien vor. Erſt wenn die letzteren dieſe Schätzung nicht annehmen, haben ſie nach zehn Tagen durch den sheriff die Jury berufen zu laſſen, bei deren Verfahren der sheriff den Vorſitz führt. Die Jurys werden ſpeciell vereidet; doch hat jede Partei das Recht, auf eine special jury zu provociren. Das Verdikt der Jury iſt dann maßgebend (Lands Clauses Act art. 22 68). Wir wüßten unſerer - ſeits zu dieſem Geſetz nichts hinzuzufügen, als unſer Bedenken gegen Art. 38, nach welchem wegen Formfehler der Ausſpruch der Schätzleute nicht angegriffen werden ſoll. Was Thiel gegen die Geſchwornen an - führt, iſt eben ſo wenig ſtichhaltig, als ſein wunderliches Mißverſtändniß daß ſie ein Gericht ſeien. Sie ſind nichts als die beſte Form der Schätzung, ſollten aber weder wie in Deutſchland ganz wegfallen, noch wie in Frankreich immer funktioniren, ſondern die höhere Inſtanz der Schätzleute bilden. Was das Gericht mit der Schätzung zu thun haben ſoll, iſt in der That nicht abzuſehen; am wenigſten iſt es verſtändlich, wenn man von den Schätzleuten an die Gerichte appelliren darf, wie in Oeſterreich, da doch das Gericht nur durch neue Schätzleute339 einſchreiten könnte. Eine inſtanzloſe Schätzung wie bei der franzöſiſchen Jury hat gleichfalls ihre Bedenken. Wir ſehen daher als das unzweifel - haſt beſte Mittel das engliſche Syſtem an, das wir der künftigen Geſetzgebung dringend empfehlen.

b) Schwieriger iſt die Frage, nach welchen Regeln dieß Schätzungs - organ vorzugehen hat. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß jedem Organ die Elemente und Akten zum Zwecke der Schätzung vorgelegt werden müſſen. Fraglich ſind eigentlich nur zwei Punkte. Erſtlich handelt es ſich darum, was als Gegenſtand der Schätzung aufgenommen werden ſoll; namentlich ob das Schätzungsorgan über den Verkehrswerth des Gutes hinausgehen und als Gegenſtand der Entſchädigung auch die Nachtheile, welche die Enteignung indirekt bringt, oder die möglichen künf - tigen Vortheile gelten dürfen. Es iſt nun wohl kaum zweifelhaft, daß die erſteren nicht ausgeſchloſſen werden dürfen, während die letzteren nicht aufgenommen werden können; denn die Schätzung ſoll den Werth beſtimmen, den das enteignete Gut in ſeiner Qualität als Theil des wirthſchaftlichen Ganzen nachweisbar beſitzt, dem es angehört. Auch hier entfällt allerdings die ganze Frage, ſo wie man zu den Ge - ſchwornen greift, und an ihre Stelle tritt die formelle Regel des Schätzungsverfahrens. Die eingehenden Unterſuchungen Häberlins S. 179 ff. kommen am Ende doch nicht weiter als bis zu dem, von den deutſchen Geſetzgebungen allgemein angenommenen Princip der vollen oder vollſtändigen Entſchädigung; die von Treichler zuerſt hervorgehobene Vorſtellung von dem Schaden, den die Enteignung bringt (a. a. O. 153 ff. ), bedeutet im Grunde nichts anderes als den Werth, den der Reſt des Gutes durch die Enteignung des Theiles verliert, und iſt daher der Sache nach richtig, in der Form jedoch ge - fehlt, weil er nicht berechnet, ſondern nur als wirthſchaftlich wahrſchein - lich angenommen werden kann, was den juriſtiſchen Begriff des Schadens wieder ausſchließt. Wir müſſen daher wirthſchaftlich an dem obigen Begriffe des wirthſchaftlichen Werthes des Ganzen feſthalten, der auch vollkommen ausreicht, und zuletzt nur die klarſte Interpretation der vollſtändigen Entſchädigung enthält. Was nun zweitens die Form für das Verfahren betrifft, ſo iſt dieſe allerdings Gegenſtand genauer Vorſchriften und mit Recht, da ſie es weſentlich iſt, in der die Inter - eſſen zur Geltung gelangen. Das franzöſiſche Geſetz (Art. 29 ff. ) iſt darüber ſehr genau; es iſt aber das Verfahren vor den Geſchwornen keiner Appellation fähig, und daher iſt der Akt der Schätzung ſelbſt ohne Vorſchriften; die Jury entſcheidet geheim unter ſelbſtgewähltem Präſidenten. Im deutſchen Recht dagegen herrſcht die Vorſtellung von einem gerichtlichen oder doch amtlichen Verfahren, daher das Princip340 der Protokollsaufnahme (vgl. namentlich Thiel, S. 142 144). Das engliſche Geſetz beſtimmt, daß die Geſchwornen ihr Verdict nie im Allgemeinen, ſondern für jede einzelne der Entſchädigung unter - liegende Frage abgeben ſollen (separately for the sum of money for the purchase of the land, or of any interest therein belonging to the party. Lands Clauses Act art. 49). Wir halten dafür, daß dieſer Grundſatz, für die Schätzleute feſtgehalten, der richtige iſt; natürlich wird jedes Verfahren vor der Jury, wie es in Frankreich und England der Fall iſt, wieder berechtigt ſein neue Zeugen zu ver - nehmen u. ſ. w. Doch ſollte man beſtimmen, daß vor der Jury keine neuen Geſichtspunkte aufgeführt werden dürfen, wie bei der Appellation im gerichtlichen Verfahren. Den Schluß des ganzen Verfahrens bildet die Rechtskraft.

c) Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die Rechtskraft eine andere iſt, je nachdem eines der drei obigen Syſteme zum Grunde gelegt wird. Ge - meinſam jedoch muß der Grundſatz gelten, daß der Spruch, ſei es nun der der Schätzmänner oder der der Geſchwornen, eine gewiſſe Friſt zur Erlangung der Rechtskraft fordert. Eben ſo ſelbſtverſtändlich iſt, daß der Geſchwornenſpruch nur durch die Caſſation angegriffen werden kann, wie in Frankreich (Geſetz von 1841, Art. 42). In England iſt auch dieſe bekanntlich nicht zuläſſig. Scheidet man Schätzung und Geſchworene, ſo iſt es kein Zweifel, daß die natürliche Inſtanz für die erſtere in den zweiten liegt, wie in England; wo dagegen geſetzliche Regeln für die erſtere beſtehen in England nicht, ſ. oben da muß man conſequent zwar keine Appellation, wohl aber eine Klage vor Gericht zulaſſen. Wichtig iſt nur die Frage, ob das Verfahren eine Präcluſion für ſolche enthalten ſoll, welche ſich entweder überhaupt nicht, oder nicht mit ihren Forderungen und Gründen gemeldet haben. Eine ſolche Präcluſion iſt zweckmäßig, und erſcheint in dem Grade mehr motivirt, als das ganze Verfahren ein öffentliches iſt; die franzöſiſchen Vorſchriften (Geſetz von 1841, Theil III. ) ſind ſehr zweckmäßig. Thiel (S. 157 164) vertritt die Legalpräcluſion mit vielem Geſchick und guten Gründen. Einen Termin für die Verhandlung wegen Hypotheken zuzulaſſen, iſt bei guten Grundbüchern nicht nothwendig; doch iſt eben ſo wenig ein Grund vorhanden, die Auszahlung ſofort zu befehlen (ſ. unten). Alle anderen Realrechte fallen unter die allgemeinen Regeln.

2) Das Auszahlungsverfahren.

Bei dem Auszahlungsverfahren handelt es ſich zunächſt um das Organ, und dann um die Form der Auszahlung.

341

Das natürliche Organ der Auszahlung iſt ſelbſtverſtändlich daſſelbe, welches für die richtig geſchehene Auszahlung haftet, die Behörde. Es iſt ihre Sache, die Entſchädigungsſummen zu empfangen, und ſie dem Berechtigten zu übergeben. Es iſt auch ihre Sache, die Identität der Letzteren zu beſtimmen, da ſie eben haften muß. Sie kann eben deß - halb die Auszahlung verweigern, aber kann wieder dafür gerichtlich belangt werden. Wozu hier eine Intervention des Gerichts dienen ſoll, iſt nicht abzuſehen, um ſo weniger als die Enteigneten in dem Enteignungsverfahren eben durch die Behörde feſtgeſtellt werden.

Was ſchließlich die Form der Auszahlung betrifft, ſo muß als Regel gelten, daß mit der erwachſenen Rechtskraft des Entſchädigungs - ſpruches auch die Auszahlung fällig iſt. Die Vorſchriften der preußi - ſchen Geſetzgebung und Thiels Vorſchläge (Kapitel VI. und S. 149 ff. ) ſind noch immer auf eine große Bevormundung berechnet. Fraglich iſt es dadurch geworden, ob bei der Auszahlung auf dritte Gläubiger Rückſicht zu nehmen ſei. Dieß iſt offenbar nur in dem Falle denkbar, wo das Recht des Gläubigers mit dem beſtimmten Gute in Verbindung ſteht; namentlich alſo bei Pfandgläubigern. Hier ſind zwei Fälle mög - lich. Der erſte und einfachſte iſt der, daß das ganze belaſtete Gut enteignet wird. Die Grundlage des Verfahrens in dieſem Falle iſt einfach; ſie beſteht darin, daß die ganze Hypothek als gekündigt gilt und mit der Entſchädigungsſumme ausgezahlt wird. Das iſt ſo lange einfach, als die letztere die erſtere deckt. Wo dieß nicht der Fall iſt, fordert Wendt (Expropriations-Codex, S. 254) die Subhaſtation, Häberlin erklärt ſich jedoch mit vollem Recht gegen dieſelbe (S. 196), da die Subhaſtation die Enteigner zwingen würde, jede Summe zu zahlen, das iſt die Enteignung ſelbſt um ihren Charakter zu bringen. In der That iſt das Pfandrecht als Eigenthum des Werthes ſubſtanz - los, wo der Werth aufhört; und derſelbe hört auf, wo die Schätzung endet. Der zweite Fall iſt jedoch der, wo nur ein Theil eines Gutes enteignet wird, auf dem eine Hypothek im Ganzen haftet. Die Geſetze ſind darüber ſehr ungenau (Thiel, S. 149 151). Es gibt dafür kaum einen andern und einfachern Weg als die Beſtimmung, daß in einem ſolchen Falle die Hypothekengläubiger von der Enteignung ſo wie von der Entſchädigungsſumme verſtändigt werden, und daß zugleich den Schätzungsorganen aufgetragen wird, zu beſtimmen, ob und in wie weit durch die theilweiſe Enteignung der Werth des ganzen Gutes ſo viel leidet, daß die intabulirte Pfandſchuld damit angegriffen wird. Wo ein ſolcher Fall vorkommt, iſt dieß eine von den Fragen, über welche ſich die Schätzungsorgane ſpeciell zu äußern haben. Aeußern ſie ſich bejahend, ſo wird der Hypothekargläubiger von dieſem Spruch342 vom Amte verſtändigt, mit dem Bedeuten, daß er den betreffenden Betrag gegen Quittung in Empfang nehmen könne. Dieſe Quittung wird dem Grundbuch beigelegt, und die Schuld um dieſen Betrag ver - mindert erklärt. Auf dieſem Wege iſt jedes Recht und jedes Intereſſe geſichert.

Das Staatsnothrecht.
I. Weſen deſſelben.

Den Schluß des ganzen Entwährungsweſens bildet nun dasjenige, was wir das Staatsnothrecht nennen, und bei welchem es, im Hinblicke auf das bisher Dargeſtellte, weſentlich nur noch auf genaue Beſtimmung des Begriffes ſelbſt ankommt, da hier weder neue Princi - pien noch neue Rechtsbegriffe eintreten.

Das Staatsnothrecht iſt ſeinem formalen Begriffe nach das Recht des Staats, die Enteignung im kurzen Wege da vorzunehmen, wo die Verfügung über ein beſtimmtes Gut durch ein plötzliches, unabweis - bares, und durch nichts anderes zu befriedigendes Bedürfniß des Staats gefordert wird.

Der Begriff des Staatsnothrechts entſteht nun gleichzeitig mit dem Begriffe des Staates ſelbſt, und wird mit zwei Worten bezeichnet, welche gleich anfangs die beiden Hauptrichtungen bedeuten, in denen aus der Noth des Staats demſelben das Recht entſteht, in die öffentliche Ordnung einzugreifen. Das erſte iſt die summa potestas, auch oft mit impe - rium gleichbedeutend genommen, das zweite iſt das jus eminens. Die summa potestas bedeutet das Recht des Staatsoberhaupts, im Namen der höchſten Staatsgewalt und ihren unabweisbaren Anforderungen das beſtehende öffentliche Recht zu ändern. Das jus eminens dagegen enthält von Anfang an die Fälle, wo der Staat im Namen der Noth in das Privateigenthum hineingreift. Allerdings ſind im 17. Jahrhundert dieſe beiden Begriffe und Verhältniſſe eben ſo wenig klar, als ſie es noch jetzt ſind; doch hat ſchon Hugo Grotius den Grund zu derjenigen Unterſcheidung gelegt, welche dieſem Gebiete ſeine Selbſtändigkeit im öffentlichen Recht hätte ſichern ſollen, wenn die folgenden Verhältniſſe überhaupt eine weitere Unterſuchung zugelaſſen hätten. Das iſt die Unter - ſcheidung des jus eminens vom dominium eminens oder dominium supremum, das wir oben dargeſtellt haben. Während nämlich das letztere aus dem poſitiven Rechtsverhältniſſe eines wirklich beſtehenden Ober - eigenthums das Recht der Staatsgewalt als Oberlehensherrn her - leiten will, geht daneben ſchon Hugo Grotius auf den Begriff der Noth ein und legt bei certum periculum des Staats, und der daraus343 entſtehenden necessitas demſelben das Recht an und für ſich bei, das Privateigenthum für ſeine Zwecke zu benützen; natürlich hauptſäch - lich im Falle einer äußern, im Kriege gegebenen Noth (L. II. T. 6. 9). Dieß jus supereminens domini wird dann als ein ſolches bezeichnet, quod ad omnes spectat res subditorum (III. c. XIX). Damit iſt denn allerdings das Staatsnothrecht auf ſeine wahre Baſis, den Be - griff und das Weſen des Staats (natura civitatis), zurückgeführt; allein zu der Unterſcheidung dieſes jus supereminens von der summa potestas gelangt Hugo Grotius noch nicht, weil die Elemente des Unterſchiedes zwiſchen Geſetz und Verordnung ihm noch gänzlich fehlen. Dieſe nun bilden ſich erſt im Laufe des 17. Jahrhunderts in dem großen Gegen - ſatze zwiſchen Kaiſer und Reich aus; das Reich iſt der Träger der Idee des Geſetzes, das Kaiſerthum der der Verordnungsgewalt, und ſchon jetzt bedeutet die summa potestas die Frage, ob der Kaiſer das Recht habe, einſeitig wir würden ſagen im Verordnungswege in die Rechtsverhältniffe des Reiches gegen die Geſetze deſſelben (Reichsabſchiede, Wahlinſtitutionen u. A.) einzugreifen, wenn die Noth des Reiches, die necessitas imperii, es fordert. Hätte nun das 18. Jahrhundert es in den Reichslanden zu einer Territorialgeſetzgebung gebracht, ſo würde jene Frage, die als eine ſpecielle Frage zwiſchen Kaiſer und Reich aufgeworfen ward (ſ. oben), wahrſcheinlich in das Staatsrecht überhaupt, und zwar mit ihrem ganz beſtimmten Inhalt als das Recht der Nothverordnung über - gegangen ſein. Allein da überhaupt keine Geſetzgebung zu Stande kam, ſo verſchmolz, wie wir es in der vollziehenden Gewalt dargelegt haben, die geſetzgebende Gewalt mit der verordnenden, die Verordnung ward Geſetz, die Vorſtellung von einem Gegenſatz zwiſchen Verordnung und Geſetz, und mit ihr die von einer summa potestas ex titulo necessitatis verſchwand, und man wußte daher von einem auf das öffentliche Recht bezüglichen jus eminens ſich keine klare Vorſtellung zu machen. Da - gegen aber erzeugte die ſich immer weiter entwickelnde Verwaltung den Grundſatz des Entwährungsrechts, und ſpeciell den der Enteignung. Selbſtverſtändlich ſuchte man nun dieſen Grundſatz an das jus naturae anzulehnen, und fand hier den alten Begriff des jus eminens, der unklar Enteignung und Staatsnothrecht zuſammenfaßte. Es war daher ganz natürlich, daß man nunmehr dieſen Ausdruck fortgebrauchte, das Enteignungsrecht als ein jus eminens des Staates bezeichnete, und das letztere mit dem Anfang unſers Jahrhunderts dann als Staats - nothrecht deutſch überſetzte. Als nun das Enteignungsrecht ſich zu ſelbſt - ſtändiger Geſetzgebung entwickelte, wußte man mit dem jus eminens und dem Staatsnothrecht nichts Rechtes anzufangen, da man zwar das richtige Gefühl hatte, daß es dem Enteignungsrecht auf das Engſte344 verwandt ſei, aber doch nicht ganz daſſelbe bedeute, während man andererſeits bei dem Mangel des Begriffes und Inhalts des verfaſſungs - mäßigen Verwaltungsrechts und der Verordnung gegenüber dem Geſetze, wieder das Nothverordnungsrecht und die Lehre von der Verantwort - lichkeit und der Indemnity nicht ganz durchſchaute. So iſt es gekom - men, daß das Staatsnothrecht in den Lehrbüchern des Staatsrechts ein unklares Daſein fortführt, vielfach mit der Expropriationslehre verſchmolzen, wie bei Klüber, vielfach äußerlich mit derſelben ver - bunden, wie bei Zachariä und Zöpfl, vielfach ganz weggelaſſen, wie bei Pölitz, Aretin und Mohl. Die Theorie der Expropriation hat daſſelbe, mit Ausnahme Häberlins, der einige Worte darüber ſagt, ohne genauer auf die Sache einzugehen (a. a. O. S. 217. 218) bei Seite liegen laſſen, obgleich die Geſetzgebungen Anlaß genug boten. Die Darſtellung der zwangsweiſe vorübergehenden Benützung frem - den Eigenthums bei Koch, Deutſchlands Eiſenbahnen Tit. II. S. 129 bezieht ſich nur auf das, was wir oben die Enteignung des Gebrauches genannt haben. Erſt Thiel hat demſelben unter dem nicht glücklichen Titel: Außergewöhnliches Expropriationsverfahren (S. 167 ff. ) einen eigenen eingehenden Abſchnitt gewidmet, bei dem jedoch die Beziehung auf die früheren Rechtsbegriffe fehlt. Dagegen hat H. Biſchof: Das Nothrecht der Staatsgewalt in Geſetzgebung und Regierung (Linde, Archiv des deutſchen Bundes, Bd. III. Heft 3. 1860) unter faſt gänz - licher Zurückſetzung des Expropriationsrechts die erſte gründliche Be - handlung des Nothverordnungsrechts der Regierung, freilich nicht gerade von ſtreng verfaſſungsmäßigem Standpunkt der Verantwortlich - keit gegeben (ſ. vollziehende Gewalt). Durch beide Arbeiten iſt nun das Material, wenn auch nicht für die Geſchichte dieſes wichtigen Be - griffes, ſo doch für ſeinen Inhalt, gegeben. Indem wir unſererſeits für die erſtere auf das bereits Angeführte uns beziehen, glauben wir demnach jetzt mit der Charakteriſirung des Syſtems dieſer Lehre hier unſerer Aufgabe genügen zu können.

II. Unterſchied des Nothverordnungsrechts vom eigentlichen Staatsnothrecht, und des Staatsnothrechts von der Enteignung. Geſetzgebung.

Das Nothverordnungsrecht iſt demnach dasjenige Recht der Regie - rung, vermöge deſſen ſie auf Grundlage der unabweisbaren Nothlage des Staats Verordnungen erläßt, welche das geſetzliche Recht des Staats aufheben, und die Befolgung ſolcher Verordnung mit denſelben Mitteln erzwingt, mit denen ſie die verfaſſungsmäßigen Verordnungen vollzieht. Das Rechtsprincip dieſer Nothverordnung iſt dabei die Haftung der345 verordnenden Organe, aber nicht vor dem Gericht, ſondern vor der geſetzgebenden Gewalt, welche über ſolche Verordnungen und ihre Dauer entſcheidet. Die ganze Frage gehört demnach in die Lehre von der vollziehenden Gewalt (wo ſie neben andern in zweiter Auflage ihren Platz finden wird).

Das Staatsnothrecht dagegen im engern Sinne iſt nichts anderes, als diejenige Anwendung des Enteignungsrechts, bei der die plötzliche Gefährdung des Staats und ſeiner organiſchen Funktion das Eintreten eines regelmäßigen Enteignungsverfahrens, möge daſſelbe nun ſonſt geordnet ſein wie es will, nicht zuläßt, während alle Grundſätze der Enteignung ſowohl in Beziehung auf die Aufhebung des Eigenthums am Gute als in Beziehung auf die Rückerſtattung des Werthes durch die Entſchädigung, in voller Geltung bleiben.

Das oberſte Rechtsprincip alles Staatsnothrechts ergibt ſich damit dahin, daß im Falle der Gefahr allerdings die Regierung das Recht hat, die Enteignung auch ohne die geſetzlichen Vorſchriften über das Enteignungsverfahren vorzunehmen; daß ſie aber die Nichtberückſichti - gung dieſer geſetzlichen Vorſchriften nur ſo weit eintreten laſſen darf, als die wirkliche Gefahr es ihr unmöglich macht, ſie zu befolgen, und daß ſie für das Vorhandenſein einer ſolchen Beſchränkung des geſetz - lichen Rechts durch die Noth dem Enteigneten haftet.

Daß nun ein ſolches Staatsnothrecht im Weſen des Staats liege und daß mithin das formelle Enteignungsrecht nicht ausreiche, iſt wohl von jeher anerkannt worden. Allein natürlich konnte man zum Bewußtſein von dieſer Unterſcheidung erſt da gelangen, wo man eben das Enteignungsrecht ſelbſt zum Gegenſtande einer ſyſtematiſchen Geſetz - gebung machte. Es iſt daher durchaus erklärlich, daß erſt die franzö - ſiſche Expropriations-Geſetzgebung das Staatsnothrecht ſyſtematiſch vom Expropriationsrecht ſchied (1833); dieſem Vorgange folgten dann mehrere deutſche Geſetzgebungen, wie Baden und Heſſen, während die übrigen Staaten, überhaupt einer Enteignungsgeſetzgebung entbehrend, auch jenen Unterſchied auf ſich beruhen ließen. Dieß iſt noch der Fall in Oeſterreich, während Preußen daſſelbe nach Frankreichs Muſter in ſeinen neueſten Entwurf aufgenommen hat. Englands Recht kennt weder den Begriff noch die Sache.

Das Syſtem des Staatsnothrechts bietet jedoch einige Punkte dar, welche auch für das Enteignungsrecht nicht ohne Bedeutung ſind.

III. Das Syſtem des Staatsnothrechts.

Auch das Staatsnothrecht muß als ſeine Grundlage den Unter - ſchied des Enteignungs - und des Entſchädigungsverfahrens erkennen, daStein, die Verwaltungslehre. VII. 23346ſein Inhalt grundſätzlich nur die durch die Noth gebotene Abkürzung des Verfahrens enthält.

1) Die Enteignung des Staatsnothrechts.

Der Unterſchied dieſer Enteignung von der ordentlichen iſt nun merkwürdiger Weiſe ſchon von der franzöſiſchen Geſetzgebung durch das Geſetz vom 30. März 1831 weſentlich auf Enteignung für militäriſche Zwecke bezogen, was der preußiſche Entwurf (§. 35. 40) wiederholt hat. Erſt das Geſetz von 1841 nahm die Enteignung aus Noth als Theil des Enteignungsrechts überhaupt auf, als urgence de prendre possession, und ordnete dafür die Erklärung einer Ordonnance royale an; doch ſollte das jugement d’expropriation bleiben; es iſt mithin eigentlich nur das Entſchädigungsverfahren kürzer geworden (Tit. VII.). Mit Recht bemerkt Thiel, daß das Geſetz dabei weſentlich dauernde militäriſche Anlagen im Auge habe (S. 179); mit Unrecht läßt er weg, daß im Grunde gar kein denkbares Motiv vorhanden iſt, für militäriſche Anlagen andere Arten des Verfahrens als für alle andern öffentlichen Zwecke für nöthig zu erachten, ganz gleichviel, ob es ſich um militäriſche Bauten, Befeſtigungen oder etwas anderes handelt. Eben ſo wenig iſt ein Grund vorhanden, etwas anderes als das regel - mäßige Enteignungsverfahren bei zeitweiligen Militärzwecken (d. h. vorübergehenden militäriſchen Bedürfniſſen), z. B. Schieß - und Exercier - plätzen u. ſ. w. eintreten zu laſſen, wenn die Zeit ausreicht, mit dem gewöhnlichen Verfahren vorzugehen. Daſſelbe muß für jeden öffent - lichen Zweck gelten. Die ſummariſche Enteignung tritt erſt da ein, wo eben dieſe Zeit nicht ausreicht, wie bei durchmarſchirenden Truppen, bei Anſtrengungen in Feuers - und Waſſersgefahren, bei Maßregeln der Sicherheitspolizei bei Volksaufſtänden u. ſ. w. Daß auch hier das Enteignungsrecht ſtattfinden muß, iſt klar. Die Hauptfrage bleibt dabei die, welches Organ dazu competent iſt, und welches die Grenze ſeiner Competenz ſein muß. Und hier möchten wir folgende Grundſätze auf - ſtellen. Jedes Organ, welches eine plötzliche äußere Gefahr zu bekämpfen hat, hat nicht bloß das Recht, die Enteignung für die ihr durchaus nothwendigen Sachen auszuſprechen, ſondern auch unter einfacher amt - licher Erklärung davon eventuell, nach Maßgabe der Gefahr, Beſitz zu ergreifen. Allein erſtlich ſoll daſſelbe niemals das Eigenthum an dem betreffenden Gute aufheben, ſondern ſein Enteignungsrecht geht nur auf den Gebrauch deſſelben für den plötzlich aufgetretenen Zweck, allerdings in der Weiſe, daß der Gebrauch das Gut vernichten kann. Das Eigenthum ſoll ſtets nur auf dem Wege der regelmäßigen Ent -347 eignung aufgehoben werden können. Zweitens haftet das betreffende Organ dafür, daß das Unterlaſſen des Enteignungsverfahrens wirklich durch die Noth und nicht durch Willkür geſchehen iſt; es darf ſtets nur ſo viel von dem erſtern bei Seite gelaſſen werden, als nach Art und Größe der Gefahr nicht zur Anwendung gelangen konnte. Drittens findet gegen jedes ſolches Verfahren allerdings auch Beſchwerde ſtatt; allein dieſelbe kann natürlich keinen Suſpenſiveffekt haben. Es iſt dabei viertens Sache der Behörde, die zum öffentlichen Gebrauch in Anſpruch genommenen Güter zu beſtimmen, ohne daß vorher ein Plan vorgelegt wäre (man denke nur an Niederreißen von Häuſern beim Feuer, bei Gefechten u. ſ. w.), allein ſie hat zugleich die Verpflichtung, wo mög - lich vorher oder gleichzeitig, jedenfalls aber nachher ein genaues Ver - zeichniß der enteigneten Güter aufzuſtellen, und bei dieſem Verzeichniß muß der Enteignete das Recht haben, in zweifelhaften Fällen gericht - lichen Beweis herzuſtellen. Was die Militärverwaltung dabei weiter zu thun hätte, iſt uns trotz Thiel nicht einleuchtend geworden. Ueber das Organ, welches die (Gebrauchs -) Enteignung verfügt, läßt ſich gar nichts weiter ſagen; es iſt nur feſtzuhalten, daß das militäriſche Recht hier keine beſondere Beſtimmungen fordert. Eben ſo wenig ſehen wir einen weſentlichen Unterſchied in den beiden von Thiel (S. 176) auf - geſtellten Gruppen. Daß der franzöſiſche Gedanke eines gerichtlichen Urtheils in allen Nothfällen ohnehin gänzlich unpraktiſch iſt, liegt auf der Hand. Im Gegentheil muß man ſagen, daß allenthalben, wo ein ſolches noch möglich iſt, der Beweis geliefert iſt, daß für das regel - mäßige Verfahren Zeit genug, und alſo keine Noth, mithin auch kein Staatsnothrecht vorhanden war.

2) Die Entſchädigung des Staatsnothrechts.

Das Eigenthümliche für das Entſchädigungsverfahren des Staats - nothrechts beſteht nun einfach darin, daß daſſelbe nicht auf einer Schätzung des Gutes beruht, ſondern in einer Schätzung auf Grund - lage eines, von dem Enteigneten zu führenden Beweiſes über die Güter oder Nutzungen, welche durch die Nothenteignung entzogen wer - den, beſtehen muß. Es iſt nämlich gar kein Grund vorhanden, andere Grundſätze für das Entſchädigungsverfahren beim Staatsnoth - recht als bei der eigentlichen Enteignung zu fordern; nur auf dem einzigen Punkte iſt die Gleichheit nicht möglich, und das iſt der, daß die Schätzleute das Gut nicht vor der Enteignung zu ſchätzen Zeit finden. Im Staatsnothrecht tritt daher die Nothwendigkeit ein, die Identität und etwa die Eigenſchaften des enteigneten Gutes nach -348 träglich vor den Schätzleuten beweiſen zu müſſen, die dann nach dieſem Beweis ihren Wahrſpruch thun. Alle übrigen Grundſätze der Entſchädigung und ſeines Verfahrens müſſen auch für das Staats - nothrecht einfach beibehalten werden, da hier das Moment der dringen - den Gefahr verſchwindet. Das franzöſiſche Geſetz wie der preußiſche Entwurf würden viel klarer geworden ſein, hier wie in den übrigen Gebieten, wenn ſie ſtrenge das Entſchädigungs - von dem Enteignungs - verfahren geſchieden hätten, wie es die Wiſſenſchaft fordert.

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TextDie Verwaltungslehre
Author Lorenz von Stein
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