PRIMS Full-text transcription (HTML)
Phantaſus.
Eine Sammlung von Maͤhrchen, Erzaͤhlungen, Schauſpielen und Novellen,
Erſter Band.
Berlin,1812. In der Realſchulbuchhandlung.

An A. W. Schlegel.

(Anſtatt einer Vorrede.)

Es war eine ſchoͤne Zeit meines Lebens, als ich Dich und Deinen Bruder Friederich zuerſt kennen lernte; eine noch ſchoͤnere als wir und Novalis fuͤr Kunſt und Wiſſenſchaft vereinigt lebten, und uns in mannichfaltigen Beſtre - bungen begegneten. Jetzt hat uns das Schick - ſal ſchon ſeit vielen Jahren getrennt. Ich verfehlte Dich in Rom, und eben ſo ſpaͤter in Wien und Muͤnchen, und fortdauernde Krankheit hielt mich ab, Dich an dem Orte Deines Aufenthaltes aufzuſuchen; ich konnte nur im Geiſt und in der Erinnerung mit Dir leben.

Von verſchiedenen Seiten aufgefordert, war ich ſchon ſeit einiger Zeit entſchloſſen, meine jugendlichen Verſuche, die ſich zerſtreut haben, zu ſammeln, diejenigen hinzuzufuͤgen, welche bis jetzt noch ungedruckt waren, und andre zu vollenden und auszuarbeiten, die ich ſchon vor Jahren angefangen, oder ent - worfen hatte. Dieſe Maͤhrchen, Schauſpiele und Erzaͤhlungen, welche alle eine fruͤhere Periode meines Lebens charakteriſiren, verei - nigt durch mannichfaltige Geſpraͤche gleichge - ſinnter Freunde uͤber Kunſt und Literatur, machen den Inhalt dieſes Buches. Man - ches, was ich in dieſen Dialogen nur fluͤch - tig beruͤhren konnte, werde ich an andern Orten beſtimmter darzuſtellen und auszufuͤh - ren ſuchen. Diejenigen Dichtungen, welche ſchon bekannt gemacht waren, erſcheinen hier mit Verbeſſerungen, und in der Summe der ſieben verſchiedenen Abtheilungen wird man eben ſo viele neue, als in den Volksmaͤhr - chen, oder anderswo ſchon abgedruckte, an - treffen. Die groͤßeren Werke, wie der Zer - bino oder die Genoveva ſchließen ſich von dieſer Sammlung aus.

Es war meine Abſicht, meinen Freun - den dieſe Spiele der Phantaſie, die ſie fruͤ - her ſchon guͤtig aufgenommen haben, in einer annehmlichern Geſtalt vorzulegen. Du warſt unter dieſen einer der erſten, die mein Talent erhoben und ermunterten, Dein maͤnn - lich heiterer Sinn findet auch im Scherze den Ernſt, ſo wie er Gelehrſamkeit und gruͤndliche Forſchung durch Anmuth belebt: Du wirſt guͤ - tig dieſe Blaͤtter aufnehmen, die das Bild vo - riger Zeit und Deines Freundes in dir erneuern.

[1]

Einleitung.

I. [I][2][3]

Dieſes romantiſche Gebirge, ſagte Ernſt, erin - nert mich lebhaft an einen der ſchoͤnſten Tage meines Lebens. In der heiterſten Sommerszeit hatte ich die Fahrt uͤber den Lago maggiore ge - macht und die Borromaͤiſchen Inſeln beſucht; von einem kleinen Flecken am See ritt ich dann mit dem fruͤhſten Morgen nach Belinzona, das mit ſeinen Zinnen und Thuͤrmen auf Huͤgeln und im engen Thal ganz alterthuͤmlich ſich dar - ſtellt, und uns alte Sagen und Geſchichten wun - derlich vergegenwaͤrtigt, und von dort reiſete ich am Nachmittage ab, um am folgenden Tage den Weg uͤber den Sankt Gotthard anzutreten. Am Fuße dieſes Berges liegt aͤußerſt anmuthig Giar - nito, und einige Stunden vorher fuͤhrt dich der Weg durch das reizendſte Thal, in welchem Weingebirge und Wald auf das mannigfaltigſte wechſelt, und von allen Bergen große und kleine Waſſerfaͤlle klingend und wie muſizirend nieder - tanzen; immer enger ruͤcken die Felſen zuſam - men, je mehr du dich dem Orte naͤherſt, und endlich ziehn ſich Weinlauben uͤber dir hinweg von Berg zu Berg, und verdecken von Zeit zu4Einleitung.Zeit den Anblick des Himmels. Es wurde Abend, eh ich die Herberge erreichte, beim Sternenglanz, den mir die gruͤnen Lauben oft verhuͤllten, rauſch - ten naͤher und vertraulicher die Waſſerfaͤlle, die ſich in mannigfachen Kruͤmmungen Wege durch das friſche Thal ſuchten; die Lichter des Ortes waren bald nahe, bald fern, bald wieder ver - ſchwunden, und das Echo, das unſere Reden und den Hufſchlag der Pferde wiederholte, das Fluͤſtern der Lauben, das Rauſchen der Baͤume, das Brauſen und Toͤnen der Waſſer, die wie in Freundſchaft und Zorn abwechſelnd naͤher und ferner ſchwazten und zankten, vom Bellen wach - ſamer Hunde aus verſchiedenen Richtungen un - terbrochen, machten dieſen Abend, indem noch die gruͤnenden Borromaͤiſchen Inſeln in meiner Phantaſie ſchwammen, zu einem der wundervoll - ſten meines Lebens, deſſen Muſik ſich oft wa - chend und traͤumend in mir wiederholt. Und wie ich ſagte dieſes romantiſche Gebirge hier erinnert mich lebhaft an den Genuß jener ſchoͤ - nen Tage.

Warum, ſagte ſein Freund Theodor, haſt du nie etwas von deinen Reiſen deinen nahen und fernen Freunden oͤffentlich mittheilen wollen?

Nenn 'es, antwortete jener, Traͤgheit, Zag - haftigkeit, oder wie du willſt: vielleicht auch ruͤhrt es von einem einſeitigen, zu weit getriebenen Ab - ſcheu gegen die meiſten Reiſebeſchreibungen aͤhn - licher Art her, die mir bekannt geworden ſind. 5Einleitung.Wenigſtens ſchwebt mir ein ganz andres Bild einer ſolchen Beſchreibung vor; den aͤltern, un - aͤſthetiſchen laſſe ich ihren Werth: doch jene, in denen Natur und Kunſt und Voͤlker aller Art, nebſt Sitten und Trachten und Staatsverfaſ - ſungen der witzig-philoſophiſchen Eitelkeit des Schriftſtellers, wie Affen zum Tanze, aufgefuͤhrt werden, der ſich in jedem Augenblick nicht ge - nug daruͤber verwundern kann, daß er es iſt, der alle die Gaukeleien mit ſo ſtolzer Demuth beſchreibt, und der ſo weltbuͤrgerlich ſich mit allen dieſen Thorheiten einlaͤßt; o, ſie ſind mir von je ſo widerlich geweſen, daß die Furcht, in ihre Reihe geſtellt, oder gar unvermerkt bei aͤhn - licher Beſchaͤftigung ihnen verwandt zu werden, mich von jedem Verſuche einer oͤffentlichen Mit - theilung abgeſchreckt hat.

Doch giebt es vielleicht, ſagte Theodor, eine ſo ſchlichte und unſchuldige Manier, eine ſo einfache Anſicht der Dinge, daß ich mir wohl nach Art eines Gedichtes die Beſchreibung eines Landes, oder einer Reiſe, denken kann.

Gewiß, ſagte Ernſt, manche der aͤltern Rei - ſen, naͤhern ſich auch dieſem Bilde, und es ver - haͤlt ſich ohne Zweifel damit eben ſo, wie mit der Kunſt zu reiſen ſelbſt. Wie wenigen Menſchen iſt das Talent verliehn, Reiſende zu ſein! Sie verlaſſen niemals ihre Heimath, ſie werden von allem Fremdartigen gedruͤckt und verlegen, oder bemerken es durchaus gar nicht. Wie gluͤcklich,6Einleitung.wem es vergoͤnnt iſt, in erſter Jugend, wenn Herz und Sinn noch unbefangen ſind, eine große Reiſe durch ſchoͤne Laͤnder zu machen, dann tritt ihm alles ſo natuͤrlich und wahr, ſo vertraut wie Geſchwiſter, entgegen, er bemerkt und lernt, ohne es zu wiſſen, ſeine ſtille Begeiſterung um - faͤngt alles mit Liebe, und durchdringt mit freund - lichem Ernſt alle Weſen: einem ſolchen Sinn er - haͤlt die Heimath nachher den Reitz des Frem - den, er verſteht nun einheimiſch zu ſein, das Ferne und Nahe wird ihm eins, und in der Vergleichung mannigfaltiger Gegenſtaͤnde wird ihm ein Sinn fuͤr Richtigkeit. So war es wohl gemeint, wenn man ſonſt junge Edelleute nach Vollendung ihrer Studien reiſen ließ. Der Menſch verſteht wahrhaft erſt das Nahe und Einheimiſche, wenn ihm das Fremde nicht mehr fremd iſt.

An dieſe Reiſenden ſchließe ich mich noch am erſten, ſagte Theodor, wenn du mir auch unaufhoͤrlich vorwirfſt, daß ich meine Reiſen, wie das Leben ſelbſt, zu leichtſinnig nehme. Frei - lich iſt wohl in meiner Sucht nach der Fremde zu viel Widerwille gegen die gewohnte Umgebung, und ſehr oft iſt es mir mehr um den Wechſel der Gegenſtaͤnde, als um irgend eine Belehrung zu thun.

Die zweite und vielleicht noch ſchoͤnere Art zu reiſen, fuhr Ernſt fort, iſt jene, wenn die Reiſe ſelbſt ſich in eine andaͤchtige Wallfahrt7Einleitung.verwandelt, wenn die jugendliche Neugier und die ſcharfe Luſt an fremden Gegenſtaͤnden ſchon gebrochen ſind, wenn ein reifes Gemuͤth mit Kenntniß und Liebe gleich ſehr erfuͤllt, an die Ruinen und Grabmaͤler der Vorzeit tritt, die Natur und Kunſt wie die Erfuͤllung eines oft getraͤumten Traums begruͤßt, auf jedem Schritte alte Freunde findet, und Vorwelt und Gegen - wart in ein großes, ruͤhrend erhabenes Gemaͤlde zerfließen.

Dieſe elegiſchen Stimmungen wuͤrden mich nur aͤngſtigen, unterbrach ihn Theodor. Ihr andern, ihr ernſthaften Leute, verbindet ſo wi - derwaͤrtige Begriffe mit dem Zerſtreutſein, da es doch in einfachen Menſchen oft nur das wahre Beiſammenſein mit der Natur iſt, wie mit einem frohen Spielkameraden; eure Sammlung, euer tiefes Eindringen ſehr haͤufig eine unermeßliche Ferne. Auf welche Weiſe aber, mein Freund, wuͤrdeſt du deine Anſicht uͤber dergleichen Gegen - ſtaͤnde mittheilen, im Fall du einmal deinen Wi - derwillen kuͤnftig etwas mehr bezwingen ſollteſt.

Schon fruͤh, ſagte Ernſt, bevor ich noch die Welt und mich kennen gelernt hatte, war ich mit meiner Erziehung, ſo wie mit allem Un - terricht, den ich erfuhr, herzlich unzufrieden. War es doch nicht anders, als verſchwiege man ge - fliſſentlich das, was wiſſenswuͤrdig ſei, oder er - waͤhnte es zuweilen nur, um mit hochmuͤthigem Verhoͤhnen das zu erniedrigen, was ſelbſt in die -8Einleitung.ſer Entſtellung mein junges Herz bewegte. Da - fuͤr aber ſuchte ich nachher auch, gleichſam wie zum Trotz der Zeit in dieſer falſchen Bildung, alles als ein Befreundetes und Verwandtes auf, was mir meine Buͤcher und Lehrer nur zu oft als das Abgeſchmackte, Dunkle und Widerwaͤr - tige bezeichnet hatten; ich berauſchte mich auf meinem erſten Ausfluge in allen Erinnerungen des Alterthums, begeiſterte mich an den Denk - malen einer laͤngſt verloſchenen Liebe, ja that wohl manchem Guten und Nuͤtzlichen mit erwie - dertem Verfolgungsgeiſt unrecht, und ſtand bald unter meiner Umgebung ſelbſt wie eine unver - ſtaͤndliche Alterthuͤmlichkeit, indem ich ihr Nicht - begreifen nicht begriff, und verzweifeln wollte, daß allen andern der Sinn und die Liebe ſo gaͤnz - lich fehlten, die mich bis zum Schmerzhaften er - regten und ruͤhrten.

Freilich, fiel Theodor lachend ein, erſchienſt du damals mit deiner Bekehrungsſucht als ein hoͤchſt wunderlicher Kauz, und ich erinnere mich noch mit Freuden des Tages, als wir uns vor vielen Jahren zuerſt in Nuͤrnberg trafen, und wie einer deiner ehemaligen Lehrer, der dich dort wieder aufgeſucht hatte, und fuͤr alles Nuͤtzliche, Neue, Fabrikartige faſt fantaſtiſch begeiſtert war, dich aus den dunkeln Mauern nach Fuͤrth fuͤhrte, wo er in den Spiegelſchleifereien, Knopf - Manufakturen und allen klappernden und rumo - renden Gewerben wahrhaft ſchwelgte, und dein9Einleitung.Nichtachten ebenfalls nicht begriff und dich faſt fuͤr ſchlechten Herzens erklaͤrt haͤtte, da er dich nicht ſtumpfſinnig nennen wollte: endlich, bei den Goldſchlaͤgern, lebteſt du zu ſeiner Freude wieder auf, es geſchah aber nur, weil du hier die Gelegenheit hatteſt, dir die Pergamentblaͤt - ter zeigen zu laſſen, die zur Arbeit gebraucht wer - den; du bedauerteſt zu ſeinem Verdruß ſogar die zerſchnittenen Meßbuͤcher, und wuͤhlteſt herum, um vielleicht ein Stuͤck eines altdeutſchen Ge - dichtes zu entdecken, wofuͤr der aufgeklaͤrte Leh - rer kein Blaͤttchen Goldſchaum aufgeopfert haͤtte.

Es iſt gut, ſagte Ernſt, daß die Menſchen verſchieden denken und ſich auf mannigfaltige Weiſe intereſſiren, doch war die ganze Welt da - mals zu einſeitig auf ein Intereſſe hingeſpannt, das ſeitdem auch ſchon mehr und mehr als Irr - thum erkannt iſt. Dieſes Nord-Amerika von Fuͤrth konnte mir freilich wohl neben dem alt - buͤrgerlichen, germaniſchen, kunſtvollen Nuͤrnberg nicht gefallen, und wie ſehnſuͤchtig eilte ich nach der geliebten Stadt zuruͤck, in der der theure Duͤrer gearbeitet hatte, wo die Kirchen, das herrliche Rathhaus, ſo manche Sammlungen, Spuren ſeiner Thaͤtigkeit, und der Johannis - Kirchhof ſeinen Leichnam ſelber bewahrte; wie gern ſchweifte ich durch die krummen Gaſſen, uͤber die Bruͤcken und Plaͤtze, wo kuͤnſtliche Brun - nen, Gebilde aller Art, mich an eine ſchoͤne Pe - riode Deutſchlands erinnerten, ja! damals noch10Einleitung.die Haͤuſer von außen mit Gemaͤhlden von Rie - ſen und alt deutſchen Helden geſchmuͤckt waren.

Doch ſagte Theodor, wird das jetzt alles dort, ſo wie in andern Staͤdten, von Geſchmack - vollen angeſtrichen, um, wie der Dichter ſagt: zu mahlen auf das Weiß, ihr Antlitz oder ihren Steiß. Allein Fuͤrth war auch bei alle dem mit ſeinen geputzten Damen, die gedraͤngt am Jahrmarktsfeſt durch die Gaſſen wandelten, nebſt dem guten Wirthshauſe, und der Ausſicht aus den Straßen in das Gruͤn an jenem war - men ſonnigen Tage nicht ſo durchaus zu verach - ten. Behuͤte uns uͤberhaupt nur der Himmel, (wie es ſchon hie und da angeklungen hat) daß dieſelbe Liebe und Begeiſterung, die ich zwar in dir als etwas Aechtes anerkenne, nicht die Thor - heit einer juͤngeren Zeit werde, die dich dann mit leeren Uebertreibungen weit uͤberfluͤgeln moͤchte.

Wenn nur das wahrhaft Gute und Große mehr erkannt und ins Bewußtſein gebracht wird, ſagte Ernſt, wenn wir nur mehr ſammeln und lernen, und jene Vorurtheile der neuern Hoffarth ganz ablegen, und die Vorzeit und alſo das Vaterland wahrhafter und inniger lieben, ſo kann der Nachtheil einer ſich bald erſchoͤpfenden Thor - heit ſo groß nicht werden. In jenen jugend - lichen Tagen, als ich zuerſt deine Freundſchaft gewann, gerieth ich oft in die wunderlichſte Stim - mung, wenn ich die Beſchreibungen unſers Va - terlandes, die gekannt und geruͤhmt waren, und11Einleitung.welche auf allgemein angenommenen Grundſaͤtzen ruhten, mit dem Deutſchland verglich, wie ich es mit meinen Augen und Empfindungen ſah; je mehr ich uͤberlegte, nachſann und zu lernen ſuchte, je mehr wurde ich uͤberzeugt, es ſei von zwei ganz verſchiedenen Laͤndern die Frage, ja unſer Vaterland ſei uͤberall ſo unbekannt, wie ein tief in Aſien oder Afrika zu entdeckendes Reich, von welchem unſichre Sagen umgingen, und das die Neugier unſrer wißbegierigen Lands - leute eben ſo, wie jene mythiſchen Gegenden reizen muͤſſe; und ſo nahm ich mir damals, in jener Fruͤhlingsſtimmung meiner Seele, vor, der Entdecker dieſer unbekannten Zonen zu werden. Auf dieſe Weiſe bildete ſich in jenen Stunden in mir das Ideal einer Reiſebeſchreibung durch Deutſchland, das mich auch ſeitdem noch oft uͤberſchlichen und mich gereizt hat, einige Blaͤt - ter wirklich nieder zu ſchreiben. Doch jetzt koͤnnt 'ich leider Elegien dichten, daß es nun auch zu jenen Elegien zu ſpaͤt iſt.

Einige Toͤne dieſer Elegie, ſagte Theodor, klingen doch wohl in den Worten des Kloſter - bruders.

Am fruͤhſten, ſagte Ernſt, in den wenigen Zeilen unſers Dichters uͤber den Muͤnſter in Straßburg, die ich niemals ohne Bewegung habe leſen koͤnnen, dann in den Blaͤttern von deut - ſcher Art und Kunſt; in neueren Tagen hat unſer Freund, Friedrich Schlegel, mit Liebe an das12Einleitung.deutſche Alterthum erinnert, und mit tiefem Sinn und Kenntniß manchen Irrthum entfernt, auch hat ſich die Stimmung unſrer Zeit auffallend zum Beſſern veraͤndert, wir achten die deutſche Vorzeit und ihre Denkmaͤler, wir ſchaͤmen uns nicht mehr, wie ehemals, Deutſche zu ſein, und glauben nicht unbedingt mehr an die Vorzuͤge fremder Nationen, das oͤkonomiſche Treiben, die Verehrung kleinlicher Liſt, die Vergoͤtterung der neuſten Zeit iſt faſt erſtorben, eine hoͤhere Sehn - ſucht hat unſern Blick in die Vergangenheit ge - ſchaͤrft, und Ungluͤck fuͤr vergangene große Jahr - hunderte den edlern Sinn in uns aufgeſchloſſen. In jenen fruͤheren Tagen aber hatten wir noch mehr Ueberreſte der alten Zeit ſelbſt vor uns, man fand noch Kloͤſter, geiſtliche Fuͤrſtenthuͤmer, freie Reichsſtaͤdte, viele alte Gebaͤude waren noch nicht abgetragen oder zerſtoͤrt, altdeutſche Kunſt - werke noch nicht verſchleppt, manche Sitte noch aus dem Mittelalter heruͤber gebracht, die Volks - feſte hatten noch mehr Charakter und Froͤhlich - keit, und man brauchte nur wenige Meilen zu reiſen, um andre Gewohnheiten, Gebaͤude und Verfaſſungen anzutreffen. Alle dieſe Mannigfal - tigkeit zu ſehn, zu fuͤhlen und in ein Gemaͤhlde darzuſtellen war damals mein Vorſatz, was unſre Nation an eigenthuͤmlicher Mahlerei, Sculptur und Architektur beſitzt, welche Sitten und Ver - faſſungen jeder Provinz und Stadt eigen, und wie ſie entſtanden, zu erforſchen, um den Miß -13Einleitung.verſtaͤndniſſen der neuern kleinlichen Geſchicht - ſchreiber zu begegnen; welche Natur jeden Men - ſchenſtamm umgiebt, ihn bildet und von ihm ge - bildet wird: alles dieſes ſollte wie in einem Kunſtwerke geloͤſt und ausgefuͤhrt werden. Den edlen Stamm der Oeſterreicher wollte ich gegen den Unglimpf jener Tage vertheidigen, die in ihrem fruchtbaren Lande und hinter reizenden Bergen den alten Frohſinn bewahren; die krie - geriſchen und fromm glaͤubigen Bayern loben, die freundlichen, ſinnvollen, erfindungsreichen Schwaben im Garten ihres Landes ſchildern, von denen ſchon ein alter Dichter ſingt:

Ich hab der Schwaben Wuͤrdigkeit
In fremden Landen wohl erfahren;

die beruhrigen, muntern Franken, in ihrer roman - tiſchen, vielfach wechſelnden Umgebung, denen damals ihr Bamberg ein deutſches Rom war; die geiſtvollen Voͤlker den herrlichen Rhein hin - unter, die biederben Heſſen, die ſchoͤnen Thuͤrin - ger, deren Waldgebirge noch die Geſtalt und den Blick der alten Ritter aufbewahren; die Niederdeutſchen, die dem treuherzigen Hollaͤnder und ſtarken Englaͤnder aͤhnlich ſind: bei jeder merkwuͤrdigen Stelle unſrer vaterlaͤndiſchen Erde wollte ich an die alte Geſchichte erinnern, und ſo dachte ich die lieben Thaͤler und Gebirge zu durchwandeln, unſer edles Land, einſt ſo bluͤhend und groß, vom Rhein und der Donau und alten Sagen durchrauſcht, von hohen Bergen und alten14Einleitung.Schloͤſſern und deutſchem tapfern Sinn beſchirmt, gekraͤnzt mit den einzig gruͤnen Wieſen, auf denen ſo liebe Traulichkeit und einfacher Sinn wohnt. Gewiß, wem es gelaͤnge, auf ſolche Weiſe ein geliebtes Vaterland zu ſchildern, aus den unmittelbarſten Gefuͤhlen, der wuͤrde ohne alle Affektation zugleich ein hinreißendes Dich - terwerk erſonnen haben.

Oft, fiel Theodor ein, habe ich mich dar - uͤber wundern muͤſſen, daß wir nicht mit mehr Ehrfurcht die Fußſtapfen unſrer Vorfahren auf - ſuchen, da wir vor allem Griechiſchen und Roͤ - miſchen, ja vor allem Fremden oft mit ſo heili - gen Gefuͤhlen ſtehn und uns durch edle Erinn - rungen entzuͤckt fuͤhlen; ſo wie auch daruͤber, daß unſre Dichter noch ſo wenig gethan haben, dieſen Geiſt zu erwecken.

Manche, ſagte Ernſt, haben es eine Zeit - lang verſucht, aber ſchwach, viele verkehrt, und ein hoher Sinn, der Deutſchland ſo liebte und einheimiſch war, wie der große Shakſpear ſeinem Vaterlande, hat uns bisher noch gefehlt.

Wir vergeſſen aber, rief Theodor, die herr - liche Gegend zu genießen, auf die Voͤgel aus dem Dickicht des Waldes und auf das Gemur - mel dieſer lieblichen Baͤche zu horchen.

Alles toͤnt auch unbewußt in unſre Seele hinein, ſagte Ernſt; auch wollten wir ja noch die ſchoͤne Ruine beſteigen, die dort ſchon vor uns liegt, und auch mit jedem Jahre mehr ver -15Einleitung.faͤllt: hier arbeitet die Zeit, anderswo die Nach - laͤſſigkeit der Menſchen, an vielen Orten der ver - achtende Leichtſinn, der ganze Gebaͤude nieder - reißt, oder ſie verkauft, um alles Denkmal im - mer mehr dem Staube und der Vergeſſenheit zu uͤberliefern; indeß, wenn der Sinn dafuͤr nur um ſo mehr erwacht, um ſo mehr in der Wirk - lichkeit zu Grunde geht, ſo haben wir doch mehr gewonnen als verloren.

Iſt dieſe Gegend nicht, durch welche wir wandeln, fing Theodor an, einem ſchoͤnen roman - tiſchen Gedichte zu vergleichen? Erſt wand ſich der Weg labyrinthiſch auf und ab durch den dich - ten Buchenwald, der nur augenblickliche raͤthſel - hafte Ausſicht in die Landſchaft erlaubte: ſo iſt die erſte Einleitung des Gedichtes; dann gerie - then wir an den blauen Fluß, der uns ploͤtzlich uͤberraſchte und uns den Blick in das unvermu - thete friſch gruͤne Thal goͤnnte: ſo iſt die ploͤtz - liche Gegenwart einer innigen Liebe; dann die hohen Felſengruppen, die ſich edel und majeſtaͤ - tiſch erhuben und hoͤher bis zum Himmel wuch - ſen, je weiter wir gingen: ſo treten in die alten Erzaͤhlungen erhabene Begebenheiten hinein, und lenken unſern Sinn von den Blumen ab; dann hatten wir den großen Blick auf ein weit aus - gebreitetes Thal, mit ſchwebenden Doͤrfern und Thuͤrmen auf ſchoͤn geformten Bergen in der Ferne, wir ſahen Waͤlder, weidende Heerden, Huͤtten der Bergleute, aus denen wir das Ge -16Einleitung.toͤſe heruͤber vernahmen: ſo oͤffnet ſich ein gro - ßes Dichterwerk in die Mannigfaltigkeit der Welt und entfaltet den Reichthum der Charaktere; nun traten wir in den Hain von verſchiedenem duftenden Gehoͤlz, in welchem die Nachtigall ſo lieblich klagte, die Sonne ſich verbarg, ein Bach ſo leiſe ſchluchzend aus den Bergen quoll, und murmelnd jenen blauen Strom ſuchte, den wir ploͤtzlich, um die Felſenecke biegend, in aller Herrlichkeit wieder fanden: ſo ſchmilzt Sehnſucht und Schmerz, und ſucht die ver - wandte Bruſt des troͤſtenden Freundes, um ſich ganz, ganz in deſſen lieblich erquickende Fuͤlle zu ergießen, und ſich in triumphirende Woge zu verwandeln. Wie wird ſich dieſe reizende Land - ſchaft nun ferner noch entwickeln? Schon oft habe ich Luſt gefuͤhlt, einer romantiſchen Muſik ein Gedicht unterzulegen, oder gewuͤnſcht, ein genialiſcher Tonkuͤnſtler moͤchte mir voraus arbei - ten, um nachher den Text ſeiner Muſik zu ſuchen; aber wahrlich, ich fuͤhle jetzt, daß ſich aus ſol - chem Wechſel einer anmuthigen Landſchaft eben - falls ein reizendes erzaͤhlendes Gedicht entwickeln ließe.

Zu wiederholten malen, erwiederte Ernſt, hat mich unſer Freund Manfred mit dergleichen Vorſtellungen unterhalten, und indem du ſprachſt dachte ich an den unvergleichlichen Parceval und ſeine Krone, den Titurell. Jeder Spaziergang, der uns befriedigt, hat in unſrer Seele ein Ge -dicht17Einleitung.dicht abgeloͤſet, und wiederholt und vollendet es, wenn er uns immer wieder mit unſichtbarem Zauber umgiebt.

Sehn wir die Entwickelung der romanti - ſchen Verſchlingung! rief Theodor; Wald und Fluß verſchwinden links, unſer Weg zieht ſich rechts, und viele kleine Waſſerfaͤlle rauſchen aus buſchigen Huͤgeln hervor, und tanzen und jauch - zen wie muntre Nebenperſonen zur Wieſe hinab, um jenem ſchluchzenden Bach zu widerſprechen, und in Freude und Luſt den glaͤnzenden Strom aufzuſuchen, den ſchon die Sonne wieder be - ſcheint, und der ſo laͤchelnd zu ihnen heruͤber winkt.

Sieh doch, rief Ernſt, wenn mein geuͤbtes Auge etwas weniger ſcharf waͤre, ſo koͤnnte ich mich uͤberreden, dort ſtaͤnde unſer Freund An - ton! aber ſeine Stellung iſt matter und ſein Gang ſchwankender.

Nein, rief Theodor, dein Auge iſt nicht ſcharf genug, ſonſt wuͤrdeſt du keinen Augen - blick zweifeln, daß er es nicht ſelbſt in eigner Perſon ſein ſollte! Sieh, wie er ſich jetzt buͤckt, und mit der Hand Waſſer ſchoͤpft, nun ſchuͤttelt er die Tropfen ab und dehnt ſich; ſieh, nur er allein kann nun mit ſolchem leutſeligen Anſtande die Naſe in die Sonne halten, und ſein Auge hat uns auch ſchon gefunden!

Die Freunde, die ſich lange nicht geſehn hatten, und ſich in ſchoͤner Einſamkeit ſo unver -I. [2]18Einleitung.muthet wieder fanden, eilten mit frohem Ausruf auf einander zu, umarmten ſich, thaten tauſend Fragen und erwarteten keine Antwort, druͤckten ſich wieder an die Bruſt und genoſſen im Tau - mel ihrer freudigen Verwunderung immer wieder die Luſt der Ueberraſchung. O der Freude, dich wieder zu haben, rief Theodor aus, du lieber, lieber Freund! Wie faͤllſt du ſo unvermuthet (doch brauchts ja keine Motive) aus dieſen allerlieb - ſten Epiſoden hier in unſre Haupthandlung und Wandlung hinein!

Aber du ſiehſt matt und krank aus, ſagte Ernſt, indem er ihn mit Wehmuth betrachtete.

So iſt es auch, erwiederte Anton, ich habe mich erſt vor einigen Wochen vom Krankenlager erhoben, fuͤhlte heut zum erſtenmal die Schoͤn - heit der Natur wieder, und ließ mir nicht traͤu - men, daß ihr wie aus dem Himmel noch heut in meinen Himmel fallen wuͤrdet. Aber ſeid mir tauſend und tauſendmal willkommen!

Man ging, man ſtand dann wieder ſtill, um ſich zu betrachten, ſich zu befragen, und jeder erkundigte ſich nun nach den Geſchaͤften, nach den Abſichten des andern. Meine Reiſe, ſagte Ernſt, hat keinen andern Entzweck, als mich in der Naͤhe, nur einige Meilen von hier, uͤber einige alte, ſogenannte gothiſche Gebaͤude zu unterrichten, und dann in der Stadt ein alt - deutſches Gedicht aufzuſuchen.

Und ich, ſagte Theodor, bin meiner Gewohn -19Einleitung.heit nach nur ſo mitgenommen worden, weil ich eben weder etwas zu thun, noch zu verſaͤumen hatte.

Ich beſuche unſern Manfred, ſagte Anton, der mich auf ſein ſchoͤnes Landgut, ſieben Mei - len von hier, eingeladen hat, da er von meiner Krankheit und Geneſung Nachricht bekommen.

Wohnt der jetzt in dieſem Gebirge? fragte Ernſt.

Ihr wißt alſo nicht, fuhr Anton fort, daß er ſchon ſeit mehr als zwei Jahren verheirathet iſt und hier wohnt?

Manfred verheirathet? rief Theodor aus; er, der ſo viel gegen alle Ehe deklamirt, ſo uͤber alle geprieſene Haͤuslichkeit geſpottet hat, der es zu ſeiner Aufgabe zu machen ſchien, das Phan - taſtiſche mit dem wirklichen Leben aufs innigſte zu verbinden, der vor nichts ſolchen Abſcheu aͤu - ßerte, als vor jener geſetzten, kaltbluͤtig morali - ſchen Philiſterei? Wie iſt es moͤglich? Ei! der mag ſich denn nun auch ſchoͤn veraͤndert haben! Gewiß hat ihn das Dreherchen der Zeit ſo um - gedreht, daß er nicht wieder zu erkennen iſt.

Vielleicht, ſagte Ernſt, konnte es ihm gera - de am erſten gelingen, die Jugend beizubehal - ten, in welcher er ſich ſcheinbar ſo wild beweg - te, denn ſein Charakter neigte immer zum Ernſt, und eben darum war ſein Widerwille gegen den geheuchelten, laͤppiſchen Ernſt unſerer Tage oft ſo grotesk und bizarr: bei manchen Menſchen20Einleitung.dient eine wunderliche Außenſeite nur zum noth - wendigen Gegengewicht eines gehaltvollen, oft faſt melankoliſchen Innern, und zu dieſen ſcheint mir unſer Freund zu gehoͤren.

Ich habe ihn ſchon im vorigen Jahre geſehn, ſagte Anton, und ihn gar nicht veraͤndert gefun - den, er iſt eher juͤnger geworden; ſeine Haus - haltung mit ſeiner Frau und ihrer juͤngern Schweſter Clara, mit ſeiner eignen Schweſter und Schwiegermutter iſt die liebenswuͤrdigſte, die ich noch geſehn habe, ſo wie ſein Landgut die ſchoͤnſte Lage im ganzen Gebirge hat: ihr thaͤtet klug, mich dahin zu begleiten, was ſich auch ſehr gut mit deinen gelehrten antiquariſchen Unterſuchungen vereinigen laͤßt.

Er muß! rief Theodor, oder ich laß ihn im Stich der gothiſchen, oder, wie er will, alt - deutſchen Spitzgewoͤlbe.

Daruͤber laͤßt ſich noch ſprechen, ſagte Ernſt halb zweifelnd; da ihm aber Anton noch erzaͤhlte, daß ſie im naͤchſten Staͤdtchen die beiden laͤngſt geſuchten Freunde Lothar und Friedrich finden wuͤrden, die ihn erwarteten, um mit ihm zum gemeinſchaftlichen Freunde Manfred zu reiſen, und ſich einige Wochen bei dieſem aufzuhalten, ſo ließ ſich Ernſt bewegen, ſeine Antiquitaͤten, auch noch ſo lange beiſeit zu thun, um nach vielen Jahren einmal wieder im Kreiſe ſeiner Geliebten eine neue Jugend zu leben, und die alten theuern Erinnerungen ſeinem Herzen zu erwecken.

21Einleitung.

Die Freunde wanderten weiter, und nach geraumer Zeit fragte Theodor: wie haſt du nur ſo lange krank ſein koͤnnen?

Verwundre dich doch lieber, antwortete der Kranke, wie ich ſo bald habe geneſen koͤnnen, denn noch iſt es mir ſelber unbegreiflich, daß meine Kraͤfte ſich ſo ſchnell wieder hergeſtellt haben.

Wie wird ſich der gute Friedrich freuen, ſagte Theodor, dich einmal wieder zu ſehn; denn immer warſt du ihm unter ſeinen Freunden der liebſte.

Sagt vielmehr, antwortete der Geneſene, daß wir uns in manchen Punkten unſers Weſens am innigſten beruͤhrten und am beſten verſtanden; denn, meine Geliebten, man lebt, wenn man das Gluͤck hat, mehre Freunde zu beſitzen, mit jedem Freunde ein eignes, abgeſondertes Leben; es bil - den ſich mannichfache Kreiſe von Zaͤrtlichkeit und Freundſchaft, die wohl die Gefuͤhle der Liebe zu andern in ſich aufnehmen und harmoniſch mit ihnen fortſchwingen, dann aber wieder in die alte eigenthuͤmliche Bahn zuruͤck kehren, daher eben ſo wie mir der Vertrauteſte in vielen Ge - ſinnungen fremd bleibt, ſo hebt eben derſelbe auch vieles Dunkle in meiner eignen Natur bloß durch ſeine Gegenwart hervor, und macht es licht, ſein Geſpraͤch, wenn es dieſe Punkte trifft, erweckt es zum klarſten innigſten Leben, und eben ſo wirkt meine Gegenwart auf ihn zu - ruͤck. Vielleicht war manches in Friedrich und22Einleitung.mir, was ihr uͤbrigen mißverſtandet, was ſich in uns ergaͤnzte und durch unſre Freundſchaft zum Bewußtſein gedieh, ſo daß wir uns man - cher Dinge wohl ſogar erfreuten, die andre uns lieber haͤtten abgewoͤhnen moͤgen.

Was du da ſagſt iſt ſehr wahr, fuͤgte Ernſt hinzu, der Menſch, der uͤberhaupt das Leben und ſich verſteht wird mit jedem ſeiner Freunde ein eignes Vertrauen, eine andre Zaͤrtlichkeit fuͤh - len und uͤben wollen. O das iſt ja eben das Himmliſche der Freundſchaft, ſich im geliebten Gegenſtande ganz zu verlieren, neben dem Ver - wandten ſo viel Fremdartiges, Geheimnißvolles ahnden, mit herzlichem Glauben und edler Zu - verſicht auch das Nichtverſtandne achten, durch dieſe Liebe Seele zu gewinnen und Seele dem Geliebten zu ſchenken! Wie roh leben diejeni - gen, und verletzen ewig ſich und den Freund, die ſo ganz und unbedingt ſich verſtehn, beurthei - len, abmeſſen, und dadurch nur ſcheinbar ein - ander angehoͤren wollen! das heißt Baͤume faͤl - len, Huͤgel abtragen und Baͤche ableiten, um allenthalben flache Durchſicht, Mittheilung und Verknuͤpfung zu gewinnen, und einen ſchoͤnen romantiſchen Park deshalb verderben. Nicht fruͤh genug kann der Juͤngling, der ſo gluͤcklich iſt, einen Freund zu gewinnen, ſich von dieſer ſelbſti - ſchen Forderung unſrer roheren Natur, von die - ſem Mißverſtaͤndniß der jugendlichen Liebe ent - woͤhnen.

23Einleitung.

Was du da beruͤhrſt, ſagte Anton, beruͤhrt zugleich die Wahrheit, daß es nicht nur erlaubt, ſondern faſt nothwendig ſei, daß Freunde vor einander Geheimniſſe haben, ja es erklaͤrt gewiſ - ſermaßen die ſeltſame Erſcheinung, daß man dem einen Freunde wohl etwas anvertrauen mag, was man gern dem verſchweigt, mit dem man vielleicht in noch vertrautern Verhaͤltniſſen lebt. Es iſt eine Kunſt in der Freundſchaft wie in allen Dingen, und vielleicht daher, daß man ſie nicht als Kunſt erkennt und treibt, entſpringt der Mangel an Freundſchaft, uͤber welchen alle Welt jetzt klagt.

Hier kommen wir ja recht, rief Theodor leb - haft aus, in das Gebiet, in welchem unſer Friedrich ſo gerne wandelt! Ihn muß man uͤber dieſe Gegenſtaͤnde reden hoͤren, denn er verlangt und ſieht allenthalben Geheimniß, das er nicht geſtoͤrt wiſſen will, denn es iſt ihm das Element der Freundſchaft und Liebe. Verarge doch dem Freunde nicht, ſprach er einmal, wenn du ahn - deſt, daß er dir etwas verbirgt, denn dies iſt ja nur der Beweis einer zaͤrteren Liebe, einer Scheu, die ſich aͤngſtlich um dich bewirbt, und ſittſam an dich ſchmiegt; o ihr Liebenden, ver - geßt doch niemals, wie viel ihr wagt, wenn ihr ein Gefuͤhl dem Worte anvertrauen wollt! was laͤßt ſich denn uͤberall in Worten ſagen? Iſt doch fuͤr vieles ſchon der Blick zu ungeiſtig und koͤrperlich! O Bruͤder, Engelherzen, wie24Einleitung.viel thoͤrichtes Zeug wollen wir mit einander ſchwatzen!

Thoͤricht? ſagte Anton etwas empfindlich; ja freilich, wie alles thoͤricht iſt, was das Ma - terielle zu verlaſſen ſtrebt, und wie die Liebe ſelbſt in dieſer Hinſicht Krankheit zu nennen iſt, wie Novalis ſo ſchoͤn ſagt. Haſt du noch nie ein Wort bereut, daß du ſelbſt in der vertrauteſten Stunde dem vertrauteſten Freunde ſagteſt? Nicht, weil du ihn fuͤr einen Verraͤther halten konnteſt, ſondern weil ein Gemuͤthsgeheimniß nun in einem Elemente ſchwebte, das ſo leicht ſeine rohe Natur dagegen wenden kann: ja du trauerſt wohl ſelbſt uͤber manches, das der Freund in dein Herz nie - der legen will, und das Wort klingt ſpaͤterhin mißmuͤthig und disharmoniſch in deiner inner - ſten Seele wieder. Oder verſtehſt du dies ſo gar nicht und haſt es nie erlebt?

Nicht boͤſe, du lieber Kranker, ſagte Theo - dor, indem er ihn umarmte; du kennſt ja meine Art. Schatz, warſt du denn nicht eben einver - ſtanden daruͤber, daß es unter Freunden Miß - verſtaͤndniſſe geben muͤſſe? dieſe meine Dumm - heit iſt auch ein Geheimniß, glaubt es nur, das ihr auf eine etwas zartere Art ſolltet zu ahnden oder zu entwirren ſtreben.

Alle lachten, worauf Anton ſagte: das Lachen wird mir noch beſchwerlich und greift mich an, ich werde muͤde und matt in unſre Herberge ankom - men. Er ſchoͤpfte hierauf wieder aus einem25Einleitung.voruͤberrollenden Bache etwas Waſſer, um ſich zu erquicken, und wies den Wein ab, den ihm Ernſt anbot, indem er ſagte: ihr koͤnnt es nicht wiſſen, wie erquickend, wie paradieſiſch dem Gene - ſenden die kuͤhle Woge iſt, ſchon indem ſie mein Auge ſieht und mein Ohr murmeln hoͤrt, bin ich entzuͤckt, ja Gedanken von friſchen Waͤldern und Waſſern, von kuͤhlenden Schatten ſaͤuſeln immer - fort anmuthig durch mein ermattendes Gemuͤth und faͤcheln ſehnſuchtvoll die Hitze, die immer noch dort brennt. Viel zu koͤrperlich und ſchwer iſt dieſer ſuͤße, ſonſt ſo labende Wein, zu heiß und duͤrr, und wuͤrde mir alle Traͤume meines Innern in ihrem lieblichen Schlummer ſtoͤren.

Jeder nach ſeinem Geſchmack, ſagte Theo - dor, indem er einen herzhaften Trunk aus der Flaſche that; es lebe die Verſchiedenheit der Geſin - nungen! Womit aber haſt du dich in deiner Krankheit beſchaͤftigen koͤnnen?

Der Arzt verlangte, ſagte Anton, ich ſollte mich durchaus auf keine Weiſe beſchaͤftigen, wie denn die Aerzte uͤberhaupt Wunder von den Kran - ken fodern; ich weiß nicht, welche Vorſtellungen der meinige von den Buͤchern haben mußte, denn er war hauptſaͤchlich gegen das Leſen eingenom - men, er hielt es in meinem Zuſtande fuͤr eine Art von Gift, und doch bin ich uͤberzeugt, daß ich dem Leſen zum Theil meine Geneſung zu dan - ken habe.

Unmoͤglich, ſagte Ernſt, kann im Zuſtand26Einleitung.des Fiebers, des Ueberreizes und der Abſpan - nung dieſe Anſtrengung eine heilſame ſein, und ich fuͤrchte, dein Arzt hat nur zu ſehr Recht gehabt.

Was Recht! rief Anton aus; er hatte einen ganz falſchen Begriff von der deutſchen Litera - tur, ſo wie von meiner Kunſt des Leſens, denn ich huͤtete mich wohl von ſelbſt vor allem Vor - trefflichen, Hinreißenden, Pathetiſchen und Spe - kulativen, was mir in der That haͤtte uͤbel bekom - men koͤnnen; ſondern ich wandte mich in jene anmuthige Gegend, die von den Kunſtverſtaͤndi - gen meiſtentheils zu ſehr verachtet und vernach - laͤſſigt wird, in jenen Wald voll aͤcht einheimi - ſcher und patriotiſcher Gewaͤchſe, die mein Ge - muͤth gelinde dehnten, gelinde mein Herz beweg - ten, ſtill mein Blut erwaͤrmten, und mitten im Genuß ſanfte Ironie und gelinde Langeweile zulie - ßen. Ich verſichre euch, einen Tempel der Dank - barkeit moͤcht 'ich ihnen geneſend widmen; und wie viele auch vortrefflich ſein moͤgen, ſo waren es doch hauptſaͤchlich drei Autoren, die ich ſtudirt und ihre Wirkungen beobachtet habe.

Ich bin begierig, ſagte Ernſt.

Als ich am ſchwaͤchſten und gefaͤhrlichſten war, fuhr Anton fort, begann ich ſehr weislich, gegen des Arztes ausdruͤckliches Verbot, mit un - ſerm deutſchen La Fontaine. Denn ohne alles Leſen aͤngſtigten mich meine Gedanken, die Trauer uͤber meine Krankheit, tauſend Plane und Vor -27Einleitung.ſtellungen ſo ab, daß ich in jener anbefohlnen Muße haͤtte zu Grunde gehen muͤſſen. Kann man nun laͤugnen, daß dieſer Autor nicht manches wahr und gut auffaßt, daß er manche Zuſtaͤnde, wie Charaktere, treffend ſchildert, und daß die meiſten ſeiner Buͤcher ſich durch eine gewiſſe Rein - lichkeit der Schreibart empfehlen? Ohne alle Iro - nie ſei es geſagt, viele ſeiner kleinen Erzaͤhlun - gen haben mich wahrhaft ergoͤtzt und befriedigt. Seine groͤßeren Werke, denen die meiſten dieſer guten Eigenſchaften abgehn, erſetzen dieſen Man - gel durch die unerſchoͤpfliche Liebe, die ſchon in Kinderſeelen heroiſch arbeitet, durch einige Ver - fuͤhrer im großen Styl und anſehnliche Graͤuel, oder gar durch Kunſturtheile, die mich vorzuͤglich inniglich erfreuten, und die er leider ſeinen Buͤ - chern nur zu ſelten einſtreut. Wie war ich hin - geriſſen, als ich in einem ſeiner Romane an die ausgefuͤhrte Meinung gerieth, mit welcher er den Hogarth uͤber Rafael ſetzt. Ja, meine Freunde, es giebt gewiſſe Vorſtellungen, die unmittelbar uns Elaſticitaͤt des Koͤrpers und der Seele zu - fuͤhren, und ſo ſchelte mir keiner die großartige Albernheit, denn ich war nach dieſem Kapitel unverzuͤglich beſſer, und durfte doch noch keine China gebrauchen.

So, ſagte Theodor, wurde der ganz geſunde Spartaner durch Tyrtaͤus Hymnenklang zum Krie - gestanze befluͤgelt. Was folgte nun auf dieſe Periode?

28Einleitung.

Dieſe ſuͤßen Traͤume der Kindheit und Sehn - ſucht, fuhr Anton fort, lagen ſchon hinter mir, meine muͤndig werdende Phantaſie forderte ge - haltvolleres Weſen. Treflich kamen meinem Be - duͤrfniß alle die wundervollen, bizarren und tol - len Romane unſers Spieß entgegen, von denen ich ſelbſt die wieder las, die ich ſchon in fruͤ - heren Zeiten kannte. Die Tage vergingen mir un - glaublich ſchnell, und am Abend hatte ich freund - liche Beſuche, in deren Geſpraͤchen die Toͤne jener graͤßlichen, geſpenſtigen Begebenheiten wieder ver - hallten. So ward mein Leben zum Traum, und die angenehme Wiederkehr derſelben Gegenſtaͤnde und Gedanken fiel mir nicht beſchwerlich, auch war ich nun ſchon ſo ſtark, daß ich einer guten Schreibart entbehren konnte, und die herzliche Abgeſchmacktheit der Luftregenten, Petermaͤnn - chen, Kettentraͤger, Loͤwenritter, gab mir durch die vielfache und mannichfaltige Erfindung einen ſtaͤrkern Ton; meine Ironie konnte ſich nun ſchon mit der Compoſition beſchaͤftigen, und der Arzt fand die ſtaͤrkenden Mittel ſo wie eine Nachlaſ - ſung der zu ſtrengen Diaͤt erlaubt und nicht mehr gefaͤhrlich.

Wieder eine Lebens-Periode beendigt, ſagte Theodor.

Nun war aber guter Rath theuer, ſprach Anton weiter. Ich hatte die Schwaͤrmereien des Juͤnglings uͤberſtanden, Geſchichte und wirkliche Welt lockten mich an, zuſammt der nicht zu ver -29Einleitung.achtenden Lebens-Philoſophie. Mein Fieber hatte zwar nachgelaſſen, konnte aber immer wieder ge - faͤhrlich werden, ich litt unausſprechlichen Durſt, und durfte nicht trinken, was mein Schmachten begehrte, immer nur wenig und nichts Kuͤhles, und ich traͤumte nur von kalten Orangen, von Citronen, ja Eſſig, machte Salat in meiner Phan - taſie zu ungeheuern Portionen und verzehrte ſie, trank aus Flaſchen im Felſenkeller ſelbſt den kuͤhl - ſten Nierenſteiner, und badete mich dann in Mor - genluft in den Wogen des gruͤn rauſchenden Rheins. In dieſer ſchwelgenden Stimmung begegnete mir nun der vortrefliche Cramer mit ſeinen Ritter - und andern Romanen, und wie ſoll ich wohl einem kalten, gefunden, vernuͤnf - tigen Menſchen, der trinken darf, wann und wie viel er will, die Wonne ſchildern, die mich auf meinem einſamen Lager dieſe vortreflichſten Werke genießen ließen? Ich kann nun ſagen: werdet krank, lieben Freunde und leſet, und ihr unterſchreibt alles, was neben euch gehender Re - zenſent ſo eben behauptet.

Maͤßige dich nur, ſagte Theodor, ſonſt biſt du gezwungen, wieder Waſſer zu ſchoͤpfen, um dir den Kopf naß zu machen, und auf dieſem anmuthigen Huͤgel haben wir keine Quelle in der Naͤhe.

Ja, rief Anton aus, Dank dieſem biederſten Deutſchen fuͤr ſeine Kaͤmpen, fuͤr ſeinen Has - par a Spada und den Raugrafen zu Daſſel! 30Einleitung.Wie ſaß ich mit ihnen allen zu Tiſche und ſah und half die Kannen Ruͤdesheimer und Nieren - ſteiner leeren; wir verachteten es, in Bechern nur einzuſchenken, nein, aus dem vollen Humpen ſelbſt tranken wir Großherzigen das kuͤhle, herr - liche, duftende Naß, und ich lachte in dieſer Geſellſchaft meinen Arzt rechtſchaffen aus: ent - zuͤckt war ich mit dir, und begleitete dich be - wundernd, du edelſter Bomſen, ich zechte Zug fuͤr Zug mit dir, du Großer, der ſchon des Mor - gens um vier Uhr betrunken zu Roſſe ſteigt, um Thaten eines deutſchen Mannes adlich zu verrich - ten. Wie deine Geſinnungen, du großer Dichter, ſo iſt auch dein Styl gediegen und deutſch, und alle die Pruͤgel und Puͤffe, die den Feinden oder ſchlechten Menſchen zugetheilt werden, oder gar den boshaften Pfaffen, waren mir eben ſo viele Herzſtaͤrkungen und Browniſche Curmittel, und darum trug ich auch kein Bedenken, deine vor - zuͤglichſten Werke nach der Beendigung wieder von vorn zu beginnen, denn hier war ja Erfin - dung, Charakter, Eſſen, Trinken, Lebens-Philo - ſophie, Wirklichkeit und Geſchichte alles meiner draͤngenden Sehnſucht dargebracht, und alles gleich vortrefflich. Mein ſchmachtender Durſt trieb ſich nun nicht mehr in gigantiſchen Bildern zweck - los um, ſondern fand ſeine Bahn vorgezeichnet und große Beiſpiele, denen er ſich anſchloß; nun traͤumte ich nicht mehr als Polyphem unter den ſteinernen Treppen eines Weinberges zu liegen,31Einleitung.und daß ſich vom Himmel herunter eine unge - heure Kelterpreſſe druͤcke, die mit Einem Wurf den ganzen Weinberg ausquetſche, ſo daß in Caskaden der Wein die Marmorſtufen herunter rauſche und wie in ein großes Baſſin ſich unten in meinen durſtenden Schlund ergoͤſſe. Von dieſen Rieſenbildern war ich geheilt, und ſchon durft 'ich mit Vorſicht kuͤhlende Getraͤnke genie - ßen, ſchon widerſtanden mir Fleiſchſpeiſen nicht mehr, und mein Arzt ſchrieb ſich die Namen der vornehmſten Cramerſchen Romane auf, um ſie aͤhnlichen Kranken zu empfehlen; ich wandelte ſchon im Zimmer, ſah bei der erſten Fruͤhlings - waͤrme aus dem Fenſter, durfte wieder phanta - ſiren, und nach einigen Wochen konnt' ich ſchon die Hoffnung faſſen, bald dies Gebirge zu be - treten, in welchem ich euch, ihr Lieben, zur Vol - lendung meiner Geneſung, gefunden. Aber eilt, man laͤutet ſchon die Abendglocke, wir ſind vor dem Staͤdtchen, dort treffen wir die Freunde und vernehmen vielleicht wunderliche Dinge von ihnen.

Im Baumgarten des Gaſthofes ſaßen am andern Morgen die fuͤnf Vereinigten um einen runden Tiſch, ihre Stimmung war heiter wie der ſchoͤne Morgen, nur Friedrich ſchien ernſt und in ſich gekehrt, ſo ſehr auch Lothar jede Gelegenheit ergriff, ihn durch Scherz und Froh - ſinn zu ermuntern.

32Einleitung.

Wahrlich! rief Theodor aus, es giebt kein groͤßeres Gluͤck, als Freunde zu beſitzen, ſie nach Jahren in ſchoͤner Gegend in anmuthiger Fruͤh - lingszeit wieder zu finden, mit ihnen zu ſchwatzen, alle ihre Eigenheiten wieder zu erkennen, ſich der Vergangenheit zu erinnern und mit dem Zu - trauen allen in die Augen zu blicken, wie ich es Gottlob! hier thun kann. Nur der Friedrich iſt nicht, wie ſonſt. Haſt du Gram, mein Lieber?

Laß mich, guter heitrer Freund, ſagte Frie - drich, es ſoll nicht lange waͤhren, ſo wirſt du und ihr alle mehr von mir erfahren. Weißt du doch nicht, ob ich nicht vielleicht am Gluͤcke krank liege.

Wenn das iſt, ſagte Theodor, ſo moͤge Gott nur den Arzt noch recht lange von dir entfernt halten. O waͤrſt du doch lieber gar inkurabel! Aber leider iſt die Heilung dieſer Krankheit nur gar zu gewiß; o die Zeit, die boͤſe, liebe, gute, alte, vergeßliche und doch mit dem unverwuͤſt - lichen Gedaͤchtniß, das wiederkaͤuende große ernſte Thier, die alles erzeugt und alles verwandelt, ſie wird freilich machen, daß wir einer den an - dern und uns ſelbſt nach wenigen Jahren mit ganz veraͤnderten Augen anſehn.

Dadurch koͤnnteſt du ihn noch trauriger machen, fiel Lothar ein; freilich will uns alles uͤberreden, daß das Leben kein romantiſches Luſt - ſpiel ſei, wie etwa Was ihr wollt, oder Wie es euch gefaͤllt, ſondern daß es aus dieſen Regio -nen33Einleitung.nen entrinnt, wir moͤchten es auch noch ſo gerne ſo wollen und wenn es uns auch uͤber die Maßen gefiele; der Himmel verhuͤtet auch, daß es ſel - ten in ein großes Trauerſpiel ausartet, ſondern es verlaͤuft ſich freilich meiſt, wie viele unerquick - liche Werke mit einzelnen ſchoͤnen Stellen, oder gar wie der herrliche Rhein in Sand und Sumpf.

O nein, ſagte Friedrich, glaubt es mir, meine Freunde, das Leben iſt hoͤheren Urſprungs, und es ſteht in unſerer Gewalt es ſeiner edlen Ge - burt wuͤrdig zu erziehn und zu erhalten, daß Staub und Vernichtung in keinem Augenblicke daruͤber triumphiren duͤrfen: ja, es giebt eine ewige Jugend, eine Sehnſucht, die ewig waͤhrt, weil ſie ewig nicht erfuͤllt wird; weder getaͤuſcht noch hintergangen, ſondern nur nicht erfuͤllt, damit ſie nicht ſterbe, denn ſie ſehnt ſich im innerſten Herzen nach ſich ſelbſt, ſie ſpiegelt in unendlich wechſelnden Geſtalten das Bild der nimmer ver - gaͤnglichen Liebe, das Nahe im Fernen, die himm - liſche Ferne im Allernaͤchſten. Iſt es denn moͤg - lich, daß der Menſch, der nur einmal aus die - ſer Quelle des heiligen Wahnſinnes trinken durfte, je wieder zur Nuͤchternheit, zum todten Zweifel erwacht?

Bei alledem, ſagte Theodor, waͤre ein Jung - brunnen, von dem die Alten gedichtet haben, nicht zu verſchmaͤhn; waͤr 'es auch nur der grauen Haare wegen.

Wie koͤnntet ihr, fuhr Friedrich fort, dochI. [3]34Einleitung.die Schoͤnheit nur empfinden, oder gar lieben, wenn ſie unverwuͤſtlich waͤre? Die ſuͤße Elegie in der[Entzuͤcknng], die Wehklage um den Adonis und Balder iſt ja der ſchmachtende Seufzer, die wolluͤſtige Thraͤne in der ganzen Natur! dem Fluͤchtigen nacheilen, es feſthalten wollen, das uns ſelbſt in feſtgeſchloſſenen Armen entrinnt, dies macht die Liebe, den geheimnißvollen Zau - ber, die Krankheit der Sehnſucht, das vergoͤt - ternde Schmachten moͤglich.

Und, fuhr Ernſt fort, wie milde redet uns die Ewigkeit an mit ihrem majeſtaͤtiſchen Ant - litz, wenn wir auch das nur als Schatten und Traum beſitzen, oder uns ihm naͤhern koͤnnen, was das Goͤttlichſte dieſer Erde iſt? das muß ja unſer Herz zum Unendlichen ermuntern und ſtaͤrken, zur Tugend, zum Himmel, zu jener Schoͤne uns fuͤhren, die nie verbluͤht, deren Entzuͤckung ewige Gegenwart iſt.

Muͤßten wir nur nicht vorher aus dem Le - the trinken, ſagte Anton, und zur Freude ſpre - chen: was willſt du? und zum Lachen: du biſt toll!

Theodor ſprang vom Tiſche auf, umarmte jeden und ſchenkte von dem guten Rheinwein in die Roͤmer: ei! rief er aus, daß wir wieder ſo beiſammen ſind! daß wir wieder einmal unſre zuſammen gewickelten Gemuͤther durchklopfen und ausſtaͤuben koͤnnen, damit ſich keine Motten und andres Geſpinſt in die Falten niſten! Wie wohl35Einleitung.thut das dem deutſchen Herzen beim Glaſe deut - ſchen Weins! Ja, unſre Herzen ſind noch friſch, wie ehedem, und daß ſich auch keiner von uns das Tabackrauchen angewoͤhnt hat, thut mir in der Seele wohl.

Immer der Alte! ſagte Lothar, du pflegſt immer die Geſpraͤche da zu ſtoͤren, wo ſie erſt recht zu Geſpraͤchen werden wollen; ich war begie - rig, wohin dieſe ſeltſamen Vorſtellungen wohl fuͤhren, und wie dieſe Gedankenreihe oder dieſer Empfindungsgang endigen moͤchte.

Wie? ſagte Theodor, das kann ich dir aufs Haar ſagen: ſieh, Bruderſeele, ſtehn wir erſt an der Ewigkeit und ſolchen Gedanken oder Wor - ten, die ſich gleichſam ins Unendliche dehnen, ſo koͤmmt es mir vor, wie ein Abloͤſen der Schild - wachen, daß nun bald eine neue Figur auf der - ſelben Stelle auf und ab ſpatzieren ſoll. Ich wette, nach zweien Sekunden haͤtten ſie ſich ange - ſehn, kein Wort weiter zu ſagen gewußt, das Glas genommen, getrunken und ſich den Mund abgewiſcht.

Weiter bringt es kein Menſch, ſtell er ſich auch wie er will. O das iſt das Erquickliche fuͤr unſer einen, daß das Groͤßte wieder ſo an das Kleinſte graͤnzen muß, daß wir denn doch Alle Menſchen, oder gar arme Suͤnder ſind, jeder, nachdem ſein Genius ihn lenkt.

Du ſcheuſt nur, ſagte Anton, die liebliche Stille, das Saͤuſeln des Geiſtes, welches in der36Einleitung.Mitte der innigſten und hoͤchſten Gedanken wohnt und deſſen heilige Stummheit dem unverſtaͤnd - lich iſt, der noch nie an den Ohren iſt beſchnit - ten worden.

Ohren, antwortete Theodor, klingt im Deut - ſchen immer gemein, Gehoͤrwerkzeuge affektirt, Hoͤr - vermoͤgen philoſophiſch, und die Hoͤrer oder die Hoͤrenden iſt nicht gebraͤuchlich, kurzum, man kann ſie ſelten nennen, ohne anſtoͤßig zu ſein. Der Spanier vermeidet auch gern, ſo ſchlecht hin Ohren zu ſagen. Am beſten braucht man wohl Gehoͤr, wo es paßt, oder das Ohr einzeln, wodurch ſie beide gleich edler werden.

Dein Tabakrauchen hat aber das vorige Geſpraͤch erſtickt, ſagte Lothar; freilich iſt es die unkuͤnſtleriſchſte aller Beſchaͤftigungen und der Genuß, der ſich am wenigſten poetiſch erheben laͤßt.

Mir iſt es uͤber die Gebuͤhr zuwider, ſagte Theodor, und darum betrachtete ich euch ſchon alle geſtern Abend darauf, denn es giebt einen eignen Pfeifenzug im Winkel des Mundes und unter dem Auge, der ſich an einem ſtarken Rau - cher unmoͤglich verkennen laͤßt; deshalb war ich ſchon geſtern uͤber eure Phyſtognomien beruhigt. Mir ſcheint die neuſte ſchlimmſte Zeit erſt mit der Verbreitung dieſes Krautes entſtanden zu ſein, und ich kann ſelbſt auf den geprieſenen Compaß boͤſe ſein, der uns nach Amerika fuͤhrte,37Einleitung.um dies Unkraut mit manchen andern Leiden zu uns heruͤber zu holen.

Wie einige Zuͤge im Geſicht durch die Pfeife entſtehn, ſagte Lothar, ſo werden die feinſten des Witzes und gutmuͤthigen Spottes, ſo wie die Grazie die Lippen durchaus, durch die oft angelegte Pfeife vernichtet.

Ich ließe noch die kalte Pfeife gelten, ſagte Ernſt, ſo hielt ſich einer meiner Freunde eine von Thon, um ſie in der gemuͤthlichſten Stim - mung zuweilen in den Mund zu nehmen, und dann recht nach ſeiner Laune zu ſprechen; aber der boͤſe, beizende, uͤbel riechende Rauch macht das Ding fatal. Ich lernte einmal einen Mann kennen, der mir ſehr intereſſant war, und der ſich auch in meiner Geſellſchaft zu gefallen ſchien, wir ſprachen viel mit einander, endlich, um uns recht genießen zu koͤnnen, zog er mich in ſein Zimmer, ließ ſich aber beigehn, zu groͤßerer Ver - traulichkeit ſeine Pfeife anzuzuͤnden, und von dieſem Augenblick konnte ich weder recht hoͤren und begreifen, was er vortrug, noch weniger aber war ich im Stande, eine eigne Meinung zu haben, oder nur etwas anders als Fluͤche auf den Rauch in meinem Herzen zu denken, nicht laute, aber tiefe wie Macbeth ſagt.

Lothar lachte: mit einem troſtloſen Liebha - ber, fuhr er fort, iſt es mir einmal noch ſchlim - mer ergangen, er hatte mich hingeriſſen und ge - ruͤhrt; bei einer kleinen Ruheſtelle der Klage38Einleitung.ſuchte er ſeine Pfeife, Schwamm und Stein, ſchlug mit Virtuoſitaͤt ſchnell Feuer, und ver - ſicherte mich nachher in abgebrochenen rauchen - den Pauſen ſeiner Verzweiflung. Ich muſte lachen, und nur zum Gluͤck daß mich der Rauch in ein ſtarkes Huſten brachte, ſonſt haͤtt 'ich dem guten Menſchen als ein unnatuͤrlicher Barbar erſchei - nen muͤſſen.

Es laͤßt ſich wohl, ſagte Theodor, alles mit Grazie thun, ich kenne wenigſtens einen großen Philoſophen, dem in ſeiner Liebenswuͤr - digkeit auch dies edel ſteht. Mit dem Caffee wird nach der Mahlzeit eine lange Pfeife gebracht, die der Bediente anzuͤndet, es geſchehn ruhig und ohne alle Leidenſchaft einige Zuͤge, und eh man noch die Unbequemlichkeit bemerkt, iſt die Sache ſchon wieder beſchloſſen. Aber ſchrecklich ſind freilich die kurzen, am Munde ſchwebenden Inſtrumente, die jede Bewegung mit machen muͤſſen und ſich jeder Thaͤtigkeit fuͤgen, die den ganzen Tag die Lippen preſſen und ſelbſt die Sprache veraͤndern.

Mir iſt es nicht unwahrſcheinlich, ſagte Anton, daß dieſe Gewohnheit, die ſo uͤberhand genommen, die Menſchen paſſiver, traͤger und unwitziger gemacht hat. Wir ſollen keinen Ge - nuß haben, der uns unaufhoͤrlich begleitet, der etwas Stetiges wird, er iſt nur erlaubt und edel durch das Voruͤbergehende. Darum ver - achten wir den Saͤufer, ob wir alle gleich gern39Einleitung.Wein trinken, und der Raͤſcher iſt laͤcherlich, der ſeine Zunge durch ununterbrochenes Koſten er - muͤdet; vom Raucher denkt man billiger, weil es eben Gewohnheit geworden iſt, die man nicht mehr beurtheilt, doch begreif 'ich es wenigſtens nicht, wie ſelbſt Frauen jetzt an vielen Orten da - gegen tolerant werden.

Koͤnnt ihr euch, ſagte Lothar, einen rauchen - den Apoſtel denken?

Eben ſo wenig, ſagte Ernſt, als den adli - chen Triſtan mit der Pfeife, oder den hochſtre - benden Don Quixote.

Dem Sancho aber, ſagte Lothar, fehlt ſie beinah; haͤtten manche umarbeitende Ueberſetzer mehr Genie gehabt, ſo haͤtten ſie dieſe lieber hinzu fuͤgen, als ſo manche Schoͤnheit weglaſſen duͤrfen.

Vielleicht iſt dieſes Beduͤrfniß, fiel Friedrich ein, ein Surrogat fuͤr ſo manches verlorne Be - duͤrfniß, des oͤffentlichen Lebens der Galanterie der Geſellſchaft, der Freiheit und der Feſte. Vielleicht ſoll ſich zu Zeiten der Menſch mehr betaͤuben, und dann iſt es wohl moͤglich, daß er ſeinen alten verrufenen blauen Dunſt fuͤr ein wirkliches Gut haͤlt. Nicht bloß Taback, auch philoſophiſche Phraſen, Syſteme, und manches andre wird heut zu Tage geraucht, und beſchwert den Nichtrauchenden ebenfalls mit unleidlichem Geruch.

Nicht ſo melankoliſch, ſagte Theodor, laßt40Einleitung.uns dieſe tiefſinnige Betrachtung wenden, denn am Ende koͤmmt doch in keiner Tugend der ganze Menſch ſo rein zum Vorſchein, als in den Thor - heiten. Die Berge rauchen oft und die Thaͤler ſind voll Nebel, viele Gegenden verlieren ihn oft in Monaten nicht, die See dampft, und ſo laßt denn unſerm guten Zeitalter auch ſeinen Dampf. Nur wir wollen unſrer Sitte treu blei - ben. Beſorgt bin ich aber fuͤr Manfred, daß er ſich dieſen Zuſtand als Appendix der Ehe moͤchte angewoͤhnt haben, um ſeine weiſen Lehr - ſpruͤche aus dampfendem Munde, wie Orakel aus rauchenden Hoͤlen, verehrlicher zu machen, und ich geſtehe uͤberhaupt, daß ich mich ihm nur mit einer gewiſſen heimlichen Furcht wieder naͤhern kann.

Du biſt ohne Noth beſorgt, ſagte Lothar. Seit lange kenne ich unſern Freund in ſeinem haͤuslichen Zuſtande, und ich habe nicht bemer - ken koͤnnen, daß er ſeinen jugendlichen Frohſinn und ſeine muthwillige Laune gegen jene altkluge Hausvaͤterlichkeit vertauſcht habe, im Gegentheil, kann er oft ſo ausgelaſſen ſein, daß die Schwie - germutter im Hauſe ſo wenig laͤſtig oder uͤber - fluͤſſig iſt, daß ſie vielmehr zuweilen als kuͤhlende und beſonnene Vernunft zum allgemeinen Beſten hervortreten muß.

Wenn alles uͤbrige, ſagte Theodor, auf den - ſelben Fuß eingerichtet iſt, ſo iſt ſeine Haushal - tung die vollkommenſte in der Welt.

41Einleitung.

Noch mehr, fuhr Lothar fort, dieſe Frau iſt noch anmuthig und reizend, und man glaubt es kaum, daß ſie zwei erwachſene Toͤchter haben koͤnne. Sie hat ſelbſt einige annehmlich ſchei - nende Parthieen ausgeſchlagen, und Maͤnner haben ſich um ſie beworben, die an Jahren weit juͤnger ſind.

Wenn die Mutter ſchon ſo gefaͤhrlich iſt, ſagte Theodor, ſo muß der Umgang mit den Toͤchtern gar herz - und halsbrechend ſein.

Die Gattin unſers Manfred, erzaͤhlte Lothar weiter, iſt ſehr ſtill und ſanft, von zartem Ge - muͤth und ruͤhrend ſchoͤner Geſtalt, er hat noch das Betragen des Liebhabers, und ſie das bloͤde geſchaͤmige Weſen einer Jungfrau; ihre juͤngere Schweſter Clara iſt der Muthwille und die Hei - terkeit ſelbſt, launig, witzig, und faſt immer lachend, im beſtaͤndigem kleinen Kriege mit Man - fred; man ſollte glauben, wenn man ſie beiſam - men ſieht, er haͤtte dieſe lieben muͤſſen, und die aͤltere, ihm ſo ungleiche Schweſter, haͤtte ihn nicht ruͤhren koͤnnen, allein die Liebe fodert viel - leicht eine gewiſſe Verſchiedenheit des Weſens und des Charakters.

Ich komme darauf zuruͤck, ſagte Ernſt, daß wir immer noch nicht wiſſen koͤnnen, wie viel in Manfred angewoͤhnte Manier iſt, und wie viel Natur; ich habe oft bemerkt, daß er ernſt, ja traurig war, wenn die Umgebung ihn fuͤr ausſchweifend luſtig hielt. Er hat es von je42Einleitung.geſcheut, ſeine innerſten Gefuͤhle kund zu thun, und ſo wirft er ſich oft gewaltthaͤtig in eine Laune, die ihn quaͤlen kann, indem ſie andre ergoͤtzt.

Wie wird es aber, fragte Theodor weiter, mit den Kindern gehalten? Wahrſcheinlich hat ſich doch auch zu ihm die neumodiſche und weich - liche Erziehung erſtreckt, jene allerliebſte Confu - ſion, die jeden Gegenwaͤrtigen im ununterbro - chenen Schwindel erhaͤlt, indem die Kinderſtube allenthalben, im Geſellſchaftszimmer, im Garten und in jedem Winkel des Hauſes iſt, und kein Geſpraͤch und keine Ruhe zulaͤßt, ſondern nur ewiges Geſchrei und Erziehen ſich hervor thut, eine unſterbliche Zerſtreutheit im ſcheinbaren Acht - geben; jenes Chaos der meiſten Haushaltungen, das mir ſo erſchrecklich duͤnkt, daß ich die neuen Paͤdagogen, die es veranlaßt haben, und jene Entdecker der Muͤtterlichkeit gern als Verdammte in einen eignen Kreis der Danteſchen Hoͤlle hin - ein gedichtet haͤtte, der nur eine ſolche neuer - fundene allgegenwaͤrtige Kinderſtube mit all ihrem Wirwarr und Schariwari moderner Elternliebe darzuſtellen brauchte, um ſich als ein nicht un - wuͤrdiger Beitrag jener furchtbaren Zirkel anzu - ſchließen.

Auch von dieſer neuen, faſt allgemein ver - breiteten Krankheit, erzaͤhlte Lothar, findeſt du in ſeinem Hauſe nichts: ſeine junge Gattinn iſt eine wahre Mutter, faſt ſo, wie es unſre Muͤt -43Einleitung.ter noch waren; ſie liebt ihre beiden Kinder uͤber alles, und hat eben darum eine Art von Scham, in Geſellſchaft die Mutter zu ſpielen, und die Kinder wie Dekorationen an ſich zu haͤngen; die Wartung und alle Erziehung der Kleinen wird von ihr ſtill im Heiligthum eines entlegenen Zim - mers beſorgt, und weil ſie ordentlich iſt, und weiß, was ſie befiehlt, ſo darf ſie die Kinder zu Zeiten dem gehorſamen Geſinde uͤberlaſſen, und ſie kann ruhig und heiter an der Geſellſchaft Theil nehmen, weil ſie die Stunde beobachtet; kurz, man nimmt an den allerliebſten Creaturen nur ſo viel Theil, als man ſelbſt will, und ich, der ich die Kinder kindlich liebe, bin immer gezwungen, ſie aufzuſuchen.

Vortrefflich! ſagte Ernſt, dies beweiſt am meiſten fuͤr die Schwiegermutter, die die Toͤch - ter ſehr gut und zur Ordnung muß erzogen haben. In deiner Beſchreibung finde ich gerade die ehr - wuͤrdigſten Muͤtter wieder, die ich je gekannt habe. Alles Gute und Rechte ſoll nur ſo geſchehn, daß es ein unachtſames Auge gar nicht gewahr wird. Unſer Vaterland aber iſt das Land der geraͤuſchvollſten Erziehung, und die Nation wird bald nur aus Erziehern beſtehen; fuͤr Muͤtter und Kinder ſind Bibliotheken, und hundert Journale und Almanache geſchrieben, alle ihre Tugenden und Pflichten hat man tauſendfaͤltig in Kupfer geſtochen und zur groͤßern Aufmunterung illumi - nirt, und aus dem Natuͤrlichſten und Einfach -44Einleitung.ſten, was kaum viele Worte zulaͤßt, haben wir mit Kunſt einen Goͤtzen der vollſtaͤndigſten Thor - heit geſchnitzt, und es im ausgefuͤhrten Syſtem ſo weit gebracht, daß wir durch Beobachtung, Philoſophie und Natur uns von allem Menſch - lichen und Natuͤrlichen auf unendliche Weite ent - fernt haben. Nicht genug, daß man die Kin - der faſt von der Geburt mit Eitelkeit verdirbt, man ruinirt auch die wenigen Schulen, die etwa noch im alten Sinn eingerichtet waren; man zwingt die Kinder im ſiebenten Jahr, zu lernen, wie ſie Scheintodte zum Leben erwecken ſollen, man verſchreibt Erzieher aus den Gegenden, in welchen dieſe Produkte am beſten gerathen; ja die Staaten ſelbſt verbieten das Buchſtabiren, und machen es zur Gewiſſensſache, das Leſen anders als auf die neue Weiſe zu erlernen, und faſt alle Menſchen, ſelbſt die beſſern Koͤpfe nicht ausgenommen, drehen ſich im Schwindel nach dieſem Orient, um von hier den Meſſias und das Heil der Welt baldigſt ankommen zu ſehn; aber gewiß, nach zwanzig Jahren verſpotten wir aus einer neuen Thorheit heraus dieſe jetzige. Dies ſind auch nur Schildwachen, die ſich abloͤ - ſen, und ſo viel neue Figuren auch kommen, ſo bleiben ſie doch immer auf derſelben Stelle wan - deln. Jeder Menſch hat etwas, das ſeinen Zorn erregt, und ich geſtehe, ich bin meiſt ſo ſchwach, daß die Paͤdagogik den meinigen in Bewegung ſetzt.

45Einleitung.

So ſcheint es, ſagte Lothar; ein geiſtreicher Mann ſagte einmal: wir ſind ſchlecht erzogen, und es iſt nichts aus uns geworden, wie wird es erſt mit unſern Kindern ausſehn, die wir gut erziehn!

Mir daͤucht, ſagte Theodor, es waͤre nun wohl an der Zeit, auch einmal eine Wochenſchrift der Kinderfeind zu ſchreiben, um die Thor - heiten laͤcherlich zu machen, und der ehemaligen Strenge und Einfalt wieder Raum und Auf - nahme vorzubereiten.

Du faͤndeſt keine Leſer, ſagte Ernſt, unter dieſer Ueberfuͤlle humaner Eltern und gereifter ausgebildter Erzieher.

Friedrich war ſchon vor einiger Zeit vom Tiſch und Geſpraͤch aufgeſtanden, und auf ſei - nen Wink hatte ſich Anton zu ihm geſellt. Sie gingen unter einen Baumgang, von welchem man weit auf die Landſtraße hinaus ſehn konnte, die ſich uͤber einen nahe liegenden Berg hinweg zog. Mich kuͤmmern alle dieſe Dinge nicht, ſagte Friedrich, treib 'es jeder, wie er mag und kann, denn mein Herz iſt ſo ganz und durchaus von einem Gegenſtande erfuͤllt, daß mich weder die Thorheiten noch die ernſthaften Begebenheiten unſerer Zeit ſonderlich anziehn. Er vertraute ſei - nem Freunde, der ſeine Verhaͤltniſſe ſchon kannte, daß es ihm endlich gelungen ſei, alle Bedenk - lichkeiten ſeiner geliebten Adelheid zu uͤberwin - den, und daß ſie ſich entſchloſſen habe, auf ir -46Einleitung.gend eine Weiſe das Haus ihres Oheims, des Geheimeraths, zu verlaſſen: dieſer wolle einen alten Lieblingsplan faſt gewaltthaͤtig durchſetzen, ſie mit ſeinem juͤngeren Bruder, einem reichen Gutsbeſitzer, zu vermaͤhlen, weil er ſich ſo an die Geſellſchaft des ſchoͤnen liebenswuͤrdigen Kin - des gewoͤhnt habe, daß er ſich durchaus nicht von ihr trennen koͤnne, er ſei geſonnen, nach der Heirath zu dieſem Bruder zu ziehn, um in ſei - nem kinderloſen Witwerſtande gemeinſchaftlich mit ihm zu hauſen. Es ſcheint vergeblich, ſo endete Friedrich, dieſem Plan unſre Liebe entgegen zu ſetzen, wenigſtens haͤlt es Adelheid fuͤr unmoͤg - lich, und zwar ſo ſehr, daß der Oheim noch gar nicht einmal von meinem Verhaͤltniſſe zu ihr weiß; ſo erwarte ich nun bei Manfred morgen oder uͤbermorgen einen Boten, der unſer Schickſal auf immer entſcheiden wird. Eine druͤckende Lage wird oft am leichteſten durch eine Gewaltthaͤtig - keit geloͤſt, und ich hoffe, daß Manfred mir durch ſeine Klugheit und ſeinen Muth beiſtehen wird. Ich wuͤrde mich unſerm Ernſt auch gern vertrauen, wenn er nicht gar zu gern tadelte, wo aller Rath zu ſpaͤt koͤmmt.

Doch kann Vorſicht nicht ſchaden, ſagte Anton, und huͤte dich nur, dich von Manfred, der alles Abentheuerliche uͤbertrieben liebt, in einen Plan verwickeln zu laſſen, deſſen Verdrieß - lichkeiten vielleicht dein ganzes Leben verwirren. Denn es iſt gar zu anlockend, auf Unkoſten eines47Einleitung.andern muthig und unternehmend zu ſein, der Menſch genießt alsdann das Vergnuͤgen des Wa - gehalſes zugleich mit der Luſt der Sicherheit.

Mein Freund, ſagte Friedrich, ich habe lange geduldet, gefuͤhlt und gepruͤft, und mich gereut, daß ich nicht ſchon fruͤher gethan habe, was du uͤbereilt nennen wuͤrdeſt. Sind wir ganz von einem Gefuͤhl durchdrungen, ſo handeln wir am ſtaͤrkſten und konſequenteſten, wenn wir ohne Reflexion dieſem folgen. Doch, laß uns jetzt davon abbrechen.

Ich mißverſtehe dich wohl nur, ſagte Anton, weil du mir nicht genug vertraut haſt.

Auch dazu werden ſich die Stunden finden, antwortete Friedrich. In der Entfernung hatte ich mir vorgeſetzt, dir alles zu ſagen, und nun du zugegen biſt, ſtammelt meine Zunge, und jedes Bekenntniß zittert zuruͤck. Ihre Geſtalt und Holdſeligkeit toͤnt wie auf einer Harfe ewig in meinem Herzen und jede ſaͤuſelnde Luft weckt neue Klaͤnge auf; ich liebe dich und meine Freunde inniger als ſonſt, aber ohne Worte fuͤhl 'ich mich in eurer Bruſt, und jetzt wenigſtens ſchiene mir jedes Wort ein Verrath.

Traͤume nur deinen ſchoͤnen Traum zu En - de, ſagte Anton, berauſche dich in deinem Gluͤck, du gehoͤrſt jetzt nicht der Erde; nachher finden wir uns wieder alle beiſammen, denn irgend einmal muß der arme Menſch doch erwachen und nuͤchtern werden.

48Einleitung.

Nein, mein lieber zagender Freund, rief Friedrich ploͤtzlich begeiſtert aus, laß dich nicht von dieſer anſcheinenden Weisheit beſchwatzen, denn ſie iſt die Verzweiflung ſelbſt! Kann die Liebe ſterben, dies Gefuͤhl, das bis in die fern - ſten Tiefen meines Weſens blitzt und die dun - kelſten Kammern und alle Wunderſchaͤtze meines Herzens beleuchtet? Nicht die Schoͤnheit meiner Geliebten iſt es ja allein, die mich begluͤckt, nicht ihre Holdſeligkeit allein, ſondern vorzuͤglich ihre Liebe; und dieſe meine Liebe, die ihr entgegen geht, iſt mein heiligſter, unſterblichſter Wille, ja meine Seele ſelbſt, die ſich in dieſem Gefuͤhl losringt von der verdunkelnden Materie; in die - ſer Liebe ſeh 'ich und fuͤhl' ich Glauben und Unſterblichkeit, ja den Unnennbaren ſelbſt inmit - ten meines Weſens und alle Wunder ſeiner Of - fenbarung. Die Schoͤnheit kann ſchwinden, ſie geht uns nur voran, wo wir ſie wieder treffen, der Glaube bleibt uns. O, mein Bruder, geſtor - ben, wie man ſagt, ſind laͤngſt Iſalde und Sy - gune, ja, du laͤchelſt uͤber mich, denn ſie haben wohl nie gelebt, aber das Menſchengeſchlecht lebt fort, und jeder Fruͤhling und jede Liebe zuͤndet von neuem das himmliſche Feuer, und darum werden die heiligſten Thraͤnen in allen Zeiten dem Schoͤnſten nachgeſandt, das ſich nur ſcheinbar uns entzogen hat, und aus Kin - deraugen, von Jungfraunlippen, aus Blumen und Quellen uns immer wieder mit geheimniß -vollem49Einleitung.vollem Erinnern anblitzt und anlaͤchelt, und darum ſind auch jene Dichtergebilde belebt und unſterb - lich. An dieſer heiligen Staͤtte habe ich mich ſelbſt gefunden, und ich muͤßte mir ſelbſt ver - loren gehn, ich muͤßte vernichtet werden koͤn - nen, wenn dieſe Entzuͤckung in irgend einer Zeit erſterben koͤnnte.

Seinem Freunde traten die Thraͤnen in die Augen, weil ihn die Krankheit weicher gemacht hatte, und er ohnedies ſchon reizbar war; er um - armte den Begeiſterten ſchweigend, als beide die Landſtraße einen offenen Wagen mit vier geſchmuͤck - ten huͤpfenden Pferden herunter kommen ſahn, von einem mit Baͤndern und Federbuͤſchen auf - geputzten Kutſcher gefuͤhrt: in wunderlicher bun - ter Tracht folgte ein Reuter dem Wagen, und die Sprechenden nebſt den andern drei Freun - den gingen vor das Thor des Gaſthofes hin - aus, um das ſonderbare Schauſpiel naͤher in Augenſchein zu nehmen. Iſts moͤglich? rief ploͤtz - lich Theodor aus, er ſelbſt, Manfred iſt es! und eilte den brauſenden Pferden entgegen. Dieſe ſtanden, auf den Ruf ihres Fuͤhrers, er ſprang vom Sitz, indem er die Leinen vorſichtig in der Hand behielt, und umarmte Theodor und die uͤbrigen Freunde nach der Reihe. Er war freu - dig uͤberraſcht, auch Ernſt zu finden, den er ſo wenig wie Theodor hatte erwarten koͤnnen. Ich komme, euch abzuholen; ſo ſteigt nur gleich ein! rief er in zerſtreuter Freude aus.

I. [4]50Einleitung.

Der Reuter war indeß abgeſtiegen und An - ton erkannte ihn zuerſt: Wie? der verſtaͤndige Wilibald laͤßt ſich auch zu ſolchen bunten Mum - mereien gebrauchen? rief er verwundert aus.

Muß man nicht, erwiederte dieſer, mit den Thoͤrichten thoͤricht ſein? Wir wollten euch recht glaͤnzend abholen, und euch zu Ehren ſeh ich faſt ſo wie der Luſtigmacher bei herumziehenden Comoͤdianten aus.

Alle betrachteten und umarmten ihn, lach - ten, und ſtiegen dann ein, um in einer Wald - ſchenke einige Stunden vom Staͤdtchen anzuhal - ten, und dann noch bei guter Zeit die letzten Meilen bis zu Manfreds Wohnung zuruͤck zule - gen. Manfred begab ſich ernſthaft auf ſeinen Sitz, Wilibald auf ſein Pferd, und ſo rollten ſie im Gallopp auf der Felſenſtraße davon, indem ihnen aus jedem Fenſter der Stadt ein verwun - dertes oder lachendes Angeſicht nachblickte.

Iſt es nicht ein reizender Aufenthalt? fragte Wilibald, indem er mit Theodor in den Gaͤngen des anmuthigen Gartens auf und nieder ſchritt.

Manfred iſt ſehr gluͤcklich, antwortete Theo - dor; aber wo iſt unſre Geſellſchaft?

Ernſt und Lothar ſind ausgeritten, erwie - derte jener, um einen alten Thurm und Mauer - werk in der Naͤhe zu betrachten, Friedrich und Manfred haben ſich eingeſchloſſen, und rath - ſchlagen, ſo ſcheint es, uͤber Herzensangelegen -51Einleitung.heit, und Anton, duͤnkt mich, wandelte vor kur - zem noch in empfindſamen Geſpraͤchen mit Ro - ſalien, der jungen Frau, und Manfreds Schwe - ſter, Auguſten. Ich fuͤrchte, das Ende vom Liede iſt, daß wir uns hier alle verlieben.

Und warum nicht? ſagte Theodor. Ich ſehe wenigſtens kein Ungluͤck darin. Im Gegen - theil finde ich es natuͤrlich und ſchicklich, daß in jeder gemiſchten Geſellſchaft, in welcher ſich junge Maͤnner und anmuthige Frauen und rei - zende Maͤdchen befinden, kleine Romane geſpielt werden, dies eben erweckt den Witz und belebt und ſchafft den feinern Geiſt der Unterhaltung; auch kleine Eiferſucht kann nicht ſchaden und artige Verlaͤumdung, ſamt allen Kuͤnſten eines edlen Spiels und jener Laune, die den Wei - bern angeboren ſcheint und wodurch ſie die Maͤn - ner ſo unwiderſtehlich feſſeln. Dadurch koͤnnen verlebte Tage von ſolchem poetiſchen Glanz be - ſtrahlt werden, daß wir das ganze Leben hin - durch mit Freuden an ſie denken, da ſie uns außer - dem ziemlich trivial und langweilig verfloſſen waͤren.

Es kann aber mit Anton bei ſeiner Reiz - barkeit Ernſt werden, wandte Wilibald ſchuͤch - tern ein; nicht jeder hat die Geſchicklichkeit be - hutſam genug mit der Flamme zu ſpielen.

Dafuͤr laß du ihn ſorgen, ſagte Theodor; oder ſollte etwa ſchon die Eiferſucht aus dir ſprechen, mein Theurer? O ja, wahrlich, deine52Einleitung.graͤmliche Mine und dein ſuchender umſchauen - der Blick ſagen mir nichts geringeres. Nun, wer iſt denn deine Schoͤne? Klara? oder die junge anmuthige Gattinn? oder Manfreds Schwe - ſter, Auguſte? oder die liebenswuͤrdige Schwie - germutter, die ihr alle lieber Emilie nennt, und die auch freundlich dieſem Taufnamen entgegen horcht? oder liebſt du ſie gar alle?

Du bleibſt ein Thor, fuhr Wilibald halb lachend auf, und ihr alle ſeid ſo ſeltſame liebe und unausſtehliche Menſchen, daß man eben ſo wenig ohne euch, als mit euch leben kann. In der Ferne ſehn 'ich mich nach euch allen und bin ungemuth, und in der Naͤhe aͤrgre ich mich uͤber alle eure mannigfaltigen Thorheiten.

Nun, fragte Theodor, was haſt du denn Großes an uns auszuſetzen?

Du ſollteſt mich nicht zu ſolchen Klagelie - dern auffordern, antwortete Wilibald: daß ihr alle immer nur ſo ſehr vernuͤnftig und geiſtreich ſeid, wo es nicht hin gehoͤrt, und niemals da, wo ihr Vernunft zeigen muͤßtet! da iſt der Man - fred, der ſich fuͤr einen Heros der Maͤnnlichkeit haͤlt, welcher meint, ſich und ſeine Empfindun - gen ſo ganz in der Gewalt zu haben, und ſich heraus nimmt, jeden zu verachten, den irgend ein Kummer quaͤlt, und der doch ſelbſt ohne alle Veranlaſſung ſo unertraͤglich melankoliſch ſein kann, daß er uͤber die ganze Welt die Schul - tern zuckt, weil ſie eben ſchwach genug iſt, nur53Einleitung.zu exiſtiren; ſo ſitzt er in dieſer Stimmung Ta - gelang im Winkel und findet jeden Scherz geiſt - los und jedes Geſpraͤch albern, ſein Blick und kuͤmmerliches Geſicht ſchlagen aber auch jede Freude und Heiterkeit aus ſeiner Geſellſchaft zu - ruͤck; er iſt zu traͤge, ſpazieren zu gehn, oder irgend etwas zu treiben: aber nun faͤllt ihn die Laune an, nun ſoll jedermann luſtig ſein, nun findet er es unbegreiflich, wenn irgend jemand nicht an ſeinen ſchwaͤrmenden Phantaſieen Theil nimmt, nun iſt jeder ein Philiſter, der nicht zum Zeitvertreib halb mit dem Kopf gegen die Felſen rennt, nun muß man mit ihm durch Garten und Gebirge laufen, fallen und klettern; oder er zwingt alles Muſik zu machen und zu ſingen; oder, was das Schlimmſte iſt, er lieſt vor, und verlangt, jedermann ſoll an irgend einer Schnurre, oder einem alten vergeſſenen Buche denſelben krampfhaften Antheil nehmen, zu welchem er ſich ſpornt. So geſchah es geſtern, als er ploͤtz - lich den Philander von Sitenwald herbei holte, ewig lange las, und ſich verwunderte, daß wir nicht alle mit demſelben Heißhunger daruͤber her - fielen, wie er, der das Buch in Jahren viel - leicht nicht angeſehn hat; und ſo bringt er wohl morgen den Fiſchart, oder Hans Sachs. Wobei er ſich auch nicht einreden laͤßt, ſondern auf ſeine Lebenszeit hat er ſich verwoͤhnt, daß alle Men - ſchen ihm nur eben als Werkzeuge dienen, an welchen ſich ſeine ſchnell wandelnde Laune offen -54Einleitung.bart. Nur ein ſolcher Engel von Frau kann mit ihm fertig werden, und mit ihm gluͤcklich ſein.

Fahre fort, ſagte Theodor; und Friedrich, der ſich mit ihm eingeſchloſſen hat.

O, ihr! ſagte Wilibald, waͤrt ihr nur nicht ſonſt ſo gute Menſchen, ſo ſollte euch ein Verſtaͤndiger wohl ſo abſchildern koͤnnen, daß ihr vielleicht in euch ginget, und ordentlicher und beſſer wuͤrdet. Dieſer Friedrich, der immer in irgend einen Himmel verzuͤckt iſt, und den Tag fuͤr verloren haͤlt, an welchem er nicht eine ſeiner verwirrten Begeiſterungen erlebt hat, wie koͤnnte er ſein Talent und ſeine Kenntniſſe brauchen, um etwas Edles hervor zu bringen, wenn er ſich nicht ſo unbedingt dieſem ſchwel - genden Muͤſſiggange ergaͤbe. Auch erſchrickt er alle Augenblick ſelbſt in ſeinem boͤſen Gewiſſen, wenn er von dieſem oder jenem thaͤtigen Freunde hoͤrt, wenn er ihre Fortſchritte gewahr wird. Will man nun recht von Herzen mit ihm zan - ken, ſo wirft er ſich in ſeine vornehme hyper - poetiſche Stimmung, und beweiſt auch von oben herab, daß ihr andern die Taugenichtſe ſeid, er aber bleibt der Weiſe und Thaͤtige. Man ſoll ſeinem Freunde nichts Boͤſes wuͤnſchen, aber ſo wie er ſich nun, weiß Gott wegen welches raren Geheimniſſes mit dem Manfred eingeſchloſſen hat, ſo waͤre es mir doch vielleicht nicht ganz unlieb, wenn dieſer die Gelegenheit der Einſam -55Einleitung.keit benutzte, um ihm auf proſaiſche Weiſe etwas der uͤberfluͤſſigen Poeſie auszuklopfen.

Sacht! ſacht! rief Theodor, woher dieſe Neroniſche Geſinnung? Ergieb dich der Billig - keit, Freund, oder du ſollſt ſo mit albernen Spaͤßen und Wortſpielen, welche dir verhaßt ſind, gegeißelt werden, daß du den Werth der Humanitaͤt einſehn lernſt. Nun ſchau auf, geht druͤben nicht unſer Anton einſam, ſanft und ſtille, ſein Gemuͤth und die ſchoͤne Natur be - trachtend? Wie unrecht haben wir ihm ſo eben gethan.

Dieſes mal, antwortete Wilibald, und wiſ - ſen wir doch nicht, ob ihn die Weiber nicht ſo eben verlaſſen haben, denen er mit ſeinem ſanf - ten, lieben, zuvorkommenden Naturell ſtets nach - ſchleicht, und die ihm gern entgegen kommen, weil ſie ihm anfuͤhlen, daß er auch das Schwaͤchſte und Verwerflichſte in ihnen ehrt und verthei - digt; denn nicht in ein Individuum, ſondern in das ganze Geſchlecht iſt er verliebt: macht er hier nicht Claren, ihrer Mutter, der jungen Frau und Auguſten emſig den Hof? die uͤbrigen laͤcheln ihn auch ſtets an, nur ſollte er es doch fuͤhlen, daß er der letztern zur Laſt faͤllt und ſie in Ruhe laſſen. Alle andere Menſchen aͤndern ſich doch von Zeit zu Zeit und legen ihre Albernheiten ab, ihn aber kannſt du nach Jahren wieder antref - fen, und er traͤgt dir noch dieſelben Kindereien und Meinungen mit ſeiner ruhigen Salbung ent -56Einleitung.gegen, ja, wenn man ihn erinnert, daß er vor geraumer Zeit die und jene Angewoͤhnung gehabt, oder jene Sinnesart geaͤußert, ſo dankt er dir ſo herzlich, als wenn du ihm einen verlornen Schatz wieder faͤndeſt, und ſucht beides von neuem hervor, im Fall er es vergeſſen haben ſollte.

Dann muß dir aber doch der wandelbare und empfaͤngliche Lothar ganz nach Wunſche ſein, erwiederte Theodor.

Noch weniger als Anton, fuhr Wilibald in ſeiner Kritik fort, denn eben ſeine zu große Em - pfaͤnglichkeit hindert ihn, ſich und andre zu der Ruhe kommen zu laſſen, die durchaus unent - behrlich iſt, wenn aus Bildung oder Geſelligkeit irgend etwas werden ſoll. Er kann weder in einer guten noch ſchlechten Geſellſchaft ſein, daß ihn nicht die Luſt anwandelt, Comoͤdie zu ſpie - len, ex tempore oder nach memorirten Rollen; es ſcheint faſt, daß ihm in ſeiner eigenen Haut ſo unbehaglich iſt, daß er lieber die eines jeden andern Narren uͤber zieht, um ſeiner ſelbſt nur los zu werden. Die heilige Stelle in der Welt, ſein Tempel, iſt das Theater, und ſelbſt jedes ſchlechte Subjekt, das nur einmal die Bretter oͤffentlich betreten hat, iſt ihm mit einer gewiſ - ſen Glorie umgeben. Geſtern den ganzen Abend unterhielt er uns mit ſeiner ehemaligen Bekeh - rungsſucht und Proſelytenmacherei, wie er jeden armen Suͤnder zum Shakſpear wenden und ihn von deſſen Herrlichkeit hatte durchdringen wol -57Einleitung.len; er erzaͤhlte ſo lannig, wie und auf welchen Wegen er nach ſo manchen komiſchen Verirrun - gen von dieſer Schwachheit zuruͤck gekommen ſei, und, ſiehe, noch in derſelben Stunde nahm er den alten Landjunker von druͤben in die Beichte und ſuchte ihm das Verſtaͤndniß fuͤr den Ham - let aufzuſchließen, der nur immer wieder darauf zuruͤck kam, daß man beim Auffuͤhren die Tod - tengraͤber-Scene nicht auslaſſen duͤrfe, weil ſie die beſte im ganzen Stuͤcke ſei. Mir ſcheint es eine wahre Krankheit, ſich in einen Autor, habe er Namen wie er wolle, ſo durchaus zu ver - tiefen, und ich glaube, daß durch das zu ſtarre Hinſchauen das Auge am Ende eben ſo geblen - det werde, wie durch ein irres Herumfahren von einem Gegenſtande zum andern. Selbſt bei Wei - bern, die Schmeicheleien von ihm erwarten, bricht er in Lobpreiſungen des Lear und Macbeth aus, und die einfaͤltigſte kann ihm liebenswuͤrdig und klug erſcheinen, wenn ſie nur Geduld genug hat, ihm ſtundenlang zuzuhoͤren.

Gegen unſern Ernſt kannſt du wohl ſchwer - lich dergleichen einwenden? fragte Theodor.

Er iſt mir vielleicht der verdrießlichſte von allen, fiel Wilibald ein; er, der alles beſſer weiß, beſſer wuͤrde gemacht haben, der ſchon ſeit Jahren geſehn hat, wohin alles kommen wird, der ſelten jemand ausſprechen laͤßt, ihn zu verſtehn ſich aber niemals die Muͤhe giebt, weil er ſchon im voraus uͤberzeugt iſt, er muͤſſe58Einleitung.erſt hinzufuͤgen, was in der fremden Meinung etwa Sinn haben koͤnne. Er iſt der thaͤtigſte und zugleich der traͤgſte aller Menſchen; bald iſt er auf dieſer, bald auf jener Reiſe, weil er alles mit eigenen Augen ſehen will, alles will er ler - nen, keine Bibliothek iſt ihm vollſtaͤndig genug, kein Ort ſo entfernt, von dem er nicht Buͤcher verſchriebe; bald iſt es Geſchichte, bald Poeſie oder Kunſt, bald Phyſik, oder gar Myſtik, was er ſtudirt, und wieder von neuem ſtudirt; er laͤ - chelt nur, wenn andre ſprechen, als wollt 'er ſagen: laßt mich nur gewaͤhren, laßt mich nur zur Rede kommen, ſo ſollt ihr Wunder hoͤren! Und wenn man nun wartet, und Jahre lang wartet, ihn dann endlich auffordert, daß er ſein Licht leuchten laſſe, ſo muß er wieder dieſes Werk nachleſen, jene Reiſe erſt machen, ſo fehlt es gerade am Allernothwendigſten, und ſo vertroͤ - ſtet er ſich ſelbſt und andre auf eine nimmer er - ſcheinende Zukunft. Die uͤbrigen aͤrgern mich nur, er aber macht mich boͤſe; denn das iſt das ver - druͤßlichſte am Menſchen, wenn er vor lauter Gruͤndlichkeit auch nicht einmal an die Oberflaͤche der Dinge gelangen kann: es iſt die Gruͤndlich - keit der Danaiden, die auch immer hofften, der naͤchſte Guß wuͤrde nun der rechte und letzte ſein, und nicht gewahr wurden, daß es eben an Bo - den mangle.

Wollt ihr mir nun nicht auch von mir ein liebes kraͤftig Woͤrtchen ſagen? neckte ihn Theodor.

59Einleitung.

An dir, ſagte Wilibald, iſt auch das ver - loren, denn ſo wie du mit jeder Feder eine andere Hand ſchreibſt, klein, groß, aͤngſtlich oder fluͤchtig, ſo biſt du auch nur der Anhang eines jeden, mit dem du lebſt; ſeine Leidenſchaften, Liebhabereien, Kenntniſſe, Zeitverderb, haſt und treibſt du mit ihm, und nur dein Leichtſinn iſt es, welcher alles, auch das widerſprechendſte, in dir verbindet. Du biſt hauptſaͤchlich die Urſach, daß wir, ſo oft wir noch beiſammen geweſen ſind, zu keinem zweckmaͤßigen Leben haben kom - men koͤnnen, weil du dir nur in Unordnung und leerem Hintraͤumen wohlgefaͤllſt. Heute ſind wir einmal recht vergnuͤgt geweſen! pflegſt du am Abend zu ſagen, wenn du die uͤbrigen verleiteſt haſt, recht viel dummes Zeug zu ſchwatzen; bei einer Albernheit geht dir das Herz auf, doch ich verſchwende nur meinen Athem, denn ich ſehe du lachſt auch hieruͤber.

Allerdings, rief Theodor im froheſten Muthe aus, o mein zorniger, mißmuthiger Camerad! du Ordentlicher, Bedaͤchtlicher, der die ganze Welt nach ſeiner Taſchenuhr ſtellen moͤchte, du, der in jede Geſellſchaft eine Stunde zu fruͤh kommt, um ja nicht eine halbe Viertelſtunde zu ſpaͤt an - zulangen, du, der du wohl ins Theater gegan - gen biſt, bevor die Caffe noch eroͤffnet war, der auch dann im ledigen Hauſe beim ſchoͤnſten Wet - ter ſitzen bleibt, um ſich nur den beſten Platz auszuſuchen, mit dem er nachher im Verlauf des60Einleitung.Stuͤckes doch wieder unzufrieden wird. Ich habe es ja erlebt, daß du zu einem Balle fuhrſt, und mich und meine Geſellſchaft ſo uͤber die Gebuͤhr triebſt, daß wir anlangten, als die Bedienten noch den Tanzſaal ausſtaͤubten und kein einziges Licht angezuͤndet war. Dieſe deine Ordnung willſt du in jede Geſellſchaft einfuͤhren, um nur alles eine Stunde fruͤher als gewoͤhnlich zu thun, und gaͤbe man dir ſelbſt dieſe Stunde nach, ſo wuͤrdeſt du wieder eine Stunde zu verlangen, ſo daß man, um mit dir ordentlich zu leben, immer im Zirkel um die vier und zwanzig Stunden des Tages mit Fruͤhſtuͤck, Mittag - und Abendeſſen herum fahren muͤßte. Weil geſtern die Geſell - ſchaft noch nicht verſammelt war, als die Suppe auf dem Tiſche ſtand, und jeder nach ſeiner Ge - legenheit etwas ſpaͤter kam, daruͤber biſt du noch heut verſtimmt, du Heimtuͤckiſcher, Nachtragender! noch mehr aber daruͤber, daß wir aus Scherz die geheime Abrede trafen, dich durchaus von Au - guſtens Seite wegzuſchieben, zu der du dich mit oͤffentlichem Geheimniß ſo gefliſſentlich draͤngſt, und meinſt, wir alle haben keine Augen und Sinne, um deine feurigen Augen und wohl - geſetzten verliebten Redensarten wahrzunehmen. Sieh, Freund, man kennt dich auch, und weiß auch deine empfindliche Seite zu treffen.

Wilibald zwang ſich zu lachen und ging empfindlich fort; indem ſah man Lothar und Ernſt von der Straße des Berges, der uͤber dem61Einleitung.Garten und Hauſe lag, herunter reiten. Der einſame Anton geſellte ſich zu Theodor und beide ſprachen uͤber Wilibald; es iſt doch ſeltſam, ſagte Anton, daß die Furcht vor der Affektation bei ei - nem Menſchen ſo weit gehen kann, daß er da - ruͤber in ein herbes widerſpaͤnſtiges Weſen geraͤth, wie es unſerm Freunde ergeht; er argwoͤhnt al - lenthalben Affektation und Unnatuͤrlichkeit, er ſieht ſie allenthalben und will ſie jedem Freunde und Bekannten abgewoͤhnen, und damit man ihm nur nicht etwas Unnatuͤrliches zutraue, faͤllt er lieber oft in eine gewiſſe rauhe Manier, die von der Liebenswuͤrdigkeit ziemlich entfernt iſt.

So will er die Weiber auch immer maͤnn - lich machen, ſagte Theodor, ging es nach ihm, ſo muͤſten ſie gerade alles das ablegen, was ſie ſo unbeſchreiblich liebenswuͤrdig macht.

Eine eigene Rubrik, fuͤgte Anton hinzu, haͤlt er, welche er Kindereien uͤberſchreibt, und in die er ſo ziemlich alles hinein traͤgt, was Sehnſucht, Liebe, Schwaͤrmerei, ja Religion genannt wer - den muß. Wie die Welt wohl uͤberhaupt aus - ſaͤhe, wenn ſie nach ſeinem vernuͤnftigen Plane formirt waͤre?

Selbſt Sonne und Mond, ſagte Theodor, halten nicht einmal die gehoͤrige Ordnung, des Uebrigen zu geſchweigen. Die Abweichung der Magnetnadel muß nach ihm entweder Affekta - tion oder Kinderei ſein, und ſtatt ſich in den Euripus zu ſtuͤrzen, weil er die vielfache Ebbe62Einleitung.und Fluth nicht begreifen konnte, haͤtte er ru - hig am Ufer geſtanden, und bloß den Kopf ein wenig geſchuͤttelt und gemurmelt: laͤppiſch! laͤp - piſch!

Bis zum Abentheuerlichen unnatuͤrlich ſind die Cometen, verſetzte Anton, ja alle Exiſtenz hat wohl nur wie ein umgekehrter Handſchuh die unrechte Seite herausgedreht, und iſt dadurch exiſtirend geworden.

Zweifelt ihr daran, ihr armen Suͤnder? rief Wilibald aus dem naͤchſten Laubengange heraus, in welchem er alles gehoͤrt hatte; koͤnnt ihr euch euren doppelten unbefriedigten Zuſtand anders er - klaͤren? Habt ihr dies nicht ſchon oft im Ernſt denken muͤſſen, wenn ihr uͤberhaupt daruͤber ge - dacht habt, was ihr jetzt als Spaß ausſprecht? Und wenn die Menſchenſeele ſich ſelbſt unvollen - det und umgedreht empfindet, warum ſoll denn alles uͤbrige Geſchaffene richtiger und beſſer ſein? Ihr hoffaͤrtigen Erdenwuͤrmer neigt euch in den Staub, und macht euch nicht uͤber Leute luſtig, die, wenn es die Noth erfordert, auch wohl uͤber Milchſtraßen und Trabanten und Sonnenſyſteme zu ſprechen wiſſen.

Ernſt und Lothar traten hinzu und erzaͤhl - ten viel von der anmuthigen Lage der merkwuͤr - digen Ruine, und Ernſt zuͤrnte uͤber den fre - velnden Leichtſinn der Zeit, der ſchon ſo viel Herrliches zerſtoͤrt habe und es allenthalben zu vernichten fortfahre. Wie tief, rief er aus, wird63Einleitung.uns eine beſſere Nachwelt verachten, und uͤber unſern anmaßlichen Kunſtſinn und die faſt krank - hafte Liebhaberei an Poeſie und Wiſſenſchaft laͤ - cheln, wenn ſie hoͤrt, daß wir Denkmale aus gemeinem, faſt thieriſchen Nichtachten, oder aus klaͤglichem Eigennutz abgetragen haben, die aus einer Heldenzeit zu uns heruͤber gekommen ſind, an der wir unſern erlahmten Sinn fuͤr Vater - land und alles Große wieder aufrichten koͤnnten. So braucht man herrliche Gebaͤude zu Wollſpin - nereien und ſchlaͤgt duͤrftige Kammern in die Pracht alter Ritterſaͤle hinein, als wenn es uns an Raum gebraͤche, um die Armſeligkeit unſers Zuſtandes nur recht in die Augen zu ruͤcken, der in Pallaͤſten der Heroen ſeine traurige Thaͤtigkeit ausſpannt, und große Kirchen in Scheuern und Rumpelkammern verwandelt.

Iſt ihnen doch die Vorzeit ſelbſt nichts an - ders, ſagte Lothar, und des Vaterlandes ruͤhrende Geſchichte, eben ſo haben ſie ſich in dieſe mit ihren unerſprießlichen Zwecken hinein geklemmt, und verwundern ſich laͤchelnd daruͤber, wie man ehemals nur das Beduͤrfniß ſolcher Groͤße haben mochte.

Jetzt zeigte ſich die uͤbrige Geſellſchaft. Man - fred fuͤhrte ſeine Schwiegermutter, Friedrich, wel - cher verweinte Augen hatte, die ſchoͤne Roſalie, Anton bot ſeinen Arm der freundlichen Clara, und Wilibald geſellte ſich zu Auguſten, indem er dem laͤchelnden Theodor einen triumphirenden64Einleitung.Blick zuwarf. Man wandelte in den breiten Gaͤn - gen, welche oben gegen den eindringenden Son - nenſtrahl gewoͤlbt und dicht verflochten waren, in heitern Geſpraͤchen auf und nieder, und Lothar ſagte nach einiger Zeit: wir ſprachen eben von den Ruinen altdeutſcher Baukunſt, und bedauer - ten, daß viele Schloͤſſer und Kirchen gaͤnzlich verfallen, die mit geringen Koſten als Denkmale unſern Nachkommen koͤnnten erhalten werden, aber indem ich den Schatten dieſer Gaͤnge genieße, erinnere ich mich der ſeltſamen Verirrung, daß man jetzt vorſaͤtzlich auch viele Gaͤrten zerſtoͤrt, die in dem ſogenannten Franzoͤſiſchen Geſchmack angelegt ſind, um eine unerfreuliche Verwirrung von Baͤumen und Geſtraͤuchen an die Stelle zu ſetzen, die man nach dem Modeausdrucke Park benamt, und ſo bloß einer todten Formel froͤhnt, indem man ſich im Wahn befindet, etwas Schoͤ - nes zu erſchaffen.

Du erinnerſt mich, ſagte Ernſt, an die Ere - mitags bei Bayreuth und manchen andern Gar - ten; wenn dieſe Einſiedelei auch manche aufge - mauerte Kindereien zeigt, ſo war ſie doch in ih - rer alten Geſtalt hoͤchſt erfreulich, ich verwun - derte mich nicht wenig, ſie vor einigen Jahren ganz verwildert wieder zu finden.

Es fehlt unſrer Zeit, ſagte Friedrich, ſo ſehr ſie die Natur ſucht, eben der Sinn fuͤr Natur, denn nicht allein dieſe regelmaͤßigen Gaͤrten, die dem jetzigen Geſchmacke zuwider ſind, bekehrt manzum65Einleitung.zum Romantiſchen, ſondern auch wahrhaft ro - mantiſche Wildniſſe werden verfolgt, und zur Re - gel und Verfaſſung der neuen Gartenkunſt erzo - gen. So war ehemals nur die große wunder - volle Heidelberger Ruine eine ſo gruͤne, friſche, poetiſche und wilde Einſamkeit, die ſo ſchoͤn mit den verfallenen Thuͤrmen, den großen Hoͤfen, und der herrlichen Natur umher in Harmonie ſtand, daß ſie auf das Gemuͤth eben ſo wie ein vollen - detes Gedicht aus dem Mittelalter wirkte, ich war ſo entzuͤckt uͤber dieſen einzigen Fleck unſrer deutſchen Erde, daß das gruͤnende Bild ſeit Jah - ren meiner Phantaſie vorſchwebte, aber vor eini - ger Zeit fand ich auch hier eine Art von Park wieder, der zwar dem Wandelnden manchen ſchoͤ - nen Platz und manche ſchoͤne Ausſicht goͤnnt, der auf bequemen Pfaden zu Stellen fuͤhrt, die man vormals nur mit Gefahr erklettern konnte, der ſelbſt erlaubt, Erfriſchungen an anmuthigen Raͤu - men ruhig und ſicher zu genießen, doch wiegen alle dieſe Vortheile nicht die großartige und ein - zige Schoͤnheit auf, die hier aus der beſten Ab - ſicht iſt zerſtoͤrt worden.

Hier wurde das Geſpraͤch unterbrochen, in - dem der Bediente meldete, daß angerichtet ſei.

Man ging durch die großen offenen Thuͤren des Speiſeſaales, der unmittelbar an den Gar - ten ſtieß, und aus dem man den gegenuͤber lie -I. [5]66Einleitung.genden Berg mit ſeinen vielfach gruͤnenden Ge - buͤſchen und ſchoͤnen Waldparthieen vor ſich hatte; zunaͤchſt war ein runder Wieſenplan des Gartens, welchen die lieblichſten Blumengrup - pen umdufteten, und als Krone des gruͤnen Platzes glaͤnzte und rauſchte in der Mitte ein Springbrunnen, der durch ſein liebliches Getoͤn gleich ſehr zum Schweigen wie zum Sprechen einlud.

Alle ſetzten ſich, Wilibald zwiſchen Auguſte und Clara, neben dieſer ließ Anton ſich nieder, und ihm zunaͤchſt Emilie, zwiſchen ihr und Ro - ſalien hatte Friedrich ſeinen Platz gefunden, an welche ſich Lothar ſchloß, und neben ihm ſaßen die uͤbrigen Maͤnner. Auf dem Tiſche prang - ten Blumen in geſchmackvollen Gefaͤßen und in zierlichen Koͤrben fruͤhe Kirſchen. Wie kommt es, fing die aͤltere Emilie nach einer Pauſe an, daß es bei jeder Tiſchgeſellſchaft im Anfang ſtill zugeht? Man iſt nachdenkend und ſieht vor ſich nieder, auch erwartet Niemand ein lebhaftes Ge - ſpraͤch, denn es ſcheint, daß die Suppe eine gewiſſe ernſte, ruhige Stimmung veranlaßt, die gewoͤhnlich ſehr mit dem Beſchluß der Mahlzeit und dem Nachtiſche kontraſtirt.

Vieles erklaͤrt der Hunger, ſagte Wilibald, der ſich meiſtentheils erſt durch die Naͤhe der Speiſen meldet, beſonders, wenn man ſpaͤter zu Tiſche geht, als es feſtgeſetzt war, denn War - ten macht hungrig, dann durſtig, und wenn es67Einleitung.zu lange ſpannt, erregt es wahre Uebelkeit, faſt Ohnmacht.

Sehr wahr, ſagte Roſalie, und die Herren ſollten das nur bedenken, die uns Frauen faſt immer warten laſſen, wenn ſie eine Jagd, einen Spatzierritt, oder ein ſogenanntes Geſchaͤft vor - haben.

Laſſen denn die Damen nicht eben ſo oft auf ſich warten, erwiederte Wilibald, und wohl laͤnger, wenn ſie mit ihrem Anzug nicht einig oder fertig werden koͤnnen? Da uͤberdies die meiſten niemals wiſſen, wie viel es an der Uhr iſt, ja daß es uͤberhaupt eine Zeitabtheilung giebt.

Recht! ſagte Manfred; neulich wollten ſie einen Beſuch in der Nachbarſchaft machen, noch vorher eine Oper durchſingen, und ein wenig ſpatzieren gehen, um dabei zugleich das kranke Kind im Dorfe zu beſuchen, dann wollte man bei Zeiten wieder zu Hauſe ſein und etwas fruͤ - her eſſen als gewoͤhnlich, weil wir den Nach - mittag einmal recht genießen wollten; als man aber, um doch anzufangen, nach der Uhr ſah, fand ſichs, daß es gerade nur noch eine halbe Stunde bis zur gewoͤhnlichen Tiſchzeit war, und die lieben Zeitloſen kaum noch Zeit ſich umzu - kleiden hatten.

Doch bitt 'ich mich auszunehmen, ſagte Ro - ſalie, tadelſt du mich doch ſonſt immer, daß ich zu puͤnktlich, zu ſehr nach der Stunde bin, ſonſt68Einleitung.wuͤrde es auch mit den Einrichtungen der Wirth - ſchaft uͤbel ausſehn.

Dich nehm 'ich aus, ſagte Manfred, und einer Hausfrau ſteht auch nichts ſo liebenswuͤr - dig, als eine ſtille, unerſchuͤtterliche Ordnung: aber auch nur die ſtille Ordnung, denn noch ſchlimmer als die Unordentlichen ſind die fuͤr die Ordnung Wuͤthenden, in deren Haͤuſern nichts als Einrichtung, Abrichten der Domeſtiken, Auf - raͤumen und Staubabwiſchen zu finden iſt; eine ſolche Frau haben, waͤre eben ſo wie unter der großen Kirchenuhr und den Glocken wohnen, wo man nichts als den Perpendikel und das fuͤrchterliche Schlagen der Stunden hoͤrt: auch eine maͤnnlich ordentliche und unternehmende Thereſe iſt widerwaͤrtig. Aber in aller liebens - wuͤrdigen weiblichen Unordnung ſchweift meine theure Schweſter Auguſte etwas zu ſehr aus.

Das weiß Gott! fuhr Wilibald etwas uͤber - eilt heraus; denn wenn ein Spatziergang abge - redet iſt, ſo muß man wohl anderthalb Stun - den mit dem Stock in der Hand unten ſtehn und warten, und dann hat die liebenswuͤrdige Dame entweder den Spatziergang ganz vergeſſen, und beſinnt ſich erſt darauf, wenn man einige - mal hat erinnern laſſen, oder ſie kommt auch wohl endlich, aber nun hat man nicht an Hand - ſchuh und Sonnenſchirm und Tuch gedacht; man geht zuruͤck, man kramt, und faͤllt dabei nicht ſelten wieder in eine Beſchaͤftigung, die69Einleitung.den Spatziergang von neuem mit Schiffbruch bedroht. O Gott! und nach allen dieſen Leiden ſoll unſer eins nachher noch liebenswuͤrdig ſein!

Das iſt ja eben die Liebenswuͤrdigkeit, ſagte Auguſte, denn wenn euch alles entgegen getra - gen, allen euren Launen geſchmeichelt wird, wenn man euch ſo ſchlicht hin fuͤr Herrſcher er - klaͤrt, daß ihr dann zuweilen ein wenig liebens - wuͤrdig ſeid, iſt doch wahrlich kein Verdienſt.

Um wieder auf die Suppe zu kommen, die jetzt genoſſen iſt, ſagte Lothar, ſo ruͤhrt es wohl nicht ſo ſehr von einem materiellen Beduͤrfniß her, daß man bei ihr wenig ſpricht, ſondern mich duͤnkt jedes Mahl und Feſt iſt einem Schauſpiel, am beſten einem Shakſpearſchen Luſt - ſpiel, zu vergleichen, und hat ſeine Regeln und Nothwendigkeiten, die ſich auch unbewußt in den meiſten Faͤllen ausſprechen.

Wie koͤnnte es wohl einem verſtaͤndigen Menſchen etwas anders ſein? unterbrach ihn Wilibald mit Lachen; o wie oft iſt doch unbe - wußt der Luſtſpieldichter ſelbſt ein erfreulicher Gegenſtand fuͤr ein Luſtſpiel!

Laß ihn ſprechen, ſagte Manfred, magſt du doch die Mahlzeit nachher mit einer Schlacht, oder gar mit der Weltgeſchichte vergleichen; am Tiſch muß unbedingte Gedanken - und Eßfreiheit herrſchen.

Daß die abwechſelnden Gerichte und Gaͤnge, fuhr Lothar fort, ſich mit Akten und Scenen70Einleitung.ſehr gut vergleichen laſſen, faͤllt in die Augen; eben ſo ausgemacht iſt es fuͤr den denkenden und hoͤheren Eſſer (ich ignorire jene gemeinere Naturen, die an allem zweifeln, und etwa in materieller Dumpfheit meinen koͤnnen, das Eſ - ſen geſchehe nur, um den Hunger zu vertreiben), daß eine gewiſſe allgemeine Empfindung ausge - ſprochen werden ſoll, der in der ganzen Compo - ſition der Tafel nichts widerſprechen darf, ſei es von Seiten der Speiſen, der Weine, oder der Geſpraͤche, denn aus allem ſoll ſich eine romantiſche Compoſition entwickeln, die mich unterhaͤlt, befriedigt und ergoͤtzt, ohne meine Neu - gier und Theilnahme zu heftig zu ſpannen, ohne mich zu taͤuſchen, oder mir bittre Ruͤckerinn - rungen zu laſſen. Die epigrammatiſchen Ge - richte zum Beiſpiel, die manchmal zur Taͤuſchung aufgetragen werden, ſind gerade zu abgeſchmackt zu nennen.

Im noͤrdlichen Deutſchland, ſagte Ernſt, ſah ich einmal Zuckergebacknes als Torf auf - ſetzen, und es gefiel den Gaͤſten ſehr.

O ihr unkuͤnſtlich Speiſenden! rief Lothar aus; warum laßt ihr euch den Marzipan nicht lieber als die Phyſiognomien eurer Gegner backen, und zerſchneidet und verzehrt ſie mit Wohlge - fallen und Herzenswuth? duͤrften nicht Rezen - ſenten, oder ſonſt verhaßte Menſchen, gleich ſo auf den Maͤrkten zum Verkauf ausgeboten werden?

Von hoͤchſt abentheuerlichen Feſten, ſagte71Einleitung.Clara, habe ich einmal im Vaſari geleſen, welche die Florentiniſchen Maler einander gaben, und die mich nur wuͤrden geaͤngſtigt haben, denn dieſe trieben die Verkehrtheit vielleicht auf das aͤußerſte. Nicht bloß, daß ſie Pallaͤſte und Tem - pel von verſchiedenen Speiſen errichteten und verzehrten, ſondern ſelbſt die Hoͤlle mit ihren Geſpenſtern mußte ihrem poetiſchen Uebermuthe dienen, und Kroͤten und Schlangen enthielten gut zubereitete Gerichte, und der Nachtiſch von Zucker beſtand aus Schaͤdeln und Todtenge - beinen.

Gern, ſagte Manfred, haͤtt 'ich an dieſen bizarren, phantaſtiſchen Dingen Theil genommen, ich habe jene Beſchreibung nie ohne die groͤßte Freude leſen koͤnnen. Warum ſollte denn nicht Furcht, Abſcheu, Angſt, Ueberraſchung zur Ab - wechſelung auch einmal in unſer naͤchſtes und alltaͤglichſtes Leben hinein geſpielt werden? Al - les, auch das Seltſamſte und Widerſinnigſte hat ſeine Zeit.

Freilich mußt du ſo ſprechen, ſagte Lothar, der du auch die Abentheuerlichkeiten des Hoͤllen - Breughels liebſt, und der du, wenn deine Laune dich anſtoͤßt, allen Geſchmack gaͤnzlich laͤugneſt und aus der Reihe der Dinge ausſtreichen willſt.

Wuͤſten wir doch nur, ſagte Manfred, wo dieſe Sphinx ſich aufhaͤlt, die alle wollen geſe - hen haben, und von der doch Niemand Rechen - ſchaft zu geben weiß: bald glaubt man an das72Einleitung.Geſpenſt bald nicht, wie an die Dulcinea des Don Quixote, und das iſt wohl der Spaß an dieſem Tagegeiſte, daß er zugleich iſt und nicht iſt.

Seltſam, aber nicht ſelten, fiel Friedrich ein, iſt die Erſcheinung (die deinen Unglauben faſt beſtaͤtigen koͤnnte), daß Menſchen, die von Jugend auf ſich ſcheinbar mit dem Geiſte des klaſſiſchen Alterthums genaͤhrt, die immer das Ideal von Kunſt im Munde fuͤhren, und unbillig ſelbſt das Schoͤnſte der Modernen verachten, ſich doch ploͤtz - lich aus wunderlicher Leidenſchaft ſo in das Ab - geſchmackte und Verzerrte der neuern Welt ver - gaffen koͤnnen, daß ihr Zuſtand ſehr nahe an Verruͤcktheit graͤnzt.

Weil ſie die neue Welt gar nicht kannten, antwortete Lothar, war ihre Liebe zur alten auch keine freie und gebildete, ſondern nur Aberglaube, der die Form fuͤr den Geiſt nahm. Mir kam auch einmal ein ſcheinbar gebildeter junger Mann vor, der, nachdem er lange nur den Sophokles und Aeſchylus angebetet hatte, ziemlich ploͤtzlich und ohne ſcheinbaren Uebergang als aͤchter Pa - triot unſern ungriechiſchen Kotzebue vergoͤtterte.

Ich bin deiner Meinung, ſo nahm Ernſt das Wort: kein Menſch iſt wohl ſeiner Ueberzeugung oder ſeines Glaubens verſichert, wenn er nicht die gegenuͤber liegende Reihe von Gedanken und Empfindungen ſchon in ſich erlebt hat, darum iſt es nie ſo ſchwer geweſen, als es beim erſten Anblick ſcheinen moͤchte, die ausgemachteſten Frei -73Einleitung.geiſter zu bekehren, weil von irgend einer Seite ihres Weſens ſich gewiß die Glaubensfaͤhigkeit erwecken laͤßt, die dann, einmal erregt, alle Em - pfindungen mit ſich reißt, und die ehemaligen Anſichten und Gedanken zertruͤmmert. Eben ſo wenig aber ſteht der Fromme, der nicht mit al - len ſeinen Kraͤften ſchon die Regionen des Zwei - fels durchwandert hat, ſeine Seele muͤſte dann etwa ganz Glaube und einfaͤltiges Vertrauen ſein, auf einem feſten Grunde.

Vorzuͤglich, ſagte Friedrich, ſind es die Lei - denſchaften, die ſo oft im Menſchen das zerſtoͤ - ren, was vorher als ſein eigenthuͤmlichſtes We - ſen erſcheinen konnte. Ich habe Wuͤſtlinge ge - kannt, wahre Gotteslaͤugner der Liebe und freche Verhoͤhner alles Heiligen, die lange mit der ſtol - zeſten Ueberzeugung ihr veraͤchtliches Leben fuͤhr - ten, und endlich, ſchon an der Graͤnze des Al - ters, von einer hoͤhern Leidenſchaft, ſogar zu un - wuͤrdigen Weſen, wunderbar genung ergriffen wurden, ſo daß ſie fromm, demuͤthig und glaͤubig wurden, ihre verlorne Jugend beklag - ten, und endlich noch einigen Schimmer der Liebe kennen lernten, deren Himmelsglanz ſie in beſſe - ren Tagen verſpottet hatten.

Koͤnnte man nur immer, fuͤgte Anton hinzu, jungen Menſchen, welche in die Welt treten, und ſich nur zu leicht von den ſcheinbar Reichen und Freien beherrſchen und ſtimmen laſſen, die Ueber - zeugung mit geben, wie arm und welche gebun -74Einleitung.dene Sklaven jene ſind, die gern alle ihre fal - ſchen Flitterſchaͤtze um ein Gefuͤhl der Kindlich - keit, der Unſchuld, oder gar der Liebe hingeben moͤchten, wenn es ſie ſo begluͤcken wollte, in ih - ren dunkeln Kerker hinein zu leuchten. Wie oft iſt der uͤberhaupt in der Welt der Beneidete, der ſich ſelb[e]r mitleidswuͤrdig duͤnkt, und weit mehr Schlimmes geſchieht aus falſcher Schaam, als aus wirklich boͤſer Neigung, ein mißverſtandner Trieb der Nachahmung und Verehrung fuͤhrt viel haͤufiger den Verirrten, als Neigung zum Laſter.

Wie aber das Boͤſe nicht zu laͤugnen iſt, ſagte Ernſt, eben ſo wenig in den Kuͤnſten und Neigungen das Abgeſchmackte, und man ſoll ſich wohl vor beiden gleich ſehr huͤten. Vielleicht, daß auch beides genauer zuſammen haͤngt, als man gewoͤhnlich glaubt. Wir ſollen weder den moraliſchen noch phyſiſchen Eckel in uns zu ver - nichten ſtreben.

Aber auch nicht zu krankhaft ausbilden, wandte Manfred ein. Ein Weltumſegler un - ſers Innern wird auch wohl noch einmal die Rundung unſrer Seele entdecken, und daß man nothwendig auf denſelben Punkt der Ausfahrt zuruͤck kommen muß, wenn man ſich gar zu weit davon entfernen will.

Dies fuͤhrt, ſagte Theodor, indem er mit Wilibald anſtieß, zur liebenswuͤrdigen Billigkeit und Humanitaͤt.

75Einleitung.

Es fuͤhrt, antwortete dieſer, wie alles, was die letzte Spitze und den wahrhaften Schwindel mit einem gewiſſen Witze ſucht, zu gar nichts. Theurer Lothar, laß uns wieder vernuͤnftig ſpre - chen, und fuͤhre deine Vergleichung einer Mahl - zeit und des Schauſpiels noch etwas weiter.

Um deiner Wißbegier genug zu thun, fuhr Lothar fort, erklaͤr 'ich alſo, daß bei einem Schau - ſpiele die Einleitung eine der wichtigſten Par - thieen iſt; ſie kann hauptſaͤchlich auf dreierlei Art geſchehn. Entweder, daß in ruhiger Erzaͤh - lung die Lage der Dinge auf die einfachſte und natuͤrlichſte Weiſe auseinander geſetzt wird, ſo wie in den Irrungen, oder daß uns der Dich - ter ſogleich in Getuͤmmel und Unruhe wirft, woraus ſich nach und nach die Klarheit und das Verſtaͤndniß eroͤffnen, ſo wie im Romeo und dem Oldcaſtle, die gar mit Schlaͤgerei beginnen, oder auf die dritte Weiſe, die uns zwar auch ſogleich in die Mitte der Dinge fuͤhrt, aber mit ruhiger Beſonnenheit, wie in Was ihr wollt. Es iſt keine Frage, daß die letztere Art beim Gaſtmahl die vorzuͤglichere ſei, und daß deshalb die ziviliſirten Nationen, und Menſchen, die nicht bizarr leben und eſſen wollen, ihre Mahl - zeit mit einer kraͤftigen, aber milden, ruhig bedaͤchtigen Suppe eroͤffnen. Weil nun alle Menſchen Hang zum Drama haben, und dunkel die Ahndung in ihnen ſchlaͤft, daß alles Drama ſei, ſo huͤten ſie ſich mit Recht, zu witzig, zu76Einleitung.geiſtreich, oder auch nur zu geſpraͤchig zu ſein, ſo lange die Suppe vor ihnen ſteht.

Emilie lachte und winkte ihm Beifall, und Lothar fuhr alſo fort: ſo wie ſich in dem eben genannten Luſtſpiele nach der faſt elegiſchen Ein - leitung die anmuthigen Perſonen des Junkers Tobias, der Maria und des Bleichenwang als reizende Epiſode einfuͤhren, ſo genießt man zum Anbeginn der Mahlzeit Sardellen, oder Kaviar, oder irgend etwas Reitzendes, welches noch nicht unmittelbar das Beduͤrfniß befriedigt, und ſo, um nicht zu weitlaͤufig zu werden, wechſelt Be - friedigung und Reitz in angenehmen Schwin - gungen bis zum Nachtiſch, der ganz launig, poetiſch und muthwillig iſt, wie jenes Luſtſpiel ſich nach ſeinem Beſchluß mit dem allerliebſten albernen, aber bedeutenden Geſang des liebens - wuͤrdigſten Narren beſchließt, wie Viel Laͤrmen um nichts und Wie es euch gefaͤllt mit einem Tanze endigen, oder das Wintermaͤrchen mit der lebendigen Bildſaͤule.

Ich ſehe wohl, ſagte Clara, man ſollte das Eſſen eben ſo gut in Schulen lernen, als die uͤbrigen Wiſſenſchaften.

Gewiß, ſagte Lothar, ziemt einem gebilde - ten Menſchen nichts ſo wenig, als ungeſchickt zu eſſen, denn eben, weil die Nahrung ein Be - duͤrfniß unſerer Natur iſt, muß hiebei entweder die allerhoͤchſte Simplicitaͤt obwalten, oder An - ſtand und Frohſinn muͤſſen eintreten und an - muthige Heiterkeit verbreiten.

77Einleitung.

Freilich, ſagte Ernſt, ſtoͤrt nichts ſo ſehr, als eine ſchwankende Miſchung von Sparſam - keit und unerfreulicher Verſchwendung, wie man wohl mit vortreflichem Wein zum Genuß gerin - ger und ſchlecht zubereiteter Speiſen uͤberſchuͤttet wird, oder zu ſchmackhaften leckern Gerichten im Angeſicht treflicher Geſchirre elenden Wein hinunter wuͤrgen muß. Dieſes ſind die wahren Tragikomoͤdien, die jedes geſetzte Gemuͤth, das nach Harmonie ſtrebt, zu gewaltſam erſchuͤttern. Iſt das Geſpraͤch ſolcher Tafel zugleich laͤrmend und wild, ſo hat man noch lange nachher am Mißton der Feſtlichkeit zu leiden, denn auch bei dieſem Genuß muß die Scham unſichtbar regie - ren, und Unverſchaͤmtheit muß in edle Geſell - ſchaft niemals eintreten koͤnnen.

Dazu, ſagte Anton, gehoͤrt das uͤbermaͤßige Trinken aus Ambition, oder wenn ein begeiſter - ter Wirth im halben Rauſch zu dringend zum Trinken noͤthigt, indem er laut und lauter ver - ſichert, der Wein verdien 'es, dieſe Flaſche koſte ſo viel und jene noch mehr, es komme ihm aber unter guten Freunden nicht darauf an, und er koͤnne es wohl aushalten, wenn ſelbſt noch mehr darauf gehn ſollte. Dergleichen Menſchen rech - nen im Hochmuth des Geldes nicht nur her, was dieſes Feſt koſtet und jeder einzelne Gaſt verzehrt, ſondern ſie ruhen nicht, bis man den Preis jedes Tiſches und Schrankes erfahren hat. Wenn ſie Kunſtwerke oder Raritaͤten beſitzen,78Einleitung.ſind ſie gar unertraͤglich, und ihr hoͤchſter Ge - nuß beſteht darin, wenn ſie in aller Freund - ſchaftlichkeit ihren Gaſt koͤnnen fuͤhlen machen, daß es ihm, gegen den Wirth gerechnet, eigent - lich wohl an Gelde gebreche.

Das fuͤhrt darauf, fuhr Lothar fort, daß ſo wie in den Gefaͤßen und Speiſen Harmonie ſein muß, dieſe auch durch die herrſchenden Ge - ſpraͤche nicht darf verlezt werden. Die einlei - tende Suppe werde, wie ſchon geſagt, mit Stille, Sammlung und Aufmerkſamkeit begleitet, nachher iſt wohl gelinde Politik erlaubt, und kleine Geſchichten, oder leichte philoſophiſche Be - merkungen: iſt eine Geſellſchaft ihres Scherzes und Witzes nicht ſehr gewiß, ſo verſchwende ſie ihn ja nicht zu fruͤh, denn mit dem Confekt und Obſt und den feinen Weinen ſoll aller Ernſt voͤllig verſchwinden, nun muß erlaubt ſeyn, was noch vor einer Viertelſtunde unſchicklich geweſen waͤre; durch ein lauteres Lachen werden ſelbſt die Damen dreiſter, die Liebe erklaͤrt ſich unverhol - ner, die Eiferſucht zeigt ſich mit unverſtecktern Ausfaͤllen, jeder giebt mehr Bloͤße und ſcheut ſich nicht, dem treffenden Spott des Freundes ſich hinzugeben, ſelbſt eine und die andre aͤrger - liche Geſchichte witzig vorgetragen darf umlaufen. Große Herren ließen ehemals mit dem Zucker ihre Narren und Luſtigmacher herein kommen, um am Schluß des Mahls ſich ganz als Menſchen, hei - ter, froh und ausgelaſſen zu fuͤhlen.

79Einleitung.

Jetzt, ſagte Theodor, bringt man um die Zeit die kleinen Kinder herein, wenn ſie nicht ſchon alle in Reih 'und Glied bei Tiſche ſelber geſeſſen haben.

Freilich, ſagte Manfred, und das Geſpraͤch erhebt ſich zum Ruͤhrenden uͤber die hohen idea - liſchen Tugenden der Kleinen und ihrer unnenn - baren Liebe zu den Eltern, und der Eltern hin - wieder zu den Kindern.

Und wenn es recht hoch hergeht, ſagte Theo - dor, ſo werden Thraͤnen vergoſſen, als die letzte und koſtbarſte Fluͤſſigkeit, die aufzubringen iſt, und ſo beſchließt ſich das Mahl mit den hoͤchſten Erſchuͤtterungen des Herzens.

Nicht genung, fing Lothar wieder an, daß man dieſe Unarten vermeiden muß, jede Tiſch - unterhaltung ſollte ſelbſt ein Kunſtwerk ſein, das auf gehoͤrige Art das Mahl akkompagnirte und im richtigen Generalbaß mit ihm geſetzt waͤre. Von jenen ſchrecklichen großen Geſellſchaften ſpreche ich gar nicht, die leider in unſerm Va - terlande faſt allgemeine Sitte geworden ſind, wo Bekannte und Unbekannte, Freunde und Feinde, Geiſtreiche und Aberwitzige, junge Maͤdchen und alte Gevatterinnen an einer langen Tafel nach dem Looſe durch einander geſetzt werden; jene Mahlzeiten, fuͤr welche die Wirthinn ſchon ſeit acht Tagen ſorgt und laͤuft und von ihnen traͤumt, um alles mit großem Prunk und noch groͤßerer Geſchmackloſigkeit einzurichten, um nur endlich,80Einleitung.endlich der Fete los zu werden, die man ſchon laͤngſt von ihr erwartet, weil ſie wohl zwoͤlf und mehr aͤhnliche Gaſtmahle uͤberſtanden hat, zu der ſie nun zum Ueberfluß noch jeden einladet, dem ſie irgend eine Artigkeit ſchuldig zu ſein glaubt, und gern noch ein Dutzend Durchreiſende in ih - rem Garne auffaͤngt, um ihrer Beſuche nachher entuͤbrigt zu bleiben; nein ich rede nicht von je - nen Tafeln, an welchen Niemand ſpricht, oder alle zugleich reden, an welchen das Chaos herrſcht, und kaum noch in ſeltnen Minuten ſich ein ein - zelner Privatſpaß heraus wickeln kann, wo jedes Geſpraͤch ſchon als todte Frucht zur Welt kommt, oder im Augenblicke nachher ſterben muß, wie der Fiſch auf dem trocknen Lande; ich meine nicht jene Gaſtgebote, bei denen der Wirth ſich auf die Folter begeben muß, um den guten Wirth zu machen, zu Zeiten um den Tiſch wandeln, ſelbſt einſchenken und froſtige Scherze in das Ohr albern laͤchelnder Damen nieder legen; kurz, ſchweigen wir von dieſer Barbarey unſerer Zeit, von dieſem Tode aller Geſelligkeit und Gaſtfrei - heit, die neben ſo vielen andern barbariſchen Gewohnheiten auch ihre Stelle bei uns gefun - den hat.

Die krankhafte Karikatur von dieſen Anſtal - ten, fuͤgte Wilibald hinzu, ſind die noch groͤßern Theegeſellſchaften und kalten Abendmahlzeiten, wo das Vergnuͤgen erhoͤht wird, indem alles durch einander laͤuft, und wie in der Sprachverwir -rung81Einleitung.rung die Bedienten gerufen und ungerufen mit allen moͤglichen Erfriſchungen balanzirend dazwi - ſchen tanzen, jeder Geladene durch alle Zimmer ſchweift, um zu ſuchen, er weiß nicht was, und ein Ordnungsliebender gern am Ofen, oder an irgend einem Fenſter Poſto faßt, um in der all - gemeinen Flucht nur nicht umgelaufen, oder von der voͤlkerwandernden Unterhaltung erfaßt und mitgenommen zu werden.

Dieſes, ſagte Manfred, iſt der wahre hohe Styl unſers geſelligen Lebens, Michel Angelo's juͤngſtes Gericht gegen die Miniaturbilder alter Gaſtlichkeit und traulicher Freundſchaft, der Be - ſchluß der Kunſt, das Endziel der Imagination, die Vollendung der Zeiten, von der alle Prophe - ten nur haben weiſſagen koͤnnen.

Vergeſſen wir nur nicht, unterbrach Ernſt, die Feſtlichkeiten des Mittelalters, wo nicht ſel - ten Tauſende vom Adel als Gaͤſte verſammelt waren; doch hatte jener freimuͤthige frohe Sinn nichts von der Zerſtreutheit unſerer Zeit, und ihre glaͤnzenden Waffenkaͤmpfe, dieſe Spiele, bei denen die Kraft mit der Gefahr ſcherzte, verei - nigten alle Gemuͤther zu einem herrlichen Mittel - punkte hin. Die Schaͤtze der Welt ſind wohl noch niemals ſo oͤffentlich und in ſo ſchoͤnem großen Sinne genoſſen worden.

Wie ſoll denn nun aber nach deiner Vor - ſtellung ein Gaſtmahl endigen? fragte Wilibald; was ſollte denn wohl auf dieſen luſtigen Leicht -I. [6]82Einleitung.ſinn folgen koͤnnen, um wuͤrdig zu beſchließen, oder wieder in das gewoͤhnliche Leben einzu - lenken?

Der orientaliſche Ernſt des Caffee, ant - wortete Lothar, und nach dieſem, wie neulich ſchon ausgemacht wurde, vielleicht ſogar die Pfeife. Da befinden wir uns ploͤtzlich wieder in der Mitte eines herabgeſtimmten Lebens, und denken an unſere vorige Luſt nur wie an einen Traum zuruͤck.

Sollte man ſo bewußtvoll leben, eſſen und trinken, warf Clara ein, ſo waͤre es eben eine herzliche Laſt, ſich mit dem Leben uͤberall ein - zulaſſen.

Es koͤmmt wohl nur auf die Uebung an, ſagte Theodor, haben doch Elephanten gelernt auf dem Seile tanzen. Die meiſten Menſchen machen ſich außerdem ihr Leben noch viel be - ſchwerlicher, und ſie leben es doch ab: o wahr - lich, haͤtten ſie nur etwas Leichtſinn in den Kauf bekommen, ſo entſchloͤſſen ſich viele, ſich ſterben zu laſſen.

Ich ſage ja nur, antwortete Lothar, daß uns dunkel dergleichen Vorſtellung eines Dra - ma vorſchwebt, wie bei allen Dingen, in die wir uns beſtreben Sinn und Zuſammenhang hinein zu bringen.

Da man ſich ſchon dem Nachtiſche naͤherte, ſo ließ Manfred heißern Wein geben und ermun - terte ſeine Freunde zum Trinken. Du wollteſt,83Einleitungduͤnkt mich, noch uͤber die Tiſchgeſpraͤche etwas ſagen, ſo wandte er ſich nach einiger Zeit an Lothar.

Ich wollte noch bemerken, antwortete die - ſer, daß nicht jedes Geſpraͤch, auch wenn es an ſich gut iſt, an die Tafel paßt, oder wenig - ſtens nicht in jede Geſellſchaft. Beim ſtillen haͤuslichen Mahl darf unter wenigen Freunden oder in der Familie mehr Ernſt, ſelbſt Unter - richt und Gruͤndlichkeit herrſchen, je mehr es ſich aber dem Feſte naͤhert, um ſo mehr muͤſſen Geiſt und Frohſinn an die Stelle treten.

Frage nun, ſagte Wilibald, ob wir auch die gehoͤrigen Diskurſe fuͤhren? Biſt du, drama - tiſcher Lothar, in deinem Gewiſſen ganz beruhigt?

Auch hiebei, erwiederte dieſer, iſt das gute Beſtreben, alles was wir geben koͤnnen, auch hier muß jenes Gluͤck unſichtbar hinzutreten und die letzte Hand anlegen, um ein erfreuliches wahres Kunſtwerk hervor zu bringen.

Waͤhrend dieſer Geſpraͤche, ſagte Manfred, iſt mir eingefallen, daß ich wohl unſre Schrift - ſteller und Dichter nach meinem Geſchmack mit den verſchiedenartigen Gerichten vergleichen koͤnnte.

Zum Beiſpiel? fragte Auguſte; das waͤre eine Geſchmackslehre, die mir ſehr willkommen ſein wuͤrde, und wonach ich mir alles am beſten merken und eintheilen koͤnnte.

Ein andermal, ſagte Manfred, wenn du fuͤr dergleichen ernſthafte Dinge mehr geſtimmt84Einleitung.biſt, jetzt wuͤrdeſt du es wohl nur ſehr frivol aufnehmen, und ich bin doch uͤberzeugt, daß dieſe Vergleichungen ſich eben auch ſo gruͤndlich durchfuͤhren laſſen, wie alle uͤbrigen.

Es war eine Zeit, ſagte Emilie, in der es die Schriftſteller, die uͤber die Poeſie ſchrieben, niedrig und gemein finden wollten, das Ge - ſchmack zu nennen, was in Werken der Kuͤnſte das Gute von dem Schlechten ſondert.

Das war eben in jener geſchmackloſen Zeit, ſagte Theodor.

Wer noch nie uͤber das Tiefe und Innige des Geſchmacks, uͤber ſeine chemiſchen Zerſetzun - gen und univerſellen Urtheile nachgedacht hat, verſetzte Ernſt, der duͤrfte nur einiges uͤber die - ſen Gegenſtand in den Schriften mancher My - ſtiker leſen, um zu erſtaunen, und die Veraͤch - ter dieſes Sinnes zu verachten.

Er duͤrfte auch nur hungern, ſagte Wili - bald, und dann eſſen.

Lieber noch durſten, ſagte Anton, und dann trinken, indem er ſelber bedaͤchtig trank.

Am kuͤrzeſten iſt es 'gewiß, antwortete Friede - rich, indeß wie ſelten werden wir darauf gefuͤhrt, das zu beobachten, und uns uͤber dasjenige zu unterrichten, was wir in uns Inſtinkt nennen, und doch iſt der Philoſoph nur ein unvollkom - mener, der in dieſe Gegend ſeinen ſpaͤhenden Geiſt noch niemals ausgeſendet hat.

So iſt es freilich mit allen Sinnen, fuhr85Einleitung.Ernſt fort, auch mit denen, die ſchon dem Ge - danken verwandter ſcheinen, wie das Ohr und das noch hellere Auge. Wie wunderſam, ſich nur in eine Farbe als bloße Farbe recht zu ver - tiefen? Wie kommt es denn, daß das helle ferne Blau des Himmels unſre Sehnſucht erweckt, und des Abends Purpurroth uns ruͤhrt, ein helles goldenes Gelb uns troͤſten und beruhigen kann, und woher nur dieſes unermuͤdete Ent - zuͤcken am friſchen Gruͤn, an dem ſich der Durſt des Auges nie ſatt trinken mag?

Auf heiliger Staͤtte ſtehen wir hier, ſagte Friedrich, hier will der Traum in uns in noch ſuͤßeren, noch geheimnißvolleren Traum zerflie - ßen, um keine Erklaͤrung, wohl aber ein Ver - ſtaͤndniß, ein Sein im Befreundeten ſelbſt hin - ein zu wachſen und zu erbilden: hier findet der Seher die goͤttlichen ewigen Kraͤfte ihm begeg - nend, und der Unheilige laͤßt ſich an der nem - lichen Schwelle zum Goͤtzendienſte verlocken.

Die Kunſt, ſagte Manfred, hat dieſe Ge - heimniſſe wohl unter ihren vielfarbigen Mantel genommen, um ſie den Menſchen ſittſam und in fliehenden Augenblicken zu zeigen, dann hat ſie ſie uͤber ſich ſelbſt vergeſſen, und phantaſirt ſeitdem ſo oft in allen Toͤnen und Erinnerun - gen, um dieſe alten Toͤne und Erinnerungen wieder zu finden. Daher die wilde Verzweif - lung in der Luft mancher bacchantiſchen Dichter; es reißen ſich wohl Laute in ſchmerzhafter uͤppi -86Einleitung.ger Freude, in der Angſt keine Scheu mehr achtend, aus dem Innerſten hervor, und ver - rathen, was der heiligere Wahnſinn verſchweigt. So wollten wild ſchwaͤrmende Corybanten und Prieſterinnen ein Unbekanntes in Raſerei ent - decken, und alle Luft die uͤber die Graͤnze ſchweift nippt von dem Kelch der Ambroſia, um Angſt und Wuth mit der Freude laut tobend zu ver - wirren. Auch der Dichter wird noch einmal erſcheinen, der dem Grauſen und der Wolluſt mehr die Zunge loͤßt.

Schon glaub 'ich die Maͤnade zu hoͤren, ſagte Ernſt, nur Paukenton und Cymbelnklang fehlt, um dreiſter die Worte tanzen zu laſſen, und die Gedanken in wilderer Geberde.

Seyn wir auch im Phantaſiren maͤßig, und auch im Aberwitz noch ein wenig witzig, bemerkte Wilibald.

Ja wohl, fuͤgte Auguſte hinzu, ſonſt koͤnnte man vor dergleichen Reden eben ſo angſt, wie vor Geſpenſtergeſchichten werden; das beſte iſt, daß keiner ſich leicht dergleichen wahrhaft zu Gemuͤth zieht, ſonſt moͤchten ſich vielleicht wun - derliche Erſcheinungen aufthun.

Du ſprichſt wie eine Seherinn, ſagte Man - fred, dieſer Leichtſinn und dieſe Traͤgheit erhaͤlt den Menſchen und giebt ihm Kraft und Aus - dauer zu allem Guten, aber beide reißen ihn auch immerdar zuruͤck von allem Guten und87Einleitung.hohen, und weiſen ihn wieder auf die niedrige Erde an.

Es gemahnt mir, bemerkte Theodor unhoͤf - lich, wie die Hunde, die, wenn auch noch ſo geſchickt, nicht lange auf zwei Beinen dienen koͤnnen, ſondern immer bald wieder zu ihrem Wohlbehagen als ordinaͤre Hunde zuruͤck fallen.

Laßt uns alſo, erinnerte Wilibald, auch ohne Hunde zu ſein, auf der Erde bleiben, denn gewiß iſt alles gut, was nicht anders ſein kann.

Wir ſprachen ja von Kuͤnſten, fuhr Theodor fort, und ich erinnere mich dabei nur mit Ver - druß, daß ein Menſch, der ſeine Hunde ihre mannigfaltigen Geſchicklichkeiten oͤffentlich zeigen ließ, jeden ſeiner Scholaren mit der groͤßten Ernſt - haftigkeit und Unſchuld einen Kuͤnſtler nannte.

O welch liebliches Licht, rief Roſalie aus, breitet ſich jetzt nach dem ſanften Regen uͤber unſern Garten! So iſt wohl dem zu Muthe, der aus einem ſchweren Traum am heitern Mor - gen erwacht.

Ich werde nie, ſagte Ernſt, den lieblichen Eindruck vergeſſen, den mir dieſer Garten mit ſeiner Umgebung machte, als ich ihn zuerſt von der Hoͤhe jenes Berges entdeckte. Du hatteſt mir dort, in der Waldſchenke, mein Freund Man - fred, nur im allgemeinen von dieſer Gegend erzaͤhlt, und ich ſtellte mir ziemlich unbeſtimmt eine Sammlung gruͤner Gebuͤſche vor, die man ſo haͤufig jetzt Garten nennt; wie erſtaunte ich,88Einleitung.als wir den rauhen Berg nun erſtiegen hatten, und unter mir die gruͤnen Thaͤler mit ihren blitzenden Baͤchen lagen, ſo wie die zuſammen - ſchlagenden Blaͤtter eines herrlichen alten Ge - dichtes, aus welchem uns ſchon einzelne liebliche Verſe entgegen aͤugeln, die uns auf das Ganze um ſo luͤſterner machen: nun entdeckt 'ich in der gruͤnenden Verwirrung das hellrothe Dach dei - nes Hauſes und die reinlich glaͤnzenden Waͤnde, ich ſah in den viereckten Hof hinein, und dane - ben in den Garten, den gerade Baumgaͤnge bil - deten und verſchloſſene Lauben, die Wege ſo genau abgemeſſen, die Springbrunnen ſchim - mernd; alles dies ſchien mir eben ſo wie ein helles Miniaturbild aus beſchriebenen Perga - mentblaͤttern alter Vorzeit entgegen, und befan - gen von poetiſchen Erinnerungen fuhr ich herun - ter, und ſtieg noch mit dieſen Empfindungen in deinem Hauſe ab, wo ich nun alles ſo lieblich und reizend gefunden habe. Ich geſtehe gern, ich liebe die Gaͤrten vor allen, die auch unſern Vorfahren ſo theuer waren, die nur eine gruͤ - nende geraͤumige Fortſetzung des Hauſes ſind, wo ich die geraden Waͤnde wieder antreffe, wo keine unvermuthete Beugung mich uͤberraſcht, wo mein Auge ſich ſchon im voraus unter den Baum - ſtaͤmmen ergeht, wo ich im Freyen die großen und breiten Blumenfelder finde, und vorzuͤglich die lebendigen ſpielenden Waſſerkuͤnſte, die mir ein unbeſchreibliches Wohlgefallen erregen.

89Einleitung.

Mit derſelben Empfindung, antwortete Man - fred, betrat ich zuerſt dieſe Gegend, dieſer Gar - ten lockte mich ſogleich freundlich an. Ich liebe es, im Freyen geſellſchaftlich wandeln zu koͤnnen, im ungeſtoͤrten Geſpraͤch, die Blumen ſehen mich an, die Baͤume rauſchen, oder ich hoͤre halb auf das Geſchwaͤtz der Brunnen hin; belaͤſtigt die Sonne, ſo empfangen uns die dichtverfloch - tenen Buchengaͤnge, in denen das Licht zum Smaragd verwandelt wird, und wo die lieblich - ſten Nachtigallen flattern und ſingen.

Mit Entzuͤcken, ſo redete Ernſt weiter, muß ich an die ſchoͤnen Gaͤrten bei Rom und in man - chen Gegenden Italiens denken, und ſie haben meine Phantaſie ſo eingenommen, daß ich oft des Nachts im Traum zwiſchen ihren hohen Myr - then - und Lorbeergaͤngen wandle, daß ich oft - mals, wie die unvermuthete Stimme eines lange abweſenden Freundes, das liebliche Sprudeln ihrer Brunnen zu vernehmen waͤhne. Hat ſich irgendwo ein edles Gemuͤth ſo ganz wie in ei - nem vielſeitigen Gedicht ausgeſprochen, ſo iſt es vor allen dasjenige, welches die Borgheſiſche Villa angelegt und ausgefuͤhrt hat. Was die Welt an Blumen und zarten Pflanzen, an ho - hen ſchoͤnen Baͤumen beſitzt, allen Reitz großer und freier Raͤume, wo uns labend die Luft des heitern Himmels umgiebt, labyrinthiſche Baum - gewinde, wo ſich Epheu um alte Staͤmme im Dunkel ſchlingt, und in der ſuͤßen Heimlichkeit90Einleitung.kleine Brunnen in perlenden Stralen klingend tropfen, und Turteltauben girren: der anmuthigſte Wald mit wilden Hirſchen und Rehen, Feld und Wieſen dazwiſchen, und Kunſtgebilde an den bedeutendſten Stellen, alles findet ſich in dieſem elyſiſchen Garten, deſſen Reitze nie ver - alten, und der jetzt eben wieder wie eine Inſel der Seligen vor meiner Einbildung ſchwebt.

Doch hab 'ich in vielen Buͤchern geleſen, wandte Emilie ein, daß die Gartenkunſt der Italiaͤner noch in der Kindheit ſei, und daß ſie weit hinter den Deutſchen zuruͤckſtehen.

In allen menſchlichen Angelegenheiten, ant - wortete Ernſt, herrſcht die Mode, aus der ſich, wenn ſie erſt weit um ſich gegriffen hat, leicht Sektengeiſt erzeugt, welchen man oft genug als Fortſchritt der Kunſt oder Menſchheit unter dem Namen des Geiſtes der Zeit muß preiſen hoͤ - ren, und ſo gehoͤren auch dieſe Aeußerungen und Glaubensmeinungen in das Syſtem ſo mancher andern, gegen die ich mich faſt unbedingt erklaͤ - ren moͤchte. Wo ſind denn in Deutſchland die vortreflichen Gaͤrten im ſogenannten Engliſchen Geſchmack, gegen die der gebildete Sinn nicht ſehr Vieles einzuwenden haͤtte?

Sprechen ſie weiter! rief Clara lebhaft; ſchon einige empfindſame Reiſende haben unſern muntern Garten als altfraͤnkiſch getadelt und meiner Mutter auf vielfache Weiſe gerathen, ei - nen krummen, und wenn man den naͤchſten Huͤ -91Einleitung.gel mit hinein zoͤge, auch auf - und abſteigen - den Park mit allen moͤglichen Effekten, anzule - gen, und meine gute Mutter hatte ſich ſchon vor einigen Jahren nicht abgeneigt gezeigt, ſo daß ich ſchon fuͤr meine Blumenbeete und fuͤr die Waſſerkuͤnſte, die ſelbſt in der Stille der Nacht fortlachen, gezittert habe.

Wir duͤrfen nur, fuhr Ernſt fort, auf das Beduͤrfniß zuruͤck gehn, aus welchem unſre Gaͤr - ten entſtanden ſind, um auf dem kuͤrzeſten Wege einzuſehn, welche Anlagen im Allgemeinen die richtigeren ſein moͤgen. Der Landmann hat ne - ben ſeiner einfachen Wohnung ſeinen Baumgar - ten, der ihm vor ſeiner Thuͤr Fruͤchte und Kuͤ - chengewaͤchſe liefert, gern laͤßt er das Gras zwi - ſchen den Baͤumen wachſen, ſowohl, weil er es ebenfalls nutzen kann, als auch weil es ihm Ar - beit erſpart, indem er es ſchont. Sehn wir in dieſer wilden gruͤnen Anſtalt noch irgend ein Fleckchen den Gartenblumen beſonders gewidmet und mit Liebe ausgeſpart, ſo hat dieſe natuͤr - lichſte Anlage, im Gebirge wie im flachen Lande, einen gewiſſen Zauber, der uns ſtill und ruͤh - rend anſpricht, ja in der Bluͤthenzeit kann ein ſolcher Raum mit ſeinen dicht gedraͤngten Baͤu - men entzuͤckend ſein. Dieſe ſind unter den Gaͤr - ten die wahren Idyllen, die kleinen Naturge - dichte, die eben deswegen gefallen, weil ſie von aller Kunſt voͤllig ausgeſchloſſen ſind.

Ein Muͤhlbach, der an ſolchem Garten vor -92Einleitung.uͤberrinnt, ſagte Clara, und Laͤmmchen drinne huͤpfend und bloͤkend in der Fruͤhlingszeit, und krausbebuſchte Berge dahinter, aus denen ein Holzſchlag in den Geſang der Waldvoͤgel toͤnt, dies kann vorzuͤglich Abends, oder am fruͤhſten Morgen ſo himmliſche Eindruͤcke von Ruhe, Ein - ſamkeit und lieblicher Befangenheit erregen, daß unſer Gemuͤth in dieſen Augenblicken ſich nichts Hoͤheres wuͤnſchen kann.

Die Gaͤrten der alten Burgen und Schloͤſ - ſer waren auf ihren Hoͤhen gewiß nur beſchraͤnkt, ſagte Ernſt, der jagdliebende Ritter lebte im Walde, oder auf Reiſen und Turniren, oder in Fehden und Kriegen. Als die neueren Pallaͤſte entſtanden und die fuͤrſtliche Architektur, als mit dem milderen Leben Kunſt, Witz und heitere Ge - ſelligkeit in die Schloͤſſer der Großen und Rei - chen zogen, wandte ſich die architektoniſche Regel ebenfalls in die Gaͤrten; in ihnen ſollte dieſelbe Reinlichkeit und Ordnung herrſchen, wie in den Saͤulengaͤngen und Saͤlen der Pallaͤſte, ſie ſoll - ten der Geſelligkeit den heiterſten Raum gewaͤh - ren, und ſo entſtanden die regelmaͤßigen, weiten und vielfachen Baumgaͤnge, ſo wurde der un - ordentliche Wuchs zu gruͤnen Waͤnden erzogen, Huͤgel ordneten ſich in Terraſſen und bequemen breiten Treppen, die Blumen ſtanden in Reihen und Beeten, und alles Wildſcheinende, ſo wie alles, was an das Beduͤrfniß erinnert, wurde ſorgfaͤltigſt entfernt; auf großen runden oder vier -93Einleitung.eckten Plaͤtzen ſuchte man gern die Fruͤhlings - ſonne, die dichten Baumſchatten waren zu Boͤ - gen gegen die Hitze gewoͤlbt, verflochtene Lau - bengaͤnge waren kuͤnſtlich ſelbſt mit unſichtbaren Kaͤfigen umgeben, in denen Voͤgel aller Art in ſcheinbarer Freiheit ſchwaͤrmten; die Springbrun - nen, die die Stille unterbrachen und wie Na - turmuſik dazwiſchen redeten, und deren geord - nete Stralen und Stroͤme in vielfachen Linien aus Muſcheln, Seepferden und Statuen von Waſſergoͤttern ſich ebenfalls nach Regeln erho - ben, dienten als phantaſtiſcher Schmuck dem wohl - berechneten Ganzen. Der bunte gruͤnende Raum war Fortſetzung der Saͤle und Zimmer, fuͤr viele Geſellſchaften geeignet, den mannigfaltigſten Sin - nen zubereitet, dem Geraͤuſch und Prunk anpaſ - ſend, und auch in der Einſamkeit ein lieblicher Genuß, denn der Frohwandelnde, wie jener, der ſich in ſtille Betrachtung ſenkt, fand nichts, was ihn ſtoͤrte und irrte, ſondern die lebendige Na - tur umgab ſie zauberiſch in denſelben Regeln, in denen der Menſch von Verſtand und Vernunft, und der innern unſichtbaren Mathematik ſeines Weſens ewig umſchloſſen iſt.

Siehſt du, liebe Mutter, ſagte Clara, welche philoſophiſche Miene unſer oft getadelte Garten anzunehmen weiß, wenn er nur ſeinen Sachwal - ter findet?

Alles, was ich ſagen kann, fuhr Ernſt fort, ſteht ſchon im Woldemar viel beſſer und gruͤnd -94Einleitung.licher, als Zurechtweiſung eines einſeitigen und mißverſtandenen Hanges zur Natur.

Finden Sie denn aber wirklich alle Gaͤrten dieſer Art ſchoͤn? fragte Auguſte.

So wenig, antwortete Ernſt, daß ich im Gegentheil viele geſehen habe, die mir durch ihre vollendete Abgeſchmacktheit eine Art von Grau - ſen erregt haben. Es giebt vielleicht in der gan - zen Natur keine traurigere Einſamkeit, als uns die erſtorbene Formel dieſer Gartenkunſt in dem barocken uͤbertriebenen Hollaͤndiſchen Geſchmack darbietet, wo es den Reitz ausmachen ſoll, die Baͤume nicht als ſolche wieder zu erkennen, wo Muſcheln, Porzellan und glaͤnzende Glaskugeln um fuͤrchterlich verzerrte Bildſaͤulen auf gefaͤrb - tem Sande ſtehn, wo das ſpringende Waſſer ſelbſt ſeine liebliche Natur eingebuͤßt hat, und zum Poſſenreißer geworden iſt, und wo auch ſo - gar der heiterſte blaue Himmel nur wie ein ern - ſtes mißbilligendes Auge uͤber dem vollendeten Unfug ſteht: Mond und Sterne uͤber dieſen Fra - tzen leuchtend und ſchimmernd, ſind furchtbar, wie die lichten Gedanken im Geſchwaͤtz eines Verruͤckten.

Vom Waſſer, fiel Theodor ein, wird uͤber - haupt oft ein kindiſcher Mißbrauch gemacht, dieſe Vexirkuͤnſte, um uns ploͤtzlich naß zu machen, ſind den abgeſchmackten neumodiſchen Geſpenſterge - ſchichten mit natuͤrlichen Erklaͤrungen zu verglei - chen; der Verdruß iſt viel groͤßer als der Schreck.

95Einleitung.

Da man nun ſo haͤufig, ſprach Ernſt wei - ter, dieſe Geſpenſter von Gaͤrten ſah, ſo er - wachte zu derſelben Zeit, als man in allen Kuͤn - ſten die Natuͤrlichkeit forderte, auch in der Gar - tenkunſt bei unſern Landsleuten ein gewiſſer Sinn fuͤr Natur. Wir hoͤrten von den Engliſchen Parks, von denen viele in der That in hoher Schoͤnheit prangen, und ſo fing man denn in Deutſchland ebenfalls an, mit Baͤumen, Stau - den und Felſen auf mannichfache Weiſe zu ma - len, lebendige Waſſer und Waſſerfaͤlle mußten die ſpringenden Brunnen verdraͤngen, ſo wie alle geraden Linien nebſt allem Anſchein von Kunſt verſchwinden mußten, um der Natur und ihren Wirkungen auf unſer Gemuͤth Raum zu gewaͤh - ren. Weil man ſich nun hier in einem unbe - ſchraͤnkten Felde bewegte, eigentlich keine Vor - bilder zur Nachahmung vor ſich hatte, und der Sinn, der auf dieſe Weiſe malen und zuſam - men ſetzen ſoll, vom feinſten Geſchmack, vom zarteſten Gefuͤhl fuͤr das Romantiſche der Na - tur geleitet werden muß, ja, weil jede Lage, jede Umgebung einen eigenthuͤmlichen Garten die - ſer Art erfordert, und jeder alſo nur einmal exiſtiren kann, ſo konnte es nicht fehlen, daß man von jenem aͤchten Naturſinn verlaſſen, in Verwirrung gerieth, und bald Gaͤrten entſtan - den, die nicht weniger widerlich, als jene Hol - laͤndiſchen waren. Bald genuͤgten die Effekte der Natur und der ſinnigen Baͤume und Pflan -96Einleitung.zen nicht mehr, dem bizarren Streben waren dieſe Wirkungen zu gelinde, man baute Felſen - maſſen, Labyrinthe, haͤngende Bruͤcken, chineſi - ſche Thuͤrmchen auf ſteilen Abhaͤngen, gothiſche Burgen, Ruinen aller Art, und ſo waren dieſe verworrenen Raͤume am Ende mehr auf ein unangemehmes Erſchrecken, oder unbehagliche Aengſtlichkeit, als fuͤr einen ſtillen Genuß einge - richtet.

Und dabei doch alles kleinlich, fiel Manfred ein, nicht phantaſtiſch, ſondern nur arm ſind dieſe Tempel der Nacht und der Sonne, mit ihren bunten affektirten Lichtern, und kommen nicht einmal unſern gewoͤhnlichſten Theater-Ef - fekten gleich.

Fuͤr das Erſchrecken reizbarer oder traͤume - riſcher Menſchen iſt oft hinlaͤnglich geſorgt, ſagte Anton, wenn unvermuthet ein Bergmann aus einem Schacht neben dem Wege heraus zu ſtei - gen ſcheint, oder im einſamen Dikkicht eine an - dre widrige Puppe als Eremit vor einem Cru - cifixe kniet. Selbſt Schaͤdel und Beingerippe muͤſſen dem Wandelnden zum Ergoͤtzen dienen.

Ohne weiteren Schreck, ſagte Wilibald, er - regen ſchon die krummen, ewig ſich verwickeln - den Wege Angſt genug. Man ſieht Menſchen in der Ferne und vermuthet einen Freund unter dieſen; aber wie in aller Welt ſoll man es an - ſtellen, ſich ihnen zu naͤhern? Man nimmt die Richtung nach jenem Punkt, allein der Weg laͤßtſich97Einleitung.ſich nicht ſo gehn, wie du moͤchteſt, bald biſt du hinter deinem vorigen Standpunkte zuruͤck, und ſo iſt es auch wahrſcheinlich jenem druͤben er - gangen; tagelang rennt man ſich aus dem Wege, wenn man ſich nicht in einer albernen Moſchee, oder Otahitiſchen Huͤtte, in die man gegen den Regen unterduckt, ganz unvermuthet findet.

Eben ſo wenig, fuhr Theodor fort, kannſt du aber dem ausweichen, dem du nicht be - gegnen willſt, und das iſt oft noch ſchlimmer. Nichts alberneres, als zwei Menſchen, die ſich nicht leiden moͤgen, und die ſich ploͤtzlich in ge - zwungener Einſamkeit in einer dunkeln Grotte eng neben einander befinden, da brummt man was von ſchoͤner Natur und rennt aus einan - der, als muͤßte man die naͤchſte Schoͤnheit noch eilig ertappen, die ſich ſonſt vielleicht auf fluͤch - tigen Fuͤßen davon machen moͤchte; und, ſiehe da, indem du dich bald nachher eine enge Fel - ſentreppe hinauf quaͤlſt, kommt dir wieder die fatale Perſonage von oben herunter entgegen ge - ſtiegen, man muß ſich ſogar beim Vorbeidraͤn - gen koͤrperlich beruͤhren, eine nothgedrungene Freundlichkeit anlegen, und der lieben Humani - taͤt wegen recht entzuͤckt ſein uͤber das herrlich romantiſche Weſen, um nur der leidigen Ver - ſuchung auszuweichen, jenen in den zauber - aber nicht waſſerreichen Waſſerfall hinab zu ſtoßen. Die Entdeckung und Anpflanzung der Lombardi - ſchen Pappel, die weder Geſtalt noch Farbe hat,I. [7]98Einleitung.iſt den Verfertigern der ſchoͤnen Natur ſehr zu ſtatten gekommen, ihrem Wirrwarr recht eilig auf die Beine helfen zu koͤnnen. Das Zeug waͤchſt faſt zuſehends, und nun haben unſre guten al - ten einheimiſchen Baͤume das Nachſehn. Dieſe Pappeln ſind mir in geraden und krummen Gaͤn - gen gleich widerwaͤrtig. Wie ſchoͤn ſind unſre alten Linden, die vormals ſo manche Landſtraße zierten, wie erfreulich die ehrwuͤrdigen Nußbaͤume der Bergſtraße, und wie melankoliſch ſind die Pappelgaſſen, die ſich um Carlsruh nach allen Seiten in das Land ſo finſter hinaus ſtrecken.

In gebirgigen Gegenden, ſagte Friedrich, ſcheint mir ein Garten, wie dieſer hier, nicht nur der angemeſſenſte, ſondern auch ohne Frage der ſchoͤnſte, denn nur in dieſem kann man ſich von den erhabenen Reizen und großen Ein - druͤcken erholen, die die maͤchtigen Berge beim Durchwandeln in uns erregen. Jedes Beſtreben hier etwas Romantiſches erſchaffen, und Baum und Waldgegenden malen zu wollen, wuͤrde jenen Waͤldern und Felſenſchluften, den wun - derſamen Thaͤlern, der majeſtaͤtiſchen Einſamkeit gegenuͤber nur albern erſcheinen. So aber liegt dieſer Garten in ſtiller Demuth zu den Fuͤßen jener Rieſen, mit ihren Waͤldern und Waſſer - baͤchen, und ſpielt mit ſeinen Blumen, Lauben - gaͤngen und Brunnen wie ein Kind in einfaͤlti - gen Phantaſien. Dagegen iſt mir in einer der traurigſten Gegenden Deutſchlands ein Garten99Einleitung.bekannt, der allen romantiſchen Zauber auf die ſinnigſte Weiſe in ſich vereinigt, weil er, nicht um Effekt zu machen, ſondern um die inner - lichen Bildungen eines ſchoͤnen Gemuͤthes in Pflanzen und Baͤumen aͤußerlich zu erſchaffen vollendet wurde; in jener Gegend, wo der edle Herausgeber der Arethuſa nach alter Weiſe im Kreiſe ſeiner liebenswuͤrdigen Familie lebt; die - ſer gruͤne, herrliche Raum ſchmuͤckt wahrhaft die dortige Erde, von ihm umfangen vergißt man das unfreundliche Land, und waͤhnt in lieblichen Thaͤlern und goͤttergeweihten Hainen des Alter - thums zu wandeln; in jedem Freunde der Na - tur, der dieſe liebliche Schatten beſucht, muͤſſen ſich dieſelben heitern Gefuͤhle erregen, mit denen der ſinnvolle Pflanzer die anmuthigſte Landſchaft hier mit dem Schmuck der ſchoͤnſten Baͤume dichtete, die auf ſanften Huͤgeln und in ſtillen Gruͤnden mannichfaltig wechſelt, und durch ruͤh - rende Reize den Sinn des Gebildeten beruhigt und befriedigt. Denn ein wahres und vollkom - menes Gedicht muß ein ſolcher Garten ſein, ein ſchoͤnes Individuum, das aus dem eigenſten Gemuͤthe entſprungen iſt, ſonſt wird ihm der Vorwurf jener oben geruͤgten Verwirrung und Unerfreulichkeit gewiß nicht entſtehn koͤnnen.

Die Damen machten ſchon Miene ſich zu erheben, als Manfred rief: nur noch dieſe Fla - ſche, meine Freunde, des lieblichen Conſtanzer -100Einleitung.weins, jedem ein volles Glas, und mit ihm trinke jeder eine Geſundheit recht von Herzen!

Ernſt erhub das fluͤſſige Gold, und ſagte nicht ohne Feierlichkeit: Wohlauf, er lebe, der Vater und Befreier unſrer Kunſt, der edle deut - ſche Mann, unſer Goͤthe, auf den wir ſtolz ſein duͤrfen, und um den uns andre Nationen be - neiden werden!

Alle ſtießen an, und als Theodor an ein neuliches Geſpraͤch erinnern wollte, rief Man - fred: nein, Freunde, keine Kritiken jetzt, alle Freude unſrer Jugend, alles was wir ihm zu danken haben, vereinigen wir in unſerer Erinn - erung in dieſem Augenblick!

Wilibald ſagte: du haſt Recht, der Mo - ment begeiſterter Liebe kann nur Liebe ſein, und darum laßt uns Schillers Andenken mit ſeinem Rahmen vereinigen, deſſen ernſter groß ſtreben - der Sinn wohl noch laͤnger unter uns haͤtte ver - weilen ſollen.

Ich trinke dieſes Glas, ſprach Anton bewegt, dem edelſten und freundlichſten Gemuͤth, dem liebenswuͤrdigſten Greiſe, dem es wohl gehen moͤge, dem Weiſen, der nie Sektirer war, dem kindlichen Jacobi, den uns ein ſanftes Schick - ſal noch viele Jahre goͤnnen moͤge!

Wir endigen unſer Mahl feierlich, ſagte Emilie, man kann ſich der Ruͤhrung nicht erweh - ren, auf dieſe Weiſe an geliebte Abweſende zu denken.

101Einleitung.

Ergeben wir uns, rief Manfred lebhaft aus, dieſer ſchoͤnen Bewegung, und darum ſtoßt an, und feiert hoch das Andenken unſers phantaſie - vollen, witzigen, ja wahrhaft begeiſterten Jean Paul! Nicht ſollſt du ihn vergeſſen, du deutſche Jugend. Gedankt ſei ihm fuͤr ſeine Irrgaͤrten und wundervollen Erſinnungen: moͤchte er in dieſem Augenblick freundlich an uns denken, wie wir uns mit Ruͤhrung der Zeit erinnern, als er gern und mit ſchoͤner Herzlichkeit an unſerm Kreiſe Theil nahm!

Nie ſei vergeſſen, rief Theodor mit einem Ernſt, der an ihm nicht gewoͤhnlich war, das bruͤderliche Geſtirn deutſcher Maͤnner, unſer Fried - rich und Wilhelm Schlegel, die ſo viel Schoͤnes befoͤrdert und geweckt haben: des einen Tiefſinn und Ernſt, des andern Kunſt und Liebe ſei von dankbaren Deutſchen durch alle Zeiten gefeiert!

So ſei es denn erlaubt, ſprach Lothar, einen Genius zu nennen, der ſchon lange von uns geſchieden iſt, der aber uns wohl umſchweben mag, wenn alle Herzen mit innerlichſter Sehn - ſucht und Verehrung ihn zu ſich rufen: der große Britte, der aͤchte Menſch, der Erhabene, der immer Kind blieb, der einzige Shakſpear ſei von uns und unſern Nachkommen durch alle Zeital - ter geprieſen, geliebt und verehrt!

Alle waren in ſtuͤrmiſcher Bewegung und Friedrich ſtand auf und ſagte: ja, meine Gelieb - ten, wie wir hier nun beiſammen ſind in Freund -102Einleitung.ſchaft und Liebe und dadurch eins, ſo umgiebt uns auch aus der Ferne das Angedenken edler Freunde, und ihre Herzen ſind vielleicht eben jetzt hierher gewendet; aber auch den Abgeſchie - denen zieht unſer Glaube andaͤchtig zu unſern Mahlen, Freuden und Scherzen, mit Sehnſucht, Liebe und Freudenthraͤnen herbei, und ſo be - ſchließt ſich am wuͤrdigſten ein heitrer Genuß; der Tod iſt keine Trennung, ſein Antlitz iſt nicht furchtbar: opfert dieſe letzten Tropfen dem viel - geliebten Novalis, dem Verkuͤndiger der Reli - gion, der Liebe und Unſchuld, er ein ahndungs - volles Morgenroth beſſerer Zukunft.

Roſalie ſtieß ſtillſchweigend und geruͤhrt mit an: ihm ſollen die Frauen danken, ſprach ſie leiſe und bewegt. Alle erhuben ſich, die Freunde umarmten ſich ſtuͤrmiſch und jedem ſtanden Thraͤ - nen in den Augen. Man ging ſchweigend in den Garten.

Die Geſellſchaft ſaß um den groͤßten Spring - brunnen, der in der Mitte des Gartens ſpielte, horchte auf das liebliche Getoͤn und fuͤhlte in dieſer Pauſe kein Beduͤrfniß, das Geſpraͤch fort zu ſetzen; endlich ſagte Clara: von allen Na - turerſcheinungen kommt mir das Waſſer als die wunderbarſte vor, denn es iſt nicht anders, wenn man recht darauf ſieht und hoͤrt, als wohne in ihm ein uns befreundetes Weſen, das uns ver - ſteht und ſich uns mittheilen moͤchte, ſo klar103Einleitung.und lockend ſchaut es uns an; es lacht mit uns, wenn wir froͤhlich ſind, es klagt und ſchluchzt, wenn wir trauern, es ſchwatzt und plaudert kin - diſch und thoͤricht, wenn wir uns zum Schwatzen aufgelegt fuͤhlen, kurz, es macht alles mit; auch toͤnt ein rauſchender Bach in der Einſam - keit der Gebirge wohl wie ein Orakel, von dem wir die prophetiſchen, tiefſinnigen Worte gern verſtehn lernen moͤchten. Wahrlich, kein Glaube iſt dem Menſchen ſo natuͤrlich, als der an Ni - xen und Waſſernymphen, und ich glaube auch, daß wir ihn nie ganz ablegen.

Anton, der neben ihr ſaß, ſah ſie mit einem freundlichen, faſt begeiſterten Blicke an, weil die - ſes Wort die theuerſte Gegend ſeines heimlichen Aberglaubens liebkoſend beſuchte; er wollte ihr etwas erwiedern, als Ernſt das Wort nahm und ſich ſo vernehmen ließ: nicht ſo willkuͤhr - lich, wie es auf den erſten Anblick ſcheinen moͤchte, haben die aͤlteſten Philoſophen, ſo wie neuere Myſtiker, dem Waſſer ſchaffende Kraͤfte und ein geheimnißvolles Weſen zuſchreiben wollen, denn ich kenne nichts, was unſre Seele ſo ganz unmit - telbar mit ſich nimmt, als der Anblick eines großen Stromes, oder gar des Meeres; ich weiß nichts, was unſern Geiſt und unſer Bewußtſein ſo in ſich reißt und verſchlingt, wie das Schau - ſpiel vom Sturz des Waſſers, wie des Teverone zu Tivoli, oder der Anblick des Rheinfalls. Dar - um ermuͤdet und ſaͤttigt dieſer wundervolle Ge -104Einleitung.nuß auch nicht, denn wir ſind uns, moͤchte ich ſagen, ſelbſt verloren gegangen, unſre Seele mit allen ihren Kraͤften brauſt mit den großen Wogen eben ſo unermuͤdlich den Abgrund hin - unter: das iſt es auch, daß wir vergeblich nach Worten ſuchen, mit Vorſtellungen ringen, um aus unſrer Bruſt die erhabene Erſcheinung wie - der auszutoͤnen, um in Ausdruͤcken der Sprache die gewaltige Leidenſchaft, den furchtbaren Zorn, den Trieb zur Vernichtung, das heftige Toben im Schluchzen und Weinen, das harte gellende Lachen in der tiefſinnigen Klage, vermiſcht mit uralten Erinnerungen, verwirrt mit den Ahn - dungen ſeltſamer Zukunft zu bilden und auszu - malen, und keiner Anſtrengung kann dieſes Be - ſtreben auch jemals gelingen.

Da die Sprache ſchon ſo unzulaͤnglich iſt, ſagte Lothar, ſo ſollten es ſich die Kuͤnſtler doch endlich abgewoͤhnen, Waſſerfaͤlle malen zu wol - len, denn ohne ihr ſinnvolles, in tauſendfachen Melodieen abwechſelndes Rauſchen ſehn auch die beſſern in ihrer Stummheit nur albern aus. Dergleichen Erſcheinungen, die keinen Moment des Stillſtandes haben und nur in ewigen Wech - ſel exiſtiren, laſſen ſich niemals auf der Leinwand darſtellen.

Darum, fuhr Friedrich fort, ſind Teiche, Baͤche, Quellen, ſanfte blaue Stroͤme, fuͤr den Landſchafter ſo vortrefliche Gegenſtaͤnde, und die - nen ihm vorzuͤglich, jene ſanfte Ruͤhrung und105Einleitung.Sehnſucht hervor zu bringen, die wir ſo oft beim Anblick des ruhigen Waſſers empfinden.

Die Menge der lebendigen rauſchenden Brun - nen, ſagte Ernſt, gehoͤrt zu den Wundern Roms, und ſie tragen mit dazu bei, den Aufenthalt in dieſer Stadt ſo lieblich zu machen. Entzuͤckt uns in freier Landſchaft oder in Gaͤrten das Spiel des Waſſers, ſo ergreift uns neben Pal - laͤſten und Kirchen, im Geraͤuſch der Straßen und Maͤrkte, dieſes toͤnende Rauſchen und Spru - deln noch ſeltſamer. Ich kann nicht ſagen, wie in der ſtillen Nacht der Abreiſe mich dieſe Brun - nen ruͤhrten, denn mir duͤnkte, daß ſie alle Ab - ſchied von mir naͤhmen, mir ein Lebewohl nach - riefen, und mich an alle Herrlichkeiten dieſer Hauptſtadt der Welt ſo wehmuͤthig erinnerten; ich begriff in dieſer Stunde nicht, wie ich mich vorher oft ſo innig nach Deutſchland hatte ſeh - nen koͤnnen, denn ſchon bevor ich aus dem Thor gefahren war, ſehnte ich mich herzlich nach Rom zuruͤck, wie viel mehr nicht ſeitdem!

So iſt der Menſch, fiel Theodor ein, nichts als Inkonſequenz und Widerſpruch! So hat Lo - thar uns heut weitlaͤufig auseinandergeſetzt, mit welcher Heiterkeit und mit welchem ausgelaſſe - nem Witze ſich ein Mahl beſchließen muͤſſe, und wir endigten es hoͤchſt unbedacht mit Ruͤhrung, was ganz gegen die Abrede war.

Doch nicht minder gut, ſagte Ernſt, denn wir waren auch in dieſer Bewegung froͤhlich. 106Einleitung.Ich verſtehe uͤberhaupt die Freude der meiſten Menſchen nicht. Scheint es doch, als muͤßten ſie alle Erinnerungen des wahren Lebens von ſich entfernt halten, um nur in blinder Zerſtreut - heit auf kuͤmmerliche Weiſe ſich das anzueignen, was ſie Ergoͤtzung und Froͤhlichkeit nennen. Die Fuͤlle des Lebens, ein geſundes kraͤftiges Gefuͤhl des Daſeins bedarf ſelbſt einer gewiſſen Trauer, um die Luſt deſto inniger zu empfinden, ſo wie dieſe Geſundheit die Tragoͤdie erfunden hat, und auch nur genießen kann. Je ſchwaͤcher der Menſch, je lebensmuͤder er wird, um ſo mehr hat er nur noch Freude am Lachen, und an dem kleinlichen Luſtſpiel neuerer Zeit. Geh dem aus dem Wege, der nur noch lachen mag und kann, denn mit dem Ernſt und der edlen Trauer iſt auch aller Inhalt ſeines Lebens entſchwunden; er iſt boͤs, wenn er etwas mehr als Thor ſein kann. Je hoͤher wir unſer Daſein in Luſt und Liebe empfinden, je lauter wir in uns aufjauch - zen in jenen ſeltenen Minuten, die uns nur ſparſam ein geizendes Schickſal goͤnnt, um ſo freigebiger und reicher ſollen wir uns auch in dieſen Sekunden fuͤhlen; warum alſo in die - ſen ſchoͤnſten Lebensmomenten unſre ehemaligen Freunde und ihre Liebe von uns weiſen? Hat der Tod ſie denn zu unſern Feinden gemacht? Oder iſt ihr Zuſtand nach unſrer Meinung ſo durchaus bejammernswerth, daß ihr Bild unſre Luſt zerſtoͤren muß? In jenen ſeligen Stimmun -107Einleitung.gen moͤchte ich ausrufen: laßt ſie zu uns, in unſre Arme, in unſre Herzen kommen, daß un - ſer Reichthum noch reicher werde! Koͤnnt ihr euch aber mit dem Glauben vertragen, daß ſie vielleicht huͤlflos, auf lange in Wuͤſten hinaus geſtoßen ſind, o ſo laßt ihnen einige Tropfen von der Ueberfuͤlle eurer Luſt zufließen! Aber nein, du theurer geliebter Abgeſchiedener, in die - ſen Empfindungen fuͤhl 'ich mich zu dir in den Zuſtand deiner Ruhe und Freude hinuͤber, und du biſt mehr der meine, als nur je in dieſem irdiſchen Leben, denn neben meiner ganzen Liebe gehoͤrt dir nun auch mein hoͤchſter Schmerz um dich, jener namenloſe, unbegreifliche, jenes angſt - vollſte Ringen mit dem fuͤrchterlichſten Zweifel, als ob ich dich auf ewig verloren haͤtte; da hat meine Liebe erſt alle ihre Kraͤfte aufrufen und erkennen muͤſſen, da hab ich dich erſt im Triumph dem Tode abgewonnen, um dich nie mehr zu verlieren, und ſeitdem biſt du ohne Wandel, ohne Krankheit, ohne Mißverſtaͤnd - niß mein, und laͤchelſt jedes Laͤcheln mit, und ſchwimmſt in jeder Thraͤne: wo kann ich dich beſſer herbergen, als in dieſem Herzen, wenn es der Freude geoͤffnet iſt? Mit dieſem Gaſte ſprech' ich nicht mehr zu ihr: was willſt du? oder: du biſt toll! denn ſie iſt durch deine holde Gegenwart edler, milder und menſchlicher.

Clara weinte, und Anton uͤberließ ſich ſeiner Wehmuth. Hoͤre auf, rief dieſer, ich fuͤhle dieſe108Einleitung.Wahrheit trotz ihrer Freundlichkeit zu ſchmerz - lich, eben weil ſie ſo ganz das Weſen meines Lebens iſt.

Was iſt es nur, fing Clara nach einiger Zeit wieder an, das uns in der Heiligkeit des Schmerzes oft wie im Triumph hoch, hoch hin - auf hebt, und das uns, moͤcht 'ich doch faſt ſagen, mit der Angſt eines Jubilirens befaͤllt, eines tiefen Mitleidens, einer ſo innigen Liebe, eines ſolchen Gefuͤhls, das wir nicht nennen koͤnnen, ſondern daß wir nur gleich in Thraͤnen untergehn und ſterben moͤchten? So iſt es mir oft geweſen, wenn ich im Plutarch von den großen Menſchen las, wie ſie ungluͤcklich ſind und wie ſie ihre Leiden und den Tod erdulden, oder wie Timoleon ſein Gluͤck und Schickſal traͤgt. Das Leben moͤchte brechen vor Luſt und Schmerz, und wenn dann ein Fremder fragt: was fehlt dir? ſo moͤchte man antworten: o ich habe eine Welt zu viel! Warum kann ich in Demuth als Seufzer nicht fuͤr den verwehen, den ich ſo innig verehren muß?

Wer nicht auf dieſe Weiſe, ſagte Friedrich, das Evangelium leſen kann, der ſollte es nie leſen wollen, denn was kann er anders dort finden, als die hoͤchſte Liebe und ihre heiligen Schmerzen? Dieſe Begier ſich aufzuopfern, ſich ganz, ganz hinzuwerfen dem geliebten Gegen - ſtande unſrer Verehrung, iſt das Hoͤchſte in uns; es ruft aus uns uͤber Jahrtauſende hinuͤber:109Einleitung.fuͤhlſt du mich denn auch? Siehe, du haſt nicht umſonſt gelebt, ich weiß von dir, nur ein He - rold der Menſchheit bin ich, nur ein Laut aus der unzaͤhlbaren Schaar! Sollte ein ſolches Gefuͤhl nicht unmittelbare Gemeinſchaft mit dem geliebten Weſen erzeugen koͤnnen?

Und ſo iſt die Welt unſer, fuhr Lothar heftig fort, wenn wir dieſer Welt nur wuͤrdig ſind! Aber leider ſind wir meiſt zu traͤge und todt, um die zu bewundern, deren Leben ein Wunder war; denn nicht was unſer leeres Er - ſtaunen erregt, was wir nicht begreifen, ſollten wir ſo nennen, ſondern die Kraft jener Welt - uͤberwinder, die uͤber Schickſal und Tod ſiegten, dieſe Helden ſollten wir als Wunderthaͤter ver - ehren; unſer aͤußerer Menſch verſteht und faßt ſie auch nicht, aber der innere fuͤhlt ſie, und in Andacht und Liebe ſind ſie ihm vertraut und mehr als verſtaͤndlich.

Alles, was wir wachend von Schmerz und Ruͤhrung wiſſen, ſagte Anton, iſt doch nur kalt zu nennen gegen jene Thraͤnen, die wir in Traͤu - men vergießen, gegen jenes Herzklopfen, das wir im Schlaf empfinden. Dann iſt die letzte Haͤrte unſeres Weſens zerſchmolzen, und die ganze Seele fluthet in den Wogen des Schmer - zes. Im wachenden Zuſtande bleiben immer noch einige Felſenklippen uͤbrig, an denen die Fluth ſich bricht.

Gewiß, fuhr Friedrich fort, ſollten wir die110Einleitung.Zuſtaͤnde des Wachens und Schlafens mehr als Geſchwiſter behandeln, wir wuͤrden dann klarer wachen und bewußtvoller und leichter traͤumen. Suchen wir doch am Tage mit der Phantaſie auf dieſem Fuße zu leben, und wie viel koͤnn - ten wir von ihr als Nachtwandlerin lernen, wenn wir ſie als ſolche mehr achteten und be - achteten. So finden wir auch in der alten Welt die Traͤume nicht ſo vernachlaͤßigt, ſon - dern aus ihren Ahndungen ging oft durch den Glauben der Menſchen eine glaͤnzende Wirklich - keit hervor.

Wir traͤumen ja auch nur die Natur, ſagte Ernſt, und moͤchten dieſen Traum ausdeuten; auf dieſelbe Weiſe entfernt und nahe iſt uns die Schoͤnheit, und ſo wahrſagen wir auch aus dem Heiligthum unſers Innern, wie aus einer Welt des Traumes heraus.

So koͤnnte man denn wohl, unterbrach Theodor, aus witziger Willkuͤhr mit der Wirk - lichkeit wie mit Traͤumen ſpielen, und die Ge - burten der Dunkelheit als das Rechte und Wahre anerkennen wollen.

Thun denn ſo viele Menſchen etwas anders? fragte Wilibald.

Und thun ſie denn ſo gar unrecht? ant - wortete Ernſt mit neuer Frage.

Wir gerathen auf dieſem Wege, ſagte Emi - lie, in das Gebiet der Raͤthſel und Wunder. Doch fuͤhrt uns vielleicht der Verſuch, alles umkeh -111Einleitung.ren zu wollen, am Ende von ſelbſt wieder in das Gewoͤhnliche zuruͤck.

Damit ich euch ſcheinbar kreuze, fiel Man - fred ein, ſo bleiben nach meinem Gefuͤhl Witz und Scherz immer etwas ſehr Nuͤchternes, wenn ſie nicht unter ihrer Verhuͤllung eine Wahrheit ausſprechen koͤnnen, ſo wie ich auch glaube, daß es keine Wahrheit giebt, der Witz und Scherz nicht das Laͤcherliche abgewinnen moͤgen. La - chen wir doch auch nur recht herzlich und gemuͤth - lich, und wahrhaft nur ganz unſchuldig, uͤber unſre Freunde die wir lieben, und derjenige, der ſich noch nicht ſeinem Freunde zum Scherze gern hingegeben hat, hat noch keinen Freund recht von ganzer Seele geliebt; ja aus Aufopferungs - ſucht hilft der Liebende ſelbſt dem Spotte nach, und enthuͤllt freiwillig das Laͤcherliche in ſich, um ſich gleichſam dem Freunde zu vernichten; denn, um es heraus zu ſagen, das Lachen iſt den Thraͤnen wohl naͤher verwandt, als die mei - ſten glauben, endigt es doch auch, wie die Ruͤh - rung, mit dieſen.

Ernſt fuhr fort: der Satz, den wir ſo oft haben wiederholen hoͤren: daß die Menſchen die Laͤcherlichkeit fuͤrchten, und daß deshalb der komi - ſche Dichter, oder Satiriker, oder wie ſie ihn nennen moͤgen, dieſe allgemeine hoͤchſte Reizbar - keit der Menſchen benutzen muͤſſe, um ſie zu beſſern; dieſer Satz iſt gewiß in der Anwendung falſch, und an ſich ſelbſt nur einſeitig wahr. 112Einleitung.Das Laͤcherliche, welches ſich mit dem Veraͤcht - lichen verbindet, und welches ſo manche Dich - ter zur Verfolgung, und wo moͤglich Vernich - tung, dieſer oder jener ſogenannten Thorheit, oder einer Meinung, oder Verirrung haben brau - chen wollen, iſt allerdings ſo gehaͤſſig und bit - ter, daß wohl zu keiner Zeit ein edler Menſch ſich dieſem Laͤcherlichen hat bloß ſtellen moͤgen, denn ein feindliches Weſen, das irgend ein Le - ben zu vernichten ſtrebte, kaͤmpfte in dieſem wil - den, anmaßlichen Lachen; auch geſtehe ich gern, daß ich dieſen ſo genannten Satirikern, beſon - ders der neuern Zeiten, niemals Freude und Luſt habe abgewinnen koͤnnen, ich weiß auch nicht, ob ich eben bei ihren Darſtellungen gelacht habe. Eben ſo wenig moͤgen wir uns an der Stelle des Narren befinden, der ſeine Menſch - heit wegwirft und ſich unter den Affen ernie - drigt, um ſeinem rohen Herrn ein Schauſpiel des Ergoͤtzens darzubieten, von welchen der Ed - lere ſich mit Ekel hinweg wendet. Es gehoͤrt ſchon ein hoͤherer, ein wahrhaft menſchlicher Sinn dazu, um auf die rechte Art und bei den richti - gen Veranlaſſungen zu lachen, und wenn die Thraͤne dich wohl hintergehn kann, ſo kann dich das Lachen eines Menſchen ſchwerlich uͤber das Niedrige oder Edle ſeiner Geſinnung taͤuſchen. Wie unterſchieden iſt aber von jener haſſenden Bitterkeit und traurigen Veraͤchtlichkeit die Luſt der Freude, das Entzuͤcken unſrer ganzen Seele,(in113Einleitung.(in der ſich wohl, wie Manfred waͤhnt, alle Urkraft des Wahren in uns ahndungsvoll mit erregen mag) wenn alle unſre Anſchauungen und Erinnerungen in jenem wunderſamen Stru - del der Wonne auf eine Zeit untergehn, wel - cher die Toͤne des Gelaͤchters aus der Verbor - genheit herauf erſchallen laͤßt. Erregt ein wah - rer Schauſpieler dieſen Zuſtand in uns, ſo iſt er uns ein hoch verehrtes Weſen, und ſo wenig geſellt ſich ein Gefuͤhl der Verachtung zu unſe - rer Freude, daß wir im Gegentheil ihn als un - ſern Freund und Geliebten in unſer innerſtes Herz ſchließen; der Dichter, der dieſen Strom der Luſt in der Wuͤſte aus dem Felſen ſchlaͤgt, erſcheint uns wunderthaͤtig. Ja, ich behaupte, daß unſre Liebe, wenn ſie einen Gegenſtand wahrhaft lieben ſoll, an dieſem irgend einen Schein des Laͤcherlichen finden muß, weil ſie ihn dadurch gleichſam erſt beſitzt; auch daß wir keinen Freund oder keine Geliebte haben moͤch - ten, uͤber die wir in keinem Augenblick ihres Daſeins lachen oder laͤcheln koͤnnten; der Held eines Gedichts iſt erſt dann unſers Herzens ge - wiß, wenn er uns einigemal ein ſtilles Laͤcheln abgenoͤthigt hat, und dies iſt ein Theil der Zau - berkraft Homers und der Nibelungen Helden. Sogar (und ich ſage wohl nichts Widerſinni - ges, wenn ich dieſe Meinung ausſpreche), ſogar den heiligſten und erhabenſten Gegenſtaͤnden iſt dieſes Gefuͤhl ſo wie das des Mitleidens nichtI. [8]114Einleitung.nachtheilig und feindlich, oder hebt unſre Liebe und hohe Ruͤhrung auf, ſondern wir koͤnnen den heiligen Wahnſinn der großen Religionshel - den bewundernd beweinen, und doch kann ein geheimes Laͤcheln uͤber der Verehrung ſchweben, denn dieſe ſeltſame Regung erhebt ſich zugleich mit allen Kraͤften aus den Tiefen der Seele; wir fuͤhlen, wie ſo vielen Gemuͤthern das, was wir anbeten, nur belachenswerth ſein duͤrfte, und weil dieſe vor den Augen unſers aͤußern Verſtandes nicht Unrecht haben, und ſich fuͤr dieſen Zweifel auch eine geheime Sympathie in unſerm innerſten Weſen regt, ſo eilen wir ſo dringender mit unſerer Verehrung und unſerem Mitleid huͤlfreich und rettend hinzu, um in angſt - voller Liebe an dem Gegenſtande unſrer Bewun - derung ein hoͤheres Recht auszuuͤben. Der alte Ausdruck von den Helden der Religion: ſie haben ſich zu Thoren gemacht vor der Welt, iſt vortreflich.

Gewiß, ſagte Manfred, iſt das Laͤcherliche in ſeiner Tiefe noch niemals angeſchaut und die wunderbare Natur des Witzes auch nur einiger - maßen erklaͤrt; wer wird uns denn noch einmal etwas deutlicheres daruͤber ſagen koͤnnen, warum wir lachen? Das Lachen an ſich ſelbſt iſt den meiſten Menſchen nur eine leichte Sache, aber woher es kommt und wohin es geht iſt noch ſchwerer als vom Winde zu ſagen. Hier hatte ich meinen Jean Paul in ſeiner Vorhalle zur115Einleitung.Aeſthetik erwartet, und gerade hier habe ich nur ſo wenig von ihm gefunden.

Dieſes Geſpraͤch, ſagte Theodor, erinnert mich an jene Unſchuld des Komiſchen, welches ich immer allen andern bedeutenderen Arten des Laͤcherlichen vorgezogen habe. Ich meine jenes leichte Beruͤhren aller Gegenſtaͤnde, jenes gemuͤth - liche Spiel mit allen Weſen und ihren Gedan - ken und Empfindungen, welches neben ſeiner kraftvollen kecken Darſtellung einer der herrlich - ſten Vorzuͤge Shakſpears iſt, den man nicht leicht demjenigen deutlich machen kann, der im Witz nur eine Charade oder ein ſinnreiches Raͤth - ſel ſucht, und der aus der Anwendung und dem Treffenden nach Außen erſt ruͤckwaͤrts das Komi - ſche verſtehen will, und dem es leere Albernheit iſt, wenn es ohne eine ſolche proſaiſche Bedeu - tung auftreten will.

Von hier aus, meinte Wilibald, muͤſſe es eine vortrefliche Ausbeugung in das wahre Ge - biet der Albernheit und in die Gruͤnde ihrer Rechtfertigung geben, denn dieſe triebe die Un - ſchuld ſogar ſo weit, daß ſie ſelbſt ohne alles Leben und alſo vielleicht am meiſten poetiſch le - bendig ſei; doch Lothar, ohne auf dieſen Angriff zu achten, oder ihn zu bemerken, bemeiſterte ſich des Geſpraͤches und fuhr ſo fort: Da unſer ganzes Leben aus dem doppelten Beſtreben be - ſteht, uns in uns zu vertiefen, und uns ſelbſt zu vergeſſen und aus uns heraus zu gehn, und116Einleitung.dieſer Wechſel den Reitz unſeres Daſeins aus - macht, ſo hat es mir immer geſchienen, daß die geiſtigſte und witzigſte Entwickelung unſerer Kraͤfte und unſers Individuums diejenige ſei, uns ſelbſt ganz in ein anderes Weſen hinein verloren zu geben, indem wir es mit aller Anſtrengung un - ſrer geiſtigen Stimmung darzuſtellen ſuchen: mit einem Wort, wenn wir in einem guten Schau - ſpiel eine Rolle uͤbernehmen und uns beſtreben, die Erſcheinung des Einzelnen wie des Ganzen mit der hoͤchſten Wahrheit und in der vollkom - menſten Harmonie hervor zu bringen. Es giebt wohl auch nur wenige Menſchen, die dem Reitz dieſer Verſuchung auf immer widerſtehn koͤnnen, und wenn das Talent des Schauſpielers auch ſelten ſein mag, ſo iſt die Luſt zur Mimik doch faſt in allen Menſchen thaͤtig.

Wir haben dieſem Triebe, fuhr Ernſt fort, gewiß unendlich viel zu danken, unſer innerli - cher Menſch ahmt oft lange einen Gedanken, oder die Vortreflichkeit einer Geſinnung, ja ſelbſt eine Empfindung nur mimiſch nach, bis wir, gerade wie die Kinder lernen, uns die Sache ſelbſt durch Wiederholung und Angewoͤhnung zu eigen machen koͤnnen.

Vergeſſen wir nur nicht, ſagte Wilibald verdruͤßlich, daß aus demſelben Triebe auch alle Affektation, Ziererei, Unnatuͤrlichkeit, kurz, alles aͤffiſche Weſen im Menſchen entſpringt, ſo daß dieſe Sucht wenigſtens eben ſo ſchaͤdlich iſt, als117Einleitung.ſie, was ich nicht beurtheilen kann, wohlthaͤtig ſein mag.

Wir wollen dieſe Unterſuchung fallen laſſen, fuhr Lothar ungeſtoͤrt fort, da wir ſie jetzt doch nicht erſchoͤpfen koͤnnen, ich wollte nur auf die Bemerkung einlenken, wie es zu verwundern ſei, daß es noch keinem von uns eingefallen iſt, mit dieſer zahlreichen und ohne Zweifel talentvollen Geſellſchaft irgend ein dramatiſches Werk, am liebſten eins der Shakſpearſchen, darzuſtellen. Welchen Genuß wuͤrde jedem von uns dieſer Dichter gewaͤhren, wenn wir eins ſeiner Luſt - ſpiele, zum Beiſpiel Was ihr wollt, bis ins In - nerſte ſtudirten, und neben dem Vergnuͤgen wel - ches das Ganze gewaͤhrt, auf das vertrauteſte mit jeder einzelnen Schoͤnheit und ihrer Bezie - hung und Nothwendigkeit zum Ganzen bekannt wuͤrden, und ſo mit vereinigter Liebe eins ſeiner herrlichſten Gedichte auch aͤußerlich vor uns hin - zuſtellen ſuchten.

Du haſt ja dieſen Einfall und Verſtand fuͤr uns alle gehabt, verſetzte Wilibald, auch kannſt du zur Noth, wie Zettel, drei oder vier Rollen uͤbernehmen. Schade nur, daß kein roman - tiſch bruͤllender Loͤwe in dieſem Luſtſpiel auftritt, um dein ganzes Talent zu entwickeln.

Die Eintheilung der Rollen, antwortete Lo - thar, habe ich ſchon ziemlich uͤberſehn: den Mal - volio wuͤrdeſt du ſelbſt unvergleichlich darſtellen, unſer Manfred uͤbernaͤhme den Tobias und ich118Einleitung.den Junker Chriſtoph; den liebenswuͤrdigen Nar - ren Theodor, und Friedrich den Sebaſtian, Ernſt den Antonio, Anton den Herzog; Auguſte wuͤrde zierlich und witzig die Marie geben, Roſalia unvergleichlich die Viola und Clara hoͤchſt anmu - thig die Olivia; alles uͤbrige findet ſich von ſelbſt.

Wie kommt es nun, ſagte Theodor, daß eine geiſtreiche Geſellſchaft, ohne Rollen auswen - dig zu lernen, niemals auf den Gedanken ver - faͤllt, aus ſich ſelbſt unter gewiſſen angenomme - nen Bedingungen und Masken ein poetiſches Luſtſpiel ohne vorgezeichnete Ver - und Entwik - kelung auszufuͤhren? Der eine waͤre der muͤr - riſche, mit ſich und aller Welt unzufriedene Lieb - haber, der andere der Eiferſuͤchtige, jener der leichtſinnig Flatterhafte, dieſer der Melancholi - ſche; die Damen theilten ſich in witzige und zaͤrtliche Charaktere, und alle ſuchten ihrer an - genommenen Rolle treu zu bleiben, um Heiter - keit und Geſelligkeit zu erregen und zu befoͤrdern. Warum ſtreben wir in unſern Geſellſchaften im - mer das eine ermuͤdende Bild eines negativen wohlgezogenen Menſchen darzuſtellen, oder uns in hergebrachter Liebenswuͤrdigkeit abzuquaͤlen?

Die wahre gute Geſellſchaft, ſagte Ernſt, thut ſchon unbewußt das, was du verlangſt; und verwechſelt auch mit Leichtigkeit die verſchie - denen Rollen. Sonſt erinnert deine Beſchrei - bung an manche ehemaligen gelehrten Geſell -119Einleitung.ſchaften, und an die verſchiedenen charakteriſti - ſchen Beinamen ihrer Mitglieder.

Eine, wie die andre Darſtellung, ſagte Emi - lie, moͤchte fuͤr uns Frauen beſchwerlich, wo nicht unmoͤglich ſein, aber ich war ſchon geſtern auf dem Wege, Ihnen einen andern Vorſchlag zu thun. Ich weiß, daß Sie alle Dichter ſind, und hoͤre von Manfred, daß Sie gluͤcklicherweiſe manche Ihrer Arbeiten mitgebracht haben, wie waͤre es alſo, wenn Sie uns dieſe nach Luſt und Laune mittheilten, und ſo manche Stunde angenehm ausfuͤllten, die uns die Muſik, oder die Beſuche und Spaziergaͤnge uͤbrig laſſen?

O vortreflich! rief Clara aus, und dann wollen wir Maͤdchen und Frauen nach der Lek - tuͤr die Rezenſenten ſpielen, und uns uͤber alles luſtig machen, was wir nicht verſtanden, oder was uns nicht gefallen hat.

Roſalie fuͤgte ihre Bitten zu denen ihrer Mutter, auch Auguſte vereinigte ſich mit beiden, und als Lothar die Freunde ſtillſchweigend ein Weilchen angeſehn hatte, ſchlug ſich auch Man - fred zu der Parthei der Damen und rief: o ich bitte euch ſo inbruͤnſtig, als man nur bitten kann, ſchlagt uns dieſen bittenden Vorſchlag nicht ab, denn ſchon laͤngſt habe ich Luſt ge - habt, einige meiner Thorheiten euch und dieſen guten wißbegierigen Frauen mitzutheilen, und keine Gelegenheit dazu gefunden; o ihr Edlen, wenn ihr eine Ahndung davon habt, wie ſehr120Einleitung.dem Dichter ſein Manuſkript in der Taſche bren - nen kann, wenn ihn Niemand darum befragt, ſo laut man es auch raſcheln hoͤrt, wenn ihr ſelbſt jemals gerne vorgeleſen habt, o ſo ſeid nicht ſo grauſam, mir dieſen Genuß zu rauben, und mein poetiſch beladenes Herz auszuſchuͤtten. Aber vielleicht ſind einige von euch in derſelben Verfaſſung.

Lothar lachte und ſagte: der Dichter theilt ſich gern mit, vorzuͤglich in einem Kreiſe, wie der gegenwaͤrtige iſt. Wir fuͤhren wirklich einige Jugendverſuche mit uns, die wir zum Theil vor kurzem vollendet und uͤbergearbeitet haben, und wenn unſre Rezenſenten nicht zu ſtrenge ſein wollen, ſo uͤberwinden wir vielleicht die Furcht, dieſe Bildungen nach ſo manchem Jahre wieder auftreten zu laſſen.

Als die Frauen eifrig darauf antrugen, ſo - gleich mit irgend einer Erzaͤhlung den Anfang zu machen, rief Wilibald aus: halt! ich prote - ſtire mit aller Macht gegen dieſe Uebereilung und Anarchie! denn wie koͤnnte ein wahrer Ge - nuß entſtehn, wenn wir es dem Zufall ſo ganz uͤberließen, in welcher Folge unſre Verſuche auf - treten ſollten? In allen Dingen iſt die Ordnung zu loben, und ſo laßt uns nachdenken, auf welche Art und Weiſe wir dieſer Unterhaltung durch eine gewiſſe Einrichtung etwas mehr Wuͤrze geben koͤnnen.

So moͤge denn auch hier, ſagte Lothar,121Einleitung.eine Art von dramatiſcher Einrichtung ſtatt fin - den. Sei jeder von uns nach der Reihe An - fuͤhrer und Herrſcher, und beſtimme und gebiete, welcherlei Poeſien vorgetragen werden ſollen, ſo ſteht zu hoffen, daß ſolche ſich vereinigen wer - den, die durch eine gewiſſe Aehnlichkeit freund - ſchaftlich zuſammen gehoͤren.

Dieſe Einrichtung, wandte Manfred ein, iſt vielleicht zu gefaͤhrlich, weil ſie an den Boc - caccio erinnern duͤrfte.

Sie erinnert, ſagte Ernſt, faſt an alle Ita - liaͤniſchen Novelliſten, die mit minder oder mehr Gluͤck von dieſer Erfindung Gebrauch gemacht haben.

Doch werden Sie, ſagte Emilie, uns in andrer Hinſicht nicht an dieſen beruͤhmten Au - tor erinnern wollen, denn gewiß verſchonen Sie uns mit dergleichen aͤrgerlichen und anſtoͤßigen Geſchichtchen, deren er nur zu viele erzaͤhlt.

Wir koͤnnen dergleichen wohl nicht ſo ganz unbedingt verſprechen, antwortete Manfred, wenn wir uns nicht daruͤber erſt etwas verſtaͤndigt ha - ben, was wir aͤrgerlich oder anſtoͤßig nennen wollen. Davor, daß wir keine Erzaͤhlungen, die ihm aͤhnlich oder nachgeahmt ſind, vortragen werden, ſind Sie hinlaͤnglich geſichert, denn es erfordert das glaͤnzende Talent ſeiner gediegenen, ſcharfen und beſtimmten Darſtellung, welche nie zu viel oder zu wenig ſagt, die nichts verhuͤllt und doch immer von den Grazien gelenkt wird,122Einleitung.um dergleichen allerliebſte Seltſamkeiten vorzu - tragen: alle ſeine Nachahmer, ſelbſt der Ban - dello nicht ausgenommen gar des ganz verun - gluͤckten La Fontaine oder des neueren Caſti zu geſchweigen bleiben weit hinter ihm zuruͤck, ſei nun von Styl, Erfindung, oder Schmuck des Gegenſtandes die Rede. Doch abgeſehn da - von, muß ich bezweifeln, daß der Dekameron gebildeten und freundlichen Gemuͤthern wirklich anſtoͤßig ſein koͤnnte.

Dieſen Zweifel verſtehe ich nicht, ſagte An - ton, da er das zartere Gemuͤth und die hoͤhere Stimmung doch nur zu oft verletzt.

Wie man es eben nimmt, antwortete Man - fred. Wir ſtehn hier auf der Stelle, auf wel - cher ſich der Dualismus unſerer Natur und Empfindung am wunderbarſten, reichhaltigſten und grellſten offenbart. Sich den Witz und die Schalkheit der Natur im Heiligſten und Lieb - lichſten verſchweigen wollen, iſt vielleicht nur moͤg - lich, wenn man geradezu Karthaͤuſer wird, und vom Schweigen und Verſchweigen Profeſſion macht. Wenn der Fruͤhling ſich mit allen ſei - nen Schaͤtzen aufthut, und die Blumen gedraͤngt um dich lachen, ſo kannſt du dich in deiner ruͤh - renden Freude nicht erwehren, ihre Geſtalten zu beobachten und manche Erinnerungen an dieſe zu knuͤpfen, ja ſelbſt die holdſelige Roſe ruft dir erroͤthend die raͤthſelhaften Reime alter Dichter entgegen, und ſie wird dir darum nicht unlieber,123Einleitung.ſo fallen dir wohl gar bei andern farbigen Kin - dern der Sonne die unbeſcheidenen Namen ein, welche die Koͤniginn im Hamlet verſchweigt,

crow flowers, nettles, daisies, and long purples,
That liberal shepherds give a grosser name,
But our cold maids do dead men's fingers call them.

Welche Verſe, ſagte Lothar, Schlegel nicht haͤtte auslaſſen ſollen. Doch dies nur im Vor - beigehn: fahre fort.

So wunderbar und noch mehr, begann Man - fred wieder, iſt es mit der Liebe. Es giebt eine ſolche Heiligkeit dieſes Gefuͤhls, eine ſo wun - derſame paradiſiſche Unſchuld, daß im Unbewußt - ſein, in der Unkenntniß der gegenſeitigen Liebe wohl oft die hoͤchſte Seligkeit ruht; der erſte erwachende, ſich begegnende Blick hat dieſen Fruͤhling entlaubt, und das erſte Wort des Ge - ſtaͤndniſſes kann der Tod dieſer ſtillen Wonne ſein. Nirgend fuͤhlt der Menſch ſo ſehr, wie er verlieren muß, um zu gewinnen, wie jedes Gluͤck ein Geheimniß iſt, welches angeruͤhrt und aus - geſprochen ſeine Bluͤte abwirft.

Friedrich ſtand ſchnell auf und ſchien von wunderbaren Gedanken ergriffen, man ſah ihn im Buchengange auf und nieder wandeln, indem er ſich oͤfter die Augen abtrocknete; Manfred aber fuhr ſo fort: wie es wohl Menſchen mag gege - ben haben, die ſchon mit dieſem erſten Seufzer124Einleitung.die Blume ihres Lebens verloren, ſo iſt es doch natuͤrlicher und wahrer, ſich auch in dieſer wun - dervollen Lebensgegend, ſo wie bei allen Dingen, mit einem gewiſſen Heroismus zu waffnen, und fruͤh zu erfahren, daß wir alles, was wir be - ſitzen, nur durch den Glauben beſitzen, und daß am wenigſten die Liebe eine bloße Begebenheit in uns ſei, ſondern daß ſie, wie alles Gute von unſerm Willen abhaͤngt; denn von ihm geht ſie aus, nachher wird er zwar von ihr bezwungen und gebrochen, kann aber ſpaͤter hin nur durch ihn allein als Liebe dauern und beſtehn. Ein ſolcher Sinn und kraͤftiger aber frommer Wille verliert des Herzens Unſchuld nie, der Scherz iſt ihm nur Scherz, und er wird nicht anſtehn, auch mit dem zu taͤndeln, was ihm das Hei - ligſte und Liebſte iſt, denn wahrlich, dem Rei - nen iſt alles rein.

Dieſe Beſchreibung, ſagte Ernſt, charakteri - ſirt die geſunde Zeit unſers deutſchen Mittelal - ters, als neben den Nibelungen und dem Ti - turell der ſuͤße Triſtan ſeinen Platz in aller Her - zen fand, und auch neben dieſen großen Liebes - gedichten ſo viele muntre und ſchalkhafte Erzaͤh - lungen. Die ſpaͤter auftretende uͤberſinnliche, oder außerſinnliche Liebe, war noch nicht von der ſinnlichen getrennt, ſondern ſie waren wie Leib und Seele verbunden, in der hoͤchſten Ver - geiſtigung geſund, in dem freieſten Scherze un - ſchuldig.

125Einleitung.

Warum, fuhr Manfred fort, wuͤrde denn die Liebe allmaͤchtig genannt? Sie waͤre ja ohn - maͤchtig, wenn ſie nicht die ſcheinbar aͤußerſten Enden freundlich verknuͤpfen koͤnnte. Koͤnnte ſie den unendlich mannigfaltigen Zauber denn wohl ausuͤben, wenn ſie nicht Alles beſaͤße, und ſich nicht, eben wie die Geliebte, mit allen Reizen dem ſehnſuͤchtigen Herzen ergaͤbe? Der verdor - bene Menſch kann deshalb auch nicht den Scherz der Liebe und ihren Dichter verſtehn, er faßt nicht das holde Weſen, welches ſich dem Hoͤch - ſten und Geiſtigſten zum ſcheinbaren Kampfe gegenuͤber ſtellt, ſo ſehr er auch einzig dieſem Spiele nachjagt, welches begeiſterte Dichter damit trieben, und der Liebende kennt freilich nichts Verhaßteres als dieſe Menſchen und ihre Ge - ſinnungen, die im Herzen ſeines Lebens mit ihm zuſammen zu treffen ſcheinen.

Daher, ſagte Ernſt, der mißverſtandene Spott dieſer niedrigen Menſchen uͤber die Hochgeſtimm - ten und ihre Liebe, daher die ſcheinbare Waffen - loſigkeit dieſer Unſchuldigen, und bei ihrem Reich - thum ihre unbeholfene Beſchaͤmung von jenen Bettlern. Dieſe Uneingeweihten laͤſtern die Liebe und alles Goͤttliche, und ſind von allem Scherz und Spiel, auch wenn ſie witzig zu ſein ſchei - nen, weit entfernt, denn ſie ſind in Kampf und Krieg gegen die Sehnſucht nach dem Ueberirdi - ſchen. Um nun auf das Vorige einzulenken, ſo lebte Boccaz freilich ſchon an der Graͤnze126Einleitung.jener heroiſchen Zeit, als die Menſchheit, weni - ger geſund, ſich aus der Tragoͤdie und dem gro - ßen Epos ſchon mehr nach dem Luſtſpiel und der Parodie ſehnte, als die Trennung des Ge - muͤthes ſich ſchon ſchaͤrfer gegen uͤber ſtand, und eine kraͤftiger robuſte Malerei den ſanften Schmelz und die ſtille Harmonie der alten großſinnigen Gemaͤlde verdunkelte. Sein Dekameron ward deshalb nach einiger Zeit das Lieblingsbuch aller Nationen, und die komiſche, laͤcherliche und nie - drigere Natur der Liebe ward immer mehr geſun - gen, geprieſen und gefuͤhlt, ihr holdes Weſen ſchien immer tiefer zu entarten und immer mehr den Menſchen dem Thiere naͤher zu fuͤhren, (indeß nun dieſem Streben gegenuͤber ſchon die ganz reine, uͤberirdiſche Idee der Liebe, oft bis zum leeren Goͤtzendienſte entſtellt, ſich auszubilden ſuchte) bis wir in Peter Aretins und Branto - me's Schriften endlich die kalte Frechheit ohne allen Reiz und Grazie auftreten ſehn. Doch kann dieſe Beſchuldigung nicht den Boccaz und ſeine freien Scherze treffen, denn in ihm regt ſich und ſpricht der edle und vollſtaͤndige Menſch, der zwar ohne aͤngſtliche Zuͤchtigkeit, aber nicht ohne Scham iſt, der wie Arioſt immer die Schoͤn - heit fuͤhlt und ſingt, und der nur jene frecheren Blumen nicht zu ſeinem Kranze verſchmaͤht, ſon - dern ſie im Gegentheil gern ſo reicht und flicht, daß ihr ſymboliſcher Sinn unverholen in die Augen faͤllt. Sein Buch kann uns alſo wohl127Einleitung.nicht leicht verletzen; aber freilich muͤſſen wir jetzt, da verdorbene Generationen und Buͤcher voran gegangen ſind, und edlere Menſchen die Verwerflichkeit mancher ſchamloſen Produkte eines Diderot, Voltaire und andrer einſahn, um nur den Ruhm der Zuͤchtigkeit zu empfangen, auch den Schein einer gewiſſen Pruͤderie beibehalten, die das Zeitalter einmal zum Kennzeichen der Sitte geſtempelt hat. So hat der Menſch nach uͤberſtandener Krankheit noch lange das Anſehn eines Kranken, und muß auf einige Zeit noch etwas von deſſen Diaͤt beibehalten. Eben ſo verbreitete ſich in England nach einem Zeitalter der Zuͤgelloſigkeit, von der Sekte der Puritaner aus, eine Aengſtlichkeit und ſteife Feierlichkeit der Sitte, die ſeitdem noch immer das Wort fuͤhrt, ſo daß ein geſittetes Maͤdchen oder eine zuͤchtige Frau von jetzt oder aus Shakſpears Zeit zwei im Aeußern ſehr verſchiedene Weſen ſein moͤgen. Die Reformation hatte in Deutſchland ſchon fruͤ - her eine aͤhnliche Stimmung hervor gebracht, und auch die katholiſchen Provinzen beſtrebten ſich ſeitdem, eine ſtrengere Sitte zur Schau zu tra - gen, um von dieſer Seite die Vorwuͤrfe ihrer Gegner zu entkraͤften. Faſt allenthalben aber werden wir nur Heuchelei ſtatt der Zuͤchtigkeit gewahr, denn wenn die ehrbaren Herren unter ſich ſind, ergoͤtzen ſie ſich um ſo lebhafter an der roheſten und unſittlichſten Frechheit, und weil der oͤffentliche Scherz und die Gegenwart128Einleitung.der Grazien und Muſen, ſo wie die liebenswuͤr - digen Weiber von dieſen Orgien voͤllig ausge - ſchloſſen ſind, ſo ſind ſie nun in ihrer Einſam - keit um ſo niedriger und veraͤchtlicher geworden, am ſchlimmſten, wenn ſie das Gewand der Mo - ral umlegen, und wehe dem Zarteren, der das Ungluͤck hat einem Ottern - und Kroͤtenſchmauſe beiwohnen zu muͤſſen, den ſich eine ſolche tu - gendhafte Geſellſchaft giebt, die darauf ausgeht, recht vollſtaͤndig ihren Haß gegen die Untugend an den Tag zu legen.

Als in Spanien, ſagte Lothar, ein etwas zu ſtrenger Geiſt in der Poeſie zu herrſchen anfing, und Cervantes die fruͤhere Celeſtina als zu frei tadelte, als man in Frankreich und Italien die ſchamloſeſten Werke las und ſchrieb, und in Deutſchland ſich kaum noch Spuren von Witz oder Unwitz antreffen ließen, erhob der edle Shak - ſpear, das, was ſo viele hatten veraͤchtlich machen wollen, wieder zum Scherz, geiſtreichen Witz und zur Menſchenwuͤrde, und dichtete ſeine ſchalk - haften Roſalinden und Beatricen, die freilich unſer jetziges verwoͤhntes Zeitalter ebenfalls an - ſtoͤßig findet.

Was iſt es denn, was uns wahrhaft anſtoͤßig, ja als Menſchen unertraͤglich ſein ſoll? rief Fried - rich, der wieder zur Geſellſchaft getreten war, im edlen Unwillen aus. Nicht der freieſte Scherz, noch der kuͤhnſte Witz, denn ſie ſpielen nur in Unſchuld; nicht die kraͤftige Zeichnung der thie -riſchen129Einleitung.riſchen Natur im Menſchen und ihrer Verir - rung, denn nur als ſolche gegeben, ſpricht ſie niemals unſerm edleren Weſen Hohn: ſondern dann ſoll ſich unſer Unwille erheben und ohne alle Duldung aus uns ſprechen, wenn ein So - phiſt uns ſagen will, und in jeder Dichtung be - weiſen, daß gegen die Sinnenluſt keine Tugend, Andacht oder Seelenerhebung beſtehn koͤnne. Ein ſolcher durchaus zu verwerfender iſt der juͤngere Crebillon, und nicht iſt jener Deutſche, der ihn ſo vielfaͤltig nachgeahmt und die edlere Natur des Menſchen verkannt hat, von dem Vorwurf einer verdorbenen Phantaſie und eines zu nuͤch - ternen Herzens frei zu ſprechen: fuͤr ſchwache Weſen, (aber auch nur fuͤr ſolche) koͤnnen dieſe beiden Schriftſteller allerdings gefaͤhrlich werden, ſo ſehr ſich auch der letzte gegen dieſe Beſchul - digung zu verwahren geſucht hat, denn nicht darin beſteht das Verderbliche, daß man das Thier im Menſchen als Thier darſtellt, ſondern darin, daß man dieſe doppelte Natur gaͤnzlich laͤugnet, und mit moraliſcher Gleißnerei und ſo - phiſtiſcher Kunſt das Edelſte im Menſchen zum Wahn macht, und Thierheit und Menſchheit fuͤr gleichbedeutend ausgiebt.

Seine Buͤcher, ſagte Emilie, haben mich immer zuruͤck geſchreckt, und ich habe fruͤher meinen Toͤchtern lieber manche andre erlaubt, die nicht in ſo gutem Rufe ſtehn, denn gerade ihre weichliche Zierlichkeit habe ich fuͤr ſchaͤdlich ge - halten. Ich hoffe, jetzt koͤnnen ſie auch dieſeI. [8]130Einleitung.ohne allen Nachtheil leſen, da ihr Geiſt geſtaͤrkt iſt, und ihr Sinn das Edlere anſtrebt.

Mit Recht, ſagte Manfred, macht Jean Paul Thuͤmmeln den Vorwurf, daß er zu un - ſauber ſei (denn deſſen Reiſen gehoͤren recht zu jenen eben geruͤgten Werken, und die Bekeh - rung des lockern Paſſagiers in den letzten Baͤn - den iſt noch die ſchlimmſte Suͤnde des Autors); ich aber moͤchte unſerm witzigen Jean Paul mit demſelben Rechte einen andern Vorwurf machen, daß er zwar nicht zu keuſch, wohl aber zu pruͤde ſei. Ein Autor, der ſo das Geſammte der Men - ſchennatur, das Seltſamſte, Wildeſte und Tollſte in ſeinen humoriſtiſchen Ergießungen ausſprechen will, darf in dieſen Regionen des Witzes und der Laune kein Fremdling ſein, oder aus miß - verſtandner Moral neben der Unzucht und Un - ſitte auch die Schalkheit verachten wollen. Noch ſeltſamer aber, daß er die mediziniſchen und wahr - haft ekelhaften Spaͤße liebt, die kaum Witz zu - laſſen und meiſt nur Widerwillen erregen, wenn man nicht die Feder des Rabelais beſitzt, der freilich wohl ſein Kapital von der Gaya Ciencia ſchreiben durfte. Aber, theure Emilie, und Gat - tin und Schweſtern, um auf das zuruͤck zu kom - men, wovon wir ausgingen, ſo mag freilich wohl hie und da in unſern Dichtungen (vielleicht nur in meinen, der ich ein oder zweimal das Haus - recht brauchen und den Wirth ſpielen moͤchte) etwas vorkommen, was die uͤbertriebene Delika - teſſe kraͤnkelnder Menſchen (ich meine dich, An -131Einleitung.ton, nicht hiemit) anſtoͤßig finden moͤchte, was aber, hoffe ich, nach dem in unſerm Geſpraͤch angegebenen Unterſchied keinem gebildeten und heitern Menſchen aͤrgerlich werden kann. Wir wollen aber weder zu viel verſprechen noch dro - hen, ſondern laßt uns vielmehr beginnen, und waͤhlt alſo, ihr Frauen, denjenigen aus, wel - cher zuerſt der Anfuͤhrer und Gebieter im Felde unſrer poetiſchen Spiele und Wettkaͤmpfe ſein ſoll.

Clara gab ihren Blumenſtrauß dem neben ihr ſitzenden Anton und ſagte: Sie haben faſt immer geſchwiegen, ſprechen Sie nun. Anton verbeugte ſich und heftete die Blumen an ſeine Bruſt: ſo wollen wir denn, ſagte er, mit Maͤhr - chen der einfachſten Compoſition beginnen, und jeder bringe morgen das ſeinige vor unſre Richter.

Mit Maͤhrchen, ſagte Clara, faͤngt das Le - ben an; in ihnen entwickelt ſich das Gefuͤhl der Kinder zuerſt, und ihre Spiele und Puppen, ihre Lehrſtunden und Spatziergaͤnge werden vor ihrer Phantaſie zu Maͤhrchen, die ich noch immer ganz vorzuͤglich liebe, das heißt, wenn ſie ſo ſind, wie ich ſie liebe. So gebe die Muſe, daß Ih - nen die unſrigen wohl gefallen, ſagte Anton.

Indem ſtand die Geſellſchaft auf, um vom naͤchſten Huͤgel den ſchoͤnen Untergang der Sonne zu genießen. Auch ein Maͤhrchen, ſagte Roſalie, indem ſie die Hand vor die Augen hielt, und dem blendenden Scheine nachſah; ſo wie der Fruͤh - ling und die Pracht der Blumen, es bluͤht auf in132Einleitung.aller Fuͤlle und Herrlichkeit, der Schatten faßt den Glanz und zieht ihn hinab, und wir ſchauen ihm ſehnſuchtsvoll nach.

So wie dem Maͤhrchen-Gedicht der Schoͤn - heit, ſagte Anton; und Friedrich fuͤgte hinzu: doch bleibt unſer Herz und ſeine Liebe die un - wandelbare Sonne.

Ein glaͤnzender Sternenhimmel ſtand uͤber der Landſchaft, das Rauſchen der Waſſerfaͤlle und Waͤlder toͤnte in die ruhige Einſamkeit des Gartens heruͤber, in welchem Theodor auf und niederging und die Wirkungen bewunderte, welche das Licht der Sterne und die letzten goldnen Streifen des Horizontes in den ſpringenden Quel - len hervorbrachten. Jetzt ertoͤnte Manfreds Wald - horn aus deſſen Zimmer und die melankoliſchen durchdringlichen Toͤne zitterten vom Gebirge zuruͤck, als Ernſt, der von den Huͤgeln herunter kam, durch das Thor des Gartens trat, und ſich zu dem einſamen Theodor geſellte. Wie ſchoͤn, fing er an, ſchließt dieſe heitre Nacht die Genuͤſſe des Tages; die Sonne und unſre Geliebten ſind zur Ruhe, Waͤlder und Waſſer rauſchen fort, die Erde traͤumt, und unſer Freund gießt noch einen herzlichen Abſchied uͤber die entſchlummerte Na - tur hin.

Anton, ſagte Theodor, ſchlaͤft auch noch nicht, er ſitzt im Gartenſaale und ſchreibt ein Gedicht, welches unſern Vorleſungen als Ein -133Einleitung.leitung oder Vorrede dienen ſoll. Seine Gene - ſung wird ſich hier ganz vollenden.

Ich hoffe, ſagte Ernſt, auch Friedrich ſoll geneſen, ich hege das ſchoͤne Vertrauen, daß unſer aller Freundſchaft ſich hier noch feſter knuͤp - fen und fuͤr die Ewigkeit haͤrten wird. Sieh, mein Geliebter, das Flimmern in lauer Luft die - ſer vergaͤnglichen, fluͤchtigen Leben, die wie Dia - manten durch das dunkle Gruͤn der Gebuͤſche zucken, und bald in zitternden Wolken, bald ein - zeln ſchimmernd, wie ſanfte Toͤne, unſre Ruͤh - rung wecken, und uͤber uns den Glanz der ewigen Geſtirne! Steht nicht der Himmel uͤber der ſtillen dunkeln Erde wie ein Freund, aus deſſen Augen Liebe und Zuverſicht leuchten, dem man ſo recht mit ganzem Herzen in allen Le - bensgefahren und allem Wandel vertrauen moͤchte? Dieſe heilige ernſte Ruhe erweckt im Herzen alle entſchlafenen Schmerzen, die zu ſtillen Freuden werden, und ſo ſchaut mich jetzt groß und milde mit ſeinem menſchlichen Blick der edle Novalis an, und erinnert mich jener Nacht, als ich nach einem froͤhlichen Feſte in ſchoͤner Gegend mit ihm durch Berge ſchweifte, und wir, keine ſo nahe Trennung ahndend, von der Natur und ihrer Schoͤnheit und dem Goͤttlichen der Freund - ſchaft ſprachen. Vielleicht, da ich ſo innig ſei - ner gedenke, umfaͤngt mich ſein Herz ſo liebend, wie dieſer gluͤhende Sternenhimmel. Ruhe ſanft, ich will mich auf mein Lager werfen, um ihm im Traum zu begegnen.

134Einleitung.

Die Freunde trennten ſich. Da erhub eine Nachtigall ihr klagendes Lied aus voller Bruſt, und zuͤndete, wie eine Feuerflamme, rings in den Gebuͤſchen die Toͤne andrer Saͤngerinnen an, aus einer Jasminlaube erklangen die Laute einer Guitarre, und der gluͤckliche Friedrich wollte ſein Leid, dieſe Phantaſie ſingend, beſaͤnftigen:

Wenn in Schmerzen Herzen ſich verzehren,
Und im Sehnen Thraͤnen uns verklaͤren,
Geiſter: Huͤlfe! rufen tief im Innern,
Und wie Morgenroth ein ſeliges Erinnern
Aufſteigt aus der ſtillen dunkeln Nacht,
Alle rothen Kuͤſſe mitgebracht,
Alles Laͤcheln, das die Liebſte je gelacht,
O dann ſangt mit ihrem Purpurmunde
Himmels-Wolluſt unſre Wunde,
Sie entſaugt das Gift
Das vom Bogen dunkler Schwermuth trifft.
Wie die kleinen fleißgen Bienen
Gehn, um Blumenlippen zu benagen,
Wie ſich Schmetterlinge jagen,
Wie die Voͤgel in dem gruͤnen Dunkeln
Springen, und die Lieder toͤnen,
Alſo gaukeln, flattern, funkeln
Alle Worte, alle Blicke, ſuͤße Mienen
Von der ſchoͤnſten einzgen Schoͤnen,
Und in tiefer Winternacht
Lacht und wacht um mich des Fruͤhlings Pracht,
Und die Schmerzen ſcherzen mit den Zaͤhren,
Und im Weinen ſcheinen mild ſich zu verklaͤren
Leiden in den Freuden, Wonnen in dem Gram,
Wie in der holden Braut die Liebe kaͤmpft mit Scham,
Und Leid und Luſt nun muß vereinigt ziehen
Und ſchweben nach der Liebe ſuͤßen Harmonien.
[135]

Erſte Abtheilung.

[136][137]

Die Geſellſchaft ſtand vom Tiſche auf und ging in den Garten, um die Luft zu genießen, welche am Morgen ein Gewitter lieblich abgekuͤhlt hatte. Nun, ſagte Clara, ſind Sie alle Ihres Verſpre - chens eingedenk geweſen? Wo ſind die Maͤhrchen?

Du biſt ſehr eilig, ſagte Manfred, weißt du doch nicht, ob ſie dir wirklich Freude machen werden.

Sie muͤſſen, antwortete ſie lachend, wenn ich nicht auf die Autoren ſehr ungehalten wer - den ſoll.

Es iſt ſchwer, ſagte Anton, zu beſtimmen, worin denn ein Maͤhrchen eigentlich beſtehen und welchen Ton es halten ſoll. Wir wiſſen nicht, was es iſt, und koͤnnen auch nur wenige Rechen - ſchaft daruͤber geben, wie es entſtanden ſein mag. Wir finden es vor, jeder bearbeitet es auf eigne Weiſe und denkt ſich etwas anderes dabei, und doch kommen faſt alle in gewiſſen Dingen uͤber - ein, ſelbſt die witzigen nicht ausgenommen, die jenes Colorit nicht ganz entbehren koͤnnen, jenen wunderſamen Ton, der in uns anſchlaͤgt, wenn138Erſte Abtheilung.wir nur das Wort Maͤhrchen nennen hoͤren.

Die witzigen, ſagte Clara, ſind mir von je verhaßt geweſen. So habe ich den Hamilton - ſchen nie viel Geſchmack abgewinnen koͤnnen, ſo beruͤhmt ſie auch ſind; die dahlenden im Feen - Cabinet zogen mich vor Jahren an, um mich nachher deſto gruͤndlicher zu ermuͤden und zuruͤck zu ſtoßen, und unſerm Muſaͤus bin ich oft recht boͤſe geweſen, daß er mit ſeinem ſpaßhaften Ton, mit ſeiner Manier, den Leſer zu necken und ihm queer in ſeine Empfindung und Taͤuſchung hin - ein zu fallen, oft die ſchoͤnſten Erfindungen und Sagen nur entſtellt und faſt verdorben hat. Da - gegen finde ich die Arabiſchen Maͤhrchen, auch die luſtigen, aͤußerſt ergoͤtzlich.

Es ſcheint, ſagte Anton, Sie verlangen einen ſtill fortſchreitenden Ton der Erzaͤhlung, eine gewiſſe Unſchuld der Darſtellung in dieſen Gedichten, die wie ſanft phantaſirende Muſik ohne Laͤrm und Geraͤuſch die Seele feſſelt, und ich glaube, daß ich mit Ihnen derſelben Mei - nung bin. Darum iſt das Goͤthiſche Maͤhrchen ein Meiſterſtuͤck zu nennen.

Gewiß, ſagte Roſalie, inſofern wir mit ei - nem Gedicht zufrieden ſein koͤnnen, das keinen Inhalt hat. Ein Werk der Phantaſie ſoll zwar keinen bittern Nachgeſchmack zuruͤck laſſen, aber doch ein Nachgenießen und Nachtoͤnen, dieſes verfliegt und zerſplittert aber noch mehr als ein Traum, und ich habe deshalb das herrliche139Erſte Abtheilung.Maͤhrchen von Novalis, ſo weit ich es verſtehn konnte, dieſem weit vorgezogen, welches auch alle Erinnerungen anregt, aber uns zugleich ruͤhrt und begeiſtert und den lieblichſten Wohllaut in der Seele noch lange nachtoͤnen laͤßt.

Du haſt hiemit zugleich, ſagte Manfred, die große Maͤhrchenwelt des Arioſt getadelt, den es auch an einem Mittelpunkte und wahrem Zu - ſammenhange gebricht. Die Frage iſt nur, ob ein Gedicht ſchon vollendet iſt, deſſen einzelne Theile es ſind, und in wie fern die Seele dann bei einer ſo vielſeitigen Compoſition jene Fode - rung eines innigeren Zuſammenhanges vergeſſen kann.

Dieſe Frage, fiel Ernſt ein, kann gar nicht Statt finden, denn dieſe Theile ſind ja nur durch das organiſche Ganze Theile zu nennen, koͤnnen aber ohne dieſes im ſtrengeren Sinne nur Fragmente von und zu Gedichten heißen und als ſolche geliebt werden. Bei aller dieſer ſcheinbaren Vortrefflichkeit fehlt die beherrſchende, ordnende Seele, die der fluͤchtigen Schoͤnheit den ewigen Reiz geben muß. Der Dichter will

Es ſoll ſich ſein Gedicht zum Ganzen ruͤnden,
Er will nicht Maͤhrchen uͤber Maͤhrchen haͤufen,
Die reizend unterhalten und zuletzt
Wie loſe Worte nur verklingend taͤuſchen.

Ich kenne dich und Friedrich ſchon, ſagte Manfred, als Rigoriſten und Ketzermacher, aber ich und Theodor werden euch zu gefallen den140Erſte Abtheilung.Arioſt nicht anders wuͤnſchen, als er nun ein - mal iſt, die Reiſe nach dem Monde und den Evangeliſten Johannes ausgenommen, denn beide ſind fuͤr dieſe ſo kuͤhne Fiktion etwas zu matt ausgefallen.

Ueber dieſen Dichter, ſagte Anton, duͤrfte ſich ein langer Streit entſpinnen, der ſich nur ſchwer beilegen ließe; ſein Werk beſteht, ſtrenge genommen, nur aus Novellen, von denen er die laͤngſten an verſchiedenen Stellen mit ſchein - barer Kunſt durchſchnitten hat, dasjenige, was alle verbindet, iſt ein gleichfoͤrmiger Ton liebli - chen Wohllauts; ich moͤchte alſo ebenfalls be - haupten, daß ſein Gedicht eigentlich weder An - fang, Mitte noch Ende hat, ſo wie ich davon feſt uͤberzeugt bin, daß nur wenige Verehrer, ſelbſt in Italien, ihn oftmals von Anfang zu Ende durchgeleſen haben, ſo ſehr auch alle mit den einzelnen beruͤhmten und anlockenden Stel - len vertraut ſind.

Es giebt, ſagte Lothar, eine Gattung der Poeſie, welche ich, ohne damit ihrer Vortreff - lichkeit zu nahe treten zu wollen, die bequeme oder erfreuliche nennen moͤchte, und in dieſer ſtelle ich den Arioſt oben an. Sehn wir auf großer Ebene den hohen weit ausgeſpannten blauen Himmel uͤber uns, ſo erſchreckt und er - muͤdet in ſeiner Reinheit dieſer Anblick, doch wenn Woͤlkchen mit verſchiedenen Lichtern in dieſem blauen Kriſtalle ſchwimmen, wenn die141Erſte Abtheilung.Sonne ſich neigt, und unten am Horizont wie uͤber uns die lebendigen Duͤfte in vielfachen Schimmer ſich tauchen, dann erfuͤllt ein liebli - ches Ergoͤtzen unſre Seele. So wollen wir die große Wieſe mit Gebuͤſchen und Baͤumen unter - brochen ſehn, und auf gleiche Weiſe fuͤhlen wir in unſrer naͤchſten Umgebung, in unſerm Hauſe, am dringendſten das Beduͤrfniß einer gewiſſen Kunſt. Die weißen leeren Waͤnde unſrer Zim - mer und Saͤle ſind uns unleidlich, Arabesken, Blumen, Thiere und Fruͤchte umgeben uns in gefaͤrbten und vielfach durchbrochenen Linien und Flaͤchen mit mancherlei Geſtalt, und ſelbſt der Fußboden muß ſich zum Schmuck und zur an - ſtaͤndigen Zier zuſammen fuͤgen. Alles ſoll den aͤußern Sinn erregen und dadurch auch den in - nerlichen beſchaͤftigen, und Rafaels Wandge - maͤhlde im Vatikan ſind fuͤr Wohnzimmer viel - leicht ſchon zu erhaben, und alſo als immer - waͤhrende Geſellſchaft unbequem. Dieſes durch - aus edle Kunſtbeduͤrfniß des gebildeten Men - ſchen erfuͤllt Arioſt, er iſt mehr Gefaͤhrte und Freund als Dichter, und wir thun wohl nicht Unrecht, wenn wir uͤber die vollendete Schoͤn - heit des Einzelnen, uͤber dieſe Fuͤlle der Ge - ſtalten, uͤber dieſen zarten blumenartigen Witz, uͤber dieſe ernſte und milde Weisheit eines hei - tern Sinnes die Zuſammenſetzung vergeſſen.

Es ſcheint mir ſehr richtig, fuhr Anton fort, daß dieſe geſellige Kunſt auch in der Poeſie142Erſte Abtheilungſich zeigen duͤrfe, und hier finde ich Gelegenheit, an unſer geſtriges Geſpraͤch uͤber die Gaͤrten zu erinnern, welche nach meiner Meinung abbrach, ohne zu beſchließen. Die hohe Empfindung, welche uns der Anblick der Natur gewaͤhrt, ſei es das Gefuͤhl des Waldes, des Meeres oder Gebirges, laͤßt ſich in keinen Garten ziehn, denn dieſe Gefuͤhle ſind wechſelnd, unbeſchraͤnkt, un - ausſprechlich. Diejenigen, welche in Parks das Seltſam-Schauerliche, oder das Erhaben - Ma - jeſtaͤtiſche erregen wollten, haben ſich im groͤß - ten Irrthume befunden, und es war natuͤrlich, daß ihre Beſtrebungen in Fratzen ausarten muß - ten. Das Schoͤne und Ruͤhrende iſt es, wel - ches Huͤgel, Baumgruppen, kleine Fluͤſſe Waſ - ſerfaͤlle und Seen erregen koͤnnen, ein ſchwaͤrmen - des muſikaliſches Gefuͤhl, welches ziemlich deut - lich den Kuͤnſtler, welcher den Garten anlegen will, bewegen muß, und welches im Beſchauen eben ſo widertoͤnt. Dieſer Gaͤrtner wird alſo wohl die Natur, aber nicht das Natuͤrliche aus - ſchließen, und darum zieht der Englaͤnder gern kleine Saatfelder in ſeinen Park, um eine ganz beſtimmte Empfindung von der beſchraͤnkten Be - ſchaͤftigung der Landwirthſchaft zu erregen, ein kleiner Weinberg zeigt ſich wohl auch, als ein reizendes Widerſpiel der Haine und Baumgrup - pen. Wie mich nun zwar alles an die Natur erinnert, ſo kann ich ſie doch hier ſo wenig wie im Gedicht oder in der Mahlerei unmittelbar143Erſte Abtheilung.empfinden, ſondern ich ſoll die Kunſt in jedem Augenblicke genießen. Wenden wir uns nun zu der ſogenannten Franzoͤſiſchen Gartenkunſt, ſo finden wir hier eine dieſer natuͤrlichen voͤllig widerſprechende. Wie ſie alle Natur aus ihren Graͤnzen entfernt, eben ſo die Erinnerung an das Natuͤrliche, denn ſo wenig Getreide und Obſt ihren Platz hier finden, eben ſo wenig Baum-Parthien, die die Durchſicht decken, oder abwechſelnd reizende Gebuͤſche, und jene ſuͤße Schwaͤrmerei und muſikaliſche Empfindung ver - ſchlungener Haine und mahleriſcher Anſichten. Alles dient hier einer Empfindung, die ich am liebſten im Gegenſatz jener muſikaliſch ſchwaͤr - meriſchen Gefuͤhle eine pathetiſche Entzuͤckung nennen moͤchte, alles erhebt die Seele zur Be - geiſterung, alles iſt klar und unverworren; gleich vom erſten Eintritt fuͤhle und uͤberſehe ich den Plan des Ganzen, und aus jedem Punkte finde ich mich unmittelbar in den Mittelpunkt der großartigen Compoſition zuruͤck. Dazu dienen die großen freien Plaͤtze, die geraden Baumgaͤnge, die bedeckten und verflochtenen Lauben. Sta - tuen und Waſſerkuͤnſte verhalten ſich zu dieſem Garten ſo, wie gegenuͤber Saatfelder und Weinberge, ſie wollen recht beſtimmt das Ge - bildete ausſprechen und darſtellen, und wie man den Park mit Unrecht die Nachahmung einer ge - mahlten Landſchaft nennen wuͤrde, da der Gaͤrt - ner und Mahler vielmehr aus einer gemein -144Erſte Abtheilung.ſchaftlichen poetiſchen Quelle ſchoͤpfen, ſo thaͤte man auch dieſem Kunſtgarten Unrecht, ihn aus der Architektur abzuleiten, da auch der Architekt nur aus jener mathematiſchen Poeſie des Ge - muͤthes ſeine Erfindungen nimmt. Daher ſcheint es mir auch geradezu unmoͤglich, in Bergen einen Park anzulegen, weil die Natur die un - mittelbar hinein blickt, die Kunſt-Effekte, die ihr hier verwandt ſein ſollen, vernichtet. Nach der Natur aber ſelbſt ſehnt ſich gewiß jeder aus beiderlei Gaͤrten vielmals hinaus und Niemand kann ſie entbehren. Der regelmaͤßige Garten ſchließt vielleicht im Hintergrunde am angenehm - ſten mit einem parkaͤhnlichen, ſo wie der Eng - liſche am ſchicklichſten nahe am Hauſe freie Raͤume und eine gewiſſe Regelmaͤßigkeit aus - ſpart. Es ergiebt ſich auch von ſelbſt, daß der regelmaͤßige Kunſtgarten eine allgemeinere Form hat und leichter, vom Geſchmack geleitet, zweck - maͤßig nachgeahmt werden kann, daß aber der Park ſich nicht leicht wiederholen laͤßt, ſondern in jeder neuen Geſtalt als ein anderes Indivi - duum auftreten muß. Es iſt aber wohl moͤg - lich, daß es demohngeachtet nur wenige Haupt - formen giebt, unter welche alle Gaͤrten dieſer Art ſich vereinigen laſſen, und trotz der anſchei - nenden Einſamkeit duͤrften dann die Franzoͤſi - ſchen Gaͤrten wohl eben ſo viele Gattungen auf - weiſen koͤnnen. Iſt es erlaubt ein Ding durch ein vergleichendes Bild deutlich zu machen, ſomoͤchte145Erſte Abtheilung.moͤchte ich am liebſten den Park mit einem Shakſpearſchen, und den regelmaͤßigen Garten mit einem Calderonſchen Luftſpiel vergleichen. Scheinbare Willkuͤhr in jenem, von einem un - ſichtbaren Geiſt der Ordnung gelenkt, Kuͤnſtlich - keit, in anſcheinender Natuͤrlichkeit, der Anklang aller Empfindungen auf phantaſirende Weiſe, Ernſt und Heiterkeit wechſelnd, Erinnerung an das Leben und ſeine Beduͤrfniſſe, und ein Sinn der Liebe und Freundſchaft, welcher alle Theile verbindet. Im ſuͤdlichen Garten und Gedicht Regel und Richtſchnur, Ehre, Liebe, Eiferſucht in großen Maſſen und ſcharfen Antitheſen, eben ſo Freundſchaft und Haß, aber ohne tiefe oder bizarre Individualitaͤt, oft mit den nehmlichen Bildern und Worten wiederholt, Kuͤnſtlichkeit und Erhabenheit der Sprache, Entfernung alles deſſen, was unmittelbar an Natur erinnert, das Ganze endlich verbunden durch einen begeiſter - ten hohen Sinn, der wohl trunken, aber nicht berauſcht erſcheint. Ich laſſe das Gegenbild des Gartens unausgemahlt, aber man koͤnnte ſelbſt die Reden in Stanzen oder andern kuͤnſtlichen Versmaßen, (die ſich gewiß ganz von dem, was die Naturaliſten Natur nennen wollen, entfer - nen) mit den beſchnittenen glaͤnzenden Taxus - und Buxus-Waͤnden vergleichen, wenn man witzig im Bilde fortſpielen wollte.

Auch dieſe, ſagte Manfred, duͤrfen in einem Kunſtgarten nicht fehlen, auch vertragen dieſeI. [I0]146Erſte Abtheilung.Baumarten die Scheere am beſten, da ihr feſtes glaͤnzendes Laub nur langſam wieder nachwaͤchſt, und ſie ſich uͤberhaupt weit mehr als empfind - ſame Linden und jugendlich kuͤhne Buchen dar - ein fuͤgen. Doch glaub 'ich koͤnnen geſchnizte Pyramiden und aͤhnliche Figuren fuͤglich aus jedem Garten ausgeſchloſſen werden.

Unſer Garten, liebe Mutter, rief Clara, iſt nun hoffentlich auf alle Zeiten gerettet, denn es ſteht vielleicht zu erwarten, daß man in der Zu - kunft manche der natuͤrlichen Parks wieder in dergleichen kuͤnſtliche Anlagen umarbeiten moͤchte.

Nicht wahr, mein Freund, (ſo wandte ſie ſich gegen Anton) es iſt uͤberhaupt wohl ſchwer zu ſagen, was denn Natur oder natuͤr - lich ſei?

Vielen Mißbrauch, erwiederte dieſer, hat man oft mit dieſen Worten getrieben, am mei - ſten in jener Zeit, als man ſich von einem ſtei - fen Ceremoniell zu befreien ſtrebte, welches man irrigerweiſe Kunſt nannte, und nun gegenuͤber ein Weſen ſuchte, welches uns unter allen Be - dingungen das Richtige und die Wahrheit geben ſollte. Kunſt und Natur ſind aber beide, rich - tig verſtanden, in der Poeſie wie in den Kuͤn - ſten, nur ein und daſſelbe.

Am ſeltſamſten, ſagte Theodor, iſt mir das Geſchlecht der Naturjaͤger vorgekommen, welches noch nicht ausgeſtorben iſt, vor einigen Jahren aber noch mehr verbreitet war; diejenigen meine147Erſte Abtheilung.ich, welche auf Sonnenauf - und Untergaͤnge von hohen Bergen, auf Waſſerfaͤlle und Naturphaͤ - nomene wahrhaft Jagd machen, und ſich und andern manchen Morgen verderben, um einen Genuß zu erwarten, der oft nicht koͤmmt, und den ſie nachher erheucheln muͤſſen. Dieſe Leute behandeln die Natur gerade ſo, wie ſie mit den merkwuͤrdigen Maͤnnern umgehn, ſie laufen ihnen ins Haus und ſtellen ſich ihnen gegenuͤber, da ſtehn ſie nun an der bekannten und oftmals beſprochenen Stelle, und wenn in ihrer Seele nun gar nichts vorgeht, ſo ſind ſie nachher wenigſtens doch dort geweſen.

Die Natur, fuhr Anton fort, nimmt nicht in jeder Stunde jedweden vorwitzigen Beſuch an, oder vielmehr ſind wir nicht immer geſtimmt, ihre Heiligkeit zu fuͤhlen. In uns ſelbſt muß die Harmonie ſchon ſein, um ſie außer uns zu finden, ſonſt behelfen wir uns freilich nur mit leeren Phraſen, ohne die Schoͤnheit zu genießen: oder es kann auch wohl ein unvermuthetes Ent - zuͤcken vom Himmel herab in unſer Herz fallen, und uns die hoͤchſte Begeiſterung aufſchließen; dazu aber koͤnnen wir nichts thun, wir koͤnnen dergleichen nicht erwarten, ſondern eine ſolche Offenbarung begiebt ſich in uns nur. So viel iſt gewiß, daß jeder Menſch wohl nur zwei oder dreimal in ſeinem Leben das Gluͤck haben kann, wahrhaft einen Sonnen-Aufgang zu ſehn: der - gleichen geht auch dann nicht, wie Sommerwol -148Erſte Abtheilung.ken, unſerm Gemuͤth voruͤber, ſondern es macht Epoche in unſerm Leben, wir brauchen lange Zeit, um uns von ſolcher Entzuͤckung wieder zu erholen, und viele Jahre zehren noch von die - ſen erhabenen Minuten. Aber nur Stille und Einſamkeit vergoͤnnen dieſe Gaben; eine Geſell - ſchaft, die ſich zu dergleichen auf einem Berge verſammelt, ſteht nur vor dem Theater, und bringt auch gewoͤhnlich dieſelbe alberne Freude und leere Kritik wie dort mit herunter.

Noch ſeltſamer, ſagte Ernſt, daß ſo wenige Menſchen den wundervollen Schauer, die Be - aͤngſtigung empfinden, oder ſich geſtehn, die in manchen Stunden die Natur unſerm Herzen erregt. Nicht bloß auf den ausgeſtorbenen Hoͤ - hen des Gotthard erregt ſich unſer Gemuͤth zum Grauen, nicht bloß

wenn es hin zur Flut euch lockt,
zum grauſen Wipfel jenes Felſen,
Der in die See nicht uͤber ſeinen Fuß,
Der Ort an ſich bringt Grillen der Verzweiflung
Auch ohne weitern Grund in jedes Hirn,
Der ſo viel Klafter niederſchaut zur See,
Und hoͤrt ſie unten bruͤllen;

ſondern ſelbſt die ſchoͤnſte Gegend hat Geſpen - ſter, die durch unſer Herz ſchreiten, ſie kann ſo ſeltſame Ahndungen, ſo verwirrte Schatten durch unſre Phantaſie jagen, daß wir ihr entfliehen, und uns in das Getuͤmmel der Welt hinein ret - ten moͤchten. Auf dieſe Weiſe entſtehn nun wohl149Erſte Abtheilung.auch in unſerm Innern Gedichte und Maͤhr - chen, indem wir die ungeheure Leere, das furcht - bare Chaos, mit Geſtalten bevoͤlkern, und kunſt - maͤßig den unerfreulichen Raum ſchmuͤcken; dieſe Gebilde aber koͤnnen dann freilich nicht den Cha - rakter ihres Erzeugers verlaͤugnen. In dieſen Natur-Maͤhrchen miſcht ſich das Liebliche mit dem Schrecklichen, das Seltſame mit dem Kin - diſchen, und verwirrt unſre Phantaſie bis zum poetiſchen Wahnſinn, um dieſen ſelbſt nur in unſerm Innern zu loͤſen und frei zu machen.

Sind die Maͤhrchen, fragte Clara, die Sie uns mittheilen wollen, von dieſer Art?

Vielleicht, antwortete Ernſt.

Doch nicht allegoriſch?

Wie wir es nennen wollen, ſagte jener. Es giebt vielleicht keine Erfindung, die nicht die Al - legorie, auch unbewußt, zum Grund und Boden ihres Weſens haͤtte. Gut und boͤſe iſt die dop - pelte Erſcheinung, die ſchon das Kind in jeder Dichtung am leichteſten verſteht, die uns in jeder Darſtellung von neuem ergreift, die uns aus jedem Raͤthſel in den mannichfaltigſten Formen anſpricht und ſich ſelbſt zum Verſtaͤndniß rin - gend aufloͤſen will. Es giebt eine Art, das gewoͤhn - lichſte Leben wie ein Maͤhrchen anzuſehn, eben ſo kann man ſich mit dem Wundervollſten, als waͤre es das Alltaͤglichſte, vertraut machen. Man koͤnnte ſagen, alles, das Gewoͤhnlichſte wie das Wunderbarſte, Leichteſte und Luſtigſte habe nur150Erſte Abtheilung.Wahrheit und ergreife uns nur darum, weil dieſe Allegorie im letzten Hintergrunde als Halt dem Ganzen dient, und eben darum ſind auch Dan - te's Allegorien ſo uͤberzeugend, weil ſie ſich bis zur greiflichſten Wirklichkeit durchgearbeitet haben. Novalis ſagt: nur die Geſchichte iſt eine Ge - ſchichte, die auch Fabel ſein kann. Doch giebt es auch viele kranke und ſchwache Dichtungen dieſer Art, die uns nur in Begriffen herum ſchlep - pen, ohne unſre Phantaſie mit zu nehmen, und dieſe ſind die ermuͤdendſte Unterhaltung. Allein Anton mag uns jetzt ſein einleitendes Gedicht vorleſen, welches er uns verſprochen hat.

Anton zog einige Blaͤtter hervor und las:

Phantaſus.

Betruͤbt ſaß ich in meiner Kammer,
Dacht 'an die Noth, an all den Jammer
Der rund um druͤckt die weite Erde,
Daß man nur ſchaut Trauergeberde,
Daß Luft und Sang und frohe Weiſen
Gezogen weit von uns auf Reiſen,
Daß Argwohn, Mißtraun unſre Gaͤſte,
Und Furcht und Angſt bei jedem Feſte,
Daß jedermann nur fraͤgt in Sorgen:
Wie wird es mit dir heut und morgen?
Dazu war ich noch ſchwach und krank,
Mir war ſo Tag wie Nacht zu lang;
151Phantaſus.
Ich ſorgte, was mein Arzt ermeſſen,
Was ich nicht trinken durft 'und eſſen,
Wie meine Pein zu lindern waͤre,
Was mir den Schlaf, die Ruh nicht ſtoͤre;
So ſaß ich ſtill in mich gebuͤckt,
Den Kopf in meine Hand gedruͤckt,
Als ich ſo ſinnend es vernahm
Daß jemand an die Thuͤre kam,
Es klopfte, und ich rief: herein!
Da oͤffnet ſchnell ein Haͤndelein
So weiß wie Baumesbluͤth, herfuͤr
Trat dann ein Knaͤblein in die Thuͤr,
Das Haupt gekraͤnzt mit jungen Roſen,
Die eben aus den Knospen loſen,
Wie Roſengluth die Lippen hold,
Das krauſe Haar ein funkelnd Gold,
Die Augen dunkel, violbraun,
Der Leib gar lieblich anzuſchaun.
Er trat vor mich und thaͤt ſich neigen,
Und ſprach alsdann nach kurzem Schweigen:
Wie koͤmmts, mein lieber kranker Freund,
Daß ihr hier ſitzt, da Sonne ſcheint?
Der Fruͤhling geht umher mit Pracht,
Hat Laub des Waldes angefacht,
Es brennt das gruͤne Feuer wieder,
Und drein ertoͤnen tauſend Lieder,
Die Erde traͤgt ihr Sommerkleid
Der Plan erglaͤnzt von Blumen weit,
Es ſpielt der Fiſch in blauem See,
Vom Obſtbaum haͤngt der Bluͤthenſchnee,
Die Lieb - und Seegen-ſchwangre Luft
152Erſte Abtheilung.
Durchſpielt in Wogen Kraft und Duft,
Das Kindlein lacht die Bluͤthen an
Aus rothem Mund mit weißem Zahn,
Der Juͤngling ſieht ſein Herz und Lieben
In Blumenſchrift mit Glanz geſchrieben,
Sich hebt der Jungfrau ſchoͤne Bruſt
In ahndungsvoller Liebesluſt,
Der Greis erfriſcht die alten Glieder
Und duͤnkt ſich in der Kindheit wieder,
Und jedermann fuͤhlt freudenſchwanger
Den dunkeln Wald, den lichten Anger.
Du nur willſt ſitzen hier gekauert,
In deinen Sorgen eingebauert,
Von Schwermuths-Wolken rings umhaͤngt,
In Noth und Zweifeln eingeengt?
Ich kenne dich nicht wieder ſchier;
Hinaus mach 'ſtraks dich vor die Thuͤr,
Und thu dein menſchlich Angeſicht
Hinein in holdes Himmelslicht,
Laß nicht die Stirn dir ſo verrunzeln,
Der Lippen Friſche ganz verſchrunzeln,
Das Auge, das ſonſt Strahlen ſcharf
Von ſeinem lichten Bogen warf,
Iſt tief hinein zum Haupt geſchmolzen
Und ſchießt nur ſchwer' und ſtumpfe Bolzen,
Entzweit hat ſich dein Mund mit Lachen
Scherz, Kuß ſind ihm wildfremde Sachen,
In deiner gelb verſchrumpften Haut
Der Kummer ſich im Spiegel ſchaut;
Nicht, Creatur, mach 'Schand' und Spott,
Wer dich geſchaffen, deinem Gott,
153Phantaſus.
Schau aus, als ſeiſt nach ſeinem Bilde
Formiret edel, heiter milde,
Verbruͤmmelt nicht und ungelachſen,
Als ſeyn in dir zuſamm gewachſen
All Unkraut, Stacheln, Diſteln, Dorn,
Mit Schimmel, Pilzen feſt verworrn;
Friſch auf, laß dich von mir regieren,
Ins Fruͤhlings-Reich will ich dich fuͤhren.
Er ſchwang in ſeiner Rechten zart
Die Tulpenblum ſeltſamer Art,
Wie er ſie auf und nieder regte
Ein farbig Feuer ſich bewegte,
Und lichte Sterne kreiſten, welche
Sich ſchuͤttelten aus goldnem Kelche,
Die flogen wie die Voͤglein munter
Mir um das Haupt herauf herunter
Und neckten mich mit ihrem Leuchten,
Daß ich zu thun ſie fort zu ſcheuchen.
Ich ſprach halb zornig: wer biſt du,
Der mich geſtoͤrt in meiner Ruh,
Du Knaͤblein laut, vorwitziglich,
Der du alſo beſpoͤttelſt mich,
Und willſt, weil du ein Kindlein frei,
Daß alle Welt auch kindiſch ſei?
Ich habe mehr gelernt, erfahren,
Bin auch jetzund was mehr bei Jahren,
Daß Spiel, unnuͤtzer Zeitvertreib
Nicht mehr gefallen meinem Leib,
Auch iſt umher die ganze Welt
Auf Ernſt, Nachdenklichkeit geſtellt,
Daß der nur Thor jedwedem ſcheint
154Erſte Abtheilung.
Der ſich nicht hoͤherm Zweck vereint,
Du aber, Knaͤblein, biſt inmitten
Der Bildung nicht mit fortgeſchritten,
Meinſt noch, daß man nach Blum 'und Kraut
Und all den Kinderein ausſchaut,
Das haͤlt man jetzt fuͤr Rauch und Dunſt,
Mein Sohn, die Zeit iſt nicht wie ſunſt.
Der Knabe lacht ', daß ſich das Gold
Der Locken in einander rollt,
Und ſprach: ſonſt haſt mich wohl gekannt,
Ich bin der Phantaſus genannt,
Heimathlich war ich ſonſt bei dir,
Dein Spielgefaͤhrte fuͤr und fuͤr,
Als du mich noch am Herzen hegteſt
Und vaͤterlich und freundlich pflegteſt,
Da war dein Sinn anders geſtellt,
Mit dir zufrieden und der Welt
War dir die Arbeit Luft und Scherz,
Friſch und geſund dein junges Herz.
Mein Auge, ſprach ich, iſt wohl blind;
Du alſo biſt dasſelbe Kind,
Das taͤglich Blumen mir gebracht,
Holdſeliglich mich angelacht,
Das mir verſcherzt die muntern Stunden,
Vielfaͤltig Spielzeug mir erfunden?
Seitdem biſt du von mir entwichen
Und anderwaͤrts umher geſtrichen,
Da kamen Ernſt, Vernunft, Verſtand,
Und gaben mir in meine Hand
Der Buͤcher viel und mancherlei
Voll tiefen Sinns, Philoſophei,
155Phantaſus.
Ich ſtrebte, mich aus rohem Wilden
Zum wahren Menſchen umzubilden;
Drauf ich auch zur Geſchichte kam
Die Noth der Welt zu Herzen nahm,
Die Chronikbuͤcher unverdroſſen
Hab 'ich in Naͤchten aufgeſchloſſen,
Die Vorzeit kam zu mir heruͤber
Und immer ernſter wards und truͤber:
Bald ſchien mich an ein fluͤchtig Blitzen,
Dann glaubt' ich Wahrheit zu beſitzen,
Dann kam die Daͤmmrung, faßt 'es wieder
Und taucht' es in die Finſtre nieder;
Die Nacht ward wieder Lichtes ſchwanger,
Das neue Licht macht 'mich noch banger,
Wohl ahndend, daß, wenns ausgegohren
Die Finſtre neu draus wird erboren:
So wies Hiſtori mir nur Noth,
Im Leben auch nur Grab und Tod,
Das Schoͤne ſtirbt, der Glanz loͤſcht aus,
Das Irdiſch-Schlechte baut ſein Haus,
Und ſpricht von ſeinem Felſenthron
Den hohen Goͤtterſoͤhnen Hohn:
Natur hab' ich ergruͤnden wollen,
Da kam ich gar auf ſeltſam 'Schrollen,
Verlor mich in ein ſteinern Reich,
Ich glaubte all's nichts doch zugleich,
Wollt Pflanz, Metall und Stein verſtehn,
Mußt' mir doch ſelbſt verloren gehn,
Hatt 'viel Kunſtworte bald erſtanden,
Ich ſelbſt gekommen nur abhanden,
Um endlich wieder zu gelangen
156Erſte Abtheilung.
Noch dummer wo ich ausgegangen:
Vielleicht weil du, mein Sohn, gefehlt,
Hab 'ich in Angſt mich abgequaͤlt,
Verſtehſt du wohl die alten Schriften,
Wandelſt wohl auch auf Weisheits-Triften?
Doch laß, ich will dich jetzt nicht plagen,
Komm, laß uns in den ſchoͤnen Tagen
So ſpielen, wie wir ſonſt gepflogen,
Wenn du mir etwas noch gewogen.
Der Kleine ſchmeichelt 'ſich an mich,
Druͤckt' an mein Knie mit Laͤcheln ſich,
Wandt 'ſich hieher und dorthin nun,
Faſt wie die jungen Kaͤzlein thun.
Da gehn wir aus dem Haus, und warm
Nimmt Sommer mich in ſeinen Arm,
Die Lerch' in Luͤften jubilirt,
Haͤnfling und Droſſel muſizirt,
Das Gruͤn ſchmiegt ſich um Plan und Huͤgel,
Der Schmetterling wiegt Purpurfluͤgel,
Die Blumen roth, braun, gold und blau
Stehn dicht gedraͤngt auf gruͤner Au,
Die Bienen ſummen luftig, nippen
Den Honigſeim von Blumenlippen,
Duft, roͤthlich Glanz kreucht aus dem Baum,
Haͤngt von dem Zweig, ein ſuͤßer Traum.
Wie iſt, ſprach ich, die Welt ſo bunt,
Von neuem toͤnt und ſchwazt der Mund
Der kindſchen Quellen, Fruͤhlings Hand
Nahm von den Zungen ab das Band,
Das Winter jaͤhrlich um ſie legt,
Das ſich kein lautes Woͤrtchen regt,
157Phantaſus.
Die Sommergaͤſt 'auch ſind mit Schalle
Ins Land zuruͤck gekommen alle.
Indem wand ſich der Buchenhain
Vom Plane ab den Weg hinein,
Der Glanz mit Gruͤn ſchoͤn war gemiſcht,
Die ſtille Luft vom Wind erfriſcht,
Die wilden Tauben hoͤrt 'ich girren,
Zeiſig und Fink in Neſtern ſchwirren,
Ein Duft ſuͤß aus den Baͤumen floß,
Ein Rieſeln ſaͤnftlich ſich ergoß
Aus Tannenbaͤumen, die vom Winde
Sanft angeſpielt erklangen linde,
Das all war meinem kranken Leben
Als Labſal und Arznei gegeben.
Wo ſind wir, Liebſter? rief ich aus,
Sei mir gegruͤßt, du gruͤnes Haus,
Gegruͤßt ihr friſchen Bogengaͤnge,
Willkommen mir ihr Waldesklaͤnge!
Ich war noch nie in den Revieren,
Sprich, wohin willſt du mich denn fuͤhren?
Er ſagte nichts, nur freundlich winkt
Sein Aug' das mir ins Auge blinkt.
Einſamer ward der dichte Hain,
Geſpaltener des Lichtes Schein,
Der ſich in Gattern um uns legte
Und mit des Luftes Zug bewegte,
Da hoͤrt 'ich Wild von ferne ſchrein,
Da ſangen fremde Voͤgel drein
Mit wunderſamen Ton, es klangen
Viel Baͤchlein, die aus Felſen ſprangen,
Wie Schatten zog es her und hin,
158Erſte Abtheilung.
Ein Schauer flog durch meinen Sinn.
Nun wars, als hoͤrt 'ich Kinder plaudern,
Hin lief ich ohne laͤnger Zaudern,
Und als ich nach dem Ort gekommen
Von wo ich erſt den Ton vernommen
Da that ſich auf des Waldes Dunkel,
Und vor mir lag ein hell Gefunkel,
Roth ſah ich wilde Nelken bluͤhn,
Sammt lichten Sternen von Jasmin,
Und duftend Kraut Je laͤnger lieber,
Das rankte eine Grott' hinuͤber,
An die ſich hoch die Epheu ſchlang,
Und aus der Hoͤhle kam Geſang.
Da ſchaut ich in den Fels hinein,
Da ſaß ein Bild mit lichtem Schein,
Guͤldnes Gewand den Leib umfloß,
An den ſich Spang 'und Guͤrtel ſchloß,
Das Antlitz bleich, entfaͤrbt die Wange,
Sie ſchien in Furcht und Zittern bange
Und ſchloß ſich an ein Mannsgebild,
Das ſchaute aus den Augen wild,
Doch laͤchelt' er mit Freundlichkeit,
Er war in ſchwarz Gewand gekleidt,
Ein dunkles Haar hing um das Haupt,
Er trug von wildem Wein umlaubt
Den guͤldnen Stab in ſeiner Hand,
Geflochten war um ſein Gewand
Epheu und Tannenzweig 'in Kraͤnzen,
Wozwiſchen rothe Roſen glaͤnzen;
Er ſprach und ſang der Schoͤnen vor,
Und fluͤſterte ihr oft ins Ohr.
159Phantaſus.
Da fragt ich: Kind, wer ſind die beide?
Der Knabe ſprach: im ſchwarzen Kleide
Der iſt der Schreck, von Maͤhrchen alten
Beſchreibt er gern die Schaurgeſtalten;
Das Maͤgdlein da im lichten Kleid
Iſt meine liebe Albernheit,
Sie aͤngſtet ſich und um ſo gerner
Hoͤrt ſie den andern reden ferner,
Sie fuͤrchtet ſich vor dem Erſchrecken,
Laͤßt ſich doch ſpielend davon necken,
Sie laͤchelt, und vor Schauder weint
Ihr Lachen, das in Thraͤnen ſcheint,
Sie freut ſich und wird voraus bleich,
So ſpielt ſie mit dem Geiſterreich,
Wenn Schreck ihr ſagt: nun kommt es, jetzt,
Was dich recht durch und durch entſetzt!
Dann bittet ſie: laß es voruͤber,
Nein, ſpricht ſie dann, erzaͤhl 'es, Lieber:
Dann rauſcht der ſchwarze Tannenhain,
Dann weinen Felſenbaͤche drein,
Sie meint ſie ſtirbt vor Angſt und Schmerz
Und druͤckt dem Schreck ſich mehr ans Herz.
Da ſah ich einen Kleinen gaukeln
Und ſich in allen Blumen ſchaukeln,
Ein herzigs Kind, das auf und nieder
Im Tanze ſchwang die zarten Glieder,
Bald klettert 'es in Epheuranken
Und ließ ſich kuͤhn vom Winde ſchwanken,
Bald ſtand oben am Fels der Loſe
Und duckte ſich in eine Roſe,
So eilig, daß der Stengel knickte
160Erſte Abtheilung.
Wie er ſich in die Roͤthe buͤckte,
Dann fiel er lachend auf die Au
Und war benetzt vom Roſenthau:
In Blaͤttern, aus Jasmin gezogen,
Beſchifft 'er dann des Baches Wogen,
Und bracht' als Kriegsgefangne heim
Die Bienen mit dem Honigſeim;
Dann ſucht 'er Muſcheln ſich im Sande
Und Stein' und Kieſel vielerhande,
Und putzte drinn das Felſenhaus
Mit vielen artgen Schnoͤrkeln aus:
Auf einmal ließ er alles liegen
Und ſchien durch Luͤfte ſchnell zu fliegen,
Dann auf dem hoͤchſten Tannenbaum
Stand er und uͤberſah den Raum,
Mit Rieſenſtaͤrke bog er dann
Das Baumes Wipfel auf den Plan
Und ließ ihn dann zuruͤcke ſchießen,
Des Baches Wogen muſten fließen
In Waſſerfaͤllen laut und brauſend,
Der maͤchtge Wald dazwiſchen ſauſend,
Ein furchtbar Echo, das von oben
Hin durch den Thalgrund ſprach mit Toben,
Dazu des Donners Krachen viel,
Schien alles ihm nur Harfenſpiel.
Er ſelbſt, der erſt ein kleiner Zwerg
War jetzt ſo maͤchtig wie ein Berg,
Und ſprang ſo ſchnell wie Blitzes Lauf
Zur Hoͤhe des Gebirgs hinauf,
Riß aus der Wurzel maͤchtge Felſen,
Die ließ er ſich zum Thale waͤlzen
Mit161Phantaſus.
Mit lautem Donnern, furchtbarm Krachen,
Das machte ihn von Herzen lachen,
Wie ſie im Puͤrzen, Springen, Kollern,
So ungeſchlacht zur Ebne ſchollern,
Wie ſie die nackten Hauer fletſchen
Und Wald und Berg im Sturz zerquetſchen.
Da war ich bang und furchtſam faſt,
Ich ſprach: wer iſt der ſchlimme Gaſt,
Der erſt ein Kindlein thoͤricht ſpielte,
An Bienen nur ſein Muͤthlein kuͤhlte,
Ein Tandmann ſchien, doch nun erwachſen
So ungeheuer, ungelachſen,
Daß kaum noch ſo viel Kraft der Welt,
Daß ſie ihn ſich vom Halſe haͤlt?
Das iſt der Scherz, ſo ſprach mein Freund,
Der groß und klein in ſich vereint,
Oft iſt er zart und lieb unſchuldig,
Doch wird er wild und ungeduldig
So kuͤhlt er ſeinen Muth den frechen
Und all's muß biegen oder brechen.
Kann man nicht, fragt 'ich, Sitt' ihm lehren?
Das hieß ihn nur, ſprach der, verkehren,
Er acht't kein noch ſo klug Gebot,
Und ſchreit nur: das thut mir nicht noth!
So laſſen ſie ihm ſeinen Willen.
Da ſchlug urploͤtzlich aus dem Stillen
Der Sang von tauſend Nachtigallen,
Die ließen ihre Klage ſchallen,
Und aus dem gruͤnen Waldesraum
Erglaͤnzt 'ein leuchtend goldner Saum,
Von Purpurkleidern, die erbeben
I. [II]162Erſte Abtheilung.
In Gluth, wie ſich die Glieder heben
Vom ſchoͤnſten weiblichen Gebilde,
Sie ſchritt nun laͤchelnd zum Gefilde,
Und kam aus dunkelm Wald hervor
Wie Sonne durch des Morgens Thor,
Das goldne Haar in Wellen fließend,
Das lichte Aug 'die Welt begruͤßend,
Das rothe Laͤcheln Wonne ſtreuend,
Des Leibes Glanz rings all erfreuend;
So wie die Augen leuchtend gingen
Die Blumen an zu bluͤhen fingen,
Das Gras ward gruͤner, Wonnebeben
Schien Stein und Felſen zu beleben,
Die Waſſer jauchzten, und im Innern
Bewegt' ein ſeliges Erinnern
Der Erbe allertiefſtes Herz,
Demant erwuchs und Goldes-Erz.
Wer iſt, fragt 'ich, die dort regiert,
So zart und edel gliedmaſirt,
Die Klare, Holde, Minniglich'?
Nenn 'ihren Namen, Knabe, ſprich!
Dir iſt es alſo nicht bewußt,
Sprach Phantaſus, in deiner Bruſt,
Was Thier 'und Pflanzen, Stein' empfinden,
Ich muß dir ihren Namen kuͤnden?
Die Liebe iſt ſie! Und alsbald
Kannt 'ich die goͤttliche Geſtalt,
Ich ſprach im Flehn zu ihr: demuͤthig
Komm' ich zu dir, o ſei mir guͤtig,
Wie du die ganze Welt begluͤckſt,
In jedes Herz die Wonne ſchickſt,
163Phantaſus.
Gedenke mein, laß nicht mein Leben
Als liebeleeren Traum verſchweben.
Gebietend hob ſie auf die Hand,
Da kamen aus dem gruͤnen Land,
Von Bergen, aus dem niedern Thal,
Die Geiſter wimmelnd ohne Zahl,
Aus Baͤchen huben ſie ſich ſchnell
Und leuchteten von Schimmern hell,
Die Baͤume thaten all ſich auf,
Es ſprangen vor mit munterm Lauf
Die zarten Elfen, und aus kleinen
Bluͤmlein wollten ſie auch erſcheinen,
Gar klein geſtalt, in Farben bunt,
Da ſang ein tauſendfacher Mund
Der hohen Goͤttin Lob und Dank,
Gar wunderſam war der Geſang,
Sie ſonnten ſich in ihren Laͤcheln
Berauſcht von ihres Othems Faͤcheln.
Da wandt 'ſich Phantaſus zu mir:
Nun, Werther, wie gefaͤllts dir hier?
Ich wollte ſprechen: ſeeliglich
Duͤnkt mir dies Leben ſicherlich,
Doch nahm der allergroͤßte Schreck
Mir ploͤtzlich Stimm' und Othem weg:
Was ich fuͤr Grott 'und Berg gehalten,
Fuͤr Wald und Flur und Felsgeſtalten,
Das war ein einzigs großes Haupt,
Statt Haar und Bart mit Wald umlaubt,
Still laͤchelt' er, daß ſeine Kind
In Spielen gluͤcklich vor ihm ſind,
Er winkt, und ahndungsvolles Brauſen
164Erſte Abtheilung.
Wogt her in Waldes heilgem Sauſen,
Da fiel ich auf die Kniee nieder,
Mir zitterten in Angſt die Glieder,
Ich ſprach zum Kleinen nur das Wort
Sag 'an, was iſt das Große dort?
Der Kleine ſprach: Dich faßt ſein Graun,
Weil du ihn darfſt ſo ploͤtzlich ſchaun,
Das iſt der Vater, unſer Alter,
Heißt Pan, von allem der Erhalter.
Ein maͤchtger Schauder faßte mich,
Mit Zittern ſchnell erwachte ich,
Und ſo bewegt von dem Geſicht
Verkuͤnd 'ichs euch, verſchweig' es nicht.

Nach einer Pauſe ſagte Clara: ich glaube Ihren Sinn zu verſtehn, aber unartig, ja grau - ſam finde ich es, daß Sie uͤber Ihre Krankheit ſcherzen, und zur Strafe dafuͤr ſollen Sie uns ohne auszuruhen ſogleich das erſte Maͤhrchen mittheilen, denn ich hoͤrte geſtern, daß Ihnen der Beginn dieſer Erzaͤhlungen zugefallen ſei. Anton fing an zu leſen.

165Der blonde Eckbert.

Der blonde Eckbert.

In einer Gegend des Harzes wohnte ein Ritter, den man gewoͤhnlich nur den blonden Eckbert nannte. Er war ohngefaͤhr vierzig Jahr alt, kaum von mittler Groͤße, und kurze hellblonde Haare lagen ſchlicht und dicht an ſeinem blaſſen eingefallenen Geſichte. Er lebte ſehr ruhig fuͤr ſich und war nie - mals in den Fehden ſeiner Nachbarn verwickelt, auch ſah man ihn nur ſelten außerhalb den Ring - mauern ſeines kleinen Schloſſes. Sein Weib liebte die Einſamkeit eben ſo ſehr, und beide ſchienen ſich von Herzen zu lieben, nur klagten ſie gewoͤhnlich daruͤber, daß der Himmel ihre Ehe mit keinen Kin - dern ſegnen wolle.

Nur ſelten wurde Eckbert von Gaͤſten beſucht, und wenn es auch geſchah, ſo wurde ihretwegen faſt nichts in dem gewoͤhnlichen Gange des Lebens geaͤndert, die Maͤßigkeit wohnte dort, und die Sparſamkeit ſelbſt ſchien alles anzuordnen. Eck - bert war alsdann heiter und aufgeraͤumt, nur wenn er allein war bemerkte man an ihm eine gewiſſe Ver - ſchloſſenheit, eine ſtille zuruͤckhaltende Melankolie.

Niemand kam ſo haͤufig auf die Burg als Philipp Walther, ein Mann, an welchen ſich Eck - bert geſchloſſen hatte, weil er an ihm ohngefaͤhr dieſelbe Art zu denken fand, der auch er am mei - ſten zugethan war. Dieſer wohnte eigentlich in Franken, hielt ſich aber oft uͤber ein halbes Jahr166Erſte Abtheilung.in der Naͤhe von Eckberts Burg auf, ſammelte Kraͤuter und Steine, und beſchaͤftigte ſich damit, ſie in Ordnung zu bringen, er lebte von einem klei - nen Vermoͤgen und war von Niemand abhaͤngig. Eckbert begleitete ihn oft auf ſeinen einſamen Spa - ziergaͤngen, und mit jedem Jahre entſpann ſich zwiſchen ihnen eine innigere Freundſchaft.

Es giebt Stunden, in denen es den Men - ſchen aͤngſtigt, wenn er vor ſeinem Freunde ein Geheimniß haben ſoll, was er bis dahin oft mit vieler Sorgfalt verborgen hat, die Seele fuͤhlt dann einen unwiderſtehlichen Trieb, ſich ganz mitzuthei - len, dem Freunde auch das Innerſte aufzuſchlie - ßen, damit er um ſo mehr unſer Freund werde. In dieſen Augenblicken geben ſich die zarten See - len einander zu erkennen, und zuweilen geſchieht es wohl auch, daß einer vor der Bekanntſchaft des andern zuruͤck ſchreckt.

Es war ſchon im Herbſt, als Eckbert an einem neblichten Abend mit ſeinem Freunde und ſeinem Weibe Bertha um das Feuer eines Kamines ſaß. Die Flamme warf einen hellen Schein durch das Gemach und ſpielte oben an der Decke, die Nacht ſah ſchwarz zu den Fenſtern herein, und die Baͤume draußen ſchuͤttelten ſich vor naſſer Kaͤlte. Walther klagte uͤber den weiten Ruͤckweg den er habe, und Eckbert ſchlug ihm vor, bei ihm zu bleiben, die halbe Nacht unter traulichen Geſpraͤchen hinzubrin - gen, und dann noch in einem Gemache des Hau - ſes bis am Morgen zu ſchlafen. Walther ging den Vorſchlag ein, und nun ward Wein und die167Der blonde Eckbert.Abendmahlzeit herein gebracht, das Feuer durch Holz vermehrt, und das Geſpraͤch der Freunde heitrer und vertraulicher.

Als das Abendeſſen abgetragen war, und ſich die Knechte wieder entfernt hatten, nahm Eckbert die Hand Walthers und ſagte: Freund, Ihr ſoll - tet euch einmal von meiner Frau die Geſchichte ihrer Jugend erzaͤhlen laſſen, die ſeltſam genug iſt. Gern, ſagte Walther, und man ſetzte ſich wieder um den Kamin.

Es war jetzt gerade Mitternacht, der Mond ſah abwechſelnd durch die voruͤber flatternden Wol - ken. Ihr muͤßt mich nicht fuͤr zudringlich halten, fing Bertha an, mein Mann ſagt, daß Ihr ſo edel denkt, daß es unrecht ſey, euch etwas zu ver - helen. Nur haltet meine Erzaͤhlung fuͤr kein Maͤhrchen, ſo ſonderbar ſie auch klingen mag.

Ich bin in einem Dorfe geboren, mein Vater war ein armer Hirte. Die Haushaltung bei mei - nen Eltern war nicht zum beſten beſtellt, ſie wuſten ſehr oft nicht, wo ſie das Brod hernehmen ſollten. Was mich aber noch weit mehr jammerte, war, daß mein Vater und meine Mutter ſich oft uͤber ihre Armuth entzweiten, und einer dem andern dann bittere Vorwuͤrfe machte. Sonſt hoͤrt 'ich beſtaͤndig von mir, daß ich ein einfaͤltiges dummes Kind ſei, das nicht das unbedeutendſte Geſchaͤft auszurichten wiſſe, und wirklich war ich aͤußerſt ungeſchickt und unbeholfen, ich ließ alles aus den Haͤnden fallen, ich lernte weder naͤhen noch ſpin - nen, ich konnte nichts in der Wirthſchaft helfen,168Erſte Abtheilung.nur die Noth meiner Eltern verſtand ich außeror - dentlich gut. Oft ſaß ich dann im Winkel und fuͤllte meine Vorſtellungen damit an, wie ich ihnen helfen wollte, wenn ich ploͤtzlich reich wuͤrde, wie ich ſie mit Gold und Silber uͤberſchuͤtten und mich an ihrem Erſtaunen laben moͤchte, dann ſah ich Geiſter herauf ſchweben, die mir unterirdiſche Schaͤtze entdekten, oder mir kleine Kieſel gaben, die ſich in Edelſteine verwandelten; kurz, die wun - derbarſten Phantaſien beſchaͤftigten mich, und wenn ich nun aufſtehn mußte, um irgend etwas zu hel - fen, oder zu tragen, ſo zeigte ich mich noch viel ungeſchickter, weil mir der Kopf von allen den ſelt - ſamen Vorſtellungen ſchwindelte.

Mein Vater war immer ſehr ergrimmt auf mich, daß ich eine ſo ganz unnuͤtze Laſt des Haus - weſens ſey, er behandelte mich daher oft ziemlich grauſam, und es war ſelten, daß ich ein freund - liches Wort von ihm vernahm. So war ich unge - faͤhr acht Jahr alt geworden, und es wurden nun ernſtliche Anſtalten gemacht, daß ich etwas thun, oder lernen ſollte. Mein Vater glaubte, es waͤre nur Eigenſinn oder Traͤgheit von mir, um meine Tage in Muͤſſiggang hinzubringen, genug, er ſetzte mir mit Drohungen unbeſchreiblich zu, da dieſe aber doch nichts fruchteten, zuͤchtigte er mich auf die grauſamſte Art, und fuͤgte hinzu, daß dieſe Strafe mit jedem Tage wiederkehren ſollte, weil ich doch nur ein unnuͤtzes Geſchoͤpf ſey.

Die ganze Nacht hindurch weint 'ich herzlich, ich fuͤhlte mich ſo außerordentlich verlaſſen, ich169Der blonde Eckbert.hatte ein ſolches Mitleid mit mir ſelber, daß ich zu ſterben wuͤnſchte. Ich fuͤrchtete den Anbruch des Tages, ich wußte durchaus nicht, was ich anfan - gen ſollte, ich wuͤnſchte mir alle moͤgliche Geſchick - lichkeit und konnte gar nicht begreifen, warum ich einfaͤltiger ſey, als die uͤbrigen Kinder meiner Be - kanntſchaft. Ich war der Verzweiflung nahe.

Als der Tag graute, ſtand ich auf und eroͤff - nete, faſt ohne daß ich es wußte, die Thuͤr unſrer kleinen Huͤtte. Ich ſtand auf dem freien Felde, bald darauf war ich in einem Walde, in den der Tag faſt noch nicht hinein blickte. Ich lief immer - fort, ohne mich umzuſehn, ich fuͤhlte keine Muͤdig - keit, denn ich glaubte immer mein Vater wuͤrde mich noch wieder einholen, und durch meine Flucht gereizt mich noch grauſamer behandeln.

Als ich aus dem Walde wieder heraus trat, ſtand die Sonne ſchon ziemlich hoch, ich ſah jetzt etwas dunkles vor mir liegen, welches ein dichter Nebel bedeckte. Bald mußte ich uͤber Huͤgel klet - tern, bald durch einen zwiſchen Felſen gewundenen Weg gehn, und ich errieth nun, daß ich mich wohl in dem benachbarten Gebirge befinden muͤſſe, wor - uͤber ich anfing mich in der Einſamkeit zu fuͤrch - ten. Denn ich hatte in der Ebene noch keine Berge geſehn, und das bloße Wort Gebirge, wenn ich davon hatte reden hoͤren, war meinem kindiſchen Ohr ein fuͤrchterlicher Ton geweſen. Ich hatte nicht das Herz zuruͤck zu gehn, ſondern eben meine Angſt trieb mich vorwaͤrts; oft ſah ich mich erſchrok - ken um, wenn der Wind uͤber mir weg durch die170Erſte Abteilung.Baͤume fuhr, oder ein ferner Holzſchlag weit durch den ſtillen Morgen hintoͤnte. Als mir Koͤhler und Bergleute endlich begegneten und ich eine fremde Ausſprache hoͤrte, waͤre ich vor Entſetzen faſt in Ohnmacht geſunken.

Ich kam durch mehrere Doͤrfer und bettelte, weil ich jetzt Hunger und Durſt empfand, ich half mir ſo ziemlich mit meinen Antworten durch, wenn ich gefragt wurde. So war ich ohngefaͤhr vier Tage fortgewandert, als ich auf einen kleinen Fuß - ſteig gerieth, der mich von der großen Straße immer mehr entfernte. Die Felſen um mich her gewannen jetzt eine andre, weit ſeltſamere Geſtalt. Es waren Klippen, ſo auf einander gepackt, daß es das Anſehn hatte, als wenn ſie der erſte Wind - ſtoß durch einander werfen wuͤrde. Ich wußte nicht, ob ich weiter gehn ſollte. Ich hatte des Nachts immer im Walde geſchlafen, denn es war gerade zur ſchoͤnſten Jahrszeit, oder in abgelege - nen Schaͤferhuͤtten; hier traf ich aber gar keine menſchliche Wohnung und konnte auch nicht ver - muthen in dieſer Wildniß auf eine zu ſtoßen; die Felſen wurden immer furchtbarer, ich mußte oft dicht an ſchwindlichten Abgruͤnden vorbeigehn, und endlich hoͤrte ſogar der Weg unter meinen Fuͤßen auf. Ich war ganz troſtlos, ich weinte und ſchrie, und in den Felſenthaͤlern hallte meine Stimme auf eine ſchreckliche Art zuruͤck. Nun brach die Nacht herein, und ich ſuchte mir eine Moosſtelle aus, um dort zu ruhn. Ich konnte nicht ſchlafen; in der Nacht hoͤrte ich die ſeltſamſten Toͤne, bald171Der blonde Eckbert.hielt ich es fuͤr wilde Thiere, bald fuͤr den Wind, der durch die Felſen klage, bald fuͤr fremde Voͤgel. Ich betete, und ſchlief nur ſpaͤt gegen Morgen ein.

Ich erwachte, als mir der Tag ins Geſicht ſchien. Vor mir war ein ſteiler Felſen, ich klet - terte in der Hoffnung hinauf, von dort den Aus - gang aus der Wildniß zu entdecken, und vielleicht Wohnungen oder Menſchen gewahr zu werden. Als ich aber oben ſtand, war alles, ſo weit nur mein Auge reichte, eben ſo, wie um mich her, alles war mit einem neblichten Dufte uͤberzogen, der Tag war grau und truͤbe, und keinen Baum, keine Wieſe, ſelbſt kein Gebuͤſch konnte mein Auge ent - decken, einzelne Straͤucher ausgenommen, die ein - ſam und betruͤbt in engen Felſenritzen empor geſchoſ - ſen waren. Es iſt unbeſchreiblich, welche Sehn - ſucht ich empfand, nur eines Menſchen anſichtig zu werden, waͤre es auch, daß ich mich vor ihm haͤtte fuͤrchten muͤſſen. Zugleich empfand ich einen peinigenden Hunger, ich ſetzte mich nieder und beſchloß zu ſterben. Aber nach einiger Zeit trug die Luſt zu leben dennoch den Sieg davon, ich raffte mich auf und ging unter Thraͤnen, unter abgebrochenen Seufzern den ganzen Tag hindurch; am Ende war ich mir meiner kaum noch bewußt, ich war muͤde und erſchoͤpft, ich wuͤnſchte kaum noch zu leben, und fuͤrchtete doch den Tod.

Gegen Abend ſchien die Gegend umher etwas freundlicher zu werden, meine Gedanken, meine Wuͤnſche lebten wieder auf, die Luſt zum Leben erwachte in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt172Erſte Abtheilung.das Geſauſe einer Muͤhle aus der Ferne zu hoͤren, ich verdoppelte meine Schritte, und wie wohl, wie leicht ward mir, als ich endlich wirklich die Graͤn - zen der oͤden Felſen erreichte, ich ſah Waͤlder und Wieſen mit fernen angenehmen Bergen wieder vor mir liegen. Mir war, als wenn ich aus der Hoͤlle in ein Paradies getreten waͤre, die Einſamkeit und meine Huͤlfloſigkeit ſchienen mir nun gar nicht fuͤrch - terlich.

Statt der gehofften Muͤhle ſtieß ich auf einen Waſſerfall, der meine Freude freilich um vieles minderte; ich ſchoͤpfte mit der Hand einen Trunk aus dem Bache, als mir ploͤtzlich war, als hoͤre ich in einiger Entfernung ein leiſes Huſten. Nie bin ich ſo angenehm uͤberraſcht worden, als in die - ſem Augenblick, ich ging naͤher und ward an der Ecke des Waldes eine alte Frau gewahr, die aus - zuruhen ſchien. Sie war faſt ganz ſchwarz geklei - det und eine ſchwarze Kappe bedeckte ihren Kopf und einen großen Theil des Geſichtes, in der Hand hielt ſie einen Kruͤckenſtock.

Ich naͤherte mich ihr und bat um ihre Huͤlfe, ſie ließ mich neben ſich niederſitzen und gab mir Brod und etwas Wein. Indem ich , ſang ſie mit kreiſchendem Ton ein geiſtliches Lied. Als ſie geendet hatte, ſagte ſie mir, ich moͤchte ihr folgen.

Ich war uͤber dieſen Antrag ſehr erfreut, ſo wunderlich mir auch die Stimme und das Weſen der Alten vorkam. Mit ihrem Kruͤckenſtocke ging ſie ziemlich behende, und bei jedem Schritte verzog ſie ihr Geſicht ſo, daß ich im Anfange daruͤber173Der blonde Eckbert.lachen mußte. Die wilden Felſen traten immer weiter hinter uns zuruͤck, wir gingen uͤber eine angenehme Wieſe, und dann durch einen ziemlich langen Wald. Als wir heraus traten, ging die Sonne gerade unter, und ich werde den Anblick und die Empfindung dieſes Abends nie vergeſſen. In das ſanfteſte Roth und Gold war alles ver - ſchmolzen, die Baͤume ſtanden mit ihren Wipfeln in der Abendroͤthe, und uͤber den Feldern lag der entzuͤckende Schein, die Waͤlder und die Blaͤtter der Baͤume ſtanden ſtill, der reine Himmel ſah aus wie ein aufgeſchloſſenes Paradies, und das Rie - ſeln der Quellen und von Zeit zu Zeit das Fluͤſtern der Baͤume toͤnte durch die heitre Stille wie in wehmuͤthiger Freude. Meine junge Seele bekam jetzt zuerſt eine Ahndung von der Welt und ihren Begebenheiten. Ich vergaß mich und meine Fuͤh - rerin, mein Geiſt und meine Augen ſchwaͤrmten nur zwiſchen den goldnen Wolken.

Wir ſtiegen nun einen Huͤgel hinan, der mit Birken bepflanzt war, von oben ſah man in ein gruͤnes Thal voller Birken hinein, und unten mit - ten in den Baͤumen lag eine kleine Huͤtte. Ein munteres Bellen kam uns entgegen, und bald ſprang ein kleiner behender Hund die Alte an, und wedelte, dann kam er zu mir, beſah mich von allen Seiten, und kehrte mit freundlichen Geberden zur Alten zuruͤck.

Als wir vom Huͤgel hinunter gingen, hoͤrte ich einen wunderbaren Geſang, der aus der Huͤtte174Erſte Abtheilung.zu kommen ſchien, wie von einem Vogel, es ſang alſo:

Waldeinſamkeit
Die mich erfreut,
So morgen wie heut
In ewger Zeit,
O wie mich freut
Waldeinſamkeit.

Dieſe wenigen Worte wurden beſtaͤndig wie - derholt, wenn ich es beſchreiben ſoll, ſo war es faſt, als wenn Waldhorn und Schallmeyn ganz in der Ferne durch einander ſpielen.

Meine Neugier war außerordentlich geſpannt; ohne daß ich auf den Befehl der Alten wartete, trat ich mit in die Huͤtte. Die Daͤmmerung war ſchon eingebrochen, alles war ordentlich aufgeraͤumt, einige Becher ſtanden auf einem Wandſchranke, fremdartige Gefaͤße auf einem Tiſche, in einem glaͤnzenden Kaͤfig hing ein Vogel am Fenſter, und er war es wirklich, der die Worte ſang. Die Alte keichte und huſtete, ſie ſchien ſich gar nicht wieder erholen zu koͤnnen, bald ſtreichelte ſie den kleinen Hund, bald ſprach ſie mit dem Vogel, der ihr nur mit ſeinem gewoͤhnlichen Liede Antwort gab; uͤbri - gens that ſie gar nicht, als wenn ich zugegen waͤre. Indem ich ſie ſo betrachtete, uͤberlief mich mancher Schauer, denn ihr Geſicht war in einer ewigen Bewegung, indem ſie dazu wie vor Alter mit dem Kopfe ſchuͤttelte, ſo daß ich durchaus nicht wiſſen konnte, wie ihr eigentliches Ausſehn beſchaffen war.

Als ſie ſich erholt hatte, zuͤndete ſie Licht an,175Der blonde Eckbert.deckte einen ganz kleinen Tiſch und trug das Abend - eſſen auf. Jetzt ſah ſie ſich nach mir um, und hieß mir einen von den geflochtenen Rohrſtuͤhlen neh - men. So ſaß ich ihr nun dicht gegenuͤber und das Licht ſtand zwiſchen uns. Sie faltete ihre knoͤcher - nen Haͤnde und betete laut, indem ſie ihre Ge - ſichtsverzerrungen machte, ſo daß es mich beinahe wieder zum Lachen gebracht haͤtte; aber ich nahm mich ſehr in Acht, um ſie nicht boshaft zu machen.

Nach dem Abendeſſen betete ſie wieder, und dann wies ſie mir in einer niedrigen und engen Kammer ein Bett an; ſie ſchlief in der Stube. Ich blieb nicht lange munter, ich war halb betaͤubt, aber in der Nacht wachte ich einigemal auf, und dann hoͤrte ich die Alte huſten und mit dem Hunde ſprechen, und den Vogel dazwiſchen, der im Traum zu ſeyn ſchien, und immer nur einzelne Worte von ſeinem Liede ſang. Das machte mit den Birken, die vor dem Fenſter rauſchten, und mit dem Ge - ſang einer entfernten Nachtigall ein ſo wunderba - res Gemiſch, daß es mir immer nicht war, als ſey ich erwacht, ſondern als fiele ich nur in einen andern noch ſeltſamern Traum.

Am Morgen weckte mich die Alte, und wies mich bald nachher zur Arbeit an. Ich mußte ſpin - nen, und ich begriff es nun auch bald, dabei hatte ich noch fuͤr den Hund und fuͤr den Vogel zu ſor - gen. Ich lernte mich ſchnell in die Wirthſchaft finden, und alle Gegenſtaͤnde umher wurden mir bekannt; nun war mir, als muͤßte alles ſo ſeyn, ich dachte gar nicht mehr daran, daß die Alte etwas176Erſte Abtheilung.Seltſames an ſich habe, daß die Wohnung aben - theuerlich und von allen Menſchen entfernt liege, und daß an dem Vogel etwas Außerordentliches ſey. Seine Schoͤnheit fiel mir zwar immer auf, denn ſeine Federn glaͤnzten mit allen moͤglichen Farben, das ſchoͤnſte Hellblau und das brennendſte Roth wechſelten an ſeinem Halſe und Leibe, und wenn er ſang, blaͤhte er ſich ſtolz auf, ſo daß ſich ſeine Federn noch praͤchtiger zeigten.

Oft ging die Alte aus und kam erſt am Abend zuruͤck, ich ging ihr dann mit dem Hunde entge - gen, und ſie nannte mich Kind und Tochter. Ich ward ihr endlich von Herzen gut, wie ſich unſer Sinn denn an alles, beſonders in der Kindheit, gewoͤhnt. In den Abendſtunden lehrte ſie mich leſen, ich begriff es bald, und es ward nachher in meiner Einſamkeit eine Quelle von unendlichem Ver - gnuͤgen, denn ſie hatte einige alte geſchriebene Buͤ - cher, die wunderbare Geſchichten enthielten.

Die Erinnerung an meine damalige Lebens - art iſt mir noch bis jetzt immer ſeltſam: von kei - nem menſchlichen Geſchoͤpfe beſucht, nur in einem ſo kleinen Familienzirkel einheimiſch, denn der Hund und der Vogel machten denſelben Eindruck auf mich, den ſonſt nur laͤngſt gekannte Freunde hervor brin - gen. Ich habe mich immer nicht wieder auf den ſeltſamen Nahmen des Hundes beſinnen koͤnnen, ſo oft ich ihn auch damals nannte.

Vier Jahre hatte ich ſo mit der Alten gelebt, und ich mochte ohngefaͤhr zwoͤlf Jahr alt ſein, als ſie mir endlich mehr vertraute, und mir ein Ge -heimniß177Der blonde Eckbert.heimniß entdeckte. Der Vogel legte nehmlich an jedem Tage ein Ey, in dem ſich eine Perl oder ein Edelſtein befand. Ich hatte ſchon immer bemerkt, daß ſie heimlich in dem Kaͤfige wirthſchafte, mich aber nie genauer darum bekuͤmmert. Sie trug mir jetzt das Geſchaͤft auf, in ihrer Abweſenheit dieſe Eyer zu nehmen und in den fremdartigen Gefaͤßen wohl zu verwahren. Sie ließ mir meine Nahrung zuruͤck und blieb nun laͤnger aus, Wochen, Monathe; mein Raͤdchen ſchnurrte, der Hund bellte, der wunder - bare Vogel ſang und dabei war alles ſo ſtill in der Gegend umher, daß ich mich in der ganzen Zeit keines Sturmwindes, keines Gewitters erin - nere. Kein Menſch verirrte ſich dorthin, kein Wild kam unſerer Behauſung nahe, ich war zufrieden und arbeitete mich von einem Tage zum andern hinuͤber. Der Menſch waͤre vielleicht recht gluͤck - lich, wenn er ſo ungeſtoͤrt ſein Leben bis ans Ende fortfuͤhren koͤnnte.

Aus dem wenigen, was ich las bildete ich mir ganz wunderliche Vorſtellungen von der Welt und den Menſchen, alles war von mir und meiner Geſellſchaft hergenommen: wenn von luſtigen Leu - ten die Rede war, konnte ich ſie mir nicht anders vorſtellen, wie den kleinen Spitz, praͤchtige Damen ſahen immer wie der Vogel aus, alle alte Frauen wie meine wunderliche Alte. Ich hatte auch von Liebe etwas geleſen, und ſpielte nun in meiner Phantaſie ſeltſame Geſchichten mit mir ſelber. Ich dachte mir den ſchoͤnſten Ritter von der Welt, ich ſchmuͤckte ihn mit allen Vortreflichkeiten aus, ohneI. [12]178Erſte Abtheilung.eigentlich zu wiſſen, wie er nun nach allen meinen Bemuͤhungen ausſah: aber ich konnte ein rechtes Mitleid mit mir ſelber haben, wenn er mich nicht wieder liebte; dann ſagte ich lange ruͤhrende Re - den in Gedanken her, zuweilen auch wohl laut, um ihn nur zu gewinnen. Ihr laͤchelt! wir ſind jetzt freilich alle uͤber dieſe Zeit der Jugend hinuͤber.

Es war mir jetzt lieber, wenn ich allein war, denn alsdann war ich ſelbſt die Gebieterin im Hauſe. Der Hund liebte mich ſehr und that alles was ich wollte, der Vogel antwortete mir mit ſei - nem Liede auf alle meine Fragen, mein Raͤdchen drehte ſich immer munter, und ſo fuͤhlte ich im Grunde nie einen Wunſch nach Veraͤnderung. Wenn die Alte von ihren langen Wanderungen zuruͤck kam, lobte ſie meine Aufmerkſamkeit, ſie ſagte, daß ihre Haushaltung, ſeit ich dazu gehoͤre, weit ordent - licher gefuͤhrt werde, ſie freute ſich uͤber mein Wachsthum und mein geſundes Ausſehn, kurz, ſie ging ganz mit mir wie mit einer Tochter um.

Du biſt brav, mein Kind! ſagte ſie einſt zu mir mit einem ſchnarrenden Tone; wenn Du ſo fort faͤhrſt, wird es dir auch immer gut gehn: aber nie gedeiht es, wenn man von der rechten Bahn abweicht, die Strafe folgt nach, wenn auch noch ſo ſpaͤt. Indem ſie das ſagte, achtete ich eben nicht ſehr darauf, denn ich war in allen meinen Bewegungen und meinem ganzen Weſen ſehr leb - haft; aber in der Nacht fiel es mir wieder ein, und ich konnte nicht begreifen, was ſie damit hatte ſagen wollen. Ich uͤberlegte alle Worte genau,179Der blonde Eckbert.ich hatte wohl von Reichthuͤmern geleſen, und am Ende fiel mir ein, daß ihre Perlen und Edelſteine wohl etwas Koſtbares ſein koͤnnten. Dieſer Ge - danke wurde mir bald noch deutlicher. Aber was konnte ſie mit der rechten Bahn meinen? Ganz konnte ich den Sinn ihrer Worte noch immer nicht faſſen.

Ich war jetzt vierzehn Jahr alt, und es iſt ein Ungluͤck fuͤr den Menſchen, daß er ſeinen Ver - ſtand nur darum bekoͤmmt, um die Unſchuld ſeiner Seele zu verlieren. Ich begriff nemlich wohl, daß es nur auf mich ankomme, in der Abweſenheit der Alten den Vogel und die Kleinodien zu neh - men, und damit die Welt, von der ich geleſen hatte, aufzuſuchen. Zugleich war es mir dann vielleicht moͤglich, den uͤberaus ſchoͤnen Ritter an - zutreffen, der mir immer noch im Gedaͤchtniſſe lag.

Im Anfange war dieſer Gedanke nichts wi - ter als jeder andere Gedanke, aber wenn ich ſo an meinem Rade ſaß, ſo kam er mir immer wi - der Willen zuruͤck, und ich verlor mich ſo in ihm, daß ich mich ſchon herrlich geſchmuͤckt ſah, und Ritter und Prinzen um mich her. Wenn ich mich ſo vergeſſen hatte, konnte ich ordentlich betruͤbt werden, wenn ich wieder aufſchaute, und mich in der kleinen Wohnung antraf. Uebrigens, wenn ich meine Geſchaͤfte that, bekuͤmmerte ſich die Alte nicht weiter um mein Weſen.

An einem Tage ging meine Wirthin wieder fort, und ſagte mir, daß ſie diesmal laͤnger als gewoͤhnlich ausbleiben werde, ich ſolle ja auf alles180Erſte Abtheilung.ordentlich Acht geben und mir die Zeit nicht lang werden laſſen. Ich nahm mit einer gewiſſen Ban - gigkeit von ihr Abſchied, denn es war mir, als wuͤrde ich ſie nicht wieder ſehn. Ich ſah ihr lange nach und wuſte ſelbſt nicht, warum ich ſo beaͤng - ſtigt war; es war faſt, als wenn mein Vorhaben ſchon vor mir ſtaͤnde, ohne deſſen deutlich mir be - wußt zu ſein.

Nie hab 'ich des Hundes und des Vogels mit einer ſolchen Aemſigkeit gepflegt, ſie lagen mir naͤher am Herzen als ſonſt. Die Alte war ſchon einige Tage abweſend, als ich mit dem feſten Vor - ſatze aufſtand, mit dem Vogel die Huͤtte zu ver - laſſen, und die ſogenannte Welt aufzuſuchen. Es war mir enge und bedraͤngt zu Sinne, ich wuͤnſchte wieder da zu bleiben, und doch war mir der Ge - danke widerwaͤrtig; es war ein ſeltſamer Kampf in meiner Seele, wie ein Streiten von zwei wi - derſpenſtigen Geiſtern in mir. In einem Augen - blicke kam mir die ruhige Einſamkeit ſo ſchoͤn vor, dann entzuͤckte mich wieder die Vorſtellung einer neuen Welt, mit allen ihren wunderbaren Man - nigfaltigkeiten.

Ich wußte nicht, was ich aus mir ſelber ma - chen ſollte, der Hund ſprang mich unaufhoͤrlich an, der Sonnenſchein breitete ſich munter uͤber die Felder aus, die gruͤnen Birken funkelten: ich hatte die Empfindung, als wenn ich etwas ſehr Eiliges zu thun haͤtte, ich griff alſo den kleinen Hund, band ihn in der Stube feſt, und nahm dann den Kaͤfig mit dem Vogel unter den Arm. 181Der blonde Eckbert.Der Hund kruͤmmte ſich und winſelte uͤber dieſe ungewohnte Behandlung, er ſah mich mit bitten - den Augen an, aber ich fuͤrchtete mich ihn mit mir zu nehmen. Noch nahm ich eins von den Gefaͤ - ßen, das mit Edelſteinen angefuͤllt war, und ſteckte es zu mir, die uͤbrigen ließ ich ſtehn.

Der Vogel drehte den Kopf auf eine wunder - liche Weiſe, als ich mit ihm zur Thuͤr hinaus trat, der Hund ſtrengte ſich ſehr an, mir nachzukom - men, aber er mußte zuruͤck bleiben.

Ich vermied den Weg nach den wilden Felſen und ging nach der entgegengeſetzten Seite. Der Hund bellte und winſelte immerfort, und es ruͤhrte mich recht inniglich; der Vogel wollte einigemal zu ſingen anfangen, aber da er getragen ward, mußte es ihm wohl unbequem fallen.

So wie ich weiter ging, hoͤrte ich das Bellen immer ſchwaͤcher, und endlich hoͤrte es ganz auf. Ich weinte und waͤre beinahe wieder umgekehrt, aber die Sucht etwas Neues zu ſehn, trieb mich vorwaͤrts.

Schon war ich uͤber Berge und durch einige Waͤlder gekommen, als es Abend ward, und ich in einem Dorfe einkehren mußte. Ich war ſehr bloͤde als ich in die Schenke trat, man wies mir eine Stube und ein Bette an, ich ſchlief ziemlich ruhig, nur daß ich von der Alten traͤumte, die mir drohte.

Meine Reiſe war ziemlich einfoͤrmig, aber je weiter ich ging, je mehr aͤngſtigte mich die Vor - ſtellung von der Alten und dem kleinen Hunde;182Erſte Abtheilung.ich dachte daran, daß er wahrſcheinlich ohne meine Huͤlfe verhungern muͤſſe, im Walde glaubt 'ich oft die Alte wuͤrde mir ploͤtzlich entgegen treten. So legte ich unter Thraͤnen und Seufzern den Weg zuruͤck; ſo oft ich ruhte, und den Kaͤfig auf den Boden ſtellte, ſang der Vogel ſein wunderliches Lied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des ſchoͤnen verlaſſenen Aufenthalts. Wie die menſch - liche Natur vergeßlich iſt, ſo glaubt' ich jetzt, meine vormalige Reiſe in der Kindheit ſey nicht ſo truͤb - ſelig geweſen als meine jetzige; ich wuͤnſchte mich wieder in derſelben Lage zu ſein.

Ich hatte einige Edelſteine verkauft, und kam nun nach einer Wanderſchaft von vielen Tagen in einem Dorfe an. Schon beim Eintritt ward mir wunderſam zu Muthe, ich erſchrack und wuſte nicht woruͤber; aber bald erkannt 'ich mich, denn es war daſſelbe Dorf, in welchem ich geboren war. Wie ward ich uͤberraſcht! Wie liefen mir vor Freuden, wegen tauſend ſeltſamer Erinnerun - gen, die Thraͤnen von den Wangen! Vieles war veraͤndert, es waren neue Haͤuſer entſtanden, an - dre die man damals erſt errichtet hatte, waren jetzt verfallen, ich traf auch Brandſtellen; alles war weit kleiner, gedraͤngter als ich erwartet hatte. Unendlich freute ich mich darauf, meine Eltern nun nach ſo manchen Jahren wieder zu ſehn; ich fand das kleine Haus, die wohlbekannte Schwelle, der Griff der Thuͤr war noch ganz ſo wie damals, es war mir, als haͤtte ich ſie nur geſtern erſt ange - lehnt; mein Herz klopfte ungeſtuͤm, ich oͤffnete ſie183Der blonde Eckbert.haſtig, aber ganz fremde Geſichter ſaßen in der Stube umher und ſtierten mich an. Ich fragte nach dem Schaͤfer Martin, und man ſagte mir, er ſey ſchon ſeit drey Jahren mit ſeiner Frau ge - ſtorben. Ich trat ſchnell zuruͤck, und ging laut weinend aus dem Dorfe hinaus.

Ich hatte es mir ſo ſchoͤn gedacht, ſie mit meinem Reichthume zu uͤberraſchen; durch den ſelt - ſamſten Zufall war das nun wirklich geworden, was ich in der Kindheit immer nur traͤumte, und jetzt war alles umſonſt, ſie konnten ſich nicht mit mir freuen, und das, worauf ich am meiſten immer im Leben gehofft hatte, war fuͤr mich auf ewig verloren.

In einer angenehmen Stadt miethete ich mir ein kleines Haus mit einem Garten, und nahm eine Aufwaͤrterin zu mir. So wunderbar, als ich es vermuthet hatte, kam mir die Welt nicht vor, aber ich vergaß die Alte und meinen ehemaligen Aufenthalt etwas mehr, und ſo lebt 'ich im Gan - zen recht zufrieden.

Der Vogel hatte ſchon ſeit lange nicht mehr geſungen; ich erſchrack daher nicht wenig, als er in einer Nacht ploͤtzlich wieder anfing, und zwar mit einem veraͤnderten Liede. Er ſang:

Waldeinſamkeit
Wie liegſt du weit!
O dich gereut
Einſt mit der Zeit.
Ach einzge Freud
Waldeinſamkeit!
184Erſte Abtheilung.

Ich konnte die Nacht hindurch nicht ſchlafen, alles fiel mir von neuem in die Gedanken, und mehr als jemals fuͤhlt 'ich, daß ich Unrecht gethan hatte. Als ich aufſtand, war mir der Anblick des Vogels ordentlich zuwider, er ſah immer nach mir hin, und ſeine Gegenwart aͤngſtigte mich. Er hoͤrte nun mit ſeinem Liede gar nicht wieder auf, und er ſang es lauter und ſchallender, als er es ſonſt gewohnt geweſen war. Je mehr ich ihn betrach - tete, je baͤnger machte er mich; ich oͤffnete endlich den Kaͤfig, ſteckte die Hand hinein und faßte ſei - nen Hals, herzhaft druͤckte ich die Finger zuſam - men, er ſah mich bittend an, ich ließ los, aber er war ſchon geſtorben. Ich begrub ihn im Garten.

Jetzt wandelte mich oft eine Furcht vor mei - ner Aufwaͤrterin an, ich dachte an mich ſelbſt zu - ruͤck, und glaubte, daß ſie mich auch einſt berauben oder wohl gar ermorden koͤnne. Schon lange kannt 'ich einen jungen Ritter, der mir uͤberaus gefiel, ich gab ihm meine Hand, und hiermit, Herr Walter, iſt meine Geſchichte geendigt.

Ihr haͤttet ſie damals ſehn ſollen, fiel Eckbert haſtig ein, ihre Jugend, ihre Schoͤnheit, und welch einen unbegreiflichen Reiz ihr ihre einſame Erziehung gegeben hatte. Sie kam mir vor wie ein Wunder, und ich liebte ſie ganz unbeſchreiblich. Ich hatte kein Vermoͤgen, aber durch ihre Liebe kam ich in dieſen Wohlſtand; wir zogen hieher, und unſre Verbindung hat uns bis jetzt noch keinen Augenblick gereut.

185Der blonde Eckbert.

Aber uͤber unſer Schwatzen, fing Bertha wie - der an, iſt es ſchon tief in die Nacht geworden, wir wollen uns ſchlafen legen.

Sie ſtand auf und ging nach ihrer Kammer. Walther wuͤnſchte ihr mit einem Handkuſſe eine gute Nacht, und ſagte: Edle Frau, ich danke Euch, ich kann mir Euch recht vorſtellen, mit dem ſelt - ſamen Vogel, und wie Ihr den kleinen Stroh - mian fuͤttert.

Auch Walther legte ſich ſchlafen, nur Eckbert ging noch unruhig im Saale auf und ab. Iſt der Menſch nicht ein Thor? fing er endlich an; ich bin erſt die Veranlaſſung, daß meine Frau ihre Geſchichte erzaͤhlt, und jetzt gereut mich dieſe Ver - traulichkeit! Wird er ſie nicht mißbrauchen? Wird er ſie nicht andern mittheilen? Wird er nicht vielleicht, denn das iſt die Natur des Menſchen, eine unſelige Habſucht nach unſern Edelgeſteinen empfinden, und deswegen Plane anlegen und ſich verſtellen?

Es fiel ihm ein, daß Walther nicht ſo herzlich von ihm Abſchied genommen hatte, als es nach einer ſolchen Vertraulichkeit wohl natuͤrlich geweſen waͤre. Wenn die Seele erſt einmal zum Argwohn geſpannt iſt, ſo trift ſie auch in allen Kleinigkeiten Beſtaͤtigungen an. Dann warf ſich Eckbert wieder ſein unedles Mißtrauen gegen ſeinen wackern Freund vor, und konnte doch nicht davon zuruͤck kehren. Er ſchlug ſich die ganze Nacht mit dieſen Vor - ſtellungen herum, und ſchlief nur wenig.

Bertha war krank und konnte nicht zum Fruͤh -186Erſte Abtheilung.ſtuͤck erſcheinen; Walther ſchien ſich nicht viel dar - um zu kuͤmmern, und verließ auch den Ritter ziem - lich gleichguͤltig. Eckbert konnte ſein Betragen nicht begreifen; er beſuchte ſeine Gattin, ſie lag in einer Fieberhitze und ſagte, die Erzaͤhlung in der Nacht muͤſſe ſie auf dieſe Art geſpannt haben.

Seit dieſem Abend beſuchte Walther nur ſelten die Burg ſeines Freundes, und wenn er auch kam, ging er nach einigen unbedeutenden Worten wieder weg. Eckbert ward durch dieſes Betragen im aͤußerſten Grade gepeinigt; er ließ ſich zwar gegen Bertha und Walther nichts davon merken, aber jeder muſte doch ſeine innerliche Unruhe an ihm gewahr werden.

Mit Berthas Krankheit ward es immer be - denklicher; der Arzt ward aͤngſtlich, die Roͤthe von ihren Wangen war verſchwunden, und ihre Augen wurden immer gluͤhender. An einem Morgen ließ ſie ihren Mann an ihr Bette rufen, die Maͤgde mußten ſich entfernen.

Lieber Mann, fing ſie an, ich muß dir etwas entdecken, das mich faſt um meinen Verſtand ge - bracht hat, das meine Geſundheit zerruͤttet, ſo eine unbedeutende Kleinigkeit es auch an ſich ſchei - nen moͤchte. Du weißt, daß ich mich immer nicht, ſo oft ich von meiner Kindheit ſprach, trotz aller angewandten Muͤhe auf den Namen des klei - nen Hundes beſinnen konnte, mit welchem ich ſo lange umging; an jenem Abend ſagte Walther beim Abſchiede ploͤtzlich zu mir: ich kann mir euch recht vorſtellen, wie Ihr den kleinen Strohmian fuͤt -187Der blonde Eckbert.tert. Iſt das Zufall? Hat er den Namen erra - then, weiß er ihn und hat er ihn mit Vorſatz ge - nannt? Und wie haͤngt dieſer Menſch dann mit meinem Schickſale zuſammen? Zuweilen kaͤmpfe ich mit mir, als ob ich mir dieſe Seltſamkeit nur einbilde, aber es iſt gewiß, nur zu gewiß. Ein gewaltiges Entſetzen befiel mich, als mir ein frem - der Menſch, ſo zu meinen Erinnerungen half. Was ſagſt du, Eckbert?

Eckbert ſah ſeine leidende Gattinn mit einem tiefen Gefuͤhle an, er ſchwieg und dachte bei ſich nach, dann ſagte er ihr einige troͤſtende Worte und verließ ſie. In einem abgelegenen Gemache ging er in unbeſchreiblicher Unruhe auf und ab. Wal - ther war ſeit vielen Jahren ſein einziger Umgang geweſen, und doch war dieſer Menſch jetzt der ein - zige in der Welt, deſſen Daſeyn ihn druͤckte und peinigte. Es ſchien ihm, als wuͤrde ihm froh und leicht ſein, wenn nur dieſes einzige Weſen aus ſeinem Wege geruͤckt werden koͤnnte. Er nahm ſeine Armbruſt, um ſich zu zerſtreuen und auf die Jagd zu gehn.

Es war ein rauher ſtuͤrmiſcher Wintertag, tie - fer Schnee lag auf den Bergen und bog die Zweige der Baͤume nieder. Er ſtreifte umher, der Schweiß ſtand ihm auf der Stirne, er traf auf kein Wild, und das vermehrte ſeinen Unmuth. Ploͤtzlich ſah er ſich etwas in der Ferne bewegen, es war Wal - ther, der Moos von den Baͤumen ſammelte; ohne zu wiſſen was er that legte er an, Walther ſah ſich um, und drohte mit einer ſtummen Gebehrde,188Erſte Abtheilung.aber indem flog der Bolzen ab, und Walther ſtuͤrzte nieder.

Eckbert fuͤhlte ſich leicht und beruhigt, und doch trieb ihn ein Schauder nach ſeiner Burg zu - ruͤck; er hatte einen großen Weg zu machen, denn er war weit hinein in die Waͤlder verirrt. Als er ankam, war Bertha ſchon geſtorben; ſie hatte vor ihrem Tode noch viel von Walther und der Alten geſprochen.

Eckbert lebte nun eine lange Zeit in der groͤß - ten Einſamkeit; er war ſchon ſonſt immer ſchwer - muͤthig geweſen, weil ihn die ſeltſame Geſchichte ſeiner Gattin beunruhigte, und er irgend einen ungluͤcklichen Vorfall, der ſich ereignen koͤnnte, befuͤrchtete: aber jetzt war er ganz mit ſich zerfal - len. Die Ermordung ſeines Freundes ſtand ihm unaufhoͤrlich vor Augen, er lebte unter ewigen innern Vorwuͤrfen.

Um ſich zu zerſtreuen, begab er ſich zuweilen nach der naͤchſten großen Stadt, wo er Geſellſchaf - ten und Feſte beſuchte. Er wuͤnſchte durch irgend einen Freund die Leere in ſeiner Seele auszufuͤl - len, und wenn er dann wieder an Walther zuruͤck dachte, ſo erſchrack er vor dem Gedanken, einen Freund zu finden, denn er war uͤberzeugt, daß er nur ungluͤcklich mit jedweden Freunde ſein koͤnne. Er hatte ſo lange mit Bertha in einer ſchoͤnen Ruhe gelebt, die Freundſchaft Walthers hatte ihn ſo manches Jahr hindurch begluͤckt, und jetzt waren beide ſo ploͤtzlich dahin gerafft, daß ihm ſein Leben189Der blonde Eckbert.in manchen Augenblicken mehr wie ein ſeltſames Maͤhrchen, als wie ein wirklicher Lebenslauf erſchien.

Ein junger Ritter, Hugo, ſchloß ſich an den ſtillen betruͤbten Eckbert, und ſchien eine wahrhafte Zuneigung gegen ihn zu empfinden. Eckbert fand ſich auf eine wunderbare Art uͤberraſcht, er kam der Freundſchaft des Ritters um ſo ſchneller ent - gegen, je weniger er ſie vermuthet hatte. Beide waren nun haͤufig beiſammen, der Fremde erzeigte Eckbert alle moͤglichen Gefaͤlligkeiten, einer ritt faſt nicht mehr ohne den andern aus, in allen Geſell - ſchaften trafen ſie ſich, kurz, ſie ſchienen unzer - trennlich.

Eckbert war immer nur auf kurze Augenblicke froh, denn er fuͤhlte es deutlich, daß ihn Hugo nur aus einem Irrthume liebe; jener kannte ihn nicht, wußte ſeine Geſchichte nicht, und er fuͤhlte wieder denſelben Drang, ſich ihm ganz mitzuthei - len, damit er verſichert ſeyn koͤnne, ob jener auch wahrhaft ſein Freund ſey. Dann hielten ihn wie - der Bedenklichkeiten und die Furcht verabſcheut zu werden, zuruͤck. In manchen Stunden war er ſo ſehr von ſeiner Nichtswuͤrdigkeit uͤberzeugt, daß er glaubte, kein Menſch koͤnne ihn ſeiner Achtung wuͤrdigen, fuͤr den er nicht ein voͤlliger Fremdling ſey. Aber dennoch konnte er ſich nicht widerſtehn; auf einem einſamen Spazierritte entdeckte er ſei - nem Freunde ſeine ganze Geſchichte, und fragte ihn dann, ob er wohl einen Moͤrder lieben koͤnne. Hugo war geruͤhrt, und ſuchte ihn zu troͤſten; Eck - bert folgte ihm mit leichterm Herzen zur Stadt.

190Erſte Abtheilung.

Es ſchien aber ſeine Verdamniß zu ſeyn, gerade in der Stunde des Vertrauens Argwohn zu ſchoͤ - pfen, denn kaum waren ſie in den Saal getreten, als ihm beim Schein der vielen Lichter die Mienen ſeines Freundes nicht gefielen. Er glaubte ein haͤmi - ſches Laͤcheln zu bemerken, es fiel ihm auf, daß er nur wenig mit ihm ſpreche, daß er mit den An - weſenden viel rede, und ſeiner gar nicht zu achten ſcheine. Ein alter Ritter war in der Geſellſchaft, der ſich immer als den Gegner Eckberts gezeigt, und ſich oft nach ſeinem Reichthum und ſeiner Frau auf eine eigne Weiſe erkundigt hatte; zu dieſem geſellte ſich Hugo, und beide ſprachen eine Zeitlang heimlich, in dem ſie nach Eckbert hindeuteten. Die - ſer ſah jetzt ſeinen Argwohn beſtaͤtigt, er glaubte ſich verrathen, und eine ſchreckliche Wuth bemei - ſterte ſich ſeiner. Indem er noch immer hinſtarrte, ſah er ploͤtzlich Walthers Geſicht, alle ſeine Mi - nen, die ganze, ihm ſo wohl bekannte Geſtalt, er ſah noch immer hin und ward uͤberzeugt, daß Nie - mand als Walther mit dem Alten ſpreche. Sein Entſetzen war unbeſchreiblich; außer ſich ſtuͤrzte er hinaus, verließ noch in der Nacht die Stadt, und kehrte nach vielen Irrwegen auf ſeine Burg zuruͤck.

Wie ein unruhiger Geiſt eilte er jetzt von Ge - mach zu Gemach, kein Gedanke hielt ihm Stand, er verfiel von entſetzlichen Vorſtellungen auf noch entſetzlichere, und kein Schlaf kam in ſeine Augen, Oft dachte er, daß er wahnſinnig ſey, und ſich nur ſelber durch ſeine Einbildung alles erſchaffe; dann191Der blonde Eckbert.erinnerte er ſich wieder der Zuͤge Walthers, und alles ward ihm immer mehr ein Raͤthſel. Er beſchloß eine Reiſe zu machen, um ſeine Vorſtel - lungen wieder zu ordnen; den Gedanken an Freund - ſchaft, den Wunſch nach Umgang hatte er nun auf ewig aufgegeben.

Er zog fort, ohne ſich einen beſtimmten Weg vorzuſetzen, ja er betrachtete die Gegenden nur wenig, die vor ihm lagen. Als er im ſtaͤrkſten Trabe ſeines Pferdes einige Tage ſo fort geeilt war, ſah er ſich ploͤtzlich in einem Gewinde von Felſen verirrt, in denen ſich nirgend ein Ausweg entdecken ließ. Endlich traf er auf einen alten Bauer, der ihm einen Pfad, einem Waſſerfall vor - uͤber, zeigte: er wollte ihm zur Dankſagung einige Muͤnzen geben, der Bauer aber ſchlug ſie aus. Was gilts, ſagte Eckbert zu ſich ſelber, ich koͤnnte mir wieder einbilden, daß dies Niemand anders als Walther ſei? Und indem ſah er ſich noch einmal um, und es war Niemand anders als Wal - ther. Eckbert ſpornte ſein Roß ſo ſchnell es nur laufen konnte, durch Wieſen und Waͤlder, bis es erſchoͤpft unter ihm zuſammen ſtuͤrzte. Unbe - kuͤmmert daruͤber ſetzte er nun ſeine Reiſe zu Fuß fort.

Er ſtieg traͤumend einen Huͤgel hinan; es war, als wenn er ein nahes munteres Bellen vernahm, Birken ſaͤuſelten dazwiſchen, und er hoͤrte mit wun - derlichen Toͤnen ein Lied ſingen:

Waldeinſamkeit
Mich wieder freut,
192Erſte Abtheilung.
Mir geſchieht kein Leid,
Hier wohnt kein Neid,
Von neuem mich freut
Waldeinſamkeit.

Jetzt war es um das Bewußtſeyn, um die Sinne Eckberts geſchehn; er konnte ſich nicht aus dem Raͤthſel heraus finden, ob er jetzt traͤume, oder ehemals von einem Weibe Bertha getraͤumt habe; das Wunderbarſte vermiſchte ſich mit dem Gewoͤhnlichſten, die Welt um ihn her war verzau - bert, und er keines Gedankens, keiner Erinnerung maͤchtig.

Eine krummgebuͤckte Alte ſchlich huſtend mit einer Kruͤcke den Huͤgel heran. Bringſt du mir meinen Vogel? Meine Perlen? Meinen Hund? ſchrie ſie ihm entgegen. Siehe, das Unrecht beſtraft ſich ſelbſt: Niemand als ich war dein Freund Walther, dein Hugo.

Gott im Himmel! ſagte Eckbert ſtille vor ſich hin, in welcher entſetzlichen Einſamkeit hab 'ich dann mein Leben hingebracht!

Und Bertha war deine Schweſter.

Eckbert fiel zu Boden.

Warum verließ ſie mich tuͤckiſch? Sonſt haͤtte ſich alles gut und ſchoͤn geendet, ihre Probezeit war ja ſchon voruͤber. Sie war die Tochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehn ließ, die Tochter deines Vaters.

Warum hab 'ich dieſen ſchrecklichen Gedanken immer geahndet? rief Eckbert aus.

Weil du in fruͤher Jugend deinen Vater einſtdavon193Der blonde Eckbert.davon erzaͤhlen hoͤrteſt; er durfte ſeiner Frau wegen dieſe Tochter nicht bei ſich erziehn laſſen, denn ſie war von einem andern Weibe.

Eckbert lag wahnſinnig und verſcheidend auf dem Boden; dumpf und verworren hoͤrte er die Alte ſprechen, den Hund bellen, und den Vogel ſein Lied wiederholen.

Nach einer Pauſe ſagte Clara: Sie ſehn, lieber Anton, daß uns alle jenen Thraͤnen eines heimlichen Grauens in den Augen ſtehen, und ich denke, Sie haben großentheils das Verſpre - chen Ihres Phantaſus erfuͤllt. Aber erlauben Sie mir zu fragen: iſt dieſe Erzaͤhlung Ihre eigene Erfindung, oder eine nachgeahmte?

Ich darf ſie, antwortete Anton, wohl fuͤr meine Erfindung ausgeben, da ich mich nicht erinnere, eine aͤhnliche Geſchichte anderswo ge - leſen zu haben, auch denke ich, iſt es in der Aufgabe begriffen geweſen, daß nur ſelbſt erſon - nene Maͤhrchen vorgetragen werden ſollen, we - nigſtens habe ich es ſo verſtanden, und ich hoffe, daß auch alle meine Freunde meinem Beiſpiele heute folgen werden.

Verſprich dies nicht ſo im Allgemeinen, wandte Friedrich ein.

Wollte man freilich, fuhr Anton fort, ge - nau erzaͤhlen, aus welchen Erinnerungen derI. [13]194Erſte Abtheilung.Kindheit, aus welchen Bildern, die man im Leſen, oder oft aus ganz unbedeutenden muͤnd - lichen Erzaͤhlungen aufgreift, dergleichen ſoge - nannte Erfindungen zuſammengeſetzt werden, ſo koͤnnte man daraus wieder eine Art von ſeltſa - mer, maͤhrchenartiger Geſchichte bilden.

Es iſt aͤngſtlich, ſagte Ernſt, dergleichen Kleinigkeiten zu gruͤndlich zu nehmen. Ich er - innere mich mancher Geſellſchaft, in der ſpitz - und ſalzloſe Anekdoten ſchlecht vorgetragen wur - den, die man nachher eben ſo unwitzig kritiſirte, mit Schrecken, und wenn auch etwas aͤhnliches hier nicht zu beſorgen ſteht, ſo wuͤnſchte ich doch wohl, daß unſre ſchoͤnen Richterinnen ſich nicht zu eifrig um den Grund und Boden bekuͤmmern moͤchten, auf welchen unſre Poeſien gewachſen ſind; ein weſenloſer Traum buͤßt durch geringe Stoͤrung zu leicht ſeine ganze Wirkung ein.

Daß ich fragte, antwortete Clara, geſchah nicht aus kritiſchem Intereſſe, ſondern weil ich, was vielleicht Schwaͤche ſein mag, auf die ur - ſpruͤngliche Erfindung einer Dichtung ſehr viel halte, denn die Kraft des Erfindens ſcheint mir, mit aller Ehrfurcht von der uͤbrigen Kunſt ge - ſprochen, etwas ſo eigenthuͤmliches, daß ich mich fuͤr denjenigen Dichter beſonders intereſſire, wel - cher nicht nachahmt, ſondern zum erſtenmal ein Ding vortraͤgt, welches unſre Imagination er - greift. Beim dramatiſchen Dichter, wenn er es wahrhaft iſt, tritt wohl eine andere Erfindungs - kunſt ein, als beim erzaͤhlenden, denn freilich195Erſte Abtheilung.moͤchte ich lieber eine Scene in Wie es Euch gefaͤllt geſchrieben haben, als die Novelle er - funden, aus welcher dies Luſtſpiel entſprungen iſt. Der Erzaͤhler kann ſeinen Gegenſtand, wenn dieſer intereſſant iſt, ſchmuͤcken und erheben, ſei - nen Geſchmack und ſeine Kunſt in der Umbil - dung beweiſen, ich frage aber immer gern: wer hat dieſe Sache zuerſt erſonnen, falls ſie ſich nicht wirklich zugetragen hat?

Ich gebe Ihnen gern Recht, ſagte Ernſt, und um ſo lieber, weil ich Ihnen mit meinem Gedichte dann etwas dreiſter nahen darf, weil ich es wenigſtens fuͤr eigene Erfindung ausge - ben kann. In ſofern freilich nicht, als die Vorſtellung vom verzauberten Berge der Venus im Mittelalter allgemein verbreitet war, aber das Gedicht vom Tannenhaͤuſer hatte ich, da - mals ſo wie jetzt, noch nicht geleſen, eben ſo wenig kannte ich damals die Niebelungen, ſon - dern nur das Heldenbuch, in deſſen Vorrede ein getreuer Eckart erwaͤhnt wird, der die jungen Harlungen beſchuͤtzt, und der nachher beim Hans Sachs und andern Dichtern oftmals ſprichwoͤrt - lich vorkoͤmmt, und immer vor dem Berge der Venus Wache haͤlt. Aus dieſen allgemeinen, unbeſtimmten Vorſtellungen in welche ich noch die Sage von dem beruͤchtigten Rattenfaͤnger von Hameln aufgenommen und verkleidet habe, iſt folgendes Gedicht entſtanden.

196Erſte Abtheilung.

Der getreue Eckart und der Tannenhaͤuſer.

In zwei Abſchnitten.

Erſter Abſchnitt.

Der edle Herzog groß
Von dem Burgunder Lande
Litt manchen Feindesſtoß
Wohl auf dem ebnen Sande.
Er ſprach: mich ſchlaͤgt der Feind,
Mein Muth iſt mir entwichen,
Die Freunde ſind erblichen,
Die Knecht 'geflohen ſeynd!
Ich kann mich nicht mehr regen,
Nicht Waffen fuͤhren kann:
Wo bleibt der edle Degen,
Eckart der treue Mann?
Er war mir ſonſt zur Seite
In jedem harten Strauß,
Doch leider blieb er heute
Daheim bei ſich zu Haus.
Es mehren ſich die Haufen,
Ich muß gefangen ſein,
Mag nicht wie Knecht entlaufen,
Drum will ich ſterben ſein!
197Der getreue Eckart.
So klagt der von Burgund,
Will ſein Schwerdt in ſich ſtechen:
Da kommt zur ſelben Stund
Eckart, den Feind zu brechen.
Geharniſcht reit't der Degen
Keck in den Feind hinein,
Ihm folgt die Schaar verwegen
Und auch der Sohne fein.
Burgund erkennt die Zeichen,
Und ruft: Gott ſei gelobt!
Die Feinde mußten weichen
Die wuͤthend erſt getobt.
Da ſchlug mit treuem Muthe
Eckart ins Volk hinein,
Doch ſchwamm im rothen Blute
Sein zartes Soͤhnelein.
Als nun der Feind bezwungen,
Da ſprach der Herzog laut:
Es iſt dir wohl gelungen,
Doch ſo, daß es mir graut;
Du haſt viel Mann geworben,
Zu retten Reich und Leben,
Dein Soͤhnlein liegt erſtorben,
Kanns dir nicht wieder geben.
Der Eckart weinet faſt,
Buͤckt ſich der ſtarke Held,
Und nimmt die theure Laſt,
Den Sohn in Armen haͤlt.
Wie ſtarbſt du, Heinz, ſo fruͤhe,
Und warſt noch kaum ein Mann?
Mich reut nicht meine Muͤhe,
Ich ſeh 'dich gerne an,
198Erſte Abtheilung.
Weil wir dich, Fuͤrſt, erloͤſten,
Aus deiner Feinde Hohn,
Und drum will ich mich troͤſten,
Ich ſchenke dir den Sohn.
Da ward dem Burgund truͤbe
Vor ſeiner Augen Licht,
Weil dieſe große Liebe
Sein edles Herze bricht.
Er weint die hellen Zaͤhren
Und faͤllt ihm an die Bruſt:
Dich, Held, muß ich verehren,
Spricht er in Leid und Luft,
So treu biſt du geblieben
Da alles von mir wich,
So will ich nun auch lieben
Wie meinen Bruder dich,
Und ſollſt in ganz Burgunde
So gelten wie der Herr,
Wenn ich mehr lohnen kunnte,
Ich gaͤbe gern noch mehr.
Als dies das Land erfahren,
So freut ſich jedermann,
Man nennt den Held ſeit Jahren
Eckart den treuen Mann.

Die Stimme eines alten Landmannes klang uͤber die Felſen heruͤber, der dieſes Lied ſang, und der getreue Eckart ſaß in ſeinem Unmuthe auf dem Berghang und weinte laut. Sein juͤngſtes Soͤhnlein ſtand neben ihm und fragte: Warum weinſt du alſo laut, mein Vater Eckart? Wie biſt du doch ſo groß und ſtark, hoͤher und kraͤftiger,199Der getreue Eckart.als alle uͤbrige Maͤnner, vor wem darfſt du dich denn fuͤrchten?

Indem zog die Jagd des Herzoges heim nach Hauſe. Burgund ſaß auf einem ſtattlichen, ſchoͤn geſchmuͤckten Roſſe, und Gold und Geſchmeide des fuͤrſtlichen Herzogs flimmerte und blinkte in der Abendſonne, ſo daß der junge Conrad den herrli - chen Aufzug nicht genug ſehn, nicht genug preiſen konnte. Der getreue Eckart erhob ſich und ſchaute finſter hinuͤber, und der junge Conrad ſang, nach - dem er die Jagd aus dem Geſichte verloren hatte:

Wenn du willt
Schwerdt und Schild,
Gutes Roß,
Speer und Geſchoß
Fuͤhren:
Muß dein Mark
In Beinen ſtark,
Dir im Blut
Mannesmuth
Gar kraͤftiglich regieren!

Der Alte nahm den Sohn und herzte ihn, wobei er geruͤhrt ſeine großen hellblauen Augen anſchaute. Haſt du das Lied jenes guten Mannes gehoͤrt? fragte er ihn dann.

Wie nicht? ſprach der Sohn, hat er es doch laut genug geſungen, und biſt du ja doch der getreue Eckart, ſo daß ich gern zuhoͤrte.

Derſelbe Herzog iſt jetzt mein Feind, ſprach der alte Vater; er haͤlt mir meinen zweiten Sohn gefangen, ja hat ihn ſchon hingerichtet, wenn ich dem trauen darf, was die Leute im Lande ſagen.

200Erſte Abtheilung.

Nimm dein großes Schwerdt und duld 'es nicht, ſagte der Sohn, ſie muͤſſen ja alle vor Dir zittern, und alle Leute im ganzen Lande werden dir beiſtehn, denn du biſt ihr groͤßter Held im Lande.

Nicht alſo, mein Sohn, ſprach jener, dann waͤre ich der, fuͤr den mich meine Feinde ausgeben, ich darf nicht an meinem Landesherren ungetreu werden; nein, ich darf nicht den Frieden brechen, den ich ihm angelobt und in ſeine Haͤnde ver - ſprochen.

Aber was will er von uns? fragte Conrad ungeduldig.

Der Eckart ſetzte ſich wieder nieder und ſagte: mein Sohn, die ganze Erzaͤhlung davon wuͤrde zu umſtaͤndlich lauten, und du wuͤrdeſt es dennoch kaum verſtehn. Der Maͤchtige hat immer ſeinen groͤßten Feind in ſeinem eigenen Herzen, den er ſo Tag wie Nacht fuͤrchtet: ſo meint der Burgund nunmehr, er habe mir zu viel getraut, und in mir eine Schlange an ſeinem Buſen auferzogen. Sie nennen mich im Land den kuͤhnſten Degen, ſie ſagen laut, daß er mir Reich und Leben zu dan - ken, ich heiße der getreue Eckart, und ſo wenden ſich Bedraͤngte und Nothleidende zu mir, daß ich ihnen Huͤlfe ſchaffe; das kann er nicht leiden. So hat er Groll auf mich geworfen, und jeder, der bei ihm gelten moͤchte, vermehrt ſein Mißtrauen zu mir: ſo hat ſich endlich ſein Herz von mir abge - wendet.

Hierauf erzaͤhlte ihm der Helb Eckart mit201Der getreue Eckart.ſchlichten Worten, daß ihn der Herzog von ſeinem Angeſichte verbannt habe, und daß ſie ſich ganz fremd geworden ſeyen, weil jener geargwohnt, er wolle ihm gar ſein Herzogthum entreißen. In Betruͤbniß fuhr er fort, wie der Herzog ihm ſei - nen Sohn gefangen genommen, und ihm ſelber, als einem Verraͤther, nach dem Leben ſtehe. Con - rad ſprach zu ſeinem Vater: ſo laß mich nun hin - gehn, mein alter Vater, und mit dem Herzoge reden, damit er verſtaͤndig und dir gewogen werde; hat er meinen Bruder erwuͤrgt, ſo iſt er ein boͤſer Mann, und du ſollſt ihn ſtrafen, doch kann es nicht ſein, weil er nicht ſo ſchnoͤde deiner großen Dienſte vergeſſen kann.

Weißt du nicht den alten Spruch, ſagte Eckart:

Wenn der Maͤchtge dein begehrt,
Biſt du ihm als Freund was wehrt,
Wie die Noth von ihm gewichen,
Iſt die Freundſchaft auch erblichen.

Ja, mein ganzes Leben iſt unnuͤtz verſchwen - det: warum machte er mich groß, um mich dann deſto tiefer hinab zu werfen? Die Freundſchaft der Fuͤrſten iſt wie ein toͤdtendes Gift, das man nur gegen Feinde nuͤtzen kann, und womit ſich der Eig - ner aus〈…〉〈…〉 nbedacht endlich ſelbſt erwuͤrgt.

Ich will zum Herzoge hin, rief Conrad aus, ich will ihm alles, was du gethan, was du fuͤr ihn gelitten, in die Seele zuruͤck rufen, und er wird wieder ſeyn, wie ehemals.

Du haſt vergeſſen, ſagte Eckart, daß man uns fuͤr Verraͤther ausgerufen hat, darum laß uns mit202Erſte Abtheilung.einander fluͤchten, in ein fremdes Land, wo wir wohl ein beſſeres Gluͤck antreffen moͤgen.

In deinem Alter, ſagte Conrad, willſt du dei - ner lieben Heimath noch den Ruͤcken wenden? Nein, laß uns lieber alles andere verſuchen. Ich will zum Burgunder, ihn verſoͤhnen und zufrieden ſtellen; denn was kann er mir thun wollen, wenn er dich auch haßt und fuͤrchtet?

Ich laſſe dich ſehr ungern, ſagte Eckart, denn meine Seele weiſſagt mir nichts Gutes, und doch moͤcht 'ich gern mit ihm verſoͤhnt ſeyn, denn er iſt mein alter Freund, auch deinen Bruder erretten, der in gefaͤnglicher Haft bei ihm ſchmachtet.

Die Sonne warf ihre letzten milden Strah - len auf die gruͤne Erde, und Eckart ſetzte ſich nach - denkend nieder, an einem Baumſtamm gelehnt, er beſchaute den Conrad lange Zeit und ſagte dann: wenn du gehen willſt, mein Sohn, ſo gehe jetzt, bevor die Nacht vollends herein bricht; die Fenſter in der herzoglichen Burg glaͤnzen ſchon von Lich - tern, ich vernehme aus der Ferne Trompetentoͤne vom Feſte, vielleicht iſt die Gemahlin ſeines Soh - nes ſchon angelangt und ſein Gemuͤth freundlicher gegen uns.

Ungern ließ er den Sohn von ſich, weil er ſeinem Gluͤcke nicht mehr traute; der junge Con - rad aber war um ſo muthiger, weil es ihm ein leichtes duͤnkte, das Gemuͤth des Herzoges umzu - wenden, der noch vor weniger Zeit ſo freundlich mit ihm geſpielt hatte. Kommſt du mir gewiß zuruͤck, mein liebſtes Kind? klagte der Alte; wenn203Der getreue Eckart.du mir verloren gehſt, iſt keiner mehr von mei - nem Stamme uͤbrig. Der Knabe troͤſtete ihn, und ſchmeichelte mit Liebkoſungen dem Greiſe; ſie trenn - ten ſich endlich.

Conrad klopfte an die Pforte der Burg und ward eingelaſſen, der alte Eckart blieb draußen in der Nacht allein. Auch dieſen habe ich verloren, klagte er in der Einſamkeit, ich werde ſein Ange - ſicht nicht wieder ſehn. Indem er ſo jammerte, wankte an einem Stabe ein Greis daher, der die Felſen hinab ſteigen wollte, und bei jedem Schritte zu fuͤrchten ſchien, daß er in den Abgrund ſtuͤrzen moͤchte. Wie Eckart die Gebrechlichkeit des Alten wahrnahm, reichte er ihm die Hand, daß er ſicher herunter ſteigen moͤchte. Woher des Weges? fragte ihn Eckart.

Der Alte ſetzte ſich nieder und fing an zu wei - nen, daß ihm die hellen Thraͤnen die Wangen hin - unter liefen. Eckart wollte ihn mit gelinden und vernuͤnftigen Worten troͤſten, aber der ſehr bekuͤm - merte Greis ſchien auf ſeine wohlgemeinten Reden nicht zu achten, ſondern ſich ſeinen Schmerzen noch ungemaͤßigter zu ergeben. Welcher Gram kann euch denn ſo gar ſehr niederbeugen, fragte er endlich, daß Ihr gaͤnzlich davon uͤberwaͤltigt ſeid?

Ach meine Kinder! klagte der Alte. Da dachte Eckart an Conrad, Heinz und Dietrich, und war ſelbſt alles Troſtes verluſtig; ja, wenn eure Kin - der geſtorben ſind, ſprach er, dann iſt euer Elend wahrlich ſehr groß.

Schlimmer als geſtorben, verſetzte hierauf der204Erſte Abtheilung.Alte, mit ſeiner jammernden Stimme, denn ſie ſind nicht todt, aber ewig fuͤr mich verloren. O wollte der Himmel, daß ſie nur geſtorben waͤren!

Der Held erſchrack uͤber dieſe ſeltſamen Worte, und bat den Greis, ihm dieſes Raͤthſel aufzuloͤ - ſen, worauf jener ſagte: Wir leben wahrlich in einer wunderbarlichen Zeit, die wohl die letzten Tage bald herbei fuͤhren wird, denn die erſchreck - lichſten Zeichen fallen draͤuend in die Weit herein. Alles Unheil macht ſich von den alten Ketten los, und ſtreift nun frank und frei herum; die Furcht Gottes verſiegt und verrinnt, und findet kein Strombett, in das ſie ſich ſammeln moͤchte, und die boͤſen Kraͤfte ſtehn kecklich in ihren Winkeln auf, und feyern ihren Triumph. O mein lieber Herr, wir ſind alt geworden, aber fuͤr dergleichen Wundergeſchichten noch nicht alt genug. Ihr wer - det ohne Zweifel den Cometen geſehen haben, die - ſes wunderbare Himmelslicht, das ſo prophetiſch hernieder ſcheint; alle Weit weiſſagt Uebles, und keiner denkt daran, mit ſich ſelbſt die Beſſerung anzuſahn und ſo die Ruthe abzuwenden. Dies iſt nicht genug, ſondern aus der Erde thun ſich Wun - derwerke hervor und brechen geheimnißvoll von un - ten herauf, wie das Licht ſchrecklich von oben her - niederſcheint. Habt Ihr niemals von dem Berge gehoͤrt, den die Leute nur den Berg der Venus nennen?

Niemalen, ſagte Eckart, ſo weit ich auch her - um gekommen bin.

Daruͤber muß ich mich verwundern, ſagte der205Der getreue Eckart.Alte, denn die Sache iſt jetzt eben ſo bekannt, als ſie wahrhaftig iſt. In dieſen Berg haben ſich die Teufel hinein gefluͤchtet und ſich in den wuͤſten Mittelpunkt der Erde gerettet, als das aufwach - ſende heilige Chriſtenthum den heidniſchen Goͤtzen - dienſt ſtuͤrzte. Hier, ſagt man nun, ſolle vor allen Frau Venus Hof halten, und alle ihre hoͤl - liſchen Heerſcharen der weltlichen Luͤſte und ver - botenen Wuͤnſche um ſich verſammeln, ſo daß das Gebirge auch verflucht ſeit undenklichen Zeiten ge - legen hat.

Doch nach welcher Gegend liegt der Berg? fragte Eckart.

Das iſt das Geheimniß, ſprach der Alte, daß dieſes Niemand zu ſagen weiß, als der ſich ſchon dem Satan zu eigen gegeben, es faͤllt auch keinem Unſchuldigen ein, ihn aufſuchen zu wollen. Ein Spielmann von wunderſeltner Art iſt ploͤtzlich von unten hervor gekommen, den die Hoͤlliſchen als ihren Abgeſandten ausgeſchickt haben, dieſer durch - zieht die Welt, und ſpielt und muſizirt auf einer Pfeifen, daß die Toͤne weit in den Gegenden wie - der klingen. Wer nun dieſe Klaͤnge vernimmt, der wird von ihnen mit offenbarer, doch unerklaͤrlicher Gewalt erfaßt, und fort, fort in die Wildniß ge - trieben, er ſieht den Weg nicht, den er geht, er wandert und wandert und wird nicht muͤde, ſeine Kraͤfte nehmen zu wie ſeine Eile, keine Macht kann ihn aufhalten, ſo rennt er raſend in den Berg hinein, und findet ewig niemals den Ruͤckweg wie - der. Dieſe Macht iſt der Hoͤlle jetzt zuruͤck gege -206Erſte Abtheilung.ben, und von entgegeneſetzter Richtung wandeln nun die ungluͤckſeligen verkehrten Pilgrimme hin, wo keine Rettung zu erwarten ſteht. Ich hatte an meinen beiden Soͤhnen ſchon ſeit lange keine Freude mehr erlebt, ſie waren wuͤſt und ohne Sit - ten, ſie verachteten ſo Eltern wie Religion; nun hat ſie der Klang ergriffen und angefaßt, ſie ſind davon und in die Weite, die Welt iſt ihnen zu enge, und ſie ſuchen in der Hoͤlle Raum.

Und was denkt Ihr bei dieſen Dingen zu thun? fragte Eckart.

Mit dieſer Kruͤcke habe ich mich aufgemacht, antwortete der Alte, um die Welt zu durchſtreifen, ſie wieder zu finden, oder vor Muͤdigkeit und Gram zu ſterben.

Mit dieſen Worten riß er ſich mit großer An - ſtrengung aus ſeiner Ruhe auf, und eilte fort ſo ſchnell er nur konnte, als wenn er ſein Liebſtes auf der Welt verſaͤumen moͤchte, und Eckart ſah mit Bedauern ſeiner unnuͤtzen Bemuͤhung nach, und achtete ihn in ſeinen Gedanken fuͤr wahnwitzig.

Es war Nacht geworden und wurde Tag, und Conrad kam nicht zuruͤck, da irrte Eckart durch das Gebirge und wandte ſeine ſehnenden Augen nach dem Schloſſe, aber er erſah ihn nicht. Ein Getuͤmmel zog aus der Burg daher, da trachtete er nicht mehr, ſich zu verbergen, ſondern er be - ſtieg ſein Roß, das frei weidete, und ritt in die Schaar hinein, die froͤlich und guter Dinge uͤber das Blachfeld zog. Als er unter ihnen war, er -207Der getreue Eckart.kannten ſie ihn, aber keiner wagte Hand an ihn zu legen, oder ihm ein hartes Wort zu ſagen, ſon - dern ſie wurden aus Ehrerbietung ſtumm, umga - ben ihn in Verwunderung, und gingen dann ihres Weges. Einen von den Knechten rief er zuruͤck, und fragte ihn: Wo iſt mein Sohn Conrad? O fragt mich nicht, ſagte der Knecht, denn es wuͤrde euch doch nur Jammer und Wehklagen erregen. Und Dietrich? rief der Vater. Nennt ihre Na - men nicht mehr, ſprach der alte Knecht, denn ſie ſind dahin, der Zorn des Herrn war gegen ſie ent - brannt, er gedachte Euch in ihnen zu ſtrafen.

Ein heißer Zorn ſtieg in Eckarts Gemuͤth auf, und er war vor Schmerz und Wuth ſein ſelber nicht mehr maͤchtig. Er ſpornte ſein Roß mit al - ler Gewalt und ritt in das Burgthor hinein. Alle traten ihm mit ſcheuer Ehrfurcht aus dem Wege, und ſo ritt er vor den Pallaſt. Er ſchwang ſich vom Roſſe und ging mit wankenden Schritten die großen Stiegen hinan. Bin ich hier in der Woh - nung des Mannes, ſagte er zu ſich ſelber, der ſonſt mein Freund war? Er wollte ſeine Gedanken ſam - meln, aber immer wildere Geſtalten bewegten ſich vor ſeinen Augen, und ſo trat er in das Gemach des Fuͤrſten.

Der Herzog von Burgund war ſich ſeiner nicht gewaͤrtig, und erſchrack heftig, als er den Eckart vor ſich ſah. Biſt du der Herzog von Bur - gund? redete dieſer ihn an. Worauf der Herzog mit Ja antwortete. Und du haſt meinen Sohn208Erſte Abtheilung.Dietrichen hinrichten laſſen? Der Herzog ſagte Ja. Und auch meinen juͤngſtes Soͤhnlein Conrad, rief Eckart im Schmerz, iſt dir nicht zu gut ge - weſen, und du haſt ihn auch umbringen laſſen? Worauf der Herzog wieder mit Ja antwortete.

Hier ward Eckart uͤbermannt und ſprach in Thraͤnen: O antworte mir nicht ſo, Burgund, denn dieſe Reden kann ich nicht aushalten, ſprich nur, daß es dich gereut, daß du es jetzt ungeſchehen wuͤnſcheſt, und ich will mich zu troͤſten ſuchen; aber ſo biſt du meinem Herzen uͤberall zuwider.

Der Herzog ſagte: entferne dich von meinem Angeſichte, ungetreuer Verraͤther, denn du biſt mir der aͤrgerlichſte Feind, den ich nur auf Erden ha - ben kann.

Eckart ſagte: Du haſt mich wohl ehedem dei - nen Freund genannt, aber dieſe Gedanken ſind dir nunmehr fremd; nie hab 'ich dir zuwider ge - handelt, ſtets hab' ich dich als meinen Fuͤrſten geehrt und geliebt, und behuͤte mich Gott, daß ich nun, wie ich wohl koͤnnte, die Hand an mein Schwerdt legen ſollte, um mir Rache zu ſchaffen. Nein, ich will mich ſelbſt von deinem Angeſichte verbannen, und in der Einſamkeit ſterben.

Mit dieſen Worten ging er fort, und der Bur - gund war in ſeinem Gemuͤthe bewegt, doch erſchie - nen auf ſeinen Ruf die Leibwaͤchter mit den Lan - zen, die ihn von allen Seiten umgaben, und den Eckart mit den Spießen aus dem Gemache treiben wollten.

Es209Der getreue Eckart.
Es ſchwang ſich auf ſein Pferd
Eckart, der edle Held,
Und ſprach: in aller Welt
Iſt mir nun nichts mehr werth.
Die Soͤhn 'hab ich verloren,
So find' ich nirgends Troſt,
Der Fuͤrſt iſt mir erboſt,
Hat meinen Tod geſchworen.
Da reitet er zu Wald
Und klagt aus vollem Herzen
Die uͤbergroßen Schmerzen,
Daß weit die Stimme ſchallt:
Die Menſchen ſind mir todt,
Ich muß mir Freunde ſuchen
In Eichen, wilden Buchen,
Ihn'n klagen meine Noth.
Kein Kind, das mich ergoͤtzt,
Erwuͤrgt vom ſchlimmen Leuen
Blieb keiner von den dreien,
Der Liebſte ſtarb zuletzt.
Wie Eckart alſo klagte
Verlor er Sinn und Muth,
Er reit't in Zorneswuth,
Als ſchon der Morgen tagte.
Das Roß, das treu geblieben
Stuͤrzt hin im wilden Lauf,
Er achtet nicht darauf
Und will nun nichts mehr lieben.
Er thut die Ruͤſtung abe,
Wirft ſich zu Boden hin,
Auf Sterben ſteht ſein Sinn,
Sein Wunſch nur nach dem Grabe.
I. [14]210Erſte Abtheilung.

Niemand in der Gegend wußte, wohin ſich der Eckart gewendet, denn er hatte ſich in die wuͤ - ſten Waldungen hinein verirrt, und vor keinem Menſchen ließ er ſich ſehen. Der Herzog fuͤrch - tete ſeinen Sinn, und es gereute ihn nun, daß er ihn von ſich gelaſſen, ohne ihn zu fangen. Da - rum machte er ſich an einem Morgen auf, mit einem großen Zuge von Jaͤgern und anderm Ge - folge, um die Waͤlder zu durchſtreifen und den Eckart aufzuſuchen, denn er meinte, daß deſſen Tod nur ihn voͤllig ſicher ſtellte. Alle waren un - ermuͤdet, und ließen ſich den Eifer nicht verdrießen, aber die Sonne war ſchon untergegangen, ohne daß ſie von Eckart eine Spur angetroffen haͤtten.

Ein Sturm brach herein, und große Wolken flogen ſauſend uͤber dem Walde hin, der Donner rollte, und Blitze fuhren in die hohen Eichen; von einem ungeſtuͤmen Schrecken wurden alle angefaßt, und einzeln in den Gebuͤſchen und auf den Fluren zerſtreut. Das Roß des Herzogs rannte in das Dickicht hinein, ſein Knappe vermochte nicht, ihm zu folgen; das edle Roß ſtuͤrzte nieder, und der Burgund rief im Gewitter vergeblich nach ſeinen Dienern, denn es war keiner, der ihn hoͤren mochte.

Wie ein wildes Thier war Eckart umher ge - irrt, ohne von ſich, von ſeinem Ungluͤcke etwas zu wiſſen, er hatte ſich ſelber verloren und in dumpfer Betaͤubung ſeinen Hunger mit Kraͤutern und Wurzeln geſaͤttigt; unkenntlich waͤre der Held jetzt jedem ſeiner Freunde geweſen, ſo hatten ihn211Der getreue Eckart.die Tage ſeiner Verzweiflung entſtellt. Wie der Sturm aufbrach, erwachte er aus ſeiner Betaͤu - bung, er fand ſich in ſeinen Schmerzen wieder und erkannte ſein Ungluͤck. Da erhub er ein lautes Jammergeſchrei um ſeine Kinder, er raufte ſeine weißen Haare und klagte im Brauſen des Stur - mes: Wohin, wohin ſeid Ihr gekommen, ihr Theile meines Herzens? Und wie iſt mir denn ſo alle Macht genommen, daß ich euren Tod nicht mindeſtens raͤchen darf? Warum hielt ich denn meinen Arm zuruͤck, und gab nicht dem den Tod, der meinem Herzen den toͤdtlichſten Stich zutheilte? Ha, du verdienſt es, Wahnſinniger, daß der Ty - rann dich verhoͤhnt, weil dein unmaͤchtiger Arm, dein bloͤdes Herz nicht dem Moͤrder widerſtrebt! Jetzt, jetzt ſollte er ſo vor mir ſtehn! Vergeblich wuͤnſch 'ich jetzt die Rache, da der Augenblick voruͤber iſt.

So kam die Nacht herauf, und Eckart irrte in ſeinem Jammer umher. Da hoͤrte er aus der Ferne wie eine Stimme, die um Huͤlfe rief. Er richtete ſeine Schritte nach dem Schalle, und traf endlich in der Dunkelheit auf einen Mann, der an einen Baumſtamm gelehnt, ihn wehmuͤthig bat, ihm wieder auf die rechte Straße zu helfen. Eckart erſchrack vor der Stimme, denn ſie ſchien ihm bekannt, und bald ermannte er ſich und er - kannte, daß der Verirrte der Herzog von Bur - gunden ſey. Da erhub er ſeine Hand und wollte ſein Schwerdt faſſen, um den Mann nieder zu hauen, der der Moͤrder ſeiner Kinder war; es212Erſte Abtheilung.uͤberfiel ihn die Wuth mit neuen Kraͤften, und er war des feſten Willens, jenem den Garaus zu ma - chen, als er ploͤtzlich inne hielt, und ſeines Schwu - res und des gegebenen Wortes gedachte. Er faßte die Hand ſeines Feindes, und fuͤhrte ihn nach der Gegend, wo er die Straße vermuthete.

Der Herzog ſank darnieder
Im wilden dunkeln Hain,
Da nahm der Helde bieder
Ihn auf die Schultern ſein.
Er ſprach: gar viel Beſchwerden
Mach 'ich dir, guter Mann;
Der ſagte: auf der Erden
Muß man gar viel beſtahn.
Doch ſollſt du, ſprach Burgund,
Dich freun, bei meinem Worte,
Komm ich nur erſt geſund
Zu einem ſichern Orte.
Der Held fuͤhlt Thraͤnen heiß
Auf ſeinen alten Wangen,
Er ſprach: auf keine Weiſ '
Trag' ich nach Lohn Verlangen.
Es mehren ſich die Plagen,
Sprach der Burgund in Noth;
Wohin willſt du mich tragen?
Du biſt wohl gar der Tod?
Tod bin ich nicht genannt,
Sprach Eckart noch im Weinen,
Du ſtehſt in Gottes Hand,
Sein Licht mag dich beſcheinen.
213Der getreue Eckart.
Ach, wohl iſt mir bewußt,
Sprach jener drauf in Reue,
Daß ſuͤndvoll meine Bruſt,
Drum zittr 'ich, daß er draͤue.
Ich hab 'dem treuſten Freunde
Die Kinder umgebracht,
Drum ſtebt er mir zum Feinde
In dieſer finſtern Nacht.
Er war mir recht ergeben,
Als wie der treuſte Knecht,
Und war im ganzen Leben
Mir niemals ungerecht.
Die Kindlein ließ ich toͤdten,
Das kann er nie verzeihn,
Ich fuͤrcht ', in dieſen Noͤthen
Treff' ich ihn hier im Hain:
Das ſagt mir mein Gewiſſen
Mein Herze innerlich,
Die Kind hab ich zerriſſen,
Dafuͤr zerreißt er mich.
Der Eckart ſprach: empfinden
Muß ich ſo ſchwere Laſt,
Weil du nicht rein von Suͤnden
Und ſchwer geſuͤndigt haſt,
Daß du den Mann wirſt ſchauen
Iſt auch gewißlich wahr,
Doch magſt du mir vertrauen
So kruͤmmt er dir kein Haar.

So gingen ſie in Geſpraͤchen fort, als ihnen im Walde eine andre Mannsgeſtalt begegnete, es war Wolfram, der Knappe des Herzogs, der ſei -214Erſte Abtheilung.nen Herrn ſchon ſeit lange geſucht hatte. Die dunkle Nacht lag noch uͤber ihnen, und kein Stern - lein blickte zwiſchen den ſchwarzen Wolken hervor. Der Herzog fuͤhlte ſich ſchwaͤcher, und wuͤnſchte eine Herberge zu erreichen, in der er die Nacht ſchlafen moͤchte, dabei zitterte er, auf den Eckart zu treffen, der wie ein Geſpenſt vor ſeiner Seele ſtand. Er glaubte nicht den Morgen zu erleben, und ſchauderte von neuem zuſammen, wenn ſich der Wind wieder in den hohen Baͤumen regte, wenn der Sturm von unten herauf aus den Berg - ſchluften kam und uͤber ihren Haͤuptern hinweg ging. Beſteige, Wolfram, rief der Herzog in ſei - ner Angſt, dieſe hohe Tanne, und ſchaue umher, ob du kein Lichtlein, kein Haus, oder keine Huͤtte erſpaͤhſt, zu der wir uns wenden moͤgen.

Der Knappe kletterte mit Gefahr ſeines Le - bens zum hohen Tannenbaum hinauf, den der Sturm von einer Seite zur andern warf, und je zu - weilen faſt bis zur Erde den Wipfel beugte, ſo daß der Knappe wie ein Eichkaͤtzlein oben ſchwankte. Endlich hatte er den Gipfel erklommen und rief: Im Thal da unten ſeh 'ich den Schein eines Lich - tes, dorthin muͤſſen wir uns wenden! Sogleich ſtieg er ab und zeigte den beiden den Weg, und nach einiger Zeit ſahen alle den erfreulichen Schein, woruͤber der Herzog anfing, ſich wieder wohl zu gehaben. Eckart blieb immer ſtumm und in ſich gekehrt, er ſprach kein Wort und ſchaute ſeinen innern Gedanken zu. Als ſie vor der Huͤtte ſtan - den klopften ſie an, und ein altes Muͤtterlein oͤff -215Der getreue Eckart.nete ihnen die Thuͤr; ſo wie ſie hinein traten, ließ der ſtarke Eckart den Herzog von ſeinen Schul - tern nieder, der ſich alsbald auf ſeine Knie warf und Gott in einem bruͤnſtigen Gebete fuͤr ſeine Rettung dankte. Eckart ſetzte ſich in einen finſtern Winkel nieder und traf dort den Greis ſchlafend, der ihm unlaͤngſt ſein großes Ungluͤck mit ſeinen Soͤhnen erzaͤhlt hatte, welche er aufzuſuchen ging.

Als der Herzog ſein Gebet vollendet, ſprach er: Wunderbar iſt mir in dieſer Nacht zu Sinne geworden, und die Guͤte Gottes wie ſeine Allmacht haben ſich meinem verſtockten Herzen noch niemals ſo nahe gezeigt; auch daß ich bald ſterbe, ſagt mir mein Gemuͤth, und ich wuͤnſche nichts ſo ſehr, als daß Gott mir vorher meine vielen und ſchweren Suͤnden vergeben moͤge. Euch beide aber, die ihr mich hieher gefuͤhrt habt, will ich vor meinem Ende noch belohnen, ſo viel ich kann. Dir, meinem Knappen, ſchenk 'ich die beiden Schloͤſſer, die hier auf den naͤchſten Bergen liegen, doch ſollſt du dich kuͤnftig, zum Gedaͤchtniß dieſer grauenvollen Nacht, den Tannenhaͤuſer nennen. Und wer biſt du, Mann, fuhr er fort, der ſich dorten im Winkel gelagert hat? Komm hervor, damit ich auch dir fuͤr deine Muͤhe und Liebe lohnen moͤge.

Da ſtand der Eckart von der Erden
Und trat herfuͤr ans helle Licht,
Er zeigt mit traurigen Gebehrden
Sein hochbekuͤmmert Angeſicht.
216Erſte Abtheilung.
Da fehlt dem Burgund Kraft und Muth
Den Blick des Mannes auszuhalten,
Den Adern ſein entweicht das Blut,
In Ohnmacht iſt er feſtgehalten.
Es ſtuͤrzen ihm die matten Glieder
Von neuem auf den Boden nieder.
Allmaͤcht'ger Gott! ſo ſchreit er laut,
Du biſt es, den mein Auge ſchaut?
Wohin ſoll ich vor dir entfliehn?
Mußt du mich aus dem Walde ziehn?
Dem ich die Kinder hab 'erſchlagen,
Der muß mich in den Armen tragen?
So faͤhrt der Burgund fort zu ſprechen,
Und fuͤhlt das Herz im Buſen brechen,
Er ſinkt dem Eckart an die Bruſt,
Iſt ſich ſein ſelber nicht bewußt.
Der Eckart leiſe zu ihm ſpricht:
Der Schmach gedenk 'ich fuͤrder nicht,
Damit die Welt es ſehe frei,
Der Eckart war dir ſtets getreu.

So verging die Nacht. Am andern Morgen kamen andre Diener, die den kranken Herzog fan - den. Sie legten ihn auf Maulthiere und fuͤhrten ihn in ſein Schloß zuruͤck. Eckart durfte nicht von ſeiner Seite kommen, oft aber nahm er ſeine Hand und druͤckte ſie ſich gegen ſeine Bruſt, und ſah ihn mit einem flehenden Blicke an. Eckart umarmte ihn dann, und ſprach einige liebevolle Worte, mit denen ſich der Fuͤrſt beruhigte. Er verſammelte alle ſeine Raͤthe um ſich her, und ſagte ihnen, daß217Der getreue Eckart.er den Eckart, den getreuen Mann, zum Vormunde uͤber ſeine Soͤhne ſetze, weil dieſer ſich als den edelſten erwieſen. So ſtarb er.

Seitdem nahm ſich Eckart der Regierung mit allem Fleiße an, und jedermann im Lande mußte ſeinen hohen maͤnnlichen Muth bewundern. Es waͤhrte nicht lange, ſo verbreitete ſich in allen Ge - genden das wunderbare Geruͤcht von dem Spiel - manne, der aus dem Venusberge gekommen, das ganze Land durchziehe und mit ſeinen Toͤnen die Menſchen entfuͤhre, welche verſchwaͤnden, ohne daß man eine Spur von ihnen wieder finden koͤnne. Viele glaubten dem Geruͤchte, andre nicht, und Eckart gedachte des ungluͤcklichen Greiſes wieder.

Ich habe Euch zu meinen Soͤhnen angenom - men, ſprach er zu den unmuͤndigen Juͤnglingen, als er ſich einſt mit ihnen auf dem Berge vor dem Schloſſe befand; Euer Gluͤck iſt jetzt meine Nach - kommenſchaft, ich will in Eurer Freude nach mei - nem Tode fortleben. Sie lagerten ſich auf dem Abhange, von wo ſie weit in das ſchoͤne Land hin - ein ſehn konnten, und Eckart unterdruͤckte das An - denken an ſeine Kinder, denn ſie ſchienen ihm von den Bergen heruͤber zu ſchreiten, indem er aus der Ferne einen lieblichen Klang vernahm.

Kommt es nicht wie Traͤumen
Aus den gruͤnen Raͤumen
Zu uns wallend nieder,
Wie Verſtorbner Lieder?
218Erſte Abtheilung.
So ſpricht er zu den jungen Herrn,
Vernimmt den Zauberklang von fern.
Wie ſich die Toͤn heruͤberſchwungen
Erwachet in den frommen Jungen
Ein ſeltſam boͤſer Geiſt,
Der ſie nach unbekannter Ferne reißt.
Wir wollen in die Berge, in die Felder,
Uns rufen die Quellen, es locken die Waͤlder,
Gar heimliche Stimmen entgegen ſingen,
Ins irdiſche Paradies uns zu bringen!
Der Spielmann kommt in fremder Tracht
Den wilden Kindern ins Geſicht,
Und hoͤher ſchwillt der Toͤne Macht,
Und heller glaͤnzt der Sonne Licht,
Die Blumen ſcheinen trunken,
Ein Abendroth nieder geſunken,
Und zwiſchen Korn und Graͤſern ſchweifen
Sanft irrend blau und goldne Streifen.
Wie ein Schatten iſt hinweg gehoben
Was ſonſt den Sinn zur Erden zieht,
Geſtillt iſt alles ird'ſche Toben,
Die Welt zu Einer Blum 'erbluͤht,
Die Felſen ſchwanken lichterloh,
Die Triften jauchzen und ſind froh,
Es wirrt und irrt alles in die Klaͤnge hinein
Und will in der Freude heimiſch ſein
Des Menſchen Seele reißen die Funken,
Sie iſt im holden Wahnſinn ganz verſunken.
So wurde Eckart rege
Und wundert ſich dabei,
Er hoͤrt der Toͤne Schlaͤge
Und fragt ſich, was es ſei.
219Der getreue Eckart.
Ihm duͤnkt die Welt erneuet,
In andern Farben bluͤhn,
Er weiß nicht, was ihn freuet,
Fuͤhlt ſich in Wonne gluͤhn.
Ha! bringen nicht die Toͤne,
So fragt er ſich entzuͤckt,
Mir Weib und liebe Soͤhne,
Und was mich ſonſt begluͤckt?
Doch faßt ein heimlich Grauen
Den Helden ploͤtzlich an,
Er darf nur um ſich ſchauen
Und fuͤhlt ſich bald ein Mann.
Da ſieht er ſchon das Wuͤthen
Der ihm vertrauten Kind,
Die ſich der Hoͤlle bieten
Und unbezwinglich ſind.
Sie werden fortgezogen
Und kennen ihn nicht mehr,
Sie toben wie die Wogen
Im wildempoͤrten Meer.
Was ſoll er da beginnen?
Ihn ruft ſein Wort und Pflicht,
Ihm wanken ſelbſt die Sinnen,
Er kennt ſich ſelber nicht.
Da koͤmmt die Todesſtunde
Von ſeinem Freund zuruͤck,
Er hoͤret den Burgunde
Und ſieht den letzteu Blick.
So ſchirmt er ſein Gemuͤthe
Und ſteht gewappnet da,
Indem kommt im Gewuͤthe
Der Spielmann ſelbſt ihm nah.
220Erſte Abtheilung.
Er will den Degen ſchwingen
Und ſchlagen jenes Haupt:
Er hoͤrt die Pfeife klingen,
Die Kraft iſt ihm geraubt.
Es ſtuͤrzen aus den Bergen
Geſtalten wunderlich,
Ein wuͤſtes Heer von Zwergen,
Sie nahen grauerlich.
Die Soͤhne ſind gefangen
Und toben in dem Schwarm,
Umſonſt iſt ſein Verlangen,
Gelaͤhmt ſein tapferer Arm.
Es ſtuͤrmt der Zug an Veſten,
An Schloͤſſern wild vorbei,
Sie ziehn von Oſt nach Weſten
Mit jauchzendem Geſchrei.
Eckart iſt unter ihnen,
Es reißt die Macht ihn hin,
Er muß der Hoͤlle dienen,
Bezwungen iſt ſein Sinn.
Da nahen ſie dem Berge,
Aus dem Muſik erſchallt,
Und alſogleich die Zwerge
Stillſtehn und machen Halt.
Der Fels ſpringt von einander,
Ein bunt Gewimmel drein,
Man ſieht Geſtalten wandern
Im wunderlichen Schein.
Da faßt er ſeinen Degen
Und ſprach: ich bleibe treu!
Und haut mit Kraft verwegen
In alle Schaaren frei.
221Der getreue Eckart.
Die Kinder ſind errungen,
Sie fliehen durch das Thal,
Der Feind noch unbezwungen
Mehrt ſich zu Eckarts Qual.
Die Zwerge ſinken nieder,
Sie faſſen neuen Muth,
Es kommen andre wieder,
Und jeder kaͤmpft mit Wuth.
Da ſieht der Held ſchon ferne
Die Kind in Sicherheit,
Sprach: nun verlier 'ich gerne
Mein Leben hier im Streit.
Sein tapfres Schwerdt thut blinken
Im hellen Sonnenſtrahl,
Die Zwerge niederſinken
Zu Haufen dort im Thal.
Die Kinder ſind entſchwunden
Im allerfernſten Feld,
Da fuͤhlt er ſeine Wunden,
Da ſtirbt der tapfre Held.
So fand er ſeine Stunde
Wild kaͤmpfend wie der Leu,
Und blieb noch dem Burgunde
Im Tode ſelber treu.
Als nun der Held erſchlagen
Regiert der aͤltſte Sohn,
Dankbar hoͤrt man ihn ſagen:
Eckart hat meinen Thron
Erkaͤmpft mit vielen Wunden
Und ſeinem beſten Blut,
Und alle Lebensſtunden
Verdank 'ich ſeinem Muth.
222Erſte Abtheilung.
Bald hoͤrt man Wunderſagen
Im ganzen Land umgehn,
Daß, wer es wolle wagen
Der Venus Berg zu ſehn,
Der werde dorten ſchauen
Des treuen Eckart Geiſt,
Der jedem mit Vertrauen
Zuruͤck vom Felſen weiſt.
Wo er nach ſeinem Sterben
Noch Schutz und Wache haͤlt.
Es preiſen alle Erben
Eckart den treuen Held.

Zweiter Abſchnitt.

Es waren mehr als vier Jahrhunderte ſeit dem Tode des getreuen Eckart verfloſſen, als am Hofe ein edler Tannenhaͤuſer als kaiſerlicher Rath im großen Anſehen ſtand. Der Sohn dieſes Ritters uͤbertraf an Schoͤnheit alle uͤbrigen Edlen des Lan - des, weswegen er auch von jedermann geliebt und hochgeſchaͤtzt wurde. Ploͤtzlich aber verſchwand er, nachdem ſich einige wunderbare Dinge mit ihm zugetragen hatten, und kein Menſch wußte zu ſagen, wohin er gekommen ſey. Seit der Zeit des getreuen Eckart gab es vom Venusberge eine Sage im Lande, und manche ſprachen, daß er dorthin gewandert und alſo auf ewig verloren ſey.

Einer von ſeinen Freunden, Friedrich von Wolfsburg, haͤrmte ſich von allen am meiſten um223Der getreue Eckart.den jungen Tannenhaͤuſer. Sie waren mit einan - der erwachſen und ihre gegenſeitige Freundſchaft ſchien jedem ein Beduͤrfniß ſeines Lebens geworden zu ſein. Tannenhaͤuſers alter Vater war geſtor - ben, Friedrich vermaͤhlte ſich nach einigen Jahren, ſchon umgab ihn ein Kreis von froͤlichen Kindern, und immer noch hatte er keine Nachricht von ſei - nem Jugendfreunde vernommen, ſo daß er ihn auch fuͤr geſtorben halten mußte.

Er ſtand eines Abends unter dem Thor ſeiner Burg, als er aus der Ferne einen Pilgrim daher kommen ſah, der ſich ſeinem Schloſſe naͤherte. Der fremde Mann war in ſeltſame Tracht gekleidet, und ſein Gang wie ſeine Geberden erſchienen dem Ritter wunderlich. Als jener naͤher gekommen, glaubte er ihn zu kennen, und endlich war er mit ſich einig, daß der Fremde kein anderer als ſein ehemaliger Freund der Tannenhaͤuſer ſein koͤnne. Er erſtaunte und ein heimlicher Schauer bemaͤch - tigte ſich ſeiner, als er die durchaus veraͤnderten Zuͤge deutlich gewahr wurde.

Die beiden Freunde umarmten ſich, und erſchra - ken dann einer vor dem andern, ſie ſtaunten ſich an, wie fremde Weſen. Der Fragen, der verwor - renen Antworten gab es viele; Friedrich erbebte oft vor dem wilden Blicke ſeines Freundes, in dem ein unverſtaͤndliches Feuer brannte. Nachdem ſich der Tannenhaͤuſer einige Tage erholt hatte, erfuhr Friedrich, daß er auf einer Wallfahrt nach Rom begriffen ſey.

Die beiden Freunde erneuerten bald ihre ehe -224Erſte Abtheilung.maligen Geſpraͤche und erzaͤhlten ſich die Geſchichte ihrer Jugend, doch verſchwieg der Tannenhaͤuſer noch immer ſorgfaͤltig, wo er ſeitdem geweſen. Friedrich aber drang in ihn, nachdem ſie ſich in ihre ſonſtige Vertraulichkeit wieder hinein gefun - den hatten, jener ſuchte ſich lange den freundſchaft - lichen Bitten zu entziehen, doch endlich rief er aus: Nun, ſo mag dein Wille erfuͤllt werden, du ſollſt alles erfahren, mache mir aber nachher keine Vor - wuͤrfe, wenn dich die Geſchichte mit Bekuͤmmerniß und Grauen erfuͤllt.

Sie gingen ins Freie und wandelten durch einen gruͤnen Luſtwald, wo ſie ſich nieder ſetzten, worauf der Tannenhaͤuſer ſein Haupt im gruͤnen Graſe verbarg und unter lautem Schluchzen ſei - nem Freunde abgewandt die rechte Hand reichte, die dieſer zaͤrtlich druͤckte. Der truͤbſelige Pilgrim richtete ſich wieder auf, und begann ſeine Erzaͤh - lung auf folgende Weiſe:

Glaube mir, mein Theurer, daß manchem von uns ein boͤſer Geiſt von ſeiner Geburt an mitge - geben wird, der ihn durch das Leben dahin aͤng - ſtigt und ihn nicht ruhen laͤßt, bis er an das Ziel ſeiner ſchwarzen Beſtimmung gelangt iſt. So geſchahe mir, und mein ganzer Lebenslauf iſt nur ein dauerndes Geburtswehe, und mein Erwachen wird in der Hoͤlle ſein. Darum habe ich nun ſchon ſo viele muͤhſelige Schritte gethan, und ſo manche ſtehn mir noch auf meiner Pilgerſchaft bevor, ob ich vielleicht beim heiligen Vater zu Rom Vergebung erlangen moͤchte: vor ihm will ich dieſchwere225Der getreue Eckart.ſchwere Ladung meiner Suͤnden ablegen, oder im Druck erliegen und verzweifelnd ſterben.

Friedrich wollte ihn troͤſten, doch ſchien der Tannenhaͤuſer auf ſeine Reden nicht ſonderlich Acht zu geben, ſondern fuhr nach einer kleinen Weile mit folgenden Worten fort: Man hat ein altes Maͤhrchen, daß vor vielen Jahrhunderten ein Rit - ter mit dem Namen des getreuen Eckart gelebt habe, man erzaͤhlt, wie damals aus einem ſeltſa - men Berge ein Spielmann gekommen ſei, deſſen wunderbarliche Toͤne ſo tiefe Sehnſucht, ſo wilde Wuͤnſche in den Herzen aller Hoͤrenden auferweckt haben, daß ſie unwiderſtreblich den Klaͤngen nach - geriſſen worden, um ſich in jenem Gebirge zu ver - lieren. Die Hoͤlle hat damals ihre Porten den armen Menſchen weit aufgethan, und ſie mit lieb - licher Muſik zu ſich herein geſpielt. Ich hoͤrte als Knabe dieſe Erzaͤhlung oft und wurde nicht ſon - derlich davon geruͤhrt, doch waͤhrte es nicht lange, ſo erinnerte mich die ganze Natur, jedweder Klang, jedwede Blume an die Sage von dieſen herzergrei - fenden Toͤnen. Ich kann dir nicht ausdruͤcken, welche Wehmuth, welche unausſprechliche Sehn - ſucht mich ploͤtzlich ergriff, und wie in Banden hielt und fortfuͤhren wollte, wenn ich dem Zug der Wolken nachſahe, die lichte herrliche Blaͤue erblickte, die zwiſchen ihnen hervordrang, welche Erinnerun - gen Wieſ 'und Wald in meinem tiefſten Herzen erwecken wollten. Oft ergriff mich die Lieblichkeit und Fuͤlle der herrlichen Natur, daß ich die Arme ausſtreckte und wie mit Fluͤgeln hineinſtreben wollte,I. [15]226Erſte Abtheilung.um mich wie der Geiſt der Natur uͤber Berg und Thal auszugießen, und mich in Gras und Buͤ - ſchen allſeitig zu regen und die Fuͤlle des Seegens einzuathmen. Hatte mich am Tage die freie Land - ſchaft entzuͤckt, ſo aͤngſtigten mich in der Nacht dunkle Traumbilder und ſtellten ſich grauenhaft vor mich hin, als wenn ſie mir den Weg zu allem Le - ben verſperren wollten. Vor allen ließ ein Traum einen unausloͤſchlichen Eindruck in meinem Ge - muͤthe zuruͤck, ob ich gleich nicht die Bilder deut - lich wieder in meine Phantaſie zuruͤck rufen konnte. Mir duͤnkte, als waͤre ein großes Gewuͤhl in den Gaſſen, ich vernahm undeutliche Geſpraͤche durch - einander, darauf ging ich, es war dunkle Nacht, in das Haus meiner Eltern, und nur mein Vater war zugegen und krank. Am naͤchſten Morgen fiel ich meinen Eltern um den Hals, umarmte ſie inbruͤnſtig und druͤckte ſie an meine Bruſt, als wenn uns eine feindliche Gewalt von einander reißen wollte. Sollt 'ich dich verlieren? ſprach ich zum theuren Vater, o wie ungluͤcklich und einſam waͤre ich ohne dich in dieſer Welt! Sie troͤſteten mich, aber es gelang ihnen nicht, das dunkle Bild aus meinem Gedaͤchtniſſe zu entfernen.

Ich ward aͤlter, indem ich mich ſtets von andern Knaben meines Alters entfernt hielt. Oft ſtreifte ich einſam durch die Felder, und ſo geſchah es an einem Morgen, daß ich meinen Weg verlor, und in einem dunkeln Walde, um Huͤlfe rufend, herum irrte. Nachdem ich ſo lange Zeit vergeblich nach einem Wege geſucht hatte, ſtand ich endlich ploͤz -227Der getreue Eckart.lich vor einem eiſernen Gatterwerk, welches einen Garten umſchloß. Durch daſſelbe ſah ich ſchoͤne dunkle Gaͤnge vor mir, Fruchtbaͤume und Blu - men, voran ſtanden Roſengebuͤſche, die im Schein der Sonne glaͤnzten. Ein unnennbares Sehnen zu den Roſen ergriff mich, ich konnte mich nicht zuruͤck halten, ich draͤngte mich mit Gewalt durch die eiſernen Staͤbe, und war nun im Garten. Als - bald fiel ich nieder, umfaßte mit meinen Armen die Gebuͤſche, kuͤßte die Roſen auf ihren rothen Mund, und ergoß mich in Thraͤnen. Als ich mich eine Zeit in dieſer Entzuͤckung verloren hatte, kamen zwei Maͤdchen durch die Baumgaͤnge, die eine aͤlter, die andre von meinen Jahren. Ich erwachte aus meiner Betaͤubung, um mich einer hoͤheren Trunkenheit hinzugeben. Mein Auge fiel auf die juͤngere, und mir war in dieſem Augen - blicke, als wuͤrde ich von allen meinen unbekann - ten Schmerzen geheilt. Man nahm mich im Hauſe auf, die Eltern der beiden Kinder erkundigten ſich nach meinem Namen, und ſchickten meinem Vater Bothſchaft, der mich gegen Abend ſelber wieder abholte.

Von dieſem Tage hatte der ungewiſſe Lauf meines Lebens eine beſtimmte Richtung gewonnen, meine Gedanken eilten immer wieder nach dem Schloſſe und dem Maͤdchen zuruͤck, denn hier ſchien mir die Heimath aller meiner Wuͤnſche. Ich ver - gaß meiner gewohnten Freuden, ich vernachlaͤſſigte meine Geſpielen, und beſuchte oft den Garten, das Schloß und das Maͤdchen. Bald war ich dort228Erſte Abtheilung.wie ein Kind vom Hauſe, ſo daß man ſich nicht mehr verwunderte, wenn ich zugegen war, und Emma ward mir mit jedem Tage lieber. So ver - gingen mir die Stunden, und eine Zaͤrtlichkeit hatte mein Herz gefangen genommen, ohne daß ich es ſelber wußte. Meine ganze Beſtimmung ſchien mir nun erfuͤllt, ich hatte keine andere Wuͤn - ſche, als immer wieder zukommen, und wenn ich fortging, dieſelbe Ausſicht auf den kuͤnftigen Tag zu haben.

Um die Zeit ward ein junger Ritter in der Familie bekannt, der auch zugleich ein Freund mei - ner Eltern war, und ſich bald eben ſo, wie ich, an Emma ſchloß. Ich haßte ihn von dieſem Au - genblicke wie meinen Todfeind. Unbeſchreiblich aber waren meine Gefuͤhle, als ich wahrzunehmen glaubte, daß Emma ſeine Geſellſchaft der meinigen vorziehe. Von dieſer Stunde an war es, als wenn die Muſik, die mich bis dahin begleitet hatte, in meinem Buſen unterginge. Ich dachte nur Tod und Haß, wilde Gedanken erwachten in meiner Bruſt, wenn Emma nun auf der Laute die bekann - ten Geſaͤnge ſang. Auch verbarg ich meinen Wi - derwillen nicht, und bezeigte mich gegen meine El - tern, die mir Vorwuͤrfe machten, wild und wider - ſpenſtig.

Nun irrte ich in den Waͤldern und zwiſchen Felſen umher, gegen mich ſelber wuͤthend: den Tod meines Gegners hatte ich beſchloſſen. Der junge Ritter hielt nach einigen Monden bei den Eltern um meine Geliebte an, ſie wurde ihm zugeſagt. 229Der getreue Eckart.Was mich ſonſt wunderbar in der ganzen vollen Natur angezogen und gereizt hatte, hatte ſich mir in Emmas Bilde vereiniget; ich wußte, kannte und wollte kein anderes Gluͤck als ſie, ja ich hatte mir willkuͤhrlich vorgeſetzt, daß ihren Verluſt und mein Verderben ein und derſelbe Tag herbei fuͤhren ſolle.

Meine Eltern graͤmten ſich uͤber meine Ver - wilderung, meine Mutter war krank geworden, aber es ruͤhrte mich nicht, ich kuͤmmerte mich wenig um ihren Zuſtand, und ſah ſie nur ſelten. Der Hochzeitstag meines Feindes ruͤckte heran, und mit ihm wuchs meine Angſt, die mich durch die Waͤl - der und uͤber die Berge trieb. Ich verwuͤnſchte Emma und mich mit den graͤßlichſten Fluͤchen. Um die Zeit hatte ich keinen Freund, kein Menſch wollte ſich meiner annehmen, weil mich alle verloren gaben.

Die ſchreckliche Nacht vor dem Vermaͤhlungs - tage brach heran. Ich hatte mich unter Klippen verirrt und hoͤrte unter mir die Waldſtroͤme brau - ſen, oft erſchrack ich vor mir ſelber. Als es Mor - gen war, ſah ich meinen Feind von den Bergen hernieder ſteigen, ich fiel ihn mit beſchimpfenden Reden an, er vertheidigte ſich, wir griffen zu den Schwerdtern, und bald ſank er unter meinen wuͤ - thenden Hieben nieder.

Ich eilte fort, ich ſah mich nicht nach ihm um, aber ſeine Begleiter trugen den Leichnam fort. Nachts ſchwaͤrmte ich um die Wohnung, die meine Emma einſchloß, und nach wenigen Tagen ver - nahm ich im benachbarten Kloſter Todtengelaͤute230Erſte Abtheilung.und den Grabgeſang der Nonnen. Ich fragte: man ſagte mir, daß Fraͤulein Emma aus Gram uͤber den Tod ihres Braͤutigams geſtorben ſei.

Ich wußte nicht zu bleiben, ich zweifelte, ob ich lebe, ob alles Wahrheit ſey. Ich eilte zuruͤck zu meinen Eltern, und kam in der folgenden Nacht ſpaͤt in die Stadt, in der ſie wohnten. Alles war in Unruhe, Pferde und Ruͤſtwagen erfuͤllten die Straßen, Lanzenknechte tummelten ſich durchein - ander und ſprachen in verwirrten Reden: es war gerade an dem, daß der Kaiſer einen Feldzug gegen ſeine Feinde unternehmen wollte. Ein einſames Licht brannte in der vaͤterlichen Wohnung als ich herein trat; eine druͤckende Beklemmung lag auf meiner Bruſt. Auf mein Anklopfen kommt mir mein Vater ſelbſt mit leiſem bedaͤchtigen Schritte entgegen; ſogleich erinnerte ich mich des alten Trau - mes aus meinen Kinderjahren, und fuͤhle mit innig - ſter Bewegung, daß es daſſelbe ſey, was ich nun erlebe. Ich bin beſtuͤrzt, ich frage: Warum, Va - ter, ſeid Ihr ſo ſpaͤt noch auf? Er fuͤhrt mich hinein und ſpricht: Ich muß wohl wachen, denn deine Mutter iſt ja nun auch todt.

Die Worte fielen wie Blitze in meine Seele. Er ſetzte ſich bedaͤchtig nieder, ich mich an ſeine Seite, die Leiche lag auf einem Bette und war mit Tuͤchern ſeltſam zugehaͤngt. Mein Herz wollte zerſpringen. Ich halte Wache, ſprach der Alte, denn meine Gattin ſitzt noch immer neben mir. Meine Sinne vergingen, ich heftete meine Augen in einen Winkel, und nach kurzer Weile regte es231Der getreue Eckart.ſich wie ein Dunſt, es wallte und wogte, und die bekannte Bildung meiner Mutter zog ſich ſichtbar - lich zuſammen, die nach mir mit ernſten Mienen ſchaute. Ich wollte fort, ich konnte nicht, denn die muͤtterliche Geſtalt winkte und mein Vater hielt mich feſt in den Armen, welcher mir leiſe zufluͤſterte: ſie iſt aus Gram um mich geſtorben. Ich umfaßte ihn mit aller kindlichen Bruͤnſtigkeit, ich vergoß brennende Thraͤnen an ſeiner Bruſt. Er kuͤßte mich, und mir ſchauderte, als ſeine Lip - pen kalt wie die Lippen eines Todten mich beruͤhr - ten. Wie iſt dir, Vater? rief ich mit Entſetzen aus. Er zuckte ſchmerzhaft in ſich zuſammen und antwortete nicht. In wenigen Augenblicken fuͤhlte ich ihn kaͤlter werden, ich ſuchte nach ſeinem Her - zen, es ſtand ſtill, und im wehmuͤthigen Wahn - ſinn hielt ich die Leiche in meiner Umarmung feſt eingeklammert.

Wie ein Schein, gleich der erſten Morgenroͤ - the, flog es durch das dunkle Gemach, da ſaß der Geiſt meines Vaters neben dem Bilde meiner Mut - ter, und beide ſahen nach mir mitleidig hin, wie ich die theure Leiche feſthielt. Seitdem war es um mein Bewußtſein geſchehn, wahnſinnig und kraft - los fanden mich die Diener am Morgen in der Todtenkammer.

Bis hieher war der Tannenhaͤuſer mit ſeiner Erzaͤhlung gekommen, indem ihm ſein Freund Frie - drich mit dem groͤßten Erſtaunen zuhoͤrte, als er ploͤtzlich abbrach und mit dem Ausdruck des groͤßten Schmerzes inne hielt. Friedrich war verlegen und232Erſte Abtheilung.nachdenkend, die beiden Freunde gingen in die Burg zuruͤck, doch blieben ſie in einem Zimmer allein.

Nachdem der Tannenhaͤuſer eine Weile ge - ſchwiegen hatte, fing er wieder an: Immer noch erſchuͤttert mich das Andenken dieſer Stunden tief, und ich begreife nicht, wie ich ſie habe uͤberleben koͤnnen. Nunmehr ſchien mir die Erde und das Leben voͤllig ausgeſtorben und verwuͤſtet, ich ſchleppte mich ohne Gedanken und Wunſch von einem Tage zum andern hinuͤber. Dann gerieth ich in eine Ge - ſellſchaft von wilden jungen Leuten, und in Trunk und Wolluſt ſuchte ich den pochenden boͤſen Geiſt in mir zu beſaͤnftigen. Die alte brennende Unge - duld erwachte in meiner Bruſt von neuem, und ich konnte mich und meine Wuͤnſche ſelber nicht verſtehn. Ein Wuͤſtling, Rudolf genannt, war mein Vertrauter geworden, der aber immer meine Klagen wie meine Sehnſucht verlachte. So mochte ein Jahr verfloſſen ſein, als meine Angſt bis zur Verzweiflung ſtieg, es draͤngte mich weiter, weiter, hinein in eine unbekannte Ferne, ich haͤtte mich von den hohen Bergen hinab in den Glanz der Wieſen - farben, in das kuͤhle Gebrauſe der Stroͤme ſtuͤr - zen moͤgen, um den gluͤhenden Durſt der Seele, die Unerſaͤttlichkeit zu loͤſchen; ich ſehnte mich nach der Vernichtung und wieder wie goldne Morgen - wolken ſchwebten Hofnung und Lebensluſt vor mir hin und lockten mich nach. Da kam ich auf den Gedanken, daß die Hoͤlle nach mir luͤſtern ſei, und mir ſo Schmerzen wie Freuden entgegen ſende, um mich zu verderben, daß ein tuͤckiſcher Geiſt alle233Der getreue Eckart.meine Seelenkraͤfte nach der dunkeln Behauſung richte und mich hinunter zuͤgle. Da gab ich mich gefangen, um der Qualen, der wechſelnden Entzuͤ - ckungen los zu werden. In der dunkelſten Nacht beſtieg ich einen hohen Berg und rief mit allen Herzenskraͤften den Feind Gottes und der Men - ſchen zu mir, ſo daß ich fuͤhlte, er wuͤrde mir ge - horchen muͤſſen. Meine Worte zogen ihn herbei, er ſtand ploͤtzlich neben mir und ich empfand kein Grauen. Da ging im Geſpraͤch mit ihm der Glaube an jenen wunderbaren Berg von neuem in mir auf, und er lehrte mich ein Lied, das mich von ſelbſt auf die rechte Straße dahin fuͤhren wuͤrde. Er verſchwand, und ich war zum erſten - mal, ſeit ich lebte, mit mir allein, denn nun ver - ſtand ich meine abirrenden Gedanken, die aus dem Mittelpunkte heraus ſtrebten, um eine neue Welt zu finden. Ich machte mich auf den Weg, und das Lied, das ich mit lauter Stimme ſang, fuͤhrte mich uͤber wunderbare Einoͤden fort, und alles uͤbrige in mir und außer mir hatte ich vergeſſen; es trug mich wie auf großen Fluͤgeln der Sehn - ſucht nach meiner Heimath, ich wollte dem Schat - ten entfliehen, der uns auch aus dem Glanze noch draͤut, den wilden Toͤnen, die noch in der zarte - ſten Muſik auf uns ſchelten. So kam ich in einer Nacht, als der Mond hinter dunklen Wolken matt hervor ſchien, vor dem Berge an. Ich ſetzte mein Lied fort, und eine Rieſengeſtalt ſtand da und winkte mich mit ihrem Stabe zuruͤck. Ich ging naͤher. Ich bin der getreue Eckart, rief die uͤbermenſch -234Erſte Abtheilung.liche Bildung, ich bin von Gottes Guͤte hieher zum Waͤchter geſetzt, um des Menſchen boͤſen Fuͤr - witz zuruͤck zu halten. Ich drang hindurch.

Wie in einem unterirdiſchen Bergwerke war nun mein Weg. Der Steg war ſo ſchmal, daß ich mich hindurch draͤngen mußte, ich vernahm den Klang der verborgenen wandernden Gewaͤſſer, ich hoͤrte die Geiſter, die die Erze und Gold und Silber bildeten, um den Menſchengeiſt zu locken, ich fand die tiefen Klaͤnge und Toͤne hier einzeln und verborgen, aus denen die irdiſche Muſik ent - ſteht; je tiefer ich ging, je mehr fiel es wie ein Schleier vor meinem Angeſichte hinweg.

Ich ruhte aus und ſah andre Menſchengeſtal - ten heran wanken, mein Freund Rudolf war un - ter ihnen; ich begriff gar nicht, wie ſie mir vor - bei kommen wuͤrden, da der Weg ſo ſehr enge war, aber ſie gingen mitten durch die Steine hindurch, ohne daß ſie mich gewahr wurden.

Alsbald vernahm ich Muſik, aber eine ganz andre, als bis dahin zu meinem Gehoͤr gedrungen war, meine Geiſter in mir arbeiteten den Toͤnen entgegen; ich kam ins Freie, und wunderhelle Far - ben glaͤnzten mich von allen Seiten an. Das war es, was ich immer gewuͤnſcht hatte. Dicht am Herzen fuͤhlte ich die Gegenwart der geſuchten, endlich gefundenen Herrlichkeit, und in mich ſpiel - ten die Entzuͤckungen mit allen ihren Kraͤften hin - ein. So kam mir das Gewimmel der frohen heid - niſchen Goͤtter entgegen, Frau Venus an ihrer Spitze, alle begruͤßten mich; ſie ſind dorthin ge -235Der getreue Eckart.bannt von der Gewalt des Allmaͤchtigen, und ihr Dienſt iſt von der Erde vertilgt; nun wirken ſie von dort in ihrer Heimlichkeit.

Alle Freuden, die die Erde beut, genoß und ſchmeckte ich hier in ihrer vollſten Bluͤthe, uner - ſaͤttlich war mein Buſen und unendlich der Genuß. Die beruͤhmten Schoͤnheiten der alten Welt waren zugegen, was mein Gedanke wuͤnſchte war in mei - nem Beſitz, eine Trunkenheit folgte der andern, mit jedem Tage ſchien um mich her die Welt in bunteren Farben zu brennen. Stroͤme des koͤſtlich - ſten Weines loͤſchten den grimmen Durſt, und die holdſeligſten Geſtalten gaukelten dann in der Luft, ein Gewimmel von nackten Maͤdchen umgab mich einladend, Duͤfte ſchwangen ſich bezaubernd um mein Haupt, wie aus dem innerſten Herzen der ſeligſten Natur erklang eine Muſik, und kuͤhlte mit ihren friſchen Wogen der Begierde wilde Luͤ - ſternheit, ein Grauen, das ſo heimlich uͤber die Blumenfelder ſchlich, erhoͤhte den entzuͤckenden Rauſch. Wie viele Jahre ſo verſchwunden ſind, weiß ich nicht zu ſagen, denn hier gab es keine Zeit und keine Unterſchiede, in den Blumen brannte der Maͤdchen und der Luͤſte Reiz, in den Koͤrpern der Weiber bluͤhte der Zauber der Blumen, die Farben fuͤhrten hier eine andre Sprache, die Toͤne ſagten neue Worte, die ganze Sinnenwelt war hier in Einer Bluͤthe feſt gebunden, und die Geiſter drinnen feyerten ewig einen bruͤnſtigen Triumph.

Doch wie es geſchah kann ich ſo wenig ſagen wie faſſen, daß mich nun in aller Suͤndenherrlich -236Erſte Abtheilung.keit der Trieb nach der Ruhe, der Wunſch zur alten unſchuldigen Erde mit ihren duͤrftigen Freu - den eben ſo ergriff, wie mich vormals die Sehn - ſucht hieher gedraͤngt hatte. Es zog mich an, wie - der jenes Leben zu leben, das die Menſchen in aller Bewußtloſigkeit fuͤhren, mit Leiden und ab - wechſelnden Freuden, ich war von dem Glanz ge - ſaͤttigt und ſuchte gern die vorige Heimath wieder. Eine unbegreifliche Gnade des Allmaͤchtigen ver - ſchaffte mir die Ruͤckkehr, ich befand mich ploͤtzlich wieder in der Welt, und denke nun meinen ſuͤn - digen Buſen vor den Stuhl unſers allerheiligſten Vaters in Rom auszuſchuͤtten, daß er mir ver - gebe und ich den uͤbrigen Menſchen wieder zuge - zaͤhlt werde.

Der Tannenhaͤuſer ſchwieg ſtill, und Friedrich betrachtete ihn lange mit einem pruͤfenden Blicke, dann nahm er die Hand ſeines Freundes und ſagte: Immer noch kann ich nicht von meinem Erſtaunen zuruͤck kommen, auch kann ich deine Erzaͤhlung nicht begreifen, denn es iſt nicht anders moͤglich, als daß alles, was du mir vorgetragen haſt, nur eine Einbildung von dir ſein muß. Denn noch lebt Emma, ſie iſt meine Gattin, und nie haben wir gekaͤmpft, oder uns gehaßt, wie du glaubſt, doch verſchwandeſt du noch vor unſrer Hochzeit aus der Gegend, auch haſt du mir damals nie mit einem einzigen Worte geſagt, daß Emma dir lieb ſei.

Er nahm hierauf den verwirrten Tannenhaͤuſer bei der Hand und fuͤhrte ihn in ein anderes Zim - mer zu ſeiner Gattin, die eben von einem Beſuch237Der getreue Eckart.ihrer Schweſter, bei der ſie einige Tage verweilt, auf das Schloß zuruͤck gekommen war. Der Tan - nenhaͤuſer war ſtumm und nachdenkend, er beſchaute ſtill die Bildung und das Antlitz der Frau, dann ſchuͤttelte er mit dem Kopfe und ſagte: bei Gott, das iſt noch die ſeltſamſte von allen meinen Bege - benheiten!

Friedrich erzaͤhlte ihm im Zuſammenhange alles, was ihm ſeitdem zugeſtoßen war, und ſuchte ſeinem Freunde deutlich zu machen, daß ihn ein ſeltſamer Wahnſinn nur ſeit manchem Jahre beaͤng - ſtigt habe. Ich weiß recht gut wie es iſt, rief der Tannenhaͤuſer aus, jetzt bin ich getaͤuſcht und wahnſinnig, die Hoͤlle will mir dies Blendwerk vor - gaukeln, damit ich nicht nach Rom gehn und mei - ner Suͤnden ledig werden ſoll.

Emma ſuchte ihn an ſeine Kindheit zu erin - nern, aber der Tannenhaͤuſer ließ ſich nicht uͤberre - den. So reiſte er ſchnell ab, um in kurzer Zeit in Rom vom Papſte Abſolution zu erhalten.

Friedrich und Emma ſprachen noch oft uͤber den ſeltſamen Pilgrim. Einige Monden waren verfloſſen, als der Tannenhaͤuſer bleich und abge - zehrt, in zerriſſenen Wallfahrtskleidern und barfuß in Friedrichs Gemach trat, indem dieſer noch ſchlief. Er kuͤßte ihn auf den Mund und ſagte dann ſchnell die Worte: Der heilige Vater will und kann mir nicht vergeben, ich muß in meinen alten Wohnſitz zuruͤck. Hierauf entfernte er ſich eilig.

Friedrich ermunterte ſich, der ungluͤckliche Pil - ger war ſchon verſchwunden. Er ging nach dem238Erſte Abtheilung.Zimmer ſeiner Gattin, und die Weiber ſtuͤrzten ihm mit Geheul entgegen; der Tannenhaͤuſer war hier fruͤh am Tage herein gedrungen und hatte die Worte geſagt: dieſe ſoll mich nicht in meinem Laufe ſtoͤren! Man fand Emma ermordet.

Noch konnte ſich Friedrich nicht beſinnen, als es ihn wie Entſetzen befiel; er konnte nicht ruhn, er rannte ins Freie. Man wollte ihn zuruͤck hal - ten, aber er erzaͤhlte, wie ihm der Pilgrim einen Kuß auf die Lippen gegeben habe, und wie dieſer Kuß ihn brenne, bis er jenen wieder gefunden. So rannte er in unbegreiflicher Eile fort, den wunder - lichen Berg und den Tannenhaͤuſer zu ſuchen, und man ſah ihn ſeitdem nicht mehr. Die Leute ſag - ten, wer einen Kuß von einem aus dem Berge bekommen, der koͤnne der Lockung nicht widerſtehn, die ihn auch mit Zauber-Gewalt in die unterirdi - ſchen Kluͤfte reiße.

Alle waren nach geendigter Erzaͤhlung ſtill und in ſich gekehrt, worauf Manfred ſagte: ohne alle Vorbereitung und einleitende Vorrede will ich ſogleich die Vorleſung meines Werkes begin - nen, das, wie ich wohl nicht erſt zu verſichern brauche, Original und eigne Erfindung iſt. Da unſre ſchoͤne Clara auf die Originalitaͤt ſo viel giebt, ſo hoffe ich, daß ſie auch dieſem Maͤhr - chen ihren Beifall nicht wird verſagen koͤnnen. Er las hierauf folgende Erzaͤhlung.

239Der Runenberg.

Der Runenberg.

Ein junger Jaͤger ſaß im innerſten Gebuͤrge nach - denkend bei einem Vogelheerde, indem das Rau - ſchen der Gewaͤſſer und des Waldes in der Ein - ſamkeit toͤnte. Er bedachte ſein Schickſal, wie er ſo jung ſey, und Vater und Mutter, die wohl - bekannte Heimath, und alle Befreundeten ſeines Dorfes verlaſſen hatte, um eine fremde Umgebung zu ſuchen, um ſich aus dem Kreiſe der wiederkeh - renden Gewoͤhnlichkeit zu entfernen, und er blickte mit einer Art von Verwunderung auf, daß er ſich nun in dieſem Thale, in dieſer Beſchaͤftigung wie - der fand. Große Wolken zogen durch den Him - mel und verloren ſich hinter den Bergen, Voͤgel ſangen aus den Gebuͤſchen und ein Wiederſchall antwortete ihnen. Er ſtieg langſam den Berg hin - unter, und ſetzte ſich an den Rand eines Baches nieder, der uͤber vorragendes Geſtein ſchaͤumend murmelte. Er hoͤrte auf die wechſelnde Melodie des Waſſers, und es ſchien, als wenn ihm die Wo - gen in unverſtaͤndlichen Worten tauſend Dinge ſag - ten, die ihm ſo wichtig waren, und er mußte ſich innig betruͤben, daß er ihre Reden nicht verſtehen konnte. Wieder ſah er dann umher und ihm duͤnkte, er ſey froh und gluͤcklich; ſo faßte er wie - der neuen Muth und ſang mit lauter Stimme einen Jaͤgergeſang.

240Erſte Abtheilung.
Froh und luſtig zwiſchen Steinen
Geht der Juͤngling auf die Jagd,
Seine Beute muß erſcheinen
In den gruͤnlebendgen Hainen,
Sucht 'er auch bis in die Nacht.
Seine treuen Hunde bellen
Durch die ſchoͤne Einſamkeit,
Durch den Wald die Hoͤrner gellen,
Daß die Herzen muthig ſchwellen:
O du ſchoͤne Jaͤgerzeit!
Seine Heimath ſind die Kluͤfte,
Alle Baͤume gruͤßen ihn,
Rauſchen ſtrenge Herbſtesluͤfte
Find't er Hirſch und Reh, die Schluͤfte
Muß er jauchzend dann durchziehn.
Laß dem Landmann ſeine Muͤhen
Und dem Schiffer nur ſein Meer
Keiner ſieht in Morgens Fruͤhen
So Aurora's Augen gluͤhn,
Haͤngt der Thau am Graſe ſchwer,
Als wer Jagd, Wild, Waͤlder kennet
Und Diana lacht ihn an,
Einſt das ſchoͤnſte Bild entbrennet
Die er ſeine Liebſte nennet:
O begluͤckter Jaͤgersmann!

Waͤhrend dieſes Geſanges war die Sonne tie - fer geſunken und breite Schatten fielen durch das enge Thal. Eine kuͤhlende Daͤmmerung ſchlich uͤber den Boden weg, und nur noch die Wipfel der Baͤume, wie die runden Bergſpitzen waren vom Schein des Abends vergoldet. Chriſtians Gemuͤthward241Der Runenberg.ward immer truͤbſeliger, er mochte nicht nach ſei - nem Vogelheerde zuruͤck kehren, und dennoch mochte er nicht bleiben; es duͤnkte ihm ſo einſam und er ſehnte ſich nach Menſchen. Jetzt wuͤnſchte er ſich die alten Buͤcher, die er ſonſt bei ſeinem Vater geſehn, und die er niemals leſen moͤgen, ſo oft ihn auch der Vater dazu angetrieben hatte; es fie - len ihm die Scenen ſeiner Kindheit ein, die Spiele mit der Jugend des Dorfes, ſeine Bekanntſchaften unter den Kindern, die Schule, die ihm ſo druͤk - kend geweſen war, und er ſehnte ſich in alle dieſe Umgebungen zuruͤck, die er freiwillig verlaſſen hatte, um ſein Gluͤck in unbekannten Gegenden, in Ber - gen, unter fremden Menſchen, in einer neuen Be - ſchaͤftigung zu finden. Indem es finſtrer wurde, und der Bach lauter rauſchte, und das Gefluͤgel der Nacht ſeine irre Wanderung mit umſchweifen - dem Fluge begann, ſaß er noch immer mißvergnuͤgt und in ſich verſunken; er haͤtte weinen moͤgen, und er war durchaus unentſchloſſen, was er thun und vornehmen ſolle. Gedankenlos zog er eine hervor - ragende Wurzel aus der Erde, und ploͤtzlich hoͤrte er ſchreckend ein dumpfes Winſeln im Boden, das ſich unterirdiſch in klagenden Toͤnen fortzog, und erſt in der Ferne wehmuͤthig verſcholl. Der Ton durchdrang ſein innerſtes Herz, er ergriff ihn, als wenn er unvermuthet die Wunde beruͤhrt habe, an der der ſterbende Leichnam der Natur in Schmer - zen verſcheiden wolle. Er ſprang auf und wollte entfliehen, denn er hatte wohl ehemals von der ſeltſamen Alrunenwurzel gehoͤrt, die beim Ausrei -I. [16]242Erſte Abtheilung.ßen ſo herzdurchſchneidende Klagetoͤne von ſich gebe, daß der Menſch von ihrem Gewinſel wahnſinnig werden muͤſſe. Indem er fortgehen wollte, ſtand ein fremder Mann hinter ihm, welcher ihn freund - lich anſah und fragte, wohin er wolle. Chriſtian hatte ſich Geſellſchaft gewuͤnſcht, und doch erſchrack er von neuem vor dieſer freundlichen Gegenwart. Wohin ſo eilig? fragte der Fremde noch einmal. Der junge Jaͤger ſuchte ſich zu ſammeln und er - zaͤhlte, wie ihm ploͤtzlich die Einſamkeit ſo ſchreck - lich vorgekommen ſey, daß er ſich habe retten wol - len, der Abend ſey ſo dunkel, die gruͤnen Schat - ten des Waldes ſo traurig, der Bach ſpreche in lauter Klagen, die Wolken des Himmels zoͤgen ſeine Sehnſucht jenſeit den Bergen hinuͤber. Ihr ſeyd noch jung, ſagte der Fremde, und koͤnnt wohl die Strenge der Einſamkeit noch nicht ertragen, ich will euch begleiten, denn ihr findet doch kein Haus oder Dorf im Umkreis einer Meile, wir moͤgen unterwegs etwas ſprechen und uns erzaͤhlen, ſo verliert ihr die truͤben Gedanken; in einer Stunde kommt der Mond hinter den Bergen hervor, ſein Licht wird dann wohl auch eure Seele lichter machen.

Sie gingen fort, und der Fremde duͤnkte dem Juͤnglinge bald ein alter Bekannter zu ſeyn. Wie ſeyd ihr in dieſes Gebuͤrge gekommen, fragte je - ner, ihr ſeid hier, eurer Sprache nach, nicht ein - heimiſch. Ach daruͤber, ſagte der Juͤngling, ließe ſich viel ſagen, und doch iſt es wieder keiner Rede, keiner Erzaͤhlung werth; es hat mich wie mit frem - der Gewalt aus dem Kreiſe meiner Eltern und243Der Runenberg.Verwandten hinweg genommen, mein Geiſt war ſeiner ſelbſt nicht maͤchtig, wie ein Vogel, der in einem Netz gefangen iſt und ſich vergeblich ſtraͤubt, ſo verſtrickt war meine Seele in ſeltſamen Vor - ſtellungen und Wuͤnſchen. Wir wohnten weit von hier in einer Ebene, in der man rund umher kei - nen Berg, kaum eine Anhoͤhe erblickte; wenige Baͤume ſchmuͤckten den gruͤnen Plan, aber Wie - ſen, fruchtbare Kornfelder und Gaͤrten zogen ſich hin, ſo weit das Auge reichen konnte, ein großer Fluß glaͤnzte wie ein maͤchtiger Geiſt an den Wie - ſen und Feldern vorbei. Mein Vater war Gaͤrt - ner im Schloß und hatte vor, mich ebenfalls zu ſeiner Beſchaͤftigung zu erziehen; er liebte die Pflanzen und Blumen uͤber alles und konnte ſich tagelang unermuͤdet mit ihrer Wartung und Pflege abgeben. Ja er ging ſo weit, daß er behauptete, er koͤnne faſt mit ihnen ſprechen; er lerne von ih - rem Wachsthum und Gedeihen, ſo wie von der verſchiedenen Geſtalt und Farbe ihrer Blaͤtter. Mir war die Gartenarbeit zuwider, um ſo mehr, als mein Vater mir zuredete, oder gar mit Drohun - gen mich zu zwingen verſuchte. Ich wollte Fiſcher werden, und machte den Verſuch, allein das Leben auf dem Waſſer ſtand mir auch nicht an; ich wurde dann zu einem Handelsmann in die Stadt gege - ben, und kam auch von ihm bald in das vaͤterliche Haus zuruͤck. Auf einmal hoͤrte ich meinen Vater von Gebuͤrgen erzaͤhlen, die er in ſeiner Jugend bereiſet hatte, von den unterirdiſchen Bergwerken und ihren Arbeitern, von Jaͤgern und ihrer Be -244Erſte Abtheilung.ſchaͤftigung, und ploͤtzlich erwachte in mir der be - ſtimmteſte Trieb, das Gefuͤhl, daß ich nun die fuͤr mich beſtimmte Lebensweiſe gefunden habe. Tag und Nacht ſann ich und ſtellte mir hohe Berge, Kluͤfte und Tannenwaͤlder vor; meine Einbildung erſchuf ſich ungeheure Felſen, ich hoͤrte in Gedan - ken das Getoͤſe der Jagd, die Hoͤrner, und das Geſchrei der Hunde und des Wildes; alle meine Traͤume waren damit angefuͤllt und daruͤber hatte ich nun weder Raſt noch Ruhe mehr. Die Ebene, das Schloß, der kleine beſchraͤnkte Garten meines Vaters mit den geordneten Blumenbeeten, die enge Wohnung, der weite Himmel, der ſich ringsum ſo traurig ausdehnte, und keine Hoͤhe, keinen er - habenen Berg umarmte, alles ward mir noch be - truͤbter und verhaßter. Es ſchien mir, als wenn alle Menſchen um mich her in der bejammerns - wuͤrdigſten Unwiſſenheit lebten, und daß alle eben ſo denken und empfinden wuͤrden, wie ich, wenn ihnen dieſes Gefuͤhl ihres Elendes nur ein einziges mal in ihrer Seele aufginge. So trieb ich mich um, bis ich an einem Morgen den Entſchluß faßte, das Haus meiner Eltern auf immer zu verlaſſen. Ich hatte in meinem Buche Nachrichten vom naͤch - ſten großen Gebirge gefunden, Abbildungen einiger Gegenden, und darnach richtete ich meinen Weg ein. Es war im erſten Fruͤhlinge und ich fuͤhlte mich durchaus froh und leicht. Ich eilte, um nur recht bald das Ebene zu verlaſſen, und an einem Abende, ſah ich in der Ferne die dunkeln Umriſſe des Gebirges vor mir liegen. Ich konnte in der245Der Runenberg.Herberge kaum ſchlafen, ſo ungeduldig war ich, die Gegend zu betreten, die ich fuͤr meine Heimath anſah; mit dem Fruͤheſten war ich munter und wieder auf der Reiſe. Nachmittags befand ich mich ſchon unter den vielgeliebten Bergen, und wie ein Trunkner ging ich, ſtand dann eine Weile, ſchaute ruͤckwaͤrts, und berauſchte mich in allen mir fremden und doch ſo wohlbekannten Gegen - ſtaͤnden. Bald verlor ich die Ebene hinter mir aus dem Geſichte, die Waldſtroͤme rauſchten mir entgegen, Buchen und Eichen brauſten mit beweg - tem Laube von ſteilen Abhaͤngen herunter; mein Weg fuͤhrte mich ſchwindlichten Abgruͤnden voruͤber, blaue Berge ſtanden groß und ehrwuͤrdig im Hin - tergrunde. Eine neue Welt war mir aufgeſchloſ - ſen, ich wurde nicht muͤde. So kam ich nach eini - gen Tagen, indem ich einen großen Theil des Ge - birges durchſtreift hatte, zu einem alten Foͤrſter, der mich auf mein inſtaͤndiges Bitten zu ſich nahm, um mich in der Kunſt der Jaͤgerei zu unterrichten. Jetzt bin ich ſeit drei Monaten in ſeinen Dien - ſten. Ich nahm von der Gegend, in der ich mei - nen Aufenthalt hatte, wie von einem Koͤnigreiche Beſitz; ich lernte jede Klippe, jede Schluft des Gebirges kennen, ich war in meiner Beſchaͤftigung, wenn wir am fruͤhen Morgen nach dem Walde zogen, wenn wir Baͤume im Forſte faͤllten, wenn ich mein Auge und meine Buͤchſe uͤbte, und die treuen Gefaͤhrten, die Hunde zu ihren Geſchicklich - keiten abrichtete, uͤberaus gluͤcklich. Jetzt ſitze ich ſeit acht Tagen hier oben auf dem Vogelheerde,246Erſte Abtheilung.im einſamſten Gebirge, und am Abend wurde mir heut ſo traurig zu Sinne, wie noch niemals in meinem Leben, ich kam mir ſo verloren, ſo ganz ungluͤckſelig vor, und noch kann ich mich nicht von dieſer truͤben Stimmung erhohlen.

Der fremde Mann hatte aufmerkſam zuge - hoͤrt, indem beide durch einen dunkeln Gang des Waldes gewandert waren. Jetzt traten ſie ins Freie, und das Licht des Mondes, der oben mit ſeinen Hoͤrnern uͤber der Bergſpitze ſtand, begruͤßte ſie freundlich: in unkenntlichen Formen und vielen geſonderten Maſſen, die der bleiche Schimmer wie - der raͤthſelhaft vereinigte, lag das geſpaltene Ge - birge vor ihnen, im Hintergrunde ein ſteiler Berg, auf welchem uralte verwitterte Ruinen ſchauerlich im weißen Lichte ſich zeigten. Unſer Weg trennt ſich hier, ſagte der Fremde, ich gehe in dieſe Tiefe hinunter, dort, bei jenem alten Schacht iſt meine Wohnung: die Erze ſind meine Nachbarn, die Berggewaͤſſer erzaͤhlen mir Wunderdinge in der Nacht, dahin kannſt du mir doch nicht folgen. Aber ſiehe dort den Runenberg mit ſeinem ſchrof - fen Mauerwerke, wie ſchoͤn und anlockend das alte Geſtein zu uns herblickt! Biſt du niemals dorten geweſen? Niemals, ſagte der junge Chriſtian, ich hoͤrte einmal meinen alten Foͤrſter wunderſame Dinge von dieſem Berge erzaͤhlen, die ich thoͤricht genug wieder vergeſſen habe, aber ich erinnere mich, daß mir an jenem Abend grauenhaft zu Muthe war. Ich moͤchte wohl einmal die Hoͤhe beſteigen, denn die Lichter ſind dort am ſchoͤnſten, das Gras muß247Der Runenberg.dorten recht gruͤn ſeyn, die Welt umher recht ſelt - ſam, auch mag ſichs wohl treffen, daß man noch manch Wunder aus der alten Zeit da oben faͤnde.

Es kann faſt nicht fehlen, ſagte jener, wer nur zu ſuchen verſteht, weſſen Herz recht innerlich hingezogen wird, der findet uralte Freunde dort und Herrlichkeiten, alles, was er am eifrigſten wuͤnſcht. Mit dieſen Worten ſtieg der Fremde ſchnell hinunter, ohne ſeinem Gefaͤhrten Lebewohl zu ſagen, bald war er im Dickicht des Gebuͤſches verſchwunden, und kurz nachher verhallte auch der Tritt ſeiner Fuͤße. Der junge Jaͤger war nicht verwundert, er verdoppelte nur ſeine Schritte nach dem Runenberge zu, alles winkte ihm dorthin, die Sterne ſchienen dorthin zu leuchten, der Mond wies mit einer hellen Straße nach den Truͤmmern, lichte Wolken zogen hinauf, und aus der Tiefe redeten ihm Gewaͤſſer und rauſchende Waͤlder zu und ſprachen ihm Muth ein. Seine Schritte waren wie befluͤgelt, ſein Herz klopfte, er fuͤhlte eine ſo große Freudigkeit in ſeinem Innern, daß ſie zu einer Angſt empor wuchs. Er kam in Gegenden, in denen er nie geweſen war, die Fel - ſen wurden ſteiler, das Gruͤn verlor ſich, die kah - len Waͤnde rieſen ihn wie mit zuͤrnenden Stim - men an, und ein einſam klagender Wind jagte ihn vor ſich her. So eilte er ohne Stillſtand fort, und kam ſpaͤt nach Mitternacht auf einen ſchma - len Fußſteig, der hart an einem Abgrunde hinlief. Er achtete nicht auf die Tiefe, die unter ihm gaͤhnte und ihn zu verſchlingen drohte, ſo ſehr ſpornten248Erſte Abtheilung.ihn irre Vorſtellungen und unverſtaͤndliche Wuͤn - ſche. Jetzt zog ihn der gefaͤhrliche Weg neben eine hohe Mauer hin, die ſich in den Wolken zu verlieren ſchien; der Steig ward mit jedem Schritte ſchmaler, und der Juͤngling mußte ſich an vorra - genden Steinen feſt halten, um nicht hinunter zu ſtuͤrzen. Endlich konnte er nicht weiter, der Pfad endigte unter einem Fenſter, er mußte ſtill ſtehen und wußte jetzt nicht, ob er umkehren, ob er blei - ben ſolle. Ploͤtzlich ſah er ein Licht, das ſich hin - ter dem alten Gemaͤuer zu bewegen ſchien. Er ſah dem Scheine nach, und entdeckte, daß er in einen alten geraͤumigen Saal blicken konnte, der wunderlich verziert von mancherley Geſteinen und Kryſtallen in vielfaͤltigen Schimmern funkelte, die ſich geheimnißvoll von dem wandelnden Lichte durch - einander bewegten, welches eine große weibliche Geſtalt trug, die ſinnend im Gemache auf und nie - der ging. Sie ſchien nicht den Sterblichen anzu - gehoͤren, ſo groß, ſo maͤchtig waren ihre Glieder, ſo ſtreng ihr Geſicht, aber doch duͤnkte dem ent - zuͤckten Juͤnglinge, daß er noch niemals ſolche Schoͤnheit geſehn oder geahndet habe. Er zitterte und wuͤnſchte doch heimlich, daß ſie zum Fenſter treten und ihn wahrnehmen moͤchte. Endlich ſtand ſie ſtill, ſetzte das Licht auf einen kryſtallenen Tiſch nieder, ſchaute in die Hoͤhe und ſang mit durch - dringlicher Stimme:

Wo die Alten weilen,
Daß ſie nicht erſcheinen?
Die Kryſtallen weinen,
249Der Runenberg.
Von demantnen Saͤulen
Fließen Thraͤnenquellen,
Toͤne klingen drein;
In den klaren hellen
Schoͤn durchſichtigen Wellen
Bildet ſich der Schein,
Der die Seelen ziehet,
Dem das Herz ergluͤhet.
Kommt ihr Geiſter alle
Zu der goldnen Halle,
Hebt aus tiefen Dunkeln
Haͤupter, welche funkeln!
Macht der Herzen und der Geiſter,
Die ſo durſtig ſind im Sehnen,
Mit den leuchtend ſchoͤnen Thraͤnen
Allgewaltig euch zum Meiſter!

Als ſie geendigt hatte, fing ſie an ſich zu ent - kleiden, und ihre Gewaͤnder in einen koſtbaren Wandſchrank zu legen. Erſt nahm ſie einen gol - denen Schleyer vom Haupte, und ein langes ſchwar - zes Haar floß in geringelter Fuͤlle bis uͤber die Huͤften hinab; dann loͤſte ſie das Gewand des Buſens, und der Juͤngling vergaß ſich und die Welt im Anſchauen der uͤberirdiſchen Schoͤnheit. Er wagte kaum zu athmen, als ſie nach und nach alle Huͤllen loͤſte; nackt ſchritt ſie endlich im Saale auf und nieder, und ihre ſchweren ſchwebenden Locken bildeten um ſie her ein dunkel wogendes Meer, aus dem wie Marmor die glaͤnzenden For - men des reinen Leibes abwechſelnd hervor ſtrahl - ten. Nach geraumer Zeit naͤherte ſie ſich einem andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her -250Erſte Abtheilung.aus, die von vielen eingelegten Steinen, Rubinen, Diamanten und allen Juwelen glaͤnzte, und betrach - tete ſie lange pruͤfend. Die Tafel ſchien eine wun - derliche unverſtaͤndliche Figur mit ihren unterſchied - lichen Farben und Linien zu bilden; zuweilen war, nachdem der Schimmer ihm entgegen ſpiegelte, der Juͤngling ſchmerzhaft geblendet, dann wieder beſaͤnf - tigten gruͤne und blau ſpielende Scheine ſein Auge: er aber ſtand, die Gegenſtaͤnde mit ſeinen Blicken verſchlingend, und zugleich tief in ſich ſelbſt verſun - ken. In ſeinem Innern hatte ſich ein Abgrund von Geſtalten und Wohllaut, von Sehnſucht und Wolluſt aufgethan, Schaaren von befluͤgelten Toͤ - nen und wehmuͤthigen und freudigen Melodien zogen durch ſein Gemuͤth, das bis auf den Grund bewegt war: er ſah eine Welt von Schmerz und Hoffnung in ſich aufgehen, maͤchtige Wunderfelſen von Vertrauen und trotzender Zuverſicht, große Waſſerſtroͤme, wie voll Wehmuth fließend. Er kannte ſich nicht wieder, und erſchrack, als die Schoͤne das Fenſter oͤffnete, ihm die magiſche ſtei - nerne Tafel reichte und die wenigen Worte ſprach: Nimm dieſes zu meinem Angedenken! Er faßte die Tafel und fuͤhlte die Figur, die unſichtbar ſogleich in ſein Inneres uͤberging, und das Licht und die maͤchtige Schoͤnheit und der ſeltſame Saal waren verſchwunden. Wie eine dunkele Nacht mit Wol - kenvorhaͤngen fiel es in ſein Inneres hinein, er ſuchte nach ſeinen vorigen Gefuͤhlen, nach jener Begeiſterung und unbegreiflichen Liebe, er beſchaute251Der Runenberg.die koſtbare Tafel, in welcher ſich der unterſinkende Mond ſchwach und blaͤulich ſpiegelte.

Noch hielt er die Tafel feſt in ſeine Haͤnde gepreßt, als der Morgen graute und er erſchoͤpft, ſchwindelnd und halb ſchlafend die ſteile Hoͤhe hin - unter ſtuͤrzte.

Die Sonne ſchien dem betaͤubten Schlaͤfer auf ſein Geſicht, der ſich erwachend auf einem anmuthigen Huͤgel wieder fand. Er ſah umher, und erblickte weit hinter ſich und kaum noch kenn - bar am aͤußerſten Horizont die Truͤmmer des Ru - nenberges: er ſuchte nach jener Tafel, und fand ſie nirgend. Erſtaunt und verwirrt wollte er ſich ſammeln und ſeine Erinnerungen anknuͤpfen, aber ſein Gedaͤchtniß war wie mit einem wuͤſten Nebel angefuͤllt, in welchem ſich formloſe Geſtalten wild und unkenntlich durch einander bewegten. Sein gan - zes voriges Leben lag wie in einer tiefen Ferne hinter ihm; das Seltſamſte und das Gewoͤhnliche war ſo in einander vermiſcht, daß er es unmoͤg - lich ſondern konnte. Nach langem Streite mit ſich ſelbſt glaubte er endlich, ein Traum oder ein ploͤtz - licher Wahnſinn habe ihn in dieſer Nacht befallen, nur begriff er immer nicht, wie er ſich ſo weit in eine fremde entlegene Gegend habe verirren koͤnnen.

Noch faſt ſchlaftrunken ſtieg er den Huͤgel hin - ab, und gerieth auf einen gebahnten Weg, der ihn vom Gebirge hinunter in das flache Land fuͤhrte. Alles war ihm fremd, er glaubte anfangs, er wuͤrde in ſeine Heimath gelangen, aber er ſah eine ganz verſchiedene Gegend, und vermuthete endlich, daß252Erſte Abtheilung.er ſich jenſeit der ſuͤdlichen Graͤnze des Gebirges befinden muͤſſe, welches er im Fruͤhling von Nor - den her betreten hatte. Gegen Mittag ſtand er uͤber einem Dorfe, aus deſſen Huͤtten ein friedli - cher Rauch in die Hoͤhe ſtieg, Kinder ſpielten auf einem gruͤnen Platze feſttaͤglich gepuzt, und aus der kleinen Kirche erſcholl der Orgelklang und das Singen der Gemeine. Alles ergriff ihn mit unbe - ſchreiblich ſuͤßer Wehmuth, alles ruͤhrte ihn ſo herz - lich, daß er weinen mußte. Die engen Gaͤrten, die kleinen Huͤtten mit ihren rauchenden Schorn - ſteinen, die gerade abgetheilten Kornfelder erinner - ten ihn an die Beduͤrftigkeit des armen Menſchen - geſchlechts, an ſeine Abhaͤngigkeit vom freundlichen Erdboden, deſſen Milde es ſich vertrauen muß; da - bei erfuͤllte der Geſang und der Ton der Orgel ſein Herz mit einer nie gefuͤhlten Froͤmmigkeit. Seine Empfindungen und Wuͤnſche der Nacht erſchienen ihm ruchlos und frevelhaft, er wollte ſich wieder kindlich, beduͤrftig und demuͤthig an die Menſchen wie an ſeine Bruͤder anſchließen, und ſich von den gottloſen Gefuͤhlen und Vorſaͤtzen entfernen. Rei - zend und anlockend duͤnkte ihm die Ebene mit dem kleinen Fluß, der ſich in mannigfaltigen Kruͤm - mungen um Wieſen und Gaͤrten ſchmiegte; mit Furcht gedachte er an ſeinen Aufenthalt in dem einſamen Gebirge und zwiſchen den wuͤſten Stei - nen, er ſehnte ſich, in dieſem friedlichen Dorfe wohnen zu duͤrfen, und trat mit dieſen Empfin - dungen in die menſchenerfuͤllte Kirche.

Der Geſang war eben beendigt und der Prie -253Der Runenberg.ſter hatte ſeine Predigt begonnen, von den Wohl - thaten Gottes in der Erndte: wie ſeine Guͤte alles ſpeiſet und ſaͤttiget was lebt, wie wunderbar im Getraide fuͤr die Erhaltung des Menſchengeſchlech - tes geſorgt ſey, wie die Liebe Gottes ſich unauf - hoͤrlich im Brodte mittheile und der andaͤchtige Chriſt ſo ein unvergaͤngliches Abendmahl geruͤhrt feyern koͤnne. Die Gemeine war erbaut, des Jaͤ - gers Blicke ruhten auf dem frommen Redner, und bemerkten dicht neben der Kanzel ein junges Maͤd - chen, das vor allen andern der Andacht und Auf - merkſamkeit hingegeben ſchien. Sie war ſchlank und blond, ihr blaues Auge glaͤnzte von der durch - dringendſten Sanftheit, ihr Antlitz war wie durch - ſichtig und in den zarteſten Farben bluͤhend. Der fremde Juͤngling hatte ſich und ſein Herz noch nie - mals ſo empfunden, ſo voll Liebe und ſo beruhigt, ſo den ſtillſten und erquickendſten Gefuͤhlen hinge - geben. Er beugte ſich weinend, als der Prieſter endlich den Seegen ſprach, er fuͤhlte ſich bei den heiligen Worten wie von einer unſichtbaren Gewalt durchdrungen, und das Schattenbild der Nacht in die tiefſte Entfernung wie ein Geſpenſt hinab ge - ruͤckt. Er verließ die Kirche, verweilte unter einer großen Linde, und dankte Gott in einem inbruͤn - ſtigen Gebete, daß er ihn ohne ſein Verdienſt wie - der aus den Netzen des boͤſen Geiſtes befreyt habe.

Das Dorf feyerte an dieſem Tage das Ernd - tefeſt und alle Menſchen waren froͤhlich geſtimmt; die gepuzten Kinder freuten ſich auf die Taͤnze und Kuchen, die jungen Burſchen richteten auf dem254Erſte Abtheilung.Platze im Dorfe, der von jungen Baͤumen um - geben war, alles zu ihrer herbſtlichen Feſtlichkeit ein, die Muſikanten ſaßen und probirten ihre In - ſtrumente. Chriſtian ging noch einmal in das Feld hinaus, um ſein Gemuͤth zu ſammeln und ſeinen Betrachtungen nachzuhaͤngen, dann kam er in das Dorf zuruͤck, als ſich ſchon alles zur Froͤhlichkeit und zur Begehung des Feſtes vereiniget hatte. Auch die blonde Eliſabeth war mit ihren Eltern zugegen, und der Fremde miſchte ſich in den frohen Haufen. Eli - ſabeth tanzte, und er hatte unterdeß bald mit dem Vater ein Geſpraͤch angeſponnen, der ein Pachter war und einer der reichſten Leute im Dorfe. Ihm ſchien die Jugend und das Geſpraͤch des fremden Gaſtes zu gefallen, und ſo wurden ſie in kurzer Zeit dahin einig, daß Chriſtian als Gaͤrtner bei ihm einziehen ſolle. Dieſer konnte es unterneh - men, denn er hoffte, daß ihm nun die Kenntniſſe und Beſchaͤftigungen zu ſtatten kommen wuͤrden, die er in ſeiner Heimath ſo ſehr verachtet hatte.

Jetzt begann ein neues Leben fuͤr ihn. Er zog bei dem Pachter ein und ward zu deſſen Familie gerechnet; mit ſeinem Stande veraͤnderte er auch ſeine Tracht. Er war ſo gut, ſo dienſtfertig und immer freundlich, er ſtand ſeiner Arbeit ſo fleißig vor, daß ihm bald alle im Hauſe, vorzuͤglich aber die Tochter, gewogen wurden. So oft er ſie am Sonntage zur Kirche gehen ſah, hielt er ihr einen ſchoͤnen Blumenſtrauß in Bereitſchaft, fuͤr den ſie ihm mit erroͤthender Freundlichkeit dankte; er ver - mißte ſie, wenn er ſie an einem Tage nicht ſah,255Der Runenberg.dann erzaͤhlte ſie ihm am Abend Maͤhrchen und luſtige Geſchichten. Sie wurden ſich immer noth - wendiger, und die Alten, welche es bemerkten, ſchienen nichts dagegen zu haben, denn Chriſtian war der fleißigſte und ſchoͤnſte Burſche im Dorfe; ſie ſelbſt hatten vom erſten Augenblick einen Zug der Liebe und Freundſchaft zu ihm gefuͤhlt. Nach einem halben Jahre war Eliſabeth ſeine Gattin. Es war wieder Fruͤhling, die Schwalben und die Voͤgel des Geſanges kamen in das Land, der Gar - ten ſtand in ſeinem ſchoͤnſten Schmuck, die Hoch - zeit wurde mit aller Froͤhlichkeit gefeyert, Braut und Braͤutigam ſchienen trunken von ihrem Gluͤcke. Am Abend ſpaͤt, als ſie in die Kammer gingen, ſagte der junge Gatte zu ſeiner Geliebten: Nein, nicht jenes Bild biſt du, welches mich einſt im Traum entzuͤckte und das ich niemals ganz vergeſ - ſen kann, aber doch bin ich gluͤcklich in deiner Naͤhe und ſeelig in deinen Armen.

Wie vergnuͤgt war die Familie, als ſie nach einem Jahre durch eine kleine Tochter vermehrt wurde, welche man Leonora nannte. Chriſtian wurde zwar zuweilen etwas ernſter, indem er das Kind betrachtete, aber doch kam ſeine jugendliche Heiterkeit immer wieder zuruͤck. Er gedachte kaum noch ſeiner vorigen Lebensweiſe, denn er fuͤhlte ſich ganz einheimiſch und befriedigt. Nach einigen Monaten fielen ihm aber ſeine Eltern in die Ge - danken, und wie ſehr ſich beſonders ſein Vater uͤber ſein ruhiges Gluͤck, uͤber ſeinen Stand als Gaͤrtner und Landmann freuen wuͤrde; es aͤngſtigte256Erſte Abtheilung.ihn, daß er Vater und Mutter ſeit ſo langer Zeit ganz hatte vergeſſen koͤnnen, ſein einziges Kind erinnerte ihn, welche Freude die Kinder den Eltern ſind, und ſo beſchloß er dann endlich, ſich auf die Reiſe zu machen und ſeine Heimath wieder zu beſuchen.

Ungern verließ er ſeine Gattin; alle wuͤnſch - ten ihm Gluͤck, und er machte ſich in der ſchoͤnen Jahreszeit zu Fuß auf den Weg. Er fuͤhlte ſchon nach wenigen Stunden, wie ihn das Scheiden peinige, zum erſtenmal empfand er in ſeinem Leben die Schmerzen der Trennung; die fremden Gegen - ſtaͤnde erſchienen ihm faſt wild, ihm war, als ſey er in einer feindſeligen Einſamkeit verloren. Da kam ihm der Gedanke, daß ſeine Jugend voruͤber ſey, daß er eine Heimath gefunden, zu der er ge - hoͤre, in die ſein Herz Wurzel geſchlagen habe; er war faſt im Begriff den verlornen Leichtſinn der vorigen Jahre zu beklagen, und es war ihm aͤußert truͤbſelig zu Muthe, als er fuͤr die Nacht auf einem Dorfe in dem Wirthshauſe einkehren mußte. Er begriff nicht, warum er ſich von ſeiner freundlichen Gattin und den erworbenen Eltern ent - fernt habe, und verdrießlich und murrend machte er ſich am Morgen auf den Weg, um ſeine Reiſe fortzuſetzen.

Seine Angſt nahm zu, indem er ſich dem Ge - birge naͤherte, die fernen Ruinen wurden ſchon ſichtbar und traten nach und nach kenntlicher her - vor, viele Bergſpitzen hoben ſich abgeruͤndet aus dem blauen Nebel. Sein Schritt wurde zaghaft,er257Der Runenberg.er blieb oft ſtehen und verwunderte ſich uͤber ſeine Furcht, uͤber die Schauer, die ihm mit jedem Schritte gedraͤngter nahe kamen. Ich kenne dich Wahnſinn wohl, rief er aus, und dein gefaͤhrliches Locken, aber ich will dir maͤnnlich widerſtehn! Eli - ſabeth iſt kein ſchnoͤder Traum, ich weiß, daß ſie jetzt an mich denkt, daß ſie auf mich wartet und liebevoll die Stunden meiner Abweſenheit zaͤhlt. Sehe ich nicht ſchon Waͤlder wie ſchwarze Haare vor mir? Schauen nicht aus dem Bache die bliz - zenden Augen nach mir her? Schreiten die großen Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu? Mit dieſen Worten wollte er ſich um auszuruhen unter einen Baum nieder werfen, als er im Schat - ten deſſelben einen alten Mann ſitzen ſah, der mit der groͤßten Aufmerkſamkeit eine Blume betrachtete, ſie bald gegen die Sonne hielt, bald wieder mit ſeiner Hand beſchattete, ihre Blaͤtter zaͤhlte, und uͤberhaupt ſich bemuͤhte, ſie ſeinem Gedaͤchtniſſe genau einzupraͤgen. Als er naͤher ging, erſchien ihm die Geſtalt ſo bekannt, und bald blieb ihm kein Zweifel uͤbrig, daß der Alte mit der Blume ſein Vater ſey. Er ſtuͤrzte ihm mit dem Ausdruck der heftigſten Freude in die Arme; jener war ver - gnuͤgt, aber nicht uͤberraſcht, ihn ſo ploͤtzlich wie - der zu ſehen. Koͤmmſt du mir ſchon entgegen, mein Sohn? ſagte der Alte, ich wußte, daß ich dich bald finden wuͤrde, aber ich glaubte nicht, daß mir ſchon am heutigen Tage die Freude widerfah - ren ſollte. Woher wußtet Ihr, Vater, daß Ihr mich antreffen wuͤrdet? An dieſer Blume,I. [17]258Erſte Abtheilung.ſprach der alte Gaͤrtner; ſeit ich lebe habe ich mir gewuͤnſcht, ſie einmal ſehen zu koͤnnen, aber nie - mals iſt es mir ſo gut geworden, weil ſie ſehr ſelten iſt, und nur in Gebirgen waͤchſt: ich machte mich auf dich zu ſuchen, weil deine Mutter geſtor - ben iſt und mir zu Hauſe die Einſamkeit zu druͤ - ckend und truͤbſelig war. Ich wußte nicht, wohin ich meinen Weg richten ſollte, endlich wanderte ich durch das Gebirge, ſo traurig mir auch die Reiſe vorkam; ich ſuchte beiher nach der Blume, konnte ſie aber nirgends entdecken, und nun finde ich ſie ganz unvermuthet hier, wo ſchon die ſchoͤne Ebene ſich ausſtreckt, daraus wußte ich, daß ich dich bald finden mußte, und ſieh, wie die liebe Blume mir geweiſſagt hat! Sie umarmten ſich wieder, und Chriſtian beweinte ſeine Mutter; der Alte aber faßte ſeine Hand und ſagte: laß uns gehen, daß wir die Schatten des Gebirges bald aus den Au - gen verlieren, mir iſt immer noch weh ums Herz von den ſteilen wilden Geſtalten, von dem graͤßli - chen Gekluͤft, von den ſchluchzenden Waſſerbaͤchen; laß uns das gute, fromme, ebene Land beſuchen.

Sie wanderten zuruͤck, und Chriſtian ward wieder froher. Er erzaͤhlte ſeinem Vater von ſeinem neuen Gluͤcke, von ſeinem Kinde und ſeiner Hei - math; ſein Geſpraͤch machte ihn ſelbſt wie trun - ken, und er fuͤhlte im Reden erſt recht, wie nichts mehr zu ſeiner Zufriedenheit ermangle. So kamen ſie unter Erzaͤhlungen, traurigen und froͤhlichen, in dem Dorfe an. Alle waren uͤber die fruͤhe Be - endigung der Reiſe vergnuͤgt, am meiſten Eliſa -259Der Runenberg.beth. Der alte Vater zog zu ihnen, und gab ſein kleines Vermoͤgen in ihre Wirthſchaft; ſie bildeten den zufriedenſten und eintraͤchtigſten Kreis von Men - ſchen. Der Acker gedieh, der Viehſtand mehrte ſich, Chriſtians Haus wurde in wenigen Jahren eins der anſehnlichſten im Orte; auch ſah er ſich bald als den Vater von mehreren Kindern.

Fuͤnf Jahre waren auf dieſe Weiſe verfloſſen, als ein Fremder auf ſeiner Reiſe in ihrem Dorfe einkehrte, und in Chriſtians Hauſe, weil es die an - ſehnlichſte Wohnung war, ſeinen Aufenthalt nahm. Er war ein freundlicher, geſpraͤchiger Mann, der vieles von ſeinen Reiſen erzaͤhlte, der mit den Kin - dern ſpielte und ihnen Geſchenke machte, und dem in kurzem alle gewogen waren. Es gefiel ihm ſo wohl in der Gegend, daß er ſich einige Tage hier aufhalten wollte; aber aus den Tagen wurden Wo - chen, und endlich Monate. Keiner wunderte ſich uͤber die Verzoͤgerung, denn alle hatten ſich ſchon daran gewoͤhnt, ihn mit zur Familie zu zaͤhlen. Chriſtian ſaß nur oft nachdenklich, denn es kam ihm vor, als kenne er den Reiſenden ſchon von ehemals, und doch konnte er ſich keiner Gelegen - heit erinnern, bei welcher er ihn geſehen haben moͤchte. Nach dreien Monaten nahm der Fremde endlich Abſchied und ſagte: Lieben Freunde, ein wunderbares Schickſal und ſeltſame Erwartungen treiben mich in das naͤchſte Gebirge hinein, ein zaubervolles Bild, dem ich nicht widerſtehen kann, lockt mich; ich verlaſſe euch jetzt, und ich weiß nicht, ob ich wieder zu euch zuruͤck kommen werde;260Erſte Abtheilung.ich habe eine Summe Geldes bei mir, die in euren Haͤnden ſicherer iſt als in den meinigen, und des - halb bitte ich euch, ſie zu verwahren, komme ich in Jahresfriſt nicht zuruͤck, ſo behaltet ſie, und nehmet ſie als einen Dank fuͤr eure mir bewieſene Freundſchaft an.

So reiſte der Fremde ab, und Chriſtian nahm das Geld in Verwahrung. Er verſchloß es ſorg - faͤltig und ſah aus uͤbertriebener Aengſtlichkeit zu - weilen wieder nach, zaͤhlte es uͤber, ob nichts da - ran fehle, und machte ſich viel damit zu thun. Dieſe Summe koͤnnte uns recht gluͤcklich machen, ſagte er einmal zu ſeinem Vater, wenn der Fremde nicht zuruͤck kommen ſollte, fuͤr uns und unſre Kinder waͤre auf immer geſorgt. Laß das Gold, ſagte der Alte, darinne liegt das Gluͤck nicht, uns hat bisher noch gottlob nichts gemangelt, und ent - ſchlage dich uͤberhaupt dieſer Gedanken.

Oft ſtand Chriſtian in der Nacht auf, um die Knechte zur Arbeit zu wecken und ſelbſt nach allem zu ſehn; der Vater war beſorgt, daß er durch uͤbertriebenen Fleiß ſeiner Jugend und Ge - ſundheit ſchaden moͤchte: daher machte er ſich in einer Nacht auf, um ihn zu ermahnen, ſeine uͤber - triebene Thaͤtigkeit einzuſchraͤnken, als er ihn zu ſeinem Erſtaunen bei einer kleinen Lampe am Ti - ſche ſitzend fand, indem er wieder mit der groͤßten Aemſigkeit die Goldſtuͤcke zaͤhlte. Mein Sohn, ſagte der Alte mit Schmerzen, ſoll es dahin mit dir kommen, iſt dieſes verfluchte Metall nur zu unſerm Ungluͤck unter dieſes Dach gebracht? Be -261Der Runenberg.ſinne dich, mein Lieber, ſo muß dir der boͤſe Feind Blut und Leben verzehren. Ja, ſagte Chriſtian, ich verſtehe mich ſelber nicht mehr, weder bei Tage noch in der Nacht laͤßt es mir Ruhe; ſeht, wie es mich jetzt wieder anblickt, daß mir der rothe Glanz tief in mein Herz hinein geht! Horcht, wie es klingt, dies guͤldene Blut! das ruft mich, wenn ich ſchlafe, ich hoͤre es, wenn Muſik toͤnt, wenn der Wind blaͤſt, wenn Leute auf der Gaſſe ſpre - chen; ſcheint die Sonne, ſo ſehe ich nur dieſe gel - ben Augen, wie es mir zublinzelt, und mir heimlich ein Liebeswort ins Ohr ſagen will: ſo muß ich mich wohl naͤchtlicher Weiſe aufmachen, um nur ſeinem Liebesdrang genug zu thun, und dann fuͤhle ich es innerlich jauchzen und frohlocken, wenn ich es mit meinen Fingern beruͤhre, es wird vor Freu - den immer roͤther und herrlicher; ſchaut nur ſelbſt die Glut der Entzuͤckung an! Der Greis nahm ſchaudernd und weinend den Sohn in ſeine Arme, betete und ſprach dann: Chriſtel, du mußt dich wieder zum Worte Gottes wenden, du mußt flei - ßiger und andaͤchtiger in die Kirche gehen, ſonſt wirſt du verſchmachten und im traurigſten Elende dich verzehren.

Das Geld wurde wieder weggeſchloſſen, Chri - ſtian verſprach ſich zu aͤndern und in ſich zu gehn, und der Alte ward beruhigt. Schon war ein Jahr und mehr vergangen, und man hatte von dem Fremden noch nichts wieder in Erfahrung bringen koͤnnen; der Alte gab nun endlich den Bitten ſeines Sohnes nach, und das zuruͤckgelaſſene Geld wurde262Erſte Abtheilung.in Laͤndereien und auf andere Weiſe angelegt. Im Dorfe wurde bald von dem Reichthum des jungen Pachters geſprochen, und Chriſtian ſchien außerordentlich zufrieden und vergnuͤgt, ſo daß der Vater ſich gluͤcklich pries, ihn ſo wohl und heiter zu ſehn: alle Furcht war jetzt in ſeiner Seele ver - ſchwunden. Wie ſehr mußte er daher erſtaunen, als ihn an einem Abend Eliſabeth beiſeit nahm und unter Thraͤnen erzaͤhlte, wie ſie ihren Mann nicht mehr verſtehe, er ſpreche ſo irre, vorzuͤglich des Nachts, er traͤume ſchwer, gehe oft im Schlafe lange in der Stube herum, ohne es zu wiſſen, und erzaͤhle wunderbare Dinge, vor denen ſie oft ſchau - dern muͤſſe. Am ſchrecklichſten ſey ihr ſeine Luſtig - keit am Tage, denn ſein Lachen ſey ſo wild und frech, ſein Blick irre und fremd. Der Vater erſchrack und die betruͤbte Gattin fuhr fort: Immer ſpricht er von dem Fremden, und behauptet, daß er ihn ſchon ſonſt gekannt habe, denn dieſer fremde Mann ſey eigentlich ein wunderſchoͤnes Weib; auch will er gar nicht mehr auf das Feld hinaus gehn oder im Garten arbeiten, denn er ſagt, er hoͤre ein unterirdiſches fuͤrchterliches Aechzen, ſo wie er nur eine Wurzel ausziehe; er faͤhrt zuſammen und ſcheint ſich vor allen Pflanzen und Kraͤutern wie vor Geſpenſtern zu entſetzen. Allguͤtiger Gott! rief der Vater aus, iſt der fuͤrchterliche Hunger in ihn ſchon ſo feſt hinein gewachſen, daß es dahin hat kommen koͤnnen? So iſt ſein verzaubertes Herz nicht menſchlich mehr, ſondern von kaltem Metall;263Der Runenberg.wer keine Blume mehr liebt, dem iſt alle Liebe und Gottesfurcht verloren.

Am folgenden Tage ging der Vater mit dem Sohne ſpatzieren, und ſagte ihm manches wieder, was er von Eliſabeth gehoͤrt hatte; er ermahnte ihn zur Froͤmmigkeit, und daß er ſeinen Geiſt heiligen Betrachtungen widmen ſolle. Chriſtian ſagte: gern, Vater, auch iſt mir oft ganz wohl, und es gelingt mir alles gut; ich kann auf lange Zeit, auf Jahre, die wahre Geſtalt meines In - nern vergeſſen, und gleichſam ein fremdes Leben mit Leichtigkeit fuͤhren: dann geht aber ploͤtzlich wie ein neuer Mond das regierende Geſtirn, wel - ches ich ſelber bin, in meinem Herzen auf, und beſiegt die fremde Macht. Ich koͤnnte ganz froh ſeyn, aber einmal, in einer ſeltſamen Nacht, iſt mir durch die Hand ein geheimnißvolles Zeichen tief in mein Gemuͤth hinein gepraͤgt; oft ſchlaͤft und ruht die magiſche Figur, ich meine ſie iſt ver - gangen, aber dann quillt ſie wie ein Gift ploͤtzlich wieder hervor, und wegt ſich in allen Linien. Dann kann ich ſie nur denken und fuͤhlen, und alles umher iſt verwandelt, oder vielmehr von dieſer Ge - ſtaltung verſchlungen worden. Wie der Wahnſin - nige beim Anblick des Waſſers ſich entſetzt, und das empfangene Gift noch giftiger in ihm wird, ſo geſchieht es mir bei allen eckigen Figuren, bei jeder Linie, bei jedem Strahl, alles will dann die inwohnende Geſtalt entbinden und zur Geburt befoͤr - dern, und mein Geiſt und Koͤrper fuͤhlt die Angſt; wie ſie das Gemuͤth durch ein Gefuͤhl von außen264Erſte Abtheilung.empfing, ſo will es ſie dann wieder quaͤlend und rin - gend zum aͤußern Gefuͤhl hinaus arbeiten, um ihrer los und ruhig zu werden.

Ein ungluͤckliches Geſtirn war es, ſprach der Alte, das dich von uns hinweg zog; du warſt fuͤr ein ſtilles Leben geboren, dein Sinn neigte ſich zur Ruhe und zu den Pflanzen, da fuͤhrte dich deine Ungeduld hinweg, in die Geſellſchaft der ver - wilderten Steine: die Felſen, die zerriſſenen Klip - pen mit ihren ſchroffen Geſtalten haben dein Ge - muͤth zerruͤttet, und den verwuͤſtenden Hunger nach dem Metall in dich gepflanzt. Immer haͤtteſt du dich vor dem Anblick des Gebirges huͤten und bewahren muͤſſen, und ſo dachte ich dich auch zu erziehen, aber es hat nicht ſeyn ſollen. Deine De - muth, deine Ruhe, dein kindlicher Sinn iſt von Trotz, Wildheit und Uebermuth verſchuͤttet.

Nein, ſagte der Sohn, ich erinnere mich ganz deutlich, daß mir eine Pflanze zuerſt das Ungluͤck der ganzen Erde bekannt gemacht hat, ſeitdem ver - ſtehe ich erſt die Seufzer und Klagen, die allent - halben in der ganzen Natur vernehmbar ſind, wenn man nur darauf hoͤren will; in den Pflanzen, Kraͤu - tern, Blumen und Baͤumen regt und bewegt ſich ſchmerzhaft nur eine große Wunde, ſie ſind der Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, ſie bie - ten unſerm Auge die ſchrecklichſte Verweſung dar. Jetzt verſtehe ich es wohl, daß es dies war, was mir jene Wurzel mit ihrem tiefgeholten Aechzen ſagen wollte, ſie vergaß ſich in ihrem Schmerze und verrieth mir alles. Darum ſind alle gruͤnen265Der Runenberg.Gewaͤchſe ſo erzuͤrnt auf mich, und ſtehn mir nach dem Leben; ſie wollen jene geliebte Figur in mei - nem Herzen ausloͤſchen, und in jedem Fruͤhling mit ihrer verzerrten Leichenmiene meine Seele gewinnen. Unerlaubt und tuͤckiſch iſt es, wie ſie dich, alter Mann, hintergangen haben, denn von deiner Seele haben ſie gaͤnzlich Beſitz genommen. Frage nur die Steine, du wirſt erſtaunen, wenn du ſie reden hoͤrſt.

Der Vater ſah ihn lange an, und konnte ihm nichts mehr antworten. Sie gingen ſchweigend zuruͤck nach Hauſe, und der Alte mußte ſich jetzt ebenfalls vor der Luſtigkeit ſeines Sohnes entſetzen, denn ſie duͤnkte ihm ganz fremdartig, und als wenn ein andres Weſen aus ihm, wie aus einer Ma - ſchine, unbeholfen und ungeſchickt heraus ſpiele.

Das Erndtefeſt ſollte wieder gefeyert werden, die Gemeine ging in die Kirche, und auch Eliſa - beth zog ſich mit den Kindern an, um dem Got - tesdienſte beizuwohnen; ihr Mann machte auch Anſtalten, ſie zu begleiten, aber noch vor der Kir - chenthuͤr kehrte er um, und ging tiefſinnend vor das Dorf hinaus. Er ſetzte ſich auf die Anhoͤhe und ſahe wieder die rauchenden Daͤcher unter ſich, er hoͤrte den Geſang und Orgelton von der Kirche her, geputzte Kinder tanzten und ſpielten auf dem gruͤnen Raſen. Wie habe ich mein Leben in einem Traume verloren! ſagte er zu ſich ſelbſt; Jahre ſind verfloſſen, daß ich von hier hinunter ſtieg, unter die Kinder hinein; die damals hier ſpielten ſind heute dort ernſthaft in der Kirche; ich trat266Erſte Abtheilung.auch in das Gebaͤude, aber heut iſt Eliſabeth nicht mehr ein bluͤhendes kindliches Maͤdchen, ihre Ju - gend iſt voruͤber, ich kann nicht mit der Sehnſucht wie damals den Blick ihrer Augen aufſuchen: ſo habe ich muthwillig ein hohes ewiges Gluͤck aus der Acht gelaſſen, um ein vergaͤngliches und zeit - liches zu gewinnen.

Er ging ſehnſuchtsvoll nach dem benachbarten Walde, und vertiefte ſich in ſeine dichteſten Schat - ten. Eine ſchauerliche Stille umgab ihn, keine Luft ruͤhrte ſich in den Blaͤttern. Indem ſah er einen Mann von ferne auf ſich zukommen, den er fuͤr den Fremden erkannte; er erſchrack, und ſein erſter Gedanke war, jener wuͤrde ſein Geld von ihm zuruͤck fordern. Als die Geſtalt etwas naͤher kam, ſah er, wie ſehr er ſich geirrt hatte, denn die Umriſſe, welche er wahrzunehmen gewaͤhnt, zerbrachen wie in ſich ſelber; ein altes Weib von der aͤußerſten Haͤßlichkeit kam auf ihn zu, ſie war in ſchmutzige Lumpen gekleidet, ein zerriſſenes Tuch hielt einige greiſe Haare zuſammen, ſie hinkte an einer Kruͤcke. Mit fuͤrchterlicher Stimme redete ſie Chriſtian an, und fragte nach ſeinem Namen und Stande, er antwortete ihr umſtaͤndlich und ſagte darauf: aber wer biſt du? Man nennt mich das Waldweib, ſagte jene, und jedes Kind weiß von mir zu erzaͤhlen; haſt du mich niemals gekannt? Mit den letzten Worten wandte ſie ſich um, und Chriſtian glaubte zwiſchen den Baͤumen den gol - denen Schleier, den hohen Gang, den maͤchtigen Bau der Glieder wieder zu erkennen. Er wollte267Der Runenberg.ihr nacheilen, aber ſeine Augen fanden ſie nicht mehr.

Indem zog etwas Glaͤnzendes ſeine Blicke in das gruͤne Gras nieder. Er hob es auf, und ſahe die magiſche Tafel mit den farbigen Edelgeſteinen, mit der ſeltſamen Figur wieder, die er vor ſo man - chem Jahr verloren hatte. Die Geſtalt und die bunten Lichter druͤckten mit der ploͤtzlichſten Gewalt auf alle ſeine Sinne. Er faßte ſie recht feſt an, um ſich zu uͤberzeugen, daß er ſie wieder in ſeinen Haͤnden halte, und eilte dann damit nach dem Dorfe zuruͤck. Der Vater begegnete ihm. Seht, rief er ihm zu, das, wovon ich euch ſo oft erzaͤhlt habe, was ich nur im Traum zu ſehn glaubte, iſt jetzt gewiß und wahrhaftig mein. Der Alte betrach - tete die Tafel lange und ſagte: mein Sohn, mir ſchaudert recht im Herzen, wenn ich die Linea - mente dieſer Steine betrachte und ahnend den Sinn dieſer Wortfuͤgung errathe; ſieh her, wie kalt ſie funkeln, welche grauſame Blicke ſie von ſich geben, blutduͤrſtig, wie das rothe Auge des Tiegers. Wirf dieſe Schrift weg, die dich kalt und grauſam macht, die dein Herz verſteinern muß:

Sieh die zarten Bluͤthen keimen,
Wie ſie aus ſich ſelbſt erwachen,
Und wie Kinder aus den Traͤumen
Dir entgegen lieblich lachen.
Ihre Farbe iſt im Spielen
Zugekehrt der goldnen Sonne,
Deren heißen Kuß zu fuͤhlen,
Das iſt ihre hoͤchſte Wonne,
268Erſte Abtheilung.
An den Kuͤſſen zu verſchmachten,
Zu vergehn in Lieb 'und Wehmuth;
Alſo ſtehn die eben lachten
Bald verwelkt in ſtiller Demuth.
Das iſt ihre hoͤchſte Freude,
Im Geliebten ſich verzehren,
Sich im Tode zu verklaͤren,
Zu vergehn in ſuͤßem Leide.
Dann ergießen ſie die Duͤfte,
Ihre Geiſter, mit Entzuͤcken,
Es berauſchen ſich die Luͤfte
Im balſamiſchen Erquicken.
Liebe kommt zum Menſchenherzen,
Regt die goldnen Saitenſpiele,
Und die Seele ſpricht: ich fuͤhle
Was das Schoͤnſte ſey, wonach ich ziele
Wehmuth, Sehnſucht und der Liebe Schmerzen.

Wunderbare, unermeßliche Schaͤtze, antwortete der Sohn, muß es noch in den Tiefen der Erde geben. Wer dieſe ergruͤnden, heben und an ſich reißen koͤnnte! Wer die Erde ſo wie eine geliebte Braut an ſich zu druͤcken vermoͤchte, daß ſie ihm in Angſt und Liebe gern ihr Koſtbarſtes goͤnnte! Das Waldweib hat mich gerufen, ich gehe ſie zu ſuchen. Hier neben an iſt ein alter verfallener Schacht, ſchon vor Jahrhunderten von einem Berg - manne ausgegraben; vielleicht, daß ich ſie dort finde!

Er eilte fort. Vergeblich ſtrebte der Alte, ihn zuruͤck zu halten, jener war ſeinen Blicken bald entſchwunden. Nach einigen Stunden, nach vie -269Der Runenberg.ler Anſtrengung gelangte der Vater an den alten Schacht; er ſah die Fußſtapfen im Sande am Ein - gange eingedruͤckt, und kehrte weinend um, in der Ueberzeugung, daß ſein Sohn im Wahnſinn hin - ein gegangen, und in alte geſammelte Waͤſſer und Untiefen verſunken ſey.

Seitdem war er unaufhoͤrlich betruͤbt und in Thraͤnen. Das ganze Dorf trauerte um den jun - gen Pachter, Eliſabeth war untroͤſtlich, die Kinder jammerten laut. Nach einem halben Jahre war der alte Vater geſtorben, Eliſabeths Eltern folg - ten ihm bald nach, und ſie mußte die große Wirth - ſchaft allein verwalten. Die angehaͤuften Geſchaͤfte entfernten ſie etwas von ihrem Kummer, die Er - ziehung der Kinder, die Bewirthſchaftung des Gu - tes ließen ihr fuͤr Sorge und Gram keine Zeit uͤbrig. So entſchloß ſie ſich nach zwei Jahren zu einer neuen Heirath, ſie gab ihre Hand einem jun - gen heitern Manne, der ſie von Jugend auf geliebt hatte. Aber bald gewann alles im Hauſe eine andre Geſtalt. Das Vieh ſtarb, Knechte und Maͤgde waren untreu, Scheuren mit Fruͤchten wur - den vom Feuer verzehrt, Leute in der Stadt, bei welchen Summen ſtanden, entwichen mit dem Gelde. Bald ſah ſich der Wirth genoͤthigt, einige Aecker und Wieſen zu verkaufen; aber ein Mißwachs und theures Jahr brachten ihn nur in neue Verlegen - heit. Es ſchien nicht anders, als wenn das ſo wunderbar erworbene Geld auf allen Wegen eine ſchleunige Flucht ſuchte; indeſſen mehrten ſich die Kinder, und Eliſabeth ſowohl als ihr Mann wur -270Erſte Abtheilung.den in der Verzweiflung unachtſam und ſaumſe - lig; er ſuchte ſich zu zerſtreuen, und trank haͤufi - gen und ſtarken Wein, der ihn verdrießlich und jaͤhzornig machte, ſo daß oft Eliſabeth mit heißen Zaͤhren ihr Elend beweinte. So wie ihr Gluͤck wich, zogen ſich auch die Freunde im Dorfe von ihnen zuruͤck, ſo daß ſie ſich nach einigen Jahren ganz verlaſſen ſahn, und ſich nur mit Muͤhe von einer Woche zur andern hinuͤber friſteten.

Es waren ihnen nur wenige Schafe und eine Kuh uͤbrig geblieben, welche Eliſabeth oft ſelber mit den Kindern huͤtete. So ſaß ſie einſt mit ihrer Arbeit auf dem Anger, Leonore zu ihrer Seite und ein ſaͤugendes Kind an der Bruſt, als ſie von ferne herauf eine wunderbare Geſtalt kom - men ſahen. Es war ein Mann in einem ganz zerriſſenen Rocke, baarfuͤßig, ſein Geſicht ſchwarz - braun von der Sonne verbrannt, von einem lan - gen ſtruppigen Bart noch mehr entſtellt; er trug keine Bedeckung auf dem Kopf, hatte aber von gruͤnem Laube einen Kranz durch ſein Haar ge - flochten, welcher ſein wildes Anſehn noch ſeltſa - mer und unbegreiflicher machte. Auf dem Ruͤcken trug er in einem feſt geſchnuͤrten Sack eine ſchwere Ladung, im Gehen ſtuͤtzte er ſich auf eine junge Fichte.

Als er naͤher kam, ſetzte er ſeine Laſt nieder, und holte ſchwer Athem. Er bot der Frau guten Tag, die ſich vor ſeinem Anblick entſetzte, das Maͤdchen ſchmiegte ſich an ihre Mutter. Als er ein wenig geruht hatte, ſagte er: nun komme ich271Der Runenberg.von einer ſehr beſchwerlichen Wanderſchaft aus dem rauheſten Gebirge auf Erden, aber ich habe dafuͤr auch endlich die koſtbarſten Schaͤtze mitge - bracht, die die Einbildung nur denken, oder das Herz ſich wuͤnſchen kann. Seht hier, und erſtaunt! Er oͤffnete hierauf ſeinen Sack und ſchuͤttete ihn aus; dieſer war voller Kieſel, unter denen groſſe Stuͤcke Quarz, nebſt andern Steinen lagen. Es iſt nur, fuhr er fort, daß dieſe Juwelen noch nicht polirt und geſchliffen ſind, darum fehlt es ih - nen noch an Auge und Blick; das aͤußerliche Feuer mit ſeinem Glanze iſt noch zu ſehr in ihrem in - wendigen Herzen begraben, aber man muß es nur herausſchlagen, daß ſie ſich fuͤrchten, daß keine Verſtellung ihnen mehr nuͤtzt, ſo ſieht man wohl, wes Geiſtes Kind ſie ſind. Er nahm mit dieſen Worten einen harten Stein und ſchlug ihn heftig gegen einen andern, ſo daß die rothen Funken her - ausſprangen. Habt ihr den Glanz geſehen? rief er aus; ſo ſind ſie ganz Feuer und Licht, ſie erhel - len das Dunkel mit ihrem Lachen, aber noch thun ſie es nicht freiwillig. Er packte hierauf alles wieder ſorgfaͤltig in ſeinen Sack, welchen er feſt zuſammen ſchnuͤrte. Ich kenne dich recht gut, ſagte er dann wehmuͤthig, du biſt Eliſabeth. Die Frau erſchrack. Wie iſt dir doch mein Name bekannt? fragte ſie mit ahndendem Zittern. Ach, lieber Gott! ſagte der Ungluͤckſelige, ich bin ja der Chriſtian, der einſt als Jaͤger zu euch kam, kennſt du mich denn nicht mehr?

Sie wußte nicht, was ſie im Erſchrecken und272Erſte Abtheilung.tiefſtem Mitleiden ſagen ſollte. Er fiel ihr um den Hals, und kuͤßte ſie. Eliſabeth rief aus: O Gott! mein Mann kommt!

Sey ruhig, ſagte er, ich bin dir ſo gut wie geſtorben; dort im Walde wartet ſchon meine Schoͤne, die Gewaltige, auf mich, die mit dem goldenen Schleier geſchmuͤckt iſt. Dieſes iſt mein liebſtes Kind, Leonore. Komm her, mein theu - res, liebes Herz, und gieb mir auch einen Kuß, nur einen einzigen, daß ich einmal wieder deinen Mund auf meinen Lippen fuͤhle, dann will ich euch verlaſſen.

Leonore weinte; ſie ſchmiegte ſich an ihre Mutter, die in Schluchzen und Thraͤnen ſie halb zum Wandrer lenkte, halb zog ſie dieſer zu ſich, nahm ſie in die Arme, und druͤckte ſie an ſeine Bruſt. Dann ging er ſtill fort, und im Walde ſahen ſie ihn mit dem entſetzlichen Waldweibe ſprechen.

Was iſt euch? fragte der Mann, als er Mut - ter und Tochter blaß und in Thraͤnen aufgeloͤſt fand. Keiner wollte ihm Antwort geben.

Der Ungluͤckliche ward aber ſeitdem nicht wieder geſehen.

Manfred endigte und ſah auf: ich merke, ſagte er, meine Zuhoͤrer, noch auffallender aber meine Zuhoͤrerinnen, ſind blaß geworden.

Gewiß, ſagte Emilie, denn der Schluß iſt zu ſchrecklich; es iſt aber dem Vorleſer nichtbeſſer273Liebeszauber.beſſer ergangen, denn er hat waͤhrend ſeinem Vortrage mehr als einmal die Farbe gewechſelt.

Vielleicht, ſagte Lothar, kann die Erzaͤh - lung, die ich Ihnen nun vorzutragen habe, durch ihr grelles Colorit jene zu truͤbe Empfindung unterbrechen, wenn auch nicht erheitern. Ich erbitte mir alſo einige Aufmerkſamkeit fuͤr den Inhalt dieſer Blaͤtter.

Liebeszauber.

Tief denkend ſaß Emil an ſeinem Tiſche und er - wartete ſeinen Freund Roderich. Das Licht brannte vor ihm, der Winterabend war kalt, und er wuͤnſchte heut ſeinen Reiſegefaͤhrten herbei, ſo gern er wohl ſonſt deſſen Geſellſchaft vermied, denn an dieſem Abend wollte er ihm ein Geheimniß entdecken und ſich Rath von ihm erbitten. Der menſchenſcheue Emil fand bei allen Geſchaͤften und Vorfaͤllen des Lebens ſo viele Schwierigkeiten, ſo unuͤberſteigliche Hinderniſſe, daß ihm das Schickſal faſt in einer ironiſchen Laune dieſen Roderich zugefuͤhrt zu ha - ben ſchien, der in allen Dingen das Gegentheil ſeines Freundes zu nennen war. Unſtaͤt, flatter - haft, von jedem erſten Eindruck beſtimmt und be - geiſtert, unternahm er alles, wußte fuͤr alles Rath, war ihm keine Unternehmung zu ſchwierig, konnte ihn kein Hinderniß abſchrecken: aber im Verlaufe eines Geſchaͤftes ermuͤdete und erlahmte er eben ſoI. [18]274Erſte Abtheilung.ſchnell, als er anfangs elaſtiſch und begeiſtert gewe - ſen war, alles was ihn dann hinderte, war fuͤr ihn kein Sporn, ſeinen Eifer zu vermehren, ſon - dern es veranlaßte ihn nur, das zu verachten, was er ſo hitzig unternommen hatte, ſo daß Roderich alle ſeine Plane eben ſo ohne Urſach liegen ließ und ſaumſelig vergaß, als er ſie unbeſonnen unter - nommen hatte. Daher verging kein Tag, daß beide Freunde nicht in Krieg geriethen, der ihrer Freundſchaft den Tod zu drohen ſchien, doch war vielleicht dasjenige, was ſie dem Anſcheine nach trennte, nur das, was ſie am innigſten verband; beide liebten ſich herzlich, aber beide fanden eine große Genugthuung darin, daß einer uͤber den an - dern die gegruͤndetſten Klagen fuͤhren konnte.

Emil, ein reicher junger Mann von reizba - rem und melankoliſchem Temperament war nach dem Tode ſeiner Eltern Herr ſeines Vermoͤgens; er hatte eine Reiſe angetreten, um ſich auszubil - den, befand ſich aber nun ſchon ſeit einigen Mo - naten in einer anſehnlichen Stadt, die Freuden des Carnevals zu genießen, um welche er ſich nie - mals bemuͤhte, um bedeutende Verabredungen uͤber ſein Vermoͤgen mit Verwandten zu treffen, die er kaum noch beſucht hatte. Unterwegs war er auf den unſteten allzubeweglichen Roderich geſtoßen, der mit ſeinen Vormuͤndern in Unfrieden lebte, und um ſich ganz von dieſen und ihren laͤſtigen Ver - mahnungen los zu machen, begierig die Gelegenheit ergriff, welche ihm ſein neuer Freund anbot, ihn als Gefaͤhrten auf ſeiner Reiſe mitzunehmen. Auf275Liebeszauber.dem Wege hatten ſie ſich ſchon oft wieder trennen wollen, aber beide hatten in jeder Streitigkeit nur um ſo deutlicher gefuͤhlt, wie unentbehrlich ſie ſich waͤren. Kaum waren ſie in einer Stadt aus dem Wagen geſtiegen, ſo hatte Roderich ſchon alle Merk - wuͤrdigkeiten des Orts geſehen, um ſie am folgen - den Tage zu vergeſſen, waͤhrend Emil ſich eine Woche aus Buͤchern gruͤndlich vorbereitete, um nichts aus der Acht zu laſſen, wovon er doch nach - her aus Traͤgheit vieles ſeiner Aufmerkſamkeit nicht wuͤrdigte; Roderich hatte gleich tauſend Bekannt - ſchaften gemacht und alle oͤffentlichen Oerter be - ſucht, fuͤhrte auch nicht ſelten ſeine neu erworbe - nen Freunde auf Emils einſames Zimmer, wo er dieſen dann mit ihnen allein ließ, wenn ſie anfin - gen ihm Langeweile zu machen. Eben ſo oft brachte er den beſcheidenen Emil in Verlegenheit, wenn er deſſen Verdienſte und Kenntniſſe gegen Gelehrte und einſichtsvolle Maͤnner uͤber die Ge - buͤhr erhob, und dieſen zu verſtehn gab, wie vie - les ſie in Sprachen, Alterthuͤmern, oder Kunſt - kenntniſſen von ſeinem Freunde lernen koͤnnten, ob er gleich ſelbſt niemals die Zeit finden konnte, uͤber dieſe Gegenſtaͤnde ſeinen Gefaͤhrten anzuhoͤren, wenn ſich das Geſpraͤch dahin lenkte. War nun Emil ein - mal zur Thaͤtigkeit aufgelegt, ſo konnte er faſt da - rauf rechnen, daß ſein ſchwaͤrmender Freund ſich in der Nacht auf einem Balle, oder einer Schlit - tenfahrt erkaͤltet habe, und das Bett huͤten muͤſſe, ſo daß Emil in Geſellſchaft des lebendigſten, un -276Erſte Abtheilung.ruhigſten und mittheilſamſten aller Menſchen in der groͤßten Einſamkeit lebte.

Heute erwartete ihn Emil gewiß, weil er ihm das feyerliche Verſprechen hatte geben muͤſſen, den Abend mit ihm zuzubringen, um zu erfahren, was ſchon ſeit Wochen ſeinen tiefſinnigen Freund ge - druͤckt und beaͤngſtigt habe. Emil ſchrieb indeß fol - gende Verſe nieder.

Wie lieb und hold iſt Fruͤhlingsleben,
Wenn alle Nachtigallen ſingen,
Und wie die Toͤn 'in Baͤumen klingen
In Wonne Laub und Bluͤthen beben.
Wie ſchoͤn im goldnen Mondenſcheine
Das Spiel der lauen Abendluͤfte,
Die, auf den Fluͤgeln Lindenduͤfte,
Sich jagen durch die ſtillen Haine.
Wie herrlich glaͤnzt die Roſenpracht,
Wenn Liebreiz rings die Felder ſchmuͤcket,
Die Lieb 'aus tauſend Roſen blicket,
Aus Sternen ihrer Wonne-Nacht.
Doch ſchoͤner duͤnkt mir, holder, lieber,
Des kleinen Lichtleins blaß Geflimmer,
Wenn ſie ſich zeigt im engen Zimmer,
Spaͤh 'ich in Nacht zu ihr hinuͤber,
Wie ſie die Flechten loͤſt und bindet,
Wie ſie im Schwung der weißen Hand
Anſchmiegt dem Leibe hell Gewand,
Und Kraͤnz 'in braune Locken windet.
Wie ſie die Laute laͤßt erklingen,
Und Toͤne, aufgejagt, erwachen,
Beruͤhrt von zarten Fingern lachen,
Und ſcherzend durch die Saiten ſpringen;
277Liebeszauber.
Sie einzufangen ſchickt ſie Klaͤnge
Geſanges fort, da flieht mit Scherzen
Der Ton, ſucht Schirm in meinem Herzen,
Dahin verfolgen die Geſaͤnge.
O laßt mich doch, ihr Boͤſen frey!
Sie riegeln ſich dort ein und ſprechen:
Nicht weichen wir, bis dies wird brechen,
Damit du weißt, was Lieben ſey:

Emil ſtand ungeduldig auf. Es ward finſterer und Roderich kam nicht, dem er ſeine Liebe zu einer Unbekannten, die ihm gegen uͤber wohnte und ihn tagelang zu Hauſe, und Naͤchte hindurch wa - chend erhielt, bekennen wollte. Jetzt ſchallten Fuß - tritte die Treppe herauf, die Thuͤr, ohne daß man anklopfte, eroͤffnete ſich, und herein traten zwei bunte Masken mit widrigen Angeſichtern, der eine ein Tuͤrke, in rother und blauer Seide gekleidet, der andre ein Spanier, blaßgelb und roͤthlich, mit vielen ſchwankenden Federn auf dem Hute. Als Emil ungeduldig werden wollte, nahm Roderich die Maske ab, zeigte ſein wohl bekanntes lachen - des Geſicht und ſagte: ei, mein Liebſter, welche graͤmliche Miene! Sieht man ſo aus zur Carne - valszeit? Ich und unſer lieber junger Offizier kom - men dich abzuholen, heut iſt großer Ball auf dem Maskenſaale, und da ich weiß, daß du es ver - ſchworen haſt, anders, als in deinen ſchwarzen Kleidern zu gehn, die du taͤglich traͤgſt, ſo komm nur ſo mit, wie du da biſt, denn es iſt ſchon ziemlich ſpaͤt.

Emil war erzuͤrnt und ſagte: du haſt, wie es278Erſte Abtheilung.ſcheint, deiner Gewohnheit nach ganz unſre Abrede vergeſſen; ſehr leid thut es mir, (indem er ſich zum Fremden wandte) daß ich Sie unmoͤglich be - gleiten kann, mein Freund iſt zu voreilig geweſen, es in meinem Namen zu verſprechen; ich kann uͤberhaupt nicht ausgehn, da ich etwas Wichtiges mit ihm abzureden habe.

Der Fremde, welcher beſcheiden war und Emils Abſicht verſtand, entfernte ſich; Roderich aber nahm hoͤchſt gleichguͤltig die Maske wieder vor, ſtellte ſich vor den Spiegel und ſagte: nicht wahr, man ſieht eigentlich ganz ſcheußlich aus? Es iſt im Grunde eine geſchmackloſe widerwaͤrtige Erfindung.

Das iſt gar keine Frage, erwiederte Emil im hoͤchſten Unwillen. Dich zur Carikatur machen, und dich betaͤuben gehoͤrt eben zu den Vergnuͤgun - gen, denen du am liebſten nachjagſt.

Weil du nicht tanzen magſt, ſagte jener, und den Tanz fuͤr eine verderbliche Erfindung haͤltſt, ſo ſoll auch Niemand anders luſtig ſeyn. Wie verdruͤßlich, wenn ein Menſch aus lauter Eigen - heiten zuſammen geſetzt iſt.

Gewiß, erwiederte der erzuͤrnte Freund, und ich habe Gelegenheit genug, dies an dir zu beob - achten; ich glaubte, daß du mir nach unſrer Ab - rede dieſen Abend ſchenken wuͤrdeſt, aber

Aber es iſt ja Carneval, fuhr jener fort, und alle meine Bekannten und einige Damen erwarten mich auf dem heutigen großen Balle. Bedenke nur, mein Lieber, daß es wahre Krankheit in dir279Liebeszauber.iſt, daß dir dergleichen Anſtalten ſo unbillig zu - wider ſind.

Emil ſagte: wer von uns beiden krank zu nen - nen iſt, will ich nicht unterſuchen, dein unbegreif - licher Leichtſinn, deine Sucht, dich zu zerſtreuen, dein Jagen nach Vergnuͤgungen, die dein Herz leer laſſen, ſcheint mir wenigſtens keine Seelenge - ſundheit; auch in gewiſſen Dingen koͤnnteſt du wohl meiner Schwachheit, wenn es denn einmal derglei - chen ſein ſoll, nachgeben, und es giebt nichts auf der Welt, was mich ſo durch und durch verſtimmt, als ein Ball mit ſeiner fuͤrchterlichen Muſik. Man hat ſonſt wohl geſagt, die Tanzenden muͤſten einem Tauben, welcher die Muſik nicht vernimmt, als Raſende erſcheinen; ich aber meine, daß dieſe ſchreckliche Muſik ſelbſt, dies Umherwirbeln we - niger Toͤne in widerlicher Schnelligkeit, in jenen vermaledeyten Melodien, die ſich unſerm Gedaͤcht - niſſe, ja ich moͤchte ſagen unſerm Blut unmittel - bar mittheilen, und die man nachher auf lange nicht wieder los werden kann, daß dies die Toll - heit und Raſerey ſelbſt ſey, denn wenn mir das Tanzen noch irgend ertraͤglich ſeyn ſoll, ſo muͤſte es ohne Muſik geſchehn.

Nun ſieh, wie paradox! antwortete der Mas - kirte; du koͤmmſt ſo weit, daß du das Natuͤrlichſte, Unſchuldigſte und Heiterſte von der Welt unna - tuͤrlich, ja graͤßlich finden willſt.

Ich kann nicht fuͤr mein Gefuͤhl, ſagte der Ernſte, daß mich dieſe Toͤne von Kindheit auf ungluͤcklich gemacht, und oft bis zur Verzweiflung280Erſte Abtheilung.getrieben haben: in der Tonwelt ſind ſie fuͤr mich die Geſpenſter, Larven und Furien, und ſo flattern ſie mir auch ums Haupt, und grinſen mich mit entſezlichem Lachen an.

Nervenſchwaͤche, ſagte jener, ſo wie dein uͤber - triebener Abſcheu gegen Spinnen und manch ande - res unſchuldiges Gewuͤrm.

Unſchuldig nennſt du ſie, ſagte der Verſtimmte, weil ſie dir nicht zuwider ſind. Fuͤr denjenigen aber, dem die Empfindung des Ekels und des Ab - ſcheus, daſſelbe unnennbare Grauen, wie mir, bei ihrem Anblick in der Seele aufgeht und durch ſein ganzes Weſen zuckt, ſind dieſe graͤßlichen Unthiere, wie Kroͤten und Spinnen, oder gar die widerwaͤr - tigſte aller Creaturen, die Fledermaus, nicht gleich - guͤltig und unbedeutend, ſondern ihr Daſeyn iſt dem ſeinigen auf das feindlichſte entgegen geſetzt. Wahrlich, man moͤchte uͤber die Unglaͤubigen laͤcheln, mit deren Imagination ſich Geſpenſter und grau - enhafte Larven, ſammt jenen Geburten der Nacht nicht vereinigen laſſen, die wir in Krankheiten ſehn, oder die uns Dantes Gemaͤhlde zeigen, da die gewoͤhnlichſte Wirklichkeit um uns her die fuͤrchter - lichen verzerrten Muſterbilder dieſer Schrecken uns vorhaͤlt. Sollten wir in der That das Schoͤne lieben koͤnnen, ohne uns vor dieſen Fratzen zu entſetzen?

Warum entſetzen? fragte Roderich, warum ſoll uns das große Reich der Gewaͤſſer und der Meere gerade dieſe Furchtbarkeit vorhalten, an die ſich deine Vorſtellung gewoͤhnt hat, und nicht viel - mehr ſeltſame, unterhaltende und poßirliche Ver -281Liebeszauber.kleidungen, ſo daß das ganze Gebiet nicht anders, als etwa wie ein komiſcher Ballſaal anzuſehn waͤre? Deine Eigenheiten aber gehn noch weiter, denn ſo wie du die Roſe mit einer gewiſſen Abgoͤtterei liebſt, ſo ſind dir andre Blumen eben ſo lebhaft verhaßt; was hat dir nur die gute liebe Feuerli - lie gethan, wie ſo manch andres Kind des Som - mers? So ſind dir manche Farben zuwider, manche Duͤfte und viele Gedanken, und du thuſt nichts dazu, dich gegen dieſe Stimmungen zu verhaͤrten, ſondern du giebſt ihnen weichlich nach, und am Ende wird eine Sammlung von dergleichen Selt - ſamkeiten die Stelle einnehmen, die dein Ich be - ſitzen ſollte.

Emil war im tiefſten Herzen erzuͤrnt und ant - wortete nicht. Er hatte es nun ſchon aufgegeben, ſich jenem mitzutheilen, auch ſchien der leichtſin - nige Freund gar keine Begier zu haben, das Ge - heimniß zu erfahren, welches ihm ſein melankoli - ſcher Gefaͤhrte mit ſo wichtiger Miene angekuͤndigt hatte; er ſaß gleichguͤltig im Lehnſeſſel, mit ſeiner Maske ſpielend, als er ploͤtzlich ausrief: ſey doch ſo gut, Emil, und leih mir deinen großen Mantel.

Wozu? fragte jener.

Ich hoͤre druͤben in der Kirche Muſik, ant - wortete Roderich, und habe ſchon alle Abend dieſe Stunde verſaͤumt, heut koͤmmt ſie mir recht gele - gen, unter deinem Mantel kann ich dieſe Kleidung verbergen, auch Maske und Turban darunter ver - ſtecken, und wenn ſie geendigt iſt, mich ſogleich nach dem Balle begeben.

282Erſte Abtheilung.

Murrend ſuchte Emil den Mantel aus dem Schranke, gab ihn dem Aufgeſtandenen, und zwang ſich zu einem ironiſchen Laͤcheln. Da haſt du mei - nen tuͤrkiſchen Dolch, den ich geſtern gekauft habe, ſagte Roderich, indem er ſich einhuͤllte, heb 'ihn auf; es taugt nicht, dergleichen ernſthaftes Zeug als Spielerei bei ſich zu haben, man kann denn doch nicht wiſſen, wozu es gemißbraucht wuͤrde, wenn Zank oder anderer Unfug die Gelegenheit herbei fuͤhrte; morgen ſehn wir uns wieder, lebe wohl und bleibe vergnuͤgt. Er wartete auf keine Erwiederung, ſondern eilte die Treppe hinunter.

Als Emil allein war, ſuchte er ſeinen Zorn zu vergeſſen und das Betragen ſeines Freundes von der laͤcherlichen Seite zu nehmen. Er betrach - tete den blanken ſchoͤn gearbeiteten Dolch, und ſagte: wie muß es doch dem Menſchen ſeyn, der ſolch ſcharfes Eiſen in die Bruſt des Gegners ſtoͤßt, oder gar einen geliebten Gegenſtand damit verlezt? Er ſchloß ihn ein, lehnte dann behutſam die Laͤ - den ſeines Fenſters zuruͤck und ſah uͤber die enge Gaſſe. Aber kein Licht regte ſich, es war finſter im Hauſe gegenuͤber; die theure Geſtalt, die dort wohnte und ſich um dieſe Zeit bei haͤuslicher Be - ſchaͤftigung zu zeigen pflegte, ſchien entfernt. Viel - leicht gar auf dem Balle! dachte Emil, ſo wenig es auch ihrer eingezogenen Lebensart ziemte. Ploͤz - lich aber zeigte ſich ein Licht, und die Kleine, welche ſeine unbekannte Geliebte um ſich hatte, und mit der ſie ſich am Tage wie am Abend vielfaͤltig ab - gab, trug ein Licht durch das Zimmer und lehnte283Liebeszauber.die Fenſterlaͤden an. Eine Spalte blieb hell, groß genug, um von Emils Standpunkt einen Theil des kleinen Zimmers zu uͤberſchauen, und dort ſtand oft der Gluͤckliche bis nach Mitternacht wie bezau - bert, und beobachtete jede Bewegung der Hand, jede Miene ſeiner Geliebten; er freute ſich, wenn ſie dem kleinen Kinde leſen lehrte, oder ſie im Naͤ - hen und Stricken unterrichtete. Auf ſeine Erkun - digung hatte er erfahren, daß die Kleine eine arme Waiſe ſey, die das ſchoͤne Maͤdchen mitleidig zu ſich genommen hatte, um ſie zu erziehn. Emils Freunde begriffen nicht, warum er in dieſer engen Gaſſe wohne, in einem unbequemen Hauſe, wes - halb man ihn ſo wenig in Geſellſchaften ſehe, und womit er ſich beſchaͤftige. Unbeſchaͤftigt, in der Einſamkeit, war er gluͤcklich, nur unzufrieden mit ſich und ſeinem menſchenſcheuen Charakter, daß er es nicht wage, die naͤhere Bekanntſchaft dieſes ſchoͤ - nen Weſens zu ſuchen, ſo freundlich ſie auch einige - mal am Tage gegruͤßt und gedankt hatte. Er wußte nicht, daß ſie eben ſo trunken zu ihm hinuͤber ſpaͤhte, und ahndete nicht, welche Wuͤnſche ſich in ihrem Herzen bildeten, welcher Anſtrengung, wel - cher Opfer ſie ſich faͤhig fuͤhlte, um nur zum Be - ſitz ſeiner Liebe zu gelangen.

Nachdem er einigemal auf und nieder gegan - gen war, und das Licht ſich mit dem Kinde wie - der entfernt hatte, faßte er ploͤtzlich den Entſchluß, ſeiner Neigung und Natur zuwider, auf den Ball zu gehen, weil es ihm einfiel, daß ſeine Unbe - kannte eine Ausnahme von ihrer eingezogenen Le -284Erſte Abtheilung.bensweiſe koͤnne gemacht haben, um auch einmal die Welt und ihre Zerſtreuungen zu genießen. Die Gaſſen waren hell erleuchtet, der Schnee kniſterte unter ſeinen Fuͤßen, Wagen rollten ihm voruͤber, und Masken in den verſchiedenſten Trachten pfif - fen und zwitſcherten an ihm vorbei. Aus vielen Haͤuſern ertoͤnte die ihm ſo verhaßte Tanzmuſik, und er konnte es nicht uͤber ſich gewinnen, auf dem kuͤrzeſten Wege nach dem Saale zu gehn, zu welchem aus allen Richtungen die Menſchen ſtroͤm - ten und draͤngten. Er ging um die alte Kirche, beſchaute den hohen Thurm, der ſich ernſt in den naͤchtlichen Himmel erhub, und freute ſich der Stille und Einſamkeit des abgelegenen Platzes. In der Vertiefung einer großen Kirchenthuͤr, deren man - nichfaltiges Bildwerk er immer mit Luſt beſchaut und ſich dabei der alten Kunſt und vergangener Zeiten erinnert hatte, nahm er auch jetzo Platz, um ſich auf wenige Augenblicke ſeinen Betrachtun - gen zu uͤberlaſſen. Er ſtand nicht lange, als eine Figur ſeine Aufmerkſamkeit an ſich zog, die unru - hig auf und nieder ging, und jemand zu erwarten ſchien. Beim Schein einer Laterne, die vor einem Marienbilde brannte, unterſchied er genau das Ge - ſicht, ſo wie die wunderliche Kleidung. Es war ein altes Weib von der aͤußerſten Haͤßlichkeit, die um ſo mehr in die Augen fiel, weil ſie gegen ein ſcharlachrothes Leibchen, das mit Gold beſetzt war, hoͤchſt abentheuerlich abſtach; der Rock, den ſie trug, war dunkel, und die Haube ihres Kopfes glaͤnzte ebenfalls von Gold. Emil glaubte anfangs285Liebeszauber.eine geſchmackloſe Maske zu ſehn, die ſich hieher verirrt habe, aber bald war er beim hellen Scheine uͤberzeugt, daß das alte braune und runzlichte Ge - ſicht ein wirkliches und kein nachgeahmtes ſey. Es waͤhrte nicht lange, ſo erſchienen zwei Maͤnner, in Maͤnteln gehuͤllt, die ſich dem Orte mit behutſa - men Schritten zu naͤhern ſchienen, indem ſie oͤfter von den Seiten ſchauten, ob ihnen Niemand folge. Die Alte ging auf ſie zu. Habt ihr die Lichter? fragte ſie haſtig und mit einer rauhen Stimme. Hier ſind ſie, ſagte der Eine, der Preis iſt euch bekannt, macht die Sache gleich richtig. Die Alte ſchien Geld zu geben, welches der Mann unter ſeinem Mantel nachzaͤhlte. Ich verlaſſe mich da - rauf, fing die Alte wieder an, daß ſie ganz nach der Vorſchrift und Kunſt gegoſſen ſind, damit die Wirkung nicht ausbleibt. Seid ohne Sorgen, ſagte jener, und entfernte ſich ſchnell. Der andre, wel - cher zuruͤck geblieben, war ein junger Mann, er nahm die Alte bei der Hand, und ſagte: iſt es moͤglich, Alexia, daß dergleichen Ceremonien und Formeln, dieſe ſeltſamen alten Sagen, an welche ich nie habe glauben koͤnnen, den freien Willen des Menſchen feſſeln, und Liebe und Haß erregen koͤnn - ten? So iſt es, ſprach das rothe Weib, aber eins muß zum andern kommen, nicht bloß dieſe Lichter, in der Mitternacht des Neumonden gegoſ - ſen, mit Menſchenblut getraͤnkt, nicht die Zauber - formeln und Anrufungen allein koͤnnen es ausrich - ten, ſondern noch manches andre gehoͤrt dazu, das der Kunſtverſtaͤndige wohl kennt. So verlaß ich286Erſte Abtheilung.mich auf dich, ſagte der Fremde. Morgen nach Mitternacht bin ich euch zu Dienſten, antwortete die Alte; ihr werdet ja nicht der erſte ſeyn, der mit meiner Kundſchaft unzufrieden iſt; heute, wie ihr gehoͤrt habt, bin ich fuͤr jemand anders beſtellt, auf deſſen Sinn und Verſtand unſere Kunſt gewiß nachdruͤcklich wirken ſoll. Die letzten Worte ſagte ſie mit halbem Lachen, und beide gingen aus ein - ander und entfernten ſich nach verſchiedenen Rich - tungen. Emil trat ſchaudernd aus der dunkeln Niſche hervor und erhob ſeine Blicke zum Bilde der Jungfrau mit dem Kinde; vor deinen Augen, du Holdſelige, ſagte er halb laut, erfrechen ſich die Greuel ihre Abrede zu treffen, um ihren ab - ſcheulichen Betrug zu verhandeln, doch ſo, wie du dein Kind in Liebe umfaͤngſt, ſo haͤlt uns alle die unſichtbare Liebe in fuͤhlbaren Armen, und unſer armes Herz klopft in Freude wie in Angſt einem groͤſſeren entgegen, das uns niemals verlaſſen wird. Wolken zogen uͤber die Spitze des Thurms und das ſchroffe Dach der Kirche hinweg, die ewigen Sterne ſchauten funkelnd und mit freundlichem Ernſt hernieder, und Emil wandte ſich entſchloſſen von dieſen naͤchtlichen Schauern und gedachte der Schoͤnheit ſeiner Unbekannten. Er betrat wieder die belebten Gaſſen, und lenkte nach dem heller - leuchteten Ballhauſe ein, von welchem ihm Stim - men, Wagengeraſſel, und in einzelnen Pauſen die laͤrmende Muſik entgegen ſchallten.

Im Saale verlor er ſich ſogleich im fluten - den Getuͤmmel, Taͤnzer umſprangen ihn, Masken287Liebeszauber.ſchoſſen an ihm hin und her, Pauken und Trom - peten betaͤubten ſein Ohr, und ihm war, als ſei das menſchliche Leben ſelber nur ein Traum. Er ging durch die Reihen, und nur ſein Auge blieb wach, um jene geliebten Augen und jenes ſchoͤne Haupt mit den braunen Locken aufzuſuchen, nach deſſen Anblick er ſich heut inniger ſehnte als ſonſt, und dem angebeteten Weſen doch innerlich Vor - wuͤrfe machte, daß es ſich in dieſem ſtuͤrmenden Meer der Verwirrung und Thorheit untertauchen und verlieren koͤnne. Nein, ſprach er zu ſich ſelbſt, kein Herz welches liebt, wird ſich dieſem wuͤſten Brauſen oͤffnen wollen, in welchem Sehnſucht und Thraͤnen verhoͤhnt und mit dem ſchmetternden Ge - laͤchter wilder Trompeten verſpottet werden. Das Saͤuſeln der Baͤume, das Rieſeln der Quellen, Lautenſchlag und edler Geſang, welcher voll aus dem bewegten Buſen ſtroͤmt, ſind die Toͤne in welchen Liebe wohnt. So aber donnert und jubelt die Hoͤlle in der Raſerei ihrer Verzweiflung.

Er fand nicht, was er ſuchte, denn zu dem Glauben, daß ſein geliebtes Angeſicht ſich vielleicht unter eine widrige Maske verborgen habe, konnte er ſich unmoͤglich bequemen. Schon war er drei - mal den Saal auf und abgewandert und hatte alle ſitzenden und unmaskirten Damen vergeblich gemuſtert, als ſich der Spanier zu ihm geſellte und ſagte: ſchoͤn, daß ſie doch noch gekommen ſind; Sie ſuchen vielleicht Ihren Freund?

Emil hatte ihn ganz vergeſſen; er ſagte aber beſchaͤmt: in der That, ich wundre mich, ihn hier288Erſte Abtheilung.nicht zu treffen, denn ſeine Maske iſt kenntlich genug.

Wiſſen Sie, was der wunderliche Menſch treibt? antwortete der junge Offizier; er hat weder getanzt noch ſich lange im Saale aufgehalten, denn er fand ſogleich ſeinen Freund Anderſon, der vom Lande herein gekommen iſt, ihr Geſpraͤch fiel auf die Literatur, und da dieſer das neulich heraus - gekommene Gedicht noch nicht kannte, ſo hat Ro - derich nicht eher geruht, bis man ihm eins der hin - tern Zimmer aufgeſchloſſen hat, dort ſitzt er mit ſeinem Gefaͤhrten bei einer einſamen Kerze und lieſt ihm das ganze Werk vor.

Das ſieht ihm aͤhnlich, ſagte Emil, denn er beſteht ganz aus Laune. Ich habe alles angewandt, und ſelbſt freundſchaftliche Zwiſtigkeiten nicht ge - ſcheut, um es ihm abzugewoͤhnen, immer ex tem - pore zu leben und ſein ganzes Daſeyn in Im - promptus auszuſpielen: allein dieſe Thorheiten ſind ihm ſo ans Herz gewachſen, daß er ſich eher vom liebſten Freunde, als von ihnen trennen wuͤrde. Das nemliche Werk, welches er ſo liebt, daß er es immer bei ſich traͤgt, hat er mir neulich vorle - ſen wollen, und ich hatte ihn ſogar dringend darum gebeten, wir waren aber kaum uͤber den Anfang, indeß ich ganz den Schoͤnheiten hingegeben war, als er ploͤtzlich aufſprang, mit der Kuͤchenſchuͤrze umgethan zuruͤck kehrte, mit vielen Umſtaͤnden Feuer anſchuͤren ließ, um mir Beefſteaks zu roͤſten, zu welchen ich kein Verlangen trug, und die erſich289Liebeszauber.ſich am beſten in Europa zu machen einbildet, ob ſie ihm gleich die meiſten Male verungluͤcken.

Der Spanier lachte. Iſt er nie verliebt gewe - ſen? fragte er.

Auf ſeine Weiſe, erwiederte Emil ſehr ernſt; ſo, als wollte er uͤber ſich und die Liebe ſpotten, in viele zugleich, und nach ſeinen Worten bis zur Verzweiflung, die er aber insgeſamt in acht Ta - gen wieder vergeſſen hatte.

Sie trennten ſich im Getuͤmmel, und Emil begab ſich nach dem abgelegenen Zimmer, aus wel - chem er ſeinen Freund ſchon von fern laut dekla - miren hoͤrte. Ah, da biſt du ja auch, rief ihm dieſer entgegen; das trifft ſich gut, ich bin nur eben uͤber die Stelle hinuͤber, bei der wir neulich unterbrochen wurden, ſetze dich, ſo kannſt du mit zuhoͤren.

Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, ſagte Emil, auch ſcheint mir dieſe Stunde und dieſer Ort wenig geſchickt zu einer ſolchen Unterhaltung.

Warum nicht? antwortete Roderich; es muß ſich alles nach unſerm Willen bequemen, jede Zeit iſt gut dazu, ſich auf eine edle Weiſe zu beſchaͤfti - gen. Oder willſt du lieber tanzen? Es fehlt an Taͤnzern, und du kannſt dich heut mit einigen Stunden Herumſpringens und einem Paar ermuͤ - dender Beine bei vielen dankbaren Damen ziemlich beliebt machen.

Lebe wohl, rief jener ſchon in der Thuͤr, ich gehe nach Hauſe.

Noch ein Wort! rief ihm Roderich nach: ichI. [19]290Erſte Abtheilung.verreiſe morgen in aller Fruͤhe mit dieſem Herrn auf einige Tage uͤber Land; ich ſpreche aber noch bei dir vor, um Abſchied zu nehmen. Schlaͤfſt du, wie es wahrſcheinlich iſt, ſo bemuͤhe dich nur nicht, aufzuwachen, denn in drei Tagen bin ich wieder bei dir. Der wunderlichſte aller Menſchen, fuhr er fort, gegen ſeinen treuen Freund gewandt, ſo ſchwerfaͤllig, mißlaunig, ernſthaft, daß er ſich jede Freude verdirbt, oder vielmehr, daß es fuͤr ihn keine Freude giebt. Alles ſoll edel, groß, erhaben ſeyn, ſein Herz ſoll an allem Antheil nehmen, und wenn er ſelbſt vor einem Puppenſpiele ſtaͤnde; wenn ſich dergleichen nun nicht zu ſeinen Praͤten - ſionen verſtehen will, die wahrlich ganz unſinnig ſind, ſo wird er tragiſch geſtimmt, und findet die ganze Welt roh und barbariſch; da draußen ver - langt er ohne Zweifel, daß unter den Masken einem Pantalon und Policinell das Herz voll Sehnſucht und uͤberirdiſcher Triebe gluͤhe, und daß der Arlechin uͤber die Nichtigkeit der Welt tiefſin - nig philoſophiren ſoll, und wenn dieſe Erwartun - gen nicht eintreffen, ſo treten ihm gewiß die Thraͤ - nen in die Augen, und er wendet dem bunten Schauſpiel zerknirſcht und verachtend den Ruͤcken.

Er iſt alſo melankoliſch? fragte der Zuhoͤrer.

Das eigentlich nicht, antwortete Roderich, ſon - dern nur von zu zaͤrtlichen Eltern und ſich ſelbſt verzogen. Er hatte ſich angewoͤhnt, regelmaͤßig wie Ebbe und Fluth ſein Herz bewegen zu laſſen, und bleibt dieſe Ruͤhrung einmal aus, ſo ſchreit er Mirakel und moͤchte Praͤmien ausſetzen, um291Liebeszauber.Phyſiker aufzumuntern, dieſe Naturerſcheinung ge - nuͤgend zu erklaͤren. Er iſt der beſte Menſch unter der Sonne, aber alle meine Muͤhe, ihm dieſe Ver - kehrtheit abzugewoͤhnen, iſt ganz umſonſt und ver - loren, und wenn ich nicht fuͤr meine gute Mei - nung Undank davon tragen will, muß ich ihn ge - waͤhren laſſen.

Er ſollte vielleicht den Arzt gebrauchen, be - merkte jener.

Es gehoͤrt mit zu ſeinen Eigenheiten, antwor - tete Roderich, die Medizin durch und durch zu ver - achten, denn er meint, jede Krankheit ſei in jeg - lichem Menſchen ein Individuum, und koͤnne nicht nach aͤltern Wahrnehmungen, oder gar nach ſoge - nannten Theorien geheilt werden; er wuͤrde eher alte Weiber und ſympathetiſche Kuren gebrauchen. Eben ſo verachtet er auch in andrer Hinſicht alle Vorſicht und alles was man Ordnung und Maͤßig - keit nennt. Von Kindheit auf iſt ein edler Mann ſein Ideal geweſen, und ſein hoͤchſtes Beſtreben, das aus ſich zu bilden, was er ſo nennt, das heißt hauptſaͤchlich eine Perſon, die die Verachtung der Dinge mit der des Geldes anfaͤngt; denn um nur nicht in den Verdacht zu gerathen, daß er haushaͤlteriſch ſey, ungern ausgebe, oder irgend Ruͤckſicht auf Geld nehme, ſo wirft er es hoͤchſt thoͤricht weg, iſt bei ſeiner reichlichen Einnahme immer arm und in Verlegenheit, und wird der Thor von jedweden, der nicht ganz in dem Sinne edel iſt, in welchem er es ſich zu ſeyn vorgeſetzt hat. Sein Freund zu ſeyn, iſt aber die Aufgabe292Erſte Abtheilung.aller Aufgaben, denn er iſt ſo reizbar, daß man nur huſten, nicht edel genug eſſen, oder gar die Zaͤhne ſtochern darf, um ihn toͤdtlich zu beleidigen.

War er nie verliebt? fragte der Freund vom Lande.

Wen ſollte er lieben? antwortete Roderich, er verachtete alle Toͤchter der Erde, und er duͤrfte nur bemerken, daß ſein Ideal ſich gern putzte, oder gar tanzte, ſo wuͤrde ſein Herz brechen; noch ſchreck - licher, wenn ſie das Ungluͤck haͤtte, den Schnu - pfen zu bekommen.

Emil ſtand indeſſen wieder im Getuͤmmel; aber ploͤzlich uͤberfiel ihn jene Angſt, der Schreck, der ſo oft ſchon in ſolcher erregten Menſchenmenge ſein Herz ergriffen hatte, und jagte ihn aus dem Saale und Hauſe, uͤber die oͤden Gaſſen hinweg, und erſt auf ſeinem einſamen Zimmer fand er ſich und ſeine ruhige Beſinnung wieder. Das Nachtlicht war ſchon angezuͤndet, er hieß dem Bedienten ſich nieder legen; druͤben war alles ſtill und finſter, und er ſetzte ſich, um in einem Gedichte ſeine Empfin - dungen uͤber den Ball auszuſtroͤmen.

Im Herzen war es ſtille,
Der Wahnſinn lag an Ketten;
Da regt ſich boͤſer Wille,
Vom Kerker ihn zu retten,
Den Tollen los zu machen;
Da hoͤrt man Pauken klingen,
Da bricht hervor mit Lachen
Trommeten-Klang und Krachen,
Dazwiſchen Floͤten ſingen,
293Liebeszauber.
Und Pfeifentoͤne ſpringen
Mit gellendem Geſchrei
Zwiſchen droͤhnenden toͤnenden Geigen
In raſender Wuth herbei,
Das wilde Gemuͤth zu zeigen,
Und grimmig zu morden das ſtille kindliche Schwei -
gen.
Wohin dreht ſich der Reigen?
Was ſucht die ſpringende Menge
Im windenden Gedraͤnge?
Voruͤber! Es glaͤnzen die Lichter,
Wir tummeln uns naͤher und dichter,
Es jauchzt in uns das bloͤde Herz;
Lauter toͤnet
Grimmer droͤhnet
Ihr Cymbeln, ihr Pfeifen! betaͤubet den Schmerz,
Er werde zum Scherz!
Du winkſt mir, holdes Angeſicht?
Es lacht der Mund, der Augen Licht;
Herbei, daß ich dich faſſe,
Im Schweben wieder laſſe;
Ich weiß, die Schoͤnheit bald zerbricht,
Der Mund verſtummt, der lieblich ſpricht,
Dich faßt des Todes Arm.
Was winkſt du, Schaͤdel, freundlich mir?
Kein Kummer mir, nicht Angſt und Harm,
Daß du ſo bald erbleicheſt hier,
Wohl heut, wohl morgen.
Was ſollen die Sorgen?
Ich lebe und ſchwebe im Reigen voruͤber vor dir.
Heut lieb ich dich,
Jetzt meinſt du mich;
Ach, Noth und Angſt ſie lauern
294Erſte Abtheilung.
Schon hinter dieſen Mauern,
Und Seufzer ſchwer und thraͤnend Leid
Stehn ſchon bereit,
Dich zu umſtricken;
Froh laß uns blicken
Vernichtung an und grauſen Tod;
Was will die Angſt, was will uns Noth?
Wir druͤcken
Im Taumel die Hand,
Mich ruͤhrt dein Gewand,
Du ſchwebeſt dahin, ich taumle zuruͤck
Auch Verzweiflung iſt Gluͤck.
Aus dieſem Entzuͤcken,
Und was wir heut lachten,
Entſprießt wohl Verachten
Und giftiger Neid;
O herrliche Zeit!
Wenn ich dich verhoͤhne,
Winkt dort mir die Schoͤne,
Und wird meine Braut;
Die andere ſchaut
Noch kuͤhner darein;
Soll dieſ 'es denn ſein?
So taumeln wir alle
Im Schwindel die Halle
Des Lebens hinab,
Kein Lieben, kein Leben,
Kein Seyn uns gegeben,
Nur Traͤumen und Grab:
Da unten bedecken
Wohl Blumen und Klee
Noch grimmere Schrecken,
Noch wilderes Weh;
295Liebeszauber.
Drum lauter ihr Cymbeln, du Paukenklang,
Noch ſchreiender gellender Hoͤrnergeſang!
Ermuthiget ſchwingt, dringt, ſpringt ohne Ruh,
Weil Lieb uns nicht Leben
Kein Herz hat gegeben,
Mit Jauchzen dem greulichen Abgrunde zu!

Er hatte geendigt und ſtand am Fenſter. Da kam ſie gegen uͤber herein, ſo ſchoͤn, wie er ſie noch nie geſehn hatte, das braune Haar aufgeloͤſt wogte und ſpielte in muthwilligen Locken um den weißeſten Nacken; ſie war nur leicht bekleidet und ſchien noch vor Schlafengehn zu ſpaͤter Nachtzeit einige haͤusliche Arbeiten verrichten zu wollen, denn ſie ſtellte zwei Lichter in zwei Ecken des Zimmers, ordnete den Teppich auf dem Tiſche, und entfernte ſich wieder. Noch war Emil in ſeinen ſuͤßen Traͤu - mereien verſunken, und wiederholte ſich in ſeiner Phantaſie das Bild ſeiner Geliebten, als zu ſei - nem Entſetzen die fuͤrchterliche, die rothe Alte durch das Zimmer ſchritt; graͤßlich leuchtete von ihrem Haupt und Buſen das Gold im Widerſchein der Lichter. Sie war wieder verſchwunden. Sollte er ſeinen Augen trauen? War es kein Blendwerk der Nacht, welches ihm ſeine eigne Einbildung geſpenſtiſch voruͤber gefuͤhrt hatte?

Aber nein, ſie kehrte zuruͤck, noch graͤßlicher als zuvor, denn ein langes greiſes und ſchwarzes Haar flog wild und ungeordnet um Bruſt und Ruͤcken; das ſchoͤne Maͤdchen folgte ihr, blaß, ent - ſtellt, die ſchoͤnſten Bruͤſte ohne Huͤlle, aber das ganze Bild einer Statue von Marmor aͤhnlich. 296Erſte Abtheilung.Sie hatten zwiſchen ſich das kleine liebliche Kind, welches weinte und ſich an die Schoͤne bittend ſchmiegte, die nicht zu ihm hernieder ſah. Das Kindlein hielt flehend die Haͤndchen empor, ſtrei - chelte Hals und Wange der blaſſen Schoͤnen. Sie aber hielt es feſt am Haar und mit der andern Hand ein ſilbernes Becken; die Alte zuckte mur - melnd das Meſſer und durchſchnitt den weißen Hals der Kleinen. Da wand ſich hinter ihnen etwas hervor, das beide nicht zu ſehen ſchienen, ſonſt haͤtten ſie ſich wohl eben ſo inniglich wie Emil entſetzt. Ein ſcheußlicher Drachenhals waͤlzte ſich ſchuppig laͤnger und laͤnger aus der Dunkel - heit, neigte ſich uͤber das Kind hin, das mit auf - geloͤſten Gliedern der Alten in den Armen hing, die ſchwarze Zunge leckte vom ſprudelnden rothen Blut, und ein gruͤn funkelndes Auge traf durch die Spalte hinuͤber in Emils Blick und Gehirn und Herz, daß er im ſelben Augenblick zu Boden ſtuͤrzte.

Leblos traf ihn Roderich nach einigen Stunden.

Am heiterſten Sommermorgen ſaß in gruͤner Laube eine Geſellſchaft von Freunden um ein ſchmack - haftes Fruͤhſtuͤck verſammelt. Man lachte und ſcherzte, alle ſtießen freudig oft mit den Glaͤſern auf die Geſundheit des jungen Brautpaares an, und wuͤnſchten ihm Heil und Gluͤck. Braͤutigam und Braut waren nicht zugegen, denn die Schoͤne297Liebeszauber.war noch mit ihrem Schmucke beſchaͤftiget, und der junge Ehemann luſtwandelte, ſeinem Gluͤcke nachſinnend, einſam in einem entfernten Baum - gange. Schade, ſagte Anderſon, daß wir keine Muſik haben ſollen; alle unſere Damen ſind unzu - frieden und haben noch nie ſo ſehr zu tanzen ge - wuͤnſcht, als gerade heut, da es nicht geſchehn kann; aber es iſt ihm zu ſehr zuwider.

Ich kann es euch wohl verrathen, ſagte ein junger Offizier, daß wir dennoch einen Ball haben werden, und zwar einen recht tollen und geraͤuſchi - gen; alles iſt ſchon eingerichtet und die Muſikan - ten ſind ſchon heimlich angekommen und unſichtbar einquartirt. Roderich hat alle dieſe Einrichtungen getroffen, denn er ſagt, man muͤſſe ihm nicht zu viel nachgeben, und am wenigſten heut ſeine wun - derlichen Launen anerkennen.

Er iſt auch ſchon viel menſchlicher und umgaͤng - licher als ehemals, ſagte der Offizier, und darum glaube ich, wird ihm dieſe Abaͤnderung nicht ein - mal unangenehm auffallen. Iſt doch dieſe ganze Heirath ſo ploͤtzlich gegen unſer aller Erwarten eingetreten.

Sein ganzes Leben, fuhr Anderſon fort, iſt ſo ſonderbar, wie ſein Charakter. Ihr wißt ja alle, wie er im vorigen Herbſt auf einer Reiſe, die er machen wollte, in unſrer Stadt ankam, ſich den Winter hier aufhielt, wie ein Melankoliſcher faſt nur in ſeinem Zimmer lebte, und ſich weder um unſer Theater noch andre Vergnuͤgungen kuͤmmerte. Er war beinah mit Roderich, ſeinem vertrauteſten298Erſte Abtheilung.Freunde, zerfallen, weil dieſer ihn zu zerſtreuen ſuchte, und nicht jeder ſeiner finſtern Launen nach - geben wollte. Im Grunde war ſeine uͤbertriebene Reizbarkeit und Verſtimmung wohl Krankheit, die ſich in ſeinem Koͤrper zubereitete; denn, wie euch nicht unbekannt iſt, wurde er vor vier Monaten vom heftigſten Nervenfieber befallen, ſo, daß wir ihn alle ſchon aufgeben mußten. Nachdem ſeine Phantaſien ausgeraſet hatten, und er wieder zu ſich kam, hatte er ſein Gedaͤchtniß faſt ganz einge - buͤßt, nur ſeine fruͤheren Kinder - und Jugendjahre waren ihm gegenwaͤrtig, und er konnte ſich durch - aus nicht erinnern, was waͤhrend ſeiner Reiſe oder vor ſeiner Krankheit ſich mit ihm zugetragen habe. Er mußte alle ſeine Freunde, ſelbſt den Roderich, von neuem kennen lernen; nur nach und nach ward es lichter in ſeinem Innern, und die Vergangen - heit und was ihm widerfahren trat wieder, jedoch immer nur ſchwach beleuchtet, in ſein Gedaͤchtniß zuruͤck. Sein Oheim hatte ihn zu ſich in das Haus genommen, um ihn beſſer zu verpflegen, und er war wie ein Kind, und ließ alles mit ſich ma - chen. Als er zum erſtenmal ausfuhr, und bei der Fruͤhlingswaͤrme den Park beſuchte, ſah er abſeits vom Wege ein Maͤdchen in tiefen Gedanken ſitzen. Sie ſah auf, ihr Blick traf den ſeinigen, und wie von einer unbegreiflichen Begeiſterung ergriffen, ließ er anhalten, ſtieg aus, ſetzte ſich zu ihr, faßte ihre Haͤnde, und ergoß ſich in einem Strom von Thraͤnen. Man war von neuem fuͤr ſeinen Ver - ſtand beſorgt; aber er wurde ruhig, heiter und299Liebeszauber.geſpraͤchig, ließ ſich bei den Eltern des Maͤdchens vorſtellen, und hielt ſogleich beim erſten Beſuch um ihre Hand an, die ſie ihm auch zuſagte, da die Eltern ihre Einwilligung nicht verweigerten. Er war gluͤcklich und ein neues Leben ging in ihm auf; mit jedem Tage ward er geſunder und zufriedener. So beſuchte er mich vor acht Tagen auf meinem Landgute hier; es gefiel ihm uͤber die Maßen, und zwar ſo, daß er nicht ruhte, bis ich es ihm ver - kaufen mußte. Es lag nur an mir, ſeine Leiden - ſchaftlichkeit zu meinem Vortheil und ſeinem Scha - den zu benutzen, denn was er will, will er heftig und ploͤtzlich vollendet. Sogleich machte er ſeine Einrichtungen, ließ Geraͤthe herſchaffen, um hier noch die Sommermonate zu wohnen, und ſo ſind wir denn alle heut zu ſeiner Hochzeit in meinem ehemaligen Wohnſitze verſammelt.

Das Haus war groß und lag in der ſchoͤnſten Gegend. Die eine Seite ſah nach einem Fluſſe und angenehmen Huͤgeln hinuͤber, rund um von mannichfaltigen Gebuͤſchen und Baͤumen umgeben, unmittelbar davor lag ein Garten mit duftenden Blumen. Hier waren die Orangen und Citronen - Baͤume in einem großen offenen Saale aufgeſtellt, nur kleine Thuͤren fuͤhrten zu Vorrathskammern, Kellern und Speiſegewoͤlben. Von der andern Seite breitete ſich ein gruͤnender Wieſenplan aus, an welchen ohne andre Verbindung ein Park graͤnzte; hier bildeten die beiden langen Fluͤgel des Hauſes einen geraͤumigen Hof, und auf dreien uͤber ein - ander ſtehenden Saͤulenreihen verbanden breite of -300Erſte Abtheilung.fene Gaͤnge alle Zimmer und Saͤle des Gebaͤudes, wodurch der Wohnſitz von dieſer Seite einen reizen - den, ja wunderbaren Charakter erhielt, indem ſich beſtaͤndig Figuren in mannigfaltigen Geſchaͤften in dieſen geraͤumigeren Hallen bewegten; zwiſchen den Saͤulen und aus jedem Zimmer traten neue Ge - ſtalten hervor, und erſchienen oben oder unten wie - der, um ſich in andern Thuͤren zu verlieren; auch verſammelte ſich Geſellſchaft dort zum Thee oder Spiel, und dadurch gewann von unten das Ganze das Anſehn eines Theaters, vor welchem jedermann mit Luſt verweilte, und in Gedanken die ſeltſam - ſten und anziehendſten Begebenheiten oben erwar - tete.

Die Geſellſchaft der jungen Leute wollte eben aufſtehn, als die geſchmuͤckte Braut durch den Gar - ten ging und zu ihnen trat. Sie war in violettem Sammet gekleidet, ein funkelnder Halsſchmuck wiegte ſich auf dem glaͤnzenden Nacken, koſtbare Spitzen lieſſen den weißen ſchwellenden Buſen durchſchimmern, das braune Haar ward durch den Myrthen - und Blumenkranz reizender gefaͤrbt. Sie gruͤßte alle freundlich, und die Juͤnglinge waren von der hohen Schoͤnheit uͤberraſcht. Sie hatte Blumen im Garten gepfluͤckt, und wandte ſich jetzt nach dem innern Hauſe, um nach der Ordnung des Mahles zu ſehen. Man hatte in dem untern offnen Gange die Tafeln hingeſtellt: blendend ſchimmerten die Tiſche mit den weißen Gedecken und Kriſtallen, eine Fuͤlle mannichfarbiger Blumen glaͤnzte aus zierlichen Gefaͤßen herunter,301Liebeszauber.duftende gruͤne und bunte Kraͤnze ſchlangen ſich um die Saͤulen, und reizend war der Anblick, als die Braut ſich jetzt mit holdſeliger Bewegung zwi - ſchen dem Schimmer der Blumen, neben den Ti - ſchen und Saͤulen wandelnd bewegte, das Ganze pruͤfend uͤberſchaute, und dann verſchwand, und hoͤher hinauf noch einmal wieder erſchien, um ihr Zimmer zu oͤffnen. Sie iſt das reizendſte und ſchoͤnſte Maͤdchen, das ich je gekannt habe! rief Anderſon aus: unſer Freund iſt gluͤcklich!

Selbſt ihre Blaͤſſe, nahm der Offizier das Wort, erhoͤht ihre Schoͤnheit; die braunen Augen blitzen uͤber den bleichen Wangen und unter den dunkeln Haaren ſo maͤchtiger hervor, und dieſe wunderbare, faſt brennende Roͤthe der Lippen macht ihr Angeſicht zu einem wahrhaft zauberiſchen Bilde.

Der Schein ſtiller Melankolie, ſagte Ander - ſon, welcher ſie umgiebt, umfließt ſie wie mit ho - her Majeſtaͤt.

Der Braͤutigam trat zu ihnen, und fragte nach Roderich; ſie hatten ihn alle ſchon laͤngſt vermißt und konnten nicht begreifen, wo er ſich aufhalten moͤchte. Alle gingen, um ihn zu ſuchen. Er iſt unten im Saal, ſagte endlich ein junger Menſch, den ſie ebenfalls fragten, zwiſchen allen Bedienten und Kutſchern, denen er Kartenkuͤnſte macht, die ſie nicht genug bewundern koͤnnen. Sie traten hinein und unterbrachen die ſchallende Verwunde - rung der Dienerſchaft, indeß ſich Roderich nicht ſtoͤren ließ, ſondern frei in ſeinen magiſchen Kunſt - ſtuͤcken fortfuhr. Als er geendigt hatte ging er302Erſte Abtheilung.mit den uͤbrigen in den Garten und ſagte: ich thue es nur, um dieſe Menſchen im Glauben zu ſtaͤr - ken, denn dieſe Kuͤnſte bringen ihrer Kutſcher - Freigeiſterei auf lange einen Stoß bei, und helfen zu ihrer Bekehrung.

Ich ſehe, ſagte der Braͤutigam, daß mein Freund unter ſeinen uͤbrigen Talenten auch das eines Charlatans nicht zu geringe achtet, um es auszubilden.

Wir leben in einer wunderlichen Zeit, antwor - tete jener; man ſoll heut zu Tage nichts verachten, denn man weiß nicht, wozu es zu gebrauchen iſt.

Als die beiden Freunde ſich allein befanden, wandte ſich Emil wieder in den dunkeln Baum - gang und ſagte: Warum bin ich an dieſem Tage, welcher der gluͤcklichſte meines Lebens iſt, ſo truͤbe geſtimmt? Aber ich verſichere dich, ſo wenig du es auch glauben willſt, es paßt nicht fuͤr mich, mich in dieſer Menge von Menſchen zu bewegen, fuͤr jeden Aufmerkſamkeit zu haben, keinen dieſer Verwandten von ihrer und meiner Seite zu ver - nachlaͤſſigen, den Eltern Ehrfurcht zu beweiſen, die Damen bekomplimentieren, die Ankommenden em - pfangen, und die Dienſtboten und Pferde gehoͤrig zu verſorgen.

Das macht ſich ja alles von ſelbſt, ſagte Ro - derich; ſieh, dein Haus iſt recht auf dergleichen eingerichtet, und dein Haushofmeiſter, der alle Haͤnde voll zu thun und alle Beine voll zu lau - fen hat, iſt recht wie dazu geſchaffen, alles ordent - lich zu betreiben, um die allergroͤßte Geſellſchaft303Liebeszauber.aus Verwirrung zu erretten und mit Anſtand zu bewirthen. Ueberlaß das ihm und deiner ſchoͤnen Braut.

Heute Morgen, noch vor Sonnenaufgang, ſagte Emil, wandelte ich durch das Gehoͤlz; mir war feierlich zu Muthe, ich fuͤhlte recht im In - nern, wie mein Leben nun beſtimmt ſey und ernſt werde, wie dieſe Liebe mir Heimath und Beruf erſchaffen hat. Ich kam dort der Laube voruͤber; ich hoͤrte Stimmen: es war meine Geliebte in einem traulichen Geſpraͤch. Iſt es nun, ſagte eine fremde Stimme, nicht ſo gekommen, wie ich geſagt hatte? Gerade ſo, wie ich wußte, daß es geſche - hen wuͤrde? Ihr habt euren Wunſch, darum ſeid nun auch froh. Ich mochte nicht zu ihnen treten; nachher ging ich der Laube naͤher, doch hatten ſich beide ſchon entfernt. Aber ich ſinne und ſinne: was wollen dieſe Worte bedeuten?

Roderich ſagte: ſie mag dich vielleicht ſchon laͤngſt geliebt haben, ohne daß du es wußteſt; du biſt deſto gluͤcklicher.

Eine ſpaͤte Nachtigall erhub jezt ihren Geſang und ſchien dem Liebenden Heil und Wonne zuzu - rufen. Emil wurde tiefſinniger. Komm mit mir, um dich aufzuheitern, ſagte Roderich, in das Dorf hinunter, da ſollſt du ein zweites Brautpaar ſehn, denn du mußt dir nicht einbilden, daß du heut allein Hochzeit feyerſt. Ein junger Knecht iſt in Langeweile und Einſamkeit mit einer aͤltern garſti - gen Magd zu vertraut geworden, und der Pinſel haͤlt ſich nun fuͤr verpflichtet, ſie zu ſeiner Frau304Erſte Abtheilung.zu machen. Jezt muͤſſen ſie beide ſchon geputzt ſeyn; dieſen Anblick wollen wir nicht verſaͤumen, denn er iſt ohne Zweifel intereſſant.

Der Trauernde ließ ſich von dem ſchwatzenden heitern Freunde fortziehn, und ſie kamen bald zu der Huͤtte. Eben trat der Zug heraus, um ſich nach der Kirche zu begeben. Der junge Knecht war in ſeinem gewoͤhnlichen leinenen Kittel, und prangte nur mit einem Paar ledernen Beinkleidern, die er ſo hell als moͤglich angeſtrichen hatte; er war von einfaͤltiger Miene und ſchien verlegen. Die Braut war von der Sonne verbrannt, nur wenige lezte Spuren der Jugend waren an ihr ſichtbar; ſie war grob und arm aber reinlich geklei - det, einige rothe und blaue ſeidne Baͤnder, ſchon etwas entfaͤrbt, flatterten von ihrem Mieder, am meiſten aber war ſie dadurch entſtellt, daß man ihr die Haare ſteif mit Fett, Mehl und Nadeln aus der Stirn geſtrichen und oben zuſammen geheftet hatte, auf dieſer Spitze des aufgethuͤrmten Haars ſtand der Kranz. Sie laͤchelte und ſchien froͤlich, doch war ſie verſchaͤmt und bloͤde. Die alten El - tern folgten; der Vater war auch nur Knecht auf dem Hofe, und die Huͤtte, der Hausrath ſo wie die Kleidung, alles verrieth die aͤußerſte Armuth. Ein ſchielender ſchmutziger Muſikant folgte dem Zuge, der greinend auf einer Geige ſtrich und da - zu ſchrie, dieſe war halb aus Pappe und Holz zu - ſammen geleimt, und ſtatt der Saiten mit drei Bindfaͤden bezogen. Der Zug machte Halt, als der neue gnaͤdige Herr zu den Leuten trat. Einigemuth -305Liebeszauber.muthwillige Dienſtboten, junge Burſche und Maͤg - de, ſchaͤkerten und lachten, und verſpotteten das Brautpaar, vorzuͤglich die Kammerjungfern, die ſich ſchoͤner duͤnkten und ſich unendlich beſſer geklei - det ſahen. Ein Schauer erfaßte Emil; er blickte nach Roderich um, dieſer war aber ſchon wieder entlaufen. Ein naſeweiſer Burſche mit einem Ti - tuskopf, der Bedienter eines Fremden, draͤngte ſich, um witzig zu erſcheinen, an Emil und rief: Nun, gnaͤdiger Herr, was ſagen Sie zu dem glaͤnzenden Brautpaar? Beide wiſſen noch nicht, wo ſie mor - gen Brod hernehmen ſollen; und heut Nachmittag werden ſie doch einen Ball geben, der Virtuos dort iſt ſchon beſtellt. Kein Brod? ſagte Emil; giebt es ſo etwas? Ihr ganzes Elend iſt dem Volke bekannt, fuhr jener ſchwatzend fort, aber der Kerl ſagt, er bleibe dem Weſen dennoch gut, wenn ſie auch nichts zubraͤchte; o ja freilich, die Liebe iſt allgewaltig! das Lumpenpack hat nicht einmal Betten, ſie muͤſſen ſogar dieſe Nacht auf der Streu ſchlafen; das Duͤnnbier haben ſie ſich zuſammen gebettelt, worin ſie ſich beſaufen wol - len. Alle umher lachten laut, und die beiden ver - ſpotteten Ungluͤcklichen ſchlugen die Augen nieder. Emil ſtieß zornig den Schwaͤtzer von ſich; nehmt! rief er aus, und warf in die Hand des erſtarrten Braͤutigams hundert Dukaten, welche er am Mor - gen eingenommen hatte. Die Alten und die Braut - leute weinten laut, warfen ſich ungeſchickt auf die Kniee und kuͤßten ihm Haͤnde und Kleider. Er wollte ſich losmachen. Haltet euch damit dasI. [20]306Erſte Abtheilung.Elend vom Leibe, ſo lange ihr koͤnnt! rief er be - taͤubt. O auf zeitlebens, mein gnaͤdigſter Herr, ſind wir gluͤcklich! ſchrien alle.

Er wußte nicht, wie er fort gekommen war; er fand ſich allein, und eilte mit wankenden Schrit - ten in den Wald. Die dichteſte, einſamſte Stelle ſuchte er auf, und warf ſich auf einen Raſenhuͤgel nieder, indem er den ausbrechenden Strom ſeiner Thraͤnen nicht mehr zuruͤckhielt. Mir ekelt das Leben! ſchluchzte er in tiefer Bewegung; ich kann nicht froh und gluͤcklich ſeyn, ich will es nicht! Empfange mich bald du freundlicher Boden, ver - birg mich in deinen kuͤhlen Armen vor den wilden Thieren, die ſich Menſchen nennen! O Gott im Himmel! wie verdien 'ich es, daß ich auf Daunen ruhe und Seide trage, daß mir die Traube ihr koſtbarſtes Blut ſpendet, und alles mir Ehre und Liebe dringend anbietet und darbringt? Dieſer Arme iſt beſſer und edler als ich, und das Elend iſt ſeine Amme, und Hohn und giftiger Spott ſein Gluͤck - wunſch. Suͤndlich duͤnkt mir jeder Leckerbiſſen, den ich genieße, jeder Trunk aus geſchliffenem Glaſe, mein Ruhen auf weichen Betten, das Tragen von Gold und Geſchmeide, da die Welt viel tauſend mal tauſend Ungluͤckliche umher jagt, die nach dem weggeworfenen vertrockneten Brode hungern, die nicht wiſſen, was Labſal iſt. O jetzt verſteh ich euch, ihr frommen Heiligen, ihr Verſchmaͤhten, ihr Verhoͤhnten, die ihr Alles, bis auf euer Ge - wand der Armuth, ausſtreutet, einen Sack um eure Lenden guͤrtetet, und ſelbſt als Bettler die Schmaͤh -307Liebeszauber.ungen und Fußſtoͤße erdulden wolltet, mit denen roher Uebermuth und reiche Schwelgerei das Elend von ihren Tafeln weiſen, um nur dieſe Suͤnde des Ueberfluſſes von euch zu werfen.

Alle Gebilde der Welt ſchwankten wie ein Ne - bel vor ſeinen Augen; er nahm ſich vor, die Ver - ſtoßenen als ſeine Bruͤder anzuſehn, und ſich von den Gluͤcklichen zu entfernen. Lange hatte man ſchon im Saale ſeiner zur Trauung gewartet, die Braut war beſorgt, die Eltern ſuchten ihn im Garten und Park; endlich kam er ausgeweint und leichter zuruͤck, und die feyerliche Handlung ward vollzogen.

Man begab ſich aus dem untern Saal nach der offnen Halle, um ſich zu Tiſche zu ſetzen. Braut und Braͤutigam gingen voran, und die uͤbrigen folgten im Zuge; Roderich bot ſeinen Arm einem jungen Maͤdchen, die munter und geſchwaͤtzig war. Warum nur die Braͤute immer weinen und bei der Trauung ſo ernſthaft ausſehn, ſagte dieſe, in - dem ſie zur Gallerie hinauf ſtiegen.

Weil ſie in dieſem Augenblick am lebhafteſten von der Wichtigkeit und dem Geheimnißvollen des Lebens durchdrungen werden, antwortete Roderich.

Aber unſre Braut, fuhr jene fort, uͤbertrifft noch an Feierlichkeit alle, die ich jemals geſehn habe; ſie iſt uͤberhaupt immer ſchwermuͤthig, man ſieht ſie nie recht heiter lachen.

Dies macht ihrem Herzen um ſo mehr Ehre, antwortete Roderich, gegen ſeine Gewohnheit ver - ſtimmt. Sie wiſſen vielleicht nicht, mein Fraͤulein,308Erſte Abtheilung.daß die Braut vor einigen Jahren ein allerliebſtes verwaiſtes Kind, ein Maͤdchen, zu ſich genommen hatte, um es zu erziehn. Dieſer Kleinen widmete ſie alle ihre Zeit, und die Liebe des zarten Ge - ſchoͤpfes war ihr ſuͤßeſter Lohn. Dieſes Maͤdchen war ſieben Jahr alt geworden, als ſie ſich auf einem Spaziergange in der Stadt verlor, und aller angewandten Muͤhe ohngeachtet, noch nicht wieder hat aufgefunden werden koͤnnen. Dieſen Unfall hat ſich das edle Weſen ſo zu Gemuͤth gezogen, daß ſie ſeitdem an einer ſtillen Melankolie leidet, und durch nichts von dieſer Sehnſucht nach ihrer kleinen Geſpielin kann abgezogen werden.

Wahrhaftig, recht intereſſant! ſagte das Fraͤu - lein; das kann ſich in der Zukunft recht roman - tiſch entwickeln, und zum angenehmſten Gedichte Gelegenheit geben.

Man ordnete ſich an der Tafel; Braut und Braͤutigam nahmen die Mitte ein, und ſahen in die heitere Landſchaft hinaus. Man ſchwatzte und trank Geſundheiten, die munterſte Laune herrſchte; die Eltern der Braut waren ganz gluͤcklich, nur der Braͤutigam war ſtill und in ſich gekehrt, genoß nur wenig, und nahm an den Geſpraͤchen keinen Antheil. Er erſchrack, als ſich muſikaliſche Toͤne durch die Luft von oben hernieder warfen, doch beruhigte er ſich wieder, da es ſanfte Hoͤrnertoͤne blieben, die angenehm uͤber die Gebuͤſche hinweg rauſchten, ſich durch den Park zogen, und am fer - nen Berge verhallten. Roderich hatte ſie auf die Gallerie uͤber die Speiſenden geſtellt, und Emil309Liebeszauber.war mit dieſer Einrichtung zufrieden. Gegen das Ende der Mahlzeit ließ er ſeinen Haushofmeiſter kommen, und ſagte zur Braut gewendet: liebe Freundin, laß auch die Armuth an unſerm Ue - berfluſſe Theil nehmen. Er befahl hierauf, eine Anzahl Flaſchen Wein, Gebackenes, und verſchie - dene Gerichte in reichlichen Portionen dem armen Brautpaar hinuͤber zu ſenden, damit ihnen dieſer Tag auch ein Freudentag ſein koͤnne, deſſen ſie ſich nachher gern erinnern moͤchten. Sieh, Freund, rief Roderich aus, wie ſchoͤn alles in der Welt zuſammen haͤngt! Mein unnuͤtzes Umtreiben und Schwatzen, das du ſo oft an mir tadelſt, hat doch nun dieſe gute Handlung veranlaßt. Viele wollten dem Wirthe uͤber ſein Mitleid und gutes Herz etwas Artiges ſagen, und das Fraͤulein ſprach von ſchoͤner Geſinnung und Edelmuth. O ſchweigen wir! rief Emil zornig: es iſt keine gute Handlung, ja uͤberhaupt keine Handlung, es iſt nichts! Wenn Schwalben und Haͤnflinge ſich von den weggewor - fenen Broſamen dieſes Ueberfluſſes naͤhren, und ſie zu ihren Jungen in die Neſter tragen, ſollte ich nicht eines armen Mitbruders gedenken, der mein bedarf? Wenn ich meinem Herzen folgen duͤrfte, ſo wuͤrdet ihr mich eben ſo gut wie manchen andern verlachen und verſpotten, der in die Wuͤſte zog, um nichts mehr von der Welt und ihrem Edelmuth zu erfahren.

Man ſchwieg, und Roderich erkannte in den gluͤhenden Augen ſeines Freundes den heftigſten Unwillen; er beſorgte, daß er ſich in ſeiner Ver -310Erſte Abtheilung.ſtimmung noch mehr vergeſſen moͤchte, und ſuchte ſchnell das Geſpraͤch auf andre Gegenſtaͤnde zu lenken. Doch Emil war unruhig und zerſtreut geworden; hauptſaͤchlich wendeten ſich ſeine Blicke oft nach der oberſten Gallerie, auf welcher die Bedienten, die das letzte Stockwerk bewohnten, vie - lerlei zu ſchaffen hatten. Wer iſt die widerliche Alte, die dort ſo geſchaͤftig iſt, und ſo oft in ihrem grauen Mantel wieder kommt? fragte er endlich. Sie gehoͤrt zu meiner Bedienung, ſagte die Braut; ſie ſoll die Aufſicht uͤber die Kammerjungfern und juͤngeren Maͤgde fuͤhren. Wie kannſt du ſolche Haͤßlichkeit in deiner Naͤhe dulden? erwiederte Emil. Laß ſie, antwortete die junge Frau, wollen die Haͤßlichen doch auch leben, und da ſie gut und redlich iſt, kann ſie uns von großem Nutzen ſeyn.

Man erhob ſich von der Tafel, und alles um - gab den neuen Gatten, wuͤnſchte nochmals Gluͤck, und draͤngte dann mit Bitten um die Erlaubniß zum Ball. Die Braut umarmte ihn aͤußerſt freund - lich und ſagte: meine erſte Bitte, Geliebter, wirſt du mir nicht abſchlagen, denn wir haben uns alle darauf gefreut: Ich habe ſo lange nicht getanzt, und du ſelbſt haſt mich noch niemals tanzen ſehn. Biſt du denn gar nicht neugierig darauf, wie ich mich in dieſer Bewegung ausnehme?

So heiter, ſagte Emil, habe ich dich noch nie - mals geſehn. Ich will kein Stoͤrer eurer Freude ſeyn, macht, was ihr wollt; nur verlange keiner von mir, daß ich mich ſelbſt mit linkiſchen Spruͤn - gen laͤcherlich machen ſoll.

311Liebeszauber.

Wenn du ein ſchlechter Taͤnzer biſt, ſagte ſie lachend, ſo kannſt du ſicher ſeyn, daß dich jeder - mann gern in Ruhe laſſen wird. Die Braut ent - fernte ſich hierauf, um ſich umzuziehn und ihr Ball - kleid anzulegen.

Sie weiß es nicht, ſagte Emil zu Roderich, mit dem er ſich entfernte, daß ich aus einem andern Zimmer in das ihrige durch eine verborgene Thuͤr kommen kann, ich werde ſie beim Umkleiden uͤber - raſchen.

Als Emil fortgegangen war, und viele der Damen ſich auch entfernt hatten, um die zum Tanz noͤthigen Veraͤnderungen des Putzes zu treffen, nahm Roderich die juͤngeren Leute beiſeit und fuͤhrte ſie auf ſein Zimmer. Es wird ſchon Abend, ſagte er hier, bald iſt es finſter; jetzt geſchwind jeder in ſeine Verkleidung, um dieſe Nacht recht bunt und toll zu verſchwaͤrmen. Was ihr nur erſinnen koͤnnt, genirt euch nicht, je aͤrger, je beſſer! Je ſcheußli - cher die Fratzen ſind, die ihr aus euch hervor bringt, je mehr will ich euch loben. Da muß es keinen ſo widerlichen Hoͤcker, keinen ſo ungeſtalten Bauch, keine ſo widerſinnige Kleidung geben, die nicht heute paradirt. Eine Hochzeit iſt eine ſo wunderſame Begebenheit, ein ganz neuer ungewohnter Zuſtand wird den Verheiratheten ſo ploͤtzlich wie ein Maͤhr - chen uͤber den Hals geworfen, daß man dieſes Feſt nicht verwirrt und unklug genug anfangen kann, um nur irgend fuͤr die Eheleute die ploͤtzliche Veraͤnderung zu motiviren, ſo daß ſie wie in einem phantaſtiſchen Traum in die neue Lage hinuͤber312Erſte Abtheilung.ſchwimmen, und darum laßt uns nur recht in dieſe Nacht hinein wuͤthen, und nehmt keine Einrede von denen an, die ſich verſtaͤndig ſtellen moͤchten.

Sey ohne Sorge, ſagte Anderſon, wir haben einen großen Koffer voll Masken und toller bun - ter Kleidungsſtuͤcke aus der Stadt mitgebracht, du wirſt dich ſelbſt daruͤber verwundern.

Aber ſeht her, ſagte Roderich, was ich von meinem Schneider eingekauft habe, der dieſen koſt - baren Schatz ſchon in Laͤppchen verſchneiden wollte! Er hat dieſe Tracht von einer alten Gevatterinn erhandelt, die damit gewiß bei Lucifer auf dem Blocksberge Galla gemacht hat. Seht dieſes ſchar - lachrothe Mieder, mit dieſen goldenen Treſſen und Franzen, und dieſe goldglaͤnzende Haube, die mir unendlich ehrwuͤrdig ſtehn muß, dazu nehm ich dieſen gruͤnſeidnen Rock mit ſafrangelbem Beſatz und dieſe ſcheußliche Maske, und fuͤhre nachher als altes Weib den ganzen Chor der Carikaturen in das Schlafzimmer. Macht, daß ihr fertig werdet! wir wollen dann feierlich die junge Frau abholen.

Die Hoͤrner muſizirten noch, die Geſellſchaft wandelte im Garten, oder ſaß vor dem Hauſe. Die Sonne war hinter truͤben Wolken untergegangen, und die Gegend lag im grauen Daͤmmer, als ploͤtzlich unter der Wolkendecke der ſcheidende Stral noch einmal hervor brach, und rings die Gegend, vorzuͤglich aber das Gebaͤude mit ſeinen Gaͤngen, Saͤulen und Blumengewinden, wie mit rothem Blute beſprengte. Da ſahen die Eltern der Braut, und die uͤbrigen Zuſchauer den abentheuerlichſten313Liebeszauber.Zug nach dem obern Corredor ſchweben: Roderich als die rothe Alte voran, und ihr nachfolgend Buck - lichte, dickbauchige Fratzen, ungeheure Perucken, Tartaglias, Policinells und geſpenſtiſche Pierrots, weibliche Figuren in ausgeſpannten Reifroͤcken und ellenhohen Friſuren, die widerwaͤrtigſten Geſtalten, alle wie aus einem aͤngſtlichen Traum. Sie zogen gaukelnd und ſich drehend und wackelnd, trippelnd und ſich bruͤſtend uͤber den Gang, und verſchwan - den dann in eine der Thuͤren. Nur wenige der Zuſchauer waren zum Lachen gekommen, ſo hatte ſie der ſeltſamſte Anblick uͤberraſcht. Ploͤtzlich brach ein gellender Schrei aus den innern Zimmern, und hervor ſtuͤrzte in das blutige Abendroth die bleiche Braut, im weißen kurzen Kleide, um welches Blu - menranken flatterten, der ſchoͤne Buſen ganz frei, die Fuͤlle der Locken in Luͤften ſchwebend. Wie wahnſinnig, die Augen rollend, das Geſicht ent - ſtellt, ſtuͤrzte ſie uͤber die Gallerie, und fand in ihrer Angſt verblindet keine Thuͤr und Treppe, und gleich darauf, ihr nachrennend, Emil, den blan - ken tuͤrkiſchen Dolch in hoch erhobener Fauſt. Jetzt war ſie am Ende des Ganges, ſie konnte nicht weiter, er erreichte ſie. Die maskirten Freunde und die graue Alte waren ihm nach geſtuͤrzt. Aber ſchon hatte er wuͤthend ihre Bruſt durchbohrt, und den weißen Hals durchſchnitten, ihr Blut ſtroͤmte im Glanz des Abends. Die Alte hatte ſich mit ihm umfaßt, ihn zuruͤck zu reißen; kaͤmpfend ſchleu - derte er ſich mit ihr uͤber das Gelaͤnder, und beide fielen zerſchmettert zu den Fuͤßen der Verwandten314Erſte Abtheilung.nieder, die mit ſtummem Entſetzen der blutigen Scene zugeſchaut hatten. Oben und im Hofe, oder von den Gallerien und Treppen herunter eilend, ſtanden und rannten die ſcheußlichen Larven in mannichfaltigen Gruppen, hoͤlliſchen Daͤmonen aͤhnlich.

Roderich nahm den Sterbenden in ſeine Arme. Mit dem Dolche ſpielend hatte er ihn im Zimmer ſeiner Gattinn gefunden. Sie war faſt angekleidet, bei ſeinem Eintreten; beim Anblick des rothen widrigen Kleides hatte ſich ſeine Erinnerung belebt, das Schreckbild jener Nacht war vor ſeine Sinne getreten; knirſchend war er auf die zitternde, flie - hende Braut zugeſprungen, um den Mord und ihr teufliſches Kunſtſtuͤck zu beſtrafen. Die Alte beſtaͤtigte ſterbend den veruͤbten Frevel, und das ganze Haus war ploͤtzlich in Leid, Trauer und Ent - ſetzen verwandelt worden.

Alle Zuhoͤrer waren bewegt, am meiſten aber Clara, die ſchon fruͤher Zeichen von Ungeduld gegeben hatte. Nein! rief ſie aus und erhob ſich: es iſt nicht auszuhalten! Dieſe Geſchichten gehn zu ſchneidend durch Mark und Bein, und ich weiß mich vor Schauder in keinen meiner Ge - danken mehr zu retten. Es iſt geradezu abſcheu - lich, dergleichen zu erfinden. Ich zittre und aͤngſte mich, und vermuthe, daß aus jedem Buſche, aus jeder Laube ein Ungeheuer auf mich zutreten315Erſte Abtheilung.moͤchte, daß die theuerſten bekannteſten Geſtal - ten ſich ploͤtzlich in fremd geſpenſtiſche Weſen verwandeln duͤrften, und man iſt und bleibt thoͤricht, und hoͤrt zu, laͤßt ſich von den Worten immer weiter und weiter verlocken, bis das un - geheuerſte Grauen uns ploͤtzlich erfaßt, und alle vorigen Empfindungen wie in einen Strudel ge - waltthaͤtig verſchlingt. Es faͤngt an Abend zu werden, laßt uns hinein gehn und aufhoͤren.

Das iſt aber ganz gegen die Abrede, ſagte Manfred, wollt ihr Weiber einer Akademie vor - ſtehn und die Talente aufmuntern, ſo muͤßt ihr auch mehr Muth und Ausdauer haben. Kannſt du den guten Lothar mit dieſer unbilligen Kri - tik ſo kraͤnken? Habt ihr es denn nicht vorher gewußt, daß man euch wuͤrde zu fuͤrchten machen? Woruͤber beklagt ihr euch alſo? Mir hat ſeine Erzaͤhlung ſo wohl gefallen, daß ich, in Nach - ahmung Alexanders, ausrufen koͤnnte: ich moͤchte dieſen Liebeszauber geſchrieben haben, wenn ich nicht meinen Runenberg gedichtet haͤtte! Darum, ihr Beſten, laßt die Narrheit fahren und bleibt huͤbſch thoͤricht und in der Ordnung.

Dieſe Geſchichte und die deinige, Bruder Manfred, ſagte Auguſte, haben uns eben alle Luſt genommen, noch etwas anzuhoͤren, denn ſie ſind zu graͤßlich.

Et tu, Brute? rief Manfred aus; Schwe - ſter, du biſt ja meine Schweſter, wir ſind ja hoffentlich Ein Blut! nicht gegen die eigne Fa -316Erſte Abtheilung.milie und das verwandte Fleiſch richte dein Re - zenſenten-Wuͤthen. Und du, Clara, warum nicht deinen Zorn gegen unſern Anton wenden, der mit ſeinem Maͤhrchen zuerſt dieſen Ton angegeben hat? Aber ich ſehe wohl, wir Autoren ſtehen ſo wenig hier, wie irgend wo, vor einem unpartheiiſchen Richterſtuhl, die Leidenſchaften, Vorliebe und Haß regen ſich bei jeder Rezenſir-Anſtalt. O wohin entfliehen aus dieſer verderbten Welt? Ich werde von nun an gar kein Publikum mehr anerkennen!

Wir ſollen alſo, ſagte Roſalie ſanft und er - roͤthend, auch nicht einmal die kleine Genugthu - ung haben, zu ſchelten, wenn man uns durch die Mittel der Dichtkunſt faſt aus unſern Sin - nen geaͤngſtigt hat?

Laßt es euch doch fuͤr diesmal ſo gefallen, ſagte Manfred, wir wollen euch ein andermal einſchlaͤfern und Langeweile genug machen. Habt ihr aber was zu klagen, ſo klagt uͤber Anton, den ihr ſelbſt zum Koͤnige dieſes Tages erwaͤhlt habt, und der uns befohlen hat, dergleichen Zeug an den Tag zu foͤrdern.

Es waͤre unbillig, ſagte Emilie, ihn zu ſchel - ten, der uns ſo anmuthig unterhalten hat, und der nur mit leiſem Schreck, wie aus der Ferne, die Schilderung der ſtillen Einſamkeit wunder - barer und anziehender machte.

Wie ihr nun ſeid, fuhr Manfred fort, das eine iſt vielleicht gut, und das andre darum noch nicht ſchlimm. Die Phantaſie, die Dichtung317Erſte Abtheilung.alſo wollt ihr verklagen? Aber eure Wirklichkeit! Thut doch nur die Augen auf, angenehme Geg - ner und Widerſacher, und ſeht, daß es dort, vor euren Augen, hinter eurem Ruͤcken, wenn ihr euch nur erkundigt, weit ſchlimmer hergeht. Schlimmer und herber, und alſo auch viel graͤß - licher, weil das Schrecken hier durch nichts Poe - tiſches gemildert wird. Soll ich euch dergleichen Dinge aus dem alltaͤglichſten Leben, oder aus der Geſchichte erzaͤhlen? Ich bin nicht von den ſchwaͤchſten Nerven, aber ich weiß noch wohl, daß ich einige Naͤchte nicht ſchlafen konnte, weil mich das Bild des armen gefolterten Grandier die Tage hindurch bei allen meinen Geſchaͤften verfolgte, ſo daß ich ſelbſt das Buch, worin ich ſein Schickſal geleſen, mit Grauen betrachtete. Dieſer Mann, ein Geiſtlicher, ward durch den gemeinſten abgeſchmackteſten Neid der Zauberei beſchuldigt, unkluge Nonnen ſtellten ſich beſeſſen und klagten ihn als den Urheber ihres Zuſtan - des an; Richelieu, der ſich irrigerweiſe von dem gebildeten und nicht unwitzigen Manne beleidigt glaubte, ging in die veraͤchtliche Kabale ein. Grandier lachte anfangs, aber er ward vor Ge - richt gezogen, unmenſchlich, bis zum Sterben faſt, zermartert, und dann auf die grauſamſte Weiſe verbrannt. Alle ſeine Richter waren von ſeiner Unſchuld uͤberzeugt, ſein hoher Verfolger am in - nigſten; eine aufgeklaͤrte witzige Nation ſpottete uͤber den Prozeß, man beſuchte von Paris die318Erſte Abtheilung.beſeſſenen Nonnen als eine unterhaltende Aben - theuerlichkeit: und doch wurde dieſe Abſcheulich - keit veruͤbt, unſern Tagen ziemlich nahe, in den Tagen der Philoſophie (nicht etwa im ſogenann - ten barbariſchen Mittel-Alter), die ehrwuͤrdige Form der Gerechtigkeit wurde gemißbraucht und geſchaͤndet, die Religion verhoͤhnt, und alles dies, woruͤber unſer Eingeweide entbrennt und Rache ſchreit, hatte weiter keine Folgen, als daß die Pariſer den Zermarterten gutmuͤthig bedauerten. Soll ich euch aus den causes celèbres dieſe un - geheure Begebenheit vorleſen? Oder jene Trauer - geſchichte, welche erzaͤhlt, wie ein Familien-Va - ter unſchuldig auf die Galeeren geſandt wird und dort ſtirbt, ſein Weib und ſeine unmuͤndige Tochter aber lange im Kerker ſchmachten muͤſſen, weil ein Prozeß uͤber einen bedeutenden Diebſtahl ſchlecht eingeleitet ward, und die Richter ſich vom Stande des Klaͤgers verleiten ließen, uͤbereilt zu verfahren; der unſchuldig Beklagte aber Vermoͤ - gen, Ehre und Leben auf das ſchmaͤhlichſte ein - buͤßte? Die Collekte die das junge Maͤdchen nachher fuͤr ihre Mutter und ſich erhielt und er - bettelte, konnte ihnen den Vater nicht wieder geben, noch den ungeheuren Jammer von ihrer Seele nehmen. Nicht wahr, dieſe ſind die aͤch - ten Geſpenſtergeſchichten? Und wer lebt denn wohl, der nicht dergleichen zu erzaͤhlen wuͤßte, von der Grauſamkeit der Menſchen, der Beſtech - lichkeit der Aemter, der Unterdruͤckung des Ar -319Erſte Abtheilung.men? Von dem Elend, welches große und kleine Tyrannen erſchaffen? Hier koͤnnt ihr euch nir - gend troͤſten und euch ſagen: es iſt nur erſon - nen! die Kunſtform beruhigt euer Gemuͤth nicht mit der Nothwendigkeit, ja ihr koͤnnt oft in die - ſem Jammer nicht einmal ein Schickſal ſehn, ſon - dern nur das Blinde, Schreckliche, das was ſagt: ſo iſt es nun einmal! In dergleichen maͤhrchen - haften Erfindungen aber kann ja dieſes Elend der Welt nur wie von vielen muntern Farben gebrochen hineinſpielen, und ich dachte, auch ein nicht ſtarkes Auge muͤßte es auf dieſe Weiſe er - tragen koͤnnen.

Und wenn du auch Recht haͤtteſt, ſagte Clara, ſo bleibe ich doch unerbittlich!

Nun gut, ſagte Manfred,

Sey ganz ein Weib und gieb
Dich hin dem Triebe, der dich zuͤgellos
Ergreift und dahin oder dorthin reißt.

Wie macht ihr Zarten, Weichen, Sanftgeſtimm - ten, es aber nur in unſern Theatern? Ich habe mich oft verwundern muͤſſen, daß eure Nerven die Abſcheulichkeiten aushalten koͤnnen, die wir doch faſt taͤglich dorten ſehen und hoͤren muͤſſen. Ich rede nicht von jenen verfehlten Tragoͤdien, die, um erhaben zu ſeyn, das Oberſte im Men - ſchen zu unterſt kehren, denn uͤber dieſe kann man laͤcheln und ſich an ihnen unterhalten, im - mer wird doch irgend eine That, Begebenheit oder Schickſal dargeſtellt, welches mich beruhigt, auch320Erſte Abtheilung.iſt hie und da wohl ein Zug oder eine Scene gelungen, die fuͤr das Ganze dann gut ſtehn muͤſſen; ſondern von jenem kleinlichen Zwitter - ſchauſpiele ſpreche ich, von jenen Familiengemaͤhl - den und Hofrathsſtuͤcken, von den Hunger - und Elends-Feſten, von der Noth und Angſt, die bis in den fuͤnften Akt die Seelen zerdruͤckt, und ein edles Maͤdchen faſt dahin bringt, einen Lump zu heirathen und das brillanteſte Herz ſitzen zu laſſen; oder wo ein hochſtrebender Sohn den Vater beſtiehlt und zur Verzweiflung bringt, oder Bruͤder mißhellig ſind, Frauen den Schweiß des Gatten verſchwenden, und ſo weiter: denn wer vermoͤchte die unendliche Variation des großen Einerlei auszuſprechen? Bei dieſen Jammer-Luft - ſpielen, kann ich nicht laͤugnen, bin ich ein zu nervenſchwacher Zuſchauer, um nicht auf das Aeu - ßerſte verſtimmt und im Innern ungluͤcklich zu werden. Denn dieſe Dichter haben nicht daran genug, dergleichen Elend nach der Wahrheit zu ſchildern, wodurch ihre Compoſitionen bloß un - kuͤnſtlich wuͤrden, ſondern ſie ziehn mit einem Handgriff, den ſie ſich alle zu eigen gemacht ha - ben, das Edelſte und Hoͤchſte der Menſchheit, Kindes - und Elternliebe, Freundſchaft, die theu - erſten Verhaͤltniſſe, die menſchlichſten, natuͤrlich - ſten und herzlichſten Ruͤhrungen in ihre Carika - turen hinein, und ſchlagen die Toͤne an, die im - mer anklingen muͤſſen, wenn ein gutmuͤthiges Pu - blikum kein heitres Kunſtwerk, ſondern nur einepre -321Erſte Abtheilung.prekaire Wahrheit verlangt, und erregen dadurch die Thraͤnenſchauer, auf welche ſie in ihren Vor - reden ſo ſtolz ſind. Dieſer Thraͤnen (ich muß ſie ſelbſt vergießen, geſteh ich) ſollten wir uns aber ſchaͤmen, ſie ſollten uns gerade am meiſten in Zorn gegen den Dichter entzuͤnden, der das Hoͤchſte und Theuerſte zum Niedrigſten macht, und auf dem Troͤdelmarkt ausbietet. Nicht wahr, es wuͤrde uns alle empoͤren, ein Erbſtuͤck eines ge - liebten Vaters, das wir nur unſerm koſtbarſten Schranke anvertrauen, ploͤtzlich in der ſchmuzigen Judengaſſe oͤffentlich ausſtehn zu ſehn? Gerade ſo empoͤren mich jene Dinge, von denen ſich un - ſer Publikum ſo oft erhoben und gebeſſert fuͤhlt, denn eben die unwuͤrdigſte Taſchenſpielerei jener Autoren iſt es, an ihr Machwerk die Empfin - dungen zu knuͤpfen, die uns als Menſchen ewig heilig und unverletzlich ſeyn ſollen.

Ich verſtehe jetzt, ſagte Emilie, ihren Zorn etwas mehr, der mir oft genug paradox erſchien, indem ich ſah, daß Sie ſich einer gewiſſen Ruͤh - rung nicht erwehren konnten.

Wie koͤnnt ihr Weiber, fuhr Manfred in ſeinem Eifer fort, es nur dulden, daß man eure Muͤtterlichkeit, eure Liebe, euer zartes Hingeben, eure ehelichen Tugenden, eure Keuſchheit, dort als verzerrte Bilder ſo oͤffentlich an den Pranger ſtellt? denn das iſt es eigentlich, wie ſehr ſich alle dieſe Herrn auch die Miene geben wollen, euch und euren Beruf zu verherrlichen. Und ebenI. [21]322Erſte Abtheilung.ſo mit den Romanen. In mein Haus ſoll mir gewiß kein Buch fuͤr Muͤtter, oder Gattinnen, oder Weiber wie ſie ſeyn ſollen, und dergleichen Un - kraut kommen, aus der Verkehrtheit unſers Trei - bens erwachſen und von der Eitelkeit des Zeitalters genaͤhrt. Und dieſelben Herren, die dergleichen wahrhaft unmoraliſches Zeug ſchreiben und prei - ſen, wollen dem Bauer ſeinen Siegfried, Okta - vian und Eulenſpiegel nehmen, um die Morali - taͤt der niedern Staͤnde nicht verderben zu laſ - ſen! Kann es etwas Tolleres und Verkehrteres geben?

Sollte denn aber, ſagte Anton, meine Regie - rung gleich ſo verſtuͤmmelt beginnen, zum gefaͤhr - lichen Beiſpiel aller meiner Thronfolger, und dieſe Abtheilung, die mir zugefallen iſt, gar nicht vol - lendet werden? Was werden dazu unſre Freunde Friedrich, Wilibald und Theodor ſagen? Wahr - lich, wenn ich meiner Pflicht nur irgend nachle - ben will, darf ich es nicht zugeben. Die lie - benswuͤrdige Clara wird alſo hiemit fuͤr eine Re - bellin erklaͤrt, und ihr eine Minute Friſt geſtat - tet, ſich zu beſinnen, widrigenfalls ſie ſich der Strafe ausſetzen wird, daß man ihr ganz allein in der Einſamkeit die Oktavia, oder Armuth und Edelſinn, oder irgend etwas dem Aehnliches, Großartiges vorleſen ſoll.

Ich ergebe mich, ſagte Clara; der furcht - bare Herrſcher ſehe ich, hat zu ſchreckliche Stra - fen in ſeiner Hand, er will uns zwar nicht mit323Erſte Abtheilung.Skorpionen, aber doch mit boͤſem Gewuͤrm gei - ßeln, und darum ziehe ich es vor, mich dem Le - ſen dieſer Maͤhrchen zu ergeben, wenn denn doch einmal geleſen werden ſoll. Nur lebe ich der Hofnung, daß die drei Erzaͤhlungen, welche noch zuruͤckbleiben, nicht crescendo dieſes Grauen er - hoͤhen, ſondern uns decrescendo wieder in den erſten Ton zuruͤck fuͤhren werden.

Vor allem laßt uns in den Saal treten, ſagte Emilie; es iſt ungewoͤhnlich kuͤhl geworden, und unſer geneſender Beherrſcher duͤrfte von der Abendluft mehr, wie wir von der Poeſie zu be - fuͤrchten haben.

Als man den Garten verlaſſen und ſich im offnen Saale wieder geordnet hatte, ſagte Theo - dor: ich kann wenigſtens verſichern, daß dasje - nige, was ich mitzutheilen habe, ſchwerlich Schrek - ken erregen kann.

Von meiner Erfindung kann ich das nehm - liche zuſagen, fuͤgte Wilibald hinzu.

Wenn Friedrich uns daſſelbe verſpricht, ſagte Clara, ſo moͤge denn alſo dieſe Maͤhrchenwelt wieder erſcheinen.

Nur mit Beſchaͤmung, ſagte Friedrich, kann ich Ihnen dieſe Blaͤtter mittheilen, da ich der einzige bin, der ſeine Erzaͤhlung nicht erfunden hat, ſondern mich gezwungen ſehe, Ihnen einen Jugendverſuch vorzulegen, welcher nur eine alte Geſchichte nacherzaͤhlt. Auch iſt die Darſtellung ſo gefaßt, daß ich fuͤrchten muß, dem Gedicht324Erſte Abtheilung.das groͤßte Unrecht gethan zu haben. Doch er - lauben Sie mir ohne weitere Entſchuldigung an - zufangen.

Friedrich las:

Liebesgeſchichte der ſchoͤnen Magelone und des Grafen Peter von Provence.

1. Vorbericht.

Iſt es dir wohl ſchon je, vielgeliebter Leſer, ſo recht traurig in die Seele gefallen, wie betruͤbt es ſey, daß das rauſchende Rad der Zeit ſich immer weiter dreht, und daß bald das zu unterſt gekehrt wird, was ehemals hoch oben war? So faͤhrt Ruhm, Glanz, Pracht und weltberuͤhmte Schoͤn - heit hin, wie goldene Abendwolken, die hinter fer - nen Bergen nieder ſinken, und nur auf kurze Zeit noch ſchwachen gelblichen Schimmer hinter ſich laſ - ſen: die Nacht tritt ernſt und feierlich herauf, die ſchwarzen Heere von Wolken ziehn unter Ster -325Die ſchoͤne Magelone.nenglanz auf und ab, und der letzte Schein erloͤſcht furchtſam; Wind faͤhrt durch den Eichenforſt und kein Huͤttenbewohner denkt an die Roͤthe des Abends zuruͤck. Im Winkel ſitzt wohl ein Knabe in ſich verſunken und ſieht im daͤmmernden Widerſchein der Lampe ein Bild der froͤhlichen Morgenroͤthe; ihm duͤnkt, er hoͤre ſchon die muntern Haͤhne kraͤhen, und wie ein kuͤhler Wind durch die Blaͤtter rauſcht und alle Blumen der Wieſe aus ihrem ſtil - len Schlafe weckt; er vergißt ſich ſelbſt und nickt nach und nach ein, indem das Feuer ausbrennt. Dann kommen Traͤume uͤber ihn, dann ſieht er alles im Glanze der Sonne vor ſich: die wohl - bekannte Heimath, uͤber die wunderbare fremde Geſtalten ſchreiten, Baͤume wachſen hervor, die er nie geſehn, ſie ſcheinen zu reden und menſchli - chen Sinn, Liebe und Vertrauen zu ihm ausdruͤk - ken zu wollen. Wie fuͤhlt er ſich der Welt befreun - det, wie ſchaut ihn alles mit zaͤrtlichem Wohlge - fallen an! die Buͤſche fluͤſtern ihm liebe Worte ins Ohr, indem er voruͤbergeht, fromme Laͤmmer draͤngen ſich um ihn, die Quelle ſcheint mit locken - dem Murmeln ihn fort fuͤhren zu wollen, das Gras unter ſeinen Fuͤßen quillt friſcher und gruͤ - ner hervor.

Unter dieſem Bilde mag dir, geliebter Leſer, der Dichter erſcheinen, und er bittet, daß du ihm vergoͤnnen moͤgeſt, dir ſeinen Traum vorzufuͤhren. Jene alte Geſchichte, die manchen ſonſt ergoͤtzte, die vergeſſen ward, und die er gern mit neuem Lichte bekleiden moͤchte.

326Erſte Abtheilung.
Der Dichter ſieht bemooſte Leichenſteine,
Die keiner ſeiner Freunde kennt,
Dann fuͤhlt er daß beim Mondenſcheine
Im Buſen fromme Ahndung brennt;
Er ſteht und ſinnt, es rauſchen alle Haine,
Es flieht, was ihn von den Geſtorbnen trennt,
Freudigen Schrecks er ſie als alte Freunde kennt.
Gern wandl 'ich in der ſtillen Ferne,
In unſrer Vaͤter frommen Zeit,
Ich ſeh, wie jeder ſich ſo gerne
Der alten guten Maͤhrchen freut,
Oft wiederholt ergoͤtzen ſie noch immer,
Sie kehren wieder wie daſſelbe Mahl,
Der Hoͤrer fuͤhlt des Lebens Luſt und Quaal,
Der Liebe holden Fruͤhlingsſchimmer.
Ob Ihr die alten Toͤne gerne hoͤrt?
Das Lied aus laͤngſt verfloßnen Tagen?
Verzeiht dem Saͤnger, den es ſo bethoͤrt,
Daß er beginnt das Maͤhrchen anzuſagen.

2. Wie ein fremder Saͤnger an den Hof des Grafen von Provence kam.

In der Provence herrſchte vor langer Zeit ein Graf, der einen uͤberaus ſchoͤnen und herrlichen Sohn hatte, welcher als die Freude des Vaters und der Mutter erwuchs. Er war groß und ſtark, und glaͤnzende blonde Haare floſſen um ſeinen Nak -327Die ſchoͤne Magelone.ken und beſchatteten ſein zartes jugendliches Ge - ſicht; dabei war er in aller Waffenuͤbung wohl erfahren, keiner fuͤhrte im Lande und auch außer - halb die Lanze und das Schwerdt ſo wie er, ſo daß ihn Jung und Alt, Groß und Klein, Adel und Unadel bewunderte.

Er war oft gern in ſich gekehrt, als wenn er irgend einem geheimen Wunſche nachhinge, und viele erfahrene Leute glaubten und ſchloſſen daher, er ſey in Liebe; es wollte ihn darum keiner aus ſeinen Traͤumen aufwecken, weil ſie wohl wußten, daß die Liebe ein ſuͤßer Ton iſt, der im Ohre ſchlaͤft und wie aus einem Traume ſeine phantaſiereiche Melodie fortredet, ſo daß ihn der Beherberger ſelbſt nur wie ein dunkles Raͤthſel verſteht, ge - ſchweige denn ein Fremder, und daß er oft nur allzuſchnell entflieht, und ſeine Wohnung in dem Aether und goldenen Morgenwolken wieder ſucht.

Aber der junge Graf Peter kannte ſeine eige - nen Wuͤnſche nicht; es war ihm, als wenn ferne Stimmen unvernehmlich durch einen Wald riefen, er wollte folgen, und Furcht hielt ihn zuruͤck, doch Ahndung draͤngte ihn vor.

Sein Vater gab ein großes Turnier, zu wel - chem viele Ritter geladen wurden. Es war ein Wunder anzuſehn, wie der zarte Juͤngling die Er - fahrenſten aus dem Sattel hob, ſo daß es auch allen Zuſchauern unbegreiflich ſchien. Er ward von allen geruͤhmt und fuͤr den beſten und ſtaͤrk - ſten geachtet; aber kein Lob machte ihn ſtolz, ſon - dern er ſchaͤmte ſich manchmal ſelber, daß er ſo328Erſte Abtheilung.alte und wuͤrdige Rittersmaͤnner ſollte uͤberwunden haben.

Unter andern war auch ein Saͤnger mit her - bei gekommen, der viele fremde Laͤnder geſehen hatte, er war kein Ritter, aber an Einſicht und Erfahrung uͤbertraf er manchen Edlen. Dieſer geſellte ſich zu Graf Peter und lobte ihn unge - mein, ſchloß aber ſeine Rede mit dieſen Worten: Ritter, wenn ich Euch rathen ſollte, ſo muͤßt ihr nicht hier bleiben, ſondern fremde Gegenden und Menſchen ſehn und wohl betrachten, auf daß ſich eure Einſichten, die in der Heimath nur immer einheimiſch bleiben, verbeſſern, und Ihr am Ende das Fremde mit dem Bekannten verbinden koͤnnt.

Er nahm ſeine Laute und ſang:

Keinen hat es noch gereut
Der daß Roß beſtiegen,
Um in friſcher Jugendzeit
Durch die Welt zu fliegen.
Berge und Auen,
Einſamer Wald,
Maͤdchen und Frauen
Praͤchtig im Kleide,
Golden Geſchmeide,
Alles erfreut ihn mit ſchoͤner Geſtalt.
Wunderlich fliehen
Geſtalten dahin,
Schwaͤrmeriſch gluͤhen
Wuͤnſche im jugendlich trunkenen Sinn.
Ruhm ſtreut ihm Roſen
Schnell in die Bahn,
329Die ſchoͤne Magelone.
Lieben und Koſen,
Lorbeer und Roſen
Fuͤhren ihn hoͤher und hoͤher hinan.
Rund um ihn Freuden,
Feinde beneiden,
Erliegend, den Held,
Dann waͤhlt er beſcheiden
Das Fraͤulein das ihm nur vor allen gefaͤllt.
Und Berge und Felder
Und einſame Waͤlder
Mißt er zuruͤck.
Die Eltern in Thraͤnen,
Ach alle ihr Sehnen,
Sie alle vereinigt das lieblichſte Gluͤck.
Sind Jahre verſchwunden,
Erzaͤhlt er dem Sohn
In traulichen Stunden,
Und zeigt ſeine Wunden,
Der Tapferkeit Lohn.
So bleibt das Alter ſelbſt noch jung,
Ein Lichtſtrahl in der Daͤmmerung.

Der Juͤngling hoͤrte ſtill dem Geſange zu; als er geendigt war, blieb er eine Weile in ſich gekehrt, dann ſagte er: ja, nunmehr weiß ich, was mir fehlt, ich kenne nun alle meine Wuͤnſche, in der Ferne wohnt mein Sinn, und mancherlei wechſelnde buntfarbige Bilder ziehn durch mein Gemuͤth. Keine groͤßere Wolluſt fuͤr den jungen Rittersmann, als durch Thal und uͤber Feld dahin ziehn: hier liegt eine hoch erhabene Burg im Glanz der Morgenſonne, dort toͤnt uͤber die Wieſe durch330Erſte Abtheilung.den dichten Wald des Schaͤfers Schallmey, ein edles Fraͤulein fliegt auf einem weißen Zelter vor - uͤber, Ritter und Knappen begegnen mir in blan - ker Ruͤſtung und Abentheuer draͤngen ſich; unge - kannt zieh ich durch die beruͤhmten Staͤdte, der wunderbarſte Wechſel, ein ewig neues Leben um - giebt mich, und ich begreife mich ſelber kaum, wenn ich an die Heimath und den ſtets wieder kehren - den Kreis der hieſigen Begebenheiten zuruͤck denke. O ich moͤchte ſchon auf meinem guten Roſſe ſitzen, ich moͤchte ſogleich dem vaͤterlichen Hauſe Lebe - wohl ſagen.

Er war von dieſen neuen Vorſtellungen erhitzt, und ging ſogleich in das Gemach ſeiner Mutter, wo er auch den Grafen ſeinen Vater traf. Peter ließ ſich alsbald demuͤthig auf ein Knie nieder und trug ſeine Bitte vor, daß ſeine Eltern ihm erlau - ben moͤchten zu reiſen und Abentheuer aufzuſuchen; denn, ſo ſchloß er ſeine Rede: wer immer nur in der Heimath bleibt, behaͤlt auch fuͤr ſeine Lebens - zeit nur einen einheimiſchen Sinn, aber in der Fremde lernt man das Niegeſehene mit dem Wohl - bekannten verbinden, darum verſagt mir Eure Er - laubniß nicht.

Der alte Graf erſchrack uͤber den Antrag ſei - nes Sohnes, noch mehr aber die Mutter, denn ſie hatten ſich deſſen am wenigſten verſehn. Der Graf ſagte: mein Sohn, deine Bitte koͤmmt mir unge - legen, denn du biſt mein einziger Erbe; wenn ich nun waͤhrend deiner Abweſenheit mit Tode abginge, was ſollte da aus meinem Lande werden? Aber331Die ſchoͤne Magelone.Peter blieb bei ſeinem Geſuch, woruͤber die Mut - ter anfing zu weinen und zu ihm ſagte: Lieber, einziger Sohn, du haſt noch kein Ungemach des Lebens gekoſtet und ſiehſt nur deine ſchoͤnen Hof - nungen vor dir; allein bedenke, daß es gar wohl ſeyn kann, daß, wenn du abreiſeſt, tauſend Muͤhſe - ligkeiten ſchon bereit ſtehn, um dir in den Weg zu treten; du haſt dann vielleicht mit Elend zu kaͤm - pfen, und wuͤnſcheſt dich zu uns zuruͤck.

Peter lag noch immer demuͤthig auf den Knien und antwortete: Vielgeliebte Eltern, ich kann nicht dafuͤr, aber es iſt jezt mein einziger Wunſch, in die weite fremde Welt zu reiſen, um Freud und Muͤhſeligkeit zu erleben, und dann als ein bekann - ter und geehrter Mann in die Heimath zuruͤck zu kehren. Dazu ſeid ihr ja auch, mein Vater, in eurer Jugend in der Fremde geweſen, und habt euch weit und breit einen Namen gemacht; aus einem fremden Lande habt ihr euch meine Mutter zum Gemahl geholt, die damals fuͤr die groͤßte Schoͤnheit geachtet wurde; laßt mich ein gleiches Gluͤck verſuchen, ſeht, mit Thraͤnen bitte ich euch darum.

Er nahm eine Laute, die er ſehr ſchoͤn zu ſpie - len verſtand, und ſang das Lied, das er vom Har - fenſpieler gelernt hatte, und am Schluſſe weinte er heftig. Die Eltern waren auch geruͤhrt, beſonders aber die Mutter; ſie ſagte: nun, ſo will ich dir meinerſeits meinen Seegen geben, geliebter Sohn, denn es iſt freilich alles wahr, was du da geſagt haſt. Der Vater ſtand gleichfalls auf und ſeegnete332Erſte Abtheilung.ihn, und Peter war im Herzen vergnuͤgt, daß er ſo die[Einwilligung] ſeiner Eltern erhalten hatte.

Es ward nun Befehl gegeben, alles zu ſeinem Zuge zu ruͤſten, und die Mutter ließ Petern heim - lich zu ſich kommen. Sie gab ihm drei koſtbare Ringe und ſagte: Siehe, mein Sohn, dieſe drei koſtbaren Ringe habe ich von meiner Jugend an ſorgfaͤltig bewahrt; nimm ſie mit dir und halte ſie in Ehren, und ſo du ein Fraͤulein findeſt, daß du liebſt und das dir wieder gewogen iſt, ſo darfſt du ſie ihr ſchenken. Er kuͤßte dankbar ihre Hand, und es kam der Morgen, an welchem er von dan - nen ſchied.

3. Wie der Ritter Peter von ſeinen Eltern zog.

Als Peter ſein Pferd beſteigen wollte, ſeegnete ihn ſein Vater noch einmal, und ſagte zu ihm: mein Sohn, immer moͤge dich das Gluͤck begleiten, ſo daß wir dich geſund und wohlbehalten wieder ſehen; denke ſtets meiner Lehren, die ich deiner zarten Ju - gend einpraͤgte: ſuche die gute und meide die boͤſe Geſellſchaft; halte immer die Geſetze des Ritter - ſtandes in Ehren, und vergiß ſie in keinem Augen - blicke, denn ſie ſind das edelſte, was die edelſten Maͤnner in ihren beſten Stunden erdacht haben;333Die ſchoͤne Magelone.ſei immer redlich, wenn du auch betrogen wirſt, denn das iſt der Probierſtein des Wackern, daß er ſelten auf rechtliche Menſchen trifft, und doch ſich ſelber gleich bleibt. Lebe wohl!

Peter ritt fort, allein und ohne Knappen, denn er wollte allenthalben, wie es oft die jungen Ritter zu thun pflegten, unbekannt bleiben. Die Sonne war herrlich aufgegangen, und der friſche Thau glaͤnzte auf den Wieſen. Peter war frohen Mu - thes und ſpornte ſein gutes Roß, daß es oft mu - thig aufſprang. Es lag ihm ein altes Lied im Sinne und er ſang es laut:

Traun! Bogen und Pfeil
Sind gut fuͤr den Feind,
Huͤlflos alleweil
Der Elende weint;
Dem Edlen bluͤht Heil
Wo Sonne nur ſcheint,
Die Felſen ſind ſteil,
Doch Gluͤck iſt ſein Freund.

Er kam nach vielen Tagereiſen in die edle und vornehme Stadt Neapolis. Schon unterwegs hatte er viel vom Koͤnige und ſeiner uͤberaus ſchoͤnen Toch - ter Magelone reden hoͤren, ſo daß er ſehr begierig war, ſie von Angeſicht zu Angeſicht zu ſehn. Er ſtieg in einer Herberge ab, und erkundigte ſich nach Neuigkeiten; da hoͤrte er vom Wirthe, daß ein vornehmer Ritter, Herr Heinrich von Carpone angekommen ſey, und daß ihm zu Ehren ein ſchoͤ - nes Turnier gehalten werden ſolle. Er erfuhr zu - gleich, daß auch den Fremden der Zutritt erlaubt334Erſte Abtheilung.ſey, wenn ſie nach den Turniergeſetzen geharniſcht erſchienen. Da nahm ſich Peter ſogleich vor, auch dabei zu ſeyn, und ſeine Geſchicklichkeit und Staͤrke zu verſuchen.

4. Peter ſieht die ſchoͤne Magelone.

Als der Tag des Turniers erſchienen war, legte Peter ſeine Waffenruͤſtung an, und begab ſich in die Schranken. Er hatte ſich auf ſeinen Helm zwei ſchoͤne ſilberne Schluͤſſel ſetzen laſſen, von ungemein feiner Arbeit, ſo war auch ſein Schild mit Schluͤſſeln geziert, auch die Decke ſeines Pfer - des. Dies hatte er ſeinem Namen zu Gefallen gethan und zu Ehren des Apoſtels Petrus, den er ſehr liebte. Von Jugend auf hatte er ſich ihm zum Schirm und Schutz empfohlen, und deswe - gen waͤhlte er ſich auch jetzt dieſes Wahrzeichen, da er unbekannt bleiben wollte.

Unter Trompetenſchall trat ein Herold auf, der das Turnier ausrief, das zu Ehren der ſchoͤ - nen Magelone eroͤffnet wurde. Sie ſelbſt ſaß auf einem erhabenen Soͤller und ſah auf die Verſamm - lung der Ritter hinab. Peter ſchaute hinauf, er konnte ſie aber nicht genau betrachten, weil ſie zu entfernt war.

Herr Heinrich von Carpone trat zuerſt in die335Die ſchoͤne Magelone.Schranken und gegen ihn ſtellte ſich ein Ritter des Koͤniges. Sie trafen auf einander und der Koͤnigſche wurde buͤgellos, aber er traf zufaͤlliger - weiſe mit ſeiner Lanze das Pferd des Herrn Hein - rich vorn an den Schienbeinen, ſo daß das Roß mit ſeinem Reuter zu Boden ſtuͤrzte. Daruͤber wurde dem Diener des Koͤniges der Sieg zuge - ſprochen, als einem, der den Herrn Heinrich um - gerennt haͤtte. Das verdroß Petern gar ſehr, denn Herr Heinrich war ein nahmhafter Renner; dazu ſo beruͤhmte ſich der Diener laut und oͤffentlich ſeines Sieges, den er doch nur dem Zufall zu dan - ken hatte. Peter ſtellte ſich alſo gegen ihn in die Schranken und rannte ihn vom Pferde hinunter, daß ſich alle uͤber ſeine Kraft verwundern mußten; er that aber zu aller Erſtaunen noch mehr, denn er machte auch bald die uͤbrigen Saͤttel ledig, ſo daß ſich in kurzer Zeit kein Gegner vor ihm mehr finden ließ. Daruͤber waren alle begierig, den Na - men des fremden Ritters zu wiſſen, und der Koͤ - nig von Neapel ſchickte ſelbſt ſeinen Herold an ihn ab, um ihn zu erfahren; aber Peter bat in Demuth um die Erlaubniß, daß man ihm noch ferner erlauben moͤchte, unbekannt zu bleiben, denn ſein Name ſei dunkel und von keinen Thaten ver - herrlicht; dazu ſo ſey er ein armer geringer Edel - mann aus Frankreich, er wolle ſeinen Namen daher ſo lange verſchweigen, bis er es durch Thaten werth geworden ſey, ſich nennen zu duͤrfen. Den Koͤnig freute dieſe Antwort, weil ſie ein Beweis von der Beſcheidenheit des Ritters war.

336Erſte Abtheilung.

Es waͤhrte nicht lange, ſo wurde ein zweites Turnier gehalten, und die ſchoͤne Magelone wuͤnſchte heimlich im Herzen, daß ſie des Ritters mit den ſilbernen Schluͤſſeln wieder anſichtig werden moͤchte; denn ſie war ihm zugethan, hatte es aber noch Nie - mand anvertraut, ja ſich ſelber kaum, denn die erſte Liebe iſt zaghaft, und haͤlt ſich ſelbſt fuͤr einen Verraͤther. Sie ward roth, als Peter wieder mit ſeiner kenntlichen Waffenruͤſtung in die Schranken trat, und nun die Trommeten ſchmetterten, und bald darauf die Spieße an den Schilden krachten. Unverwandt blickte ſie auf Peter, und er blieb in jedem Kampfe Sieger; ſie verwunderte ſich endlich daruͤber nicht mehr, weil ihr war, als koͤnne es nicht anders ſeyn. Die Feierlichkeit war geendigt, und Peter hatte von neuem großes Lob und große Ehre eingeſammelt.

Der Koͤnig ließ ihn an ſeine Tafel laden, wo Peter der Prinzeſſin gegenuͤber ſaß und uͤber ihre Schoͤnheit erſtaunte, denn er ſah ſie jezt zum er - ſtenmal in der Naͤhe. Sie blickte immer freundlich auf ihn hin, und dadurch kam er in große Ver - wirrung; ſein Sprechen beluſtigte den Koͤnig, und ſein edler und kraͤftiger Anſtand ſetzte das Hofge - ſinde in Erſtaunen. Im Saale kam er nachher mit der Prinzeſſin allein zu ſprechen, und ſie lud ihn ein, oͤfter wieder zu kommen, worauf er Ab - ſchied nahm, und ſie ihn noch zuletzt mit einem ſehr freundlichen Blicke entließ.

Peter ging wie berauſcht durch die Straßen, er eilte in einen ſchoͤnen Garten, und wandelte mitver -337Die ſchoͤne Magelone.verſchraͤnkten Armen auf und nieder, bald langſam, bald ſchnell, und die Zeit verfloß, ohne daß er be - greifen konnte, wie die Stunden voruͤber waren. Er hoͤrte nichts um ſich her, denn eine innerliche Muſik uͤbertoͤnte das Fluͤſtern der Baͤume und das rieſelnde Plaͤtſchern der Waſſerkuͤnſte. Tauſendmal ſagte er ſich in Gedanken den Namen Magelone vor, und erſchrack dann ploͤzlich, weil er glaubte, er habe ihn laut durch den Garten ausgerufen. Gegen Abend erſcholl in der Gegend eine ſuͤße Mu - ſik, und nun ſetzte er ſich ins friſche Gras hinter einem Buſche und weinte und ſchluchzte; es war ihm, als wenn ſich der Himmel umgewendet und nun ſeine Schoͤnheit und paradiſiſche Seite zum erſtenmal herausgekehrt haͤtte; und doch machte ihn dieſe Empfindung ſo ungluͤcklich, unter allen Freu - den fuͤhlte er ſich ſo gaͤnzlich verlaſſen. Die Mu - ſik floß wie ein murmelnder Bach durch den ſtillen Garten, und er ſah die Anmuth der Fuͤrſtin auf den ſilbernen Wellen hoch einher ſchwimmen, wie die Wogen der Muſik den Saum ihres Gewandes kuͤßten, und wetteiferten, ihr nachzufolgen; gleich einer Morgenroͤthe ſchien ſie in die daͤmmernde Nacht hinein, und die Sterne ſtanden in ihrem Laufe ſtill, die Baͤume hielten ſich ruhig und die Winde ſchwie - gen; die Muſik war jezt die einzige Bewegung, das einzige Leben in der Natur, und alle Toͤne ſchluͤpften ſo ſuͤß uͤber die Grasſpitzen und durch die Baumwipfel hin, als wenn ſie die ſchlafende Liebe ſuchten und ſie nicht wecken wollten, alsI. [22]338Erſte Abtheilung.wenn ſie, ſo wie der weinende Juͤngling, zitterten, bemerkt zu werden.

Jezt erklangen die lezten Accente, und wie ein blauer Lichtſtrom verſank der Ton, und die Baͤume rauſchten wieder, und Peter erwachte aus ſich ſel - ber und fuͤhlte, daß ſeine Wange von Thraͤnen naß ſey. Die Springbrunnen plaͤtſcherten ſtaͤrker und fuͤhrten von den entfernteſten Gegenden des Gartens her laute Geſpraͤche. Peter ſang leiſe folgendes Lied:

Sind es Schmerzen, ſind es Freuden,
Die durch meinen Buſen ziehn?
Alle alten Wuͤnſche ſcheiden,
Tauſend neue Blumen bluͤhn.
Durch die Daͤmmerung der Thraͤnen
Seh ich ferne Sonnen ſtehn,
Welches Schmachten! Welches Sehnen!
Wag ichs? ſoll ich naͤher gehn?
Ach, und faͤllt die Thraͤne nieder
Iſt es dunkel um mich her,
Dennoch koͤmmt kein Wunſch mir wieder
Zukunft iſt von Hofnung leer.
So ſchlage denn, ſtrebendes Herz,
So fließet denn Thraͤnen herab,
Ach Luſt iſt nur tieferer Schmerz,
Leben iſt dunkeles Grab.
Ohne Verſchulden
Soll ich erdulden?
Wie iſts, daß mir im Traum
Alle Gedanken
Auf und nieder ſchwanken!
Ich kenne mich noch kaum.
339Die ſchoͤne Magelone.
O hoͤrt mich ihr guͤtigen Sterne,
O hoͤre mich, gruͤnende Flur,
Du, Liebe, den heiligen Schwur:
Bleib ich ihr ferne,
Sterb ich gerne.
Ach! nur im Licht von ihrem Blick
Wohnt Leben und Hofnung und Gluͤck!

Er hatte ſich ſelber etwas getroͤſtet, und ſchwur ſich, Magelonens Liebe zu erwerben, oder unter - zugehn. Spaͤt in der Nacht ging er nach Hauſe und ſetzte ſich in ſeinem Zimmer nieder, und ſprach ſich jedes Wort wieder vor, das ſie ihm geſagt hatte; bald glaubte er Urſach zu finden, ſich zu freuen, dann wurde er wieder betruͤbt, und war von neuem in Zweifel. Er wollte ſeinem Vater ſchreiben und richtete in Gedanken die Worte an Magelonen, und trauerte dann uͤber ſeine Zerſtreu - ung, daß er es wage, ihr zu ſchreiben, die er nicht kenne. Nun erſchrack er vor dem Gedanken, daß ihm das Weſen fremd ſey, welches er vor allen uͤbrigen in der Welt ſo unausſprechlich theuer liebe.

Ein ſuͤßer Schlummer uͤberraſchte ihn endlich und durchſtrich ſeine Zweifel und Schmerzen, und wunderbare Traͤume von Liebe und Entfuͤhrun - gen, einſamen Waͤldern und Stuͤrmen auf dem Meere, tanzten in ſeinem Gemach auf und nieder, und bedeckten wie ſchoͤne bunte Tapeten die leeren Waͤnde.

340Erſte Abtheilung.

5. Wie der Ritter der ſchoͤnen Magelone Bothſchaft ſandte.

In derſelben Nacht war Magelone eben ſo bewegt als ihr Ritter. Es daͤuchte ihr, als koͤnne ſie ſich auf ihrem einſamen Zimmer nicht laſſen; ſie ging oft an das Fenſter und ſah nachdenklich in den Garten hinab, und alles war ihr truͤbe und ſchwer - muͤthig; ſie behorchte die Baͤume, die gegen einan - der rauſchten, dann ſah ſie nach den Sternen, die ſich im Meere ſpiegelten; ſie warf es dem Unbe - kannten vor, daß er nicht im Garten unter ihrem Fenſter ſtehe, dann weinte ſie, weil ſie gedachte, daß es ihm unmoͤglich ſey. Sie warf ſich auf ihr Bett, aber ſie konnte nur wenig ſchlafen, und wenn ſie die Augen ſchloß, ſah ſie das Turnier und den geliebten Unbekannten, welcher Sieger ward und mit ſehnſuͤchtiger Hofnung zu ihrem Al - tan hinauf blickte. Bald weidete ſie ſich an dieſen Phantaſien, bald ſchalt ſie auf ſich ſelber; erſt ge - gen Morgen fiel ſie in einen leichten Schlummer.

Sie beſchloß, ihre Zuneigung ihrer geliebten Amme zu entdecken, vor der ſie kein Geheimniß hatte. In einer traulichen Abendſtunde ſagte ſie daher zu ihr: Liebe Amme, ich habe ſchon ſeit lange etwas auf dem Herzen, welches mir faſt das Herz zerdruͤckt; ich muß es dir nur endlich ſagen und du mußt mir mit deinem muͤtterlichen Rathe bei - ſtehn, denn ich weiß mir ſelber nicht mehr zu ra -341Die ſchoͤne Magelone.then. Die Amme antwortete: vertraue dich mir, geliebtes Kind, denn eben darum bin ich aͤlter und liebe dich wie eine Mutter, daß ich dir guten An - ſchlag geben moͤge, denn freilich weiß ſich die Ju - gend nie ſelber zu helfen.

Da die Prinzeſſin dieſe freundlichen Worte von ihrer Amme hoͤrte, ward ſie noch dreiſter und zutraulicher, und fuhr daher alſo fort: o Gertraud, haſt du wohl den unbekannten Ritter mit den ſil - bernen Schluͤſſeln bemerkt? Gewiß haſt du ihn geſehn, denn er iſt der einzige, der bemerkenswerth war, alle uͤbrigen dienten nur, ihn zu verherrli - chen, allen Sonnenſchein des Ruhms auf ihn zu haͤufen, und ſelbſt in dunkler einſamer Nacht zu wohnen. Er iſt der einzige Mann, der ſchoͤnſte Juͤngling, der tapferſte Held. Seit ich ihn geſehn habe, ſind meine Augen unnuͤtz, denn ich ſehe nur meine Gedanken, in denen er wohnt, wie er in aller ſeiner Herrlichkeit vor mir ſteht. Wuͤßte ich nur noch, daß er aus einem hohen Geſchlechte ſey, ſo wollte ich alle meine Hofnung auf ihn ſetzen. Aber er kann aus keinem unedlen Hauſe ſtammen, denn wer waͤre alsdann edel zu nennen? O ant - worte mir, troͤſte mich, liebe Amme, und gieb mir nun Rath.

Die Amme erſchrack ſehr, als ſie dieſe Rede verſtanden hatte; ſie antwortete: liebes Kind, ſchon ſeit lange waren meine Erwartungen ſo wie meine Neugier darauf gerichtet, daß du mir geſtehn ſoll - teſt, welchen von den Edlen des Koͤnigreichs, oder welchen Auswaͤrtigen du liebteſt, denn ſelbſt die342Erſte Abtheilung.Hoͤchſten und ſogar Koͤnige begehren dein. Aber warum haſt du nun deine Neigung auf einen Un - bekannten geworfen, von dem Niemand weiß, wo - her er gekommen? Ich zittre, wenn der Koͤnig, dein Vater, deine Liebe bemerkt.

Nun und warum zitterſt du? fiel ihr Mage - lone mit heftigem Weinen in die Rede. Wenn er ſie bemerkt, ſo wird er zuͤrnen, der fremde Ritter wird den Hof und das Land verlaſſen, und ich werde in treuer hofnungsloſer Liebe ſterben; und ſterben muß ich, wenn der Unbekannte mich nicht wieder liebt, wenn ich auf ihn nicht die Hofnung der ganzen Zukunft ſetzen darf. Alsdann bin ich zur Ruhe, und weder mein Vater noch du, keiner wird mich je mehr verfolgen.

Da die Amme dieſe Worte hoͤrte, ward ſie ſehr betruͤbt und weinte ebenfalls. Hoͤre auf mit deinen Thraͤnen, liebes Kind, ſo rief ſie ſchluchzend aus; alles will ich ertragen, nur kann ich dich un - moͤglich weinen ſehn, es iſt mir, als muͤßte ich das groͤßte Elend der Erden erdulden, wenn dein liebes Geſicht nicht freundlich iſt.

Nicht wahr, man muß ihn lieben? ſagte Ma - gelone, und umarmte ihre Amme. Ich haͤtte nie einen Mann geliebt, wenn mein Auge ihn nicht geſehn haͤtte; waͤr es alſo nicht Suͤnde, ihn nicht zu lieben, da ich ſo gluͤcklich geweſen bin, ihn zu finden? Gieb nur Acht auf ihn, wie alle Vor - treflichkeiten, die ſonſt ſchon einzeln andre Ritter edel machen, in ihm vereinigt glaͤnzen; wie einneh - mend ſein fremder Anſtand iſt, daß er die hieſige343Die ſchoͤne Magelone.Italiaͤniſche Sitte nicht in ſeiner Gewalt hat, wie ſeine ſtille Beſcheidenheit weit mehr wahre Hoͤflich - keit iſt, als die ſtudirte und gewandte Galanterie der hieſigen Ritter. Er iſt immer in Verlegenheit, daß er Niemand beſſeres iſt, als er, und doch ſollte er ſtolz darauf ſeyn, daß er niemand anders iſt, denn ſo wie er iſt, iſt er das Schoͤnſte, was die Natur nur je hervor gebracht hat. O ſuch ihn auf, Gertraud, und frage ihn nach ſeinem Stand und Namen, damit ich weiß, ob ich leben oder ſterben muß; wenn ich ihn fragen laſſe, wird er kein Geheimniß daraus machen, denn ich moͤchte vor ihm kein Geheimniß haben.

Als der Morgen kam ging die Amme in die Kirche und betete; ſie ſah den Ritter, der auch in einem andaͤchtigen Gebete auf den Knien lag. Als er geendet hatte, naͤherte er ſich der Amme und gruͤßte ſie hoͤflich, denn er kannte ſie und hatte ſie am Hofe geſehn. Die Amme richtete den Auf - trag des Fraͤuleins aus, daß ſie ihn um ſeinen Stand und Namen erſuche, weil es einem ſo edlen Manne nicht gezieme, ſich verborgen zu halten.

Peter bekam eine große Freude und das Herz ſchlug ihm, denn er ſah aus dieſen Worten, daß ihn Magelone liebe; worauf er ſagte: man erlaube mir, meinen Namen noch zu verſchweigen, aber das koͤnnt Ihr der Prinzeſſin ſagen, daß ich aus einem hohen adelichen Geſchlechte bin, und daß der Name meiner Ahnherrn in den Geſchichtsbuͤ - chern ruͤhmlich bekannt iſt. Nehmt indeß dies zum Angedenken meiner, und laßt es einen kleinen Lohn344Erſte Abtheilung.ſeyn fuͤr die froͤhliche Bothſchaft, ſo Ihr mir wi - der alles Verhoffen gebracht habt.

Er gab hierauf der Amme einen von den dreien koͤſtlichen Ringen, und Gertraud eilte ſogleich zur Prinzeſſin, ihr die erhaltene Kundſchaft anzuſagen, auch zeigte ſie ihr den koͤſtlichen Ring, der allein ſchon bewies, daß der Ritter aus einem vorneh - men Hauſe ſtammen muͤſſe. Er hatte der Amme zugleich ein Pergamentblatt mitgegeben, in Hof - nung, daß Magelone die Worte leſen wuͤrde, die er im Gefuͤhl ſeiner Liebe niedergeſchrieben hatte.

Liebe kam aus fernen Landen
Und kein Weſen folgte ihr,
Und die Goͤttin winkte mir,
Schlang mich ein mit ſuͤßen Banden.
Da begonn ich Schmerz zu fuͤhlen,
Thraͤnen daͤmmerten den Blick:
Ach! was iſt der Liebe Gluͤck,
Klagt 'ich, wozu dieſes Spielen?
Keinen hab 'ich weit gefunden,
Sagte lieblich die Geſtalt,
Fuͤhle du nun die Gewalt,
Die die Herzen ſonſt gebunden.
Alle meine Wuͤnſche flogen
In der Luͤfte blauen Raum,
Ruhm ſchien mir ein Morgentraum,
Nur ein Klang der Meereswogen.
Ach! wer loͤſt nun meine Ketten?
Denn gefeſſelt iſt der Arm,
Mich umfleugt der Sorgen Schwarm;
Keiner, keiner will mich retten?
345Die ſchoͤne Magelone.
Darf ich in den Spiegel ſchauen,
Den die Hofnung vor mir haͤlt?
Ach, wie truͤgend iſt die Welt!
Nein, ich kann ihr nicht vertrauen.
O und dennoch laß nicht wanken
Was dir nur noch Staͤrke giebt,
Wenn die Einzge dich nicht liebt,
Bleibt nur bittrer Tod dem Kranken.

Dieſes Lied ruͤhrte Magelonen; ſie las es und las es von neuem, es war ganz ihre eigene Em - pfindung, wie von einem Echo nachgeſprochen. Sie betrachtete den koͤſtlichen Ring, und bat die Amme flehentlich, ihr denſelben gegen ein andres Kleinod auszutauſchen; die Amme wurde betruͤbt, da ſie ſahe, daß das Herz der Prinzeſſin ſo ganz von Liebe eingenommen ſey, ſie ſagte daher: mein Kind, es ſchmerzt mich innig, daß du dich einem Frem - den gleich ſo willig und ganz hingeben willſt. Ma - gelone wurde ſehr zornig, als ſie dieſe Worte hoͤrte. Fremd? rief ſie aus; o wer iſt dann meinem Her - zen nahe, wenn er mir fremd iſt? Wehe muͤſſe dir deine Zunge auf lange thun, fuͤr dieſe Rede, denn ſie hat mein Herz geſpalten. Wie kann er mir denn fremd ſeyn, wenn ich ſelbſt mein eigen bin, da er nichts iſt, als was ich bin, da ich nur das ſeyn kann, was er mir zu ſeyn vergoͤnnt? Die Luft, den Athem, das Leben, alles, alles, darf ich ihm nur danken, mein Herz gehoͤrt mit ſelbſt nicht mehr, ſeit ich ihn kenne; o, liebe Gertraud, was waͤr ich in der Welt, und was waͤre die346Erſte Abtheilung.ganze unermeßliche Welt mir, wenn er mir fremd ſeyn muͤßte?

Gertraud troͤſtete ſie, und die Prinzeſſin legte ſich ſchlafen, vorher aber hing ſie an einer ſeinen Perlenſchnur den Ring um den Nacken, daß er ihr auf der Bruſt zu liegen kam. Im Schlafe ſah ſie ſich in einem ſchoͤnen und luftigen Garten, der hellſte Sonnenſchein flimmerte auf allen gruͤnen Blaͤttern, und wie von Harfenſaiten toͤnte das Lied ihres Geliebten aus dem blauen Himmel her - unter, und goldbeſchwingte Voͤgel ſtaunten zum Himmel hinauf und merkten auf die Noten; lichte Wolken zogen unter der Melodie hinweg und wur - den roſenroth gefaͤrbt und toͤnten wieder. Dann kam der Unbekannte in aller Lieblichkeit aus einem dunkeln Gange, er umarmte Magelonen und ſteckte ihr einen noch koͤſtlichern Ring an den Finger, und die Toͤne vom Himmel herunter ſchlangen ſich um beide wie ein goldenes Netz, und die Lichtwolken umkleideten ſie, und ſie waren von der Welt ge - trennt nur bei ſich ſelber und in ihrer Liebe woh - nend, und wie ein fernes Klagegetoͤn hoͤrten ſie Nach - tigallen ſingen und Buͤſche fluͤſtern, daß ſie von der Wonne des Himmels ausgeſchloſſen waren.

Als Magelone von ihrem ſchoͤnen Traume er - wachte, erzaͤhlte ſie alles der Amme, und dieſe ſah jezt ein, daß ſie ihren ganzen Sinn auf den Unbekannten geſetzt haͤtte, und daß er ihr Gluͤck oder Ungluͤck ſeyn muͤſſe, woruͤber ſie ſehr nachdenklich wurde.

347Die ſchoͤne Magelone.

6. Wie der Ritter Magelonen einen Ring uͤberſandte.

Die Amme wandte vielen Fleiß an, den Ritter wieder anzutreffen, und es geſchah, daß ſie ſich in derſelben Kirche wieder fanden. Peter war froh, als er die Amme anſichtig wurde, und ging ſogleich auf ſie zu und erkundigte ſich nach dem Fraͤulein. Sie erzaͤhlte ihm alles, wie ſie fuͤr großer Liebe den Ring fuͤr ſich behalten, und die geſchriebenen Worte geleſen, und wie ſie in der Nacht von ihm getraͤumt. Peter ward roth vor Freuden, als er dieſe Umſtaͤnde erzaͤhlen hoͤrte und ſagte: Ach, liebe Amme, ſagt ihr doch die Empfindungen meines Herzens, und daß ich vor Sehnſucht verſchmachten muß, wenn ich ſie nicht bald ſprechen kann; ſpreche ich ſie aber muͤndlich, ſo will ich ihr, wie ich ſonſt Niemand thue, meinen Stand und Namen ent - decken; aber ich liebe ſie mit einer Liebe, wie kein andres Herz es faͤhig iſt, und alle meine Gebete zum Himmel ſind nur der Wunſch, daß ich ſie zum ehelichen Gemahl uͤberkommen moͤchte, und daß ihre Gedanken nur etlichermaßen ſo nach mir gerichtet waͤren, wie die meinigen zu ihr. Gebt ihr auch dieſen Ring, und bittet ſie, ihn als ein geringes Andenken von mir zu tragen.

Die Amme eilte ſchnell zu Magelonen zuruͤck, die vor uͤbergroßer Liebe krank war und auf ihrem Ruhebette lag. Sie ſprang auf, als ſie ihre Kund -348Erſte Abtheilung.ſchafterin erblickte, umarmte ſie und fragte nach Neuigkeiten. Die Amme erzaͤhlte ihr alles und gab ihr auch den koſtbaren Ring. Sieh! rief die Prinzeſſin aus, das iſt eben der Ring, von dem ich getraͤumt habe; o! ſo muß auch das uͤbrige in Erfuͤllung gehn. Ein Blatt enthielt dieſes Lied:

Willſt du des Armen
Dich gnaͤdig erbarmen?
So iſt es kein Traum?
Wie rieſeln die Quellen,
Wie toͤnen die Wellen,
Wie rauſchet der Baum!
Tief lag ich in bangen
Gemaͤuern gefangen,
Nun gruͤßt mich das Licht;
Wie ſpielen die Strahlen!
Sie blenden und mahlen
Mein ſchuͤchtern Geſicht.
Und ſoll ich es glauben?
Wird keiner mir rauben
Den koͤſtlichen Wahn?
Doch Traͤume entſchweben,
Nur lieben heißt leben:
Willkommene Bahn!
Wie frei und wie heiter!
Nicht eile nun weiter,
Den Pilgerſtab fort!
Du haſt uͤberwunden,
Du haſt ihn gefunden,
Den ſeligſten Ort!
349Die ſchoͤne Magelone.

Magelone ſang das Lied, dann kuͤßte ſie den Ring, und dann auch den erſten, um ihn nicht zu kraͤnken; dann las ſie die Worte von neuem, und ſprach ſie laut, und ſo trieb ſie es in der Ein - ſamkeit bis ſpaͤt in die Nacht.

7. Wie der edle Ritter wieder eine Bothſchaft empfing von der ſchoͤnen Magelone.

Der Ritter befand ſich am folgenden Morgen wie - der in der Kirche, weil er hofte, von der Geliebten ſeiner Seele dort eine Nachricht zu uͤberkommen. Die Amme fand ihn, und es traf ſich, daß ſie beide in der Kirche allein waren. Er erkundigte ſich nach Magelonen und die Amme Gertraud er - zaͤhlte ihm alles. worauf ſie ſagte: Wenn Ihr mir verſichert, Herr Ritter, daß Ihr mein Fraͤu - lein in aller Zucht und Tugend lieben wollt, ſo will ich euch auch nunmehr ſagen, wo Ihr ſie ſprechen koͤnnt. Peter ließ ſich auf ein Knie nieder und hob ſeine Finger in die Hoͤhe. Ich ſchwoͤre, ſagte er, daß meine reinſten Gedanken ſtets um Magelone ſind; ich liebe ſie in aller Zucht und An - ſtaͤndigkeit, wie es dem ehrbaren Ritter ziemt, und ſo dies nicht wahr iſt, ſo verlaſſe mich Gott in meiner allergroͤßten Noth. Amen! Die Amme war mit dieſem Schwure wohl zufrieden, ſie ver - 350Erſte Abtheilung.traute ihm nun gaͤnzlich und ſagte: ich ſehe, daß ihr nicht nur der tapferſte, ſondern auch der edelſte Ritter ſeid auf Gottes weiter Erde; Ihr ſollt euch daher auch alles Beiſtandes von mir gewaͤr - tiget ſeyn. Ihr ſeid gluͤcklich in Magelonen und ſie iſt gluͤcklich in euch; macht euch daher morgen Nachmittag fertig, durch die heimliche Pforte des Gartens zu gehn, und ſie dann auf meiner Kam - mer zu ſprechen. Ich will euch allein laſſen, da - mit ihr ganz unverholen eure Herzensmeinungen ausreden koͤnnt.

Sie nannte ihm die Stunde, und verließ ihn. Der Ritter ſtand noch lange und ſah ihr im trun - kenen Staunen nach, denn er vertraute dem nicht, was er gehoͤrt hatte. Das Gluͤck, das er ſo ſehn - lichſt erharrt, ruͤckte ihm nun ſo unerwartet naͤher, daß er es im frohen Entſetzen nicht zu genießen wagte. Der Menſch erſchrickt uͤber den Zufall, ſelbſt wenn er ihn gluͤcklich macht; wenn unſer Schickſal ſich ploͤtzlich zur Wonne umaͤndert, ſo zweifeln wir in dieſem Augenblicke gar zu leicht an der Wirklichkeit des Lebens. Dies dachte auch Peter bei ſich, als er alle ſeine Sinne in truͤber Verwirrung bemerkte. Wie bin ich ſo vom Gluͤcke uͤberſchuͤttet, rief er aus, daß ich gar nicht zu mir ſelber kommen kann! Wie wohl wuͤrde mir jetzt ein Beſinnen auf meinen Zuſtand thun, aber es iſt unmoͤglich! Wenn wir unſre kuͤhnen Hofnun - gen in der Ferne ſehn, ſo freuen wir uns an ih - rem edlen Gange, an ihren goldnen Schwingen, aber jezt flattern ſie mir ploͤtzlich ſo nahe ums351Die ſchoͤne Magelone.Haupt, daß ich weder ſie noch die uͤbrige Welt wahrzunehmen vermag.

Er ging nach Hauſe, und glaubte in manchen Augenblicken, die Zeit ſtehe ſeit der Stunde ſtill, in der er die treue Amme geſprochen hatte, denn es wollte nicht Abend werden; als es Abend war, ſaß er ohne Licht in ſeiner Kammer und betrachtete die Wolken und Sterne, und ſein Herz ſchlug ihm ungeſtuͤm, wenn er dann ploͤtzlich an ſich und Ma - gelonen dachte. Er glaubte nicht, daß es wieder Tag werden koͤnne, und daß es die bezeichnete Stunde wagen werde, herauf zu kommen. Einge - daͤmmert von Erwartungen, banger Sehnſucht und aͤngſtlicher Hofnung, ſchlief er auf ſeinem Ruhe - bette ein, und erwachte, als muntre Sonnenſtrah - len in ſeine Kammer herein ſpielten, und hell und froͤhlich an den Waͤnden zuckten.

Er raffte ſich auf, und dachte, was er ihr ſagen wolle; er erſchrack jezt vor dem Gedanken, daß er ſie ſprechen muͤſſe; dennoch war es ſein herzinniglichſter Wunſch, er konnte ſich nicht be - ſaͤnftigen, darum nahm er die Laute und ſang:

Wie ſoll ich die Freude,
Die Wonne denn tragen?
Daß unter dem Schlagen
Des Herzens die Seele nicht ſcheide?
Und wenn nun die Stunden
Der Liebe verſchwunden,
Wozu das Geluͤſte,
In trauriger Wuͤſte
352Erſte Abtheilung.
Noch weiter ein luſtleeres Leben zu ziehn,
Wenn nirgend dem Ufer mehr Blumen entbluͤhn?
Wie geht mit bleibehangnen Fuͤßen
Die Zeit bedaͤchtig Schritt vor Schritt!
Und wenn ich werde ſcheiden muͤſſen,
Wie federleicht fliegt dann ihr Tritt!
Schlage, ſehnſuͤchtige Gewalt,
In tiefer treuer Bruſt!
Wie Lautenton voruͤber hallt,
Entflieht des Lebens ſchoͤnſte Luſt.
Ach, wie bald
Bin ich der Wonne mich kaum mehr bewußt.
Rauſche, rauſche weiter fort,
Tiefer Strom der Zeit,
Wandelſt bald aus Morgen Heut,
Gehſt von Ort zu Ort;
Haſt du mich bisher getragen,
Luſtig bald, dann ſtill,
Will es nun auch weiter wagen,
Wie es werden will.
Darf mich doch nicht elend achten,
Da die Einzge winkt,
Liebe laͤßt mich nicht verſchmachten,
Bis dies Leben ſinkt;
Nein, der Strom wird immer breiter,
Himmel bleibt mir immer heiter,
Froͤhlichen Ruderſchlags fahr ich hinab,
Bring Liebe und Leben zugleich an das Grab.
8.353Die ſchoͤne Magelone.

8. Wie Peter die ſchoͤne Magelone beſuchte.

Jezt war die Zeit da, und die Stunde gekommen, in welcher der Ritter ſeine geliebte Magelone be - ſuchen ſollte. Er ging heimlicherweiſe durch die Pforte des Gartens und auf die Kammer der Amme, wo er die Prinzeſſin fand. Magelone ſaß auf einem Ruhebett und wollte aufſtehn, als ſie den Ritter eintreten ſah, und ihm um den Hals fallen, und ihn mit Thraͤnen und Kuͤſſen in die Wette bedecken. Doch maͤßigte ſie ſich und blieb ſitzen, aber eine ſcharlachene Roͤthe uͤberzog ihr ganzes Geſicht, ſo daß ſie ausſah wie eine Roſe, die ſich noch nicht entfaltet hat und die jetzt der warme Sonnenſchein badet, und ihre Blaͤtter aus einander lockt. Eben ſo war auch der Ritter, der mit verſchaͤmtem Geſichte vor ihr ſtand, auf wel - chem holdſelige Freude und Verwirrung ſich wech - ſelsweiſe abloͤſten.

Die Amme verließ das Gemach, und Peter warf ſich ohne zu ſprechen auf ein Knie nieder; Magelone reichte ihm die ſchoͤne Hand, hieß ihn aufſtehn und ſich neben ſie nieder ſetzen. Peter that es, und zitterte an ihrer Seite; ſeine Augen waren wie zwei glaͤnzende Sterne, ſo trunken war er vor Entzuͤckung, daß er nun die Geliebteſte ſei - ner Seele ſo dicht vor ſeinen Augen ſah. Lange wollte kein Geſpraͤch in den Gang kommen, ihre zaͤrtlichen Blicke, die ſich verſtohlen begegneten, ſtoͤr -I. [23]354Erſte Abtheilung.ten die Worte; aber endlich entdeckte ſich ihr der Juͤngling, und ſagte, daß er ſich ihr ganz zu eigen ergeben habe, ſeit er ſie zuerſt geſehn, daß ihr ſein ganzes Leben gewidmet ſey, und daß er ſich durch ihre Liebe wie von Engelshaͤnden beruͤhrt, aus ei - nem tiefen Schlafe erwacht fuͤhle.

Er ſchenkte ihr den dritten Ring, welcher der koſtbarſte von allen war, wobei er ihre lilienweiße Hand kuͤßte. Sie war uͤber ſeine Treue innig be - wegt, ſtand auf und holte eine koͤſtliche guͤldene Kette, die ſie ihm um den Hals legte und ſagte: hiemit erkenne ich euch fuͤr mein und mich fuͤr die eurige, nehmt dieſes Andenken und tragt es im - mer, ſo lieb ihr mich habt. Dann nahm ſie den erſchrockenen Ritter in die Arme und kuͤßte ihn herzlich auf den Mund, und er erwiederte den Kuß und druͤckte ſie gegen ſein Herz.

Sie mußten ſcheiden, und Peter eilte ſogleich nach ſeinem Zimmer, als wenn er ſeinen Waffen - ſtuͤcken und ſeiner Laute ſein Gluͤck erzaͤhlen muͤſſe; er war ſo froh, als er noch nie geweſen war. Er ging mit großen Schritten auf und ab und griff in die Saiten, kuͤßte das Inſtrument und weinte heftig. Dann ſang er mit großer Inbrunſt:

War es dir, dem dieſe Lippen bebten,
Dir der dargebotne ſuͤße Kuß?
Giebt ein irdiſch Leben ſo Genuß?
Ha! wie Licht und Glanz vor meinen Augen ſchwebten,
Alle Sinne nach den Lippen ſtrebten!
In den klaren Augen blinkte
Sehnſucht, die mir zaͤrtlich winkte,
355Die ſchoͤne Magelone.
Alles klang im Herzen wieder,
Meine Blicke ſanken nieder,
Und die Luͤfte toͤnten Liebeslieder!
Wie ein Sternenpaar
Glaͤnzten die Augen, die Wangen
Wiegten das goldene Haar,
Blick und Laͤcheln ſchwangen
Fluͤgel, und die ſuͤßen Worte gar
Weckten das tiefſte Verlangen:
O Kuß! wie war dein Mund ſo brennend roth!
Da ſtarb ich, fand ein Leben erſt im ſchoͤnſten Tod.

9. Turnier zu Ehren der ſchoͤnen Magelone.

Der Koͤnig Magelon von Neapel wuͤnſchte jetzt, daß ſeine ſchoͤne Tochter in kurzer Zeit mit Herrn Heinrich von Carpone vermaͤhlt wuͤrde, der ſich in dieſer Abſicht ſchon ſeit lange am Hofe aufhielt. Es ward daher wieder ein glaͤnzendes Turnier aus - geſchrieben, welches alle vorhergehenden an Pracht uͤbertreffen ſollte, und viele beruͤhmte Ritter aus Italien und Frankreich verſammelten ſich. Ein Oheim Peters kam auch aus der Provence, um dem Turniere beizuwohnen: es war derſelbe, der den jungen Grafen zum Ritter geſchlagen hatte.

Das Kampfſpiel nahm ſeinen Anfang, und alle die großen Ritter zogen auf den Plan, und356Erſte Abtheilung.hielten ſich maͤnnlich. Peter war ungeduldig und einer der erſten, welche aufzogen. Er hielt ſich ſo wacker, daß er viele Ritter, von ihren Roſſen ſtach, unter andern auch den Herrn Heinrich. Ma - gelone ſtand oben auf dem Altane, und wurde vor Furcht und herzinnigen Wuͤnſchen bald roth und bald blaß. Gegen Peter ſtellte ſich endlich ſein Oheim, der ihn nicht kannte; aber Peter kannte ihn gar wohl, er rief deshalb den Herold zu ſich, und ſchickte ihn mit dieſen Worten an ſeinen Vet - ter: er habe ihm einſt in der Ritterſchaft einen großen Dienſt erwieſen, deshalb moͤchte er nicht gegen ihn rennen, ſondern er erkenne ihn ohnedies fuͤr den beſſeren Ritter. Aber der alte Ritters - mann ward uͤber den Antrag zornig, und ſagte: habe ich ihm je einen Dienſt erwieſen, ſo ſollte er um ſo lieber eine Lanze mit mir brechen, um auch mir zu Gefallen zu leben; meint er denn, daß ich ſeiner nicht werth ſey. Denn er wird hier fuͤr einen uͤberaus tapfern Ritter geachtet, wie auch ſeine Thaten genugſam an den Tag legen, daß dem wirklich ſo ſey. Blieb alſo mit ſeinem Roſſe auf der Bahn ſtehn, und dem jungen Ritter ward vom Herolde die zornige Antwort uͤberbracht. Sie rannten gegen einander, aber Peter trug ſeine Lanze in der Quere, um ſeinen Verwandten nicht zu verletzen. Jener, Herr Jakob genannt, rannte den Peter ſo an, daß die Lanze zerſplitterte, und er ſelber faſt buͤgellos wurde. Alle verwunderten ſich und die beiden Gegner maßen noch einmal die Bahn zuruͤck, dann ritten ſie wieder gegen einan -357Die ſchoͤne Magelone.der, und Peter trug ſeine Lanze wie das erſtemal; alle waren in Erſtaunen, nur Magelone ſah die Urſach ein, und wußte wohl warum es geſchah. Herr Jakob rannte wieder mit heftiger Gewalt auf ſeinen Gegner, ſeine Lanze traf auf Peters Bruſtharniſch, aber der junge Ritter blieb unbe - weglich im Sattel ſitzen, und der Stoß war ſo gewaltig, daß Herr Jakob dadurch von ſich ſelber vom Pferde abfiel. Da das Jakob merkte, zog er ſich zuruͤck, und hatte keine Luſt mehr mit dem jungen Ritter zu ſtechen. Peter beſiegte auch die uͤbrigen Ritter, ſo daß ihm der Preis mußte zu - erkannt werden; der Koͤnig und alle vom Hofe waren in Erſtaunen, und die uͤbrigen Herren zo - gen ergrimmt nach ihrer Heimath zuruͤck, da ſie den Namen des unbekannten Siegers durchaus nicht erfahren konnten.

Peter hatte ſeine Geliebte indeſſen ſchon zum oͤftern heimlich beſucht, und ſo nahm er ſich ein - mal vor, ihre Liebe auf die Probe zu ſtellen. Als er ſie daher wieder ſah, that er ſehr betruͤbt, und ſagte mit klaͤglicher Stimme, daß er bald ſcheiden muͤſſe, denn ſeine Eltern wuͤrden ſeinetwegen in der groͤßten Betruͤbniß leben, da ſie ihn ſo lange nicht geſehn, auch keine Nachricht von ihm bekom - men haͤtten. Als Magelone dieſe Worte hoͤrte, ward ſie blaß, dann fing ſie heftig an zu weinen, und ſank in den Seſſel zuruͤck. Ja, reiſet nur ab, ſagte ſie, und alle meine traurigen Ahndungen ſind dann im Erfuͤllung gegangen, ich ſehe euch nicht wieder und mein Tod iſt gewiß. Was kuͤmmert358Erſte Abtheilung.er euch? Nun alſo, was kuͤmmert er mich? O verzeiht, mein Geliebter, nein, es iſt wahr, Ihr muͤßt eure Eltern wieder ſehn, ihr habt euch meinetwegen ſchon zu lange hier aufgehalten; wie werden ſie um euch trauern, wie ſehr nach eurer Anweſenheit ſeufzen, Ja, lebt dann wohl, auf ewig wohl!

Peter ſagte: nein, meine theuerſte Magelone, ich bleibe; wie koͤnnte ich fortziehn, und dich nicht mehr ſehn, nicht mehr dieſe theuren Augen erblik - ken und Hofnung und Staͤrke in ihnen finden, dieſe liebe Stimme nicht mehr hoͤren, die wie ein Geſang aus dem Paradieſe in mein Ohr dringt? Nein, ich bleibe; kein Gedanke nach meiner Hei - math und meinen Eltern, denn alle meine Gedan - ken wohnen hier.

Magelone wurde wieder froͤhlicher, dann be - ſann ſie ſich eine Weile. Wenn ihr mich liebt, fing ſie wieder an, ſo ſollt ihr dennoch reiſen. Eure Worte haben einen Gedanken in mir erweckt, der ſchon ſeit lange in meiner Seele ſchlummert, denn ich muß euch ſagen, es iſt jetzt an dem, daß mich mein Vater mit dem Herrn Heinrich von Carpone vermaͤhlen will. Darum flieht von hier, und nehmt mich mit euch, denn ich traue eurem Edelmuthe; haltet morgen in der Nacht mit zwei ſtarken Pfer - den vor der Gartenpforte, aber laßt es Pferde ſeyn, die eine weite und ſchnelle Reiſe wohl ver - tragen koͤnnen, denn ſo man uns einholte, waͤren wir alle elend.

Der Juͤngling hoͤrte mit frohem Erſtaunen359Die ſchoͤne Magelone.dieſe Worte. Ja, rief er aus, wir fliehen ſchnell zu meinem Vater, und das ſchoͤnſte Band ſoll uns dann auf ewig verbinden.

Er eilte ſogleich fort, um die noͤthigen Anſtal - ten ſchnell und heimlich zu treffen. Magelone be - ſorgte ihrerſeits auch das Noͤthige, ſagte aber ihrer Amme kein Wort von ihrem Entſchluſſe, aus Furcht, daß ſie alles verrathen moͤchte.

Peter nahm Abſchied von ſeiner Kammer, von den Gegenden der Stadt, durch die er ſo oft in ſeliger Trunkenheit gewandelt war, und die er alle als Zeugen ſeiner Liebe betrachtete. Es war ihm ruͤhrend, als er die getreue Laute auf ſeinem Tiſche liegen ſah, die ſo oft von ſeinen Fingern geruͤhrt die Gefuͤhle ſeines Herzens ausgeſprochen hatte, die eine Mitwiſſerin des ſuͤßen Geheimniſſes war. Er nahm ſie noch einmal und ſang:

Wir muͤſſen uns trennen,
Geliebtes Saitenſpiel,
Zeit iſt es, zu rennen
Nach dem fernen erwuͤnſchten Ziel.
Ich ziehe zum Streite
Zum Raube hinaus,
Und hab ich die Beute
Dann flieg ich nach Haus.
Im roͤthlichen Glanze
Entflieh ich mit ihr,
Es ſchuͤtzt uns die Lanze,
Der Stahlharniſch hier.
Kommt, liebe Waffenſtuͤcke,
Zum Scherz oft angethan,
360Erſte Abtheilung.
Beſchirmet jezt mein Gluͤcke,
Auf dieſer neuen Bahn.
Ich werfe mich raſch in die Wogen,
Ich gruͤße den herrlichen Lauf,
Schon mancher ward nieder gezogen,
Der tapfere Schwimmer bleibt oben auf.
Ha! Luſt zu vergeuden
Das edele Blut!
Zu ſchuͤtzen die Freuden,
Mein koͤſtlichſtes Gut!
Nicht Hohn zu erleiden,
Wem fehlt es an Muth?
Senke die Zuͤgel,
Gluͤckliche Nacht!
Eil deine Fluͤgel,
Daß uͤber ferne Huͤgel
Uns ſchon der Morgen lacht!

10. Wie Magelone mit ihrem Ritter entfloh.

Die Nacht war gekommen. Magelone ſchlich mit einigen Koſtbarkeiten durch den Garten; der Him - mel war mit Wolken bedeckt, und ein ſparſames Mondlicht drang durch die Finſterniß. Sie ging mit wehmuͤthigen Empfindungen ihren lieben Blu - men voruͤber, die ſie nun auf immer verlaſſen wollte. Ein feuchter Wind wehte durch den Garten und361Die ſchoͤne Magelone.ihr war, als wenn die Geſtraͤuche winſelten und klagten, und ihr ein zaͤrtliches Lebewohl nachriefen.

Vor der Pforte hielt Peter mit drei Pferden, darunter war ein Zelter von einem leichten und be - quemen Gange fuͤr das Fraͤulein, auf einem an - dern Pferde waren Lebensmittel, damit ſie auf der Flucht nicht noͤthig haͤtten in Herbergen einzukeh - ren. Peter hob das Fraͤulein auf den Zelter, und ſo flohen ſie heimlicherweiſe und unter dem Schutze der Nacht davon.

Die Amme vermißte am Morgen die Prin - zeſſin, und ſo fand ſich auch bald, daß der Ritter in der Nacht abgereiſet ſey; der Koͤnig merkte daraus, daß er ſeine Tochter entfuͤhrt habe. Er ſchickte daher viele Leute aus, um ſie aufzuſuchen; dieſe forſchten fleißig nach, aber alle kamen nach verſchiedenen Tagen unverrichteter Sache zuruͤck.

Peter hatte die Vorſicht gebraucht, daß er nach den Waͤldern zugeritten war, die in der Naͤhe des Meeres lagen; dort waren die Wege am ein - ſamſten und faſt gar nicht beſucht, hier floh er mit ſeiner Geliebten ſicher unter dem dichten Schutze der Nacht hinweg. Der Tritt von den Pferden hallte im Forſte weit hinab, die Wipfel der Baͤume rauſchten furchtbar in der Dunkelheit, aber Mage - lonens Herz war frei und froͤhlich, denn ſie hatte immer ihren Geliebten neben ſich. Sie weidete ſich an ſeinem Antlitze, wenn ſie uͤber einen freien Platz trabten; ſie fragte ihn mancherlei von ſeinen Eltern und ſeiner Heimath, und ſo verging ihnen362Erſte Abtheilung.unter banger Erwartung, Geſpraͤch und ſchoͤnen Hofnungen die langwierige Nacht.

Beim Anbruch des Morgens zogen dichte weiße Nebel durch den Wald, wie Gottes Seegen, der ſeine Reiſe antrat und durch unwegſame Buͤſche den Saatfeldern zueilte, wo er als Thau nieder - regnete. Sie zogen durch den Flug des Nebels weiter, und durch den Morgenwind, der die ganze Natur aus ihrem tiefen Schlafe wach ſchuͤttelte. Magelone klagte uͤber keine Beſchwer, denn ſie empfand keine.

Jetzt brach die liebliche Sonne hervor, und aͤugelte mit gluͤhendem Funkeln durch den dichten Wald; das gruͤne Gras ſchien am Boden zu bren - nen, und der wankende Thau erbebte mit tauſend blendenden Strahlen. Die Roße wieherten, die Voͤgel erwachten und ſprangen mit ihren Liedern von Zweig zu Zweig, gelbbeſchwingte badeten ſich im Thau der Wieſen und flatterten im Glanz des jungen Lichtes dicht uͤber dem Boden hinweg; durch den blauen Himmel zogen goldene Streifen herauf und bahnten der aufgegangenen Sonne den Weg; Geſaͤnge ertoͤnten aus allen Buͤſchen, die muntern Lerchen flogen empor und ſangen von oben in die rothdaͤmmernde Welt hinein.

Auch Peter ſtimmte ein froͤhliches Lied an, und der ſchoͤnen Magelone ging daruͤber das Herz vor Freuden auf. Seine Stimme zitterte durch alle Baͤume hinab, und ein ferner Widerhall ſang ihm nach. Die beiden Reiſenden ſahen in der Gluth des Himmels, im Glanz des friſchen Wal -363Die ſchoͤne Magelone.des nur einen Widerſchein ihrer Liebe; jeder Ton rief ihr Herz an, und erfuͤllte es mit wehmuͤthiger Freude.

Die Sonne ſtieg hoͤher hinauf, und gegen Mit - tag fuͤhlte Magelone eine große Muͤdigkeit; beide ſtiegen daher an einer ſchoͤnen kuͤhlen Stelle des Waldes von ihren Pferden. Weiches Gras und Moos war auf einer kleinen Anhoͤhe zart empor geſchoſſen, hier ſetzte ſich Peter nieder und breitete ſeinen Mantel aus, auf dieſen lagerte ſich Mage - lone und ihr Haupt ruhte in dem Schooße des Ritters. Sie blickten ſich beide mit zaͤrtlichen Au - gen an, und Magelone ſagte: Wie wohl iſt mir hier, mein Geliebter, wie ſicher ruht ſichs hier unter dem Schirmdach dieſes gruͤnen Baums, der mit allen ſeinen Blaͤttern, wie mit eben ſo vielen Zungen, ein liebliches Geſchwaͤtze macht, dem ich gerne zuhoͤre; aus dem dichten Walde ſchallt Vo - gelgeſang herauf, und vermiſcht ſich mit den rie - ſelnden Quellen; es iſt hier ſo einſam und toͤnt ſo wunderbar aus den Thaͤlern unter uns, als wenn ſich mancherlei Geiſter durch die Einſamkeit zuriefen und Antwort gaͤben; wenn ich dir ins Auge ſehe, ergreift mich ein freudiges Erſchrecken, daß wir nun hier ſind, von den Menſchen fern und einer dem andern ganz eigen. Laß noch deine ſuͤße Stimme durch dieſes harmoniſche Gewirr er - toͤnen, damit die ſchoͤne Muſik vollſtaͤndig ſey, ich will verſuchen ein wenig zu ſchlafen; aber wecke mich ja zur rechten Zeit, damit wir bald bei dei - nen lieben Eltern anlangen koͤnnen.

364Erſte Abtheilung.

Peter laͤchelte, er ſah wie ihr die ſchoͤnen Au - gen zufielen, und die langen ſchwarzen Wimper einen lieblichen Schatten auf dem holden Angeſichte bildeten; er ſang:

Ruhe, Suͤßliebchen im Schatten
Der gruͤnen daͤmmernden Nacht,
Es ſaͤuſelt das Gras auf den Matten
Es faͤchelt und kuͤhlt dich der Schatten,
Und treue Liebe wacht.
Schlafe, ſchlaf ein,
Leiſer rauſchet der Hain,
Ewig bin ich dein.
Schweigt, ihr verſteckten Geſaͤnge,
Und ſtoͤrt nicht die ſuͤßeſte Ruh!
Es lauſcht der Voͤgel Gedraͤnge,
Es ruhen die lauten Geſaͤnge,
Schließ, Liebchen, dein Auge zu.
Schlafe, ſchlaf ein,
Im daͤmmernden Schein,
Ich will dein Waͤchter ſeyn.
Murmelt fort ihr Melodien,
Rauſche nur, du ſtiller Bach,
Schoͤne Liebesphantaſien
Sprechen in den Melodien,
Zarte Traͤume ſchwimmen nach.
Durch den fluͤſternden Hain
Schwaͤrmen goldene Bienelein,
Und ſumſen zum Schlummer dich ein.
365Die ſchoͤne Magelone.

11. Wie Peter die ſchoͤne Magelone verließ.

Peter war durch ſeinen Geſang beinahe auch ein - geſchlaͤfert, aber er ermunterte ſich wieder, und betrachtete das holdſelige Angeſicht der ſchoͤnen Ma - gelone, die im Schlafe ſuͤß laͤchelte. Dann ſah er uͤber ſich und bemerkte, wie eine Menge ſchoͤner und zarter Voͤgel oben in den Zweigen ſich ver - ſammelten, die nicht ſcheu thaten, ſondern hin und her huͤpften, auch jezuweilen auf den kleinen Gras - platz zu ihm herunter kamen. Es ergoͤtzte ihn, daß dieſe unvernuͤnftigen Creaturen an der ſchoͤnen Ma - gelone ein Wohlgefallen zu bezeigen ſchienen. Da ſah er aber in dem Baume einen ſchwarzen Ra - ben ſitzen, und dachte bei ſich: wie kommt doch dieſer haͤßliche Vogel in die Geſellſchaft dieſer bun - ten Thierchen, es duͤnkt mir nicht anders, als wenn ſich ein grober ungeſchliffener Knecht unter edle Ritter eindraͤngen wollte.

Ihm daͤuchte, als wenn Magelone mit Ban - gigkeit Athem holte, er ſchnuͤrte ſie daher etwas auf, und ihr weißer ſchoͤner Buſen trat aus den verhuͤllenden Gewaͤndern hervor. Peter war uͤber die unausſprechliche Schoͤnheit entzuͤckt, er glaubte im Himmel zu ſeyn und alle ſeine Sinne wandten ſich um; er konnte nicht aufhoͤren, ſeine Augen zu weiden und ſich an dem Glanze zu berauſchen. Mit jedem Athemzuge hob ſich die zarte Bruſt und ſank wieder. Der Ritter fuͤhlte, daß er Magelonen366Erſte Abtheilung.noch nie ſo geliebt habe, daß er noch niemals ſo gluͤcklich geweſen ſey. Zwiſchen den Bruͤſten ver - ſteckt bemerkte er einen rothen Zindel; er war neu - gierig zu erfahren, was es ſeyn moͤchte, er nahm ihn und wickelte ihn aus einander. Da fand er die drei koſtbaren Ringe, die er ſeiner Geliebten geſchenkt hatte, und er war innig geruͤhrt, daß ſie ſie ſo liebevoll und ſorgfaͤltig bewahrte. Er wickelte ſie wieder ein, und legte ſie neben ſich in das Gras; aber ploͤtzlich flog der Rabe vom Baume hernieder und fuͤhrte den Zindel hinweg, den er fuͤr ein Stuͤck Fleiſch anſehn mochte. Peter erſchrack ſehr und beſorgte, daß Magelone unwillig werden moͤchte, wenn ihr beim Erwachen die Ringe fehlten. Er legte ihr alſo ſorgfaͤltig ſeinen Mantel unter das Haupt zuſammen, und ſtand leiſe auf, um zu ſehn, wo der Vogel mit den Ringen bleiben wuͤrde. Der Rabe flog vor ihm her, und Peter warf nach ihm mit Steinen, in der Meinung ihn zu toͤdten, oder ihn wenigſtens zu zwingen, ſeinen Raub wie - der fallen zu laſſen. Aber der Vogel flog immer weiter, und Peter verfolgte ihn unermuͤdet, doch keiner von den Steinwuͤrfen wollte den Raben treffen. So war ihm Peter ſchon eine ziemliche Weile gefolgt, und kam jetzt an das Meerufer. Nicht weit vom Ufer ſtand im Meere eine ſpitzige Klippe, auf dieſe ſetzte ſich der Rabe, und Peter warf von neuem nach ihm mit Steinen; der Vo - gel ließ endlich den Zindel fallen, und flog mit gro - ßem Geſchrei davon. Peter ſah im Meere nicht weit vom Ufer roth den Zindel ſchwimmen; er ging367Die ſchoͤne Magelone.am Lande hin und her, um etwas zu finden, wo - rauf er die wenigen Schritte in das Waſſer hinein fahren koͤnne. Er fand auch endlich einen kleinen, alten, verwitterten Kahn, den die Fiſcher hier hat - ten ſtehen laſſen, weil er ihnen nichts mehr nuͤtzte. Peter ſtieg raſch hinein, nahm einen Zweig, und ruderte damit, ſo gut er nur konnte, nach dem Zindel hin.

Aber ploͤtzlich erhob ſich vom Lande her ein ſtarker Wind, die Wellen jagten ſich uͤber einander und ergriffen den kleinen Kahn, in welchem Peter ſtand. Peter ſezte ſich mit allen Kraͤften dagegen, aber das Schiff ward dennoch der Klippe voruͤber, ins Meer hinein getrieben, und weiter und immer weiter. Peter ſah zuruͤck, und kaum bemerkte er noch den rothen Flecken, den der Zindel im Meere machte, und jetzt verſchwand er voͤllig, auch das Land lag ſchon ziemlich entfernt. Nun gedachte Peter an ſeine Magelone zuruͤck, die er im wuͤſten Holze ſchlafend verlaſſen hatte; das Schiff trug ihn wider Willen immer weiter in die See hinein, und er kam in Angſt und Verzweiflung. Er war im Begriff, ſich in das Meer zu ſtuͤrzen, er ſchrie und klagte, und alle ſeine Toͤne gab ein Echo zu - ruͤck, und die Wellen plaͤtſcherten laut dazwiſchen.

Das Land lag nun ſchon weit zuruͤck in einer unkenntlichen Ferne, die Daͤmmerung des Abends brach herein. Ach theuerſte Magelone! rief Peter in der hoͤchſten Betruͤbniß ſeiner Seelen heftig aus: wie wunderlich werden wir von einander geſchieden! Eine ſchwarze Hand treibt mich von deiner Seite368Erſte Abtheilung.in das wuͤſte Meer hinaus, und du biſt allein und ohne Huͤlfe. Was willſt du Ungluͤckſelige im wuͤ - ſten Walde beginnen? Ach! ich bin Schuld an dei - nem Tode! Mußte ich dich darum, dich Koͤnigs - tochter, von deinen Eltern entfuͤhren, um dich der haͤrteſten Noth Preis zu geben? Biſt du darum ſo zart und edel erzogen, daß du nun vielleicht eine Beute der wilden Thiere werden mußt? Was wird ſie nun machen, wenn ſie erwacht, und den ver - mißt, den ſie fuͤr den Getreueſten auf der ganzen Erde hielt? Warum mußte mein Vorwitz nur die Ringe hervor ſuchen, konnte ich ſie nicht an ihrem ſchoͤnſten Platze laſſen, wo ſie ſo ſicher waren? O weh mir, nun iſt alles verloren und ich muß mich in mein Verderben finden!

Solche Klagen trieb er, und gebehrdete ſich auf dem wuͤſten Meere aͤußerſt truͤbſelig. Er verlor alle Hofnung, und gab ſein Leben auf. Der Mond ſchien vom Himmel herab und erfuͤllte die Welt mit goldener Daͤmmerung; alles war ſtill, nur die Wellen ſeufzten und plaͤtſcherten, und Voͤgel flat - terten zu Zeiten mit ſeltſamen Toͤnen uͤber ihn da - hin. Die Sterne ſtanden ernſt am Himmel und die Woͤlbung ſpiegelte ſich in der wogenden Fluth. Pe - ter warf ſich nieder, und ſang mit lauter Stimme:

So toͤnet dann, ſchaͤumende Wellen,
Und windet euch rund um mich her!
Mag Ungluͤck doch laut um mich bellen,
Erboſt ſeyn das grauſame Meer!
Ich lache den ſtuͤrmenden Wettern,
Verachte den Zorngrimm der Fluth,
O369Die ſchoͤne Magelone.
O moͤgen mich Felſen zerſchmettern!
Denn nimmer wird es gut.
Nicht klag ich, und mag ich nun ſcheitern,
In waͤßrigen Tiefen vergehn!
Mein Blick wird ſich nie mehr erheitern,
Den Stern meiner Liebe zu ſehn.
So waͤlzt euch bergab mit Gewittern,
Und raſet ihr Stuͤrme mich an,
Daß Felſen an Felſen zerſplittern!
Ich bin ein verlorener Mann.

Er lag im Kahne ausgeſtreckt, und eine dumpfe Betaͤubung ergriff ihn; er wußte vor Uebermaß des Schmerzes nicht mehr, wo er war, und ließ ſich gleichguͤltig von Wind und Wellen weiter trei - ben; endlich verfiel er in einen Zuſtand, der faſt einem Schlafe glich.

12. Die Klagen der ſchoͤnen Magelone.

Magelone erwachte, nachdem ſie ſich durch einen ſuͤßen Schlaf erquickt hatte, und meinte, daß ihr Geliebter noch bei ihr ſaͤße. Sie erſchrack, als ſie ſich aufrichtete und ihn nicht mehr fand; ſie wartete erſt eine Weile, ob er nicht wieder kom - men moͤchte, dann ging ſie hin und her, und rief ſeinen Namen mit lauter Stimme aus. Da ſie keine Antwort vernahm, fing ſie an zu weinen undI. [24]370Erſte Abtheilung.zu ſchluchzen, wandte ſich dann im Holze nach al - len Orten hin, und rief ſo lange, bis ſie heiſer war, aber ſie erhielt keine Antwort. Da wurde ſie ſo betruͤbt, daß ſie einen heftigen Schmerz im Haupte empfand, ſie ſank auf den Boden nieder, und lag eine Weile in einer ſchmerzlichen Ohnmacht. Als ſie wieder zu ſich erwachte, daͤuchte ihr, daß es ein Leichtes ſeyn muͤſſe, jetzt gar zu ſterben; nun ſah ſie nicht mehr auf die Voͤgel, die ſcher - zend um ſie huͤpften, denn wenn ſie die Augen aufſchlug, war es ihr zu Sinne, daß jede Kreatur, die ſich regte und bewegte, gluͤcklicher ſey, als ſie.

Mit vieler Muͤhe ſtieg ſie auf einen Baum, um ſich in der Gegend umzuſehn, ob ſie nichts entdecken koͤnne, aber ſie ſah nichts als Waͤlder auf der einen Seite, keine Wohnung, kein Dorf, ſo weit ihr Auge reichte; auf der andern Seite das wuͤſte unabſehliche Meer. Troſtlos ſtieg ſie wieder herab, und weinte und klagte von neuem: O ungetreuer Ritter, rief ſie aus, warum haſt du deine unſchuldige Geliebte verlaſſen? Haſt du mich darum meinen Eltern geraubt, damit ich hier in der Wuͤſtenei verſchmachten ſoll? Was hab ich dir gethan? Hab ich dich zu ſehr geliebt? Biſt du mein uͤberdruͤßig, weil ich dir mein ſchwaches Herz zu fruͤh zu erkennen gab? O, ſo biſt du der Elen - deſte unter den Menſchen!

Sie ging wie wahnſinnig im Walde hin und her; da traf ſie die Roſſe, die noch ſo angebunden ſtanden, wie Peter ſie feſt gemacht hatte. O ver - gieb mir, mein Geliebter! rief ſie aus, jetzt werde371Die ſchoͤne Magelone.ich wohl gewahr, daß du unſchuldig biſt und daß du mich nicht vorſaͤtzlicherweiſe verlaſſen haſt. Wel - ches Abentheuer hat uns denn von einander ge - trennt?

Die Finſterniß brach mit der Nacht herein, und der Mond warf gebrochene Strahlen durch den Wald; ſeltſame fremde Stimmen ließen ſich in der Ferne hoͤren, und Magelone fuͤrchtete, daß es das Geſchrei wilder Thiere ſey. Muͤhſam ſtieg ſie wie - der auf einen Baum. Die Wolken wechſelten am Himmel wunderlich vom Monde beglaͤnzt, und jag - ten ſich durch einander; bald ſah ſie in dieſen Luft - erſcheinungen ihren Ritter, der mit Ungeheuern kaͤmpfte und ſie beſiegte; dann verwandelte ſich im Zuge das Wolkengebilde in ein andres; ihr daͤm - merndes Auge glaubte dann am Himmel Staͤdte mit hohen Thuͤrmen zu erblicken, oder Berge, auf denen feurige Caſtelle brannten, Reuter, die in Geſchwadern auszogen, und dem Feinde im Thale begegneten. Wie Blitze flatterte es dann durch die Landſchaft, und die hellgruͤne Himmelsebene lag praͤchtig zwiſchen den getrennten Wolkenbildern; dann fuͤhlte ſie, daß ſie nur geſchwaͤrmt habe, und mit bangem Grauen warf ſie den Blick auf die Waͤlder unter ſich, die ſchwarz in ernſten unbe - weglichen Geſtalten ruhten; ſie ſah nach der See hinab, die in unermeßlicher Flaͤche vor ihren Au - gen bebte und daͤmmerte. In der ſtillen Nacht kam das Plaͤtſchern der Wellen zu ihrem Ohre, das bald wie Gewinſel, bald wie zuͤrnende Schelt - worte klang; dann glaubte ſie die Stimme ihres372Erſte Abtheilung.Vaters und ihrer Mutter zu hoͤren, und ſo trieb ſich ihr Gemuͤth unter Phantaſien auf und ab, bis der Morgen empor kam. Wie verſchieden war dieſe Morgenroͤthe von der geſtrigen! Wie weit ſtand jetzt die Hofnung weg, die geſtern noch mit leichten Fluͤgeln wie ein blauer Schmetterling vor ihr hintanzte, die ihr den Weg nach einer lieben Heimath wies, und alle Blumen am Wege auf - ſuchte und auf ſie hindeutete.

Das Waldgefluͤgel ließ ſeine Geſaͤnge wieder klingen, das fruͤhe Roth arbeitete ſich durch den dichten Wald, ſchlich gebuͤckt und wunderſam durch die niedrigen Geſtraͤuche, und weckte Gras und Blumen auf; der Wald brannte in dunkelro - then Flammen und der Nebel wand ſich in golde - nen Saͤulen um die Baumſtaͤmme. Magelone hatte in der Nacht beſchloſſen, nicht zu ihrem Vater zu - ruͤckzukehren, denn ſie fuͤrchtete ſeinen Zorn, ſie wollte irgend eine ſtille Wohnung aufſuchen, von den Menſchen abgeſondert, dort immer an ihren Geliebten denken und ſo in Froͤmmigkeit und Treue hinſterben. Sie ſtieg daher vom Baum herunter und ging wieder zu den treuen Pferden, die noch angebunden ſtanden, und den Kopf betruͤbt zur Erde ſenkten. Sie loͤſte ihre Zuͤgel, ſo daß ſie gehn konnten, wohin ſie wollten, indem ſie ſagte: ſo wandert nun auch hin durch die weite traurige Welt, und ſuchet euren Herren wieder, ſo wie ich ihn ſuchen will. Die Roſſe gingen betruͤbt fort, jedes einen andern Weg.

Magelone wanderte durch die dichten Waͤlder,373Die ſchoͤne Magelone.ſie hatte einige Nahrung mit ſich genommen. Um ſich unkenntlich zu machen, verbarg ſie ihre lan - gen goldenen Haare und zog einen Schleier uͤber ihr Geſicht; ſie ſuchte auch ihre Kleidung zu ver - aͤndern. So kam ſie durch manche Doͤrfer und Staͤdte und blieb immer betruͤbt.

Nach einer Wanderung von vielen Tagen ſtand ſie gegen Abend auf einer freundlichen ſtillen Wieſe, gegenuͤber lag eine kleine Huͤtte, und Vieh wei - dete auf den nahen Huͤgeln, das mit ſeinen Klok - ken ein angenehmes Getoͤne durch die Ruhe des Abends machte; auf der andern Seite lag ein Wald, und Magelonens Seele wurde hier zum erſtenmale noch langer Zeit ruhig und heiter. Sie faßte da - her den Wunſch, in dieſer friedlichen Gegend zu wohnen. Sie ging auf die Huͤtte zu, aus der ihr ein alter Schaͤfer entgegen trat, der hier mit ſeiner Frau ſich angeſiedelt hatte, und fern von der Welt und den Menſchen fromme Laͤmmer groß zog, und einen kleinen Acker baute. Sie redete ihn an, und flehte als eine Ungluͤckliche um Schutz und Huͤlfe. Er nahm ſie gerne auf, und ſie unterzog ſich den Dienſten willig, die ſie leiſten konnte, dabei aber verſchwieg ſie ihrem Wirthe ihre Geſchichte. Es geſchah manchmal, daß ſie einem Ungluͤcklichen bei - ſtehn konnten, wenn ihn der Schiffbruch an die nahgelegene Kuͤſte trieb, und dann zeigte ſich be - ſonders Magelone huͤlfreich und thaͤtig. Wenn die Alten ausgingen, bewachte ſie das Haus, und ſang dann manchmal in der Einſamkeit mit der Spindel vor der Thuͤre ſitzend:

374Erſte Abtheilung.
Wie ſchnell verſchwindet
So Licht als Glanz,
Der Morgen findet
Verwelkt den Kranz,
Der geſtern gluͤhte
In aller Pracht,
Denn er verbluͤhte
In dunkler Nacht.
Es ſchwimmt die Welle
Des Lebens hin,
Und faͤrbt ſich helle,
Hats nicht Gewinn;
Die Sonne neiget,
Die Roͤthe flieht,
Der Schatten ſteiget
Und Dunkel zieht:
So ſchwimmt die Liebe
Zu Wuͤſten ab,
Ach! daß ſie bliebe
Bis an das Grab!
Doch wir erwachen
Zu tiefer Qual;
Es bricht der Nachen,
Es loͤſcht der Strahl,
Vom ſchoͤnen Lande
Weit weggebracht
Zum oͤden Strande,
Wo um uns Nacht.
375Die ſchoͤne Magelone.

13. Peter unter den Heiden.

Peter erholte ſich aus ſeiner Betaͤubung, als die Sonne eben in aller Majeſtaͤt uͤber die große Meeresfluth herauf ſtieg. Ein furchtbarer Glanz ſchwang ſich durch den Himmel und loͤſchte Mond und Sterne mit gluͤhenden Strahlen aus; die Waſ - ſer erklangen und verwandelten ſich in Purpur, Wolkenzuͤge trieben vor der Sonne her und ſegel - ten, wie von der Majeſtaͤt geſchreckt, uͤber das Meer hinweg, und ein ſpruͤhender Regen von Fun - ken verbreitete ſich weit umher, und ergoß ſich in Bogen uͤber die Fluth. Peter fuͤhlte wieder maͤnn - lichen Muth in ſeiner Bruſt, die Qualen des Le - bens ſo wie ſeine Freuden zu erdulden.

Ein großes Schiff ſegelte auf ihn zu, das von Mohren und Heiden beſetzt war; ſie nahmen ihn ein und freuten ſich uͤber dieſe Beute, denn Peter war gar ſchoͤn und herrlich von Geſtalt, dazu gab ihm ſeine Jugend ein zartes und einnehmendes Weſen, ſo daß niemand ſein Feind ſeyn konnte. Der Anfuͤhrer des Schiffes beſchloß, ihn dem Sul - tan als ein Geſchenk mitzubringen.

Man landete, und Peter ward ſogleich dem Sultan vorgeſtellt, der einen großen Gefallen an ihm fand, und ihn bei der Tafel aufwarten ließ, ihm auch die Aufſicht uͤber einen ſchoͤnen Garten anvertraute. Peter war allgemein beliebt, weil er vom Sultan ſo gnaͤdig angeſehn wurde. Oft ging376Erſte Abtheilung.er einſam zwiſchen den Blumen des Gartens, und dachte an ſeine geliebte Magelone, oft nahm er auch in der Abendſtunde eine Zither und ſang:

Muß es eine Trennung geben,
Die das treue Herz zerbricht?
Nein, dies nenne ich nicht leben,
Sterben iſt ſo bitter nicht.
Hoͤr ich eines Schaͤfers Floͤte,
Haͤrme ich mich inniglich,
Seh ich in die Abendroͤthe,
Denk ich bruͤnſtiglich an dich.
Giebt es denn kein wahres Lieben?
Muß denn Schmerz und Trauer ſeyn?
Waͤr ich ungeliebt geblieben,
Haͤtt ich doch noch Hofnungsſchein.
Aber ſo muß ich nun klagen:
Wo iſt Hofnung, als das Grab?
Fern muß ich mein Elend tragen,
Heimlich ſtirbt das Herz mir ab.

14. Die Heidin Sulima liebt den Ritter.

Peter mochte hier vergnuͤgt leben, wenn die Liebe nicht ſeine Jugend verzehrt haͤtte. Er war nun ſchon ſeit lange am Hofe des Sultans und von ihm und den uͤbrigen geſchaͤtzt; er hatte viele Frei - heit und ward von manchem Hofdiener beneidet,377Die ſchoͤne Magelone.aber er verdiente dieſen Neid nicht, denn er ward von ſeiner Unruhe hin und her getrieben, er ſeufzte und klagte laut, wenn er ſich im Gar - ten allein befand.

So verſtrich eine Woche nach der andern und er war nun beinahe zwei Jahr unter den Heiden, ohne daß er Hofnung hatte, jemals in ſein gelieb - tes Vaterland zuruͤck zu kehren, denn der Sultan liebte ihn ſo ſehr, daß er ihn durchaus nicht von ſich entfernen wollte. Dies zog ſich Peter auch zu Sinne und ward daruͤber mit jedem Tage be - truͤbter, denn er dachte unaufhoͤrlich an ſeine Eltern und ſeine Geliebte. Nichts machte ihm Freude, und da der Fruͤhling wieder kam, weinte er bei ſeiner Ankunft, und trauerte tief, indem die ganze Natur ihr holdſeligſtes Feſt beging.

Der Sultan hatte eine Tochter, die im gan - zen Lande ihrer Schoͤnheit wegen beruͤhmt war, mit Namen Sulima. Sie fand oft Gelegenheit den Fremden zu ſehn, und ohne daß ſie es anfangs wußte, hatte ſich eine heftige Liebe zu ihm in ihr Herz geſchlichen. Die Traurigkeit des Ritters zog ſie vorzuͤglich an, ſie wuͤnſchte, ihn troͤſten zu koͤn - nen, ihm naͤher zu kommen, und mit ihm zu re - den. Die Gelegenheit dazu fand ſich bald. Eine vertraute Sklavin fuͤhrte den Juͤngling heimlich in einen Saal des Gartens zu ihr. Peter war erſtaunt und in Verlegenheit; er verwunderte ſich uͤber die Schoͤnheit der Sulima, aber ſein Herz hing an Magelonen feſt.

Doch der ſuͤße Trieb, ſein Vaterland wieder378Erſte Abtheilung.zu ſehn, bemeiſterte ſich bald aller ſeiner Sinnen ſo ſehr, daß er einem kuͤhnen Anſchlage nachdachte. Er ſah das Heidenmaͤdchen oͤfter, und ſie ſagte ihm, daß ſie aus Liebe zu ihm mit ihm entfliehen wolle, erſt zu einem Verwandten, der ein Schiff ſegelfertig liegen habe, das auf ihren Wink ſogleich die Anker lichten wuͤrde; ſie wolle ihm in der be - ſtimmten Nacht durch eine Laute und ein kleines Lied ein Zeichen geben, wann er kommen und ſie abholen ſolle. Peter uͤberlegte dieſen Vorſchlag und willigte endlich ein, denn er uͤberzeugte ſich, daß Magelone gewiß geſtorben ſey, und er komme doch ſo in die Chriſtenheit und zu ſeinen Eltern zuruͤck.

Der Garten des Sultans lag am Ufer des Meeres, und die beſtimmte Nacht war jetzt herbei gekommen. Gegen Abend hatte Peter ein wenig unter den kuͤhlen Baͤumen geſchlummert, und Ma - gelone war ihm in aller Herrlichkeit, aber mit einer drohenden Gebehrde, im Traum erſchienen. Die ganze Vergangenheit zog mit den lebhafteſten Bil - dern durch ſeinen Buſen, jede Stunde ſeiner gluͤck - lichen Liebe kam mit allen ſeeligen Empfindungen zuruͤck, und als er nun erwachte, erſchrack er vor ſich ſelber und ſeinem Vorſatze. Er haͤtte ſich ſel - ber entfliehen moͤgen, und das Andenken an ſich und ſein Bewußtſeyn aus ſeinem Buſen vertilgen.

Die Nacht brach indeß herein, und alle Sterne glaͤnzten ſchon am Himmel; der Mond ging auf und warf ſein goldenes Netz uͤber das Meer hin, als Peter nachdenklich am Ufer auf und nieder ging. Ein friſcher Wind blies vom Lande her379Die ſchoͤne Magelone.durch den Garten, und die Baͤume rauſchten mun - ter und froͤhlich, aber Peter ward dadurch nur deſto betruͤbter.

O ich Treuloſer! ich Undankbarer, rief er aus, will ich ſo ihre Liebe belohnen, will ich als ein Meineidiger in mein Vaterland zuruͤck kehren? Das waͤre mir ein ſchlechter Ruhm unter meinen Ver - wandten und der ganze Ritterſchaft; und wie ſollte ich gegen Magelonen die Augen aufſchlagen duͤrfen, wenn ſie noch lebt? Und warum ſollte ſie nicht leben, da ich ſo wunderbar erhalten bin? O ich bin ein feiger Sklave, daß ich fuͤr mich ſelber noch nichts gewagt habe! Warum uͤberlaß ich mich nicht dem guͤtigen Schickſal, und fahre in einem dieſer Nachen in das Meer hinein? Ueberließ ich mich nicht auf einem zerbrochenen Brette der em - poͤrten Fluth, und kam an dies Geſtade? Soll ich nicht auf Gott vertraun, wenn von Vaterland, wenn von meiner Liebe die Rede iſt?

Er ſtieg beherzt in ein kleines Boot, das er vom Lande abloͤſte, dann nahm er ein Ruder und arbeitete ſich in die See hinein. Es war die ſchoͤnſte Sommernacht; alle Geſtirne ſahen freundlich in die mondbeglaͤnzte Welt hinein, das Meer war eine ſtille ebene Flaͤche, und warme Luͤfte ſpielten uͤber dem ruhigen Spiegel hin. Peters Herz ward groß von Sehnſucht, er uͤberließ ſich dem Zufall und den Sternen, und ruderte muthig weiter; da hoͤrte er das verabredete Zeichen, eine Zither erklang aus dem Garten her, und eine liebliche Stimme ſang dazu:

380Erſte Abtheilung.
Geliebter, wo zaudert
Dein irrender Fuß?
Die Nachtigall plaudert
Vor Sehnſucht und Kuß.
Es fluͤſtern die Baͤume
Im goldenen Schein,
Es ſchluͤpfen mir Traͤume
Zum Fenſter herein.
Ach! kennſt du das Schmachten
Der klopfenden Bruſt?
Dies Sinnen und Trachten
Voll Qual und voll Luſt?
Befluͤgle die Eile
Und rette mich dir,
Bei naͤchtlicher Weile
Entfliehn wir von hier.
Die Seegel ſie ſchwellen,
Die Furcht iſt nur Tand:
Dort, jenſeit den Wellen,
Iſt vaͤterlich Land.
Die Heimath entfliehet;
So fahre ſie hin!
Die Liebe ſie ziehet
Gewaltig den Sinn.
Horch! wolluͤſtig klingen
Die Wellen im Meer,
Sie huͤpfen und ſpringen
Muthwillig einher,
Und ſollten ſie klagen?
Sie rufen nach dir!
Sie wiſſen, ſie tragen
Die Liebe von hier.
381Die ſchoͤne Magelone.

Peter erſchrack im Herzen, als er dieſen Ge - ſang vernahm; das Lied rief ihm ſeine Untreue und ſeinen Wankelmuth nach. Er ruderte ſtaͤrker, um ſich vom Lande zu entfernen und dem Kreiſe zu entfliehen, den die lieblich lockenden Toͤne in der ſtillen Abendluft bildeten. Der Geiſt der Liebe ſchwang ſich durch den goldenen Himmel; Liebe wollte ihn ruͤckwaͤrts ziehn, Liebe trieb ihn vor - waͤrts, die Wellen murmelten melodiſch dazwiſchen, und klangen wie ein Lied in fremder Sprache, deſſen Sinn man aber dennoch erraͤth.

Der Geſang vom Ufer her ward immer ſchwaͤ - cher. Schon ſah Peter die Baͤume am Geſtade nicht mehr; es war, als wenn ſich ihm die Muſik uͤber das Meer nacharbeitete, und endlich matt und kraftlos nicht weiter zu ſchwimmen wagte, ſondern zum einheimiſchen Ufer zuruͤck ſchlich; denn jetzt hoͤrte er den Geſang nur noch wie ein leiſes Wehen des Windes, und jetzt erloſch auch die letzte Spur, und die Wellen rieſelten nur, und der Ru - derſchlag ertoͤnte durch die einſame Stille.

15. Wie Peter wieder zu Chriſten kam.

Wie der Geſang verſchollen war, faßte Peter wieder friſchen Muth; er ließ das Schifflein vom Winde hintreiben, ſetzte ſich nieder und ſang:

382Erſte Abtheilung.
Wie froh und friſch mein Sinn ſich hebt,
Zuruͤckbleibt alles Bangen,
Die Bruſt mit neuem Muthe ſtrebt,
Erwacht ein neu Verlangen.
Die Sterne ſpiegeln ſich im Meer,
Und golden glaͤnzt die Fluth.
Ich rannte taumelnd hin und her,
Und war nicht ſchlimm, nicht gut.
Doch niedergezogen
Sind Zweifel und wankender Sinn,
O tragt mich, ihr ſchaukelnden Wogen,
Zur laͤngſt erſehnten Heimath hin.
In lieber daͤmmernder Ferne,
Dort rufen einheimiſche Lieder,
Aus jeglichem Sterne
Blickt ſie mit ſanftem Auge nieder.
Ebne dich, du treue Welle,
Fuͤhre mich auf fernen Wegen
Zu der vielgeliebten Schwelle,
Endlich meinem Gluͤck entgegen!

Als das Morgenroth aufging, ſah er das Land nur noch wie eine unkenntliche blaue Wolke weit hinunter liegen, und er erſchrack beinah, als ihn das allmaͤchtige Meer und der gewoͤlbte Himmel ſo unermeßlich umgab. In der Ferne ſeegelte ein Schiff auf ihn zu, und er haͤtte beinah geglaubt, daß er ſein ehemaliges Ungluͤck nur von neuem traͤume; aber als es naͤher gekommen, ſah er, daß die Schiffer Chriſten waren, die ihn ſogleich willig aufnahmen. Er freute ſich, als er hoͤrte, daß ſie nach Frankreich ſegelten.

383Die ſchoͤne Magelone.

16. Der Ritter auf der Reiſe.

Um die Zeit war der Graf von der Provence nebſt ſeiner Gemahlin ſehr betruͤbt, weil ſie noch gar keine Nachrichten von ihrem geliebten Sohne bekommen hatten. Beſonders aber war die Mut - ter in Angſt, denn ſie hatte eine große Sehnſucht, ihren einzigen Sohn nach ſo langer Zeit wieder zu ſehn. Sie ſprach oft mit dem Grafen von ih - rem Kummer, und daß ihr ſchoͤner Sohn wahr - ſcheinlich umgekommen ſey. Da ſollte ein Feſt ge - geben werden, und ein Fiſcher brachte einen großen Fiſch in die graͤfliche Kuͤche; als ihn der Koch auf - ſchnitt, fand er drei Ringe in deſſen Bauche, die er der Graͤfin uͤberbrachte. Die Graͤfin verwun - derte ſich uͤber die Maßen, denn ſie erkannte ſie fuͤr eben diejenigen, die ſie ihrem Sohne gegeben hatte. Sie ſagte daher zu ihrem Gemahl: jetzt bin ich getroͤſtet, denn da ich ſo unvermuthet und auf ſo wunderbare Weiſe Kundſchaft von meinem Sohn bekommen habe, ſo bin ich auch uͤberzeugt, daß Gott ihn nicht verlaſſen hat, ſondern daß er ihn nach vielen uͤberſtandenen Muͤhſeligkeiten in unſre Arme zuruͤck fuͤhren wird.

Peter ſtand im Schiffe und ſah immer nach der Gegend hin, wo die erwuͤnſchte Heimath lag. Die Fahrt war gluͤcklich, und man landete an einer kleinen unbewohnten Inſel, um ſuͤßes Waſſer ein - zunehmen. Alles Schiffsvolk ſtieg an das Land,384Erſte Abtheilung.und auch Peter. Er ging durch ein anmuthiges Thal und verlor ſich hinter einigen Huͤgeln in das Land hinein; da ſetzte er ſich nieder und ſah viele ſchoͤne Blumen um ſich ſtehn. Alle blickten ihn wie mit freundlichen, lieblichen Augen an, und er dachte innig an Magelonen, und wie ſie ihn ge - liebt hatte. Wie kann der Liebende, rief er aus, ſich nur jemals einſam fuͤhlen? Erinnern mich nicht dieſe blauen Kelche an ihre holdſeligen Augen, dieſes goldene Blatt an ihr Haar, die Pracht die - ſer Lilie und Roſe neben einander, an ihre zarten Wangen? Iſt es doch, als wenn der Wind in den Blumen ſich bewegt, und es, wie auf Saiten verſuchen will, ihren ſuͤßen Namen auszuſprechen; Quellen und Baͤume nennen ihn, fuͤr die uͤbri - gen Menſchen unverſtaͤndlich, aber mir laut und vernehmlich.

Er erinnerte ſich eines Geſanges, den er vor langer Zeit gedichtet hatte, und wiederholte ihn jetzt:

Suͤß iſts, mit Gedanken gehn,
Die uns zur Geliebten leiten,
Wo von blumbewachsnen Hoͤhn,
Sonnenſtrahlen ſich verbreiten.
Lilien ſagen: unſer Licht
Iſt es, was die Wange ſchmuͤcket;
Unſern Schein die Liebſte blicket:
So das blaue Veilchen ſpricht.
Und mit ſanfter Roͤthe laͤcheln
Roſen ob dem Uebermuth,
Kuͤhle Abendwinde faͤcheln
Durch die liebevolle Gluth.
All385Die ſchoͤne Magelone.
All ihr ſuͤßen Bluͤmelein,
Sei es Farbe, ſeis Geſtalt,
Mahlt mit liebender Gewalt
Meiner Liebſten hellen Schein,
Zankt nicht, zarte Bluͤmelein.
Roſen, duftende Narziſſen,
Alle Blumen ſchoͤner prangen,
Wenn ſie ihren Buſen kuͤſſen
Oder in den Locken hangen,
Blaue Veilchen, bunte Nelken,
Wenn ſie ſie zur Zierde pfluͤckt,
Muͤſſen gern als Putz verwelken,
Durch den ſuͤßen Tod begluͤckt.
Lehrer ſind mir dieſe Bluͤthen,
Und ich thue wie ſie thun,
Folge ihnen, wie ſie riethen,
Ach! ich will gern alles bieten,
Kann ich ihr am Buſen ruhn.
Nicht auf Jahre ſie erwerben,
Nein, nur kurze, kleine Zeit,
Dann in ihren Armen ſterben,
Sterben ohne Wunſch und Neid.
Ach! wie manche Blume klaget
Einſam hier im ſtillen Thal,
Sie verwelket eh es taget,
Stirbt beim erſten Sonnenſtrahl:
Ach, ſo bitter herzlich naget
Auch an mir die ſcharfe Qual,
Daß ich ſie und all mein Gluͤcke,
Nimmer, nimmermehr erblicke.

Er weinte heftig, indem er die letzten Worte ſang, denn er glaubte ſein Herz zu verſtehn, dasI. [25]386Erſte Abtheilung.ihm ein Ungluͤck vorherſagte. Er betrachtete mit thraͤnenden Blicken das Blumenlabyrinth um ſich her, und es war ihm ein Ergoͤtzen, die Blumen in ſeiner Einbildung ſo zu ordnen, daß ſie den Na - menszug Magelonens ausdruͤckten. Dann horchte er auf das lispelnde Gras, das ihm etwas zu ſa - gen ſchien, auf die Bluͤten, die ſich oft zaͤrtlich zu einander neigten, als wenn ſie ein herzliches Geſpraͤch von Liebe fuͤhren wollten. In der gan - zen Natur ſah er liebevolle Eintracht, und jedes Geraͤuſch klang ſeinem Ohre wie ein melodiſcher Geſang. Daruͤber verlor er ſich immer mehr in Traͤumen; von den Thraͤnen ermuͤdet ſchlief er endlich unter den Blumen ein, und es war ihm im Traum, als wenn er laut den Namen Mage - lone ausrufen hoͤrte; daruͤber ging ihm ſein Herz wie eine zugeſchloſſene Knospe auf, und er fuͤhlte eine uͤbergroße Freude.

17. Peter wird von Fiſchern aufgefunden.

Aber der Wind blies indeß luftig in die Seegel, und das Schiffsvolk eilte wieder in das Schiff, um abzufahren, nur Peter blieb aus; man rief ihn, aber da er nicht kam, fuhren die uͤbrigen fort.

Als ſie ſchon weit vom Ufer entfernt waren, erwachte Peter aus ſeinem erquickenden Schlafe; er erſchrack, als er gewahr ward, daß er geſchlafen387Die ſchoͤne Magelone.hatte. Er eilte an das Ufer, aber Niemand war da, und das Schiff nirgend zu ſehn. Da ſenkte ſich eine große Traurigkeit in ſein Herz, alle ſeine Hofnungen waren wieder verſchwunden: er ſtuͤrzte nieder und lag am Ufer des Meeres ohne Beſin - nung und in tiefer Ohnmacht, ſo daß es finſtre Nacht wurde und er es nicht bemerkte.

Als es nach Mitternacht kam, ging der Mond auf, und einige Fiſcher fuhren mit einem Kahne an die Inſel, um ihre Arbeit hier vorzunehmen; ſie fanden den Juͤngling, der fuͤr todt auf der Erde ausgeſtreckt lag. Das feſte Land war nicht weit von dieſer Inſel, ſie luden ihn daher in ihr kleines Schiff, und fuhren wieder ab, um ihn ins Leben zuruͤck zu bringen. Schon unterwegs er - wachte Peter; es duͤnkte ihm ſeltſam, als ihm der Mond ins Angeſicht ſchien und er die Ruder ſeuf - zen hoͤrte, und wie er vernahm, daß zwei fremde Maͤnner mit einander verabredeten, wie ſie ihn zu einem alten Schaͤfer bringen wollten, der ſein pflegen wuͤrde. Oft kam es ihm vor wie ein Traum, oft wieder wie Wahrheit, und er zwei - felte ſo lange, bis ſie endlich mit dem Aufgang der Sonne landeten.

Als Peter eine Weile in den erquickenden Son - nenſtrahlen gelegen hatte, ward er wieder munter und richtete ſich auf; er dankte in einem Gebete Gott, daß er ihm wieder von der menſchenleeren Inſel geholfen habe, dann gab er den guten Fi - ſchern eine Menge Goldes, und ließ ſich den Weg nach der Huͤtte des Schaͤfers beſchreiben.

388Erſte Abtheilung.

Er ging durch einen dichten, angenehmen Wald, durch deſſen dunkle Schatten der Morgen noch daͤmmerte. Er folgte einem geſchlaͤngelten Fuß - pfade, und uͤberdachte ſchwermuͤthig ſein Schickſal; alles Ungemach, das er erlitten, kam friſch in ſeine Seele, und er ward daruͤber ſo unmuthig, daß er von Herzen wuͤnſchte, endlich zu ſterben.

Mit dieſen Gedanken trat er aus dem Walde und ſtand vor einer ſchoͤnen gruͤnen Wieſe, die im Morgenlicht glaͤnzte; gegenuͤber lag eine kleine einſame Huͤtte, und Schaafe wurden von einem alten Manne einen Huͤgel hinan getrieben. Alles ſchimmerte roth und freundlich, und die ſtille Ruhe umher brachte auch in Peters Seele Ruhe zuruͤck. Er merkte, daß dies die Huͤtte ſey, die ihm die Fiſcher bezeichnet hatten, und er wuͤnſchte, hier einige Tage zu raſten und ſich zu erquicken. Er ging daher uͤber die Wieſe, auf der viele wilde Blumen roth und gelb und himmelblau bluͤhten, der kleinen Huͤtte naͤher. Vor der Thuͤre ſaß ein ſchlankes ſchoͤnes Maͤgdlein, zu deren Fuͤßen ein Lamm im Graſe ſpielte, dieſe ſang, indem er uͤber die Wieſe ſchritt:

Begluͤckt, wer vom Getuͤmmel
Der Welt ſein Leben ſchließt,
Das dorten im Gewimmel
Verworren abwaͤrts fließt.
Hier ſind wir all befreundet,
Menſch, Thier und Blumenreich,
Von keinem angefeindet
Macht uns die Liebe gleich.
389Die ſchoͤne Magelone.
Die zarten Laͤmmer ſpringen
Vergnuͤgt um meinen Fuß,
Die Turteltauben ſingen
Und girren Morgengruß.
Der Roſenſtrauch mit Gruͤßen
Beut ſeine Kinder dar,
Im Thale dort der ſuͤßen
Violen blaue Schaar.
Und wenn ich Kraͤnze winde
Ertoͤnt und rauſcht der Hain,
Es duftet mir die Linde
Im goldnen Mondenſchein.
Die Zwietracht bleibt dahinten,
Und Stolz, Verfolgung, Neid,
Kann nicht die Wege finden
Hieher zur goldnen Zeit.
Vor mir ſtehn holde Scherze
Und truͤbe Sorge weicht;
Allein mein innres Herze
Wird darum doch nicht leicht.
Weil ich die Liebe kannte
Und Blick und Kuß verſtand,
So bin ich nun Verbannte
Weit ab im fernen Land.
Die Freude macht mich truͤbe,
Dunkelt den ſtillen Sinn,
Denn meine zarte Liebe
Iſt nun auf ewig hin.
Erinnre und erquicke
Dich an vergangner Luſt,
Am ſchwermuthsvollen Gluͤcke,
Denn ſonſt zerſpringt die Bruſt.
390Erſte Abtheilung.
Die Morgenroͤthe laͤchelt
Mir zwar noch ofte zu,
Und matte Hofnung faͤchelt
Mich dann in ſchoͤnre Ruh:
Daß ich ihn wieder finde,
Den ich wohl ſonſt gekannt,
Und daß nun uns ſich winde
Ein gluͤckgewirktes Band.
Wer weiß, durch welche Schatten
Sein Fuß ſchon heute geht,
Dann koͤmmt er uͤber Matten
Und alles iſt verweht,
Die Seufzer und die Thraͤnen,
Sie loͤſcht das neue Gluͤck,
Und Hoffen, Fuͤrchten, Sehnen
Verſchmilzt in Einen Blick.

18. Beſchluß.

Peter fuͤhlte ſich von dem Geſange wie von einer lieblichen Gewalt nach der Huͤtte hingezogen. Die Schaͤferin, welche vor der Thuͤr ſaß, nahm ihn freundlich auf, und ließ ihn in der Huͤtte ausruhn und ſich erquicken. Die beiden Alten kamen auch bald zuruͤck, und hießen ihren edlen Gaſt von Her - zen willkommen.

Magelone ging indeſſen im Felde nachdenklich auf und ab, denn ſie hatte auf den erſten Blick den Ritter erkannt; alle ihre Sorgen waren nun391Die ſchoͤne Magelone.wie Schnee vor der Fruͤhlingsſonne hinweg ge - ſchmolzen, und ihr Lebenslauf lag gruͤn und er - friſcht vor ihr, ſo weit nur ihr Auge reichte. Sie ging in die Huͤtte zuruͤck, und gab ſich noch nicht zu erkennen.

Nach zweien Tagen war Peter wieder ganz zu Kraͤften gekommen. Er ſaß mit Magelonen, ohne daß er ſie kannte, vor der Thuͤr der Huͤtte. Bie - nen und Schmetterlinge ſchwaͤrmten um ſie, und Peter faßte ein Zutrauen zu ſeiner Verpflegerin, ſo daß er ihr ſeine Geſchichte und ſein ganzes Un - gluͤck erzaͤhlte. Magelone ſtand ploͤtzlich auf und ging in ihre Kammer, da loͤſte ſie ihre goldenen Locken auf, und machte ſie von den Banden frei, die ſie bisher gehalten hatten, dann zog ſie ihre koͤſtliche Kleidung an, die ſie eingeſchloſſen hielt, und ſo kam ſie ploͤtzlich wieder vor die Augen Pe - ters. Er war vor Erſtaunen außer ſich, er um - armte die wiedergefundene Geliebte, dann erzaͤhl - ten ſie ſich ihre Geſchichte wieder, und weinten und kuͤßten ſich, ſo daß man haͤtte ungewiß ſeyn ſollen, ob ſie vor Jammer oder uͤbergroßer Freude ſo herz - brechend ſchluchzten. So verging ihnen der Tag.

Dann reiſte Peter mit Magelonen zu ſeinen Eltern, ſie wurden vermaͤhlt, und alles war in der groͤßten Freude; auch der Koͤnig von Neapel ver - ſoͤhnte ſich mit ſeinem neuen Sohne, und war mit der Heirath wohl zufrieden.

Auf dem Orte, wo Peter ſeine Magelone wieder gefunden hatte, ließ er einen praͤchtigen Sommerpallaſt bauen, und ſetzte den Schaͤfer zum392Erſte Abtheilung.Aufſeher hinein, den er mit vielem Lohne uͤber - haͤufte. Vor dem Pallaſt pflanzte er mit ſeiner jungen Gattin einen Baum; dann ſangen ſie fol - gendes Lied, welches ſie nachher auf derſelben Stelle in jedem Fruͤhjahre wiederholten:

Treue Liebe dauert lange,
Ueberlebet manche Stund,
Und kein Zweifel macht ſie bange,
Immer bleibt ihr Muth geſund.
Draͤuen gleich in dichten Schaaren,
Fodern gleich zum Wankelmuth
Sturm und Tod, ſetzt den Gefahren
Lieb entgegen treues Blut.
Und wie Nebel ſtuͤrzt zuruͤcke
Was den Sinn gefangen haͤlt,
Und dem heitern Fruͤhlingsblicke
Oeffnet ſich die weite Welt.
Errungen
Bezwungen
Von Lieb iſt das Gluͤck,
Verſchwunden
Die Stunden
Sie fliehen zuruͤck;
Und ſeelige Luſt
Sie ſtillet
Erfuͤllet
Die trunkene wonneklopfende Bruſt,
Sie ſcheide
Von Leide
Auf immer,
Und nimmer
Entſchwinde die liebliche, ſeelige, himmliſche Luſt!
393Erſte Abtheilung.

Es war indeſſen finſter geworden. Roſalie klingelte, um Lichter bringen zu laſſen, worauf ſie ſich gegen Friedrich wandte und ſagte: Mir iſt ſeit meiner fruͤhen Jugend ſchon dieſe Geſchichte bekannt, aber ich danke Ihnen dafuͤr, daß Sie das Spital und die Verpflegung der Kran - ken auf dieſe Weiſe unnoͤthig gemacht haben; das laͤndliche Gemaͤhlde der heitern Wieſe und ſtillen Einſamkeit ſind der Imagination weit an - genehmer.

Ich dachte vor Jahren eben ſo, antwortete Friedrich, und habe mir deshalb dieſe Umaͤn - derung erlaubt, mit der ich jetzt aber um ſo un - zufriedener bin; auch hoffe ich, daß ich Sie wohl noch einmal zu meiner Meinung, und zur alten Erzaͤhlung zuruͤck fuͤhren werde.

Wenn es aber gar nicht erlaubt ſeyn ſollte, wandte Auguſte ein, alte bekannte Geſchichten nach Gutduͤnken und Laune abzuaͤndern, und ſie unſerm Geſchmack zuzubereiten, ſo wuͤrden wir ohne Zweifel viel verlieren, denn manches ginge ganz unter, das uns ſo erhalten bleibt. Sind dergleichen Erfindungen ſchon ehemals umgeſchrie - ben und neu erzaͤhlt worden, ſo begreife ich nicht, warum dieſe Freiheit nicht jedem neuern Dichter ebenfalls vergoͤnnt ſeyn ſollte. In Arabien, wo ſie ſo viele Maͤhrchen erzaͤhlen, bleibt man ge - wiß nicht immer der Sache treu, denn in jedem Erzaͤhler regt ſich die Luſt, die Umſtaͤnde anders zu wenden, ſie wunderbarer oder anmuthiger zu394Erſte Abtheilung.machen, und ſich dadurch die fremde Erfindung anzueignen.

Sie moͤgen nicht Unrecht haben, antwortete Friedrich; wenn aber eine alte Erzaͤhlung einen ſo herzlichen Mittelpunkt hat, der der Geſchichte einen großen und ruͤhrenden Charakter giebt, ſo iſt es doch wohl nur die Verwoͤhnung einer neu - ern Zeit und ihre Beſchraͤnktheit, dieſe Schoͤn - heit ganz zu verkennen, und ſie mit einer will - kuͤhrlichen Abaͤnderung verbeſſern zu wollen, durch welche das Ganze eben ſo wohl Mittelpunkt als Zweck verliert.

Ich bin Ihrer Meinung, ſagte Clara. Giebt es etwas Ruͤhrenderes (und zwar nicht von der Art des Ruͤhrenden, welches man gewoͤhnlich ſo nennt), als daß ſie ſich in treuer Liebe und Hof - nungsloſigkeit dem Dienſt der Kranken fromm und andaͤchtig widmet? Lange hat ſie dem ſelbſt - gewaͤhlten Berufe mit edler Treue vorgeſtanden, da kommt er ſelbſt, von Liebe und Sehnſucht er - mattet, an der Trennung ſterbend, in ihre Pflege (nicht, wie hier erzaͤhlt wird, halb ungetreu); ſie kennt ihn nicht, ſie nimmt ihn auf wie jeden Kranken; da faͤngt er an zu geneſen, er faßt ein Zutrauen zu der guten, alt ſcheinenden Waͤrte - rin und erzaͤhlt ihr ſeine Geſchichte; ſie, vor Schrecken und Wonne wie vernichtet, geht in die Kammer, loͤſt die rollenden goldgelben Lok - ken auf, wirft das Gewand der Buͤßenden ab, und tritt ſo im Jugendglanz dem wieder vor395Erſte Abtheilung.Augen, der mit dem Fruͤhling der Geſundheit den Lenz der Liebe von neuem aufbluͤhen ſieht. Das alte Gedicht iſt eine Verherrlichung der Liebe und frommen Demuth, die neuere Erzaͤhlung iſt ſuͤß freigeiſteriſch und unglaͤubig.

Lope de Vega hat unter den Namen der drei Diamanten die Geſchichte fuͤr das Theater bearbei - tet, bemerkte Lothar, und ſie in ſeiner etwas lok - kern Manier ausgefuͤhrt; auf dasjenige, was nach unſerer Meinung der Hauptpunkt ſeyn ſollte, hat er auch nur wenig Gewicht gelegt. Die Sage ſelbſt ſcheint mir aber auch voͤllig undramatiſch.

Mir nicht, erwiederte Friedrich. Wiſſen wir doch uͤberhaupt noch nicht recht, was wir drama - tiſch oder undramatiſch nennen ſollen. Nach un - ſern gewoͤhnlichen Anſichten gehn die Novelle und Erzaͤhlung oft von ſelbſt in das Drama uͤber, und viele Novellen ſind Comoͤdien nach dieſer Meinung, ſo wie wir auch nicht wenige Comoͤdien beſitzen, ſelbſt beruͤhmte, die durchaus nur dialogiſirte Novellen ſind. Dieſe koͤnnen ſehr geiſtreich und witzig ſeyn, wie die des Machiavell zum Bei - ſpiel, ſind aber darum doch noch keine Schau - ſpiele. Damit Erzaͤhlung oder Sage Schauſpiel werde, muß ein neues Element hinzu treten, welches das Ganze allſeitig durchdringt, und im Mittelpunkte des Gedichtes ſeine Beglaubi - gung findet: dazu Individualitaͤt und ſcheinbare Willkuͤhr, zugleich eine Aufopferung alles deſſen, was die Novelle reizend macht, ſo daß es dem396Erſte Abtheilung.ungeuͤbten Auge ſogar ſcheint, als ſey eine gute Novelle im Drama nur verdorben worden. Nicht ſelten hat man Shakſpears Luſtſpiele ſo angeſehn und beurtheilt. Haͤufig aber, wenn wir vom Dramatiſchen ſprechen, verwechſeln wir dieſes mit dem Theatraliſchen, und wiederum ein moͤg - liches beſſeres Theater mit unſerm gegenwaͤrtigen und ſeiner ungeſchickten Form; und in dieſer Verwirrung verwerfen wir viele Gegenſtaͤnde und Gedichte als unſchicklich, weil ſie ſich frei - lich auf unſrer Buͤhne nicht ausnehmen wuͤrden. Sehn wir alſo ein, daß ein neues Element erſt das dramatiſche Werk als ein ſolches beurkun - det, ſo iſt wohl ohne Zweifel eine Art der Poe - ſie erlaubt, welche auch das beſte Theater nicht brauchen kann, ſondern in der Phantaſie eine Buͤhne fuͤr die Phantaſie erbaut, und Compo - ſitionen verſucht, die vielleicht zugleich lyriſch, epiſch und dramatiſch ſind, die einen Umfang gewinnen, welcher gewiſſermaßen dem Roman un - terſagt iſt, und ſich Kuͤhnheiten aneignen, die kei - nem andern dramatiſchen Gedichte ziemen. Dieſe Buͤhne der Phantaſie eroͤffnet der romantiſchen Dichtkunſt ein großes Feld, und auf ihr duͤrfte dieſe Magelone und manche alte anmuthige Tra - dition ſich wohl zu zeigen wagen.

Ernſt ſagte hierauf: unter den gelehrten Ita - liaͤnern iſt es eine alte hergebrachte Meinung, daß dieſe Geſchichte, ſo wie wir ſie jetzt als Volks - buch beſitzen, die fruͤheſte Uebung des Petrarka397Erſte Abtheilung.geweſen ſey, der ſie ſo nach einem Manuſkript aus dem zwoͤlften Jahrhundert umgearbeitet habe. Die Erzaͤhlung iſt ſo ſchoͤn und einfach, daß die Sache an ſich ſelbſt nicht unwahrſcheinlich iſt.

Manfred ſchlug ein lautes Gelaͤchter auf, und ſagte nach einiger Zeit: O vortreflich! Die Autoren, die uns den Oktavian und die Hey - monskinder in ihrer alten treuherzigen Geſtalt gaben, waren gewiß auch keine Stuͤmper, und wer weiß, ob nicht einſt entdeckt wird, daß un - ſer Eulenſpiegel nichts als eine Umwandlung des beruͤhmten verlohrenen Margites iſt. Wie recht hat Wilhelm Schlegel, wenn er einmal ſagt: die gebildeten Staͤnde in Deutſchland haben noch keine Literatur, aber der Bauer hat ſie. Denn wohl ſind in dieſen unſcheinbaren ſchlecht ge - druckten Schriften faſt alle Elemente der Poeſie, vom Heroiſchen bis zum Zaͤrtlichen und hinab zum kraͤftig Komiſchen, ausgeſprochen. Ich muß hier auf meine Verwunderung zuruͤck kommen: was meinen nehmlich nur die Herren, die mit fanatiſcher Vernuͤnftigkeit und Mangel alles poe - tiſchen Sinnes dieſe Buͤcher verfolgen, ſie dem Bauer nehmen und Strafen auf ihre Verbrei - tung ſetzen? Wenn ich nicht irre, war vor eini - gen und dreißig Jahren, der gute alte Buͤſching der erſte, welcher auf dieſen Krieg antrug; ſeine Stimme wurde damals nicht gehoͤrt, jetzt aber dringt ſeine gut gemeinte Thorheit durch, zu ei - ner Zeit, wo man ſich doch zugleich bemuͤht, Pa -398Erſte Abtheilung.triotismus und die alten verſtorbenen Tugenden, die den Aufgeklaͤrteren ja auch nur Aberglaube waren, wieder aufzupflanzen. Ich moͤchte mir doch nur das Boͤſe nennen und aufzeigen laſſen, welches dieſe unſchuldigen Poeſien ſchon hervor - gebracht haben. Oder haͤtten dieſe Herren dieſe Buͤcher vielleicht gar nicht geleſen? Der Druck iſt nicht der beſte, die Vignetten ſind nicht in punktirter Manier, auch hat ſich weder Petrarka noch ein andrer beruͤhmter Name bei ihrer Her - ausgabe genannt, und das iſt freilich verdaͤchtig genug. Sollten denn wirklich etwa die paar freien Spaͤße im Eulenſpiegel und den Schild - buͤrgern die Nation verderben koͤnnen? Wird man denn die Schenken verſchließen, oder einen Polizeiwaͤchter hinein ſetzen, der jeden nicht ſitt - lichen Spaß eines luſtigen Bruders aufzeichnet und der Behoͤrde einreicht? Oder hofft man wirklich durch das alberne moraliſche Gewaͤſch, welches ſie jetzt als Volksbuͤcher drucken laſſen, von gutgearteten Gatten und ſaubern Kindern, Birnenmoſt, Giftkraͤutern und Wohlthaͤtigkeit, die niederen Staͤnde ſo tief in die edle Geſinnung hin - ein und unterzutauchen, daß keiner mehr eine Zwei - oder Eindeutigkeit ſpricht und denkt? O der glorreichen Ausſcht in das kuͤnftige Jahr - hundert!

Suchte man nur etwa, ſagte Wilibald, die aſtrologiſchen und Zauberbuͤcher, deren es noch hie und da, aber auch nur ſelten giebt, zu verban -399Erſte Abtheilung.nen, ſo haͤtte die Sache Sinn, aber ſo iſt ſie freilich eine Erſcheinung, die im grellſten Wider - ſpruche mit der Zeit ſteht, die dieſelben verfolg - ten Buͤcher zu achten und zu ſtudiren anfaͤngt.

Im Gegentheil, fuhr Ernſt fort, ſollten wir dem gemeinen Manne nicht nur dieſe Poeſien laſſen, ſondern ihm auch eine ihm verſtaͤndliche Bearbeitung der Niebelungen und der Helden - buͤcher in die Haͤnde zu ſpielen ſuchen, damit er ſich vor der weichlichen leeren Leſerei bewahre, die auch ihn zu ergreifen und auszuhoͤhlen droht. Der Spanier hat, zu unſrer Beſchaͤmung, eine hoͤchſt wohlfeile Ausgabe ſeines vortrefflichen Don Quixote, mit ſchlechten Holzſchnitten und auf grobem Papier. Aber bei uns iſt es kei - nem, auch in der erſten Begeiſterung eingefallen, dem deutſchen Bauer etwa den Goͤtz von Berli - chingen ſo anzubieten. Ließe man doch uͤberhaupt das Bewachen des Volks, und lernte es erſt ken - nen, waͤre dann ſelber erzogen, um andre zu er - ziehn, und ſuchte nicht eine falſche, ſchwaͤchliche Bildung Nationen aufzupraͤgen.

Mit Verlaub, ſagte Theodor, daß ich die - ſen Diskurs unterbreche, es wird ſonſt Mitter - nacht, ehe wir unſre Vorleſungen geendigt haben.

Er fing an.

400Erſte Abtheilung.

Die Elfen.

Wo iſt denn die Marie, unſer Kind? fragte der Vater.

Sie ſpielt draußen auf dem gruͤnen Platze, antwortete die Mutter, mit dem Sohne unſers Nachbars.

Daß ſie ſich nicht verlaufen, ſagte der Vater beſorgt; ſie ſind unbeſonnen.

Die Mutter ſah nach den Kleinen und brachte ihnen ihr Vesperbrodt. Es iſt heiß! ſagte der Bur - ſche, und das kleine Maͤdchen langte begierig nach den rothen Kirſchen. Seid nur vorſichtig, Kinder, ſprach die Mutter, lauft nicht zu weit vom Hauſe, oder in den Wald hinein, ich und der Vater gehn aufs Feld hinaus. Der junge Andres antwortete: o, ſey ohne Sorge, denn vor dem Walde fuͤrch - ten wir uns, wir bleiben hier beim Hauſe ſitzen, wo Menſchen in der Naͤhe ſind.

Die Mutter ging und kam bald mit dem Va - ter wieder heraus. Sie verſchloſſen ihre Wohnung und wandten ſich nach dem Felde, um nach den Knechten und zugleich auf der Wieſe nach der Heu - ernte zu ſehn. Ihr Haus lag auf einer kleinen gruͤnen Anhoͤhe, von einem zierlichen Stakete um - geben, welches auch ihren Frucht - und Blumen - garten umſchloß; das Dorf zog ſich etwas tieferhinun -401Die Elfen.hinunter, und jenſeit erhob ſich das graͤfliche Schloß. Martin hatte von der Herrſchaft das große Gut gepachtet, und lebte mit ſeiner Frau und ſeinem ein - zigen Kinde vergnuͤgt, denn er legte jaͤhrlich zuruͤck, und hatte die Ausſicht durch Thaͤtigkeit ein ver - moͤgender Mann zu werden, da der Boden ergie - big war und der Graf ihn nicht druͤckte.

Indem er mit ſeiner Frau nach ſeinen Feldern ging, ſchaute er froͤlich um ſich, und ſagte: wie iſt doch die Gegend hier ſo ganz anders, Brigitte, als diejenige, in der wir ſonſt wohnten. Hier iſt es ſo gruͤn, das ganze Dorf prangt von dichtge - draͤngten Obſtbaͤumen, der Boden iſt voll ſchoͤner Kraͤuter und Blumen, alle Haͤuſer ſind munter und reinlich, die Einwohner wohlhabend, ja mir duͤnkt, die Waͤlder hier ſind ſchoͤner und der Him - mel blauer, und ſo weit nur das Auge reicht, ſieht man ſeine Luſt und Freude an der freigebi - gen Natur.

So wie man nur, ſagte Brigitte, dort jenſeit des Fluſſes iſt, ſo befindet man ſich wie auf einer andern Erde, alles ſo traurig und duͤrr; jeder Rei - ſende behauptet aber auch, daß unſer Dorf weit und breit in der Runde das ſchoͤnſte ſey.

Bis auf jenen Tannengrund, erwiederte der Mann; ſchau einmal dorthin zuruͤck, wie ſchwarz und traurig der abgelegene Fleck in der ganzen hei - tern Umgebung liegt; hinter den dunkeln Tannen - baͤumen die rauchige Huͤtte, die verfallenen Staͤlle, der ſchwermuͤthig voruͤber fließende Bach.

Es iſt wahr ſagte die Frau, indem beide ſtillI. [26]402Erſte Abtheilung.ſtanden, ſo oft man ſich jenem Platze nur naͤhert, wird man traurig und beaͤngſtigt, man weiß ſelbſt nicht warum. Wer nur die Menſchen eigentlich ſeyn moͤgen, die dort wohnen, und warum ſie ſich doch nur ſo von allen in der Gemeinde entfernt halten, als wenn ſie kein gutes Gewiſſen haͤtten.

Armes Geſindel, erwiederte der junge Pach - ter, dem Anſchein nach Zigeunervolk, die in der Ferne rauben und betruͤgen, und hier vielleicht ih - ren Schlumpfwinkel haben. Mich wundert nur, daß die gnaͤdige Herrſchaft ſie duldet.

Es koͤnnen auch wohl, ſagte die Frau weich - muͤthig, arme Leute ſeyn, die ſich ihrer Armuth ſchaͤmen, denn man kann ihnen doch eben nichts Boͤſes nachſagen, nur iſt es bedenklich, daß ſie ſich nicht zur Kirche halten, und man auch eigent - lich nicht weiß wovon ſie leben, denn der kleine Garten, der noch dazu ganz wuͤſt zu liegen ſcheint, kann ſie unmoͤglich erhalten, und Felder haben ſie nicht.

Weiß der liebe Gott, fuhr Martin fort, in - dem ſie weiter gingen, was ſie treiben moͤgen, kommt doch auch kein Menſch zu ihnen, denn der Ort wo ſie wohnen iſt ja wie verbannt und ver - hext, ſo daß ſich auch die vorwitzigſten Burſche nicht hingetrauen.

Dieſes Geſpraͤch ſetzen ſie fort, indem ſie ſich in das Feld wandten. Jene finſtre Gegend, von welcher ſie ſprachen, lag abſeits vom Dorfe. In einer Vertiefung, welche Tannen umgaben, zeigte ſich eine Huͤtte und verſchiedene faſt zertruͤmmerte403Die Elfen.Wirthſchaftsgebaͤude, nur ſelten ſah man Rauch dort aufſteigen, noch ſeltener wurde man Men - ſchen gewahr; jezuweilen hatten Neugierige, die ſich etwas naͤher gewagt, auf der Bank vor der Huͤtte einige abſcheuliche Weiber in zerlumptem Anzuge wahrgenommen, auf deren Schooß eben ſo haͤß - liche und ſchmutzige Kinder ſich waͤlzten; ſchwarze Hunde liefen vor dem Reviere, in Abendſtunden ging wohl ein ungeheurer Mann, den Niemand kannte, uͤber den Steg des Baches und verlor ſich in die Huͤtte hinein; dann ſah man in der Finſterniß ſich verſchiedene Geſtalten, wie Schatten um ein laͤndliches Feuer bewegen. Dieſer Grund, die Tannen und die verfallene Huͤtte machten wirk - lich in der heitern gruͤnen Landſchaft, gegen die weißen Haͤuſer des Dorfes und gegen das praͤchtige neue Schloß den ſonderbarſten Abſtich.

Die beiden Kinder hatten jetzt die Fruͤchte ver - zehrt; ſie verfielen darauf, in die Wette zu laufen, und die kleine behende Marie gewann dem lang - ſameren Andres immer den Vorſprung ab. So iſt es keine Kunſt! rief dieſer endlich aus; aber laß es uns einmal in die Weite verſuchen, dann wol - len wir ſehen, wer gewinnt! Wie du willſt, ſagte die Kleine, nur nach dem Strome duͤrfen wir nicht laufen. Nein, erwiederte Andres, aber dort auf jenem Huͤgel ſteht der große Birnbaum, eine Viertelſtunde von hier, ich laufe hier links um den Tannengrund vorbei, du kannſt rechts in das Feld hinein rennen, daß wir nicht eher als oben404Erſte Abtheilung.wieder zuſammen kommen, ſo ſehn wir dann, wer der beſte iſt.

Gut, ſagte Marie, und fing ſchon an zu laufen, ſo hindern wir uns auch nicht auf demſel - ben Wege, und der Vater ſagt ja, es ſei zum Huͤgel hinauf gleich weit, ob man disſeits, ob man jenſeits der Zigeunerwohnung geht.

Andres war ſchon vorangeſprungen und Ma - rie, die ſich rechts wandte, ſah ihn nicht mehr. Er iſt eigentlich dumm, ſagte ſie zu ſich ſelbſt, denn ich duͤrfte nur den Muth faſſen, uͤber den Steg, bei der Huͤtte vorbei, und druͤben wieder uͤber den Hof hinaus zu laufen, ſo kaͤme ich gewiß viel fruͤher an. Schon ſtand ſie vor dem Bache und dem Tannenhuͤgel. Soll ich? Nein, es iſt doch zu ſchrecklich, ſagte ſie. Ein kleines weißes Huͤndchen ſtand jenſeit und bellte aus Leibeskraͤf - ten. Im Erſchrecken kam das Thier ihr wie ein Ungeheuer vor, und ſie ſprang zuruͤck. O weh! ſagte ſie, nun iſt der Bengel weit voraus, weil ich hier ſteh und uͤberlege. Das Huͤndchen bellte immer fort, und da ſie es genauer betrachtete, kam es ihr nicht mehr fuͤrchterlich, ſondern im Ge - gentheil ganz allerliebſt vor: es hatte ein rothes Halsband um, mit einer glaͤnzenden Schelle, und ſo wie es den Kopf hob und ſich im Bellen ſchuͤt - telte, erklang die Schelle aͤußerſt lieblich. Ei! es will nur gewagt ſeyn! rief die kleine Marie, ich renne was ich kann, und bin ſchnell, ſchnell jen - ſeit wieder hinaus, ſie koͤnnen mich doch eben nicht gleich von der Erde weg auffreſſen! Somit ſprang405Die Elfen.das muntere muthige Kind auf den Steg, raſch an den kleinen Hund voruͤber, der ſtill ward und ſich an ihr ſchmeichelte, und nun ſtand ſie im Grunde, und rund umher verdeckten die ſchwarzen Tannen die Ausſicht nach ihrem elterlichen Hauſe und der uͤbrigen Landſchaft.

Aber wie war ſie verwundert. Der bunteſte, froͤhlichſte Blumengarten umgab ſie, in welchem Tulpen, Roſen und Lilien mit den herrlichſten Far - ben leuchteten, blaue und goldrothe Schmetterlinge wiegten ſich in den Bluͤten, in Kaͤfigen aus glaͤn - zendem Drath hingen an den Spalieren vielfar - bige Voͤgel, die herrliche Lieder ſangen, und Kin - der in weißen kurzen Roͤckchen, mit gelockten gel - ben Haaren und hellen Augen, ſprangen umher, einige ſpielten mit kleinen Laͤmmern, andere fuͤt - terten die Voͤgel, oder ſie ſammelten Blumen und ſchenkten ſie einander, andere wieder aßen Kirſchen, Weintrauben und roͤthliche Aprikoſen. Keine Huͤtte war zu ſehn, aber wohl ſtand ein großes ſchoͤnes Haus mit eherner Thuͤr und erha - benem Bildwerk leuchtend in der Mitte des Rau - mes. Marie war vor Erſtaunen außer ſich und wußte ſich nicht zu finden, da ſie aber nicht bloͤde war, ging ſie gleich zum erſten Kinde, reichte ihm die Hand und bot ihm guten Tag. Kommſt du uns auch einmal zu beſuchen? ſagte das glaͤnzende Kind; ich habe dich draußen rennen und ſpringen ſehn, aber vor unſerm Huͤndchen haſt du dich ge - fuͤrchtet. So ſeid ihr wohl keine Zigeuner und Spitzbuben, ſagte Marie, wie Andres immer406Erſte Abtheilung.ſpricht? O freilich iſt der nur dumm, und redet viel in den Tag hinein. Bleib nur bei uns, ſagte die wunderbare Kleine, es ſoll dir ſchon ge - fallen. Aber wir laufen ja in die Wette. Zu ihm kommſt du noch fruͤh genug zuruͤck. Da nimm, und ! Marie , und fand die Fruͤchte ſo ſuͤß, wie ſie noch keine geſchmeckt hatte, und An - dres, der Wettlauf, und das Verbot ihrer Eltern waren gaͤnzlich vergeſſen.

Eine große Frau: in glaͤnzendem Kleide trat her - zu, und fragte nach dem fremden Kinde. Schoͤnſte Dame, ſagte Marie, von ohngefaͤhr bin ich her - ein gelaufen, und da wollen ſie mich hier behalten. Du weißt, Zerina, ſagte die Schoͤne, daß es ihr nur kurze Zeit erlaubt iſt, auch haͤtteſt du mich erſt fragen ſollen. Ich dachte, ſagte das glaͤnzende Kind, weil ſie doch ſchon uͤber die Bruͤcke gelaſſen war, koͤnnt ich es thun; auch haben wir ſie ja oft im Felde laufen ſehn, und du haſt dich ſelber uͤber ihr muntres Weſen gefreut; wird ſie uns doch fruͤh genug verlaſſen muͤſſen.

Nein, ich will hier bleiben, ſagte die Fremde, denn hier iſt es ſchoͤn, auch finde ich hier das beſte Spielzeug und dazu Erdbeeren und Kirſchen, drau - ßen iſt es nicht ſo herrlich.

Die goldbekleidete Frau entfernte ſich laͤchelnd, und viele von den Kindern ſprangen jetzt um die froͤhliche Marie mit Lachen her, neckten ſie und ermunterten ſie zu Taͤnzen, andre brachten ihr Laͤm - mer oder wunderbares Spielgeraͤth, andre machten auf Inſtrumenten Muſik und ſangen dazu. Am407Die Elfen.liebſten aber hielt ſie ſich zu der Geſpielin, die ihr zuerſt entgegen gegangen war, denn ſie war die freundlichſte und holdſeligſte von allen. Die kleine Marie rief einmal uͤber das andre: ich will immer bei euch bleiben und ihr ſollt meine Schweſtern ſeyn, woruͤber alle Kinder lachten und ſie umarm - ten. Jetzt wollen wir ein ſchoͤnes Spiel machen, ſagte Zerina. Sie lief eilig in den Pallaſt und kam mit einem goldenen Schaͤchtelchen zuruͤck, in welchem ſich glaͤnzender Saamenſtaub befand. Sie faßte mit den kleinen Fingern, und ſtreute einige Koͤrner auf den gruͤnen Boden. Alsbald ſah man das Gras wie in Wogen rauſchen, und nach we - nigen Augenblicken ſchlugen glaͤnzende Roſengebuͤ - ſche aus der Erde, wuchſen ſchnell empor und ent - falteten ſich ploͤtzlich, indem der ſuͤßeſte Wohlge - ruch den Raum erfuͤllte. Auch Maria faßte von dem Staube, und als ſie ihn ausgeſtreut hatte, tauchten weiße Lilien und die bunteſten Nelken her - vor. Auf einen Wink Zerinas verſchwanden die Blumen wieder und andre erſchienen an ihrer Stelle. Jetzt, ſagte Zerina, mache dich auf etwas Groͤße - res gefaßt. Sie legte zwei Pinienkoͤrner in den Boden und ſtampfte ſie heftig mit dem Fuße ein. Zwei gruͤne Straͤucher ſtanden vor ihnen. Faſſe dich feſt mit mir, ſagte ſie, und Marie ſchlang die Arme um den zarten Leib. Da fuͤhlte ſie ſich em - por gehoben, denn die Baͤume wuchſen unter ihnen mit der groͤßten Schnelligkeit; die hohen Pinien bewegten ſich und die beiden Kinder hielten ſich hin und wieder ſchwebend in den rothen Abendwolken408Erſte Abtheilung.umarmt und kuͤßten ſich; die andern Kleinen klet - terten mit behender Geſchicklichkeit an den Staͤm - men der Baͤume auf und nieder, und ſtießen und neckten ſich, wenn ſie ſich begegneten, unter lau - tem Gelaͤchter. Stuͤrzte eins der Kinder im Ge - draͤnge hinunter, ſo flog es durch die Luft und ſenkte ſich langſam und ſicher zur Erde hinab. Endlich fuͤrchtete ſich Marie; die andre Kleine ſang einige laute Toͤne, und die Baͤume verſenkten ſich wieder eben ſo allgemach in den Boden, und ſetzten ſie nieder, als ſie ſich erſt in die Wolken geho - ben hatten.

Sie gingen durch die erzene Thuͤr des Pal - laſtes. Da ſaßen viele ſchoͤne Frauen umher, aͤl - tere und junge, im runden Saal, ſie genoſſen die lieblichſten Fruͤchte, und eine herrliche unſichtbare Muſik erklang. In der Woͤlbung der Decke wa - ren Palmen, Blumen und Laubwerk gemahlt, zwi - ſchen denen Kinderfiguren in den anmuthigſten Stel - lungen kletterten und ſchaukelten; nach den Toͤnen der Muſik verwandelten ſich die Bildniſſe und gluͤh - ten in den brennendſten Farben, bald war das Gruͤne und Blaue wie helles Licht funkelnd, dann ſank die Farbe erblaſſend zuruͤck, der Purpur flammte auf und das Gold entzuͤndete ſich; dann ſchienen die nackten Kinder in den Blumengewinden zu leben, und mit den rubinrothen Lippen den Athem einzu - ziehn und auszuhauchen, ſo daß man wechſelnd den Glanz der weißen Zaͤhnchen wahrnahm, ſo wie das Aufleuchten der himmelblauen Augen.

Aus dem Saale fuͤhrten eherne Stufen in ein409Die Elfen.großes unterirdiſches Gemach. Hier lag viel Gold und Silber, und Edelſteine von allen Farben fun - kelten dazwiſchen. Wunderſame Gefaͤße ſtanden an den Waͤnden umher, alle ſchienen mit Koſtbarkeiten angefuͤllt. Das Gold war in mannichfaltigen Ge - ſtalten gearbeitet und ſchimmerte mit der freund - lichſten Roͤthe. Viele kleine Zwerge waren beſchaͤf - tigt, die Stuͤcke auseinander zu ſuchen und ſie in die Gefaͤße zu legen; andre, hoͤckricht und krummbeinicht, mit langen rothen Naſen, trugen ſchwer und vorn uͤber gebuͤckt Saͤcke herein, ſo wie die Muͤller Getraide, und ſchuͤtteten die Gold - koͤrner keuchend auf dem Boden aus. Dann ſpran - gen ſie ungeſchickt rechts und links, und griffen die rollenden Kugeln, die ſich verlaufen wollten, und es geſchah nicht ſelten, daß einer den andern im Eifer umſtieß, ſo daß ſie ſchwer und toͤlpiſch zur Erde fielen. Sie machten verdruͤßliche Geſich - ter und ſahen ſcheel, als Marie uͤber ihre Geber - den und Haͤßlichkeit lachte. Hinten ſaß ein alter eingeſchrumpfter kleiner Mann, welchen Zerina ehr - erbietig gruͤßte, und der nur mit ernſtem Kopf - nicken dankte. Er hielt ein Zepter in der Hand und trug eine Krone auf dem Haupte, alle uͤbri - gen Zwerge ſchienen ihn fuͤr ihren Herren anzuer - kennen und ſeinen Winken zu gehorchen. Was giebts wieder? fragte er muͤrriſch, als die Kinder ihm etwas naͤher kamen. Marie ſchwieg furcht - ſam, aber ihre Geſpielin antwortete, daß ſie nur gekommen ſeyen, ſich in den Kammern umzuſchauen. Immer die alten Kindereien! ſagte der Alte; wird410Erſte Abtheilung.der Muͤßiggang nie aufhoͤren? Darauf wandte er ſich wieder an ſein Geſchaͤft und ließ die Gold - ſtuͤcke waͤgen und ausſuchen; andre Zwerge ſchickte er fort, manchen ſchalt er zornig. Wer iſt der Herr? fragte Maria; unſer Metallfuͤrſt, ſagte die Kleine, indem ſie weiter gingen.

Sie ſchienen ſich wieder im Freien zu befin - den, denn ſie ſtanden an einem großen Teiche, aber doch ſchien keine Sonne, und ſie ſahen keinen Himmel uͤber ſich. Ein kleiner Nachen empfing ſie, und Zerina ruderte ſehr aͤmſig. Die Fahrt ging ſchnell. Als ſie in die Mitte des Teiches gekom - men waren, ſah Marie, daß tauſend Roͤhren, Ca - naͤle und Baͤche ſich aus dem kleinen See nach al - len Richtungen verbreiteten. Dieſe Waſſer rechts, ſagte das glaͤnzende Kind, fließen unter euren Gar - ten hinab, davon bluͤht dort alles ſo friſch; von hier koͤmmt man in den großen Strom hinunter. Ploͤtzlich kamen aus allen Canaͤlen und aus dem See unendlich viele Kinder auftauchend angeſchwommen, viele trugen Kraͤnze von Schilf und Waſſerlilien, andre hielten rothe Carallenzacken, und wieder an - dre blieſen auf krummen Muſcheln; ein verworre - nes Getoͤſe ſchallte luſtig von den dunkeln Ufern wieder; zwiſchen den Kleinen bewegten ſich ſchwim - mend die ſchoͤnſten Frauen, und oft ſprangen viele Kinder zu der einen oder der andern, und hingen ihnen mit Kuͤſſen um Hals und Nacken. Alle be - gruͤßten die Fremde; zwiſchen dieſem Getuͤmmel hindurch fuhren ſie aus dem See in einen kleinen Fluß hinein, der immer enger und enger ward. 411Die Elfen.Endlich ſtand der Nachen. Man nahm Abſchied und Zerina klopfte an den Felſen. Wie eine Thuͤr that ſich dieſer von einander, und eine ganz rothe weibliche Geſtalt half ihnen ausſteigen. Geht es recht luſtig zu? fragte Zerina. Sie ſind eben in Thaͤtigkeit, antwortete jene, und ſo freudig, wie man ſie nur ſehn kann, aber die Waͤrme iſt auch aͤußerſt angenehm.

Sie ſtiegen eine Wendeltreppe hinauf, und ploͤtzlich ſah ſich Marie in dem glaͤnzendſten Saal, ſo daß beim Eintreten ihre Augen vom hellen Lichte geblendet waren. Feuerrothe Tapeten bedeckten mit Purpurgluth die Waͤnde, und als ſich das Auge etwas gewoͤhnt hatte, ſah ſie zu ihrem Erſtaunen, wie im Teppich ſich Figuren tanzend auf und nie - der in der groͤßten Freude bewegten, die ſo lieblich gebaut und von ſo ſchoͤnen Verhaͤltniſſen waren, daß man nichts Anmuthigeres ſehn konnte; ihr Koͤrper war wie von roͤthlichem Kriſtall, ſo daß es ſchien, als floͤſſe und ſpielte in ihnen ſichtbar das bewegte Blut. Sie lachten das fremde Kind an, und begruͤßten es mit verſchiedenen Beugungen; aber als Marie naͤher gehen wollte, hielt ſie Ze - rina ploͤtzlich mit Gewalt zuruͤck, und rief: du ver - brennſt dich, Mariechen, denn alles iſt Feuer!

Marie fuͤhlte die Hitze. Warum kommen nur, ſagte ſie, die allerliebſten Creaturen nicht zu uns heraus, und ſpielen mit uns? Wie du in der Luft lebſt, ſagte jene, ſo muͤſſen ſie immer im Feuer bleiben, und wuͤrden hier draußen verſchmachten. Sieh nur, wie ihnen wohl iſt, wie ſie lachen und412Erſte Abtheilung.kreiſchen; jene dort unten verbreiten die Feuerfluͤſſe von allen Seiten unter der Erde hin, davon wachſen nun die Blumen, die Fruͤchte und der Wein; die rothen Stroͤme gehn neben den Waſſer - baͤchen, und ſo ſind die flammigen Weſen immer thaͤtig und freudig. Aber dir iſt es hier zu heiß, wir wollen wieder hinaus in den Garten gehn.

Hier hatte ſich die Scene verwandelt. Der Mondſchein lag auf allen Blumen, die Voͤgel wa - ren ſtill und die Kinder ſchliefen in mannigfaltigen Gruppen in den gruͤnen Lauben. Marie und ihre Freundin fuͤhlten aber keine Muͤdigkeit, ſondern luſtwandelten in der warmen Sommernacht unter vielerlei Geſpraͤchen bis zum Morgen.

Als der Tag anbrach, erquickten ſie ſich an Fruͤchten und Milch, und Marie ſagte: laß uns doch zur Abwechſelung einmal nach den Tannen hinaus gehn, wie es dort ausſehen mag. Gern, ſagte Zerina, ſo kannſt du auch zugleich dorten unſre Schildwachten beſuchen, die dir gewiß gefal - len werden, ſie ſtehn oben auf dem Walle zwiſchen den Baͤumen. Sie gingen durch die Blumengaͤr - ten, durch anmuthige Haine voller Nachtigallen, dann ſtiegen ſie uͤber Rebenhuͤgel, und kamen end - lich, nachdem ſie lange den Windungen eines kla - ren Baches nachgefolgt waren, zu den Tannen und der Erhoͤhung, welche das Gebiet begraͤnzte. Wie kommt es nur, fragte Marie, daß wir hier inner - halb ſo weit zu gehn haben, da doch draußen der Umkreis nur ſo klein iſt? Ich weiß nicht, ant - wortete die Freundin, wie es zugeht, aber es iſt ſo. 413Die Elfen.Sie ſtiegen zu den finſtern Tannen hinauf, und ein kalter Wind wehte ihnen von draußen entge - gen; ein Nebel ſchien weit umher auf der Land - ſchaft zu liegen. Oben ſtanden wunderliche Geſtal - ten, mit mehligen beſtaͤubten Angeſichtern, den widerlichen Haͤuptern der weißen Eulen nicht un - aͤhnlich; ſie waren in faltigen Maͤnteln von zotti - ger Wolle gekleidet, und hielten Regenſchirme von ſeltſamen Haͤuten ausgeſpannt uͤber ſich; mit Fle - dermausfluͤgeln, die abentheuerlich neben dem Rok - kelor hervor ſtarrten, wehten und faͤchelten ſie un - ablaͤſſig. Ich moͤchte lachen und mir graut, ſagte Marie. Dieſe ſind unſre guten fleißigen Waͤchter, ſagte die kleine Geſpielin, ſie ſtehen hier und we - hen, damit jeden kalte Angſt und wunderſames Fuͤrchten befaͤllt, der ſich uns naͤhern will; ſie ſind aber ſo bedeckt, weil es jetzt draußen regnet und friert, was ſie nicht vertragen koͤnnen. Hier un - ten kommt niemals Schnee und Wind, noch kalte Luft her, hier iſt ein ewiger Sommer und Fruͤh - ling, doch wenn die da oben nicht oft abgeloͤſt wuͤr - den, ſo vergingen ſie gar.

Aber wer ſeid ihr denn, fragte Marie, indem ſie wieder in die Blumenduͤfte hinunter ſtiegen, oder habt ihr keinen Namen, woran man euch erkennt?

Wir heißen Elfen, ſagte das freundliche Kind, man ſpricht auch wohl in der Welt von uns, wie ich gehoͤrt habe.

Sie hoͤrten auf der Wieſe ein großes Ge - tuͤmmel. Der ſchoͤne Vogel iſt angekommen! rie -414Erſte Abtheilung.fen ihnen die Kinder entgegen; alles eilte in den Saal. Sie ſahen indem ſchon, wie Jung und Alt ſich uͤber die Schwelle draͤngte, alle jauchzten und von innen ſcholl eine jubilirende Muſik heraus. Als ſie hinein getreten waren, ſahen ſie die große Rundung von den mannigfaltigſten Geſtalten ange - fuͤllt, und alle ſchauten nach einem großen Vogel hinauf, der in der Kuppel mit glaͤnzendem Gefie - der langſam fliegend vielfache Kreiſe beſchrieb. Die Muſik klang froͤhlicher als ſonſt, die Farben und Lichter wechſelten ſchneller. Endlich ſchwieg die Muſik, und der Vogel ſchwang ſich rauſchend auf eine glaͤnzende Krone, die unter dem hohen Fenſter ſchwebte, welches von oben die Woͤlbung erleuch - tete. Sein Gefieder war purpurn und gruͤn, durch welches ſich die glaͤnzendſten goldenen Streifen zo - gen, auf ſeinem Haupte bewegte ſich ein Diadem von ſo hellleuchtenden kleinen Federn, daß ſie wie Edelgeſteine blitzten. Der Schnabel war roth und die Beine glaͤnzend blau. Wie er ſich regte, ſchim - merten alle Farben durcheinander, und das Auge war entzuͤckt. Seine Groͤße war die eines Adlers. Aber jetzt eroͤffnete er den leuchtenden Schnabel, und ſo ſuͤße Melodie quoll aus ſeiner bewegten Bruſt, in ſchoͤnern Toͤnen, als die der liebesbruͤn - ſtigen Nachtigall; maͤchtiger zog der Geſang und goß ſich wie Lichtſtrahlen aus, ſo daß alle, bis auf die kleinſten Kinder ſelbſt, vor Freuden und Entzuͤckungen weinen mußten. Als er geendigt hatte, neigten ſich alle vor ihm, er umflog wieder in Kreiſen die Woͤlbung, ſchoß dann durch die415Die Elfen.Thuͤr und ſchwang ſich in den lichten Himmel, wo er oben bald nur noch wie ein rother Punkt er - glaͤnzte und ſich den Augen dann ſchnell verlor.

Warum ſeid ihr alle ſo in Freude? fragte Marie, und neigte ſich zum ſchoͤnen Kinde, das ihr kleiner als geſtern vorkam. Der Koͤnig kommt! ſagte die Kleine, den haben viele von uns noch gar nicht geſehn, und wo er ſich hinwendet iſt Gluͤck und Froͤhlichkeit; wir haben ſchon lange auf ihn gehofft, ſehnlicher, als ihr nach langem Win - ter auf den Fruͤhling wartet, und nun hat er durch dieſen ſchoͤnen Bothſchafter ſeine Ankunft melden laſſen. Dieſer herrliche und verſtaͤndige Vogel, der im Dienſt des Koͤniges geſandt wird, heißt Phoͤ - nix, er wohnt fern in Arabien auf einem Baum, der nur einmal in der Welt iſt, ſo wie es auch keinen zweiten Phoͤnix giebt. Wenn er ſich alt fuͤhlt, traͤgt er aus Balſam und Weihrauch ein Neſt zuſammen, zuͤndet es an und verbrennt ſich ſelbſt, ſo ſtirbt er ſingend, und aus der duftenden Aſche ſchwingt ſich dann der verjuͤngte Phoͤnix mit neuer Schoͤnheit wieder auf. Selten nur nimmt er ſeinen Flug ſo, daß ihn die Menſchen ſehn, und geſchieht es einmal in Jahrhunderten, ſo zeich - nen ſie es in ihre Denkbuͤcher auf, und erwar - ten wundervolle Begebenheiten. Aber nun, meine Freundin, wirſt du auch ſcheiden muͤſſen, denn der Anblick des Koͤniges iſt dir nicht vergoͤnnt.

Da wandelte die goldbekleidete ſchoͤne Frau durch das Gedraͤnge, winkte Marien zu ſich und ging mit ihr unter einen einſamen Laubengang;416Erſte Abtheilung.du mußt uns verlaſſen, mein geliebtes Kind, ſagte ſie; der Koͤnig will auf zwanzig Jahr, und viel - leicht auf laͤnger, ſein Hoflager hier halten, nun wird ſich Fruchtbarkeit und Seegen weit in die Landſchaft verbreiten, am meiſten hier in der Naͤhe; alle Brunnen und Baͤche werden ergiebiger, alle Aecker und Gaͤrten reicher, der Wein edler, die Wieſe fetter und der Wald friſcher und gruͤner; mildere Luft weht, kein Hagel ſchadet, keine Ue - berſchwemmung droht. Nimm dieſen Ring und gedenke unſer, doch huͤte dich, irgend wem von uns zu erzaͤhlen, ſonſt muͤſſen wir dieſe Gegend fliehen, und alle umher ſo wie du ſelbſt entbehren dann das Gluͤck und die Seegnung unſrer Naͤhe: noch einmal kuͤſſe deine Geſpielin und lebe wohl. Sie traten heraus, Zerina weinte, Marie buͤckte ſich, ſie zu umarmen, ſie trennten ſich. Schon ſtand ſie auf der ſchmalen Bruͤcke, die kalte Luft wehte hinter ihr aus den Tannen, das Huͤndchen bellte auf das herzhafteſte und ließ ſein Gloͤckchen ertoͤ - nen; ſie ſah zuruͤck und eilte in das Freie, weil die Dunkelheit der Tannen, die Schwaͤrze der ver - fallenen Huͤtten, die daͤmmernden Schatten ſie mit aͤngſtlicher Furcht befielen.

Wie werden ſich meine Eltern meinethalb in dieſer Nacht geaͤngſtigt haben! ſagte ſie zu ſich ſelbſt, als ſie auf dem Felde ſtand, und ich darf ihnen doch nicht erzaͤhlen, wo ich geweſen bin und was ich geſehn habe, auch wuͤrden ſie mir nimmer - mehr glauben. Zwei Maͤnner gingen an ihr vor - uͤber, die ſie gruͤßten, und ſie hoͤrte hinter ſich ſagen:das417Die Elfen.das iſt ein ſchoͤnes Maͤdchen! Wo mag ſie nur her ſeyn? Mit eiligeren Schritten naͤherte ſie ſich dem elterlichen Hauſe, aber die Baͤume, die geſtern voller Fruͤchte hingen, ſtanden heute duͤrr und ohne Laub, das Haus war anders angeſtrichen, und eine neue Scheune daneben erbaut. Marie war in Verwunderung, und dachte, ſie ſey im Traum: in dieſer Verwirrung oͤffnete ſie die Thuͤr des Hau - ſes, und hinter dem Tiſche ſaß ihr Vater zwiſchen einer unbekannten Frau und einem fremden Juͤng - ling. Mein Gott, Vater! rief ſie aus, wo iſt denn die Mutter? die Mutter? ſprach die Frau ahndend, und ſtuͤrzte hervor; ei, du biſt doch wohl nicht, ja freilich, freilich biſt du die verlorene, die todt geglaubte, die liebe einzige Marie! Sie hatte ſie gleich an einem kleinen braunen Mahle unter dem Kinn, an den Augen und der Geſtalt erkannt. Alle umarmten ſie, alle waren freudig bewegt, und die Eltern vergoſſen Thraͤnen. Ma - rie verwunderte ſich, daß ſie faſt zum Vater hin - auf reichte, ſie begriff nicht, wie die Mutter ſo veraͤndert und geaͤltert ſeyn konnte, ſie fragte nach dem Namen des jungen Menſchen. Es iſt ja un - ſers Nachbars Andres, ſagte Martin, wie kommſt du nur nach ſieben langen Jahren ſo unvermuther wieder? Wo biſt du geweſen? Warum haſt du denn gar nichts von dir hoͤren laſſen? Sieben Jahr? ſagte Marie, und konnte ſich in ihren Vor - ſtellungen und Erinnerungen nicht wieder zurecht finden; ſieben ganzer Jahre? Ja, ja, ſagte An - dres lachend, und ſchuͤttelte ihr treuherzig die Hand;I. [27]418Erſte Abtheilung.ich habe gewonnen, Mariechen, ich bin ſchon vor ſieben Jahren an dem Birnbaum und wieder hie - her zuruͤck geweſen, und du Langſame, kommſt nun heut erſt an!

Man fragte von neuem, man drang in ſie, doch ſie, des Verbotes eingedenk, konnte keine Antwort geben. Man legte ihr faſt die Erzaͤhlung in den Mund, daß ſie ſich verirrt habe, auf einen vorbeifahrenden Wagen genommen, und an einen fremden fernen Ort gebracht ſey, wo ſie den Leu - ten den Wohnſitz ihrer Eltern nicht habe bezeich - nen koͤnnen; wie man ſie nachher nach einer weit entlegenen Stadt gebracht habe, wo gute Men - ſchen ſie erzogen und geliebt; wie dieſe nun geſtor - ben, und ſie ſich endlich wieder auf ihre Geburts - gegend beſonnen, eine Gelegenheit zur Reiſe er - griffen habe und ſo zuruͤck gekehrt ſey. Laßt alles gut ſeyn, rief die Mutter; genug, daß wir dich nur wieder haben, mein Toͤchterchen, du meine Einzige, mein Alles!

Andres blieb zum Abendbrod, und Marie konnte ſich noch in nichts finden. Das Haus duͤnkte ihr klein und finſter, ſie verwunderte ſich uͤber ihre Tracht, die reinlich und einfach, aber ganz fremd erſchien; ſie betrachtete den Ring am Finger, deſ - ſen Gold wunderſam glaͤnzte und einen roth bren - nenden Stein kuͤnſtlich einfaßte. Auf die Frage des Vaters antwortete ſie, daß der Ring ebenfalls ein Geſchenk ihrer Wohlthaͤter ſey.

Sie freute ſich auf die Schlafenszeit, und eilte zur Ruhe. Am andern Morgen fuͤhlte ſie ſich be -419Die Elfen.ſonnener, ſie hatte ihre Vorſtellungen mehr geord - net, und konnte den Leuten aus dem Dorfe, die alle ſie zu begruͤßen kamen, beſſer Red und Ant - wort geben. Andres war ſchon mit dem Fruͤhe - ſten wieder da, und zeigte ſich aͤußerſt geſchaͤftig, erfreut und dienſtfertig. Das funfzehnjaͤhrige auf - gebluͤhte Maͤdchen hatte ihm einen tiefen Eindruck gemacht, und die Nacht war ihm ohne Schlaf vergangen. Die Herrſchaft ließ Marien auf das Schloß fordern, ſie mußte hier wieder ihre Ge - ſchichte erzaͤhlen, die ihr nun ſchon gelaͤufig gewor - den war; der alte Herr und die gnaͤdige Frau be - wunderten ihre gute Erziehung, denn ſie war be - ſcheiden, ohne verlegen zu ſeyn, ſie antwortete hoͤflich und in guten Redensarten auf alle vorge - legten Fragen; die Furcht vor den vornehmen Men - ſchen und ihrer Umgebung hatte ſich bei ihr verlo - ren, denn wenn ſie dieſe Saͤle und Geſtalten mit den Wundern und der hohen Schoͤnheit maß, die ſie bei den Elfen im heimlichen Aufenthalt geſe - hen hatte, ſo erſchien ihr dieſer irdiſche Glanz nur dunkel, die Gegenwart der Menſchen faſt ge - ringe. Die jungen Herren waren vorzuͤglich uͤber ihre Schoͤnheit entzuͤckt.

Es war im Februar. Die Baͤume belaubten ſich fruͤher als je, ſo zeitig hatte ſich die Nachtigall noch niemals eingeſtellt, der Fruͤhling kam ſchoͤner in das Land, als ihn ſich die aͤlteſten Greiſe erin - nern konnten. Aller Orten thaten ſich Baͤchlein hervor und traͤnkten die Wieſen und Auen; die Huͤgel ſchienen zu wachſen, die Rebengelaͤnder er -420Erſte Abtheilung.huben ſich hoͤher, die Obſtbaͤume bluͤhten wie nie - mals, und ein ſchwellender duftender Seegen hing ſchwer in Bluͤthenwolken uͤber der Landſchaft. Al - les gedieh uͤber Erwarten, kein rauher Tag, kein Sturm beſchaͤdigte die Frucht; der Wein quoll er - roͤthend in ungeheuern Trauben, und die Einwoh - ner des Ortes ſtaunten ſich an, und waren wie in einem ſuͤßen Traum befangen. Das folgende Jahr war eben ſo, aber man war ſchon an das Wunderſame mehr gewoͤhnt. Im Herbſt gab Ma - rie den dringenden Bitten des Andres und ihrer Eltern nach: ſie ward ſeine Braut und im Winter mit ihm verheirathet.

Oft dachte ſie mit inniger Sehnſucht an ihren Aufenthalt hinter den Tannenbaͤumen zuruͤck; ſie blieb ſtill und ernſt. So ſchoͤn auch alles war, was ſie umgab, ſo kannte ſie doch etwas noch Schoͤne - res, wodurch eine leiſe Trauer ihr Weſen zu einer ſanften Schwermuth ſtimmte. Schmerzhaft traf es ſie, wenn der Vater oder ihr Mann von den Zigeunern und Schelmen ſprachen, die im finſtern Grunde wohnten; oft wollte ſie ſie vertheidigen, die ſie als die Wohlthaͤter der Gegend kannte, vor - zuͤglich gegen Andres, der eine Luſt im eifrigen Schelten zu finden ſchien, aber ſie zwang das Wort jedesmal in ihre Bruſt zuruͤck. So ver - lebte ſie das Jahr, und im folgenden ward ſie durch eine junge Tochter erfreut, welche ſie El - friede nannte, indem ſie dabei an den Namen der Elfen dachte.

Die jungen Leute wohnten mit Martin und421Die Elfen.Brigitte in demſelben Hauſe, welches geraͤumig genug war, und halfen den Eltern die ausgebrei - tete Wirthſchaft fuͤhren. Die kleine Elfriede zeigte bald beſondere Faͤhigkeiten und Anlagen, denn ſie lief ſehr fruͤh, und konnte alles ſprechen, als ſie noch kein Jahr alt war; nach einigen Jahren aber war ſie ſo klug und ſinnig, und von ſo wunder - barer Schoͤnheit, daß alle Menſchen ſie mit Er - ſtaunen betrachteten, und ihre Mutter ſich nicht der Meinung erwehren konnte, ſie ſehe jenen glaͤn - zenden Kindern im Tannengrunde aͤhnlich. Elfriede hielt ſich nicht gern zu andern Kindern, ſondern vermied bis zur Aengſtlichkeit ihre geraͤuſchvollen Spiele, und war am liebſten allein. Dann zog ſie ſich in eine Ecke des Gartens zuruͤck, und las oder arbeitete eifrig am kleinen Naͤhzeuge; oft ſah man ſie auch wie tief in ſich verſunken ſitzen, oder daß ſie in den Gaͤngen heftig auf und nieder ging und mit ſich ſelber ſprach. Die beiden Eltern ließen ſie gern gewaͤhren, weil ſie geſund war und ge - dieh, nur machten ſie die ſeltſamen verſtaͤndigen Antworten oder Bemerkungen oft beſorgt. So kluge Kinder, ſagte die Großmutter Brigitte viel - mals, werden nicht alt, ſie ſind zu gut fuͤr dieſe Welt, auch iſt das Kind uͤber die Natur ſchoͤn, und wird ſich auf Erden nicht zurecht finden koͤnnen.

Die Kleine hatte die Eigenheit, daß ſie ſich hoͤchſt ungern bedienen ließ, alles wollte ſie ſelber machen. Sie war faſt die fruͤheſte auf im Hauſe, und wuſch ſich ſorgfaͤltig und kleidete ſich ſelber an; eben ſo ſorgſam war ſie am Abend, ſie ach -422Erſte Abtheilung.tete ſehr darauf, Kleider und Waͤſche ſelbſt einzu - packen, und durchaus Niemand, auch die Mutter nicht, uͤber ihre Sachen kommen zu laſſen. Die Mutter ſah ihr in dieſem Eigenſinne nach, weil ſie ſich nichts weiter dabei dachte, aber wie er - ſtaunte ſie, als ſie ſie an einem Feiertage, zu ei - nem Beſuch auf dem Schloſſe, mit Gewalt um - kleidete, ſo ſehr ſich auch die Kleine mit Geſchrei und Thraͤnen dagegen wehrte, und auf ihrer Bruſt an einen Faden haͤngend, ein Goldſtuͤck von ſelt - ſamer Form antraf, welches ſie ſogleich fuͤr eines von jenen erkannte, deren ſie ſo viele in dem un - terirdiſchen Gewoͤlbe geſehn hatte. Die Kleine war ſehr erſchrocken, und geſtand endlich, ſie habe es im Garten gefunden, und da es ihr ſehr wohlge - fallen, habe ſie es ſo aͤmſig aufbewahrt; ſie bat auch ſo dringend und herzlich, es ihr zu laſſen, daß Marie es wieder auf derſelben Stelle befeſtigte und voller Gedanken mit ihr ſtillſchweigend zum Schloſſe hinauf ging.

Seitwaͤrts vom Hauſe der Pachterfamilie la - gen einige Wirthſchaftsgebaͤude zur Aufbewahrung der Fruͤchte und des Feldgeraͤthes, und hinter die - ſen befand ſich ein Grasplatz mit einer alten Laube die aber kein Menſch jetzt beſuchte, weil ſie nach der neuen Einrichtung der Gebaͤude zu entfernt vom Garten war. In dieſer Einſamkeit hielt ſich Elfriede am liebſten auf, und es fiel Niemanden ein, ſie hier zu ſtoͤren, ſo daß die Eltern oft in halben Tagen ihrer nicht anſichtig wurden. An einem Nachmittage befand ſich die Mutter in den423Die Elfen.Gebaͤuden, um aufzuraͤumen und eine verlorene Sache wieder zu finden, als ſie wahrnahm, daß durch eine Ritze der Mauer ein Lichtſtrahl in das Gemach falle. Es kam ihr der Gedanke, hindurch zu ſehn, um ihr Kind zu beobachten, und es fand ſich, daß ein locker gewordener Stein ſich von der Seite ſchieben ließ, wodurch ſie den Blick gerade hinein in die Laube gewann. Elfriede ſaß drinnen auf einem Baͤnkchen, und neben ihr die wohlbe - kannte Zerina, und beide Kinder ſpielten und er - goͤtzten ſich in holdſeliger Eintracht. Die Elfe um - armte das ſchoͤne Kind und ſagte traurig: Ach, du liebes Weſen, ſo wie mit dir habe ich ſchon mit deiner Mutter geſpielt, als ſie klein war und uns beſuchte, aber ihr Menſchen wachſt zu bald auf und werdet ſo ſchnell groß und vernuͤnftig; das iſt recht betruͤbt: bliebeſt du doch ſo lange ein Kind, wie ich!

Gern thaͤt ich dir den Gefallen, ſagte Elfriede, aber ſie meinen ja alle, ich wuͤrde bald zu Ver - ſtande kommen, und gar nicht mehr ſpielen, denn ich haͤtte rechte Anlagen, altklug zu werden. Ach! und dann ſeh ich dich auch nicht wieder, du liebes Zerinchen! Ja, es geht wie mit den Baumbluͤ - ten: wie herrlich der bluͤhende Apfelbaum mit ſeinen roͤthlichen aufgequollenen Knospen! der Baum thut ſo groß und breit, und jedermann, der drun - ter weg geht, meint auch, es muͤſſe recht was Beſonderes werden; dann kommt die Sonne, die Bluͤte geht ſo leutſelig auf, und da ſteckt ſchon der boͤſe Kern drunter, der nachher den bunten424Erſte Abtheilung.Putz verdraͤngt und hinunter wirft; nun kann er ſich geaͤngſtigt und aufwachſend nicht mehr helfen, er muß im Herbſt zur Frucht werden. Wohl iſt ein Apfel auch lieb und erfreulich, aber doch nichts gegen die Fruͤhlingsbluͤte: ſo geht es mit uns Menſchen auch; ich kann mich nicht darauf freuen, ein großes Maͤdchen zu werden. Ach, koͤnnt 'ich euch doch nur einmal beſuchen!

Seit der Koͤnig bei uns wohnt, ſagte Zerina, iſt es ganz unmoͤglich, aber ich komme ja ſo oft zu dir, Liebchen, und keiner ſieht mich, keiner weiß es, weder hier noch dort; ungeſehn geh ich durch die Luft, oder fliege als Vogel heruͤber; o wir wol - len noch recht viel beiſammen ſeyn, ſo lange du klein biſt. Was kann ich dir nur zu Gefallen thun?

Recht lieb ſollſt du mich haben, ſagte Elfriede, ſo lieb, wie ich dich in meinem Herzen trage; doch laß uns auch einmal wieder eine Roſe machen.

Zerina nahm das bekannte Schaͤchtelchen aus dem Buſen, warf zwei Koͤrner hin, und ploͤtzlich ſtand ein gruͤnender Buſch mit zweien hochrothen Roſen vor ihnen, welche ſich zu einander neigten, und ſich zu kuͤſſen ſchienen. Die Kinder brachen die Roſen laͤchelnd ab, und das Gebuͤſch war wie - der verſchwunden. O muͤßte es nur nicht wieder ſo ſchnell ſterben, ſagte Elfriede, das rothe Kind, das Wunder der Erde. Gieb! ſagte die kleine Elfe, hauchte dreimal die aufknospende Roſe an, und kuͤßte ſie dreimal; nun, ſprach ſie, indem ſie die Blume zuruͤck gab, bleibt ſie friſch und bluͤhend bis zum Winter. Ich will ſie wie ein Bild von dir auf -425Die Elfen.heben, ſagte Elfriede, ſie in meinem Kaͤmmerchen wohl bewahren, und ſie Morgens und Abends kuͤſſen, als wenn du es waͤrſt. Die Sonne geht ſchon unter, ſagte jene, ich muß jetzt nach Hauſe. Sie umarmten ſich noch einmal, dann war Ze - rina verſchwunden.

Am Abend nahm Marie ihr Kind mit einem Gefuͤhl von Beaͤngſtigung und Ehrfurcht in die Arme; ſie ließ dem holden Maͤdchen nun noch mehr Freiheit als ſonſt, und beruhigte oft ihren Gatten, wenn er, um das Kind aufzuſuchen, kam, was er ſeit einiger Zeit wohl that, weil ihm ihre Zuruͤckgezogenheit nicht gefiel, und er fuͤrchtete, ſie koͤnne daruͤber einfaͤltig, oder gar unklug wer - den. Die Mutter ſchlich oͤfter nach der Spalte der Mauer, und faſt immer fand ſie die kleine glaͤn - zende Elfe neben ihrem Kinde ſitzen, mit Spielen beſchaͤftigt, oder in ernſthaften Geſpraͤchen. Moͤch - teſt du fliegen koͤnnen? fragte Zerina einmal ihre Freundin. Wie gerne! rief Elfriede aus. Sogleich umfaßte die Fee die Sterbliche, und ſchwebte mit ihr vom Boden empor, ſo daß ſie zur Hoͤhe der Laube ſtiegen. Die beſorgte Mutter vergaß ihre Vorſicht, und lehnte ſich erſchreckend mit dem Kopfe hinaus, um ihnen nachzuſehn, da erhob aus der Luft Zerina den Finger und drohte laͤchelnd, ließ ſich mit dem Kinde wieder nieder, herzte ſie, und war verſchwunden. Es geſchah nachher noch oͤfter, daß Marie von dem wunderbaren Kinde geſehen wurde, welches jedesmal mit dem Kopfe ſchuͤttelte oder drohte, aber mit freundlicher Geberde.

426Erſte Abtheilung.

Oftmals ſchon hatte bei vorgefallenem Streite Marie im Eifer zu ihrem Manne geſagt: du thuſt den armen Leuten in der Huͤtte Unrecht! Wenn Andres dann in ſie drang, ihm zu erklaͤren, wa - rum ſie der Meinung aller Leute im Dorfe, ja der Herrſchaft ſelber entgegen ſey und es beſſer wiſſen wolle, brach ſie ab, und ſchwieg verlegen. Heftiger als je ward Andres eines Tages nach Tiſche und behauptete, das Geſindel muͤſſe als landesverderb - lich durchaus fortgeſchafft werden; da rief ſie im Unwillen aus: ſchweig, denn ſie ſind deine und unſer aller Wohlthaͤter! Wohlthaͤter? fragte An - dres erſtaunt; die Landſtreicher? In ihrem Zorne ließ ſie ſich verleiten, ihm unter dem Verſprechen der tiefſten Verſchwiegenheit die Geſchichte ihrer Jugend zu erzaͤhlen, und da er bei jedem ihrer Worte unglaͤubiger wurde und verhoͤhnend den Kopf ſchuͤttelte, nahm ſie ihn bei der Hand und fuͤhrte ihn in das Gemach, von wo er zu ſeinem Erſtau - nen die leuchtende Elfe mit ſeinem Kinde in der Laube ſpielen, und es liebkoſen ſah. Er wußte kein Wort zu ſagen; ein Ausruf der Verwunde - rung entfuhr ihm, und Zerina erhob den Blick. Sie wurde ploͤtzlich bleich und zitterte heftig, nicht freundlich, ſondern mit zorniger Miene machte ſie die drohende Geberde, und ſagte dann zu Elfrieden: du kannſt nichts dafuͤr, geliebtes Herz, aber ſie werden niemals klug, ſo verſtaͤndig ſie ſich auch duͤnken. Sie umarmte die Kleine mit ſtuͤrmender Eil, und flog dann als Rabe mit heiſerem Geſchrei uͤber den Garten hinweg, den Tannenbaͤumen zu.

427Die Elfen.

Am Abend war die Kleine ſehr ſtill und kuͤßte weinend die Roſe, Marien war aͤngſtlich zu Sinne, Andres ſprach wenig. Es wurde Nacht. Ploͤtzlich rauſchten die Baͤume, Voͤgel flogen mit aͤngſtli - chem Geſchrei umher, man hoͤrte den Donner rol - len, die Erde zitterte und Klagetoͤne winſelten in der Luft. Marie und Andres hatten nicht den Muth aufzuſtehn; ſie huͤllten ſich in die Decken und erwarteten mit Furcht und Zittern den Tag. Gegen Morgen ward es ruhiger, und alles war ſtill, als die Sonne mit ihrem heitern Lichte uͤber den Wald hervor drang.

Andres kleidete ſich an, und Marie bemerkte, daß der Stein des Ringes an ihrem Finger ver - blaßt war. Als ſie die Thuͤr oͤffneten, ſchien ihnen die Sonne klar entgegen, aber die Landſchaft um - her kannten ſie kaum wieder. Die Friſche des Wal - des war verſchwunden, die Huͤgel hatten ſich ge - ſenkt, die Baͤche floſſen matt mit wenigem Waſſer, der Himmel ſchien grau, und als man den Blick nach den Tannen hinuͤber wandte, ſtanden ſie nicht finſtrer oder trauriger da, als die uͤbrigen Baͤume; die Huͤtten hinter ihnen hatten nichts Abſchrecken - des, und mehrere Einwohner des Dorfes kamen und erzaͤhlten von der ſeltſamen Nacht, und daß ſie uͤber den Hof gegangen ſeyen, wo die Zigeuner gewohnt, die wohl fortgegangen ſeyn muͤßten, weil die Huͤtten leer ſtaͤnden, und im Innern ganz ge - woͤhnlich wie die Wohnungen andrer armen Leute ausſaͤhen; einiges vom Hausrath waͤre zuruͤck ge - blieben. Elfriede ſagte zu ihrer Mutter heimlich:428Erſte Abtheilung.als ich in der Nacht nicht ſchlafen konnte, und in der Angſt bei dem Getuͤmmel von Herzen betete, da oͤffnete ſich ploͤtzlich meine Thuͤr, und herein trat meine Geſpielin, um Abſchied von mir zu nehmen. Sie hatte eine Reiſetaſche um, einen Hut auf ihren Kopf, und einen großen Wander - ſtab in der Hand. Sie war ſehr boͤſe auf dich, weil ſie deinetwegen nun die groͤßten und ſchmerz - hafteſten Strafen aushalten muͤſſe, da ſie dich doch immer ſo geliebt habe; denn alle, ſo wie ſie ſagte, verließen nur ſehr ungern dieſe Gegend.

Marie verbot ihr, davon zu ſprechen, und indem kam auch der Faͤhrmann vom Strome her - uͤber, welcher Wunderdinge erzaͤhlte. Mit einbre - chender Nacht war ein großer fremder Mann zu ihm gekommen, welcher ihm bis zu Sonnen - Auf - gang die Faͤhre abgemiethet habe, doch mit dem Bedingniß, daß er ſich ſtill zu Hauſe halten und ſchlafen, wenigſtens nicht aus der Thuͤr treten ſolle. Ich fuͤrchtete mich, fuhr der Alte fort, aber der ſeltſame Handel ließ mich nicht ſchlafen. Sacht ſchlich ich mich ans Fenſter und ſchaute nach dem Strome. Große Wolken trieben unruhig durch den Himmel und die fernen Waͤlder rauſchten bange; es war als wenn meine Huͤtte bebte und Klagen und Winſeln um das Haus ſchlich. Da ſah ich ploͤtzlich ein weißſtroͤmendes Licht, das breiter und immer breiter wurde, wie viele tauſend nieder ge - fallene Sterne, funkelnd und wogend bewegte es ſich von dem finſtern Tannengrunde her, zog uͤber das Feld, und verbreitete ſich nach dem Fluſſe hin.

429Die Elfen.

Da hoͤrte ich ein Trappeln, ein Klirren, ein Fluͤ - ſtern und Saͤuſeln naͤher und naͤher; es ging nach meiner Faͤhre hin, hinein ſtiegen alle, große und kleine leuchtende Geſtalten, Maͤnner und Frauen, wie es ſchien, und Kinder, und der große fremde Mann fuhr ſie alle hinuͤber; im Strome ſchwam - men neben dem Fahrzeuge viel tauſend helle Ge - bilde, in der Luft flatterten Lichter und weiße Ne - bel, und alles klagte und jammerte, daß ſie ſo weit, weit reiſen muͤßten, aus der geliebten ange - woͤhnten Gegend fort. Der Ruderſchlag und das Waſſer rauſchten dazwiſchen, und dann war wie - der ploͤtzlich eine Stille. Oft ſtieß die Faͤhre an, und kam zuruͤck und ward von neuem beladen, auch viele ſchwere Gefaͤße nahmen ſie mit, die graͤßliche kleine Geſellen trugen und rollten; waren es Teu - fel, waren es Kobolde, ich weiß es nicht. Dann kam im wogenden Glanz ein ſtattlicher Zug. Ein Greis ſchien es, auf einem weißen kleinen Roſſe, um den ſich alles draͤngte, ich ſah aber nur den Kopf des Pferdes, denn es war uͤber und uͤber mit koſtbaren glaͤnzenden Decken verhangen; auf dem Haupt trug der Alte eine Krone, ſo daß ich dachte, als er hinuͤber gefahren, die Sonne wolle von dorten aufgehn, und das Morgenroth funkle mir entgegen. So waͤhrte es die ganze Nacht; ich ſchlief endlich in dem Gewirre ein, zum Theil in Freude, zum Theil in Schauder. Am Morgen war alles ruhig, aber der Fluß iſt wie weg ge - laufen, ſo daß ich Noth haben werde mein Fahr - zeug zu regieren.

430Erſte Abtheilung.

Noch in demſelben Jahre war ein Mißwachs, die Waͤlder ſtarben ab, die Quellen vertrockneten, und dieſelbe Gegend, die ſonſt die Freude jedes Durchreiſenden geweſen war, ſtand im Herbſt ver - oͤdet, nackt und kahl, und zeigte kaum hie und da noch im Meere von Sand ein Plaͤtzchen, wo Gras mit fahlem Gruͤn empor wuchs. Die Obſtbaͤume gingen alle aus, die Weinberge verdarben, und der Anblick der Landſchaft war ſo traurig, daß der Graf im folgenden Jahre mit ſeiner Familie das Schloß verließ, welches nachher verfiel und zur Ruine wurde.

Elfriede betrachtete Tag und Nacht mit der groͤßten Sehnſucht ihre Roſe und gedachte ihrer Geſpielin, und ſo wie die Blume ſich neigte und welkte, ſo ſenkte ſie auch das Koͤpfchen, und war ſchon vor dem Fruͤhlinge verſchmachtet. Marie ſtand oft auf dem Platze vor der Huͤtte und be - weinte das entſchwundene Gluͤck. Sie verzehrte ſich, wie ihr Kind, und folgte ihm in einigen Jah - ren. Der alte Martin zog mit ſeinem Schwieger - ſohne nach der Gegend, in der er ſonſt gelebt hatte.

Die Damen waren mit dieſer Erzaͤhlung zu - frieden. Wilibald war noch uͤbrig, um ſein Maͤhrchen vorzutragen, und er fing ſogleich ohne Einleitung an.

431Der Pokal.

Der Pokal.

Vom großen Dom erſcholl das vormittaͤgige Ge - laͤute. Ueber den weiten Platz wandelten in ver - ſchiedenen Richtungen Maͤnner und Weiber, Wa - gen fuhren voruͤber und Prieſter gingen nach ihren Kirchen. Ferdinand ſtand auf der breiten Treppe, den Wandelnden nachſehend und diejenigen betrach - tend, welche herauf ſtiegen, um dem Hochamte beizuwohnen. Der Sonnenſchein glaͤnzte auf den weißen Steinen, alles ſuchte den Schatten gegen die Hitze; nur er ſtand ſchon ſeit lange ſinnend an einen Pfeiler gelehnt, in den brennenden Stralen, ohne ſie zu fuͤhlen, denn er verlor ſich in den Erinnerungen, die in ſeinem Gedaͤchtniſſe aufſtie - gen. Er dachte ſeinem Leben nach, und begeiſterte ſich an dem Gefuͤhl, welches ſein Leben durchdrun - gen und alle andern Wuͤnſche in ihm ausgeloͤſcht hatte. In derſelben Stunde ſtand er hier im vo - rigen Jahre, um Frauen und Maͤdchen zur Meſſe kommen zu ſehn; mit gleichguͤltigem Herzen und laͤchelndem Auge hatte er die mannichfaltigen Ge - ſtalten betrachtet, mancher holde Blick war ihm ſchalkhaft begegnet und manche jungfraͤuliche Wange war erroͤthet; ſein ſpaͤhendes Auge ſah den nied - lichen Fuͤßchen nach, wie ſie die Stufen herauf ſchritten und wie ſich das ſchwebende Gewand mehr oder weniger verſchob, um die feinen Knoͤchel zu432Erſte Abtheilung.enthuͤllen. Da kam uͤber den Markt eine jugend - liche Geſtalt, in Schwarz, ſchlank und edel, die Augen ſittſam vor ſich hin geheftet, unbefangen ſchwebte ſie die Erhoͤhung hinauf mit lieblicher An - muth, das ſeidene Gewand legte ſich um den ſchoͤn - ſten Koͤrper und wiegte ſich wie in Muſik um die bewegten Glieder; jetzt wollte ſie den letzten Schritt thun, und von ohngefaͤhr erhob ſie das Auge und traf mit dem blaueſten Strale in ſeinen Blick. Er ward wie von einem Blitz durchdrungen. Sie ſtrau - chelte, und ſo ſchnell er auch hinzu ſprang, konnte er doch nicht verhindern, daß ſie nicht kurze Zeit in der reizendſten Stellung knieend vor ſeinen Fuͤ - ßen lag. Er hob ſie auf, ſie ſah ihn nicht an, ſondern war ganz Roͤthe, antwortete auch nicht auf ſeine Frage, ob ſie ſich beſchaͤdiget habe. Er folgte ihr in die Kirche und ſah nur das Bildniß, wie ſie vor ihm gekniet, und der ſchoͤnſte Buſen ihm entgegen gewogt. Am folgenden Tage beſuchte er die Schwelle des Tempels wieder; die Staͤtte war ihm geweiht. Er hatte abreiſen wollen, ſeine Freunde erwarteten ihn ungeduldig in ſeiner Hei - math; aber von nun an war hier ſein Vaterland, ſein Herz war umgewendet. Er ſah ſie oͤfter, ſie vermied ihn nicht, doch waren es nur einzelne und geſtohlene Augenblicke; denn ihre reiche Familie bewachte ſie genau, noch mehr ein angeſehener ei - ferſuͤchtiger Braͤutigam. Sie geſtanden ſich ihre Liebe, wußten aber keinen Rath in ihrer Lage; denn er war fremd, und konnte ſeiner Geliebten kein ſo großes Gluͤck anbieten, als ſie zu erwartenberech -433Der Pokal.berechtigt war. Da fuͤhlte er ſeine Armuth, doch wenn er an ſeine vorige Lebensweiſe dachte, duͤnkte er ſich uͤberſchwaͤnglich reich, denn ſein Daſeyn war geheiligt, ſein Herz ſchwebte immerdar in der ſchoͤnſten Ruͤhrung; jetzt war ihm die Natur be - freundet und ihre Schoͤnheit ſeinen Sinnen offen - bar, er fuͤhlte ſich der Andacht und Religion nicht mehr fremd, und betrat dieſelbe Schwelle, das geheimnißvolle Dunkel des Tempels jetzt mit ganz andern Gefuͤhlen, als in jenen Tagen des Leicht - ſinns. Er zog ſich von ſeinen Bekanntſchaften zu - ruͤck und lebte nur der Liebe. Wenn er durch ihre Straße ging und ſie nur am Fenſter ſah, war er fuͤr dieſen Tag gluͤcklich; er hatte ſie in der Daͤm - merung des Abends oftmals geſprochen, ihr Gar - ten ſtieß an den eines Freundes, der aber ſein Ge - heimniß nicht wußte. So war ein Jahr voruͤber gegangen.

Alle dieſe Scenen ſeines neuen Lebens zogen wieder durch ſein Gedaͤchtniß. Er erhob ſeinen Blick, da ſchwebte die edle Geſtalt ſchon uͤber den Platz, ſie leuchtete ihm wie eine Sonne aus der verworrenen Menge hervor. Ein lieblicher Geſang ertoͤnte in ſeinem ſehnſuͤchtigen Herzen, und er trat, wie ſie ſich annaͤherte, in die Kirche zuruͤck. Er hielt ihr das geweihte Waſſer entgegen, ihre weißen Finger zitterten, als ſie die ſeinigen beruͤhrte, ſie neigte ſich holdſelig. Er folgte ihr nach, und kniete in ihrer Naͤhe. Sein ganzes Herz zer - ſchmolz in Wehmuth und Liebe, es duͤnkte ihm, als wenn aus den Wunden der Sehnſucht ſeinI. [28]434Erſte Abtheilung.Weſen in andaͤchtigen Gebeten dahin blutete; je - des Wort des Prieſters durchſchauerte ihn, jeder Ton der Muſik goß Andacht in ſeinen Buſen; ſeine Lippen bebten, als die Schoͤne das Crucifix ihres Roſenkranzes an den bruͤnſtigen rothen Mund druͤckte. Wie hatte er ehemals dieſen Glauben und dieſe Liebe ſo gar nicht begreifen koͤnnen. Da er - hob der Prieſter die Hoſtie und die Glocke ſchallte, ſie neigte ſich demuͤthiger und bekreuzte ihre Bruſt; und wie ein Blitz ſchlug es durch alle ſeine Kraͤfte und Gefuͤhle, und das Altarbild duͤnkte ihm leben - dig und die farbige Daͤmmerung der Fenſter wie ein Licht des Paradieſes; Thraͤnen ſtroͤmten reich - lich aus ſeinen Augen und linderten die verzehrende Inbrunſt ſeines Herzens.

Der Gottesdienſt war geendigt. Er bot ihr wieder den Weihbrunnen, ſie ſprachen einige Worte und ſie entfernte ſich. Er blieb zuruͤck, um keine Aufmerkſamkeit zu erregen; er ſah ihr nach, bis der Saum ihres Kleides um die Ecke verſchwand. Da war ihm wie dem muͤden verirrten Wande - rer, dem im dichten Walde der letzte Schein der untergehenden Sonne erliſcht. Er erwachte aus ſeiner Traͤumerei, als ihm eine alte duͤrre Hand auf die Schulter ſchlug, und ihn jemand bei Na - men nannte.

Er fuhr zuruͤck, und erkannte ſeinen Freund, den muͤrriſchen Albert, der von allen Menſchen ſich zuruͤck zog und deſſen einſames Haus nur dem jungen Ferdinand geoͤffnet war. Seid ihr unſrer Abrede noch eingedenk? fragte die heiſere Stimme. 435Der Pokal.O ja, antwortete Ferdinand, und werdet Ihr euer Verſprechen heut noch halten? Noch in dieſer Stun - de, antwortete jener, wenn ihr mir folgen wollt.

Sie gingen durch die Stadt und in einer ab - gelegenen Straße in ein großes Gebaͤude. Heute, ſagte der Alte, muͤßt ihr euch ſchon mit mir in das Hinterhaus bemuͤhn, in mein einſamſtes Zim - mer, damit wir nicht etwa geſtoͤrt werden. Sie gingen durch viele Gemaͤcher, dann uͤber einige Treppen; Gaͤnge empfingen ſie, und Ferdinand, der das Haus zu kennen glaubte, mußte ſich uͤber die Menge der Zimmer, ſo wie uͤber die ſeltſame Einrichtung des weitlaͤufigen Gebaͤudes verwundern, noch mehr aber daruͤber, daß der Alte, welcher un - verheirathet war, und der auch keine Familie hatte, es allein mit einem einzigen Bedienten bewohne, und niemals an Fremde von dem uͤberfluͤßigen Raume hatte vermiethen wollen. Albert ſchloß endlich auf und ſagte: nun ſind wir zur Stelle. Ein großes hohes Zimmer empfing ſie, das mit rothem Da - maſt ausgeſchlagen war, den goldene Leiſten einfaß - ten, die Seſſel waren von dem nehmlichen Zeuge, und durch rothe ſchwerſeidene Vorhaͤnge, welche nieder gelaſſen waren, ſchimmerte ein purpurnes Licht. Verweilt einen Augenblick, ſagte der Alte, indem er in ein anderes Gemach ging. Ferdinand betrachtete indeß einige Buͤcher, in welchen er fremde unverſtaͤndliche Charaktere, Kreiſe und Li - nien, nebſt vielen wunderlichen Zeichnungen fand, und nach dem wenigen, was er leſen konnte, ſchie - nen es alchemiſtiſche Schriften; er wußte auch,436Erſte Abtheilung.daß der Alte im Rufe eines Goldmachers ſtand. Eine Laute lag auf dem Tiſche, welche ſeltſam mit Perlmutter und farbigen Hoͤlzern ausgelegt war und in glaͤnzenden Geſtalten Voͤgel und Blu - men darſtellte; der Stern in der Mitte war ein großes Stuͤck Perlmutter, auf das kunſtreichſte in vielen durchbrochenen Zirkelfiguren, faſt wie die Fenſterroſe einer gothiſchen Kirche, ausgearbeitet. Ihr betrachtet da mein Inſtrument, ſagte Albert, welcher zuruͤck kehrte, es iſt ſchon zweihundert Jahr alt, und ich habe es als ein Andenken meiner Reiſe aus Spanien mitgebracht. Doch laßt das alles und ſetzt euch jetzt.

Sie ſetzten ſich an den Tiſch, der ebenfalls mit einem rothen Teppiche bedeckt war, und der Alte ſtellte etwas Verhuͤlltes auf die Tafel. Aus Mitleid gegen eure Jugend, fing er an, habe ich euch neulich verſprochen, euch zu wahrſagen, ob ihr gluͤcklich werden koͤnnt oder nicht, und dieſes Verſprechen will ich in gegenwaͤrtiger Stunde loͤ - ſen, ob ihr gleich die Sache neulich nur fuͤr einen Scherz halten wolltet. Ihr duͤrft euch nicht ent - ſetzen, denn was ich vorhabe, kann ohne Gefahr geſchehn, und weder furchtbare Citationen ſollen von mir vorgenommen werden, noch ſoll euch eine graͤßliche Erſcheinung erſchrecken. Die Sache, die ich verſuchen will, kann in zweien Faͤllen mißlin - gen: wenn ihr nehmlich nicht ſo wahrhaft liebt, als ihr mich habt wollen glauben machen, denn alsdann iſt meine Bemuͤhung umſonſt und es zeigt ſich gar nichts; oder daß ihr das Orakel ſtoͤrt und437Der Pokal.durch eine unnuͤtze Frage oder ein haſtiges Auffah - ren vernichtet, indem ihr euren Sitz verlaßt und das Bild zertruͤmmert; ihr muͤßt mir alſo verſpre - chen, euch ganz ruhig zu verhalten.

Ferdinand gab das Wort, und der Alte wik - kelte aus den Tuͤchern das, was er mitgebracht hatte. Es war ein goldener Pokal von ſehr kuͤnſt - licher und ſchoͤner Arbeit. Um den breiten Fuß lief ein Blumenkranz mit Myrthen und verſchiede - nem Laube und Fruͤchten gemiſcht, erhaben ausge - fuͤhrt mit mattem oder klaren Golde. Ein aͤhn - liches Band, aber reicher, mit kleinen Figuren und fliehenden wilden Thierchen, die ſich vor den Kin - dern fuͤrchteten oder mit ihnen ſpielten, zog ſich um die Mitte des Bechers. Der Kelch war ſchoͤn gewunden, er bog ſich oben zuruͤck, den Lippen entgegen, und inwendig funkelte das Gold mit ro - ther Gluth. Der Alte ſtellte den Becher zwiſchen ſich und den Juͤngling, und winkte ihn naͤher. Fuͤhlt ihr nicht etwas, ſprach er, wenn euer Auge ſich in dieſem Glanz verliert? Ja, ſagte Ferdi - nand, dieſer Schein ſpiegelt in mein Innres hin - ein, ich moͤchte ſagen, ich fuͤhle ihn wie einen Kuß in meinem ſehnſuͤchtigen Buſen. So iſt es recht! ſagte der Alte; nun laßt eure Augen nicht mehr herum ſchweifen, ſondern haltet ſie feſt auf den Glanz dieſes Goldes, und denkt ſo lebhaft wie moͤglich an eure Geliebte.

Beide ſaßen eine Weile ruhig, und ſchauten vertieft den leuchtenden Becher an. Bald aber fuhr der Alte mit ſtummer Geberde, erſt langſam,438Erſte Abtheilung.dann ſchneller, endlich in eilender Bewegung mit ſtreichendem Finger um die Glut des Pokals in ebenmaͤßigen Kreiſen hin. Dann hielt er wieder inne und legte die Kreiſe von der andern Seite. Als er eine Weile dies Beginnen fortgeſetzt hatte, glaubte Ferdinand Muſik zu hoͤren, aber es klang wie draußen, in einer fernen Gaſſe; doch bald ka - men die Toͤne naͤher, ſie ſchlugen lauter und lau - ter an, ſie zitterten beſtimmter durch die Luft, und es blieb ihm endlich kein Zweifel, daß ſie aus dem Innern des Bechers hervor quollen. Immer ſtaͤr - ker ward die Muſik, und von ſo durchdringender Kraft, daß des Juͤnglings Herz erzitterte und ihm die Thraͤnen in die Augen ſtiegen. Eifrig fuhr die Hand des Alten in verſchiedenen Richtungen uͤber die Muͤndung des Bechers, und es ſchien, als wenn Funken aus ſeinen Fingern fuhren und zuk - kend gegen das Gold leuchtend und klingend zer - ſprangen. Bald mehrten ſich die glaͤnzenden Punkte und folgten, wie auf einen Faden gereiht, der Be - wegung ſeines Fingers hin und wieder; ſie glaͤnz - ten von verſchiedenen Farben, und draͤngten ſich allgemach dichter und dichter an einander, bis ſie in Linien zuſammen ſchoſſen. Nun ſchien es, als wenn der Alte in der rothen Daͤmmerung ein wun - derſames Netz uͤber das leuchtende Gold legte, denn er zog nach Willkuͤhr die Stralen hin und wieder, und verwebte mit ihnen die Oeffnung des Pokales; ſie gehorchten ihm und blieben, einer Bedeckung aͤhnlich, liegen, indem ſie hin und wieder webten und in ſich ſelber ſchwankten. Als ſie ſo gefeſſelt439Der Pokal.waren, beſchrieb er wieder die Kreiſe um den Rand, die Muſik ſank wieder zuruͤck und wurde leiſer und leiſer, bis ſie nicht mehr zu vernehmen war, das leuchtende Netz zitterte wie beaͤngſtiget. Es brach im zunehmenden Schwanken, und die Stralen reg - neten tropfend in den Kelch, doch aus den nieder - tropfenden erhob ſich wie eine roͤthliche Wolke, die ſich in ſich ſelbſt in vielfachen Kreiſen bewegte, und wie Schaum uͤber der Muͤndung ſchwebte. Ein hellerer Punkt ſchwang ſich mit der groͤßten Schnel - ligkeit durch die wolkigen Kreiſe. Da ſtand das Gebild, und wie ein Auge ſchaute es ploͤtzlich aus dem Duft, wie goldene Locken floß und ringelte es oben, und alsbald ging ein ſanftes Erroͤthen in dem wankenden Schatten auf und ab, und Ferdi - nand erkannte das laͤchelnde Angeſicht ſeiner Ge - liebten, die blauen Augen, die zarten Wangen, den lieblich rothen Mund. Das Haupt ſchwankte hin und her, hob ſich deutlicher und ſichtbarer auf dem ſchlanken weißen Halſe hervor und neigte ſich zu dem entzuͤckten Juͤnglinge hin. Der Alte be - ſchrieb immer noch die Kreiſe um den Becher, und heraus traten die glaͤnzenden Schultern, und ſo wie ſich die liebliche Bildung aus dem goldenen Bett mehr hervor draͤngte und holdſelig hin und wieder wiegte, ſo erſchienen nun die beiden zarten, gewoͤlbten und getrennten Bruͤſte, auf deren Spitze die feinſte Roſenknospe mit ſuͤß verhuͤllter Roͤthe ſchimmerte. Ferdinand glaubte den Athem zu fuͤh - len, indem das geliebte Bild wogend zu ihm neigte, und ihn faſt mit den brennenden Lippen beruͤhrte;440Erſte Abtheilung.er konnte ſich im Taumel nicht mehr bewaͤltigen, ſondern draͤngte ſich mit einem Kuſſe an den Mund, und waͤhnte, die ſchoͤnen Arme zu faſſen, um die nackte Geſtalt ganz aus dem goldenen Gefaͤngniß zu heben. Alsbald durchfuhr ein ſtarkes Zittern das liebliche Bild, wie in tauſend Linien brach das Haupt und der Leib zuſammen, und eine Roſe lag am Fuß des Pokales, aus deren Roͤthe noch das ſuͤße Laͤcheln ſchien. Sehnſuͤchtig ergriff ſie Ferdinand, druͤckte ſie an ſeinen Mund, und an ſeinem brennenden Verlangen verwelkte ſie, und war in Luft zerfloſſen.

Du haſt ſchlecht dein Wort gehalten, ſagte der Alte verdruͤßlich, du kannſt dir nur ſelber die Schuld beimeſſen. Er verhuͤllte ſeinen Pokal wie - der, zog die Vorhaͤnge auf und eroͤffnete ein Fen - ſter, das helle Tageslicht brach herein, und Fer - dinand verließ wehmuͤthig und mit vielen Entſchul - digungen den murrenden Alten.

Er eilte bewegt durch die Straßen der Stadt. Vor dem Thore ſetzte er ſich unter den Baͤumen nieder. Sie hatte ihm am Morgen geſagt, daß ſie mit einigen Verwandten Abends uͤber Land fah - ren muͤſſe. Bald ſaß, bald wanderte er liebetrun - ken im Walde; immer ſah er das holdſelige Bild, wie es mehr und mehr aus dem gluͤhenden Golde quoll, jetzt erwartete er, ſie heraus ſchreiten zu ſehn im Glanze ihrer Schoͤnheit, und dann zer - brach die ſchoͤnſte Form vor ſeinen Augen, und er zuͤrnte mit ſich, daß er durch ſeine raſtloſe Liebe441Der Pokal.und die Verwirrung ſeiner Sinne das Bildniß und vielleicht ſein Gluͤck zerſtoͤrt habe.

Als nach der Mittagsſtunde der Spaziergang ſich allgemach mit Menſchen fuͤllte, zog er ſich tie - fer in das Gebuͤſch zuruͤck; ſpaͤhend behielt er aber die ferne Landſtraße im Auge, und jeder Wagen, der durch das Thor kam, wurde aufmerkſam von ihm gepruͤft.

Es naͤherte ſich dem Abende. Rothe Schim - mer warf die untergehende Sonne, da flog aus dem Thor der reiche vergoldete Wagen, der feurig im Abendglanze leuchtete. Er eilte hinzu. Ihr Auge hatte das ſeinige ſchon geſucht. Freundlich und laͤchelnd lehnte ſie den glaͤnzenden Buſen aus dem Schlage, er fing ihren liebevollen Gruß und Wink auf; jetzt ſtand er neben dem Wagen, ihr voller Blick fiel auf ihn, und indem ſie ſich weiter fahrend wieder zuruͤck zog, flog die Roſe, welche ihren Buſen zierte, heraus, und lag zu ſeinen Fuͤßen. Er hob ſie auf und kuͤßte ſie, und ihm war, als weiſſage ſie ihm, daß er ſeine Geliebte nicht wieder ſehn wuͤrde, daß nun ſein Gluͤck auf immer zerbrochen ſey.

Auf und ab lief man die Treppen, das ganze Haus war in Bewegung, alles machte Geſchrei und Laͤrmen zum morgenden großen Feſte. Die Mutter war am thaͤtigſten ſo wie am freudigſten; die Braut ließ alles geſchehn, und zog ſich, ihrem442Erſte Abtheilung.Schickſal nachſinnend, in ihr Zimmer zuruͤck. Man erwartete noch den Sohn, den Hauptmann mit ſeiner Frau und zwei aͤltere Toͤchter mit ihren Maͤnnern; Leopold, ein juͤngerer Sohn, war muth - willig beſchaͤftigt, die Unordnung zu vermehren, den Laͤrmen zu vergroͤßern, und alles zu verwir - ren, indem er alles zu betreiben ſchien. Agathe, ſeine noch unverheirathete Schweſter, wollte ihn zur Vernunft bringen und dahin bewegen, daß er ſich um nichts kuͤmmerte, und nur die andern in Ruhe laſſe; aber die Mutter ſagte: ſtoͤre ihn nicht in ſeiner Thorheit, denn heute kommt es auf et - was mehr oder weniger nicht an; nur darum bitte ich euch alle, da ich ſchon auf ſo viel zu denken habe, daß ihr mich nicht mit irgend etwas behel - ligt, was ich nicht hoͤchſt noͤthig erfahren muß; ob ſie Porzellan zerbrechen, ob einige ſilberne Loͤf - fel fehlen, ob das Geſinde der Fremden Scheiben entzwei ſchlaͤgt, mit ſolchen Poſſen aͤrgert mich nicht, daß ihr ſie mir wieder erzaͤhlt. Sind dieſe Tage der Unruhe voruͤber, dann wollen wir Rech - nung halten.

Recht ſo, Mutter! ſagte Leopold, das ſind Geſinnungen, eines Regenten wuͤrdig! Wenn auch einige Maͤgde den Hals brechen, der Koch ſich be - trinkt und den Schornſtein anzuͤndet, der Keller - meiſter vor Freude den Malvaſier auslaufen oder ausſaufen laͤßt, Sie ſollen von dergleichen Kinde - reyen nichts erfahren. Es muͤßte denn ſeyn, daß ein Erdbeben das Haus umwuͤrfe; Liebſte, das ließe ſich unmoͤglich verhelen.

443Der Pokal.

Wann wird er doch einmal kluͤger werden! ſagte die Mutter; was werden nur deine Geſchwi - ſter denken, wenn ſie dich eben ſo unklug wieder finden, als ſie dich vor zwei Jahren verlaſſen haben.

Sie muͤſſen meinem Charakter Gerechtigkeit widerfahren laſſen, antwortete der lebhafte Juͤng - ling, daß ich nicht ſo wandelbar bin wie ſie oder ihre Maͤnner, die ſich in wenigen Jahren ſo ſehr, und zwar nicht zu ihrem Vortheile veraͤndert haben.

Jetzt trat der Braͤutigam zu ihnen, und fragte nach der Braut. Die Kammerjungfer ward ge - ſchickt, ſie zu rufen. Hat Leopold Ihnen, liebe Mutter, meine Bitte vergetragen? fragte der Verlobte.

Daß ich nicht wuͤßte, ſagte dieſer; in der Unordnung hier im Hauſe kann man keinen ver - nuͤnftigen Gedanken faſſen.

Die Braut trat herzu, und die jungen Leute begruͤßten ſich mit Freuden. Die Bitte, deren ich erwaͤhnte, fuhr dann der Braͤutigam fort, iſt dieſe, daß Sie es nicht uͤbel deuten moͤgen, wenn ich Ihnen noch einen Gaſt in Ihr Haus fuͤhre, das fuͤr dieſe Tage nur ſchon zu ſehr beſetzt iſt.

Sie wiſſen es ſelbſt, ſagte die Mutter, daß, ſo geraͤumig es auch iſt, ſich ſchwerlich noch Zim - mer einrichten laſſen.

Doch, rief Leopold, ich habe ſchon zum Theil dafuͤr geſorgt, ich habe die große Stube im Hin - terhauſe aufraͤumen laſſen.

Ei, die iſt nicht anſtaͤndig genug, ſagte die444Erſte Abtheilung.Mutter, ſeit Jahren iſt ſie ja faſt nur zur Pol - terkammer gebraucht.

Praͤchtig iſt ſie hergeſtellt, ſagte Leopold, und der Freund, fuͤr den ſie beſtimmt iſt, ſieht auch auf dergleichen nicht, dem iſt es nur um unſre Liebe zu thun; auch hat er keine Frau und befin - det ſich gern in der Einſamkeit, ſo daß ſie ihm gerade recht ſein wird. Wir haben Muͤhe genug gehabt, ihm zuzureden und ihn wieder unter Men - ſchen zu bringen.

Doch wohl nicht euer trauriger Goldmacher und Geiſterbanner? fragte Agathe.

Kein andrer als der, erwiederte der Braͤuti - gam, wenn Sie ihn einmal ſo nennen wollen.

Dann erlauben Sie es nur nicht, liebe Mut - ter, fuhr die Schweſter fort; was ſoll ein ſolcher Mann in unſerm Hauſe? Ich habe ihn einigemal mit Leopold uͤber die Straße gehen ſehn, und mir iſt vor ſeinem Geſicht bange geworden; auch be - ſucht der alte Suͤnder faſt niemals die Kirche, er liebt weder Gott noch Menſchen, und es bringt keinen Seegen, dergleichen Unglaͤubige bei ſo fei - erlicher Gelegenheit unter das Dach einzufuͤhren. Wer weiß, was daraus entſtehn kann!

Wie du nun ſprichſt! ſagte Leopold erzuͤrnt, weil du ihn nicht kennſt ſo verurtheilſt du ihn, und weil dir ſeine Naſe nicht gefaͤllt, und er auch nicht mehr jung und reizend iſt, ſo muß er, dei - nem Sinne nach, ein Geiſterbanner und verruch - ter Menſch ſeyn.

Gewaͤhren Sie, theure Mutter, ſagte der445Der Pokal.Braͤutigam, unſerm alten Freunde ein Plaͤtzchen in ihrem Hauſe, und laſſen Sie ihn an unſerer allgemeinen Freude Theil nehmen. Er ſcheint, liebe Schweſter Agathe, viel Ungluͤck erlebt zu haben, welches ihn mißtrauiſch und menſchenfeindlich ge - macht hat, er vermeidet alle Geſellſchaft, und macht nur eine Ausnahme mit mir und Leopold; ich habe ihm viel zu danken, er hat zuerſt meinem Geiſte eine beſſere Richtung gegeben, ja ich kann ſagen, er allein hat mich vielleicht der Liebe meiner Julie wuͤrdig gemacht.

Mir borgt er alle Buͤcher fuhr Leopold fort, und, was mehr ſagen will, alte Manuſkripte, und was noch mehr ſagen will, Geld, auf mein bloßes Wort; er hat die chriſtlichſte Geſinnung, Schwe - ſterchen, und wer weiß, wenn du ihn naͤher ken - nen lernſt, ob du nicht deine Sproͤdigkeit fahren laͤſſeſt, und dich in ihn verliebſt, ſo haͤßlich er dir auch jetzt vorkommt.

Nun ſo bringen Sie ihn uns, ſagte die Mut - ter, ich habe ſchon ſonſt ſo viel aus Leopolds Munde von ihm hoͤren muͤſſen, daß ich neugierig bin, ſeine Bekanntſchaft zu machen. Nur muͤſſen Sie es verantworten, daß wir ihm keine beſſere Wohnung geben koͤnnen.

Indem kamen Reiſende an. Es waren die Mitglieder der Familie; die verheiratheten Toͤch - ter, ſo wie der Offizier, brachten ihre Kinder mit. Die gute Alte freute ſich, ihre Enkel zu ſehn; alles war Bewillkommnung und frohes Geſpraͤch, und als der Braͤutigam und Leopold auch ihre Gruͤße446Erſte Abtheilung.empfangen und abgelegt hatten, entfernten ſie ſich, um ihren alten muͤrriſchen Freund aufzuſuchen.

Dieſer wohnte die meiſte Zeit des Jahres auf dem Lande, eine Meile von der Stadt, aber eine kleine Wohnung behielt er ſich auch in einem Gar - ten, vor dem Thore. Hier hatten ihn zufaͤlliger - weiſe die beiden jungen Leute kennen gelernt. Sie trafen ihn jetzt auf einem Caffehauſe, wohin ſie ſich beſtellt hatten. Da es ſchon Abend geworden war, begaben ſie ſich nach einigen Geſpraͤchen in das Haus zuruͤck.

Die Mutter nahm den Fremden ſehr freund - ſchaftlich auf; die Toͤchter hielten ſich etwas ent - fernt, beſonders war Agathe ſchuͤchtern und ver - mied ſeine Blicke ſorgfaͤltig. Nach den erſten all - gemeinen Geſpraͤchen war das Auge des Alten aber unverwandt auf die Braut gerichtet, welche ſpaͤter zur Geſellſchaft getreten war; er ſchien entzuͤckt und man bemerkte, daß er eine Thraͤne heimlich abzutrocknen ſuchte. Der Braͤutigam freute ſich an ſeiner Freude, und als ſie nach einiger Zeit abſeits am Fenſter ſtanden, nahm er ſeine Hand und fragte ihn: Was ſagen Sie von meiner ge - liebten Julie? Iſt ſie nicht ein Engel? O mein Freund, erwiederte der Alte geruͤhrt, eine ſolche Schoͤnheit und Anmuth habe ich noch niemals ge - ſehn; oder ich ſollte vielmehr ſagen, (denn dieſer Ausdruck iſt unrichtig) ſie iſt ſo ſchoͤn, ſo bezau - bernd, ſo himmliſch, daß mir iſt, als haͤtte ich ſie laͤngſt gekannt, als waͤre ſie, ſo fremd ſie mir iſt,447Der Pokal.das vertrauteſte Bild meiner Imagination, das meinem Herzen ſtets einheimiſch geweſen.

Ich verſtehe Sie, ſagte der Juͤngling; ja das wahrhaft Schoͤne, Große und Erhabene, ſo wie es uns in Erſtaunen und Verwunderung ſetzt, uͤber - raſcht uns doch nicht als etwas Fremdes, Uner - hoͤrtes und Niegeſehenes, ſondern unſer eigenſtes Weſen wird uns in ſolchen Augenblicken klar, un - ſre tiefſten Erinnerungen werden erweckt, und un - ſre naͤchſten Empfindungen lebendig gemacht.

Beim Abendeſſen nahm der Fremde an den Geſpraͤchen nur wenigen Antheil; ſein Blick war unverwandt auf die Braut geheftet, ſo daß dieſe endlich verlegen und aͤngſtlich wurde. Der Offizier erzaͤhlte von einem Feldzuge, dem er beigewohnt hatte, der reiche Kaufmann ſprach von ſeinen Ge - ſchaͤften und der ſchlechten Zeit, und der Gutsbe - ſitzer von den Verbeſſerungen, welche er in ſeiner Landwirthſchaft angefangen hatte.

Nach Tiſche empfahl ſich der Braͤutigam, um zum letztenmal in ſeine einſame Wohnung zuruͤck zu kehren, denn kuͤnftig ſollte er mit ſeiner jungen Frau im Hauſe der Mutter wohnen, ihre Zim - mer waren ſchon eingerichtet. Die Geſellſchaft zer - ſtreute ſich, und Leopold fuͤhrte den Fremden nach ſeinem Gemach. Ihr entſchuldigt es wohl, fing er auf dem Gange an, daß ihr etwas entfernt hauſen muͤßt, und nicht ſo bequem, als die Mut - ter wuͤnſcht; aber Ihr ſeht ſelbſt, wie zahlreich unſre Familie iſt, und morgen kommen noch andre Verwandte. Wenigſtens werdet ihr uns nicht ent -448Erſte Abtheilung.laufen koͤnnen, denn Ihr findet gewiß nicht aus dem weitlaͤufigen Gebaͤude heraus.

Sie gingen noch durch einige Gaͤnge; endlich entfernte ſich Leopold und wuͤnſchte gute Nacht. Der Bediente ſtellte zwei Wachskerzen hin, fragte, ob er den Fremden entkleiden ſolle, und da dieſer jede Bedienung verbat, zog ſich jener zuruͤck, und er befand ſich allein. Wie muß es mir denn be - gegnen, ſagte er, indem er auf und nieder ging, daß jenes Bildniß ſo lebhaft heut aus meinem Her - zen quillt? Ich vergaß die ganze Vergangenheit und glaubte ſie ſelbſt zu ſehn. Ich war wieder jung und ihr Ton erklang wie damals, mir duͤnkte, ich ſey aus einem ſchweren Traum erwacht; aber nein, jetzt bin ich erwacht, und die holde Taͤu - ſchung war nur ein ſuͤßer Traum.

Er war zu unruhig, um zu ſchlafen, er be - trachtete einige Zeichnungen an den Waͤnden und dann das Zimmer. Heut iſt mir alles ſo bekannt, rief er aus, koͤnnt 'ich mich doch faſt ſo taͤuſchen, daß ich mir einbildete, dieſes Haus und dieſes Ge - mach ſeyen mir nicht fremd. Er ſuchte ſeine Erinne - rungen anzuknuͤpfen, und hob einige große Buͤcher auf, welche in der Ecke ſtanden. Als er ſie durch - blaͤttert hatte, ſchuͤttelte er mit dem Kopfe. Ein Lautenfutteral lehnte an der Mauer; er eroͤffnete es und nahm ein altes ſeltſames Inſtrument her - aus, das beſchaͤdigt war und dem die Saiten fehl - ten. Nein, ich irre mich nicht, rief er beſtuͤrzt: dieſe Laute iſt zu kenntlich, es iſt die Spaniſche meines laͤngſt verſtorbenen Freundes Albert; dortſtehn449Der Pokal.ſtehn ſeine magiſchen Buͤcher, dies iſt das Zimmer, in welchem er mir jenes holdſelige Orakel erwecken wollte; verblichen iſt die Roͤthe des Teppichs, die goldene Einfaſſung ermattet, aber wunderſam leb - haft iſt alles, alles aus jenen Stunden in meinem Gemuͤth; darum ſchauerte mir, als ich hieher ging, auf jenen langen verwickelten Gaͤngen, welche mich Leopold fuͤhrte; o Himmel, hier auf dieſem Tiſche ſtieg das Bildniß quellend hervor, und wuchs auf wie von der Roͤthe des Goldes getraͤnkt und er - friſcht; dasſelbe Bild lachte hier mich an, welches mich heut Abend dorten im Saale faſt wahnſinnig gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich ſo oft mit Albert in vertrauten Geſpraͤchen auf und nieder wandelte.

Er entkleidete ſich, ſchlief aber nur wenig. Am Morgen ſtand er fruͤh wieder auf, und betrachtete das Zimmer von neuem; er eroͤffnete das Fenſter, und ſah dieſelben Gaͤrten und Gebaͤude vor ſich, wie damals, nur waren indeß viele neue Haͤuſer hinzu gebaut worden. Vierzig Jahre ſind ſeitdem verſchwunden, ſeufzte er, und jeder Tag von da - mals enthielt laͤngeres Leben als der ganze uͤbrige Zeitraum.

Er ward wieder zur Geſellſchaft gerufen. Der Morgen verging unter mannigfaltigen Geſpraͤchen, endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein. So wie der Alte ihrer anſichtig ward, gerieth er wie außer ſich, ſo daß keinem in der Geſellſchaft ſeine Bewegung entging. Man begab ſich zur Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als ſichI. [29]450Erſte Abtheilung.alle wieder im Hauſe befanden, fragte Leopold ſeine Mutter: nun, wie gefaͤllt Ihnen unſer Freund, der gute muͤrriſche Alte?

Ich habe ihn mir, antwortete dieſe, nach eu - ren Beſchreibungen viel abſchreckender gedacht, er iſt ja mild und theilnehmend, man koͤnnte ein rech - tes Zutrauen zu ihm gewinnen.

Zutrauen? rief Agathe aus, zu dieſen fuͤrch - terlich brennenden Augen, dieſen tauſendfachen Runzeln, dem blaſſen eingekniffenen Mund, und dieſem ſeltſamen Lachen, das ſo hoͤhniſch klingt und ausſieht? Nein, Gott bewahr mich vor ſol - chem Freunde! Wenn boͤſe Geiſter ſich in Men - ſchen verkleiden wollen, muͤſſen ſie eine ſolche Ge - ſtalt annehmen.

Wahrſcheinlich doch eine juͤngere und reizen - dere, antwortete die Mutter; aber ich kenne auch dieſen guten Alten in deiner Beſchreibung nicht wieder. Man ſieht, daß er von heftigem Tempe - rament iſt, und ſich gewoͤhnt hat alle ſeine Em - pfindungen in ſich zu verſchließen; er mag, wie Leopold ſagt, viel Ungluͤck erlebt haben, daher iſt er mißtrauiſch geworden, und hat jene einfache Of - fenheit verloren, die hauptſaͤchlich nur den Gluͤck - lichen eigen iſt.

Ihr Geſpraͤch wurde unterbrochen, weil die uͤbrige Geſellſchaft hinzu trat. Man ging zur Tafel, und der Fremde ſaß neben Agathe und dem reichen Kaufmanne. Als man anfing die Ge - ſundheiten zu trinken, rief Leopold: haltet noch inne, meine werthen Freunde, dazu muͤſſen wir451Der Pokal.unſern Feſtpokal hier haben, der dann rundum gehn ſoll! Er wollte aufſtehen, aber die Mutter winkte ihm, ſitzen zu bleiben; du findeſt ihn doch nicht, ſagte ſie, denn ich habe alles Silberzeug anders gepackt. Sie ging ſchnell hinaus, um ihn ſelber zu ſuchen. Was unſere Alte heut geſchaͤftig und munter iſt, ſagte der Kaufmann, ſo dick und breit ſie iſt, ſo behende kann ſie ſich doch noch be - wegen, obgleich ſie ſchon ſechszig zaͤhlt; ihr Ge - ſicht ſieht immer heiter und freudig aus, und heut iſt ſie beſonders gluͤcklich, weil ſie ſich in der Schoͤn - heit ihrer Tochter wieder verjuͤngt. Der Fremde gab ihm Beifall, und die Mutter kam mit dem Pokal zuruͤck. Man ſchenkte ihn voll Weins, und oben vom Tiſch fing er an herum zu gehn, indem jeder die Geſundheit deſſen ausbrachte, was ihm das liebſte und erwuͤnſchteſte war. Die Braut trank das Wohlſeyn ihres Gatten, dieſer die Liebe ſeiner ſchoͤnen Julie, und ſo that jeder nach der Reihe. Die Mutter zoͤgerte, als der Becher zu ihr kam. Nur dreiſt! ſagte der Offizier etwas rauh und voreilig, wir wiſſen ja doch, daß ſie alle Maͤnner fuͤr ungetreu und keinen einzigen der Liebe einer Frau wuͤrdig halten; was iſt Ihnen alſo das Liebſte? Die Mutter ſah ihn an, indem ſich uͤber die Milde ihres Antlitzes ploͤtzlich ein zuͤrnender Ernſt verbreitete. Da mein Sohn, ſagte ſie, mich ſo genau kennt, und ſo ſtrenge meine Gemuͤths - art tadelt, ſo ſey es mir auch erlaubt, nicht aus - zuſprechen, was ich jetzt eben dachte, und ſuche er nur dasjenige, was er als meine Ueberzeugung452Erſte Abtheilung.kennen will, durch ſeine ungefaͤlſchte Liebe unwahr zu machen. Sie gab den Becher, ohne zu trin - ken, weiter, und die Geſellſchaft war auf einige Zeit verſtimmt.

Man erzaͤhlt ſich, ſagte der Kaufmann leiſe, indem er ſich zum Fremden neigte, daß ſie ihren Mann nicht geliebt habe, ſondern einen andern, der ihr aber ungetreu geworden iſt; damals ſoll ſie das ſchoͤnſte Maͤdchen in der Stadt geweſen ſeyn.

Als der Becher zu Ferdinand kam, betrachtete ihn dieſer mit Erſtaunen, denn es war derſelbe, aus welchem ihm Albert ehemals das ſchoͤne Bild - niß hervor gerufen hatte. Er ſchaute in das Gold hinein und in die Welle des Weines, ſeine Hand zitterte; es wuͤrde ihn nicht verwundert haben, wenn aus dem leuchtenden Zaubergefaͤße jetzt wie - der jene Geſtalt hervor gebluͤht waͤre und mit ihr ſeine entſchwundene Jugend. Nein, ſagte er nach einiger Zeit halblaut, es iſt Wein, was hier gluͤht! Was ſoll es anders ſeyn? ſagte der Kaufmann lachend, trinken Sie getroſt! Ein Zucken des Schrecks durchfuhr den Alten, er ſprach den Na - men Franziska heftig aus, und ſetzte den Pokal an die bruͤnſtigen Lippen. Die Mutter warf einen fragenden und verwundernden Blick hinuͤber. Wo - her dieſer ſchoͤne Becher? ſagte Ferdinand, der ſich ſeiner Zerſtreuung ſchaͤmte. Vor vielen Jah - ren ſchon, antwortete Leopold, noch ehe ich gebo - ren war, hat ihn mein Vater zugleich mit dieſem Hauſe und allen Mobilien von einem alten einſa - men Hageſtolz gekauft, einem ſtillen Menſchen,453Der Pokal.den die Nachbarſchaft umher fuͤr einen Zauberer hielt. Ferdinand mochte nicht ſagen, daß er jenen gekannt hatte, denn ſein Daſeyn war ihm zu ſehr zum ſeltſamen Traum verwirrt, um auch nur aus der Ferne die uͤbrigen in ſein Gemuͤth ſchauen zu laſſen.

Nach aufgehobener Tafel war er mit der Mut - ter allein, weil die jungen Leute ſich zuruͤck gezo - gen hatten, um Anſtalten zum Balle zu treffen. Setzen Sie ſich neben mich, ſagte die Mutter, wir wollen ausruhen, denn wir ſind uͤber die Jahre des Tanzes hinweg, und, wenn es nicht unbeſchei - den iſt zu fragen, ſo ſagen Sie mir doch, ob Sie unſern Pokal ſchon ſonſt wo geſehn haben, oder was es war, was Sie ſo innerlichſt bewegte.

O gnaͤdige Frau, ſagte der Alte, verzeihen Sie meiner thoͤrichten Heftigkeit und Ruͤhrung, aber ſeit ich in Ihrem Hauſe bin, iſt es, als ge - hoͤre ich mir nicht mehr an, denn in jedem Augen - blicke vergeſſe ich es, daß mein Haar grau iſt, daß meine Geliebten geſtorben ſind. Ihre ſchoͤne Toch - ter, die heute den froheſten Tag ihres Lebens fey - ert, iſt einem Maͤdchen, das ich in meiner Jugend kannte und anbetete, ſo aͤhnlich, daß ich es fuͤr ein Wunder halten muß; nicht aͤhnlich, nein, der Ausdruck ſagt zu wenig, ſie iſt es ſelbſt! Auch hier im Hauſe bin ich viel geweſen, und einmal mit dieſem Pokal auf die ſeltſamſte Weiſe bekannt geworden. Er erzaͤhlte ihr hierauf ſein Abentheuer. An dem Abend dieſes Tages, ſo beſchloß er, ſah ich draußen im Park meine Geliebte zum letzten454Erſte Abtheilung.mal, indem ſie uͤber Land fuhr. Eine Roſe entfiel ihr, dieſe habe ich aufbewahrt; ſie ſelbſt ging mir verloren, denn ſie ward mir ungetreu und bald darauf vermaͤhlt.

Gott im Himmel! rief die Alte und ſprang hef - tig bewegt auf, du biſt doch nicht Ferdinand?

So iſt mein Name, ſagte jener.

Ich bin Franziska, antwortete die Muter.

Sie wollten ſich umarmen, und fuhren ſchnell zuruͤck. Beide betrachteten ſich mit pruͤfenden Blik - ken, beide ſuchten aus dem Ruin der Zeit jene Lineamente wieder zu entwickeln, die ſie ehemals an einander gekannt und geliebt hatten, und wie in dunkeln Gewitternaͤchten unter dem Fluge ſchwar - zer Wolken einzeln in fluͤchtigen Momenten die Sterne raͤthſelhaft ſchimmern, um ſchnell wieder zu erloͤſchen, ſo ſchien ihnen aus den Augen, von Stirn und Mund jezuweilen der wohlbekannte Zug voruͤberblitzend an, und es war, als wenn ihre Jugend in der Ferne laͤchelnd weinte. Er bog ſich nieder und kuͤßte ihre Hand, indem zwei große Thraͤnen herab ſtuͤrzten, dann umarmten ſie ſich herzlich.

Iſt deine Frau geſtorben? fragte die Mutter.

Ich war nie verheirathet, ſchluchzte Ferdinand.

Himmel! ſagte die Alte, die Haͤnde ringend, ſo bin ich die Ungetreue geweſen! Doch nein, nicht ungetreu. Als ich vom Lande zuruͤck kam, wo ich zwei Monden geweſen war, hoͤrte ich von allen Menſchen, auch von deinen Freunden, nicht bloß den meinigen, du ſeyſt laͤngſt abgereiſt und in dei -455Der Pokal.nem Vaterlande verheirathet; man zeigte mir die glaubwuͤrdigſten Briefe, man drang heftig in mich, man benutzte meine Troſtloſigkeit, meinen Zorn, und ſo geſchah es, daß ich meine Hand dem ver - dienſtvollen Manne gab, mein Herz, meine Ge - danken blieben dir immer gewidmet.

Ich habe mich nicht von hier entfernt, ſagte Ferdinand, aber nach einiger Zeit vernahm ich deine Vermaͤhlung. Man wollte uns trennen, und es iſt ihnen gelungen. Du biſt gluͤckliche Mutter, ich lebe in der Vergangenheit, und alle deine Kin - der will ich wie die meinigen lieben. Aber wie wunderbar, daß wir uns ſeitdem nie wieder ge - ſehen haben.

Ich ging wenig aus, ſagte die Mutter, und mein Mann, der bald darauf einer Erbſchaft we - gen einen andern Namen annahm, hat dir auch jeden Verdacht dadurch entfernt, daß wir in der - ſelben Stadt wohnen koͤnnten.

Ich vermied die Menſchen, ſagte Ferdinand, und lebte nur der Einſamkeit; Leopold iſt beinah der einzige, der mich wieder anzog und unter Men - ſchen fuͤhrte. O geliebte Freundin, es iſt wie eine ſchauerliche Geiſtergeſchichte, wie wir uns verloren und wieder gefunden haben.

Die jungen Leute fanden die Alten in Thraͤ - nen aufgeloͤſt und in tiefſter Bewegung. Keines ſagte, was vorgefallen war, das Geheimniß ſchien ihnen zu heilig. Aber ſeitdem war der Greis der Freund des Hauſes, und der Tod nur ſchied die beiden Weſen, die ſich ſo ſonderbar wieder gefun -456Erſte Abtheilung.den hatten, um ſie kurze Zeit nachher wieder zu vereinigen.

Es war uͤber dem Vorleſen dieſer Maͤhr - chen viele Zeit verfloſſen, und man ſetzte ſich ſehr ſpaͤt zu Tiſche. Der Abend war wieder ſo warm, daß man die Fluͤgel des Saales eroͤffnen konnte, um die anmuthige Luft zu genießen. Man ſprach noch vielerlei uͤber die vorgetragenen Erzaͤhlun - gen, und es ſchien, daß die uͤbrigen Frauen der Meinung Claras beitraten, welchen die Geſchichte vom blonden Eckbert allen uͤbrigen vorzog. Emi - lie wollte im getreuen Eckart eine Disharmonie bemerken, Roſalie nahm die Magelone in Schutz und Wilibalds Erzaͤhlung, Auguſte lobte die El - fen; nur in Anſehung des Runenberges und Lie - beszaubers blieben alle bei ihrer vorgefaßten Mei - nung, und verwarfen ſie gaͤnzlich. Mein theurer Freund, ſagte Manfred, zu Lothar gewandt, troͤ - ſten wir uns daruͤber, daß die gegenwaͤrtige Zeit uns nicht verſteht, ich appellire an eine beſſere Nachwelt, die mich dankbar anerkennen wird.

Wo iſt die? fragte Lothar lachend.

Dorten ſchlaͤft ſie ſchon, ſagte Manfred, nach der Kinderſtube hinauf deutend, meine bei - den Jungen meine ich; ſo wie ſie nur ein weni - ges bei Kraͤften ſind, leſe ich ihnen meine Werke vor, und belohne ihren Beifall mit Zuckerwerk,457Erſte Abtheilung.und ich will ſehn, ob ſie mich nicht auf lange fuͤr den erſten aller Dichter halten ſollen.

Wir ſind aber unſerm Freunde Lothar eine Verguͤtigung ſchuldig, ſagte Clara, und da er heute als Autor ſo wenig Gluͤck gemacht hat, ſo verſuche er es einmal mit der Koͤnigswuͤrde, er uͤbernehme die naͤchſte Abtheilung und beſtimme ſie nach ſeiner Willkuͤhr.

Lothar verneigte ſich, und nahm aus dem Blumenkorbe eine Lilie, um ſie als Scepter zu gebrauchen. So befehle ich denn, ſprach er, daß wir dieſe Maͤhrchenwelt noch nicht verlaſſen, nur wollen wir den Dichtern die Muͤhe der Erfin - dung ſchenken; moͤgen ſie allgemein bekannte Geſchichten nehmen, wo moͤglich ganz kindiſche und alberne, und damit den Verſuch machen, dieſen durch ihre Darſtellung ein neues Intereſſe zu geben; jedes dieſer Maͤhrchen ſoll aber ein Drama ſeyn.

Wilibald huſtete und Auguſte ſagte: nur bitten wir Maͤdchen, daß es auch hie und da etwas luſtig darinn zugehn moͤge, und nicht all - zu poetiſch.

Mir erlaube man auch eine Bitte, fuͤgte Emilie hinzu, und zwar diejenige, daß wir mit der Zeit etwas oͤkonomiſcher umgehn und berech - nen moͤgen, was ſich vortragen und von den Zuhoͤrern erdulden laͤßt, denn heute haben wir uns offenbar uͤberſaͤttigt, und der Genuß iſt faſt zur Pein geworden; Sie muͤſſen bedenken, daß458Erſte Abtheilung.wir Frauen nicht ſo an das Verſchlingen der Buͤcher gewoͤhnt ſind, wie die Maͤnner.

Auch dieſes iſt gewaͤhrt, ſagte Lothar, ich werde mit meinen Raͤthen eine billige und zweck - maͤßige Einrichtung treffen, beſonders bei dieſen Dramen, von denen einige laͤnger ausfallen duͤrf - ten, als die meiſten der heutigen Erzaͤhlungen.

Gute Nacht, ſagte Manfred, ich bin ſo muͤde, und durch Beifall ſo wenig aufgemun - tert, daß ich am beſten thun werde, mich in die Dunkelheit meines Bettes zuruͤck zu ziehn.

Als er ſich entfernt hatte, ſprach man noch uͤber die ſeltſame Erſcheinung, daß im Schreck - lichen eine gewiſſe Lieblichkeit wohnen koͤnne, die dem Reiz des Grauenhaften eine Art von Ruͤh - rung und Wehmuth beigeſelle. Die letzte der heutigen Erzaͤhlungen, ſagte Emilie, hat zwar nichts Furchtbares, kommt man aber darin uͤber - ein, wie doch die meiſten Menſchen zu glauben ſcheinen, daß die Liebe die Bluͤte des Lebens ſey, ſo iſt ſie vielleicht die traurigſte und ruͤh - rendſte von allen, weil die erzaͤhlte Begebenheit faſt durchaus moͤglich iſt und ſich an das All - taͤgliche knuͤpft.

Anton bemerkte, daß die ſtille Lieblichkeit an ſich leicht ermuͤde und einſchlaͤfre, wie die meiſten neueren Idyllen, und daß man ihnen wohl einen Zuſatz wuͤnſchen muͤſſe, entweder von Schreck, oder Bosheit, oder irgend einem an - dern Ingrediens, um durch dieſe Wuͤrze den Ge -459Erſte Abtheilung.ſchmack des Lieblichen ſelber hervor zu heben, wie durch den Firniß die Farben mancher Ge - maͤhlde.

Darum, ſagte Lothar, hat man in Frank - reich mit Recht etwas Wolf in manche Schaͤ - fereien hinein gewuͤnſcht. Die reine Unſchuld, als ſolche, vertraͤgt keine Darſtellung, denn ſie liegt außer der Natur, oder falls ſie natuͤrlich iſt, iſt ſie hoͤchſt unpoetiſch; ich meine nemlich jene hohe, ſentimentale, die uns die Dichter ſo oft haben mahlen wollen. Ich ſah einmal eine franzoͤſiſche Operette, zwar nur von einem, aber deſto laͤngeren Akte, in welcher ein junger Menſch von Anfang bis zu Ende nichts weiter in der Welt wollte, als ſeinen Papa lieben, den er be - kraͤnzte, als er ſchlief, und Fruͤchte vorſetzte, als er erwachte, worauf beide ſich umarmten und geruͤhrt waren. Ich will nicht ſagen, daß der - gleichen nicht loͤblich ſeyn koͤnnte; aber was in aller Welt ging es denn die Zuſchauer an, die unten ſtanden, und hoͤchſt uͤberfluͤßige Zeugen dieſer Zaͤrtlichkeit waren?

Die Idyllen der Neueren, ſagte Ernſt, ſind fruͤh ſentimental geworden, oder allegoriſch, in der letzten Zeit bei Franzoſen und Deutſchen meiſt fade und ſuͤßlich. Zwei Gedichte eines Deutſchen aber ſind mir bekannt, die ich vielen der ſchoͤn - ſten Poeſien an die Seite ſetzen moͤchte, den Sa - tyr Mopfus nemlich und Bacchidon und Milon vom Mahler Muͤller; die friſche ſinnliche Na -460Erſte Abtheilung.tur, der lyriſche Schwung der Geſaͤnge, die ſchoͤn gewaͤhlten und kraͤftig ausgefuͤhrten Bil - der haben mich jedesmal bis zur Entzuͤckung hin - geriſſen. Trefflich, wenn gleich nicht von dieſer Vollendung, iſt ſeine Schaafſchur, reicher als dieſes Gemaͤhlde aus unſerer Zeit, ſein Nußker - nen. In dem Gedicht Adams erſtes Erwa - chen befindet er ſich freilich auch zuweilen in jener Leere, die ſich nicht poetiſch bevoͤlkern laͤßt, aber einzelne Stellen ſind von großer Schoͤn - heit, und in der Darſtellung der Thiere ſcheint er mir einzig; ich weiß wenigſtens keinen Dich - ter, der ſie uns mit dieſer geiſtigen Lebendigkeit vor die Augen fuͤhrte. Wie Schade, daß dieſes wahre Genie, welches ſich ſo glaͤnzend ankuͤn - digte, nicht nachher das Studium der Poeſie fortgeſetzt hat! Sein Geiſt ſcheint mir mit dem des Julio Romano innig verwandt; dieſelbe Fuͤlle und Lieblichkeit, das Scharfe und Bizarre der Gedanken, und dieſelbe Sucht zur Ueber - treibung.

Nach einigen Wendungen des Geſpraͤches kam man auf die Seltſamkeit der Traͤume, und wie wunderbar ſich, das Ahndungsvermoͤgen des Menſchen oftmals in ihnen offenbare, und nach - dem einige Beiſpiele erzaͤhlt waren ſagte Anton: mir iſt eine Geſchichte dieſer Art bekannt, die mir glaubwuͤrdige Freunde als eine unbezwei - felt wahre mitgetheilt haben, und die ich Ihnen noch vortragen will, da ſie uns nicht lange auf -461Erſte Abtheilung.halten wird. Ein Landedelmann ruhte neben ſei - ner Frau in einem Zimmer des Schloſſes. Mit - ternacht war ſchon voruͤber, als er ploͤtzlich aus dem Schlafe auffuhr, und ſeine Gattin weckte. Was iſt dir, mein Lieber? fragte dieſe verwun - dert. Mich hat ein ſeltſamer Traum auf eine eigne Art bewegt, antwortete der Mann. Mir war, als ginge ich auf den Saal hinaus, und wie ich mich umſah, ſtand dein Kammermaͤdchen vor mir, aber ſo geputzt und aufgeſchmuͤckt, wie ich ſie niemals geſehn habe, auch trug ſie einen gruͤnen Kranz in den Haaren; ſie warf ſich vor mir nieder, umfaßte meine Knie, und beſchwor mich, ich ſolle ihr beiſtehn, denn ihr Leben ſchwebe in der groͤßten Gefahr. Ich habe ſie ſo deutlich vor mir geſehn, und bin von ihren Thraͤnen und Bitten ſo geruͤhrt, daß ich nicht weiß, was ich davon denken ſoll. Wer wird, ſagte die Frau, uͤber einen zufaͤlligen Traum gruͤbeln! Schlafe wohl und ſtoͤre mich nicht wieder. Beide ſchliefen ein. Nach einer halben Stunde erwachte der Mann in noch groͤßerer Beaͤngſtigung; er rief ſeiner Gattin und ſagte ihr, daß der nemliche Traum mit denſelben Um - ſtaͤnden ihm wieder vorgekommen ſey, und das Maͤdchen habe noch dringender gefleht, noch ſchmerzlicher geweint. Die Frau ſchalt dieſes Wichtignehmen eines leeren Traumes, Grille, fand die Widerholung der nemlichen Scene ſehr na - tuͤrlich und begreiflich; nach einem kurzen Ge -462Erſte Abtheilung.ſpraͤche war auch der Mann derſelben Meinung, und beide hatten ſich wieder dem Schlafe uͤber - laſſen. Sie erſtaunte, als ſie nach einiger Zeit von dem Geraͤuſch erwachte, welches der Mann erregte, den ſie angekleidet, und mit einem Lichte, welches er angezuͤndet hatte, vor dem Bette ſte - hen ſah. Was iſt dir nur heut? fragte ſie halb unwillig. Sey es wie es ſey, antwortete ihr Gatte, ich will dieſesmal einem Traume glau - ben, wenn auch ſonſt nie wieder, denn das Maͤd - chen iſt mir jetzt zum dritten male eben ſo er - ſchienen, hat ihre Bitte wiederholt und mit aͤngſtlichem Schreien hinzu gefuͤgt: nun iſt es die hoͤchſte Zeit, in einigen Minuten iſt es zu ſpaͤt! Ich will jetzt hinauf gehn, und ſehn was ſie macht. Ohne eine Antwort zu erwarten ver - ließ er das Schlafzimmer. Wie erſtaunte er, in - dem er ſich die Treppe hinauf begeben wollte, daß die breiten Stiegen herunter das Maͤdchen ihm gerade ſo entgegen ſchritt, wie er ſie im Traume geſehen hatte, im ſeidenen Kleide, wel - ches ihr nur vor wenigen Tagen die gnaͤdige Frau geſchenkt hatte: mit Myrthen und Blumen in den Haaren, eine kleine Laterne in der Hand; das Licht, welches er trug, warf einen vollen Schein uͤber die erſchrockene Geſtalt, die auf die Anrede, wohin ſie gehe, und was ſie vorhabe, anfangs in ihrer Verwirrung nichts zu antwor - ten wußte. Endlich ſammelte ſie ſich etwas und fiel ihrem Gebieter zu Fuß, deſſen Knie ſie mit463Erſte Abtheilung.Thraͤnen umfaßte. O Vergebung, mein gnaͤdiger Herr! rief ſie aus, vergeben Sie, und machen Sie, daß die gnaͤdige Frau mir verzeiht: in die - ſer Stunde wollte ich draußen im Garten hinter der Lindenallee den Gaͤrtner treffen, der mir ſchon ſeit lange die Ehe verſprochen hat, und mit dem ich verlobt bin; heute Nacht wollten wir uns heimlich in der Capelle hier neben an trauen laſſen, denn ich Ungluͤckliche bin ſeit fuͤnf Monden von ihm guter Hofnung. Gehe ruhig in dein Zimmer zuruͤck, ſagte der Herr; ich will den Gaͤrtner ſelber aufſuchen, ich habe gegen eure Verbindung nichts, nur dieſe Heimlichkeit iſt mir anſtoͤßig. Er hat es durchaus ſo gewollt, antwortete ſie, weil er der Ueberzeugung war, daß Sie uns beide nicht in Ihren Dienſten be - halten wuͤrden, wenn Sie die Sache erfuͤhren. Gieb dich fuͤr heut zufrieden, ſagte der Herr; morgen wollen wir vernuͤnftig daruͤber ſprechen. O Gott, ſchluchzte ſie, ſo habe ich doch heute mein Brautkleid umſonſt angelegt! Mit dieſen Worten ging ſie die Treppe wieder hinauf. Der Baron ließ im Saale die Kerze ſtehn, und begab ſich in den Garten. Die Nacht war finſter und ohne Sterne, ein feuchter Herbſtwind ſchlug ihm entgegen, die Baͤume ſauſten winterlich. Er ſchritt durch die bekannten Gaͤnge, und hinter den Linden, an der einſamſten und entfernteſten Stelle des Gartens ſah er aus dem Boden ein Lichtlein ſchimmern. Als er naͤher ging, ſah er,464Erſte Abtheilung.daß ſein Gaͤrtner in einer ausgehoͤlten Grube ſtand, und beim Schein einer kleinen Blendla - terne eifrig die Hoͤle wie zu einem Grabe erwei - terte. Ein Beil lag neben ihm. Ein Schauder ergriff den Herrn. Was macht ihr da? rief er ihn ploͤtzlich an. Der Gaͤrtner erſchrack und ließ den Spaten fallen, indem er die Geſtalt ſeines Gebieters gerade uͤber ſich erblickte. Ich will hier Fruͤchte fuͤr den Winter einlegen, ſtotterte er verwirrt. Kommt mit mir in mein Zimmer, ſagte der Baron, ich habe mit euch zu ſprechen. Sogleich, gnaͤdiger Herr, erwiederte der Gaͤrt - ner. Er hob die Laterne auf, und ſtieg aus der Grube; aber ſtatt ſich nach dem Schloſſe zu wen - den, blies er ploͤtzlich das Licht aus, ſprang uͤber die Gartenhecke, und lief in den nahen Wald hinein. Seitdem hatte ihn Niemand in der dortigen Gegend wieder geſehn.

O weh! rief Clara, die ſchrecklichen Ge - ſchichten fangen von neuem an, und nun iſt es gar Nacht und finſter! Sie faßte ein Licht, und dasſelbe thaten die uͤbrigen Frauen, um ſich auf ihre Zimmer zu begeben, als ein ungeheurer Schlag ploͤtzlich gegen die Thuͤre erklang. Alle ſahen ſich ſchweigend an, und herein trat mit zentnerſchwerem Schritt die Geſtalt des ſteiner - nen Gaſtes. Er begab ſich bis in die Mitte des Saales, indem noch keiner ein Wort aus - zuſprechen wagte.

Ich bin es ja, ihr Narren, rief ploͤtzlichMan -465Erſte Abtheilung.Manfreds bekannte Stimme, indem er mit ſeinem natuͤrlichen Gange naͤher kam. O er iſt unertraͤg - lich, ſagte Roſalie; glaubſt du denn, daß ich nicht eben ſo ſtark ſchaudre, wenn ich gleich erkenne, daß das Geſpenſt nur eine weiße Maske iſt, ge - rade deshalb, weil du, der Bekannte der Be - freundete, mir ſo grauenvoll erſcheinſt? Dieſe Vermiſchung deſſen, was uns lieb und entſetzlich iſt, iſt gerade das Widerwaͤrtigſte. So will er auch immer nicht begreifen, daß ich mich vor ihm fuͤrchte, wenn er, wandelt ihn einmal die Laune an, den Betrunkenen ſo natuͤrlich ſpielt, und daß ich eben ſo gern einen wirklich Berauſch - ten oder Wahnſinnigen vor mir ſehen moͤchte. Geh, du Ungezogener, und wiſche dir den Pu - der aus dem Geſichte.

Nicht eher, ſagte Manfred, bis du, und Auguſte, und Clara, mir jede einen Kuß gege - ben haben. Er ging auf ſie zu, die drei Frauen aber flohen mit den Lichtern, die ſie in den Haͤnden hielten, durch den offenen Saal in den Garten, und die weiße behelmte Geſtalt rannte ihnen nach. Man hoͤrte ſie kreiſchen, und ſah die drei Lichter und ſchlanken Geſtalten durch den Buchengang ſchweben, dann um die Laube biegen, und dem Springbrunnen voruͤber ſich in den großen Baumgang verlieren. Ploͤtzlich ver - nahm man ein lautes Aufrauſchen im groͤßten Brunnen, wie wenn eine große Wucht hinein ſtuͤrzte, und das Waſſer klatſchend daruͤber zu -I. [30]466Erſte Abtheilung.ſammen ſchluͤge. Die Geaͤngſtigten ſtuͤrzten mit ihren Lichtern herzu, und Manfred, welcher hin - ein geſprungen war, gab der zunaͤchſt ſtehenden Clara einen fluͤchtigen Kuß, dann ſeiner Gattin, und auch Auguſte durfte ſich nicht weigern, weil er ſchwur, widrigenfalls die ganze Nacht im Baſſin zu verharren. Nun habe ich meinen Willen gehabt, ſagte Manfred ruhig, und nun wird es wohl an der Zeit ſeyn, mich umzuklei - den oder vielmehr zu entkleiden, und mich im Bette zu erwaͤrmen.

Man ſchalt und lachte, und Emilie war be - ſonders unzufrieden. Die Frauen und Manfred gingen hinauf. Die uͤbrigen Freunde blieben noch im Garten, wo ſie nach einiger Zeit von dem obern Zimmer Geſang ertoͤnen hoͤrten, der lieb - lich durch den Garten ſcholl. Es war ein Sin - geſtuͤck von Paleſtrina, welches die drei Frauen ohne Begleitung eines Inſtruments ausfuͤhrten.

Friedrich ſagte: alle Empfindungen, ſchoͤne wie unangenehme, verſchuͤtten ſie jetzt in dieſe Wogen des Wohllauts. So wird der Tag am ſchoͤnſten beſchloſſen, und die Nacht am wuͤrdig - ſten gefeyert.

Ich halte es fuͤr ein Gluͤck meines Lebens, ſagte Ernſt, daß ich zeitig genug nach Rom kam, um noch oftmals den Geſang der paͤpſtlichen Capelle hoͤren zu koͤnnen. Die Muſik, die man Weihnachten in Maria Maggiore und in der Charwoche im Vatikan hoͤrte, vielmals auch im467Erſte Abtheilung.paͤpſtlichen Pallaſt auf Monte Cavallo, war eben ſo einzig, als es das juͤngſte Gericht von Mi - chael Angelo, oder die Stanzen Rafaels ſind; man konnte dieſen Genuß auch nur in dem ein - zigen Rom haben, und wie dieſe Hauptſtadt der Welt, der Mittelpunkt der Mahlerei und Skulp - tur war, ſo war ſie auch die wahre hohe Schule der Muſik. Dieſe Herrlichkeit iſt nun auch zer - truͤmmert, und man kann davon nur wie von einer alten wunderbaren Sage erzaͤhlen. Schon fruͤher war es fuͤr mich eine Epoche meines Le - bens geweſen, dieſen alten wahren Geſang ken - nen zu lernen: ich hatte immer nach Muſik, nach der hoͤchſten, geduͤrſtet, und geglaubt, keinen Sinn fuͤr dieſe Kunſt zu beſitzen, als mit der Kennt - niß des Paleſtrina, Leo, Allegri, und jener Al - ten, die man jetzt von den Liebhabern ſelten oder nie nennen hoͤrt, mein Gehoͤr und mein Geiſt erwachte. Seitdem weiß ich wohl, was ich vor - her ſuchte, und warum ehemals mich nichts be - friedigen wollte. Seitdem glaube ich eingeſehen zu haben, daß nur dieſes die wahre Muſik ſey, und daß der Strom, den man in den weltlichen Luxus unſerer Oper hinein geleitet hat, um ihn mit Zorn, Rache und allen Leidenſchaften zu ver - ſetzen, truͤbe und unlauter geworden iſt: denn unter den Kuͤnſten iſt die Muſik die religioͤſeſte, ſie iſt ganz Andacht, Sehnſucht, Demuth, Liebe; ſie kann nicht pathetiſch ſeyn, und auf ihre Staͤrke und Kraft pochen, oder ſich in Verzweif -468Erſte Abtheilung.lung austoben wollen, hier verliert ſie ihren Geiſt, und wird nur eine ſchwache Nachahmerin der Rede und Poeſie.

Du ſcheinſt mir jetzt zu einſeitig, ſagte Lo - thar; erinnere ich mich doch der Zeit recht gut, wo du den Mozart hoch verehrteſt.

Ich muͤßte ohne Gefuͤhl ſeyn, antwortete Ernſt, wenn ich den wunderſamen, reichen und tiefen Geiſt dieſes Kuͤnſtlers nicht ehren und lie - ben ſollte, wenn ich mich nicht von ſeinen Wer - ken hingeriſſen fuͤhlte. Nur muß man mich kein Requiem von ihm wollen hoͤren laſſen, oder mich zu uͤberzeugen ſuchen, daß er, ſo wie die meiſten Neueren, wirklich eine geiſtliche Muſik habe ſetzen koͤnnen. Aber er iſt einzig in ſeiner Kunſt. Als die Muſik ihre himmliſche Unſchuld verlo - ren, und ſich ſchon laͤngſt zu den kleinlichen Lei - denſchaften der Menſchen erniedrigt hatte, fand er ſie in ihrer Entartung, und lehrte ihr aus bewegtem Herzen das Wunderſamſte, Fremdeſte, ihr Unnatuͤrlichſte austoͤnen; zugleich jene tiefe Leidenſchaft der Seele, jenes Ringen aller Kraͤfte in unausſprechlicher Sehnſucht, nicht fremd ſo - gar blieb ihr das geſpenſtiſche Grauen und Ent - ſetzen. Ich ſehe hierinn die Geſchichte des Or - pheus und der Eurydice. Sie iſt geſtorben; bei den Schatten, in der dunkeln Unterwelt weilt die Geliebte; er fuͤhlt Kraft und Muth genug, das Licht der Sonne zu verlaſſen, ſich der ſchwar - zen Flut und Daͤmmerung anzuvertrauen; ſein469Erſte Abtheilung.Zauberſpiel ruͤhrt den ernſten, ſonſt unerbittlichen Gott, die Larven und Verdammten genießen in ſeinen Toͤnen einer ſchnell voruͤber fliehenden Seeligkeit; Eurydice folgt ſeinem Saitenſpiel, aber nicht ruͤckwaͤrts ſoll er blicken, ihr nicht ins Angeſicht ſchauen, ſie nur im Glauben be - ſitzen; ſie lockt, ſie ruft, ſie weint, da wendet ſich ſein Auge, und blaſſer und blaſſer zittert die geliebte Geſtalt in den gaͤhnenden Orkus zuruͤck. Der Saͤnger tritt mit der Kraft ſeiner Toͤne wie - der in die Oberwelt, ſein Lied ſingt und klagt die Verlorene, alle Melodien ſuchen ſie, aber er hat aus dem tiefen Abgrund, den kein Saͤn - ger vor ihm beſucht, das ſchwermuͤthige Rollen der unterirdiſchen Waͤſſer, das Aechzen der Ge - marterten, das Stoͤhnen der Geaͤngſtigten und das Hohnlachen der Furien, ſamt allen Graͤueln der dunkeln Reiche mit herauf gebracht, und alles klingt in vielfach verſchlungener Kunſt in der Lieblichkeit ſeiner Lieder. Himmel und Hoͤlle, die durch unermeßliche Kluͤfte getrennt waren, ſind zauberhaft und zum Erſchrecken in der Kunſt vereinigt, die urſpruͤnglich reines Licht, ſtille Liebe und lobpreiſende Andacht war. So erſcheint mir Mozarts Muſik.

Es war den neuſten Zeiten vorbehalten, fuhr Lothar fort, den wundervollen Reichthum des menſchlichen Sinnes in dieſer Kunſt, vor - zuͤglich in der Inſtrumental-Muſik auszuſpre - chen. In dieſen vielſtimmigen Compoſitionen470Erſte Abtheilung.und in den Symphonien vernehmen wir aus dem tiefſten Grunde heraus das unerſaͤttliche, aus ſich verirrende und in ſich zuruͤck kehrende Sehnen, jenes unausſprechliche Verlangen, das nirgend Erfuͤllung findet und in verzehrender Leidenſchaft ſich in den Strom des Wahnſinns wirft, nun mit allen Toͤnen kaͤmpft, bald uͤber - waͤltigt bald ſiegend aus den Wogen ruft, und Rettung ſuchend tiefer und tiefer verſinkt. Und wie es dem Menſchen allenthalben geſchieht, wenn er alle Schranken uͤberfliegen und das Letzte und Hoͤchſte erringen will, daß die Leiden - ſchaft in ſich ſelbſt zerbricht und zerſplittert, das Gegentheil ihrer urſpruͤnglichen Groͤße, ſo ge - ſchieht es auch wohl in dieſer Kunſt großen Talenten. Wenn wir Mozart wahnſinnig nen - nen duͤrfen, ſo iſt der genialiſche Beethoven oft nicht vom Raſenden zu unterſcheiden, der ſelten einen muſikaliſchen Gedanken verfolgt und ſich in ihm beruhigt, ſondern durch die gewaltthaͤ - tigſten Uebergaͤnge ſpringt und der Phantaſie gleichſam ſelbſt im raſtloſen Kampfe zu entflie - hen ſucht.

Alle dieſe neuen tiefſinnigen Beſtrebungen, ſagte Anton, ſind meinem Gemuͤthe nicht fremd, ſie toͤnen wie das Rauſchen des Lebensſtromes zwiſchen Felſenufern, der uͤber Klippen und hemmendem Geſtein in romantiſcher Wildniß muſikaliſch brauſt; nur das iſt mir unbegreiflich geblieben, wie die Schoͤpfung und die Tages -471Erſte Abtheilung.zeiten unſers Haydn faſt allenthalben haben Gluͤck machen koͤnnen, deren kindiſche Mahle - rey gegen allen hoͤheren Sinn ſtreitet. Seine Symphonien und Inſtrumental-Compoſitionen ſind meiſt ſo vortreflich, daß man ihm dieſe Verirrung niemals haͤtte zutrauen ſollen.

Friedrich wandte ſich zu Ernſt und ſagte: Lieber, ehe wir jetzt ſcheiden, ſage uns noch die drei Sonette vor, welche du dichteteſt, als dir jene alte große Singe-Muſik zuerſt bekannt wurde. Dieſe Verſe ſind mir immer vorzuͤglich lieb geweſen, weil ſie mir nicht ſo wohl gedich - tet als eingegeben ſcheinen.

Ich kann wenigſtens ſagen, erwiederte Ernſt, daß ich ſie damals niederſchreiben mußte, und daß ich von den oft beſprochenen Schwierigkei - ten des Sonetts nichts erlitt. Von dreierlei Art kann die geiſtliche Muſik hauptſaͤchlich ſeyn. Entweder iſt es der Ton ſelbſt, der durch ſeine Reinheit und Heiligkeit die Andacht erweckt, durch jene einfache edle Sympathie, welche har - moniſch die befreundeten Klaͤnge verbindet und miteinander ausſtralen laͤßt, wodurch jene hohe Muſik entſteht, welche ſinnige Alte dem Um - ſchwung der Geſtirne ebenfalls zuſchreiben woll - ten. Dieſer Geſang, ausgehalten, ohne raſche Bewegung, ſich ſelbſt genuͤgend, ruft in unſre Seele das Bild der Ewigkeit, ſo wie der Schoͤp - fung und der entſtehenden Zeit: Paleſtrina iſt der wuͤrdigſte Repraͤſentant dieſer Periode. Oder472Erſte Abtheilung.die Muſik iſt mit dem Menſchen und der Schoͤp - fung ſchon von dieſer heiligen reinen Bahn gewichen: alles verſtummt; da ergreift die Sehn - ſucht aus dem Innerſten hervor den Ton, und will in jene alte Unſchuld zuruͤck ſtuͤrmen und das Paradies wieder erobern. Leo, und viel - leicht Marcello, ſo wie viele andre, charakteriſi - ren dieſe Epoche. An dieſe ſchon mehr leiden - ſchaftliche Kunſt ſchloſſen ſich nachher die welt - lichen Muſiker. Drittens kann die geiſtliche Muſik ganz wie ein unſchuldiges Kind ſpielen und taͤndeln, arglos in der Suͤßigkeit der Toͤne wuͤhlen und plaͤtſchern, und auf gelinde Weiſe Schmerz und Freude vermiſcht in den lieblich - ſten Melodien ausgießen. Der oft von den Gelehrteren verkannte Pergoleſe ſcheint mir hierin das Hoͤchſte erreicht zu haben, den ſeine Nach - ahmer wohl eben ſo wenig verſtanden, als Cor - reggio von denen gefaßt wurde, die ſich nach ihm bilden wollten. Das aͤhnliche ſagen fol - gende Sonette, welche die Muſik ſelber ſpricht.

Im Anfang war das Wort. Die ewgen Tiefen
Entzuͤndeten ſich bruͤnſtig im Verlangen,
Die Liebe nahm das Wort in Luſt gefangen,
Aufſchlugen hell die Augen, welche ſchliefen,
Sehnſuͤchtge Angſt, das Freudezittern, riefen
Die ſeelgen Thraͤnen auf die heilgen Wangen,
Daß alle Kraͤfte wolluſtreich erklangen,
Begierig, in ſich ſelbſt ſich zu vertiefen.
473Erſte Abtheilung.
Da brachen ſich die Leiden an den Freuden,
Die Wonne ſuchte ſich im ſtillen Innern,
Das Wort empfand die Engel, welche ſchufen;
Sie gingen aus, entzuͤckend war ihr Scheiden.
Auf, Gottes Bildniß, deß dich zu erinnern
Vernimm, wie meine heilgen Toͤne rufen.
Nacht, Furcht, Tod, Stummheit, Quaal war ein -
gebrochen,
Ihr Banner wehte auf beſiegten Reichen,
Erſchrocken flohen vor dem giftgen Zeichen
Mit ſtummer Zunge, welche erſt geſprochen.
So iſt denn ganz das Liebeswort zerbrochen?
Es ſucht im Waſſerfall, will ſich erreichen,
Aus Baͤumen ſtrebt es, Quellen, gruͤnen Straͤuchen,
In Wogen klagt es: was hab ich verbrochen?
Die Waſſer gehn und finden keine Zungen,
Dem Wald, dem Fels iſt wohl der Laut gebunden,
Die Angſt entzuͤndet ſich im Thiere ſchreiend.
In Menſchenſtimme iſt es ihm gelungen,
Nun hat das ewge Wort ſich wieder funden,
Klagt, betet, weint, jauchzt laut ſich ſelbſt befreiend.
Ich bin ein Engel, Menſchenkind, das wiſſe,
Mein Fluͤgelpaar klingt in dem Morgenlichte,
Den gruͤnen Wald erfreut mein Angeſichte,
Das Nachtigallen-Chor giebt ſeine Gruͤße.
474Erſte Abtheilung.
Wem ich der Sterblichen die Lippen kuͤſſe,
Dem toͤnt die Welt ein goͤttliches Gedichte,
Wald, Waſſer, Feld und Luft ſpricht ihm Geſchichte,
Im Herzen rinnen Paradieſes-Fluͤſſe.
Die ewge Liebe, welche nie vergangen,
Erſcheint ihm im Triumph auf allen Wogen,
Er nimmt den Toͤnen ihre dunkle Huͤlle,
Da regt ſich, ſchlaͤgt im Jubel auf die Stille,
Zur ſpielnden Glorie wird der Himmelsbogen,
Der Trunkne hoͤrt, was alle Engel ſangen.
[475]

Zweite Abtheilung. Lothar.

[476][477]

Es war am folgenden Tage ſchon ſpaͤt gewor - den, und Emilie zweifelte, ob es noch Zeit ſeyn wuͤrde, eine Vorleſung anzufangen. O meine verehrte Freundinn, rief Lothar aus, ſoll denn die Geſellſchaft, die uns heut aufgehalten und uns alle unruhig gemacht hat, auch auf meine Regierung und unſre Unterhaltung ſo ſchlimmen Einfluß aͤußern! Es wird gerade am beſten ſeyn, durch ein Gedicht, welches von keinem großen Umfange iſt, die Ruhe wieder zu finden, die jene flatternden Fraͤulein uns entfuͤhrt haben, welche unermuͤdet aus einem Zimmer in das andre, und vom Garten in den Saal und wie - der aus dem Saal in den Garten zuruͤck wogten, um irgendwo Spaß und Zeitvertreib anzutreffen, welche ſich nirgend wollten erhaſchen laſſen.

Anton zog ein Buͤchelchen aus der Taſche, indem er ſagte: ich muß wieder der erſte ſeyn, der voran geſchickt wird, um meinen Freunden die Bahn zu brechen, damit ſie nachher ihre Verirrungen mit meinem Beiſpiel entſchuldigen koͤnnen. Unſer Zeitalter iſt durchaus dramatiſch, und um den allerfruͤheſten Forderungen des Her - zens zu genuͤgen, habe ich den Verſuch gemacht, ein Maͤhrchen von der hoͤchſten Albernheit, mit welchem die Waͤrterinnen faſt zuerſt die Kinder zu fuͤrchten machen, in einer Tragoͤdie darzuſtellen.

478Zweite Abtheilung.

Leben und Tod des kleinen Rothkaͤppchens.

Eine Tragoͤdie.

Perſonen:

  • Die Großmutter.
  • Rothkaͤppchen.
  • Hanna,

    ein Bauermaͤdchen.

  • Der Jaͤger.
  • Zwei Rothkehlchen.
  • Der Wolf.
  • Der Hund.
  • Ein Bauer.
  • Peter.
  • Deſſen Braut.
  • Die Nachtigall.
  • Der Kuckuck.
479Rothkaͤppchen.

Erſte Scene.

(Stube.)
Die Großmutter
ſitzt und lieſt.

Iſt heute gar ein ſchoͤner Tag, An dem man gern Gott dienen mag, Das Wetter iſt hell, ſcheint die Sonne herein, Da muß das Herz andaͤchtig ſeyn. Ich hoͤre von ferne das Gelaͤute, Es iſt ein lieblicher Sonntag heute, Vor dem Fenſter die Baͤume ſich rauſchend neigen, Als wollten ſie ſich gottsfuͤrchtig bezeigen. Ich wohn allhier vom Dorf abſeitig, Sonſt ging ich gern zur Kirche zeitig, Doch ich bin alt, dazu krank geweſen, Da thu ich im lieben Geſangbuch leſen, Der Herr muß damit zufrieden ſich geben, Eine arme Frau kann nicht mehr thun eben.

(gaͤhnt und macht das Buch zu.)

Ach Gott! ſo geht es in der Welt! Ja, ja, es iſt recht ſchlimm beſtellt. Meine Tochter Elsbeth backt heute Kuchen, Da wird mich wohl klein Rothkaͤppchen beſuchen. Es geht die Thuͤr oder es iſt der Wind, Ich glaube da kommt das kleine Kind.

480Zweite Abtheilung.
Rothkaͤppchen
tritt herein.
Rothkaͤppchen.

Guten Morgen, lieb Großmutter, wie geht es dir?

Großmutter.

Großen Dank, mein Kind, es geht ſo ſo was matt.

Rothkaͤppchen.

Ich kam ſo ſachtchen durch die Thuͤr; Ich dachte: wenn ſie nicht gut geſchlafen hat, So mag ſie wohl jetzt ein bischen nicken, Da mußt du ſie nicht aus dem Schlummer wecken.

Großmutter.

Ich bin ſchon heut fruͤh munter geweſen Und habe in Gottes Wort geleſen.

Rothkaͤppchen.

Du biſt recht fromm. Die Mutter hat heut Einen ſchoͤnen großen Kuchen gebacken, Da ſchickt ſie dir auch ein Stuͤck.

Großmutter.

Du liebe Zeit!

Ei, Dank, mein Kind! Der ſchaut recht wacker. Wo ſind denn die lieben Eltern dein?

Rothkaͤppchen.

Sie werden jetzt in der Kirche ſeyn, Ich ging vorbei, die Orgel klung Recht luſtig, der Kanter maͤchtig ſung. Mit der Kirch iſt es heut beſonders bewendt, Es predigt drinn der Superdent, Der Paſtor iſt noch krank, deswegen Iſts heute drinn recht dick voll Leut;Sie481Rothkaͤppchen.Sie meinen, der koͤnnte recht den Text auslegen. Du haſt ja ſchoͤnen friſchen Sand geſtreut.

Großmutter.

Man muß doch auch wiſſen, daß Sonntag iſt, Sonſt lebt man wie'n Heide und nicht wie ein Chriſt.

Rothkaͤppchen.

Sie haben mich auch heute weiß angezogen, Sieh nur die bunten Blumen, das neue Kleid! Dem Kaͤppchen bin ich beſonders gewogen, Das du mir ſchenkteſt zur Weihnachtszeit. Sie ſagen alle, es thaͤte Noth, Daß ich das Kaͤppchen ließe liegen Und es nicht alle Tage truͤge; Aber es geht doch keine Farbe uͤber Roth.

Großmutter.

Ei, liebes Kind, trag du ſie dreiſt, Ich hab ſie dir geſchenkt zum heiligen Chriſt, Sie kleidt dich huͤbſch, und wie du weißt, Du ſeitdem Rothkaͤppchen geheißen biſt; Iſt die aufgetragen, ſchafft man wohl Rath zu 'ner neuen.

Rothkaͤppchen.

Wie wollt ich mich von Herzen freuen Wenn ſie mich erſt koͤnnten konfirmiren! Dazu mußt du mir wieder 'ne rothe Kappe ſchenken.

Großmutter.

Daran iſt jetzt noch nicht zu denken, Du biſt kaum ſieben Jahr, da fuͤhren Sie noch kein Kind an den Tiſch des Herrn, Da koͤnnen ſie noch nichts von Religion verſtehn,I. [31]482Zweite Abtheilung.Du duͤrfteſt auch nicht in 'ner rothen Muͤtze gehn, Muͤßteſt ſchwarz und ehrbar dich tragen, Einen Muff,' nen hohen Kragen; Das kann Gott der Herr nicht vertragen, Daß man zu ihm wie zum Tanzboden ſpringt, Sein Wort mit rothen Muͤtzen in der Kirche ſingt.

Rothkaͤppchen.

Bin doch ſchon ſo in die Kirche gegangen, Und hat mir keiner was drum gethan.

Großmutter.

Als Kind iſt dirs ſo hingegangen, Die Unmuͤnd'gen ſieht er ſo genau nicht an.

Rothkaͤppchen.

Was hat aber Gott an ſo ſchoͤnen rothen Muͤtzen Denn ſo gar Großes auszuſetzen?

Großmutter.

Ei ſchweig, du boͤſes Kind! Vor der Hand Haſt du davon noch keinen Verſtand; Wer da will in ſein Himmelreich eingehen, Muß ſich wohl zu ſchwereren Dingen verſtehen. Ließe mich Gott nur ſo lange leben, Daß ich dir zum Abendmahl koͤnnt 'ein Muͤffchen ſchenken!

Doch iſt daran nicht zu gedenken, Ich muß wohl bald den Geiſt aufgeben.

Rothkaͤppchen.

Großmutter, nein, das thut nicht Noth.

Großmutter.

Hin geht die Zeit, her kommt der Tod. Ich befehle mich in deine Haͤnde! Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.

483Rothkaͤppchen.
Rothkaͤppchen.

Großmutterchen, willſt du mich lieben Mußt du mich auch nicht ſo betruͤben. Du ſollſt noch recht huͤbſch bei mir bleiben, Wir wollen uns noch ſchoͤn die Zeit vertreiben; Ein andermal bring ich mein Puͤppchen mit, Da ſollſt du gewiß brav luſtig werden.

Großmutter.

Ach, liebes Kind, auf dieſer Erden Iſt man vom Grab oft nur zwei Schritt, Und meint, man ſoll noch weit gelangen. Sieh, wie ſchoͤn der Kuchen aufgegangen. Was macht denn der Vater? Warum koͤmmt er nicht mal her?

Rothkaͤppchen.

Er hats in den Beinen, das Gehn wird ihm ſchwer, Das eine Knie iſt ganz geſchwollen.

Großmutter.

Da haͤtt 'er was zu brauchen ſollen.

Rothkaͤppchen.

Er hat auch mancherlei eingenommen, Doch will es ihm nicht recht bekommen. Der Kantor meint, vom Trinken kaͤm es, Das muͤßt er laſſen bei Medicin; Doch will er ſich dazu nicht bequemen, Er ſagt, der Kantor vexire ihn, Der traͤnke wohl dreimal mehr als er, Und haͤtte doch keine Beine ſchwer.

Großmutter.

Die boͤſen Leut '! Der Brantewein Muß immer ihre erſte Freude ſeyn.

484Zweite Abtheilung.
Rothkaͤppchen.

Ja, es hat manchen Zank geſetzt; Aber die Mutter hat Recht, denn ſie verſetzt, Das Trinken waͤr ihm an Arbeit hinderlich. Der Vater iſt ganz boͤs und wunderlich.

Großmutter.

Sei ſtill, mein Tochter, es ſchickt ſich weder Daß Kinder dergleichen merken noch reden.

Rothkaͤppchen.

Das hat ihm Mutter auch zu Gemuͤth gefuͤhrt, Daß er ſich nicht ein bischen vor mir genirt, Wenn er des Abends betrunken heime ſchwaͤrmt Und ohne Urſach zankt und laͤrmt. Ich habe dir ſchoͤnen Blumen mitgebracht, Bald haͤtt ich daran nicht gedacht, Es lacht von rother Bluͤthe der ganze Wald, Von tauſend Voͤgeln das gruͤne Dickicht ſchallt.

Großmutter.

Ei ſieh, wie du in deiner Taſche faſt Die lieben Bluͤmchen ganz zerknittert haſt! Du biſt und bleibſt ein wildes Ding.

Rothkaͤppchen.

Als ich ſo auf dem Fußſteig ging, Wars, als haͤtt ich ſie pfluͤcken muͤſſen, So lachten ſie zu meinen Fuͤßen; Ich dachte, du koͤnnteſt ſie vors Fenſter ſtellen. Horch! was muͤſſen denn wohl die Hunde ſo bellen?

Großmutter.

Man ſpricht, daß ſich ſeit ein'gen Tagen Ein Wolf hier zeigt, den moͤgen ſie wohl jagen.

485Rothkaͤppchen.
Rothkaͤppchen.

Hier iſt es recht luſtig vor deinem Haus, So dicht am Fenſter der Wald da draus, Voͤgel ſpringen und ſingen ohne Raſt Und zwitſchern munter von Aſt zu Aſt; Magſt du wohl die kleinen Voͤglein leiden?

Großmutter.

Ich ſehe ſie an mit vielen Freuden, Sie ſind ſchon immer recht fruͤhe munter Und ſingen den gruͤnen Wald hinunter, Sie muſiziren mit ſolcher Pracht, Daß einem das Herz im Leibe lacht.

Rothkaͤppchen.

Was iſt das fuͤr ein Baum da, deſſen Blaͤtter So haſtig flispern, als wenn ſie zittern?

Großmutter.

Der wird der Espenbaum genannt.

Rothkaͤppchen.

Aha! Mir iſt ein Sprichwort bekannt: Er zittert wie 'ne Espe; das kommt daher! Wovon zittert aber wohl der Baum ſo ſehr?

Großmutter.

Das will ich dir gern ſagen, mein Kind, Nur ſchlag es nicht gleich wieder in den Wind Als unſer Herr Chriſtus in Menſchengeſtalt Hatt 'auf der Erde ſeinen Aufenthalt, Da wandelt' er oft durch Berg und Wald.

Rothkaͤppchen.

Er hat auch in der Wuͤſten gereiſt Und da fuͤnf tauſend Mann geſpeiſt;486Zweite Abtheilung.Dann hat er viele Quaal erfahren, Iſt endlich gar gen Himmel gefahren.

Großmutter.

Recht! es iſt viel in deinen Jahren Daß du ſchon ſo viel Gottes Wort weißt.

Rothkaͤppchen.

Im Katechismus ſteht es Wort fuͤr Wort.

Großmutter.

Herr Chriſtus reiſte von Ort zu Ort, Seine Lehr zu predigen, Kranke zu heilen, Und uns ſein Evangelium zu ertheilen. So ging er auch einſt durch einen Wald, Die Baͤum 'erkannten ihn alsbald, In ihrer Unvernunft fingen ſie an ſich zu neigen Und bis auf die Erde herunter zu beugen, Rauſchten dazu, als wenn ſie gruͤßten Und ſeine heiligen Fußſtapfen kuͤßten, Die Eiche, die Buche, und wie man ſie nennt, Machen vor Gottes Sohn ihr ſchoͤn Compliment. Wie ſich nun jeder Baum in Demuth wendt, Sieht der Herr Jeſus, daß das Espenholz Grad aufrecht ſteht in ſeinem dummen Stolz, Ihm auch durchaus will keine Ehr erzeigen, Den ſteifen Ruͤcken nicht zur Demuth neigen. Da ſprach der Herr: du willſt mich nicht begruͤßen, Du ſtellſt dich an, als waͤr ich nicht zugegen, Dafuͤr ſollſt du beſtaͤndig rauſchen muͤſſen Und dich in allen deinen Zweigen regen, Und ſelbſt im allerſtillſten Wetter Mit deinen gruͤnen Laͤubern zittern! 487Rothkaͤppchen.Die Angſt befiel den Baum, als er ſo ſprach, Er zittert fort bis an den juͤngſten Tag.

Rothkaͤppchen.

Ja, ja, wer nicht bei Zeiten hoͤrt, der fuͤhle! Leb wohl, ich geh zuruͤck, noch iſt es kuͤhle.

Großmutter.

Mein Kind, eh du dich nun entfernt, Sing noch das Lied, das du gelernt.

Rothkaͤppchen
(ſingt).
Miſekaͤtzchen ging ſpazieren
Auf dem Dach am hellen Tag,
Macht ſich an den Taubenſchlag,
Eine Taub 'zu attrapiren.
Miau! Miau!
Schluͤpft wohl in das Loch hinein,
Aber kaum iſt ſie darein,
Iſt der Appetit vergangen:
Eine Falle, ſiehſt du, faͤllt,
Fuͤr den Marder aufgeſtellt,
Und das Kaͤtzchen muß drin hangen,
Und im Sterben ſchreit ſie: trau
Nicht auf Diebſtahl je, Miau!
Großmutter.

Das iſt ein ſchoͤnes Lied, das nimm in Acht, Untugend hat noch nie was eingebracht. Gruͤß deine Mutter, ich laſſe mich bedanken, Daß ſie nicht vergißt die Alten und Kranken.

Rothkaͤppchen.

Leb wohl, Großmutter! ich komme wohl wieder, Und bringe Nachmittag noch Eſſen heruͤber.

(geht.)
Großmutter.

Da laͤßt der Ruſchel die Hofthuͤr auf! 488Zweite Abtheilung.Nun kann jeder zu mir den Hof hinauf; Sie bleibt ſo wild wie ſie nur war Und koͤmmt doch in die erwachſene Jahr: Doch hat es eben nichts zu bedeuten, Es koͤmmt ja keiner zu mir heute. Es iſt wahr, nichts uͤber das Maͤdchen geht, Und wie ihr das rothe Muͤtzchen ſteht!

Zweite Scene.

(Der Wald.)
Der Jaͤger tritt auf.
Jaͤger.

Immer und ewig ein Jaͤger zu ſeyn, Das will mir gar nicht den Kopf hinein; Bei Tag und Nacht den Wald durchrennen, Wenn andre zu Hauſe ſitzen koͤnnen, Im Schnee, in der Kaͤlt 'und Hitze, Iſt dem geſundeſten Koͤrper nicht nuͤtze. Heut iſt im Dorfe kein ſo armer Flegel, Der nicht ſeine etliche Staͤmme kegelt, Am Abend ſitzet bei den Wenzeln, Und ich muß mich hier im Wald rum haͤnſeln, Einem Wolf auf die Spur zu gerathen, Was noch am Ende dient zu meinem Schaden. 489Rothkaͤppchen.Waͤrſt du nicht, Toback, Waͤr das Leben gar aͤrmlich, Es ſtaͤnde um uns Lumpenpack, Dann wahrlich gar zu erbaͤrmlich.

(er ſchlaͤgt ſich Feuer zur Pfeife an.)

Wunderlich! wie das Feuer im Stein Und Stahle muß verborgen ſeyn! Worauf der Menſch doch nicht gekommen! Wie alle Kunſt ihren Urſprung genommen! Es iſt erſtaunlich, was im Menſchen liegt, Und wie er alles zu ſeinem Nutzen fuͤgt; Und alle Tage bringt mans weiter, Unſre Kinder werden noch geſcheidter, Der Kopf wird den Leuten gar zu voll, Man begreift nicht, wo's mit all dem Verſtande hin ſoll.

Rothkaͤppchen koͤmmt.
Jaͤger.

Ei Rothkaͤppchen, ſey tauſendmal willkommen! Biſt du ſchon ſo fruͤh ausgegangen?

Rothkaͤppchen.

Ich bin von meiner Großmutter gekommen. Ihr jagt heut?

Jaͤger.

Ja, es gilt dem Rangen,

Dem Wolf, der hier im Walde iſt, Und manch unſchuldig Laͤmmchen frißt.

Rothkaͤppchen.

So iſts doch wahr, was die Leute ſagen? So duͤrfte ſich ein Wolf ſo nahe wagen?

490Zweite Abtheilung.
Jaͤger.

Sie ſind unverſchaͤmte Geſellen, Die ſich gern aller Orten einſtellen.

Rothkaͤppchen.

Fuͤrcht't ihr euch nicht, ihm zu nahe zu kommen?

Jaͤger.

Ich hab 'ihn ſchon laͤngſt aufs Rohr genommen. Ihn fuͤrchten? Da waͤr' ich ein rechter Wicht! Ich fuͤrchte den leibhaftgen Teufel nicht.

Rothkaͤppchen.

O ſprecht nicht ſo, wenn er nun kaͤme, Und euch ſo unverſehens naͤhme.

Jaͤger.

Ein Jaͤger muß haben firmen Muth, Ein großes Herz, ein braves Blut, Keine Gefahr nicht achten, kein Wetter ſcheun, Sonſt ſollt 'er zum Ofenſitzer beſſer ſeyn.

Rothkaͤppchen.

Ihr ſeyd heut in der neuen Jacke, Darzu glaͤnzt auch der Hirſchfaͤnger ſchoͤn.

Jaͤger.

Wenn ich den Monſieur Wolf nur packe, So iſts gewiß um ihn geſchehn. Kleidt michs nicht gut, das neue Tuch?

Rothkaͤppchen.

Es iſt fuͤr ſo was gut genug.

Jaͤger.

Was haſt du daran auszuſetzen?

Rothkaͤppchen.

Die Jacke wuͤrde euch noch beſſer ſitzen, Waͤr 'ſie ſchoͤn roth, wie meine Muͤtze.

491Rothkaͤppchen.
Jaͤger.

Die ganze Welt kann doch nicht wie deine Muͤtze ſeyn, Es muß auch andre Farben geben; Die gruͤne Farbe, bei meinem Leben, Die macht einen allerliebſten Schein.

Rothkaͤppchen.

Gruͤn iſt ganz gut und dient zur Noth, Doch geht keine Farbe uͤber Roth.

Jaͤger.

Der Wald iſt gruͤn, die Erde iſt gruͤn, Wo du nur wendeſt dein Auge hin, Es iſt was in der Farbe, ein Weſen, Ein Glanz, verſteh, ein gewiſſes Weſen

Rothkaͤppchen.

Das Gruͤn iſt wie geringe Leut, Man findet es ſo allerwege, Auf jedem Buſch, jedwed Gehege Da waͤchſt es; ach du liebe Zeit! Doch iſt von da zu Roth noch weit. Das Roth macht gleich die Augen rege; Wie viel bekoͤmmt ein Kind nicht Schlaͤge, Daß ihn das Naſchen wohl gereut. Wo ſich was Rothes laͤßt erblicken Iſt auch die rothe Lippe da Und ißt, und waͤrs ein unreif Haͤppchen. Wie ſelig, wem es mochte gluͤcken, Daß er auf ſeinem Kopfe ſah Wie ich, ein ſchoͤnes rothes Kaͤppchen.

Jaͤger.

Du biſt ein Naͤrrchen, gieb mir einen Kuß.

492Zweite Abtheilung.
Rothkaͤppchen.

O geht der Toback macht mir nur Verdruß.

Jaͤger.

Du Schelm, willſt du nicht Toback riechen, Wirſt du nimmermehr einen Ehmann kriegen.

(geht ab.)
Rothkaͤppchen.

Die meinen immer, daß wenn man ſie nicht nimmt, Man eben gar keinen Mann bekoͤmmt, Hat einer nun vollends eine neue Jacke angezogen, So denkt er gar, ihm iſt jeder gewogen.

Zwei Rothkelchen
fliegen vom Baum und ſpringen um ſie her.
Die Voͤgel.

Rothkaͤppchen! Rothkaͤppchen!

Rothkaͤppchen.

Was wollen die Voͤgel von mir?

Die Voͤgel.

Schoͤn guten Tag! Wo gehſt du von hier?

Rothkaͤppchen.

Nach Hauſe. Ei ſieh die artigen Dinger, Wie ſie auf den kleinen Beinchen ſpringen! Die haben auch Roth um den Hals und die Bruſt; So'n Voͤgelchen iſt eine herrliche Luſt!

Die Voͤgel.

Du biſt ein Rothkehlchen, Wir ſind wie Rothkaͤppchen, Das macht uns Freuden: Wir ſind dir gut, Freundliches Blut, Magſt du uns leiden?

493Rothkaͤppchen.
Rothkaͤppchen.

Ach, ihr lieben Geſellen, Hat euch nicht Gott der Herr eben Selbſt rothe Muͤtzchen gegeben? Wer wollte ſolch Urtheil faͤllen, Daß er an den lieblichen hellen Bunt Farben und luſtigem Leben, Nicht haͤtte Gefallen ſo eben Wie an dem Traurig ſtellen? Den Kummer laß ich fahren, Ich glaube dreiſt daran, Ich darf es immer wagen: Komm ich zu erwachſenen Jahren, Zieh ich, wie es beliebt, mich an, Will auch dann ein rothes Kaͤppchen tragen!

(ſie geht ab.)
Die Voͤgel.

Rothkaͤppchen, Rothkaͤppchen iſt unſer Freund! Wie lieblich warm die Sonne ſcheint!

(fliegen fort.)

Dritte Scene.

(Dickicht im Walde).
Der Wolf.

M nun hier in den dichteſten Geſtraͤuchen Wie ein Vertriebener auf und nieder ſchleichen, Und bin verſtoßen und ausgetrieben. 494Zweite Abtheilung.Da iſt kein Weſen, das mich moͤchte lieben; Keiner koͤmmt mir nah, keiner mag mir traun, Sie alle mit Abſcheu auf mich ſchaun. Und warum wird mir dies alles gethan? Weil ich nicht heucheln und ſchmeicheln kann. Weil ich mich nicht erniedern will zum Knecht, So denkt ein jeder von mir ſchlecht. Wie oft bin ich gekraͤnkt und verkannt, Und umgetrieben von Land zu Land, Vergeblich ſuchend die Sympathie, Wohl Schlaͤge fand ich, doch nimmermehr die; Nach mir geworfen, mit Pulver geſchoſſen, Und Fallen geſtellt, und dergleichen Poſſen; Man ſchrie, wo ich mich ließ ſehn bei Tageshelle: Da geht der Wolf! den nehmt beim Felle! Und dennoch reden ſie von Toleranz, Und duͤnkt ſich duldend jeder Alfanz Wenn er des Sonntags im ordinaͤren Rocke geht, Bei Aermern auch Gevatter ſteht. Und noch menſchlicher als der Menſch iſt der Hund, Mein Geſchwiſterkind, und doch im Bund Mit unſerm gemeinſchaftlichen Tyrannen. Da kommt ja Spitz, mein Freund! von wannen Des Weges, guter, edler Spitz?

Der Hund
tritt auf.
Hund.

Sieh da! iſt hier dein Sommerſitz? Ich geh ein wenig rum ſpatzieren, Ein Kaninchen oder Haſen zu attrappiren, Nur fuͤrcht 'ich mich vor des Jaͤgers Buͤchſenſchuß,495Rothkaͤppchen.Denn ſo ein Kerl verſteht uͤber Jagd keinen Spaß.

Wolf.

Biſt du noch bei Rothkaͤppchens Vater in Dienſt?

Hund.

O ja, ich habe da guten Gewinnſt, Die Wirthſchaft iſt groß, und manches bleibt uͤber Was ſie mir als andern goͤnnen lieber, Das Kind im Hauſe iſt mir auch gut Und ſteckt mir heimlich manches zu, Wofuͤr ich denn die Katze vexire, Auch Stoͤckchen aus dem Waſſer apportire, Lege mich auf den Ruͤcken und ſtelle mich todt. Gottlob! ich leide jetzt keine Noth.

Wolf.

Das ſind die Kuͤnſte, die finden ihr Brod!

Hund.

Jetzt iſt ſeit vierzehn oder zwanzig Tagen Im Wald mit Eſſen ein vieles Tragen, Die Großmutter iſt krank und wird gepflegt, Fuͤr mich mancher Knochen beiſeit gelegt. Die Alte ſtirbt vielleicht, zum Lohn Erbt ihr Vermoͤgen der Schwiegerſohn; Der kann es brauchen, er ſaͤuft gern viel, Verliert auch ſein Geld im Kartenſpiel. Nur ein gewiſſer philoſophſcher Trieb Iſt mir in meinem Weſen nicht lieb: Letzt ſchleppt das Kind einen Stein herbei, Der wiegt wohl mehr als ihrer drei, Und wirft mir den vor meine Fuͤße, Mir wars, als ob ich ihn apportiren muͤſſe,496Zweite Abtheilung.Ich konnt 'ihn nicht regen und nirgend faſſen, Und mußt' ihn auf der Erde liegen laſſen; Doch immer wieder, geh ich dort vorbei Iſt mirs, als ob es moͤglich ſey, Ich will ihn tragen, ich will ihn heben, Ich knurr ', es verkuͤmmert mir mein Leben; Bald muß ich hier, bald dort probiren, Ich kanns ſchon in den Zaͤhnen ſpuͤren. Der Alte lacht mich aus; ja von Natur verſteht er Wohl nichts, er ſpricht: ſeht doch den dummen Koͤter!

Wolf.

Ich moͤchte nicht ſeyn in deiner Lage, Du lebſt doch nur erbaͤrmliche Tage, Haſt keinen eignen Willen, biſt nicht frei, Kriegſt auch Schlaͤg 'ohn' Urſach. Verzeih, Daß ich dir alle deine Freude Und deinen edlen Stand verleide!

Hund.

Sprich immer, denn ich kenne dich ſchon, Weiß auch, daß man die Spekulation, Selbſt die beſte, und alle Theorie, Muß mengen ins praktiſche Leben nie.

Wolf.

Ei ſieh, du biſt uͤber alles getroͤſtet, Wie ein Braten von beiden Seiten geroͤſtet. Du gehſt am Ende und giebſt mich an.

Hund.

Nein, wiſſe, ich bin ein ehrlicher Mann, Du biſt von vordem mein lieber Kumpan, Waͤrſt du ein klein wenig humanUnd497Rothkaͤppchen.Und ließeſt die wilde Geſinnung fahren, So wuͤrde was aus dir mit den Jahren.

Wolf.

Nein, Freund, wir wollen uns ſo was erſparen. In der Kindheit, ich denke noch immer mit Thraͤnen An jene Tage der Unſchuldzeit, Wie hatt 'ich da ein inniges Sehnen, Wie trug ich von Wirken und Nuͤtzen ein Waͤhnen, Wie war ich zu herrlichen Thaten bereit! Es kann ſich keiner in Idealen So weit verſteigen, ſo praͤchtig ſie mahlen, Wie ich alle Talente und alle Kraͤfte Nur widmen wollte dem Menſchheitsgeſchaͤfte, Dem herrlichen Fortruͤcken des Jahrhunderts, Verſprach von meinem Wirken mir viel Wunders, Und alles lief gar lauſig ab, Wie ich dir ſchon ſonſt erzaͤhlet hab.

Hund.

Erzaͤhle noch einmal, ich hoͤre dir zu, Es ſitzt ſich hier gut in der ſtillen Ruh.

Wolf.

Du weißt, wie damals, als ich dich kennen lernte Beim Bauer Hans, wo du dienteſt als Knecht, Ich mich aus meinem Wald entfernte Und alle Kuͤnſte des Hundes lernte, Verlaͤugnete ganz mein eigen Geſchlecht, Um nur dem Staate zu werden recht. Ich verſcheuchte die Diebe, bewachte den Hof, Im Regen lag ich, daß der Pelz mir troff, Erlitt oft Hunger, der Pruͤgel nicht wenig, Doch war ich in meinen Gedanken ein Koͤnig;I. [32]498Zweite Abtheilung.Ich nutzte, und war mit meiner Beſtimmung zu - frieden,

Mir ſchien ein herrliches Loos beſchieden.

Hund.

Still! mir iſt, als ob ich Haſen ſpuͤre.

Wolf.

Sei ruhig, du Narr, hoͤr zu und verſtoͤre Mir meine tragiſche Leidensgeſchicht Durch derlei platten Egoismus nicht. Vernimm denn, wie es ein Ende nahm, Und wie ich durch Erfahrung dazu kam, Die Menſchen zu haſſen, die ich wie Bruͤder Geliebt, die ich meine Freunde geheißen; Jetzt ſind ſie mir in den Tod zuwider, Ich moͤchte ſie alle mit den Zaͤhnen zerreißen! Meine Phantaſie ſtand damals in ihrer Bluͤte Und jugendlich ſchoͤn war mein Gemuͤthe, Ich ging im Walde zuweilen ſpatzieren, Mußt mir das Gluͤck eine Woͤlfin zufuͤhren. O Freund! was lernt ich da erſt kennen, Einen Leib, ſo unbeſchreiblich hold, Einen Geiſt, mit keinen Worten zu nennen, Verſtand, nicht zu bezahlen mit Gold, Man haͤtte von ihr ein Buch ſchreiben koͤnnen, Eliſa, oder die Woͤlfin wie ſie ſeyn ſollt!

Hund.

Erſpare dir das Entzuͤcken, mein Freund, Du haͤltſt mich auch fuͤr verliebt, wies ſcheint.

Wolf.

Was ſoll ich dir ſagen? Ich liebte ſie, ſie mich, Unſre Wonnemonde waren ſo wonniglich;499Rothkaͤppchen.Ich ſah ſie im Wald, ſie beſuchte mich heimlich, Wir wuͤnſchten, wir waͤren unzertrennlich. Eines Morgens verſpaͤtet ſich die Theure, Die Bauren kommen zum Dreſchen in die Scheure, Finden da das unvergleichliche Weib, Drauf mit den Dreſchflegeln uͤber den zarten Leib, Und haſt du nicht geſehn, von Wuth gezuͤgelt, Die Geliebte vom Hofe herunter gepruͤgelt!

Hund.

Da war dir wohl die Peterſilie verregnet?

Wolf.

Iſt es ſo, daß ihr der Liebe begegnet, Ihr Menſchen? dacht ich in meinem Sinn, Doch unterdruͤckt ich meinen Grimm, Ich lernte mich unter der Noth bequemen, Die Leidenſchaft meines Herzens zaͤhmen. Es waͤhrte nicht lange, ſo merkten's im Dorf Ich ſey kein Hund nicht, ſondern ein Wolf. Was liegt am Namen? da ſie mich kannten, Da ich ſo treue Dienſte gethan? Doch war ich ſeitdem ein verlorner Mann, Weil ſie dies Vorurtheil nicht verbannten. Man traut mir nicht, man legt mich an die Kette, Als wenn ich ein Verbrechen begangen haͤtte. Ich fuͤgte mich mit O! und Ach! Auch wieder in die neue Schmach; Doch Nachts vernahm ich einen Plan, Vor dem mein ganzes Blut gerann: Man beſchloß, mich ſo in Feſſeln zu legen, Daß ich nicht Hand nicht Fuß koͤnnte regen; Hernach, ſo hoͤrt 'ich ſie ſich beſprechen,500Zweite Abtheilung.Wollten ſie mir ungeſaͤumt die Zaͤhne ausbrechen, So koͤnnten ſie mit mir machen, was ſie wollten, Und wenn ſie mich auch ſchinden ſollten; Koͤnnten mich auch an Baͤrenfuͤhrer verkaufen, So muͤßt ich als Narr die Maͤrkte durchlaufen, Und waͤr man meiner ſatt, koͤnnte man ohne Gefahr Mich augenblicklich todtſchlagen gar.

O Spitz, wie das mein Herz durchſchnitt!

Hund.

Sie ſpielen einem kurioſe mit.

Wolf.

Meiner Wuth riß die Kette bald, So rannte ich in den naͤchſten Wald. Ich will ſchweigen, was ich ſeitdem erfuhr, Denn es empoͤrt die geduldigſte Natur; Kugeln ſummten oft dicht um die Ohren, Eiſen waren mir moͤrderlich geſtellt, Hunde hatten mich oft beim Fell: O Freund, nirgends iſt eine Creatur. So ſchlimm in aller weiten Welt Als wie ein armer Wolf geſchoren. Seitdem iſt aber auch mein Plan, Unheil zu ſtiften, ſo viel ich nur kann; Seitdem thut mir nichts gut, Als nur der Anblick von Blut. Ich will alles Gluͤck ruiniren, Dem Braͤutigam ſeine Braut maſſakriren, Die Kinder von den Eltern trennen, Und was man Ungluͤck nur kann nennen, Darauf ſoll dieſer Kopf auch ſinnen. Man hat mich ſo weit endlich getrieben,501Rothkaͤppchen.Ich will ſie freſſen, da ſie mich nicht lieben, Und waͤrſt du nicht mein Vertrauter eben, Ich haͤtte dir ſchon den Reſt gegeben.

Hund.

Gehorſamer Diener, fuͤr die guͤtige Ausnahm! Doch haſt du denn keine Schand 'noch Schaam, Daß dich nicht dein boͤſer Vorſatz gereut? Glaubſt du denn nicht an Unſterblichkeit? An Beſtrafung nach dieſer Zeitlichkeit?

Wolf.

Nein, Kerl, ich halte alles fuͤr Aberglauben! Die Freuden dort ſind gewiß nur Trauben Die uns zu hoch haͤngen, mein dummer Freund, In gar zu weitem Felde das ſcheint: Was ich freſſe in meinen Leib hinein, Das iſt gewiß und wahrhaftig mein! Kann mich zu keiner andern Lehr bequemen.

Hund.

Ei pfui! ich muß mich fuͤr euch ſchaͤmen, Will auch nicht mit euch Umgang weiter pflegen, Ich geh, aus Furcht der Anſteckung wegen.

(ab.)
Wolf.

Das ſind die Koͤpfe, ſo dumm und ſeicht, Die jede Furcht und Beklemmung erreicht, Die nichts von Kraft und Selbſtaͤndigkeit wiſſen; Haͤtt 'ich ihn doch lieber in Stuͤcke zerriſſen! Doch will ich ſein liebes Rothkaͤppchen fangen, Das iſt ſeit lange ſchon mein Verlangen; Ihr Vater iſt uͤberdies ein Mann Der mir ſchon tauſend Drangſal angethan.

502Zweite Abtheilung.

Will mich auch auf den Weg gleich machen, Hungert mich recht nach ihr in meinem Rachen.

(geht ab.)

Vierte Scene.

(Fußpfad im Wald.)

Rothkaͤppchen, Hanne.

Hanne.

Es wird ſchon finſter, ich gehe nicht weiter.

Rothkaͤppchen.

Nicht doch, die Sonne ſcheint noch ſo heiter.

Hanne.

Es wird dunkle und finſtre Nacht Eh 'ich den Weg zuruͤck gemacht.

Peter tritt mit ſeiner Braut auf.
Braut.

Ei Rothkaͤppchen? gehſt du auch noch ſpatzieren?

Peter.

Ich muß die Kleine immer vexiren, Es iſt ein allerliebſtes Kind. Nun, Rothkaͤppchen, wie biſt du denn geſinnt, Willſt du noch mein Braͤutchen ſeyn?

Rothkaͤppchen.

Schweig ſtill, du haſt ja ſchon die dein.

503Rothkaͤppchen
Peter.

Das nehmen wir nicht ſo genau, Du wirſt dann meine zweite Frau.

Braut.

Glaubs nicht, er ſpricht nur wie ein Tropf! Peter, ſetz dem Kinde nichts in den Kopf.

Rothkaͤppchen.

Laß ihn nur reden, Anne Marie, Ich naͤhme doch den Peter nie, Er gefaͤllt mir ſchon jetzt nicht ſonderlich, Dann waͤr er gar alt und kruͤppelich; Wird mich ſchon, ohne mich an ihn zu hangen, Ein beßrer Braͤutigam zur Braut verlangen.

Braut.

Siehſt du, das kommt von deinem Vexiren, Die weiß die Leute abzufuͤhren, Die iſt ſo klug wie wir jetzt wohl ſind Und iſt noch ein kleines buttiges Kind.

(gehn beide.)
Hanne.

Sie ſagte, du waͤrſt ein buttiges Kind.

Rothkaͤppchen.

O laß ſie nur, denn beide ſind So er wie ſie etwas duͤmmerlich, Drum antworten ſie ſo kuͤmmerlich. Er haͤtte keine andre Braut getroffen, Sie durfte auf keinen andern Braͤutigam hoffen, Drum halten ſie viel von einander mit Recht, Und meinen nun jetzt, ſie waͤren nicht ſchlecht.

Hanne.

Hier ſteht eine Butterblume, die will ich blaſen, Zu ſehn wie lang ich noch ſoll leben.

504Zweite Abtheilung.
Ein Bauer
geht vorbei.
Bauer.

Mich wundert, daß man die Kinder laͤßt ſo rum raſen,

Die kaͤmen dem Wolf gerade gelegen. Geht nach Hauſe, Kinder, das iſt geſcheidt, Es wird ſchon Abend, da iſt es Zeit.

Rothkaͤppchen.

Ich geh zu Großmutter, bring ihr Abendbrod, Mit eurem Wolf hats keine Noth.

Bauer.

Wenn er dich erſt wird maſſakriren, Wirſt du wohl 'ne andre Sprache fuͤhren. Das iſt jetzt bei Kindern' ne dumme Weis, Sie werden gar zu naſeweis

(geht ab.)
Hanne.

Sieh da, ich lebe wohl noch hundert Jahr.

Kuckuck
(hinter der Scene).

Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!

Rothkaͤppchen.

Das waͤre doch ein bischen gar zu lang.

Hanne.

Ne, ne, es trift dir auf ein Haar. Nun iſt mir nicht vor dem Wolfe bang.

Rothkaͤppchen.

So will ich doch auch mein Gluͤck erproben.

(ſie blaͤſt auf die Blume.)

Sieh, da iſt alles rein weg geſtoben.

505Rothkaͤppchen.
Hanne.

Ach, armes Kind! So bald zu ſterben!

Rothkaͤppchen.

So ſollſt du mein roth Kaͤppchen erben. Doch leb ich wohl laͤnger wie du mit Luft, Denn man ſieht ich hab 'eine beſſere Bruſt, Drum ſind die Haare ſo weg geflogen. Meine Mutter hat mich zu gut erzogen, Als daß ich an ſo was glauben ſollte, Ich wuͤßte auch nicht, wie es die Blume wiſſen wollte;

Erſt iſt ſie gelb, und wird dann greis, Wie ein kindlicher Mann, der von ſich nicht weiß, Da ſteht ſie am Wege und koͤmmt ein Wind Ihr alle Haare ausgeriſſen ſind.

Kuckuck.

Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!

Hanne.

Das glaubſt du nicht? So weiß ich noch was: Frag den Kuckuck, wie lang du zu leben haſt; Wenn ders nicht weiß, ſo weiß es keiner.

Rothkaͤppchen.

Ja ſolchen Voͤgeln trau nur einer, Der ſitzt in ſeiner Dunkelheit, Wo er aus Langeweile ſchreit. Kuckuck! wie lange hab ich zu leben?

Hanne.

Siehſt du! er will keine Antwort geben. Ach, armes Kind! ſo lebe wohl, Und wenn ich dich nicht wieder ſehen ſoll,506Zweite Abtheilung.So gedenke im Tode zuweilen meiner, Dafuͤr gedenk ich im Leben deiner.

(geht ab.)
Rothkaͤppchen.

Das kleine Maͤdchen iſt nicht recht klug Und fuͤr ihr Alter noch dumm genug.

Kuckuck kommt auf die Scene.
Rothkaͤppchen.

Was will der Vogel von mir haben?

Kuckuck.

Kuck um dich! Kuck! Kuck! ſollſt Vorſicht haben! Kuck! Kann nicht ſprechen, wie ich wollt; Kuck! Kuck! Kuck um dich der Wolf, Kuck! Kuck!

(fliegt ab.)
Rothkaͤppchen.

Kuck! kuck! der hats im Reden nicht weit gebracht, Ich haͤtte beinah uͤber den Narren gelacht.

Der Hund
kommt.
Rothkaͤppchen.

Ei, Hund! Wo kommſt du her? Wie er ſchmeichelt, Wie er ſich an der Seite ſtreichelt, Wo er merkt, daß ich das Eſſen trage.

Hund.

Bau, bau nicht zu ſehr auf Sicherheit.

Rothkaͤppchen.

Wenn ich nach Hauſe komme, dann frage Nur nach, dann iſt deine Eſſenszeit.

Hund.

Bau, bau auf deinen Muth nicht zu ſehr, Ich komm, bau, bau, und knie vor dir her, Kann nicht recht ſprechen;507Rothkaͤppchen.Bau, bau, trau, bau nicht zu ſehr, Der Wolf kann dich freſſen.

Rothkaͤppchen.

Geh, alberner Hund, nun iſt es Zeit, Du biſt im Kopf nicht recht geſcheidt!

(geht ab.)
Hund.

Bau, bau und trau nicht zu ſehr!

Kuckuck.

Kuck, kuck, kuck um dich mehr!

Nachtigall
hinter der Scene.

Tirili! von allen Voͤgeln hoch und tief Geſaͤnge ſchallen, ſchallen, Sie lallen In tauſend Zungen, Wird von allen geſungen, Doch iſt es keinem als mir gelungen, Honetten, netten Leuten zu gefallen, allen, ſchallen.

Kuckuck.

Kuck, kuck den Hochmuth!

Fuͤnfte Scene.

(Stube.)
Der Wolf
im Bett.

So war ich gluͤcklich herein gekommen Und habe der alten Frau das Leben genommen,508Zweite Abtheilung.Die Thuͤr ſtand, gegen mein Verhoffen Im Hof 'und auch im Hauſe offen; Die Alte war erzuͤrnt und wollte ſich wehren, Doch durft' ich mich daran nicht kehren, Nun iſt ſie erwuͤrgt, liegt unter dem Bette; Wuͤnſcht 'nur, daß ich Rothkaͤppchen hier haͤtte. Doch will ich ſchlau die Sache anſtellen Und mich als das alte Weib jetzt ſtellen; Ich ſetze die Haube auf, es wird ſchon finſter, Es kommt nicht viel Licht durch die Fenſter, So lieg' ich im Bett, als waͤr 'ich kraͤnklich. Ich hoͤre ſie ſchon, ſie kommt nachdenklich.

Rothkaͤppchen
tritt herein.
Rothkaͤppchen.

Großmutter, biſt du ſchon zu Bett gegangen?

Wolf.

Schon ſeit einer Stunde, ich hatte Verlangen Dich, liebes Kind, wieder zu ſehn, mir iſt nicht wohl.

Rothkaͤppchen.

Ich dich von der Mutter ſchoͤn gruͤßen ſoll, Sie ſchickt dir ein gekochtes Huhn, Das wird dir wohl in der Schwachheit thun. Der Vater war nicht gut aufgelegt, Ich lief ſchnell fort, weil er manchmal ſchlaͤgt, Er will nicht immer, daß ich zu dir gehe Und dir in deiner Noth beiſtehe. Du liegſt zu Bett, doch am verkehrten Ende. Ei, Großmutter, was haſt du fuͤr naͤrriſche Haͤnde?

Wolf.
509Rothkaͤppchen.
Wolf.

Sie ſind gut, damit was feſt zu halten.

Rothkaͤppchen.

Es wollten zu Hauſe die beiden Alten, Daß ich die Nacht bei dir bleiben ſollte.

Wolf.

Das war es, was ich ſelber wollte.

Rothkaͤppchen.

Sie ſagen, es iſt nicht gut in der Nacht zu gehn, Man koͤnnte mir da nicht fuͤr Schaden ſtehn. Ei, Großmutter, was haſt du fuͤr große Ohren!

Wolf.

Ich kann damit deſto beſſer hoͤren.

Rothkaͤppchen.

Das Fenſter ſteht auf, es zieht kalt herein.

Wolf.

Laß nur, im Bett wird dir waͤrmer ſeyn.

Rothkaͤppchen.

Ich hatte ſo zu dir zu kommen Verlangen, Nun wird mir hier in der Stube ſo bange. Ei, Großmutter, was haſt du fuͤr große Augen!

Wolf.

Deſto beſſer ſie zum Sehen taugen.

Rothkaͤppchen.

Auch die Naſe ſitzt dir nicht ſo wie immer.

Wolf.

Mein Kind, das macht der Abendſchimmer.

Rothkaͤppchen.

Ei Herr Je! was haſt du fuͤr'nen großen Mund!

Wolf.

Deſto beſſer er dich freſſen kunnt!

I. [33]510Zweite Abtheilung.
Rothkaͤppchen.

Ach! Huͤlfe! Huͤlfe! kommt, helft meiner Noth!

Wolf.

Du ſchreiſt vergebens, du biſt ſchon todt!

(Der Vorhang des Bettes faͤllt zu.)
Die beiden Rothkehlchen
fliegen durch das Fenſter.
Erſter Vogel.

Komm, laß uns durch das Fenſter fliegen.

Zweiter Vogel.

Rothkaͤppchen iſt drinne, unſer Vergnuͤgen.

Erſter Vogel.

Sie liegt wohl im Bett, ich ſeh 'nach ihr.

(huͤpft hinter den Vorhang.)
Zweiter Vogel.

Die Luft zieht huͤbſch durch Fenſter und Thuͤr.

Erſter Vogel
(kommt zuruͤck.)

O weh! O weh! O Jammer und Noth!

Zweiter Vogel.

Was giebts?

Erſter Vogel.

Der Wolf iſt da, Rothkaͤppchen ſchon tobt.

Beide.

O weh! o weh! der großen Noth!

Der Jaͤger
ſieht zum Fenſter herein.
Jaͤger.

Was ſchreit ihr denn ſo gar erbaͤrmlich?

Die Voͤgel.

Rothkaͤppchen iſt todt ganz Gotts erbaͤrmlich!

511Rothkaͤppchen.

Der wilde Wolf hat ſie zerriſſen, Und auch zum Theil ſchon aufgefreſſen.

Jaͤger.

Daß Gott erbarm! ich ſchieße zum Fenſter hinein.

(er ſchießt hinein.)

Da liegt der Wolf und iſt auch todt, So muß fuͤr alles Strafe ſeyn, Er ſchwimmt in ſeinem Blute roth. Es kann einer wohl ein Verbrechen begehn, Doch kann er nie der Strafe entgehn.

Man ſprach bei Tiſch uͤber die fruͤhe Luſt der Kinder an der Furcht, und man ſtritt, ob man dieſen Trieb in ihnen unterhalten ſolle, oder nicht. Manfred war mit Einſchraͤnkungen dafuͤr, ſo wie Emilie dagegen. Als man nicht einig werden konnte, ſagte Clara: laſſen wir dieſen Kampf, die Kinder werden ſich doch fuͤrchten, wir moͤgen es anſtellen, wie wir wollen; Anton ſoll uns lieber noch jenes Gedicht mittheilen, von welchem er heut Morgen ſprach, und das er vor einigen Jahren in einer melankoliſchen Stimmung geſchrieben hat.

Noch krank kam ich von einer Reiſe zuruͤck, ſagte Anton; die gewohnte Umgebung druͤckte mit Bangigkeit auf mein Gemuͤth, und doch ſchien dem Geneſenen alles ſo lieb und hold, ich ſchloß mich ſo inniger an meine Freunde und ſchrieb dieſe Verſe:

512Zweite Abtheilung.

Die Heimath.

Ich ſeh die Heimath wieder,
Die lange ferne blieb,
Sie traͤufelt Wonne nieder,
Sie hat ihr Kind ſo lieb.
Voll Liebe reichen Baͤume
Mir froh die gruͤne Hand,
Ich ſteh und ſinn 'und traͤume,
Und alles thut bekannt.
Verſpaͤt'te Bluͤmchen ragen
Neugierig aus dem Gras,
Es iſt als ob ſie fragen
Recht zaͤrtlich: wer iſt das?
Ich muß ſie alle gruͤßen
Und wieder traulich ſeyn;
Laß, Blumen, dich noch kuͤſſen,
Wie oft gedacht ich dein!
Da ſind die gruͤnen Gaͤnge,
Die Steine wohl bekannt,
Und wunderbare Klaͤnge
Sind hier noch feſt gebannt.
Es iſt die Nachtigalle,
Sie blieb an dieſem Ort,
Sie ſagt mit ſuͤßem Schalle
Mir noch ein ſcheidend Wort.
513Zweite Abtheilung.
Wie treu iſt dieſer Saͤnger,
Daß er noch mein gedacht.
Mir wird im Herzen baͤnger
Hier in der gruͤnen Nacht.
Sie fliegen fort die Toͤne,
Die Erde nimmt das Laub,
Was geſtern gruͤnte ſchoͤne
Iſt heut des Windes Raub.
O Fruͤhling, hintergangen
Haſt du die arme Welt,
Erſt ſchlaͤgſt du auf mit Prangen
Und lachend dein Gezelt.
Es ſtehn wie Dienerſchaaren
Mit blitzendem Gewehr,
Vor Unfall dich zu wahren,
Die Blumen um dich her.
Die Waſſer wie Herolde
Rufen dein Kommen aus,
Ganz ausgeſchmuͤckt mit Golde
Iſt deine Flur und Haus.
Die Voͤgel fliehn und ziehen,
Mit Wolken ſpielen ſie,
Und alle Blumen bluͤhen
Und duften ſpaͤt und fruͤh.
Die Roſe kommt mit Scheinen,
Und ruft: nun liebet all!
Wer ſollte wohl nicht weinen
Bei dieſem ſuͤßen Schall?
514Zweite Abtheilung.
Und wie man ſich beſinnet,
Das Auge thraͤnenſchwer,
Die Bluͤte Frucht gewinnet
Und ruft den Sommer her.
Was hilft es doch, zu fluͤchten
Zum gruͤnen, kuͤhlen Wald,
Wenn hier aus allen dichten
Zweigen ein Klaglied ſchallt?
Die Nachtgall will verkuͤnden
Was Schmerz und Liebe ſey,
Sie kann den Ton wohl finden
Und ſingt ihr Herze frei.
Bald werden ſtumm die Baͤume,
Die Blumen bluͤhen ab,
Erwachen alle Traͤume
Und ſehn vor ſich ein Grab.
Es fallen wie die Todten
Wunſch, Luft und Leben hin,
Verlieren gern den Othem,
Nach Sterben geht ihr Sinn.
Da wird erzeugt in Schmerzen
zuletzt der heiße Wein,
Er iſt ein wildes Scherzen
Vom Tod ſich zu befrein.
Nun fuͤhl ich mich verloren
In finſtrer Einſamkeit,
Es wird der Tod geboren,
Er bringt mir tiefes Leid.
515Zweite Abtheilung.
Die Erde ungeſchmuͤcket,
Blumlos und ohne Gras,
Wohl hab ich dich erblicket,
Die Heimath iſt nun das.
Du rufſt mit ſtillem Winken
Mich wie das Laub herab,
Und gern will ich verſinken
In dieſes offne Grab.
Doch kommt nicht Fruͤhling wieder?
Bleibt nicht die Liebe neu?
Es ſtehn ja muntre Lieder
Mir baldigſt wieder bei.
Hab ich nicht troſt gegeben?
Iſt nicht mein Blick erkannt?
So bin ich auch dem Leben
Von neuem zugewandt.
Die Himmelsluͤfte ſpielen
Mild durch mein Herz dahin,
Das iſt ein ſeelig Fuͤhlen,
Als ob im May ich bin.
Wie fliehen viele Wogen
Hinab in Strom und Meer,
Und muthig angeflogen
Schwimmt neue Flut daher.
Liebe kann nicht verſiegen,
Sie iſt ein ewger Quell,
Will jedes Bild verfliegen
Bleibt doch ihr Antlitz hell.
516Zweite Abtheilung.
Drum will ich nicht verzagen,
Nun ſinge, neues Herz,
Und will ich Leiden klagen
Verſchoͤnt Geſang den Schmerz.

Friederich und Lothar ſahen ſich ſtillſchwei - gend an, denn es ſchien ihnen, als habe Anton die letzten Strofen neuerdings hinzu gefuͤgt. In - dem hoͤrte man ein Getuͤmmel naͤher, das ſich ſchon waͤhrend des Leſens in der Ferne hatte ſpuͤren laſſen, und man erfuhr, daß jener Bote, den Friedrich ſeit dreien Tagen erwartet hatte, eben jetzt in dunkler Nacht und ermuͤdet angekommen ſey. Friedrich eilte zitternd hinaus, ſeine Bothſchaft zu vernehmen und Briefe von ihm zu empfangen; die uͤbrige Geſellſchaft trennte ſich, um ſich der Ruhe zu uͤberlaſſen.

Ende des erſten Bandes.

About this transcription

TextPhantasus
Author Ludwig Tieck
Extent530 images; 105805 tokens; 14809 types; 707709 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationPhantasus Eine Sammlung von Mährchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen Erster Band Ludwig Tieck. . [2] Bl., 516 S. RealschulbuchhandlungBerlin1812.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Yw 4021-1<a> Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=450875539

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Drama; Prosa; core; ready; mts

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
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ImprintBerlin 2019-12-10T09:28:17Z
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