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Theophron, oder der erfahrne Rathgeber fuͤr die unerfahrne Jugend,
Ein Vermaͤchtniß fuͤr ſeine geweſenen Pflegeſoͤhne, und fuͤr alle erwachsnere junge Leute, welche Gebrauch davon machen wollen.
Inter opus monitusque maduere genae, Et patriae tremuere manus. (Ouidius. )
Erſter Theil.
Hamburg1783bei Karl Ernſt Bohn.

An meine geweſenen Pflegeſoͤhne.

Meine lieben Kinder,

Was ich, wie ihr wißt, bei der Abnahme meiner Geſundheit, ſchon vor einiger Zeit mit Bekuͤmmerniß in dunkler Ferne ſah,*)S. den Schluß von Pizarro. das iſt jezt eingetroffen. Die Vorſehung hat geſprochen; unſer Loos iſt geworfen; es heißt Trennung!

Ich trokne meine Augen, um in eurer Mitte noch einmahl freudig und liebevol um - herzublikken; noch einmahl mich zu laben an den großen herzerhebenden Hofnungen, die ihr mir einfloͤßtet, und die ich ach, ſo gern! unterhielt; noch einmahl meinen beſten, innigſten, feurigſten Herzensſeegen uͤber euch alle auszugießen, und dan zu* 3haftenhaften am Boden auf dem Flek, auf welchem Gott mir ſtil zu ſtehn gebot, und euch nach - zuſehn, ſo weit mein Auge reichen wird, auf den Wegen, auf denen Gott euch, ohne mich, nun weiter fuͤhren wird.

Ihr ſahet, meine guten Kinder, wie lange ich kaͤmpfte, wie oft ich mich ermante, und die ſinkende Hand von neuem erhob, um euch weiter zu leiten auf dem ſchmalen ungebahnten Pfade zu jeder ſchoͤnen Tugend und zur Gluͤk - ſeeligkeit: aber ihr ſahet auch, und der Al - ſehende ſah es zugleich, daß ich unter der Anſtrengung erlag, und daß ich mich ent - ſchließen mußte, entweder euch in eurem Laufe aufzuhalten, oder allein zuruͤkzubleiben. Ich waͤhlte das Leztere, ohngeachtet ich wohl wußte, daß der unvernuͤnftigere Theil der Voruͤbergehenden meine Bewegungsgruͤnde zu dieſer Wahl nicht faſſen wuͤrde, nicht faſſen koͤnte, weil zur Beurtheilung und Billi - gung eines gewiſſenhaften Verfahrens erfodertwird,wird, daß man ſelbſt gewiſſenhaft zu handeln ſich gewoͤhnt habe. Und ach! warum muß ich dieſe traurige Wahrheit euch ſchon ſo fruͤh entdekken? ſo zu handeln, hat ein groͤſſerer Theil der Menſchen, als man glauben ſolte, ſich noch nicht gewoͤhnt!

Aber ehe wir, Wange an Wange gelegt, unſere Traͤnen zum leztenmahl in einander fließen laſſen, vernehmt, ihr Lieben, mit derjenigen freudigen Folgſamkeit, womit ihr meine treue Liebe zu euch ſo oft belohnt habt, den lezten Willen eines Vaters, der auch dan, wan wir getrent ſein werden, zu eurer Gluͤkſeeligkeit noch ſo gern etwas beitragen moͤgte! Ihr erwartet vielleicht, indem ich euch ſo auffodere, daß ich euch noch einmahl alle die Vorſchriften zu einem rechtſchaffenen, gemeinnuͤzigen und gluͤklichen Leben, nach denen wir eure junge Herzen zu bilden uns beſtrebten, wiederholen, und bei unſerer Liebe, bei eurer ewigen Wohlfahrt euch be -* 4ſchwoͤrenſchwoͤren werde, ihnen immer treu zu blei - ben? Aber nein, Kinder! dis iſt jezt meine Abſicht nicht. Ich darf hoffen, daß jede wichtige Lehre, die wir euch gegeben, und nach der wir euch geuͤbt haben, mit unaus - loͤſchlicher Schrift in euren Herzen angeſchrie - ben ſtehe; darf hoffen, daß forthin es kei - nem unter euch mehr moͤglich ſein werde, wiſſentlich und vorſezlich dem entgegen zu handeln, was ihr als ſchoͤn und gut, als recht und gottgefaͤllig erkant habt: wozu alſo eine Wiederholung? Wozu eine nochmalige Ermahnung zu dem, was ihr gern, und im - mer gerner, immer eifriger aus eigenem An - triebe thun werdet?

Mein lezter Wille hat alſo einen andern Gegenſtand. Vernehmt ihn, meine Kinder, und laßt, um eurer ſelbſt willen, ihn euch heilig ſein.

Bis hieher war es zu eurer Gluͤkſeelig - keit genug, daß ihr euch gegen unſere Vor -ſchriftenſchriften folgſam bewieſet, daß ihr alles er - kante Gute gern umfaßtet, und vor allem erkanten Boͤſen mit Abſcheu zuruͤkbebtet. Dis wird denn auch fernerhin, ſo lange ihr noch an der Hand eines erfahrnen Fuͤhrers geht, zu eurem Wohlergehen hinreichend ſein. Aber, Kinder, die Zeit nahet heran, und bei einigen von euch iſt ſie ſchon vor der Thuͤr da ihr den mislichen Weg des Le - bens allein betreten ſolt. Da wird es nun der verfuͤhreriſchen Seitenwege, welche links und rechts durch einladende Gegenden laufen, viele geben. Da werdet ihr oft, und ehe ihr es euch verſeht, euch mitten in einem undurchdringlichen Dikkicht befinden, wo um und neben euch keine menſchliche Spur, und uͤber euch kaum eine Spannebreit vom Him - mel wird zu ſehen ſein. Da werdet ihr nicht ſelten ploͤzlich auf tiefe, mit ſtaudichten Blu - men verwachſene Gruben ſtoßen, und ein ein - ziger unvorſichtiger Schrit, vorwaͤrts gethan,* 5kankan auf immer euch ins Verderben ſtuͤrzen. Da wird es endlich oft in lachenden Thaͤlern giftige, in hohem Graſe verſtekte Schlangen und Ottern geben, welche euren Ferſen auf - lauren, auch wilde Beſtien im nahen Gehoͤlz, welche auf euch hervorſchießen werden zu einer Zeit, da ihr in eurem argloſen leicht betro - genen Herzen euch voͤllig ſicher waͤhnt.

Kinder! ich bin des Weges gekommen, und rede nicht von Hoͤrenſagen, ſondern aus Erfahrung. Glaubt alſo einem glaubwuͤr - digen Manne und einem fuͤr euch zitternden Vater: es iſt zum gluͤklichen Antrit und zur ſichern Vollendung der gefahrvollen Lebens - reiſe nicht genug, die Himmelsgegend zu wiſſen, nach der man wandern muß; nicht genug, mit dem feſten Vorſaze auszugehn, der rechten Straße immer folgen, nie von ihr abweichen, und alle gefaͤhrlichen Oerter ſorgfaͤltig vermeiden zu wollen; nicht genug, ſich gewoͤhnt zu haben, keinem der Mitwan -dererderer vorſezlich in den Weg oder auf den Fuß zu treten mit andern Worten: es iſt zu einem ruhigen, zufriedenen und gluͤklichen Leben hienieden nicht genug, daß man gut und immer beſſer zu wer - den ſich beſtrebe; (ohngeachtet dieſes Be - ſtreben das erſte unentbehrliche Mittel zur Gluͤkſeeligkeit iſt) man muß auch vorſich - tig, klug und durch Erfahrung weiſe ge - worden ſein.

Aber, ach! dieſe Klugheit, dieſe Er - fahrung hat man gemeiniglich erſt dan er - worben, wan die Zeit, ſie zu nuzen, ſchon voruͤber iſt. Ungluͤklicher Juͤngling, dem die Vorſehung keinen vaͤterlichen Freund ge - waͤhrte, der aus ſeiner Fuͤlle dieſen Mangel erſezte, und ihm liehe, was er ſelbſt noch nicht erwerben konte! Ihr, meine Lieben o freuet euch, und danket Gott dafuͤr! ſolt zu der Zahl dieſer Ungluͤklichen, die erſt durch Schaden klug werden muͤſſen, nichtgehoͤren.gehoͤren. Seht, ich uͤbergeb euch hier ein Buch, worin ich meine beſten, oft theuer er - kauften Erfahrungen fuͤr euch aufgezeichnet habe. Dis iſt der Nachlaß meines Herzens fuͤr euch und fuͤr alle junge Weltbuͤrger, welche Theil daran nehmen wollen. Hoͤret nun, was fuͤr einen Gebrauch ihr davon machen ſolt; dis iſt mein lezter Wille:

ihr ſolt dis Buͤchelchen bei demjenigen aufbewahren, was unter allen euren Sachen euch am liebſten iſt. Da ſol es liegen, als ein Heiligthum, bis die Zeit herannahet, da ihr ohne Fuͤhrer in das große menſchliche Leben treten werdet. Alsdan ſolt ihr es zur Hand nehmen, euch durch die dankbare Er - innerung an meine Liebe recht erwaͤr - men; ein kurzes bruͤnſtiges Gebet um Weisheit, Verſtand und guten Willen zu Gott thun, und dan mit der ſtilſten und groͤßten Aufmerkſamkeit, deren ihr faͤhig faͤhig ſeid, leſen, was ich fuͤr euch ge - ſchrieben habe. Bei jedem Abſaze ſolt ihr ſtil ſtehen, um erſt in euch ſelbſt und um euch herzublikken, und die Fra - gen an euch zu thun: bin ich denn nun auch ſchon, was hier mein guter Vater wolte, daß ich ſein ſolte? Oder: hab ich auch wohl jezt ſchon Gelegenheit, dieſe Lehre in Ausuͤbung zu bringen? Dan ſolt ihr alles, was ſchon zu der Zeit fuͤr euch anwendbar ſein wird, zeichnen, um, nach vollendeter Leſung des ganzen Buchs, euch dieſe Stellen noch einmahl ganz vorzuͤglich zu mer - ken, und darauf ſogleich zur Anwen - dung zu ſchreiten. Dis alles ſolt ihr am Ende eines jeden halben Jahrs an beſtimten Tagen feierlich und ge - wiſſenhaft wiederholen, und zwar ſo lange, bis ihr, durch eigene Erfahrun - gen hinlaͤnglich bereichert, finden wer - det, det, daß die meinigen euch entbehrlich geworden ſind.

Und nun herbei, ihr Lieben, in meine Arme, ſo viel ſie eurer faſſen koͤnnen, um Herz an Herz, Wange an Wange gedruͤkt, den laͤngſt geſchloſſenen Bund der Liebe und der Recht - ſchaffenheit noch einmahl mit unſern Traͤnen zu verſiegeln. In einer volkomnern Welt, wo tugendhafte Verbindungen, hier im Lande der Unvolkommenheit geſchloſſen, erneuert und auf ewig feſt geknuͤpfet werden ſollen, warte ich einſt mit eurer guten Pflegemutter eurer Ankunft, um uns gemeinſchaftlich in heiſſer Dankbarkeit vor dem Weſen aller Weſen hinzuwerfen, deſſen vaͤterliche Hand euch durch alle Gefahren, welche eurer Tugend und eurer Gluͤkſeeligkeit drohen, bis dahin gnaͤdig leiten wird. Sein alles vermoͤgender Seegen uͤber euch! und nun getroſt und muthig hinan den Berg, der meinen Blikken euch entziehen ſol!

Hamburg den 31 Jenner 1783.

Campe.[I]

Vorbericht.

Diejenigen, welche mich kennen, werden von mir wiſſen, daß ich ſeit geraumer Zeit, alles, was mir von Faͤhigkeiten, Kraͤften und etwanigen Kentniſſen beiwohnte, dem[einzigen] großen Beduͤrfniſſe der Menſchheit, der Erzie - hung, gewidmet habe. Gern waͤr ich auf dieſer, zwar hoͤchſtmuͤhſamen, aber auch ſehr freudenrei - chen Laufbahn, bis an das Ende meines Lebens ununterbrochen fortgegangen: allein nach fuͤnf, in gluͤklicher Thaͤtigkeit verlebten Jahren, ſah ich meinen Geſundheitszuſtand, und mit ihm die zu dieſem Geſchaͤfte ſo ganz unentbehrliche Munterkeit des Geiſtes, dermaßen in Verfal gerathen, daß ich mich fuͤr verpflichtet hielt, mein bisheriges, von der Vorſehung ſo ſehr geſeegnetes Erziehungs - inſtitut einem Manne von friſcherer Geſundheit und von ungeſchwaͤchteren Kraͤften*)Dem Herrn Trapp, disherigen Profeſſor der Erziehungskunſt auf der Univerſitaͤt Halle. abzutreten; um den Reſt meines Lebens zwar noch immer der Erziehung, aber doch nur in demjenigen Maaße zu weihen, in welchem die Beſchaffenheit meiner**Geſund -IIVorrede.Geſundheit dieſem ſchwerſten und wichtigſten aller menſchlichen Geſchaͤfte noch wird gewachſen ſein.

Bei dieſer Gelegenheit ſchien es mir denn eine meiner lezten Pflichten gegen diejenigen zu ſein, welche bisher der Gegenſtand meiner vaͤterlichen Sorgfalt waren, alles, was ich an nuͤzlicher Er - fahrung, an Welt und Menſchenkentniß in mir fuͤhlte, ſorgfaͤltig aufzuzeichnen, um es ihnen, als ein Vermaͤchtniß, auf diejenige Zeit zu hinter - laſſen, da ſie die misliche Reiſe durchs Leben ohne Fuͤhrer allein antreten ſollen. So entſtand dieſes Buch, deſſen erſter Theil, wie man ſieht, aus zwei Hauptabſchnitten beſteht, wovon der eine Erfahrungen und Vorſchriften zur gluͤkli - chen Einrichtung eines geſchaͤftigen Lebens, der andere diejenigen Klugheitsregeln enthaͤlt, welche uns in dem Umgange mit Menſchen leiten muͤſſen.

Der erſtere erſcheint hier, einige Veraͤnderun - gen und Zuſaͤze ausgenommen, nicht zum erſten mahl. Ich machte vor etwas mehr als fuͤnf Jahren die erſte Skize dazu in den hieſigen Addreßcomtoir-Nachrichten bekant. DieſeBlaͤt -IIIVorrede.Blaͤtter wurden binnen vierzehn Tagen gaͤnzlich vergriffen; und verſchiedene Vaͤter, welche mei - nen Aufſaz fuͤr gemeinnuͤzig hielten, wuͤnſchten einen abermaligen Abdruk deſſelben. Ich arbeitete ihn daher von neuem etwas ſorgfaͤltiger um, und ließ ihn, in dieſer vermehrten und verbeſſerten Geſtalt, meiner damahls ans Licht tretenden Samlung von Erziehungsſchriften einver - leiben. Hier ward er, ſo viel ich weiß, aber - mahls mit Zufriedenheit geleſen, und alle, welche ich daruͤber urtheilen hoͤrte, wuͤnſchten, daß man ihn, mehrerer Gemeinnuͤzigkeit wegen, von jener Samlung getrent, auch allein moͤgte kaufen koͤn - nen. Theils, um dieſem Verlangen, welches damahls nicht befriedigt werden konte, jezt ein Genuͤge zu thun, theils um nicht die gegenwaͤrtige Samlung von Erfahrungen und Klugheitsregeln, wovon jener Aufſaz einen weſentlichen Theil ent - hielt, unvolſtaͤndig zu laſſen, oder mit andern, vielleicht minder eindringlichen Worten, noch ein - mahl zu ſagen, was ich, nach dem Urtheil des Publikums, ſchon gut genug geſagt hatte, habe ich den Verlag jener Samlung von Erzie -** 2hungs -IVVorrede.hungsſchriften kaͤuflich an mich gebracht, um das Recht zu haben, dieſen Aufſaz daraus zu entlehnen und dem gegenwaͤrtigen Werke einzuverleiben.

Damit aber auch das Publikum eine und eben dieſelbe, nur etwas veraͤnderte Sache nicht zwei - mahl kaufen duͤrfe: ſo habe ich folgende, dieſer Unbequemlichkeit, wie mich duͤnkt, voͤllig abhel - fende Einrichtung getroffen. Erſtlich habe ich den Preis jener Samlung von Erziehungsſchrif - ten auf meine Koſten um ſo viel und noch mehr, als dieſe fuͤnf Bogen in derſelben betragen, herab - ſezen laſſen, ſo daß die kuͤnftigen Kaͤufer der be - ſagten Samlung dieſen daraus entlehnten Aufſaz unentgeldlich bekommen. Zweitens erbiete ich mich hiermit, allen denen, welche jene Samlung ſchon gekauft haben, das gegenwaͤrtige Buch, wenn ſie ſich deshalb an mich ſelbſt wenden wollen, um ſechs Groſchen weniger, als der Ladenpreis be - traͤgt, zu uͤberlaſſen; zu welchem Ende man unten*)An den Rath Campe Abzugeben auf dem koͤnigl. ſchwediſchen Poſtkomtoir zu in Hamburg. Trittow. meine jezige Addreſſe finden wird.

DerVVorrede.

Der andere, dreimahl groͤſſere Abſchnit iſt noch nie gedrukt worden.

Ich habe aber auch noch einen Anhang hin - zugefuͤgt, welcher den zweiten Theil dieſes Werk - chens ausmacht. Dieſer enthaͤlt das Weſentlichſte und Beſte aus einer beſondern Samlung von Briefen des Grafen von Cheſterfield, welche der engliſchen Originalausgabe der bekanten Briefe des Grafen an ſeinen Sohn vom Jahr 1776 als ein Anhang beigelegt, in der deutſchen Ueber - ſezung aber, ich weiß nicht aus was fuͤr Urſachen, uͤbergangen war. Sie erſcheint alſo jezt hier zum erſtenmahl uͤberſezt mit Weglaſſung der Ein - gaͤnge, Schlußformeln, und minder zwekmaͤßigen Stellen; und ich bin verſichert, meine Leſer werden finden, daß ſie eins der leſenswuͤr - digſten Stuͤkke der Cheſterfieldſchen Werke ſind. Die Ueberſezung iſt von Hrn. Rudolphi, mei - nem vieljaͤhrigen treuen und geſchikten Mitarbeiter in Erziehungsſachen.

Noch habe ich einige ausgeſuchte, und nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde bald abgekuͤrzte oder zuſammengezogene, bald getrente, und ihrem In -** 3halteVIVorrede.halte nach, ſo viel moͤglich geordnete, trefliche Stellen aus den uͤbrigen Briefen des Grafen an - gehaͤngt, weil ich mir nicht ſchmeicheln konte, daß es mir gelingen wuͤrde, die darin enthaltenen Vorſchriften in ein gefaͤlligeres Kleid zu huͤllen, als dasjenige war, welches man ihnen ſchon gege - ben hatte. Deswegen uͤberging ich dieſe Vor - ſchriften in meinem eigenen Aufſaze, um ſie mei - nen Leſern lieber mit den Worten eines ſo feinen Menſchenkenners und eines ſo angenehmen Schrift - ſtellers, als mit meinen eigenen, zu geben.

Um aber dieſe ausgezogenen Stellen in einige Verbindung zu bringen, habe ich ſie zum Theil dem eben erwaͤhnten neuuͤberſezten Stuͤkke derge - ſtalt einverleibt, daß ich jeden ſolcher eingeſcho - benen Zuſaͤze mit () einfaßte, und den Ort, wo jenes uͤberſezte Stuͤk ſich endigte, durch drei *** andeutete. Dieſe genaue Bezeichnung glaubte ich deswegen beobachten zu muͤſſen, damit man das, was hier zum erſten mahl uͤberſezt erſcheint, nicht mit demjenigen vermiſchen moͤgte, was ich aus der deutſchen Ueberſezung der ſaͤmtlichen Wer[k]edesVIIVorrede.des Grafen mit einigen Verbeſſerungen der Schreibart ausgehoben habe.

Man koͤnte aber fragen, warum ich meine Schuͤler nicht lieber auf das ganze Werk des Grafen verwieſen haͤtte, als ihnen dieſe Auszuͤge aus demſelben vorzulegen! Diejenigen, welche das Buch ſelbſt geleſen haben, und uͤber paͤdago - giſche Dinge urtheilen koͤnnen, wiſſen meine Ant - wort ſchon; fuͤr die uͤbrigen muß ich anmerken, daß der einſeitige Hauptzwek des Verfaſſers nur die Auſſenſeite ſeines Sohnes abzuglaͤtten, um ſie ſchimmernd und einnehmend zu machen, einen viel zu nachtheiligen Einfluß in verſchiedene ſeiner Ur - theile uͤber moraliſche Gegenſtaͤnde gehabt hat, als daß ich es wagen moͤgte, einem Juͤnglinge von noch nicht voͤllig ausgebildetem Karakter das Ganze in die Haͤnde zu geben. Dazu komt, daß der Sohn dieſes vornehmen und beguͤterten Weltmans von ſeiner Wiege an, fuͤr eine Laufbahn beſtimt war, zu welcher nur wenige junge Leute durch Geburt und Gluͤksumſtaͤnde faͤhig ſind; und daß daher auch manche Vorſtellung und Erinnerung, welche in Ruͤkſicht auf dieſe individuelle Beſtim -mungVIIIVorrede.mung zwekmaͤßig war, fuͤr die meiſten andern jungen Leute voͤllig unnuͤz, manche ſogar in hohem Grade ſchaͤdlich ſein wuͤrde. Ich getraue mir daher zu glauben, daß wohl keiner die von mir uͤbernommene Bemuͤhung, die beſten und gemein - nuͤzigſten Lebensregeln aus ſo vielen andern, theils bis zum Ekel widerhohlten, theils zu individuel - len, theils auf eine zu leichtſinnige Sittenlehre gebauten Vorſchriften auszuheben und ſie dieſem meinem Werkchen, um ihm eine groͤſſere Volſtaͤn - digkeit zu geben, beizufuͤgen, fuͤr uͤberfluͤſſig hal - ten werde.

Uebrigens bitte ich diejenigen, welche kuͤnftig einen Ausſpruch des Lords anfuͤhren wollen, ihn nicht aus dieſen meinen Auszuͤgen, ſondern aus ſeinen eigenen Werken zu nehmen, weil die Ver - ſchiedenheit zwiſchen Sr. Herlichkeit moraliſchen Grundſaͤzen und den meinigen, mich je zuweilen in die Nothwendigkeit ſezte, ihn grade das Ge - gentheil von demjenigen ſagen zu laſſen, was er wirklich geſagt hatte.

I. Theo -[1]

I. Theophrons guter Rath fuͤr ſeinen Sohn, als dieſer im Begrif war ins geſchaͤftige Leben zu treten.

A[2][3]

Nahe bey W*** lebte noch vor einigen Jahren auf einem kleinen Landſize der alte Theophron nenn ich ihn, weil ſein wahrer Nahme nichts zur Sache thut; ein Man von Verdienſten, der in wich - tigen Geſchaͤften grau geworden war. Den Abend ſeines gemeinnuͤzigen Lebens hatt er einer philoſophiſchen Ruhe und dem Wohl ſeiner klei - nen Familie gewidmet. Er hatte einen einzigen Sohn, deſſen Wohlergehn ihm ſo ſehr am Herzen lag! Wir wollen ihn Kleon nennen.

Die Zeit nahete jezt heran, daß dieſer den Schooß ſeiner Familie verlaſſen, und in oͤffent - liche Geſchaͤfte treten ſolte. Sein junger GeiſtA 2war4war mit den noͤthigſten Kentniſſen ausgeſchmuͤkt, ſein Herz vol der edelſten Geſinnungen: aber es fehlte ihm noch woran es jungen Leuten immer fehlt an Erfahrung. Sein guter Vater wolte nun dieſen Mangel ſo weit das moͤglich iſt durch ſeinen Rath erſezen; und dieſer macht den Inhalt der folgenden Blaͤtter aus.

Es war an einem ſchoͤnen Sommerabend, den die Natur recht eigentlich dazu gemacht zu haben ſchien, die Gemuͤther der Sterblichen zu ſtillen, heilſamen Betrachtungen einzuladen. Alles ſchwieg; nur daß in dem nahen Gebuͤſch ein Paar Nachtigallen das Gluͤck ihres Daſeins und ihrer Liebe durch ſuͤße Lieder feierten. Die Sonne hatte ihren Lauf vollendet; ſchenkte ihrer lieben Erde eben noch die lezten Abſchiedsblikke, und jezt ſank ſie almaͤhlig hinter das weſtliche Gebirge hinab.

Da ſezte Theophron ſich mit ſeinem Sohne auf einer kleinen Anhoͤhe nieder, von welcher ſie die große herliche Gegend uͤberſehen konten, diemit5mit der reichſten Mannigfaltigkeit von Gaͤrten, Waͤldern, Wieſen, Aekkern, Fluͤſſen und Dorf - ſchaften, vor ihnen ausgebreitet lag. Sie ſchwie - gen eine gute Weile, indem jeder von ihnen ſich ſeinen eigenen Empfindungen uͤberließ. Endlich faßte Theophron die Hand ſeines Sohns, druͤkte ſie mit Innigkeit, und fuͤhlte auf der ſeinigen Kleons Lippen mit einem warmen kindlichen Kuſſe beben.

Mein guter Sohn, ſagt er, indem er ſich die Augen wiſchte, die Zeit iſt nun da, daß wir uns trennen muͤſſen. Du wirſt die gefahrvolle Wanderſchaft des Lebens allein antreten, ohne fernerhin deinen vaͤterlichen Freund zum Gefaͤhrten und Fuͤhrer zu haben. Aber mein Geiſt ſol mit Liebe, Rath, und guten Seegenswuͤnſchen beſtaͤn - dig bei dir ſein, wohin der Weg, den die Vor - ſehung dir nun anweiſen wird, auch immer fuͤhren mag. Und wan ich ſelbſt nicht mehr hier bin; wan unſer gemeinſchaftlicher Vater dieſen meinen unſterblichen Geiſt nach andern Gegenden ſeines unermeßlichen Weltals abrufen wird: dan, mein Sohn, dan iſt Er, unſer guter SchoͤpferA 3ſelbſt,6ſelbſt, doch noch immer bei dir mit Rath und Kraft, wenn du beſtaͤndig auf ſeinen Wegen wandelſt. Und das wirſt du; dein Herz, welches ich zu kennen glaube, iſt mir Buͤrge dafuͤr. Umarme mich, mein Theurer, und laß an meinem vaͤter - lichen Buſen dein klopfendes Herz dem meinigen die ſtumme Verſicherung geben, daß es ihn nie gereuen ſol, dieſe Buͤrgſchaft angenommen zu haben!

Kleon flog mit Inbrunſt in ſeine Arme, und lange hielten ſie ſich in wehmuͤthiger, ſprachloſer Ruͤhrung umſchlungen.

Endlich ermante ſich der Vater, und fuhr fol - gendermaßen fort.

Mein Sohn, du ſtehſt in Begrif, ein un - ſicheres Meer zu befahren, wo es der Klippen, der Sandbaͤnke und der Stuͤrme viele gibt. Ich habe dieſe Fahrt vor dir gethan; lief oft Ge - fahr, bin aber endlich, Gott ſei Dank! noch ziem - lich unverſehrt, und mit mancherlei Erfahrungen bereichert, in dieſem kleinen ſtillen Hafen gluͤklich vor Anker gekommen. Da ich ausfuhr, hatte ich keinen, der mir guten Rath gewaͤhrte; ichmußte7mußte alle meine Erfahrungen auf eigene Koſten, oft theuer genug, einkaufen. Aber nun ich ſie habe, ſollen ſie nicht mit mir ins Grab gelegt werden; ſie ſollen mein Vermaͤchtnis ſein, wel - ches ich dir, mein Einziger, hinterlaſſen wil. O freue dich, du haſt eine reiche Erbſchaft gethan, wenn du ſie zu nuͤzen weißt!

Hoͤre mir alſo mit Aufmerkſamkeit zu, und erinnere mich allenfals, wenn ich in den gewoͤhn - lichen Fehler des Alters fallen, und in geſchwaͤzige Ausſchweifungen gerathen ſolte. Denn es iſt mein ernſtlicher Wunſch, dieſen Abend nicht mehr und nicht weniger zu reden, als was dir zur gluͤklichen Fuͤhrung deines kuͤnftigen geſchaͤftigen Lebens zu wiſſen noͤthig iſt.

Vor allen Dingen merke dir dieſes, mein Kleon! Wer mit gluͤklichem Erfolg, zu ſeiner und zu anderer Zufriedenheit auſſer ſich wirken wil, der muß zuvor auf ſich ſelbſt gewirkt haben. O wie viele kenne ich, die dieſe Wahrheit zu ſpaͤt lernten, und die unwiederbringliche Zeit,A 4welche8welche daruͤber verfloſſen iſt, mit ihrem Herzens - blute zuruͤkkaufen moͤgten!

Archimedes verlangte nur einen feſten Punkt, um den ganzen Erdbal aus ſeinem Gleiſe zu ſchieben. Auch in der moraliſchen Welt bedarf jeder, der große Wirkungen hervorbringen wil, gleichfals eines ſolchen feſten Punktes. Und der muß in uns ſelbſt ſein. Wehe dem, der ſeine Kraft auf den Umkreis richtet, ohne das Centrum gehoͤrig befeſtiget zu haben!

Ich wil ohne Metapher reden. Wer aͤuſſer - liche Geſchaͤfte, welche auf das Wohl der menſch - lichen Geſelſchaft abzielen, uͤbernehmen wil (und ich ſeze voraus, daß der Man von Ehre und Ge - wiſſen ſich zu keinem andern wird gebrauchen laſſen) der fange doch ja damit an, ſich ſelbſt zu beſſern, ſich ſelbſt in allem, was gut und edel iſt, auf immer zu befeſtigen, und ſich dadurch ein Maaß von innerer Zufriedenheit zu erwerben, welches ſein Herz nicht mehr zu faſſen vermag, und es daher auf andere Weſen auſſer ſich uͤber - fließen zu laſſen, ſich gedrungen fuͤhlt. Wer dieſes verabſaͤumt, und gleichwohl ins Große wir -ken9ken wil, der gleicht jener pralenden, aber kurzen Lufterſcheinung, welche den Glanz eines Fixſterns nachahmt, aber keine bleibende Staͤte hat, und dahinfahrend in einem Nu! erloſchen iſt!

Mein Kleon! die Hand aufs Herz, und wohlbedaͤchtig unterſucht, wie es in Anſehung dieſes Einen, welches ſo ſehr noth iſt, mit dir beſchaffen ſei! Biſt du dir bewußt, daß die Liebe zu allem, was wahr und gut und ſitlich ſchoͤn iſt, ſchon wirklich tiefe unaustilgbare Wur - zeln in dir geſchlagen habe; daß du dich beſtrebt habeſt, und noch taͤglich beſtrebeſt, deine Nei - gungen alle wohl zu ordnen, und der beſtaͤndigen Lenkung der Vernunft und des Gewiſſens zu un - terwerfen; daß das Laſter jeder Art eine ſo haͤß - liche abſchrekkende Geſtalt in deinen Augen an - genommen habe, und dein ſitliches Gefuͤhl zu - gleich ſchon ſo verfeinert und ſo geſchaͤrft ſei, daß du das, was boͤſe iſt, unter jeder noch ſo reizenden Larve, durch ein ploͤzliches Gegengefuͤhl erkennen, und immer verabſcheuen, und immer davor zuruͤk - ſchaudern wirſt; biſt du dir endlich des redlichen Vorſazes bewußt, dich in dieſen angefangenenA 5guten10guten Geſinnungen taͤglich mehr und mehr be - feſtigen, und ſo von Stufe zu Stufe zu dem hoͤchſten Gipfel der Volkommenheit, welcher hie - nieden fuͤr uns erreichbar iſt, hinan klimmen zu wollen: dan trete mit Gott und gutem Muthe in die Laufbahn, welche die goͤtliche Vorſehung dir eroͤfnen wird, und zweifle nicht, daß du den Lauf vollenden, und ein herliches Ziel erreichen werdeſt.

Kanſt du aber (und Gott verhuͤte, daß du hieruͤber noch niemahls mit dir ſelbſt ſolteſt zu Rathe gegangen, oder wohl gar in einer ſo wichtigen, alles entſcheidenden Sache der ge - ringſten Verſtellung faͤhig ſein!) kanſt du, ſage ich, dir ſelbſt hieruͤber noch keine beruhigende Antwort geben: o ſo halte dich doch ja noch nicht fuͤr berufen, irgend ein anderes Geſchaͤfte zu be - ginnen, als dieſes noͤthigſte unter allen das Geſchaͤft deiner eigenen ſitlichen Ausbeſſerung!

Denn, glaube deinem alten Vater, der ja wahrlich keine Urſache haben kan, dich hinter - gehen zu wollen, und der es dir bei dieſem ſei - nen grauen Haupte und bei der Hofnung einerſeeligen11ſeeligen Zukunft betheuert, daß weder irgend eine wahre dauerhafte Gluͤkſeeligkeit fuͤr den ungebeſ - ſerten Menſchen moͤglich ſei, noch daß derjenige, der ſich nicht ſelbſt durch das Bewuſtſein ſeiner Rechtſchaffenheit innerlich gluͤklich fuͤhlt, andere Menſchen auſſer ſich gluͤklich machen koͤnne. Und das iſt doch, hoff ich, die Abſicht, warum wir oͤffentliche Geſchaͤfte uͤbernehmen!

Niemand kan etwas geben, was er ſelbſt nicht hat: das iſt eine ſimple und unlaͤugbare Wahrheit. Was folgt daraus? Das, was ich geſagt habe, daß man andern Weisheit, Guͤte und Gluͤkſeeligkeit wirklich nicht anders mittheilen koͤnne, als nur in dem Grade, in welchem man ſelbſt ſchon weiſe, gut und gluͤklich geworden iſt.

Hoͤre, mein Sohn, ich habe dir eine traurige Wahrheit zu ſagen: auf dieſer ſchoͤnen Erde, welche fuͤr Weſen, die den Geſezen der Natur Gottes Geſezen beſtaͤndig treu blieben, ein wirkliches Paradies ſein muͤßte, leben wenig gluͤckliche Menſchen. Nim dieſe unſeelige Beobachtung ſo lange auf Treu und Glauben von mir an, bis du ſie ſelbſt wirſt beſtaͤtigetgefunden12gefunden haben. Die Quelle dieſes algemeinen Elendes, welches die Menſchheit ergriffen hat, iſt nicht in Gott, nicht in der von ihm geſchaffe - nen Natur; ſie iſt in den Menſchen ſelbſt, in ih - rem verwoͤhnten, von unreinen Leidenſchaften un - aufhoͤrlich beunruhigten Herzen. Unter dieſen Leidenſchaften gibt es vornemlich drei, welche das in Wahrheit fuͤr die Menſchen ſind, was in der Fabellehre die drei Hoͤllenfurien fuͤr die Verdamten waren; ſie heiſſen Ehrſucht, Ueppigkeit und Un - zucht.

Jede von dieſen Leidenſchaften iſt ein gefraͤßiger Wurm, der die ſchoͤne Blume, Gluͤkſeeligkeit ge - nant, wovon der Schoͤpfer den Keim in alle ſeine Geiſter gelegt hat, unaufhoͤrlich an der Wurzel benagt. Wehe dem Herzen, in welches der eine oder der andere von ihnen ſich einmal eingeſchlichen hat! Und o Jammer! in viele, vielleicht ich zitre, indem ichs ſage vielleicht in die meiſten, haben alle drei zugleich den Eingang ge - funden!

Daher die algemeine Unzufriedenheit unter den Menſchen! Daher die algemeine Erſchlaffungaller13aller urſpruͤnglichen Kraͤfte der Menſchheit und ihre merklich zunehmende Unfaͤhigkeit zu allem, was edel und groß iſt! Daher doch dieſe Klagen wuͤrden mich zu weit fuͤhren. Meine Abſicht war ja nur, dich auf dieſe Erbfeinde der menſchlichen Gluͤkſeeligkeit, dieſe maͤchtigſten Stoͤrer eines zufriedenen und gemeinnuͤzigen Le - bens aufmerkſam zu machen, damit du den ſtaͤrk - ſten Harniſch der Vernunft und der Religion wi - der ſie anlegen, und vor ihren, anfangs unmerk - lichen Angriffen, beſtaͤndig auf deiner Hut ſein moͤgeſt.

Haſt du nun ſolchergeſtalt bei dir ſelbſt an - gefangen; und glaubſt du, mit der Bildung dei - nes eigenen Herzens in ſo weit zur Richtigkeit gekommen zu ſein, daß du nicht beſorgen darfſt, den tauſendfaͤltigen Verſuchungen zum Laſter, denen du entgegen gehſt, jemahls unterzuliegen: dan ſei dein naͤchſtes wichtiges Geſchaͤft, deine eigenen Kraͤfte wohl zu pruͤfen, um ihnen einen ihrer Groͤße genau angemeſſenen Wirkungskreis zu beſtimmen. Das habengemeinig -14gemeiniglich grade die edelſten Selen verabſaͤumt; und dieſe Vernachlaͤßigung allein erklaͤrt dem nach - denkenden Beobachter ſchon zum Theil das ſonſt unaufloͤslichſcheinende Raͤthſel, warum auch dieſe, welche in dem Reiche eines alweiſen und alguͤtigen Weltregenten einer ausgezeichneten Gluͤkſeeligkeit genießen ſolten, nicht ſelten elend ſind.

Es ſind aber hiebei vornehmlich vier Re - geln zu beobachten, die ich dir mittheilen wil.

Die erſte und wichtigſte unter allen iſt dieſe: wolle, indem du auf die Schaubuͤhne des geſchaͤftigen Lebens tritſt, nicht glaͤnzen, ſondern nuͤzen und gluͤklich ſein! O eine goldene Regel, deren Beobachtung Zufriedenheit, deren Vernachlaͤßigung unausbleibliches Elend zum Gefolge hat! Und doch, wie ſelten wird ſie befolgt!

Der junge ruͤſtige Geiſt des Juͤnglings, durch eine thoͤrichte Erziehung und durch das al - gemeine Beiſpiel zur Ehrſucht entflamt, fuͤhlt kaum den erſten duͤrftigen Knospen der fruͤhreifen Manskraft ſeiner Sele zum Ausbruch anſchwellen: ſo ſchaut er ſchon gierig umher, und brent, undlechzt15lechzt nach einer Gelegenheit, wobei er dem, ſei - ner Meinung nach, erſtaunten Publikum ankuͤn - digen koͤnne: feht doch, auch ich bin da! Hat er nun eine ſolche Gelegenheit erhaſcht, und findet ſich dan irgend ein thoͤrichter Menſchenverder - ber, der aus Eitelkeit, um ſich das Anſehn eines Be - ſchuͤzers zu geben, oder aus Schwachheit und unweiſer Gefaͤlligkeit, auf ſein Seht doch! achtet, den jungen Gekken ſtreichelt, ihn wohl gar aus dem Haufen hervor ans helle Tageslicht zieht, und noch einmahl ſelbſt ſeht doch! ruft: dan gute Nacht Beſcheidenheit! Gute Nacht gerader, ein - faͤltiger, reiner Menſchenſin! Gute Nacht Gluͤk - ſeeligkeit!

Von Stund an iſt das Dichten und Trachten des jungen Thoren auf nichts anders gerichtet, als wie er Augen auf ſich ziehen, und von ſich ſchwazen laſſen moͤge. Die Mittel, dieſen Zwek zu erreichen, kommen nicht weiter in Betrachtung, als in ſo fern ſie mehr, oder weniger, geſchwin - der oder langſamer wirkſam ſind. Ob ſie uͤbri - gens mit den Grundſaͤzen der wahren Ehre und der ſtrengen Rechtſchaffenheit beſtehen koͤnnen,das16das wird nicht mehr bedacht. Es iſt ihm nur ums Beruͤhmtwerden zu thun; wil’s nicht als Architekt gehen, der den Tempel baut: flugs wird das ruhmgierige Maͤnchen ein Heroſtratus, der ihn verbrent. Hat er ſich doch ſo auch ver - ewiget!

Nun iſt das Gefuͤhl fuͤr jedes andere natuͤr - lich gute, edle und große Vergnuͤgen in ſeiner Bruſt erſtorben. Todt iſt ihm die ganze ſchoͤne Natur mit allen ihren Freuden; ekelhaft jede ſtille beſcheidene Familiengluͤkſeeligkeit; trokken und abgeſchmakt jedes noch ſo nuͤzliche Geſchaͤft, wobei man nur nicht glaͤnzen kan. Er hat forthin nur noch Einen Sin, den heilloſen Sin fuͤr Lob und Ruhm! So lange dieſer gekizelt wird, iſt ihm die Welt ein Himmel, der Kizelnde ein Engel, er ſelbſt ein Halbgott! Laͤßt der Kizel nach, wird er wohl gar an dieſer ſeiner einzigen empfindlichen Stelle durch Tadel verwundet: in dem Augenblik iſt ihm die Welt eine Hoͤlle, jeder Menſch ein Teufel, er ſelbſt ein Maͤrtirer! So hat der Un - gluͤkliche dem Vergnuͤgen nur ein einziges ſchmales Pfoͤrtchen zu ſeinem Herzen offen gelaſſen, und demMisver -17Misvergnuͤgen tauſend weite Fluͤgelthuͤre auf - gethan!

O mein Sohn! Haͤtt ich Urſache zu beſorgen, daß du jemahls, durch Beiſpiel angeſtekt, in dieſe eben ſo thoͤrichte, als gefaͤhrliche Seuche der Ruhm - ſucht verfallen koͤnteſt: ich wolte Gott auf meinen Knien bitten, daß er dir jedes Talent, jede Kraft zu irgend einer vorzuͤglichen Wirkſamkeit, welche dir Beifal erwerben koͤnte, verſagen moͤgte; wolte Tag und Nacht ihn bitten, daß er dir nur grade ſo viel koͤrperliches und geiſtiges Vermoͤgen ließe, als der ehrliche Holzhauer bedarf, um ſich vor Mangel zu ſchuͤzen! Denn, bei Gott dem Alwiſſenden! du wuͤrdeſt ſo viel gluͤklicher ſein!

Aber, wirſt du vielleicht denken, die Ehrbe - gierde iſt doch ein ſo maͤchtiger Sporn zu vielem Guten, welches, ohne ſie, wohl unerreicht blei - ben wuͤrde! Ja, wohl ein Sporn aber wehe dem traͤgen Roſſe, welches innerer antrei - benden Kraͤfte beraubt, nicht anders laͤuft, als wenn es von auſſen geſpornt wird! Es wird frei - lich des Sporns wegen ſeine Kraͤfte uͤbernehmen; aber auch bald ermattet und ſteif nur nochBzum18zum Karngaul tuͤchtig ſein. Mache ſelbſt die Anwendung.

Eine zweite Bedenklichkeit, die man mir ent - gegen ſezen koͤnte, iſt eben ſo ungegruͤndet. Wie ſol aber, koͤnte einer fragen, ein junger Menſch ſein Gluͤk machen, wenn er ſich nicht fruͤhzeitig hervorzuthun, vor andern auszuzeichnen ſucht? Sein Gluͤk machen? Das ſol vermuthlich ſo viel heiſſen, als eintraͤgliche Ehrenaͤmter, Titel und Wuͤrden erlangen? Wenn das der Sin dieſer Phraſe iſt (wie er es in dem gemeinen Sprachgebrauche denn wirklich iſt): ſo hatt ich in meinen juͤngern Jahren ſo gut, als einer meines Standes, mein Gluͤk auch gemacht, und es ſtand lediglich bei mir, es noch weiter zu machen. Und doch muß ich, als ein ehrlicher Man betheuern, daß ich meine wirkliche Gluͤk - ſeeligkeit erſt von dem Tage an datire, da ich auf jenes gemachte und noch zu machende Gluͤk frei - willig Verzicht that, um von der Welt vergeſſen, in dieſer ſtillen Gegend, mir und meinen Lieben zu leben, und ohne Geraͤuſch im Kleinen Guts zu thun.

Zwar19

Zwar dieſes Zuruͤkziehn aus dem Gewuͤhl des oͤffentlichen Lebens in die ſtille Einſamkeit muͤſſe von keinem andern fuͤr ein Beiſpiel zur Nachah - mung gehalten werden, als von dem, der entwe - der ſich bewußt iſt, der menſchlichen Geſelſchaft fuͤr ſein Theil ſchon genug gedient zu haben; oder der aus irgend einer wichtigen Urſache ſich unfaͤ - hig fuͤhlt, ihr fernerhin ſeine Dienſte angedeien zu laſſen; oder endlich auch von dem, der da Mittel und Wege weiß, auch in der Einſam - keit ein fuͤr ſeine Bruͤder gemeinnuͤziges Leben zu fuͤhren. Und ich darf ſagen, daß, wo nicht der erſte Fal, doch wenigſtens der zweite und dritte derjenige geweſen ſei, worin dein Vater ſich befand, da er von dem großen Welttheater abzutreten fuͤr noͤthig erachtete.

Denn Gott hat ſeine ſchoͤne Welt nicht fuͤr unthaͤtige, blos betrachtende Einſiedler geſchaffen. Er wil, daß der Menſch geſellig ſei, und daß je - der das Maaß von Kraͤften, welches ihm ver - liehen worden, zum gemeinen Beſten verwende. Dazu ſolſt auch du alſo das deinige brauchen; ſolſt durch ſo viel edle Thaten, als dir nur immerB 2moͤglich20moͤglich ſind, dich hervorthun, doch ohne dieſes Hervorthun zum Zwek deiner Thaten zu machen; ſolſt dir dadurch den Weg zu Ehren und Wuͤr - den bahnen, aber nicht, als wenn dieſe Ehren und Wuͤrden an ſich ſelbſt etwas Wuͤnſchens - werthes, das Endziel unſerer Beſtrebungen waͤren; ſondern weil ſie Mittel ſind, wodurch wir hoͤhere, wirklich wuͤnſchenswerthe Zwekke erreichen koͤnnen.

Und dazu, glaube mir, mein Sohn, bedarf es keines aͤngſtlichen Hervordraͤngens, keines ge - ſuchten Schimmers, der die Augen der Leute auf ſich zieht. Der Man von Verdienſt hat ſchon von ſelbſt, wenn ich mich ſo ausdruͤkken darf, eine gewiſſe Witterung, welche die Kenner aufmerkſam auf ihn macht, und es iſt ihm bei - nahe unmoͤglich, in der Laͤnge verborgen oder ver - kant zu bleiben. Und bliebe er’s auch: nun, ſo wuͤrde er doch nicht vergebens da geweſen ſein; es wuͤrde ihm, wie der Sonne, gehn, wenn der Dunſtkreis mit dikken Wolken angefuͤlt iſt. Als - dan erleuchtet und erwaͤrmt ſie den Erdkreis, ohne ſelbſt geſehen zu werden. Aber iſt ſie deswegenweniger21weniger Sonne? Und wird ſie, wenn die krie - chende Raupe auf ihrem Kohlblat ſie verkent, nicht von dem koͤniglichen Adler bemerkt, der ſich uͤber die Wolken ſchwingt? Crede mihi, bene vixit, bene qui latuit!

Die zweite beſondere Regel, welche aus jener algemeinen, die ich dir empfohlen habe, gleich - fals abfließt, iſt dieſe: laß deinen moraliſchen Wirkungskreis anfangs nur auf diejenigen eingeſchraͤnkt ſein, welche dir die naͤchſten ſind, und ruͤkke die Grenzen deſſelben nur in dem Maaße almaͤhlig weiter, in welchem du deine Abſicht bei dieſen ſchon erreicht haſt, und nun noch Kraͤfte zu ausgedehn - tern Wirkungen uͤbrig fuͤhlſt. Ich wil mich umſtaͤndlicher erklaͤren.

Die endliche Kraft eines ſchwachen Sterblichen iſt ja nicht almaͤchtig. Sie kan ja nicht, wie Gottes Kraft, auf alle Weſen auſſer ihr zugleich wirken; ſie muß alſo ihre jedesmaligen Wirkun - gen nur auf einzelne Gegenſtaͤnde einſchraͤnken. Wer kan aber jedesmahl das naͤchſte und groͤßteB 3Recht22Recht auf unſere nuͤzliche Wirkſamkeit haben, als diejenigen, welche die Natur, oder die goͤt - liche Vorſehung, am naͤchſten und innigſten mit uns verbunden hat? Wuͤrd es nicht unaus - ſprechlich thoͤricht und ungerecht zugleich ſein, wenn ein Arzt, der ſeiner Kunſt gewiß waͤre, ſeine Zeit damit verſchwenden wolte, Arzeneimittel wider moͤgliche Krankheiten der Antipoden zu be - reiten, indes ſeine Hausgenoſſen und Mitbuͤrger an einer epidemiſchen Seuche darnieder laͤgen, und vergebens um Huͤlfe ſchrien? Erſt ſuche er dieſe zu retten; dan ſeine Landsleute in den naͤch - ſten Doͤrfern, Flekken und Staͤdten, und ſo im - mer weiter in dem Maaße, in welchem ihm zu ausgedehntern Wirkungen Zeit und Kraͤfte von Gott verliehen werden.

Eben dieſe Pflicht der weiſen Einſchraͤnkung ſeines Wirkungskreiſes liegt nun auch dem mora - liſchen Arzte ob. Hat er ein Weib genommen, ſo ſei dieſe der naͤchſte Gegenſtand, deſſen ſitliche Vervolkomnung, naͤchſt der ſeinigen, ihm am meiſten am Herzen liegen muß. Vertraut die goͤtliche Vorſehung ihm Kinder an; ſo ziehe erdie23die Grenzlinie ſeines ausſchließenden Wirkungs - kreiſes auch noch um dieſe herum, und ſorge fuͤr die beſtmoͤgliche Erziehung derſelben. Was ihm bei dieſem Geſchaͤft an Zeit und Kraͤften uͤbrig bleibt; das werde ſeinen Hausgenoſſen, ſeinen naͤchſten Verwandten, ſeinen Freunden, ſeinen Mitbuͤrgern gewidmet. Und ſo erweitere ſich von Stufe zu Stufe die Peripherie ſeiner Wirkungen gerad in dem Maaße, in welchem er ſeine Kraͤfte wachſen und bei einer eingeſchraͤnkteren Thaͤtig - keit in einem unangenehmen Gedraͤnge fuͤhlt.

Aber er huͤte ſich hierbei ſorgfaͤltig vor einem, nur gar zu moͤglichen Selbſtbetruge. Der menſch - liche Geiſt, welcher ſeiner Natur nach immer ins Unendliche ſtrebt, und jede Art von Einſchraͤn - kung aͤuſſerſt ungern ertraͤgt, uͤberredet ſich nur gar zu leicht, daß die naͤchſte Arbeit, wozu ihn ſeine Pflicht auffodert, ſchon gethan ſei: daß er zu etwas Groͤſſerem Beruf habe; daß er Kraͤfte und Faͤhigkeiten in Ueberfluß beſize, den Pflichten des Gatten, des Vaters, des Freundes und des Buͤrgers ein Genuͤge zu thun und demohngeachtet auch noch aufs Ganze zu wirken. Wehe ihmB 4und24und ſeiner verwaiſeten Familie, wenn er dieſem verfuͤhreriſchen Gefuͤhl, ohne lange und ſorgfaͤl - tige Pruͤfung, traut, und ſeine von wildem auf - brauſendem Enthuſiasmus angeſchwollene Kraͤfte nun ſogleich die Daͤmme zerreiſſen laͤßt! Was wird die Folge ſein? Er wird in kurzer Zeit ſo ſehr Geſchmak an großen glaͤnzenden Wirkungen finden, daß die kleinen haͤuslichen Familienſcenen ihm zum Ekel werden; ſeine ungluͤkliche Gattin, ſeine beklagenswuͤrdigen Kinder[werden] ihm fremd werden; er ſelbſt wird mit Herz und Geiſt uͤberal, nur nicht zu Hauſe ſein.

Glaube mir, mein Sohn, nur ſehr wenige Menſchen ſind berufen, Lichter der Welt zu ſein. Aber nach dem Maaße ſeiner Einſichten ſein Weib, ſeine Hausgenoſſen zu erleuchten, den Beruf hat jederman, der die Wuͤrde eines Haus - vaters uͤbernommen hat.

Ein Man von mehr, als gewoͤhnlicher Faͤ - higkeit, ſagt ein Schriftſteller von großen Ta - lenten,*)Wieland. hat noch genug an ſeiner eigenen Beſ -ſerung25ſerung und Vervolkomnung zu arbeiten. Er iſt am geſchikteſten zu dieſer Beſchaͤftigung, nachdem er durch eine Reihe betraͤchtlicher Erfahrungen ſich ſelbſt und die Welt kennen zu lernen angefan - gen hat, und indem er ſolchergeſtalt an ſich ſelbſt arbeitet, arbeitet er wirklich fuͤr die Welt. Denn um ſo viel geſchikter wird er, ſeinen Freun - den, ſeinem Vaterlande und den Menſchen uͤber - haupt nuͤzlich zu ſein und in einem groͤßern oder kleinern Kreiſe mit mehr oder weniger Gepraͤnge, auf eine oͤffentliche oder nicht ſo merkliche Art, zum algemeinen Beſten des Siſtems mitzu - wirken.

Es iſt eine der gefaͤhrlichſten Seuchen, an der unſer Zeitalter vorzuͤglich krank liegt, daß jeder unbaͤrtige Knabe, der ſo eben erſt der Ruthe ſeines Lehrmeiſters entſprungen iſt, ſich nun ſchon fuͤr faͤhig und fuͤr berufen haͤlt, ein Lehrer des menſchlichen Geſchlechts zu werden. Hat er einige Romane und Gedichtchen, einen Wuſt ſogenanter gelehrten Zeitungen und Bibliotheken geleſen; hat er ein Paar Duzend ſchoͤnklingender neumodiſcher Phraſen und affektirter WendungenB 5auf -26aufgeſchnapt: huſch! iſt das gelehrte Naͤrchen am Schreibpult, um ſie dem lieben Publikum, welches mit dergleichen ſuͤßlichen und faden Zeuge ſich den Magen ſchon ſo oft uͤberladen hat, viel - leicht zum taufendſten male aufgewaͤrmt und an - gewaͤſſert, von neuem wieder aufzutiſchen. Es wuͤrde ein unausſtehlicher Anblik ſein, wenn ein Maler eine Verſamlung ehrwuͤrdiger Greiſe mahlte, und vor ihnen einen Ourang Outang in geheiligtem Ornat, als Lehrer, auftreten ließe, der die Geſelſchaft mit Grimaſſen unterhielte: und dieſen[aͤrgerlichen] Anblik muͤſſen wir gleichwohl mit jeder neuen Meſſe wohl hundert und mehr - mahl in Natura ertragen.

Huͤte dich, mein Sohn, vor dieſer eben ſo laͤcherlichen als ſchaͤdlichen Autorſeuche. Wiſſe, daß das fuͤrchterliche Anſchwellen der Buͤcher und die damit verbundene Leſewuth, welche taͤglich weiter um ſich greift, eine Folge und zu - gleich mit eine Urſache der immer groͤſſer wer - denden Verderbniß unſerer Sitten und der ganzen Menſchheit iſt. Man ſchreibt und lieſet, nicht um zu beſſern, nicht um gebeſſert zu werden, ſon -dern27dern jenes um zu glaͤnzen, um Geld und Ruhm zu erwerben, ohne etwas Gemeinnuͤziges und Ruhmwuͤrdiges thun zu duͤrfen, dieſes um die zerſtreute, von aller nuͤzlichen Thaͤtigkeit abge - wandte Sele noch mehr zu zerſtreuen, in den Schlaf der Vergeſſenheit aller haͤuslichen und buͤrgerlichen Pflichten noch tiefer einzuwiegen. Man lehrt und ſchreibt, um nicht lernen und denken zu duͤrfen; man lieſt, um aller Arbeit uͤber - hoben zu ſein, und doch nicht Langeweile zu haben.

Bis ziemlich weit in die Mitte des gegen - waͤrtigen Jahrhunderts, war es im Algemeinen wahr, daß in unſerm deutſchen Vaterlande der phiſiſche Theil der Menſchheit uͤber den morali - ſchen, der koͤrperliche uͤber den geiſtigen ein ſchaͤd - liches Uebergewicht hatte. Dank ſind wir daher allen denen ſchuldig, die auf eine oder die andere Weiſe etwas dazu beigetragen haben, die Kraͤfte der Menſchheit auch auf der vernachlaͤßigten Seite anzubauen; Talente und Faͤhigkeiten in uns zu erwekken, deren ſchlummerndes Daſein in uns wir kaum ſelbſt zu ahnden uns getrauten, und dadurch den geiſtigen Theil unſerer Natur zu einerStufe28Stufe der Kultur zu erheben, die er, ſo alge - mein wie nun, noch nie erreicht hatte. Der Ge - ſchmak iſt veredelt, das ſitliche Empfindungsver - moͤgen verfeinert, die Einbildungskraft befluͤgelt, der Verſtand und das Gedaͤchtniß mit einer uͤber - ſchwenglichen Fuͤlle von Kentnißen bereichert, und zugleich die ganze Auſſenſeite des Menſchen mit erkuͤnſtelter Anmuth uͤberſirnißt worden. Gluͤk - lich, wenn das himliſche Roß, nach Plato’s Allegorie, ſeinen irdiſchen Gefaͤhrten mit ſich hin - aufgezogen haͤtte auf den Felſengipfel, wohin man es geſpornt hat, und nun beide ihren Lauf gemeinſchaftlich fortſezen koͤnten! Aber leider! iſt dis nicht geſchehen. In eben dem Maaße, in welchem die Kultur des Geiſtes durch Kuͤnſte und Wiſſenſchaften betrieben ward, hat man die koͤr - perlichen Kraͤfte unſerer Natur, hat man zugleich Luſt und Vermoͤgen zu allen anſtrengenden, die Phantaſie und die beſchauenden Faͤhigkeiten un - ſerer Sele weniger beſchaͤftigenden Arbeiten, hat man die den Deutſchen ſonſt ſo eigene Strebſam - keit und das unverdroſſene Ausdauern in anhal - tenden und muͤhſamen Geſchaͤften, hat man end -lich29lich den nazionalen Muth in Gefahren und den ruhigen heitern Biderſin bei jeder Abwechſelung des Schikſals, immer mehr und mehr abnehmen, kraͤnkeln, hinſinken und abſterben geſehen. Und bei dieſer Lage der Menſchheit ſolt es noch im - mer fuͤr ein auszeichnendes Verdienſt gehalten werden, die Werkzeuge jener ungluͤklichen einſei - tigen Kultur zu vermehren? Ins Unendliche zu vervielfaͤltigen? Glaube mir, mein Sohn, es iſt jezt in den meiſten Faͤllen ein viel verdienſtli - cheres Werk, eine Quadratruthe Moorland urbar gemacht, oder einen Stein Flachs geſponnen zu haben, als der Verfaſſer eines Schauſpiels, eines Romans, oder eines Baͤndchen allerliebſter Ge - dichtchen zu ſein. *)Indem der weiſe und gute Antonin die Wohl - thaten aufzaͤhlt, welche der Himmel ihm waͤh - rend ſeines Lebens erwieſen, rechnet er vor - nehmlich auch dieſes hinzu, daß er ihn be - wahrt habe, ein ſchoͤner Geiſt zu werden. Den Goͤttern habe ich es zu verdanken, ſagt er, daß ich in der Rhetorik, der Poeſie, und in andern aͤhnlichen Studien keinegroͤſſere

Strebe30

Strebe alſo nicht nach der eingebildeten Ehre, deinen Nahmen in den Meßverzeichniſſen aufge - fuͤhrt zu ſehn. Schraͤnke vielmehr alle deine moraliſchen Wirkungen auf dich ſelbſt und auf die Lieben ein, welche Gott durch Familienbande mit dir verknuͤpfen wird. Nur dan erſt, wan du, unter goͤtlichem Beiſtande, dieſe begluͤkt haſt; wan deine, deiner Gattin und deiner Kinder Selen durch die reinſte und zaͤrtlichſte Liebe ver - bunden, gleichſam in einander gewachſen ſind, und keine Erſchlaffung dieſer heiligen Bande durch die Zerſtreuungen und Muͤhſeeligkeiten, welche[die] Wirkſamkeit aufs Ganze unausbleib - lich mit ſich fuͤhrt, weiter zu beſorgen haben; und wenn dein Herz dan von eigener Gluͤkſeelig - keit ſo vol iſt, daß es, ohne von Eitelkeit und Ruhmſucht dazu angeſpornt zu werden, ſich maͤch - tig gedrungen fuͤhlt, dieſe eigene Gluͤkſeeligkeit auf andere, durch die Menſchheit mit ihm ver - wandte Weſen uͤberfließen zu laßen: dan, meinSohn,*)groͤſſere Fortſchritte machte; denn dieſe Kuͤnſte wuͤrden mich, waͤre ich gluͤklicher darin geweſen, gar ſehr verſtrikt haben. 31Sohn, dan theile mit, was du gemeinnuͤziges haſt; werde Schriftſteller, werde Sittenverbeſſe - rer, werde Lehrer der Menſchheit, und laß deine Sele die heilige Wolluſt, zum Gluͤk fuͤr Tauſende gelebt zu haben, in vollen Zuͤgen trinken!

Vernim jezt eine dritte Warnung, welche zur genauern Beſtimmung der obengegebenen al - gemeinen Regel gleichfals gehoͤrt. Sie iſt dieſe: Huͤte dich vor jeder Ueberſpannung deiner Kraͤfte: denn auf Ueberſpannung erfolgt Erſchlaffung, und der Zuſtand der Erſchlaf - fung iſt allemahl ein ungluͤklicher Zuſtand. Auch hierin verſehen es gemeiniglich grade die edelſten jungen Maͤnner, wenn Liebe zur Sache und Ehrbegierde ſie entflamt haben. Wuͤthend fallen ſie uͤber ihre jedesmalige Lieblingsarbeit her; vergeſſen Speis und Trank, Ruhe und Erquikkung, und hoͤren gemeiniglich nicht eher auf, bis ſie ſich durchaus entkraͤftet und zu fer - nerer Anſtrengung unfaͤhig fuͤhlen. Das iſt auch unweislich gehandelt! ſehr unweislich!

Denn32

Denn zu geſchweigen, daß alle Kraͤfte, ſo - wohl die geiſtigen, als auch die koͤrperlichen, ſelbſt dabei verlieren, und nach und nach zu Grunde gerichtet werden: ſo wuͤrde dieſer Mißbrauch der - ſelben ſchon um deswillen gar ſehr zu wider - rathen ſein, weil ein Menſch, der ſolche Ueber - ſpannungen oft erfaͤhrt, alle diejenigen, welche um ihn ſind, vornehmlich ſeine Familie, und eben dadurch auch ſich ſelbſt, nach und nach un - fehlbar elend macht.

Denn es iſt in der Natur des Koͤrpers und der Sele gegruͤndet, daß auf jede Ueberſpannung unſerer Kraͤfte eine gewiſſe Unbehaͤglichkeit, eine gewiſſe Geneigtheit zum verdruͤslichen, muͤrri - ſchen Weſen folgen muß, welches ſich eben ſo ſehr, als unſere freudigen Empfindungen, zur Mittheilung in uns drengt. Koͤmt nun der un - maͤßige Arbeiter mit einer ſolchen Gemuͤthsfaßung aus ſeinem Kabinette in den Schooß ſeiner Fa - milie zuruͤk: was iſt natuͤrlicher, als daß er an den zaͤrtlichen Liebkoſungen ſeiner treuen, nach ſeiner Gegenwart ſchmachtenden Gattin und an dem freudigen Gewuͤhl ſeiner Kleinen[um] ihnher,33her, keinen Gefallen findet; daß er ſie durch Mienen und Worte von ſich zuruͤkſchrekt; daß er nichts recht findet, nichts nach ſeinem Kopfe, und uͤber alles Gloſſen macht! Da muß das arme leidende Weib ihre maͤchtigſten und ſuͤßeſten Gefuͤhle der ehelichen Zaͤrtlichkeit dan in ſich ſelbſt verſchließen; muß ſtum und traurig da ſizen, in - des ihr Innerſtes von liebevollen Empfindungen kocht, und ihr treues Herz ſich ſtuͤndlich losreiſſen moͤgte, um an den Buſen des geliebten Unholds zu fliegen.

Mein Kleon, ich rede dieſes aus einem innern wehmuͤthigen Selbſtgefuͤhle. Warum ſolt ichs dir vorheelen? Auch ich bin, waͤhrend meinem geſchaͤftigen Leben nicht ſelten in dieſen traurigen Fehler verfallen. Und wolten alle die hochbe - ruͤhmten Leute, welche zum Theil unter dem praͤch - tigen Titel Menſchenfreunde! bekant ſind, of - fenherzig ſein: ſo wuͤrdeſt du das Echo dieſes meines freiwilligen Geſtaͤndniſſes aus tauſend und tauſend Studierſtuben wiederhallen hoͤren. Aber man legt nicht gern eher ein Geſtaͤndnis ſeiner Fehler ab, bis man ſich davon gebeſſert hat.

CSpiegle34

Spiegle dich an dieſen Beiſpielen, mein Sohn, und huͤte dich, daß du niemahls in eben denſelben Fehler falleſt. Denn wiſſe, daß ich nie ungluͤk - licher war, als damahls, ob ich gleich Ehre, Gluͤksguͤter und Geſundheit in Ueberfluß beſaß, und von jederman fuͤr ſehr begluͤkt gehalten wur - de. Denn, wo keine Liebe iſt, da kan, beim Him - mel! auch keine Gluͤkſeeligkeit ſein. Und Men - ſchenliebe, ohne Familienliebe, iſt die luͤgenhaf - teſte Larve, womit eine menſchliche Sele nur im - mer pralen kan.

Du ſiehſt, mein Sohn, ich komme immer auf den einigen großen Punkt zuruͤk, auf den ich nun ſchon ſo oft hingewieſen habe, auf Fa - miliengluͤkſeeligkeit. Dieſe (o moͤgt ichs doch allen Juͤnglingen tief in die Sele rufen koͤnnen!) dieſe laß in jeder Lage deines kuͤnftigen Lebens dir immer uͤber alles gelten, und achte alles fuͤr Schaden, was ihr Eintrag thut, waͤr’s auch noch ſo ſchimmernd! Suche durch ſanfte Guͤte und zuvor - kommende Gefaͤlligkeit Gluͤk und Zufriedenheit uͤber alle deine Lieben, uͤber alle deine Hausgenoſſen, rund um dich her zu verbreiten: ſo wirſt du dei -nem35nem erſten und heiligſten Berufe ein Genuͤge thun; ſo wirſt du dir einen ſichern Hafen bauen, in welchen du, wenn die Stuͤrme der Widerwaͤr - tigkeit erwachen, und die Wogen der Truͤbſal daherrauſchen, dich zuruͤkziehen, und an dem treuen liebevollen Buſen der Freundin deiner Sele von allen deinen Sorgen ausruhen, fuͤr allen deinen Kummer lindernden Balſam finden kanſt!

Endlich, mein Sohn, beobachte ſorgfaͤltig auch dieſe vierte Regel, welche der obigen gleich - fals untergeordnet iſt: Bevor du ein Amt uͤbernimſt, erkundige dich genau nach allen Geſchaͤften, welche daſſelbe mit ſich bringt, und nach allen Unannehmlichkeiten, welche damit verbunden ſein koͤnnen. Mache als - dan einen Verſuch, ob du jenen auch ge - wachſen ſeiſt, und pruͤfe deinen Muth, ob du dieſe auch ertragen koͤnneſt: und nur dan erſt, wan du zu beiden Kraft und Staͤrke der Sele in zureichendem Maaße bei dir wahrnimſt, werd es von dir uͤber - nommen. Die Vernachlaͤßigung dieſer Klug -C 2heits -36heitsregel iſt eben ſo gewoͤhnlich, als die Folgen davon traurig zu ſein pflegen.

Ich habe wenig Juͤnglinge geſehn, denen nicht Zeit und Weile lang geworden waͤre, bevor ſie zu einem Amte befoͤrdert wurden: aber noch weit wenigere, die nicht bald darauf ihre Uebereilung bereueten, und ſich zuruͤk in ihren vorigen Zuſtand wuͤnſchten. Jeder Standort in der menſchlichen Geſelſchaft, ſo glaͤnzend er auch immer ſein mag, hat ſeine großen Unbequemlichkeiten, wovon man nur den kleinſten Theil von fern erblikken kan. So oft man alſo ſich in gewiſſe Verhaͤltniſſe und Verbindungen einlaſſen wil, muß man zum Vor - aus verſichert ſein, daß man die Annehmlichkeiten derſelben durch ein[Vergroͤſſerungsglas], die Un - annehmlichkeiten hingegen durch ein umgekehrtes, mithin verkleinerndes Fernglas ſehe. Thut man dieſes nicht; ſtelt man die kuͤnftigen Arbeiten ſei - nes Berufs ſich zu leicht, und die damit verbun - denen Vortheile zu lieblich vor: ſo iſt nichts ge - wiſſer, als daß Mißvergnuͤgen und Reue die un - ausbleibliche Folge unſerer Entſchließung ſein werden.

Das37

Das ſchlimſte in ſolchen Faͤllen iſt, daß der junge unerfahrne Man, aus Mangel an Welt - kentniß, die Lage eines jeden andern Menſchen fuͤr gluͤklich, und nur die ſeinige, die ſeinige allein, fuͤr aͤuſſerſt elend haͤlt. Da geht es denn gemei - niglich an ein Vergleichen ſeiner Talente, ſeiner Gemuͤthsbeſchaffenheit, mit den Talenten und Karakteren anderer Menſchen; und die Eigenliebe ſorgt dafuͤr, daß ſeine eigene werthe Perſoͤnlichkeit bei dieſer Vergleichung allemahl gewinnen muß. Dan kan er nicht begreifen, wie der und jener, die doch in jeder Betrachtung ſo weit unter ihm ſtehen, an Gluͤk und Gemaͤchlichkeit ihm ſo weit vorgeſezt ſind! Dan wird mit dem Himmel ge - ſchmolt; und der unſchuldige Himmel hat doch weiter nichts gethan, als daß er den Wunſch des jungen Thoren erfuͤlte, und ihn dahin ſtelte, wo er zu ſein ſo ſehnlich gewuͤnſcht hatte. Haͤtt er dieſes nicht gethan, wuͤrde ſein Weltregiment we - niger getadelt worden ſein?

Beſaͤße der unzufriedene Juͤngling diejenige Erfahrung ſchon, die er nach zehn oder zwanzig Jahren haben wird; haͤtt er in allen StaͤndenC 3der38der menſchlichen Geſelſchaft, in allen Faͤchern des geſchaͤftigen Lebens ſich ſchon jezt umgeſehn, und dadurch die zwar unangenehme, aber zu wiſſen hoͤchſtnoͤthige Wahrheit gelernt, daß es, wie das gemeine Sprichwort ſagt, uͤberal zerbro - chene Toͤpfe gibt: ſo wuͤrd er auch in ſeiner dermaligen Lage nichts idealiſch volkommenes er - wartet, und in ſeiner Rechnung ſich nicht ſo ſehr betrogen gefunden haben.

Sorgfaͤltige Erforſchung ſeiner kuͤnftigen Pflich - ten, Pruͤfung ſeiner Kraͤfte und Neigungen, fleiſſige Verſuche und Voruͤbungen in demjenigen, was man kuͤnftig leiſten ſol, maͤßige Erwartun - gen und herabgeſtimte Wuͤnſche, volkommene aus zureichender Weltkentniß geſchoͤpfte Ueberzeugung, daß dieſe unſere muͤtterliche Erde, zwar kein Jam - merthal, aber auch kein Arkadien ſei, ein be - herzter maͤnlicher Vorſaz zur ſtandhaften Ertra - gung unvermeidlicher Beſchwerlichkeiten des Le - bens; und dan Vermeidung einer zu großen Zu - dringlichkeit, und dan eine gaͤnzliche Uebergebung in den Willen der alles lenkenden Vorſehung: das, mein Sohn, das ſind die Mittel, die wir an -wenden39wenden muͤſſen, wenn wir bei der Ueberneh - mung eines Amts, was es auch fuͤr eins ſein mag, uns ein zufriedenes und gluͤkliches Leben mit Sicherheit verſprechen wollen.

Jezt, mein Kleon, laß uns von den alge - meinen Vorbereitungsregeln, die ich bis jezt dir gegeben habe, zu einigen beſondern Vor - ſchriften herabſteigen, welche die wirkliche Ver - richtung deiner kuͤnftigen Berufsgeſchaͤfte be - treffen, nachdem du dieſelben, wie ich jezt voraus - ſeze, mit weiſer Vorſichtigkeit wirſt gewaͤhlt haben.

Und hier, mein Theurer, laß dich zuvoͤrderſt an dasjenige erinnern, was ich dir ſo oft aus meiner vieljaͤhrigen Erfahrung geſagt, aus mei - ner innerſten, gewiſſeſten Ueberzeugung verſichert habe, und worauf ich dich in dem Fortgange deines eigenen jungen Lebens ſelbſt aufmerkſam zu machen, beſtaͤndig befliſſen war; an die große Wahrheit, meine ich, daß an Gottes Seegen alles gelegen ſei. Ich darf hoffen,C 4daß40daß mein bisheriger Unterricht, und die Sorg - falt, die ich anwandte, dich zum fleißigen Nach - denken uͤber dieſe wundervolle Welt, uͤber die ganze herliche Einrichtung derſelben, uͤber die darin vor - fallenden Veraͤnderungen in natuͤrlichen und ſit - lichen Dingen, uͤber dich ſelbſt und uͤber deine ei - gene Schikſale, zu bewegen, dich voͤllig werden uͤberzeugt haben, daß alle Weltbegebenheiten, auch die allerkleinſten, alle Wirkungen der Naturkraͤfte, ſowohl in den lebendigen als auch in den lebloſen Geſchoͤpfen, von dem Willen, von dem Einfluſſe und von der beſtaͤndigen Lenkung eben des maͤch - tigen, weiſen und guͤtigen Weſens abhangen, dem das ganze Weltal ſelbſt ſein Daſein zu verdanken hat. Ich erſpare daher eine jezt unnoͤthige Wiederholung dieſes Unterrichts, und ſchraͤnke mich vorjezt blos auf folgenden, daraus abflieſ - ſenden Rath ein:

Ehe du ein Geſchaͤft unternimſt, verab - ſaͤume nie, deine ganze Sele zu Gott, dem Urquel alles Guten, inbruͤnſtig zu er - heben, und ihn um Beiſtand, und um Staͤr - kung deiner eigenen ſchwachen Kraͤfte de - muͤtigſt anzuflehen.

Du41

Du weißt, mein Sohn, daß ich nie damit umging, deiner Sele einen, zwar oft gut ge - meinten, aber immer ſchaͤdlichen Aberglauben ein - zufloͤßen. Nie habe ich blinden Glauben von dir gefodert; ich habe dich vielmehr ſelbſt unterſu - chen, und dan aus eigner Ueberzeugung fuͤr wahr halten gelehrt, was dir als Wahrheit einleuchtete. Dieſem meinen Grundſaze getreu wil ich dir auch jezt nicht weiß zu machen ſuchen, daß Gott um deines Gebeths willen die ewigen Geſeze der Natur umaͤndern, und deine Geiſtesfaͤhigkeiten auf eine wunderthaͤtige Weiſe erhoͤhen und ſtaͤrken werde. Nein, Kleon, das erwarte nicht von ihm: aber ſei demohngeachtet verſichert, daß dein Gebeth Erhoͤrung finden werde. Und wie ſol das zu - gehn? wirſt du fragen. Du haſt Recht; ich ſcheine mir zu widerſprechen: aber ich wil mich erklaͤren.

Erſtlich iſt es eine algemeine Erfahrung aller, die es verſucht und auf ſich ſelbſt geachtet haben, daß jede ernſtliche Erhebung unſerer Ge - danken auf große Gegenſtaͤnde, und alſo vornehm - lich auch auf das groͤßte, herlichſte, erhabenſteC 5unter42unter allen Weſen auf Gott, die Sphaͤre unſerer Vorſtellungen ausnehmend aufklaͤre und erweitere, und dadurch unſere Denkkraft ſelbſt auf eine merkliche Weiſe ſtaͤrke und thaͤtiger mache. Iſts nicht ſo: indem wir jezt, in feierlicher Stille, dieſer prachtvollen und ruͤhrenden Abendſcene der Natur zuſehen, fuͤhlen wir da nicht unſer ganzes geiſtiges Weſen gleichſam anſchwellen, ſich in un - ſerm Innerſten draͤngen, und zu jedem großen Ge - danken, zu jeder edlen und muthigen Entſchlieſ - ſung, weit faͤhiger und weit aufgelegter, als vor - her? Und wie ſchwilt nicht erſt unſer Herz von ſeeligen Empfindungen auf, wenn unſer Geiſt durch dieſen Anblik befluͤgelt, aus der Tiefe dieſer ſchoͤnen Gegend hinauf zu dem hoͤchſten Gipfel der Werke Gottes, den unſere Einbildungs - kraft erreichen kan, und von da zu ihm, dem großen Urheber des Ganzen ſelbſt, ſich hin ſchwingt, und in entferntem Anſchauen des Unendlichen ſich verliert! O das muß man ſelbſt erfahren haben, um es in der todten Beſchreibung wieder zu finden!

Hier43

Hier hielt Theophron unvorſezlicher Weiſe einige Minuten ein, und ſeine von Freude glaͤn - zenden Augen waren auf den Abendſtern geheftet, welcher ſo eben anfieng, am weſtlichen Himmel hervor zu funkeln. Das ſtaͤrkere Heben der ju - gendlichen Bruſt und ein tieferer Athemzug be - zeugten, daß Kleons Geiſt dem Geiſte ſeines Va - ters nachgeflogen war. Der gute Alte fuhr dar - auf fort:

Das iſt alſo der erſte unmittelbare Vortheil, den wir durch eine jede inbruͤnſtige Erhebung un - ſers Herzens zu Gott erlangen, daß unſere Selen - kraͤfte dadurch geſtaͤrkt und zu allen edlen und großen Wirkungen unweit faͤhiger werden. Alle Arbeiten des Geiſtes muͤſſen alsdan weit beſſer von ſtatten gehen. Und wer den genauen Zu - ſammenhang der Kraͤfte unſerer Sele und unſers Leibes kent; wer da weiß, daß zu eben der Zeit, und in eben dem Maaße, wie jene erhoͤht wer - den, auch dieſe lebhafter zu wirken beginnen, dem wird es nicht befremdend klingen, wenn ich hin - zufuͤge, daß die jedesmalige Anrufung Gottes uns auch ſogar zu ſolchen Arbeiten tuͤchtiger macht,welche44welche mehr durch koͤrperliche, als durch geiſtige Kraͤfte verrichtet werden. Man ſei alſo, wer man wolle, Gelehrter oder Handarbeiter; ſo wird ein Gebeth um Staͤrke, um Seegen zu unſern Berufsgeſchaͤften, nie vergeblich ſein.

Hierzu komt noch dieſes, daß der Gedanke an Gott und an unſere gaͤnzliche Abhaͤngigkeit von ihm, wenn er vor dem Anfange irgend eines aus - zufuͤhrenden Geſchaͤfts recht lebendig in uns ge - worden iſt, uns gewiß bewahren wird, daß wir nicht von dem Wege des Rechts und der Tu - gend weichen. Das ſei der jedesmalige untruͤg - liche Probierſtein der Rechtmaͤßigkeit deiner Unter - nehmungen: kanſt du, mit freudiger Einſtimmung deines Gewiſſens, dir den goͤtlichen Beiſtand dazu erbitten, ſo ſei verſichert, daß dein Vorhaben gut und edel iſt; kanſt du dieſes nicht, ſo glaube das Gegentheil.

Und endlich, mein Sohn, daß doch ja der Gedanke, daß Gott um unſers Gebeths willen heutiges Tages keine Wunderwerke mehr verrichtet, dich nicht kalt und laͤſſig in der Anrufung des goͤtlichen Beiſtandes mache! Denn warum ſol dieErhoͤrung45Erhoͤrung unſers Gebeths denn grad ein Wunder ſein? Warum nicht vorherbeſtimte ordentliche Wirkung natuͤrlicher Urſachen? Oder ſahe der alwiſſende Gott nicht etwa ſchon von Ewigkeit voraus, daß du grad in dieſer oder jener Stunde ihn um dieſes oder jenes anrufen wuͤrdeſt? Und glaubſt du, daß das Vorherſehen dieſes Gebeths auf der Wage der ewigen Weisheit kein Gewicht gehabt habe, welches ſie beiſtimmen konte, den natuͤrlichen Lauf der Dinge dergeſtalt einzurichten, daß dasjenige, warum du bitten wuͤrdeſt, zu eben der Zeit auch wirklich ſo erfolgen ſolte? O der laͤcherlichen Thorheit einiger Afterweiſen, welche die Nothwendigkeit und den Nuzen des Gebeths wegraͤſonnirt zu haben waͤhnten, wenn ſie ein Langes und Breites wider die Moͤglichkeit dekla - mirt hatten, daß die goͤtliche Weisheit einmahl ge - gebene Naturgeſeze wieder abaͤndern, oder die ewige Kette der natuͤrlichen Urſachen und Fol - gen durch ein unmittelbares Zwiſchenwirken un - terbrechen koͤnne! Ich beſorge nicht, daß deine Vernunft jemahls ſchwach genug ſein werde, ſich von dem falſchen Lichte dieſe angeblichen Weis -heit46heit blenden zu laſſen. Ich bin vielmehr verſichert, daß du meinen vaͤterlichen Rath befolgen, und bei jedem anzufangenden Geſchaͤfte dir vorher, mit zu - verſichtlicher Hofnung einer gnaͤdigen Erhoͤrung, Seegen und Gedeien von dem Gott erbitten wer - deſt, von welchem alle gute Gaben kommen. Und glaube mir, mein Sohn, es wird dich nie ge - reuen, dem treuen Rathe deines Vaters auch hierin gefolge zu ſein.

Aber das Gebeth wuͤrde auch ſchon um des - willen zu den treflichſten Vorbereitungsmitteln zu einer gluͤklichen Geſchaͤftigkeit gehoͤren, weil unſer Gemuͤth dadurch in diejenige heitere Ruhe verſezt wird, welche zu einer vorzuͤglichen Wirkung unſerer Geiſteskraͤfte ſo ganz unentbehrlich iſt. Denn wiſſe, Juͤngling, daß die ſtuͤrmiſche Hize, mit welcher man in deinen Jahren, ohne vorher - gegangene noͤthige Samlung der Gedanken, uͤber ſeine Lieblingsarbeit herzufallen pflegt, in der That mehr verwikkelt, als aufloͤſt, mehr hindert, als foͤdert. Gar zu große Eilfertigkeit in Geſchaͤften iſt im Grunde wahre Zeitverſchwendung; ſowie47wie der taͤgliche Verluſt einiger Stunden, zu zwekmaͤßigen Vorbereitungen angewandt, wirk - licher Gewin iſt. Eile mit Weile muͤſſe daher auch dein Wahlſpruch ſein.

Ehe du alſo an irgend eine Arbeit von einiger Erheblichkeit gehſt, nim dir Zeit, dich gehoͤrig zu ſammeln; deine eingeſchlum - merten, oder auf zu vielfaͤltige Gegenſtaͤnde vertheilten Selenkraͤfte aufzuwekken, und einzuengen; deine Leidenſchaften zu be - ſaͤnftigen, und dein ganzes Gemuͤth durch das wohlthaͤtige Licht der Zufriedenheit aufzuheitern. In dieſer Vorbereitungszeit verrichte zuvoͤrderſt dein Gebeth, als das erſte und wirkſamſte Mittel zur Erreichung des jezt - genanten Endzweks. Den noch uͤbrigen Theil der Zeit wende dazu an, den moͤglichen Nuzen derjenigen Arbeit zu erwaͤgen, die du jezt vorzunehmen gedenkeſt. Gleichfals ein be - waͤhrtes Huͤlfsmittel, unſere Sele zu großen Wirkungen anzufeuern! Ich ſeze naͤmlich vor - aus, daß du dich nie einer Beſchaͤftigung widmen werdeſt, welche nicht auf eine oder die andereWeiſe48Weiſe das Wohl deiner Nebenmenſchen zugleich mit dem deinigen befoͤrdern hilft. Nun mag eine ſolche Arbeit auch noch ſo eingeſchraͤnkt und duͤrftig ſein: ſo hat ſie dennoch ihre guten Folgen, und dieſe wiederum die ihrigen, und zwar in immer wach - ſendem Strome, bis in die Ewigkeit. Denn alle Weltbegebenheiten, auch die kleinſten, haͤngen unzertrenlich zuſammen, und waͤlzen ſich, wie die Waſſertropfen in einem Fluſſe, beſtaͤndig fort ins Unendliche. Keine derſelben iſt von der andern abgeſchnitten; keine unfruchtbar an neuen Folgen. Es hat vielmehr alles ſeine Wirkung, ſo wie alles ſeine Urſache hat.

Dieſer Gedanke, auch bei der kleinſten guten Handlung recht ins Auge gefaßt, gibt unſerer Sele einen Schwung zu denken und zu handeln, deſſen ſie ſonſt nicht faͤhig waͤre. Wir ſehen uns naͤmlich in ſolchen ſeeligen Momenten als die Quelle an, aus welcher nach und nach ein breiter See - gensſtrom ſich in die Ewigkeit ergießt, und den unermeßlichen Ozean des Guten, zum Genuß der Geiſterwelt beſtimt, vergroͤßern hilft. Mags doch anfangs auch nur ein armſeeliges Baͤchleinſein:49ſein: haben die gewaltigſten Landſtroͤme, welche den Reichthum ganzer Koͤnigreiche auf ihrem Ruͤkken tragen, wohl einen andern Anfang ge - nommen, wenn man bis zu ihrer Urquelle zuruͤk - geht? Aus den kleinſten Urſachen koͤnnen oft die groͤßten Folgen entſtehen.

Nie muͤſſe daher eine Arbeit, welche dein Beruf mit ſich bringt, und welche auf irgend eine Weiſe nuͤzen kan, dir veraͤcht - lich vorkommen; geſezt auch, daß du in dem Augenblikke, da du ſie verrichten ſolſt, dich zu etwas Groͤſſerem faͤhig fuͤhlteſt, welches auſſerhalb dem Wirkungskreiſe laͤge, den die goͤtliche Vorſehung dir anzuweiſen nun einmahl fuͤr gut befunden hat! Jeder von uns hat ſeinen angewieſenen Poſten in der Welt. Den laßt uns zu behaupten ſuchen, unbekuͤmmert, was etwa um und neben uns ge - ſchehen koͤnte. Oder glaubſt du, daß der Feld - herr dem vorwizigen Soldaten, der ſeinen Poſten verließe, weil er anderwaͤrts nuͤzlicher ſein zu koͤn - nen meinte, Dank dafuͤr wiſſen wuͤrde? Er wuͤrd ihn vielmehr, als einen Widerſpaͤnſtigen, zur Strafe ziehen, auch wenn er noch ſo große, aberDun -50unbefohlene, Thaten verrichtet haͤtte; und das mit Recht! Denn was wuͤrde aus dem ganzen Heere werden, wenn jeder, was ihm gut ſchiene, thun wolte, keiner was ihm aufgetragen waͤre? Der Trommelſchlaͤger mag alſo noch ſo viel Ta - lente zum Feldherrn in ſich fuͤhlen; das gibt ihm kein Recht, ſeine eigentliche Pflicht zu ver - nachlaͤſſigen, und ſich zum Anfuͤhrer aufzuwerfen. Thut er es, ſo iſt er ein ſchlechtes Glied des Kriegskoͤrpers, und werth, daß er davon ab - geloͤſet werde.

Ich glaube, dir dieſen Rath nicht zu ſehr ein - praͤgen zu koͤnnen. Denn es iſt eine gewoͤhnliche Thorheit der meiſten Menſchen, daß ſie ihre eigentlichen Berufsgeſchaͤfte, als etwas Gering - ſchaͤziges, verabſaͤumen, und ſich lieber mit Din - gen befaſſen, welche gemeiniglich ganz auſſer ihrer Sphaͤre liegen. Der Landprediger wirft ſeinen Hirtenſtab dahin, und wuͤhlt, um ſich beruͤhmt zu machen, in alten Handſchriften herum; der Richter ſpizt Singedichte zu, indes die unter - druͤkte Unſchuld ihm vergebens ihre Leiden klagt; der Kraͤmer macht Romane, ſtat daß er die Weltvon51von denen, die ſchon da ſind, befreien ſolte; der Arzt jagt Schmetterlingen nach, und laͤßt ſeine Kranken aͤchzen, ſo viel ſie wollen; der Schuſter endlich laͤßt die Leute barfuß gehn, und ſeine Kin - der hungern, um in der Schenke die Zeitungen zu leſen, Krieg und Frieden zu beſchließen, und die Koͤnige nach Gefallen ein - und abzuſezen.

Vornehmlich reißt dieſe Thorheit, zum großen Nachtheil der menſchlichen Geſelſchaft, immer mehr und mehr unter jungen Leuten ein. Aus genauer Kentniß einiger Akademien kan ich verſichern, daß unter zwanzigen, vielleicht unter mehreren jungen Studierenden heutiges Tages kaum einer noch gefunden wird, dem die wirk - liche Vorbereitung zu ſeinem kuͤnftigen Berufe in der That am Herzen laͤge. Alle Studien, welche darauf abzielen, ſcheinen ihnen trokken, unfrucht - bar, veraͤchtlich zu ſein. Thaͤt es die Furcht vor dem kuͤnftigen Examen nicht; ſie wuͤrden ſie gaͤnz - lich liegen laſſen. Aber mit der ganzen Inbrunſt eines feurigen Liebhabers fallen ſie uͤber jedes ſuͤß - liche, empfindelnde, faſelnde Gedichtchen her, ver - ſchlingen dieſe nahrungsloſe Saft - und Markver -D 2derbende52derbende Speiſe mit heiſſer Gierigkeit, und laufen dan von Haus zu Haus, von Nachttiſche zu Nacht - tiſche, um ſie mit der Bruͤhe einer affektirten De - klamazion und Geſichtsverzerrung noch widerlicher und ekelhafter wieder von ſich zu geben. Unter ſolchen armſeeligen Beſchaͤftigungen ſchleudern ſie die unwiederbringlichen Jahre fort, in welchen ſie ſich zu einem zufriedenen und gemeinnuͤzigen Leben vorbereiten ſolten.

Jezt treten ſie in die große Welt, den Kopf vol Schoͤngeiſterei, das Herz von Hochmuth auf - geblaſen; man vertrauet ihnen Aemter an, weil es entweder an beſſern Subjekten mangelt, oder weil ſie Mittel fanden, hier die kabalirende Frau eines vielvermoͤgenden Mannes, dort das intrigante Kammermaͤdchen einer vielvermoͤ - genden Dame, bald auf dieſe, bald auf jene Weiſe zu ihrem Vortheil einzunehmen. Nun ſol gearbeitet werden; aber kaum haben ſie ihre Be - rufsgeſchaͤfte mit den Lippen beruͤhrt, ſo ſcheinen ſie ihnen ſchon unertraͤglich ekelhaft zu ſein. Sie glauben Faͤhigkeit und Beruf zu etwas Hoͤ - herem in ſich zu fuͤhlen (und dieſes Hoͤhere iſt ge -meiniglich53meiniglich Zuſammenflikkung eines poetiſirenden oder wizelnden Werkchen aus geſtohlnen Schnoͤr - keln, neologiſchen Wendungen, aufgefangenen, aber nicht verdauten Gedanken, und Unſin aus eigener Fabrik) und die natuͤrliche Folge da - von iſt, daß ſie ihr Amt, welches ſie verachten, oder fuͤr eine Galere anſehn, aͤuſſerſt nachlaͤßig und mismuͤthig verwalten, ſelbſt aͤuſſerſt elend ſind, und alle, welche von ihnen und ihrer Laune ab - haͤngen, aͤuſſerſt elend machen. O mein Sohn, ich prophezeihe unſerm ausgearteten Vaterlande ſchlimme Zeiten, wenn nicht bald, bald Anſtalten getroffen werden, unſerer Jugend auf Schulen und Univerſitaͤten mehr Geſchmak an ernſthaften ſogenanten trokkenen Beſchaͤftigungen einzufloͤßen, und ihre Leiber und Selen maͤnlicher, haͤrter, ar - beitſamer und ausdaurender zu machen! Doch ich nahm mir ja vor, nicht in den Fehler des Alters zu fallen. Alſo keine Klagen; ſondern zuruͤk an den eigentlichen Faden unſerer dermaligen Unterhaltung!

D 3Wenn54

Wenn dir der Auftrag gegeben wuͤrde, ein Buͤndel vereinigter Ruthen zu zerbrechen: ſo wuͤrdeſt du dir vergebens die Haͤnde zerarbeiten, ſo lange die einzelnen Reiſer mit einander ver - bunden waͤren. Aber ein bloßes Spiel wuͤrd - es fuͤr dich ſein, nach aufgeloͤſtem Bande, jedes Reischen insbeſondere zu zerknikken.

Eben ſo verlegen iſt der Man von Geſchaͤften, wenn zu viele und zu mannigfaltige Verrichtungen ſeiner arbeitenden Sele ſich auf einmahl darſtellen. Er thue alſo das, was er im erſtern Falle thun wuͤrde; er trenne ein Geſchaͤfte von dem andern, nehme jedes insbeſondere vor, und vergeſſe auf eine Zeitlang, daß die andern alle in der Welt ſind: ſo wird er allen ge - wachſen ſein. Eine ſolche Eintheilung unſerer Arbeiten iſt von großer Wichtigkeit. Denn die Vorſtellung, daß viele und mannigfaltige Ge - ſchaͤfte auf uns warten, verſezt uns in eine ge - wiſſe Aengſtlichkeit, die unſere Selenkraͤfte be - klemt, und jede freie und große Wirkſamkeit der - ſelben unmoͤglich macht. Wir moͤgen noch ſo viel Geiſteskraͤfte beſizen, ſo ſind und bleiben wir dochimmer55immer Menſchen, das heißt, eingeſchraͤnkte Geiſter, welche ihre Aufmerkſamkeit, wenn ſie in einem ge - wiſſen Grade wirkſam ſein ſol, jedesmahl nur auf einen Gegenſtand heften koͤnnen. Je beſtimter dieſer iſt, je genauer man ihn von andern Gegenſtaͤnden abgeſondert hat, und je aus - ſchließender wir unſere Vorſtellungskraft darauf eingeengt haben; um deſto deutlicher und lebhafter ſind unſere Ideen, um deſto thaͤtiger, um deſto maͤchtiger iſt unſere ganze Wirkungskraft. Das Gleichniß von einem Brenglaſe, welches die zer - ſtreuten Sonnenſtrale zuſammenfaßt, um damit zu zuͤnden, iſt eben ſo bekant, als paſſend.

Theile alſo ſo ſehr es nur immer thunlich iſt, deine jedesmaligen Arbeiten ein, und nim eine nach der andern vor. Um dieſe Bemuͤhung zu erleichtern, mache es dir zur Gewohnheit, an jedem Abend, ſo weit es moͤglich iſt, einen ordentlichen Plan zu den Geſchaͤften des folgenden Tages zu entwerfen, in wel - chem die Folge derſelben und die Stun - den, in denen ſie vorgenommen werden ſollen, beſtmoͤglich beſtimt ſind. O es iſtD 4eine56eine ſchoͤne Sache um Ordnung, vornehmlich in Geſchaͤften! Sie erleichtert unſer Beſtreben auf eine ausnehmende Weiſe, und ſezt uns in den Stand, mit weit geringerem Verluſt an Zeit und Kraͤften, ſowohl mehr Arbeiten zu vollenden, als auch dasjenige, was wir verrichten, beſſer zu machen, als wir, ohne eine ſtrenge Beobachtung derſelben, im Stande ſein wuͤrden. Mit dem tu - multuariſchen Eifer iſt in verwikkelten Geſchaͤften wenig ausgerichtet. Man arbeitet ſich[kraftlos] und verdruͤslich, und verfehlt dennoch groͤßten - theils ſeiner Abſicht, oder erreicht ſie nur halb, indes ein an Ordnung gewoͤhnter Man bei glei - chen Faͤhigkeiten, mit groͤſſerer Leichtigkeit und Zufriedenheit und mit weit minderem Zeitverluſte ſich ruhig ſeinem Ziele naͤhert. Die Zeit, welche auf eine ſolche Abtheilung unſerer Arbeiten ver - wandt wird, iſt daher mit nichten fuͤr verloren zu halten; ſie wird vielmehr bei der Arbeit ſelbſt mit reichem Wucher eingebracht. Glaube mir, mein Sohn, daß ich auch dieſes aus Erfahrung rede.

Aber57

Aber da wir nicht immer Herren unſer ſelbſt ſind, welche Zeit und Arbeit nach eigenem Be - lieben waͤhlen und abmeſſen koͤnnen: da wir viel - mehr oft in Lagen und Verhaͤltniſſe gerathen, in welchen unſere jedesmaligen Beſchaͤftigungen mehr von andern, oder vom Zufal, als von uns ſelbſt abhaͤngen: ſo iſt es noͤthig, daß wir uns fruͤh - zeitig gewoͤhnen, von einem Geſchaͤfte zum andern, auch wenn ſie von ganz entgegen - geſezter Beſchaffenheit waͤren, mit einer gewiſſen Leichtigkeit uͤber zu gehen; un - ſere Gedanken ſchnel und ganz von dem vorhergehenden Gegenſtande abzuziehen, und ſie auf den zu heften, welcher jezt eben gegenwaͤrtig iſt, ohne dabei in Unruhe und Verwirrung zu gerathen. Die Erwerbung einer ſolchen Geſchiklichkeit iſt, wie die Erwerbung aller andern Fertigkeiten, lediglich eine Frucht fleißiger Uebung, und zwar der Uebung in jungen Jahren. Denn, wenn man ſie bis auf ein ge - wiſſes Alter verabſaͤumt hat, und die Sele nun einmahl an einfoͤrmige, ſtetige Beſchaͤftigungen gewoͤhnt iſt: ſo martert man ſich gemeiniglichD 5umſonſt,58umſonſt, ſie wieder zu derjenigen Biegſamkeit zu erweichen, welche erfodert wird, wenn ſie bei oͤf - tern Unterbrechungen und Abwechſelungen ſich jedem vorkommenden Geſchaͤfte ſogleich in ihrer ganzen Thaͤtigkeit anſchmiegen ſol. Ich kenne Schriftſteller, die ganze Alphabete gelehrter Arbei - ten, verbrennen muͤſſen, ſo oft ſie ungluͤklicher Weiſe, vor der gaͤnzlichen Vollendung derſelben, durch ir - gend ein zwiſchenſpringendes Geſchaͤft genoͤthiget werden, den Faden ihrer Gedanken abzubrechen. Ihn wieder anzuſchuͤrzen, iſt ihnen durchaus un - moͤglich. Was wuͤrd es nicht dieſen Maͤnnern werth ſein, wenn ſie noch jezt ihre Sele an eine, im thaͤtigen Leben nicht zu vermeidende Mannigfal - tigkeit von Geſchaͤften gewoͤhnen, und ſie dadurch in ihren jedesmaligen Wirkungen vom Zufal we - niger abhaͤngig machen koͤnten! Aber nun iſts zu ſpaͤt.

Zur Erwerbung dieſer nothwendigen Fertig - keit iſt es gut, daß wir in jungen Jahren unſere Geiſtesarbeiten oft recht gefliſſentlich an ſolchen Oertern vornehmen, wo wir ſo wohl dem Geraͤuſch des thaͤtigen Lebens,als59als auch wirklichen Stoͤrungen und Unter - brechungen zum oͤftern ausgeſezt ſind. Zwar iſt es wahr, daß die Muſen die Stille lieben, und daß Werke des Geiſtes jeder Art nir - gends beſſer, als in der Einſamkeit, volbracht werden. Aber ſteht es bei uns, die Welt um uns her in einen ſtillen Muſenhain, und alle Mitbewohner derſelben in ruhige und einſame Hirten zu verwandeln? Kan der Hausvater, ohn ein Tiran zu ſein, jedes Geraͤuſch ſeiner ge - ſchaͤftigen Hausgenoſſen, jedes laute Gewimmel ſeiner froͤlichen Kinder um und neben ihm, zu allen Zeiten unterdruͤkken? Kan der Kaufman auf ſeiner Schreibſtube, der Rechtsgelehrte in ſeinem Kabinette, die Magiſtratsperſon auf ihrem Richterſtule, dem lermenden Gewuͤhl der Straße und dem Geraͤuſche derer wehren, welche Geſchaͤfts halber bei ihnen aus - und eingehen? Und wenn ſie das nicht koͤnnen, was wuͤrde aus ihnen wer - den, wenn ſie nicht anders, als in der Stille zu arbeiten ſich gewoͤhnt haͤtten?

Aber60

Aber ſo noͤthig es nun auch aus dem ange - zeigten Grunde iſt, ſich fruͤhzeitig eine Fertigkeit in abwechſelnden und mannigfaltigen Geſchaͤften zu erwerben: ſo ſehr muͤſſen wir auch auf der andern Seite auf unſerer Hut ſein, daß wir nicht in den entgegengeſezten Fehler der Unſtaͤtigkeit und des kindiſchen Ueber - druſſes bei einfoͤrmigen Arbeiten verfallen. Geſchaͤfte von einiger Erheblichkeit wollen nicht rukweiſe verrichtet ſein; ſie erfodern vielmehr eine anhaltende Strebſamkeit, welche, wo nicht bis ans Ende, doch wenigſtens bis auf einen beque - men Abſaz, ausdauren kan. Schlim genug fuͤr den Man (wenn er anders Man genant zu wer - den noch verdient) deſſen Sele durch eine fehler - hafte Erziehung, oder durch nachherige eigene Verwoͤhnung, ſchon ſo erſchlaft iſt, daß ihre Schnelkraft nur noch augenblikliche, alſobald wieder nachlaſſende Spannungen ertragen kan! Eine Folge der beliebten Verfeinerung rich - tiger, der weibiſchen Verzaͤrtelung unſerer Selen - und Leibeskraͤfte, welche, ſo Gott wil! zu den Vorzuͤgen unſerer Zeiten gehoͤren ſol! Vornehm -lich61lich eine Folge des taͤglichen Genuſſes ſtarkge - wuͤrzter litterariſcher Lekkerbiſſen, von empfindſa - men Modegarkoͤchen*)Dieſe ſind es, denen der Vorwurf, welchen Cicero nur den Dichtern macht, recht eigentlich mit gebuͤhrt: Videsne, poetae quid mali afferant? Lamentantes inducunt fortiſſimos viros; molliunt animos noſtros; ita ſunt deinde dulces, ut non legantur modo, ſed etiam ediſcantur. Sic ad malam domeſticam diſciplinam, vitamque um - bratilem et delicatam quum acceſſerunt etiam poetae, nervos omnis virtutis elidunt. Recte igitur a Platone educuntur ex ea civitate, quam finxit ille, quum mores optimos et optimum rei pu - blicae ſtatum exquireret. Tuſc. quaeſt. Lib. 2. bereitet, wodurch der geiſtige Gaum unſrer Juͤnglinge (wenn ich mich ſo ausdruͤkken darf) nach und nach ſo ſehr ver - woͤhnt wird, daß jede einfache ungekuͤnſtelte Haus - manskoſt beim erſten Biſſen ihnen Widerwillen und Ekel verurſachet! Das iſt nicht die Speiſe, welche unſern Selenfaͤhigkeiten Wachsthum und Gedeihen gibt; das daher auch nicht die Leute, von denen ſich der Staat, es ſei in welchem Fach es wolle, irgend einen erheblichen Dienſt ver -ſprechen62ſprechen kan, zu welchem Aemſigkeit und anhal - tende Anſtrengung erfodert werden. Man ſolte ſie, fern von oͤffentlichen Staatsgeſchaͤften, in die Weiberſtuben verweiſen, wo der Schade eben nicht groß ſein wuͤrde, wenn ſie in einer Viertel - ſtunde vom Strikzeuge zum Spinrokken, vom Spinrokken zur Nezarbeit, und von dieſer zu den Stikkereien ſchritten. Aber ich beſorge, daß man die Weiberſtuben bald zu enge finden wuͤrde; ſo ſehr hat die Zahl ſolcher verzaͤrtelten Halb - maͤnner in unſern Tagen zugenommen! Was aus dem naͤchſten Menſchenalter, wenn das ſo fortgeht, werden ſol doch das moͤgen die aus - machen, welche die Vorſehung zu Vormuͤndern fuͤr die Nachkommenſchaft beſtelt hat. Mir, dem in dieſem Alter nur noch die vaͤterliche Fuͤrſorge fuͤr dich, mein Kleon, aufgetragen ward, muß es genug ſein, wenn ich nur deine Sele vor dieſer leidigen Verzaͤrtelung ſichern, und, mit Gottes Huͤlfe! ſie in der ganzen Fuͤlle ungeſchwaͤchter Menſchenkraft ſtark und maͤnlich, thaͤtig und aus - daurend zum Dienſte unſerer Mitmenſchen freu - dig darſtellen kan.

Um63

Um dieſen Triumph meines vaͤterlichen Her - zens das einzige Gluͤk, welches hienieden mir noch zu Theil werden kan mir immer mehr zu verſichern, uͤbe dich kuͤnftig ſelbſt, mein Sohn, ſo wie du bisher unter meiner Anfuͤhrung gethan haſt, in maͤnlicher Standhaftigkeit zur Vollendung ſolcher Arbeiten, welche anhaltenden Fleiß und un - ermuͤdete Geduld erfodern. Die trokkenſten und muͤhſamſten Geſchaͤfte ſind zu dieſer Abſicht gerade die nuͤzlichſten. Frage nicht, wozu dasjenige, was du zu einer ſolchen Uebung vornimſt, dir oder an - dern dienen ſolle? Es hat dir und andern genug gedient, wenn dein junger Geiſt dadurch zur Geduld und Stetigkeit auch in ſolchen Geſchaͤften gewoͤhnt wird, welche deiner Neigung zuwider und mit einiger Beſchwerlichkeit verbunden ſind. Denn wiſſe, o Juͤngling und glaub es einem Manne, den die Vorſehung auf mehr als einen Poſten zu ſtellen fuͤr gut befand, daß du ſolchen Arbeiten doch nie entgehen werdeſt, in welches Fach von Geſchaͤften du dich auch immer werfen magſt. Und wehe dir, wenn deine Schultern ſie, ohne vor - hergegangene Uebung, uͤbernehmen muͤßten!

Die64

Die Vorſchriften und das Beiſpiel einiger unſerer neueſten Sittenlehrer*)Die Zunft dieſer angeblichen Sittenlehrer, welche damahls, da dieſer Aufſaz zum erſten - mahl gedrukt ward, ſo großes Geraͤuſch machte, hat ihre kurze Rolle ſeitdem ſchon ausgeſpielt und iſt wieder abgetreten. ſind dieſem mei - nem Rathe freilich grad entgegengeſezt; und das darf ich dir nicht verſchweigen, damit du, wenn du einſt in ihre Sphaͤre kommen ſolteſt, dich durch dieſen Widerſpruch nicht irre machen laſſeſt. Thue, werden dir dieſe ſagen, wenn deine Selbſt - ſtaͤndigkeit dir lieb iſt, zu jeder Zeit nur grade das, wobei dir wohl iſt, wozu du jedesmahl einen innern unwiderſtehlichen Drang des Herzens bei dir verſpuͤrſt. Iſt dieſer Antrieb befriedigt und wil’s dich weiter nicht behagen, in demſelben Geſchaͤfte fortzufahren: ſo laß es liegen, und bringe deine Zeit lieber mit Nichtsthun, oder mit Schlafen hin, als daß du, ohne einen innern Beruf dazu zu haben, und wider deine Neigung arbeiten ſolteſt! In der That, eine gar bequeme Sittenlehre fuͤr den Guͤnſtling des Gluͤks,der65der unabhaͤngig, ſo wohl von eigentlichen Berufs - pflichten, als auch von dem Willen anderer Men - ſchen, groͤßtentheils nur ſich ſelber leben wil und kan: aber auch fuͤr jeden andern? Auch fuͤr den Man in oͤffentlichen Geſchaͤften, der eben ſo wenig von ſeinem Amte, als das Amt von ihm ent - behrt werden kan?

Die Herrn haben Recht, ſobald von Werken des Geſchmaks oder der Laune die Rede iſt. Dieſe laſſen ſich freilich nicht erzwingen; denn die Glokke des Genies ſchlaͤgt nicht zu allen Stunden. Aber kan auch etwas uͤbereilteres erdacht werden, als die Vorſchriften der Schoͤnſchreiberei, die Sit - tenlehre des regelloſen Genies, auf das Verhalten des geſchaͤftigen Mannes im gemeinen Leben an - wenden zu wollen? Und doch wie oft ſieht man unſere heutigen jungen Feuerkoͤpfe ſich dieſer Ue - bereilung ſchuldig machen?

Warte alſo mit ſolchen Arbeiten, welche dein Beruf dir auflegt, und welche regelmaͤßig ver - richtet ſein wollen, nicht erſt auf Stunden der Begeiſterung, welche vielleicht ausbleiben duͤrften,Eſondern66ſondern verrichte ſie, ſobald die Zeit dazu gekom - men iſt. Vornehmlich huͤte dich, ohne Noth, irgend ein Geſchaͤft in die lezte Stunde zu verſchieben; und bemuͤhe dich vielmehr, deine jedesmalige Arbeiten, wenn’s immer thunlich iſt, noch vor der dazu beſtimten Zeit zu Stande zu bringen. Der Grund dieſer Vorſchrift iſt von ſelbſt klar genug. Je naͤher die Stunde heran ruͤkt, in welcher irgend ein aufgeſchobenes Ge - ſchaͤft vollendet ſein muß, um deſto groͤſſer wird unſere Unruhe, um deſto ſtoͤrender die Beſorg - niß, daß man zu der beſtimten Zeit vielleicht da - mit nicht werde fertig werden; um deſto weniger gelingt es uns, zu unſerer eigenen und anderer Zufriedenheit damit zu Stande zu kommen. Man arbeitet alsdan mit einer gewiſſen Aengſt - lichkeit, welche unſere Selenkraͤfte feſſelt; man uͤbereilt ſich, man begeht Fehler, man legt den Grund zu mancher Verdrieslichkeit, die wohl haͤtte koͤnnen vermieden werden, und hadert als - dan vergebens mit ſich, mit andern, und mit ſeinem Schikſale.

Hierzu67

Hierzu komt noch dieſes, daß wir niemahls wir moͤgen ſein, wer wir wollen, unumſchraͤnkte Herrn uͤber uns ſelbſt, uͤber unſere Geſundheit, uͤber die jedesmalige Anwendung unſerer Zeit und unſerer Kraͤfte ſind. Ach! ein ſchwaches Luͤftchen kan ja den Wohlſtand dieſer unſerer zerbrechlichen Huͤlle, und mit ihm die Moͤglichkeit des Ge - brauchs der ſie belebenden Kraͤfte, ploͤzlich ver - wehen, und tauſend unvorhergeſehene Hinder - niſſe koͤnnen hervorſpringen, uns in unſerm kuͤhn - ſten Laufe Einhalt thun, und die Vollendung einer aufgeſchobenen Arbeit unmoͤglich machen. Und dan ſehen wir uns oft in großer Verle - genheit.

Um dieſe zu vermeiden, verrichte alles, was einmahl geſchehen muß, ſo fruͤhzeitig, als du nur immer kanſt, und mache es dir zur unverbruͤch - lichen Regel, kein Geſchaͤft, welches du in der gegenwaͤrtigen Stunde verrichten kanſt, ohne ir - gend einen wichtigen Bewegungsgrund dazu zu haben, jemahls bis zur folgenden aufzuſchieben. Dan wird deine Arbeit dir gelingen, und die Ruhe nach derſelben um ſo viel ſuͤßer ſein.

E 2Denn68

Denn auch der Ruhe und der Erholung ſol, nach vollendeter Arbeit, ein Theil deiner Tageszeit gewidmet ſein! Unſere Kraͤfte ſind ja zu endlich, als daß ſie einer endloſen Anſtrengung faͤhig waͤren. Sie beduͤrfen von Zeit zu Zeit einer verhaͤltnißmaͤßigen Nachlaſſung, wenn ſie durch uͤbertriebene Spannung nicht ploͤzlich bre - chen, oder nach und nach gaͤnzlich erſchlaffen ſollen. Seze dir daher, wenn deine Arbeit nicht in auſſerordentlichen Faͤllen durchaus un - aufſchieblich iſt, von Zeit zu Zeit einige Ruhepunkte, und wende dieſe wohlthaͤtigen Pauſen zu deiner Ermunterung an, ent - weder durch einen Blik in die ſchoͤne of - fene Natur, und durch ein dankbares Auf - ſehen zu dem alguͤtigen Vater derſelben, oder durch einen ſtaͤrkenden Zwiſchengenuß der albeſeeligenden Liebe in dem Schooße deiner Familie, oder an der Seite irgend eines gepruͤften mit dir gleichgeſtimten Freundes. Das iſt das Gewuͤrz eines geſchaͤf - tigen Lebens, welches unſern abgeſpanten Geiſt erfriſcht und ſtaͤrkt, ihm Kraft und Luſt zu neuenAnſtren -69Anſtrengungen gewaͤhrt. Und das iſt eben mit eine der Urſachen, warum ich dir gleich anfangs die Begluͤkkung deiner kuͤnftigen Familie, als den erſten und vornehmſten goͤtlichen Beruf, empfahl, und warum ich dir jezt die taͤgliche Uebung deines Geſchmaks an ſchoͤner Natur, als eine eben ſo nothwendige Vorbereitung zu einem zufriedenen und gemeinnuͤzigen Leben, gleichfals auf das nach - druͤklichſte empfehlen muß. O der bejammerns - wuͤrdigen Sele, fuͤr welche dieſe beiden Quellen des reinſten, des ſeeligſten Vergnuͤgens und der ſuͤßeſten Erquikkung nach vollendeter Arbeit, un - widerbringlich verſtopft ſind!

Und es gibt deren, mein Sohn; gibt ihrer ſogar unter denen, welche den Gruͤnden des Ver - gnuͤgens und des Misvergnuͤgens, den Urſachen und Hinderniſſen eines gluͤkſeeligen Lebens, mehr als andere nachgeſpuͤrt, aber waͤhrend dieſes aͤmſigen Nachſpuͤrens ungluͤklicher Weiſe verab - ſaͤumt hatten, aus den Quellen der Gluͤkſeelig - keit, die ſie fuͤr andere ſuchten, fuͤr andere auf - gruben, auch fuͤr ſich ſelbſt zu ſchoͤpfen. Du kanſt dir von dem unſeeligen Zuſtande ſolcherE 3Schlacht -70Schlachtopfer entweder einer zu weit getrie - benen Begierde nach wirklicher Gemeinnuͤzigkeit, oder einer uͤberſpanten Ruhmſucht Gottlob! noch keinen Begrif machen; und o moͤgte die Vorſtellung davon dir doch nie durch eigene Er - fahrung anſchaulich werden! Aber glaube mir, daß es ein gar erbaͤrmlicher Zuſtand ſei, und zittere vor der bloßen Moͤglichkeit, einmahl ſelbſt darein zu gerathen!

Denn was kan klaͤglicher ſein, als die Lage eines Mannes, deſſen Empfindungsvermoͤgen gegen Familien - Freundſchafts - und Naturgenuß nun einmahl ſtumpf geworden iſt, wenn er von ſchweren Arbeiten erſchoͤpft, oder von Sorgen und Bekuͤmmerniſſen gebeugt, nach einem Troͤpf - chen ſtaͤrkender Freude lechzt, und ihn nirgends findet, nirgends, weder in dem ſtillen Schooß ſeiner Familie, die ihm fremd, oder gar verhaßt geworden iſt, noch in der ganzen, weiten, herlichen Natur, fuͤr deren mannigfaltige Freuden er laͤngſt den Sin verlohr! Wenn er nun da ſteht, wie der ermattete Pilger in einer oͤden, duͤrren, un - abſehbaren Sandwuͤſte, ſo ganz allein, ſo ganzverwaiſet71verwaiſet und huͤlflos, und nirgends einen Ruhe - plaz, nirgends eine Erquikkung fuͤr ſeine abge - ſpante ſchmachtende Sele, nirgends ein mitem - pfindendes Weſen erblikt, an deſſen Buſen er aus - ruhen, aus deſſen oſnem Herzen er Troſt und Linderung und Erquikkung ſchoͤpfen moͤgte! Und er ſich nun gezwungen ſieht zu dem einzigen, ihm noch uͤbrigen Mittel zu der Betaͤubung durch rauſchende wilde Vergnuͤgungen, oder durch un - maͤßigen Genuß ſtarker Getraͤnke, ſeine lezte ver - zweiflungsvolle Zuflucht zu nehmen; gleich dem Kranken, der, aller Hofnung einer moͤglichen Ge - neſung beraubt, nach Opiaten greift, um wenig - ſtens dem Gefuͤhl wuͤthender Schmerzen durch unempfindlichen Todesſchlaf zu entfliehen! O mein theurer Sohn, der alguͤtige Gott laſſe dein Loos nie auf das Schikſal ſolcher ungluͤk - lichen lebendig todten Opfer einer unmaͤßigen Wirkungsbegierde fallen! Noch jezt koͤmt mir Grauſen und Entſezen an, wenn ich an die nahe Gefahr zuruͤkdenke, in der auch ich mich einſt be - fand, dem Haufen ſolcher Bejammernswuͤrdigen zugeſelt zu werden.

E 4Um72

Um dieſes Ungluͤk das groͤßte, welches einen Menſchen hienieden treffen kan, weil es ihn zu jeder Art von wahrer Gluͤkſeeligkeit durch - aus unfaͤhig macht! zu vermeiden, laß meinen Rath mit gluͤhenden Buchſtaben deinem Gedaͤcht - niſſe eingeſchrieben ſein: Begluͤkke die Lieben, welche Gott mit dir verbinden wird, ſo ſehr du immer kanſt; erwirb dir dadurch einen Schaz von haͤuslicher Gluͤkſeeligkeit, zu dem du jedesmahl deine Zuflucht nehmen koͤnneſt, ſo oft du einer Ermunterung bedarfſt; dieſen Schaz dir zu er - halten und zu vergroͤßern, laß allewege deine an - gelegentlichſte Sorge ſein; geneuß daneben in vollen Zuͤgen, ſo oft du immer kanſt, der un - ſchuldigen, wohlthaͤtigen Freuden der Natur, die ſie ſo muͤtterlich darbietet allen ihren Kin - dern, welche davon genießen wollen; uͤbe deine Sele taͤglich, das Schoͤne, das Große, das Un - ausſprechliche, welches ihr Anblik gewaͤhrt, im - mer lebendiger und inniger zu empfinden; laß in dieſer Abſicht keine der unzaͤhligen ſchoͤnen Verwandlungen dieſer immer regen, immer ſchoͤpferiſchen Natur, welche taͤglich neu in ihrenDekora -73Dekorazionen iſt, ungenoſſen voruͤbergehen, es ſei in welcher Jahrszeit es wolle denn jede derſelben iſt reich an unbeſchreiblichen Schoͤnhei - heiten, reich an tauſendfaͤltigem Seegen! es ſei des Morgens, wenn das große Auge der Welt, die Sonne, ſich aufthut, oder des Abends, wenn es ſich wieder ſchließt; huͤte dich da - neben vor jeder Ueberſpannung deiner Kraͤfte; mache Abſaͤze in deinen Anſtrengungen, und laß Ruhe und Arbeit in zwekmaͤßiger Ordnung be - ſtaͤndig mit einander abwechſeln! Vergiß nie, daß du ein endliches und ein zuſammenge - ſeztes Weſen ſeiſt; jenes, um deinen Beſtrebun - gen ein angemeſſenes Ziel zu ſezen, dieſes, um nicht etwa blos einen einzigen Theil deiner ſelbſt, mit Vernachlaͤßigung und auf Unkoſten der an - dern, ausbilden und vervolkomnen zu wollen. Du biſt nicht Sele allein, du haſt auch einen Koͤrper; und deine Sele iſt nicht blos Verſtand, ſie iſt auch Herz, nicht blos Erkentnißkraft, ſondern auch Empfindungsvermoͤgen. Dis bedenke, mein Sohn, und wiſſe, daß die Summe deiner Volkommenheiten und alſo auch dieE 5Summe74Summe deiner Gluͤkſeligkeit, in eben dem Maaße verringert wird, in welchem die Uebung deiner Kraͤfte einſeitig iſt, in welchem du den einen Theil von dir, mit Vernachlaͤßigung der uͤbrigen, zu verbeſſern und zu ſtaͤrken ſuchſt. So feſt und innig der Zuſammenhang, welcher alle mit ein - ander verknuͤpft!

Haſt du alſo eine Zeitlang blos den Verſtand gebraucht, ſo eile, auch deinem Herzen eine ausbildende Unterhaltung durch edle Empfindungen zu verſchaffen; und haſt du eine Zeitlang blos deine gei - ſtigen Kraͤfte arbeiten laſſen, ſo eile, auch dein koͤrperliches Vermoͤgen durch Bewe - gung und Handarbeit zu uͤben. So wer - den alle deine Faͤhigkeiten in gleichem Maaße entwikkelt werden; ſo wird ein gluͤkliches Gleich - gewicht unter allen deinen Kraͤften herſchen; ſo wird endlich deine ganze Individualitaͤt den hoͤch - ſten Grad von Volkommenheit erreichen, welchen die Guͤte und Weisheit des Schoͤpfers in der ge - genwaͤrtigen Periode deines Daſeins fuͤr dich be - ſtimt haben.

Aber75

Aber nicht blos in dem Schooße der lebloſen Natur, ſondern auch in dem Umgange mit Menſchen ſolſt du, nach vollendeter Arbeit, deine Erholung ſuchen. Denn auch dieſer, da - fern er zwekmaͤßig gewaͤhlt und eingerichtet wird, iſt eine ergibige Quelle heilſamer Vergnuͤgungen, welche unſerm ermuͤdeten Geiſte ſtaͤrkende Nah - rung gewaͤhren. Sei alſo geſellig, mein Sohn, ſo ſehr es, ohne Vernachlaͤßigung deiner Berufspflichten, nur immer geſchehen kan. Aber, um des Vergnuͤgens der Mittheilung und Theilnehmung im geſelſchaftlichen Umgange in vollem Maaße zu genießen, mußt du in den Jahren, worin du jezund biſt, nicht verabſaͤumen, das urſpruͤngliche Menſchengefuͤhl, welches zu den weſentlichen Beſtandtheilen unſerer Natur gehoͤrt, durch fleißige Uebungen in dir zu ſtaͤrken und zu veredeln. Denn auch dieſes kan, wie jede andere Anlage unſerer Natur, durch Gebrauch geſchaͤrft, durch Nichtgebrauch ſtumpf gemacht werden. So wie es Menſchen gibt, welche fuͤr die mannigfaltigen Schoͤnheiten der Natur nach und nach den innern Sin verloren haben;welche76welche den Auf - oder Untergang der Sonne, den holdſeeligen Mond, den ſternbeſaͤten Himmel, das herlichſte Gemiſch einer ſchoͤnen und großen Gegend mit eben dem fluͤchtigen Kaltſin betrachten koͤnnen, mit welchem der geſezte Man einem elenden Schattenſpiele zuzuſehen pflegt: ſo gibt es auch andere, welche, ganz in ſich ſelbſt zuruͤk - gezogen, weder das Vergnuͤgen der Mittheilung eigener Empfindungen, noch das Wonnegefuͤhl der Theilnehmung an den Freuden und Leiden anderer Menſchen zu empfinden faͤhig ſind; Un - gluͤkliche, welche mit niemandem ſimpathiſiren koͤnnen, welche in Geſelſchaft froͤhlicher Menſchen mismuͤthig und muͤrriſch, beim Anblik leidender Bruͤder hingegen kalt und ohne mitleidige Ruͤh - rung bleiben; und welche daher fuͤr die gute Geſelſchaft, welche mit ihrer Gegenwart heimge - ſucht wird, eben das ſind, was im Konzert ein verſtimtes Inſtrument fuͤr unſere Ohren iſt. Und wie kam ihnen dieſe unſeelige Fertigkeit, ihr Herz zu iſoliren, es gegen alles Vergnuͤgen der Mittheilung und der Theilnehmung abzuhaͤrten? Woher ſonſt, als durch eine ungluͤkliche Vernach -laͤßigung77laͤßigung der geſelligen Triebe, welche unſerm Herzen eingepflanzt ſind; es ſei nun, daß Bloͤ - digkeit und falſche Schaam die unzerſtoͤrbaren Folgen einer ſklaviſchen Erziehung! oder eine gar zu unmaͤßige Befriedigung der Liebe zu den Studien und zu Geſchaͤften, die junge Sele in ſich ſelbſt zuruͤkgejagt, und an der Entwikkelung des urſpruͤnglichen Menſchengefuͤhls verhindert hatten.

Abermahls ein trauriger Zuſtand, wovor der Himmel dich bewahren wolle! Um ihn zu ver - meiden, laß den Terenzianiſchen Ausſpruch: Ho - mo ſum, nihil humani a me alienum eſſe puto, deinen beſtaͤndigen Wahlſpruch ſein. Ent - reiſſe dich von Zeit zu Zeit deinen Geſchaͤften, und der Geſelſchaft von Verſtorbenen, den Buͤchern, um in dem Umgange mit Lebenden dein Herz durch Menſchengenuß zu laben, und die Triebe der Geſelligkeit in dir zu ſtaͤrken. Ergreife, ſuche auf jede Gelegenheit, dich durch Mitleid oder Mitfreude zu erwaͤrmen, und freue dich, als eines neuerworbenen Schazes, jeder Traͤne, welche alsdan aus deinem Auge quilt. Schaͤme dichihrer78ihrer nicht; ſuche ſie nicht in die volle Bruſt zu - ruͤkzudraͤngen: ſondern laß ihr freien Lauf, und wiſſe, daß ſie deinem moraliſchen Werthe und alſo auch deiner wahren Gluͤkſeeligkeit ſein wird, was der balſamiſche Morgenthau nach einer ſchwuͤlen Sommernacht den lechzenden Saaten iſt.

Glaube mir, mein Sohn, in weſſen Herz Natur - und Menſchengefuͤhl erſtorben iſt, der kan auch an Gott keine Freude haben. Denn unſer Herz bedarf eben ſo, wie unſer Verſtand, der Stufenleiter ſeiner Werke um zu ihm zu ge - langen; dieſer um ihn zu erkennen, jenes um ihn zu lieben, und durch die lebendige Empfindung ſeiner Gegenliebe beſeeliget zu werden. Sind wir alſo ſo ungluͤklich geweſen, den innern Sin fuͤr ſchoͤne Natur und fuͤr Menſchengenuß zu verlieren, ſo moͤgen wir uͤbrigens noch ſo große Weltweiſen ſein, wahre Gottesverehrer ſind wir nicht, koͤnnen es nicht ſein, weil ſo wohl un - ſere Erkentniß von ihm, als auch unſere Liebe zu ihm, in dieſem Fal blos ſimboliſch bleiben, niemahls anſchauend, niemahls lebendig wer - den koͤnnen.

Das79

Das ſolte daher auch, wenn wir weiſe waͤren, der beſtaͤndige Stufengang ſein, auf welchem wir unſere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe des Schoͤpfers, oder, welches einerlei iſt, zur Religion anfuͤhrten, daß wir erſtlich ihnen die reinſte, innigſte, waͤrmſte Liebe gegen uns, ihre Eltern und Freunde einzufloͤßen, dan ihr Men - ſchengefuͤhl uͤberhaupt zu ſtaͤrken und zu veredeln ſuchten, dan ihren jungen Verſtand und ihr of - nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin - dung der wundervollen Werke Gottes in der ſchoͤ - nen Natur anfuͤlten, und nur dan erſt, wan ihre ganze Sele nach und nach dahin gebracht waͤre, daß ſie nichts als Menſchenliebe und Naturfreude athmete, ſie auf die Urquelle aller dieſer Freuden auf Gott ſelbſt verwieſen. Das wuͤrde allein der Gang ſein, welcher der Natur unſerer Sele angemeſſen waͤre. Aber was thun wir? Wir kehren die natuͤrliche Ordnung um, wollen den vergoldeten Knopf auf den Thurm ſezen, bevor wir noch den Grundſtein zu dem Thurme ſelbſt gelegt haben ohne Allegorie, wir reden unſern Kindern von Gott vor, ehe ſie noch ein -mahl80mahl uns, ihre Eltern, recht kennen gelernt haben; laſſen ſie Gebethe ſtammeln, ehe ſie die Worte verſtehen, die ſie ausſprechen muͤſſen; lehren ſie, daß Gott der Schoͤpfer des Weltals ſei, wenn ſie kaum erſt einige Spannen breit vom Weltal geſehen haben, und fodern von ihnen, daß ſie Gott lieben ſollen, ehe ſie jemahls ſchon gefuͤhlt haben, was das Wort lieben fuͤr eine Bedeutung habe. Und die Folge von dem allen? Iſt dieſe, daß die Welt von Betern und Religions - ſchwaͤzern wimmelt, indes die wahren Gottes - verehrer, welche in der Betrachtung, und in dem Gehorſam gegen ſeine ewigen Geſeze, ihre groͤßte Seeligkeit finden, beinahe ſo ſelten, als der Phoͤnix in der Fabel, ſind.

Aber dieſe traurige Bemerkung wuͤrde mich fuͤr unſere gegenwaͤrtige Abſicht zu weit fuͤhren. Ich wil ſie daher nicht weiter verfolgen; ſondern kehre zu dem Rathe zuruͤk, von dem ich ausging, und den ich dir nicht genug einſchaͤrfen zu koͤnnen glaube, zu dem wichtigen Rathe, ſage ich, daß du doch ja in dem Laufe deines geſchaͤftigen Le - bens, die Triebe der Geſelligkeit, welche ſo we -ſentlich81weſentlich zu dem Adel unſerer Natur und zu unſerer Gluͤkſeeligkeit gehoͤren, nicht vernachlaͤßi - gen, ſondern vielmehr auf alle Weiſe zu uͤben, zu entwikkeln und zu ſtaͤrken ſuchen moͤgeſt. Un - gluͤkliche Beiſpiele von ſolchen, welche das Gegen - theil thaten, und dadurch elend wurden, ob wohl ihre anderweitigen Tugenden ein beſſeres Schikſal verdient haͤtten, werden dir kuͤnftig, beſonders unter dem feinern und gelehrten Theile der menſch - lichen Geſelſchaft, in Menge vorkommen, und dich uͤberzeugen, wie gut und annehmungswuͤrdig auch dieſer Rath geweſen ſei.

Sei alſo geſellig: aber huͤte dich, den ab - geſchmakten, gezierten, auf Schrauben ge - ſtelten Modeumgang der ſogenanten feinern Welt, bei welchem nur die Eitelkeit, oder noch ſchlimmere Leidenſchaften, ihre Rech - nung finden, aber kein einziges natuͤr - liches Beduͤrfniß unſers Herzens befriedigt wird, oder die Zuſammenkuͤnfte uͤppiger Schwelger, welche, aus Mangel einer ver - nuͤnftigen Unterhaltung, wofuͤr ſie wederFKopf82Kopf noch Herz haben, ſich genoͤthiget ſehen, ihr langweiliges Leben durch Spiel und uͤbermaͤßigen Genuß erkuͤnſtelter Speiſen und betaͤubender Getraͤnke fortzuſchleu - dern, fuͤr Uebungen der Geſelligkeitstriebe zu halten. Nein, mein Sohn! dieſe beiden Arten von Geſelſchaft laſſen in unſerm Gemuͤthe gerade das Gegentheil von dem zuruͤk, was eine vernuͤnftige Geſelligkeit, ein ofner, herzlicher, lehrreicher Umgang mit gleichgeſtimten und weiſen Freunden in uns bewirken kan. Jene ſchwaͤchen, dieſer ſtaͤrkt unſere Leibes - und Selenkraͤfte; jene erſtikken, dieſer entwikkelt in uns den wahren Menſchenſin; jene ſcheuchen durch Betaͤubung uns aus uns ſelbſt heraus, ohne unſere Empfin - dungskraft auf irgend einen guten und edlen Ge - genſtand auſſer uns zu richten, dieſer erweitert unſer Herz durch die wohlthaͤtigſten Natur - und Freundſchaftsgefuͤhle, und verhuͤtet auf der einen Seite, daß unſere Empfindungen nicht ſtumpf, und auf der andern, daß ſie nicht ſelbſtſuͤchtig wer - den; jene endlich entnerven unſern Trieb zu nuͤz - licher Geſchaͤftigkeit, und machen uns unluſtig undtraͤge83traͤge zu jeder Art von gemeinnuͤziger Anſtrengung, dieſer hingegen floͤßt uns Luſt, Muth und Kraft zu neuer Thaͤtigkeit ein, und laͤßt uns, ſobald wir uns wieder fuͤhlen, in dem kleinen Zirkel aus - erwaͤhlter Buſenfreunde die ſuͤßeſte und heilſamſte Erholung finden.

Um dieſer mannigfaltigen Vortheile einer ſolchen Geſelligkeit zu genießen, entziehe dich, ſo ſehr du immer kanſt, dem tollen Gewuͤhl des ſo - genannten großen Lebens, und ſchraͤnke deinen Umgang auf den kleinen Kreis gleichdenkender und bewaͤhrter Freunde ein. Haſt du deren ge - funden, haſt du ſorgfaͤltig ſie gepruͤft, und bei jeder Pruͤfung ihren Edelmuth und ihre Treue immer bewaͤhrt gefunden: o ſo halte ſie theuer und ſuche ihre Liebe ſorgfaͤltiger, als deinen Aug - apfel, zu bewahren! Schuͤtte dein ganzes Herz in ihren treuen Buſen aus, und laß hinwieder - um den deinigen den allezeit ofnen und immer ſichern Verwahrungsort ihrer eigenen geheimſten Empfindungen ſein. Theile dich ihnen ganz mit, zeige dich ihnen immer, wie du biſt, ohne alle Zuruͤkhaltung, ohne alle Verſtellung, und laßF 2deine84deine warme, herzliche Theilnehmung ſie zu einer gleich offenherzigen Mittheilung reizen. Ein und eben derſelbe Geiſt der Ordnung, der Maͤßigkeit, der Einfalt, der ungekuͤnſtelten reinen Sitten, und der Zufriedenheit muͤſſe euch und euer Haus - weſen beleben. Fort mit den heilloſen Kuͤnſten der Ueppigkeit aus euren Kuͤchen und Kellern! Fort aus euren Gemaͤchern und Kleiderbehaͤltniſſen mit dem ganzen armſeeligen Prunk der Eitelkeit, welche den Mangel wirklicher Verdienſte durch thoͤrichten Flitterſtaat in Kleidung und Hausge - raͤth zu erſezen ſucht! Zwar ſolſt du kein Son - derling ſein, keine Verachtung deſſen, was alge - mein uͤblich iſt, keine uͤbertriebene Natuͤrlichkeit in gleichguͤltigen Dingen affektiren: aber kan man dieſer Maske, wohinter die Eitelkeit ſich zu verſtekken ſucht, nicht entbehren, ohne ſich blind - lings in den Weltſtrom der Ueppigkeit und der franzoͤſirenden Galanterie zu ſtuͤrzen? Kan man ſich nicht der ſchlichten Ordnung und der edlen Einfalt befleißigen, ohne dem rohen Sohne der Natur nachzuaͤffen, und ihn in einer abgeſchmakten Karrikatur darzuſtellen?

Ordnung85

Ordnung und Simplizitaͤt! O daß dieſe beiden wie ſol ich ſie nennen? Tugen - den? Nicht genug; dieſe beiden Muͤtter und Pflegerinnen ſo vieler Tugenden, dieſe beiden Beſchuͤzerinnen vor ſo vielen Laſtern und vor ſo vielen Unannehmlichkeiten des Lebens o daß ſie doch, gleich einem ehrenvollen Familienwappen, gepraͤgt waͤren auf alles, was dein iſt, auf deine Handlungen, wie auf deine Denkungsart, auf dein Hausweſen, wie auf deine Sitten! Wie ſehr da - durch die Geſundheit unſers Leibes und unſers Geiſtes befoͤrdert, unſere Wirkſamkeit vergroͤßert und erleichtert, unſere haͤusliche Gluͤkſeeligkeit be - feſtiget und unſere ganze Lebensbahn grade und eben gemacht wird, das kan ich dir nicht beſchrei - ben, mein Sohn! Das magſt du vorjezt aus dem Beiſpiele deiner Eltern, und kuͤnftig, will’s Gott! aus deiner eigenen angenehmen Erfahrung lernen!

Damit aber dieſer Geiſt der Ordnung und der Einfalt in unſerer ganzen Denkungsart und in un - ſern Handlungen herſchend werde, muͤſſen wir, auch in Kleinigkeiten, auch in ganz gleichguͤltigenF 3Dingen,86Dingen, uns von ihm leiten laſſen. Ziehe daher das Natuͤrliche dem Kuͤnſtlichen, das Regelmaͤßige dem Unregelmaͤßigen auch in ſolchen Dingen vor, wo ſowohl die Koſtbarkeit und Seltenheit, als auch die Schoͤnheit oder Nuͤzlichkeit keinen Unter - ſchied machen. Binde dich auch, ſo weit es moͤg - lich iſt, an beſtimte Plaͤze zur Aufbewahrung und Hinſtellung deiner Sachen; an beſtimte Zeiten zum Eſſen, zum Schlafengehn, zum Aufſtehn, zum Ankleiden, zum Arbeiten und zur Erholung; doch mache, beſonders in dieſen deinen Juͤnglingsjahren, je zuweilen mit Vorſaz eine Ausnahme davon, da - mit es dir nicht beſchwerlich falle, von der ge - woͤhnten Ordnung, wenn es ſein muß, einmahl abzuweichen.

Wilſt du den Schluͤſſel zu dem Raͤthſel wiſ - ſen, welches ganz Europa in Erſtaunen geſezt hat, zu dem Raͤthſel, wie der einzige Geiſt eines noch jeztlebenden großen Koͤniges alle Regierungs - geſchaͤfte ſeiner, mehr durch ihre innere Staͤrke, als durch ihren Umfang furchtbaren Staaten, und das Staatsverhaͤltniß des halben Erdkreiſes bisauf87auf das kleinſte Detail, allein umfaſſen koͤnne? Er heißt Ordnung!

Endlich, mein Kleon denn der Anblik jener glaͤnzenden Sterne, welche immer dichter und dichter hervorſchimmern, erinnert mich, daß es Zeit ſei, zur Ruhe zu eilen laß mich mit einer Warnung ſchließen, welche man vielen Menſchen nicht zu geben braucht, welche aber fuͤr diejenigen, denen ſie noth thut, nicht zu wichtig gemacht werden kan. Und mein vaͤter - liches Herz beſorgt nicht zu irren, wenn es dich zu dieſer Klaſſe rechnet.

Auch das gute Herz, mein Sohn, wenn es nicht durch Weisheit geleitet wird, kan den Man von wichtigen und weitlaͤuftigen Geſchaͤften oft in große Verlegenheit bringen, wenn er aus unbe - graͤnzter Dienſtfertigkeit und Gefaͤlligkeit mehr uͤbernimt, als ſeine Kraͤfte tragen koͤnnen. Auch davor ſei auf deiner Hut, und ſeze deiner Dienſt - begierde die nothwendigen Schranken. Denn wiſſe, mein Sohn, wer allen dienen wil, dient keinem recht, und aͤrntet fuͤr alle ſeine Muͤhe amF 4Ende88Ende Undank ein. Zu rechter Zeit, und aus dem rechten Bewegungsgrunde ein wenig hart zu ſchei - nen, und dadurch auf den Augenblik etwas miß - faͤllig zu werden, iſt auch Weisheit, iſt oft mehr Wirkung eines guten und edlen Herzens, als eine gar zu ausgedehnte und zuvorkommende Gefaͤllig - keit, welche ſich alle Menſchen verbinden wil, und daruͤber keinem ſonderliche Dienſte leiſten kan.

Dis mag denn fuͤr heute genug ſein. Ich habe mich dismahl blos auf ſolche Vorſchriften eingeſchraͤnkt, welche die kluge und gluͤkliche Ver - waltung deiner kuͤnftigen Geſchaͤfte betreffen: ein andermahl wil ich dir auch diejenigen Lebens - regeln mittheilen (ſo viel ich ihrer gleichfals aus meiner eigenen Erfahrung abgezogen habe) welche dich in deinem Verhalten gegen die Menſchen lenken ſollen, damit du in Fried und Freundſchaft unter ihnen leben, und gemeinſchaftlich mit ihnen handeln koͤnneſt, ohne von den Guten verkant, und von den Boͤſen niedergedruͤkt zu werden.

Mit dieſen Worten ſtand er auf, und ging, von ſeinem Sohne gefuͤhrt, unter ruͤhrenden Em - pfindungen beim Anſchauen des geſtirnten Him - mels, zuruͤk zu ſeiner laͤndlichen Wohnung.

II. [89]

II. Theophrons guter Rath, ſeines Sohnes kuͤnftigen Umgang mit Menſchen betreffend.

F 5[90][91]

Sobald die Morgenroͤthe den wiederkehrenden Tag verkuͤndigte, ſprang Kleon neugeſtaͤrkt von ſeinem Lager auf, und erheiterte ſeine Sele durch einen Blik in die erwachende Natur, aus welcher Opferdampf gen Himmel walte. Des Juͤnglings Herz walte mit empor; ſchwebte auf Fluͤgeln des feurigſten Danks vor dem Trone des Alvaters, und flehte um Weisheit und Verſtand zur zweckmaͤßigſten Anwendung des neugeſchenkten Tages.

Jezt quol in feierlicher Stille die albelebende Gluth der Sonne uͤber den Wald hervor. Und Kleon eilte, ſeiner Gewohnheit nach, zum vaͤter - lichen Schlafgemach, des geliebten Greiſes Hand zu kuͤſſen und ſeinen Seegen zu empfangen. Er fand ihn gleichfals ſchon im Genuß der ſchoͤnen Morgenſcene; und auf ſeinem ehrwuͤrdigen Antliz ſchwebte das ſtille ruhige Laͤcheln eines ſpaͤten Som - mertages, wenn die Stauden ſchon zu welken, die Blaͤtter ſchon zu fallen beginnen.

Es iſt ein großer und ruͤhrender Anblik, ſagte Theophron, den die aufgehende Sonne unsgewaͤhrt;92gewaͤhrt; aber ich kenne einen andern, der noch groͤſſer und noch ruͤhrender iſt, als dieſer.

Welchen, mein Vater? fragte Kleon.

Den, antwortete der Greis, einen Juͤng - ling zu ſehn, der mit dem goͤtlichen Feuer der Weisheit und Tugend im Herzen, mit geſunden und im Ebenmaaß ausgebildeten Kraͤften des Lei - bes und des Geiſtes, jezt zum erſtenmale am Horizont der buͤrgerlichen Welt als ein neues wohlthaͤtiges Geſtirn erſcheint, um Licht und Waͤrme, Erkentniß und Wohlſein in ſeinem Wirkungskreiſe auszugießen.

Des Juͤnglings Wangen faͤrbten ſich mit be - ſcheidener Roͤthe; ſein Blik ſenkte ſich zur Erde.

Kom her, mein Sohn, fuhr Theophron mit naſſen Augen fort, indem er ihm die Hand reichte. Noch einen Huͤgel, auf dem du freier um dich blikken und noch mehr Irwege des Lebens uͤber - ſehen wirſt, muß ich dich ſelbſt hinanfuͤhren: dan ſolſt du mit Gott und gutem Muthe allein hervortreten. Aber erſt oͤfne mir jene Fenſter, damit die mildernden Stralen der Sonne unge - brochen und die reine balſamiſche Morgenluft inihrer93ihrer ganzen erheiternden Kraft auf meine Nerven fließe: denn, was ich nun dir noch zu ſagen habe, betrift die Menſchen, mit denen du kuͤnftig leben wirſt; und ach, mein Sohn! es iſt ſo ſchwer, von ihnen zu reden, ohne bitter zu werden! Der Man von gutem Herzen, der ſie kent, ſolte nie anders, als in freier Luft, bei ofnen Fenſtern wenigſtens, ſie zu ſchildern wagen.

Kleon oͤfnete die Fenſter, und Theophron fuhr mit heiterer Miene fort:

Von Natur, mein Sohn, ſind die Men - ſchen fuͤrwahr! ein gutartiges Geſchlecht. Waͤren ſie das nicht, und haͤtten diejenigen, welche uns die Menſchheit, ſo wie ſie noch jezt aus den Haͤnden ihres Schoͤpfers komt, mit ſo traurigen und gehaͤſſigen Farben ſchildern, recht geſehn: wie waͤr es doch moͤglich, daß bei ſo vielen geſelſchaft - lichen Einrichtungen, welche gradezu darauf ab - zielen, uns zu verſchlimmern, von guten Menſchen noch gehoͤrt wuͤrde, halbgute Menſchen wirklich ſo[haͤufig] noch zu finden waͤren? Dis allein, daß die Menſchen noch nicht alle Teufel ſind, welche leiden und Leiden machen, da in kultivierten Staa -ten94ten doch ſo vieles darauf abzwekt, ſolche verwor - fene Weſen aus ihnen zu machen, iſt ein ſicherer Beweis, daß der Stof, aus dem wir geformt ſind, ausnehmend gut, und einer gaͤnzlichen Ver - derbniß ſo leicht nicht ausgeſezt ſein muͤſſe. Damit ſtimt denn auch die philoſophiſche Zergliederung unſerer urſpruͤnglichen Eigenſchaften, ſogar die Aufloͤſung unſerer Laſter in ihre lezten Beſtand - theile, volkommen uͤberein. Die Aeuſſerungen unſerer Kraͤfte und Neigungen moͤgen in ihrem Ausfluſſe noch ſo truͤbe ſein: man gehe bis zur Quelle zuruͤk, und man wird ſie rein und lauter finden.

Ich habe geglaubt, dieſe Anmerkung, deren Wahrheit ſowohl durch Vernunftſchluͤſſe, als auch durch Beobachtung, auſſer allen Zweifel geſezt werden kan, voranſchikken zu muͤſſen, damit du durch dasjenige, was ich von der dermaligen al - gemeinen Verunſtaltung der menſchlichen Natur hinzuzufuͤgen habe, dich nicht dergeſtalt erſchrek - ken laſſeſt, daß du an dir ſelbſt und an der Menſchheit uͤberhaupt verzweifelſt. Was in ſeiner Quelle lauter iſt, das kan, wenn’s durch Zufaltruͤbe95truͤbe ward, auf eine oder die andere Weiſe auch wieder gelaͤutert werden.

Noch eine vorlaͤufige Bemerkung, welche dem Menſchenkenner gleichfals zu einiger Beruhigung gereichen kan: die Menſchen ſind das, was ſie ſind gut oder boͤſe hoͤchſtſelten aus Grundſaͤzen, hoͤchſtſelten aus eigener freier Wahl, ſondern meiſtentheils aus un - wilkuͤhrlicher Gewoͤhnung, meiſtentheils auch aus Noth und dringendem Beduͤrfniß. Dieſe Beobachtung gilt von ihren Tugenden wie von ihren Laſtern, vorzuͤglich aber von den leztern. Seitdem die Menſchen ſich zu Tauſenden und die Tauſende zu Millionen in einen einzigen Staats - koͤrper zuſammengefuͤgt haben; ſeitdem die Fuͤrſten, um dieſen ungeheuern Koͤrper nach ihrem Wohlge - fallen zu lenken, das algewaltige Mittel der Ent - nervung, die ſchoͤnen Kuͤnſte mit ihrer beſtaͤndigen Gefaͤhrtin, der Ueppigkeit, in Gang zu bringen wußten, und ſeitdem hierauf durch uͤbertriebene Verfeinerung die wenigen urſpruͤnglichen Triebe der Menſchheit zu unzaͤhlbaren einſt unbekanten Begierden gleichſam geſpalten wurden: haben diemenſch -96menſchlichen Beduͤrfniſſe, und mit ihnen die Ge - legenheiten zu oͤftern Kolliſionen, die Veranlaſ - ſungen und Verſuchungen zu gegenſeitigen Un - gerechtigkeiten und Ueberliſtungen, bis ins Unend - liche ſich vervielfaͤltiget. Einer drengt nunmehr den andern, wie bei einem Zuſammenlauf des Volks auf enger Straße; einer ſucht den andern von ſich ab - zuhalten, um ſich ſelber Luft zu ſchaffen; einer trit dem andern auf die Fuͤße, nicht weil er treten wil, ſondern weil er ſelbſt getreten wird, und ſich dadurch genoͤthiget ſieht, ſeinen Fuß zuruͤkzuziehen, und ihn auf den Fuß ſeines Nebenmannes zu ſezen. Nur ſehr wenigen feſten Selen von herkuliſchen Kraͤf - ten und von ausdauernder Rechtſchaffenheit iſt es gegeben, ſich gegen den algemeinen Drang zu ſtem - men, unbeweglich dazuſtehn, und lieber den Fuß - trit der Eindringenden zu dulden, als ſelbſt auf andre einzudringen oder loszutreten.

Aus dieſer Beobachtung, fuͤr deren Richtig - keit jeder Weltkenner dir die Gewaͤhr leiſten wird, ſtießen drei wichtige Folgen ab; die eine fuͤr dich, mein Sohn, und fuͤr jeden Juͤngling, der, wie du, im Begriffe ſteht, in das Gedraͤnge der menſch -lichen97lichen Geſelſchaft einzutreten, die andere fuͤr den Beurtheiler der Menſchen, und die dritte fuͤr die Gewaltigen dieſer Erde, in deren Haͤnde die Vor - ſehung das Wohl und Weh der Voͤlker legte. Ich wil die lezte zuerſt aufdekken.

Wenn es wahr iſt, und das iſt es, bei allem was heilig heißt! daß die Vermehrung der Beduͤrfniſſe eine unlaͤugbare Haupturſache der Verſchlimmerung der Menſchheit, ein unlaͤugba - res Haupthinderniß unſerer Gluͤkſeeligkeit iſt: was muͤßten die Vormuͤnder der Menſchheit, wenn es ihnen nicht ſowohl um Vergroͤſſerung ihrer Finan - zen, als vielmehr um Verminderung des algemei - nen Elendes, um Befoͤrderung jeder ſchoͤnen Tu - gend, und um Begluͤkkung ihres Volks zu thun waͤre, zu ihrer erſten und wichtigſten Sorge ma - chen? Dieſes, was ſo leicht kein Finanzminiſter ſeinem Fuͤrſten rathen wird durch eine kraͤftige Einſchraͤnkung des Luxus, und durch Veranſtaltung einer natuͤrlichern und einfachern Erziehung, der Beduͤrfniſſe weniger zu machen, und den ausge - tretenen Strom der menſchlichen Begierden wieder in ſein urſpruͤngliches Bet zuͤruͤkzufuͤhren. ObGvon98von unſern heutigen Antoninen ſich ein einziger dieſes Verdienſt um die Menſchheit erwerben wer - de? Hoffe, mein Sohn, ſo viel du kanſt, und vernim jezt die zweite Folge unſerer Beobachtung, welche fuͤr den Beurtheiler der Menſchen gehoͤrt:

Sind Verwoͤhnung, Noth und Beduͤrfniß wirklich die gewoͤhnlichſten Triebfedern menſchlicher Handlungen; und iſt es wirklich eine ſo ſeltne Er - ſcheinung, daß jemand aus freier Wahl und nach eigenen Grundſaͤzen handle: o ſo laßt uns doch nicht auf Rechnung der ſchuldloſen menſchlichen Na - tur ſezen, was die dermalige Lage der Menſch - heit bei der gegenwaͤrtigen Weltverfaſſung allein verſchuldet! Wenn der Bach, der vorher ſtil und klar zwiſchen bebluͤmten Ufern in ſeinem reinen Standbette dahinfloß, durch Abdaͤmmung[ gezwun - gen] wird, ſich in eine weite, leimigte, allen Winden offenſtehende Flaͤche zu ergießen, um etwa hier einen See zu Luſtfahrten fuͤr den Herrn der Ge - gend zu bilden, dort die feſte Burg eines Tiran - nen unzugaͤnglich zu machen: iſt es ſeine Schuld, wenn er hier einen Garten, die Freude ſeines Be - ſizers, dort ein Saatfeld, die Hofnung des Land -mans,99mans, uͤberſchwemt, und wenn ſein ausgetre - tenes Waſſer, von gewaltigen Winden geſchau - kelt, die Farbe des Bodens gewint, uͤber den er ſich verbreiten mußte?

Die dritte Folge, und zwar fuͤr dich, mein Lieber! Ich habe Sorge getragen, daß deine Er - ziehung ſo einfach und natuͤrlich waͤre, als der Ein - fluß vieler Dinge, welche nicht in meiner Gewalt ſtanden, es nur immer erlauben wolte. Du haſt gelernt, vieler Sachen ohne Misvergnuͤgen zu ent - behren, welche andere Menſchen zu den Nothwen - digkeiten des Lebens rechnen, und manches kleine Ungemach ohne Murren zu ertragen, worunter andere Menſchen ſich in hohem Grade elend fuͤh - len wuͤrden. Gern waͤr ich hierin noch ſtrenger, oder richtiger geſagt noch guͤtiger gegen dich ge - weſen; haͤtte gern dein ganzes koͤrperliches und geiſtiges Weſen zu noch einfachern Beduͤrfniſſen herabgeſtimt: allein ich hab es nicht gekont, weil ich kein Mittel fand, mein Haus zu einer Inſel zu machen, dich ſelbſt vor jedem ſchaͤdlichen Ein - fluſſe von auſſen her ſatſam zu verwahren. Aber, wenn du dich ſelbſt liebſt; wenn du leichter, ſor -G 2gen -100genfreier, geſunder und froher, als andere, durch dis Leben einherzugehen wuͤnſcheſt; wenn du vor der traurigen Nothwendigkeit, vielvermoͤgenden Thoren zu ſchmeicheln, und vor maͤchtigen Schur - ken zu kriechen, dich auf immer verwahren wilſt; wenn du die Pflicht, niemandem zu nahe zu tre - ten, dir erleichtern, die Gelegenheiten zu verdries - lichen Kolliſionen mit andern vermindern, und dich ſelbſt in den Stand ſezen wilſt, bei allen dei - nen Unternehmungen auf grader Straße, und mit feſten zuverſichtlichen Tritten ruhig einherzugehn: o ſo laß es doch ja dein vorzuͤglichſtes Geſchaͤft ſein, deine ganze Lebensart, alle deine Triebe und Beduͤrfniſſe noch mehr zu vereinfachen, immer mehrerer Dinge zu deiner Gluͤkſeeligkeit entbehren zu lernen, und dich immer mehr und mehr an dem zu halten, was der unverderbten menſchli - chen Natur genuͤget, und was jeder geſunde und arbeitſame Menſch ſich in jedem Stande leicht erwerben kan. Dan, mein Sohn, wirſt du we - niger empfaͤnglich gegen Beleidigungen und Kraͤn - kungen ſein; dan wirſt du auf die Thorheiten der Menſchen und auf die kleinen endloſen Kriegeihrer101ihrer Leidenſchaften ruhiger herablaͤcheln koͤnnen; dan wirſt du, weil du wenig zu wagen haſt, was dir wirklich ſchaͤzbar iſt, bei aller Eingeſchraͤnktheit deines Standes und deines Einfluſſes, das Herz haben, dem reichen und maͤchtigen Unhold, der ſeine eigenſinnigen Launen dir oder andern zum Geſez machen, dich oder andere in rechtmaͤßigen und gemeinnuͤzigen Unternehmungen ſtoͤren, dich oder andere unterdruͤkken moͤgte, dreiſt die Spize zu bieten, und daneben oft der Frende genießen koͤnnen, dem Schwachen ein Beſchuͤzer, dem Unterdruͤkten ein unentgeldlicher Sachwalt zu ſein. Denn, glaube mir, ein braver Man von wenigen Beduͤrfniſſen iſt ein Fels im Meer, an dem die maͤchtigſten Wogen zerſchellen und vergebens ſchaͤumend zuruͤkprallen muͤſſen.

Jezt laß uns wieder zuruͤktreten zu dem, wovon ich vorher ausgegangen bin. Das Re - ſultat jener vorlaͤufigen Bemerkungen war, daß die Menſchen das, was ſie jezt ſind, nicht von Natur, ſondern durch Erziehung, durch Verwoͤhnung zu unzaͤhlbaren Beduͤrfniſſen,G 3und102und durch den algemeinen fortreiſſenden Drang nach Befriedigung derſelben, ge - worden ſind. Und was ſind ſie denn nun da - durch geworden? Sohn! mit Zittern ergreif ich den Pinſel, um dir ein Gemaͤhlde von meinen und deinen Bruͤdern zu entwerfen, wovor deine junge argloſe Sele ſchaudernd zuruͤkbeben wird. Ich habe die Zuͤge dazu theils von mir ſelbſt, theils von den Tauſenden meiner Zeitgenoſſen entlehnt, die ich in den verſchiedenen Lagen meines Lebens etwas genauer, als gewoͤhnlich, kennen zu lernen Gelegenheit und Veranlaſſung hatte: urtheile nun, nach dieſem Geſtaͤndniß, welches ich laut vor aller Welt ablegen moͤgte, weil ich mir zugleich einer aufrichtigen Reue uͤber meine eigenen Verwoͤh - nungen und des moͤglichſten Beſtrebens, mich taͤglich mehr und mehr davon frei zu machen, be - wußt bin urtheile, ſag ich, ſelbſt, ob ich Urſache haben koͤnne, die Farben ſtaͤrker aufzu - tragen, als ich ſie in der Natur gefunden zu ha - ben glaube? Aber vernim erſt, was ich, zur Steuer der Wahrheit, und um nicht mißverſtan - den zu werden, vorausſagen muß.

Erſtlich103

Erſtlich mußt du wiſſen, daß ich das Bild, welches ich jezt darſtellen wil, nicht nach Origina - len aus der niedrigen, das heißt, der beſſern Klaſſe der Menſchen, ſondern nach ſolchen machen werde, welche zu den geſitteten, das heißt, ver - feinerten und zugleich verderbteren Staͤnden gehoͤren. Huͤte dich alſo, daß du nicht auf den ganzen Stam und auf alle Aeſte deuteſt, was nur von einigen durch Kunſt verwahrloſeten Zweigen geſagt werden ſol!

Zweitens: ich ſelbſt habe, Gott ſei Dank! mehr, als einen guten Menſchen, auch in dieſen verderbteren Staͤnden, gekant und geliebt, deſſen moraliſche Phiſiognomie von den meiſten Zuͤgen meines Bildes eine liebenswuͤrdige Ausnahme machte. Huͤte dich alſo, daß du nicht an der Moͤglichkeit verzweifelſt, auch unter denen, mit welchen die goͤtliche Vorſehung dich in Verbindung bringen wird, je zuweilen eine aͤhnliche Ausnahme zu finden!

Drittens: ohngeachtet bei weitem die mei - ſten Menſchen aus dieſen ſogenanten geſitteten Staͤnden die meiſten Zuͤge meines Bildes an ſichG 4tragen:104tragen: ſo zeichnen ſie ſich doch durch eine ſtaͤrkere oder ſchwaͤchere Schattirung, durch eine groͤbere oder feinere Auftragung der Farben merklich von einander aus. Bei einigen ſchimmern dieſe Grundſtriche, entweder weil ſie wirklich feiner gezogen ſind, oder weil man ſie geſchikter zu uͤber - tuſchen wußte, nur ſo ſchwach hervor, daß das geuͤbte Auge eines Menſchenkenners erfodert wird, um ſie wahrzunehmen. Huͤte dich alſo, daß du nicht alle Menſchen fuͤr gleich verderbt halteſt, aber huͤte dich auch, daß du nicht gleich bei dem erſten Anſcheine einer Abweichung von der Regel eine von jenen ſeltenen Ausnahmen gefunden zu haben glaubeſt. Oſt iſt ein Schaden um deſto groͤßer und unheilbarer befunden worden, je verſtekter er war!

Endlich muß ich auch noch dieſes erinnern, daß meine Schilderung mit Fleiß einſeitig wer - den, mit Fleiß nur diejenigen Beobachtungen darlegen wird, die du ſelbſt zu machen bisher noch keine Gelegenheit hatteſt, die dir auch von andern, ſo viel ich weiß, noch niemahls mitgetheilt wur - den; deren Mittheilung aber nunmehr nothwen -dig105dig wird, damit du den Grund der Klugheitsregeln einſehen lerneſt, die ich daraus fuͤr dich herleiten werde. Waͤhne alſo nicht, wenn du das Bild anſehen wirſt, welches ich jezt in Begrif bin aufzuſtellen, daß du den ganzen Menſchen vor dir ſeheſt: was du ſiehſt, iſt nur die haͤßliche, durch moraliſche Seuchen verzerte und verſtelte Seite deſſelben. Seine beſſere Seite hab ich dir von Jugend auf zu oft gezeigt, als daß du jezt erſt aufmerkſam darauf gemacht zu werden noͤthig haͤtteſt.

Dis alſo zur Warnung; und nun zur Sache!

Alle Menſchen, mein Sohn, welche das Ungluͤk hatten, einer feinen Erziehung zu genießen, und zu den eiteln Kuͤnſten, wie zu den armſeeligen Freuden der ſogenanten großen Lebensart eingeweiht zu werden, ſind mehr oder weniger entnervt an Leib und Sele. Wie koͤnt es anders ſein, da bei jener Erziehung und bei dieſer Lebensart faſt alles auf ein unnatuͤrliches Verdrehen, Spannen und Hinaufſchrauben unſerer koͤrperlichen und geiſtigenG 5Kraͤfte106Kraͤfte, faſt alles auf einen unnatuͤrlichen Kizel unſerer Nerven und auf ein unablaͤßiges Reiben an unſerm ganzen Weſen, um ihm Politur und Glanz zu geben, angeſehen iſt? Das meiſte von dem, was er taͤglich ſieht, hoͤrt, fuͤhlt und thut, das allermeiſte von dem, was ſeine Ergoͤzlichkei - ten ausmacht, nagt wie ein Wurm an der Wurzel ſeiner Kraͤfte, macht ſie ſchlaf durch Ueberſpan - nung, und laͤhmt ſie durch uͤbertriebenes Ge - ſchmeidigmachen.

Wenn ich, ſagt irgendwo ein Menſchenbe - obachter, die unſeeligen Folgen dieſer Verfeinerung erwaͤge; wenn ich die Menſchen, ſo wie ſie jezt ſind, (mich ſelbſt nicht ausgeſchloſſen) mit den rau - hern aber auch kraftvollern, aber auch edlern und ſelbſtaͤndigern Menſchen der Vorwelt vergleiche: ſo komt es mir immer vor, als wenn es der Kunſt gelungen waͤre, ein Geſchlecht von Loͤwen in ein Geſchlecht von Fuͤchſen zu verwandeln, und daß ſie nun gar damit umginge, die lezte Hand daran zu legen, um eine Familie ſchwacher und poſſier - licher Eichhoͤruchen daraus zu machen. DieſeVer -107Vergleichung iſt beleidigend; aber ſie iſt zum Un - gluͤk noch mehr, ſie iſt auch treffend!

Wo es mit dieſer Verfeinerung und Schwaͤ - chung der Menſchheit am Ende hin wil? Frage in Griechenland und in Italien nach, und laß mich vorizt in meiner traurigen Schilderung fort - fahren.

Alle Menſchen, welche eigener Muth - wille oder unvermeidliche Nothwendigkeit in den Strudel des großen Weltlebens ge - ſtuͤrzt hat, wo ſie in wirbelnden Kreiſen erkuͤnſtelter Vergnuͤgungen und einer nichts - wuͤrdigen Geſchaͤftigkeit ohn Unterlaß her - umgetrieben werden, fuͤhlen ſich mehr oder weniger, je nachdem ihr Kopf von Natur ſchwaͤcher oder ſtaͤrker war, von einem mo - raliſchen Schwindel, von einem leichtſin - nigen Taumel ergriffen, der ſie zu einer richtigen Beurtheilung ſitlicher Gegen - ſtaͤnde und zu einer herzlichen Theilneh - mung an Dingen, welche ihren eigenen Vortheil oder Nachtheil nicht unmittelbarbetref -108betreffen, unfaͤhig macht. Die Selen dieſer Leute gleichen einem unreinen wirbelnden Waſſer, in welchem auch die naͤchſten und helſten Gegen - ſtaͤnde ſich nur auf eine dunkle Weiſe und mit ver - zerten Zuͤgen ſpiegeln. Und, frag ich abermahls, wie koͤnt es anders ſein? Jeder Stand in der ge - ſitteten Welt, jedes nur einigermaßen betraͤcht - liche Amt iſt, bei der immer zunehmenden Ver - wikkelung und Verwirrung der menſchlichen Ver - haͤltniſſe, ſchon an ſich mit ſo vielen und mannig - faltigen und fremdartigen Geſchaͤften und Ruͤkſich - ten verbunden, daß eine Art von Algegenwart un - ſerer Vorſtellungskraft dazu gehoͤrte, wenn man ſie alle mit gleicher Aufmerkſamkeit umſpannen wolte. Und dazu kommen nun noch die zahlloſen Bedenklichkeiten, Unterbrechungen und Zerſtreu - ungen, welche das Weltleben mit ſich fuͤhrt! Da - zu komt die Beſchaffenheit dieſer Zerſtreuungen, welche nicht etwa darauf abzwekken, dem von Ge - ſchaͤften ermuͤdeten Geiſte eine heilſame Erholung zu gewaͤhren, ſondern vielmehr durch eine unun - terbrochene Aufmerkſamkeit auf tauſend nichtswuͤr - dige Kleinigkeiten ihn noch ſtaͤrker zu ſpannen, undzugleich109zugleich ſeinen irdiſchen Gefaͤhrten, den Koͤrper, durch mannigfaltigen unnatuͤrlichen Zwang und durch den Genuß ſtarkreizender Speiſen und Getraͤnke voͤllig auszumergeln. Und eine ſo ge - theilte, ſo nach allen Seiten hin unablaͤſſig ge - zerte Sele ſolte am Ende nicht einen großen Theil ihrer Federkraft verlieren? Solte bei dem unend - lichen Wirwar von Ideen, die ſich in ihr durch - kreuzen, noch im Stande ſein, die eine von der andern gehoͤrig zu unterſcheiden, jede nach Maaß - gabe ihrer Wichtigkeit gehoͤrig zu beherzigen? Solte einer ernſten, anhaltenden und gruͤndlichen Ueber - legung faͤhig ſein? Solte an dem, was mich und dich betrift, dafern wir nicht etwa Stof zum Ta - del oder Lachen gewaͤhren, einen wahren herzlichen Antheil nehmen koͤnnen? Solte endlich noch faͤhig bleiben, uͤber moraliſche Gegenſtaͤnde, welche ſo weit auſſer ihrer Sphaͤre liegen, ein geſundes und richtiges Urtheil zu faͤllen? Ach, mein Sohn! ich habe das Gegentheil hiervon in meinem Leben ſo oft erfahren muͤſſen! Habe ſo oft, wenn ich Sa - chen, die nach ihrer moraliſchen Seite betrachtet fein wolten, in das helſte Sonnenlicht geſtelt zuhaben110haben glaubte, das Misvergnuͤgen gehabt, zu be - merken, daß ich mit Leuten redete, die fuͤr ſo etwas ſchon lange keinen Sin mehr hatten! Habe ſo oft, ſelbſt bei wahren Freunden aus dieſer Klaſſe von Menſchen, ſo wenig herzliche Theilnehmung an Vorfaͤllen wahrgenommen, bei denen mir vor Freude oder Schmerz das Herz zerſpringen wolte! Eine fluͤchtige augenblikliche Aufmerkſamkeit, eine eben ſo fluͤchtige augenblikliche Theilnehmung ohne Folgen, war in ſolchen Faͤllen gemeiniglich der ganze armſeelige Tribut, den der Schwindelgeiſt unſerer Zeit der Freundſchaft zu entrichten noch geſtattete.

Ich eroͤfne dir, indem ich dir dieſe und aͤhn - liche Erfahrungen mittheile, freilich keine ange - nehme Ausſicht ins Leben: aber es iſt Zeit, daß du die Welt, in die du treten ſolſt, ſeheſt wie ſie iſt; nicht wie die ſogenanten Menſchenfreunde ſie ſich erſchwaͤrmen, oder wie Romanſchreiber ohne Menſchenkentniß ſie uns vorzugaukeln pflegen. Ich fahre alſo fort:

Alle dieſe Menſchen, und bei weitem die meiſten aus jedem Stande, urtheilennicht111nicht nach wirklichen Gruͤnden der Wahr - heit, ſondern nach Vorurtheilen; nicht nach den innern und weſentlichen Kenzeichen des Guten und des Boͤſen, ſondern lediglich nach dem aͤuſſerlichen Schein, nach der in die Augen fallenden Oberflaͤche der Dinge. Der den Menſchen uͤberhaupt eigene Hang zur Bequemlichkeit, und die den Weltleuten beſonders zur Gewohnheit gewordene leichte und fluͤchtige Art zu denken, verbunden mit den endloſen Zer - ſtreuungen ihrer Lebensart, machen es ihnen un - moͤglich mit ihrer Urtheilskraft in die Natur der Dinge einzudringen, und die Wahrheit bei ihrem eigenthuͤmlichen Lichte zu erkennen. Sie begnuͤ - gen ſich daher in den meiſten Faͤllen, dasjenige, woruͤber ſie urtheilen wollen, nur nach dem aͤuſ - ſerlichen Anſehn ins Auge zu faſſen, und es dan an den Probierſtein ſolcher angeblichen Grundſaͤze zu halten, welche gemeiniglich entweder nur halb wahr, oder ganz falſch, in beiden Faͤllen aber ſicher nur angenommen, nicht erkant, nicht ergruͤn - det ſind.

Hierzu112

Hierzu komt noch dieſes: da die ganze Kunſt der feinen Lebensart darin beſteht, den innern Menſchen mit allen ſeinen Unarten, Leidenſchaf - ten und Maͤngeln zu verbergen, und dagegen Em - pfindungen, Geſinnungen und Volkommenheiten zu luͤgen, welche man ſelbſt nicht in ſich fuͤhlt: ſo hat man durch ein unablaͤſſiges Studium die - ſer Kunſt von fruͤher Jugend an ſich gewoͤhnt, ſeine ganze Aufmerkſamkeit bei ſich und andern blos auf das Aeuſſerliche zu richten, und bei allem, was man redet und thut, nur auf den Eindruk zu ſehen, den die jedesmaligen Worte und Handlungen auf andere machen koͤnnen. Sol man uͤber etwas ſein Urtheil faͤllen: ſo iſt die Frage nicht, ob das, was man bejahen, oder verneinen wil, wahr oder unwahr ſei: ſondern lediglich, ob die Bejahung oder Verneinung deſſelben die vortheilhafteſte Mei - nung von uns erwekken werde? Sol man ſich ent - ſchließen, etwas zu thun oder nicht zu thun: ſo bekuͤmmert man ſich um das, was Pflicht und Gewiſſen von uns fodern, in der That am we - nigſten; die einzige große Angelegenheit iſt zu er - waͤgen, was die Leute in dem einen oder dem an -dern113dern Falle von uns denken und ſprechen wuͤrden? Auch die Worte und Handlungen anderer Men - ſchen werden auf eben dieſe falſche Wage gelegt, und nicht nach ihrem innern Gehalte, ſondern lediglich nach ihrem aͤuſſerlichen Scheine, und nach dem, was man davon ſagen wird, gewuͤrdiget. Klug und weiſe iſt nicht wer einen aufgeklaͤr - ten Verſtand und ein wohlwollendes Herz beſizt ſondern wer ſeine Geſelſchaft am beſten zu unter - halten und ſeine Worte und Handlungen jedesmahl ſo zu ſtellen weiß, daß ſie den herſchenden Mei - nungen und Vorurtheilen entſprechen. Brav und bieder heißt nicht wer bei allem, was er thut, die Grundſaͤze einer ſtrengen Rechtſchaffenheit vor Augen hat ſondern wer den Leuten Sand in die Augen zu ſtreuen, ſeine ſelbſtſuͤchtigen Abſich - ten am geſchikteſten zu bemaͤnteln, durch glatte Worte und Schmeicheleien ſich jederman zu ver - binden, und auf Gelegenheiten zu lauern weiß, mit ſolchen Handlungen Parade zu machen, welche fuͤr edel gehalten werden, ohngeachtet ſie oft nicht einmahl gut, oder pflichtmaͤßig ſind.

HDas114

Das Schlimſte hierbei iſt, daß ein jeder von dieſen Leuten ſeine eigene Art zu denken und zu handeln mit der groͤßten Zuverſicht auch bei allen andern vorausſezt. Weil nun jeder von ihnen ſich bewußt iſt, daß er bei allen ſeinen Reden und[Hand - lungen], nicht die ehemahls erlernten, aber bald darauf wieder in den Wind geſchlagenen Grund - ſaͤze der Religion und Sittenlehre, ſondern ledig - lich die Behauptung des aͤuſſerlichen Scheins eines edlen rechtſchaffenen Weſens bei einer wirklich ge - wiſſenloſen und niedertraͤchtigen Geſinnung, beſtaͤn - dig vor Augen habe: ſo traͤgt er nicht das mindeſte Bedenken, von ſich auf andere zu ſchließen, und ſeine eigne Denkungsart fuͤr die algemeine zu halten. Daher komt es denn, daß alle dieſe an Geiſt und Herz verwahrloſete Menſchen fuͤr eine wahre und ſtrenge Rechtſchaffenheit, welche nicht auf das: was wird man davon ſagen? ſondern lediglich auf das, was recht und unrecht iſt, ihr Auge heftet, mehr oder weniger den Glauben und den Sin verloren haben. Eine harte, aber allen meinen Erfahrungen nach, leider! nur zu ge -gruͤn -115gruͤndete Beſchuldigung! Moͤgteſt du ſie doch nie beſtaͤtiget finden! Mir ging es nun einmahl nicht anders; ſo oft ich in irgend einer Sache aus reiner Gewiſſenhaftigkeit und ohne Ruͤkſicht auf meinen eigenen Vortheil oder auf das Urtheil der Menſchen, handelte, mußte ich jedesmahl erfahren, daß mein Betragen mit Bitterkeit ge - tadelt ward, daß man meine Bewegungsgruͤnde verkante, oder, wenn ich ſie ſelbſt darlegte, ſie nicht glaubte, ſie fuͤr eine Maske hielt, und mir andere unterſchob, welche mir nie in die Sele gekommen waren. Ich erinnere mich hierbei eines wahren und großen Worts, welches ein guter Fuͤrſt, der die nemliche Erfahrung gemacht hatte, mir einmahl uͤber dieſen Unglauben der Menſchen ſagte: heutiges Tages iſt in gewiſſen Faͤllen die beſte Politik, gar keine Politik zu brauchen, ſondern mit der Wahrheit ehrlich her - auszugehn. Denn da kein Menſch an Wahr - haftigkeit und Rechtſchaffenheit mehr glaubt, ſo werden wir unſere jedesmaligen guten Abſichten, grade durch eine offenherzige Bekantmachung der - ſelben, mehr verbergen, als wir es durch die feinſtenH 2Kuͤnſte116Kuͤnſte der Verſtellung zu thun im Stande waͤren.

Wie weit muß es doch mit Menſchen gekom - men ſein, bei denen man, um verſtekt und raͤthſel - haft zu handeln, nur offenherzig und ehrlich zu Werke zu gehen braucht! Dis fuͤhrt mich zu einer fuͤnften Bemerkung, welche eben ſo nieder - ſchlagend iſt:

Alle Menſchen aus derjenigen Klaſſe, von der ich jezt rede, ſind mehr oder we - niger unwahr, ſind mehr oder weniger eine bloße luftige Erſcheinung, welche von dem Wirklichen, was dabei zum Grunde liegt, oft mehr verſchieden iſt, als die Ge - ſtalt, die wir im Spiegel erblikken, von dem Spiegel ſelbſt. Du ſtaunſt, mein Sohn? Ich erſtaunte auch, da ich zum erſten - mahl aus dem ſuͤßen Traume der Kindheit er - wachte, und nun auf einmahl zu meinem Schrek - ken ſahe, daß alle die feinen, artigen, gefaͤlligen, ſanften, gutherzigen, theilnehmenden, aufrichti -gen117gen und redlichen Leute, mit allen ihren erkuͤn - ſtelten Mienen der reinſten Guͤte und des waͤrm - ſten Wohlwollens, mit allen ihren geſchliffenen verbindlichen Worten, und mit allen ihren Ver - ſicherungen von Freundſchaft, von Hochachtung und Bewunderung, nichts mehr und nichts we - niger, als kalte fuͤhlloſe Marionetten waͤren, welche durch den Draht des Welttons in Bewe - gung geſezt werden, und bei den lebhafteſten Aeuſſerungen von Guͤte und Gefaͤlligkeit nicht mehr empfinden, als die hoͤlzerne Puppe bei den Worten, die der Man hinter der Schirmwand ihr in den Mund zu legen weiß.

Aber laß uns gerecht ſein, mein Sohn, und nicht jede Unwahrheit, welche wir in dem Ka - rakter, in den Reden und Handlungen der Men - ſchen wahrnehmen, ſogleich fuͤr Falſchheit und Betrug erklaͤren. Es gibt mehr, als eine Art derſelben, welche dieſe harte Benennung nicht verdient, welche ſogar der wirklich brave und rechtſchaffene Man ſich zu erlauben kein Beden - ken tragen darf. Ich wil dir dieſe verſchiedenen Arten von Unwahrheit kuͤrzlich aus einander ſezen.

H 3Die118

Die erſte und verzeihlichſte unter allen iſt die bloße Verheimligung der Wahrheit in allen denjenigen Faͤllen, in welchen keine einzige unſrer Pflichten uns zur Bekantmachung derſelben auf - fodert. Wo keine Verbindlichkeit ſtat findet, da findet auch kein Unrecht ſtat. Zu ſchweigen alſo, wenn keine unſerer natuͤrlichen oder geſelſchaft - lichen Pflichten uns zu reden gebietet, kann nie - mahls unrecht genant werden, kan im Gegentheil oft gut und weiſe und pflichtmaͤßig ſein. Es gibt der Wahrheiten viele, deren unvorſichtige Bekantmachung fuͤr Selen von gewoͤhnlichem Schlage eben ſo verderblich ſein wuͤrde, als die ploͤzliche Einlaſſung des hellen Tageslichts fuͤr diejenigen zu ſein pflegt, welche lange Zeit im Finſtern lebten, oder denen man ſo eben erſt den Staar geſtochen hat. Auch in der phiſiſchen Welt laͤßt Gott nie auf einmahl Tag werden; erſt Nacht, dan ſchwache Daͤmmerung, dan Morgenroth, und dan erſt Tag! So ſol es in dem Reiche der Wahrheit auch ſein. Wer hier auf einmahl Tag machen wolte, der wuͤrde vielen menſchlichen Selen das bischen Sehkraft, dasihnen119ihnen etwa noch zu Gebote ſteht, auf einmahl ganz zernichten; und wozu ſol ihnen dan das Tageslicht, wan ſie keine Augen mehr, es aufzu - nehmen, haben?

Alſo von dieſer Art von Verſtellung, welche in einer weiſen Zuruͤkbehaltung gewiſſer Wahr - heiten, oder in einer ſparſamen Ausſpendung der - ſelben beſteht, kan hier nicht die Rede ſein.

Auch nicht von einer zweiten Art von Un - wahrheit, welche eben ſo unſchaͤdlich iſt, und deren keiner, der nicht allen Zuſammenhang mit der menſchlichen Geſelſchaft abbrechen, und mit Dio - genes in eine Tonne kriechen wil, ſich erwehren kan. Es gibt nemlich unzaͤhlbare Arten zu reden, unzaͤhlbare Hoͤflichkeitsbezeugungen und Ge - braͤuche, bei denen keiner, der nicht ſeit geſtern aus dem Monde herabgefallen iſt, ſich jemahls einfallen laͤßt, dasjenige zu denken, was die Worte eigentlich beſagen, oder was die aͤuſſer - lichen Zeichen, deren man ſich dabei bedient, ihrer Natur nach anzudeuten ſcheinen; ſondern welche bloße, durch algemeines Einverſtaͤndniß feſtge - ſezte Zeichen ſind, wodurch einer dem andern zuH 4erkennen120erkennen gibt, daß er ſeinen Stand und den da - mit verbundenen Grad von Ehre wiſſe, und daß er wider beide nichts erhebliches einzuwen - den habe. Ich kan dir dieſe Art von unſchaͤd - licher und alſo auch erlaubter Unwahrheit nicht beſſer, als mit den Worten eines mir unbekanten Weltkenners beſchreiben, die ich geſtern in einem fliegenden Blatte las:

Was die aͤuſſere Achtung, dasjenige, was man Etikette, Welt, Hoͤflichkeit nent, betrift, ſo kan man die auch denen bezeigen, die man nicht achtet, ohne desfals einer Falſchheit oder Verſtellung bezuͤchtiget werden zu koͤnnen. In dem Woͤrterbuche des gemeinen Lebens gibt es eine Menge Ausdruͤkke, die ganz und gar die Bedeutung nicht mehr haben, die ihnen von den Erfindern der Sprache beigelegt worden. Es ſind gleichſam heruntergeſezte Muͤnzen, deren Devalvazion jeder weiß, und womit alſo niemand betrogen wird. Derjenige, der dergleichen Aeuſ - ſerungen thut, derjenige, dem ſie geſchehen, und alle, die ſie hoͤren, ſind gleich gewiß uͤberzeugt, daß ſie falſch ſind. Sie geſchehen auch gar nichtin121in der Abſicht, um geglaubt zu werden. Sagt einer zu dem andern: ich bin erfreut, Sie wohl zu ſehen, ſo heißt das weiter nichts, als: es iſt mir gleichguͤltig, ob Sie wohl ſind, oder nicht. Ein Gluͤk, wenn es nicht gar heißt: wolte Gott, daß ſie nicht wohl waͤren! Sagt er: ich empfehle mich Ihnen, ſo heißt das nichts mehr und nichts weniger, als: ich wil nun nach Hauſe gehen. Da nun alle uͤber den Werth ſolcher Ausdruͤkke eins ſind; ſo kan gar kein Misverſtaͤndniß entſtehen, und wer ſie nach der Devalvazionstabelle in Kurs bringt, handelt weder falſch noch unredlich. Wer ein abgeſeztes, zu 18 Pf. heruntergewuͤrdigtes 3 gGr. Stuͤk zu 18 Pf. in Umlauf bringt, vervortheilt niemand. Nur der wuͤrde mich betruͤgen, der es zu 3 gGr. mir aufhaͤngen wolte.

Ohnſtreitig iſt hierin Konvenzion der zuverlaͤßige Maaßſtab, zumahl der Werth aller Dinge, die Tugend allein ausgenommen, kon - venzional iſt. Alle Menſchen koͤnnen alſo ohne Zweifel durch einen algemeinen Vertrag eben ſo gut ausmachen, daß kuͤnftig: Ihr Diener,H 5bedeuten122bedeuten ſolle: Ganz und gar nicht Ihr Diener, als es allen Großen der Erde frei ſtehen wuͤrde, durch eine algemeine unter einander kon - zertierte Verordnung zu beſtimmen, daß ein hol - laͤndiſcher Dukaten kuͤnftig nicht mehr, als einen Gulden gelten ſolle. Dan wuͤrde nur der be - truͤgen, der ihn noch immer zu einem Dukaten ausgeben wolte. Und das wuͤrde auch der thun, der Komplimentenſprache fuͤr Herzensſprache uns verkaufen wolte.

Alſo auch von dieſer Art von Unwahrheit, welche in der geſitteten menſchlichen Geſelſchaft nun einmahl unvermeidlich iſt, kan hier nicht die Rede ſein. Und von welcher denn? Von der, mein Sohn, welche mit gefliſſentlicher Falſchheit, welche mit dem Bewuſtſein der Abſicht, andere zu ſeinem Vortheile zu blenden, zu hintergehen, verbunden iſt; von der, die da macht, daß der verfeinerte Weltmenſch vom Scheitel bis zur Fußſole in allen ſeinen Mienen, Gebehrden, Worten und Handlungen eine einzige luͤgenhafte Larve iſt, welche Freundlichkeit, Wohlwollen, Sanftmuth, Beſcheidenheit, Enthaltſamkeit undeine123eine uneigennuͤzige Rechtſchaffenheit aushaͤngt, indes das Herz, welches unter ihr verborgen liegt, von heimlichem Grol, von giftigem Neide, von verbiſſener Wuth, von verſtektem Hochmuthe, von wolluͤſtigen Begierden, und von der eigen - nuͤzigſten Selbſtſuͤchtigkeit bis zum Ueberfließen vol iſt. Hier iſt alles uͤbertuͤncht, alles auf Taͤu - ſchung angelegt. Man hat ſeine Blikke, ſeine Mienen, jede Bewegung ſeiner Geſichtsmuskeln, jede Stellung des Koͤrpers, ſogar den Ton ſeiner Stimme, unter die Herſchaft der Verſtellungs - kunſt gebracht. Alle Leidenſchaften und Laſter ſind in das Gewand der ihnen entgegengeſezten Tugenden gehuͤlt. Der Zorn aͤuſſert ſich nicht mehr durch Schreien, Poltern und Knirſchen, ſondern, wie ſanfte Taubenguͤte, durch Girren und Laͤcheln; der Neid iſt nicht mehr jene hagere, blasgelbe, hohlaͤugigte Geſtalt, unter der die Alten ihn uns ſchildern; er traͤgt jezt ganz die Roſen - farbe und die gefaͤlligen Simbolen des freudigſten Mitgefuͤhls, der herzlichſten Theilnehmung an unſerm Wohlergehn: die Eitelkeit ſchlaͤgt die Augen nieder; erroͤthet, gleich der demuͤthigſtenBeſcheiden -124Beſcheidenheit, bei jeder Bemerkung ihrer Vor - zuͤge; wil es durchaus nicht an ſich kommen laſſen, daß ſie Vorzuͤge beſize; ſpricht hiperbo - liſch von ihren Unvolkommenheiten und Schwach - heiten, um eben ſo hiperboliſche Lobpreiſungen ihrer Volkommenheiten und Tugenden heraus - zulokken: der haͤusliche Tiran ſeines Weibes, ſeiner Kinder, ſeiner Hausgenoſſen, ſcheint auf der Buͤhne der Geſelſchaften der zaͤrtlichſte Gatte, der liebreichſte Vater, der guͤtigſte und nachſichtsvolſte Hausherr unter der Sonne zu ſein; und die haͤusliche Quaͤlerin ihres Gatten, die eingefleiſchte Furie in der Kuͤche und im Schlafgemach, trit mit der ſanften nachge - benden Miene einer frommen Dulderin und mit der uͤberſchwenglichen ehelichen Zaͤrtlichkeit einer zweiten Penelope auf.

So, mein Sohn, hat jezt alles ſeine natuͤr - liche Farbe veraͤndert; ſo haben Leidenſchaften und Laſter ſich hinter die Larve ihres Gegentheils zu verſtekken gewußt. Jederman wil jezt nur ſcheinen; um das Sein iſt es keinem mehr zu thun. Mit vielen Menſchen iſt es gar ſchon ſoweit125weit gekommen, daß ſie, im Bewußtſein ihres tiefen moraliſchen Verfals, an der Moͤglichkeit, fuͤr gut gehalten zu werden, verzweifeln, und daher ihren ganzen Ehrgeiz blos darauf einſchraͤn - ken, zu verlangen, daß man nur aͤuſſerlich ſich ſtellen ſol, als hielte man ſie fuͤr beſſer, als ſie ſind. Die Ungluͤklichen!

Moͤgte mein trauriger Umriß hiemit vollendet ſein! Aber das iſt er leider! noch nicht; ich muß alſo fortfahren:

Alle dieſe Menſchen, vorzuͤglich aber diejenigen unter ihnen, welche bei jeder Gelegenheit das Schild der Uneigennuͤzig - keit, der Dienſtbefliſſenheit, und der Groß - muth aushaͤngen, ſind nun auch in hohem Grade ſelbſtſuͤchtig und eigennuͤzig. Zwar gibt man ſich alle erſinliche Muͤhe, dieſe Trieb - feder ſeiner Handlungen auf das ſorgfaͤltigſte zu verbergen, und den Schein eines edlen, uneigen - nuͤzigen und abſichtloſen Karakters zu behaupten: aber umſonſt! Das Auge des aufmerkſamen Beobachters dringt durch dieſen Nimbus vonEdelmuth126Edelmuth und großmuͤthiger Aufopferung eigener Vortheile mit leichter Muͤhe hindurch, und ent - kleidet die kleine ſelbſtſuͤchtige Sele von allen den praͤchtigen Bewegungsgruͤnden, womit ſie ſich und ihr Betragen, zur Bewunderung aller Neulinge, ſo ausnehmend zu ſchmuͤkken wußte. Da ſieht er denn, und er ſieht es ſo oft, daß es ihn nicht weiter befremden kan daß der Grund, aus dem die glaͤnzendſten Handlungen hervorwachſen, ein Gemiſch von Ehrbegierde, Eitelkeit, Habſucht, liſtiger Spekulazion, ſinlicher Wolluſt und von jeder andern unedlen Leidenſchaft ſei, indes der Handelnde nichts als Menſchenliebe, Patrio - tismus, Froͤmmigkeit, Tugendeifer und die ſtrengſte uneigennuͤzigſte Rechtſchaffenheit zu athmen ſcheint.

Mit einem Worte, er ſieht, daß dasjenige, was ein großer Weltman, den ich kuͤnftig oft fuͤr mich werde reden laſſen,*)Cheſterfield. von den Hoͤfen ſagt, jezt mit gleicher Wahrheit von der ganzen ſoge - nanten großen Welt geſagt werden koͤnne: Hier umarmen ſich die Leute, ohne daß ſie ſich einander kennen; einer dient dem andern, ohne Freund -ſchaft;127ſchaft; einer beleidiget den andern, ohne Haß. Eigennuz, nicht Gefuͤhl, iſt das Gewaͤchs dieſes Bodens.

Das ſonderbarſte hierbei iſt, daß alle dieſe uneigennuͤzigen, edlen und großmuͤthigen Leute einer dem andern bis in die verborgenſte Falte ihres verſtekten Herzens ſehen, und daß gleich - wohl jeder insbeſondere ſich mit der Hofnung ſchmeichelt, daß es ihm, ihm allein gelingen werde, ſeine Maske ſo kuͤnſtlich anzulegen, daß kein menſchliches Auge den Betrug zu entdekken vermoͤge. Das mag denn auch wohl zum Theil die Urſache ſein, warum der eine beim Aublik des andern, wie der Haruſper Cicero beim Anblik eines andern Gauklers aus der nemlichen ehr - wuͤrdigen Klaſſe, ſich des Laͤchelns nicht enthalten kan, weil jeder aus dem Bewußtſein ſeiner eigenen Verſtellung ſchließt, was er von der Prachtlarve einer uneigennuͤzigen Rechtſchaffenheit, womit der andere, ſo gut als er, Parade macht, zu halten habe. Einer erkent in dem andern den Schau - ſpieler, der die auswendig gelernte Rolle des Bi - dermans macht; aber ohngeachtet er ſelbſt ingleicher128gleicher Abſicht neben ihm auf einer und eben - derſelben Buͤhne ſteht: ſo hat er doch das Herz zu hoffen, daß der andere ihn fuͤr einen bloßen Zu - ſchauer in natuͤrlichem Karakter nehmen werde, und der andere hat nicht weniger den Muth, ein Gleiches wiederum von ihm zu erwarten. So taͤuſcht man ſich ſelbſt, indem man andere zu taͤuſchen ſucht, und in der Einbildung ſteht, daß man der einzige ſei, der ungetaͤuſcht davon komme!

Ich ſeze meinen ſchwermuͤthigen Pinſel von neuem an, um einen Zug der durch Verfeinerung verderbten Menſchheit hinzuzufuͤgen, der unter allen vielleicht der algemeinſte iſt. Ich meine:

Die Eitelkeit. Ein gewiſſer Grad derſelben mag nun wohl freilich unmittelbar aus dem erſten Haupttriebe unſerer Sele, aus der Selbſtliebe, abfließen. Denn man darf wohl kuͤhnlich be - haupten, daß alle Menſchen, vom rohen Feuer - laͤnder, der ſeinen von Froſt erſtarten nakten Leibmit129mit Roͤthel bemahlt*)Man hat nemlich ſatſam beobachtet, daß dieſer Gebrauch der Wilden mehr eine lebhafte Be - gierde ſich zu verſchoͤnern, als ein phiſiſches Beduͤrfniß zum Grunde hahe., bis zum Hofkammer - junker des großen Moguls, in ihrem Herzen wuͤnſchen, daß man irgend etwas Schoͤnes, ir - gend etwas Gefaͤlliges, etwas Lobenswuͤrdiges an ihnen wahrnehmen, und ſie durch Aufmerk - ſamkeit und Achtung dafuͤr auszeichnen moͤge. Aber auf dieſen erſten Keim der Eitelkeit, den alle, auch die weiſeſten und beſten Menſchen, in ſich fuͤhlen, wil ich dich jezt nicht aufmerkſam machen; ſondern auf den großen aſtreichen Stam, der in dem Herzen unſerer ſchoͤnen und galanten Weltmaͤnner und Weltfrauen zu einer ſolchen Hoͤhe daraus hervorgewachſen iſt, daß er uͤber alle an - dere Triebe hervorragt: Quantum lenta ſolent inter viburna cupreſſi!

Alle Leidenſchaften und Begierden ſogar die Habſucht, ſogar der Hunger und Durſt nach ſinlichen Vergnuͤgungen, ja ſogar die Liebe zumLebenJ130Leben ſelbſt pflegen dieſer alwirkſamen Trieb - feder menſchlicher Handlungen untergeordnet zu ſein. Denn wo iſt das Opfer, es ſei ſo groß und ſo beſchwerlich, als es nur immer wolle, wel - ches man dieſem Goͤzen zu bringen noch wohl Bedenken truͤge? Geld und Gut? Man ſei auch noch ſo begierig darnach, ſo bald die Eitelkeit es heiſcht, wird ſich keiner weigern, es mit vollen Haͤnden auszuwerfen. Gemaͤchlichkeit und Wohl - behagen? Eine Mode, welche fuͤr ſchoͤn gehal - ten wird, ſei auch noch ſo beſchwerlich, ſei auch noch ſo peinigend; die Eitelkeit verlangt Unter - werfung, und man unterwirft ſich ohne Murren. Geſundheit und Leben? Sie ſind uns theuer; aber zehnmahl theurer noch iſt uns die angaffende Bewunderung der Menſchen, und wir ſind daher bereit, auch von dieſen, alles andere uͤberwie - genden Guͤtern, ſo viel zu verſchwenden, als die Eitelkeit durch ihr jedesmaliges despotiſches Mo - degeſez von uns verlanget. Dis iſt der Heroismus unſerer Zeiten! Was der Spartaner und Roͤmer ihrem Vaterlande, was die Weiſen des Alterthums ihrer Jugend aufopferten, das legen wir, miteben131eben ſo großer Selbſtverlaͤugnung und mit eben ſo großer Freudigkeit auf den Altar der Eitelkeit. Ich ſage zu wenig; wir legen noch mehr darauf: denn ſelbſt unſere Tugend, unſere Rechtſchaffen - heit und Froͤmmigkeit ſind uns nicht ſo ſehr ans Herz gewachſen, daß wir uns nicht von ihnen trennen koͤnten, ſo bald die Eitelkeit es uns be - fielt. Selbſt die ewigen Freuden des Himmels moͤgten wohl, wenn ſie mit dem Vergnuͤgen, welches uns aus der Befriedigung dieſer Lieblings - leidenſchaft erwaͤchſt, auf die Wage gelegt wuͤr - den, in den meiſten Faͤllen zu leicht befunden werden.

Die Art, wie die Eitelkeit der Leute ſich zu aͤuſſern pflegt, iſt ſehr verſchieden. Einige ver - rathen ſie durch geſuchten Puz, andere durch an - ſcheinende, aber doch zugleich auf die vortheilhaf - teſte Art genuzte Nachlaͤſſigkeit im Anzuge; einige dadurch, daß ſie uns alle ihre innern und aͤuſſer - lichen Vorzuͤge gleichſam aufdringen, ohne uns Zeit zu laſſen, ſie ſelbſt auszuſpaͤhen, andere dadurch, daß ſie gar kein Verdienſt, gar nichts Vorzuͤgliches wollen an ſich kommen laſſen, undJ 2bei132bei jeder Gelegenheit ſich blos darum ſo tief herab ſezen, damit man ihnen wiederſprechen, und ſie deſto mehr erheben ſol. Einige von jenen reden grade zu, ohne gereizt zu ſein, auf eine anpreiſende Weiſe von ſich ſelbſt; und dieſe ſind unverſchaͤmt. Andere gehen, wie ſie ſich einbilden, liſtiger zu Werke; ſie erdichten Beſchuldigungen wieder ſich ſelbſt, beſchweren ſich uͤber nie gehoͤrte Verlaͤum - dungen, um nur, zu ihrer Rechtfertigung, ein Verzeichniß ihrer vielen Tugenden zu liefern. Sie erkenten zwar, ſprechen ſie, daß es ſeltſam her - auskommen wuͤrde, auf ſolche Art von ſich ſelbſt zu reden; ihr Geſchmak waͤr es auch nicht, und ſie wuͤrden es nimmermehr gethan haben; keine Martern ſolten es ihnen abgenoͤthigt haben, wenn ſie nicht ſo ungerechter und abſcheulicher Weiſe waͤren beſchuldigt worden. In ſolchem Falle aber muͤßte man ſicher ſich und andern Recht verſchaf - fen, und wenn unſer guter Name angegriffen wuͤrde, koͤnte man zu ſeiner Vertheidigung alles ſagen, was man ſonſt niemahls geſagt haͤtte. Dieſer duͤnne, vor die Eitelkeit gezogene, Schleier der Beſcheidenheit iſt viel zu durchſichtig, als daßer133er ſie ſelbſt einer mittelmaͤßigen Urtheilskraft ver - bergen koͤnte.

Andre greifen es beſcheidener, und noch ſchlauer, wie ſie denken, an, wie wohl, meines Erachtens, noch viel laͤcherlicher. Sie geſtehen an ſich ſelbſt, nicht ohne einige Schaam und Verlegenheit, alle Haupttugenden, indem ſie ſie erſt zu Schwachheiten erniedrigen, und darauf bekennen, es waͤre einmahl ihr Ungluͤk, ſolche Schwachheiten an ſich zu haben. Sie koͤnten, ſagen ſie, niemanden leiden ſehen, ohne es zugleich mit zu empfinden, und ihm zu helfen zu ſuchen. Sie koͤnten niemanden in Mangel ſehen, ohne ihm Erleichterung zu verſchaffen, ob - ſchon in Wahrheit ihre eigene Umſtaͤnde es nicht wohl litten. Sie koͤnten ſich nicht enthalten, die Wahrheit zu reden, wiewohl ſie wuͤßten, wie unvorſichtig das waͤre. Kurz, ſie wuͤßten wohl, daß ſie, bei allen dieſen Schwachheiten, untuͤch - tig waͤren, in der Welt zu leben, weit weniger, darin empor zu kommen. Aber ſie waͤren nun einmahl zu alt, als daß ſie ſich aͤndern koͤnten, und muͤßten ſich nun hinhelfen, ſo gut es ginge.

J 3Das134

Das klingt faſt laͤcherlich und uͤbertrieben fuͤr die Schaubuͤhne. Und doch, das glaube mir auf mein Wort, wirſt du dergleichen auf dem Schauplaze der Welt haͤufig antreffen. Dieſer Trieb der Eitelkeit und des Stolzes iſt in der menſchlichen Natur ſo ſtark, daß er ſich bis zu den niedrigſten Dingen herablaͤßt. Man ſieht oft Leute in Dingen nach Lobe trachten, wo ſich bei der Vorausſezung, daß alles, was ſie ſagen, wahr waͤre, was es jedoch, im Vorbeigehn geſagt, ſelten iſt, gar kein rechtmaͤßiges Lob er - halten laͤßt. Der eine behauptet, er waͤre in ſechs Stunden hundert engliſche Meilen geritten. Vermuthlich iſt es eine Luͤge. Geſezt aber, es waͤre wahr, was folgte denn daraus? Daß er einen guten Poſtknecht abgeben wuͤrde; das iſt alles. Ein andrer behauptet, vermuthlich nicht ohne Schwuͤre, er haͤtte ſechs bis acht Kannen Wein getrunken. Aus kriſtlicher Liebe wil ich ihn als einen Luͤgner anſehen. Wo nicht, ſo muß ich ihn fuͤr ein Vieh halten. *)Cheſterfield.

Ich135

Ich fuͤge zu dieſen Bemerkungen nur noch dieſes hinzu, daß viele Menſchen nicht blos eitel, ſondern auch eingebildet zugleich ſind. Derje - nige, welcher blos das erſtere iſt, kent ſeinen Mangel an Vorzuͤgen, weiß, daß ihm, nach abgewaſchener Schminke, weder aͤußerliche noch innerliche Schoͤnheit und Treflichkeit bei - wohnen, und ſeine ganze Sorge geht daher nur dahin, zu verhuͤten, daß man ihn nicht im Nachtkleide ſehe, nicht gewahr werde, was fuͤr phiſiſche und moraliſche Haͤßlichkeit hinter dem Flitterſtate, womit er ſein Inneres[und] Aeuſſe - res zu verſchoͤnern weiß, verborgen liege. Der Eingebildete hingegen glaubt wirklich ſelbſt, in ſeiner Geſtalt, in ſeinem Weſen, in ſeinen Ta - lenten und Geſchiklichkeiten unterſcheidende Vor - zuͤge zu beſizen, die er doch nicht beſizt; und er begnuͤgt ſich daher nicht, wie jener, unſere Be - wunderung zu erſchleichen, ſondern er fodert ſie, als einen ſchuldigen Tribut, als eine Huldigung, welche ſeinen ſeltenen Verdienſten von rechtswe - gen gebuͤhrt. Eine ſchwer zu befriedigende, und zu einer dauerhaften Freundſchaft gaͤnzlich unfaͤ -J 4hige136hige Art von Menſchen! Beuge ihnen aus, wenn du kanſt; und wenn du dieſes nicht kanſt, ſo ſorge wenigſtens dafuͤr, daß die Beruͤhrung zwi - ſchen dir und ihnen ſo leicht und behutſam, als moͤglich, geſchehe!

Nur noch ein einziger Pinſelſtrich, und der duͤſtere Hintergrund meines Gemaͤhldes wird vollendet ſein!

Hang zu zerſtreuenden Vergnuͤgungen! Aber, verſtehe mich recht, mein Sohn! Ich bin weit davon entfernt, dir Moͤnchsmoral pre - digen zu wollen; weit entfernt, alle Arten von Vergnuͤgungen der feinern Welt an ſich ſelbſt fuͤr ſchaͤdlich, oder, welches einerlei iſt, fuͤr ſuͤnd - lich zu halten. Viele derſelben ſind vielmehr von der Art, daß auch ein wohlgebildetes tugend - haftes Gemuͤth, der Reinigkeit ſeiner Geſinnun - gen unbeſchadet, Antheil daran nehmen darf. Aber der ſo haͤufige Mißbrauch dieſer Ergoͤz - lichkeiten, das dabei ſo gewoͤhnliche Hinuͤber - ſchweifen uͤber die Grenzen der Maͤßigkeit, der Ordnung, der Sitſamkeit, und vornehmlich derviel137viel zu haͤufige, viel zu unmaͤßige Genuß der - ſelben, die, die ſind es, welche auch die unſchul - digſten unter ihnen in Gift verwandeln; welche alle Haͤuslichkeit aufheben, allen Geſchmak an Naturfreuden und Familiengluͤkſeeligkeit zernich - ten, alle Nerven des Geiſtes und des Leibes er - ſchlaffen, und alle Luſt und Faͤhigkeit zu einer ſte - tigen ausdauernden Geſchaͤftigkeit in uns er - ſtikken; und in der wuͤſten Sele nichts als Ekel an unſern Berufspflichten und ein ſtuͤndliches Sehnen nach neuen berauſchenden Zerſtreuungen zuruͤklaſſen. Man faͤngt an, ſich ſelbſt zur Laſt zu fallen, ſobald man allein oder in Geſelſchaft ſeiner gewoͤhnlichen Hausgenoſſen iſt; die an ſtaͤrkere Spannungen nun einmahl gewoͤhnte Sele fuͤhlt ſich wie vernichtet, ſobald dieſe Spannun - gen aufhoͤren; es koͤmt ihr alles ſo oͤde, ſo ein - foͤrmig, ſo ſchal vor! Sie fuͤhlt Beduͤrfniſſe, und weiß nicht, welche; greift bald zu dieſer, bald zu jener haͤuslichen Unterhaltung, und wird durch keine befriediget. Endlich ſchlaͤgt die frohe Stunde der Aſſemblee, der Komoͤdie, des Larventanzes oder einer aͤhnlichen Zuſammenkunft der ſchoͤnenJ 5Welt:138Welt: und ſie erwacht aus dem Zuſtande der Vernichtung; ihre Elaſtizitaͤt iſt ploͤzlich wieder hergeſtelt, und freudig walt ſie dahin, wie ein Fiſch, der eine Zeitlang auf dem[Troknen] lag, und durch einen gluͤklichen Sprung ſich nun auf einmahl wieder in ſein Element verſezet ſieht.

Dieſer Hang zu Zerſtreuungen, und dieſer Ekel an allem was ſimpel, einfoͤrmig, natuͤrlich und haͤuslich iſt, iſt eine ſo unausbleibliche Folge des feinen und großen Lebens, daß wir volkom - men berechtiget ſind, ihn, ſo wie ich jezt ge - than habe, unter die Hauptkarakterzuͤge der ver - feinerten Menſchheit zu rechnen.

Und nun, mein Sohn, laß mich erſt wieder zu Athem kommen. Es hat mir weh ge - than, daß ich dir an einem großen Theile deiner Mitmenſchen Seiten zeigen mußte, die ich dei - nem Herzen, waͤr es moͤglich geweſen, lieber auf immer verheimlichet haͤtte. Aber was wuͤrde mir das geholfen haben? Fruͤh oder ſpaͤt waͤren dir die Augen doch einmahl von ſelbſt aufgegan - gen, und wer weiß, wie theuer dieſe eigene Er -fahrung139fahrung dir dan wuͤrde zu ſtehen gekommen ſein!

Aber damit du nicht zu aͤngſtlich in dein kuͤnftiges Leben blikken, nicht etwa beklagen moͤgeſt, daß du in einem kultivierten Lande und unter verfeinerten Menſchen geboren biſt; ſo vernim, mein Lieber, die heilige Verſicherung eines Mannes, der einen großen Theil ſeiner Tage unter Menſchen grad aus derjenigen Klaſſe, deren moraliſche Gebrechen er dir jezt ſchilderte, hingebracht, und ſich oft ein angelegentliches Ge - ſchaͤft daraus gemacht hat, die ganze Lage der Menſchheit zu verſchiedenen Zeiten und unter verſchiedenen Umſtaͤnden aufmerkſam zu beobach - ten und zu vergleichen; die Verſicherung: daß, dafern mein abgelaufener Le - bensfaden noch einmahl aufgerolt wer - den ſolte, ich dennoch zu keiner an - dern Zeit und in keinem andern Lande, als grade jezt, und grade in unſerm deutſchen Vaterlande, mein Erdenle - ben noch einmahl beginnen moͤgte.

Denn noch nie, nie ſind die Menſchen, imGanzen140Ganzen genommen gleichviel aus was fuͤr Urſachen ihrem gegenſeitigen Betragen nach, menſchlicher geweſen, als jezt; noch nie hat man fuͤr ſeine Ruhe, fuͤr ſein Eigenthum und fuͤr ſein Leben ſelbſt, von Ungerechtigkeit und zuͤgelloſer Gewaltthaͤtigkeit weniger zu beſorgen gehabt; nie iſt der Umgang der Menſchen unter einander ſanf - ter, ſtiller und friedlicher geweſen; nie iſt der ge - ſittete Menſch dem Muthwillen und der Grobheit eines rohen ungeſitteten Poͤbels weniger ausgeſezt geweſen, als bei uns; nie hat man der unter - druͤkten Vernunft und dem gefeſſelten Gewiſſen von den ihnen geraubten natuͤrlichen Rechten mehr wieder einzuraͤumen ſich bequemt; nie ſind die Hierarchie, der Aberglauben und der mit beiden unzertrenlich verbundene Verfolgungsgeiſt, im Ganzen genommen, eingeſchraͤnkter, ſchwaͤcher und alſo auch unſchaͤdlicher geweſen; nie hat die Welt einer groͤſſern und ausgebreitetern Duldung genoſſen; nie iſt es dem Weiſen und Patrioten vergoͤnt geweſen, ſeine Stimme gegen oͤffentliche Misbraͤuche, gegen ſchaͤdliche Vorurtheile, ja ſogar gegen die Eingriffe der maͤchtigſten Despotenmitten141mitten in ihrem eigenen Lande, freier, lauter und nachdruͤklicher zu erheben; nie hat die Frei - heit der Preſſe, und das damit verbundene Recht, an die ganze jeztlebende Menſchheit und an die Nachwelt zu appelliren, die Gewaltigen der Erde in der Anmaßung einer unbefugten Macht, im Ganzen genommen, behutſamer und vorſichtiger gemacht; nie iſt der menſchliche Geiſt auf dem Wege der Erfahrung, der Beobachtung und des auf beide gegruͤndeten Raiſonnements in der Er - findung, Befeſtigung und Anwendung gemein - nuͤziger Wahrheiten und Kuͤnſte weiter gekom - men; nie hat man der eitlen und pedantiſchen Schulgelehrſamkeit ihr erſchlichenes buntſchaͤkkiges und ſteifes Ehrenkleid, zu ſichtbarer Befoͤrderung einer wahren Erleuchtung des Volks, dreiſter abgeriſſen; nie hat der Pruͤfungs - und Unter - ſuchungsgeiſt ſo weit um ſich gegriffen, nie die Vernunft in dem Kampfe mit Aberglauben, Schwaͤrmerei und Fanatismus ſo viel Land ge - nommen; nie ſind Philoſophie, Mathematik und alle andere Wiſſenſchaften aͤmſiger und mit beſſe - rem Erfolge auf das Leben und auf die Vermeh -rung142rung der oͤffentlichen Gluͤkſeeligkeit angewandt worden; nie hat man die Theologie von ſcholaſti - ſchem Unrath, nie die Religion von der Spreu menſchlicher Zuſaͤze kuͤhner und ſorgfaͤltiger ge - ſichtet, und beide den ewigen Wahrheiten der Ver - nunft und den ſitlichen Beduͤrfniſſen der Men - ſchen fleiſſiger und aufmerkſamer anzupaſſen ge - ſucht; nie iſt man an die Erziehung der Jugend mit ſo viel Kentniß der menſchlichen Sele, mit ſo viel Ruͤkſicht auf die dermalige Lage der Menſch - heit, mit ſo viel Aufopferung an eigener Gemaͤch - lichkeit, mit ſo viel Trozbieten gegen verjaͤhrte Mißbraͤuche, mit ſo viel eigener[Befreiung] von herſchenden Vorurtheilen und mit ſo viel aͤuſſerlicher Freiheit gegangen, als jezt; nie ſind die Kraͤfte und Faͤhigkeiten des menſchlichen Geiſtes in einem ſolchen Grade und von ſo vielen Seiten zugleich geuͤbt worden; mit einem Worte: nie und nirgends iſt man der wahren Beſtimmung der Menſchen der gleichzeitigen und proporzionierten Ausbildung, Staͤrkung und Veredelung aller unſerer geiſtigen und koͤrperlichen Naturkraͤfte im Ganzen ge - nommen naͤher gekommen, als grade jezt, und grade hier in unſerm deutſchen Vaterlande.

Habe143

Habe Dank, du alguͤtige Vorſehung, daß du meine Tage in dieſe Morgenroͤthe einer groͤſſern oͤffentlichen Gluͤckſeeligkeit der Menſchen fallen ließeſt! Dank, Dank, daß das Leben meines Sohns in dieſer Morgenroͤthe began, und nun o der freudigen Hofnung! dem hellen Tageslichte entgegen reift!

Nunmehr, mein Sohn, wirſt du im Stande ſein, die Gruͤnde derjenigen Klugheitsregel einzu - ſehen, die ich dir jezt bekant machen wil, und um derentwillen ich jene Beobachtungen voraus - ſchikken mußte. Ich werde nun nicht noͤthig haben, dich auf dieſe Gruͤnde jedesmahl insbeſon - dere zuruͤkzufuͤhren, weil ſie ſich dir von ſelbſt darbieten werden. Folge mir denn ferner mit deiner ganzen Aufmerkſamkeit, und ſchreibe dir jeden guten Rath, den ich dir jezt aus dem Vor - rathe meiner Erfahrungen mittheilen wil, mit unausloͤſchlichen Buchſtaben ins Gedaͤchtniß ein. Zur Sache!

Bei deinem Eintrit in die große menſch - liche Geſelſchaft huͤte dich, mein Kleon, mehrvon144von den Menſchen zu erwarten, als mit ihrer Gemaͤchlichkeit, mit ihrem Vergnuͤ - gen und mit ihrem eigenen Vortheile be - ſtehen kan. Um Gottes willen ertraͤume dir keine Schaͤferwelt, keine Idillenmenſchen mit zuvorkommender Engelsguͤte! Du wuͤrdeſt das Urbild dieſes Traumgeſichtes nirgends finden; wuͤrdeſt bald mit Schrekken daraus erwachen, und je hoͤher deine Erwartungen geſpant geweſen waͤren, deſto ſchmerzhafter wuͤrde dir die Ent - dekkung deines Irthums ſein.

Stelle dir vielmehr vor, du waͤreſt ein Wan - derer, der in eine Herberge vol ſingender, tan - zender und ſchmauſender Gaͤſte kaͤme. Je nach - dem deine Miene, dein Anzug, und die Art, wie du dich einfuͤhrſt, den guten Geſelſchafter verra - then, wird man mit mehr oder weniger Hoͤflich - keitserweiſungen dir entgegen kommen. Der eine wird dir eine Prieſe, der andere ein Glas bieten, eine dritte dich zum Tanz einladen, ein vierter vielleicht, dem der Kopf eben nicht recht ſteht, mit dir zanken wollen. Du wuͤrdeſt auf gleiche Weiſe Unrecht haben, wenn du den Erſtern wahrebleibende145bleibende Freundſchaft, dem Leztern uͤberdachte Feindſchaft gegen dich zutrauen wolteſt. Morgen werden jene dich nicht mehr kennen, dieſer freund - lich gruͤßend bei dir voruͤbergehn.

Dieſe Herberge iſt die große Welt; jene ſin - genden, tanzenden und ſchmauſenden Gaͤſte ſind unſere feinen Herren und Damen, die da groͤß - tentheils keinen hoͤhern Endzwek ihres Daſeins kennen, als zu amuͤſiren, und amuͤſirt zu werden. Finden dieſe nun dich zu ihrem Zwekke brauchbar, ſo biſt du, ſo lange dieſe Brauchbarkeit waͤhrt, ihr Man; wonicht ſo kehren ſie dir den Ruͤkken zu, und ihr ſeid geſchiedene Leute.

Du aber, ſei nuͤchtern unter den Trun - kenen, aufmerkſam unter den Zerſtreuten, beobachtend unter den Leichtſinnigen, da - mit du die eigene Gemuͤthsbeſchaffenheit, die herſchenden Leidenſchaften, Schwach - heiten und Tugenden deiner Leute ſo fruͤh und ſo genau als moͤglich kennen lerneſt. Freilich laͤßt ein Herz, das in der Verſtellungskunſt geuͤbt iſt, ſich nicht gleich beim erſten Blik er -Ktappen,146tappen, am wenigſten, wenn es merkt, daß der Spaͤher ſich in Poſitur ſtelt, um es durchzuſchauen: aber laß dich dadurch nicht abſchrekken. Gegen eine fortgeſezte Aufmerkſamkeit auf Blikke, Mie - nen, Gebehrden, Gang, Stellung, Kleidung, Stimme, Reden und Handlungen, vornehmlich aber gegen eine ſorgfaͤltige Vergleichung aller dieſer Karakteraͤuſſerungen unter einander, und zwar zu verſchiedenen Zeiten und unter verſchiedenen Um - ſtaͤnden, haͤlt auch die kuͤnſtlichſte Maske nicht lange Stich; ſie faͤlt, ehe man es ſich verſieht, und die entlarvte Sele ſteht in ihrer Bloͤße. Denn gluͤklicher Weiſe hat die Natur dafuͤr geſorgt, daß jeder herſchende Karakterzug in alle die aͤuſſerlichen Dinge, die ich jezt nante, kentliche Spuren ſeines Daſeins eindruͤkken muß, welche zwar uͤberklei - ſtert, aber nie ganz vertilgt werden koͤnnen. Uebe dich fruͤhzeitig, dieſe Naturſchrift leſen zu lernen; aber ſei nicht eher ſicher, den rechten Sin heraus - gebracht zu haben, bis dir der Beobachtete ſelbſt die Unterſcheidungszeichen ſeine Handlungen mein ich hinzugeſezt hat. Ein einziges Komma mehr oder weniger, hier oder dorthin geſezt, machtdie147die phiſiognomiſche wie die Buͤcherſchrift nicht ſelten doppelſinnig.

Achte aber nicht ſowohl auf die großen und oͤffentlichen Handlungen der Menſchen, als vielmehr auf die kleinen, auf die haͤus - lichen, auf diejenigen, welche man gleich - ſam im Vorbeigehen verrichtet, ohne eine uͤberdachte Abſicht dabei zu haben. Dieſe, nicht jene, ſind die aͤchten Probierſteine des Karak - ters; denn bei jenen zeigt man ſich, wie man ſich zeigen wil, bei dieſen wie man iſt; bei jenen iſt die Sele in Galla, bei dieſen in Schlafrok und Pantoffeln. Begleite alſo den glaͤnzenden Schau - ſpieler, wenn du den Menſchen in ihm kennen lernen wilſt, bis hinter die Kuliſſen; habe acht, wie er hier ſeine Mienen, ſeine Blikke, ſeine Sprache, ſein ganzes Weſen veraͤndert; ſiehe ihm ins Geſicht, wenn er die Schminke abgewa - ſchen, die gemahlten Augbraunen ausgerieben, die ſchimmernde Theaterkleidung ausgezogen hat; laß kein Wort von dem, was er nunmehr als Menſch, nicht mehr als Schauſpieler, zu ſeinen gleichfals abgetretenen Mitſpielern, zu den thea -K 2traliſchen148traliſchen Handlangern, zum Lichtpuzer, ſpricht, auf die Erde fallen; hoͤre ihn hier uͤber ſeine Rolle, uͤber das Parterre, und uͤber die Logen Gloſſen machen, und komt von ohngefaͤhr ſein Hund oder ſeine Kaze dazu, ſo acht es nicht zu geringe, mit aller Aufmerkſamkeit, deren du faͤhig biſt, auch ſein Benehmen gegen Hund und Kaze zu beobachten. So oder niemahls wirſt du deinen Zwek erreichen, den Man vom Schauſpieler ge - hoͤrig unterſcheiden zu lernen.

Aber vielleicht merkt er deine Abſicht; viel - leicht iſt ihm daran gelegen, auch noch hinter der Buͤhne fuͤr eben den von dir angeſehen zu wer - den, der er auf derſelben war; und in dieſem Fal wird er ſeiner Theaterwuͤrde ſich noch nicht entaͤuſ - ſern, ſondern vielmehr fortfahren, auch hinter den Schirmwaͤnden, auch in der Kleiderkammer, dir ſeine hohe pathetiſche Rolle vorzuſpielen; und wie denn da? Vernim fuͤr dieſen Fal folgende vier Regeln, deren Beobachtung dich ſelten im Stiche laſſen wird.

Die erſte: erfinde oder veranſtalte irgend ein Geſchaͤft, in welches ſein und dein In -tereſſe149tereſſe auf gleiche Weiſe verflochten iſt, und welches alſo gemeinſchaftlich betrieben ſein wil; berathſchlage dich mit ihm uͤber die Art, wie ihr es betreiben wolt; bringe verſchiedene Mittel zur Erreichung eurer Abſicht, wovon das eine edler, als das andere iſt, wovon das eine dieſer, das an - dere jener Leidenſchaft vor den Kopf ſtoͤßt, in Vorſchlag; und ſiehe dan zu, wohin ſeine Sele ſich neigt, und bei welchem ſie zuruͤkfaͤhrt. Dis wird dir auf einmahl den Schluͤſſel zu ſeinem Karakter geben. Denn jezt, da eure beiderſeitigen Vortheile in einander ge - ſchlungen ſind, und es nun darauf ankomt, ge - meinſchaftliche Sache zu machen, wird er auf einen Augenblik vergeſſen, daß ihr zwei verſchie - dene Perſonen ſeid, und in dieſem kritiſchen Au - genblikke wird er reden und handeln, als wenn er allein waͤre. Das iſt aber der Augenblik, in welchem man Augen und Ohren brauchen muß, ſeinen Man ſchnel durchzuſehen, und durchzuhoͤ - ren: denn eine Minute darnach wird ſeine Sele vielleicht ſchon wieder Schildwache ſtehen, und dieK 3Thuͤr150Thuͤr ſeines Herzens auf lange Zeit von neuem verſchloſſen ſein.

Die zweite: harre auf Gelegenheit, einen ſolchen Menſchen in irgend einer heftigen Leidenſchaft zu ſehen. Feuer und Kaͤlte, Sturm und Ruhe, Leidenſchaft und Verſtellung koͤnnen nicht wohl beiſammen ſein; und ſteht ein Haus in Flammen, ſo ſpringt auch der heraus, der am meiſten Urſache hatte, ſich darin ver - borgen zu halten. So die verſtekte Sele, wenn ihr Wohnhaus, der Koͤrper, in leidenſchaftlichem Brande ſteht! Sie ſpringt unangekleidet, unge - ſchminkt und unverlarvt hervor, und du ſiehſt ſie, wie ſie iſt, nicht wie ſie ſonſt in erborgten Prunk - geſinnungen ſich oͤffentlich zu zeigen pflegte. Das iſt abermahls ein Augenblik, den ungenuzt der ver - ſtaͤndige Beobachter nicht verfliegen laͤßt.

Die dritte: wilſt du die wahren Geſin - nungen eines ſolchen Menſchen gegen dich und die Art, wie er abweſend uͤber dich zu urtheilen pflege, mit großer Zuverlaͤſſigkeit erfahren, gib acht, wie er es mit andern treibt, die in eben dem Verhaͤltniß mit ihmſtehen,151ſtehen, wie du, und denen er, ſo lange ſie ge - genwaͤrtig ſind, eben ſo viel Achtung, Freund - ſchaft und Vertrauen, als dir, erweiſet. Sind dieſe fruͤher, als du, aus ſeiner Geſelſchaft gegangen, (und ich rathe dir, es gefliſſentlich darauf anzulegen, daß dieſes geſchehen mag) und erkenſt du nun aus ſeinem Hohnlaͤcheln, aus ſeinem Achſelzukken, aus ſeinem beiſſenden Urtheil uͤber ſie, wie alle die vorhergehenden Aeußerungen einer herzlichen Zuneigung und einer uͤberſchwenglichen Hochach - tung gemeint waren: ſo weißt du zugleich, wenn du dich nicht ſelber taͤuſchen wilſt, was du von ſeiner angeblichen Achtung und Ergebenheit auch gegen dich zu halten habeſt. Es iſt unglaublich, wie weit die Unvorſichtigkeit der feinſten Weltleute in dieſem Stuͤk zu gehen pflegt. Sie laſſen ge - meiniglich ohne Bedenken eine Maske nach der andern fallen, ſo wie diejenigen abtreten, um derentwillen ſie dieſelben vorgeſtekt hatten, nur diejenige nicht, welche auf uns, die wir noch zu - gegen ſind, gemuͤnzet war. Die armſeeligen Gaukler! Ob ſie uns etwa gar kein Vermoͤgen, von anderer Schikſal auf das unſrige zu ſchließen,K 4oder152oder einen ſo hohen Grad von eitler Selbſtgefaͤl - ligkeit zutrauen, daß wir uns allein fuͤr ſchußfeſt halten ſolten, indes die Pfeile der Falſchheit und der Afterrede den guten Leumund aller unſerer Nebenmaͤnner, ohne Ausnahme und ohne Scho - nung, links und rechts vor unſern Augen zu Boden werfen?

Endlich die vierte: iſt dis alles noch nicht hinreichend geweſen, uͤber die wahren Geſinnungen eines ſolchen Menſchen gegen dich das noͤthige Licht zu verbreiten, ſo warte auf irgend eine erhebliche Veraͤnderung in deinen oder ſei - nen eigenen Gluͤksumſtaͤnden, wodurch das bisherige Verhaͤltniß zwiſchen ſeinem und deinem Stande, zwiſchen ſeinem und deinem Vermoͤgen, zwiſchen ſeinem und deinem Einfluſſe auf andere, auf eine merk - liche Weiſe verruͤkt wird. Findeſt du dan, daß ſeine Achtung und Freundſchaft gegen dich, gleich Akzien ſteigen oder fallen, je nachdem der Thermometer des Gluͤks hoͤher oder niedriger ſteht: ſo weißt du ja, woran du biſt, und kanſt nicht weiter hintergangen werden. Wie viel an -gebliche153gebliche Freundſchaften ſah ich, waͤhrend meines Lebens, an dieſem Probierſtein zerſchellen! Und die als Ruinen nicht mehr zu verkennende Beſtand - theile derſelben? Waren Eigennuz!

Aber wozu, mein Kleon, ermahne ich dich zu einer ſo aͤmſigen Erforſchung der wahren Ge - ſinnungen, Leidenſchaften und Schwachheiten deiner Nebenmenſchen? Etwa um Betrug durch Betrug, Liſt durch Liſt zu beſiegen? Oder damit du deiner eigenen groͤßern Rechtſchaffenheit dich erheben, und auf deine ſchwaͤchern Mitmen - ſchen mit ſtolzer Verachtung herabſehen moͤgeſt? Das wolle Gott nicht! Und wozu denn alſo? Dazu, daß du von keinem mehr erwarteſt, als er wahrſcheinlicher Weiſe leiſten wird; dazu, daß du vom Scheine dich nicht blenden laſſeſt, den Wolf nicht fuͤr ein Lam, den Geier nicht fuͤr eine Taube halteſt; dazu alſo, daß du vorſichtig wan - deln moͤgeſt unter den Menſchen, und deine Wohlfahrt nicht in Haͤnde legeſt, die ſich ein Ver - gnuͤgen daraus machen koͤnten, ſie zu zerknikken.

K 5Damit154

Damit aber deine Menſchenkentniß auch nicht einſeitig werden moͤge: ſo gewoͤhne dich, mein Sohn, den Tugenden deiner Mitmenſchen noch viel eifriger, als ihren Thorheiten und Laſtern nachzuſpuͤren. Freue dich jeder aͤchten Handlung der Gerechtigkeit, der Billigkeit, der Großmuth, der Menſchlichkeit, die du im Ver - borgenen entdekſt, als eines Zuwachſes an Fa - milienglanz, als einer Vergroͤßerung der Total - ſumme menſchlicher Gluͤkſeeligkeit, wovon auch dir, wie jedem andern einzelnen Gliede der Ge - ſelſchaft, ein verhaͤltnißmaͤßiger Antheil unaus - bleiblich zufließen wird. Denn alle Handlungen und Schikſale der Menſchen, auch derer, welche der Zeit nach durch Jahrtauſende, dem Raume nach durch Erdguͤrtel getrent ſind, haͤngen, wie die Tropfen des Weltmeers, wie die Glieder einer einzigen unermeßlichen Kette, unzertrennlich zuſammen, und die Folge einer jeglichen guten oder boͤſen That, welche auf der Erde geſchieht, laͤuft, wie elektriſches Feuer, durch die ganze Kette vom erſten bis zum lezten Gliede derſelben.

Bemuͤhe155

Bemuͤhe dich aber nicht blos, gute, rechtſchaf - fene und edle Thaten aus ihrer Dunkelheit her - vorzuziehn; ſondern mache es dir auch zu einem angelegentlichen Geſchaͤft, an jedem verwahr - loſeten menſchlichen Karakter die ihm noch uͤbrige gute Seite, bei jeder ſchlechten That, die dir zu Ohren komt, diejenigen Umſtaͤnde aufzuſuchen, welche dem Fehlenden zu ei - niger Entſchuldigung gereichen koͤnnen. Denn keines Menſchen Sele iſt ſo durchaus ver - derbt, daß von ihrer urſpruͤnglich reinen und guten Natur nicht wenigſtens noch einige Ruinen zu entdekken waͤren; und keine Handlung iſt ſo ſchlecht, daß man in der ganzen Lage des Han - delnden nicht noch einen oder den andern ent - ſchuldigenden Umſtand finden ſolte, der unſern Tadel mildern muß. Beſtrebe dich, jene[Rui - nen] auszugraben, dieſer entſchuldigenden Umſtaͤnde ſo viele zu entdekken, als es dir nur immer moͤg - lich ſein wird: und du wirſt dir einen Schaz von aͤchter Menſchenkentniß und von guten Ge - ſinnungen erwerben, den du gegen alle Alterthuͤ - mer Italiens nicht wirſt vertauſchen wollen.

Ich156

Ich kehre zuruͤk zu deinem erſten Eintritte in die Geſelſchaft, und zu den Klugheitsregeln, die dich dabei leiten muͤſſen.

Der erſte Eindruk, den man auf die Ge - muͤther der Menſchen macht, entſcheidet insge - mein, wo nicht auf immer, doch wenigſtens auf lange Zeit, ihre Meinung uͤber uns. Man wil ſeinen Verſtand nicht zweimahl in Unkoſten ſezen, um uͤber uns zu urtheilen, und laͤßt es daher, ſo lange man immer kan, bei der erſten Sentenz, die er fuͤr oder wider uns gefaͤlt hat, ſein Bewen - den haben. Wehe uns, wenn dieſe zu unſerm Nachtheil ausgefallen iſt!

Um dis zu vermeiden, nim in dieſer kritiſchen Stunde deine ganze Beſonnenheit zuſammen, und brauche jegliches Mittel, dich gefaͤllig zu machen, welches mit den Grundſaͤzen der wahren Ehre und der Rechtſchaffenheit beſtehen kan. Und wel - ches ſind dieſe Mittel? Etwa dieſes, deine Ta - lente und Volkommenheiten gefliſſentlich zu ent - falten, um den Zuſchauern gleich anfangs einen hohen Begrif von deinen Verdienſten einzufloͤßen? Um157Um alles in der Welt nicht, mein Sohn! Je - mehr dir dis gelaͤnge, deſto weniger wuͤrde man es dir verzeihen, daß du Beifal und Achtung, die man nur als ein freiwilliges Geſchenk gern zu geben pflegt, gleich einem ſchuldigen Tribut, erzwungen habeſt. Indes der Verſtand deines Auditoriums nicht umhin koͤnte, dir Gerechtig - keit wiederfahren zu laſſen, wuͤrde die gekraͤnkte Eitelkeit eines jeden ſich maͤchtig gegen dich em - poͤren, und nicht eher ruhen noch raſten koͤnnen, bis das Falkenauge der Verkleinerungsſucht an deinen Verdienſten irgend einen Auswuchs gewahr wuͤrde, bei dem man ſie ergreifen und von ihrer Hoͤhe wieder herabziehen koͤnte. Es thut ſo wohl, ſich zum Beſchuͤzer beſcheidener und verkan - ter Vorzuͤge aufzuwerfen! Es thut ſo weh, ſich durch auffallende Vorzuͤge, die keines Beſchuͤzers beduͤrfen, gedemuͤthiget zu ſehen! Jemehr du alſo ſolcher Vorzuͤge in Beziehung auf deine je - desmalige Geſelſchaft in dir fuͤhlen wirſt, deſto ſorgfaͤltiger ſuche ſie zu verbergen, damit ihr Daſein nur geahndet, niemand aber gezwungen werde, ſie wider ſeinen Willen anzuerkennen.

Wahre158

Wahre Verdienſte mit wahrer Beſchei - denheit zu verbinden ſiehe da, mein Sohn, den kurzen Inbegrif der ganzen Kunſt, ſich ge - faͤllig und beliebt zu machen! Das eine dieſer beiden Mittel ohne das andere iſt nichts; verei - nigt ſind ſie alles. Verdienſte ohne Beſcheiden - heit koͤnnen kalte Bewunderung, Beſcheidenheit ohne Verdienſte kan mitleidige Guͤte, aber wohl - wollende Achtung koͤnnen nur beide in Verbin - dung wirken.

Die erſte Seite alſo, von der du dich als Neuling ankuͤndigen wirſt, ſei Beſchei - denheit; Beſcheidenheit im Anzuge, im Gange, in der Stellung, in Mienen, Blik - ken, Worten und Handlungen, vornemlich aber und das iſt die Hauptſache in dem Innerſten deines Herzens. Denn iſt ſie da, ſo wird ſie ſich von ſelbſt und ohne Zwang auch uͤber dein ganzes Aeuſſerliches ergießen; wo nicht, ſo werden Eitelkeit und Duͤnkel hinter allen dei - nen Grimaſſen von Demuth wider deinen Willen hervorgukken, und dem Menſchenkenner nicht verborgen bleiben. Sie wird aber zuverlaͤſſig daſein,159ſein, und unaustilgbarer Grundſtrich deines Ka - rakters werden, wenn der vernuͤnftige und red - liche Vorſaz dich belebt, kein glaͤnzendes, ſondern ein recht gemeinnuͤziges Leben fuͤhren zu wollen; wenn du bei allen deinen Beſtrebungen, ſie moͤgen ſein von welcher Art ſie wollen, deine Augen auf wahrhaftig große und wuͤrdige Zwekke hefteſt, wenn du dich fruͤhzeitig gewoͤhnſt, oft und mit anhaltender Aufmerkſamkeit in deinen eigenen Buſen zu greifen, deinen eigenen Unvol - kommenheiten und Fehlern recht ins Auge zu ſehen, und den jedesmaligen weiten Abſtand zwi - ſchen dem, was du biſt, und dem, was du ſein ſolteſt, gehoͤrig zu Herzen zu nehmen; und end - lich, wenn du an jedem Orte deines Aufenthalts den vertrauten Umgang mit ſolchen Maͤnnern ſuchſt, die an Verdienſten, beſonders an ſolchen, die du ſelbſt zu haben glaubſt, dir merklich uͤber - legen ſind. Ein ſolches taͤgliches Meſſen oder richtiger, ein ſolches[Hinaufſehen] zu der Hoͤhe des Verdienſtes, welches andre in unſerm Fache ſchon errungen haben, hat fuͤr edle junge Selen, welche Muth und Luſt zur Nacheiferungoder160oder wohl gar zum Uebertreffen in ſich fuͤhlen, nichts Abſchrekkendes oder Niederſchlagendes; aber es bewahrt ſie vor dem Schwindel der Selbſtvermeſſenheit, welcher bei einem oͤftern Zuruͤkſehen auf diejenigen, welche noch unter ihnen klimmen, nur gar zu leicht ſich ihrer zu bemaͤch - tigen pflegt.

Allein, indem ich dir die liebenswuͤrdigſte Eigenſchaft eines jungen Menſchen, die Beſchei - denheit, empfehle, muß ich dich zugleich vor demjenigen Uebermaaße derſelben warnen, welches in eine einfaͤltige Bloͤdigkeit, in eine ſtupide Menſchenfurcht ausartet, und die Folge einer ſklaviſchen Erziehung oder auch eines gar zu eingezogenen Lebens in der Jugend iſt. Ein ſolches furchtſames, aͤngſtliches und beſchaͤm - tes Weſen ſchadet uns in der Meinung der Menſchen eben ſo ſehr, als Eigenduͤnkel und Unverſchaͤmtheit, nur auf eine andere Weiſe. Jenes macht, daß man uns gering ſchaͤzt, weil man uns fuͤr einfaͤltig haͤlt; dieſe, daß man uns nicht ausſtehen kan; beide, daß man uns nicht wohl wil, nicht geneigt iſt, uns zu dienen. Suche161Suche du die rechte Mittelſtraße zwiſchen beiden zu treffen: ſo wirſt du Liebe und Hochachtung zugleich erwerben.

Und damit du dieſes koͤnneſt, ſo beſtrebe dich, durch vertrauten Umgang mit wohl - erzogenen Menſchen, auch wohl zuweilen durch Beſuchung ſolcher Oerter, wo die ſogenante ſchoͤne Welt zu gemeinſchaftlichen Vergnuͤgungen ſich verſammelt, diejenige aͤuſſerliche Artigkeit und jenes ungezwun - gene, edle und gefaͤllige Weſen anzuneh - men, welche den Man von guter Erziehung und von Welt bezeichnen. Wahre Artigkeit und eine wirklich feine Lebensart ſind, wie ein Man verſichert, der ſie ſelbſt in hohem Grade beſaß,*)Cheſterfield. An einem andern Orte ſagt er: Tugend und Gelehrſamkeit haben, gleich dem Golde, ihren innern Werth. Werden ſie aber nicht abgepuzt, ſo verlieren ſie gewiß ein Großes von ihrem Glanze, und ſelbſt abgeſchliffenes Erz wird mehr Liebhaber fin - den, als rohes Gold. ein Kleid, welches eben ſo viele Thor -heiten,L162heiten, als die Liebe Suͤnden, dekt. Aber ſie ſind noch mehr; ſie ſind auch zugleich ein Schild, der uns in den meiſten Faͤllen gegen die muth - willigen Beleidigungen und Grobheiten der Un - geſitteten ſchuͤzt;*)Geſittetes Weſen fuͤhrt eine Wuͤrde mit ſich, die auch der Muthwilligſte ehrt. Ungeſit - tetes ladet auch die Schuͤchternſten ein, und berechtiget ſie, ſich mauſig zu machen. Cheſterfield. ſie ſind auch eine an allen Orten und unter allen kultivierten Nazionen ver - ſtaͤndliche Addreſſe an Unbekante, die in ihrer Gunſt uns gemeiniglich weiter fuͤhrt, als alle ge - ſchriebene Empfehlungsbriefe zu thun vermoͤgen. Nur daß du die albernen Grimaſſen und das ganze nachaͤffende Weſen unſerer deutſchfranzoͤſi - ſchen Gekken, welche Weltton affektiren, ohne den Zeug dazu zu haben, nicht fuͤr Artigkeit und feine Lebensart halteſt! Nur daß du bei der Bemuͤhung, den Zwang und die Unbiegſamkeit eines ſteifen Pedanten zu vermeiden, nicht in den entgegengeſezten Fehler eines windigen Weſens und der franzoͤſirenden Unverſchaͤmtheit falleſt! Nur163Nur daß du die Feinheit deiner Manieren und Sitten nie ſo weit treibeſt, daß du daruͤber ver - geſſeſt, daß du ein Man und ein Deutſcher ſeiſt!

Aber vor allen Dingen, mein Sohn, ſuche dir ein recht großes Maaß von Heiterkeit und guter Laune zu erwerben, damit du nicht blos bei deinem Eintrit in die Welt, ſondern auch nachher, bei jeder geſelligen Zuſammenkunft als ein freundlicher, leicht - zubefriedigender und aufgewekter Geſel - ſchafter erſcheineſt. Gute Laune iſt uͤberal wilkommen, boͤſe nirgends; jene oͤfnet uns die Herzen der Menſchen, daß wir Eingang bei ihnen finden, dieſe ſchließt ſie vor uns zu; jene macht, daß man unſere Fehler, dieſe, daß man unſere Tugenden uͤberſieht; jene iſt das ſicherſte Mittel, Misverſtaͤndniſſen und[Feindſchaften] vor - zubeugen, oder, wenn ſie einmahl entſtanden ſind, ſie geſchwind wieder zu vertilgen, dieſe ein im - mer offenliegender Zunder, welcher bei den unbe - deutendeſten Kleinigkeiten Feuer faͤngt und Funken ſpruͤhet, bis die Herzen aller gegen uns undL 2das164das unſrige gegen alle in lichten Flammen ſtehn.

O mein Sohn, wie ruhig wolt ich dich mit - ten in das Gedraͤnge der Menſchen eintreten ſehen, koͤnt ich verſichert ſein, daß du in jede kuͤnftige Lage deines Lebens ein leichtes froͤhliches Herz und eine nie verſiegende Quelle guter Laune bringen wuͤrdeſt! Wie ſicher wolt ich wegen der Auf - nahme, die du uͤberal finden wuͤrdeſt, wie beru - higet uͤber deine ganze kuͤnftige Wohlfahrt ſein!

Freilich iſt dieſe heitere und froͤhliche Ge - muͤthsverfaſſung eine Gottesgabe, die koſtbarſte und wuͤnſchenswuͤrdigſte unter allen, die einem Menſchen hienieden zu Theil werden koͤnnen: aber muͤſſen wir, weil ſie das iſt, die Haͤnde in den Schooß legen, und unthaͤtig erwarten, daß ſie ohne alles unſer Zuthun und gleichſam im Schlaf uns werde verliehen werden? Sind Ge - ſundheit, Talente und Gluͤksguͤter nicht gleichfals Ausfluͤſſe der goͤtlichen Milde: aber wer ſagt, daß unſer Beſtreben darnach und unſere Bemuͤhung, ſie zu erhalten, und zu vermehren, um deswillen uͤberfluͤſſig waͤren? Die Vorſehung theilt ihreGaben165Gaben nicht durchs Gluͤksrad aus; ſie wil, daß wir uns darum bewerben ſollen, weil ſie weiß, daß zugeworfene Guͤter uns nicht frommen koͤn - nen, weder im Leiblichen, noch im Geiſtlichen. Wilſt du aber wiſſen, wie man, beſonders in deinem Alter (denn weiter hin iſts zu ſpaͤt!) es anzufangen habe, um unſre ganze Art zu denken und zu[empfinden], in das roſenfarbene Gewand einer guten und froͤhlichen Laune zu kleiden? Hoͤre einen Rath, den du zuverlaͤßig bewaͤhrt finden wirſt:

Sorge, daß du durch Maͤßigkeit, durch eine natuͤrliche Lebensart, durch Vermei - dung heftiger Leidenſchaften, und durch koͤrperliche Geſchaͤftigkeit deine Geſundheit erhalteſt; wache unablaͤßig uͤber dein Herz und uͤber dein Gewiſſen, daß kein Laſter ſie beflekke, keine ſchaͤndliche Begierde die zarten Wurzeln der Selbſtzufriedenheit benage; rotte alle eitle und ehrſuͤchtige Ab - ſichten mit Stumpf und Stiele bei dir aus, und pflanze an ihre Stelle das edlere Ge - waͤchs eines eifrigen und thaͤtigen Vor -L 3ſazes,166ſazes, Zufriedenheit und Freude fuͤr dich und andere rund um dich her verbreiten zu wol - len; huͤte dich daneben vor uͤbertriebenen Anſtrengungen des Geiſtes, und laß auf jegliche Arbeit eine verhaͤltnißmaͤßige Ruhe, auf jegliche Ruhe eine verhaͤltnißmaͤßige Leibesbewegung folgen; endlich, mein Sohn, widerſtehe mit aller Kraft, welche dir beiwohnt, den erſten Verſuchen, die der Daͤmon der Mißmuͤthigkeit und der boͤſen Laune macht, ſich deines Herzens zu bemaͤchtigen, feſt uͤberzeugt, daß auch von ihm gelte, was irgendwo geſchrieben ſteht: laß den boͤſen Geiſt dich nur erſt bei einem Haar ergreifen, und du biſt ſein auf ewig.

Doch auch die heiterſte Sele hat ihre Stun - den der Verfinſterung, und es wuͤrde umſonſt ſein, wenn ich dich ermahnte, deren keine zu ha - ben. Es gibt der Stuͤrme, welche den reinen Bach unſerer Gedanken und Empfindungen truͤ - ben koͤnnen, ſo viele im menſchlichen Leben; und wer darf ſagen, daß ihn deren keiner uͤberraſchen werde? Beſſer alſo iſts, ich empfehle dir aufdieſen167dieſen Fal die Regel: daß du, ſo oft der Un - muth deine Sele umwoͤlkt hat, wenn’s im - mer moͤglich iſt, dich enthalten moͤgeſt, ir - gend einer Geſelſchaft beizuwohnen, die des Vergnuͤgens wegen zuſammen gekom - men iſt. Man wird dir eher verzeihen, wenn du zu einem Piknik koͤmſt, ohne deine Schuͤſſel beſorgt zu haben, als wenn du in einer ſolchen Geſelſchaft erſcheinſt, ohne dein Kontingent an Wiz und guter Laune mitzubringen. Denn ein ſtumpfer mismuͤthiger und grisgrammender Ge - ſelſchafter traͤgt nicht blos nichts zur Vergroͤße - rung des gemeinſchaftlichen Vergnuͤgens bei, ſon - dern er vermindert auch daſſelbe durch den un - fehlbaren Einfluß, den ſeine boͤſe Laune auf andere hat. Und du wirſt finden, daß die Menſchen jede andere Beeintraͤchtigung viel geduldiger, als die Schmaͤhlerung ihres Vergnuͤgens, ertragen.

Ich kehre immer von neuem zu deinem je - desmaligen erſten Eintrit in eine Geſelſchaft zuruͤk; denn iſt dir dieſe erſt gelungen, ſo hats mit allem uͤbrigen ſo leicht nicht Noth. Laß mich alſo fort -L 4fahren,168fahren, dir meinen beſten Rath hieruͤber zu er - theilen.

Beim Anfang einer neuen Bekantſchaft an einem fremden Orte, deſſen Verfaſſung, Menſchen, Sitten und herſchende Vorurtheile dir alſo noch nicht bekant ſein koͤnnen, ſei zuruͤk - haltend und beobachtend, doch ohne beides merken zu laſſen. Urtheile ſelbſt ſo wenig als moͤglich, aber ſuche das Geſpraͤch ſo zu leiten, daß diejenigen, welche du kennen zu lernen wuͤn - ſcheſt, ihr eigenes Urtheil uͤber viele Dinge aͤuſ - ſern moͤgen. Dadurch wirſt du in kurzer Zeit ihre Denkungsart, ihre Grundſaͤze und den Grad ihrer Aufklaͤrung erfahren. Kanſt du in einer ſolchen Geſelſchaft dir ſelbſt Gelegenheit zu kur - zen, (merke wohl!) zu kurzen ergoͤzenden Erzaͤh - lungen verſchaffen, und gelingt es dir, ſo zu erzaͤhlen, daß die Geſelſchaft wirklich dadurch ergoͤzt wird, ſo haſt du ſicher einen guͤnſtigen Eindruk gemacht, und dir den Weg zum Wohl - wollen und zur Freundſchaft nicht allein dieſer, ſondern auch zugleich vieler andern Menſchen ge - bahnt. Denn nun wird das Urtheil: duſeiſt169ſeiſt ein wuͤrdiger, ein allerliebſter d. i. ein amuͤ - ſanter Man! von Haus zu Hauſe fliegen, und in jeder folgenden Geſelſchaft bedarf es nur noch der Haͤlfte des Aufwandes an Wiz und Laune, um dem guten Vorurtheile, welches man einmahl fuͤr dich gefaßt hat, das Siegel aufzu - druͤkken.

Gib aber, ſo oft du andere reizeſt, ſtat deiner zu urtheilen, einem jeden, ſoviel du kanſt, Gelegenheit von dem zu reden, worin er ſei’s wirklich, oder auch nur ſeiner Einbildung nach ganz vorzuͤglich zu Hauſe iſt, geſezt auch, daß du ſelbſt ein voͤlliger Fremdling darin waͤreſt. Die Gruͤnde dieſes Raths? liegen am Tage. Denn erſtlich wirſt du vielleicht den Nuzen davon ha - ben, daß du von deinem Manne, indem er uͤber Dinge ſpricht, die innerhalb ſeiner Sphaͤre liegen, wirklich etwas lernen koͤnneſt; und zweitens wirſt du zuverlaͤſſig ihn dir dadurch verbindlich machen. Denn in eben dem Maaße, in welchem du ſeiner Eitelkeit Gelegenheit gibſt, Verſtand und Kentniſſe auszulegen, wird er von deinemL 5eigenen170eigenen Verſtande und von deinen eigenen Kentniſ - ſen, die du ihm nicht ausgelegt haſt, mit Bewunde - rung reden. Du wirſt abermahls ein wuͤrdiger, ein allerliebſter Man! heiſſen; aber du wirſt dich dan auch ſchon von ſelbſt zu beſcheiden wiſſen, daß der dismalige Sin dieſes Ausrufs kein an - derer ſei, als der: er iſt ein Menſch, der mir Gelegenheit gegeben hat, zu zeigen, daß ich ſelbſt ein wuͤrdiger Man ſei!

Ueberhaupt, mein Sohn, kanſt du auf die Eitelkeit der Menſchen ſchwerlich zu viel rechnen, und du darfſt daher die Regel: daß man bei jeder muͤndlichen und ſchriftlichen Unter - haltung es mehr darauf anlegen muͤſſe, daß der Andere ſeinen eigenen Werth, als darauf, daß er den unſrigen fuͤhle, ohne Gefahr zu fehlen, fuͤr einen der algemeinſten Grundſaͤze der Kunſt zu gefallen halten. Aber verkenne mich nicht ſo ſehr, daß du beſorgeſt, ich wolle, indem ich dir dieſen Grundſaz empfehle, dich in der ſchaͤndlichen Kunſt zu ſchmeicheln unter - weiſen. Meine Sele hat gar keinen Begrif da -von,171von, wie ein Menſch ſich ſelbſt ſo ſehr herabwuͤr - digen koͤnne, vor irgend einem andern Menſchen und waͤr er auch ein Koͤnig! als Schmeichler zu kriechen. Sie verabſcheuet und verwuͤnſcht die niedertraͤchtige Gefaͤlligkeit oder Falſchheit, das Schwarze weiß, das Krumme grade zu nennen, und Irthum, Thorheit und Laſter als Wahrheit, Weisheit und Tugend zu bewundern! Das wolle alſo Gott nicht, daß ich zu einer ſo ſchaͤndlichen Verſtellung dich ermuntern ſolte.

Aber was wil denn eigentlich, wirſt du fra - gen, jener Grundſaz, der dem erſten Laute nach der Schmeichelei das Wort zu reden ſchien? Dieſes, mein Sohn, daß du die Menſchen neh - meſt, wie ſie ſind, weil es doch nun einmahl nicht von dir abhaͤngt, aus ihnen zu machen, was ſie ſein ſolten; dieſes alſo, daß du deine eigene Eitel - keit der Eitelkeit anderer zu deinem großen Vor - theile aufopfern lerneſt; daß du dich nie bemuͤheſt, deine eigene Vorzuͤge ins Licht zu ſtellen, ſondern vielmehr gern das Deinige dazu beitrageſt, daß andere die ihrigen auf die vortheilhafteſte Weiſe an den Tag zu bringen Gelegenheit erhalten; daßdu172du in Geſelſchaft nie mit deiner eigenen Perſon, nie mit deinen eigenen Kentniſſen und Verdienſten beſchaͤftiget ſeiſt, um der Perſon, den Kentniſſen und Verdienſten anderer Menſchen eine deſto groͤſ - ſere Aufmerkſamkeit zu erweiſen; dieſes alſo end - lich, daß du, dafern keine beſondere Pflicht dich dazu auffodert, dich nicht fuͤr berufen halteſt, an - dere in der guten Meinung zu ſtoͤren, die ſie von ſich ſelbſt, von ihren Einſichten und von allen ihren wirk - lichen oder eingebildeten Treflichkeiten, ohne dein Zuthun, nun einmahl gefaßt haben, und um deinet - willen wieder aufzugeben nicht geſonnen ſind.

Dem zufolge huͤte dich vor dem Geiſte des Widerſpruchs, und ſuche nie deine eigenen Meinungen und Behauptungen hartnaͤkkig durchzuſezen, es ſei denn, daß Pflicht und Gewiſſen dich dazu antreiben. Denn in dieſem Falle muß uns, wenn wir recht - ſchaffene und brave Maͤnner ſind, nichts ſo theuer ſein, als die von uns erkante Wahrheit, und wir muͤſſen den Muth haben, ſie mit Aufopferung jeglichen Vortheils, ſelbſt unſerer Ehre, ſelbſt un -ſers173ſers Lebens, ſelbſt unſerer Freiheit, geltend zu machen. Alsdan muß das große Beiſpiel des Themiſtokles uns vor Augen ſtehen, der, wie du weißt, durch nichts, ſogar nicht durch den aufgehobenen Stok des ſpartaniſchen Feldherrn, ſich abſchrekken ließ, dasjenige zu behaupten, wo - von er wußte, daß es ſeinem Vaterlande nuͤzlich ſein wuͤrde. Schlag zu, ſagt er, aber ſprich, daß ich Recht habe!

Eben ſo kuͤhn und entſchloſſen rede und handle auch du, mein Sohn, ſo oft es darauf ankomt, etwas durchzuſezen, was das gemeine Beſte er - fodert, oder wozu Pflicht und Gewiſſen dich ein - mahl aufgerufen haben. In allen andern Faͤllen aber, welche nicht auf Thaten, ſondern auf bloße Rechthaberei hinauslaufen, ſei du jedesmahl der nachgebende Theil, und erlaube dir nie einen Widerſpruch, welcher Unwillen und Erbitterung verurſachen kan, geſezt, daß du deiner Sache auch noch ſo gewiß waͤreſt. Denn jeder Widerſpruch verurſachet eine Stokkung in dem Ideenablaufe desjenigen, den er trift, und es iſt der Natur der menſchlichen Sele angemeſſen, daß ſie jede Hem -mung174mung ihrer Thaͤtigkeit mit Mißvergnuͤgen bemerkt. Dazu komt die Liebe zur Gemaͤchlichkeit, welche allen Menſchen gleichfals ſo natuͤrlich iſt, und die da macht, daß man ungern durch andrer Wider - ſpruch ſich gezwungen ſieht, eine Sache, uͤber die man ſchon entſchieden hatte, noch einmahl und zwar von mehreren Seiten in Erwaͤgung zu ziehn. Dazu komt denn endlich auch die empfindliche Ei - telkeit der Menſchen, welche jeden Widerſpruch als einen verwegenen Zweifel betrachtet, den man der Richtigkeit ihres Verſtandes und ihrer Einſich - ten entgegenſezt. Wie ſolt es alſo nicht unan - genehm ſein, ſich widerſprochen zu ſehen, da ſo viel reizbare Seiten des menſchlichen Herzens da - durch zugleich verlezt werden?

So oft du nun aber in die Nothwendigkeit geraͤthſt, jemanden von einem Vorſaze, von einem Urtheile, oder von einer Meinung ablenken zu muͤſſen: ſo fange jedesmahl damit an, das Gute und Vernuͤnftige, was ſich etwa darin denken laͤßt, zu entwikkeln und zu loben, und nur dan erſt, wan die Eitelkeit des Andern den ſuͤßen Geruch dieſes Opfersein -175eingeſogen hat, laß almaͤhlich deine Ge - gengruͤnde, wiewohl noch immer in das beſcheidene Gewand ſchuͤchterner Zweifel gehuͤlt, hervortreten. Dieſer Weg zum Herzen iſt freilich etwas um; aber oft ſind Umwege, wie du weißt, ſicherer, und fuͤhren in kuͤrzerer Zeit zum Ziele, als die gradere Straße. Ich habe einen ſehr rechtſchaffenen, ſehr verſtaͤndigen und ſehr beliebten Man gekant, der niemandem grade zu widerſprach, und doch kein Schmeichler, und doch ein unterhaltender Geſelſchafter war. Er leitete nemlich ſeinen Widerſpruch jedesmahl mit folgenden oder aͤhnlichen Worten ein: Sie ſchei - nen volkommen Recht zu haben; allein u. ſ. w. Ahme dieſem Beiſpiele nach; ſo wirſt du deine jedesmalige Abſicht erreichen, und dein Wider - ſpruch wird unbeleidigend ſein.

Vor allen Dingen aber huͤte dich, ſolche Irthuͤmer oder Fehler des Urtheils aufzu - dekken und zu berichtigen, welche eine groͤſ - ſere Unwiſſenheit vorausſezen, als der Feh - lende gern moͤgte an ſich kommen laſſen, oder welche ihrer Ungereimtheit wegen insLaͤcher -176Laͤcherliche fallen. Denn der wird nie dein Freund ſein, welcher einmahl weiß, daß du irgend etwas Ungereimtes oder Laͤcherliches an ihm be - merkt habeſt; er wird vorausſezen oder beſorgen, daß du gegen andere daruͤber reden werdeſt, und um dein Urtheil uͤber ihn, wo moͤglich, zu ent - kraͤften, wird er jede Gelegenheit ergreifen, deinen guten Leumund zu ſchmaͤlern und in der Meinung anderer Menſchen dich herabzuſezen. Das Beſte alſo iſt, in Faͤllen dieſer Art, und dafern der Fehlende ſeinen Irthum entweder ſelbſt bemerkt, oder von andern aufmerkſam darauf gemacht wird, daß man die Miene und Sprache eines Zerſtreuten annehme, um ihm den ſuͤßen Wahn zu laſſen, daß das Laͤcherliche davon uns gluͤklicher Weiſe entgangen ſei; oder, dafern dis nicht wohl moͤg - lich waͤre, daß man, ſtat zu lachen, irgend einen entſchuldigenden Umſtand aufſuche, der das Un - gereimte des begangenen Fehlers, wo nicht ganz heben, doch etwas mildern, und den Beſchaͤm - ten mit ſeinem eigenen Verſtande wieder aus - ſoͤhnen kann.

Und177

Und hier kan ich nicht umhin, dich noch ganz beſonders vor dem Misbrauche dei - ner etwanigen Ueberlegenheit an Wiz und Verſtande zu warnen. Man misbraucht aber beide, wenn man ſie dazu anwendet, Schwaͤchere in Verlegenheit zu ſezen, ſie laͤcherlich oder wohl gar veraͤchtlich zu machen. Davor huͤte dich, mein Sohn, auf das allerſorgfaͤltigſte, feſt uͤber - zeugt, daß Wiz, Scharfſin und Verſtand, wenn ſie nicht von beſtaͤndiger Gutmuͤthigkeit begleitet werden, uns weder Liebe noch wahre Achtung er - werben koͤnnen. Sie ſind ein Meſſer, welches uns gegeben ward, den Armen am Geiſt unſer Brod zu ſchneiden, nicht ihnen damit ins Herz zu ſtoßen. Wehe dem unfreundlichen Beſizer derſelben, der ſie dazu misbrauchen kan! Die Wolluſt edler Selen ſich geliebt zu ſehen wird ihm nie zu Theil werden. Und wuͤrden ſeine wizigen Einfaͤlle auch noch ſo laut belacht und beklatſcht: ſo wird er doch nie mehr davon haben, als der Pavian, deſſen haͤmiſche Affenſtreiche auch wohl belacht werden, aberMbei178bei deſſen Annaͤherung doch jederman zuruͤk - weicht. *)Haſt du Wiz, ſo bediene dich deſſen, um zu gefallen, nicht aber um zu ſchaden! Du darfſt wohl hervorſchimmern, aber wie die Sonne in den gemaͤßigten Zonen, ohne zu verſengen. Dort iſt ſie erwuͤnſcht; unter der Linie fuͤrchtet man ſich vor ihr. (Cheſterfield. )

Wie viel ſeeliger iſts, durch Gutmuͤthigkeit, durch beſcheidene und ſanfte Aeuſſerungen unſerer Geiſtesgaben, und durch ein verbindliches einla - dendes Weſen allen, die uns kennen lernen, den Wunſch nach einem naͤhern Umgange und nach einer groͤſſern Vertraulichkeit mit uns einzufloͤſ - ſen. Aber nicht alle, welche ſich dan an uns drengen, ſind dazu gemacht, unſere Freunde im engern Verſtande zu ſein; und waͤren ſie es auch, ſo wuͤrde doch die Klugheit uns rathen, und eine nothwendige Zeiterſparung uns gebieten, das Band der wahren Freundſchaft nur um einige wenige auserwaͤhlte Selen zu ſchlingen, welchemit179mit der unſrigen an Grundſaͤzen, Empfindungs - art und Ausbildung die meiſte Uebereinſtimmung haben. Und hier bin ich auf einen Flek gekom - men, der zu ſchluͤpfrig iſt, als daß ich mich be - gnuͤgen koͤnte, dich nur im Vorbeigehn aufmerk - ſam darauf gemacht zu haben. Die Wahl unſerer Buſenfreunde ſiehe da, mein Sohn, die wichtigſte und zugleich die mislichſte Angelegenheit eines neuen Weltbuͤrgers, bei der mein auf Er - fahrung gegruͤndeter Rath dich nicht verlaſſen darf.

Das erſte, wovor ich dich hierbei zu warnen habe, iſt der allen gutmuͤthigen jungen Selen ſo gewoͤhnliche Fehler der Uebereilung. Der un - erfahrne Juͤngling komt an einen fremden Ort; Empfehlungsbriefe oder Zufal fuͤhren ihn zu Leu - ten, welche entweder aus Gewohnheit, oder aus eigennuͤzigen Abſichten, ihm mit Hoͤflichkeiten ent - gegen kommen; dieſe hoͤflichen Leute verſichern ihn ihrer unbegrenzten Hochachtung, ihrer herz - lichen Ergebenheit, und ihres innigen Verlangens, ihm auf eine oder die andere Weiſe nuͤzlich zu werden: und der junge Menſch, der das allesM 2fuͤr180fuͤr baare Muͤnze nimt, iſt vor Freuden außer ſich; glaubt unter Engel gerathen zu ſein. Seine naͤchſten Briefe an abweſende Verwandte und Freunde ſind vol von Ausrufungen uͤber alle die vortreflichen, edlen, herlichen Selen, mit denen ſein gutes Geſchik ihn in Verbindung gebracht hat; er kan das Uebermaaß ſeiner Gluͤkſeeligkeit nicht faſſen, und wenn ihm ja noch irgend etwas Misvergnuͤgen macht, ſo iſt es dieſes, daß von ſeiner ganzen Familie er der einzige war, den der Himmel in dieſes milde Selenklima verſezte, in welchem Freundſchaft und Liebe, wie die Fruͤchte des goldenen Zeitalters, ohne alle Kultur ſo ganz von ſelbſt hervorwachſen, und ihren reichen See - gen jedem Wanderer zur unentgeldlichen Labung bieten.

Armer, betrogener Juͤngling! Wie wird dir zu Muthe ſein, wenn nach einigen Monaten vielleicht ſchon fruͤher, vielleicht auch ſpaͤter die Bezauberung aufhoͤren und deine Sele aus der hohen idealiſchen Himmelsgegend, wie Ikarus, mit geſchmolzenen Fluͤgeln herabſinken und in den abkuͤhlenden Ozean der Wirklichkeit fallen wird!

Um181

Um dieſe Kataſtrophe, die traurigſte, welche einem jungen empfindſamen Gemuͤthe widerfahren kan, deinem Herzen zu erſparen, erinnere dich, ſo oft du merkſt, daß deine Sele bei einer neuen Bekantſchaft uͤber die gewoͤhnliche Atmosphaͤre der Menſchheit hinaus wil, an den Zuruf des Daͤdalus:

medio vt limite curras
moneo; ne, ſi demiſſior ibis,
Unda grauet pennas: ſi celſior, ignis adurat.
Inter vtrumque vola!

Das heißt: halte die Menſchen, die du ken - nen lernſt, bevor du ſie aus Thatſachen beurtheilen kanſt, weder fuͤr auſſerordent - lich boͤſe, noch fuͤr auſſerordentlich gut, ſondern, bis auf weiter, fuͤr das, was zwiſchen dieſen beiden Endſeiten in der Mitte liegt; ſo wird dein vorlaͤufiges Urtheil in den meiſten Faͤllen der Wahrheit zuverlaͤſſig am naͤchſten gekommen ſein.

Noch einmahl alſo: uͤbereile dich nicht bei der Wahl deiner Freunde im engern Ver - ſtande; ſuche vielmehr bei jeder neuen Bekant -M 3ſchaft182ſchaft eine ſolche Stellung zu nehmen, daß du, dafern es ſein muß, wieder zuruͤktreten koͤnneſt, ohne daß du irgend einen, aus Unvorſichtigkeit geſchuͤrzten Knoten, auf eine gewaltſame und alſo ſchmerzhafte Weiſe wieder zu zerreiſſen noͤthig habeſt. Eine, mit Waͤrme angefangene Freund - ſchaft, zu einem kaͤltern Grade herabſtimmen zu wollen, iſt allemahl beleidigend: ſei du daher nicht eher warm, bis du zuverlaͤſſig weißt, daß du es immer werdeſt bleiben koͤnnen.

Allein bei dieſer algemeinen Regel darf ichs nicht bewenden laſſen, wenn ich dich nicht der Gefahr ausſezen wil, auch bei der genaueſten Be - folgung derſelben, dennoch oͤfters fehlzugreifen. Denn du wirſt mit Leuten zuſammentreffen, deren Perſon, Karakter und Sitten nicht blos anfangs, ſondern auch noch bei fortdauernder Bekantſchaft ungemein viel Einnehmendes und Anlokkendes an ſich haben; ja deren Rechtſchaffenheit und unei - gennuͤziges Weſen eine ziemliche Zeitlang ſogar die Thatenprobe auszuhalten ſcheinen, und mit denen gleichwohl in genauere Freundſchaft zu treten ganz und gar nicht rathſam ſein wuͤrde. Dieſe mußich183ich dir alſo etwas umſtaͤndlich beſchreiben und, damit du ſie deſto beſſer uͤberſehen koͤnneſt, wil ich ſie in gewiſſe Klaſſen ordnen.

Zuerſt, mein Sohn, ſei vor allen denen auf deiner Hut, an welchen du eine uͤber - triebene Freundlichkeit wahrnimſt, und welche, ohne begreifliche Urſache, dir gleich bei der erſten Bekantſchaft eine ungemeine Liebe beweiſen. Shakeſpear ſagt: man kan laͤcheln, und immer laͤcheln, und doch ein Schurke ſein; eine Bemerkung, welche aus der Fuͤlle einer richtigen Menſchenkentniß ge - ſchoͤpft iſt. Uebermaͤßige und alſo affektierte Freundlichkeit zeugt wenigſtens allemahl entwe - der von einem ſehr einfaͤltigen Verſtande, oder von einem Herzen, das ſeine Urſachen hat, ſich nicht zu zeigen, wie es iſt; und bei einem ſolchen hat jeder geſcheide Man ſeine Urſachen, ſich in Acht zu nehmen. Ungemeine Liebe aber, die man ohne vorhergegangene Bekantſchaft uns erweist, iſt in den meiſten Faͤllen Regen ohne Wolke, Sonnenſchein um Mitternacht, moraliſche Ta -M 4ſchen -184ſchenſpielerei, welche nur ein unerfahrner Knabe oder Einfaltspinſel fuͤr etwas Wirkliches halten kan. *)Diejenigen Faͤlle, da zwei gleichgeſtimte Selen ſich gleich beim erſten Blik erkennen, und durch eine gegenſeitige Simpathie un - widerſtehlich zu einander hingezogen werden, ſind eine ſo ſeltne Ausnahme, daß ſie der Algemeinheit der Regel wenig Eintrag thun; und da, wo ſie wirklich ſtat finden, weiß das Herz von ſelbſt, wie es ſich zu nehmen hat, und bedarf weiter keines Unterrichts.

Es iſt uͤberhaupt rathſam, gegen alles das, was ſprungweiſe zu geſchehen, oder auch uͤber die Grenzen der gewoͤhnlichen Natur hinauszuſchwei - fen ſcheint, bis zu weiterer Aufklaͤrung, mis - trauiſch zu ſein. Nun iſt es aber nicht in der Natur, daß einer ohne Unterlaß bei gleichguͤlti - gen oder gar verdruͤßlichen Dingen laͤchelt, den einzigen Fal einer großen Stupiditaͤt ausgenom - men; nicht in der Natur, wenigſtens in der ge - woͤhnlichen nicht, daß man enthuſiaſtiſch von je - mandem eingenommen ſei, mit dem man nur ſo eben erſt in Bekantſchaft geraͤth: die Klugheiterfodert185erfodert daher in beiden Faͤllen, daß man ſein Urtheil uͤber Leute, an denen man das Eine oder das Andere bemerkt, wenigſtens aufſchiebe. Was insbeſondere diejenigen Freundſchaften be - trift, welche, ohne zureichende gegenſeitige Be - kantſchaft, mit ſchwaͤrmeriſcher Hize beginnen: ſo kan ich verſichern, daß ich deren keine erlebt habe, die nicht eben ſo ploͤzlich ſich wieder abge - kuͤhlt, ſich nicht bald in Gleichguͤltigkeit oder wohl gar in die bitterſte Feindſchaft aufgeloͤst haͤtte.

Leute deines Alters haben insgemein eine unbehutſame Offenherzigkeit und Leichtglaͤubigkeit an ſich, die ſie zum leichten Raube und Spiel - werk der Liſtigen und Erfahrnen macht. Jeden Betruͤger, oder Thoren, der ihnen ſagt, er ſei ihr Freund, halten ſie wirklich dafuͤr, und er - wiedern die Betheurung verſtelter Freundſchaft mit einem unbeſonnenen, unumſchraͤnkten Ver - trauen, allezeit zu ihrem Schaden, oft gar zu ihrem Verderben. Huͤte dich vor dieſen an - gebotenen Freundſchaften! Nim ſie zwar mit großer Hoͤflichkeit, aber auch mit großer Unglaͤu - bigkeit auf, und erwiedere ſie blos mit Artigkei -M 5ten,186ten, nicht aber mit Vertrauen. Laß nicht deine Eitelkeit und Selbſtliebe dir die Einbildung bei - bringen, daß die Leute auf den erſten Anblik oder bei geringer Bekantſchaft deine Freunde wuͤrden! Wahre Freundſchaft waͤchst langſamer, und komt niemahls fort, wenn ſie nicht auf einen Vorrath bekanter gegenſeitiger Verdienſte gepfropft wird. *)Cheſterfield.

Die zweite hierhergehoͤrige Klaſſe von Men - ſchen, welche fuͤr den gefuͤhlvollen Juͤngling gleichfals ungemein viel Anziehendes haben, ohne daß ſie zu einer wahren und dauerhaften Freund - ſchaft geſchikt ſind, iſt die Klaſſe der Empfind - ſamen. So nent man eine Art ungluͤklicher und fuͤr die Welt unbrauchbarer Menſchen, deren koͤrperliches und geiſtiges Empfindungsvermoͤgen durch eine weichliche Erziehung und durch Leſung faſelnder Modebuͤcher, zum Schaden ihrer Ver - nunft und ihrer ganzen phiſiſchen Natur, uͤber die Gebuͤhr verfeinert und reizbar geworden iſt; welche daneben hoͤchſt irrige Begriffe von unſererBeſtim -187Beſtimmung hienieden, von der wahren Wuͤrde der menſchlichen Natur, von unſern Pflichten und von dem, was gut und edel genant zu wer - den verdient, eingeſogen haben; und welche end - lich, durch uͤberſpante Hofnungen und Erwar - tungen ohn Unterlaß getaͤuſcht, die Welt fuͤr ein Jammerthal halten, in der man nichts beſſers thun koͤnne, als girren, ſeufzen, weinen und jammern. Leute dieſer Art gehen in ihren Em - pfindungen, in ihrem Urtheile, in ihren Aus - druͤkken und Handlungen nie die Mittelſtraße; alles was auf ihre empfindlichen Nerven einen Eindruk macht, iſt ihnen entweder herlich, him - liſch, goͤtlich, oder uͤber allen Ausdruk abſcheulich und entſezlich; ſelbſt die Menſchen, je nachdem ſie mit ihren hohen uͤberirdiſchen Gefuͤhlen ent - weder ſimpathiſiren oder antipatiſiren, ſind in ihren Augen entweder Engel oder Ungeheuer. Dabei ſind ſie in hohem Grade mitleidig gegen Bedrengte und Nothleidende, es ſei Menſch oder Thier, Koͤnig oder Betler, Elephant oder Ungeziefer; nur Schade, daß ihr Mitgefuͤhl nicht ſelten unthaͤtig bleibt, weil das Uebermaaßihrer188ihrer gewaltigen Empfindungen ihnen oft die Kraft benimt, ſich huͤlfreich zu beweiſen! Nur Schade, daß gemeiniglich ſo wenig Uebereinſtim - mung in ihren Empfindungen und Handlungen herſcht, und daß z. E. eben die ſanfte Sele, die bei dem Unfalle, der eine Muͤkke trift, ein ſchmerzhaftes Zukken durch alle ihre Nerven fuͤhlt, oft mit kaltem Blute ihren Gatten quaͤlen, ihr Hausgeſinde tiranniſiren, oder nothleidenden Handwerksleuten ihren verdienten Lohn vorent - halten kan! Indes ſind viele ihrer Handlungen in der That ſo edel, ihr ſanftes, Leiden und Guͤte verkuͤndigendes Weſen wirklich ſo ungemein einneh - mend, und ihre Sprache, auch uͤber die gemein - ſten Gegenſtaͤnde, ſo begeiſtert, ſo vol von hohen engelreinen Geſinnungen, daß jeder gutartige Menſch, beſonders wenn er ſelbſt noch jung, gefuͤhlvol und unerfahren iſt, ſich maͤchtig von ihnen angezogen fuͤhlt. Allein der Schluß, ſagt ein Schriftſteller von ausgebreiteter und tiefer Menſchenkentniß,*)Wieland. den man oft von der Erhabenheit der Begriffe und Empfindungeneiner189einer Perſon, oder von der Fertigkeit, eine ge - wiſſe Sprache der Begeiſterung zu reden, welche allen Dingen andere Nahmen gibt, ohne, daß die Dinge ſelbſt darum etwas anders, als unter ihren gewoͤhnlichen Nahmen ſind der Schluß, den man hiervon auf eine auſſerordentliche Vor - treflichkeit des Karakters einer ſolchen Perſon zu machen pflegt, iſt eben ſo falſch, als das Vorur - theil, welches viele gegen eine gelaſſene und be - ſcheidene Tugend gefaßt haben, eine Tugend, welche (ohne ſich durch feierliches Gepraͤnge, hoch - fliegende Ideen, anmaßliche Befreiung von den Gebrechen der menſchlichen Natur, und unerbit - liche Strenge gegen dieſelbe anzukuͤndigen) nur darum wenig zu verſprechen ſcheint, um im Werk deſto mehr zu leiſten.

Es mag indes der Grund des Karakters dieſer Leute auch noch ſo gut und edel ſein: ſo muß ich dir dennoch rathen, dich in keine enge Vertraulichkeit mit ihnen einzulaſſen, weil ich mit mehr, als bloßer Wahrſcheinlichkeit, vorausſehe, daß eure Verbindung entweder nicht dauerhaft ſein, oder zu deinem Schaden ausſchlagen wuͤrde;jenes190jenes, wenn deine Sele uͤber kurz oder lang zu ſchwerfaͤllig befunden wuͤrde, es der ihrigen zu jeder Zeit an hoher Schwungkraft gleich zu thun; dieſes, wenn der Verſuch, ihnen daran aͤhnlich zu werden, dir wirklich von ſtatten ginge, und du endlich anfingeſt, an uͤberſpanten Em - pfindungen und Vorſtellungsarten ſelbſt Geſchmak zu finden. Und glaube mir, mein Sohn, es fehlt nicht an haͤufigen Beiſpielen, welche bewei - ſen, daß dieſe Selenſeuche anſtekkender, als irgend eine andere, ſei.

Hierzu komt, daß Leute dieſes Schlages zu den gewoͤhnlichen Geſchaͤften des Lebens, be - ſonders wenn ſie eine etwas anhaltende Streb - ſamkeit erfordern, und von der Art ſind, daß ſie auf der Buͤhne oder in einem Romane nicht gut figuriren koͤnnen, durchaus unfaͤhig und un - willig befunden werden; und daß alſo auch jede Verbindung mit ihnen zu gemeinſchaftlicher Be - treibung ſolcher Geſchaͤfte unmoͤglich dauerhaft oder von guten Folgen ſein kan. So oft du daher etwas unternimſt, wozu du derMit -191Mithuͤlfe anderer Menſchen bedarfſt, laß es ja eine deiner vorzuͤglichſten Sorgen ſein, daß du zu deinem Mitarbeiter keinen waͤhleſt, der mit dieſem Selenfieber behaf - tet iſt, und waͤr er uͤbrigens auch noch ſo ge - ſchikt, auch noch ſo talentenreich! Denn wie bald wuͤrdeſt du erleben, daß er jede etwas an - haltende Anſtrengung zu beſchwerlich, eure ge - meinſchaftlichen Berufsgeſchaͤfte zu ſimpel, zu einfoͤrmig, zu wenig nahrhaft fuͤr Geiſt und Herz faͤnde, und daß er entweder den ihm zu - gefallenen Theil derſelben gewiſſenlos vernach - laͤſſigte, oder das Band, welches euch verknuͤpfte, ploͤzlich und gewaltſam wieder zerriſſe! Ruk - weiſe wird der Empfindſame ſo gut als einer, vielleicht noch beſſer wirken; aber dan auch ploͤz - lich die Haͤnde wieder ſinken laſſen, ſtil ſtehen, oder zur Seite ſpringen, und euer gemeinſchaft - liches Werk mehr aufhalten als foͤdern. Und die meiſten Geſchaͤfte des thaͤtigen Lebens ſind ein Weg, auf dem wir eines Gefaͤhrten beduͤrfen, der keine Luftſpruͤnge macht, ſondern Hand in Hand und Schrit vor Schrit fein ruhig und be -daͤchtig192daͤchtig einherzugehen weiß. Genug von dieſen!

Ich komme zu einer dritten mit der vorher - gehenden ſehr nahe verwandten Art von Men - ſchen, vor der ich dich gleichfals warnen muß; ich meine die Klaſſe der Schwaͤrmer und Enthuſiaſten. Aber vernim erſt, was fuͤr Leute unter dieſen Nahmen eigentlich begriffen werden.

Du weißt, mein Sohn, daß der guͤtige Schoͤpfer die Natur des Menſchen mit einer unbeſtimbaren Menge von Anlagen, Faͤhigkeiten und Kraͤften ausgeſtattet hat, deren jede bis zu einem bewundernswuͤrdigen Grade ausgebildet, erhoͤht und geſtaͤrkt werden kan. So wie nun die proporzionierte Ausbildung aller dieſer An - lagen unſere Beſtimmung, und das dadurch be - wirkte Ebenmaaß aller unſerer koͤrperlichen und geiſtigen Kraͤfte unſere moͤglichſte Volkommen - heit ausmacht: ſo kan auch jede einſeitige Uebung und Staͤrkung einzelner Faͤhigkeiten und das da - durch entſtehende Uebergewicht der einen uͤberdie193die andern nicht anders, als nachtheilig fuͤr die Vervolkomnung des ganzen Menſchen ſein. Dis iſt nun der Fal bei denen, welche man Enthu - ſiaſten und Schwaͤrmer nent, und deren Haupt - karakter in einem ſchaͤdlichen Uebergewichte der Einbildungskraft, der Fantaſie und des Em - pfindungsvermoͤgens uͤber Vernunft und Beur - theilungskraft beſteht. Aber hoͤre nun auch, wie dieſes Uebergewicht ſich zu aͤuſſern pflegt.

Der Schwaͤrmer ſieht an allen Gegenſtaͤnden ſeiner Vorſtellungen gemeiniglich nur eine Seite, und zwar diejenige, welche ihm grade zugewandt, ihm grade die naͤchſte iſt. Auf dieſe heftet ſich ſein ganzer Selenblik; fuͤr alle andere Seiten eben deſſelben Gegenſtandes hat er von Stund an weder Auge noch Ohr. Dieſe Einengung ſeiner Vorſtellungen auf einen einzigen Flek iſt der Funke, der auf den Zunder ſeiner Einbildungskraft faͤlt. Augenbliklich ſteht dieſelbe in hellen Flammen, welche ein magiſches Licht uͤber den ganzen Ge - genſtand verbreiten. Und nun iſt er ein Seher, ein Fantaſt, ein aus allen natuͤrlichen und wirk - lichen Verhaͤltniſſen Entruͤkter, der Dinge hoͤrtNund194und ſieht, oder vielmehr zu hoͤren und zu ſehen waͤhnt, welche kein Auge geſehn, kein Ohr gehoͤrt hat, und welche in keines andern Menſchen Herz gekommen ſind. Wunderbare Bilder, Schimaͤren und Frazen flattern in daͤmmerndem Lichte vor dem Spiegel ſeiner Vorſtellungskraft; er glaubt mit leiblichen Augen ſie zu ſehn, mit Haͤnden ſie zu greifen und zu halten, und iſt von ſeinem eigenen Daſein nicht feſter, nicht inniger uͤber - zeugt, als von dem ihrigen. Sein Blut geraͤth dabei in Wallung, ſeine Stimme erhebt ſich, ſeine Sprache iſt die Sprache eines Begeiſterten, eben ſo dunkel, eben ſo verdreht, eben ſo hoch - fliegend und voltoͤnend! Mitleidig oder verach - tend ſieht er auf alle die ſchwachen, kalten und waͤſſerichten Selen herab, welche ſeine Orakel - ſpruͤche nicht zu faſſen, ſeine Geſichte nicht zu ſehen, dem hohen Sternenfluge ſeiner Einbil - dungskraft und Fantaſie nicht nachzukommen vermoͤgen, ſondern mit bleiernen Fuͤßen noch immer an der Erde haften, indes es ſelbſt ſchon laͤngſt den hoͤchſten Fixſtern zuruͤkgelegt hat, und welche ſich wohl gar erkuͤhnen, den Gegenſtandſeiner195ſeiner begeiſterten Vorſtellungen umzuwenden, um auch die andern Seiten deſſelben in Augen - ſchein zu nehmen.

Gemeiniglich iſt jeder Schwaͤrmer auch zu - gleich ein Fanatiker, das heißt, ein Schwaͤrmer in religioͤſen Dingen. Und das iſt ſehr natuͤr - lich: denn nirgends findet ſeine wilde Fantaſie ein weiteres Feld, als grade hier, ſobald ſie nur erſt uͤber die engen Grenzen einer vernuͤnftigen und aufgeklaͤrten Religion in den unendlichen Raum des Aberglaubens hinuͤbergeſprungen iſt. Da iſt das eigentliche Klima der Schwaͤrmerei; da wachſen Schimaͤren und Hirngeſpinſte, wie Schwaͤmme an ſumpfichten Orten, mit einer Leichtigkeit und Geſchwindigkeit hervor! Da gibt es in orientaliſchen Metaphern, Gleichniß - reden, dunkeln oder verſtuͤmmelten Schrift - ſtellen, der Veranlaſſungen zu Traͤumereien, der Scheinbeweiſe zur Unterſtuͤzung auch der allerwiderſinnigſten Grillen ſo viele! Wie ſolte alſo der, welcher nun einmahl Luſt und Hang zu ſchwaͤrmen hat, nicht lieber hier, wo ihm das Unendliche offen ſteht, als innerhalb derN 2Grenzen196Grenzen natuͤrlicher Dinge raſen wollen, wo Vernunft und Erfahrung unbeſcheidener Weiſe ihm bald hie bald da den Schlagbaum vorſchieben?

Vernunft und Erfahrung ſiehe da, mein Sohn, die beiden Erbfeinde der Schwaͤrmerei uͤberhaupt, und des Fanatismus inſonderheit! Siehe da einen untruͤglichen Probierſtein, woran du dieſe leztern beiden ganz unfehlbar wirſt er - kennen koͤnnen! So oft du nemlich noch zwei - felhaft biſt, ob jemand deiner Bekantſchaft von dieſer gefaͤhrlichen Selenkrankheit wirklich ange - ſtekt ſei oder nicht, laß nur, wie aus Nachlaͤßig - keit, das Wort Vernunft fallen, und faſſe dei - nen Man ins Auge. Siehſt du, daß er darnach trit, indem ſeine Blikke ſich roͤthen, ſeine Lippen ſich zuſammenpreſſen: ſo hoͤre auf zu zweifeln, und beſorge laͤnger nicht, daß du ihm zu viel thun moͤgteſt. Denn es iſt unmoͤglich, daß der - jenige, der ein Veraͤchter der Vernunft iſt, nicht auch Fantaſt und Schwaͤrmer ſein ſolte, es muͤßte denn ſein, daß er ein Dumkopf und von gar zu ſtumpfer Einbildungskraft waͤre.

Enthuſiaſten197

Enthuſiaſten und Schwaͤrmer ſind ein Wald - ſtrom, vol brauſender und ſchaͤumender Waſſer - faͤlle, nicht ohne allen Nuzen in der Natur, auch nicht unwerth, des Beobachters Aufmerkſamkeit zu beſchaͤftigen; aber unſicher fuͤr den, der an ſeinen Ufern wohnen, gefaͤhrlich fuͤr den, der den Nachen ſeiner Wohlfahrt den rauſchenden Fluthen deſſel - ben anvertrauen wil. Du, mein Sohn, halte dich ſo fern von ihnen, als du kanſt, feſt uͤber - zeugt, daß jede enge Verbindung mit ihnen uͤber kurz oder lang ganz unfehlbar ſich zu deinem Misvergnuͤgen endigen wuͤrde.

Ich habe um ſo mehr fuͤr noͤthig erachtet, dich vor dieſer unzuverlaͤſſigen, und in mancher Betrachtung wirklich gefaͤhrlichen Art von Men - ſchen zu warnen, weil ich wahrzunehmen glaube, daß in unſerm erleuchteten Zeitalter die Zahl derſelben in eben dem Maaße waͤchſt, in welchem das Licht der Vernunft und der Erfahrung taͤglich weiter um ſich greift. Dis koͤnte befremdend ſcheinen, wenn wir nicht gewohnt waͤren, alle Jahre etwas aͤhnliches in der phiſiſchen Welt zu ſehen, wo der helſte und waͤrmſte SonnenſcheinN 3nicht198nicht blos Fruͤchte und Saaten reifen macht, ſon - dern auch die meiſten Inſekten erwekt. Die Menſchen lieben nun einmahl nicht, auf grader Mittelſtraße einherzugehen, und ſpringen gemei - niglich, indem ſie das Aeuſſerſte auf der einen Seite vermeiden wollen, zu dem Aeuſſerſten auf der ander Seite hinuͤber. Daher hat man Un - glauben und Aberglauben, Philoſophie und Schwaͤrmerei, wie Licht und Schatten im Ge - maͤhlde, ſich immer wechſelſeitig heben und befoͤr - dern geſehn. Aber es iſt Zeit, daß ich dieſe verlaſſe, um dich mit Andern bekant zu machen, vor denen du dich gleichfals huͤten mußt.

Es gibt nemlich viertens eine beſondere Art theils wirklicher, theils ſcheinbarer mo - raliſcher Schwaͤrmer, die du ebenfals nicht zu deinen Buſenfreunden waͤhlen, ſondern in derjenigen Entfernung von dir halten ſolſt, in der das wirkliche oder gemahlte Feuer ihrer ein - ſeitigen Temperamentstugend, oder ihrer Phari - ſaͤerrechtſchaffenheit dich nicht brennen oder blen - den kan. Laß mich ſie erſt ein wenig deutlicher beſchreiben.

Ich199

Ich habe Leute gekant, welche von der aller - waͤrmſten und thaͤtigſten Mildthaͤtigkeit, Men - ſchenliebe und Dienſtfertigkeit beſeelt zu ſein das Anſehn hatten. Sie ſchienen gar keinen andern Beruf zu haben, als Ungluͤkliche und Nothlei - dende aufzuſuchen, um ihnen mit Rath, Troſt und Huͤlfe beizuſpringen. Jedem Armen ſtand ihr Beutel offen, jedem Verungluͤkten ihr Haus, jedem Bekuͤmmerten ihr Herz. Sie weinten mit den Weinenden, und der Anblik fremder Schmer - zen ſchien peinlicher fuͤr ſie zu ſein, als wenn ſie ſelbſt der Leidende geweſen waͤren. Ihre from - men Liebeswerke gaben taͤglich neuen Stof zum Geſpraͤch und zur Bewunderung. Bald hatten ſie ein Kind aus dem Waſſer, einen Kranken oder Schwachen aus dem Feuer gerettet; bald, unter dem ausdruͤklichen Verbote, ihren Nahmen zu nennen, den Altar neubekleidet, oder irgend eine Koſtbarkeit zur Zierde deſſelben geſchenkt; bald hatten ſie zum Bau einer Schule oder eines Ar - menhauſes mit einer Milde beigetragen, welche alle andere ihres Standes und ihres Vermoͤgens weit hinter ſich ließ. Mit einem Worte, ſieN 4ſchienen200ſchienen nichts als Menſchenliebe, Mitleid, Wohl - thaͤtigkeit und Gemeingeiſt zu athmen.

Nicht wahr, mein Sohn, das muͤſſen lie - benswuͤrdige Menſchen ſein? So ſcheint es wenigſtens. Indes, da Mitleid gegen Ungluͤk - liche, Wohlthaͤtigkeit gegen Nothleidende, Frei - gebigkeit gegen oͤffentliche Anſtalten, nicht die einzigen Tugenden ſind, welche den Karakter des rechtſchaffenen Mannes beſtimmen: ſo laß uns nun auch das Betragen dieſer angeblichen Menſchenfreunde in Anſehung aller uͤbrigen Pflichten des Menſchen und des Buͤrgers in Er - waͤgung ziehen.

Eben dieſe Leute kauſt du es glauben? erlaubten ſich oft die groͤbſten Ungerechtig - keiten und Uebervortheilungen im Handel und Wandel; machten ſich oft kein Gewiſſen daraus, den ſauern Schweiß des darbenden Handwerkers zu verſchwenden, oder dem, der ihnen geliehen hatte, ſein rechtmaͤßiges Eigenthum vorzuent - halten; waren unordentlich in ihren Geſchaͤften, nachlaͤſſig in der Erfuͤllung ihrer eigentlichen Be - rufspflichten; ließen ihr eigenes Hausweſen inVerwir -201Verwirrung und Verfal gerathen; vernaͤchlaͤſſig - ten die Erziehung ihrer Kinder; waren die zank - ſuͤchtigſten Plagegeiſter ihrer Weiber, die unbillig - ſten Tirannen ihrer Dienſtboten und aller, welche das Ungluͤk hatten, von ihnen abzuhaͤngen. Mit einem Worte, dieſe feurigen, thaͤtigen, raſtloſen Menſchenfreunde, welche auf jede Gelegenheit zu pralenden Werken der Mildthaͤtigkeit und Barm - herzigkeit Jagd machten, waren nicht ſelten die Geiſſel der ganzen uͤbrigen Geſelſchaft, indes ſie die Schuzengel der Huͤlfsbeduͤrftigen zu ſein ſchienen.

Du ſtaunſt, mein Sohn? Kanſt nicht be - greifen, wie ſo viel Schoͤnes und Haͤßliches, ſo viel Sanftes und Rauhes, ſo viel Tugend und Laſter in einer und eben derſelben Sele zuſammen ſein koͤnnen? Siehe hier den Schluͤſſel zu dieſem Raͤthſel.

Alle Menſchen dieſer Art, ſo viel ich ihrer jemahls kennen lernte, laſſen ſich fuͤglich in zwei Klaſſen ordnen. Die Einen nemlich ſind das, was ſie ſcheinen, wirklich aus innerem Antriebe eines weichen und mitleidigen Herzens; die An -N 5dern202dern aus ſtaatskluger Liſt und Verſchlagenheit. Jene fehlen dabei aus Irthum des Verſtandes, indem ſie ſich thoͤrigter Weiſe uͤberreden, daß die ganze Tugend des Menſchen nur in ſolchen Aeuſ - ſerungen des Mitleids und der Wohlthaͤtigkeit gegen Elende und Huͤlfsbeduͤrftige beſtehe, und daß man alſo allen ſeinen Pflichten, als Menſch, als Buͤrger und Kriſt, ein volkommenes Genuͤge thue, wenn man nur recht viel glaͤnzende Werke der Barmherzigkeit verrichtet; dieſe brauchen der - gleichen Werke zu Angelhaken, um gutmuͤthige, aber ſchwache und einfaͤltige Herzen zu fangen, um uͤberal Einfluß zu bekommen, ſich uͤberal un - entbehrlich zu machen, uͤberal ſich geprieſen und bewundert zu ſehen. Beide koͤnnen alſo ja, bei allem ihren wirklichen oder angenommenen Mit - leid gegen Arme, Kranke, Nothleidende und Huͤlfsbeduͤrftige, noch immer ſehr unbillig, ſehr pflichtvergeſſend und ungerecht gegen andere ſein, welche nicht zu den Gegenſtaͤnden ihrer angeb - lichen Menſchenliebe gehoͤren, weil ſie weder arm, noch krank, noch huͤlfsbeduͤrftig ſind. Auch koͤn - nen die glaͤnzendſten Ergießungen ihrer Wohlthaͤ -tigkeit,203tigkeit, um derentwillen der kurzſichtigere Theil der Menſchen ſie bewundert und vergoͤttert, in der That ſehr tadelnswuͤrdige und ſtrafbare Hand - lungen ſein, wenn ſie nemlich mit Vernachlaͤſſi - gung irgend einer hoͤhern oder dringendern Pflicht geſchehn. *)Der jezige Erzbiſchof von Paris, der noch Schulden zu bezahlen hat, und es daher ſeinem Vorgaͤnger an Mildthaͤtigkeit nicht gleich thun kan, ſagte neulich hieruͤber fol - gende, ſeinem Verſtande und Herzen Ehre machende Worte: ehe ich wohlthaͤtig ſein darf, muß ich erſt die Pflichten eines ehrlichen Mannes erfuͤllen. Hoͤre alſo auf, dich uͤber das Wi - derſprechende in dem Karakter dieſer Leute zu wundern, und vernim nun, wie du es anzu - fangen habeſt, um von ihrer einſeitigen oder gar heuchleriſchen Tugend dich nicht blenden oder hintergehen zu laſſen.

So oft dir jemand aufſtoͤßt, der von Men - ſchenliebe und von Begierde nach Werken der Mildthaͤtigkeit zu gluͤhen ſcheint: ſo ſuche, bevor du uͤber ihn urtheileſt, erſt uͤber folgende Fragen zur voͤlligen Gewißheit zu gelangen: hat derMan,204Man, der ſo mildthaͤtig iſt, auch ſein eigenes Haus verſorgt? Iſt unter ſeinen Verwandten, Hausgenoſſen und Freunden keiner, dem das ent - zogen wird, was ſeine Freigebigkeit auf Fremde verwendet? Iſt er niemandem etwas ſchuldig, und enthaͤlt er dem Arbeiter nie ſeinen verdien - ten Lohn vor? Iſt er nicht blos wohlthaͤtig, ſondern auch gerecht gegen jederman; nicht blos mitleidig, ſondern auch fleiſſig, ordentlich und treu in ſeinen Berufsgeſchaͤften; nicht blos guͤtig gegen Elende und Bedrengte, ſondern auch billig gegen ſeine Hausgenoſſen, mild und freundlich gegen alle, welche von ihm abhaͤngen, oder in Verbindung mit ihm ſtehen? Verrichtet er das Gute, welches er thut, im Stillen, ohne phari - ſaͤiſches Gepraͤnge, ohne Anſpruͤche auf Lob und Bewunderung zu machen, ohne ſich dadurch zur Eitelkeit und zum Hochmuht verleiten zu laſſen? Verſaͤumt er auch, indem er ſich dienſtfertig be - zeigt, keine von denjenigen Pflichten, welche zu ſeinem eigentlichen Beruf gehoͤren, und zu deren Erfuͤllung er ſich einmahl anheiſchig gemacht hat? Mit einem Worte, verrichtet er nie eine wirk -liche205liche oder ſcheinbare Handlung der Gutherzigkeit mit Hintanſezung der Gerechtigkeit gegen andere, und erlaubt er ſich alſo nie, gewiſſenlos zu ſein, um wohlthaͤtig und großmuͤthig zu ſcheinen?

Koͤnnen alle dieſe Fragen mit Beſtand der Wahrheit zu ſeinem Lobe beantwortet werden: ſo ziehe den Hut ab, mein Sohn, ſo oft du ſeinen Nahmen nennen hoͤrſt; denn es iſt der Nahme des edelſten Sterblichen, eines vollen - deten Rechtſchaffenen! Kan dis aber nicht ge - ſchehen, und iſt es klar, daß Mitleid und Wohlthaͤtigkeit die einzige iſolirte Tugend ſeines Karakters ſind: ſo hoͤre auf, ihn zu bewundern; weiche ſeinen Zudringlichkeiten aus, und habe ſo wenig Gemeinſchaft mit ihm, als du kanſt. Denn ſicher iſt er in dieſem Fal, entweder ein uͤber ſeine Pflichten ſchlecht unterrichteter und ſehr ſchwacher Menſch, oder ein abſichtsvoller Heuchler!

Ich komme zu einer fuͤnften Klaſſe von Men - ſchen, mit der ich zu deiner Warnung dich gleich - fals etwas naͤher bekant machen muß. Das ſinddieje -206diejenigen, welche eine beſondere Froͤm - migkeit affektiren, und in allen ihren Re - den, auch uͤber die nichtswuͤrdigſten Klei - nigkeiten, ſich ohn Unterlaß auf Gott und Kriſtus, auf Religion und Gewiſſen - haftigkeit berufen. Merke dir hieruͤber, was der große Kenner des menſchlichen Herzens, Shakeſpear, ſagt: es ereignet ſich nur gar zu oft, daß man mit der andaͤchtigſten Miene, und mit der froͤmſten Gebehrde, den Teufel im Her - zen hat. Sehr wahr bemerkt, und ganz uͤber - einſtimmend mit der gemeinſten Erfahrung! Ein Gefaͤß, das klingt, iſt zuverlaͤſſig leer; und ein Menſch, der Gott und Rechtſchaffenheit ohn Unterlaß im Munde fuͤhrt, hat beide zuverlaͤſſig nicht im Herzen. Denn, wem Religion und Gewiſſenhaftigkeit wirklich eigen ſind, tacito gaudet ille ſinu, der freut ſich ſeines Schazes im Stillen, unbe - kuͤmmert, ob andere ihn bemerken, oder nicht; ſo wie gemeiniglich, nicht der wirklich Wohlha - bende, ſondern nur derjenige, der fuͤr reich ge - halten zu werden wuͤnſcht, ohne es zu ſein, miterwor -207erworbenen Schaͤzen prahlt. Ich habe Leute gekant, welche mit einem Herzen vol Wohlwollen und Rechtſchaffenheit die rauhſten Fluchworte aus - ſtoßen konten; Fluͤche, von denen Sterne ſagt, daß der einregiſtrirende Engel in der Himmels - kanzelei eine Traͤne darauf fallen laſſe, um ſie wieder auszuloͤſchen : aber nie nie hab ich An - daͤchtler, Leute, welche in ihren Blikken, Mienen, Gebehrden und Worten eine auſſerordentliche Froͤmmigkeit an den Tag zu legen ſuchten, ge - ſehn, von denen es ſich nicht bald gezeigt haͤtte, daß ſie Heuchler waren, die ihre ganze Recht - ſchaffenheit in die beſtaͤndige Einmiſchung from - klingender Worte, in die oͤftere Anfuͤhrung bibli - ſcher Stellen, und in die puͤnktlichſte Beobachtung gottesdienſtlicher Gebraͤuche ſezten, ohne dabei die algemeinſten Pflichten der Ehrlichkeit und Ge - rechtigkeit zu erfuͤllen. Das ſind gefaͤhrliche Men - ſchen, mein Sohn, vor denen man nicht genug auf ſeiner Hut ſein kan: denn was laͤßt ſich nicht alles von dem erwarten, der das, was den Menſchen das Heiligſte und Ehrwuͤrdigſte iſt, zum Dekmantel ſeiner Buͤbereien macht; der dieBibel,208Bibel, wie der Teufel in der Verſuchungsgeſchichte, zitiert, um hinterliſtige Falſchheit und Betruͤgereien zu beſchoͤnigen, und dabei den gottlaͤſternden Wahn hegt, daß eine Religion, welche blos in Worten, blos im Beten und Singen und in einer aͤngſtli - chen Beobachtung aller fuͤr heilig gehaltenen Zere - monien beſteht, ein volguͤltiges Loͤſegeld fuͤr jede auch noch ſo große Verſchuldung und eine buͤndige Freiſprechung von allen natuͤrlichen und buͤrger - lichen Pflichten ſei! Fliehe dieſe kriſtlichen Phari - ſaͤer; und kehre, ſo oft du die Wahl haſt, viel lieber bei Zoͤlnern und Suͤndern ein, feſt uͤber - zeugt, daß offenbare Ruchloſigkeit nicht ſo gefaͤhr - lich ſei, als verſtelte Froͤmmigkeit.

Ich verlaſſe dieſe verabſcheuungswuͤrdige Klaſſe von Menſchen, um dich mit einer andern bekant zu machen, welche das Produkt der leztverfloſ - ſenen zwoͤlf Jahre, und hoffentlich nur eine voruͤbergehende Erſcheinung war, die kuͤnftig blos in der Geſchichte unſerer Litteratur und unſerer Sitten exiſtiren wird. Es traten nemlich ploͤzlich einige junge Maͤnner von gluͤhender Einbildungs -kraft,209kraft, von lebendigen und ſtarken Dichtergefuͤhlen auf, welche unſere bisherige Sprache fuͤr ihre Empfindungen, unſere bisherigen Regeln der Kunſt fuͤr ihre Fantaſien, die Welt ſelbſt fuͤr die elaſtiſche Kraft ihres, keine Einſchraͤnkung dul - denden Geiſtes, zu enge fanden. Was thaten ſie alſo? Sie brachen, wie ein reiſſender Bergſtrom, durch jede Verzeunung, welche Sprachgebrauch, Regel und Konvenienz dem Drange ihrer alge - waltigen Empfindungen entgegenſtelten; ſchufen ſich eine neue Sprache, ſezten ihr jedesmaliges Gefuͤhl an die Stelle der Regeln, zauberten ſich eine Welt ohne Ordnung, ohne Geſeze und Ein - ſchraͤnkungen, und bevoͤlkerten ſie mit Menſchen, wie ſie ſich dazu ſchikten. Dieſe neue Schoͤpfung ward durch Werke angekuͤndiget, welche in der That mit dem Stempel ungemeiner Talente be - zeichnet waren, welche daher auch ein algemeines Aufſehn, und eine algemeine Gaͤhrung unſerer Lit - teratur verurſachten. Allein bis dahin war noch alles ziemlich gut. Denn haͤtten wir dieſe Er - ſcheinung gleich anfangs gehoͤrig zu benuzen, die darin befindliche reine Natur von den truͤbenOHaͤfen210Haͤfen des brauſenden Enthuſiasmus, das wirk - lich Gute, Starke und Erhabene von dem Ueber - ſpanten, Sonderbaren und Grotesken vorſichtig genug abzuſondern gewußt: ſo wuͤrden Sprache und Litteratur, Herz und Geiſt nichts als reinen Gewin, ohne allen Schaden, davon gehabt haben.

Aber nun veraͤnderte ſich auf einmahl die Scene: die Kometen bekamen einen Schweif, der von des Himmels Scheitelpunkt, wo ſie ſtanden, bis an den Horizont reichte; ein waͤſ - ſerigtes dunſtiges Weſen, das, ohne ſelbſt ein Geſtirn zu ſein, mit Sternenglanze prahlte, und alle wirklichen Lichter des Himmels im Hui! aus - zuloͤſchen drohte. Die Menge erſtaunte; der Schwaͤchere ſank auf ſeine Knie, um anzubeten; der Kluͤgere laͤchelte, und ging in ſein Kaͤmmer - lein, um mit der Widerkehr des gewoͤhnlichen Tageslichts das Ende dieſer luftigen Prunkerſchei - nung ruhig abzuwarten.

Mit andern Worten: das ungewoͤhnliche Feuer jener Geiſter verbrante vielen jungen Leuten das Gehirn, daß ſie in eine Art von Wuth ge -riethen,211riethen, in welcher ſie ſich, wie Verruͤkte zu thun pflegen, uͤber alle andere Sterbliche weit hinweg - ſezten; ſich fuͤr außerordentliche Weſen hielten, denen uͤbermenſchliche Gefuͤhle und eine unerhoͤrte Wirkungskraft beiwohnte; alle Feſſeln des Wohl - ſtandes und der guten Sitten, nicht blos in ihren Buͤchern, ſondern auch im Umgange mit andern zerbrachen; eine rohe, plumpe, ungeſittete Na - tuͤrlichkeit affektierten; von nichts als hohen Ge - fuͤhlen, Kraft, Genie und innerem Drange re - deten; alle Wiſſenſchaften, welche nicht, wie die Dichtergabe, angebohren werden, ſondern mit Fleiß und Anſtrengung erlernet ſein wollen, als die elendeſte und unnuͤzeſte Beſchaͤftigung ſchwacher Selen, von ganzem Herzen verachteten, und auf unſere verdienſtvolſten Maͤnner in der Gelehrtenrepublik und im buͤrgerlichen Staate mit einer Selbſtgefaͤlligkeit und Geringſchaͤzung herabſahen, welche eben ſo laͤcherlich als aͤrgerlich war. Das Uebel grif um ſich; Knaben und Maͤnner, Jungfrauen und Weiber wurden da - von angeſtekt; man ſuchte ſogar die Großen mit ins Spiel zu ziehen, und es entſtand in kurzerO 2Zeit212Zeit eine ordentliche Sekte, eine Art von Mau - rerei daraus, die ihre geheimen Simbolen und Unterſcheidungszeichen hatte. Man nante ſie die Sekte der Genies; und von der Zeit an iſt dieſes Wort, welches vormahls die faͤhigſten und groͤßten Sterblichen bezeichnete, zu einem Ekelnamen worden.

Das ging nun gar zu weit. Geſchmak, Sprache, Litteratur und Sitten neigten ſich ſchon zu einer algemeinen verderblichen Umwaͤlzung, als gluͤklicher Weiſe mehrere muthige und patrio - tiſche Maͤnner mit der Geiſſel der Satire in der Hand ſich großmuͤthig vor den Riß ſtelten, den anfaͤnglichen Kothwurf nicht achteten, und auf den Ruͤkken der genieſuͤchtigen Thoren ſo anhal - tend und ſo nachdruͤklich lospeitſchten, bis ſie be - ſchaͤmt oder verzweifelnd ſich davon ſchlichen, und fortan nicht mehr geſehen wurden.

Ob nun die Seuche dadurch voͤllig gedaͤmpft ſei, oder ob ſie noch jezt hie und da im Verbor - genen ſchleiche, getraue ich mir in der That nicht zu entſcheiden. Da indes der lezte Fal, wo nicht mehr, doch eben ſo viel Wahrſcheinlichkeitals213als der erſte fuͤr ſich hat: ſo kont ich es nicht fuͤr uͤberfluͤſſig halten, dich vor Leuten dieſer Art, fals du jemahls dergleichen auf deinem Wege an - treffen ſolteſt, ernſtlich zu warnen. Denn, daß ſie weder zu einer vernuͤnftigen und dauerhaften Freundſchaft, noch zu irgend einer anhaltenden gemeinſchaftlichen Wirkſamkeit tuͤchtig ſind, wohl aber auf der andern Seite in allen ihren Ge - ſchaͤften und Verbindungen nichts als Verwir - rung, Unordnung und Zwieſpalt erregen muͤſſen, wirſt du aus der Beſchreibung, die ich dir von ihnen gemacht habe, ſchon von ſelbſt abnehmen.

Ueberhaupt, mein Sohn, drenge dich nie zu einem engern Verhaͤltniß mit Virtuoſen, Sehern, ſchoͤnen Geiſtern und Dichtern, bevor du nicht aus langer Beobachtung, und aus vielen uͤbereinſtimmenden Thatſachen zuverlaͤſſig weißt, daß ſie zu den ſeltnen Ausnahmen gehoͤren, deren Kopf uͤber dem Rauchfaſſe des Lobes, wel - ches ihnen thoͤrichter Weiſe ſo nahe unter die Naſe gehalten wird, nicht ſchwindlicht, und deren Herz durch die Einbildung, daß ſie eine eigene, uͤber alle andere weit erhabene Klaſſe von Geiſtern ausma -O 3chen,214chen, nicht verdreht worden iſt. Mache dich aber auch ſelbſt, durch eine vernuͤnftige Schaͤzung jeglichen Verdienſts nach dem Maaßſtabe ſeines Nuzens, von dem albernen Vorurtheile los, welches Talenten dieſer Art auf der Stuffenleiter des Ruhmwuͤrdigen die hoͤchſte Staffel anweiſet, ohngeachtet die Zeiten, in denen ſie wirklich fuͤr etwas vorzuͤglich Verdienſtliches gehalten wer - den konten, ſchon laͤngſt voruͤber ſind. Das ſind nemlich die Zeiten, da eine Nazion eben erſt anfaͤngt, ſich aus der Nacht der Barbarei zu der Morgenroͤthe der Aufklaͤrung empor zu arbeiten. Da iſt es wirkliches Verdienſt, das ihr aufzu - ſtekkende Licht der Philoſophie, deſſen reinen un - verhuͤlten Schein ſie noch nicht ertragen kan, mit dem Laternenglaſe der ſchoͤnen Kuͤnſte und der Poeſie zu umgeben, damit es in gemildertem Glanze den Leuten in die Augen falle, und durch das Wehen naͤchtlicher Stuͤrme nicht erloͤſchen moͤge. Aber iſt es nicht laͤcherlich, vor dem Laternenpfale deswegen, weil er zur Nachtzeit nuͤzlich war, am hellen Mittage das Haupt zu entbloͤßen, und der hohen Sonne nicht zu achten,deren215deren uͤberwaͤltigender Lichtſtrom den ſchwachen Schein deſſelben ſchon laͤngſt verſchlukt hat?

Hier kan ich nicht umhin, dir ein Geheimniß zu verrathen, welches einen Orden betrift, zu dem ich ſelbſt einmahl gehoͤrt habe den Orden der Schriftſteller! Das Geheimniß ſelbſt iſt dieſes: die meiſten Leute ſind gemeiniglich ganz anders in der Natur, als ſie in ihren Schriften erſcheinen. Aber die Hand auf den Mund, mein lieber Kleon; damit wir nicht in ein Wespenneſt ſtechen! Fuͤr die Wahrheit dieſer Nachricht koͤnte ich dir uͤbrigens mit mei - ner ganzen beobachtenden Erfahrung ſtehen, wenn nicht ein Zeuge von groͤſſerem Gewicht, den ich dir aufſtellen kan, mein eigenes Zeugniß uͤber - fluͤſſig machte. Hoͤre ſeine Worte: es hat zu allen Zeiten Leute gegeben, welche nirgends, als in ihren Schriften, tugendhaft ſind; Leute; welche die Verdorbenheit ihres Herzens durch die Affektazion der ſtrengſten Grundſaͤze in der Sit - tenlehre bedekken wollen; kurz, Leute, welche jederman verachten wuͤrde, wenn nicht der groͤßteO 4Haufe216Haufe dazu verurtheilt waͤre, ſich durch Masken, Mienen, Gebehrden, Inflexionen der Stimme, verdrehte Augen und weiſſe Schnupftuͤcher be - truͤgen zu laſſen. *)Wieland.

Du, mein Sohn, ſei weiſer, als der große Haufe, und laß durch alle dieſe Dinge dich nicht betruͤgen. Stimme nie in die gewoͤhnlichen enthuſiaſtiſchen Ausrufungen uͤber alle die wuͤr - digen und herlichen Maͤnner ein, die man noch nicht anders, als nur aus ihren Schriften kent; ſondern warte mit deinem Lobe, bis du den Menſchen eben ſo gut, als den Schriftſteller, in ihnen kennen zu lernen, Gelegenheit erhalten haft. Dan wird die anfaͤngliche Hize der Bewunderung ſich vermuthlich um ein großes abgekuͤhlt haben; und ein halbes Duzend ſolcher Beobachtungen, die du kuͤnftig bei Hunderten machen wirſt, wer - den hinreichen, dich von der Moͤglichkeit zu uͤber - zeugen, daß man beſcheiden, friedfertig, ent - haltſam, menſchenfreundlich, from und recht - ſchaffen auf dem Papier, und zu gleicher Zeit ausnehmend eitel, hochmuͤthig, zaͤnkiſch, aus -ſchwei -217ſchweifend, ſelbſtſuͤchtig, gewiſſenlos und ſchurkiſch im Leben ſein koͤnne.

Auch von den Großen dieſer Erde wie guͤtig und zuvorkommend ſie ſich auch zu dir herablaſſen moͤgen erwarte keine wahre Freundſchaft, keine fortdauernde Zuneigung, keine bleibende Erkentlichkeit fuͤr das, was du an deinem Vermoͤgen, an deiner Ruhe und an deiner Geſundheit fuͤr ſie aufopferſt. Es waͤre ein Wunder aller Wunder, wenn dieſe Leute, die von fruͤher Kindheit an gewoͤhnt wer - den, ſich ſelbſt fuͤr den Mittelpunct der Schoͤp - fung, fuͤr die algemeine Sonne zu halten, um welche alle andere Weſen, als Planeten oder Trabanten, im gehoͤrigen Abſtande ſich herum - drehen muͤſſen, um Licht, Glanz und Waͤrme von ihnen zu empfangen, wenn dieſe Leute, ſag ich, jemanden im Ernſt fuͤr ein Weſen ihres Geſchlechts anſehen, ihn in der That mehr, als ihr Windſpiel, ihren Affen, ihr Favoritpferd lieben, ihm fuͤr das, was er fuͤr ſie thut oder leidet, ſich wirklich zur Dankbarkeit verbundenO 5glauben218glauben, und ihm von Herzen dafuͤr ergeben ſein koͤnten. Kanſt du daher deinem Vaterlande, oder deinen Mitmenſchen nuͤzlich werden, ohne dabei in den unmittelbaren Dienſt der Goͤtter dieſer Erde zu treten: o ſo freue dich deines Gluͤks, und laß dich ja durch keine auch noch ſo glaͤn - zende Erbietungen bewegen, ihnen das bischen Frei - heit, was der Menſchheit etwan noch uͤbrig gelaſſen iſt, voͤllig abzutreten! Denn Ketten ſind Ketten, und wenn ſie auch von Gold geſchmiedet und mit Diamanten beſezt waͤren. Auch ſind die Dienſte der Großen, wie Leſſing und die Erfahrung ſagen, in mehr als einer Betrachtung, mislich und gefaͤhrlich, und lohnen dabei der Muͤhe, des Zwanges und der Erniedrigung nicht, die ſie koſten.

Vermeide ſie alſo, wenn du kanſt. Kanſt du das aber nicht, ſo merke dir wenigſtens folgende Regeln der Vorſichtigkeit, um ſie nie aus der Acht zu laſſen:

1. Je mehr die Großen ſich zu Liebkoſungen und Vertraulichkeiten gegen dich herablaſſen, deſto ehrerbietiger ſei dein eigenes Betragen gegen ſie,und219und deſto ſorgfaͤltiger huͤte dich, in den von ihnen angegebenen Ton der Vertraulichkeit einzu - ſtimmen.

2. Bemuͤhe dich, ihnen ſo viel Achtung gegen dich einzufloͤßen, daß ſie nie auf den fuͤr dich ungluͤklichen Einfal gerathen, dich zu ihrem be - ſondern Lieblinge zu waͤhlen. Denn widerfuͤhre dir dis, ſo waͤr es entweder um deine Ruhe, oder um deine Sicherheit, oder um deine Tugend gethan; und das ſind Dinge, die dir wichtiger ſein muͤſſen, als alle Gunſtbezeugungen.

3. Kanſt du es aber nicht vermeiden, daß der Große eine Art von Zuneigung gegen dich ge - winne, und wirſt du gleichſam von ihm gezwun - gen, dir, wenn du mit ihm allein biſt, Vertrau - lichkeiten gegen ihn zu erlauben: ſo trit wenigſtens,[ſobald] ein dritter dazu komt, augenbliklich in die Schranken der Ehrfurcht zuruͤk, und verbirg den beguͤnſtigten Freund unter dem demuͤthigen An - ſtande eines unterthaͤnigen Dieners. Mancher, der unter vier Augen dich zaͤrtlich umarmt, dich vertraulich bei ſich nieder ſezen und ſchwazen heißt, wuͤrd es dir nie vergeben, wenn du am Kurtagedich220dich um einige Linien weniger tief vor ihm neig - teſt, als die Etikette es erfodert.

4. Laß dich von keinem Großen fuͤr keinen Preis zum Befoͤrderer unſitlicher Vergnuͤgungen brauchen, und ſolte deine Weigerung dir auch ſeine ganze Ungnade zuziehen. Denn zu ge - ſchweigen, daß man Gott mehr gehorchen muß, als den Menſchen, ſo iſt es beſſer, einmahl wie ein braver Man gefallen, als tagtaͤglich wie ein Schurke kriechen zu muͤſſen, und ſich mit Fuͤßen treten zu laſſen. Das wuͤrde aber uͤber kurz oder lang zuverlaͤſſig die Folge ſein, wenn du dich dazu hergaͤbeſt, der Vertraute und der Befoͤrderer ſeiner Luͤſte zu ſein. Denn auch der aͤrgſte Wol - luͤſtling unter den Großen verachtet in ſeinem Herzen jeden, der ihm zur Befriedigung ſeiner Leidenſchaften die Hand reicht, und er ſucht des Niedertraͤchtigen los zu werden, ſobald er ihn entbehren kan.

5. Fuͤgt es ſich, daß du kluͤger, einſichtsvoller und edler, als der Große, biſt, und dazu gehoͤrt zuweilen ſo viel nun eben nicht: huͤte dich, es ihn merken zu laſſen, ſo lange dir an ſeinerGunſt221Gunſt noch etwas gelegen iſt. Suche vielmehr alles Gute, was du ſagſt oder thuſt, ſo zu ſagen, oder ſo zu thun, daß es das Anſehn gewinne, als wenn er ſelbſt, wonicht es geſagt oder gethan, doch wenigſtens es gedacht und gewolt habe. Und, ſei verſichert, es wird dir gar nicht ſchwer fallen, ihn dieſes in ganzem Ernſte glauben zu machen.

6. Wil er etwas, was an ſich thunlich, auch deiner nicht unwuͤrdig, aber ſchwer iſt, durch dich ausgefuͤhrt wiſſen: ſo halte dich nicht dabei auf, ihm die Schwierigkeiten der Unternehmung vorzuzaͤhlen, ſondern laß ihn eine augenblikliche Entſchloſſenheit ſehen, und eile zur Ausfuͤhrung. Denn keiner faͤlt den Großen mehr zur Laſt, als wer ihnen Schwierigkeiten zeigt, die ihrem Willen im Wege liegen, und ſie dadurch in die ihnen beſchwerliche Nothwendigkeit des Nachdenkens ſezt. Gar zu bedenkliche, umſtaͤndliche und ſchwierige Leute ſind auch jedem andern unter uns zur Laſt; ſo wie auf der andern Seite der ent - ſchloſſene, hurtige und thaͤtige Man bei allen wohl gelitten iſt.

Dis222

Dis ſind freilich nur ſehr wenige und unvol - ſtaͤndige Vorſchriften, den kuͤnftigen Hofman zu bilden; aber da ich das Vertrauen zu der Vor - ſehung habe, daß ſie[dir] einen beſſern und gluͤkli - chern Wirkungskreis anweiſen werde: ſo ſcheint es mir uͤberfluͤſſig, uns laͤnger dabei aufzuhalten. Laß uns alſo wieder zu dem vermiſchten Haufen der groͤſſeren Geſelſchaft zuruͤktreten.

Auch die einfaͤltigen und dummen Men - ſchen verdienen unſere Aufmerkſamkeit. Bei dieſen aber mußt du zweierlei Unterarten wohl von einander unterſcheiden. Die einen nemlich ſind das, was ſie ſind, aus natuͤrlicher Verſtandesſchwaͤche, die andern hingegen aus Mangel an einer ihrem Stande gemaͤßen Aus - bildung und an Unterricht. Jene laß uns Ein - faͤltige oder Simple, dieſe Dumme nennen. Der Einfaͤltige iſt gemeiniglich ein guter, oft ein liebenswuͤrdiger Schlag von Menſchen be - ſcheiden, ſanftmuͤthig, nachgebend, duldſam, dienſt - fertig und gutherzig; der Dumme hingegen faſt immer eigenſinnig, zaͤnkiſch, tuͤkkiſch, hochmuͤthigund223und boshaft. Fliehe dieſe, aber laß dich gern zu jenen herab, und verſchmaͤhe ihre Liebe nicht; denn ſie ſind es wehrt, daß man ihnen Freude zu machen ſuche, und unſere Herablaſſung macht ſie ihnen in hohem Grade; aber auch um dein ſelbſtwillen nicht: denn wenn du irgend etwas Gutes wirken wilſt, wozu koͤrperliche Muͤhe, Aufmerkſamkeit auf Kleinigkeiten und große Ge - duld, nur nicht vorzuͤgliche Geiſtesfaͤhigkeiten, er - fodert werden: ſo wiſſe, daß dieſe ſimpeln Leute grade die brauchbarſten und bereitwilligſten Werk - zeuge ſein werden, deren du dich bedienen kanſt. Ich kan mit Wahrheit ſagen, daß ich Leuten dieſer Art ſowohl in Anſehung ſolcher Dienſte, die mein eigenes Wohlergehn betrafen, als auch in Anſehung des guten Fortgangs meiner Wirkſam - keit auf andere, mehr zu verdanken habe, als den meiſten wizigen und klugen Koͤpfen, welche mich ihrer Freundſchaft wuͤrdigten.

Jene dienen uns gern, und von ganzem Her - zen, und ohne Ruͤkſicht auf ſich ſelbſt zu nehmen: dieſe hingegen haben insgemein erſt ſo manche Bedenklichkeit! Muͤſſen erſt ſo manchen Blik aufſich224ſich ſelbſt und auf andere thun, um zu ſehn, ob nicht ihr eigener Vortheil dabei leide, ob nicht irgend eines Menſchen gute Meinung von ihnen da - durch geſchwaͤcht werden koͤnne, ob nicht irgend eine Ungemaͤchlichkeit fuͤr ſie ſelbſt damit verbun - den ſei! Jene ſind ſo weit davon entfernt, uns ihre Dienſte uͤber Werth anzurechnen, und eine ausnehmende Erkentlichkeit von uns zu verlangen, daß ſie vielmehr fuͤr unſer Vertrauen zu ihnen, und fuͤr die Gelegenheit, die wir ihnen gaben, uns nuͤzlich zu werden, ſich ſelbſt fuͤr unſre Schuld - ner halten: dieſe hingegen wollen jede kleine Ge - faͤlligkeit, die ſie uns erweiſen, auf Wucher an - legen, und verlangen in kurzer Zeit das Kapital mit mehr als juͤdiſchen Zinſen wieder. Noch einmahl alſo: verſchmaͤhe die Liebe der Simpeln nicht, und baue dafern nicht etwa die Erfah - rung dich dazu berechtiget auf die Freund - ſchaft derer, welche kluͤger und wiziger ſind, keine zu große Hofnungen. Beides koͤnte dich ge - reuen.

Mancher,225

Mancher, wenn er unſerer gegenwaͤrtigen Unterhaltung beiwohnte, wuͤrde ſich wundern, daß ich bisher noch mit keinem Worte dich vor der Vertraulichkeit mit ſolchen Leuten gewarnt habe, welche offenbar ausſchweifend, liederlich, laſterhaft und ſchaͤndlich ſind; da es doch auch unter dieſem Auswurf der Menſchheit in der That nicht wenige gibt, die mit einem Herzen vol Leichtſin, Unzucht und Gewiſſenloſigkeit, ſo viel aͤuſſerliche Annehmlichkeiten und ein ſo ge - faͤlliges Weſen verbinden, daß ein unerfahrner gutmuͤthiger Juͤngling leicht von ihnen eingenom - men werden kan. Allein, dafern nicht alles, was bisher durch Untericht, Anfuͤhrung und Beiſpiel an dir geſchehen iſt, verlorne Arbeit war, und wie koͤnt ich das beſorgen? ſo darf ich glauben, daß ich durch eine Warnung dieſer Art deinem Verſtande und deinem Her - zen zugleich zu nahe treten wuͤrde. Jener wird den Trunkenbold, den Spieler und den Lieder - lichen, auch unter der einnehmendſten Geſtalt, zuverlaͤſſig zu erkennen wiſſen, und dieſes wird gewiß, ganz gewiß mit Abſcheu davor zuruͤk -Pſchaudern.226ſchaudern. Nimmer, nimmer wirſt du dir er - lauben, die geringſte Gemeinſchaft mit ihnen zu haben, feſt uͤberzeugt, daß die Peſt ſelbſt nicht anſtekkender und nicht verderblicher fuͤr den Leib ſei, als der vertraute Umgang mit ſolchen Leuten fuͤr die empfaͤngliche Sele eines jungen Menſchen iſt. Du wirſt dich zehnmahl lieber ihrem Unwil - len, ihrem Spot und ihrer Feindſchaft ausſezen, als aus thoͤrigter Gefaͤlligkeit, oder aus ſchaͤndlicher Furchtſamkeit, an ihren viehiſchen Ausſchweifun - gen Theil nehmen wollen. Nicht wahr, mein Kleon, ich irre mich nicht, wenn ich dieſe Hof - nung von dir hege, und wenn ich feſt uͤberzeugt bin, daß du ſie niemahls taͤuſchen werdeſt?

Kleon warf ſich ihm in die Arme, und ſagte: er habe das Vertrauen zu Gott, daß er ihm das Geſchenk des Lebens lieber jezt in ſeines Vaters Armen wieder abfodern, als es ihm laͤnger friſten wuͤrde, wenn ſeine Alwiſſenheit vorherſaͤhe, daß er es jemahls durch wiſſentliche Untugenden und Laſter beflekken koͤnte.

Wohl denn! antwortete der geruͤhrte Vater; ich vermeide alſo alle uͤberfluͤſſige Erinnerungen,und227und kehre wieder zu ſolchen Vorſchriften zuruͤk, welche auch einer gutgebildeten und tugendlieben - den jungen Sele nuͤzlich werden koͤnnen.

Nicht genug, mein Lieber, daß du deine eigentlichen Freunde mit Vorſicht waͤhlſt; auch die Wahl deiner bloßen Ge - ſelſchaft muß mit gleicher Behutſamkeit ge - ſchehen. Denn nichts iſt gewiſſer, als, daß ein junger Menſch uͤber kurz oder lang mehr oder weniger die Denkungsart, die Sitten und Ma - nieren derer annimt, mit denen er oͤftern Umgang hat, und daß alſo jede gute Geſelſchaft ihn un - fehlbar beſſer, jede ſchlechte unausbleiblich ſchlim - mer macht. Aber dis iſt nicht die einzige Folge, welche die Wahl unſerer Geſelſchafter fuͤr uns hat. Auch der Begrif, den die Leute ſich von unſerm Karakter und von unſern Talenten machen, richtet ſich genau nach der Meinung, die ſie von denen haben, mit welchen wir umgehn. Sage mir, mit wem du umgehſt, und ich wil dir ſagen, wer du biſt; das iſt ein eben ſo bekantes, als wahres Wort, wornach ſich alle Menſchen in ihrem Ur -P 2theile228theile uͤber uns zu richten pflegen. Sind unſere gewoͤhnlichen Geſelſchafter gute, brave, rechtſchaf - fene Leute: ſo haͤlt man auch uns, ohne weiteres Zeugniß, fuͤr eben ſolche Menſchen. Sind ſie das Gegentheil, ſo werden wir abermahls in eine Klaſſe mit ihnen geſezt, wir moͤgen es ver - dienen oder nicht. Wieviel komt alſo nicht dar - auf an, daß man auch den bloßen Umgang gut zu waͤhlen wiſſe!

Damit iſt nun nicht geſagt, daß du alle die - jenigen, welche deiner Freundſchaft oder auch deines naͤhern Umganges unwerth ſind, gradezu vor den Kopf ſtoßen ſolſt, um ſie dir ein vor alle - mahl von Halſe zu ſchaffen. Das wuͤrde aber - mahls ſehr unweiſe ſein. Denn wer nicht faͤhig iſt, dir als Freund zu nuͤzen, wird um ſoviel faͤ - higer und geneigt ſein, dir als Feind zu ſchaden. Auch hieruͤber wil ich dir einen Ausſpruch des großen Menſchenkenners empfehlen, den ich dir nun ſchon ſo oft genant habe. Er ſagt: der Thoren und Schurken ſind gar zu viel; und ich wolte eine ſichere Neutralitaͤt lieber haben, als Buͤndniß, oder Krieg mit ihnen. Du kanſt einabgeſagter229abgeſagter Feind ihrer Laſter und Thorheiten ſein, ohne daß ſie einen perſoͤnlichen an dir ge - wahr werden duͤrfen. Zunaͤchſt nach ihrer Freundſchaft iſt ihre Feindſchaft die gefaͤhrlichſte Sache. Habe wahre Zuruͤkhaltung gegen ſie, aber niemahls eine anſcheinende. Denn es iſt ſehr unangenehm, zuruͤkhaltend zu ſcheinen, aber ſehr gefaͤhrlich, es nicht zu ſein. Wenige Leute finden die wahre Mittelſtraße. Viele ſind auf eine laͤcherliche Art in Kleinigkeiten geheimnißvol, und viele unvorſichtiger Weiſe offenherzig gegen jederman. *)Cheſterfield.

Wilſt du aber wiſſen, wie man es anzufangen habe, daß die guten Leute an allen Orten uns gern unter ſich leiden, uns mit ihrer Freundſchaft ſogar entgegen kommen moͤgen? Ich kan dir ein untriegliches Mittel in vier Worten ſagen; es heißt: Verdienſte, Beſcheidenheit, aͤuſſer - liche Annehmlichkeiten und ein guter Ruf, der von einem Orte zum andern vor uns her laͤuft, und uns die Staͤte bereitet. Wer dieſe vier Stuͤkke beſizt, der kan ſicher ſein, daß esP 3ihm230ihm an Freunden und Geſelſchaftern unter den edelſten und wuͤrdigſten Menſchen an jedem Orte niemahls fehlen werde. Achte beſonders auf das lezte unter den genanten Stuͤkken; und wiſſe, daß die gute oder ſchlimme Meinung, die wir den Leuten ſchon als Knaben von uns einfloͤßen, uns gemeiniglich durchs ganze Leben an jeden neuen Ort unſers Aufenthalts zu begleiten pflegt. Hat man daher ſeinen guten Nahmen nur erſt an einem Orte feſtgeſtelt, ſo darf man um die Gruͤn - dung deſſelben an jedem andern unbekuͤmmert ſein. Das nimmer ruhende Geruͤcht hat es ſchon uͤber ſich genommen, die beſten und kraͤftigſten Em - pfehlungsbriefe fuͤr uns herumzutragen, noch ehe wir angekommen waren. Und wohl dem, der mit ſolchen Addreſſen verſehen iſt! Aber dieſer Punkt bedarf noch einer beſondern Erwaͤgung.

Wenn ich ein Freund von paradoxer Stellung ſimpler Gedanken waͤre, ſo wuͤrd ich ſagen: das Urtheil der Menſchen uͤber uns und unſre Hand - lungen ſei die wichtigſte und zugleich die aller nichtswuͤrdigſte Sache von der Welt; es haͤngelediglich231lediglich von uns ab, und es haͤnge auch ganz und gar nicht von uns ab; es ſei unſerer ſorgfaͤl - tigſten Aufmerkſamkeit werth, und es verdiene ganz und gar nicht, daß wir im geringſten uns darum bekuͤmmern. Allein da ich mehr Zeit und Worte brauchen wuͤrde, dieſe ſinreichen Wieder - ſpruͤche aufzuloͤſen, als die ganze Sache in ihrer natuͤrlichen und ſchlichten Geſtalt zu zeigen, ſo ſchlage ich lieber dieſen leztern Weg ein.

Allerdings iſt der Menſchen Urtheil uͤber uns eine Sache von großer Wichtigkeit, weil unſer gutes Fortkommen in der Welt und unſere ganze aͤuſſerliche Gluͤkſeeligkeit davon abhaͤngt. Aller - dings verdient es daher unſere große Aufmerkſam - keit, und es iſt klug und weiſe gehandelt, daß wir uns beſtreben, nichts zu reden oder zu thun, was mit Recht getadelt werden kan. Allerdings haͤngt endlich auch unſer guter Nahme in ſo fern von uns ab, daß wir es durch ein kluges und rechtſchaffenes Betragen dahin bringen koͤnnen, daß wenigſtens die Weiſeſten und Rechtſchaffen - ſten unter unſern Mitbuͤrgern nicht umhin koͤn - nen, eine gute Meinung von uns zu haben. DisP 4alles232alles iſt von ſelbſt einleuchtend, und bedarf alſo keines Beweiſes. Aber nun laß uns auch die an - dere Seite betrachten.

Iſt es recht, auf das Urtheil der Menſchen Ruͤkſicht zu nehmen, wenn Pflicht und Gewiſſen nach deutlich erkanten Gruͤnden einmahl ſchon entſchieden haben? Haͤngt es in jedem Falle von uns ab, auch die Leichtſinnigen, auch die Thoren, auch die neidiſchen und verlaͤumderiſchen Menſchen durch unſer Verhalten zu befriedigen? Und iſt es daher weiſe, den Tadel ſolcher Leute zu Herzen zu nehmen, ſich daruͤber zu haͤrmen, ſich wohl gar in rechtmaͤßigen und lobenswuͤrdigen Handlungen dadurch ſtoͤren zu laſſen? Es er - gibt ſich abermahls von ſelbſt, daß alle dieſe Fragen mit nein! zu beantworten ſind. Laß uns nun, nach dieſer Auseinanderſezung, diejenigen Verhaltungsregeln merken, welche daraus herge - leitet werden koͤnnen.

Die erſte: ſorge ja dafuͤr, daß dein je - desmaliges Betragen den Beifal der Weiſen und Guten habe. Dahin wirſt du aber es in den meiſten Faͤllen ſicher bringen koͤnnen, wenndein233dein jedesmaliges Betragen rechtmaͤßig und ge - wiſſenhaft iſt. Ich ſage in den meiſten Faͤllen; denn zuweilen geraͤth man freilich wohl in Lagen, welche keine menſchliche Sele, auſſer der unſrigen, ſo ganz nach allen ihren Seiten zu uͤberſehen ver - mag, und welche eine Art zu handeln erfodern, die von allen Menſchen, ſelbſt von den guten und weiſen, getadelt werden muß, weil die geſamten Gruͤnde unſers Verfahrens nur uns ſelbſt und dem Alwiſſenden allein bekant ſind. Aber in Faͤllen dieſer Art ſei unbekuͤmmert, mein Sohn! Denn wenn nur unſer Gewiſſen rein geblieben iſt: ſo duͤrfen wir verſichert ſein, daß die Recht - maͤßigkeit unſers Betragens fruͤh oder ſpaͤt in einem hellern Lichte erſcheinen, und die kleinen Flekke, welche der unverdiente Tadel auf unſern guten Nahmen ſpruͤzte, voͤllig wieder auswiſchen werde.

Die zweite: in allen ſolchen Faͤllen aber, in denen der aͤuſſerliche Anſchein wider dich iſt, weil die wahren Bewegungsgruͤnde deiner Handlungen nur Gott und dir be - kant ſind, ſei nicht ſo ſtolz auf deine Tu -P 5gend,234gend, daß du den Tadel der beſſern Men - ſchen fuͤr gar nichts achteſt. Belehre viel - mehr, wenn’s immer moͤglich iſt, wenig - ſtens einige derſelben, uͤber die wahren Urſachen, welche dich bewogen haben, ſo und nicht anders zu handeln, und ſoͤhne dadurch ihren Verſtand und ihr Herz mit den deinigen wieder aus.

Die dritte: ſolt es ſich aber gleichwohl ereignen, daß Vernunft und Gewiſſen et - was von dir verlangten, wovon du vor - ausſaͤheſt, daß das Urtheil der ganzen Welt ſich dagegen empoͤren, und daß es dir unmoͤglich ſein wuͤrde, auch nur einen einzigen von der Rechtmaͤßigkeit deines Verfahrens zu uͤberzeugen: ſo verſchmaͤhe großmuͤthig und ſtandhaft das Urtheil der ganzen Welt, und thue herzhaft was Ver - nunft und Gewiſſen von dir verlangen. Denn keines Menſchen gute Meinung von dir muß dir theurer ſein, als das Bewuſtſein, vor Gott und deinem Gewiſſen recht gethan zu haben; und ſolte deine ganze irdiſche Gluͤkſeeligkeit daruͤberin235in Truͤmmern zerfallen. Das Gefuͤhl, als ein rechtſchaffener Man gehandelt zu haben, wird dir ein hinlaͤnglicher Erſaz ſein.

Die vierte: Verachte uͤbrigens von gan - zem Herzen das Geklatſche der Verlaͤum - dung, als eine Sache, welche keiner, als etwa der unbedeutende und unthaͤtige Menſch, vermeiden kan, welche deinem eigentlichen guten Nahmen auch gar nicht ſchadet, und welche daher nicht werth iſt, daß ein Man von Verſtande und Menſchen - kentniß ſich darum bekuͤmmere. Denn je mehr du hervorſtechen wirſt, je groͤſſer die Tu - genden, je glaͤnzender die Verdienſte ſein werden, welche dich von andern auszeichnen: deſto weniger wird man dich und deine Handlungen faſſen koͤn - nen, deſto weniger wird man es dir verzeihen, daß du nicht biſt, wie andere Menſchenkinder, deſto eifriger wird man ſich bemuͤhen, dich aus deiner hoͤhern Sphaͤre in ſeine eigene hinabzu - ziehen. *)Je groͤſſer die Rolle iſt, die wir ſpielen, je mehr wir durch das Verhaͤltniß, welchesuns

Und236

Und das werden grade diejenigen am meiſten thun, die dir ins Angeſicht die meiſten Kompli - mente ſagen! Auch dieſes mußt du wiſſen, damit du nicht unerfahrner Weiſe Rechenpfennige fuͤrDukaten*)uns Stand, Beruf und Talente gegen die Geſelſchaft geben, dem oͤffentlichen Auge ausgeſezt ſind, deſto gewiſſer duͤrfen wir dar - auf rechnen, daß wir von der groͤſſern Zahl weder Gerechtigkeit noch Nachſicht zu er - warten haben. Tauſend Augen ſind in kei - ner andern Abſicht auf uns geheftet, als um Fehler an uns zu finden, und wehe dem, der nicht die Klugheit hat, wie Alcibiades, zuweilen eine Thorheit zu ſagen oder zu thun, um den Genius der Verlaͤumdung durch ein freiwilliges Opfer zu beſaͤnſtigen! Wehe dem, der ihn durch die ſorgfaͤltigſte Bemuͤ - hung, gar nicht zu fehlen, zu beſaͤnftigen hoft! Der weiſeſte, der tugendhafteſte, der tadelfreiſte Man, ſagt Plato, waͤre grade derjenige, gegen den ſich endlich die ganze Welt zuſammen verſchwoͤren wuͤrde und niemahls, goͤtlicher Plato, haſt du eine groͤſ - ſere Wahrheit geſagt! (Wieland. )237Dukaten halteſt, und dich nicht auf einen Reich - thum verlaſſeſt, von dem es ſich, wenn’s zum Umſaz komt, gar bald zu zeigen pflegt, daß er aus lauter falſchen Muͤnzen beſtehe. Mit andern Worten: wenn man dich lobt, rechne ja nicht darauf, daß man dich wirklich ſchaͤze, wirklich liebe oder bewundere! Man lobt, um wieder gelobt zu werden, oder weil man deiner grade noͤthig hat, oder um ſeinen eigenen Kentniſſen, ſeinem eigenen Geſchmak, ſeiner eigenen Beurtheilungs - kraft ein Kompliment zu machen, oder aus Ironie, oder weil man ſonſt eben nichts zu ſagen weiß. Selten, hoͤchſtſelten iſt das Herz die Quelle des Lobes!

Ueberhaupt aber mußt du wiſſen, daß die Menſchen, um Recht und Unrecht, edles und unedles Betragen zu meſſen, einen doppelten Maaßſtab haben, den einen fuͤr ſich und ihre Freunde, den andern fuͤr uns. Daher der auf - fallende Widerſpruch in ihrem Lobe und Tadel bei Handlungen von einerlei Natur und Beſchaffen - heit, nur von verſchiedenen Perſonen verrichtet! Was238Was das eine mahl gut, ſchoͤn und edel war, das iſt das andre mahl ſicher ſchlecht, haͤßlich und un - edel. Warum? Weil der Handelnde im erſten Fal unſer eigenes Ich, oder ein Freund deſſelben, im andern ein Fremder oder ein Beneideter war.

Und was folgt nun aus dem allen? Dieſes, was ich dir nicht beſſer und nachdruͤklicher, als mit den Worten eben des treflichen Schriftſtellers ſagen kan, den ich ſchon mehrmahls angefuͤhrt habe:

Gluͤklich iſt der Man, der, mehr be - muͤht, den Beifal der Menſchen zu ver - dienen, als ihn zu erhalten, ſeine Pflichten gegen ſie erfuͤlt, ohne ſeine Zufriedenheit von ihrer Zufriedenheit, von ihrer Gerech - tigkeit oder Dankbarkeit abhaͤngig zu ma - chen! Getreu ſeiner eigenen Ueberzeugung! gebilliget von ſeinem eigenen Herzen, be - ſtaͤtiget in beiden durch den pruͤfenden Beifal der weiſeſten und beſten ſeiner Zeit - genoſſen, gebeſſert durch ihren Tadel und durch eine immerwaͤhrende Bearbeitung ſeiner ſelbſt, geht er ſeinen eigenen Weg,unbe -239unbekuͤmmert, was alles das Geſumſe, Geziſch und Gequaͤke bedeuten koͤnne, das in der Naͤhe und in der Ferne um ſeine Ohren ſauſt. *)Wieland.

Die Hoͤhe der Sonne erinnert mich, daß es Zeit ſei, mein langes Geplauder zu endigen, wenn ich deiner Aufmerkſamkeit nicht zuviel zumuthen wil. Ich faſſe daher das Wichtigſte von dem, was ich dir noch zu rathen habe, ſo kurz als moͤg - lich zuſammen, und theil es dir, ohne alle Ver - bindung, ſazweiſe mit.

Huͤte dich, ſo oft dir der Kopf von ir - gend einer Leidenſchaft gluͤht, etwas zu beſchließen oder zu thun, was nicht ganz auſſerordentlich dringend iſt; ſondern warte, bis dein Blut ſich abgekuͤhlt hat, und die Ver - nunft wieder am Ruder ſizt. Jeder leidenſchaft - liche Zuſtand iſt eine Art von Wahnſin: durch welchen Zufal koͤnte das, was wir zur Zeit deſ - ſelben beſchließen, vernuͤnftig und wirklich rath - ſam ſein?

Lerne240

Lerne Beleidigungen verſchmerzen, ohne ſie zu ahnden; Unrecht uͤber dich ergehen zu laſſen, ohne Genugthuung zu fodern. Denn ſo ſuͤß auch die Befriedigung der Rachbe - gierde iſt, ſo ſchadet ſie doch insgemein uns ſelbſt am meiſten. Oft iſt es nuͤzlich, gar nicht ein - mahl merken zu laſſen, daß man ſich fuͤr beleidigt halte. Ein alter Weiſer gibt uͤber die Art, wie man Unrecht ertragen muͤſſe, folgende goldne Vorſchrift: Jede Sache hat zwei Seiten; eine, an der ſie ſich tragen laͤßt, und die andere, an der ſie ſich nicht tragen laͤßt. Wenn dein Bruder ungerecht gegen dich handelt, ſo laß nicht dieſe Ungerechtigkeit die Seite ſein, auf der du ſeine Handlung nimſt: denn das wuͤrde grade diejenige Seite ſein, auf der du ihre Laſt nicht tragen koͤnteſt. Laß vielmehr das Brudergefuͤhl, und den Gedanken, mit ihm erzogen zu ſein, lebhaft in dir werden, und du wirſt die rechte Seite er - greifen, von der du die Laſt ſeines zugefuͤgten Unrechts auf dich nehmen kanſt.

Mißverſtaͤnd -241

Misverſtaͤndniſſe und ſchiefes Hinſehn auf die unrechte Seite der Dinge ſind ohne Zweifel die Urſache der meiſten Feindſchaf - ten und Verdrießlichkeiten unter den Men - ſchen. Verſtaͤndige dich mit denen, welche deine Worte oder deine Handlungen misverſtanden ha - ben, in aller Freundlichkeit; ruͤkke ihnen den Ge - genſtand ihres Unwillens liebreich vors Auge, und zeige ihnen den wahren Geſichtspunkt, aus dem ſie ihn betrachten muͤſſen. War dan die ganze Sache wirklich nur ein Misverſtaͤndniß, ſo wird es unter hundert Faͤllen kaum einen geben, da es dir nicht gelingen ſolte, ihren Un - willen im Keime zu erſtikken, und das Verneh - men zwiſchen dir und ihnen wieder auf den alten Fuß zu ſtellen.

Aber huͤte dich, dergleichen Aufklaͤrun - gen entſtandener Misverſtaͤndniſſe ſchrift - lich zu geben. Ich ſage dir voraus, daß du auf dieſem Wege deine Abſicht in hundert Faͤllen neun und neunzig mahl verfehlen werdeſt. Denn hat der Andere erſt einmahl Feuer gefangen, ſoQmagſt242magſt du ihm noch ſo liebreich ſchreiben, magſt die Sache noch ſo deutlich auseinanderſezen: er wird demohngeachtet in den unſchuldigſten Aus - druͤkken neue Reizungen zum Unwillen, in den faßlichſten Gruͤnden neue Urſache finden, dich der Ungerechtigkeit gegen ihn zu zeihen: es ſei nun, daß ſeine Einbildungskraft deinem Geſichte eine andere Miene, oder deiner Stimme einen andern Ton, oder deinen Worten eine andere Bedeu - tung, einen groͤſſern Nachdruk, oder vielleicht gar nur den unrechten Akzent leihet. Alle dieſe Irrungen ſind bei geſchriebenen Auseinander - ſezungen misverſtandener Dinge unvermeidlich, fallen aber weg, ſo bald man ſich muͤndlich daruͤber beſpricht.

Traue nie einſeitigen Berichten, ſie moͤ - gen ſich herſchreiben, von wem ſie wollen. Fielding ſagt: ein Menſch ſei noch ſo ehrlich, ſo wird doch ſein eigener Bericht von ſeiner Auf - fuͤhrung, ſelbſt wider ſeinen Willen, ſo vortheil - haft klingen, daß die Laſter gleichſam gereiniget von ſeinen Lippen fließen, und gleich einem un -reinen243reinen Waſſer, wenn es recht durchgeſeigt wird, alles Unſaubere zuruͤklaſſen. Wenn gleich ſeine Thaten ſelbſt zum Vorſchein kommen, ſo werden doch die Bewegungsgruͤnde, Umſtaͤnde und Fol - gen, wenn ein Menſch ſeine eigene Geſchichte er - zaͤhlt, und wenn ſein Feind es thut, ſo verſchieden ſein, daß man kaum erkennen kan, es ſei eine und eben dieſelbe Sache. Vergiß daher nie - mahls, bevor du daruͤber urtheilſt, das: audia - tur et altera pars!

Wilſt du jemanden uͤberzeugen, oder zu etwas bewegen, wovon er abgeneigt iſt: wende dich nie grade zu an ſeinen Ver - ſtand, ſondern achte der kleinen Muͤhe nicht, den zwar etwas laͤngern, aber da - fuͤr auch deſto ſicherern Umweg einzuſchla - gen, der durchs Herz und die Leidenſchaften der Menſchen ohnfehlbar zu ihrem Ver - ſtande fuͤhrt; das heißt, ſtelle die jedesmalige Sache deinem Manne von denjenigen Seiten vor, von welchen ſie auf ſeine Lieblingsneigungen oder Schwachheiten den vortheilhafteſten EindrukQ 2macht.244macht. Der Verſtand iſt der gemaͤchliche Haus - vater im Lehnſtuhl, Leidenſchaften und Schwach - heiten ſind Weib und Kinder: wie bald iſt jener uͤberzeugt oder uͤberſchrien, wenn nur dieſe erſt gewonnen ſind! Es verſteht ſich, hoffe ich, zwi - ſchen dir und mir von ſelbſt, daß ich hierbei eine Sache vorausſeze, welche recht und billig iſt, und die alſo keines Weges auf Uebervortheilung, Be - trug oder Ueberliſtung hinauslaufen kan.

Das Urtheil des Mannes uͤber uns wird gemeiniglich durch das Urtheil der Frau, dieſes durch das Urtheil der Bedien - ten und Maͤgde geſtimt. Steige daher, ſo oft du das Wohlwollen eines Hauſes zu erwerben wuͤnſcheſt, mit deiner Hoͤflichkeit, Freundlichkeit, und, wenn du kanſt, mit deiner Freigebigkeit, bis zu dem Niedrig - ſten herab; das wird dich ſicher bis zum Wohlwollen der Oberſten erheben. Der Kardinal von Retz, deſſen Memoiren auch von demjenigen, der kein Staatsman werden wil, ge - leſen zu werden verdienen, ſagt: Zu den Ge -ringſten245ringſten herabzuſteigen, iſt das ſicherſte Mittel, ſich zu den Großen hinaufzuſchwingen.

Bei jeder Unternehmung von einigem Umfange, rechne ja nicht darauf, daß deine Operazionen eben ſo in grader Linie fort - ſchreiten werden, wie du ſie in deinem Kopfe oder auf dem Papiere entworfen haſt. Die meiſten Schwierigkeiten und Hinder - niſſe pflegen ſich erſt waͤhrend der Ausfuͤhrung zu zeigen. Unſere zuſammengeſezten Handlungen gleichen einer Waſſerfahrt, bei der man nie ganz in grader Linie faͤhrt, ſondern oft von Wind und Wogen gezwungen, zur Seite lenken, oder auf die langweiligſte Weiſe laviren, oder wohl gar eine Zeitlang vor Anker liegen muß. Es iſt aber dem jungen Steuerman gut, daß er dis zum voraus wiſſe, um darauf gefaßt zu ſein.

Wilſt du irgend etwas unternehmen, wozu du der Unterſtuͤzung und Mitwir - kung mehrerer Menſchen bedarfſt, ſo rechne nichts auf die Bewegungsgruͤnde, die duQ 3von246von Seiten der Religion oder von Seiten der Pflicht zur Menſchenliebe, der Pflicht, etwas fuͤr das Ganze zu thun, hernehmen koͤnteſt; ſuche vielmehr deinen Plan ſo an - zulegen, daß diejenigen, die ihm beitreten ſollen, ihren eigenen perſoͤnlichen Vortheil darin wahrnehmen moͤgen. Haſt du es be - ſonders mit Koͤnigen und Fuͤrſten zu thun, ſo ſei nicht ſo albern, ihnen irgend einen andern Be - wegungsgrund vorzuhalten, als den, welcher von der Vergroͤſſerung ihrer Finanzen und ihrer Macht hergenommen iſt. Denn bei dieſen iſt insgemein ſogar die Eitelkeit der Vergroͤſſerungs - begierde untergeordnet. Was aber diejenigen Zeiten betriſt, in welchen man gemeinnuͤzige Sa - chen aus religioͤſen Bewegungsgruͤnden unter - nahm oder befoͤrderte: ſo mußt du wiſſen, daß ſie laͤngſt voruͤber ſind, und daß man heutiges Tages demjenigen, der den Leuten von dieſer Seite etwas Mildthaͤtiges abgewinnen wil, ins Angeſicht zu lachen pflegt. Das Zeitalter, worin wir jezt leben, hat einen ganz andern Karakter; denn ob es gleich nicht das goldene iſt, ſo darfman247man doch kuͤhnlich behaupten, daß es das Zeitalter des Goldes ſei.

Suche daher durch Sparſamkeit und Fleiß deine aͤuſſerlichen Umſtaͤnde ſo bluͤ - hend, als moͤglich, zu machen. Denn erſt - lich iſt es leider! nur alzuwahr, daß man in der meiſten Menſchen Augen nur grade ſo viel iſt, als man beſizt. *)Ich habe einen reichen Filz gekant, der, wenn er einen Unbekanten nennen hoͤrte, ſogleich die Frage aufzuwerfen pflegte: wie viel hat er? und wenn die Antwort diſſeits hundert tauſend Thaler fiel, niemahls ermangelte hinzuzu - ſezen: der Kerl iſt ein Hundsfot! Was dieſer Unhold ſprach, das denken andere, nur vielleicht nicht ganz ſo grob. Tanti mihi es, quantum poſſides. Nun kan es uns zwar in vielen, aber doch bei weitem nicht in allen Faͤllen, gleich - guͤltig ſein, was die Narren von uns denken; es iſt vielmehr zuweilen gut, auch bei ihnen von einigem Gewicht zu ſein, und dieſes Gewicht gibt uns das Geld. Aber es iſt auch gut, von keinen Nahrungsſorgen gequaͤlt zu werden! Es iſt auchQ 4gut,248gut, einen Nothpfennig fuͤr unvorhergeſehene, gewiß nicht ausbleibende Nothfaͤlle zu haben! Es iſt endlich auch gut, Ueberfluß zu beſizen, um den Hungrigen ſpeiſen, den Nakten kleiden, dem Sinkenden unter die Arme greifen, dem empor - ſtrebenden Anfaͤnger die Hand bieten, und hundert gute gemeinnuͤzige Sachen unternehmen zu koͤn - nen, zu deren Ausfuͤhrung Geld erfodert wird. Sei alſo ſparſam und haushaͤlteriſch, aber ohne Knikkerei; erwerbſam und ſpekulativ, aber ohne gierige Habſucht, Kniffe und Ungerechtigkeit, freigebig ohne Verſchwendung, großmuͤthig ohne Pralerei!

Nichts ſei dir wichtiger, als deinen Kredit in Geldſachen zu erhalten: denn es komt die Zeit, da du ſeiner bedarfſt; und kaͤme ſie auch nie, ſo iſt doch dein moraliſcher Kredit ſo genau damit verbunden, daß er allemahl mit jenem ſteigt und faͤlt. Fuͤr den groͤßten Haufen der Menſchen iſt man ſchon ein braver Man, wenn man nur ein richtiger Zahler iſt, und alle andere Tugenden, verbunden mit allen moͤglichenTalenten,249Talenten, koͤnnen uns nicht vor der Verachtung ſchuͤzen, wenn wir es in dieſem einzigen Stuͤkke an Zuverlaͤſſigkeit und an einer puͤnktlichen Ge - nauigkeit fehlen laſſen. Ich fuͤr mein Theil habe mir daher von Jugend auf zur Regel gemacht, alles, was ich zu bezahlen hatte, wo moͤglich, noch vor dem Zahlungstermin zu entrichten; nie etwas zu kaufen, ohne erſt ſorgfaͤltig zu erwaͤgen, ob meine Kaſſe auch nicht zu kurz kommen wuͤrde; und lieber einen ſich darbietenden großen Vortheil fahren zu laſſen, als mich der Gefahr auszuſezen, an einem Zahlungstage nicht bei Gelde zu ſein. Und, glaube mir, mein Sohn, ich habe mich bei der Beobachtung dieſer Regel immer wohl be - funden.

Wird dir fremdes Eigenthum, oder gar eine Kaſſe anvertraut: betrachte ſie als ein Heiligthum, welches eigenmaͤchtig anzugreifen dir unter keinerlei Umſtaͤnden jemahls erlaubt iſt, wenn du dich nicht der groͤßten Gefahr ausſezen wilſt, deinen ehr - lichen Nahmen, oft auch deine FreiheitQ 5und250und deine ganze irdiſche Gluͤkſeeligkeit zu verſcherzen. Denke nicht: ich werde an dem oder dem Tage ſo oder ſo viel einzunehmen haben, und kan daher meiner Kaſſe das daraus Ent - lehnte vor der Ablieferungszeit wieder erſezen. Denn auch die allerſicherſten Geldzufluͤſſe gerathen oft durch einen ſonderbaren und ganz unerwar - teten Zufal ins Stokken, und ſelbſt die ehrlichſten und reichſten Leute laſſen uns zuweilen, entweder aus Vergeſſenheit, oder aus Unvermoͤgen, wider alle unſere Erwartung ploͤzlich im Stiche. Wehe dem, der dieſe Erfahrung erſt dan macht, wan er ſie mit dem Verluſte ſeines ehrlichen Nah - mens und ſeiner Gluͤkſeeligkeit erkaufen muß! Frage auf den Feſtungen und in den Gefaͤngniſſen nach, und man wird dir uͤberal lebendige Beiſpiele ſolcher Ungluͤklichen zeigen, welche ihren Unver - ſtand zu ſpaͤt beſeufzen.

Alle deine Vertraͤge, Zuſagen und Ver - bindungen mache ſo beſtimt und plan als moͤglich, und, wenn es immer geſchehenkan,251kan, ſchriftlich. Ueberdenke dabei mit aller Aufmerkſamkeit und Ueberſicht, deren du nur faͤhig biſt, jeden moͤglichen Fal, wobei ſich Mis - verſtaͤndniſſe und Irrungen ereignen koͤnten, um ihnen vorzubauen. Die Menſchen ſind ſo geneigt, Vertraͤge jeder Art hintennach zu ihrem Vortheile auszulegen, und entweder mehr zu fodern, als wir ihnen, oder weniger zu leiſten, als ſie uns verſprochen haben, daß man die Behutſamkeit hierin nicht leicht zu weit treiben kan. Auch vergiß nicht, dir bei jeder Auszahlung die gehoͤrigen Quitungen ausfertigen zu laſſen. Dieſe verwahre ſorgfaͤltig, um am Ende eines jeden Jahrs ein beſondres Buͤndel daraus zu machen, und ſie als - dan nicht zu verbrennen, ſondern in einem dazu beſtimten Archive fuͤr immer aufzuheben. Dieſe Vorſicht hat mich mehr, als einmahl, vor betraͤchtlichem Schaden geſchuͤzt.

Haſt du die Wahl, dir einen Standort in der menſchlichen Geſelſchaft auszuſuchen: ſo waͤhle, rathe ich, den, auf dem du zueiner252einer nuͤzlichen Geſchaͤftigkeit der Mitwir - kung anderer Menſchen am fuͤglichſten ent - behren kanſt. Je einfacher deine Verhaͤltniſſe ſein werden, und je weniger du in deiner Wirk - ſamkeit mit andern Menſchen zuſammentreffen wirſt: deſto ruhiger wird auch deine Lage ſein, und deſto ſicherer wirſt du fuͤr den Erfolg deiner Arbeiten ſtehen koͤnnen.

Ueberhaupt, mein Sohn, ſuche ſo un - abhaͤngig zu werden, als es bei der der - maligen Lage der Menſchheit moͤglich iſt. Dazu aber wird vornehmlich erfodert, daß du deine Beduͤrfniſſe auf alle Weiſe zu vermindern, und dir Talente zu erwerben ſucheſt, welche dir deinen Unterhalt von der Menſchen Gunſt und Ungunſt unabhaͤngig erwerben koͤnnen. Dan darfſt du dein Haupt frei empor richten, brauchſt vor niemand zu kriechen, und niemand wird es auch von dir verlangen. Unabhaͤngig - keit! O wuͤßteſt du ſchon jezt, welch mannig - faltiges Gluͤk durch dieſes einzige Wort, welchmannig -253mannigfaltiges Elend durch das Gegentheil deſ - ſelben ausgedruͤkt wird, du wuͤrdeſt nicht eher ruhen noch raſten, bis du dir recht große aus - gebreitete Verdienſte erworben, und deine Be - duͤrfniſſe bis auf die wirklichen Nothwendigkeiten der Natur vereinfacht und eingeſchraͤnkt haͤtteſt!

Endlich, mein Kleon, laß mich noch zulezt einen Punkt beruͤhren, der die Klippe iſt, an welcher die Wohlfahrt der meiſten jungen Leute zu ſcheitern pflegt. Ich meine den Umgang mit dem Frauenzimmer.

Das ſicherſte fuͤr einen jungen Menſchen ohne Erfahrung, ohne Weltkentniß und ohne tief ein - gewurzelte Grundſaͤze der Ehre und der Tugend, waͤre freilich, ſich dieſem, ſeiner Unſchuld und ſei - nem Wachsthum an Volkommenheit gefaͤhrlichen Geſchlechte, bis auf die Zeit, da er die Freundin und Gefaͤhrtin ſeines Lebens waͤhlen ſol, ganz und gar zu entziehen. Aber zum Ungluͤk iſt kein ander Mittel vorhanden, Erfahrung, Welt - und Menſchenkentniß zu erlangen, als grade dieſeseinzige,254einzige, ſich in die Schule dieſer gefaͤhrlichen Lehr - meiſterinnen zu begeben. Denn ſie ſind es, und nur ſie allein, welche das Hoͤkkerichte in unſern aͤuſſerlichen Sitten abzuhobeln, das Rauhe zu glaͤtten, und unſerm ganzen Weſen denjenigen[Weltfirniß] anzuſtreichen wiſſen, ohne welchen die liebenswuͤrdigſten Tugenden verkant, die groͤßten Verdienſte vernachlaͤſſiget werden. Sie ſind es, durch welche wir mit unſerm eigenen Geſchlechte, faſt moͤgt ich ſagen, mit uns ſelbſt, erſt recht be - kant werden, weil ſie ſowohl mehr Intereſſe da - bei haben, ſich in die verſchloſſenen Maͤnnerherzen einzuſchleichen, als auch mehr Gelegenheit und mehr natuͤrliche Geſchiklichkeit dazu. Sie ſind es endlich, welche ſich das Monopolium des Lobes und des Tadels, des guten und boͤſen Rufes in der Geſelſchaft angemaßt haben, und es dergeſtalt auszuuͤben wiſſen, daß unſer guter Nahme mit dem Grade ihres Beifals allezeit im genaueſten Verhaͤltniß ſteht. Man kan alſo ihrer nun ein - mahl nicht entbehren, muß nun einmahl ihnen zu gefallen ſuchen; und die Frage iſt alſo blos: wie man es anzufangen habe, um aus ihrer Ge -ſelſchaft255ſelſchaft Vortheil zu ziehen, ohne dabei Gefahr zu laufen, ſein Wachsthum an Volkommenheit, ſeine Tugend, ſeine Geſundheit, und die Zufrie - denheit ſeines ganzen Lebens aufzuopfern? Ver - nim denn auch hieruͤber meinen beſten Rath, und laß ihn dir, wenn du deine eigene Wohlfahrt liebſt, ja immer heilig bleiben!

Erſtlich muͤſſe es deine vorzuͤglichſte Sorge ſein, mit keinem andern Frauen - zimmer jemahls in geſelſchaftliche Verbin - dung zu gerathen, als mit ſolchen, welche im ſtrengſten Verſtande ehrliebend, ſitſam und durchaus von unbeſcholtenem Rufe ſind. Achte aber vornemlich auf das Leztere; denn die erſten beiden Eigenſchaften koͤnnen oft - mahls Blendwerk ſein, die leztere unweit ſeltener, hoͤchſtens nur in ſo fern, daß auch die Ausſchwei - fende, wenn ſie dabei liſtig genug iſt, ihren guten Nahmen eine Zeitlang vielleicht noch zu erhalten weiß, ſchwerlich aber in ſo fern, daß auch dieje - nige, deren Sitſamkeit oͤffentlich bezweifelt wird, jemahls ganz ſchuldlos ſein ſolte. Nim viel - mehr, bis zu eigener Erfahrung, als eine zuver -laͤſſige256laͤſſige Beobachtung an: daß ein Frauenzimmer, deren Ruf einmahl beflekt worden iſt, ſelten ganz unſchuldig war, und wenn auch alles, was das Geruͤcht ihr nachſagt, durchaus erlogen waͤre. Einem wirklich ſitſamen und tugendhaften Weibe blikt die Reinigkeit des Herzens auf eine ſo un - verkenbare Weiſe aus Augen, Mienen, Gebehr - den, Kleidung und Anſtand hervor, daß auch die entſchloſſenſte Verlaͤumderin nicht das Herz hat, einen Schatten von Verdacht gegen ſie zu erregen. Oder haſt du je gehoͤrt, daß man gegen die Sitſamkeit der C. in W., oder der R. in H. ſich nur den leiſeſten Zweifel zugefluͤſtert haͤtte? Niemahls! Und doch ſind beide nichts weniger, als Pruͤden; und doch haben beide wohl eine eben ſo glatte und durchſichtige Haut, wohl eben ſo viel Annehmlichkeiten des Geiſtes, als andere! Aber warum erlaubt man ſich ſolche Zweifel gegen die Tugend der X. Y. Z.? Etwa, weil man etwas Unanſtaͤndiges von ihnen geſehn oder inErfahrung257Erfahrung gebracht hat? Keinesweges! Man ſchließt nur: ein Frauenzimmer, das da weiß, daß man von dieſer oder jener an ſich ſelbſt un - ſchuldigen Freiheit Anlaß zum Verdachte nehmen werde, und ſich dieſe Freiheit dennoch erlaubt, muß ſich wahrſcheinlicher Weiſe in einem leiden - ſchaftlichen Zuſtande befinden. Und ich wil be - haupten, daß dieſer Schluß in den meiſten Faͤllen richtig ſei. Denn zu ſagen, daß ein ſolches Frauenzimmer, vielleicht aus einer beſondern Staͤrke der Sele, ſich uͤber den aͤuſſerlichen Kling - klang der Ehrbarkeit und uͤber das Gerede der Leute wegzuſezen wage, oder aus gaͤnzlicher Rei - nigkeit des Herzens ſich ganz und gar nicht ein, kommen laſſe, daß ſie in Verdacht gerathen koͤnne, heißt, die zarte Empfindlichkeit dieſes Ge - ſchlechts gegen Lob und Tadel, heißt den eigenen immer regen Argwohn deſſelben in Dingen dieſer Art, ſchlecht kennen. Nein, mein Sohn, einRFrauen -258Frauenzimmer kan gegen ihren guten Ruf nie gleichguͤltig werden, bis ſie weiß, daß er nun doch einmahl unwiederbringlich verloren ſei; und die engelreinſte weibliche Unſchuld kan nie ſo ſorglos werden, daß ſie aus bloßer Unbedachtſamkeit ein Betragen annaͤhme, welches ihr Daſein zweifel - haft machen koͤnte. Diejenige alſo, welche Ver - dacht erwekte, hat in den meiſten Faͤllen ihn auch verdient, in einem gewiſſen Grade wenigſtens ihn verdient; und ſie gehoͤre daher auch nicht zu denen, welchen du eine vorzuͤgliche Achtung und Aufmerk - ſamkeit erweiſen mußt.

Zweitens: erfuͤlle dein Herz mit einem tiefen lebendigen Abſcheu gegen alle die ſchamloſen, frechen und unverſchaͤmten Dirnen und Weiber, welche in ihren Blikken, Mienen, Anzuge, Reden und Handlungen das Schild der Unzucht aus - haͤngen, und wohl gar ſo weit gehen, esrecht259recht gefliſſentlich darauf anzulegen, der Unſchuld tauſend verfuͤhreriſche Falſtrikke zu legen, um ſie ins Verderben zu ziehen. Ein ſolcher tief eingepraͤgter Abſcheu kan allein dich retten, wan deine Vernunft erliegen wuͤrde; dieſer wird ſich aber deiner jungen Sele zuver - laͤßig einpraͤgen, wenn du jezt auf meine Ver - ſicherung glaubſt, was du kuͤnftig an tauſend un - gluͤklichen jungen Schlachtopfern der Wolluſt mit Augen ſehen wirſt, daß die laſterhafte Vertrau - lichkeit mit ſolchen Schandflekken der Menſch - heit fuͤr die Geſundheit des Leibes und der Sele gleich zerſtoͤrend iſt, indem das ganze Nerven - ſiſtem dadurch geſchwaͤcht und zerruͤttet, ein in ſeinen Wirkungen ſchrekliches, und uͤber kurz oder lang in die ſchaͤndlichſten und verderblichſten Seuchen ausbrechendes Gift dem ganzen Koͤrper mitgetheilt, jede aufbluͤhende Kraft des Juͤng - lings in ihrer Wurzel angefreſſen, ſein VerſtandR 2und260und ſein Gedaͤchtniß zuſehends geſchwaͤcht, ſeine Einbildungskraft verunreiniget, ſein Muth ge - laͤhmt, ſeine ganze Sele entmant, und die Zufrie - denheit ſeines ganzen Lebens auf immer zernichtet wird. Das ſind ſchrekliche Folgen, mein Sohn! Wer kan davon benachrichtiget ſein, ohne davor zuruͤkzuſchaudern?

Und doch vergib, du Theurer, wenn dein Herz durch meine vielleicht zu weit getriebene Be - ſorgniß ſich beleidiget fuͤhlt! Und doch, wenn ich alle die Reizungen und Verſuchungen zur Unzucht, denen du entgegen gehſt, wenn ich die Macht des algemeinen Beiſpiels, die Zuͤgelloſigkeit der heutigen Sitten, den unbegreiflichen Leichtſin, mit welchem man uͤber Schandthaten dieſer Art ſelbſt in der beſſern Geſelſchaft zu ſcherzen pflegt, wenn ich die Wirkungen reizender Speiſen und Getraͤnke, die Ueberraſchungen unvorhergeſehener ſtarker Verſuchungen, und alle die teufliſchen Verſuͤh -rungs -261rungskuͤnſte ausgelernter Buhlerinnen erwaͤge: o ſo bebt mir das Herz vor aͤngſtlicher Beſorgniß, und ich moͤgte aufſpringen, dich ergreifen und feſt halten, damit du mit keinem Fuße eine Welt be - traͤteſt, wo das Laſter, wie eine Schlange, unter Blumen liegt, und das Verderben, unter der Larve der Freude tanzend, dem unvorſichtigen Juͤngling auflauert, um ihn in den tiefſten Ab - grund hinabzuſtoßen! Aber meine Arme ſinken; bald werden ſie im Grabe liegen: was wuͤrd es denn helfen, dich bis dahin feſt zu halten? Ein - mahl muͤßteſt du der Gefahr, welche deiner wartet, doch entgegen gehn. Geh alſo, mein Einziger, aber bewafne dich vorher mit allem, was Ver - nunft und Religion uns zum Schuze darbieten; geh, aber vergiß nicht, daß der erſte Schrit zum Laſter der lezte auf der Bahn der Tugend und der wahren Gluͤkſeeligkeit iſt!

R 3Aber262

Aber bei dieſer Warnung vor dem Abſchaum der Menſchheit und vor groben thieriſchen Aus - ſchweifungen darf ich es nicht bewenden laſſen, wenn ich dir nicht die Haͤlfte der Gefahr, welche deiner Gluͤkſeeligkeit droht, verhelen wil. Wiſſe alſo, daß auch der Umgang mit wirklich tugend - haften Frauenzimmern fuͤr deine Unſchuld und fuͤr dein Wohlergehn gefaͤhrlich werden kan, ſobald du die Schranken der Hochachtung oder einer ehr - erbietigen Freundſchaft uͤberſchreiteſt, und ſolchen Empfindungen Raum gibſt, welche allein das Band der Ehe heiligen und fuͤr unſern Wachs - thum an Volkommenheit und Gluͤkſeeligkeit wohl - thaͤtig machen kan. Glaube die Verſicherung eines Mannes, der einen anſehnlichen Theil ſeines Lebens dazu angewandt hat, die Natur des Menſchen zu beobachten und zu merken, was ihr nuͤzlich und was ihr ſchaͤdlich werden kan; die Verſicherung: daß auch die reinſteund263und unſchuldigſte Liebe fuͤr die Sele eines Juͤnglings, dem Alter und Gluͤksumſtaͤnde noch nicht vergoͤnnen, die ehelige Gefaͤhr - tin ſeines Lebens zu waͤhlen, ein verderb - liches Gift ſei, welches ſie entnervt, wel - ches jeden Keim des Guten in ihr erſtikt, ſie unluſtig und unfaͤhig zu jeder edlen Anſtrengung und zur Erwerbung ruͤhmli - cher Verdienſte macht. Oder meinſt du etwa, daß mein Alter und meine Grundſaͤze mich zu einer ungebuͤhrlichen Strenge in der Sittenlehre ver - leiten: ſo hoͤre das Zeugniß eines Mannes, von dem wohl keiner eine Uebertreibung in Urtheilen dieſer Art erwarten wird. Sogar die unſchul - digſte Liebe, diejenige, welche in jungen enthu - ſiaſtiſchen Selen ſo ſchoͤn mit der Tugend zuſam - men zu ſtimmen ſcheint, fuͤhrt ein ſchleichendes Gift bei ſich, deſſen Wirkungen um deſto gefaͤhr - licher ſind, weil es langſam und durch unmerk -R 4liche264liche Grade wirkt. So ſagt Wieland, einer der ſcharfſinnigſten Kenner des menſchlichen Her - zens, und mit ihm die Erfahrung.

Wilſt du nun der Vortheile genieſſen, die ein ehrbarer Umgang mit geſitteten Frauenzimmern gewaͤhren kan, ohne dabei Gefahr zu laufen, an Herz und Geiſt verdorben zu werden: ſo wiſſe, daß du dieſe Abſicht nicht anders, als durch eine puͤnktliche Beobachtung folgender Regeln, er - reichen werdeſt:

1. Bleibe ſtets in den Schranken einer ehrerbietigen Achtung gegen ſie, auch dan noch, wan deine Bekantſchaft mit ihnen ſchon zu einer Art von Freundſchaft gedien waͤre; und vermeide in deinen Reden und Handlungen mit der groͤßten Sorgfalt alles, was zu einer unanſtaͤndigen Ver - traulichkeit Anlaß geben koͤnte.

2. Huͤte265

2. Huͤte dich, jemahls muͤndlich oder ſchriftlich den Ton einer empfindſamen Zaͤrtlichkeit mit ihnen anzuſtimmen; feſt uͤberzeugt, daß die geiſtige Selenliebe zwi - ſchen jungen Perſonen von verſchiedenem Geſchlechte uͤber kurz oder lang ſich in die groͤbſte und ſchaͤndlichſte Sinlichkeit aufzu - loͤſen pflegt.

3. Wirſt du aber dennoch einen beſon - dern Hang zu einer Perſon weiblichen Geſchlechts bei dir gewahr: ſo vermeide doch ja jede Gelegenheit, mit ihr allein zu ſein, vornehmlich aber jede Gelegenheit zu irgend einer Beruͤhrung ihres Koͤrpers, weil das Feuer der Wolluſt in dieſem Stuͤk dem elektriſchen Feuer gleicht, welches hervor - praſſelt, ſo bald der elektriſierte Koͤrper ange - ruͤhrt wird.

R 54. Huͤte266

4. Huͤte dich vor dem gewoͤhnlichen Ir - thume vieler gutartigen jungen Leute, welche mit dem feſten Vorſaze, der Tu - gend immer treu zu bleiben, ſich die erſten voͤllig unſchuldig ſcheinenden Grade einer leidenſchaftlichen Zaͤrtlichkeit zu erlauben kein Bedenken tragen, weil ſie in dem irrigen Wahne ſtehn, daß es ja nur von ihnen abhaͤnge, es dabei bewenden zu laſſen, und nie weiter darin zu gehn, als Tugend und Ehrbarkeit es geſtatten. Das heißt, die Natur des menſchlichen Herzens, das heißt, den unaufhaltbaren Fortſchreitungstrieb einer Leidenſchaft ſchlecht kennen; das heißt, ſich von einer jaͤhen Anhoͤhe herabſtuͤrzen, weil man es in ſeiner Gewalt zu haben glaubte, nicht tiefer zu fallen, als man fallen wolte. Betrogener Juͤng - ling! Woher kaͤme dir die Kraft, dich ſchwe - bend in freier Luft zu erhalten? Glaube mir,dieſe267dieſe Leidenſchaft wil, wie jede andere, in der Geburt erſtikt ſein, wenn ſie nicht in kurzer Zeit uns uͤber den Kopf wachſen und mit unſerm Ver - ſtande davon laufen ſol. Principiis obſta!

5. Arbeitſamkeit, Maͤßigkeit und Nuͤch - ternheit ſind das einzige ſichere Verwah - rungsmittel dagegen, ſo wie Muͤſſiggang, Unmaͤßigkeit und hizige Getraͤnke ganz unfehlbar zu den ſchaͤndlichſten Ausſchwei - fungen fuͤhren. Siehe da, mein Sohn, Ar - zenei auf der einen, und Gift auf der andern Seite: kan es dir zweifelhaft ſein, wornach du greifen muͤſſeſt?

6. Unzuͤchtige Bilder und Buͤcher, wo - von die Haͤuſer der Reichen und die Buͤcher - ſaͤle der Wolluͤſtlinge wimmeln, ſind Werk - zeuge der Hoͤlle, verfertiget von teufliſchenMenſchen,268Menſchen, um die Einbildungskraft junger Selen zu beflekken, und ihnen ihr koſtbar - ſtes, durch nichts zu erſezendes Kleinod, die Unſchuld, zu rauben. Bewafne dich dagegen mit einem tiefen herzlichen Abſcheu, da - mit deine Augen nie dabei verweilen, damit deine Sele nie dadurch beſudelt werden moͤge!

7. Endlich, mein Sohn, laß dir nicht blos deine eigene, ſondern auch die Un - ſchuld anderer Menſchen, beſtaͤndig heilig ſein. Bedenke, was es auf ſich habe, eine Quelle zu truͤben, die, einmahl verunreiniget, in ihrem Ablauf immer unrein bleiben, und un - rein ſich ins Meer der Ewigkeit ergießen wird! Wehe dem Ungeheuer, welches recht gefliſſentlich es darauf anzulegen, aber wehe auch dem Leicht - ſinnigen, welcher durch verfuͤhreriſche Worte, Blikke, Gebehrden und Handlungen nur etwasdazu269dazu beizutragen ſich erlaubt! Es waͤre beiden beſſer, nie gebohren zu ſein.

Und nun, mein Guter fuhr hierauf Theophron fort, indem er aufſtand, und ſeinem Sohne die Hand reichte glaub ich, dir den Weg, den du wandeln mußt, mit den meiſten ſeiner Abwege und ſchluͤpfrigen Stellen, deutlich genug bezeichnet zu haben. Denn was dir ſonſt noch etwa zu wiſſen noͤthig iſt, hab ich dir aus einem Buche abgeſchrieben, wo es zu zerſtreut und mit zu vielen andern minder zwekmaͤßigen Vorſtellungen vermiſcht lag, als daß ich dich darauf haͤtte verweiſen koͤnnen. Laß uns nun - mehr beide, geſtaͤrkt durch die freudige Hofnung des Wiederſehns in einem Lande, wo ewiger Friede und volkomnere Gluͤkſeeligkeit unſer red - liches Beſtreben nach Tugend und Rechtſchaffen - heit lohnen werden, unſern Weg antreten; du,mein270mein Theurer, den durchs Leben; und ich o wuͤnſche mir Gluͤk zur Vollendung meiner Wan - derſchaft! den Weg zum Grabe.

Kleon lag bei dieſen Worten in ſeinen Armen, und ſchluchſte laut; indes der Greis in ſtiller Wehmuth ſeine Augen gen Himmel richtete, und den Liebling ſeines Herzens, von dem er ſich nun trennen ſolte, der alwaltenden goͤtlichen Vor - ſehung uͤbergab.

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About this transcription

TextTheophron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend
Author Joachim Heinrich Campe
Extent303 images; 42430 tokens; 8340 types; 305427 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationTheophron, oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend Erster Theil Joachim Heinrich Campe. . BohnHamburg1783.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, B XXIV, 355-1 Rhttp://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=849962307

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Pädagogik; Gebrauchsliteratur; Pädagogik; Belletristik; Kinderliteratur; core; ready; china

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

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  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:29:44Z
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ShelfmarkSBB-PK, B XXIV, 355-1 R
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