An meine geweſenen Pflegeſoͤhne.
Was ich, wie ihr wißt, bei der Abnahme meiner Geſundheit, ſchon vor einiger Zeit mit Bekuͤmmerniß in dunkler Ferne ſah,*)S. den Schluß von Pizarro. das iſt jezt eingetroffen. Die Vorſehung hat geſprochen; unſer Loos iſt geworfen; es heißt — Trennung!
Ich trokne meine Augen, um in eurer Mitte noch einmahl freudig und liebevol um - herzublikken; noch einmahl mich zu laben an den großen herzerhebenden Hofnungen, die ihr mir einfloͤßtet, und die ich — ach, ſo gern! unterhielt; noch einmahl meinen beſten, innigſten, feurigſten Herzensſeegen uͤber euch alle auszugießen, und dan — zu* 3haftenhaften am Boden auf dem Flek, auf welchem Gott mir ſtil zu ſtehn gebot, und euch nach - zuſehn, ſo weit mein Auge reichen wird, auf den Wegen, auf denen Gott euch, ohne mich, nun weiter fuͤhren wird.
Ihr ſahet, meine guten Kinder, wie lange ich kaͤmpfte, wie oft ich mich ermante, und die ſinkende Hand von neuem erhob, um euch weiter zu leiten auf dem ſchmalen ungebahnten Pfade zu jeder ſchoͤnen Tugend und zur Gluͤk - ſeeligkeit: aber ihr ſahet auch, und der Al - ſehende ſah es zugleich, daß ich unter der Anſtrengung erlag, und daß ich mich ent - ſchließen mußte, entweder euch in eurem Laufe aufzuhalten, oder allein zuruͤkzubleiben. Ich waͤhlte das Leztere, ohngeachtet ich wohl wußte, daß der unvernuͤnftigere Theil der Voruͤbergehenden meine Bewegungsgruͤnde zu dieſer Wahl nicht faſſen wuͤrde, nicht faſſen koͤnte, weil zur Beurtheilung und Billi - gung eines gewiſſenhaften Verfahrens erfodertwird,wird, daß man ſelbſt gewiſſenhaft zu handeln ſich gewoͤhnt habe. Und ach! — warum muß ich dieſe traurige Wahrheit euch ſchon ſo fruͤh entdekken? — ſo zu handeln, hat ein groͤſſerer Theil der Menſchen, als man glauben ſolte, ſich noch nicht gewoͤhnt! —
Aber ehe wir, Wange an Wange gelegt, unſere Traͤnen zum leztenmahl in einander fließen laſſen, vernehmt, ihr Lieben, mit derjenigen freudigen Folgſamkeit, womit ihr meine treue Liebe zu euch ſo oft belohnt habt, den lezten Willen eines Vaters, der auch dan, wan wir getrent ſein werden, zu eurer Gluͤkſeeligkeit noch ſo gern etwas beitragen moͤgte! Ihr erwartet vielleicht, indem ich euch ſo auffodere, daß ich euch noch einmahl alle die Vorſchriften zu einem rechtſchaffenen, gemeinnuͤzigen und gluͤklichen Leben, nach denen wir eure junge Herzen zu bilden uns beſtrebten, wiederholen, und bei unſerer Liebe, bei eurer ewigen Wohlfahrt euch be -* 4ſchwoͤrenſchwoͤren werde, ihnen immer treu zu blei - ben? Aber nein, Kinder! dis iſt jezt meine Abſicht nicht. Ich darf hoffen, daß jede wichtige Lehre, die wir euch gegeben, und nach der wir euch geuͤbt haben, mit unaus - loͤſchlicher Schrift in euren Herzen angeſchrie - ben ſtehe; darf hoffen, daß forthin es kei - nem unter euch mehr moͤglich ſein werde, wiſſentlich und vorſezlich dem entgegen zu handeln, was ihr als ſchoͤn und gut, als recht und gottgefaͤllig erkant habt: wozu alſo eine Wiederholung? Wozu eine nochmalige Ermahnung zu dem, was ihr gern, und im - mer gerner, immer eifriger aus eigenem An - triebe thun werdet?
Mein lezter Wille hat alſo einen andern Gegenſtand. Vernehmt ihn, meine Kinder, und laßt, um eurer ſelbſt willen, ihn euch heilig ſein.
Bis hieher war es zu eurer Gluͤkſeelig - keit genug, daß ihr euch gegen unſere Vor -ſchriftenſchriften folgſam bewieſet, daß ihr alles er - kante Gute gern umfaßtet, und vor allem erkanten Boͤſen mit Abſcheu zuruͤkbebtet. Dis wird denn auch fernerhin, ſo lange ihr noch an der Hand eines erfahrnen Fuͤhrers geht, zu eurem Wohlergehen hinreichend ſein. Aber, Kinder, die Zeit nahet heran, und bei einigen von euch iſt ſie ſchon vor der Thuͤr — da ihr den mislichen Weg des Le - bens allein betreten ſolt. Da wird es nun der verfuͤhreriſchen Seitenwege, welche links und rechts durch einladende Gegenden laufen, viele geben. Da werdet ihr oft, und ehe ihr es euch verſeht, euch mitten in einem undurchdringlichen Dikkicht befinden, wo um und neben euch keine menſchliche Spur, und uͤber euch kaum eine Spannebreit vom Him - mel wird zu ſehen ſein. Da werdet ihr nicht ſelten ploͤzlich auf tiefe, mit ſtaudichten Blu - men verwachſene Gruben ſtoßen, und ein ein - ziger unvorſichtiger Schrit, vorwaͤrts gethan,* 5kankan auf immer euch ins Verderben ſtuͤrzen. Da wird es endlich oft in lachenden Thaͤlern giftige, in hohem Graſe verſtekte Schlangen und Ottern geben, welche euren Ferſen auf - lauren, auch wilde Beſtien im nahen Gehoͤlz, welche auf euch hervorſchießen werden zu einer Zeit, da ihr in eurem argloſen leicht betro - genen Herzen euch voͤllig ſicher waͤhnt.
Kinder! ich bin des Weges gekommen, und rede nicht von Hoͤrenſagen, ſondern aus Erfahrung. Glaubt alſo einem glaubwuͤr - digen Manne und einem fuͤr euch zitternden Vater: es iſt zum gluͤklichen Antrit und zur ſichern Vollendung der gefahrvollen Lebens - reiſe nicht genug, die Himmelsgegend zu wiſſen, nach der man wandern muß; nicht genug, mit dem feſten Vorſaze auszugehn, der rechten Straße immer folgen, nie von ihr abweichen, und alle gefaͤhrlichen Oerter ſorgfaͤltig vermeiden zu wollen; nicht genug, ſich gewoͤhnt zu haben, keinem der Mitwan -dererderer vorſezlich in den Weg oder auf den Fuß zu treten — mit andern Worten: es iſt zu einem ruhigen, zufriedenen und gluͤklichen Leben hienieden nicht genug, daß man gut und immer beſſer zu wer - den ſich beſtrebe; (ohngeachtet dieſes Be - ſtreben das erſte unentbehrliche Mittel zur Gluͤkſeeligkeit iſt) man muß auch vorſich - tig, klug und durch Erfahrung weiſe ge - worden ſein.
Aber, ach! dieſe Klugheit, dieſe Er - fahrung hat man gemeiniglich erſt dan er - worben, wan die Zeit, ſie zu nuzen, ſchon voruͤber iſt. Ungluͤklicher Juͤngling, dem die Vorſehung keinen vaͤterlichen Freund ge - waͤhrte, der aus ſeiner Fuͤlle dieſen Mangel erſezte, und ihm liehe, was er ſelbſt noch nicht erwerben konte! Ihr, meine Lieben — o freuet euch, und danket Gott dafuͤr! — ſolt zu der Zahl dieſer Ungluͤklichen, die erſt durch Schaden klug werden muͤſſen, nichtgehoͤren.gehoͤren. Seht, ich uͤbergeb’ euch hier ein Buch, worin ich meine beſten, oft theuer er - kauften Erfahrungen fuͤr euch aufgezeichnet habe. Dis iſt der Nachlaß meines Herzens fuͤr euch und fuͤr alle junge Weltbuͤrger, welche Theil daran nehmen wollen. Hoͤret nun, was fuͤr einen Gebrauch ihr davon machen ſolt; dis iſt mein lezter Wille:
„ ihr ſolt dis Buͤchelchen bei demjenigen „ aufbewahren, was unter allen euren „ Sachen euch am liebſten iſt. Da ſol es „ liegen, als ein Heiligthum, bis die Zeit „ herannahet, da ihr ohne Fuͤhrer in „ das große menſchliche Leben treten „ werdet. Alsdan ſolt ihr es zur Hand „ nehmen, euch durch die dankbare Er - „ innerung an meine Liebe recht erwaͤr - „ men; ein kurzes bruͤnſtiges Gebet um „ Weisheit, Verſtand und guten Willen „ zu Gott thun, und dan mit der ſtilſten „ und groͤßten Aufmerkſamkeit, deren ihr„ faͤhig„ faͤhig ſeid, leſen, was ich fuͤr euch ge - „ ſchrieben habe. Bei jedem Abſaze ſolt „ ihr ſtil ſtehen, um erſt in euch ſelbſt „ und um euch herzublikken, und die Fra - „ gen an euch zu thun: bin ich denn nun „ auch ſchon, was hier mein guter Vater „ wolte, daß ich ſein ſolte? Oder: hab’ „ ich auch wohl jezt ſchon Gelegenheit, „ dieſe Lehre in Ausuͤbung zu bringen? „ Dan ſolt ihr alles, was ſchon zu der „ Zeit fuͤr euch anwendbar ſein wird, „ zeichnen, um, nach vollendeter Leſung „ des ganzen Buchs, euch dieſe Stellen „ noch einmahl ganz vorzuͤglich zu mer - „ ken, und darauf ſogleich zur Anwen - „ dung zu ſchreiten. Dis alles ſolt ihr „ am Ende eines jeden halben Jahrs „ an beſtimten Tagen feierlich und ge - „ wiſſenhaft wiederholen, und zwar ſo „ lange, bis ihr, durch eigene Erfahrun - „ gen hinlaͤnglich bereichert, finden wer -„ det,„ det, daß die meinigen euch entbehrlich „ geworden ſind. „
Und nun herbei, ihr Lieben, in meine Arme, ſo viel ſie eurer faſſen koͤnnen, um Herz an Herz, Wange an Wange gedruͤkt, den laͤngſt geſchloſſenen Bund der Liebe und der Recht - ſchaffenheit noch einmahl mit unſern Traͤnen zu verſiegeln. In einer volkomnern Welt, wo tugendhafte Verbindungen, hier im Lande der Unvolkommenheit geſchloſſen, erneuert und auf ewig feſt geknuͤpfet werden ſollen, warte ich einſt mit eurer guten Pflegemutter eurer Ankunft, um uns gemeinſchaftlich in heiſſer Dankbarkeit vor dem Weſen aller Weſen hinzuwerfen, deſſen vaͤterliche Hand euch durch alle Gefahren, welche eurer Tugend und eurer Gluͤkſeeligkeit drohen, bis dahin gnaͤdig leiten wird. Sein alles vermoͤgender Seegen uͤber euch! — und nun getroſt und muthig hinan den Berg, der meinen Blikken euch entziehen ſol!
Hamburg den 31 Jenner 1783.
Diejenigen, welche mich kennen, werden von mir wiſſen, daß ich ſeit geraumer Zeit, alles, was mir von Faͤhigkeiten, Kraͤften und etwanigen Kentniſſen beiwohnte, dem[einzigen] großen Beduͤrfniſſe der Menſchheit, der Erzie - hung, gewidmet habe. Gern waͤr’ ich auf dieſer, zwar hoͤchſtmuͤhſamen, aber auch ſehr freudenrei - chen Laufbahn, bis an das Ende meines Lebens ununterbrochen fortgegangen: allein nach fuͤnf, in gluͤklicher Thaͤtigkeit verlebten Jahren, ſah ich meinen Geſundheitszuſtand, und mit ihm die zu dieſem Geſchaͤfte ſo ganz unentbehrliche Munterkeit des Geiſtes, dermaßen in Verfal gerathen, daß ich mich fuͤr verpflichtet hielt, mein bisheriges, von der Vorſehung ſo ſehr geſeegnetes Erziehungs - inſtitut einem Manne von friſcherer Geſundheit und von ungeſchwaͤchteren Kraͤften*)Dem Herrn Trapp, disherigen Profeſſor der Erziehungskunſt auf der Univerſitaͤt Halle. abzutreten; um den Reſt meines Lebens zwar noch immer der Erziehung, aber doch nur in demjenigen Maaße zu weihen, in welchem die Beſchaffenheit meiner**Geſund -IIVorrede.Geſundheit dieſem ſchwerſten und wichtigſten aller menſchlichen Geſchaͤfte noch wird gewachſen ſein.
Bei dieſer Gelegenheit ſchien es mir denn eine meiner lezten Pflichten gegen diejenigen zu ſein, welche bisher der Gegenſtand meiner vaͤterlichen Sorgfalt waren, alles, was ich an nuͤzlicher Er - fahrung, an Welt und Menſchenkentniß in mir fuͤhlte, ſorgfaͤltig aufzuzeichnen, um es ihnen, als ein Vermaͤchtniß, auf diejenige Zeit zu hinter - laſſen, da ſie die misliche Reiſe durchs Leben ohne Fuͤhrer allein antreten ſollen. So entſtand dieſes Buch, deſſen erſter Theil, wie man ſieht, aus zwei Hauptabſchnitten beſteht, wovon der eine Erfahrungen und Vorſchriften zur gluͤkli - chen Einrichtung eines geſchaͤftigen Lebens, der andere diejenigen Klugheitsregeln enthaͤlt, welche uns in dem Umgange mit Menſchen leiten muͤſſen.
Der erſtere erſcheint hier, einige Veraͤnderun - gen und Zuſaͤze ausgenommen, nicht zum erſten mahl. Ich machte vor etwas mehr als fuͤnf Jahren die erſte Skize dazu in den hieſigen Addreßcomtoir-Nachrichten bekant. DieſeBlaͤt -IIIVorrede.Blaͤtter wurden binnen vierzehn Tagen gaͤnzlich vergriffen; und verſchiedene Vaͤter, welche mei - nen Aufſaz fuͤr gemeinnuͤzig hielten, wuͤnſchten einen abermaligen Abdruk deſſelben. Ich arbeitete ihn daher von neuem etwas ſorgfaͤltiger um, und ließ ihn, in dieſer vermehrten und verbeſſerten Geſtalt, meiner damahls ans Licht tretenden Samlung von Erziehungsſchriften einver - leiben. Hier ward er, ſo viel ich weiß, aber - mahls mit Zufriedenheit geleſen, und alle, welche ich daruͤber urtheilen hoͤrte, wuͤnſchten, daß man ihn, mehrerer Gemeinnuͤzigkeit wegen, von jener Samlung getrent, auch allein moͤgte kaufen koͤn - nen. Theils, um dieſem Verlangen, welches damahls nicht befriedigt werden konte, jezt ein Genuͤge zu thun, theils um nicht die gegenwaͤrtige Samlung von Erfahrungen und Klugheitsregeln, wovon jener Aufſaz einen weſentlichen Theil ent - hielt, unvolſtaͤndig zu laſſen, oder mit andern, vielleicht minder eindringlichen Worten, noch ein - mahl zu ſagen, was ich, nach dem Urtheil des Publikums, ſchon gut genug geſagt hatte, habe ich den Verlag jener Samlung von Erzie -** 2hungs -IVVorrede.hungsſchriften kaͤuflich an mich gebracht, um das Recht zu haben, dieſen Aufſaz daraus zu entlehnen und dem gegenwaͤrtigen Werke einzuverleiben.
Damit aber auch das Publikum eine und eben dieſelbe, nur etwas veraͤnderte Sache nicht zwei - mahl kaufen duͤrfe: ſo habe ich folgende, dieſer Unbequemlichkeit, wie mich duͤnkt, voͤllig abhel - fende Einrichtung getroffen. Erſtlich habe ich den Preis jener Samlung von Erziehungsſchrif - ten auf meine Koſten um ſo viel und noch mehr, als dieſe fuͤnf Bogen in derſelben betragen, herab - ſezen laſſen, ſo daß die kuͤnftigen Kaͤufer der be - ſagten Samlung dieſen daraus entlehnten Aufſaz unentgeldlich bekommen. Zweitens erbiete ich mich hiermit, allen denen, welche jene Samlung ſchon gekauft haben, das gegenwaͤrtige Buch, wenn ſie ſich deshalb an mich ſelbſt wenden wollen, um ſechs Groſchen weniger, als der Ladenpreis be - traͤgt, zu uͤberlaſſen; zu welchem Ende man unten*)An den Rath Campe Abzugeben auf dem koͤnigl. ſchwediſchen Poſtkomtoir zu in Hamburg. Trittow. meine jezige Addreſſe finden wird.
DerVVorrede.Der andere, dreimahl groͤſſere Abſchnit iſt noch nie gedrukt worden.
Ich habe aber auch noch einen Anhang hin - zugefuͤgt, welcher den zweiten Theil dieſes Werk - chens ausmacht. Dieſer enthaͤlt das Weſentlichſte und Beſte aus einer beſondern Samlung von Briefen des Grafen von Cheſterfield, welche der engliſchen Originalausgabe der bekanten Briefe des Grafen an ſeinen Sohn vom Jahr 1776 als ein Anhang beigelegt, in der deutſchen Ueber - ſezung aber, ich weiß nicht aus was fuͤr Urſachen, uͤbergangen war. Sie erſcheint alſo jezt hier zum erſtenmahl uͤberſezt mit Weglaſſung der Ein - gaͤnge, Schlußformeln, und minder zwekmaͤßigen Stellen; und ich bin verſichert, meine Leſer werden finden, daß ſie eins der leſenswuͤr - digſten Stuͤkke der Cheſterfieldſchen Werke ſind. Die Ueberſezung iſt von Hrn. Rudolphi, mei - nem vieljaͤhrigen treuen und geſchikten Mitarbeiter in Erziehungsſachen.
Noch habe ich einige ausgeſuchte, und nach Beſchaffenheit der Umſtaͤnde bald abgekuͤrzte oder zuſammengezogene, bald getrente, und ihrem In -** 3halteVIVorrede.halte nach, ſo viel moͤglich geordnete, trefliche Stellen aus den uͤbrigen Briefen des Grafen an - gehaͤngt, weil ich mir nicht ſchmeicheln konte, daß es mir gelingen wuͤrde, die darin enthaltenen Vorſchriften in ein gefaͤlligeres Kleid zu huͤllen, als dasjenige war, welches man ihnen ſchon gege - ben hatte. Deswegen uͤberging ich dieſe Vor - ſchriften in meinem eigenen Aufſaze, um ſie mei - nen Leſern lieber mit den Worten eines ſo feinen Menſchenkenners und eines ſo angenehmen Schrift - ſtellers, als mit meinen eigenen, zu geben.
Um aber dieſe ausgezogenen Stellen in einige Verbindung zu bringen, habe ich ſie zum Theil dem eben erwaͤhnten neuuͤberſezten Stuͤkke derge - ſtalt einverleibt, daß ich jeden ſolcher eingeſcho - benen Zuſaͤze mit () einfaßte, und den Ort, wo jenes uͤberſezte Stuͤk ſich endigte, durch drei *** andeutete. Dieſe genaue Bezeichnung glaubte ich deswegen beobachten zu muͤſſen, damit man das, was hier zum erſten mahl uͤberſezt erſcheint, nicht mit demjenigen vermiſchen moͤgte, was ich aus der deutſchen Ueberſezung der ſaͤmtlichen Wer[k]edesVIIVorrede.des Grafen mit einigen Verbeſſerungen der Schreibart ausgehoben habe.
Man koͤnte aber fragen, warum ich meine Schuͤler nicht lieber auf das ganze Werk des Grafen verwieſen haͤtte, als ihnen dieſe Auszuͤge aus demſelben vorzulegen! Diejenigen, welche das Buch ſelbſt geleſen haben, und uͤber paͤdago - giſche Dinge urtheilen koͤnnen, wiſſen meine Ant - wort ſchon; fuͤr die uͤbrigen muß ich anmerken, daß der einſeitige Hauptzwek des Verfaſſers nur die Auſſenſeite ſeines Sohnes abzuglaͤtten, um ſie ſchimmernd und einnehmend zu machen, einen viel zu nachtheiligen Einfluß in verſchiedene ſeiner Ur - theile uͤber moraliſche Gegenſtaͤnde gehabt hat, als daß ich es wagen moͤgte, einem Juͤnglinge von noch nicht voͤllig ausgebildetem Karakter das Ganze in die Haͤnde zu geben. Dazu komt, daß der Sohn dieſes vornehmen und beguͤterten Weltmans von ſeiner Wiege an, fuͤr eine Laufbahn beſtimt war, zu welcher nur wenige junge Leute durch Geburt und Gluͤksumſtaͤnde faͤhig ſind; und daß daher auch manche Vorſtellung und Erinnerung, welche in Ruͤkſicht auf dieſe individuelle Beſtim -mungVIIIVorrede.mung zwekmaͤßig war, fuͤr die meiſten andern jungen Leute voͤllig unnuͤz, manche ſogar in hohem Grade ſchaͤdlich ſein wuͤrde. Ich getraue mir daher zu glauben, daß wohl keiner die von mir uͤbernommene Bemuͤhung, die beſten und gemein - nuͤzigſten Lebensregeln aus ſo vielen andern, theils bis zum Ekel widerhohlten, theils zu individuel - len, theils auf eine zu leichtſinnige Sittenlehre gebauten Vorſchriften auszuheben und ſie dieſem meinem Werkchen, um ihm eine groͤſſere Volſtaͤn - digkeit zu geben, beizufuͤgen, fuͤr uͤberfluͤſſig hal - ten werde.
Uebrigens bitte ich diejenigen, welche kuͤnftig einen Ausſpruch des Lords anfuͤhren wollen, ihn nicht aus dieſen meinen Auszuͤgen, ſondern aus ſeinen eigenen Werken zu nehmen, weil die Ver - ſchiedenheit zwiſchen Sr. Herlichkeit moraliſchen Grundſaͤzen und den meinigen, mich je zuweilen in die Nothwendigkeit ſezte, ihn grade das Ge - gentheil von demjenigen ſagen zu laſſen, was er wirklich geſagt hatte.
Nahe bey W*** lebte noch vor einigen Jahren auf einem kleinen Landſize der alte — Theophron nenn’ ich ihn, weil ſein wahrer Nahme nichts zur Sache thut; ein Man von Verdienſten, der in wich - tigen Geſchaͤften grau geworden war. Den Abend ſeines gemeinnuͤzigen Lebens hatt’ er einer philoſophiſchen Ruhe und dem Wohl ſeiner klei - nen Familie gewidmet. Er hatte einen einzigen Sohn, deſſen Wohlergehn ihm ſo ſehr am Herzen lag! Wir wollen ihn Kleon nennen.
Die Zeit nahete jezt heran, daß dieſer den Schooß ſeiner Familie verlaſſen, und in oͤffent - liche Geſchaͤfte treten ſolte. Sein junger GeiſtA 2war4war mit den noͤthigſten Kentniſſen ausgeſchmuͤkt, ſein Herz vol der edelſten Geſinnungen: aber es fehlte ihm noch — woran es jungen Leuten immer fehlt — an Erfahrung. Sein guter Vater wolte nun dieſen Mangel — ſo weit das moͤglich iſt — durch ſeinen Rath erſezen; und dieſer macht den Inhalt der folgenden Blaͤtter aus.
Es war an einem ſchoͤnen Sommerabend, den die Natur recht eigentlich dazu gemacht zu haben ſchien, die Gemuͤther der Sterblichen zu ſtillen, heilſamen Betrachtungen einzuladen. Alles ſchwieg; nur daß in dem nahen Gebuͤſch ein Paar Nachtigallen das Gluͤck ihres Daſeins und ihrer Liebe durch ſuͤße Lieder feierten. Die Sonne hatte ihren Lauf vollendet; ſchenkte ihrer lieben Erde eben noch die lezten Abſchiedsblikke, und jezt ſank ſie almaͤhlig hinter das weſtliche Gebirge hinab.
Da ſezte Theophron ſich mit ſeinem Sohne auf einer kleinen Anhoͤhe nieder, von welcher ſie die große herliche Gegend uͤberſehen konten, diemit5mit der reichſten Mannigfaltigkeit von Gaͤrten, Waͤldern, Wieſen, Aekkern, Fluͤſſen und Dorf - ſchaften, vor ihnen ausgebreitet lag. Sie ſchwie - gen eine gute Weile, indem jeder von ihnen ſich ſeinen eigenen Empfindungen uͤberließ. Endlich faßte Theophron die Hand ſeines Sohns, druͤkte ſie mit Innigkeit, und fuͤhlte auf der ſeinigen Kleons Lippen mit einem warmen kindlichen Kuſſe beben.
Mein guter Sohn, ſagt’ er, indem er ſich die Augen wiſchte, die Zeit iſt nun da, daß wir uns trennen muͤſſen. Du wirſt die gefahrvolle Wanderſchaft des Lebens allein antreten, ohne fernerhin deinen vaͤterlichen Freund zum Gefaͤhrten und Fuͤhrer zu haben. Aber mein Geiſt ſol mit Liebe, Rath, und guten Seegenswuͤnſchen beſtaͤn - dig bei dir ſein, wohin der Weg, den die Vor - ſehung dir nun anweiſen wird, auch immer fuͤhren mag. Und wan ich ſelbſt nicht mehr hier bin; wan unſer gemeinſchaftlicher Vater dieſen meinen unſterblichen Geiſt nach andern Gegenden ſeines unermeßlichen Weltals abrufen wird: dan, mein Sohn, dan iſt Er, unſer guter SchoͤpferA 3ſelbſt,6ſelbſt, doch noch immer bei dir mit Rath und Kraft, wenn du beſtaͤndig auf ſeinen Wegen wandelſt. Und das wirſt du; dein Herz, welches ich zu kennen glaube, iſt mir Buͤrge dafuͤr. Umarme mich, mein Theurer, und laß an meinem vaͤter - lichen Buſen dein klopfendes Herz dem meinigen die ſtumme Verſicherung geben, daß es ihn nie gereuen ſol, dieſe Buͤrgſchaft angenommen zu haben!
Kleon flog mit Inbrunſt in ſeine Arme, und lange hielten ſie ſich in wehmuͤthiger, ſprachloſer Ruͤhrung umſchlungen.
Endlich ermante ſich der Vater, und fuhr fol - gendermaßen fort.
Mein Sohn, du ſtehſt in Begrif, ein un - ſicheres Meer zu befahren, wo es der Klippen, der Sandbaͤnke und der Stuͤrme viele gibt. Ich habe dieſe Fahrt vor dir gethan; lief oft Ge - fahr, bin aber endlich, Gott ſei Dank! noch ziem - lich unverſehrt, und mit mancherlei Erfahrungen bereichert, in dieſem kleinen ſtillen Hafen gluͤklich vor Anker gekommen. Da ich ausfuhr, hatte ich keinen, der mir guten Rath gewaͤhrte; ichmußte7mußte alle meine Erfahrungen auf eigene Koſten, oft theuer genug, einkaufen. Aber nun ich ſie habe, ſollen ſie nicht mit mir ins Grab gelegt werden; ſie ſollen mein Vermaͤchtnis ſein, wel - ches ich dir, mein Einziger, hinterlaſſen wil. O freue dich, du haſt eine reiche Erbſchaft gethan, wenn du ſie zu nuͤzen weißt!
Hoͤre mir alſo mit Aufmerkſamkeit zu, und erinnere mich allenfals, wenn ich in den gewoͤhn - lichen Fehler des Alters fallen, und in geſchwaͤzige Ausſchweifungen gerathen ſolte. Denn es iſt mein ernſtlicher Wunſch, dieſen Abend nicht mehr und nicht weniger zu reden, als was dir zur gluͤklichen Fuͤhrung deines kuͤnftigen geſchaͤftigen Lebens zu wiſſen noͤthig iſt.
Vor allen Dingen merke dir dieſes, mein Kleon! Wer mit gluͤklichem Erfolg, zu ſeiner und zu anderer Zufriedenheit auſſer ſich wirken wil, der muß zuvor auf ſich ſelbſt gewirkt haben. O wie viele kenne ich, die dieſe Wahrheit zu ſpaͤt lernten, und die unwiederbringliche Zeit,A 4welche8welche daruͤber verfloſſen iſt, mit ihrem Herzens - blute zuruͤkkaufen moͤgten!
Archimedes verlangte nur einen feſten Punkt, um den ganzen Erdbal aus ſeinem Gleiſe zu ſchieben. Auch in der moraliſchen Welt bedarf jeder, der große Wirkungen hervorbringen wil, gleichfals eines ſolchen feſten Punktes. Und der muß in uns ſelbſt ſein. Wehe dem, der ſeine Kraft auf den Umkreis richtet, ohne das Centrum gehoͤrig befeſtiget zu haben!
Ich wil ohne Metapher reden. Wer aͤuſſer - liche Geſchaͤfte, welche auf das Wohl der menſch - lichen Geſelſchaft abzielen, uͤbernehmen wil (und ich ſeze voraus, daß der Man von Ehre und Ge - wiſſen ſich zu keinem andern wird gebrauchen laſſen) der fange doch ja damit an, ſich ſelbſt zu beſſern, ſich ſelbſt in allem, was gut und edel iſt, auf immer zu befeſtigen, und ſich dadurch ein Maaß von innerer Zufriedenheit zu erwerben, welches ſein Herz nicht mehr zu faſſen vermag, und es daher auf andere Weſen auſſer ſich uͤber - fließen zu laſſen, ſich gedrungen fuͤhlt. Wer dieſes verabſaͤumt, und gleichwohl ins Große wir -ken9ken wil, der gleicht jener pralenden, aber kurzen Lufterſcheinung, welche den Glanz eines Fixſterns nachahmt, aber keine bleibende Staͤte hat, und dahinfahrend in einem Nu! erloſchen iſt!
Mein Kleon! die Hand aufs Herz, und wohlbedaͤchtig unterſucht, wie es in Anſehung dieſes Einen, welches ſo ſehr noth iſt, mit dir beſchaffen ſei! — Biſt du dir bewußt, daß die Liebe zu allem, was wahr und gut und ſitlich ſchoͤn iſt, ſchon wirklich tiefe unaustilgbare Wur - zeln in dir geſchlagen habe; daß du dich beſtrebt habeſt, und noch taͤglich beſtrebeſt, deine Nei - gungen alle wohl zu ordnen, und der beſtaͤndigen Lenkung der Vernunft und des Gewiſſens zu un - terwerfen; daß das Laſter jeder Art eine ſo haͤß - liche abſchrekkende Geſtalt in deinen Augen an - genommen habe, und dein ſitliches Gefuͤhl zu - gleich ſchon ſo verfeinert und ſo geſchaͤrft ſei, daß du das, was boͤſe iſt, unter jeder noch ſo reizenden Larve, durch ein ploͤzliches Gegengefuͤhl erkennen, und immer verabſcheuen, und immer davor zuruͤk - ſchaudern wirſt; biſt du dir endlich des redlichen Vorſazes bewußt, dich in dieſen angefangenenA 5guten10guten Geſinnungen taͤglich mehr und mehr be - feſtigen, und ſo von Stufe zu Stufe zu dem hoͤchſten Gipfel der Volkommenheit, welcher hie - nieden fuͤr uns erreichbar iſt, hinan klimmen zu wollen: dan trete mit Gott und gutem Muthe in die Laufbahn, welche die goͤtliche Vorſehung dir eroͤfnen wird, und zweifle nicht, daß du den Lauf vollenden, und ein herliches Ziel erreichen werdeſt.
Kanſt du aber (und Gott verhuͤte, daß du hieruͤber noch niemahls mit dir ſelbſt ſolteſt zu Rathe gegangen, oder wohl gar in einer ſo wichtigen, alles entſcheidenden Sache der ge - ringſten Verſtellung faͤhig ſein!) kanſt du, ſage ich, dir ſelbſt hieruͤber noch keine beruhigende Antwort geben: o ſo halte dich doch ja noch nicht fuͤr berufen, irgend ein anderes Geſchaͤfte zu be - ginnen, als dieſes noͤthigſte unter allen — das Geſchaͤft deiner eigenen ſitlichen Ausbeſſerung!
Denn, glaube deinem alten Vater, der ja wahrlich keine Urſache haben kan, dich hinter - gehen zu wollen, und der es dir bei dieſem ſei - nen grauen Haupte und bei der Hofnung einerſeeligen11ſeeligen Zukunft betheuert, daß weder irgend eine wahre dauerhafte Gluͤkſeeligkeit fuͤr den ungebeſ - ſerten Menſchen moͤglich ſei, noch daß derjenige, der ſich nicht ſelbſt durch das Bewuſtſein ſeiner Rechtſchaffenheit innerlich gluͤklich fuͤhlt, andere Menſchen auſſer ſich gluͤklich machen koͤnne. Und das iſt doch, hoff’ ich, die Abſicht, warum wir oͤffentliche Geſchaͤfte uͤbernehmen!
Niemand kan etwas geben, was er ſelbſt nicht hat: das iſt eine ſimple und unlaͤugbare Wahrheit. Was folgt daraus? Das, was ich geſagt habe, daß man andern Weisheit, Guͤte und Gluͤkſeeligkeit wirklich nicht anders mittheilen koͤnne, als nur in dem Grade, in welchem man ſelbſt ſchon weiſe, gut und gluͤklich geworden iſt.
Hoͤre, mein Sohn, ich habe dir eine traurige Wahrheit zu ſagen: auf dieſer ſchoͤnen Erde, welche fuͤr Weſen, die den Geſezen der Natur — Gottes Geſezen — beſtaͤndig treu blieben, ein wirkliches Paradies ſein muͤßte, leben wenig gluͤckliche Menſchen. Nim dieſe unſeelige Beobachtung ſo lange auf Treu und Glauben von mir an, bis du ſie ſelbſt wirſt beſtaͤtigetgefunden12gefunden haben. Die Quelle dieſes algemeinen Elendes, welches die Menſchheit ergriffen hat, iſt nicht in Gott, nicht in der von ihm geſchaffe - nen Natur; ſie iſt in den Menſchen ſelbſt, in ih - rem verwoͤhnten, von unreinen Leidenſchaften un - aufhoͤrlich beunruhigten Herzen. Unter dieſen Leidenſchaften gibt es vornemlich drei, welche das in Wahrheit fuͤr die Menſchen ſind, was in der Fabellehre die drei Hoͤllenfurien fuͤr die Verdamten waren; ſie heiſſen Ehrſucht, Ueppigkeit und Un - zucht.
Jede von dieſen Leidenſchaften iſt ein gefraͤßiger Wurm, der die ſchoͤne Blume, Gluͤkſeeligkeit ge - nant, wovon der Schoͤpfer den Keim in alle ſeine Geiſter gelegt hat, unaufhoͤrlich an der Wurzel benagt. Wehe dem Herzen, in welches der eine oder der andere von ihnen ſich einmal eingeſchlichen hat! Und — o Jammer! in viele, vielleicht — ich zitre, indem ichs ſage — vielleicht in die meiſten, haben alle drei zugleich den Eingang ge - funden!
Daher die algemeine Unzufriedenheit unter den Menſchen! Daher die algemeine Erſchlaffungaller13aller urſpruͤnglichen Kraͤfte der Menſchheit und ihre merklich zunehmende Unfaͤhigkeit zu allem, was edel und groß iſt! Daher — doch dieſe Klagen wuͤrden mich zu weit fuͤhren. Meine Abſicht war ja nur, dich auf dieſe Erbfeinde der menſchlichen Gluͤkſeeligkeit, dieſe maͤchtigſten Stoͤrer eines zufriedenen und gemeinnuͤzigen Le - bens aufmerkſam zu machen, damit du den ſtaͤrk - ſten Harniſch der Vernunft und der Religion wi - der ſie anlegen, und vor ihren, anfangs unmerk - lichen Angriffen, beſtaͤndig auf deiner Hut ſein moͤgeſt.
Haſt du nun ſolchergeſtalt bei dir ſelbſt an - gefangen; und glaubſt du, mit der Bildung dei - nes eigenen Herzens in ſo weit zur Richtigkeit gekommen zu ſein, daß du nicht beſorgen darfſt, den tauſendfaͤltigen Verſuchungen zum Laſter, denen du entgegen gehſt, jemahls unterzuliegen: dan ſei dein naͤchſtes wichtiges Geſchaͤft, deine eigenen Kraͤfte wohl zu pruͤfen, um ihnen einen ihrer Groͤße genau angemeſſenen Wirkungskreis zu beſtimmen. Das habengemeinig -14gemeiniglich grade die edelſten Selen verabſaͤumt; und dieſe Vernachlaͤßigung allein erklaͤrt dem nach - denkenden Beobachter ſchon zum Theil das ſonſt unaufloͤslichſcheinende Raͤthſel, warum auch dieſe, welche in dem Reiche eines alweiſen und alguͤtigen Weltregenten einer ausgezeichneten Gluͤkſeeligkeit genießen ſolten, nicht ſelten elend ſind.
Es ſind aber hiebei vornehmlich vier Re - geln zu beobachten, die ich dir mittheilen wil.
Die erſte und wichtigſte unter allen iſt dieſe: wolle, indem du auf die Schaubuͤhne des geſchaͤftigen Lebens tritſt, nicht glaͤnzen, ſondern nuͤzen und gluͤklich ſein! O eine goldene Regel, deren Beobachtung Zufriedenheit, deren Vernachlaͤßigung unausbleibliches Elend zum Gefolge hat! Und doch, wie ſelten wird ſie befolgt!
Der junge ruͤſtige Geiſt des Juͤnglings, durch eine thoͤrichte Erziehung und durch das al - gemeine Beiſpiel zur Ehrſucht entflamt, fuͤhlt kaum den erſten duͤrftigen Knospen der fruͤhreifen Manskraft ſeiner Sele zum Ausbruch anſchwellen: ſo ſchaut er ſchon gierig umher, und brent, undlechzt15lechzt nach einer Gelegenheit, wobei er dem, ſei - ner Meinung nach, erſtaunten Publikum ankuͤn - digen koͤnne: feht doch, auch ich bin da! Hat er nun eine ſolche Gelegenheit erhaſcht, und findet ſich dan irgend ein thoͤrichter Menſchenverder - ber, der aus Eitelkeit, um ſich das Anſehn eines Be - ſchuͤzers zu geben, oder aus Schwachheit und unweiſer Gefaͤlligkeit, auf ſein Seht doch! achtet, den jungen Gekken ſtreichelt, ihn wohl gar aus dem Haufen hervor ans helle Tageslicht zieht, und noch einmahl ſelbſt ſeht doch! ruft: dan gute Nacht Beſcheidenheit! Gute Nacht gerader, ein - faͤltiger, reiner Menſchenſin! Gute Nacht Gluͤk - ſeeligkeit!
Von Stund an iſt das Dichten und Trachten des jungen Thoren auf nichts anders gerichtet, als wie er Augen auf ſich ziehen, und von ſich ſchwazen laſſen moͤge. Die Mittel, dieſen Zwek zu erreichen, kommen nicht weiter in Betrachtung, als in ſo fern ſie mehr, oder weniger, geſchwin - der oder langſamer wirkſam ſind. Ob ſie uͤbri - gens mit den Grundſaͤzen der wahren Ehre und der ſtrengen Rechtſchaffenheit beſtehen koͤnnen,das16das wird nicht mehr bedacht. Es iſt ihm nur ums Beruͤhmtwerden zu thun; wil’s nicht als Architekt gehen, der den Tempel baut: flugs wird das ruhmgierige Maͤnchen ein Heroſtratus, der ihn verbrent. Hat er ſich doch ſo auch ver - ewiget!
Nun iſt das Gefuͤhl fuͤr jedes andere natuͤr - lich gute, edle und große Vergnuͤgen in ſeiner Bruſt erſtorben. Todt iſt ihm die ganze ſchoͤne Natur mit allen ihren Freuden; ekelhaft jede ſtille beſcheidene Familiengluͤkſeeligkeit; trokken und abgeſchmakt jedes noch ſo nuͤzliche Geſchaͤft, wobei man nur nicht glaͤnzen kan. Er hat forthin nur noch Einen Sin, den heilloſen Sin fuͤr Lob und Ruhm! So lange dieſer gekizelt wird, iſt ihm die Welt ein Himmel, der Kizelnde ein Engel, er ſelbſt ein Halbgott! Laͤßt der Kizel nach, wird er wohl gar an dieſer ſeiner einzigen empfindlichen Stelle durch Tadel verwundet: in dem Augenblik iſt ihm die Welt eine Hoͤlle, jeder Menſch ein Teufel, er ſelbſt ein Maͤrtirer! So hat der Un - gluͤkliche dem Vergnuͤgen nur ein einziges ſchmales Pfoͤrtchen zu ſeinem Herzen offen gelaſſen, und demMisver -17Misvergnuͤgen tauſend weite Fluͤgelthuͤre auf - gethan!
O mein Sohn! Haͤtt’ ich Urſache zu beſorgen, daß du jemahls, durch Beiſpiel angeſtekt, in dieſe eben ſo thoͤrichte, als gefaͤhrliche Seuche der Ruhm - ſucht verfallen koͤnteſt: ich wolte Gott auf meinen Knien bitten, daß er dir jedes Talent, jede Kraft zu irgend einer vorzuͤglichen Wirkſamkeit, welche dir Beifal erwerben koͤnte, verſagen moͤgte; wolte Tag und Nacht ihn bitten, daß er dir nur grade ſo viel koͤrperliches und geiſtiges Vermoͤgen ließe, als der ehrliche Holzhauer bedarf, um ſich vor Mangel zu ſchuͤzen! Denn, bei Gott dem Alwiſſenden! du wuͤrdeſt ſo viel gluͤklicher ſein!
“Aber, wirſt du vielleicht denken, die Ehrbe - gierde iſt doch ein ſo maͤchtiger Sporn zu vielem Guten, welches, ohne ſie, wohl unerreicht blei - ben wuͤrde! „ — Ja, wohl ein Sporn — aber wehe dem traͤgen Roſſe, welches innerer antrei - benden Kraͤfte beraubt, nicht anders laͤuft, als wenn es von auſſen geſpornt wird! Es wird frei - lich des Sporns wegen ſeine Kraͤfte uͤbernehmen; aber auch bald ermattet und ſteif nur nochBzum18zum Karngaul tuͤchtig ſein. Mache ſelbſt die Anwendung.
Eine zweite Bedenklichkeit, die man mir ent - gegen ſezen koͤnte, iſt eben ſo ungegruͤndet. Wie ſol aber, koͤnte einer fragen, ein junger Menſch ſein Gluͤk machen, wenn er ſich nicht fruͤhzeitig hervorzuthun, vor andern auszuzeichnen ſucht? Sein Gluͤk machen? Das ſol vermuthlich ſo viel heiſſen, als eintraͤgliche Ehrenaͤmter, Titel und Wuͤrden erlangen? Wenn das der Sin dieſer Phraſe iſt (wie er es in dem gemeinen Sprachgebrauche denn wirklich iſt): ſo hatt’ ich in meinen juͤngern Jahren ſo gut, als einer meines Standes, mein Gluͤk auch gemacht, und es ſtand lediglich bei mir, es noch weiter zu machen. Und doch muß ich, als ein ehrlicher Man betheuern, daß ich meine wirkliche Gluͤk - ſeeligkeit erſt von dem Tage an datire, da ich auf jenes gemachte und noch zu machende Gluͤk frei - willig Verzicht that, um von der Welt vergeſſen, in dieſer ſtillen Gegend, mir und meinen Lieben zu leben, und ohne Geraͤuſch im Kleinen Guts zu thun.
Zwar19Zwar dieſes Zuruͤkziehn aus dem Gewuͤhl des oͤffentlichen Lebens in die ſtille Einſamkeit muͤſſe von keinem andern fuͤr ein Beiſpiel zur Nachah - mung gehalten werden, als von dem, der entwe - der ſich bewußt iſt, der menſchlichen Geſelſchaft fuͤr ſein Theil ſchon genug gedient zu haben; oder der aus irgend einer wichtigen Urſache ſich unfaͤ - hig fuͤhlt, ihr fernerhin ſeine Dienſte angedeien zu laſſen; oder endlich auch von dem, der da Mittel und Wege weiß, auch in der Einſam - keit ein fuͤr ſeine Bruͤder gemeinnuͤziges Leben zu fuͤhren. Und ich darf ſagen, daß, wo nicht der erſte Fal, doch wenigſtens der zweite und dritte derjenige geweſen ſei, worin dein Vater ſich befand, da er von dem großen Welttheater abzutreten fuͤr noͤthig erachtete.
Denn Gott hat ſeine ſchoͤne Welt nicht fuͤr unthaͤtige, blos betrachtende Einſiedler geſchaffen. Er wil, daß der Menſch geſellig ſei, und daß je - der das Maaß von Kraͤften, welches ihm ver - liehen worden, zum gemeinen Beſten verwende. Dazu ſolſt auch du alſo das deinige brauchen; ſolſt durch ſo viel edle Thaten, als dir nur immerB 2moͤglich20moͤglich ſind, dich hervorthun, doch ohne dieſes Hervorthun zum Zwek deiner Thaten zu machen; ſolſt dir dadurch den Weg zu Ehren und Wuͤr - den bahnen, aber nicht, als wenn dieſe Ehren und Wuͤrden an ſich ſelbſt etwas Wuͤnſchens - werthes, das Endziel unſerer Beſtrebungen waͤren; ſondern weil ſie Mittel ſind, wodurch wir hoͤhere, wirklich wuͤnſchenswerthe Zwekke erreichen koͤnnen.
Und dazu, glaube mir, mein Sohn, bedarf es keines aͤngſtlichen Hervordraͤngens, keines ge - ſuchten Schimmers, der die Augen der Leute auf ſich zieht. Der Man von Verdienſt hat ſchon von ſelbſt, wenn ich mich ſo ausdruͤkken darf, eine gewiſſe Witterung, welche die Kenner aufmerkſam auf ihn macht, und es iſt ihm bei - nahe unmoͤglich, in der Laͤnge verborgen oder ver - kant zu bleiben. Und bliebe er’s auch: nun, ſo wuͤrde er doch nicht vergebens da geweſen ſein; es wuͤrde ihm, wie der Sonne, gehn, wenn der Dunſtkreis mit dikken Wolken angefuͤlt iſt. Als - dan erleuchtet und erwaͤrmt ſie den Erdkreis, ohne ſelbſt geſehen zu werden. Aber iſt ſie deswegenweniger21weniger Sonne? Und wird ſie, wenn die krie - chende Raupe auf ihrem Kohlblat ſie verkent, nicht von dem koͤniglichen Adler bemerkt, der ſich uͤber die Wolken ſchwingt? — Crede mihi, bene vixit, bene qui latuit!
Die zweite beſondere Regel, welche aus jener algemeinen, die ich dir empfohlen habe, gleich - fals abfließt, iſt dieſe: laß deinen moraliſchen Wirkungskreis anfangs nur auf diejenigen eingeſchraͤnkt ſein, welche dir die naͤchſten ſind, und ruͤkke die Grenzen deſſelben nur in dem Maaße almaͤhlig weiter, in welchem du deine Abſicht bei dieſen ſchon erreicht haſt, und nun noch Kraͤfte zu ausgedehn - tern Wirkungen uͤbrig fuͤhlſt. Ich wil mich umſtaͤndlicher erklaͤren.
Die endliche Kraft eines ſchwachen Sterblichen iſt ja nicht almaͤchtig. Sie kan ja nicht, wie Gottes Kraft, auf alle Weſen auſſer ihr zugleich wirken; ſie muß alſo ihre jedesmaligen Wirkun - gen nur auf einzelne Gegenſtaͤnde einſchraͤnken. Wer kan aber jedesmahl das naͤchſte und groͤßteB 3Recht22Recht auf unſere nuͤzliche Wirkſamkeit haben, als diejenigen, welche die Natur, oder die goͤt - liche Vorſehung, am naͤchſten und innigſten mit uns verbunden hat? Wuͤrd’ es nicht unaus - ſprechlich thoͤricht und ungerecht zugleich ſein, wenn ein Arzt, der ſeiner Kunſt gewiß waͤre, ſeine Zeit damit verſchwenden wolte, Arzeneimittel wider moͤgliche Krankheiten der Antipoden zu be - reiten, indes ſeine Hausgenoſſen und Mitbuͤrger an einer epidemiſchen Seuche darnieder laͤgen, und vergebens um Huͤlfe ſchrien? Erſt ſuche er dieſe zu retten; dan ſeine Landsleute in den naͤch - ſten Doͤrfern, Flekken und Staͤdten, und ſo im - mer weiter in dem Maaße, in welchem ihm zu ausgedehntern Wirkungen Zeit und Kraͤfte von Gott verliehen werden.
Eben dieſe Pflicht der weiſen Einſchraͤnkung ſeines Wirkungskreiſes liegt nun auch dem mora - liſchen Arzte ob. Hat er ein Weib genommen, ſo ſei dieſe der naͤchſte Gegenſtand, deſſen ſitliche Vervolkomnung, naͤchſt der ſeinigen, ihm am meiſten am Herzen liegen muß. Vertraut die goͤtliche Vorſehung ihm Kinder an; ſo ziehe erdie23die Grenzlinie ſeines ausſchließenden Wirkungs - kreiſes auch noch um dieſe herum, und ſorge fuͤr die beſtmoͤgliche Erziehung derſelben. Was ihm bei dieſem Geſchaͤft an Zeit und Kraͤften uͤbrig bleibt; das werde ſeinen Hausgenoſſen, ſeinen naͤchſten Verwandten, ſeinen Freunden, ſeinen Mitbuͤrgern gewidmet. Und ſo erweitere ſich von Stufe zu Stufe die Peripherie ſeiner Wirkungen gerad in dem Maaße, in welchem er ſeine Kraͤfte wachſen und bei einer eingeſchraͤnkteren Thaͤtig - keit in einem unangenehmen Gedraͤnge fuͤhlt.
Aber er huͤte ſich hierbei ſorgfaͤltig vor einem, nur gar zu moͤglichen Selbſtbetruge. Der menſch - liche Geiſt, welcher ſeiner Natur nach immer ins Unendliche ſtrebt, und jede Art von Einſchraͤn - kung aͤuſſerſt ungern ertraͤgt, uͤberredet ſich nur gar zu leicht, daß die naͤchſte Arbeit, wozu ihn ſeine Pflicht auffodert, ſchon gethan ſei: daß er zu etwas Groͤſſerem Beruf habe; daß er Kraͤfte und Faͤhigkeiten in Ueberfluß beſize, den Pflichten des Gatten, des Vaters, des Freundes und des Buͤrgers ein Genuͤge zu thun und demohngeachtet auch noch aufs Ganze zu wirken. Wehe ihmB 4und24und ſeiner verwaiſeten Familie, wenn er dieſem verfuͤhreriſchen Gefuͤhl, ohne lange und ſorgfaͤl - tige Pruͤfung, traut, und ſeine von wildem auf - brauſendem Enthuſiasmus angeſchwollene Kraͤfte nun ſogleich die Daͤmme zerreiſſen laͤßt! Was wird die Folge ſein? Er wird in kurzer Zeit ſo ſehr Geſchmak an großen glaͤnzenden Wirkungen finden, daß die kleinen haͤuslichen Familienſcenen ihm zum Ekel werden; ſeine ungluͤkliche Gattin, ſeine beklagenswuͤrdigen Kinder[werden] ihm fremd werden; er ſelbſt wird mit Herz und Geiſt uͤberal, nur nicht zu Hauſe ſein.
Glaube mir, mein Sohn, nur ſehr wenige Menſchen ſind berufen, Lichter der Welt zu ſein. Aber nach dem Maaße ſeiner Einſichten ſein Weib, ſeine Hausgenoſſen zu erleuchten, den Beruf hat jederman, der die Wuͤrde eines Haus - vaters uͤbernommen hat.
“Ein Man von mehr, als gewoͤhnlicher Faͤ - higkeit, ſagt ein Schriftſteller von großen Ta - lenten,*)Wieland. hat noch genug an ſeiner eigenen Beſ -ſerung25ſerung und Vervolkomnung zu arbeiten. Er iſt am geſchikteſten zu dieſer Beſchaͤftigung, nachdem er durch eine Reihe betraͤchtlicher Erfahrungen ſich ſelbſt und die Welt kennen zu lernen angefan - gen hat, und indem er ſolchergeſtalt an ſich ſelbſt arbeitet, arbeitet er wirklich fuͤr die Welt. Denn um ſo viel geſchikter wird er, ſeinen Freun - den, ſeinem Vaterlande und den Menſchen uͤber - haupt nuͤzlich zu ſein und in einem groͤßern oder kleinern Kreiſe mit mehr oder weniger Gepraͤnge, auf eine oͤffentliche oder nicht ſo merkliche Art, zum algemeinen Beſten des Siſtems mitzu - wirken. „
Es iſt eine der gefaͤhrlichſten Seuchen, an der unſer Zeitalter vorzuͤglich krank liegt, daß jeder unbaͤrtige Knabe, der ſo eben erſt der Ruthe ſeines Lehrmeiſters entſprungen iſt, ſich nun ſchon fuͤr faͤhig und fuͤr berufen haͤlt, ein Lehrer des menſchlichen Geſchlechts zu werden. Hat er einige Romane und Gedichtchen, einen Wuſt ſogenanter gelehrten Zeitungen und Bibliotheken geleſen; hat er ein Paar Duzend ſchoͤnklingender neumodiſcher Phraſen und affektirter WendungenB 5auf -26aufgeſchnapt: huſch! iſt das gelehrte Naͤrchen am Schreibpult, um ſie dem lieben Publikum, welches mit dergleichen ſuͤßlichen und faden Zeuge ſich den Magen ſchon ſo oft uͤberladen hat, viel - leicht zum taufendſten male aufgewaͤrmt und an - gewaͤſſert, von neuem wieder aufzutiſchen. Es wuͤrde ein unausſtehlicher Anblik ſein, wenn ein Maler eine Verſamlung ehrwuͤrdiger Greiſe mahlte, und vor ihnen einen Ourang Outang in geheiligtem Ornat, als Lehrer, auftreten ließe, der die Geſelſchaft mit Grimaſſen unterhielte: und dieſen[aͤrgerlichen] Anblik muͤſſen wir gleichwohl mit jeder neuen Meſſe wohl hundert und mehr - mahl in Natura ertragen. —
Huͤte dich, mein Sohn, vor dieſer eben ſo laͤcherlichen als ſchaͤdlichen Autorſeuche. Wiſſe, daß das fuͤrchterliche Anſchwellen der Buͤcher und die damit verbundene Leſewuth, welche taͤglich weiter um ſich greift, eine Folge und zu - gleich mit eine Urſache der immer groͤſſer wer - denden Verderbniß unſerer Sitten und der ganzen Menſchheit iſt. Man ſchreibt und lieſet, nicht um zu beſſern, nicht um gebeſſert zu werden, ſon -dern27dern jenes um zu glaͤnzen, um Geld und Ruhm zu erwerben, ohne etwas Gemeinnuͤziges und Ruhmwuͤrdiges thun zu duͤrfen, dieſes um die zerſtreute, von aller nuͤzlichen Thaͤtigkeit abge - wandte Sele noch mehr zu zerſtreuen, in den Schlaf der Vergeſſenheit aller haͤuslichen und buͤrgerlichen Pflichten noch tiefer einzuwiegen. Man lehrt und ſchreibt, um nicht lernen und denken zu duͤrfen; man lieſt, um aller Arbeit uͤber - hoben zu ſein, und doch nicht Langeweile zu haben.
Bis ziemlich weit in die Mitte des gegen - waͤrtigen Jahrhunderts, war es im Algemeinen wahr, daß in unſerm deutſchen Vaterlande der phiſiſche Theil der Menſchheit uͤber den morali - ſchen, der koͤrperliche uͤber den geiſtigen ein ſchaͤd - liches Uebergewicht hatte. Dank ſind wir daher allen denen ſchuldig, die auf eine oder die andere Weiſe etwas dazu beigetragen haben, die Kraͤfte der Menſchheit auch auf der vernachlaͤßigten Seite anzubauen; Talente und Faͤhigkeiten in uns zu erwekken, deren ſchlummerndes Daſein in uns wir kaum ſelbſt zu ahnden uns getrauten, und dadurch den geiſtigen Theil unſerer Natur zu einerStufe28Stufe der Kultur zu erheben, die er, ſo alge - mein wie nun, noch nie erreicht hatte. Der Ge - ſchmak iſt veredelt, das ſitliche Empfindungsver - moͤgen verfeinert, die Einbildungskraft befluͤgelt, der Verſtand und das Gedaͤchtniß mit einer uͤber - ſchwenglichen Fuͤlle von Kentnißen bereichert, und zugleich die ganze Auſſenſeite des Menſchen mit erkuͤnſtelter Anmuth uͤberſirnißt worden. Gluͤk - lich, wenn das himliſche Roß, nach Plato’s Allegorie, ſeinen irdiſchen Gefaͤhrten mit ſich hin - aufgezogen haͤtte auf den Felſengipfel, wohin man es geſpornt hat, und nun beide ihren Lauf gemeinſchaftlich fortſezen koͤnten! Aber leider! iſt dis nicht geſchehen. In eben dem Maaße, in welchem die Kultur des Geiſtes durch Kuͤnſte und Wiſſenſchaften betrieben ward, hat man die koͤr - perlichen Kraͤfte unſerer Natur, hat man zugleich Luſt und Vermoͤgen zu allen anſtrengenden, die Phantaſie und die beſchauenden Faͤhigkeiten un - ſerer Sele weniger beſchaͤftigenden Arbeiten, hat man die den Deutſchen ſonſt ſo eigene Strebſam - keit und das unverdroſſene Ausdauern in anhal - tenden und muͤhſamen Geſchaͤften, hat man end -lich29lich den nazionalen Muth in Gefahren und den ruhigen heitern Biderſin bei jeder Abwechſelung des Schikſals, immer mehr und mehr abnehmen, kraͤnkeln, hinſinken und abſterben geſehen. Und bei dieſer Lage der Menſchheit ſolt’ es noch im - mer fuͤr ein auszeichnendes Verdienſt gehalten werden, die Werkzeuge jener ungluͤklichen einſei - tigen Kultur zu vermehren? Ins Unendliche zu vervielfaͤltigen? Glaube mir, mein Sohn, es iſt jezt in den meiſten Faͤllen ein viel verdienſtli - cheres Werk, eine Quadratruthe Moorland urbar gemacht, oder einen Stein Flachs geſponnen zu haben, als der Verfaſſer eines Schauſpiels, eines Romans, oder eines Baͤndchen allerliebſter Ge - dichtchen zu ſein. *)Indem der weiſe und gute Antonin die Wohl - thaten aufzaͤhlt, welche der Himmel ihm waͤh - rend ſeines Lebens erwieſen, rechnet er vor - nehmlich auch dieſes hinzu, daß er ihn be - wahrt habe, — ein ſchoͤner Geiſt zu werden. “Den Goͤttern habe ich es zu verdanken, ſagt er, daß ich in der Rhetorik, der Poeſie, und in andern aͤhnlichen Studien keinegroͤſſere
Strebe30Strebe alſo nicht nach der eingebildeten Ehre, deinen Nahmen in den Meßverzeichniſſen aufge - fuͤhrt zu ſehn. Schraͤnke vielmehr alle deine moraliſchen Wirkungen auf dich ſelbſt und auf die Lieben ein, welche Gott durch Familienbande mit dir verknuͤpfen wird. Nur dan erſt, wan du, unter goͤtlichem Beiſtande, dieſe begluͤkt haſt; wan deine, deiner Gattin und deiner Kinder Selen durch die reinſte und zaͤrtlichſte Liebe ver - bunden, gleichſam in einander gewachſen ſind, und keine Erſchlaffung dieſer heiligen Bande durch die Zerſtreuungen und Muͤhſeeligkeiten, welche[die] Wirkſamkeit aufs Ganze unausbleib - lich mit ſich fuͤhrt, weiter zu beſorgen haben; und wenn dein Herz dan von eigener Gluͤkſeelig - keit ſo vol iſt, daß es, ohne von Eitelkeit und Ruhmſucht dazu angeſpornt zu werden, ſich maͤch - tig gedrungen fuͤhlt, dieſe eigene Gluͤkſeeligkeit auf andere, durch die Menſchheit mit ihm ver - wandte Weſen uͤberfließen zu laßen: dan, meinSohn,*)groͤſſere Fortſchritte machte; denn dieſe Kuͤnſte wuͤrden mich, waͤre ich gluͤklicher darin geweſen, gar ſehr verſtrikt haben. „31Sohn, dan theile mit, was du gemeinnuͤziges haſt; werde Schriftſteller, werde Sittenverbeſſe - rer, werde Lehrer der Menſchheit, und laß deine Sele die heilige Wolluſt, zum Gluͤk fuͤr Tauſende gelebt zu haben, in vollen Zuͤgen trinken!
Vernim jezt eine dritte Warnung, welche zur genauern Beſtimmung der obengegebenen al - gemeinen Regel gleichfals gehoͤrt. Sie iſt dieſe: Huͤte dich vor jeder Ueberſpannung deiner Kraͤfte: denn auf Ueberſpannung erfolgt Erſchlaffung, und der Zuſtand der Erſchlaf - fung iſt allemahl ein ungluͤklicher Zuſtand. Auch hierin verſehen es gemeiniglich grade die edelſten jungen Maͤnner, wenn Liebe zur Sache und Ehrbegierde ſie entflamt haben. Wuͤthend fallen ſie uͤber ihre jedesmalige Lieblingsarbeit her; vergeſſen Speis und Trank, Ruhe und Erquikkung, und hoͤren gemeiniglich nicht eher auf, bis ſie ſich durchaus entkraͤftet und zu fer - nerer Anſtrengung unfaͤhig fuͤhlen. Das iſt auch unweislich gehandelt! ſehr unweislich!
Denn32Denn zu geſchweigen, daß alle Kraͤfte, ſo - wohl die geiſtigen, als auch die koͤrperlichen, ſelbſt dabei verlieren, und nach und nach zu Grunde gerichtet werden: ſo wuͤrde dieſer Mißbrauch der - ſelben ſchon um deswillen gar ſehr zu wider - rathen ſein, weil ein Menſch, der ſolche Ueber - ſpannungen oft erfaͤhrt, alle diejenigen, welche um ihn ſind, vornehmlich ſeine Familie, und eben dadurch auch ſich ſelbſt, nach und nach un - fehlbar elend macht.
Denn es iſt in der Natur des Koͤrpers und der Sele gegruͤndet, daß auf jede Ueberſpannung unſerer Kraͤfte eine gewiſſe Unbehaͤglichkeit, eine gewiſſe Geneigtheit zum verdruͤslichen, muͤrri - ſchen Weſen folgen muß, welches ſich eben ſo ſehr, als unſere freudigen Empfindungen, zur Mittheilung in uns drengt. Koͤmt nun der un - maͤßige Arbeiter mit einer ſolchen Gemuͤthsfaßung aus ſeinem Kabinette in den Schooß ſeiner Fa - milie zuruͤk: was iſt natuͤrlicher, als daß er an den zaͤrtlichen Liebkoſungen ſeiner treuen, nach ſeiner Gegenwart ſchmachtenden Gattin und an dem freudigen Gewuͤhl ſeiner Kleinen[um] ihnher,33her, keinen Gefallen findet; daß er ſie durch Mienen und Worte von ſich zuruͤkſchrekt; daß er nichts recht findet, nichts nach ſeinem Kopfe, und uͤber alles Gloſſen macht! Da muß das arme leidende Weib ihre maͤchtigſten und ſuͤßeſten Gefuͤhle der ehelichen Zaͤrtlichkeit dan in ſich ſelbſt verſchließen; muß ſtum und traurig da ſizen, in - des ihr Innerſtes von liebevollen Empfindungen kocht, und ihr treues Herz ſich ſtuͤndlich losreiſſen moͤgte, um an den Buſen des geliebten Unholds zu fliegen.
Mein Kleon, ich rede dieſes aus einem innern wehmuͤthigen Selbſtgefuͤhle. Warum ſolt’ ichs dir vorheelen? Auch ich bin, waͤhrend meinem geſchaͤftigen Leben nicht ſelten in dieſen traurigen Fehler verfallen. Und wolten alle die hochbe - ruͤhmten Leute, welche zum Theil unter dem praͤch - tigen Titel Menſchenfreunde! bekant ſind, of - fenherzig ſein: ſo wuͤrdeſt du das Echo dieſes meines freiwilligen Geſtaͤndniſſes aus tauſend und tauſend Studierſtuben wiederhallen hoͤren. Aber man legt nicht gern eher ein Geſtaͤndnis ſeiner Fehler ab, bis man ſich davon gebeſſert hat.
CSpiegle34Spiegle dich an dieſen Beiſpielen, mein Sohn, und huͤte dich, daß du niemahls in eben denſelben Fehler falleſt. Denn wiſſe, daß ich nie ungluͤk - licher war, als damahls, ob ich gleich Ehre, Gluͤksguͤter und Geſundheit in Ueberfluß beſaß, und von jederman fuͤr ſehr begluͤkt gehalten wur - de. Denn, wo keine Liebe iſt, da kan, beim Him - mel! auch keine Gluͤkſeeligkeit ſein. Und Men - ſchenliebe, ohne Familienliebe, iſt die luͤgenhaf - teſte Larve, womit eine menſchliche Sele nur im - mer pralen kan.
Du ſiehſt, mein Sohn, ich komme immer auf den einigen großen Punkt zuruͤk, auf den ich nun ſchon ſo oft hingewieſen habe, auf — Fa - miliengluͤkſeeligkeit. Dieſe (o moͤgt’ ichs doch allen Juͤnglingen tief in die Sele rufen koͤnnen!) dieſe laß in jeder Lage deines kuͤnftigen Lebens dir immer uͤber alles gelten, und achte alles fuͤr Schaden, was ihr Eintrag thut, waͤr’s auch noch ſo ſchimmernd! Suche durch ſanfte Guͤte und zuvor - kommende Gefaͤlligkeit Gluͤk und Zufriedenheit uͤber alle deine Lieben, uͤber alle deine Hausgenoſſen, rund um dich her zu verbreiten: ſo wirſt du dei -nem35nem erſten und heiligſten Berufe ein Genuͤge thun; ſo wirſt du dir einen ſichern Hafen bauen, in welchen du, wenn die Stuͤrme der Widerwaͤr - tigkeit erwachen, und die Wogen der Truͤbſal daherrauſchen, dich zuruͤkziehen, und an dem treuen liebevollen Buſen der Freundin deiner Sele von allen deinen Sorgen ausruhen, fuͤr allen deinen Kummer lindernden Balſam finden kanſt!
Endlich, mein Sohn, beobachte ſorgfaͤltig auch dieſe vierte Regel, welche der obigen gleich - fals untergeordnet iſt: Bevor du ein Amt uͤbernimſt, erkundige dich genau nach allen Geſchaͤften, welche daſſelbe mit ſich bringt, und nach allen Unannehmlichkeiten, welche damit verbunden ſein koͤnnen. Mache als - dan einen Verſuch, ob du jenen auch ge - wachſen ſeiſt, und pruͤfe deinen Muth, ob du dieſe auch ertragen koͤnneſt: und nur dan erſt, wan du zu beiden Kraft und Staͤrke der Sele in zureichendem Maaße bei dir wahrnimſt, werd’ es von dir uͤber - nommen. Die Vernachlaͤßigung dieſer Klug -C 2heits -36heitsregel iſt eben ſo gewoͤhnlich, als die Folgen davon traurig zu ſein pflegen.
Ich habe wenig Juͤnglinge geſehn, denen nicht Zeit und Weile lang geworden waͤre, bevor ſie zu einem Amte befoͤrdert wurden: aber noch weit wenigere, die nicht bald darauf ihre Uebereilung bereueten, und ſich zuruͤk in ihren vorigen Zuſtand wuͤnſchten. Jeder Standort in der menſchlichen Geſelſchaft, ſo glaͤnzend er auch immer ſein mag, hat ſeine großen Unbequemlichkeiten, wovon man nur den kleinſten Theil von fern erblikken kan. So oft man alſo ſich in gewiſſe Verhaͤltniſſe und Verbindungen einlaſſen wil, muß man zum Vor - aus verſichert ſein, daß man die Annehmlichkeiten derſelben durch ein[Vergroͤſſerungsglas], die Un - annehmlichkeiten hingegen durch ein umgekehrtes, mithin verkleinerndes Fernglas ſehe. Thut man dieſes nicht; ſtelt man die kuͤnftigen Arbeiten ſei - nes Berufs ſich zu leicht, und die damit verbun - denen Vortheile zu lieblich vor: ſo iſt nichts ge - wiſſer, als daß Mißvergnuͤgen und Reue die un - ausbleibliche Folge unſerer Entſchließung ſein werden.
Das37Das ſchlimſte in ſolchen Faͤllen iſt, daß der junge unerfahrne Man, aus Mangel an Welt - kentniß, die Lage eines jeden andern Menſchen fuͤr gluͤklich, und nur die ſeinige, die ſeinige allein, fuͤr aͤuſſerſt elend haͤlt. Da geht es denn gemei - niglich an ein Vergleichen ſeiner Talente, ſeiner Gemuͤthsbeſchaffenheit, mit den Talenten und Karakteren anderer Menſchen; und die Eigenliebe ſorgt dafuͤr, daß ſeine eigene werthe Perſoͤnlichkeit bei dieſer Vergleichung allemahl gewinnen muß. Dan kan er nicht begreifen, wie der und jener, die doch in jeder Betrachtung ſo weit unter ihm ſtehen, an Gluͤk und Gemaͤchlichkeit ihm ſo weit vorgeſezt ſind! Dan wird mit dem Himmel ge - ſchmolt; und der unſchuldige Himmel hat doch weiter nichts gethan, als daß er den Wunſch des jungen Thoren erfuͤlte, und ihn dahin ſtelte, wo er zu ſein ſo ſehnlich gewuͤnſcht hatte. Haͤtt’ er dieſes nicht gethan, wuͤrde ſein Weltregiment we - niger getadelt worden ſein?
Beſaͤße der unzufriedene Juͤngling diejenige Erfahrung ſchon, die er nach zehn oder zwanzig Jahren haben wird; haͤtt’ er in allen StaͤndenC 3der38der menſchlichen Geſelſchaft, in allen Faͤchern des geſchaͤftigen Lebens ſich ſchon jezt umgeſehn, und dadurch die zwar unangenehme, aber zu wiſſen hoͤchſtnoͤthige Wahrheit gelernt, daß es, wie das gemeine Sprichwort ſagt, uͤberal zerbro - chene Toͤpfe gibt: ſo wuͤrd’ er auch in ſeiner dermaligen Lage nichts idealiſch volkommenes er - wartet, und in ſeiner Rechnung ſich nicht ſo ſehr betrogen gefunden haben.
Sorgfaͤltige Erforſchung ſeiner kuͤnftigen Pflich - ten, Pruͤfung ſeiner Kraͤfte und Neigungen, fleiſſige Verſuche und Voruͤbungen in demjenigen, was man kuͤnftig leiſten ſol, maͤßige Erwartun - gen und herabgeſtimte Wuͤnſche, volkommene aus zureichender Weltkentniß geſchoͤpfte Ueberzeugung, daß dieſe unſere muͤtterliche Erde, zwar kein Jam - merthal, aber auch kein Arkadien ſei, ein be - herzter maͤnlicher Vorſaz zur ſtandhaften Ertra - gung unvermeidlicher Beſchwerlichkeiten des Le - bens; und dan Vermeidung einer zu großen Zu - dringlichkeit, und dan eine gaͤnzliche Uebergebung in den Willen der alles lenkenden Vorſehung: das, mein Sohn, das ſind die Mittel, die wir an -wenden39wenden muͤſſen, wenn wir bei der Ueberneh - mung eines Amts, was es auch fuͤr eins ſein mag, uns ein zufriedenes und gluͤkliches Leben mit Sicherheit verſprechen wollen.
Jezt, mein Kleon, laß uns von den alge - meinen Vorbereitungsregeln, die ich bis jezt dir gegeben habe, zu einigen beſondern Vor - ſchriften herabſteigen, welche die wirkliche Ver - richtung deiner kuͤnftigen Berufsgeſchaͤfte be - treffen, nachdem du dieſelben, wie ich jezt voraus - ſeze, mit weiſer Vorſichtigkeit wirſt gewaͤhlt haben.
Und hier, mein Theurer, laß dich zuvoͤrderſt an dasjenige erinnern, was ich dir ſo oft aus meiner vieljaͤhrigen Erfahrung geſagt, aus mei - ner innerſten, gewiſſeſten Ueberzeugung verſichert habe, und worauf ich dich in dem Fortgange deines eigenen jungen Lebens ſelbſt aufmerkſam zu machen, beſtaͤndig befliſſen war; — an die große Wahrheit, meine ich, daß an Gottes Seegen alles gelegen ſei. Ich darf hoffen,C 4daß40daß mein bisheriger Unterricht, und die Sorg - falt, die ich anwandte, dich zum fleißigen Nach - denken uͤber dieſe wundervolle Welt, uͤber die ganze herliche Einrichtung derſelben, uͤber die darin vor - fallenden Veraͤnderungen in natuͤrlichen und ſit - lichen Dingen, uͤber dich ſelbſt und uͤber deine ei - gene Schikſale, zu bewegen, dich voͤllig werden uͤberzeugt haben, daß alle Weltbegebenheiten, auch die allerkleinſten, alle Wirkungen der Naturkraͤfte, ſowohl in den lebendigen als auch in den lebloſen Geſchoͤpfen, von dem Willen, von dem Einfluſſe und von der beſtaͤndigen Lenkung eben des maͤch - tigen, weiſen und guͤtigen Weſens abhangen, dem das ganze Weltal ſelbſt ſein Daſein zu verdanken hat. Ich erſpare daher eine jezt unnoͤthige Wiederholung dieſes Unterrichts, und ſchraͤnke mich vorjezt blos auf folgenden, daraus abflieſ - ſenden Rath ein:
Ehe du ein Geſchaͤft unternimſt, verab - ſaͤume nie, deine ganze Sele zu Gott, dem Urquel alles Guten, inbruͤnſtig zu er - heben, und ihn um Beiſtand, und um Staͤr - kung deiner eigenen ſchwachen Kraͤfte de - muͤtigſt anzuflehen.
Du41Du weißt, mein Sohn, daß ich nie damit umging, deiner Sele einen, zwar oft gut ge - meinten, aber immer ſchaͤdlichen Aberglauben ein - zufloͤßen. Nie habe ich blinden Glauben von dir gefodert; ich habe dich vielmehr ſelbſt unterſu - chen, und dan aus eigner Ueberzeugung fuͤr wahr halten gelehrt, was dir als Wahrheit einleuchtete. Dieſem meinen Grundſaze getreu wil ich dir auch jezt nicht weiß zu machen ſuchen, daß Gott um deines Gebeths willen die ewigen Geſeze der Natur umaͤndern, und deine Geiſtesfaͤhigkeiten auf eine wunderthaͤtige Weiſe erhoͤhen und ſtaͤrken werde. Nein, Kleon, das erwarte nicht von ihm: aber ſei demohngeachtet verſichert, daß dein Gebeth Erhoͤrung finden werde. Und wie ſol das zu - gehn? wirſt du fragen. Du haſt Recht; ich ſcheine mir zu widerſprechen: aber ich wil mich erklaͤren.
Erſtlich iſt es eine algemeine Erfahrung aller, die es verſucht und auf ſich ſelbſt geachtet haben, daß jede ernſtliche Erhebung unſerer Ge - danken auf große Gegenſtaͤnde, und alſo vornehm - lich auch auf das groͤßte, herlichſte, erhabenſteC 5unter42unter allen Weſen — auf Gott, die Sphaͤre unſerer Vorſtellungen ausnehmend aufklaͤre und erweitere, und dadurch unſere Denkkraft ſelbſt auf eine merkliche Weiſe ſtaͤrke und thaͤtiger mache. Iſts nicht ſo: indem wir jezt, in feierlicher Stille, dieſer prachtvollen und ruͤhrenden Abendſcene der Natur zuſehen, fuͤhlen wir da nicht unſer ganzes geiſtiges Weſen gleichſam anſchwellen, ſich in un - ſerm Innerſten draͤngen, und zu jedem großen Ge - danken, zu jeder edlen und muthigen Entſchlieſ - ſung, weit faͤhiger und weit aufgelegter, als vor - her? Und wie ſchwilt nicht erſt unſer Herz von ſeeligen Empfindungen auf, wenn unſer Geiſt durch dieſen Anblik befluͤgelt, aus der Tiefe dieſer ſchoͤnen Gegend hinauf zu dem hoͤchſten Gipfel der Werke Gottes, den unſere Einbildungs - kraft erreichen kan, und von da zu ihm, dem großen Urheber des Ganzen ſelbſt, ſich hin ſchwingt, und in entferntem Anſchauen des Unendlichen ſich verliert! O das muß man ſelbſt erfahren haben, um es in der todten Beſchreibung wieder zu finden!
Hier43Hier hielt Theophron unvorſezlicher Weiſe einige Minuten ein, und ſeine von Freude glaͤn - zenden Augen waren auf den Abendſtern geheftet, welcher ſo eben anfieng, am weſtlichen Himmel hervor zu funkeln. Das ſtaͤrkere Heben der ju - gendlichen Bruſt und ein tieferer Athemzug be - zeugten, daß Kleons Geiſt dem Geiſte ſeines Va - ters nachgeflogen war. Der gute Alte fuhr dar - auf fort:
Das iſt alſo der erſte unmittelbare Vortheil, den wir durch eine jede inbruͤnſtige Erhebung un - ſers Herzens zu Gott erlangen, daß unſere Selen - kraͤfte dadurch geſtaͤrkt und zu allen edlen und großen Wirkungen unweit faͤhiger werden. Alle Arbeiten des Geiſtes muͤſſen alsdan weit beſſer von ſtatten gehen. Und wer den genauen Zu - ſammenhang der Kraͤfte unſerer Sele und unſers Leibes kent; wer da weiß, daß zu eben der Zeit, und in eben dem Maaße, wie jene erhoͤht wer - den, auch dieſe lebhafter zu wirken beginnen, dem wird es nicht befremdend klingen, wenn ich hin - zufuͤge, daß die jedesmalige Anrufung Gottes uns auch ſogar zu ſolchen Arbeiten tuͤchtiger macht,welche44welche mehr durch koͤrperliche, als durch geiſtige Kraͤfte verrichtet werden. Man ſei alſo, wer man wolle, Gelehrter oder Handarbeiter; ſo wird ein Gebeth um Staͤrke, um Seegen zu unſern Berufsgeſchaͤften, nie vergeblich ſein.
Hierzu komt noch dieſes, daß der Gedanke an Gott und an unſere gaͤnzliche Abhaͤngigkeit von ihm, wenn er vor dem Anfange irgend eines aus - zufuͤhrenden Geſchaͤfts recht lebendig in uns ge - worden iſt, uns gewiß bewahren wird, daß wir nicht von dem Wege des Rechts und der Tu - gend weichen. Das ſei der jedesmalige untruͤg - liche Probierſtein der Rechtmaͤßigkeit deiner Unter - nehmungen: kanſt du, mit freudiger Einſtimmung deines Gewiſſens, dir den goͤtlichen Beiſtand dazu erbitten, ſo ſei verſichert, daß dein Vorhaben gut und edel iſt; kanſt du dieſes nicht, ſo glaube das Gegentheil.
Und endlich, mein Sohn, daß doch ja der Gedanke, daß Gott um unſers Gebeths willen heutiges Tages keine Wunderwerke mehr verrichtet, dich nicht kalt und laͤſſig in der Anrufung des goͤtlichen Beiſtandes mache! Denn warum ſol dieErhoͤrung45Erhoͤrung unſers Gebeths denn grad ein Wunder ſein? Warum nicht vorherbeſtimte ordentliche Wirkung natuͤrlicher Urſachen? Oder ſahe der alwiſſende Gott nicht etwa ſchon von Ewigkeit voraus, daß du grad in dieſer oder jener Stunde ihn um dieſes oder jenes anrufen wuͤrdeſt? Und glaubſt du, daß das Vorherſehen dieſes Gebeths auf der Wage der ewigen Weisheit kein Gewicht gehabt habe, welches ſie beiſtimmen konte, den natuͤrlichen Lauf der Dinge dergeſtalt einzurichten, daß dasjenige, warum du bitten wuͤrdeſt, zu eben der Zeit auch wirklich ſo erfolgen ſolte? — O der laͤcherlichen Thorheit einiger Afterweiſen, welche die Nothwendigkeit und den Nuzen des Gebeths wegraͤſonnirt zu haben waͤhnten, wenn ſie ein Langes und Breites wider die Moͤglichkeit dekla - mirt hatten, daß die goͤtliche Weisheit einmahl ge - gebene Naturgeſeze wieder abaͤndern, oder die ewige Kette der natuͤrlichen Urſachen und Fol - gen durch ein unmittelbares Zwiſchenwirken un - terbrechen koͤnne! — Ich beſorge nicht, daß deine Vernunft jemahls ſchwach genug ſein werde, ſich von dem falſchen Lichte dieſe angeblichen Weis -heit46heit blenden zu laſſen. Ich bin vielmehr verſichert, daß du meinen vaͤterlichen Rath befolgen, und bei jedem anzufangenden Geſchaͤfte dir vorher, mit zu - verſichtlicher Hofnung einer gnaͤdigen Erhoͤrung, Seegen und Gedeien von dem Gott erbitten wer - deſt, von welchem alle gute Gaben kommen. Und glaube mir, mein Sohn, es wird dich nie ge - reuen, dem treuen Rathe deines Vaters auch hierin gefolge zu ſein.
Aber das Gebeth wuͤrde auch ſchon um des - willen zu den treflichſten Vorbereitungsmitteln zu einer gluͤklichen Geſchaͤftigkeit gehoͤren, weil unſer Gemuͤth dadurch in diejenige heitere Ruhe verſezt wird, welche zu einer vorzuͤglichen Wirkung unſerer Geiſteskraͤfte ſo ganz unentbehrlich iſt. Denn wiſſe, Juͤngling, daß die ſtuͤrmiſche Hize, mit welcher man in deinen Jahren, ohne vorher - gegangene noͤthige Samlung der Gedanken, uͤber ſeine Lieblingsarbeit herzufallen pflegt, in der That mehr verwikkelt, als aufloͤſt, mehr hindert, als foͤdert. Gar zu große Eilfertigkeit in Geſchaͤften iſt im Grunde wahre Zeitverſchwendung; ſowie47wie der taͤgliche Verluſt einiger Stunden, zu zwekmaͤßigen Vorbereitungen angewandt, wirk - licher Gewin iſt. Eile mit Weile muͤſſe daher auch dein Wahlſpruch ſein.
Ehe du alſo an irgend eine Arbeit von einiger Erheblichkeit gehſt, nim dir Zeit, dich gehoͤrig zu ſammeln; deine eingeſchlum - merten, oder auf zu vielfaͤltige Gegenſtaͤnde vertheilten Selenkraͤfte aufzuwekken, und einzuengen; deine Leidenſchaften zu be - ſaͤnftigen, und dein ganzes Gemuͤth durch das wohlthaͤtige Licht der Zufriedenheit aufzuheitern. In dieſer Vorbereitungszeit verrichte zuvoͤrderſt dein Gebeth, als das erſte und wirkſamſte Mittel zur Erreichung des jezt - genanten Endzweks. Den noch uͤbrigen Theil der Zeit wende dazu an, den moͤglichen Nuzen derjenigen Arbeit zu erwaͤgen, die du jezt vorzunehmen gedenkeſt. Gleichfals ein be - waͤhrtes Huͤlfsmittel, unſere Sele zu großen Wirkungen anzufeuern! Ich ſeze naͤmlich vor - aus, daß du dich nie einer Beſchaͤftigung widmen werdeſt, welche nicht auf eine oder die andereWeiſe48Weiſe das Wohl deiner Nebenmenſchen zugleich mit dem deinigen befoͤrdern hilft. Nun mag eine ſolche Arbeit auch noch ſo eingeſchraͤnkt und duͤrftig ſein: ſo hat ſie dennoch ihre guten Folgen, und dieſe wiederum die ihrigen, und zwar in immer wach - ſendem Strome, bis in die Ewigkeit. Denn alle Weltbegebenheiten, auch die kleinſten, haͤngen unzertrenlich zuſammen, und waͤlzen ſich, wie die Waſſertropfen in einem Fluſſe, beſtaͤndig fort ins Unendliche. Keine derſelben iſt von der andern abgeſchnitten; keine unfruchtbar an neuen Folgen. Es hat vielmehr alles ſeine Wirkung, ſo wie alles ſeine Urſache hat.
Dieſer Gedanke, auch bei der kleinſten guten Handlung recht ins Auge gefaßt, gibt unſerer Sele einen Schwung zu denken und zu handeln, deſſen ſie ſonſt nicht faͤhig waͤre. Wir ſehen uns naͤmlich in ſolchen ſeeligen Momenten als die Quelle an, aus welcher nach und nach ein breiter See - gensſtrom ſich in die Ewigkeit ergießt, und den unermeßlichen Ozean des Guten, zum Genuß der Geiſterwelt beſtimt, vergroͤßern hilft. Mags doch anfangs auch nur ein armſeeliges Baͤchleinſein:49ſein: haben die gewaltigſten Landſtroͤme, welche den Reichthum ganzer Koͤnigreiche auf ihrem Ruͤkken tragen, wohl einen andern Anfang ge - nommen, wenn man bis zu ihrer Urquelle zuruͤk - geht? Aus den kleinſten Urſachen koͤnnen oft die groͤßten Folgen entſtehen.
Nie muͤſſe daher eine Arbeit, welche dein Beruf mit ſich bringt, und welche auf irgend eine Weiſe nuͤzen kan, dir veraͤcht - lich vorkommen; geſezt auch, daß du in dem Augenblikke, da du ſie verrichten ſolſt, dich zu etwas Groͤſſerem faͤhig fuͤhlteſt, welches auſſerhalb dem Wirkungskreiſe laͤge, den die goͤtliche Vorſehung dir anzuweiſen nun einmahl fuͤr gut befunden hat! Jeder von uns hat ſeinen angewieſenen Poſten in der Welt. Den laßt uns zu behaupten ſuchen, unbekuͤmmert, was etwa um und neben uns ge - ſchehen koͤnte. Oder glaubſt du, daß der Feld - herr dem vorwizigen Soldaten, der ſeinen Poſten verließe, weil er anderwaͤrts nuͤzlicher ſein zu koͤn - nen meinte, Dank dafuͤr wiſſen wuͤrde? Er wuͤrd’ ihn vielmehr, als einen Widerſpaͤnſtigen, zur Strafe ziehen, auch wenn er noch ſo große, aberDun -50unbefohlene, Thaten verrichtet haͤtte; und das mit Recht! Denn was wuͤrde aus dem ganzen Heere werden, wenn jeder, was ihm gut ſchiene, thun wolte, keiner was ihm aufgetragen waͤre? Der Trommelſchlaͤger mag alſo noch ſo viel Ta - lente zum Feldherrn in ſich fuͤhlen; das gibt ihm kein Recht, ſeine eigentliche Pflicht zu ver - nachlaͤſſigen, und ſich zum Anfuͤhrer aufzuwerfen. Thut er es, ſo iſt er ein ſchlechtes Glied des Kriegskoͤrpers, und werth, daß er davon ab - geloͤſet werde.
Ich glaube, dir dieſen Rath nicht zu ſehr ein - praͤgen zu koͤnnen. Denn es iſt eine gewoͤhnliche Thorheit der meiſten Menſchen, daß ſie ihre eigentlichen Berufsgeſchaͤfte, als etwas Gering - ſchaͤziges, verabſaͤumen, und ſich lieber mit Din - gen befaſſen, welche gemeiniglich ganz auſſer ihrer Sphaͤre liegen. Der Landprediger wirft ſeinen Hirtenſtab dahin, und wuͤhlt, um ſich beruͤhmt zu machen, in alten Handſchriften herum; der Richter ſpizt Singedichte zu, indes die unter - druͤkte Unſchuld ihm vergebens ihre Leiden klagt; der Kraͤmer macht Romane, ſtat daß er die Weltvon51von denen, die ſchon da ſind, befreien ſolte; der Arzt jagt Schmetterlingen nach, und laͤßt ſeine Kranken aͤchzen, ſo viel ſie wollen; der Schuſter endlich laͤßt die Leute barfuß gehn, und ſeine Kin - der hungern, um in der Schenke die Zeitungen zu leſen, Krieg und Frieden zu beſchließen, und die Koͤnige nach Gefallen ein - und abzuſezen.
Vornehmlich reißt dieſe Thorheit, zum großen Nachtheil der menſchlichen Geſelſchaft, immer mehr und mehr unter jungen Leuten ein. Aus genauer Kentniß einiger Akademien kan ich verſichern, daß unter zwanzigen, vielleicht unter mehreren jungen Studierenden heutiges Tages kaum einer noch gefunden wird, dem die wirk - liche Vorbereitung zu ſeinem kuͤnftigen Berufe in der That am Herzen laͤge. Alle Studien, welche darauf abzielen, ſcheinen ihnen trokken, unfrucht - bar, veraͤchtlich zu ſein. Thaͤt’ es die Furcht vor dem kuͤnftigen Examen nicht; ſie wuͤrden ſie gaͤnz - lich liegen laſſen. Aber mit der ganzen Inbrunſt eines feurigen Liebhabers fallen ſie uͤber jedes ſuͤß - liche, empfindelnde, faſelnde Gedichtchen her, ver - ſchlingen dieſe nahrungsloſe Saft - und Markver -D 2derbende52derbende Speiſe mit heiſſer Gierigkeit, und laufen dan von Haus zu Haus, von Nachttiſche zu Nacht - tiſche, um ſie mit der Bruͤhe einer affektirten De - klamazion und Geſichtsverzerrung noch widerlicher und ekelhafter wieder von ſich zu geben. Unter ſolchen armſeeligen Beſchaͤftigungen ſchleudern ſie die unwiederbringlichen Jahre fort, in welchen ſie ſich zu einem zufriedenen und gemeinnuͤzigen Leben vorbereiten ſolten.
Jezt treten ſie in die große Welt, den Kopf vol Schoͤngeiſterei, das Herz von Hochmuth auf - geblaſen; man vertrauet ihnen Aemter an, weil es entweder an beſſern Subjekten mangelt, oder weil ſie Mittel fanden, hier die kabalirende Frau eines vielvermoͤgenden Mannes, dort das intrigante Kammermaͤdchen einer vielvermoͤ - genden Dame, bald auf dieſe, bald auf jene Weiſe zu ihrem Vortheil einzunehmen. Nun ſol gearbeitet werden; aber kaum haben ſie ihre Be - rufsgeſchaͤfte mit den Lippen beruͤhrt, ſo ſcheinen ſie ihnen ſchon unertraͤglich ekelhaft zu ſein. Sie glauben Faͤhigkeit und Beruf zu etwas Hoͤ - herem in ſich zu fuͤhlen (und dieſes Hoͤhere iſt ge -meiniglich53meiniglich Zuſammenflikkung eines poetiſirenden oder wizelnden Werkchen aus geſtohlnen Schnoͤr - keln, neologiſchen Wendungen, aufgefangenen, aber nicht verdauten Gedanken, und Unſin aus eigener Fabrik) — und die natuͤrliche Folge da - von iſt, daß ſie ihr Amt, welches ſie verachten, oder fuͤr eine Galere anſehn, aͤuſſerſt nachlaͤßig und mismuͤthig verwalten, ſelbſt aͤuſſerſt elend ſind, und alle, welche von ihnen und ihrer Laune ab - haͤngen, aͤuſſerſt elend machen. O mein Sohn, ich prophezeihe unſerm ausgearteten Vaterlande ſchlimme Zeiten, wenn nicht bald, bald Anſtalten getroffen werden, unſerer Jugend auf Schulen und Univerſitaͤten mehr Geſchmak an ernſthaften ſogenanten trokkenen Beſchaͤftigungen einzufloͤßen, und ihre Leiber und Selen maͤnlicher, haͤrter, ar - beitſamer und ausdaurender zu machen! — Doch ich nahm mir ja vor, nicht in den Fehler des Alters zu fallen. Alſo keine Klagen; ſondern zuruͤk an den eigentlichen Faden unſerer dermaligen Unterhaltung!
D 3Wenn54Wenn dir der Auftrag gegeben wuͤrde, ein Buͤndel vereinigter Ruthen zu zerbrechen: ſo wuͤrdeſt du dir vergebens die Haͤnde zerarbeiten, ſo lange die einzelnen Reiſer mit einander ver - bunden waͤren. Aber ein bloßes Spiel wuͤrd - es fuͤr dich ſein, nach aufgeloͤſtem Bande, jedes Reischen insbeſondere zu zerknikken.
Eben ſo verlegen iſt der Man von Geſchaͤften, wenn zu viele und zu mannigfaltige Verrichtungen ſeiner arbeitenden Sele ſich auf einmahl darſtellen. Er thue alſo das, was er im erſtern Falle thun wuͤrde; er trenne ein Geſchaͤfte von dem andern, nehme jedes insbeſondere vor, und vergeſſe auf eine Zeitlang, daß die andern alle in der Welt ſind: ſo wird er allen ge - wachſen ſein. Eine ſolche Eintheilung unſerer Arbeiten iſt von großer Wichtigkeit. Denn die Vorſtellung, daß viele und mannigfaltige Ge - ſchaͤfte auf uns warten, verſezt uns in eine ge - wiſſe Aengſtlichkeit, die unſere Selenkraͤfte be - klemt, und jede freie und große Wirkſamkeit der - ſelben unmoͤglich macht. Wir moͤgen noch ſo viel Geiſteskraͤfte beſizen, ſo ſind und bleiben wir dochimmer55immer Menſchen, das heißt, eingeſchraͤnkte Geiſter, welche ihre Aufmerkſamkeit, wenn ſie in einem ge - wiſſen Grade wirkſam ſein ſol, jedesmahl nur auf einen Gegenſtand heften koͤnnen. Je beſtimter dieſer iſt, je genauer man ihn von andern Gegenſtaͤnden abgeſondert hat, und je aus - ſchließender wir unſere Vorſtellungskraft darauf eingeengt haben; um deſto deutlicher und lebhafter ſind unſere Ideen, um deſto thaͤtiger, um deſto maͤchtiger iſt unſere ganze Wirkungskraft. Das Gleichniß von einem Brenglaſe, welches die zer - ſtreuten Sonnenſtrale zuſammenfaßt, um damit zu zuͤnden, iſt eben ſo bekant, als paſſend.
Theile alſo ſo ſehr es nur immer thunlich iſt, deine jedesmaligen Arbeiten ein, und nim eine nach der andern vor. Um dieſe Bemuͤhung zu erleichtern, mache es dir zur Gewohnheit, an jedem Abend, ſo weit es moͤglich iſt, einen ordentlichen Plan zu den Geſchaͤften des folgenden Tages zu entwerfen, in wel - chem die Folge derſelben und die Stun - den, in denen ſie vorgenommen werden ſollen, beſtmoͤglich beſtimt ſind. O es iſtD 4eine56eine ſchoͤne Sache um Ordnung, vornehmlich in Geſchaͤften! Sie erleichtert unſer Beſtreben auf eine ausnehmende Weiſe, und ſezt uns in den Stand, mit weit geringerem Verluſt an Zeit und Kraͤften, ſowohl mehr Arbeiten zu vollenden, als auch dasjenige, was wir verrichten, beſſer zu machen, als wir, ohne eine ſtrenge Beobachtung derſelben, im Stande ſein wuͤrden. Mit dem tu - multuariſchen Eifer iſt in verwikkelten Geſchaͤften wenig ausgerichtet. Man arbeitet ſich[kraftlos] und verdruͤslich, und verfehlt dennoch groͤßten - theils ſeiner Abſicht, oder erreicht ſie nur halb, indes ein an Ordnung gewoͤhnter Man bei glei - chen Faͤhigkeiten, mit groͤſſerer Leichtigkeit und Zufriedenheit und mit weit minderem Zeitverluſte ſich ruhig ſeinem Ziele naͤhert. Die Zeit, welche auf eine ſolche Abtheilung unſerer Arbeiten ver - wandt wird, iſt daher mit nichten fuͤr verloren zu halten; ſie wird vielmehr bei der Arbeit ſelbſt mit reichem Wucher eingebracht. Glaube mir, mein Sohn, daß ich auch dieſes aus Erfahrung rede.
Aber57Aber da wir nicht immer Herren unſer ſelbſt ſind, welche Zeit und Arbeit nach eigenem Be - lieben waͤhlen und abmeſſen koͤnnen: da wir viel - mehr oft in Lagen und Verhaͤltniſſe gerathen, in welchen unſere jedesmaligen Beſchaͤftigungen mehr von andern, oder vom Zufal, als von uns ſelbſt abhaͤngen: ſo iſt es noͤthig, daß wir uns fruͤh - zeitig gewoͤhnen, von einem Geſchaͤfte zum andern, auch wenn ſie von ganz entgegen - geſezter Beſchaffenheit waͤren, mit einer gewiſſen Leichtigkeit uͤber zu gehen; un - ſere Gedanken ſchnel und ganz von dem vorhergehenden Gegenſtande abzuziehen, und ſie auf den zu heften, welcher jezt eben gegenwaͤrtig iſt, ohne dabei in Unruhe und Verwirrung zu gerathen. Die Erwerbung einer ſolchen Geſchiklichkeit iſt, wie die Erwerbung aller andern Fertigkeiten, lediglich eine Frucht fleißiger Uebung, und zwar der Uebung in jungen Jahren. Denn, wenn man ſie bis auf ein ge - wiſſes Alter verabſaͤumt hat, und die Sele nun einmahl an einfoͤrmige, ſtetige Beſchaͤftigungen gewoͤhnt iſt: ſo martert man ſich gemeiniglichD 5umſonſt,58umſonſt, ſie wieder zu derjenigen Biegſamkeit zu erweichen, welche erfodert wird, wenn ſie bei oͤf - tern Unterbrechungen und Abwechſelungen ſich jedem vorkommenden Geſchaͤfte ſogleich in ihrer ganzen Thaͤtigkeit anſchmiegen ſol. Ich kenne Schriftſteller, die ganze Alphabete gelehrter Arbei - ten, verbrennen muͤſſen, ſo oft ſie ungluͤklicher Weiſe, vor der gaͤnzlichen Vollendung derſelben, durch ir - gend ein zwiſchenſpringendes Geſchaͤft genoͤthiget werden, den Faden ihrer Gedanken abzubrechen. Ihn wieder anzuſchuͤrzen, iſt ihnen durchaus un - moͤglich. Was wuͤrd’ es nicht dieſen Maͤnnern werth ſein, wenn ſie noch jezt ihre Sele an eine, im thaͤtigen Leben nicht zu vermeidende Mannigfal - tigkeit von Geſchaͤften gewoͤhnen, und ſie dadurch in ihren jedesmaligen Wirkungen vom Zufal we - niger abhaͤngig machen koͤnten! Aber nun iſts zu ſpaͤt.
Zur Erwerbung dieſer nothwendigen Fertig - keit iſt es gut, daß wir in jungen Jahren unſere Geiſtesarbeiten oft recht gefliſſentlich an ſolchen Oertern vornehmen, wo wir ſo wohl dem Geraͤuſch des thaͤtigen Lebens,als59als auch wirklichen Stoͤrungen und Unter - brechungen zum oͤftern ausgeſezt ſind. Zwar iſt es wahr, daß die Muſen die Stille lieben, und daß Werke des Geiſtes jeder Art nir - gends beſſer, als in der Einſamkeit, volbracht werden. Aber ſteht es bei uns, die Welt um uns her in einen ſtillen Muſenhain, und alle Mitbewohner derſelben in ruhige und einſame Hirten zu verwandeln? Kan der Hausvater, ohn’ ein Tiran zu ſein, jedes Geraͤuſch ſeiner ge - ſchaͤftigen Hausgenoſſen, jedes laute Gewimmel ſeiner froͤlichen Kinder um und neben ihm, zu allen Zeiten unterdruͤkken? Kan der Kaufman auf ſeiner Schreibſtube, der Rechtsgelehrte in ſeinem Kabinette, die Magiſtratsperſon auf ihrem Richterſtule, dem lermenden Gewuͤhl der Straße und dem Geraͤuſche derer wehren, welche Geſchaͤfts halber bei ihnen aus - und eingehen? Und wenn ſie das nicht koͤnnen, was wuͤrde aus ihnen wer - den, wenn ſie nicht anders, als in der Stille zu arbeiten ſich gewoͤhnt haͤtten?
Aber60Aber ſo noͤthig es nun auch aus dem ange - zeigten Grunde iſt, ſich fruͤhzeitig eine Fertigkeit in abwechſelnden und mannigfaltigen Geſchaͤften zu erwerben: ſo ſehr muͤſſen wir auch auf der andern Seite auf unſerer Hut ſein, daß wir nicht in den entgegengeſezten Fehler der Unſtaͤtigkeit und des kindiſchen Ueber - druſſes bei einfoͤrmigen Arbeiten verfallen. Geſchaͤfte von einiger Erheblichkeit wollen nicht rukweiſe verrichtet ſein; ſie erfodern vielmehr eine anhaltende Strebſamkeit, welche, wo nicht bis ans Ende, doch wenigſtens bis auf einen beque - men Abſaz, ausdauren kan. Schlim genug fuͤr den Man (wenn er anders Man genant zu wer - den noch verdient) deſſen Sele durch eine fehler - hafte Erziehung, oder durch nachherige eigene Verwoͤhnung, ſchon ſo erſchlaft iſt, daß ihre Schnelkraft nur noch augenblikliche, alſobald wieder nachlaſſende Spannungen ertragen kan! Eine Folge der beliebten Verfeinerung — rich - tiger, der weibiſchen Verzaͤrtelung unſerer Selen - und Leibeskraͤfte, welche, ſo Gott wil! zu den Vorzuͤgen unſerer Zeiten gehoͤren ſol! Vornehm -lich61lich eine Folge des taͤglichen Genuſſes ſtarkge - wuͤrzter litterariſcher Lekkerbiſſen, von empfindſa - men Modegarkoͤchen*)Dieſe ſind es, denen der Vorwurf, welchen Cicero nur den Dichtern macht, recht eigentlich mit gebuͤhrt: Videsne, poetae quid mali afferant? Lamentantes inducunt fortiſſimos viros; molliunt animos noſtros; ita ſunt deinde dulces, ut non legantur modo, ſed etiam ediſcantur. Sic ad malam domeſticam diſciplinam, vitamque um - bratilem et delicatam quum acceſſerunt etiam poetae, nervos omnis virtutis elidunt. Recte igitur a Platone educuntur ex ea civitate, quam finxit ille, quum mores optimos et optimum rei pu - blicae ſtatum exquireret. Tuſc. quaeſt. Lib. 2. bereitet, wodurch der geiſtige Gaum unſrer Juͤnglinge (wenn ich mich ſo ausdruͤkken darf) nach und nach ſo ſehr ver - woͤhnt wird, daß jede einfache ungekuͤnſtelte Haus - manskoſt beim erſten Biſſen ihnen Widerwillen und Ekel verurſachet! Das iſt nicht die Speiſe, welche unſern Selenfaͤhigkeiten Wachsthum und Gedeihen gibt; das daher auch nicht die Leute, von denen ſich der Staat, es ſei in welchem Fach es wolle, irgend einen erheblichen Dienſt ver -ſprechen62ſprechen kan, zu welchem Aemſigkeit und anhal - tende Anſtrengung erfodert werden. Man ſolte ſie, fern von oͤffentlichen Staatsgeſchaͤften, in die Weiberſtuben verweiſen, wo der Schade eben nicht groß ſein wuͤrde, wenn ſie in einer Viertel - ſtunde vom Strikzeuge zum Spinrokken, vom Spinrokken zur Nezarbeit, und von dieſer zu den Stikkereien ſchritten. Aber ich beſorge, daß man die Weiberſtuben bald zu enge finden wuͤrde; ſo ſehr hat die Zahl ſolcher verzaͤrtelten Halb - maͤnner in unſern Tagen zugenommen! Was aus dem naͤchſten Menſchenalter, wenn das ſo fortgeht, werden ſol — doch das moͤgen die aus - machen, welche die Vorſehung zu Vormuͤndern fuͤr die Nachkommenſchaft beſtelt hat. Mir, dem in dieſem Alter nur noch die vaͤterliche Fuͤrſorge fuͤr dich, mein Kleon, aufgetragen ward, muß es genug ſein, wenn ich nur deine Sele vor dieſer leidigen Verzaͤrtelung ſichern, und, mit Gottes Huͤlfe! ſie in der ganzen Fuͤlle ungeſchwaͤchter Menſchenkraft ſtark und maͤnlich, thaͤtig und aus - daurend zum Dienſte unſerer Mitmenſchen freu - dig darſtellen kan.
Um63Um dieſen Triumph meines vaͤterlichen Her - zens — das einzige Gluͤk, welches hienieden mir noch zu Theil werden kan — mir immer mehr zu verſichern, uͤbe dich kuͤnftig ſelbſt, mein Sohn, ſo wie du bisher unter meiner Anfuͤhrung gethan haſt, in maͤnlicher Standhaftigkeit zur Vollendung ſolcher Arbeiten, welche anhaltenden Fleiß und un - ermuͤdete Geduld erfodern. Die trokkenſten und muͤhſamſten Geſchaͤfte ſind zu dieſer Abſicht gerade die nuͤzlichſten. Frage nicht, wozu dasjenige, was du zu einer ſolchen Uebung vornimſt, dir oder an - dern dienen ſolle? Es hat dir und andern genug gedient, wenn dein junger Geiſt dadurch zur Geduld und Stetigkeit auch in ſolchen Geſchaͤften gewoͤhnt wird, welche deiner Neigung zuwider und mit einiger Beſchwerlichkeit verbunden ſind. Denn wiſſe, o Juͤngling — und glaub’ es einem Manne, den die Vorſehung auf mehr als einen Poſten zu ſtellen fuͤr gut befand, daß du ſolchen Arbeiten doch nie entgehen werdeſt, in welches Fach von Geſchaͤften du dich auch immer werfen magſt. Und wehe dir, wenn deine Schultern ſie, ohne vor - hergegangene Uebung, uͤbernehmen muͤßten!
Die64Die Vorſchriften und das Beiſpiel einiger unſerer neueſten Sittenlehrer*)Die Zunft dieſer angeblichen Sittenlehrer, welche damahls, da dieſer Aufſaz zum erſten - mahl gedrukt ward, ſo großes Geraͤuſch machte, hat ihre kurze Rolle ſeitdem ſchon ausgeſpielt und iſt wieder abgetreten. ſind dieſem mei - nem Rathe freilich grad entgegengeſezt; und das darf ich dir nicht verſchweigen, damit du, wenn du einſt in ihre Sphaͤre kommen ſolteſt, dich durch dieſen Widerſpruch nicht irre machen laſſeſt. “Thue, werden dir dieſe ſagen, wenn deine Selbſt - ſtaͤndigkeit dir lieb iſt, zu jeder Zeit nur grade das, wobei dir wohl iſt, wozu du jedesmahl einen innern unwiderſtehlichen Drang des Herzens bei dir verſpuͤrſt. Iſt dieſer Antrieb befriedigt und wil’s dich weiter nicht behagen, in demſelben Geſchaͤfte fortzufahren: ſo laß es liegen, und bringe deine Zeit lieber mit Nichtsthun, oder mit Schlafen hin, als daß du, ohne einen innern Beruf dazu zu haben, und wider deine Neigung arbeiten ſolteſt! „ — — In der That, eine gar bequeme Sittenlehre fuͤr den Guͤnſtling des Gluͤks,der65der unabhaͤngig, ſo wohl von eigentlichen Berufs - pflichten, als auch von dem Willen anderer Men - ſchen, groͤßtentheils nur ſich ſelber leben wil und kan: aber auch fuͤr jeden andern? Auch fuͤr den Man in oͤffentlichen Geſchaͤften, der eben ſo wenig von ſeinem Amte, als das Amt von ihm ent - behrt werden kan?
Die Herrn haben Recht, ſobald von Werken des Geſchmaks oder der Laune die Rede iſt. Dieſe laſſen ſich freilich nicht erzwingen; denn die Glokke des Genies ſchlaͤgt nicht zu allen Stunden. Aber kan auch etwas uͤbereilteres erdacht werden, als die Vorſchriften der Schoͤnſchreiberei, die Sit - tenlehre des regelloſen Genies, auf das Verhalten des geſchaͤftigen Mannes im gemeinen Leben an - wenden zu wollen? Und doch wie oft ſieht man unſere heutigen jungen Feuerkoͤpfe ſich dieſer Ue - bereilung ſchuldig machen?
Warte alſo mit ſolchen Arbeiten, welche dein Beruf dir auflegt, und welche regelmaͤßig ver - richtet ſein wollen, nicht erſt auf Stunden der Begeiſterung, welche vielleicht ausbleiben duͤrften,Eſondern66ſondern verrichte ſie, ſobald die Zeit dazu gekom - men iſt. Vornehmlich huͤte dich, ohne Noth, irgend ein Geſchaͤft in die lezte Stunde zu verſchieben; und bemuͤhe dich vielmehr, deine jedesmalige Arbeiten, wenn’s immer thunlich iſt, noch vor der dazu beſtimten Zeit zu Stande zu bringen. Der Grund dieſer Vorſchrift iſt von ſelbſt klar genug. Je naͤher die Stunde heran ruͤkt, in welcher irgend ein aufgeſchobenes Ge - ſchaͤft vollendet ſein muß, um deſto groͤſſer wird unſere Unruhe, um deſto ſtoͤrender die Beſorg - niß, daß man zu der beſtimten Zeit vielleicht da - mit nicht werde fertig werden; um deſto weniger gelingt es uns, zu unſerer eigenen und anderer Zufriedenheit damit zu Stande zu kommen. Man arbeitet alsdan mit einer gewiſſen Aengſt - lichkeit, welche unſere Selenkraͤfte feſſelt; man uͤbereilt ſich, man begeht Fehler, man legt den Grund zu mancher Verdrieslichkeit, die wohl haͤtte koͤnnen vermieden werden, und hadert als - dan vergebens mit ſich, mit andern, und mit ſeinem Schikſale. —
Hierzu67Hierzu komt noch dieſes, daß wir niemahls — wir moͤgen ſein, wer wir wollen, unumſchraͤnkte Herrn uͤber uns ſelbſt, uͤber unſere Geſundheit, uͤber die jedesmalige Anwendung unſerer Zeit und unſerer Kraͤfte ſind. Ach! ein ſchwaches Luͤftchen kan ja den Wohlſtand dieſer unſerer zerbrechlichen Huͤlle, und mit ihm die Moͤglichkeit des Ge - brauchs der ſie belebenden Kraͤfte, ploͤzlich ver - wehen, und tauſend unvorhergeſehene Hinder - niſſe koͤnnen hervorſpringen, uns in unſerm kuͤhn - ſten Laufe Einhalt thun, und die Vollendung einer aufgeſchobenen Arbeit unmoͤglich machen. Und dan ſehen wir uns oft in großer Verle - genheit.
Um dieſe zu vermeiden, verrichte alles, was einmahl geſchehen muß, ſo fruͤhzeitig, als du nur immer kanſt, und mache es dir zur unverbruͤch - lichen Regel, kein Geſchaͤft, welches du in der gegenwaͤrtigen Stunde verrichten kanſt, ohne ir - gend einen wichtigen Bewegungsgrund dazu zu haben, jemahls bis zur folgenden aufzuſchieben. Dan wird deine Arbeit dir gelingen, und die Ruhe nach derſelben um ſo viel ſuͤßer ſein.
E 2Denn68Denn auch der Ruhe und der Erholung ſol, nach vollendeter Arbeit, ein Theil deiner Tageszeit gewidmet ſein! Unſere Kraͤfte ſind ja zu endlich, als daß ſie einer endloſen Anſtrengung faͤhig waͤren. Sie beduͤrfen von Zeit zu Zeit einer verhaͤltnißmaͤßigen Nachlaſſung, wenn ſie durch uͤbertriebene Spannung nicht ploͤzlich bre - chen, oder nach und nach gaͤnzlich erſchlaffen ſollen. Seze dir daher, wenn deine Arbeit nicht in auſſerordentlichen Faͤllen durchaus un - aufſchieblich iſt, von Zeit zu Zeit einige Ruhepunkte, und wende dieſe wohlthaͤtigen Pauſen zu deiner Ermunterung an, ent - weder durch einen Blik in die ſchoͤne of - fene Natur, und durch ein dankbares Auf - ſehen zu dem alguͤtigen Vater derſelben, oder durch einen ſtaͤrkenden Zwiſchengenuß der albeſeeligenden Liebe in dem Schooße deiner Familie, oder an der Seite irgend eines gepruͤften mit dir gleichgeſtimten Freundes. Das iſt das Gewuͤrz eines geſchaͤf - tigen Lebens, welches unſern abgeſpanten Geiſt erfriſcht und ſtaͤrkt, ihm Kraft und Luſt zu neuenAnſtren -69Anſtrengungen gewaͤhrt. Und das iſt eben mit eine der Urſachen, warum ich dir gleich anfangs die Begluͤkkung deiner kuͤnftigen Familie, als den erſten und vornehmſten goͤtlichen Beruf, empfahl, und warum ich dir jezt die taͤgliche Uebung deines Geſchmaks an ſchoͤner Natur, als eine eben ſo nothwendige Vorbereitung zu einem zufriedenen und gemeinnuͤzigen Leben, gleichfals auf das nach - druͤklichſte empfehlen muß. O der bejammerns - wuͤrdigen Sele, fuͤr welche dieſe beiden Quellen des reinſten, des ſeeligſten Vergnuͤgens und der ſuͤßeſten Erquikkung nach vollendeter Arbeit, un - widerbringlich verſtopft ſind!
Und es gibt deren, mein Sohn; gibt ihrer ſogar unter denen, welche den Gruͤnden des Ver - gnuͤgens und des Misvergnuͤgens, den Urſachen und Hinderniſſen eines gluͤkſeeligen Lebens, mehr als andere nachgeſpuͤrt, aber waͤhrend dieſes aͤmſigen Nachſpuͤrens ungluͤklicher Weiſe verab - ſaͤumt hatten, aus den Quellen der Gluͤkſeelig - keit, die ſie fuͤr andere ſuchten, fuͤr andere auf - gruben, auch fuͤr ſich ſelbſt zu ſchoͤpfen. Du kanſt dir von dem unſeeligen Zuſtande ſolcherE 3Schlacht -70Schlachtopfer — entweder einer zu weit getrie - benen Begierde nach wirklicher Gemeinnuͤzigkeit, oder einer uͤberſpanten Ruhmſucht — Gottlob! noch keinen Begrif machen; und o moͤgte die Vorſtellung davon dir doch nie durch eigene Er - fahrung anſchaulich werden! Aber glaube mir, daß es ein gar erbaͤrmlicher Zuſtand ſei, und zittere vor der bloßen Moͤglichkeit, einmahl ſelbſt darein zu gerathen!
Denn was kan klaͤglicher ſein, als die Lage eines Mannes, deſſen Empfindungsvermoͤgen gegen Familien - Freundſchafts - und Naturgenuß nun einmahl ſtumpf geworden iſt, wenn er von ſchweren Arbeiten erſchoͤpft, oder von Sorgen und Bekuͤmmerniſſen gebeugt, nach einem Troͤpf - chen ſtaͤrkender Freude lechzt, und ihn nirgends findet, nirgends, weder in dem ſtillen Schooß ſeiner Familie, die ihm fremd, oder gar verhaßt geworden iſt, noch in der ganzen, weiten, herlichen Natur, fuͤr deren mannigfaltige Freuden er laͤngſt den Sin verlohr! Wenn er nun da ſteht, wie der ermattete Pilger in einer oͤden, duͤrren, un - abſehbaren Sandwuͤſte, ſo ganz allein, ſo ganzverwaiſet71verwaiſet und huͤlflos, und nirgends einen Ruhe - plaz, nirgends eine Erquikkung fuͤr ſeine abge - ſpante ſchmachtende Sele, nirgends ein mitem - pfindendes Weſen erblikt, an deſſen Buſen er aus - ruhen, aus deſſen oſnem Herzen er Troſt und Linderung und Erquikkung ſchoͤpfen moͤgte! Und er ſich nun gezwungen ſieht zu dem einzigen, ihm noch uͤbrigen Mittel zu der Betaͤubung durch rauſchende wilde Vergnuͤgungen, oder durch un - maͤßigen Genuß ſtarker Getraͤnke, ſeine lezte ver - zweiflungsvolle Zuflucht zu nehmen; gleich dem Kranken, der, aller Hofnung einer moͤglichen Ge - neſung beraubt, nach Opiaten greift, um wenig - ſtens dem Gefuͤhl wuͤthender Schmerzen durch unempfindlichen Todesſchlaf zu entfliehen! — O mein theurer Sohn, der alguͤtige Gott laſſe dein Loos nie auf das Schikſal ſolcher ungluͤk - lichen lebendig todten Opfer einer unmaͤßigen Wirkungsbegierde fallen! Noch jezt koͤmt mir Grauſen und Entſezen an, wenn ich an die nahe Gefahr zuruͤkdenke, in der auch ich mich einſt be - fand, dem Haufen ſolcher Bejammernswuͤrdigen zugeſelt zu werden.
E 4Um72Um dieſes Ungluͤk — das groͤßte, welches einen Menſchen hienieden treffen kan, weil es ihn zu jeder Art von wahrer Gluͤkſeeligkeit durch - aus unfaͤhig macht! — zu vermeiden, laß meinen Rath mit gluͤhenden Buchſtaben deinem Gedaͤcht - niſſe eingeſchrieben ſein: Begluͤkke die Lieben, welche Gott mit dir verbinden wird, ſo ſehr du immer kanſt; erwirb dir dadurch einen Schaz von haͤuslicher Gluͤkſeeligkeit, zu dem du jedesmahl deine Zuflucht nehmen koͤnneſt, ſo oft du einer Ermunterung bedarfſt; dieſen Schaz dir zu er - halten und zu vergroͤßern, laß allewege deine an - gelegentlichſte Sorge ſein; geneuß daneben in vollen Zuͤgen, ſo oft du immer kanſt, der un - ſchuldigen, wohlthaͤtigen Freuden der Natur, die ſie ſo muͤtterlich darbietet allen ihren Kin - dern, welche davon genießen wollen; uͤbe deine Sele taͤglich, das Schoͤne, das Große, das Un - ausſprechliche, welches ihr Anblik gewaͤhrt, im - mer lebendiger und inniger zu empfinden; laß in dieſer Abſicht keine der unzaͤhligen ſchoͤnen Verwandlungen dieſer immer regen, immer ſchoͤpferiſchen Natur, welche taͤglich neu in ihrenDekora -73Dekorazionen iſt, ungenoſſen voruͤbergehen, es ſei in welcher Jahrszeit es wolle — denn jede derſelben iſt reich an unbeſchreiblichen Schoͤnhei - heiten, reich an tauſendfaͤltigem Seegen! — es ſei des Morgens, wenn das große Auge der Welt, die Sonne, ſich aufthut, oder des Abends, wenn es ſich wieder ſchließt; huͤte dich da - neben vor jeder Ueberſpannung deiner Kraͤfte; mache Abſaͤze in deinen Anſtrengungen, und laß Ruhe und Arbeit in zwekmaͤßiger Ordnung be - ſtaͤndig mit einander abwechſeln! Vergiß nie, daß du ein endliches und ein zuſammenge - ſeztes Weſen ſeiſt; jenes, um deinen Beſtrebun - gen ein angemeſſenes Ziel zu ſezen, dieſes, um nicht etwa blos einen einzigen Theil deiner ſelbſt, mit Vernachlaͤßigung und auf Unkoſten der an - dern, ausbilden und vervolkomnen zu wollen. Du biſt nicht Sele allein, du haſt auch einen Koͤrper; und deine Sele iſt nicht blos Verſtand, ſie iſt auch Herz, nicht blos Erkentnißkraft, ſondern auch Empfindungsvermoͤgen. Dis bedenke, mein Sohn, und wiſſe, daß die Summe deiner Volkommenheiten — und alſo auch dieE 5Summe74Summe deiner Gluͤkſeligkeit, in eben dem Maaße verringert wird, in welchem die Uebung deiner Kraͤfte einſeitig iſt, in welchem du den einen Theil von dir, mit Vernachlaͤßigung der uͤbrigen, zu verbeſſern und zu ſtaͤrken ſuchſt. So feſt und innig der Zuſammenhang, welcher alle mit ein - ander verknuͤpft!
Haſt du alſo eine Zeitlang blos den Verſtand gebraucht, ſo eile, auch deinem Herzen eine ausbildende Unterhaltung durch edle Empfindungen zu verſchaffen; und haſt du eine Zeitlang blos deine gei - ſtigen Kraͤfte arbeiten laſſen, ſo eile, auch dein koͤrperliches Vermoͤgen durch Bewe - gung und Handarbeit zu uͤben. So wer - den alle deine Faͤhigkeiten in gleichem Maaße entwikkelt werden; ſo wird ein gluͤkliches Gleich - gewicht unter allen deinen Kraͤften herſchen; ſo wird endlich deine ganze Individualitaͤt den hoͤch - ſten Grad von Volkommenheit erreichen, welchen die Guͤte und Weisheit des Schoͤpfers in der ge - genwaͤrtigen Periode deines Daſeins fuͤr dich be - ſtimt haben.
Aber75Aber nicht blos in dem Schooße der lebloſen Natur, ſondern auch in dem Umgange mit Menſchen ſolſt du, nach vollendeter Arbeit, deine Erholung ſuchen. Denn auch dieſer, da - fern er zwekmaͤßig gewaͤhlt und eingerichtet wird, iſt eine ergibige Quelle heilſamer Vergnuͤgungen, welche unſerm ermuͤdeten Geiſte ſtaͤrkende Nah - rung gewaͤhren. Sei alſo geſellig, mein Sohn, ſo ſehr es, ohne Vernachlaͤßigung deiner Berufspflichten, nur immer geſchehen kan. Aber, um des Vergnuͤgens der Mittheilung und Theilnehmung im geſelſchaftlichen Umgange in vollem Maaße zu genießen, mußt du in den Jahren, worin du jezund biſt, nicht verabſaͤumen, das urſpruͤngliche Menſchengefuͤhl, welches zu den weſentlichen Beſtandtheilen unſerer Natur gehoͤrt, durch fleißige Uebungen in dir zu ſtaͤrken und zu veredeln. Denn auch dieſes kan, wie jede andere Anlage unſerer Natur, durch Gebrauch geſchaͤrft, durch Nichtgebrauch ſtumpf gemacht werden. So wie es Menſchen gibt, welche fuͤr die mannigfaltigen Schoͤnheiten der Natur nach und nach den innern Sin verloren haben;welche76welche den Auf - oder Untergang der Sonne, den holdſeeligen Mond, den ſternbeſaͤten Himmel, das herlichſte Gemiſch einer ſchoͤnen und großen Gegend mit eben dem fluͤchtigen Kaltſin betrachten koͤnnen, mit welchem der geſezte Man einem elenden Schattenſpiele zuzuſehen pflegt: ſo gibt es auch andere, welche, ganz in ſich ſelbſt zuruͤk - gezogen, weder das Vergnuͤgen der Mittheilung eigener Empfindungen, noch das Wonnegefuͤhl der Theilnehmung an den Freuden und Leiden anderer Menſchen zu empfinden faͤhig ſind; Un - gluͤkliche, welche mit niemandem ſimpathiſiren koͤnnen, welche in Geſelſchaft froͤhlicher Menſchen mismuͤthig und muͤrriſch, beim Anblik leidender Bruͤder hingegen kalt und ohne mitleidige Ruͤh - rung bleiben; und welche daher fuͤr die gute Geſelſchaft, welche mit ihrer Gegenwart heimge - ſucht wird, eben das ſind, was im Konzert ein verſtimtes Inſtrument fuͤr unſere Ohren iſt. Und wie kam ihnen dieſe unſeelige Fertigkeit, ihr Herz zu iſoliren, es gegen alles Vergnuͤgen der Mittheilung und der Theilnehmung abzuhaͤrten? Woher ſonſt, als durch eine ungluͤkliche Vernach -laͤßigung77laͤßigung der geſelligen Triebe, welche unſerm Herzen eingepflanzt ſind; es ſei nun, daß Bloͤ - digkeit und falſche Schaam — die unzerſtoͤrbaren Folgen einer ſklaviſchen Erziehung! — oder eine gar zu unmaͤßige Befriedigung der Liebe zu den Studien und zu Geſchaͤften, die junge Sele in ſich ſelbſt zuruͤkgejagt, und an der Entwikkelung des urſpruͤnglichen Menſchengefuͤhls verhindert hatten.
Abermahls ein trauriger Zuſtand, wovor der Himmel dich bewahren wolle! Um ihn zu ver - meiden, laß den Terenzianiſchen Ausſpruch: Ho - mo ſum, nihil humani a me alienum eſſe puto, deinen beſtaͤndigen Wahlſpruch ſein. Ent - reiſſe dich von Zeit zu Zeit deinen Geſchaͤften, und der Geſelſchaft von Verſtorbenen, den Buͤchern, um in dem Umgange mit Lebenden dein Herz durch Menſchengenuß zu laben, und die Triebe der Geſelligkeit in dir zu ſtaͤrken. Ergreife, ſuche auf jede Gelegenheit, dich durch Mitleid oder Mitfreude zu erwaͤrmen, und freue dich, als eines neuerworbenen Schazes, jeder Traͤne, welche alsdan aus deinem Auge quilt. Schaͤme dichihrer78ihrer nicht; ſuche ſie nicht in die volle Bruſt zu - ruͤkzudraͤngen: ſondern laß ihr freien Lauf, und wiſſe, daß ſie deinem moraliſchen Werthe und alſo auch deiner wahren Gluͤkſeeligkeit ſein wird, was der balſamiſche Morgenthau nach einer ſchwuͤlen Sommernacht den lechzenden Saaten iſt.
Glaube mir, mein Sohn, in weſſen Herz Natur - und Menſchengefuͤhl erſtorben iſt, der kan auch an Gott keine Freude haben. Denn unſer Herz bedarf eben ſo, wie unſer Verſtand, der Stufenleiter ſeiner Werke um zu ihm zu ge - langen; dieſer um ihn zu erkennen, jenes um ihn zu lieben, und durch die lebendige Empfindung ſeiner Gegenliebe beſeeliget zu werden. Sind wir alſo ſo ungluͤklich geweſen, den innern Sin fuͤr ſchoͤne Natur und fuͤr Menſchengenuß zu verlieren, ſo moͤgen wir uͤbrigens noch ſo große Weltweiſen ſein, — wahre Gottesverehrer ſind wir nicht, koͤnnen es nicht ſein, weil ſo wohl un - ſere Erkentniß von ihm, als auch unſere Liebe zu ihm, in dieſem Fal blos ſimboliſch bleiben, niemahls anſchauend, niemahls lebendig wer - den koͤnnen.
Das79Das ſolte daher auch, wenn wir weiſe waͤren, der beſtaͤndige Stufengang ſein, auf welchem wir unſere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe des Schoͤpfers, oder, welches einerlei iſt, zur Religion anfuͤhrten, daß wir erſtlich ihnen die reinſte, innigſte, waͤrmſte Liebe gegen uns, ihre Eltern und Freunde einzufloͤßen, dan ihr Men - ſchengefuͤhl uͤberhaupt zu ſtaͤrken und zu veredeln ſuchten, dan ihren jungen Verſtand und ihr of - nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin - dung der wundervollen Werke Gottes in der ſchoͤ - nen Natur anfuͤlten, und nur dan erſt, wan ihre ganze Sele nach und nach dahin gebracht waͤre, daß ſie nichts als Menſchenliebe und Naturfreude athmete, ſie auf die Urquelle aller dieſer Freuden — auf Gott ſelbſt — verwieſen. Das wuͤrde allein der Gang ſein, welcher der Natur unſerer Sele angemeſſen waͤre. Aber was thun wir? Wir kehren die natuͤrliche Ordnung um, wollen den vergoldeten Knopf auf den Thurm ſezen, bevor wir noch den Grundſtein zu dem Thurme ſelbſt gelegt haben — ohne Allegorie, wir reden unſern Kindern von Gott vor, ehe ſie noch ein -mahl80mahl uns, ihre Eltern, recht kennen gelernt haben; laſſen ſie Gebethe ſtammeln, ehe ſie die Worte verſtehen, die ſie ausſprechen muͤſſen; lehren ſie, daß Gott der Schoͤpfer des Weltals ſei, wenn ſie kaum erſt einige Spannen breit vom Weltal geſehen haben, und fodern von ihnen, daß ſie Gott lieben ſollen, ehe ſie jemahls ſchon gefuͤhlt haben, was das Wort lieben fuͤr eine Bedeutung habe. Und die Folge von dem allen? — Iſt dieſe, daß die Welt von Betern und Religions - ſchwaͤzern wimmelt, indes die wahren Gottes - verehrer, welche in der Betrachtung, und in dem Gehorſam gegen ſeine ewigen Geſeze, ihre groͤßte Seeligkeit finden, beinahe ſo ſelten, als der Phoͤnix in der Fabel, ſind.
Aber dieſe traurige Bemerkung wuͤrde mich fuͤr unſere gegenwaͤrtige Abſicht zu weit fuͤhren. Ich wil ſie daher nicht weiter verfolgen; ſondern kehre zu dem Rathe zuruͤk, von dem ich ausging, und den ich dir nicht genug einſchaͤrfen zu koͤnnen glaube, zu dem wichtigen Rathe, ſage ich, daß du doch ja in dem Laufe deines geſchaͤftigen Le - bens, die Triebe der Geſelligkeit, welche ſo we -ſentlich81weſentlich zu dem Adel unſerer Natur und zu unſerer Gluͤkſeeligkeit gehoͤren, nicht vernachlaͤßi - gen, ſondern vielmehr auf alle Weiſe zu uͤben, zu entwikkeln und zu ſtaͤrken ſuchen moͤgeſt. Un - gluͤkliche Beiſpiele von ſolchen, welche das Gegen - theil thaten, und dadurch elend wurden, ob wohl ihre anderweitigen Tugenden ein beſſeres Schikſal verdient haͤtten, werden dir kuͤnftig, beſonders unter dem feinern und gelehrten Theile der menſch - lichen Geſelſchaft, in Menge vorkommen, und dich uͤberzeugen, wie gut und annehmungswuͤrdig auch dieſer Rath geweſen ſei.
Sei alſo geſellig: aber huͤte dich, den ab - geſchmakten, gezierten, auf Schrauben ge - ſtelten Modeumgang der ſogenanten feinern Welt, bei welchem nur die Eitelkeit, oder noch ſchlimmere Leidenſchaften, ihre Rech - nung finden, aber kein einziges natuͤr - liches Beduͤrfniß unſers Herzens befriedigt wird, oder die Zuſammenkuͤnfte uͤppiger Schwelger, welche, aus Mangel einer ver - nuͤnftigen Unterhaltung, wofuͤr ſie wederFKopf82Kopf noch Herz haben, ſich genoͤthiget ſehen, ihr langweiliges Leben durch Spiel und uͤbermaͤßigen Genuß erkuͤnſtelter Speiſen und betaͤubender Getraͤnke fortzuſchleu - dern, fuͤr Uebungen der Geſelligkeitstriebe zu halten. Nein, mein Sohn! dieſe beiden Arten von Geſelſchaft laſſen in unſerm Gemuͤthe gerade das Gegentheil von dem zuruͤk, was eine vernuͤnftige Geſelligkeit, ein ofner, herzlicher, lehrreicher Umgang mit gleichgeſtimten und weiſen Freunden in uns bewirken kan. Jene ſchwaͤchen, dieſer ſtaͤrkt unſere Leibes - und Selenkraͤfte; jene erſtikken, dieſer entwikkelt in uns den wahren Menſchenſin; jene ſcheuchen durch Betaͤubung uns aus uns ſelbſt heraus, ohne unſere Empfin - dungskraft auf irgend einen guten und edlen Ge - genſtand auſſer uns zu richten, dieſer erweitert unſer Herz durch die wohlthaͤtigſten Natur - und Freundſchaftsgefuͤhle, und verhuͤtet auf der einen Seite, daß unſere Empfindungen nicht ſtumpf, und auf der andern, daß ſie nicht ſelbſtſuͤchtig wer - den; jene endlich entnerven unſern Trieb zu nuͤz - licher Geſchaͤftigkeit, und machen uns unluſtig undtraͤge83traͤge zu jeder Art von gemeinnuͤziger Anſtrengung, dieſer hingegen floͤßt uns Luſt, Muth und Kraft zu neuer Thaͤtigkeit ein, und laͤßt uns, ſobald wir uns wieder fuͤhlen, in dem kleinen Zirkel aus - erwaͤhlter Buſenfreunde die ſuͤßeſte und heilſamſte Erholung finden.
Um dieſer mannigfaltigen Vortheile einer