„ ‚ Sünde‘ iſt das Vergehen wider das Geſetz der Zukunft. “(Oskar Hänichen. )
Laß fahren, was dich traurig macht,Und was die Enge dir geboren —:In dieſer großen FreudennachtBleibt dir dein Genius unverlorenWir leben, mein geliebtes Weib —Und unſer Leben athmet Fülle —:Der Dinge unverſtand'ne HülleFiel ab vom nackten Gottesleib.
Alle Rechte vorbehalten.
Oskar Hänichen zugeeignet.
Es gab gerade die Zeit um die vierte und fünfte Nachmittagsſtunde an einem Märztage. Der Wirth vom Café Caeſar ſtand hinter dem Buffet und zählte Geld. Das Klimpern und Klirren der Metallſtücke klang deutlich zu dem Tiſche herüber, an dem Herr Dr. Adam Menſch und Herr Referendar Clemens von Bodenburg ſaßen. Bodenburg zog ſich jetzt hinter den Figaro zurück. Nur ein paar Gäſte noch lebten da und dort im Lokal herum. Der Verkehr war im Ganzen geringfügig um dieſe Stunde.
Adam Menſch trank den letzten Schluck ſeines cognacgemiſchten Kaffees aus und rückte ſeiner Börſe auf den Leib.
„ Kellner! “
„ Herr Doctor! “
„ Bitte zahlen! “
„ Jawohl! “
Der Kellner kam herangelaufen.
„ Ein Kaffee — ſchwarz — und einen Cognac — “
„ Vierzig Pfennige! “
Adam gab einen Fünfziger hin: „ Bitte! “
„ Danke ſehr! “
Conradi. Adam Menſch. 12Der Kellner raffte die Zeitungen zuſammen, die auf dem Tiſche und den nächſten Stühlen herum - lagen, bückte ſich nach einem Journal, das ihm entglitten war, und ſchleppte die papierne Bürde von dannen. Adam Menſch ſtand auf, fuhr ſich mit der linken, etwas fieberfroſtrothen Hand über Stirn und Haar und griff mit einer Bewegung, die nicht ganz frei von Poſe war, nach ſeinem Ueberzieher.
Der Kellner, der ſich ſeiner Zeitungen entledigt hatte und eben um das Buffet bog, ſtürzte wieder auf Adam zu, um ihm beim Anlegen behülflich zu ſein.
„ Danke! “
„ Bitte! “
Da that ſich die Thür des Café's auf und eine Dame trat herein, machte ein paar Schritte, blieb ſodann ſtehen, wurde etwas verlegen, etwas roth, ſah ſich fragend um, ging noch einen Schritt weiter — und blieb wiederum ſtehen.
Das Buffet war jetzt leer, der Wirth zufällig abweſend.
Nun tauchte vom hinteren Raume des Café's der Zeitungskellner, ein kleiner, beweglicher Geſell mit einem angenehm verkniffenen Geſicht, auf. Er trug eine Zeitung in der Hand, die er der Dame übergab. Dieſe drehte ſich, ohne ein Wort zu ſagen, um und verließ mit nicht ganz ſicherem Schritt das Lokal. Adam bemerkte, wie ſie von den Blicken der meiſten Gäſte zuvorkommend hinausbegleitet wurde. 3[A]uch Herr von Bodenburg hatte ſeinen breitblättrigen[F]igaro ſinken laſſen. „ Ganz niedliches Kind! “ur - t[h]eilte er ſchmunzelnd.
„ Wer iſt die Dame eigentlich —? “fragte Adam d[e]n Kellner, der noch immer in ſeiner Nähe ſtand u[n]d natürlich an der allgemeinen Aeugelei theil - g[e]nommen hatte. „ Ich habe ſie ſchon mehrere[M]ale um dieſe Zeit hier geſehen “, fuhr der Herr[D]octor fort.
„ Ich glaube, Fräulein Irmer heißt ſie — ſie h[o]lt immer die Volkszeitung für ihren Vater — d[e]r hat nachabonnirt “, berichtete der Kellner.
„ So! Danke ſchön! Adieu, Herr von Boden - b[u]rg! “
„ Adieu, Herr Doctor! “
Adam Menſch ging langſam hinaus, Herr von B[o]denburg ſah ihm nach und ſchüttelte den Kopf. „[S]onderbarer Kerl! “murmelte er. „ Kellner, nehmen[S]ie das Schachbrett weg und bringen Sie mir n[o]ch — ach ja! ich wollte ja einmal Ihren Ab - ſ[y]nth probiren — alſo bitte! .. “rief der wackere H[e]rr Referendar ſodann laut.
„ Ja wohl —! “—
Adam hatte vor dem Café nach rechts und li[n]ks ausgeſchaut, um die Spur von Fräulein I[r]mer — „ ja ja! ſo hieß ſie doch —? hatte der K[e]llner nicht dieſen Namen genannt? “— wieder - zu[fi]nden. Richtig! Da drüben ging ſie. Und jetzt bo[g]ſie um die Ecke. Sollte er ihr folgen? Aber w[a]rum? Hatte er einen Grund dazu —? Ließ er1*4ſich, indem er dieſem ſpontanen Bedürfniſſe nach - gab und daſſelbe in einen bewußten Willensakt umſetzte, nur von einer zufälligen Stimmung, einer erſten beſten Laune leiten? Wollte er ſich zerſtreuen, auf andere Gedanken kommen, ſich den ſtechenden Schmerz in den Schläfen vergeſſen machen? Oder reizte ihn irgend Etwas an dieſem Weibe, das er ſchon öfter im Café Caeſar geſehen ... deſſen aufgereckte Geſtalt mit ihrer reſervirten Halbfülle ſeinem Auge wohlgethan? War ihm dieſes bleiche Geſicht mit der ſonderbaren Kreuzung im Ausdruck, wenn ſeine urſprüngliche Herbheit und abweiſende Strenge ſich mit der momentanen Verlegenheit, Scheu und Unſicherheit paarten — war es ihm „ an - ziehend “? Adam war noch nicht zu einem trans - parenten Ergebniſſe gelangt, als er ſich ſchon über den Fahrdamm ſchreiten und die Richtung nach jener einmündenden Straße nehmen ſah, um deren Ecke Fräulein Irmer ſoeben verſchwunden war.
Einige Minuten ſpäter hatte der grübelnde Herr Doctor die Dame dicht vor ſich.
Fräulein Irmer ging langſam, einförmig, bei - nahe ſchwerfällig. Sie wandte ſich nicht nach rechts noch nach links, gerade aufgerichtet trug ſie den Kopf und mußte, wie Adam aus ihrer Haltung ſchloß, ſtets in der Richtung ihres Weges vor ſich hinſtarren — und doch über all' die Menſchen, die vor ihr hergingen oder ihr begegneten, hinwegſehen, un - berührt von den lärmenden, zuckenden Schatten, mit denen das unſtäte Leben ſie umgab. Adam5[M]enſch imponirte dieſe Theilnahmloſigkeit immerhin[ei]n Wenig. Und ſie imponirte ihm vor allem darum,[w]eil ſeine eigene, ſehr nervöſe und unruhige Natur[ſi]ch von Jedwedem in Anſpruch nehmen ließ, was auf[ſi]e eindrängte, auf Alles eingehen mußte, was um[ſi]e herum athmete, lebte und ſprach.
Nun fiel es ihm gerade ein, ſich der Dame einmal b[e]merklich zu machen. Er ging hart an ihr vorüber, ſ[a]h ſie ſcharf von der Seite an und ſchritt ihr d[a]nn voraus. Jetzt blieb er vor dem Schaufenſter[ei]nes großen Delicateſſengeſchäftes ſtehen und wandte ſi[ch]auffällig um, als er annehmen konnte, daß F[r]äulein Irmer in ſeiner Nähe war. Er fixirte ſi[e]ſcharf und ſuchte ihr Auge feſtzuhalten. Die[D]ame ſtreifte ihn mit einem kurzen Blicke und ſah d[a]nn über ihn hinweg. Das ärgerte den Herrn[D]octor ein Wenig. Er hielt ſich jetzt in ihrer[int]imen Nähe und folgte ihr dicht auf den Sohlen. F[r]äulein Irmer wurde augenſcheinlich unruhig. D[e]r Kopf ſenkte ſich und drehte ſich in kurzen, h[a]rten Bewegungen, bald nach links, bald nach re[ch]ts. Sie hatte begonnen, von ihrem Begleiter N[o]tiz zu nehmen.
Die Dämmerung wuchs. Die Schatten der au[s]einanderquellenden Nacht fielen dichter und dunk - le[r.]Jetzt flammten die erſten Laternen auf.
Eine Buchhandlung lag am Wege. Fräulein I[r]mer trat in den Laden, Adam Menſch folgte ihr nach ein[i]gen Secunden. Er hörte, wie ſich die Dame mit et[w]as belegt-ausgefranſter Stimme Eugen Dühring's6 „ Werth des Lebens “ausbat. Ihr Geſicht trug wieder denſelben Doppelausdruck, den es im Café Caeſar anzunehmen pflegte.
Adam beſtellte flugs ein Exemplar deſſelben Werkes. Das mußte doch auffallen. Und es ſchien auch Fräulein Irmer aufzufallen. Sie wandte ſich zu ihrem Nachbar um, ſchlug die braunen ernſten Augen groß auf .. und fragte mit ihnen eine ſtumme, tiefe Frage, auf die Adam nur eine gleiche, ſtumme Antwort wußte, die für ihn plötzlich nicht minder tiefen Inhalts war.
Das Werk fand ſich natürlich nicht auf Lager. Der Gehilfe erbat ſich die Adreſſen und verſprach die Exemplare in ſpäteſtens acht Tagen beſorgt zu haben.
„ Hedwig Irmer — oder ſenden ſie das Buch bitte direct an meinen Vater: Dr. Leonhard Irmer, Herderſtraße 7 III. .. “
„ Danke verbindlichſt, mein gnädiges Fräulein — ſoll geſchehen! Und Sie, mein Herr —? “
„ Dr. Adam Menſch, Gartenſtraße 14 II. .. “
Der Herr Doctor erhielt jetzt zwei verwunderte Blicke. Dem Gehilfen ſchien ein Menſch, der Adam Menſch heißen könnte, bisher unmöglich geweſen zu ſein.
Auch Fräulein Irmer war betroffen. Adam gab ihren Blick mit einem diskret-ironiſchen Lächeln zurück. Die Dame wurde vorwiegend verlegen.
Nun wandten ſich die beiden zum Gehen. Adam öffnete die Thür und ließ das gnädige Fräulein zuerſt hinaustreten. Dann folgte er ſchnell.
7Er konſtatirte, daß ſeine Nervenſchmerzen nach - gelaſſen hatten. „ Man muß nur einmal in einer fremden Atmoſphäre herumvagabundiren und dem ehrenwerten Corpus ein wenig Abwechslung gönnen: dann machts ſich ſchon — “monologiſirte er ſtill vor ſich hin. Inſtinctiv hatte er Fräulein Irmers Spur wieder aufgenommen. Aber er war doch zweifelhaft. Sollte er noch weiter hinter der Dame hertrollen, wie ein zitternder Gymnaſiaſt hinter ſeiner in ſich hineinkichernden Pouſſade, hinter ſeiner „ Flamme “— oder ſollte er ihr ſeine „ Begleitung anbieten “— oder ſollte er wieder umkehren und ruhig nach Hauſe ſtapfen —? Was hatte dieſes närriſche Nachlaufen für Sinn! Uebrigens — die Adreſſe wußte er ja, wenn er alſo — — „ Herderſtraße 7 III. “— — ja! ja! — ach was! — „ wenn er “— Unſinn! —
Aber Adam ging noch immer dicht hinter der Dame. Man war allmählich in einen ſtilleren Stadttheil gekommen.
Plötzlich fand ſich Adam an der Seite Fräulein[I]rmers vor! Er ſtutzte einen Moment, verſtand ſich[n]icht und .. fragte ſchließlich, indem er etwas linkiſch[u]nd rathlos den Hut zog: „ Erlauben Sie, mein[g]nädiges Fräulein, daß ich Sie — “
Keine Antwort.
„ Verzeihen Sie, mein Fräulein — aber Sie[w]erden unſchwer — — “
„ Ich verſtehe Sie nicht, mein Herr! Was wollen[S]ie? — Verlaſſen Sie mich! — “
8„ Mein Fräulein —! “
„ Noch einmal — verlaſſen Sie mich — ich erſuche Sie dringend — oder ... “
Adam war plötzlich ſehr ſelbſtbewußt und trotzig ge - worden. Er betippte nachläſſig ſeinen Hut, wandte ſich ab, ging einige Schritte zurück, ſtampfte einmal recht erbittert aufs Pflaſter und lachte ſehr indignirt. Was nun? Er drehte ſich noch einmal um. Und es dünkte ihn, als ob Fräulein Irmer recht langſam ginge — zudem — zudem noch gar nicht ſo beſonders weit entfernt von ihm wäre — ſollte ſie doch — ſollte er — — aber nein! — nichts da! — Unſinn! — — — Adam ſchob ſich entſchloſſen wieder um und wanderte nach Hauſe. Nach einer halben Stunde ſtieg er die Treppen zu ſeiner Wohnung empor. Die Glieder waren ihm ſchwer und die Schläfen ſchmerzten wieder heftiger. Und es fiel ihm ein, daß man doch im Grunde kaum Herr ſeiner Handlungen iſt. Plötzlich, im wahren Sinne „ unvorbereitet, “hatte er vor einer kleinen Weile vor Fräulein Irmer geſtanden. Wie war er an ihre Seite gekommen? Urtheil — Vorſtellung — Willensimpuls — Coordinations - centren — Muskelcontraction — — — Alles Blech! Adam wußte nur, daß man einmal ebenſo „ unvorbereitet “eine .. Waffe in der Hand haben könnte — — und daß man unter Umſtänden ſchon nicht mehr ſein könnte, ehe man es überhaupt bewußt gewollt hätte. Aber .. aber aus de[m]ohne! — ja! was denn: „ ohne? “— ohne —9 ohne! .. Dieſe beleidigte Schöne! Sie einmal küſſen —? „ Küſſen “? Pah! Zu geſchmacklos! Aber ah! eigentlich ſtand er doch noch ſehr feſt im Leben, noch ſo mitten darin! Und wie ſicher er mit beiden Füßen noch auftrat! Wie ihm aus der engen Zone ſeiner Augenblicksphantaſieen heraus das Leben doch noch ſo .. ſo ... lebenswerth erſchien! Herr Gott! Und nur, weil er heute dieſes Weib — dummes Zeug! Er hatte wahrhaftig Ernſteres zu thun, als immer wieder auf derartige U. -S.-W. - Weiblichkeiten 'reinzufallen. —
Grauſchwarze Dämmerungsflocken lagen im Zimmer. Es pochte. Die Wirthin erſchien, die flammende Lampe in der Hand. Nach einer kleinen Friſt: — „ Sie ſehen recht blaß aus, Herr Doctor — “
„ Hm! “—
Wie einer ſeiner Vorfahren eigentlich dazu ge - kommen war, ſich ſchlechtweg „ Menſch “zu nennen oder zu einem derartigen Beſonderheitsmenſchen ſich er - nennen zu laſſen, hatte Adam wirklich nicht ergraben und ergründen können. Ja! Er hatte ſich alle Mühe gegeben, ſotanes Geheimniß zu entlarven, und manche Stunde war darüber vergrübelt worden. Uebrigens ge - fiel ihm ſein Familienname, dieſer Name, der das Moment des Typiſchen und des Individuellen ſo intim vereinigte, der ebenſo originell und tiefſinnig, wie ge - wöhnlich, oberflächlich und trivial war, gar nicht übel. Und nicht übel paßte objectiv und behagte ſeinem Beſitzer auch ſubjectiv der Vorname Adam — „ Adam Menſch “: eine originelle Idee ſeines Vaters war es doch geweſen, die Familienüberlieferung, nach welcher jeder Erſtgeborene den Vornamen Gott - fried erhalten ſollte, zu durchbrechen und ſeinen Erſtling „ Adam “zu taufen! Manchmal war der Name ſeinem Träger allerdings mehr eine Laſt, denn eine Luſt geweſen: zu den Zeiten, da er die Volksſchule ſeiner kleinen Vaterſtadt beſucht und mit Kameraden auf einer Bank hatte ſitzen müſſen, die an ſich wohl11 auch ſo etwas Aehnliches, wie .. wie Menſchen eben ge - weſen waren, ſonſt aber nur Richter, Schneider, Gerne - groß, Potſchappel — und zuweilen ſelbſt Müller und Schulze geheißen hatten. Da hatte denn ſein Name den Fiſch abgegeben, nach dem die wühlende Buben - ſippſchaft die Angeln ihres tölpelnden Nörgelns ausgeworfen. Das hakt ſich feſt in der Seele deſſen, der früh von der großen, breiten Durch - ſchnittsſtraße abzubiegen beginnt .. oder, wenn in jungen Jahren auch noch nicht wirklich abbiegt, ſo ſich doch ſchon mehr und mehr an die Ränder der Straße ſchlängelt, auf daß er dem Nebendickicht näher ſei und beſſer und deutlicher einen ſchmalen Einzelpfad durch die wuchernde Wildniß für ſich erſpähe.
Adam war in engen, drückenden, rohen Verhält - niſſen aufgewachſen. Sein Vater, Gottfried Menſch, hatte einen Bäckermeiſter vorgeſtellt. Ein Mann, verſchwommen an Leib und Geiſt, eigenwillig, auf - brauſend, unſtät in Stimmungs - und Willensgegen - ſätzen lebend, von ſchnurrigen Einfällen behaftet, nicht ohne eine gewiſſe Eigenart und Kraft, aber ohne die Sicherheit, ohne die Lebensgarantie der Beſchränktheit. Er hatte ſich in ſeiner Natur aus - gelebt — das heißt: er hatte nach Welt und Men - ſchen nicht viel gefragt und nur dem bunten Bündel ſeiner Neigungsſtröme gefröhnt. Dabei war das Geſchäft natürlich heruntergekommen — und unbe - wußt, naturgemäßig-nothwendig, im Beſitze des Muthes, Alles gehen zu laſſen, wie es geht, und12 dem ökonomiſchen Verderbensmoloch ruhig ſeine Gift - zähne zu laſſen, hatte ſich Meiſter Gottfried Menſch immermehr an den Alkohol angeſchloſſen, welcher ihm allerdings weniger Tröſter war, als ein guter Kamerad, der Feuer in die Seele goß und wirbelnde Phantaſie'n gebar. Und eines Tages war dann das Delirium gekommen. Die Krämpfe und Wuthausbrüche wuch - ſen an Oftheit und Stärke, aber es trat auch nicht allzuſpät der Gehirnſchlag ein, der den Raſen - den eines Abends ausblies. Adams Mutter hatte ſich die Kehlkopfſchwindſucht anſchaffen müſſen. Vier Kinder waren da: zwei Knaben und zwei Mädchen. Die Brut war nicht geſund. Adam mußte ſich in ſpäteren Jahren noch öfter ſattſam wundern, daß er alle die Plackereien und Quälereien, die er hatte auf ſich nehmen müſſen, ausgehalten, wenigſtens einigermaßen ausgehalten. Nun ja doch! Brüchig und in ſich mannigfach auseinandergekeilt war er ſchon längſt. Das Leben hatte ihm kein Stück ge - ſunder Krafterde hingeſchoben, auf daß er feſt in ſie hineinwurzele und aus ihr heraus drangvoll und ſäftereich treibe. Das war ſein ganzes Leben lang nur ein loſes Wurzelhängen geweſen. Von ſeinem achten, neunten, zehnten Jahre bis zu dem neun - undzwanzigſten, in dem er nun ſtand .. und das vielleicht noch nicht das letzte war, deſſen Ring er ſich eingrub.
Nach dem Tode des Vaters hatte der Bäckerge - ſelle Karl Salge den Kopf ordentlich in die Höhe gereckt und ſich an's Meiſterſpielen gemacht. Das13 Ge[ſ]chäft verſuchte wieder einen kleinen Lebensauf - ſchwung. Dafür war denn die Meiſterin dankbar geweſen .. und hatte in einer Stunde der Freude, Hoffnung und Seelenſchwäche dem drängenden Ge - ſell[e]n ihre Hand zugeſagt. Die Hochzeit war auch ein[e]s Tages ſtill, glanzlos, verſchämt gefeiert — un[d]Herr Salge ſomit Meiſter und Beſitzer einer Bäc[k]erei geworden, die ihm, dem bisher ar - me[n]Burſchen, doch immerhin eine gewiſſe Würde gab und ein bewußteres Auftreten geſtattete. Ueber - die[s]war ja die Meiſterin todtkrank .. ihr Lichtlein bre[n]zelte, zuckte und knarrte ſchon leiſe .. lange kon[n]te es nicht mehr brennen .. Eines Tages er - loſc[h]es denn auch, und Herr Salge, der wacker ge - arbe[i]tet hatte und dem es auch gelungen war, ſeine Wa[a]re wieder mehr zu Ehre und Anſehen zu brin - gen, heirathete ſeine Dienſtmagd, mit der er ſich ſcho[n]vorher eingelaſſen hatte, und die ſich eine nicht gan[z]kümmrige Summe aus ihren früheren Dienſt - ſchaf[t]en zuſammengeſpart. Die Stiefkinder kamen natü[r]lich früh aus dem Hauſe. Die Mädchen mußten ſich mach ihrer Einſegnung bald nach auswärts ver - ding[e]n, Guſtav wurde zum Nachbar Schlächter in die[L]ehre gethan: er konnte ja vielleicht daſſelbe Glüc[k]haben, wie ſein Stiefvater. Adams nahm ſich als d[i]e Zeit dazu gekommen war, einer ſeiner Lehrer an[u]nd verſchaffte ihm einen Platz im Gymnaſial - Alu[m]nat der nächſten größeren Provinzialſtadt: in dem[J]ungen ſchien etwas Mehr zu ſtecken, als in ſeinen Geſc[h]wiſtern .. und des Experiments, das noth -14 wendig war, um ſeine etwaigen Fähigkeiten an's helle Licht der Sonne zu befördern, war er ja im - merhin werth! Hieß er doch nicht nur Menſch, noch dazu Adam Menſch — war er doch ſchließlich auch ein Menſch und bot als ſolcher fürtreffliche Gelegen - heit, chriſtliche Nächſtenliebe getreu nach dem Evan - gelium zu üben.
Und nun kam die lange, drückende, ausmergelnde Leidenszeit Adams. Wie engten ihn die Schulwände ein! Wie gaben ſie ihm ſo blutwenig Luft und Licht und Freiheit und Wind! Wie langſam ſchleppten ſich die Jahre hin — und wie viel Fleiſch von todten, crepirten Fiſchen wurde ihm als Geiſtesſpeiſe zum Hinunterſchlingen vorgeſetzt! Wie oft mußte er ſich verleugnen, ſich demüthigen, zu Kreuze kriechen, um die Broſamen nicht zu verlieren, die man ihm bewilligt hatte — und die man ihm Jahre lang ſo gern und ſo freudig gab!
Aber die Stunde, da dieſes Zuſammenleben mit dem Buchſtabendogma der Kirchenlehrer, dieſes Er - kaltenmüſſen in den todten Schnee - und Eis - und Gletſcherregionen der galvaniſirten Antike Ciceros und Vergils aufhörte, ſie kam doch. Und nun ſprang das Thor auf — und der Mulus lief wie wahnſinnig vor Freude im oſtwindverkühlten Sonnenſchein der jungen Märztage herum .. und dachte nicht daran, daß er doch eigentlich verdammt wenig Ausſicht be - ſäße, ein rechtſchaffenes Burſchenleben auf der Uni - verſität führen zu dürfen. Der Glückliche, der mit Patent entlaſſene Sträfling, dachte nicht daran, daß15 in[n]aher Zukunft ein neuer Wermuthskelch wieder ein[m]al — nicht an ihm vorübergehen würde — daß er noch Jahre .. noch drei, vier Jahre lang är[m]lich und erbärmlich wie die bewußte Kirchen - ma[u]s würde leben müſſen — und die ganze Fülle der Kräfte, die in ihm rang und ſtritt und nach Au[s]bruch und Bethätigung lechzte, würde entweder verl[e]ugnen, eindämmen, einſargen, „ kaltſtellen “, er - ſticke[n]oder — in ein Strombett lenken müſſen, das ſein[e]n Lauf nach dem an materieller Ausbeute gewiß reich[e]ren Meere des „ praktiſchen “Lebens nimmt ...
[U]nd die Stunden, Wochen, Monate und Jahre kam[e]n und gingen — und Adam Menſch durchlebte ſie: ein Sclave ſeiner Armuth und ein Freier zu - gleic[h]. Die große Fluth des Lebens umbrandete ihn. Abe[r]er hatte kaum einen Platz an der Tafel dieſes Lebe[n]s. Durch Ertheilen von Privatunterricht ver - dient[e]er ſich nothdürftig die paar Kreuzer, die dazu gehö[r]ten, um ihn überhaupt über Waſſer zu erhalten. Man[c]hmal, wenn es ihm gar zu heiß in der Bruſt wurd[e], ſprang er mitten ins Leben hinein und ſpielt[e]trotzig va banque. Dann ſtaunte er wohl auch dieſes ſo bunte, ſo verwickelte Leben an, und es d[ü]nkte ihn bisweilen gar nicht ſo ſchwer, Fuß in ihm[z]u faſſen und auf all das tauſendfältig Kleine und[B]eſondere, das ſich nun plötzlich vor ihm auf - rollte, liebevoll einzugehen. In Stunden des Tau[m]els riß er ein verlorenes Weib an ſeine Menſ[ch]enbruſt und lachte und ſchwelgte und weinte mit[d]er Armuth und mit der Schmach. Sein16 philologiſches Brotſtudium betrieb er mit bedeuten - dem Eifer: war es doch, beim Styx! der einzige Weg, der ihn hinaufführen konnte in die Berg - ſiedeleien der geiſtig und leiblich „ Vornehmen “, der „ Bildungsidealiſten “! Mitunter machte er Schulden, und die Docentenhonorare ließ er ſich mit liebens - würdiger Bereitwilligkeit ſtunden. Er verſuchte wohl auch die buntſcheckige Sammlung ſeiner Talente: er ſchrieb Leitartikel für Zeitungen, machte Gelegen - heitsgedichte, die ihm manchmal einige Mark ein - trugen, verbrach Recenſionen philoſophiſcher Werke für akademiſche „ Organe “und hielt in ſtudentiſchen Vereinen Vorträge über culturgeſchichtliche Themata, dann und wann mit einem vagen Saumſtreifen moderner politiſcher Verhältniſſe .. Einmal war es ihm auch geglückt, ein Theaterreferat über eine Sommertheaterbühne für eine untergeordnete Zeitung zu erlangen: da ließ er ſich denn die Gelegenheit zu allerlei Couliſſenſtudien nicht entgehen … und ob es wohl nicht vorgekommen war, daß er ſich mit dem … Kuſſe einer Soubrette beſtechen oder be - lohnen ließ ..? Auch im Strudel der ſtudentiſchen Kameradſchaften trieb und wirbelte er eine Zeit lang herum — und ſo floß dieſes Stück Leben hin voll Wirrwarr, Zeriſſenheit und Zerſtücktheit .. Eines Tages ſtand Adam vor dem Staatsexamen. Er genügte gerade noch den Prüfungen — und kroch eine kleine Friſt ſpäter in das Joch einer Hauslehrerſtellung bei einer adligen Gutsbeſitzersfamilie. Seine beiden Zöglinge erfreuten ſich zwar einer ganz braven17 Lei[b]esgeſundheit — mit der Kraft und Geſundheit ihr[e]s Geiſtes jedoch war es ein Biſſel ſchwächer be - ſtell[t]— und ſo redliche Mühe ſich Adam zuweilen auc[h]gab, dem edlen Blaublut die Geheimniſſe des „ A[c]cusativi cum infinitivo “zu erſchließen: im Gr[u]nde erreichte er nur verdammt Wenig mit ſeiner Ab[q]uälerei. Nach zwei Jahren hing er den Prä - cept[o]rrock an den Nagel und zog von dannen. Er hatt[e]ſich wenigſtens einige hundert Mark erſpart und war ſomit in der Lage, ſich den Doctorhut, welc[h]en zu tragen doch nun einmal unter Anderem „ a[u]ch “in das corpulente Pflichtenregiſter eines „ aka - dem[i]ſch gebildeten “Menſchen gehört, zu kaufen. For[t]an durfte er ſich alſo mit Fug und Recht die ſehr gewöhnliche Anrede „ Herr Menſch “verbitten und die jedenfalls wohllautendere „ Herr Doctor “verl[a]ngen. —
[A]n dem Progymnaſium einer kleineren Pro - vinz[i]alſtadt abſolvirte er ſein Probejahr. Hier wur[d]e das Maß voll. Adam konnte durchaus nicht begr[e]ifen, warum er ſeinen Schülern außer den inte[r]eſſanten Anfangsgründen der lateiniſchen Syn - tax auch noch die Schönheiten altteſtamentlicher My[t]hen, Märchen und mindeſtens ſonderbarer Opfer - geſch[i]chten zu Gemüthe führen ſollte. Zudem ekelten ihn[d]ie kleinen und engen Verhältniſſe dieſer lobe - ſame[n]Spießerwelt unbeſchreiblich an. Und ſo ſchnitt er d[a]s Tafeltuch zwiſchen ſich und einer ſoliden, ge - ſicher[t]en Zukunft entzwei — einer Zukunft, welche ſo g[e]rn eine der reizenden Honoratiorentöchter desC[o]nradi, Adam Menſch. 218Städtels, allwo er ihren Brüdern ein in mancherlei Hin - ſicht doch etwas merkwürdiger Lehrer geweſen war, mit ihm getheilt hätte — ſotanes Tafeltuch ſchnitt er alſo mitten durch — und ließ ſich auf den curioſen Einfall kommen, ein … „ moderner “Menſch zu werden. —
Hm! So war er denn wirklich ein „ moderner “Menſch geworden. Und ſo ſaß er zu dieſer Stunde dort auf dem Sopha, zog ſeine Virginia-Cigarette mechaniſch durch die Lippen, gab den Qualm mechaniſch von ſich, preßte ab und zu Zeige - und Mittelfinger der linken Hand gegen die linke Seite ſeiner Schläfen und dachte manchmal an Hedwig Irmer. Wie dumm ihm jetzt die Geſchichte vorkam, die er vor kaum einer Stunde mit dieſer Dame in Scene geſetzt! Nein! Er wußte es: er beſaß kein … wenigſtens noch kein tieferes Intereſſe für dieſes Weib .. Ob er wohl jemals in den Beſitz dieſes „ tieferen Intereſſes “für Fräulein Irmer ge - langen würde? Kaum .. Er konnte ſich allerdings nicht trauen. Zuweilen überraſchte ihn ſein ſonder - bar complicirtes Ich mit Thatſachen, die ihn in Erſtaunen ſetzten. Er hätte eigentlich immer en vedette ſich gegenüber ſein müſſen. Doch vorausbe - ſtimmen konnte er abſolut Nichts. So mußte er ſich denn eben überraſchen laſſen. Beſaß er Ellen - bogen? O ja! Aber er gebrauchte ſie nicht, ſich Platz auf der Welt zu verſchaffen. Wollte er ſie nicht dazu gebrauchen? Hm! War er blaſirt? Gâté? Nein! Nein! Er kannte ja das Leben noch kaum. Es war ja eigentlich noch gar nicht ſo lange19 her[,]daß er aus dem Ei gekrochen. Ein paar Eie[r]ſchaalenreſtchen hafteten ihm ſicher noch an. Wa[s]verſchlugs! Das Eine ſtand jedenfalls feſt: frei[,]ganz frei, keiner Machtſphäre unterthan, kein[e]m Urtheilstribunal unterworfen mußte er ſein, wen[n]er wenigſtens die Abſicht gebären ſollte, ſich — irgend einem Joche zu fügen. Er ſpie[l]te wohl zuweilen mit dem Gedanken, aus dieſ[e]m allmählichen Zerfallen, Verwittern und Ver - mor[ſ]chen ſeiner „ Perſönlichkeit “an Kraft und Talent und Muth noch zu retten, was zu retten wäre, und mit den Reſten und Stümpfen, die trotz ihrer relativ - ſubj[e]ktiven Kärglichkeit vielleicht noch zehntauſend Ma[l]bedeutender und werthvoller waren, denn die zur Ein[h]eit geſammelt gebliebenen Fähigkeiten manches un - zerſ[p]litterten Durchſchnittlers — mit ihnen alſo in eine nor[m]ale und genau abgeſteckte Laufbahn einzubiegen. Ach[!]Adam wußte ſo manches Mal ſehr genau, daß er mit dieſem Gedanken nur ſpielte. Konnte er ſich zu d[i]eſer That der Umkehr wirklich noch aufraffen? Hm[!]Hielt er die Umkehr denn überhaupt noch der Mü[h]e für werth? Sein pſychologiſches Feingefühl ſagt[e]ihm doch wahrhaftig genau, daß man ſchließlich Alle[s]gehen laſſen muß, wie es geht. O ja! Man faßt Entſchlüſſe. Aber man kehrt doch bald wieder in[d]ie Bahn zurück, der man eben verfallen iſt. Ada[m]gehörte zur Sippe jener „ unglücklichen “Naturen, bei[d]enen Willenskraft, Phantaſie und nüchterner Verſ[t]and gleiche Stärke - oder gleiche Schwächegrade beſitz[e]n. Wohl löſt zeitweilig gleichſam das eine2*20Perſönlichkeitsmoment das andere in der Herrſchaft ab. Jedoch ſind dieſe Menſchen ſehr oft nachdrück - lichſter Hochgefühle fähig, dabei alle Kräfte ſich zu ein - heitlicher Stärke zuſammenſchließen — und darum müſſen ſie ſo oft auch die Gegenwirkung auf dieſen Aufſchwung: eine allgemeine Gleichgültigkeit, eine ſchwere, blutleere Herabgeſtimmtheit, über ſich er - gehen laſſen. Iſt das nicht eigentlich ihr — was man ſo nennt: ihr „ Normalzuſtand “? Adam Menſch war ſich ſoweit klar über ſich, daß er dieſe Weſen - heit ſeiner Natur erkannt hatte und ſie zuweilen berückſichtigte, das heißt: ſich mit ihr tröſtete. Die klare Einſicht in eine Thatſache hat ja immer etwas Tröſtendes — nicht wahr? Aber beſtätigte er mit dieſem Troſte nicht ſein Leben — ſeine Neigung zum Leben? War da nicht ſein „ Wille zum Leben “thätig? Wohl doch. Und dann: hatte er das Leben eigentlich ſchon „ genoſſen “? Oefter packte ihn — oh! er erinnerte ſich deſſen! — ein wahrer Heiß - hunger auf das gewiſſenhafte, feierliche Genießen der bunteſten, tollſten, ſeltenſten, ſüßeſten Lebens - reize. Allein dieſer Heißhunger war im Grunde doch ſehr gegenſtandslos. Wiſſenſchaftlichen Ehrgeiz be - ſaß Adam nicht. Zur Liebe hatte er nicht Geduld, nicht Ausdauer mehr. Erkenntnißreſultate befriedig - ten ihn nicht, da er wußte, daß es ihm doch nicht gegeben war, dem myſtiſch-metaphyſiſchen Drange ſeiner Seele ganz zu genügen. Ja! Unberechenbar in ſeinen Stimmungen, in ſeinen Neigungen und Launen; zerſplittert in ſeinen Kräften; unbeſtändig,21 flac[k]ernd in „ erotiſchen Fragen, “in der „ Leidenſchaft “ſatt und unbefriedigt zugleich; müde, todtmüde — und begeiſterungsfähig wie ein Jüngling, der ſoeben ma[n]nbar geworden iſt; angefreſſen von dem Skepticis - mu[s]ſeiner Zeit; unklar und wechſelnd in ſeinen Be - ſtre[b]ungen; radical in ſeinen Anſchauungen; und wieder übe[r]Alles bornirt, einſeitig, engherzig, intolerant, beſo[n]ders hinſichtlich mancher geſellſchaftlichen Formen und Gewohnheiten; — der Volksſeele mitunter in Alle[m]ſo nahe und dem dargeſtellten Volke ſelber zum[e]iſt in Allem ſo fern, ſo fremd; auf ſich neu - gier[i]g, über ſich erſtaunt und ſeiner ſelbſt überdrüſſig; nich[t]wiſſend: Warum das Alles? Wozu? Wohin mit dem Allen? Wo hinaus? Oder wo hinein? — Oft[d]eklamatoriſch, pathetiſch, agitatoriſch; oft ironiſch, cyni[ſ]ch, gezwungen geiſtreich, ſelten „ normal, “ſelten ſchli[c]ht, einfach, gewöhnlich, mittelmäßig, mittelhoch oder mitteltief —: alſo war es im Allgemeinen be - ſtellt um Adam Menſch — um dieſen „ Menſchen - ſohn[,]“der noch immer in ſeiner Sophaecke ſitzt, das letzte Stümpfchen ſeiner Cigarette an die Lippen gekle[b]t hält — und an ſich .. und manchmal auch an Hed[w]ig Irmer denkt, an dieſe Dame, die ihm vor - hin[e]igentlich einen rechtſchaffenen Korb gegeben hat, — d[i]e ihm auch ſkandalös gleichgültig iſt — und in d[i]e er ſich doch eigentlich ſo etwas wie .. wie „ verl[i]eben “möchte, bloß um Gelegenheit .. bloß um eine[n]inneren Grund zu beſitzen, ihr dann und wann noch ein Wenig zu ſchaffen zu machen. —
Hedwig Irmer war die drei Treppen zu ihrer Wohnung langſam emporgeſtiegen. Sie hatte beim Hinaufgehen öfter inne halten, öfter ſtehen bleiben und Athem ſchöpfen müſſen. Was war ihr nur? Es lag ein Druck auf ihr, den ſie ſich nicht erklären konnte. Schreckte ſie auf einmal zurück vor der Enge, Einförmigkeit und Kärglichkeit der Exiſtenz, die ſie mit ihrem halb gelähmten, halb blinden, ſchwerhörigen Vater führte? Nun ſchon ſeit Jahr und Tag führte? Sie kam wieder einmal draußen aus der Welt. Wohl war ſie im Grunde ſehr gleichgültig durch dieſe ſie umflirrende Welt gegangen. Sie beſaß nicht das Talent, ſich in die Herzen der Menſchen hineinzu - denken. Sie hatte nicht das Bedürfniß, hinter jeder Geſichtsmaske ein Schickſal zu ſuchen. Sie dachte an die Menſchen eigentlich kaum, ſie dachte kaum an ſich, ſie lebte nur auf, beſtätigte ſich nur, wenn ſie mit ihrem Vater in intim-wiſſenſchaftlichen, zumeiſt philoſophiſchen Verkehr trat. Eine tiefere Tendenz ihrer Natur ſtellte dieſes ernſte Studium allerdings auch nicht dar. Sie mußte ſich oft zwin - gen, zu den Büchern zu greifen, wenn nicht eine23 unmittelbare Anregung dazu von ihrem Vater voraus - gega[n]gen war. Alle dieſe Weisheiten der modernen Phi[l]oſophie waren ihr ja ſo gleichgültig. Die Stürme ihre[r]Seele waren vorüber. Ihr Blut war todt. Gre[n]zenlos nüchtern und kahl lag das Leben vor ihr … eine große, öde, handflache Ebene .. lag es[v]or ihr .. würde es vor ihr liegen, weiter und wei[t]er — wenn ſie es nicht eines Tages freiwillig aus[b]lies … lag es vor ihr mit ſeinem kleinlichen Ka[m]pf ums Daſein, ſeinen erbärmlichen Mühen und So[r]gen, ſeinem reizloſen, einförmigen, ſo unendlich über[f]lüſſigen Wellenſchlage … Immer dieſelbe Me - cha[n]ik, immer daſſelbe einſchläfernde Surren der Spin - del .. Hatte ihr die Philoſophie ihres Vaters dieſe Ruh[e]und Kälte und Theilnahmloſigkeit gebracht? Da[m]als, als ſich die Waſſer der Kataſtrophe ver - lauf[e]n, hatte er ſie eingeführt in ſeine Gedankenwelt, in ſ[e]ine philoſophiſchen Glaubensſätze .. hatte er ihr[S]tille und Troſt durch die Erkenntniß brin - gen wollen. Nun — und? Darüber waren faſt fünf Jahre hingegangen. Die Stürme ihrer Seele war[e]n vorüber, ihr Blut war todt, ihre Natur ein - gefr[o]ren. Manchmal wohl … manchmal raſchelte plötz[l]ich ein heißer, ſchwüler Sehnſuchtshauch durch die[d]ürren Blätter der Reſignationsphiloſophie, in der[i]hr Vater lebte und deren Reſultate auch ihr einle[u]chten mußten. Aber ſie konſtatirte eigentlich dieſe Reſu[l]tate nur vernunftsmäßig, ſie beſaß nicht Grund und[B]edürfniß, ſich dieſelben verinnerlicht zuzueignen.
Hedwig hatte auf dem ſchmalen, engen, von24 einer blakenden Küchenlampe mit angebrochenem Cylin - der nothdürftig erhellten Corridor Hut und Mantel abgelegt, war eine Sekunde vor einem kleinen, ſchmuck - loſen, halb erblindeten Wandſpiegel ſtehen geblieben, hatte flüchtig an ihrem Haar geordnet .. und war ſo - dann durch die nächſte Thür in ein Zimmer eingetreten, welches ſich als Wohnzimmer zugleich und Arbeits - gemach ihres Vaters benahm. Der Raum, mittelgroß, einigermaßen behaglich eingerichtet, augenblicklich von einer milden Wärme durchfüllt. Rechts hinten in der Ecke, neben dem jetzt rouleaux - und teppichver - hangenen Fenſter, ſtand der Schreibtiſch ihres Vaters, ein anſehnliches, maſſiveichenes Geſtell, nach Ein - richtung und Ausſtattung mit dem ganzen Wirrwarr behaftet, den eine ſtarke geiſtige Thätigkeit, welche für die kleinliche Krämerordnung der Dinge keine Zeit hat, herausfordert und beſtehen läßt. Rechts vom Schreibtiſch drückte ſich ein hohes Bücherregal an die Wand, in deſſen Fächern es auch recht bunt ausſah. Fräulein Hedwig beſaß entſchieden wenig Sinn für häusliche Ordnung.
In ſeinem Seſſel vor dem Schreibtiſch ſitzt Doctor Leonhard Irmer. Er hat ſich zurückgelehnt, der Kopf hängt ein Wenig der Bruſt zu, die Arme lie - gen auf den Lehnen des Seſſels. Die Augen zu - meiſt halb geſchloſſen, blinzelnd, öfter ganz über - lidert. Das gedämpfte Licht der mit einem grünen Schirm bedeckten Lampe fällt auf ſein Geſicht. Dieſes Geſicht hat einen großen, feſſelnden Zug, einen außer - gewöhnlichen Stil. Leidend, ſehr leidend erſcheint25 es m[i]t ſeiner mehr krankhaft weißen, denn verſchoſſen an - geröt[h]elten Farbe. Stirn gefurcht, um Naſe und Mund point[i]rte Schmerzensfalten. Hinter dieſer hohen Stirn iſt v[i]el gedacht worden, dieſe Unterpartie des Ge - ſichts hat ſich wohl oft genug für ein bitteres, ironiſches Läche[l]n hergeben müſſen. Ein geſtutzter, weißgrauer Bart liegt um Kinn und Wangen. Das ſpärliche Kopf[h]aar vertheilt ſich in einigen dünnen, ſprödfaſrigen Strä[h]nen über die Platte.
„ Guten Abend, lieber Papa! “ Hedwig begrüßt ihren Vater mit angenommener Munterkeit.
„ Guten Abend, mein Kind! Du biſt recht lange heute .. “ Herr Doctor Irmer ſpricht langſam, ſchlep - pend, halblaut, undeutlich. Mehr mit den Lippen, denn mit dem inneren Munde.
„[F]indeſt Du, Papa? Ich bin etwas langſam gegan[g]en — mag ſein! Hier iſt die Volkszeitung. Soll[i]ch Dir jetzt vorleſen oder nach Tiſch? Das Buch von Dühring war nicht vorräthig. Ich habe es be[ſ]tellt. In acht Tagen werden wir's haben. Brauc[h]ſt Du's zu irgend einer Arbeit? .. “
[D]er Vater ſchüttelt den Kopf.
„[N]a! dann ſchadet's ja nichts! Dann können wir j[a]warten. Emma holt wohl ein zum Abend - brot? Schmerzt der Kopf noch ſo, Papa? Wenn Du[D]ich nur entſchließen könnteſt, wieder einmal eine[S]traße zu gehen — die ewige Stubenluft thut[D]ir nicht gut — “
„[M]orgen vielleicht .. morgen, Hedwig .. Ich möchte Dir eigentlich noch vor Tiſch … vor Tiſch26 einige Zeilen dictieren — willſt Du … ja? .. Du weißt: zu dem Aufſatze „ Poeſie und Philoſophie in ihrem gegenſeitigen Verhältniß “— aber nachher — nachher ſtört uns doch das Eſſen wieder — — was ſteht denn heute in der Volkszeitung ..? “
Hedwig rückt ſich einen Stuhl neben den Seſſel ihres Vaters, faltet die Zeitung auseinander und lieſt zuerſt die Telegramme.
Vater und Tochter haben mit der Zeit ein eigen - thümliches Verhältniß zu einander gefunden.
Irmer iſt ein hoher Fünfziger, Hedwig dreiund - zwanzig Jahre alt. Sie hat ſich, allerdings mit einer gewiſſen Aeußerlichkeit, in die Anſchauungen ihres Vaters eingelebt, ſie hat es gelernt, ſich ſeinen Gewohnheiten zu fügen. Sie iſt ſeine Gehilfin, ſeine Schülerin, ſeine einzige, zuverläſſige Lebens - ſtütze geworden. Die Stürme ihrer Seele ſind vorüber, ihr Blut iſt todt, ſie braucht ſich nicht mehr zu bezwingen, ſie kann alles mechaniſch, alles hübſch automatenhaft bewältigen. Ihr Vater fragt nicht viel darnach, ob ſie ſich zur gläubigen, wirklich überzeugten Anhängerin entwickelt. Er beſitzt den Egoismus des Kranken, des Leidenden, des Hülfloſen. Er lebt ganz in der Welt ſeiner Gedanken. Die andere Welt, der Mutterboden der geiſtigen, dünkt ihn ſo ziemlich verſchollen. Die Sphäre der Idee hat für ihn faſt etwas Körperliches, formell Reales angenommen. Er ſinnt über die Räthſel der Dinge nach. Er ſieht, denkt, träumt, viſionirt, combinirt, gewinnt. Nichts iſt ihm das Individuum mehr.27 Nich[t]reizt es ihn mehr, individuelle Entdeckungen zu machen. Damit hat er abgeſchloſſen. Ob er auch ſchon über die Tendenz der Selbſterkenntniß hina[u]sgekommen? Kaum. Er wird auch noch nicht wiſſe[n], wer er iſt.
[H]edwig hat keine Neigung, ſich über ihren Vater zu w[u]ndern. Sie hat eben überhaupt keine Nei - gung[e]n mehr. Liebt ſie ihren Vater? Er erhält ſie, ſ[i]e darf bei ihm wohnen, zuſammenwohnen mit ihm[i]n den wenigen, engen Räumen, für die er den Miet[h]szins nothdürftig zuſammenarbeitet. Ein paar Helle[r]ſind ihnen noch aus früheren, volleren, runderen Zeite[n]geblieben. Die beiden Leute kommen einiger - maße[n]aus. Hedwig kann ſich ſogar noch ein „ Die[n]ſtmädchen “halten.
E[s]iſt ein farbloſes, eintöniges Leben, das ſie lebt. Wird es ihr öfter nicht doch zu Sinn, als müßte ſie aufſp[r]ingen, einmal laut .. laut aufſchreien — aufſch[r]eien, wie Jeſus, ehe er am Kreuze verreckte — und d[a]nn hinausſtürzen aus dieſer lähmenden Enge — irgen[d]wohin — irgend Etwas, von dem ſie ſich be - ängſt[i]gend-unklar bezwungen fühlt, befriedigen —? In d[i]eſer dämoniſchen Oscillation ſich ausleben? .. Wird es ihr alſo nicht öfter doch zu Sinn? Nein! Sie[k]ann ſich nicht erinnern, von ſolchen elemen - taren Erſchütterungen heimgeſucht zu ſein. Vielleicht dann und wann einmal ein jähes Aufzucken — mehr[w]ar's nicht — nein! mehr nicht. Manchmal ſagt ſie ſic[h]ganz klar und vernunftsmäßig: dies und das im Le[b]en müßte doch eigentlich auch für mich noch28 einen Reiz beſitzen, da es doch Millionen Andere auch reizt — in irgend einem Stärkegrade reizt —? Hm! Das Theater! Die Muſik! Geht nicht durch die Träume ihrer Nächte manchmal ein Schatten, der ihr in die Seele prickelt? Iſt die Luft nur voll von Stecknadeln? Da ſitzt ein Stück com - primirten Lebens vor ihr — ihr Vater. Ein Menſchenalter liegt hinter ihm. Von allen Seiten iſt das Leben zu ihm herangekommen. Der nun Einſame beſaß einmal tauſend Beziehungen. So viel verrauſcht, ſo viel vergilbt, vergeſſen, verſchleppt und verloren! Freut ſie ſich nicht doch darüber, wenn ihr manchmal unter ihres Vaters Anleitung und Führung ein Gedanke tiefer Eigenthum wird, eine Erkenntniß ihr in ſchärferen Linien aufgeht? So ſonderbar iſt ihr dann und wann. Etwas in klarer Grenzbeſtimmung erfaſſen, macht ihr zeitweilig doch eine Art Spaß, ſo etwas wie Vergnügen. Sie weiß: darüber vergißt man ſich am Beſten und Leichteſten. Aber ſie weiß auch: Stimmungen ſind Blaſen, die aufſteigen, ſich eine Sekunde lang irisfarben brüſten und zerplatzen. Un - hemmbar rollt der Grundſtrom weiter. Zu der und der Grundcombination haben ſich die Moleküle ihres Weſens zuſammengeſchloſſen. Sie bleibt, dieſe Com - bination; ſie beſtimmt ihr Leben. Von ihr wird ſie in Gedanken, Wort und That geleitet. Eine „ Be - kehrung “, eine entſcheidende Beeinfluſſung iſt nicht mehr möglich. Das Schickſal vollzieht ſich. Hedwig weiß, daß ihr einmal eine überſchäumende Leidenſchaft aus29 der[B]ruſt gebrochen. Vor Jahren. Sind neue Ausb[r]üche möglich? Aber Nichts ſtört ja ihre Kreiſe. Sie war einmal ein ſehr ſinnliches Weib. Wie nücht[e]rn ſie bleibt, wenn ſie jetzt an ihre „ Schmach “denkt, wenn ſie ſich ihres Kindes erinnert! Wie kalt[ſ]ie bleibt, wenn es ihr einfällt, daß dieſes Kind ihr e[n]triſſen worden iſt! Sie hat es nicht geliebt. Nein[!]Sie hat es nicht geliebt. Sie haßt auch den[V]ater des Kindes nicht. Es iſt ihr wirklich Alles gleichgültig, ſehr gleichgültig. Die Stürme ihrer Seele ſind vorüber und ihr Blut iſt todt.
[H]edwig iſt bei dem Verzehren ihrer Sardellen - leberwurſt und bei dem Hinunternippen ihres Glaſes Dres[d]ener Tafelbiers ſehr ſchweigſam geweſen. Sie hat i[h]rem Vater die Biſſen zurechtgeſchnitten und ſelbſt ſehr mechaniſch die Speiſen zu ſich genommen. Nun[ſ]treicht ſie ſich mit der Serviette über den kleine[n], feinlippigen Mund und ſchellt. Emma tritt ein und deckt ab. Herrn Doctor Irmer iſt es nicht aufgef[a]llen, daß ſeine Tochter während des Eſſens ſo ve[r]ſchloſſen geweſen. Ihm iſt es ſehr gleich - gültig[,]was für Selbſtbetrachtungen ſie anſtellt. Er iſ[t], ohne daß er es eigentlich weiß, ſo verbiſſen in ſe[i]ne Art, geiſtig abgelöſt, hinweggeſondert, zu exiſtir[e]n, daß er kaum mehr im Stande, die leichteſte Spur eines ſubjektiven Zwieſpalts zu vermuthen. Wenn es ihm gerade einfällt, beſtätigt er ſich, daß er durch[ſ]eine Philoſophie ſeiner Tochter das innere Gleich - gewich[t], das ſie einmal verloren hatte, wiedergegeben. Und e[r]fügt wohl unwillkürlich noch als Ergebniß30 hinzu, daß Hedwig ſchon in ihrer Jugend durch ein gewaltiges Wetter gehen mußte, um früh zu Erkennt - niſſen kommen zu können, die er ſich erſt in ſpäteren Jahren zueignen durfte. So läßt ſich denn aus All' und Jedem etwas Zweckmäßiges und individuell Verwendbares herausdenken.
In den nächſten Stunden lieſt Hedwig ihrem Vater einige Kapitel aus Hartmanns „ Phaenome - nologie des ſittlichen Bewußtſeins “vor. —
Geſtern um die Mittagsſtunde, als Adam eben zum Speiſen gehen wollte, war er mitten auf dem Marktplatze Herrn Traugott Quöck in die Arme ge - laufen. Sapriſti! hatte ſich dieſer Menſch doch ge - freut! Adam hätte es gar nicht für möglich gehalten. Er war beinahe ganz entſetzt geweſen über dieſe Freudenſprünge und Hühnerhundscapriolen. Hatte er dem Manne denn jemals Gelegenheit gegeben, ihn für einen approbirten „ Freund “von ſich, wenig - ſtens für einen „ Freund ſeines Hauſes, “zu halten —? Ih bewahre! Keine Spur! Es giebt Leute, die aus ehrbarer menſchlicher Lebenslangeweile immer guter Dinge, immer in der beſten, weltfreundlichſten Laune ſind. Traugott Quöck gehörte nicht ganz zu dieſen Stoikern des Optimismus, aber doch ſehr theilweiſe. Er war halb und halb mit der Coupon - ſcheere auf die Welt gekommen. Das giebt gewiß ein ganz nettes und bequemes Rundreiſebillet durch's „ menſchliche Leben “ab. Traugott Quöck sen. war in einer ſächſiſchen Provinzialſtadt Tuchmacher geweſen, hatte es aber in den letzten Jahren ſeines geſegneten Erden - wallens fertig gekriegt, ſich zum „ Fabrikanten “umzu -32 züchten und in die Höhe zu ſchwingen. Man muß mit ſeiner Zeit „ fortſchreiten. “ Alſo hat man eines Tages die Pflicht, „ Fabrikant “zu werden. Das iſt einfach.
Traugott Quöck sen. beſaß einen Sohn, an den er „ viel drangewandt “hatte, das heißt: Viel Geld, viel Mühe, Geduld, Lebensſpeſen, Nachſicht — und ſchließlich war es ihm auch nicht darauf ange - kommen, ein kleines Bündel unerfüllt gebliebener Hoffnungen an ſeinen eingeborenen Filius noch extra „ dranzuwenden “. —
Nach dem Tode ſeines Vaters hatte es Trau - gott Quöck jun. für nützlich befunden, ſich ſchon in jüngeren Läuften ſeines angenehm geſicherten Lebens zum jovialen Menſchen herauszufexen. Er hatte die „ Fabrik “ſeines Vaters, deren Mitinhaber er ein paar Jahre hindurch formell geweſen, nach dem Tode ihres Begründers ſchleunigſt verkauft, war in die nächſte größere Stadt verſiedelt — und „ verwaltete “nun ſein Vermögen, „ ſpeku - lirte “ein Wenig zum Zeitvertreib, war Mitglied einer bierbräulichen Aktiengeſellſchaft — er ſaß ſo - gar in ihrem „ Verwaltungsrathe “! — und genoß im Uebrigen ſein Leben harmlos, einfach, beſcheiden, ge - müthlich, höchſtens mit einem nur ganz kleinen, nur ganz ſpröden Stich in's Raffinirte, befriedigte zeit - weilig, wie es gerade kam, auch ſeine „ geiſtigen Be - dürfniſſe “, ging 'mal in's Theater,' mal in's Concert, unterſtützte mit Vorliebe einen Verein, der es ſich angelegen ſein ließ, für Vermehrung der öffentlichen Aborte und Retiraden Sorge zu tragen, trug einen33 großen, monſtrös-breitſpurigen Siegelring mit ſchmutzig grünem Stein auf dem Zeigefinger der rechten Hand — und führte gelegentlich 'mal ein paar mehr oder weniger „ geiſtreiche “Leute, zu deren Bekannt - ſchaft er zumeiſt gekommen war, wie die bewußte Magd zu ihrem Kinde, in ſein Haus ein, „ ſchmiß “dieſen Aus - erwählten ein kleines Frühſtück oder ein delikates Souper, ſetzte ihnen, aus der menſchenfreundlichſten Stimmung von der Welt heraus, einen trinkbaren Wein und ein rauchbares Kraut vor ... und arrangirte ſchließlich eine Scatpartie ... in höheren, weiteren Abendſtunden ... eine Scatpartie, bei der man gewöhnlich „ ganz zwanglos, “„ ganz unter ſich “war .. und für welche ſich Adam Menſch mit der Zeit beinahe ſo etwas wie ein kleines „ Fäbel “angezüchtet hatte. Es waren wirklich immer ſehr nette, ſehr amüſante Abende geweſen ... dieſe ſpäteren Scatnächte bei Miſter Traugott Quöck ...
Allerdings! in den letzten ſechs Wochen war Adam Menſch nicht dazu gekommen, in die gaſt - freundliche Burg ſeines „ jovialen Freundes “einzu - kehren, dieſes Mannes, der ſchon ſeit erklecklicher Zeit gerade in ſeinen „ beſten Jahren “ſtand und vermuthlich noch in Zukunft eine beträchtliche Weile alſo weiterſtehen würde.
Hatte Adam irgend ein erſteres Etwas von dieſer „ Einkehr “zurückgehalten? Nein. Er er - innerte ſich nicht. Aber das Leben reißt ſo hin und her, verzettelt, verkrümelt und zerkrümelt ſo, iſt ſo bei der Hand mit dem Entwegen, Verſchieben,Conradi, Adam Menſch. 334Aufſchieben, mit dem Ueberſchatten und Vergrauen. Oder — ja doch! richtig! — ſo war's —: irgend - wo, irgendwann hatte er 'mal gehört, im Café oder in der Kneipe oder ſonſtwo, daß Frau Möbius, die alte Verwandte Herrn Quöck's, welche dieſer als weibliche Repräſentationsfigur in ſein Haus aufge - nommen hatte, ſeit längerer Zeit leidend ſei — na! und da war es ja ſowieſo ausgeſchloſſen, daß — hm! — aber ein Beileidsbeſuch, ein Erkundigungsbeſuch wäre dann wohl erſt recht geboten geweſen ... Nun! Der Herr Doctor war denn auch geſtern nett' reingeplumpſt — das heißt: nur vor ſich ſelber. — Herr Quöck ſchien die Geſchichte nämlich gar nicht ernſthaft capirt zu haben — war hübſch 'reinge - fallen alſo, als er ſich nach dem Befinden der Frau Möbius — es ginge ihr doch hoffentlich wieder beſſer? — erkundigt und damit verrathen hatte, daß er ziemlich ſauber orientirt war —: „ Ach Gott! die alte Schachtel! Die hat auch immer' was! heute das, morgen das! Na! ſie hat wenigſtens Zeit, ihre Krankheiten pouſſiren zu können. So hängt Jedem ſein kleines Privatvergnügen an. Mo - mentan iſt ſie übrigens wieder auf dem Damm ... “ Somit könnte denn morgen Abend, das war alſo heute Samſtag, endlich 'mal wieder ein kleines Souper vor ſich gehen, hatte Herr Quöck nunmehr gemeint. Lydia käme natürlich auch. Lydia —? „ Wer iſt denn das —? “— „ Ach ſo! Sie kennen meine — ſie will nämlich eine Couſine von mir ſein, wenigſtens hat's meine Tante Wort — na!35 thun wir ihr den Gefallen! — mir kann's ja egal ſein — Couſine hin, Couſine her — aber ich ſage Ihnen, Doctor —: ſo' n Weib haben Sie überhaupt noch nicht geſehen — — “— „ Na! na! Herr Quöck — Sie! — — “„ — Ruhig! ruhig, mein Lieber! Feudal, capital, pikant, Sie wiſſen ja, kennen ja die Litanei — ei — genartig, emanci — pirt, capri — ciös — was Sie wollen! Mit einem Wort —: 'n janz jött - liches Frauenzimmer! — Wird Ihnen gefallen. Spielt nämlich ooch ſo' n Bischen mit der Feder — ver - ſtehen ſchon! ... hätte 's ja gar nich nöthig, nicht im Geringſten — iſt ihr ooch nicht Ernſt damit — bewahre! — bloß — na! Federwiſch und Fleder - wiſch und ſo weiter — junge Wittwe — lebt erſt ſeit Kurzem hier — hat wenig Umgang noch — will ſich 'n Biſſel zerſtreuen — 's Leben genießen — ganz hübſch vermögend — laß ich mir gefallen — Alles ſolid bei ihr, Doctor: — Geld, Fleiſch, Lebens - anſchauung — und ſo weiter .... Warum alſo nicht —? ' n Narr, der's menſchliche Leben nicht ſo nimmt, wie's iſt. — Habe übrigens ſchon mit ihr von Ihnen geſprochen — ſie ſagt: ſie intereſ - ſirte ſich — — “
„ Um Gottes Willen — “
„ Was erſchrecken Sie denn ſo —? Werden mir noch dankbar ſein. Das heißt, lieber Doctor —: Sie ſind in gewiſſen Dingen 'n kleener Schwere - nöther, ich weiß wohl — aber hier — — “
„ Sie haben die Vorhand, Herr Quöck — ver - ſteht ſich! — verſteht ſich! — wir mogeln grund -3*36ſätzlich nicht — “hatte Adam laut lachend einge - räumt, zugeſtanden, ganz und gar ohne inneren Rückhalt — und doch ein klein Wenig gnädig, einen Fingerhut voll Souveränität in der Seele, eine Idee „ von oben 'runter “... Aber er kannte ja dieſe Dame, dieſes „ janz jöttliche Frauenzimmer “über - haupt nach gar nicht. Alſo! War er etwa neu - gierig —? Quatſch. Seitdem er ſich ſelber ſo oft als pointenloſer, intereſſant dekadirter Schlingel vor - kam, hatte Adam ein wahres und auch ganz auf - richtiges, ehrliches Entſetzen vor allem Neuen, Außerge - wöhnlichen, allem „ Ei — genartigen. “ Manchmal wenig - ſtens pilzte ſich das Abwehrgefühl prall auf und energiſch entgegen —: „ Alles! — nur das nicht! “ Dieſer verfluchte Exotismus! Das „ gewöhnliche “Leben iſt ernſt, ſchwer, traurig, elend, verworren, monſtrös, angenehm, lieblich, beſeligend, berauſchend genug. Ha! das „ gewöhnliche, “das gewöhnlichſte Leben. Aber Adam hatte die Einladung Herrn Quöcks doch angenommen. „ Selbſt — verſtändlich! “ Sich ſo Etwas auch entgehen laſſen ſollen! Ein patenter Abend: Wein, Cigarren, Scat, Souper, Weiber — da bleibe der Teufel zu Hauſe! Lydia —? Nein! Sie reizte ihn nicht. Dieſer dämliche Köder. Viel - leicht eine ganz angenehme Zugabe ... eine pikante Würze — warum denn nicht —? Alſo abwarten. Nur nichts erwarten. Hinterher iſt man auch nicht enttäuſcht. Enttäuſchungen verſtimmen ſo. Und wenn man die Karten nachher doch wieder in die Hand nimmt, in die Hand nehmen muß, ſind ſie mit37 ein[e]m Male ſo klebrig, ſo ſchmutzig, ſo ... ſo ... ſo — abgeſpielt eben — man weiß gar nicht — ma[n]gewöhne ſich bitte! daran, allenthalben als das Se[l]bſtverſtändlichſte von der Welt nur Dreck, Moder, Sc[h]weiß, Staub, Koth, Schleim und andere Parfums .. zu[e]rwarten. Handſchuhe. Hm! Handſchuhe? Hand - ſch[u]he ſind doch eigentlich ſehr merkwürdige Dinger.
Adam erinnerte ſich wirklich nicht mehr, bei we[l]cher Gelegenheit er Herrn Quöcks Bekanntſchaft ge[m]acht hatte. Ein ganz nettes Zeitweilchen war's im[m]erhin doch ſchon her. Aber das war ja jetzt ſeh[r]ſchnuppe. Der „ Zufall “iſt ein ſo gediegener, ein ſo zuverläſſiger Improviſator. —
Es war alſo heute Samſtag Abend um die achte Stunde. Adam Menſch hatte ſich natürlich ein Paar neuer Glacés erſtanden, die er mit großem Behagen, mit großer Selbſtgefälligkeit über ſeine weißen Hände zog, als er die Treppe hinunter - ſchritt, um gen Quöck-Heim zu wallfahrten. Der Herr Doctor trug leidenſchaftlich gern Glacé - handſchuhe. —
Es gab viel Unraſt und Bewegung in den Lüften. Die Zeit lief wieder einmal dem Kalender - frühling in die Arme — und dabei war einiger Windrumor, verſchiedentliches Stürmen und Blaſen und Pfeifen unumgänglich nothwendig. Aber die Temperatur war noch kaum angelenzt. Der Wind kalt, ſchneidend, ſtechend, als wirbelte er kleine, ſpitze Eiskriſtalle durch die Luft. Es hatte am Nachmittage geregnet, und große Pfützen ſtanden auf den Straßen. Das Pflaſter hatte ein ſehr ſchmieriges, breiiges, klebriges Geſicht aufgeſteckt. Die Gasflammen zuckten nervös in ihren Glas - käfigen hin und her und ſpiegelten ſich unruhig in den Pfützen wieder. Am Himmel war ſchläfrig -39 dämmernde Mondhelle. Die Wolken zogen in großen, unförmigen Schwämmen und Schwärmen hin. Ab und zu ließ ſich die eine oder andere herbei, den Mond gleichſam zu verſchlingen. Und gleichſam von ihrem Magen her floß ein weißgelbes Feuer in alle ihre Glieder und durchleuchtete ſie blendend von innen heraus.
Adam ſagte ſich, daß dieſer Aufruhr in der Natur ein köſtliches Frühlingsſymbol ſei. Und doch dünkte ihn dieſer ſtechende Stecknadelwind im - pertinent. Er klappte den Kragen in die Höhe und ſchob die frierenden Hände reſignirt in die Rock - taſchen. Ja! Es gehörte ein ſehr biegſamer und an's Pariren gewöhnter „ Wille “dazu, um an dieſes Frühlingsſymbol glauben zu können.
Adam ſchlug den Rockkragen wieder nieder und drückte auf den Knopf der elektriſchen Klingel. Das Gas - licht lag dick auf dem gelben, funkelnden Metallſchild, das den Namen „ Traugott Quöck “eingravirt trug.
Ein Diener öffnete. Er complimentirte den Ankömmling in den Vorſaal hinein und war ihm beim Ablegen des Überziehers behülflich. Dann ſtieß er die Thür zum Salon auf.
Adam trat ein. Herr Quöck ſchnellte von einem Fauteuil auf und eilte ſeinem Gaſte entgegen.
„ Willkommen, Herr Doctor — “
„ Guten Abend, Herr Quöck — “
„ Darf ich Ihnen meine — ich ſagte ja Ihnen geſtern ſchon — Sie werden ſich erinnern — alſo meine Couſine — Frau Lydia Lange — vorſtellen —? “
40Herr Quöck deutete auf eine Dame, die im Hintergrunde des Zimmers an einem kleinen Eck - tiſche ſtand und ſich ſoeben umwandte. Ein auf - geſchlagenes Album wurde jetzt ſichtbar.
„ Herr Doctor Menſch — “
Adam verneigte ſich ſehr ceremoniell. Die Dame nickte kurz.
„ Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Doctor? — “
„ Wenn ſie geſtatten — “
Adam warf ſich in einen Fauteuil. Er knöpfte ſeine Glacé's auf und ſah zu der Frau hinüber, die näher getreten war und jetzt am Sophatiſch ſtand.
Hm! Frau Lange beſaß allerdings Etwas, das — gewiß! das „ eigenthümlich “war, das in - tereſſiren, das unter Umſtänden ſogar — hm! — ſogar —
„ Na! nur nicht gleich ſo hitzig! “bremſte Adam ſeine ſchmunzelnde Zufriedenheit feſt ... und geſtand ſich nun eine volle, die durchſchnittliche Mittelgröße ein Wenig überragende Geſtalt; einen, wie die Dame ſo daſtand, durch kleine, runde, gelenke Bewegungen mit den Armen, mit dem Kopfe, Elaſticität und Geſchmeidig - keit verrathenden Körperbau; eine prachtvoll durch das Corſet zu eleganter Wölbung herausgecurvte Bruſt; volle, warme Arme, die durch das glatt und eng anliegende Kleid entzückend beſtimmt her - vortraten — einen breit und gebärtüchtig ſich ausladen - den Unterkörper — „ allerdings! derartige Frauen ſind ſehr oft unfruchtbar “— — und ſchließlich ein, wenn auch nicht gerade „ durchgeiſtigtes, “ſo doch ſehr regel -41 mäßiges Geſicht: feine, zierliche Naſe, kleiner, üppiger Mund, niedrige, weiße, von einigen zwanglos herab - fallenden Ringeln des rothblonden Haars coquett überſchattete Stirn — und ein Paar grauer, merk - würdig unruhiger, verzettelt ſich ausgebender Augen, die einen Moment groß aufgeſchlagen ſind, um im nächſten wiederum halb überlidert zu werden.
„ Das iſt alſo unſer berühmter ‚ Proletarier des Geiſtes‘ — ſagteſt Du nicht, liebe Lydia, daß Du Dich für den Ul — k — — pardon, Herr Doktor! — intereſſirteſt? Ich erzählte Dir doch neulich davon ... nicht wahr — der Herr Doctor ſieht gar nicht ſo proletarierhaft aus, gar nicht ſo ...? — “
Frau Lydia Lange und Adam Menſch ſahen ſich ſcharf in die Augen. Dann rümpfte die Dame ein Wenig das feine Näschen und meinte leichthin:
„ Es kommt ſo oft vor, daß man in Wirklichkeit doch das iſt, was man ſich — einbildet — “
„ Aber Lydia — “wehrte Herr Quöck mit pouſ - ſirlicher Erſchrockenheit ab.
Adam war einen kleinen Augenblick verblüfft. Auf eine derartige .. hm! immerhin paradoxe Con - verſation war er kaum gefaßt geweſen. Dann ver - zog er den Mund zu einem nachſichtig-ironiſchen Lächeln und parirte ab:
„ Sie haben ſo Unrecht nicht, gnädige Frau. Aber ich möchte mir eine Lanze, ſogar eine „ warme “Lanze, wie man zu ſagen pflegt, für die andere Seite Ihrer Behauptungsmedaille — „ wie geſchmacklos! “dachte er bei ſich, als ihm dieſe nette „ Metapher “42entfahren war — zu brechen erlauben. — Es giebt nämlich in der That auch Fälle, wo ... wo ... nun ſagen wir: wo „ man “ſich das nicht einbildet, was „ man “im Grunde — auch .. nicht iſt — “
Herr Quöck that ſehr verwundert über dieſe Art von Unterhaltung. Die Beiden ſchienen ja ſogleich beim erſten Sichbegegnen ſehr energiſch Notiz von einander nehmen zu wollen. Er blickte erſt zu Adam hinüber, dann wandte er ſich, eine ſtumme Frage in den Augen, zu ſeiner Couſine hin.
Dieſe mußte auch ein wenig erſtaunt ſein. Wagte ... wollte .. dieſer — nun ja! der Herr hieß ja curios genug thatſächlich „ Menſch “— — alſo wagte ... wollte dieſer — Menſch ihr eine ... Impertinenz ſagen? Das wäre doch unerhört ge - weſen —
„ Sie meinen damit, Herr Doctor —? “kam es darum ſehr indignirt von ihren Lippen.
„ Nun .. ich meine damit, gnädige Frau, um mich Ihrer Urtheilsart an — zu — ſchließen — — noch einmal, wenn Sie gütigſt geſtatten, anzuſchließen — — ich meine damit, daß es Individuen giebt, die zu viel .. und zumeiſt zu viel innerlich erlebt haben, als daß ſie nicht ſo weit ... alſo ſo weit unklar über ſich ſein ſollten, um das zu behaupten. wofür ſie keine direkten Beweiſe beſitzen ... “redete ſich Herr Doctor Adam Menſch ſehr dunkel aus und zwar, indem er ſehr langſam, ſehr gedehnt ſprach ..
Frau Lydia Lange war wie verwandelt. Sie lachte hell auf, zupfte unruhig an ihrer Uhrkette43 und rief luſtig: „ Das iſt mir zu hoch oder zu tief Herr Doctor! Das verſtehe ich nicht — “
„ Ich eigentlich auch nicht, gnädige Frau — “ver - ſicherte Adam treuherzig. Er mußte nicht minder lachen.
Traugott Quöck ſah ziemlich verdutzt aus. Da öffnete ſich die Thüre zum Nebenzimmer und Frau Möbius trat über die Schwelle. Adam begrüßte die Dame und erkundigte ſich ſehr theilnehmend nach ihrem Befinden. Die „ alte Schachtel “war enorm gerührt.
„ Es iſt Alles ſo weit fertig, Traugott — “bemerkte ſie nun zu ihrem Neffen — „ wir könnten anfangen — “
„ Schön, liebe Tante! Aber Du vergißt ganz — wir haben ja noch Fräulein Irmer und Herrn Re - ferendar Oettinger geladen — — ſo müſſen wir denn wohl noch einen Augenblick warten — ich denke: die Beiden kommen noch. Oder haben ſie in letzter Stunde abſagen laſſen —? “
„ Nein! — aber es iſt ſchon ſo ſpät — und der Braten — “
„ Die Geſchichte wird ja immer famöſer, “plau - derte ſich Adam zu und wollte ſich einreden, daß er nicht im Mindeſten verwundert wäre. Alſo kannte Herr Quöck auch Hedwig — das heißt —: jedenfalls ihren Vater —? Aber ſeit wann denn eigentlich —? Na! dös war nun halt 'mal ſo! da ließ ſich Nix gegen machen — alſo' mal zu, Kutſcher, bis zur Pechhütte!
Die Klingel ſchlug an. Die Thür ging auf und ein .. Herr trat in den Salon. Herr Referendar Oettinger wurde den Anweſenden, ſoweit er ihnen unbekannt war, vorgeſtellt.
44Adam muſterte den Ankömmling mit ſcharfen Blicken. Er bemerkte, wie deſſen Augen ſich ſehr intim mit dem Erfaſſen von Frau Lydias menſch - licher Ausgedrücktheit beſchäftigten. Die ſtreifte ihn mit einem kurzen Blicke, wandte ſich ſodann wieder Adam zu und kehrte nochmals zum Geſicht Herrn Oettingers zurück. Adam konnte ſich eines verkapp - ten Lächelns nicht enthalten. Aha! Sie vergleicht! conſtatirte er ſtillvergnügt. Wie doch die Weiber ſofort an das Aeußere, an die zufällige Erſcheinung anknüpfen! Plötzlich verſpürte er den Blick Lydias anhaltend auf ſich. Er reagirte naiv-brüsk auf dieſe augenſcheinliche Zurechtweiſung. Die Beiden verſtan - den ſich. Und Adam mußte ſich mit einer heiteren Befriedigung einräumen, daß Frau Lange ſeine Ge - danken durchſchaut hatte.
Herr Referendar Oettinger beſaß im Ganzen ſehr nichtsſagende, ſehr nichtsthuende Züge. Ein matt - rothes, ziemlich volles, prahleriſch geſundes Geſicht. Das Haar mit zudringlicher, beleidigender Sauber - keit in der Mitte geſcheitelt. Ein ſüßliches Geſell - ſchaftslächeln um den unſchönen, langweilig breiten Mund. In Kleidung und Haltung natürlich tadel - los, natürlich „ patent. “ Ein discreter Moſchusduft quoll von ihm aus durch den Raum.
„ Fräulein Irmer bleibt aber wirklich etwas lange — “urtheilte Herr Quöck, der ziemlich hungrig ſein mochte.
„ Warten wir doch noch 'ne Sekunde! Wir werden doch nicht' gleich verhungern — “ſchlug45 Frau Lydia ſorglos vor. Sie erhielt einen etwas mißbilligenden Blick von ihrem Herrn Vetter.
„ Sie kommen eben aus Italien, Herr Referen - dar —? “fragte Herr Quöck ſeinen Gaſt, weniger aus Theilnahme oder objectivem Intereſſe, als aus dem Bedürfniß heraus, ſich über die peinliche Zwiſchen - aktsfriſt nach Kräften hinwegzutäuſchen. Er hatte wirklich redlichen Hunger.
„ Ja —! Das heißt — ich bin ſchon vier Wochen wieder in Deutſchland ... Es war ja ganz nett jenſeits der Alpen — natürlich! Aber es gab doch 'n Biſſel zu viel — Schmutz ... Die Damen verzeihen, allein die Wahrheit über Alles — “
„ Bravo, Herr Referendar! “rief Adam ungenirt. Ihm kam das Geſtändniß und zumal die Entſchul - digungsphraſe Herrn Oettingers überaus drollig vor.
Der platzte dem Bravorufer mit einem ungnädigen Blicke entgegen, in welchem Blicke allerdings zu - gleich ein verhaltenes Erſchrockenſein lag. Frau Lydia trug ein moquantes Lächeln um die Mund - winkel. Sie ſah Adam an, der erwiderte ihren Blick. Und Herr Oettinger, welcher dieſes Herüber und Hinüber der Augen bemerkt, ſchaute wirklich einen Moment lang rechtſchaffen unzufrieden aus.
Der Märzwind ſchnob die Straße entlang. Das war ein wüthiges Brauſen, als ſtünde das Herz des körperloſen Athemgottes in hellen Zornesflammen, als ſuchte er etwas Verlorenes, das ihm entwiſcht wäre .. und das er durchaus nicht wieder finden könnte ... durchaus nicht ...
46Das Geſpräch war plötzlich verſtummt. Es ſchien, als hätten die Menſchen da drinnen im Salon das Gefühl, den Unhold unbehelligt vorüberraſen laſſen zu müſſen.
„ Das iſt aber windig — “unterbrach Frau Möbius die Stille. Die alte Dame beſaß entſchieden das Talent, zur rechten Zeit ſehr richtige Bemerkungen zu machen.
„ Frühlingsſymbol, gnädige Frau —! “erläuterte Adam ſcherzend.
Frau Lange verzog den Mund zu einem gegen - ſtandsloſen Lächeln.
„ Es ſymbolt ſich 'was, Herr Doktor —! “urtheilte Herr Quöck mit gezwungenem Geſichtsausdruck. Sein Hunger ſchien entſchieden wieder ein tüchtiges Stück gewachſen zu ſein.
„ In Palermo hatten wir einmal — — “begann Herr Oettinger — da klang ein ſpitzes, ſcharfes Läuten auf.
„ Das wird doch endlich Fräulein Irmer ſein — “hoffte der Wirth des Hauſes brummig.
Die Dame war es denn auch.
„ Ich bitte um Entſchuldigung, daß ich ſo ſpät komme — mein Vater — — “begann Hedwig, als ſie in den Salon getreten war und die Anweſenden kurz begrüßt hatte. Ihre Stimme gab einen haſti - gen Stoß, im Ausdruck tief, monoton, etwas ver - ſchleiert, etwas heiſer. Frau Möbius ſtellte ihr die beiden Herren vor, die zum Souper mitgeladen waren. Fräulein Irmer wurde ein Wenig verlegen,47 als ſie ſich unvermuthet Adam gegenüberſah. Der hatte ſich erhoben und verneigte ſich unendlich paſſiv. Er freute ſich im Stillen 'n Bein aus, daß er ſich vollkommen beherrſcht hatte.
„ Nun darfſt Du Deinen Willen haben, liebe Tante — “wandte ſich Herr Quöck großmüthig zu Frau Möbius, die ſich auch ſofort nach dem Speiſe - zimmer kehrte.
„ Darf ich bitten —? “lud der Wirth ſeine Gäſte ein.
Adam ſaß zur Rechten Herrn Quöcks, dieſem zur Linken Herr Referendar Oettinger. Neben letz - terem Frau Lydia, alſo Adam ſchräg gegenüber. Seine rechte Nachbarin war Fräulein Irmer. Frau Möbius, die kleine, purzlige Frau mit dem harm - loſen Geſicht — der goldene Kneifer, den ſie bald aufſetzte, bald wieder von dem Rücken der ſcharfge - falteten Naſe herunterholte, nahm dieſem Geſicht nichts von ſeiner blaſigen Teigheit — Frau Mö - bius rundete die kleine Geſellſchaft liebenswürdig ab.
Adam war vollſtändig ein Opfer der Situation geworden. Die Atmoſphäre berührte ihn außer - ordentlich ſympathiſch, ſtimmte ihn überaus einheit - lich. Die Gegenwart Fräulein Irmers dünkte ihn ausnehmend pikant, kam ihm wie das Vorſpiel eines intereſſanten Abenteuers vor — eines Abenteuers, das ihm ein tüchtiges Maß bunter Reize zuwerfen mußte. Da ſtand etwas bevor, das ihn mit einer köſtlichen Unruhe erfüllte. Und Frau Lydia? Sie coquettirte doch ein klein Wenig mit ihm. Auch das ſchmeichelte ihm. Seine Beziehungen zu ihr48 mußten nicht minder Form und Farbe, beſtimmte Contouren annehmen: das ahnte, wußte, hoffte er. Seine Phantaſie tändelte gern. Sie war augen - ſcheinlich heute Abend in der beſten Laune. Zudem dieſe reichbeſetzte Tafel, dieſe Fülle von Eleganz, dieſes geſchmackvoll zuſammengeordnete Leben, dieſe be - hagliche Zwangloſigkeit — die verhalten-geſummte Muſik der Lüſtreflammen: das Alles prickelte ſich ihm berauſchend in die Seele, ſchob und hob ihn ohne jede Abſichtlichkeit über ſich hinaus, ließ ihn vergeſſen, was hinter ihm lag, was vor ihm lag, was er ſich ſelbſt eigentlich war — nahm ihn ganz hin — zehrte ihn ganz auf ....
Herr Quöck aß ſehr tapfer drauf los. Der ſaftige Rehbraten mundete ihm vortrefflich. Die Ouvertüre: delicate grüne Erbſen mit Beilage, hatte er ziemlich unbehelligt vorübergehen laſſen. Er ſchien ſich an das Körperlichere halten zu wollen.
„ Nehmen Sie Rum oder Rothwein zum Thee, Herr Doctor —? “fragte Frau Möbius Adam.
„ Danke ſehr, gnädige Frau! Ich habe mich ſchon mit Rum bedient — “
„ Ich gieße mir immer Rothwein hinzu — “geſtand Quöck.
„ Und Sie, Herr Referendar —? “
„ Auch ich, gnädige Frau, habe mir ſchon erlaubt, Rum vorzuziehen — “
„ Wie geht es Ihrem Herrn Vater, Fräulein Irmer —? “fragte der Wirth des Hauſes und ſchob ein anſehnliches Stück Rehrücken zwiſchen die Zähne.
49Fräulein Irmer, die ſoeben nach ihrem Theeglaſe gegriffen, ſetzte es wieder nieder und antwortete: „ — Papa war gerade in den letzten Tagen recht leidend — hatte viel nervöſen Kopfſchmerz .. Er läßt ſich Ihnen übrigens beſtens empfehlen, Herr Quöck — “
„ Danke, liebes Fräulein, danke —! Ich glaube, Ihr Herr Papa arbeitet zu viel .. er ſollte ſich mehr Ruhe gönnen ... das viele Denken ſtrengt ſo an — “
„ Mag ſein, Herr Quöck — aber das iſt nun einmal ſein Leben — und ich glaube, man kann die Geſetze, nach denen ſich ein individuelles Leben regelt, nicht ungeſtraft verletzen — “
Herr Quöck kaute gerade an einem etwas heißen Stück Bratkartoffel herum und konnte darum nicht ſogleich zu Wort kommen. Adam wandte ſich zu ſeiner Nachbarin hin —:
„ — Wenn ich mich nicht irre, mein gnädiges Fräulein, hörte ich neulich — ich erinnere mich freilich nicht gleich, wo? —, daß Ihr Herr Vater auch — hm! auch Bücher zu ſchreiben pflegt —? — Ich huldige zeitweilig leider auch dieſer triſten Praxis — es wäre mir darum ganz intereſſant und zudem eine hohe Ehre, Ihren Herrn Vater gelegentlich perſönlich kennen lernen zu dürfen — „ Collegialität “iſt zwar ſonſt nicht gerade — “
„ Papa iſt, wie geſagt, ſehr leidend .. wir leben ſehr zurückgezogen .. empfangen ſelten Beſuche .. Papa iſt ſo ungeſellſchaftlich geworden .. das iſt ja natürlich .. Aber wenn Ihnen daran liegt, Herr Doctor — — ich werde Papa vorbereiten — — “
Conradi, Adam Menſch. 450Hedwig hatte ſehr kalt, ſehr zurückhaltend, bei - nahe abweiſend, geſprochen. Es ſchien ihr perſönlich gar nichts daran zu liegen, eine Beziehung zwiſchen ihrem Vater und Herrn Doctor Menſch herzuſtellen oder hergeſtellt zu ſehen.
„ Sehr liebenswürdig, mein Fräulein! “dankte Adam reſervirt und wollte ſodann fortfahren: „ Der Werth des Lebens — “
Da fiel Frau Lange ein: „ Pardon, Herr Doctor, wenn ich Sie unterbreche — ich — ich — “
Frau Lange wußte entſchieden nicht recht, was ſie eigentlich von Adam wollte in dieſem Augenblick. Es ſchien ihr nur unbequem zu ſein, ihn und Fräu - lein Irmer in ein ernſthafteres, längeres Geſpräch kommen zu ſehen.
Als Adam die Worte „ — Werth des Lebens — “über die Lippen gebracht, war Hedwig zuſammen - gefahren. Er wird doch nicht — — —
„ Ja! “fuhr Frau Lydia fort, „ Sie haben, Herr Doctor — “
„ Darf ich Ihnen noch einmal Thee eingießen, Herr Referendar —? “fragte Frau Möbius an ..
„ Wenn ich bitten darf, gnädige Frau — —. “
„ Mir auch noch 'n Schluck, liebe Tante, ja —? “bat Herr Quöck.
„ Recht gern, Traugott — “
„ Ich mache Ihnen mein Compliment, gnädige Frau, “hub Herr Oettinger an, „ — Ihre Küche iſt vorzüglich! Ich habe ſelten ein ſo delikates Stück Fleiſch — — “
51„ Ach, bitte, bitte! .. “wehrte Frau Möbius beſcheiden ab.
„ Uebrigens, “wandte ſich Lydia an Adam — „ ſagen Sie, Herr Doctor: — ſind Sie denn immer ſo .. ſo ſteif .. ſo ceremoniell —? Ich hörte zufällig vorhin, als Sie zu Fräulein Irmer — Sie geben ja in der That keinen einzigen ... wie ſoll ich ſagen —? keinen .. keinen einzigen Naturlaut von ſich —. “
Adam war ein Wenig verblüfft. Er reichte gerade die Schüſſel mit Bratkartoffeln ſeiner Nach - barin hin.
„ Immer ſo —? “wiederholte er befangen-mecha - niſch. Er wußte nicht ſogleich, was er antworten ſollte.
Lydia lachte hell auf: „ — Aber, Herr Doctor — “
„ Aber, Lydia —! “monirte verlegen-unwillig ihr Vetter.
Herr Oettinger ſchmunzelte. Um dieſe ſüße Freude über Adams kleine Abfuhr ein Wenig zu verhüllen, griff er ſchnell nach ſeiner compote mêlée ..
Adam hatte ſich gefaßt. Er ſchlug die Augen groß auf und ſah ſcharf zu Lydia hinüber. Dann kniff er den Blick etwas zuſammen — und während ihm ein wegwerfendes Lächeln Mund und Naſe umkräuſelte, fragte er ſeine ſchöne Gegnerin: „ Wollen Sie es dem Schornſteinfeger verdenken, gnädige Frau, daß er ſich zuweilen .. wäſcht —? “
Fräulein Irmer blickte ihren Nachbar erſtaunt - erwartungsvoll von der Seite an. Was meinte er damit —?
4*52Auch Frau Lange wußte nicht recht, was ſie von dieſer Antwort denken ſollte.
Der Herr Referendar hielt das Geſicht gebeugt und ſtocherte mit dem kleinen Löffel in ſeinem ſteifſchleimigen Fruchtbrei herum. Seine roſigen, wohlgepflegten Fingernägel glänzten.
Adam legte Meſſer und Gabel über ſeinen Teller und lehnte ſich zurück. Er ſah Frau Lydia heraus - fordernd an.
Herr Quöck blickte bei ſeinen Tiſchgäſten fragend herum und machte ſich dann an das Geſchäft, ſeinen goldgelben Rüdesheimer zu verſchenken.
„ Pythius —! “warf Lydia provokant hin.
„ Pythius '—? “— Adam lachte. „ Nein! gnädige Frau ſcherzen ... Ich weiß ganz genau, was ich will .. was ich geſagt habe .. Uebrigens geſtehe ich recht gern zu, daß Ihnen meine Worte weniger dunkel — “
„ Heraklitiſch dunkel — “warf Herr Oettinger ein.
„ Ganz Recht, Herr Referendar! .. alſo „ herakli - tiſch “dunkel und räthſelhaft erſcheinen würden, wenn ich die Ehre genöſſe, von Ihnen näher gekannt zu werden — “
„ Na! Dazu kann ja eventuell noch Rath werden — “äußerte Lydia offen und ſah Adam groß und coquett-verſprechend an. —
Hedwig machte ein ziemlich müdes und gelang - weiltes Geſicht. Was wollten eigentlich dieſe Leute von ihr —? Was gingen ſie dieſe Menſchen an —? 53Was hatte ſie in dieſer leichtſinnig phosphorescirenden Welt zu ſuchen —? Nichts! Rein gar Nichts! Vertrug ſich überhaupt dieſer Aufenthalt in einer Sphäre, die ihr im Grunde abſolut gleichgültig … ja! ja! ... ganz beſtimmt! .. ganz beſtimmt ab - ſolut gleichgültig war — vertrug er ſich überhaupt mit ihrer ‚ Weltanſchauung‘ —? Nein! Sie that es nur ihrem Vater zu Gefallen, wenn ſie zeitweilig in dieſen Kreiſen verkehrte. Ihr Vater zwang ſie allerdings nicht dazu, dieſen lächerlich leeren Formen - cultus mitzumachen. Aber er ſah es im Grunde doch ganz gern. — gewiß! ‚ ideell‘, ‚ theoretiſch‘ ver - warf er den Humbug ... aber ſo „ lebensklug “war er immerhin doch noch — ſchien er immerhin doch noch zu ſein, daß er ſich und ſeiner Reſignation Nichts zu vergeben glaubte, wenn er ſeine Tochter den Firlefanz bisweilen mitmachen ließ. Hedwig ſagte ſich ſehr klar, daß ihr Vater ſich nur als Denker be - thätigen konnte, wenn er lebte — wollte er aber ‚ leben‘, mußte er mit gewiſſen Verhältniſſen klug und praktiſch rechnen — ſonſt konnte er eben einpacken. Oder — oder war ſie heute Abend bloß ſo übel - launig, ſo verſtimmt, wenigſtens ſo gleichgültig, weil ihr Lydia unſympathiſch? Weil ihr Nachbar ſie ſtörte, dieſer ſuffiſante Doctor Menſch, der ſich ihr neulich ſo impertinent frech aufgedrängt hatte —? Aber nein! Dieſe Welt war nicht ihre Welt — und ſie durfte ſich mit dem Bewußtſein tröſten, daß ſie dieſelbe nur zuweilen beſuchte, um ihre eigene Welt — ſelbſtverſtändlicher zu finden.
54„ Proſit, meine Herrſchaften —! “lud Herr Quöck ein und erhob ſein Glas zum Anſtoßen.
Die Gläſer klangen zuſammen.
Frau Lydia hatte ihren ‚ Kelch‘ zuerſt an den Adams klingen laſſen. Der lächelte ironiſch. Dann wandte er ſich auffallend ſeiner Nachbarin zu. Er begegnete ihrem müden, theilnahmsloſen Blicke. Und er bemühte ſich, dieſen Blick feſtzuhalten und ihm da - mit ein eigenes Feuer, einen beſonderen, ſelbſtändigen Werth zu geben. Plötzlich ſtieg ein leiſes, diskret - wolkiges Roth in Hedwigs Geſicht.
Lydia, welche dieſe kleine, überflüſſige Scene beobachtet hatte, war etwas pikirt und kehrte ſich mit nervöſer Plötzlichkeit zu ihrem Nachbar: „ — Wie lange waren Sie in Italien, Herr Referendar —? “
Herr Oettinger, der ſoeben von ſeinem Weine ge - trunken, ſchluckte den köſtlichen Tropfen hinunter, jedenfalls zu haſtig für ſein Gefühl, und antwortete: „ Fünf Monate, gnädige Frau! Gerade genug, um die Schönheiten und, wie geſagt, auch — den Schmutz dieſer Dorados der guten Nordländer kennen lernen zu können — “
„ Fünf Monate — “wiederholte Lydia mechaniſch und ſah zu Adam hinüber, der zerſtreut-gedankenvoll an ſeiner Serviette herumſpielte.
„ Wollen Sie nicht einmal von dieſem Apfel - ſinencompot koſten —? “wandte ſich Frau Möbius an Hedwig. Dieſe nahm dankend an, ſchöpfte ein paar Löffel des Nachtiſches auf ihr Tellerchen und gab die kleine Terrine weiter an Adam.
55Herr Quöck hatte wieder einmal an ſeinem Glaſe genippt und ſchnalzte befriedigt mit der Zunge.
„ Wiſſen Sie übrigens ſchon, lieber Doctor — “hub er jetzt zu Adam Menſch zu ſprechen an, „ — daß meine verehrliche Frau Baſe auch — auch — ſchrift - ſtellert — das heißt — “
„ Beſter Traugott — “
„ Ich bin erſtaunt, gnädige Frau —, “heuchelte Adam —: er wunderte ſich doch ein Wenig, daß Herr Quöck manchmal ſo merkwürdig taktfeſt im ge - ſellſchaftlichen Lügenſpiel ſein konnte.
„ Na! So ſchlimm iſt das nicht — “gab Lydia lachend zu — „ ſchwache Verſuche, die — “
„ Nette ‚ ſchwache Verſuche‘, wenn man gleich 'ne ‚ moderne Bibel‘ ſchreiben will — “flüſterte Herr Quöck mit drolligem Geheimnißvollthun über den Tiſch —
„ Das iſt ja außerordentlich intereſſant — “ver - ſicherte der Herr Referendar —: „ eine ‚ moderne Bibel‘ — “
„ Ja —? finden Sie? “fragte Lydia neckiſch - boshaft.
„ Auf Ehre, gnädige Frau —! “
„ Ich habe einen Gedanken, liebe Couſine — “nahm Herr Quöck wiederum das Wort —
„ Und das wäre —? Du haſt, wenigſtens ſo weit ich es vorläufig beurtheilen kann, ſo ſelten Gedanken, beſter Herr Vetter — daß ich wirklich geſpannt bin — “
„ Sei doch nicht ſo ... ſo eigenthümlich liebens - würdig, Lydia — höre mich doch erſt an — viel -56 leicht genüge ich Deinen hohen Anſprüchen ausnahms - weiſe doch einmal — “ließ Herr Quöck beleidigt - zurechtweiſend verlauten ..
„ Na! — nur nicht böſe ſein, Vetter! Ich wider - rufe ja gern, wenn — — “
„ Alſo ... Ja! .. Wie wäre es, wenn Du im Verein mit .. Herrn Doctor Menſch Deine eben - ſo ſchöne wie tiefe Idee ausführteſt —? Der Herr Doctor iſt wohl, wenigſtens ſoweit ich urtheilen darf — ich habe ja die Ehre, ihn ſchon ſeit mehreren Jahren zu kennen — alſo der Herr Doctor möchte Dir ein ganz famoſer — verzeihen Sie gütigſt, Herr Doctor, dieſes etwas burſchikoſe Beiwort — aber mein Jugendfreund Saldern gebrauchte das Wort öfter — und da habe ich es mir denn auch un poco — — “
„ Ah! ‚ un poco‘! Süßer Laut der ſchönen Fremde — “fiel Herr Oettinger affektirt-pathetiſch ein. Der Wein ſchien ihm die Zunge etwas ſchwippig gemacht zu haben.
„ Alſo auch etwas angewöhnt — — ja! .. um den Satz endlich fertig zu bringen — “fuhr Herr Quöck fort — „ ein ganz prächtiger Mitarbeiter ſein .. Ich glaube nämlich ehrlich, daß das Buch Aufſehen machen — unter Umſtänden ſogar einen ſenſationellen Erfolg haben würde, wenn es nur erſt ... erſt fertig wäre — “
Frau Lange ſah zu Adam hinüber. Der war immerhin etwas betreten. Dieſe Wendung des Geſprächs kam ihm zu unerwartet. Sollte das den57 Weg bedeuten, auf welchem ſich ſeine Beziehungen zu dieſem ſchönen Weibe, das ihn ausnehmend reizte, anknüpften ... enger zuſammenfädelten —? Und ... und Hedwig? .. Er ſah ſich zu ihr um. Fräulein Irmer machte ein etwas maliciöſes Geſicht. Die Schmerzensfalten um die Naſe waren ſchärfer hervor - getreten. Und doch lag in dieſem Geſicht zugleich ein Zug des Geſpanntſeins, der Neugier, der Theilname.
„ Hm! .. hm! — “begann Lydia. Sie wunderte ſich ein Wenig, daß Adam nicht ſogleich freudig und hingeriſſen auf den Vorſchlag einging. Das ärgerte ſie.
„ Ja! Ja! Der Gedanke iſt .. ausnahmsweiſe wirklich nicht ſo übel .. Ich danke Dir, lieber Vetter .. nur fragt es ſich, ob .. ob der Herr Doctor — ich — ich — gewiß! — mir behagt die Idee ſehr .. ſehr .. ich finde ſie ganz ausgezeichnet, aber eben — “
„ Na! Mir gefällt ſie natürlich auch — “ver - ſicherte Adam brüsk.
Lydia ſtutzte. Der Ton, in welchem dieſe Worte geſprochen waren, mußte ihr auffallen. Sie wollte eben eine ſpitze Bemerkung loslaſſen — ſie hatte allerdings vorläufig bloß das Gefühl, das thun zu müſſen, ohne im Augenblick ſchon zu wiſſen, wie ſie die Unart dieſes ... unverſchämten Menſchen rügen ſollte — als dieſer, ein Wenig moquant - lächelnd, ſeine Worte wieder mit den alten Farben der ſteif-geſpreizt-ironiſchen Höflichkeit zu bemalen begann —: „ Vorausgeſetzt natürlich, gnädige Frau, daß Sie es der Mühe für werth halten, mich intimer in Stoff und Motiv einzuführen — “
58Lydia war wieder verſöhnt. — „ Alſo Sie ſpielen mit —? “fuhr ſie lebhaft auf, „ — das enchantirt mich aufrichtig, Herr Doctor! Sie ſollen ſehen —: wir kriegen ein ganz prächtiges Geſch — — alſo — nicht wahr —? auf gute Kameradſchaft! Wahrhaftig der Stoff fängt wieder an, mich ſtärker zu intereſſiren — “
Sie reichte ihre kleine, fleiſchige, ringblitzende Hand über den Tiſch zu Adam hinüber. Der brachte ſeine Finger mit der Sammthaut Lydias in eine vornehm-zurückhaltende Berührung. Frau Lange's Augen ſtrahlten. Adam fragte ſcherzend —: „ Theilen wir nun, gnädige Frau, die Arbeit ſyſtematiſch —? Dann möchte ich mir das moderne neue Teſtament zur Bewältigung ausbitten — “
„ Wie wir's anſtellen — nun! das werden wir ja noch finden, Herr Doctor! Sie trinken vielleicht in den nächſten Tagen, wenn Sie über ſich ver - fügen können, eine Taſſe Thee bei mir —? Dann können wir ja das Problem in aller Ruhe einmal näher anſchauen. Aber warum erbaten Sie ſich vorhin das ‚ neue‘ Teſtament zur Bearbeitung —? Iſt Ihnen das alte — “
„ Das alte — hm! — das alte Teſtament, gnädige Frau, iſt mir, wenn ich offen ſein ſoll, iſt mir ein Wenig zu .. zu ſemitiſch ... Gewiß! es hat gewaltige, von der bewußten „ elementaren “Poeſie ſtrotzende Capitel — aber — “
„ Ah! das freut mich, Herr Doctor! Sie ſcheinen auch Antiſemit zu ſein? “— fragte Herr Oettinger59 lebhaft — „ das einzig Vernünftige heute — verſteht ſich .. “
„ Ob ich gerade regelrechter ‚ Antiſemit‘ bin — ‚ Antiſemit‘ mit allen Chikanen — — das — das weiß ich eigentlich nicht recht, Herr Referendar .. Aber ich glaube kaum .. Die Frage, die gewiß eine „ moderne “und zudem gewiß auch eine ſehr „ brennende “iſt, bedeutet bei mir weniger eine neutrale Angelegenheit des Intellekts mit dem Stempel der Selbſtverſtändlichkeit — ſelbſtverſtändlich aus wirthſchaftlichen, politiſchen, ſocialen, philoſo - phiſchen und tauſend anderen ‚ Vernunfts‘-Gründen — als vielmehr eine Art von Herzensbedürfniß .. Meine Weltanſchauung iſt, den Haupttendenzen, der Polarität meiner Natur gemäß, eine vorwiegend äſthetiſche .. Sogenannte „ Principien “habe ich nicht, höchſtens nur in ſehr ſchwachen Anſätzen — ſie „ liegen “meiner Natur nicht .. und ich halte ſie darum für geſchmacklos und langweilig .. u. ſ. w. — aber verzeihen Sie! — ich bin ganz abgeſchweift — — “
„ ‚ Abgeſchwiffen‘ — pflegte Otto von Galdern immer zu ſagen “— warf Herr Quöck lachend ein.
„ Alſo!. ja!. — ſehen Sie “— nahm Adam das Geſpräch wieder auf, halb zu Lydia, halb zu Oettinger hingewendet — „ der große Marx z. B. war auch ein Jude — dann Laſſalle — und nehmen wir Heine, Börne — — “
„ Marx? — Marx? — Iſt das nicht — nicht der ... der — “
„ Ganz recht, Herr Referendar, der ... der —60 der große Werthanalytiker nämlich — Sie werden gewiß ſeine Werke kennen, wenigſtens ſeine Sätze, ſeine Reſultate, ſeine Definitionen — “
„ Nein! — Gott ſei Dank! nicht — “
„ Aber — pardon! — Sie ſind doch Juriſt — “
„ Allerdings! Und ich muß zu meinem aller - größten Bedauern bemerken, daß ich ſehr — ſehr viel jüdiſche Collegen habe .. Dieſe Herren mögen die Theſen ihres Heros beſſer kennen, als ich — ich bin ſtreng — ich bin à tout prix monarchiſch, Herr Doctor — ſtockconſervativ, wenn Sie wollen — mein Kaiſer braucht bloß zu winken, ſo lege ich mit tauſend Freuden mein Haupt auf den Block für ihn — dulce et decorum, pro imperatore mori, Herr Doctor! Heilig — heilig iſt mir die Regierung — unantaſtbar — — “
„ Unfehlbar — “warf Lydia ein, die ſich zurück - gelehnt hatte und amüſirt, ein verhaltenes, halb ſpöttiſches, halb gutmüthiges Lächeln im Geſicht, den Verſicherungen ihres Nachbars zuhörte.
„ Jawohl, gnädige Frau! In gewiſſem Sinne ſogar ‚ unfehlbar‘ iſt mir die Regierung! Und ich wäre glücklich, ſollte es mir vergönnt ſein, dereinſt einmal ein guter Hüter und Wahrer und Pfleger des Geſetzes zu werden — des Geſetzes, das für mich vorläufig nur einen Fehler hat — nämlich den, daß es in mancher Beziehung zu mild, zu tolerant iſt. So ſollte z. B. Jeder — ich wähle das Beiſpiel, weil mir gerade kein anderes einfällt — ſo ſollte alſo Jeder, der im öffentlichen Beſitze einer Waffe ge -61 funden wird, quasi als Mörder behandelt werden, denn er hat, reſpective hatte es ja jeden Augen - blick in der Hand, einem ſeiner Mitmenſchen das Leben, dieſes höchſte, koſtbarſte Gut, wie Sie mir zugeſtehen werden, zu nehmen — “
„ Das kann doch nicht Ihr Ernſt ſein, Herr Referendar —? “fragte Adam beluſtigt.
„ Wollen Sie nicht auch einmal den Käſe koſten, Herr Doctor? “bot Frau Möbius, die aufmerkſame Wirthin, an. Sie benutzte den Moment, wo das Geſpräch ſich wieder gabeln zu wollen ſchien.
Auch Hedwigs Geſicht hatte einige Ausdrucks - grade ſeines Ernſtes verloren. Auch ihr mußten die Geſtändniſſe Herrn Oettingers etwas drollig und ſchattentöterig-bizarr vorkommen.
„ Zweifeln Sie daran, Herr Doctor? — Ich bitte doch ſehr ... Allerdings — Sie ſcheinen mir in dieſer Beziehung etwas laxere Anſichten zu haben — “entgegnete der Herr Referendar ein Wenig indignirt. Er führte ſein Weinglas an die Lippen und ſah furchtbar moraliſch entrüſtet aus.
„ ‚ Laxere‘ .. hm! — ich weiß nicht, Herr Refe - rendar, ob gerade ‚ laxere‘ — — jedenfalls .. hm! nun! jedenfalls modernere .. “warf Adam mit einem kleinen Anflug von Spott hin.
„ Was verſtehen Sie eigentlich unter ‚ modern‘, Herr Doctor? — Man hört das Wort heute ſo oft. Man kann ſich gar nicht mehr retten vor ihm — “fragte Lydia dazwiſchen. Sie ſchien momentan ganz62 vergeſſen zu haben, daß ſie ja ſelbſt eine — ‚ moderne‘ Bibel ſchreiben wollte.
„ Ja! das iſt ſchwer zu ſagen mit einem Worte, gnädige Frau .. “begann Adam. Auch ihm fiel der Umſtand, daß gerade Lydia ihn um eine Art von Begriffsbeſtimmung gebeten, weiter nicht auf. „ ‚ Modern‘ ſein heißt, heißt, gnädige Frau — ja! alſo ſagen wir — heißt: ſich auf Etwas vorbereiten, was Einen im Grunde gar nichts angeht — — ich meine: auf Etwas, deſſen Eintreten in die Welt man ſicher nicht erleben wird, das ſich vielleicht erſt in einer ſehr fernen Zukunft erfüllt — ‚ modern‘ ſein heißt aber zugleich: — bei dem Vorbereiten auf dieſes problematiſche Etwas ganz gefälligſt ... zu Grunde gehen — “fuhr Adam ſodann mit einem ſpröden Stich ins Paradoxe und Bittere fort.
Hedwig ſah ihren Nachbar erſtaunt-theilnehmend an. Herr Oettinger machte ein verblüfft-ungläubiges Geſicht. Von Lydia erhielt Adam einen ſehr eigen - thümlichen Blick. Und nun erkundigte ſie ſich etwas leichthin —: „ Gehört das ‚ Zu-Grunde-Gehen‘, wie Sie ſich ausdrückten, Herr Doctor, abſolut dazu —? “
„ Allerdings, gnädige Frau, “erwiderte Adam ernſt, „ das gehört dazu, wenn man treu ſein will ... und ſich, wenigſtens in der Hauptſache, in den Grund - zügen, in den Kernlinien ſeiner Natur, erkannt hat — das heißt: wenn man weiß, daß man nicht treu ſein kann .. Der incarnirte Widerſpruch iſt immer Subtrahent — “
„ Herr Gott! Wieder einmal Pythius! Wenn Sie63 im Alterthum, zu Zeiten Frau oder Fräulein Pythia's gelebt hätten, Herr Doctor, — ich bin feſt über - zeugt: aus Ihnen und jener ehrenwerthen Dame wäre ein Paar geworden ... “ſcherzte Lydia lachend.
„ Meinen Sie, gnädige Frau? — Ob aber die Concordanz immer addirt —? “
„ Himmliſcher Vater! Nun fehlt bloß noch das Multipliciren und Dividiren ... Die armen vier Spezies! — “
Hedwig konnte ſich nicht mehr verbergen, daß Adam ſie jetzt intereſſirte. Und ſie mußte ſich geſtehen, daß ſie in ihrem Denken und Fühlen dieſem merk - würdigen Cauſeur unter den Anweſenden jedenfalls am Nächſten ſtände. Das machte ſie immerhin eine Idee ſtolz und befriedigte ſie. Tiefer in Anſpruch genommen wurde ſie allerdings auch kaum, es war ihr nur lieb, daß in das Geſpräch einmal ein paar kühnere, neuere Töne hineinklangen.
„ Sie ſcheinen nicht gerade religiös zu ſein, Herr Doctor —? “interpellirte jetzt Oettinger Adam.
„ ‚ Religiös‘? Sie etwa, Herr Referendar —? “fragte Adam barſch entgegen.
„ Ich — ich ſchmeichle mir allerdings, mein Herr, in gewiſſem Sinne religiös zu ſein — ja! Gott ſei Dank! noch religiös zu ſein — “gab Oettinger etwas von oben herab zur Antwort.
„ Na! das iſt kennzeichnend —: ‚ in gewiſſem Sinne‘ — hm! “—
Herr Quöck wurde unruhig: „ Proſit, meine64 Herrſchaften! “ Die Gläſer klangen wieder einmal zuſammen. Und wieder ließ Lydia das ihrige zuerſt an das Adams tönen.
Dieſer hatte plötzlich die ganze Situation, zumal ſein Verhältniß zu Frau Lange, klar erfaßt und wandte ſich jetzt mit einer auffälligen Wendung zu Hedwig hin ... und zwar ſo beklemmend nahe, als wollte er dieſer Dame Etwas ins Ohr flüſtern. Hedwig ſah verwundert auf. Ihre Brauen zogen ſich zuſammen. Verſtand ſie das Manöver —?
„ Ich muß doch bitten, Herr Doctor — “nahm Oettinger das Geſpräch wieder auf.
„ Um was —? “flegelte Adam.
„ Ja!. Aber ... Gewiß bin ich religiös ... wenn auch — — wie ich mir ſchon einmal zu bemerken erlaubte —: in erſter Linie bin ich con - ſervativ — und dieſer Standpunkt ſchließt ja ein mehr oder weniger intimes Verhältniß zu den Satzungen der Landeskirche ganz von ſelber ein — — ich klebe durchaus nicht am Dogma — gehe ſogar ſo weit, in gewiſſem Sinne — verzeihen Sie! — nun! wie ſoll ich ſagen? — ja! — frei — vielleicht ‚ modern‘ zu ſein — es iſt wahr: ich beſuche ſelten die Kirche — vertrete aber als Juriſt, als Geſetzeshüter, ganz entſchieden die Anſicht, daß die Maſſe der Religion bedarf — und ſollte das — Sie ſehen, ich bin ganz aufrichtig — und ſollte das auch nur nothwendig ſein, damit ſie, die Plebs, der Mob, kurz: das Volk — damit dieſes alſo ſtets in der Gewalt, in den Händen der ‚ oberen Zehntauſend‘65 bleibt .. Ich bitte, in meinen freimüthigen Worten weiter keinen Cynismus zu ſuchen — “
Adam lächelte ſehr ironiſch.
Er ſpielte mit den Fingern der rechten Hand an dem Griffe ſeines Weinglaſes herum und warf nun mit gutmüthig-boshaftem Geſichtsausdruck die Frage über den Tiſch zu ſeinem Gegner hinüber: „ Dann gehören Sie alſo, Herr Referendar, ſo ungefähr zu den Leuten, die im Grunde als erſte Autorität über ſich ihren — Cylinder anerkennen —? “
Frau Möbius ſah recht erſchrocken aus. Lydia lächelte wie zuſtimmend, lenkte dann aber mit ſeinem Takte ab: „ Und die Cigaretten, Herr Vetter —? “
Traugott Quöck verſtand. Er erhob ſich, warf dabei Adam einen nicht gerade „ gnädigen, “kaum freundlichen und aufmunternden Blick zu und wünſchte ſeinen Gäſten „ Geſegnete Mahlzeit! “—
„ Sie rauchen doch, Herr Referendar —? “
Oettinger ſtarrte noch immer auf Adam hin. Es ſchien ihm unbegreiflich zu ſein, daß dieſer Menſch gerade ihm mit ſeinen Impertinenzen zu kommen wagte. Sollte er die Beleidigung auf ſich ſitzen laſſen —? Sollte er einen Skandal provociren —? Er war unſchlüſſig. Adam machte ein unſchuldig - heiteres Geſicht. Er wandte ſich jetzt zu Fräulein Irmer, die hinter ihrem Stuhle ſtand und theil - nahmslos vor ſich hinſah, mit der Frage: „ Rauchen Sie auch, mein gnädiges Fräulein? “
„ Nein! “kam es kurz und ſchroff von Hedwigs Lippen.
Conradi, Adam Menſch. 566„ Wollen die Herren in mein Zimmer treten —? “forderte Herr Quöck auf.
Man verbeugte ſich ziemlich ſteif gegen einander.
Lydia ſah nach ihrer kleinen, goldnen Uhr. „ Schon Zehn durch! Um Elf kommt mein Wagen — “
„ Um Elf ſchon —? “fragte Frau Möbius, wohl nur, um überhaupt Etwas zu ſagen.
„ Wenn es Ihnen recht iſt, Fräulein Irmer, fahren Sie mit mir —? Wir wohnen ja nicht weit auseinander. Ich werde Friedrich ſagen, daß er durch Ihre Straße den Weg nimmt — “
„ Sehr liebenswürdig, Frau Lange, ich nehme mit Dank an — “
„ Aber was fangen wir nun an —? “überlegte Lydia. „ Die Herren ſpielen natürlich den unver - meidlichen Scat ... Ach! Wir armen Frauen —! “
„ Traugott ſpielt eigentlich ſelten Scat — “be - merkte Frau Möbius ſchüchtern.
„ Ich werde mir wahrhaftig noch die Geheim - niſſe dieſes verteufelten Scatſpiels beibringen laſſen — man iſt ja ſonſt rein verloren heute .. Ob der Doctor Menſch auch ſpielt —? Er ſieht gar nicht ſo aus .. Was meinen Sie, Hedwig —? “
„ Warum ſollte er nicht —? “antwortete die Gefragte kurz, etwas geringſchätzig. Die beiden Frauen ſahen ſich an. Eine jede wußte, was die andere im Stillen dachte, was ſie wiſſen wollte, zu hören verlangte, und was doch keine von ihnen ausſprach .... keine ausſprechen mochte.
„ Bitte, Couſine —! “ Herr Quöck war aus dem67 Nebenzimmer getreten und hatte eine Schachtel amerikaniſcher Cigaretten auf den Tiſch geſtellt.
„ Verſuchen Sie es doch auch einmal, Fräulein Irmer —! “forderte er halb im Scherz, halb im Ernſte auf. „ Die Damen rauchen heute alle ... Es iſt ſo faſhionable ... “
„ Ich danke, Herr Quöck — “
Lydia ſaß im Fauteuil und ſpie ganz reſpectable, weißgelbe Rauchwolken durch die Lippen. Sie hüſtelte ein Wenig.
„ Wir ſpielen natürlich Scat, Lydia. Der Doctor iſt nämlich auch ein leidenſchaftlicher Scatverehrer, wie er neulich verſichert hat — “
„ So —? “
Lydias und Hedwigs Augen fanden ſich wieder einmal.
Aus dem Nebenzimmer klang gedämpftes Sprechen. So leiſe die Unterhaltung geführt wurde — man hörte doch immer den gereizt-markirten Ton heraus.
Hedwig hatte in einem Album geblättert. Jetzt ſah ſie auf und horchte geſpannt hinüber.
Lydia erſchien ſehr gleichgültig. Sie blies eine dicke, weißgelbe Dampfwolke nach der anderen vor ſich hin. Im Zimmer machte ſich ſchon das Cigaretten - Parfüm deutlich riechbar. Es war Frau Lange entſchieden ſehr behaglich zu Muthe.
Herr Quöck war nach dem Salon hinüberge - gangen. Er arrangirte den Scattiſch. Frau Möbius hatte ſich nach der Küche begeben. Oettinger und Adam waren natürlich gegen einander gerathen. 5*68Der Herr Referendar hatte den Herrn Doctor bezüglich deſſen Bemerkung bei Tiſch noch einmal interpellirt. Das hätte kaum unterbleiben dürfen. „ Ich habe weiter nichts gethan, als gleichſam die Quadratwurzel aus Ihren Aeußerungen gezogen, Herr Referendar. Ihr conſervativer Standpunkt mag ehrliche Ueberzeugung ſein — das gebe ich ſehr gern zu. Warum auch nicht —? In Puncto der Religion geſtanden Sie ſelbſt ein, daß Ihnen dieſelbe nur noch als ein Mittel in den Händen der „ oberen Zehntauſend “erſchiene, das den Zweck hat, die Plebs geduckt und unterwürfig zu erhalten — Herrenmoral und Sclavenmoral — Punktum — “
„ Aber bitte — das iſt doch heute die An - ſchauung jedes gebildeten Menſchen — “
„ Das weiß ich recht gut. Der Standpunkt iſt auch ein dieſer gebildeten Menſchheit vollkommeu würdiger. Ich erlaube mir nämlich die Anſicht zu haben, Herr Referendar, daß dieſe famoſe ‚ Bildung‘ und der bodenloſe Indifferentismus in religiöſen, philoſophiſchen, künſtleriſchen Dingen heutzutage ſo ziemlich identiſch ſind mit einander — “
„ Hm!. Mag ſein! .. Aber bitte, Herr Doktor — wir kommen ganz von dem Punkte ab, deſſen Erörterung mir momentan zumeiſt am Herzen liegt — Sie gebrauchten bei Tiſch ein Bild — einen Vergleich — ein — ei — n — e — nun! — es bleibt Ihnen ja unbenommen, auch mich unter dieſe Indifferenten[zu] rechnen — — “
„ Pardon, Herr Referendar! Wenn mir das69 unbenommen bleibt, nun! ſo iſt doch die einfache Folge davon die, daß ich Ihnen einen großen Reſpect vor dem — Cylinder als dem Symbole der auf das Aeußerliche geſtellten Bildung vindiciren darf — die einfache Conſequenz, nichts weiter — “
„ Ich glaube aber kaum, Herr Doctor, daß es erlaubt iſt, derartige etwas — verzeihen Sie! — immerhin — immerhin etwas boshaft-geſuchte Conſe - quenzen öffentlich auszuſprechen .. Ich kann — ja! ich muß das geradezu als eine perſönliche Beleidigung auffaſſen — und ich ſähe mich genöthigt, wenn Sie nicht revociren — — “
Adam lachte: „ ‚ Beleidigung‘! — — ‚ revociren‘ — — Sie ſcherzen, Herr Referendar! Sie ſcherzen jetzt, wie ich vorhin — geſcherzt habe — wir ſind alſo quitt — nicht —? “
„ Das iſt eine ſonderbare Auffaſſung, Herr Doctor — “
Herr