PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die deutſche Literatur
Erſter Theil.
Stuttgart,bei Gebrüder Franckh. 1828.

Inhalt des erſten Theils.

  • Seite
  • Die Maſſe der Literatur1
  • Rationalitaͤt21
  • Einfluß der Schulgelehrſamkeit33
  • Einfluß der fremden Literatur42
  • Der literariſche Verkehr55
  • Religion82
  • Philoſophie157
  • Geſchichte190
  • Staat214
  • Erziehung261
[1]

Die Maſſe der Literatur.

Die Deutſchen thun nicht viel, aber ſie ſchreiben deſto mehr. Wenn dereinſt ein Buͤrger der kommen¬ den Jahrhunderte auf den gegenwaͤrtigen Zeitpunkt der deutſchen Geſchichte zuruͤckblickt, ſo werden ihm mehr Buͤcher als Menſchen vorkommen. Er wird durch die Jahre, wie durch Repoſitorien ſchreiten koͤnnen. Er wird ſagen, wir haben geſchlafen und in Buͤchern getraͤumt. Wir ſind ein Schreibervolk geworden und koͤnnen ſtatt des Doppeladlers eine Gans in unſer Wappen ſetzen. Die Feder regiert und dient, arbeitet und lohnt, kaͤmpft und ernaͤhrt, begluͤckt und ſtraft bei uns. Wir laſſen den Italie¬ nern ihren Himmel, den Spaniern ihre Heiligen, den Franzoſen ihre Thaten, den Englaͤndern ihre Geld¬ ſaͤcke und ſitzen bei unſern Buͤchern. Das ſinnige deutſche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit. Es hat ſich die Buchdruckerkunſt ſelbſt erfunden, und nun arbeitet es unermuͤdlich an der großen Maſchine. Die Schul¬ gelehrſamkeit, die Luſt am Fremden, die Mode, zu¬ letzt der Wucher des Buchhandels haben das uͤbrigeDeutſche Literatur. I. 12gethan, und ſo baut ſich um uns die unermeßliche Buͤchermaſſe, die mit jedem Tage waͤchſt, und wir erſtaunen uͤber das Ungeheure dieſer Erſcheinung, uͤber das neue Wunder der Welt, die cyklopiſchen Mauern, die der Geiſt ſich gruͤndet.

Nach einem maͤßigen Überſchlage werden jaͤhrlich in Deutſchland zehn Millionen Baͤnde neu gedruckt. Da jeder halbjaͤhrige Meßkatalog uͤber tauſend deut¬ ſche Schriftſteller nahmhaft macht, ſo duͤrfen wir an¬ nehmen, daß im gegenwaͤrtigen Augenblick gegen fuͤnf¬ zigtauſend Menſchen in Deutſchland leben, die ein Buch oder mehr geſchrieben haben. Steigt ihre Zahl in der bisherigen Progreſſion, ſo wird man einſt ein Verzeichniß aller aͤltern und neuern deutſchen Auto¬ ren verfertigen koͤnnen, das mehr Namen enthalten wird, als ein Verzeichniß aller lebenden Leſer.

Die Wirkung dieſer literariſchen Thaͤtigkeit ſchlaͤgt uns gleichſam in die Augen. Wohin wir uns wen¬ den, erblicken wir Buͤcher und Leſer. Auch die kleinſte Stadt hat ihre Leſeanſtalt, der aͤrmſte Honoratior ſeine Handbibliothek. Was wir auch in der einen Hand haben moͤgen, in der andern haben wir gewiß immer ein Buch. Alles, vom Regieren bis zum Kin¬ derwiegen iſt eine Wiſſenſchaft geworden, und will ſtudirt ſeyn. Die Literatur iſt die allgemeine Reichs¬ apotheke geworden, und da das ganze Reich immer kraͤnker wird, je mehr es Arzneien einnimmt, ſo neh¬ men doch eben darum die Arzneien nicht ab, ſondern zu. Buͤcher helfen fuͤr alles. Was man nicht weiß,3 ſteht doch im Buche. Der Arzt ſchreibt ſein Recept, der Richter ſein Urtheil, der Geiſtliche ſeine Predigt, der Lehrer wie der Schuͤler ſein Penſum aus Buͤ¬ chern ab. Man regiert, kurirt, handelt und wan¬ delt, kocht und bratet nach Buͤchern. Die liebe Ju¬ gend aber waͤre wohl verloren ohne Buͤcher. Ein Kind und ein Buch ſind Dinge, die uns immer zu¬ gleich einfallen.

Die Vielſchreiberei iſt eine allgemeine Krankheit der Deutſchen, die auch jenſeits der Literatur herrſcht, und in der Bureaukratie einen nahmhaften Theil der Bevoͤlkerung an den Schreibtiſch feſſelt. Schreiber, wohin man blickt! und eben dieſe Schreiber tragen durch das, was ſie koſten, zur Verarmung des Lan¬ des nur bei, damit der Papiermuͤller an Lumpen kei¬ nen Mangel leide. Betrachten wir aber die ſitzende Lebensart, der ſo viele tauſende geopfert werden. Iſt ſie nicht laͤngſt ein Gegenſtand des oͤffentlichen Witzes geweſen, ehe Tiſſot ihr ſein menſchenfreund¬ liches Bedauern und ſeinen aͤrztlichen Rath widmete? Iſt der edle, aber durch die Feder aufgezehrte Gel¬ lert auf dem Roß, das ihm Friedrichs Ironie ge¬ ſchenkt, nicht das ewige Urbild jener armen an das Pult gefeſſelten Gallioten, ein Bild, das freilich un¬ gleich unerfreulicher iſt, als das eines griechiſchen Philoſophen, der unter Palmen und Lorbeern mehr denkt und ſpricht, als ſchreibt.

Es gibt nichts von irgend einigem Intereſſe, woruͤber in Deutſchland nicht geſchrieben wuͤrde. Ge¬1 *4ſchieht etwas, ſo iſt die hauptſaͤchlichſte Folge davon, daß man daruͤber ſchreibt; ja viele Dinge ſcheinen nur darum zu geſchehen, damit man daruͤber ſchreibe. Das meiſte wird aber in Deutſchland nur geſchrie¬ ben, und gar nicht gethan. Unſere Thaͤtigkeit iſt eben vorzugsweiſe Schreiben. Dieß waͤre kein Un¬ gluͤck, da der Weiſe, der ein Buch ſchreibt, nicht we¬ niger, und oft mehr thut, als der Feldherr, der einen Sieg erſtreitet. Wenn aber zehntauſend Thoren auch Buͤcher ſchreiben wollen, ſo iſt das eben ſo ſchlimm, als wenn alle gemeinen Soldaten Feldherrn ſeyn wollten.

Wir nehmen alle fruͤhere Bildung nur in uns auf, um ſie ſogleich wieder in's Papier einzuſargen. Wir bezahlen die Buͤcher, die wir leſen, mit denen, die wir ſchreiben. Es gibt hunderttauſende, die nur lernen, um wieder zu lehren, deren ganzes Daſeyn an ein Paar Buͤcher geſchmiedet iſt, die von der Schulbank auf's Katheder kommen, ohne je in die gruͤne Welt hinauszublicken. Womit ſie gemartert worden, damit martern ſie wieder, Prieſter der Ver¬ weſung unter Mumien verdorrt, pflanzen ſie das alte Gift, wie Veſtalinnen das heilige Feuer fort.

Jeder neue Genius ſcheint nur geboren zu wer¬ den, um ſogleich in das Papier zu fahren. Wir ha¬ ben kaum groͤßere Landsleute, als ſchreibende. Die Bahn des Ruhms, die dem Helden und dem Staats¬ mann in Deutſchland etwas langweilig gemacht und dem Kuͤnſtler ganz mit Dornen beſaͤet wird, ſteht nur dem Schriftſteller lockend offen. Ein geiſtreicher5 Mann wird in Deutſchland eben ſo oft ein Schrift¬ ſteller, und ſo ſelten ein Staatsmann, als in Eng¬ land und Frankreich das Umgekehrte Statt findet. Wo man nicht geſehen, nicht gehoͤrt werden kann, wird man doch geleſen.

Was der Deutſche denkt, iſt aber auch gewoͤhn¬ lich von der Art, daß es beſſer geleſen, als gehoͤrt oder gethan wird. Was die ſtille Stunde dem ein¬ ſamen Denker und Dichter gebiert, erfordert auch wieder den ſtillen ſinnigen Leſer.

Sey es nun, daß ein feindſeliger Gott unſer Augenlied huͤtet und mit dem eiſernen Schlaf uns wie den Prometheus feſſelt, um uns zu zuͤchtigen, weil wir Menſchen gebildet, und daß die propheti¬ ſchen Traͤume der letzte Reſt von Thaͤtigkeit ſind, die uns ſelbſt ein Gott nicht rauben kann; oder wir ſelber weben aus eigner Neigung, aus einem Triebe, wie ihn die Natur in die Raupe gelegt, das dunkle Geſpinſt um uns, um in geheimnißvoller Schoͤpfungs¬ nacht die ſchoͤnen Pſycheſchwingen zu entfalten; ſeyen wir gezwungen, uns uͤber den Mangel an Wirklich¬ keit mit Traͤumen zu troͤſten, oder reißt uns ein in¬ wohnender Genius uͤber die Schranken auch der ſchoͤnſten Wirklichkeit in noch hoͤhere Regionen der Ideale fort, immerhin muͤſſen wir jener wuchernden Literatur, jener abenteuerlichen Papierwelt eine hohe Bedeutung fuͤr den Charakter der Nation und dieſer Zeit zuerkennen.

In den ausgeſprochnen Anſichten aber, davon6 die eine den Grund der deutſchen Vielſchreiberei in der Thatenloſigkeit, die andre in der ſinnigen Natur des Volkes findet, und die wir beide, als wohl be¬ gruͤndet, leicht vereinigen koͤnnen, liegen zugleich die großen Schatten - und Lichtſeiten unſrer Literatur angedeutet. Allerdings iſt des regen Lebens wuͤrdige That von uns gewichen, denn der Glaube begeiſtert nicht mehr, und der Eigenwille liegt in Banden, und man ſollte faſt waͤhnen, das ganze Volk ſey nach Walhalla hinuͤber geſchlummert und ſchmauſe dort in Frieden, denn man hoͤrt bei uns faſt nichts mehr, als das Geraͤuſch der Meſſer und Gabeln. Die Kraft, die ewig jung der Verderbniß trotzt, hat ſich erkaufen laſſen fuͤr den niedern Dienſt des materiellen Lebens, und man ruͤhrt die Haͤnde nur noch, um zu eſſen. Da, wo nun Buͤcher ſtatt der Thaten glaͤn¬ zen, wo der Glaube geirrt, der Willen abgeſpannt, die Kraft entnervt, die Thatenloſigkeit beſchoͤnigt, die Zeit ertoͤdtet wird mit Buchſtaben, wo die gro¬ ßen Erinnerungen und Hoffnungen des Volks ſtatt lebendiger Herzen nur todtes Papier finden, da wer¬ den wir die Schattenſeite der Literatur erkennen muͤſſen. Wo ſie das friſche Leben hemmt und an ſeine Stelle ſich draͤngt, da iſt ſie negativ und feind¬ ſelig in ihrem Weſen.

Doch Worte gibt es, die ſelber Thaten ſind. Alle Erinnerungen und Ideale des Lebens knuͤpfen ſich an jene zweite Welt des Wiſſens und des Dich¬ tens, die von des Geiſtes ewiger That erzeugt, ge¬7 laͤutert und verklaͤrt wird. Und in dieſer Welt ſind wir Deutſche vorzugsweiſe heimiſch. Die Natur gab uns uͤberwiegenden Tiefſinn, eine herrſchende Nei¬ gung, uns in den eignen Geiſt zu verſenken, und den unermeßlichen Reichthum deſſelben aufzuſchließen. Indem wir dieſem nationellen Hang uns uͤberlaſſen, offenbaren wir die wahre Groͤße unſrer Eigenthuͤm¬ lichkeit und erfuͤllen das Geſetz der Natur, das Ge¬ ſchick, zu dem wir vor andern Voͤlkern berufen ſind. Die Literatur aber, der Abdruck jenes geiſtigen Le¬ bens, wird eben darum hier ihre glaͤnzende Lichtſeite zeigen. Hier wirkt ſie poſitiv, ſchoͤpferiſch und ſe¬ gensreich. Das Licht der Ideen, die von Deutſch¬ land ausgegangen, wird die Welt erleuchten.

Nur huͤte man ſich vor dem Irrthum, die Huͤlle, welche der Geiſt annehmen muß, um ſich zu offenba¬ ren, das Wort, das den Geiſt in ſich aufnimmt, aber auch zugleich begraͤbt, fuͤr hoͤher zu achten, als den ewigen, lebendigen Springquell des Geiſtes ſelbſt. Das Wort, das todte, unveraͤnderliche, iſt nur die Huͤlle des Geiſtes, abgeworfen an einem ſonnigen Tage, gleich der bunten Haut, welche die alte und doch ewig junge Weltſchlange mit jeder Verwand¬ lung hinter ſich laͤßt. Aber man verwechſelt nur zu oft das todte Wort mit dem lebendigen Geiſt. Nichts iſt gewoͤhnlicher, als der Irrthum, ein Wort hoͤher zu achten, beſonders ein gedrucktes, als den freien Gedanken, und Buͤcher hoͤher zu achten, als Men¬ ſchen. Dann wird der lebendige Springbrunnen ver¬8 ſtopft durch die Waſſermaſſe ſelbſt, die in ihn zuruͤck¬ ſtuͤrzt. Der Geiſt erſchlafft unter den Buͤchern, die doch ſelbſt nur ſeiner Kraft ihr Daſeyn verdanken. Man lernt Worte auswendig und fuͤhlt ſich der Muͤhe uͤberhoben, ſelbſt zu denken. Nichts ſchadet ſo ſehr der eignen Geiſtesanſtrengung, als die Be¬ quemlichkeit, von dem Gewinn einer fremden zu zeh¬ ren, und durch nichts wird die Faulheit und der Duͤnkel der Menſchen ſo ſehr unterſtuͤtzt, als durch die Buͤcher. Mit der Kraft aber geht die Freiheit des Geiſtes verloren. Man kann nicht leichter aus den freien Menſchen dumme Schafherden machen, als indem man ſie zu Leſern macht. Daher war es ſchon dem feinen Platon zweifelhaft, ob die Erfin¬ dung der Schrift die Menſchen ſonderlich gebeſſert haͤtte, und es wird nicht uͤbel angebracht ſeyn, die denkwuͤrdigen Worte dieſes liebenswuͤrdigen Weiſen hieher zu ſetzen:

« Ich habe gehoͤrt, zu Naukratis in Egypten ſey einer von den dortigen alten Goͤttern geweſen, dem auch der Vogel, welcher Ibis heißt, geheiligt war, er ſelbſt aber, der Gott, habe Theuth geheißen. Dieſer habe zuerſt Zahl und Rechnung erfunden, dann die Meßkunſt und die Sternkunde, ferner das Bret - und Wuͤrfelſpiel, und ſo auch die Buchſta¬ ben. Als Koͤnig von ganz Egypten habe damals Thamus geherrſcht in der großen Stadt des obern Landes, welche die Hellenen das egyptiſche Thebe nennen, den Gott ſelbſt aber Ammon. Zu dem ſey9 Theuth gegangen; habe ihm ſeine Kuͤnſte gewieſen, und begehrt, ſie moͤchten den andern Egyptern mit¬ getheilt werden. Jener fragte, was doch eine jede fuͤr Nutzen gewaͤhre, und je nachdem ihm, was Theuth daruͤber vorbrachte, richtig oder unrichtig duͤnkte, tadelte er oder lobte. Vieles nun ſoll Tha¬ mus dem Theuth uͤber jede Kunſt dafuͤr und dawider geſagt haben, welches weitlaͤuftig waͤre, alles anzu¬ fuͤhren. Als er aber an die Buchſtaben gekommen, habe Theuth geſagt: Dieſe Kunſt, o Koͤnig, wird die Egypter weiſer machen und gedaͤchtnißreicher. Denn als ein Mittel fuͤr den Verſtand und das Ge¬ daͤchtniß iſt ſie erfunden. Jener aber habe erwiedert: O kunſtreichſter Theuth, Einer weis, was zu den Kuͤnſten gehoͤrt, an's Licht zu gebaͤren, ein Anderer zu beurtheilen, wie viel Schaden und Vortheil ſie denen bringen, die ſie gebrauchen werden. So haſt auch du jetzt, als Vater der Buchſtaben, aus Liebe das Gegentheil deſſen geſagt, was ſie bewirken. Denn dieſe Erfindung wird den lernenden Seelen vielmehr Vergeſſenheit einfloͤßen aus Vernachlaͤßigung des Ge¬ daͤchtniſſes, weil ſie im Vertrauen auf die Schrift ſich nur von außen, vermittelſt fremder Zeichen, nicht aber innerlich, ſich ſelbſt und unmittelbar erinnern werden. Nicht alſo fuͤr das Gedaͤchtniß, ſondern nur fuͤr die Erinnerung haſt Du ein Mittel erfun¬ den, und von der Weisheit bringſt du deinen Lehr¬ lingen nur den Schein bei, nicht die Sache ſelbſt. Denn indem ſie nur Vieles gehoͤrt haben10 ohne Unterricht, werden ſie ſich auch viel¬ wiſſend zu ſeyn duͤnken, da ſie doch unwiſ¬ ſend groͤßtentheils ſind, und ſchwer zu be¬ handeln, nachdem ſie duͤnkelweiſe gewor¬ den ſtatt weiſe. » (Platon's Phaidros, 274.)

Dieſe Worte moͤgen uns bei den nachfolgenden Betrachtungen eingedenk bleiben und uns als eine leiſe, warnende Stimme immer in den Ohren klingen, wenn wir, wie es zu geſchehen pflegt, von den Herr¬ lichkeiten der Literatur geblendet, das Leben daruͤber vergeſſen ſollten. Mit Recht haben die praktiſchen Menſchen die Buͤcher nie recht leiden koͤnnen, weil ſie den Sinn vom friſchen, thaͤtigen Leben hinweg in eine nichtige Welt des Scheins verlocken. Tiefer aber haben mit Platon die Herzenskundigen und die echten Denker jederzeit den Buchſtaben vom lebendi¬ gen Gefuͤhl und Gedanken unterſchieden, und die Li¬ teratur, die Welt der Worte, nicht nur der Welt der Thaten, ſondern auch der innern, ſtillen Welt der Seele untergeordnet.

Auf unendliche Weiſe ſteht das Wort dem Leben entgegen, wenn es auch nur aus ihm hervorgeht. Es iſt das erſtarrte Leben, ſein Leichnam oder Schat¬ ten. Es iſt unveraͤnderlich, unbeweglich; von einem Wort laͤßt ſich kein Jota rauben, ſagt der Dichter, es iſt an die ewigen Sterne befeſtigt, und der Geiſt, aus dem es geboren iſt, hat keinen Antheil mehr daran. Das Wort hat Dauer, das Leben Wechſel, das Wort iſt fertig, das Leben bildet ſich.

11

Darum hat ein Leben, das ſich den Buͤchern hin¬ gibt, allerdings etwas Todtes, Mumienhaftes, Trog¬ lodytenmaͤßiges. Wehe dem Geiſte, der ſich an ein Buch verkauft, der auf ein Wort ſchwoͤrt; die Quelle des Lebens in ihm ſelber iſt verſiegt. In dieſem Tode, mitten im Leben, aber liegt eine daͤmoniſche Gewalt verborgen, es iſt das Gorgonenhaupt, das uns verſteinert. Ihre Wirkungen ſind unermeßlich in der Weltgeſchichte, oft hat ein Wort von Mar¬ mor Jahrhunderte verſteinert, und ſpaͤt erſt kam ein neuer Prometheus und beſeelte die erſtarrten Gene¬ rationen wieder mit lebendigem Feuer.

Im Leben aber, wenn es ſich ſelbſt begreift, liegt der Zauber, der des Wortes Meiſter wird. Wenn es ſich nicht zu bewachen weiß, faͤllt es unter die Gewalt des Wortes; wenn es auf ſich ſelbſt ver¬ traut, hat es auch den Talisman gewonnen, mit dem es das daͤmoniſche Wort bewaͤltigt. Was nun fuͤr jeden Menſchen gilt, ſobald er ein Buch in die Hand nimmt, ſoll fuͤr uns gelten, indem wir die neue Literatur in ihrem ganzen Umfang betrachten wollen. Wir werden vom Leben ausgehen, um be¬ ſtaͤndig darauf zuruͤckzukommen; an dieſem Ariaden¬ faden hoffen wir in dem Labyrinth der Literatur uns zurecht zu finden. Indem wir uns im friſchen Ge¬ fuͤhl des Lebens uͤber die todte Welt der Literatur ſtellen, wird ſie uns alle Geheimniſſe aufſchließen muͤſſen, ohne uns in den Zauberſchlaf zu wiegen. Nur der Lebendige kann wie Dante die Schattenwelt12 durchwandern. Wir werden manchen deutſchen Pro¬ feſſor darin finden, der in bleiernem Rock mit ruͤck¬ waͤrts gedrehtem Halſe nach dem gruͤnen Leben zu¬ ruͤckblickt, und nimmer aus der grauen Theorie her¬ auskann; wir werden den Siſyphus den Stein der Weiſen bergan ſchleppen und den Tantalus nach den Äpfeln am Baum des Erkenntniſſes hungern ſehn, wir werden alle finden, die in den Worten ſuchten, was allein das Leben gewaͤhrt.

Von dieſem freien Standpunkte aus wollen wir die Literatur zunaͤchſt in ihrer Wechſelwirkung mit dem Leben, ſodann als ein Kunſtwerk betrachten. Sie iſt ein Produkt des Lebens, das wieder auf daſ¬ ſelbe zuruͤckwirkt. Vom Leben ſelbſt geſchliffen wird ſie ein Spiegel deſſelben, von ihm als Arznei und als Gift gebraucht, heilt oder toͤdtet ſie es. In dem unermeßlichen Umfang ihrer todten Woͤrter aber iſt ſie ein einziges und zwar das reichſte Kunſtwerk naͤchſt dem Leben ſelbſt. Wenn es ſchwierig iſt, in dieſem Reichthum ſich zurecht zu finden, ſo iſt es doch noch ſchwieriger, ſich von ihm nicht voͤllig verblenden zu laſſen. Viele ſehen in der Literatur zugleich den rein¬ ſten Spiegel des Lebens, wenn er gleich nur der umfaſſendſte iſt; viele betrachten ſie als das hoͤchſte Produkt des Lebens, nur weil es die laͤngſte Dauer verſpricht. Sie ſtellen die Ruinen, die von der Weis¬ heit aller uͤbrig ſind, uͤber das wohnliche Haus unſ¬ rer eignen Weisheit, und das Bild aller Thaten uͤber die eigne That. Bald ſind ſie zu traͤg, und13 wollen nur die Fruͤchte eines fremden Denkens und Handelns genießen, die aber der Traͤgheit beſtaͤndig wie dem Tantalus entfliehen; bald fuͤrchten ſie, den Alten nicht mehr gleichen zu koͤnnen und machen ſich traͤg aus Reſignation.

Allerdings ſpiegelt die Literatur das Leben nicht nur umfaſſender, ſondern auch reiner, als irgend ein andres Denkmal, weil kein andres Darſtellungsmit¬ tel den Umfang und die Tiefe der Sprache darbietet. Doch hat die Sprache Grenzen, und nur das Leben keine. Den Abgrund des Lebens hat noch kein Buch geſchloſſen. Es ſind nur Saiten, die in euch ange¬ ſchlagen werden, wenn ihr ein Buch leſet, die un¬ endliche Harmonie, die in eurem wie in aller Leben ſchlummert, hat noch kein Buch ganz ergriffen. Darum hoffet nimmer in jenen Notenbuͤchern den Schluͤſſel zu allen Toͤnen des Lebens zu finden, und begrabt euch nicht zu ſehr in den Schulſtuben, laßt euch viel¬ mehr gerne und oft vom friſchen Lebenswinde die innere Äolsharfe frei und natuͤrlich, ſanft und ſtuͤr¬ miſch bewegen.

Die Literatur ſey immer nur ein Mittel unſres Lebens, nie der Zweck, dem allein wir es zum Opfer braͤchten. Wohl iſt es herrlich, an der Erinnerung des vergangenen Lebens das gegenwaͤrtige zu ſpie¬ geln und zu bilden, auf die Mitwelt durch das Wort zu wirken und der Nachwelt ein Gedaͤchtniß unſres Lebens zu uͤberliefern, wenn es des Gedaͤchtniſſes14 werth geweſen; doch keiner gebe ſeinen Geiſt dem Buchſtaben gefangen.

Die fruͤhern Geſchlechter erkannten die große Be¬ deutung der Literatur noch nicht, da ſie, zu ſehr dem Genuß oder der That des Augenblicks hingegeben, ſich mehr in der Wirklichkeit der Welt verloren, als ſich im Spiegel derſelben ſuchten. Die neuere Zeit iſt beinah ins Extrem des Gegentheils gerathen, und der Menſch ſtiehlt ſich gleichſam aus ſeiner Gegen¬ wart heraus, um ſich in eine fremde Welt zu verſe¬ tzen, und uͤbertaͤubt ſich mit den Wundern, die ſeine Neugier um ihn verſammelt. Damals lebte man mehr, jetzt will man mehr das Leben erkennen. Die Litera¬ tur hat ein Intereſſe auf ſich gezogen und eine Wirk¬ ſamkeit erlangt, die den fruͤhern Zeiten unbekannt war. Die Erfindung der Buchdruckerkunſt hat ihr eine materielle Baſis gegeben, von welcher aus ſie ihre großen Operationen entwickeln konnte. Seitdem iſt ſie eine europaͤiſche Macht geworden, theils herr¬ ſchend uͤber alle, theils dienend allen. Sie hat der Geiſter ſich bemaͤchtigt durch das Wort, das Leben beherrſcht durch das Bild des Lebens, aber zugleich jedem Streben des Zeitalters ein gefaͤlliges Werk¬ zeug dargeboten. In ihr goldnes Buch hat jeder ſein Votum eingetragen. Sie iſt ein Schild der Gerech¬ tigkeit und Tugend, ein Tempel der Weisheit, ein Paradies der Unſchuld, ein Wonnebecher der Liebe, eine Himmelsleiter dem Dichter, aber auch eine grim¬ mige Waffe dem Parteigeiſt, ein Spielzeug der Taͤn¬15 delei, ein Reizmittel der Üppigkeit, ein Sorgenſtuhl der Traͤgheit, ein Triebrad der Plauderei, eine Mode der Eitelkeit und eine Waare dem Wucher geweſen, und hat allen großen und kleinen, ſchaͤdlichen und nuͤtzlichen, edlen und gemeinen Intereſſen der Zeit als Magd gedient.

Dadurch hat ſie aber an Mannigfaltigkeit und Maſſe ins Ungeheure zugenommen, daß der Einzelne, der zum erſtenmal in die Buͤcherwelt geraͤth, ſich in ein Chaos verſetzt findet. Stets beſchaͤftigt, alles andre zu begreifen, hat ſie ſich ſelbſt noch nicht be¬ griffen. Sie iſt ein Kopf mit vielen tauſend Zun¬ gen, die alle wider einander reden. Ein unermeßli¬ cher Baum beſchattet ſie das lebende Geſchlecht, doch aller Bluͤthen Auge ſieht nach außen und die weit¬ verbreiteten Äſte ſtehn von einander ab. Überall er¬ blicken wir Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die einander ausſchließen, wiewohl ein Boden ſie naͤhrt, eine Sonne ſie reift und ihre Fruͤchte gemeinſam uns bereichern. Überall ſehn wir Parteien, die einander durch den¬ ſelben Gegenſatz zu vernichten trachten, wodurch ſie ſich wechſelſeitig erzeugen und aufrecht halten. Der Geiſt, der ein Fremdling in dieſe Literatur eintritt, weiß ſich nicht zurecht zu finden in der Fuͤlle, und nicht zu ſondern, was in untergeordnete Sphaͤren zerfaͤllt. Er begnuͤgt ſich mit dem Kleinen, weil er das Große nicht kennt, mit der Einſeitigkeit, weil er die andre Seite nicht ſieht; und mehr noch als die Mannigfaltigkeit von Buͤchern die Überſicht er¬16 ſchwert, verwirren die herrſchenden Parteien das Urtheil ſelbſt und erzeugen neben der Unkenntniß jene leichtſinnige Verachtung des Unbekannten oder Halb¬ begriffenen, die in der neueſten Zeit namentlich ſo verderblich um ſich gegriffen. Endlich behauptet der Augenblick ſein Recht, das Neue, die Mode; der Strom der Literatur erſcheint in ſeinen Windungen jeden Augenblick nur als ein beengter See, und die weite Buͤcherwelt draͤngt ſich dem gewoͤhnlichen Leſer in einen kleinen Horizont zuſammen. Allen gilt zwar alles, doch immer nur das Eine fuͤr die Einen und vieles nur fuͤr den Augenblick. So bietet unſre Lite¬ ratur das bunteſte Chaos von Geiſtern, Meinungen und Sprachen dar. Sie ſteigt von den Sonnengipfeln des Genies zum tiefſten Schlamm der Gemeinheit hinunter. Bald iſt ſie weiſe bis zum myſtiſchen Tief¬ ſinn, bald ſtumpfſinnig, oder g[e]〈…〉〈…〉nhaft thoͤricht. Bald iſt ſie fein bis zur Unverſtaͤndlichkeit, bald roh wie Felſen. Ein Gleichmaß der Anſichten, der Geſin¬ nung, des Verſtandes und der Sprache iſt nirgends wahrzunehmen. Jede Anſicht, jede Natur, jedes Ta¬ lent macht ſich geltend, unbekuͤmmert um den Rich¬ ter, denn es iſt kein Geſetz vorhanden und die Geiſter leben in wilder Anarchie. Aus allen Inſtrumenten und Toͤnen wird das wunderbare Concert der Lite¬ ratur unaufhoͤrlich fortgeſpielt, und es iſt nicht moͤg¬ lich Harmonie darin zu finden, wenn man mitten in dem Laͤrmen ſteht. Schwingt man ſich jedoch auf den hoͤhern Standpunkt uͤber der Zeit, ſo hoͤrt man, wie17 in halben Jahrhunderten die Fugen wechſeln, die Diſſonanzen ihre Loͤſung finden. Es gibt irgendwo eine Stelle, wo man die labyrinthiſchen Gaͤnge zum ſchoͤnen Ganzen verſchlungen ſieht. In dieſer Mannig¬ faltigkeit verbirgt ſich die geheime Harmonie eines un¬ endlichen Kunſtwerks, das zu ermeſſen ein aͤſthetiſcher Trieb uns nicht ruhen laͤßt. Aus einem Leben hervor¬ gegangen, iſt dieſe Literatur ſelbſt ein einiges Ganze.

Der uͤppigen Vegetation des Suͤdens gegenuͤber erzeugt der Norden eine unermeßliche Buͤcherwelt. Dort gefaͤllt ſich die Natur, hier der Geiſt in einem ewig wechſelnden Spiel der wunderbarſten Schoͤpfun¬ gen. Wie nun der Botaniker jene Pflanzenwelt zu uͤberblicken, anzuordnen und ihr geheimes Geſetz ſich zu entraͤthſeln trachtet, ſo mag der Literator ein glei¬ ches an der Buͤcherwelt verſuchen. Das Beduͤrfniß nach einem Überblick iſt immer dringender geworden, je mehr uns die Buͤcher von allen Seiten uͤber den Kopf zu wachſen drohen. Man hat deßhalb ſchon laͤngſt jene periodiſche Literatur zugeruͤſtet, die als adminiſtrative Behoͤrde die anarchiſchen Elemente der ſchreibenden Welt bemeiſtern ſoll; dieſe numerirenden, claſſificirenden, conſcribirenden, judicirenden Bu¬ reaux ſind aber ſelbſt von der Anarchie ergriffen und in das allgemeine Chaos unaufhaltſam fortgeriſſen worden. Sie moͤchten gern wie der Hundsſtern frei uͤber dem bluͤhenden Sommer ſchweben, weil ſie aber ſelbſt aus der Tiefe ſtammen, ſind ſie noch von dem wilden Triebe der Vegetation beherrſcht, und kleben18 ſich nur als Schmarozzerpflanzen an die verſchiednen Zweige der Literatur. Dennoch laͤßt das tiefe Be¬ duͤrfniß, in jener unermeßlichen Mannigfaltigkeit eine ſichre innere Harmonie zu erkennen, ſich niemals ab¬ weiſen, und Einzelne haben einen Hoͤhenpunkt zu gewinnen geſucht, von wo aus ſie die tiefſte Aus¬ ſicht genoſſen, und wo vielleicht nur Einzelne ſich halten konnten, Leſſing, Herder, Schlegel. Ich kann hier der Sammler nicht gedenken, die gleich den aͤl¬ tern Botanikern nur zahlloſe Namen aneinander reih¬ ten und nur die aͤußre quantitative, nicht die innere qualitative Groͤße ihres Gegenſtandes im Auge hatten. Manche haben die Oberflaͤche der Literatur ziemlich umfaſſend uͤberblickt, aber in den Inhalt, in die in¬ nere Tiefe, aus welcher eine ſo reiche Welt an die Oberflaͤche herausbluͤhen konnte, haben nur wenige hineingeblickt. Jedes Auge ſieht die Welt rund, es kommt aber darauf an, wie tief es hineinſieht.

Wie ſchwer immerhin ein umfaſſender Überblick und eine unparteiiſche Wuͤrdigung ſeyn mag, ſie iſt doch das Einzige, was theils vor einſeitiger Verir¬ rung bewahren, theils den vollendeten Genuß eines ſo reichen Kunſtwerkes, als die Literatur iſt, gewaͤh¬ ren kann. Die Vergleichung gibt Aufſchluͤſſe, zu de¬ nen die einſeitige Verfolgung eines literariſchen Ge¬ genſtandes nie gelangt. Eine Wiſſenſchaft, eine Kunſt, eine That erklaͤrt die andre; die Menſchen, das Le¬ ben erklaͤren ſich am beſten im Umfang aller ihrer Erſcheinungen. Ein umfaſſender Überblick und die Un¬19 parteilichkeit bedingen ſich aber wechſelſeitig. Man kann ſchwerlich die Geiſter in allen ihren ſo mannig¬ fach verſchiednen Richtungen beobachten, ohne jeder eine gewiſſe Nothwendigkeit zuzugeſtehen, ohne in dem Gegenſatz, aus welchem ſie entſprungen ſind, die Pole alles Lebens zu erkennen. Man kann aber auch nicht unparteiiſch uͤber den Parteien ſtehn, ohne den Kampf unter einem epiſchen Geſichtspunkt aufzufaſſen und ſein großes Gemaͤlde zu uͤberſchauen. Im Gewuͤhl des Lebens ſelbſt, gegenuͤber ſo mannig¬ fachen und dringenden Intereſſen und unwillkuͤrlich davon ergriffen, moͤgen wir zu einer Partei ſtehen; auf der Hoͤhe der Literatur aber kann nur ein freier unparteiiſcher Blick in alle Parteianſichten befrie¬ digen. Das Leben ergreift uns als ſein Geſchoͤpf, die Maſſe als ihr Glied, wir koͤnnen uns von der Gemeinſchaft mit der Geſellſchaft, mit der Örtlich¬ keit und Zeit nicht losſagen und muͤſſen, eine Welle des lebendigen Stroms, ihn tragend und von ihm getragen, das Loos aller Sterblichen theilen; doch im Innern des Geiſtes gibt es eine freie Stelle, wo aller Kampf befriedigt, aller Gegenſatz verſoͤhnt wer¬ den mag, und die Literatur vergoͤnnt es, dieſen feſten Stern der Menſchenbruſt in einem geiſtigen Univer¬ ſum zu verewigen.

Indem wir die Literatur ihrem ganzen Umfang nach in Wechſelwirkung mit dem Leben begriffen ſehn, unterſcheiden wir auf dreifache Weiſe die Einwirkun¬ gen, welche Natur, Geſchichte und geiſtige Bildung20 auf die Literatur aͤußern. Die Natur bedingt ihr eine oͤrtliche, nationelle und individuelle Eigenthuͤm¬ lichkeit, ſie wirkt auf die Charaktere, wie auf die Sprache, und ruft die mannigfaltigen Toͤne hervor, in welchen das Volk den Urlaut des Geſchlechts, das Individuum den Urlaut des Volks modificirt. Wie aber die Natur auf die Schoͤpfer der Literatur einen tiefen Einfluß behauptet, ſo die Geſchichte auf die Gegenſtaͤnde und den aͤußern Verkehr derſelben. Die Intereſſen des handelnden Lebens kommen in der Literatur zur Sprache. Jeder neue Geiſt wird von dem Strome der Parteien ergriffen und muß Par¬ tei halten oder machen. Endlich duͤrfen wir, ſo innig auch Natur, Geſchichte, Geiſt in einer Ge¬ ſammtwirkung ſich durchdringen, doch die eigenthuͤm¬ lichen Entwicklungen jeder beſtimmten Wiſſenſchaft oder Kunſt und ihren Einfluß auf die Literatur von den Einfluͤſſen ſowohl nationeller und individueller Charaktere, als des herrſchenden Zeitgeiſtes unter¬ ſcheiden. Von eigenthuͤmlichen Naturen oder vom Geiſt der Zeit ergriffen, erleidet jede Wiſſenſchaft und Kunſt mannigfache Modifikationen, doch ſchreitet ſie conſe¬ quent durch die Menſchen und Jahrhunderte fort und wird nie einem Mann oder einer Nation oder einem Zeitalter allein Unterthan, von keinem ganz ergruͤndet und vollendet. Wir betrachten demnach zuerſt die all¬ gemeinen natuͤrlichen und hiſtoriſchen Bedingungen unſ¬ rer Literatur, ſodann insbeſondre jedes ihrer Faͤcher.

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Nationalitaͤt.

Die Literatur iſt in der neueſten Zeit ſo ſehr die glaͤnzendſte Erſcheinung unſrer Nationalitaͤt gewor¬ den, daß wir dieſe eher aus jener erklaͤren koͤnnen, als umgekehrt. Es iſt uns beinahe nichts uͤbrig ge¬ blieben, wodurch wir unſer Daſeyn bemerklich ma¬ chen, als eben Buͤcher. Wie die Griechen zuletzt durch nichts mehr ausgezeichnet waren, als durch Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, ſo haben auch wir nichts mehr, was uns wuͤrdig machte, den deutſchen Na¬ men fortzufuͤhren. Leben wir nicht als einige Nation wirklich nur in Buͤchern? verſammelt ſich das heilige Reich noch irgend anderswo als auf der Leipziger Meſſe? Indeß ſcheint eben darum die geheime Wahl¬ verwandtſchaft mit den Buͤchern der tiefſte Zug unſ¬ res Nationalcharakters; wir wollen ſie die Sinnig¬ keit nennen.

Schon in den aͤlteſten Zeiten waren die Dent¬ ſchen eine phantaſtiſche Nation, im Mittelalter wur¬ den ſie myſtiſch, jetzt leben ſie ganz im Verſtande. 22Zu allen Zeiten offenbarten ſie eine uͤberſchwengliche Kraft und Fuͤlle des Geiſtes, die aus dem Innern hervorbrach und auf die Äußerlichkeiten wenig ach¬ tete. Zu allen Zeiten waren die Deutſchen im prak¬ tiſchen Leben unbehuͤlflicher als andre Nationen, aber einheimiſcher in der innern Welt, und alle ihre na¬ tionellen Tugenden und Laſter koͤnnen auf dieſe Inner¬ keit, Sinnigkeit, Beſchaulichkeit zuruͤckgefuͤhrt werden. Sie iſt es, die uns jetzt vorzugsweiſe zu einem lite¬ rariſchen Volk macht, und zugleich unſrer Literatur ein eigenthuͤmliches Gepraͤge aufdruͤckt. Die Schrif¬ ten andrer Nationen ſind praktiſcher, weil ihr Leben praktiſcher iſt, die unſrigen haben einen Anſtrich von Übernatuͤrlichkeit oder Unnatuͤrlichkeit, etwas Geiſter¬ maͤßiges, Fremdes, das nicht recht in die Welt paſ¬ ſen will, weil wir immer nur die wunderliche Welt unſres Innern im Auge haben. Wir ſind phantaſti¬ ſcher, als andre Voͤlker, nicht nur weil unſre Phan¬ taſie ins Ungeheure von der Wirklichkeit ausſchweift, ſondern auch weil wir unſre Traͤume fuͤr wahr halten. Wie die Einbildungskraft ſchweift unſer Gefuͤhl aus von der albernen Familienſentimentalitaͤt bis zur Überſchwenglichkeit pietiſtiſcher Sekten. Am weiteſten aber ſchweift der Verſtand hinaus ins Blaue und wir ſind als Speculanten und Syſtemmacher uͤberall verſchrien. Indem wir aber unſre Theorien nir¬ gends einigermaßen zu realiſiren wiſſen, als in der Literatur, ſo geben wir der Welt der Worte ein unverhaͤltnißmaͤßiges Übergewicht uͤber das Leben23 ſelbſt und man nennt uns mit Recht Buͤcherwuͤrmer, Pedanten.

Dies iſt indeß nur die Schattenſeite, uͤber die wir uns allerdings nicht taͤuſchen wollen. Ihr gegen¬ uͤber behauptet unſer ſinniges literariſches Treiben auch eine lichte Seite, die von den Fremden weit weniger gewuͤrdigt wird. Wir ſtreben nach allſeiti¬ ger Bildung des Geiſtes und bringen derſelben nicht umſonſt unſre Thatkraft und unſern Nationalſtolz zum Opfer. Die Erkenntniſſe, die wir gewinnen, duͤrf¬ ten dem menſchlichen Geſchlecht leicht heilſamer ſeyn, als noch einige ſogenannte große Thaten, und die Luſt, von den Fremden zu lernen, duͤrfte uns mehr Ehre machen, als ein Sieg uͤber dieſelben. In unſ¬ rem Nationalcharakter liegt ein ganz eigener Zug zur Humanitaͤt. Wir wollen alle menſchlichen Dinge recht im Mittelpunkt ergreifen und in der unendlichen Man¬ nigfaltigkeit des Lebens das Raͤthſel der verborgnen Einheit loͤſen. Darum faſſen wir das große Werk der Erkenntniß von allen Seiten an; die Natur ver¬ leiht uns Sinn fuͤr alles und unſer Geiſt ſammelt aus der groͤßten Weite die Gegenſtaͤnde ſeiner Wi߬ begierde und dringt in die innerſte Tiefe aller Myſte¬ rien der Natur, des Lebens, der Seele. Es gibt keine Nation von ſo univerſellem Geiſt als die deut¬ ſche, und was dem Individuum nicht gelingt, wird in der Mannigfaltigkeit derſelben erreicht. An die Maſſe ſind die zahlreichen Organe vertheilt, durch welche die Erkenntniß allen vermittelt wird.

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Die deutſche Sinnigkeit war immer mit einer großen Mannigfaltigkeit eigenthuͤmlicher Geiſtes¬ bluͤthen gepaart. Der innere Reichthum ſchien ſich nur in dem Maß entfalten zu koͤnnen, als er an keine Norm gebunden war. Mehr als in irgend ei¬ ner andern Nation hat die Natur in der unſern die unerſchoͤpfliche Fuͤlle eigenthuͤmlicher Geiſter aufge¬ ſchloſſen. In keiner Nation gibt es ſo verſchiedene Syſteme, Geſinnungen, Neigungen und Talente, ſo verſchiedene Manieren und Style, zu denken und zu dichten, zu reden und zu ſchreiben. Man ſieht, es mangelt dieſen Geiſtern an aller Norm und Dreſſur, ſie ſind wild aufgewachſen hier und dort, verſchieden von Natur und Bildung und ihr Zuſammenfluß in der Literatur gibt eine baroke Miſchung. Sie reden in einer Sprache, wie ſie unter einem Himmel leben, aber jeder bringt einen eigenthuͤmlichen Accent mit. Die Natur waltet vor, wie ſtreng auch die Disci¬ plin einzelner Schulen die ſogenannte Barbarei aus¬ rotten moͤchte. Die Natur wuchert uͤber die Garten¬ meſſer hinaus. Der Deutſche beſitzt wenig geſellige Geſchmeidigkeit, doch um ſo ſtaͤrker iſt ſeine Indivi¬ dualitaͤt und ſie will frei ſich aͤußern bis zum Eigen¬ ſinn und bis zur Karrikatur. Das Genie bricht durch alle Daͤmme und auch bei dem Gemeinen ſchlaͤgt der Mutterwitz vor. Wenn man die Literatur andrer Voͤlker uͤberſchaut, ſo bemerkt man mehr oder weni¬ ger Normalitaͤt, oder franzoͤſiſche Gartenkunſt, nur die deutſche iſt ein Wald, eine Wieſe voll wilder25 Gewaͤchſe. Jeder Geiſt iſt eine Blume, eigenthuͤm¬ lich an Geſtalt, Farbe, Duft. Nur die niedrigſten kommen in ganzen Gattungen vor, und nur die hoͤch¬ ſten vereinigen in ſich die Bildungen vieler andern; in einigen wird ein großer Theil der Nation gleich¬ ſam perſonificirt, und in ſeltnen Genien ſcheint die Menſchheit ſelbſt ihr großes Auge aufzuſchlagen, Ge¬ nien, die auf der Hoͤhe des Geſchlechts ſtehn und das Geſetz offenbaren, das in den Maſſen ſchlummert.

Der Genius wird immer nur geboren, und die reichen Originalitaͤten in der deutſchen Geiſterwelt ſind unmittelbare Wirkungen der Natur. Mittelbar mag die große Verſchiedenheit der deutſchen Staͤmme, Staͤnde, Bildungsſtufen, durch die Erziehung und das Leben auf die Schriftſteller wirken, aber dieſe Verſchiedenheit iſt ſelbſt nur eine Folge der Volks¬ natur. Dieſe hat unter allen Verhaͤltniſſen die Nor¬ malitaͤt unmoͤglich gemacht. Unter allen Voͤlkern bot das deutſche von jeher die reichſte Mannigfaltigkeit, Gliederung und Abſtufung dar, wie aͤußerlich, ſo geiſtig. Dieſe Mannigfaltigkeit iſt durch die ewig junge Naturkraft von unten her aus dem Volk be¬ ſtaͤndig genaͤhrt worden und hat ſich nie einer von oben her gebotenen Regelmaͤßigkeit gefuͤgt. Mit ihr iſt zugleich alles Herrliche, was den deutſchen Geiſt aus¬ zeichnet, von unten frei und wild hervorgewachſen.

Nur eins iſt der Maſſe unſrer Schriftſteller ge¬ meinſam, die wenige Ruͤckſicht auf das praktiſche Le¬ ben, das Überwiegen der innern Beſchaulichkeit. DochDeutſche Literatur. I. 226ſind gerade dadurch die Anſichten um ſo mehr ver¬ vielfaͤltigt worden. In den engen Schranken des praktiſchen Lebens haͤtten ſich die Geiſter in wenige Parteien und fuͤr einfache Zwecke vereinigen muͤſſen. In der unendlichen Welt der Phantaſie und Specu¬ lation aber fand jeder eigenthuͤmliche Geiſt den freie¬ ſten Spielraum. Der Deutſche ſucht inſtinktartig dies freie Element. Kaum gehn wir einmal aus dem Traum heraus und erfaſſen das praktiſche Leben, ſo geſchieht es nur, um es wieder in das Gebiet der Phantaſie und der Theorien zu ziehn; waͤhrend umgekehrt Fran¬ zoſen von der Speculation und Einbildungskraft nur die Hebel fuͤr das oͤffentliche Leben borgen. Der Franzoſe braucht eine naturphiloſophiſche Idee, um ſie auf die Medicin oder Fabrikation anzuwenden; der Deutſche braucht die phyſikaliſchen Erfahrungen am liebſten, um wundervolle Hypotheſen darauf zu bauen. Der Franzoſe erfindet Tragoͤdien, um auf den politiſchen Sinn der Nation zu wirken; dem Deutſchen blieben von ſeinen Thaten und Erfahrun¬ gen eben nur Tragoͤdien. Die Franzoſen haben eine arme Sprache, doch treffliche Redner. Wir koͤnnten weit beſſer ſprechen, doch wir ſchreiben nur. Jene reden, weil ſie handeln; wir ſchreiben, weil wir nur denken.

Das originelle, phyſiognomiſche, aller Nor¬ malitaͤt widerſtrebende Weſen in der deutſchen Lite¬ ratur iſt noch immer wie in der Zeit der Chroniken wahre Naivetaͤt, mehr, als mancher Autor, der Grie¬27 chen, Roͤmer, Englaͤnder oder Franzoſen im Auge gehabt, ſelbſt wiſſen mag. Wenn ſich nun aber auch dieſe Naivetaͤt der deutſchen Schriften ſtreng nach¬ weiſen laͤßt, ſo darf man doch damit ja nicht die ſo¬ genannte deutſche Ehrlichkeit verwechſeln. Allerdings herrſcht noch eine große Gutmuͤthigkeit und Redlich¬ keit unter den Autoren, und ſie ließe ſich ſchon aus dem eiſernen, wenn auch oft fruchtloſen Fleiße, und aus der Weitlaͤuftigkeit, aus dem ſichtbaren Beſtre¬ ben nach deutlicher Belehrung erkennen, wenn man auch den vielen Verſicherungen von Ehrlichkeit und Liebe mit Recht mißtrauen duͤrfte. Aber eben dieſe ſentimentalen Schwuͤre zeigen nur zu deutlich, daß wir den Stand der Unſchuld bereits verlaſſen haben. Seit man ſo viel von dieſer deutſchen Biederkeit re¬ det, iſt ſie aͤußerſt verdaͤchtig geworden, ungefaͤhr wie die deutſche Freiheit immer zweifelhafter wird, je mehr man ihren Namen im Munde fuͤhrt.

Die deutſche Sprache iſt der vollkommne Aus¬ druck des deutſchen Charakters. Sie iſt dem Geiſt in allen Tiefen und in dem weiteſten Umfang gefolgt. Sie entſpricht vollkommen der Mannigfaltigkeit der Geiſter und hat jedem den eigenthuͤmlichen Ton ge¬ waͤhrt, der ihn ſchaͤrfer auszeichnet, als irgend eine andre Sprache vermoͤchte. Die Sprache ſelbſt gewinnt durch dieſe Mannigfaltigkeit des Gebrauchs. Das bunte Weſen und die Vielgeſtaltigkeit iſt ihr eigen und ſteht ihr ſchoͤn. Ein Blumenfeld iſt edler als ein einfaches Grasfeld und gerade die ſchoͤnſten Laͤn¬2 *28der haben den reichſten Wechſel von Gegenden und Temperaturen. Alle Verſuche, den deutſchen Schrift¬ ſtellern einen Normalſprachgebrauch aufzudraͤngen, ſind ſchmaͤhlich geſcheitert, weil ſie der Natur widerſtreb¬ ten. Jeder Autor ſchreibt, wie er mag. Jeder kann von ſich mit Goͤthe ſagen: « ich ſinge, wie der Vogel ſingt, der auf den Zweigen lebt. »

Es iſt gewiß ein nationeller Zug, daß unſre Ge¬ lehrten und Dichter ſogar noch keine durchgreifende Rechtſchreibung haben, und daß uns dies ſo ſelten auffaͤllt. Wie viele Woͤrter werden nicht bald ſo, bald anders geſchrieben, wie viele Willkuͤr herrſcht in den zuſammengeſetzten Woͤrtern! und wer tadelt es, als hin und wieder die Grammatiker, von denen ſich die Autoren ſo wenig belehren laſſen, als die Kuͤnſtler von den Äſthetikern.

Die grammatiſche Mannigfaltigkeit erſcheint aber nur unbedeutend gegen die rhetoriſche und poetiſche, gegen den unendlichen Reichthum in Styl und Ma¬ nier, worin uns kein Volk auf Erden gleich kommt. Es mag dahingeſtellt ſeyn, ob keine andre Sprache ſo viel Phyſiognomik zulaͤßt, gewiß aber iſt, daß in keiner ſo viel Phyſiognomik wirklich ausgedruͤckt wird. Dieſe ungebundene Weiſe der Äußerung iſt uns mit ſo manchem andern Zug unſrer Natur aus den alten Waͤldern angeſtammt, und auf ihr beruht die ganze freie Herrlichkeit unſrer Poeſie. Je beſſer der Con¬ verſationston, deſto elender die Dichter, wie in Frank¬ reich. Je ſchlechter der Canzleiſtyl, deſto origineller29 die Dichter, wie in Deutſchland. Jeder neue Adelung wird vor einem neuen Goͤthe, Schiller, Tieck zu Spott werden. Titanen brauchen keine Fechtſchule, weil ſie doch jede Parade durchſchlagen. Den gro¬ ßen Dichter und Denker haͤlt ſein Genie, den gemei¬ nen ſeine angeborne Natur, alle der gaͤnzliche Man¬ gel einer Regel, eines geſetzgebenden Geſchmacks und eines richtenden Publikums von dem Zwang einer attiſchen oder pariſiſchen Cenſur entfernt.

Im Ganzen hat die deutſche Sprache im Fort¬ ſchritt der Zeit auf der einen Seite gewonnen, auf der andern verloren. Die Reinheit, eine Menge Stammwoͤrter, einen bewundrungswuͤrdigen Reich¬ thum von feinen und wohllautenden Biegungen hat ſie ſeit einem halben Jahrtauſend verloren. Dagegen hat ſie von dem, was ihr uͤbrig geblieben, einen deſto beſſern Gebrauch gemacht. In der jetzt aͤrmern und klangloſern Sprache iſt unendlich viel gedacht und gedichtet worden, das uns die verlornen Laute vermiſſen laͤßt. Ausgezeichnete Meiſter haben aber auch dieſe neue hochdeutſche Sprache durch Virtuoſi¬ taͤt des Gebrauchs zu einer eigenthuͤmlichen Schoͤn¬ heit zu bilden gewußt, und man hat angefangen, ſie ſogar aufs Neue aus dem Schatz der Vorzeit zu ſchmuͤcken. Es gehoͤrt nicht zu den geringſten Ver¬ dienſten der Romantiker, daß ſie die deutſche Sprache wieder auf den alten Ton geſtimmt haben, ſo weit es ihre gegenwaͤrtige Inſtrumentation vertragen kann.

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Dieſe lebendige, organiſche Wiedergeburt der rei¬ nen alten Sprache, durch welche die fremden Schma¬ rozergewaͤchſe verdraͤngt werden, iſt das ſchoͤnſte Zeug¬ niß von der angebornen Kraft unſrer Nationalitaͤt im Gegenſatz gegen die affectirte Kraft, womit wir es den Fremden gleich zu thun geſtrebt haben. Dieſe organiſche Entwicklung der deutſchen Urſprache ſtellt zugleich die mechaniſchen Verſuche der Puriſten gaͤnzlich in den Schatten. Nichts iſt klaͤglicher, als jener Purismus eines Campe und Anderer, welche die aus der Philoſophie verſchwundne Atomenlehre noch einmal in der Grammatik aufzufriſchen und die atomiſtiſchen deutſchen Sylben nach einer Cohaͤrenz, die nicht im Organismus deutſcher Sprachbildung, ſondern nur in der Analogie des fremden Wortes lag, zuſammenzuſchmieden verſuchten, die uns Woͤrter aus Sylben machten, wie Voß aus Woͤrtern eine Sprache machte, die weder deutſch, noch griechiſch war, und die man erſt wieder in's Griechiſche uͤber¬ ſetzen mußte, um ſie zu verſtehen.

Der Purismus iſt loͤblich, wenn er uns denſel¬ ben Begriff, der ein fremdes Wort ausdruͤckt, eben ſo umfaſſend und verſtaͤndlich durch ein deutſches aus¬ druͤcken lehrt, jederzeit aber zu verwerfen, wenn das fremde Wort umfaſſender oder verſtaͤndlicher iſt, oder wenn es einen unſrer Sprache gaͤnzlich fremden Be¬ griff bezeichnet; denn Mittheilung der Begriffe iſt der erſte Zweck der Sprache, Deutlichkeit der Woͤr¬ ter das Mittel dazu. Wenn wir nur unſre Begriffe31 durch einen fremden vermehren, ſo laßt uns immer das fremde Wort dazu nehmen. Das Denken ſoll nicht verarmen, damit die Sprache mit Reinheit prahlen koͤnne.

Wenn der falſche Purismus zu verwerfen iſt, ſo iſt doch der wahre, wie ihn ſchon Luther kraͤftig gehandhabt, hoͤchſt verdienſtlich. Allerdings gibt es neben den fremden Woͤrten, die wir als das Kleid fremder und neuer Begriffe ehren muͤſſen, noch eine Menge andrer, die ſich ſtatt eben ſo guter, und des¬ falls fuͤr uns beſſerer, deutſcher Woͤrter eingeſchlichen haben, die ganz bekannte alte Begriffe ausdruͤcken, und nur aus einer laͤcherlichen Eitelkeit oder Neue¬ rungsſucht von uns gebraucht werden. Der Gelehrte will zeigen, daß er in alten Sprachen bewandert iſt, der Reiſende, daß er fremde Zungen gehoͤrt hat, das uͤbrige Volk, daß es mit weiſen und erfahrnen Men¬ ſchen oder Buͤchern bekannt iſt, oder die Vornehmeren wollen ihre hoͤheren Begriffe auch in einer fremden Sprache von der Denkungsart des Poͤbels geſchieden wiſſen, und der Poͤbel thut vornehm, indem er ihnen die fremden Laute nachaͤfft. So ungefaͤhr iſt die deutſche Sprachmengerei entſtanden, ſofern ſie nicht nothwendig mit fremden Begriffen auch fremde, Woͤr¬ ter borgen mußte, und ſo iſt ſie durchaus verwerflich, ein Schandfleck der Nation und ihrer Literatur. Moͤchten die Puriſten uns fuͤr immer davon befreien koͤnnen. Jedes Jahrhundert befreit uns wenigſtens von der Thorheit der vorhergehenden. Klopſtock be¬32 merkt ſehr richtig: « Zu Karls V. Zeiten miſchte man ſpaniſche Worte ein, vermuthlich aus Dankbarkeit fuͤr den ſchoͤnen kaiſerlichen Gedanken, daß die deut¬ ſche Sprache eine Pferdeſprache ſey, und damit ihm die Deutſchen etwas ſanfter wiehern moͤchten. Wie es dieſen Worten ergangen iſt, wiſſen wir, und ſehen daraus zugleich, wie es kuͤnftig allen heutigstaͤgigen Einmiſchungen ergehen werde, ſo arg naͤmlich, daß dann einer kommen und erzaͤhlen muß, aus der oder der Sprache waͤre damals, zu unſrer Zeit naͤmlich, auch wieder eingemiſcht worden; aber die Sprache, die das nun einmal ſchlechterdings nicht vertragen koͤnnte, haͤtte auch damals wieder Übelkeiten bekom¬ men. »

33

Einfluß der Schulgelehrſamkeit.

Wenden wir uns zu den hiſtoriſchen Bedin¬ gungen der heutigen Entwicklung unſrer Literatur, ſo muß uns zuerſt auffallen, daß alle literariſche Bil¬ dung urſpruͤnglich an die Kirche geknuͤpft war. Die¬ ſen Einfluß hat ſich die Literatur auch bis auf den heutigen Tag noch nicht voͤllig entzogen. Von der Prieſterkaſte kam die Literatur an die Gelehrtenzunft, und aller Schulzwang in unſern Schriften ſchreibt ſich daher. Das Intereſſe der Zunft und die Disciplin der Bildungsanſtalten haben das Gepraͤge der Vergan¬ genheit immer noch jedem neuen Jahrhundert aufge¬ druͤckt, wie wohl es ſich allmaͤhlig immer mehr verwiſcht. Folgen davon ſind kaſtenmaͤßige Ausſchließlichkeit, Vornehmigkeit, Unduldſamkeit, Pedanterie alter Ge¬ woͤhnung, Stubenweisheit und Entfernung von der Natur. Doch hat es auch ſeine ſchoͤne und achtbare Seite. Indem alles literariſche Leben von der geiſt¬ lichen, ſpaͤter gelehrten Kaſte ausging, nahm es alle Tugenden und Gebrechen des Zunftgeiſtes in ſich34 auf, und noch jetzt draͤngt ſich ein verknoͤchertes Standesintereſſe der Literatur auf; noch jetzt beherr¬ ſchen Prieſter die Theologie, bevogten Fakultaͤten zunftmaͤßig die weltlichen Wiſſenſchaften. Der freie Sinn, die ſtarke Natur der Deutſchen hat ſich zwar ſeit der Wiederauflebung der Wiſſenſchaften unauf¬ hoͤrlich gegen den Kaſtengeiſt aufgelehnt, und wir bemerken einen beſtaͤndigen Kampf origineller Koͤpfe gegen die Schulen, eine beſtaͤndige Wiedergeburt der weltalten Fehde zwiſchen Prieſtern und Propheten. Auch haben die Letztern immer das Feld behauptet, die deutſche Natur hat ihre freie Äußerung, ihre immer reichere und hoͤhere Entfaltung gegen jedes Stabilitaͤtsprincip durchgefochten, und jeder einſeiti¬ gen Erſtarrung iſt, wie fruͤher durch die Kirchen¬ trennung, ſo ſpaͤter durch den mannichfaltigen Wiſ¬ ſensſtreit der Gelehrten und durch die Geſchmacks¬ fehden der Dichter immer vorgebeugt worden. Im¬ mer neue Parteien haben das von den andern ver¬ worfne Element bei ſich gepflegt und ausgebildet, wodurch denn beinahe allen ihr Recht geworden. In¬ deß hat, wie in der Politik, ſo in der Literatur, der Geiſt der alten gewohnten Herrſchaft, wo er beſiegt worden, immer in den Siegern ſelbſt fortgewirkt. Der negative Punkt hat ſich ſofort in einen poſiti¬ ven umgeſetzt. Die Propheten ſind wieder Prieſter geworden, haben das Princip der Autoritaͤt und Stabilitaͤt in ſich aufgenommen und unter andern Glaubensformeln das alte Monopol angeſprochen und35 gegen alle Neuerungen wieder geltend zu machen ge¬ ſucht. Was geſtern heterodox geweſen, iſt heute wie¬ der orthodox geworden. Was geſtern als Indivi¬ dualitaͤt eines großen Mannes aufgetreten, wird heute wieder zur deſpotiſchen Manier einer Schule. Der Grund dieſer Erſcheinung muß aber nicht allein in den Fortwirkungen des Mittelalters, ſondern auch im Charakter des Volks ſelbſt geſucht werden. Der Deutſche gluͤht fuͤr die Erkenntniß der Wahrheit, und will ſie anerkannt wiſſen. Es iſt dieſelbe Be¬ geiſterung, die ihn zum Beharren und zum Refor¬ miren antreibt.

Unſtreitig iſt vieles Gute an den Zunftgeiſt ge¬ knuͤpft. Die Treue, mit welcher die Schaͤtze der Tradition bewahrt werden; die Wuͤrde, die der Au¬ toritaͤt gerettet wird; die Begeiſterung und Pietaͤt, mit welchem man das Geheiligte, Erprobte oder Ge¬ glaubte verehrt; alle jene Tugenden, welche die An¬ haͤnglichkeit an das Alte zu begleiten pflegen, muͤſſen in ihrem ganzen Werth anerkannt werden, wenn wir ſie dem Leichtſinn vieler Neurer gegenuͤberſtellen, der ſo oft alle moraliſche Autoritaͤt, alle hiſtoriſche Tra¬ dition, und mit der alten Schule auch die alte Er¬ fahrung uͤber den Haufen wirft. Das Kranke je¬ nes Zunftgeiſtes aber iſt das Princip der Stabilitaͤt, das Stilleſtehen, wo ewiger Fortſchritt iſt, die Bor¬ nirtheit, die Schranken ſtatuirt, wo keine ſind. Hier¬ aus fließt mit Nothwendigkeit einerſeits ein hierar¬ chiſches Syſtem, Kaſtenzwang, Parteiſucht, Proſely¬36 tenmacherei, Ketzerriecherei und Nepotismus, andrer¬ ſeits ein erſtarrtes, beſchraͤnktes Wiſſen mit ewig in ſich ſelbſt ruͤckkehrenden, endlos ſich wiederholenden, in monſtroͤſe Weitlaͤuftigkeit entartenden Formen. Dieſen Suͤnden des veralteten Zunftgeiſtes tritt dann mit voller Wuͤrde die lebendige Kraft der Neuerer gegenuͤber, welche das Wiſſen aus den engen Schran¬ ken der Schule, die Charaktere ſelbſt aus dem uni¬ formen Zwange der Kaſte befreien, und eben darum auch alle jene ſteifen Formen von der lebenskraͤfti¬ gen, friſch ſich regenden Natur abſtreifen, geſetzt auch, ſie verfielen nach dem Siege in die alten Feh¬ ler zuruͤck.

Die Beziehung aller Wiſſenſchaften auf die Re¬ ligion brachte einen gewiſſen prieſterlichen ſalbungs¬ vollen Ton in die Gelehrſamkeit, der in den Fakul¬ taͤten noch beibehalten wird, und ſelbſt die Natura¬ liſten anſteckt. Unſre Schriftſteller orakeln gar zu gern und ſuchen einen gewiſſen Nimbus um ſich zu verbreiten, und den Leſer zu myſtificiren, wie der Geiſtliche den Laien, der Schulmeiſter ſeine Schuͤler. In England und Frankreich befindet ſich der Autor gleichſam als Redner auf der Tribune, und gibt ſein Votum ab, als in einer Geſellſchaft gleicher und ge¬ bildeter Menſchen. In Deutſchland predigt er und ſchulmeiſtert.

Das zuruͤckgezogene moͤnchiſche Leben der Gelehr¬ ten hat ohne Zweifel den Hang zu tiefſinnigen Be¬37 trachtungen, gelehrten Gruͤbeleien und ausſchweifen¬ den Phantaſien befoͤrdert, woraus denn auch der Mangel an praktiſchem Sinn und Lebensfreude ſich erklaͤren laͤßt. Noch jetzt leben die meiſten Gelehr¬ ten und Schriftſteller wie Troglodyten in ihren Buͤ¬ cherhoͤhlen und verlieren mit dem Anblick der Natur zugleich den Sinn fuͤr dieſelbe, und die Kraft, ſie zu genießen. Das Leben wird ihnen ein Traum, und nur der Traum iſt ihr Leben. Ob der Schieferde¬ cker vom Dach, oder Napoleon vom Thron gefallen, ſie ſagen: ſo ſo, ei ei! und ſtecken die Naſe wieder in die Buͤcher. Wie aber Fruͤchte, die man in einem feuchten Keller aufbewahrt, vom Schimmel verderbt werden, ſo die Geiſtesfruͤchte von der gelehrten Stu¬ benluft. Der Vater theilt ſeinen geiſtigen Kindern nicht nur ſeine geiſtigen, ſondern auch ſeine phyſiſchen Krankheiten mit. Man kann den Buͤchern nicht nur die Verſtocktheit, Herzloſigkeit oder Hypochondrie, ſondern auch die Gicht, die Gelbſucht, ja die Haͤ߬ lichkeit ihrer Verfaſſer anſehn.

Das ſchulgemaͤße Treiben hat zu gelehrter Pedanterie gefuͤhrt. Die geſunde unmittelbare Anſchauung hat einer hypochondriſchen Reflexion Platz gemacht. Man ſchreibt Buͤcher aus Buͤchern, ſtatt ſie aus der Natur zu entlehnen. Man ſtellt die Dinge nicht mehr einfach dar, ſondern kramt dabei den Schatz ſeiner Kenntniſſe aus. Man weicht von dem urſpruͤnglichen Zwecke der Wiſſenſchaften ab und38 macht nur die Mittel zum Zweck. Über den gelehr¬ ten Huͤlfsmitteln vergißt man die Reſultate. Man ſieht kaum einen Theologen oder Juriſten, nur theo¬ logiſche, juridiſche Philologen. Alle hiſtoriſchen Wiſ¬ ſenſchaften werden durch die philologiſch-critiſche Ge¬ lehrſamkeit ungeniesbar gemacht. Man fraͤgt nicht nach dem Inhalt, nur nach der Schale. Man un¬ terſucht die Richtigkeit, nicht die Wichtigkeit der Ci¬ tate. Man freut ſich kindiſch, wenn man diploma¬ tiſch erwieſen hat, daß dieſer oder jener Ausſpruch wirklich gethan worden iſt, ohne ſich darum zu be¬ kuͤmmern, ob er auch innere Wahrheit hat und ob uͤber¬ haupt etwas daran liegt. Man haͤuft mit unſaͤgli¬ chem Fleiße Nachrichten, unter denen man mit eben ſo vieler Muͤhe wieder das Wenige zuſammenſuchen muß, was der Erinnerung werth iſt. Man ver¬ ſchwendet ein jahrelanges Studium, um die richtige Leſart eines alten Dichters ausfindig zu machen, der oft beſſer gaͤnzlich ſtillgeſchwiegen haͤtte. Selbſt die neuere Poeſie wird unter der Laſt der Gelehrſamkeit erdruͤckt. Die Sprache des natuͤrlichen Gefuͤhls und der lebendigen Anſchauung wird nur zu oft verdraͤngt durch gelehrte Reflexionen, Anſpielungen und Citate. Es gibt keinen Zweig der Literatur, auf welchen die Stubengelehrſamkeit nicht einen nachtheiligen Ein¬ fluß uͤbte.

In der eigentlichen Schulweisheit, namentlich in den ſogenannten Brodwiſſenſchaften herrſcht ein Me¬39 chanismus, vulgo Schlendriau, der in den alten Gleiſen voͤllig ſeelenlos ſich fortbewegt. Die Uni¬ verſitaͤten ſind Fabrikanſtalten fuͤr Buͤcher und Buͤ¬ chermacher geworden. Man weicht von gewiſſen For¬ meln der Schule nicht ab, und jede neue Generation macht ihre Exercitien darnach. Aber die urſpruͤng¬ liche Wahrheit wird verdunkelt durch die unendlichen Commentare. Die Sache, auf die es eigentlich an¬ kommt, verſchwindet endlich unter der Laſt von Ci¬ taten, die ſie beweiſen ſollen. Das Leben entflieht unter dem anatomiſchen Meſſer. Das Wichtigſte wird langweilig, das Ehrwuͤrdigſte trivial. Der Geiſt laͤßt ſich nicht auf die Compendien ſpannen, und die Natur greift maͤchtig durch die Paragraphen, die ſie einzuſchließen wagen.

Durch die Polemik wird der modernde gelehrte Sumpf aufgeruͤhrt, und es verbreiten ſich die me¬ phytiſchen Daͤmpfe. Nirgends zeigt ſich die Unnatur der Stubengelehrten auffallender, als in ihren pole¬ miſchen Schriften. Hier bewaͤhrt ſich das gute alte Sprichwort: je gelehrter deſto verkehrter. Auf der einen Seite ſind ſie ſo uͤberſchwenglich weiſe, daß es einem geſunden Verſtande ſchwer wird, den labyrin¬ thiſchen Gaͤngen ihrer Logik zu folgen. Auf der an¬ dern Seite ſind ſie in den gemeinſten Dingen ſo unwiſſend, daß ein Bauer ſie belehren koͤnnte. Bald ſind ſie ſo zart, ſcherzen attiſch und machen Anſpie¬ lungen, die einem alexandriniſchen Bibliothekar zur40 Ehre gereichen wuͤrden, daß dem ehrlichen Deutſchen dumm dabei zu Muthe wird. Bald bedienen ſie ſich der abgefeimteſten Raͤnke oder der groͤbſten Ausfaͤlle, deren ſich ſelbſt der Poͤbel ſchaͤmen wuͤrde.

Auch was in der deutſchen Sprache verdorben wurde, kommt groͤßtentheils auf Rechnung der Schul¬ gelehrten. Daß ſie mit fremden Begriffen fremde Terminologien annahmen, war natuͤrlich; in ihrer Vornehmigkeit affectirten ſie aber auch eine heilige Unverſtaͤndlichkeit, um ſich den Laien deſto ehr¬ wuͤrdiger zu machen, oder ſie waren zu traͤg, und wurden zu wenig genoͤthigt, der Popularitaͤt ein Opfer zu bringen. Die Fakultaͤtsmenſchen koͤnnen ſich ſo deutſch ausdruͤcken, daß kein Ungeweihter ſie verſteht, und die Philoſophen verſtehen ſich oft ſelber nicht.

Die wahre Bildung iſt immer Sache des Vol¬ kes, die Schulgelehrſamkeit Sache eines Standes, einer Kaſte. Die Gelehrſamkeit bevogtet aber bei uns noch die Bildung, die Kaſte noch das Volk. Dieß iſt ein Mißverhaͤltniß, das ſich mit Nothwen¬ digkeit aufheben muß. Die gelehrte Vornehmigkeit iſt nur ein Bettelſtolz, der zu Schanden werden wird. Soll unſre Weisheit wirkſam werden, ſo muß ſie zuerſt allgemein faßlich ſeyn, und das kann ſie nur, wenn ſie aus dem Zwange der Schulgelehrſam¬ keit ſich befreit. Man fuͤrchtet ſich gewoͤhnlich vor der Popularitaͤt, weil man ſie mit Gemeinheit ver¬41 wechſelt. Es gibt aber auch in Bezug auf Literatur nur ſo lange einen Poͤbel, als es eine bevorrechtete Kaſte gibt. Ein wohlhaͤbiger, gebildeter Mittelſtand kann der Pedanterei und Anmaßung der letztern in dem Maaße entbehren, als er von der Gemeinheit des erſtern ſich entfernt.

42

Einfluß der fremden Literatur.

Der bekannte Nachahmungstrieb der Deut¬ ſchen herrſcht auch vorzuͤglich in ihrer Literatur. Man ſchaͤtzt ſich gluͤcklich und wirft es ſich zugleich vor, den Fremden nachzuhinken und zu ſtottern. Man ſtreitet ſich ſeit mehr als tauſend Jahren uͤber dieß Phaͤnomen in unſerm Nationalcharakter, wie uͤber eine Neigung des Herzens, welche die Moral zu ver¬ bieten ſcheint. Schon in den Zeiten der Roͤmer gab es zwei Parteien in Deutſchland, Nachahmer und Puriſten. Veraͤchtlich ſind die Affen, die immer nur nach fremden rothen Lappen ſpringen, veraͤchtlich die Entarteten, die ſich ſchaͤmen, Deutſche zu ſeyn. Das Vorurtheil, daß die deutſche Natur eine Art Baͤren¬ haftigkeit und Ruſticitaͤt ſey, die ſchlechterdings eines fremden Tanzmeiſters beduͤrfe, hat ſich nur bei ſol¬ chen erzeugen und erhalten koͤnnen, die wirklich recht plebegiſch geboren waren. Laͤcherlich aber ſind die Thoren, die ein Urdeutſchthum von allen fremden Schlacken reinigen, und um die deutſchen Grenzen43 ein moraliſches Mauthſyſtem einrichten, ja der Sonne ſelbſt gebieten moͤchten, nur uͤber Deutſchland zu leuchten.

Die Cultur iſt ſo gemeinſam, wie das Licht, und ihr ſegensreicher Einfluß verbreitet ſich unter climatiſchen Modifikationen doch allwaͤrts auf dem Erdenrund. Nirgends ſind unuͤberſteigliche Grenzen gezogen. Der Handel verbindet alle Laͤnder und verbreitet die materiellen Produkte derſelben. Die Literatur ſoll auf gleiche Weiſe die geiſtigen Schaͤtze der Voͤlker ausſtreuen. Jedes Land ſoll von dem an¬ dern annehmen, was ſeine Natur vertraͤgt und was ihm Gedeihen bringt, und auch in den Geiſt eines Volkes darf verpflanzt werden, was er vertraͤgt und was ihn edler entwickelt.

Wenn es manches gibt, was nur eine Nation beſitzen kann, und wodurch ſie eben eigenthuͤmlich wird, ſo gibt es viel hoͤhere Guͤter, die keinem aus¬ ſchließlich zukommen, und Eigenthum des geſammten menſchlichen Geſchlechts ſind. Die Erſcheinung des Chriſtenthums allein ſtraft den Puriſteneifer. Wir muͤßten eigentlich die ganze Geſchichte zuruͤckſchrau¬ ben, um uns von fremden Einfluͤſſen zu reinigen, da unſre ganze neuere Bildung auf der romaniſchen des Mittelalters beruht. Wir muͤßten nackt in die Waͤl¬ der laufen, wenn wir uns von allem dem entkleiden wollten, was wir von Fremden angenommen. Abge¬ ſehn aber von dem nothwendigen, in der Natur be¬ gruͤndeten und in der Geſchichte uralten, wechſelſei¬44 tigen Unterricht der Voͤlker, zeichnet uns Deutſche vorzugsweiſe eine außerordentliche Vorliebe fuͤr das Fremde und ein ſeltnes Geſchick der Nachahmung aus, die eben deshalb auch zu Übertreibungen und unnatuͤrlichen Vergeſſen des eignen Werthes fuͤh¬ ren.

Die tiefſte Quelle jener Neigung iſt die Huma¬ nitaͤt des deutſchen Charakters. Wir ſind durchaus Cosmopoliten. Unſre Nationalitaͤt iſt, keine haben zu wollen, ſondern gegen die nationelle Beſonderheit etwas allgemein guͤltiges Menſchliches geltend zu machen. Wir haben ein beſtaͤndiges Beduͤrfniß, in uns das Ideal eines philoſophiſchen Normalvolks zu realiſiren. Wir wollen die Bildung aller Nationen, alle Bluͤthen des menſchlichen Geiſtes uns aneignen. Dieſe Neigung iſt ſtaͤrker, als unſer Nationalſtolz, ſo lange wir nicht eben in ihr unſern Nationalſtolz ſuchen. Auch andre Voͤlker wollen ein Normalvolk ſeyn, und ohne dieſen Glauben gaͤb es gar keinen Nationalſtolz, aber ſie wollen keineswegs ſich ver¬ laͤugnen, ſondern mir allen andern ihr Gepraͤge auf¬ druͤcken. Auch andre Voͤlker ſchaͤtzen das Fremde, aber ſie werfen ſich ſelbſt dagegen nicht weg. Doch hat auch die Entaͤußerung ihr Gutes und ihren na¬ tuͤrlichen Grund. Der Liebe iſt immer eine ſtarke Selbſtverlaͤugnung eigenthuͤmlich. Dem Intereſſe fuͤr das Fremde, der Liebe, aus welcher alle Bildung entſpringt, ſchadet nichts mehr als der Egoismus, der Cultur nichts mehr als der Nationalduͤnkel. Eine45 gewiſſe Reſignatinn iſt nothwendig, wenn wir voll¬ kommen fuͤr das Fremde empfaͤnglich werden ſollen. Unterſuchen wir die Hinderniſſe, welche bei ſo vielen Voͤlkern die Fortſchritte der Cultur aufgehalten ha¬ ben, ſo werden wir ſie weniger in der Rohheit der¬ ſelben, als in der Selbſtzufriedenheit und in den Vorurtheilen ihres Nationalſtolzes finden. Immer aber ſind je die edelſten Voͤlker zugleich die toleranteſten geweſen, und die niedrigſten immer die eitelſten.

Es iſt indeß nicht nur jene philoſophiſche Rich¬ tung unſers Charakters, die Bildungsfaͤhigkeit und Wißbegier, der Entwicklungstrieb und das ideale Streben, ſondern auch eine poetiſche Richtung, ein romantiſcher Hang, der uns das Fremde lieben macht. Eine poetiſche Illuſion ſchwebt verſchoͤnernd um alles Fremde und nimmt unſre Phantaſie gefan¬ gen. Was nur fremd iſt, erweckt eine romantiſche Stimmung in uns, ſelbſt wenn es ſchlechter iſt, als was wir laͤngſt ſelber haben. Darum nehmen wir ſo vieles von Fremden an, was uns keineswegs in unſ¬ rer Entwicklung weiter bringt, und die Einbildung macht erſt eine Neigung verderblich, die der Verſtand billigen muß, indem er ſie ermaͤßigt. Wenn die Ein¬ bildung einmal uͤbertreibt, ſo begehn wir immer zwei Fehler zugleich, den der blinden, ſklaviſchen Hinge¬ bung an das Fremde und den einer blinden Verken¬ nung unſrer ſelbſt. Wir beſitzen die poetiſche Gabe, uns zu myſtificiren, uns gleichſam in dramatiſche Perſonen zu verwandeln und einer fremden Illuſion46 hinzugeben. Viele Gelehrte denken ſich ſo ins Grie¬ chiſche, viele Romantiker ſo ins Mittelalter, viele Politiker ſo ins Franzoͤſiſche, viele Theologen ſo in die Bibel hinein, daß ſie von allem, was um ſie vorgeht, nichts mehr zu wiſſen ſcheinen. Dieſer Zu¬ ſtand hat einige Ähnlichkeit mit Wahnſinn und fuͤhrt oft zu Wahnſinn. Den auf dieſe Weiſe Beſeſſenen kommt die ungemeine Bildungsfaͤhigkeit der deutſchen Geſinnung und Sprache zu Huͤlfe. Sie wiſſen in der Literatur die fremde Sprache trefflich zu erkuͤnſteln, und treiben den eigenthuͤmlichen Geiſt der deutſchen Sprache aus, um fremde Goͤtzen einzufuͤhren. Sie ſpotten uͤber alle, die es ihnen nicht nachthun, und erzuͤrnen ſich, wenn irgend die Natur ſich der Kunſt nicht fuͤgen will. Dergleichen Extreme reiben ſich aber an einander ſelber auf. Gaͤb 'es außer uns nur noch Ein Volk, ſo wuͤrden wir uns wahrſcheinlich ganz in daſſelbe hineinſtudieren, bis nichts mehr von uns uͤbrig bliebe. Da es aber viele gibt, die wir alle nach einander nachahmen, und da ſie mit einander in Widerſpruch ſtehn, ſo wird das Gleichgewicht im¬ mer wieder hergeſtellt. So hat die ſuperfeine Con¬ venienz der Gallomanie an dem derben Humor der Anglomanie, die regelrechte Graͤkomanie an dem aus¬ ſchweifenden Orientalismus, der flache Liberalismus an der myſtiſchen Romantik ſich aufreiben muͤſſen, und dieſe wieder an jenen. Die verſchiednen Perio¬ den unſrer Nachahmungswuth haͤngen nicht allein von der aͤußern Erſcheinung fremder Vortrefflichkeiten, ſon¬47 dern auch von ſubjectiven Beſtimmungsgruͤnden ab. Dieſelben Muſter ſtehn immerwaͤhrend und zugleich vor unſern Augen, und doch intereſſiren wir uns ab¬ wechſelnd nur fuͤr die einen und ſind fuͤr die andern blind. Dies haͤngt von dem innern Entwicklungsgang unſrer Natur und von dem aͤußern großen Gange der Geſchichte ab. Wir intereſſiren uns immer fuͤr dasjenige Fremde, was gerade mit unſrer Bildungs¬ ſtufe und Stimmung am meiſten harmonirt. Als un¬ ſer Verſtand aus den engen Glaubensbanden frei zu werden begann, wurden die verſtaͤndigen, aufgeklaͤr¬ ten Alten unſre Muſter. Als das gaͤnzlich vernach¬ laͤſſigte oder mißhandelte Gefuͤhl gegen die Tyrannei einer ſeichten Verſtaͤndigkeit, eines flachen Liberalis¬ mus ſich empoͤrte, mußte das Mittelalter wieder zum Muſter dienen. Als der Deutſche zum Gefuͤhl ſeiner Plumpheit gelangte, gab er ſich dem leichtfuͤßigen Franzmann in die Lehre. Als er in ſeinem traͤgen politiſchen Schlafe Traͤume bekam, draͤngten ſich ihm die Bilder Englands und Amerikas oder der alten Republiken auf. Als er die Unbequemlichkeit und Un¬ natur ſeiner altfraͤnkiſchen Gewohnheiten endlich fuͤhlte, mußte der Inſtinkt ihn zur griechiſchen Leichtigkeit, ja zur Nacktheit zuruͤckfuͤhren. Als er durch Schick¬ ſal und Ungeſchick in Armuth verſunken war, mußte die materielle Wohlfahrt der Britten ihm ein Muſter werden.

Gleich thoͤrichten Kindern aber zerbrechen wir das Spielzeug oder werfen das Schulbuch in den48 Winkel, wenn wir es nicht mehr gern haben oder brauchen. Niemand iſt ſo ſklaviſch ergeben und nie¬ mand ſo undankbar, als wir. Niemand weiß den eignen Werth ſo gruͤndlich zu verkennen, und nie¬ mand die eigne Schuld ſo leichtſinnig andern zuzu¬ ſchreiben, als wir. Wir hielten vor fuͤnfzig Jahren die Franzoſen fuͤr eine Art von Halbgoͤttern, vor zehn Jahren fuͤr halbe Teufel. Wir waren brutal genug, vor ihnen zu kriechen, und noch brutaler, ſie zu verachten. An die Stelle der Dummkoͤpfe, welche den Saͤuglingen ſchon franzoͤſiſche Ammen, ja den Muͤttern franzoͤſiſche Einquartirung gaben, traten an¬ dre Dummkoͤpfe, welche mit ſcythiſcher Dummdrei¬ ſtigkeit die edlen Bluͤthen franzoͤſiſcher Geſelligkeit nie¬ dertraten. Deutſche Politiker nahmen eine erbauliche Miene an und predigten gegen den galliſchen Anti¬ chriſt, und einer oder der andre einfaͤltige Geſchicht¬ ſchreiber ſuchte ſogar ſich und andre zu beluͤgen, daß die Franzoſen von unedlen aſiatiſchen Racen abſtamm¬ ten und die Ehre nicht verdienten, Europaͤer zu hei¬ ßen. Mit gleicher Barbarei verwerfen die Parteien je die Abgoͤtterei der andern. Die Claſſiſchen ſchim¬ pfen gegen das Mittelalter und den Orient. Die Romantiker kreuzigen ſich noch zuweilen vor den al¬ ten Heiden.

Natuͤrlich aͤußert ſich die Vorliebe fuͤr fremde Li¬ teratur zunaͤchſt in Überſetzungen. Bekanntlich wird in Deutſchland ungeheuer viel, ja voͤllig fabrik¬ maͤßig uͤberſetzt. Wenn je[unter] dreißig Werken des49 beſten deutſchen Autors eines im Auslande ſchlecht uͤberſetzt wird, ſo werden dagegen die ſaͤmmtlichen Werke jedes nur irgend erheblichen engliſchen oder franzoͤſiſchen Schriftſtellers in Deutſchland doppelt und dreifach uͤberſetzt, ja man thut ihnen die Ehre an, noch eignes Fabrikat unter ihrem Namen drucken zu laſſen, wie dem Walter Scott. Ohnſtreitig ſind Ruhm und Vortheil auf unſrer Seite. Sollten uns auch viele Tugenden der Fremden mangeln, ſo thei¬ len wir mit ihnen doch auch nicht jene vornehme Bornirtheit, die das Fremde achſelzuckend ignorirt. Es macht uns Ehre, von den großen Britten zu wiſ¬ ſen; den Britten macht es keine Ehre, von den gro¬ ßen Deutſchen nichts zu wiſſen.

Überſetzungen ſind gewiß beſſer als Nachahmun¬ gen, und wer uns einen fremden Dichter uͤberſetzt, hat ſicher mehr gethan, als der ihn nur in eigenen Dichtungen copirt. Aus demſelben Grunde taugen auch die freien Überſetzungen weniger als die treuen. Man verſteht aber unter der Treue ſo viel, daß es unmoͤglich iſt, ſie ganz zu erreichen. Eine Überſetzung kann niemals in allen Stuͤcken treu ſeyn, um es in dem einen zu ſeyn, muß ſie das andere aufopfern. Daher theilen ſich auch die Überſetzer in zwei Klaſſen. Die einen opfern den Inhalt der Form oder den Ge¬ danken dem Wort, den Sinn dem Klange, die an¬ dern umgekehrt dieſen jenem auf. Die einen wollen die Schoͤnheit und den Wohlklang des fremden Aus¬ drucks, die andern nur die Klarheit und Verſtaͤnd¬Deutſche Literatur. I. 350lichkeit deſſelben wiedergeben. Die erſtern herrſchen vor. Ein guter Klang, ein gefaͤlliger Rhythmus und Reim beſticht das Ohr und laͤßt uͤber einen mangel¬ haften Sinn wegſehn. Die meiſten metriſchen Über¬ ſetzungen opfern ungeſcheut den Inhalt auf, um den Wohlklang, das Versmaß, den Reim zu retten. Sinn¬ treue, aber hartklingende Überſetzungen kann man nicht gut leiden, und wenn man gar einen Dichter des treuen Verſtaͤndniſſes wegen in Proſa uͤberſetzt, ſo mag ihn niemand leſen. Man hat hierin aber wohl Unrecht. Allerdings liegt ein großer Theil des Zaubers, womit uns ein Dichter befaͤngt, in ſeinen Rhythmen und Reimen, aber doch immer nur, ſo¬ fern dieſelben gewiſſe poetiſche Bilder und Gedanken einkleiden, und in dieſen beruht der groͤßte Zauber, jenes aͤußere Kleid des Wohlklanges dient nur dieſem. Werden dieſe Bilder verwiſcht, dieſe Gedanken ver¬ dunkelt oder verfaͤlſcht, ſo verliert auch der Wohl¬ klang ſeinen Zauber. Unſre metriſchen Üeberſetzer laſ¬ ſen dies nur zu haͤufig außer Acht. Bei antiken Ori¬ ginalen kuͤnſteln ſie das Metrum, bei romantiſchen die Zahl und Verſchlingung der Reime nach. Um dieſes ſchwierige Unternehmen zu Stande zu bringen, opfern ſie unbedenklich die Verſtaͤndlichkeit, ja ſogar die Wahrheit auf. Sie verrenken und verſchrauben die Conſtruction, laſſen aus und flicken ein, und ge¬ brauchen ſogar oft ganz andere Bilder und Worte, weil die rechte Conſtruction und das rechte Wort nicht ins Metrum oder zum Reime paßt. Der all¬51 gemeine Nothbehelf ſind die Tautologien. Wenn das Flickwort nur einen aͤhnlichen Sinn hat, ſo meint der Überſetzer, er habe genug gethan, ſofern nur zu¬ gleich das Metrum und der Reim gut ins Ohr fallen. Aber Tautologien ſind ihm durchaus nicht erlaubt. Er ſoll nicht ein aͤhnliches, ſondern das einzig rich¬ tige Wort gebrauchen; verlangt es der Reim oder das Metrum anders, ſo iſt es damit nicht entſchul¬ digt, denn nicht der Reim, ſondern der Sinn iſt die Hauptſache. Von dem geruͤgten Übelſtande ſchreibt ſich die ungemeine Verſchiedenheit von Überſetzungen ein und deſſelben Autors her, und wieder die unge¬ meine Gleichheit der verſchiedenſten Autoren, wenn ſie einer uͤberſetzt hat. Von Dante, Taſſo, Petrarca, Camoens beſitzen wir Überſetzungen, die weit von ein¬ ander abweichen, wo faſt jeder Vers anders conſtruirt und gereimt iſt; und umgekehrt ſehn ſich Homer, Heſiod, Theokrit, Äſchylos, Ariſtophanes, Virgil, Horaz, Ovid, Shakespeare ꝛc. in den Voßiſchen Über¬ ſetzungen ſo aͤhnlich, wie ein Ei dem andern. In beiden Faͤllen wird der Charakter des Originals ver¬ faͤlſcht, wenn auch der Wortklang noch ſo kuͤnſtlich copirt iſt.

Nachahmungen entſtehen unvermeidlich aus der Anerkenntniß fremder Vortrefflichkeiten. Warum ſollten wir das nicht nachahmen, was nuͤtzlich oder ſchoͤn und edel iſt? Wir begehn aber insgemein den Fehler, ſtatt der Sachen nur Formen nachahmen zu wollen. Wir ſollten fuͤr unſre Zeit und nach unſrer3*52Weiſe eine ſo harmoniſche Bildung zu gewinnen ſu¬ chen, als die Griechen zu ihrer Zeit auf ihre Weiſe ſie gewonnen. Laͤcherlich aber machen wir uns, wenn wir die griechiſchen Formen nachkuͤnſteln, ohne den Geiſt und das Leben, aus welchen ſie hervorgingen. Wir ſollten unſre geſelligen Verhaͤltniſſe nach unſrer Eigenthuͤmlichkeit ſo fein ausbilden, wie die Franzo¬ ſen es nach der ihrigen thun. Affen aber ſind wir, wenn wir franzoͤſiſche Floskeln und Buͤcklinge nach¬ toͤlpeln. Wir ſollten frei und maͤnnlich zu denken und zu handeln ſuchen, wie Englaͤnder und Amerika¬ ner, aber nicht von einer Nachaͤffung ihrer aͤußerli¬ chen Inſtitutionen das Heil erwarten. Wir ſollten die Tuͤchtigkeit und den tiefen Geiſt des Mittelalters uns erneuern, aber nicht die alte Tracht und Sprache kuͤmmerlich affectiren.

Die formellen Nachahmungen gleichen den Moden und haben daſſelbe Schickſal. Eine kurze Zeit gelten ſie ausſchließlich und man heißt ein Sonderling, wenn man ſie nicht mitmacht. Hinterher erſcheinen ſie alle laͤcherlich. Auch in Rom galt einſt der griechiſche Geſchmack. Wer aber wird anſtehn, die Kraft und den Ernſt der Roͤmer in ihren eigenthuͤmlichen Gei¬ ſteswerken unendlich hoͤher zu ſchaͤtzen, als die Affec¬ tation attiſcher Feinheit in ihren griechiſchen Copien? Lange ſchon erſcheinen uns die Franzoſen in ihren antiken Tragoͤdien nur komiſch, aber wieviel wir uns darauf einbilden, geſchickter zu copiren, ſo ſind doch die als muſterhaft anerkannten Voßiſchen Copien nicht53 minder laͤcherlich. Wir haben laͤngſt dem wackern Cervantes Recht gegeben, doch liefern viele unſrer Romantiker hinreichenden Stoff zu einem neuen Don Quixotte, und Fouqué hat deren eine Menge ge¬ ſchrieben, ohne es ſelbſt zu wiſſen.

Die Erfahrung ſo vieler wechſelnden Moden, die ſich immer ſelbſt in Widerſpruch ſetzen und vernich¬ ten, ſcheint nicht ohne gute Folgen geblieben zu ſeyn. So viele Parteien noch herrſchen, beginnt man doch, ihre Vermittlung zu verſuchen. Nachdem wir der Reihe nach alle gebildete Nationen kennen gelernt, bewundert und nachgeahmt haben, Roͤmer, Griechen, Franzoſen, Englaͤnder, Italiener, Spanier, ſind wir jetzt auf einen Augenblick wieder nach Hauſe zuruͤck¬ gekehrt und beſinnen uns. Wir bemerken, daß wir immer von der erſten Bekanntſchaft zu uͤbertriebner Bewundrung einer fremden Nation, und zu voͤllig ſklaviſcher Nachahmung derſelben raſch fortgeſchritten, dann aber des Extrems bald uͤberdruͤßig geworden ſind, worauf eine neue ruhige Betrachtung uns die¬ jenigen Vorzuͤge der Fremden hervorgehoben und uns angeeignet hat, die nachahmungswuͤrdig ſind und auch nachgeahmt werden koͤnnen. Wir unterſcheiden all¬ maͤhlich die herrliche Gade, uns in den Geiſt andrer Nationen und Zeiten zu verſetzen, die dichteriſche Faͤhigkeit, jede fremde Illuſion anzunehmen, von der praktiſchen Nachaͤfferei. In jener finden alle Gegen¬ ſaͤtze neben einander Platz, in dieſer heben ſie einan¬ der auf. Die Phantaſie mag uns in einem Augen¬54 blick nach Griechenland, im andern nach London ver¬ ſetzen, doch wir ſelber bleiben in Deutſchland ſitzen. Wir hatten im Ungeſtuͤm des Enthuſiasmus den Feh¬ ler begangen, unſre Eigenthuͤmlichkeit zu beſeitigen, um mit Haut und Haar in die fremde hinuͤberſprin¬ gen zu wollen. Wir bemerken jetzt, daß wir mit al¬ lem offnen Sinn fuͤr das Fremde doch zugleich eine eigenthuͤmliche Auffaſſungsweiſe fuͤr daſſelbe mitbrin¬ gen, meiſt eine innerliche, phantaſtiſche, tiefſinnige, und indem wir dieſe walten laſſen, verſchmilzt erſt ſie die Vorzuͤge der Fremden mit unſrer Nationalitaͤt.

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Der literariſche Verkehr.

Denkt man an die Zeit zuruͤck, da jedes Buch nur in wenigen Handſchriften exiſtirte, ſo begreift man, welch unermeßliches Übergewicht die heutige Literatur durch die Maſchinerie des Drucks und durch den Buchhandel gewonnen hat. Wenn daraus ein Segen fuͤr alle Zeiten erwachſen iſt, wenn wir Deut¬ ſche uns der Erfindung ewig werden ruͤhmen koͤnnen, ſo ſoll uns dies doch auch gegen einige Nachtheile nicht blind machen, die das leichte Verbreiten der Schriften mit ſich fuͤhrt. Es erſtickt naͤmlich die we¬ nigen guten Schriften unter der Laſt der ſchlechten, und da das Drucken ein Handwerk iſt, ſo geht es auf Nahrung aus, ob der Geiſt dabei gewinnen mag, oder nicht. Der Autor muß Buͤcher ſchaffen, nicht immer damit die Welt etwas Treffliches leſe, ſon¬ dern damit der Drucker drucken, der Verleger ver¬ kaufen koͤnne.

Wiewohl die Deutſchen Erfinder des Drucks ſind, werden ſie doch von den Englaͤndern in der56 Kunſt, ſowohl ſchnell als ſchoͤn zu drucken, bei wei¬ tem uͤbertroffen. Nirgends herrſcht ſo viel Traͤgheit und Nachlaͤſſigkeit, auch im Buͤcherdrucken, als in Deutſchland. Nirgends findet man ſo ſchlechtes Pa¬ pier, ſo ſtumpfe Lettern, ſo viele Druckfehler. Dies ruͤhrt zum Theil daher, daß das Publikum es nicht ſo genau nimmt, und in der That, wer zuſieht, wie die meiſten Leſer mit Buͤchern umzugehen pflegen, gibt ihnen nicht gerne eine engliſche Ausgabe in die Hand. Der Hauptgrund, warum unſre Buͤcher ſo ſelten mit aͤußrer Pracht und Eleganz ausgeſtattet ſind, liegt aber wohl in der deutſchen Kleinkraͤmerei. Faſt alle unſre Buchhaͤndler treiben nur Kramhandel fuͤr den Hausbedarf des Buͤrgers. Die hohe Nobleſſe verſorgt ſich aus Paris und London. Die wenigen großen Buchhaͤndler in Deutſchland liefern zuweilen auch ein typographiſches Prachtwerk, aber meiſt zu ihrem Schaden. Loͤſchpapier findet beſſern Abſatz.

Was den Buchhandel betrifft, ſo leidet er an zwei Hauptuͤbeln, dem Geldwucher und dem Mode¬ geſchmack. Die meiſten Buchhaͤndler ſind nur Kauf¬ leute und ſuchen nur mit den Buͤchern Geld zu ge¬ winnen, gleichviel, ob dieſe Buͤcher gut oder ſchlecht, heilſam oder verderblich ſind. Nur wenige haben ſich in der Geſchichte einen Namen und im Vaterlande warmen Dank erworben durch uneigennuͤtzige Befoͤr¬ derung des Guten, Wahren und Schoͤnen, wo es der Aufmunterung und Unterſtuͤtzung bedurfte. Der Buchhaͤndler hat, wenn es ihm an Mitteln nicht ge¬57 bricht, einen ſchoͤnen Wirkungskreis. Er kann dem guten Schriftſteller in die Haͤnde, dem ſchlechten ent¬ gegenarbeiten. Er kann durch die Wahl ſeiner Ver¬ lagsartikel die Bildung und den Geſchmack gewiſſer¬ maßen beherrſchen, und auf das Publikum einen Ein¬ fluß uͤben, wie ihn im Kleinen jede Theaterdirek¬ tion durch ihr gutes oder ſchlechtes Repertorium uͤbt. Er hat den edlen, ſeinen Stand hoch ehrenden Beruf, ein Maͤcen zu ſeyn. Er kann durch ſeine Unterſtuͤtzung manchem Genie einen freien Boden ge¬ ben, wo es ſich entwickeln kann; er kann das Ver¬ borgne oder Verkannte an das Licht ziehn, und nicht ſelten verdanken wir ihm erſt, was uns am Weiſen, am Dichter erhebt, und entzuͤckt. Er kann endlich, vermoͤge ſeiner Stellung, die Literatur im Ganzen uͤberblicken, und die Luͤcken bemerken, den Schrift¬ ſtellern heilſame Winke geben, Wege bereiten, die mannigfaltigen Kraͤfte der gelehrten und ſchoͤnen Gei¬ ſter unmerklich lenken. Aber um dieſen ehrenvollen, großen Beruf zu erfuͤllen, bedarf der Buchhaͤndler nicht nur eines klaren Kopfes, eines edlen Willens, ſondern auch der oͤkonomiſchen Mittel; dieſe Dinge finden ſich ſehr ſelten vereinigt. Bedenken wir fer¬ ner, daß auch der beſte Buchhaͤndler immer theils vom Publikum und ſeiner Modeluſt, theils von den Schriftſtellern abhaͤngig iſt, ſo koͤnnen wir von den Buchhaͤndlern allein das Heil der Literatur freilich nicht erwarten.

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Die Mehrzahl der Buchhaͤndler ſind nur Kraͤ¬ mer, denen es groͤßtentheils einerlei iſt, ob ſie mit Korn oder mit Wahrheit, mit Zucker oder mit Ro¬ manen, mit Pfeffer oder mit Satyren handeln, wenn ſie nur Geld verdienen. Der Buchhaͤndler iſt ent¬ weder Fabrikant oder Spediteur oder beides zugleich. Die Buͤcher ſind ſeine Waare. Sein Zweck iſt Ge¬ winn, das Mittel dazu nicht abſolute, ſondern rela¬ tive Guͤte der Waare, und dieſe richtet ſich nach dem Beduͤrfniß der Kaͤufer. Was die meiſten Kaͤu¬ fer findet, iſt fuͤr den Buchhaͤndler gute Waare, wenn es auch ein Schandfleck der Literatur waͤre. Was keinen Kaͤufer findet, iſt ſchlechte Waare, und waͤren es Offenbarungen aus allen ſieben Himmeln. Soll ein Buch Kaͤufer finden, ſo muß es dem be¬ kannten Geſchmack des Publicums angemeſſen ſeyn, oder ſeinen Neigungen und Schwaͤchen ſchmeicheln und eine neue Mode erzeugen koͤnnen. Deswegen beguͤnſtigen die Verleger das Triviale und das Aben¬ teuerliche. Soll das Publicum wiſſen, daß das Buch ſeinem Geſchmack entſpricht, ſo muß der Titel es an¬ locken. Deswegen iſt dem Verleger ein guter Titel mehr werth, als ein gutes Buch, oder dieſes nur durch jenen, und es entſteht ein Wetteifer unter den Buchhaͤndlern, die ſchmeichelhafteſten Titel auszuhe¬ cken. Woher nimmt aber der Verleger ſolche Waare, die er fuͤr gut erkennt? Sie waͤchst nicht ſo haͤufig wild, als er dadurch reich werden koͤnnte. Sie muß alſo durch Kunſt erzeugt werden. Es wird alſo ſtatt59 der ſeltnen Alpenweide die uͤberall ausfuͤhrbare Stall¬ fuͤtterung der Autoren eingefuͤhrt. Der Verleger un¬ terhaͤlt ſie, und ſie liefern ihm Milch, Butter, Kaͤſe, Haut und Knochen. Und iſt wohl je ein Verleger verlegen um ſolche Leibeigene? Es draͤngen ſich ihm mehr zu ſeinem Gnadentiſch, als er verlangt. Je mehr fabricirt wird, deſto ſchlechter, je ſchlechter, deſto leichter, je leichter, deſto mehr Leute werden geſchickt dazu.

Vom Nachdruck kann hier nicht viel geſagt werden, da er auf den Gehalt der Literatur durch¬ aus keinen Einfluß uͤbt. Indeß will ich doch bei die¬ ſer Gelegenheit ein wenig meine Verwunderung aus¬ druͤcken, warum uͤber dieſen famoͤſen Nachdruck bei uns noch immer ſo verſchiedne Meinungen herrſchen. Er wird nicht nur von den Nachdruckern ſelbſt, oder vom Publicum, das dabei gewinnt, ſondern auch von ſcharfſinnigen Juriſten vertheidigt und von man¬ chen Regierungen geduldet, verworfen aber nur von den betheiligten Autoren und Verlegern und von rechtlich Denkenden, ſey es auch, daß ſie rechtlich nur daͤchten, denn viele der Art ſind mir bekannt, die den Nachdruck verwerfen, das Nachgedruckte aber kaufen. In dieſem Widerſtreit des aͤußern Vortheil mit dem innern Verdammungsurtheil des Gewiſſens liegt der Grund, warum der Nachdruck trotz alles Moraliſirens immer fortbeſteht, und trotz aller Pri¬ vilegien doch immer verdammt wird. Laßt ihn im¬ mer beſtehen, wenn die menſchliche Natur, die nach60 aͤußern Vortheilen trachtet, ſich nicht bezwingen laͤßt. Diebe wird es ewig geben, oder die Traͤume der Idealiſten von allgemeiner Weltverbeſſerung muͤßten in Erfuͤllung gehn. Verdenkt es alſo den Nachdru¬ ckern nicht, wenn ſie den Autor und rechtmaͤßigen Verleger beſtehlen, aber ſtraft ſie, wenn ihr ſelbſt recht thun wollt. Verdenkt es auch dem Publicum nicht, wenn es die nachgedruckten Werke kauft, da es ſo oft von den rechtmaͤßigen Verlegern uͤbervor¬ theilt wird, und wenn es nur zwiſchen zwei Schrau¬ ben die Wahl hat, diejenige waͤhlt, die es am we¬ nigſten ſchraubt; hebt den einen Betrug auf, indem ihr den andern unterdruͤckt, denn wenn jedes Buch ſo wohlfeil verkauft wird, als der Nachdruck deſſel¬ ben, ſo wird der Nachdrucker bald ſeine Bude ſchlie¬ ßen muͤſſen. Mit einem Wort, gewaͤhrt den Men¬ ſchen ihren Vortheil auf rechtlichem Wege, damit ſie den ſtraͤflichen nicht einſchlagen duͤrfen, und ſtraft ſie dann, wenn ſie es dennoch thun. Sophiſten aber ſind, die den Nachdruck als etwas Rechtliches in Schutz nehmen, ihn nicht aus dem Vortheil, den er mit ſich fuͤhrt, ſondern aus dem Recht, auf dem er gegruͤndet ſey, herleiten und entſchuldigen. Aller¬ dings iſt der Streit uͤber das geiſtige Eigenthum zwiſchen Verleger und Autor, wenn es an einem be¬ ſtimmten Contrakt gebricht, nicht immer leicht zu entſcheiden, allerdings ſind die Autoren oder ihre Er¬ ben in den meiſten Faͤllen von den Buchhaͤndlern uͤbervortheilt worden, und dieſe Letztern haben allein61 die Fruͤchte einer Arbeit genoſſen, die dem Arbeiter zuſtanden, und es waͤre zu wuͤnſchen, daß daruͤber unzweideutige Geſetze gegeben wuͤrden, das geiſtige Eigenthum kann aber immer nur entweder dem Au¬ tor, oder durch Vertrag dem Verleger zuſtehn, und muß es ſo lange, als dieſer rechtmaͤßige Beſitzer oder ſein rechtmaͤßiger Erbe lebt, es kann erſt dann Ge¬ meingut werden, wie jedes andre Gut, wenn der letzte Erbe ſtirbt. Kein Dritter kann ohne Gewalt oder Diebſtahl dieſes geiſtigen Eigenthums ſich be¬ maͤchtigen, ſo lange der rechtmaͤßige Beſitzer lebt. Oder wer ſollte denn das Recht haben, dieſe Ge¬ walt, dieſen Diebſtahl zu begehen? wenn einer, dann auch jeder, und doch werden die Wenigſten damit zu¬ frieden ſeyn, daß der Nachdrucker behaupten darf: ich bediene mich eines Rechts, das euch auch zuſteht, deſſen ihr euch nicht bedient, weßhalb ihr zwar thoͤ¬ richter ſeyd, als ich, aber keineswegs rechtlicher! Sie werden vielmehr den Nachdrucker als das an¬ ſehn, was er iſt, als einen Dieb, und ſich ſchaͤmen, mit ihm ein Recht zu theilen, deſſen Anwendung eine Suͤnde und Schande iſt. Ihr aber, die ihr den Geiſt eines großen Schriftſtellers als Nationaleigen¬ thum betrachtet und fuͤr die Mittheilung deſſelben unbedingte Freiheit verlangt, die ihr zu kluͤgeln pflegt, ob, wenn der Nachdruck verboten ſeyn ſoll, nicht auch Auswendiglernen und Abſchreiben verbo¬ ten werden muͤßte, bedenkt doch, ob ihr euer Aus¬ wendiggelerntes und eure Abſchriften auch verkaufen62 wuͤrdet, wie der Nachdrucker ſeyn Buch, ob der Un¬ terſchied nicht eben in dieſem Verkauf liegt, und ob ihr nicht zufrieden ſeyn koͤnnt, daß euch jener große Geiſt an Tugenden und Kenntniſſen bereichert hat, und daß es wahrhaft demokratiſcher Übermuth waͤre, auch noch die zeitlichen Vortheile theilen zu wollen, die ſeine Werke denen bringen moͤgen, denen er ſie freiwillig uͤberlaſſen hat. Seyd zufrieden, daß dieſer Geiſt nicht blos uͤber ein Eigenthum zu gebieten hatte, das baare Zinſen traͤgt, und das er nur ei¬ nem oder wenigen ſchenken konnte, ſondern daß er auch noch ein Hoͤheres beſaß, welches der Seele wu¬ chert, und das er euch allen großmuͤthig geſchenkt hat.

Das Genie ſchafft gute, der Geldwucher viele Buͤcher. Die Buchhaͤndler tragen aber nicht allein die Schuld davon. Sie fordern die ſchlechten Auto¬ ren nicht oͤfter auf, als ſie von dieſen aufgefordert werden. Der Schein klagt die Buchhaͤndler an und rechtfertigt ſie; es ſind eben Kaufleute. Je mehr die Meinung, und nicht mit Unrecht, verbreitet iſt, daß der Buchhaͤndler den Gewinn, der Autor die Ehre davon trage, deſto leichter kann der Autor ſeine eigne Habſucht verbergen. Ich mag die vielen Satyren gegen das Dichten und Schreiben ums liebe Brod nicht mit einer neuen vermehren; Jedermann weiß, daß viele hundert Federn in Deutſchland feil ſind. Die einen dienen um ein aͤrmliches Tagelohn, die andern verkaufen ſich an den Meiſtbietenden. Da63 man ſeichte und ſchlechte Buͤcher am liebſten liest, und dieſe ſich am leichteſten und[ſchnellſten] fabriciren laſſen, iſt ein edler Wetteifer zwiſchen Verlegern und Verfaſſern entſtanden. Bald ſehn wir einen unter¬ nehmenden Buchhaͤndler ein halbes Dutzend Hunger¬ leider beſolden, die ihm Romane, Überſetzungen, Schulbuͤcher und praktiſche Auweiſungen verfertigen muͤſſen; bald einen unternehmenden Autor ein halbes Dutzend Buchhaͤndler in Bewegung ſetzen, denen er ſich wie ein Zuchtſtier abwechſelnd in die Pacht gibt.

Der Grund der deutſchen Schreibluſt liegt zwar allerdings tiefer, doch traͤgt die Anarchie des aͤußern literariſchen Verkehrs unſtreitig ſehr viel bei, den Buͤcherpoͤbel zur Herrſchaft zu bringen. Wo alle kochen, wird ſchlecht gekocht; wo alle ſchreiben, wird ſchlecht geſchrieben. Daß aber auch die ſchlechteſten Buͤcher gedruckt und geleſen werden, hat ſeinen Grund nur in den aͤußern Verhaͤltniſſen des Buchhandels und des Publikums. Waͤre das Publicum gebildet genug, ſo wuͤrden die Buchhaͤndler nur gute Buͤcher abſetzen, mithin auch nur ſolche drucken laſſen, ſo wuͤrden die ſchlechten Schriftſteller wie Pilze vertrock¬ nen. Schlechte Buͤcher entſtehen nur, wenn die Buch¬ haͤndler wollen, und dieſe wollen nur, wenn das Publicum damit zufrieden iſt. Allerdings ſind die Buchhaͤndler ſehr oft gewiſſenloſe Hoͤflinge, die den Herrn, deſſen Brod ſie eſſen, oder das Publicum, noch ſchlechter machen, aber wenn ſie einen tuͤchtigen Herrn haͤtten, ſo wuͤrden ſie ſelbſt beſſer ſeyn muͤſſen.

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Wer einmal fuͤr das Geld ſchreibt, hat ſchon alle Scham aufgegeben, der Eine, weil er muß, aus Verzweiflung; der Andre mit Bedacht, wie ein Poſ¬ ſenreißer, um deſto mehr Zuſchauer anzulocken. Die gewoͤhnlichen Suͤnden dieſer Buͤchermacher ſind: Ehr¬ loſigkeit, die keine Mittel ſcheut, um Aufſehen zu er¬ regen, oder wenigſtens Abſatz zu bekommen; bruta¬ ler Hohn gegen die redlichen Autoren, denen ſie in's Handwerk pfuſchen, Schmeichelei der boͤſen und ver¬ borgnen Neigungen, und Beſchoͤnigungen des Laſters, theils um ein ergiebiges Feld zu bearbeiten, das die beſſern Autoren ihnen uͤbrig gelaſſen, theils um ihre Leſer zu ihren Mitſchuldigen zu machen; Heuchelei, wenn es gilt, der Froͤmmigkeit oder Ehrlichkeit einen Blutpfennig abzudringen; ſchamloſe Dieberei und Flickerei aus beſſern Werken, wenn dieſelben Gluͤck gemacht haben; endlich die alles umfaſſende, alles durchdringende Trivialitaͤt, die abgeſchmackte Bruͤhe, in der alles gekocht wird.

Schon bald nach Erfindung des Drucks uͤber¬ ſchwemmte die Polemik der Confeſſionen Deuſchland mit theologiſchen Schriften. Als man endlich wieder etwas luſtiger wurde, kam die Belletriſtik in Flor. Da man die zahlreichen Vortheile, welche die Schrift¬ ſtellerei dem Eigennutz und dem Ehrgeitz gewaͤhrt, genau erkannt hatte, draͤngte ſich alles zur Autor¬ ſchaft, und ſelbſt, die geſchwiegen haben wuͤrden, ſa¬ hen ſich durch Freunde, Schuͤler, Angriffe und ſchlechte Buͤcher zur Abfaſſung ihrer eignen gedrungen. End¬65 lich erkannten die Buchhaͤndler, welchen Gewinn ſie vom Publikum ziehen koͤnnten, wenn ſie demſelben alles Intereſſante aus dem bisher von der Zunft verſchloßnen Reiche des Wiſſens mittheilten, das Heilige profanirten, das Gute der Fremden nationa¬ liſirten, und alsbald legten ſie Fabriken an und beſoldeten ihre Buͤchermacher fuͤr alle Staͤnde, Ge¬ ſchlechter und Alter, fuͤr das Volk, die Jugend, die Damen, und vorzugsweiſe fuͤr alle, die an Maſſe die zahlreichſten, die Buͤcher auch in Maſſe bezahlen konnten.

Der Einfluß dieſes Verhaͤltniſſes auf den Ge¬ halt der Literatur iſt verſchiedenartig und hat wie¬ der ſeine gute und boͤſe Seite. Es iſt allerdings ein ſchoͤnes Zeichen der Zeit, daß die geiſtige Cultur all¬ gemein befoͤrdert, daß jedem alles Wiſſen zugaͤnglich gemacht wird. Indeß iſt eben ſo gewiß, daß das urſpruͤngliche Licht der Aufklaͤrung in ſo mannigfach graduirten Farben gebrochen ſich verdunkelt, daß, was fuͤr die Maſſe gewonnen wird, vom Gehalt ab¬ geht. Der Himmel ſtreut die Gaben des Genius nicht allzu verſchwenderiſch aus. Viele ſind berufen, aber wenige nur ſind auserwaͤhlt, von hundert deut¬ ſchen Schriftſtellern kaum einer. Was nun die Geiſt¬ loſen ſchreiben, iſt wie ſie ſelbſt, und kein Werk ver¬ laͤugnet ſeinen Schoͤpfer. Die guten Buͤcher werden von den ſchlechten nur allzu leicht verdraͤngt, und da die Maſſe die Anſtrengung ſcheut, ſo vergißt ſie bei dem ſeichten Autor, den ſie verſteht, gern den tiefen,66 der ihr ſchwierig erſcheint. Sie hegt eine gewiſſe Ehrfurcht vor dem Gedruckten, und ſieht ſie nur ihre Gemeinplaͤtze gedruckt, ſo erkennt ſie den beſſern Buͤ¬ chern den hoͤherer Rang nicht mehr zu. Daß in Deutſchland ſo viel Erbaͤrmliches geſchrieben wird, hat einen gewiſſermaßen phyſiſchen Grund. Die Ge¬ nies wachſen bekanntlich nicht waͤlderweiſe, ſondern einzeln und ſelten. Die vielen tauſend deutſchen Buͤ¬ cher werden nicht von lauter Genies, ſondern vom Haufen geſchrieben. Ich will indeß die Ehre einer ſo anſehnlichen Menge deutſcher Maͤnner nicht her¬ abſetzen. Man kann der beſte, ja der weiſeſte Menſch ſeyn, und doch kein gutes Buch zu Stande bringen. Mancher vortreffliche Mann erſcheint uns erſt ein wenig einfaͤltig, wenn er fuͤr den Druck ſchreibt, wie umgekehrt mancher erſt dann beſeelt zu werden ſcheint, wenn er die Feder in die Hand nimmt.

Wir haben viele ſchlechte Buͤcher, wie in Revo¬ lutionen viele ſchlechte Menſchen an die Spitze kom¬ men. Sie ſind fuͤr einen Augenblick allmaͤchtig, im naͤchſten fallen ſie in ihr Nichts zuruͤck. Seufzt der Fromme, der Poͤbel lacht. Zuͤrnt ein Prophet, der Haufe wagt es, ihn zu verachten. Alle Bemuͤhungen, die Wahrheit, die Gerechtigkeit und den guten Ge¬ ſchmack zu vertheidigen, ſcheitern an der Unverſchaͤmt¬ heit der Modeſchriftſteller. Wo recht viele Schlechte zuſammen kommen, entſteht ein esprit de corps, der ſo heroiſch iſt, als gaͤlte es das Heiligſte. Man kann daruͤber reden, aber man ſoll ſich nicht einbil¬67 den, es aͤndern zu koͤnnen. Man kann nur wie Ta¬ citus die ſchlechte Gegenwart ſchildern, ohne ſich an¬ zumaßen, ſie beſſern zu wollen. Man darf nur die Zeit abwarten. Schlechte Buͤcher haben ihre Jah¬ reszeit, wie das Ungeziefer. Sie kommen in Schwaͤr¬ men, und ſind vernichtet, ehe man es denkt. Wo iſt die theologiſche Polemik des ſiebzehnten Jahrhunderts geblieben? wo iſt der Geſchmack des achtzehnten, wo iſt Godſched hingekommen? Wie viele tauſend ſchlechte Buͤcher ſind den Weg alles Papiers gegan¬ gen, oder modern in Bibliotheken! Die unſrigen halten nicht einmal ſo lange wieder, weil das Pa¬ pier ſelber ſchlecht iſt, wie der Inhalt. Die Moden wechſeln zwar nur, und Thorheit und Gemeinheit wiſſen ſich unter neuer Geſtalt immer wieder geltend zu machen; doch die alten Suͤnder bekommen ſicher ihren Lohn. Die Gegenwart duldet keinen Richter, aber die Vergangenheit findet immer den gerechteſten. Selbſt unſre Thoren kennen und verachten die alten, ohne zu ahnen, daß es ihnen nicht beſſer gehen wird. Vermoͤge eines gluͤcklichen Inſtinkts der menſchlichen Natur, nehmen wir uns aus dem literariſchen Erbe der Vergangenheit immer nur das Beſte, oder we¬ nigſtens das Wichtigſte heraus. Unter drei guten Schriftſtellern erhaͤlt wenigſtens einer erſt in der Zukunft ſeine Apotheoſe, und unter hundert ſchlech¬ ten, die in der Gegenwart glaͤnzen, bringt immer nur einer ſein boͤſes Beiſpiel auf die Nachwelt.

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Es gibt ſchlechte Principien, die ſich in der Li¬ teratur ausſprechen, und jede Partei haͤlt die entge¬ gengeſetzte fuͤr ſchlecht. Aber jede hat die Befugniß, ſich auszuſprechen, und das ſchlechteſte Princip kann noch auf geniale Weiſe und zum Glanze der Litera¬ tur vertheidigt werden. Ein ganzer Teufel iſt noch immer intereſſanter, als ein halber, matter, trivia¬ ler Engel. Nicht ſchlechte Principien, ſondern ſchlechte Kraͤfte ſind Schuld am Verderben der Literatur wie des Lebens. Die Mittelmaͤßigkeit, die Geiſtloſigkeit, die Schwaͤche, die Furcht vor dem Genie, der Haß gegen die Groͤße, die Unverſchaͤmtheit und die An¬ maßung des literariſchen Poͤbels und die ſtillſchwei¬ gende oder prahleriſche Demagogie gegen die Ariſto¬ kratie der großen Geiſter, kurz die Gemeinheit der Schriftſteller iſt die Erbſuͤnde der Literatur. Unbe¬ merkt haben die Menſchen die Grundſaͤtze erſetzt und an ihre Stelle ſich geſchoben, wie in der franzoͤſiſchen Revolution. Statt der feindſeligen Principien ver¬ ſchiedner Parteien kaͤmpfen die Edlen und Schlechten von allen Parteien. Es gibt wenig gute Buͤcher, aber von jeder Partei, und unzaͤhlige ſchlechte wie¬ der von jeder. Waͤhrend die Maſſen um ihre Grund¬ ſaͤtze und Meinungen zanken, erheben ſich die weni¬ gen wahrhaft Gebildeten immer nur gegen die Ge¬ meinheit der Maſſen. Sie ehren jede Kraft, ſelbſt die feindliche; nur die Halbheit, Falſchheit, Ohn¬ macht iſt ihr unverſoͤhnlicher Feind.

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Die Umſtaͤnde tragen vieles bei, daß eine ſo große Menge unberufener Autoren auftritt. Die Kunſt iſt profanirt worden. Man glaubt keiner Meiſter¬ ſchaft mehr zu beduͤrfen. Jeder achtet ſich fuͤr eben ſo befugt, zu ſchreiben, als zu reden. Die Gelehr¬ ſamkeit der Kaſte iſt ſo ins Abſurde gerathen, daß die geſunde Vernunft der Laien eine Revolution da¬ gegen erheben und einen leichten Sieg davon tragen konnte. Ploͤtzlich brachen aus der Hefe des Laien¬ volks Publiciſten und Romanſchreiber, als andre Mar¬ ſeiller und Septembriſeurs, unter die alten gelehrten Peruͤken, und auch die Poiſſarden fehlten nicht. Wie haͤtten die Weiber, bei denen der geſunde Menſchen¬ verſtand immer wie an der Wurzel haͤlt, ihre Sen¬ timens und natuͤrlichen Erfahrungen nicht geltend ma¬ chen ſollen, wie haͤtten ſie nicht mit ihren Talenten glaͤnzen wollen, da die Bahn des Ruhms ihnen offen ſtund. So ſehn wir jetzt eine naͤrriſche Armee von Weibern und Kindern das Ballhaus zur literariſchen Nationalverſammlung machen, und dem deutſchen Publikum Geſetze geben.

Der Gelehrte ſchreibt, weil er weiſer zu ſeyn glaubt, als andre, und weil er die Schriftſtellerei zu ſeinen Rechten und Pflichten zaͤhlt. Die Profanen ſchreiben, weil ſie ſich fuͤr geſcheiter und geſuͤnder achten, als die Gelehrten, und weil ſie, indem ſie uns zur Natur zuruͤckfuͤhren wollen, zunaͤchſt ihre eigne fuͤr die rechte halten. Endlich iſt es ein immer wiederkehrender Wahn der Einfaͤltigen, der Eitlen70 und der Jugend, daß, was fuͤr ſie ſelbſt neu iſt, auch fuͤr die ganze Welt neu ſeyn muͤſſe. Es entſte¬ hen taͤglich neue wiſſenſchaftliche Buͤcher, worin auch nicht ein neuer Gedanke fuͤr die Welt iſt, ſo neu auch alle dem Autor geweſen ſeyn moͤgen. Vor den Gedichten aber iſt faſt keine Rettung mehr. Wenn ein Juͤngling liebt, meint er, die ganze Welt liebe zum erſtenmal. Er macht Verſe und waͤhnt, niemand habe dergleichen noch gehoͤrt.

Die Schreibwuth der Naturaliſten hat diejenige der Gelehrten keineswegs verdraͤngt, ſondern nur noch lebhafter angefacht. Die Univerſitaͤten machen es ſich zur Pflicht, zu ſchreiben, was die Preſſe vermag, und gelehrte Buͤcher bilden die Stufen, auf welchen der Candidat in hoͤhere Ämter ſchreitet. Wie kuͤm¬ merlich friſtet ſich manches gelehrte Journal, aber es gilt die Ehre der Univerſitaͤt, und das ganze akade¬ miſche Volk wird beſteuert. Wie ſauer wird es man¬ chem Neuling, ein Buch zuſammenzuſchreiben, aber es gilt die Ehre und das Amt, und Noth bricht auch den eiſernen Schaͤdel. Die Arbeiten ſind aber auch darnach, und man ſieht ihnen alle die Muͤhe an, deren ſie nicht werth ſind.

Man beſchaͤftigt ſich je mehr und mehr, popu¬ laͤr zu ſchreiben, der groͤßern Maſſe des Publikums alles Nuͤtzliche und Belehrende mitzutheilen, was von Fremden oder durch die Gelehrſamkeit gewonnen wird. Selbſt die ſtrengſten Wiſſenſchaften werden ſo zube¬ reitet, daß auch der Ungebildete einen Geſchmack da¬71 von bekommt. Es erſcheinen: Mythologien fuͤr Da¬ men, populaͤre Vorleſungen uͤber die Aſtronomie, Haus¬ apotheker und Selbſtaͤrzte, Weltgeſchichten fuͤr die Jugend, die Weltweisheit in einer Nuß, und die Theologie in acht Baͤnden oder Stunden der Andacht und dergleichen. Wie zu des Heilands Geburt haͤlt man einen allgemeinen Kindermarkt, und alle Buch¬ haͤndlerbuden haͤngen voll Schriften fuͤr die (elegante) Welt, das Volk, die (gebildeten) Staͤnde, die Da¬ men, die (deutſchen) Frauen, das (reifere) Alter, die (zartere, liebe) Jugend, Soͤhne und Toͤchter edler Herkunft, Buͤrger und Landmann, fuͤr Jeder¬ mann, fuͤr allerlei Leſer, kurz fuͤr ſo viele, als der Buchhaͤndler zuſammen trommeln kann.

An und fuͤr ſich iſt das Beſtreben, faßlich zu ſchreiben und die ungebildete Mitwelt zu belehren, eben ſo lobenswuͤrdig, als die gelehrte Vornehmigkeit, die mit ihrer Hieroglyphenſprache prahlt, und ſtolz darauf iſt, daß der große Haufe ſie nicht verſteht, verworfen werden muß. Auch die wenige Strenge, mit welcher wiſſenſchaftliche Gegenſtaͤnde im populaͤ¬ ren Vortrag abgehandelt zu werden pflegen und der fade Ton, der ſich dabei einſchleicht, laͤßt ſich zum Theil durch das Publikum entſchuldigen, nach deſſen Faſſungskraͤften der Autor ſich richten muß, wenn er gehoͤrt und verſtanden werden will. Indeß laͤßt ſich nicht verkennen, daß es doch nur wieder die vielen unberufenen Autoren ſind, die auch hier das meiſte verderben. Auch der ſeichteſte Kopf maßt ſich an,72 fuͤrs Volk zu ſchreiben, waͤhrend er ſich ſchaͤmen wuͤrde, fuͤr die Gelehrten zu ſchreiben. Das Volk haͤlt jeder fuͤr gut genug, ein Auditorium abzugeben, und fuͤr ſchlecht genug, um ihm auch das Albernſte vorzutra¬ gen. Nichts erſcheint ſo leicht, als fuͤr das Volk zu ſchreiben, denn je weniger man Kunſt anwendet, deſto eher wird man verſtanden; je mehr man ſich gehn laͤßt, je gemeiner und alltaͤglicher man ſchreibt, deſto mehr harmonirt man mit der Maſſe der Leſer. Je tiefer man zu der Beſchraͤnktheit, Brutalitaͤt, den Vor¬ urtheilen und den unwuͤrdigen Neigungen der Menge hinabſteigt, deſto mehr ſchmeichelt man ihr, und wird von ihr geſchmeichelt. Fuͤr das Volk ſchlecht zu ſchrei¬ ben, iſt daher den ſchlechten Schriftſtellern leicht und erſprießlich, daher es auch bis zum Frevel getrieben wird. Fuͤr das Volk aber gut zu ſchreiben, iſt ſicher etwas ſehr Schwieriges und darum geſchieht es ſo ſel¬ ten. Will man die Maſſe beſſern und veredeln, ſo laͤuft man Gefahr ihr zu mißfallen. Will man ſie uͤber hoͤhere Dinge belehren, ſo iſt es hoͤchſt ſchwie¬ rig, den rechten Ton zu treffen. Man hat entweder zu einſeitig den Gegenſtand vor Augen, und ſpricht daruͤber zu gelehrt und unverſtaͤndlich, oder man be¬ ruͤckſichtigt eben ſo einſeitig die Menge und entweiht den Gegenſtand durch einen allzu trivialen, oft bur¬ lesken Vortrag. Die Schriftſteller fehlen hierin ſo oft, als die Prediger.

Indem Autoren und Buchhaͤndler unter einander wetteifern, eine moͤglichſt große Popularitaͤt ihrer73 eigenen geiſtigen Produkte oder doch ihrer Bearbei¬ tung fremder zu erzielen, wetteifert wieder das Pu¬ blikum mit beiden, dieſe popularen Sachen zu kau¬ fen und zu verſchlingen. Das Popularmachen geſchieht hauptſaͤchlich auf drei Wegen, durch Zeitſchriften, wohlfeile Ausgaben und Auszuͤge oder Handbuͤcher.

Die periodiſche Literatur iſt theils bloßen Anzeigen, theils Auszuͤgen und einzelnen kleinen Gei¬ ſtesprodukten gewidmet. In beiden Faͤllen iſt Popu¬ laritaͤt ihr erſtes und letztes Ziel. Alle Zeitſchriften ſind Wirthshaͤuſer, die nur der Gaͤſte wegen da ſind. Der anzeigende und rezenſirende Theil derſelben hat ſich bei der ungeheuern Zunahme der Buͤcher ſelbſt ſo unentbehrlich zu machen gewußt, daß er fuͤr eine bedeutende Menſchenmenge wirklich an die Stelle der Werke ſelbſt tritt. Man liest ſtatt der Buͤcher nur deren Rezenſionen. Mehrere hundert Zeitſchriften fuͤr alle literariſchen Faͤcher cirkuliren taͤglich in Deutſch¬ land, werden taͤglich von Millionen Leſern geleſen; und die Mehrzahl deutſcher Leſer liest mehr Zeitun¬ gen als ſelbſtſtaͤndige Werke. Wer nicht ein Gelehr¬ ter von Fach iſt, nimmt kaum etwas anders Ge¬ drucktes in die Hand, als auf Muſeen und in Leſe¬ cirkeln die neuſten Blaͤtter. So zerblaͤttert ſich die deutſche Literatur, indem ſie popular wird. Man kann die vielen in jedem Fach jaͤhrlich neu erſchei¬ nenden Werke nicht alle leſen, aber man will doch wiſſen was darin ſteht, alſo lechzt man nach Rezen¬ ſionen und Auszuͤgen.

Deutſche Literatur. I. 474

Bedeutendere Werke des In - und Auslandes, die man ganz zu haben wuͤnſcht, erſcheinen in wohl¬ feilen, in beiſpiellos wohlfeilen Ausgaben. Dieſe neue Erſcheinung im Buchhandel iſt gewiß von großer Bedeutung. Sie vollendet erſt die ſegensreiche Wirkung, die in der Erfindung der Buchdruckerkunſt vorbereitet wurde, denn es iſt nicht genug, daß die beſten Schriftwerke auf die leichteſte Weiſe verviel¬ faͤltigt werden koͤnnen, das Publikum muß auch in den Stand geſetzt werden, ſich dieſelben auf die leich¬ teſte Weiſe anzuſchaffen. Was hilft es den aͤrmeren Leſer, daß vorzuͤgliche Werke vorhanden ſind, wenn ſie nicht zum Beſitz derſelben gelangen koͤnnen? Offen¬ bar gewinnt das Publikum durch die Wohlfeilheit der beſten Geiſtesprodukte, und auch die Buchhaͤnd¬ ler koͤnnen dabei nur gewinnen. Der einzige Nach¬ theil, den dieſe wohlfeilen Ausgaben mit ſich brin¬ gen, beſteht darin, daß nicht immer die beſten Werke, ſondern auch mitunter die ſchlechteſten, wenn ſie nur Mode ſind, dadurch eine ſchaͤdliche Verbreitung er¬ langen, und daß die Erſcheinung guter neuer Werke durch die Menge der aͤltern erſchwert wird. Der Buchhaͤndler ſieht bei ſeinen wohlfeilen Ausgaben an¬ erkannter Werke einen ſichern Vortheil voraus, bei neuern Werken aber nur ein Riſico, da die Leſer und Kaͤufer der lezten ſich in dem Maß verringern muͤſſen, als die der erſtern ſich vermehren. Es ſteht zu erwarten, daß die wohlfeile Herausgabe der an¬ erkannten Buͤcher in ein foͤrmliches Syſtem gebracht75 werden wird, und daß dann neue Werke immer ſchwieriger durchdringen werden.

Man hat auch haͤufig dem Preßzwang Schuld gegeben, daß er viele ſchlechte Buͤcher veranlaſſe, und zum Theil mit Recht. Im Schatten bleibt manche Blume verſchloſſen, aber die Pilze ſchießen uͤppig auf. Indeß erſtreckt ſich der Preßzwang doch nur auf ge¬ wiſſe Zweige der Literatur, und in andern, die kein Cenſor beſchneidet, wird nicht weniger geſuͤndigt. Man kann nur ſagen, daß der Preßzwang den Geiſt der Nation uͤberhaupt verdumpft, indem er einzelne Äußerungen deſſelben unterdruͤckt, wie der ganze Koͤr¬ per krank wird, wenn ein Glied gelaͤhmt iſt.

Die Gewalt, welche die Schrift uͤber die Mei¬ nungen uͤbt, und der Einfluß der Meinung auf die Handlungen machen die Literatur zu einem wichtigen Gegenſtande der Politik. Sofern jeder Staat ein unbezweifeltes Recht ſeiner Exiſtenz anſpricht und ſo¬ mit nicht nur das Recht, ſondern auch die Pflicht der Selbſterhaltung ſich zuerkennt, muß er nothwen¬ dig dafuͤr ſorgen, daß die Literatur keine Meinungen verbreite, welche jener Exiſtenz gefaͤhrlich werden koͤnnen, und dies ſucht er vermittelſt der Cenſur zu erreichen. Ob aber jener Zweck, den das Staats¬ recht heiligt, dem allgemeinen Menſchenrechte nicht widerſpreche, ob er deßhalb erreicht werden koͤnne, und ob jenes Mittel, die Cenſur, das rechte Mittel ſey, das ſind andre Fragen.

4 *76

Der Menſch hat ein urſpruͤngliches Recht der Mittheilung und es entſteht ein nicht unbilliger Zwei¬ fel, ob ein Staat, welcher dieſes Recht nicht garan¬ tirt, vollkommen zu nennen ſey, und ob ein unvoll¬ kommner Staat eine ewige Exiſtenz anſprechen koͤnne. Aus der Mittheilung entſpringt alle Cultur, und die Cultur iſt der hoͤchſte Zweck der Menſchheit. Verbie¬ tet ein Staat die Mittheilung, ſo hemmt er die Cul¬ tur. Haͤtte der erſte Staat urſpruͤnglich zugleich das Recht und die Kraft gehabt, die Mittheilungen ſei¬ ner Buͤrger zu verbieten, ſo wuͤrde alle Cultur un¬ moͤglich geweſen ſeyn und wir wuͤrden noch auf der erſten Stufe ſtehn. Wir haben aber ſchon eine Menge Stufen zuruͤckgelegt, und wodurch? Entweder da¬ durch, daß der Staat jene Mittheilungen nicht ge¬ hemmt hat, oder dadurch, daß das Menſchenrecht uͤber das Staatsrecht geſiegt, und in Revolutionen die ſtrengen Staaten vertilgt und freiere neu geſchaf¬ fen hat.

Überlaſſen wir es alſo der Theorie, auf dop¬ pelte Weiſe einerſeits das Menſchenrecht, andrerſeits das Staatsrecht, und dort die Nothwendigkeit der Preßfreiheit, hier die der Cenſur zu vertheidigen, laſſen wir die Philoſophen und Staatsmaͤnner uͤber beides ſtreiten und halten wir uns lediglich an die Erfahrung. Sie lehrt uns, daß der Sieg immer an die Kraft gebunden iſt, daß einmal die freiſinnigſten und gebildetſten Nationen mit allen noch ſo gegruͤn¬ deten Deklamationen fuͤr die Preßfreiheit durch einen77 politiſchen Machtſpruch zum Schweigen gebracht wor¬ den ſind, und daß ein andermal auch die ſtrengſte Aufſicht und Kraftanſtrengung der politiſchen Gewal¬ ten die Verbreitung opponirender Meinungen nicht hat verhindern koͤnnen. Die Erfahrung lehrt ferner, daß die Preßfreiheit nach Umſtaͤnden einmal zu wah¬ rer Bildung, ein andermal zu zuͤgelloſer Ausſchwei¬ fung, der Preßzwang einmal zur wahren Beruhigung der Voͤlker, ein andermal zu allen Graͤueln des Deſpo¬ tismus gefuͤhrt hat. Ziehn wir aus allen Erfahrun¬ gen das Reſultat, ſo ergibt ſich, daß es niemals eine vollkommene Freiheit der Meinungen und Mit¬ theilungen gegeben hat, daß immer eine herrſchende Partei geweſen iſt, welche die Meinungen der unter¬ druͤckten Partei bevogtet hat, daß dagegen die Par¬ teien, namentlich die Anhaͤnger des Menſchenrechts und die Anhaͤnger des Staatsrechts, beſtaͤndig in der Herrſchaft gewechſelt haben, wodurch alle Mei¬ nungen zur Sprache gekommen ſind, und daß in die¬ ſem Wechſel die Cultur unaufhaltſam fortgeſchritten iſt. Das Staatsrecht war immer ſtark genug, den Ausſchweifungen der Freiheit einen Damm zu ſetzen, und das Menſchenrecht immer ſtark genug, ein Ver¬ ſteinern im Staate zu verhuͤten.

Was die Cenſur uns raubt, iſt weniger zu be¬ dauern, als was ſie uns bringt. Daß ſie die Wahr¬ heit zuweilen unterdruͤckt, iſt ſchlimm, aber noch ſchlimmer, daß ſie Unwahrheit und Halbheit hervor¬ ruft. Sie hat ohne Zweifel einigen Antheil an der78 oͤden Phantaſterie, die das praktiſche Leben flieht, und noch mehr an den ſchielenden Urtheilen, die na¬ mentlich in der politiſchen Literatur uͤberall vernom¬ men werden. Das Schwaͤrmen iſt uns erlaubt, vor¬ zuͤglich in einer unverſtaͤndlichen philoſophiſchen Spra¬ che, aber auf die praktiſche Anwendung unſrer Theo¬ rie duͤrfen wir nicht denken, auch wenn wir wollten. Mancher, der die Wahrheit ſagen will, huͤllt ſie ab¬ ſichtlich in Nebel ein, durch die ein gewoͤhnlicher Cen¬ ſor, aber auch das gewoͤhnliche Publikum nicht hin¬ durchſieht. Auf der andern Seite befleißigen ſich die Praktiker des nuͤchternſten empiriſchen Schlendrians und huͤten ſich wohl, auf die beſſere Theorie Ruͤck¬ ſicht zu nehmen, und die Faulheit wird durch eine politiſche Ruͤckſicht beſchoͤnigt. Endlich gibt es eine Menge Schriftſteller, die dicht unter der politiſchen Schneelinie nur zu einem kruͤppelhaften Wachsthum kommen, die, ohne perfid zu ſeyn, doch auch nicht ehrlich ſind, ohne zu luͤgen, doch auch die Wahrheit nicht zu verkuͤndigen wagen und in einer erbaͤrmli¬ chen Halbheit es zugleich dem Zeitgeiſt und der Cen¬ ſur recht machen wollen. Ihr Element iſt uͤberhaupt die Halbheit, und ſie fuͤhlen ſich in einer Zeit, wie die unſrige, ſo recht zu Hauſe. So ſehr ſie ſich auch in Tiraden gegen die Cenſur erſchoͤpfen, iſt ſie ihnen doch ſo bequem, als den Ultras. Sie ſetzen ſich alt¬ klug auf den Stuhl und geben ihr Orakel von ſich, mit dem Finger auf der Naſe ein geheimnißvolles Silentium gebietend, wenn es an eine Wahrheit79 kommt, jedes Etwas als zu viel abweiſend und je¬ des Nichts als wenigſtens Etwas beſchoͤnigend. Leute, die in einer etwas bewegten Zeit nicht den Mund aufthun wuͤrden, plaudern ſich jetzt ſatt. Jetzt erho¬ len ſie ſich von ihrem langen Schweigen. Jetzt, den¬ ken ſie, kommen wir an die Reihe. Sie verhehlen freilich auch nicht, wenn man ihnen mit Ernſt auf den Leib ruͤckt, daß ſie ein wenig ſeicht ſchreiben, aber ſie fluͤſtern uns pfiffig zu, das geſchehe mit Ab¬ ſicht, man muͤſſe leiſe auftreten, nur wenig zu ver¬ ſtehn geben, im Hinterhalt da ſtecke noch viel.

Die Cenſur, ſelbſt wenn ſie mit der groͤßten Ty¬ rannei gepaart iſt, kann doch den tiefen Athemzug des Lebens, die geiſtige Reſpiration nicht hemmen. Wenn man einem Vogel auch den Schnabel feſt zu bindet und die Fluͤgel bricht, ſo kann er noch durch die offnen Knochen athmen und leben.

Die Wahrheit kommt nicht abhanden, wenn man auch nicht auf jeder Straße druͤber fallen kann. Sie wurzelt deſto feſter im Gemuͤthe, je weniger man ſie von ſich geben und ſich an ihr heiſer ſchreien kann. Man legt gewoͤhnlich ein zu großes Gewicht auf das, was die Cenſur zu ſchreiben verbietet. Eine einzelne lokale Wahrheit, die man verſchweigen muß, wiegt jene Summen von Wahrheiten nicht auf, die jedem bekannt ſind. Eine Nation, der man den Preßzwang auferlegt, iſt gewoͤhnlich gebildet genug, um denken zu koͤnnen, was ſie nicht ſagen darf. Eine Mitthei¬ lung mehr oder weniger wuͤrde keinen großen Unter¬80 ſchied machen. Diejenigen alſo thun wohl, welche die Preßfreiheit weniger als etwas blos Nuͤtzliches oder Schaͤdliches, und mehr als eine Ehrenſache be¬ trachten. Der Nutzen oder Schaden iſt bei einer ge¬ bildeten Nation gewiß von geringer Bedeutung, die Ehre aber, welche die Preßfreiheit, und die Schande, welche der Preßzwang mit ſich fuͤhrt, ſie ſind es vor allem, die uns jene Inſtitute wichtig machen muͤſſen. Ich halte es fuͤr eine große Schande, wenn ein deut¬ ſcher Schriftſteller unvernuͤnftige Dinge in die Welt hinein ſchreibt, aber fuͤr eine noch groͤßere, wenn er es nicht thun darf.

Der Menſch hat von jeher ſeinen Gedanken ge¬ wiſſe Schranken vorgezogen, dieſelben aber immer wieder uͤberſprungen. Gerade indem er aͤngſtlich au den Schranken umhergeirrt, iſt er in wilde verzwei¬ felte Phantaſien gefallen und hat das Ärgſte ſich un¬ terfangen; indem er aber die Schranken niedergeriſ¬ ſen und allmaͤhlig weiter gekommen, hat er auch jene Irrthuͤmer und wilden Ausbruͤche hinter ſich gelaſſen, wie Traͤume und Unarten der Jugend. So verhaͤlt es ſich auch mit der Literatur, dem Spiegel des menſchlichen Denkens. An den Schranken, die ihr Staat und Kirche ziehn, wird ſie aͤngſtlich und to¬ bend umherirren und allerlei Ausſchweifungen begehn. Man goͤnne ihr eine dauernde Preßfreiheit, ſo wird ſie ſich von ſelbſt beſchwichtigen; man nehme ihr den Zuchtmeiſter, ſo wird ſie die Unarten von ſelber laſſen.

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Die Cenſur erſcheint ſehr oft dem Autor laͤcher¬ lich, indem ſie die unſchuldigſten Stellen eines Wer¬ kes durchſtreicht, und noch oͤfter der ganzen Leſewelt, indem ſie nicht nur einzelne Stellen, ſondern ganze Werke paſſiren laͤßt, die, wenn nicht unmittelbar, doch deſto ſicherer auf mittelbare Weiſe, den Geiſt foͤrdern, gegen den alle Cenſur gerichtet iſt. Die Cenſur iſt eines von den Inſtituten, welche die Halb¬ heit erfunden hat und die ihres Zweckes auf die Dauer beſtaͤndig verfehlen muͤſſen. Wollte ſie conſequent ver¬ fahren und ihrem Zwecke genuͤgen, ſo muͤßte ſie ge¬ radezu die ganze Literatur ausrotten, denn was ſie in neuen Werken ausſtreicht, leſen wir in alten, was ſie billigt, laͤßt uns auf das ſchließen, was ſie nicht billigt, und je ſtrenger ſie nur eine Anſicht der Dinge geltend machen will, deſto ſchaͤrfer wird durch den Gegenſatz die andre hervorgehoben.

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Religion.

Der religioͤſen Literatur gebuͤhrt der alte gehei¬ ligte Vorrang. Die goͤttlichen Dinge werden billig uͤber alle menſchlichen geſetzt. Dem heiligen Gegen¬ ſtande bleibt ſeine Wuͤrde, ſelbſt wenn er unwuͤrdiger behandelt erſchiene, als das Profane. Sollten wir mehr Geiſt fuͤr die weltlichen Wiſſenſchaften und Kuͤnſte aufwenden, als fuͤr die Religion, ſo bliebe die letztere nichtsdeſtoweniger der hoͤchſte Gegenſtand geiſtiger Beſtrebungen.

Religion iſt der den Menſchen eingepflanzte Trieb, ein hoͤchſtes Weſen anzuerkennen. Die Idee des hoͤchſten Weſens an ſich iſt die eine und gleiche in allen Menſchen, himmliſchen Urſprungs und unab¬ haͤngig von irdiſchen Modificationen. Die Art und Weiſe jedoch, wie die Menſchen dieſe Idee in ſich erkennen, ausbilden und darſtellen, iſt ſo verſchieden, wie die Menſchen ſelbſt, nnd faͤllt unter die Bedin¬ gung alles Irdiſchen, iſt einem Gegenſatz und einer Entwicklung unterworfen. Die einige Idee hebt die83 Mannigfaltigkeit der Anſichten, dieſe Mannigfaltig¬ keit hebt die Einheit der Idee nicht auf. Die Reli¬ gion hat das Eigenthuͤmliche, daß ſie Kraft der in ihr liegenden Idee immer eine ausſchließliche, Kraft der irdiſchen Bedingung immer eine einſeitige Anſicht des hoͤchſten Weſens enthaͤlt.

Die allen Menſchen angeborne Anerkennung eines hoͤchſten Weſens nennen wir den Glauben. Jeder Menſch glaubt an das hoͤchſte Weſen, an Gott, und die Idee deſſelben liegt allen noch ſo verſchiednen Anſichten zu Grunde, der Glaube geht der Art, wie man glaubt, unmittelbar voraus. Dieſer Glauben an Gott liegt allen religioͤſen Anſichten zu Grunde, die Anſichten aber ſind verſchieden, je nach dem menſchlichen Vermoͤgen und deren Ausbildung. Wir duͤrfen alle menſchlichen Vermoͤgen, in welchen der Glaube ſich ausſprechen kann, als ſinnliche, gemuͤth¬ liche und geiſtige bezeichnen. Der ſinnliche Glaͤubige ſieht Gott in der Sonne oder in der ganzen Natur, oder ſchafft ſich ein kuͤnſtliches Bild von ihm, und dient ihm in ſinnlichen Handlungen. Der Gemuͤth¬ liche empfindet Gott in den Gefuͤhlen der Ehrfurcht, Liebe, des Danks, der Furcht. Der Geiſtige denkt Gott und abſtrahirt ſich aus dem Begriff des hoͤch¬ ſten Weſens die hoͤchſten Geſetze der Natur und des Lebens. Dieſe Anſichten erſcheinen wieder nach dem Maaß der menſchlichen Ausbildung mehr oder weni¬ ger vermiſcht, und die Myſtik in der Bluͤthe des Mittelalters erkannte eine vollkommene organiſche84 Offenbarung des hoͤchſten Weſens zugleich an die Sinnen, das Herz und den Verſtand.

Eine Religion iſt ſinnlich, wenn ſie an die Offenbarung Gottes in der Sinnenwelt glaubt, und dieſelbe entweder in Pantheismus der Natur, oder in der geiſtigen Verklaͤrung der Natur zur Kunſt im Bilderdienſt erkennt. Eine Religion iſt verſtaͤndig, wenn ſie eine Offenbarung Gottes im Verſtand ſich conſtruirt, und das goͤttliche Geſetz logiſch abwaͤgt. Eine Religion iſt gemuͤthlich, wenn ſie eine Offen¬ barung Gottes in den Gefuͤhlen annimmt, eine un¬ mittelbare innre Erleuchtung, eine unſichtbare und unbegreifliche Ausgießung des heiligen Geiſtes. Eine Religion iſt aber myſtiſch, wenn ſie alle dieſe Of¬ fenbarungen vereinigt und mit allen Organen ihre Geſammtwirkung aufnimmt. In dieſer myſtiſchen Of¬ fenbarung erſcheint die Idee am umfaſſendſten; ob auch am reinſten, haͤngt von der Ausbildung ab, der auch die Myſtik unterworfen iſt. Die ſinnliche Re¬ ligion erkennt das Goͤttliche nur in ſinnlichen Vor¬ ſtellungen, die verſtaͤndige nur in Begriffen, die ge¬ muͤthliche nur in Gefuͤhlen. In der lebendigen Durch¬ dringung von ſinnlicher Vorſtellung, Begriff und Ge¬ fuͤhl zeigt ſich die ganze umfaſſende Idee. Die Bil¬ der Gottes, die Beſchreibungen Gottes, die Gefuͤhle Gottes ſind nur Beſtrebungen, zur Idee Gottes zu gelangen. Nur der hat die Idee Gottes, der ihn zugleich ſchaut, denkt und empfindet. Die Idee wird in dreifacher Emanation zum bildlichen Symbol, zur85 Verſtandesdefinition und zum Gefuͤhl des Herzens, nie zu einem allein, ſondern zu einem in allem, und allem in einem. Jede Religion ſtrebt nach dieſem myſtiſchen Glauben, und geht entweder in der Ein¬ ſeitigkeit unter, oder gelangt von der einen Offenba¬ rung durch Vermittlung mit den andern zur hoͤchſten. An dieſe Stufenleiter ſind alle hiſtoriſchen Religio¬ nen geknuͤpft.

In der hoͤchſten Bluͤthe des Mittelalters war das Chriſtenthum eine Zeitlang myſtiſch. Die Ge¬ ſchichte ſcheint damals bis zu einem Wendepunkt ge¬ diehen zu ſeyn, und den erſten großen Akt ihres Schauſpiels wuͤrdig beſchloſſen zu haben. Bis dahin draͤngten alle Kraͤfte zur Einheit; von da beginnt wieder die Entzweiung. Ein neues, hoͤheres, vielge¬ ſtaltigeres Leben bluͤht aus den Ruinen jener großen Vorzeit, und zum zweitenmal in weiterem Kreiſe ſchwingt die Geſchichte ſich um. In der Erinnerung der Vergangenheit liegt aber die Hoffnung der Zu¬ kunft aufgeſchloſſen, und wir leſen ihr Verhaͤngniß in den prophetiſchen Buͤchern der Geſchichte. Selbſt die Natur belehrt uns, daß die zweite Schoͤpfung das Geſetz der erſtern nur in hoͤhern Entfaltungen des Lebens wiederholt. So werden wir auch in dieſem zweiten Welttage den geheimnißvollen Zug aller ge¬ trennten Kraͤfte nach einer hoͤhern myſtiſchen Eini¬ gung nicht verkennen. In ihm liegt das Raͤthſel der Trennung ſelbſt aufgeſchloſſen. Keine andere Bedeu¬ tung hat dieſe Trennung als in der Idee der Ver¬86 Vereinigung. Von jener fruͤhern Einheit aber, von jener erſten Geſtaltung einer myſtiſchen Religion im Mittelalter muͤſſen wir auf doppelte Weiſe anerken¬ nen, daß ſie die Idee weit vollkommner offenbart hat, als es eine ſinnliche, gemuͤthliche oder verſtaͤndige Religion vermag, daß ſie aber zugleich einer noch niedern Stufe der menſchlichen Entwicklung angehoͤrt. Jenes erhebt ſie uͤber unſre neuern vereinzelten Be¬ ſtrebungen, dieſes ſetzt das meiſte, was wir als ver¬ einzeltes davon hervorheben moͤgen, unter dieſelben herab. Die neuere Entwicklung hat vieles ausgebil¬ det, was in jener Zeit noch roh erſcheint, aber nur in einzelnen Richtungen, die Idee hat ſie noch nicht wiedergeboren und darauf beruht die geheime Scheu oder Achtung vor dem Mittelalter, die den Gegner wie den Vertheidiger unwillkuͤrlich ergreifen, mag er ſich auch, wenigſtens im Verſtande, noch ſo erhaben uͤber jene Zeit fuͤhlen. Wenn jetzt der tiefe Sinn fuͤr Natur und Kunſt an eine ſeelenloſe Mechanik und Technik gewieſen iſt, ergreift uns wehmuͤthig die Erinnerung an eine Zeit, da der Glaube noch das aͤußere Zeichen beſeelte, da das Goͤttliche noch auf myſtiſche Weiſe mit dem Wunder der Schoͤnheit in der Natur und Kunſt verbunden war. Wir ſehen die Werke jener heiligen Kunſt mit ſtaunender Be¬ wunderung und fuͤhlen, daß wir zu ſchwach ſind, aͤhnliches hervorzubringen, weil die Idee uns fehlt. Wir haben das tiefe Beduͤrfniß, das Heilige auch in Natur und Kunſt zu ſuchen, aber der Verſtand ſpie¬87 gelt uns vor, daß wir es nimmer finden koͤnnen, und lenkt unſre bildende Kraft auf das Nichtige. Dieſer Verſtand ſelbſt entbehrt jener hoͤhern Weihe des Glau¬ bens und ſucht in aͤngſtlicher Haſt ihn aus ſich ſel¬ ber zu erzeugen als Überzeugung, wie das Facit einer Rechnung, und laͤßt, was er gewonnen, immer wieder fahren und ſucht weiter, was er niemals fin¬ den wird. Da denkt er mit geheimer Angſt und nicht ohne Neid an eine Zeit zuruͤck, da der Glaube noch den Begriff beſeelte, da das Goͤttliche noch auf myſtiſche Weiſe verbunden war mit den Gedanken, und eine heilige Ruhe und Zuverſicht in den Den¬ kenden wohnte. Das Gefuͤhl endlich, das jetzt bis zur Verzweiflung ſich verirrt, moͤchte zuruͤckfluͤchten in eine Zeit, da es der Glaube noch beſeelte, da das Goͤttliche noch auf myſtiſche Weiſe ſich ihm offen¬ barte und ein inniges ſtarkes Band des Vertrauens um die Seelen ſchlang, und das glaͤubige Gemuͤth zu Entſchließungen und Thaten begeiſterte, welche das Bluͤthenalter des menſchlichen Geſchlechts be¬ zeichnen. Allen aber muß die Einheit alles Lebens im Glauben, wie jene Zeit es offenbart, das hoͤchſte Wunder duͤnken. Bild, Gedanke, Gefuͤhl durchdran¬ gen ſich uͤberall. Was das Auge ſah, empfand das Herz; was das Ohr vernahm, klang in den tiefen Seelen an. Und des Gedankens kuͤhnſten und fein¬ ſten Getriebe waren wie Gold durchgluͤht vom Feuer religioͤſer Begeiſterung. So war in engorganiſcher Verbindung eine Kraft mit der andern verſchlungen. 88Das Goͤttliche, das dem Sinne als Weſenheit er¬ ſchien, offenbarte ſich dem Verſtande zugleich als Nothwendigkeit und dem Gemuͤth als Liebe. Gott war etwas wirkliches, etwas nicht allein, aber auch ſinnliches. Das Syſtem des Cultus, der Heiligen und Wunder erweiterte ſich bis zum Pantheismus. Man unterſuchte jedoch zugleich die innere logiſche Conſequenz des Goͤttlichen. Endlich war die pieti¬ ſtiſche Gluth des Herzensglanbens damals noch auf's innigſte mit dem aͤußern Cultus und mit der Scho¬ laſtik vermaͤhlt. Sinn, Verſtand und Gefuͤhl durch¬ drangen ſich auf myſtiſche Weiſe in der Idee, und das ganze Syſtem war myſtiſcher Idealismus, Ur¬ einheit der Ideen Weſenheit, Nothwendigkeit und Liebe in der Idee Gottes.

Vermoͤge des inwohnenden Pflegmas zog aber der Sinn die Menſchen abwaͤrts und loͤſte das ſchoͤne Band auf. Einſeitig in grobe Sinnlichkeit entartend, ſtieß der Katholicismus Verſtand und Gemuͤth von ſich, und es geſchah der ungeheure Riß wie in den Geiſtern, ſo in der Geſchichte der Voͤlker. Mit der Einheit war auch die Idee entwichen und das my¬ ſtiſche Wunder. Dennoch ſollen wir dieſen Wandel nicht beklagen, noch in thoͤrichter Selbſtverlaͤugnung die hoͤhere Bedeutung der neuen Entwicklung verken¬ nen. Die Idee iſt an keine Zeit gebunden, und wir werden ſie auf einer hoͤhern Stufe wiedergewinnen. Auf jener Stufe war ſie noch unvollkommen entwi¬89 ckelt, deswegen ging nicht die Idee, aber die unvoll¬ kommene Realiſirung derſelben unter.

Der erſte Blick in die Geſchichte des Chriſten¬ thums belehrt uns, daß es in den fruͤhern Jahrhun¬ derten mehr den Verſtand im Gegenſatz gegen die heidniſche Philoſophie, und das Gefuͤhl im Gegen¬ ſatz gegen den ſinnlichen Goͤtzendienſt der Heiden in Anſpruch nahm, daß aber, als das Chriſtenthum den vollſtaͤndigen Sieg erfochten hatte, die Sinnlichkeit ſie wieder herabzog, daß die ſinnliche Anſchauung des Goͤttlichen in Wundern, und die ſinnliche Anbe¬ tung in einem ceremonioͤſen Gottesdienſt wieder das Übergewicht erhielt, im Morgenlande durch Muha¬ med, im Abendlande durch die Paͤpſte.

Welcher Katholik, welcher dichteriſche Geiſt auch eine ſinnliche Offenbarung des Goͤttlichen zu glauben ſich gedrungen fuͤhlt, wird doch nicht laͤugnen, daß die Religion des Mittelalters in eine allzugrobe Sinnlichkeit ausgeartet, daß die goͤttliche Idee unter der Laſt ſinnlicher Bilder und Zeichen gleichſam er¬ druͤckt und verſchuͤttet, daß das Wunder gemein ge¬ macht worden iſt, und daß die Sinnlichkeit eine Herrſchaft ſich angemaßt, unter welcher der denkende Verſtand und das innige Gefuͤhl einen Zwang erlit¬ ten, gegen den ſie nothwendig ſich empoͤren mußten. Die herrſchende Kirche mißtraute dem Verſtand und die inhumanen Mittel ſind bekannt, durch welche ſie denſelben zu toͤdten bemuͤht war. Sie mißtraute dem Gefuͤhl und ſuchte daſſelbe durch aͤußere Werke zu90 uͤbertaͤuben. Wer die Gebete zaͤhlen mußte, konnte nicht mehr beten. Was Wunder alſo, daß der Ver¬ ſtand mit ſeinem alles durchdringenden Blitz endlich den ſtolzen Bau jener Kirche zerriß. Als er aber einmal zur Herrſchaft gekommen, war es eben ſo na¬ tuͤrlich, daß er ſeinerſeits in einſeitige Übertreibung verfiel. Er mißtraute jener Sinnlichkeit, der er einſt erlegen war, und verdammte mit den aͤußern Zeichen auch die Offenbarung Gottes in der Schoͤnheit, ja viele ſeiner Verfechter waͤhlten die Haͤßlichkeit mit Vorliebe, um nur jenem Einfluß der Schoͤnheit zu begegnen. Das Gefuͤhl aber konnte nicht aufkommen gegen die kriegeriſche Beſonnenheit jener Verſtaͤndi¬ gen, die in ihm zwar keinen Feind, doch einen zwei¬ deutigen Nachbar erkannten, bei welchem der Feind leicht Poſto faſſen koͤnnte, die ihm daher die Feſſeln des Wortes anlegten, wie der Katholicismus ihm einſt die der Werkthaͤtigkeit aufgedrungen.

Da fluͤchtete das mißhandelte Herz, die Gott¬ trunkenheit andaͤchtiger Seelen in die verfolgten Sek¬ ten des Pietismus. Aber auch ſie ſind in einer ſchroffen Einſeitigkeit befangen, worin ſie beſonders die Verfolgung fortwaͤhrend erhaͤlt. Sie ſind gleich¬ ſam ertrunken und aufgeloͤst in Gefuͤhlen und koͤn¬ nen weder die Wirklichkeit des Goͤttlichen, wie die Katholiken, noch das Geſetz des Goͤttlichen, wie die Proteſtanten, erfaſſen. Sie ſchwimmen im Nebelhaf¬ ten und Formloſen. Sie mißtrauen der Sinnlichkeit, weil ſie dieſelbe fuͤr eine Feſſel halten, weil ſie vom91 feſten Boden der Erde in ein unſichtbares Reich der Seligkeit verzuͤckt zu werden ſtreben. Sie mißtrauen dem Verſtande, weil er uͤberall Schranken erkennt, und das Überſchwengliche ſchlechterdings nicht duldet.

Dies iſt das große Schisma der Gemeinden in unſrer Zeit. So hat die Idee ſich wieder in Vor¬ ſtellung, Begriff und Gefuͤhl zerſetzt, die nun in hoͤ¬ herer Entwicklung ihre Vereinigung ſuchen muͤſſen.

Im gegenwaͤrtigen Augenblicke ſtehn die Par¬ teien auf dem Friedensfuß. Wenn auf der einen Seite die Polemik der gelehrten Theologen, ohne große Theilnahme des Volkes, fortwuͤthet, geſchehen auf der andern Annaͤherungen und Übergaͤnge. Der friedliche Zuſtand ruͤhrt zum Theil noch von der Er¬ mattung der fruͤhern Kaͤmpfe her, zum Theil von dem Vorwalten weltlicher Neigungen und Beſtrebun¬ gen, bei denen die Religion vernachlaͤſſigt wird. Im vorigen Jahrhundert zogen uns die Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, in dieſem zieht die Politik uns von der Betrachtung des Religionsſtreites ab. Iſt ſeit zehn Jahren wieder mehr von dem letztern die Rede ge¬ weſen, ſo iſt doch der Zeitgeiſt keineswegs vorzugs¬ weiſe fuͤr dieſe Angelegenheit geſtimmt. Erſt ſpaͤtere Zeiten werden die Raͤthſel loͤſen, die in unſern reli¬ gioͤſen Verwickelungen liegen. Die theologiſche Lite¬ ratur iſt der Spiegel des ganzen innern Lebens der Confeſſionen, und wir werden hier die wichtigſten Partien daraus betrachten.

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Nirgends zeigt ſich der Einfluß fruͤherer Ver¬ haͤltniſſe auf unſern heutigen Zuſtand ſo auffallend, als in unſrem Kirchweſen. Alles, was wir davon erblicken traͤgt das Gepraͤge der Vergangenheit, und welcher Vergangenheit? eines Kriegszuſtandes, der damit endete, daß beide Parteien in ſchlachtfertiger Stellung verſteinerten. Wir ſehen an den gewalti¬ gen Rieſen hinauf, die immerfort mitten auf unſerm belebten Markte ſtehen, und ſchauern ein wenig uͤber die Groͤße, oder uͤber die Wuth, oder uͤber das Todte der maͤchtigen Geſtalten. Es iſt in der That eine ganz einzige Lage, in der wir uns in kirchlicher Hin¬ ſicht befinden. Moͤchte ein verſchiedner Glaube im¬ merhin an getrennte Staͤmme oder wenigſtens Staͤnde ſich vertheilen, moͤchte der Haufen auf rohere, die Gebildeten auf feinere Weiſe glauben und beten, ſo waͤre das nichts beſonders, aber daß ein und dieſelbe Nation mit gleicher Naturanlage, gleichen Schickſa¬ len, gleicher Bildung und auf demſelben engen Bo¬ den zuſammengedraͤngt, ſich in ſo durchaus verſchiedne Kirchen, ohne Ruͤckſicht auf Stand und Bildung, ich will nicht ſagen getrennt hat, ſondern nur getrennt erhaͤlt, iſt wahrlich, ſo ſehr wir uns daran gewoͤhnt haben, doch immer außerordentlich. Die Urſache die¬ ſer Erſcheinungen aber, daß ſich dieſer Zuſtand er¬ haͤlt und uns nicht durchaus mißbehagt, liegt eben in jener Gewohnheit, die ſich allmaͤhlich einfinden mußte, nachdem beide Parteien weder ſiegen, noch fallen, noch laͤnger fechten konnten. Sie liegt aber93 ferner in dem Umſtande, daß die kirchlichen Fragen von wiſſenſchaftlichen, oͤkonomiſchen und politiſchen ein wenig beſeitigt worden ſind, und man ſich nicht ausſchließlich mehr fuͤr die Kirchenſache intereſſiren mag. Mitten im Frieden aber zeigt man ſich von Zeit zu Zeit die Waffen und macht drohende Bewe¬ gungen, die immer wieder von wichtigen politiſchen Bewegungen verſchlungen werden. Man darf be¬ haupten, unſre Zeit ſey ſo ſehr von politiſchem Intereſſe beherrſcht, daß die religioͤſen Bewegungen, die ſich zeigen, nur aus den politiſchen gefolgert werden koͤn¬ nen, daß ſie ſogar kuͤnſtlich durch dieſe erzeugt wer¬ den. Die einzige unabhaͤngige, rein religioͤſe Bewe¬ gung, die durch den Druck politiſcher Verhaͤltniſſe zwar genaͤhrt, aber auf keine Weiſe von der Politik organiſirt wird, iſt die pietiſtiſche, und auch aus die¬ ſem Grund muß man dem Pietismus mehr reelle Kraft zuſchreiben, als den verbrauchten Maſchine¬ rien andrer Parteien.

Die ganze Geſchichte des Chriſtenthums, ja ſo¬ gar des Heidenthums, und vielleicht auch des kuͤnf¬ tigen Chriſtenthums hat in Deutſchland und in der Literatur ihre Repraͤſentanten. In der katholiſchen Kirche ſtehen ſich noch immer die biſchoͤfliche und papiſtiſche Partei gegenuͤber, und von Zeit zu Zeit kommen noch bald Myſtiker, bald Dominikaner, bald Reformatoren zum Vorſchein. Die Proteſtanten re¬ praͤſentiren theils die aͤltern Chriſten, theils die kuͤnf¬ tigen, und bei ihnen erblicken wir nicht nur alle94 Waffen, die jemals zu den verſchiedenſten Zeiten und von den verſchiedenſten Seiten her gegen den Katho¬ licismus ſich gerichtet, ſondern, ſofern ihre Lehren poſitiv ſind, enthaͤlt ſie auch die Keime kuͤnftiger Ent¬ wickelungen. Die nun auf die Zukunft ſehn, finden im gegenwaͤrtigen Proteſtantismus noch mannigfache Gebrechen und ſomit herrſchen in dieſer Partei ſehr entgegengeſetzte Meinungen. Endlich hat ſich das Hei¬ denthum wie in den Überlieferungen der katholiſchen Kirche, ſo im Libertinismus einiger Proteſtanten eben¬ falls eine Stimme erhalten. Darf man ſich alſo uͤber die ungeheure Mannigfaltigkeit von Meinungen und Urtheilen, die uͤber Religion obwalten, noch verwun¬ dern? Die Stimmen vergangner Jahrtauſende miſchen ſich immerfort mit den heutigen, und will man ſie alle verſtehen, muß man ſich in allen Zeiten umſehen. Kein Zeitalter war ſo roh, daß es nicht in dem un¬ ſern einen Repraͤſentanten aufzuweiſen haͤtte, und man darf wohl auch ſagen, keines wird ſo edel ſeyn, dem nicht wenigſtens eine erhabne Ahnung des heutigen entſpraͤche. Den Fuß im Abgrund und Sumpf ragt dies Geſchlecht mit dem Haupt in ferne Sonnenhoͤhen.

Die Meinungen koͤnnten friedlich neben einander beſtehen, aber ſie kaͤmpfen, weil jede allein gelten will. Es gibt kein Volk, das ſo heterogene Elemente in ſich vereinigte, deſſen mannigfach modificirte Na¬ turanlagen und Charaktere ſo ſehr aller Normalitaͤt widerſtrebten, als das deutſche, und doch ſuchen wir allem eine Norm aufzuzwingen, uͤberall denken wir95 zuerſt an Normalzuſtaͤnde, Normalmenſchen und wol¬ len auch dann den unermeßlichen Reichthum verſchie¬ dener Entwickelungen nicht beachten, wenn ſie dem Normaliſiren entſchieden in den Weg treten. Selbſt die Naturwiſſenſchaft geht von Normalmenſchen aus, und beachtet alles, was der Gattung gemeinſam iſt, nur nicht, was die Individuen unterſcheidet. Wir haben noch keine Theorie der Geruͤche in den Pflan¬ zen und noch keine der Temperamente in den Men¬ ſchen. So geht man in der Politik immer von einem Normalzuſtand aus und will alle Menſchen nach ei¬ nem Maße meſſen. So will man auch in der Reli¬ gion keine Mannigfaltigkeit dulden, und wie ſehr dieſe allenthalben ſich kund gibt, in wie verſchiedene Glaubensweiſen die Deutſchen ſich trennen, will doch jeder die ſeinige zur alleinguͤltigen machen.

Die Frage nach der aͤußern Kirchenverfaſ¬ ſung iſt eigentlich ganz unabhaͤngig von der nach dem innern Lehrbegriff, und es iſt beinah ſchon jeder moͤgliche Lehrbegriff bei jeder moͤglichen Verfaſſung beſtanden. Es hat ein katholiſches Presbyterium, eine katholiſche Episcopalkirche ohne Papſt gegeben und der Katholicismus iſt der weltlichen Macht, hier dem Geſetz, dort dem Monarchen Unterthan worden, wie der Proteſtantismus. Es hat aber auch ganz artige proteſtantiſche Paͤpſte, Biſchoͤfe, Bannbullen und Ke¬ tzerrichter gegeben. Nicht die Art und Weiſe wie man Gott anbetet, nicht die Religion, ſondern die Menſchen und irdiſchen Verhaͤltniſſe machen hier die96 Änderungen. Die Religion wird hier ganz in die Politik hineingezogen, die Kirche ganz zum geſelligen Inſtitut, allen Tugenden und Laſtern der Geſellſchaft Preis gegeben.

Es kann nur zweierlei Grundformen der aͤußern Kirchenverfaſſung geben, die Hierarchie oder die po¬ litiſche Kirche, d. h. die Kirche iſt entweder von der weltlichen Macht unabhaͤngig, oder abhaͤngig. Die Hierarchie iſt entweder Regiment der Prieſter oder des Volks, im erſten Fall iſt ſie prieſterliche Monar¬ chie, oder Papſtthum, Ariſtokratie oder Episcopal¬ kirche, Demokratie oder Presbyterium, im letztern Fall iſt ſie geiſtliche Demokratie der Laien ſelbſt, mit Ausſchluß der Prieſter. Die politiſche Kirche ſteht unter dem weltlichen Regenten, er ſey Koͤnig oder Conſul, Menſch oder Geſetz, was fuͤr ſie einerlei iſt. Wichtiger aber iſt der Unterſchied, nach welchem ſie entweder die ausſchließliche oder nur die geduldete Kirche iſt.

In Deutſchland herrſcht gegenwaͤrtig die politi¬ ſche Kirche und zwar die monarchiſche, und zwar die nur geduldete. Wie die Proteſtanten durch ihr altes Kirchengeſetz, ſo ſind die Katholiken durch die Con¬ cordate und die Sektirer durch Schutzbewilligungen und alle insgeſammt durch die herrſchende Richtung des Zeitgeiſtes der weltlichen Macht unterworfen und dieſe iſt die monarchiſche. Da aber alle einmal vor¬ handene Confeſſionen bei einander geduldet werden, iſt keine die herrſchende. Wie auch hier das Papſt¬97 thum, dort das Episcopat, dort das Presbyterium, dort die pietiſtiſche Glaubensdemokratie mit ſchwa¬ chen Kraͤften Raum zu gewinnen ſucht, wie auch noch, wo eine Religionspartei uͤberwiegt, die Ausſchlie߬ lichkeit ſich zu erhalten trachtet, ſie werden alle nie¬ dergehalten durch die weltliche Macht und durch eine allgemeine europaͤiſche Politik, fuͤr welche die kirchli¬ chen Intereſſen nicht mehr Zwecke ſind, ſondern nur Mittel.

Was uͤber die politiſchen Verhaͤltniſſe der Kir¬ chen hin und her geſtritten wird, traͤgt den Charakter der Schwaͤche. Man verfaͤhrt von allen Seiten ſaͤu¬ berlich und der Widerſtand der Hierarchie iſt ſo ſel¬ ten oder ſo ſanft, als die Gewaltſtreiche der Politik es ſind. Man will vor allen Dingen Frieden; es ſcheint, man befinde ſich in der Nacht und wolle den Morgen abwarten, um ſich ins Geſicht ſehn zu koͤn¬ nen. Die Herrſchaft der Politik uͤber die Kirche be¬ dient ſich hauptſaͤchlich nur der ſtillen Gewalt des Zeitgeiſtes, um ſich ohne Skandal zu befeſtigen. Da der Zeitgeiſt fuͤr ſie iſt, ſo iſt ſie auch unabwendbar, welches auch ihr Recht ſeyn moͤchte; waͤre der Zeit¬ geiſt gegen ſie, wie im Mittelalter, ſo wuͤrde ſie eben ſo unterliegen.

Bei allem, was man fuͤr oder wider den Ka¬ tholicismus ſagt, kommt es vorzuͤglich darauf an, wie man ſich das Weſen deſſelben eigentlich denkt. Die meiſten ſehn darin einen todten Buchſtaben, nurDeutſche Literatur. I. 598die wenigſten eine lebendige Seele. Seine Verthei¬ diger ſelbſt legen dem Syſtem von Satzungen und Vorſchriften die Kraft bei, die ihn traͤgt und erhaͤlt, und ſeine Gegner zielen auf nichts anders, wenn ſie mit Buchſtaben gegen den Buchſtaben anziehn, und eine Satzung durch die andre, eine Auslegung durch die andre zu vernichten trachten. Das Weſen des Katholicismus iſt aber in keinem Buche zu ſuchen. Er iſt auf keinen Buchſtaben, ſondern auf die Men¬ ſchen gebaut; verbrennt alle ſeine Buͤcher, und es wird Katholiken geben nach wie vor. Dieſe Buͤcher thun ſo wenig als der Name zur Sache. Namen iſt Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsgluth. Zwar entſpricht der Katholicismus auch jetzt noch vorzugs¬ weiſe der ſinnlichen Richtung, allein es liegt doch in ihm noch die Ahnung jener Myſtik des Mittelalters, und ſie iſt es, die ihm die Herzen des Volks erhaͤlt. Noch liegt in ihm die Richtung nach organiſcher, den ganzen Menſchen umfaſſenden Erkenntniß und Anbe¬ tung Gottes. Noch haben die Sinne, das Gemuͤth, der Verſtand und das thaͤtige Leben gleichen Antheil an der Religion des Katholiken. Nur in dieſem Sinne iſt die katholiſche eine allgemeine Kirche, denn nur jene organiſche Erkenntniß bietet gleich der Erde dem himmliſchen Licht alle Seiten dar und iſt deßfalls die einzige, die auf Allgemeinheit Anſpruch machen kann. Was hier als Idee ausgeſprochen iſt, liegt wenig¬ ſtens als dunkel geahndetes Beduͤrfniß in der Seele des ungebildeten Katholiken und er findet es auch99 auf rohe Weiſe in ſeiner Kirche befriedigt. Er ſieht ſeinen Gott, er fuͤhlt ſich von ſeinem Daſeyn mit andaͤchtiger Leidenſchaft ergriffen, er denkt ihn und er handelt fuͤr ihn. Darum genuͤgt dem rohen Men¬ ſchen die katholiſche Religion, wie keine andre, und auch der gebildetſte wuͤrde ſich damit begnuͤgen, er wuͤrde keine andre mehr kennen, wenn bei ihm nicht einſeitig ein Organ vorherrſchte oder mit Hintanſe¬ tzung des andern ausgebildet waͤre, wenn die Zeit ſo weit vorgeruͤckt waͤre, um ſo viel umfaſſen zu koͤn¬ nen, als der vollendete Katholicismus an Bildung verlangt. Die Idee Gott mit allen Organen zu ver¬ nehmen und anzubeten, im Gegenſatz gegen alle an¬ dern Religionen, in denen nur das eine Organ vor¬ waltet, iſt aͤußerſt einfach, aber die Realiſirung ei¬ ner ihr entſprechenden Kirche uͤberſteigt das Vermoͤgen der Geſchlechter, die bis jetzt gelebt haben und leben. Ich wiederhole alſo, nur die Befriedigung jenes Be¬ duͤrfniſſes, wie ſie der gemeine Katholik auf rohe Weiſe in ſeiner Kirche findet, iſt die erhaltende Kraft, iſt das Weſen des Katholicismus, und die Buͤcher, die das Volk nicht einmal kennt, ſind nur einſeitige Ausfluͤſſe jener Kraft fuͤr die Gelehrten und gegen die Gegner, und allen Gebrechen der Wiſſenſchaft unterworfen. Wer ſie angreift, hat leichte Muͤhe, trifft aber den wahren Katholicismus nicht darin an. Alle Mißgriffe, ja alle Schaͤndlichkeiten derer, welche die Volksſtimme als echte Gottesſtimme Pfaffen nennt, haben der erhabenen Idee nichts von ihrer Wuͤrde5 *100rauben koͤnnen, wenn man es nur verſteht, die Sache von den Menſchen zu unterſcheiden.

Der Katholicismus iſt maͤchtiger außer, als in der Literatur. Er verſchmaͤht die Unterſuchung, es genuͤgt ihm an der Tradition, und er muß ſich ſogar der Suͤndfluth von Schriften entgegenſetzen, welche dieſe Tradition in den Schatten ſtellen koͤnnten. Von jeher war Tradition und Schrift im Widerſpruch. Als Omar Alexandrien erobert, ließ er die ungeheure Bibliothek dieſer Stadt, darin alle Schaͤtze des Wiſ¬ ſens jener Zeit aufbewahrt lagen, verbrennen, und gab den Grund dafuͤr an: ſteht in dieſen Buͤchern, was im Koran ſteht, ſo beduͤrfen wir ihrer nicht, denn wir haben den Koran ſchon, ſteht aber etwas andres darin, ſo muͤſſen ſie vertilgt werden, denn Gott iſt Gott, und Muhamed iſt ſein Prophet, und der Koran iſt ſein Wort, was daruͤber iſt, das iſt vom Übel. In aͤhnlicher Weiſe dachten jene Moͤnche, welche die Buchdruckerkunſt als die ſchwarze Kunſt bezeichneten, und in der That iſt ein Omarfeuer wirkſamer und conſequenter als ein catalogus libro¬ rum prohibitorum, waͤhrend der Grundſatz beider nur ein und derſelbe iſt.

Indeß hat der Katholicismus, wie die Geſchichte lehrt, ſich in ſich ſelbſt ſchon oft verwandelt, und den Zeiten und ihren Beduͤrfniſſen nachgegeben. Selbſt die Strenge jenes Grundſatzes gehoͤrt keineswegs ſeiner Idee, ſondern nur einer Zeitentwicklung an, und ſollte die Freiheit des Wiſſens auch nicht mit101 der Tyrannei der Kirche, einem Geſchoͤpf der Zei¬ ten, uͤbereinſtimmen koͤnnen, ſo kann ſie es doch mit der ewigen Idee des Glaubens. In dieſem Sinn haben neuere Katholiken, unter andern Goͤrres, auf der einen Seite den ſtrengſten Glauben, auf der an¬ dern das freieſte Wiſſen angeſprochen und durch die That gezeigt, wie beides im Katholicismus beſtehen koͤnne.

Die ſich aber auch nicht zu dieſer Hoͤhe der An¬ ſicht erheben konnten, haben doch der Zeit in ihren Entwicklungen folgen muͤſſen, und das verſchmaͤhte Wort ſelbſt ergriffen, um die gefaͤhrliche Waffe ent¬ weder unſchaͤdlicher fuͤr ihre Partei zu machen, oder ſie in ihrer ganzen Schaͤrfe gegen die Gegner zu kehren. In dieſer Weiſe ſah man, trotz dem Geſchrei der Moͤnche, die Gelehrſamkeit der Jeſuiten, wie trotz dem Geſchrei der Janitſcharen, das europaͤiſche Kriegsweſen unter den Tuͤrken entſtehn. Man durfte eine Armatur nicht verſchmaͤhen, die den Feind ſo maͤchtig machte und opferte Sitten und Maximen auf, um das Daſeyn zu retten. Die katholiſche Literatur hat demzufolge einen betraͤchtlichen Umfang erreicht, und umfaßt wenigſtens halb ſo viele Werke als die proteſtantiſche. Auch nimmt ſie, wie die Meßkata¬ loge beweiſen, mit jedem Semeſter zu.

Der Katholicismus hat die Nachtheile einer De¬ fenſive zu wohl kennen gelernt, daß er nicht die Of¬ fenſive, es koſte, was es wolle, wieder ergreifen ſollte. Und die Gegner haben ihm dafuͤr eben ſo102 viele Bloͤßen gegeben, als er ſehr geſchickte Vorfech¬ ter gefunden hat. An eine Contrereformation iſt zwar noch nicht zu denken, doch unverkennbar iſt die vorſchreitende Bewegung der katholiſchen Partei. In¬ deß iſt dieſe Partei uͤber das, was ſie eigentlich will, ſo wenig einverſtanden, als vielleicht irgend eine andre deutſche Partei, weit weniger als es die Geg¬ ner ihnen wider ihr Verdienſt zutrauen. Die conſe¬ quenteſten werfen ſich unbedingt dem Papſt in die Arme; unter dieſen ſcheinen wirklich einige ſich be¬ friedigen zu wollen, wenn auch Alexander VI. wieder aufſtuͤnde, andre dagegen hoffen wenigſtens immer auf den beſten heiligen Vater. Keineswegs ſind aber alle Verfechter des Katholicismus Ultramontaniſten, und dieſe gemaͤßigte Partei iſt noch immer von dem Geiſt jener beſſern Biſchoͤfe beſeelt, die zwiſchen Jeſuiten und Reformatoren, wie zwiſchen Berg und Gironde in der Mitte gern allgemeinen Frieden er¬ halten moͤchten. Die Maͤnner dieſer Partei wider¬ ſetzen ſich der Tyrannei des roͤmiſchen Stuhls und dem Eindringen jeſuitiſcher Soͤldlinge deſſelben, hal¬ ten ſich zu Fuͤrſten und Volk, befoͤrdern Moral und Unterricht, und wuͤrden ſich ſehr leicht mit einer ge¬ wiſſen proteſtantiſchen Partei, welche ſich im Sinn der anglikaniſchen Kirche dem Katholicismus naͤhert, verſtaͤndigen, wenn die politiſchen Verhaͤltniſſe und zum Theil die Blindheit proteſtantiſcher Zeloten nicht undurchdringliche Scheidewaͤnde zwiſchen ſie zoͤgen. Außer dieſen verdient allerdings die Partei der poe¬103 tiſchen Katholiken erwaͤhnt zu werden, weil ſie einen großen Einfluß auf die gebildeten und hoͤchſten Claſ¬ ſen uͤben. Dieſe Partei weiß entweder nicht, was ſie will, oder ſie will nur die Poeſie des Mittelal¬ ters wieder haben, und kennt in der Regel die poli¬ tiſchen Verhaͤltniſſe zu wenig, um ſich in dieſem Sinn zu intereſſiren. Sie wird daher nur ein Mittel fuͤr die Zwecke einer andern Partei, vorzuͤglich der Pa¬ piſten, weil in dem poetiſchen Bilde, das ſie ſich ent¬ worfen haben, der Papſt nothwendig den Mittel¬ punkt einnehmen muß. Es iſt ein großer Fehler der Proteſtanten, der aber fuͤr ihre Ehrlichkeit zu ſpre¬ chen ſcheint, daß ſie die Entzweiung ihrer Gegner nicht benutzen, ſondern vielmehr durch ihren Haß und Widerſtand deren Einigkeit ſo viel als moͤglich be¬ foͤrdern. Was wollen die, die ihr immer verwech¬ ſelt? die Einen wollen unumſchraͤnkte Despotie des Papſtes, die Andern eine allgemeine friedliche Kirche, die Dritten eine religioͤſe Kunſt. Dieß ſind ſehr ver¬ ſchiedene Dinge.

Das Papſtthum iſt freilich durch ſeine eigne Schuld in argen Verfall und noch groͤßern Mißcre¬ dit gerathen. Welche Demuͤthigung hat es erfahren muͤſſen, und wie hat es ſich durch eigne Laſter lange Zeit geſchaͤndet und gegen ſich ſelbſt gewuͤthet. Es iſt alſo nicht zu verwundern, daß die Papiſten einer¬ ſeits an ihre alte Idee und an die alte Achtung vor derſelben appelliren, andrerſeits an die Gegenwart104 ſich halten, auf ihre Ruinen ſich verſchanzen und ver¬ zweifelte Ausfaͤlle thun.

Wir muͤſſen die Idealiſten des Ultramonta¬ nismus von den Materialiſten deſſelben trennen. Jenen iſt es um die Idee, dieſen nur um die mate¬ rielle Exiſtenz zu thun. Jene ſind daher ſtreng ge¬ gen die Mißbraͤuche der Kirche ſelbſt, weil ſie die Idee entweihen, dieſe dagegen geben dieſe Mißbraͤuche keineswegs zu, ſondern erklaͤren ſie fuͤr ſo heilig, als die Idee ſelbſt. Der Papſt ſteht demzufolge, wie die Bourbonen zwiſchen Ideologen und Praktikern, von denen die Einen fuͤr das Mittelalter predigen, die Andern fuͤr die Gegenwart handeln. Man kann die Einen auch Romantiker, die Andern Jeſuiten nen¬ nen, und muß ſie wohl von einander unterſcheiden. Jene ſind unabhaͤngige Geiſter, dieſe Sclaven. Jene trennen ſehr genau Idee und Erſcheinung, dieſe hal¬ ten ſich nur an die letztre. Jene vertheidigen fuͤr den Papſt die Idee der alten Kirche, gegen ihn zu¬ gleich die Freiheit des Wiſſens; dieſe bekuͤmmern ſich wenig um die Idee, wenn ſie nur das freie Wiſſen unterdruͤcken koͤnnen, damit man die Erſcheinung beſ¬ ſer glaube. Kurz, jene ſind die Helden einer ewigen Idee, dieſe die Kopffechter einer vergaͤnglichen Er¬ ſcheinung. Die Gegner des Katholicismus uͤberſehn dieſes Verhaͤltniß faſt immer und bezeichnen auch die Ideologen, wie z. B. Goͤrres, mit dem Eckelnamen Jeſuit. Es ſind gerade die Unfreieſten unter den Proteſtanten, welche die Freiheit der, katholiſchen105 Idealiſten nicht einzuſehn vermoͤgen. Leute, die nach Freiheit ſeufzen, weil ſie im eignen Geiſt ewig ge¬ feſſelt ſind, erkennen auch die Freiheit im andern nicht, oder ſehn im Spiegel ihrer Verkehrtheit jeden in demſelben Maaß fuͤr unfreier an, als er freier iſt. So hat eine ganze Bande unfreier Seelen ſich vereinigt, den genialen Goͤrres, deſſen Werke ein Triumph geiſtiger Freiheit ſind, gleichſam durch Oſtracismus aus dem deutſchen Sternenhimmel her¬ auszuwerfen. Die Anſicht, von der ſie ausgehn, iſt ſicher die unfreieſte, die es geben kann. Sie ſchrei¬ ben einem Glauben, in ſeiner bloßen formellen Äuße¬ rung alle Macht uͤber den Menſchen zu, da umge¬ kehrt vielmehr der Menſch die Macht uͤber den Glau¬ ben uͤbt. Sie waͤhnen, daß, ſo gut wie ſie ſelbſt mit dem Siegel des Proteſtantismus geſtempelt, ſofort aus Schafen gebildete und freie Menſchen geworden waͤren, auch auf der andern Seite jeder Menſch, durch das Siegel des Katholicismus geſtempelt, noth¬ wendig ein Barbar und unfrei werden muͤſſe, und ſie haben keine Ahnung davon, daß der Katholicis¬ mus im Geiſt eines genialen Menſchen eine eben ſo wuͤrdige Geſtalt annehmen koͤnne, als der Proteſtan¬ tismus in dem ihrigen allerdings in eine unwuͤrdige karrikirt wird.

Es gibt uͤber alle Verderbniſſe des Katholicis¬ mus weit erhaben, noch kraͤftige, reine Naturen, rie¬ ſenhafte Genien, in denen die Idee wiedergeboren wird, denen der Myſticismus des Mittelalters or¬106 ganiſch inwohnt, wie er ganzen Generationen der Vergangenheit ingewohnt. Unſtreitig hat es zu allen Zeiten Charaktere gegeben, die als Repraͤſentanten einer andern kuͤnftigen oder vergangenen Zeit betrach¬ tet werden muͤſſen. Wie im Mittelalter ſelbſt Arnold von Brescia, Petrarca und andre Vorboten der neuen Zeit, und von proteſtantiſch-republikaniſchem Geiſt durchdrungen geweſen, ſo hat unſre Zeit wieder ihre Repraͤſentanten des Mittelalters, die nicht auf eine aͤußere Weiſe durch Liebhaberei an jene Vergangen¬ heit geknuͤpft, ſondern innerlich von ihrem Weſen be¬ ſeelt, organiſch mit ihr verwachſen ſind. Sie leben, denken und empfinden nur im Sinn des Mittelalters, alles tritt ihnen unter dieſen Geſichtspunkt, und wenn ſie zugleich die Bildung der neuern Zeit in ſich aufgenommen, ſo huldigt dieſelbe doch der mittelal¬ terlichen Idee, und dient nur, das Licht derſelben in einer neuen Welt von Bildern, Gedanken und Em¬ pfindungen auszuſtrahlen. In dieſer Weiſe haben Tieck und Goͤrres uns die Tiefen jener Weltanſicht offenbart, die als die bewegende Seele einer der groͤßten Epochen der Geſchichte mit der Entwicklung des Geſchlechts innig zuſammenhaͤngt und in der menſchlichen Natur tiefe Wurzeln geſchlagen, eine Weltanſicht, die dem Mittelalter unter den Bedin¬ gungen einer reichern Natur und einer minder vor¬ geſchrittenen Cultur offenbart worden, deren Vermitt¬ lung fuͤr den Culturzuſtand in unſrer Zeit aber noth¬ wendig einmal erfolgen mußte. Tieck hat als Dich¬107 ter in der poetiſchen Auffaſſung des Lebens, der Kunſt und der Charaktere des Mittelalters, Goͤrres als Philoſoph in der reifſten organiſchen Entfaltung der altkatholiſchen Grundidee, jene Myſtik wieder¬ weckt und ihr Raͤthſel uns geloͤst. Franz Baader hat ſogar den Verſuch gemacht, die ſpaͤtere Myſtik, die aus dem Pietismus der Proteſtanten hervorge¬ gangen, namentlich die Myſtik Jakob Boͤhmens, fuͤr den Katholicismus zu vindiciren. Dergleichen Er¬ ſcheinungen ſind bedeutungsvoll, da ſie eine Annaͤhe¬ rung der nur dem Namen nach getrennten, der Idee nach verwandten Parteien bezeichnen.

Indem ſolche freie Geiſter ſich uͤber die hiſtori¬ ſchen Entwickelungen und uͤber den materillen Ver¬ fall der Kirche erhoben haben, ſind ſie ſehr verſchie¬ den von den befangenen Geiſtern, welche nur die Erſcheinung, die gegenwaͤrtige, verderbte anerkennen und vertheidigen, wiewohl ſie dieſen wenigſtens ge¬ gen die Proteſtanten gelegen kommen. An den Ver¬ tretern einer hinfaͤlligen Erſcheinung mag man frei¬ lich vieles auszuſetzen finden, doch ſoll man nicht vergeſſen, was die Barbarei, die jeden Kriegszuſtand begleitet, dabei verſchuldet hat, ſo gut wie manche Gebrechen des Proteſtantismus durch denſelben Um¬ ſtand entſchuldigt werden. Der Glauben iſt das Schoͤnſte im Reich der Geiſter, wie das Weib das Schoͤnſte in der Natur. Beide verzerren ſich in die aͤußerſte Haͤßlichkeit, wenn ſie ſtatt Liebe Haß fin¬ den, und in ohnmaͤchtigem Kampfe doch nicht ſterben108 koͤnnen. Beide treibt die Verzweiflung eines unna¬ tuͤrlichen Verhaͤltniſſes auch zu eigner Unnatur, die ihnen zuletzt zur andern Natur wird. Die Suͤßig¬ keit, das Vertrauen und die ſtille Macht der Liebe werden Gift, Verrath, Gewaltthat.

Es iſt in der That ein erhabenes und aͤcht tra¬ giſches Schauſpiel, das uns die alte Kirche gewaͤhrt, bald Medea, bald Niobe, bald Entſetzen, bald Weh¬ muth erweckend. Unheilbar verwundet, kann ſie doch nicht ſterben. Von einer Fuͤlle innerer Ideen ge¬ ſchwellt, findet ſie nirgends Raum. An Herrſchaft und Liebe gewoͤhnt, findet ſie keine Arme und keine Herzen. Wie der alte Koͤnig Lear ward ſie verſto¬ ßen und mußte betteln von den kaiſerlichen Schwie¬ gerſoͤhnen und ward mißhandelt, gepluͤndert, gefan¬ gen, und ſah die geliebte und verkannte Cordelia, des Herzens tiefen Glauben, grauſam gemordet. Jetzt hat man ſie endlich wieder befreit und ehrt ihr Alter und laͤßt ſie wieder regieren unter einer ſanften Vor¬ mundſchaft. Sie lebt nun auf, aber was ſoll aus ihr werden? Mit ihrem Anſpruch auf die hoͤchſte Autoritaͤt tritt ſie wieder in die Mitte ſo vieler andrer Anſpruͤche, die Gewalt und Beſitz und das Zeitalter fuͤr ſich haben. Mit Liebe ſoll ſie regieren, und die Sklaven, die ſich ihr zum Dienſt aufdraͤn¬ gen, kennen nur Liſt und Gewalt.

Der Ultramontanismus hat es ſeit der Refor¬ mation wohl gefuͤhlt, daß er mit doppelter Zunge reden muͤſſe, mit der goͤttlichen und menſchlichen, mit109 der einen, um Befehle zu geben, mit der andern, um die Gemuͤther fuͤr den Gehorſam zu bearbeiten. Die zweite Stimme wurde den Jeſuiten anvertraut, und abgeſehn von dieſem Namen vernehmen wir ſie noch heute, ja in der juͤngſten Zeit der Reſtauration weit oͤfter, als in der vorhergehenden der Revolutionen. So lange das Zeitalter roh, ungeſchlacht und unver¬ ſchaͤmt war, mußten die Jeſuiten vorzuͤglich Feinheit gebrauchen, weil ſie den Feind nur von hinten her anfallen konnten. Nun das Zeitalter in dieſer Schule ſelber fein genug geworden iſt, muͤſſen ſie es umge¬ kehrt mit der Unverſchaͤmtheit verſuchen, weil ſie dem vorſichtigen Feind ſo geradezu von vorn unver¬ ſehens kommen, und ihn aus der Faſſung bringen. Dieſer Kriegsmanier getreu, ſtudiren ſelbſt die Klu¬ gen unter ihnen auf Dummheit, und ſtellen ſich ſo brutal als moͤglich, was auch zum Theil deßwegen nothwendig iſt, weil ſie es jetzt auf den Poͤbel abge¬ ſehn haben, waͤhrend ſie ehemals nur die hoͤhern Staͤnde zu uͤberliſten trachteten. Zur Zeit der Re¬ formation galt es ihnen, die Anſpruͤche des Volks durch die Fuͤrſten, jetzt gilt es ihnen, die Anſpruͤche der Fuͤrſten durch das Volk in Schranken zu halten. Damals richtete ſich die Einſicht des Volks gegen den Glauben, jetzt richtet ſich die weltliche Macht gegen die Hierarchie.

Wer mag es laͤugnen, daß es neben jenen geni¬ alen Ideologen und neben den ehrwuͤrdigen und fried¬ lichen Prieſtern der Kirche auch eine, in Deutſchland110 nur geringe Anzahl von Aſſaſſinen der ſieben Berge gibt, die ſich, eine zweite Judenſchaft, zu Kammer¬ knechten des heiligen Stuhls aufgedrungen und auf den Maͤrkten auch der Literatur umherſchleichen und uns auch dießmal ſtatt des Ablaſſes, der ſehr charak¬ teriſtiſch die Reformation bezeichnet, jetzt Feſſeln brin¬ gen, die eben ſo charakteriſtiſch das Zeitalter der Reſtauration bezeichnen. Man kann ſie wie die Ju¬ den in altteſtamentaliſche Schwaͤrmer und in Schlau¬ koͤpfe eintheilen, und wo ſie ſich anlegen, gibt es Schmutz. Dieſer Schmutz, womit ſie alles, was die Entwicklung der Zeit dieſſeits der Reformation ſe¬ gensreiches mit ſich gebracht, auf empoͤrende Weiſe beſudeln, ihre dummdreiſte Verlaͤugnung aller Erfah¬ rung, des Zeitgeiſtes und der Cultur, und die wider¬ liche Affectation, mit der ſie dennoch einen philoſo¬ phiſchen Styl erkuͤnſteln moͤchten, ihre unverſchaͤmte Zelotengeberde, die Blutgier, die uns aus ihrem Wolfsrachen unter dem Schafpelz entgegenlechzt, und die Raffinerie, womit ſie Perſonen verlaͤſtern und verfolgen, um in den Haͤuptern die Heerde zu ſchla¬ gen, alle dieſe Kunſtgriffe ſtempeln ihre Werke zu dem Elendeſten, was die Literatur hervorbringen kann, und Dank ſey es der Wachſamkeit der Prote¬ ſtanten, die wenigſtens die Ehre der Literatur rettet, indem ſie wie ein reinlicher Hauswirth den Schmutz auskehrt, ſollte ſie auch die Gefahr, die davon droht, zu ſehr uͤberſchaͤtzen. Dieſe verzweifelten Zeloten ſind der großen gemaͤßigten Partei unter den Katholiken111 ſelbſt verhaßt, und die Proteſtanten wiſſen ſie von ſich abzuhalten. Sie beflecken mehr, als ſie ſchaden, und man kann ihre Tiraden, wenn man Luſt hat, als Proben deutſcher Preßfreiheit ſogar ſchaͤtzen. Sollte jedoch das Jahrhundert wirklich ſo einfaͤltig ſeyn, ſich durch ihre Capuzinaden bekehren zu laſſen, ſo waͤre es werth, bekehrt zu werden.

Eine ſehr achtbare Partei unter den Katholiken iſt jenen Umtrieben des Ultramontanismus durchaus fremd, und vertritt zwar die allgemeine Kirche, aber nicht die unbedingte Herrſchaft Roms und den Mi߬ brauch derſelben. Sie will Frieden und Eintracht, und deshalb auch Verſoͤhnung der Kirche mit den dringendſten Anforderungen des Zeitgeiſtes. Sie folgt dem guten Beiſpiel der Proteſtanten in Ruͤckſicht auf Bildung und ſucht im Geſchmack Joſephs II. auch im Dunkel jener Kirche eine gewiſſe Aufklaͤrung zu ver¬ breiten. Sie traͤgt zur Verbeßrung der Schulen bei, und vermehrt und reinigt die Unterrichts - und Er¬ bauungsbuͤcher, wobei freilich eine arge Proſa unter¬ laͤuft. Sogar die Bibel wird in einer aͤußerſt nuͤch¬ ternen Überſetzung verbreitet, endlich wird Toleranz gepredigt und namentlich gegen die Mitbuͤrger deſſel¬ ben Staates, und der beſtehende Staatsverband wird den Feſſeln Roms gegenuͤber in Schutz genommen und angeprieſen. Auf dieſe Weiſe neigt ſich die hier bezeichnete Partei allerdings zur politiſchen Kirche der Proteſtanten, und die Mitglieder dieſer Partei, die am weiteſten gehn, treten auch in die Tochter¬112 kirche uͤber, ſobald die ſtrenge Mutter ſie verfolgt, wie wir mehrere bekannte Beiſpiele erlebt haben. Indeß herrſcht in dieſer Partei, wie in jeder gemaͤ¬ ßigten, zu wenig Selbſtſtaͤndigkeit und Kraft, und ſie iſt ein Spielzeug in der Hand bald der paͤpſtlichen, bald der weltlichen Macht, je nachdem die eine oder andre uͤberwiegt. Auch ſind die Unterſchiede ihrer und der proteſtantiſchen Lehre zu groß, und die Ei¬ ferſucht der Parteien zu blind, als daß ein eigentli¬ cher Übergang der einen in die andre moͤglich wer¬ den koͤnnte.

Die poetiſchen Katholiken werden von der ſchoͤnen ſinnlichen Seite des Katholicismus, von der Myſtik ſeiner Ideen, und nicht minder von den Wun¬ dern ergriffen, die er in der Geſchichte und in der Kunſt hervorgebracht. Ihr reizbares Temperament liebt die erhabenen Eindruͤcke der Kirchenpracht, ihr Sinn fuͤr das Schoͤne vertieft ſich in die Zauber der religioͤſen Kunſt; ihr gluͤhendes Gefuͤhl ſchwelgt in Andacht und Begeiſterung und gibt ſich am heiligen Ort, in heiliger Stunde der ſchoͤnen Ahnung einer naͤhern Gegenwart Gottes hin; ihre geſchaͤftige Phan¬ taſie findet in der Mannigfaltigkeit der religioͤſen Mythen, Bilder und Gebraͤuche alle Befriedigung, deren ſie bedarf, ihre Neigung zum Überſinnlichen, ihr Hang nach myſtiſchen Raͤthſeln, ihr Tiefſinn, der immer das am liebſten zum Gegenſtande der Betrach¬ tung waͤhlt, was jenſeits der Grenzen des Wiſſens liegt, und ſelbſt die Verwegenheit ihres ſcharfen Ver¬113 ſtandes, in immer tiefern Speculationen den Urgrund des Daſeyns zu ergruͤbeln, findet in den Myſterien des katholiſchen Glaubens eine reiche Nahrung; end¬ lich die Vorliebe fuͤr das Alterthuͤmliche, das den poetiſchen Gemuͤthern eigen zu ſeyn pflegt, findet in den Erinnerungen des Katholicismus, in den gewal¬ tigen und ruͤhrenden Bildern des Mittelalters wie die ſchoͤnſten Gegenſtaͤnde des Genuſſes, ſo die wuͤr¬ digſten Stoffe fuͤr den darſtellenden Kunſttrieb. Wenn man das Daſeyn vieler warmen, ſinnlichen, poeti¬ ſchen Seelen nicht laͤugnen kann, ſo muß man auch zugeben, daß ſie ganz vorzuͤglich vom Katholicismus ergriffen werden muͤſſen, und ihre bedeutendſten Schrif¬ ten beweiſen hinlaͤnglich, daß ihre Begeiſterung rein aͤſthetiſch und auf keine Weiſe erheuchelt iſt. Es ge¬ hoͤrt daher nur zu den Thorheiten ihrer uͤberreizten Gegner, unter ihnen verkappte Jeſuiten zu wittern, und alle ihre poetiſche Begeiſterung nur fuͤr ein Blend¬ werk zu halten, und auszugeben, hinter welcher ſich nur boshaftes Raffinement hierarchiſcher Abſichten ver¬ ſtecke. Namentlich hat Voß dieſe gehaͤſſige Meinung ausgeſprochen, ein Mann, der uͤberall nur Schwarz und Weiß und keine Farbe gekannt zu haben ſcheint. Die poetiſchen Katholiken haben ſich in andaͤchtigen Herzensergießungen, in hiſtoriſchen und poetiſchen Schilderungen und zum Theil in polemiſchen Schrif¬ ten geltend gemacht. Wie der ſchoͤne ſinnliche Got¬ tesdienſt der Gegenſtand ihrer Neigung iſt, ſo iſt der nuͤchterne, verſtaͤndige ein Gegenſtand ihrer Abnei¬114 gung. Überdem iſt es gewoͤhnlich der ſtrenge Gegen¬ ſatz ihrer angebornen Natur und ihres anerzognen Glaubens, der ſie zu ſo eifrigen Vertheidigern des Katholicismus gemacht hat; es ſind gewoͤhnlich ur¬ ſpruͤnglich Proteſtanten, die in ihrer Kirche ſich nicht befriedigt gefunden und Proſelyten geworden ſind. Geborne Katholiken werden von Jugend auf an ihre Kirche gewoͤhnt, Proteſtanten erſcheint ſie neu, wun¬ derbar, und der Contraſt, der ſie zum Übertritt ver¬ anlaßt, erweckt ihnen auch den Eifer, der alle Pro¬ ſelyten auszuzeichnen pflegt.

Man hat vorzuͤglich bemerkt, daß die meiſten jener poetiſchen Gemuͤther in Rom bekehrt werden, daß der Anblick dieſer Stadt den Eindruck aus ſie macht, der ſie zu einem, wie man nicht laͤugnen kann, ſo gewagten Entſchluß bringt. Dies beweist aber gerade, von welcher Seite ſie den Katholicis¬ mus betrachten. Es iſt nicht ſowohl der Glaube, der hier und dort derſelbe iſt, ſondern die ſchlechte Dorf¬ kirche, die ſie hier kalt laͤßt, und das prachtvolle Rom, das ſie dort mit den gewaltigen Eindruͤcken der Kunſt bezaubert.

An die poetiſchen Katholiken hat ſich eine Schar armer Suͤnder angeſchloſſen, uͤber welche die Pro¬ teſtanten ein gewaltiges Geſchrei erhoben haben. Es gibt naͤmlich viele ſinnliche und verſtandesſchwache Menſchen, die eben ſo ſtark zur Suͤnde hingetrieben werden, als ſie ſich vor dem dunkeln Verhaͤngniß fuͤrchten, das ſie ſtrafen ſoll. Solche fluͤchten, be¬115 ſonders im Alter, in den Schooß einer Kirche, die ihnen Vergebung aller Suͤnden unbedingt gewaͤhren kann, waͤhrend ihnen der Proteſtantismus die ſchwere Bedingung der Beſſerung auflegt. Nachdem ſie alle phyſiſchen und geiſtigen Wolluͤſte durchgenoſſen, ſu¬ chen ſie jene alleinſeligmachende Mutter auf und moͤch¬ ten gerne, von ihrer Liebe getragen, lebendig zum Himmel fahren. Doch gibt es auch wieder andre, die zwar ziemlich moraliſch leben, aber eine ganz er¬ baͤrmliche Furcht vor dem alten Adam, vor der Erb¬ ſuͤnde und vor allen den Fehlern haben, die ſie un¬ bewußt begehen, und die ſie um die Seligkeit zu bringen drohen. Um alſo auf alle Faͤlle ſicher zu ſeyn, ergeben ſie ſich in die Gnade des Apoſtels, der das Amt der Schluͤſſel fuͤhrt. Nach dem Maaß ihrer Suͤnd¬ haftigkeit machen die erſtern auch mehr, als die letz¬ tern von der Gnade Geraͤuſch und uͤbertaͤuben ſich ſelbſt und andre mit ihren Verſicherungen. So talent¬ voll aber auch einige dieſer gefallenen Engel den Ka¬ tholicismus geprieſen haben, ſie laſſen doch immer einen Reſt zuruͤck, der nicht aufgeht, ihr irdiſch Theil von Selbſtbetrug oder Schmutz, der dann mit dem Heiligen, das ſie verfechten, in den auffallendſten Contraſt tritt und mit Recht jeden ehrlichen Mann indignirt.

Wenden wir uns zur proteſtantiſchen Lite¬ ratur, ſo kann uns nicht entgehn, daß ſie ungleich der katholiſchen eine hoͤhere Bedeutung fuͤr die Con¬ feſſion und einen groͤßern Einfluß auf die Confeſſions¬116 verwandten hat. Die Katholiken pflanzen ihr Syſtem durch einfache Tradition und aͤußere Zeichen fort, ſie verlangen blinden Glauben und Gehorſam ohne alle Reflexion. Die Proteſtanten dagegen wollen uͤber¬ zeugen und uͤberzeugt ſeyn und verlangen eine ſtets erneute Pruͤfung des Syſtems. Darum ſind das Wort und die Schrift die Fundamente, deren ſie nicht ent¬ behren koͤnnen. Unterricht, Predigten und Buͤcher ſind von der Lehre der Proteſtanten unzertrennlich. Dies verleiht natuͤrlich der proteſtantiſchen Literatur an Maſſe und Erudition ein unverhaͤltnißmaͤßiges Über¬ gewicht uͤber die katholiſche, ſetzt ſie aber auch allem Verderben der Vielſchreiberei aus.

Wer wollte nicht erkennen, daß der gewaltige Umſchwung des Denkvermoͤgens und der Sprache, der die Hoͤhe der literariſchen Bildung, auf welcher wir jetzt glaͤnzen, herbeigefuͤhrt hat, unmittelbar an die Anfaͤnge des Proteſtantismus geknuͤpft iſt. Wie jener titanenhafte Held, der die Blitze des Capitols in gewaltiger Hand aufgefangen, und auf die alten Goͤtter zuruͤckgeſchleudert, zugleich des Wortes und der Schrift vor allem maͤchtig war, und in ſeiner deutſchen Bibel den Felſen gegruͤndet, auf dem die neue Kirche ſich erbaut, ſo hat der Geiſt, deſſen Verkuͤnder er geſendet war, fort und fort mit der Freiheit des Denkens die Bildung deſſelben gepflegt, und von proteſtantiſchen Schulen und Univerſitaͤten iſt zunaͤchſt alle Erudition der Wiſſenſchaft, Sprache und Literatur ausgegangen.

117

Indeß hat dieſer neue Geiſt auch in der prote¬ ſtantiſchen Kirche ſich von den Banden der Autoritaͤt, die jeder Kirche den Haltpunkt gibt, nicht zu loͤſen gewußt, und unwillig uͤber die laͤſtigen Feſſeln, die Theologie ihrem Mechanismus uͤberlaſſen, und ſich mit allen organiſchen Kraͤften auf die weltlichen Wiſ¬ ſenſchaften und Kuͤnſte geworfen. Unter dem aͤußern Schutz, den die proteſtantiſche Kirche gewaͤhrte, ge¬ wann die Philoſophie, die Naturwiſſenſchaft, Juris¬ prudenz, Geſchichte, Philologie alle die Freiheit, ohne welche ſie zu der hohen Ausbildung, worin wir jetzt ſie finden, nie haͤtten gelangen koͤnnen, und ſo¬ mit ward die Theologie mittelbar eine Traͤgerin der ſchoͤnſten Bluͤthen der Cultur, unmittelbar ſelbſt aber verbaute ſie ſich in ein Syſtem von Ruͤckſichten und Beſchraͤnkungen, die ſich ihr als Nothwendigkeit auf¬ draͤngten, und mitten im Negiren und Proteſtiren, mußte ſie doch etwas Poſitives feſthalten, und ſie konnte das Princip der Autoritaͤt, Legitimitaͤt und Stabilitaͤt, wiewohl ſie es am Katholicismus ver¬ worfen hatte, doch ſelber nicht entbehren, und nahm es nur unter ganz andern Formeln wieder auf.

Wir unterſcheiden eine doppelte Bedingung alles Poſitiven im Proteſtantismus, die Bibel und die ſym¬ boliſchen Buͤcher. Aller Geiſt, der dieſen Bedingun¬ gen ſich nicht fuͤgen kann, entweicht auf die weltliche Seite, in die Philoſophie, und der in der Theologie zuruͤckbleibt, muß ſich an eine abſolute Autoritaͤt hiſto¬ riſcher, in der Schrift niedergelegter Tradition bin¬118 den. Hieraus hat ſich ein doppeltes Verhaͤltniß ent¬ wickelt, das der religioͤſen Diplomatik, welche die gegebenen Urkunden interpretirt, und das einer ge¬ ſchloſſenen Prieſterſchaft, welche die Urkunden und das Schema fuͤr deren Interpretation bewacht.

Die proteſtantiſche Theologie bedarf eines rei¬ chen diplomatiſchen, philologiſchen, antiquariſchen und hiſtoriſchen Apparats. Darum werden die Lehrlinge derſelben weniger aus Leben und an das eigne Herz gewieſen, als an die Buͤcher, und das Studium nimmt ſie von fruͤher Jugend auf in Anſpruch. Die Lichtſeite dieſer philologiſchen Theologie bewaͤhrt ſich in vielen glaͤnzenden Erſcheinungen. An das Stu¬ dium der alten Sprachen, zum Dienſt der Exegeſe, knuͤpft ſich das Studium des ganzen Alterthums, und indem wir die Bildung der Griechen und Roͤmer uns aneignen und nach dem vergroͤßerten Maaß unſrer Mit¬ tel weiter entwickeln, entſteht eine unermeßliche Kette von Wirkungen, woran alles geknuͤpft iſt, was die neue Literatur auszeichnet. Aber auch die Exegeſe ſelbſt und die reiche Commentation der in der heili¬ gen Schrift enthaltenen Lehren bedingen eine ſolche Verfeinerung des Scharfſinns und eine ſolche Ver¬ vielfaͤltigung und Durcharbeitung von Begriffen, daß allein von dieſer Seite fuͤr den menſchlichen Geiſt ausnehmend viel gewonnen wird. Beſonders wird, ſeit man vom Myſtiſchen nichts mehr wiſſen will, ſeit man das Sinnliche verdammt und die Gefuͤhle nur wie Nebel betrachtet, die man durch die Sonne des119 Verſtandes aufhellen muͤſſe, in der logiſchen Abwaͤ¬ gung der Pflichten das Trefflichſte geleiſtet, und wenn man annehmen darf, daß der groͤßere Theil der ge¬ bildeten Welt nicht mehr fuͤr innere Erregungen, ſon¬ dern nur fuͤr aͤußre mathematiſche Beweiſe empfaͤng¬ lich iſt, ſo mag es ganz an der Zeit ſeyn, daß man ihr die Tugend beweißt. Als ein beſondrer Vorzug unſrer proteſtantiſchen Literatur muß ferner hervor¬ gehoben werden, daß ſie ungleich der katholiſchen ge¬ gen diſſentirende Schriften tolerant iſt, und ſtatt des einzigen catalogi librorum probibitorum lieber die ganze Menge der abweichenden Buͤcher in ihren hiſto¬ riſchen Apparat einregiſtrirt und ſie der Vergeſſen¬ heit ſelbſt dann entzieht, wenn ſie keine Anhaͤnger mehr haben. Dieſer Toleranz verdanken wir die Er¬ haltung vieler trefflicher Werke ſowohl von Theoſo¬ phen als von Freigeiſtern.

Die Schattenſeite der philologiſchen Theologie trifft auf gleiche Weiſe das Leben, wie die Literatur. Was ſo oft den in Kloͤſtern erzogenen Prieſtern der Katholiken vorgeworfen worden iſt, daß ſie an me¬ chaniſche aͤußere Werke gewoͤhnt, ohne Kenntniß des Lebens und der Menſchen, nicht wuͤrdig zur Sorge fuͤr die Seelen vorbereitet werden, kann man mit gleichem Recht auch auf viele proteſtantiſche Prediger anwenden, die in ihre Gemeinden treten und nur Buͤcher, nicht die Menſchen kennen. In der Literatur aber wird ohnſtreitig der uͤberwiegende Einfluß der Philologie und Diplomatik dem Glauben ſelber nach¬120 theilig. Unter der erdruͤckenden Laſt von Citaten wird das Herz leicht beengt, die Critik macht kalt und die Schranken der Bibel wie der ſymboliſchen Buͤcher bedingen einen Mechanismus der Formen, der mit ſtereotypiſchen Redensarten und todtem Buchſtaben¬ kram den Geiſt oft eben ſo austreibt, wie ihn die aͤußre Werkthaͤtigkeit der Katholiken ausgetrieben.

Daran knuͤpft ſich auch unmittelbar der Kaſten¬ geiſt, deſſen Spuren die Literatur nicht abweiſen kann. Die Proteſtanten kommen damit in eine aͤhnliche ſchwan¬ kende Stellung, wie die Katholiken mit ihren oben bezeichneten Aufklaͤrungsverſuchen, weil ſie etwas wol¬ len, was mit dem herrſchenden Syſtem ihrer Lehre heterogen iſt. Aus der groͤbſten Orthodoxie hat ſich die Theologie allerdings ſeit dem vorigen Jahrhun¬ dert gluͤcklich befreit, und die boͤſen Zeiten ſind vor¬ bei, da ſich Lutheraner und Reformirte auf offenem Markt hinrichteten und in Schriften aͤrger als Tuͤr¬ ken und Papſt verketzerten; doch erhitzen ſich einige Geiſtliche immer noch am Studium der alten Kaͤmpfe zu neuer Scheelſucht. Am ſtrengſten iſt die Prieſter¬ ſchaft uͤberall gegen den aufkeimenden Pietismus ver¬ fahren, weil ein natuͤrlicher Inſtinkt ſie lehrt, daß ihrem Syſtem von dort eine noch verborgne, darum deſto groͤßer ſcheinende Gefahr droht. Den Laien ge¬ genuͤber haben die proteſtantiſchen Prieſter uͤbrigens im Allgemeinen dem humanen Sinn entſprochen, den Luther, der erſte Buͤrger unter den Prieſtern, in ſie gepflanzt. Sie haben wohl auch hin und wieder nach121 Hierarchie geſtrebt, aber der weltliche Arm hat ſie niedergehalten, und wenn man nicht zugeben will, daß ſie dem Zeitgeiſt mit Überzeugung nachgegeben haben, ſo muß man doch wenigſtens eingeſtehn, ſie haben aus der Noth eine Tugend gemacht.

Betrachten wir die poſitiven Doctrinen, die Re¬ ſultate der theologiſchen Kritik, wie ſie von den erſten Reformatoren feſtgeſtellt worden ſind, doch mannig¬ faltigen Modificationen Raum gewaͤhrt haben, ſo laſſen ſich alle divergirenden Richtungen auf drei zu¬ ruͤckfuͤhren. Es gibt eine orthodoxe Partei, ſowohl unter Reformirten, als Lutheranern, die ſich ſtreng an die ſymboliſchen Buͤcher haͤlt, deren Glaube auf den Buchſtaben gegruͤndet iſt. Es gibt ſodann eine kritiſche Partei, die in der Exegeſe die hoͤchſte Frei¬ heit des Scharfſinns und der Urtheilskraft geltend macht, und allen Glauben auf den Begriff, auf die Logik gruͤndet, daher ihr ruͤſtiger Vorkaͤmpfer, Paulus in Heidelberg, ſie mit dem neuen, aber treffenden Namen der Denkglaubigen getauft. Eine dritte Par¬ tei endlich haͤlt ſich rein an die Bibel, abgeſehen ſo¬ wohl von den ſymboliſchen Buͤchern, als von der Kritik, und erſetzt die Auslegung durch Gefuͤhle, die ſie ſchon wieder auf eine myſtiſche Weiſe durch das bloße Wort erregt fuͤhlt. Wo Phantaſie und Sinn¬ lichkeit mit ins Spiel kommen, ſtreift dieſe Partei nicht ſelten ins katholiſche Gebiet hinuͤber, wo nur vorherrſchende Gemuͤthskraft, Sehnen nach Andacht, Liebe, Zerknirſchung und Buße waltet, in den Pie¬Deutſche Literatur. I. 6122tismus. Wir beſitzen namhafte Theologen, denen von groben Orthodoxen und feinen Kritikern bald das Eine, bald das Andre vorgeworfen wird, ohne daß eine foͤrmliche aͤußere Abweichung Statt faͤnde.

Waͤhrend der Proteſtantismus auf dieſe mannig¬ fache Weiſe poſitiv ſich ausſpricht, negirt er unun¬ terbrochen den Katholicismus und, wie der Kampf auch periodiſch nachlaͤßt, er dauert mit ſeinem Ge¬ genſtand fort. Der Proteſtantismus iſt aus der Ne¬ gation entſprungen und traͤgt davon ſeinen Namen. Sein Weſen beruht zunaͤchſt in dieſer Negation, wie er auch wieder poſitiv ſich geſtalten mag, und die Negation ruht nicht, ſo lange der Katholicismus ihm gegenuͤber ſteht. Die Art und Weiſe der Negation iſt aber ſo verſchieden, als die der Poſition. Ur¬ ſpruͤnglich war es der Verſtand, der ſich aus den Banden der alten Kirche befreite, und er iſt es noch, deſſen ſcharfes Schwert von den Kritikern gegen Rom geſchwungen wird. Die orthodoxe Partei hat dage¬ gen die Freiheit des Begriffs an das Wort abgege¬ ben und ficht mit Buchſtaben. Die Pietiſten endlich haben wie den Verſtand, ſo das Wort aufgegeben und waffnen ſich mit dem Gefuͤhl.

Bei dieſem großen Kampfe iſt ein Umſtand von vorzuͤglicher Wichtigkeit, der aber nur von den Kri¬ tikern und Pietiſten gewuͤrdigt wird. Dem Katholi¬ cismus ſteht naͤmlich, ſofern er der ſinnlichen Rich¬ tung gefolgt iſt, allerdings die verſtaͤndige und ge¬ muͤthliche gegenuͤber; aber auch, ſofern er das Prin¬123 cip der Stabilitaͤt in ſich aufgenommen hat, das Princip der Evolution. Der Erſtarrung muß di[e]Be¬ wegung, dem Tode das Leben, dem unveraͤnderlichen Seyn ein ewiges Werden ſich entgegenſetzen. Hierin allein hat der Proteſtantismus ſeine große welthiſto¬ riſche Bedeutung gefunden. Er hat mit der jugendlichen Kraft, die nach hoͤhrer Entwicklung draͤngt, der grei¬ ſen Erſtarrung gewehrt. Er hat ein Naturgeſetz zu dem ſeinigen gemacht und mit dieſem allein kann er ſiegen. Diejenigen unter den Proteſtanten alſo, welche ſelbſt wieder in eine andre Art von Starrſucht ver¬ fallen ſind, die Orthodoxen, haben das eigentliche Intereſſe des Kampfs aufgegeben. Sie ſind ſtehn ge¬ blieben, und duͤrfen von Rechts wegen ſich nicht bekla¬ gen, daß die Katholiken auch ſtehn geblieben ſind. Man kann nur durch ewigen Fortſchritt, oder gar nicht gewinnen. Wo man ſtehn bleibt, iſt ganz einer¬ lei, ſo einerlei, als wo die Uhr ſtehn bleibt. Sie iſt da, damit ſie geht.

Die Orthodoxen haben gegen das Papſtthum nur dieſelben Seiten herauskehren koͤnnen, welche dieſes gegen ſie gerichtet hat. Dort ſahen wir Stillſtand und hier wieder, dort Infallibilitaͤt und hier, dort Fanatismus und hier, dort eine Prieſterſchaft und hier, dort viele Ceremonien und wenig Worte, hier viele Worte und wenig Ceremonien. Die Kritiker haben ſich daher genoͤthigt geſehn, von Zeit zu Zeit die Fanatiker des Proteſtantismus ſo gut zu bekaͤm¬ pfen, wie die roͤmiſchen.

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Dieſe Kritiker auf der einen, die Pietiſten auf der andern Seite ſind wirklich fortgeſchritten. Indem ſie aber eben deßhalb immer, ſey es Idee oder nur Begriff und Gefuͤhl von dem Einfluß hiſtoriſcher For¬ men unabhaͤngig zu machen geſucht, und die Religion gegen die Kirche, die freie Entwicklung des Glau¬ bens gegen die einmal als guͤltig anerkannten Nor¬ men deſſelben vertheidigt haben, ſind ſie in das ſon¬ derbare Verhaͤltniß gerathen, gleichſam außerhalb der Geſchichte zu ſtehn, und die Religion, wie eine Phi¬ loſophie, vom Leben der Geſellſchaft zu trennen. Sie eifern gegen alle Äußerlichkeit der Kirche oder ſehen mit Mitleid auf die Beduͤrfniſſe der Schwachen herab, und ihr weitverbreiteter Einfluß hat die Kirche aus den Haͤnden einer unabhaͤngigen Hierarchie befreit, um ſie unter weltliche Miniſterien zu ſtellen, wie al¬ les, was oͤffentlich iſt. Dieſer precaͤre Zuſtand ſcheint unſrer Zeit vollkommen angemeſſen, indem er die Un¬ gebildeten doch noch einigermaßen mit Äußerlichkeiten befriedigt, den Gebildeten dagegen Freiheit laͤßt, zu glauben, was ſie wollen. Er iſt aber auch nur pre¬ caͤr, denn er dient nur der Entwicklung. Dieſer muͤſſen wir entgegeneilen und uns befriedigen, durch welche wunderbare Wege die Vorſehung den Glauben fuͤhren mag.

Betrachten wir die Orthodoxie noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, ſo muͤſſen wir die Ratio¬ naliſten und Pietiſten ſegnen, die dem menſchlichen Geiſt auch nach dieſem ſchweren Drucke wieder Luft125 gemacht, und hat der Zuſtand der Proteſtanten ſeit¬ her auch zuweilen einem frechen Libertinismus und einer gehaͤſſigen Sectirerei Raum gegeben, ſo hat die Freiheit, die er edlern Geiſtern vergoͤnnt hat, doch auch die ſchoͤnſten Fruͤchte getragen.

Betrachten wir zuerſt die Kritiker oder die Hel¬ den des Verſtandes, unter denen ich nur den großen Namen Leſſing nennen will, um ſie charakteriſtiſch genug zu bezeichnen. Sie ſind die Engel, die mit dem ſcharfen blitzenden Flammenſchwert der Denkkraft in das Paradies der Kirche geſendet ſind, um die unwuͤrdigen Bewohner auszutreiben. Einer Maſſe ge¬ genuͤber, die in roher Sinnlichkeit, in dumpfem Ge¬ fuͤhl oder in blindem Autoritaͤtsglauben entartet iſt, einer Geſchichte gegenuͤber, die auf jedem aufgeſchla¬ genen Blatte nur beweist, wie weit wir noch zuruͤck ſind, welchen unendlichen Weg der Geiſt noch vor¬ ausſieht, haben dieſe Maͤnner eine Arbeit uͤbernom¬ men, die des menſchlichen Geiſtes eben ſo auf die hoͤchſte Weiſe wuͤrdig iſt, als er die ſchwerſte Auf¬ gabe fuͤr denſelben ſeyn muß. Die Sinnlichkeit und der ganze hiſtoriſche Einfluß, das Gemuͤth und alle angeborne Schwaͤchen der Menſchen ſind die Maͤchte, gegen deren Entartung und Verderbniß ſie ankaͤm¬ pfen und der Verſtand, das kleine Richtmaaß, iſt das einzige Werkzeug, mit dem ſie die Hoͤhen und Tiefen des alten Felſen bewaͤltigen wollen. Wenn die Art, wie die Denkkraft angewendet wird, auch ſelbſt der Verderbniß unterworfen iſt, ſo iſt ſchon die126 bloße Freiheit ihrer Anwendung fuͤr das menſchliche Geſchlecht von unermeßlichem Vortheil, denn nur im Bilden reinigt ſich die Kraft. Zu dieſer Freiheit ge¬ hoͤrt unmittelbar die Mittheilung, die Öffentlichkeit, oder vielmehr ſie beſteht nur im oͤffentlichen Denken oder Reden, denn ein Gedanke an ſich im Innern verſchloſſen, kann ſo wenig frei genannt werden, als es moͤglich iſt, ihn zu unterdruͤcken. Daß nun jene Kritiker alle religioͤſen Gegenſtaͤnde zur Sprache brin¬ gen, i〈…〉〈…〉[t]an ſich ein unſterbliches Verdienſt, wenn ſie es auch noch nicht auf die vollkommenſte Weiſe thaͤten. Sie behaupten das ewige Recht der Gedankenmitthei¬ lung und machen dieſes allgemeine Recht zu ihrer Pflicht, und huͤten als ſehr ehrenwerthe Waͤchter den einzigen Weg, auf dem die Meinungen ſich austau¬ ſchen, die Überzeugungen ſich laͤutern koͤnnen. Sie zeigen jeden offenen Frevel, der ſich hinter den Schild der Religion fluͤchten will, achtſam an, und ziehen die verborgenen an das Licht. Sie zwingen den Geg¬ ner Rede zu ſtehn und ſtrafen die Dummheit, die ohne Beruf herrſchen will, und die Argliſt, die eine ſchlechte Sache verheimlicht, um ſie nicht vertheidi¬ gen zu muͤſſen. Wer erkennt nicht den Segen reli¬ gioͤſer Mittheilung, gegenuͤber jener aſiatiſchen Ab¬ geſchloſſenheit, da kein Volk weiß, was uͤber den Bergen geglaubt wird.

Es liegt etwas ſchlechterdings Nothwendiges in dieſer Pruͤfung des Verſtandes. Jeder Menſch findet in ſich den Verſtand als ein intellectuelles Gewiſſen127 und er vermag die Stimme deſſelben durch Taͤuſchun¬ gen des Sinnes oder Gefuͤhls zwar lange, doch nicht fuͤr immer zu uͤbertaͤuben. Dies Gewiſſen regt ſich aber auch im Ganzen des Voͤlkerlebens und vernich¬ tet in jenen Taͤuſchungen die Wurzeln des Unrechts und des Elends. Es iſt die reine Mathematik und Logik des Verſtandes, die uns verliehen iſt, um die Harmonie aller in uns liegenden Kraͤfte zu erkennen und zu bewahren. Sie kann die bluͤhende Sinnlich¬ keit nicht hinwegdenken, aber ſie maͤßigt das Über¬ wallen der ſinnlichen Kraft; ſie kann das tiefe Ge¬ fuͤhl nicht aus den Herzen kluͤgeln, aber ſie fuͤhrt die wahnſinnige Leidenſchaft in die Graͤnzen der geſunden Natur zuruͤck. Wenn daher die Sinnlichkeit uns zu ſeelenloſem Goͤtzendienſt verfuͤhrt, das Gefuͤhl ertoͤdtet und den Verſtand gefangen nimmt, wenn das uͤber¬ ſpannte Gefuͤhl den Leib abtoͤdtet und den Verſtand in ſtumpfſinnigem Hinbruͤten erſticken will, ſo wird eben dieſer Verſtand das geſtoͤrte Gleichgewicht er¬ kennen und durch die Erkenntniß wieder herſtellen. Dennoch kann der Verſtand ſelbſt in eine ganz aͤhn¬ liche Tyrannei entarten, ſofern er ausſchließlich herr¬ ſchen will, und dieſes Extrem tritt in der Regel ein, ſobald der Verſtand ſiegreich ein Extrem der Sinn¬ lichkeit oder der Leidenſchaft uͤberwunden hat. Der Verſtand, der uͤber die naͤchtliche Welt, darin ſinn¬ liche Triebe und monſtroͤſe Leidenſchaften durcheinan¬ der wuͤhlen, ein uͤberraſchendes Licht verbreitet, woran das Ungeheure ſich verzehrt, wie Traumbilder, wenn128 das Auge den Tag ſieht, wird eben ſo bald zur freſ¬ ſenden Feuersflamme und will nichts dulden als ſich. Kaum hat er den Goͤtzen entlarvt und geſtuͤrzt, ſo bannt er das ſchoͤne Geheimniß des Goͤttlichen ganz aus der ſinnlichen Natur, kaum hat er die Raſerei der Leidenſchaften bewaͤltigt, ſo laͤugnet er die Of¬ fenbarungen des Herzens. Kaum hat er die Ariſto¬ kratie der Prieſterkaſte beſiegt, ſo errichtet er ſelbſt wieder den Wohlfahrtsausſchuß, der jeden fuͤr kopflos erklaͤrt, der Gott nicht blos im Kopfe hat. Zuletzt, und dies iſt die Kriſis ſeines Fanatismus, conſtituirt die Denkkraft ſich als das Abſolute, allem Seyn zu Grunde Liegende, und dekretirt von ihrem Ich herab das Daſeyn Gottes, oder der Vernunft, oder wie ihr das Ding nennen wollt. An der Hand der Phi¬ loſophie haben deutſche Theologen alle Stadien die¬ ſes Verſtandesfiebers eben ſo conſequent und gleich¬ zeitig, nur mehr verſteckt, durchgemacht, wie die Po¬ litiker praktiſch und oͤffentlich in der franzoͤſiſchen Revolution.

Man gab das todte Wort wieder auf, um ein lebendiges Denken an ſeine Stelle treten zu laſſen, aber auch dieſer Fortſchritt geſchah noch in der ein¬ ſeitigen Richtung, welche die Reformation vorgezeich¬ net hatte, ja er hat zum Extrem der Lehre gefuͤhrt. Erſt mit der Alleinherrſchaft des Begriffs uͤber das Wort, ſelbſt das heilige, erreichte jene Lehre den Culminationspunkt, die beſtimmt ſchien, den Sinnen¬ glauben zu zerſtoͤren, und den Gefuͤhlsglauben her¬129 vorzurufen. Man ließ einſeitig nur das Denken Got¬ tes gelten und verſchmaͤhte jede Vorſtellung, jedes Gefuͤhl des Goͤttlichen als Taͤuſchung, ja das Wort ſelbſt wurde mit Recht nur als ein Bild betrachtet, das an ſich nichts und etwas nur durch den lebendi¬ gen Begriff ſey, und das den freien Begriff nie feſ¬ ſeln duͤrfe. Die Unterordnung des Wortes unter den Begriff war ohnſtreitig ein großer Fortſchritt, aber die Ausſchließlichkeit eines Denkglaubens, die Ver¬ werfung der Vorſtellung und des Gefuͤhls war nur wieder die alte Einſeitigkeit. Man verkannte die Na¬ tur des Denkens und ſchrieb der mittelbaren Erkennt¬ niß durch Schluͤſſe zu, was nur einer unmittelbaren Erkenntniß der geſammten ſinnlichen und geiſtigen Organiſation des Menſchen, einem Gemeingefuͤhl des Goͤttlichen zukommt. Glauben war nur noch mathe¬ matiſche Überzeugung. Man glaubte nur, was man beweiſen konnte, wie das Ein mal Eins, und da man den Glauben aus dem Beweiſe ableiten wollte, der ſelbſt nur aus dem Glauben gefuͤhrt werden konnte, ſo mußte man in die ſeltſamſten Widerſpruͤche und Trugſchluͤſſe gerathen. Wenn nichts ſo ſegens¬ reich gewirkt hat, als die verſtaͤndige Erkenntniß des fruͤhern kirchlichen Verderbens, wenn auch das Den¬ ken Gottes, die Reflexion uͤber die ewige Harmonie der Dinge der wahren Andacht niemals fehlen ſollte, wenn auch gerade ſie es iſt, die uns die Bilder und Gefuͤhle von Gott nicht vertilgt, aber reinigt, ſo iſt doch auch kaum ein roher Goͤtzendienſt, kaum ein130 dumpfes Andachtsgefuͤhl, kaum ein ſklaviſches Werte¬ beten ſo plump und arm geweſen, als jene logiſchen Beweiſe von den Eigenſchaften Gottes, die das hoͤchſte Weſen zu analyſiren ſtreben, wie der Mineralog ein Foſſil, und deren letzter Satz: ich glaube, weil ich denke! doch nie eines erſten: ich denke, weil ich glaube! entbehren konnte.

Den Beweiſen ſind ſehr natuͤrlich die Zweifel ge¬ folgt. Anfangs ſuchte man die Zweifel auf, um die Beweiſe glaͤnzender zu machen, nachher kamen ſie von ſelbſt und der Verſtand, ohne welchen es keinen Glauben mehr geben ſollte, verachtete bald die Ma¬ jeſtaͤt deſſelben, wie der Praͤtorianer den Kaiſer, der Seldſchuk den Califen.

Jede Zeit fuͤhlt ſich und hat eine gewiſſe Eifer¬ ſucht gegen das Alterthum, wenn man dieſem hoͤhere Kraͤfte zutraut. Jede Zeit hat aber auch ein natuͤr¬ liches Gefuͤhl von der Macht, die ſie beherrſcht, und unterſcheidet dabei ſehr richtig Wirklichkeit und Schein. Deßwegen moͤgen es die Starken nicht leiden, daß man ſich vor den Bildern des Alterthums ſo erbaͤrm¬ lich demuͤthigt, und die Klugen ſagen, man muß die Wunder ſehn, wenn man ſie glauben ſoll. So hat man laͤngſt die Bilder, die das Volk fuͤr wunderthaͤ¬ tig hielt, als wurmſtichiges Holz hinweggebrochen und ſich endlich auch an die Tradition der alten Wunder gewagt. Was man nicht als offenbare Luͤge zu beſeitigen vermochte, hat man durch ſo genannte natuͤrliche Erklaͤrung des Wunderbaren zu entkleiden131 geſucht. Es gab ſogar eine « natuͤrliche Geſchichte des großen Propheten, » darin Chriſtus als ein ganz ar¬ tiger Romanheld erſcheint, zu geſchweigen der Ab¬ ſcheulichkeiten, die vorzuͤglich im letzten Jahrhundert die chriſtliche Tradition nicht erklaͤren, nicht wider¬ legen, ſondern nur beſchmutzen ſollten. Sie ſind jetzt meiſt vergeſſen, weil der Atheismus im Indifferen¬ tismus wie Feuer im Rauch aufgegangen iſt.

Es gibt eine anſehnliche Claſſe von Proteſtan¬ ten, die namentlich ſeit Voltaire von jeder Art Frei¬ geiſterei verſucht worden ſind, und die ihre Zweifel weder zu beſeitigen, noch ihr Beduͤrfniß nach dem Glauben zu unterdruͤcken wiſſen, die ſich daher in großer Angſt befinden, ſich beſtaͤndig zur andaͤchtigen Erbauung zwingen, und doch immer dabei von einem ſchadenfrohen Teufel geſtoͤrt werden. Dieſes unbe¬ hagliche Gefuͤhl, dieſe Unruhe treibt ſie in den Ka¬ tholicismus und in den Pietismus. Bei weitem die groͤßre Menge iſt aber gleichguͤltig, laͤßt Zweifel und Beweiſe auf ſich herunterregnen, und ſcheint in ihrer Geiſtloſigkeit ſo gut, als ob ſie geiſtreich waͤre, zu wiſſen, daß es nur Worte ſind.

Die Heiden im Chriſtenthum, oder die alle hiſto¬ riſche Tradition deſſelben ſammt der Bibel verachten, und die man desfalls, ſonderbar genug, Atheiſten genannt hat, als ob ſie nicht ſo gut, als die Chri¬ ſten, einen Gott glaubten, dieſe raͤudigen Schafe fin¬ den ſich in den verſchiednen Heerden zerſtreut und ſtecken die glaͤubigen Seelen nicht ſelten mit Zwei¬132 feln und Spott an. Alles Hiſtoriſche der Kirche, Tradition und Prieſter, ſind ihnen auf's bitterſte ver¬ haßt, und da die Tradition Worte enthaͤlt, und die Prieſter Menſchen ſind, ſo geben ſie auch den Zwei¬ feln Bloͤßen genug. Jede geoffenbarte Religion iſt denſelben zuwider, erſcheint ihnen als Menſchentrug und Luͤge, und ſie machen zwiſchen Katholiken und Proteſtanten eigentlich keinen Unterſchied, weil beide Tradition und Prieſter anerkennen. Es iſt aber ſehr merkwuͤrdig, daß in ihrer Freigeiſterei, die ſo ſehr uͤber den Gebrechen der Kirche erhaben ſcheint, doch dieſelben Keime zu innrer Entzweiung und zur Hier¬ archie liegen. Die einen wollen eine Naturreligion, die andern die Vernunftreligion, und die Materiali¬ ſten haben deßfalls ein katholiſches, die Rationaliſten ein proteſtantiſches Princip, und beide ſuchen ſich die ent¬ ſprechenden Kirchen zu gruͤnden, wenn ſie maͤchtig genug werden, beide haben zur Zeit der franzoͤſiſchen Revo¬ lution ihre Tempel aufgeſchlagen, und die Prieſter der Natur ſind mit denen der Vernunft in einen Kampf gerathen, der uns, wenn die Farce laͤnger gedauert haͤtte, gewiß das ganze alte Weltſpectakel wiederholt haben wuͤrde.

Da im Proteſtantismus ſo viel unterſucht, be¬ ſprochen und gelehrt werden muß, ſo faͤllt ſeine Lite¬ ratur unausbleiblich in das Extrem des Wortma¬ chens und der Vielſchreiberei. Die Mehrzahl der an Geiſt minder begabten erſchoͤpft und wiederholt ſich nothwendig in den gebotenen und angenommenen For¬133 meln, und die Buͤcher werden wie die Predigten ſeicht und weitlaͤuftig. Da der Zweck der Aufklaͤ¬ rung auch eine populaͤre Sprache bedingt, ſo darf man ſich uͤber die ungeheure Menge von Erbauungs¬ ſchriften fuͤr alle Staͤnde, Geſchlechter und Alter zwar nicht wundern, leider aber entſpricht die Ausfuͤhrung nur ſelten dem Zweck. Das Heilige wird in dieſer populaͤren Darſtellung nur zu oft trivialiſirt, und der kraͤftige Wein der Wahrheit ſo unter Waſſer ge¬ ſetzt, daß er widerſtehn muß. Vom Einfluß geiſtlo¬ ſer Umgebungen, einer entnervten Geſellſchaft, einer beſchraͤnkten Bildung ergriffen, plaudern viele Geiſt¬ liche in ihren Erbauungsbuͤchern fuͤr Damen von den hoͤchſten religioͤſen Ideen ganz ſo albern und kraft¬ los, wie von belletriſtiſchen - und Modegegenſtaͤnden. Die große Verbreitung religioͤſer Schriften im Volke bringt ſodann Vortheile mit ſich, die den allezeit fer¬ tigen Buͤchermachern in die Augen ſtechen, und Deutſch¬ land wird von einer Menge von Werken uͤberſchwemmt, die einzig dem oͤkonomiſchen Zweck huldigend, ſtatt die Gemuͤther zur Religion zu erheben, vielmehr dieſe in den trivialen Kreis der Alltagsconverſation hin¬ abziehen, und jeder Anſtrengung des Denkens, jeder uͤbermaͤßigen Wallung des Herzens vorbeugen. Von dieſer Art haben vorzugsweiſe die Stunden der Andacht von Zſchokke, einem der beruͤhmteſten Allerweltsbuͤchermacher, neuerdings Epoche gemacht. Welch ein Buch! wie wahr nennt es der Verleger ein laͤngſt gefuͤhltes Beduͤrfniß, nicht nur das ſeinige! 134Wie ſchleicht dieß matte, ſuͤßliche Gift einſchlaͤfernd in die Seelen und ſchmilzt Herzen und Nieren in einen weichen Brei. Eine gleißneriſche Sprache fließt wie Honig von den Lippen; der Prieſter legt den Stolz, den erſten Chorrock, ab und wird der liebe, freundliche Hausfreund, und druͤckt ſo warm die Hand; die eiſerne Moral ſchmiegt ſich biegſam wie ein Blankſcheit an zarte Buſen; die Andacht wird zum ſchwarzen Trauergewand, das ſo reizend den Teint hebt; die Begeiſterung wird als Roth aufgelegt. Wie brauchbar ſcheint euch dieſe Schminke, dieſe elende Flachmalerei einer verſchmitzten Tugend und koketten Gottesfurcht, die es ſagt, wie viel ſie heimlich Gu¬ tes thut, und nicht aufs Knie faͤllt, ohne den Rock in die netteſten Falten zu legen. Wie hoͤflich iſt Re¬ ligion, die alte Zuchtmeiſterin, geworden, wie artig und ohne ſich zu compromittiren, kann man jetzt das eckige, ſtrenge, gothiſche Weſen verbannen und zu der kleinen wohlfeilen Hauskapelle fluͤchten; wie zeit¬ gemaͤß, welch ein laͤngſt gefuͤhltes Beduͤrfniß des ge¬ bildeten Jahrhunderts iſt ein Buch, das fuͤr uns be¬ tet, fuͤr uns gute Vorſaͤtze hat, fuͤr uns empfindet, und das wir blos zu leſen brauchen. Wird in die¬ ſer Weiſe fortgefahren, ſo ſcheint der Zeitpunkt nicht mehr fern, da das wahrhaft religioͤſe Leben, die fromme Andacht, die Begeiſterung der Liebe, Ehre und Gerechtigkeit, der Sporn zur That aus dem Ge¬ ruͤſt leerer, glatter Worte eben ſo entweichen, wie ſie dereinſt den todten aͤußern Werken des Katholi¬135 cismus abhanden gekommen. Worte ſind keine beſ¬ ſern Traͤger des Geiſtes, als aͤußre ſymboliſche Hand¬ lungen. Ein Syſtem von gelaͤufigen und ſchmiegſa¬ men Begriffen kann eben ſo das wahre religioͤſe Le¬ ben heucheln, als jenes erſtarrte Syſtem der aͤußern Werkthaͤtigkeit. Die Reue, die guten Vorſaͤtze koͤn¬ nen im Schwall der religioͤſen Lektuͤre ſo gut erſti¬ cken, als im Prunk der Opfer und Kirchenbußen. Man glaubt eben ſo leicht, gethan zu haben, was man blos geleſen, als man ſich mit dem Abbeten ei¬ nes Roſenkranzes befriedigt. Die Tugend ſelbſt wird zu einer bloßen Reflexion uͤber Tugend, ja die Ver¬ nunft, von der ſo viel geredet wird, iſt nur das leere Wort, und die meiſten jener Maͤkler, Krittler, Fin¬ gerzeiggeber, Hausfreunde, Warner und Raiſonneurs bringen nur eine traurige Abſtumpfung oder Sophi¬ ſterei gegen das Heilige hervor, die im Munde des gemeinen Volks zur Brutalitaͤt wird.

Die niedern Staͤnde, immer die Affen der hoͤ¬ hern, ziehen jetzt die abgetragenen Kleider derſelben an, und viele ſehen wir mit einer Aufklaͤrung ſich bruͤſten, die von den traurigſten Symptomen begleitet iſt. Das Volk findet in einer kuͤhnen Verlaͤugnung des Heiligen eine neue Art von Abſolution und ſuͤn¬ digt leichter. Sein Unglaube iſt roher, wie es ſein Glaube geweſen. Schon nimmt es mancher Bauer fuͤr eine Beleidigung auf, wenn man ihm noch den frommen Glauben der Vaͤter zutraut. Herr, hat mir ſchon mancher geſagt, haͤlt Er mich fuͤr ſo dumm? 136Auf der andern Seite aber tritt das Volk, von dem¬ ſelben Unglauben geaͤngſtigt, deſto leichter zum Pie¬ tismus uͤber.

Da indeß das deutſche Volk ein ziemliches Phlegma auszeichnet, und ſein Familienleben es uͤber Theo¬ logie, Politik, Wiſſenſchaft und Kunſt leicht troͤſtet, ſo iſt es bei dem unermeßlichen Widerſtreit der re¬ ligioͤſen Anſichten einerſeits, und bei dem leeren Wor¬ temachen andrerſeits in einen Indifferentismus verfallen, der nichts aͤhnliches hat, als etwa die reli¬ gioͤſe Gleichguͤltigkeit in der letzten Zeit des roͤmi¬ ſchen Heidenthums. Dieſer Indifferentismus zeigt ſich insbeſondere bei den Proteſtanten. Einige eifern, einige denken, die meiſten ſind gleichguͤltig, hoͤren ihre Predigt, wie es Sitte iſt, und laſſen uͤbrigens Gott einen guten Mann ſeyn. Schon dieß Sprich¬ wort zeigt von der Stimmung des Volkes. Wer ein tieferes religioͤſes Beduͤrfniß hat, wird Katholik oder Pietiſt. Die Katholiken ſind durch ihren Glauben und durch die Äußerlichkeit deſſelben zu ſehr befriedigt oder wenigſtens in Anſpruch genommen, als daß ſie indifferent ſeyn koͤnnten, doch hat ſich die Gleichguͤl¬ tigkeit auch bei ihnen eingeſchlichen, ſofern es ſehr viele unter ihnen gibt, die von proteſtantiſcher Bil¬ dung ergriffen, das Band, das ſie bindet,[abgewor¬ fen] haben, und aus Bequemlichkeit kein neues knuͤpfen wollen. Sogar unter den Herrnhutern gibt es manche, die nur noch die Gewohnheit der Vaͤter mitmachen, ohne dafuͤr mit Überzeugung leben und ſterben zu137 wollen, und nur die neuen pietiſtiſchen Sektirer, nur ſolche Menſchen, die ſich der Verfolgung ausſetzen, ſind wahrhaft eifrig.

Zum Indifferentismus unter den Proteſtanten ſcheinen vorzuͤglich auch zwei Umſtaͤnde beizutragen, denen man zu wenig Aufmerkſamkeit ſchenkt. Einmal haͤngt im proteſtantiſchen Gottesdienſt alles von der Perſon des jeweiligen Geiſtlichen ab. Fuͤr den Ka¬ tholiken ſind alle ſeine Kirchen gleich, und er ver¬ richtet darin ſeine Andacht auch ohne den Geiſtlichen, oder es iſt wenig Unterſchied, welcher Geiſtliche dabei thaͤtig iſt. Darum herrſcht auch, wenn ich ſo ſagen darf, ein ungeſtoͤrter Gleichmuth der Andacht uͤberall unter den Katholiken. Bei den Proteſtanten aber kommt alles auf die Perſoͤnlichkeit des Predi¬ gers an; nur ſeinetwegen und nur, wenn er da iſt, kommt man in die Kirche, nur auf ihn ſieht man, nur mit ihm beſchaͤftigt man ſich, weil ſonſt nichts in der proteſtantiſchen Kirche die Aufmerkſamkeit auf ſich zieht. Abſichtlich wird Sinn und Geiſt der An¬ weſenden von allem andern ab und auf den Prediger hingelenkt. Dieſer hat es nun in ſeiner Gewalt, die Andacht und den religioͤſen Sinn zu erheben oder herabzuſtimmen. Iſt er ſelber fromm, begeiſtert und beſitzt er ein großes Talent der Beredſamkeit, ſo wird er vielleicht eine weit groͤßere Wirkung hervor¬ zubringen wiſſen, als ein katholiſcher Prieſter, der in ſeiner Kirche mehr Sache als Perſon iſt, es zu thun vermag. Iſt der Prediger aber ohne wahre138 Froͤmmigkeit, ohne Gaben und Talente, von der ſchlaͤfrigen Gattung der Gewohnheitsmenſchen, oder gar ein eitles Weltkind im Prieſterrock, ſo wird er auch den religioͤſen Sinn ſicher weit weniger zu naͤh¬ ren wiſſen, als es ein katholiſcher Prieſter vermag, den ſo vieles andere unterſtuͤtzt. Der proteſtantiſche Pfarrer macht alles oder nichts aus ſeiner Gemeinde; er allein kann die Kirche zum liebſten Aufeuthalts¬ ort der Gemeinde machen, er allein ſie aber auch allen verleiden. Es gibt nun leider ſehr viele unbe¬ gabte Prediger, ohne alle hoͤhere Weihe. Dieſe ſind es, welche die Gebildeten aus den Kirchen verſcheu¬ chen und nur die Heerde der Geiſtesarmen noch darin feſthalten, aber ihre Andacht zu einem werthloſen Werk ſonntaͤglicher Gewohnheit herabwuͤrdigen, die nicht beſſer iſt, als die Kirchenſcheu der andern. Bei¬ des wird Indifferentismus. Die Einen laſſen ſich die ſchlechte, waͤſſerigte Predigt gefallen, weil es einmal Mode iſt, im Sonntagsputz den Kirchenſtuhl zu druͤcken. Die Andern werden kuͤhl gegen die Re¬ ligion, weil ſie unmoͤglich ſo elende Predigten anhoͤ¬ ren koͤnnen. Der zweite Umſtand, der den In¬ differentismus befoͤrdert, iſt der katechetiſche Unter¬ richt. Der ehrliche alte Meiſter ſagt in ſeiner klei¬ nen Schrift uͤber die Einbildungskraft ſehr richtig: « Der Cornelius Nepos und der Katechismus ſind uns, blos weil wir ſie einmal unter der Ruthe gele¬ ſen, Zeitlebens zum Eckel. » Er druͤckt ſich vielleicht etwas zu ſtark aus, aber in der Hauptſache iſt die139 Bemerkung ſehr treffend und wahr. Eine große Menge Menſchen kann die Unterrichtsbuͤcher, die ih¬ nen in der Schule ſo viele Thraͤnen und lange Weile gekoſtet, auch im Alter und ſelbſt bei der Überzeu¬ gung, daß ſie ihr nothwendig geweſen ſeyen, nicht ohne einen geheimen Widerwillen anſehn. Dieſes Spiel der Phantaſie, das mit den heiligſten und werthvollſten Gegenſtaͤnden die Nebenbegriffe des Zucht¬ meiſters mit der Ruthe verbinden muß, hat den In¬ differentismus mehr als man denken ſollte, befoͤrdert. Das handwerksmaͤßige, ja zuchtmaͤßige Abrichten in der unreifen Jugend ertoͤdtet oft den Sinn, den es wecken und bilden will.

Man hat in den neueſten Zeiten das Schaͤdliche, und den Katholiken gegenuͤber beſonders auch das Schimpfliche des Indifferentismus bei den Proteſtan¬ ten wohl gefuͤhlt und es ſich angelegen ſeyn laſſen, demſelben aus allen Kraͤften entgegen zu arbeiten. Demnach iſt die religioͤſe Controverſe nicht nur frei¬ gelaſſen, ſondern ſogar beguͤnſtigt worden, und die¬ ſelbe Cenſur, die in politiſchen Dingen wie ein Ar¬ gus wacht, hat alle ihre hundert Augen fuͤr die reli¬ gioͤſen zugeſchloſſen. Da indeß der Eifer der religioͤ¬ ſen Doctrinairs die indifferente Maſſe des Publi¬ kums nicht zu erhitzen vermocht hat, da die innern Reizmittel nichts verſchlagen haben, ſo iſt man zu aͤußern uͤbergegangen, und hat das verhallende Wort durch conſiſtentere Werke zu ſtuͤtzen geſucht. Dieſe neuen aͤußeren Werke ſind theils die Union zwiſchen140 den getrennten proteſtantiſchen Confeſſionen, theils die Herſtellung der biſchoͤflichen Kirche, theils die Einfuͤhrung einer neuen Liturgie, ſaͤmmtlich Mittel fuͤr eine feſtere aͤußere Conſiſtirung des Proteſtantismus, durch welche wieder die innere Seele deſſelben er¬ friſcht und belebt werden ſoll, wie auch in phyſiſchen Krankheiten durch aͤußere mechaniſche Staͤrkungen innere Erſchlaffung gehoben wird. Man will die Muskeln des corpus Evangelicorum ſtaͤrken, und hofft dadurch, auch die uͤberreizten und dadurch abgeſtumpf¬ ten Nerven wieder in eine geſunde Verfaſſung zu ſetzen.

So fern dieſe Neuerungen aus wahrhaft from¬ mer Überzeugung und religioͤſem Eifer hervorgegan¬ gen ſind, ſofern ſie dem ſchaͤdlichſten aller Religions¬ uͤbel, der religioͤſen Gleichguͤltigkeit, ſey es auch auf was immer fuͤr eine blos aͤußere mechaniſche Weiſe, entgegen arbeiten, muͤſſen ſie ihrem Urſprung, ihrer Abſicht nach geſchaͤtzt werden; und daher ſchreiben ſich auch die zahlloſen lobenden und preiſenden Flug¬ ſchriften und Predigten zu Gunſten derſelben. Die Literatur der letzten Jahre hat uns aber auch eine große Menge Schriften gegen dieſe Neuerungen dar¬ geboten, und dieſe Gegner haben nicht Unrecht, ſo¬ fern ſie das Unnuͤtze oder gar Schaͤndliche der Mit¬ tel ruͤgen, wodurch dieſe Neuerungen eingefuͤhrt wer¬ den ſollen. Abgeſehn davon, was Parteigeiſt, zum Theil perſoͤnliches Intereſſe, gegen die Neuerungen141 vorgebracht hat, laſſen ſich dagegen hauptſaͤchlich drei Einwendungen machen, und ſind gemacht worden.

Zuerſt gilt, daß jede Neuerung in religioͤſen Dingen die Achtung vor dem Alten vernichtet oder ſchmaͤlert. Das ehrwuͤrdige Alter der proteſtanti¬ ſchen Einrichtungen iſt fuͤr die Maſſe des Volks ge¬ wiß noch der ſtaͤrkſte Damm gegen den Indifferen¬ tismus. Reißt man dieſen vollends auf eine authen¬ tiſche und legitime Weiſe um, ſo duͤrfte weder etwas vernuͤnftiges, noch etwas glaͤnzendes Neues die alte geheiligte Ehrfurcht erſetzen, und es duͤrfte die um¬ gekehrte Wirkung erfolgen. Man duͤrfte gegen das Neue noch gleichguͤltiger werden, weil man weniger hergebrachten Reſpekt davor hat. Die vorgeſchlage¬ nen Neuerungen gehoͤren nicht zu denen, die wie das Chriſtenthum ſelbſt in ſeiner erſten Erſcheinung, oder wie ſpaͤter, der Muhamedanismus und ſo auch der Proteſtantismus die Zeitgenoſſen aufregten und ge¬ gen alle aͤußern Befehle zur freien Selbſtthaͤ¬ tigkeit begeiſterten. Es ſind vielmehr Neuerungen, die auf einen aͤußern Befehl gegen die freie Selbſt¬ thaͤtigkeit gerichtet ſind. Ihre Staͤrke liegt in einem aͤußren Zwange, nicht in einer innern Begeiſterung. Sie ſind daher auch bei weitem lauer, ſchwaͤcher, ohnmaͤchtiger, als jene natuͤrlichen Neuerungen, und zugleich auch ſchwaͤcher, als die alten Gewohnheiten, die ſie umſtuͤrzen wollen. Am ſtaͤrkſten wirkt das Neue nur, wenn es lebendige Überzeugung, eigner freier Wille, nichts Gebotenes, Aufgedraͤngtes iſt. 142Soll dem Menſchen aber einmal in religioͤſen Din¬ gen etwas geboten und aufgedraͤngt werden, ſo wird gewiß das Alte, was ſchon ſeiner Vaͤter Vaͤter ge¬ wohnt waren, maͤchtiger auf ihn wirken, als jedes Neue.

Zweitens gilt, daß alle befohlenen und kuͤnſtli¬ chen Vereinigungen die freiwilligen und natuͤrlichen Trennungen befoͤrdern. Die Geſchichte liefert auf jeder Seite den Beweis. Je ſtrenger die biſchoͤfliche Kirche der Englaͤnder auf Einheit drang, deſto zahl¬ reicher nahmen die Nonconformiſten uͤberhand. Und ſehn wir nur uns ſelbſt an. Vor dem Unionsvor¬ ſchlag lebten Lutheraner und Calviniſten in der fried¬ lichſten Eintracht bis zum gaͤnzlichen Vergeſſen ihres fruͤheren Zankes. Kaum will man ſie vollends aͤußer¬ lich vereinigen, ſo wird ihnen ploͤtzlich bange, ſie ſehn ſich einander verdaͤchtig an, ſie ruͤhren die alten Schaͤden wieder auf, und nur die allerindifferenteſten gelingt es, zu vereinigen, jene Heerde der Lauen oder Pfiffigen, die ſich alles gefallen laſſen aus Traͤgheit, oder um eines zufaͤlligen Vortheils willen. Was ein Mittel gegen den Indifferentismus werden ſollte, wird der Triumph deſſelben, und die man vereinigen wollte, trennt man deſto entſchiedner. Man taͤuſcht ſich gewoͤhnlich uͤber die Leichtigkeit der Vereinigung, indem man die Staͤrke des Unterſchiedes nicht gehoͤ¬ rig berechnet. Wie ſchon oben geruͤgt worden, hat ſich in religioͤſen Dingen das Vorurtheil eingeſchli¬ chen, als hinge alle Trennung und Vereinigung von143 Worten ab, als beruhe uͤberhaupt alle Religion auf Satzungen. Dieſes Vorurtheil hat faſt alle Menſchen total verblendet, waͤhrend ſie doch ein ganz entge¬ gengeſetzter Erfolg beſtaͤndig in die Augen ſchlaͤgt. So hat man den Katholicismus zu ſtuͤrzen ge¬ glaubt, indem man ſeinen todten Schatten in Sa¬ tzungen und Worten angegriffen. So glaubt man auch, der Unterſchied zwiſchen Lutheranern und Re¬ formirten beſtehe nur in ein paar Satzungen, und ſey verſchwunden, ſo bald man dieſe aͤndre. Aber dergleichen Satzungen ſind immer nur ein Schibo¬ leth, oft ein ganz zufaͤlliges, von Parteien, die auf etwas ganz anderes, als auf Worte und Buchſtaben, die auf den urſpruͤnglichen Unterſchied in der Natur der Geiſter gegruͤndet ſind. Die Reformirten unter¬ ſcheiden ſich nur aͤußerlich durch das leicht zu aͤn¬ dernde Schiboleth, innerlich aber durch die unver¬ aͤnderliche Tendenz zum Denkglauben, zum Kriticis¬ mus, zur eigenen Überzeugung durch eigenes For¬ ſchen, mithin auch zur Nonconformitaͤt und beſtaͤndi¬ gen Kirchentrennung. Verſtaͤnden die theologiſchen Diplomaten, die das Arrondirungsſyſtem auch ins un¬ ſichtbare Geiſterreich hinuͤbertragen wollen, die Sprache der Geiſter, ſo wuͤrden ſie ſogleich entdecken, daß es eine contradictio in adjecto ſey, die Reformirten mit den Lutheranern, oder in hoͤherem Sinn die Denk¬ glaͤubigen mit den Wortglaͤubigen vereinigen zu wol¬ len. Man muß nicht ſowohl auf die Namen, als auf die Sache ſehn. Es hat Denk - und Wortglaͤu¬144 bige unter beiden Parteien gegeben, doch iſt immer nur der ein aͤchter Lutheraner zu nennen, der auf den Buchſtaben der Bibel ſchwoͤrt, und ein aͤchter Reformirter, der nur das glaubt, was er durch eigne Überzeugung gewonnen hat. Darum ſind aus der reformirten Kirche ſo unzaͤhlige neue Secten hervor¬ gegangen, und der Idee nach bildet in ihr jeder Menſch ſeine eigne; waͤhrend die lutheriſche Kirche einig und ſich treu geblieben iſt.

Drittens hat man bei dem Unionsverſuch nicht gehoͤrig betrachtet, daß aller aͤußere Kirchenzwang die innere Kraft der Andersdenkenden und Sectirer verſtaͤrkt nach Geſetzen des Hebels. Nichts koͤnnte wohl ſo geeignet ſeyn, die Stillen im Lande endlich zu Lauten im Lande zu verwandeln, als die unpro¬ teſtantiſchen Mittel, womit man ſie aus proteſtanti¬ ſchem Eifer in die Uniformitaͤt der Kirche zwingen will. Jene Uniformitaͤt, jene aͤußere Werkthaͤtigkeit, die den Indifferentiſten ſehr unbedeutend erſcheint, iſt den Pietiſten eine Suͤnde wider den heiligen Geiſt, und indem man ſie dazu zwingt, und ihnen auf der andern Seite ihre Privatandacht verbietet und mit polizeilicher Brutalitaͤt ſtoͤrt, ſo macht man ſie nur zu Maͤrtyrern, und befoͤrdert ihre Sache. Der Ge¬ ſetzgeber ignorirt die pietiſtiſche Anſicht, er geht nur von ſeiner eignen aus; aber iſt es wohl weiſe? Er darf ſie vielleicht ignoriren, wenn er ſie nur duldet, aber eine Sache zu verdammen, ohne ſie zu hoͤren,145 hat fruͤher oder ſpaͤter immer nur den Richter ſelbſt beſtraft.

Wer ſpricht indeß von Zwang? Nur wenige wagen auf einen « politiſchen Nachdruck » bei Einfuͤh¬ rung der Union und neuen Liturgie zu dringen. Nur die verwerflichen Schergen eines politiſchen Abſolu¬ tismus erfrechen ſich, auch unbedingt auf den reli¬ gioͤſen zu dringen, und den Grundſatz cujus regio, ejus religio neuerdings wieder geltend zu machen, wie ein gewiſſer Baltzer in Stettin gethan hat. Die Ver¬ nuͤnftigen fuͤhlen, daß die Zeit ſolcher Grundſaͤtze voruͤber ſey, daß nur die freie Entſchließung der Glaͤubigen jenes neue Kirchenthum begruͤnden und befeſtigen koͤnne. Aber ſie rechnen auf eine douce violence von der einen, auf eine douce resistance von der andern Seite. Sie hoffen, daß der gute Wille und die nachgiebige Vor - und Ruͤckſichtlichkeit, die ſeit geraumer Zeit in allen weltlichen Angelegen¬ heiten herrſchende Gefuͤgigkeit auch in religioͤſen Din¬ gen jeder von oben her gebotenen Neuerung eine weite Verbreitung ſichern werde. Sie verabſcheuen den gro¬ ben Zwang, aber der feine ſcheint ihnen deſto geneh¬ mer. Sie appelliren an den guten Willen, an den Patriotismus der Staatsbuͤrger, als ob es ſich von einer Collecte, von freiwilligen Steuern und Anlei¬ hen handelte, als ob die Leute geben koͤnnten, was ſie doch nicht haben, naͤmlich den Glauben an das Neue, die Überzeugung von deſſen Goͤttlichkeit. Man kann wahrhaftig eben ſo wenig aus gutem WillenDeutſche Literatur. I. 7146und Ruͤckſicht gegen fremde Wuͤnſche, als aus Zwang ſeinen Glauben, ſelbſt nicht in den kleinſten Dingen aͤndern, die Worte, die Handlungen wohl, aber nicht den Glauben, den Schein wohl, aber nicht das We¬ ſen. Eine Kirche, die man verſuchsweiſe auf dieſen indifferenten, geſchmeidigen, allem ſich fuͤgenden gu¬ ten Willen, auf eine gewiſſe religioͤſe Hoͤflichkeit bauen wollte, wuͤrde wahrlich auf weit ſchwaͤchern Fuͤßen ſtehn, als eine verhaßte, nur erheuchelte, die offene Gewalt und Zwang gegruͤndet.

Der Pietismus iſt die letzte und vielleicht die wichtigſte Erſcheinung, die wir im religioͤſen Gebiet zu betrachten haben. Wir ſehn ihn ahnungsvoll in der Literatur wie im Leben immer weiter um ſich greifen, und ſcharfen Blicken iſt es nicht entgangen, daß er nichts mehr Vereinzeltes und Voruͤbergehendes iſt, wie fruͤher, daß er nicht blos zu den religioͤſen Curioſitaͤten, zu den ſeltenen Mißgeburten einer ge¬ wiſſen vergaͤnglichen Criſis gehoͤrt, ſondern daß er einen großen, wenn auch keineswegs aͤußerlichen, aber innerlichen Zuſammenhang hat und die Keime zu großen Entwickelungen in ſich traͤgt. Unſcheinbar und geraͤuſchlos nach ſeiner Art, ſchlaͤgt er ſeine Wurzeln deſto mehr in die Tiefe. Gerade dieſe Be¬ ſeelung nach innen iſt es, die ihm im Gegenſatz ge¬ gen alles andere nach außen gerichtete Treiben der gegenwaͤrtigen Zeit eine ſo große Bedeutung gibt. Hier erkennen wir eine Richtung, die im Wider¬ ſpruch mit allen andern Richtungen unſerer Zeit ſteht,147 und hier allein duͤrfen wir die einzige wahre Contre¬ revolution gegen unſer revolutionirendes Zeitalter ſu¬ chen. Nur im Pietismus geht der Menſch ruͤckwaͤrts bis zu jener innerſten und tiefſten Quelle geiſtiger Verjuͤngung, aus der ein neuer Strom des Lebens bricht, wenn der alte verſiegt iſt. Alle andere Rich¬ tungen unſrer Zeit bewegen ſich mehr nur auf der Oberflaͤche wider und durch einander.

Wie der Proteſtantismus den Übergang vom Sinn¬ lichen zum Verſtande, ſo bezeichnet der Pietismus den Übergang vom Verſtande zum Gemuͤth. Iſt aber die¬ ſer Kreislauf vollendet, hat Vorſtellung, Begriff und Gefuͤhl, jedes in einſeitiger Herrſchaft ſich durchge¬ bildet, ſo werden ſie in harmoniſcher Durchdringung von Neuem die Idee gebaͤren. Der Pietismus wird einſt den Übergang zu einer neuen, die ganze gebil¬ dete Welt beherrſchenden Myſtik fuͤhren.

Der Pietismus muß nothwendig drei Criſen er¬ leben, und wir befinden uns noch in der erſten. Er muß anfangs noch an den Proteſtantismus gebunden, noch von deſſen Einfluß beherrſcht erſcheinen, weil er von kleinem Anfang beginnend nur muͤhſam ſein Da¬ ſeyn unter Beibehaltung der alten Formen friſtet. Zugleich iſt dieſe Periode die politiſche und weltliche, und der Pietismus wird nicht nur durch die herr¬ ſchenden Kirchen, ſondern auch durch den Zeitgeiſt niedergedruͤckt. In einer zweiten Criſis aber wird er uͤber beide herrſchend werden, und in das Extrem der Einſeitigkeit fallen. In der dritten endlich wird er7 *148mit dem Proteſtantismus und Katholicismus ſich ver¬ ſoͤhnen und eine neue Kirche begruͤnden.

So widerſinnig dieſe Prophezeihung, in unſerer, den religioͤſen Intereſſen faſt abgeſtorbnen, indiffe¬ renten, weltlichen Zeit dem großen Haufen derer er¬ ſcheinen moͤchte, welche gar nicht an die Zukunft denken, oder ſie nur mit Idealen weltlicher Staaten erfuͤllen, ſo wird doch eine kleine Minderzahl mit mir uͤbereinſtimmen. Die Wenigen, die in dieſer Zeit von Gott erfuͤllt ſind, werden nicht zweifeln, daß wieder eine Zeit, wenn auch ſpaͤt kommen werde, da das religioͤſe Intereſſe jedes andere beherrſchen wird, und daß der Pietismus der Weg dazu ſey, daß in ihm die neue Verjuͤngung des verachteten Glaubens und die Verſoͤhnung der bisher getrennten Religions¬ parteien vorbereitet werde.

Denen, welche die Macht einer religioͤſen Ge¬ ſellſchaft bezweifeln, wenn ſie nicht in eine ſtarke aͤußere Kirche conſolidirt iſt, muß bemerkt werden, daß die Pietiſten, theils in der gegenwaͤrtigen Zeit wirklich noch zu vereinzelt, ſchwach und vom Einfluß der herrſchenden Syſteme noch beherrſcht zu uneinig und oft zu verderbt ſind, um eine maͤchtige Kirche herzuſtellen; daß es theils aber auch gar nicht im Weſen des Pietismus liegt, ſich aͤußerlich geltend zu machen und mit weltlicher Macht zu umkleiden. Der Pietiſt lebt im Gemuͤth und wendet ſich von allen Äußerlichkeiten ab. Der Strom der Gefuͤhle conſoli¬ dirt ſich ſchwer, und wo nur immer innerlich em¬149 pfunden wird, iſt nicht einmal ein Lehrſyſtem, ge¬ ſchweige denn die ſtarre Form einer ſichtbaren Kirche leicht gegruͤndet. Dennoch iſt die Macht des Gefuͤhls ohne alle aͤußern Huͤlfsmittel und Schutzwehren ſtark genug, ſich zu verbreiten, und die aͤußern Schran¬ ken fremder Kirchen eben ſo zu uͤberſcheiten, als ſich ſelbſt aͤußern Verfolgungen zu entziehn. Dieſe Macht beſteht unſichtbar und unantaſtbar, und taͤuſcht jede Berechnung ihrer Gegner. Niemand kann verhindern, ſie dereinſt zur herrſchenden zu machen, und iſt ſie dies geworden, ſo werden wir Erſcheinungen ſehn, die niemand erwartet haͤtte.

Die erſten Anfaͤnge des Pietismus zeigen noch den ganzen Einfluß des Proteſtantismus, aus dem ſie hervorgegangen. Die erſten Pietiſten wollten nur den reinen Proteſtantismus darſtellen, in derſelben Weiſe, wie die Jeſuiten den reinen Katholicismus. Daher ſind ſie auch ein vollkommenes Gegenbild der Jeſuiten. Die innige Gemeinſchaft mit Jeſus, der durchgebildete Roman der Seelenliebſchaft, die Bu߬ fertigkeit, die Zerknirſchung, die Entzuͤckung und die Viſionen, endlich die aufopfernde Dienſtfertigkeit, die Bekehrung der Heiden, die Miſſionen nach fremden Welttheilen ſind beiden gemein, nur daß die Jeſuiten damit heuchelten, und nur die Zwecke der Hierarchie verfolgten, waͤhrend die Pietiſten das nach ihrer Meinung Gute um ſein ſelbſt willen thaten. Die Pietiſten wollten anfangs nur einen gelaͤuterten Pro¬ teſtantismus und ſich keineswegs von der proteſtanti¬150 ſchen Kirche trennen. Wo dies geſchah, war es doch immer nur im Namen des reinen Proteſtantismus, und ſchon daß es geſchah, zeigt noch von dem Ein¬ fluß des alten Syſtems. Indem ſie eine aͤußere Kirche gruͤndeten, huldigten ſie noch gleich den uͤbrigen Pro¬ teſtanten nicht ſowohl dem Gefuͤhlsglauben allein, ſon¬ dern auch einem Wortglauben, einer beſtimmten Lehre. Daher ſind auch ihre kleinen Kirchen noch ganz nach dem Typus der proteſtantiſchen gebildet. Wie die Proteſtanten ſich in Lutheraner und Reformirte trenn¬ ten, ſo die Pietiſten in Herrnhuter und Methodiſten. Wie die Lutheraner ſich im noͤrdlichen Deutſchland in einer feſten und einigen Kirche conſolidirten, und Luther gleichſam als ihren Monarchen anerkannten, ſo thaten die Herrnhuter in demſelben Lande daſſelbe, und ihr Monarch war Zinzendorf. Wie die Refor¬ mirten dagegen in der Schweiz hier Zwingli, dort Calvin anhiengen, ſo folgten die Methodiſten in Eng¬ land hier Wasley, dort Whitefield.

Dieſe kleinen Kirchen gehoͤren einer Übergangs¬ periode an, und koͤnnen keine große Ausdehnung und keinen feſten Beſtand haben. Weit wichtiger als dieſe ordinirten Pietiſten ſind die zahlloſen andern, die uͤberall zerſtreut ſind, und die beim Mangel eines aͤußern Bandes, ein deſto ſtaͤrkeres innerliches verei¬ nigt. Sie ſind die Maſſe, die noch keine Geſtalt an¬ genommen hat, worin die Bildungen noch wechſeln, die erſt auf die Zukunft wartet, um ſich zu reinigen, zu erweitern, definitiv zu geſtalten.

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In dieſem Chaos zeigen ſich eine Menge unreife und verderbte, traurige und abſchreckende Erſchei¬ nungen. Die Gemuͤthskraft weiß ſich noch nicht von den Einfluͤſſen der Sinnlichkeit und einſeitiger Ver¬ ſtandesrichtungen zu befreien. Dieſe fremden und wi¬ derſprechenden Einfluͤſſe richten daher große Verir¬ rungen und Zerruͤttungen in den Gemuͤthern an, und treiben zu Unnatur und Wahnſinn. Nicht das Ge¬ muͤth iſt Schuld daran, ſondern nur die Sinnlichkeit und eine falſche Verſtandesbildung, welche ſich der im Gemuͤth liegenden ungeheuren Kraͤfte bedienen und ſie mißbrauchen. Selbſt Betrug miſcht ſich ein, Schein¬ heiligkeit, Eitelkeit, Eigennutz. Daher finden wir unter den Pietiſten ſinnliche verderbte Menſchen, die mit den Gegenſtaͤnden ihrer gluͤhenden Andacht eine wahre Unzucht treiben; arme Suͤnder, die ſich aus denſelben Urſachen in die Arme der pietiſtiſchen Gnade und Wiedergeburt fluͤchten, aus welchen einige an¬ dere ihres Gleichen katholiſch werden; halbgebildete Schwaͤrmer, die mit Auslegung der Schrift, Pro¬ phezeihen die Koͤpfe verruͤcken, ohne die Herzen zu erwaͤrmen; Fanatiker, die ſich im eigenen Blut ba¬ den und ſelbſtmoͤrderiſch opfern, um, wie ſie ſagen, fuͤr Chriſtus zu ſterben, gleich wie Chriſtus fuͤr uns geſtorben iſt; endlich Heuchler aller Art, beſonders in den niedern Klaſſen, Kaufleute und Gaſtwirthe, die ſich auf dem religioͤſen Wege Kaͤufer und Gaͤſte verſchaffen, arme Abenteurer, die auf eine bequeme Weiſe Krippenreiterei treiben und kokette Weiber, die152 unter dem Namen einer buͤßenden Magdalena nur die ſuͤndige ſpielen wollen. Alle dieſe Mißbraͤuche ſind indeß nicht dem Pietismus an ſich, ſondern der Stel¬ lung zuzuſchreiben, in welcher er ſich jetzt noch be¬ findet. Der Weltgeiſt dem der Pietismus noch erliegt, treibt auf ſolche Weiſe Hohn und Spott mit ihm.

Eine große Zahl von Pietiſten ſucht dieſem Welt¬ geiſt dadurch zu entfliehn, daß ſie ſich von allem Ir¬ diſchen ſo weit als moͤglich zuruͤckziehn und nicht einmal mehr denken wollen. Dies iſt der Quietismus im Pietismus, ſein Extrem, die einſeitigſte Verir¬ rung deren er faͤhig iſt. Zu dieſem Quietismus ſind die niedern Klaſſen am geneigteſten, weil der Stolz und Hochmuth der Unwiſſenheit denen am leichteſten wird, die wirklich unwiſſend ſind. Auch die ganz ab¬ geſchwaͤchten Vornehmen ſuchen den Quietismus, um ſelbſt in der aͤußerſten Impotenz noch eine Wolluſt zu finden.

Alle dieſe Verirrungen hindern indeß nicht, daß der Pietismus ſich immer weiter verbreitet und in der Achtung ſelbſt der Gelehrten immer mehr ſteigt. Als Religion des Gemuͤthes iſt er ein unentbehrliches Beduͤrfniß aller derer geworden, denen der Wort - und Denkglauben der Proteſtanten nicht mehr genuͤ¬ gen konnte. Er hat ſich ihnen nicht aufgedraͤngt, ſie haben ihn ſelbſt geſucht. Alles wird eher durch Zwang, Gewohnheit und Überredung begruͤndet und erhalten, als der Pietismus. Wer ſich zu ihm wendet, ſieht153 ſich ſogar verfolgt, nur ein freier innerer Drang kann dazu beſtimmen.

Der Pietismus findet am meiſten Anhang unter den niedern Klaſſen der Geſellſchaft, theils weil dieſe minder verdorben ſind als die hoͤhern, theils weil ſie nicht ſo ſehr in den Genuͤſſen der Erde ſchwelgen, um den Himmel daruͤber zu vergeſſen. Da, wo das feine Gift der Unſittlichkeit und die hochmuͤthige Welt¬ klugheit noch nicht ſo tief eingedrungen, iſt das Ge¬ muͤth noch friſch und ſtark, der hoͤchſten und laͤngſten Entzuͤckung faͤhig. Und da, wo aͤußerlich Noth und Mangel, Verachtung und Unfreiheit herrſchen, ſucht der Menſch ſich gern die innerliche Freiheit, das in¬ nerliche Gluͤck. Es ſucht den Himmel, wem die Erde nichts bietet. Und ſollen wir die innere lebendige Waͤrme, welche die großen Maſſen des Volks im Pie¬ tismus ergriffen und ſie freundlich ſchirmt gegen den Froſt des Lebens, ſollen wir den bluͤhenden Sinn fuͤr Liebe, der in die kleine Geſellſchaft fluͤchtet, weil ihn die große zuruͤckſtoͤßt, ſollen wir die innre Erhe¬ bung mißbilligen und verdammen, die den Frommen den letzten Reſt von menſchlicher Wuͤrde ſichert, wenn Niedrigkeit, Armuth und Laſter ſich verbunden, ſie niederzutreten. Es iſt der niedrigſte Stand, es ſind die Armen, welche die Maſſen der pietiſtiſchen Ge¬ ſellſchaften bilden. Iſt es nicht ein ſchoͤner Zug die¬ ſes Volks, daß es in der eignen Bruſt den Stern findet, der ihm in der Nacht des Lebens leuchtet? Iſt dieſe verachtete Froͤmmigkeit nicht die einzige Schutz¬154 wehr gegen thieriſche Abſtumpfung und Niedertraͤch¬ tigkeit, wie gegen frivole oder verzweifelte, zu Re¬ volutionen fuͤhrende Entſchließungen? Ein Umſtand wird dem Pietismus beſonders jetzt guͤnſtig, der Mangel an oͤffentlichem Leben und der Eigennutz, der das Privatleben zerruͤttet. Waͤhrend der Eng¬ laͤnder ſeine große Staatsthaͤtigkeit, der Franzoſe ſeine geſelligen Genuͤſſe, der Italiaͤner ſeine Natur beſitzt, findet der Deutſche den Himmel nur in ſich ſelbſt. Die Langweiligkeit des Staatslebens, die Perfidie der buͤrgerlichen Geſellſchaft und oft zugleich die Einfoͤrmigkeit der Natur und des haͤuslichen Le¬ bens machen ihm, wie die Wonne frommer Herzens¬ ergießung, ſo die Geſellſchaft theuer und unentbehr¬ lich, die mit ihm die gleiche Geſinnung theilt, und es verbindet ſich damit eine eigenthuͤmliche Sehnſucht, welche die Deutſchen in allen Parteien immer aus¬ gezeichnet hat, eine abgeſchloſſene Gemeinde der Hei¬ ligen, der Auserwaͤhlten, der Apoſtel einer Idee zu bilden. Dieß war und iſt das ſtaͤrkſte Band unter den Separatiſten.

Seit einiger Zeit haben ſich auch ſehr gelehrte Maͤnner des Pietismus direct oder indirect angenom¬ men. Ein pietiſtiſcher Geſchmack, eine gewiſſe An¬ ſteckung pietiſtiſcher Gefuͤhle und Ausdruͤcke iſt in der Literatur eben ſo weit verbreitet, als im Leben. Dieß finden wir zunaͤchſt in der theologiſchen Literatur. Eine Menge proteſtantiſche Geiſtliche neigen zum Gefuͤhlsglauben und reden ihm in Dogmen, Predig¬155 ten und Gedichten das Wort, ohne ſich aͤußerlich von der Kirche zu trennen. Es gibt ganze Gegen¬ den wo dieſer Ton der herrſchende geworden iſt. Waͤhrend dieſe Geiſtlichen den Gefuͤhlsglauben mit dem Wortglauben der Orthodoxie zu verſoͤhnen trach¬ ten, beſtreben ſich andere mehr philoſophiſch dieſen Glauben auch mit dem Verſtande zu verſoͤhnen, ihn der aufgeklaͤrten Denkweiſe des Jahrhunderts zu ver¬ mitteln. So verſucht Schleiermacher's verſtaͤndige Be¬ geiſterung durch eine wunderbare Zuruͤſtung von lo¬ giſchen Formeln gleichſam optiſch, wie durch Brenn¬ ſpiegel, das heilige Feuer der platoniſch-chriſtlich-pie¬ tiſtiſchen Liebe in den Herzen zu entzuͤnden. So ſehn wir den genialen Steffens die ganze Naturphiloſo¬ phie auf ein pietiſtiſches Reſultat hinaus fuͤhren, und alle Cryſtalliſationen des Wiſſens gleichſam che¬ miſch aufloͤſen in das Fluidum des Gefuͤhls. Man hat ihn und einige andere daher Apoſtaten des Wiſ¬ ſens und Neophyten des Glaubens genannt, und mit Recht dieſer Wendung der Philoſophie eine große Bedeutung fuͤr die Zeit zuerkannt. Zuletzt iſt auch ein Katholik aufgetreten und hat die erſte Bahn zu einer Verſoͤhnung des Pietismus mit dem Katholicismus gebrochen. Schon Friedrich Schlegel behauptet mit Recht, daß gerade in der Myſtik und Theoſophie, die ſich von der Kirche losgeriſſen, die bedeutendſte Reaction gegen dieſelbe vorbereitet werde, und Franz Baader hat es verſucht, dieſe Behauptung durch Kri¬ tik einiger Myſtiker und Pietiſten, namentlich des156 Jakob Boͤhme, zu beſtaͤtigen. So unbedeutend dieſer Verſuch fuͤr jetzt noch ſcheinen duͤrfte, ſo iſt doch zu erwarten, daß die Unterſuchung auf dieſem Wege nicht ſtille ſtehen wird, und daß die bei den Pietiſten und Katholiken nur ſcheinbar getrennten Elemente ſich einſt naͤher verbinden werden. Wird jemals eine Vereinigung aller Confeſſionen in eine große chriſt¬ liche Kirche wieder moͤglich, ſo kann das vermittelnde Glied allein der Pietismus ſeyn.

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Philoſophie.

Wir leben in der Zeit der Wiſſenſchaft. Der Verſtand iſt Regent der drei letzten Jahrhunderte. In der Reformation hat er ſich befreit, und in der Philoſophie des achtzehnten Jahrhunderts ſeinen Thron aufgeſchlagen. Iſt einmal ein Volk dahin gekommen zu denken, ſo ſucht es auch die Geſetze des Denkens; ſammelt ſeine Wißbegier die mannigfaltigſten That¬ ſachen, ſo ſucht es deren Motive; bildet es eine Wiſſenſchaft nach der andern aus, ſo ſucht es end¬ lich den innern Zuſammenhang in allen. Die Re¬ flexion fuͤhrt, welchen Gegenſtand ſie auch zuerſt er¬ greifen mag, immer zuletzt zur Philoſophie hin. Was in die Sphaͤre des Wiſſens faͤllt, ſieht ſich an einen Radius geknuͤpft und fuͤhrt zum Centrum. Dieß iſt der Gang, den der Verſtand in ſeinem Fortſchritt immer nehmen muß. So unabaͤnderlich aber dem Denker die vollendete Philoſophie als perſpectiviſches Ziel vorgeſteckt iſt, ſo nothwendig er nichts andres erſtreben kann, als eine vollkommne Wiſſenſchaft von158 allen Dingen, gleichſam den Verſtand Gottes zu er¬ reichen, ſo iſt doch eben die Erreichung des Zieles, die uns Gott gleichmachen wuͤrde, unmoͤglich, und nicht nur in der Art, wie wir philoſophiren, ſon¬ dern ſchon darin, daß wir philoſophiren, liegt ein innrer Widerſpruch, und nur das Streben ſelbſt iſt das Ziel. Es gibt viele Philoſophien, weil es keine Philoſophie, d. h. keine alleinguͤltige geben kann, und dieſe Philoſophien ſind nur Methoden, zu philoſophi¬ ren, weil ſie nicht durch das Ziel, ſondern durch den Weg dazu bedingt ſind.

Der Menſch fraͤgt und beantwortet die Fragen ſo lange wieder mit Fragen, bis er an eine letzte Frage kommt. Anfangs hielt man die Philoſophie nur fuͤr eine Kunſt zu antworten, jetzt haͤlt man ſie richtiger fuͤr eine Kunſt, zu fragen. Um die erſte Frage zu beantworten, mußte man die zweite thun, deren Antwort erſt jene beantworten kann. Man frug: was iſt? und ſah ſich genoͤthigt zu fragen; was denk ich, das ſey? und wieder: wie komm ich zum denken, und auf welche Weiſe denk ich? So hat eine deutſche Philoſophie ſich uͤber die andre gebaut. Man hat je von einer Wiſſenſchaft, die gerade vor¬ herrſchte, den Weg in die Philoſophie geſucht, und entweder die hoͤchſte Frage fuͤr eine Wiſſenſchaft zur hoͤchſten der Philoſophie gemacht, oder doch von der Philoſophie die Beantwortung jener erſten erwartet. So haben die Fragen ſich zugleich vervielfaͤltigt und dadurch wieder geſchaͤrft und vereinfacht.

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Anfangs befreite ſich die Philoſophie aus den Feſſeln der Dogmatik durch den Grundſatz der Ari¬ ſtotetiker, daß es eine innere Conſequenz, eine ma¬ thematiſche Nothwendigkeit der Wahrheit, neben der durch die Kirche offenbarten Wahrheit gebe. Die Philoſophie erweiterte jedoch nur die Graͤnzen der Theologie und ihre Fragen blieben theologiſche. Mit den großen geographiſchen, aſtronomiſchen und phyſi¬ kaliſchen Entdeckungen des fuͤnfzehnten Jahrhunderts kam eine neue Richtung in die Philoſophie. Man bemuͤhte ſich, das Princip des geiſtigen Lebens, das man fruͤher in der goͤttlichen Offenbarung geſucht, mit dem Princip der Natur zu vermitteln; man iden¬ tificirte auf eine myſtiſche Weiſe die Kraͤfte der Na¬ tur, die man in der Aſtronomie und Chymie entdeckt, mit den Kraͤften der menſchlichen Seele; man ſuchte einen Stein der Weiſen, darin die Wurzel aller ma¬ teriellen und geiſtigen Kraͤfte verborgen laͤge. Theo¬ phraſtus Paracelſus bearbeitete die Phyſik, ſpaͤter der tiefſinnige Jakob Boͤhme die Pſychologie nach naturphiloſophiſchen Ideen. Sie ſind unbillig ver¬ achtet worden. Inſonderheit den letztern hat man mehr von der theologiſchen als naturphiloſophiſchen Seite, und ſomit ganz ſchief ins Auge gefaßt. Wenn ihnen die ungeheure phyſikaliſche Erfahrung des acht¬ zehnten Jahrhunderts nicht zu Gebote ſtand, ſo hat¬ ten ſie doch offenbar philoſophiſchen Tiefſinn und der letztere zugleich das Schema eines durchgreifenden Syſtems. Dieſe Weiſe zu philoſophiren, die erſt die160 neuere Zeit wieder aufnahm, konnte damals nicht durchdringen. Selbſt der große Spinoza eilte ſeiner Zeit voran, ohne ſie mit ſich zu reißen. Der herr¬ ſchende Hang nach Aſtrologie, Alchymie, Chiromantie und der Aberglauben aller Art zog die Naturphilo¬ ſophie ins Abſurde und brachte ſie nicht ſelten in die unwuͤrdigſten Haͤnde. Theophraſtus Paracelſus bil¬ det den Übergang zur Empirie. Sein reiches Detail phyſikaliſcher Erfahrung, noch gemiſcht mit dem Wun¬ derglauben der heidniſchen Pharmacie und der ſym¬ pathetiſchen Curen, bereitete doch ein genaues und umfaſſenderes Forſchen im Einzelnen vor, wobei nur die Philoſophie in den Hintergrund trat. Inzwiſchen wurde, je mehr der phyſikaliſche Theil der Naturwiſ¬ ſenſchaften von der Philoſophie ſich entfernte, der mathematiſche deſto enger mit ihr verbunden. Die Mathematik ſagte dem immer mehr erkaͤltenden Ver¬ ſtande zu, und wenn ſie einerſeits den Gehalt der Philoſophie gleichſam austrocknete in einer duͤrren Atomenlehre, ſo war ſie andrerſeits doch aͤußerſt heil¬ ſam fuͤr den philoſophiſchen Formalismus. Leibnitz, Wolf, Baumgarten haben hier das groͤßte geleiſtet. Das Syſtem, nach welchem man die Philoſophie fortan mathematiſch beweiſen, ſie auf einen Satz zuruͤckfuͤh¬ ren und ſo klar wie das Einmal Eins machen wollte, verzichtete zwar auf die anthropologiſche Baſis, und verſtopfte jede andre Quelle der Erkenntniß, außer der durch Abſtraktion der Begriff, negirte jedes Organ, außer der Denkkraft, erwarb uns aber auch161 eine immer beſſer durchgearbeitete Logik. Dieſe be¬ maͤchtigte ſich ſofort der Moral, deren Fragen die ernſten proteſtantiſchen Prediger faſt ausſchließlich beſchaͤftigte, und waͤhrend die Orthodoxen dieſe Frage noch nach der Bibel entſchieden, ſuchten die kritiſchen Theologen und die Phiſoſophen ſie durch logiſches Abwaͤgen von Pflichten und Rechten zu beantworten, und eine hoͤchſte moraliſche Weltordnung in mathe¬ matiſchen Formen feſtzuſetzen.

Nachdem man, je weiter das Mittelalter zuruͤck¬ trat, immer kuͤhner geworden und den Weg der Of¬ fenbarung als eine letzte Feſſel gaͤnzlich weggewor¬ fen; nachdem man uͤber die Natur ſich durch uner¬ muͤdetes Studium immer vollkommner aufgeklaͤrt; nachdem man die Mathematik mit Virtuoſitaͤt hand¬ haben gelernt und ſie auf die Logik angewandt, und dieſe wieder auf die Moral, die durch den Prote¬ ſtantismus wie durch die roͤmiſche Jurisprudenz wie¬ der praktiſche Anwendung fand; nachdem die Kunſt in neuen Flor gekommen und aͤſthetiſche Fragen uͤber¬ all angeregt worden; nachdem endlich mit der Bluͤ¬ thezeit der Muſik, mit der poetiſchen Sentimentali¬ taͤt und der Herrnhuterei auch die Gefuͤhle ſchaͤrfer analyſirt zu werden anfingen, ſo war eine Combina¬ tion aller der verſchiednen Organe, wodurch wir Na¬ tur und Geiſt, das Zeitliche und Ewige vernehmen, eine Combination aller bisher eingeſchlagnen Wege zu philoſophiren und die Kritik derſelben hinlaͤng¬ lich vorbereitet. Eine große Menge ſcharfſinnige162 Pſychologen, Mendelsſohn, Reimarus, Platner, Abt, Sulzer ꝛc. ſuchten die Thatſachen der Erfahrungs¬ ſeelenlehre zu ſammeln. Ihr geſammtes Wirken um¬ faßte und vollendete der Philoſoph von Koͤnigsberg. Kant, eben ſo groß durch ſeinen Geiſt, als durch die erhabne Stellung auf der pyramidaliſchen Hoͤhe aller fruͤhern Denker, wurde der Stifter jener gro¬ ßen Epoche der deutſchen Philoſophie, von der das vorige Jahrhundert den Namen des philoſophiſchen traͤgt. Kant baute ſein Syſtem auf die Anthropo¬ logie. Er pruͤfte die Organe des Menſchen, ver¬ moͤge deren er alles vernimmt. Er zeigte, daß man nicht forſchen koͤnne, was die Welt an ſich ſey, ſon¬ dern nur, wie wir ſie vernehmen. Seine Philoſo¬ phie war Kritik der Vernunft.

Einen Augenblick ſchien es, als ob in dieſer Kritik die letzte Graͤnzſcheide der Philoſophie gezo¬ gen ſey, und doch ward ſie bald wieder uͤberſprun¬ gen. Es ſchien, als ob alle die verſchiednen Keime der Philoſophie zu dieſer einzigen Frucht gereift ſeyen; die Frucht trug aber wieder verſchiedne Sa¬ men. Man bemerkte, daß Kant eigentlich vom wah¬ ren Ziel der Philoſophie abgewichen war, denn er verſchmaͤhte das abſolute Wiſſen und bewies, es gaͤbe nur ein bedingtes. Sofort verließ man ihn als ei¬ nen Kleinglaͤubigen und ſuchte von neuem das Abſo¬ lute. Kant hatte ferner ein ſubjektives Wiſſen von der objectiven Welt angenommen, und beide mit ein¬ ander dergeſtalt in Relation geſetzt, daß wir zwar163 ein Object vernehmen, aber nur nach ſubjectiven Ge¬ ſetzen der in uns liegenden Vernunft, und daß das Object uns zwar nur unter den ſubjectiven Bedin¬ gungen erſcheint, aber doch auch etwas an ſich ſeyn kann. Man bemerkte, daß dieß zu keinem abſoluten Wiſſen fuͤhren koͤnne, und die Abſolutiſten trennten ſich. Die einen wurden abſolute Subjectiſten, die das Anſichſeyn der objectiven Welt, das Kant dahin geſtellt ſeyn laſſen, geradezu laͤugneten; die andern wurden abſolute Objectiſten, welche das ſubjective Vernehmen vom Weſen des Gegenſtandes abhaͤngig machten; noch andre nahmen eine abſolute Identitaͤt zwiſchen Geiſt und Natur, der ſubjectiven und ob¬ jectiven Welt, des Vernehmens und ſeines Gegen¬ ſtandes an. Endlich hatte Kant die verſchiednen Or¬ gane der menſchlichen Vernunft zuſammengefaßt und jedem gleiches Recht angedeihen laſſen. Er ſah mehr auf das Ganze der Seelenthaͤtigkeiten und brachte ſie unter ein Gleichmaaß: in andern waren je be¬ ſondre Organe vorzuͤglich entwickelt und wurden wie¬ der einſeitig in der hoͤchſten Evidenz herausgeſtellt. Einer hatte mehr Sinn fuͤr die Natur, ein andrer mehr fuͤr die Moral, ein dritter mehr fuͤr die Logik und bildete demgemaͤß ſein ganzes Syſtem einſeitig aus. Das Wichtigſte in dieſer Parteiung iſt aber die Conſequenz, die Kant hineingebracht. Als Folge oder als Gegenſatz ſtehn alle Philoſophien nach der ſeinigen mit dieſer in Verbindung. Alle philoſophi¬ ſche Parteiung beruht auf den Gegenſaͤtzen des be¬164 dingten und abſoluten Wiſſens, des ſubjektiven Ichs und der objectiven Welt, und je der einzelnen Or¬ gane des Ich und der ihnen entſprechenden Reihen in der objectiven Welt.

In Bezug auf den erſten Gegenſatz entſtand nach Kant's Kriticismus mit Nothwendigkeit ein dogma¬ tiſcher Abſolutismus, der zwar wie Kant kritiſirte, aber nicht um die Schranken, ſondern um das Ziel des abſoluten Wiſſens zu finden. Hatte Kant das Ich von der Außenweit getrennt und nur in eine Relation geſetzt, deren abſoluten Grund er unerklaͤrt laͤßt, ſo war dieß nur ein Sporn fuͤr ſpaͤtere Philo¬ ſophen, den abſoluten Grund und in ihm zugleich die fehlende Einheit zu ſuchen. Waͤhrend eine ziem¬ lich ausgedehnte Schule Kant noch unmittelbar treu blieb und durch Erweiterung der anthropologiſchen Forſchungen wie durch Verſchaͤrfung der Kritik ſich mannigfaltiges Verdienſt erwarb, ſchritten andre kuͤhne Geiſter weiter. Sie verſuchten das Abſolute zu con¬ ſtruiren, die Kantianer kritiſirten das Relative. Ihre Lehre iſt Dogmatismus, die Kantiſche Kriticismus. Sie beantworten apodiktiſch die Frage: was iſt? Die Kantianer fahren fort zu fragen: wie vernehmen wir? Ohne Zweifel wird die Wiſſenſchaft durch alle beide befoͤrdert. Der Abſolutismus iſt eine ewige Evolution der Seelenkraͤfte durch das Genie; der Kriticismus ſichert ihr Gleichmaaß. Wenn die Kri¬ tiker beweiſen, bis zu welcher Graͤnze der menſchliche Geiſt vordringen kann, ſo iſt es gut, daß die Abſo¬165 lutiſten es thun. Wenn auch jeder Philoſoph am Ziele ſeines Strebens mit Sokrates behaupten muͤßte: die groͤßte Weisheit ſey, zu wiſſen, daß man nichts wiſſen koͤnne! ſo wird doch keiner ein Philoſoph wer¬ den, der das glaubt.

Die Abſolutiſten unterſchieden ſich aber nach eben den Gegenſaͤtzen von Subject und Object, die Kant's Relationsſyſtem feſtgeſtellt, und ihre Lehren ſind in einer hiſtoriſchen Folge hervorgetreten, die den uͤbri¬ gen Richtungen der Zeit entſprochen hat. Da noch der Proteſtantismus und die franzoͤſiſche Encyklopaͤ¬ die das Jahrhundert beherrſchten, da Logik und Mo¬ ral an der Tagesordnung waren, da der Geiſt in jedem Augenblick einen neuen Sieg uͤber die Natur und ihre geheimnißvolle Kraft erfocht, ſo darf man ſich nicht wundern, daß ein genialer Mann, wie Fichte, enthu¬ ſiaſtiſchen Beifall fand, als er die ganze Philoſo¬ phie auf ein ſubjektives Moralgeſetz zuruͤckfuͤhrte, die Kantiſche Relation aufhob, die objective Natur ins Nichts verwies, und nur ein abſolutes Subject, ein geiſtiges Ich anerkannte. Eine ſolche Einſeitigkeit bedurfte des aͤußerſten logiſchen Scharfſinns, um nur conſequent durchgefuͤhrt werden zu koͤnnen, und die¬ ſer bereicherte wieder den Formalismus der Philo¬ ſophie. Es war keine Kunſt, das Fichteſche Syſtem zu laͤugnen, aber eine Kunſt, es zu widerlegen, und jedes folgende Syſtem erbte ſeinen Scharfſinn, wie Spolien des Feindes. Überdem war Fichte's Ein¬ ſeitigkeit dem Moralſyſtem wenigſtens ſo guͤnſtig, daß166 es kein erhabneres außer dem ſeinigen gibt. Indeß konnte man auf dem aͤußerſten Extrem ſich nicht lange halten. Natur und Kunſt waffneten ſich gegen Fichte. Der unermeßlichen Forſchung oͤffnete ſich die Natur als eine gleichſam plaſtiſch erſtarrte Philoſophie. Die Gegenſtaͤnde der Natur ſelbſt ordneten ſich in ein Syſtem. Die Entdeckungen in der Organologie ver¬ draͤngten den Mechanismus, welcher als Gegenſatz den Idealiſten Vorſchub gethan. Man konnte das geiſtige Princip der Natur nicht laͤnger verkennen und der alte Pantheismus ward wieder aufgenom¬ men. Zu gleicher Zeit war alles fuͤr die Kunſt enthu¬ ſiaſtiſch geworden, und da das Schoͤne ſtets mittel¬ bar oder unmittelbar an die materielle Natur geknuͤpft iſt, ſo ward uͤberall auf dieſe hingewieſen. Sanft ſenkte ſich der menſchliche Genius von unwirthbaren Hoͤhen wieder zum gruͤnen muͤtterlichen Boden hinab.

Unter dieſen Umſtaͤnden ergriff der große Schel¬ ling wieder die von Fichte verlaßne Kantiſche Re¬ lation zwiſchen Subject und Object und erhob ſie zur abſoluten Identitaͤt. Man haͤtte denken ſollen, er werde wieder einſeitig nur das Object, die mate¬ rielle Natur, geltend machen, und von dieſer falſchen Folgerung verleitet, haben ihn auch viele unverſtaͤn¬ dige Gegner nur als Naturphiloſophen verſchrien. Es war ihm aber nicht blos Fichtes Subject, ſon¬ dern auch deſſen Einſeitigkeit uͤberhaupt entgegenge¬ ſetzt, und wenn er die Naturphiloſophie neu begruͤn¬ dete, ſo war dieſelbe doch nur der eine Theil ſeiner167 dualiſtiſchen Identitaͤtslehre. Geiſt und Natur ſind ihm zugleich nur Emanationen, Erſcheinungen, Äuße¬ rungen und Evolutionen der goͤttlichen Idee. Er pa¬ ralleliſirt daher auch das Syſtem des Idealismus und Materialismus und neutraliſirt die Extreme. Dies iſt Spinozismus, aber in hoͤherer Potenz. Nur nach Kant und Fichte konnte Spinoza's Verſprechen er¬ fuͤllt werden. Es bedurfte jedoch eines gleich großen Geiſtes, Schelling vor Kant, oder Spinoza nach Kant zu ſeyn. Die Identitaͤtslehre hat vor jeder an¬ dern Philoſophie augenſcheinliche Vorzuͤge. Der Eklek¬ tiker, der die Reihe der Syſteme muſtert, findet hier die Vermittelung der Extreme. Er bemerkt, daß jede Philoſophie die andre ausſchließt, hier findet er ſie mit einander verbunden. Der Mathematiker, der die geſammte Philoſophie als eine Sphaͤre betrachtet, fin¬ det in Schelling's Princip den magnetiſchen Mittel¬ punkt, der die entgegengeſetzten Pole der Subjects - und Objectslehre, der Geiſtes - und Naturphiloſophie zugleich ſpannt und bindet. Der Schematismus die¬ ſer Philoſophie erſcheint alſo als der vollkommenſte, den wir bis jetzt kennen. Die Ausfuͤhrung iſt aber den Bedingungen der menſchlichen Unvollkommenheit unterworfen. Dies hat dahin gefuͤhrt, daß die Phi¬ loſophie den alten Kreislauf dennoch wiederholt. Die Schule Schelling's iſt nach den beiden in ihr liegen¬ den Potenzen wieder in zwei einſeitige Hauptſyſteme zerfallen. Oken hat den materiellen Pol vorwiegen laſſen und die Identitaͤt des Geiſtes mit der Natur168 in den geiſtigen Charakter der Natur geſetzt. Die Materie iſt ihm nur der zerfallene Geiſt, der Geiſt die combinirte Materie. Endlich hat Hegel den gei¬ ſtigen Pol vorwiegen laſſen und die Identitaͤt des Geiſtes mit der Natur in den materiellen Charakter des Geiſtes, in die objective Weſenheit der Begriffe, in das ausſchließliche und abſolute Seyn der Denk¬ begriffe und ihres Geſetzes, der hoͤhern Logik, in die Phyſik der Logik geſetzt. Oken's Weſen ſind Be¬ griffe, Hegel's Begriffe ſind Weſen. Somit bietet die deutſche Philoſophie bis zum gegenwaͤrtigen Au¬ genblick ein conſequentes Syſtem von Syſtemen dar und iſt in einem gewiſſen Kreiſe abgerundet.

Wir muͤſſen aber auch auf die einzelnen Organe des menſchlichen Geiſtes Ruͤckſicht nehmen, die in den verſchiednen Syſtemen vorzugsweiſe ſind entwickelt worden. Die kraͤftigſte Entwicklung war immer die einſeitigſte. Nur indem jedes Organ allein herrſchen will, erhaͤlt es den hoͤchſten Grad der Ausbildung und dient der Philoſophie am beſten in dem Augen¬ blick, da es von ihr zu entfernen ſcheint. Über¬ haupt, ſo lange die Philoſophie, die unumſtoͤßlich, un¬ abaͤnderlich und in allen Theilen vollkommen ſeyn wird, noch nicht gefunden iſt, kann ſie dem Geiſt niemals eine Schranke oder nur ein Maaß aufdringen, der in einer eigenthuͤmlichen Bahn vordringt und ſich ſel¬ ber Geſetz und Ziel ſchafft. Die Moral, die Logik, die Phyſik ſind einer eigenthuͤmlichen Ausbildung un¬ terworfen, und nehmen weit ſeltner von der Philo¬169 ſophie Regeln an, als ſie ſelbſt in ſie Regeln hin¬ uͤber tragen, ja ſogar ſie voͤllig umſchaffen. Und wo dies auch nicht der Fall waͤre, muß ein ſelbſtſtaͤndi¬ ges, wenn auch einſeitiges Moralſyſtem, eine eigen¬ thuͤmliche Logik oder Phyſik ſo viel Werth haben, als wenn wir ſie als integrirenden Theil eines um¬ faſſenden philoſophiſchen Syſtems kennen lernten. In allem, was der Menſchengeiſt hervorbringt, liegt ein innrer Zuſammenhang, wenn auch die Form ihn ver¬ laͤugnet. Kant war ſo vielſeitig, als die Bildung des Jahrhunderts ihm Seiten darbot. Sein brillantirter Geiſt ſelbſt war der Stein der Weiſen ſeiner Zeit. Sein Syſtem beruhte auf der Wuͤrdigung aller gei¬ ſtigen Richtungen und er wirkte wohlthaͤtig auf alle. Seine Schuͤler zeigen oft nur dem Syſtem zu Liebe eine oberflaͤchliche Vielſeitigkeit. An echter umfaſſen¬ der Bildung ſteht allen andern der biedre Fries voran, der ſich uͤberdem durch eine vorwiegende ethiſche Rich¬ tung und durch ein Streben nach Popularitaͤt aus¬ zeichnet. Fichte war ganz Moraliſt, und alle ſeine Werke beziehen ſich auf das handelnde Leben, ſo we¬ nig ſie auch populaͤr geſchrieben ſind, ſo daß man nicht einmal ſeine Reden an die deutſche Nation au¬ ßer der Schule begreifen kann. Dieſer tapfre Geiſt verlangte die Diktatur und den Terrorismus der Tu¬ gend. Er ſtellte die abſolute Tugend ſelbſt dem Him¬ mel entgegen und verſchmaͤhte fuͤr dieſelbe die Garan¬ tie der religioͤſen Autoritaͤt. Ein rieſenſtarker Wille in der eignen Bruſt ſollte jede fremde Kruͤcke dem neu¬Deutſche Literatur. I. 8170gebornen Geſchlecht entbehrlich machen. Sein Grund¬ ſatz: nur das ſey, was der Menſch thue, und nur das verdiene zu ſeyn, wozu er ſich durch die Kraft des Willens zwinge, und nur das koͤnne der Menſch wollen, was ſeinem freien Ich gezieme, Ehre fuͤr ſich, Gerechtigkeit fuͤr alle! blitzt wie das Flammen¬ ſchwert eines Engels in das durch Mattigkeit, Sinn¬ lichkeit und Luͤge entwuͤrdigte Paradies des Men¬ ſchenlebens. Iſt in Fichte's Princip ein philoſophi¬ ſcher Irrthum, ſo iſt die Anwendung doch die wahrſte und beſte. Der Irrthum liegt nur in der Ausſchlie߬ lichkeit des Princips, nicht in deſſen Folgerungen. Wie nur aus dem Fichteſchen Princip der hoͤchſten Willensfreiheit die wuͤrdigſte Moral gefolgert werden kann, ſo wird jede beſte Moral wieder bis zu Fichte's Princip aufſteigen muͤſſen. Eine hoͤhere Philoſophie vermag aber das Princip der Willensfreiheit mit dem der Nothwendigkeit zu vermitteln. Im Gegenſatz ge¬ gen Fichte war Schelling wieder vielſeitig, wie Kant, und nur ſeine Schuͤler haben die verſchiedenen Sei¬ ten vorzugsweiſe glaͤnzend ins Licht geſetzt. Das re¬ ligioͤſe Element iſt hauptſaͤchlich von Goͤrres und Steffens ausgebildet worden, myſtiſch von jenem, pietiſtiſch von dieſem. Im ethiſchen Gebiet glaͤnzt Goͤrres vor allen, und ihm verdanken wir auch die erſte Organologie des politiſch-hiſtoriſchen Lebens. Die meiſten Schuͤler Schelling's werfen ſich mit uͤber¬ wiegender Vorliebe in die Naturkunde. Die tiefſten Ahnungen uͤber das kosmiſche und organiſche Leben171 ſprach Goͤrres aus. Das conſequenteſte Syſtem, das ſich zugleich der Empirie am vollkommenſten anſchmiegte und gleichſam den ganzen Thatbeſtand der Naturge¬ ſchichte wie durch einen Zauberſchlag in eine Philo¬ ſophie verwandelte, verdanken wir Oken. Er uͤber¬ trifft alle Naturphiloſophen an empiriſchen Kenntniſſen, alle Empiriker an Philoſophie. In der Anwendung der Mathematik auf die Naturphiloſophie erwarben ſich vorzuͤglich Wagner und Eſchenmayer Verdienſte. Steffens zeichnete ſich durch Unterſuchungen uͤber die Vorgeſchichte, Schubert durch Aufklaͤrung der Nacht¬ ſeite der Naturwiſſenſchaft aus. Sie alle brachten in das Studium der Natur einen neuen großen Schwung. Durch Hegel hat ohnſtreitig die Logik viel gewonnen. Es liegt in ſeiner Taſchenſpielerei mit Begriffen ein Talisman, den man ihm abgewinnen muß, um ihn wuͤrdiger zu gebrauchen.

Wenn wir durch jeden, der auf iſolirter Bahn etwas Großes geleiſtet, uns im Einzelnen belehren laſſen muͤſſen, ſo ſollen wir doch immer den Blick nach den univerſellen Geiſtern, den Polarſternen des Himmels richten, um welche die groͤßte Sphaͤre ſich umwaͤlzt. Zwar eine ewige Kluft iſt feſtgeſtellt zwi¬ ſchen der Weisheit Gottes und der der Menſchen; doch eine Stelle gibt es, wo auch der menſchliche Geiſt am hoͤchſten ſteht, und die freieſte und reichſte Aus¬ ſicht zugleich gewinnt. Heil dem Genius, in welchem der Sinn fuͤr die Natur, die moraliſche Kraft, der Scharfſinn des Verſtandes, die tiefe Innigkeit des8 *172Herzens in einer hoͤchſten Einheit verbunden liegen, in deſſen reingeſtimmter Seele die Accorde voll er¬ klingen, in denen alles Lebens Harmonie gedeutet wird. Geiſter wie Kant, Schelling, Goͤrres zeigen uns erſt, was die Welt iſt, indem ſie ſie in ihrem Geiſte ſpiegeln, und was der Geiſt iſt, indem ſie ihn in der Welt ſpiegeln. Je weiter aber die Welt erſchloſſen wird, deſto groͤßer werden die Geiſter, je groͤßer die Geiſter ſind, deſto groͤßer ſchaffen ſie die Welt. Der hoͤchſte Triumph des Philoſophen iſt, daß er von innen heraus die Welt durch die Er¬ kenntniß neu ſchafft und bildet wie ein Kunſtwerk, daß er immer freier wird, je mehr er ſie begreift, daß die groͤßte Laſt des Wiſſens ſeinem Genius die leichteſten Schwingen leiht. Der hoͤchſte Triumph der Philoſophie iſt dagegen, daß ſie niemals alleinguͤltig wird, daß ſie die Erkenntniß der Welt ſtets an die Eigenthuͤmlichkeit geiſtiger Naturen knuͤpft, daß ſie die Welt immer nur im Spiegel eines individuellen Geiſtes zeigt, daß folglich der groͤßte Philoſoph den groͤßern nicht ausſchließt. Man kann die Philoſophie mit der Muſik vergleichen. Die Philoſophen ſpielen auf der Welt. Hier und dort vernehmen wir die wunderbarſten und herrlichſten Melodien. Wir be¬ dauern die Schuͤler, die dem Inſtrumente nicht gewach¬ ſen ſind, weil die toͤnereichſte Floͤte dem Ungeſchick¬ ten doch nur ein Holz iſt. Wer aber iſt ein Meiſter der Gegenwart und glaubt, der Quell der Toͤne ſey erſchoͤpft und verſiegt durch ſeine Kunſt? Immer173 neue Meiſter erben das Inſtrument, das nie ver¬ wuͤſtet wird. Es reihen ſich Blumen an Blumen, und Menſchen an Menſchen. Der Himmel iſt gewoͤlbt aus vielen Sternen und Gottes Tempel ruht auf vielen Saͤulen.

Nach dieſem allgemeinen Überblick uͤber das In¬ nere der deutſchen Philophie muß es intereſſiren, ihr Verhaͤltniß zur uͤbrigen Literatur und zum Leben zu betrachten. Ich ſtehe nicht an, dieſer Philoſophie den Vorrang vor allen andern unſrer literariſchen Erſcheinungen zuzuerkennen. Das Zeitalter wird von der Wiſſenſchaft, die Wiſſenſchaft von der Philoſophie regiert. In der neuen Hierarchie des Verſtandes iſt der philoſophiſche Stuhl der apoſtoliſche und die Phi¬ loſophen ſind die Kardinaͤle. Aus der ganzen Sphaͤre unſrer Geiſtesthaͤtigkeiten ſammeln ſich die Reſultate in die Philoſophie, als in ein Centrum; alle Saͤfte ſublimiren ſich in ihre Bluͤthenkrone. Die Mannig¬ faltigkeit ſucht immer ihre Einheit, und je gewiſſer es iſt, daß die Deutſchen fuͤr alle Arten von Er¬ kenntniſſen Sinn haben, um ſo natuͤrlicher iſt es auch, daß ſie dieſelben regeln und auf die einfachſten Re¬ ſultate zuruͤckfuͤhren. Ja es ſcheint, als ob der all¬ gemeine Wiſſenstrieb nur die ſecundaͤre, der philoſo¬ phiſche Tiefſinn aber die primaͤre Äußerung unſrer Natur ſey, als ob wir eine Peripherie nur faͤnden, nachdem ein unſichtbares Centrum ſie ausſpannt. Unſre Philoſophie beweiſt, daß Deutſchland keine Polter¬ kammer fuͤr allerlei Wiſſen ſeyn ſoll. Es kommt nicht174 das Kleinſte in den Horizont unſrer Betrachtung, ſo findet es ſich durch unſichtbare Faͤden an den Mittel¬ punkt der philoſophiſchen Erkenntniß geknuͤpft. Je reicher aber der Gegenſtand jener Betrachtung iſt, um ſo tiefer jener Mittelpunkt. Indem wir die brei¬ teſte Baſis nehmen, duͤrfen wir die philoſophiſche Operationslinie am kuͤhnſten und weiteſten ausdeh¬ nen, und unſre Helden dringen erobernd immer tie¬ fer in das unbekannte Geiſterreich.

Es gibt indeß auch eine ziemlich dunkle Schat¬ tenſeite der deutſchen Philoſophie. Nicht alle Phi¬ loſophen waren geniale Geiſter; es gibt auch einen philoſophiſchen Poͤbel, Affen und Karrikaturen der Genies, die zugleich immer den Gegenſatz der Philoſophie und des Zeitalters in einer gefaͤlligen Halbheit zu vermitteln wußten. In ihnen hat die Philoſophie an der allgemeinen gelehrten Pedanterei Theil genommen, nicht nur in den ſprachlichen For¬ men, ſondern auch in den Anſichten. Auch ſie hat den Reifrock getragen. Statt tief zu ſeyn, war ſie lange nur ſpitzfindig, ſtatt natuͤrlich zu ſeyn, aufge¬ ſtutzt, ſtatt gerade auszugehen, ceremonioͤs, hoͤflich, umſtaͤndlich, ſtatt uns zu uͤberzeugen, hat ſie lange nur mit uns converſirt, ja auch ſie hat wie die Poeſie geraume Zeit uns die Alten citirt, und den Kothurn an die Sohlen geſchraubt, ſtatt ſich ſelber zu heben. Dann iſt ſie wie die ganze uͤbrige Litera¬ tur in das entgegengeſetzte Extrem gefall[e]〈…〉〈…〉. Sie iſt goͤttlich grob geworden, wie die Ritterromane, ſie iſt175 von der Sucht nach Natur und Originalitaͤt befallen worden, wie die Damen und Studenten, wie die Dichter und Virtuoſen. Sie hat alle alte Autoritaͤt abgeworfen und friſch von vorn ſelbſt gedacht, aber ihre Gedanken waren oft nicht werth, gedacht zu werden. Endlich hat ſie Gefuͤhl und Phantaſie zu Huͤlfe gerufen und mit girrendem Floͤtenton oder tuͤr¬ kiſcher Muſik bachantiſche Taͤnze um den Altar der Wahrheit aufgefuͤhrt, oder aus myſtiſchen Nebeln un¬ begreifliche Orakel geſtammelt. Der Schulſtube, dem bezopften Orbil entriſſen, iſt ſie alt genug geworden, in die Schule der Liebe zu gehn, ſich ſchwaͤrmeriſch dem Geliebten in die Arme zu werfen. Doch unab¬ haͤngig von dieſem Treiben der Menge, ſind große Genien mit maͤnnlichem Verſtand ihrer Zeit voran¬ geſchritten und haben laͤchelnd zugeſehn, wie man mit ihren Gedanken kindiſche Abgoͤtterei getrieben.

Insbeſondere tadelt man an unſern Philoſophen mit Recht den ſchulmeiſterlichen Hochmuth, wiewohl ihn noch kein neuer Lucian ſcharf genug ge¬ geißelt hat. Es iſt in der That laͤcherlich die Wei¬ ſen zu ſehn, wie ſie gleich erboſten Haͤhnen einander blutig hacken und dann auf dem naͤchſten Dachgiebel wieder mit ſtolzgehobenem Schopfe kraͤhen und auf die kleine Welt herunterblicken.

Der Vorwurf der Unpopularitaͤt trifft unſre Philoſophen faſt ohne Ausnahme. Sie haben von den Griechen und Scholaſtikern eine fremde Termi¬ nologie entlehnt, anfangs ſelbſt noch lateiniſch ge¬176 ſchrieben und auch noch in der neueſten Zeit ſich darin gefallen, immer neue fremde Woͤrter zu ſchmieden. Dies hat ihnen zwar in den Augen des Volks ein ehrwuͤrdiges Anſehen und ſelbſt den begreiflichſten Ge¬ meinplaͤtzen einen Anſtrich von tiefer Weisheit ver¬ liehen, das groͤßere Publikum aber der Philoſophie entfremdet, und dieſe zur reinen Schulſache gemacht. Oken, eben ſo patriotiſch als gelehrt, hat gegen die fremde Terminologie geeifert, ohne jedoch etwas aus¬ zurichten, ja ohne ſelbſt ſie vermeiden zu koͤnnen. Die Schwierigkeiten der philoſophiſchen Sprache wer¬ den noch verwickelter durch den eigenthuͤmlichen und willkuͤrlichen Gebrauch, den jeder einzelne Philoſoph davon macht. Schlagen wir die erſte beſte Seite in philoſophiſchen Werken auf, was klingen uns fuͤr ganz verſchiedne Namen in Leibnitz, Wolf, Kant, Fichte, Schelling, Hegel entgegen. Die fremden Woͤrter ſind indeß in ihrer Verſchiedenheit noch die deutlichſten; die deutſchen werden bei ihrer Gleichheit durch den verſchiednen Gebrauch, je gemeinverſtaͤndlicher ſie an ſich ſind, deſto undeutlicher in der Philoſophie. Man hat daher ganze Buͤcher geſchrieben, um nur die wahre Bedeutung der Ausdruͤcke: Vernunft, Ver¬ ſtand, Geiſt, Herz, Gemuͤth, Gefuͤhl u. ſ. w. auszu¬ mitteln. Doch iſt deßfalls noch kein allgemeiner Sprach¬ gebrauch angenommen. Die Schwierigkeiten der Spra¬ che ſind denen des Denkens gefolgt. Die Denkkraft arbeitete ſich mit unendlicher Anſtrengung, aber nur ſtufenweiſe, aus der alten Unklarheit heraus und177 mußte fuͤr jede neue Entdeckung auch eine neue Spra¬ che ſchaffen. Eine muͤhſame, umſtaͤndliche, weitlaͤu¬ fige Darſtellungsweiſe war unvermeidlich, weil erſt durch ſie der Weg zu immer einfachern Begriffen fuͤhrte. Nichts wird ſchwieriger errungen, als was ſich nachher gleichſam von ſelbſt verſteht. Die mei¬ ſten Philoſophien, ja in gewiſſer Ruͤckſicht alle fruͤ¬ hern, ſind nur Studien, Vorarbeiten. Der große Kepler mußte viele hundert Folioſeiten voll Zahlen ſchreiben, bis jene einfachen allbekannten Geſetze, die nun jeder ohne Muͤhe begreift, das Reſultat ſeines eiſernen Fleißes waren. So verhaͤlt es ſich mit vie¬ len deutſchen Philoſophen, beſonders vor Kant. Wenn wir auch nur mit einem aͤſthetiſchen Widerwillen die duͤrren und oft taͤuſchenden Rechnungen des Verſtan¬ des verlaſſen, ſo muͤſſen wir doch geſtehn, daß ſie nothwendig waren. Am meiſten faͤllt uns bei faſt allen unſern Philoſophien die ſogenannte wiſſenſchaft¬ liche Form auf, die in ſyſtematiſchen Tabellen, Claſ¬ ſen und Paragraphen ſich gefaͤllt. Wie weit ſind wir von der Majeſtaͤt orientaliſcher Dogmatik, von der Anmuth Platoniſcher Kriticismen entfernt. Doch muß uns auch wieder dieſes duͤrre Syſtematiſiren als noth¬ wendig erſcheinen, und gerade einige Verſuche, na¬ mentlich der Kantianer, in der Form zu platoniſiren, ſind ſehr unreife Producte geblieben. Den wuͤrdig¬ ſten philoſophiſchen Styl hat Goͤrres; denn ſein Sy¬ ſtem hat die erhabenſte Einheit, weil es ganz myſtiſch iſt, und in der Mannigfaltigkeit wieder die groͤßte178 Fuͤlle von Schoͤnheiten, weil die myſtiſche Einheit in einer durchgreifenden Symbolik von Geiſt, Natur und Geſchichte enthuͤllt wird. Dies gibt den Schrif¬ ten von Goͤrres die bibliſche Kraft und die orienta¬ liſche Pracht. Wir glauben uns, wenn wir in ihn uns einſtudiren, in einem unermeßlichen kuͤhnen gothi¬ ſchen Dom, die hohen Bogen, Saͤulen, Woͤlbungen, wunderbar verſchlungen und an einfache Punkte ge¬ knuͤpft, und eine ganze Welt in Steinbildern darin verbaut, und uͤber dem Ganzen ſchwebend ein Aus¬ druck des Heiligen, die Majeſtaͤt eines unſichtbaren Gottes, und im Tempel brauſend ein Poſaunenton, der ſein Herold iſt. Goͤrres prieſterliche Salbung und prophetiſche Donnerſtimme ſind dem Dogmatis¬ mus durchaus angemeſſen. Dieſer ſoll immer ſeyn und iſt bei Goͤrres das Werk eines plaſtiſchen Na¬ turtriebes, unwillkuͤrliche, unverfaͤlſchte Offenbarung der eingebornen Idee und genau wie beim Dichter das freie Wachsthum einer eigenthuͤmlichen Blume des Geiſtes, unter den verſchiedenſten Bedingungen der Cultur doch die uͤbermaͤchtige Naturkraft, die ſich ſelbſt den Charakter beſtimmt. Der Dogmatiker iſt in einer beſtaͤndigen begeiſterten Schoͤpfung begriffen und es iſt kein gutes Zeichen, wenn er aus den pro¬ phetiſchen Viſionen erwacht und ſich ſelbſt kritiſirt. Nur der Kriticismus darf und ſoll dieſer Begeiſte¬ rung entbehren und den Gedanken als objectives Pro¬ duct von der ſubjectiven ſchoͤpferiſchen Gluth trennen. Die Dogmatiker haben aber den Kritikern noch im¬179 mer zu viel nachgegeben, und ihre bluͤhenden Gaͤrten in Feſtungen verwandelt und unter das Waſſer kri¬ tiſcher Reflexionen geſetzt, um ſie gegen Angriffe zu ſchuͤtzen. Goͤrres hat ſeine Natur am freieſten und kuͤhnſten walten laſſen, und ſteht deßhalb eben ſo hoch als einſam unter den Philoſophen. In Jakob Boͤhme wirkte die Natur eine aͤhnliche Erſcheinung, doch dieſe wunderbare Blume bluͤhte nur in der Nacht. In Novalis rang die angeborne Natur gegen die fremde Form, ohne ſie ganz beſiegen zu koͤnnen. Son¬ dern ſich die Elemente mehr und mehr, ſo wird der Dogmatismus in der organiſchen Plaſtik eines Goͤrres die freieſte, ſchoͤnſte und nationellſte Entwicklung fin¬ den, der Kriticismus aber allerdings die platoniſchen Formen ausbilden muͤſſen, die ſeinem polemiſchen Cha¬ rakter am meiſten angemeſſen ſind.

Gehn wir zu den Wirkungen uͤber, welche die Philoſophie in den untergeordneten Wiſſenſchaften und im Leben hervorgebracht, ſo erſcheinen dieſelben durch¬ aus natuͤrlich und im Weſen der Philoſophie begruͤn¬ det, weil dieſe jeder Erkenntniß, wie jedem Han¬ deln das hoͤchſte Geſetz vorſchreibt. Die Philoſophie hat die geſammte Cultur unermeßlich befoͤrdert, in¬ dem ſie uͤberall centraliſirt und vereinfacht hat. Sie hat auch, in ihrer Einſeitigkeit die einzelnen Seiten der Wiſſenſchaft und des Lebens je in das glaͤnzendſte Licht geſetzt und fuͤr die verſchiedenen Stimmen des Zeitalters immer den Grundton angegeben. Sie hat zwar, weil ſie nur gelehrt iſt, das geſammte Volk180 nicht zu ſich erhoben, doch mittelbar durch ihre Wir¬ kungen auf die uͤbrige Literatur große Ideen und wohlthaͤtige Maximen verbreitet. Dagegen ſind auch alle Maͤngel, Irrthuͤmer und Widerſpruͤche der Phi¬ loſophie auf die Praxis uͤbergegangen, je nachdem man einzelne Wiſſenſchaften nach den Principen der verſchiednen Philoſophien behandelt hat. Noch oͤfter ſind wahre Principe falſch oder mangelhaft ange¬ wandt worden, und um dieſe Fehler zu vermeiden, haben andre der Philoſophie gaͤnzlich entbehren zu koͤnnen geglaubt und ein geiſtloſes empiriſches Ver¬ fahren der Windbeutelei vager Theorien vorgezogen. Auf der einen Seite ſehn wir oberflaͤchliche Geſellen den philoſophiſchen Ton anſtimmen, um ihren Man¬ gel an ſoliden Kenntniſſen zu verbergen, oder um mit der Unwiſſenheit wohl gar zu prahlen. Das Be¬ greiflichſte wird in vornehmen, die Sache verdun¬ kelnden, meiſt geborgten Redensarten vorgetragen. Elende Fetzen dieſer oder jener Philoſophie, die der Student mit ins Philiſterium gebracht, werden in theologiſchen, hiſtoriſchen, paͤdagogiſchen und eben ſo oft in poetiſchen Werken angebracht. Wer die noͤthige Erfahrung, die noͤthigen Detailkenntniſſe nicht hat, hilft ſich mit einem Surrogat von Philoſophie und bildet ſich ein, das Hoͤchſte geleiſtet zu haben, wenn er in hohem Tone ſpricht. Mancher Dichter, der ſeinem Helden keine Natur zu geben weiß, ſtattet ihn mit philoſophiſchen Phraſen aus. Selbſt Schul¬ meiſter quaͤlen hie und da die unmuͤndige Jugend mit181 dem Wuſt einer unverdauten Philoſophie. Auf der andern Seite finden wir einige an Erfahrung ge¬ reifte und hochgelehrte Maͤnner, die von der Philo¬ ſophie wenig oder nichts wiſſen wollen, die ſie gele¬ gentlich verachten und hoͤhnen, weil ſie die Wider¬ ſpruͤche derſelben nicht vereinigen koͤnnen und oft ſehr wohl wiſſen, auf welche ſchwankende Grundlagen manche Speculation ihre Luftſchloͤſſer baut. Dieſen ſchließen ſich ſodann die Pedanten und Kleinkraͤmer an, die in der großen Rechenkunſt des Lebens nur bis zum Addiren gekommen ſind und nur je die ein¬ zelnen Thatſachen der Erfahrung zuſammenhaͤufen. Sie ſammeln und erzaͤhlen, bekuͤmmern ſich aber um kei¬ nen Grund und keine Folge. Sie nennen ſich die Praktiſchen und uͤben eine große Herrſchaft in Schu¬ len und Staatsaͤmtern. Auch viele geniale, poeti¬ ſche, fromme, und luſtige Naturen widerſtreben der Philoſophie, weil die Strenge derſelben oder die ſyſtematiſche Form ſie abſchreckt. Endlich lebt die Orthodoxie aller Confeſſionen in einem beſtaͤndigen kleinen Kriege mit den Philoſophen. Man darf ſich daher nicht wundern, wenn man findet, daß die Philoſophie ſo manche Verunglimpfung, ſo mancher Spott getroffen. Witzige, geſcheite Leute haben den Stoff dazu aus den Maͤngeln der Philoſophie ent¬ lehnt, die Dummen und Boͤſen unbewußt aus ihren eignen Maͤngeln.

Goͤthe's Fauſt und anderwaͤrts viele Ausſpruͤche dieſes Dichters haben der Philoſophie in den Augen182 der Menge einen gewaltigen Stoß beigebracht. So¬ fern von der gelehrten Pedanterei die Rede iſt, hat der Dichter immer Recht. Wenn der Philoſoph, gleich jenem heroiſchen Archimedes, ſelbſt durch die Todes¬ gefahr, geſchweige durch des Dichters Tadel, ſich nimmer ſtoͤren laͤßt im Forſchen und Unterſuchen, ſo mag der Dichter, der Liebling der Natur, an der Seite dieſer Natur, ihre Unerforſchlichkeit, den ewi¬ gen Talisman, womit ſie uns bezaubert und be¬ herrſcht, vertheidigen. Er mag einem ſchalkhaften Amor gleich ſeine Venus vertheidigen und den zu¬ dringlichen Philoſophen verblenden und verwirren. Der Streit der Philoſophie und Poeſie, der uralt iſt, ſoll in keine Gehaͤſſigkeit ausarten, vielmehr das ſchoͤne Wechſelſpiel unſrer edelſten Kraͤfte bleiben, und wer aus der Menge ſich mehr dem Denker, oder mehr dem Dichter verwandt fuͤhlt, mag waͤhlen nach Gefallen.

Im Beſondern hat jede große philoſophiſche Schule einer Richtung des Zeitalters entſprochen, in Wech¬ ſelwirkung ſie erzeugend und von ihr erzeugt. Man kann ſelten unterſcheiden, wie fern ein Mann mehr auf ſeine Zeit, oder dieſe mehr auf ihn gewirkt. Große Geiſter ſind nur die Spiegel der Zeit, durch die ſie eben geſchliffen werden.

Kant hat die ganze Literatur bewegt und den groͤßten Ruhm, die weiteſte Verbreitung gefunden. Seine Lehren haben den Forſchungsgeiſt angeregt, der Philoſophie ſelbſt den groͤßten Impuls gegeben,183 die kritiſche Theologie beguͤnſtigt, alle Wiſſenſchaften philoſophiſcher gemacht und durch ihre Humanitaͤt To¬ leranz und Bildung mannigfach befoͤrdert. Wenn ſein Syſtem in der gelehrten Welt unmittelbar die groͤ߬ ten Revolutionen bewirkt hat, ſo duͤrfen wir doch noch weniger die großen Folgen verkennen, die ſein anthropologiſches Verfahren mittelbar in noch weitern Kreiſen hervorgebracht hat. Die allgemeine Toleranz, die ſeit Friedrich dem Großen vorzuͤglich von Preu¬ ßen ausging, das Streben nach allſeitiger Bildung, das Intereſſe fuͤr alles Fremde, die billige Pruͤfung aller Parteianſichten, die Vorliebe fuͤr das analyti¬ ſche Verfahren, die Bemuͤhung um Urbanitaͤt, das Streben nach Nuͤtzlichkeit, Popularitaͤt und Geſellig¬ keit gewann hauptſaͤchlich durch den edlen Koͤnigsber¬ ger Philoſophen die Ausbildung und Verbreitung, die das vorige Jahrhundert ausgezeichnet hat. Gleich¬ zeitig war auch in Frankreich und England ein an¬ thropologiſch-kritiſches Verfahren herrſchend gewor¬ den. Rouſſeau's Gemuͤth, Voltaire's Verſtand, Swift's Satyre, Sterne's Humor appellirten an die menſch¬ liche Natur und ſtuͤrzten die alten Vorurtheile. Sie und Diderot, Goldſmith, Fielding drangen in die deutſche Literatur und ihre Wirkungen ſtehn in ge¬ nauer Beziehung mit Kant's Anthropologie. Man warf die ſteife Form von ſich und belauſchte das menſchliche Herz, das geſellige Leben, und gab Sit¬ tengemaͤlde, pſychologiſche Romane, Idyllen, buͤr¬ gerliche Schauſpiele, Satyren, humoriſtiſche Aus¬184 ſchweifungen, worin uͤberall der Grundton der Kanti¬ ſchen Philoſophie wiederklingt, Pruͤfung der Men¬ ſchenſeele, Humanitaͤt und zugleich Polemik gegen den alten Wahn. Goͤthe's reiche Gemaͤlde haben ihnen eine lange Herrſchaft bereitet, und Wachler hat gar nicht Unrecht, wenn er, obwohl ohne das Motiv an¬ zugeben, in ſeinem Handbuch der deutſchen Literatur die Behauptung aufſtellt, Goͤthe habe ſeine allgemeine Anerkennung erſt durch Mitwirkung der kritiſchen Philoſophie gewonnen.

Fichte gehoͤrt der Zeit der franzoͤſiſchen Revolu¬ tion an, wie Kant der kurz vorhergehenden friedli¬ chen Periode. Eine wunderbare Schwaͤrmerei be¬ maͤchtigte ſich der Menſchen. Man traͤumte von ei¬ ner hoͤchſten moraliſchen Weltordnung, von einer all¬ gemeinen Republik, und der Traum ſollte verwirk¬ ligt werden. Man verwarf Offenbarung und Ge¬ ſchichte, und das neue Geſchlecht maßte ſich an, Kraft ſeines freien Willens alles Alte zu ſtuͤrzen und eine neue Menſchheit mit neuen Formen anzu¬ fangen. Die Franzoſen waren die Helden dieſer neuen Lehre, ihre tiefſte philoſophiſche Begruͤndung muß unſrem Fichte zugeſchrieben werden. Ihm hingen da¬ her alle Freunde der franzoͤſiſchen Revolution und jene Unzahl jugendlicher Enthuſiaſten an, die ſelbſt dann noch von ihren Traͤumen nicht laſſen wollten, als die Franzoſen bereits von der nachhinkenden Er¬ fahrung unſanft aufgeweckt worden. Eine Menge Politiker, Hiſtoriker und Paͤdagogen folgten Fichte's185 Grundſaͤtzen, und das ſogenannte Deutſchthum muß als der letzte einſeitige Auswuchs des einſeitigen Fich¬ tianismus betrachtet werden. Im ethiſchen Enthuſias¬ mus hoͤchſt achtbar, und oft bewunderungswuͤrdig, iſt dieſe Lehre in der Praxis faſt immer nur zur Thor¬ heit ausgelaufen. Sie findet ihre Anhaͤnger auf na¬ tuͤrliche Weiſe immer bei der Jugend und hat ſie bei den Alten eine Zeitlang finden muͤſſen, als dieſelben wie in den letzten Zeiten der Noth und Befreiung Deutſchlands von einem jugendlichen Rauſch ergrif¬ fen worden. Dieſe feurige, raſche Wirkung, wie eines Meteors, das wieder ſchwindet, iſt aber ge¬ rade das, was wir an Fichte's Lehre hoͤchſt liebens¬ wuͤrdig finden muͤſſen. Unter den Dichtern iſt in der praktiſchen und ethiſchen Richtung Schiller ihm am meiſten geiſtesverwandt. Beide griffen in die ſtolze Bruſt und riefen den maͤnnlichen Willen zum Kampf gegen die Sinnlichkeit und Schwaͤche des Zeitalters; beide fochten ritterlich fuͤr Freiheit, Ehre, Tugend, beide ſind fruͤh in dem Strom, gegen den ſie anſtreb¬ ten, untergegangen. Abgeſehn von dieſer ethiſchen Richtung aber, und rein in Bezug auf das Philoſo¬ phem Fichte's iſt kein Dichter ihm gefolgt, als No¬ valis, der daher auch eben ſo groß und einzig da¬ ſteht, und auch dieſer Dichter buͤßte den allzukuͤhnen Goͤttertraum mit einem fruͤhen Tode. Fichte's hoͤch¬ ſter Satz, « das Ich iſt Gott » wurde von Nova¬ lis in jenem ungeheuern Anthropomorphismus der Welt ausgefuͤhrt, den wir in ſeinen hinterlaſſenen186 Werken bisher mehr angeſtaunt als begriffen haben. Er fuͤgte noch den zweiten Satz hinzu, « Gott will nur Goͤtter » und die Welt ſchien ihm nichts gerin¬ geres als eine Republik von Goͤttern. Wir muͤſſen wenigſtens geſtehn, daß Novalis im Sinn dieſes Philoſophems ſich wirklich als ein, wenn auch nur poetiſcher, Gott und Koͤnig des Weltalls betrachtet, und umfaſſender als je ein Dichter vor ihm die ganze Welt zur Scene und zum Gegenſtand ſeines Gedich¬ tes gemacht hat.

Schelling's Philoſophie hat der neuen aͤſthetiſch¬ romantiſchen Richtung entſprochen. Die Romantik iſt die Vorhalle der Myſtik. Das Mittelalter war romantiſch, weil ſeine Religion myſtiſch war, und wir kehren zur Romantik zuruͤck, weil wir myſtiſcher Ideen wieder faͤhig werden. Schelling's und Goͤrres myſtiſche Philoſophie, darin Religion und Poeſie mit der Philoſophie identificirt werden, mußte denen entgegen kommen, die vom Standpunkt der Kunſt aus zur Romantik gelangt waren. Die Kunſt wird romantiſch, wenn ſie religioͤs wird, es iſt aber ihr Ziel, religioͤs zu werden. Kuͤnſtler und Dichter, un¬ ter den letztern vorzuͤglich Tieck, die Bruͤder Schle¬ gel, Arnim, Brentano bildeten in Verbindung mit jenen Philoſophen eine neue Schule des Mittelalters. Sie ſtehn wunderbar fremd in dieſer Zeit. Der Verſtand verſteht ſie nicht, doch maͤchtig hat ihre Poeſie auf die Herzen gewirkt, und vergebens kaͤm¬ pften einige Altmeiſter gegen den unermeßlichen Ein¬187 fluß, den dieſe Dichter in der ſchoͤnen Literatur ſich behaupten.

Die Naturphiloſophie im engern Sinn harmo¬ nirt mit der materiellen Richtung, der wir je mehr und mehr gefolgt ſind. Man hat die Naturkraͤfte brauchen gelernt, und die Speculation hat von Jahr zu Jahr immer groͤßere Fortſchritte gemacht. Wer nur ein Gewerbe treibt, ſieht ſich zu den Naturwiſſen¬ ſchaften hingezogen. Wer den Boden anbaut, will ihn und ſeine Produkte mit Huͤlfe neuer phyſikali¬ ſcher Entdeckungen verbeſſern, und ganz unentbehr¬ lich ſind ſie fuͤr die Fabrikanten, welche jene Pro¬ dukte verarbeiten. Die Chymie iſt wieder Alchymie geworden, ſofern ſie, obwohl auf eine natuͤrliche Weiſe, wieder Gold bringen ſoll.

Bei weitem das wichtigſte Ergebniß der Philo¬ ſophie Schelling's ſcheint aber die parteiloſe, epiſche Weltanſicht zu ſeyn, die ſie mit ſich bringt, und der die Laien ſelbſt immer mehr entgegen kommen, ſeit ſo viele Erfahrungen die Leidenſchaft abgekuͤhlt und die endlos verwickelten Widerſpruͤche eine gewiſſe Duldung und Indifferenz herbeigefuͤhrt haben. Im Syſtem Schelling's findet jede Partei gegenuͤber der andern ihren Platz, die Entzweiung wird als eine natuͤrliche nachgewieſen, ihre Widerſpruͤche werden auf einen urſpruͤnglichen, nothwendigen Gegenſatz zu¬ ruͤckgefuͤhrt. Dieſes Syſtem duldet durchaus nichts ausſchließliches, durchaus keine unbedingte Herrſchaft einer Anſicht, keine unbedingte Verfolgung der an¬183[188] dern. Es ſucht in einer Phyſik des Geiſtes und der Geſchichte jedem geiſtigen Weſen, ſey es ein Charak¬ ter, oder eine Meinung, oder eine Begebenheit, daſ¬ ſelbe Recht zu ſichern, wie in der gemeinen Phyſik jedem materiellen Weſen. Es betrachtet die hiſtori¬ ſchen Perioden wie die Jahreszeiten, die Nationali¬ taͤten wie die Zonen, die Temperamente wie die Ele¬ mente, die Charaktere wie die Kreaturen, die Äuße¬ rungen derſelben in Geſinnungen und Handlungen als ſo nothwendig in der Natur gegruͤndet, und als ſo verſchieden wie die Inſtinkte. Nach dieſem Sy¬ ſtem herrſcht ein Wachsthum und ein geheimnißvoller Zug, eine Mannigfaltigkeit und eine Ordnung in der geiſtigen Welt wie in der Natur. Dieſe neue epiſche Anſicht empfiehlt ſich allen denen, die in einem wei¬ teren Umkreis das Leben uͤberblickt haben. In ihr allein findet der endloſe Meinungsſtreit ſeine Beru¬ higung, und jeder Widerſpruch die einfachſte natuͤr¬ lichſte Loͤſung. Ohne mit Schelling und ſeiner Schule vertraut zu ſeyn, ſind viele einſichtsvolle Maͤnner durch eine lange Erfahrung von ſelbſt auf dieſen Standpunkt der Betrachtung gefuͤhrt worden. Nach einer weiten Lebensreiſe haben ſie auf alles zuruͤck¬ geblickt, was ſie geſehn und uͤberſehn, geſtrebt und verlaſſen, gefunden und verloren, und von ſelbſt hat das wilde Drama, in welchem ſie als handelnde Per¬ ſonen einſeitige Zwecke blind verfolgt, ſich ihnen in ein ruhiges Epos verwandelt, und ſie ſind als Zu¬ ſchauer dem Dichter zur Seite niedergeſeſſen, um die189 lange Vergangenheit und ſich ſelbſt darin, wie von einem Berge herab in ſtiller Ferne zu uͤberſchauen. Die im religioͤſen Gebiet eingetretene Indifferenz und die großen, alle Parteien in gleicher Weiſe widerle¬ genden und rechtfertigenden Erfahrungen in Politik und Geſchichte haben die epiſche, ruhige Wuͤrdigung des Weltkampfes unterſtuͤtzt, und ſelbſt in der Poeſie iſt ihr durch die jetzt alles uͤberwuchernde Romanen¬ welt in Walter Scott's Manier ein breites Feld ge¬ wonnen worden. Die hiſtoriſchen Romane huldigen der Idee nach der unparteilichſten Betrachtung aller Zeiten, Voͤlker und Parteien, und werden es immer mehr thun muͤſſen.

Welche Wirkung die Hegel'ſche Philoſophie auf die Mitwelt aͤußern wird, iſt noch nicht genau zu beſtimmen, da ſie die Kataſtrophe noch nicht erlebt hat. Es liegt nicht in ihrem Weſen, ſich ſelbſt Zweck zu ſeyn; ihre ganze Staͤrke beſteht, wie die des dia¬ lektiſchen Talentes uͤberhaupt, nur darin, Mittel zu ſeyn, und, wie es ſcheint, iſt ſie denn auch wirklich ein Mittel geworden.

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Geſchichte.

Allen Voͤlkern ſind die Erinnerungen der Vorzeit heilig, und alle ſtreben der Nachwelt von ſich ſelbſt ein Gedaͤchtniß zuruͤckzulaſſen. Traditionen und ſinn¬ liche Denkmaͤler waren die uralten Bande, an wel¬ chen die Jahrtauſende einander erkannten, aneinan¬ der ſich fortbildeten. Umfaſſender aber, als in allen andern Denkmaͤlern, erhielt ſich in der Literatur das Bild der alten Zeiten, und ihr praͤgen wir auch un¬ ſer Bild auf, um es den Nachkommen zu uͤberliefern. Die Erforſchung aller alten Denkmaͤler und die Sorge fuͤr Denkmaͤler auch unſres Lebens iſt ſeit geraumer Zeit ein vorzuͤgliches Geſchaͤft der Deut¬ ſchen geweſen, weil wir weniger thaͤtig oder genu߬ ſuͤchtig, als andre Voͤlker, uns vor allem der ſinni¬ gen Betrachtung hingeben. Dadurch iſt es uns ge¬ lungen, beinah in allen Zeiten heimiſch zu werden. Wir haben die Bilder aller Voͤlker um uns verſam¬ melt und ſpiegeln uns in der Erinnerung des ganzen menſchlichen Geſchlechts. Dieß iſt der ſtaͤrkſte Be¬191 weis, wie die ſtaͤrkſte Stuͤtze der Humanitaͤt, die uns auszeichnet, und zeugt mehr als alles von der Uni¬ verſalitaͤt unſres Geiſtes, denn wo irgend eine na¬ tionelle Einſeitigkeit vorherrſcht, pflegt ſie immer zu¬ erſt in Vorurtheilen gegen andre Nationen und in Verachtung ihrer Denkmaͤler ſich zu aͤußern.

Im allgemeinen nennen wir die Erinnerung der Zeiten die Geſchichte, und ordnen ihr folgende Wiſ¬ ſenſchaften unter, Archaͤologie und Philologie oder Kunde der bildlichen und ſchriftlichen Denkmaͤler, kritiſcher Geſchichtsforſchung und Geſchichtſchreibung.

Die Archaͤologie und Philologie lehren uns die alten Denkmaͤler verſtehn und ſind das Mittel fuͤr den Geſchichtsforſcher. Die Philologie hat ſich aber ſelbſt zum Zweck gemacht. Sie hat das Stu¬ dium der alten und aller Sprachen um ihrer ſelbſt willen, nicht blos wegen des zufaͤlligen Inhalts, zu ihrem Gegenſtand gemacht. Es iſt darin viel uͤber¬ trieben worden, man hat den Sprachgelehrten zu viel Einfluß eingeraͤumt, und nur zu oft uͤber der Form den Inhalt vernachlaͤßigt Indeß hat ſich das Übergewicht des reinen Sprachſtudiums gleichſam von ſelbſt ergeben muͤſſen. Der Philologe hat die doppelte Pflicht, die alten Denkmaͤler theils der Form, theils dem Inhalt nach verſtaͤndlich zu ma¬ chen. Das erſte erfordert aber ein ganz andres Stu¬ dium, als das zweite, und beide muß er trennen. Die Grammatik muß vom Inhalt abſehen, und eine vergleichende Analogie bei den verſchiednen alten192 Schriften anwenden, die ſich mit Sacherklaͤrungen nicht aufhalten kann, und ſie iſt mit einem Wort eine ſelbſtaͤndige Wiſſenſchaft der Formen. Da ſie aber als ſolche, gleich der Mathematik, eine innere Conſequenz hat, ſo findet ſie weit leichter und mehr Anhaͤnger als jenes Studium, das den Inhalt zu er¬ klaͤren ſucht, weil dieſes nach allen Seiten hin, eine Mannigfaltigkeit von Kenntniſſen erfordert, die weit ſchwieriger zu erwerben ſind, als Sprachkenntniſſe. Wohl fuͤhlen die Philologen, daß ſie ihren Schuͤlern den Plato oder Thucydides nicht genuͤgend zu erklaͤ¬ ren vermoͤgen, wenn ſie nicht im Beſitz der reichſten philoſophiſchen, politiſchen und hiſtoriſchen Kenntniſſe ſich befinden, und wo dieß nicht der Fall iſt, alſo in den meiſten Faͤllen halten ſie ſich an die Sprache.

Die reine Sprachwiſſenſchaft behandelt entweder die Sprache eines Volks, oder ſie vergleicht die Sprachen verſchiedner Voͤlker, oder ſie verfolgt phi¬ loſophiſch die allgemeine Logik in den ſprachlichen Formen, oder endlich den innern Zuſammenhang und die hiſtoriſche Entwicklung in allen Sprachen. Das Studium einzelner Sprachen iſt das herrſchende, be¬ ſonders aber hat uns die griechiſche und lateiniſche beſchaͤftigt. Die naͤhere Bekanntſchaft mit denſelben hat ohne Zweifel ſehr vortheilhaft auf die Ausbil¬ dung unſrer Sprache gewirkt, und uns namentlich gelehrt, die Saͤtze in ſchoͤne Perioden auszudehnen und doch den Sinn kuͤrzer zu faſſen, denn faſt alle Denkmaͤler der aͤltern deutſchen Sprache leiden an193 einer Kuͤrze der Saͤtze und Weitſchweifigkeit des Sin¬ nes, die in Bezug auf das Volk ſehr charakteriſtiſch iſt. Wenn wir auch durch die Nachahmung der Al¬ ten eine mehr eigenthuͤmliche Entwicklung unſrer Sprache und ſogar eine Menge ſowohl alter Woͤrter als Formen aufgegeben haben, ſo muͤſſen wir doch bekennen, daß wir in demſelben Maaße alte Begriffe und Denkweiſen abgelegt haben, und daß unſre neue Sprache vollkommen unſrer neuen Bildung entſpro¬ chen hat, und mehr kann die Sprache nicht thun. Die Nachahmung der Alten war unabweislich; wir werden jetzt ſelbſtaͤndiger und in demſelben Maaße wird es auch wieder unſre Sprache, und wir neh¬ men das Urſpruͤngliche wieder auf, weil wir es ausbilden. Sofern jene Nachahmung mit den Faͤhig¬ keiten und dem Genius der deutſchen Sprache ver¬ traͤglich geweſen iſt, hat ſie ſehr wohlthaͤtig gewirkt. Indeß hat ſie unſrer Sprache doch auch oft Gewalt angethan.

Die vergleichende Anatomie der Sprachen hat ſchoͤne Fortſchritte gemacht, und man hat ſogar den Gedanken an eine Urſprache, oder an eine Zuruͤck¬ fuͤhrung aller Sprachentwicklungen auf urſpruͤngliche Urlaute gewagt. Dieß hat freilich zum Theil zu un¬ ſinnigen Hypotheſen verleitet, indeß iſt der Vortheil nicht zu verkennen, den eine unbefangene kritiſche Vergleichung der Sprachen gewaͤhrt. Sie hat vor¬ zuͤglich die intereſſanteſten Aufſchluͤſſe uͤber die Ver¬ zweigungen, Wanderungen und geiſtigen Entwicklun¬Deutſche Literatur. I. 9194gen der europaͤiſchen Voͤlkerſtaͤmme gewaͤhrt und da¬ durch der Geſchichtsforſchung den weſentlichſten Dienſt geleiſtet. Insbeſondre muͤſſen wir die Verdienſte Ja¬ kob Grimm's um die Geſchichte der deutſchen Dia¬ lekte preiſen.

Wir ſehn die Philologen jetzt in einem Kampfe begriffen. Urſpruͤnglich herrſchte bei den Katholiken das Lateiniſche vor, die Proteſtanten brachten das Studium der griechiſchen und orientaliſchen Spra¬ chen auf zum Behuf der Exegeſe. Spaͤter wurden die romaniſchen Sprachen in Deutſchland beliebt, und in neuern Zeiten hat man eine große Aufmerkſamkeit theils auf die deutſchen Dialekte, theils auf das In¬ diſche, Arabiſche und Perſiſche gewendet. Nur die ſlaviſchen Sprachen ſind uns noch wie bisher fremd geblieben, oder es iſt nur hoͤchſt wenig dafuͤr gelei¬ ſtet worden. Die griechiſch-lateiniſchen Philologen haben ſich nun dem Deutſch-orientaliſchen entgegen¬ geſetzt. Sie halten an ihrem alten Vorurtheil fuͤr das claſſiſche Alterthum und gegen die germaniſche Barbarei, und laͤcheln veraͤchtlich uͤber die Thoren, denen das Nibelungenlied und die Minneſaͤnger ne¬ ben Homer und Horaz auch etwas gelten. Erbittert aber ſind ſie gegen die Orientalen, die ihnen ihr Monopol, uͤber das Alterthum zu entſcheiden, zu entreißen drohen. Sie ſehn jenſeits Griechenland und Rom im Orient nur dieſelbe Barbarei, die ſie im Mittelalter erkennen, da die Orientaliſten aber große Aufklaͤrungen uͤber die Urzeit, das mythiſche195 Alterthum verkuͤndigen, fuͤr welche Heſiod und Homer nicht ausreichen, ſo fuͤrchtet die aͤltere Partei dadurch in den Schatten geſtellt zu werden, und wehrt ſich, den ſeligen Voß an der Spitze, mit Hyaͤnengrimm um die Leichen und Graͤber des Alterthums. Dieſer Kampf der Philologen greift in die eigentliche Ge¬ ſchichtsforſchung hinuͤber.

Was das Sprachſtudium uͤberhaupt betrifft, ſo traͤgt es zwar ſeinen Werth in ſich ſelbſt und iſt ohne Zweifel ſehr wohlthaͤtig fuͤr das jugendliche Al¬ ter, herrſcht aber doch auf unſern gelehrten Anſtalten nur allzu einſeitig vor.

Wer ſollte auf einer aͤltern deutſchen Schule er¬ zogen worden ſeyn, und nicht eine ſtarke Rivalitaͤt zwiſchen dem philologiſchen und realiſtiſchen Unter¬ richt bemerkt haben? In der Regel aber wird man finden, daß die Philologen auf ſolchen Schulen ein unverhaͤltnißmaͤßiges Übergewicht behaupten, daß na¬ mentlich, wo Claſſenordnung eingefuͤhrt iſt, in jeder Claſſe die Philologie einſeitig vorherrſcht. Einzig hieraus erklaͤrt ſich die Einfuͤhrung der Faͤcherord¬ nung in einzelnen Schulen und die Errichtung beſon¬ derer Realſchulen. Immer aber ſprechen die Philo¬ logen ein Vorrecht an, halten ſich fuͤr etwas viel Hoͤheres als die Realiſten, und bilden eine ſtolze ariſtokratiſche Kaſte.

Die Philologie iſt fuͤr den Unterricht zum Theil ſo verderblich geworden, wie die aͤußern Gebraͤuche fuͤr den Gottesdienſt. Wie dort die wahre Andacht9 *196unter mechaniſchen Spielen untergegangen iſt, ſo hier das wahre Denken, die aͤchte Bildung unter dem mechaniſchen Auswendiglernen bloßer Formen. Ich verkenne nicht die Nothwendigkeit der Philologie, den großen Einfluß, den Sprachkenntniß auf das Denken uͤbt; aber eine Graͤnze muß gezogen werden, jenſeit welcher der Geiſt nicht mehr mit Formen, vielmehr mit Sachen genaͤhrt werden muß. Iſt es aber nicht die Mehrzahl der Philologen, die bei der Erklaͤrung der alten Claſſiker vorzugsweiſe nur auf die Grammatik ſieht, und den Geiſt, die Schoͤnheit, den hiſtoriſchen, philoſophiſchen oder aͤſthetiſchen In¬ halt jener Alten nur in elenden Noten nebenbei be¬ ruͤhrt? Man ſehe ihre Ausgaben an. Haben jene hunderte und tauſende, welche die griechiſchen Dich¬ ter edirt und mit Noten verſehn, nur das zehnte Theil von dem erlaͤutert, was der einzige Schlegel daruͤber ausgeſprochen? Wiegen alle jene gelehrten Laſten die wenigen Baͤnde eines Wieland, Leſſing, Herder, Winkelmann auf? Und iſt nicht noch jetzt ſo vieles Herrliche des Alterthums fuͤr das groͤßere Publikum ungenießbar, ſo oft es auch die Philolo¬ gen behandelt haben, weil noch zu wenig freie Den¬ ker und ſchoͤne Geiſter dafuͤr ſich intereſſirt haben? So unermeßlich das Feld der Philologie iſt, ſo iſt es doch verhaͤltnißmaͤßig noch immer ſehr unfrucht¬ bar geblieben. Der Aufwand von Menſchen und An¬ ſtalten fuͤr die Philologie, der andern Wiſſenſchaften197 entzogen worden iſt, hat keineswegs gewuchert, wie man erwarten ſollte.

Die Philologie iſt das Mittel fuͤr die Zwecke andrer Wiſſenſchaften, aber das Mittel iſt ſelbſt zum Zwecke geworden. Man ſoll die alten Sprachen ler¬ nen, um den darin uns uͤberlieferten Inhalt zu ver¬ ſtehn, aber die Philologen betrachten dieſen Inhalt nur als ein nothwendiges Übel, ohne welches die Sprache nicht ſeyn kann, und behandeln die alten Claſſiker ſo, als ob ſie Schoͤnes und Großes nur ge¬ dacht haͤtten, um die Grammatik anzuwenden. Jeder alte Autor iſt ihnen nur eine beſondre Beiſpielſamm¬ lung fuͤr die Grammatik. Man ſoll die Alten leſen um darnach zu leben, aber die Philologen meinen, man ſolle nur leben, um die Alten zu leſen.

Man hat in der neueſten Zeit in der Philologie ein bewahrtes Mittel gefunden, den politiſchen Ver¬ irrungen der Jugend zu begegnen. Man hat gefun¬ den, daß nichts ſo ſehr den Feuereifer niederſchlaͤgt, und zu blinden Gehorſam gewoͤhnt, als dieſe Philo¬ logie, die das befluͤgelte Genie an den Buͤcherſchrank kettet, und den Scharfſinn in die Grammatik, die Neuerungsſucht in Conjecturen ableitet. Alle Spring¬ federn des Geiſtes erſchlaffen unter der Laſt der Buchſtaben. Der Juͤngling muß immer ſitzen und verlernt das Aufſtehn. Alle Freiheit wird erſtickt un¬ ter der Laſt der Autoritaͤten und Citate. Der Juͤng¬ ling muß nur immer leſen und auswendig lernen, und verlernt das Selbſtdenken. Alle wahre Bildung198 wird gehemmt durch die einſeitige Betreibung des blos formellen Sprachunterrichts. Der Juͤngling muß nur immer Woͤrter und Formen lernen, und gelangt nicht zur Sache. Er wird in die Schule geſtoßen und der philologiſchen Dreſſur Preis gegeben. Die meiſten ſehn dieſe Dreſſur als eine Qual, das Amt als die einzige Befreiung an, und ſtudiren nur auf das Examen los, indem ſie ſo viel philologiſche Kennt¬ niſſe ſammeln, als in den Kopf gehn wollen, um Sachen aber ſich ſo wenig als moͤglich bekuͤmmern, weil man nur vorzugsweiſe jene von ihnen verlangt.

Gehen wir zur hiſtoriſchen Wiſſenſchaft im engern Sinne uͤber, ſo bietet ſich uns ein unermeßliches Feld dar, auf welchen zahlreiche Arbeiter emſig beſchaͤftigt, jedoch mit einander im Streit begriffen ſind, ſo daß die einen ſehr haͤufig das Werk der andern wieder zerſtoͤren. Im Allgemeinen bemerken wir im hiſtori¬ ſchen Gebiet zunaͤchſt folgendes.

Die Geſchichte ging urſpruͤnglich aus dem Epos hervor, und war nichts als das Gedaͤchtniß großer Helden. Dieſen Charakter hat ſie bis auf unſre Zei¬ ten beibehalten, ſie iſt weſentlich politiſche Geſchichte, Gedaͤchtniß weniger des Lebens im Umfang aller Er¬ ſcheinungen, als insbeſondre der Thaten. Noch im¬ mer legt man auf Schlachten und aͤußre Begebenhei¬ ten ein groͤßeres Gewicht, als auf die ſtillen Ent¬ wicklungen im innern Leben der Voͤlker. Doch hat man allmaͤhlig immer mehr auch dieſe Entwicklungen in den Kreis der geſchichtlichen Betrachtung gezogen,199 und man begreift unter dem Gegenſtande der Ge¬ ſchichte bei weitem mehr, als fruͤher, wiewohl die politiſche Geſchichte immer die vorherrſchende bleibt. Jene Gegenſtaͤnde ſind die allgemeine Weltgeſchichte, die Geſchichte einzelner Voͤlker, Örter, Begebenheit und Perſonen, aber auch Geſchichte der Cultur oder einzelner Richtungen des Lebens, der Religion und Kirche, der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, der Sitten und des Verkehrs.

Die Deutſchen haben ſich in allen dieſen Gegen¬ ſtaͤnden verſucht, doch zeichnet ſie eine charakteriſtiſche Vorliebe fuͤr die allgemeine Weltgeſchichte aus, weil ihr philoſophiſcher Trieb uͤberall eine Einheit und ein Ganzes ſucht. Eben deßhalb haben ſie ſich auch mehr als irgend ein andres Volk um die Geſchichte der Fremden bekuͤmmert. Die vaterlaͤndiſche Geſchichte iſt daruͤber mannigfach vernachlaͤſſigt, wenigſtens iſt ihr ein unermeßliches Studium, das ſich auf die fremde Geſchichte geworfen hat, entzogen worden.

Der Werth unſrer Geſchichtsforſchung muß theils nach den Huͤlfsmitteln, theils nach der Kritik und nach den Anſichten und Reſultaten derſelben ge¬ wogen werden. Die Mittel haben ſich in der neuern Zeit auf jede Weiſe direkt und indirekt vervielfaͤltigt:

Das Studium der Geſchichte iſt von der großen Geiſterbewegung der neuern Zeit mit ergriffen wor¬ den. Mit allen philoſophiſchen Anſichten haben ſich auch die der Geſchichte gelaͤutert und gehoben. Die Sammlungen ſind vermehrt und gelichtet, die Kritik200 iſt geſchaͤrft worden, und die poetiſche Ausbildung der Sprache hat auch ihren wohlthaͤtigen Einfluß auf die Geſchichtſchreibung geuͤbt. Ein wahrhaft gro¬ ßer Schwung iſt aber in dies Studium erſt durch die großen hiſtoriſchen Ereigniſſe der Zeit ſelbſt ge¬ kommen. Alle Wunder der Geſchichte ſind ſichtbar an uns voruͤbergegangen, und was wir mit eignen Augen geſehen, erklaͤrt uns die Vergangenheit. Eigne Thaten und Leiden haben uns jene Alten verſtaͤnd¬ lich gemacht, und indem wir ſelbſt gewaltige Charak¬ tere uͤber die Weltbuͤhne ſchreiten geſehn, nennen wir nicht mehr bloße Namen des Alterthums und zaͤhlen ihre Thaten, ſondern wir erkennen ſie und leben mit ihnen. Auch iſt der Umſtand nicht unwichtig, daß eben jene Stuͤrme unſrer Zeit ſo viele Schranken niedergeworfen, die ehemals das Studium hemmten, und ſo viele Schaͤtze zugaͤnglich gemacht, die ehemals im Dunkeln moderten. Viele Staatsgewalten, die ſonſt ihre Archive geheim zu halten fuͤr noͤthig fan¬ den, ſind zerſtoͤrt und ihre Annalen dem Geſchichts¬ forſcher in die Hand gegeben. Viele Bibliotheken, die religioͤſes Mißtrauen verſchloß, ſind geoͤffnet; viele literariſche Schaͤtze, die das Kloſter oder die Reichsſtadt, in der ſie verborgen lagen, nicht ein¬ mal kannte, ſind ans Licht gezogen worden. Die heilſamſte aller dieſer Veraͤnderungen iſt aber unſtrei¬ tig das Centraliſiren vieler kleiner Bibliotheken in eine große jeder Provinz, wodurch allein es moͤglich wird, uͤber die Mannigfaltigkeit der hiſtoriſchen Ur¬201 kunden einen Überblick zu gewinnen und ſie auf be¬ queme Weiſe zu benutzen.

Indeſſen iſt noch lange nicht genug gethan. Die Quellen der vaterlaͤndiſchen Geſchichte wenigſtens ſollten bei weitem mehr aufgeklaͤrt und zuſammenge¬ draͤngt ſeyn, als wir ſie gegenwaͤrtig finden. Ich verkenne nicht, daß jedem Ort ſein angeſtammtes Denkmal beiben muͤſſe, daß es Raub ſey, die alten Urkunden und Manuſcripte aus den Gegenden zu entfernen, denen ſie zugehoͤren; es ließe ſich aber wohl auf andre Weiſe helfen. Das wahrhaft gro߬ artige Unternehmen einer bekannten Geſellſchaft, die wichtigſten Quellen der deutſchen Geſchichte neu ab¬ drucken zu laſſen, hat uns wenigſtens einen Weg ge¬ zeigt, wenn auch auf demſelben noch kaum ein Schritt gethan iſt. In einer Zeit, wo ſo viel geſchwaͤrmt wird, darf man wohl auch den kuͤhnen Gedanken wagen, daß ein kuͤnftiges Deutſchland reich, klug und nationalſtolz genug ſeyn werde, um eine Biblio¬ thek von Quellen der deutſchen Geſchichte zu Stande zu bringen, die keiner ſeiner groͤßern Staͤdte fehlen duͤrfte. Wenn man das Fremdartige dabei gehoͤrig ausſcheidet, ſo iſt ein Überblick allerdings moͤglich. Eine Nation von ſo unermeßlichen Huͤlfsquellen, als die deutſche, wuͤrde, wenn ſie fuͤr die Idee begeiſtert waͤre, und die rechten Maͤnner, die ihr dann ſchwer¬ lich fehlen duͤrften, an die Spitze ſtellte, die Koſten, die fuͤr ein ſolches Unternehmen ausreichten, wohl aufopfern koͤnnen. So etwas wird aber leicht allen202 andern, als den gelehrten Forſchern ſelbſt, ein un¬ nuͤtzer Traum duͤnken. Man denkt ſo wenig daran, die Schaͤtze der Literatur als ein allgemeines Natio¬ nalgut zu huͤten und zu pflegen, daß man nicht ein¬ mal, was ſo leicht waͤre, bei den Buͤchermeſſen von jedem neuen Werke wenigſtens ein Exemplar abfor¬ dert, um in einer gemeinſamen Nationalbibliothek ohne Unterſchied alle literariſche Produkte wenigſtens von einem beſtimmten Zeitpunkt an zu ſammeln. Moͤ¬ gen immer im Verkehr die vielen ſchlechten Buͤcher untergehn, aber wenigſtens ein Exemplar ſollte von jedem erhalten werden.

Die hiſtoriſche Kritik iſt ſo ſehr an die That¬ ſachen gebunden, daß der groͤßte Scharfſinn nicht ausreicht, wenn die Quellen nicht Stoff genug zur Combination darbieten. Daher findet man viele aͤl¬ tere gar ſcharfſinnige Werke doch voll Maͤngel und Irrthuͤmer, nachdem man der Quellen ſich im weitern Umfange bemaͤchtigt hat. An eigentlicher kritiſcher, analytiſcher oder combinatoriſcher Gabe mangelt es in einem ſo philoſophiſchen Volke, als die Deutſchen ſind, durchaus nicht; doch laſſen wir uns eine falſche einſeitige Theorie, oder eine ſuͤße Schwaͤrmerei des Herzens[und] der Phantaſie auch auf dem hiſtoriſchen Gebiet nur allzuleicht verfuͤhren. Beſonders haben die dunklern Partieen der Geſchichte hier einem blin¬ den Scepticismus, dort einer zuͤgelloſen Hypotheſen¬ jaͤgerei Raum gegeben. Überhaupt, wo die That¬ ſachen der Geſchichte nicht unverruͤckbar eine Anſicht203 feſtſtellten, haben die Vermuthungen, Meinungen und Einbildungen eine Menge verſchiedner Anſichten er¬ zeugt, und die Kritik hat mehr vom Temperament oder Syſtem der Forſchenden, als von den Thatſa¬ chen ſelbſt den Maaßſtab entlehnt. Man hat auch wohl verſucht, die unzweideutigſten Thatſachen zu entſtellen, um ihnen ein beliebiges Anſehn zu geben, ſie einer Lieblingsneigung, einer Theorie oder einer praktiſchen Abſicht anzupaſſen. Man hat die That¬ ſachen aus ihrem natuͤrlichen Zuſammenhange geriſſen, das Eine ungebuͤhrlich hervorgehoben, das Andre nur nebenbei gewuͤrdigt oder uͤberſehn, dem Gewiſſen ei¬ nen falſchen Sinn untergelegt, dem Ungewiſſen einen beliebigen, und ſich ſelbſt nicht geſcheut, hin und wie¬ der abſichtlich zu luͤgen.

Die Anſichten, welche die Geſchichtsforſcher in ihr Studium hineintragen, ſind willkuͤrlich oder unwillkuͤrlich. Es gibt allerdings Gelehrte, welche mit Abſicht die Geſchichte verfaͤlſchen, um ſie als Werkzeug des Parteikampfes zu benutzen, oder wohl gar aus Froͤmmigkeit oder Patriotismus, oder aus Moral, oder nur, um eine einmal ausgeſprochne Lieblingsmeinung nicht zuruͤcknehmen zu muͤſſen. Bei weitem mehr Gelehrte bringen aber ganz unwillkuͤr¬ lich falſche, oder wenigſtens einſeitige Anſichten in die Geſchichte. Die Anſicht der Partei, unter wel¬ cher man geboren und aufgezogen worden iſt, draͤngt ſich uns uͤberall auf, und wir ſehn durch ihre Brille, ohne es zu wiſſen. Ich kann hier die mannigfaltigen204 Anſichten, wie ſie im Kleinen uͤberall ſich geltend machen, nicht weitlaͤuftig beſprechen, ſondern muß mich an die groͤßern Hauptanſichten halten, die im hiſtoriſchen Gebiete herrſchend ſind. Im Einzelnen hoͤren wir uͤberall einen Glauben, ein Volk oder ei¬ nen Stamm oder nur Perſonen uͤber die Gebuͤhr preiſen und andre verunglimpfen, und die Religion, das Vaterland, der Stand und die Erziehung des Geſchichtsforſchers druͤcken ſeinen Unterſuchungen ih¬ ren Stempel auf. Im Großen aber unterſcheiden wir etwa folgende welthiſtoriſche Anſichten.

Die Einen bringen ein Ideal des menſchlichen Geſchlechts mit, nach welchem ſie alle hiſtoriſchen Erſcheinungen abmeſſen, und da die Geſchichte groͤ߬ tentheils nur als politiſche Geſchichte betrachtet wird, ſo ſind es jene politiſchen Ideale, die den Maaßſtab hergeben muͤſſen. Die Proteſtanten und Liberalen haben daher ein andres Ideal, als die Katholiken und Servilen, mithin auch eine andre welthiſtoriſche Anſicht. Beide ſind aber darin einverſtanden, daß nur ein gewiſſer Theil der Weltbegebenheiten Billi¬ gung verdiene, der andre zu verwerfen ſey. Sie ge¬ ben ſich alſo beide einer falſchen parteilichen Theil¬ nahme an einzelnen Erſcheinungen und einem klaͤgli¬ chen Jammer uͤber die andre hin, und immer liegt im Hintergrund ihrer Anſicht die alberne Anmaßung, daß ſie es von Anfang an beſſer gemacht haben wuͤr¬ den, wenn die Regierung der Welt von ihnen aus¬ gegangen waͤre. Die Proteſtanten, Liberalen und die205 claſſiſchen Philologen vereinigen ſich dahin, daß die Menſchen ſich allmaͤhlig aus dem roheſten thieriſchen Zuſtande zur Bildung erhoben und im griechiſch-roͤ¬ miſchen Alterthum die erſte Reife gewonnen haͤtten, daß darauf die Barbarei wieder eingeriſſen und erſt mit der Reformation eine neue hoͤhere Entwicklung vorbereitet worden waͤre, welche noch jetzt gegen die Barbarei kaͤmpfen muͤſſe. Die Katholiken, Royali¬ ſten und die orientaliſchen Philologen nehmen dage¬ gen ein heiliges, vollkommnes Urvolk an, das in Suͤnde verfallen, durch das Chriſtenthum wieder ge¬ heiligt, aber nochmals in ſuͤndigen Abfall und Ver¬ irrung gerathen ſey. Jene glauben an eine fortſchrei¬ tende, muͤhſame Befreiung des Menſchengeſchlechts, dieſe an eine beſtaͤndige Verſchlimmerung durch die Erbſuͤnde und Verſoͤhnung durch die goͤttliche Gnade. Aber was die erſtern ein Freiwerden nennen, heißen die andern das Werk des Satans, und umgekehrt nennen jene Barbarei, was dieſe das Reich Gottes auf Erden nennen. Dieſe verſchiednen Anſichten of¬ fenbaren ſich vorzuͤglich bei der hiſtoriſchen Betrach¬ tung des Mittelalters, das die Einen beſtaͤndig ver¬ dammen, die Andern preiſen.

Die Anzahl derer, welche die Geſchichte in ihrem ganzen Umfang unparteiiſch auf dichteriſche Weiſe als ein Epos oder gleichſam naturhiſtoriſch als einen Organismus betrachten, iſt verhaͤltnißmaͤßig noch ſehr gering, und doch iſt dieſe Anſicht die einzig wuͤrdige. Sie geht von keiner vorgefaßten Meinung aus, will206 nichts verwerfen oder verbeſſern, ſondern nimmt die Dinge, wie ſie ſind, und mißt jedes nur nach dem in ihm liegenden Maaßſtab. Sie wird z. B. das Mit¬ telalter nicht verwerfen, weil es der Freiheit im an¬ tiken oder modernen Sinn nicht huldigte, oder prei¬ ſen, weil in ihm die Privilegien der Enkel begruͤndet ſind, ſondern ſie wird es abgeſehn von unſern gegen¬ waͤrtigen Intereſſen nach den Intereſſen ſeines Vol¬ kes, ſeines Geiſtes wuͤrdigen. Sie wird es fuͤr uͤber¬ fluͤßig halten, von jenen Menſchen zu verlangen, was nur fuͤr die heutigen gilt. Sie wird ihnen das, was ſie fuͤr wuͤnſchenswerth und heilig gehalten haben, weder beneiden, noch verſpotten, ſondern ſie nach ihrem eignen Glauben waͤgen und ſchaͤtzen. Erſt da¬ durch wird die Geſchichte, was ſie ſeyn ſoll, ein treuer Spiegel der Vergangenheit. Man kann ſie nicht objectiv genug auffaſſen; jede ſubjective Aus¬ ſchweifung truͤbt ihren Spiegel. Gloſſen mag die Philoſophie machen, der Geſchichte ſelbſt gilt nur der einfache Text.

Im Allgemeinen hat unſre Geſchichtforſchung fol¬ gende Entwicklungen erlebt. Nach dem dreißigjaͤhrigen Kriege fielen die Deutſchen in Lethargie und erwach¬ ten erſt im achtzehnten Jahrhundert in fieberhaften Traͤumen. Zu den Erſcheinungen jener phlegmatiſchen Zeit gehoͤren auch die langweiligen hiſtoriſchen Samm¬ lungen und Commentare, zu denen der choleriſchen Extaſe gehoͤrt der hiſtoriſche Scepticismus des vorigen Jahrhunderts. Überall ſahen wir zuerſt einen207 todten Mechanismus, dann eine tolle Lebendigkeit. In der Theologie folgte der ſtarren Orthodoxie eine bis zum Atheismus muthwillige Kritik. In der Phi¬ loſophie wurde das mathematiſche Verfahren durch das anthropologiſche erſetzt, das allen Hypotheſen freien Spielraum gab. In der Staatswiſſenſchaft herrſchte anfangs die abgeſchmackte heilige roͤmiſche Reichsunbehuͤlflichkeit, dann ein Schwall von Neue¬ rungen. In den Naturwiſſenſchaften ward die Em¬ pirie und das fleißige Sammeln durch kecke Hypothe¬ ſen erſetzt. Die alte ehrbare Erziehung mußte den vageſten Verſuchen der Philantropiſten weichen. End¬ lich ſah die ſogenannte claſſiſche Poeſie durch alle Ausſchweifungen der Romantik und des modernen Hu¬ mors ſich verdraͤngt. So folgten auch im hiſtoriſchen Fach auf die weitſchichtigen Sammlungen der Maͤn¬ ner in Allongeperuͤcken die kritiſchen Bedenken der Maͤnner in Zoͤpfen, und nachdem das ſiebzehnte Jahr¬ hundert den Geiſt der Geſchichte unter endloſen Cita¬ ten und chronologiſch-genealogiſchen Tabellen begra¬ ben, konnte das achtzehnte ihn dreiſt laͤugnen. Man gefiel ſich in einem frevelhaften Unglauben und im Vernichten deſſen, was der Einſeitigkeit des Geſchlechts nicht zuſagte. Waͤhrend die Philoſophen dem Chri¬ ſtenthum abſagten und die Revolutionsmaͤnner auf den Truͤmmern der Cultur und Geſchichte einen neuen Naturzuſtand einzufuͤhren ſtrebten, wurden ſie von den hiſtoriſchen Sceptikern thaͤtig unterſtuͤtzt, die das Amt uͤbernahmen, das Feld der Geſchichte zu ſaͤu¬208 bern und den troſtloſen Grundſatz geltend machten, alles, was ſie nicht verſtanden, zu laͤugnen, und alles, was nicht mit der modernen Aufklaͤrung har¬ monirte, ſo darzuſtellen, als ob es von rechtswegen nie haͤtte exiſtiren ſollen. Da durften Schloͤzer und Ruͤhs alles ſogenannte Vorgeſchichtliche als dumme Fabel wegwerfen, und die ganze Zunft durfte das Mittelalter als Barbarei verdammen. Man ſah die Geſchichte nicht mehr, wie das weit vernuͤnftigere Mittelalter immer gethan, als ein organiſches Leben an; man erfreute ſich nicht mehr ihres Gemaͤldes, das unermeßlich, wie die Natur, zugleich eben ſo in allen Theilen harmoniſch iſt; man ſtrebte nicht mehr das innerſte Geheimniß und den Zuſammenhang des großen geſchichtlichen Lebens zu begreifen; vielmehr ſtellte man ſich in jenem frevelhaften Übermuth, der jene Generation charakteriſirt, uͤber die Vorſehung ſelbſt und meiſterte ſie, tadelte die Werke derſelben[und] nahm als bekannt an, daß man es von Anfang an in der Welt beſſer gemacht haben wuͤrde. Man glaubte die Geſchichte nur wie ein uͤbel beſtelltes Erbe pluͤndern zu muͤſſen. Wenig ſchien nutzbar, das alte Geraͤth ward in die Polterkammer gewieſen. Man zog durch die Hallen der Geſchichte wie ſtuͤrmende Soldaten und verbrannte die herrlichen Wandtape¬ ten, wie die von Raphael, um Gold daraus zu ſchmelzen. Nichts erhielt Wuͤrdigung und Schonung, als was man fuͤr den Augenblick brauchen konnte. Das revolutionirende Jahrhundert fand daher nur209 die Geſchichte der Griechen und Roͤmer wichtig und vernuͤnftig, weil es daraus die Muſter theils fuͤr ſeine republikaniſchen Traͤume, theils fuͤr ſeinen Des¬ potenhaß entlehnen, und weil es hier dem aͤlteſten Feind der mittelalterlichen Barbarei die Hand rei¬ chen konnte. Der religioͤſe Fanatismus kam dem poli¬ tiſchen zu Huͤlfe. Da die Katholiken weniger geſchrie¬ ben haben, und es den Gelehrten bereits zur andern Natur geworden iſt, gegen katholiſche Schriften, na¬ mentlich hiſtoriſche, vorſichtig zu ſeyn, ſo haben dieſe weit weniger verdorben, als die Proteſtanten, wenn ſie auch gleichfalls weit weniger gut gemacht. Grade indem die Proteſtanten beinah allein die Literatur be¬ herrſcht haben, ſind ſie fanatiſch geweſen, ohne es zu bemerken, denn was die Katholiken dagegen ge¬ ſchrieben, iſt von Proteſtanten immer fuͤr abſoluten Irrthum gehalten worden, ſeit man unter der roͤmi¬ ſchen Infallibilitaͤt nur ſchlechterdings Fallibilitaͤt ver¬ ſteht. Die ungeheure Mehrzahl der proteſtantiſchen Geſchichtbuͤcher ſtellt das Mittelalter auch aus dem polemiſchen Standpunkt ihrer Confeſſion dar. Die Geſchichtſchreiber glaubten dabei noch um ſo viel un¬ truͤglicher zu verfahren, als das philoſophiſche Jahr¬ hundert allgemeinen Pfaffenhaß, Verſpottung des Aber¬ glaubens und Verachtung der mittelalterlichen Roheit predigte. Indem ſie aber ihre Darſtellung der Ge¬ ſchichte dieſer Doctrin anpaſſen, werden ihre Werke mehr paͤdagogiſche Exercitien, als treue Gemaͤlde der Vergangenheit. Sie malen nicht das Mittelalter,210 ſondern ihren Haß gegen daſſelbe. Sie belehren den Leſer nicht uͤber die wahre Natur der Vorzeit, ſon¬ dern warnen ſie vor den Gebrechen derſelben. Was entlehnen ſie wohl aus den zahlreichen Quellen jener Geſchichte? Was haben ſie im Ohr behalten aus der unendlichen Muſik jener reichen ſchoͤnen Zeit? Diſſo¬ nanzen ohne Aufloͤſung, die traurige Schilderung von Barbareien, die auch nicht fehlten, wie ſie uns nicht fehlen; aber die beſeligenden Harmonien ver¬ nehmen ſie nicht, die uns uͤberall aus den Hallen je¬ ner Vorwelt entgegentoͤnen. Erſt unverhaͤltnißmaͤßig wenige Geſchichtſchreiber haben es gewagt, in der Kirche, dem Staat, den Sitten und der Kunſt des Mittelalters etwas Erhabnes und Schoͤnes zu fin¬ den, und ihre Darſtellung im Sinne der Quellen, im Sinne jener Zeit ſelbſt aufzufaſſen, und irgend etwas von der Andacht, von der Kraft und Milde, von der Poeſie derſelben in ihre Schilderungen ein¬ fließen zu laſſen. Die große Mehrzahl poltert nur wie von der Kanzel gegen die Pfaffen und wie von der Volkstribune gegen den Feudalismus, und ruͤmpft wie in einem Salon die Naſe und haͤlt eine Philippika gegen die Pferdeluſt der durchlauchtigen Ahnen.

Es erhoben ſich aber auch Stimmen dagegen und namentlich ſeit der Reſtauration gewann die fromme und royaliſtiſche Partei auch einen weiten Spielraum in der Geſchichtforſchung. Das Extrem kehrte ſich um, und der verworfne Stein wurde zum Eckſtein. Man ging auf der entgegengeſetzten Seite ſo weit211 als moͤglich und ſuchte ſogar der laͤngſt verſpotteten Heraldik eine neue tiefe Bedeutung zu geben, indem man nicht die Geſchlechter, aber das Geſchlechtſyſtem bis in die orientaliſchen Wurzeln der deutſchen und aller Geſchichte verfolgte. Man ſprach den Germa¬ nen ihre Freiheit wieder ab, und gab ſich alle Muͤhe die Prieſterariſtokratie zu vindiciren. Das Mittel¬ alter aber erhielt ſeine Glorie wieder, und es war oft laͤcherlich genug zu ſehn, wie man unſcheinbare Lichtchen vor glaͤnzenden Geſtalten aufſteckte, die durch ſich ſelbſt hinlaͤnglich ſtrahlten.

Gegenwaͤrtig kaͤmpfen beide Anſichten, und die Parteien ſtehn zu ſcharf an einander, als daß die dritte verſoͤhnende Anſicht zur Herrſchaft gelangen koͤnnte.

Was nun die Geſchichtſchreibung betrifft, ſo wird ziemlich allgemein anerkannt, daß wir Deut¬ ſchen darin es noch nicht weit gebracht haben. Waͤh¬ rend man unſern Forſchungen und Sammlungen die gebuͤhrende Achtung nicht verſagt, den deutſchen Fleiß nicht genug loben kann und auch unſre Kritik oft nur fuͤr allzukritiſch haͤlt, iſt man noch immer der Mei¬ nung, daß wir in der Geſchichtſchreibung nicht nur den Alten, ſondern auch den Franzoſen und Englaͤn¬ dern nachſtehn. Allerdings laſſen auch unſre beſten Geſchichtſchreiber noch viel zu wuͤnſchen uͤbrig, ſie ſind immer noch zu gelehrt, umſtaͤndlich und unprak¬ tiſch. Ihre Werke ſind immer noch mehr Studien, als Gemaͤlde, mehr auf die Wiſſenſchaft, als auf212 das Leben, mehr auf die gelehrte Kaſte, als auf das Volk berechnet. Alle ihre Maͤngel entſtiegen aus dem Mangel des oͤffentlichen Lebens. Das Talent des Geſchichtſchreibers iſt das des Redners. Die Ge¬ ſchichte wird dann gut geſchrieben, wenn die Bege¬ benheiten und ihre Motive uns wie einem verſam¬ melten Volke vorgetragen werden, als ob wir noch daruͤber entſcheiden koͤnnten. Das lebendige drama¬ tiſche Element darf dem Geſchichtforſcher nie fehlen. Der Forſcher anatomirt, der Geſchichtſchreiber laͤßt lebendig handeln. Wer nun uͤberhaupt die Begeben¬ heiten aus einem lebendigen Geſichtspunkt anſieht, mit darin gehandelt, ſie vielleicht geleitet hat, wird auch die Geſchichte derſelben und uͤberhaupt Geſchichte zu ſchreiben wiſſen, der Held, der Staatsmann beſ¬ ſer, als ein deutſcher Stubengelehrter.

Es kommt aber noch hinzu, daß die umſtaͤndli¬ chen und ſchwierigen hiſtoriſchen Forſchungen der Deut¬ ſchen eine gute Geſchichtſchreibung noch immer beinah unmoͤglich gemacht haben. Wir betrachten wie billig die ſchoͤne Form als Nebenſache, und die Wahrheit der Thatſachen als Hauptſache. Nun ſind wir aber uͤber alle Gebuͤhr gewiſſenhaft und koͤnnen mit dem unermeßlichen Studium nie fertig werden. In alle unſre Darſtellung miſcht ſich Kritik, Citat, Polemik, weil wir nicht blos etwas ſagen, ſondern es diplo¬ matiſch und logiſch beweiſen wollen. Da ferner jede gute Geſchichtſchreibung von der Geſchichte der eig¬ nen Nation ausgehn muß, ſo ſtellt ſich uns hier eine213 neue Schwierigkeit entgegen. Unſre Geſchichte iſt theils ſo unendlich mannigfaltig, theils hat ſie ſo viele dunkle Partien, daß ein klarer Überblick noch nie¬ mals erreicht worden iſt. Weit leichter mag der Eng¬ laͤnder und Franzoſe ſeine Geſchichte ſchildern, die an ſehr einfachen Faͤden fortlaͤuft, und nie wichtig iſt, wo ſie nicht zugleich klar waͤre. Dort draͤngt ſich alles zuſammen, in der deutſchen Geſchichte faͤhrt alles auseinander. Wir ſind darin den Griechen zu vergleichen, und noch gibt es eben ſo wenig eine gute griechiſche Geſchichte, als es eine deutſche gibt.

Noch in keinem Zweige der Literatur haben wir ſo wenig uns ſelbſt vertraut, als in der Geſchicht¬ ſchreibung. Hier galten uns faſt immer nur fremde Muſter, vorzuͤglich der Alten. Der wichtigſte und anerkannteſte unter den Nachahmern der Alten, der daher auch faſt einſtimmig fuͤr unſern groͤßten Ge¬ ſchichtſchreiber gehalten worden iſt, war Johannes Muͤller. Seine Schule iſt noch immer die herrſchende, und der manierirte geſchraubte Ton derſelben iſt ein wenig laͤcherlich. Die Deutſchen ſind ſeit ein Paar Jahrhunderten von der europaͤiſchen Geſchichte als ihr Spielball umhergeworfen worden; wenn ſie ſelbſt wieder einmal die Geſchichte machen werden, werden ſie ſie auch ſchreiben koͤnnen.

214

Staat.

Die Politik iſt gegenwaͤrtig an der Tagesord¬ nung, auch in Deutſchland, indeß laͤßt ſich leicht bemerken, daß wir nicht ſo eigentlich von ſelbſt auf dieſe intereſſante Wiſſenſchaft verfallen ſind, daß ſie uns vielmehr erſt von außen her und zum Theil par forçe annehmlich gemacht worden iſt. Bei den Spaniern, Italiaͤnern und Franzoſen ſind wir in die Schule des Despotismus gegangen, dann wieder bei Franzoſen, Englaͤndern und Amerikanern in die Schule der Frei¬ heit. Die Franzoſen haben uns ihre politiſchen Mei¬ nungen auf der Spitze des Bajonetts gebracht oder als Modeartikel durch den Buchhandel. Faſt alle in¬ nern politiſchen Veraͤnderungen bei uns ſind von au¬ ßen bewirkt worden, und nicht minder hat der Mei¬ nungsſtreit von außen Nahrung empfangen. Darum traͤgt auch unſre Politik und deren Literatur auffal¬ lend ein fremdes Gepraͤge, und mit wie viel Theil¬ nahme wir uns nun auf dieſen Gegenſtand werfen moͤgen, ſo bleiben wir doch hinter unſern Meiſtern zuruͤck.

215

Wir haben genug gelitten, um uns um Politik bekuͤmmern zu muͤſſen, und zu wenig gethan, um zu¬ gleich etwas Großes dafuͤr leiſten zu koͤnnen. Wir ha¬ ben zu viel Muſter vor uns und zu wenige Selbſtaͤndig¬ keit, um ſelbſt Muſter zu ſeyn. Unſer Zuſtand wech¬ ſelt deßfalls, ohne feſten Charakter, wie wir geſto¬ ßen werden. Man findet nirgend ſo viele Mittel¬ zuſtaͤnde, als in Deutſchland. Man will es uͤberall recht machen, und gewiß haben Wenige die Macht, die nicht zugleich die Nothwendigkeit fuͤhlten, es recht machen zu muͤſſen; aber der Anſpruͤche ſind zu viele und da der Hauptanſpruch wie der gegenwaͤrtigen Zeit ſo des deutſchen Phlegmas uͤberhaupt Maͤßigung und Frieden iſt, ſo kann es nicht wohl anders ſeyn.

Wir haben uns nur nothgedrungen auf den poli¬ tiſchen Schauplatz reißen laſſen und finden uns noch nicht ſonderlich darauf zurecht. Was wir etwa ha¬ ben thun muͤſſen, kann man kein eigentliches Handeln nennen, und unſre Reden wollen deßfalls noch weni¬ ger bedeuten.

Von jeher ſind nur ſolche Voͤlker, deren ganze Thaͤtigkeit im oͤffentlichen Staatsleben ſich concen¬ trirte, zugleich durch eine politiſche Literatur ausge¬ zeichnet geweſen, Griechen, Roͤmer, Englaͤnder, Fran¬ zoſen und in beſſern Zeiten auch die Italiaͤner. Die¬ ſen muͤſſen wir den Vorrang zugeſtehn. Zwar fehlt es uns an Theorien und phantaſtiſchen Traͤumen nicht, und wir ſind daran vielleicht ſogar reicher, als andre Voͤlker, weil die Phantaſie einen deſto216 freiern Spielraum gewinnt, je weniger der Menſch in einer ſchoͤnen Wirklichkeit thaͤtig iſt. Auch unſre philoſophiſchen Syſteme erzeugen mannigfaltige An¬ ſichten vom geſelligen und politiſchen Leben. Die Theo¬ rien verhalten ſich aber zum Leben ſelbſt etwa nur wie die Poeſie. Man traͤumt ſich in ein politiſches Eldorado hinein und wacht ſo nuͤchtern auf, wie zu¬ vor. Da den Deutſchen die Tribune fehlt, ſo ſollte man erwarten, ſie wuͤrden ihre ganze Kraft deſto wirkſamer in der Literatur geltend machen. Es iſt aber umgekehrt. Eine gute politiſche Literatur geht immer erſt aus der Schule der politiſchen Beredſam¬ keit hervor.

Eine geraume Zeit nahm die Religion alles In¬ tereſſe der Nation in Anſpruch, ſo daß ſelbſt die großen Umwaͤlzungen der Reformation eher dazu dien¬ ten, den Sinn fuͤr Politik nicht bei den Hoͤfen, aber beim Volk einzuſchlaͤfern, als zu erwecken. Spaͤter trat eine behagliche Gewohnheit ein, bei der faſt alle politiſche Fragen gaͤnzlich in Vergeſſenheit geriethen. Der Wohlſtand nahm nicht ſo gewaltig zu, daß die uͤberfluͤßige Kraft große Thaten und Inſtitutionen haͤtte hervorbringen koͤnnen; er ſank aber auch nie ſo gaͤnzlich, daß die Verzweiflung zu Umwaͤlzungen gefuͤhrt haͤtte. Die Fuͤrſtenhaͤuſer genoſſen faſt ohne Ausnahme das kindliche Vertrauen der Unterthanen, beſonders ſeit ihre wechſelſeitigen Intereſſen in den Religionskaͤmpfen ſo eng verſchlungen worden. Die Maſſe hatte zu eſſen, und ausgezeichnete Geiſter fan¬217 den in den Wiſſenſchaften und Kuͤnſten eine angemeſ¬ ſene Wirkſamkeit. Die Erſcheinung der franzoͤſiſchen Revolution, und die Art, wie man ſie in Deutſch¬ land aufnahm, hat hinlaͤnglich bewieſen, wie wenig man in Deutſchland fuͤr ein reges politiſches Leben geſtimmt und vorbereitet war.

Der Deutſche liebt die Familie mehr als den Staat, den kleinen Kreis von Freunden mehr als die große Geſellſchaft, die Ruhe mehr als den Laͤrm, die Betrachtung mehr als das Raiſonniren. Es muß zugeſtanden werden, daß dieſe Eigenheiten zu eben ſo viel Laſtern als Ungluͤcksfaͤllen gefuͤhrt haben, daß nur durch ſie verſchuldet worden iſt, was man uns mit Recht ſo oft und lange vorgeworfen, Bethoͤrung und Unterdruͤckung durch Fremde, Unempfindlichkeit fuͤr nationelle Schande, Vernachlaͤſſigung gemeinſa¬ mer Intereſſen, enge peinliche Spießbuͤrgerlichkeit und Verſauern in der traͤgen Ruhe. Auf der andern Seite beweist uns aber die fruͤhere Geſchichte, daß dieſel¬ ben Grundzuͤge des Nationalcharakters ſich auch mit großen politiſchen Thaten und Inſtituten haben ver¬ einigen laſſen. Aus ihrer Wurzel iſt der Rieſenbaum der altgermaniſchen Verfaſſung erwachſen, der Jahr¬ hunderte lang Europa wohlthaͤtigen Schatten gegeben. Von allen Verfaſſungen des Alterthums unterſchied ſich die germaniſche dadurch, daß ſie das Gemein¬ weſen der individuellen Freiheit und dem Familien¬ weſen unterordnete. Der Staat ſollte dem Einzelnen dienen, waͤhrend in Rom und Sparta der EinzelneDeutſche Literatur. I. 10218Leibeigner des Staates war. Jene Allgemeinheit des Staats, die allein ſouverain iſt, der jeder Buͤrger unbedingt unterworfen iſt, die einen eignen Willen und eigne Zwecke hat, war den Deutſchen von jeher in der Natur zuwider. Dieſe Abneigung gegen den Goͤtzendienſt des weltlichen Staates bahnte ſpaͤter der Hierachie den Weg. Zuletzt aber brachte ſie uns in einen voͤllig paſſiven Zuſtand; wir wurden regiert und dachten nicht daran, wir litten alles und unter Hunderttauſenden frug kaum einer, warum?

Indeß iſt in der neueſten Zeit der Sinn fuͤr Po¬ litik ſehr lebendig erwacht. Große Ungluͤcksfaͤlle haben uns an die Fehler erinnert, durch welche wir dieſelben verſchuldet. Die Umwaͤlzungen der Nach¬ barlaͤnder haben uns zum Theil zur Nachahmung oder doch zur Aufmerkſamkeit gezwungen. Gewaltſtreiche von außen haben unſern innern politiſchen Zuſtand mannigfach veraͤndert, und manche Verbeſſerungen haben wir ſelbſt zu Stande gebracht. Die fortge¬ ſchrittene Cultur verlangt manche Änderung. Die Kriege, die wir fuͤr den Beſtand unſrer Staaten ge¬ fuͤhrt, haben ſie uns werth genug gemacht, daß wir ſie mit groͤßerem Intereſſe, als bisher, ins Auge faſ¬ ſen. Die politiſche Ehre, die wir wieder errungen haben, hat uns den Sinn fuͤr Politik wohlthaͤtig er¬ friſcht. Thaten haben zur Betrachtung gefuͤhrt.

Dieſe neue Politik aber iſt groͤßtentheils in einer fremden Schule gebildet, alle Parteien, die Kabinette, die Staͤnde, die Liberalen haben im Ausland ihren219 Unterricht empfangen. Wo indeß die deutſche Ei¬ genthuͤmlichkeit vorſchlaͤgt, aͤußert ſie ſich in derſel¬ ben Syſtemſucht und Phantaſterie, die wir in allen Wiſſenſchaften geltend machen. Die Praktiker, die das Ruder fuͤhren, ſind davon ſo wenig ausge¬ ſchloſſen als die ſtillen Schwaͤrmer in den Dachſtu¬ ben, die nichts regieren als die Feder. Jene wollen der Gegenwart das Unmoͤgliche aufdringen, dieſe der Zukunft das Moͤgliche. Jene legen die Voͤlker auf ihre Tabellen, wie den heiligen Laurentius auf den Roſt, dieſe machen ſich goldne Traͤume von der Zu¬ kunft, die ſich bekanntlich, wie das Papier, alles ge¬ fallen laͤßt, wobei aber die Kuh immer verhungern muß, bevor das Gras gewachſen iſt. Wagt es das voͤllig paſſive Publikum ſich uͤber die Gewaltthaͤtig¬ keit der Theorien zu beklagen, oder die Phantome der Ideologen zu verlachen, ſo heißt es von beiden Seiten mit Fichte: das Publikum iſt kein Grund, unſre Weisheit in Thorheit zu verkehren.

Das ſchlimmſte iſt, daß beide am allerwenigſten an die materielle Freiheit der Voͤlker denken, die doch die einzige iſt, deren wir auf unſrer gegenwaͤr¬ tigen Stufe der Cultur faͤhig ſind, und die allein uns frommen kann. Die praktiſchen Staatsverbeſſe¬ rer ſtuͤrmen durch das ſtille Daſeyn der Philiſter und opfern den Einzelnen dem Ganzen; die ſchwaͤrmen¬ den Weltverbeſſerer aber denken nur an die mora¬ liſche Freiheit, an einen idealen Zuſtand, der viel¬ leicht am Ende der Zeiten liegt.

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Was die in neuerer Zeit ſo haͤufig gewordenen durchgreifenden Staatsverbeſſerungen und Reorgani¬ ſationen in ihrer Gewaltthaͤtigkeit einigermaßen hemmt, gewaͤhrt doch keinen ſonderlichen Troſt. Dies iſt naͤmlich die an ſich ehrwuͤrdige Achtung vor dem Al¬ ten, die aber in dem Zuſtande, wohin uns die Zeit einmal unaufhaltſam fortgeriſſen hat, niemals mehr zur Conſequenz des alten Syſtems zuruͤckfuͤhren kann, und alſo der Conſequenz des neuen nur hinderlich iſt. Zwiſchen beide ſtellt ſich ein Syſtem von Flick¬ ſyſtemen, es wird beſtaͤndig eingeriſſen und wieder angebaut, aus allen Zeitaltern und fuͤr alle Staͤnde haben ſich Inſtitutionen erhalten, und wieder an je¬ dem Orte beſondre, unzaͤhlige neue ſind dem ange¬ klebt worden, und alle verhalten ſich zu den einfa¬ chen, die man haben koͤnnte, wie eine Troͤdlerbude voll alter Kleider zu einem reinlichen Anzug. Die Staatspraktiker muͤſſen nicht nur Theoretiker ſeyn, ſondern auch Hiſtoriker und Philologen, und die Ge¬ lehrſamkeit ſteht nicht ſowohl unter dem Schutz des Staates, als der Staat unter dem Schutz der Ge¬ lehrſamkeit.

Was auf der andern Seite die Ausſchweifun¬ gen der Weltverbeſſerer hemmt, iſt wohl eben ſo we¬ nig troͤſtlich. Dies iſt die Cenſur; man kann in der That nicht an die Maͤngel unſrer politiſchen Litera¬ tur denken, ohne daß uns ſogleich die großen Luͤcken einfallen, die Cenſurluͤcken, welche von allen den Werken erfuͤllt ſeyn koͤnnten, die eben des Preßzwangs221 wegen gar nicht exiſtiren. Dieſe fuͤhren dann die unangenehme Betrachtung ſogleich auch auf die furcht¬ ſamen, halben und albernen Urtheile, welche die Angſt vor der Cenſur oder das Vertrauen, daß ſie keine Concurrenz beſſerer Urtheile zulaſſen werde, ſo haͤufig hervorbringt. Doch davon iſt ſchon oben die Rede geweſen. Die Cenſuruͤbel ſind nichts neues, ſie wechſeln nur den Ort, auf den ſie fallen, und ſcheinen zu den Kinderkrankheiten der Voͤlker zu ge¬ hoͤren. Sie ſind ein Ausſatz, der hie und da die Haut wegnimmt, das Kind ſtirbt aber nicht davon.

Bevor wir die Literatur der politiſchen Praxis betrachten, wollen wir einen Blick auf die Theorien werfen. Alle Praxis geht von den Theorien aus. Es iſt jetzt nicht mehr die Zeit, da die Voͤlker aus einem gewiſſen ſinnlichen Übermuth, oder aus zufaͤlli¬ gen oͤrtlichen Veranlaſſungen in einen voruͤbergehen¬ den Hader gerathen. Sie kaͤmpfen vielmehr um Ideen und eben darum iſt ihr Kampf ein allgemeiner, im Herzen eines jeden Volkes ſelbſt, und nur in ſofern eines Volkes wider das andre, als bei dem einen dieſe, bei dem andern jene Idee das Übergewicht be¬ hauptet. Der Kampf iſt durchaus philoſophiſch ge¬ worden, ſo wie er fruͤher religioͤs geweſen. Es iſt nicht ein Vaterland, nicht ein großer Mann, wor¬ uͤber man ſtreitet, ſondern es ſind Überzeugungen, denen die Voͤlker wie die Helden ſich unterordnen muͤſſen. Voͤlker haben mit Ideen geſiegt, aber ſobald ſie ihren Namen an die Stelle der Idee zu ſetzen222 gewagt, ſind ſie zu Schanden worden; Helden haben durch Ideen eine Art von Weltherrſchaft erobert, aber ſobald ſie die Idee verlaſſen, ſind ſie in Staub gebrochen. Die Menſchen haben gewechſelt, nur die Ideen ſind beſtanden. Die Geſchichte war nur die Schule der Principien. Das vorige Jahrhundert war reicher an vorausſichtigen Speculationen, das gegen¬ waͤrtige iſt reicher an Ruͤckſichten und Erfahrungs¬ grundſaͤtzen. In beiden liegen die Hebel der Bege¬ benheiten, durch ſie wird alles erklaͤrt, was geſche¬ hen iſt.

Es gibt nur zwei Principe oder entgegengeſetzte Pole der politiſchen Welt, und an beide Endpunkte der großen Achſe haben die Parteien ſich gelagert und bekaͤmpfen ſich mit ſteigender Erbitterung. Zwar gilt nicht jedes Zeichen der Partei fuͤr jeden ihrer Anhaͤnger, zwar wiſſen manche kaum, daß ſie zu die¬ ſer beſtimmten Partei gehoͤren, zwar bekaͤmpfen ſich die Glieder einer Partei unter einander ſelbſt, ſo¬ fern ſie aus ein und demſelben Princip verſchiedne Folgerungen ziehn; im allgemeinen aber muß der ſubtilſte Kritiker ſo gut wie das gemeine Zeitungs¬ publikum einen Strich ziehn zwiſchen Liberalis¬ mus und Servilismus, Republikanismus und Autokratie. Welches auch die Nuancen ſeyn moͤgen, jenes claire obscure und jene bis zur Farbloſigkeit gemiſchten Tinten, in welche beide Hauptfarben in einander uͤbergehn, dieſe Hauptfarben ſelbſt verber¬ gen ſich nirgends, ſie bilden den großen, den einzi¬223 gen Gegenſatz in der Politik, und man ſieht ſie den Menſchen wie den Buͤchern gewoͤhnlich auf den erſten Blick an. Wohin wir im politiſchen Gebiet das Auge werfen, trifft es dieſe Farben an. Sie fuͤllen es ganz aus, hinter ihnen iſt leerer Raum.

Die liberale Partei iſt diejenige, die den politi¬ ſchen Charakter der neuern Zeit beſtimmt, waͤhrend die ſogenannte ſervile Partei noch weſentlich im Cha¬ rakter des Mittelalters handelt. Der Liberalismus ſchreitet daher in demſelben Maaße fort, wie die Zeit ſelbſt, oder iſt in dem Maaße gehemmt, wie die Vergangenheit noch in die Gegenwart heruͤber dauert. Er entſpricht dem Proteſtantismus, ſofern er gegen das Mittelalter proteſtirt, er iſt nur eine neue Ent¬ wicklung des Proteſtantismus im weltlichen Sinn, wie der Proteſtantismus ein geiſtlicher Liberalismus war. Er hat ſeine Partei in dem gebildeten Mittel¬ ſtande, waͤhrend der Servilismus die ſeinige in den Vornehmen und in der rohen Maſſe findet. Dieſer Mittelſtand ſchmilzt allmaͤhlig immer mehr die ſtarren Kriſtalliſationen der mittelalterlichen Staͤnde zuſam¬ men. Die ganze neuere Bildung iſt aus dem Libera¬ lismus hervorgegangen oder hat ihm gedient, ſie war die Befreiung von dem kirchlichen Autoritaͤtsglauben. Die ganze Literatur iſt ein Triumph des Liberalis¬ mus, denn ſeine Feinde ſogar muͤſſen mit ſeinen Waf¬ fen fechten. Alle Gelehrte, alle Dichter haben ihm Vorſchub geleiſtet, ſeinen groͤßten Philoſophen aber224 hat er in Fichte, ſeinen groͤßten Dichter in Schiller gefunden.

Der Liberalismus geht nicht von der Geſellſchaft, ſondern vom Individuum aus. Die Quelle aller ſei¬ ner Forderungen fuͤr die Geſellſchaft iſt der freie Wille, die Selbſtbeſtimmung des Einzelnen.

Er iſt daher im innerſten Princip der Religion entgegengeſetzt, wie auch die Fuͤchſe und Schafe un¬ ter ihnen heuchleriſch oder gutmuͤthig den Glauben dabei zu retten verſucht haben. Wo die Selbſtbe¬ ſtimmung eintritt, faͤllt jede fremde Autoritaͤt, alſo auch die goͤttliche hinweg, und wenn man, wie ge¬ woͤhnlich geſchieht, Gott in der eignen Willenskraft ſucht, ſo iſt dieſe Apotheoſe der Selbſtbeſtimmung doch nur ein ſehr uͤberfluͤſſiger Pleonasmus. Wenn Gott im Ich befindlich iſt, ſo iſt er nur noch ein bloßer Name und es waͤre wohl am Ich genug. Die Liberalen bauen keine Kirche, ſie zerſtoͤren ſie nur.

Wird das Princip der Selbſtbeſtimmung in der Geſellſchaft geltend gemacht, ſo erfolgt daraus mit Nothwendigkeit der contrat social. Durch die Selbſt¬ beſtimmung ſind alle Menſchen frei, folglich gleich, und ihr Staat kann ſich nur auf gemeinſchaftliche Übereinkunft gruͤnden. Man entlehnt die Beiſpiele fuͤr die Moͤglichkeit eines ſolchen Zuſtandes aus den alten Republiken, aus der altgermaniſchen Verfaſſung und aus neuen Republiken, betrachtet dieſe jedoch nur als unvollkommene Darſtellungen des abſoluten Freiſtaates und ſucht dieſen erſt in der Zukunft. 225Man will ein Ideal, Menſchen, wie ſie nicht ſind, ſondern ſeyn ſollen, und dieſes Ideal erblickt man nur in Viſionen der Zukunft. Die allgemeine Tu¬ gendrepublik iſt noch nicht da, aber man ſtrebt da¬ hin. Indem man die Idee derſelben beſtaͤndig vor Augen hat, ſucht man die Hemmungen derſelben zu beſeitigen und kaͤmpft gegen den wirklichen Beſtand der Dinge. Dadurch eignen ſich die Liberalen das Princip, die Vortheile und das Verdienſt des Fort¬ ſchritts, der ewigen Entwicklung an. Sie bringen Leben in die Welt, ſichern vor Erſtarrung, und wenn ſie auch den Schatz nicht heben, ſo arbeiten ſie doch den Weinberg um.

Die deutſchen Liberalen haben das Ausgezeich¬ nete, daß ſie die Freiheit nicht als ein Recht, ſon¬ dern als eine Pflicht betrachten. Überhaupt ſind wir Deutſche ſehr moraliſch. Wir unterſuchen mehr die Schuldigkeiten, als die Forderungen des Men¬ ſchen. Das Recht ſcheint uns erſt dann von ſelbſt zu entſpringen, wenn jeder ſeine Pflicht thut. Bei andern Nationen dreht ſich aller politiſche Streit immer um die Rechte. Namentlich haben die Fran¬ zoſen von allen Parteien den beſten politiſchen Zu¬ ſtand, bei den einen die Freiheit, bei den andern die Autokratie, immer als ein Recht zu behaupten ge¬ trachtet, die einen als ein urſpruͤngliches Menſchen¬ recht, die andern als ein hiſtoriſches altes Recht. Erſt vor kurzem haben ſie auch den Grundſatz: Das Recht ſey nur die Pflicht! geltend zu machen ver¬226 ſucht, was die deutſche Ehrlichkeit laͤngſt behauptet. Fichte ſagt: « Recht iſt, was uns das Gewiſſen befiehlt, alſo Pflicht. Was uns das Gewiſſen nicht verbietet, duͤrfen wir thun, und was wir thun duͤr¬ fen, iſt ein Recht. »

Doch begehn dieſe gruͤndlichen Liberalen einen Fehler, der ſie mit ſich ſelbſt in Widerſpruch zeigt. Sie machen die Freiheit allen zur Pflicht, ſie zwin¬ gen dazu, und dieſer Zwang hebt die natuͤrliche Freiheit eines jeden auf; ſie befehlen eine gewiſſe Gattung von Freiheit, und dieſe ſchließt jede andre aus. Sie ſetzen an die Stelle des Despotismus nur einen eben ſo ſchaͤdlichen Terrorismus der Demo¬ kratie, den man im Hintergrunde menſchenfreundlicher Theorien ſelten bemerkt, der aber in der Praxis im¬ mer eingetreten iſt.

Sodann iſt ihr Gleichheitsſyſtem eine Suͤnde wider den heiligen Geiſt der Natur, ſofern ſie es auf die Geſinnungen, auf die Geiſter uͤbertragen. Die Geiſter wiederholen in der gegenwaͤrtigen Welt - Epoche den Kampf, den in einer fruͤhern die Ma¬ terie zu kaͤmpfen hatte. Alles, was die materielle Wohlfahrt der Menſchen angeht, wird ſich in dieſelbe Harmonie bringen laſſen, denn hier iſt aller Gegen¬ ſatz befriedigt, aber die Geiſter werden ihren Kampf auskaͤmpfen muͤſſen, denn hier ſind die Gegenſaͤtze in ihrer lebendigſten Thaͤtigkeit. Von der materiellen Wohlfahrt denken alle Menſchen gleich, und nur, weil der Geiſt ſie antreibt, opfern ſie dieſelbe zuweilen227 einem hoͤhern Gut oder verlangen mehr von ihr, als ſie beduͤrfen. Doch koͤnnen noch alle Anſpruͤche des Geiſtes an die Natur in ihre Schranken gewieſen werden; nur der Geiſt ſelbſt wird beſtaͤndig mit ſich ſelber kaͤmpfen. Alle Menſchen koͤnnen an einem Tiſch eſſen, ein Kleid tragen, ein Tagewerk vollbringen, denn alle ſind am Koͤrper gleich, ihre Geiſter ſind aber von Natur aus verſchieden und darauf beruht der Kampf, ohne den das ganze Leben, dieſe ganze Weltepoche, in der wir begriffen ſind, nichtig waͤre.

Die geiſtigen Vermoͤgen und Neigungen ſind un¬ gleich nicht nur an die Individuen, auch an die Voͤl¬ ker vertheilt. Überall auf der Erde leben Menſchen und ſind den gleichen phyſiſchen Bedingungen unter¬ worfen, aber ihre Geiſter ſind ſo verſchieden, als die Animaliſation und Vegetation, und der Geiſt wieder¬ holt auf einer hoͤhern Stufe, was die Natur auf der niedern zeigt, nur daß dort die Mannigfaltigkeit durch Harmonie bezwungen worden, hier erſt kaͤmpfend die Harmonie zu erreichen ſucht. Darin aber wird die Harmonie niemals erreicht, daß ein Geiſt ſein Ge¬ praͤge allen Geiſtern aufzudruͤcken ſucht, daß er, und geſchieht es auch im beſten Willen, von andern er¬ wartet, und andre dazu machen will, was er ſelber iſt, und darin beſteht auch der groͤßte Irrthum un¬ ſrer politiſchen Ideologen.

Mag ein Vater ſeinen Kindern die gleiche Er¬ ziehung geben, ſie werden jedes etwas andres; koͤnnte ſelbſt die Philoſophie uͤber eine Erziehung der Voͤl¬228 ker einig werden, ſie wuͤrden dennoch jedes anders bleiben. Die Temperamente ſchlagen durch alle Erziehung. Der Herrnhuter predige dem kriegslu¬ ſtigen Franzoſen, der Puritaner dem ſinnlichen Ita¬ liener, der Tribun predige der Maſſe, beſtaͤndig wird der Krieg den Frieden, die Sinnlichkeit die Sittlich¬ keit, und ein Anfuͤhrer die reine Demokratie der Tugendrepublik zerſtoͤren. Nie wird ein Ton herr¬ ſchen, die Toͤne wechſeln, und aus allen entſpringt die Muſik des hiſtoriſchen Lebens.

Es iſt ſchoͤn, was man von ſich denkt, auch von andern zu denken, was man fuͤr ſich wuͤnſcht, auch andern zu wuͤnſchen, was man fuͤr ſich errungen hat, auch andern mitzutheilen, die eigne Tugend andern zuzutrauen, und ſie dazu anzufeuern, die eigne Er¬ kenntniß der Wahrheit andern in der Vorausſetzung mitzutheilen, daß ſie faͤhig ſind, ſie auch zu erkennen, und demzufolge zu einer Vervollkommnung des Ge¬ ſchlechts nach dem eignen hoͤchſten Ideale hinzuwir¬ ken. Es iſt ſchoͤn, aber es findet auch das Schickſal alles Schoͤnen. Nur wenige erkennen es in ſeinem ganzen Werthe. Ein Menſch mit dieſem erhabnen Glauben an ſein Geſchlecht, wird fuͤr ſich ſeine Be¬ ſtimmung auf die ſchoͤnſte Weiſe zu erfuͤllen im Stande ſeyn. Aber ſein Glaube wird weder von jenen An¬ dern erfuͤllt werden, noch ſeine Mittheilung ſie an¬ ders machen.

Nur materielle Veraͤnderungen ſind bisher reell geweſen. Tracht und Speiſe, Wohnung und229 Geſchaͤft hat der Menſch veraͤndert und vervollkommt. Auch die Wiſſenſchaft hat ſich ſelbſt veraͤndert und vervollkommt, aber nicht die Menſchen. Sie dient nur den angebornen Neigungen, aber ſie beſtimmt ſie nicht. Die Laſter und Tugenden ſind gewitzigter und gelehrter geworden, aber dieſelben geblieben. Die Idee mag ſonnenklar vor den Menſchen ſtehn, ihr Gemuͤth, ihr Temperament, die dunkle Naturkraft ihrer Seele gibt ihr immer wieder eine Farbe. Das Licht gehoͤrt der Wiſſenſchaft, die Farbe dem Leben.

Die bisherigen Beiſpiele reiner Demokratien ha¬ ben dem Ideal der Tugendrepublik freier und glei¬ cher Menſchen nach keineswegs entſprochen. Es laͤßt ſich ſogar behaupten, daß ſie die Kraft, ſich eine Zeitlang in einem nur einigermaßen freien Zuſtande zu erhalten, und den Zauber der Gleichheit keines¬ wegs von ihrem Eigenwillen und von einer tiefen Überzeugung, ſondern vielmehr vom Aberglauben, von der Gewohnheit und von ſklaviſcher Anhaͤnglichkeit an Perſonen und Äußerlichkeiten entlehnt haben. Die meiſten ſogenannten freien Voͤlker des Alterthums und der neuern Zeit waren es nur ſo lange, als die alte Gewohnheit, die Erinnerungen an die Vaͤter, der patriotiſche Aberglauben nicht erſchuͤttert, alte große Namen nicht durch neue verdraͤngt wurden. Die Freiheit erhielt ſich hier, wie dort die Deſpotie, durch das bloße Traͤgheitsprincip, nach welchen ein Stein ſo lange liegen bleibt, bis er weggeſtoßen wird. Nur in einzelnen Momenten der Geſchichte, nur230 im Augenblick der Befreiung von einem langen Druck, durchflammte die Menſchen auch in Maſſe eine hoͤhere Begeiſterung fuͤr das Ideal, und ſie ergriffen es mit Bewußtſeyn und ſie opferten alles fuͤr die Gerechtig¬ keit, ſo die Huſſiten, die Puritaner, die franzoͤſiſchen Republikaner der erſten Periode, aber ſolche Mo¬ mente zeigen nur, daß das menſchliche Geſchlecht noch in einer niedern pflanzenhaften Entwicklung begriffen iſt, darin es nur einen Moment ſelbſtaͤndiger freier Bewegung, den befruchtenden Moment der Bluͤthe aushalten kann, aber keine Kraft hat, das entfaltete Leben fortzuſetzen, vielmehr von der dunkeln Macht des ſchweren Elementes ergriffen, in die ſtarren Bande zuruͤckfaͤllt. Wie ein Blitz ergreift die Idee das Geſchlecht und verſchwindet in der alten Nacht. Sie koͤnnen den Glanz, das feurige Leben nicht er¬ tragen, die Idee ſtrengt ſie uͤber ihre Kraft an und es erfolgt nur Erſchoͤpfung, und wenn ſie daraus erwachen, iſt ihnen, als ob ſie getraͤumt haͤtten Koͤ¬ nige zu ſeyn, und ſie greifen wieder jeder an das alte duͤſtre Tagwerk.

Aus dieſem Grunde haſſen die echten Liberalen die Geſchichte, und ſehn nicht ruͤckwaͤrts, ſondern vorwaͤrts und wollen das ganze menſchliche Geſchlecht, die ganze Geſchichte von vorn beginnen. In dieſem Sinn begann auch die franzoͤſiſche Republik eine neue Zeitrechnung. Dieſe Flucht vor der Erfahrung zeugt aber nur von einer gewiſſen Schwaͤche, und kann nicht verhindern, daß die alte Erbſuͤnde in das231 neue Reich hinuͤber dauert. Die Menſchen ſind und bleiben verſchieden, und indem man ſich von der ma¬ teriellen Baſis, wo allein Gleichheit moͤglich und recht iſt, entfernt, um Traͤumen nachzujagen, gibt man die wahren Vortheile des Syſtems auf.

Was nun die entgegengeſetzte ſo genannte ſer¬ vile Partei betrifft, ſo entſpricht dieſelbe dem poli¬ tiſchen Charakter des Mittelalters und beharrt in demſelben Maaße, als der Liberalismus die politi¬ ſchen Ruinen der Vergangenheit nicht zerſtoͤren kann. Der Servilismus entſpricht dem Katholicismus, er iſt das ausſchließliche legitime Syſtem, die alleinſelig¬ machende und verdammende politiſche Kirche. Seine Partei hat er in den bevorrechteten Staͤnden und im Poͤbel im Gegenſatz gegen den buͤrgerlichen Mittel¬ ſtand. Die ganze neuere Bildung iſt ſein Feind, vor dem er ſich nur durch Tradition, alte Urkunden und alte Gewalt ſchuͤtzt.

Der Servilismus geht auch nicht von der Ge¬ ſellſchaft, ſondern von Gott aus. Die Quelle aller ſeiner Folgerungen iſt die goͤttliche Gewalt uͤber den Menſchen. Er iſt alſo im innerſten Princip kirchlich, theokratiſch, ſey nun der Stellvertreter Gottes ein Oberprieſter, ein Koͤnig oder ein Stand. Die sacra majestas iſt fuͤr ihn, was die Selbſtbeſtimmung fuͤr den Liberalismus. Es ſcheint der Liberalismus ſey aus dem maͤnnlichen Kraftgefuͤhl und Übermuth, der Servilismus aus der weiblichen Liebe und Furcht hervorgegangen. Wenn der Menſch auf der einen232 Seite ſeiner ganzen Kraft ſich ſtolz bewußt iſt, kann er auf der andern das Gefuͤhl ſeiner Abhaͤngigkeit nicht uͤberwinden und ein unwiderſtehlicher Zug treibt ihn, in der Geſchichte dieſelbe Harmonie zu ſu¬ chen, die er in der Natur findet, ſich im Leben einer wohlorganiſirten Gewalt hinzugeben, wie in der Na¬ tur. Es iſt die Einheit alles Lebens, die ſich ihm offenbart und zugleich ihn als untergeordnetes Glied an ſeinen beſtimmten Platz feſſelt. Er erkennt die Allmacht des hoͤchſten Weſens, der er nicht entrin¬ nen kann, aber auch die Harmonie der Dinge, der er nicht entrinnen will, die ihn beſeligt, in welcher die ewige Liebe ſich ausſpricht und ihn mit glaͤubi¬ gem Vertrauen erfuͤllt. Man darf behaupten, daß dieſes Hingeben an die aͤußre Gewalt aͤlter iſt, als die Freiheit. Die Geiſter wiederholen urſpruͤnglich den plaſtiſchen Trieb der Natur im hiſtoriſchen Ge¬ biet und bilden ihren Staat nach dem Typus der Natur, und unterordnen ſich, jeglicher nach ſeiner Art der Harmonie des Ganzen. Dieſer bildſame Trieb, der alle Staaten erzeugt hat, aͤußert ſich aber in einer ſtufenmaͤßigen Entwicklung. Was er einmal ge¬ ſchaffen, erhaͤlt ſich nach dem Geſetz der Traͤgheit, der Geiſt aber ſchreitet raſtlos fort in ſeiner Ent¬ wicklung und fuͤhlt ſich bald beengt durch jene ſtar¬ ren Formen und empoͤrt ſich gegen den Druck, und die Freiheit kommt zur Erſcheinung. Sind aber die alten Formen gebrochen, ſo muß jener plaſtiſche Trieb auf einer hoͤhern Entwicklungsſtufe immer wieder neue233 Formen ſchaffen. Was regellos ſich geſondert, kry¬ ſtalliſirt ſich wieder in regelmaͤßige Geſtalt und im¬ mer wieder will das Geſchlecht die Harmonie der Natur in ſeinen geſelligen Formen nachbilden.

Allen dieſen Bildungen liegt die Theokratie zu Grunde. Das hoͤchſte Weſen iſt der Mittelpunkt, in welchen man den Urgrund und die erhaltende Kraft der Staaten verſetzt. Der Staat ſoll die goͤttliche Ordnung in der Geſchichte darſtellen. Darum ſpricht er die hoͤchſte Autoritaͤt und die unbedingte Herrſchaft uͤber die Individuen an, und iſt, in unvollkommener Erſcheinung, der beſtaͤndige Feind der Freiheit, wie er in vollkommener die Verſoͤhnung derſelben ſeyn muß.

Die Theokraten haben ſich von jeher der Wirk¬ lichkeit naͤher angeſchloſſen, als die Idealiſten fuͤr die Freiheit. Eben weil ihr Staat inſtinktartig, von plaſtiſchem Naturtrieb beſeelt, aus den mannigfalti¬ gen Elementen der Geſellſchaft ſich zuſammenfuͤgte, ward jede natuͤrliche Sonderung der Geſchlechter, der Lebensalter, der koͤrperlichen und geiſtigen Vermoͤgen und Neigungen im Staat beruͤckſichtigt, jedes fand ſeine Stelle. Auch dann, als ſpaͤterhin die alte Ord¬ nung der neuen Entwicklung nicht mehr entſprach, als die Freiheit die alten Formen zerbrach und hier der alte Zug der Natur wieder neue Formen bildete, oder die Gewalt die Maſſen zuſammenſchmiedete, be¬ hielt hier naturgemaͤß, dort zu Gunſten des Gewalt¬ habers, die natuͤrliche Sonderung der Menſchen ih¬ ren Ausdruck im Staate.

234

Alle dieſe Staaten trugen aber auf dreifache Weiſe den Keim des Verderbens und Untergangs in ihrer Bildung. Indem ſie ein Ewiges, Bleibendes dar¬ ſtellen wollten, widerſtrebten ſie der ewigen Entwick¬ lung und riefen die Natur ſelbſt gegen ſich auf. In¬ dem ſie die hoͤchſte Autoritaͤt in Anſpruch nahmen, ohne noch allen Beduͤrfniſſen der hoͤhern Entwicklung des Geſchlechts zu entſprechen, riefen ſie die Freiheit gegen ſich auf. Indem ſie endlich zwar urſpruͤnglich natuͤrliche Claſſen der Geſellſchaft feſtſtellten, aber dabei auf die Individuen keine Ruͤckſicht nahmen, welche die Geburt in einer Claſſe feſthielt, die Na¬ turanlage aber fuͤr die andre beſtimmte, riefen ſie die Maſſen ſelbſt gegen ſich auf.

So iſt es auch hier die Normalitaͤt, die in der Abhaͤngigkeit geſucht wird, wie dort in der Freiheit, und der die Menſchen beſtaͤndig widerſtrebten. Alle koͤnnen nicht auf gleiche Weiſe frei, aber auch nicht auf gleiche Weiſe abhaͤngig ſeyn.

Da beide Parteien in der Wahrheit ſich nicht vereinigen koͤnnen, ſo iſt es ziemlich natuͤrlich, daß ſie deſto mehr, ohne es zu wiſſen, im Irrthum uͤber¬ einſtimmen. Ihr großer gemeinſchaftlicher Irrthum iſt, daß ſie uͤber die menſchliche Handlungsweiſe ſtreiten und dabei von Ideen ausgehen, fuͤr welche oder in welchen gehandelt werden ſoll, ſtatt von den Kraͤf¬ ten der Menſchen auszugehn, durch welche wirklich gehandelt wird und werden kann. Sie denken immer an das Sollen und vergeſſen daruͤber das Koͤnnen. 235Sie ſprechen von einer abſoluten Freiheit und von einer abſoluten Abhaͤngigkeit, der ſich alles fuͤgen ſoll, ſie weiſen auch wohl nach, daß die Freiheit des Willens und das Recht der Selbſtbeſtimmung, oder aber die Abhaͤngigkeit von einem hoͤhern uͤber der Geſellſchaft waltenden Weſen und di Pflicht der Unterwerfung unter daſſelbe allen menſchlichen Hand¬ lungen zu Grunde liege, aber ſie gehn immer von einem idealen Geſichtspunkt aus und wollen zu einem idealen Ziele hinfuͤhren, zu einer Anordnung der menſchlichen Geſellſchaft, in welcher entweder jene Freiheit oder jene Abhaͤngigkeit allgemein anerkannt und die derſelben entſprechenden politiſchen Formen unabaͤnderlich feſtgeſtellt ſeyn muͤßten. Alle Menſchen ſollen ſich der einen oder andern Anſicht fuͤgen, und man ſtreitet nur daruͤber, welcher Anſicht?

Dies iſt der Grundirrthum beider Parteien. Man muß die Frage nach abſoluter Freiheit und Unabhaͤn¬ gigkeit in der weit wichtigern Frage nach dem rela¬ tiven Vermoͤgen der Menſchen, und ſofern von der Geſellſchaft die Rede iſt, nach der Vertheilung die¬ ſer Vermoͤgen unter die Menſchen zu begruͤnden ſu¬ chen. Wir werden nicht mehr noͤthig haben, zu fra¬ gen: ſoll der Menſch frei ſeyn? wenn erſt erwieſen iſt, daß ſie alle die gleiche Kraft dazu beſitzen. Eben ſo werden wir nicht mehr unterſuchen duͤrfen, ob die Abhaͤngigkeit der einen und andern nothwendig ſey, wenn wir die Vermoͤgen kennen, die den einen und den andern von Natur zugetheilt ſind. Die republi¬236 kaniſche Partei ſpricht allen Menſchen das gleiche Recht der Freiheit zu, ſofern ſie zugleich alle fuͤr ſtark genug haͤlt, auch die Pflichten derſelben tragen zu koͤnnen. Die ſervile Partei ſpricht allen Menſchen die gleiche Pflicht zu, ſich vom hoͤchſten Weſen ab¬ haͤngig zu fuͤhlen, und einigen ertheilt ſie das Pri¬ vilegium, im Namen jenes hoͤchſten Weſens die Ab¬ haͤngigen zu beherrſchen. Wenn die Menſchen wirklich alle zugleich ſo ſeyn koͤnnten, wie die eine oder an¬ dre Partei ſie haben will, ſo waͤre die Anſicht und der Staat einer jeden gleich vollkommen und es kaͤme in der That nicht darauf an, ob dieſer Staat oder jener beſtaͤnde, wenn er nur allen ſeinen Gliedern vollkommen entſpraͤche. Die Menſchen ſind aber we¬ der ſo, wie jene, noch ſo, wie dieſe wollen und werden es in alle Ewigkeit nicht ſeyn. Darum muß auch ein ewiger Streit herrſchen. Der Streit ſelbſt waͤre wieder ganz vernuͤnftig, wenn jede Partei ihre Anſicht nur auf die Menſchen ausdehnen wollte, de¬ ren natuͤrliche Anlage dieſer Anſicht entgegenkommt; er wird aber unvernuͤnftig, da jede Partei allen Menſchen, alſo auch denen, deren natuͤrliche Anlage ihrer Anſicht widerſpricht, dieſe aufdringen wollen. Die Republikaner wollen alle Menſchen zur Freiheit erheben, aber einen großen Theil derſelben koͤnnen ſie nur dazu verdammen, weil es Menſchen gibt, viele, die meiſten, welche keinerlei Kraft und Zeug dazu haben. Die Servilen wollen allen Menſchen eine Hirtenſchaft im Namen Gottes gewaͤhren, aber237 einen großen Theil derſelben verdammen ſie nur dazu, weil es viele Menſchen gibt, die entweder ſelbſt herr¬ ſchen, oder die weder herrſchen noch beherrſcht ſeyn wollen und koͤnnen. Beide Parteien geſtehn zum Theil ihr Unrecht ein, indem ſie zugeben, daß die Menſchen anders ſind, als ſie ſie haben wollen; ſie zweifeln aber nicht, daß ſie dieſelben doch anders machen koͤnnten, und dringen auf eine Erziehung zur Freiheit oder zur Herrſchaft. Dies iſt indeß nur ein neuer Irrthum, denn die Erziehung kann nur bilden, was angeboren iſt, nicht ein Fremdartiges einpflanzen.

Die Neigungen und Kraͤfte der Menſchen ſind mannigfach unter Voͤlker und Individuen vertheilt. Die Einen koͤnnen nicht anders als frei ſeyn, ihre ſinnliche Kraft, ihr uͤberwiegendes Talent, ihr Ge¬ danke ſpricht ſie von jeder Herrſchaft frei und ſie herrſchen entweder uͤber die Schwachen oder die Idee der Gerechtigkeit beſeelt ſie und ſie wollen allen Mit¬ menſchen das gleiche Recht der Freiheit goͤnnen, ſoll¬ ten ſie auch nicht im Stande ſeyn, ihnen das gleiche Vermoͤgen dazu zu verleihen, ſie wollen ſie wenig¬ ſtens nicht tyranniſiren, wenn ſie es auch koͤnnten. Die Andern ſind ſchwach, und fuͤhlen ihre Schwaͤche und ſuchen inſtinktartig, wer ſie beherrſchen moͤge. Sie ſchaffen ſich einen Herrn, der Gewalt uͤber ſie hat, und wenn es auch nur ein Traumbild waͤre. Zwiſchen ihnen bewegen ſich die Launenhaften, die nicht wiſſen, was ſie wollen; und die Phlegmatiſchen,238 die durch ihre Natur zu abſoluter Paſſivitaͤt ver¬ dammt ſind.

Dies ſind die Beſtandtheile der Maſſe, aus welchen die Politik beſtaͤndig etwas zu machen ſtrebt, was bald dem einen, bald dem andern Beſtandtheil unangemeſſen, daher niemals von Dauer iſt. Die Republikaner adeln den Poͤbel und er iſt dieſes Adels nicht wuͤrdig, er zwingt ſie zur Diktatur oder er vernichtet ſie; ſie muͤſſen auf ihn treten, oder er zer¬ tritt ſie. Die Servilen erkennen umgekehrt auch nicht einmal den wenigen echten Freien den Adel der Frei¬ heit zu und wenn ſie gleich die Claſſen der Geſell¬ ſchaft ziemlich richtig beurtheilen, ſo rechnen ſie doch nicht auf die Individuen. Sie ſtellen Claſſen feſt, die allerdings dem Unterſchied der Menſchen im All¬ gemeinen entſprechen, aber ſie vergeſſen, darauf Ruͤck¬ ſicht zu nehmen, daß auch immer jedes Individuum der ihm angemeſſenen Claſſe einverleibt ſey. Die Freien empoͤren ſich beſtaͤndig gegen ſie, weil ſie dieſelben aus der Geſellſchaft ausſchließen wollen, aber auch die Unfreien ſtehn von Zeit zu Zeit wider ſie auf, wenn ſich erſt Individuen genug in einer Claſſe der Geſellſchaft angehaͤuft haben, die, ihrer natuͤrlichen Anlage, ihren Kraͤften gemaͤß, einer andern Claſſe angehoͤren.

So lange nicht alle Menſchen vollkommen gleich und zwar alle zugleich ſelbſtaͤndig und genial ſind, iſt weder an eine vollkommene Theokratie noch an eine vollkommene Freiheit zu denken, beide wuͤrden239 ſich aber auf dieſer hoͤchſten Bildungsſtufe des Ge¬ ſchlechts innig verſchmelzen. Die Unterſuchung, ob ein ſolcher Zuſtand moͤglich ſey, gehoͤrt der Wiſſen¬ ſchaft an, das Leben geht ſeinen Gang fort und in ihm walten jene Kraͤfte, die aller Normalitaͤt der Wiſſenſchaft fortwaͤhrend widerſtreben. Die Wiſſen¬ ſchaft veraͤndert die Menſchen ſo wenig, als die Na¬ tur. Es iſt voͤllig einerlei, was man in den Men¬ ſchen hineinpfropft, wozu man ihn zwingt oder uͤber¬ redet, der Haufe bleibt Haufe, Chriſt oder Heide, Pair oder Paria. Was der Menſch nicht durch ſeine Naturanlage, durch ſeinen Genius wird, das wird er auch in Ewigkeit nicht. Der theokratiſche, wie der tribuniciſche, der tyranniſche wie der ſclaviſche Sinn haͤngt ſo innig mit der angebornen Organiſa¬ tion des Menſchen zuſammen, als der Kunſttrieb. Nur, wie oben geſagt worden iſt, ſofern die Men¬ ſchen materiell ſich gleichen, iſt eine materielle Vollen¬ dung des Staates denkbar, alles aber was im Staat auf einem geiſtigen Princip beruht, wird ſo lange ſchwanken, kaͤmpfen, ſich bilden und zerſtoͤren, als die Menſchen geiſtig verſchieden bleiben werden.

Gehn wir von den Theorien ab und betrachten die praktiſchen Wiſſenſchaften, ſo muͤſſen wir zu¬ voͤrderſt die innere und aͤußere Politik unterſcheiden, die Organiſation der Staaten und ihr Verhaͤltniß zu einander. Da die innern Verhaͤltniſſe der Staaten mit den aͤußern ſich in der neueſten Zeit mannigfach veraͤndert haben, ſo wird auch außerordentlich viel240 daruͤber geſchrieben. Verfaſſung, Adminiſtration und Jurisprudenz ſind in allen Verzweigungen theils wiſ¬ ſenſchaftlich ausgebildet worden, theils hat ihre prak¬ tiſche Ausuͤbung eine ungeheure Literatur von Geſetz¬ gebung, Commentation und Vergleichung veranlaßt. Im Allgemeinen gilt von den Grundſaͤtzen, die in dieſer Literatur ſich ausſprechen, daß ſie maͤßig und groͤßtentheils auf Mittelzuſtaͤnde bedacht ſind, von Ton und Sprache derſelben, daß ſie aͤußerſt umfaſſend, weitlaͤuftig, langweilig ſind. Die Praxis ſteht auf doppelte Weiſe der Theorie entgegen, ſie iſt der ſtrengen Idee und eben darum auch der ſtren¬ gen Kuͤrze fremd. Sie vermittelt und muß dabei umſtaͤndlich verfahren. Sie hat es mit dem wirkli¬ chen Leben zu thun, und nicht nur alle Parteien, auch die Vergangenheit uͤbt Einfluß auf ſie. Sie ent¬ lehnt ihre Maximen zum Theil noch aus dem Mittel¬ alter, zum Theil aus der Reformation, zum Theil aus der Zeit der franzoͤſiſchen Encyclopaͤdie, zum Theil aus der Revolution. Der verwickelte Zuſtand der Staaten ſpiegelt ſich in der Geſetzgebung, traͤgt ſie und wird von ihr getragen.

Die Verfaſſungen zeigen uns zuerſt dieſe Mi¬ ſchung mannigfacher Intereſſen, die in der maͤßigen Temperatur eines Mittelzuſtandes ſich zu neutraliſi¬ ren ſuchen. Nur gleichſam an den aͤußerſten Enden der deutſchen Nation hat ſich einerſeits demokratiſche Freiheit, andrerſeits unbedingte Autokratie erhalten koͤnnen, die breite Mitte nimmt jenes Repraͤſentativ¬241 ſyſtem ein, das am geſchickteſten geeignet ſcheint, alle Intereſſen, wenn nicht zu vermitteln, doch zu bezaͤh¬ men. Zwar herrſcht auch hier auf der einen Seite mehr das Intereſſe des Volks, auf der andern mehr das des Regenten vor, wie raͤumlich, ſo der Zeit nach, ſo daß in einer gewiſſen Oscillation dieſes oder jenes Intereſſe je nach der Conſtellation der aͤu¬ ßern politiſchen Verhaͤltniſſe ſteigt, und gegenwaͤrtig iſt nicht zu verkennen, welches Intereſſe ein entſchie¬ denes Übergewicht behauptet, indeß hat im Allgemei¬ nen das Repraͤſentativſyſtem, gegenuͤber der Auto¬ kratie und Demokratie, eine ſchwer zu erſchuͤtternde Feſtigkeit erlangt, und welchen Entwicklungen es auch unterworfen ſeyn mag, ſeine Idee iſt dem Zeitalter gleichſam angetraut worden, es wuͤrde ſich ohne Ge¬ waltthat nicht mehr davon losreißen laſſen. In Deutſch¬ land behauptet das Syſtem insbeſondre eine allge¬ meine europaͤiſche Bedeutung. Es ſcheint mit dem Lande und Volke in einer geheimen Wahlverwandt¬ ſchaft zu ſtehn. Wie es gerade die Deutſchen ſind, bei welchen ſich die entgegengeſetzten politiſchen und religioͤſen Parteien die Wage halten, ſo liegt auch ihr Land in der Mitte jener Laͤnder, in welchen die eine oder andre Partei vorzugsweiſe herrſcht. Es ſcheint die Streitenden von einander zu halten und Europa auf gleiche Weiſe vor aſiatiſcher Deſpotie wie vor atlantiſcher Demokratie zu ſchuͤtzen, ſo wie es einſt die Alleinherrſchaft hier des Papſtes dort der Puritaner abgewendet hat.

Deutſche Literatur. I. 11242

Dennoch wuͤrden wir uns ſehr taͤuſchen, wollten wir in der gegenwaͤrtigen Geſtaltung des Repraͤſen¬ tativſyſtems ein Ideal erkennen. Man hat ſich an¬ fangs allzugroße Hoffnungen davon gemacht, und ſieht jetzt ein, daß die eigentliche goldene Zeit wohl noch ferne liegt. Doch hat der Unmuth auch das Gute jenes Verfaſſungsſyſtems zu ſehr herabgewuͤr¬ digt und ein gewiſſer politiſcher Indifferentismus iſt dem Gedeihen deſſelben beſonders in der Richtung, die es von unten her unterſtuͤtzen ſoll, mannigfach nachtheilig geweſen.

Eine Verfaſſung, auch die beſte, gilt ſo lange nur als Figurant, bis ihr Adminiſtration und Rechts¬ pflege organiſch angepaßt ſind. Hier greift ſie ins Leben, aber das Leben iſt nicht ſo geduldig als das Papier. Mit Verfaſſungen iſt man geſchwind fertig, aber man facht damit eher Streit an, als man ihn verſoͤhnt. Im Sinn jeder neuen Repraͤſentativ-Ver¬ faſſung entſprechen ſich Parlament, Municipalitaͤt und oͤffentliche Gerichtspflege als Organe der Volksgewalt gegenuͤber dem Thron, der miniſteriellen Centralge¬ walt und der roͤmiſchen Gerichtspflege als Organe der Regierung. Das Parlament iſt leicht berufen, und in erſter Reihe das Syſtem eingefuͤhrt, in der zweiten und dritten Reihe findet es aber unuͤberſteig¬ liche Hinderniſſe.

Jedes Volk, das nur einigermaßen aus dem rohe¬ ſten Zuſtande ſich herausgearbeitet, ſtrebt inſtinktartig nach einer freien Municipalverfaſſung, und243 wenn es ſogar zu einer parlamentariſchen Thaͤtigkeit berufen iſt, ſo kann es dieſelbe gar nicht entbehren, denn ein Parlament iſt unmoͤglich ohne freie Wahlen, und freie Wahlen ſind unmoͤglich ohne Municipali¬ taͤten. Auf der andern Seite ſtrebt aber jede Regie¬ rung nach allumfaſſender Centralgewalt, es iſt ihre Natur ſich excentriſch auszubreiten, bis ſie eine Graͤnze findet. Beide Beſtrebungen ſtehn alſo in feindſeligem Gegenſatze, der, wie ſie ſelbſt, in der Natur liegt, und zwar alle moͤgliche Verfaſſungen erzeugen und wieder vertilgen, aber von keiner ein¬ zigen eben ſo wenig beſchwichtigt, als erzeugt wer¬ den kann.

Ein demokratiſches Syſtem von unten will freie Municipalverwaltung. So weit als moͤglich will das Volk das Seinige ſelbſt verwalten und ſich ſelbſt be¬ aufſichtigen, und ſieht ungern ſein Gemeingut und ſeinen Markt unter der Aufſicht miniſterieller Soͤld¬ linge. Auf der andern Seite will die Miniſterial¬ verwaltung mit goͤttlicher Allgegenwart Keller und Kuͤche auch des aͤrmſten Bauers controlliren. Selbſt wieder von einem hoͤhern Centralkoͤrper, der Maje¬ ſtaͤt, angezogen, bilden die Miniſterien peripheriſche Punkte an der Sphaͤre des Thrones, von denen ſich faͤcherartig die Bureaukratie der Staatsdiener bis zum Horizont des Volks ausbreitet, paternoſterfoͤr¬ mig gegliedert und durch Controllen und ſtrenge Sub¬ ordination in maſchinenmaͤßigem Gang gehalten. Al¬ les, Mann und Maus im Lande, wird einregiſtrirt,11*244Hab und Gut von der Kammer, der Leib vom Kriegs¬ miniſterium, die Handlungen von der Juſtiz, die Worte vom Miniſterium des Cultus und die Gedan¬ ken von der Polizei. So hat dieſer Staatshaushalt ſein Netz uͤber alles gebreitet und keine arme Fliege vermag unbemerkt durch die feingezogenen Faͤden zu ſchluͤpfen. Aller Kampf in repraͤſentativen Staaten beruht im Grunde nur auf dem wechſelſeitigen Be¬ ſtreben des Volks, eine Linie zu ziehn, wo Munici¬ palfreiheit und Miniſterialgewalt ſich abloͤſen, und des Miniſteriums, dieſe Linie nicht ziehn zu laſſen. Freie Municipalverwaltung iſt die einzige Garantie fuͤr ein Repraͤſentativſyſtem, weil ein ſolches ohne unabhaͤngige Buͤrger nicht exiſtiren kann, und die Buͤrger nicht als Privatleute, ſondern nur als Glie¬ der einer freien Gemeinde unabhaͤngig ſeyn koͤnnen. Darum ſtrebt das Volk nach Gemeindeweſen und Buͤrgermeiſtern, den Delegirten ſeiner eignen Macht, nicht nach Directionen, den Organen der Miniſterien. Auf der andern Seite ſucht die Bureaukratie bis auf den Thorſchreiber herab die Gemeindeverwaltung an ſich zu bringen und den Buͤrgern nichts zu uͤberlaſſen, als das Gehorchen und Zahlen.

Gehn wir der Sache mehr auf den Grund, ſo wird ſich zeigen, daß ſelbſt in der vollkommenſten Republik eine Centralverwaltung ſeyn muß, durch welche mit Nothwendigkeit ein monarchiſches Ele¬ ment in den Staat gepflanzt wird. Es wird ſich ferner zeigen, daß jede Centralverwaltung inſtinkt¬245 artig nach der groͤßten Ausdehnung ihrer Macht ſtrebt. Zwei Extreme und Übel werden da gefunden werden, wo der Mittelpunkt des Staats, die Cen¬ tralverwaltung ſchwankt, und da, wo es keinen Ge¬ genpunkt mehr gibt, wo die Verwaltung mit deſpo¬ tiſcher Conſequenz alles beherrſcht. In der Mitte wird das einzige Gute liegen, die Freiheit der Mu¬ nicipalitaͤt bis auf einen gewiſſen Grad, und von da an die Kraft der Centralgewalt. Jede gute Republik hat eine ſolche Centralgewalt, jede gute Monarchie eine ſolche Municipalfreiheit geſchaffen. Weil jene gemangelt, iſt das deutſche Reich untergegangen; weil dieſe gefehlt, iſt in Frankreich die Revolution ausgebrochen.

Zu dem natuͤrlichen Intereſſe der Centralgewal¬ ten iſt in der neuern Zeit noch ein wiſſenſchaftliches gekommen. Das Regieren iſt eine Wiſſenſchaft ge¬ worden, und dieſe ſtellt gleichſam ihre phyſikaliſchen oder paͤdagogiſchen Experimente mit den Voͤl¬ kern an. Alle Zweige der Staatsverwaltung ſind in Syſtem und Schule gebracht bis auf die Polizei herab, und an die Stelle eines lebendigen Organis¬ mus tritt eine todte Staatsmechanik. Daſſelbe Sy¬ ſtem, was nur fuͤr den groͤßten Staat gilt, wendet man komiſch genug auch auf den kleinſten an; was fuͤr ein phlegmatiſches Volk gilt, auf ein choleriſches; was fuͤr ein gebildetes gilt, auf ein rohes und um¬ gekehrt.

246

Die Hebel der Staatsgewalt ſind Gold und Eiſen. Wie ſehr man geneigt iſt, im Reiche der Geiſter ideale Principe geltend zu machen, im prak¬ tiſchen Leben herrſchen nur jene Metallkoͤnige. Dies gibt dem Finanz - und Militaͤrſyſtem das große Über¬ gewicht im Staatshaushalt. Alle andere Zweige der Verwaltung ſind davon abhaͤngig und dienen ihnen. Die Helden der neuern Politik haben beſtaͤndig ge¬ wetteifert, welches jener Metalle die groͤßte Gewalt gewaͤhre, und die geſchickteſten haben beide zu gebrau¬ chen verſtanden.

Das Centraliſationsſyſtem dient hauptſaͤchlich nur der Aushebung der Steuern und Soldaten. Eine vollkommen gegliederte Bureaukratie iſt noͤthig, um eine beſtaͤndige tabellariſche Überſicht uͤber das Ver¬ moͤgen und alle phyſiſchen Kraͤfte der Staatsangehoͤ¬ rigen zu erhalten, die Baſis fuͤr die finanziellen Ope¬ rationen. Die Menſchen werden rein als Sache ge¬ nommen und nach dem Ertragwerth geſchaͤtzt, wie das Vieh. Bei den Ruſſen ſteckt wenigſtens das Vermoͤgen in den Seelen, bei uns die Seele im Ver¬ moͤgen. Der Staat iſt ein Bergwerk, und ſeine Stollen laufen in den Beuteln des Volks aus. Die Finanz¬ ſchwindeleien ſind Experimente mit der Luftpumpe, die dem kalten Froſch, Volk genannt, die Lebensluft auspumpen, um zu erfahren, wie lange er wohl noch zappeln und leben koͤnne, wenn er von nichts mehr lebt. Die hochgeprieſene Rechenkunſt hat es noch nirgends weiter gebracht, als in den Bruͤchen, und247 iſt raſtlos beſchaͤftigt mit den ſubtrahirten Zaͤhlern die Nenner zu addiren, daß die Summe der Schul¬ den zuletzt uͤber den Äquator hinaus in die blaue Unendlichkeit waͤchst, und wir ſie nicht mehr zaͤhlen koͤnnen. Zwei Dinge ſcheinen unbegreifliche Wider¬ ſpruͤche, zuerſt, daß die Finanzkammern immer mehr Schulden machen, je mehr ſie einnehmen, ſodann daß Handel und Induſtrie immer mehr gehemmt werden, je nothwendiger es waͤre, den Wohlſtand zu befoͤr¬ dern, damit er ſeine Procente an die Staaten lie¬ fern koͤnnte. Auf der einen Seite ſchuͤttet man das Waſſer in den Sand und auf der andern verſtopft man die Quellen. Die Urſache liegt in der Noth oder in der Luſt des Augenblicks. Man ſchlachtet die Kuh aus Hunger, oder um den fremden Gaſt ſtattlich zu bewirthen, und denkt nicht, daß morgen die Milch fehlen werde.

Davon abgeſehn, mag es Genuß gewaͤhren, die Finanzſpeculationen von Seiten der darin brilliren¬ den Intelligenz als Kunſtwerke zu betrachten. Ohne Zweifel iſt die Summe von Verſtand und Spe¬ culation, die in dieſem Fache niedergelegt iſt, das ſchaͤtzbarſte Capital unter allen denen, die es auf¬ reibt, wenn auch dieſe ganze Rechenkunſt weſentlich auf einen großen Rechnungsfehler hinauslaufen ſollte. Dieſe Kunſt, den leichteſten Stuͤtzpunkt die ſchwerſte Laſt tragen zu laſſen, hat ihren Werth, ſo gut wie die Baukunſt, ſollte man auch praktiſch ihre Graͤnzen uͤberſchreiten.

248

Etwas Ähnliches muß von der Rechtswiſſen¬ ſchaft geruͤhmt werden, an welcher auf gleiche Weiſe die Speculation und der eiſerne Fleiß ſich beinah erſchoͤpft haben. Doch duͤrfte das Recht an ſich bei den Rechtsſpeculationen nicht viel beſſer gefahren ſeyn, als der Wohlſtand bei den Finanzſpeculationen.

Die Jurisprudenz hat ſehr viel mit der Theo¬ logie gemein, ihren philologiſch-hiſtoriſchen Apparat, ihre Bibel und ſymboliſchen Buͤcher, ihre Dogmatik und Exegeſe, ihre Schule und ihre Kaſte. Was am roͤmiſchen Recht haͤngt, die Romaniſten ſind den Ka¬ tholiken zu vergleichen, Proteſtanten dagegen ſind die Anhaͤnger des deutſchen Rechts, und zwar gleichen die Freunde der oͤffentlichen Rechtspflege den Refor¬ mirten, die Anhaͤnger der verſchiednen Landrechte, die noch vieles vom Roͤmiſchen beibehalten, den Lu¬ theranern.

Das Unterſcheidende der beiden Hauptparteien iſt ſowohl in einer Rechtsform als in einem Rechts¬ princip zu ſuchen. Das Princip der Romaniſten iſt: das Recht in der Logik zu begruͤnden. Sie behan¬ deln es mithin als Wiſſenſchaft, als Studium, und bilden deßfalls eine gelehrte Kaſte, eine Art von Prieſterſchaft des Rechts, woraus denn eine beſondre Form der Rechtspflege entſpringt. Nicht das gemeine Volk kann richten, nicht das Gewiſſen, das in jedem inwohnt und dem ein wechſelſeitiges Vertrauen der Gemeinde den Richterſpruch uͤberlaͤßt, ſondern nur die Wiſſenden, die Gelehrten koͤnnen und249 duͤrfen urtheilen und entſcheiden. Demzufolge koͤnnen dieſe Wiſſenden auch die Befugniß, zu richten, nicht vom Volk entlehnen, ſondern lediglich von der Auto¬ ritaͤt der Wiſſenſchaft, die hinwiederum nur in der vom Volk unabhaͤngigen Majeſtaͤt zugleich mit jeder andern hoͤchſten Staatsautoritaͤt perſonificirt iſt. Dieſe Partei bedarf alſo zunaͤchſt die sacra ma¬ jestas als Urquell des Rechts, die juridiſche Papſt¬ gewalt, den heiligen Richterſtuhl, ſodann den juridi¬ ſchen Prieſteradel, der das Recht dem Laienvolk ver¬ mittelt, und zwar theils Richter, entſprechend dem Episcopalelerus, theils Advokaten, entſprechend den Kloſtergeiſtlichen, vorzuͤglich im Sinn der Bettelor¬ den und Jeſuiten. Ferner bedarf dieſe Partei des corpus juris, als des allgemeinen Canons, und der hiſtoriſchen und logiſchen Kommentare, als der Kir¬ chenvaͤter und Scholaſtiker. Endlich wird ſie in ih¬ rem Themistempel ein abgeſondertes Chor, das Aller¬ heiligſte, anſprechen, da die Prieſter uͤber dem Volk erhaben ſtehn, dem ſtummen Volk den Segen ſpenden und die Opfer von ihm empfangen.

Wie die Reformation von den Moͤnchen ausge¬ gangen, ſo neigen ſich zum juridiſchen Proteſtantis¬ mus vorzuͤglich die Advokaten. Die neue Partei macht im Gegenſatz gegen die Wiſſenſchaft das Ge¬ wiſſen zum Princip, im Gegenſatz gegen die Ab¬ geſchloſſenheit der Kaſte die republikaniſche Öffent¬ lichkeit zur Form des Rechts, ſo wie der Prote¬ ſtantismus uns vom Prieſter ans eigne Herz, und250 aus dem Atrium ins Chor ſelbſt, in die freie und gleiche Chriſtengemeinde verweist. Wir duͤrfen dieſe Partei im Gegenſatz gegen die Romaniſten die Ger¬ maniſten nennen.

Sofern die Germaniſten das Gewiſſen zum Rechts¬ princip erheben, und die Öffentlichkeit zur Rechts¬ form, neigen ſie ſich zur Demokratie. Sie betrach¬ ten die Beurtheilung eines Rechtsfalls als etwas natuͤrliches und allen Menſchen gemeinſames. Nicht eine Ariſtokratie von Gelehrten, ſondern das gemeine Volk richtet. Mithin autoriſirt ſich das Volk auch ſelbſt dazu und die Rechtsgewalt faͤllt mit der Sou¬ veraͤnitaͤt des Volkes zuſammen. Die Öffentlichkeit der Gerichte iſt ſodann nur eine natuͤrliche Folge des Princips.

Sofern die Romaniſten die abſolute Logik zum Rechtsprincip erheben, und deßfalls ein Studium der Rechtswiſſenſchaft begruͤnden, dem nur Geweihte ſich widmen koͤnnen, neigen ſie ſich zur Ariſtokratie. So¬ fern ſie aber in ihrem Syſtem alles an einen abſo¬ luten Satz knuͤpfen muͤſſen, kann demſelben auch nur eine abſolute Kraft, die ihn geltend macht, entſpre¬ chen, alſo die Autokratie. Die Demokratie kann ſich nicht nach dem Ausſpruch eines Einzigen richten, und jeder abſolute Satz gilt nur als eine Stimme. Die Monarchie kann ſich nicht nach dem Ausſpruch vieler richten, und jeder Ausſpruch des Gewiſſens kommt allen Stimmen zu. Mithin mußte das roͤmiſche Recht nothwendig zur Autokratie, das deutſche Recht noth¬251 wendig zur Republik fuͤhren, und ſofern es in neuerer Zeit wiedergeboren worden, taugt es nur fuͤr Re¬ praͤſentativſtaaten. Die Rechtsfragen ſind alſo poli¬ tiſche. Der Streit uͤber Rechtsprincip und Rechts¬ form faͤllt genau mit dem uͤber Staatsprincip und Staatsform zuſammen. Repraͤſentative Staaten ha¬ ben auch eine Literatur des oͤffentlichen Rechts, au¬ tokratiſche nur eine des geheimen Rechts. Die deut¬ ſche Literatur zeigt noch ein enormes Übergewicht der letztern.

Nicht unwichtig iſt der Umſtand, daß die Ro¬ maniſten immer Cosmopoliten oder Glieder einer allgemeinen Rechtskirche, die Germaniſten immer Volksthuͤmler oder Glieder einer Nation ſind. Die abſolute Rechtswiſſenſchaft hat ſich ſo wenig als die abſolute Theologie um die Eigenthuͤmlichkeiten einer und der andern Nation zu bekuͤmmern. Es gibt nur einen Gott und nur ein Recht. Soll die Religion die rechte ſeyn, ſo muß ſie allen Voͤlkern anpaſſen. Soll es eine abſolute Rechtswiſſenſchaft geben, ſo muß jedes Volk nach ihr gerichtet werden koͤnnen. Dies Schema gilt auch fuͤr das roͤmiſche Recht, wie fuͤr den Katholicismus, und von jeher ſind beide den ſogenannten barbariſchen Voͤlkern mit Feuer und Schwert oder mit ſanftem Bekehrungseifer gepredigt worden, woraus denn unendlich viel Gutes entſprun¬ gen iſt, aber auch viel Boͤſes, denn das Herz der Nationen hat ſich an der eiſernen Conſequenz der univerſellen Dogmen verblutet, oder Conſequenz und252 Natur haben ſich ausgeglichen, jedes ein wenig nach dem andern gemodelt, und an die Stelle der rohen Barbarei iſt eine cultivirte Barbarei getreten.

Bei den oͤffentlichen Volksgerichten muß im Ge¬ gentheil die Volksnatur, die Landesſitte einen unge¬ kraͤnkten Antheil an der Beurtheilung der Rechts¬ faͤlle haben. Ich uͤberſehe alle die großen Nachtheile, die dies mit ſich fuͤhrt. Bei einem ſolchen Verfahren werden alle Vorurtheile, wird alle Barbarei der Na¬ tion genaͤhrt, wenn ſie anders nicht einen geiſtigen Entwicklungstrieb in ſich hat, der ſie weiter bringt. Dennoch aber iſt zwiſchen der Conſequenz der Wiſſen¬ ſchaft und zwiſchen der rohen Volksſitte eine ſehr gangbare Mittelſtraße, wie zwiſchen der Tyrannei der roͤmiſchen Weltherrſchaft und zwiſchen der Bar¬ barei der Chineſen. Wer ſagt, daß er das reine Licht mit ſich fuͤhre? Sind es etwa jene Romani¬ ſten, die unſer gutes Recht verbannt, oder jene Je¬ ſuiten, die Paraquay mit ihrem Sonnenſymbol ver¬ goldet? Wir wollen nicht im Dunkel bleiben, aber wie das Licht urſpruͤnglich in Farben ſich zerſetzt, ſo werden wir das Licht des Rechts auch nur wieder aus den nationellen Farben uns zu laͤutern vermoͤ¬ gen. Geſunde Entwicklung der Nation fuͤhrt allein zur Cultur und Wiſſenſchaft. Wo Wiſſenſchaft und Sitte in gehaͤſſiger Trennung ſich befinden, wird ſie doppelte Zerſtoͤrung treffen.

Aus dem Princip der Romaniſten fließt auf dop¬ pelte Weiſe ein unermeßlicher Nachtheil fuͤr das Volk. 253Sofern ſie eine geheime Prieſterkaſte bilden, iſt das Volk nicht befugt, ſich ſelbſt um das Recht zu be¬ kuͤmmern, denn dieſe Selbſtthaͤtigkeit wuͤrde jenes Vorrecht aufheben, wie jede Demokratie die Ariſto¬ kratie. Sofern aber die Rechtswiſſenſchaft der Ro¬ maniſten ein lebenslaͤngliches Studium erfordert, iſt es dem Volke nicht moͤglich, dieſes Recht in ſeinem ganzem Umfange kennen zu lernen. Das Reſultat nun, daß ein Volk, ich will nicht ſagen, ſein Recht, ſondern nur das Recht, nach welchem es gerichtet wird, gar nicht kennt, iſt offenbar ein Nachtheil, wohl gar eine Schande. Die Alten, nicht nur Griechen, auch Germanen, unterrichteten die maͤnnliche Jugend fruͤhe im Recht, und was kann, außer der Kenntniß des Goͤttlichen und der Natur, im Unterricht heilſa¬ mer ſeyn, auf das Leben wuͤrdiger vorbereiten, als die Kunde des Staatsrechts? Wir duͤrfen es aber unſern Schulen nicht vorwerfen, daß ſie die Juͤng¬ linge in gaͤnzlicher Unwiſſenheit des Rechts laſſen, denn was ſollten ſie ihnen lehren? etwa jene Geſetze, die der Staat oft ſelber vergißt, weil ihrer zu viele ſind, die ſelbſt den Geſetzgebern ſo unter den Haͤnden verſchwinden, daß man erſt auf dem dritten Landtage ſich erinnert, man habe auf dem zweiten etwas ver¬ ordnet, ohne zu bemerken, daß man auf dem erſten etwas widerſprechendes zum Geſetz gemacht, was noch nicht annullirt worden, ſo daß nun Ja und Nein im Geſetz ſteht? wozu ſollten aber ſelbſt die klarſten Geſetze der Jugend bekannt gemacht werden,254 oder dem Volke ſelbſt, wenn im Leben doch jeder mit dieſer Kenntniß ſich paſſiv verhalten und von der Kaſte nehmen muß, was ſie will? Das hieße, die Kinder zum Proteſtantismus erziehn und ſie doch die katholiſchen Gebraͤuche machen laſſen.

Das roͤmiſche und die von ihm abgeleiteten Rechte werden insbeſondre noch durch die lateiniſche Sprache unpopulaͤr. Es iſt bekannt, welchen leb¬ haften Widerſtand die roͤmiſchen Advokaten das er¬ ſtemal unter Varus an der Weſer, das zweitemal anderthalbtauſend Jahr ſpaͤter im Mittelalter gefun¬ den, und noch jetzt iſt dem Volk der roͤmiſche Rechts¬ gang, deſſen Terminologien ihm voͤllig unverſtaͤndlich ſind, durchaus zuwider. Die Sprache hat das Recht aus dem Gewiſſen an dem Verſtand der Kaſte und die Rechtspflege aus dem Leben ins Papier, in die Bureaukratie verwieſen.

Der ganze unfoͤrmliche Bau des mittelalterlichen Rechts, jene zahlloſen Kirchen -, Lehn -, Kaiſer -, Land -, Stadt - und Bauernrechte und die Nebenge¬ baͤude der Standes - und Perſonalprivilegien, ſind endlich zuſammengeſtuͤrzt, aber es ſind namhafte Rui¬ nen ſtehn geblieben, an welche man neue Wohnun¬ gen angeklebt hat, unfaͤhig oder zu bequem, einen ganz neuen Grund zu legen. Ein ſeltſames Gemiſch von Geſetzbuͤchern iſt entſtanden, das den Anblick alter Staͤdte gewaͤhrt, wo ſchwarze gothiſche Truͤm¬ mer neben neugeweißten Luſthaͤuſern ſtehn. Fuͤrſten¬ tage haben die Kaiſermacht, Concordate die Papſt¬255 gewalt geſtuͤrzt. Durch Kabinetsordern ſind die Kloͤ¬ ſter, iſt die Leibeigenſchaft aufgehoben worden. Mit der Fuͤrſtenmacht iſt das roͤmiſche Recht aufgekom¬ men, weil es ihrer Tendenz entſprochen. Was von den Ruinen des Reichs ſich erhalten, traͤgt auch noch die Spuren des alten Rechts. An beides hat ſich Neues angeſchloſſen, wie es die Noth der Zeit den Geſetzgebern abgedrungen, oder der humane Geiſt eines Friedrich II. und Joſeph II. fuͤr billig erkannt. So haben die neuen Landrechte ſich gebildet und bil¬ den ſich noch, wie die Zeit ſelbſt tauſend Ruͤck - und Vorſichten und einer beſtaͤndigen Verwandlung unter¬ worfen.

Sie bilden die Bruͤcke vom roͤmiſchen Recht zum oͤffentlichen, oder fuͤllen wenigſtens die Kluft zwiſchen beiden. Das oͤffentliche Gerichtsweſen hat die oͤffent¬ liche Meinung fuͤr ſich, wenn es auch nur in einem kleinen Theil Deutſchlands praktiſch ausgeuͤbt wird. Leider haben wir nur als ein Geſchenk von den Frem¬ den erhalten, was unſer urſpruͤngliches Erzeugniß und Eigenthum geweſen. Der Code Napoléon und die damit zuſammenhaͤngenden Gerichtsformen ſind eini¬ gen deutſchen Staͤmmen als gutes Andenken an eine boͤſe Zeit geblieben. Die franzoͤſiſche Republik griff zu der oͤffentlichen Rechtsform, weil ſie der Freiheit und einem tuͤchtigen Gemeindeweſen von jeher als die angemeſſenſte, die ſchlechthin natuͤrliche ſich er¬ wieſen. Laͤngſt lebt der Englaͤnder im Genuß dieſer unſchaͤtzbaren Form, und er hat ſie von den angel¬256 ſaͤchſiſchen Vorfahren geerbt, bei denen ſie, wie bei allen deutſchen Staͤmmen, urſpruͤnglich heimiſch ge¬ weſen. Die Form iſt hier, wie uͤberall, ſo ſehr Traͤ¬ gerin des Geiſtes, daß die Erſcheinung der Geſchwo¬ rengerichte das ganze roͤmiſche Rechtsſyſtem zu er¬ ſchuͤttern ſcheint. Die Aufmerkſamkeit iſt auf dieſen Gegenſtand haͤufig gelenkt worden und die Gemuͤther ſind nicht kalt geblieben. Die unter Citaten und Acten ergrauten Romaniſten und Bereaukraten ſind hoch¬ muͤthig ausgefahren gegen den uͤberrheiniſchen Natu¬ ralismus, und die Advokaten der Rheinlande haben mit einem Mutterwitz zu antworten gewußt, der ih¬ nen alle Ehre macht.

Mittelbar iſt die Partei, die an der oͤffentlichen Rechtspflege haͤngt, durch die Bemuͤhungen der hiſto¬ riſchen Juriſten Savigny, Mittermaier, Eichhorn und andrer unterſtuͤtzt worden, da dieſelben die alten deutſchen Rechte immer vollſtaͤndiger ans Licht gezo¬ gen und commentirt haben, jene Rechte, welche den Urſprung, die lange Dauer und die Vortheile der oͤffentlichen Formen ausweiſen, und uns klar ma¬ chen, daß die offenen Volksgerichte in Deutſchland aͤlter ſind, als die heimlichen Papiergerichte, das Leben aͤlter, als die Buͤcher, das Recht aͤlter, als die Juriſten.

Die aͤußern Verhaͤltniſſe der Staaten gegenein¬ ander beſchaͤftigen jetzt jede Spinnſtube ſo lebhaft als ehemals den roͤmiſchen Senat. Ihrer Eroͤrterung257 dient daher die unermeßliche Literatur der Publiciſten und Zeitungen, die aber weſentlich eine ephemere bleibt, weil ihr Gegenſtand ſelbſt immer nur die Tagespolitik iſt. Mit den politiſchen Verhaͤltniſ¬ ſen ſelbſt wechſelt ihr Schatten in der periodiſchen Literatur. Alles wird fuͤr den Augenblick gethan, alles fuͤr den Augenblick genommen.

Haben die Deutſchen noch kein durchgreifendes Intereſſe fuͤr die innern Angelegenheiten der Staaten, ſo iſt doch ihre Neugier ſehr erpicht auf die aͤußern Verhaͤltniſſe und Begebenheiten. Kaum war jenes hoͤhere Intereſſe vor zehn Jahren einmal aufs leb¬ hafteſte rege geworden, ſo ward es auch alsbald auf dieſe niedrige Neugier beſchraͤnkt. Die Literatur der Tagespolitik machte nach den letzten deutſchen Krie¬ gen ſo heftige Freudenſpruͤnge, daß ſie jetzt etwas lahm darniederliegt. Wie ſehr das muthwillige Maͤd¬ chen zu bedauern iſt, daß ſie jetzt unter der Zucht¬ ruthe der gnaͤdigen Tante Cenſur ſeufzen muß, ſo ſchienen doch allerdings ihre Sitten weder der Zeit, noch die Zeit ihr angemeſſen. Sie ſchien wirklich ein wenig uͤbergeſchnappt, als ſie das erſtemal in der europaͤiſchen Geſellſchaft glaͤnzte, ſie kokettirte gar zu romanhaft mit ihrem auserleſenen Chapeau, dem Volke, aber dieſer ehrbare Juͤngling ſetzte ihren aus¬ gelaſſenen Attaken nur eine ſuͤße Schamroͤthe entge¬ gen, bedeckte ſich das Geſicht mit beiden Haͤnden und rettete ſich unter den Faͤcher der Tante.

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Wir ſchreiben unſre politiſchen Broſchuͤren groͤ߬ tentheils den Englaͤndern und Franzoſen ab. Nur wenige ſehr tiefe, ſehr ehrliche und ſehr langweilige Buͤcher verlaͤugnen ihr deutſches Gepraͤge nicht. Es iſt Schade, daß wir die politiſchen Thaten und Er¬ fahrungen, und die theils dadurch erworbenen, theils angebornen, politiſchen Inſtitutionen, den Charakter und die Conſequenz der Englaͤnder nicht auch mit uͤberſetzen koͤnnen. Wir haben keine eigne politiſche Literatur, weil die Leſer, das Volk, nicht zum poli¬ tiſchen Handeln berufen ſind, und aus demſelben Grunde findet auch die fremde Literatur bei uns nur einen unfruchtbaren Boden. Wir leſen Zeitungen und Journale, um uns die Zeit zu vertreiben, der Ame¬ rikaner, der Englaͤnder, der Franzoſe liest ſie, um ſich die Zeit zu machen. Wir bekommen dadurch nur Traͤume, ſie Affecte; wir ſchlafen, ſie handeln.

Wer uͤber Politik ſchreibt, muß die Stiefel aus¬ ziehn und auf Socken gehn, wie in einem Kranken¬ zimmer. Solche Sockentraͤger, altkluge vermittelnde Schwaͤtzer gibt es den freilich genug. Sie benutzen die Zeit der Windſtille wie die gallertartigen Mol¬ lusken, um auf der Oberflaͤche des politiſchen Meers ihr fahles Licht ſchimmern zu laſſen.

Man rechnet es mit Recht unter die groͤßten Ge¬ brechen der Zeit, daß nicht nur die Mittheilung der Meinungen, ſondern auch die der Thatſachen259 beſchraͤnkt oder gar verboten wird. Darin beſteht auch eigentlich die Hauptſchwaͤche unſrer Zeitungen. Moͤchten ſie Meinungen ausſprechen, welche ſie woll¬ ten, wenn ſie nur alle Thatſachen unverfaͤlſcht nam¬ haft machen duͤrften, aber von vielen Dingen duͤrfen ſie nur etwas im Sinn der Cenſur, von vielen an¬ dern, und nicht den unwichtigſten, duͤrfen ſie gar nichts ſchreiben. Die Diplomatik, vor alten Zeiten eine Thurmuhr fuͤr Jedermann, hat jetzt ihr Zifferblatt voͤllig verhuͤllt und man hoͤrt ſie nur noch ſchlagen.

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Erziehung.

Die Erziehung iſt von jeher eine der wichtigſten Angelegenheiten aller gebildeten Voͤlker geweſen. Auf ihr beruht die Erhaltung und der Fortſchritt der ein¬ mal gewonnenen Bildung. Der Umfang dieſer Bil¬ dung aber macht eine Disciplin nothwendig, waͤh¬ rend bei rohen Voͤlkern die Natur ſelbſt das Geſchaͤft der Erziehung uͤbernimmt. Die Disciplin iſt der herr¬ ſchenden religioͤſen und politiſchen Anſicht unterwor¬ fen, Kirche und Staat beaufſichtigen und leiten den Unterricht. Bei den Deutſchen behauptet aber auch vorzugsweiſe die Familie ein herkoͤmmliches und hei¬ liges Anſehn in der Erziehung und verhindert, daß die politiſch-religioͤſe Disciplin nicht in ſtarre Ein¬ foͤrmigkeit entarte, und zugleich hat die Trennung der Staaten und Confeſſionen es moͤglich gemacht, daß mitten unter ihnen eine freie philoſophiſche Paͤ¬ dagogik Raum gewonnen hat. Indem die Erziehung weder vom Familienleben, noch von der allgemeinen deutſchen Bildung ſich hat losreißen koͤnnen, iſt es261 weder einer Kirche noch einem Staate moͤglich ge¬ worden, eine jeſuitiſche oder ſpartaniſche Disciplin durchzuſetzen. Dies iſt ein Palladium deutſcher Frei¬ heit und die Buͤrgſchaft fuͤr den unaufhaltſamen Fort¬ ſchritt der echten Bildung.

In der neueſten Geſchichte und Literatur hat die Erziehung eine groͤßre Rolle, als jemals geſpielt. Bis in die letzte Haͤlfte des vorigen Jahrhunderts gieng ſie einen ziemlich ſchlaͤfrigen Gang, und die Orbile wurden zum Sprichwort. Sie war nicht viel mehr, als ein nothwendiges Übel. Die Lethargie ſprang aber bald in einen wahren St. Veitstanz um. Die revolutionaͤren Ideen des Jahrhunderts wirkten auch auf die Erziehung ein und bald bemuͤhte man ſich, wirkliche Übelſtaͤnde abzuſchaffen, bald hoffte man die Jugend fuͤr die Ideale bilden zu koͤnnen, fuͤr welche die aͤltere Generation zu verderbt ſchien.

Nirgends iſt ſo viel geſchwaͤrmt worden, als in der Paͤdagogik, weil man der Jugend und der Zu¬ kunft alles zutrauen durfte. Der begeiſterte Men¬ ſchenfreund, der die Welt von Grund aus verbeſſern moͤchte, ſieht ſich an die Jugend gewieſen, die fuͤr ſeine Ideale bildſam iſt, aber auch der bloße Char¬ latan ſucht ſich das weiche Wachs der Jugend, um ihr ſeinen Stempel aufzudruͤcken. Jeder meint leich¬ tere Arbeit mit der Jugend zu haben, und ſeine Ab¬ ſichten in dieſem empfaͤnglichen Boden am beſten ge¬ deihen zu ſehn. Alles wandte ſich an die Jugend, wie an eine neuerſtandne Macht und ſchmeichelte der¬262 ſelben und brachte ihr den hoͤchſten Begriff von ſich ſelbſt bei. Dadurch wurde ſie haͤufig aus ihrer na¬ tuͤrlichen Stellung verruͤckt und die Unnatur hat ſich eben ſo haͤufig geraͤcht.

Es muß auffallen, daß in der neuern Zeit die Kinder eine ſo bedeutende Rolle ſpielen. Einerſeits ſehn wir ſie den Alten uͤber die Koͤpfe wachſen, and¬ rerſeits ſetzt man alles Heil, alle Hoffnung nur in ſie, und ſchreibt ihnen wohl gar eine heilige Kraft zu, wie unſre Vorfahren ehemals den Weibern.

Was das Erſte betrifft, ſo haben die Kinder wohl nie ſo viel Laͤrmen gemacht, als bei uns. Man ſieht ſie auf dem Katheder dociren, bei eignen Kin¬ derbaͤllen und Taͤnzen trotz den Alten kokettiren, in einer Unzahl von Familien das große Wort und die Zuͤgel der Herrſchaft fuͤhren, in den Schulen die Leh¬ rer Hofmeiſtern, wohl gar in eine Raͤuberbande con¬ ſtituirt und endlich als Hochverraͤther und Demagogen arretirt.

Auf der andern Seite erwartet man von eben dieſen Kindern ein goldnes Zeitalter, und predigt ihnen unaufhoͤrlich vor, was man alles von ihnen hoffe, was moͤglicherweiſe in ihnen ſtecke, wie ſie ſo viel mehr ſeyn ſollen und werden, als wir Alten, und viele Paͤdagogen bekennen oͤffentlich, daß wir Alten eigentlich bei den Kindern in die Schule gehn ſollen.

Dieſe neue Wichtigkeit, welche man der Jugend beigelegt hat, und die widerſprechenden Meinungen263 uͤber Erziehung, welche den philoſophiſchen und poli¬ tiſchen Anſichten nothwendig folgen mußten, haben der paͤdagogiſchen Literatur einen Umfang gegeben, wie ſie ihn noch nie gehabt hat. Jaͤhrlich erſcheinen viele hundert Werke fuͤr die Erzieher oder fuͤr die Jugend.

Abgeſehn von allen einzelnen Nuancen paͤdagogi¬ ſcher Anſichten gibt es weſentlich nur zwei verſchiedne Hauptprincipe der Erziehung, das eine, wonach die Kinder fuͤr die gegenwaͤrtig beſtehenden Verhaͤltniſſe, das andre, wonach ſie zu hoͤhern Idealen der Menſch¬ heit herangebildet werden ſollen. Das erſte Princip herrſcht allgemein in den oͤffentlichen Schulen, dem Gange der alten Gewohnheit gemaͤß; es iſt aber auch philoſophiſch als das einzig heilſame und natuͤrliche angeprieſen worden von Goͤthe, Steffens und vielen andern, und das beruͤhmte Fellenbergiſche Inſtitut in der Schweiz iſt ganz nach dieſem Syſtem organiſirt und ſucht noch ſtrenger, als irgend eine oͤffentliche Schule, jedes Kind nur zu dem Beruf zu bilden, der ſeinem angebornen Stand und Rang, ſeinem Reichthum oder ſeiner Armuth angemeſſen iſt. Das entgegengeſetzte Princip iſt vorzuͤglich von Fichte ver¬ theidigt worden und ſpaͤter hat Jahn verſucht, es einigermaßen zu realiſiren. Nach dieſem Princip ſoll fuͤr die Jugend Stand und Rang verſchwinden, und jedes Kind eine gleiche Erziehung genießen, der Un¬ terſchied ihres Berufs aber allein auf dem ihres Ta¬ lents begruͤndet werden. Die Jugend ſoll ferner nicht264 fuͤr das gemeine Leben, ſondern fuͤr den Zweck der Weltverbeſſerung erzogen werden. Sie ſoll zu etwas Beſſerem heranreifen, als die fruͤhere Generation. Man ſoll ihre zarten Keime nicht unter der Laſt be¬ ſtehender druͤckender Verhaͤltniſſe erſticken, ſondern ihnen jede moͤgliche Freiheit der Entwicklung goͤnnen.

Die erſte Anſicht haͤngt mit dem Katholicismus und dem politiſchen Stabilitaͤtsprincip zuſammen, die letztere mit dem Proteſtantismus und dem republika¬ niſchen Princip. Indeß bleibt die letztere immer nur im Reich der Traͤume. Die Jugend iſt immer nur nach dem Muſter der Alten erzogen worden, in Rom und Sparta nicht minder als in China. Die neuern deutſchen Philoſophen und Paͤdagogen, welche durch die Jugendbildung eine Regeneration der Menſchheit haben bewerkſtelligen wollen, ſind nicht gluͤcklicher ge¬ weſen, als Plato und Rouſſeau. Ihre Partei iſt nur in der Literatur von Bedeutung, im Leben ſo gut als nicht vorhanden.

Wichtiger iſt der Streit uͤber die einzelnen Ge¬ genſtaͤnde und Methoden des Unterrichts. Hier herr¬ ſchen eine unſaͤgliche Menge veralteter Mißbraͤuche. Der religioͤſe und philologiſche Unterricht hatte ge¬ raume Zeit die Alleinherrſchaft, und die gelehrte und adelige Erziehung war beinah allein cultivirt, waͤh¬ rend der eigentliche Volksunterricht voͤllig vernach¬ laͤſſigt wurde. Beiden Übelſtaͤnden ſuchte man all¬ maͤhlig durch Erweiterung des realiſtiſchen Unterrichts und durch Verbeſſerung der Dorfſchulen zu begegnen. 265Dem Realismus dienten zahlreiche Privatinſtitute, bis er durch das Faͤcherweſen auch groͤßern Eingang in den gelehrten Schulen fand. Den Volksunterricht befoͤrderten die Staaten und wohlthaͤtige Vereine.

Es iſt einer der groͤßten Fortſchritte des Jahr¬ hunderts, daß man die Gegenſtaͤnde des Unterrichts erweitert und gelaͤutert hat. Die Erweiterung war nothwendig, da die Jugend ehedem bei Religion und Philologie verkuͤmmerte, und die Laͤuterung iſt wie¬ der noͤthig geworden, weil man nachher lieber alles und noch etwas in die Jugend hineingeſtopft haͤtte. Daß zu dem aufgetrockneten Chriſtenthum und Latein der alten Schulen die neuern Sprachen, Geſchichte, Geographie, Naturlehre, Mathematik hinzugekommen und mit Fleiß getrieben worden ſind, iſt gewiß ein großer Fortſchritt. Dadurch iſt die Jugend dem Le¬ ben wiedergegeben worden, dadurch iſt jenes zahl¬ reiche Geſchlecht ſchwarzgalliger Magiſter, die Nach¬ geburt der Moͤnche, immer mehr ausgerottet worden. Indeß iſt man auch wieder zu weit gegangen und die Jugend iſt abermals unter der Laſt neuer Unterrichts¬ gegenſtaͤnde erdruͤckt und durch ein falſches Betreiben der ſogenannten Aufklaͤrung verbildet worden.

Nirgends herrſcht ſo guter Wille, alles wiſſen zu wollen, als in Deutſchland, und nirgends herrſcht wirklich eine ſo univerſelle Bildung. Die Überladung des jugendlichen Geiſtes mit Kenntniſſen iſt gewiſſer¬ maßen nothwendig geworden, wenn man die kuͤnftige Generation auf der Hoͤhe der einmal errungenen Bil¬Deutſche Literatur. I. 12266bung feſthalten will. Dennoch iſt dieſer Zuſtand ge¬ waltſam und muß in einer Erſchlaffung endigen. Man ſtopft allzuviel in die Jugend hinein und darf ſich nicht wundern, wenn es nicht verdaut wird, wenn endlich das Übermaaß zur Maͤßigkeit zuruͤckfuͤhren muß. Die Erfahrung hat uns bereits gelehrt, daß eine Durchdringung ſo unermeßlicher Welten des Wiſſens die Kraft des zarten Alters uͤberſteigt, leider aber haͤlt die Eitelkeit den Univerſalismus noch feſt, in¬ dem ſie zufrieden iſt, die Jugend wenigſtens alles moͤgliche von der Oberflaͤche weg ſchoͤpfen und damit in der Converſation glaͤnzen zu laſſen.

Mit der Vielwiſſerei iſt aber ein noch weit aͤr¬ geres Übel gepaart, die zu fruͤhe und falſche Aufklaͤ¬ rung, die Altklugheit der Jugend. Man hat ſich beeilt, ſo fruͤh als moͤglich den ſogenannten Aber¬ glauben in den Gemuͤthern der Kinder auszurotten und die ſogenannte geſunde Vernunft an deſſen Stelle zu ſetzen; dies an ſich loͤbliche Beſtreben hat aber zu unſinnigen Übertreibungen gefuͤhrt. Um den Verſtand zu retten, laͤßt man das Herz untergehn.

Man truͤbt den Kindern ihren unſchuldigen Glau¬ ben und entreißt ihnen die goldnen Spiele der Phan¬ taſie, um ſie vor der Zeit klug zu machen. Man moraliſirt, katechiſirt und ſokratiſirt mit ihnen von ſittlichen, religioͤſen und Denk-Begriffen, die den Zauberkreis ihrer Unſchuld zerſtoͤren, ohne ihnen da¬ fuͤr ein hoͤheres Gut zu gewaͤhren. Die Liebe, die ſie von Natur haben, wird durch Kritik uͤber Ältern267 und Lehrer verdraͤngt. Der kindliche Glaube und Aber¬ glaube wird durch eine kindiſche Altklugheit erſetzt, und die reichen phantaſtiſchen Spiele machen einer reflectirenden Wohlanſtaͤndigkeit und Ziererei Platz. Wie kann dies anders ſeyn, wenn in tauſend und aber tauſend Kinderbuͤchern die Schwaͤchen der Alten ſo gut als die der Kinder Preis gegeben werden, und der natuͤrliche Witz der Kinder nothwendig auf¬ gefordert wird, gegen die Pedanterei der Docenten ſich geltend zu machen, wenn den Kindern immer und immer von der Thorheit des Aberglaubens vor¬ gepredigt und Herz und Phantaſie derſelben abge¬ ſtumpft wird, und wenn ſie als das hoͤchſte Gut je¬ nen Anſtand preiſen hoͤren, der ihre natuͤrliche, aber unſchuldige Eitelkeit in eine Bahn weist, wo ſie zur Unnatur werden muß. Überall ſind es Begriffe, er¬ lernte und mechaniſch aufgefaßte Begriffe, die dem Kinde eingezwaͤngt werden, die ein unreifes Denken in ihm thaͤtig machen, das alle Bluͤthen des Gemuͤths und der Einbildungskraft fruͤh verdorren macht.

Wie mannigfaltig auch die Gegenſtaͤnde des Ju¬ gendunterrichts ſeyn moͤgen, ſo vermiſſen wir doch darunter zwei der wichtigſten, Muſik und Gymnaſtik. Die erſtere iſt noch weit entfernt, zu dem ihr ge¬ buͤhrenden Rang unter den Mitteln der Erziehung erhoben zu werden, und die letztere iſt ſogar verbo¬ ten. Die Alten erkannten ſehr richtig Muſik und Gym¬ naſtik als die weſentlichen Grundpfeiler der Erzie¬ hung, weil ſie in Leib und Seele den Rhythmus12 *268bringen, in welcher ſie allein geſund gedeihen und ihre Harmonie entfalten koͤnnen. Bei uns iſt dieſe einfache Wahrheit vergeſſen, und als Erſatzmittel fuͤr die unmittelbarſten Hebel einer geſunden Erziehung dienen nur Worte und nichts als Worte. Unſer gan¬ zer Unterricht beſchraͤnkt ſich auf den intellectuellen. Wenn dem Gedaͤchtniß nur Worte und dem Verſtand einige Gelaͤufigkeit in Begriffen eingepraͤgt werden, ſo iſt die Sache gethan, der Koͤrper und das Ge¬ muͤth moͤgen dabei verſauern. Die Wirkung, welche die Gymnaſtik auf den Koͤrper, die Muſik auf das Gemuͤth uͤbt, und die Wirkung, welche beide dadurch auf die Geſundheit des Geiſtes uͤben, kommen uns gar nicht in Anſchlag. Man will keine harmoniſche Bildung des ganzen Menſchen, ſondern nur Viel¬ wiſſerei.

An die Muſik ſcheint man neuerdings mehr zu denken, die Gymnaſtik wird aber geflohn und das Geſundeſte gleich einer Peſt verabſcheut. Ein unge¬ woͤhnliches Auffallen erregte vor einigen Jahren die Turnkunſt, und daß jetzt kein Wort mehr davon ge¬ hoͤrt wird, iſt wohl noch auffallender. Man darf hoffen, daß es zum Theil die Scham iſt, welche die Paͤdagogen lieber uͤber einen Gegenſtand ſchweigen laͤßt, der ihre Bloͤßen ſo ſehr aufgedeckt hat. Kann es wohl etwas wahnſinnigeres geben, als was man von dieſer guten Turnkunſt gehofft hat? vielleicht das, was man von ihr gefuͤrchtet hat, wenn beides nicht einerlei iſt. Man glaubte damals, die liebe Jugend269 werde Deutſchland befreien, weil ſie Spruͤnge machte. Jetzt darf ſie nicht ſpringen, weil ſie Deutſchland befreien koͤnnte. Es iſt aber doch in der That zu verwundern, daß man die Karrikatur von der Sache nicht getrennt, jene vernichtet und dieſe gerettet hat. Ohne Gymnaſtik wird die Erziehung ewig unvollkom¬ men bleiben.

Hat man genug uͤber die Gegenſtaͤnde des Un¬ terrichts geſtritten, ſo iſt es zugleich noͤthig gewor¬ den, die Mittel und Methoden deſſelben naͤher ins Auge zu faſſen. Je mehr die Gegenſtaͤnde verviel¬ faͤltigt wurden, deſto mehr mußten die Mittel ver¬ einfacht werden. Man ſah endlich ein, daß der intel¬ lectuelle Unterricht durch eine umfaſſende Zucht der Jugend unterſtuͤtzt werden muͤſſe, und dies fuͤhrte ſo¬ gar zu der Frage: ob die Erziehung ein Mittel fuͤr den Unterricht, oder nicht vielmehr der Unterricht bloßes Mittel fuͤr die Erziehung des ganzen Men ſchen ſeyn ſolle? Das alte Herkommen in den Schu¬ len widerſetzte ſich den neuen Anſichten, dagegen ent¬ ſtunden zahlreiche Privatinſtitute, die Schauplaͤtze fuͤr alle moͤglichen paͤdagogiſchen Experimente. Man wollte Menſchen bilden und der Naturſtand der Kinder ſchien dieſem Beſtreben kein Hinderniß in den Weg legen zu koͤnnen. Ihrem weichen Wachs glaubte man alles einpraͤgen zu koͤnnen, und man hoffte bereits auf die Ideale, die aus den Philanthropien hervor¬ gehn ſollten. Aber man vergaß, daß die Erziehung in Harmonie mit dem geſammten Zuſtand des Volks270 ſtehn muͤſſe, wenn ſie die Jugend ſich nicht bald ent¬ zogen ſehn will. Jene Anſtalten verfehlten den Zweck der Erziehung, indem ſie, gleich als ob die Philan¬ thropien gluͤckliche Inſeln im Suͤdmeer waͤren, auf die ſie umgebende Welt keine Ruͤckſicht nahmen, oder ſie vergriffen ſich in den Mitteln, indem ſie die Ju¬ gend auf die unnatuͤrlichſte Weiſe anſtrengten, ihre Knoſpen mit Gewalt aufblaͤtterten, um die kuͤnftige Bluͤthe zu ſehn, und ſie nicht viel beſſer als Hunde dreſſirten. Es iſt indeß bereits ſo viel gerechter Ta¬ del uͤber jene Anſtalten ausgeſchuͤttet worden, daß es billig ſcheint, daruͤber das Gute nicht zu vergeſſen, was durch ſie geleiſtet worden.

Namentlich iſt die Methode des Unterrichts durch die Privatanſtalten verbeſſert worden. Ausgezeich¬ nete Paͤdagogen, die etwas beſſeres Neues begruͤnden wollten, ſahen ſich meiſtentheils gezwungen, ihre Ver¬ ſuche im Kleinen und in unabhaͤngigen Kindergeſell¬ ſchaften anzuſtellen, da ihnen das alte Herkommen der oͤffentlichen Schulen große Hinderniſſe in den Weg legte. Hier wurden eigne Ideen, und die der Fremden, z. B. von Lancaſter, gepruͤft, und beſonders fuͤr Vereinfachung aller Unterrichtsmittel thaͤtig ge¬ ſorgt, und viel Gutes ward aus den Privatanſtal¬ ten in die Schulen des Staates ſelbſt aufgenommen, wie von Peſtalozzi und Lancaſter.

Die vorzuͤglichſte Thaͤtigkeit der Paͤdagogen hat ſich, wie billig, auf die Unterrichtsliteratur, auf die Schulbuͤcher gerichtet. Die geſammte Jugendlitera¬271 tur zerfaͤllt in Buͤcher der Belehrung und der Unter¬ haltung. Urſpruͤnglich war dieſe ganze Literatur im Katechismus concentrirt, dieſem folgte der orbis pictus; allmaͤhlig entſtanden auch weltliche Lehrbuͤcher und endlich die ergoͤtzlichen Kinderſchriften. Jetzt iſt Deutſch¬ land mit einer unermeßlichen Kinderliteratur uͤber¬ ſchwemmt und Wien und Nuͤrnberg ſind die großen Fabrikſtaͤtten derſelben. Im Augenblick der erſten paͤ¬ dagogiſchen Wuth ſuchte man den Kindern alles Wiſ¬ ſenswuͤrdige einzupfropfen, und man ſchrieb aus Liebe fuͤr dieſelben, was das Zeug halten wollte. In der neuern Zeit ſucht man wieder, wenigſtens die Schul¬ buͤcher zu vereinfachen und aus der Maſſe das Beſte zu ſondern. Leider aber iſt der literariſche Unter¬ richt den Paͤdagogen von den Buchhaͤndlern aus den Haͤnden gewunden, und die letztern uͤberſchwemmen Deutſchland mit ihren luͤderlichen, von außen glei¬ ßenden, von innen hohlen Fabrikaten. Sie koͤnnen dies, weil unter den Paͤdagogen keine Einigkeit iſt, und weil die Modeſucht ſo weit geht, daß man ſo¬ gar den Kindern nur neue Sachen geben will. Um die Weihnachtszeit wimmelt es in den Laͤden der Buchhaͤndler von Eltern und Kinderfreunden, die alle die brillanten Saͤchelchen aufkaufen, welche die neue Meſſe geliefert. Die Alten greifen, wie die Kinder ſelbſt am liebſten nach den neuen Flittern. Aber die Paͤdagogen ſelbſt wirken mit den Buchhaͤndlern zuſammen, und ſchreiben immer neue Sachen, nicht um das Alte zu verbeſſern, ſonderm um Geld und272 einen Namen davon zu tragen. Gegen dieſe Suͤnd¬ fluth von Kinderſchriften kaͤmpft dann der echte Kin¬ derfreund vergeblich an.

Es iſt merkwuͤrdig, daß dieſe Schriften mehr auf die Alten, als auf die Kinder ſelbſt berechnet werden, weil die Alten ſie eben auswaͤhlen und be¬ zahlen, und nur wenige Takt genug beſitzen, um zu wiſſen, was dem kindlichen Gemuͤthe zuſagt. Damit iſt die Philiſterei und die altkluge Moral in die Buͤ¬ cher, ſelbſt des zarteſten Jugendalters gekommen. Die Alten wollen etwas Solides, Vernuͤnftiges, und dar¬ um muͤſſen es die armen Kinder auch wollen, genug, wenn ſie nur bunte, Bildchen dabei ſehn. Die Maͤhr¬ chen, dieſe echte Kinderpoeſie, ſind lange verachtet und verdammt geweſen. Was ſollen dieſe Kindereien? hieß es, und man hatte doch Kinder vor ſich. Man fuͤrchtete, die Maͤhrchen pflanzten der kindlichen Seele Aberglauben ein, oder wenigſtens, ſie beſchaͤftigten die Phantaſie zu ſtark und zoͤgen vom Lernen ab. Man erfand daher die lehrreichen Erzaͤhlungen und Beiſpiele aus der wirklichen Kinderwelt, vom from¬ men Gottlieb, vom neugierigen Fraͤnzchen und naſch¬ haften Lottchen, und erſtickte mit dieſer Alltagsproſa alle natuͤrliche Poeſie in den Kindern. Waͤhrend man ihnen aber alles Schoͤne nahm, wofuͤr ihre jungen Herzen ſo empfaͤnglich ſind, und woran ſie ſich wahr¬ haft menſchlich bilden, mißbrauchte man ihr Herz, wie ihre Phantaſie, um damit ihren noch unentwickel¬ ten Verſtand zu bearbeiten. Alle in der Jugend auf¬273 quellenden Kraͤfte leitete man in den intellectuellen Unterricht ab. Aus der Froͤmmigkeit und kindlichen Liebe leitete man die Pflicht her, huͤbſch brav und geduldig zu lernen, und die reiche Bilderwelt der Phantaſie pluͤnderte man, um durch ſie den Kindern in Bilderfibeln das ABC und in hundert andern Buͤchern moraliſche Lehren angenehm zu machen und wie Pillen in einer Überzuckerung einzugeben.

In den Unterhaltungs - und Schulbuͤchern fuͤr das mittlere Jugendalter bemerken wir hauptſaͤchlich vier große Fehler, die ſokratiſche Methode, eine fal¬ ſche Vielwiſſerei, eine falſche Aufklaͤrung und eine falſche Moral. Mag immerhin der Lehrer muͤndlich ſokratiſiren, was ſollen aber dieſe Dialoge in den ge¬ druckten Buͤchern? Keines dieſer Buͤcher kann auf alle moͤglichen Querfragen der Jugend Ruͤckſicht neh¬ men, und der einfache Gegenſtand wird immer da¬ durch verhuͤllt. Überhaupt aber finden wir uͤberall dieſe Methode zu fruͤh angewandt. Das « Warum » muß ſich der Jugend von ſelbſt aufdraͤngen, und dann duͤrfe die Antwort nicht fehlen; quaͤlt man es ihr aber fruͤher ab, ſo bringt die beruͤhmte Hebammen¬ kunſt des Geiſtes auch nur zu fruͤhe Geburten zur Welt. Man muß der Jugend etwas Poſitives dog¬ matiſch einpraͤgen. Sie will nichts andres, es wird ihr nicht einfallen, daran zu kluͤgeln. Entwickelt ſich ihr Verſtand, ſo wird ſie ſchon zu zweifeln und zu fragen anfangen, und dann hat ſie einen Gegenſtand, an dem ſie die Kritik uͤben kann. Aus der Kritik274 aber die Wahrheit als Reſultat zu foͤrdern und mit den Zweifeln anzufangen, iſt wahres Gift fuͤr die Jugend. Wenn hier die Einfachheit in Bezug auf die Methode verletzt wird, ſo geſchieht daſſelbe in Bezug auf die Gegenſtaͤnde des Unterrichts durch die Polyhiſtorei, der man ſich dabei ergibt; nur das Ge¬ wiſſe, Einfache, Klare haftet in der jugendlichen Seele und bringt gedeihliche Fruͤchte. Durch die ſo¬ kratiſche Methode wird der einfachſte Gegenſtand ver¬ worren, ungenießbar, widerlich, und durch die uͤber¬ reiche Menge von Kenntniſſen, die man der Jugend in Encyclopaͤdien und Sammlungen bietet, wird auch der klarſte kindliche Kopf verwirrt, und gewoͤhnt ſich leicht an ein oberflaͤchliches Wiſſen und gefaͤllt ſich in dem eitlen Vorzug, vieles ſchlecht, ſtatt wenig gut zu wiſſen. Sodann ſind faſt alle Unterhaltungs - und Unterrichtsbuͤcher auf die moͤglichſt fruͤheſte Aufklaͤ¬ rung der Jugend berechnet. Dahin gehoͤrt, daß man ihr alles Myſtiſche, Wunderbare, Ahnungsvolle, Ruͤh¬ rende, ſobald ſie es empfinden, mit Stumpf und Stiel ausrottet. Der Zauber der Natur wird ihnen in baare naturwiſſenſchaftliche Proſa aufgeloͤſt, waͤh¬ rend, ſeltſam genug, die Naturphiloſophen denſelben Zauber wieder retten. Die kindliche Liebe, dieſe herr¬ liche wildwachſende Blume, wird gefliſſentlich ausge¬ rottet, um dem Treibhausgewaͤchs einer ſteifen, eng¬ herzigen, gebotnen, ſchulmaͤßig zu erlernenden Moral Platz zu machen. Man rechnet den Kindern nur das als Tugend an, was ſie aus Gehorſam gegen eine275 Regel thun, und wie gut, edel, liebenswuͤrdig ſie von Natur ſind, man achtet es nicht, bis man ihnen eine ſchaale Reflexion daruͤber beigebracht hat, bis ihnen der Drang der Natur in einen geiſtloſen Gehorſam gegen das Pflichtgebot verkruͤppelt iſt. Und welcher Pflichten? was draͤngt man nicht alles den unbefang¬ nen Gemuͤthern auf? Man ſtellt ihnen nicht nur das Laſter, ſondern auch die Tugend vor Augen, ehe ſie im Stande ſind, ſie auszuuͤben, ja nur zu erkennen, und man uͤberladet ſie mit Regeln, wovon ſie eine uͤber der andern vergeſſen. Wie gegen die natuͤr¬ liche Moral der Kinder, ſo wuͤthet man gegen die natuͤrliche Religion derſelben. Auch uͤber die Gegen¬ ſtaͤnde der Religion muͤſſen ſie ſo fruͤh als moͤglich reflectiren, und man quaͤlt ihnen Gedanken ab, ehe noch ihr Gefuͤhl reif geworden. Eine Zeitlang war man ſogar bemuͤht, ihnen das Wunderbare in der Religion verdaͤchtig zu machen, um ſie vor Aberglau¬ ben zu bewahren. Jetzt hat man meiſtentheils einen heilloſen Mittelweg eingeſchlagen. Man wagt es we¬ der ganz zu glauben, noch ganz zu zweifeln, und ſtuͤrzt die Jugend in eine Halbheit, aus der nur drei Übel entſpringen koͤnnen, die alle drei der Religion am gefaͤhrlichſten ſind, Indifferentismus, der aus der Langweiligkeit und Unſicherheit des Religionsunter¬ richts entſpringt, Religionsſpoͤtterei oder Ruͤckfall in den craſſeſten Aberglauben, wenn man ſich aus der Halbheit auf dieſe oder jene Weiſe retten will.

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Schreiten wir weiter zu den Unterrichtsbuͤchern der erwachſenen Jugend, ſo bemerken wir darin ein ſonderbares Mißverhaͤltniß zu dem fruͤhern Unter¬ richt. Man zwingt den Kindern ein unreifes Den¬ ken ab, und die Juͤnglinge, die zum Denken wirklich heranreifen, werden davon fern gehalten durch eine troſtloſe Überladung mit blos empiriſchen, gedaͤcht¬ nißmaͤßigen Kenntniſſen. Überall fehlt die Einheit und Einfachheit der Methode, der klare Überblick, das logiſche Gebaͤude.

Die meiſten Schulbuͤcher, in welches Fach ſie einſchlagen moͤgen, bieten dem Juͤngling eine unge¬ ordnete Maſſe von Thatſachen dar, die er ſich zu eigen machen ſoll, ohne daß ihm der Talisman einer urſpruͤnglichen Cauſalitaͤt mitgegeben wuͤrde, durch die er ſich einfach ſo vieler Schaͤtze bemeiſtern koͤnnte. Er lernt die Religion und Moral am Faden unzu¬ ſammenhaͤngender Artikel, die Geſchichte am Faden der Jahrszahlen, die Naturkunde am Faden der roheſten aͤußern Eintheilungen, die Sprache am Faden von tauſend Regeln und zehntauſend Ausnahmen. Bei einem ſolchen Verfahren wird nur das Gedaͤchtniß in Anſpruch genommen, daſſelbe Gedaͤchtniß, das dem Kinde verwirrt wurde durch zu fruͤhes Denken, und der Unterricht tritt in ein umgekehrtes Verhaͤltniß mit der Natur. Was hilft aber auch das beſte Ge¬ daͤchtniß, wenn nicht eigne Genialitaͤt die Formel finden laͤßt, unter welche das Convolut von empiri¬ ſchen Kenntniſſen gebannt wird? Nur wenige gelan¬277 gen zum Selbſtdenken, und bei dieſen wenigen beginnt es damit, daß ſie den Wuſt der auf Schulen und Univerſitaͤten geſammelten Kenntniſſe ausſcheiden; wo¬ mit ſie oft mehr Arbeit haben, als wenn ſie erſt zu lernen anfingen. Die meiſten lernen mechaniſch das Penſum, das von ihnen gefordert wird, und hieraus entſteht jener zahlloſe gelehrte Poͤbel in Ämtern und Wuͤrden oder in der Schriftſtellerzunft, den ſchon Klopſtock in ſeiner deutſchen Gelehrtenrepublik treff¬ lich bezeichnet hat, die immer ſchreien und nie denken.

Ehe wir aber das Feld der Erziehung verlaſſen, muͤſſen wir noch einige Augenblicke bei einer der in¬ tereſſanteſten Erſcheinungen auf demſelben verweilen, bei der Freimaurerei, denn was iſt dieſe anders, als eine projectirte Erziehung des ganzen Menſchenge¬ ſchlechts? Auch ſie hat eine nicht unbedeutende Lite¬ ratur, die in der neueſten Zeit unter uns Deutſchen, beſonders ſeit Krauſe, die Geheinmißkraͤmerei, wie billig aufgegeben, und, wenn der Ausdruck erlaubt iſt, aus der Schule geſchwatzt hat. Das unverſchaͤmte Zeitalter der Revolutionen hat auch dieſe koͤnigliche Kunſt, wie jede andre, profanirt. Sieht man von den Spielereien und Mißbraͤuchen, denen wohl nie eine geheime Geſellſchaft entgangen iſt, ſieht man von den Thorheiten der großen Kinder ab, die ſich hier in einem ſehr unſchaͤdlichen Kanal ableiteten, ſo bleibt der Maurerei immer noch eine große Idee.

Wir erkennen in der Geſchichte ein großes Ziel, die Entwicklung und Veredlung der Menſchheit. Wir278 unterſcheiden aber einen doppelten Weg, der dahin fuͤhrt. Den erſten verfolgen die Menſchen unbewußt. Er wird ihnen geboten durch die Naturnothwendig¬ keit. In der Abhaͤngigkeit von Geſchlecht, Familie, Stand, Volk, Sprache, Sitte, Kultur, Staat, Kirche, befolgt der Menſch inſtinktartig den geheimen Willen der Vorſehung, die uͤber der Geſchichte waltet, und in dem Reichthum und dem Wechſel der Erſcheinun¬ gen die Menſchheit aus dem laͤngſten Wege zur Ent¬ wicklung bringt. Iſt der Menſch aber einmal auf einer gewiſſen Stufe angelangt, ſo erkennt er den großen Plan der Vorſehung, und ſeine eigne Kraft, denſelben mit Bewußtſeyn auf kuͤrzerem Wege zu vollſtrecken. Er ſieht in jenen Unterſchieden, welche die Menſchen von einander und von dem Gleicharti¬ gen, rein Menſchlichen in Allem entfremdet, nur eine Hemmung jener Entwicklung, und ſobald in Vielen zugleich dieſe Anſicht herrſchend geworden, ſo muͤſſen dieſelben um ſo eher in ein geſelliges Band treten, als dieſes Band auch das Symbol deſſen iſt, was ſie erſtreben, da, ſobald jeder Menſch vollkommen iſt, bruͤderliche Gleichheit und Vereinigung Aller Statt finden muß. Sie werfen die Unterſchiede des Stan¬ des, Volkes, Staates und Glaubens von ſich; ſie laſſen ſie unter ſich nicht gelten, unterwerfen ſich ih¬ nen aber außerhalb ihres Tempels, indem ſie die blinde Naturgewalt, die in denſelben vorherrſcht, nicht aufzureizen, ſondern allmaͤhlig zu zaͤhmen, und den hohen und allgemeinen Zweck der Menſchheit zu279 vermitteln ſtreben. Dieſer Bund iſt derjenige der Freimaurer oder Maſonen (Meßner, Meßkuͤnſtler). Sie wollen frei, mit Selbſtbewußtſeyn, den Bau der Menſchheit vollenden. Sie ſetzen dem Inſtinkt die Freiheit, der Natur die Kunſt entgegen. Dieſer Bund entſpringt mit Nothwendigkeit aus einer Weltanſicht, die auf einer gewiſſen Stufe der Entwicklung in den Menſchen erwachen mußte. So unabweislich die Idee einer allgemeinen vollkommenen Menſchheit, die alle Menſchen als Bruͤder umfaßt, darin ſie alle von den Schlacken der Ungleichheit, der Feindſchaft, der Ver¬ folgung, des Laſters, der Armuth, der Dummheit und der Barbarei gelaͤutert ſeyn ſollen, unter den paſſen¬ den Namen Optimismus andern Ideen vom Weſen und Ziele der Welt und der Menſchheit, z. B., daß ſie beim Alten bleiben, oder daß ſie gar zuruͤckſchrei¬ ten muͤſſe, entgegentritt; ſo unabweislich ferner mit dieſer Idee in den Menſchen das Gefuͤhl ihrer Kraft und das Streben geweckt wird, ſelbſtthaͤtig der lang¬ ſam keimenden Naturkraft in der Geſchichte mit menſch¬ licher Kunſt nachzuhelfen, oder ihre Erkenntniß und ihren Willen ganz an die Stelle jener alten Natur¬ kraft zu ſetzen, da dieſelbe dem thieriſchen Inſtinkt gleicht, der nur ſo lange dem Kind aushilft, bis es zur Vernunft gekommen; ſo feſt gegruͤndet dieſe Idee und dieſes Streben in den Menſchen iſt, ſo bald ſie muͤndig geworden, eben ſo feſt gegruͤndet iſt auch in der aͤußern Erſcheinung der Bund der Maſonei, darin dieſe Idee fortgepflanzt wird, darin dieſes Streben280 als die hoͤchſte Aufgabe der freigewordenen Menſch¬ heit bethaͤtigt wird.

Wie uͤbrigens mit andern Elementen vermiſcht dieſe Idee erſt allmaͤhlich im Maurerthum gekeimt, nachher reiner entwickelt worden, wozu ferner bei¬ nahe zu allen Zeiten ſeit ſeiner Entſtehung die allge¬ meine Form des Maurerbundes gemißbraucht worden, geht uns dabei nichts an. Ob jeder ſogenannte Mau¬ rer die wahre Stellung der maureriſchen Weltanſicht zu dem Gange der Weltgeſchichte kennt, iſt zweifel¬ haft. Ob der Bau der Maſonei mehr dem des ba¬ byloniſchen Thurmes oder des Salomoniſchen Tem¬ pels gleichen werde, uͤberlaſſen wir der Geſchichte zu entſcheiden. Sprachverwirrung iſt ohne Zweifel ſchon eingetreten. Zwiſchen der Idee und ihrer Verwirk¬ lichung iſt eine unermeßliche Kluft befeſtigt, und wer in den Schwierigkeiten der Ausfuͤhrung und in der Entartung und Verfaͤlſchung der Idee im Innern des Bundes ſelbſt, demſelben nicht den Untergang oder wenigſtens nur ein mumienhaftes Fortdauern vorge¬ ſchrieben findet, der muß den Ideen eine goͤttliche, unerſchuͤtterliche Macht zuerkennen, kann und ſoll es aber auch.

Ende des erſten Theils.

Druckfehler.

S. 11 Z. 7 von unten ſtatt Ariadenfaden lies Ariadne¬ faden

39 1 von oben Schlendriau Schlendrian

45 1 von oben Reſignatinn Reſignation

62 1 von oben ſeyn ſein

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150 11 von unten Wasley Wesley

191 11 von oben kritiſcher kritiſche

199 5 von oben Begebenheit Begebenheiten

212 2 von oben entſtiegen entſtehn

226 5 von oben ein ein

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TextDie deutsche Literatur
Author Wolfgang Menzel
Extent297 images; 58176 tokens; 9996 types; 425455 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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Fraktur

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