PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Die Welträthſel.
Gemeinverſtändliche Studien über Moniſtiſche Philoſophie.
[figure]
Bonn,Verlag von Emil Strauß. 1899.
[II][III]

Vorwort.

Die vorliegenden Studien über moniſtiſche Philoſophie ſind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit ſuchenden Gebildeten aller Stände beſtimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des neunzehnten Jahrhunderts, an deſſen Ende wir ſtehen, gehört das lebendige Wachsthum des Strebens nach Erkenntniß der Wahrheit in weiteſten Kreiſen. Dasſelbe erklärt ſich einerſeits durch die ungeheuren Fortſchritte der wirklichen Natur - Erkenntniß in dieſem merkwürdigſten Abſchnitte der menſchlichen Geſchichte, andererſeits durch den offenkundigen Widerſpruch, in den dieſelbe zur gelehrten Tradition der Offenbarung gerathen iſt, und endlich durch die entſprechende Ausbreitung und Ver - ſtärkung des vernünftigen Bedürfniſſes nach Verſtändniß der unzähligen neu entdeckten Thatſachen, nach klarer Erkenntniß ihrer Urſachen.

Den gewaltigen Fortſchritten der empiriſchen Kenntniſſe in unſerem Jahrhundert der Naturwiſſenſchaft ent - ſpricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretiſchen Ver - ſtändniſſes und jene höhere Erkenntniß des kauſalen Zuſammen - hanges aller einzelnen Erſcheinungen, die wir mit einem Worte Philoſophie nennen. Vielmehr ſehen wir, daß die abſtrakte und größtentheils metaphyſiſche Wiſſenſchaft, welche auf unſeren Univerſitäten ſeit Jahrhunderten als Philoſophie gelehrt wird,*IVVorwort.weit davon entfernt iſt, jene neu erworbenen Schätze der Er - fahrungswiſſenſchaft in ſich aufzunehmen. Und mit gleichem Bedauern müſſen wir auf der anderen Seite zugeſtehen, daß die meiſten Vertreter der ſogenannten exakten Naturwiſſenſchaft ſich mit der ſpeciellen Pflege ihres engeren Gebietes der Beob - achtung und des Verſuchs begnügen und die tiefere Erkenntniß des allgemeinen Zuſammenhanges der beobachteten Erſcheinungen d. h. eben Philoſophie! für überflüſſig halten. Während dieſe reinen Empiriker den Wald vor Bäumen nicht ſehen , begnügen ſich jene Metaphyſiker mit dem bloßen Begriffe des Waldes, ohne ſeine Bäume zu ſehen. Der Begriff der Natur - philoſophie , in welchem ganz naturgemäß jene beiden Wege der Wahrheitsforſchung, die empiriſche und die ſpekulative Methode, zuſammenlaufen, wird ſogar noch heute in weiten Kreiſen beider Richtungen mit Abſcheu zurückgewieſen.

Dieſer unnatürliche und verderbliche Gegenſatz zwiſchen Naturwiſſenſchaft und Philoſophie, zwiſchen den Ergebniſſen der Erfahrung und des Denkens wird unſtreitig in weiten gebildeten Kreiſen immer lebhafter und ſchmerzlicher empfunden. Das be - zeugt ſchon der wachſende Umfang der ungeheuren populären naturphiloſophiſchen Literatur, die im Laufe des letzten halben Jahrhunderts entſtanden iſt. Das bezeugt auch die erfreuliche Thatſache, daß trotz jener gegenſeitigen Abneigung der beobach - tenden Naturforſcher und der denkenden Philoſophen dennoch hervorragende Männer der Wiſſenſchaft aus beiden Lagern ſich gegenſeitig die Hand zum Bunde reichen und vereinigt nach der Löſung jener höchſten Aufgabe der Forſchung ſtreben, die wir kurz mit einem Worte als die Welträthſel bezeichnen.

Die Unterſuchungen über dieſe Welträthſel , welche ich in der vorliegenden Schrift gebe, können vernünftiger Weiſe nicht den Anſpruch erheben, eine vollſtändige Löſung derſelben zu bringen; vielmehr ſollen ſie nur eine kritiſche BeleuchtungVVorwort.derſelben für weitere gebildete Kreiſe geben und die Frage zu beantworten ſuchen, wie weit wir uns gegenwärtig deren Löſung genähert haben. Welche Stufe in der Erkenntniß der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortſchritte nach dieſem unendlich entfernten Ziele haben wir im Laufe des - ſelben wirklich gemacht?

Die Antwort auf dieſe großen Fragen, die ich hier gebe, kann naturgemäß nur ſubjektiv und nur theilweiſe richtig ſein; denn meine Kenntniſſe der wirklichen Natur und meine Vernunft zur Beurtheilung ihres objektiven Weſens ſind beſchränkt, ebenſo wie diejenigen aller anderen Menſchen. Das Einzige, was ich für dieſelben in Anſpruch nehme, und was ich auch von meinen entſchiedenſten Gegnern verlangen muß, iſt, daß meine moniſtiſche Philoſophie von Anfang bis zu Ende ehrlich iſt, d. h. der vollſtändige Ausdruck der Ueberzeugung, welche ich durch vieljähriges eifriges Forſchen in der Natur und durch unabläſſiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erſchei - nungen erworben habe. Dieſe naturphiloſophiſche Gedanken - Arbeit erſtreckt ſich jetzt über ein volles halbes Jahrhundert, und ich darf jetzt, in meinem 66. Lebensjahre, wohl annehmen, daß ſie reif im menſchlichen Sinne iſt; ich bin auch völlig gewiß, daß dieſe reife Frucht vom Baume der Erkenntniß für die kurze Spanne des Daſeins, die mir noch beſchieden iſt, keine bedeutende Vervollkommnung und keine principiellen Verände - rungen erfahren wird.

Alle weſentlichen und entſcheidenden Anſchauungen meiner moniſtiſchen und genetiſchen Philoſophie habe ich ſchon vor 33 Jahren in meiner Generellen Morphologie der Organismen niedergelegt, einem weitſchweifigen und ſchwer - fällig geſchriebenen Werke, welches nur ſehr wenig Leſer gefunden hat. Es war der erſte Verſuch, die neu begründete Entwickelungs -VIVorwort.lehre für das ganze Gebiet der organiſchen Formen-Wiſſenſchaft durchzuführen. Um wenigſtens einen Theil der neuen, darin enthaltenen Gedanken zur Geltung zu bringen und um zugleich einen weiteren Kreis von Gebildeten für die größten Erkenntniß - fortſchritte unſeres Jahrhunderts zu intereſſiren, veröffentlichte ich zwei Jahre ſpäter (1868) meine Natürliche Schöpfungs - geſchichte . Da dieſes leichter geſchürzte Werk trotz ſeiner großen Mängel in neun ſtarken Auflagen und zwölf verſchiedenen Ueberſetzungen erſchien, hat es nicht wenig zur Verbreitung der moniſtiſchen Weltanſchauung beigetragen. Dasſelbe gilt auch wohl von der weniger geleſenen Anthropogenie , in welcher ich (1874) die ſchwierige Aufgabe zu löſen verſuchte, die wich - tigſten Thatſachen der menſchlichen Entwickelungsgeſchichte einem größeren Kreiſe von Gebildeten zugänglich und verſtändlich zu machen; die vierte, umgearbeitete Auflage derſelben erſchien 1891. Einige bedeutende und beſonders werthvolle Fortſchritte, welche neuerdings dieſer wichtigſte Theil der Anthropologie gemacht hat, habe ich in dem Vortrage beleuchtet, den ich 1898 Ueber unſere gegenwärtige Kenntniß vom Urſprung des Menſchen auf dem vierten internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge gehalten habe (ſiebente Auflage 1899). Mehrere einzelne Fragen unſerer modernen Naturphiloſophie, die ein beſonderes Intereſſe bieten, habe ich behandelt in meinen Geſammelten populären Vorträgen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre (1878). Endlich habe ich die allgemeinſten Grundſätze meiner moniſtiſchen Philoſophie und ihre beſondere Beziehung zu den herrſchenden Glaubenslehren kurz zuſammengefaßt in dem Glaubensbekenntniß eines Naturforſchers: Der Monismus als Band zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft (1892, achte Auflage 1899).

Die vorliegende Schrift über die Welträthſel iſt die weitere Ausführung, Begründung und Ergänzung der Ueber - zeugungen, welche ich in den vorſtehend angeführten SchriftenVIIVorwort.bereits ein Menſchenalter hindurch vertreten habe. Ich gedenke damit meine Studien auf dem Gebiete der moniſtiſchen Welt - anſchauung abzuſchließen. Der alte, viele Jahre hindurch gehegte Plan, ein ganzes Syſtem der moniſtiſchen Philoſophie auf Grund der Entwickelungslehre auszubauen, wird nicht mehr zur Ausführung gelangen. Meine Kräfte reichen dazu nicht mehr aus und mancherlei Mahnungen des herannahenden Alters drängen zum Abſchluß. Auch bin ich ganz und gar ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts und will mit deſſen Ende einen Strich unter meine Lebensarbeit machen.

Die unermeßliche Ausdehnung, welche das menſchliche Wiſſen in Folge fortgeſchrittener Arbeitstheilung in unſerm Jahrhundert erlangt hat, läßt es ſchon heute unmöglich erſcheinen, alle Zweige desſelben mit gleicher Gründlichkeit zu umfaſſen und ihren inneren Zuſammenhang einheitlich darzuſtellen. Selbſt ein Genius erſten Ranges, der alle Gebiete der Wiſſenſchaft gleichmäßig beherrſchte, und der die künſtleriſche Gabe ihrer einheitlichen Darſtellung in vollem Maße beſäße, würde doch nicht im Stande ſein, im Raume eines mäßigen Bandes ein umfaſſendes allgemeines Bild des ganzen Kosmos auszuführen. Mir ſelbſt, deſſen Kenntniſſe in den verſchiedenen Gebieten ſehr ungleich und lückenhaft ſind, konnte hier nur die Aufgabe zufallen, den allgemeinen Plan eines ſolchen Weltbildes zu entwerfen und die durchgehende Ein - heit ſeiner Theile nachzuweiſen, trotz ſehr ungleicher Ausführung derſelben. Das vorliegende Buch über die Welträthſel trägt daher auch nur den Charakter eines Skizzenbuches , in welchem Studien von ſehr ungleichem Werthe zu einem Ganzen zu - ſammengefügt ſind. Da die Niederſchrift derſelben zum Theil ſchon in früheren Jahren, zum anderen Theil aber erſt in der letzten Zeit erfolgte, iſt die Behandlung leider oft ungleichmäßig; auch ſind mehrfache Wiederholungen nicht zu vermeiden geweſen; ich bitte dieſelben zu entſchuldigen.

VIIIVorwort.

Jedem der zwanzig Kapitel iſt ein Titelblatt vorgeſetzt, deſſen Rückſeite eine kurze Ueberſicht ſeines Inhalts enthält. Die Angaben über Literatur, welche darunter folgen, erheben in keiner Weiſe Anſpruch auf Vollſtändigkeit. Vielmehr ſollen ſie nur einerſeits die grundlegenden Hauptwerke über den betreffenden Gegenſtand hervorheben, andererſeits aber den Leſer auf diejenigen neueren Schriften hinweiſen, welche vorzugs - weiſe geeignet erſcheinen, tiefer in denſelben einzudringen und die Lücken meines Buches zu ergänzen.

Indem ich hiermit von meinen Leſern mich verabſchiede, ſpreche ich die Hoffnung aus, daß ich durch meine ehrliche und gewiſſenhafte Arbeit trotz ihrer mir wohl bewußten Mängel ein kleines Scherflein zur Löſung der Welträthſel beigetragen habe, und daß ich im Kampfe der Weltanſchauungen manchem ehrlichen und nach reiner Vernunft-Erkenntniß ringenden Leſer denjenigen Weg gezeigt habe, der nach meiner feſten Ueber - zeugung allein zur Wahrheit führt, den Weg der empiriſchen Naturforſchung und der darauf gegründeten moniſtiſchen Philoſophie.

Jena, am Oſterſonntage, 2. April 1899.

Ernſt Haeckel.

Inhalt:

I. Anthropologiſcher Theil: Der Menſch.

Seite

  • 1. Stellung der Welträthſel1
  • 2. Unſer Körperbau25
  • 3. Unſer Leben45
  • 4. Unſere Keimesgeſchichte61
  • 5. Unſere Stammesgeſchichte81

II. Pſychologiſcher Theil: Die Seele.

  • 6. Das Weſen der Seele101
  • 7. Stufenleiter der Seele125
  • 8. Keimesgeſchichte der Seele153
  • 9. Stammesgeſchichte der Seele171
  • 10. Bewußtſein der Seele195
  • 11. Unſterblichkeit der Seele217

III. Kosmologiſcher Theil: Die Welt.

  • 12. Das Subſtanz-Geſetz243
  • 13. Entwickelungsgeſchichte der Welt269
  • 14. Einheit der Natur293
  • 15. Gott und Welt317

IV. Theologiſcher Theil: Der Gott.

  • 16. Wiſſen und Glauben337
  • 17. Wiſſenſchaft und Chriſtenthum355
  • 18. Unſere moniſtiſche Religion381
  • 19. Unſere moniſtiſche Sittenlehre399
  • 20. Löſung der Welträthſel421
  • Anmerkungen und Erläuterungen441
  • Regiſter465

Verzeichniß der Anmerkungen und Erläuterungen.

Seite

  • 1 (zu S. 17). Kosmologiſche Perſpektive441

  • 2 (zu S. 58). Weſen der Krankheit443

  • 3 (zu S. 111). Impotenz der introſpektiven Pſychologie443

  • 4 (zu S. 119). Der Völkergedanke444

  • 5 (zu S. 52). Neovitalismus444

  • 6 (zu S. 178). Plasmodomen und Plasmophagen445

  • 7 (zu S. 179). Entwickelungsſtufen der Zellſeele445

  • 8 (zu S. 181). Hauptformen der Cönobien449

  • 9 (zu S. 186). Pſychologie der Neſſelthiere450

  • 10 (zu S. 194). Pſychologie der Affen453

  • 11 (zu S. 299). Teleologie von Kant453

  • 12 (zu S. 361). Kritik der Evangelien455

  • 13 (zu S. 376). Chriſtus und Buddha457

  • 14 (zu S. 379). Abſtammung Chriſti458

  • 15 (zu S. 412). Das Chriſtenthum und die Familie459

  • 16 (zu S. 373). Verfluchung der Wiſſenſchaft durch den Papſt460

  • 17 (zu S. 380). Theologie und Zoologie461

  • 18 (zu S. 398). Die moniſtiſche Kirche462

  • 19 (zu S. 405). Egoismus und Altruismus463

  • 20 (zu S. 440). Ausblick in das zwanzigſte Jahrhundert463

[1]

Erſtes Kapitel. Stellung der Welträthſel.

Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts. Der Kampf der Weltanſchauungen. Monismus und Dualismus.

Freudig war, ſeit vielen Jahren,
Eifrig ſo der Geiſt beſtrebt,
Zu erforſchen, zu erfahren,
Wie Natur im Schaffen lebt.
Und es iſt das ewig Eine,
Das ſich vielfach offenbart;
Klein das Große, groß das Kleine,
Alles nach der eig'nen Art.
Immer wechſelnd, feſt ſich haltend,
Nah und fern, und fern und nah;
So geſtaltend, umgeſtaltend
Zum Erſtaunen bin ich da.
(Goethe. )
Haeckel, Welträthſel. 1[2]
Inhalt des erſten Kapitels.

Stand der menſchlichen Kultur und Weltanſchauung am Schluſſe des 19. Jahrhunderts. Fortſchritte der Natur-Erkenntniß, der organiſchen und anorganiſchen Naturwiſſenſchaft. Subſtanz-Geſetz und Entwickelungs-Geſetz. Fortſchritte der Technik und der angewandten Chemie. Stillſtand auf anderen Kultur-Gebieten: Rechtspflege, Staatsordnung, Schule, Kirche. Konflikt zwiſchen Vernunft und Dogma. Anthropismus. Kosmologiſche Perſpektive. Kosmologiſche Lehrſätze. Widerlegung des anthropiſtiſchen Größenwahns. Zahl der Welträthſel. Kritik der ſieben Welträthſel. Wege zu ihrer Löſung. Thätigkeit der Sinne und des Gehirns. Induktion und Deduktion. Ver - nunft, Gemüth und Offenbarung. Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. Empirie und Spekulation. Dualismus und Monismus.

Literatur.

Charles Darwin, Ueber die Entſtehung der Arten im Thier - und Pflanzen - reich durch natürliche Züchtung. (London 1859.) Stuttgart 1860. Sechſte Auflage 1876.

Jean Lamarck, Zoologiſche Philoſophie. 1809. (Deutſche Ueberſetzung von Arnold Lang. Leipzig 1879.)

Ernſt Haeckel, Die Entwickelungsgeſchichte der Organismen in ihrer Be - deutung für die Anthropologie und Kosmologie. Siebentes und achtes Buch der Generellen Morphologie. Berlin 1866.

Carl Guſtav Reuſchle, Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. Bonn 1874.

Konrad Dieterich, Philoſophie und Naturwiſſenſchaft, ihr neueſtes Bündniß und die moniſtiſche Weltanſchauung. Stuttgart 1875.

Herbert Spencer, Syſtem der ſynthetiſchen Philoſophie. Stuttgart 1875.

Friedrich Ueberweg, Grundriß der Geſchichte der Philoſophie. Achte Auf - lage, bearbeitet von Max Heinze. Berlin 1897.

Friedrich Paulſen, Einleitung in die Philoſophie. Berlin 1892. Fünfte Auflage 1898.

Ernſt Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Gemeinverſtändliche wiſſen - ſchaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre. Berlin 1868. Neunte Auflage 1898.

[3]

Am Schluſſe des neunzehnten Jahrhunderts, vor dem wir heute ſtehen, bietet ſich dem denkenden Beobachter eines der merkwürdigſten Schauſpiele. Alle Gebildeten ſind darüber einig, daß dasſelbe in vieler Beziehung alle ſeine Vorgänger unendlich überflügelt und Aufgaben gelöſt hat, welche in ſeinem Anfange unlösbar erſchienen. Nicht nur die überraſchenden theoretiſchen Fortſchritte in der wirklichen Natur-Erkenntniß, ſondern auch deren erſtaunlich fruchtbare praktiſche Verwerthung in Technik, Induſtrie, Verkehr u. ſ. w. haben unſerem ganzen modernen Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Auf der anderen Seite haben wir aber auf wichtigen Gebieten des geiſtigen Lebens und der Geſellſchafts-Beziehungen wenige oder gar keine Fortſchritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweiſen, oft ſogar leider bedenkliche Rückſchritte. Aus dieſem offenkundigen Kon - flikte entſpringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zer - riſſenheit und Unwahrheit, ſondern auch die Gefahr ſchwerer Kataſtrophen auf politiſchem und ſocialem Gebiete. Es erſcheint daher nicht nur als das gute Recht, ſondern auch als die heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menſchenliebe beſeelten Forſchers, nach beſtem Gewiſſen zur Löſung jenes Konfliktes und zur Vermeidung der daraus entſpringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach unſerer Ueberzeugung nur durch muthiges1 *4Fortſchritte der modernen Naturkunde. I. Streben nach Erkenntniß der Wahrheit geſchehen und durch Gewinnung einer klaren, feſt darauf gegründeten, natur - gemäßen Weltanſchauung.

Fortſchritte der Natur-Erkenntniß. Wenn wir uns den unvollkommenen Zuſtand der Natur-Erkenntniß im Anfang des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe an deſſen Schluſſe vergleichen, ſo muß jedem Sachkundigen der Fortſchritt innerhalb desſelben erſtaunlich groß erſcheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwiſſenſchaft darf ſich rühmen, daß er innerhalb unſers Jahrhunderts und beſonders in deſſen zweiter Hälfte extenſive und intenſive Gewinne von größter Trag - weite erzielt habe. In der mikroſkopiſchen Kenntniß des Klein - ſten, wie in der teleſkopiſchen Erforſchung des Größten haben wir jetzt unſchätzbare Einſichten gewonnen, die vor hundert Jahren undenkbar erſchienen. Die verbeſſerten Methoden der mikroſko - piſchen und biologiſchen Unterſuchungen haben uns nicht nur überall im Reiche der einzelligen Protiſten eine unſichtbare Lebenswelt voll unendlichen Formen-Reichthums offenbart, ſon - dern auch in der winzigen kleinen Zelle den gemeinſamen Ele - mentar-Organismus kennen gelehrt, aus deſſen ſocialen Zell - verbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen und Thiere ebenſo wie der des Menſchen zuſammengeſetzt iſt. Dieſe anatomiſchen Kenntniſſe ſind von größter Tragweite; ſie werden ergänzt durch den embryologiſchen Nachweis, daß jeder höhere vielzellige Organismus ſich aus einer einzigen einfachen Zelle entwickelt, der befruchteten Eizelle . Die bedeutungsvolle, hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erſt das wahre Verſtändniß für die phyſikaliſchen und chemiſchen ebenſo wie für die pſychologiſchen Proceſſe des Lebens eröffnet, jene geheimniß - vollen Erſcheinungen, für deren Erklärung man früher eine über - natürliche Lebenskraft oder ein unſterbliches Seelenweſen annahm. Auch das eigentliche Weſen der Krankheit iſt durch5I. Einheit der Naturkräfte.die damit verknüpfte Cellular-Pathologie dem Arzte erſt klar und verſtändlich geworden.

Nicht minder gewaltig ſind aber die Entdeckungen des 19. Jahrhunderts im Bereiche der anorganiſchen Natur. Die Phyſik hat in allen Theilen ihres Gebiets, in der Optik und Akuſtik, in der Lehre vom Magnetismus und der Elektricität, in der Me - chanik und Wärmelehre die erſtaunlichſten Fortſchritte gemacht; und, was wichtiger iſt, ſie hat die Einheit der Naturkräfte im ganzen Univerſum nachgewieſen. Die mechaniſche Wärme - Theorie hat gezeigt, wie eng dieſelben zuſammenhängen, und wie jede unter beſtimmten Bedingungen ſich direkt in die andere verwandeln kann. Die Spektral-Analyſe hat uns gelehrt, daß dieſelben Stoffe, welche unſeren Erdkörper und ſeine leben - digen Bewohner zuſammenſetzen, auch die Maſſe der übrigen Planeten, der Sonne und der entfernteſten Fixſterne zuſammen - ſetzen. Die Aſtrophyſik hat unſere Weltanſchauung im groß - artigſten Maaßſtabe erweitert, indem ſie uns im unendlichen Weltraum Millionen von kreiſenden Weltkörpern nachgewieſen hat, größer als unſere Erde, und gleich dieſer in beſtändiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechſel von Werden und Vergehen . Die Chemie hat uns mit einer Maſſe von neuen, früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr ſiebzig) beſtehen, und die zum Theil die größte praktiſche Be - deutung in allen Lebensgebieten gewonnen haben. Sie hat gezeigt, daß eines von dieſen Elementen, der Kohlenſtoff, der wunderbare Körper iſt, welcher die Bildung der unendlich mannich - faltigen organiſchen Verbindungen bewirkt und ſomit die che - miſche Baſis des Lebens darſtellt. Alle einzelnen Fortſchritte der Phyſik und Chemie ſtehen aber an theoretiſcher Bedeutung der Erkenntniß des gewaltigen Geſetzes nach, welches alle in einem gemeinſamen Brennpunkt vereinigt, des Subſtanz-Geſetzes. 6Subſtanz-Geſetz und Entwickelungslehre. I. Indem dieſes kosmologiſche Grundgeſetz die ewige Erhaltung der Kraft und des Stoffes, die allgemeine Conſtanz der Energie und der Materie im ganzen Weltall nachweiſt, iſt es der ſichere Leitſtern geworden, der unſere moniſtiſche Philoſophie durch das gewaltige Labyrinth der Welträthſel zu deren Löſung führt.

Da es unſere Aufgabe ſein wird, in den folgenden Kapiteln eine allgemeine Ueberſicht über den jetzigen Stand unſerer Natur - Erkenntniß und über ihre Fortſchritte in unſerem Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Muſterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortſchritt wollen wir noch hervorheben, welcher dem Subſtanz-Geſetz eben - bürtig iſt und welcher dasſelbe ergänzt, die Begründung der Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forſcher ſchon ſeit Jahrtauſenden von Entwickelung der Dinge ge - ſprochen; daß aber dieſer Begriff das Univerſum beherrſcht, und daß die Welt ſelbſt weiter Nichts iſt, als eine ewige Ent - wickelung der Subſtanz , dieſer gewaltige Gedanke iſt ein Kind unſeres 19. Jahrhunderts. Erſt in der zweiten Hälfte deſſelben gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unſterbliche Verdienſt, dieſen höchſten philoſophiſchen Begriff empiriſch begründet und zu umfaſſender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen engliſchen Naturforſcher Charles Darwin; er lieferte uns 1859 den feſten Grund für jene Abſtammungslehre, welche der geniale franzöſiſche Natur - philoſoph Jean Lamarck ſchon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unſer größter deutſcher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, ſchon 1799 pro - phetiſch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüſſel zur Frage aller Fragen geſchenkt, zu dem großen Welträthſel von der Stellung des Menſchen in der Natur und von ſeiner natürlichen Entſtehung. Wenn wir heute, 1899, im Stande7I. Praktiſche Fortſchritte der Kultur.ſind, die Herrſchaft des Entwickelungs-Geſetzes und zwar der moniſtiſchen Geneſis! im Geſammtgebiete der Natur klar zu erkennen und ſie in Verbindung mit dem Subſtanz-Geſetze zur einheitlichen Erklärung aller Natur - erſcheinungen zu benutzen, ſo verdanken wir dies in erſter Linie jenen drei genialen Naturphiloſophen; ſie leuchten uns deßhalb als drei Sterne erſter Größe unter allen anderen großen Männern unſeres Jahrhunderts*)Vergl. E. Haeckel, Die Naturanſchauung von Darwin, Goethe und Lamarck. (Vortrag in Eiſenach.) Jena 1882..

Dieſen erſtaunlichen Fortſchritten unſerer theoretiſchen Natur-Erkenntniß entſpricht deren mannichfaltige praktiſche Anwendung auf allen Gebieten des menſchlichen Kulturlebens. Wenn wir heute im Zeitalter des Verkehrs ſtehen, wenn der internationale Handel und das Reiſen eine früher nicht geahnte Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittels Telegraph und Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben, ſo verdanken wir das in erſter Linie den techniſchen Fortſchritten der Phyſik, beſonders in der Anwendung der Dampfkraft und der Elektricität. Wenn wir durch die Photographie mit größter Leichtigkeit das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenſtande zu ver - ſchaffen, wenn wir in der Landwirthſchaft und in den ver - ſchiedenſten Gewerben erſtaunliche praktiſche Fortſchritte gemacht haben, wenn wir in der Medicin durch Chloroform und Mor - phium, durch antiſeptiſche und Serum-Therapie die Leiden der Menſchheit unendlich gemildert haben, ſo verdanken wir dies der angewandten Chemie. Wie ſehr wir durch dieſe und andere Erfindungen der Technik alle früheren Jahrhunderte weit über - flügelt haben, iſt ſo allbekannt, daß wir es hier nicht weiter auszuführen brauchen.

8Zuſtand der modernen Rechtspflege. I.

Fortſchritte der ſocialen Einrichtungen. Während wir ſo heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortſchritte des 19. Jahrhunderts in der Natur-Erkenntniß und deren praktiſcher Verwerthung zurückblicken, ſo bietet ſich uns leider ein ganz anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir nun andere, nicht minder wichtige Gebiete dieſes modernen Kultur-Lebens in's Auge faſſen. Zu unſerem Bedauern müſſen wir da den Satz von Alfred Wallace unterſchreiben: Verglichen mit unſeren erſtaunlichen Fortſchritten in den phyſikaliſchen Wiſſen - ſchaften und in ihrer praktiſchen Anwendung, bleibt unſer Syſtem der Regierung, der adminiſtrativen Juſtiz, der National-Erziehung und unſere ganze ſociale und moraliſche Organiſation in einem Zuſtande der Barbarei. Um uns von der Wahrheit dieſer ſchweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen unbefangenen Blick mitten in unſer öffentliches Leben hinein zu werfen oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unſere Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vorhält.

Unſere Rechtspflege. Beginnen wir unſere Rundſchau mit der Juſtiz, dem Fundamentum regnorum . Niemand wird behaupten können, daß deren heutiger Zuſtand mit unſerer fortgeſchrittenen Erkenntniß des Menſchen und der Welt in Ein - klang ſei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richter - lichen Urtheilen leſen, über welche der geſunde Menſchen-Ver - ſtand bedenklich das Haupt ſchüttelt; viele Entſcheidungen unſerer höheren und niederen Gerichtshöfe erſcheinen geradezu unbegreiflich. Wir ſehen bei Behandlung dieſes Welträthſels ganz davon ab, daß in vielen modernen Staaten trotz der auf Papier gedruckten Verfaſſung noch thatſächlich der Abſo - lutismus herrſcht, und daß viele Männer des Rechts nicht nach ehrlicher Ueberzeugung urtheilen, ſondern entſprechend dem höheren Wunſche von maßgebender Stelle . Wir nehmen viel - mehr an, daß die meiſten Richter und Staatsanwälte nach9I. Zuſtand der modernen Staatsordnung.beſtem Gewiſſen urtheilen und nur menſchlich irren. Dann er - klären ſich wohl die meiſten Irrthümer durch mangelhafte Vor - bildung. Freilich herrſcht vielfach die Anſicht, daß gerade die Juriſten die höchſte Bildung beſitzen; werden ſie ja doch gerade deßhalb bei der Beſetzung der verſchiedenſten Aemter vorgezogen. Allein dieſe vielgerühmte juriſtiſche Bildung iſt größtentheils eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Haupt-Objekt ihrer Thätigkeit, den menſchlichen Organismus, und ſeine wich - tigſte Funktion, die Seele, lernen unſere Juriſten nur oberflächlich kennen; das beweiſen z. B. die wunderlichen Anſichten von Willensfreiheit, Verantwortung u. ſ. w., denen wir täglich begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juriſten verſicherte, daß die winzige kugelige Eizelle, aus der ſich jeder Menſch ent - wickelt, lebendig ſei, ebenſo mit Leben begabt, wie der Embryo von zwei oder ſieben oder neun Monaten, fand ich nur un - gläubiges Lächeln. Den meiſten Studirenden der Jurisprudenz fällt es gar nicht ein, Anthropologie, Pſychologie und Entwickelungsgeſchichte zu treiben, die erſten Vorbedin - gungen für richtige Beurtheilung des Menſchen-Weſens. Freilich bleibt dazu auch keine Zeit ; dieſe wird leider nur zu ſehr durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anſpruch genommen, ſowie das veredelnde Menſuren-Weſen; der Reſt der koſtbaren Studien-Zeit aber iſt nothwendig, um die Hunderte von Paragraphen der Geſetzbücher zu erlernen, deren Kenntniß den Juriſten zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kultur - Staate befähigt.

Unſere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik wollen wir hier nur ganz flüchtig ſtreifen, da die unerfreulichen Zuſtände des modernen Staatslebens allbekannt und Jedermann täglich fühlbar ſind. Zum großen Theile erklären ſich deren Mängel daraus, daß die meiſten Staatsbeamten eben Juriſten ſind, Männer von ausgezeichneter formaler Bildung, aber ohne10Zuſtand der modernen Staatsordnung. I. jene gründliche Kenntniß der Menſchen-Natur, die nur durch vergleichende Anthropologie und moniſtiſche Pſychologie erworben werden kann, ohne jene Kenntniß der ſocialen Verhältniſſe, deren organiſche Vorbilder uns die vergleichende Zoologie und Entwickelungsgeſchichte, die Zellen-Theorie und die Protiſtenkunde liefert. Bau und Leben des ſocialen Körpers , d. h. des Staates, lernen wir nur dann richtig verſtehen, wenn wir naturwiſſenſchaftliche Kenntniß von Bau und Leben der Per - ſonen beſitzen, welche den Staat zuſammenſetzen, und der Zellen, welche jene Perſonen zuſammenſetzen*)Vergl. A. Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers. 1875.. Wenn dieſe unſchätzbaren biologiſchen und anthropologiſchen Vorkenntniſſe unſere Staatslenker beſäßen, und unſere Volksvertreter , die mit ihnen zuſammenwirken, ſo würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene entſetzliche Fülle von ſociologiſchen Irrthümern und von politiſcher Kannegießerei zu leſen ſein, welche unſere Parlaments-Berichte und auch viele Regierungs-Erlaſſe nicht gerade erfreulich auszeichnen. Das Schlimmſte freilich iſt, wenn der moderne Kulturſtaat ſich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und wenn der bornirte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurz - ſichtigen Parteiführer die Hierarchie unterſtützt. Dann entſtehen ſo traurige Bilder, wie ſie uns leider jetzt am Schluſſe des 19. Jahrhunderts der deutſche Reichstag vor Augen führt: die Geſchicke des gebildeten deutſchen Volkes in der Hand des ultra - montanen Centrums, unter der Leitung des römiſchen Papismus, der ſein ärgſter und gefährlichſter Feind iſt. Statt Recht und Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unſere Staatsordnung kann nur dann beſſer werden, wenn ſie ſich von den Feſſeln der Kirche befreit, und wenn ſie durch allgemeine naturwiſſenſchaftliche Bildung die Welt - und Menſchen -11I. Zuſtand der modernen Schule.Kenntniß der Staatsbürger auf eine beſſere Stufe hebt. Dabei kommt es gar nicht auf die beſondere Staatsform an. Ob Monarchie oder Republik, ob ariſtokratiſche oder demokratiſche Verfaſſung, das ſind untergeordnete Fragen gegenüber der großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturſtaat geiſtlich oder weltlich ſein? ſoll er theokratiſch durch unvernünftige Glaubensſätze und klerikale Willkür, oder ſoll er nomokratiſch durch ver - nünftige Geſetze und bürgerliches Recht geleitet werden? Die Haupt - aufgabe iſt, unſere Jugend zu vernünftigen, vom Aberglauben befreiten Staatsbürgern heranzuziehen, und das kann nur durch eine zeitgemäße Schul-Reform geſchehen.

Unſere Schule. Ebenſo wie unſere Rechtspflege und Staats - ordnung, entſpricht auch unſere Jugenderziehung durchaus nicht den Anforderungen, welche die wiſſenſchaftlichen Fortſchritte des 19. Jahrhunderts an die moderne Bildung ſtellen. Die Natur - wiſſenſchaft, die alle anderen Wiſſenſchaften ſo weit über - flügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle ſogenannten Geiſteswiſſenſchaften in ſich aufgenommen hat, wird in unſeren Schulen immer noch als Nebenſache behandelt oder als Aſchen - brödel in die Ecke geſtellt. Dagegen erſcheint unſeren meiſten Lehrern immer noch als Hauptaufgabe jene todte Gelehrſamkeit, die aus den Kloſterſchulen des Mittelalters übernommen iſt; im Vordergrunde ſteht der grammatikaliſche Sport und die zeit - raubende gründliche Kenntniß der klaſſiſchen Sprachen, ſowie der äußerlichen Völkergeſchichte. Die Sittenlehre, der wichtigſte Gegenſtand der praktiſchen Philoſophie, wird vernachläſſigt und an ihre Stelle die kirchliche Konfeſſion geſetzt. Der Glaube ſoll dem Wiſſen vorangehen; nicht jener wiſſenſchaftliche Glaube, welcher uns zu einer moniſtiſchen Religion führt, ſondern jener unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunſtalteten Chriſtenthums bildet. Während die großartigen Erkenntniſſe der modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie12Zuſtand der modernen Kirche. I. und Entwicklungslehre auf unſeren höheren Schulen gar keine oder nur ganz ungenügende Verwerthung finden, wird das Ge - dächtniß mit einer Unmaſſe von philologiſchen und hiſtoriſchen Thatſachen überladen, die weder für die theoretiſche Bildung noch für das praktiſche Leben von Nutzen ſind. Aber auch die veralteten Einrichtungen und Fakultäts-Verhältniſſe der Univerſi - täten entſprechen der heutigen Entwicklungsſtufe der moniſtiſchen Weltanſchauung ebenſo wenig, als die Unterrichts-Leitung in den Gymnaſien und in den niederen Schulen.

Unſere Kirche. Den Gipfel des Gegenſatzes gegen die moderne Bildung und gegen deren Grundlage, die vorgeſchrittene Natur-Erkenntniß, erreicht unſtreitig die Kirche. Wir wollen hier gar nicht vom ultramontanen Papismus ſprechen, oder von den orthodoxen evangeliſchen Richtungen, welche dieſem in Bezug auf Unkenntniß der Wirklichkeit und Lehre des kraſſeſten Aber - glaubens nichts nachgeben. Vielmehr verſetzen wir uns in die Predigt eines liberalen proteſtantiſchen Pfarrers, der gute Durch - ſchnittsbildung beſitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sitten - lehren, die mit unſerer moniſtiſchen Ethik (im 19. Kapitel) voll - kommen harmoniren, und neben humaniſtiſchen Erörterungen, die wir durchaus billigen, Vorſtellungen über das Weſen von Gott und Welt, von Menſch und Leben, welche allen Erfahrungen der Naturforſchung direct widerſprechen. Es iſt kein Wunder, wenn Techniker und Chemiker, Aerzte und Philoſophen, die gründlich über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, ſolchen Pre - digten kein Gehör ſchenken wollen. Es fehlt eben unſeren Theo - logen ebenſo wie unſeren Philologen, unſeren Politikern ebenſo wie unſeren Juriſten an jener unentbehrlichen Natur - kenntniß, welche ſich auf die moniſtiſche Entwickelungslehre gründet, und welche bereits in den feſten Beſitzſtand unſerer modernen Wiſſenſchaft übergegangen iſt.

13I. Vernunft und Offenbarung.

Konflikt zwiſchen Vernunft und Dogma. Aus dieſen bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegenſätzen ergeben ſich für unſer modernes Kultur-Leben ſchwere Konflikte, deren Gefahr dringend zur Beſeitigung auffordert. Unſere heutige Bildung, als Ergebniß der mächtig vorgeſchrittenen Wiſſenſchaft, verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens; ſie wünſcht die Menſchheit mittels der Ver - nunft auf jene höhere Stufe der Erkenntniß und damit zugleich auf jenen beſſeren Weg zum Glück erhoben zu ſehen, welche wir unſerer hoch entwickelten Naturwiſſenſchaft verdanken. Dagegen ſträuben ſich aber mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreiſe, welche unſere Geiſtesbildung in betreff der wichtigſten Probleme in den überwundenen Anſchauungen des Mittelalters zurückhalten wollen: ſie verharren im Banne der traditionellen Dogmen und verlangen, daß die Vernunft ſich unter dieſe höhere Offen - barung beugen ſolle. Das iſt der Fall in weiten Kreiſen der Theologie und Philologie, der Sociologie und Jurisprudenz. Die Beweggründe dieſer letzteren beruhen zum größten Theile gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf eigennützigem Streben, ſondern theils auf Unkenntniß der realen Thatſachen, theils auf der bequemen Gewohnheit der Tradition. Von den drei großen Feindinnen der Vernunft und Wiſſenſchaft iſt die gefährlichſte nicht die Bosheit, ſondern die Unwiſſenheit und vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen dieſe beiden letzteren Mächte kämpfen ſelbſt Götter dann noch vergebens, wenn ſie die erſtere glücklich überwunden haben.

Anthropismus. Eine der mächtigſten Stützen gewährt jener rückſtändigen Weltanſchauung der Anthropismus oder die Vermenſchlichung . Unter dieſem Begriffe verſtehe ich jenen mächtigen und weit verbreiteten Complex von irrthüm - lichen Vorſtellungen, welcher den menſchlichen Organismus in Gegenſatz zu der ganzen übrigen Natur ſtellt, ihn als vor -14Anthropiſtiſche Irrthümer. I. bedachtes Endziel der organiſchen Schöpfung und als ein prin - cipiell von dieſer verſchiedenes, gottähnliches Weſen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieſes einflußreichen Vorſtellungs-Kreiſes ergiebt ſich, daß derſelbe eigentlich aus drei verſchiedenen Dogmen beſteht, die wir als den anthropocentriſchen, anthropomor - phiſchen und anthropolatriſchen Irrthum unterſcheiden *)E. Haeckel, Syſtematiſche Phylogenie. 1895. Bd. III, S. 646 bis 650: Anthropogenie und Anthropismus . (Anthropolatrie bedeutet: Göttliche Verehrung des menſchlichen Weſens .). I. Das anthropocentriſche Dogma gipfelt in der Vor - ſtellung, daß der Menſch der vorbedachte Mittelpunkt und End - zweck alles Erdenlebens oder in weiterer Faſſung der ganzen Welt ſei. Da dieſer Irrthum dem menſchlichen Eigennutz äußerſt erwünſcht, und da er mit den Schöpfungs-Mythen der drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der moſaiſchen, chriſtlichen und mohammedaniſchen Lehre innig verwachſen iſt, beherrſcht er auch heute noch den größten Theil der Kulturwelt. II. Das anthropomorphiſche Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungs-Mythen der drei genannten, ſowie vieler anderer Religionen an. Es vergleicht die Weltſchöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunſt - ſchöpfungen eines ſinnreichen Technikers oder Maſchinen-In - genieurs und mit der Staatsregierung eines weiſen Herrſchers. Gott der Herr als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in ſeinem Denken und Handeln durchaus menſchen - ähnlich vorgeſtellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Menſch gottähnlich iſt. Gott ſchuf den Menſchen nach ſeinem Bilde. Die ältere naive Mythologie iſt reiner Homo - theismus und verleiht ihren Göttern Menſchengeſtalt, Fleiſch und Blut. Weniger vorſtellbar iſt die neuere myſtiſche Theoſophie, welche den perſönlichen Gott als unſichtbares eigentlich gasförmiges! Weſen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach15I. Anthropiſtiſche Irrthümer.Menſchenart denken, ſprechen und handeln läßt; ſie gelangt da - durch zu dem paradoxen Begriff eines gasförmigen Wirbel - thieres . III. Das anthropolatriſche Dogma ergiebt ſich aus dieſer Vergleichung der menſchlichen und göttlichen Seelenthätigkeit von ſelbſt; es führt zu der göttlichen Ver - ehrung des menſchlichen Organismus, zum anthropiſtiſchen Größenwahn . Daraus folgt wieder der hochgeſchätzte Glaube an die perſönliche Unſterblichkeit der Seele , ſowie das dualiſtiſche Dogma von der Doppelnatur des Menſchen, deſſen unſterbliche Seele den ſterblichen Körper nur zeitweiſe bewohnt. Indem nun dieſe drei anthropiſtiſchen Dogmen mannichfach ausgebildet und der wechſelnden Glaubensform der verſchiedenen Religionen angepaßt wurden, erlangten ſie im Laufe der Zeit eine außer - ordentliche Bedeutung und wurden zur Quelle der gefährlichſten Irrthümer. Die anthropiſtiſche Weltanſchauung, die daraus entſprang, ſteht in unverſöhnlichem Gegenſatz zu unſerer moniſtiſchen Natur-Erkenntniß; ſie wird zunächſt ſchon durch deren kosmologiſche Perſpektive widerlegt.

Kosmologiſche Perſpektive. Nicht allein die drei anthro - piſtiſchen Dogmen, ſondern auch viele andere Anſchauungen der dualiſtiſchen Philoſophie und der orthodoxen Religion offenbaren ihre Unhaltbarkeit, ſobald wir ſie aus der kosmologiſchen Perſpektive unſers Monismus kritiſch betrachten. Wir ver - ſtehen darunter jene umfaſſende Anſchauung des Welt - ganzen, welche wir vom höchſten erklommenen Standpunkt der moniſtiſchen Natur-Erkenntniß gewonnen haben. Da überzeugen wir uns von folgenden wichtigen, nach unſerer Anſicht jetzt größtentheils bewieſenen kosmologiſchen Lehrſätzen .

1. Das Weltall (Univerſum oder Kosmos) iſt ewig, un - endlich und unbegrenzt. 2. Die Subſtanz deſſelben mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet ſich in ewiger Bewegung. 3. Dieſe Bewegung16Kosmologiſche Lehrſätze. I. verläuft in der unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwicklung, mit periodiſchem Wechſel von Werden und Vergehen, von Fort - bildung und Rückbildung. 4. Die unzähligen Weltkörper, welche im raumerfüllenden Aether vertheilt ſind, unterliegen ſämmtlich dem Subſtanz-Geſetz; während in einem Theile des Univerſum die rotirenden Weltkörper langſam ihrer Rückbildung und ihrem Untergang entgegen gehen, erfolgt in einem andern Theile des Weltraums Neubildung und Fortentwicklung. 5. Unſere Sonne iſt einer von dieſen unzähligen vergänglichen Weltkörpern, und unſere Erde iſt einer von den zahlreichen vergänglichen Planeten, welche dieſelbe umkreiſen. 6. Unſere Erde hat einen langen Abkühlungs-Proceß durchgemacht, ehe auf derſelben tropfbar flüſſiges Waſſer und damit die erſte Vorbedingung organiſchen Lebens entſtehen konnte. 7. Der dann folgende biogenetiſche Proceß, die langſame Entwicklung und Umbildung zahlloſer organiſcher Formen, hat viele Millionen Jahre (weit über hundert!) in Anſpruch genommen*)Zeitdauer der organiſchen Erdgeſchichte. Vergl. meinen Cambridge - Vortrag: Ueber unſere gegenwärtige Kenntniß vom Urſprunge des Menſchen. Bonn 1898. VII. Aufl., S. 51.. 8. Unter den verſchiedenen Thier-Stämmen, welche ſich im ſpäteren Verlaufe des biogene - tiſchen Proceſſes auf unſerer Erde entwickelten, hat der Stamm der Wirbelthiere im Wettlaufe der Entwickelung neuerdings alle anderen weit überflügelt. 9. Als der bedeutendſte Zweig des Wirbelthier-Stammes hat ſich erſt ſpät (während der Trias - Periode) aus niederen Reptilien und Amphibien die Klaſſe der Säugethiere entwickelt. 10. Der vollkommenſte und höchſt ent - wickelte Zweig dieſer Klaſſe iſt die Ordnung der Herrenthiere oder Primaten, die erſt im Beginne der Tertiär-Zeit (vor min - deſtens drei Millionen Jahren) durch Umbildung aus niederſten Zottenthieren (Prochoriaten) entſtanden iſt. 11. Das jüngſte und vollkommenſte Aeſtchen des Primaten-Zweiges iſt der Menſch,17I. Kosmologiſche Perſpektive.der erſt gegen Ende der Tertiär-Zeit aus einer Reihe von Menſchen-Affen hervorgegangen iſt. 12. Demnach iſt die ſo - genannte Weltgeſchichte d. h. der kurze Zeitraum von wenigen Jahrtauſenden, innerhalb deſſen ſich die Kulturgeſchichte des Menſchen abgeſpielt hat, eine verſchwindend kurze Epiſode in dem langen Verlaufe der organiſchen Erdgeſchichte, ebenſo wie dieſe ſelbſt ein kleines Stück von der Geſchichte unſeres Planeten-Syſtems; und wie unſere Mutter Erde ein vergäng - liches Sonnenſtäubchen im unendlichen Weltall, ſo iſt der einzelne Menſch ein winziges Plasma-Körnchen in der vergänglichen or - ganiſchen Natur.

Nichts ſcheint mir geeigneter als dieſe großartige kosmo - logiſche Perſpektive, um von vornherein den richtigen Maaß - ſtab und den weitſichtigen Standpunkt feſtzuſetzen, welchen wir zur Löſung der großen, uns umgebenden Welträthſel einhalten müſſen. Denn dadurch wird nicht nur die maaßgebende Stellung des Menſchen in der Natur klar bewieſen, ſondern auch der herr - ſchende anthropiſtiſche Größenwahn widerlegt, die An - maaßung, mit der der Menſch ſich dem unendlichen Univerſum gegenüberſtellt und als wichtigſten Theil des Weltalls verherrlicht. Dieſe grenzenloſe Selbſtüberhebung des eiteln Menſchen hat ihn dazu verführt, ſich als Ebenbild Gottes zu betrachten, für ſeine vergängliche Perſon ein ewiges Leben in Anſpruch zu nehmen und ſich einzubilden, daß er unbeſchränkte Freiheit des Willens beſitzt. Der lächerliche Cäſaren-Wahn des Caligula iſt eine ſpecielle Form dieſer hochmüthigen Selbſtvergötterung des Menſchen. Erſt wenn wir dieſen unhaltbaren Größenwahn auf - geben und die naturgemäße kosmologiſche Perſpektive einnehmen, können wir zur Löſung der Welträthſel gelangen1.

Zahl der Welträthſel. Der ungebildete Kulturmenſch iſt noch ebenſo wie der rohe Naturmenſch auf Schritt und Tritt von unzähligen Welträthſeln umgeben. Je weiter die KulturHaeckel, Welträthſel. 218Zahl der Welträthſel. I. fortſchreitet und die Wiſſenſchaft ſich entwickelt, deſto mehr wird ihre Zahl beſchränkt. Die moniſtiſche Philoſophie wird ſchließlich nur ein einziges, allumfaſſendes Welträthſel anerkennen, das Subſtanz-Problem . Immerhin kann es aber zweck - mäßig erſcheinen, auch eine gewiſſe Zahl von ſchwierigſten Pro - blemen mit jenem Namen zu bezeichnen. In der berühmten Rede, welche Emil du Bois-Reymond 1880 in der Leibniz - Sitzung der Berliner Akademie der Wiſſenſchaften hielt, unter - ſcheidet er Sieben Welträthſel und führt dieſelben in nach - ſtehender Reihenfolge auf: I. das Weſen von Materie und Kraft, II. der Urſprung der Bewegung, III. die erſte Entſtehung des Lebens IV. die (anſcheinend abſichtsvoll) zweckmäßige Einrichtung der Natur, V. das Entſtehen der einfachen Sinnesempfindung und des Bewußtſeins, VI. das vernünftige Denken und der Urſprung der damit eng verbundenen Sprache, VII. die Frage nach der Willens-Freiheit. Von dieſen ſieben Welträthſeln erklärt der Rhetor der Berliner Akademie drei für ganz transcendent und unlösbar (das erſte, zweite und fünfte); drei andere hält er zwar für ſchwierig, aber für lösbar (das dritte, vierte und ſechſte); bezüglich des ſiebenten und letzten Welträthſels , wel - ches praktiſch das wichtigſte iſt, nämlich der Willensfreiheit, ver - hält er ſich unentſchieden.

Da mein Monismus ſich von demjenigen des Berliner Rhetors weſentlich unterſcheidet, da aber anderſeits ſeine Auf - faſſung der ſieben Welträthſel großen Beifall in weiten Kreiſen gefunden hat, halte ich es für zweckmäßig, gleich hier von vorn - herein zu denſelben klare Stellung zu nehmen. Nach meiner Anſicht werden die drei transcendenten Räthſel (I, II, V) durch unſere Auffaſſung der Subſtanz erledigt (Kapitel 12); die drei anderen, ſchwierigen, aber lösbaren Probleme (III, IV, VI) ſind durch unſere moderne Entwicklungslehre endgültig gelöſt; das ſiebente und letzte Welträthſel, die Willensfreiheit,19I. Löſung der Welträthſel.iſt gar kein Objekt kritiſcher wiſſenſchaftlicher Erklärung, da ſie als reines Dogma nur auf Täuſchung beruht und in Wirk - lichkeit gar nicht exiſtirt.

Löſung der Welträthſel. Die Mittel und Wege, welche wir zur Löſung der großen Welträthſel einzuſchlagen haben, ſind keine anderen als diejenigen der reinen wiſſenſchaftlichen Er - kenntniß überhaupt, alſo erſtens Erfahrung und zweitens Schlußfolgerung. Die wiſſenſchaftliche Erfahrung erwerben wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erſter Linie unſere Sinnes-Organe, in zweiter die inneren Sinnes - herde unſerer Großhirnrinde thätig ſind. Die mikroſkopiſchen Elementar-Organe der erſteren ſind die Sinneszellen, die der letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche wir von der Außenwelt durch dieſe unſchätzbarſten Organe unſers Geiſteslebens erhalten haben, werden dann durch andere Gehirntheile in Vorſtellungen umgeſetzt und dieſe wiederum durch Aſſociation zu Schlüſſen verknüpft. Die Bildung dieſer Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verſchiedenen Wegen, die nach meiner Ueberzeugung gleich werthvoll und unentbehrlich ſind: Induktion und Deduktion. Die weiteren ver - wickelten Gehirn-Operationen, die Bildung von zuſammenhängen - den Kettenſchlüſſen, die Abſtraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des erkennenden Verſtandes durch die plaſtiſche Thätig - keit der Phantaſie, ſchließlich das Bewußtſein, das Denken und Philoſophiren, ſind ebenſo Funktionen der Ganglien-Zellen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelenthätig - keiten. Alle zuſammen vereinigen wir in dem höchſten Begriffe der Vernunft*)Ueber Induktion und Deduktion vergl. meine Natürliche Schöpfungs - geſchichte, neunte Auflage 1898, S. 76, 796..

Vernunft, Gemüth und Offenbarung. Durch die Ver - nunft allein können wir zur wahren Natur-Erkenntniß und zur2 *20Vernunft, Gemüth und Offenbarung. I. Löſung der Welträthſel gelangen. Die Vernunft iſt das höchſte Gut des Menſchen und derjenige Vorzug, der ihn allein von den Thieren weſentlich unterſcheidet. Allerdings hat ſie aber dieſen hohen Werth erſt durch die fortſchreitende Kultur und Geiſtesbildung, durch die Entwickelung der Wiſſenſchaft er - halten. Der ungebildete Menſch und der rohe Naturmenſch ſind ebenſo wenig (oder ebenſo viel) vernünftig als die nächſt - verwandten Säugethiere (Affen, Hunde, Elephanten u. ſ. w.). Nun iſt aber in weiten Kreiſen noch heute die Anſicht verbreitet, daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere (ja ſogar wichtigere!) Erkenntniß-Wege gebe: Gemüth und Offen - barung. Dieſem gefährlichen Irrthum müſſen wir von vorn - herein entſchieden entgegentreten. Das Gemüth hat mit der Erkenntniß der Wahrheit gar Nichts zu thun. Was wir Gemüth nennen und hochſchätzen, iſt eine ver - wickelte Thätigkeit des Gehirns, welche ſich aus Gefühlen der Luſt und Unluſt, aus Vorſtellungen der Zuneigung und Abneigung, aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zuſammenſetzt. Dabei können die verſchiedenſten anderen Thätigkeiten des Or - ganismus mitſpielen, Bedürfniſſe der Sinne und der Muskeln, des Magens und der Geſchlechtsorgane u. ſ. w. Die Erkenntniß der Wahrheit fördern alle dieſe Gemüths-Zuſtände und Gemüths - Bewegungen in keiner Weiſe; im Gegentheil ſtören ſie oft die allein dazu befähigte Vernunft und ſchädigen ſie häufig in empfindlichem Grade. Noch kein Welträthſel iſt durch die Gehirn-Funktion des Gemüths gelöſt oder auch nur gefördert worden. Daſſelbe gilt aber auch von der ſogenannten Offen - barung und den angeblichen, dadurch erreichten Glaubens - wahrheiten ; dieſe beruhen ſämmtlich auf bewußter oder unbewußter Täuſchung, wie wir im 16. Kapitel ſehen werden.

Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. Als einen der er - freulichſten Fortſchritte zur Löſung der Welträthſel müſſen wir21I. Erfahrung und Denken.es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen, dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken oder Empirie und Spekulation als gleichberechtigte und ſich gegenſeitig ergänzende Erkenntniß-Methoden anerkannt worden ſind. Die Philoſophen haben allmählich eingeſehen, daß die reine Spekulation, wie ſie z. B. Plato und Hegel zur idealen Welt-Conſtruction benutzten, zur wahren Erkenntniß nicht aus - reicht. Und ebenſo haben ſich anderſeits die Naturforſcher überzeugt, daß die bloße Erfahrung, wie ſie z. B. Baco und Mill zur Grundlage der realen Weltanſchauung erhoben, für deren Vollendung allein ungenügend iſt. Denn die zwei großen Erkenntniß-Wege, die ſinnliche Erfahrung und das vernünftige Denken, ſind zwei verſchiedene Gehirn-Functionen; die erſtere wird durch die Sinnesorgane und die centralen Sinnesherde, die letztere durch die dazwiſchen liegenden Denk - herde, die großen Aſſocions-Centren der Großhirnrinde ver - mittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10.) Erſt durch die vereinigte Thätigkeit beider entſteht wahre Erkenntniß. Allerdings giebt es auch heute noch manche Philoſophen, welche die Welt bloß aus ihrem Kopfe conſtruiren wollen, und welche die empiriſche Naturerkenntniß ſchon deßhalb verſchmähen, weil ſie die wirkliche Welt nicht kennen. Anderſeits behaupten auch heute noch manche Naturforſcher, daß die einzige Aufgabe der Wiſſenſchaft das thatſächliche Wiſſen, die objektive Erforſchung der einzelnen Natur-Erſcheinungen ſei ; das Zeitalter der Philoſophie ſei vorüber, und an ihre Stelle ſei die Naturwiſſenſchaft getreten*)Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Univerſität und der Uebergang aus dem philoſophiſchen in das naturwiſſenſchaftliche Zeit - alter. Berlin 1893.. Dieſe einſeitige Ueberſchätzung der Empirie iſt ebenſo ein gefähr - licher Irrthum wie jene entgegengeſetzte der Spekulation. Beide Erkenntniß-Wege ſind ſich gegenſeitig unentbehrlich. Die größten22Empirie und Spekulation. I. Triumphe der modernen Naturforſchung, die Zellentheorie und die Wärmetheorie, die Entwickelungstheorie und das Subſtanz - Geſetz, ſind philoſophiſche Thaten, aber nicht Ergebniſſe der reinen Spekulation, ſondern der vorausgegangenen, aus - gedehnteſten und gründlichſten Empirie.

Am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts rief unſer größter idealiſtiſcher Dichter, Schiller, den beiden ſtreitenden Heeren, den Philoſophen und Naturforſchern, zu:

Feindſchaft ſei zwiſchen Euch! Noch kommt das Bündniß zu frühe! Wenn Ihr im Suchen Euch trennt, wird erſt die Wahrheit erkannt!

Seitdem hat ſich das Verhältniß zum Glück gründlich ge - ändert; indem beide Heere auf verſchiedenen Wegen nach dem - ſelben höchſten Ziele ſtrebten, haben ſie ſich in demſelben zu - ſammengefunden und nähern ſich im gemeinſamen Bunde immer mehr der Erkenntniß der Wahrheit. Wir ſind jetzt am Ende des Jahrhunderts zu jener moniſtiſchen Erkenntniß - Methode zurückgekehrt, welche ſchon an deſſen Anfang von unſerm größten realiſtiſchen Dichter, Goethe, als die einzig naturgemäße anerkannt war*)Vergl. hierüber das 4. Kapitel meiner Generellen Morphologie , 1866: Kritik der naturwiſſenſchaftlichen Methoden..

Dualismus und Monismus. Alle verſchiedenen Rich - tungen der Philoſophie laſſen ſich, vom heutigen Standpunkte der Naturwiſſenſchaft beurtheilt, in zwei entgegengeſetzte Reihen bringen, einerſeits die dualiſtiſche oder zwieſpältige, anderſeits die moniſtiſche oder einheitliche Weltanſchauung. Gewöhnlich iſt die erſtere mit teleologiſchen und idealiſtiſchen Dogmen ver - knüpft, die letztere mit mechaniſtiſchen und realiſtiſchen Grund - begriffen. Der Dualismus (im weiteſten Sinne!) zerlegt das Univerſum in zwei ganz verſchiedene Subſtanzen, die mate - rielle Welt und den immateriellen Gott, der ihr als Schöpfer, Erhalter und Regierer gegenüberſteht. Der Monismus hin -23I. Monismus und Dualismus.gegen (ebenfalls im weiteſten Sinn begriffen!) erkennt im Uni - verſum nur eine einzige Subſtanz, die Gott und Natur zugleich iſt: Körper und Geiſt (oder Materie und Energie) ſind für ſie untrennbar verbunden. Der extramundane Gott des Dualis - mus führt nothwendig zum Theismus; hingegen der intra - mundane Gott des Monismus zum Pantheismus.

Materialismus und Spiritualismus. Sehr häufig wer - den auch heute noch die verſchiedenen Begriffe Monismus und Materialismus und ebenſo die weſentlich verſchiedenen Rich - tungen des theoretiſchen und des praktiſchen Materialismus ver - wechſelt. Da dieſe und andere ähnliche Begriffs-Verwirrungen höchſt nachtheilig wirken und zahlreiche Irrthümer veranlaſſen, wollen wir zur Vermeidung aller Mißverſtändniſſe nur kurz noch Folgendes bemerken: I. Unſer reiner Monismus iſt weder mit dem theoretiſchen Materialismus identiſch, welcher den Geiſt leugnet und die Welt in eine Summe von todten Atomen auflöſt, noch mit dem theoretiſchen Spiritualismus (neuer - dings von Oſtwald als Energetik bezeichnet*)Wilhelm Oſtwald, Die Ueberwindung des wiſſenſchaftlichen Materialismus. 1895., welcher die Materie leugnet und die Welt nur als eine räumlich geordnete Gruppe von Energien oder immateriellen Naturkräften betrachtet. II. Vielmehr ſind wir mit Goethe der feſten Ueberzeugung, daß die Materie nie ohne Geiſt, der Geiſt nie ohne Materie exiſtirt und wirkſam ſein kann . Wir halten feſt an dem reinen und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte Subſtanz, und der Geiſt (oder die Energie), als die empfindende oder denkende Subſtanz, ſind die beiden fundamentalen Attribute oder Grundeigenſchaften des allumfaſſenden göttlichen Weltweſens, der univerſalen Subſtanz. (Vergl. Kapitel 12.)

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Zweites Kapitel. Unſer Körperbau.

Moniſtiſche Studien über menſchliche und vergleichende Anatomie. Uebereinſtimmung in der gröberen und feineren Organiſation des Menſchen und der Säugethiere.

Wir mögen ein Syſtem von Organen vornehmen, welches wir wollen, die Ver - gleichung ihrer Modifikationen in der Affenreihe führt uns zu einem und dem - ſelben Reſultate; daß die anatomiſchen Verſchiedenheiten, welche den Menſchen vom Gorilla und Schimpanſe ſcheiden, nicht ſo groß ſind als diejenigen, welche den Gorilla von den übrigen Affen trennen.
(Thomas Huxley (1863).)
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Inhalt des zweiten Kapitels.

Grundlegende Bedeutung der Anatomie. Menſchliche Anatomie. Hippo - krates. Ariſtoteles. Galenus. Veſalius. Vergleichende Anatomie. George Cuvier. Johannes Müller. Carl Gegenbaur. Gewebelehre. Zellentheorie. Schleiden und Schwann. Kölliker. Virchow. Wirbelthier-Natur des Menſchen. Tetrapoden-Natur des Menſchen. Säugethier-Natur des Menſchen. Placentalien-Natur des Menſchen. Primaten-Natur des Menſchen. Halb - affen und Affen. Katarrhinen. Papiomorphen und Anthropomorphen. Weſentliche Gleichheit im Körperbau des Menſchen und der Menſchenaffen.

Literatur.

Carl Gegenbaur, Lehrbuch der Anatomie des Menſchen. 2 Bände. Leipzig 1883. Siebente Auflage 1899.

Rudolf Virchow, Geſammelte Abhandlungen zur wiſſenſchaftlichen Medicin. I. Die Einheits-Beſtrebungen. Frankfurt a. M. 1856.

Johannes Rauke, Der Menſch (mit über tauſend Abbildungen). Leipzig 1887.

Robert Wiedersheim, Der Bau des Menſchen als Zeugniß für ſeine Ver - gangenheit. Zweite Auflage. Leipzig 1893.

Robert Hartmann, Die menſchenähnlichen Affen und ihre Organiſation im Vergleich zur menſchlichen. Leipzig 1883.

Ernſt Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeſchichte des Menſchen. XI. Die Wirbelthier-Natur des Menſchen. Leipzig 1874. Vierte Auflage 1891.

Theodor Schwann, Mikroſkopiſche Unterſuchungen über die Uebereinſtimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Berlin 1839.

Albert Kölliker, Handbuch der Gewebelehre des Menſchen. (Für Aerzte und Studirende.) Leipzig 1852. Sechſte Auflage 1889.

Philipp Stöhr, Lehrbuch der Hiſtologie und der mikroſkopiſchen Anatomie des Menſchen. Achte Auflage. Jena 1898.

Oscar Hertwig, Die Zelle und die Gewebe. Grundzüge der allgemeinen Anatomie und Phyſiologie. Jena 1896.

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Alle biologiſchen Unterſuchungen, alle Forſchungen über die Geſtaltung und Lebensthätigkeit der Organismen haben zunächſt den ſichtbaren Körper in's Auge zu faſſen, an welchem uns die betreffenden morphologiſchen und phyſiologiſchen Er - ſcheinungen entgegentreten. Dieſer Grundſatz gilt ebenſo für den Menſchen wie für alle anderen belebten Naturkörper. Dabei darf ſich die Unterſuchung nicht mit der Betrachtung der äußeren Geſtalt begnügen, ſondern ſie muß in das Innere derſelben eindringen und ihre Zuſammenſetzung aus den gröberen und feineren Beſtandtheilen erforſchen. Die Wiſſenſchaft, welche dieſe grundlegende Unterſuchung im weiteſten Umfange aus - zuführen hat, iſt die Anatomie.

Menſchliche Anatomie. Die erſte Anregung zur Er - kenntniß des menſchlichen Körperbaues ging naturgemäß von der Heilkunde aus. Da dieſe bei den älteſten Kulturvölkern ge - wöhnlich von den Prieſtern ausgeübt wurde, dürfen wir an - nehmen, daß dieſe höchſten Vertreter der damaligen Bildung ſchon im zweiten Jahrtauſend vor Chriſto und früher über ein gewiſſes Maaß von anatomiſchen Kenntniſſen verfügten. Aber genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von Säugethieren und von dieſen übertragen auf den Menſchen, finden wir erſt bei den griechiſchen Natur-Philoſophen des ſechſten und fünften Jahrhunderts vor Chr., bei Empedokles (von Agrigent) und Demokritos (von Abdera), vor Allen aber bei dem berühmteſten Arzte des klaſſiſchen Alterthums, bei28Menſchliche Anatomie im Alterthum. II. Hippokrates (von Kos). Aus ihren und anderen Schriften ſchöpfte auch (im vierten Jahrh. v. Chr.) der große Ariſto - teles, der hochberühmte Vater der Naturgeſchichte , gleich um - faſſend als Naturforſcher wie als Philoſoph. Nach ihm er - ſcheint nur noch ein bedeutender Anatom im Alterthum, der griechiſche Arzt Claudius Galenus (von Pergamus); er entfaltete im zweiten Jahrhundert nach Chr. in Rom unter Kaiſer Marcus Aurelius eine reiche Praxis. Alle dieſe älteren Anatomen erwarben ihre Kenntniſſe zum größten Teile nicht durch die Unterſuchung des menſchlichen Körpers ſelbſt die damals noch ſtreng verboten war! , ſondern durch diejenige der menſchenähnlichſten Säugethiere, beſonders der Affen; ſie waren alſo alle eigentlich ſchon vergleichende Anatomen .

Das Emporblühen des Chriſtenthums und der damit verknüpften myſtiſchen Weltanſchauung bereitete der Anatomie, wie allen anderen Naturwiſſenſchaften, den Niedergang. Die römiſchen Päpſte, die größten Gaukler der Weltgeſchichte, waren vor Allem beſtrebt, die Menſchheit in Unwiſſenheit zu erhalten, und hielten die Kenntniß des menſchlichen Orga - nismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung über unſer wahres Weſen. Während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus faſt die einzige Quelle für die menſchliche Anatomie, ebenſo wie diejenigen des Ariſtoteles für die geſammte Naturgeſchichte. Erſt als im ſechzehnten Jahrhundert n. Chr. durch die Refor - mation die geiſtige Weltherrſchaft des Papismus gebrochen und durch das neue Weltſyſtem des Kopernikus die eng damit verknüpfte geocentriſche Weltanſchauung zerſtört wurde, begann auch für die Erkenntniß des menſchlichen Körpers eine neue Periode des Aufſchwungs. Die großen Anatomen Veſa - lius (aus Brüſſel), Euſtachius und Fallopius (aus Modena) förderten durch eigene gründliche Unterſuchungen die29II. Menſchliche Anatomie im Mittelalter.genaue Kenntniß unſeres Körperbaues ſo ſehr, daß ihren zahl - reichen Nachfolgern bezüglich der gröberen Verhältniſſe haupt - ſächlich nur Einzelheiten feſtzuſtellen übrig blieben. Der ebenſo kühne als geiſtreiche und unermüdliche Andreas Veſalius (deſſen Familie, wie der Name ſagt, aus Weſel ſtammte) ging bahnbrechend Allen voran; er vollendete ſchon in ſeinem 28. Lebensjahre das große, einheitlich durchgeführte Werk De humani corporiſ fabrica , 1543; er gab der ganzen menſch - lichen Anatomie eine neue, ſelbſtſtändige Richtung und ſichere Grundlage. Dafür wurde Veſalius ſpäter in Madrid wo er Leibarzt Karls V. und Philipps II. war von der Inquiſition als Zauberer zum Tode verurtheilt. Er rettete ſich nur dadurch, daß er eine Reiſe nach Jeruſalem antrat; auf der Rückreiſe litt er bei der Inſel Zante Schiffbruch und ſtarb hier im Elend, krank und aller Mittel beraubt.

Vergleichende Anatomie. Die Verdienſte, welche unſer neunzehntes Jahrhundert ſich um die Erkenntniß des menſchlichen Körperbaues erworben hat, beſtehen vor Allem in dem Ausbau von zwei neuen, überaus wichtigen Forſchungsrichtungen, der vergleichenden Anatomie und der Gewebelehre oder der mikroſkopiſchen Anatomie . Was zunächſt die erſtere betrifft, ſo war ſie allerdings ſchon von Anfang an mit der menſchlichen Anatomie eng verknüpft geweſen; ja, die letztere wurde ſogar ſo lange durch die erſtere erſetzt, als die Sektion menſchlicher Leichen für ein todeswürdiges Verbrechen galt und das war ſogar noch im 15. Jahrhundert der Fall! Aber die zahlreichen Anatomen der folgenden drei Jahrhunderte be - ſchränkten ſich größtentheils auf die genaue Unterſuchung des menſchlichen Organismus. Diejenige hoch entwickelte Disciplin, die wir heute vergleichende Anatomie nennen, wurde erſt im Jahre 1803 geboren, als der große franzöſiſche Zoologe George Cuvier (aus Mömpelgard im Elſaß ſtammend) ſeine grund -30Vergleichende Anatomie. II. legenden Leçonſ ſur l'Anatomie comparée herausgab und damit zum erſten Male beſtimmte Geſetze über den Körperbau des Menſchen und der Thiere feſtzuſtellen ſuchte. Während ſeine Vorläufer unter ihnen auch Goethe 1790 hauptſächlich nur das Knochengerüſte des Menſchen mit demjenigen der übrigen Säugethiere eingehend verglichen hatten, umfaßte Cuvier's weiter Blick die Geſammtheit der thieriſchen Orga - niſation; er unterſchied in derſelben vier große, von einander unabhängige Hauptformen oder Typen: Wirbelthiere (Verte - brata), Gliederthiere (Articulata), Weichthiere (Molluſca) und Strahlthiere (Radiata). Für die Frage aller Fragen war dieſer Fortſchritt inſofern epochemachend, als damit klar die Zugehörigkeit des Menſchen zum Typus der Wirbelthiere ſowie ſeine Grundverſchiedenheit von allen anderen Typen ausgeſprochen war. Allerdings hatte ſchon der ſcharfblickende Linné in ſeinem erſten Syſtema naturae (1735) einen be - deutungsvollen Fortſchritt damit gethan, daß er dem Menſchen definitiv ſeinen Platz in der Klaſſe der Säugethiere (Mam - malia) anwies; ja er vereinigte ſogar in der Ordnung der Herrenthiere (Primateſ) die drei Gruppen der Halbaffen, Affen und Menſchen (Lemur, Simia, Homo). Aber es fehlte dieſem kühnen, ſyſtematiſchen Griffe noch jene tiefere empiriſche Begründung durch die vergleichende Anatomie, die erſt Cuvier herbeiführte. Dieſe fand ihre weitere Ausführung durch die großen vergleichenden Anatomen unſeres Jahrhunderts, durch Friedrich Meckel (in Halle), Johannes Müller (in Berlin), Richard Owen und Thomas Huxley (in England), Carl Gegenbaur (in Jena, ſpäter in Heidelberg). Indem dieſer Letztere in ſeinen Grundzügen der vergleichenden Ana - tomie (1870) zum erſten Male die durch Darwin neu be - gründete Abſtammungslehre auf jene Wiſſenſchaft anwendete, erhob er ſie zum erſten Range unter den biologiſchen Disci -31II. Gewebelehre und Zellentheorie.plinen. Die zahlreichen vergleichend-anatomiſchen Arbeiten von Gegenbaur ſind, ebenſo wie ſein allgemein verbreitetes Lehrbuch der Anatomie des Menſchen , gleich ausgezeichnet durch die gründliche empiriſche Kenntniß eines ungeheuren Thatſachen - Materials, wie durch die umfaſſende Beherrſchung desſelben und ſeine philoſophiſche Verwerthung im Sinne der Entwickelungs - lehre. Seine kürzlich erſchienene Vergleichende Anatomie der Wirbelthiere (1898) legt den unerſchütterlichen Grund feſt, auf welchem ſich unſere Ueberzeugung von der Wirbelthier-Natur des Menſchen nach allen Richtungen hin klar beweiſen läßt.

Gewebelehre (Hiſtologie) und Zellenlehre (Cyto - logie). In ganz anderer Richtung als die vergleichende, ent - wickelte ſich im Laufe unſeres Jahrhunderts die mikroſkopiſche Anatomie. Schon im Anfange desſelben (1802) unternahm ein franzöſiſcher Arzt, Bichat, den Verſuch, mittelſt des Mikroſkopes die Organe des menſchlichen Körpers in ihre ein - zelnen feineren Beſtandtheile zu zerlegen und die Beziehungen dieſer verſchiedenen Gewebe (Hiſta oder Tela) feſtzuſtellen. Aber dieſer erſte Verſuch führte nicht weit, da ihm das gemein - ſame Element für die zahlreichen verſchiedenen Gewebe unbekannt blieb. Dies wurde erſt 1838 für die Pflanzen in der Zelle von Matthias Schleiden (in Jena) entdeckt und gleich darauf auch für die Thiere von Theodor Schwann nach - gewieſen, dem Schüler und Aſſiſtenten von Johannes Müller in Berlin. Zwei andere berühmte Schüler dieſes großen Meiſters, die heute noch leben, Albert Kölliker und Rudolf Virchow, führten dann im ſechſten Decennium des 19. Jahr - hunderts (in Würzburg) die Zellentheorie und die darauf ge - gründete Gewebelehre für den geſunden und kranken Organismus des Menſchen im Einzelnen durch; ſie wieſen nach, daß auch im Menſchen, wie in allen andern Thieren, alle Gewebe ſich aus den gleichen mikroſkopiſchen Formbeſtandtheilen, den Zellen,32Mikroſkopiſche Anatomie des Menſchen. II. zuſammenſetzen, und daß dieſe Elementar-Organismen die wahren, ſelbſtthätigen Staatsbürger ſind, die, zu Milliarden ver - einigt, unſern Körper, den Zellenſtaat , aufbauen. Alle dieſe Zellen entſtehen durch oft wiederholte Theilung aus einer ein - zigen, einfachen Zelle, aus der Stammzelle oder be - fruchteten Eizelle (Cytula). Die allgemeine Struktur und Zu - ſammenſetzung der Gewebe iſt beim Menſchen dieſelbe wie bei den übrigen Wirbelthieren. Unter dieſen zeichnen ſich die Säugethiere, die jüngſte und höchſt entwickelte Klaſſe, durch ge - wiſſe beſondere, ſpät erworbene Eigenthümlichkeiten aus. So iſt z. B. die mikroſkopiſche Bildung der Haare, der Hautdrüſen, der Milchdrüſen, der Blutzellen bei den Mammalien ganz eigen - thümlich und verſchieden von derjenigen der übrigen Vertebraten; der Menſch iſt auch in allen dieſen feinſten hiſtologiſchen Be - ziehungen ein echtes Säugethier.

Die mikroſkopiſchen Forſchungen von Albert Kölliker und von Franz Leydig (ebenfalls in Würzburg) erweiterten nicht nur unſere Kenntniß vom feineren Körperbau des Menſchen und der Thiere nach allen Richtungen, ſondern ſie wurden auch beſonders wichtig durch die Verbindung mit der Entwicke - lungsgeſchichte der Zelle und der Gewebe; ſie beſtätigten namentlich die wichtige Theorie von Carl Theodor Siebold (1845), daß die niedrigſten Thiere, die Infuſorien und Rhizo - poden, einzellige Organismen ſind.

Wirbelthier-Natur des Menſchen. Unſer geſammter Körperbau zeigt ſowohl in der gröberen als in der feineren Zu - ſammenſetzung den charakteriſtiſchen Typus der Wirbelthiere (Vertebrata). Dieſe wichtigſte und höchſt entwickelte Haupt - gruppe des Thierreichs wurde in ihrer natürlichen Einheit zuerſt 1801 von dem großen Lamarck erkannt; er faßte unter dieſem Begriffe die vier höheren Thierklaſſen von Linné zuſammen:33II. Wirbelthier-Natur des Menſchen.Säugethiere, Vögel, Amphibien und Fiſche. Die beiden niederen Klaſſen: Inſekten und Würmer, ſtellte er jenen als Wirbel - loſe (Invertebrata) gegenüber. Cuvier beſtätigte (1812) die Einheit des Vertebraten-Typus und begründete ſie feſter durch ſeine vergleichende Anatomie. In der That ſtimmen alle Wirbelthiere, von den Fiſchen aufwärts bis zum Menſchen, in allen weſentlichen Hauptmerkmalen überein; ſie beſitzen alle ein feſtes inneres Skelett, Knorpel - und Knochengerüſt, und dieſes beſteht überall aus einer Wirbelſäule und einem Schädel; die verwickelte Zuſammenſetzung des letzteren iſt zwar im Einzelnen ſehr mannigfaltig, aber im Allgemeinen ſtets auf dieſelbe Urform zurückzuführen. Ferner liegt bei allen Vertebraten auf der Rückenſeite dieſes Axenſkeletts das Seelenorgan , das centrale Nervenſyſtem, in Geſtalt eines Rückenmarks und eines Gehirns; und auch von dieſem wichtigen Gehirn dem Werkzeuge des Bewußtſeins und aller höheren Seelenthätigkeiten! gilt dasſelbe wie von der es umſchließenden Knochenkapſel, dem Schädel; im Einzelnen iſt ſeine Ausbildung und Größe höchſt mannigfaltig abgeſtuft, im Großen und Ganzen bleibt die charakteriſtiſche Zuſammenſetzung dieſelbe.

Die gleiche Erſcheinung zeigt ſich nun auch, wenn wir die übrigen Organe unſeres Körpers mit denen der anderen Wirbel - thiere vergleichen: überall bleibt in Folge von Vererbung die urſprüngliche Anlage und die relative Lagerung der Organe dieſelbe, obgleich die Größe und Ausbildung der einzelnen Theile höchſt mannigfaltig ſich ſondert, entſprechend der Anpaſſung an ſehr verſchiedene Lebensbedingungen. So ſehen wir, daß überall das Blut in zwei Hauptröhren kreiſt, von denen die eine (Aorta) über dem Darm, die andere (Principalvene) unter dem Darm verläuft, und daß durch Erweiterung der letzteren an einer ganz beſtimmten Stelle das Herz entſteht; dieſes Ventral - Herz iſt für alle Wirbelthiere ebenſo charakteriſtiſch wie um -Haeckel, Welträthſel. 334Tetrapoden-Natur des Menſchen. II. gekehrt das Rückengefäß oder Dorſal-Herz für die Glieder - thiere und Weichthiere. Nicht minder eigenthümlich iſt bei allen Vertebraten die frühzeitige Scheidung des Darmrohres in einen zur Athmung dienenden Kopfdarm (oder Kiemendarm ) und einen die Verdauung bewirkenden Rumpfdarm mit der Leber (daher Leberdarm ); ferner die Gliederung des Muskel - ſyſtems, die beſondere Bildung der Harn - und Geſchlechtsorgane u. ſ. w. In allen dieſen anatomiſchen Beziehungen iſt der Menſch ein echtes Wirbelthier.

Tetrapoden-Natur des Menſchen. Mit der Bezeichnung Vierfüßer (Tetrapoda) hatte ſchon Ariſtoteles alle jene höheren, blutführenden Thiere belegt, welche ſich durch den Beſitz von zwei Beinpaaren auszeichnen. Später wurde dieſer Begriff erweitert und mit der lateiniſchen Bezeichnung Quadrupeda vertauſcht, nachdem Cuvier gezeigt hatte, daß auch die zwei - beinigen Vögel und Menſchen eigentlich Vierfüßer ſind; er wies nach, daß das innere Knochengerüſte der vier Beine bei allen höheren landbewohnenden Vertebraten, von den Amphibien aufwärts bis zum Menſchen, urſprünglich in gleicher Weiſe aus einer beſtimmten Zahl von Gliedern zuſammengeſetzt iſt. Auch die Arme des Menſchen, die Flügel der Fledermäuſe und Vögel zeigen denſelben typiſchen Skelettbau wie die Vorder - beine der laufenden, eigentlich vierfüßigen Thiere.

Dieſe anatomiſche Einheit des verwickelten Knochen - gerüſtes in den vier Gliedmaßen aller Tetrapoden iſt ſehr wichtig. Um ſich wirklich davon zu überzeugen, braucht man bloß das Skelett eines Salamanders oder Froſches mit dem - jenigen eines Affen oder Menſchen aufmerkſam zu vergleichen. Da ſieht man ſofort, daß vorn der Schultergürtel und hinten der Beckengürtel aus denſelben Hauptſtücken zuſammengeſetzt iſt wie bei den übrigen Vierfüßern . Ueberall ſehen wir, daß das erſte Glied des eigentlichen Beines nur einen einzigen ſtarken Röhrenknochen enthält (vorn den Oberarm, Humeruſ; hinten den35II. Tetrapoden-Natur des Menſchen.Oberſchenkel, Femur); dagegen wird das zweite Glied urſprünglich ſtets durch zwei Knochen geſtützt (vorn Ellbogen, Ulna, und Speiche, Radiuſ; hinten Wadenbein, Fibula, und Schienbein, Tibia). Vergleichen wir dann weiter den verwickelten Bau des eigentlichen Fußes, ſo überraſcht uns die Wahrnehmung, daß die zahlreichen, denſelben zuſammenſetzenden, kleinen Knochen ebenfalls überall ähnlich angeordnet und geſondert ſind; vorn entſprechen ſich in allen Klaſſen der Tetrapoden die drei Knochen - gruppen des Vorderfußes (oder der Hand ): I. Handwurzel (Carpuſ), II. Mittelhand (Metacarpuſ) und III. fünf Finger (Digiti anterioreſ); ebenſo hinten die drei Knochengruppen des Hinterfußes: I. Fußwurzel (Tarſuſ), II. Mittelfuß (Meta - tarſuſ) und III. fünf Zehen (Digiti poſterioreſ). Sehr ſchwierig war die Aufgabe, alle dieſe zahlreichen kleinen Knochen, die im Einzelnen höchſt mannigfaltig geſtaltet und umgebildet, theilweiſe oft verſchmolzen oder verſchwunden ſind, auf eine und dieſelbe Urform zurückzuführen, ſowie die Gleichwerthigkeit (oder Homologie) der einzelnen Theile überall feſtzuſtellen. Dieſe wichtige Aufgabe wurde erſt vollſtändig von dem bedeutendſten vergleichenden Anatomen der Gegenwart gelöſt, von Carl Gegenbaur. Er zeigte in ſeinen Unterſuchungen zur ver - gleichenden Anatomie der Wirbelthiere (1864), wie dieſe charakte - riſtiſche fünfzehige Beinform der landbewohnenden Tetrapoden urſprünglich (erſt in der Steinkohlen-Periode) aus der viel - ſtrahligen Floſſe (Bruſtfloſſe oder Bauchfloſſe) der älteren, waſſerbewohnenden Fiſche entſtanden war. In gleicher Weiſe hatte Derſelbe in ſeinen berühmten Unterſuchungen über das Kopfſkelett der Wirbelthiere (1872) den jüngeren Schädel der Tetrapoden aus der älteſten Schädelform der Fiſche abgeleitet, derjenigen der Haifiſche (Selachier).

Beſonders bemerkenswerth iſt noch, daß die urſprüngliche, zuerſt bei den alten Amphibien der Steinkohlenzeit entſtandene3 *36Säugethier-Natur des Menſchen. II. Fünfzahl der Zehen an allen vier Füßen die Penta - dactylie ſich in Folge ſtrenger Vererbung noch beim Menſchen bis auf den heutigen Tag conſervirt hat. Selbſtverſtändlich iſt dem entſprechend auch die typiſche Bildung der Gelenke und Bänder, der Muskeln und Nerven der zwei Beinpaare, in der Haupt - ſache dieſelbe geblieben wie bei den übrigen Vierfüßern ; auch in dieſen wichtigen Beziehungen iſt der Menſch ein echter Tetrapode.

Säugethier-Natur des Menſchen. Die Säugethiere (Mammalia) bilden die jüngſte und höchſt entwickelte Klaſſe der Wirbelthiere. Sie ſind zwar ebenſo wie die Vögel und Repti - lien aus der älteren Klaſſe der Amphibien abzuleiten; ſie unterſcheiden ſich aber von allen dieſen anderen Tetrapoden durch eine Anzahl von ſehr auffallenden anatomiſchen Merkmalen. Aeußerlich tritt vor Allem die Haarbedeckung der Haut hervor, ſowie der Beſitz von zweierlei Hautdrüſen: Schweiß - drüſen und Talgdrüſen. Aus einer lokalen Umbildung dieſer Drüſen an der Bauchhaut entſtand (während der Trias - Periode?) dasjenige Organ, welches für die Klaſſe beſonders charakteriſtiſch iſt und ihr den Namen gegeben hat, das Ge - ſäuge (Mammarium). Dieſes wichtige Werkzeug der Brutpflege iſt zuſammengeſetzt aus den Milchdrüſen (Mammae) und den Mammar-Taſchen (Falten der Bauchhaut); durch ihre Fortbildung entſtanden die Zitzen oder Milchwarzen , (Maſta), aus denen das junge Mammale die Milch ſeiner Mutter ſaugt. Im inneren Körperbau iſt beſonders bemerkens - werth der Beſitz eines vollſtändigen Zwerchfells (Diaphragma), einer muskulöſen Scheidewand, welche bei allen Säugethieren und nur bei dieſen! die Bruſthöhle von der Bauchhöhle gänzlich abſchließt; bei allen übrigen Wirbelthieren fehlt dieſe Trennung. Durch eine Anzahl von merkwürdigen Umbildungen zeichnet ſich auch der Schädel der Mammalien aus, beſonders37II. Säugethier-Natur des Menſchen.der Bau des Kiefer-Apparates (Oberkiefer, Unterkiefer und Gehör - knochen). Aber auch das Gehirn, das Geruchsorgan, das Herz, die Lungen, die inneren und äußeren Geſchlechtsorgane, die Nieren und andere Körpertheile zeigen bei den Säugethieren beſondere Eigenthümlichkeiten im gröberen und feineren Bau: dieſe alle vereinigt weiſen unzweideutig auf eine frühzeitige Trennung derſelben von den älteren Stammgruppen der Reptilien und Amphibien hin, welche ſpäteſtens in der Trias - Periode vor mindeſtens zwölf Millionen Jahren! ſtatt - gefunden hat. In allen dieſen wichtigen Beziehungen iſt der Menſch ein echtes Säugethier.

Placentalien-Natur des Menſchen. Die zahlreichen Ordnungen (12-33), welche die moderne ſyſtematiſche Zoologie in der Claſſe der Säugethiere unterſcheidet, werden ſchon ſeit 1816 (nach Blainville) in drei natürliche Hauptgruppen ge - ordnet, welchen man den Werth von Unterklaſſen zuſpricht: I. Gabelthiere (Monotrema), II. Beutelthiere (Marſu - pialia) und III. Zottenthiere (Placentalia). Dieſe drei Subklaſſen unterſcheiden ſich nicht nur in wichtigen Verhältniſſen des Körperbaues und der Entwickelung, ſondern entſprechen auch drei verſchiedenen hiſtoriſchen Bildungsſtufen der Klaſſe, wie wir ſpäter ſehen werden. Auf die älteſte Gruppe, die Monotremen der Trias-Periode, ſind in der Jura-Zeit die Marſupialien gefolgt und auf dieſe erſt in der Kreide-Periode die Placentalien. Zu dieſer jüngſten Subklaſſe gehört auch der Menſch; denn er zeigt in ſeiner Organiſation alle die Eigen - thümlichkeiten, durch welche ſich ſämmtliche Zottenthiere von den Beutelthieren und den noch älteren Gabelthieren unterſcheiden. In erſter Linie gehört dahin das eigenthümliche Organ, welches der Placentaliengruppe ihren Namen gegeben hat, der Mutter - kuchen (Placenta). Dasſelbe dient dem jungen, im Mutterleibe noch eingeſchloſſenen Mammalien-Embryo längere Zeit zur Er -38Primaten-Natur des Menſchen. II. nährung; es beſteht aus blutführenden Zotten, welche von der Zottenhaut (Chorion) der Keimhülle auswachſen und in entſprechende Grübchen der Schleimhaut des mütterlichen Frucht - behälters (Uteruſ) eindringen; hier wird die zarte Haut zwiſchen beiden Gebilden ſo ſehr verdünnt, daß unmittelbar die er - nährenden Stoffe aus dem mütterlichen Blute durch dieſelbe hindurch in das kindliche Blut übertreten können. Dieſe vortreffliche, erſt ſpät entſtandene Ernährungsart des Keimes ermöglicht demſelben einen längeren Aufenthalt und eine weitere Ausbildung in der ſchützenden Gebärmutter; ſie fehlt noch den Implacentalien, den beiden älteren Subklaſſen der Beutelthiere und Gabelthiere. Aber auch durch andere anatomiſche Merk - male, insbeſondere die höhere Ausbildung des Gehirns und den Verluſt der Beutelknochen, erheben ſich die Zottenthiere über ihre Implacentalien-Ahnen. In allen dieſen wichtigen Be - ziehungen iſt der Menſch ein echtes Zottenthier.

Primaten-Natur des Menſchen. Die formenreiche Sub - klaſſe der Placental-Thiere wird neuerdings in eine große Zahl von Ordnungen getheilt; gewöhnlich werden deren 10-16 angenommen; wenn man aber die wichtigen, in neueſter Zeit entdeckten, ausgeſtorbenen Formen gehörig berückſichtigt, ſteigt ihre Zahl auf mindeſtens 20-26. Zur beſſeren Ueberſicht dieſer zahlreichen Ordnungen und zur tieferen Einſicht in ihren verwandtſchaftlichen Zuſammenhang iſt es ſehr wichtig, ſie in natürliche größere Gruppen zuſammenzuſtellen, denen ich den Werth von Legionen gegeben habe. In meinem neueſten Ver - ſuche*)Syſtematiſche Phylogenie, 1896, Teil III, S. 490, 491, 496., das verwickelte Placentalien-Syſtem phylogenetiſch zu ordnen, habe ich zur Aufnahme der 26 Ordnungen 8 ſolche Legionen aufgeſtellt und gezeigt, daß dieſe ſich auf 4 Stamm - gruppen zurückführen laſſen. Dieſe letzteren ſind wiederum auf39II. Primaten-Natur des Menſchen.eine gemeinſame älteſte Stammgruppe aller Placentalien zurück - führbar, auf die foſſilen Urzottenthiere, die Prochoriaten der Kreideperiode. Dieſe ſchließen ſich unmittelbar an die Marſupalien-Ahnen der Juraperiode an. Als wichtigſte Vertreter jener vier Hauptgruppen in der Gegenwart führen wir hier nur die Nagethiere, Hufthiere, Raubthiere und Herrenthiere an. Zur Legion der Herrenthiere (Primateſ) gehören die drei Ordnungen der Halbaffen (Proſimiae), der echten Affen (Simiae) und der Menſchen (Anthropi). Alle Angehörigen dieſer drei Ordnungen ſtimmen in vielen wichtigen Eigenthümlichkeiten überein und unterſcheiden ſich dadurch von den 23 übrigen Ordnungen der Zottenthiere. Beſonders zeichnen ſie ſich durch lange Beine aus, welche urſprünglich der kletternden Lebensweiſe auf Bäumen angepaßt ſind. Hände und Füße ſind fünfzehig, und die langen Finger vortrefflich zum Greifen und zum Um - faſſen der Baumzweige geeignet; ſie tragen entweder theilweiſe oder ſämmtlich Nägel (keine Krallen). Das Gebiß iſt voll - ſtändig, aus allen vier Zahngruppen zuſammengeſetzt (Schneide - zähne, Eckzähne, Lückenzähne, Backenzähne). Auch durch wichtige Eigenthümlichkeiten im beſonderen Bau des Schädels und des Gehirns unterſcheiden ſich die Herrenthiere von den übrigen Zottenthieren, und zwar um ſo auffälliger, je höher ſie aus - gebildet, je ſpäter ſie in der Erdgeſchichte aufgetreten ſind. In allen dieſen wichtigen anatomiſchen Beziehungen ſtimmt unſer menſchlicher Organismus mit demjenigen der übrigen Primaten überein: der Menſch iſt ein echtes Herrenthier.

Affen-Natur des Menſchen. Eine unbefangene und gründliche Vergleichung des Körperbaues der Primaten läßt zunächſt in dieſer höchſt entwickelten Mammalien-Legion zwei Ordnungen unterſcheiden: Halbaffen (Proſimiae oder Hemipitheci) und Affen (Simiae oder Pitheci). Die erſteren erſcheinen in jeder Beziehung als die niedere und ältere, die40Körperbau des Menſchen und Affen. II. letzteren als die höhere und jüngere Ordnung. Die Gebär - mutter der Halbaffen iſt noch doppelt oder zweihörnig, wie bei allen übrigen Säugethieren; bei den Affen dagegen ſind rechter und linker Fruchtbehälter völlig verſchmolzen; ſie bilden einen birnförmigen Uterus, wie ihn außer - dem nur der Menſch beſitzt. Wie bei dieſem, ſo iſt auch bei den Affen am Schädel die Augenhöhle von der Schläfengrube durch eine knöcherne Scheidewand vollſtändig getrennt; bei den Halbaffen iſt dieſe noch gar nicht oder nur unvollſtändig ausgebildet. Endlich iſt bei den Halbaffen das große Gehirn noch glatt oder nur ſchwach gefurcht, verhältniß - mäßig klein; bei den Affen iſt es viel größer, und beſonders der graue Hirnmantel, das Organ der höheren Seelenthätigkeiten, iſt viel beſſer entwickelt; an ſeiner Oberfläche ſind die charakte - riſtiſchen Windungen und Furchen um ſo mehr ausgeprägt, je mehr er ſich dem Menſchen nähert. In dieſen und anderen wichtigen Beziehungen, beſonders auch in der Bildung des Geſichts und der Hände, zeigt der Menſch alle ana - tomiſchen Merkmale der echten Affen.

Katarrhinen-Natur des Menſchen. Die formenreiche Ordnung der Affen wurde ſchon 1812 von Geoffroy in zwei natürliche Unterordnungen getheilt, die noch heute allgemein in der ſyſtematiſchen Zoologie angenommen ſind: Weſtaffen (Platyr - rhinae) und Oſtaffen (Catarrhinae); erſtere bewohnen aus - ſchließlich die weſtliche, letztere die öſtliche Erdhälfte. Die ame - rikaniſchen Weſtaffen heißen Plattnaſen (Platyrrhinae), weil ihre Naſe plattgedrückt, die Naſenlöcher ſeitlich gerichtet und deren Scheidewand breit iſt. Dagegen ſind die Oſtaffen, welche die Alte Welt bewohnen, ſämmtlich Schmalnaſen (Catarrhinae); ihre Naſenlöcher ſind wie beim Menſchen nach unten gerichtet, da ihre Scheidewand ſchmal iſt. Ein weiterer41II. Körperbau des Menſchen und Affen.Unterſchied beider Gruppen beſteht darin, daß das Trommelfell bei den Weſtaffen oberflächlich, dagegen bei den Oſtaffen tiefer, im Innern des Felſenbeins liegt; hier hat ſich ein langer und enger knöcherner Gehörgang entwickelt, während dieſer bei den Weſtaffen noch kurz und weit iſt oder ſelbſt ganz fehlt. Endlich zeigt ſich ein ſehr wichtiger und durchgreifender Gegenſatz beider Gruppen darin, daß alle Katarrhinen die Gebiß-Bildung des Menſchen beſitzen, nämlich 20 Milchzähne und 32 bleibende Zähne (in jeder Kieferhälfte 2 Schneidezähne, 1 Eckzahn, 2 Lücken - zähne und 3 Mahlzähne). Die Platyrrhinen dagegen zeigen in jeder Kieferhälfte einen Lückenzahn mehr, alſo im Ganzen 36 Zähne. Da dieſe anatomiſchen Unterſchiede beider Affen - gruppen ganz allgemein und durchgreifend ſind, und da ſie mit der geographiſchen Verbreitung in den beiden getrennten Hemi - ſphären der Erde zuſammenſtimmen, ergiebt ſich daraus die Berechtigung ihrer ſcharfen ſyſtematiſchen Trennung, und weiter - hin der daran geknüpften phylogenetiſchen Folgerung, daß ſeit ſehr langer Zeit (ſeit mehr als einer Million Jahre) ſich beide Unterordnungen in der weſtlichen und öſtlichen Hemi - ſphäre getrennt von einander entwickelt haben. Das iſt für die Stammesgeſchichte unſeres Geſchlechts überaus wichtig; denn der Menſch theilt alle Merkmale der echten Katarrhinen; er hat ſich aus älteren ausgeſtorbenen Affen dieſer Unterordnung in der Alten Welt entwickelt.

Anthropomorphen-Gruppe. Die zahlreichen Formen der Katarrhinen, welche noch heute in Aſien und Afrika leben, werden ſchon ſeit langer Zeit in zwei natürliche Sectionen getheilt: die geſchwänzten Hundsaffen (Cynopitheca) und die ſchwanzloſen Menſchenaffen (Anthropomorpha). Dieſe letzteren ſtehen dem Menſchen viel näher als die erſteren, nicht nur in dem Mangel des Schwanzes und in der allgemeinen42Menſchen und Menſchenaffen. II. Geſtaltung des Körpers (beſonders des Kopfes), ſondern auch durch beſondere Merkmale, die an ſich unbedeutend, aber wegen ihrer Beſtändigkeit wichtig ſind. Das Kreuzbein iſt bei den Menſchenaffen, wie beim Menſchen, aus fünf verſchmolzenen Wirbeln zuſammengeſetzt, dagegen bei den Hundsaffen nur aus drei (ſeltener vier) Kreuzwirbeln. Im Gebiß der Cyno - pitheken ſind die Lückenzähne (Praemolareſ) länger als breit, in demjenigen der Anthropomorphen breiter als lang; und der erſte Mahlzahn (Molariſ) zeigt bei den erſteren vier, bei den letzteren dagegen fünf Höcker. Ferner iſt im Unterkiefer jeder - ſeits bei den Menſchenaffen, wie beim Menſchen, der äußere Schneidezahn breiter als der innere, bei den Hundsaffen um - gekehrt ſchmäler. Endlich iſt von beſonderer Bedeutung die wichtige, erſt 1890 durch Selenka feſtgeſtellte Thatſache, daß die Menſchenaffen mit dem Menſchen auch die eigenthümlichen feineren Bildungsverhältniſſe ſeiner ſcheibenförmigen Placenta, der Decidua reflexa und des Bauchſtiels theilen (vergl. Kap. 4)*)E. Haeckel, Anthropogenie 1891, IV. Aufl., S. 599.. Uebrigens ergiebt ſchon die oberflächliche Vergleichung der Körperform der heute noch lebenden Anthropomorphen, daß ſowohl die aſiatiſchen Vertreter dieſer Gruppe (Orang und Gibbon) als die afrikaniſchen Vertreter (Gorilla und Schimpanſe) dem Menſchen im geſammten Körperbau näher ſtehen als ſämmt - liche Cynopitheken. Unter dieſen letzteren ſtehen namentlich die hundsköpfigen Papſtaffen (Papiomorpha), die Paviane und Meerkatzen, auf einer ſehr tiefen Bildungsſtufe. Der anatomiſche Unterſchied zwiſchen dieſen rohen Papſtaffen und den höchſt ent - wickelten Menſchenaffen iſt in jeder Beziehung welches Organ man auch vergleichen mag! größer als derjenige zwiſchen den letzteren und dem Menſchen. Dieſe lehrreiche Thatſache wurde beſonders eingehend (1883) von dem Anatomen Robert43II. Menſchen und Menſchenaffen.Hartmann begründet, in ſeiner Schrift über Die menſchenähnlichen Affen und ihre Organiſation im Vergleiche zur menſchlichen ; er ſchlug daher vor, die Affen-Ordnung in anderer Weiſe ein - zutheilen, in die beiden Hauptgruppen der Primarier (Menſchen und Menſchenaffen) und der eigentlichen Simien oder Pitheken (die übrigen Katarrhinen und alle Platyrrhinen). Jedenfalls ergiebt ſich daraus die engſte Verwandtſchaft des Menſchen mit den Menſchenaffen.

Die vergleichende Anatomie ergiebt ſomit für den un - befangenen und kritiſchen Forſcher die bedeutungsvolle Thatſache, daß der Körperbau des Menſchen und der Menſchenaffen nicht nur im höchſten Grade ähnlich, ſondern in allen weſentlichen Beziehungen derſelbe iſt. Dieſelben 200 Knochen, in der gleichen Anordnung und Zuſammenſetzung, bilden unſer inneres Knochen - gerüſt; dieſelben 300 Muskeln bewirken unſere Bewegungen; dieſelben Haare bedecken unſere Haut, dieſelben Gruppen von Ganglienzellen ſetzen den kunſtvollen Wunderbau unſeres Gehirns zuſammen, dasſelbe vierkammerige Herz iſt das centrale Pump - werk unſeres Blutkreislaufs; dieſelben 32 Zähne ſetzen in der gleichen Anordnung unſer Gebiß zuſammen; dieſelben Speichel - drüſen, Leber - und Darmdrüſen vermitteln unſere Verdauung; dieſelben Organe der Fortpflanzung ermöglichen die Erhaltung unſeres Geſchlechts.

Allerdings finden wir bei genauer Vergleichung gewiſſe ge - ringe Unterſchiede in der Größe und Geſtalt der meiſten Organe zwiſchen dem Menſchen und den Menſchenaffen; allein dieſelben oder ähnliche Unterſchiede entdecken wir auch bei der ſorgfältigen Vergleichung der höheren und niederen Menſchen - raſſen, ja ſogar bei der exakten Vergleichung aller einzelnen Individuen unſerer eigenen Raſſe. Wir finden nicht zwei Per -44Körperbau des Menſchen und Affen. II. ſonen in derſelben, welche ganz genau dieſelbe Größe und Form der Naſe, der Ohren, der Augen u. ſ. w. haben. Man braucht bloß aufmerkſam in einer größeren Geſellſchaft dieſe einzelnen Theile der menſchlichen Geſichtsbildung bei zahlreichen Per - ſonen zu vergleichen, um ſich von der erſtaunlichen Mannichfaltigkeit in deren ſpecieller Geſtaltung, von der weitgehenden Variabilität der Species-Form zu überzeugen. Oft ſind ja bekanntlich ſelbſt Ge - ſchwiſter von ſo verſchiedener Körperbildung, daß ihre Abſtammung von einem und demſelben Elternpaare kaum glaublich erſcheint. Alle dieſe individuellen Unterſchiede beeinträchtigen aber nicht das Gewicht der fundamentalen Gleichheit im Körper - bau; denn ſie ſind nur bedingt durch geringe Verſchiedenheiten im Wachsthum der einzelnen Theile.

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Drittes Kapitel. Unſer Leben.

Moniſtiſche Studien über menſchliche und vergleichende Phyſiologie. Uebereinſtimmung in allen Lebensfunktionen des Menſchen und der Säugethiere.

Niemals kann ſich für die Phyſiologie ein anderes Erklärungs-Princip der körperlichen Lebens-Erſcheinungen ergeben als für die Phyſik und Chemie bezüglich der lebloſen Natur. Die Annahme einer beſonderen Lebenskraft iſt in jeder Form nicht nur durchaus überflüſſig, ſondern auch unzuläſſig. Der Herd aller Lebens-Vor - gänge und der Elementar-Beſtandtheil aller leben - digen Subſtanz iſt die Zelle. Will daher die Phyſiologie die elementaren und allgemeinen Lebens-Erſcheinungen erklären, ſo wird ſie das nur erreichen als Cellular-Phyſiologie.
(Max Berworn (1894).)
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Inhalt des dritten Kapitels.

Entwickelung der Phyſiologie im Alterthum und Mittelalter. Galenus. Experiment und Viviſektion. Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey. Lebenskraft (Vitalismus); Haller. Teleologiſche und vitaliſtiſche Auffaſſung des Lebens. Mechaniſtiſche und moniſtiſche Beurtheilung der phyſiologiſchen Proceſſe. Vergleichende Phyſiologie des 19. Jahrhunderts: Johannes Müller. Cellular-Phyſiologie: Max Berworn. Cellular-Pathologie; Virchow. Säuge - thier-Phyſiologie. Uebereinſtimmung aller Lebensthätigkeiten beim Menſchen und Affen.

Literatur.

Johannes Müller, Handbuch der Phyſiologie des Menſchen. 3 Bände. Coblenz 1833. Vierte Auflage 1844.

Rudolf Virchow, Die Cellular-Pathologie in ihrer Begründung auf phyſio - logiſche und pathologiſche Gewebelehre. Berlin 1858. Vierte Auflage 1871.

Jacob Moleſchott, Kreislauf des Lebens. Phyſiologiſche Antworten auf Liebig's chemiſche Briefe. Mainz 1852.

Carl Vogt, Phyſiologiſche Briefe für Gebildete aller Stände. Gießen 1854. Dritte Auflage 1861.

Ludwig Büchner, Phyſiologiſche Bilder. Leipzig 1875.

C. Radenhauſen, Iſis. Der Menſch und die Welt. 4 Bände. Hamburg 1874.

Arnold Dodel, Aus Leben und Wiſſenſchaft. (I. Leben und Tod. II. Natur - Berachtung und - Betrachtung. III. Moſes oder Darwin.) Stuttgart 1896.

Max Berworn, Allgemeine Phyſiologie. Ein Grundriß der Lehre vom Leben. Jena 1894. Zweite Auflage 1897.

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Unſere Kenntniß vom menſchlichen Leben hat ſich erſt innerhalb des 19. Jahrhunderts zum Range einer ſelbſtändigen, wirklichen Wiſſenſchaft erhoben; ſie hat ſich erſt innerhalb desſelben zu einem der vornehmſten, intereſſanteſten und wichtig - ſten Wiſſenszweige entwickelt. Dieſe Lehre von den Lebens - thätigkeiten , die Phyſiologie, hat ſich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine wünſchenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung für erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in engem Zuſammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau. Aber ſie konnte erſt viel ſpäter und langſamer als dieſe letztere gründlich erforſcht werden, da ſie auf viel größere Schwierig - keiten ſtieß.

Der Begriff des Lebens, als Gegenſatz zum Tode, iſt natürlich ſchon ſehr frühzeitig Gegenſtand des Nachdenkens ge - weſen. Man beobachtete am lebenden Menſchen wie an den lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen Verände - rungen, vorzugsweiſe Bewegungen, welche den todten Naturkörpern fehlten: ſelbſtändige Ortsbewegung, Herzklopfen, Athemzüge, Sprache u. ſ. w. Allein die Unterſcheidung ſolcher organiſcher Bewegungen von ähnlichen Erſcheinungen bei an - organiſchen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das fließende Waſſer, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der ſtürzende Fels zeigten dem Menſchen ganz ähnliche Verände -48Menſchliche Phyſiologie im Alterthum. III. rungen, und es war ſehr natürlich, daß der naive Naturmenſch auch dieſen todten Körpern ein ſelbſtändiges Leben zuſchrieb. Von den bewirkenden Urſachen konnte man ſich ja bei den letzteren ebenſo wenig befriedigende Rechenſchaft geben als bei den erſteren.

Menſchliche Phyſiologie. Die älteſten wiſſenſchaftlichen Betrachtungen über das Weſen der menſchlichen Lebensthätig - keiten treffen wir (ebenſo wie diejenigen über den Körperbau des Menſchen) bei den griechiſchen Naturphiloſophen und Aerzten im ſechſten und fünften Jahrhundert vor Chr. Die reichſte Sammlung von bezüglichen, damals bekannten Thatſachen finden wir in der Naturgeſchichte des Ariſtoteles; ein großer Theil ſeiner Angaben rührt wahrſcheinlich ſchon von Demokritos und Hippokrates her. Die Schule des Letzteren ſtellte auch bereits Erklärungs-Verſuche an; ſie nahm als Grundurſache des Lebens bei Menſchen und Thieren einen flüchtigen Lebens - geiſt an (Pneuma); und Eraſiſtratus (280 vor Chr.) unterſchied bereits einen niederen und einen höheren Lebensgeiſt, das Pneuma zoticon im Herzen und das Pneuma pſychicon im Gehirn.

Der Ruhm, alle dieſe zerſtreuten Kenntniſſe einheitlich zu - ſammengefaßt und den erſten Verſuch zu einem Syſtem der Phyſiologie gemacht zu haben, gebührt dem großen griechiſchen Arzte Galenus, demſelben, den wir auch als den erſten großen Anatomen des Alterthums kennen gelernt haben (vergl. S. 28). Bei ſeinen Unterſuchungen über die Organe des menſchlichen Körpers ſtellte er ſich beſtändig auch die Frage nach ihren Lebens - thätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei verfuhr er vergleichend und unterſuchte vor Allem die menſchenähnlichſten Thiere, die Affen. Die Erfahrungen, die er hier gewonnen, übertrug er direkt auf den Menſchen. Er erkannte auch bereits den hohen Werth des phyſiologiſchen Experimentes; bei49III. Menſchliche Phyſiologie im Alterthum.Viviſektionen von Affen, Hunden und Schweinen ſtellte er ver - ſchiedene intereſſante Verſuche an. Die Viviſektionen ſind neuerdings nicht nur von unwiſſenden und beſchränkten Leuten, ſondern auch von wiſſensfeindlichen Theologen und von gefühls - ſeligen Gemüthsmenſchen vielfach auf das Heftigſte angegriffen worden; ſie gehören aber zu den unentbehrlichen Metho - den der Lebens-Forſchung und haben uns unſchätzbare Auf - ſchlüſſe über die wichtigſten Fragen gegeben; dieſe Thatſache wurde ſchon vor 1700 Jahren von Galenus erkannt.

Alle verſchiedenen Funktionen des Körpers führt Galenus auf drei Hauptgruppen zurück, entſprechend den drei Formen des Pneuma, des Lebensgeiſtes oder Spiritus . Das Pneuma pſychicon die Seele hat ihren Sitz im Gehirn und den Nerven, ſie vermittelt das Denken, Empfinden und den Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma zoticon das Herz bewirkt die ſphygmiſchen Functionen , den Herzſchlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma phyſicon endlich, in der Leber befindlich, iſt die Urſache der ſogenannten vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung und des Stoff - wechſels, des Wachsthums und der Fortpflanzung. Dabei legte er beſonders Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den Lungen und ſprach die Hoffnung aus, daß es einſt gelingen werde, aus der atmoſphäriſchen Luft den Beſtandtheil auszu - ſcheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verfloſſen, ehe dieſes Reſpirations-Pneuma der Sauerſtoff durch Lavoiſier entdeckt wurde.

Ebenſo wie für die Anatomie des Menſchen ſo blieb auch für ſeine Phyſiologie das großartige Syſtem des Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten der Codex aureuſ, die unantaſtbare Quelle aller Kenntniſſe. Der kulturfeindliche Einfluß des Chriſtenthums bereitete auch aufHaeckel. Welträthſel. 450Menſchliche Phyſiologie im Mittelalter. III. dieſem, wie auf allen anderen Gebieten, der Naturerkenntniß die unüberwindlichſten Hinderniſſe. Vom dritten bis zum ſechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forſcher auf, der gewagt hätte, ſelbſtändig wieder die Lebensthätigkeiten des Menſchen zu unter - ſuchen und über den Bezirk des Syſtems von Galenus hinaus - zugehen. Erſt im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere be - ſcheidene Verſuche von angeſehenen Aerzten und Anatomen gemacht (Paracelſus, Servetus, Beſalius u. A.). Aber erſt im Jahre 1628 veröffentlichte der engliſche Arzt Harvey ſeine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz ein Pumpwerk iſt, welches durch die regelmäßige, unbewußte Zuſammenziehung ſeiner Muskeln die Blutwelle un - abläſſig durch das communicirende Röhrenſyſtem der Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harvey's Unterſuchungen über die Zeugung der Thiere, in Folge deren er den berühmten Satz aufſtellte: Alles Lebendige entwickelt ſich aus einem Ei (omne vivum ex ovo).

Die mächtige Anregung zu phyſiologiſchen Beobachtungen und Verſuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16. und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen. Dieſe faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zum erſten Male zuſammen; in ſeinem großen Werke Elementa phyſiologiae begründete er den ſelb - ſtändigen Werth dieſer Wiſſenſchaft und nicht nur in ihrer Be - ziehung zur praktiſchen Medicin. Indem aber Haller für die Nerven-Thätigkeit eine beſondere Empfindungskraft oder Sen - ſibilität , und ebenſo für die Muskel-Bewegung eine beſondere Reizbarkeit oder Irritabilität als Urſache annahm, lieferte er mächtige Stützen für die irrthümliche Lehre von einer eigen - thümlichen Lebenskraft (Viſ vitaliſ).

Lebenskraft (Vitaliſmuſ). Ueber ein volles Jahrhundert hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahr -51III. Lebenskraft. Vitalismus.hunderts, blieb in der Medicin, und ſpeciell in der Phyſiologie, die alte Anſchauung herrſchend, daß zwar ein Theil der Lebens - Erſcheinungen auf phyſikaliſche und chemiſche Vorgänge zurück - zuführen ſei, daß aber ein anderer Theil derſelben durch eine beſondere, davon unabhängige Lebenskraft (Viſ vitaliſ) be - wirkt werde. So verſchiedenartig auch die beſonderen Vor - ſtellungen vom Weſen derſelben und beſonders von ihrem Zu - ſammenhang mit der Seele ſich ausbildeten, ſo ſtimmten doch alle darin überein, daß die Lebenskraft von den phyſikaliſch - chemiſchen Kräften der gewöhnlichen Materie unabhängig und weſentlich verſchieden ſei; als eine ſelbſtändige, der anorganiſchen Natur fehlende Urkraft (Archaeuſ) ſollte ſie die erſteren in ihren Dienſt nehmen. Nicht allein die Seelenthätigkeit ſelbſt, die Senſibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln, ſondern auch die Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der Fort - pflanzung und Entwickelung erſchienen allgemein ſo wunderbar und in ihren Urſachen ſo räthſelhaft, daß es unmöglich ſei, ſie auf einfache phyſikaliſche und chemiſche Naturproceſſe zurückzu - führen. Da die freie Thätigkeit der Lebenskraft zweckmäßig und bewußt wirkte, führte ſie in der Philoſophie zu einer voll - kommenen Teleologie; beſonders erſchien dieſe unbeſtreitbar, ſeitdem ſelbſt der kritiſche Philoſoph Kant in ſeiner be - rühmten Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft zugeſtanden hatte, daß zwar die Befugniß der menſchlichen Vernunft zur mecha - niſchen Erklärung aller Erſcheinungen unbeſchränkt ſei, daß aber die Fähigkeit dazu bei den Erſcheinungen des organiſchen Lebens aufhöre; hier müſſe man nothgedrungen zu einem zweckmäßig thätigen , alſo übernatürlichen Princip ſeine Zuflucht nehmen. Natürlich wurde der Gegenſatz dieſer vitalen Phänomene zu den mechaniſchen Lebensthätigkeiten um ſo auffälliger, je weiter man in der chemiſchen und phyſikaliſchen Erklärung der letzteren gelangte. Der Blutkreislauf und ein Theil der anderen4*52Mechaniſche Phyſiologie. III. Bewegungs-Erſcheinungen ließen ſich auf mechaniſche Vorgänge, die Athmung und Verdauung auf chemiſche Proceſſe gleich den - jenigen in der anorganiſchen Natur zurückführen; dagegen bei den wunderbaren Leiſtungen der Nerven und Muskeln wie im eigentlichen Seelenleben ſchien das unmöglich; und auch das einheitliche Zuſammenwirken aller dieſer verſchiedenen Kräfte im Leben des Individuums erſchien damit unerklärbar. So ent - wickelte ſich ein vollſtändiger phyſiologiſcher Dualismus ein principieller Gegenſatz zwiſchen anorganiſcher und organiſcher Natur, zwiſchen mechaniſchen und vitalen Proceſſen, zwiſchen materieller Kraft und Lebenskraft, zwiſchen Leib und Seele. Im Beginne des 19. Jahrhunderts wurde dieſer Vitalismus beſonders eingehend durch Louis Dumas in Frankreich begründet, durch Reil in Deutſchland. Eine ſchöne poetiſche Darſtellung des - ſelben hatte ſchon 1795 Alexander Humboldt in ſeiner Erzählung vom Rhodiſchen Genius gegeben ( wiederholt mit kritiſchen Anmerkungen in den Anſichten der Natur ).

Der Mechanismus des Lebens (moniſtiſche Phyſiologie). Schon in der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der berühmte Philoſoph Descartes, fußend auf Harvey's Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken ausgeſprochen, daß der Körper des Menſchen ebenſo wie der Thiere eine komplizirte Maſchine ſei, und daß ihre Bewegungen nach denſelben mecha - niſchen Geſetzen erfolgen wie bei den künſtlichen, vom Menſchen für einen beſtimmten Zweck gebauten Maſchinen. Allerdings nahm Descartes trotzdem für den Menſchen allein eine vollkommene Selbſtändigkeit der immateriellen Seele an und erklärte ſogar deren ſubjektive Empfindung, das Denken, für das Einzige in der Welt, von dem wir unmittelbar ganz ſichere Kenntniß be - ſitzen ( Cogito, ergo ſum! ). Allein dieſer Dualismus hinderte ihn nicht, im Einzelnen die Erkenntniß der mechaniſchen Lebens - thätigkeiten vielſeitig zu fördern. Im Anſchluß daran führte53III. Vergleichende Phyſiologie.Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein phyſikaliſche Geſetze zurück, und gleichzeitig verſuchte Sylvius die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemiſche Proceſſe zu erklären; erſterer begründete in der Medicin eine iatro - mechaniſche, letzterer eine iatrochemiſche Schule. Allein dieſe vernünftigen Anſätze zu einer naturgemäßen, mechaniſchen Erklärung der Lebens-Erſcheinungen vermochten keine allgemeine Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des 18. Jahrhunderts traten ſie ganz zurück, je mehr ſich der teleo - logiſche Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur erſteren wurde erſt vorbereitet, als im vierten Decennium unſeres Jahrhunderts die neue ver - gleichende Phyſiologie ſich zu fruchtbarer Geltung erhob.

Vergleichende Phyſiologie. Wie unſere Kenntniſſe vom Körperbau des Menſchen, ſo wurden auch diejenigen von ſeiner Lebensthätigkeit urſprünglich größtentheils nicht durch direkte Beobachtung am menſchlichen Organismus ſelbſt gewonnen, ſon - dern an den nächſtverwandten höheren Wirbelthieren, vor Allem den Säugethieren. Inſofern waren ſchon die älteſten Anfänge der menſchlichen Anatomie und Phyſiologie vergleichend . Aber die eigentliche vergleichende Phyſiologie , welche das ganze Gebiet der Lebens-Erſcheinungen von den niederſten Thieren bis zum Menſchen hinauf im Zuſammenhang erfaßt, iſt erſt eine Errungenſchaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war Johannes Müller in Berlin (geb. 1801 in Coblenz als Sohn eines Schuhmachers). Von 1833-1858, volle 25 Jahre hindurch, entfaltete dieſer vielſeitigſte und umfaſſendſte Biologe unſerer Zeit an der Berliner Univerſität als Lehrer und Forſcher eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirkſamkeit von Haller und Cuvier zu vergleichen iſt. Faſt alle großen Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutſchland lehrten und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von Johannes54Vergleichende Phyſiologie. III. Müller. Urſprünglich ausgehend von der Anatomie und Phyſiologie des Menſchen, zog derſelbe bald alle Hauptgruppen der höheren und niederen Thiere in den Kreis ſeiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgeſtorbenen Thiere mit den lebenden, den geſunden Organismus des Menſchen mit dem kranken verglich, indem er wahrhaft philoſophiſch alle Erſchei - nungen des organiſchen Lebens zuſammenzufaſſen ſtrebte, erhob er ſich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologiſchen Erkenntniß.

Die werthvollſte Frucht dieſer umfaſſenden Studien von Johannes Müller war ſein Handbuch der Phyſiologie des Menſchen (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte Auflage 1844). Dieſes klaſſiſche Werk gab viel mehr, als der Titel beſagt; es iſt der Entwurf zu einer umfaſſenden Ver - gleichenden Biologie . Noch heute ſteht dasſelbe in Bezug auf Inhalt und Umfang des Forſchungsgebietes unübertroffen da. Insbeſondere ſind darin die Methoden der Beobachtung und des Experimentes ebenſo muſtergültig angewendet wie die philoſophiſchen Methoden der Induktion und Deduktion. Aller - dings war Müller urſprünglich, gleich allen Phyſiologen ſeiner Zeit, Vitaliſt. Allein die herrſchende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte ſich allmählich in ihr principielles Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der Phyſiologie war Müller beſtrebt, die Lebenserſcheinungen mechaniſch zu erklären; ſeine reformirte Lebenskraft ſteht nicht über den phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen der übrigen Natur, ſondern ſie iſt ſtreng an dieſelben gebunden; ſie iſt ſchließlich weiter nichts als das Leben ſelbſt, d. h. die Summe aller Bewegungs-Erſcheinungen, die wir am lebendigen Organis - mus wahrnehmen. Ueberall war er beſtrebt, dieſelben mechaniſch zu erklären, in dem Sinnes - und Seelen-Leben wie in der Thätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs,55III. Cellular-Phyſiologie.der Athmung und Verdauung wie in den Erſcheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortſchritte führte hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachſten Lebens-Erſcheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum höchſten, zum Menſchen, hinauf verfolgte. Hier bewährte ſich ſeine Methode der kritiſchen Vergleichung ebenſo in der Phyſiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller iſt zugleich der einzige große Naturforſcher geblieben, der dieſe ver - ſchiedenen Seiten der Forſchung gleichmäßig ausbildete und gleich glänzend in ſich vereinigte. Gleich nach ſeinem Tode zer - fiel ſein gewaltiges Lehrgebiet in vier verſchiedene Provinzen, die jetzt faſt allgemein durch vier oder noch mehr ordentliche Lehr - ſtühle vertreten werden: Menſchliche und vergleichende Anatomie, pathologiſche Anatomie, Phyſiologie und Entwickelungsgeſchichte. Man hat die Arbeitstheilung dieſes ungeheuren Wiſſensgebietes, die jetzt (1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches verglichen, welches einſt Alexander der Große vereinigt beherrſcht hatte.

Cellular-Phyſiologie. Unter den zahlreichen Schülern von Johannes Müller, welche theils ſchon bei ſeinen Leb - zeiten, theils nach ſeinem Tode die verſchiedenen Zweige der Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichſten (wenn auch nicht der bedeutendſte!) Theodor Schwann. Als 1838 der geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das gemeinſame Elementar-Organ der Pflanzen erkannt und alle verſchiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zuſammengeſetzt aus Zellen nachgewieſen hatte, erkannte Johannes Müller ſofort die außerordentliche Tragweite dieſer bedeutungsvollen Entdeckung; er verſuchte ſelbſt, in verſchiedenen Geweben des Thierkörpers, ſo z. B. in der Chorda dorſaliſ der Wirbelthiere, die gleiche Zuſammenſetzung nachzuweiſen, und veranlaßte ſodann56Cellular-Phyſiologie. III. ſeinen Schüler Schwann, dieſen Nachweis auf alle thieriſchen Gewebe auszudehnen. Dieſe ſchwierige Aufgabe löſte der Letztere glücklich in ſeinen Mikroſkopiſchen Unterſuchungen über die Uebereinſtimmung in der Structur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen (1839). Damit war der Grundſtein für die Zellen-Theorie gelegt, deren fundamentale Bedeutung ebenſo für die Phyſiologie wie für die Anatomie ſeitdem von Jahr zu Jahr zugenommen und ſich immer allgemeiner bewährt hat. Daß auch die Lebensthätigkeit aller Organismen auf die - jenige ihrer Gewebetheile, der mikroſkopiſchen Zellen, zurückgeführt werden müſſe, führten namentlich zwei andere Schüler von Johannes Müller aus, der ſcharfſinnige Phyſiologe Ernſt Brücke in Wien und der berühmte Hiſtologe Albert Kölliker in Würzburg. Der Erſtere bezeichnete die Zellen richtig als Ele - mentar-Organismen und zeigte, daß ſie ebenſo im Körper des Menſchen wie aller anderen Thiere die einzigen actuellen, ſelbſtändig thätigen Factoren des Lebens ſind. Kölliker erwarb ſich beſondere Verdienſte nicht nur um die Ausbildung der geſammten Gewebelehre, ſondern auch namentlich durch