Die vorliegenden Studien über moniſtiſche Philoſophie ſind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit ſuchenden Gebildeten aller Stände beſtimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des neunzehnten Jahrhunderts, an deſſen Ende wir ſtehen, gehört das lebendige Wachsthum des Strebens nach Erkenntniß der Wahrheit in weiteſten Kreiſen. Dasſelbe erklärt ſich einerſeits durch die ungeheuren Fortſchritte der wirklichen Natur - Erkenntniß in dieſem merkwürdigſten Abſchnitte der menſchlichen Geſchichte, andererſeits durch den offenkundigen Widerſpruch, in den dieſelbe zur gelehrten Tradition der „ Offenbarung “gerathen iſt, und endlich durch die entſprechende Ausbreitung und Ver - ſtärkung des vernünftigen Bedürfniſſes nach Verſtändniß der unzähligen neu entdeckten Thatſachen, nach klarer Erkenntniß ihrer Urſachen.
Den gewaltigen Fortſchritten der empiriſchen Kenntniſſe in unſerem „ Jahrhundert der Naturwiſſenſchaft “ent - ſpricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretiſchen Ver - ſtändniſſes und jene höhere Erkenntniß des kauſalen Zuſammen - hanges aller einzelnen Erſcheinungen, die wir mit einem Worte Philoſophie nennen. Vielmehr ſehen wir, daß die abſtrakte und größtentheils metaphyſiſche Wiſſenſchaft, welche auf unſeren Univerſitäten ſeit Jahrhunderten als „ Philoſophie “gelehrt wird,*IVVorwort.weit davon entfernt iſt, jene neu erworbenen Schätze der Er - fahrungswiſſenſchaft in ſich aufzunehmen. Und mit gleichem Bedauern müſſen wir auf der anderen Seite zugeſtehen, daß die meiſten Vertreter der ſogenannten „ exakten Naturwiſſenſchaft “ſich mit der ſpeciellen Pflege ihres engeren Gebietes der Beob - achtung und des Verſuchs begnügen und die tiefere Erkenntniß des allgemeinen Zuſammenhanges der beobachteten Erſcheinungen — d. h. eben Philoſophie! — für überflüſſig halten. Während dieſe reinen Empiriker „ den Wald vor Bäumen nicht ſehen “, begnügen ſich jene Metaphyſiker mit dem bloßen Begriffe des Waldes, ohne ſeine Bäume zu ſehen. Der Begriff der „ Natur - philoſophie “, in welchem ganz naturgemäß jene beiden Wege der Wahrheitsforſchung, die empiriſche und die ſpekulative Methode, zuſammenlaufen, wird ſogar noch heute in weiten Kreiſen beider Richtungen mit Abſcheu zurückgewieſen.
Dieſer unnatürliche und verderbliche Gegenſatz zwiſchen Naturwiſſenſchaft und Philoſophie, zwiſchen den Ergebniſſen der Erfahrung und des Denkens wird unſtreitig in weiten gebildeten Kreiſen immer lebhafter und ſchmerzlicher empfunden. Das be - zeugt ſchon der wachſende Umfang der ungeheuren populären „ naturphiloſophiſchen “Literatur, die im Laufe des letzten halben Jahrhunderts entſtanden iſt. Das bezeugt auch die erfreuliche Thatſache, daß trotz jener gegenſeitigen Abneigung der beobach - tenden Naturforſcher und der denkenden Philoſophen dennoch hervorragende Männer der Wiſſenſchaft aus beiden Lagern ſich gegenſeitig die Hand zum Bunde reichen und vereinigt nach der Löſung jener höchſten Aufgabe der Forſchung ſtreben, die wir kurz mit einem Worte als „ die Welträthſel “bezeichnen.
Die Unterſuchungen über dieſe „ Welträthſel “, welche ich in der vorliegenden Schrift gebe, können vernünftiger Weiſe nicht den Anſpruch erheben, eine vollſtändige Löſung derſelben zu bringen; vielmehr ſollen ſie nur eine kritiſche BeleuchtungVVorwort.derſelben für weitere gebildete Kreiſe geben und die Frage zu beantworten ſuchen, wie weit wir uns gegenwärtig deren Löſung genähert haben. Welche Stufe in der Erkenntniß der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortſchritte nach dieſem unendlich entfernten Ziele haben wir im Laufe des - ſelben wirklich gemacht?
Die Antwort auf dieſe großen Fragen, die ich hier gebe, kann naturgemäß nur ſubjektiv und nur theilweiſe richtig ſein; denn meine Kenntniſſe der wirklichen Natur und meine Vernunft zur Beurtheilung ihres objektiven Weſens ſind beſchränkt, ebenſo wie diejenigen aller anderen Menſchen. Das Einzige, was ich für dieſelben in Anſpruch nehme, und was ich auch von meinen entſchiedenſten Gegnern verlangen muß, iſt, daß meine moniſtiſche Philoſophie von Anfang bis zu Ende ehrlich iſt, d. h. der vollſtändige Ausdruck der Ueberzeugung, welche ich durch vieljähriges eifriges Forſchen in der Natur und durch unabläſſiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erſchei - nungen erworben habe. Dieſe naturphiloſophiſche Gedanken - Arbeit erſtreckt ſich jetzt über ein volles halbes Jahrhundert, und ich darf jetzt, in meinem 66. Lebensjahre, wohl annehmen, daß ſie reif im menſchlichen Sinne iſt; ich bin auch völlig gewiß, daß dieſe „ reife Frucht “vom Baume der Erkenntniß für die kurze Spanne des Daſeins, die mir noch beſchieden iſt, keine bedeutende Vervollkommnung und keine principiellen Verände - rungen erfahren wird.
Alle weſentlichen und entſcheidenden Anſchauungen meiner moniſtiſchen und genetiſchen Philoſophie habe ich ſchon vor 33 Jahren in meiner „ Generellen Morphologie der Organismen “niedergelegt, einem weitſchweifigen und ſchwer - fällig geſchriebenen Werke, welches nur ſehr wenig Leſer gefunden hat. Es war der erſte Verſuch, die neu begründete Entwickelungs -VIVorwort.lehre für das ganze Gebiet der organiſchen Formen-Wiſſenſchaft durchzuführen. Um wenigſtens einen Theil der neuen, darin enthaltenen Gedanken zur Geltung zu bringen und um zugleich einen weiteren Kreis von Gebildeten für die größten Erkenntniß - fortſchritte unſeres Jahrhunderts zu intereſſiren, veröffentlichte ich zwei Jahre ſpäter (1868) meine „ Natürliche Schöpfungs - geſchichte “. Da dieſes leichter geſchürzte Werk trotz ſeiner großen Mängel in neun ſtarken Auflagen und zwölf verſchiedenen Ueberſetzungen erſchien, hat es nicht wenig zur Verbreitung der moniſtiſchen Weltanſchauung beigetragen. Dasſelbe gilt auch wohl von der weniger geleſenen „ Anthropogenie “, in welcher ich (1874) die ſchwierige Aufgabe zu löſen verſuchte, die wich - tigſten Thatſachen der menſchlichen Entwickelungsgeſchichte einem größeren Kreiſe von Gebildeten zugänglich und verſtändlich zu machen; die vierte, umgearbeitete Auflage derſelben erſchien 1891. Einige bedeutende und beſonders werthvolle Fortſchritte, welche neuerdings dieſer wichtigſte Theil der Anthropologie gemacht hat, habe ich in dem Vortrage beleuchtet, den ich 1898 „ Ueber unſere gegenwärtige Kenntniß vom Urſprung des Menſchen “auf dem vierten internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge gehalten habe (ſiebente Auflage 1899). Mehrere einzelne Fragen unſerer modernen Naturphiloſophie, die ein beſonderes Intereſſe bieten, habe ich behandelt in meinen „ Geſammelten populären Vorträgen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre “(1878). Endlich habe ich die allgemeinſten Grundſätze meiner moniſtiſchen Philoſophie und ihre beſondere Beziehung zu den herrſchenden Glaubenslehren kurz zuſammengefaßt in dem „ Glaubensbekenntniß eines Naturforſchers: Der Monismus als Band zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft “(1892, achte Auflage 1899).
Die vorliegende Schrift über die „ Welträthſel “iſt die weitere Ausführung, Begründung und Ergänzung der Ueber - zeugungen, welche ich in den vorſtehend angeführten SchriftenVIIVorwort.bereits ein Menſchenalter hindurch vertreten habe. Ich gedenke damit meine Studien auf dem Gebiete der moniſtiſchen Welt - anſchauung abzuſchließen. Der alte, viele Jahre hindurch gehegte Plan, ein ganzes „ Syſtem der moniſtiſchen Philoſophie “auf Grund der Entwickelungslehre auszubauen, wird nicht mehr zur Ausführung gelangen. Meine Kräfte reichen dazu nicht mehr aus und mancherlei Mahnungen des herannahenden Alters drängen zum Abſchluß. Auch bin ich ganz und gar ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts und will mit deſſen Ende einen Strich unter meine Lebensarbeit machen.
Die unermeßliche Ausdehnung, welche das menſchliche Wiſſen in Folge fortgeſchrittener Arbeitstheilung in unſerm Jahrhundert erlangt hat, läßt es ſchon heute unmöglich erſcheinen, alle Zweige desſelben mit gleicher Gründlichkeit zu umfaſſen und ihren inneren Zuſammenhang einheitlich darzuſtellen. Selbſt ein Genius erſten Ranges, der alle Gebiete der Wiſſenſchaft gleichmäßig beherrſchte, und der die künſtleriſche Gabe ihrer einheitlichen Darſtellung in vollem Maße beſäße, würde doch nicht im Stande ſein, im Raume eines mäßigen Bandes ein umfaſſendes allgemeines Bild des ganzen „ Kosmos “auszuführen. Mir ſelbſt, deſſen Kenntniſſe in den verſchiedenen Gebieten ſehr ungleich und lückenhaft ſind, konnte hier nur die Aufgabe zufallen, den allgemeinen Plan eines ſolchen Weltbildes zu entwerfen und die durchgehende Ein - heit ſeiner Theile nachzuweiſen, trotz ſehr ungleicher Ausführung derſelben. Das vorliegende Buch über die Welträthſel trägt daher auch nur den Charakter eines „ Skizzenbuches “, in welchem Studien von ſehr ungleichem Werthe zu einem Ganzen zu - ſammengefügt ſind. Da die Niederſchrift derſelben zum Theil ſchon in früheren Jahren, zum anderen Theil aber erſt in der letzten Zeit erfolgte, iſt die Behandlung leider oft ungleichmäßig; auch ſind mehrfache Wiederholungen nicht zu vermeiden geweſen; ich bitte dieſelben zu entſchuldigen.
VIIIVorwort.Jedem der zwanzig Kapitel iſt ein Titelblatt vorgeſetzt, deſſen Rückſeite eine kurze Ueberſicht ſeines Inhalts enthält. Die Angaben über Literatur, welche darunter folgen, erheben in keiner Weiſe Anſpruch auf Vollſtändigkeit. Vielmehr ſollen ſie nur einerſeits die grundlegenden Hauptwerke über den betreffenden Gegenſtand hervorheben, andererſeits aber den Leſer auf diejenigen neueren Schriften hinweiſen, welche vorzugs - weiſe geeignet erſcheinen, tiefer in denſelben einzudringen und die Lücken meines Buches zu ergänzen.
Indem ich hiermit von meinen Leſern mich verabſchiede, ſpreche ich die Hoffnung aus, daß ich durch meine ehrliche und gewiſſenhafte Arbeit — trotz ihrer mir wohl bewußten Mängel — ein kleines Scherflein zur Löſung der „ Welträthſel “beigetragen habe, und daß ich im Kampfe der Weltanſchauungen manchem ehrlichen und nach reiner Vernunft-Erkenntniß ringenden Leſer denjenigen Weg gezeigt habe, der nach meiner feſten Ueber - zeugung allein zur Wahrheit führt, den Weg der empiriſchen Naturforſchung und der darauf gegründeten moniſtiſchen Philoſophie.
Jena, am Oſterſonntage, 2. April 1899.
Ernſt Haeckel.
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1 (zu S. 17). Kosmologiſche Perſpektive441
2 (zu S. 58). Weſen der Krankheit443
3 (zu S. 111). Impotenz der introſpektiven Pſychologie443
4 (zu S. 119). Der Völkergedanke444
5 (zu S. 52). Neovitalismus444
6 (zu S. 178). Plasmodomen und Plasmophagen445
7 (zu S. 179). Entwickelungsſtufen der Zellſeele445
8 (zu S. 181). Hauptformen der Cönobien449
9 (zu S. 186). Pſychologie der Neſſelthiere450
10 (zu S. 194). Pſychologie der Affen453
11 (zu S. 299). Teleologie von Kant453
12 (zu S. 361). Kritik der Evangelien455
13 (zu S. 376). Chriſtus und Buddha457
14 (zu S. 379). Abſtammung Chriſti458
15 (zu S. 412). Das Chriſtenthum und die Familie459
16 (zu S. 373). Verfluchung der Wiſſenſchaft durch den Papſt460
17 (zu S. 380). Theologie und Zoologie461
18 (zu S. 398). Die moniſtiſche Kirche462
19 (zu S. 405). Egoismus und Altruismus463
20 (zu S. 440). Ausblick in das zwanzigſte Jahrhundert463
Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts. Der Kampf der Weltanſchauungen. Monismus und Dualismus.
(Goethe. )Haeckel, Welträthſel. 1[2]„ Freudig war, ſeit vielen Jahren,Eifrig ſo der Geiſt beſtrebt,Zu erforſchen, zu erfahren,Wie Natur im Schaffen lebt.Und es iſt das ewig Eine,Das ſich vielfach offenbart;Klein das Große, groß das Kleine,Alles nach der eig'nen Art.Immer wechſelnd, feſt ſich haltend,Nah und fern, und fern und nah;So geſtaltend, umgeſtaltend —Zum Erſtaunen bin ich da. “
Stand der menſchlichen Kultur und Weltanſchauung am Schluſſe des 19. Jahrhunderts. Fortſchritte der Natur-Erkenntniß, der organiſchen und anorganiſchen Naturwiſſenſchaft. Subſtanz-Geſetz und Entwickelungs-Geſetz. Fortſchritte der Technik und der angewandten Chemie. Stillſtand auf anderen Kultur-Gebieten: Rechtspflege, Staatsordnung, Schule, Kirche. Konflikt zwiſchen Vernunft und Dogma. Anthropismus. Kosmologiſche Perſpektive. Kosmologiſche Lehrſätze. Widerlegung des anthropiſtiſchen Größenwahns. Zahl der Welträthſel. Kritik der ſieben Welträthſel. Wege zu ihrer Löſung. Thätigkeit der Sinne und des Gehirns. Induktion und Deduktion. Ver - nunft, Gemüth und Offenbarung. Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. Empirie und Spekulation. Dualismus und Monismus.
Charles Darwin, Ueber die Entſtehung der Arten im Thier - und Pflanzen - reich durch natürliche Züchtung. (London 1859.) Stuttgart 1860. Sechſte Auflage 1876.
Jean Lamarck, Zoologiſche Philoſophie. 1809. (Deutſche Ueberſetzung von Arnold Lang. Leipzig 1879.)
Ernſt Haeckel, Die Entwickelungsgeſchichte der Organismen in ihrer Be - deutung für die Anthropologie und Kosmologie. Siebentes und achtes Buch der Generellen Morphologie. Berlin 1866.
Carl Guſtav Reuſchle, Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. Bonn 1874.
Konrad Dieterich, Philoſophie und Naturwiſſenſchaft, ihr neueſtes Bündniß und die moniſtiſche Weltanſchauung. Stuttgart 1875.
Herbert Spencer, Syſtem der ſynthetiſchen Philoſophie. Stuttgart 1875.
Friedrich Ueberweg, Grundriß der Geſchichte der Philoſophie. Achte Auf - lage, bearbeitet von Max Heinze. Berlin 1897.
Friedrich Paulſen, Einleitung in die Philoſophie. Berlin 1892. Fünfte Auflage 1898.
Ernſt Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Gemeinverſtändliche wiſſen - ſchaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre. Berlin 1868. Neunte Auflage 1898.
Am Schluſſe des neunzehnten Jahrhunderts, vor dem wir heute ſtehen, bietet ſich dem denkenden Beobachter eines der merkwürdigſten Schauſpiele. Alle Gebildeten ſind darüber einig, daß dasſelbe in vieler Beziehung alle ſeine Vorgänger unendlich überflügelt und Aufgaben gelöſt hat, welche in ſeinem Anfange unlösbar erſchienen. Nicht nur die überraſchenden theoretiſchen Fortſchritte in der wirklichen Natur-Erkenntniß, ſondern auch deren erſtaunlich fruchtbare praktiſche Verwerthung in Technik, Induſtrie, Verkehr u. ſ. w. haben unſerem ganzen modernen Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Auf der anderen Seite haben wir aber auf wichtigen Gebieten des geiſtigen Lebens und der Geſellſchafts-Beziehungen wenige oder gar keine Fortſchritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweiſen, oft ſogar leider bedenkliche Rückſchritte. Aus dieſem offenkundigen Kon - flikte entſpringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zer - riſſenheit und Unwahrheit, ſondern auch die Gefahr ſchwerer Kataſtrophen auf politiſchem und ſocialem Gebiete. Es erſcheint daher nicht nur als das gute Recht, ſondern auch als die heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menſchenliebe beſeelten Forſchers, nach beſtem Gewiſſen zur Löſung jenes Konfliktes und zur Vermeidung der daraus entſpringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach unſerer Ueberzeugung nur durch muthiges1 *4Fortſchritte der modernen Naturkunde. I. Streben nach Erkenntniß der Wahrheit geſchehen und durch Gewinnung einer klaren, feſt darauf gegründeten, natur - gemäßen Weltanſchauung.
Fortſchritte der Natur-Erkenntniß. Wenn wir uns den unvollkommenen Zuſtand der Natur-Erkenntniß im Anfang des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe an deſſen Schluſſe vergleichen, ſo muß jedem Sachkundigen der Fortſchritt innerhalb desſelben erſtaunlich groß erſcheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwiſſenſchaft darf ſich rühmen, daß er innerhalb unſers Jahrhunderts — und beſonders in deſſen zweiter Hälfte — extenſive und intenſive Gewinne von größter Trag - weite erzielt habe. In der mikroſkopiſchen Kenntniß des Klein - ſten, wie in der teleſkopiſchen Erforſchung des Größten haben wir jetzt unſchätzbare Einſichten gewonnen, die vor hundert Jahren undenkbar erſchienen. Die verbeſſerten Methoden der mikroſko - piſchen und biologiſchen Unterſuchungen haben uns nicht nur überall im Reiche der einzelligen Protiſten eine „ unſichtbare Lebenswelt “voll unendlichen Formen-Reichthums offenbart, ſon - dern auch in der winzigen kleinen Zelle den gemeinſamen „ Ele - mentar-Organismus “kennen gelehrt, aus deſſen ſocialen Zell - verbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen und Thiere ebenſo wie der des Menſchen zuſammengeſetzt iſt. Dieſe anatomiſchen Kenntniſſe ſind von größter Tragweite; ſie werden ergänzt durch den embryologiſchen Nachweis, daß jeder höhere vielzellige Organismus ſich aus einer einzigen einfachen Zelle entwickelt, der „ befruchteten Eizelle “. Die bedeutungsvolle, hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erſt das wahre Verſtändniß für die phyſikaliſchen und chemiſchen ebenſo wie für die pſychologiſchen Proceſſe des Lebens eröffnet, jene geheimniß - vollen Erſcheinungen, für deren Erklärung man früher eine über - natürliche „ Lebenskraft “oder ein „ unſterbliches Seelenweſen “annahm. Auch das eigentliche Weſen der Krankheit iſt durch5I. Einheit der Naturkräfte.die damit verknüpfte Cellular-Pathologie dem Arzte erſt klar und verſtändlich geworden.
Nicht minder gewaltig ſind aber die Entdeckungen des 19. Jahrhunderts im Bereiche der anorganiſchen Natur. Die Phyſik hat in allen Theilen ihres Gebiets, in der Optik und Akuſtik, in der Lehre vom Magnetismus und der Elektricität, in der Me - chanik und Wärmelehre die erſtaunlichſten Fortſchritte gemacht; und, was wichtiger iſt, ſie hat die Einheit der Naturkräfte im ganzen Univerſum nachgewieſen. Die mechaniſche Wärme - Theorie hat gezeigt, wie eng dieſelben zuſammenhängen, und wie jede unter beſtimmten Bedingungen ſich direkt in die andere verwandeln kann. Die Spektral-Analyſe hat uns gelehrt, daß dieſelben Stoffe, welche unſeren Erdkörper und ſeine leben - digen Bewohner zuſammenſetzen, auch die Maſſe der übrigen Planeten, der Sonne und der entfernteſten Fixſterne zuſammen - ſetzen. Die Aſtrophyſik hat unſere Weltanſchauung im groß - artigſten Maaßſtabe erweitert, indem ſie uns im unendlichen Weltraum Millionen von kreiſenden Weltkörpern nachgewieſen hat, größer als unſere Erde, und gleich dieſer in beſtändiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechſel von „ Werden und Vergehen “. Die Chemie hat uns mit einer Maſſe von neuen, früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr ſiebzig) beſtehen, und die zum Theil die größte praktiſche Be - deutung in allen Lebensgebieten gewonnen haben. Sie hat gezeigt, daß eines von dieſen Elementen, der Kohlenſtoff, der wunderbare Körper iſt, welcher die Bildung der unendlich mannich - faltigen organiſchen Verbindungen bewirkt und ſomit die „ che - miſche Baſis des Lebens “darſtellt. Alle einzelnen Fortſchritte der Phyſik und Chemie ſtehen aber an theoretiſcher Bedeutung der Erkenntniß des gewaltigen Geſetzes nach, welches alle in einem gemeinſamen Brennpunkt vereinigt, des Subſtanz-Geſetzes. 6Subſtanz-Geſetz und Entwickelungslehre. I. Indem dieſes „ kosmologiſche Grundgeſetz “die ewige Erhaltung der Kraft und des Stoffes, die allgemeine Conſtanz der Energie und der Materie im ganzen Weltall nachweiſt, iſt es der ſichere Leitſtern geworden, der unſere moniſtiſche Philoſophie durch das gewaltige Labyrinth der Welträthſel zu deren Löſung führt.
Da es unſere Aufgabe ſein wird, in den folgenden Kapiteln eine allgemeine Ueberſicht über den jetzigen Stand unſerer Natur - Erkenntniß und über ihre Fortſchritte in unſerem Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Muſterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortſchritt wollen wir noch hervorheben, welcher dem Subſtanz-Geſetz eben - bürtig iſt und welcher dasſelbe ergänzt, die Begründung der Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forſcher ſchon ſeit Jahrtauſenden von „ Entwickelung “der Dinge ge - ſprochen; daß aber dieſer Begriff das Univerſum beherrſcht, und daß die Welt ſelbſt weiter Nichts iſt, als eine ewige „ Ent - wickelung der Subſtanz “, dieſer gewaltige Gedanke iſt ein Kind unſeres 19. Jahrhunderts. Erſt in der zweiten Hälfte deſſelben gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unſterbliche Verdienſt, dieſen höchſten philoſophiſchen Begriff empiriſch begründet und zu umfaſſender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen engliſchen Naturforſcher Charles Darwin; er lieferte uns 1859 den feſten Grund für jene Abſtammungslehre, welche der geniale franzöſiſche Natur - philoſoph Jean Lamarck ſchon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unſer größter deutſcher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, ſchon 1799 pro - phetiſch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüſſel zur „ Frage aller Fragen “geſchenkt, zu dem großen Welträthſel von der „ Stellung des Menſchen in der Natur “und von ſeiner natürlichen Entſtehung. Wenn wir heute, 1899, im Stande7I. Praktiſche Fortſchritte der Kultur.ſind, die Herrſchaft des Entwickelungs-Geſetzes — und zwar der „ moniſtiſchen Geneſis! “— im Geſammtgebiete der Natur klar zu erkennen und ſie in Verbindung mit dem Subſtanz-Geſetze zur einheitlichen Erklärung aller Natur - erſcheinungen zu benutzen, ſo verdanken wir dies in erſter Linie jenen drei genialen Naturphiloſophen; ſie leuchten uns deßhalb als drei Sterne erſter Größe unter allen anderen großen Männern unſeres Jahrhunderts*)Vergl. E. Haeckel, Die Naturanſchauung von Darwin, Goethe und Lamarck. (Vortrag in Eiſenach.) Jena 1882..
Dieſen erſtaunlichen Fortſchritten unſerer theoretiſchen Natur-Erkenntniß entſpricht deren mannichfaltige praktiſche Anwendung auf allen Gebieten des menſchlichen Kulturlebens. Wenn wir heute im „ Zeitalter des Verkehrs “ſtehen, wenn der internationale Handel und das Reiſen eine früher nicht geahnte Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittels Telegraph und Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben, ſo verdanken wir das in erſter Linie den techniſchen Fortſchritten der Phyſik, beſonders in der Anwendung der Dampfkraft und der Elektricität. Wenn wir durch die Photographie mit größter Leichtigkeit das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenſtande zu ver - ſchaffen, wenn wir in der Landwirthſchaft und in den ver - ſchiedenſten Gewerben erſtaunliche praktiſche Fortſchritte gemacht haben, wenn wir in der Medicin durch Chloroform und Mor - phium, durch antiſeptiſche und Serum-Therapie die Leiden der Menſchheit unendlich gemildert haben, ſo verdanken wir dies der angewandten Chemie. Wie ſehr wir durch dieſe und andere Erfindungen der Technik alle früheren Jahrhunderte weit über - flügelt haben, iſt ſo allbekannt, daß wir es hier nicht weiter auszuführen brauchen.
8Zuſtand der modernen Rechtspflege. I.Fortſchritte der ſocialen Einrichtungen. Während wir ſo heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortſchritte des 19. Jahrhunderts in der Natur-Erkenntniß und deren praktiſcher Verwerthung zurückblicken, ſo bietet ſich uns leider ein ganz anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir nun andere, nicht minder wichtige Gebiete dieſes modernen Kultur-Lebens in's Auge faſſen. Zu unſerem Bedauern müſſen wir da den Satz von Alfred Wallace unterſchreiben: „ Verglichen mit unſeren erſtaunlichen Fortſchritten in den phyſikaliſchen Wiſſen - ſchaften und in ihrer praktiſchen Anwendung, bleibt unſer Syſtem der Regierung, der adminiſtrativen Juſtiz, der National-Erziehung und unſere ganze ſociale und moraliſche Organiſation in einem Zuſtande der Barbarei. “ Um uns von der Wahrheit dieſer ſchweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen unbefangenen Blick mitten in unſer öffentliches Leben hinein zu werfen oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unſere Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vorhält.
Unſere Rechtspflege. Beginnen wir unſere Rundſchau mit der Juſtiz, dem „ Fundamentum regnorum “. Niemand wird behaupten können, daß deren heutiger Zuſtand mit unſerer fortgeſchrittenen Erkenntniß des Menſchen und der Welt in Ein - klang ſei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richter - lichen Urtheilen leſen, über welche der „ geſunde Menſchen-Ver - ſtand “bedenklich das Haupt ſchüttelt; viele Entſcheidungen unſerer höheren und niederen Gerichtshöfe erſcheinen geradezu unbegreiflich. Wir ſehen bei Behandlung dieſes „ Welträthſels “ganz davon ab, daß in vielen modernen Staaten — trotz der auf Papier gedruckten Verfaſſung — noch thatſächlich der Abſo - lutismus herrſcht, und daß viele „ Männer des Rechts “nicht nach ehrlicher Ueberzeugung urtheilen, ſondern entſprechend dem „ höheren Wunſche von maßgebender Stelle “. Wir nehmen viel - mehr an, daß die meiſten Richter und Staatsanwälte nach9I. Zuſtand der modernen Staatsordnung.beſtem Gewiſſen urtheilen und nur menſchlich irren. Dann er - klären ſich wohl die meiſten Irrthümer durch mangelhafte Vor - bildung. Freilich herrſcht vielfach die Anſicht, daß gerade die Juriſten die höchſte Bildung beſitzen; werden ſie ja doch gerade deßhalb bei der Beſetzung der verſchiedenſten Aemter vorgezogen. Allein dieſe vielgerühmte „ juriſtiſche Bildung “iſt größtentheils eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Haupt-Objekt ihrer Thätigkeit, den menſchlichen Organismus, und ſeine wich - tigſte Funktion, die Seele, lernen unſere Juriſten nur oberflächlich kennen; das beweiſen z. B. die wunderlichen Anſichten von „ Willensfreiheit, Verantwortung “u. ſ. w., denen wir täglich begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juriſten verſicherte, daß die winzige kugelige Eizelle, aus der ſich jeder Menſch ent - wickelt, lebendig ſei, ebenſo mit Leben begabt, wie der Embryo von zwei oder ſieben oder neun Monaten, fand ich nur un - gläubiges Lächeln. Den meiſten Studirenden der Jurisprudenz fällt es gar nicht ein, Anthropologie, Pſychologie und Entwickelungsgeſchichte zu treiben, die erſten Vorbedin - gungen für richtige Beurtheilung des Menſchen-Weſens. Freilich bleibt dazu auch „ keine Zeit “; dieſe wird leider nur zu ſehr durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anſpruch genommen, ſowie das „ veredelnde “Menſuren-Weſen; der Reſt der koſtbaren Studien-Zeit aber iſt nothwendig, um die Hunderte von Paragraphen der Geſetzbücher zu erlernen, deren Kenntniß den Juriſten zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kultur - Staate befähigt.
Unſere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik wollen wir hier nur ganz flüchtig ſtreifen, da die unerfreulichen Zuſtände des modernen Staatslebens allbekannt und Jedermann täglich fühlbar ſind. Zum großen Theile erklären ſich deren Mängel daraus, daß die meiſten Staatsbeamten eben Juriſten ſind, Männer von ausgezeichneter formaler Bildung, aber ohne10Zuſtand der modernen Staatsordnung. I. jene gründliche Kenntniß der Menſchen-Natur, die nur durch vergleichende Anthropologie und moniſtiſche Pſychologie erworben werden kann, — ohne jene Kenntniß der ſocialen Verhältniſſe, deren organiſche Vorbilder uns die vergleichende Zoologie und Entwickelungsgeſchichte, die Zellen-Theorie und die Protiſtenkunde liefert. „ Bau und Leben des ſocialen Körpers “, d. h. des Staates, lernen wir nur dann richtig verſtehen, wenn wir naturwiſſenſchaftliche Kenntniß von „ Bau und Leben “der Per - ſonen beſitzen, welche den Staat zuſammenſetzen, und der Zellen, welche jene Perſonen zuſammenſetzen*)Vergl. A. Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers. 1875.. Wenn dieſe unſchätzbaren biologiſchen und anthropologiſchen Vorkenntniſſe unſere „ Staatslenker “beſäßen, und unſere „ Volksvertreter “, die mit ihnen zuſammenwirken, ſo würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene entſetzliche Fülle von ſociologiſchen Irrthümern und von politiſcher Kannegießerei zu leſen ſein, welche unſere Parlaments-Berichte und auch viele Regierungs-Erlaſſe nicht gerade erfreulich auszeichnen. Das Schlimmſte freilich iſt, wenn der moderne Kulturſtaat ſich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und wenn der bornirte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurz - ſichtigen Parteiführer die Hierarchie unterſtützt. Dann entſtehen ſo traurige Bilder, wie ſie uns leider jetzt am Schluſſe des 19. Jahrhunderts der deutſche Reichstag vor Augen führt: die Geſchicke des gebildeten deutſchen Volkes in der Hand des ultra - montanen Centrums, unter der Leitung des römiſchen Papismus, der ſein ärgſter und gefährlichſter Feind iſt. Statt Recht und Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unſere Staatsordnung kann nur dann beſſer werden, wenn ſie ſich von den Feſſeln der Kirche befreit, und wenn ſie durch allgemeine naturwiſſenſchaftliche Bildung die Welt - und Menſchen -11I. Zuſtand der modernen Schule.Kenntniß der Staatsbürger auf eine beſſere Stufe hebt. Dabei kommt es gar nicht auf die beſondere Staatsform an. Ob Monarchie oder Republik, ob ariſtokratiſche oder demokratiſche Verfaſſung, das ſind untergeordnete Fragen gegenüber der großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturſtaat geiſtlich oder weltlich ſein? ſoll er theokratiſch durch unvernünftige Glaubensſätze und klerikale Willkür, oder ſoll er nomokratiſch durch ver - nünftige Geſetze und bürgerliches Recht geleitet werden? Die Haupt - aufgabe iſt, unſere Jugend zu vernünftigen, vom Aberglauben befreiten Staatsbürgern heranzuziehen, und das kann nur durch eine zeitgemäße Schul-Reform geſchehen.
Unſere Schule. Ebenſo wie unſere Rechtspflege und Staats - ordnung, entſpricht auch unſere Jugenderziehung durchaus nicht den Anforderungen, welche die wiſſenſchaftlichen Fortſchritte des 19. Jahrhunderts an die moderne Bildung ſtellen. Die Natur - wiſſenſchaft, die alle anderen Wiſſenſchaften ſo weit über - flügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle ſogenannten Geiſteswiſſenſchaften in ſich aufgenommen hat, wird in unſeren Schulen immer noch als Nebenſache behandelt oder als Aſchen - brödel in die Ecke geſtellt. Dagegen erſcheint unſeren meiſten Lehrern immer noch als Hauptaufgabe jene todte Gelehrſamkeit, die aus den Kloſterſchulen des Mittelalters übernommen iſt; im Vordergrunde ſteht der grammatikaliſche Sport und die zeit - raubende „ gründliche Kenntniß “der klaſſiſchen Sprachen, ſowie der äußerlichen Völkergeſchichte. Die Sittenlehre, der wichtigſte Gegenſtand der praktiſchen Philoſophie, wird vernachläſſigt und an ihre Stelle die kirchliche Konfeſſion geſetzt. Der Glaube ſoll dem Wiſſen vorangehen; nicht jener wiſſenſchaftliche Glaube, welcher uns zu einer moniſtiſchen Religion führt, ſondern jener unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunſtalteten Chriſtenthums bildet. Während die großartigen Erkenntniſſe der modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie12Zuſtand der modernen Kirche. I. und Entwicklungslehre auf unſeren höheren Schulen gar keine oder nur ganz ungenügende Verwerthung finden, wird das Ge - dächtniß mit einer Unmaſſe von philologiſchen und hiſtoriſchen Thatſachen überladen, die weder für die theoretiſche Bildung noch für das praktiſche Leben von Nutzen ſind. Aber auch die veralteten Einrichtungen und Fakultäts-Verhältniſſe der Univerſi - täten entſprechen der heutigen Entwicklungsſtufe der moniſtiſchen Weltanſchauung ebenſo wenig, als die Unterrichts-Leitung in den Gymnaſien und in den niederen Schulen.
Unſere Kirche. Den Gipfel des Gegenſatzes gegen die moderne Bildung und gegen deren Grundlage, die vorgeſchrittene Natur-Erkenntniß, erreicht unſtreitig die Kirche. Wir wollen hier gar nicht vom ultramontanen Papismus ſprechen, oder von den orthodoxen evangeliſchen Richtungen, welche dieſem in Bezug auf Unkenntniß der Wirklichkeit und Lehre des kraſſeſten Aber - glaubens nichts nachgeben. Vielmehr verſetzen wir uns in die Predigt eines liberalen proteſtantiſchen Pfarrers, der gute Durch - ſchnittsbildung beſitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sitten - lehren, die mit unſerer moniſtiſchen Ethik (im 19. Kapitel) voll - kommen harmoniren, und neben humaniſtiſchen Erörterungen, die wir durchaus billigen, Vorſtellungen über das Weſen von Gott und Welt, von Menſch und Leben, welche allen Erfahrungen der Naturforſchung direct widerſprechen. Es iſt kein Wunder, wenn Techniker und Chemiker, Aerzte und Philoſophen, die gründlich über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, ſolchen Pre - digten kein Gehör ſchenken wollen. Es fehlt eben unſeren Theo - logen ebenſo wie unſeren Philologen, unſeren Politikern ebenſo wie unſeren Juriſten an jener unentbehrlichen Natur - kenntniß, welche ſich auf die moniſtiſche Entwickelungslehre gründet, und welche bereits in den feſten Beſitzſtand unſerer modernen Wiſſenſchaft übergegangen iſt.
13I. Vernunft und Offenbarung.Konflikt zwiſchen Vernunft und Dogma. Aus dieſen bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegenſätzen ergeben ſich für unſer modernes Kultur-Leben ſchwere Konflikte, deren Gefahr dringend zur Beſeitigung auffordert. Unſere heutige Bildung, als Ergebniß der mächtig vorgeſchrittenen Wiſſenſchaft, verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens; ſie wünſcht die Menſchheit mittels der Ver - nunft auf jene höhere Stufe der Erkenntniß und damit zugleich auf jenen beſſeren Weg zum Glück erhoben zu ſehen, welche wir unſerer hoch entwickelten Naturwiſſenſchaft verdanken. Dagegen ſträuben ſich aber mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreiſe, welche unſere Geiſtesbildung in betreff der wichtigſten Probleme in den überwundenen Anſchauungen des Mittelalters zurückhalten wollen: ſie verharren im Banne der traditionellen Dogmen und verlangen, daß die Vernunft ſich unter dieſe „ höhere Offen - barung “beugen ſolle. Das iſt der Fall in weiten Kreiſen der Theologie und Philologie, der Sociologie und Jurisprudenz. Die Beweggründe dieſer letzteren beruhen zum größten Theile gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf eigennützigem Streben, ſondern theils auf Unkenntniß der realen Thatſachen, theils auf der bequemen Gewohnheit der Tradition. Von den drei großen Feindinnen der Vernunft und Wiſſenſchaft iſt die gefährlichſte nicht die Bosheit, ſondern die Unwiſſenheit und vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen dieſe beiden letzteren Mächte kämpfen ſelbſt Götter dann noch vergebens, wenn ſie die erſtere glücklich überwunden haben.
Anthropismus. Eine der mächtigſten Stützen gewährt jener rückſtändigen Weltanſchauung der Anthropismus oder die „ Vermenſchlichung “. Unter dieſem Begriffe verſtehe ich „ jenen mächtigen und weit verbreiteten Complex von irrthüm - lichen Vorſtellungen, welcher den menſchlichen Organismus in Gegenſatz zu der ganzen übrigen Natur ſtellt, ihn als vor -14Anthropiſtiſche Irrthümer. I. bedachtes Endziel der organiſchen Schöpfung und als ein prin - cipiell von dieſer verſchiedenes, gottähnliches Weſen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieſes einflußreichen Vorſtellungs-Kreiſes ergiebt ſich, daß derſelbe eigentlich aus drei verſchiedenen Dogmen beſteht, die wir als den anthropocentriſchen, anthropomor - phiſchen und anthropolatriſchen Irrthum unterſcheiden “*)E. Haeckel, Syſtematiſche Phylogenie. 1895. Bd. III, S. 646 bis 650: „ Anthropogenie und Anthropismus “. (Anthropolatrie bedeutet: „ Göttliche Verehrung des menſchlichen Weſens “.). I. Das anthropocentriſche Dogma gipfelt in der Vor - ſtellung, daß der Menſch der vorbedachte Mittelpunkt und End - zweck alles Erdenlebens — oder in weiterer Faſſung der ganzen Welt — ſei. Da dieſer Irrthum dem menſchlichen Eigennutz äußerſt erwünſcht, und da er mit den Schöpfungs-Mythen der drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der moſaiſchen, chriſtlichen und mohammedaniſchen Lehre innig verwachſen iſt, beherrſcht er auch heute noch den größten Theil der Kulturwelt. — II. Das anthropomorphiſche Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungs-Mythen der drei genannten, ſowie vieler anderer Religionen an. Es vergleicht die Weltſchöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunſt - ſchöpfungen eines ſinnreichen Technikers oder „ Maſchinen-In - genieurs “und mit der Staatsregierung eines weiſen Herrſchers. „ Gott der Herr “als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in ſeinem Denken und Handeln durchaus menſchen - ähnlich vorgeſtellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Menſch gottähnlich iſt. „ Gott ſchuf den Menſchen nach ſeinem Bilde. “ Die ältere naive Mythologie iſt reiner Homo - theismus und verleiht ihren Göttern Menſchengeſtalt, Fleiſch und Blut. Weniger vorſtellbar iſt die neuere myſtiſche Theoſophie, welche den perſönlichen Gott als „ unſichtbares “— eigentlich gasförmiges! — Weſen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach15I. Anthropiſtiſche Irrthümer.Menſchenart denken, ſprechen und handeln läßt; ſie gelangt da - durch zu dem paradoxen Begriff eines „ gasförmigen Wirbel - thieres “. — III. Das anthropolatriſche Dogma ergiebt ſich aus dieſer Vergleichung der menſchlichen und göttlichen Seelenthätigkeit von ſelbſt; es führt zu der göttlichen Ver - ehrung des menſchlichen Organismus, zum „ anthropiſtiſchen Größenwahn “. Daraus folgt wieder der hochgeſchätzte „ Glaube an die perſönliche Unſterblichkeit der Seele “, ſowie das dualiſtiſche Dogma von der Doppelnatur des Menſchen, deſſen „ unſterbliche Seele “den ſterblichen Körper nur zeitweiſe bewohnt. Indem nun dieſe drei anthropiſtiſchen Dogmen mannichfach ausgebildet und der wechſelnden Glaubensform der verſchiedenen Religionen angepaßt wurden, erlangten ſie im Laufe der Zeit eine außer - ordentliche Bedeutung und wurden zur Quelle der gefährlichſten Irrthümer. Die anthropiſtiſche Weltanſchauung, die daraus entſprang, ſteht in unverſöhnlichem Gegenſatz zu unſerer moniſtiſchen Natur-Erkenntniß; ſie wird zunächſt ſchon durch deren kosmologiſche Perſpektive widerlegt.
Kosmologiſche Perſpektive. Nicht allein die drei anthro - piſtiſchen Dogmen, ſondern auch viele andere Anſchauungen der dualiſtiſchen Philoſophie und der orthodoxen Religion offenbaren ihre Unhaltbarkeit, ſobald wir ſie aus der kosmologiſchen Perſpektive unſers Monismus kritiſch betrachten. Wir ver - ſtehen darunter jene umfaſſende Anſchauung des Welt - ganzen, welche wir vom höchſten erklommenen Standpunkt der moniſtiſchen Natur-Erkenntniß gewonnen haben. Da überzeugen wir uns von folgenden wichtigen, nach unſerer Anſicht jetzt größtentheils bewieſenen „ kosmologiſchen Lehrſätzen “.
1. Das Weltall (Univerſum oder Kosmos) iſt ewig, un - endlich und unbegrenzt. 2. Die Subſtanz deſſelben mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet ſich in ewiger Bewegung. 3. Dieſe Bewegung16Kosmologiſche Lehrſätze. I. verläuft in der unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwicklung, mit periodiſchem Wechſel von Werden und Vergehen, von Fort - bildung und Rückbildung. 4. Die unzähligen Weltkörper, welche im raumerfüllenden Aether vertheilt ſind, unterliegen ſämmtlich dem Subſtanz-Geſetz; während in einem Theile des Univerſum die rotirenden Weltkörper langſam ihrer Rückbildung und ihrem Untergang entgegen gehen, erfolgt in einem andern Theile des Weltraums Neubildung und Fortentwicklung. 5. Unſere Sonne iſt einer von dieſen unzähligen vergänglichen Weltkörpern, und unſere Erde iſt einer von den zahlreichen vergänglichen Planeten, welche dieſelbe umkreiſen. 6. Unſere Erde hat einen langen Abkühlungs-Proceß durchgemacht, ehe auf derſelben tropfbar flüſſiges Waſſer und damit die erſte Vorbedingung organiſchen Lebens entſtehen konnte. 7. Der dann folgende biogenetiſche Proceß, die langſame Entwicklung und Umbildung zahlloſer organiſcher Formen, hat viele Millionen Jahre (weit über hundert!) in Anſpruch genommen*)Zeitdauer der organiſchen Erdgeſchichte. Vergl. meinen Cambridge - Vortrag: Ueber unſere gegenwärtige Kenntniß vom Urſprunge des Menſchen. Bonn 1898. VII. Aufl., S. 51.. 8. Unter den verſchiedenen Thier-Stämmen, welche ſich im ſpäteren Verlaufe des biogene - tiſchen Proceſſes auf unſerer Erde entwickelten, hat der Stamm der Wirbelthiere im Wettlaufe der Entwickelung neuerdings alle anderen weit überflügelt. 9. Als der bedeutendſte Zweig des Wirbelthier-Stammes hat ſich erſt ſpät (während der Trias - Periode) aus niederen Reptilien und Amphibien die Klaſſe der Säugethiere entwickelt. 10. Der vollkommenſte und höchſt ent - wickelte Zweig dieſer Klaſſe iſt die Ordnung der Herrenthiere oder Primaten, die erſt im Beginne der Tertiär-Zeit (vor min - deſtens drei Millionen Jahren) durch Umbildung aus niederſten Zottenthieren (Prochoriaten) entſtanden iſt. 11. Das jüngſte und vollkommenſte Aeſtchen des Primaten-Zweiges iſt der Menſch,17I. Kosmologiſche Perſpektive.der erſt gegen Ende der Tertiär-Zeit aus einer Reihe von Menſchen-Affen hervorgegangen iſt. 12. Demnach iſt die ſo - genannte „ Weltgeſchichte “— d. h. der kurze Zeitraum von wenigen Jahrtauſenden, innerhalb deſſen ſich die Kulturgeſchichte des Menſchen abgeſpielt hat, eine verſchwindend kurze Epiſode in dem langen Verlaufe der organiſchen Erdgeſchichte, ebenſo wie dieſe ſelbſt ein kleines Stück von der Geſchichte unſeres Planeten-Syſtems; und wie unſere Mutter Erde ein vergäng - liches Sonnenſtäubchen im unendlichen Weltall, ſo iſt der einzelne Menſch ein winziges Plasma-Körnchen in der vergänglichen or - ganiſchen Natur.
Nichts ſcheint mir geeigneter als dieſe großartige kosmo - logiſche Perſpektive, um von vornherein den richtigen Maaß - ſtab und den weitſichtigen Standpunkt feſtzuſetzen, welchen wir zur Löſung der großen, uns umgebenden Welträthſel einhalten müſſen. Denn dadurch wird nicht nur die maaßgebende „ Stellung des Menſchen in der Natur “klar bewieſen, ſondern auch der herr - ſchende anthropiſtiſche Größenwahn widerlegt, die An - maaßung, mit der der Menſch ſich dem unendlichen Univerſum gegenüberſtellt und als wichtigſten Theil des Weltalls verherrlicht. Dieſe grenzenloſe Selbſtüberhebung des eiteln Menſchen hat ihn dazu verführt, ſich als „ Ebenbild Gottes “zu betrachten, für ſeine vergängliche Perſon ein „ ewiges Leben “in Anſpruch zu nehmen und ſich einzubilden, daß er unbeſchränkte „ Freiheit des Willens “beſitzt. Der lächerliche Cäſaren-Wahn des Caligula iſt eine ſpecielle Form dieſer hochmüthigen Selbſtvergötterung des Menſchen. Erſt wenn wir dieſen unhaltbaren Größenwahn auf - geben und die naturgemäße kosmologiſche Perſpektive einnehmen, können wir zur Löſung der „ Welträthſel “gelangen1.
Zahl der Welträthſel. Der ungebildete Kulturmenſch iſt noch ebenſo wie der rohe Naturmenſch auf Schritt und Tritt von unzähligen Welträthſeln umgeben. Je weiter die KulturHaeckel, Welträthſel. 218Zahl der Welträthſel. I. fortſchreitet und die Wiſſenſchaft ſich entwickelt, deſto mehr wird ihre Zahl beſchränkt. Die moniſtiſche Philoſophie wird ſchließlich nur ein einziges, allumfaſſendes Welträthſel anerkennen, das „ Subſtanz-Problem “. Immerhin kann es aber zweck - mäßig erſcheinen, auch eine gewiſſe Zahl von ſchwierigſten Pro - blemen mit jenem Namen zu bezeichnen. In der berühmten Rede, welche Emil du Bois-Reymond 1880 in der Leibniz - Sitzung der Berliner Akademie der Wiſſenſchaften hielt, unter - ſcheidet er „ Sieben Welträthſel “und führt dieſelben in nach - ſtehender Reihenfolge auf: I. das Weſen von Materie und Kraft, II. der Urſprung der Bewegung, III. die erſte Entſtehung des Lebens IV. die (anſcheinend abſichtsvoll) zweckmäßige Einrichtung der Natur, V. das Entſtehen der einfachen Sinnesempfindung und des Bewußtſeins, VI. das vernünftige Denken und der Urſprung der damit eng verbundenen Sprache, VII. die Frage nach der Willens-Freiheit. Von dieſen ſieben Welträthſeln erklärt der Rhetor der Berliner Akademie drei für ganz transcendent und unlösbar (das erſte, zweite und fünfte); drei andere hält er zwar für ſchwierig, aber für lösbar (das dritte, vierte und ſechſte); bezüglich des ſiebenten und letzten „ Welträthſels “, wel - ches praktiſch das wichtigſte iſt, nämlich der Willensfreiheit, ver - hält er ſich unentſchieden.
Da mein Monismus ſich von demjenigen des Berliner Rhetors weſentlich unterſcheidet, da aber anderſeits ſeine Auf - faſſung der „ ſieben Welträthſel “großen Beifall in weiten Kreiſen gefunden hat, halte ich es für zweckmäßig, gleich hier von vorn - herein zu denſelben klare Stellung zu nehmen. Nach meiner Anſicht werden die drei „ transcendenten “Räthſel (I, II, V) durch unſere Auffaſſung der Subſtanz erledigt (Kapitel 12); die drei anderen, ſchwierigen, aber lösbaren Probleme (III, IV, VI) ſind durch unſere moderne Entwicklungslehre endgültig gelöſt; das ſiebente und letzte Welträthſel, die Willensfreiheit,19I. Löſung der Welträthſel.iſt gar kein Objekt kritiſcher wiſſenſchaftlicher Erklärung, da ſie als reines Dogma nur auf Täuſchung beruht und in Wirk - lichkeit gar nicht exiſtirt.
Löſung der Welträthſel. Die Mittel und Wege, welche wir zur Löſung der großen Welträthſel einzuſchlagen haben, ſind keine anderen als diejenigen der reinen wiſſenſchaftlichen Er - kenntniß überhaupt, alſo erſtens Erfahrung und zweitens Schlußfolgerung. Die wiſſenſchaftliche Erfahrung erwerben wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erſter Linie unſere Sinnes-Organe, in zweiter die „ inneren Sinnes - herde “unſerer Großhirnrinde thätig ſind. Die mikroſkopiſchen Elementar-Organe der erſteren ſind die Sinneszellen, die der letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche wir von der Außenwelt durch dieſe unſchätzbarſten Organe unſers Geiſteslebens erhalten haben, werden dann durch andere Gehirntheile in Vorſtellungen umgeſetzt und dieſe wiederum durch Aſſociation zu Schlüſſen verknüpft. Die Bildung dieſer Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verſchiedenen Wegen, die nach meiner Ueberzeugung gleich werthvoll und unentbehrlich ſind: Induktion und Deduktion. Die weiteren ver - wickelten Gehirn-Operationen, die Bildung von zuſammenhängen - den Kettenſchlüſſen, die Abſtraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des erkennenden Verſtandes durch die plaſtiſche Thätig - keit der Phantaſie, ſchließlich das Bewußtſein, das Denken und Philoſophiren, ſind ebenſo Funktionen der Ganglien-Zellen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelenthätig - keiten. Alle zuſammen vereinigen wir in dem höchſten Begriffe der Vernunft*)Ueber Induktion und Deduktion vergl. meine Natürliche Schöpfungs - geſchichte, neunte Auflage 1898, S. 76, 796..
Vernunft, Gemüth und Offenbarung. Durch die Ver - nunft allein können wir zur wahren Natur-Erkenntniß und zur2 *20Vernunft, Gemüth und Offenbarung. I. Löſung der Welträthſel gelangen. Die Vernunft iſt das höchſte Gut des Menſchen und derjenige Vorzug, der ihn allein von den Thieren weſentlich unterſcheidet. Allerdings hat ſie aber dieſen hohen Werth erſt durch die fortſchreitende Kultur und Geiſtesbildung, durch die Entwickelung der Wiſſenſchaft er - halten. Der ungebildete Menſch und der rohe Naturmenſch ſind ebenſo wenig (oder ebenſo viel) „ vernünftig “als die nächſt - verwandten Säugethiere (Affen, Hunde, Elephanten u. ſ. w.). Nun iſt aber in weiten Kreiſen noch heute die Anſicht verbreitet, daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere (ja ſogar wichtigere!) Erkenntniß-Wege gebe: Gemüth und Offen - barung. Dieſem gefährlichen Irrthum müſſen wir von vorn - herein entſchieden entgegentreten. Das Gemüth hat mit der Erkenntniß der Wahrheit gar Nichts zu thun. Was wir „ Gemüth “nennen und hochſchätzen, iſt eine ver - wickelte Thätigkeit des Gehirns, welche ſich aus Gefühlen der Luſt und Unluſt, aus Vorſtellungen der Zuneigung und Abneigung, aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zuſammenſetzt. Dabei können die verſchiedenſten anderen Thätigkeiten des Or - ganismus mitſpielen, Bedürfniſſe der Sinne und der Muskeln, des Magens und der Geſchlechtsorgane u. ſ. w. Die Erkenntniß der Wahrheit fördern alle dieſe Gemüths-Zuſtände und Gemüths - Bewegungen in keiner Weiſe; im Gegentheil ſtören ſie oft die allein dazu befähigte Vernunft und ſchädigen ſie häufig in empfindlichem Grade. Noch kein „ Welträthſel “iſt durch die Gehirn-Funktion des Gemüths gelöſt oder auch nur gefördert worden. Daſſelbe gilt aber auch von der ſogenannten „ Offen - barung “und den angeblichen, dadurch erreichten „ Glaubens - wahrheiten “; dieſe beruhen ſämmtlich auf bewußter oder unbewußter Täuſchung, wie wir im 16. Kapitel ſehen werden.
Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. Als einen der er - freulichſten Fortſchritte zur Löſung der Welträthſel müſſen wir21I. Erfahrung und Denken.es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen, dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken — oder Empirie und Spekulation — als gleichberechtigte und ſich gegenſeitig ergänzende Erkenntniß-Methoden anerkannt worden ſind. Die Philoſophen haben allmählich eingeſehen, daß die reine Spekulation, wie ſie z. B. Plato und Hegel zur idealen Welt-Conſtruction benutzten, zur wahren Erkenntniß nicht aus - reicht. Und ebenſo haben ſich anderſeits die Naturforſcher überzeugt, daß die bloße Erfahrung, wie ſie z. B. Baco und Mill zur Grundlage der realen Weltanſchauung erhoben, für deren Vollendung allein ungenügend iſt. Denn die zwei großen Erkenntniß-Wege, die ſinnliche Erfahrung und das vernünftige Denken, ſind zwei verſchiedene Gehirn-Functionen; die erſtere wird durch die Sinnesorgane und die centralen Sinnesherde, die letztere durch die dazwiſchen liegenden Denk - herde, die großen „ Aſſocions-Centren der Großhirnrinde “ver - mittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10.) Erſt durch die vereinigte Thätigkeit beider entſteht wahre Erkenntniß. Allerdings giebt es auch heute noch manche Philoſophen, welche die Welt bloß aus ihrem Kopfe conſtruiren wollen, und welche die empiriſche Naturerkenntniß ſchon deßhalb verſchmähen, weil ſie die wirkliche Welt nicht kennen. Anderſeits behaupten auch heute noch manche Naturforſcher, daß die einzige Aufgabe der Wiſſenſchaft das „ thatſächliche Wiſſen, die objektive Erforſchung der einzelnen Natur-Erſcheinungen ſei “; das „ Zeitalter der Philoſophie “ſei vorüber, und an ihre Stelle ſei die Naturwiſſenſchaft getreten*)Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Univerſität und der Uebergang aus dem philoſophiſchen in das naturwiſſenſchaftliche Zeit - alter. Berlin 1893.. Dieſe einſeitige Ueberſchätzung der Empirie iſt ebenſo ein gefähr - licher Irrthum wie jene entgegengeſetzte der Spekulation. Beide Erkenntniß-Wege ſind ſich gegenſeitig unentbehrlich. Die größten22Empirie und Spekulation. I. Triumphe der modernen Naturforſchung, die Zellentheorie und die Wärmetheorie, die Entwickelungstheorie und das Subſtanz - Geſetz, ſind philoſophiſche Thaten, aber nicht Ergebniſſe der reinen Spekulation, ſondern der vorausgegangenen, aus - gedehnteſten und gründlichſten Empirie.
Am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts rief unſer größter idealiſtiſcher Dichter, Schiller, den beiden ſtreitenden Heeren, den Philoſophen und Naturforſchern, zu:
„ Feindſchaft ſei zwiſchen Euch! Noch kommt das Bündniß zu frühe! „ Wenn Ihr im Suchen Euch trennt, wird erſt die Wahrheit erkannt! “
Seitdem hat ſich das Verhältniß zum Glück gründlich ge - ändert; indem beide Heere auf verſchiedenen Wegen nach dem - ſelben höchſten Ziele ſtrebten, haben ſie ſich in demſelben zu - ſammengefunden und nähern ſich im gemeinſamen Bunde immer mehr der Erkenntniß der Wahrheit. Wir ſind jetzt am Ende des Jahrhunderts zu jener moniſtiſchen Erkenntniß - Methode zurückgekehrt, welche ſchon an deſſen Anfang von unſerm größten realiſtiſchen Dichter, Goethe, als die einzig naturgemäße anerkannt war*)Vergl. hierüber das 4. Kapitel meiner „ Generellen Morphologie “, 1866: Kritik der naturwiſſenſchaftlichen Methoden..
Dualismus und Monismus. Alle verſchiedenen Rich - tungen der Philoſophie laſſen ſich, vom heutigen Standpunkte der Naturwiſſenſchaft beurtheilt, in zwei entgegengeſetzte Reihen bringen, einerſeits die dualiſtiſche oder zwieſpältige, anderſeits die moniſtiſche oder einheitliche Weltanſchauung. Gewöhnlich iſt die erſtere mit teleologiſchen und idealiſtiſchen Dogmen ver - knüpft, die letztere mit mechaniſtiſchen und realiſtiſchen Grund - begriffen. Der Dualismus (im weiteſten Sinne!) zerlegt das Univerſum in zwei ganz verſchiedene Subſtanzen, die mate - rielle Welt und den immateriellen Gott, der ihr als Schöpfer, Erhalter und Regierer gegenüberſteht. Der Monismus hin -23I. Monismus und Dualismus.gegen (ebenfalls im weiteſten Sinn begriffen!) erkennt im Uni - verſum nur eine einzige Subſtanz, die „ Gott und Natur “zugleich iſt: Körper und Geiſt (oder Materie und Energie) ſind für ſie untrennbar verbunden. Der extramundane Gott des Dualis - mus führt nothwendig zum Theismus; hingegen der intra - mundane Gott des Monismus zum Pantheismus.
Materialismus und Spiritualismus. Sehr häufig wer - den auch heute noch die verſchiedenen Begriffe Monismus und Materialismus und ebenſo die weſentlich verſchiedenen Rich - tungen des theoretiſchen und des praktiſchen Materialismus ver - wechſelt. Da dieſe und andere ähnliche Begriffs-Verwirrungen höchſt nachtheilig wirken und zahlreiche Irrthümer veranlaſſen, wollen wir zur Vermeidung aller Mißverſtändniſſe nur kurz noch Folgendes bemerken: I. Unſer reiner Monismus iſt weder mit dem theoretiſchen Materialismus identiſch, welcher den Geiſt leugnet und die Welt in eine Summe von todten Atomen auflöſt, noch mit dem theoretiſchen Spiritualismus (neuer - dings von Oſtwald als Energetik bezeichnet*)Wilhelm Oſtwald, Die Ueberwindung des wiſſenſchaftlichen Materialismus. 1895., welcher die Materie leugnet und die Welt nur als eine räumlich geordnete Gruppe von Energien oder immateriellen Naturkräften betrachtet. II. Vielmehr ſind wir mit Goethe der feſten Ueberzeugung, daß „ die Materie nie ohne Geiſt, der Geiſt nie ohne Materie exiſtirt und wirkſam ſein kann “. Wir halten feſt an dem reinen und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte Subſtanz, und der Geiſt (oder die Energie), als die empfindende oder denkende Subſtanz, ſind die beiden fundamentalen Attribute oder Grundeigenſchaften des allumfaſſenden göttlichen Weltweſens, der univerſalen Subſtanz. (Vergl. Kapitel 12.)
Moniſtiſche Studien über menſchliche und vergleichende Anatomie. Uebereinſtimmung in der gröberen und feineren Organiſation des Menſchen und der Säugethiere.
„ Wir mögen ein Syſtem von Organen vornehmen, welches wir wollen, die Ver - gleichung ihrer Modifikationen in der Affenreihe führt uns zu einem und dem - ſelben Reſultate; daß die anatomiſchen Verſchiedenheiten, welche den Menſchen vom Gorilla und Schimpanſe ſcheiden, nicht ſo groß ſind als diejenigen, welche den Gorilla von den übrigen Affen trennen. “(Thomas Huxley (1863).)[26]
Grundlegende Bedeutung der Anatomie. Menſchliche Anatomie. Hippo - krates. Ariſtoteles. Galenus. Veſalius. Vergleichende Anatomie. George Cuvier. Johannes Müller. Carl Gegenbaur. Gewebelehre. Zellentheorie. Schleiden und Schwann. Kölliker. Virchow. Wirbelthier-Natur des Menſchen. Tetrapoden-Natur des Menſchen. Säugethier-Natur des Menſchen. Placentalien-Natur des Menſchen. Primaten-Natur des Menſchen. Halb - affen und Affen. Katarrhinen. Papiomorphen und Anthropomorphen. Weſentliche Gleichheit im Körperbau des Menſchen und der Menſchenaffen.
Carl Gegenbaur, Lehrbuch der Anatomie des Menſchen. 2 Bände. Leipzig 1883. Siebente Auflage 1899.
Rudolf Virchow, Geſammelte Abhandlungen zur wiſſenſchaftlichen Medicin. I. Die Einheits-Beſtrebungen. Frankfurt a. M. 1856.
Johannes Rauke, Der Menſch (mit über tauſend Abbildungen). Leipzig 1887.
Robert Wiedersheim, Der Bau des Menſchen als Zeugniß für ſeine Ver - gangenheit. Zweite Auflage. Leipzig 1893.
Robert Hartmann, Die menſchenähnlichen Affen und ihre Organiſation im Vergleich zur menſchlichen. Leipzig 1883.
Ernſt Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeſchichte des Menſchen. XI. Die Wirbelthier-Natur des Menſchen. Leipzig 1874. Vierte Auflage 1891.
Theodor Schwann, Mikroſkopiſche Unterſuchungen über die Uebereinſtimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Berlin 1839.
Albert Kölliker, Handbuch der Gewebelehre des Menſchen. (Für Aerzte und Studirende.) Leipzig 1852. Sechſte Auflage 1889.
Philipp Stöhr, Lehrbuch der Hiſtologie und der mikroſkopiſchen Anatomie des Menſchen. Achte Auflage. Jena 1898.
Oscar Hertwig, Die Zelle und die Gewebe. Grundzüge der allgemeinen Anatomie und Phyſiologie. Jena 1896.
Alle biologiſchen Unterſuchungen, alle Forſchungen über die Geſtaltung und Lebensthätigkeit der Organismen haben zunächſt den ſichtbaren Körper in's Auge zu faſſen, an welchem uns die betreffenden morphologiſchen und phyſiologiſchen Er - ſcheinungen entgegentreten. Dieſer Grundſatz gilt ebenſo für den Menſchen wie für alle anderen belebten Naturkörper. Dabei darf ſich die Unterſuchung nicht mit der Betrachtung der äußeren Geſtalt begnügen, ſondern ſie muß in das Innere derſelben eindringen und ihre Zuſammenſetzung aus den gröberen und feineren Beſtandtheilen erforſchen. Die Wiſſenſchaft, welche dieſe grundlegende Unterſuchung im weiteſten Umfange aus - zuführen hat, iſt die Anatomie.
Menſchliche Anatomie. Die erſte Anregung zur Er - kenntniß des menſchlichen Körperbaues ging naturgemäß von der Heilkunde aus. Da dieſe bei den älteſten Kulturvölkern ge - wöhnlich von den Prieſtern ausgeübt wurde, dürfen wir an - nehmen, daß dieſe höchſten Vertreter der damaligen Bildung ſchon im zweiten Jahrtauſend vor Chriſto und früher über ein gewiſſes Maaß von anatomiſchen Kenntniſſen verfügten. Aber genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von Säugethieren und von dieſen übertragen auf den Menſchen, finden wir erſt bei den griechiſchen Natur-Philoſophen des ſechſten und fünften Jahrhunderts vor Chr., bei Empedokles (von Agrigent) und Demokritos (von Abdera), vor Allen aber bei dem berühmteſten Arzte des klaſſiſchen Alterthums, bei28Menſchliche Anatomie im Alterthum. II. Hippokrates (von Kos). Aus ihren und anderen Schriften ſchöpfte auch (im vierten Jahrh. v. Chr.) der große Ariſto - teles, der hochberühmte „ Vater der Naturgeſchichte “, gleich um - faſſend als Naturforſcher wie als Philoſoph. Nach ihm er - ſcheint nur noch ein bedeutender Anatom im Alterthum, der griechiſche Arzt Claudius Galenus (von Pergamus); er entfaltete im zweiten Jahrhundert nach Chr. in Rom unter Kaiſer Marcus Aurelius eine reiche Praxis. Alle dieſe älteren Anatomen erwarben ihre Kenntniſſe zum größten Teile nicht durch die Unterſuchung des menſchlichen Körpers ſelbſt — die damals noch ſtreng verboten war! —, ſondern durch diejenige der menſchenähnlichſten Säugethiere, beſonders der Affen; ſie waren alſo alle eigentlich ſchon „ vergleichende Anatomen “.
Das Emporblühen des Chriſtenthums und der damit verknüpften myſtiſchen Weltanſchauung bereitete der Anatomie, wie allen anderen Naturwiſſenſchaften, den Niedergang. Die römiſchen Päpſte, die größten Gaukler der Weltgeſchichte, waren vor Allem beſtrebt, die Menſchheit in Unwiſſenheit zu erhalten, und hielten die Kenntniß des menſchlichen Orga - nismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung über unſer wahres Weſen. Während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus faſt die einzige Quelle für die menſchliche Anatomie, ebenſo wie diejenigen des Ariſtoteles für die geſammte Naturgeſchichte. Erſt als im ſechzehnten Jahrhundert n. Chr. durch die Refor - mation die geiſtige Weltherrſchaft des Papismus gebrochen und durch das neue Weltſyſtem des Kopernikus die eng damit verknüpfte geocentriſche Weltanſchauung zerſtört wurde, begann auch für die Erkenntniß des menſchlichen Körpers eine neue Periode des Aufſchwungs. Die großen Anatomen Veſa - lius (aus Brüſſel), Euſtachius und Fallopius (aus Modena) förderten durch eigene gründliche Unterſuchungen die29II. Menſchliche Anatomie im Mittelalter.genaue Kenntniß unſeres Körperbaues ſo ſehr, daß ihren zahl - reichen Nachfolgern bezüglich der gröberen Verhältniſſe haupt - ſächlich nur Einzelheiten feſtzuſtellen übrig blieben. Der ebenſo kühne als geiſtreiche und unermüdliche Andreas Veſalius (deſſen Familie, wie der Name ſagt, aus Weſel ſtammte) ging bahnbrechend Allen voran; er vollendete ſchon in ſeinem 28. Lebensjahre das große, einheitlich durchgeführte Werk „ De humani corporiſ fabrica “, 1543; er gab der ganzen menſch - lichen Anatomie eine neue, ſelbſtſtändige Richtung und ſichere Grundlage. Dafür wurde Veſalius ſpäter in Madrid — wo er Leibarzt Karls V. und Philipps II. war — von der Inquiſition als Zauberer zum Tode verurtheilt. Er rettete ſich nur dadurch, daß er eine Reiſe nach Jeruſalem antrat; auf der Rückreiſe litt er bei der Inſel Zante Schiffbruch und ſtarb hier im Elend, krank und aller Mittel beraubt.
Vergleichende Anatomie. Die Verdienſte, welche unſer neunzehntes Jahrhundert ſich um die Erkenntniß des menſchlichen Körperbaues erworben hat, beſtehen vor Allem in dem Ausbau von zwei neuen, überaus wichtigen Forſchungsrichtungen, der „ vergleichenden Anatomie “und der „ Gewebelehre “oder der „ mikroſkopiſchen Anatomie “. Was zunächſt die erſtere betrifft, ſo war ſie allerdings ſchon von Anfang an mit der menſchlichen Anatomie eng verknüpft geweſen; ja, die letztere wurde ſogar ſo lange durch die erſtere erſetzt, als die Sektion menſchlicher Leichen für ein todeswürdiges Verbrechen galt — und das war ſogar noch im 15. Jahrhundert der Fall! Aber die zahlreichen Anatomen der folgenden drei Jahrhunderte be - ſchränkten ſich größtentheils auf die genaue Unterſuchung des menſchlichen Organismus. Diejenige hoch entwickelte Disciplin, die wir heute vergleichende Anatomie nennen, wurde erſt im Jahre 1803 geboren, als der große franzöſiſche Zoologe George Cuvier (aus Mömpelgard im Elſaß ſtammend) ſeine grund -30Vergleichende Anatomie. II. legenden „ Leçonſ ſur l'Anatomie comparée “herausgab und damit zum erſten Male beſtimmte Geſetze über den Körperbau des Menſchen und der Thiere feſtzuſtellen ſuchte. Während ſeine Vorläufer — unter ihnen auch Goethe 1790 — hauptſächlich nur das Knochengerüſte des Menſchen mit demjenigen der übrigen Säugethiere eingehend verglichen hatten, umfaßte Cuvier's weiter Blick die Geſammtheit der thieriſchen Orga - niſation; er unterſchied in derſelben vier große, von einander unabhängige Hauptformen oder Typen: Wirbelthiere (Verte - brata), Gliederthiere (Articulata), Weichthiere (Molluſca) und Strahlthiere (Radiata). Für die „ Frage aller Fragen “war dieſer Fortſchritt inſofern epochemachend, als damit klar die Zugehörigkeit des Menſchen zum Typus der Wirbelthiere — ſowie ſeine Grundverſchiedenheit von allen anderen Typen — ausgeſprochen war. Allerdings hatte ſchon der ſcharfblickende Linné in ſeinem erſten „ Syſtema naturae “(1735) einen be - deutungsvollen Fortſchritt damit gethan, daß er dem Menſchen definitiv ſeinen Platz in der Klaſſe der Säugethiere (Mam - malia) anwies; ja er vereinigte ſogar in der Ordnung der Herrenthiere (Primateſ) die drei Gruppen der Halbaffen, Affen und Menſchen (Lemur, Simia, Homo). Aber es fehlte dieſem kühnen, ſyſtematiſchen Griffe noch jene tiefere empiriſche Begründung durch die vergleichende Anatomie, die erſt Cuvier herbeiführte. Dieſe fand ihre weitere Ausführung durch die großen vergleichenden Anatomen unſeres Jahrhunderts, durch Friedrich Meckel (in Halle), Johannes Müller (in Berlin), Richard Owen und Thomas Huxley (in England), Carl Gegenbaur (in Jena, ſpäter in Heidelberg). Indem dieſer Letztere in ſeinen Grundzügen der vergleichenden Ana - tomie (1870) zum erſten Male die durch Darwin neu be - gründete Abſtammungslehre auf jene Wiſſenſchaft anwendete, erhob er ſie zum erſten Range unter den biologiſchen Disci -31II. Gewebelehre und Zellentheorie.plinen. Die zahlreichen vergleichend-anatomiſchen Arbeiten von Gegenbaur ſind, ebenſo wie ſein allgemein verbreitetes „ Lehrbuch der Anatomie des Menſchen “, gleich ausgezeichnet durch die gründliche empiriſche Kenntniß eines ungeheuren Thatſachen - Materials, wie durch die umfaſſende Beherrſchung desſelben und ſeine philoſophiſche Verwerthung im Sinne der Entwickelungs - lehre. Seine kürzlich erſchienene „ Vergleichende Anatomie der Wirbelthiere “(1898) legt den unerſchütterlichen Grund feſt, auf welchem ſich unſere Ueberzeugung von der Wirbelthier-Natur des Menſchen nach allen Richtungen hin klar beweiſen läßt.
Gewebelehre (Hiſtologie) und Zellenlehre (Cyto - logie). In ganz anderer Richtung als die vergleichende, ent - wickelte ſich im Laufe unſeres Jahrhunderts die mikroſkopiſche Anatomie. Schon im Anfange desſelben (1802) unternahm ein franzöſiſcher Arzt, Bichat, den Verſuch, mittelſt des Mikroſkopes die Organe des menſchlichen Körpers in ihre ein - zelnen feineren Beſtandtheile zu zerlegen und die Beziehungen dieſer verſchiedenen Gewebe (Hiſta oder Tela) feſtzuſtellen. Aber dieſer erſte Verſuch führte nicht weit, da ihm das gemein - ſame Element für die zahlreichen verſchiedenen Gewebe unbekannt blieb. Dies wurde erſt 1838 für die Pflanzen in der Zelle von Matthias Schleiden (in Jena) entdeckt und gleich darauf auch für die Thiere von Theodor Schwann nach - gewieſen, dem Schüler und Aſſiſtenten von Johannes Müller in Berlin. Zwei andere berühmte Schüler dieſes großen Meiſters, die heute noch leben, Albert Kölliker und Rudolf Virchow, führten dann im ſechſten Decennium des 19. Jahr - hunderts (in Würzburg) die Zellentheorie und die darauf ge - gründete Gewebelehre für den geſunden und kranken Organismus des Menſchen im Einzelnen durch; ſie wieſen nach, daß auch im Menſchen, wie in allen andern Thieren, alle Gewebe ſich aus den gleichen mikroſkopiſchen Formbeſtandtheilen, den Zellen,32Mikroſkopiſche Anatomie des Menſchen. II. zuſammenſetzen, und daß dieſe „ Elementar-Organismen “die wahren, ſelbſtthätigen Staatsbürger ſind, die, zu Milliarden ver - einigt, unſern Körper, den „ Zellenſtaat “, aufbauen. Alle dieſe Zellen entſtehen durch oft wiederholte Theilung aus einer ein - zigen, einfachen Zelle, aus der „ Stammzelle “oder „ be - fruchteten Eizelle “(Cytula). Die allgemeine Struktur und Zu - ſammenſetzung der Gewebe iſt beim Menſchen dieſelbe wie bei den übrigen Wirbelthieren. Unter dieſen zeichnen ſich die Säugethiere, die jüngſte und höchſt entwickelte Klaſſe, durch ge - wiſſe beſondere, ſpät erworbene Eigenthümlichkeiten aus. So iſt z. B. die mikroſkopiſche Bildung der Haare, der Hautdrüſen, der Milchdrüſen, der Blutzellen bei den Mammalien ganz eigen - thümlich und verſchieden von derjenigen der übrigen Vertebraten; der Menſch iſt auch in allen dieſen feinſten hiſtologiſchen Be - ziehungen ein echtes Säugethier.
Die mikroſkopiſchen Forſchungen von Albert Kölliker und von Franz Leydig (ebenfalls in Würzburg) erweiterten nicht nur unſere Kenntniß vom feineren Körperbau des Menſchen und der Thiere nach allen Richtungen, ſondern ſie wurden auch beſonders wichtig durch die Verbindung mit der Entwicke - lungsgeſchichte der Zelle und der Gewebe; ſie beſtätigten namentlich die wichtige Theorie von Carl Theodor Siebold (1845), daß die niedrigſten Thiere, die Infuſorien und Rhizo - poden, einzellige Organismen ſind.
Wirbelthier-Natur des Menſchen. Unſer geſammter Körperbau zeigt ſowohl in der gröberen als in der feineren Zu - ſammenſetzung den charakteriſtiſchen Typus der Wirbelthiere (Vertebrata). Dieſe wichtigſte und höchſt entwickelte Haupt - gruppe des Thierreichs wurde in ihrer natürlichen Einheit zuerſt 1801 von dem großen Lamarck erkannt; er faßte unter dieſem Begriffe die vier höheren Thierklaſſen von Linné zuſammen:33II. Wirbelthier-Natur des Menſchen.Säugethiere, Vögel, Amphibien und Fiſche. Die beiden niederen Klaſſen: Inſekten und Würmer, ſtellte er jenen als „ Wirbel - loſe “(Invertebrata) gegenüber. Cuvier beſtätigte (1812) die Einheit des Vertebraten-Typus und begründete ſie feſter durch ſeine vergleichende Anatomie. In der That ſtimmen alle Wirbelthiere, von den Fiſchen aufwärts bis zum Menſchen, in allen weſentlichen Hauptmerkmalen überein; ſie beſitzen alle ein feſtes inneres Skelett, Knorpel - und Knochengerüſt, und dieſes beſteht überall aus einer Wirbelſäule und einem Schädel; die verwickelte Zuſammenſetzung des letzteren iſt zwar im Einzelnen ſehr mannigfaltig, aber im Allgemeinen ſtets auf dieſelbe Urform zurückzuführen. Ferner liegt bei allen Vertebraten auf der Rückenſeite dieſes Axenſkeletts das „ Seelenorgan “, das centrale Nervenſyſtem, in Geſtalt eines Rückenmarks und eines Gehirns; und auch von dieſem wichtigen Gehirn — dem Werkzeuge des Bewußtſeins und aller höheren Seelenthätigkeiten! — gilt dasſelbe wie von der es umſchließenden Knochenkapſel, dem Schädel; im Einzelnen iſt ſeine Ausbildung und Größe höchſt mannigfaltig abgeſtuft, im Großen und Ganzen bleibt die charakteriſtiſche Zuſammenſetzung dieſelbe.
Die gleiche Erſcheinung zeigt ſich nun auch, wenn wir die übrigen Organe unſeres Körpers mit denen der anderen Wirbel - thiere vergleichen: überall bleibt in Folge von Vererbung die urſprüngliche Anlage und die relative Lagerung der Organe dieſelbe, obgleich die Größe und Ausbildung der einzelnen Theile höchſt mannigfaltig ſich ſondert, entſprechend der Anpaſſung an ſehr verſchiedene Lebensbedingungen. So ſehen wir, daß überall das Blut in zwei Hauptröhren kreiſt, von denen die eine (Aorta) über dem Darm, die andere (Principalvene) unter dem Darm verläuft, und daß durch Erweiterung der letzteren an einer ganz beſtimmten Stelle das Herz entſteht; dieſes „ Ventral - Herz “iſt für alle Wirbelthiere ebenſo charakteriſtiſch wie um -Haeckel, Welträthſel. 334Tetrapoden-Natur des Menſchen. II. gekehrt das Rückengefäß oder „ Dorſal-Herz “für die Glieder - thiere und Weichthiere. Nicht minder eigenthümlich iſt bei allen Vertebraten die frühzeitige Scheidung des Darmrohres in einen zur Athmung dienenden Kopfdarm (oder „ Kiemendarm “) und einen die Verdauung bewirkenden Rumpfdarm mit der Leber (daher „ Leberdarm “); ferner die Gliederung des Muskel - ſyſtems, die beſondere Bildung der Harn - und Geſchlechtsorgane u. ſ. w. In allen dieſen anatomiſchen Beziehungen iſt der Menſch ein echtes Wirbelthier.
Tetrapoden-Natur des Menſchen. Mit der Bezeichnung Vierfüßer (Tetrapoda) hatte ſchon Ariſtoteles alle jene höheren, blutführenden Thiere belegt, welche ſich durch den Beſitz von zwei Beinpaaren auszeichnen. Später wurde dieſer Begriff erweitert und mit der lateiniſchen Bezeichnung Quadrupeda vertauſcht, nachdem Cuvier gezeigt hatte, daß auch die „ zwei - beinigen “Vögel und Menſchen eigentlich Vierfüßer ſind; er wies nach, daß das innere Knochengerüſte der vier Beine bei allen höheren landbewohnenden Vertebraten, von den Amphibien aufwärts bis zum Menſchen, urſprünglich in gleicher Weiſe aus einer beſtimmten Zahl von Gliedern zuſammengeſetzt iſt. Auch die „ Arme “des Menſchen, die „ Flügel “der Fledermäuſe und Vögel zeigen denſelben typiſchen Skelettbau wie die „ Vorder - beine “der laufenden, eigentlich vierfüßigen Thiere.
Dieſe anatomiſche Einheit des verwickelten Knochen - gerüſtes in den vier Gliedmaßen aller Tetrapoden iſt ſehr wichtig. Um ſich wirklich davon zu überzeugen, braucht man bloß das Skelett eines Salamanders oder Froſches mit dem - jenigen eines Affen oder Menſchen aufmerkſam zu vergleichen. Da ſieht man ſofort, daß vorn der Schultergürtel und hinten der Beckengürtel aus denſelben Hauptſtücken zuſammengeſetzt iſt wie bei den übrigen „ Vierfüßern “. Ueberall ſehen wir, daß das erſte Glied des eigentlichen Beines nur einen einzigen ſtarken Röhrenknochen enthält (vorn den Oberarm, Humeruſ; hinten den35II. Tetrapoden-Natur des Menſchen.Oberſchenkel, Femur); dagegen wird das zweite Glied urſprünglich ſtets durch zwei Knochen geſtützt (vorn Ellbogen, Ulna, und Speiche, Radiuſ; hinten Wadenbein, Fibula, und Schienbein, Tibia). Vergleichen wir dann weiter den verwickelten Bau des eigentlichen Fußes, ſo überraſcht uns die Wahrnehmung, daß die zahlreichen, denſelben zuſammenſetzenden, kleinen Knochen ebenfalls überall ähnlich angeordnet und geſondert ſind; vorn entſprechen ſich in allen Klaſſen der Tetrapoden die drei Knochen - gruppen des Vorderfußes (oder der „ Hand “): I. Handwurzel (Carpuſ), II. Mittelhand (Metacarpuſ) und III. fünf Finger (Digiti anterioreſ); ebenſo hinten die drei Knochengruppen des Hinterfußes: I. Fußwurzel (Tarſuſ), II. Mittelfuß (Meta - tarſuſ) und III. fünf Zehen (Digiti poſterioreſ). Sehr ſchwierig war die Aufgabe, alle dieſe zahlreichen kleinen Knochen, die im Einzelnen höchſt mannigfaltig geſtaltet und umgebildet, theilweiſe oft verſchmolzen oder verſchwunden ſind, auf eine und dieſelbe Urform zurückzuführen, ſowie die Gleichwerthigkeit (oder Homologie) der einzelnen Theile überall feſtzuſtellen. Dieſe wichtige Aufgabe wurde erſt vollſtändig von dem bedeutendſten vergleichenden Anatomen der Gegenwart gelöſt, von Carl Gegenbaur. Er zeigte in ſeinen „ Unterſuchungen zur ver - gleichenden Anatomie der Wirbelthiere “(1864), wie dieſe charakte - riſtiſche „ fünfzehige Beinform “der landbewohnenden Tetrapoden urſprünglich (erſt in der Steinkohlen-Periode) aus der viel - ſtrahligen „ Floſſe “(Bruſtfloſſe oder Bauchfloſſe) der älteren, waſſerbewohnenden Fiſche entſtanden war. In gleicher Weiſe hatte Derſelbe in ſeinen berühmten Unterſuchungen über „ das Kopfſkelett der Wirbelthiere “(1872) den jüngeren Schädel der Tetrapoden aus der älteſten Schädelform der Fiſche abgeleitet, derjenigen der Haifiſche (Selachier).
Beſonders bemerkenswerth iſt noch, daß die urſprüngliche, zuerſt bei den alten Amphibien der Steinkohlenzeit entſtandene3 *36Säugethier-Natur des Menſchen. II. Fünfzahl der Zehen an allen vier Füßen — die Penta - dactylie — ſich in Folge ſtrenger Vererbung noch beim Menſchen bis auf den heutigen Tag conſervirt hat. Selbſtverſtändlich iſt dem entſprechend auch die typiſche Bildung der Gelenke und Bänder, der Muskeln und Nerven der zwei Beinpaare, in der Haupt - ſache dieſelbe geblieben wie bei den übrigen „ Vierfüßern “; auch in dieſen wichtigen Beziehungen iſt der Menſch ein echter Tetrapode.
Säugethier-Natur des Menſchen. Die Säugethiere (Mammalia) bilden die jüngſte und höchſt entwickelte Klaſſe der Wirbelthiere. Sie ſind zwar ebenſo wie die Vögel und Repti - lien aus der älteren Klaſſe der Amphibien abzuleiten; ſie unterſcheiden ſich aber von allen dieſen anderen Tetrapoden durch eine Anzahl von ſehr auffallenden anatomiſchen Merkmalen. Aeußerlich tritt vor Allem die Haarbedeckung der Haut hervor, ſowie der Beſitz von zweierlei Hautdrüſen: Schweiß - drüſen und Talgdrüſen. Aus einer lokalen Umbildung dieſer Drüſen an der Bauchhaut entſtand (während der Trias - Periode?) dasjenige Organ, welches für die Klaſſe beſonders charakteriſtiſch iſt und ihr den Namen gegeben hat, das „ Ge - ſäuge “(Mammarium). Dieſes wichtige Werkzeug der Brutpflege iſt zuſammengeſetzt aus den Milchdrüſen (Mammae) und den „ Mammar-Taſchen “(Falten der Bauchhaut); durch ihre Fortbildung entſtanden die Zitzen oder „ Milchwarzen “, (Maſta), aus denen das junge Mammale die Milch ſeiner Mutter ſaugt. Im inneren Körperbau iſt beſonders bemerkens - werth der Beſitz eines vollſtändigen Zwerchfells (Diaphragma), einer muskulöſen Scheidewand, welche bei allen Säugethieren — und nur bei dieſen! — die Bruſthöhle von der Bauchhöhle gänzlich abſchließt; bei allen übrigen Wirbelthieren fehlt dieſe Trennung. Durch eine Anzahl von merkwürdigen Umbildungen zeichnet ſich auch der Schädel der Mammalien aus, beſonders37II. Säugethier-Natur des Menſchen.der Bau des Kiefer-Apparates (Oberkiefer, Unterkiefer und Gehör - knochen). Aber auch das Gehirn, das Geruchsorgan, das Herz, die Lungen, die inneren und äußeren Geſchlechtsorgane, die Nieren und andere Körpertheile zeigen bei den Säugethieren beſondere Eigenthümlichkeiten im gröberen und feineren Bau: dieſe alle vereinigt weiſen unzweideutig auf eine frühzeitige Trennung derſelben von den älteren Stammgruppen der Reptilien und Amphibien hin, welche ſpäteſtens in der Trias - Periode — vor mindeſtens zwölf Millionen Jahren! — ſtatt - gefunden hat. In allen dieſen wichtigen Beziehungen iſt der Menſch ein echtes Säugethier.
Placentalien-Natur des Menſchen. Die zahlreichen Ordnungen (12-33), welche die moderne ſyſtematiſche Zoologie in der Claſſe der Säugethiere unterſcheidet, werden ſchon ſeit 1816 (nach Blainville) in drei natürliche Hauptgruppen ge - ordnet, welchen man den Werth von Unterklaſſen zuſpricht: I. Gabelthiere (Monotrema), II. Beutelthiere (Marſu - pialia) und III. Zottenthiere (Placentalia). Dieſe drei Subklaſſen unterſcheiden ſich nicht nur in wichtigen Verhältniſſen des Körperbaues und der Entwickelung, ſondern entſprechen auch drei verſchiedenen hiſtoriſchen Bildungsſtufen der Klaſſe, wie wir ſpäter ſehen werden. Auf die älteſte Gruppe, die Monotremen der Trias-Periode, ſind in der Jura-Zeit die Marſupialien gefolgt und auf dieſe erſt in der Kreide-Periode die Placentalien. Zu dieſer jüngſten Subklaſſe gehört auch der Menſch; denn er zeigt in ſeiner Organiſation alle die Eigen - thümlichkeiten, durch welche ſich ſämmtliche Zottenthiere von den Beutelthieren und den noch älteren Gabelthieren unterſcheiden. In erſter Linie gehört dahin das eigenthümliche Organ, welches der Placentaliengruppe ihren Namen gegeben hat, der Mutter - kuchen (Placenta). Dasſelbe dient dem jungen, im Mutterleibe noch eingeſchloſſenen Mammalien-Embryo längere Zeit zur Er -38Primaten-Natur des Menſchen. II. nährung; es beſteht aus blutführenden Zotten, welche von der Zottenhaut (Chorion) der Keimhülle auswachſen und in entſprechende Grübchen der Schleimhaut des mütterlichen Frucht - behälters (Uteruſ) eindringen; hier wird die zarte Haut zwiſchen beiden Gebilden ſo ſehr verdünnt, daß unmittelbar die er - nährenden Stoffe aus dem mütterlichen Blute durch dieſelbe hindurch in das kindliche Blut übertreten können. Dieſe vortreffliche, erſt ſpät entſtandene Ernährungsart des Keimes ermöglicht demſelben einen längeren Aufenthalt und eine weitere Ausbildung in der ſchützenden Gebärmutter; ſie fehlt noch den Implacentalien, den beiden älteren Subklaſſen der Beutelthiere und Gabelthiere. Aber auch durch andere anatomiſche Merk - male, insbeſondere die höhere Ausbildung des Gehirns und den Verluſt der Beutelknochen, erheben ſich die Zottenthiere über ihre Implacentalien-Ahnen. In allen dieſen wichtigen Be - ziehungen iſt der Menſch ein echtes Zottenthier.
Primaten-Natur des Menſchen. Die formenreiche Sub - klaſſe der Placental-Thiere wird neuerdings in eine große Zahl von Ordnungen getheilt; gewöhnlich werden deren 10-16 angenommen; wenn man aber die wichtigen, in neueſter Zeit entdeckten, ausgeſtorbenen Formen gehörig berückſichtigt, ſteigt ihre Zahl auf mindeſtens 20-26. Zur beſſeren Ueberſicht dieſer zahlreichen Ordnungen und zur tieferen Einſicht in ihren verwandtſchaftlichen Zuſammenhang iſt es ſehr wichtig, ſie in natürliche größere Gruppen zuſammenzuſtellen, denen ich den Werth von Legionen gegeben habe. In meinem neueſten Ver - ſuche*)Syſtematiſche Phylogenie, 1896, Teil III, S. 490, 491, 496., das verwickelte Placentalien-Syſtem phylogenetiſch zu ordnen, habe ich zur Aufnahme der 26 Ordnungen 8 ſolche Legionen aufgeſtellt und gezeigt, daß dieſe ſich auf 4 Stamm - gruppen zurückführen laſſen. Dieſe letzteren ſind wiederum auf39II. Primaten-Natur des Menſchen.eine gemeinſame älteſte Stammgruppe aller Placentalien zurück - führbar, auf die foſſilen Urzottenthiere, die Prochoriaten der Kreideperiode. Dieſe ſchließen ſich unmittelbar an die Marſupalien-Ahnen der Juraperiode an. Als wichtigſte Vertreter jener vier Hauptgruppen in der Gegenwart führen wir hier nur die Nagethiere, Hufthiere, Raubthiere und Herrenthiere an. Zur Legion der Herrenthiere (Primateſ) gehören die drei Ordnungen der Halbaffen (Proſimiae), der echten Affen (Simiae) und der Menſchen (Anthropi). Alle Angehörigen dieſer drei Ordnungen ſtimmen in vielen wichtigen Eigenthümlichkeiten überein und unterſcheiden ſich dadurch von den 23 übrigen Ordnungen der Zottenthiere. Beſonders zeichnen ſie ſich durch lange Beine aus, welche urſprünglich der kletternden Lebensweiſe auf Bäumen angepaßt ſind. Hände und Füße ſind fünfzehig, und die langen Finger vortrefflich zum Greifen und zum Um - faſſen der Baumzweige geeignet; ſie tragen entweder theilweiſe oder ſämmtlich Nägel (keine Krallen). Das Gebiß iſt voll - ſtändig, aus allen vier Zahngruppen zuſammengeſetzt (Schneide - zähne, Eckzähne, Lückenzähne, Backenzähne). Auch durch wichtige Eigenthümlichkeiten im beſonderen Bau des Schädels und des Gehirns unterſcheiden ſich die Herrenthiere von den übrigen Zottenthieren, und zwar um ſo auffälliger, je höher ſie aus - gebildet, je ſpäter ſie in der Erdgeſchichte aufgetreten ſind. In allen dieſen wichtigen anatomiſchen Beziehungen ſtimmt unſer menſchlicher Organismus mit demjenigen der übrigen Primaten überein: der Menſch iſt ein echtes Herrenthier.
Affen-Natur des Menſchen. Eine unbefangene und gründliche Vergleichung des Körperbaues der Primaten läßt zunächſt in dieſer höchſt entwickelten Mammalien-Legion zwei Ordnungen unterſcheiden: Halbaffen (Proſimiae oder Hemipitheci) und Affen (Simiae oder Pitheci). Die erſteren erſcheinen in jeder Beziehung als die niedere und ältere, die40Körperbau des Menſchen und Affen. II. letzteren als die höhere und jüngere Ordnung. Die Gebär - mutter der Halbaffen iſt noch doppelt oder zweihörnig, wie bei allen übrigen Säugethieren; bei den Affen dagegen ſind rechter und linker Fruchtbehälter völlig verſchmolzen; ſie bilden einen birnförmigen Uterus, wie ihn außer - dem nur der Menſch beſitzt. Wie bei dieſem, ſo iſt auch bei den Affen am Schädel die Augenhöhle von der Schläfengrube durch eine knöcherne Scheidewand vollſtändig getrennt; bei den Halbaffen iſt dieſe noch gar nicht oder nur unvollſtändig ausgebildet. Endlich iſt bei den Halbaffen das große Gehirn noch glatt oder nur ſchwach gefurcht, verhältniß - mäßig klein; bei den Affen iſt es viel größer, und beſonders der graue Hirnmantel, das Organ der höheren Seelenthätigkeiten, iſt viel beſſer entwickelt; an ſeiner Oberfläche ſind die charakte - riſtiſchen Windungen und Furchen um ſo mehr ausgeprägt, je mehr er ſich dem Menſchen nähert. In dieſen und anderen wichtigen Beziehungen, beſonders auch in der Bildung des Geſichts und der Hände, zeigt der Menſch alle ana - tomiſchen Merkmale der echten Affen.
Katarrhinen-Natur des Menſchen. Die formenreiche Ordnung der Affen wurde ſchon 1812 von Geoffroy in zwei natürliche Unterordnungen getheilt, die noch heute allgemein in der ſyſtematiſchen Zoologie angenommen ſind: Weſtaffen (Platyr - rhinae) und Oſtaffen (Catarrhinae); erſtere bewohnen aus - ſchließlich die weſtliche, letztere die öſtliche Erdhälfte. Die ame - rikaniſchen Weſtaffen heißen „ Plattnaſen “(Platyrrhinae), weil ihre Naſe plattgedrückt, die Naſenlöcher ſeitlich gerichtet und deren Scheidewand breit iſt. Dagegen ſind die Oſtaffen, welche die Alte Welt bewohnen, ſämmtlich „ Schmalnaſen “(Catarrhinae); ihre Naſenlöcher ſind wie beim Menſchen nach unten gerichtet, da ihre Scheidewand ſchmal iſt. Ein weiterer41II. Körperbau des Menſchen und Affen.Unterſchied beider Gruppen beſteht darin, daß das Trommelfell bei den Weſtaffen oberflächlich, dagegen bei den Oſtaffen tiefer, im Innern des Felſenbeins liegt; hier hat ſich ein langer und enger knöcherner Gehörgang entwickelt, während dieſer bei den Weſtaffen noch kurz und weit iſt oder ſelbſt ganz fehlt. Endlich zeigt ſich ein ſehr wichtiger und durchgreifender Gegenſatz beider Gruppen darin, daß alle Katarrhinen die Gebiß-Bildung des Menſchen beſitzen, nämlich 20 Milchzähne und 32 bleibende Zähne (in jeder Kieferhälfte 2 Schneidezähne, 1 Eckzahn, 2 Lücken - zähne und 3 Mahlzähne). Die Platyrrhinen dagegen zeigen in jeder Kieferhälfte einen Lückenzahn mehr, alſo im Ganzen 36 Zähne. Da dieſe anatomiſchen Unterſchiede beider Affen - gruppen ganz allgemein und durchgreifend ſind, und da ſie mit der geographiſchen Verbreitung in den beiden getrennten Hemi - ſphären der Erde zuſammenſtimmen, ergiebt ſich daraus die Berechtigung ihrer ſcharfen ſyſtematiſchen Trennung, und weiter - hin der daran geknüpften phylogenetiſchen Folgerung, daß ſeit ſehr langer Zeit (ſeit mehr als einer Million Jahre) ſich beide Unterordnungen in der weſtlichen und öſtlichen Hemi - ſphäre getrennt von einander entwickelt haben. Das iſt für die Stammesgeſchichte unſeres Geſchlechts überaus wichtig; denn der Menſch theilt alle Merkmale der echten Katarrhinen; er hat ſich aus älteren ausgeſtorbenen Affen dieſer Unterordnung in der Alten Welt entwickelt.
Anthropomorphen-Gruppe. Die zahlreichen Formen der Katarrhinen, welche noch heute in Aſien und Afrika leben, werden ſchon ſeit langer Zeit in zwei natürliche Sectionen getheilt: die geſchwänzten Hundsaffen (Cynopitheca) und die ſchwanzloſen Menſchenaffen (Anthropomorpha). Dieſe letzteren ſtehen dem Menſchen viel näher als die erſteren, nicht nur in dem Mangel des Schwanzes und in der allgemeinen42Menſchen und Menſchenaffen. II. Geſtaltung des Körpers (beſonders des Kopfes), ſondern auch durch beſondere Merkmale, die an ſich unbedeutend, aber wegen ihrer Beſtändigkeit wichtig ſind. Das Kreuzbein iſt bei den Menſchenaffen, wie beim Menſchen, aus fünf verſchmolzenen Wirbeln zuſammengeſetzt, dagegen bei den Hundsaffen nur aus drei (ſeltener vier) Kreuzwirbeln. Im Gebiß der Cyno - pitheken ſind die Lückenzähne (Praemolareſ) länger als breit, in demjenigen der Anthropomorphen breiter als lang; und der erſte Mahlzahn (Molariſ) zeigt bei den erſteren vier, bei den letzteren dagegen fünf Höcker. Ferner iſt im Unterkiefer jeder - ſeits bei den Menſchenaffen, wie beim Menſchen, der äußere Schneidezahn breiter als der innere, bei den Hundsaffen um - gekehrt ſchmäler. Endlich iſt von beſonderer Bedeutung die wichtige, erſt 1890 durch Selenka feſtgeſtellte Thatſache, daß die Menſchenaffen mit dem Menſchen auch die eigenthümlichen feineren Bildungsverhältniſſe ſeiner ſcheibenförmigen Placenta, der Decidua reflexa und des Bauchſtiels theilen (vergl. Kap. 4)*)E. Haeckel, Anthropogenie 1891, IV. Aufl., S. 599.. Uebrigens ergiebt ſchon die oberflächliche Vergleichung der Körperform der heute noch lebenden Anthropomorphen, daß ſowohl die aſiatiſchen Vertreter dieſer Gruppe (Orang und Gibbon) als die afrikaniſchen Vertreter (Gorilla und Schimpanſe) dem Menſchen im geſammten Körperbau näher ſtehen als ſämmt - liche Cynopitheken. Unter dieſen letzteren ſtehen namentlich die hundsköpfigen Papſtaffen (Papiomorpha), die Paviane und Meerkatzen, auf einer ſehr tiefen Bildungsſtufe. Der anatomiſche Unterſchied zwiſchen dieſen rohen Papſtaffen und den höchſt ent - wickelten Menſchenaffen iſt in jeder Beziehung — welches Organ man auch vergleichen mag! — größer als derjenige zwiſchen den letzteren und dem Menſchen. Dieſe lehrreiche Thatſache wurde beſonders eingehend (1883) von dem Anatomen Robert43II. Menſchen und Menſchenaffen.Hartmann begründet, in ſeiner Schrift über „ Die menſchenähnlichen Affen und ihre Organiſation im Vergleiche zur menſchlichen “; er ſchlug daher vor, die Affen-Ordnung in anderer Weiſe ein - zutheilen, in die beiden Hauptgruppen der Primarier (Menſchen und Menſchenaffen) und der eigentlichen Simien oder Pitheken (die übrigen Katarrhinen und alle Platyrrhinen). Jedenfalls ergiebt ſich daraus die engſte Verwandtſchaft des Menſchen mit den Menſchenaffen.
Die vergleichende Anatomie ergiebt ſomit für den un - befangenen und kritiſchen Forſcher die bedeutungsvolle Thatſache, daß der Körperbau des Menſchen und der Menſchenaffen nicht nur im höchſten Grade ähnlich, ſondern in allen weſentlichen Beziehungen derſelbe iſt. Dieſelben 200 Knochen, in der gleichen Anordnung und Zuſammenſetzung, bilden unſer inneres Knochen - gerüſt; dieſelben 300 Muskeln bewirken unſere Bewegungen; dieſelben Haare bedecken unſere Haut, dieſelben Gruppen von Ganglienzellen ſetzen den kunſtvollen Wunderbau unſeres Gehirns zuſammen, dasſelbe vierkammerige Herz iſt das centrale Pump - werk unſeres Blutkreislaufs; dieſelben 32 Zähne ſetzen in der gleichen Anordnung unſer Gebiß zuſammen; dieſelben Speichel - drüſen, Leber - und Darmdrüſen vermitteln unſere Verdauung; dieſelben Organe der Fortpflanzung ermöglichen die Erhaltung unſeres Geſchlechts.
Allerdings finden wir bei genauer Vergleichung gewiſſe ge - ringe Unterſchiede in der Größe und Geſtalt der meiſten Organe zwiſchen dem Menſchen und den Menſchenaffen; allein dieſelben oder ähnliche Unterſchiede entdecken wir auch bei der ſorgfältigen Vergleichung der höheren und niederen Menſchen - raſſen, ja ſogar bei der exakten Vergleichung aller einzelnen Individuen unſerer eigenen Raſſe. Wir finden nicht zwei Per -44Körperbau des Menſchen und Affen. II. ſonen in derſelben, welche ganz genau dieſelbe Größe und Form der Naſe, der Ohren, der Augen u. ſ. w. haben. Man braucht bloß aufmerkſam in einer größeren Geſellſchaft dieſe einzelnen Theile der menſchlichen Geſichtsbildung bei zahlreichen Per - ſonen zu vergleichen, um ſich von der erſtaunlichen Mannichfaltigkeit in deren ſpecieller Geſtaltung, von der weitgehenden Variabilität der Species-Form zu überzeugen. Oft ſind ja bekanntlich ſelbſt Ge - ſchwiſter von ſo verſchiedener Körperbildung, daß ihre Abſtammung von einem und demſelben Elternpaare kaum glaublich erſcheint. Alle dieſe individuellen Unterſchiede beeinträchtigen aber nicht das Gewicht der fundamentalen Gleichheit im Körper - bau; denn ſie ſind nur bedingt durch geringe Verſchiedenheiten im Wachsthum der einzelnen Theile.
Moniſtiſche Studien über menſchliche und vergleichende Phyſiologie. Uebereinſtimmung in allen Lebensfunktionen des Menſchen und der Säugethiere.
„ Niemals kann ſich für die Phyſiologie ein anderes Erklärungs-Princip der körperlichen Lebens-Erſcheinungen ergeben als für die Phyſik und Chemie bezüglich der lebloſen Natur. Die Annahme einer beſonderen „ Lebenskraft “iſt in jeder Form nicht nur durchaus überflüſſig, ſondern auch unzuläſſig. — Der Herd aller Lebens-Vor - gänge und der Elementar-Beſtandtheil aller leben - digen Subſtanz iſt die Zelle. Will daher die Phyſiologie die elementaren und allgemeinen Lebens-Erſcheinungen erklären, ſo wird ſie das nur erreichen als Cellular-Phyſiologie. “(Max Berworn (1894).)[46]
Entwickelung der Phyſiologie im Alterthum und Mittelalter. Galenus. Experiment und Viviſektion. Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey. Lebenskraft (Vitalismus); Haller. Teleologiſche und vitaliſtiſche Auffaſſung des Lebens. Mechaniſtiſche und moniſtiſche Beurtheilung der phyſiologiſchen Proceſſe. Vergleichende Phyſiologie des 19. Jahrhunderts: Johannes Müller. Cellular-Phyſiologie: Max Berworn. Cellular-Pathologie; Virchow. Säuge - thier-Phyſiologie. Uebereinſtimmung aller Lebensthätigkeiten beim Menſchen und Affen.
Johannes Müller, Handbuch der Phyſiologie des Menſchen. 3 Bände. Coblenz 1833. Vierte Auflage 1844.
Rudolf Virchow, Die Cellular-Pathologie in ihrer Begründung auf phyſio - logiſche und pathologiſche Gewebelehre. Berlin 1858. Vierte Auflage 1871.
Jacob Moleſchott, Kreislauf des Lebens. Phyſiologiſche Antworten auf Liebig's chemiſche Briefe. Mainz 1852.
Carl Vogt, Phyſiologiſche Briefe für Gebildete aller Stände. Gießen 1854. Dritte Auflage 1861.
Ludwig Büchner, Phyſiologiſche Bilder. Leipzig 1875.
C. Radenhauſen, Iſis. Der Menſch und die Welt. 4 Bände. Hamburg 1874.
Arnold Dodel, Aus Leben und Wiſſenſchaft. (I. Leben und Tod. II. Natur - Berachtung und - Betrachtung. III. Moſes oder Darwin.) Stuttgart 1896.
Max Berworn, Allgemeine Phyſiologie. Ein Grundriß der Lehre vom Leben. Jena 1894. Zweite Auflage 1897.
Unſere Kenntniß vom menſchlichen Leben hat ſich erſt innerhalb des 19. Jahrhunderts zum Range einer ſelbſtändigen, wirklichen Wiſſenſchaft erhoben; ſie hat ſich erſt innerhalb desſelben zu einem der vornehmſten, intereſſanteſten und wichtig - ſten Wiſſenszweige entwickelt. Dieſe „ Lehre von den Lebens - thätigkeiten “, die Phyſiologie, hat ſich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine wünſchenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung für erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in engem Zuſammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau. Aber ſie konnte erſt viel ſpäter und langſamer als dieſe letztere gründlich erforſcht werden, da ſie auf viel größere Schwierig - keiten ſtieß.
Der Begriff des Lebens, als Gegenſatz zum Tode, iſt natürlich ſchon ſehr frühzeitig Gegenſtand des Nachdenkens ge - weſen. Man beobachtete am lebenden Menſchen wie an den lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen Verände - rungen, vorzugsweiſe Bewegungen, welche den „ todten “Naturkörpern fehlten: ſelbſtändige Ortsbewegung, Herzklopfen, Athemzüge, Sprache u. ſ. w. Allein die Unterſcheidung ſolcher „ organiſcher Bewegungen “von ähnlichen Erſcheinungen bei an - organiſchen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das fließende Waſſer, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der ſtürzende Fels zeigten dem Menſchen ganz ähnliche Verände -48Menſchliche Phyſiologie im Alterthum. III. rungen, und es war ſehr natürlich, daß der naive Naturmenſch auch dieſen „ todten Körpern “ein ſelbſtändiges Leben zuſchrieb. Von den bewirkenden Urſachen konnte man ſich ja bei den letzteren ebenſo wenig befriedigende Rechenſchaft geben als bei den erſteren.
Menſchliche Phyſiologie. Die älteſten wiſſenſchaftlichen Betrachtungen über das Weſen der menſchlichen Lebensthätig - keiten treffen wir (ebenſo wie diejenigen über den Körperbau des Menſchen) bei den griechiſchen Naturphiloſophen und Aerzten im ſechſten und fünften Jahrhundert vor Chr. Die reichſte Sammlung von bezüglichen, damals bekannten Thatſachen finden wir in der Naturgeſchichte des Ariſtoteles; ein großer Theil ſeiner Angaben rührt wahrſcheinlich ſchon von Demokritos und Hippokrates her. Die Schule des Letzteren ſtellte auch bereits Erklärungs-Verſuche an; ſie nahm als Grundurſache des Lebens bei Menſchen und Thieren einen flüchtigen „ Lebens - geiſt “an (Pneuma); und Eraſiſtratus (280 vor Chr.) unterſchied bereits einen niederen und einen höheren Lebensgeiſt, das Pneuma zoticon im Herzen und das Pneuma pſychicon im Gehirn.
Der Ruhm, alle dieſe zerſtreuten Kenntniſſe einheitlich zu - ſammengefaßt und den erſten Verſuch zu einem Syſtem der Phyſiologie gemacht zu haben, gebührt dem großen griechiſchen Arzte Galenus, demſelben, den wir auch als den erſten großen Anatomen des Alterthums kennen gelernt haben (vergl. S. 28). Bei ſeinen Unterſuchungen über die Organe des menſchlichen Körpers ſtellte er ſich beſtändig auch die Frage nach ihren Lebens - thätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei verfuhr er vergleichend und unterſuchte vor Allem die menſchenähnlichſten Thiere, die Affen. Die Erfahrungen, die er hier gewonnen, übertrug er direkt auf den Menſchen. Er erkannte auch bereits den hohen Werth des phyſiologiſchen Experimentes; bei49III. Menſchliche Phyſiologie im Alterthum.Viviſektionen von Affen, Hunden und Schweinen ſtellte er ver - ſchiedene intereſſante Verſuche an. Die Viviſektionen ſind neuerdings nicht nur von unwiſſenden und beſchränkten Leuten, ſondern auch von wiſſensfeindlichen Theologen und von gefühls - ſeligen Gemüthsmenſchen vielfach auf das Heftigſte angegriffen worden; ſie gehören aber zu den unentbehrlichen Metho - den der Lebens-Forſchung und haben uns unſchätzbare Auf - ſchlüſſe über die wichtigſten Fragen gegeben; dieſe Thatſache wurde ſchon vor 1700 Jahren von Galenus erkannt.
Alle verſchiedenen Funktionen des Körpers führt Galenus auf drei Hauptgruppen zurück, entſprechend den drei Formen des Pneuma, des Lebensgeiſtes oder „ Spiritus “. Das Pneuma pſychicon — die „ Seele “— hat ihren Sitz im Gehirn und den Nerven, ſie vermittelt das Denken, Empfinden und den Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma zoticon — das „ Herz “— bewirkt die „ ſphygmiſchen Functionen “, den Herzſchlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma phyſicon endlich, in der Leber befindlich, iſt die Urſache der ſogenannten vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung und des Stoff - wechſels, des Wachsthums und der Fortpflanzung. Dabei legte er beſonders Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den Lungen und ſprach die Hoffnung aus, daß es einſt gelingen werde, aus der atmoſphäriſchen Luft den Beſtandtheil auszu - ſcheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verfloſſen, ehe dieſes Reſpirations-Pneuma — der Sauerſtoff — durch Lavoiſier entdeckt wurde.
Ebenſo wie für die Anatomie des Menſchen ſo blieb auch für ſeine Phyſiologie das großartige Syſtem des Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten der Codex aureuſ, die unantaſtbare Quelle aller Kenntniſſe. Der kulturfeindliche Einfluß des Chriſtenthums bereitete auch aufHaeckel. Welträthſel. 450Menſchliche Phyſiologie im Mittelalter. III. dieſem, wie auf allen anderen Gebieten, der Naturerkenntniß die unüberwindlichſten Hinderniſſe. Vom dritten bis zum ſechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forſcher auf, der gewagt hätte, ſelbſtändig wieder die Lebensthätigkeiten des Menſchen zu unter - ſuchen und über den Bezirk des Syſtems von Galenus hinaus - zugehen. Erſt im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere be - ſcheidene Verſuche von angeſehenen Aerzten und Anatomen gemacht (Paracelſus, Servetus, Beſalius u. A.). Aber erſt im Jahre 1628 veröffentlichte der engliſche Arzt Harvey ſeine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz ein Pumpwerk iſt, welches durch die regelmäßige, unbewußte Zuſammenziehung ſeiner Muskeln die Blutwelle un - abläſſig durch das communicirende Röhrenſyſtem der Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harvey's Unterſuchungen über die Zeugung der Thiere, in Folge deren er den berühmten Satz aufſtellte: „ Alles Lebendige entwickelt ſich aus einem Ei “(omne vivum ex ovo).
Die mächtige Anregung zu phyſiologiſchen Beobachtungen und Verſuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16. und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen. Dieſe faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zum erſten Male zuſammen; in ſeinem großen Werke „ Elementa phyſiologiae “begründete er den ſelb - ſtändigen Werth dieſer Wiſſenſchaft und nicht nur in ihrer Be - ziehung zur praktiſchen Medicin. Indem aber Haller für die Nerven-Thätigkeit eine beſondere „ Empfindungskraft oder Sen - ſibilität “, und ebenſo für die Muskel-Bewegung eine beſondere „ Reizbarkeit oder Irritabilität “als Urſache annahm, lieferte er mächtige Stützen für die irrthümliche Lehre von einer eigen - thümlichen „ Lebenskraft “(Viſ vitaliſ).
Lebenskraft (Vitaliſmuſ). Ueber ein volles Jahrhundert hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahr -51III. Lebenskraft. Vitalismus.hunderts, blieb in der Medicin, und ſpeciell in der Phyſiologie, die alte Anſchauung herrſchend, daß zwar ein Theil der Lebens - Erſcheinungen auf phyſikaliſche und chemiſche Vorgänge zurück - zuführen ſei, daß aber ein anderer Theil derſelben durch eine beſondere, davon unabhängige Lebenskraft (Viſ vitaliſ) be - wirkt werde. So verſchiedenartig auch die beſonderen Vor - ſtellungen vom Weſen derſelben und beſonders von ihrem Zu - ſammenhang mit der „ Seele “ſich ausbildeten, ſo ſtimmten doch alle darin überein, daß die Lebenskraft von den phyſikaliſch - chemiſchen Kräften der gewöhnlichen „ Materie “unabhängig und weſentlich verſchieden ſei; als eine ſelbſtändige, der anorganiſchen Natur fehlende „ Urkraft “(Archaeuſ) ſollte ſie die erſteren in ihren Dienſt nehmen. Nicht allein die Seelenthätigkeit ſelbſt, die Senſibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln, ſondern auch die Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der Fort - pflanzung und Entwickelung erſchienen allgemein ſo wunderbar und in ihren Urſachen ſo räthſelhaft, daß es unmöglich ſei, ſie auf einfache phyſikaliſche und chemiſche Naturproceſſe zurückzu - führen. Da die freie Thätigkeit der Lebenskraft zweckmäßig und bewußt wirkte, führte ſie in der Philoſophie zu einer voll - kommenen Teleologie; beſonders erſchien dieſe unbeſtreitbar, ſeitdem ſelbſt der „ kritiſche “Philoſoph Kant in ſeiner be - rühmten Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft zugeſtanden hatte, daß zwar die Befugniß der menſchlichen Vernunft zur mecha - niſchen Erklärung aller Erſcheinungen unbeſchränkt ſei, daß aber die Fähigkeit dazu bei den Erſcheinungen des organiſchen Lebens aufhöre; hier müſſe man nothgedrungen zu einem „ zweckmäßig thätigen “, alſo übernatürlichen Princip ſeine Zuflucht nehmen. Natürlich wurde der Gegenſatz dieſer vitalen Phänomene zu den mechaniſchen Lebensthätigkeiten um ſo auffälliger, je weiter man in der chemiſchen und phyſikaliſchen Erklärung der letzteren gelangte. Der Blutkreislauf und ein Theil der anderen4*52Mechaniſche Phyſiologie. III. Bewegungs-Erſcheinungen ließen ſich auf mechaniſche Vorgänge, die Athmung und Verdauung auf chemiſche Proceſſe gleich den - jenigen in der anorganiſchen Natur zurückführen; dagegen bei den wunderbaren Leiſtungen der Nerven und Muskeln wie im eigentlichen „ Seelenleben “ſchien das unmöglich; und auch das einheitliche Zuſammenwirken aller dieſer verſchiedenen Kräfte im Leben des Individuums erſchien damit unerklärbar. So ent - wickelte ſich ein vollſtändiger phyſiologiſcher Dualismus — ein principieller Gegenſatz zwiſchen anorganiſcher und organiſcher Natur, zwiſchen mechaniſchen und vitalen Proceſſen, zwiſchen materieller Kraft und Lebenskraft, zwiſchen Leib und Seele. Im Beginne des 19. Jahrhunderts wurde dieſer Vitalismus beſonders eingehend durch Louis Dumas in Frankreich begründet, durch Reil in Deutſchland. Eine ſchöne poetiſche Darſtellung des - ſelben hatte ſchon 1795 Alexander Humboldt in ſeiner Erzählung vom Rhodiſchen Genius gegeben (— wiederholt mit kritiſchen Anmerkungen in den „ Anſichten der Natur “—).
Der Mechanismus des Lebens (moniſtiſche Phyſiologie). Schon in der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der berühmte Philoſoph Descartes, fußend auf Harvey's Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken ausgeſprochen, daß der Körper des Menſchen ebenſo wie der Thiere eine komplizirte Maſchine ſei, und daß ihre Bewegungen nach denſelben mecha - niſchen Geſetzen erfolgen wie bei den künſtlichen, vom Menſchen für einen beſtimmten Zweck gebauten Maſchinen. Allerdings nahm Descartes trotzdem für den Menſchen allein eine vollkommene Selbſtändigkeit der immateriellen Seele an und erklärte ſogar deren ſubjektive Empfindung, das Denken, für das Einzige in der Welt, von dem wir unmittelbar ganz ſichere Kenntniß be - ſitzen („ Cogito, ergo ſum! “). Allein dieſer Dualismus hinderte ihn nicht, im Einzelnen die Erkenntniß der mechaniſchen Lebens - thätigkeiten vielſeitig zu fördern. Im Anſchluß daran führte53III. Vergleichende Phyſiologie.Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein phyſikaliſche Geſetze zurück, und gleichzeitig verſuchte Sylvius die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemiſche Proceſſe zu erklären; erſterer begründete in der Medicin eine iatro - mechaniſche, letzterer eine iatrochemiſche Schule. Allein dieſe vernünftigen Anſätze zu einer naturgemäßen, mechaniſchen Erklärung der Lebens-Erſcheinungen vermochten keine allgemeine Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des 18. Jahrhunderts traten ſie ganz zurück, je mehr ſich der teleo - logiſche Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur erſteren wurde erſt vorbereitet, als im vierten Decennium unſeres Jahrhunderts die neue ver - gleichende Phyſiologie ſich zu fruchtbarer Geltung erhob.
Vergleichende Phyſiologie. Wie unſere Kenntniſſe vom Körperbau des Menſchen, ſo wurden auch diejenigen von ſeiner Lebensthätigkeit urſprünglich größtentheils nicht durch direkte Beobachtung am menſchlichen Organismus ſelbſt gewonnen, ſon - dern an den nächſtverwandten höheren Wirbelthieren, vor Allem den Säugethieren. Inſofern waren ſchon die älteſten Anfänge der menſchlichen Anatomie und Phyſiologie „ vergleichend “. Aber die eigentliche „ vergleichende Phyſiologie “, welche das ganze Gebiet der Lebens-Erſcheinungen von den niederſten Thieren bis zum Menſchen hinauf im Zuſammenhang erfaßt, iſt erſt eine Errungenſchaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war Johannes Müller in Berlin (geb. 1801 in Coblenz als Sohn eines Schuhmachers). Von 1833-1858, volle 25 Jahre hindurch, entfaltete dieſer vielſeitigſte und umfaſſendſte Biologe unſerer Zeit an der Berliner Univerſität als Lehrer und Forſcher eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirkſamkeit von Haller und Cuvier zu vergleichen iſt. Faſt alle großen Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutſchland lehrten und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von Johannes54Vergleichende Phyſiologie. III. Müller. Urſprünglich ausgehend von der Anatomie und Phyſiologie des Menſchen, zog derſelbe bald alle Hauptgruppen der höheren und niederen Thiere in den Kreis ſeiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgeſtorbenen Thiere mit den lebenden, den geſunden Organismus des Menſchen mit dem kranken verglich, indem er wahrhaft philoſophiſch alle Erſchei - nungen des organiſchen Lebens zuſammenzufaſſen ſtrebte, erhob er ſich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologiſchen Erkenntniß.
Die werthvollſte Frucht dieſer umfaſſenden Studien von Johannes Müller war ſein „ Handbuch der Phyſiologie des Menſchen “(in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte Auflage 1844). Dieſes klaſſiſche Werk gab viel mehr, als der Titel beſagt; es iſt der Entwurf zu einer umfaſſenden „ Ver - gleichenden Biologie “. Noch heute ſteht dasſelbe in Bezug auf Inhalt und Umfang des Forſchungsgebietes unübertroffen da. Insbeſondere ſind darin die Methoden der Beobachtung und des Experimentes ebenſo muſtergültig angewendet wie die philoſophiſchen Methoden der Induktion und Deduktion. Aller - dings war Müller urſprünglich, gleich allen Phyſiologen ſeiner Zeit, Vitaliſt. Allein die herrſchende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte ſich allmählich in ihr principielles Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der Phyſiologie war Müller beſtrebt, die Lebenserſcheinungen mechaniſch zu erklären; ſeine reformirte Lebenskraft ſteht nicht über den phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen der übrigen Natur, ſondern ſie iſt ſtreng an dieſelben gebunden; ſie iſt ſchließlich weiter nichts als das „ Leben “ſelbſt, d. h. die Summe aller Bewegungs-Erſcheinungen, die wir am lebendigen Organis - mus wahrnehmen. Ueberall war er beſtrebt, dieſelben mechaniſch zu erklären, in dem Sinnes - und Seelen-Leben wie in der Thätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs,55III. Cellular-Phyſiologie.der Athmung und Verdauung wie in den Erſcheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortſchritte führte hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachſten Lebens-Erſcheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum höchſten, zum Menſchen, hinauf verfolgte. Hier bewährte ſich ſeine Methode der kritiſchen Vergleichung ebenſo in der Phyſiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller iſt zugleich der einzige große Naturforſcher geblieben, der dieſe ver - ſchiedenen Seiten der Forſchung gleichmäßig ausbildete und gleich glänzend in ſich vereinigte. Gleich nach ſeinem Tode zer - fiel ſein gewaltiges Lehrgebiet in vier verſchiedene Provinzen, die jetzt faſt allgemein durch vier oder noch mehr ordentliche Lehr - ſtühle vertreten werden: Menſchliche und vergleichende Anatomie, pathologiſche Anatomie, Phyſiologie und Entwickelungsgeſchichte. Man hat die Arbeitstheilung dieſes ungeheuren Wiſſensgebietes, die jetzt (1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches verglichen, welches einſt Alexander der Große vereinigt beherrſcht hatte.
Cellular-Phyſiologie. Unter den zahlreichen Schülern von Johannes Müller, welche theils ſchon bei ſeinen Leb - zeiten, theils nach ſeinem Tode die verſchiedenen Zweige der Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichſten (wenn auch nicht der bedeutendſte!) Theodor Schwann. Als 1838 der geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das gemeinſame Elementar-Organ der Pflanzen erkannt und alle verſchiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zuſammengeſetzt aus Zellen nachgewieſen hatte, erkannte Johannes Müller ſofort die außerordentliche Tragweite dieſer bedeutungsvollen Entdeckung; er verſuchte ſelbſt, in verſchiedenen Geweben des Thierkörpers, ſo z. B. in der Chorda dorſaliſ der Wirbelthiere, die gleiche Zuſammenſetzung nachzuweiſen, und veranlaßte ſodann56Cellular-Phyſiologie. III. ſeinen Schüler Schwann, dieſen Nachweis auf alle thieriſchen Gewebe auszudehnen. Dieſe ſchwierige Aufgabe löſte der Letztere glücklich in ſeinen „ Mikroſkopiſchen Unterſuchungen über die Uebereinſtimmung in der Structur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen “(1839). Damit war der Grundſtein für die Zellen-Theorie gelegt, deren fundamentale Bedeutung ebenſo für die Phyſiologie wie für die Anatomie ſeitdem von Jahr zu Jahr zugenommen und ſich immer allgemeiner bewährt hat. Daß auch die Lebensthätigkeit aller Organismen auf die - jenige ihrer Gewebetheile, der mikroſkopiſchen Zellen, zurückgeführt werden müſſe, führten namentlich zwei andere Schüler von Johannes Müller aus, der ſcharfſinnige Phyſiologe Ernſt Brücke in Wien und der berühmte Hiſtologe Albert Kölliker in Würzburg. Der Erſtere bezeichnete die Zellen richtig als „ Ele - mentar-Organismen “und zeigte, daß ſie ebenſo im Körper des Menſchen wie aller anderen Thiere die einzigen actuellen, ſelbſtändig thätigen Factoren des Lebens ſind. Kölliker erwarb ſich beſondere Verdienſte nicht nur um die Ausbildung der geſammten Gewebelehre, ſondern auch namentlich durch den Nachweis, daß das Ei der Thiere, ſowie die daraus entſtehenden „ Furchungskugeln “einfache Zellen ſind.
So allgemein aber auch die hohe Bedeutung der Zellen - Theorie für alle biologiſchen Aufgaben erkannt wurde, ſo wurde doch die darauf gegründete Cellular-Phyſiologie erſt in neueſter Zeit ſelbſtändig ausgebaut. Hier hat namentlich Max Verworn (in Jena) ſich ein doppeltes Verdienſt erworben. In ſeinen „ Pſycho-phyſiologiſchen Protiſten-Studien “(1889) hat derſelbe auf Grund ſinnreicher experimenteller Unterſuchungen gezeigt, daß die von mir (1866) aufgeſtellte „ Theorie der Zellſeele “*)Ernſt Haeckel, Zellſeelen und Seelenzellen. Geſammelte populäre Vorträge. I. Heft. 1878. durch das genaue Studium der einzelligen57III. Cellular-Pathologie.Protozoen vollkommen gerechtfertigt wird, und daß „ die pſy - chiſchen Vorgänge im Protiſtenreiche die Brücke bilden, welche die chemiſchen Proceſſe in der unorganiſchen Natur mit dem Seelenleben der höchſten Thiere verbindet “. Weiter ausgeführt und geſtützt auf die moderne Entwickelungslehre hat Verworn dieſe Anſichten in ſeiner „ Allgemeinen Phyſiologie “(zweite Auflage 1897). Dieſes ausgezeichnete Werk geht zum erſten Male wieder auf den umfaſſenden Standpunkt von Johannes Müller zurück, im Gegenſatze zu den einſeitigen und be - ſchränkten Methoden jener modernen Phyſiologen, welche glauben, ausſchließlich durch phyſikaliſche und chemiſche Experimente das Weſen der Lebens-Erſcheinungen ergründen zu können. Ver - worn zeigte, daß nur durch die vergleichende Methode Müller's und durch das Vertiefen in die Phyſiologie der Zelle jener höhere Standpunkt gewonnen werden kann, der uns einen einheitlichen Ueberblick über das wundervolle Geſammt-Gebiet der Lebens-Erſcheinungen gewährt; nur dadurch gelangen wir zu der Ueberzeugung, daß auch die ſämmtlichen Lebensthätigkeiten des Menſchen denſelben Geſetzen der Phyſik und Chemie unter - liegen wie diejenigen aller anderen Thiere.
Cellular-Pathologie. Die fundamentale Bedeutung der Zellen-Theorie für alle Zweige der Biologie bewährte ſich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein in den groß - artigen Fortſchritten der geſammten Morphologie und Phyſiologie, ſondern auch beſonders in der totalen Reform derjenigen bio - logiſchen Wiſſenſchaft, welche vermöge ihrer Beziehungen zur prak - tiſchen Heilkunſt von jeher die größte Bedeutung in Anſpruch nahm, der Pathologie oder Krankheitslehre. Daß die Krank - heiten des Menſchen wie aller übrigen Lebeweſen Natur - Erſcheinungen ſind und alſo gleich den übrigen Lebens-Funktionen nur naturwiſſenſchaftlich erforſcht werden können, war ja ſchon vielen älteren Aerzten zur feſten Ueberzeugung geworden. Auch58Cellular-Pathologie. III. hatten ſchon im 17. Jahrhundert einzelne mediciniſche Schulen, die Jatrophyſiker und Jatrochemiker, den Verſuch ge - macht, die Urſachen der Krankheiten auf beſtimmte phyſikaliſche oder chemiſche Veränderungen zurückzuführen. Allein der damalige niedere Zuſtand der Naturwiſſenſchaften verhinderte einen blei - benden Erfolg dieſer berechtigten Beſtrebungen. Daher blieben mehrere ältere Theorien, welche das Weſen der Krankheit in übernatürlichen oder myſtiſchen Urſachen ſuchten, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in faſt allgemeiner Geltung2.
Erſt um dieſe Zeit hatte Rudolf Virchow, ebenfalls ein Schüler von Johannes Müller, den glücklichen Ge - danken, die Zellen-Theorie vom geſunden auch auf den kranken Organismus zu übertragen; er ſuchte in den feinen Verände - rungen der kranken Zellen und der aus ihnen zuſammengeſetzten Gewebe die wahre Urſache jener gröberen Veränderungen, welche als beſtimmte „ Krankheitsbilder “den lebenden Organismus mit Gefahr und Tod bedrohen. Beſonders während der ſieben Jahre ſeiner Lehrthätigkeit in Würzburg (1849-1856) führte Virchow dieſe große Aufgabe mit ſo glänzendem Erfolge durch, daß ſeine (1858 veröffentlichte) Cellular-Pathologie mit einem Schlage die ganze Pathologie und die von ihr geſtützte praktiſche Medicin in neue, höchſt fruchtbare Bahnen lenkte. Für unſere Aufgabe iſt dieſe Reform der Medicin deßhalb ſo bedeutungsvoll, weil ſie uns zu einer moniſtiſchen, rein wiſſenſchaftlichen Be - urtheilung der Krankheit führt. Auch der kranke Menſch, ebenſo wie der geſunde, unterliegt denſelben „ ewigen, ehernen Geſetzen “der Phyſik und Chemie, wie die ganze übrige organiſche Welt.
Mammalien-Phyſiologie. Unter den zahlreichen (50-80) Thierklaſſen, welche die neuere Zoologie unterſcheidet, nehmen die Säugethiere (Mammalia) nicht allein in morphologiſcher, ſondern auch in phyſiologiſcher Beziehung eine ganz beſondere Stellung ein. Da nun auch der Menſch ſeinem ganzen Körperbau59III. Phyſiologie der Säugethiere.nach zur Klaſſe der Säugethiere gehört (S. 36), müſſen wir von vornherein erwarten, daß er auch den beſonderen Charakter ſeiner Lebensthätigkeiten mit den übrigen Mammalien theilen wird. Und das iſt in der That der Fall. Der Blutkreislauf und die Athmung vollziehen ſich beim Menſchen genau nach den - ſelben Geſetzen und in derſelben eigenthümlichen Form, welche auch allen anderen Säugethieren — und nur dieſen! — zu - kommt; ſie iſt bedingt durch den beſonderen, feineren Bau ihres Herzens und ihrer Lungen. Nur bei den Mammalien wird alles Arterien-Blut aus der linken Herzkammer durch einen — und zwar den linken! — Aorten-Bogen in den Körper geführt, wäh - rend dies bei den Vögeln durch den rechten und bei den Reptilien durch beide Aorten-Bögen bewirkt wird. Das Blut der Säuge - thiere zeichnet ſich vor demjenigen aller anderen Wirbelthiere dadurch aus, daß aus ihren rothen Blutzellen der Kern ver - ſchwunden iſt (durch Rückbildung). Die Athem-Bewegungen werden nur in dieſer Thierklaſſe vorzugsweiſe durch das Zwerch - fell vermittelt, weil dasſelbe nur hier eine vollſtändige Scheide - wand zwiſchen Bruſthöhle und Bauchhöhle bildet. Ganz beſonders wichtig aber iſt für dieſe höchſt entwickelte Thierklaſſe die Pro - duktion der Milch in den Bruſtdrüſen (Mammae) und die be - ſondere Form der Brutpflege, welche die Ernährung des Jungen durch die Milch der Mutter mit ſich bringt. Da dieſes Säuge - Geſchäft auch andere Lebensthätigkeiten in der eingreifendſten Weiſe beeinflußt, da die Mutterliebe der Säugethiere aus dieſer innigen Form der Brutpflege ihren Urſprung genommen hat, erinnert uns der Name der Klaſſe mit Recht an ihre hohe Be - deutung. In Millionen von Bildern, zum großen Theil von Künſtlern erſten Ranges, wird „ die Madonna mit dem Chriſtuskinde “verherrlicht, als das reinſte und erhabenſte Urbild der Mutterliebe; desſelben Inſtinktes, deſſen extremſte Form die übertriebene Zärtlichkeit der Affenmutter darſtellt.
60Phyſiologie der Affen. III.Phyſiologie der Affen. Da unter allen Säugethieren die Affen im geſammten Körperbau dem Menſchen am nächſten ſtehen, läßt ſich von vornherein erwarten, daß dasſelbe auch von ihren Lebensthätigkeiten gilt; und das iſt in Wahrheit der Fall. Wie ſehr die Lebensgewohnheiten, die Bewegungen, die Sinnes - funktionen, das Seelenleben, die Brutpflege der Affen ſich den - jenigen des Menſchen nähern, weiß Jedermann. Aber die wiſſen - ſchaftliche Phyſiologie weiſt dieſelbe bedeutungsvolle Ueberein - ſtimmung auch für andere weniger bekannte Erſcheinungen nach, beſonders die Herzthätigkeit, die Drüſen-Abſonderung und das Geſchlechtsleben. In letzterer Beziehung iſt beſonders merkwürdig, daß die geſchlechtsreifen Weibchen bei vielen Affen-Arten einen regelmäßigen Blutabgang aus dem Fruchtbehälter erleiden, ent - ſprechend der Menſtruation (oder „ Monats-Regel “) des menſch - lichen Weibes. Auch die Milch-Abſonderung aus der Bruſtdrüſe und das Säugegeſchäft geſchieht bei den weiblichen Affen genau ebenſo wie bei den Frauen.
Beſonders intereſſant iſt endlich die Thatſache, daß die Lautſprache der Affen, phyſiologiſch verglichen, als Vor - ſtufe zu der artikulirten menſchlichen Sprache erſcheint. Unter den heute noch lebenden Menſchenaffen giebt es eine indiſche Art, welche muſikaliſch iſt: der Hylobateſ ſyndactyluſ ſingt in vollkommen reinen und klangvollen, halben Tönen eine ganze Oktave. Für den unbefangenen Sprachforſcher kann es heute keinem Zweifel mehr unterliegen, daß unſere hochentwickelte Begriffs-Sprache ſich langſam und ſtufenweiſe aus der un - vollkommenen Lautſprache unſerer pliocänen Affen-Ahnen ent - wickelt hat.
Moniſtiſche Studien über menſchliche und vergleichende Ontogenie. Uebereinſtimmung in der Keimbildung und Entwickelung des Menſchen und der Wirbelthiere.
„ Iſt der Menſch etwas Beſonderes? Entſteht er in einer ganz anderen Weiſe als ein Hund, Vogel, Froſch und Fiſch? Giebt er damit Denen Recht, welche behaupten, er habe keine Stelle in der Natur und keine wirkliche Verwandtſchaft mit der niederen Welt thieriſchen Lebens? Oder ent - ſteht er in einem ähnlichen Keim, und durchläuft er dieſelben langſamen und allmählichen Modi - ficationen? Die Antwort iſt nicht einen Augenblick zweifelhaft und iſt für die letzten dreißig Jahre nicht zweifelhaft geweſen. Ohne Zweifel iſt die Entſtehungsweiſe und ſind die früheren Ent - wickelungszuſtände des Menſchen identiſch mit denen der unmittelbar unter ihm in der Stufen - leiter ſtehenden Thiere: — ohne allen Zweifel ſteht er in dieſen Beziehungen den Affen viel näher als die Affen den Hunden. “(Thomas Huxley (1863).)[62]
Aeltere Keimesgeſchichte. Präformations-Lehre. Einſchachtelungs-Lehre. Haller und Leibniz. Epigeneſis-Lehre. C. F. Wolff. Keimblätter-Lehre. Carl Ernſt Baer. Entdeckung des menſchlichen Eies. Remak. Kölliker. Eizelle und Keimzelle. Gaſträa-Theorie. Protozoen und Metazoen. Eizelle und Samenzelle des Menſchen. Oscar Hertwig. Empfängniß oder Befruchtung. Keimanlage des Menſchen. Aehnlichkeit der Wirbelthier-Keime. Die Keim - hüllen des Menſchen. Amnion, Serolemma und Allantois. Placenta - Bildung und Nachgeburt. Siebhaut und Nabelſtrang. Die ſcheibenförmige Placenta der Affen und des Menſchen.
Carl Ernſt Baer, Ueber Entwickelungsgeſchichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion. 2 Bände. Berlin 1828.
Albert Kölliker, Grundriß der Entwickelungsgeſchichte des Menſchen und der höheren Thiere. (Für Studirende und Aerzte.) Zweite Auflage. Leipzig 1884.
Ernſt Haeckel, Studien zur Gaſträa-Theorie. Jena 1873-1884.
Oscar Hertwig, Lehrbuch der Entwickelungsgeſchichte des Menſchen und der Wirbelthiere. Fünfte Auflage. Jena 1896.
Julius Kollmann, Lehrbuch der Entwickelungsgeſchichte des Menſchen. Jena 1898.
Hans Locher-Wild, Ueber Familien-Anlage und Erblichkeit. Eine wiſſen - ſchaftliche Razzia. Zürich 1874.
Charles Darwin, Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zuſtande der Domeſtication. 2 Bände. Stuttgart 1868. Dritte Auflage 1878.
Ernſt Haeckel, Anthropogenie. Gemeinverſtändliche wiſſenſchaftliche Vor - träge über Entwickelungsgeſchichte des Menſchen. Erſter Theil: Keimes - geſchichte oder Ontogenie. Leipzig 1874. Vierte Auflage 1891.
In noch höherem Maaße als die vergleichende Anatomie und Phyſiologie iſt die vergleichende Ontogenie, die Entwickelungsgeſchichte des Einzelthieres oder Indi - viduums, ein Kind unſeres neunzehnten Jahrhunderts. Wie entſteht der Menſch im Mutterleibe? Und wie entſtehen die Thiere aus den Eiern? Wie entſteht die Pflanze aus dem Samenkorn? Dieſe inhaltsſchwere Frage hat zwar auch ſchon ſeit Jahrtauſenden den denkenden Menſchengeiſt beſchäftigt; aber erſt ſehr ſpät, erſt vor 70 Jahren, zeigte uns der Embryologe Baer die rechten Mittel und Wege, um tiefer in die Kennt - niß der geheimnißvollen Thatſachen der Keimesgeſchichte ein - zudringen; und noch viel ſpäter, vor 40 Jahren lieferte uns Darwin durch ſeine Reform der Descendenz-Theorie den Schlüſſel, mit deſſen Hülfe wir die verſchloſſene Pforte ihres Verſtändniſſes öffnen und zur Erkenntniß ihrer Urſachen gelangen können. Da ich dieſe hochintereſſanten, aber auch ſchwierig zu verſtehenden Verhältniſſe in meiner Keimes - geſchichte des Menſchen (— im erſten Theile der Anthro - pogenie, vierte Auflage 1891 —) einer ausführlichen, populär - wiſſenſchaftlichen Darſtellung unterzogen habe, beſchränke ich mich hier auf eine kurze Zuſammenfaſſung und Deutung nur der wichtigſten Erſcheinungen. Wir wollen dabei zunächſt einen hiſtoriſchen Rückblick auf die ältere Ontogenie und die damit verknüpfte Präformations-Theorie werfen.
64Keimesgeſchichte im Alterthum. IV.Präformations-Lehre. Aeltere Keimesgeſchichte. (Vergl. den II. Vortrag meiner Anthropogenie). Wie für die vergleichende Anatomie, ſo ſind auch für die Entwickelungs - geſchichte die klaſſiſchen Werke des Ariſtoteles, des viel - ſeitigen „ Vaters der Naturgeſchichte “, die älteſte uns bekannte wiſſenſchaftliche Quelle (im 4. Jahrhundert v. Chr.). Nicht allein in ſeiner großen Thiergeſchichte, ſondern auch in einer beſonderen kleinen Schrift: „ Fünf Bücher von der Zeugung und Entwickelung der Thiere “, erzählt uns der große Philoſoph eine Menge von intereſſanten Thatſachen und ſtellt Betrachtungen über deren Bedeutung an; viele davon ſind erſt in unſerer Zeit wieder zur Geltung gekommen und eigentlich erſt wieder neu entdeckt worden. Natürlich ſind aber daneben auch viele Fabeln und Irrthümer zu finden, und von der verborgenen Ent - ſtehung des Menſchenkeimes war noch nichts Näheres bekannt. Aber auch in dem langen, folgenden Zeitraume von zwei Jahr - tauſenden machte die ſchlummernde Wiſſenſchaft keine weiteren Fortſchritte. Erſt im Anfange des 17. Jahrhunderts fing man wieder an ſich damit zu beſchäftigen; der italieniſche Anatom Fabricius ab Aquapendente (in Padua) veröffentlichte 1600 die älteſten Abbildungen und Beſchreibungen von Embryonen des Menſchen und einiger höherer Thiere; und der berühmte Marcello Malpighi in Bologna, gleich bahnbrechend in der Zoologie wie in der Botanik, gab 1687 die erſte zuſammen - hängende Darſtellung von der Entſtehung des Hühnchens im bebrüteten Ei.
Alle dieſe älteren Beobachter waren von der Vorſtellung beherrſcht, daß im Ei der Thiere, ähnlich wie im Samen der höheren Pflanzen, der ganze Körper mit allen ſeinen Theilen bereits fertig vorhanden ſei, nur in einem ſo feinen und durch - ſichtigen Zuſtande, daß man ſie nicht erkennen könne; die ganze Entwickelung ſei demnach nichts weiter, als Wachsthum oder65IV. Einſchachtelungs-Lehre.„ Auswickelung “(Evolutio) der eingewickelten Theile (Parteſ involutae). Dieſe falſche Lehre, die bis zum Anfang unſeres Jahrhunderts faſt allgemein in Geltung blieb, nennen wir am beſten die Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie; oft wird ſie auch „ Evolutionſ-Theorie “genannt; allein unter dieſem Begriffe verſtehen viele neuere Autoren auch die ganz verſchiedene Tranſformationſ-Theorie.
Einſchachtelungs-Lehre (Scatulationſ-Theorie). In engem Zuſammenhange mit der Präformations-Lehre, und in berechtigter Schlußfolge aus derſelben entſtand im vorigen Jahr - hundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen lebhaft beſchäftigte, die ſonderbare „ Einſchachtelungslehre “. Da man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Orga - nismus mit allen ſeinen Theilen vorhanden ſei, mußte auch der Eierſtock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Gene - ration darin vorgebildet ſein, und in dieſen wiederum die Eier der nächſtfolgenden u. ſ. w., in infinitum! Darauf hin be - rechnete der berühmte Phyſiologe Haller, daß der liebe Gott vor 6000 Jahren — am ſechſten Tage ſeines Schöpfungswerkes — die Keime von 200000 Millionen Menſchen gleichzeitig er - ſchaffen und ſie im Eierſtock der ehrwürdigen Urmutter Eva kunſtgerecht eingeſchachtelt habe. Kein Geringerer, als der hoch - angeſehene Philoſoph Leibniz ſchloß ſich dieſen Ausführungen an und verwerthete ſie für ſeine Monadenlehre; und da dieſer zufolge ſich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinſchaft befinden, übertrug er ſie auch auf die Seele: — „ die Seelen der Menſchen haben in deren Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit dem Anfang der Dinge (!!) immer in der Form organiſirter Körper exiſtirt “.
Epigeneſis-Lehre. Im November 1759 vertheidigte in Halle ein junger 26jähriger Mediciner, Caſpar Friedrich Wolff (— der Sohn eines Berliner Schneiders —), ſeineHaeckel, Welträthſel. 566Theorie der Epigeneſis. IV. Doktor-Diſſertation unter dem Titel „ Theoria generationiſ “. Geſtützt auf eine Reihe der mühſamſten und ſorgfältigſten Be - obachtungen, wies er nach, daß die ganze herrſchende Präfor - mations - und Scatulations-Theorie falſch ſei. Im bebrüteten Hühnerei iſt anfangs noch keine Spur vom ſpäteren Vogelkörper und ſeinen Theilen vorhanden; vielmehr finden wir ſtatt deſſen oben auf der bekannten gelben Dotterkugel eine kleine, kreisrunde, weiße Scheibe. Dieſe dünne „ Keimſcheibe “wird länglich rund und zerfällt dann in vier über einander liegende Schichten, die Anlagen der vier wichtigſten Organ-Syſteme: zuerſt die oberſte, das Nervenſyſtem, darunter die Fleiſchmaſſe (Muskel - ſyſtem), dann das Gefäßſyſtem (mit dem Herzen) und zuletzt der Darmkanal. Alſo, ſagt Wolff richtig, beſteht die Keimbildung nicht in einer Auswickelung vorgebildeter Organe, ſondern in einer Kette von Neubildungen, einer wahren „ Epigeneſiſ “; ein Theil entſteht nach dem andern, und alle erſcheinen in einer einfachen Form, welche von der ſpäter ausgebildeten ganz ver - ſchieden iſt; dieſe entſteht erſt durch eine Reihe der merkwürdigſten Umbildungen. Obgleich nun dieſe große Entdeckung — eine der wichtigſten des 18. Jahrhunderts! — ſich unmittelbar durch Nachunterſuchung der beobachteten Thatſachen hätte beſtätigen laſſen, und obgleich die darauf gegründete „ Theorie der Generation “eigentlich gar keine Theorie, ſondern eine nackte Thatſache war, fand ſie dennoch ein halbes Jahrhundert hindurch nicht die mindeſte Anerkennung. Beſonders hinderlich war die mächtige Autorität von Haller, der ſie hartnäckig be - kämpfte, mit dem Dogma: „ Es giebt kein Werden! Kein Theil im Thierkörper iſt vor dem anderen gemacht worden, und Alle ſind zugleich erſchaffen “. Wolff, der nach Petersburg gehen mußte, war ſchon lange todt, als die vergeſſenen, von ihm beobachteten Thatſachen von Lorenz Oken in Jena (1806) auf's Neue entdeckt wurden.
67IV. Theorie der Keimblätter.Keimblätter-Lehre. Nachdem durch Oken die Epigeneſis - Theorie von Wolff beſtätigt und durch Meckel (1812) deſſen wichtige Schrift über die Entwickelung des Darmkanals aus dem Lateiniſchen in's Deutſche überſetzt war, warfen ſich in Deutſch - land mehrere junge Naturforſcher mit großem Eifer auf die ge - nauere Unterſuchung der Keimesgeſchichte. Der bedeutendſte und erfolgreichſte derſelben war Carl Ernſt Baer; ſein be - rühmtes Hauptwerk erſchien 1828 unter dem Titel: „ Entwickelungs - geſchichte der Thiere, Beobachtung und Reflexion “. Nicht allein ſind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und vollſtändig beſchrieben, ſondern auch zahlreiche geiſtvolle Speku - lationen daran geknüpft. Vorzugsweiſe iſt zwar die Embryo - bildung des Menſchen und der Wirbelthiere genau dar - geſtellt, aber daneben auch die weſentlich verſchiedene Outogenie der niederen, wirbelloſen Thiere berückſichtigt. Die zwei blatt - förmigen Schichten, welche in der runden Keimſcheibe der höheren Wirbelthiere zuerſt auftreten, zerfallen nach Baer zunächſt in je zwei Blätter, und dieſe vier Keimblätter verwandeln ſich in vier Röhren, die Fundamental-Organe: Hautſchicht, Fleiſch - ſchicht, Gefäßſchicht und Schleimſchicht. Durch ſehr verwickelte Proceſſe der Epigeneſis entſtehen daraus die ſpäteren Organe, und zwar bei dem Menſchen und bei allen Wirbelthieren in weſentlich gleicher Weiſe. Ganz anders verhalten ſich darin die drei Hauptgruppen der wirbelloſen Thiere, unter ſich wieder ſehr verſchieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer war eine der wichtigſten das menſchliche Ei. Bis Dahin hatte man beim Menſchen, wie bei allen anderen Säugethieren, für Eier kleine Bläschen gehalten, die ſich zahlreich im Eierſtock finden. Erſt Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in dieſen Bläschen, den „ Graaf'ſchen Follikeln “eingeſchloſſen und viel kleiner ſind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmeſſer, unter günſtigen Verhältniſſen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu5*68Eizelle und Samenzelle. IV. ſehen. Auch entdeckte er zuerſt, daß aus dieſer kleinen Eizelle der Säugethiere ſich zunächſt eine charakteriſtiſche Keimblaſe ent - wickelte, eine Hohlkugel mit flüſſigem Inhalt, deren Wand die dünne Keimhaut bildet (Blaſtoderma).
Eizelle und Samenzelle. Zehn Jahre nachdem Baer der Embryologie durch ſeine Keimblätter-Lehre eine feſte Grund - lage gegeben, entſtand für dieſelbe eine neue wichtige Aufgabe durch die Begründung der Zellen-Theorie (1838). Wie verhalten ſich das Ei der Thiere und die daraus entſtehenden Keimblätter zu den Geweben und Zellen, welche den entwickelten Thierkörper zuſammenſetzen? Die richtige Beantwortung dieſer inhaltſchweren Frage gelang um die Mitte unſeres Jahrhunderts zwei hervorragenden Schülern von Johannes Müller: Robert Remak in Berlin und Albert Kölliker in Würzburg. Sie wieſen nach, daß das Ei urſprünglich nichts Anderes als eine einfache Zelle iſt, und daß auch die zahl - reichen Keimkörner oder „ Furchungskugeln “, welche durch wieder - holte Theilung daraus entſtehen, einfache Zellen ſind. Aus dieſen „ Furchungszellen “bauen ſich zunächſt die Keimblätter auf, und weiterhin durch Arbeitstheilung oder Differenzirung derſelben die verſchiedenen Organe. Kölliker erwarb ſich dann fernerhin das große Verdienſt, auch die ſchleimartige Samenflüſſigkeit der männlichen Thiere als Anhäufung von mikroſkopiſchen kleinen Zellen nachzuweiſen. Die beweglichen ſtecknadelförmigen „ Samen - thierchen “in derſelben (Spermatozoa) ſind nichts Anderes, als eigenthümliche „ Geißelzellen “, wie ich (1866) zuerſt an den Samenfäden der Schwämme nachgewieſen habe. Damit war für beide wichtige Zeugungsſtoffe der Thiere, das männliche Sperma und das weibliche Ei bewieſen, daß auch ſie der Zellen - Theorie ſich fügen: eine Entdeckung, deren hohe philoſophiſche Bedeutung erſt viel ſpäter, durch die genauere Erforſchung der Befruchtungsvorgänge (1875), erkannt wurde.
69IV. Gaſträa-Theorie.Gaſträa-Theorie. Alle älteren Unterſuchungen über Keim - bildung betrafen den Menſchen und die höheren Wirbel - thiere, vor Allem aber den Vogelkeim: denn das Hühner-Ei iſt das größte und bequemſte Objekt dafür, und ſteht jederzeit in beliebiger Menge zur Verfügung; man kann in der Brut - maſchine ſehr bequem (— wie bei der natürlichen Bebrütung durch die Henne —) das Ei ausbrüten und dabei ſtündlich die ganze Reihe der Umbildungen, von der einfachen Eizelle bis zum fertigen Vogelkörper, innerhalb drei Wochen beobachten. Auch Baer hatte nur für die verſchiedenen Klaſſen der Wirbel - thiere die Uebereinſtimmung in der charakteriſtiſchen Bildung der Keimblätter und in der Entſtehung der einzelnen Organe aus denſelben nachweiſen können. Dagegen in den zahlreichen Klaſſen der Wirbelloſen — alſo der großen Mehrzahl der Thiere — ſchien die Keimung in weſentlich verſchiedener Weiſe abzulaufen, und den Meiſten ſchienen wirkliche Keimblätter ganz zu fehlen. Erſt um die Mitte des Jahrhunderts wurden ſolche auch bei einzelnen Wirbelloſen nachgewieſen, ſo von Huxley 1849 bei den Meduſen, und von Kölliker 1844 bei den Cephalopoden. Beſonders wichtig wurden ſodann die Entdeckung von Kowa - lewsky (1866), daß das niederſte Wirbelthier, der Lanzelot oder Amphioxuſ ſich genau in derſelben, und zwar in einer ſehr urſprünglichen Weiſe entwickelt, wie ein wirbelloſes, an - ſcheinend ganz entferntes Mantelthier, die Seeſcheide oder Aſcidia. Auch bei verſchiedenen Würmern, Sternthieren und Gliederthieren wies derſelbe Beobachter eine ähnliche Bildung der Keimblätter nach. Ich ſelbſt war damals (ſeit 1866) mit der Entwickelungsgeſchichte der Spongien, Korallen, Meduſen und Siphonophoren beſchäftigt, und da ich auch bei dieſen niederſten Klaſſen der vielzelligen Thiere überall dieſelbe Bildung von zwei primären Keimblättern fand, gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß dieſer wichtige Keimungsvorgang im ganzen Thierreiche derſelbe iſt.
70Gaſträa-Theorie. IV.Beſonders wichtig erſchien mir dabei der Umſtand, daß bei den Schwammthieren und bei den niederen Neſſelthieren (Polypen, Meduſen) der Körper lange Zeit hindurch oder ſelbſt zeitlebens bloß aus zwei einfachen Zellenſchichten beſteht; bei den Meduſen hatte dieſe ſchon Huxley (1849) mit den beiden primären Keimblättern der Wirbelthiere verglichen. Geſtützt auf dieſe Beobachtungen und Vergleichungen ſtellte ich dann 1872 in meiner „ Philoſophie der Kalkſchwämme “die Gaſträa-Theorie “auf, deren weſentlichſte Lehrſätze folgende ſind: I. Das ganze Thierreich zerfällt in zwei weſentlich verſchiedene Hauptgruppen, die einzelligen Urthiere (Protozoa) und die vielzelligen Ge - webthiere (Metazoa); der ganze Organismus der Protozoen (Rhizopoden und Infuſorien) bleibt zeitlebens eine einfache Zelle (ſeltener ein lockerer Zellverein, ohne Gewebebildung, ein Coenobium); dagegen der Organismus der Metazoen iſt nur im erſten Beginn einzellig, ſpäter aus vielen Zellen zuſammen - geſetzt, welche Gewebe bilden. II. Daher iſt auch die Fort - pflanzung und Entwickelung in beiden Hauptgruppen der Thiere weſentlich verſchieden; die Protozoen vermehren ſich gewöhnlich nur ungeſchlechtlich, durch Theilung, Knoſpung oder Sporenbildung; ſie beſitzen noch keine echten Eier und kein Sperma. Die Metazoen dagegen ſind in männliches und weib - liches Geſchlecht geſchieden und vermehren ſich vorwiegend geſchlechtlich, mittelſt echter Eier, welche vom männlichen Samen befruchtet werden. III. Daher entſtehen auch nur bei den Metazoen wirkliche Keimblätter, und aus dieſen Ge - webe, während ſolche den Protozoen noch ganz fehlen. IV. Bei allen Metazoen entſtehen zunächſt nur zwei primäre Keimblätter, und dieſe haben überall dieſelbe weſentliche Bedeutung: aus dem äußeren Hautblatt entwickelt ſich die äußere Hautdecke und das Nervenſyſtem; aus dem inneren Darmblatt hingegen der Darm - kanal und alle übrigen Organe. V. Die Keimform, welche überall zu -71IV. Gaſträa-Theorie.nächſt aus dem befruchteten Ei hervorgeht, und welche allein aus dieſen beiden primären Keimblättern beſteht, nannte ich Darm - larve oder Becherkeim (Gaſtrula); ihr becherförmiger zwei - ſchichtiger Körper umſchließt urſprünglich eine einfache ver - dauende Höhle, den Urdarm (Progaſter oder Archenteron), und deſſen einfache Oeffnung iſt der Urmund (Proſtoma oder Blaſtoporuſ). Dies ſind die älteſten Organe des vielzelligen Thierkörpers, und die beiden Zellenſchichten ſeiner Wand, einfache Epithelien, ſind ſeine älteſten Gewebe; alle anderen Organe und Gewebe ſind erſt ſpäter (ſekundär) daraus hervorgegangen. VI. Aus dieſer Gleichartigkeit oder Homologie der Gaſtrula in ſämmtlichen Stämmen und Klaſſen der Gewebthiere zog ich nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze (S. 93) den Schluß, daß alle Metazoen urſprünglich von einer gemeinſamen Stammform abſtammen, Gaſträa, und daß dieſe uralte (laurentiſche), längſt ausgeſtorbene Stammform im Weſentlichen die Körperform und Zuſammenſetzung der heutigen, durch Ver - erbung erhaltenen Gaſtrula beſaß. VII. Dieſer phylo - genetiſche Schluß aus der Vergleichung der ontogenetiſchen That - ſachen wird auch dadurch gerechtfertigt, daß noch heute einzelne Gaſträaden exiſtiren (Gaſtremarien, Cyemarien, Phyſe - marien), ſowie älteſte Formen anderer Thierſtämme, deren Orga - niſation ſich nur ſehr wenig über dieſe Letzteren erhebt (Olyn - thuſ unter den Spongien, Hydra, der gemeine Süßwaſſer - Polyp, unter den Neſſelthieren, Convoluta und andere Krypto - coelen, als einfachſte Strudelwürmer, unter den Plattenthieren). VIII. Bei der weiteren Entwickelung der verſchiedenen Geweb - thiere aus der Gaſtrula ſind zwei verſchiedene Hauptgruppen zu unterſcheiden: Die älteren Niederthiere (Coelenteria oder Acoelomia) bilden noch keine Leibeshöhle und beſitzen weder Blut noch After; das iſt der Fall bei den Gaſträaden, Spongien, Neſſelthieren und Plattenthieren. Die jüngeren Oberthiere72Eizelle und Samenzelle. IV. (Coelomaria oder Bilateria) hingegen beſitzen eine echte Leibes - höhle und meiſtens auch Blut und After; dahin gehören die Wurmthiere (Vermalia) und die höheren, typiſchen Thierſtämme, welche ſich ſpäter aus dieſen entwickelt haben, die Sternthiere, Weichthiere, Gliederthiere, Mantelthiere und Wirbelthiere.
Das ſind die weſentlichſten Lehrſätze meiner Gaſträa - Theorie, deren erſten Entwurf (1872) ich ſpäter weiter aus - geführt und in einer Reihe von „ Studien zur Gaſträa-Theorie “(1873-1884) feſter zu begründen mich bemüht habe. Obgleich dieſelbe Anfangs faſt allgemein abgelehnt und während eines Decenniums von zahlreichen Autoritäten heftig bekämpft wurde, iſt ſie doch gegenwärtig (ſeit etwa 15 Jahren) von allen ſach - kundigen Fachgenoſſen angenommen. Sehen wir nun, welche weitreichenden Schlüſſe ſich aus der Gaſträa-Theorie und der Keimesgeſchichte überhaupt für unſere Hauptfrage, die „ Stellung des Menſchen in der Natur “ergeben.
Eizelle und Samenzelle des Menſchen. Das Ei des Menſchen iſt, wie das aller anderen Gewebthiere, eine einfache Zelle, und dieſe kleine kugelige Eizelle (von nur 0,2 mm Durch - meſſer) hat genau dieſelbe charakteriſtiſche Beſchaffenheit, wie diejenige aller anderen, lebendig gebärenden Säugethiere. Die kleine Plasmakugel iſt nämlich von einer dicken, durchſichtigen, fein radial geſtreiften Eihülle umgeben (Zona pellucida); auch das kleine, kugelige Keimbläschen (der Zellenkern), das vom Plasma (dem Zellenleib) eingeſchloſſen iſt, zeigt dieſelbe Größe und Beſchaffenheit, wie bei den übrigen Mammalien. Dasſelbe gilt von den beweglichen Spermien oder Samenfäden des Mannes, den winzig kleinen, fadenförmigen Geißelzellen, welche ſich zu Millionen in jedem Tröpfchen des ſchleimartigen männ - lichen Samens (Sperma) finden; ſie wurden früher wegen ihrer lebhaften Bewegung für beſondere „ Samenthierchen “(Spermatozoa) gehalten. Auch die Entſtehung dieſer beiden73IV. Empfängniß oder Befruchtung.wichtigen Geſchlechts-Zellen in der Geſchlechts-Drüſe (Gonade) iſt dieſelbe beim Menſchen und den übrigen Säuge - thieren; ſowohl die Eier im Eierſtock des Weibes (Ovarium), als die Samenfäden im Hoden oder Samenſtock des Mannes (Spermarium) entſtehen überall auf dieſelbe Weiſe, aus Zellen, welche urſprünglich vom Cölom-Epithel abſtammen, von der Zellenſchicht, welche die Leibeshöhle auskleidet.
Empfängniß oder Befruchtung (Conception, Foecundation). Der wichtigſte Augenblick im Leben jedes Menſchen, wie jedes anderen Gewebthieres, iſt das Moment, in welchem ſeine individuelle Exiſtenz beginnt; es iſt der Augenblick, in welchem die Geſchlechts - zellen der beiden Eltern zuſammentreffen und zur Bildung einer einzigen einfachen Zelle verſchmelzen. Dieſe neue Zelle, die „ be - fruchtete Eizelle “, iſt die individuelle Stammzelle (Cytula), aus deren wiederholter Theilung die Zellen der Keimblätter und die Gaſtrula hervorgehen. Erſt mit der Bildung dieſer Cytula, alſo mit dem Vorgange der Befruchtung ſelbſt, beginnt die Exiſtenz der Perſon, des ſelbſtändigen Einzelweſens. Dieſe ontogenetiſche Thatſache iſt überaus wichtig, denn aus ihr allein ſchon laſſen ſich die weitreichendſten Schlüſſe ableiten. Zunächſt folgt daraus die klare Erkenntniß, daß der Menſch, gleich allen anderen Gewebthieren, alle perſönlichen Eigenſchaften, körperliche und geiſtige, von ſeinen beiden Eltern durch Ver - erbung erhalten hat; und weiterhin die inhaltſchwere Ueber - zeugung, daß die neue, ſo entſtandene Perſon unmöglich Anſpruch haben kann, „ unſterblich “zu ſein.
Die feineren Vorgänge bei der Empfängniß und der geſchlechtlichen Zeugung überhaupt ſind daher von allerhöchſter Wichtigkeit; ſie ſind uns in ihren Einzelheiten erſt ſeit 1875 bekannt geworden, ſeit Oscar Hertwig, mein damaliger Schüler und Reiſebegleiter, in Ajaccio auf Corſica ſeine bahn - brechenden Unterſuchungen über die Befruchtung der Thier-Eier74Keimanlage des Menſchen. IV. an den Seeigeln begann. Die ſchöne Hauptſtadt der Rosmarin - Inſel, in welcher der große Napoleon 1769 geboren wurde, war auch der Ort, an welchem zuerſt die Geheimniſſe der thieriſchen Empfängniß in den wichtigſten Einzelheiten genau beobachtet wurden. Hertwig fand, daß das einzige weſentliche Ereigniß bei der Befruchtung die Verſchmelzung der beiden Geſchlechts - zellen und ihrer Kerne iſt. Von den Millionen männlicher Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle umſchwärmen, dringt nur eine einzige in deren Plasmakörper ein. Die Kerne beider Zellen, der Spermakern und der Eikern, werden durch eine geheimnißvolle Kraft, die wir als eine chemiſche, dem Geruch verwandte Sinnesthätigkeit deuten, zu einander hingezogen, nähern ſich und verſchmelzen mit einander. So entſteht durch die ſinnliche Empfindung der beiden Geſchlechts-Kerne, in Folge von „ erotiſchem Chemotropismus “, eine neue Zelle, welche die erblichen Eigenſchaften beider Eltern in ſich vereinigt; der Sperma-Kern überträgt die väterlichen, der Eikern die mütter - lichen Charakter-Züge auf die Stammzelle, aus der ſich nun das Kind entwickelt; das gilt ebenſo von den körperlichen, wie von den ſogenannten geiſtigen Eigenſchaften.
Keimanlage des Menſchen. Die Bildung der Keim - blätter durch wiederholte Theilung der Stammzelle, die Ent - ſtehung der Gaſtrula und der weiterhin aus ihr hervorgehenden Keimformen geſchieht beim Menſchen genau ſo wie bei den übrigen höheren Säugethieren, unter denſelben eigenthümlichen Beſonderheiten, welche dieſe Gruppe vor den niederen Wirbel - thieren auszeichnen. In früheren Perioden der Keimesgeſchichte ſind dieſe Special-Charaktere der Placentalien noch nicht aus - geprägt. Die bedeutungsvolle Keimform der Chordula oder „ Chordalarve “, die zunächſt aus der Gaſtrula entſteht, zeigt bei allen Vertebraten im Weſentlichen die gleiche Bildung: ein ein - facher gerader Axenſtab, die Chorda, geht der Länge nach durch75IV. Keimbildung der Wirbelthiere.die Hauptaxe des länglichrunden, ſchildförmigen Körpers (des „ Keimſchildes “); oberhalb der Chorda entwickelt ſich aus dem äußeren Keimblatt das Rückenmark, unterhalb das Darmrohr. Dann erſt erſcheinen zu beiden Seiten, rechts und links vom Axenſtab, die Ketten der „ Urwirbel “, die Anlagen der Muskel - platten, mit denen die Gliederung des Wirbelthier-Körpers beginnt. Vorn am Darm treten beiderſeits die Kiemenſpalten auf, die Oeffnungen des Schlundes, durch welche urſprünglich bei unſern Fiſch-Ahnen das vom Munde aufgenommene Athem - waſſer an den Seiten des Kopfes nach außen trat. In Folge zäher Vererbung treten dieſe Kiemenſpalten, die nur bei den fiſchartigen, im Waſſer lebenden Vorfahren von Bedeutung waren, auch heute noch beim Menſchen wie bei allen übrigen Vertebraten auf; ſie verſchwinden ſpäter. Selbſt nachdem ſchon am Kopfe die fünf Hirnblaſen, ſeitlich die Anfänge der Augen und Ohren, ſichtbar geworden, nachdem am Rumpfe die An - lagen der beiden Beinpaare in Form rundlicher platter Knoſpen aus dem fiſchartigen Menſchenkeim hervorgeſproßt ſind, iſt deſſen Bildung derjenigen anderer Wirbelthiere noch ſo ähnlich, daß man ſie nicht unterſcheiden kann.
Aehnlichkeit der Wirbelthier-Keime. Die weſentliche Uebereinſtimmung in der äußeren Körperform und dem inneren Bau, welche die Embryonen des Menſchen und der übrigen Vertebraten in dieſer früheren Bildungs-Periode zeigen, iſt eine embryologiſche Thatſache erſten Ranges; aus ihr laſſen ſich nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze die wichtigſten Schlüſſe ableiten. Denn es giebt dafür keine andere Erklärung, als die Annahme einer Vererbung von einer gemeinſamen Stammform. Wenn wir ſehen, daß in einem beſtimmten Stadium die Keime des Menſchen und des Affen, des Hundes und des Kaninchens, des Schweines und des Schafes zwar als höhere Wirbelthiere erkennbar, aber ſonſt nicht zu unterſcheiden76Keimbildung des Menſchen. IV. ſind, ſo kann dieſe Thatſache eben nur durch gemeinſame Ab - ſtammung erklärt werden. Und dieſe Erklärung erſcheint um ſo ſicherer, wenn wir die ſpäter eintretende Sonderung oder Divergenz jener Keimformen verfolgen. Je näher ſich zwei Thierformen in der geſammten Körperbildung und alſo auch im natürlichen Syſtem ſtehen, deſto länger bleiben ſich auch ihre Embryonen ähnlich, und deſto enger hängen ſie auch im Stamm - baum der betreffenden Gruppe zuſammen, deſto näher ſind ſie „ ſtammverwandt “. Daher erſcheinen die Embryonen des Menſchen und der Menſchenaffen auch ſpäter noch höchſt ähnlich, auf einer hoch entwickelten Bildungsſtufe, auf welcher ihre Unterſchiede von den Embryonen anderer Säugethiere ſofort erkennbar ſind. Ich habe dieſe bedeutungsvolle Thatſache ſowohl in der natürlichen Schöpfungsgeſchichte (1898, Taf. 2 und 3) als in der Anthro - pogenie (1891, Taf. 6-9) durch Zuſammenſtellung entſprechender Bildungsſtufen von einer Anzahl verſchiedener Wirbelthiere illuſtrirt.
Die Keimhüllen des Menſchen. Die hohe phylogenetiſche Bedeutung der eben beſprochenen Aehnlichkeit tritt nicht nur bei Vergleichung der Vertebraten-Embryonen ſelbſt hervor, ſondern auch bei derjenigen ihrer Keimhüllen. Es zeichnen ſich nämlich alle Wirbelthiere der drei höheren Klaſſen, Reptilien, Vögel und Säugethiere, vor den niederen Claſſen durch die Bildung eigen - thümlicher Embryonal-Hüllen aus, des Amnion (Waſſerhaut) und des Serolemma (Seröſe Haut). In dieſen mit Waſſer ge - füllten Säcken liegt der Embryo eingeſchloſſen und iſt dadurch gegen Druck und Stoß geſchützt. Dieſe zweckmäßige Schutz - einrichtung iſt wahrſcheinlich erſt während der permiſchen Periode entſtanden, als die älteſten Reptilien (Proreptilien), die gemein - ſamen Stammformen der Amnionthiere oder Amnioten, vollſtändig an das Landleben ſich anpaßten. Bei ihren direkten Vorfahren, den Amphibien, fehlt dieſe Hüllenbildung noch ebenſo77IV. Keimhüllen des Menſchen.wie bei den Fiſchen; ſie war bei dieſen Waſſerbewohnern über - flüſſig. Mit der Erwerbung dieſer Schutzhüllen ſtehen bei allen Amnioten noch zwei andere Veränderungen in engem Zuſammen - hang, erſtens der gänzliche Verluſt der Kiemen (während die Kiemenbogen und die Spalten dazwiſchen als „ rudimentäre Organe “ſich forterben); und zweitens die Bildung der Allan - tois. Dieſer blaſenförmige, mit Waſſer gefüllte Sack wächſt bei dem Embryo aller Amnioten aus dem Enddarm hervor und iſt nichts Anderes als die vergrößerte Harnblaſe der Amphibien - Ahnen. Aus ihrem innerſten und unterſten Theile bildet ſich ſpäter die bleibende Harnblaſe der Amnioten, während der größere äußere Theil rückgebildet wird. Gewöhnlich ſpielt dieſer eine Zeitlang eine wichtige Rolle als Athmungs-Organ des Embryo, indem ſich mächtige Blutgefäße auf ſeiner Wand aus - breiten. Sowohl die Entſtehung der Keimhüllen (Amnion und Serolemma), als auch der Allantois, geſchieht beim Menſchen genau ebenſo, wie bei allen anderen Amnioten, und durch dieſelben verwickelten Proceſſe des Wachsthums; der Menſch iſt ein echtes Amnionthier.
Die Placenta des Menſchen. Die Ernährung des menſch - lichen Keimes im Mutterleibe geſchieht bekanntlich durch ein eigenthümliches, äußerſt blutreiches Organ, die ſogenannte Placenta, den Aderkuchen oder Blutgefäßkuchen. Dieſes wichtige Ernährungs-Organ bildet eine ſchwammige kreisrunde Scheibe von 16-20 cm Durchmeſſer, 3-4 cm Dicke und 1-2 Pfund Gewicht; ſie wird nach erfolgter Geburt des Kindes abgelöſt und als ſogenannte „ Nachgeburt “ausgeſtoßen. Die Placenta beſteht aus zwei weſentlich verſchiedenen Theilen, dem Fruchtkuchen oder der kindlichen Placenta (P. foetaliſ) und dem Mutterkuchen oder dem mütterlichen Gefäßkuchen (P. uterina). Dieſer letztere enthält reichentwickelte Bluträume, welche ihr Blut durch die Gefäße der Gebärmutter zugeführt78Placenta der Zottenthiere. IV. erhalten. Der Fruchtkuchen dagegen wird aus zahlreichen ver - äſtelten Zotten gebildet, welche von der Außenfläche der kind - lichen Allantoiſ hervorwachſen und ihr Blut von deren Nabel - gefäßen beziehen. Dieſe hohlen blutgefüllten Zotten des Frucht - kuchens wachſen in die Bluträume des Mutterkuchens hinein, und die zarte Scheidewand zwiſchen beiden wird ſo ſehr ver - dünnt, daß durch ſie hindurch ein unmittelbarer Stoff-Austauſch der ernährenden Blutflüſſigkeit erfolgen kann (durch Osmoſe).
Bei den älteren und niederen Gruppen der Zottenthiere (Placentalia) iſt die ganze Oberfläche der äußeren Fruchthülle (Chorion) mit zahlreichen kurzen Zotten bedeckt; dieſe „ Chorion - zotten “wachſen in grubenförmige Vertiefungen der Schleimhaut der Gebärmutter hinein und löſen ſich bei der Geburt leicht von dieſer ab. Das iſt der Fall bei den meiſten Hufthieren (z. B. Schwein, Kameel, Pferd), bei den meiſten Walthieren und Halbaffen; man hat dieſe Malloplacentalien als Indeciduata be - zeichnet (mit diffuſer Zottenhaut, Malloplacenta). Auch bei den übrigen Zottenthieren und beim Menſchen iſt dieſelbe Bildung anfänglich vorhanden. Bald aber verändert ſie ſich, indem die Zotten auf einem Theile des Chorion rückgebildet werden; auf dem anderen Theile entwickeln ſie ſich dafür um ſo ſtärker und verwachſen ſehr feſt mit der Schleimhaut des Uterus. In Folge dieſer innigen Verwachſung löſt ſich bei der Geburt ein Theil der letzteren ab und wird unter Blutverluſt entfernt. Dieſe hinfällige Haut oder Siebhaut (Decidua) iſt eine charakteriſtiſche Bildung der höheren Zottenthiere, die man deßhalb als Deci - duata zuſammengefaßt hat; dahin gehören namentlich die Raub - thiere, Nagethiere, Affen und Menſchen; bei den Raubthieren und einzelnen Hufthieren (z. B. Elephanten) iſt die Placenta gürtelförmig (Zonoplacentalia), dagegen bei den Nagethieren, bei den Inſektenfreſſern (Maulwurf, Igel), bei den Affen und Menſchen ſcheibenförmig (Diocoplacentalia).
79IV. Placenta des Menſchen und Affen.Noch vor zehn Jahren glaubten die meiſten Embryologen, daß ſich der Menſch durch gewiſſe Eigenthümlichkeiten in der Bildung ſeiner Placenta auszeichne, namentlich durch den Beſitz der ſogenannten Decidua reflexa, ſowie durch die beſondere Bildung des Nabelſtranges, welcher dieſe mit dem Keime ver - bindet; dieſe eigenthümlichen Embryonal-Organe ſollten den übrigen Zottenthieren, und insbeſondere den Affen fehlen. Der wichtige Nabelſtrang oder die Nabelſchnur (Funiculuſ um - bilicaliſ) iſt ein cylindriſcher, weicher Strang von 40-60 cm Länge und von der Dicke des kleinen Fingers (11-13 mm). Er ſtellt die Verbindung zwiſchen dem Embryo und dem Mutter - kuchen her, indem er die ernährenden Blutgefäße aus dem Körper des Keimes in den Fruchtkuchen leitet; außerdem ent - hält er auch den Stiel der Allantois und des Dotterſackes. Während nun der Dotterſack bei menſchlichen Früchten aus der dritten Woche der Schwangerſchaft noch die größere Hälfte der Keimblaſe darſtellt, wird er ſpäter bald rückgebildet, ſo daß man ihn früher bei reifen Früchten ganz vermißte; doch iſt er als Rudiment noch immer vorhanden und auch nach der Geburt noch als winziges Nabelbläschen (Veſicula umbilicaliſ) nachzuweiſen. Auch die blaſenförmige Anlage der Allantois ſelbſt wird beim Menſchen frühzeitig rückgebildet, was mit einer etwas abweichenden Bildung des Amnion zuſammenhängt, der Entſtehung des ſogenannten „ Bauchſtiels “. Auf die complicirten anatomiſchen und embryologiſchen Verhältniſſe dieſer Bildungen, die ich in meiner Anthropogenie (im 23. Vor - trage) geſchildert und illuſtrirt habe, können wir hier nicht eingehen.
Die Gegner der Entwicklungslehre wieſen noch vor zehn Jahren auf dieſe „ ganz beſonderen Eigenthümlichkeiten “der Fruchtbildung beim Menſchen hin, durch die er ſich von allen anderen Säugethieren unterſcheiden ſollte. Da wies 1890 Emil Selenka nach, daß dieſelben Eigenthümlichkeiten ſich auch80Keimesgeſchichte der Menſchenaffen. IV. bei den Menſchenaffen finden, insbeſondere beim Orang (Satyruſ), während ſie den niederen Affen fehlen. Alſo be - ſtätigte ſich auch hier wieder der Pithecometra-Satz von Huxley: „ Die Unterſchiede zwiſchen den Menſchen und den Menſchenaffen ſind geringer als diejenigen zwiſchen den letzteren und den niederen Affen. “ Die angeblichen „ Beweiſe gegen die nahe Blutsverwandtſchaft des Menſchen und der Affen “er - gaben ſich bei genauer Unterſuchung der thatſächlichen Ver - hältniſſe auch hier wieder umgekehrt als wichtige Gründe zu Gunſten derſelben.
Jeder Naturforſcher, der mit offenen Augen in dieſe dunkeln, aber höchſt intereſſanten Labyrinth-Gänge unſerer Keimes - geſchichte tiefer eindringt, und der im Stande iſt, ſie kritiſch mit derjenigen der übrigen Säugethiere zu vergleichen, wird in denſelben die bedeutungsvollſten Lichtträger für das Verſtändniß unſerer Stammesgeſchichte finden. Denn die verſchiedenen Stufen der Keimbildung werfen als palingenetiſche Ver - erbungs-Phänomene ein helles Licht auf die entſprechenden Stufen unſerer Ahnen-Reihe, gemäß dem biogenetiſchen Grundgeſetze. Aber auch die cenogenetiſchen Anpaſſungs - Erſcheinungen, die Bildung der vergänglichen Embryonal-Organe — der charakteriſtiſchen Keimhüllen, und vor allem der Placenta — geben uns ganz beſtimmte Aufſchlüſſe über unſere nahe Stamm - verwandtſchaft mit den Primaten.
Moniſtiſche Studien über Urſprung und Abſtammung des Menſchen von den Wirbelthieren, zunächſt von den Herren - thieren.
‘„ Die allgemeinen Grundzüge des Primaten - Stammbaums von den älteſten eocänen Halbaffen bis zum Menſchen hinauf liegen innerhalb der Tertiärzeit klar vor unſeren Augen; da giebt es kein weſentliches ‚ fehlendes Glied‘ mehr. — Die Abſtammung des Menſchen von einer aus - geſtorbenen tertiären Primaten-Kette iſt keine vage Hypotheſe mehr, ſondern ſie iſt eine hiſto - riſche Thatſache. — Die unermeßliche Bedeu - tung, welche dieſe ſichere Erkenntniß vom Pri - maten-Urſprung des Menſchen beſitzt, liegt klar vor den Augen jedes unbefangenen und conſequenten Denkers. “’ (Cambridge-Vortrag über unſere gegenwärtige Kenntniß vom Urſprung des Menſchen (1898). )Haeckel, Welträthſel. 6[82]Urſprung des Menſchen. Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. Moſes und Linné. Die Schöpfung der conſtanten Arten. Kataſtrophen-Lehre, Cuvier. Tranſformatismus, Goethe (1790). Deſcendenz-Theorie, Lamarck (1809). Selections-Theorie, Darwin (1859). Stammesgeſchichte (Phylogenie) (1866). Stammbäume. Generelle Morphologie. Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Syſtematiſche Phylogenie. Biogenetiſches Grundgeſetz. Anthropogenie. Abſtammung des Menſchen vom Affen. Pithecoiden-Theorie. Der foſſile Pithecanthropus von Dubois (1894).
Charles Darwin, Die Abſtammung des Menſchen und die geſchlechtliche Zuchtwahl. 2 Bände. Stuttgart 1871. Dritte Auflage 1875.
Thomas Huxley, Zeugniſſe für die Stellung des Menſchen in der Natur. Braunſchweig 1863.
Ernſt Haeckel, Anthropogenie. Gemeinverſtändliche wiſſenſchaftliche Vorträge über Entwickelungsgeſchichte des Menſchen. Zweiter Theil. Stammes - geſchichte oder Phylogenie. Leipzig 1874. Vierte Auflage 1891.
Carl Gegenbaur, Vergleichende Anatomie der Wirbelthiere, mit Berückſich - tigung der Wirbelloſen. 2 Bände. Leipzig 1898.
Carl Zittel, Grundzüge der Paläontologie. München 1895.
Ernſt Haeckel, Syſtematiſche Stammesgeſchichte des Menſchen (7. Kapitel der „ Syſtematiſchen Phylogenie der Wirbelthiere “). Berlin 1895.
Ludwig Büchner, Der Menſch und ſeine Stellung in der Natur, in Ver - gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zweite Auflage. Leipzig 1872.
J. G. Vogt, Die Menſchwerdung. Die Entwickelung des Menſchen aus der Hauptreihe der Primaten. Leipzig 1892.
Ernſt Haeckel, Ueber unſere gegenwärtige Kenntniß vom Urſprung des Menſchen (Vortrag in Cambridge). Bonn 1898. Siebente Auflage 1899.
Der jüngſte unter den großen Zweigen am lebendigen Baume der Biologie iſt diejenige Naturwiſſenſchaft, welche wir Stammesgeſchichte oder Phylogenie nennen. Sie hat ſich noch weit ſpäter und unter viel größeren Schwierigkeiten entwickelt, als ihre natürliche Schweſter, die Keimesgeſchichte oder Ontogenie. Dieſe letztere hatte zur Aufgabe die Erkenntniß der geheimnißvollen Vorgänge, durch welche ſich die organiſchen Individuen, die Einzelweſen der Thiere und Pflanzen, aus dem Ei entwickeln. Die Stammesgeſchichte hingegen hat die viel dunklere und ſchwierigere Frage zu beantworten: „ Wie ſind die organiſchen Species entſtanden, die einzelnen Arten der Thiere und Pflanzen? “
Die Ontogenie (ſowohl Embryologie als Metamorphik) konnte zur Löſung ihrer nahe liegenden Aufgabe zunächſt un - mittelbar den empiriſchen Weg der Beobachtung betreten; ſie brauchte nur Tag für Tag und Stunde für Stunde die ſicht - baren Umbildungen zu verfolgen, welche der organiſche Keim innerhalb kurzer Zeit während der Entwickelung aus dem Ei erfährt. Viel ſchwieriger war von vornherein die entfernt liegende Aufgabe der Phylogenie; denn die langſamen Proceſſe der allmählichen Umbildung, welche die Entſtehung der Thier - und Pflanzen-Arten bewirken, vollziehen ſich unmerklich im Verlaufe von Jahrtauſenden und Jahrmillionen; ihre unmittelbare Beob -6 *84Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. V. achtung iſt nur in ſehr engen Grenzen möglich, und der weitaus größte Theil dieſer hiſtoriſchen Vorgänge kann nur indirekt er - ſchloſſen werden: durch kritiſche Reflexion, durch vergleichende Benutzung von empiriſchen Urkunden, welche ſehr verſchiedenen Gebieten angehören, der Paläontologie, Ontogenie und Morpho - logie. Dazu kam noch das gewaltige Hinderniß, welches der natürlichen Stammesgeſchichte allgemein durch die enge Ver - knüpfung der „ Schöpfungsgeſchichte “mit übernatürlichen Mythen und religiöſen Dogmen bereitet wurde; es iſt daher begreiflich, daß erſt im Laufe der letzten vierzig Jahre die wiſſenſchaftliche Exiſtenz der wahren Stammesgeſchichte unter ſchweren Kämpfen errungen und geſichert werden mußte.
Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. Alle ernſtlichen Verſuche, welche bis zum Beginne unſers 19. Jahrhunderts zur Beant - wortung des Problems von der Entſtehung der Organismen unternommen wurden, blieben in dem mythologiſchen Laby - rinthe der übernatürlichen Schöpfungsſagen ſtecken. Einzelne Bemühungen hervorragender Denker, ſich von dieſen zu emanci - piren und zu einer natürlichen Auffaſſung zu gelangen, blieben erfolglos. Die mannichfaltigen Schöpfungs-Mythen entwickelten ſich bei allen älteren Kultur-Völkern im Zuſammenhang mit der Religion; und während des Mittelalters war es naturgemäß das zur Herrſchaft gelangte Chriſtenthum, welches die Beant - wortung der Schöpfungsfrage für ſich in Anſpruch nahm. Da die Bibel als die unerſchütterliche Baſis des chriſtlichen Religions - Gebäudes galt, wurde die ganze Schöpfungsgeſchichte dem erſten Buche Moſes entnommen. Auf dieſes ſtützte ſich auch noch der große ſchwediſche Naturforſcher Carl Linné, als er 1735 in ſeinem grundlegenden „ Syſtema Naturae “den erſten Ver - ſuch zu einer ſyſtematiſchen Ordnung, Benennung und Klaſſifi - kation der unzähligen verſchiedenen Naturkörper unternahm. Als beſtes, praktiſches Hilfsmittel derſelben führte er die bekannte85V. Schöpfung der Species.doppelte Namengebung oder binäre Nomenklatur ein; jeder ein - zelnen Art oder Species von Thieren und Pflanzen gab er einen beſonderen Art-Namen und ſtellte dieſem einen allgemeinen Gattungs-Namen voran. In einer Gattung (Genuſ) wurden die nächſtverwandten Arten (Specieſ) zuſammengeſtellt; ſo z. B. vereinigte Linné in dem Genuſ Hund (Caniſ) als verſchiedene Species den Haushund (Caniſ familiariſ), den Schakal (Caniſ aureuſ), den Wolf (Caniſ lupuſ), den Fuchs (Caniſ vulpeſ) u. A. Dieſe binäre Nomenklatur erwies ſich bald ſo praktiſch, daß ſie allgemein angenommen wurde und bis heute in der zoologiſchen und botaniſchen Syſtematik allgemein gültig iſt.
Höchſt verhängnißvoll aber wurde für die Wiſſenſchaft das theoretiſche Dogma, welches ſchon von Linné ſelbſt mit ſeinem praktiſchen Species-Begriffe verknüpft wurde. Die erſte Frage, welche ſich dem denkenden Syſtematiker aufdrängen mußte, war natürlich die Frage nach dem eigentlichen Weſen des Species - Begriffes, nach Inhalt und Umfang deſſelben. Und gerade dieſe Fundamental-Frage beantwortete ſein Schöpfer in naivſter Weiſe, in Anlehnung an den allgemein gültigen Moſaiſchen Schöpfungs-Mythus: „ Specieſ tot ſunt diverſae, quot di - verſaſ formaſ ab initio creavit infinitum enſ. “ (— Es giebt ſo viel verſchiedene Arten, als im Anfange vom unendlichen Weſen verſchiedene Formen erſchaffen worden ſind. —) Mit dieſem theoſophiſchen Dogma war jede natürliche Erklärung der Art - Entſtehung abgeſchnitten. Linné kannte nur die gegenwärtig exiſtirende Thier - und Pflanzen-Welt; er hatte keine Ahnung von den viel zahlreicheren ausgeſtorbenen Arten, welche in den früheren Perioden der Erdgeſchichte unſeren Erdball in wechſeln - der Geſtaltung bevölkert hatten.
Erſt im Anfange unſers Jahrhunderts wurden dieſe foſſilen Thiere durch Cuvier näher bekannt. Er gab in ſeinem berühmten Werke über die foſſilen Knochen der vierfüßigen Wirbelthiere86Kataſtrophen-Lehre von Cuvier. V. (1812) die erſte genaue Beſchreibung und richtige Deutung zahl - reicher Petrefakten. Zugleich wies er nach, daß in den ver - ſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte eine Reihe von ganz ver - ſchiedenen Thier-Bevölkerungen auf einander gefolgt war. Da nun Cuvier hartnäckig an Linné's Lehre von der abſoluten Beſtändigkeit der Species feſt hielt, glaubte er deren Entſtehung nur durch die Annahme erklären zu können, daß eine Reihe von großen Kataſtrophen und von wiederholten Neuſchöpfungen in der Erdgeſchichte auf einander gefolgt ſei; im Beginne jeder großen Erd-Revolution ſollten alle lebenden Geſchöpfe vernichtet und am Ende derſelben eine neue Bevölkerung erſchaffen worden ſein. Obgleich dieſe Kataſtrophen-Theorie von Cuvier zu den abſurdeſten Folgerungen führte und auf den nackten Wunder - Glauben hinauslief, gewann ſie doch bald allgemeine Geltung und blieb bis auf Darwin (1859) herrſchend.
Transformismus. Goethe. Daß die herrſchenden Vor - ſtellungen von der abſoluten Beſtändigkeit und übernatürlichen Schöpfung der organiſchen Arten tiefer denkende Forſcher nicht befriedigen konnten, iſt leicht einzuſehen. Daher finden wir denn ſchon in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einzelne hervorragende Geiſter mit Verſuchen beſchäftigt, zu einer natur - gemäßen Löſung des großen „ Schöpfungs-Problems “zu gelangen. Allen voran war unſer größter Dichter und Denker Wolfgang Goethe durch ſeine vieljährigen und eifrigen morphologiſchen Studien bereits vor mehr als hundert Jahren zu der klaren Einſicht in den inneren Zuſammenhang aller organiſchen Formen und zu der feſten Ueberzeugung eines gemeinſamen natürlichen Urſprungs gelangt. In ſeiner berühmten „ Metamorphoſe der Pflanzen “(1790) leitete er alle verſchiedenen Formen der Ge - wächſe von einer Urpflanze ab, und alle verſchiedenen Organe derſelben von einem Urorgane, dem Blatt. In ſeiner Wirbel - theorie des Schädels verſuchte er zu zeigen, daß die Schädel87V. Umbildungslehre von Goethe.aller verſchiedenen Wirbelthiere — mit Inbegriff des Menſchen! — in gleicher Weiſe aus beſtimmt geordneten Knochen-Gruppen zuſammengeſetzt ſeien und daß dieſe letzteren nichts Anderes ſeien, als umgebildete Wirbel. Grade ſeine eingehenden Studien über vergleichende Oſteologie hatten Goethe zu der feſten Ueber - zeugung von der Einheit der Organiſation geführt; er hatte erkannt, daß das Knochengerüſte des Menſchen nach demſelben Typus zuſammengeſetzt ſei, wie das aller übrigen Wirbelthiere — „ geformt nach einem Urbilde, das nur in ſeinen ſehr beſtändigen Theilen mehr oder weniger hin - und herweicht und ſich noch täglich durch Fortpflanzung aus - und umbildet “—. Dieſe Um - bildung oder Transformation läßt Goethe durch die beſtändige Wechſelwirkung von zwei geſtaltenden Bildungskräften geſchehen, einer inneren Centripetalkraft des Organismus, dem „ Specifi - cations-Trieb “, und einer äußeren Centrifugalkraft, dem Varia - tions-Trieb oder der „ Idee der Metamorphoſe “; erſtere entſpricht dem, was wir heute Vererbung, letztere dem, was wir An - paſſung nennen. Wie tief Goethe durch dieſe naturphilo - ſophiſchen Studien über „ Bildung und Umbildung organiſcher Naturen “in deren Weſen eingedrungen war, und inwiefern er demnach als der bedeutendſte Vorläufer von Darwin und Lamarck betrachtet werden kann*)E. Haeckel, Die Naturanſchauung von Darwin, Goethe und Lamarck. Vortrag in Eiſenach 1882., iſt aus den intereſſanten Stellen ſeiner Werke zu erſehen, welche ich im vierten Vortrage meiner natürlichen Schöpfungsgeſchichte zuſammengeſtellt habe (neunte Auflage S. 65-68). Indeſſen kamen doch dieſe natur - gemäßen Entwickelungs-Ideen von Goethe, ebenſo wie ähnliche (ebenda citirte) Vorſtellungen von Kant, Oken, Treviranus und anderen Naturphiloſophen im Beginne unſeres Jahrhunderts nicht über gewiſſe allgemeine Ueberzeugungen hinaus. Es fehlte ihnen noch der große Hebel, deſſen die „ natürliche Schöpfungs - “88Abſtammungslehre von Lamarck. V. „ geſchichte “zu ihrer Begründung durch die Kritik des Species - Dogma bedurfte, und dieſe verdanken wir erſt Lamarck.
Deſcendenz-Theorie oder Abſtammungslehre. La - marck (1809). Den erſten eingehenden Verſuch zu einer wiſſenſchaftlichen Begründung des Transformismus unternahm im Beginne unſers 19. Jahrhunderts der große franzöſiſche Naturphiloſoph Jean Lamarck, der bedeutendſte Gegner ſeines Kollegen Cuvier in Paris. Schon 1802 hatte derſelbe in ſeinen „ Betrachtungen über die lebenden Naturkörper “die bahn - brechenden Ideen über die Unbeſtändigkeit und Umbildung der Arten ausgeſprochen, welche er dann 1809 in den zwei Bänden ſeines tiefſinnigſten Werkes, der Philoſophie zoologique, ein - gehend begründete. Hier führte Lamarck zum erſten Male — gegenüber dem herrſchenden Species-Dogma — den richtigen Gedanken aus, daß die organiſche „ Art oder Species “eine künſtliche Abſtraktion ſei, ein Begriff von relativem Werthe, ebenſo wie die übergeordneten Begriffe der Gattung, Familie, Ordnung und Klaſſe. Er behauptete ferner, daß alle Arten veränderlich und im Laufe ſehr langer Zeiträume aus älteren Arten durch Umbildung entſtanden ſeien. Die gemeinſamen Stammformen, von denen dieſelben abſtammen, waren urſprüng - lich ganz einfache und niedere Organismen; die erſten und älteſten entſtanden durch Urzeugung. Während durch Vererbung innerhalb der Generations-Reihen der Typus ſich beſtändig er - hält, werden anderſeits durch Anpaſſung, durch Gewohnheit und Uebung der Organe die Arten allmählich umgebildet. Auch unſer menſchlicher Organismus iſt auf dieſelbe natürliche Weiſe durch Umbildung aus einer Reihe von affenartigen Säugethieren entſtanden. Für alle dieſe Vorgänge, wie überhaupt für alle Er - ſcheinungen in der Natur wie im Geiſtesleben, nimmt Lamarck ausſchließlich mechaniſche, phyſikaliſche und chemiſche Vorgänge als wahre, bewirkende Urſachen an. Seine geiſtvolle Philo -89V. Begründung der Entwickelungslehre.ſophie zoologique enthält die Elemente für ein rein moniſtiſches Natur-Syſtem auf Grund der Entwickelungslehre. Ich habe dieſe Verdienſte Lamarck's im vierten Vortrage meiner Anthropo - genie (vierte Auflage S. 63) und im fünften Vortrage der Natürlichen Schöpfung (neunte Auflage S. 89) eingehend erörtert.
Man hätte erwarten ſollen, daß dieſer großartige Verſuch, die Abſtammungslehre oder Deſcendenz-Theorie wiſſenſchaftlich zu begründen, alsbald den herrſchenden Mythus von der Species - Schöpfung erſchüttert und einer natürlichen Entwickelungslehre Bahn gebrochen hätte. Indeſſen vermochte Lamarck gegen - über der konſervativen Autorität ſeines großen Gegners Cuvier ebenſo wenig durchzudringen, wie zwanzig Jahre ſpäter ſein College und Geſinnungsgenoſſe Géoffroy St. Hilaire. Die berühmten Kämpfe, welche dieſer Naturphiloſoph 1830 im Schooße der Pariſer Akademie mit Cuvier zu beſtehen hatte, endigten mit einem vollſtändigen Siege des Letzteren. Ich habe dieſe Kämpfe, an welchen Goethe ſo lebhaften Antheil nahm, ſchon früher ausführlich beſprochen (N. S. S. 77-80). Die mächtige Entfaltung, welche zu jener Zeit das empiriſche Studium der Biologie fand, die Fülle von intereſſanten Entdeckungen auf den Gebieten der vergleichenden Anatomie und Phyſiologie, die Be - gründung der Zellentheorie und die Fortſchritte der Ontogenie gaben den Zoologen und Botanikern einen ſolchen Ueberfluß von dankbarem Arbeits-Material, daß darüber die ſchwierige und dunkle Frage nach der Entſtehung der Arten ganz vergeſſen wurde. Man beruhigte ſich bei dem althergebrachten Schöpfungs - Dogma. Selbſt nachdem der große engliſche Naturforſcher Charles Lyell 1830 in ſeinen Principien der Geologie die abenteuerliche Kataſtrophen-Theorie von Cuvier widerlegt und für die anorganiſche Natur unſers Planeten einen natürlichen und kontinuirlichen Entwickelungsgang nachgewieſen hatte, fand ſein einfaches Kontinuitäts-Princip auf die organiſche Natur90Selektionslehre von Darwin. V. keine Anwendung. Die Anfänge der natürlichen Phylogenie, welche in Lamarck's Werke verborgen lagen, wurden ebenſo vergeſſen, wie die Keime zu einer natürlichen Ontogenie, welche 50 Jahre früher (1759) Caſpar Friedrich Wolff in ſeiner Theorie der Generation gegeben hatte. Hier wie dort verfloß ein volles halbes Jahrhundert, ehe die bedeutendſten Ideen über natürliche Entwickelung die gebührende Anerkennung fanden. Erſt nachdem Darwin 1859 die Löſung des Schöpfungs-Problems von einer ganz anderen Seite angefaßt und den reichen, inzwiſchen angeſammelten Schatz von empiriſchen Kenntniſſen glücklich dazu verwerthet hatte, fing man an, ſich auf Lamarck, als ſeinen bedeutendſten Vorgänger, wieder zu beſinnen.
Selektions-Theorie. Darwin (1859). Der beiſpielloſe Erfolg von Charles Darwin iſt allbekannt; er läßt ihn heute, am Schluſſe des Jahrhunderts, wenn nicht als den größten, ſo doch als den wirkungsvollſten Naturforſcher deſſelben erſcheinen. Denn kein anderer von den zahlreichen großen Geiſtes - helden unſerer Zeit hat mit einem einzigen claſſiſchen Werke einen ſo gewaltigen, ſo tiefgehenden und ſo umfaſſenden Erfolg erzielt, wie Darwin 1859 mit ſeinem berühmten Hauptwerk: „ Ueber die Entſtehung der Arten im Thier - und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Raſſen im Kampfe um's Daſein. “ Gewiß hat die Reform der vergleichenden Anatomie und Phyſiologie durch Johannes Müller der ganzen Biologie eine neue, fruchtbare Epoche eröffnet, gewiß waren die Begründung der Zellen-Theorie durch Schleiden und Schwann, die Reform der Ontogenie durch Baer, die Begründung des Subſtanz-Geſetzes durch Robert Mayer und Helmholtz wiſſenſchaftliche Großthaten erſten Ranges; aber keine von ihnen hat nach Tiefe und Ausdehnung eine ſo gewaltige, unſer ganzes menſchliches Wiſſen umgeſtaltende Wirkung ausgeübt, wie Darwin's Theorie von der natürlichen91V. Begründung des Darwinismus.Entſtehung der Arten. Denn damit war ja das myſtiſche „ Schöpfungs-Problem “gelöſt, und mit ihm die inhalts - ſchwere „ Frage aller Fragen “, das Problem vom wahren Weſen und von der Entſtehung des Menſchen ſelbſt.
Vergleichen wir die beiden großen Begründer des Trans - formismus, ſo finden wir bei Lamarck überwiegende Neigung zur Deduktion und zum Entwurfe eines vollſtändigen mo - niſtiſchen Naturbildes, bei Darwin hingegen vorherrſchende Anwendung der Induktion und das vorſichtige Bemühen, die einzelnen Theile der Deſcendenz-Theorie durch Beobachtung und Experiment möglichſt ſicher zu begründen. Während der fran - zöſiſche Naturphiloſoph den damaligen Kreis des empiriſchen Wiſſens weit überſchritt und eigentlich das Programm der zu - künftigen Forſchung entwarf, hatte der engliſche Experimentator umgekehrt den großen Vortheil, das einigende Erklärungs-Princip für eine Maſſe von empiriſchen Kenntniſſen zu begründen, die bis dahin unverſtanden ſich angehäuft hatten. So erklärt es ſich, daß der Erfolg von Darwin ebenſo überwältigend, wie derjenige von Lamarck verſchwindend war. Darwin hatte aber nicht allein das große Verdienſt, die allgemeinen Ergebniſſe der verſchiedenen biologiſchen Forſchungskreiſe in dem gemein - ſamen Brennpunkte des Deſcendenz-Princips zu ſammeln und dadurch einheitlich zu erklären, ſondern er entdeckte auch in dem Selektions-Princip jene direkte Urſache der Transforma - tion, welche Lamarck noch gefehlt hatte. Indem Darwin als praktiſcher Thierzüchter die Erfahrungen der künſtlichen Zucht - wahl auf die Organismen im freien Naturzuſtande anwendete und in dem „ Kampf um's Daſein “das ausleſende Princip der natürlichen Zuchtwahl entdeckte, ſchuf er ſeine bedeutungs - volle Selektionstheorie, den eigentlichen Darwinismus*)Arnold Lang, Zur Charakteriſtik der Forſchungswege von Lamarck und Darwin. Jena 1889..
92Begründung der Stammesgeſchichte. V.Stammesgeſchichte (Phylogenie) (1866). Unter den zahl - reichen und wichtigen Aufgaben, welche Darwin der modernen Biologie ſtellte, erſchien als eine der nächſten die Reform des zoologiſchen und botaniſchen Syſtems. Wenn die unzähligen Thier - und Pflanzen-Arten nicht durch übernatürliche Wunder „ erſchaffen “, ſondern durch natürliche Umbildung „ entwickelt “waren, ſo ergab ſich das „ natürliche Syſtem “derſelben als ihr Stammbaum. Den erſten Verſuch, das Syſtem in dieſem Sinne umzugeſtalten, unternahm ich ſelbſt (1866) in meiner „ Generellen Morphologie der Organismen “. Der erſte Band dieſes Werkes (Allgemeine Anatomie) behandelte die „ mechaniſche Wiſſenſchaft von den entwickelten Formen “, der zweite Band (Allgemeine Entwickelungsgeſchichte) diejenige von den „ entſtehenden Formen “. Die ſyſtematiſche Einleitung in die letztere bildete eine „ Genealogiſche Ueberſicht des natürlichen Syſtems der Organismen “. Bis dahin hatte man unter „ Ent - wickelungsgeſchichte “ſowohl in der Zoologie als in der Botanik ausſchließlich diejenige der organiſchen Individuen verſtanden (Embryologie und Metamorphoſen-Lehre). Ich be - gründete dagegen die Anſicht, daß dieſer Keimesgeſchichte (Ontogenie) als zweiter, gleichberechtigter und eng verbundener Zweig die Stammesgeſchichte (Phylogenie) gegenüberſtehe. Beide Zweige der Entwickelungsgeſchichte ſtehen nach meiner Auffaſſung im engſten kauſalen Zuſammenhang; dieſer beruht auf der Wechſelwirkung der Vererbungs - und Anpaſſungs-Geſetze; er fand ſeinen präciſen und umfaſſenden Ausdruck in meinem „ biogenetiſchen Grundgeſetze “.
Natürliche Schöpfungsgeſchichte (1868). Da die neuen, in der „ Generellen Morphologie “niedergelegten Anſchauungen trotz ihrer ſtreng wiſſenſchaftlichen Faſſung bei den ſachkundigen Fachgenoſſen ſehr wenig Beachtung und noch weniger Beifall fanden, verſuchte ich, den wichtigſten Theil derſelben in einem93V. Natürliche Schöpfungsgeſchichte.kleineren, mehr populär gehaltenen Werke einem größeren, ge - bildeten Leſerkreiſe zugänglich zu machen. Dies geſchah 1868 in der „ Natürlichen Schöpfungsgeſchichte “(Gemeinverſtändliche wiſſenſchaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im All - gemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Beſonderen). Wenn der gehoffte Erfolg der „ Generellen Mor - phologie “weit unter meiner berechtigten Erwartung blieb, ſo ging umgekehrt derjenige der „ Natürlichen Schöpfungsgeſchichte “weit über dieſelbe hinaus. Es erſchienen im Laufe von 30 Jahren neun umgearbeitete Auflagen und zwölf verſchiedene Ueberſetzungen von derſelben. Trotz ſeiner großen Mängel hat dieſes Buch doch viel dazu beigetragen, die Grundgedanken unſerer modernen Entwickelungslehre in weiteren Kreiſen zu verbreiten. Allerdings konnte ich meinen Hauptzweck, die phylogenetiſche Umbildung des natürlichen Syſtems, dort nur in allgemeinen Umriſſen an - deuten. Indeſſen habe ich die ausführliche, dort vermißte Be - gründung des phylogenetiſchen Syſtems ſpäter in einem größeren Werke nachgeholt, in der „ Syſtematiſchen Phylogenie “(Entwurf eines natürlichen Syſtems der Organismen auf Grund ihrer Stammesgeſchichte). Der erſte Band derſelben (1894) be - handelt die Protiſten und Pflanzen, der zweite (1896) die wirbel - loſen Thiere, der dritte (1895) die Wirbelthiere. Die Stamm - bäume der kleineren und größeren Gruppen ſind hier ſo weit ausgeführt, als es mir meine Kenntniß der drei großen „ Stammesurkunden “geſtattete, der Palaeontologie, Ontogenie und Morphologie.
Biogenetiſches Grundgeſetz. Den engen, urſächlichen Zu - ſammenhang, welcher nach meiner Ueberzeugung zwiſchen beiden Zweigen der organiſchen Entwickelungsgeſchichte beſteht, hatte ich ſchon in der Generellen Morphologie (am Schluſſe des fünften Buches) als einen der wichtigſten Begriffe des Transformismus hervorgehoben und einen präciſen Ausdruck dafür in mehreren94Biogenetiſches Grundgeſetz. V. „ Theſen von dem Kauſal-Nexus der biontiſchen und der phyle - tiſchen Entwickelung “gegeben: „ Die Ontogeneſis iſt eine kurze und ſchnelle Rekapitulation der Phylo - geneſis, bedingt durch die phyſiologiſchen Funktionen der Ver - erbung (Fortpflanzung) und Anpaſſung (Ernährung) “. Schon Darwin hatte (1859) die große Bedeutung ſeiner Theorie für die Erklärung der Embryologie betont, und Fritz Müller hatte dieſelbe (1864) an dem Beiſpiele einer einzelnen Thier - klaſſe, den Kruſtaceen, nachzuweiſen verſucht, in der geiſtvollen kleinen Schrift: „ Für Darwin “(1864). Ich ſelbſt habe dann die allgemeine Geltung und die fundamentale Bedeutung jenes biogenetiſchen Grundgeſetzes in einer Reihe von Arbeiten nachzuweiſen verſucht, insbeſondere in der Biologie der Kalk - ſchwämme (1872) und in den „ Studien zur Gaſträa-Theorie “(1873-1884). Die dort aufgeſtellte Lehre von der Homologie der Keimblätter, ſowie von den Verhältniſſen der Palingenie (Auszugsgeſchichte) und der Cenogenie (Störungs - geſchichte) iſt ſeitdem durch zahlreiche Arbeiten anderer Zoo - logen beſtätigt worden; durch ſie iſt es möglich geworden, die natürlichen Geſetze der Einheit in der mannichfaltigen Keimes - geſchichte der Thiere nachzuweiſen; für ihre Stammesgeſchichte ergiebt ſich daraus die gemeinſame Ableitung von einer einfachſten urſprünglichen Stammform.
Anthropogenie (1874). Der weitſchauende Begründer der Abſtammungslehre, Lamarck, hatte ſchon 1809 richtig erkannt, daß dieſelbe allgemeine Geltung beſitze und daß alſo auch der Menſch, als das höchſt entwickelte Säugethier, von demſelben Stamme abzuleiten ſei, wie alle anderen Mammalien, und dieſe weiter hinauf von demſelben älteren Zweige des Stammbaums, wie die übrigen Wirbelthiere. Er hatte auch ſchon auf die Vorgänge hingewieſen, durch welche die Abſtammung des Menſchen vom Affen, als dem nächſtverwandten Säuge -95V. Begründung der Anthropogenie.thiere, wiſſenſchaftlich erklärt werden könne. Darwin, der naturgemäß zu derſelben Ueberzeugung gelangt war, ging in ſeinem Hauptwerk (1859) über dieſe anſtößigſte Folgerung ſeiner Lehre abſichtlich hinweg und hat dieſelbe erſt ſpäter (1871) in einem zweibändigen Werke über „ Die Abſtammung des Menſchen und die geſchlechtliche Zuchtwahl “geiſtreich ausgeführt. In - zwiſchen hatte aber ſchon ſein Freund Huxley (1863) jenen wichtigſten Folgeſchluß der Abſtammungslehre ſehr ſcharfſinnig erörtert in ſeiner berühmten kleinen Schrift über die „ Zeugniſſe für die Stellung des Menſchen in der Natur “. An der Hand der vergleichenden Anatomie und Ontogenie, und geſtützt auf die Thatſachen der Paläontologie zeigte Huxley, daß die „ Ab - ſtammung des Menſchen vom Affen “eine nothwendige Conſe - quenz des Darwinismus ſei, und daß eine andere wiſſenſchaftliche Erklärung von der Entſtehung des Menſchengeſchlechts überhaupt nicht gegeben werden könne. Dieſe Ueberzeugung theilte auch damals ſchon Carl Gegenbaur, der bedeutendſte Vertreter der vergleichenden Anatomie, welcher dieſe wichtige Wiſſenſchaft durch die conſequente und ſcharfſinnige Anwendung der Deſcen - denz-Theorie auf eine höhere Stufe erhoben hat.
Als weitere Folgerung dieſer Pithecoiden-Theorie (oder „ Affen-Abſtammungslehre “des Menſchen) ergab ſich die ſchwierige Aufgabe, nicht nur die nächſtverwandten Säugethier - Ahnen des Menſchen in der Tertiär-Zeit zu erforſchen, ſondern auch die lange Reihe der älteren thieriſchen Vorfahren, welche in früheren Zeiträumen der Erdgeſchichte gelebt und während ungezählter Jahr-Millionen ſich entwickelt hatten. Die hypothetiſche Löſung dieſer großen hiſtoriſchen Aufgabe hatte ich ſchon 1866 in der Generellen Morphologie zu beginnen ver - ſucht; weiter ausgeführt habe ich dieſelbe 1874 in meiner Anthropogenie (I. Theil: Keimesgeſchichte, II. Theil: Stammesgeſchichte). Die vierte umgearbeitete Auflage dieſes96Begründung der Anthropogenie. V. Buches (1891) enthält diejenige Darſtellung der Entwickelungs - geſchichte des Menſchen, welche bei dem gegenwärtigen Zuſtande unſerer Urkunden-Kenntniß ſich dem fernen Ziele der Wahrheit nach meiner perſönlichen Auffaſſung am meiſten nähert; ich war dabei ſtets bemüht, alle drei empiriſchen Urkunden, die Palä - ontologie, Ontogenie und Morphologie (oder ver - gleichende Anatomie), möglichſt gleichmäßig und im Zuſammen - hange zu benutzen. Sicher werden die hier gegebenen Deſcendenz - Hypotheſen im Einzelnen durch ſpätere phylogenetiſche Forſchungen vielfach ergänzt und berichtigt werden; aber eben ſo ſicher ſteht für mich die Ueberzeugung, daß der dort entworfene Stufengang der menſchlichen Stammesgeſchichte im Großen und Ganzen der Wahrheit entſpricht. Denn die hiſtoriſche Reihenfolge der Wirbelthier-Verſteinerungen entſpricht vollſtändig der morphologiſchen Entwickelungsreihe, welche uns die ver - gleichende Anatomie und Ontogenie enthüllt: auf die ſiluriſchen Fiſche folgen die devoniſchen Lurchfiſche, die carboniſchen Am - phibien, die permiſchen Reptilien und die meſozoiſchen Säuge - thiere; von dieſen erſcheinen wiederum zunächſt in der Trias die niederſten Formen, die Gabelthiere (Monotremen), dann im Jura die Beutelthiere (Marſupialien), und darauf in der Kreide die älteſten Zottenthiere (Placentalien). Von dieſen letzteren treten wieder zunächſt in der älteſten Tertiär-Zeit (Eocaen) die niederſten Primaten-Ahnen auf, die Halbaffen, darauf (in der Miocän-Zeit) die echten Affen, und zwar von den Catarrhinen zuerſt die Hundsaffen (Cynopitheken), ſpäter die Menſchenaffen (Anthropo - morphen); aus einem Zweige dieſer letzteren iſt erſt während der Pliocän-Zeit der ſprachloſe Affenmenſch entſtanden (Pithe - canthropuſ alaluſ), und aus dieſem endlich der ſprechende Menſch.
Viel ſchwieriger und unſicherer als dieſe Kette unſerer Wirbelthier-Ahnen iſt diejenige der vorhergehenden wirbel -97V. Affen-Abſtammung des Menſchen.loſen Ahnen zu erforſchen; denn von ihren weichen, ſkelettloſen Körpern kennen wir keine verſteinerten Ueberreſte; die Palä - ontologie kann uns hier keinerlei Zeugniß liefern. Um ſo wich - tiger werden hier die Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie. Da der menſchliche Keim denſelben Chordula - Zuſtand durchläuft wie der Embryo aller anderen Wirbelthiere, da er ſich ebenſo aus zwei Keimblättern einer Gaſtrula ent - wickelt, ſchließen wir nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze auf die frühere Exiſtenz entſprechender Ahnen-Formen (Vermalien, Gaſtraeaden). Vor Allem wichtig aber iſt die fundamentale Thatſache, daß auch der Keim des Menſchen, gleich demjenigen aller anderen Thiere, ſich urſprünglich aus einer einfachen Zelle entwickelt; denn dieſe Stammzelle (Cytula) — die „ befruch - tete Eizelle “— weiſt zweifellos auf eine entſprechende einzellige Stammform hin, ein uraltes (laurentiſches) Protozoon.
Für unſere moniſtiſche Philoſophie iſt es übrigens zunächſt ziemlich gleichgültig, wie ſich im Einzelnen die Stufen - reihe unſerer thieriſchen Vorfahren noch ſicherer feſtſtellen laſſen wird. Für ſie bleibt als ſichere hiſtoriſche Thatſache die folgenſchwere Erkenntniß beſtehen, daß der Menſch zu - nächſt vom Affen abſtammt, weiterhin von einer langen Reihe niederer Wirbelthiere. Die logiſche Begründung dieſes Pithekometra-Satzes habe ich ſchon 1866 im ſiebenten Buche der „ Generellen Morphologie “betont (S. 427): „ Der Satz, daß der Menſch ſich aus niederen Wirbelthieren, und zwar zunächſt aus echten Affen, entwickelt hat, iſt ein ſpecieller Deduktions-Schluß, welcher ſich aus dem generellen Induktions-Geſetze der Deſcendenz - Theorie mit abſoluter Nothwendigkeit ergiebt. “
Von größter Bedeutung für die definitive Feſtſtellung und Anerkennung dieſes fundamentalen Pithekometra-Satzes ſind die paläontologiſchen Entdeckungen der letzten drei Decennien geworden; insbeſondere haben uns die überraſchendenHaeckel, Welträthſel. 798Unſere Abſtammung von Zottenthieren. V. Funde von zahlreichen ausgeſtorbenen Säugethieren der Tertiär - Zeit in den Stand geſetzt, die Stammesgeſchichte dieſer wichtigſten Thierklaſſe, von den niederſten, eierlegenden Monotremen bis zum Menſchen hinauf, in ihren Grundzügen klarzulegen. Die vier Hauptgruppen der Zottenthiere oder Placentalia, die formen - reichen Legionen der Raubthiere, Nagethiere, Hufthiere und Herrenthiere, erſcheinen durch tiefe Klüfte getrennt, wenn wir nur die heute noch lebenden Epigonen als Vertreter derſelben in's Auge faſſen. Dieſe Klüfte werden aber vollkommen ausgefüllt und die ſcharfen Unterſchiede der vier Legionen gänzlich ver - wiſcht, wenn wir ihre tertiären, ausgeſtorbenen Vorfahren ver - gleichen, und wenn wir bis in die eocäne Geſchichts-Dämmerung der älteſten Tertiär-Zeit hinabſteigen (mindeſtens drei Millionen Jahre zurückliegend!). Da finden wir die große Unterklaſſe der Zottenthiere, die heute mehr als 2500 Arten umfaßt, nur durch eine geringe Zahl von kleinen und unbedeutenden „ Urzotten - thieren “vertreten; und in dieſen Prochoriaten erſcheinen die Charaktere jener vier divergenten Legionen ſo gemiſcht und ver - wiſcht, daß wir ſie vernünftiger Weiſe nur als gemeinſame Vorfahren derſelben deuten können. Die älteſten Raubthiere (Ictopſaleſ), die älteſten Nagethiere (Eſthonychaleſ), die älteſten Hufthiere (Condylarthraleſ) und die älteſten Herrenthiere (Le - muravaleſ) beſitzen alle im Weſentlichen dieſelbe Bildung des Knochen-Gerüſtes und daſſelbe typiſche Gebiß der urſprüng - lichen Placentalien mit 44 Zähnen (in jeder Kieferhälfte drei Schneidezähne, ein Eckzahn, vier Lückenzähne und drei Mahl - zähne); ſie zeichnen ſich alle durch die geringe Größe und die unvollkommene Bildung ihres Gehirns aus (beſonders des wich - tigſten Theiles, der Großhirnrinde, die ſich erſt ſpäter bei den miocänen und pliocänen Epigonen zum wahren „ Denkorgane “entwickelt hat!); ſie haben alle kurze Beine und fünfzehige Füße, die mit der flachen Sohle auftreten (Plantigrada). Bei manchen99V. Unſere Abſtammung von Herrenthieren.dieſer älteſten Zottenthiere der Eocän-Zeit war es Anfangs zweifelhaft, ob man ſie zu den Raubthieren oder Nagethieren, zu den Hufthieren oder Herrenthieren ſtellen ſolle; ſo ſehr nähern ſich hier unten dieſe vier großen, ſpäter ſo ſehr verſchiedenen Legionen der Placentalien bis zur Berührung. Unzweifelhaft folgt daraus ihr gemeinſamer Urſprung aus einer einzigen Stammgruppe; dieſe Prochoriata lebten ſchon in der vorher - gehenden Kreide-Periode (vor mehr als drei Jahr-Millionen!) und ſind wahrſcheinlich in der Jura-Periode aus einer Gruppe von inſektenfreſſenden Beutelthieren (Amphitheria) durch Ausbildung einer primitiven Placenta diffuſa entſtanden, einer Zottenhaut einfachſter Art.
Die wichtigſten aber von allen neueren paläontologiſchen Entdeckungen, welche die Stammesgeſchichte der Zottenthiere aufgeklärt haben, betreffen unſeren eigenen Stamm, die Legion der Herrenthiere (Primateſ). Früher waren verſteinerte Reſte derſelben äußerſt ſelten. Noch Cuvier, der große Gründer der Paläontologie, behauptete bis zu ſeinem Tode (1832), daß es keine Verſteinerungen von Primaten gäbe; zwar hatte er ſelbſt ſchon den Schädel eines eocänen Halbaffen (Adapiſ) be - ſchrieben, ihn aber irrthümlich für ein Hufthier gehalten. In den letzten beiden Decennien ſind aber gut erhaltene, verſteinerte Skelette von Halbaffen und Affen in ziemlicher Zahl entdeckt worden; darunter befinden ſich alle die wichtigen Zwiſchenglieder, welche eine zuſammenhängende Ahnen-Kette von den älteſten Halbaffen bis zum Menſchen hinauf darſtellen.
Der berühmteſte und intereſſanteſte von dieſen foſſilen Funden iſt der verſteinerte Affenmenſch von Java, welchen der holländiſche Militär-Arzt Eugen Dubois 1894 entdeckt hat, der vielbeſprochene Pithecanthropuſ erectuſ. Er iſt in der That das vielgeſuchte „ Miſſing link “, das angeblich „ fehlende Glied “in der Primaten-Kette, welche ſich ununter -7*100Der foſſile Affenmenſch. V. brochen vom niederſten katarrhinen Affen bis zum höchſt ent - wickelten Menſchen hinaufzieht. Ich habe die hohe Bedeutung, welche dieſer merkwürdige Fund beſitzt, ausführlich erörtert in dem Vortrage „ Ueber unſere gegenwärtige Kenntniß vom Ur - ſprung des Menſchen “, welchen ich am 26. Auguſt 1898 auf dem vierten Internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge ge - halten habe. Der Paläontologe, welcher die Bedingungen für Bildung und Erhaltung von Verſteinerungen kennt, wird die Entdeckung des Pithekanthropus als einen beſonders glücklichen Zufall betrachten. Denn als Baumbewohner kommen die Affen nach ihrem Tode (wenn ſie nicht zufällig ins Waſſer fallen) nur ſelten unter Verhältniſſe, welche die Erhaltung und Verſteinerung ihres Knochengerüſtes geſtatten. Durch den Fund dieſes foſſilen Affenmenſchen von Java iſt alſo auch von Seiten der Palä - ontologie die „ Abſtammung des Menſchen vom Affen “ebenſo klar und ſicher bewieſen, wie es früher ſchon durch die Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie geſchehen war; wir beſitzen jetzt alle Haupt-Urkunden unſerer Stammes - geſchichte.
Moniſtiſche Studien über den Begriff der Pſyche. Aufgaben und Methoden der wiſſenſchaftlichen Pſychologie. Pſychologiſche Metamorphoſen.
‘„ Die pſychologiſchen Unterſchiede zwiſchen dem Menſchen und den Menſchenaffen ſind geringer als die entſprechenden Unterſchiede zwiſchen den Menſchenaffen und den niedrigſten Affen. Und dieſe phyſiologiſche Thatſache entſpricht genau dem anatomiſchen Befunde, welchen uns die betreffen - den Unterſchiede im Bau der Großhirnrinde, des wichtigſten ‚ Seelenorgans, ‘darbieten. — Wenn nun trotzdem auch heute noch in den weiteſten Kreiſen die Menſchen-Seele als ein beſonderes ‚ Weſen‘ betrachtet und als wichtigſtes Zeugniß gegen die verrufene ‚ Abſtammung des Men - ſchen vom Affen‘ in den Vordergrund geſtellt wird, ſo erklärt ſich das einerſeits aus dem tiefen Zuſtande der ſogenannten ‚ Pſychologie‘, anderſeits aus dem weit verbreiteten Aberglauben an die Unſterblichkeit der Seele. “’ (Cambridge-Vortrag über den Urſprung des Menſchen (1898). )[102]Fundamentale Bedeutung der Pſychologie. Begriff und Methoden derſelben. Gegenſätze der Anſichten darüber. Dualiſtiſche und moniſtiſche Pſychologie. Verhältniß zum Subſtanz-Geſetz. Begriffs-Verwirrung. Pſychologiſche Metamorphoſen: Kant, Virchow, Du Bois-Reymond. Er - kenntnißwege der Seelenkunde. Introſpektive Methode (Selbſtbeobachtung). Exakte Methode (Pſychophyſik). Vergleichende Methode (Thier-Pſychologie). Pſychologiſcher Principien-Wechſel, Wundt. Völker-Pſychologie und Ethno - graphie, Baſtian. Ontogenetiſche Pſychologie, Preyer. Phylogenetiſche Pſychologie, Darwin, Romanes.
Julien Lamettrie, Naturgeſchichte der Seele. Haag 1745.
Herbert Spencer, Principien der Pſychologie. Stuttgart 1881.
Wilhelm Wundt, Grundriß der Pſychologie. Leipzig 1898.
Theodor Ziehen, Leitfaden der phyſiologiſchen Pſychologie. Jena 1891. Zweite Auflage 1898.
Hugo Münſterberg, Ueber Aufgaben und Methoden der Pſychologie. Leipzig 1891.
Leopold Beſſer, Was iſt Empfindung? Bonn 1881.
Albrecht Rau, Empfinden und Denken. Eine phyſiologiſche Unterſuchung über die Natur des menſchlichen Verſtandes. Gießen 1896.
Paul Caruſ, The Soul of Man. An Inveſtigation of the factſ of phyſiological and experimental Pſychology. Chicago 1891.
Auguſt Forel, Gehirn und Seele (Vortrag in Wien). Vierte Auflage. Bonn 1894.
Adalbert Svoboda, Der Seelenwahn. Geſchichtliches und Philoſophiſches. Leipzig 1886.
Die Erſcheinungen, welche man allgemein unter dem Begriffe des Seelenlebens oder der pſychiſchen Thätigkeit zuſammen - faßt, ſind unter allen uns bekannten Phänomenen einerſeits die wichtigſten und intereſſanteſten, anderſeits die verwickeltſten und räthſelhafteſten. Da die Natur-Erkenntniß ſelbſt, die Aufgabe unſerer vorliegenden philoſophiſchen Studien, ein Theil des Seelenlebens iſt, und da mithin auch die Anthropologie, ebenſo wie die Kosmologie, eine richtige Erkenntniß der „ Pſyche “zur Vorausſetzung hat, ſo kann man die Pſychologie, die wirklich wiſſenſchaftliche Seelenlehre, auch als das Fundament und als die Vorausſetzung aller anderen Wiſſenſchaften anſehen; von der anderen Seite betrachtet, iſt ſie wieder ein Theil der Philoſophie oder der Phyſiologie oder der Anthropologie.
Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen Begründung liegt nun aber darin, daß die Pſychologie wiederum die genaue Kenntniß des menſchlichen Organismus vorausſetzt und vor Allem des Gehirns, als des wichtigſten Organs des Seelenlebens. Die große Mehrzahl der ſogenannten „ Pſycho - logen “beſitzt jedoch von dieſen anatomiſchen Grundlagen der Pſyche nur ſehr unvollſtändige oder gar keine Kenntniß, und ſo erklärt ſich die bedauerliche Thatſache, daß in keiner anderen Wiſſenſchaft ſo widerſprechende und unhaltbare Vorſtellungen über ihren eigenen Begriff und ihre weſentliche Aufgabe herrſchen,104Methoden der Pſychologie. VI. wie in der Pſychologie. Dieſe Konfuſion iſt in den letzten drei Decennien um ſo fühlbarer hervorgetreten, je mehr die groß - artigen Fortſchritte der Anatomie und Phyſiologie unſere Kennt - niß vom Bau und von den Funktionen des wichtigſten Seelen - Organs erweitert haben.
Methoden der Seelenforſchung. Nach meiner Ueber - zeugung iſt das, was man die „ Seele “nennt, in Wahrheit eine Natur-Erſcheinung; ich betrachte daher die Pſycho - logie als einen Zweig der Naturwiſſenſchaft — und zwar der Phyſiologie. Demzufolge muß ich von vornherein betonen, daß wir für dieſelbe keine anderen Forſchungswege zulaſſen können als in allen übrigen Naturwiſſenſchaften; d. h. in erſter Linie die Beobachtung und das Experiment, in zweiter Linie die Entwickelungsgeſchichte und in dritter Linie die meta - phyſiſche Spekulation, welche durch induktive und deduktive Schlüſſe möglichſt dem unbekannten „ Weſen “der Erſcheinung ſich zu nähern ſucht. Mit Bezug auf die principielle Beurthei - lung deſſelben aber müſſen wir zunächſt gerade hier den Gegen - ſatz der dualiſtiſchen und der moniſtiſchen Auffaſſung ſcharf in's Auge faſſen.
Dualiſtiſche Pſychologie. Die allgemein herrſchende Auf - faſſung des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet Seele und Leib als zwei verſchiedene „ Weſen “. Dieſe beiden Weſen können unabhängig von einander exiſtiren und ſind nicht noth - wendig an einander gebunden. Der organiſche Leib iſt ein ſterbliches, materielles Weſen, chemiſch zuſammengeſetzt aus lebendigem Plasma und den von dieſem erzeugten Verbindungen (Plasma-Produkten). Die Seele hingegen iſt ein unſterbliches, immaterielles Weſen, ein ſpirituelles Agens, deſſen räthſel - hafte Thätigkeit uns völlig unbekannt iſt. Dieſe triviale Auf - faſſung iſt als ſolche ſpiritualiſtiſch und ihr principielles Gegentheil in gewiſſem Sinne materialiſtiſch. Sie iſt zugleich transſcendent105VI. Dualiſtiſche und moniſtiſche Pſychologie.und ſupranaturaliſtiſch; denn ſie behauptet die Exiſtenz von Kräften, welche ohne materielle Baſis exiſtiren und wirkſam ſind; ſie fußt auf der Annahme, daß außer und über der Natur noch eine „ geiſtige Welt “exiſtirt, eine immaterielle Welt, von der wir durch Erfahrung nichts wiſſen und unſerer Natur nach nichts wiſſen können.
Dieſe hypothetiſche „ Geiſteswelt “, die von der mate - riellen Körperwelt ganz unabhängig ſein ſoll, und auf deren Annahme das ganze künſtliche Gebäude der dualiſtiſchen Welt - anſchauung ruht, iſt lediglich ein Produkt der dichtenden Phan - taſie; und daſſelbe gilt von dem myſtiſchen, eng mit ihr ver - knüpften Glauben an die „ Unſterblichkeit der Seele “, deſſen wiſſenſchaftliche Unhaltbarkeit wir nachher noch beſonders darthun müſſen (im 11. Kapitel). Wenn die in dieſem Sagenkreiſe herr - ſchenden Glaubens-Vorſtellungen wirklich begründet wären, ſo müßten die betreffenden Erſcheinungen nicht dem Subſtanz - Geſetze unterworfen ſein; dieſe einzige Ausnahme von dem höchſten kosmologiſchen Grundgeſetze müßte aber erſt ſehr ſpät im Laufe der organiſchen Erdgeſchichte eingetreten ſein, da ſie nur die „ Seele “des Menſchen und der höheren Thiere betrifft. Auch das Dogma des „ freien Willens “, ein anderes weſentliches Stück der dualiſtiſchen Pſychologie, iſt mit dem univerſalen Subſtanz - Geſetze ganz unvereinbar.
Moniſtiſche Pſychologie. Die natürliche Auffaſſung des Seelenlebens, welche wir vertreten, erblickt dagegen in demſelben eine Summe von Lebens-Erſcheinungen, welche gleich allen an - deren an ein beſtimmtes materielles Subſtrat gebunden ſind. Wir wollen dieſe materielle Baſis aller pſychiſchen Thätigkeit, ohne welche dieſelbe nicht denkbar iſt, vorläufig als Pſychoplasma bezeichnen, und zwar deßhalb, weil ſie durch die chemiſche Analyſe überall als ein Körper nachgewieſen iſt, welcher zur Gruppe der Plasma-Körper gehört, d. h. jener eiweißartigen106Pſychologie und Subſtanzgeſetz. VI. Kohlenſtoff-Verbindungen, welche ſämmtlichen Lebensvorgängen zu Grunde liegen. Bei den höheren Thieren, welche ein Nerven - Syſtem und Sinnes-Organe beſitzen, iſt aus dem Pſychoplasma durch Differenzirung das Neuroplasma, die Nervenſubſtanz, entſtanden. Unſere Auffaſſung iſt in dieſem Sinne mate - rialiſtiſch. Sie iſt aber zugleich empiriſch und natura - liſtiſch; denn unſere wiſſenſchaftliche Erfahrung hat uns noch keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen Grundlage entbehren, und keine „ geiſtige Welt “, welche außer der Natur und über der Natur ſtünde.
Gleich allen anderen Natur-Erſcheinungen ſind auch die - jenigen des Seelenlebens dem oberſten, Alles beherrſchenden Subſtanzgeſetze unterworfen; es giebt auch in dieſem Ge - biete keine einzige Ausnahme von dieſem höchſten kosmologiſchen Grundgeſetze (vergl. Kap. 12). Die Vorgänge des niederen Seelen - lebens bei den einzelligen Protiſten und bei den Pflanzen — aber ebenſo auch bei den niederen Thieren —, ihre Reizbarkeit, ihre Reflex-Bewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben nach Selbſterhaltung, ſind unmittelbar bedingt durch phyſiologiſche Vorgänge in dem Plasma ihrer Zellen, durch phyſikaliſche und chemiſche Veränderungen, welche theils auf Vererbung, theils auf Anpaſſung zurückzuführen ſind. Aber ganz daſſelbe müſſen wir auch für die höheren Seelenthätigkeiten der höheren Thiere und des Menſchen behaupten, für die Bildung der Vorſtellungen und Begriffe, für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und des Bewußtſeins; denn dieſe letzteren haben ſich phylogenetiſch aus jenen erſteren entwickelt, und nur der höhere Grad der Integration oder Centraliſation, der Aſſociation oder Vereinigung der früher getrennten Funktionen erhebt ſie zu dieſer Höhe.
Begriffe der Pſychologie. In jeder Wiſſenſchaft gilt mit Recht als erſte Aufgabe die klare Begriffs-Beſtimmung des Gegenſtandes, den ſie zu erforſchen hat. In keiner Wiſſen -107VI. Begriffe der Seelenlehre.ſchaft aber iſt die Löſung dieſer erſten Aufgabe ſo ſchwierig als in der Seelenlehre, und dieſe Thatſache iſt um ſo merkwürdiger, als die Logik, die Lehre von der Begriffs-Bildung, ſelbſt nur ein Theil der Pſychologie iſt. Wenn wir Alles vergleichen, was über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angeſehenſten Philoſophen und Naturforſchern aller Zeiten geſagt worden iſt, ſo erſticken wir in einem Chaos der widerſprechendſten Anſichten. Was iſt denn eigentlich die „ Seele “? Wie verhält ſie ſich zum „ Geiſt “? Welche Bedeutung hat eigentlich das „ Be - wußtſein “? Wie unterſcheiden ſich „ Empfindung “und „ Gefühl “? Was iſt der „ Inſtinkt “? Wie verhält ſich der „ freie Wille “? Was iſt „ Vorſtellung “? Welcher Unterſchied beſteht zwiſchen „ Verſtand und Vernunft “? Und was iſt eigentlich „ Gemüth “? Welche Beziehung beſteht zwiſchen allen dieſen „ Seelen-Erſcheinungen und dem Körper “? Die Antworten auf dieſe und viele andere, ſich daran anſchließende Fragen lauten ſo verſchieden als möglich; nicht allein gehen die Anſichten der angeſehenſten Autoritäten darüber weit aus einander, ſondern auch eine und dieſelbe wiſſenſchaftliche Autorität hat oft im Laufe ihrer eigenen pſychologiſchen Entwickelung ihre Anſichten völlig verändert. Sicher hat dieſe „ pſychologiſche Metamorphoſe “vieler Denker nicht wenig zu der koloſſalen Konfuſion der Begriffe beigetragen, welche in der Seelen - lehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß herrſcht.
Pſychologiſche Metamorphoſen. Das intereſſanteſte Bei - ſpiel ſolchen totalen Wechſels der objektiven und ſubjektiven pſychologiſchen Anſchauungen liefert wohl der einflußreichſte Führer der deutſchen Philoſophie, Immanuel Kant. Der jugendliche, wirklich kritiſche Kant war zu der Ueberzeugung gelangt, daß die drei Großmächte des Myſticismus — „ Gott, Freiheit und Unſterblichkeit “— im Lichte der „ reinen Vernunft “unhaltbar erſchienen; der gealterte, dogmatiſche108Pſychologiſche Metamorphoſen. VI. Kant dagegen fand, daß dieſe drei Haupt-Geſpenſter „ Poſtulate der praktiſchen Vernunft “und als ſolche unentbehrlich ſind. Je mehr neuerdings die angeſehene Schule der Neokantianer den „ Rückgang auf Kant “als einzige Rettung aus dem ent - ſetzlichen Wirrwarr der modernen Metaphyſik predigt, deſto klarer offenbart ſich der unleugbare und unheilvolle Widerſpruch zwiſchen den Grundanſchauungen des jungen und des alten Kant; wir kommen ſpäter noch auf dieſen Dualismus zurück.
Ein intereſſantes Beiſpiel ähnlicher Wandelung bieten zwei der berühmteſten Naturforſcher der Gegenwart, R. Virchow und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphoſe ihrer pſycho - logiſchen Grundanſchauungen darf um ſo weniger überſehen werden, als beide Berliner Biologen ſeit mehr als 40 Jahren an der größten Univerſität Deutſchlands eine höchſt bedeutende Rolle geſpielt und ſowohl direkt wie indirekt einen tiefgreifenden Einfluß auf das moderne Geiſtesleben geübt haben. Rudolf Virchow, der verdienſtvolle Begründer der Cellular-Pathologie, war in der beſten Zeit ſeiner wiſſenſchaftlichen Thätigkeit, um die Mitte unſeres Jahrhunderts (und beſonders während ſeines Würzburger Aufenthalts, von 1849-1856), reiner Moniſt; er galt damals als einer der hervorragendſten Vertreter jenes neu erwachenden „ Materialismus “, der im Jahre 1855 be - ſonders durch zwei berühmte, faſt gleichzeitig erſchienene Werke eingeführt wurde: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, und Carl Vogt: Köhlerglaube und Wiſſenſchaft. Seine allgemeinen biologiſchen Anſchauungen von den Lebensvorgängen im Men - ſchen — ſämmtlich als mechaniſche Natur-Erſcheinungen auf - gefaßt! — legte damals Virchow in einer Reihe ausgezeich - neter Artikel in den erſten Bänden des von ihm herausgegebenen Archivs für pathologiſche Anatomie nieder. Wohl die bedeu - tendſte unter dieſen Abhandlungen und diejenige, in welcher er ſeine damalige moniſtiſche Weltanſchauung am klarſten109VI. Pſychologiſcher Monismus.zuſammenfaßte, iſt diejenige über „ Die Einheitsbeſtrebungen in der wiſſenſchaftlichen Medicin “(1849). Es geſchah gewiß mit Bedacht und mit der Ueberzeugung ihres philoſophiſchen Werthes, daß Virchow 1856 dieſes „ mediciniſche Glaubens-Bekenntniß “an die Spitze ſeiner „ Geſammelten Abhandlungen zur wiſſen - ſchaftlichen Medicin “ſtellte. Er vertritt darin ebenſo klar als beſtimmt die fundamentalen Principien unſeres heutigen Mo - nismus, wie ich ſie hier mit Bezug auf die Löſung der „ Welträthſel “darſtelle; er vertheidigt die alleinige Berechtigung der Erfahrungs-Wiſſenſchaft, deren einzige zuverläſſige Quellen Sinnesthätigkeit und Gehirn-Funktion ſind; er bekämpft ebenſo entſchieden den anthropologiſchen Dualismus, jede ſogenannte Offenbarung und jede „ Transſcendenz “mit ihren zwei Wegen: „ Glauben und Anthromorphismus “. Vor Allem betont er den moniſtiſchen Charakter der Anthropologie, den untrennbaren Zu - ſammenhang von Geiſt und Körper, von Kraft und Materie; am Schluſſe ſeines Vorworts ſpricht er (S. 4) den Satz aus: „ Ich habe die Ueberzeugung, daß ich mich niemals in der Lage befinden werde, den Satz von der Einheit des menſch - lichen Weſens und ſeine Konſequenzen zu verleugnen. “ Leider war dieſe „ Ueberzeugung “ein ſchwerer Irrthum; denn 28 Jahre ſpäter vertrat Virchow ganz entgegengeſetzte principielle An - ſchauungen; es geſchah dies in jener vielbeſprochenen Rede über „ Die Freiheit der Wiſſenſchaft im modernen Staate “, die er 1877 auf der Naturforſcher-Verſammlung in München hielt, und deren Angriffe ich in meiner Schrift „ Freie Wiſſenſchaft und freie Lehre “(1878) zurückgewieſen habe.
Aehnliche Widerſprüche in Bezug auf die wichtigſten philo - ſophiſchen Grundſätze wie Virchow hat auch Emil Du Bois-Reymond gezeigt und damit den lauten Beifall der dualiſtiſchen Schulen und vor Allem der Eccleſia militanſ er - rungen. Je mehr dieſer berühmte Rhetor der Berliner Akademie110Methoden der ſubjektiven Pſychologie. VI. im Allgemeinen die Grundſätze unſeres Monismus vertrat, je mehr er ſelbſt zur Widerlegung des Vitalismus und der trans - ſcendenten Lebens-Auffaſſung beigetragen hatte, deſto lauter war das Triumph-Geſchrei der Gegner, als er 1872 in ſeiner wir - kungsvollen Ignorabimus-Rede das „ Bewußtſein “als ein unlösbares Welträthſel hingeſtellt und als eine übernatürliche Erſcheinung den anderen Gehirn-Funktionen gegenüber geſtellt hatte. Ich komme ſpäter (im 10. Kapitel) darauf zurück.
Objektive und ſubjektive Pſychologie. Die eigenthümliche Natur vieler Seelen-Erſcheinungen, und vor Allem des Bewußt - ſeins, bedingt gewiſſe Abänderungen und Modifikationen unſerer naturwiſſenſchaftlichen Unterſuchungs-Methoden. Beſonders wichtig iſt hier der Umſtand, daß zu der gewöhnlichen, objektiven, äußeren Beobachtung noch die introſpektive Methode treten muß, die ſubjektive, innere Beobachtung, welche die Spiegelung unſers „ Ich “im Bewußtſein bedingt. Von dieſer „ unmittelbaren Gewißheit des Ich “gingen die meiſten Pſycho - logen aus: „ Cogito, ergo ſum! “ „ Ich denke, alſo bin Ich. “ Wir werden daher zunächſt auf dieſen Erkenntniß-Weg, und dann erſt auf die anderen, ihn ergänzenden Methoden einen Blick werfen.
Introſpektive Pſychologie (Selbſtbeobachtung der Seele). Der weitaus größte Theil aller derjenigen Kenntniſſe, welche ſeit Jahrtauſenden in unzähligen Schriften über das menſchliche Seelenleben niedergelegt ſind, beruht auf introſpektiver Seelen - forſchung, d. h. auf Selbſtbeobachtung, und auf Schlüſſen, welche wir aus der Aſſociation und Kritik dieſer ſubjektiven, „ inneren Erfahrungen “ziehen. Für einen wichtigen Theil der Seelenlehre iſt dieſer introſpektive Weg überhaupt der einzig mögliche, vor Allem für die Erforſchung des Bewußtſeins; dieſe Gehirn-Funktion nimmt daher eine ganz eigenthümliche Stellung ein und iſt mehr als jede andere die Quelle unzähliger111VI. Methoden der objektiven Pſychologie.philoſophiſcher Irrthümer geworden (vergl. Kap. 10). Es iſt aber ganz ungenügend und führt zu ganz unvollkommenen und falſchen Vorſtellungen, wenn man dieſe Selbſtbeobachtung unſeres Geiſtes als die wichtigſte oder überhaupt als die einzige Quelle ſeiner Erkenntniß betrachtet, wie es von zahlreichen und an - geſehenen Philoſophen geſchehen iſt. Denn ein großer Theil der wichtigſten Erſcheinungen im Seelenleben, vor Allem die Sinnes-Funktionen (Sehen, Hören, Riechen u. ſ. w.), ferner die Sprache, kann nur auf demſelben Wege erforſcht werden wie jede andere Lebensthätigkeit des Organismus, näm - lich erſtens durch gründliche anatomiſche Unterſuchung ihrer Organe, und zweitens durch exakte phyſiologiſche Analyſe der davon abhängigen Funktionen. Um dieſe „ äußere Beob - achtung “der Seelenthätigkeit auszuführen und dadurch die Er - gebniſſe der „ inneren Beobachtung “zu ergänzen, bedarf es aber gründlicher Kenntniſſe in Anatomie und Hiſtologie, Ontogenie und Phyſiologie des Menſchen. Von dieſen unentbehrlichen Grundlagen der Anthropologie haben nun die meiſten ſogenannten „ Pſychologen “gar keine oder nur höchſt unvollkommene Kenntniß; ſie ſind daher nicht im Stande, auch nur von ihrer eigenen Seele eine genügende Vorſtellung zu erwerben. Dazu kommt noch der ſchlimme Umſtand, daß die hochverehrte eigene Seele dieſer Pſychologen gewöhnlich die einſeitig ausgebildete (wenn auch in ihrem ſpekulativen Sport ſehr hoch entwickelte Pſyche!) eines Kulturmenſchen höchſter Raſſe darſtellt, alſo das letzte Endglied einer langen phyletiſchen Entwickelungs - reihe, deren zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr richtiges Verſtändniß unentbehrlich ſind. So erklärt es ſich, daß der größte Theil der gewaltigen pſychologiſchen Literatur heute werthloſe Makulatur iſt. Die introſpektive Methode iſt gewiß höchſt werthvoll und unentbehrlich, ſie bedarf aber durchaus der Mitwirkung und Ergänzung durch die übrigen Methoden3.
112Methoden der exakten Pſychologie. VI.Exakte Pſychologie. Je reicher im Laufe unſeres Jahr - hunderts ſich die verſchiedenen Zweige des menſchlichen Er - kenntniß-Baumes entwickelt, je mehr ſich die verſchiedenen Me - thoden der einzelnen Wiſſenſchaften vervollkommnet haben, deſto mehr iſt das Beſtreben gewachſen, dieſelben exakt zu geſtalten, d. h. die Erſcheinungen möglichſt genau empiriſch zu unter - ſuchen und die daraus abzuleitenden Geſetze thunlichſt ſcharf, wo möglich mathematiſch zu formuliren. Letzteres iſt aber nur bei einem kleinen Theile des menſchlichen Wiſſens erreichbar, vorzüglich in jenen Wiſſenſchaften, bei denen es ſich in der Hauptſache um meßbare Größen-Beſtimmungen handelt: in erſter Linie der Mathematik, ſodann der Aſtronomie, der Mechanik, überhaupt einem großen Theile der Phyſik und Chemie. Dieſe Wiſſenſchaften werden daher auch als exakte Disciplinen im engeren Sinne bezeichnet. Dagegen iſt es nicht richtig und führt nur irre, wenn man oft alle Naturwiſſenſchaften als „ exakte “betrachtet und anderen, namentlich den hiſtoriſchen und den „ Geiſteswiſſenſchaften “gegenüberſtellt. Denn ebenſo wenig als dieſe letzteren kann auch der größere Theil der Naturwiſſen - ſchaft wirklich exakt behandelt werden; ganz beſonders gilt dies von der Biologie und in dieſer wieder von der Pſychologie. Da dieſe letztere nur ein Theil der Phyſiologie iſt, muß ſie im Allgemeinen deren fundamentale Erkenntniß-Wege theilen. Sie muß die thatſächlichen Erſcheinungen des Seelenlebens möglichſt genau empiriſch begründen, durch Beobachtung und durch Experiment; und ſie muß dann die Geſetze der Pſyche aus dieſen durch induktive und deduktive Schlüſſe ableiten und möglichſt ſcharf formuliren. Allein eine mathematiſche Formulirung derſelben iſt aus leicht begreiflichen Gründen nur ſehr ſelten möglich; ſie iſt mit großem Erfolge nur bei einem Theile der Sinnes-Phyſiologie ausgeführt; dagegen für den weitaus größten Theil der Gehirn-Phyſiologie iſt ſie nicht anwendbar.
113VI. Methoden der Pſychophyſik.Pſychophyſik. Ein kleiner Theil der Pſychologie, welcher der erſtrebten „ exakten “Unterſuchung zugänglich erſcheint, iſt ſeit zwanzig Jahren mit großer Sorgfalt ſtudirt und zum Range einer beſonderen Disciplin erhoben worden unter der Bezeichnung Pſychophyſik. Die Begründer derſelben, die Phyſiologen Theodor Fechner und Ernſt Heinrich Weber in Leipzig, unterſuchten zunächſt genau die Abhängigkeit der Empfindungen von den äußeren, auf die Sinnesorgane wirkenden Reizen und beſonders das quantitative Verhältniß zwiſchen Reizſtärke und Empfindungs-Intenſität. Sie fanden, daß zur Erregung einer Empfindung eine beſtimmte minimale Reizſtärke erforderlich iſt (die „ Reizſchwelle “), und daß ein gegebener Reiz immer um einen gewiſſen Betrag (die „ Unterſchiedsſchwelle “) geändert werden muß, ehe die Empfindung ſich merklich verändert. Für die wich - tigſten Sinnes-Empfindungen (Geſicht, Gehör, Druckempfindung) gilt das Geſetz, daß ihre Aenderung derjenigen der Reizſtärke proportional iſt. Aus dieſem empiriſchen „ Weber'ſchen Geſetz “leitete Fechner durch mathematiſche Operationen ſein „ pſycho - phyſiſches Grundgeſetz “ab, wonach die Empfindungs-Intenſitäten in arithmetiſcher Progreſſion wachſen ſollen, hingegen die Reiz - ſtärken in geometriſcher Progreſſion. Indeſſen iſt dieſes Fechner'ſche Geſetz, ebenſo wie andere pſychophyſiſche „ Geſetze “mehrfach an - gegriffen und als „ nicht exakt “bezweifelt worden. Jedenfalls hat die moderne „ Pſychophyſik “die hohen Erwartungen, mit denen ſie vor zwanzig Jahren begrüßt wurde, nicht entfernt erfüllt; das Gebiet ihrer möglichen Anwendung iſt nur ſehr be - ſchränkt. Indeſſen hat ſie principiell inſofern hohen Werth, als dadurch die ſtrenge Geltung phyſikaliſcher Geſetze auf einem, wenn auch nur ſehr kleinen Gebiete des ſogenannten „ Geiſtes - lebens “dargethan wurde — eine Geltung, welche von der materialiſtiſchen Pſychologie ſchon längſt für das ganze Gebiet des Seelenlebens principiell in Anſpruch genommen war. DieHaeckel, Welträthſel. 8114Methoden der vergleichenden Pſychologie. VI. „ exakte Methode “hat ſich auch hier, wie auf vielen anderen Ge - bieten der Phyſiologie, als unzureichend und wenig fruchtbar erwieſen; ſie iſt zwar überall im Princip zu erſtreben, aber leider in den meiſten Fällen nicht anwendbar. Viel ergiebiger ſind die vergleichende und die genetiſche Methode.
Vergleichende Pſychologie. Die auffällige Aehnlichkeit, welche im Seelenleben des Menſchen und der höheren Thiere — beſonders der nächſtverwandten Säugethiere — beſteht, iſt eine altbekannte Thatſache. Die meiſten Naturvölker machen noch heute zwiſchen beiden pſychiſchen Erſcheinungsreihen keinen weſent - lichen Unterſchied, wie ſchon die allgemein verbreiteten Thier - fabeln, die alten Sagen und die Vorſtellungen von der Seelen - wanderung beweiſen. Auch die meiſten Philoſophen des klaſſiſchen Alterthums waren davon überzeugt und entdeckten zwiſchen der menſchlichen und thieriſchen Pſyche keine weſentlichen qualitativen, ſondern nur quantitative Unterſchiede. Selbſt Plato, der zuerſt den fundamentalen Unterſchied von Leib und Seele be - hauptete, ließ in ſeiner Seelenwanderung eine und dieſelbe Seele (oder „ Idee “) durch verſchiedene Thier - und Menſchen-Leiber hindurch wandern. Erſt das Chriſtenthum, welches den Unſterb - lichkeitsglauben auf's Engſte mit dem Gottesglauben verknüpfte, führte die principielle Scheidung zwiſchen der unſterblichen Menſchen-Seele und der ſterblichen Thier-Seele durch. In der dualiſtiſchen Philoſophie gelangte ſie vor Allem durch den Ein - fluß von Descartes (1643) zur Geltung; er behauptete, daß nur der Menſch eine wahre „ Seele “und ſomit Empfindung und freien Willen beſitze, daß hingegen die Thiere Automaten, Ma - ſchinen ohne Willen und Empfindung ſeien. Seitdem wurde von den meiſten Pſychologen — namentlich auch von Kant — das Seelenleben der Thiere ganz vernachläſſigt und das pſycho - logiſche Studium auf den Menſchen beſchränkt; die menſchliche, meiſtens rein introſpektive Pſychologie entbehrte der befruchtenden115VI. Methoden der Thier-Pſychologie.Vergleichung und blieb daher auf demſelben niederen Standpunkt ſtehen, welchen die menſchliche Morphologie einnahm, ehe ſie Cuvier durch die Begründung der vergleichenden Anatomie zur Höhe einer „ philoſophiſchen Naturwiſſenſchaft “erhob.
Thier-Pſychologie. Das wiſſenſchaftliche Intereſſe für das Seelenleben der Thiere wurde erſt in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts neu belebt, im Zuſammenhang mit den Fortſchritten der ſyſtematiſchen Zoologie und Phyſiologie. Be - ſonders anregend wirkte die Schrift von Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (Hamburg 1760). In - deſſen eine tiefere wiſſenſchaftliche Erforſchung wurde erſt möglich durch die fundamentale Reform der Phyſiologie, welche wir dem großen Berliner Naturforſcher Johannes Müller verdanken. Dieſer geiſtvolle Biologe, das ganze Gebiet der organiſchen Natur, Morphologie und Phyſiologie gleichmäßig umfaſſend, führte zuerſt die exakten Methoden der Beobachtung und des Verſuchs im geſammten Gebiete der Phyſiologie durch und verknüpfte ſie zugleich in genialer Weiſe mit den vergleichenden Me - thoden; er wendete dieſelben ebenſo auf das Seelenleben im weiteſten Sinne an (auf Sprache, Sinne, Gehirnthätigkeit) wie auf alle übrigen Lebens-Erſcheinungen. Das ſechſte Buch ſeines „ Handbuchs der Phyſiologie des Menſchen “(1840) handelt ſpeciell „ Vom Seelenleben “und enthält auf 80 Seiten eine Fülle der wichtigſten pſychologiſchen Betrachtungen.
In den letzten vierzig Jahren iſt eine große Anzahl von Schriften über vergleichende Pſychologie der Thiere erſchienen, großentheils veranlaßt durch den mächtigen Anſtoß, welchen 1859 Charles Darwin durch ſein Werk über den Urſprung der Arten gab, und durch die Einführung der Entwickelungs - Theorie in das pſychologiſche Gebiet. Einige der wichtigſten dieſer Schriften verdanken wir Romanes und J. Lubbock in England, W. Wundt, L. Büchner, G. Schneider,8*116Menſchenſeele und Thierſeele. VI. Fritz Schultze und Karl Groos in Deutſchland, Alfred Eſpinas und E. Jourdan in Frankreich, Tito Vignoli in Italien. (Ich habe die Titel von einigen der bedeutendſten Werke auf der Rückſeite der Kapitel-Vorblätter angeführt.)
In Deutſchland gilt gegenwärtig als einer der bedeutendſten Pſychologen Wilhelm Wundt in Leipzig; er beſitzt vor den meiſten anderen Philoſophen den unſchätzbaren Vorzug einer gründlichen zoologiſchen, anatomiſchen und phyſio - logiſchen Bildung. Früher Aſſiſtent und Schüler von Helm - holtz, hatte ſich Wundt frühzeitig daran gewöhnt, die Grund - geſetze der Phyſik und Chemie im geſammten Gebiete der Phyſiologie geltend zu machen, alſo auch im Sinne von Johannes Müller in der Pſychologie, als einem Theilgebiete der letzteren. Von dieſen Geſichtspunkten geleitet, veröffentlichte Wundt 1863 ſeine werthvollen „ Vorleſungen über die Menſchen - und Thier-Seele “. Er liefert darin, wie er ſelbſt in der Vorrede ſagt, den Nachweis, wie der Schauplatz der wichtigſten Seelen - Vorgänge in der unbewußten Seele liegt, und er eröffnet uns „ einen Einblick in jenen Mechanismus, der im unbewußten Hintergrund der Seele die Anregungen verarbeitet, die aus den äußeren Eindrücken ſtammen “. Was mir aber beſonders wichtig und werthvoll an Wundt's Werk erſcheint, iſt, daß er „ hier zum erſten Male das Geſetz der Erhaltung der Kraft auf das pſychiſche Gebiet ausdehnt und dabei eine Reihe von Thatſachen der Elektrophyſiologie zur Beweisführung benutzt “(l. c. p. VIII).
Dreißig Jahre ſpäter veröffentlichte Wundt (1892) eine zweite, weſentlich verkürzte und gänzlich umgearbeitete Auflage ſeiner „ Vorleſungen über die Menſchen - und Thier-Seele “. Die wichtigſten Principien der erſten Auflage ſind in dieſer zweiten völlig aufgegeben, und der moniſtiſche Standpunkt der erſteren iſt mit einem rein dualiſtiſchen vertauſcht. Wundt ſelbſt117VI. Pſychophyſiſcher Parallelismus.ſagt in der Vorrede zur zweiten Auflage, daß er ſich erſt all - mählich von den fundamentalen Irrthümern der erſten befreit habe, und daß er „ dieſe Arbeit ſchon ſeit Jahren als eine Jugendſünde betrachten lernte “; ſie „ laſtete auf ihm als eine Art Schuld, der er, ſo gut es gehen mochte, ledig zu werden wünſchte “. In der That ſind die wichtigſten Grund - anſchauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen von Wundt's weit verbreiteten „ Vorleſungen “völlig entgegen - geſetzte; in der erſten Auflage rein moniſtiſch und materialiſtiſch, in der zweiten Auflage rein dualiſtiſch und ſpiritualiſtiſch. Dort wird die Pſychologie als Naturwiſſenſchaft behandelt, nach denſelben Grundſätzen wie die geſammte Phyſiologie, von der ſie nur ein Theil iſt; dreißig Jahre ſpäter iſt für ihn die Seelenlehre eine reine Geiſteswiſſenſchaft geworden, deren Principien und Objekte von denjenigen der Naturwiſſenſchaft völlig verſchieden ſind. Den ſchärfſten Ausdruck findet dieſe Bekehrung in ſeinem Princip des pſychophyſiſchen Paral - lelismus, wonach zwar „ jedem pſychiſchen Geſchehen irgend welche phyſiſche Vorgänge entſprechen “, beide aber völlig un - abhängig von einander ſind und nicht in natürlichem Kauſal-Zuſammenhang ſtehen. Dieſer vollkommene Dualismus von Leib und Seele, von Natur und Geiſt hat begreiflicher Weiſe den lebhaften Beifall der herrſchenden Schul - Philoſophie gefunden und wird von ihr als ein bedeutungsvoller Fortſchritt geprieſen, um ſo mehr, als er von einem angeſehenen Naturforſcher bekannt wird, der früher die entgegengeſetzten An - ſchauungen unſeres modernen Monismus vertrat. Da ich ſelbſt auf dieſem letzteren, „ beſchränkten “Standpunkt ſeit mehr als vierzig Jahren ſtehe und mich trotz aller beſtgemeinten An - ſtrengungen nicht von ihm habe losmachen können, muß ich natürlich die „ Jugendſünden “des jungen Phyſiologen Wundt für die richtige Natur-Erkenntniß halten und ſie gegen die118Pſychologiſche Metamorphoſen. VI. entgegengeſetzten Grundanſchauungen des alten Philoſophen Wundt energiſch vertheidigen.
Sehr intereſſant iſt der totale philoſophiſche Prin - cipien-Wechſel, der uns hier wieder bei Wundt, wie früher bei Kant, Virchow, Du Bois-Reymond, aber auch bei Karl Ernſt Baer und bei Anderen begegnet. In ihrer Jugend umfaſſen dieſe kühnen und talentvollen Natur - forſcher das ganze Gebiet ihrer biologiſchen Forſchung mit weitem Blick und ſtreben eifrig nach einem einheitlichen, natürlichen Erkenntniß-Grunde; in ihrem Alter haben ſie eingeſehen, daß dieſer nicht vollkommen erreichbar iſt, und deßhalb geben ſie ihn lieber ganz auf. Zur Entſchuldigung dieſer pſychologiſchen Metamorphoſe können ſie natürlich anführen, daß ſie in der Jugend die Schwierigkeiten der großen Aufgabe überſehen und die wahren Ziele verkannt hätten; erſt mit der reiferen Einſicht des Alters und der Sammlung vieler Erfahrungen hätten ſie ſich von ihren Irrthümern überzeugt und den wahren Weg zur Quelle der Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt behaupten, daß die großen Männer der Wiſſenſchaft in jüngeren Jahren unbefangener und muthiger an ihre ſchwierige Aufgabe herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urtheilskraft reiner iſt; die Erfahrungen ſpäterer Jahre führen vielfach nicht nur zur Bereicherung, ſondern auch zur Trübung der Einſicht, und mit dem Greiſenalter tritt allmähliche Rückbildung ebenſo im Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls iſt dieſe er - kenntniß-theoretiſche Metamorphoſe an ſich eine lehrreiche pſycho - logiſche Thatſache; denn ſie beweiſt mit vielen anderen Formen des „ Geſinnungswechſels “, daß die höchſten Seelen-Funktionen ebenſo weſentlichen individuellen Veränderungen im Laufe des Lebens unterliegen wie alle anderen Lebens-Thätigkeiten.
Völker-Pſychologie. Für die fruchtbare Ausbildung der vergleichenden Seelenlehre iſt es höchſt wichtig, die kritiſche Ver -119VI. Völker-Pſychologie.gleichung nicht auf Thier und Menſch im Allgemeinen zu be - ſchränken, ſondern auch die mannigfaltigen Abſtufungen im Seelenleben derſelben neben einander zu ſtellen. Erſt dadurch gelangen wir zur klaren Erkenntniß der langen Stufenleiter pſychiſcher Entwickelung, welche ununterbrochen von den niederſten, einzelligen Lebensformen bis zu den Säugethieren und an deren Spitze bis zum Menſchen hinauf führt. Aber innerhalb des Menſchengeſchlechts ſelbſt ſind jene Abſtufungen ſehr beträchtlich und die Verzweigungen des „ Seelen-Stammbaums “höchſt mannigfaltig. Der pſychiſche Unterſchied zwiſchen dem roheſten Naturmenſchen der niederſten Stufe und dem vollkommenſten Kulturmenſchen der höchſten Stufe iſt koloſſal, viel größer, als gemeinhin angenommen wird. In der richtigen Erkenntniß dieſer Thatſache hat beſonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahr - hunderts die „ Anthropologie der Naturvölker “(Waitz) einen lebhaften Aufſchwung genommen und die vergleichende Ethnographie eine hohe Bedeutung für die Pſychologie ge - wonnen. Leider iſt nur das maſſenhaft geſammelte Rohmaterial dieſer Wiſſenſchaft noch nicht genügend kritiſch durchgearbeitet. Welche unklaren und myſtiſchen Vorſtellungen hier noch herrſchen, zeigt z. B. der ſogenannte „ Völkergedanke “des bekannten Reiſenden Adolf Baſtian, der die größten Verdienſte als Begründer des Berliner „ Muſeums für Völkerkunde “beſitzt, aber als fruchtbarer Schriftſteller ein wahres Monſtrum von kritik - loſer Kompilation und konfuſer Spekulation darſtellt4.
Ontogenetiſche Pſychologie. Am meiſten vernachläſſigt und am wenigſten angewendet unter allen Methoden der Seelen - forſchung iſt bis auf den heutigen Tag die Entwickelungs - geſchichte der Seele; und doch iſt gerade dieſer ſelten be - tretene Pfad derjenige, der uns am kürzeſten und ſicherſten durch den dunkeln Urwald der pſychologiſchen Vorurtheile, Dogmen und Irrthümer zu der klaren Einſicht in viele der wichtigſten120Methoden der ontogenetiſchen Pſychologie. VI. „ Seelenfragen “führt. Wie in jedem anderen Gebiete der orga - niſchen Entwickelungsgeſchichte, ſo ſtelle ich auch hier zunächſt die beiden Hauptzweige derſelben gegenüber, die ich zuerſt 1866 unterſchieden habe: die Keimesgeſchichte (Ontogenie) und die Stammesgeſchichte (Phylogenie). Die Keimesgeſchichte der Seele, die individuelle oder biontiſche Pſychogenie, unterſucht die allmähliche und ſtufenweiſe Entwickelung der Seele in der einzelnen Perſon und ſtrebt nach Erkenntniß der Geſetze, welche dieſelbe urſächlich bedingen. Für einen wichtigen Abſchnitt des menſchlichen Seelenlebens iſt hier ſchon ſeit Jahrtauſenden ſehr viel geſchehen; denn die rationelle Pädagogik mußte ſich ja ſchon frühzeitig die Aufgabe ſtellen, theoretiſch die ſtufenweiſe Entwickelung und Bildungsfähigkeit der kindlichen Seele kennen zu lernen, deren harmoniſche Ausbildung und Leitung ſie prak - tiſch durchzuführen hatte. Allein die meiſten Pädagogen waren idealiſtiſche und dualiſtiſche Philoſophen und gingen daher an ihre Aufgabe von vornherein mit den althergebrachten Vor - urtheilen der ſpiritualiſtiſchen Pſychologie. Erſt ſeit wenigen Decennien iſt dieſer dogmatiſchen Richtung gegenüber auch in der Schule die naturwiſſenſchaftliche Methode zu größerer Geltung gelangt; man bemüht ſich jetzt mehr, auch in der Beurtheilung der Kindes-Seele die Grundſätze der Entwickelungslehre zur An - wendung zu bringen. Das individuelle Rohmaterial der kind - lichen Seele iſt ja bereits durch Vererbung von Eltern und Voreltern qualitativ von vornherein gegeben; die Erziehung hat die ſchöne Aufgabe, dasſelbe durch intellektuelle Belehrung und moraliſche Erziehung, alſo durch Anpaſſung, zur reichen Blüthe zu entwickeln. Für die Kenntniß unſerer früheſten pſy - chiſchen Entwickelung hat erſt Wilhelm Preyer (1882) den Grund gelegt in ſeiner intereſſanten Schrift „ Die Seele des Kindes, Beobachtungen über die geiſtige Entwickelung des Men - ſchen in den erſten Lebensjahren “. Für die Erkenntniß der121VI. Methoden der phylogenetiſchen Pſychologie.ſpäteren Stufen und Metamorphoſen der individuellen Pſyche bleibt noch ſehr viel zu thun; die richtige, kritiſche Anwendung des biogenetiſchen Grundgeſetzes beginnt auch hier ſich als klarer Leitſtern des wiſſenſchaftlichen Verſtändniſſes zu bewähren.
Phylogenetiſche Pſychologie. Eine neue, fruchtbare Periode höherer Entwickelung begann für die Pſychologie, wie für alle anderen biologiſchen Wiſſenſchaften, als vor vierzig Jahren Charles Darwin die Grundſätze der Entwickelungslehre auf ſie anwendete. Das ſiebente Kapitel ſeines epochemachenden Werkes über die Entſtehung der Arten (1859) iſt dem Inſtinkt gewidmet; es enthält den werthvollen Nachweis, daß die Inſtinkte der Thiere, gleich allen anderen Lebensthätigkeiten, den allgemeinen Geſetzen der hiſtoriſchen Entwickelung unterliegen. Die ſpeciellen Inſtinkte der einzelnen Thier-Arten werden durch Anpaſſung umgebildet, und dieſe „ erworbenen Abänderungen “werden durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen; bei ihrer Er - haltung und Ausbildung ſpielt die natürliche Selektion durch den „ Kampf um's Daſein “ebenſo eine züchtende Rolle wie bei der Transformation jeder anderen phyſiologiſchen Thätigkeit. Später hat Darwin in mehreren Werken dieſe fundamentale Anſicht weiter ausgeführt und gezeigt, daß dieſelben Geſetze „ geiſtiger Entwickelung “durch die ganze organiſche Welt hin - durch walten, beim Menſchen ebenſo wie bei den Thieren und bei dieſen ebenſo wie bei den Pflanzen. Die Einheit der organiſchen Welt, die ſich aus ihrem gemeinſamen Urſprung erklärt, gilt alſo auch für das geſammte Gebiet des Seelen - lebens, vom einfachſten, einzelligen Organismus bis hinauf zum Menſchen.
Die weitere Ausführung von Darwin's Pſychologie und ihre beſondere Anwendung auf alle einzelnen Gebiete des Seelen - lebens verdanken wir einem ausgezeichneten engliſchen Natur - forſcher, George Romanes. Leider wurde er durch ſeinen122Geiſtige Entwickelung im Thierreich. VI. allzu frühen, kürzlich erfolgten Tod an der Vollendung des großen Werkes gehindert, welches alle Theile der vergleichenden Seelen - kunde gleichmäßig im Sinne der moniſtiſchen Entwickelungslehre ausbauen ſollte. Die beiden Theile dieſes Werkes, welche er - ſchienen ſind, gehören zu den werthvollſten Erzeugniſſen der ge - ſammten pſychologiſchen Litteratur. Denn getreu den Principien unſerer modernen moniſtiſchen Naturforſchung ſind darin erſtens die wichtigſten Thatſachen zuſammengefaßt und geordnet, welche ſeit Jahrtauſenden durch Beobachtung und Experiment auf dem Gebiete der vergleichenden Seelenlehre empiriſch feſt - geſtellt wurden; zweitens ſind dieſelben mit objektiver Kritik geprüft und zweckmäßig gruppirt; und drittens ergeben ſich daraus diejenigen Vernunft-Schlüſſe über die wichtigſten allgemeinen Fragen der Pſychologie, welche allein mit den Grundſätzen unſerer modernen moniſtiſchen Weltanſchauung vereinbar ſind. Der erſte Band von Romanes 'Werk (440 Seiten, Leipzig 1885) führt den Titel: „ Die geiſtige Entwickelung im Thierreich “und ſtellt die ganze lange Stufenreihe der pſychiſchen Entwickelung im Thier - reiche von den einfachſten Empfindungen und Inſtinkten der niederſten Thiere bis zu den vollkommenſten Erſcheinungen des Bewußtſeins und der Vernunft bei den höchſtſtehenden Thieren im natürlichen Zuſammenhang dar. Es ſind darin auch viele Mittheilungen aus hinterlaſſenen Manuſkripten „ über den In - ſtinkt “von Darwin mitgetheilt, und zugleich iſt eine „ voll - ſtändige Sammlung von Allem, was derſelbe auf dem Gebiete der Pſychologie geſchrieben hat “, gegeben.
Der zweite und der wichtigſte Theil von Romanes 'Werk behandelt „ die geiſtige Entwickelung beim Menſchen und den Urſprung der menſchlichen Befähigung “(430 Seiten, Leipzig 1893). Der ſcharfſinnige Pſychologe führt darin den über - zeugenden Beweis, „ daß die pſychologiſche Schranke zwiſchen Thier und Menſch überwunden iſt “(!); das123VI. Menſchenſeele und Affenſeele.begriffliche Denken und Abſtraktions-Vermögen des Menſchen hat ſich allmählich aus den nicht begrifflichen Vorſtufen des Denkens und Vorſtellens bei den nächſtverwandten Säugethieren entwickelt. Die höchſten Geiſtesthätigkeiten des Menſchen, Vernunft, Sprache und Bewußtſein, ſind aus den niederen Vor - ſtufen derſelben in der Reihe der Primaten-Ahnen (Affen und Halbaffen) hervorgegangen. Der Menſch beſitzt keine einzige „ Geiſtesthätigkeit “, welche ihm ausſchließlich eigenthümlich iſt; ſein ganzes Seelenleben iſt von demjenigen der nächſtverwandten Säugethiere nur dem Grade, nicht der Art nach, nur quanti - tativ, nicht qualitativ verſchieden.
Den Leſer meines Buches, welcher ſich für dieſe hochwichtigen „ Seelen-Fragen “intereſſirt, verweiſe ich auf das grundlegende Werk von Romanes. Ich ſtimme faſt in allen Anſchauungen und Ueberzeugungen vollſtändig mit ihm und mit Darwin überein; wo ſich etwa ſcheinbare Unterſchiede zwiſchen dieſen Autoren und zwiſchen meinen früheren Ausführungen finden, da beruhen ſie entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucks-Form meinerſeits oder auf einem unbedeutenden Unterſchiede in der Anwendung der Grundbegriffe. Uebrigens gehört es ja zu den charakteriſtiſchen Merkmalen dieſer „ Begriffs-Wiſſenſchaft “, daß über ihre wichtigſten Grundbegriffe die angeſehenſten Philoſophen ganz verſchiedene Anſichten haben.
124VI.Moniſtiſche Studien über vergleichende Pſychologie. Die pſychologiſche Skala. Pſychoplasma und Nervenſyſtem. Inſtinkt und Vernunft.
‘„ Die wundervollſte aller Natur-Erſcheinungen, die wir herkömmlich mit dem einen Worte ‚ Geiſt‘ oder ‚ Seele‘ bezeichnen, iſt eine ganz allgemeine Eigenſchaft des Lebendigen. In aller lebendigen Materie, in allem Protoplasma müſſen wir die erſten Elemente des Seelenlebens annehmen, die einfache Empfindungsform der Luſt und Unluſt, die einfache Bewegungsform der Anziehung und Abſtoßung. Nur ſind die Stufen der Aus - bildung und Zuſammenſetzung dieſer ‚ Seele‘ in den verſchiedenen lebendigen Geſchöpfen ver - ſchieden; ſie führen uns von der ſtillen Zellſeele durch eine lange Reihe aufſteigender Zwiſchen - ſtufen allmählich bis zur bewußten und ver - nünftigen Menſchenſeele hinauf. “’ („ Zellſeelen und Seelenzellen “(1878). )[126]Pſychologiſche Einheit der organiſchen Natur. Materielle Baſis der Pſyche: Pſychoplasma. Skala der Empfindungen. Skala der Bewegungen. Skala der Reflexe. Einfache und zuſammengeſetzte Reflexe. Reflexthat und Bewußtſein. Skala der Vorſtellungen. Unbewußte und bewußte Vor - ſtellungen. Skala des Gedächtniſſes. Unbewußtes und bewußtes Ge - dächtniß. Aſſocion der Vorſtellungen. Inſtinkte. Primäre und ſekundäre Inſtinkte. Skala der Vernunft. Sprache. Gemüthsbewegungen und Leidenſchaften. Wille. Freiheit des Willens.
Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menſchen und den Thieren. Stuttgart 1872.
Wilhelm Wundt, Vorleſungen über die Menſchen - und Thier-Seele. Leipzig 1863. (Zweite, ganz umgearbeitete Auflage 1892)
Fritz Schultze, Vergleichende Seelenkunde. Leipzig 1897.
Ludwig Büchner, Aus dem Geiſtesleben der Thiere, oder Staaten und Thaten der Kleinen. Berlin 1877. — Liebe und Liebesleben in der Thierwelt. Berlin 1879.
Alfred Eſpinas, Die thieriſchen Geſellſchaften. Eine vergleichend-pſcho - logiſche Unterſuchung. Braunſchweig 1879.
Tito Bignoli, Ueber das Fundamental-Geſetz der Intelligenz im Thierreich. Verſuch einer vergleichenden Pſychologie. Leipzig 1879.
C. Lloyd Morgan, Animal life and intelligence. London 1890.
Wilhelm Bölſche, Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwickelungs - geſchichte der Liebe. Leipzig 1898.
John Romanes, Die geiſtige Entwickelung im Thierreich und beim Menſchen. Leipzig 1885-1893.
Die großartigen Fortſchritte, welche die Pſychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Entwickelungs - lehre gemacht hat, gipfeln in der Anerkennung der pſycho - logiſchen Einheit der organiſchen Welt. Die ver - gleichende Seelenlehre, im Vereine mit der Ontogenie und Phylogenie der Pſyche, haben uns zu der Ueberzeugung geführt, daß das organiſche Leben in allen Abſtufungen, vom einfachſten, einzelligen Protiſten bis zum Menſchen hinauf, aus denſelben elementaren Naturkräften ſich entwickelt, aus den phyſiologiſchen Funktionen der Empfindung und Bewegung. Die Hauptaufgabe der wiſſenſchaftlichen Pſychologie wird daher künftig nicht, wie bisher, die ausſchließlich ſubjektive und introſpektive Zer - gliederung der höchſtentwickelten Philoſophen-Seele ſein, ſondern die objektive und vergleichende Unterſuchung der langen Stufen - leiter, auf welcher ſich der menſchliche Geiſt allmählich aus einer langen Reihe von niederen thieriſchen Zuſtänden entwickelt hat. Die ſchöne Aufgabe, die einzelnen Stufen dieſer pſychologiſchen Skala zu unterſcheiden und ihren ununterbrochenen phylogenetiſchen Zuſammenhang nachzuweiſen, iſt erſt in den letzten Decennien unſeres Jahrhunderts ernſtlich in Angriff genommen worden, vor Allem in dem ausgezeichneten Werke von Romanes (vergl. S. 122). Wir beſchränken uns hier auf die kurze Beſprechung einiger der allgemeinſten Fragen, welche uns die Erkenntniß jener Stufenleiter vorlegt.
128Pſychoplasma und Neuroplasma. VII.Materielle Baſis der Pſyche. Alle Erſcheinungen des Seelenlebens ohne Ausnahme ſind verknüpft mit materiellen Vorgängen in der lebendigen Subſtanz des Körpers, im Plasma oder Protoplasma. Wir haben jenen Theil des letzteren, der als der unentbehrliche Träger der Pſyche erſcheint, als Pſycho - plasma bezeichnet (als „ Seelenſubſtanz “im moniſtiſchen Sinne); d. h. wir erblicken darin kein beſonderes „ Weſen “, ſondern wir betrachten die Pſyche als Kollektiv-Begriff für die geſammten pſychiſchen Funktionen des Plasma. „ Seele “iſt in dieſem Sinne ebenſo eine phyſiologiſche Ab - ſtraktion wie der Begriff „ Stoffwechſel “oder „ Zeugung “. Beim Menſchen und den höheren Thieren iſt das Pſychoplasma, zufolge der vorgeſchrittenen Arbeitstheilung der Organe und Gewebe, ein differenzirter Beſtandtheil des Nervenſyſtems, das Neuro - plasma der Ganglienzellen und ihrer leitenden Ausläufer, der Nervenfaſern. Bei den niederen Thieren dagegen, die noch keine geſonderten Nerven und Sinnesorgane beſitzen, iſt das Pſycho - plasma noch nicht zur ſelbſtſtändigen Differenzirung gelangt, ebenſo wie bei den Pflanzen. Bei den einzelligen Protiſten endlich iſt das Pſychoplasma entweder identiſch mit dem ganzen lebendigen Protoplasma der einfachen Zelle oder mit einem Theile deſſelben. In allen Fällen, ebenſo auf dieſer niederſten wie auf jener höchſten Stufe der pſychologiſchen Skala, iſt eine gewiſſe chemiſche Zuſammenſetzung des Pſychoplasma und eine gewiſſe phyſikaliſche Beſchaffenheit deſſelben unent - behrlich, wenn die „ Seele “fungiren oder arbeiten ſoll. Das gilt ebenſo von der elementaren Seelenthätigkeit der plasma - tiſchen Empfindung und Bewegung bei den Protozoen wie von den zuſammengeſetzten Funktionen der Sinnesorgane und des Gehirns bei den höheren Thieren und an ihrer Spitze dem Menſchen. Die Arbeit des Pſychoplasma, die wir „ Seele “nennen, iſt ſtets mit Stoffwechſel verknüpft.
129VII. Stufenleiter der Empfindungen.Skala der Empfindungen. Alle lebendigen Organismen ohne Ausnahme ſind empfindlich; ſie unterſcheiden die Zuſtände der umgebenden Außenwelt und reagiren darauf durch gewiſſe Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme, Schwer - kraft und Elektricität, mechaniſche Proceſſe und chemiſche Vor - gänge in der Umgebung wirken als „ Reize “auf das em - pfindliche Pſychoplasma und rufen Veränderungen in ſeiner molekularen Zuſammenſetzung hervor. Als Hauptſtufen ſeiner Empfindlichkeit oder Senſibilität unterſcheiden wir folgende fünf Grade:
I. Auf den unterſten Stufen der Organiſation iſt das ganze Pſychoplasma als ſolches empfindlich und reagirt auf die einwirkenden Reize, ſo bei den niederſten Protiſten, bei vielen Pflanzen und einem Theile der unvollkommenſten Thiere. II. Auf der zweiten Stufe beginnen ſich an der Oberfläche des Körpers einfachſte indifferente Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von Taſtorganen und Augen; ſo bei einem Theile der höheren Protiſten, aber auch bei vielen niederen Thieren und Pflanzen. III. Auf der dritten Stufe haben ſich aus dieſen einfachen Grundlagen durch Differenzirung ſpecifiſche Sinnes - organe entwickelt, mit eigenthümlicher Anpaſſung: die chemiſchen Werkzeuge des Geruchs und Geſchmacks, die phyſikaliſchen Organe des Taſtſinnes und Wärmeſinnes, des Gehörs und Geſichts. Die „ ſpecifiſche Energie “dieſer höheren Senſillen iſt keine urſprüngliche Eigenſchaft derſelben, ſondern durch funktionelle Anpaſſung und progreſſive Vererbung ſtufenweiſe erworben. IV. Auf der vierten Stufe tritt die Centraliſation oder Inte - gration des Nervenſyſtems und damit zugleich diejenige der Empfindung ein; durch Aſſocion der früheren iſolirten oder localiſirten Empfindungen entſtehen Vorſtellungen, die zunächſt noch unbewußt bleiben, ſo bei vielen niederen und höherenHaeckel, Welträthſel. 9130Stufenleiter der Bewegungen. VII. Thieren. V. Auf der fünften Stufe entwickelt ſich durch Spiegelung der Empfindungen in einem Central-Theile des Nervenſyſtems die höchſte pſychiſche Funktion, die bewußte Empfindung; ſo beim Menſchen und den höheren Wirbel - thieren, wahrſcheinlich auch bei einem Theile der höheren wirbel - loſen Thiere, beſonders der Gliederthiere.
Skala der Bewegungen. Alle lebendigen Naturkörper ohne Ausnahme ſind ſpontan beweglich, im Gegenſatze zu den ſtarren und unbeweglichen Anorganen (Kryſtallen); d. h. es finden im lebendigen Pſychoplasma Lage-Veränderungen der Theilchen aus inneren Urſachen ſtatt, welche in deſſen chemiſcher Konſtitution ſelbſt begründet ſind. Dieſe aktiven vitalen Be - wegungen ſind zum Theil direkt durch Beobachtung wahr - zunehmen, zum anderen Theil aber nur indirekt aus ihren Wirkungen zu erſchließen. Wir unterſcheiden fünf Abſtufungen derſelben.
I. Auf der unterſten Stufe des organiſchen Lebens, bei Chromaceen, vielen Protophyten und niederen Metaphyten, nehmen wir nur jene Wachsthums-Bewegungen wahr, welche allen Organismen gemeinſam zukommen. Dieſelben geſchehen gewöhnlich ſo langſam, daß man ſie nicht unmittelbar be - obachten, ſondern nur indirekt aus ihrem Reſultate erſchließen kann, aus der Veränderung in Größe und Geſtalt des wachſenden Körpers. II. Viele Protiſten, namentlich einzellige Algen aus den Gruppen der Diatomeen und Desmidiaceen, bewegen ſich kriechend oder ſchwimmend durch Sekretion fort, durch ein - ſeitige Ausſcheidung einer ſchleimigen Maſſe. III. Andere, im Waſſer ſchwebende Organismen, z. B. viele Radiolarien, Sipho - nophoren, Ktenophoren u. a., ſteigen auf und nieder, indem ſie ihr ſpecifiſches Gewicht verändern, bald durch Osmoſe, bald durch Abſonderung oder Ausſtoßung von Luft. IV. Viele Pflanzen, beſonders die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimoſen) und andere Papilionaceen, führen Bewegungen von Blättern oder131VII. Stufenleiter der Reflexthaten.anderen Theilen mittelſt Turgor-Wechſels aus; d. h. ſie verändern die Spannung des Protoplasmas, und damit auch deſſen Druck auf die umſchließende elaſtiſche Zellenwand. V. Die wichtigſten von allen organiſchen Bewegungen ſind die Kon - traktions-Erſcheinungen, d. h. Geſtalts-Veränderungen der Körper-Oberfläche, welche mit gegenſeitigen Lage-Verſchiebungen ihrer Theilchen verbunden ſind; ſie verlaufen ſtets mit zwei verſchiedenen Zuſtänden oder Phaſen der Bewegung: der Kon - traktions-Phaſe (Zuſammenziehung) und der Expanſions - Phaſe (Ausdehnung). Als vier verſchiedene Formen der Plasma - Kontraktion werden unterſchieden Va: die amöboiden Be - wegungen (bei Rhizopoden, Blutzellen, Pigmentzellen u. ſ. w.); Vb: die ähnlichen Plasmaſtrömungen im Innern von eingeſchloſſenen Zellen; Vc: die Flimmerbewegung (Geißel - bewegung und Wimperbewegung) bei Infuſorien, Spermien, Flimmer-Epithel-Zellen, und endlich Vd: Die Muskelbewegung (bei den meiſten Thieren).
Skala der Reflexe (reflektoriſche Erſcheinungen, Reflex - Bewegungen u. ſ. w.). Die elementare Seelenthätigkeit, welche durch die Verknüpfung von Empfindung und Bewegung ent - ſteht, nennen wir (im weiteſten Sinne!) Reflex oder reflektive Funktion (reflektoriſche Leiſtung), beſſer Reflexthat. Die Bewegung — gleichviel welcher Art — erſcheint hier als die un - mittelbare Folge des Reizes, welchen die Empfindung hervor - gerufen hat; man hat ſie daher auch im einfachſten Falle (bei Protiſten) kurz als „ Reizbewegung “bezeichnet. Alles lebende Plasma beſitzt Reizbarkeit (Irritabilität). Jede phyſikaliſche oder chemiſche Veränderung der umgebenden Außenwelt kann unter Umſtänden auf das Pſychoplasma als Reiz wirken und eine Bewegung hervorrufen oder „ auslöſen “. Wir werden ſpäter ſehen, wie der wichtige phyſikaliſche Begriff der Aus - löſung die einfachſten organiſchen Reflexthaten unmittelbar9*132Stufenleiter der Reflexthaten. VII. anſchließt an ähnliche mechaniſche Bewegungs-Vorgänge in der anorganiſchen Natur (z. B. bei der Exploſion von Pulver durch einen Funken, von Dynamit durch einen Stoß). Wir unter - ſcheiden in der Skala der Reflexe folgende ſieben Stufen:
I. Auf der unterſten Stufe der Organiſation, bei den niederſten Protiſten, löſen die Reize der Außenwelt (Licht, Wärme, Elektricität u. ſ. w.) im indifferenten Protoplasma nur jene unentbehrlichen inneren Bewegungen des Wachsthums und Stoff - wechſels aus, welche allen Organismen gemeinſam und für ihre Erhaltung unentbehrlich ſind. Dasſelbe gilt auch für die meiſten Pflanzen.
II. Bei vielen frei beweglichen Protiſten (beſonders Amöben, Heliozoen und überhaupt den Rhizopoden) rufen äußere Reize an jeder Stelle der nackten Oberfläche des einzelligen Körpers äußere Bewegungen desſelben hervor, die ſich in der Geſtalts - veränderung, oft auch in der Ortsveränderung äußern (amöboide Bewegung, Pſeudopodien-Bildung, Ausſtrecken und Einziehen von Scheinfüßchen); dieſe unbeſtimmten, veränderlichen Fortſätze des Plasma ſind noch keine beſtändigen Organe. In gleicher Weiſe äußert ſich die allgemeine organiſche Reizbarkeit als in - differenter Reflex auch bei den empfindlichen „ Sinnpflanzen “und den niederſten Metazoen; bei dieſen vielzelligen Organismen können die Reize von einer Zelle zur anderen fortgeleitet werden, da alle Zellen durch feine Ausläufer zuſammenhängen.
III. Viele Protiſten, namentlich höher entwickelte Protozoen, ſondern an ihrem einzelligen Körper bereits zweierlei Orga - nelle einfachſter Art: ſenſible Taſt-Organe und motoriſche Be - wegungs-Organe; beide Werkzeuge ſind direkte äußere Fortſätze des Protoplasma; der Reiz, welcher die erſteren trifft, wird un - mittelbar durch das Pſychoplasma des einzelligen Körpers zu den letzteren fortgeleitet und bewirkt deren Zuſammenziehung. Beſonders klar iſt dieſe Erſcheinung zu beobachten und auch133VII. Stufenleiter der Reflexthaten.experimentell feſtzuſtellen, bei vielen feſtſitzenden Infuſorien (z. B. Poteriodendron unter den Flagellaten, Vorticella unter den Ciliaten). Der ſchwächſte Reiz, welcher die ſehr empfindlichen Flimmerhaare (Geißeln oder Wimpern) am freien Ende der Zelle trifft, bewirkt ſofort eine Kontraktion eines fadenförmigen Stieles am anderen, feſtgehefteten Ende. Man bezeichnet dieſe Erſcheinung als „ einfachen Reflexbogen “*)Max Verworn, Allgemeine Phyſiologie. Zweite Auflage. S. 586. (1897.).
IV. An dieſe Vorgänge im einzelligen Organismus der Infuſorien ſchließt ſich unmittelbar der intereſſante Mechanismus der Neuromuskel-Zellen an, welchen wir im vielzelligen Körper vieler niederen Metazoen finden, beſonders bei Neſſel - thieren (Polypen, Korallen). Jede einzelne „ Neuromuskel-Zelle “iſt ein „ einzelliges Reflex-Organ “; ſie beſitzt an der Oberfläche ihres Körpers einen empfindlichen Theil, an dem entgegengeſetzten inneren Ende einen beweglichen Muskelfaden; der letztere zieht ſich zuſammen, ſobald der erſtere gereizt wird.
V. Bei anderen Neſſelthieren, namentlich bei den frei ſchwimmenden Meduſen — welche den feſtſitzenden Polypen nächſt verwandt ſind —, zerfällt die einfache Neuromuskel - Zelle in zwei verſchiedene, aber durch einen Faden noch zu - ſammenhängende Zellen, eine äußere Sinneszelle (in der Oberhaut) und eine innere Muskelzelle (unter der Haut); in dieſem zweizelligen Reflex-Organ iſt die erſtere das Elementar-Organ der Empfindung, die letztere dasjenige der Bewegung; die Verbindungsbrücke des Pſychoplasma-Fadens leitet den Reiz von der erſteren zur letzteren hinüber.
VI. Der wichtigſte Fortſchritt in der ſtufenweiſen Aus - bildung des Reflex-Mechanismus iſt die Sonderung von drei Zellen; an die Stelle der eben genannten einfachen Verbindungs - brücke tritt eine ſelbſtändige dritte Zelle, die Seelenzelle134Einfache und zuſammengeſetzte Reflexe. VII. oder Ganglienzelle; damit erſcheint zugleich eine neue pſychiſche Funktion, die unbewußte „ Vorſtellung “, deren Sitz eben dieſe centrale Zelle iſt. Der Reiz wird von der empfindlichen Sinnes - zelle zunächſt auf dieſe vermittelnde Vorſtellungs-Zelle oder Seelenzelle übertragen und erſt von dieſer als Befehl zur Be - wegung an die motoriſche Muskelzelle abgegeben. Dieſe „ drei - zelligen Reflexorgane “ſind überwiegend bei der großen Mehrzahl der wirbelloſen Thiere entwickelt.
VII. An die Stelle dieſer Einrichtung tritt bei den meiſten Wirbelthieren das vierzellige Reflexorgan, indem zwiſchen die ſenſible Sinneszelle und die motoriſche Muskelzelle nicht eine, ſondern zwei verſchiedene Seelenzellen eingeſchaltet werden. Der äußere Reiz wird hier von der Sinneszelle zunächſt centri - petal auf die Empfindungszelle übertragen (die ſenſible Seelenzelle), von dieſer auf die Willenszelle (die motoriſche Seelenzelle) und von dieſer letzteren erſt auf die kontraktile Muskelzelle. Indem zahlreiche ſolche Reflex-Organe ſich verbinden und neue Seelenzellen eingeſchaltet werden, entſteht der kom - plizirte Reflex-Mechanismus des Menſchen und der höheren Wirbelthiere.
Einfache und zuſammengeſetzte Reflexe. Der wichtige Unterſchied, den wir in morphologiſcher und phyſiologiſcher Hinſicht zwiſchen den einzelligen Organismen (Protiſten) und den vielzelligen (Hiſtonen) machen, gilt auch für deren ele - mentare Seelenthätigkeit, für die Reflexthat. Bei den ein - zelligen Protiſten (ebenſo den plasmodomen Urpflanzen, Protophyten, wie den plasmophagen Urthieren, Protozoen) läuft der ganze phyſikaliſche Proceß des Reflexes innerhalb des Protoplasma einer einzigen Zelle ab; die „ Zellſeele “derſelben erſcheint noch als eine einheitliche Funktion des Pſychoplasma, deren einzelne Phaſen ſich erſt mit der Differenzirung beſonderer Organe zu ſondern beginnen. Schon bei den cönobionten135VII. Reflexthat und Bewußtſein.Protiſten, den Zellvereinen (z. B. Volvox, Carcheſium), beginnt die zweite Stufe der Seelenthätigkeit, die zuſammen - geſetzte Reflexthat. Die zahlreichen ſocialen Zellen, welche dieſe Zellvereine oder Coenobien zuſammenſetzen, ſtehen immer in mehr oder weniger enger Verbindung, oft direkt durch faden - förmige Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere Zellen des Verbandes trifft, wird durch die Verbindungs-Brücken den übrigen mitgetheilt und kann alle zu gemeinſamer Kon - traktion veranlaſſen. Dieſer Zuſammenhang beſteht auch in den Geweben der vielzelligen Pflanzen und Thiere. Während man früher irrthümlich annahm, daß die Zellen der Pflanzengewebe ganz iſolirt neben einander ſtehen, ſind jetzt überall feine Plasmafäden nachgewieſen, welche die dicken Zell - membranen durchſetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in materiellem und pſychologiſchem Zuſammenhang erhalten. So erklärt es ſich, daß die Erſchütterung der empfindlichen Wurzel von Mimoſa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden verurſacht, ſofort den Reiz auf alle Zellen des Pflanzenſtockes überträgt und ihre zarten Fliederblätter zum Zuſammenlegen, die Blattſtiele zum Herabſinken veranlaßt.
Reflexthat und Bewußtſein. Ein wichtiger und all - gemeiner Charakter aller Reflex-Erſcheinungen iſt der Mangel des Bewußtſeins. Aus Gründen, die wir im zehnten Kapitel auseinanderſetzen, nehmen wir ein wirkliches Bewußtſein nur beim Menſchen und den höheren Thieren an, dagegen nicht bei den Pflanzen, den niederen Thieren und den Protiſten; demnach ſind bei dieſen letzteren alle Reiz-Bewegungen als Reflexe aufzufaſſen, d. h. alſo überhaupt alle Bewegungen, ſoweit ſie nicht ſpontan und durch innere Urſachen veranlaßt ſind (impulſive und automatiſche Bewegungen)*)Max Verworn, Pſychophyſiologiſche Protiſten-Studien, 1889, S. 135. 140.. Anders verhält136Primäre und ſekundäre Reflexe. VII. es ſich bei den höheren Thieren, bei denen ein centraliſirtes Nervenſyſtem und vollkommene Sinnesorgane entwickelt ſind. Hier hat ſich aus der pſychiſchen Reflex-Thätigkeit allmählich das Bewußtſein entwickelt, und nunmehr treten die bewußten Willenshandlungen in Gegenſatz zu den daneben noch fort - beſtehenden Reflex-Handlungen. Wir müſſen aber hier, ebenſo wie bei den Inſtinkten, zwei weſentlich verſchiedene Erſcheinungen trennen, die primären und die ſekundären Reflexe. Primäre Reflexe ſind ſolche, die phyletiſch niemals bewußt geweſen ſind, alſo die urſprüngliche Natur (durch Vererbung von niederen Thier-Ahnen) beibehalten haben. Sekundäre Reflexe dagegen ſind ſolche, die bei den Voreltern bewußte Willens - handlungen waren, aber ſpäter durch Gewohnheit oder Ausfall des Bewußtſeins zu unbewußten geworden ſind. Eine ſcharfe Grenze iſt hier — wie überall — zwiſchen bewußten und un - bewußten Seelenfunktionen nicht zu ziehen.
Skala der Vorſtellungen (Dokeſen). Aeltere Pſychologen (z. B. Herbart) haben die „ Vorſtellung “als das ſeeliſche Grundphänomen betrachtet, aus dem alle übrigen abzuleiten ſeien. Die moderne vergleichende Pſychologie acceptirt dieſe Anſchauung, ſoweit es ſich um den Begriff der unbewußten Vorſtellung handelt; dagegen erblickt ſie in der bewußten Vorſtellung eine ſekundäre Erſcheinung des Seelenlebens, welche bei den Pflanzen und den niederen Thieren noch ganz fehlt und nur bei den höheren Thieren zur Ausbildung gelangt. Unter den zahlreichen widerſprechenden Definitionen, welche die Pſychologen vom Begriffe der „ Vorſtellung “(Dokeſiſ) ge - geben haben, halten wir diejenige für die zweckmäßigſte, welche darin das innere Bild des äußeren Objektes erblickt, welches durch die Empfindung uns übermittelt iſt („ Idee “in gewiſſem Sinne). Wir unterſcheiden in der aufſteigenden Stufenleiter der Vorſtellungs-Funktion die folgenden vier Hauptſtufen:
137VII. Stufenleiter der Vorſtellungen.I. Cellulare Vorſtellung. Auf den niederſten Stufen begegnet uns die Vorſtellung als eine allgemeine phyſiologiſche Funktion des Pſychoplasma; ſchon bei den einfachſten einzelligen Protiſten können Empfindungen bleibende Spuren im Pſycho - plasma hinterlaſſen, und dieſe können vom Gedächtniß repro - ducirt werden. Bei mehr als viertauſend Radiolarien-Arten, welche ich beſchrieben habe, iſt jede einzelne Species durch eine beſondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion dieſes ſpecifiſchen, oft höchſt verwickelt gebauten Skeletts durch eine höchſt einfach geſtaltete (meiſt kugelige) Zelle iſt nur dann erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der Vorſtellung zuſchreiben, und zwar der beſonderen Reproduktion des „ plaſtiſchen Diſtanz-Gefühls “, wie ich in meiner Pſychologie der Radiolarien gezeigt habe*)E. Haeckel, Allgemeine Naturgeſchichte der Radiolarien, 1887, S. 121..
II. Hiſtonale Vorſtellung. Schon bei den Cöno - bien oder Zellvereinen der geſelligen Protiſten, noch mehr aber in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenloſen Thiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe der unbewußten Vorſtellung, welche auf dem gemeinſamen Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung eines Organes (z. B. eines Pflanzen-Blattes, eines Polypen - Armes) auslöſen, ſondern einen bleibenden Eindruck hinterlaſſen, der von dieſem ſpäter ſpontan reproducirt werden kann, ſo müſſen wir zur Erklärung dieſer Erſcheinung eine Hiſtonal - Vorſtellung annehmen, gebunden an das Pſychoplasma der aſſociirten Gewebe-Zellen.
III. Unbewußte Vorſtellung der Ganglien - Zellen. Dieſe dritte, höhere Stufe der Vorſtellung iſt die138Stufenleiter des Bewußtſeins. VII. häufigſte Form dieſer Seelenthätigkeit im Thierreich; ſie erſcheint als eine Lokaliſation des Vorſtellens auf beſtimmte „ Seelen - zellen “. Im einfachſten Falle erſcheint ſie daher bei der Reflex - that erſt auf der ſechſten Stufe der Entwickelung, wenn das dreizellige Reflex-Organ gebildet iſt; der Sitz der Vorſtellung iſt dann die mittlere Seelenzelle, welche zwiſchen die ſenſible Sinneszelle und die motoriſche Muskelzelle eingeſchaltet iſt. Mit der aufſteigenden Entwickelung des Centralnervenſyſtems im Thierreich, ſeiner zunehmenden Differenzirung und Integration erhebt ſich auch die Ausbildung dieſer unbewußten Vorſtellungen zu immer höheren Stufen.
IV. Bewußte Vorſtellung der Gehirnzellen. Erſt auf den höchſten Entwickelungsſtufen der thieriſchen Orga - niſation entwickelt ſich das Bewußtſein als eine beſondere Funktion eines beſtimmten Central-Organs des Nervenſyſtems. Indem die Vorſtellungen bewußte werden, und indem beſondere Gehirntheile ſich zur Aſſocion der bewußten Vorſtellungen reich entfalten, wird der Organismus zu jenen höchſten pſychiſchen Funktionen befähigt, welche wir als Denken und Ueberlegen, als Verſtand und Vernunft bezeichnen. Obgleich die Ab - ſteckung der phyletiſchen Grenze zwiſchen den älteren, unbewußten und den jüngeren, bewußten Vorſtellungen höchſt ſchwierig iſt, können wir doch mit Wahrſcheinlichkeit annehmen, daß die letzteren aus den erſteren polyphyletiſch entſtanden ſind; denn wir finden bewußtes und vernünftiges Denken nicht nur bei den höchſten Formen des Wirbelthier-Stammes (Menſch, Säugethiere, Vögel, ein Theil der niederen Vertebraten), ſondern auch bei den höchſtentwickelten Vertretern anderer Thierſtämme (Ameiſen und andere Inſekten, Spinnen und höhere Krebſe unter den Gliederthieren, Cephalopoden unter den Weichthieren).
Skala des Gedächtniſſes. Eng verknüpft mit der Stufen - leiter in der Entwickelung der Vorſtellungen iſt diejenige des139VII. Stufenleiter des Gedächtniſſes.Gedächtniſſes; dieſe höchſt wichtige Funktion des Pſychoplasma, — die Bedingung aller fortſchreitenden Seelen-Entwickelung — iſt ja im Weſentlichen Reproduktion von Vorſtellungen. Die Eindrücke im Bioplasma, welche der Reiz als Empfindung bewirkt hatte, und welche bleibend zu Vorſtellungen geworden waren, werden durch das Gedächtniß neu belebt; ſie gehen aus dem potentiellen in den aktuellen Zuſtand über. Die latente „ Spannkraft “im Pſychoplasma verwandelt ſich in aktive „ lebendige Kraft “. Entſprechend den vier Stufen der Vor - ſtellung können wir auch beim Gedächtniß vier Hauptſtufen der aufſteigenden Entwickelung unterſcheiden.
I. Cellular-Gedächtniß. Schon vor dreißig Jahren hat Ewald Hering in einer gedankenreichen Abhandlung „ das Gedächtniß als eine allgemeine Funktion der organiſirten Materie “bezeichnet und die hohe Bedeutung dieſer Seelenthätigkeit hervor - gehoben, „ der wir faſt Alles verdanken, was wir ſind und haben “(1870). Ich habe ſpäter (1876) dieſen Gedanken weiter ausgeführt und in ſeiner fruchtbaren Anwendung auf die Ent - wickelungslehre zu begründen verſucht, in meiner Abhandlung über „ Die Perigeneſis der Plaſtidule oder die Wellenzeugung der Lebenstheilchen; ein Verſuch zur mechaniſchen Erklärung der elementaren Entwickelungs-Vorgänge “*)E. Haeckel, Geſammelte populäre Vorträge. Zweites Heft. 1879. Ich habe dort das „ un - bewußte Gedächtniß “als eine allgemeine höchſt wichtige Funktion aller Plaſtidule nachzuweiſen geſucht, d. h. jener hypothetiſchen Molekeln oder Molekel-Gruppen, welche von Naegeli als Micellen, von Anderen als Bioplaſten u. ſ. w. bezeichnet worden ſind. Nur die lebendigen Plaſtidule, als die indi - viduellen Molekeln des aktiven Plasma, ſind reproduktiv und beſitzen ſomit Gedächtniß; das iſt der Hauptunterſchied der orga - niſchen Natur von der anorganiſchen. Man kann ſagen: „ Die140Bewußtes und unbewußtes Gedächtniß. VII. Erblichkeit iſt das Gedächtniß der Plaſtidule, hin - gegen die Variabilität iſt die Faſſungskraft der Plaſtidule “(a. a. O. S. 72). Das elementare Gedächtniß der einzelligen Protiſten ſetzt ſich zuſammen aus dem molekularen Gedächtniß der Plaſti - dule oder Micellen, aus welchen ihr lebendiger Zellenleib ſich aufbaut. Für die erſtaunlichen Leiſtungen des unbewußten Ge - dächtniſſes bei dieſen einzelligen Protiſten iſt wohl keine That - ſache lehrreicher als die unendlich mannigfaltige und regel - mäßige Bildung ihrer komplizirten Schutzapparate, der Schalen und Skelette; beſonders die Diatomeen und Coſmarieen unter den Protophyten, die Radiolarien und Thalamophoren unter den Protozoen liefern dafür eine Fülle von intereſſanten Bei - ſpielen. In vielen tauſend Arten dieſer Protiſten vererbt ſich die ſpecifiſche Skelettform relativ konſtant und bezeugt die Treue ihres unbewußten cellularen Gedächtniſſes.
II. Hiſtonal-Gedächtniß. Ebenſo intereſſante Beweiſe für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewußte Ge - dächtniß der Gewebe, liefert die Vererbung der einzelnen Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der niederen, nervenloſen Thiere (Spongien u. ſ. w.). Dieſe zweite Stufe erſcheint als Reproduktion der Hiſtonal-Vorſtellungen, jener Aſſocion von Cellular-Vorſtellungen, die ſchon mit der Bildung von Cönobien bei den ſocialen Protiſten beginnt.
III. Gleicher Weiſe iſt die dritte Stufe, das „ unbe - wußte Gedächtniß “derjenigen Thiere, die bereits ein Nerven - ſyſtem beſitzen, als Reproduktion der entſprechenden „ unbewußten Vorſtellungen “zu betrachten, welche in gewiſſen Ganglien-Zellen aufgeſpeichert ſind. Bei den meiſten niederen Thieren iſt wohl alles Gedächtniß unbewußt. Aber auch beim Menſchen und den höheren Thieren, denen wir Bewußtſein zuſchreiben müſſen, ſind die täglichen Funktionen des unbewußten Gedächtniſſes un - gleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewußten;141VII. Verkettung der Vorſtellungen.davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tauſend unbewußten Thätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Eſſen u. ſ. w. täglich vollziehen.
IV. Das bewußte Gedächtniß, welches durch be - ſtimmte Gehirnzellen beim Menſchen und den höheren Thieren vermittelt wird, erſcheint daher nur als eine ſpät entſtandene „ innere Spiegelung “, als die höchſte Blüthe derſelben pſychiſchen Vorſtellungs-Reproduktionen, welche bei unſeren niederen thieriſchen Vorfahren ſich als unbewußte Vorgänge in den Ganglien-Zellen abſpielten.
Aſſocion der Vorſtellungen. Die Verkettung der Vorſtellungen, welche man gewöhnlich als Aſſociation der Ideen (oder kürzer Aſſocion) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine lange Skala von den niederſten bis zu den höchſten Stufen. Auch ſie iſt wieder urſprünglich und ganz überwiegend unbewußt („ Inſtinkt “); nur bei den höheren Thierklaſſen wird ſie allmählich bewußt („ Vernunft “). Die pſychiſchen Erzeugniſſe dieſer „ Ideen-Aſſocion “ſind äußerſt mannigfaltig; trotzdem aber führt eine ſehr lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Ent - wickelung von den einfachſten unbewußten Aſſocionen der niederſten Protiſten bis zu den vollkommenſten bewußten Ideen-Verkettungen des Kulturmenſchen hinauf. Auch die Einheit des Bewußt - ſeins bei letzteren wird als das höchſte Ergebniß derſelben erklärt (Hume, Condillac). Alles höhere Seelenleben wird um ſo vollkommener, je mehr ſich die normale Aſſocion unendlich zahlreicher Vorſtellungen ausdehnt, und je naturgemäßer dieſelben durch die „ Kritik der reinen Vernunft “geordnet werden. Im Traume, wo dieſe Kritik fehlt, erfolgt oft die Aſſocion der reproducirten Vorſtellungen in der konfuſeſten Form. Aber auch im Schaffen der dichteriſchen Phantaſie, welche durch mannichfaltige Verkettung vorhandener Vorſtellungen ganz142Inſtinkt und Vernunft. VII. neue Gruppen derſelben producirt, ebenſo in den Hallucinationen u. ſ. w. werden dieſelben oft ganz naturwidrig geordnet und erſcheinen daher bei nüchterner Betrachtung vollkommen un - vernünftig. Ganz beſonders gilt dies von den übernatürlichen „ Geſtalten des Glaubens “, dem Geiſterſpuk des Spiritismus und den Phantaſiebildern der transſcendenten dualiſtiſchen Philo - ſophie; aber gerade dieſe abnormen Aſſocionen des „ Glaubens “und der angeblichen „ Offenbarung “werden vielfach als die werthvollſten „ Geiſtesgüter “des Menſchen hochgeſchätzt*)Adalbert Svoboda, Geſtalten des Glaubens. 1897. (vergl. Kapitel 16).
Inſtinkte. Die veraltete Pſychologie des Mittelalters, die allerdings auch heute noch viele Anhänger beſitzt, betrachtete das Seelenleben des Menſchen und der Thiere als gänzlich ver - ſchiedene Erſcheinungen; ſie leitete das erſtere von der „ Ver - nunft “, das letztere von dem „ Inſtinkt “ab. Der tradi - tionellen Schöpfungsgeſchichte entſprechend nahm man an, daß jeder Thier-Art bei ihrer Schöpfung eine beſtimmte, unbewußte Seelen-Qualität vom Schöpfer eingepflanzt ſei, und daß dieſer „ Naturtrieb “(Inſtinctuſ) einer jeden Specieſ ebenſo un - veränderlich ſei wie deren körperliche Organiſation. Nachdem ſchon Lamarck (1809) bei Begründung ſeiner Deſcendenz - Theorie dieſen Irrthum als unhaltbar erwieſen, wurde er durch Darwin (1859) vollſtändig widerlegt; er bewies an der Hand ſeiner Selektions-Theorie folgende wichtige Lehrſätze: I. Die Inſtinkte der Species ſind individuell verſchieden und ebenſo der Abänderung durch Anpaſſung unterworfen wie die morpho - logiſchen Merkmale der Körperbildung. II. Dieſe Variationen (großentheils durch veränderte Gewohnheiten entſtanden) werden durch Vererbung theilweiſe auf die Nachkommen übertragen und im Laufe der Generationen gehäuft und befeſtigt. III. Die143VII. Primäre und ſekundäre Inſtinkte.Selektion (ebenſo die künſtliche wie die natürliche) trifft unter dieſen erblichen Abänderungen der Seelenthätigkeit eine Aus - wahl, ſie erhält die zweckmäßigſten und entfernt die weniger paſſenden Modifikationen. IV. Die dadurch bedingte Diver - genz des pſychiſchen Charakters führt ſo im Laufe der Gene - rations-Folgen ebenſo zur Entſtehung neuer Inſtinkte, wie die Divergenz des morphologiſchen Charakters zur Entſtehung neuer Species. Dieſe Inſtinkt-Theorie Darwin's iſt jetzt von den meiſten Biologen angenommen; John Romanes hat dieſelbe in ſeinem ausgezeichneten Werke über „ Die geiſtige Entwickelung im Thierreiche “(1885) ſo eingehend behandelt und ſo weſentlich erweitert, daß ich hier lediglich darauf verweiſen kann. Ich will nur kurz bemerken, daß nach meiner Anſicht Inſtinkte bei allen Organismen vorkommen, bei ſämmtlichen Protiſten und Pflanzen ebenſo wie bei ſämmtlichen Thieren und Menſchen; ſie treten aber bei letzteren um ſo mehr zurück, je mehr ſich auf ihre Koſten die Vernunft entwickelt.
Als zwei Hauptklaſſen ſind unter den unzähligen Inſtinkt - Formen die primären und ſekundären zu unterſcheiden; primäre Inſtinkte ſind die allgemeinen niederen Triebe, welche dem Pſychoplasma von Beginn des organiſchen Lebens inne - wohnten und unbewußt waren, vor Allem die Triebe der Selbſt - erhaltung (Schutz und Ernährung), und der Arterhaltung (Fort - pflanzung und Brutpflege). Dieſe beiden Grundtriebe des organiſchen Lebens, Hunger und Liebe, ſind urſprünglich überall unbewußt, ohne Mitwirkung des Verſtandes oder der Vernunft entſtanden; bei höheren Thieren ſind ſie ſpäter, wie beim Menſchen, Gegenſtände des Bewußtſeins geworden. Um - gekehrt verhält es ſich mit den ſekundären Inſtinkten; dieſe ſind urſprünglich durch intelligente Anpaſſung entſtanden, durch verſtändiges Nachdenken und Schließen, ſowie zweckmäßiges bewußtes Handeln; allmählich ſind ſie ſo zur Gewohnheit ge -144Stufenleiter der Vernunft. VII. worden, daß dieſe „ altera natura “unbewußt wirkt und auch bei der Vererbung auf die Nachkommen als „ angeboren “erſcheint. Das urſprünglich mit dieſen beſonderen Inſtinkten der höheren Thiere und des Menſchen verknüpfte Bewußtſein und Nachdenken iſt im Laufe der Zeit den Plaſtidulen verloren gegangen (wie bei der „ abgekürzten Vererbung “). Die unbewußten zweck - mäßigen Handlungen der höheren Thiere (z. B. die Kunſttriebe) erſcheinen jetzt als angeborene Inſtinkte. So iſt auch die Ent - ſtehung der angeborenen „ Erkenntniſſe a priori “beim Menſchen zu erklären, welche urſprünglich bei ſeinen Voreltern a poſteriori ſich empiriſch entwickelt hatten*)E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Neunte Aufl. 1898, S. 29, 777..
Skala der Vernunft. In jenen oberflächlichen, mit dem Seelenleben der Thiere unbekannten pſychologiſchen Betrachtungen, welche nur im Menſchen eine „ wahre Seele “anerkennen, wird auch ihm allein als höchſtes Gut die „ Vernunft “und das Bewußtſein zugeſchrieben. Auch dieſer triviale Irrthum (der übrigens noch heute in vielen Lehrbüchern ſpukt) iſt durch die vergleichende Pſychologie der letzten vierzig Jahre gründlich widerlegt. Die höheren Wirbelthiere (vor Allem die dem Menſchen nächſtſtehenden Säugethiere) beſitzen ebenſo gut Vernunft wie der Menſch ſelbſt, und innerhalb der Thierreihe iſt ebenſo eine lange Stufenleiter in der allmählichen Entwickelung der Vernunft zu verfolgen wie innerhalb der Menſchen-Reihe. Der Unter - ſchied zwiſchen der Vernunft eines Goethe, Kant, Lamarck, Darwin und derjenigen des niederſten Naturmenſchen, eines Wedda, Akka, Auſtralnegers und Patagoniers, iſt viel größer als die graduelle Differenz zwiſchen der Vernunft dieſer letzteren und der „ vernünftigſten “Säugethiere, der Menſchenaffen (Anthropomorpha) und ſelbſt der Papſtaffen Papiomorpha), der Hunde und Elephanten. Auch dieſer wichtige Satz iſt durch145VII. Verſtand und Vernunft.gründliche kritiſche Vergleichung von Romanes u. A. überzeugend bewieſen. Wir gehen daher auf denſelben hier nicht näher ein, ebenſo wenig als auf den Unterſchied zwiſchen Vernunft (Ratio) und Verſtand (Intellectus); über dieſe Begriffe und ihre Grenzen, wie über viele andere Grundbegriffe der Pſycho - logie, geben die angeſehenſten Philoſophen die widerſprechendſten Definitionen. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß die Fähig - keit der Begriffsbildung, welche beiden Gehirn-Funktionen gemeinſam iſt, beim Verſtande den engeren Kreis der konkreten, näher liegenden Aſſocionen umfaßt, bei der Vernunft dagegen den weiteren Kreis der abſtrakten, umfaſſenderen Aſſocions-Gruppen. Auf der langen Stufenleiter, welche von den Reflexthaten und Inſtinkten der niederen Thiere zu der Vernunft der höchſten Thiere hinaufführt, geht der Verſtand der letzteren voraus. Wichtig iſt für unſere allgemeine pſychologiſche Betrachtung vor Allem die Thatſache, daß auch dieſe höchſtentwickelten Seelen - thätigkeiten den Geſetzen der Vererbung und Anpaſſung unter - liegen, ebenſo wie ihre Organe; als ſolche „ Denkorgane “ſind beim Menſchen und den höheren Säugethieren durch Flechſig (1894) diejenigen Theile der Großhirnrinde nach - gewieſen, welche zwiſchen den vier inneren Sinnesherden liegen (vergl. Kapitel 10 und 11).
Sprache. Der höhere Grad von Entwickelung der Begriffe, von Verſtand und Vernunft, welcher den Menſchen ſo hoch über die Thiere erhebt, iſt eng verknüpft mit der Ausbildung ſeiner Sprache. Aber auch hier, wie dort, iſt eine lange Stufenleiter der Entwickelung nachweisbar, welche ununterbrochen von den niederſten zu den höchſten Bildungsſtufen hinaufführt. Sprache iſt ebenſo wenig als Vernunft ein ausſchließliches Eigenthum des Menſchen. Vielmehr iſt Sprache im weiteren Sinne ein gemeinſamer Vorzug aller höheren ſocialen Thiere, mindeſtens aller Gliederthiere und Wirbelthiere, welche in GeſellſchaftenHaeckel, Welträthſel. 10146Entwickelung der Sprache. VII. und Heerden vereinigt leben; ſie iſt ihnen nothwendig zur Ver - ſtändigung, zur Mittheilung ihrer Vorſtellungen. Dieſe kann nun entweder durch Berührung oder durch Zeichengebung geſchehen, oder durch Töne, welche beſtimmte Begriffe bezeichnen. Auch der Geſang der Singvögel und der ſingenden Menſchenaffen (Hylo - bateſ) gehört zur Lautſprache, ebenſo wie das Bellen der Hunde und das Wiehern der Pferde; ferner das Zirpen der Grillen und das Geſchrei der Cikaden. Aber nur beim Menſchen hat ſich jene artikulirte Begriffsſprache entwickelt, welche ſeine Vernunft zu ſo viel höheren Leiſtungen befähigt. Die vergleichende Sprachforſchung, eine der intereſſanteſten in unſerem Jahrhundert entſtandenen Wiſſenſchaften, hat gezeigt, wie die zahlreichen hochentwickelten Sprachen der verſchiedenen Völker ſich aus wenigen einfachen Urſprachen langſam und allmählich entwickelt haben (Wilhelm Humboldt, Bopp, Schleicher, Steinthal u. A.). Insbeſondere hat Auguſt Schleicher*)Auguſt Schleicher, Die Darwin'ſche Theorie und die Sprach - wiſſenſchaft (Weimar 1863); Über die Bedeutung der Sprache für die Naturgeſchichte des Menſchen (Weimar 1865). in Jena gezeigt, daß die hiſtoriſche Entwickelung der Sprachen nach denſelben phylogenetiſchen Geſetzen erfolgt, wie diejenige anderer phyſiologiſcher Thätigkeiten und ihrer Organe. Romanes hat (1893) dieſen Nachweis weiter aus - geführt und überzeugend dargethan, daß auch die Sprache des Menſchen nur dem Grade der Entwickelung nach, nicht dem Weſen und der Art nach von derjenigen der höheren Thiere verſchieden iſt.
Skala der Gemüthsbewegungen oder Affekte. Die wichtige Gruppe von Seelenthätigkeiten, welche wir unter dem Begriffe „ Gemüth “zuſammenfaſſen, ſpielt eine große Rolle ebenſo in der theoretiſchen wie in der praktiſchen Vernunftlehre. Für unſere Betrachtungsweiſe ſind ſie deßhalb beſonders wichtig, weil147VII. Stufenleiter des Gemüthes.hier der direkte Zuſammenhang der Gehirnfunktion mit anderen phyſiologiſchen Funktionen (Herzſchlag, Sinnesthätigkeit, Muskel - bewegung) unmittelbar einleuchtet; dadurch wird hier beſonders das Widernatürliche und Unhaltbare jener Philoſophie klar, welche die Pſychologie principiell von der Phyſiologie trennen will. Alle die zahlreichen Aeußerungen des Gemüthslebens, welche wir beim Menſchen finden, kommen auch bei den höheren Thieren vor (beſonders bei den Menſchenaffen und Hunden); ſo verſchiedenartig ſie auch entwickelt ſind, ſo laſſen ſich doch alle wieder auf die beiden Elementar-Funktionen der Pſyche zurückführen, auf Empfindung und Bewegung, und auf deren Verbindung im Reflex und in der Vorſtellung. Zum Gebiete der Empfindung im weiteren Sinne gehört das Gefühl von Luſt und Unluſt, welches das Gemüth beſtimmt, und ebenſo gehört auf der anderen Seite zum Gebiete der Bewegung die entſprechende Zuneigung und Abneigung („ Liebe und Haß “), das Streben nach Erlangen der Luſt und nach Vermeiden der Unluſt. „ Anziehung und Abſtoßung “erſcheinen hier zugleich als die Urquelle des Willens, jenes hochwichtigen Seelen - Elementes, welches den Charakter des Individuums beſtimmt. Die Leidenſchaften, welche eine ſo große Rolle im höheren Seelenleben des Menſchen ſpielen, ſind nur Steigerungen der „ Gemüthsbewegungen “und Affekte. Daß auch dieſe den Menſchen und Thieren gemeinſam ſind, hat Romanes neuerdings ein - leuchtend gezeigt. Auf der tiefſten Stufe des organiſchen Lebens ſchon finden wir bei allen Protiſten jene elementaren Gefühle von Luſt und Unluſt, welche ſich in ihren ſogenannten Tro - pismen äußeren, in dem Streben nach Licht oder Dunkel - heit, nach Wärme oder Kälte, in dem verſchiedenen Verhalten gegen poſitive und negative Elektricität. Auf der höchſten Stufe des Seelenlebens dagegen treffen wir beim Kulturmenſchen jene feinſten Gefühlstöne und Abſtufungen von Entzücken und Abſcheu,10 *148Stufenleiter des Willens. VII. von Liebe und Haß, welche die Triebfedern der Kulturgeſchichte und die unerſchöpfliche Fundgrube der Poeſie ſind. Und doch verbindet eine zuſammenhängende Kette von allen denkbaren Uebergangsſtufen jene primitivſten Urzuſtände des Gemüths im Pſychoplasma der einzelligen Protiſten mit dieſen höchſten Entwickelungsformen der Leidenſchaft beim Menſchen, welche ſich in den Ganglienzellen der Großhirnrinde abſpielen. Daß auch dieſe letzteren den phyſikaliſchen Geſetzen abſolut unterworfen ſind, hat ſchon der große Spinoza in ſeiner berühmten „ Statik der Gemüthsbewegungen “dargethan.
Skala des Willens. Der Begriff des Willens unter - liegt gleich anderen pſychologiſchen Grundbegriffen (gleich den Begriffen von Vorſtellung, Seele, Geiſt u. ſ. w.) den ver - ſchiedenſten Deutungen und Definitionen. Bald wird der Wille im weiteſten Sinne als kosmologiſches Attribut betrachtet: „ die Welt als Wille und Vorſtellung “(Schopenhauer), bald im engſten Sinne als ein anthropologiſches Attribut, als eine ausſchließliche Eigenſchaft des Menſchen: letzteres gilt z. B. für Descartes, für welchen die Thiere willenloſe und empfindungsloſe Maſchinen ſind. Im gewöhnlichen Sprach - gebrauch wird der Wille von der Erſcheinung der willkürlichen Bewegung abgeleitet und ſomit als eine Seelenthätigkeit der meiſten Thiere betrachtet. Wenn wir den Willen im Lichte der vergleichenden Phyſiologie und Entwickelungsgeſchichte unter - ſuchen, ſo kommen wir — ebenſo wie bei der Empfindung — zur Ueberzeugung, daß er eine allgemeine Eigenſchaft des lebenden Pſychoplasma iſt. Die automatiſchen Bewegungen ſowohl als die Reflexbewegungen, die wir ſchon bei den einzelligen Protiſten allgemein beobachten, erſcheinen uns als die Folge von Strebungen, welche mit dem Begriffe des Lebens ſelbſt untrennbar verknüpft ſind. Auch bei den Pflanzen und den niederſten Thieren erſcheinen die Strebungen oder149VII. Bewußter und unbewußter Wille.Tropismen als das Geſammtreſultat der Strebungen aller einzelnen vereinigten Zellen.
Erſt wenn das „ dreizellige Reflexorgan “ſich entwickelt (S. 134), wenn zwiſchen die ſenſible Sinneszelle und die motoriſche Muskelzelle die ſelbſtändige dritte Zelle einge - ſchaltet wird, die „ Seelenzelle oder Ganglienzelle “, können wir dieſe als ein ſelbſtſtändiges Elementar-Organ des Willens anerkennen. Der Wille bleibt aber hier, bei den niederen Thieren, meiſtens noch unbewußt. Erſt wenn ſich bei den höheren Thieren das Bewußtſein entwickelt, als ſubjektive Spiegelung der objektiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der Seelenzellen, erreicht der Wille jene höchſte Stufe, welche ihn qualitativ dem menſchlichen Willen gleichſtellt, und für den man im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Prädikat der „ Freiheit “in Anſpruch nimmt. Seine freie Entfaltung und Wirkung erſcheint um ſo impoſanter, je mehr ſich mit der freien und ſchnellen Ortsbewegung das Muskelſyſtem und die Sinnes - organe entwickeln und in Korrelation damit die Denkorgane des Gehirns.
Willensfreiheit. Das Problem von der Freiheit des menſchlichen Willens iſt unter allen Welträthſeln dasjenige, welches den denkenden Menſchen von jeher am meiſten be - ſchäftigt hat, und zwar deßhalb, weil ſich hier mit dem hohen philoſophiſchen Intereſſe der Frage zugleich die wichtigſten Folgerungen für die praktiſche Philoſophie verknüpfen, für die Moral, die Erziehung, die Rechtspflege u. ſ. w. E. du Bois - Reymond, welcher dasſelbe als das ſiebente und letzte unter ſeinen „ ſieben Welträthſeln “behandelt, ſagt daher von dem Problem der Willensfreiheit mit Recht: „ Jeden berührend, ſcheinbar Jedem zugänglich, innig verflochten mit den Grund - bedingungen der menſchlichen Geſellſchaft, auf das Tiefſte ein - greifend in die religiöſen Ueberzeugungen, hat dieſe Frage in150Problem der Willensfreiheit. VII. der Geiſtes - und Kulturgeſchichte eine Rolle von unermeßlicher Wichtigkeit geſpielt, und in ihrer Behandlung ſpiegeln ſich die Entwickelungsſtadien des Menſchengeiſtes deutlich ab. — Vielleicht giebt es keinen Gegenſtand menſchlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeſchlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern. “— Dieſe Wichtigkeit der Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß Kant die Ueber - zeugung von der „ Willensfreiheit “unmittelbar neben diejenige von der „ Unſterblichkeit der Seele “und neben den „ Glauben an Gott “ſtellte. Er bezeichnete dieſe drei großen Fragen als die drei unentbehrlichen „ Poſtulate der praktiſchen Ver - nunft “, nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die Realität derſelben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu beweiſen iſt!
Das Merkwürdigſte in dem großartigen und höchſt ver - worrenen Streite über die Willensfreiheit iſt vielleicht die That - ſache, daß dieſelbe theoretiſch nicht nur von höchſt kritiſchen Philoſophen, ſondern auch von den extremſten Gegenſätzen ver - neint und trotzdem von den meiſten Menſchen als ſelbſtverſtändlich noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der chriſtlichen Kirche, wie der Kirchenvater Auguſtin und der Reformator Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenſo beſtimmt wie die bekannteſten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach im achtzehnten und Büchner im neunzehnten Jahrhundert. Die chriſtlichen Theologen verneinen ſie, weil ſie mit ihrem feſten Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädeſtination un - vereinbar iſt; Gott, der Allmächtige und Allwiſſende, ſah und wollte Alles von Ewigkeit voraus; alſo beſtimmte er auch das Handeln der Menſchen. Wenn der Menſch nach freiem Willen handelte, anders, als es Gott vorausbeſtimmt hatte, ſo wäre Gott nicht allmächtig und allwiſſend geweſen. In demſelben Sinne war auch Leibniz unbedingter Determiniſt. Die151VII. Dogma der Willensfreiheit.moniſtiſchen Naturforſcher des vorigen Jahrhunderts, Allen voran Laplace, vertheidigten den Determinismus wieder auf Grund ihrer einheitlichen mechaniſchen Weltanſchauung.
Der gewaltige Kampf zwiſchen den Determiniſten und Indeterminiſten, zwiſchen den Gegnern und den Anhängern der Willensfreiheit, iſt heute, nach mehr als zwei Jahrtauſenden, endgültig zu Gunſten der erſteren entſchieden. Der menſchliche Wille iſt ebenſo wenig frei als derjenige der höheren Thiere, von welchem er ſich nur dem Grade, nicht der Art nach unter - ſcheidet. Während noch im vorigen Jahrhundert das Dogma von der Willensfreiheit weſentlich mit allgemeinen, philoſophiſchen und kosmologiſchen Gründen beſtritten wurde, hat uns dagegen unſer 19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu deſſen definitiver Widerlegung geſchenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arſenal der vergleichenden Phyſiologie und Ent - wickelungsgeſchichte verdanken. Wir wiſſen jetzt, daß jeder Willens-Akt ebenſo durch die Organiſation des wollenden Indi - viduums beſtimmt und ebenſo von den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig iſt wie jede andere Seelen - thätigkeit. Der Charakter des Strebens iſt von vornherein durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der Entſchluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die An - paſſung an die momentanen Umſtände gegeben, wobei das ſtärkſte Motiv den Ausſchlag giebt, entſprechend den Geſetzen, welche die Statik der Gemüthsbewegungen beſtimmen. Die Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwickelung des Willens beim Kinde verſtehen, die Phylogenie aber die hiſto - riſche Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unſerer Vertebraten-Ahnen.
[152]Moniſtiſche Studien über ontogenetiſche Pſychologie. Entwicke - lung des Seelenlebens im individuellen Leben der Perſon.
„ Die merkwürdigen Thatſachen der Befruch - tung ſind von höchſtem Intereſſe für die Pſycho - logie, insbeſondere für die Lehre von der Zell - ſeele, als deren naturgemäßes Fundament. Denn die wichtigen Vorgänge der Empfängniß (bei welchen die männliche Spermazelle mit der weiblichen Eizelle zur Bildung einer neuen Zelle verſchmilzt) können nur dann verſtanden und erklärt werden, wenn wir dieſen beiden Geſchlechtszellen eine Art niederer Seelenthätigkeit zuſchreiben. Beide empfinden gegenſeitig ihre Nähe, beide werden durch einen ſinnlichen (wahrſcheinlich dem Geruch ver - wandten) Trieb zu einander hingezogen: beide bewegen ſich auf einander zu und ruhen nicht, bis ſie mit einander verſchmelzen. — Die beſondere Miſchung beider elterlicher Zellkerne bedingt in jeden: Kinde deſſen individuellen, pſychiſchen Charakter. “(Anthropogenie (1891).)[154]
Bedeutung der Ontogenie für die Pſychologie. Entwickelung der Kindes-Seele. Beginn der Exiſtenz der individuellen Seele. Einſchachtelung der Seele. Mythologie des Seelen-Urſprungs. Phyſiologie des Seelen - Urſprungs. Elementare Vorgänge bei der Befruchtung. Kopulation der weiblichen Eizelle und der männlichen Samenzelle. Zellenliebe. Vererbung der Seele von Eltern und Voreltern. Ihre phyſiologiſche Natur als Mechanik des Plasma. Seelenmiſchung (pſychiſche Amphigonie). Rückſchlag, pſycho - logiſcher Atavismus. Das biogenetiſche Grundgeſetz in der Pſychologie. Palingenetiſche Wiederholung und cenogenetiſche Abänderung. Embryonale und poſtembryonale Pſychogenie.
John Romanes, Die geiſtige Entwickelung beim Menſchen. Urſprung der menſchlichen Befähigung. Leipzig 1893.
Wilhelm Preyer, Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geiſtige Entwickelung des Menſchen in den erſten Lebensjahren. Leipzig 1882. Dritte Auflage 1890.
Ernſt Haeckel, Bildungsgeſchichte unſeres Nervenſyſtems. Anthropogenie. Vierte Auflage. Leipzig 1891.
Julien Lamettrie, Der Menſch als Maſchine. Leyden 1748.
Theodor Ribot, Die Erblichkeit. Leipzig 1876. Das Gedächtniß und ſeine Störungen. Leipzig 1882.
Auguſt Forel, Das Gedächtniß und ſeine Abnormitäten. Zürich 1885.
Wilhelm Preyer, Specielle Phyſiologie des Embryo. Unterſuchungen über die Lebenserſcheinungen vor der Geburt. Leipzig 1884.
Ernſt Haeckel, Zellſeelen und Seelenzellen — Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. (Geſammelte populäre Vorträge aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. I. u. II. Heft.) Bonn 1878.
Unſere menſchliche Seele — gleichviel, wie man ihr „ Weſen “auffaßt — unterliegt im Laufe unſeres individuellen Lebens einer ſtetigen Entwickelung. Dieſe ontogenetiſche Thatſache iſt für unſere moniſtiſche Pſychologie von fundamentaler Bedeutung, obwohl die meiſten „ Pſychologen von Fach “ihr theils nur ge - ringe, theils gar keine Berückſichtigung ſchenken. Wie nun die individuelle Entwickelungsgeſchichte nach Baer's Ausdruck — und nach der jetzt allgemein herrſchenden Ueberzeugung der Bio - logen — der „ wahre Lichtträger für alle Unterſuchungen über organiſche Körper iſt “, ſo wird dieſelbe auch über die wichtigſten Geheimniſſe ihres Seelenlebens uns erſt das wahre Licht an - zünden.
Obgleich nun dieſe „ Keimesgeſchichte der Menſchen-Seele “äußerſt wichtig und intereſſant iſt, hat ſie doch bisher nur in ſehr beſchränktem Umfange die verdiente Berückſichtigung ge - funden. Es waren bisher faſt ausſchließlich die Pädagogen, welche ſich mit einem Theile derſelben beſchäftigten; durch ihren praktiſchen Beruf darauf angewieſen, die Ausbildung der Seelen - thätigkeit beim Kinde zu leiten und zu überwachen, mußten ſie auch theoretiſches Intereſſe an den dabei beobachteten pſychogene - tiſchen Thatſachen finden. Indeſſen ſtanden dieſe Pädagogen — ſoweit ſie überhaupt darüber nachdachten! — in der Neuzeit wie im Alterthum größtentheils im Banne der herrſchenden dualiſti - ſchen Pſychologie; dagegen waren ſie mit den wichtigſten That -156Entſtehung der Seele. VIII. ſachen der vergleichenden Pſychologie, ſowie mit der Organiſation und Funktion des Gehirns meiſtens nicht bekannt. Außerdem aber betrafen ihre Beobachtungen größtentheils erſt die Kinder in ſchulpflichtigem Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden Lebensjahren. Die merkwürdigen Erſcheinungen, welche die indi - viduelle Pſychogenie des Kindes gerade in den erſten Lebens - jahren darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig bewundern, wurden faſt niemals Gegenſtand eingehender wiſſen - ſchaftlicher Studien. Hier hat erſt Wilhelm Preyer (1881) Bahn gebrochen, in ſeiner intereſſanten Schrift über „ Die Seele des Kindes; Beobachtungen über die geiſtige Entwickelung des Menſchen in den erſten Lebensjahren “. Indeſſen müſſen wir, um volle Klarheit zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die erſte Entſtehung der Seele im befruchteten Ei.
Entſtehung der individuellen Seele. Der Urſprung und die erſte Entſtehung des menſchlichen Individuums — ebenſo unſers Körpers wie unſerer Seele — galt noch im Anfange des 19. Jahrhunderts für ein vollkommenes Geheimniß. Allerdings hatte der große Caſpar Friedrich Wolff ſchon 1759 in ſeiner Theoria generationiſ das wahre Weſen der embryonalen Entwicke - lung aufgedeckt und an der ſicheren Hand kritiſcher Beobachtung gezeigt, daß bei der Entwickelung des Keimes aus dem einfachen Ei eine wahre Epigeneſis, d. h. eine Reihe der merkwürdigſten Neubildungs-Prozeſſe ſtattfinde*)E. Haeckel, Anthropogenie. Vierte Auflage 1891. S. 23-38.. Allein die damalige Phyſio - logie, an ihrer Spitze der berühmte Albert Haller, lehnte dieſe empiriſchen, unmittelbar mikroſkopiſch zu demonſtriren - den Erkenntniſſe rundweg ab und hielt an dem hergebrachten Dogma der embryonalen Präformation feſt. Nach dieſem nahm man an, daß im menſchlichen Ei — ebenſo wie im Ei aller Thiere — der Organismus mit allen ſeinen Theilen vor -157VIII. Einſchachtelung der Seele.gebildet oder präformirt ſei; die „ Entwickelung “des Keimes beſtehe eigentlich nur in einer „ Auswickelung “(Evolutio) der eingewickelten Theile. Als nothwendiger Folgeſchluß dieſes Irr - thums ergab ſich daraus weiterhin die oben erwähnte Einſchach - telungs-Theorie (S. 65); da im weiblichen Embryo bereits der Eierſtock vorhanden wäre, mußte man annehmen, daß in deſſen Eiern wieder ſchon die Keime der nächſten Generation ein - geſchachtelt vorhanden ſeien, und ſo weiter, in infinitum! Dieſem Dogma der „ Ovuliſten “- Schule ſtand gegenüber eine andere, ebenſo irrthümliche Anſicht, die der „ Animalkuliſten “; dieſe glaubten, daß der eigentliche Keim nicht in der weiblichen Eizelle der Mutter, ſondern in der männlichen Spermazelle des Vaters liege, und daß in dieſem „ Samenthierchen “(Spermatozoon) die Ein - ſchachtelung der Generations-Reihen zu ſuchen ſei.
Leibniz übertrug dieſe Einſchachtelungs-Lehre ganz folge - richtig auch auf die menſchliche Seele; er leugnete für ſie eine wahre Entwickelung (Epigeneſiſ) ebenſo wie für den Körper und ſagte in ſeinen Theodicee: „ So ſollte ich meinen, daß die Seelen, welche eines Tages menſchliche Seelen ſein werden, im Samen, wie jene von anderen Species, dageweſen ſind; daß ſie in den Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit dem Anfang der Dinge, immer in der Form organiſirter Körper exiſtirt haben. “ Aehnliche Vorſtellungen erhielten ſich ſowohl in der Biologie wie in der Philoſophie noch bis in das dritte Decennium unſeres Jahrhunderts, wo ihnen die Reform der Keimesgeſchichte durch Baer den Todesſtoß verſetzte. Im Gebiete der Pſychologie haben ſie aber ſelbſt bis auf den heutigen Tag noch vielfach Geltung; ſie ſtellen nur eine Gruppe unter den vielen ſeltſamen, myſtiſchen Vorſtellungen dar, welche die Ontogenie der Pſyche auch heute noch aufweiſt.
Mythologie des Seelen-Urſprungs. Die näheren Auf - ſchlüſſe, welche wir durch die vergleichende Ethnologie neuerdings158Mythologie der Seele. VIII. über die mannigfaltigen Mythen-Bildungen der älteren Kultur - Völker ſowohl als der heutigen Natur-Völker gewonnen haben, ſind auch für die Pſychogenie von großem Intereſſe; indeſſen würde es hier viel zu weit führen, wenn wir darauf eingehen wollten; wir verweiſen darüber auf das treffliche Werk von Adalbert Svoboda: „ Geſtalten des Glaubens “(1897). Betreffs ihres wiſſenſchaftlichen oder poetiſchen Gehaltes können die betreffenden pſychogenetiſchen Mythen etwa folgender - maßen in fünf Gruppen geordnet werden: I. Mythus der Seelen-Wanderung; die Seele lebte früher im Körper eines anderen Thieres und iſt erſt aus dieſem in den menſchlichen Körper übergetreten; die ägyptiſchen Prieſter z. B. behaupteten, daß die menſchliche Seele nach dem Tode des Leibes durch alle Thier[-]Gattungen hindurchwandere, nach 3000 Jahren aber wieder in einen Menſchenleib zurückkehre. II. Mythus der Seelen - Einpflanzung; die Seele exiſtirte ſelbſtſtändig an einem an - deren Orte, in einer pſychogenetiſchen Vorrathskammer (etwa in einer Art von Keimſchlaf oder latentem Leben); ſie wird von einem Vogel (bisweilen als Adler, gewöhnlich als „ Klapper - ſtorch “gedacht) geholt und in den menſchlichen Körper eingeſetzt. III. Mythus der Seelen-Schöpfung; der göttliche Schöpfer, als perſönlicher „ Gott-Vater “gedacht, erſchafft die Seelen, hält ſie vorräthig — bald in einem Seelenteich (als „ Plankton “lebend), bald an einem Seelenbaum (als Früchte einer phanero - gamen Pflanze gedacht); der Schöpfer nimmt dieſelben heraus und ſetzt ſie (während des Zeugungs-Aktes) dem menſchlichen Keime ein. IV. Mythus der Seelen-Einſchachtelung (von Leibniz, vorher erwähnt). V. Mythus der Seelen - Theilung (von Rudolf Wagner, 1855, auch von anderen Phyſiologen angenommen)*)Vergl. Carl Vogt, Köhlerglaube und Wiſſenſchaft. 1855.; im Zeugungs-Akte ſpaltet ſich ein159VIII. Seele der Geſchlechtszellen.Theil von beiden (immateriellen!) Seelen ab, die den Körper der beiden kopulirenden Eltern bewohnen; der mütterliche Seelen - keim reitet auf der Eizelle, der väterliche auf dem beweglichen Samenthierchen; indem dieſe beiden Keimzellen verſchmelzen, wachſen auch die beiden ſie begleitenden Seelen zur Bildung einer neuen immateriellen Seele zuſammen.
Phyſiologie des Seelen-Urſprungs. Obwohl die an - geführten Dichtungen über die Entſtehung der einzelnen Menſchen - Seele heute noch ſehr weite Verbreitung und Anerkennung beſitzen, iſt dennoch ihr rein mythologiſcher Charakter jetzt ſicher nach - gewieſen. Die hochintereſſanten und bewunderungswürdigen Unterſuchungen, welche im Laufe der letzten 25 Jahre über die feineren Vorgänge bei der Befruchtung und Keimung des Eies ausgeführt worden ſind, haben ergeben, daß dieſe myſteriöſen Erſcheinungen ſämmlich in das Gebiet der Zellen-Phyſio - logie gehören (vergl. oben S. 55). Sowohl die weibliche Keim-Anlage, das Ei, als der männliche Befruchtungs-Körper, das Spermium oder Samen-Element, ſind einfache Zellen. Dieſe lebendigen Zellen beſitzen eine Summe von phyſiologiſchen Eigenſchaften, welche wir unter dem Begriff der Zellſeele zuſammenfaſſen, ebenſo wie bei den permanent einzelligen Protiſten (vgl. S. 56). Beiderlei Geſchlechts-Zellen beſitzen das Vermögen der Bewegung und Empfindung. Die jugendliche Eizelle oder das „ Ur-Ei “bewegt ſich nach Art einer Amöbe; die ſehr kleinen Samenkörperchen oder Spermien, von welchen Millionen in jedem Tropfen des ſchleimartigen männlichen Samens (Sperma) ſich finden, ſind Geißelzellen und bewegen ſich mittelſt ihrer ſchwingen - den Geißel ebenſo lebhaft ſchwimmend im Sperma umher wie gewöhnliche Geißel-Infuſorien (Flagellaten).
Wenn nun die beiderlei Zellen in Folge der Begattung zuſammentreffen, oder wenn ſie durch künſtliche Befruchtung (z. B. bei Fiſchen) in Berührung gebracht werden, ziehen ſie ſich gegen -160Wahlverwandtſchaft der Geſchlechtszellen. VIII. ſeitig an und legen ſich feſt an einander. Die Urſache dieſer cellularen Attraktion iſt eine chemiſche, dem Geruche oder Ge - ſchmacke verwandte Sinnes-Thätigkeit des Plasma, die wir als „ erotiſchen Chemotropismus “bezeichnen; man kann ſie auch geradezu (ſowohl im Sinne der Chemie als im Sinne der Roman-Liebe) „ Zellen-Wahlverwandtſchaft “oder „ ſexuelle Zellenliebe nennen. Zahlreiche Geißelzellen des Sperma ſchwimmen auf die ruhige Eizelle lebhaft hin und verſuchen in deren Körper einzudringen. Wie Hertwig (1875) gezeigt hat, gelingt es aber normaler Weiſe nur einem einzigen glücklichen Bewerber, das erſehnte Ziel wirklich zu erreichen. Sobald ſich dieſes bevorzugte „ Samenthierchen “mit ſeinem „ Kopfe “(d. h. dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle eingebohrt hat, wird von der Eizelle eine dünne Schleimſchicht abgeſondert, welche das Eindringen anderer männlicher Zellen verhindert. Nur wenn Hertwig durch niedere Temperatur die Eizelle in Kälte-Starre verſetzte oder ſie durch narkotiſche Mittel (Chloroform, Mor - phium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung dieſer Schutz - hülle; dann trat „ Ueberfruchtung “oder Polyſpermie ein, und zahlreiche Samenfäden bohrten ſich in den Leib der bewußt - loſen Zelle ein (Anthropogenie S. 147). Dieſe merkwürdige Thatſache bezeugte ebenſo einen niederen Grad von „ cellu - larem Inſtinkt “(oder mindeſtens von ſpecifiſcher, ſinnlicher, lebhafter Empfindung) in den beiderlei Geſchlechts-Zellen wie die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf ſich in ihrem Innern abſpielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und der männliche Spermakern, ziehen ſich gegenſeitig an, nähern ſich und verſchmelzen bei der Berührung vollſtändig mit einander. So iſt denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue Zelle entſtanden, welche wir Stammzelle (Cytula) nennen, und aus deren wiederholten Theilung der ganze vielzellige Organismus hervorgeht.
161VIII. Exiſtenz-Beginn der Seele.Die pſychologiſchen Erkenntniſſe, welche ſich aus dieſen merkwürdigen, erſt in den letzten 25 Jahren ſicher beobachteten Thatſachen der Befruchtung ergeben, ſind überaus wichtig und bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung gewürdigt. Wir faſſen die weſentlichſten Folgerungen in folgenden fünf Sätzen zuſammen: I. Jedes menſchliche Individuum iſt, wie jedes andere höhere Thier, im Beginne ſeiner Exiſtenz eine ein - fache Zelle. II. Dieſe Stammzelle (Cytula) entſteht überall auf dieſelbe Weiſe, durch Verſchmelzung oder Kopulation von zwei getrennten Zellen verſchiedenen Urſprungs, der weiblichen Ei - zelle (Ovulum) und der männlichen Spermazelle (Spermium). III. Beide Geſchlechtszellen beſitzen eine verſchiedene „ Zellſeele “, d. h. beide ſind durch eine beſondere Form von Empfindung und von Bewegung ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Be - fruchtung oder Empfängniß verſchmelzen nicht nur die Plasma - körper der beiden Geſchlechtszellen und ihre Kerne, ſondern auch die „ Seelen “derſelben; d. h. die Spannkräfte, welche in beiden enthalten und an die Materie des Plasma untrennbar gebunden ſind, vereinigen ſich zur Bildung einer neuen Spannkraft, des „ Seelenkeimes “der neugebildeten Stammzelle. V. Daher beſitzt jede Perſon leibliche und geiſtige Eigenſchaften von beiden Eltern; durch Vererbung überträgt der Kern der Eizelle einen Theil der mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Theil der väter - lichen Eigenſchaften.
Durch dieſe empiriſch erkannten Erſcheinungen der Konception wird ferner die höchſt wichtige Thatſache feſtgeſtellt, daß jeder Menſch wie jedes andere Thier einen Beginn der indivi - duellen Exiſtenz hat; die völlige Kopulation der beiden ſexuellen Zellkerne bezeichnet haarſcharf den Augenblick, in welchem nicht nur der Körper der neuen Stammzelle entſteht, ſondern auch ihre „ Seele “. Durch dieſe Thatſache allein ſchon wird der alte Mythus von der Unſterblichkeit der Seele widerlegt,Haeckel, Welträthſel. 11162Exiſtenz-Beginn der Seele. VIII. auf den wir ſpäter zurückkommen. Ferner wird dadurch der noch ſehr verbreitete Aberglaube widerlegt, daß der Menſch ſeine individuelle Exiſtenz der „ Gnade des liebenden Gottes “verdankt. Die Urſache derſelben beruht vielmehr einzig und allein auf dem „ Eros “ſeiner beiden Eltern, auf jenem mächtigen, allen viel - zelligen Thieren und Pflanzen gemeinſamen Geſchlechtstriebe, welcher zu deren Begattung führt. Das Weſentliche bei dieſem phyſiologiſchen Proceſſe iſt aber nicht, wie man früher annahm, die „ Umarmung “oder die damit verknüpften Liebesſpiele, ſon - dern einzig und allein die Einführung des männlichen Sperma in die weiblichen Geſchlechts-Kanäle. Nur dadurch wird es bei den landbewohnenden Thieren möglich, daß der befruchtende Samen mit der abgelöſten Eizelle zuſammenkommt (was beim Menſchen gewöhnlich innerhalb des Uterus geſchieht). Bei nie - deren, waſſerbewohnenden Thieren (z. B. Fiſchen, Muſcheln, Meduſen) werden beiderlei reife Geſchlechts-Produkte einfach in das Waſſer entleert, und hier bleibt ihr Zuſammentreffen dem Zufall überlaſſen; dann fehlt eine eigentliche Begattung, und damit zugleich fallen jene zuſammengeſetzten pſychiſchen Funktionen des „ Liebeslebens “hinweg, die bei höheren Thieren eine ſo große Rolle ſpielen. Daher fehlen auch allen niederen, nicht kopuliren - den Thieren jene intereſſanten Organe, die Darwin als „ ſekundäre Sexual-Charaktere “bezeichnet hat, die Produkte der geſchlechtlichen Zuchtwahl: der Bart des Mannes, das Geweih des Hirſches, das prachtvolle Gefieder der Paradiesvögel und vieler Hühner-Vögel, ſowie viele andere Auszeichnungen der Männchen, welche den Weibchen fehlen.
Vererbung der Seele. Unter den angeführten Folge - ſchlüſſen der Konceptions-Phyſiologie iſt für die Pſycho - logie ganz beſonders wichtig die Vererbung der Seelen - Qualitäten von beiden Eltern. Daß jedes Kind beſon - dere Eigenthümlichkeiten des Charakters, Temperament, Talent,163VIII. Vererbung der Seele.Sinnesſchärfe, Willens-Energie von beiden Eltern erbt, iſt allgemein bekannt. Ebenſo bekannt iſt die Thatſache, daß oft (oder eigentlich allgemein!) auch pſychiſche Eigenſchaften von beiderlei Großeltern durch Vererbung übertragen werden; ja häufig ſtimmt in einzelnen Beziehungen der Menſch mehr mit den Großeltern als mit den Eltern überein, und das gilt ebenſo von geiſtigen wie von körperlichen Eigenthümlichkeiten. Alle die merkwürdigen Geſetze der Vererbung, welche ich zuerſt (1866) in der Generellen Morphologie formulirt und in der Natürlichen Schöpfungsgeſchichte populär behandelt habe, beſitzen ebenſo allgemeine Gültigkeit für die beſonderen Erſcheinungen der Seelenthätigkeit wie der Körperbildung; ja, ſie treten uns häufig an der erſteren noch viel auffallender und klarer entgegen als an der letzteren.
Nun iſt ja an ſich das große Gebiet der Vererbung, für deſſen ungeheuere Bedeutung uns erſt Darwin (1859) das wiſſenſchaftliche Verſtändniß eröffnet hat, reich an dunkeln Räthſeln und phyſiologiſchen Schwierigkeiten; wir dürfen nicht beanſpruchen, daß uns ſchon jetzt, nach 40 Jahren, alle Seiten desſelben klar vor Augen liegen. Aber ſo viel haben wir doch ſchon ſicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine phyſiologiſche Funktion des Organismus betrachten, die mit der Thätigkeit ſeiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft iſt; und wie alle anderen Lebensthätigkeiten müſſen wir auch dieſe ſchließlich auf phyſikaliſche und chemiſche Proceſſe, auf Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir aber jetzt den Vorgang der Befruchtung ſelbſt genau; wir wiſſen, daß dabei ebenſo der Spermakern die väterlichen, wie der Eikern die mütterlichen Eigenſchaften auf die neugebildete Stammzelle über - trägt. Die Vermiſchung beider Zellkerne iſt das eigentliche Haupt - moment der Vererbung; durch ſie werden ebenſo die individuellen Eigenſchaften der Seele wie des Leibes auf das neugebildete11 *164Vermiſchung der Seelen. VIII. Individuum übertragen. Dieſen ontogenetiſchen Thatſachen ſteht die dualiſtiſche und myſtiſche Pſychologie der noch heute herrſchen - den Schulen rathlos gegenüber, während ſie ſich durch unſere moniſtiſche Pſychogenie in einfachſter Weiſe erklären.
Seelenmiſchung (pſychiſche Amphigonie). Die phyſio - logiſche Thatſache, auf welche es für die richtige Beurtheilung der individuellen Pſychogenie vor Allem ankommt, iſt die Kon - tinuität der Pſyche in der Generations-Reihe. Wenn im Konceptions-Momente auch thatſächlich ein neues Individuum entſteht, ſo iſt dasſelbe doch weder hinſichtlich ſeiner geiſtigen noch leiblichen Qualität eine unabhängige Neubildung, ſondern lediglich das Produkt aus der Verſchmelzung der beiden elter - lichen Faktoren, der mütterlichen Eizelle und der väterlichen Spermazelle. Die Zellſeelen dieſer beiden Geſchlechtszellen ver - ſchmelzen im Befruchtungs-Akte ebenſo vollſtändig zur Bildung einer neuen Zellſeele, wie die beiden Zellkerne, welche die materiellen Träger dieſer pſychiſchen Spannkräfte ſind, zu einem neuen Zellkern ſich verbinden. Da wir nun ſehen, daß die Individuen einer und derſelben Art — ja ſelbſt die Geſchwiſter, die von einem gemeinſamen Eltern-Paare abſtammen — ſtets gewiſſe, wenn auch geringfügige Unterſchiede zeigen, ſo müſſen wir annehmen, daß ſolche auch ſchon in der chemiſchen Plasma - Konſtitution der kopulirenden Keimzellen ſelbſt vorhanden ſind (Geſetz der individuellen Variation, Natürl. Schöpfgsg. S. 215).
Aus dieſen Thatſachen allein ſchon läßt ſich die unendliche Mannigfaltigkeit der individuellen Seelen - und Form-Erſchei - nungen in der organiſchen Natur begreifen. In extremer, aber einſeitiger Konſequenz ergiebt ſich daraus die Auffaſſung von Weismann, welcher die Amphimixis, die Miſchung des Keimplasma bei der geſchlechtlichen Zeugung, ſogar als die all - gemeine und ausſchließliche Urſache der individuellen Variabilität betrachtet. Dieſe exkluſive Auffaſſung, die mit ſeiner Theorie165VIII. Atavismus der Seelen.von der Kontinuität des Keimplasma zuſammenhängt, iſt nach meiner Anſicht übertrieben; vielmehr halte ich an der Ueber - zeugung feſt, daß die mächtigen Geſetze der progreſſiven Vererbung und der damit verknüpften funktionellen Anpaſſung ebenſo für die Seele wie für den Leib gelten. Die neuen Eigenſchaften, welche das Individuum während ſeines Lebens erworben hat, können theilweiſe auf die molekulare Zuſammenſetzung des Keimplasma in der Eizelle und Samen - zelle zurückwirken und können ſo durch Vererbung unter gewiſſen Bedingungen (natürlich nur als latente Spannkräfte) auf die nächſte Generation übertragen werden.
Pſychologiſcher Atavismus. Wenn bei der Seelen - Miſchung im Augenblicke der Empfängniß zunächſt auch nur die Spannkräfte der beiden Eltern-Seelen mittelſt Verſchmelzung der beiden erotiſchen Zellkerne erblich übertragen werden, ſo kann damit doch zugleich der erbliche pſychiſche Einfluß älterer, oft weit zurückliegender Generationen mit fortgepflanzt werden. Denn auch die Geſetze der latenten Vererbung oder des Atavismus gelten ebenſo für die Pſyche wie für die ana - tomiſche Organiſation. Die merkwürdigen Erſcheinungen dieſes „ Rückſchlags “begegnen uns in ſehr einfacher und lehr - reicher Form beim „ Generationswechſel “der Polypen und Me - duſen. Hier wechſeln regelmäßig zwei ſehr verſchiedene Gene - rationen ſo mit einander ab, daß die erſte der dritten, fünften u. ſ. w. gleich iſt, dagegen die zweite (von jenen ſehr verſchiedene) der vierten, ſechſten u. ſ. w. (Natürl. Schöpfgsg. S. 185). Beim Menſchen wie bei den höheren Thieren und Pflanzen, wo in Folge kontinuirlicher Vererbung jede Generation der anderen gleicht, fehlt jener reguläre Generationswechſel; aber trotzdem fallen uns auch hier vielfach Erſcheinungen des Rückſchlags oder Atavismus auf, welche auf dasſelbe Geſetz der latenten Vererbung zurückzuführen ſind.
166Palingeneſe der Seele. VIII.Gerade in feineren Zügen des Seelenlebens, im Beſitze be - ſtimmter künſtleriſcher Talente oder Neigungen, in der Energie des Charakters, in der Leidenſchaft des Temperamentes gleichen oft hervorragende Menſchen mehr ihren Großeltern als den Eltern; nicht ſelten tritt auch ein auffälliger Charakterzug her - vor, den weder dieſe noch jene beſaßen, der aber in einem älteren Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit ſich offenbart hatte. Auch in dieſen merkwürdigen Atavismen gelten dieſelben Vererbungs - geſetze für die Pſyche wie für die Phyſiognomie, für die indi - viduelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln, des Skeletts und anderer Körperteile. Am auffälligſten können wir dieſelben in regierenden Dynaſtien und in alten Adels-Geſchlechtern ver - folgen, deren hervorragende Thätigkeit im Staatsleben zur ge - naueren hiſtoriſchen Darſtellung der Individuen in der Generations - Kette Veranlaſſung gegeben hat, ſo z. B. bei den Hohenzollern, Hohenſtaufen, Oraniern, Bourbonen u. ſ. w., und nicht minder bei den römiſchen Cäſaren.
Das biogenetiſche Grundgeſetz in der Pſychologie (1866). Der Kauſal-Nexus der biontiſchen (individuellen) und der phyletiſchen (hiſtoriſchen) Entwickelung, den ich ſchon in der Generellen Morphologie als oberſtes Geſetz an die Spitze aller biogenetiſchen Unterſuchungen geſtellt hatte, beſitzt ebenſo allgemeine Geltung für die Pſychologie wie für die Mor - phologie. Die beſondere Bedeutung, welche dasſelbe in beiden Beziehungen für den Menſchen beanſprucht, habe ich (1874) im erſten Vortrage meiner Anthropogenie ausgeführt: „ Das Grund - geſetz der organiſchen Entwickelung “. Wie bei allen anderen Organismen, ſo iſt auch beim Menſchen „ die Keimes - geſchichte ein Auszug der Stammesgeſchichte “. Dieſe gedrängte und abgekürzte Rekapitulation iſt um ſo vollſtändiger, je mehr durch beſtändige Vererbung die urſprüngliche Auszugs - entwickelung (Palingeneſiſ) beibehalten wird; hingegen wird167VIII. Cenogeneſe der Seele.ſie um ſo unvollſtändiger, je mehr durch wechſelnde Anpaſſung die ſpätere Störungsentwickelung (Cenogeneſiſ) eingeführt wird (Anthropogenie S. 11, 19).
Indem wir dieſes Grundgeſetz auf die Entwickelungsgeſchichte der Seele anwenden, müſſen wir ganz beſonderen Nachdruck darauf legen, daß ſtets beide Seiten desſelben kritiſch im Auge zu behalten ſind. Denn beim Menſchen wie bei allen höheren Thieren und Pflanzen haben im Laufe der phyletiſchen Jahr - Millionen ſo beträchtliche Störungen oder Cenogeneſen ſich ausgebildet, daß dadurch das urſprüngliche, reine Bild der Palingeneſe oder des „ Geſchichts-Auszuges “ſtark getrübt und verändert erſcheint. Während einerſeits durch die Geſetze der gleichzeitlichen und gleichörtlichen Vererbung die palin - genetiſche Rekapitulation erhalten bleibt, wird ſie andererſeits durch die Geſetze der abgekürzten und vereinfachten Vererbung weſentlich cenogenetiſch verändert (Nat. Schöpfgsg. S. 190). Zunächſt iſt das deutlich erkennbar in der Keimesgeſchichte der Seelen-Organe, des Nerven-Syſtems, der Muskeln und Sinnes - Organe. In ganz gleicher Weiſe gilt dasſelbe aber auch von der Seelen-Thätigkeit, die untrennbar an die normale Ausbildung dieſer Organe gebunden iſt. Die Keimesgeſchichte derſelben iſt beim Menſchen, wie bei allen anderen lebendig gebärenden Thieren, ſchon deßhalb ſtark cenogenetiſch abgeändert, weil die volle Aus - bildung des Keimes hier längere Zeit innerhalb des mütterlichen Körpers ſtattfindet. Wir müſſen daher als zwei Hauptperioden der individuellen Pſychogenie unterſcheiden: I. die embryonale und II. die poſtembryonale Entwickelungsgeſchichte der Seele.
Embryonale Pſychogenie. Der menſchliche Keim oder Embryo entwickelt ſich normaler Weiſe im Mutterleibe während des Zeitraums von neun Monaten (oder 270 Tagen). Während dieſes Zeitraums iſt er vollkommen von der Außenwelt ab - geſchloſſen und nicht allein durch die dicke Muskelwand des168Verwandlung der Seele. VIII. mütterlichen Fruchtbehälters (Uteruſ) geſchützt, ſondern auch durch die beſonderen Fruchthüllen (Embryolemmen), welche allen drei höheren Wirbelthier-Klaſſen gemeinſam zukommen, den Rep - tilien, Vögeln und Säugethieren. Bei allen drei Amnioten - Klaſſen entwickeln ſich dieſe Fruchthüllen (Amnion oder Waſſer - haut und Serolemma oder ſeröſe Haut) genau in derſelben Weiſe. Es ſind das Schutz-Einrichtungen, welche von den älteſten Rep - tilien (Proreptilien), den gemeinſamen Stammformen aller Am - nioten, erſt in der Perm-Periode (gegen Ende des paläozoiſchen Zeitalters) erworben wurden, als dieſe höheren Wirbelthiere ſich an das beſtändige Landleben und die Luftathmung gewöhnten. Ihre vorhergehenden Ahnen, die Amphibien der Steinkohlen - Periode, lebten und athmeten noch im Waſſer, wie ihre älteren Vorfahren, die Fiſche.
Bei dieſen älteren und niederen waſſerbewohnenden Wirbel - thieren beſaß die Keimesgeſchichte noch in viel höherem Grade den palingenetiſchen Charakter, wie es auch noch bei den meiſten Fiſchen und Amphibien der Gegenwart der Fall iſt. Die be - kannten Kaulquappen, die Larven der Salamander und Fröſche, bewahren noch heute in der erſten Zeit des freien Waſſerlebens den Körperbau ihrer Fiſch-Ahnen; ſie gleichen ihnen auch in der Lebensweiſe, in der Kiemenathmung, in der Funktion ihrer Sinnes-Organe und ihrer anderen Seelen-Organe. Erſt wenn die intereſſante Metamorphoſe der ſchwimmenden Kaulquappen eintritt, und wenn ſie ſich an das Landleben gewöhnen, ver - wandelt ſich ihr fiſchähnlicher Körper in das vierfüßige, kriechende Amphibium; an die Stelle der Kiemen-Athmung im Waſſer tritt die ausſchließliche Luftathmung durch Lungen, und mit der ver - änderten Lebensweiſe erlangt auch der Seelen-Apparat, Nerven - ſyſtem und Sinnes-Organe, einen höheren Grad der Ausbildung. Wenn wir die Pſychogenie der Kaulquappen von Anfang bis zu Ende vollſtändig verfolgen könnten, würden wir das biogenetiſche169VIII. Keimſchlaf der Seele.Grundgeſetz vielfach auf die Entwickelung ihrer Seele anwenden können. Denn ſie entwickeln ſich unmittelbar unter den wechſeln - den Bedingungen der Außenwelt und müſſen dieſen frühzeitig ihre Empfindung und Bewegung anpaſſen. Die ſchwimmende Kaulquappe beſitzt nicht nur die Organiſation, ſondern auch die Lebensweiſe des Fiſches und erlangt erſt durch ihre Verwandlung diejenige des Froſches.
Beim Menſchen wie bei allen anderen Amnioten iſt das nicht der Fall; ihr Embryo iſt ſchon durch den Einſchluß in die ſchützenden Eihüllen dem direkten Einfluſſe der Außenwelt ganz entzogen und jeder Wechſelwirkung mit derſelben entwöhnt. Außerdem aber bietet die beſondere Brutpflege der Amnion - thiere ihrem Keime viel günſtigere Bedingungen für cenogenetiſche Abkürzung der palingenetiſchen Entwickelung. Vor Allem gehört dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; ſie geſchieht bei den Reptilien, Vögeln und Monotremen (den eierlegenden Säuge - thieren) durch den großen gelben Nahrungsdotter, welcher dem Ei beigegeben iſt, bei den übrigen Mammalien hingegen (Beutel - thieren und Zottenthieren) durch das Blut der Mutter, welches durch die Blutgefäße des Dotterſackes und der Allantois dem Keime zugeführt wird. Bei den höchſtentwickelten Zotten - thieren (Placentalia) hat dieſe zweckmäßige Ernährungsform durch Ausbildung des Mutterkuchens (Placenta) den höchſten Grad der Vollkommenheit erreicht; daher iſt der Embryo ſchon vor der Geburt hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber befindet ſich während dieſer ganzen Zeit im Zuſtande des Keim - ſchlafes, einem Ruhezuſtande, welchen Preyer mit Recht dem Winterſchlafe der Thiere verglichen hat. Einen gleichen, lange dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzuſtande jener Inſekten, welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen (Schmetterlinge, Immen, Fliegen, Käfer u. ſ. w.). Hier iſt der Puppenſchlaf, während deſſen die wichtigſten Umbildungen170Lebens-Perioden der Seele. VIII. der Organe und Gewebe vor ſich gehen, um ſo intereſſanter, als der vorhergehende Zuſtand der frei lebenden Larve (Raupe, Engerling oder Made) ein ſehr entwickeltes Seelenleben beſitzt, und als dieſes bedeutend unter derjenigen Stufe ſteht, welche ſpäter (nach dem Puppenſchlaf) das vollendete, geflügelte und geſchlechtsreife Inſekt zeigt.
Poſtembryonale Pſychogenie. Die Seelenthätigkeit des Menſchen durchläuft während ſeines individuellen Lebens, ebenſo wie bei den meiſten höheren Thieren, eine Reihe von Entwicke - lungs-Stufen; als die wichtigſten derſelben können wir wohl folgende fünf Haupt-Abſchnitte unterſcheiden: 1. die Seele des Neugeborenen bis zum Erwachen des Selbſtbewußtſeins und zum Erlernen der Sprache, 2. die Seele des Knaben und des Mädchens bis zur Pubertät (zum Erwachen des Geſchlechtstriebes), 3. die Seele des Jünglings und der Jungfrau bis zum Eintritt der ſexuellen Verbindung (die Periode der „ Ideale “), 4. die Seele des erwachſenen Mannes und der reifen Frau (Periode der vollen Reife und der Familien-Gründung, beim Manne meiſtens bis ungefähr zum ſechzigſten, beim Weibe bis zum fünfzigſten Lebens - jahre, bis zum Eintritt der Involution), 5. die Seele des Greiſes und der Greiſin (Periode der Rückbildung). Das Seelenleben des Menſchen durchläuft alſo dieſelben Entwickelungsſtufen der aufſteigenden Fortbildung, der vollen Reife und der abſteigenden Rückbildung wie jede andere Lebensthätigkeit des Organismus.
Moniſtiſche Studien über phylogenetiſche Pſychologie. Entwickelung des Seelenlebens in der thieriſchen Ahnen-Reihe des Menſchen.
„ Die phyſiologiſchen Funktionen des Orga - nismus, welche wir unter dem Begriffe der Seelen - thätigkeit — oder kurz der „ Seele “— zuſammen - faſſen, werden beim Menſchen durch dieſelben mechaniſchen (phyſikaliſchen und chemiſchen) Pro - ceſſe vermittelt wie bei den übrigen Wirbel - thieren. Auch die Organe dieſer pſychiſchen Funktionen ſind hier und dort dieſelben: das Gehirn und Rückenmark als Centralorgane, die peripheren Nerven und die Sinnesorgane. Wie dieſe Seelen-Organe ſich beim Menſchen langſam und ſtufenweiſe aus den niederen Zu - ſtänden ihrer Vertebraten-Ahnen entwickelt haben, ſo gilt dasſelbe natürlich auch von ihren Funktio - nen, von der Seele ſelbſt. “(Syſtematiſche Phylogenie der Wirbel - thiere (1895).)[172]
Stufenweiſe hiſtoriſche Entwickelung der Menſchenſeele aus der Thier - ſeele. Methoden der phylogenetiſchen Pſychologie. Vier Hauptſtufen in der Stammesgeſchichte der Seele. I. Zellſeele (Cytopſyche) der Protiſten (Infu - ſorien, Eizelle), Cellular-Pſychologie. II. Zellvereins-Seele oder Cönobial - Pſyche (Cönopſyche). Pſychologie der Morula und Blaſtula. III. Gewebe - Seele (Hiſtopſyche). Ihre Duplicität. Pflanzenſeele. Seele von nerven - loſen niederen Thieren. Doppelſeele der Siphonophoren (Perſonal-Seele und Normal-Seele). IV. Nervenſeele (Neuropſyche) bei höheren Thieren. Drei Beſtandtheile ihres Seelen-Apparates: Sinnesorgane, Muskeln und Nerven. Typiſche Bildung des Nervencentrums in den verſchiedenen Thierſtämmen. Seelenorgan der Wirbelthiere: Markrohr oder Medullarrohr (Gehirn und Rückenmark). Seelen-Geſchichte der Säugethiere.
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Die Deſcendenz-Theorie in Verbindung mit der Anthro - pologie hat uns überzeugt, daß unſer menſchlicher Organismus aus einer langen Reihe thieriſcher Vorfahren durch allmähliche Umbildung im Laufe vieler Jahr-Millionen langſam und ſtufen - weiſe ſich entwickelt hat. Da wir nun das Seelenleben des Menſchen von ſeinen übrigen Lebensthätigkeiten nicht trennen können, vielmehr zu der Ueberzeugung von der einheitlichen Ent - wickelung unſeres ganzen Körpers und Geiſtes gelangt ſind, ſo ergiebt ſich auch für die moderne moniſtiſche Pſychologie die Aufgabe, die hiſtoriſche Entwickelung der Menſchenſeele aus der Thierſeele ſtufenweiſe zu verfolgen. Die Löſung dieſer Auf - gabe verſucht unſere „ Stammesgeſchichte der Seele “oder die Phylogenie der Pſyche; man kann ſie auch, als Zweig der allgemeinen Seelenkunde, mit dem Namen der phylogene - tiſchen Pſychologie oder — im Gegenſatze zur bion - tiſchen (individuellen) — als phyletiſche Pſychogenie bezeichnen. Obgleich dieſe neue Wiſſenſchaft noch kaum ernſtlich in Angriff genommen iſt, obgleich ſelbſt ihre Exiſtenz-Berechtigung von den meiſten Fach-Pſychologen beſtritten wird, müſſen wir für ſie dennoch die allerhöchſte Wichtigkeit und das größte In - tereſſe in Anſpruch nehmen. Denn nach unſerer feſten Ueber - zeugung iſt ſie vor Allem berufen, uns das große „ Welträthſel “vom Weſen und der Entſtehung unſerer Seele zu löſen.
174Stammesgeſchichte der Seele. IX.Methoden der phyletiſchen Pſychogenie. Die Mittel und Wege, welche zu dem weit entfernten, im Nebel der Zukunft für Viele noch kaum erkennbaren Ziele der phylogenetiſchen Pſychologie hinführen ſollen, ſind von denjenigen anderer ſtammesgeſchichtlicher Forſchungen nicht verſchieden. Vor Allem iſt auch hier die vergleichende Anatomie, Phyſiologie und Onto - genie von höchſtem Werthe. Aber auch die Paläontologie liefert uns eine Anzahl von ſicheren Stützpunkten; denn die Reihenfolge, in welcher die verſteinerten Ueberreſte der Vertebraten-Klaſſen nach einander in den Perioden der organiſchen Erdgeſchichte auf - treten, offenbart uns theilweiſe, zugleich mit deren phyletiſchem Zuſammenhang, auch die ſtufenweiſe Ausbildung ihrer Seelen - thätigkeit. Freilich ſind wir hier, wie überall bei phylogenetiſchen Unterſuchungen, zur Bildung zahlreicher Hypotheſen gezwungen, welche die empfindlichen Lücken der empiriſchen Stammesurkunden ausfüllen; aber dennoch werfen die letzteren ein ſo helles und bedeutungsvolles Licht auf die wichtigſten Abſtufungen der ge - ſchichtlichen Entwickelung, daß wir eine befriedigende Einſicht in deren allgemeinen Verlauf gewinnen können.
Hauptſtufen der phyletiſchen Pſychogenie. Die ver - gleichende Pſychologie des Menſchen und der höheren Thiere läßt uns zunächſt in den höchſten Gruppen der placentalen Säugethiere, bei den Herrenthieren (Primateſ), die wichtigen Fortſchritte erkennen, durch welche die Menſchen-Seele aus der Pſyche der Menſchen-Affen (Anthropomorpha) hervorgegangen iſt. Die Phylogenie der Säugethiere und weiterhin der niederen Wirbelthiere zeigt uns die lange Reihe der älteren Vorfahren der Primaten, welche innerhalb dieſes Stammes ſeit der Silur-Zeit ſich entwickelt haben. Alle dieſe Vertebraten ſtimmen überein in der Struktur und Entwickelung ihres charakte - riſtiſchen Seelen-Organs, des Markrohrs. Daß dieſes „ Me - dullar-Rohr “ſich aus einem dorſalen Akroganglion oder175IX. Stammesgeſchichte der Seele.Scheitelhirn wirbelloſer Vorfahren hervorgebildet hat, lehrt uns die vergleichende Anatomie der Wurmthiere oder Verma - lien. Weiter zurückgehend erfahren wir durch die vergleichende Ontogenie, daß dieſes einfache Seelenorgan aus der Zellenſchicht des äußeren Keimblattes, aus dem Ektoderm von Platodarien entſtanden iſt; bei dieſen älteſten Plattenthieren, die noch kein geſondertes Nerven-Syſtem beſaßen, wirkt die äußere Hautdecke als univerſales Sinnes - und Seelen-Organ. Durch die ver - gleichende Keimesgeſchichte überzeugen wir uns endlich, daß dieſe einfachſten Metazoen durch Gaſtrulation aus Blaſtäaden ent - ſtanden ſind, aus Hohlkugeln, deren Wand eine einfache Zellenſchicht bildete, das Blaſtoderm; zugleich lernen wir durch dieſelbe mit Hülfe des biogenetiſchen Grundgeſetzes verſtehen, wie dieſe Protozoen-Cönobien urſprünglich aus einfachſten einzelligen Urthieren hervorgegangen ſind.
Durch die kritiſche Deutung dieſer verſchiedenen Keim - bildungen, deren Entſtehung aus einander wir unmittelbar durch mikroſkopiſche Beobachtung verfolgen können, erhalten wir mittelſt unſeres biogenetiſchen Grundgeſetzes die wichtigſten Auf - ſchlüſſe über die Hauptſtufen in der Stammesgeſchichte unſeres Seelenlebens; wir können deren zunächſt acht unterſcheiden: 1. Einzellige Protozoen mit einfacher Zellſeele: Infuſo - rien; 2. vielzellige Protozoen mit Cönobial-Seele: Ka - kallakten; 3. älteſte Metazoen mit Epithelial-Seele: Platodarien; 4. wirbelloſe Ahnen mit einfachem Scheitel - hirn: Vermalien; 5. ſchädelloſe Wirbelthiere mit einfachem Markrohr, ohne Gehirn: Akranier; 6. Schädelthiere mit Gehirn (aus fünf Hirnblaſen entſtanden): Kranioten; 7. Säugethiere mit überwiegend entwickelter Großhirnrinde: Placentalien; 8. höhere Menſchen-Affen und Menſchen, mit Denkorganen (im Principalhirn): Anthropomorphen. Unter dieſen acht Hauptſtufen in der Stammesgeſchichte der176Zellſeele der Urthiere (Cytopſyche). IX. menſchlichen Pſyche laſſen ſich weiterhin noch eine Anzahl von untergeordneten Entwickelungsſtufen mit mehr oder weniger Klarheit unterſcheiden. Selbſtverſtändlich ſind wir aber bei deren Rekonſtruktion auf diejenigen lückenhaften Zeugniſſe der empiriſchen Pſychologie angewieſen, welche uns die vergleichende Anatomie und Phyſiologie der gegenwärtigen Fauna an die Hand giebt. Da die Schädelthiere der ſechſten Stufe, und zwar echte Fiſche, ſich ſchon im ſiluriſchen Syſtem verſteinert finden, ſind wir zu der Annahme gezwungen, daß die fünf vorhergehenden (der Ver - ſteinerung nicht fähigen!) Ahnen-Stufen ſich ſchon in früherer, präſiluriſcher Zeit entwickelt haben.
I. Die Zellſeele (Cytopſyche); erſte Hauptſtufe der phyletiſchen Pſychogeneſis. Die älteſten Vorfahren des Menſchen, wie aller übrigen Thiere, waren einzeilige Urthiere (Protozoa). Dieſe Fundamental-Hypotheſe der rationellen Phylo - genie ergiebt ſich nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze aus der bekannten embryologiſchen Thatſache, daß jeder Menſch, wie jedes andere Metazoon (jedes vielzellige „ Gewebethier “), im Beginne ſeiner individuellen Exiſtenz eine einfache Zelle iſt, die „ Stammzelle “(Cytula) oder die „ befruchtete Eizelle “(vergl. S. 73). Wie dieſe letztere ſchon von Anfang an „ beſeelt “war, ſo auch jene entſprechende einzellige Stammform, welche in der älteſten Ahnen-Reihe des Menſchen durch eine Kette von verſchiedenen Protozoen vertreten war.
Ueber die Seelenthätigkeit dieſer einzelligen Organismen unterrichtet uns die vergleichende Phyſiologie der heute noch lebenden Protiſten; ſowohl genaue Beobachtung als ſinnreiches Experiment haben uns hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahr - hunderts ein neues Gebiet voll höchſt intereſſanter Erſcheinungen eröffnet. Die beſte Darſtellung derſelben hat 1889 Max Ver - worn gegeben, in ſeinen gedankenreichen, auf eigene originelle177IX. Theorie der Zellſeele.Verſuche geſtützten „ Pſycho-phyſiologiſchen Protiſten - Studien “. Auch die wenigen älteren Beobachtungen über „ das Seelenleben der Protiſten “ſind darin zuſammengeſtellt. Verworn gelangte zu der feſten Ueberzeugung, daß bei allen Protiſten die pſychiſchen Vorgänge noch unbewußt ſind, daß die Vorgänge der Empfindung und Bewegung hier noch mit den molekularen Lebensproceſſen im Plasma ſelbſt zuſammenfallen, und daß ihre letzten Urſachen in den Eigenſchaften der Plasma - Moleküle (der Plaſtidule) zu ſuchen ſind. „ Die pſychiſchen Vorgänge im Protiſtenreich ſind daher die Brücke, welche die chemiſchen Proceſſe in der unorganiſchen Natur mit dem Seelen - leben der höchſten Thiere verbindet; ſie repräſentiren den Keim der höchſten pſychiſchen Erſcheinungen bei den Metazoen und dem Menſchen. “
Die ſorgfältigen Beobachtungen und zahlreichen Experimente von Verworn, im Verein mit denjenigen von Wilhelm Engelmann, Wilhelm Preyer, Richard Hertwig und anderen neueren Protiſten-Forſchern, liefern die bündigen Beweiſe für meine moniſtiſche „ Theorie der Zellſeele “(1866). Geſtützt auf eigene langjährige Unterſuchungen von verſchiedenen Protiſten, beſonders von Rhizopoden und Infuſorien, hatte ich ſchon vor 33 Jahren den Satz aufgeſtellt, daß jede lebendige Zelle pſychiſche Eigenſchaften beſitzt, und daß alſo auch das Seelenleben der vielzelligen Thiere und Pflanzen nichts Anderes iſt als das Reſultat der pſychiſchen Funktionen der ihren Leib zuſammenſetzenden Zellen. Bei den niederen Gruppen (z. B. Algen und Spongien) ſind alle Zellen des Körpers gleichmäßig (oder mit geringen Unterſchieden) daran betheiligt; in den höheren Gruppen dagegen, entſprechend den Geſetzen der Arbeitstheilung, nur ein auserleſener Theil derſelben, die „ Seelenzellen “. Die bedeutungsvollen Konſequenzen dieſer „ Cel - lular-Pſychologie “hatte ich theils 1876 in meiner SchriftHaeckel, Welträthſel. 12178Verwandlung der Zellſeele. IX. über die „ Perigeneſis der Plaſtidule “erörtert, theils 1877 in meiner Münchener Rede „ über die heutige Entwickelungslehre im Verhältniß zur Geſammtwiſſenſchaft “. Eine mehr populäre Dar - ſtellung derſelben enthalten meine beiden Wiener Vorträge (1878) „ über Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge “und „ über Zellſeelen und Seelenzellen “*)E. Haeckel, Geſammelte populäre Vorträge aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. Bonn 1878.
Die einfache Zellſeele zeigt übrigens ſchon innerhalb des Protiſtenreiches eine lange Reihe von Entwickelungsſtufen, von ganz einfachen, primitiven bis zu ſehr vollkommenen und hohen Seelen-Zuſtänden. Bei den älteſten und einfachſten Protiſten iſt das Vermögen der Empfindung und Bewegung gleichmäßig auf das ganze Plasma des homogenen Körperchens vertheilt; bei den höheren Formen dagegen ſondern ſich als phyſiologiſche Organe derſelben beſondere „ Zellwerkzeuge “oder Organelle. Der - artige motoriſche Zelltheile ſind die Pſeudopodien der Rhizopoden, die Flimmerhaare, Geißeln und Wimpern der Infuſorien. Als ein inneres Central-Organ des Zellenlebens wird der Zellkern betrachtet, welcher den älteſten und niederſten Protiſten noch fehlt. In phyſiologiſch-chemiſcher Beziehung iſt beſonders hervor - zuheben, daß die urſprünglichſten und älteſten Protiſten Plas - modomen waren, mit pflanzlichem Stoffwechſel, alſo Proto - phyten oder „ Urpflanzen “; aus ihnen entſtanden erſt ſekundär, durch Metaſitismus, die erſten Plasmophagen, mit thieriſchem Stoffwechſel, alſo Protozoen oder „ Urthiere “**)E. Haeckel, Syſtematiſche Phylogenie Bd. I, 1894, § 38.. Dieſer Metaſitismus, die „ Umkehrung des Stoffwechſels “, bedeutete einen wichtigen pſychologiſchen Fortſchritt; denn damit begann die Entwickelung jener charakteriſtiſchen Vorzüge der „ Thierſeele “, welche der „ Pflanzenſeele “noch fehlen.
Die höchſte Ausbildung der thieriſchen Zellſeele treffen wir in der Klaſſe der Ciliaten oder Wimper-Infuſorien. 179IX. Zellvereins-Seele (Cönopſyche).Wenn wir dieſelbe mit den entſprechenden Seelenthätigkeiten höherer, vielzelliger Thiere vergleichen, ſo ſcheint kaum ein pſycho - logiſcher Unterſchied zu beſtehen; die ſenſiblen und motoriſchen Organelle jener Protozoen ſcheinen dasſelbe zu leiſten wie die Sinnesorgane, Nerven und Muskeln dieſer Metazoen. Man hat ſogar in dem großen Zellkern (Meganucleuſ) der Infuſorien ein Central-Organ der Seelenthätigkeit erblickt, welches in ihrem einzelligen Organismus eine ähnliche Rolle ſpiele wie das Gehirn im Seelenleben höherer Thiere. Indeſſen iſt ſehr ſchwer zu entſcheiden, wie weit dieſe Vergleiche berechtigt ſind; auch gehen darüber die Anſichten der ſpeciellen Infuſorien-Kenner weit aus einander. Die Einen faſſen alle ſpontanen Körper-Bewegungen derſelben als automatiſche oder impulſive, alle Reiz-Bewegungen als Reflexe auf; die Anderen erblicken darin theilweiſe willkür - liche und abſichtliche Bewegungen. Während die Letzteren den Infuſorien bereits ein gewiſſes Bewußtſein, eine einheitliche Ich - Vorſtellung zuſchreiben, wird dieſe von den Erſteren geleugnet. Gleichviel, wie man dieſe höchſt ſchwierige Frage entſcheiden will, ſo ſteht doch ſo viel feſt, daß uns dieſe einzelligen Protozoen eine hochentwickelte Zellſeele zeigen, welche für die richtige Beurtheilung der Pſyche unſerer älteſten einzelligen Vorfahren von höchſtem Intereſſe iſt.
II. Zellvereins-Seele oder Cönobial-Pſyche (Coenopſyche); zweite Hauptſtufe der phyletiſchen Pſychogeneſis. Die individuelle Entwickelung beginnt beim Menſchen wie bei allen anderen vielzelligen Thieren mit der wiederholten Theilung einer einfachen Zelle. Die Stammzelle (Cytula) oder die „ befruchtete Eizelle “zerfällt durch den Vorgang der gewöhnlichen indirekten Zelltheilung zunächſt in zwei Tochterzellen; indem dieſer Vorgang ſich wiederholt, entſtehen (bei der „ äqualen Eifurchung “) nach einander 4, 8, 16, 32, 64 gleiche „ Furchungszellen oder Blaſto - meren “. Gewöhnlich (d. h. bei der Mehrzahl der Thiere) tritt12*180Zellvereins-Seele der Keimblaſe. IX. an die Stelle dieſer urſprünglichen, gleichmäßigen Zelltheilung früher oder ſpäter eine ungleichmäßige Vermehrung. Das Er - gebniß iſt aber in allen Fällen dasſelbe: die Bildung eines (meiſt kugelförmigen) Haufens oder Ballens von indifferenten (urſprüng - lich gleichartigen) Zellen. Wir nennen dieſen Zuſtand den Maulbeerkeim (Morula; vergl. Anthropogenie S. 159). Ge - wöhnlich ſammelt ſich dann im Innern dieſes maulbeerförmigen Zellen-Aggregates Flüſſigkeit an; es verwandelt ſich in Folge deſſen in ein kugeliges Bläschen; alle Zellen treten an deſſen Oberfläche und ordnen ſich in eine einfache Zellenſchicht, die Keimhaut (Blaſtoderma). Die ſo entſtandene Hohlkugel iſt der bedeutungsvolle Zuſtand der Keimblaſe (Blaſtula oder Blaſtoſphaera, Anthropogenie S. 159).
Die pſychologiſchen Thatſachen, welche wir un - mittelbar bei der Bildung der Blaſtula beobachten können, ſind theils Bewegungen, theils Empfindungen dieſes Zellvereins. Die Bewegungen zerfallen in zwei Gruppen: 1. die inneren Be - wegungen, welche überall in weſentlich gleicher Weiſe beim Vorgange der gewöhnlichen (indirekten) Zelltheilung ſich wieder - holen (Bildung der Kernſpindel, Mitoſe, Karyokineſe u. ſ. w.); 2. die äußeren Bewegungen, welche in der geſetzmäßigen Lage - Veränderung der geſelligen Zellen und ihrer Gruppirung bei Bildung des Blaſtoderms zu Tage treten. Wir faſſen dieſe Be - wegungen als heredive und unbewußte auf, weil ſie überall in gleicher Weiſe durch Vererbung von den älteren Ahnen-Reihen der Protiſten bedingt ſind. Die Empfindungen können ebenfalls in zwei Gruppen unterſchieden werden: 1. die Em - pfindungen der einzelnen Zellen, welche ſich in der Behauptung ihrer individuellen Selbſtändigkeit und ihrem Verhalten gegen die Nachbar-Zellen äußern (mit denen ſie in Kontakt und theil - weiſe durch Plasma-Brücken in direkter Verbindung ſtehen); 2. die einheitliche Empfindung des ganzen Zellvereins oder Cöno -181IX. Gewebe-Seele (Hiſtopſyche).biums, welche in der individuellen Geſtaltung der Blaſtula als Hohlkugel zu Tage tritt (Anthropogenie S. 491).
Das kauſale Verſtändniß der Blaſtula-Bildung liefert uns das biogenetiſche Grundgeſetz, indem es die unmittelbar zu beobachtenden Erſcheinungen derſelben durch die Vererbung erklärt und auf entſprechende hiſtoriſche Vorgänge zurückführt, welche ſich urſprünglich bei der Entſtehung der älteſten Protiſten - Cönobien, der Blaſtäaden, vollzogen haben (Syſt. Phyl. III, §§ 22-26). Die phyſiologiſche und pſychologiſche Einſicht in dieſe wichtigen Proceſſe der älteſten Zellen-Aſſocion ge - winnen wir aber durch Beobachtung und Experiment an den heute noch lebenden Cönobien. Solche beſtändige Zellvereine oder Zellhorden (auch als Zellkolonien, Zellgemeinden oder Zell - ſtöckchen bezeichnet) ſind noch heute ſehr verbreitet, ſowohl unter den plasmodomen Urpflanzen (z. B. Paulotomeen, Diato - meen, Volvocinen) als unter den plasmophagen Urthieren (Infuſorien und Rhizopoden). In allen dieſen Cönobien können wir bereits neben einander zwei verſchiedene Stufen der pſychiſchen Thätigkeit unterſcheiden: I. die Zellſeele der einzelnen Zell - Individuen (als „ Elementar-Organismen “) und II. die Cöno - bialſeele des ganzen Zellvereins.
III. Gewebe-Seele (Hiſtopſyche): dritte Hauptſtufe der phyletiſchen Pſychogeneſis. Bei allen vielzelligen und gewebebildenden Pflanzen (den Metaphyten oder Gewebe - Pflanzen) und ebenſo bei den niederſten, nervenloſen Klaſſen der Gewebethiere (Metazoen) haben wir zunächſt zwei verſchiedene Formen der Seelenthätigkeit zu unterſcheiden, nämlich A. die Pſyche der einzelnen Zellen, welche die Gewebe zuſammenſetzen, und B. die Pſyche der Gewebe ſelbſt oder des „ Zellenſtaates “, welcher von dieſen gebildet wird. Dieſe Gewebe-Seele iſt überall die höhere pſychologiſche Funktion, welche den zuſammengeſetzten viel - zelligen Organismus als einheitliches Bion oder „ phyſio - “182Pflanzen-Seele (Phytopſyche). IX. „ logiſches Individuum “, als wirklichen „ Zellenſtaat “erſcheinen läßt. Sie beherrſcht alle die einzelnen „ Zellſeelen “der ſocialen Zellen, welche als abhängige „ Staatsbürger “den einheitlichen Zellenſtaat konſtituiren. Dieſe fundamentale Duplicität der Pſyche bei den Metaphyten und bei den niederen, nervenloſen Metazoen iſt ſehr wichtig; ſie wird durch unbefangene Beobachtung und paſſenden Verſuch unmittelbar bewieſen: erſtens beſitzt jede einzelne Zelle ihre eigene Empfindung und Bewegung, und zweitens zeigt jedes Gewebe und jedes Organ, das aus einer Zahl gleich - artiger Zellen ſich zuſammenſetzt, ſeine beſondere Reizbarkeit und pſychiſche Einheit (z. B. Pollen und Staubgefäße).
III. A. Die Pflanzen-Seele (Phytopſyche) iſt für uns der Inbegriff der geſammten pſychiſchen Thätigkeit der gewebe - bildenden, vielzelligen Pflanzen (Metaphyten, nach Aus - ſchluß der einzelligen Protophyten); ſie iſt Gegenſtand der ver - ſchiedenſten Beurtheilung bis auf den heutigen Tag geblieben. Früher fand man gewöhnlich einen Hauptunterſchied zwiſchen Pflanzen und Thieren darin, daß man den letzteren allgemein eine „ Seele “zuſchrieb, den erſteren dagegen nicht. Indeſſen führte unbefangene Vergleichung der Reizbarkeit und der Be - wegungen bei verſchiedenen höheren Pflanzen und niederen Thieren ſchon im Anfange des Jahrhunderts einzelne Forſcher zu der Ueberzeugung, daß beide gleichmäßig beſeelt ſein müßten. Später traten namentlich Fechner, Leitgeb u. A. lebhaft für die Annahme einer „ Pflanzen-Seele “ein. Tieferes Verſtändniß derſelben wurde erſt erworben, nachdem durch die Zellen - theorie (1838) die gleiche Elementar-Struktur in Pflanzen und Thieren nachgewieſen und beſonders ſeitdem durch die Plasma-Theorie von Max Schultze (1859) das gleiche Verhalten des aktiven, lebendigen Protoplasma in beiden er - kannt worden war. Die neuere vergleichende Phyſiologie (ſeit 30 Jahren) zeigte ſodann, daß das phyſiologiſche Verhalten gegen183IX. Seelenleben der Pflanzen.verſchiedene Reize (Licht, Elektricität, Wärme, Schwere, Reibung, chemiſche Einflüſſe u. ſ. w.) in den „ empfindlichen “Körper - theilen vieler Pflanzen und Thiere ganz ähnlich iſt, und daß auch die Reflex-Bewegungen, die jene Reize hervorrufen, ganz ähnlichen Verlauf haben. Wenn man daher dieſe Thätigkeiten bei niederen, nervenloſen Metazoen (Schwämmen, Polypen) einer beſonderen „ Seele “zuſchrieb, ſo war man berechtigt, dieſelbe auch bei vielen (oder eigentlich allen) Metaphyten anzunehmen, mindeſtens bei den ſehr „ empfindlichen “Sinnpflanzen (Mimoſa), den Fliegenfallen (Dionaea, Droſera) und den zahlreichen ran - kenden Kletter - und Schlingpflanzen.
Allerdings hat nun die neuere Pflanzen-Phyſiologie viele dieſer „ Reizbewegungen “oder Tropismen rein phyſikaliſch erklärt, durch beſondere Verhältniſſe des Wachsthums, durch Turgor-Schwankungen u. ſ. w. Allein dieſe mechaniſchen Ur - ſachen ſind nicht mehr und nicht minder pſychophyſiſch als die ähnlichen „ Reflex-Bewegungen “bei Spongien, Polypen und anderen nervenloſen Metazoen, ſelbſt wenn der Mechanismus derſelben hier weſentlich verſchieden iſt. Der Charakter der Hiſtopſyche oder Gewebe-Seele zeigt ſich in beiden Fällen gleichmäßig darin, daß die Zellen des Gewebes (des geſetzmäßig geordneten Zellverbandes) die von einem Theile empfangenen Reize fortleiten und dadurch Bewegungen anderer Theile oder des ganzen Organs hervorrufen. Dieſe Reizleitung kann hier ebenſo als „ Seelenthätigkeit “bezeichnet werden wie die vollkommenere Form derſelben bei Nerventhieren; ſie erklärt ſich anatomiſch dadurch, daß die ſocialen Zellen des Gewebes oder Zellverbandes nicht (wie man früher glaubte) getrennt an einander liegen, ſondern überall durch feine Plasmafäden oder Brücken zu - ſammenhängen. Wenn die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimoſen) bei der Berührung oder Erſchütterung ihre ausgebreiteten Fieder - blättchen ſchließen und die Blattſtiele herabſenken, wenn die reiz -184Gewebe-Seele nervenloſer Thiere. IX. bare Fliegenfalle (Dionaea) bei der Berührung ihrer Blätter dieſe raſch zuſammenklappt und die Fliege fängt, ſo erſcheint die Empfindung lebhafter, die Reizleitung ſchneller und die Bewegung energiſcher als die Reflex-Reaktion des gereizten Badeſchwammes und vieler anderer Spongien.
III. B. Die Seele nervenloſer Metazoen. Von ganz be - ſonderem Intereſſe für die vergleichende Pſychologie im Allge - meinen und für die Phylogenie der Thierſeele im Beſonderen iſt die Seelenthätigkeit jener niederen Metazoen, welche zwar Gewebe und oft bereits differenzirte Organe beſitzen, aber weder Nerven noch ſpecifiſche Sinnesorgane. Dahin gehören vier verſchiedene Gruppen von älteſten Cölenterien oder Niederthieren, nämlich: 1. die Gaſträaden, 2. die Plato - darien, 3. die Spongien und 4. die Hydropolypen, die niederſten Formen der Neſſelthiere.
Die Gaſträaden oder Urdarmthiere bilden jene kleine Gruppe von niederſten Cölenterien, welche als die gemeinſame Stammgruppe aller Metazoen von höchſter Wichtigkeit iſt. Der Körper dieſer kleinen, ſchwimmenden Thierchen erſcheint als ein kleines (meiſt eiförmiges) Bläschen, welches eine einfache Höhle mit einer Oeffnung enthält (Urdarm und Urmund). Die Wand der verdauenden Höhle wird aus zwei einfachen Zellenſchichten oder Epithelien gebildet, von denen die innere (Darmblatt) die vegetalen Thätigkeiten der Ernährung und die äußere (Haut - blatt) die animalen Funktionen der Bewegung und Empfindung vermittelt. Die gleichartigen ſenſiblen Zellen dieſes Hautblattes tragen zarte Geißeln, lange Flimmerhaare, deren Schwingungen die willkürliche Schwimmbewegung bewirken. Die wenigen noch lebenden Formen der Gaſträaden, die Gaſtremarien (Tricho - placiden) und Cyemarien (Orthonectiden), ſind deßhalb ſo intereſſant, weil ſie zeitlebens auf derſelben Bildungsſtufe ſtehen bleiben, welche die Keime aller übrigen Metazoen (von den185IX. Gewebe-Seele der Gaſtrula.Spongien bis zum Menſchen hinauf) im Beginne ihrer Keimes - Entwickelung durchlaufen. Wie ich in meiner Gaſträa-Theorie (1872) gezeigt habe, entſteht bei ſämmtlichen Gewebethieren zu - nächſt aus der vorher betrachteten Blaſtula (S. 180) eine höchſt charakteriſtiſche Keimform, die Gaſtrula. Die Keimhaut (Blaſtoderma), welche die Wand der Hohlkugel darſtellt, bildet an einer Seite eine grubenförmige Vertiefung, und dieſe wird bald zu einer ſo tiefen Einſtülpung, daß der innere Hohlraum der Keimblaſe verſchwindet. Die eingeſtülpte (innere) Hälfte der Keimhaut legt ſich an die äußere (nicht eingeſtülpte) Hälfte innen an; letztere bildet das Hautblatt oder äußere Keimblatt (Ektoderm, Epiblaſt), erſtere dagegen das Darmblatt oder innere Keimblatt (Entoderm, Hypoblaſt). Der neu entſtandene Hohlraum des becherförmigen Körpers iſt die verdauende Magen - höhle, der Urdarm (Progaſter), ſeine Oeffnung der Urmund (Proſtoma)*)Vergl. Anthropogenie S. 161, 497: Nat. Schöpfgsg. 1898, S. 300.. Das Hautblatt oder Ektoderm iſt bei allen Metazoen das urſprüngliche „ Seelenorgan “; denn aus ihm entwickeln ſich bei ſämmtlichen Nerventhieren nicht nur die äußere Hautdecke und die Sinnesorgane, ſondern auch das Nervenſyſtem. Bei den Gaſträaden, welche letzteres noch nicht beſitzen, ſind alle Zellen, welche die einfache Epithelſchicht des Ektoderm zuſammen - ſetzen, gleichmäßig Organe der Empfindung und Bewegung; die Gewebe-Seele zeigt ſich hier in einfachſter Form.
Dieſelbe primitive Bildung ſcheinen auch noch die Plato - darien zu beſitzen, die älteſten und einfachſten Formen der Plattenthiere (Platodeſ). Einige von dieſen Kryptocölen (Convoluta u. ſ. w.) haben noch kein geſondertes Nervenſyſtem, während dasſelbe bei ihren nächſtverwandten Epigonen, den Strudelwürmern (Turbellaria), bereits von der Hautdecke ſich abgeſondert und ein einfaches Scheitelhirn entwickelt hat.
186Gewebe-Seele der Schwammthiere. IX.Die Spongien oder Schwammthiere ſtellen einen ſelbſt - ſtändigen Stamm des Thierreichs dar, der ſich von allen anderen Metazoen durch ſeine eigenthümliche Organiſation unterſcheidet; die ſehr zahlreichen Arten desſelben ſitzen meiſtens auf dem Meeresboden angewachſen. Die einfachſte Form der Schwämme, Olynthuſ, iſt eigentlich nichts weiter als eine Gaſtraea, deren Körperwand ſiebförmig von feinen Poren durchbrochen iſt, zum Eintritt des ernährenden Waſſerſtromes. Bei den meiſten Spongien (auch beim bekannteſten, dem Badeſchwamm) bildet der knollen - förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tauſenden ſolcher Gaſträaden („ Geißelkammern “) zuſammengeſetzt und von einem ernährenden Kanal-Syſtem durchzogen iſt. Empfindung und Bewegung ſind bei den Schwammthieren nur in äußerſt ge - ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln fehlen. Es war daher ſehr natürlich, daß man dieſe feſtſitzenden, unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als „ Gewächſe “betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be - ſonderen Organe differenzirt ſind) ſteht tief unter demjenigen der Mimoſen und anderer empfindlicher Pflanzen.
Die Seele der Neſſelthiere (Cnidaria) iſt für die ver - gleichende und phylogenetiſche Pſychologie von ganz hervor - ragender Bedeutung. Denn in dieſem formenreichen Stamm der Cölenterien vollzieht ſich vor unſeren Augen die hiſtoriſche Ent - ſtehung der Nervenſeele aus der Gewebeſeele. Es ge - hören zu dieſem Stamme die vielgeſtaltigen Klaſſen der feſt - ſitzenden Polypen und Korallen, der ſchwimmenden Meduſen und Siphonophoren. Als gemeinſame hypothetiſche Stammform aller Neſſelthiere läßt ſich mit voller Sicherheit ein einfachſter Polyp erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwaſſer - Polypen (Hydra) im Weſentlichen gleich gebaut war. Nun beſitzen aber dieſe Hydra und ebenſo die feſtſitzenden, nahe ver - wandten Hydropolypen noch keine Nerven und höheren187IX. Generationswechſel der Seele.Sinnesorgane, obgleich ſie ſehr empfindlich ſind. Dagegen die frei ſchwimmenden Meduſen, welche ſich aus letzteren entwickeln (und noch heute mit ihnen durch Generationswechſel verknüpft ſind) beſitzen bereits ein ſelbſtſtändiges Nerven-Syſtem und ge - ſonderte Sinnesorgane. Wir können alſo hier den hiſtoriſchen Urſprung der Nervenſeele (Neuropſyche) aus der Gewebe - ſeele (Hiſtopſyche) unmittelbar ontogenetiſch beobachten und phylogenetiſch verſtehen lernen. Dieſe Erkenntniß iſt um ſo intereſſanter, als jene bedeutungsvollen Vorgänge polyphyle - tiſch ſind, d. h. ſich mehrmals (mindeſtens zweimal) unabhängig von einander vollzogen haben. Wie ich nachgewieſen habe, ſind die Hydromeduſen (oder Kraſpedoten) auf andere Weiſe aus den Hydropolypen entſtanden als die Scyphomeduſen (oder Akraſpeden) aus den Skyphopolypen; der Knoſpungs - vorgang iſt bei den letzteren terminal, bei den erſteren lateral. Auch zeigen beide Gruppen charakteriſtiſche erbliche Unterſchiede im feineren Bau ihrer Seelen-Organe. Sehr intereſſant iſt für die Pſychologie auch die Klaſſe der Staatsquallen (Siphono - phorae). An dieſen prächtigen, frei ſchwimmenden Thierſtöcken, welche von Hydromeduſen abſtammen, können wir eine Doppel - ſeele beobachten: die Einzelſeele (Perſonal-Seele) der zahl - reichen Perſonen, die ihn zuſammenſetzen, und die gemeinſame, einheitlich thätige Pſyche des ganzen Stockes (Normal-Seele).
IV. Die Nerven-Seele (Neuropſyche); vierte Haupt - ſtufe der phyletiſchen Pſychogeneſis. Das Seelenleben aller höheren Thiere wird, ebenſo wie beim Menſchen, durch einen mehr oder minder komplicirten „ Seelen-Apparat “vermittelt, und dieſer beſteht immer aus drei Hauptbeſtandtheilen; die Sinnes-Organe bewirken die verſchiedenen Empfindungen, die Muskeln dagegen die Bewegungen; die Nerven ſtellen die Verbindung zwiſchen erſteren und letzteren durch ein beſonderes Central-Organ her, Gehirn oder Ganglion (Nervenknoten). 188Nerven-Seele (Neuropſyche) der Thiere. IX. Die Einrichtung und Thätigkeit dieſes Seelen-Apparates pflegt man mit einem elektriſchen Telegraphen-Syſtem zu vergleichen; die Nerven ſind die Leitungsdrähte, das Gehirn die Central - Station, die Muskeln und Senſillen die untergeordneten Lokal - Stationen. Die motoriſchen Nervenfaſern leiten die Willens - Befehle oder Impulſe centrifugal von dieſem Nervencentrum zu den Muskeln und bewirken durch deren Kontraktion Bewegungen; die ſenſiblen Nervenfaſern dagegen leiten die verſchiedenen Em - pfindungen centripetal von den peripheren Sinnesorganen zum Gehirn und ſtatten Bericht ab von den empfangenen Eindrücken der Außenwelt. Die Ganglienzellen oder „ Seelenzellen “, welche das nervöſe Central-Organ zuſammenſetzen, ſind die vollkommenſten von allen organiſchen Elementar-Theilen; denn ſie vermitteln nicht nur den Verkehr zwiſchen den Muskeln und Sinnesorganen, ſondern auch die höchſten von allen Leiſtungen der Thierſeele, die Bildung von Vorſtellungen und Gedanken, an der Spitze von Allem das Bewußtſein.
Die großen Fortſchritte der Anatomie und Phyſiologie, der Hiſtologie und Ontogenie haben in der Neuzeit unſere tiefere Kenntniß des Seelen-Apparates mit einer Fülle der intereſſanteſten Entdeckungen bereichert. Wenn die ſpekulative Philoſophie auch nur die wichtigſten von dieſen bedeutungsvollen Erwerbungen der empiriſchen Biologie in ſich aufgenommen hätte, müßte ſie heute ſchon eine ganz andere Phyſiognomie zeigen, als es leider der Fall iſt. Da eine eingehende Beſprechung derſelben uns hier zu weit führen würde, beſchränke ich mich darauf, nur die wich - tigſten Thatſachen hervorzuheben.
Jeder der höheren Thierſtämme beſitzt ſein eigenthümliches Seelen-Organ; in jedem iſt das Central-Nervenſyſtem durch eine beſondere Geſtalt, Lage und Zuſammenſetzung ausgezeichnet. Unter den ſtrahlig gebauten Neſſelthieren (Cnidaria) zeigen189IX. Seelen-Organe der höheren Thiere.die Meduſen einen Nervenring am Schirmrande, meiſtens mit vier oder acht Ganglien ausgeſtattet. Bei den fünfſtrahligen Sternthieren (Echinoderma) iſt der Mund von einem Nervenring umgeben, von welchem fünf Nervenſtämme ausſtrahlen. Die zweiſeitig-ſymmetriſchen Plattenthiere (Platodeſ) und Wurmthiere (Vermalia) beſitzen ein Scheitelhirn oder Akro - ganglion, zuſammengeſetzt aus ein paar dorſalen, oberhalb des Mundes gelegenen Ganglien; von dieſen „ oberen Schlundknoten “gehen zwei ſeitliche Nerven-Stämme an die Haut und die Muskeln. Bei einem Theile der Vermalien und bei den Weichthieren (Molluſca) treten dazu noch ein paar ventrale „ untere Schlund - knoten “, welche ſich mit den erſteren durch einen den Schlund umfaſſenden Ring verbinden. Dieſer „ Schlundring “kehrt auch bei den Gliederthieren (Articulata) wieder, ſetzt ſich aber hier auf der Bauchſeite des langgeſtreckten Körpers in ein „ Bauchmark “fort, einen ſtrickleiterförmigen Doppelſtrang, welcher in jedem Gliede zu einem Doppel-Ganglion anſchwillt. Ganz entgegengeſetzte Bildung des Seelen-Organs zeigen die Wirbel - thiere (Vertebrata); hier findet ſich allgemein auf der Rückenſeite des innerlich gegliederten Körpers ein Rückenmark entwickelt; aus einer Anſchwellung ſeines vorderen Theiles entſteht ſpäter das charakteriſtiſche blaſenförmige Gehirn*)Vergl. hierzu meine Natürl. Schöpfungsgeſchichte, neunte Auflage 1898, Tafel 18 und 19, S. 512..
Obgleich nun ſo die Seelen-Organe der höheren Thierſtämme in Lage, Form und Zuſammenſetzung ſehr charakteriſtiſche Ver - ſchiedenheiten zeigen, iſt doch die vergleichende Anatomie im Stande geweſen, für die meiſten einen gemeinſamen Urſprung nachzuweiſen, aus dem Scheitelhirn der Platoden und Vermalien; und allen gemeinſam iſt die Entſtehung aus der äußerſten Zellenſchicht des Keimes, aus dem „ Hautſinnes - blatt “(Ektoderm). Ebenſo finden wir in allen Formen der190Seelen-Organ der Wirbelthiere. IX. nervöſen Centralorgane dieſelbe weſentliche Struktur wieder, die Zuſammenſetzung aus Ganglien-Zellen oder „ Seelenzellen “(den eigentlichen aktiven Elementar-Organen der Pſyche) und aus Nervenfaſern, welche den Zuſammenhang und die Lei - tung der Aktion vermitteln.
Seelen-Organ der Wirbelthiere. Die erſte Thatſache, welche uns in der vergleichenden Pſychologie der Vertebraten entgegentritt, und welche der empiriſche Ausgangspunkt jeder wiſſenſchaftlichen Seelenlehre des Menſchen ſein ſollte, iſt der charakteriſtiſche Bau ihres Central-Nervenſyſtems. Wie dieſes centrale Seelen-Organ in jedem der höheren Thierſtämme eine beſondere, dieſem eigenthümliche Lage, Geſtalt und Zuſammen - ſetzung zeigt, ſo iſt es auch bei den Wirbelthieren der Fall. Ueberall finden wir hier ein Rückenmark vor, einen ſtarken cylindriſchen Nervenſtrang, welcher in der Mittellinie des Rückens verläuft, oberhalb der Wirbelſäule (oder der ſie vertretenden Chorda). Ueberall gehen von dieſem Rückenmark zahlreiche Nerven - ſtämme in regelmäßiger, ſegmentaler Vertheilung ab, je ein Paar an jedem Segment oder Wirbelgliede. Ueberall entſteht dieſes „ Medullar-Rohr “im Embryo auf gleiche Weiſe: in der Mittel - linie der Rückenhaut bildet ſich eine feine Furche oder Rinne; die beiden parallelen Ränder dieſer Markrinne oder Medullar - Rinne erheben ſich, krümmen ſich gegen einander und verwachſen in der Mittellinie zu einem Rohre.
Das lange dorſale, ſo entſtandene cylindriſche Nervenrohr oder Medullar-Rohr iſt durchaus für die Wirbelthiere charakteriſtiſch, in der frühen Embryonal-Anlage überall das - ſelbe und die gemeinſame Grundlage aller der verſchiedenen Formen des Seelen-Organs, die ſich ſpäter daraus entwickeln. Nur eine einzige Gruppe von wirbelloſen Thieren zeigt eine ähnliche Bildung; das ſind die ſeltſamen, meerbewohnenden Mantelthiere (Tunicata), die Kopelaten, Ascidien und191IX. Markrohr der Wirbelthiere.Thalidien. Sie zeigen auch in anderen wichtigen Eigenthümlich - keiten des Körperbaues (beſonders in der Bildung der Chorda und des Kiemendarms) auffallende Unterſchiede von den übrigen Wirbelloſen und Uebereinſtimmung mit den Wirbelthieren. Wir nehmen daher jetzt an, daß beide Thierſtämme, Vertebraten und Tunikaten, aus einer gemeinſamen älteren Stammgruppe von Vermalien hervorgegangen ſind, aus den Prochordo - niern*)Haeckel, Anthropogenie, vierte Auflage 1891, Vortrag 16 und 17. „ Körperbau und Keimesgeſchichte des Amphioxus und der Ascidie. “. Ein wichtiger Unterſchied beider Stämme beſteht darin, daß der Körper der Mantelthiere ungegliedert bleibt und eine ſehr einfache Organiſation behält (die meiſten ſitzen ſpäter auf dem Meeresboden feſt und werden rückgebildet). Bei den Wirbelthieren dagegen tritt frühzeitig eine charakteriſtiſche innere Gliederung des Körpers ein, die „ Urwirbelbildung “(Vertebratio). Dieſe vermittelt die weit höhere morphologiſche und phyſiologiſche Ausbildung ihres Organismus, welche zuletzt im Menſchen die höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht. Sie prägt ſich auch frühzeitig ſchon in der feineren Struktur ihres Markrohres aus, in der Entwickelung zahlreicher ſegmentaler Nervenpaare, die als Rückenmarks-Nerven oder „ Spinal-Nerven “an die einzelnen Körper-Segmente gehen.
Phyletiſche Bildungsſtufen des Medullar-Rohrs. Die lange Stammesgeſchichte unſerer „ Wirbelthier-Seele “beginnt mit der Bildung des einfachſten Medullar-Rohrs bei den älteſten Schädelloſen; ſie führt uns durch einen Zeitraum von vielen Millionen Jahren langſam und allmählich bis zu jenem kompli - cirten Wunderbau des menſchlichen Gehirns hinauf, welcher dieſe höchſtentwickelte Primaten-Form zu einer vollkommenen Ausnahme - Stellung in der Natur zu berechtigen ſcheint. Da eine klare Vorſtellung von dieſem langſamen und ſtetigen Gange unſerer phyletiſchen Pſychogenie die erſte Vorbedingung einer wirklich192Stammesgeſchichte des Markrohrs. IX. naturgemäßen Pſychologie iſt, erſcheint es zweckmäßig, jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von Stufen oder Haupt-Abſchnitten einzutheilen; in jedem derſelben hat ſich gleich - mäßig mit der Struktur des Nervencentrums auch ſeine Funktion, die „ Pſyche “vervollkommnet. Ich unterſcheide acht ſolche Pe - rioden in der Phylogenie des Medullar-Rohrs, charakteriſirt durch acht verſchiedene Hauptgruppen der Wirbel - thiere; nämlich I. die Schädelloſen (Acrania), II. die Rund - mäuler (Cycloſtoma), III. die Fiſche (Piſceſ), IV. die Lurche (Amphibia), V. die implacentalen Säugethiere (Monotrema und Marſupialia), VI. die älteren placentalen Säugethiere, beſonders die Halbaffen (Proſimiae), VII. die jüngeren Herrenthiere, die echten Affen (Simiae), VIII. die Menſchenaffen und der Menſch (Anthropomorpha).
I. Erſte Stufe: Schädelloſe (Acrania), heute nur noch vertreten durch den Lanzelot (Amphioxuſ); das Seelenorgan bleibt auf der Stufe des einfachen Medullar-Rohrs ſtehen und ſtellt ein gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn. II. Zweite Stufe: Rundmäuler (Cycloſtoma), die älteſte Gruppe der Schädelthiere (Craniota), heute noch vertreten durch die Pricken (Petromyzonteſ) und die Inger (Myxinoideſ); das Vorderende des Markrohrs ſchwillt zu einer Blaſe an, welche ſich in fünf hinter einander liegende Hirnblaſen ſondert (Groß - hirn, Zwiſchenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn); dieſe fünf Hirnblaſen bilden die gemeinſame Grundlage, aus welcher ſich das Gehirn ſämmtlicher Schädelthiere entwickelt, von den Pricken bis zum Menſchen hinauf. III. Dritte Stufe: Urfiſche (Selachii), ähnlich den heutigen Haifiſchen; bei dieſen älteſten Fiſchen, von denen alle Kiefermäuler (Gnathoſtoma) abſtammen, beginnt die ſtärkere Sonderung der fünf gleichartigen Hirnblaſen. IV. Vierte Stufe: Lurche (Amphibia). Mit dieſer älteſten Klaſſe der landbewohnenden Wirbelthiere, die zuerſt in der Stein -193IX. Stammesgeſchichte der Seele.kohlen-Periode erſchienen, beginnt die charakteriſtiſche Körper - bildung der Vierfüßer (Tetrapoda) und eine entſprechende Umbildung des Fiſchgehirns; ſie ſchreitet weiter fort in ihren permiſchen Epigonen, den Reptilien, deren älteſte Vertreter, die Stammreptilien (Tocoſauria), die gemeinſamen Stammformen aller Amnioten ſind (der Reptilien und Vögel einerſeits, der Säugethiere andererſeits). V-VIII. Fünfte bis achte Stufe: Säugethiere (Mammalia).
Die Bildungsgeſchichte unſeres Nervenſyſtems und die damit verknüpfte Stammesgeſchichte unſerer Seele habe ich in meiner „ Anthropogenie “ausführlich behandelt und durch zahlreiche Abbildungen erläutert*)Anthropogenie. Vierte Auflage 1891, S. 621-688.. Ich muß daher hier darauf verweiſen, ſowie auf die Anmerkungen, in denen ich einige der wichtigſten Thatſachen beſonders hervorgehoben habe. Dagegen laſſe ich hier noch einige Bemerkungen über den letzten und intereſſanteſten Theil derſelben folgen, über die Entwickelung der Seele und ihrer Organe innerhalb der Säugethier-Klaſſe; ich erinnere dabei beſonders daran, daß der monophyletiſche Urſprung dieſer Klaſſe, die Abſtammung aller Säugethiere von einer ge - meinſamen Stammform (der Trias-Periode), jetzt feſtgeſtellt iſt.
Seelen-Geſchichte der Säugethiere. Der wichtigſte Folge - ſchluß, welcher ſich aus dem monophyletiſchen Urſprung der Säugethiere ergiebt, iſt die nothwendige Ableitung der Men - ſchen-Seele aus einer langen Entwickelungs-Reihe von an - deren Mammalien-Seelen. Eine gewaltige anatomiſche und phyſiologiſche Kluft trennt den Gehirnbau und das davon ab - hängige Seelenleben der höchſten und der niederſten Säugethiere, und dennoch wird dieſe tiefe Kluft durch eine lange Reihe von vermittelnden Zwiſchen-Stufen vollſtändig ausgefüllt. Der Zeit - raum von mindeſtens vierzehn (nach anderen Berechnungen mehrHaeckel, Welträthſel. 13194Seelen-Geſchichte der Säugethiere. IX. als hundert!) Millionen Jahren, welcher ſeit Beginn der Trias - Periode verfloß, genügt aber vollſtändig, ſelbſt die größten pſycho - logiſchen Fortſchritte zu ermöglichen. Die allgemeinſten Ergebniſſe der wichtigen, neuerdings hier tief eingedrungenen Forſchungen ſind folgende: I. Das Gehirn der Säugethiere unterſcheidet ſich von demjenigen der übrigen Vertebraten durch gewiſſe Eigen - thümlichkeiten, welche allen Gliedern der Klaſſe gemeinſam ſind, vor Allem die überwiegende Ausbildung der erſten und vierten Blaſe, des Großhirns und Kleinhirns, während die dritte Blaſe, das Mittelhirn, ganz zurücktritt. II. Trotzdem ſchließt ſich die Hirnbildung der niederſten und älteſten Mammalien (Monotremen, Marſupialien, Prochoriaten) noch eng an diejenige ihrer paläo - zoiſchen Vorfahren an, der karboniſchen Amphibien (Stego - cephalen) und der permiſchen Reptilien (Tocoſaurier). III. Erſt während der Tertiär-Zeit erfolgt die typiſche volle Ausbildung des Großhirns, welche die jüngeren Säugethiere ſo auffallend vor den älteren auszeichnet. IV. Die beſondere (quantitative und qualitative) Ausbildung des Großhirns, welche den Menſchen auszeichnet, und welche ihn zu ſeinen vorzüglichen pſychiſchen Leiſtungen befähigt, findet ſich außerdem nur bei einem Theile der höchſtentwickelten Säugethiere der jüngeren Tertiär-Zeit, vor Allen bei den Menſchen-Affen (Anthropoiden). V. Die Unter - ſchiede, welche im Gehirnbau und Seelenleben des Menſchen und der Menſchen-Affen exiſtiren, ſind geringer als die entſprechen - den Unterſchiede zwiſchen dieſen letzteren und den niederen Pri - maten (den älteſten Affen und Halbaffen). VI. Demnach muß die hiſtoriſche ſtufenweiſe Entwickelung der Menſchenſeele aus einer langen Kette von höheren und niederen Mammalien - Seelen — unter Anwendung der allgemein gültigen phyletiſchen Geſetze der Deſcendenz-Theorie — als eine wiſſenſchaftlich be - wieſene Thatſache gelten.
Moniſtiſche Studien über bewußtes und unbewußtes Seelen - leben. Entwickelungsgeſchichte und Theorie des Bewußtſeins.
„ Erſt bei den höheren Thieren und beim Menſchen erhebt ſich das Bewußtſein bis zu einer Bedeutung, welche eine geſonderte Betrachtung desſelben als eines beſonderen ſeeliſchen Vermögens möglich macht. Aber dies geſchieht nicht auf ein - mal, ſondern ſehr langſam und allmählich, auf Grund verbeſſerter Organiſation des Gehirns und Nervenſyſtems und zunehmenden Reichthums der Eindrücke und der dadurch erweckten Vorſtellungen. — Gerade das Bewußtſein zeigt ſich mehr als jede andere geiſtige Qualität von materiellen Bedin - gungen oder Zuſtänden abhängig. Es kommt, geht, verſchwindet und kehrt wieder in ſtrengem Anſchluß an eine ganze Anzahl materieller Einwirkungen auf das Organ des Geiſtes. “(Ludwig Büchner (1898).)13*[196]
Das Bewußtſein als Natur-Erſcheinung. Begriff desſelben. Schwierig - keiten der Beurtheilung. Sein Verhältniß zum Seelenleben. Unſer menſch - liches Bewußtſein. Verſchiedene Theorien: I. Anthropiſtiſche Theorie (Descartes). II. Neurologiſche Theorie (Darwin). III. Animaliſche Theorie (Schopenhauer). IV. Biologiſche Theorie (Fechner). V. Cellulare Theorie (Fritz Schultze). VI. Atomiſtiſche Theorie. Moniſtiſche und dualiſtiſche Theorie. Transſcendenz des Bewußtſeins. Ignorabimus (Du Bois-Rey - mond). Phyſiologie des Bewußtſeins. Entdeckung der Denkorgane (Flechſig). Pathologie. Doppeltes und intermittirendes Bewußtſein. Ontogenie des Bewußtſeins: Veränderung in den verſchiedenen Lebensaltern. Phylogenie des Bewußtſeins. Begriffs-Bildung.
Paul Flechſig, Gehirn und Seele. Leipzig 1894. — Die Lokaliſation der geiſtigen Vorgänge, insbeſondere der Sinnesempfindungen des Menſchen. Leipzig 1896.
A. Mayer (Mainz), Die Lehre von der Erkenntniß. Vom phyſiologiſchen Standpunkte allgemein verſtändlich dargeſtellt. Leipzig 1875.
M. L. Stern, Philoſophiſcher und naturwiſſenſchaftlicher Monismus. Ein Beitrag zur Seelenfrage. Leipzig 1885.
Eduard Hartmann, Philoſophie des Unbewußten. Berlin 1869. Zehnte Auflage 1890.
Friedrich Lange, Geſchichte des Materialismus. 2 Bände. Iſerlohn 1875. Vierte Auflage 1891.
B. Carneri, Gefühl, Bewußtſein, Wille. Eine pſychologiſche Studie. Wien 1876.
J. C. Fiſcher (Wien), Das Bewußtſein. Materialiſtiſche Anſchauungen, Leipzig 1874.
Ludwig Büchner, Kraft und Stoff oder Grundzüge der natürlichen Welt - ordnung. 1855. Zwanzigſte Auflage. Leipzig 1898.
Unter allen Aeußerungen des Seelenlebens giebt es keine, die ſo wunderbar erſcheint und ſo verſchieden beurtheilt wird wie das Bewußtſein. Nicht allein über das eigentliche Weſen dieſer Seelenthätigkeit und über ihr Verhältniß zum Körper, ſondern auch über ihre Verbreitung in der organiſchen Welt, über ihre Entſtehung und Entwickelung ſtehen ſich noch heute, wie ſeit Jahrtauſenden, die widerſprechendſten Anſichten gegenüber. Mehr als jede andere pſychiſche Funktion hat das Bewußtſein zu der irrthümlichen Vorſtellung eines „ immateriellen Seelenweſens “und im Anſchluß daran zu dem Aberglauben der „ perſönlichen Unſterblichkeit “Veranlaſſung gegeben; viele der ſchwerſten Irrthümer, die unſer modernes Kultur-Leben noch heute beherrſchen, ſind darauf zurückzuführen. Ich habe daher ſchon früher das Bewußtſein als das „ pſychologiſche Central-Myſterium “bezeichnet; es iſt die feſte Citadelle aller myſtiſchen und dualiſtiſchen Irrthümer, an deren gewaltigen Wällen alle Angriffe der beſtgerüſteten Vernunft zu ſcheitern drohen. Schon dieſe Thatſache allein rechtfertigt es, daß wir hier dem Bewußtſein eine beſondere kritiſche Betrachtung von unſerem moniſtiſchen Standpunkte aus widmen. Wir werden ſehen, daß das Bewußtſein nicht mehr und nicht minder wie jede andere Seelenthätigkeit eine Natur-Erſcheinung iſt, und daß es gleich allen anderen Natur-Erſcheinungen dem Subſtanz-Geſetz unterworfen iſt.
198Bewußtſein und Seelenleben. X.Begriff des Bewußtſeins. Schon über den elementaren Begriff dieſer Seelenthätigkeit, über ſeinen Inhalt und Umfang gehen die Anſichten der angeſehenſten Philoſophen und Natur - forſcher weit aus einander. Vielleicht am beſten bezeichnet man den Inhalt des Bewußtſeins als innere Anſchauung und vergleicht dieſe einer Spiegelung. Als zwei Hauptbezirke desſelben unterſcheiden wir das objektive und ſubjektive Be - wußtſein, das Weltbewußtſein und Selbſtbewußtſein. Bei Weitem der größte Theil aller bewußten Seelenthätigkeit betrifft, wie ſchon Schopenhauer richtig erkannte, das Bewußtſein der Außenwelt, der „ anderen Dinge “; dieſes Weltbewußt - ſein umfaßt alle möglichen Erſcheinungen der Außenwelt, welche überhaupt unſerer Erkenntniß zugänglich ſind. Viel beſchränkter iſt unſer Selbſtbewußtſein, die innere Spiegelung unſerer eigenen geſammten Seelenthätigkeit, aller Vorſtellungen, Em - pfindungen und Strebungen oder Willensthätigkeiten.
Bewußtſein und Seelenleben. Viele und angeſehene Denker, namentlich unter den Phyſiologen (z. B. Wundt und Ziehen), halten die Begriffe des Bewußtſeins und der pſychiſchen Funktionen für identiſch: „ alle Seelenthätigkeit iſt bewußte “; das Gebiet des pſychiſchen Lebens reicht nur ſo weit als dasjenige des Bewußtſeins. Nach unſerer Anſicht er - weitert dieſe Definition die Bedeutung des letzteren in un - gebührlicher Weiſe und giebt Veranlaſſung zu zahlreichen Irr - thümern und Mißverſtändniſſen. Wir theilen vielmehr die An - ſicht anderer Philoſophen (z. B. Romanes, Fritz Schultze, Paulſen), daß auch die unbewußten Vorſtellungen, Empfindungen und Strebungen zum Seelenleben gehören; in der That iſt ſogar das Gebiet dieſer unbewußten pſychiſchen Aktionen (der Reflexthätigkeit u. ſ. w.) viel ausgedehnter als dasjenige der bewußten. Beide Gebiete ſtehen übrigens im engſten Zuſammen - hang und ſind durch keine ſcharfe Grenze getrennt; jeder Zeit199X. Bewußtſein des Menſchen.kann uns eine unbewußte Vorſtellung plötzlich bewußt werden; wird unſere Aufmerkſamkeit darauf durch ein anderes Objekt gefeſſelt, ſo kann ſie ebenſo raſch wieder unſerem Bewußtſein völlig entſchwinden.
Bewußtſein des Menſchen. Die einzige Quelle unſerer Erkenntniß des Bewußtſeins iſt dieſes ſelbſt, und hierin liegt in erſter Linie die außerordentliche Schwierigkeit ſeiner wiſſenſchaft - lichen Unterſuchung und Deutung. Subjekt und Objekt fallen hier in Eins zuſammen; das erkennende Subjekt ſpiegelt ſich in ſeinem eigenen inneren Weſen, welches Objekt der Er - kenntniß ſein ſoll. Auf das Bewußtſein anderer Weſen können wir alſo niemals mit voller objektiver Sicherheit ſchließen, ſondern immer nur durch Vergleichung ſeiner Seelen-Zuſtände mit unſeren eigenen. Soweit dieſe Vergleichung ſich nur auf normale Menſchen erſtreckt, können wir allerdings auf deren Bewußtſein gewiſſe Schlüſſe ziehen, deren Richtigkeit Niemand bezweifelt. Aber ſchon bei abnormen Perſönlichkeiten (bei genialen und excentriſchen, ſtumpfſinnigen und geiſteskranken Menſchen) ſind dieſe Analogie-Schlüſſe entweder unſicher oder falſch. In noch höherem Grade gilt das, wenn wir das Bewußtſein des Menſchen mit demjenigen der Thiere (zunächſt der höheren, weiterhin der niederen Thiere) in Vergleich ſtellen. Da ergeben ſich als - bald ſo große thatſächliche Schwierigkeiten, daß die Anſichten der hervorragendſten Phyſiologen und Philoſophen himmelweit aus einander gehen. Wir wollen hier nur die wichtigſten Anſchauungen darüber kurz einander gegenüberſtellen.
I. Anthropiſtiſche Theorie des Bewußtſeins: es iſt dem Menſchen eigenthümlich. Die weitverbreitete An - ſchauung, daß Bewußtſein und Denken ausſchließliches Eigen - thum des Menſchen ſeien, und daß auch ihm allein eine „ un - ſterbliche Seele “zukomme, iſt auf Descartes zurückzu - führen (1643). Dieſer geiſtreiche franzöſiſche Philoſoph und200Anthropiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X. Mathematiker (erzogen in einem Jeſuiten-Kollegium!) be - gründete eine vollkommene Scheidewand zwiſchen der Seelen - thätigkeit des Menſchen und der Thiere. Die Seele des Menſchen als denkendes, immaterielles Weſen, iſt nach ihm vom Körper, als ausgedehntem, materiellen Weſen vollſtändig getrennt. Trotz - dem ſoll ſie an einem Punkte des Gehirns (an der Zirbeldrüſe!) mit dem Körper verbunden ſein, um hier Einwirkungen der Außenwelt aufzunehmen und ihrerſeits auf den Körper aus - zuüben. Die Thiere dagegen, als nicht denkende Weſen, ſollen keine Seele beſitzen und reine Automaten ſein, kunſtvoll ge - baute Maſchinen, deren Empfinden, Vorſtellen und Wollen rein mechaniſch zu Stande kommt und nach phyſikaliſchen Geſetzen verläuft. Für die Pſychologie des Menſchen vertrat demnach Descartes den reinen Dualismus, für diejenige der Thiere den reinen Monismus. Dieſer offenkundige Wider - ſpruch bei einem ſo klaren und ſcharfſinnigen Denker muß höchſt auffallend erſcheinen; zur Erklärung desſelben darf man wohl mit Recht annehmen, daß er ſeine wahre Ueberzeugung ver - ſchwieg und deren Erkenntniß den ſelbſtſtändigen Denkern über - ließ. Als Zögling der Jeſuiten war Descartes ſchon früh - zeitig dazu erzogen, wider beſſere Einſicht die Wahrheit zu ver - leugnen; vielleicht fürchtete er auch die Macht der Kirche und ihre Scheiterhaufen. Ohnehin hatte ihm ſeine ſkeptiſche Forderung, daß jedes reine Erkenntnißſtreben vom Zweifel am überlieferten Dogma ausgehen müſſe, fanatiſche Anklagen wegen Skepticismus und Atheismus zugezogen. Die mächtige Wirkung, welche Descartes auf die nachfolgende Philoſophie ausübte, war ſehr merkwürdig und ſeiner „ doppelten Buchführung “ent - ſprechend. Die Materialiſten des 17. und 18. Jahrhunderts beriefen ſich für ihre moniſtiſche Pſychologie auf die carteſianiſche Theorie von der Thierſeele und ihrer mechaniſchen Maſchinen - thätigkeit. Die Spiritualiſten umgekehrt behaupteten, daß201X. Neurologiſche Theorie des Bewußtſeins.ihr Dogma von der Unſterblichkeit der Seele und ihrer Unab - hängigkeit vom Körper durch die carteſianiſche Theorie der Menſchenſeele unwiderleglich begründet ſei. Dieſe Anſicht iſt auch heute noch im Lager der Theologen und der dualiſtiſchen Metaphyſiker die herrſchende. Die naturwiſſenſchaftliche An - ſchauung des 19. Jahrhunderts hat ſie mit Hilfe der empiriſchen Fortſchritte im Gebiete der phyſiologiſchen und vergleichenden Pſychologie völlig überwunden.
II. Neurologiſche Theorie des Bewußtſeins: es kommt nur dem Menſchen und jenen höheren Thieren zu, welche ein centraliſirtes Nerven-Syſtem und Sinnesorgane be - ſitzen. Die Ueberzeugung, daß ein großer Theil der Thiere — zum mindeſten die höheren Säugethiere — ebenſo eine denkende Seele und alſo auch Bewußtſein beſitzt, wie der Menſch, be - herrſcht die Kreiſe der modernen Zoologie, der exakten Phyſiologie und der moniſtiſchen Pſychologie. Die großartigen Fortſchritte der Neuzeit in mehreren Gebieten der Biologie haben uns über - einſtimmend zu der Anerkennung dieſer bedeutungsvollen Er - kenntniß geführt. Wir beſchränken uns bei ihrer Würdigung zunächſt auf die höheren Wirbelthiere und vor Allem die Säugethiere. Daß die intelligenteſten Vertreter dieſer höchſt entwickelten Vertebraten — Allen voran die Affen und Hunde — in ihrer geſammten Seelenthätigkeit ſich dem Menſchen höchſt ähnlich verhalten, iſt ſeit Jahrtauſenden bekannt und bewundert. Ihre Vorſtellungs - und Sinnes-Thätigkeit, ihr Empfinden und Begehren iſt dem menſchlichen ſo ähnlich, daß wir keine Beweiſe dafür anzuführen brauchen. Aber auch die höhere Aſſocions - Thätigkeit ihres Gehirns, die Bildung von Urtheilen und deren Verbindung zu Schlüſſen, das Denken und das Bewußtſein im engeren Sinne, ſind bei ihnen ähnlich entwickelt wie beim Menſchen — nur dem Grade, nicht der Art nach davon ver - ſchieden. Ueberdies lehrt uns die vergleichende Anatomie und202Neurologiſche Theorie des Bewußtſeins. X. Hiſtologie, daß die verwickelte Zuſammenſetzung des Gehirns (ſowohl die feinere als die gröbere Struktur) bei dieſen höheren Säugethieren im Weſentlichen dieſelbe wie beim Menſchen iſt. Dasſelbe zeigt uns die vergleichende Ontogenie bezüglich der Entſtehung dieſer Seelen-Organe. Die vergleichende Phyſiologie lehrt, daß die verſchiedenen Zuſtände des Bewußtſeins ſich bei dieſen höchſtentwickelten Placentalthieren ganz ähnlich wie beim Menſchen verhalten, und das Experiment beweiſt, daß ſie auch auf äußere Eingriffe ebenſo reagiren. Man kann höhere Thiere durch Alkohol, Chloroform, Aether u. ſ. w. ebenſo betäuben, durch geeignete Behandlung ebenſo hypnotiſiren u. ſ. w. wie den Menſchen. Dagegen iſt es nicht möglich, die Grenze ſcharf zu beſtimmen, wo auf den niederen Stufen des Thierlebens das Bewußtſein zuerſt als ſolches erkennbar wird. Die einen Zoologen ſetzen dieſelbe ſehr hoch oben an, die anderen ſehr tief unten. Darwin, der die verſchiedenen Abſtufungen des Bewußtſeins, der Intelligenz und des Gemüths bei den höheren Thieren ſehr genau unterſcheidet und durch zunehmende Ent - wickelung erklärt, weiſt zugleich darauf hin, wie ſchwer oder eigentlich wie unmöglich es iſt, die erſten Anfänge dieſer höchſten Seelenthätigkeiten bei den niederen Thieren zu beſtimmen. Nach meiner perſönlichen Auffaſſung dünkt mir unter den verſchiedenen widerſprechenden Theorien am wahrſcheinlichſten diejenige, daß das Zuſtandekommen des Bewußtſeins an die Centraliſation des Nervenſyſtems gebunden iſt, welche den niederen Thier - klaſſen noch fehlt. Die Anweſenheit eines nervöſen Central - organs, hoch entwickelte Sinnesorgane und eine weit ausgebildete Aſſocion der Vorſtellungs-Gruppen ſcheinen mir erforderlich, um das einheitliche Bewußtſein zu ermöglichen.
III. Animaliſche Theorie des Bewußtſeins: es findet ſich bei allen Thieren und nur bei dieſen. Hiernach würde ein ſcharfer Unterſchied im Seelenleben der Thiere und203X. Animaliſche Theorie des Bewußtſeins.Pflanzen beſtehen; ein ſolcher wurde ſchon von vielen alten Autoren angenommen und von Linné ſcharf formulirt in ſeinem grundlegenden „ Syſtema naturae “(1735); die beiden großen Reiche der organiſchen Natur unterſcheiden ſich nach ihm dadurch, daß die Thiere Empfindung und Bewußtſein haben, die Pflanzen nicht. Später hat beſonders Schopenhauer dieſen Unterſchied ſcharf betont: „ Das Bewußtſein iſt uns ſchlechthin nur als Eigenſchaft animaler Weſen bekannt. Auch nachdem es ſich, durch die ganze Thierreihe, bis zum Menſchen und ſeiner Ver - nunft geſteigert hat, bleibt die Bewußtloſigkeit der Pflanze, von der es ausging, noch immer die Grundlage. Die unterſten Thiere haben bloß eine Dämmerung desſelben. “ Die Unhalt - barkeit dieſer Anſicht wurde ſchon um die Mitte unſeres Jahr - hunderts klar, als man das Seelenleben der niederen Thierſtämme, beſonders der Cölenteraten (Schwämme und Neſſelthiere), näher kennen lernte: echte Thiere, die ebenſo wenig Spuren von klarem Bewußtſein beſitzen wie die meiſten Pflanzen. Noch mehr wurde der Unterſchied zwiſchen beiden Reichen verwiſcht, als man die einzelligen Lebensformen derſelben genauer unterſuchte. Die plasmophagen Urthiere (Protozoa) und die plasmodomen Ur - pflanzen (Protophyta) zeigen keine pſychologiſchen Unter - ſchiede, auch nicht in Beziehung auf ihr Bewußtſein .5.
IV. Biologiſche Theorie des Bewußtſeins: es iſt allen Organismen gemeinſam, es findet ſich bei allen Thieren und Pflanzen, während es den anorganiſchen Naturkörpern (Kryſtallen u. ſ. w.) fehlt. Dieſe Annahme wird gewöhnlich mit der Anſicht verknüpft, daß alle Organismen (im Gegenſatze zu den Anorganen) beſeelt ſind; die drei Begriffe: Leben, Seele und Bewußtſein, fließen dann gewöhnlich zuſammen. Eine andere Modifikation dieſer Anſchauung iſt, daß dieſe drei Grund - erſcheinungen des organiſchen Lebens zwar untrennbar verknüpft ſind, daß aber das Bewußtſein nur ein Theil der pſychiſchen204Biologiſche Theorie des Bewußtſeins. X. Thätigkeit iſt, wie dieſe ſelbſt ein Theil der Lebensthätigkeit. Daß die Pflanzen in demſelben Sinne wie die Thiere eine „ Seele “beſitzen, hat namentlich Fechner ſich zu zeigen bemüht, und Manche ſchreiben der Pflanzen-Seele ein Bewußtſein von ähnlicher Art zu wie der Thier-Seele. In der That ſind ja bei ſehr empfindlichen „ Sinnpflanzen “(Mimoſa, Droſera, Dionaea) die auffallenden Reizbewegungen der Blätter, bei manchen anderen (Klee und Sauerklee, beſonders aber Hedy - ſarum) die autonomen Bewegungen, bei „ ſchlafenden Pflanzen “(auch vorzugsweiſe Papilionaceen) die Schlafbewegungen u. ſ. w. auffallend ähnlich denjenigen niederer Thiere; wer den letzteren Bewußtſein zuſchreibt, darf es auch den erſteren nicht abſprechen.
V. Cellulare Theorie des Bewußtſeins: es iſt eine Lebens-Eigenſchaft jeder Zelle. Die Anwendung der Zellen-Theorie auf alle Zweige der Biologie verlangt auch ihre Verknüpfung mit der Pſychologie. Mit demſelben Rechte, mit dem man in der Anatomie und Phyſiologie die lebendige Zelle als den „ Elementar-Organismus “behandelt und das ganze Ver - ſtändniß des höheren, vielzelligen Thier - und Pflanzen-Körpers daraus ableitet, mit demſelben Rechte kann man auch die „ Zell - ſeele “als das pſychologiſche Element betrachten und die zu - ſammengeſetzte Seelenthätigkeit der höheren Organismen als das Reſultat aus dem vereinigten Seelenleben der Zellen, die ſie zu - ſammenſetzen. Ich habe die Grundzüge dieſer Cellular - Pſychologie ſchon 1866 in meiner „ Generellen Morphologie “entworfen und ſie ſpäter weiter ausgeführt in meinem Aufſatz über „ Zellſeelen und Seelenzellen “*)E. Haeckel, Geſammelte populäre Vorträge. Bonn 1878.. Zum tieferen Eindringen in dieſe „ Elementar-Pſychologie “wurde ich durch meine lang - jährige Beſchäftigung mit den einzelligen Lebensformen geführt. Viele von dieſen kleinen (meiſt mikroſkopiſchen) Protiſten zeigen205X. Cellulare Theorie des Bewußtſeins.ähnliche Aeußerungen von Empfindung und Willen, ähnliche Inſtinkte und Bewegungen wie höhere Thiere; beſonders gilt das von den ſehr empfindlichen und lebhaft beweglichen In - fuſorien. Sowohl in dem Verhalten dieſer reizbaren Zellinge gegenüber der Außenwelt, wie in vielen anderen Lebensäußerungen derſelben (z. B. in dem wunderbaren Gehäuſe-Bau der Rhizo - poden, der Thalamophoren und Infuſorien) könnte man deut - liche Spuren bewußter Seelenthätigkeit zu erkennen glauben. Wenn man nun die biologiſche Theorie des Bewußtſeins acceptirt (Nr. IV), und wenn man jede pſychiſche Funktion mit einem Bewußtſeins-Antheil ausſtattet, dann wird man auch jeder ſelbſtändigen Protiſten-Zelle Bewußtſein zuſchreiben müſſen. Die materielle Grundlage desſelben wäre dann entweder das ganze Plasma der Zelle oder deren Kern oder ein Theil desſelben. In der Pſychaden-Theorie von Fritz Schultze verhält ſich das Elementar-Bewußtſein der Pſychade zur einzelnen Zelle ähnlich wie im höheren Thiere und im Menſchen das perſön - liche Bewußtſein zum vielzelligen Organismus der Perſon. Defi - nitiv widerlegen läßt ſich dieſe Annahme, die ich früher vertrat, nicht. Ich muß aber jetzt Max Verworn zuſtimmen, welcher in ſeinen ausgezeichneten „ Pſychophyſiologiſchen Protiſten-Studien “annimmt, daß wohl ſämmtlichen Protiſten ein entwickeltes „ Ichbewußtſein “fehlt, und daß ihre Empfindungen und Be - wegungen den Charakter des „ Unbewußten “tragen.
VI. Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins; es iſt eine Elementar-Eigenſchaft aller Atome. Unter allen ver - ſchiedenen Anſchauungen über die Verbreitung des Bewußtſeins geht dieſe atomiſtiſche Hypotheſe am weiteſten. Sie iſt wohl hauptſächlich der Schwierigkeit entſprungen, welche manche Philo - ſophen und Biologen bei der Frage nach der erſten Entſtehung des Bewußtſeins empfinden. Dieſe Erſcheinung trägt ja einen ſo eigenartigen Charakter, daß ihre Ableitung aus anderen206Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X. pſychiſchen Funktionen höchſt bedenklich erſcheint; man glaubte daher dieſes Hinderniß am leichteſten dadurch zu überwinden, daß man ſie als eine Elementar-Eigenſchaft aller Materie an - nahm, gleich der Maſſen-Anziehung oder der chemiſchen Wahl - verwandtſchaft. Es würde danach ſo viele Formen des Elementar - Bewußtſeins geben, als es chemiſche Elemente giebt; jedes Atom Waſſerſtoff würde ſein hydrogenes Bewußtſein haben, jedes Atom Kohlenſtoff ſein karboniſches Bewußtſein u. ſ. w. Auch den alten vier Elementen des Empedokles, deren Miſchung durch „ Lieben und Haſſen “das Werden der Dinge bewirkt, ſchrieben manche Philoſophen Bewußtſein zu.
Ich ſelbſt habe dieſe Hypotheſe des Atom-Bewußtſeins niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier beſonders hervorzuheben, weil E. du Bois-Reymond mir dieſe Anſicht fälſchlich untergeſchoben hat. In der ſcharfen Polemik, welche derſelbe (1880) in ſeiner Rede über „ die ſieben Welträthſel “gegen mich führt, bekämpft er meine „ verderbliche falſche Natur - Philoſophie “auf das Heftigſte und behauptet, ich hätte in meinem Aufſatz über die Perigeneſis der Plaſtidule die „ Annahme, daß die Atome einzeln Bewußtſein haben, als metaphyſiſches Axiom hingeſtellt “. Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, daß ich mir die elementaren pſychiſchen Thätigkeiten der Empfindung und des Willens, die man den Atomen zuſchreiben kann, un - bewußt vorſtelle, ebenſo unbewußt wie das elementare Ge - dächtniß, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten Phyſiologen Ewald Hering (1870) als „ eine allgemeine Funktion der organiſirten Materie “(beſſer der „ lebendigen Sub - ſtanz “) betrachte. Du Bois-Reymond verwechſelt demnach hier in auffälliger Weiſe „ Seele “und „ Bewußtſein “; ich will dahin geſtellt ſein laſſen, ob er dieſe Konfuſion nur aus Verſehen begeht. Da er ſelbſt das Bewußtſein für eine transſcendente Er -207X. Moniſtiſche Theorie des Bewußtſeins.ſcheinung erklärt (wie wir gleich ſehen werden), einen Theil der anderen Seelen-Funktionen (z. B. Sinnes-Thätigkeit) aber nicht, muß ich annehmen, daß er beide Begriffe für verſchieden hält. Aus anderen Stellen ſeiner eleganten Reden geht freilich das Gegentheil hervor, wie denn überhaupt dieſer berühmte Rhetor ſich gerade in Bezug auf wichtige Principien-Fragen oft auf - fallend widerſpricht. Ich betone hier nochmals, daß für mich das Bewußtſein nur einen Theil der Seelen-Erſcheinungen bildet, die wir am Menſchen und den höheren Thieren beobachten, während der weitaus größere Theil derſelben unbewußt abläuft.
Moniſtiſche und dualiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. Soweit auch die verſchiedenen Anſichten über die Natur und die Entſtehung des Bewußtſeins aus einander gehen, ſo laſſen ſich doch alle ſchließlich — bei klarer und konſequenter logiſcher Be - handlung — auf zwei entgegengeſetzte Grund-Anſchauungen zurückführen, auf die transſcendente (dualiſtiſche) und die phyſiologiſche (moniſtiſche). Ich ſelbſt habe von jeher dieſe letztere Auffaſſung, und zwar im Lichte der Entwickelungs - lehre, vertreten, und ſie wird gegenwärtig von einer großen Anzahl hervorragender Naturforſcher getheilt, wenn auch bei Weitem nicht von allen. Die erſte Anſicht dagegen iſt die ältere und die weitaus verbreitetere; ſie iſt in neuerer Zeit vor Allem durch Emil Dubois-Reymond wieder zu hohem Anſehen gelangt und durch ſeine berühmte „ Ignorabimus-Rede “zu einem der meiſtbeſprochenen Gegenſtände in den modernen „ Welträthſel-Diskuſſionen “geworden. Bei der außerordentlichen Bedeutung dieſer Grundfrage können wir nicht umhin, hier noch - mals auf den Kern derſelben kurz einzugehen.
Transſcendenz des Bewußtſeins. In dem berühmtem Vortrage „ über die Grenzen des Naturerkennens “, welchen E. du Bois-Reymond am 14. Auguſt 1872 auf der Natur - forſcher-Verſammlung in Leipzig hielt, ſtellte derſelbe zwei ver -208Dualiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X. ſchiedene „ unbedingte Grenzen “unſeres Naturerkennens auf, welche der menſchliche Geiſt auch bei vorgeſchrittenſter Natur-Erkenntniß niemals überſchreiten werde — niemals, wie das oft citirte Schlußwort des Vortrags emphatiſch betont: „ Ignorabimus! “ Das eine abſolut unlösbare „ Welträthſel “iſt „ der Zuſammenhang von Materie und Kraft “und das eigent - liche Weſen dieſer fundamentalen Natur-Erſcheinungen; wir werden dieſes „ Subſtanz-Problem “im zwölften Kapitel eingehend behandeln. Das zweite unüberſteigliche Hinderniß der Philoſophie ſoll das Problem des Bewußtſeins bilden, die Frage: wie unſere Geiſtesthätigkeit aus materiellen Bedingungen, bezüglich Bewegungen zu erklären iſt, wie die (der Materie und Kraft zu Grunde liegende) „ Subſtanz unter beſtimmten Be - dingungen empfindet, begehrt und denkt “.
Der Kürze halber, und zugleich um das Weſen des Leipziger Vortrages mit einem Schlagworte zu charakteriſiren, habe ich dieſelbe als die „ Ignorabimus-Rede “bezeichnet; es iſt dies um ſo mehr geſtattet, als E. Du Bois-Reymond ſelbſt acht Jahre ſpäter (in der Rede über die ſieben Welträthſel, 1880) den außerordentlichen Erfolg derſelben mit berechtigtem Stolze rühmen und dabei ſagen konnte: „ Die Kritik ſchlug alle Töne vom freudig zuſtimmenden Lobe bis zum wegwerfendſten Tadel an, und das Wort ‚ Ignorabimus‘, in welchem meine Unterſuchung gipfelte, ward förmlich zu einer Art von natur - philoſophiſchem Schiboleth. “ Thatſächlich erſchollen die lauten „ Töne des freudig zuſtimmenden Lobes “aus den Hörſälen der dualiſtiſchen und ſpiritualiſtiſchen Philoſophie und beſonders aus dem Heerlager der Eccleſia militanſ (der „ ſchwarzen Internationale “); aber auch alle Spiritiſten und alle gläubigen Gemüther, welche durch das ‚ Ignorabimus‘ die Unſterblich - keit ihrer theuren „ Seele “gerettet wähnten, waren davon ent - zückt. Den „ wegwerfendſten Tadel “erfuhr die glänzende Igno -209X. Dualiſtiſche Theorie des Bewußtſeins.rabimus-Rede dagegen anfänglich nur von Seiten weniger Natur - forſcher und Philoſophen, von jenen Wenigen, die gleichzeitig über hinreichende naturphiloſophiſche Kenntniſſe und über den erforderlichen moraliſchen Muth verfügten, um den dogmatiſchen Machtſprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der Berliner Akademie der Wiſſenſchaften entgegenzutreten.
Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimus-Rede (den der Redner ſelbſt ſpäter gelegentlich als unberechtigt und übertrieben bezeichnet hat!) erklärt ſich aus zwei Gründen, einem äußeren und einem inneren. Aeußerlich betrachtet war dieſelbe unzweifel - haft „ ein bedeutungsvolles rhetoriſches Kunſtwerk, eine ſchöne Predigt von hoher Vollendung der Form und überraſchendem Wechſel naturphiloſophiſcher Bilder. Bekanntlich beurtheilt aber die Mehrheit — und beſonders das „ ſchöne Geſchlecht “! — eine ſchöne Predigt nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte, ſondern nach dem äſthetiſchen Unterhaltungswerthe “(Monismus, S. 44). Innerlich analyſirt dagegen enthält die Ignorabimus - Rede das entſchiedene Programm des metaphyſiſchen Dualismus; die Welt iſt „ doppelt unbegreiflich “: einmal die materielle Welt, in welcher „ Materie und Kraft “ihr Weſen treiben, und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt des „ Geiſtes “, in welcher „ Denken und Bewußtſein nicht aus materiellen Bedingungen erklärbar “ſind, wie bei der erſteren. Es war ganz naturgemäß, daß der herrſchende Dualismus und Myſticismus dieſe Anerkennung der zwei verſchiedenen Welten mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menſchen und die Unſterblichkeit der Seele zu beweiſen. Der Jubel der Spiritualiſten darüber war um ſo heller und berechtigter, als E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender prin - cipieller Vertreter des wiſſenſchaftlichen Materialismus gegolten hatte; und das war und blieb er auch (trotz ſeiner „ ſchönen “Haeckel, Welträthſel. 14210Bewußtſein und Subſtanz-Geſetz. X. „ Reden “!), ebenſo wie alle anderen ſachkundigen, klaren und konſequent denkenden Naturforſcher der Gegenwart.
Allerdings hat der Verfaſſer der Ignorabimus-Rede am Schluſſe derſelben kurz auf die Frage hingewieſen, ob nicht jene beiden gegenüberſtehenden „ Welträthſel “, das allgemeine Subſtanz - Problem und das beſondere Bewußtſeins-Problem zuſammen - fallen. Er ſagt: „ Freilich iſt dieſe Vorſtellung die einfachſte und der vorzuziehen, wonach die Welt doppelt unbegreiflich erſcheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, daß wir auch in dieſem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müßig. “— Dieſer letzteren Anſicht bin ich von Anfang an entſchieden entgegengetreten und habe mich zu zeigen bemüht, daß jene beiden großen Fragen nicht zwei verſchiedene Welträthſel ſind. „ Das neurologiſche Problem des Bewußtſeins iſt nur ein beſonderer Fall von dem allumfaſſenden kosmologiſchen Problem, der Subſtanz-Frage “. (Monismus, 1892, S. 23.)
Es iſt hier nicht der Ort, um nochmals auf die betreffende Polemik und die ſehr umfangreiche, darüber entſtandene Literatur einzugehen. Ich habe ſchon vor 25 Jahren, im Vorwort zur erſten Auflage meiner Anthropogenie, gegen die Ignorabimus - Rede, ihre dualiſtiſchen Principien und ihre metaphyſiſchen Trug - ſchlüſſe entſchiedenen Proteſt erhoben;, und ich habe denſelben ausführlich begründet in meiner Schrift über „ Freie Wiſſenſchaft und freie Lehre “(Stuttgart 1878, S. 78, 82 ꝛc.). Auch im „ Monismus “habe ich denſelben wieder berührt (S. 23, 44). Du Bois-Reymond, welcher dadurch an ſeiner empfindlichſten Stelle getroffen war, antwortete ſehr gereizt in verſchiedenen Reden*)E. Du Bois-Reymond, Darwin verſuſ Galiani, 1876; Die ſieben Welträthſel 1880.; auch dieſe ſind, wie die meiſten ſeiner vielgeleſenen Reden, blendend durch den eleganten franzöſiſchen Stil und211X. Phyſiologie des Bewußtſeins.feſſelnd durch den Bilderreichthum und die überraſchenden Rede - wendungen. Aber eine weſentliche Förderung der Welterkenntniß liefert ihre oberflächliche Betrachtungsweiſe nicht. Am wenigſten gilt das vom Darwinismus, als deſſen Anhänger ſich der Berliner Phyſiologe ſpäter bedingungsweiſe bekennt, obgleich er nie das Geringſte zu ſeiner Förderung gethan hat; ſeine abſprechenden Bemerkungen über das biogenetiſche Grundgeſetz, ſeine Verwerfung der Stammesgeſchichte u. ſ. w. bekunden hin - länglich, daß derſelbe weder mit den empiriſchen Thatſachen der vergleichenden Morphologie und Entwickelungsgeſchichte hin - reichend vertraut, noch zu der philoſophiſchen Würdigung ihrer theoretiſchen Bedeutung befähigt war.
Phyſiologie des Bewußtſeins. Die eigenartige Natur - Erſcheinung des Bewußtſeins iſt nicht, wie Du Bois-Reymond und die dualiſtiſche Philoſophie behauptet, ein völlig und „ durch - aus transſcendentes Problem “; ſondern ſie iſt, wie ich ſchon ſeit 33 Jahren behauptet habe, ein phyſiologiſches Problem, und als ſolches auf die Erſcheinungen im Gebiete der Phyſik und Chemie zurückzuführen. Ich habe dasſelbe ſpäter noch be - ſtimmter als ein neurologiſches Problem bezeichnet, weil ich der Anſicht bin, daß wahres Bewußtſein (Denken und Vernunft) nur bei jenen höheren Thieren zu finden iſt, welche ein centraliſirtes Nerven-Syſtem und Sinnesorgane von einer gewiſſen Höhe der Ausbildung beſitzen. Mit voller Sicherheit läßt ſich das für die höheren Wirbelthiere behaupten, und vor Allem für die placentalen Säugethiere, aus deren Stamm das Menſchen-Geſchlecht ſelbſt entſproſſen iſt. Das Bewußtſein der höchſtentwickelten Affen, Hunde, Elephanten u. ſ. w. iſt von demjenigen des Menſchen nur dem Grade, nicht der Art nach verſchieden, und die graduellen Unterſchiede im Bewußtſein dieſer „ vernünftigſten “Zottenthiere und der niederſten Menſchen-Raſſen (Weddas, Auſtralneger u. ſ. w.) ſind geringer als die ent -14*212Phyſiologie des Bewußtſeins. X. ſprechenden Unterſchiede zwiſchen letzteren und den höchſt ent - wickelten Vernunft-Menſchen (Spinoza, Goethe, Lamarck, Darwin u. ſ. w.). Das Bewußtſein iſt mithin nur ein Theil der höheren Seelenthätigkeit, und als ſolche abhängig von der normalen Struktur des betreffenden Seelen - Organs, des Gehirns.
Phyſiologiſche Beobachtung und Experiment haben ſeit zwanzig Jahren den ſicheren Beweis geführt, daß derjenige engere Bezirk des Säugethier-Gehirns, den man in dieſem Sinne als „ Sitz “(beſſer als „ Organ “) des Bewußtſeins be - zeichnet, ein Theil des Großhirns iſt, und zwar jener ſpät entſtandene „ graue Mantel “oder die „ Großhirnrinde “, welche aus dem konvexen Dorſal-Theil der primären erſten Hirnblaſe, des Vorderhirns ſich entwickelt. Aber auch die morpho - logiſche Begründung dieſer phyſiologiſchen Erkenntniß iſt den bewunderungswürdigen Fortſchritten der mikroſkopiſchen Gehirn-Anatomie gelungen, welche wir den vervollkommneten Forſchungs-Methoden der neueſten Zeit verdanken (Kölliker, Flechſig, Golgi, Edinger, Weigert u. ſ. w.).
Wohl die wichtigſte von dieſen Erkenntniſſen iſt die Ent - deckung der Denkorgane durch Paul Flechſig in Leipzig; er wies nach, daß in der grauen Rindenzone des Hirnmantels vier Gebiete der centralen Sinnesorgane oder vier „ innere Empfindungsſphären “liegen, die Körperfühlſphäre im Scheitel - lappen, die Riechſphäre im Stirnlappen, die Sehſphäre im Hinterhauptslappen, die Hörſphäre im Schläfenlappen. Zwiſchen dieſen vier „ Sinnesherden “liegen die vier großen „ Denk - herde “oder Aſſocions-Centren, die realen Organe des Geiſteslebens; ſie ſind jene höchſten Werkzeuge der Seelen - thätigkeit, welche das Denken und das Bewußtſein ver - mitteln: vorn das Stirnhirn oder das frontale Aſſocions-Centrum, hinten oben das Scheitelhirn oder parietale Aſſocions-Centrum,213X. Pathologie des Bewußtſeins.hinten unten das Principalhirn oder das „ große occipito-temporale Aſſocions-Centrum “(das wichtigſte von allen!) und endlich tief unten, im Innern verſteckt, das Inſelhirn oder „ die Reilſche Inſel “, das inſulare Aſſocions-Centrum. Dieſe vier Denkherde, durch eigenthümliche und höchſt verwickelte Nervenſtruktur vor den zwiſchenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, ſind die wahren „ Denkorgane “, die einzigen Organe unſeres Bewußt - ſeins. In neueſter Zeit hat Flechſig nachgewieſen, daß in einem Theile derſelben ſich beim Menſchen noch ganz beſonders verwickelte Strukturen finden, welche den übrigen Säugethieren fehlen, und welche die Ueberlegenheit des menſchlichen Bewußt - ſeins erklären.
Pathologie des Bewußtſeins. Die bedeutungsvolle Er - kenntniß der modernen Phyſiologie, daß das Großhirn beim Menſchen und den höheren Säugethieren das Organ des Geiſtes - lebens und des Bewußtſeins iſt, wird einleuchtend beſtätigt durch die Pathologie, durch die Kenntniß ſeiner Erkrankungen. Wenn die betreffenden Theile der Großhirnrinde durch Krankheit zerſtört werden, erliſcht ihre Funktion, und zwar läßt ſich hier die Lokaliſation der Gehirn-Funktionen ſogar partiell nach - weiſen; wenn einzelne Stellen jenes Gebietes erkranken, ver - ſchwindet auch der Theil des Denkens und Bewußtſeins, welcher an die betreffende Stelle gebunden iſt. Dasſelbe Ergebniß liefert das pathologiſche Experiment; Zerſtörung einer ſolchen bekannten Stelle (z. B. im Sprach-Centrum) vernichtet deren Funktion (die Sprache). Uebrigens genügt ja der Hinweis auf die be - kannteſten alltäglichen Erſcheinungen im Gebiete des Bewußtſeins, um die völlige Abhängigkeit desſelben von den chemiſchen Veränderungen der Gehirn-Subſtanz zu beweiſen. Viele Genuß - mittel (Kaffee, Thee) regen unſer Denkvermögen an, andere (Wein, Bier) ſtimmen unſer Gemüth heiter; Moſchus und Kampher als „ Excitantia “beleben das erlöſchende Bewußtſein;214Alternirendes oder doppeltes Bewußtſein. X. Aether und Chloroform betäuben dasſelbe u. ſ. w. Wie wäre das Alles möglich, wenn das Bewußtſein ein immaterielles Weſen, unabhängig von jenen anatomiſch nachgewieſenen Organen wäre? Und worin beſteht das Bewußtſein der „ unſterblichen Seele “, wenn ſie nicht mehr jene Organe beſitzt?
Alle dieſe und andere bekannte Thatſachen beweiſen, daß das Bewußtſein beim Menſchen — und genau ebenſo bei den nächſtverwandten Säugethieren — veränderlich iſt, und daß ſeine Thätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere Urſachen (Stoffwechſel, Blutkreislauf) und äußere Urſachen (Ver - letzung des Gehirns, Reizung u. ſ. w.). Sehr lehrreich ſind auch die merkwürdigen Zuſtände des alternirenden oder doppelten Bewußtſeins, welche an einen „ Generationswechſel der Vor - ſtellungen “erinnern; derſelbe Menſch zeigt an verſchiedenen Tagen, unter veränderten Umſtänden ein ganz verſchiedenes Bewußtſein; er weiß heute nicht mehr, was er geſtern gethan hat; geſtern konnte er ſagen: Ich bin Ich; — heute muß er ſagen: Ich bin ein Anderer. Solche Intermiſſionen des Be - wußtſeins können nicht bloß Tage, ſondern Monate und Jahre dauern; ſie können ſelbſt bleibend werden*)Ludwig Büchner, Kraft und Stoff, Fünfzehnte Auflage 1883, S. 334 und folgende; Phyſiologiſche Bilder, Zweiter Band, S. 179 und folgende..
Ontogenie des Bewußtſeins. Wie Jedermann weiß, iſt das neugeborene Kind noch ganz ohne Bewußtſein, und wie Preyer gezeigt hat, entwickelt ſich dasſelbe erſt ſpät, nachdem das kleine Kind zu ſprechen angefangen hat; es ſpricht von ſich lange Zeit in der dritten Perſon. Erſt in dem bedeutungsvollen Momente, in welchem es zum erſten Male „ Ich “ſagt, in welchem das „ Ichgefühl “klar wird, beginnt ſein Selbſtbewußtſein zu keimen und damit auch der Gegenſatz zur Außenwelt. Die ſchnellen und tiefgreifenden Fortſchritte der Erkenntniß, welche215X. Ontogenie des Bewußtſeins.das Kind durch den Unterricht der Eltern und der Schule in den erſten zehn Lebensjahren macht, und ſpäter langſamer im zweiten Decennium bis zur vollendeten geiſtigen Reife, ſind eng verknüpft mit unzähligen Fortſchritten im Wachsthum und in der Entwickelung des Bewußtſeins und mit derjenigen ſeines Organs, des Gehirns. Aber auch wenn der Schüler das „ Zeugniß der Reife “erlangt hat, ſo iſt in Wahrheit ſein Be - wußtſein noch lange nicht reif, und jetzt beginnt erſt recht, in vielſeitiger Berührung mit der Außenwelt, das „ Welt - bewußtſein “ſich zu entwickeln. Jetzt erſt reift im dritten Decennium jene volle Ausbildung des vernünftigen Denkens und damit des Bewußtſeins, welche dann bei normaler Entwickelung in den folgenden drei Jahrzehnten ihre reifen Früchte trägt. Gewöhnlich mit Beginn des ſiebenten Decenniums (bald früher, bald ſpäter) beginnt dann jene langſame und allmähliche Rück - bildung der höheren Geiſtesthätigkeit, welche das Greiſenalter charakteriſirt. Gedächtniß, Receptions-Fähigkeit und Intereſſe an ſpeciellen Objekten nehmen mehr und mehr ab; dagegen bleibt die Produktionsfähigkeit, das gereifte Bewußtſein und das philo - ſophiſche Intereſſe an allgemeinen Beziehungen oft noch lange erhalten. Die individuelle Entwickelung des Bewußtſeins in früher Jugend beweiſt die allgemeine Geltung des biogenetiſchen Grundgeſetzes; aber auch in ſpäteren Jahren iſt dieſelbe noch vielfach erkennbar. Jedenfalls überzeugt uns die Onto - geneſe des Bewußtſeins aufs Klarſte von der Thatſache, daß dasſelbe kein „ immaterielles Weſen “, ſondern eine phyſiologiſche Funktion des Gehirns iſt, und daß es alſo auch keine Ausnahme vom Subſtanz-Geſetze bildet.
Phylogenie des Bewußtſeins. Die Thatſache, daß das Bewußtſein, gleich allen anderen Seelenthätigkeiten, an die normale Ausbildung beſtimmter Organe gebunden iſt, und daß ſich dasſelbe beim Kinde, in Zuſammenhang mit dieſen Gehirn -216Phylogenie des Bewußtſeins. X. Organen, allmählich entwickelt, läßt ſchon von vornherein ſchließen, daß dasſelbe auch innerhalb der Thierreihe ſich ſtufenweiſe hiſtoriſch entwickelt hat. So ſicher wir aber auch eine ſolche natürliche Stammesgeſchichte des Bewußtſeins im Princip behaupten müſſen, ſo wenig ſind wir doch leider im Stande, tiefer in dieſelbe einzudringen und ſpecielle Hypotheſen darüber aufzuſtellen. Indeſſen liefert uns die Paläontologie doch einige intereſſante Anhaltspunkte, die nicht ohne Bedeutung ſind. Auffallend iſt z. B. die bedeutende, quantitative und qualitative Entwickelung des Gehirns der placentalen Säuge - thiere innerhalb der Tertiär-Zeit. An vielen foſſilen Schädeln derſelben iſt die innere Schädelhöhle genau bekannt und liefert uns ſichere Aufſchlüſſe über die Größe und theilweiſe auch über den Bau des davon umſchloſſenen Gehirns. Da zeigt ſich denn innerhalb einer und derſelben Legion (z. B. der Huf - thiere, der Raubthiere, der Herrenthiere) ein gewaltiger Fort - ſchritt von den älteren eocänen und oligocänen zu den jüngeren miocänen und pliocänen Vertretern desſelben Stammes; bei den letzteren iſt das Gehirn (im Verhältniß zur Körpergröße) 6-8 mal ſo groß als bei den erſteren.
Auch jene höchſte Entwickelungsſtufe des Bewußtſeins, welche nur der Kulturmenſch erreicht, hat ſich erſt allmählich und ſtufenweiſe — eben durch den Fortſchritt der Kultur ſelbſt — aus niederen Zuſtänden entwickelt, wie wir ſie noch heute bei primitiven Naturvölkern antreffen. Das zeigt uns ſchon die Vergleichung ihrer Sprachen, welche mit derjenigen der Be - griffe eng verknüpft iſt. Je höher ſich beim denkenden Kultur - Menſchen die Begriffs-Bildung entwickelt, je mehr er fähig wird, aus zahlreichen verſchiedenen Einzelheiten die gemeinſamen Merkmale zuſammenzufaſſen und unter allgemeine Begriffe zu bringen, deſto klarer und tiefer wird damit ſein Bewußtſein.
Moniſtiſche Studien über Thanatismus und Athanismus. Kosmiſche und perſönliche Unſterblichkeit. Aggregatszuſtand der Seelen-Subſtanz.
„ Eine der ſtehenden Anklagen der Kirche gegen die Wiſſenſchaft lautet, daß letztere materialiſtiſch ſei. Ich möchte im Vorbeigehen darauf aufmerkſam machen, daß die ganze kirchliche Vorſtellung vom zukünftigen Leben von jeher und noch jetzt der reinſte Materialismus war und iſt. Der materielle Leib ſoll auferſtehen und in einem materiellen Himmel wohnen. “(M. J. Savage. )[218]
Die Citadelle des Aberglaubens. Athanismus und Thanatismus. Individueller Charakter des Todes. Unſterblichkeit der Einzelligen (Protiſten). Kosmiſche und perſönliche Unſterblichkeit. Primärer Thanatismus (bei Natur - völkern). Sekundärer Thanatismus (bei älteren und neueren Philoſophen). Athanismus und Religion. Entſtehung des Unſterblichkeitsglaubens. Chriſt - licher Athanismus. Das ewige Leben. Das jüngſte Gericht. Meta - phyſiſcher Athanismus. Seelen-Subſtanz. Aether-Seele. Luft-Seele. Flüſſige und feſte Seelen. Unſterblichkeit der Thierſeele. Beweiſe für und gegen den Athanismus. Athaniſtiſche Illuſionen.
David Strauß, Geſammelte Schriften. Auswahl in ſechs Bänden (heraus - gegeben von Eduard Zeller). Bonn 1890.
Ludwig Feuerbach, Gottheit, Freiheit und Unſterblichkeit, vom Standpunkt der Anthropologie. 1866. (Zweite Auflage 1890.)
Ludwig Büchner, Das künftige Leben und die moderne Wiſſenſchaft. Zehn Briefe an eine Freundin. Leipzig 1889.
Carl Vogt, Köhlerglauben und Wiſſenſchaft. Gießen 1855.
Guſtav Kühn, Naturphiloſophiſche Studien, frei von Myſticismus. Neuwied 1895.
Paul Carus und E. C. Hegeler, The Moniſt. A Quarterly Magazine. Vol. I-IX. Chicago 1890-1899.
M. J. Savage, Die Unſterblichkeit. (Kap. XII in: „ Die Religion im Lichte der Darwin'ſchen Lehre. “ Leipzig 1886.
Adalbert Svoboda, Geſtalten des Glaubens. 2 Bände. Leipzig 1897.
Indem wir uns von der genetiſchen Betrachtung der Seele zu der großen Frage ihrer „ Unſterblichkeit “wenden, betreten wir jenes höchſte Gebiet des Aberglaubens, welches gewiſſermaßen die unzerſtörbare Citadelle aller myſtiſchen und dualiſtiſchen Vor - ſtellungs-Kreiſe bildet. Denn bei dieſer Kardinal-Frage knüpft ſich an die rein philoſophiſchen Vorſtellungen mehr als bei jedem anderen Problem das egoiſtiſche Intereſſe der menſchlichen Perſon, welche um jeden Preis ihre individuelle Fortdauer über den Tod hinaus garantirt haben will. Dieſes „ höhere Gemüths-Bedürfniß “iſt ſo mächtig, daß es alle logiſchen Schlüſſe der kritiſchen Ver - nunft über den Haufen wirft. Bewußt oder unbewußt werden bei den meiſten Menſchen alle übrigen allgemeinen Anſichten, alſo auch die ganze Weltanſchauung, von dem Dogma der perſönlichen Unſterblichkeit beeinflußt, und an dieſen theoretiſchen Irrthum knüpfen ſich praktiſche Folgerungen von weitreichendſter Wirkung. Es wird daher unſere Aufgabe ſein, alle Seiten dieſes wichtigen Dogmas kritiſch zu prüfen und ſeine Unhaltbarkeit gegenüber den empiriſchen Erkenntniſſen der modernen Biologie nachzuweiſen.
Athanismus und Thanatismus. Um einen kurzen und bequemen Ausdruck für die beiden entgegengeſetzten Grund - anſchauungen über die Unſterblichkeits-Frage zu haben, bezeichnen wir den Glauben an die „ perſönliche Unſterblichkeit des Menſchen “als Athanismus (abgeleitet von Athaneſ oder Athanatoſ =220Athanismus und Thanatismus. XI. unſterblich). Dagegen nennen wir Thanatismus (abgeleitet von Thanatoſ = Tod) die Ueberzeugung, daß mit dem Tode des Menſchen nicht nur alle übrigen phyſiologiſchen Lebensthätig - keiten erlöſchen, ſondern auch die „ Seele “verſchwindet, d. h. jene Summe von Gehirn-Funktionen, welche der pſychiſche Dualismus als ein eigenes „ Weſen “, unabhängig von den übrigen Lebens - Aeußerungen des lebendigen Körpers betrachtet.
Indem wir hier das phyſiologiſche Problem des Todes berühren, betonen wir nochmals den individuellen Charakter dieſer organiſchen Natur-Erſcheinung. Wir verſtehen unter Tod ausſchließlich das definitive Aufhören der Lebensthätigkeit des organiſchen Individuums, gleichviel welcher Kategorie oder welcher Stufenfolge der Individualität das betreffende Einzelweſen angehört. Der Menſch iſt todt, wenn ſeine Perſon ſtirbt, gleichviel ob er gar keine Nachkommenſchaft hinterlaſſen hat, oder ob er Kinder erzeugt hat, deren Nachkommen ſich durch viele Generationen fruchtbar fortpflanzen. Man ſagt ja in gewiſſem Sinne, daß der „ Geiſt “großer Männer (z. B. in einer Dynaſtie hervor - ragender Herrſcher, in einer Familie talentvoller Künſtler) durch Generationen fortlebt; und ebenſo ſagt man, daß die „ Seele “ausgezeichneter Frauen oft in den Kindern und Kindeskindern ſich forterhält. Allein in dieſen Fällen handelt es ſich ſtets um verwickelte Vorgänge der Vererbung, bei welchen eine ab - gelöſte mikroſkopiſche Zelle (die Spermazelle des Vaters, die Ei - zelle der Mutter) gewiſſe Eigenſchaften der Subſtanz auf die Nachkommen überträgt. Die einzelnen Perſonen, welche jene Geſchlechtszellen zu Tauſenden produciren, bleiben trotzdem ſterblich und mit ihrem Tode erliſcht ihre individuelle Seelen-Thätigkeit ebenſo wie jede andere phyſiologiſche Funktion.
Unſterblichkeit der Einzelligen. Neuerdings iſt von mehreren namhaften Zoologen — am eingehendſten 1882 von Weismann — die Anſicht vertheidigt worden, daß nur die221XI. Unſterblichkeit der Einzelligen.niederſten einzelligen Organismen, die Protiſten, unſterblich ſeien, im Gegenſatze zu allen vielzelligen Thieren und Pflanzen, deren Körper aus Geweben zuſammengeſetzt iſt. Beſonders wurde dieſe ſeltſame Auffaſſung dadurch begründet, daß die meiſten Protiſten ſich vorwiegend auf ungeſchlechtlichem Wege vermehren, durch Theilung oder Sporenbildung. Dabei zerfällt der ganze Körper des einzelligen Organismus in zwei oder mehr gleich - werthige Stücke (Tochterzellen), und jedes dieſer Stücke ergänzt ſich wieder durch Wachsthum, bis es der Mutterzelle an Größe und Form gleich geworden iſt. Allein durch den Theilungs - Proceß ſelbſt iſt ja bereits die Individualität des einzelligen Organismus vernichtet, ebenſo die phyſiologiſche wie die morpho - logiſche Einheit. Den Begriff des Individuums ſelbſt, des „ Untheilbaren “, widerlegt logiſch die Auffaſſung von Weis - mann; denn es bedeutet ja eine Einheit, die man nicht theilen kann, ohne ihr Weſen aufzuheben. In dieſem Sinne ſind die einzelligen Urpflanzen (Protophyta) und die einzelligen Urthiere (Protozoa) zeitlebens ebenſo Bionten oder phyſio - logiſche Individuen, wie die vielzelligen, gewebebildenden Pflanzen und Thiere. Auch bei den letzteren kommt ungeſchlecht - liche Fortpflanzung durch einfache Theilung vor (z. B. bei manchen Neſſelthieren, Korallen, Meduſen n. A.); das Mutterthier, aus deſſen Theilung die beiden Tochterthiere hervorgehen, hat auch hier mit deren Trennung aufgehört zu exiſtiren. Weismann behauptet: „ Es giebt keine Individuen und keine Generationen bei den Protozoen im Sinne der Metazoen. “ Ich muß dieſen Satz entſchieden beſtreiten. Da ich ſelbſt zuerſt (1872) den Begriff der Metazoen aufgeſtellt und dieſe vielzelligen, gewebe - bildenden Thiere den einzelligen Protozoen (Infuſorien, Rhizo - poden u. ſ. w.) gegenübergeſtellt habe, da ich ſelbſt ferner zuerſt den principiellen Unterſchied in der Entwickelung Beider (dort aus Keimblättern, hier nicht) begründet habe, muß ich um ſo222Begriff der Unſterblichkeit. XI. mehr betonen, daß ich die Protozoen im phyſiologiſchen (alſo auch im pſychologiſchen!) Sinne ebenſo für ſterblich halte wie die Metazoen; unſterblich iſt in beiden Gruppen weder der Leib noch die Seele. Die übrigen irrthümlichen Folgerungen Weismann's ſind bereits (1884) durch Moebius widerlegt worden, der mit Recht hervorhebt, daß „ Alles in der Welt periodiſch geſchieht “, und daß es „ keine Quelle giebt, aus welcher unſterbliche organiſche Individuen hätten entſpringen können “.
Kosmiſche und perſönliche Unſterblichkeit. Wenn man den Begriff der Unſterblichkeit ganz allgemein auffaßt und auf die Geſammtheit der erkennbaren Natur ausdehnt, ſo gewinnt er wiſſenſchaftliche Bedeutung; er erſcheint dann der moniſtiſchen Philoſophie nicht nur annehmbar, ſondern ſelbſtverſtändlich. Denn die Theſe von der Unzerſtörbarkeit und ewigen Dauer alles Seienden fällt dann zuſammen mit unſerm höchſten Natur - Geſetze, dem Subſtanz-Geſetz (12. Kapitel). Da wir dieſe kosmiſche Unſterblichkeit ſpäter, bei Begründung der Lehre von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes, ausführlich erörtern werden, halten wir uns hier nicht weiter dabei auf. Vielmehr wenden wir uns ſogleich zur Kritik jenes „ Unſterblichkeits - Glaubens “, der gewöhnlich allein unter dieſem Begriffe verſtanden wird, der Immortalität der perſönlichen Seele. Wir unter - ſuchen zunächſt die Verbreitung und Entſtehung dieſer myſtiſchen und dualiſtiſchen Vorſtellung und betonen dabei beſonders die weite Verbreitung ihres Gegentheils, des moniſtiſchen, em - piriſch begründeten Thanatismus. Ich unterſcheide hier als zwei weſentlich verſchiedene Erſcheinungen desſelben den pri - mären und den ſekundären Thanatismus; bei erſterem iſt der Mangel des Unſterblichkeits-Dogmas ein urſprünglicher (bei primitiven Naturvölkern); der ſekundäre Thanatismus dagegen iſt das ſpäte Erzeugniß vernunftgemäßer Natur-Erkenntniß bei hoch entwickelten Kulturvölkern.
223XI. Primärer Thanatismus.Primärer Thanatismus (urſprünglicher Mangel der Unſterblichkeits-Idee). In vielen philoſophiſchen und beſonders theologiſchen Schriften leſen wir noch heute die Behauptung, daß der Glaube an die perſönliche Unſterblichkeit der menſchlichen Seele allen Menſchen — oder doch allen „ vernünftigen Menſchen “— urſprünglich gemeinſam ſei. Das iſt falſch. Dieſes Dogma iſt weder eine urſprüngliche Vorſtellung der menſchlichen Vernunft, noch hat es jemals allgemeine Verbreitung gehabt. In dieſer Beziehung iſt vor Allem wichtig die ſichere, erſt neuerdings durch die vergleichende Ethnologie feſtgeſtellte Thatſache, daß mehrere Naturvölker der älteſten und primitivſten Stufe ebenſo wenig von einer Unſterblichkeit als von einem Gotte irgend eine Vor - ſtellung haben. Das gilt namentlich von den Weddas auf Ceylon, jenen primitiven Pygmäen, die wir auf Grund der aus - gezeichneten Forſchungen der Herren Saraſin für einen Ueber - reſt der älteſten indiſchen „ Urmenſchen “halten*)E. Haeckel, Indiſche Reiſebriefe. Dritte Auflage 1893. S. 384.; ferner von mehreren älteſten Stämmen der nächſtverwandten Dravidas, von den indiſchen Seelongs und einigen Stämmen der Auſtral - neger. Ebenſo kennen mehrere der primitivſten Urvölker der amerikaniſchen Raſſe, im inneren Braſilien, am oberen Amazonen - Strom u. ſ. w., weder Götter noch Unſterblichkeit. Dieſer primäre Mangel des Unſterblichkeits - und Gottes-Glaubens iſt eine höchſt wichtige Thatſache; er iſt ſelbſtverſtändlich wohl zu unterſcheiden von dem ſekundären Mangel desſelben, wel - chen erſt der höchſtentwickelte Kultur-Menſch auf Grund kritiſch - philoſophiſcher Studien ſpät und mühſam gewonnen hat.
Sekundärer Thanatismus (erworbener Mangel der Unſterblichkeits-Idee). Im Gegenſatze zu dem primären Tha - natismus, der ſicher bei den älteſten Urmenſchen urſprünglich beſtand und immer eine weite Verbreitung beſaß, iſt der ſekundäre224Sekundärer Thanatismus. XI. Mangel des Immortalitäts-Glaubens erſt ſpät entſtanden; er iſt erſt die reife Frucht eingehenden Nachdenkens über „ Leben und Tod “, alſo ein Produkt echter und unabhängiger philo - ſophiſcher Reflexion. Als ſolcher tritt er uns ſchon im ſechſten Jahrhundert vor Chr. bei einem Theile der ioniſchen Natur - philoſophen entgegen, ſpäter bei den Gründern der alten mate - rialiſtiſchen Philoſophie, bei Demokritos und Empedokles, aber auch bei Simonides und Epikur, bei Seneca und Plinius, am meiſten durchgebildet bei Lucretius Carus. Als dann nach dem Untergange des klaſſiſchen Alterthums das Chriſtenthum ſich ausbreitete und mit ihm der Athanismus, als einer ſeiner wichtigſten Glaubens-Artikel, die Weltherrſchaft ge - wann, erlangte mit anderen Formen des Aberglaubens auch der - jenige an die perſönliche Unſterblichkeit die höchſte Bedeutung.
Während der langen Geiſtesnacht des chriſtlichen Mittelalters wagte begreiflicher Weiſe nur ſelten ein kühner Freidenker ſeine abweichende Ueberzeugung zu äußern; die Beiſpiele von Galilei, von Giordano Bruno und anderen unabhängigen Philo - ſophen, welche von den „ Nachfolgern Chriſti “der Tortur und dem Scheiterhaufen überliefert wurden, ſchreckten genügend jedes freie Bekenntniß ab. Dieſes wurde erſt wieder möglich, nachdem die Reformation und die Renaiſſance die Allmacht des Papismus gebrochen hatten. Die Geſchichte der neueren Philoſophie zeigt die mannigfaltigen Wege, auf denen die gereifte menſchliche Vernunft dem Aberglauben der Unſterblichkeit zu entrinnen ver - ſuchte. Immerhin verlieh demſelben trotzdem die enge Ver - knüpfung mit dem chriſtlichen Dogma auch in den freieren proteſtantiſchen Kreiſen ſolche Macht, daß ſelbſt die meiſten überzeugten Freidenker ihre Meinung ſtill für ſich behielten. Nur ſelten wagten einzelne hervorragende Männer ihre Ueberzeugung von der Unmöglichkeit der Seelen-Fortdauer nach dem Tode frei zu bekennen. Beſonders geſchah dies in der zweiten Hälfte des225XI. Athanismus und Religion.achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich von Voltaire, Danton, Mirabeau u. A., ferner von den Hauptvertretern des damaligen Materialismus, Holbach, Lamettrie u. A. Dieſelbe Ueber - zeugung vertrat auch der geiſtreiche Freund der Letzteren, der größte der Hohenzollern-Fürſten, der moniſtiſche „ Philoſoph von Sans-Souci “. Was würde Friedrich der Große, dieſer „ gekrönte Thanatiſt und Atheiſt “, ſagen, wenn er heute ſeine moniſtiſchen Ueberzeugungen mit denjenigen ſeiner Nachfolger vergleichen könnte!
Unter den denkenden Aerzten iſt die Ueberzeugung, daß mit dem Tode des Menſchen auch die Exiſtenz ſeiner Seele auf - höre, wohl ſeit Jahrhunderten ſehr verbreitet geweſen; aber auch ſie hüteten ſich meiſtens wohl, dieſelbe auszuſprechen. Auch blieb immerhin noch im vorigen Jahrhundert die empiriſche Kenntniß des Gehirns ſo unvollkommen, daß die „ Seele “als ein räthſel - hafter Bewohner desſelben ihre ſelbſtſtändige Exiſtenz fortfriſten konnte. Endgültig beſeitigt wurde dieſelbe erſt durch die Rieſen - fortſchritte der Biologie in unſerem Jahrhundert und beſonders in deſſen zweiter Hälfte. Die Begründung der Deſcendenz-Theorie und der Zellen-Theorie, die überraſchenden Entdeckungen der Ontogenie und der Experimental-Phyſiologie, vor Allem aber die bewunderungswürdigen Fortſchritte der mikroſkopiſchen Gehirn - Anatomie entzogen dem Athanismus allmählich jeden Boden, ſo daß jetzt nur ſelten ein ſachkundiger und ehrlicher Biologe noch für die Unſterblichkeit der Seele eintritt. Die moniſtiſchen Philo - ſophen des neunzehnten Jahrhunderts (Strauß, Feuerbach, Büchner, Spencer u. ſ. w.) ſind ſämmtlich Thanatiſten.
Athanismus und Religion. Die weiteſte Verbreitung und die höchſte Bedeutung hat das Dogma der perſönlichen Un - ſterblichkeit erſt durch ſeine innige Verbindung mit den Glaubens - lehren des Chriſtenthums gefunden; und dieſe hat auch zu der irrthümlichen, heute noch ſehr verbreiteten Anſicht geführt,Haeckel, Welträthſel. 15226Urſprung des Athanismus. XI. daß dasſelbe überhaupt einen weſentlichen Grundbeſtandtheil jeder geläuterten Religion bilde. Das iſt durchaus nicht der Fall! Der Glaube an die Unſterblichkeit der Seele fehlt vollſtändig den meiſten höher entwickelten orientaliſchen Religionen; er fehlt dem Buddhismus, der noch heute über 30 Procent der ge - ſammten menſchlichen Bevölkerung der Erde beherrſcht; er fehlt ebenſo der alten Volks-Religion der Chineſen wie der refor - mirten, ſpäter an deren Stelle getretenen Religion des Con - fucius; und, was das Wichtigſte iſt, er fehlt der älteren und reineren jüdiſchen Religion; weder in den fünf Büchern Moſes noch in jenen älteren Schriften des Alten Teſtamentes, welche vor dem babyloniſchen Exil geſchrieben wurden, iſt die Lehre von der individuellen Fortdauer nach dem Tode zu finden.
Entſtehung des Unſterblichkeits-Glaubens. Die myſtiſche Vorſtellung, daß die Seele des Menſchen nach ſeinem Tode fort - dauere und unſterblich weiterlebe, iſt ſicher polyphyletiſch entſtanden; ſie fehlte dem älteſten, ſchon mit Sprache begabten Urmenſchen (dem hypothetiſchen Homo primigeniuſ Aſiens) gewiß ebenſo wie ſeinen Vorfahren, dem Pithecanthropuſ und Prothylobateſ, und wie ſeinen modernen, wenigſt entwickelten Nachkommen, den Weddas von Ceylon, den Seelongs von Indien und anderen, weit entfernt wohnenden Natur-Völkern. Erſt bei zunehmender Vernunft, bei eingehenderem Nachdenken über Leben und Tod, über Schlaf und Traum entwickelten ſich bei ver - ſchiedenen älteren Menſchen-Raſſen — unabhängig von einander — myſtiſche Vorſtellungen über die dualiſtiſche Kompoſition unſeres Organismus. Sehr verſchiedene Motive werden bei dieſem poly - phyletiſchen Vorgange zuſammengewirkt haben: Ahnen-Kultus, Verwandten-Liebe, Lebensluſt und Wunſch der Lebens-Verlänge - rung, Hoffnung auf beſſere Lebens-Verhältniſſe im Jenſeits, Hoffnung auf Belohnung der guten und Beſtrafung der ſchlechten Thaten u. ſ. w. Die vergleichende Pſychologie hat uns neuer -227XI. Chriſtlicher Athanismus.dings eine große Anzahl von ſehr verſchiedenen derartigen Glaubens-Dichtungen kennen gelehrt*)Vergl. Adalbert Svoboda, Geſtalten des Glaubens. 1897.; großentheils hängen dieſelben eng zuſammen mit den älteſten Formen des Gottes - glaubens und der Religion überhaupt. In den meiſten modernen Religionen iſt der Athanismus eng verknüpft mit dem Theismus, und die materialiſtiſche Vorſtellung, welche ſich die meiſten Gläubigen von ihrem „ perſönlichen Gott “bilden, über - tragen ſie auf ihre „ unſterbliche Seele “. Das gilt vor Allem von der herrſchenden Weltreligion der modernen Kulturvölker, vom Chriſtenthum.
Chriſtlicher Unſterblichkeits-Glaube. Wie allgemein be - kannt, hat das Dogma von der Unſterblichkeit der Seele in der chriſtlichen Religion ſchon lange diejenige feſte Form angenommen, welche ſich in dem Glaubens-Artikel ausſpricht: „ Ich glaube an die Auferſtehung des Fleiſches und ein ewiges Leben. “ Wie am Oſterfeſt Chriſtus ſelbſt von den Todten auferſtanden iſt und nun in Ewigkeit als „ Gottes Sohn, ſitzend zur rechten Hand Gottes “, gedacht wird, verſinnlichen uns unzählige Bilder und Legenden. In gleicher Weiſe wird auch der Menſch „ am jüngſten Tage auferſtehen “und ſeinen Lohn für die Führung ſeines einſtigen Erdenlebens empfangen. Dieſer ganze chriſtliche Vor - ſtellungskreis iſt durch und durch materialiſtiſch und anthro - piſtiſch; er erhebt ſich nicht viel über die entſprechenden rohen Vorſtellungen vieler niederer Naturvölker. Daß die „ Auferſtehung des Fleiſches “unmöglich iſt, weiß eigentlich Jeder, der einige Kenntniſſe in Anatomie und Phyſiologie beſitzt. Die Auferſtehung Chriſti, welche von Millionen gläubiger Chriſten an jedem Oſter - feſte gefeiert wird, iſt ebenſo ein reiner Mythus wie die „ Auf - erweckung von den Todten “, welche derſelbe mehrfach ausgeführt haben ſoll. Für die reine Vernunft ſind dieſe myſtiſchen Glaubens -15 *228Chriſtlicher Materialismus. XI. Artikel ebenſo unannehmbar wie die damit verknüpfte Hypotheſe eines „ ewigen Lebens “.
Das ewige Leben. Die phantaſtiſchen Vorſtellungen, welche die chriſtliche Kirche über die ewige Fortdauer der unſterblichen Seele nach dem Tode des Leibes lehrt, ſind ebenſo rein mate - rialiſtiſch wie das damit verknüpfte Dogma von der „ Auferſtehung des Fleiſches “. Sehr richtig bemerkt in dieſer Beziehung Savage in ſeinem intereſſanten Werke „ Die Religion im Lichte der Darwin'ſchen Lehre “(1886): „ Eine der ſtehenden Anklagen der Kirche gegen die Wiſſenſchaft lautet, daß letztere materialiſtiſch ſei. Ich möchte im Vorbeigehen darauf aufmerkſam machen, daß die ganze kirchliche Vorſtellung vom zukünftigen Leben von jeher und noch jetzt der reinſte Mate - rialismus war und iſt. Der materielle Leib ſoll auferſtehen und in einem materiellen Himmel wohnen. “ Um ſich hiervon zu überzeugen, braucht man nur unbefangen eine der unzähligen Predigten oder auch der phraſenreichen, neuerdings ſehr beliebten Tiſchreden zu leſen, in denen die Herrlichkeit des ewigen Lebens als höchſtes Gut des Chriſten und der Glaube daran als Grund - lage der Sittenlehre geprieſen wird. Da erwarten den frommen ſpiritualiſtiſchen Gläubigen im „ Paradieſe “alle Freuden des hochentwickelten geſelligen Kultur-Lebens, während die gottloſen Materialiſten vom „ liebenden Vater “durch ewige Höllenqualen gemartert werden.
Metaphyſiſcher Unſterblichkeits-Glaube. Gegenüber dem materialiſtiſchen Athanismus, welcher in der chriſtlichen und mohammedaniſchen Kirche herrſchend iſt, vertritt ſcheinbar eine reinere und höhere Glaubensform der metaphyſiſche Atha - nismus, wie ihn die meiſten dualiſtiſchen und ſpiritualiſtiſchen Philoſophen lehren. Als der bedeutendſte Begründer desſelben iſt Plato zu betrachten; er lehrte ſchon im vierten Jahrhundert vor Chriſtus jenen vollkommenen Dualismus zwiſchen Leib und229XI. Myſtiſche Seelenwanderung.Seele, welcher dann in der chriſtlichen Glaubenslehre zu einem der theoretiſch wichtigſten und praktiſch wirkungsvollſten Artikel wurde. Der Leib iſt ſterblich, materiell, phyſiſch; die Seele iſt unſterblich, immateriell, metaphyſiſch. Beide ſind nur während des individuellen Lebens vorübergehend verbunden. Da Plato ein ewiges Leben der autonomen Seele ſowohl vor als nach dieſer zeitweiligen Verbindung annimmt, iſt er auch Anhänger der „ Seelenwanderung “; die Seelen exiſtirten als ſolche, als „ ewige Ideen “, ſchon bevor ſie in den menſchlichen Körper ein - traten. Nachdem ſie denſelben verlaſſen, ſuchen ſie ſich als Wohnort einen anderen Körper aus, der ihrer Beſchaffenheit am meiſten angemeſſen iſt; die Seelen von grauſamen Tyrannen ſchlüpfen in den Körper von Wölfen und Geiern, diejenigen von tugend - haften Arbeitern in den Leib von Bienen und Ameiſen u. ſ. w. Die kindlichen und naiven Anſchauungen dieſer platoniſchen Seelenlehre liegen auf der Hand; bei weiterem Eindringen er - ſcheinen ſie völlig unvereinbar mit den ſicherſten pſychologiſchen Erkenntniſſen, welche wir der modernen Anatomie und Phyſio - logie, der fortgeſchrittenen Hiſtologie und Ontogenie verdanken; wir erwähnen ſie hier nur, weil ſie trotz ihrer Abſurdität den größten kulturhiſtoriſchen Einfluß erlangten. Denn einerſeits knüpfte an die platoniſche Seelenlehre die Myſtik der Neu - platoniker an, welche in das Chriſtenthum Eingang gewann; andererſeits wurde ſie ſpäter zu einem Hauptpfeiler der ſpiri - tualiſtiſchen und idealiſtiſchen Philoſophie. Die platoniſche „ Idee “verwandelte ſich ſpäter in den Begriff der Seelen - Subſtanz, die allerdings ebenſo unfaßbar und metaphyſiſch iſt, aber doch oft einen phyſikaliſchen Anſchein gewann.
Seelen-Subſtanz. Die Auffaſſung der Seele als „ Sub - ſtanz “iſt bei vielen Pſychologen ſehr unklar; bald wird dieſelbe in abſtraktem und idealiſtiſchem Sinne als ein „ immaterielles Weſen “von ganz eigenthümlicher Art betrachtet, bald in kon -230Materielle Seelen-Subſtanz. XI. kretem und realiſtiſchem Sinne, bald als ein unklares Mittelding zwiſchen beiden. Halten wir an dem moniſtiſchen Subſtanz - Begriffe feſt, wie wir ihn (im 12. Kapitel) als einfachſte Grund - lage unſerer geſammten Weltanſchauung entwickeln, ſo iſt in demſelben Energie und Materie untrennbar verbunden. Dann müſſen wir an der „ Seelen-Subſtanz “die eigentliche, uns allein bekannte pſychiſche Energie unterſcheiden (Empfinden, Vorſtellen, Wollen) und die pſychiſche Materie, durch welche allein dieſelbe zur Wirkung gelangen kann, alſo das lebendige Plasma. Bei den höheren Thieren bildet dann der „ Seelen - ſtoff “einen Theil des Nerven-Syſtems, bei den niederen, nerven - loſen Thieren und den Pflanzen einen Theil ihres vielzelligen Plasma-Körpers, bei den einzelligen Protiſten einen Theil ihres plasmatiſchen Zellen-Körpers. Somit kommen wir wieder auf die Seelen-Organe und gelangen zu der naturgemäßen Er - kenntniß, daß dieſe materiellen Organe für die Seelenthätigkeit unentbehrlich ſind; die Seele ſelbſt aber iſt aktuell, iſt die Summe ihrer phyſiologiſchen Funktionen.
Ganz anders geſtaltet ſich der Begriff der ſpecifiſchen Seelen - Subſtanz bei jenen dualiſtiſchen Philoſophen, welche eine ſolche annehmen. Die unſterbliche „ Seele “ſoll dann zwar materiell ſein, aber doch unſichtbar und ganz verſchieden von dem ſicht - baren Körper, in welchem ſie wohnt. Die Unſichtbarkeit der Seele wird dabei als ein ſehr weſentliches Attribut derſelben betrachtet. Einige vergleichen dabei die Seele mit dem Aether und betrachten ſie gleich dieſem als einen äußerſt feinen und leichten, höchſt beweglichen Stoff oder ein imponderables Agens, welches überall zwiſchen den wägbaren Theilchen des lebendigen Organismus ſchwebt. Andere hingegen vergleichen die Seele mit dem wehenden Winde und ſchreiben ihr alſo einen gasförmigen Zuſtand zu; und dieſer Vergleich iſt ja auch derjenige, welcher zuerſt bei den Naturvölkern zu der ſpäter ſo allgemein gewordenen231XI. Aetheriſche und gasförmige Seelen.dualiſtiſchen Auffaſſung führte. Wenn der Menſch ſtarb, blieb der Körper als todte Leiche zurück; die unſterbliche Seele aber „ entfloh aus demſelben mit dem letzten Athemzuge “.
Aether-Seele. Die Vergleichung der menſchlichen Seele mit dem phyſikaliſchen Aether als qualitativ ähnlichem Gebilde hat in neuerer Zeit eine konkretere Geſtalt gewonnen durch die großartigen Fortſchritte der Optik und der Elektricität (beſonders im letzten Decennium); denn dieſe haben uns mit der Energie des Aethers bekannt gemacht und damit zugleich gewiſſe Schlüſſe auf die materielle Natur dieſes raumerfüllenden Weſens geſtattet. Da ich dieſe wichtigen Verhältniſſe ſpäter (im 12. Kapitel) be - ſprechen werde, will ich mich hier nicht weiter dabei aufhalten, ſondern nur kurz darauf hinweiſen, daß dadurch die Annahme einer Aether-Seele vollkommen unhaltbar geworden iſt. Eine ſolche „ ätheriſche Seele “, d. h. eine Seelen-Subſtanz, welche dem phyſikaliſchen Aether ähnlich iſt und gleich ihm zwiſchen den wägbaren Theilchen des lebendigen Plasma oder den Gehirn - Molekeln ſchwebt, kann unmöglich individuelles Seelenleben her - vorbringen. Weder die myſtiſchen Anſchauungen, welche darüber um die Mitte unſeres Jahrhunderts lebhaft diskutirt wurden, noch die Verſuche des modernen Neovitalismus, die myſtiſche „ Lebenskraft “mit dem phyſikaliſchen Aether in Beziehung zu ſetzen, ſind heute mehr der Widerlegung bedürftig.
Luft-Seele. Viel allgemeiner verbreitet und auch heute noch in hohem Anſehen ſteht jene Anſchauung, welche der Seelen - Subſtanz eine gasförmige Beſchaffenheit zuſchreibt. Uralt iſt die Vergleichung des menſchlichen Athemzuges mit dem wehenden Windhauche; beide wurden urſprünglich für identiſch gehalten und mit demſelben Namen belegt. Anemos und Pſyche der Griechen, Anima und Spiritus der Römer ſind urſprünglich Bezeichnungen für den Lufthauch des Windes; ſie wurden von dieſem auf den Athemhauch des Menſchen übertragen. Später232Flüſſige und feſte Seelen. XI. wurde dann dieſer „ lebendige Odem “mit der „ Lebenskraft “identificirt und zuletzt als das Weſen der Seele ſelbſt angeſehen oder in engerem Sinne als deren höchſte Aeußerung, der „ Geiſt “. Davon leitete dann weiterhin wieder die Phantaſie die myſtiſche Vorſtellung der individuellen Geiſter ab, der „ Geſpenſter “(„ Spiritſ “); auch dieſe werden ja heute noch meiſtens als „ luft - förmige Weſen “— aber begabt mit den phyſiologiſchen Funktionen des Organismus! — vorgeſtellt; in manchen berühmten Spiri - tiſten-Kreiſen werden dieſelben freilich trotzdem photographirt!
Flüſſige und feſte Seele. Der Experimental-Phyſik iſt es in den letzten Decennien unſeres Jahrhunderts gelungen, alle gasförmigen Körper in den tropfbar-flüſſigen — und die meiſten auch in den feſten — Aggregat-Zuſtand überzuführen. Es bedarf dazu weiter nichts als geeigneter Apparate, welche unter ſehr hohem Druck und bei ſehr niederer Temperatur die Gaſe ſehr ſtark komprimiren. Nicht allein die luftförmigen Elemente, Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Stickſtoff, ſondern auch zuſammengeſetzte Gaſe (Kohlenſäure) und Gas-Gemenge (atmoſphäriſche Luft) ſind ſo aus dem luftförmigen in den flüſſigen Zuſtand verſetzt worden. Dadurch ſind aber jene unſichtbaren Körper für Jedermann ſichtbar und in gewiſſem Sinne „ handgreiflich “geworden. Mit dieſer Aenderung der Dichtigkeit iſt der myſtiſche Nimbus verſchwunden, welcher früher das Weſen der Gaſe in der gemeinen Anſchauung verſchleierte, als unſichtbare Körper, die doch ſichtbare Wirkungen ausüben. Wenn nun die Seelen - Subſtanz wirklich, wie viele „ Gebildete “noch heute glauben, gasförmig wäre, ſo müßte man auch im Stande ſein, ſie durch Anwendung von hohem Druck und ſehr niederer Temperatur in den flüſſigen Zuſtand überzuführen. Man könnte dann die Seele, welche im Momente des Todes „ ausgehaucht “wird, auffangen, unter ſehr hohem Druck bei niederer Temperatur kondenſiren und in einer Glasflaſche als „ unſterbliche Flüſſigkeit “233XI. Unſterblichkeit der Thierſeele.aufbewahren (Fluidum animae immortale). Durch weitere Ab - kühlung und Kondenſation müßte es dann auch gelingen, die flüſſige Seele in den feſten Zuſtand überzuführen („ Seelen-Schnee “). Bis jetzt iſt das Experiment noch nicht gelungen.
Unſterblichkeit der Thierſeele. Wenn der Athanismus wahr wäre, wenn wirklich die „ Seele “des Menſchen in alle Ewigkeit fortlebte, ſo müßte man ganz dasſelbe auch für die Seele der höheren Thiere behaupten, mindeſtens für diejenige der nächſtſtehenden Säugethiere (Affen, Hunde u. ſ. w.). Denn der Menſch zeichnet ſich vor dieſen letzteren nicht durch eine be - ſondere neue Art oder eine eigenthümliche, nur ihm zukommende Funktion der Pſyche aus, ſondern lediglich durch einen höheren Grad der pſychiſchen Thätigkeit, durch eine vollkommenere Stufe ihrer Entwickelung. Beſonders iſt bei vielen Menſchen (aber durchaus nicht bei allen!) das Bewußtſein höher entwickelt als bei den meiſten Thieren, die Fähigkeit der Ideen-Aſſocion, des Denkens und der Vernunft. Indeſſen iſt dieſer Unterſchied bei Weitem nicht ſo groß, als man gewöhnlich annimmt; und er iſt in jeder Beziehung viel geringer als der entſprechende Unterſchied zwiſchen den höheren und niederen Thierſeelen oder ſelbſt als der Unterſchied zwiſchen den höchſten und tiefſten Stufen der Menſchenſeele. Wenn man alſo der letzteren „ perſön - liche Unſterblichkeit “zuſchreibt, ſo muß man ſie auch den höheren Thieren zugeſtehen.
Dieſe Ueberzeugung von der individuellen Unſterblichkeit der Thiere iſt denn auch ganz naturgemäß bei vielen Völkern alter und neuer Zeit zu finden; aber auch jetzt noch bei vielen denkenden Menſchen, welche für ſich ſelbſt ein „ ewiges Leben “in Anſpruch nehmen und gleichzeitig eine gründliche empiriſche Kenntniß des Seelenlebens der Thiere beſitzen. Ich kannte einen alten Ober - förſter, der, frühzeitig verwittwet und kinderlos, mehr als dreißig Jahre einſam in einem herrlichen Walde von Oſtpreußen gelebt234Unſterblichkeit der Thierſeele. XI. hatte. Seinen einzigen Umgang bildeten einige Dienſtleute, mit denen er nur die nöthigſten Worte wechſelte, und eine große Meute der verſchiedenſten Hunde, mit denen er im innigſten Seelen-Verkehr lebte. Durch vieljährige Erziehung und Dreſſur derſelben hatte ſich dieſer feinſinnige Beobachter und Naturfreund tief in die individuelle Pſyche ſeiner Hunde eingelebt, und er war von deren perſönlicher Unſterblichkeit ebenſo feſt überzeugt wie von ſeiner eigenen. Einzelne ſeiner intelligenteſten Hunde ſtanden nach ſeinem objektiven Vergleiche auf einer höheren pſychiſchen Stufe als ſeine alte, ſtumpfſinnige Magd und der rohe, einfältige Knecht. Jeder unbefangene Beobachter, der Jahre lang das bewußte und intelligente Seelenleben ausgezeichneter Hunde ſtudirt, der aufmerkſam die phyſiologiſchen Vorgänge ihres Denkens, Urtheilens, Schließens verfolgt hat, wird zugeben müſſen, daß ſie mit gleichem Rechte die „ Unſterblichkeit “für ſich in Anſpruch nehmen können wie der Menſch.
Beweiſe für den Athanismus. Die Gründe, welche man ſeit zweitauſend Jahren für die Unſterblichkeit der Seele anführt, und welche auch heute noch dafür geltend gemacht werden, ent - ſpringen zum größten Theile nicht dem Streben nach Erkenntniß der Wahrheit, ſondern vielmehr dem ſogenannten „ Bedürfniß des Gemüthes “, d. h. dem Phantaſieleben und der Dichtung. Um mit Kant zu reden, iſt die Unſterblichkeit der Seele nicht ein Erkenntniß-Objekt der reinen Vernunft, ſondern ein „ Poſtulat der praktiſchen Vernunft “. Dieſe letztere und die mit ihr zuſammenhängenden „ Bedürfniſſe des Gemüthes, der moraliſchen Erziehung “u. ſ. w. müſſen wir aber ganz aus dem Spiele laſſen, wenn wir ehrlich und unbefangen zur reinen Erkenntniß der Wahrheit gelangen wollen; denn dieſe iſt einzig und allein durch empiriſch begründete und logiſch klare Schlüſſe der reinen Vernunft möglich. Es gilt alſo hier vom Athanismus das - ſelbe wie vom Theismus: beide ſind nur Gegenſtände der235XI. Angebliche Beweiſe für die Unſterblichkeit.myſtiſchen Dichtung, des transſcendenten „ Glaubens “, nicht der vernünftig ſchließenden Wiſſenſchaft.
Wollten wir alle die einzelnen Gründe analyſiren, welche für den Unſterblichkeits-Glauben geltend gemacht worden ſind, ſo würde ſich ergeben, daß nicht ein einziger derſelben wirklich wiſſenſchaftlich iſt; kein einziger verträgt ſich mit den klaren Erkenntniſſen, welche wir durch die phyſiologiſche Pſychologie und die Entwickelungs-Theorie in den letzten Decennien gewonnen haben. Der theologiſche Beweis, daß ein perſönlicher Schöpfer dem Menſchen eine unſterbliche Seele (meiſtens als Theil ſeiner eigenen Gottes-Seele betrachtet) eingehaucht habe, iſt reiner Mythus. Der kosmologiſche Beweis, daß die „ ſittliche Welt - ordnung “die ewige Fortdauer der menſchlichen Seele erfordere, iſt unbegründetes Dogma. Der teleologiſche Beweis, daß die „ höhere Beſtimmung “des Menſchen eine volle Ausbildung ſeiner mangelhaften irdiſchen Seele im Jenſeits erfordere, beruht auf einem falſchen Anthropismus. Der moraliſche Beweis, daß die Mängel und die unbefriedigten Wünſche des irdiſchen Daſeins durch eine „ ausgleichende Gerechtigkeit “im Jenſeits befriedigt werden müſſen, iſt ein frommer Wunſch, weiter nichts. Der ethnologiſche Beweis, daß der Glaube an die Unſterb - lichkeit ebenſo wie an Gott eine angeborene, allen Menſchen gemeinſame Wahrheit ſei, iſt thatſächlicher Irrthum. Der onto - logiſche Beweis, daß die Seele als ein „ einfaches, immaterielles und untheilbares Weſen “unmöglich mit dem Tode verſchwinden könne, beruht auf einer ganz falſchen Auffaſſung der pſychiſchen Erſcheinungen; ſie iſt ein ſpiritualiſtiſcher Irrthum. Alle dieſe und andere ähnliche „ Beweiſe für den Athanismus “ſind hin - fällig geworden; ſie ſind durch die wiſſenſchaftliche Kritik der letzten Decennien definitiv widerlegt.
Beweiſe gegen den Athanismus. Gegenüber den an - geführten, ſämmtlich unhaltbaren Gründen für die Unſterblichkeit236Wirkliche Beweiſe gegen die Unſterblichkeit. XI. der Seele iſt es bei der hohen Bedeutung dieſer Frage wohl zweckmäßig, die wohlbegründeten, wiſſenſchaftlichen Beweiſe gegen dieſelbe hier kurz zuſammenzufaſſen. Der phyſiologiſche Beweis lehrt uns, daß die menſchliche Seele ebenſo wie die der höheren Thiere kein ſelbſtändiges, immaterielles Weſen iſt, ſondern der Kollektiv-Begriff für eine Summe von Gehirn-Funktionen; dieſe ſind ebenſo wie alle anderen Lebensthätigkeiten durch phyſi - kaliſche und chemiſche Proceſſe bedingt, alſo auch dem Subſtanz - Geſetze unterworfen. Der hiſtologiſche Beweis gründet ſich auf den höchſt verwickelten mikroſkopiſchen Bau des Gehirns und lehrt uns in den Ganglien-Zellen desſelben die wahren „ Ele - mentar-Organe der Seele “kennen. Der experimentelle Beweis überzeugt uns, daß die einzelnen Seelenthätigkeiten an einzelne Bezirke des Gehirns gebunden und ohne deren normale Beſchaffenheit unmöglich ſind; werden dieſe Bezirke zerſtört, ſo erliſcht damit auch deren Funktion; insbeſondere gilt dies von den „ Denkorganen “, den einzigen centralen Werkzeugen des „ Geiſtes - lebens “. Der pathologiſche Beweis ergänzt den phyſio - logiſchen; wenn beſtimmte Gehirn-Bezirke (Sprach-Centrum, Seh - ſphäre, Hörſphäre) durch Krankheit zerſtört werden, ſo verſchwindet auch deren Arbeit (Sprechen, Sehen, Hören); die Natur ſelbſt führt hier das entſcheidende phyſiologiſche Experiment aus. Der ontogenetiſche Beweis führt uns unmittelbar die Thatſachen der individuellen Entwickelung der Seele vor Augen; wir ſehen, wie die Kindesſeele ihre einzelnen Fähigkeiten nach und nach entwickelt; der Jüngling bildet ſie zur vollen Blüthe, der Mann zur reifen Frucht aus; im Greiſen-Alter findet allmähliche Rück - bildung der Seele ſtatt, entſprechend der ſenilen Degeneration des Gehirns. Der phylogenetiſche Beweis ſtützt ſich auf die Paläontologie, die vergleichende Anatomie und Phyſiologie des Gehirns; in ihrer gegenſeitigen Ergänzung begründen dieſe Wiſſenſchaften vereinigt die Gewißheit, daß das Gehirn des237XI. Athaniſtiſche Illuſionen.Menſchen (und alſo auch deſſen Funktion, die Seele) ſich ſtufen - weiſe und allmählich aus demjenigen der Säugethiere und weiterhin der niederen Wirbelthiere entwickelt hat.
Athaniſtiſche Illuſionen. Die vorhergehenden Unter - ſuchungen, die durch viele andere Ergebniſſe der modernen Wiſſenſchaft ergänzt werden könnten, haben das alte Dogma von der „ Unſterblichkeit der Seele “als völlig unhaltbar nach - gewieſen; dasſelbe kann im zwanzigſten Jahrhundert nicht mehr Gegenſtand ernſter wiſſenſchaftlicher Forſchung, ſondern nur noch des transſcendenten Glaubens ſein. Die „ Kritik der reinen Vernunft “weiſt aber nach, daß dieſer hochgeſchätzte Glaube, bei Licht betrachtet, der reine Aberglaube iſt, ebenſo wie der oft damit verknüpfte Glaube an den „ perſönlichen Gott “. Nun halten aber noch heute Millionen von „ Gläubigen “— nicht nur aus den niederen, ungebildeten Volksmaſſen, ſondern aus den höheren und höchſten Bildungskreiſen — dieſen Aberglauben für ihr theuerſtes Beſitzthum, für ihren „ koſtbarſten Schatz “. Es wird daher nöthig ſein, in den damit verknüpften Vorſtellungs-Kreis noch etwas tiefer einzugehen und — ſeine Wahrheit voraus - geſetzt — ſeinen wirklichen Werth einer kritiſchen Prüfung zu unterziehen. Da ergiebt ſich denn für den objektiven Kritiker die Einſicht, daß jener Werth zum größten Theile auf Einbildung beruht, auf Mangel an klarem Urtheil und an folgerichtigem Denken. Der definitive Verzicht auf dieſe „ athaniſtiſchen Illuſionen “würde nach meiner feſten und ehrlichen Ueber - zeugung für die Menſchheit nicht nur keinen ſchmerzlichen Ver - luſt, ſondern einen unſchätzbaren poſitiven Gewinn bedeuten.
Das menſchliche „ Gemüths-Bedürfniß “hält den Unſterblichkeits-Glauben beſonders aus zwei Gründen feſt, erſtens in der Hoffnung auf ein beſſeres zukünftiges Leben im Jenſeits, und zweitens in der Hoffnung auf Wiederſehen der theuren Lieben und Freunde, welche uns der Tod hier entriſſen hat. Was238Athaniſtiſche Illuſionen. XI. zunächſt die erſte Hoffnung betrifft, ſo entſpringt ſie einem natür - lichen Vergeltungs-Gefühl, das zwar ſubjektiv berechtigt, aber objektiv ohne jeden Anhalt iſt. Wir erheben Anſprüche auf Entſchädigung für die zahlloſen Mängel und traurigen Er - fahrungen dieſes irdiſchen Daſeins, ohne irgend eine reale Aus - ſicht oder Garantie dafür zu beſitzen. Wir verlangen eine un - begrenzte Dauer eines ewigen Lebens, in welchem wir nur Luſt und Freude, keine Unluſt und keinen Schmerz erfahren wollen. Die Vorſtellungen der meiſten Menſchen über dieſes „ ſelige Leben im Jenſeits “ſind höchſt ſeltſam und um ſo ſonderbarer, als darin die „ immaterielle Seele “ſich an höchſt materiellen Genüſſen erfreut. Die Phantaſie jeder gläubigen Perſon geſtaltet ſich dieſe permanente Herrlichkeit entſprechend ihren perſönlichen Wünſchen. Der amerikaniſche Indianer, deſſen Athanismus Schiller in ſeiner nadoweſſiſchen Todtenklage ſo anſchaulich ſchildert, hofft in ſeinem Paradieſe die herrlichſten Jagdgründe zu finden, mit unermeßlich vielen Büffeln und Bären; der Eskimo erwartet dort ſonnenbeſtrahlte Eisflächen mit einer unerſchöpflichen Fülle von Eisbären, Robben und anderen Polarthieren; der ſanfte Singhaleſe geſtaltet ſich ſein jenſeitiges Paradies entſprechend dem wunderbaren Inſel-Paradieſe Ceylon mit ſeinen herrlichen Gärten und Wäldern; nur ſetzt er voraus, daß jederzeit un - begrenzte Mengen von Reis und Curry, von Kokosnüſſen und anderen Früchten bereit ſtehen; der mohammedaniſche Araber iſt überzeugt, daß in ſeinem Paradieſe blumenreiche, ſchattige Gärten ſich ausdehnen, durchrauſcht von kühlen Quellen und bevölkert mit den ſchönſten Mädchen; der katholiſche Fiſcher in Sicilien erwartet dort täglich einen Ueberfluß der köſtlichſten Fiſche und der feinſten Maccaroni, und ewigen Ablaß für alle Sünden, die er auch im ewigen Leben noch täglich begehen kann; der evan - geliſche Nordeuropäer hofft auf einen unermeßlichen gothiſchen Dom, in welchem „ ewige Lobgeſänge auf den Herrn der Heer -239XI. Glück des ewigen Lebens.ſchaaren “ertönen. Kurz jeder Gläubige erwartet von ſeinem ewigen Leben in Wahrheit eine direkte Fortſetzung ſeines indi - viduellen Erden-Daſeins, nur in einer bedeutend „ vermehrten und verbeſſerten Auflage “.
Beſonders muß hier noch die durchaus materialiſtiſche Grundanſchauung des chriſtlichen Athanismus betont werden, die mit dem abſurden Dogma von der „ Auferſtehung des Fleiſches “eng zuſammenhängt. Wie uns Tauſende von Oelgemälden berühmter Meiſter verſinnlichen, gehen die „ auf - erſtandenen Leiber “mit ihren „ wiedergeborenen Seelen “droben im Himmel gerade ſo ſpazieren, wie hier im Jammerthal der Erde; ſie ſchauen Gott mit ihren Augen, ſie hören ſeine Stimme mit ihren Ohren, ſie ſingen Lieder zu ſeinen Ehren mit ihrem Kehlkopf u. ſ. w. Kurz die modernen Bewohner des chriſtlichen Paradieſes ſind ebenſo Doppelweſen von Leib und Seele, ebenſo mit allen Organen des irdiſchen Leibes ausgeſtattet, wie unſere Altvordern in Odin's Saal zu Walhalla, wie die „ unſterblichen “Türken und Araber in Mohammed's lieblichen Paradies-Gärten, wie die altgriechiſchen Halbgötter und Helden an Zeus 'Tafel im Olymp, im Genuſſe von Nektar und Ambroſia.
Mag man ſich dieſes „ ewige Leben “im Paradieſe aber noch ſo herrlich ausmalen, ſo muß dasſelbe auf die Dauer unendlich langweilig werden. Und nun gar: „ Ewig! “ Ohne Unter - brechung dieſe ewige individuelle Exiſtenz fortführen! Der tief - ſinnige Mythus vom „ Ewigen Juden “, das vergebliche Ruhe - ſuchen des unſeligen Ahasverus ſollte uns über den Werth eines ſolchen „ ewigen Lebens “aufklären! Das Beſte, was wir uns nach einem tüchtigen, nach unſerm beſten Gewiſſen gut angewandten Leben wünſchen können, iſt der ewige Friede des Grabes; „ Herr, ſchenke ihnen die ewige Ruhe! “
Jeder vernünftige Gebildete, der die geologiſche Zeit - rechnung kennt und der über die lange Reihe der Jahrmillionen240Glück des ewigen Lebens. XI. in der organiſchen Erdgeſchichte nachgedacht hat, muß bei un - befangenem Urtheil zugeben, daß der banale Gedanke des „ ewigen Lebens “auch für den beſten Menſchen kein herrlicher Troſt, ſondern eine furchtbare Drohung iſt. Nur Mangel an klarem Urtheil und folgerichtigem Denken kann dies beſtreiten.
Den beſten und den am meiſten berechtigten Grund für den Athanismus giebt die Hoffnung, im „ ewigen Leben “die theuren Angehörigen und Freunde wieder zu ſehen, von denen uns hier auf Erden ein grauſames Schickſal früh getrennt hat. Aber auch dieſes vermeintliche Glück erweiſt ſich bei näherer Betrachtung als Illuſion; und jedenfalls würde es ſtark durch die Ausſicht getrübt, dort auch allen den weniger angenehmen Bekannten und den widerwärtigen Feinden zu begegnen, die hier unſer Daſein getrübt haben. Selbſt die nächſten Familien-Verhältniſſe dürften dann doch manche Schwierigkeiten bereiten! Viele Männer würden gewiß gern auf alle Herrlichkeiten des Paradieſes ver - zichten, wenn ſie die Gewißheit hätten, dort „ ewig “mit ihrer „ beſſeren Hälfte “oder gar mit ihrer Schwiegermutter zuſammen zu ſein. Auch iſt es fraglich, ob dort König Heinrich VIII. von England mit ſeinen ſechs Frauen ſich dauernd wohl fühlte; oder gar König Auguſt der Starke von Polen, der ſeine Liebe über hundert Frauen ſchenkte und mit ihnen 352 Kinder zeugte! Da derſelbe mit dem Papſte, als dem „ Statthalter Gottes “, auf dem beſten Fuße ſtand, müßte auch er das Paradies bewohnen, trotz aller ſeiner Mängel und trotzdem ſeine thörichten Kriegs-Abenteuer mehr als hunderttauſend Sachſen das Leben koſteten.
Unlösbare Schwierigkeiten bereitet auch den gläubigen Athaniſten die Frage, in welchem Stadium ihrer indi - viduellen Entwickelung die abgeſchiedene Seele ihr „ ewiges Leben “fortführen ſoll? Sollen die Neugeborenen erſt im Himmel ihre Seele entwickeln, unter demſelben harten „ Kampf um's Daſein “, der den Menſchen hier auf der Erde erzieht? 241XI. Unhaltbarkeit des Athanismus.Soll der talentvolle Jüngling, der dem Maſſen-Morde des Krieges zum Opfer fällt, erſt in Walhalla ſeine reichen, un - genutzten Geiſtesgaben entwickeln? Soll der altersſchwache, kindiſch gewordene Greis, der als reifer Mann die Welt mit dem Ruhm ſeiner Thaten erfüllte, ewig als rückgebildeter Geiſt fortleben? Oder ſoll er ſich gar in ein früheres Blüthe-Stadium zurück entwickeln? Wenn aber die unſterblichen Seelen im Olymp als vollkommene Weſen verjüngt fortleben ſollen, dann iſt auch der Reiz und das Intereſſe der Perſönlichkeit für ſie ganz verſchwunden.
Ebenſo unhaltbar erſcheint uns heute im Lichte der reinen Vernunft der anthropiſtiſche Mythus vom „ jüngſten Gericht “, von der Scheidung aller Menſchen-Seelen in zwei große Haufen, von denen der eine zu den ewigen Freuden des Paradieſes, der andere zu den ewigen Qualen der Hölle beſtimmt iſt — und das von einem perſönlichen Gotte, welcher „ der Vater der Liebe “iſt! Hat doch dieſer liebende Allvater ſelbſt die Be - dingungen der Vererbung und Anpaſſung „ geſchaffen “, unter denen ſich einerſeits die bevorzugten Glücklichen nothwendig zu ſtrafloſen Seligen, andererſeits die unglücklichen Armen und Elenden ebenſo nothwendig zu ſtrafwürdigen Verdammten entwickeln mußten.
Eine kritiſche Vergleichung der unzähligen bunten Phantaſie - Gebilde, welche der Unſterblichkeits-Glaube der verſchiedenen Völker und Religionen ſeit Jahrtauſenden erzeugt hat, gewährt das merkwürdigſte Bild; eine hochintereſſante, auf ausgedehnte Quellen-Studien gegründete Darſtellung derſelben hat Adalbert Svoboda gegeben in ſeinen ausgezeichneten Werken: „ Seelen - wahn “(1886) und „ Geſtalten des Glaubens “(1897). Wie abſurd uns auch die meiſten dieſer Mythen erſcheinen mögen, wie unvereinbar ſie ſämmtlich mit der vorgeſchrittenen Natur - Erkenntniß der Gegenwart ſind, ſo ſpielen ſie dennoch trotzdemHaeckel, Welträthſel. 16242Unhaltbarkeit des Athanismus. XI. auch heute eine höchſt wichtige Rolle und üben als „ Poſtulate der praktiſchen Vernunft “den größten Einfluß auf die Lebens - anſchauungen der Individuen und die Geſchicke der Völker.
Die idealiſtiſche und ſpiritualiſtiſche Philoſophie der Gegen - wart wird nun freilich zugeben, daß dieſe herrſchenden materia - liſtiſchen Formen des Unſterblichkeits-Glaubens unhaltbar ſeien, und ſie wird behaupten, daß an ihre Stelle die geläuterte Vor - ſtellung von einem immateriellen Seelen-Weſen, von einer plato - niſchen Idee oder einer transſcendenten Seelen-Subſtanz treten müſſe. Allein mit dieſen unfaßbaren Vorſtellungen kann die realiſtiſche Natur-Anſchauung der Gegenwart abſolut Nichts an - fangen; ſie befriedigen weder das Kauſalitäts-Bedürfniß unſers Verſtandes, noch die Wünſche unſers Gemüthes. Faſſen wir Alles zuſammen, was vorgeſchrittene Anthropologie, Pſychologie und Kosmologie der Gegenwart über den Athanismus ergründet haben, ſo müſſen wir zu dem beſtimmten Schluſſe kommen: „ Der Glaube an die Unſterblichkeit der menſchlichen Seele iſt ein Dogma, welches mit den ſicherſten Erfahrungs-Sätzen der modernen Naturwiſſenſchaft in unlösbarem Widerſpruche ſteht. “
Moniſtiſche Studien über das kosmologiſche Grundgeſetz. Erhaltung der Materie und der Energie. Kinetiſcher und pyknotiſcher Subſtanz-Begriff.
„ Das Geſetz von der Erhaltung der Kraft zeigt, daß die Energie des Weltalls eine konſtante unveränderliche Größe darſtellt. Ebenſo beweiſt das Geſetz von der Erhaltung des Stoffes, daß die Materie des Kosmos eine konſtante unver - änderliche Größe bildet. Beide große Geſetze, das phyſikaliſche Grundgeſetz von der Erhaltung der Energie und das chemiſche Grundgeſetz von der Erhaltung der Materie, können wir zuſammen - faſſen unter einen philoſophiſchen Begriff, als Geſetz von der Erhaltung der Subſtanz; denn nach unſerer moniſtiſchen Auffaſſung ſind Kraft und Stoff untrennbar, nur verſchiedene unveräußerliche Erſcheinungen eines einzigen Welt - weſens, der Subſtanz. “(Der Monismus als Band zwiſchen Reli - gion und Wiſſenſchaft (1892).)16*[244]
Das chemiſche Grundgeſetz von der Erhaltung des Stoffes (Konſtanz der Materie). Das phyſikaliſche Grundgeſetz von der Erhaltung der Kraft (Konſtanz der Energie). Verbindung beider Grundgeſetze im Subſtanz - Geſetz. Kinetiſcher, pyknotiſcher und dualiſtiſcher Subſtanz-Begriff. Monismus der Materie. Maſſe oder Körperſtoff (Ponderable Materie.) Atome und Elemente. Wahlverwandtſchaft der Elemente. Atom-Seele (Fühlung und Strebung der Maſſe). Exiſtenz und Weſen des Aethers. Aether und Maſſe. Kraft und Energie. Spannkraft und lebendige Kraft. Einheit der Naturkräfte. Allmacht des Subſtanz-Geſetzes.
Baruch Spinoza, Ethica, Amſterdam 1677. Traetatuſ theologo - politieuſ, Hamburg 1670.
Max Grunwald, Spinoza in Deutſchland. Berlin 1897. (Gekrönte Preis - ſchrift.)
Antoine Lavoiſier, Grundriß der Chemie. 1789.
John Dalton, Ein neues Syſtem der chemiſchen Philoſophie. London 1808. (Deutſch 1812).
Guſtav Wendt, Die Entwickelung der Elemente. Entwurf zu einer bio - genetiſchen Grundlage für Chemie und Phyſik. Berlin 1891.
Friedrich Mohr, Allgemeine Theorie der Bewegung und Kraft, als Grund - lage der Phyſik und Chemie. Braunſchweig 1869 (Erſte Mittheilung 1837!).
Robert Mayer, Die Mechanik der Wärme (das Princip von der Erhaltung der Kraft). Stuttgart 1842.
Hermann Helmholtz, Ueber die Erhaltung der Kraft. Berlin 1847.
Heinrich Hertz, Ueber die Beziehungen zwiſchen Licht und Elektrizität. Bonn 1889. Neunte Auflage 1895.
J. G. Vogt, Das Weſen der Elektrizität und des Magnetismus auf Grund eines einheitlichen Subſtanz-Begriffes. Leipzig 1897.
Als das oberſte und allumfaſſende Naturgeſetz betrachte ich das Subſtanz-Geſetz, das wahre und einzige kosmologiſche Grundgeſetz; ſeine Entdeckung und Feſtſtellung iſt die größte Geiſtesthat des 19. Jahrhunderts, inſofern alle anderen er - kannten Naturgeſetze ſich ihm unterordnen. Unter dem Begriffe „ Subſtanz-Geſetz “faſſen wir zwei hochſte allgemeine Ge - ſetze verſchiedenen Urſprungs und Alters zuſammen, das ältere chemiſche Geſetz von der „ Erhaltung des Stoffes “und das jüngere phyſikaliſche Geſetz von der „ Erhaltung der Kraft “. *)Ernſt Haeckel, 1892, Monismus, Achte Auflage, S. 14, 39.Daß dieſe beiden Grundgeſetze der exakten Naturwiſſenſchaft im Weſen unzertrennlich ſind, wird vielen Leſern wohl ſelbſtverſtändlich erſcheinen, und iſt von den meiſten Naturforſchern der Gegen - wart anerkannt. Indeſſen wird dieſe fundamentale Ueberzeugung doch von anderer Seite noch heute vielfach beſtritten und muß jedenfalls erſt bewieſen werden. Wir müſſen daher zunächſt einen kurzen Blick auf beide Geſetze geſondert werfen.
Geſetz von der Erhaltung des Stoffes (oder der „ Kon - ſtanz der Materie “Lavoiſier, 1789). Die Summe des Stoffes, welche den unendlichen Weltraum erfüllt, iſt unveränderlich. Wenn ein Körper zu verſchwinden246Erhaltung der Stoffes. XII. ſcheint, wechſelt er nur ſeine Form; wenn die Kohle verbrennt, verwandelt ſie ſich durch Verbindung mit dem Sauerſtoff der Luft in gasförmige Kohlenſäure; wenn ein Zuckerſtück ſich im Waſſer löſt, geht ſeine feſte Form in die tropfbar flüſſige über. Ebenſo wechſelt die Materie nur ihre Form, wenn ein neuer Naturkörper zu entſtehen ſcheint; wenn es regnet, wird der Waſſerdampf der Luft in Tropfenform niedergeſchlagen; wenn das Eiſen roſtet, verbindet ſich die oberflächliche Schicht des Metalles mit Waſſer und dem Sauerſtoff der Luft und bildet ſo Roſt oder Eiſen-Oxyd-Hydrat. Nirgends in der Natur ſehen wir, daß neue Materie entſteht oder „ geſchaffen “wird; nirgends finden wir, daß vorhandene Materie verſchwindet oder in Nichts zerfällt. Dieſer Erfahrungsſatz gilt heute als erſter und un - erſchütterlicher Grundſatz der Chemie und kann jederzeit mittelſt der Wage unmittelbar bewieſen werden. Es war aber das unſterbliche Verdienſt des großen franzöſiſchen Chemikers Lavoiſier, dieſen Beweis durch die Wage zuerſt geführt zu haben. Heute ſind alle Naturforſcher, welche ſich Jahre lang mit dem denkenden Studium der Natur-Erſcheinungen beſchäftigt haben, ſo feſt von der abſoluten Konſtanz der Materie überzeugt, daß ſie ſich das Gegentheil gar nicht mehr vorſtellen können.
Geſetz von der Erhaltung der Kraft (oder der „ Konſtanz der Energie “, Robert Mayer, 1842). Die Summe der Kraft, welche in dem unendlichen Weltraum thätig iſt und alle Erſcheinungen bewirkt, iſt unveränder - lich. Wenn die Lokomotive den Eiſenbahn-Zug fortführt, ver - wandelt ſich die Spannkraft des erhitzten Waſſerdampfes in die lebendige Kraft der mechaniſchen Bewegung; wenn wir die Pfeife der Lokomotive hören, werden die Schallſchwingungen der bewegten Luft durch unſer Trommelfell und die Kette der Gehör - knochen zum Labyrinth unſeres inneren Ohres fortgeleitet und von da durch den Hörnerv zu den akuſtiſchen Ganglienzellen,247XII. Erhaltung der Kraft.welche die Hörſphäre im Schläfenlappen unſerer Großhirnrinde bilden. Die ganze wunderbare Geſtaltenfülle, welche unſeren Erdball belebt, iſt in letzter Inſtanz umgewandeltes Sonnenlicht. Allbekannt iſt, wie gegenwärtig die bewunderungswürdigen Fort - ſchritte der Technik dazu geführt haben, die verſchiedenen Natur - kräfte in einander zu verwandeln: Wärme wird in Maſſen - bewegung, dieſe wieder in Licht oder Schall, dieſe wiederum in Elektricität übergeführt oder umgekehrt. Die genaue Meſſung der Kraftmenge, welche bei dieſer Verwandlung thätig iſt, hat ergeben, daß auch ſie konſtant bleibt. Kein Theilchen der be - wegenden Kraft im Weltall geht je verloren; kein Theilchen kommt neu hinzu. Der großen Entdeckung dieſer fundamentalen Thatſache hatte ſich ſchon 1837 Friedrich Mohr in Bonn ſehr genähert; ſie geſchah 1842 durch den geiſtreichen Schwäbiſchen Arzt Robert Mayer in Heilbronn; unabhängig von ihm kam faſt gleichzeitig der berühmte Phyſiologe Hermann Helm - holtz auf die Erkenntniß desſelben Princips; er wies fünf Jahre ſpäter ſeine allgemeine Anwendbarkeit und Fruchtbarkeit auf allen Gebieten der Phyſik nach. Wir würden heute ſagen müſſen, daß es auch das geſammte Gebiet der Phyſiologie, — d. h. der „ organiſchen Phyſik! “— beherrſche, wenn dagegen nicht entſchiedener Widerſpruch von Seiten der vitaliſtiſchen Biologen, ſowie der dualiſtiſchen und ſpiritualiſtiſchen Philoſophen erhoben würde. Dieſe erblicken in den eigenthümlichen „ Geiſtes - kräften “des Menſchen eine Gruppe von „ freien “, dem Energie - Geſetz nicht unterworfenen Kraft-Erſcheinungen; beſonders geſtützt wird dieſe dualiſtiſche Auffaſſung durch das Dogma von der Willensfreiheit. Wir haben ſchon bei deren Beſprechung (S. 149) geſehen, daß dieſelbe unhaltbar iſt. In neueſter Zeit hat die Phyſik den Begriff der „ Kraft “und der „ Energie “getrennt; für unſere vorliegende allgemeine Betrachtung iſt dieſe Unter - ſcheidung gleichgültig.
248Monismus der Subſtanz. XII.Einheit des Subſtanz-Geſetzes. Von größter Wichtigkeit für unſere moniſtiſche Weltanſchauung iſt die feſte Ueberzeugung, daß die beiden großen kosmologiſchen Grundlehren, das chemiſche Grundgeſetz von der Erhaltung des Stoffes und das phyſikaliſche Grundgeſetz von der Erhaltung der Kraft, untrennbar zuſammen - gehören; beide Theorien ſind ebenſo innig verknüpft, wie ihre beiden Objekte, Stoff und Kraft, oder Materie und Energie. Vielen moniſtiſch denkenden Naturforſchern und Philoſophen wird dieſe fundamentale Einheit beider Geſetze ſelbſt - verſtändlich erſcheinen, da ja beide nur zwei verſchiedene Seiten eines und desſelben Objektes, des „ Kosmos “betreffen; indeſſen iſt dieſe naturgemäße Ueberzeugung weit entfernt, ſich allgemeiner Anerkennung zu erfreuen. Sie wird vielmehr energiſch bekämpft von der geſammten dualiſtiſchen Philoſophie, von der vitaliſtiſchen Biologie, der paralleliſtiſchen Pſychologie; ja ſogar von vielen (inkonſequenten!) Moniſten, welche im „ Bewußtſein “oder in der höheren Geiſtesthätigkeit des Menſchen, oder auch in anderen Erſcheinungen des „ freien Geiſteslebens “einen Gegenbeweis zu finden glauben.
Ich betone daher ganz beſonders die fundamentale Be - deutung des einheitlichen Subſtanz-Geſetzes als Ausdruck des untrennbaren Zuſammenhanges jener beiden begrifflich ge - trennten Geſetze. Daß dieſelben urſprünglich nicht zuſammen - gefaßt und nicht in dieſer Einheit erkannt wurden, ergiebt ſich ja ſchon aus der Thatſache ihrer verſchiedenen Entdeckungs - Zeit. Das ältere und näher liegende chemiſche Grundgeſetz von der „ Konſtanz der Materie “wurde von Lavoiſier ſchon 1789 erkannt und durch allgemeine Anwendung der Wage zur Baſis der exakten Chemie erhoben. Hingegen wurde das jüngere und viel verborgenere Grundgeſetz von der „ Konſtanz der Energie “erſt 1842 von Robert Mayer entdeckt und erſt von Helm - holtz als Grundlage der exakten Phyſik hingeſtellt. Die Einheit249XII. Moniſtiſcher Subſtanz-Begriff.beider Grundgeſetze, welche noch heute vielfach beſtritten wird, drücken viele überzeugte Naturforſcher in der Benennung aus: „ Geſetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes “. Um einen kürzeren und bequemeren Ausdruck für dieſen fundamentalen, aus neun Worten zuſammengeſetzten Begriff zu haben, habe ich ſchon vor längerer Zeit vorgeſchlagen, dasſelbe das „ Subſtanz - Geſetz “oder das „ kosmologiſche Grundgeſetz “zu nennen; man könnte es auch das Univerſal-Geſetz oder Konſtanz-Geſetz nennen, oder auch das „ Axiom von der Konſtanz des Univerſum “; im Grunde genommen folgt dasſelbe nothwendig aus dem Princip der Kauſalität*)E. Haeckel, Monismus, 1892, S. 14, 39; Urſprung des Menſchen. 1898, S. 15, 45..
Subſtanz-Begriff. Der erſte Denker, der den reinen moniſtiſchen „ Subſtanz-Begriff “in die Wiſſenſchaft ein - führte und ſeine fundamentale Bedeutung erkannte, war der große Philoſoph Baruch Spinoza; ſein Hauptwerk erſchien kurz nach ſeinem frühzeitigen Tode, 1677, gerade hundert Jahre bevor Lavoiſier vermittelſt des chemiſchen Hauptinſtruments, der Wage, die Konſtanz der Materie experimentell bewies. In ſeiner großartigen pantheiſtiſchen Weltanſchauung fällt der Be - griff der Welt (Univerſum, Kosmos) zuſammen mit dem all - umfaſſenden Begriff Gott; ſie iſt gleichzeitig der reinſte und vernünftigſte Monismus, und der geklärteſte und abſtrakteſte Monotheismus. Dieſe Univerſal-Subſtanz oder dieſes „ göttliche Weltweſen “zeigt uns zwei verſchiedene Seiten ſeines wahren Weſens, zwei fundamentale Attribute: die Materie (der unendliche ausgedehnte Subſtanz-Stoff) und der Geiſt (die allumfaſſende denkende Subſtanz-Energie). Alle Wandelungen, die ſpäter der Subſtanz-Begriff gemacht hat, kommen bei konſequenter Analyſe auf dieſen höchſten Grund -250Der kinetiſche Subſtanz-Begriff. XII. begriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe für einen der erhabenſten, tiefſten und wahrſten Gedanken aller Zeiten halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unſerer Er - kenntniß zugänglich ſind, alle individuellen Formen des Daſeins, ſind nur beſondere vergängliche Formen der Subſtanz, Acci - denzien oder Moden. Dieſe Modi ſind körperliche Dinge, materielle Körper, wenn wir ſie unter dem Attribut der Aus - dehnung (der „ Raumerfüllung “) betrachten, dagegen Kräfte oder Ideen, wenn wir ſie unter dem Attribut des Denkens (der „ Energie “) betrachten. Auf dieſe Grundvorſtellung von Spinoza kommt auch unſer gereinigter Monismus nach 200 Jahren zurück; auch für uns ſind Materie (der raum - erfüllende Stoff) und Energie (die bewegende Kraft) nur zwei untrennbare Attribute der einen Subſtanz.
Der kinetiſche Subſtanz-Begriff (Urprincip der Schwin - gung oder Vibration). Unter den verſchiedenen Modifikationen, welche der fundamentale Subſtanz-Begriff in der neueren Phyſik, in Verbindung mit der herrſchenden Atomiſtik angenommen hat, mögen hier nur zwei extrem divergirende Theorien kurz be - leuchtet werden, die kinetiſche und pyknotiſche. Beide Subſtanz - Theorien ſtimmen darin überein, daß es gelungen iſt, alle ver - ſchiedenen Naturkräfte auf eine gemeinſame Urkraft zurück - zuführen; Schwere und Chemismus, Elektricität und Magnetis - mus, Licht und Wärme u. ſ. w. ſind nur verſchiedene Aeußerungs - weiſen, Kraftformen oder Dynamoden einer einzigen Urkraft (Prodynamiſ). Dieſe gemeinſame, alleinige Urkraft wird meiſtens als eine ſchwingende Bewegung der kleinſten Maſſentheilchen gedacht, als eine Vibration der Atome. Die Atome ſelbſt ſind dem gewöhnlichen „ kinetiſchen Subſtanz-Begriff “zufolge todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren Raum ſchwingen und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und an - geſehenſte Vertreter dieſer kinetiſchen Subſtanz-Theorie iſt der251XII. Schwingung der Subſtanz.große Mathematiker Newton, der berühmte Entdecker des Gravitations-Geſetzes. In ſeinem Hauptwerke: „ Philo - ſophiae naturaliſ principia mathematica “(1687) wies er nach, daß im ganzen Weltall ein und dasſelbe Grundgeſetz der Maſſenanziehung, dieſelbe unveränderliche Gravitations - Konſtante herrſcht; die Anziehung von je zwei Maſſentheilchen ſteht im geraden Verhältniß ihrer Maſſen und im umgekehrten Verhältniß des Quadrats ihrer Entfernungen. Dieſe allgemeine „ Schwerkraft “bewirkt ebenſo die Bewegung des fallenden Apfels und die Fluthwelle des Meeres, wie den Umlauf der Planeten um die Sonne und die kosmiſchen Bewegungen aller Weltkörper. Das unſterbliche Verdienſt von Newton war, dieſes Gravitations-Geſetz endgültig feſtzuſtellen und dafür eine unanfechtbare mathematiſche Formel zu finden. Aber dieſe todte mathematiſche Formel, auf welche die meiſten Naturforſcher hier, wie in vielen anderen Fällen, das größte Gewicht legen, giebt uns bloß die quantitative Beweis - führung für die Theorie, ſie gewährt uns nicht die mindeſte Einſicht in das qualitative Weſen der Erſcheinungen. Die unvermittelte Fernwirkung, welche Newton aus ſeinem Gravitations-Geſetz ableitete und welche zu einem der wichtigſten und gefährlichſten Dogmen der ſpäteren Phyſik wurde, giebt uns nicht den mindeſten Aufſchluß über die eigentlichen Urſachen der Maſſen-Anziehung; vielmehr verſperrt ſie uns den Weg zu deren Erkenntniß. Ich vermuthe, daß die fortgeſetzten Spekulationen über ſeine myſteriöſe Fernwirkung nicht wenig dazu beigetragen haben, den ſcharfſinnigen engliſchen Mathematiker ſpäter in das dunkle Labyrinth myſtiſcher Träumerei und theiſtiſchen Aber - glaubens zu verführen, in dem er die letzten 34 Jahre ſeines Lebens wandelte; er ſtellte zuletzt ſogar metaphyſiſche Hypotheſen über die Wahrſagerei des Propheten Daniel auf und über die widerſinnigen Phantaſtereien der Offenbarung Sankt Johannis!
252Der pyknotiſche Subſtanz-Begriff. XII.Der pyknotiſche Subſtanz-Begriff (Urprincip der Ver - dichtung oder Pyknoſe). Im principiellen Gegenſatze zu der herrſchenden Vibrations-Lehre oder der kinetiſchen Subſtanz - Theorie ſteht die moderne Denſations-Lehre oder die pykno - tiſche Subſtanz-Theorie. Dieſelbe iſt am eingehendſten von J. G. Vogt begründet, in ſeinem ideenreichen Werke über „ Das Weſen der Elektricität und des Magnetismus auf Grund eines einheitlichen Subſtanz-Begriffes “(1891). Vogt nimmt als die gemeinſame Urkraft des Weltalls, als die univerſelle Prody - namis, nicht die Schwingung oder Vibration der be - wegten Maſſentheilchen im leeren Raume an, ſondern die indi - viduelle Verdichtung oder Denſation einer einheitlichen Sub - ſtanz, welche den ganzen unendlichen Weltraum kontinuirlich, d. h. lückenlos und ununterbrochen erfüllt; die einzige derſelben innewohnende mechaniſche Wirkungsform (Agens) beſteht darin, daß durch das Verdichtungs - oder Kontraktions-Beſtreben un - endlich kleine Verdichtungs-Centren entſtehen, die zwar ihren Dichtegrad und damit ihr Volumen ändern können, aber an und für ſich beſtändig ſind. Dieſe individuellen kleinſten Theilchen der univerſalen Subſtanz, die Verdichtungs-Centren, die man Pyknatome nennen könnte, entſprechen im Allgemeinen den Uratomen oder letzten diskreten Maſſentheilchen des kinetiſchen Subſtanz-Begriffes; ſie unterſcheiden ſich aber ſehr weſentlich dadurch, daß ſie Empfindung und Streben (oder Willens - bewegung einfachſter Art) beſitzen, alſo im gewiſſen Sinne beſeelt ſind — ein Anklang an des alten Empedokles Lehre vom „ Lieben und Haſſen der Elemente “. Auch ſchweben dieſe „ beſeelten Atome “nicht im leeren Raume, ſondern in der kontinuirlichen, äußerſt dünnen Zwiſchenſubſtanz, welche den nicht verdichteten Theil der Urſubſtanz darſtellt. Durch gewiſſe „ Kon - ſtellationen, Störungscentren oder Deformirungs-Syſteme “, treten große Maſſen von Verdichtungscentren raſch in gewaltiger253XII. Verdichtung der Subſtanz.Ausdehnung zuſammen und erlangen ein Uebergewicht über die umlagernden Maſſen. Dadurch ſcheidet oder differenzirt ſich die Subſtanz, die im urſprünglichen Ruhezuſtand überall die gleiche mittlere Dichte beſitzt, in zwei Hauptbeſtandtheile; die Störungs - Centren, welche die mittlere Dichte durch Pyknoſe poſitiv überſchreiten, bilden die wägbaren Maſſen der Weltkörper (die ſogenannte „ ponderable Materie “); die dünnere Zwiſchen - ſubſtanz dagegen, welche zwiſchen ihnen den Raum erfüllt und die mittlere Dichte negativ überſchreitet, bildet den Aether (die „ imponderable Materie “). Die Folge dieſer Scheidung zwiſchen Maſſe und Aether iſt ein ununterbrochener Kampf dieſer beiden antagoniſtiſchen Subſtanz-Theile, und dieſer Kampf iſt die Urſache aller phyſikaliſchen Proceſſe. Die poſitive Maſſe, der Träger des Luſtgefühls, ſtrebte immer mehr, den begonnenen Verdichtungs-Proceß zu vollenden und ſammelt die höchſten Werthe potentieller Energie; der negative Aether um - gekehrt ſträubt ſich in gleichem Maße gegen jede weitere Steigerung ſeiner Spannung und des damit verknüpften Unluſt - gefühls; er ſammelt die höchſten Werthe aktueller Energie.
Es würde hier viel zu weit führen, wollte ich näher auf die ſinnreiche Verdichtungs-Theorie von J. G. Vogt eingehen; der Leſer, der ſich dafür intereſſirt, muß die Vorſtellungs-Gruppen, deren Schwierigkeit im Gegenſtande ſelbſt liegt, in dem klar geſchriebenen, populären Auszug aus dem zweiten Bande des citirten Werkes zu erfaſſen ſuchen. Ich ſelbſt bin zu wenig mit Phyſik und Mathematik vertraut, um die Licht - und Schatten - ſeiten derſelben kritiſch ſondern zu können; ich glaube jedoch, daß dieſer pyknotiſche Subſtanz-Begriff für jeden Biologen, der von der Einheit der Natur überzeugt iſt, in mancher Hinſicht annehmbarer erſcheint, als der gegenwärtig in der Phyſik herrſchende kinetiſche Subſtanz-Begriff. Ein Mißverſtändniß kann leicht dadurch entſtehen, daß Vogt ſeinen Weltproceß der254Moniſtiſche Subſtanz-Theorie. XII. Verdichtung in principiellen Gegenſatz ſtellt zu dem allgemeinen Vorgang der Bewegung — er meint damit die Schwingung im Sinne der modernen Phyſik. Auch ſeine hypothetiſche „ Ver - dichtung “(Pyknoſis) iſt ebenſo durch Bewegung der Sub - ſtanz bedingt, wie die hypothetiſche „ Schwingung “(Vibration); nur iſt die Art der Bewegung und das Verhalten der bewegten Subſtanz-Theilchen nach der erſteren Hypotheſe ganz anders als nach der letzteren. Uebrigens wird durch die Verdichtungslehre keineswegs die geſammte Schwingungslehre beſeitigt, ſondern nur ein wichtiger Theil derſelben.
Die moderne Phyſik hält gegenwärtig zum größten Theile noch zäh an der älteren Vibrations-Theorie feſt, an der Vor - ſtellung der unvermittelten Fernwirkung und der ewigen Schwin - gung todter Atome im leeren Raume; ſie verwirft daher die Pyknoſe-Theorie. Wenn dieſe letztere nun auch keineswegs vollendet ſein mag, und wenn Vogt's originelle Spekulationen auch mehrfach irre gehen, ſo erblicke ich doch ein großes Ver - dienſt dieſes Naturphiloſophen darin, daß er jene unhaltbaren Principien der kinetiſchen Subſtanz-Theorie eliminirt. Für meine eigene Vorſtellung, wie für diejenige vieler anderer den - kender Naturforſcher, muß ich die folgenden, in Vogt's pykno - tiſcher Subſtanz-Theorie enthaltenen Grundſätze als unentbehrlich für eine wirklich moniſtiſche, das ganze organiſche und an - organiſche Naturgebiet umfaſſende Subſtanz-Anſicht hinſtellen: I. Die beiden Hauptbeſtandtheile der Subſtanz, Maſſe und Aether, ſind nicht todt und nur durch äußere Kräfte beweglich, ſondern ſie beſitzen Empfindung und Willen (natürlich niederſten Grades!); ſie empfinden Luſt bei Verdichtung, Unluſt bei Spannung; ſie ſtreben nach der erſteren und kämpfen gegen letztere. II. Es giebt keinen leeren Raum; der Theil des un - endlichen Raumes, welchen nicht die Maſſen-Atome einnehmen, iſt vom Aether erfüllt. III. Es giebt keine unvermittelte Fern -255XII. Dualiſtiſche Subſtanz-Theorie.wirkung durch den leeren Raum; alle Wirkung der Körpermaſſen auf einander iſt entweder durch unmittelbare Berührung, durch Kontakt der Maſſen bedingt, oder ſie wird durch den Aether vermittelt.
Der dualiſtiſche Subſtanz-Begriff. Die beiden Subſtanz - Theorien, die wir vorſtehend einander gegenüber geſtellt haben, ſind beide im Princip moniſtiſch, da der Gegenſatz zwiſchen den beiden Hauptbeſtandtheilen der Subſtanz, Maſſe und Aether, kein urſprünglicher iſt; auch muß eine beſtändige direkte Be - rührung und Wechſelwirkung beider Subſtanzen auf einander angenommen werden. Ganz anders verhält es ſich mit den dualiſtiſchen Subſtanz-Theorien, welche noch heute in der idealiſtiſchen und ſpiritualiſtiſchen Philoſophie herrſchend ſind; dieſe werden auch von der einflußreichen Theologie geſtützt, ſoweit ſich dieſelbe überhaupt auf ſolche metaphyſiſche Spekulationen einläßt. Hiernach ſind zwei ganz verſchiedene Hauptbeſtandtheile der Subſtanz zu unterſcheiden, materielle und immaterielle. Die materielle Subſtanz bildet die „ Körperwelt “, deren Erforſchung Objekt der Phyſik und Chemie iſt; hier allein gilt das Geſetz von der Erhaltung der Materie und der Energie (ſoweit man nicht überhaupt an deren „ Erſchaffung aus Nichts “und an andere Wunder glaubt!). Die immaterielle Subſtanz hingegen bildet die „ Geiſteswelt “, in welcher jenes Geſetz nicht gilt; hier gelten die Geſetze der Phyſik und Chemie ent - weder gar nicht, oder ſie ſind der „ Lebenskraft “unterworfen, oder dem „ freien Willen “, oder der „ göttlichen Allmacht “, oder anderen ſolchen Geſpenſtern von denen die kritiſche Wiſſen - ſchaft nichts weiß. Eigentlich bedürfen dieſe principiellen Irrthümer heute keiner Widerlegung mehr; denn die Erfahrung hat uns bis auf den heutigen Tag keine einzige immaterielle Subſtanz kennen gelehrt, keine einzige Kraft, welche nicht an den Stoff gebunden iſt, keine einzige Form der Energie, welche256Maſſe (Ponderable Materie). XII. nicht durch Bewegungen der Materie vermittelt wird, ſei es nur der Maſſe oder des Aethers oder beider Beſtandtheile. Auch die komplicirteſten und vollkommenſten Energie-Formen, welche wir kennen, das Seelenleben der höheren Thiere, Denken und Ver - nunft des Menſchen, beruhen auf materiellen Vorgängen, auf Veränderungen im Neuroplasma der Ganglienzellen; ſie ſind ohne dieſelben nicht denkbar. Daß die phyſiologiſche Hypotheſe einer beſonderen immateriellen „ Seelen-Subſtanz “unhaltbar iſt, habe ich ſchon früher nachgewieſen (im elften Kapitel).
Maſſe oder Körperſtoff (Ponderable Materie). Die Erkenntniß dieſes wägbaren Theiles der Materie iſt in erſter Linie Gegenſtand der Chemie. Allbekannt ſind die erſtaunlichen theoretiſchen Fortſchritte, welche dieſe Wiſſenſchaft im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts gemacht hat, und der ungeheure Ein - fluß, welchen ſie auf alle Seiten des praktiſchen Kultur-Lebens gewonnen hat. Wir begnügen uns daher mit wenigen Be - merkungen über die wichtigſten principiellen Fragen von der Natur der Maſſe. Der analytiſchen Chemie iſt es bekanntlich gelungen, alle die unzähligen verſchiedenen Naturkörper durch Zerlegung auf eine geringe Zahl von Urſtoffen oder Elementen zurückzuführen, d. h. auf einfache Körper, welche nicht weiter zerlegt werden können. Die Zahl dieſer Elemente beträgt un - gefähr ſiebenzig. Nur der kleinere Theil derſelben (eigentlich nur vierzehn) iſt allgemein auf der Erde verbreitet und von hoher Bedeutung; die größere Hälfte beſteht aus ſeltenen und weniger wichtigen Elementen (meiſtens Metallen). Die gruppenweiſe Verwandtſchaft dieſer Elemente und die merkwürdigen Be - ziehungen ihrer Atomgewichte, welche Lothar Meyer und Mendelejeff in ihrem „ Periodiſchen Syſtem der Ele - mente “nachgewieſen haben, machen es ſehr wahrſcheinlich, daß dieſelben keine abſoluten Species der Maſſe, keine ewig unveränderlichen Größen ſind. Man hat nach jenem Syſtem257XII. Urſprung der Elemente.die 70 Elemente auf acht Hauptgruppen vertheilt und innerhalb derſelben nach der Größe ihrer Atomgewichte geordnet, ſo daß die chemiſch ähnlichen Elemente Familien-Reihen bilden. Die gruppenweiſen Beziehungen im natürlichen Syſtem der Elemente erinnern einerſeits an ähnliche Verhältniſſe der mannigfach zu - ſammengeſetzten Kohlenſtoff-Verbindungen, andererſeits an die Be - ziehungen paralleler Gruppen, wie ſie im natürlichen Syſtem der Thier - und Pflanzen-Arten ſich zeigen. Wie nun in dieſen letzteren Fällen die „ Verwandtſchaft “der ähnlichen Geſtalten auf Abſtammung von gemeinſamen einfachen Stammformen beruht, ſo iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß auch dasſelbe für die Familien und Ordnungen der Elemente gilt. Wir dürfen daher annehmen, daß die jetzigen „ empiriſchen Elemente “keine wirklich einfachen und unveränderlichen „ Species der Maſſe “ſind, ſondern urſprünglich zuſammengeſetzt aus gleichartigen einfachen Ur - atomen in verſchiedener Zahl und Lagerung. Neuerdings haben die Spekulationen von Guſtav Wendt, Wilhelm Preyer, W. Crookes u. A. gezeigt, in welcher Weiſe man ſich die Sonderung der Elemente aus einem einzigen urſprünglichen Ur - ſtoff, dem Prothyl, vorſtellen kann.
Atome und Elemente. Die moderne Atomlehre, wie ſie heute der Chemie als unentbehrliches Hülfsmittel erſcheint, iſt wohl zu unterſcheiden von dem alten philoſophiſchen Ato - mismus, wie er ſchon vor mehr als zweitauſend Jahren von hervorragenden moniſtiſchen Philoſophen des Alterthums gelehrt wurde, von Leukippos, Demokritos und Lucretius; ſpäter fand derſelbe eine weitere und mannigfach verſchiedene Ausbildung durch Descartes, Hobbes, Leibniz und andere hervorragende Philoſophen. Eine beſtimmte annehmbare Faſſung und empiriſche Begründung fand aber der moderne Atomismus erſt 1808 durch den engliſchen Chemiker Dalton, welcher das „ Geſetz der einfachen undHaeckel, Welträthſel. 17258Wahlverwandtſchaft der Elemente. XII. multiplen Proportionen “bei der Bildung chemiſcher Ver - bindungen aufſtellte. Er beſtimmte zuerſt die Atomgewichte der einzelnen Elemente und ſchuf damit die unerſchütter - liche, exakte Baſis, auf welcher die neueren chemiſchen Theorien ruhen; dieſe ſind ſämmtlich atomiſtiſch, inſofern ſie die Elemente aus gleichartigen, kleinſten, diskreten Theilchen zu - ſammengeſetzt annehmen, die nicht weiter zerlegt werden können. Dabei bleibt die Frage nach dem eigentlichen Weſen der Atome, ihrer Geſtalt, Größe, Beſeelung u. ſ. w. ganz außer Spiele; denn dieſe Qualitäten derſelben ſind hypothetiſch; empiriſch dagegen iſt der Chemismus der Atome oder ihre „ chemiſche Affinität “, d. h. die konſtante Proportion, in der ſie ſich mit den Atomen anderer Elemente verbinden*)E. Haeckel, Monismus, 1892, S. 17, 41..
Wahlverwandtſchaft der Elemente. Das verſchiedene Verhalten der einzelnen Elemente gegen einander, das die Chemie als „ Affinität oder Verwandtſchaft “bezeichnet, iſt eine der wichtig - ſten Eigenſchaften der Maſſe und äußert ſich in den verſchiedenen Mengen-Verhältniſſen oder Proportionen, in denen ihre Ver - bindung ſtattfindet, und in der Intenſität, mit der dieſelbe erfolgt. Alle Grade der Zuneigung, von der vollkommenen Gleichgültigkeit bis zur heftigſten Leidenſchaft, finden ſich in dem chemiſchen Verhalten der verſchiedenen Elemente gegen einander ebenſo wieder, wie ſie in der Pſychologie des Menſchen und namentlich in der Zuneigung der beiden Geſchlechter die größte Rolle ſpielen. Goethe hat bekanntlich in ſeinem klaſſiſchen Roman „ Die Wahlverwandtſchaften “die Ver - hältniſſe der Liebes-Paare in eine Reihe geſtellt mit der gleich - namigen Erſcheinung bei Bildung chemiſcher Verbindungen. Die unwiderſtehliche Leidenſchaft, welche Eduard zu der ſympathiſchen Ottilie, Paris zu Helena hinzieht und alle Hinderniſſe der Ver -259XII. Wahlverwandtſchaft der Elemente.nunft und Moral überwindet, iſt dieſelbe mächtige „ unbewußte “Attraktions-Kraft, welche bei der Befruchtung der Thier - und Pflanzen-Eier den lebendigen Samenfaden zum Eindringen in die Eizelle (aber auch zur Aepfelſäure!) antreibt; dieſelbe heftige Bewegung, durch welche zwei Atome Waſſerſtoff und ein Atom Sauerſtoff ſich zur Bildung von einem Molekel Waſſer ver - einigen. Dieſe principielle Einheit der Wahlverwandt - ſchaft in der ganzen Natur, vom einfachſten chemiſchen Proceß bis zu dem verwickeltſten Liebesroman hinauf, hat ſchon der große griechiſche Naturphiloſoph Empedokles im fünften Jahrhundert v. Chr. erkannt, in ſeiner Lehre vom „ Lieben und Haſſen der Elemente “. Sie findet ihre empiriſche Beſtätigung durch die intereſſanten Fortſchritte der Cellular - Pſychologie, deren hohe Bedeutung wir erſt in den letzten dreißig Jahren gewürdigt haben. Wir gründen darauf unſere Ueberzeugung, daß auch ſchon den Atomen die einfachſte Form der Empfindung und des Willens innewohnt — oder beſſer geſagt: der Fühlung (Aeſtheſiſ) und der Strebung (Tro - peſiſ) —, alſo eine univerſale „ Seele “von primitivſter Art. Dasſelbe gilt aber auch von den Molekeln oder Maſſentheilchen, welche aus zwei oder mehreren Atomen ſich zuſammenſetzen. Aus der weiteren Verbindung verſchiedener ſolcher Molekeln (oder Moleküle) entſtehen dann die einfachen und weiterhin die zu - ſammengeſetzten chemiſchen Verbindungen, in deren Aktion ſich dasſelbe Spiel in verwickelterer Form wiederholt.
Aether (imponderable Materie). Die Erkenntniß dieſes unwägbaren Theiles der Materie iſt in erſter Linie Gegenſtand der Phyſik. Nachdem man ſchon lange die Exiſtenz eines äußerſt feinen, den Raum außerhalb der Maſſe erfüllenden Mediums angenommen und dieſen „ Aether “zur Er - klärung verſchiedener Erſcheinungen (vor Allem des Lichtes) verwendet hatte, iſt uns die nähere Bekanntſchaft mit dieſem17*260Exiſtenz des Aethers. XII. wunderbaren Stoffe erſt in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gelungen, und zwar im Zuſammenhang mit den erſtaunlichen empiriſchen Entdeckungen auf dem Gebiete der Elektricität, mit ihrer experimentellen Erkenntniß, ihrem theoretiſchen Verſtändniß und ihrer praktiſchen Verwerthung. Vor Allem ſind hier bahnbrechend geworden die berühmten Unterſuchungen von Heinrich Hertz in Bonn (1888); der frühzeitige Tod dieſes genialen jungen Phyſikers, der das Größte zu erreichen verſprach, iſt nicht genug zu beklagen; er gehört ebenſo wie der allzu frühe Tod von Spinoza, von Raffael, von Schubert und vielen anderen genialen Jünglingen zu jenen brutalen Thatſachen der menſchlichen Geſchichte, welche für ſich allein ſchon den unhaltbaren Mythus von einer „ weiſen Vorſehung “und von einem „ allliebenden Vater im Himmel “gründlich widerlegen.
Die Exiſtenz des Aethers oder „ Weltäthers “(Kosmo - äthers) als realer Materie iſt heute (ſeit 12 Jahren) eine poſitive Thatſache. Man kann allerdings auch heute noch vielfach leſen, daß der Aether eine „ bloße Hypotheſe “ſei; dieſe irrthümliche Behauptung wird nicht nur von unkundigen Philo - ſophen und populären Schriftſtellern wiederholt, ſondern auch von einzelnen „ vorſichtigen exakten Phyſikern “. Mit demſelben Rechte müßte man aber auch die Exiſtenz der ponderablen Materie, der Maſſe leugnen. Freilich giebt es heute noch Metaphyſiker, die auch dieſes Kunſtſtück zu Stande bringen, und deren höchſte Weisheit darin beſteht, die Realität der Außenwelt zu leugnen oder doch zu bezweifeln; nach ihnen exiſtirt eigentlich nur ein einziges reales Weſen, nämlich ihre eigene theure Perſon, oder vielmehr deren unſterbliche Seele. Neuerdings haben ſogar einige hervorragende Phyſiologen dieſen ultra-idealiſtiſchen Standpunkt acceptirt, der ſchon in der Meta - phyſik von Descartes, Berkeley, Fichte u. A. ausgebildet261XII. Weſen des Aethers.war; ihr „ Pſychomonismus “behauptet: „ Es exiſtirt nur eins, und das iſt meine Pſyche. “ Uns ſcheint dieſe kühne ſpiritualiſtiſche Behauptung auf einer irrthümlichen Schluß - folgerung aus der richtigen kritiſchen Erkenntniß Kant's zu beruhen, daß wir die umgebende Außenwelt nur in derjenigen Erſcheinung erkennen können, welche uns durch unſere menſch - lichen Erkenntniß-Organe zugänglich iſt, durch das Gehirn und die Sinnesorgane. Wenn wir aber auch durch deren Funktion nur eine unvollkommene und beſchränkte Kenntniß von der Körperwelt erlangen können, ſo dürfen wir daraus nicht das Recht entnehmen, ihre Exiſtenz zu leugnen. In meiner Vorſtellung wenigſtens exiſtirt der Aether ebenſo ſicher wie die Maſſe; ebenſo ſicher wie ich ſelbſt, wenn ich jetzt darüber nachdenke und ſchreibe. Wie wir uns von der Realität der ponderablen Materie durch Maß und Gewicht, durch chemiſche und mechaniſche Experimente überzeugen, ſo von derjenigen des imponderablen Aethers durch die optiſchen und elektriſchen Erfahrungen und Verſuche.
Weſen des Aethers. Wenn nun auch heute von faſt allen Phyſikern die reale Exiſtenz des Aethers als eine poſitive Thatſache betrachtet wird, und wenn uns auch viele Wirkungen dieſer wunderbaren Materie durch unzählige Erfahrungen, be - ſonders optiſche und elektriſche Verſuche, genau bekannt ſind, ſo iſt es doch bisher nicht gelungen, Klarheit und Sicherheit über ihr eigentliches Weſen zu gewinnen. Vielmehr gehen auch heute noch die Anſichten der hervorragendſten Phyſiker, die ſie ſpeciell ſtudirt haben, ſehr weit aus einander; ja ſie widerſprechen ſich ſogar in den wichtigſten Punkten. Es ſteht daher Jedem frei, ſich bei der Wahl zwiſchen den wider - ſprechenden Hypotheſen ſeine eigene Meinung zu bilden, ent - ſprechend dem Grade ſeiner Sachkenntniß und Urtheilskraft (die ja beide immer unvollkommen bleiben!). Die Meinung, die262Eigenſchaften des Aethers. XII. ich perſönlich (als bloßer Dilettant auf dieſem Gebiete!) mir durch reifliches Nachdenken gebildet habe, faſſe ich in folgenden acht Sätzen zuſammen:
I. Der Aether erfüllt als eine kontinuirliche Materie den ganzen Weltraum, ſoweit dieſer nicht von der Maſſe (oder der ponderablen Materie) eingenommen iſt; er füllt auch alle Zwiſchenräume zwiſchen den Atomen der letzteren vollſtändig aus. II. Der Aether beſitzt wahrſcheinlich noch keinen Chemismus und iſt noch nicht aus Atomen zuſammengeſetzt, wie die Maſſe; wenn man annimmt, derſelbe ſei aus äußerſt kleinen, gleichartigen Atomen zuſammengeſetzt (z. B. untheilbaren Aetherkugeln von gleicher Größe), ſo muß man weiterhin auch annehmen, daß zwiſchen denſelben noch etwas Anderes exiſtirt, entweder der „ leere Raum “oder ein drittes (ganz unbekanntes) Medium, ein völlig hypothetiſcher „ Interäther “; bei der Frage nach deſſen Weſen würde ſich dann dieſelbe Schwierigkeit, wie beim Aether erheben (in infinitum!). III. Da die An - nahme des leeren Raumes und der unvermittelten Fernwirkung beim jetzigen Stande unſeres Naturerkennens kaum mehr möglich iſt (wenigſtens zu keiner klaren moniſtiſchen Vorſtellung führt), ſo nehme ich eine eigenthümliche Struktur des Aethers an, die nicht atomiſtiſch iſt, wie diejenige der ponderablen Maſſe, und die man vorläufig (ohne weitere Beſtimmung) als ätheriſche oder dynamiſche Struktur bezeichnen kann. IV. Der Aggregat-Zuſtand des Aethers iſt, dieſer Hypo - theſe zufolge, ebenfalls eigenthümlich und von demjenigen der Maſſe verſchieden; er iſt weder gasförmig, wie einige, noch feſt, wie andere Phyſiker annehmen; die beſte Vorſtellung davon gewinnt man vielleicht durch den Vergleich mit einer äußerſt feinen, elaſtiſchen und leichten Gallerte. V. Der Aether iſt imponderable Materie in dem Sinne, daß wir kein Mittel beſitzen, ſein Gewicht experimentell zu beſtimmen; wenn263XII. Eigenſchaften des Aethers.er wirklich Gewicht beſitzt, was ſehr wahrſcheinlich iſt, ſo iſt dasſelbe äußerſt gering und für unſere feinſten Waagen unmeßbar; einige Phyſiker haben verſucht, aus der Energie der Licht - wellen das Gewicht des Aethers zu berechnen; ſie haben ge - funden, daß es etwa 15 Trillionen mal geringer ſei als das der athmoſphäriſchen Luft; immerhin ſoll eine Aether-Kugel vom Volumen unſerer Erde mindeſtens 250 Pfund wiegen. (?) VI. Der ätheriſche Aggregat-Zuſtand kann wahrſcheinlich (der Pyknoſe-Theorie entſprechend) unter beſtimmten Bedingungen durch fortſchreitende Verdichtung in den gasförmigen Zuſtand der Maſſe übergehen, ebenſo wie dieſer letztere durch Abkühlung in den flüſſigen und weiterhin in den feſten übergeht. VII. Dieſe Aggregat-Zuſtände der Materie ordnen ſich demnach (was für die moniſtiſche Kosmogenie ſehr wichtig iſt) in eine genetiſche, kontinuirliche Reihe; wir unter - ſcheiden fünf Stufen derſelben: 1. der ätheriſche, 2. der gas - förmige, 3. der flüſſige, 4. der feſtflüſſige (im lebenden Plasma), 5. der feſte Zuſtand. VIII. Der Aether iſt ebenſo unendlich und unermeßlich wie der Raum, den er ausfüllt; er befindet ſich ewig in ununterbrochener Bewegung; dieſer eigen - thümliche Aether-Motus (gleichviel, ob als Schwingung, Spannung, Verdichtung u. ſ. w. aufgefaßt), in Wechſelwirkung mit den Maſſen-Bewegungen (Gravitation) iſt die letzte Urſache aller Erſcheinungen.
Aether und Maſſe. „ Die gewaltige Hauptfrage nach dem Weſen des Aethers “, wie ſie Hertz mit Recht nennt, ſchließt auch diejenige ſeiner Beziehungen zur Maſſe ein; denn beide Hauptbeſtandtheile der Materie befinden ſich nicht nur überall in innigſter äußerer Berührung, ſondern auch in ewiger dynamiſcher Wechſelwirkung. Man kann die allgemeinſten Natur-Erſcheinungen, welche die Phyſik als Naturkräfte oder als „ Funktionen der Materie “unterſcheidet, in zwei Gruppen264Aether und Maſſe. XII. theilen, von denen die eine vorzugsweiſe (aber nicht aus - ſchließlich) Funktion des Aethers, die andere ebenſo Funktion der Maſſe iſt; etwa nach folgendem Schema, das ich (1892) im „ Monismus “aufgeſtellt habe (S. 18, 42):
I. Aether (= Imponderabile, geſpannte Subſtanz). | II. Maſſe (= Ponderabile, verdichtete Subſtanz). |
1. Aggregat-Zuſtand: nicht ätheriſch (ſondern gas - förmig, flüſſig oder feſt). | 1. Aggregat-Zuſtand: äthe - riſch (weder gasförmig, noch flüſſig, noch feſt). |
2. Struktur: nicht ato - miſtiſch, kontinuirlich, nicht aus diskreten Theilchen (Atomen) zuſammengeſetz. | 2. Struktur: atomiſtiſch, dis - kontinuirlich, aus kleinſten diskreten Theilchen (Atomen) zuſammengeſetzt. |
3. Hauptfunktionen: Licht, Strahlwärme, Elektricität, Magnetismus. | 3. Hauptfunktionen: Schwere, Trägheit, Maſſen - wärme, Chemismus. |
Die beiden Gruppen von Funktionen der Materie, welche in dieſem Schema gegenübergeſtellt ſind, können gewiſſermaßen als Folgen der erſten Arbeitstheilung des Stoffes betrachtet werden, als primäre Ergonomie der Materie. Dieſe Unterſcheidung bedeutet aber keine abſolute Trennung der beiden entgegengeſetzten Gruppen; vielmehr bleiben beide trotzdem ver - einigt, behalten ihren Zuſammenhang und ſtehen überall in beſtändiger Wechſelwirkung. Wie bekannt, ſind optiſche und elektriſche Vorgänge des Aethers eng verknüpft mit mechaniſchen und chemiſchen Veränderungen der Maſſe; die ſtrahlende Wärme des erſteren geht direkt über in die Maſſenwärme oder mecha - niſche Wärme der letzteren; die Gravitation kann nicht wirken,265XII. Kraft und Energie.ohne daß der Aether die Maſſen-Anziehung der getrennten Atome vermittelt, da wir keine Fernwirkung annehmen können. Die Verwandlung einer Energie-Form in die andere, wie ſie das Geſetz von der Erhaltung der Kraft nachweiſt, beſtätigt zugleich die beſtändige Wechſelwirkung zwiſchen den beiden Haupttheilen der Subſtanz, Aether und Maſſe.
Kraft und Energie. Das große Grundgeſetz der Natur, welches wir als Subſtanz-Geſetz an die Spitze aller phyſika - liſchen Betrachtungen ſtellen, wurde urſprünglich von Robert Mayer, der es aufſtellte (1842), und von Helmholtz, der es ausführte (1847), als das Geſetz von der Erhaltung der Kraft bezeichnet. Schon 10 Jahre früher hatte ein anderer deutſcher Naturforſcher, Friedrich Mohr in Bonn, die weſentlichen Grundgedanken desſelben klar entwickelt (1837). Später wurde der alte Begriff der Kraft durch die moderne Phyſik von demjenigen der Energie getrennt, der urſprünglich gleichbedeutend war. Demnach wird jetzt dasſelbe Geſetz ge - wöhnlich als das „ Geſetz von der Konſtanz der Energie “bezeichnet. Für die allgemeine Betrachtung desſelben, mit der ich mich hier begnügen muß, und für das große Princip von der „ Erhaltung der Subſtanz “kommt dieſer feinere Unter - ſchied nicht in Betracht. Der Leſer, der ſich dafür intereſſirt, findet eine ſehr klare Auseinanderſetzung darüber z. B. in dem ausgezeichneten Aufſatz des engliſchen Phyſikers Tyndall über „ das Grundgeſetz der Natur “*)John Tyndall, Fragmente aus den Naturwiſſenſchaften. Braunſchweig 1898.. Dort iſt auch eingehend die univerſale Bedeutung dieſes kosmologiſchen Grundgeſetzes er - läutert, ſowie ſeine Anwendung auf die wichtigſten Probleme ſehr verſchiedener Gebiete. Wir begnügen uns hier mit der wichtigen Thatſache, daß gegenwärtig das „ Energie-Princip “266Spannkraft und lebendige Kraft. XII. und die damit verknüpfte Ueberzeugung von der Einheit der Naturkräfte, von ihrem gemeinſamen Urſprung, durch alle kompetenten Phyſiker anerkannt und als der wichtigſte Fort - ſchritt der Phyſik im 19. Jahrhundert gewürdigt wird. Wir wiſſen jetzt, daß Wärme ebenſo gut eine Form der Bewegung iſt wie Schall, Elektricität ebenſo wie Licht, Chemismus ebenſo wie Magnetismus. Wir können durch geeignete Vor - richtungen eine dieſer Kräfte in die andere verwandeln und überzeugen uns dabei durch genaueſte Meſſung, daß von ihrer Geſammt-Summe niemals das kleinſte Theilchen verloren geht.
Spannkraft und lebendige Kraft (Potentielle und aktuelle Energie). Die Geſammtſumme der Kraft oder Energie im Weltall bleibt beſtändig, gleichviel, welche Ver - änderungen uns erſcheinen; ſie iſt ewig und unendlich, wie die Materie, an die ſie untrennbar gebunden iſt. Das ganze Spiel der Natur beruht auf dem Wechſel von ſcheinbarer Ruhe und Bewegung; die ruhenden Körper beſitzen aber ebenſo eine unverlierbare Größe von Kraft, wie die bewegten. Bei der Bewegung ſelbſt verwandelt ſich die Spannkraft der erſteren in die lebendige Kraft der letzteren. „ Indem das Princip der Er - haltung der Kraft ſowohl die Abſtoßung als die Anziehung in Betracht zieht, behauptet es, daß der mechaniſche Werth der Spannkräfte und der lebendigen Kräfte in der materiellen Welt eine konſtante Quantität iſt. Kurz geſagt zerfällt der Kraft - beſitz des Univerſums in zwei Theile, die nach einem beſtimmten Werthverhältniß in einander verwandelt werden können. Die Verminderung des einen bringt die Vergrößerung des anderen mit ſich; der Geſammtwerth ſeines Beſitzes bleibt jedoch unver - ändert. “ Die Spannkraft oder die potentielle Energie und die lebendige Kraft oder die aktuelle Energie werden beſtändig in einander umgewandelt, ohne daß die unendliche267XII. Einheit der Naturkräfte.Geſammtſumme der Kraft im unendlichen Weltall jemals den geringſten Verluſt erleidet.
Einheit der Naturkräfte. Nachdem die moderne Phyſik das Subſtanz-Geſetz zunächſt für die einfacheren Beziehungen der anorganiſchen Körper feſtgeſtellt hatte, wies die Phyſiologie deſſen allgemeine Geltung auch im Geſammtbereiche der orga - niſchen Natur nach. Sie zeigte, daß alle Lebensthätigkeiten der Organismen — ohne Ausnahme! — ebenſo auf einem be - ſtändigen „ Kraftwechſel “und einem damit verknüpften „ Stoff - wechſel “beruhen wie die einfachſten Vorgänge in der ſogenannten „ lebloſen Natur “. Nicht nur das Wachsthum und die Ernährung der Pflanzen und Thiere, ſondern auch die Funktionen ihrer Em - pfindung und Bewegung, ihrer Sinnesthätigkeit und ihres Seelenlebens beruhen auf der Verwandlung von Spannkraft in lebendige Kraft und umgekehrt. Dieſes höchſte Geſetz beherrſcht auch diejenigen vollkommenſten Leiſtungen des Nervenſyſtems, welche man bei den höheren Thieren und beim Menſchen als das „ Geiſtesleben “bezeichnet.
Allmacht des Subſtanz-Geſetzes. Unſere feſte moniſtiſche Ueberzeugung, daß das kosmologiſche Grundgeſetz allgemeine Geltung für die geſammte Natur beſitzt, nimmt die höchſte Bedeutung in Anſpruch. Denn dadurch wird nicht nur poſitiv die principielle Einheit des Kosmos und der kauſale Zuſammen - hang aller uns erkennbaren Erſcheinungen bewieſen, ſondern es wird dadurch zugleich negativ der höchſte intellektuelle Fort - ſchritt erzielt, der definitive Sturz der drei Central - Dogmen der Metaphyſik: „ Gott, Freiheit und Unſterblich - keit “. Indem das Subſtanz-Geſetz überall mechaniſche Urſachen in den Erſcheinungen nachweiſt, verknüpft es ſich mit dem „ allgemeinen Kauſalgeſetz “.
Dualismus. (Teleologiſche Weltanſchauung.) 1. Die Welt (Kosmos) beſteht aus zwei getrennten Gebieten, dem Natur - Gebiete (der materiellen Körper - welt) und dem Geiſtes-Gebiete (der immateriellen Seelenwelt). 2. Demnach zerfällt das Reich der Wiſſenſchaft in zwei ganz ge - trennte Gebiete: Naturwiſſen - ſchaft (empiriſche Lehre von den mechaniſchen Vorgängen) und Geiſteswiſſenſchaft (tranſcen - dente Lehre von den pſychiſchen Vorgängen). 3. Die Erkenntniß der Natur-Er - ſcheinungen geſchieht auf empi - riſchem Wege, durch Beobachtung, Verſuch und Aſſocion der Vor - ſtellungen. Die Erkenntniß der Geiſtes-Erſcheinungen da - gegen iſt nur auf übernatürlichem Wege möglich, durch Offen - barung. 4. Das Subſtanz-Geſetzin ſeinen beiden Theilen (Erhaltung der Materie und der Energie) hat nur Geltung für das Gebiet der Natur; nur hier ſind Stoff und Kraft unzertrennlich an einander gebunden. — Im Gebiete des Geiſtes dagegen iſt die Thätig - keit der immateriellen Seele frei, nicht an phyſikaliſche und chemiſche Veränderungen in der Subſtanz ihrer Organe geknüpft. | Monismus. (Mechaniſche Weltanſchauung) 1. Die Welt (Kosmos) beſteht aus einem einzigen untrennbaren Ge - biete, dem einheitlichen Subſtanz - Reiche; ſeine beiden untrennbaren Attribute ſind die Materie (der ausgedehnte Stoff) und die Energie (die wirkende Kraft). 2. Demnach bildet das geſammte Reich der Wiſſenſchaft ein einziges, ein - heitliches Gebiet; die ſogenannten Geiſteswiſſenſchaften ſind nur beſondere Theile der allum - faſſenden Naturwiſſenſchaft: alle wahre Wiſſenſchaft beruht auf Empirie, nicht auf Tranſcendenz. 3. Erkenntniß aller Erſchei - nungen (ebenſo in der Natur wie im Geiſtes-Leben) geſchieht ausſchließlich auf empiriſchem Wege (durch die Arbeit unſerer Sinnesorgane und unſeres Ge - hirns). Alle ſogenannte Offen - barung oder Tranſcendenz beruht auf bewußter oder unbewußter Täuſchung. 4. Das Subſtanz-Geſetz hat ganz allgemeine Geltung, ebenſo im Gebiete der Natur wie des Geiſtes — ohne Ausnahme! — Auch bei den höchſten geiſtigen Funktionen (Vorſtellen und Denken) iſt die Arbeit der bewirkenden Nervenzellen ebenſo nothwendig mit materiellen Veränderungen ihrer Subſtanz (desNervenplasma) verknüpft, wie bei jedem anderen Natur-Prozeß Kraft und Stoff an einander gebunden ſind. |
Moniſtiſche Studien über die ewige Entwickelung des Uni - verſum. Schöpfung, Anfang und Ende der Welt. Kreatiſtiſche und genetiſche Kosmogenie.
„ Das letzte Räthſel der Welt werden die freien Geiſter (der kommenden moniſtiſchen Philoſophie) freilich nicht löſen. Aber ſie werden ſich nicht mehr gefallen laſſen, Schein für Wirklichkeit und Täuſchung für Wahrheit zu nehmen. Das große Geſetz der Entwickelung wird an die Stelle der Schöpfungshypotheſe treten, das Beſtehen einer natürlichen Weltordnung an die Stelle des Wun - ders, die friſche, fröhliche Wirklichkeit an die Stelle der Phraſe und Einbildung, der naturwahre Mo - nismus an die Stelle des unwahren Dualismus, das (praktiſche) poſitive Ideal an die Stelle des (theoretiſchen) Wahn-Ideals. “(Ludwig Büchner (1898).)[270]
Begriff der Schöpfung (Kreation). Wunder. Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge. Schöpfung der Subſtanz (kosmologiſcher Kreatismus). Deismus: Ein Schöpfungstag. Schöpfung der Einzeldinge. Fünf Formen des ontologiſchen Kreatismus. Begriff der Entwickelung (Geneſiſ, Evolutio). I. Moniſtiſche Kosmogenie. Anfang und Ende der Welt. Unendlichkeit und Ewigkeit des Univerſum. Raum und Zeit. Univerſum perpetuum mobile. Entropie des Weltalls. II. Moniſtiſche Geogenie. Anorganiſche und organiſche Erdgeſchichte. III. Moniſtiſche Biogenie. Transformismus und Deſcendenz - Theorie. Lamarck und Darwin. IV. Moniſtiſche Anthropogenie. Abſtammung des Menſchen.
Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeſchichte und Theorie des Himmels. Königsberg 1755.
Alexander Humboldt, Kosmos. Entwurf einer phyſiſchen Weltbeſchreibung. 4 Bände. Stuttgart 1845-1854.
Wilhelm Bölſche, Entwickelungsgeſchichte der Natur. 2 Bände. Mit über tauſend Abbildungen. Neudamm 1896.
Carus Sterne (Ernſt Krauſe), Werden und Vergehen. Eine Entwickelungs - geſchichte des Naturganzen in gemeinverſtändlicher Faſſung. Vierte Auf - lage. Mit vielen Abbildungen. Berlin 1899.
Hermann Wolff (Leipzig), Kosmos. Die Weltentwickelung nach moniſtiſch - pſychologiſchen Principien auf Grundlage der exakten Naturforſchung dargeſtellt. 2 Bände. Leipzig 1890.
Karl Auguſt Specht, Populäre Entwickelungsgeſchichte der Welt. 1876. Dritte Auflage 1889.
L. Zehnder, Die Mechanik des Weltalls. Freiburg 1897.
Melchior Neumayr, Erdgeſchichte (zweite Auflage von Victor Uhlig). Leipzig 1895.
Johannes Walther, Einleitung in die Geologie als hiſtoriſche Wiſſenſchaft. 2 Bände. Jena 1894.
C. Radenhauſen, Oſiris. Weltgeſetze in der Erdgeſchichte. 2 Bände. Hamburg 1874.
Ludwig Noiré, Die Welt als Entwickelung des Geiſtes. Bauſteine zu einer moniſtiſchen Weltanſchauung. Leipzig 1874.
Unter allen Welträthſeln das größte, umfaſſendſte und ſchwerſte iſt dasjenige von der Entſtehung und Entwickelung der Welt, kurz gewöhnlich die „ Schöpfungsfrage “genannt. Auch zur Löſung dieſes ſchwierigſten Welträthſels hat unſer neunzehntes Jahrhundert mehr beigetragen als alle früheren, ja ſie iſt ihm ſogar bis zu einem gewiſſen Grade gelungen. Wenig - ſtens ſind wir zu der klaren Einſicht gelangt, daß alle verſchiedenen einzelnen Schöpfungsfragen untrennbar verknüpft ſind, daß ſie alle nur ein einziges, allumfaſſendes „ kosmiſches Univerſal - Problem “bilden; und den Schlüſſel zur Löſung dieſer „ Welt - frage “giebt uns das eine Zauberwort: „ Entwickelung “! Die großen Fragen von der Schöpfung des Menſchen, von der Schöpfung der Thiere und Pflanzen, von der Schöpfung der Erde und der Sonne u. ſ. w., ſie alle ſind nur Theile jener Univerſal-Frage: Wie iſt die ganze Welt entſtanden? Iſt ſie auf übernatürlichem Wege „ erſchaffen “, oder hat ſie ſich auf natürlichem Wege „ entwickelt “? Welcher Art ſind die Ur - ſachen und die Wege dieſer Entwickelung? Gelingt es uns, eine ſichere Antwort auf dieſe Fragen für eines jener Theil - Probleme zu finden, ſo haben wir nach unſerer einheitlichen Naturauffaſſung damit zugleich ein erhellendes Licht auf deren Beantwortung für das ganze Weltproblem geworfen.
Schöpfung (Creatio). Die herrſchende Anſicht über die Entſtehung der Welt war in früheren Jahrhunderten faſt überall,272Schöpfung des Weltalls. XIII. wo denkende Menſchen wohnten, der Glaube an die Schöpfung derſelben. In Tauſenden von intereſſanten, mehr oder weniger fabelhaften Sagen und Dichtungen, Kosmogonien und Kreations-Mythen, hat dieſer Schöpfungs-Glaube ſeinen mannigfaltigen Ausdruck gefunden. Frei davon blieben nur wenige große Philoſophen und beſonders jene bewunderungs - würdigen freien Denker des klaſſiſchen Alterthums, die zuerſt den Gedanken der natürlichen Entwickelung erfaßten. Im Gegenſatz zu dieſem letzteren trugen alle jene Schöpfungs-Mythen den Charakter des Uebernatürlichen, Wunderbaren oder Transſcendenten. Unfähig, das Weſen der Welt ſelbſt zu er - kennen und ihre Entſtehung durch natürliche Urſachen zu erklären, mußte die unentwickelte Vernunft ſelbſtverſtändlich zum Wunder greifen. In den meiſten Schöpfungs-Sagen verknüpfte ſich mit dem Wunder der Anthropismus. Wie der Menſch mit Ab - ſicht und durch Kunſt ſeine Werke ſchaffte, ſo ſollte der bildende „ Gott “planmäßig die Welt erſchaffen haben; die Vorſtellung dieſes Schöpfers war meiſtens ganz anthropomorph, ein offen - kundiger „ anthropiſtiſcher Kreatismus “. Der „ allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden “, wie er im erſten Buch Moſes und in unſerem heute noch gültigen Katechismus ſchafft, iſt ebenſo ganz menſchlich gedacht wie der moderne Schöpfer von Agaſſiz und Reinke oder der intelligente „ Maſchinen-Ingenieur “von anderen Biologen der Gegenwart.
Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge (Kreation der Subſtanz und der Accidenzen). Bei tieferem Ein - gehen in den Wunderbegriff der Kreation können wir als zwei weſentlich verſchiedene Akte die totale Schöpfung des Welt - alls und die partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterſcheiden, entſprechend dem Begriffe Spinoza's von der Subſtanz (dem Univerſum) und den Accidenzen (oder Modi, den ein - zelnen „ Erſcheinungsformen der Subſtanz “). Dieſe Unterſcheidung273XIII. Schöpfung der Subſtanz.iſt principiell wichtig; denn es hat viele und angeſehene Philo - ſophen gegeben (und es giebt noch heute ſolche), welche die erſtere annehmen, die letztere dagegen verwerfen.
Schöpfung der Subſtanz (kosmologiſcher Kreatis - mus). Nach dieſer Schöpfungslehre hat „ Gott die Welt aus dem Nichts geſchaffen “. Man ſtellt ſich vor, daß der „ ewige Gott “(als vernünftiges, aber immaterielles Weſen!) für ſich allein von Ewigkeit her (im Raum) ohne Welt exiſtirte, bis er dann einmal auf den Gedanken kam, „ die Welt zu ſchaffen “. Die einen Anhänger dieſes Glaubens beſchränken die Schöpfungs - thätigkeit Gottes auf's Aeußerſte, auf einen einzigen Akt; ſie nehmen an, daß der extramundane Gott (deſſen übrige Thätigkeit räthſelhaft bleibt!) in einem Augenblick die Subſtanz erſchaffen, ihr die Fähigkeit zur weiteſtgehenden Entwickelung beigelegt und ſich dann nie weiter um ſie bekümmert habe. Dieſe weit verbreitete Anſicht iſt namentlich im engliſchen Deismus vielfach aus - gebildet worden; ſie nähert ſich unſerer moniſtiſchen Entwickelungs - lehre bis zur Berührung und giebt ſie nur in dem einen Momente (der Ewigkeit!) preis, in welchem Gott auf den Schöpfungs - gedanken kam. Andere Anhänger des kosmologiſchen Kreatismus nehmen dagegen an, daß „ Gott der Herr “die Subſtanz nicht bloß einmal erſchaffen habe, ſondern als bewußter „ Erhalter und Regierer der Welt “in deren Geſchichte fortwirke. Viele Varia - tionen dieſes Glaubens nähern ſich bald dem Pantheismus, bald dem konſequenten Theismus. Alle dieſe und ähnliche Formen des Schöpfungsglaubens ſind unvereinbar mit dem Geſetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes; dieſes kennt keinen „ Anfang der Welt “.
Beſonders intereſſant iſt, daß E. Du Bois-Reymond in ſeiner letzten Rede (über Neovitalismus, 1894) ſich zu dieſem kosmologiſchen Kreatismus (als Löſung des größten Welt - räthſels!) bekannt hat; er ſagt: „ Der göttlichen AllmachtHaeckel, Welträthſel. 18274Zahl der Schöpfungs-Akte. XIII. würdig allein iſt, ſich zu denken, daß ſie vor undenklicher Zeit durch einen Schöpfungsakt die ganze Materie ſo geſchaffen habe, daß nach den der Materie mitgegebenen unverbrüchlichen Geſetzen da, wo die Bedingungen für Entſtehen und Fortbeſtehen von Lebeweſen vorhanden waren, beiſpielsweiſe hier auf Erden, einfachſte Lebeweſen entſtanden, aus denen ohne weitere Nachhülfe die heutige Natur von einer Urbacille bis zum Palmenwalde, von einem Urmikrokokkus bis zu Suleima's holden Gebärden, bis zu Newton's Gehirn ward. So kämen wir mit einem Schöpfungstage (!) aus und ließen ohne alten und neuen Vitalismus die organiſche Natur rein mechaniſch entſtehen. “ Hier wie bei der Bewußtſeins-Frage in der Ignorabimus-Rede (S. 208) offenbart Du Bois-Reymond in auffallender Weiſe die geringe Tiefe und Folgerichtigkeit ſeines moniſtiſchen Denkens.
Schöpfung der Einzeldinge (ontologiſcher Krea - tismus). Nach dieſer individuellen, noch jetzt herrſchenden Schöpfungslehre hat Gott der Herr nicht nur die Welt im Ganzen („ aus Nichts “!) geſchaffen, ſondern auch alle einzelnen Dinge in derſelben. In der chriſtlichen Kulturwelt beſitzt noch heute die uralte ſemitiſche, aus dem erſten Buch Moſes herüber - genommene Schöpfungsſage die weiteſte Geltung; ſelbſt unter den modernen Naturforſchern findet ſie noch hie und da gläubige Anhänger. Ich habe meine kritiſche Auffaſſung derſelben im erſten Kapitel meiner „ Natürlichen Schöpfungsgeſchichte “ein - gehend dargelegt. Als intereſſanteſte Modifikationen dieſes onto - logiſchen Kreatismus dürften folgende Theorien zu unterſcheiden ſein: I. Dualiſtiſche Kreation: Gott hat ſich auf zwei Schöpfungsakte beſchränkt; zuerſt ſchuf er die anorganiſche Welt, die todte Subſtanz, für die allein das Geſetz der Energie gilt, blind und ziellos wirkend im Mechanismus der Weltkörper und der Gebirgsbildung; ſpäter erwarb Gott Intelligenz und theilte dieſe den Dominanten mit, den zielſtrebigen, intelligenten275XIII. Zahl der Schöpfungs-Akte.Kräften, welche die Entwickelung der Organismen bewirken und leiten (Reinke)*)J. Reinke, Die Welt als That. 1899 (S. 451, 477 ꝛc.).. II. Trialiſtiſche Kreation: Gott hat die Welt in drei Hauptakten geſchaffen: A. Schöpfung des Himmels (d. h. der außerirdiſchen Welt); B. Schöpfung der Erde (als Mittelpunkt der Welt) und ihrer Organismen: C. Schöpfung des Menſchen (als Ebenbild Gottes); dieſes Dogma iſt noch heute weit verbreitet unter chriſtlichen Theologen und anderen „ Gebildeten “; es wird in vielen Schulen als Wahr - heit gelehrt. III. Heptamerale Kreation: die Schöpfung in ſieben Tagen (nach Moſes). Obgleich nur wenige Gebildete heute noch wirklich an dieſen moſaiſchen Mythus glauben, wird er dennoch unſeren Kindern ſchon in der früheſten Jugend mit dem Bibel-Unterricht feſt eingeprägt. Die vielfachen, namentlich in England gemachten Verſuche, denſelben mit der modernen Entwickelungslehre in Einklang zu bringen, ſind völlig fehl - geſchlagen. Für die Naturwiſſenſchaft gewann derſelbe dadurch große Bedeutung, daß Linné bei Begründung ſeines Natur - Syſtems (1735) ihn annahm und zur Begriffs-Beſtimmung der organiſchen (von ihm für beſtändig gehaltenen) Species be - nutzte: „ Es giebt ſo viele verſchiedene Arten von Thieren und Pflanzen, als im Anfang verſchiedene Formen von dem unend - lichen Weſen erſchaffen worden ſind “**)E. Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſchichte. Neunte Auflage, S. 39.. Dieſes Dogma wurde ziemlich allgemein bis auf Darwin (1859) feſtgehalten, obgleich Lamarck ſchon 1809 ſeine Unhaltbarkeit dargelegt hatte. IV. Periodiſche Kreation: im Anfang jeder Periode der Erdgeſchichte wurde die ganze Thier - und Pflanzen-Bevölkerung neu geſchaffen und am Ende derſelben durch eine allgemeine Kataſtrophe vernichtet; es giebt ſo viele General-Schöpfungs - Akte, als getrennte geologiſche Perioden auf einander folgten (die Kataſtrophen-Theorie von Cuvier, 1818, und von Louis18*276Alte Schöpfungslehre. XIII. Agaſſiz, 1858). Die Paläontologie, welche in ihren unvoll - kommenen Anfängen (in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts) dieſe Lehre von den wiederholten Neuſchöpfungen der organiſchen Welt zu ſtützen ſchien, hat dieſelbe ſpäter vollſtändig widerlegt. V. Individuelle Kreation: jeder einzelne Menſch — ebenſo wie jedes einzelne Thier und jedes Pflanzen-Individuum — iſt nicht durch einen natürlichen Fortpflanzungs-Akt entſtanden, ſondern durch die Gnade Gottes geſchaffen („ der alle Dinge kennt und die Haare auf unſerem Haupte gezählt hat “). Man lieſt dieſe chriſtliche Schöpfungs-Anſicht noch heute oft in den Zeitungen, beſonders bei Geburts-Anzeigen („ Geſtern ſchenkte uns der gnädige Gott einen geſunden Knaben “u. ſ. w.). Auch die individuellen Talente und Vorzüge unſerer Kinder werden oft als „ beſondere Gaben Gottes “dankbar anerkannt (die erblichen Fehler gewöhnlich nicht!).
Entwickelung (Geneſiſ, Evolutio). Die Unhaltbarkeit der Schöpfungs-Sagen und des damit verknüpften Wunderglaubens mußte ſich ſchon frühzeitig denkenden Menſchen aufdrängen; wir finden daher ſchon vor mehr als zweitauſend Jahren zahlreiche Verſuche, dieſelben durch eine vernünftige Theorie zu erſetzen und die Entſtehung der Welt mittelſt natürlicher Urſachen zu erklären. Allen voran ſtehen hierin wieder die großen Denker der ioniſchen Naturphiloſophie, ferner Demokritos, Heraklitos, Empedokles, Ariſtoteles, Lukretius und andere Philoſophen des Alterthums. Die erſten unvollkommenen Verſuche, welche ſie unternahmen, überraſchen uns zum Theil durch ſtrahlende Licht - blicke des Geiſtes, die als Vorläufer moderner Ideen erſcheinen. Indeſſen fehlte dem klaſſiſchen Alterthum jener ſichere Boden der naturphiloſophiſchen Spekulation, der erſt durch unzählige Beobachtungen und Verſuche der Neuzeit gewonnen wurde. Wäh - rend des Mittelalters — und beſonders während der Gewalt - herrſchaft des Papismus — ruhte die wiſſenſchaftliche Forſchung277XIII. Moderne Entwickelungslehre.auf dieſem Gebiete ganz. Die Tortur und die Scheiterhaufen der Inquiſition ſorgten dafür, daß der unbedingte Glaube an die hebräiſche Mythologie des Moſes als definitive Antwort auf alle Schöpfungsfragen galt. Selbſt diejenigen Erſcheinungen, die unmittelbar zur Beobachtung der Entwickelungs-Thatſachen aufforderten, die Keimesgeſchichte der Thiere und Pflanzen, die Embryologie des Menſchen, blieben unbeachtet oder erregten nur hier und da das Intereſſe einzelner wißbegieriger Beobachter: aber ihre Entdeckungen wurden ignorirt und vergeſſen. Außerdem wurde der wahren Erkenntniß der natürlichen Entwickelung ihr Weg von vornherein durch die herrſchende Präformations - Lehre verſperrt, durch das Dogma, daß die charakteriſtiſche Form und Struktur jeder Thier - und Pflanzen-Art ſchon im Keime vorgebildet ſei (vergl. S. 64).
Entwickelungslehre (Genetik, Evolutismus, Evo - lutionismus). Die Wiſſenſchaft, die wir heute Entwickelungs - lehre (im weiteſten Sinne) nennen, iſt ſowohl im Ganzen als in ihren einzelnen Theilen ein Kind des 19. Jahrhunderts; ſie gehört zu deſſen wichtigſten und glänzendſten Erzeugniſſen. That - ſächlich iſt dieſer Begriff, der noch im vorigen Jahrhundert faſt unbekannt war, heute bereits ein feſter Grundſtein unſerer ganzen Weltanſchauung geworden. Ich habe die Grundzüge derſelben in früheren Schriften ausführlich behandelt, am eingehendſten in der „ Generellen Morphologie “(1866), ſodann mehr populär in der „ Natürlichen Schöpfungsgeſchichte “(1868, neunte Auflage 1898) und mit beſonderer Beziehung auf den Menſchen in der „ Anthropogenie “(1874, vierte Auflage 1891). Ich beſchränke mich daher hier auf eine kurze Ueberſicht der wichtigſten Fort - ſchritte, welche die Entwickelungslehre im Laufe unſeres Jahr - hunderts gemacht hat; ſie zerfällt nach ihren Objekten in vier Haupttheile: ſie betrifft die natürliche Entſtehung 1. des Kosmos, 2. der Erde, 3. der irdiſchen Organismen und 4. des Menſchen.
278Kosmogoniſche Proceſſe. XIII.I. Moniſtiſche Kosmogenie. Den erſten „ Verſuch, die Verfaſſung und den mechaniſchen Urſprung des ganzen Welt - gebäudes nach Newton'ſchen Grundſätzen “— d. h. durch mathematiſche und phyſikaliſche Geſetze — in einfachſter Weiſe zu erklären, unternahm Immanuel Kant in ſeinem berühmten Jugendwerke, der „ Allgemeinen Naturgeſchichte und Theorie des Himmels “(1755). Leider blieb dieſes großartige und kühne Werk 90 Jahre hindurch faſt unbekannt; es wurde erſt 1845 durch Alexander Humboldt wieder ausgegraben, im erſten Bande ſeines „ Kosmos “. Inzwiſchen war aber der große fran - zöſiſche Mathematiker Pierre Laplace ſelbſtändig auf ähnliche Theorien wie Kant gekommen und führte dieſelben mit mathe - matiſcher Begründung weiter aus in ſeiner „ Expoſition du ſyſtème du monde “(1796). Sein Hauptwerk „ Mécanique céleſte “erſchien vor hundert Jahren. Die übereinſtimmenden Grundzüge der Kosmogenie von Kant und Laplace beruhen bekanntlich auf einer mechaniſchen Erklärung der Planeten - Bewegungen und der daraus abgeleiteten Annahme, daß alle Weltkörper urſprünglich aus rotirenden Nebelbällen durch Ver - dichtung entſtanden ſind. Dieſe „ Nebular-Hypotheſe “oder „ kosmologiſche Gas-Theorie “iſt zwar ſpäter vielfach verbeſſert und ergänzt worden, ſie beſteht aber noch heute un - erſchüttert als der beſte von allen Verſuchen, die Entſtehung des Weltgebäudes einheitlich und mechaniſch zu erklären*)Vergl. Wilhelm Bölſche, Entwickelungsgeſchichte der Natur. I. Bd. 1894.. In neueſter Zeit hat dieſelbe eine bedeutungsvolle Ergänzung und zugleich Verſtärkung durch die Annahme gewonnen, daß dieſer kosmogoniſche Proceß nicht nur einmal ſtattgefunden, ſondern ſich periodiſch wiederholt hat. Während in gewiſſen Theilen des unendlichen Weltraumes aus rotirenden Nebelbällen neue Weltkörper entſtehen und ſich entwickeln, werden in anderen279XIII. Anfang und Ende der Welt.Theilen desſelben umgekehrt alte, erkaltete und abgeſtorbene Weltkörper durch Zuſammenſtoß wieder zerſtäubt und in diffuſe Nebelmaſſen aufgelöſt*)Zehnder, Die Mechanik des Weltalls. 1897..
Anfang und Ende der Welt. Faſt alle älteren und neueren Kosmogenien und ſo auch die meiſten, die ſich an Kant und Laplace anſchloſſen, gingen von der herrſchenden Anſicht aus, daß die Welt einen Anfang gehabt habe. So hätte ſich „ im Anfang “nach einer vielverbreiteten Form der „ Nebular - Hypotheſe “urſprünglich ein ungeheurer Nebelball aus äußerſt dünner und leichter Materie gebildet, und in einem beſtimmten Zeitpunkte („ vor unendlich langer Zeit “) habe in dieſem eine Rotations-Bewegung angefangen. Iſt der „ erſte Anfang “dieſer kosmogenen Bewegung erſt einmal gegeben, ſo laſſen ſich dann nach jenen mechaniſchen Principien die weiteren Vorgänge in der Bildung der Weltkörper, der Sonderung der Planeten-Syſteme u. ſ. w. ſicher ableiten und mathematiſch begründen. Dieſer erſte „ Urſprung der Bewegung “iſt das zweite „ Welt - räthſel “von Du Bois-Reymond; er erklärt dasſelbe für transcendent. Auch viele andere Naturforſcher und Philo - ſophen kommen um dieſe Schwierigkeit nicht herum und reſigniren mit dem Geſtändniß, daß man hier einen erſten „ übernatürlichen Anſtoß “, alſo ein „ Wunder “annehmen müſſe.
Nach unſerer Anſicht wird dieſes „ zweite Welträthſel “durch die Annahme gelöſt, daß die Bewegung ebenſo eine immanente und urſprüngliche Eigenſchaft der Subſtanz iſt wie die Empfindung (S. 259). Die Berechtigung zu dieſer moniſtiſchen Annahme finden wir erſtens im Subſtanz-Geſetz und zweitens in den großen Fortſchritten, welche die Aſtronomie und Phyſik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht haben. Durch die Spektral-Analyſe von Bunſen und Kirch -280Entwickelung der Stern-Syſteme. XIII. hoff (1860) haben wir nicht nur erfahren, daß die Millionen Weltkörper, welche den unendlichen Weltraum erfüllen, aus den - ſelben Materien beſtehen wie unſere Sonne und Erde, ſondern auch, daß ſie ſich in verſchiedenen Zuſtänden der Entwickelung befinden; wir haben ſogar mit ihrer Hülfe Kenntniſſe über die Bewegungen und Entfernungen der Fixſterne gewonnen, welche durch das Fernrohr allein nicht erkannt werden konnten. Ferner iſt das Teleſkop ſelbſt ſehr bedeutend verbeſſert worden und hat uns mit Hülfe der Photographie eine Fülle von aſtro - nomiſchen Entdeckungen geſchenkt, welche im Beginne unſeres Jahrhunderts noch nicht geahnt werden konnten. Insbeſondere hat die beſſere Kenntniß der Kometen und Sternſchnuppen, der Sternhaufen und Nebelflecke uns die große Bedeutung der kleinen Weltkörper kennen gelehrt, welche zu Milliarden zwiſchen den größeren Sternen im Weltraum vertheilt ſind.
Wir wiſſen jetzt auch, daß die Bahnen der Millionen von Weltkörpern veränderlich und zum Theil unregelmäßig ſind, während man früher die Planeten-Syſteme als beſtändig be - trachtete und die rotirenden Bälle in ewiger Gleichmäßigkeit ihre Kreiſe beſchreiben ließ. Wichtige Aufſchlüſſe verdankt die Aſtro - phyſik aber auch den gewaltigen Fortſchritten in anderen Gebieten der Phyſik, vor Allem in der Optik und Elektrik, ſowie in der dadurch geförderten Aether-Theorie. Endlich und vor Allem er - weiſt ſich auch hier wieder als größter Fortſchritt unſerer Natur - Erkenntniß das univerſale Subſtanz-Geſetz. Wir wiſſen jetzt, daß dasſelbe ebenſo überall in den fernſten Welträumen unbedingte Geltung hat wie in unſerem Planeten-Syſtem, ebenſo in dem kleinſten Theilchen unſerer Erde wie in der kleinſten Zelle unſeres menſchlichen Körpers. Wir ſind aber auch zu der wichtigen Annahme berechtigt und logiſch gezwungen, daß die Erhaltung der Materie und der Energie zu allen Zeiten ebenſo allgemein beſtanden hat, wie ſie heute ohne Ausnahme beſteht. 281XIII. Entwickelung des Kosmos.In alle Ewigkeit war, iſt und bleibt das unend - liche Univerſum dem Subſtanz-Geſetz unterworfen.
Aus allen dieſen gewaltigen Fortſchritten der Aſtronomie und Phyſik, die ſich gegenſeitig erläutern und ergänzen, ergiebt ſich eine Reihe von überaus wichtigen Schlüſſen über die Zu - ſammenſetzung und Entwickelung des Kosmos, über die Beharrung und Umbildung der Subſtanz. Wir faſſen dieſelben kurz in folgenden Theſen zuſammen: I. Der Weltraum iſt unendlich groß und unbegrenzt; er iſt nirgends leer, ſondern allenthalben mit Subſtanz erfüllt. II. Die Weltzeit iſt ebenfalls unendlich und unbegrenzt; ſie hat keinen Anfang und kein Ende, ſie iſt Ewigkeit. III. Die Subſtanz befindet ſich überall und jeder Zeit in ununterbrochener Bewegung und Veränderung; nirgends herrſcht vollkommene Ruhe und Starre; dabei bleibt aber die unendliche Quantität der Materie ebenſo unverändert wie die - jenige der ewig wechſelnden Energie. IV. Die Univerſal - Bewegung der Subſtanz im Weltraum iſt ein ewiger Kreislauf mit periodiſch ſich wiederholenden Entwickelungs-Zuſtänden. V. Dieſe Phaſen beſtehen in einem periodiſchen Wechſel der Aggregat-Zuſtände, wobei zunächſt die primäre Sonderung von Maſſe und Aether eintritt (die Ergonomie von ponderabler und imponderabler Materie). VI. Dieſe Sonderung beruht auf einer fortſchreitenden Verdichtung der Materie, der Bil - dung von unzähligen kleinſten Verdichtungs-Centren, wobei die immanenten Ureigenſchaften der Subſtanz die bewirkenden Ur - ſachen ſind: Fühlung und Strebung. VII. Während in einem Theile des Weltraums durch dieſen pyknotiſchen Proceß zunächſt kleine, weiterhin größere Weltkörper entſtehen und der Aether zwiſchen ihnen in höhere Spannung tritt, erfolgt gleichzeitig in dem anderen Theile der entgegengeſetzte Proceß, die Zerſtörung von Weltkörpern, welche auf einander ſtoßen. VIII. Die un - geheuren Wärme-Quantitäten, welche durch dieſe mechaniſchen282Entwickelung des Kosmos. XIII. Proceſſe bei den Zuſammenſtößen der rotirenden Weltkörper erzeugt werden, ſtellen die neuen lebendigen Kräfte dar, welche die Bewegung der dabei gebildeten kosmiſchen Staubmaſſen und die Neubildung rotirender Bälle bewirken; das ewige Spiel beginnt wieder von Neuem. Auch unſere Mutter Erde, die vor Millionen von Jahrtauſenden aus einem Theile des rotirenden Sonnen-Syſtems entſtanden iſt, wird nach Verfluß weiterer Millionen erſtarren und, nachdem ihre Bahn immer kleiner geworden, in die Sonne ſtürzen.
Beſonders wichtig für die klare Einſicht in den univerſalen kosmiſchen Entwickelungs-Proceß ſcheinen mir dieſe modernen Vorſtellungen über periodiſch wechſelnden Untergang und Neu - bildung der Weltkörper, die wir den gewaltigen neueren Fort - ſchritten der Phyſik und Aſtronomie verdanken, in Verbindung mit dem Subſtanz-Geſetz. Unſere Mutter „ Erde “ſchrumpft dabei auf den Werth eines winzigen „ Sonnenſtäubchens “zu - ſammen, wie deren ungezählte Millionen im unendlichen Welten - raum umherjagen. Unſer eigenes „ Menſchenweſen “, welches in ſeinem anthropiſtiſchen Größenwahn ſich als „ Ebenbild Gottes “verherrlicht, ſinkt zur Bedeutung eines placentalen Säugethiers hinab, welches nicht mehr Werth für das ganze Univerſum beſitzt als die Ameiſe und die Eintagsfliege, als das mikroſkopiſche Infuſorium und der winzigſte Bacillus. Auch wir Menſchen ſind nur vorübergehende Entwickelungs-Zuſtände der ewigen Subſtanz, individuelle Erſcheinungsformen der Materie und Energie, deren Nichtigkeit wir begreifen, wenn wir ſie dem unendlichen Raum und der ewigen Zeit gegenüberſtellen.
Raum und Zeit. Seitdem Kant die Begriffe von Raum und Zeit als bloße „ Formen der Anſchauung “erklärt hat — den Raum als Form der äußeren, die Zeit als Form der inneren Anſchauung —, hat ſich über dieſe wichtigen Probleme der Erkenntniß ein gewaltiger Streit erhoben, der auch heute noch283XIII. Raum und Zeit.fortdauert. Bei einem großen Theile der modernen Metaphyſiker hat ſich die Anſicht befeſtigt, daß dieſer „ kritiſchen That “als Ausgangspunkt einer „ rein idealiſtiſchen Erkenntniß-Theorie “die größte Bedeutung beizulegen ſei, und daß damit die natürliche Anſicht des geſunden Menſchen-Verſtandes von der Realität des Raumes und der Zeit widerlegt ſei. Dieſe einſeitige und ultraidealiſtiſche Auffaſſung jener beiden Grundbegriffe iſt die Quelle der größten Irrthümer geworden; ſie überſieht, daß Kant mit jenem Satze nur die eine Seite des Problems, die ſubjektive, ſtreifte, daneben aber die andere, die objektive, als gleichberechtigt anerkannte; er ſagte: „ Raum und Zeit haben empiriſche Realität, aber transſcendentale Ideali - tät. “ Mit dieſem Satze Kant's kann ſich unſer moderner Monismus wohl einverſtanden erklären, nicht aber mit jener einſeitigen Geltendmachung der ſubjektiven Seite des Problems; denn dieſe führt in ihrer Konſequenz zu jenem abſurden Idealis - mus, der in Berkeley's Satze gipfelt: „ Körper ſind nur Vor - ſtellungen, ihr Daſein beſteht im Wahrgenommenwerden. “ Dieſer Satz ſollte heißen: „ Körper ſind für mein perſönliches Bewußt - ſein nur Vorſtellungen; ihr Daſein iſt ebenſo real wie dasjenige meiner Denkorgane, nämlich der Ganglienzellen des Großhirns, welche die Eindrücke der Körper auf meine Sinnesorgane auf - nehmen und durch Aſſocion derſelben jene Vorſtellungen bilden. “ Ebenſo gut, wie ich die „ Realität von Raum und Zeit “bezweifle, oder gar leugne, kann ich auch diejenige meines eigenen Bewußt - ſeins leugnen; im Fieber-Delirium, in Hallucinationen, im Traum, im Doppelbewußtſein halte ich Vorſtellungen für wahr, welche nicht real, ſondern „ Einbildungen “ſind; ich halte ſogar meine eigene Perſon für eine andere (S. 214); das berühmte „ Cogito ergo ſum “gilt hier nicht mehr. Dagegen iſt die Realität von Raum und Zeit jetzt endgültig bewieſen durch die Er - weiterung unſerer Weltanſchauung, welche wir dem Subſtanz -284Univerſum perpetuum mobile. XIII. Geſetz und der moniſtiſchen Kosmogenie verdanken. Nachdem wir die unhaltbare Vorſtellung vom „ leeren Raum “glücklich abge - ſtreift haben, bleibt uns als das unendliche „ raumerfüllende Medium “die Materie, und zwar in ihren beiden Formen: Aether und Maſſe. Und ebenſo betrachten wir auf der anderen Seite als das „ zeiterfüllende Geſchehen “die ewige Bewegung oder genetiſche Energie, welche ſich in der ununter - brochenen Entwickelung der Subſtanz äußert, in dem „ Per - petuum mobile “des Univerſum.
Univerſum perpetuum mobile. Da jeder bewegte Körper ſeine Bewegung ſo lange fortſetzt, als ihn nicht äußere Umſtände daran hindern, kam der Menſch ſchon vor Jahrtauſenden auf den Gedanken, Apparate zu bauen, die ſich, einmal in Bewegung geſetzt, immerfort in derſelben Weiſe weiter bewegen. Man überſah dabei, daß jede Bewegung auf äußere Hinderniſſe ſtößt und allmählich aufhört, wenn nicht ein neuer Anſtoß von außen erfolgt, wenn nicht eine neue Kraft zugeführt wird, die jene Hinderniſſe überwindet. So würde z. B. ein ſchwingendes Pendel in Ewigkeit mit derſelben Geſchwindigkeit ſich hin und her be - wegen, wenn nicht der Widerſtand der Luft und die Reibung im Aufhängungspunkte die mechaniſche lebendige Kraft ſeiner Bewegung allmählich aufhöben und in Wärme verwandelten. Wir müſſen ihm durch einen neuen Anſtoß (oder bei der Pendel - uhr durch Aufziehen des Gewichtes) neue mechaniſche Kraft zu - führen. Daher iſt die Konſtruktion einer Maſchine, welche ohne äußere Hülfe einen Arbeitsüberſchuß erzeugt, durch den ſie ſich ſelbſt immerfort im Gang erhält, unmöglich. Alle Verſuche, ein ſolches Perpetuum mobile zu bauen, mußten fehlſchlagen; die Erkenntniß des Subſtanz-Geſetzes bewies ſodann auch theoretiſch die Unmöglichkeit desſelben.
Anders verhält es ſich aber, wenn wir den Kosmos als Ganzes in's Auge faſſen, das unendliche Weltall, welches in285XIII. Univerſum perpetuum mobile. ewiger Bewegung begriffen iſt. Die unendliche Materie, welche objektiv denſelben erfüllt, nennen wir in unſerer ſubjektiven Vor - ſtellung „ Raum “; die ewige Bewegung derſelben, die objektiv eine periodiſche, in ſich ſelbſt zurückkehrende Entwickelung dar - ſtellt, nennen wir ſubjektiv „ Zeit “. Dieſe beiden „ Formen der Anſchauung “überzeugen uns von der Unendlichkeit und Ewigkeit des Weltalls. Damit iſt aber zugleich geſagt, daß das ganze Univerſum ſelbſt ein allumfaſſendes Perpetuum mobile iſt. Dieſe unendliche und ewige „ Maſchine des Weltalls “erhält ſich ſelbſt in ewiger und ununterbrochener Bewegung, weil jedes Hinderniß durch ein „ Aequivalent der Energie “ausgeglichen wird, weil die unendlich große Summe der aktuellen und potentiellen Energie ewig dieſelbe bleibt. Das Geſetz von der Erhaltung der Kraft beweiſt alſo, daß die Vorſtellung des Perpetuum mobile für den ganzen Kosmos ebenſo wahr und fundamental bedeutend iſt, wie ſie für die iſolirte Aktion eines Theiles desſelben unmöglich iſt. Dadurch wird auch die Lehre von der Entropie widerlegt.
Entropie des Weltalls. Der ſcharfſinnige Begründer der mechaniſchen Wärmetheorie (1850), Clauſius, faßte den wichtigſten Inhalt dieſer bedeutungsvollen Lehre in zwei Hauptſätzen zuſammen. Der erſte Hauptſatz lautet: „ Die Energie des Weltalls iſt konſtant “; er bildet die eine Hälfte unſeres Subſtanz-Geſetzes, das „ Energie-Princip “(S. 265). Der zweite Hauptſatz behauptet: „ Die Energie des Weltalls ſtrebt einem Maximum zu “; dieſer zweite Hauptſatz iſt nach unſerer Anſicht ebenſo irrig, wie der erſte richtig iſt. Nach der Anſicht von Clauſius zerfällt die Geſammt-Energie des Weltalls in zwei Theile, von denen der eine (als Wärme von höherer Temperatur, als mechaniſche, elektriſche, chemiſche Energie u. ſ. w.) noch theilweiſe in Arbeit umſetzbar iſt, der andere dagegen nicht; dieſe letztere, die bereits286Entropie des Weltalls. XIII. in Wärme verwandelte und in kälteren Körpern angeſammelte Energie iſt für weitere Arbeitsleiſtung unwiederbringlich verloren. Dieſen unverbrauchten Energie-Theil, der nicht mehr in mecha - niſche Arbeit umgeſetzt werden kann, nennt Clauſius Entropie (d. h. die nach innen gewendete Kraft); er wächſt beſtändig auf Koſten des erſten Theils. Da nun tagtäglich immer mehr mecha - niſche Energie des Weltalls in Wärme übergeht und dieſe nicht in die erſtere zurückverwandelt werden kann, muß die geſammte (unendliche!) Quantität der Wärme und Energie immer mehr zerſtreut und herabgeſetzt werden. Alle Temperatur-Unterſchiede müßten zuletzt verſchwinden und die völlig gebundene Wärme gleichmäßig in einem einzigen trägen Klumpen von ſtarrer Materie verbreitet ſein; alles organiſche Leben und alle organiſche Be - wegung würde aufgehört haben, wenn dieſes Maximum der Entropie erreicht wäre; das wahre „ Ende der Welt “wäre da.
Wenn dieſe Lehre von der Entropie richtig wäre, ſo müßte dem angenommenen „ Ende der Welt “auch ein urſprünglicher „ Anfang “derſelben entſprechen, ein Minimum der En - tropie, in welchem die Temperatur-Differenzen der geſonderten Welttheile die größten waren. Beide Vorſtellungen ſind nach unſerer moniſtiſchen und ſtreng konſequenten Auffaſſung des ewigen kosmogenetiſchen Proceſſes gleich unhaltbar; beide wider - ſprechen dem Subſtanz-Geſetz. Es giebt einen Anfang der Welt ebenſo wenig als ein Ende derſelben. Wie das Univerſum un - endlich iſt, ſo bleibt es auch ewig in Bewegung; ununterbrochen findet eine Verwandlung der lebendigen Kraft in Spannkraft ſtatt und umgekehrt; und die Summe dieſer aktuellen und poten - tiellen Energie bleibt immer dieſelbe. Der zweite Hauptſatz der mechaniſchen Wärme-Theorie widerſpricht dem erſten und muß aufgegeben werden.
Die Vertheidiger der Entropie behaupten dieſelbe dagegen mit Recht, ſobald ſie nur einzelne Proceſſe ins Auge faſſen,287XIII. Entropie des Weltalls.bei welchen unter gewiſſen Bedingungen die gebundene Wärme nicht in Arbeit zurückverwandelt werden kann. So kann z. B. bei der Dampfmaſchine die Wärme nur dann in mechaniſche Arbeit umgewandelt werden, wenn ſie aus einem wärmeren Körper (Dampf) in einen kälteren (Kühlwaſſer) übergeht, aber nicht umgekehrt. Im großen Ganzen des Weltalls herrſchen aber ganz andere Verhältniſſe; hier ſind Bedingungen gegeben, in denen auch die umgekehrte Verwandlung der latenten Wärme in mechaniſche Arbeit ſtattfinden kann. So werden z. B. beim Zuſammenſtoße von zwei Weltkörpern, die mit ungeheurer Ge - ſchwindigkeit auf einander treffen, koloſſale Wärme-Mengen frei, während die zerſtäubten Maſſen in den Weltraum hinaus - geſchleudert und zerſtreut werden. Das ewige Spiel der rotirenden Maſſen mit Verdichtung der Theile, Ballung neuer kleiner Meteo - riten, Vereinigung derſelben zu größeren u. ſ. w. beginnt dann von Neuem*)Zehnder, Die Mechanik des Weltalls. 1897..
II. Moniſtiſche Geogenie. Die Entwickelungsgeſchichte der Erde, auf die wir jetzt noch einen flüchtigen Blick werfen, bildet nur einen winzig kleinen Theil von derjenigen des Kosmos. Sie iſt zwar auch gleich dieſer ſeit mehreren Jahrtauſenden Gegen - ſtand der philoſophiſchen Spekulation und noch mehr der mytho - logiſchen Dichtung geweſen; aber ihre wirklich wiſſenſchaftliche Erkenntniß iſt viel jünger und ſtammt zum weitaus größten Theile aus unſerem 19. Jahrhundert. Im Princip war die Natur der Erde, als eines Planeten der um die Sonne kreiſt, ſchon durch das Weltſyſtem des Kopernikus (1543) beſtimmt; durch Galilei, Keppler und andere große Aſtronomen war ihr Abſtand von der Sonne, ihr Bewegungs-Geſetz u. ſ. w. mathematiſch feſtgeſtellt. Auch war bereits durch die Kosmogenie von Kant und Laplace der Weg gezeigt, auf welchem ſich288Geſchichte der Erde. XIII. die Erde aus der Mutter Sonne entwickelt hatte. Aber die ſpätere Geſchichte unſeres Planeten, die Umbildung ſeiner Ober - fläche, die Entſtehung der Kontinente und Meere, der Gebirge und Wüſten war noch zu Ende des 18. und in den erſten beiden Decennien des 19. Jahrhunderts nur wenig Gegenſtand ernſter wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen geweſen; meiſtens begnügte man ſich mit ziemlich unſicheren Vermuthungen oder mit der Annahme der traditionellen Schöpfungsſagen; insbeſondere war es auch hier wieder der Glaube an die moſaiſche Schöpfungsgeſchichte, welcher der ſelbſtändigen Forſchung von vornherein den Weg zur wahren Erkenntniß verlegte.
Erſt im Jahre 1822 erſchien ein bedeutendes Werk, welches zur wiſſenſchaftlichen Erforſchung der Erdgeſchichte diejenige Methode einſchlug, die ſich bald als die weitaus fruchtbarſte erwies, die ontologiſche Methode oder das Princip des Aktualismus*)Johannes Walther, Einleitung in die Geologie als hiſtoriſche Wiſſenſchaft. Jena 1893. S. XIV. . Sie beſteht darin, daß wir die Erſcheinungen der Gegenwart genau ſtudiren und benutzen, um dadurch die ähnlichen geſchichtlichen Vorgänge der Vergangenheit zu erklären. Die Geſellſchaft der Wiſſenſchaften zu Göttingen hatte daraufhin 1818 eine Preisaufgabe geſtellt für: „ Die gründlichſte und umfaſſendſte Unterſuchung über die Veränderungen der Erd - oberfläche, welche in der Geſchichte ſich nachweiſen laſſen, und die Anwendung, welche man von ihrer Kunde bei Erforſchung der Erdrevolutionen, die außer dem Gebiete der Geſchichte liegen, machen kann “. Die Löſung dieſer wichtigen Preisaufgabe ge - lang Karl Hoff aus Gotha in ſeinem ausgezeichneten Werke: „ Geſchichte der durch Ueberlieferung nachgewieſenen natürlichen Veränderungen der Erdoberfläche “(in vier Bänden, 1822-1834). In umfaſſendſter Weiſe und mit größtem Erfolge wurde dann die von ihm begründete ontologiſche oder aktualiſtiſche289XIII. Geſchichte der Erde.Methode auf das geſammte Gebiet der Geologie von dem großen engliſchen Geologen Charles Lyell angewendet; ſeine Principien der Geologie (1830) legten den feſten Grund, auf dem die folgende Geſchichte der Erde mit ſo glänzendem Erfolge weiterbaute*)Vergl. M. Neumayr, Erdgeſchichte. II. Aufl. Leipzig 1895.. Die bedeutungsvollen geogenetiſchen Forſchungen von Alexander Humboldt und Leopold Buch, von Guſtav Biſchof und Eduard Süß, wie von vielen anderen modernen Geologen ſtützen ſich ſämmtlich auf die feſten empiriſchen Grundlagen und ſpekulativen Principien, welche wir den bahnbrechenden Unterſuchungen von Karl Hoff und Charles Lyell verdanken; ſie machten der reinen, vernünftigen Wiſſenſchaft die Bahn frei auf dem Gebiete der Erdgeſchichte; ſie entfernten die gewaltigen Hinderniſſe, welche auch hier die mythologiſche Dichtung und die religiöſe Tradition aufgehäuft hatten, vor Allem die Bibel und die darauf gegründete chriſtliche Mythologie. Ich habe die großen Verdienſte von Charles Lyell und deſſen Beziehungen zu ſeinem Freunde Charles Darwin bereits im ſechſten und fünfzehnten Vortrage meiner Natürlichen Schöpfungsgeſchichte beſprochen; für die weitere Kennt - niß der Erdgeſchichte und der gewaltigen Fortſchritte, welche die dynamiſche und hiſtoriſche Geologie in unſerem Jahrhundert ge - macht haben, verweiſe ich auf die bekannten Werke von Süß, Neumayr, Credner und Johannes Walther (S. 270).
Als zwei Hauptabſchnitte der Erdgeſchichte müſſen wir vor Allem die anorganiſche und organiſche Geogenie unter - ſcheiden; die letztere beginnt mit dem erſten Auftreten lebender Weſen auf unſerem Erdball. Die anorganiſche Geſchichte der Erde, der ältere Abſchnitt, verlief in derſelben Weiſe wie diejenige der übrigen Planeten unſeres Sonnenſyſtems; ſie alle löſten ſich vom Aequator des rotirenden Sonnen-Körpers alsHaeckel, Welträthſel. 19290Geſchichte der Organismen. XIII. Nebelringe ab, welche ſich allmählich zu ſelbſtändigen Weltkörpern verdichteten. Aus dem gasförmigen Nebelball wurde durch Ab - kühlung der gluthflüſſige Erdball, und weiterhin entſtand an deſſen Oberfläche durch fortſchreitende Wärme-Ausſtrahlung die dünne feſte Rinde, welche wir bewohnen. Erſt nachdem die Temperatur an der Oberfläche bis zu einem gewiſſen Grade geſunken war, konnte ſich aus der umgebenden Dampfhülle das erſte tropfbar-flüſſige Waſſer niederſchlagen, und damit war die wichtigſte Vorbedingung für die Entſtehung des organiſchen Lebens gegeben. Viele Millionen Jahre — jedenfalls mehr als hundert! — ſind verfloſſen, ſeitdem dieſer bedeutungsvolle Vor - gang, der der Waſſerbildung, eintrat und damit die Einleitung zum dritten Hauptabſchnitt der Kosmogenie, zur Biogenie.
III. Moniſtiſche Biogenie. Der dritte Hauptabſchnitt der Weltentwickelung beginnt mit der erſten Entſtehung der Organismen auf unſerem Erdball und dauert ſeitdem ununter - brochen bis zur Gegenwart fort. Die großen Welträthſel, welche dieſer intereſſanteſte Theil der Erdgeſchichte uns vorlegt, galten noch im Anfange des 19. Jahrhunderts allgemein für unlösbar oder doch für ſo ſchwierig, daß ihre Löſung in weiteſter Ferne zu liegen ſchien; am Ende desſelben dürfen wir mit berechtigtem Stolze ſagen, daß ſie durch die moderne Biologie und ihren Transformismus im Princip gelöſt ſind; ja ſelbſt viele einzelne Erſcheinungen dieſes wunderbaren „ Lebensreiches “ſind heute ſo vollkommen phyſikaliſch erklärt wie irgend ein wohl - bekanntes phyſikaliſches Phänomen in der anorganiſchen Natur. Das Verdienſt, den erſten ausſichtsreichen Schritt auf dieſer ſchwierigen Bahn gethan und den Weg zur moniſtiſchen Löſung aller biologiſchen Probleme gezeigt zu haben, gebührt dem geiſt - vollen franzöſiſchen Naturforſcher Jean Lamarck; er veröffent - lichte 1809, im Geburtsjahre von Charles Darwin, ſeine gedankenreiche „ Philoſophie zoologique “. In dieſem originellen291XIII. Geſchichte der Organismen.Werke iſt nicht allein der großartige Verſuch gemacht, alle Er - ſcheinungen des organiſchen Lebens von einem einheitlichen, phyſikaliſchen Geſichtspunkte aus zu erklären, ſondern auch der Weg eröffnet, auf dem allein das ſchwierigſte Räthſel dieſes Gebietes gelöſt werden kann, das Problem von der natürlichen Entſtehung der organiſchen Species-Formen. Lamarck, der gleich ausgedehnte empiriſche Kenntniſſe in Zoologie und Botanik beſaß, entwarf hier zum erſten Male die Grundzüge der Ab - ſtammungslehre oder Deſcendenz-Theorie: er zeigte, wie alle die unzähligen Formen des Thier - und Pflanzenreiches durch allmähliche Umbildung aus gemeinſamen einfachſten Stamm - formen hervorgegangen ſind, und wie die allmähliche Veränderung der Geſtalten durch Anpaſſung, in Wechſelwirkung mit Ver - erbung, dieſe langſame Transmutation bewirkt hat.
Im fünften Vortrage meiner „ Natürlichen Schöpfungs - geſchichte “habe ich die Verdienſte von Lamarck nach Gebühr gewürdigt, im ſechſten und ſiebenten Vortrage diejenigen ſeines größten Nachfolgers, Charles Darwin (1859). Durch ihn wurden fünfzig Jahre ſpäter nicht nur alle wichtigen Hauptſätze der Deſcendenz-Theorie unwiderleglich begründet, ſondern auch durch Einführung der Selektions-Theorie oder Züchtungs - lehre die Lücke ausgefüllt, welche der Erſtere gelaſſen hatte. Der Erfolg, welchen Lamarck trotz aller Verdienſte nicht hatte er - langen können, wurde Darwin im reichſten Maße zu Theil; ſein epochemachendes Werk „ über den Urſprung der Arten durch natürliche Züchtung “hat im Laufe der letzten vierzig Jahre die ganze moderne Biologie von Grund aus umgeſtaltet und ſie auf eine Stufe der Entwickelung gehoben, welche derjenigen aller übrigen Naturwiſſenſchaften nichts nachgiebt. Darwin iſt der Kopernikus der organiſchen Welt geworden, wie ich ſchon 1868 ausſprach und, wie E. Du Bois-Reymond fünfzehn Jahre ſpäter wiederholte. (Vergl. „ Monismus “, S. 39.)
19 *292Abſtammung des Menſchen. XIII.IV. Moniſtiſche Anthropogenie. Als vierter und letzter Hauptabſchnitt der Weltentwickelung kann für uns Menſchen derjenige jüngſte Zeitraum gelten, innerhalb deſſen ſich unſer eigenes Geſchlecht entwickelt hat. Schon Lamarck (1809) hatte klar erkannt, daß dieſe Entwickelung vernünftiger Weiſe nur auf einem natürlichen Wege denkbar ſei, durch „ Abſtammung vom Affen “, als von dem nächſtverwandten Säugethiere. Huxley zeigte ſodann (1863) in ſeiner berühmten Abhandlung über „ die Stellung des Menſchen in der Natur “, daß dieſe bedeu - tungsvolle Annahme ein nothwendiger Folgeſchluß der Deſcendenz - Theorie und durch anatomiſche, embryologiſche und paläonto - logiſche Thatſachen wohlbegründet ſei; er erklärte dieſe „ Frage aller Fragen “im Princip für gelöſt. Darwin behandelte ſodann dieſelbe in geiſtreicher Weiſe von verſchiedenen Seiten in ſeinem Werke über „ die Abſtammung des Menſchen und die natürliche Zuchtwahl “(1871). Ich ſelbſt hatte ſchon in meiner Generellen Morphologie (1866) dieſem wichtigſten Special-Problem der Abſtammungslehre ein beſonderes Kapitel gewidmet. 1874 veröffentlichte ich meine Anthropogenie, in der zum erſten Male der Verſuch durchgeführt iſt, die Abſtammung des Menſchen durch ſeine ganze Ahnenreihe bis zur älteſten archigonen Moneren - Form hinauf zu verfolgen; ich ſtützte mich dabei gleichmäßig auf die drei großen Urkunden der Stammesgeſchichte, auf die ver - gleichende Anatomie, Ontogenie und Paläontologie (vierte Auf - lage 1891). Wie weit wir in den letzten Jahren durch zahlreiche wichtige Fortſchritte der anthropogenetiſchen Forſchung gekommen ſind, habe ich in dem Vortrage gezeigt, den ich 1898 auf dem internationalen Zoologen-Kongreſſe in Cambridge „ über unſere gegenwärtige Kenntniß vom Urſprung des Menſchen “gehalten habe (Bonn, ſiebente Auflage 1899).
Moniſtiſche Studien über die materielle und energetiſche Einheit des Kosmos. — Mechanismus und Vitalismus. — Ziel, Zweck und Zufall.
„ Alle uns bekannten Naturkörper, belebte und lebloſe, ſtimmen überein in allen weſentlichen Grundeigenſchaften. Die Unterſchiede, welche zwiſchen dieſen beiden Hauptgruppen (den orga - niſchen und anorganiſchen Körpern) hinſichtlich ihrer Formen und Funktionen exiſtiren, ſind ledig - lich die nothwendige Folge ihrer verſchiedenartigen chemiſchen Zuſammenſetzung. Die eigenthümlichen Bewegungs-Erſcheinungen und Formen des orga - niſchen Lebens ſind nicht der Ausfluß einer be - ſonderen ‚ Lebenskraft‘, ſondern lediglich die unmittelbaren oder mittelbaren Leiſtungen der Eiweißkörper (Plasma-Verbindungen) und an - derer komplicirter Verbindungen des Kohlen - ſtoffs. “(Generelle Morphologie (1866).)[294]
Monismus des Kosmos. Principielle Einheit der organiſchen und anorganiſchen Natur. Kohlenſtoff-Theorie (Karbogen-Theorie). Hypotheſe der Urzeugung (Archigonie). Mechaniſche und zweckthätige Urſachen. Mechanik und Teleologie bei Kant. Der Zweck in der organiſchen und anorganiſchen Natur. Vitalismus, Lebenskraft. Neovitalismus, Dominanten. Dysteleologie (Lehre von den rudimentären Organen). Unzweckmäßigkeit und Unvollkommen - heit der Natur. Zielſtrebigkeit in den organiſchen Körpern. Ihre Abweſen - heit in der Ontogeneſe und in der Phytogeneſe. Platoniſche Ideen. Sittliche Weltordnung, nicht nachzuweiſen in der organiſchen Erdgeſchichte, in der Wirbelthier-Geſchichte, in der Völker-Geſchichte. Vorſehung. Ziel, Zweck und Zufall.
Paul Holbach, Syſtem der Natur. Paris 1770. Deutſch Leipzig 1783.
Hermann Helmholtz, Populäre wiſſenſchaftliche Vorträge. I. -III. Heft. Braunſchweig 1865.
W. R. Grove, Die Verwandtſchaft der Naturkräfte. Braunſchweig 1871.
Philipp Spiller, Die Urkraft des Weltalls nach ihrem Weſen und Wirken auf allen Naturgebieten. Berlin 1876.
Philipp Spiller, Die Entſtehung der Welt und die Einheit der Naturkräfte. Populäre Kosmogenie. Berlin 1870.
Carl Nägeli, Mechaniſch-phyſiologiſche Theorie der Abſtammungslehre. München 1884.
Ludwig Zehnder, Die Entſtehung des Lebens, aus mechaniſchen Grund - lagen entwickelt. Freiburg i. B. 1899.
Ernſt Haeckel, Allgemeine Unterſuchungen über die Natur und erſte Ent - ſtehung der Organismen, ihr Verhältniß zu den Anorganen und ihre Eintheilung in Thiere und Pflanzen. (Zweites Buch der Generellen Morphologie, Bd. I, S. 109-238.) Berlin 1866.
Kosmos, Zeitſchrift für einheitliche Weltanſchauung auf Grund der Ent - wickelungslehre. Unter Mitwirkung von Charles Darwin und Ernſt Haeckel herausgegeben von Ernſt Krauſe. Bd. I-XIX. Berlin 1877 bis 1886.
Durch das Subſtanz-Geſetz iſt zunächſt die fundamentale Thatſache erwieſen, daß jede Naturkraft mittelbar oder unmittelbar in jede andere umgewandelt werden kann. Mechaniſche und chemiſche Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektricität können in einander übergeführt werden und erweiſen ſich nur als verſchiedene Erſcheinungs-Formen einer und derſelben Ur - kraft, der Energie. Daraus ergiebt ſich der bedeutungsvolle Satz von der Einheit aller Naturkräfte oder, wie wir auch ſagen können, dem „ Monismus der Energie “. Im geſammten Gebiete der Phyſik und Chemie iſt dieſer Fundamental - Satz jetzt allgemein anerkannt, ſoweit er die anorganiſchen Natur - körper betrifft.
Anders verhält ſich ſcheinbar die organiſche Welt, das bunte und formenreiche Gebiet des Lebens. Zwar liegt es auch hier auf der Hand, daß ein großer Theil der Lebens - erſcheinungen unmittelbar auf mechaniſche und chemiſche Energie, auf elektriſche und Licht-Wirkungen zurückzuführen iſt. Für einen anderen Theil derſelben aber wird das auch heute noch beſtritten, ſo vor Allem für das Welträthſel des Seelenlebens, ins - beſondere des Bewußtſeins. Hier iſt es nun das hohe Verdienſt der modernen Entwickelungslehre, die Brücke zwiſchen den beiden, ſcheinbar getrennten Gebieten geſchlagen zu haben. Wir ſind jetzt zu der klaren Ueberzeugung gelangt, daß auch alle Er -296Monismus des Kosmos. XIV. ſcheinungen des organiſchen Lebens ebenſo dem univerſalen Subſtanz-Geſetz unterworfen ſind wie die anorganiſchen Phänomene im unendlichen Kosmos.
Die Einheit der Natur, die hieraus folgt, die Ueberwin - dung des früheren Dualismus, iſt ſicher eines der werthvollſten Ergebniſſe unſerer modernen Genetik. Ich habe dieſen „ Monismus des Kosmos “, die principielle „ Einheit der organiſchen und anorganiſchen Natur “ſchon vor 33 Jahren ſehr eingehend zu begründen verſucht, indem ich die Uebereinſtimmung der beiden großen Naturreiche in Beziehung auf Stoffe, Formen und Kräfte einer eingehenden kritiſchen Prüfung und Vergleichung unterzog*)E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. 1866. Zweites Buch, Fünftes Kapitel, S. 108-191.. Einen kurzen Auszug ihrer Ergebniſſe enthält der fünfzehnte Vortrag meiner „ Natürlichen Schöpfungsgeſchichte “. Während die hier entwickelten Anſchauungen von der großen Mehrzahl der Naturforſcher gegenwärtig angenommen ſind, iſt doch neuerdings von mehreren Seiten der Verſuch gemacht worden, dieſelben zu bekämpfen und den alten Gegenſatz von zwei verſchiedenen Natur-Gebieten aufrecht zu erhalten. Den konſequenteſten derartigen Verſuch enthält das kürzlich erſchienene Werk des Botanikers Reinke: „ Die Welt als That “**)F. Reinke, Die Welt als That. Umriſſe einer Weltanſicht auf naturwiſſenſchaftlichen Grundlagen. Berlin 1899. (484 Seiten).. Das - ſelbe vertritt in lobenswerther Klarheit und Konſequenz den reinen kosmologiſchen Dualismus und beweiſt damit ſelbſt, wie gänzlich unhaltbar die damit verknüpfte teleologiſche Weltanſchauung iſt. In dem ganzen Gebiete der anorganiſchen Natur ſollen danach nur phyſikaliſche und chemiſche Kräfte wirken, in demjenigen der organiſchen Natur daneben noch „ intelligente Kräfte “, die Richtkräfte oder Dominanten. Nur im erſteren Gebiete ſoll das Subſtanz-Geſetz Geltung haben, im297XIV. Kohlenſtoff-Theorie.letzteren nicht. In der Hauptſache handelt es ſich auch hier wieder um den uralten Gegenſatz der mechaniſchen und teleologiſchen Weltanſchauung. Bevor wir auf denſelben eingehen, wollen wir kurz auf zwei andere Theorien hinweiſen, welche nach meiner Ueberzeugung für die Entſcheidung dieſer wichtigen Probleme ſehr werthvoll ſind, die Kohlenſtoff-Theorie und die Urzeugungs-Lehre.
Kohlenſtoff-Theorie (Karbogen-Theorie). Die phyſio - logiſche Chemie hat im Laufe der letzten vierzig Jahre durch unzählige Analyſen folgende fünf Thatſachen feſtgeſtellt: I. In den organiſchen Naturkörpern kommen keine anderen Elemente vor als in den anorganiſchen; II. Diejenigen Verbindungen der Elemente, welche den Organismen eigenthümlich ſind, und welche ihre „ Lebenserſcheinungen “bewirken, ſind zuſammengeſetzte Plasma-Körper, aus der Gruppe der Albuminate oder Eiweiß - Verbindungen. III. Das organiſche Leben ſelbſt iſt ein chemiſch - phyſikaliſcher Proceß, der auf dem Stoffwechſel dieſer plasmatiſchen Albuminate beruht. IV. Dasjenige Element, welches allein im Stande iſt, dieſe zuſammengeſetzten Eiweißkörper in Verbindung mit anderen Elementen (Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Stickſtoff, Schwefel) aufzubauen, iſt der Kohlenſtoff. V. Dieſe plasmatiſchen Kohlenſtoff-Verbindungen zeichnen ſich vor den meiſten andern chemiſchen Verbindungen durch ihre ſehr komplicirte Molekular - Struktur aus, durch ihre Unbeſtändigkeit und ihren gequollenen Aggregat-Zuſtand. Auf Grund dieſer fünf fundamentalen That - ſachen ſtellte ich vor 33 Jahren folgende Karbogen-Theorie auf: „ Lediglich die eigenthümlichen, chemiſch-phyſikaliſchen Eigen - ſchaften des Kohlenſtoffs — und namentlich der feſtflüſſige Aggregatzuſtand und die leichte Zerſetzbarkeit der höchſt zuſammen - geſetzten eiweißartigen Kohlenſtoff-Verbindungen — ſind die mecha - niſchen Urſachen jener eigenthümlichen Bewegungs-Erſcheinungen, durch welche ſich die Organismen von den Anorganen unter -298Urzeugung oder Archigonie. XIV. ſcheiden, und die man im engeren Sinne das Leben nennt “(Natürl. Schöpfungsgeſch. IX. Aufl., S. 357). Obwohl dieſe „ Kohlenſtoff-Theorie “von mehreren Biologen heftig angegriffen worden iſt, hat doch bisher Keiner eine beſſere moniſtiſche Theorie an deren Stelle geſetzt. Heute, wo wir die phyſiologiſchen Ver - hältniſſe des Zellenlebens, die Chemie und Phyſik des lebendigen Plasma viel beſſer und gründlicher kennen als vor 33 Jahren, läßt ſich die Karbogen-Theorie viel eingehender und ſicherer be - gründen als es damals möglich war.
Archigonie oder Urzeugung. Der alte Begriff der Ur - zeugung (Generatio ſpontanea oder aequivoca) wird heute noch in ſehr verſchiedenem Sinne verwendet; gerade die Unklarheit über dieſen Begriff und die widerſprechende Anwendung desſelben auf ganz verſchiedene, alte und neue Hypotheſen, ſind ſchuld daran, daß dieſes wichtige Problem zu den beſtrittenſten und konfuſeſten Fragen der ganzen Naturwiſſen - ſchaft bis auf den heutigen Tag gehört. Ich beſchränke den Begriff der Urzeugung — als Archigonie oder Abio - geneſis! — auf die erſte Entſtehung von lebendem Plasma aus anorganiſchen Kohlenſtoff-Verbindungen und unterſcheide als zwei Haupt-Perioden in dieſem „ Beginn der Biogeneſis “: I. die Autogonie, die Entſtehung von einfachſten Plasma - Körpern in einer anorganiſchen Bildungsflüſſigkeit, und II. die Plasmogonie, die Individualiſirung von primitivſten Or - ganismen aus jenen Plasma-Verbindungen, in Form von Moneren. Ich habe dieſe wichtigen, aber auch ſehr ſchwierigen Probleme im 15. Kapitel meiner Natürlichen Schöpfungs - geſchichte ſo eingehend behandelt, daß ich hier darauf verweiſen kann. Eine ſehr ausführliche und ſtreng wiſſenſchaftliche Er - örterung derſelben habe ich bereits 1866 in der Generellen Morphologie gegeben (Bd. I, S. 167-190); ſpäter hat Naegeli in ſeiner Mechaniſch-phyſiologiſchen Theorie der Abſtammungs -299XIV. Teleologie und Mechanik.lehre (1884) die Hypotheſe der Urzeugung ganz in demſelben Sinne ſehr eingehend behandelt und als eine unentbehrliche Annahme der natürlichen Entwickelungs-Theorie bezeichnet. Ich ſtimme vollkommen ſeinem Satze bei: „ Die Urzeugung leugnen heißt das Wunder verkünden. “
Teleologie und Mechanik. Sowohl die Hypotheſe der Urzeugung als die eng damit verknüpfte Kohlenſtoff-Theorie be - ſitzen die größte Bedeutung für die Entſcheidung des alten Kampfes zwiſchen der teleologiſchen (dualiſtiſchen) und der mechaniſchen (moniſtiſchen) Beurtheilung der Er - ſcheinungen. Seit Darwin uns vor vierzig Jahren durch ſeine Selektions-Theorie den Schlüſſel zur moniſtiſchen Er - klärung der Organiſation in die Hand gab, ſind wir in den Stand geſetzt, die bunte Mannigfaltigkeit der zweckmäßigen Ein - richtungen in der lebendigen Körperwelt ebenſo auf natürliche mechaniſche Urſachen zurückzuführen, wie dies vorher nur in der anorganiſchen Natur möglich war. Die übernatürlichen zweck - thätigen Urſachen, zu welchen man früher ſeine Zuflucht hatte nehmen müſſen, ſind dadurch überflüſſig geworden. Trotzdem fährt die moderne Metaphyſik fort, die letzteren als unentbehrlich und die erſteren als unzureichend zu bezeichnen.
Werkurſachen (Cauſae efficienteſ) und Endurſachen (Cauſae finaleſ). Den tiefen Gegenſatz zwiſchen den be - wirkenden Urſachen (oder Werkurſachen) und den zweckthätigen Urſachen (oder Endurſachen) hat mit Bezug auf die Erklärung der Geſammtnatur kein neuerer Philoſoph ſchärfer hervorgehoben als Immanuel Kant. In ſeinem berühmten Jugendwerke, der „ Allgemeinen Naturgeſchichte und Theorie des Himmels “, hatte er 1755 den kühnen Verſuch unternommen, „ die Verfaſſung und den mechaniſchen Urſprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton'ſchen Grundſätzen abzuhandeln “. Dieſe „ kosmologiſche Gastheorie “ſtützte ſich ganz auf die mechaniſchen Bewegungs -300Atheiſtiſche Naturwiſſenſchaften. XIV. Erſcheinungen der Gravitation; ſie wurde ſpäter von dem großen Aſtronomen und Mathematiker Laplace weiter ausgebildet und mathematiſch begründet. Als dieſer von Napoleon I. gefragt wurde, welche Stelle in ſeinem Syſtem Gott, der Schöpfer und Erhalter des Weltalls, einnehme, antwortete er klar und ehrlich: „ Sire, ich bedarf dieſer Hypotheſe nicht. “ Damit war der atheiſtiſche Charakter dieſer mechaniſchen Kosmo - genie, den ſie mit allen anorganiſchen Wiſſenſchaften theilt, offen anerkannt. Dies muß um ſo mehr hervorgehoben werden, als die Kant-Laplace'ſche Theorie noch heute in faſt all - gemeiner Geltung ſteht; alle Verſuche, ſie durch eine beſſere zu erſetzen, ſind fehlgeſchlagen. Wenn man den Atheismus noch heute in weiten Kreiſen als einen ſchweren Vorwurf betrachtet, ſo trifft dieſer die geſammte moderne Naturwiſſenſchaft, inſofern ſie die anorganiſche Welt unbedingt mechaniſch erklärt.
Der Mechanismus allein (im Sinne Kant's!) gibt uns eine wirkliche Erklärung der Natur-Erſcheinungen, in - dem er dieſelben auf reale Werkurſachen zurückführt, auf blinde und bewußtlos wirkende Bewegungen, welche durch die materielle Konſtitution der betreffenden Naturkörper ſelbſt bedingt ſind. Kant ſelbſt betont, daß es „ ohne dieſen Mechanismus der Natur keine Naturwiſſenſchaft geben kann “, und daß die Be - fugniß der menſchlichen Vernunft zur mechaniſchen Erklärung aller Erſcheinungen unbeſchränkt ſei. Als er aber ſpäter in ſeiner Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft die Erklärung der verwickelten Erſcheinungen in der organiſchen Natur beſprach, behauptete er, daß dafür jene mechaniſchen Urſachen nicht aus - reichend ſeien; hier müſſe man zweckmäßig wirkende Endurſachen zu Hülfe nehmen. Zwar ſei auch hier die Befugniß unſerer Vernunft zur mechaniſchen Erklärung anzuerkennen, aber ihr Vermögen ſei begrenzt. Allerdings geſtand er ihr theilweiſe dieſes Vermögen zu, aber für den größten Theil der Lebens -301XIV. Mechaniſtiſche Naturwiſſenſchaften.erſcheinungen (und beſonders für die Seelenthätigkeit des Menſchen) hielt er die Annahme von Endurſachen unentbehrlich. Der merk - würdige § 79 der Kritik der Urtheilskraft trägt die charakteriſtiſche Ueberſchrift: „ Von der nothwendigen Unterordnung des Princips des Mechanismus unter das teleologiſche in Erklärung eines Dinges als Naturzweck. “ Die zweckmäßigen Einrichtungen im Körperbau der organiſchen Weſen ſchienen Kant ohne Annahme übernatürlichen Endurſachen (d. h. alſo einer planmäßig wirkenden Schöpferkraft) ſo unerklärlich, daß er ſagte: „ Es iſt ganz gewiß, daß wir die organiſirten Weſen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechaniſchen Principien der Natur nicht einmal zu - reichend kennen, viel weniger uns erklären können, und zwar ſo gewiß, daß man dreiſt ſagen kann: Es iſt für Menſchen ungereimt, auch nur einen ſolchen Anſchlag zu faſſen oder zu hoffen, daß noch etwa dereinſt ein Newton aufſtehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgeſetzen, die keine Abſicht geordnet hat, begreiflich machen werde, ſondern man muß dieſe Einſicht dem Menſchen ſchlechterdings abſprechen. “ Siebenzig Jahre ſpäter iſt dieſer unmögliche „ Newton der organiſchen Natur “in Darwin wirklich erſchienen und hat die große Aufgabe gelöſt, die Kant für unlösbar erklärt hatte.
Der Zweck in der anorganiſchen Natur (anorganiſche Teleologie). Seitdem Newton (1682) das Gravitations - Geſetz aufgeſtellt und ſeitdem Kant (1755) „ die Verfaſſung und den mechaniſchen Urſprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton'ſchen Grundſätzen “feſtgeſtellt — ſeitdem endlich Laplace (1796) dieſes Grundgeſetz des Weltmechanis - mus mathematiſch begründet hatte, ſind die ſämmtlichen an - organiſchen Naturwiſſenſchaften rein mechaniſch und damit zugleich rein atheiſtiſch geworden. In der Aſtronomie und Kosmogenie, in der Geologie und Meteorologie, in der an - organiſchen Phyſik und Chemie gilt ſeitdem die abſolute Herr -302Der anorganiſche Zweckbegriff. XIV. ſchaft mechaniſcher Geſetze auf mathematiſcher Grundlage als unbedingt feſtſtehend. Seitdem iſt aber auch der Zweckbegriff aus dieſem ganzen großen Gebiete verſchwunden. Jetzt, am Schluſſe unſeres neunzehnten Jahrhunderts, wo dieſe moniſtiſche Betrachtung nach harten Kämpfen ſich zu allgemeiner Geltung durchgerungen hat, fragt kein Naturforſcher mehr im Ernſte nach dem Zweck irgend einer Erſcheinung in dieſem ganzen unermeß - lichen Gebiete. Oder ſollte wirklich noch heute im Ernſte ein Aſtronom nach dem Zwecke der Planeten-Bewegungen oder ein Mineraloge nach dem Zwecke der einzelnen Kryſtall-Formen fragen? Oder ſollte ein Phyſiker über den Zweck der elektriſchen Kräfte oder ein Chemiker über den Zweck der Atom-Gewichte grübeln? Wir dürfen getroſt antworten: Nein! Sicher nicht in dem Sinne, daß der „ liebe Gott “oder eine zielſtrebige Natur - kraft dieſe Grundgeſetze des Weltmechanismus einmal plötzlich „ aus Nichts “zu einem beſtimmten Zweck erſchaffen hat, und daß er ſie nach ſeinem vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt. Dieſe anthopromorphe Vorſtellung von einem zweckthätigen Weltbaumeiſter und Weltherrſcher iſt hier völlig überwunden; an ſeine Stelle ſind die „ ewigen, ehernen, großen Naturgeſetze “getreten.
Der Zweck in der organiſchen Natur (biologiſche Teleologie). Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als in der anorganiſchen beſitzt der Zweckbegriff noch heute in der organiſchen Natur. Im Körperbau und in der Lebens - thätigkeit aller Organismen tritt uns die Zweckthätigkeit unleugbar entgegen. Jede Pflanze und jedes Thier erſcheinen in der Zu - ſammenſetzung aus einzelnen Theilen ebenſo für einen beſtimmten Lebenszweck eingerichtet wie die künſtlichen, vom Menſchen er - fundenen und konſtruirten Maſchinen; und ſolange ihr Leben fortdauert<