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Bitterſüß.
Novellen
Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel. 1891.
Bitterſüß.
Novellen.
Bitterſüß.
Novellen
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Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel. 1891.

Inhaltsverzeichniß.

  • Seite
  • 1. Frauenliebe1
  • 2. Monika145
  • 3. Klärchen's Frühlingsfahrt187

Frauenliebe.

Es lag noch Schnee auf den ſchwerer zugänglichen Plätzen, in den Winkeln, welche die Sperrketten und Prellſteine vor den Seiten der Kirchen und der Muſeen bilden, aber der Schnee war ſtaubig und mürb, und auf den Sperrketten ſaßen die kleinen Mädchen und hatten beim Schaukeln die Winterjacken ausgezogen. In der Mitte der Straße floß das Schneewaſſer wie ein Bächlein bergab und rauſchte ordentlich, und um die leeren Baumkronen lag ein verheißungsvoller Schein, wie der Schatten künftiger Belaubung.

Ein junger Mann, ein ſchlanker, hübſcher Menſch mit einer Mappe unter dem Arm, ſchlenderte die Straße hinab, mit jener wohligen Läſſigkeit, die uns ſo gern im Frühling[überfällt], und ſtreifte mit träumeriſchen Augen die ſonnenbeſchienenen Häuſer mit den halboffenen Fenſtern, dann wieder die Am¬ ſeln auf den Bäumen, die es mit Hüpfen und Flöten höchſt eifrig hatten, endlich die ſchaukelnden MädchenFrapan, Bitterſüß. 12auf den Sperrketten, die nicht minder als jene kicher¬ ten und lärmten.

Endlich wandte er ſein ganz in Freude ge¬ tauchtes Geſicht zu einer der Kleinen nieder und fragte nach einem Hauſe und einem Namen, die er hier in der Adalbertſtraße zu ſuchen gekommen. Die kleine Münchnerin verſtand nicht ſogleich, denn er kam aus dem Norden, war erſt am vorigen Abend in der ſchönen Iſarſtadt angekommen, und das Kind lachte verlegen, ſtatt zu antworten. Ein größeres Mädchen trat dienſtfertig herzu und gab ihm die ge¬ wünſchte Auskunft.

Die Frau Brückner wohnt da, aber 's wird Alles beſetzt ſein; ſie hat ſieben Zimmerherren, lauter Maler und Studenten.

Du weißt ja gut Beſcheid, ſagte er lächelnd, iſt ſonſt kein Zimmer in der Nähe zu vermiethen?

Es gibt ſchon, wenn der Herr mitgehen will, ſagte die Kleine geſchmeichelt.

Sie führte ihn in ein Haus, das beſcheiden und ſchmucklos mit ſeinen kleinen karrirten Scheiben zwiſchen den neuen hohen erkerreichen Gebäuden ſtand. Unten war eine geringe Wirthſchaft.

Ueber eine Stiege, da wohnt meine Baſ ', die hat Platz.

Eine muntere Bürgersfrau begrüßte die Ankömm¬3 linge, aus der Küche tretend, die wie eine appetitlich duftende Nebelhöhle ausſah. Sie riß ſich die naſſe Schürze ab und ſchleuderte ſie hinter ſich; dann ging ſie mit einladendem Rückwärtsblicken den etwas dunk¬ len Gang hinab und öffnete die letzte Thür. Mit einem gewiſſen Stolz wies ſie ihm das hochgethürmte Bett mit dem bunten Zitzüberwurf, den breiten blau und weißen Kachelofen, das Haartuchſopha neben dem Fenſter und den verhängten Rahmen in der Ecke, der ſtatt eines Kleiderſchranks diente.

Und a Stiefelknecht kommt au no doher; ſchaug'ns, 's is a Fräulen dogeweſen, die hat koa braucht, und a Kerzen; und dös Waſchſchüſſerl, was do herein g'hört, is in der Kuchel; 's Fräulen hat a eigenes gehabt, wiſſens; Emerenz, bring 'doch g'ſchwind 'm ſeligen Herrn Panther ſein Waſch¬ ſchüſſerl her, daß der Herre ſiecht, daß alles in der Ordnung is.

Der junge Mann war ans Fenſter getreten und hatte eine der Scheiben geöffnet, die bei jedem Schritt auf dem ſchwächlichen Fußboden und bei jedem Wagen¬ geraſſel draußen ſurrend erzitterten. Ein voller Strahl der Märzſonne kam herein und dem Fremden in die Augen, daß er ſie blinzelnd wegdrehen mußte.

Dieſer warme Gruß überzeugte ihn vollends, daß er's hier ſehr gut getroffen habe, und über der Waſchſchüſſel, die Emerenz wie ein Opfergefäß zwiſchen1*4ſie beide hielt, ward er mit der Wirthin einig. Er gab ihr ſeine Karte, von der ſie ihm ſeinen Namen Alfred Heuvels, Bildhauer, ſtotternd vorlas, und die dienſtfertige Emerenz ſchickte ihm ihren Bruder, den Buben heraus, daß er für ſeinen Handkoffer doch keinen Fiaker zu nehmen brauche.

Sonderbar angeheimelt, obgleich ihm doch hier Alles fremd war, und berauſcht von dem immer¬ währenden Bewußtſein: das iſt nun München, nach dem ich mich ſo geſehnt habe, ſah ſich Alfred bald wieder in der prächtigen Bahnhofshalle und las mit lächelnden Blicken die Aufſchriften an den großen Ta¬ feln: Nach Starnberg; nach Salzburg; nach Innsbruck, Da geh ich überall hin, ſagte er ſich heimlich, und es ſchien ihm, als lache Italien ganz nahe zu ihm herüber, und er dürfe nur die Hand ausſtrecken und ſich hineinſchwingen. Freilich einſt¬ weilen noch nicht, erſt wollte er hierbleiben, ge¬ nießen, ſehen, lernen, arbeiten. Aber er fühlte, daß er das Sehen am Nöthigſten habe.

Vielleicht öffnete ihm ein bedeutender Künſtler ſein Atelier. Ihm klopfte das Herz vor Freude und Bangen, wenn er an ſeine eigenen geringen Entwürfe und an die überſchwängliche Fülle des Schönen dachte, die ihn hier erwartete. Eine dankbare Regung über¬ kam ihn gegen den unfreundlichen, geizigen Onkel, der ihm nun doch in ſeinem Teſtament dreitauſend5 Thaler vermacht hatte. Solch einen Schatz in der Taſche, und dazu fünfundzwanzig Jahre, Geſundheit, leichtes Herz und Augen, die nach Schönheit dürſteten und weit offen waren für die Lieblichkeit der Welt er genoß ſein Glück mit gerührter Seele. Ueber¬ muth war ihm fremd.

Er war hart auferzogen worden, hatte früh ums Brot arbeiten müſſen, ſeinem Vater, der Steinmetz und ſchwach auf der Bruſt war, früh beiſpringen müſſen. Und wenn der Vater ein Grabkreuz zu meißeln bekam, da war allemal Jemand geſtorben, den der kleine Alfred auch gekannt hatte, und zugleich mit der Freude über den Auftrag kam eine weinende Nach¬ barin in die Thür, und der Kleine ſah lieber frohe Geſichter. So ging ihm der Ernſt des Lebens früh¬ zeitig auf. Nun lebten die Eltern wohlverſorgt bei ſeiner älteren Schweſter, die einen vermögenden Holzhändler geheirathet hatte, und ihm war durch das Vermächtniß des Onkels der heißeſte Lebens¬ wunſch erfüllt. Was hatte er denn bis jetzt gelernt? Er war der beſte Schüler geweſen in der Gewerbe¬ ſchule, zu der er zwei Stunden weit täglich hatte marſchiren müſſen. Pah, eine Gewerbeſchule, die 's ja ſchon durch ihren Namen anſagt, daß ſie nichts mit der Kunſt zu ſchaffen habe. Danach freilich hatte er bei einem tüchtigen Bildhauer in Hamburg ar¬ beiten dürfen, fünf Jahre lang. Aber hatte nicht6 auch dieſer wackre Lehrer ihm vertraut, er ſei dort oben wie im Exil und könnte gar nimmer fort¬ machen, wenn er nicht ſo oft als thunlich im künſt¬ leriſchen Süden neue Anregung und Erfriſchung hole? Und wie hatte ihm die theilnehmende Freude vom Geſicht geleuchtet, als ihm Alfred den Glückszufall mit der Erbſchaft erzählt.

Gut, gut, da machen Sie geſchwind, daß Sie fortkommen, es iſt hohe Zeit für Sie. Dreitauſend Thaler? Das muß für acht, für zehn Jahre reichen, wenn Sie ſolid bleiben. Und nur nicht gleich hei¬ rathen! dann iſt's verſpielt, hatte er ſeufzend hin¬ zugefügt. Und als der Schüler kopfſchüttelnd gelacht: Ja, jetzt hat's Lachen keinen Werth, lachen Sie, wann Sie verliebt ſind! Eh glaub 'ich's nicht. Ein Hitzkopf ſind Sie auch. Und dann noch einmal beim Abſchied: Alſo Briefe, Berichte willkommen, aber Verlobungsanzeig verbitt ich, vor Ihrem fünfzigſten Geburtstag.

Warum kamen ihm dieſe ganz überflüſſigen Worte jetzt wieder in den Sinn, während er ſie beim Anhören nicht groß beachtet hatte? War es nicht vielleicht ſchon ein Gefühl der Einſamkeit in all dem neuen Glück, die Empfindung: hätt 'ich nur Jemand, dem ich's ſagen dürfte, wie ſchön das alles hier iſt? Er ertappte ſich darauf, daß er einem jungen, eifrig plaudernden Paare mit langem Halſe nachſah und7 erröthete, denn er hatte an die Stelle des jungen Mannes, der ſo lebhaft auf das Mädchen an ſeinem Arm einredete, ſich ſelbſt geſetzt In der Beſchämung darüber machte er auf einmal ſo weite Schritte wie um ſich ſelbſt zu entlaufen, daß der kleine Koffer¬ träger kläglich zu ſchnaufen begann und ſein Gepäck zuletzt rathlos und zornig auf den Boden ſtellte. Nun kam ihm der Gutmüthige ſchnell zu Hülfe. Er griff ſelbſt nach dem ſchwerſten Stück, ja drückte dem Buben gar die ſchmierige Mütze, die ihm entfallen war, wieder auf die ſchwarzen Haare und ſcherzte ſo freundlich mit ihm, daß der breite Mund ſich noch breiter zog, und die ſchiefen gelben Zähne hervorbleck¬ ten wie bei einem Teckel, den man ſtreichelt. Es war ein garſtiger Junge, aber heut' ſollte keiner ein kläg¬ liches oder böſes Geſicht machen ſeinetwegen. Er gab ihm ein ſo reiches Geldgeſchenk, daß der kleine Träger ohne Dank davonrannte und gleich mit einer Hand voll Münz zurückkam; er hatte wechſeln laſſen, weil er nicht geglaubt, das Alles ſei für ihn. Als er es zuletzt begriff, ſchoß ein warmer dankbarer Hunde¬ blick aus ſeinen kleinen Augen; der war von Stund an dem Fremden zugethan, das fühlten ſie alle Beide.

Sobald er ſich's etwas behaglich gemacht, ſchloß Alfred ſeinen Koffer auf, um an die Eltern zu ſchreiben.

Vielleicht war das ein Weg, ſich die Bruſt zu8 erleichtern. Doch hatte er kaum die Feder angeſetzt, als ihm einfiel, weder Vater noch Mutter würden recht begreifen, was er eigentlich meine, und ſo ſchrieb er nur eine flüchtige Karte, die meldete, daß er wohl angekommen ſei. Er begann einen Brief an die Schweſter; wie er ſich aber vorſtellte, daß grade ſie am wenigſten Verſtändniß für ſeine Luſt hinaus ge¬ habt, wie ſie ihm eifrig zugeredet, des Vaters ſchönes Geſchäft zu übernehmen und die Schweſter ihres Mannes zu heirathen, die wohlhabend und kaum zwei Jahre älter war als er, kamen ihm ſeine eignen Zeilen lächerlich vor, und er zerriß den Bogen mit einem drückenden Gefühl der Fremdheit gegen die erſte Freundin und Geſpielin ſeiner Kinderjahre. Nein, er wollte ſeinem Lehrer ſchreiben, dem guten Bildhauer, dem er Alles verdankte! Schreiben! Doch was? Hatte er denn ſchon etwas geſehen? Alles, was er ſagen gewollt, zerfloß in Nebel, wenn er des humoriſtiſchen Graukopfs gedachte, wenn er ſich des fatalen Lippenzuckens erinnerte, mit dem der ſolch 'einen blauen Dunſt von ſeinem älteſten Schüler aufnehmen würde. Nicht doch, dem ſchrieb man ernſte Briefe, inhaltreiche Briefe über Studium und Arbeit.

Alfred legte ſein Schreibgeräth in die Schieb¬ lade zurück in eigenthümlicher Enttäuſchung. Daß er hier fremd ſein mußte, war natürlich, aber daß er in der Heimath im Grunde ebenſo allein ſtand, war9 ihm nie ſo zum Bewußtſein gekommen. Aus dem Nebenzimmer drang der kratzende Ton einer Feder, die eilig und unermüdlich übers Papier glitt. Durch die breite Spalte der Thür ſah er im Vorübergehen einen geſenkten dunklen Kopf und heiße Wangen. Der ſchreibt gewiß an ſeinen Schatz, flog es ihm durch den Sinn.

Er nahm Rock und Hut und ging ins Gärtner¬ theater. Man gab ein oberbayriſches Volksſtück, rührſelig und derb komiſch, aber er nahm es ohne Kritik hin und erfreute ſich an dem echten Spiel, an Geſtalten und Trachten und an der Mundart, obwohl er ſie nur halb verſtand. Da geh ich auch überall hin, wiederholte er ſich, wie am Mittag.

Er hätte auch gern geplaudert in den Zwiſchen¬ akten, wie die Leute rechts und links um ihn. Seine Nachbarin war ein blühendes Mädchen mit muntern Augen, aber ſie blickte immer nach der andern Seite. Da entfiel ihr der Theaterzettel. Al¬ fred war hinterdrein, als ſei es ein Kleinod, und er¬ faßte ihn im Fluge. Aber ſie nahm ihn garnicht, dankte nur obenhin: Ich brauch 'ihn nimmer, und ſprach wieder mit ihrem Begleiter. Wenn man ihm bei ſeiner Abreiſe in Hamburg geſagt hätte: Du meinſt wohl, in München ſtehe ſchon Alles auf den Zehen und warte, bis Du kommſt? ſo wäre er ſicherlich beleidigt geweſen, daß man ihn für einen10 ſolchen Hans Narren halte, und doch war er ein bis¬ chen enttäuſcht, jetzt, daß man ihn ſo garnicht nöthig hatte und er die Andern, ach, ſo ſehr.

Als er nach dem frühzeitigen Schluß des Spiels fröſtelnd durch die rauhe Nacht heimging, zauderte er mehr als einmal vor einem hellen Fenſter. Kann ich nicht hinein gehen zu denen, die da vertraut bei¬ ſammen ſitzen? Bitten, gönnt mir euer Wort, euer Licht und eure Herdflamme; ich bin auch ein Menſch und komme weit her und freue mich ſo, daß ich da bin? Kopfſchüttelnd ſchritt er weiter, ſolche Ein¬ fälle führt man nicht aus. Er hätte vielleicht in einem der zahlreichen Cafés oder Bierkeller noch gute Geſellſchaft gefunden, aber war nicht gewohnt, ins Wirthshaus zu gehen. Das hatte in Hamburg wenig Verlockendes, außer, wenn man hungrig war, von dem andern Lebenszuſchnitt hier wußte er noch nicht recht.

In ſeinem Zimmer flackerte ein beſcheidenes Feuer¬ chen, der große weißblaue Ofen fühlte ſich noch kühl an. Er entzündete das Licht, löſchte es aber bald wieder, denn das dünne trübſelige Flämmchen reichte nur eben hin, den warmen Ofenſchein zu verjagen, nicht aber das Gemach zu erhellen. Wie er noch ſo brütend daſaß, drang aus der Nähe irgendwo, aber doch wie gedämpft durch die Nacht, eine reiche volle Stimme herein, die ein ſanftes einfaches Lied ſang. 11Er horchte, verſtand aber nur hie und da eine Zeile von Roſenzeit und Herzeleid und dann am Schluß ein langes, ſehnſüchtiges vergeſſen, vergeſſen . Was aber kümmerten ihn die Worte. Ein beſtrickender Wohllaut lag in der Stimme, und der zarte ſeelen¬ volle Ausdruck griff ihm ans Herz. Ein Nixengeſang, aber keiner, der unſelig macht, einer der fromm macht und weich, aber auch das Heimweh weckt nach einer ſchöneren Welt, wo die Thüren aufgethan ſind und die Herzen keine Mauern kennen, wo die Menſchen Brüder ſind und mit den Sternen und den Blumen und allen Creaturen um die Wette die Herrlichkeit des Daſeins preiſen. Der junge Träumer ſah die Sängerin ſitzen; ſie trug einen Schilfkranz in den langen naſſen Locken und eine Harfe im Arm, wie die Lorelei in der Hamburger Kunſthalle. Der Arme hatte ſonſt noch keine Nixe geſehen. Aber er meinte doch, etwas runder ſei ſie vorzuſtellen, als jenes Bildwerk, und gar die Taille würde er nimmermehr ſo ſchmächtig formen wie bei der Lorelei. Nun klang es wieder, aber wie anders, wie voll herzlichem Weinen: Draußen vor der Pforte ſteht ein Leiermann, und gar weiter das: Wunderlicher Alter, laß mich mit Dir gehen , daß ein Schmerzensſchauer den einſamen Hörer über¬ rieſelte, als blicke er in alles ſtumme Leid und Elend der Menſchheit. Nun war es keine Nixe mehr, die12 ſang, nun trug ſie Flügel und die Schale der Er¬ quickung in den Händen; und ſie war ſchön wie nein, ihr glich keine der griechiſchen Göttinnen an troſtverheißender Milde, an ſinnender Güte! Auf ihrem Sockel ſtand er ſah es deutlich Ich bin das Mitleid. Ach, wenn er das bilden, das hin¬ ſtellen könnte, wie er es ſah! Sie ſtand ihm ja ſo klar, ſo greifbar nah vor Augen. Er wünſchte nur, daß es erſt morgen ſei, um gleich anzufangen. Alle Einſamkeit war verſchwunden, war belebt von bild¬ reichen Träumen, über denen ſich ſeine Wangen rötheten, ſein Herz hoffnungsvoll klopfte.

Da verſtummte die Sängerin. Ihm war, als werde ſeiner Geſtaltenwelt plötzlich das Licht entzogen. Es leuchtete wohl noch hie und da eine fließende Falte, ein ſchön gebogener Arm, aber das Ganze war ſeinen Blicken verhüllt. Eine unbeſchreibliche Sehnſucht nach den verklungenen Tönen überkam ihn. Er lauſchte mit angehaltenem Athem. Aber nun waltete über dem Hauſe nächtliche Stille, oder was man ſo nennt das Zuſammenhallen all der leiſen Geräuſche, die der Tag übertäubt.

Ohne das Licht zu entzünden, legte er ſich in das hochgethürmte Bett und träumte mit geſchloſſenen Augen weiter, bis an den hellen Morgen.

Er hörte, wie ſein Zimmernachbar ſich herum¬ warf und brummte, der da habe ihn aufgeweckt. 13Das beſchämte ihn, denn er war voll Rückſicht, und ganz geräuſchlos kleidete er ſich an, um nicht noch weiter zu ſtören. Während er für den Tag Pläne entwarf, miaute es draußen zart und leiſe, auch ein beſcheidenes Kratzen ließ ſich vernehmen. Er öffnete, und herein ſpazierte ein graues Kätzchen von zier¬ lichem Körperbau, ſah ſich mit einiger Verwunderung, wie es ſchien, im Zimmer um, und ſprang dann auf das Bett, wo es ſich behaglich in die noch warmen Kiſſen duckte. Alfred hatte ſeine Freude an dem niedlichen Gaſt, der hier ſo ganz wie zu Hauſe that, ſich willig ſtreicheln ließ und gleich zu ſchnurren be¬ gann unter ſolchen Liebkoſungen. Woher kommſt Du? fragte er munter, und was willſt Du bei mir? Aber das Kätzchen antwortete nur mit einem vielſagenden Zwinkern, legte ſich auf den Rücken und reckte die Pfötchen mit den roſenrothen Fußballen, als wolle es ſagen: Da gefällt mir's. Er hatte in ſeinem freundlichen Gemüthe ſchon beſchloſſen, das Waiſenkind zu adoptiren, als die Wirthin mit dem Kaffeebrett hereintrat und ſogleich ausrief: Nein, Du biſt amol a Naſeweis! In dem Herrn ſein Bett drin! Gelt, da iſt's gut warm? Da möcht ich auch lieber liegen, als in aller Herrgottsfrüh an' Brunnen ſpringen, weil die Waſſerleitung wieder amol zuge¬ froren is über Nacht. 's nimmt koa End 'mit dem Winter, ich ſag's ja.

14

Sie ſetzte das Frühſtück nieder und hielt dem Kätzchen den Arm hin.

Da hupf 'nauf, daß Dein Fräulein koa Angſt kriegt; die Emerenz trägt Dich' nüber.

Ach, das Thierchen hat ſchon einen Herrn? ſagte Alfred.

A guts, guts Fräulein; und ſingt ſo gar arg ſchön! Sie werden's auch noch hören. Sie hot ja in dem Stüberl do g'wohnt und wär 'noch heut' do, aber ſchaug'ns, do is die Wirthſchaft do herein, drunten, do hat's ihr nimmer paßt. Jetzt das Peterl, das Lumperl verlauft ſich als, weil's noch den Ge¬ ſchmack von der Wohnung in ſein 'Nos hot.

Nun hätte Alfred das Kätzchen doppelt gern ge¬ liebkoſt, aber die Frau hatte es mitgenommen. Er ſah ſich in dem beſcheidenen Raum um, früher alſo war die herrliche Stimme hier erklungen. War es nicht ſüß, nun da nach ihr zu hauſen? Hätte er doch nur die Frau ein bischen ausgefragt! Aber es war ihm faſt lieber ſo. Was hätte ihm die erzählen können? Ein gutes, gutes Fräulein, hatte ſie geſagt? Ja, das war ſie gewiß! Was brauchte er eigentlich noch von ihr zu wiſſen? Wußte er doch, daß ihm ihre Stimme wunderbar gefiel, und daß ihre ganze Perſon ihm wunderbar gefallen werde, wenn er ſie einſt erblicke. Sein Herz begann zu ſchlagen bei dem Gedanken an dieſen künftigen Augenblick. Dann aber15 fragte er ſich als der gewiſſenhafte Junge, der er war, ob er nicht ſeinem Lehrer Wort halten und ſolch eine verführeriſche Bekanntſchaft von vornherein mei¬ den ſolle; und er erkundigte ſich nicht weiter, obwohl er beim Hinausgehen noch einen Ständerling mit der Wirthin hatte über allerlei nothwendige und un¬ verfängliche Dinge.

Mit dem gehobenen Bewußtſein, das der kleinſte über ſich ſelbſt errungene Sieg verleiht, begab er ſich auf ſeine erſte Studienfahrt in die Glyptothek.

Wie aber ward dem Neuling hier! Wie ging ſeine Freude in bloßes Staunen, ſein Staunen in Schrecken, ſein Erſchrecken in völlige Zerſchmetterung über. Hier, ach, hier hatte erſt recht Niemand auf ihn gewartet, war nicht längſt Alles verſammelt und tauſendmal ſchöner, als er es auch nur geträumt? Er ſtand wie betäubt vor dem barbariniſchen Faun, in Grauen und Entzückung vor der Meduſa Ron¬ danini. Wenn das hier Menſchen gebildet hatten, Künſtler, was war dann er? Er riß ſeine Karte aus der Taſche und zog einen dicken Bleiſtiftſtrich durch das Wort Bildhauer unter ſeinem Namen, während es ihm heiß und ſtechend in die Augen ſtieg. Seine Schweſter hatte Recht gehabt: ſeines Vaters ſchönes Geſchäft , die Grabkreuze und abgebrochenen Säulen alle nach demſelben Muſter, das war das Richtige für ihn. Er mußte ſich Gewalt anthun, um16 nicht zu ſchluchzen wie ein Knabe: Alle gegen Einen! Wenn Alle ſo gegen Einen anſtürmen!

Gern wäre er fortgelaufen, aber doch hielt es ihn wieder wie mit Zangen. Die Erfahrung von geſtern, daß man ihn ſo garnicht nöthig habe und er die Andern ſo ſehr, ſo ſehr, kam wieder, aber heut mit einer qualvollen Schärfe, die ihn ganz durchbeizte. So kam er nach Hauſe. Alles Verlangen nach Speiſe und Trank war von ihm gewichen. Er ſchleppte ſich die Treppe hinauf und warf ſich todtmüde aufs Sopha. So tief war er getroffen, daß er wie ein körperlich Verwundeter vor Ermattung einſchlief und feſt und traumlos ſchlummerte ſtundenlang.

Mit der unklaren Empfindung eines großen Glücks, einer um ihn verbreiteten Wonne kam ihm die Beſin¬ nung zurück. Sie ſang wieder. Heut ſchien es noch ferner als in der Nacht, es legte ſich ſo vieles Tages¬ geräuſch dazwiſchen. Doch ſelbſt aus ſolcher Weite klang es wunderbar beruhigend, wie der Ausdruck der tiefen Uebereinſtimmung unter der ſcheinbar ſo verſchiedenen, ſo widerſtrebenden Weſenwelt. Es war kein deutſches Lied, irgend ein alter italieniſcher Hymnus. Ein leidenſchaftliches Flehen und Werben um Gnade, ein ſtammelndes Geloben der Hingebung, ein ſich Auf¬ löſen und Zerfließen in der Gottheit. Ach, wie ſie ſchön war! Er ſah ſie wieder, ſie trug die Züge der Geſtalt, die ſich das Mitleid nannte, aber ſie ſtand17 nicht mehr aufrecht, ſie hatte ſich auf die Kniee ge¬ worfen, drückte mit beiden Händen ein Schwert gegen ihre Bruſt und flehte mit verzücktem Antlitz: Gieb mir die Schmerzen der Welt, aber laß mich in allen Schmerzen Dein ſein, o Gott.

Mit einem langen, befreienden Athemzuge ſtand er auf. Was in ſeiner Vernichtung Neid und Mi߬ gunſt geweſen, fiel von ihm ab. Eine heiße Dank¬ barkeit wallte in ihm empor. O, die theure, die fromme, die Engelsſtimme! Ja, er war nur ein Nichts, verglichen mit Jenen, die der Menſchheit ewige Schätze geſchenkt hatten. Aber hatte es nicht auch eine Zeit gegeben, wo ſie noch nicht waren? Ein redliches Verſuchen, ein unermüdetes Ringen war noch keine Anmaßung. Es war nur eine Frage an ſeine eigne Natur, und die mußte doch erlaubt ſein. Er fühlte ſich ſo erhoben, als habe er ſchon gefragt und die Antwort laute: ja. Mit der ganzen Spann¬ kraft ſeiner fünfundzwanzig Jahre ſchwang er ſich den Hut auf den Kopf und ſtürmte hinaus. Er wollte ja, vor allen Dingen wollte er zu Mittag eſſen, denn was er noch von Unbehaglichkeit ſpürte, würde wohl Hunger ſein. Er vertiefte ſich mit einer Gründ¬ lichkeit in ſeinen Suppenteller, über die er ſelbſt ge¬ lacht hätte, wäre ihm nicht trotz der wiedergekehrten Friſche höchſt feierlich zu Muthe geweſen. Seine hei¬ ligen Entſchlüſſe und ſein geſunder Durſt wirkten zu¬Frapan, Bitterſüß. 218ſammen, ſo daß er heut mehr trank, als er gewohnt war. Voll Muth redete er einen älteren Herrn an, der ihm einen künſtleriſchen Anſtrich zu haben ſchien, fragte ihn, wann die Glyptothek geöffnet ſei, obgleich er's gut wußte, gerieth in ein erträgliches Geſpräch mit ihm über die Frage: Büſte oder ganze Figur bei Denkmälern für Dichter und Gelehrte? und kam mit der unklaren aber beſeligenden Empfindung, daß es ihm ſehr gut gehe, nach Hauſe. Aus dem Fenſter gegenüber hörte er Klavierſpiel; da wohnte ſie gewiß. Wie, wenn er hinaufging, ihr dankte für Alles, was ſie unwiſſentlich ſchon an ihm gethan hatte? Ein toller Gedanke! So keck war er doch ſonſt nicht! Um aber die Tollheit nicht auszuführen, wie es ihn mächtig lockte, lief er geſchwind in ſeine eigene Haus¬ thür und die Treppe hinauf.

Wieder wie geſtern der einſame Feuerſchein aus dem Kachelofen, das Licht auf dem Betttiſchchen. Aber halt, war das nicht ein ſanftes Miauen? Er leuchtete umher. Richtig, auf dem Kopfkiſſen ſeines Bettes ſaß es ſchon wieder, grau und klein und reckte die Pfötchen wie zum Willkommen. Das war zu viel für ſeine Standhaftigkeit. Er konnte doch das arme Fräulein nicht in der Unruhe laſſen! Sie mußte es ja vermiſſen und hätte gewiß die Nacht nicht geſchlafen, ohne den Liebling in Sicherheit zu wiſſen. Er riß das weiche Klümpchen von der Bett¬19 decke, auf der es ſich zierlich angehäkelt hatte, in ſei¬ nen ſchützenden Arm und rannte ohne Beſinnen den heute früh ſo gewiſſenhaft verſchworenen Weg entlang quer über die Straße. Ueber den hellen Hausflur, die Treppe hinauf und noch eine Treppe leitete ihn die Stimme, Ach, warum ſang ſie auch gerade ein neckendes Liebeslied! Es klang:

An blühender Hecke im rothen Kleid,
Habe Gott zum Gruß, Du zierliche Maid!
Du ſchauſt ſo ſchelmiſch und lächelſt ſüß,
Wie heißt Du?
Sprach ſie: Bitterſüß,
Herr, Bitterſüß.
Ei, rief ich lachend, die Bitterkeit,
Von ſolchen Lippen ſchafft wenig Leid.
Komm, grüße wieder, wie ich Dich grüß:
Möchte wohl!
Sprach Bitterſüß,
Schön Bitterſüß.

Nun ſtand er an der oberſten Treppenſtufe und ſuchte mit den Augen die Thür, aus der die Töne quollen. Das Kätzchen murrte leiſe, ſo drückte er es an ſich. Horch, weiter:

Und dreimal hab ich ſie heiß geküßt,
Und ſie, ſie hat es leiden gemüßt,
Roth war ihr Mieder, und weiß die Füß '.
2*20
Wohl bekomm's!
Sprach Bitterſüß,
Schön Bitterſüß.

Eine heimliche Drohung, verführeriſcher als eine Zuſage, lockte aus der Stimme der Singenden, daß es ihn überlief.

Doch wie ich weiter gewandert bin,
Da ward mir bange und krank zu Sinn;
Wer weiß auch, ob ich Dich wieder grüß?
Nimmermehr!
Sprach Bitterſüß,
Ach Bitterſüß.
O arge Maid! o täuſchender Nam '!
O weh mir, daß ich des Weges kam!
Nun wird mir bitter, was erſt ſo ſüß.
Wie es kommt!
Sprach Bitterſüß,
Ach Bitterſüß.

Das war wieder Nixengeſang! Spottend hallte es hinter dem Verlockten drein:

Dein Unglück trage nur fein gemach.
Die Bitterkeit kommt zuvor oder nach.
Ein ſüßes Bitter, ein bittres Süß
Iſt die Lieb!
Sprach Bitterſüß,
Ach Bitterſüß.
21

Das Lied verhallte ſo, mit einem Seufzer, und Alfred ſtand noch immer an derſelben Stelle. Ja ja murmelte er vor ſich hin, aber nun hilft es doch nicht, nun muß ich doch hineingehen. Ich glaube, ich bin im Schlaf, ich glaube, mir träumt das nur ſo hier, ich glaube, ich muß anklopfen, ſonſt werde ich verrückt, oder ich erwache, oder

Er ging langſam die drei fehlenden Schritte und klopfte mit zitternden Fingern. Herein! ſagte die volle weiche Alt-Stimme. Er griff nach ſeinem Hut, um ihn abzuziehen, aber er fand ihn nicht, er hatte ihn in der Haſt vergeſſen. Wie er ſich beſann, ob er denn nicht lieber erſt zurücklaufen, den Hut holen ſolle, ward das Herein wiederholt. Halb gegen ſeinen Willen öffnete er nun die Thür, ſeine Blicke flogen ihm voraus, doch ward er geblendet, weil er ſo lang im Halbdunkeln geſtanden hatte, und ſagte mit unſicherer Stimme in das Gemach hinein: Ich bitte um Verzeihung, ich glaube, dieſes Kätzchen

Ach Peterl, Peterl, Du machſt mir argen Kum¬ mer! ſagte die Dame, die da auf ihn zutrat und die Hände nach dem Thierchen ausſtreckte. Es ſprang auch gleich auf ihre Schulter und drückte ſich zärtlich an ihren Kopf, das ungetreue Geſchöpfchen. Alfreds Augen hatten ſich inzwiſchen erholt und flogen ſuchend über die Stühle, die um den runden Tiſch her ſtanden. Sie waren aber leer, und ebenſo alle22 Ecken, in die das Licht der über dem Tiſch hängen¬ den Lampe fiel. Leer war auch der Platz am Clavier; es war Niemand im Zimmer als die Dame, die jetzt freundlich ſagte:

Wollen Sie nicht ſitzen? Daher?

Das iſt doch nun gewiß ein Traum, dachte er bei ſich und erwiderte mit einem gewiſſen prüfenden Ton:

Ich hörte hier Geſang und wollte nicht ſtören

Ich habe geſungen wie immer am Abend und bin froh, wenn ich nicht Andere ſtöre, war die ein¬ fache Antwort.

Sie ſind die Sängerin? ſtotterte er und blickte mit der peinvollen Gewißheit, daß dies Alles ein böſer Traum ſei, der ihn aber doch herzlich quäle, in das grotesk-häßliche Geſicht vor ihm, über das unter ſeinem erſchrockenen Anſtarren ein leiſes wehmüthiges Zucken ging. Sie wandte ſich nun ab: Haben Sie das Singen gern?

Ja das heißt nein, ſtammelte er wie¬ der und ſah angſtvoll auf die große reizloſe Geſtalt, die knochigen Hände und das ſtumpfe chineſiſche Pro¬ fil. Dabei dachte er fortwährend: Ich muß dem hier doch ein Ende machen, ich muß doch das Wort ſagen, daß aus der häßlichen Haut die Nixe hervorſpringt, die Huldin, die Göttin.

So dank 'ich Ihnen eben recht, daß Sie mir23 mein Peterl wiedergebracht haben und bitt' um Ent¬ ſchuldigung wegen der Beläſtigung, ſagte die Sän¬ gerin ruhig, und wenn die Muſik Sie Abends ge¬ nirt, ſo kann ich zu andrer Zeit ſingen

O nein nicht doch es war ja nur weil ſein Sie mir nicht böſe

Weil Ihnen mein Geſicht nicht gefällt? ſagte ſie leiſe, da ſein Sie nur ruhig, mir gefällt's auch nicht; nein, ich bin nicht böſe, es ſind ſchon mehr an mir verſchrocken. Nicht dorthin, bitte, da geht's hinaus. Warten Sie, die Treppen möchten ſchon dunkel ſein.

Sie nahm einen Leuchter vom Clavier und be¬ gleitete ihn hinaus. Sie haben keinen Hut, Sie wohnen im Haus hier? fragte ſie. Als ſie hörte, er habe ihn vergeſſen, bat ſie ihn, mit umzukehren. Es möcht 'kalt ſein, ſo über die Straß'; 's iſt noch ein Hut da vom verſtorbenen Bruder, warten Sie.

Er ſaß in Beklemmung und wagte kaum, ſich in dem bücherreichen, behaglichen Zimmer umzuſehen. Ach, dieſe ſchlichte, unbefangene Freundlichkeit über¬ zeugte ihn, daß er leider nicht geträumt habe. Die ſüße Märchenſtimme war körperlos, und die Bilder alle, die er geſchaut, waren trügende Luftſpiegelungen geweſen, die er nimmermehr würde feſthalten können. Eine Art Erbitterung gegen die Sängerin ergriff ihn. Verlocken und dann enttäuſchen!

24

So enttäuſchen! Und dieſe philiſterhafte Er¬ kältungsfurcht! Warum ſollte er nicht ohne Hut nach Hauſe gehen? Er war ſchon im Begriff, fortzulaufen, als ſie mit einem großen grauen Filzhut in der Hand eintrat.

Nun kommen Sie, mein Mädchen iſt ſchlafen gegangen, und die Hausthür wird geſchloſſen ſein.

Als ſie die Treppen zuſammen hinabgingen, ſchlug es halb zwölf; ein Zugwind blies das Licht aus. Ihr Kleid rauſchte neben ihm auf der Stufe, und er fühlte ihre warme Nähe. Wieder ergriff es ihn wunderlich. Vielleicht war ſie Nachts wieder, was ſie eigentlich war, flog es ihm durch den Kopf. Er taſtete leiſe nach ihr, umfing ſie plötzlich und küßte die Ahnungsloſe auf die Lippen. Für all' die ſüßen Lieder, hauchte er, leide es nur! Muß ich nicht auch all die Träume leiden?

Sie hatte ihn ſchnell zurückgedrängt und das Licht wieder entzündet.

Gehen Sie, ſagte ſie traurig, ohne die Augen zu erheben, das war nicht recht, wir werden uns nicht wiederſehen. Sie betonte die letzten Worte, ſo daß ſie einem Befehl gleichkamen, reichte ihm auch nicht mehr die Hand, wie verlangend er die ſeine ausſtreckte, ſondern ſchloß haſtig die Thür hinter ihm. Dann aber ſtand ſie noch eine Weile, auf den Schritt horchend, der drüben verklang. Als ſie hinaufging,25 fiel eine große Thräne mitten in die Kerzenflamme hinein, daß ſie auskniſterte und faſt verlöſcht wäre. Peterl ſtand an der halboffenen Stubenthür. Sie nahm es und preßte das runde Köpfchen an ihre naſſe Wange, die langſam erröthete.

Du gutes dummes Thier, was haſt auch an¬ geſtellt, ſeufzte ſie, kannſt denn garnicht bei mir bleiben? Sie wiederholte die Frage noch ein paar¬ mal, während ſie Bücher und Noten zuſammenlegte und ſich zum Schlafengehen anſchickte. Draußen tobte der Frühlingsſturm und riß an den Fenſtern.

Der Schlaf nimmt nicht immer das Bewußtſein; oft bleibt uns nach heftiger Gemüthsbewegung die frohe oder trübe Empfindung alle Nachtſtunden hin¬ durch, und am Morgen bedarf es keines Beſinnens noch eh 'die Augen offen ſind, wiſſen wir, was uns freut oder fehlt, was gewonnen oder verloren iſt. Alfred erwachte mit dem Gefühl, daß ſein Tag öde, ſein Leben von heut ab trübe und ſchwer ſei, und er war ſo ungeübt in dieſer Empfindung, daß ſie ihn auch körperlich niederhielt. Wenn es ſo hergeht, wenn nichts iſt, was es ſcheint, ſeufzte er, dann iſt ja alle Freude Trug! Solch eine Stimme und ſolch ein Geſicht! O, es muß ein Teufel dahinter ſtecken, daß man die Augen weiter aufthut, als nöthig iſt, und nachher iſt Alles hin.

Auch ſein Betragen fiel ihm ſchwer aufs Herz. 26Sie war ſo gütig geblieben, wie eine Erwachſene, die einen wilden Knaben vor ſich ſieht. Sein unver¬ hohlenes Erſchrecken im Anfang, ſeine unzuſammen¬ hängenden Entſchuldigungen, ſeine beſinnungsloſe Keckheit, ſie hatte Alles mit lächelnder Nachſicht hingenommen. Nein, das Letzte doch nicht, da hatte ſie geſagt: Das war nicht recht. Warum auch hatte er ſie geküßt! Es war ja ſchon nach der Ent¬ zauberung. Und doch war er ſich bewußt, auch darin ganz ſeinem Gefühl gefolgt zu ſein. Es war nicht recht, aber falſch war es auch nicht. Sein Herz war übergeſtrömt gegen ſie in Liebe und Haß, ja auch Haß, daß ſie dem Bilde nicht glich, welches er ſich von ihr gemacht. Und in dieſer gemiſchten Empfin¬ dung hatte er ſich hinreißen laſſen. Und es war doch ein Kuß geweſen, als ſei ſie ſchön. Er fühlte es noch weich und duftig an ſeinen Lippen. Freilich, als ſie dann wieder das Licht entzündet

Er war wie in einem Ring gefangen und ſtieß ſich darin müde und matt. Zuletzt überredete er ſich, das ſei die Strafe für ſeine Widerſtandsloſigkeit. Im erſten Gefecht ſchon beſiegt, würde ſein Lehrer ſpotten, wenn er es wüßte. Was hatte er nach den Frauen zu gaffen. Und gar nach häßlichen! würde ſein Lehrer ſagen. Der hatte eine Kellnerin gehei¬ rathet, freilich eine ſchöne; ſein beſtes und beſtändiges Modell, wie er ſelbſt bekannte.

27

Voll Unluſt ging er endlich auf die Straße, weil er es ſo allein mit ſich nicht aushalten konnte. Vor der Hausthür gegenüber ſtand ein Wagen, der Kutſcher legte eben einen Reiſekoffer zurecht; ſeine Wirthin ſtand mit der Emerenz, die einen Reiſeſack in der Hand hielt.

Das Fräulein verreiſt auch wieder, ſagte ſie zu ihm im Vorbeigehen, da wird's Peterl nimmer zu Ihnen kommen, 's geht mit. Da ſchaug'ns.

Emerenz öffnete den Reiſeſack ein bischen, da war nichts weiter drin, als das wohlbekannte Kätzchen.

Verreiſt? fragte er betreten, die Sängerin?

Sie iſt keine Sängerin, aber ſie ſingt arg ſchön, erwiderte die Frau. Sie geht zu ihrer Schwägerin, die iſt krank. A guts, guts Fräulein, wenn Eins krank iſt, gelt Du, Emerenz?

Das Kind nickte eifrig und ſchaute in das Haus zurück. Da kam ſie die Treppen herunter. Er wandte ſchnell die Augen ab und ſtürmte um die Ecke, er wußte ſelbſt nicht warum.

Nun muß es anders mit mir werden, nun muß das abgethan ſein, dachte er. Er ging in die An¬ tikenſammlung und vertiefte ſich ganz ins Anſchauen. Auch entſchloß er ſich, ein Empfehlungsſchreiben des Bildhauers in Hamburg an einen Kunſtgenoſſen ab¬ zugeben. Der nahm ihn freundlich auf, über Er¬ warten; einen Gehülfen brauche er zwar im Augen¬28 blick nicht, aber er ſolle nur ins Atelier komme, ſo oft es ihm beliebe. Leider war dieſes Meiſters Kön¬ nen nicht nach Alfreds Geſchmack. Dieſe handhohen Rokokofigürchen mit den Blumenkörbchen und ſchiefen Hütchen, dieſe tragikomiſchen Katzengruppen, ſo ge¬ ſchickt ſie gemacht waren, erſchienen ihm wie Zucker¬ bäckerkunſtſtücke, und er ſtaunte innerlich über den Eifer und Stolz, womit der Mann, der ſich Bild¬ hauer nannte, dieſe Zierlichkeiten verfertigte. Seine Entwürfe gingen immer ins Große. Aber der be¬ häbige Meiſter meinte ganz trocken, ſeine Püppchen ſeien weit einträglicher, die könne ein Jeder brauchen, auf Schreibtiſch oder Kommodenkaſten. Zur Be¬ kräftigung dieſer Wahrheit führte er ihn eines Sonn¬ tagsnachmittags vor ſein hübſches Gartenhaus, das ihm ſeine Miniatur-Kunſt eingebracht hatte. Es trug denn auch dasſelbe zuckerige Gepräge, wie Alles, was er machte, war mit Säulchen, Thürmchen, Amoretten¬ fresken und Figuren in Niſchen überreich verziert, und an einem Springbrünnchen im Garten ſaß, wie eine lebendig gewordene Puppe ihres Papas, die Tochter des Bildhauers in einem kurzen hochgebauſchten Röck¬ chen, das unvermeidliche Blumentellerchen auf dem kurzen Lockenwerk. Sie hieß Fräulein Appolonia oder Loni , wie ſie ſich ſelbſt vorſtellte, war ſiebzehn Jahre alt, wie ſie hinzufügte, und hatte ein pikantes Geſichtchen mit hochgeſchwungenen Augenbrauen und29 tiefrothem Mündchen, wie Jeder ſehen konnte. Sie begrüßte den jungen Hamburger ſo unbefangen, als kenne ſie ihn ſeit Jahren, ließ ſich aber nicht ſtören in ihrer Beſchäftigung, eine Hand voll blauer und gelber Krokus, die ſie eben gepflückt hatte, zu einem Sträußchen zuſammenzubinden und an ihr rothes At¬ lasmieder zu ſtecken. Kaum aber ſaß es dort, ſo nahm ſie es wieder herunter und ſagte kopfſchüttelnd: Es paßt nicht, ich werf's fort, oder wollen Sie es haben? Dabei legte ſie ihm die kaum aufgeblühten, aber ſchon halbwelken Krokus in die offene Hand. Alfred hatte Blumen ſehr gern, die zarten Frühlings¬ kinder am liebſten.

Nicht, nicht! bat er die kleine Zerſtörerin, die ſich ſchon wieder zu dem Beet gebückt hatte, ſehen Sie, wie ſie ſich an der Sonne freuen, wie ſie alle Kelche weit geöffnet haben.

Das Mädchen ſah ihn erſtaunt an:

Morgen gibt's wieder neue, die machen noch lang 'fort; ich nehm' jetzt nur die gelben, weil's Violett nicht zu dem Roth da geht.

An den Stachelbeerhecken ſchimmerten die grünen jungen Blättchen, hin und wieder war ſchon eine der beſcheidenen bräunlichen Blüthen ausgeſchlüpft. Vor Alfreds Seele ſtand plötzlich der kleine Garten ſeiner Kindheit, der Fliederbuſch, der wilde Wein an der Laube und ſein Kinderentzücken über die erſten grünen30 Stachelbeerblättchen. Dort war es ſchön geweſen. War es das? Hatte er ſich nicht Jahr für Jahr weggeſehnt von dort? Und nun ſchien er ſich ſo fremd in der Welt, ſo allein wie ein Stein , wie ein altes Lied ſagt.

Aha, da kommen ſie ja! Der Muckerl und der Storch, und der Kanonenjockel, guten Tag, Jockerl und der Herr Baron und der Bub ', gieb e Patſch, Bub', au! nit ſo derb! Ja, wo iſt denn der Papa?

Die Ausrufe kamen von Fräulein Loni, die in¬ mitten eines Kreiſes von fünf jungen Männern ſtand, die eben hereingetreten waren. Alfred ſuchte mit den Augen nach dem Buben , doch konnte er keinen erblicken, auf den die Bezeichnung gepaßt hätte.

Da iſt noch Einer, hörte er jetzt Loni ſagen und dann ſchau'ns, da ſteht er; ach bitt 'ſchön, Herr, wie heißen Sie doch gleich? ich möcht' die Herr¬ ſchaften mit einander bekannt machen.

Alfred trat etwas verwundert näher und hörte nun fünf Namen, die aber von ſeinem Trommelfell vorläufig gleich wieder abprallten.

Es war weder ein Herr Storch noch ein Baron darunter, doch ſchloß er bald, daß der Ueberſchlanke, der ihr zur Rechten ſtand, von dem Fräulein mit dem Vogelnamen ausgezeichnet worden. Der, den ſie jetzt wieder Bub nannte, hatte einen ſtattlichen31 Schnurrbart, den er beſtändig zauſte. Sie hatte das Buſenſträußchen eben wieder abgenommen und ver¬ theilte die Blumen, wozu ſie allerlei muthwillige Sprüche ſagte, die zwar meiſtens gar keine Beziehung zu ihr oder dieſen Männern hatten, aber doch laut belacht wurden. Zuletzt hielt ſie nur noch ein leeres Zweiglein, das als Stiel gedient hatte, in der Hand. Sie reichte es mit einer graziöſen Verbeugung Alfred hin und ſummte dazu: Wer nicht liebt Wein, Weib und Geſang

Fräulein, Fräulein, das hat ja der Luther ge¬ ſagt, unterbrach ſie ein kleiner Schwarzhaariger mit ſcherzhaftem Fingerdrohen.

Der Luther? fragte ſie zweifelhaft, warum nicht?

Der Luther war doch ein Ketzer! ermahnte der Schwarze unter dem Lachen der Uebrigen.

Ach geh, Muckerl, rief das Fräulein, den Kopf zurückwerfend, das haben unſere katholiſchen Herren lang 'gewußt, eh ſie's der Luther gelehrt hat.

Wieder lachte Alles.

Aber hat denn der Luther Euch Katholiken gelehrt? fragte der Schwarze in ſcheinbarer Ver¬ wunderung.

Die Kleine gerieth in die Enge.

Geſchwätz! ſagte ſie, mit dem Fuß auf den Kiesboden ſtampfend. Wer hat wen was gelehrt? 32Ich nicht, mich nicht. Mich hat Niemand nix ge¬ lehrt. Muckerl will wieder anbinden. Ich laß ihn ſtehn.

Sie bückte ſich zu dem Springbrunnen, als wolle ſie eine Hand voll Waſſer ſchöpfen. Der, den ſie Muckerl genannt hatte, wich in komiſcher Eile zurück.

Wein! von Wein war die Rede, Waſſer liebt Niemand! betheuerte er.

Und Ihr kriegt doch nur ein Bier! ſagte Fräulein Loni mit tiefſchmollender Miene. Iſt gut genug für Euch.

Sie huſchte die breite Treppe zu dem Garten¬ hauſe hinauf und machte noch droben eine kleine Fauſt nach rückwärts.

Die jungen Männer lachten noch immer, nur Muckerl ſah Alfred mit einem ſonderbar gemiſchten Blick an und ſagte plötzlich, vor ihm ſtehen bleibend:

Nicht wahr?

Und Alfred verſtand merkwürdiger Weiſe, was das heißen ſollte, und nickte mit einem Seitenblick nach dem Hauſe zu.

Der Schwarzhaarige trat ihm noch näher, zog die Mundwinkel tief herab und ſagte gedämpft:

Keine Mutter gehabt.

Alfred nickte wieder und ſah mit Antheil in das jetzt tief bekümmerte Geſicht des Andern. Es war ſcharf und fein, mit einem Zug des Leidens; der33 volle Bart, ſchwarz wie das Haupthaar, ließ die Züge noch bleicher erſcheinen. In den grauen Augen aber ſchien ein Schalk verborgen, der manchmal hell hervorblitzte.

Ein ſchönes Mädchen, ſagte Alfred, mehr um ihm einen Gefallen zu thun, als aus Ueberzeugung.

Sehr! ſehr! ſeufzte der Andere. Sie ſind wohl auch hergekommen, ihr das zu ſagen, wie all' die andern Sommerweſten da?

Alfred mußte über den betrübten Ton lächeln. Wo Blumen blühn, da fliegen Schmetterlinge.

Thun Sie's nicht! bat Jener mit einem drin¬ genden Blick in ſeine Augen, ſo ein Blümchen hat nur einen Kopf, und der iſt bald verdreht!

Soll ich Ihnen ein Verſprechen geben? lächelte Alfred, ſoll ich Ihnen ſagen, daß ſie mir nicht ge¬ fährlich werden kann?

Der Andre wehrte mit bedenklichem Geſicht. Zuviel! nichts verſchwören, das ruft die Rache der kleinen Teufel wach. Sie kennen ſie noch nicht, haben ſie noch nicht geſehen in ſtillen Augenblicken, ohne dieſen Hofſtaat, wie ich.

Ich will's trotzdem verſprechen, ſagte Alfred in ſo ehrlicher Bereitwilligkeit, daß nun der Andre lachte

Gut, gut, ich danke Ihnen; erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorſtelle: Max Wolff aus Würzburg; ich heiße nicht Muckerl natürlich, er errötheteFrapan, Bitterſüß. 334leicht, die Kleine hat dieſen Namen für mich aus¬ gedacht, weil ich ihr manchmal den Text leſe; ich bin der einzige Proteſtant, den ſie kennt, und obgleich ſie keine rechte Idee von dem Unterſchiede hat, nennt ſie mich doch auch manchmal Ketzerl . Er erröthete wieder. Sie iſt nicht wie Andre, es iſt keine Bos¬ heit dabei, Sie dürfen das glauben, ſagte er eifrig, ich könnte Ihnen Züge erzählen, Züge von Güte o nicht gegen mich, nein, darauf gründe ich meine einzige Hoffnung, ſie kann mich nicht ausſtehen das iſt doch immerhin eine Auszeichnung.

Alfred ſtreifte ihn mit einem verwunderten Sei¬ tenblick. O dieſe Liebe! Ein ernſthafter Mann mit einem großen Bart, gewiß zehn Jahre älter als er, und ganz erfüllt von dieſem kleinen Mädchen! Es iſt doch etwas Unheimliches, dachte er. Und zugleich ſehnte er ſich, dieſen unheimlichen Zwang auch ein¬ mal im vollen Umfang an ſich zu erleben. Der Kuß auf der Treppe fiel ihm wieder ein. Es ſchoß ihm heiß durch die Glieder. Das hier war doch Alles nur Spielerei.

Das Fräulein trat wieder aus dem Haus, hinter ihr das Mädchen mit einem Brett voll Bierkrügen. Zuletzt erſchien der Vater auf der Treppe und rief in den Garten hinab: Bier! Bier!

Ein zuſtimmender Ruf antwortete, und die jun¬ gen Leute ſtiegen zu der Veranda hinauf, wo auf35 dem Steintiſch auch Brot und friſche rothe Radies¬ chen aufgeſtellt waren. Im Nu ſaß Jeder hinter ſei¬ nem Bierkrug. Alfred ſah das Fräulein ſchärfer an, ſie war doch ſehr anziehend mit dem warmen Puppen¬ geſichtchen. Freilich ſaß ſie mit gekreuzten Füßen, die Arme übereinandergeſchlagen und ſchien unabſicht¬ lich oder abſichtlich Alles nachzuahmen, was die jun¬ gen Männer thaten. Sie gab ſich auch den Anſtrich, ebenſo durſtig zu ſein, ſetzte ihren Krug prahleriſch an den Mund, trank aber doch nur ein paar Tropfen jedesmal. Es kam die Rede auf einen bekannten Offi¬ zier. Sofort fing ſie an, ſeine Sprechweiſe nach¬ zuahmen, ſchleifte das R, wie ein Lieutenant, ſprach durch die Naſe und klemmte das Auge zu, als ſäße ein Monocle darin. Das Lachen der Zuhörer erhöhte ihre Ausgelaſſenheit.

Sie ſtülpte dem Buben , mit dem ſie am dreiſteſten umging, ihr Blumenhütchen auf den Kopf, ſchlang ihm ein buntſeidenes Tuch um die Schultern und begann nun, eine ſchmachtende Liebesrede an ihn zu richten, immer in karrikirtem Lieutenantsdeutſch.

Ihr Vater hielt ſich die Seiten vor Lachen.

So ein Sonntagnachmittag auf dem Lande ſtellt mich allemal wieder her, ſagte er behaglich zu dem neben ihm ſitzenden Alfred.

Alle lachen, nur der Muckerl nicht, bemerkte Fräulein Appolonia herausfordernd.

3*36

Daher der Name, erwiderte Wolff lakoniſch.

Ein wüſter Name, ſagte ſie achſelzuckend.

Den Sie mir gegeben haben, parirte er mit einer Verbeugung.

Paßt er nicht? fragte ſie unſchuldig.

So gut wie Ihnen die Uniform paßt er ſchon.

Sie ſah zweifelnd ihren Vater an.

Papa, ich glaub ', Muckerl will wieder anbin¬ den, wir zwei haben immer Händel, ſagte ſie in weinerlichem Ton.

Da ſitzt das Karnickel, entgegnete ihr Vater phlegmatiſch und legte die Hand auf ihr krauſes Köpfchen. Laß doch Jeden 'n Geſicht hinmachen, wie er will.

Wolff zuckte ein wenig: Fräulein ſieht mein Geſicht nicht gern, ſagte er reſignirt; dazu machte er eine Bewegung, als wolle er aufſtehen.

Das Mädchen blickte ſchnell auf.

Meinetwegen ſollen Sie nicht gehen, ich geh 'ſchon ſelbſt, rief ſie halb weinend, ſchob ihren Stuhl zurück und eilte in das Haus.

Was war das nun wieder! ſagte der Vater kopfſchüttelnd. So 'n Mädel bleibt doch ewig' n Mädel.

Eine Unbehaglichkeit fing an, ſich zu verbreiten. Man ſprach wohl noch, aber dazwiſchen horchte man doch auf den leichten Schritt, der wiederkommen ſollte[,]37 und nicht kam. Alle athmeten auf, als plötzlich ein wüthender Walzer aus den oberen offenen Fenſtern erklang.

Der Alte ſchoß einen Triumphblick zu Wolff hin¬ über, der unruhig auf ſeinem Sitz hin und her ge¬ rutſcht war. Nun ſtand er auf, ging die Stufen hinan, ſo daß er von oben geſehen werden konnte, und fing ein lautes Händeklatſchen und Bravorufen an, in das die noch Sitzenden bald einſtimmten. Das Klavierſpiel verſtummte, das Fräulein ſtreckte neu¬ gierig das Hälschen zum Fenſter heraus, zog es aber gleich wieder zurück.

Wiederkommen! Artig ſein! rief Wolff hinauf.

Wer ſoll artig ſein? fragte ſie noch ein bis¬ chen gereizt.

Ich natürlich! Will's gewiß nicht wieder thun, antwortete er in komiſcher Zerknirſchung.

Das Spiel oben begann von neuem, ſie ſchien noch nicht zur Verſöhnung geneigt. Wolff und Al¬ fred ſchlenderten in den ſchmalen Steigen umher, ohne zu ſprechen; auf dem Geſicht des Aelteren lag eine gewiſſe Unruhe.

Er warf plötzlich die Cigarre fort und ſagte:

Und darauf hat man ſich nun die ganze Woche gefreut!

Von der Veranda her kam lautes Gelächter; ſie38 ſahen ſich um und erblickten Fräulein Loni, die mit einer großen Stange in der Luft herumfocht.

Was hat das tolle Ding jetzt wieder? fragte Wolff, während er, wie von einem Faden gezogen, auf das Haus zuging.

's iſt nur mein Bergſtock, meinte ſie gelaſſen und ſtützte ſich darauf, ich geh 'auf den Berg da, zu den Veilchen, man muß doch was in die Hand zu nehmen haben.

Der Berg war eine kleine Anhöhe hinten im Garten, es ſtand auch eine Bank dort.

Die jungen Leute ſahen ſich einen Augenblick kopfſchüttelnd an, dann rief der Bub : Ich darf doch mitgehen in die Berg '? Und als ſie gnädig nickte: Und den Stock da gebens mir und ſtützen ſich auf mich!

Da wär 'mir der Storch lieber, der iſt dünner, erwiderte ſie gemächlich.

Der Schlanke trat eilig vor und hielt ihr den zierlich gekrümmten Arm hin.

Nein, nein, ich könnt 'Ihnen was zerbrechen, lachte der Wildfang, ſtieß den Bergſtock unten in den Boden und flog mit weitem Schwung hinterdrein, ich hab' ſchon manche Bergtour allein gemacht, bleibt nur alle da. Dies galt als Aufforderung, zu folgen, nur ihr Vater blieb mit einem ſehr wohl¬39 genährten Jüngling am Tiſch ſitzen, es war der fri¬ ſirte Lockenkopf, den ſie Jockerl geheißen hatte.

Wolff nahm ſeinen Hut und flüſterte Alfred zu: Jetzt kann ich nicht mehr, und Sie ſcheinen auch genug zu haben, kommen Sie mit?

Beide verabſchiedeten ſich von dem Alten.

Und dem Fräulein ſagen wir nicht Adieu? fragte Alfred befremdet, als Wolff ihn ſchnell der Gitterthür zudrängte.

Nachher, das heißt. Sie Sie haben ja kein Intereſſe daran ſtotterte Wolff, ich aber komme zurück zum Gutenachtſagen, ich mache das immer ſo leider! Ich hoffe immer, ſie ſoll mich vermiſſen, fuhr er ſarkaſtiſch fort, aber dann bin ich ſolch 'ein Tropf, ſehen Sie, dann lauf' ich nach zwei Stunden wieder her und will ſehen, wie ſie's aufgenommen hat, und dann, ſo wie ſie mich ſieht, natürlich, ſagt ſie: Ach Muckerl, ſind Sie noch da? oder ſo etwas, daß ich aus der Haut fahren möchte, 's iſt grad 'ſo, wie ich als kleiner Bub gethan hab', da ich meine Erbſen und Bohnen jeden Tag aus dem Boden genommen hab ', um zu ſehen, ob ſie ſchon wachſen. Aelter wird man ſchon, klüger wird man nicht. Ich gäb' Gott weiß was drum, wenn ich jetzt aus meiner Haut da herausfahren könnt '!

Die Zutraulichkeit dieſer Klagen machte den Zuhörer kühn.

40

Sie ſollten ſich aber doch nicht ſo gehen laſſen, Sie ſollten Ihren Stolz zu Hülfe rufen, ein Mann

Ach Du lieber Gott, ſtöhnte Wolff, laſſen's mich aus mit dem Gered 'da. Was Stolz gegen ſo ein kleines armes Kind, denn das iſt ſie ja! Geht's ihr nicht elend genug? Hat ſie denn nur einen Menſchen auf der Welt? Iſt das ein Vater? Iſt das ein Umgang? Buben, die ihr den Kopf verdrehn und ihre Hanswurſtenſtreiche auf allen Gaſſen herum¬ tragen! Fragen Sie mal bei den jungen Malern herum, wer die Loni Spitzer nicht kennt! Alle ken¬ nen ſie, die meiſten freilich vom Hörenſagen, und das iſt das Schlimmſte. Er ergriff plötzlich Alfreds Hand. Sie werden nit einſtimmen! Sie werden ihr nichts anhängen! ſagte er mit halberſtickter Stimme.

Alfred drückte herzlich die ihm gebotenen Finger. Auch ihm war die Rührung bis in den Hals ge¬ ſtiegen. Das war nicht mehr der unheimliche Zauber, der dieſen Mann gefangen hielt, das war eine herzen¬ verbindende Kraft.

Sie waren einige Straßen weit miteinander ge¬ gangen, nun ward es Abend. Die ſchmale Mond¬ ſichel tauchte aus dem Sonnenuntergangsnebel und ſchimmerte durch die Ulmenkronen mit ihrem braunen Blüthengekräuſel. Ein friſcher Wind ſtreute die grü¬41 nen Ahorndolden auf den Boden, ihr Honigduft kam in Wellen angetrieben; in dem noch winterſchwarzen Epheu an den Hauswänden lärmten die Spatzen. Wolff blieb ſtehen und zog die Uhr. Dann ſagten Beide mit dem gleichen lebhaften Ton und Aufblick: Wann ſehen wir uns wieder? Und ſchnell be¬ ſchloſſen ſie, daß es ſchon morgen ſein ſolle, in Wolff's Atelier. Mit feſtem Händedruck ſchieden ſie; der Ver¬ liebte kehrte auf ſeinem Wege um und zu dem Spitzer'ſchen Hauſe zurück, nicht ohne viel ironiſches Kopfſchütteln über ſich ſelbſt und den Rath an den neuen Freund, ſeine Freiheit feſtzuhalten; Alfred ſchlenderte noch ziellos weiter. Der ſanfte Abend hatte es ihm angethan; dazu all' dies Liebesgeſäuſel. Der Gedanke an ſeinen kahlen Käfig ſchreckte ihn mehr als je ach, es drang keine holde Stimme mehr herein, es kamen keine Götterbilder mehr zu Beſuch. Eine ſtille Sehnſucht nach den Abenden, da er ihr zugehört, ergriff ihn, als habe er nur damals wirk¬ lich gelebt die Erinnerung an die ihm wider¬ fahrene Enttäuſchung drängte er gewaltſam zurück, ſobald ſie wieder aufſteigen wollte. Er gerieth zu¬ letzt in eine ſolche Verträumung hinein, daß es ihm deutlich war, als ſage Jemand ihm ins Ohr: Geh nach Hauſe, ſie iſt wieder da. Er ſtürmte nun heim und trat klopfenden Herzens in ſein Zimmerchen; es war von außen verſchloſſen, das kam ihm garnicht42 zum Bewußtſein. Als er ein leiſes Raſcheln hörte, fuhr er zuſammen und taſtete noch im Dunkeln auf ſeiner Bettdecke umher, ob nicht etwa das Kätzchen wieder daſitze. Er fand natürlich nichts, nur auf dem Fußboden lag ein Brief, den der Poſtbote durch die Thürritze geſchoben haben mochte. Bei der unruhig flackernden Kerze las er die Adreſſe; es war ſeines Meiſters Handſchrift; er legte den Brief ungeleſen bei Seit '. Doch war mit den bekannten markigen Zügen ſoviel Tageslicht in ſeine Dämmerung gefallen, daß er ſich wieder einmal wie einen Dritten, der ihn nicht viel anging, betrachten konnte. Alſo weil man das Höchſte nicht erreichen kann, zum Faullenzer werden, der überhaupt nicht mehr den Finger rührt; weil man auf eine ſchöne Stimme gehorcht, die leider einem häßlichen Körper gehört, ſich einreden, man ſei ver¬ liebt, natürlich hoffnungslos, unglücklich! So alſo hat das Leben bei meinem erſten Ausflug auf mich gewirkt; ſo ſchwach findet es mich. Bin ich aber ſchwach, ſo tauge ich nichts und thäte gut, mich ſel¬ ber zu begraben. Hab' ich dazu Luſt? Ach nein, auch das nicht! Was will ich denn? Nun, etwas leiſten und glücklich ſein! Gut, ſo fange an lieber zu arbeiten, gleich morgen ſchon! Und verliebe Dich nicht wieder in eine Stimme ohne Körper. Die Stimme iſt Dir aus dem Weg gegangen, Du haſt's ja43 leicht; nun geh Du auch aus dem Wege, und Du biſt wieder frei.

Er ſeufzte, nickte ernſthaft vor ſich hin und griff dann nach dem Brief, der ihm jetzt, in dieſer geſam¬ melteren Stimmung, viel Beherzigenswerthes und Zu¬ ſtimmendes ſagte. Er ging endlich ſchlafen und träumte. Es kam ſingend die dunkle Treppe herunter und fiel ihm weich und warm in die Arme. Plötz¬ lich ward Licht, und er erkannte Fräulein Loni, die ihn anlachte, und ſo erſchrak er über ihr niedliches Geſicht, daß er zuſammenfuhr und die lange, lange Treppe hinunterſauſte wie ein Sturmwind.

Der andere Morgen traf unſern Freund in jener unternehmenden geſpannten Gemüthsverfaſſung, die neue Entſchlüſſe hervorzurufen pflegen. Der Be¬ ſuch bei Wolff machte ihm faſt bange; er wollte ſich durchaus zur Thätigkeit aufraffen und fürchtete, ein Geſpräch mit dem verliebten Genremaler könne ſeinen guten Vorſätzen vielleicht hinderlich ſein. Doch ſehnte er ſich bald wieder nach einem freundlichen Ohr und ging deshalb zu früher Stunde in das Atelier mit der Abſicht, ihn dort zu erwarten. Zu ſeiner Verwunderung fand er den Maler ſchon in voller Arbeit; wie dieſer ihm mittheilte ſchon ſeit Stunden. Ein Modell zu einem Dorfſchmied, den er eben malte, war gerade im Begriff, ſeine rußige Jacke abzuziehen und ſich in einen Jäger zu verwan¬44 deln, als welcher er im anſtoßenden Atelier eine Sitzung zu leiſten hatte. Der Maler erwartete, wie er ſagte, jeden Augenblick die Kindermodelle, die auf ſeinem Bilde, an der Thür der Schmiede ſtehend, erſt flüchtig mit Kohle entworfen waren. Alfred freute ſich an der ſchon vielverſprechenden Gruppe; beſonders ein derber Bube, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, ganz als dunkle Silhouette gegen den Feuerſchein drinnen ſich abhebend, erregte ſeinen Beifall durch die Wahrheit und Abſichtsloſigkeit, die in der ganzen klei¬ nen Geſtalt ſich ausſprach. Wolff malte auch jetzt unverdroſſen weiter am Hintergrunde und ſprach nur hie und da ein Wort, während Alfred die Rahmen an den Wänden umdrehte, um die Bilder zu be¬ ſchauen. Es that ihm wohl, den neuen Freund ſo im Eifer zu finden, und es war ganz ohne Empfind¬ lichkeit, als er ihn endlich fragte, ob er nicht beſſer thue, wieder zu gehen.

Nein, bleiben Sie noch, ſagte der Andre bit¬ tend; ich möchte, daß Sie die kleine Babett ſähen, das wäre auch etwas für Sie. Sie müſſen gleich kommen.

Alfred ſetzte ſich in einen wurmſtichigen ſchön¬ geſchnitzten Armſtuhl und wartete. Allmälig aber fing die Vertieftheit des Malers ihn zu kitzeln an.

Haben Sie Ihren Gutenachtgruß geſtern noch angebracht? warf er hin.

45

Wolff hob die Hand mit dem Pinſel und drohte ihm lächelnd. Heute iſt Montag, ſagte er bedeut¬ ſam; und als ihn Alfred fragend anſah:

Sonntags die Liebe, und Wochentags die Ar¬ beit, ſonſt kommt man auf den Hund, erklärte der Maler ſchon wieder mit den Augen auf der Leinwand.

Sie haben Recht, rief Alfred etwas betroffen, ich möchte mir ein kleines Atelier miethen, anfan¬ gen zu arbeiten. Ich weiß zwar noch nicht, was

Der Maler legte die Palette hin und kam mit ernſtem theilnehmenden Geſicht auf ihn zu. Ich bitte Sie, ſehen Sie ſich die Babett an, die könnte Sie auf Gedanken bringen. Wenn ich das Ding ſehe, fallen mir alle Kindermärchen ein; ſo ein Rothkäppchen oder Schneewittchen, Sie werden ſchon wiſſen, wofür Sie ſich entſcheiden. Ein Atelier im Nachbarhauſe iſt frei, im Hintergebäude, hell und ſtill, wie Sie's brauchen. Miethen Sie's, wenn es Ihnen zuſagt, und dann kommen Sie wieder und ſehen ſich das Kind an.

Der Maler hatte mit dem Arbeitskittel einen ganz andern Menſchen angezogen. Alfred gehorchte voll Freude. Nun erſt wünſchte er ſich von Herzen zu der Bekanntſchaft Glück.

Das Atelier, von dem Wolff geſprochen, lag zu ebener Erde und hauchte eine feuchte Kellerluft aus, da es den Winter über leer geſtanden hatte; dennoch46 freute ſich der junge Bildhauer auf ſeinen erſten Ar¬ beitstag in dieſem kahlen weißgetünchten Raum, wie auf die erſte Zuſammenkunft mit der Geliebten. Kaum war er mit dem Vermiether einig geworden, ſo eilte er zu dem Maler zurück, um ihm zu danken und nun womöglich gleich ſein Modell zu beſtellen. Er hörte ſchon Kinderſtimmen ſprechen, bevor er die Thür öffnete, und als er es that, kam das Urbild des netten Kerlchens mit den geſpreizten Beinen und nackten Schultern neugierig gelaufen und meldete ſein Kommen.

Mit Wolff war jetzt noch weniger zu reden, er nickte nur und wies dann mit dem Pinſel auf eins der Kinder, das, vorläufig noch nicht im Feuer, auf einem Schemelchen am Fenſter kauerte und, die Arme auf die Kniee geſtützt, das Kinn in die Handflächen gelegt, gradaus guckte. Alfred ſah bald, daß der Maler Recht gehabt. Es war ein Geſichtchen, auf dem noch der volle Kinderſchlaf lag, nichts von Be¬ wußtſein ihrer ſelbſt. Alfred rief ſie heran und ſah mit Entzücken die wohlgeformten nackten Füße, die ſchlanken Beinchen unter dem kurzen Rock und wun¬ derte ſich über die Anmuth, mit der ſich die Kleine bewegte. Babett war ſieben Jahre alt, wie er müh¬ ſam herausbrachte, und hatte keine Eltern mehr; der derbe Bub, der Karle war ihr Bruder. Sie trug ein ſchlechtes graues Miederchen, an den Nähten zerplatzt47 und von den Schultern tief herabhängend, die Schön¬ heit des Kindes ſtand faſt unbekleidet vor ihm. Nein, das war kein Rothkäppchen, kein ſchelmiſches, von der Großmutter verhätſcheltes, von der Mutter gut gehaltenes Dirnlein. Auch kein Schneewittchen, kein ſchwarzhaariges, trauriges Königskind; das war die Schönheit im Bettelkleid, die noch reich iſt, weil ſie ihre blauen Augen hat und den blauen Himmel über ſich. Haſt Du kein Tuch, Babett? ſagte der junge Bildhauer mitleidig. Das Kind ſchüttelte die vollen blonden Locken.

Hab ich Dir nicht Freitag eins gegeben? rief der Maler ſich umdrehend.

Die Kleine zeigte auf ein anderes Mädchen, das ſich plötzlich ängſtlich zuſammenduckte, als erwarte es etwas Schlimmes.

Die Luiſ 'hat's. Sie hat kalt gehabt.

Und Dich friert's nicht, Babett?

Sie ſchüttelte den Kopf.

Sternthaler, ſagte Alfred für ſich, das iſt es, freilich! könnt ich nur gleich anfangen.

Er nahm ein Blatt Papier und fing an zu zeich¬ nen, um nur ſeine Ungeduld gleich etwas zu be¬ ſchwichtigen. Dann lief er wieder in den neuerwor¬ benen Raum und beſichtigte den Ofen, beſtellte eine Menge Feuerung und heizte endlich ſelbſt, damit der Ort bald bewohnbar werde. Mit einer großen Er¬48 leichterung erfuhr er, daß Wolff die Babett jetzt nicht zu malen gedenke; er hatte das Kind erſt zu ſpät ge¬ ſehen, das paßte nun nicht in die fertig geplante Gruppe; zudem war ſeine Lieblichkeit dort zwecklos, wie der Maler ſagte, er ſparte ſie ſich für ſpäter.

So konnte denn Alfred wirklich am folgenden Tage beginnen und that es mit einem Fieber, das dem älteren Freund rührend dilettantiſch vorkam.

Aber Alfred ſtutzte nicht ob des böſen Wortes.

Warten Sie nur, ſagte er gutmüthig, ich weiß ſchon, wir Norddeutſchen kommen Euch ein bis¬ chen dumm vor mit unſerer unkritiſchen Begeiſte¬ rung, wie Ihr ſagt, und Ihr traut ihr nicht. Aber wie kritiſch Ihr Euch immer anſtellen mögt, 's iſt auch nur äußerlich, und ich weiß doch, wie warm es auch bei Euch drinnen ausſieht.

Und als der Maler immer noch lächelte, rief er faſt ärgerlich:

Sie wollen mir doch nicht einreden, daß Sie dabei nichts empfunden haben? Er deutete ſo hef¬ tig auf das Bild auf der Staffelei, daß Wolff un¬ willkürlich wie zum Schutz die Hand erhob. Dann klopfte er Alfred auf die Schulter. Sie ſind ein guter Kerl; machen Sie nur das Babettle recht, ſo will ich mich auch dafür begeiſtern und Ihre Ge¬ ſundheit trinken.

Machen Sie's recht. Ja, das war freilich leicht49 geſagt! Es ſchien von Tag zu Tag ſchwerer zu wer¬ den. Alfred theilte ſeine Zeit zwiſchen Arbeit und Studium in den Sammlungen. Jeden Morgen be¬ gann er mit leiſer Hoffnung, daß ihm heut etwas Gutes gelingen müſſe, und die Hoffnung ward zur beglückenden Ueberzeugung, wie die Stunden ver¬ rannen. Mit heißen Wangen, mit gehobenem Selbſt¬ gefühl beendete er die Arbeitszeit. Dann kam der Nachmittag und mit ihm der Umſchwung. Vor den fertigen Meiſterwerken ſchwand ſein eignes Beginnen in ein lächerliches Nichts zuſammen; die Zerſchmette¬ rung jenes erſten Beſuchstages wiederholte ſich, wenn auch nicht ſo ganz vernichtend, weil ſie nicht mehr ſo neu war. Sein Lehrer in Hamburg hatte an ihm eine gewiſſe unbefangene Keckheit gelobt, ja zuweilen bewundert. Die kam ihm hier ganz abhanden.

Alles ward Vorſicht, Abſicht. Statt des flotten Zugreifens ein ängſtliches Taſten, eine qualvolle Un¬ ſicherheit, die bald nicht mehr aus noch ein wußte. Er blieb aus dem Atelier des Malers fort, beſchränkte ſich ganz auf ſich, wollte erzwingen, was ſich nur mühſam Schritt für Schritt erarbeiten läßt, und quälte die geduldige Kleine mit endloſen Sitzungen, daß ſie darüber blaß und ſchläfrig wurde.

Als er es acht Tage ſo getrieben hatte, trat eines Nachmittags Wolff in die von allen heiteren Geiſtern verlaſſene Arbeitsſtätte. Alfred warf mit un¬Frapan, Bitterſüß. 450ruhigem Erröthen ein Tuch über ſein Thonmodell und bemühte ſich, den Maler auf die andere Seite zu locken. Doch Jener ging ruhig auf das verhüllte Werk zu und betrachtete es eine Weile ſchweigend, während der junge Bildhauer haſtig auf und ab lief. Wolff hatte ſchon an der Begrüßung empfunden, wie es hier ſtehe, und daß ermuthigender Zuſpruch eine Lebensfrage bedeute. Er fing an, dies und jenes zu loben, rieth ihm aber dann, die Arbeit, an der er ſich offenbar müde geſehen, eine Weile ruhen zu laſſen und irgend eine andere Aufgabe zu wählen.

Alfred athmete auf; er drückte dem Freunde lebhaft die Hand. Dann erzählte er ihm von ſeinen täglichen Leiden; der Maler nickte wie zu etwas Längſtbekanntem.

Sie ſind noch nicht weit genug, um den freien Genuß und Nutzen davon zu haben. Machen Sie jetzt etwas, und gehen Sie inzwiſchen nicht in die Theken , es wird beſſer ſein. Und wenn Sie jetzt Zeit haben, kommen Sie mit auf einen Spaziergang, ich möcht 'mit Ihnen reden.

Alfred entließ Babett, die, müde ſich dehnend, in einer Ecke ſtand. Sie gingen hinaus und quer durch die Stadt, den Iſarauen zu. Die jungen Uferweiden ſchimmerten in hellem Grün; doch war es kühl und menſchenleer auf den kiesbeſtreuten Wegen.

Ich muß reiſen, ſagte der Maler, gleich mor¬51 gen früh; ich hab 'eine ſchwindſüchtige Schweſter da¬ heim, die wird wohl in dem Frühjahr draufgehen, ſchreibt mir die Mutter. Man weiß nicht, wie lang es an¬ ſtehen kann, ich möcht ſie noch ſehen. Vielleicht mal' ich ſie für die Mutter, ſie hat immer danach verlangt, ihr zartes Geſicht zu haben.

Er ſchwieg; der Leidenszug trat heute deutlich hervor, ſein gelaſſener Ton kontraſtirte ſeltſam damit.

Ach, wie das traurig iſt, ſagte Alfred herzlich.

Ja, aber es hilft nicht, es iſt nun ſchon ſo; wir haben's ſeit drei Jahren kommen ſehen, daß es ſo geht, aber hin will ich noch. Er ſah den Bild¬ hauer mit zuckendem Munde an, als wolle er noch etwas ſagen.

Kann ich irgend etwas thun? rief der, ſeine warmen kindlichen Augen halbſchließend, damit der Andre nicht ſehe, daß eine Thräne darin ſtand,

Gehen Sie manchmal zum Spitzer, und geben Sie Acht auf die Loni, erwiderte Wolff, nicht wahr, Sie ſind nicht angebrannt?

Seien Sie meiner ganz ſicher, ſagte Alfred ehrlich betheuernd.

Nun alſo; ſehen Sie dort nach dem Rechten, Sie wiſſen ja, wie's hergeht, haben's ja ſelbſt ge¬ ſeh'n. Ich möcht's nicht erleben, daß ſie ſich etwa mit dem Buben oder dem Storch in eine Liebes¬4 *52geſchicht 'einlaßt, aus der ich ſie nachher wieder her¬ ausſchälen müßt.

Alfred ſah ihn etwas verwundert an.

Ich hab 'die heimliche Ueberzeugung, daß ſie mir zuletzt zufallen muß, ſagte der Maler nachdenk¬ lich, denn die Buben alle geh'n nur des Lachens wegen hin. Freilich, der Alte iſt nicht unbemittelt, wer weiß und die Loni könnt' nen dummen Streich machen und ſich aus Langerweil anbinden. Das muß verhütet werden.

Aber wär 'es nicht beſſer, Sie ſprächen mit dem Fräulein vor ihrer Abreiſe?

Ueber Wolffs Geſicht flog ein leiſes Roth.

Nein, ſagte er abwehrend, ſo weit ſind wir noch nicht. Sie iſt ſo gar jung, was würd 'ſie zu ſolch' einem Geſicht ſagen; und kann doch im Augen¬ blick kein anderes hinmachen, ſelbſt ihretwegen nicht; ich geh nicht mal zum Abſchiednehmen hin. Ich hoffe, ſie ſoll mich vermiſſen!

Alfred war verſtummt; er fühlte ſich wie zu¬ ſammengepreßt, wie eingeſchnürt.

Ach, rief er endlich, und ſo ſchlägt man ſich, drängt man ſich, quält man ſich von einem Tag auf den andern.

Ja, ſo lebt man, war die leiſe Antwort.

Leben? Das iſt das Leben? fragte er in ſchmerzlicher Verwunderung.

53

Haben Sie Andres erwartet? ſagte Wolff mit¬ leidig lächelnd. Aber fügen Sie noch hinzu: Und ſo gewinnt man Freunde, da klingt's doch gleich a biſſel beſſer.

Alfred drückte ihm mit einer Art Schwärmerei die Hand.

Werd 'ich von Ihnen hören?

Ich ſchick 'Ihnen den Trauerbrief, wenn's ſo¬ weit iſt, murmelte der Maler.

Wieder gingen ſie eine Weile ſchweigend neben einander her.

Ich ſoll Fräulein Loni Ihre Abſchiedsgrüße bringen? fing Alfred wieder an.

Wenn ſie nach mir fragt, eher nicht; verhin¬ dern Sie nur, daß ſie ſich verliebt, verlobt u. ſ. w.; und reden Sie Gutes von mir. Sie ſelbſt, nicht wahr

Er ſah Alfred mit einem langen, prüfenden Blick in die Augen, die ihn ſicher und freudig er¬ widerten.

Gut Freund, wiederholte der junge Bildhauer ernſt, Sie dürfen mir vertrauen.

Mit einem feſten Händedruck ſagten ſie ſich Lebe¬ wohl.

Alfred Heuvels war ſeit jenem Sonntag nicht in der Villa Spitzer geweſen und hatte nur den Alten einmal in ſeinem Atelier unter den Rokoko¬54 dämchen beſucht. Jetzt war er verpflichtet, ſich nach dem närriſchen Fräulein umzuſehen. Es war im Grunde ein recht ſonderbarer Auftrag, den ihm der Freund da hinterlaſſen, und Alfred ging mit nicht ſehr behaglichen Empfindungen hinaus. War er doch ein ganz Fremder dort im Hauſe und hatte ſich in jenen Stunden keineswegs wohl gefühlt. Wie ſollte er ſich dem verzogenen Kinde nähern, ohne falſche Vorausſetzungen zu erwecken? Sie nahm es ſo ſelbſt¬ verſtändlich hin, daß ihr Jeder ſeine Huldigungen brachte.

Und wenn er ſich's recht überlegte, ſchien ihm das auch die beſte Umgangsform mit ihr zu ſein. Er aber ſollte vernünftig mit ihr reden und ſie be¬ aufſichtigen! Eben das hatte ja auch der Wolff ver¬ ſucht, und es war ihm ſo elend mißlungen. Mit heimlichem Widerſtreben dachte Alfred daran, daß ſie nun auch ihm irgend einen Spottnamen anhängen und ihn ſo hitzig behandeln werde wie das Muckerl . Es war ihm garnicht recht geheuer, als er jetzt die Glocke an der Gartenpforte zog; und als endlich das Mädchen mit einer kleinen Laterne herauskam und ihm meldete, der Herr ſei noch nicht daheim, und das Fräulein ſei in einer italieniſchen Stund ', zog er ganz erleichtert ſeine Karte heraus und empfahl ſich eilig. Er hatte dieſe ſpäte Stunde gewählt, um nicht zuviel Arbeitszeit zu verlieren. Denn er hatte das Relief¬55 porträt eines charakteriſtiſchen alten Männerkopfs begonnen und war in ſeinem gewohnten Anfangs¬ fieber. Um ſich in der Stimmung zu erhalten, hatte er diesmal Wolffs Rath befolgt, nichts andres in¬ zwiſchen zu ſehen, und war bis zum Dunkelwerden an ſeinem Werk geblieben.

Als die Straße zu Ende war und er in die nächſte einbiegen wollte, rannte er faſt mit einer Dame zuſammen, die eilig daherkam. Wie ſie anein¬ ander vorbei wollten, erkannten ſie ſich.

Ah, Fräulein Spitzer, ich komme grade von Ihnen.

Von mir? ach, das iſt geſchickt, da geh'ns mit mir z'rück, 's iſt ſo arg dunkel, rief ſie erfreut, der Papa wollt mich abholen, iſt aber net kommen, fügte ſie hinzu.

Alfred verbeugte ſich und kehrte mit um, doch hielt er es nicht für loyal, ihr den Arm anzubieten, ſo freundlich ihn die ſchwarzen Augen unter dem Kraushaar anlachten.

Sie machen ſich rar, ſagte ſie, zu ihm hinauf¬ ſehend, es hat Ihnen, ſcheint's, nicht bei uns ge¬ fallen.

O, wie können Sie denken fing er an.

Es ſchad't nix, begütigte ſie, Sie dürfen meinethalb 'nicht lügen. Es thut halt Jeder, was er mag.

56

Der Ton war ſehr harmlos, aber er reizte doch zum Widerſpruch, zum Complimentemachen.

Es kommen mehr Leut ', als ich mag, ſagte ſie nun auch ſchon, da er nicht geantworet hatte.

Wen ſehen Sie denn am liebſten? fragte Al¬ fred ſcherzend, er hoffte auf Wolff zu kommen.

Ja, darüber hab 'ich mir noch nie den Kopf zerbrochen! lachte ſie, ihn mit einem erwartungs¬ vollen Seitenblick ſtreifend.

Ich aber weiß Jemand, der für ſein Leben gern jetzt an meiner Statt hier ginge, ſagte Alfred mit plötzlichem Entſchluß.

Das heißt. Sie thun's nit ſo gern, erwiderte ſie etwas gereizt; da ſchaun's, ich bin gleich z'Haus, ſie wies mit ihrem Sonnenſchirmchen vorwärts.

Sie werden mich doch nicht am Gartenthor entlaſſen? rief Alfred wärmer, als es ihm ums Herz war.

Sie nickte nachläſſig mit dem Kopf:

Der Papa iſt noch nicht daheim, und ich bin arg müd ', ich muß ſchlafen gehn.

Der Bildhauer biß ſich auf die Lippen.

Sie ſind heut ſehr ungnädig, ſagte er lebhaft.

Und Sie könnten ein biſſel galanter ſein, gab ſie zurück.

Liegt Ihnen ſo viel daran? entfuhr es ihm faſt wider Willen.

57

Sie legte den Kopf zurück, drückte die Augen zu¬ ſammen und ſagte ſpöttiſch: Sie wollen wohl auch mit mir anbinden? Sie gehen wohl beim Muckerl in die Schul '?

Wenn Sie von meinem Freunde reden rief der Bildhauer faſt heftig.

So, Sie ſind Freunde miteinander, Ihr ſeid ein Paar! ſagte ſie wegwerfend.

Der Zorn ſtieg ihm zu Kopf.

Ich bitte Sie, ſeien Sie einmal vernünftig, rief er, Sie ſind noch jung, Sie kennen die Men¬ ſchen noch nicht, aber daß Wolff ein edler, ein ſeltner Menſch iſt, das ſollten auch Ihre Kinderaugen ſchon erkannt haben, falls ſie überhaupt die Fähigkeit haben, das Gute und Rechte wahrzunehmen.

Das Fräulein hatte die nach der Glocke aus¬ geſtreckte Hand ſinken laſſen und ihn eine Weile in ſprachloſer Verwunderung angeſtarrt. Sie that einen tiefen Athemzug. Dann ſagte ſie langſam:

Das iſt brav von Ihnen, daß Sie ihn in Schutz nehmen; das muß wohl auch ein Freund thun, Sie zog die Klingel und fuhr in demſelben gezähmten Tone fort: Wenn Sie Sonntag kommen wollen, es wird Ihnen arg langweilig ſein, aber mir machen Sie eine Freud 'damit. Auf Wieder¬ ſehn! Sie ſtockte, erröthete und reichte ihm das Händchen im ſeidnen Handſchuh. Er fühlte ihren58 heftigen Pulsſchlag, wie er es einen Augenblick feſt¬ hielt. Dann eilte ſie, ohne ihn anzuſehen, an dem Dienſtmädchen vorüber und durch den dunklen Gar¬ ten; ihr leichter Fuß klang hörbar auf den Marmor¬ ſtufen, dann war ſie im Hauſe verſchwunden. Mit langſamen Schritten entfernte ſich Alfred. Er hatte wohl etwas erreicht, aber er war doch nicht zufrieden mit ſich, nein, er war nicht zufrieden!

Kaum zu Hauſe angelangt, ſchrieb er einen Brief an Wolff, bat ihn, den Auftrag von ihm zu neh¬ men; er ſei ungern bei den Spitzers und nicht die geeignete Perſon, Fräulein Loni zu beeinfluſſen. Danach ſchlief er ruhig und zerriß folgenden Mor¬ gens den Brief, aus Rückſicht für den Freund. Der hatte Sorge und Schmerz genug, der ſollte nicht um eines übertriebenen Skrupels willen beunruhigt wer¬ den. Als er erſt bei der Arbeit war, fand er ſeinen Halt wieder und vergaß zuletzt Alles in der Welt, außer dem Geſicht da vor ſich und dem Thonklumpen in ſeinen Händen. In der Frühſtückspauſe kam das alte Modell geſchlichen und beſah ſich, was da wurde. Sein verſtändnißvolles Schmunzeln und Nicken dünkten den jungen Künſtler werthvoller als alle gelehrte Kritik. Der Schufterl , wie er in den Ateliers ge¬ nannt ward, hatte ſein Geſicht ſo oft auf der Lein¬ wand und in allerlei anderem Material geſehen, daß er ſchon ein Urtheil beſaß.

59

So gingen die Tage bis zum Wochenſchluß wie im Traum dahin, und hin und wieder nur kam eine einſame Abendſtunde, in der Alfred, von unbeſtimmter ſehnſüchtiger Unruhe getrieben, das Fenſter aufriß und hinaushorchte, und wenn Alles ſtill blieb, nach dem Hute griff und ins Freie rannte, um ſich müde zu machen und ſeine Gedanken und ſein warmes junges Blut zu kühlen. Dabei war es ihm eine Annehmlich¬ keit, daß ſein Zimmernachbar ausgezogen war und der leere Raum ganz anſpruchslos daſtand; die Wirthin hatte ſogar die Verbindungsthür zwiſchen jenem und dem ſeinigen geöffnet, ſo lange es unbenutzt ſei, und Alfred freute ſich, für ſeine langen Beine etwas mehr Spielraum zu haben. Was ihm die Frau gewonnen hatte, war die Freigebigkeit des jungen Hamburgers und ſeine Dienſtbereitſchaft für alles Weibliche im Haus, ſei es das alte Mütterchen im dritten Stock, der er den entfallenen Arbeitsbeutel hinauftrug, ſei es das Wäſchermädchen, dem er den ſchweren Korb auf den Kopf ſetzen half. Es lag ihm eben in der Natur, daß ſein angenehmes Geſicht noch freundlicher wurde, wenn es ein langes Haar und einen faltigen Rock zu ſehen bekam.

Am Sonntag fühlte er ſich wieder unbehaglich und aufgeregt, doch kam ihm garnicht der Gedanke, daß er ja vielleicht aus dem Spitzer'ſchen Hauſe weg¬ bleiben dürfe. Noch hatte er das Fräulein nicht ge¬60 ſprochen, kein Wort über Wolffs Abreiſe mit ihr ge¬ tauſcht. Er haſtig zu Mittag und mußte dann, weil es noch viel zu früh war, zwei Stunden mit dem Leſen öder Zeitungen verbringen; er hielt dabei zuletzt die Uhr in der Hand und bekam aus reiner Langerweile Herzklopfen.

Endlich ſchlug es drei Uhr, in einer halben Stunde war er draußen. Er hatte ſich vorgenommen, mit Ernſt und Beſtimmtheit der gefährlichen Kleinen entgegenzutreten und es zu keiner Neckerei kommen zu laſſen. Er kam daher etwas aus der Faſſung, als ihn Fräulein Loni mit einem ausgelaſſenen Gelächter begrüßte, in das der Vater und die jungen Burſchen, die ſchon alleſammt unter einem großen blühenden Apfelbaum ſaßen, faſt beleidigend einſtimmten.

Kommen Sie, Herr Niemand, für Niemand iſt noch Platz! rief ſie, und zog einen Gartenſtuhl an ihre Seite, auf dem Alfred indeſſen nicht Platz nahm.

Darf ich nicht wiſſen, warum Sie ſo luſtig ſind? fragte er, noch außerhalb des Kreiſes ſtehend, die Augen von Einem zum Andern wandern laſſend.

Da ſehn Sie! zwitſcherte das Mädchen und hielt ihm eine Karte vor die Augen; die Kart haben Sie unſerm Mädel 'geben, warum haben's ſich denn vor ausgeſtrichen, wann's ſich nun doch wieder einſtellen?

Ach, ſeine Viſitkarte, auf der er damals in der61 Glyptothek ſeinen Beruf, und wie er nun ſah, in dem ſchmerzlichen Eifer jener Stunde, unabſichtlich auch ſeinen Namen durchſtrichen hatte! Der Zufalls¬ kobold hatte ihm auch gerade dieſe in die Hand ſpielen müſſen, und er hatte garnicht hingeſehen, als er ſie abgab.

Was heißt denn das? Was bedeutet das? fragte man von allen Seiten. Alfred ward es immer unbehaglicher; mit der ganzen Wahrheit, die ihn ſo nahe anging, mochte er nicht vor dieſen Neugierigen herausrücken. Dennoch mußte er etwas ſagen. Er ſtotterte eine Entſchuldigung wegen des Mißgriffs; aber Loni ſah ihn kopfſchüttelnd und forſchend von der Seite an und fuhr fort, ihn Herr Niemand zu nennen, was ſie in allerlei dreiſten Scherzen aus¬ beutete.

Niemand darf aus meinem Glaſe trinken, gelt Papa? ſagte ſie, ihm ihr Glas kredenzend, und es ebenſo ſchnell zurückziehend und eifrig leerend. Aber Niemand findet mehr einen Tropfen drin, rief ſie und ſtieß es ausgelaſſen auf den Tiſch nieder. Der Alte lachte über die Wetterhex , und Alfred ſaß dabei mit ſüßſaurer Miene und wäre gern weit fort geweſen. In einer Pauſe ſah ſie ſich nach allen Seiten um, guckte auch unter den Tiſch und rief dann mit geheuchelter Ueberraſchung:

Jeſſas, der Muckerl iſt nicht da!

62

Da bin ich froh dran, fiel der Alte ein, er hat was Zuwideres.

Wolff iſt ein wackrer Künſtler und ein edler Menſch! ſagte Alfred, während es ihm roth ins Ge¬ ſicht ſtieg und ſeine Stirn ſich unmuthig zuſammenzog.

Kann ſein, aber ich mag ihn net, erwiderte Spitzer und klopfte behaglich ſeine kurze Pfeife aus.

Armer Freund! Alfred ſah Loni ſcharf an, aber ſie klapperte mit ihrem Armband und bat dann den Buben , ſie einen Salamander reiben zu lehren, ſie könne es nimmer recht. Der abſichtlich laute un¬ bekümmerte Ton ſchien dem Bildhauer eine neue Her¬ ausforderung. Doch bekämpfte er ſeinen Aerger und rief nun ſelbſt: Exercitium salamandri! daß das Mädchen die Augen aufriß und auch der Alte ſich mit Schmunzeln nach ihm umwandte und ihm mit einem väterlichen: Ich hab's gern, wenn junge Leut 'luſtig ſind, auf die Schulter klopfte.

Wider Willen ſah ſich Alfred in die geräuſch¬ volle ſeichte Heiterkeit hineingezogen. Blindekuh! Wir ſpielen Blindekuh! rief das Fräulein, riß ihr Tüchlein hervor und verband ihm die Augen. Dann lief ſie ſo neckend an ihm vorbei, daß die Andern wohl merkten, es ſei eigentlich nur ein Spiel zwiſchen dieſen Beiden, und ſich bedeutſame Blicke zuwarfen. Nicht lange dauerte es, da hatte er ſie erhaſcht und hielt ihre warmen weichen Hände feſt in den ſeinen. 63Er ſchüttelte mit einer Bewegung das Tuch ſo weit herunter, daß er ſehen konnte, ſie waren zwiſchen zwei Bäumen und fern von den Uebrigen.

Nicht eher geb 'ich Sie los, als bis Sie eine Frage thun, rief er in halbem Zorn.

Welche Frage? Sie ſuchte ihre Hände zu be¬ freien und war purpurroth.

Rathen Sie! Rathen Sie! drängte er und ſah ſie mit dem Gefühl an, daß ſie es doch nicht rathen werde, und daß ſie ihm überlegen ſei und ihn um den Finger wickle.

Plötzlich war ſie frei, ſtellte ſich gerade vor ihn hin und ſagte mit einem bittenden Kleinmädchenblick in ſeine blauen Augen:

Es wäre ſchon beſſer, Sie ſagten mir's, ich bin halt gar zu dumm!

Mein Freund Wolff, fing er an, aber es klang ihm ſelbſt wie eine Formel, und das Fräulein hatte ſich ſchnell abgewandt und war ein bischen zu¬ ſammengezuckt.

Wolff iſt fort, ſagte er mit einer neuen Kraft¬ anſtrengung, ich ſoll Sie grüßen.

Nun ſchien ſie doch zu erſtaunen.

Fort? Ganz fort? fragte ſie und ſagte dann nach einer Weile: Da kann er mir nimmer die Le¬ viten leſen, aber daß er ſo ſchnell gangen iſt

64

Seine Schweſter iſt im Sterben , fuhr er in bebendem Ton fort, er iſt ſehr beklagenswerth.

Sie maß ihn betroffen. Muckerl? fragte ſie leiſe, als habe ſie den noch niemals in dieſem Lichte erblickt.

Wie ſie ſo nachdenkend ſtand, das lachende Mündchen ernſthaft geſchloſſen, die zierliche Geſtalt vom Abendſonnenſchein umſtrahlt, war es Alfred auf einmal, als ſei er blind geweſen. Sie iſt ja reizend! dachte er, und im gleichen Augenblick traf ihn ihr Blick ſo voll Wohlgefallen, daß ſein Herz hoch auf¬ ſchlug.

Sie ſind brav, ſagte ſie langſam und ohne den Blick von ihm zu wenden, wer Ihr Freund iſt, hat es gut.

Nun fing er mit einer wahren Ueberſtürzung an, von dieſem Freund zu reden; er rühmte ſeine Güte, ſeinen Fleiß, ſeine Begabung und demüthigte ſich zu¬ letzt ſo tief vor ihm, daß Loni abwehrend den Kopf ſchüttelte. Nein, jetzt, das iſt zuviel, das würd 'er nicht annehmen.

Etwas verwirrt kehrten ſie zu den Uebrigen zu¬ rück, die ihnen zuriefen, man habe ſchon überall nach ihnen geſucht. Fräulein Loni ſchlug den Schlanken, den ſie Storch nannte, geringſchätzig auf die Fin¬ ger, die er ihr entgegenſtreckte.

Da hätt 'ich viel zu thun, wenn ich all' Euer65 Geſchwätz glauben wollt', ſagte ſie achſelzuckend, Ihr habt derweil Bier trunken; ich kenn 'Euren Sonntagsnachmittagsdurſt.

Der Bub ſah Alfred mit frechem Lächeln an: Haben Sie ſich fangen laſſen, mein Beſter? fragte er.

Nein, er hat mich gefangen! rief das tolle Kind, er war ja Blindekuh; plötzlich aber lief ein Erröthen über ihr feines Geſichtchen, der Bub hatte ſo beleidigend aufgelacht.

Das is amal a dicker Spatz, ſtotterte ſie me¬ chaniſch und zeigte geradeaus auf den Raſenfleck unter dem Birnbaum.

Aber Fräulein, das iſt ja der Jockerl! näſelte der Storch mit komiſchem Mißverſtehen.

Loni lief zu ihrem Vater und ſetzte ſich neben ihn. Ich bin müde, flüſterte ſie, ſchick ſie weg, Papa. Sie ſtützte den Kopf auf die Hand und ließ die Lippe hängen.

Wenn Du müd 'biſt, geh ſchlafen, ſagte der Vater mürriſch, man braucht Dich net.

Die Kleine machte ein hülfloſes Geſicht. Nie¬ mand, ich weiß nicht, wie er eigentlich heißt ſie lachte ſchon wieder alſo Niemand kann hier¬ bleiben, aber, bitte, Papa, ſchick die Andern weg.

Du biſt nicht geſcheut, war die Antwort, Herrgott, hat man eine Noth mit ſo Mädelen. ErFrapan, Bitterſüß. 566goß ärgerlich ſein Glas hinunter. Jockerl, der ihm gegenüber ſaß und etwas von der halblauten Unter¬ redung gehört hatte, grunzte beiſtimmend und trank ebenfalls.

Sie iſt doch elend dran! dachte Alfred, Wolff hat ganz Recht. Sie könnte eine Andre werden. Ob aber durch ihn?

Guten Abend, Fräulein Loni, ſagte er, hinter ihren Stuhl tretend, ich möchte mich verabſchieden.

Ich auch! erwiderte ſie mit traurigem Nicken, ich thu's auch bald! Sie ſtand auf, obgleich Alle ſie anſahen.

Ich begleite Niemand! rief ſie mit dem ge¬ wohnten ſpitzbübiſchen Lachen, ja, macht nur lange Hälſe, iſt mir auch eins.

Ich wollt, die Andern gingen und Sie blieben da, ſagte ſie, als ſie zwiſchen den Blumenbeeten ſtanden, nun fangen ſie bald an Skat zu ſpielen, und da bringt man ſie vor Mitternacht net weg. Spielen Sie auch Skat?

Nein, lächelte Alfred.

Sie ſeufzte tief. Grad ſo ungebildet wie ich, denn wer nicht Skat ſpielt, ſei ungebildet, ſagt Jockerl. Ich glaub's aber net.

Wolff rührt keine Karte an, betheuerte der Bildhauer mit einer heldenmüthigen Anſtrengung.

Sie erwiderte nichts; nach einiger Zeit bückte67 ſie ſich zu einem Quittenſtrauch, deſſen kaum er¬ ſchloſſene granatrothe Blüthen durch das ſpärliche Grün leuchteten.

Sie reichte ihm ein Zweiglein und ſteckte ſich ſelbſt eins an. Er haſchte nach der niedlichen Hand und küßte ſie ſchnell.

Ihnen kann man ſchon etwas zu Liebe thun, ſagte ſie, während ihr wieder das Blut ins Geſicht ſtieg, ſich dann aber der Ausdruck plötzlich ins Schalk¬ hafte veränderte: Sie ſind ja doch Sie ſind ja doch Niemand!

Damit wollte ſie fortlaufen; er aber hielt ſie feſt und warf einen ſchnellen Blick rückwärts; der Tiſch war nicht zu ſehen, die Büſche traten davor.

Niemand? ſagte er mit drohendem Flüſtern, iſt es wahr, Loni, bin ich Ihnen wirklich Nie¬ mand? Er wußte ſelbſt kaum, was er ſprach, nur daß ſie ſehr lieblich war, und daß ihre kleine Hand wie ein warmes zuckendes gefangenes Mäuschen in der ſeinen lag.

Ich will ich will auf ihrer Kart 'nachſchaun, wie Sie heißen, flüſterte ſie.

Alfred! hauchte er.

Alfred, wiederholte ſie wie ein leiſes Echo; und dann noch leiſer: Gute Nacht, Alfred.

Gute Nacht, Loni! er beugte ſich auf ihr ge¬ ſenktes Köpfchen und drückte ſeine Lippen auf das5*68weiche dunkle Gelock, ſein Herz ſchlug ängſtlich und hart.

Da ging ein Mann an der Gartenpforte vor¬ über, nah 'bei ihnen; Alfred ſah nicht viel mehr, als den grauen Schlapphut, aber es fuhr ihm wie ein Stich durch die Bruſt. Trug nicht Wolff ſolch einen Hut? Wolff und er o!

Gute Nacht! ſtammelte er mit einem haſtigen kurzen Händedruck und war, ohne ſich umzuſehen, mit einem Sprung aus dem Garten.

Er ging nicht der Richtung nach, die jener Spa¬ ziergänger genommen, der den Schlafwandler auf¬ geweckt. O nein! Er eilte nach der entgegengeſetzten Seite, obgleich ſie ihn weiter hinausführte. Wenn der Mann wirklich ſein Freund geweſen wäre, er hätte nicht erſchrockener vor ihm fliehen können. Und doch lief er eigentlich vor ſich ſelbſt und zwar mit dem erdrückenden Bewußtſein, daß das nutzlos ſei und daß er ſich nicht entlaufen könne. Was hatte er gethan! Weh, was hatte er gethan! Für ſich ge¬ nommen, was er dem Freund bewahren ſollte! Es verdiente die ſchwärzeſten Namen. Wie er ſich an¬ klagte, wie er ſich haßte. Solch ein Menſch, ſolch ein Freund! Solch ein Vertrauen! Und dazwiſchen erboſte er ſich wieder für ſeine bisherige Unſchuld, kämpfte mit ſich ſelbſt für ſie. Für mich genom¬ men? ſagte er ſich, nicht doch in den Schoß69 gefallen. Wie wenig hab ich dazu gethan! Und wider Willen kam ihm ihre Geſtalt zurück und ihr unverhohlenes Wohlgefallen und wie allein ſie ſei mit dem Vater und unter jenen plumpen, läppiſchen Ge¬ ſellen. Ihn ſah ſie gern, war es nicht Pflicht viel¬ leicht, ihr die Freude zu gönnen? Sie war ja ganz gleichgültig geblieben bei ſeinem Bericht über Wolff! Nicht ein gutes, freundliches Wort für den Abweſen¬ den hatte er herausgehört, und von Vermiſſen war auch nichts zu bemerken geweſen. Armer Wolff, es ſchien ganz hoffnungslos. Der Vater war ihm auch abgeneigt, nun alſo! Sehe ich aus wie Einer, der einen Freund betrügt? Habe ich nicht den beſten Willen gehabt, für ihn zu werben? Aber wer kann denn Liebe erzwingen und noch gar Liebe für einen Andern?

So zuckte ſeine Seele hin und her; er war zu klar, zu ſehr Pflichtmenſch, um ſich dauernd vor ſich ſelbſt entſchuldigen zu können, und er war zu warm und zu verliebt, um ſein Unrecht ohne Umſchweif zu bereuen. Er hatte ſich ja nur treiben laſſen, wie der Strom ihn zog. Ihm ſchien vor Allem unbegreiflich ſeine frühere Verblendung, ſtrafbar ſeine Sicherheit, ſein unbeſonnenes Verſprechen. Aber hatte nicht auch Wolff gefehlt, der doch ſo viel älter war und wiſſen mußte, daß es Stimmungen gibt und Impulſe, die Niemand vorausahnt? Eine Viertelſtunde lang70 dünkte es Alfred, als könne er allen Zorn auf den Freund wälzen. Nicht wie ein Freund, wie ein Ver¬ ſucher hat er an mir gehandelt! aber das unklare Wehgefühl, das nicht weichen wollte, belehrte ihn eines Beſſeren. Ach, er war unglücklich, er war tief be¬ dauernswerth, er liebte die Geliebte ſeines Freundes und hatte es ihr nicht geſagt, aber doch deutlich ge¬ zeigt. Ihm wurden die Augen naß vor Mitleid mit ſich ſelbſt, mit ihr, die er ohne Zweifel durch ſein plötzliches Davoneilen gekränkt, und mit ihm, der ſich in trüber Leidenszeit durch den Gedanken an ſie Beide aufrecht hielt und ſo ſchmählich betrogen war. Wie ein Irrgarten lag die Zukunft vor ihm. Wel¬ chen Weg einſchlagen? Und der Lockvogel, der ihm unaufhörlich ins Ohr ſang: Sie liebt dich, und du liebſt ſie auch; wer liebt, hat Recht, geh wieder hin! Du haſt nur ihre Locken geküßt, küß ihre Lippen: ſie warten auf dich, ſie rufen dich. Er nahm die rothen Blüthen aus dem Knopfloch und küßte ſie, bis nicht ein Blättchen daran blieb, aber ſie waren kühl und küßten nicht wieder!

Der andere Morgen fand ihn matt und mit ſchmerzendem Kopf auf ſeinem Lager. Doch ſtand er haſtig auf, ſowie er munter geworden, er ſcheute ſich vor dem Grübeln und Beſinnen. Werd 'ich ſie heute ſehen? Darf ich ſie ſehen? war Alles, was er dachte. Erſt auf dem Wege zu ſeinem Atelier fiel ihm ein,71 daß heut eigentlich ein großer Tag für ihn ſei: der Marmor, den er für die Mädchenfigur Sternthaler beſtimmt hatte, ſollte heut ausgewählt werden. Mar¬ mor! Er hatte ſich ſo danach geſehnt, das edle Ge¬ ſtein unter ſeinen Fingern zu fühlen. Es war ein großer Luxus, und Wolff hatte ihm abgerathen, und nun erſt Spitzer: Sie ſtecken da viel Geld hinein, das Sie nie herausbekommen! Stellen Sie doch Ihren Gips aus, wie andre Leute. Das iſt faſt protzig gethan, ſag' ich Ihnen. Aber Alfred hatte in guter Laune erwidert, er habe ſich's einmal in den Kopf geſetzt, für die Babett ſei nur Marmor gut ge¬ nug. Er bekomme ihn billig aus dem Nachlaß eines verſtorbenen Künſtlers, es werde auch nichts allzu Rares ſein.

Sein Modell wartete ſchon auf ihn, das kam ſonſt nicht vor. Auch nicht, daß er ſo ohne Gruß an ihm vorbei ging und mit ſo zerſtreuter Unluſt zu arbeiten begann. Er ſah bald ſelber ein, heut för¬ dere er nichts, heut verderbe er nur; er ſchickte den Schufterl nach zwei Stunden fort und begab ſich in den Schuppen neben dem Atelier des Todten, wo drei noch rohe Blöcke lagerten. Er verſtand ſich nicht ganz ſchlecht auf das Geſtein. Sein Meiſter in Ham¬ burg hatte mancherlei unter den Händen gehabt und ihm, als dem vertrauteſten Schüler, jede Belehrung zukommen laſſen, die ihm nützlich werden konnte. 72Ein reicher Kaufmann hatte einen Saal mit rundum laufenden Frieſen und mit Statuen am Kamin ſchmücken laſſen, zu denen der Marmor von dem Bild¬ hauer ſelbſt in den Brüchen von Seraveza ausgewählt worden, damit man ein fehlerloſes Material erhalte. Dabei hatte Alfred viel gelernt.

Der junge Mann hatte Hammer und Meißel zu ſich geſteckt, denn er hatte an den Erben, den Bruder des Verſtorbenen, das Anſuchen geſtellt, nicht bloß mit den Augen prüfen zu dürfen. Der Verkäufer war nicht ſelbſt zugegen, doch hatte er einen Arbeiter geſchickt, welcher ihm etwa behülflich ſein dürfe und jetzt wartend auf einem Dreibein im ſonnigen Hofe ſaß. Der Bildhauer winkte ihm, ruhig ſitzen zu bleiben, bis er ihn nöthig habe, und ging allein in den Schuppen, froh genug, daß er ganz ungeſtört wählen könne. Er überzeugte ſich bald, daß der eine Block ſeiner Größe wegen ganz außer Betracht komme, der zweite Riſſe zeige, von denen ſich nicht beſtimmen ließ, wie tief ſie ſeien, und daß der dritte wahrſchein¬ lich der beſte für ihn ſei, auch dem Korn nach.

Der Arbeiter hörte ihn hämmern und klopfen, zog, da er nicht gerufen ward, ein Brot hervor, und that einige herzhafte Züge aus ſeiner Flaſche. Dann ſtützte er den Kopf auf die Arme und nickte in der warmen Mittagsſonne in ſeiner unbequemen Stellung ein; er merkte es nicht einmal, daß ihm die Mütze73 herabfiel. Der Mann erwachte davon, daß er ſeit¬ wärts von dem Bock herunterrutſchte und ſich plötz¬ lich auf dem Boden ſitzen fand. Es war ſtill, die Sonne ſchon aus dem Hof heraus. Der hat ſich ſo hehlings davon gemacht, man könnt 'grad meinen, er hab' was mitgenommen, brummte der Arbeiter, trat in den Schuppen und warf einen Blick rundum. Er fuhr mit einem Schreckensruf zurück: Dort zwiſchen den zwei kleineren Blöcken lag der Fremde auf dem Boden, ganz mit Staub und Splittern überſchüttet, den Meißel noch feſt in der Hand, ohne Hut, mit blutbeflecktem Geſicht. Eine friſche weiße Bruchfläche an dem einen Marmor gab die Erklärung, dicht neben der Schläfe lag ein fauſtgroßes abgeſprungenes Stück.

Herr, Herr! rief der Arbeiter und faßte ihn an der Schulter, um ihn aufzurichten. Er ſchien in Ohnmacht zu liegen, er antwortete nicht, doch athmete er deutlich, und die Hand war warm. Der Mann ſprang an den Brunnen, holte ſeine Mütze voll Waſſer und goß ſie dem Liegenden über den Kopf. Das hatte geholfen, er reckte die Arme, als wolle er aufſtehen.

Herr! Herr! rief der Arbeiter wieder, dies¬ mal dicht an ſeinem Ohr, Sie ſind, ſcheint's, bleſſirt, wo gehören's zu Haus, daß ich an Einſpänner be¬ ſorgen kann?

74

Meine Augen! ſagte der Verwundete matt, während er ſich mit Hülfe des Andern halb aufrich¬ tete, voll Staub! mehr Waſſer.

Als der Arbeiter vom Brunnen zurückkam, fand er ihn angelehnt auf dem Boden ſitzen, er fuhr immer mit den Händen über die Augen hin.

Iſt ſchon Abend? fragte er ängſtlich, als er den Schritt hörte, wird es ſchon dunkel?

Es iſt zwei Stunden nach Mittag, da trinken Sie, ſagte der Arbeiter, ihm die Flaſche an den Mund haltend.

Er trank begierig, dann riß er die Augenlider gewaltſam auf und fuhr wieder mit den Händen danach, hielt ſie mit zitternden Fingern offen. Und plötzlich ſtieß er einen heftigen Schrei aus: Dämme¬ rung! Nacht! Meine Augen! und ſank zum zwei¬ ten Mal ohnmächtig hintenüber.

Es gab ein mitleidiges Zuſammenlaufen auf der Straße, als die Droſchke mit dem Verunglückten vor dem Hauſe der Frau Huber hielt und der Arzt und der Arbeiter, der ihm beigeſtanden hatte, den jungen Bildhauer langſam mit verbundener Stirn die Treppe hinaufführten. Er hatte hierher verlangt.

Die Wirthin hatte nach Emerenz gerufen, und die immer hülfbereite Kleine war um Eis zur nächſten Brauerei geſprungen und hatte auch das Rezept nach der Apotheke getragen.

75

Ja, was iſt denn? Was hat er denn? frag¬ ten die Leute und drängten ſich um das Kind, das mit der Schürze vor den Augen auf der Haustreppe ſaß, weil der Arzt es oben fortgeſchickt hatte.

So bleich iſt er und kann net ſehn und hat a rothen Fleck in jedem Aug ', ſo grauſig! Und da hat er ein großes Loch: ſie zeigte auf die Schläfe, aber er ſagt, das macht nix, und der Doktor ſagt's auch, jammerte Emerenz mit der Wichtigkeit einer Ein¬ geweihten.

Ha, da thät ich heulen! rief ein kleiner Kerl und ſtieß einen Kameraden, den häßlichen Bruder der Emerenz an, gelt, Du thätſt auch heulen, wann Du da a Loch hättſt?

Der aber ſchüttelte mit ſtoiſcher Miene den dicken Kopf: Ha nein! Ich bin ſchon die Stiegen herunter¬ rumpelt, hab 'ich da a Loch kriegt, er wies auf ſeinen Ellbogen; es hat heidenmäßig brennt, aber heult hab i net.

Das Loch macht nex, ſagte Emerenz eifrig, aber er geſieht nimmer nex! Gelt, da thätſt doch heulen, wenn's Dir ſo gehn thät, gelt Leo?

Ha, da braucht ich net in Schul ', da thät ich net heulen, beharrte der Junge.

Biſt a dummer Bub! rief Emerenz empört, wenn's nur auch das Fräulein Marianne wiſſen thät! fuhr ſie altklug und nachdenkend fort.

76

Fräulein Marianne iſt net daheim, ſagte eine Stimme.

Doch, ſie iſt geſtern Abend heimkommen, ich hab a Bretzel von ihr kriegt, erwiderte eine andre.

Da geh ich auch hin! Vielleicht krieg 'ich auch eins, rief ein kleiner Bub und kaute ſchon im Vor¬ aus mit leeren Backen.

Da bleibſt! rief Emerenz, die eine Art Mutter¬ ſtellung bei den Kindern hier in der Straße beſaß, ich geh 'ſelbſt hinauf und ſag' ihr's von dem Herrn Heuwels.

Ich will auch a Bretzel, ſagte eins der Klein¬ ſten und wollte ſich an ihr Kleid hängen. Aber ſie ſtreifte ſie flink von ſich und eilte über die Straße und in das gegenüberliegende Haus; die Kinder folgten ihr bis zur Hausthür und blieben dort mit verlangenden Blicken ſtehen.

Als Emerenz wiederkam, drängten ſich Alle um ſie, denn ihr Schurz ſchien wohlgefüllt. Mir auch a Weck ', mir auch eins! riefen ſie ihr entgegen.

Aber das Mädchen hielt die Falten feſt zuſam¬ men und winkte mit der andern Hand. Fräulein Marianne hat geſagt, da beſſer unten ſoll ich's Euch geben! flüſterte ſie, wann Ihr fein ruhig ſeid.

Sie führte die Kinder bis zum Ende der Straße, dort blieb ſie ſtehen, öffnete die Schürze und ver¬77 theilte die Milchbrötchen mütterlich gerecht, für die Kleinſten ward je eins durchgebrochen.

Ihr ſollt jetzt da ſpielen, hat's Fräulein Mari¬ anne geſagt, ermahnte ſie dabei, wer droben ſpielt, kriegt nie nex mehr.

Eine Frau war hinzugetreten, um ihr Kind heim¬ zuholen.

Nu, Emerenz, biſt droben geweſen, beim guten Fräulein Marianne? was hat ſie geſchwätzt? fragte die Frau mit einem Blick auf die eſſenden Kinder.

Gar nex hat ſie geſchwätzt, wie ich ihr's ver¬ zählt hab von dem Herrn Heuwels; ich glaub ', ſie iſt auch arg verſchrocken geweſen. Sie hat mich bloß an¬ guckt und geſagt: In die Augen? und hat mich' naus¬ geſchickt zur Magd, s'iſt a neue, ich weiß net, wie ſie heißt, und nachher iſt ſie ſelbſt herauskommen und hat mir noch a paar Semmel dazu geben und geſagt, die Kinder ſollten beſſer unten ſpielen. Weiter nex.

Da folgt auch recht! ermahnte die Frau und ging von dem Kinderhaufen weg, ihr eignes hinter ſich herziehend.

Der Verunglückte erwachte aus einem Halbſchlaf an einem laut geführten Geſpräch zwiſchen einer männlichen und einer weiblichen Stimme, doch mu߬ ten die Sprechenden draußen ſein. Die Binde um78 Kopf und Augen, hinderte ihn, um ſich zu ſehen, aber er hörte gut.

Ich hab das Logis an einen Geſunden ver¬ miethet, ſagte die Frau kläglich, und die Laſt könnt ich mir doch net aufladen; bedenken Sie, ich bin allein zu alle die Herren, da müßt 'ich mich ſchier zu Tod laufen.

Wenn ich Ihnen aber ſage, daß die Wärterin, die ich ſchicke, Alles gut beſorgen kann? Nehmen's doch Vernunft an, Frau Huber

Ja, und die Wärterin, wer ſoll die ver¬ ſorgen?

Es handelt ſich ja bloß um ein paar Tage! Es thut kein gut, den Patienten wegzuführen, wo's Wundfieber im Anzug iſt. Möglich auch, daß nicht einmal eins kommt! Die Kopfwunde iſt oberflächlich, Sie hören's ja!

Ich bin nicht taub! jammerte die Frau, aber ich muß mich wehren. Ich bin ein armes Weib! Das Stüberl 'neben ſeinem iſt doch auch leer, wie kann ich das vermiethen neben ſo einem Kranken.

So werfen Sie ihn ins Teufels Namen aus dem Haus, pruſtete der Arzt, aber Ihre Schuld iſt's, wenn er im Wundfieber drauf geht.

Danach folgte das weinerliche Geſchrei:

Ich bin a armes Weib, ich muß mi halt79 wehren! und ein Getrappel treppabwärts mit ſchwe¬ ren Sohlen. Dann ward es wieder ſtill.

Wär 'ich doch fort von hier! ſtöhnte der Kranke, warum bin ich nicht ins Spital gebracht worden? Ach ſo, ich habe ſelbſt den Arzt gebeten, mich in meine Wohnung ſchaffen zu laſſen. Gleich¬ viel, wo ich ſterbe!

Seine Wunde brannte trotz des Eisumſchlags, in ſeinen Augen ſtach und bohrte es. Er lag ganz unbeweglich, wie ihm der Arzt geboten hatte, und fühlte kalte Schauer über ſich rinnen. Nun ſterb 'ich bald, dachte er, beſſer ſterben, als leben und blind ſein. Er taſtete mit der Hand an der naſſen ſchweren Binde herum, die ſeine Augen bedeckte.

Ob ich garnichts ſähe, wenn ich ſie abriſſe? durchzuckte es ihn. Doch graute ihm vor dem Ver¬ ſuch; mit einem tiefen Seufzer ließ er die Hand wieder auf die Bettdecke ſinken. Als ihn der Arzt hergebracht, war Alles um ihn her röthliche Däm¬ merung geweſen, ha, fürchterlich. Eh 'er das noch einmal empfinden ſollte, wenn ich nun geſund werde! ſtöhnte er qualvoll, während tödtliche Angſt ihm die Bruſt zuſammendrückte. In ſeinem Koffer war ein ſcharfes Meſſer, er hatte daheim auch in Holz geſchnitzt. Im ſchlimmſten Fall das war doch gut bei ſich zu haben, das war ein Troſt. Er fühlte eine plötzliche Sehnſucht, die blanke ſcharfe80 Schneide mit dem Finger zu berühren. Doch war der Schlüſſel zum Koffer in ſeinen Kleidern, die ſie ihm ausgezogen hatten. Wo mochten die ſein? Er verſuchte, aufzuſtehen, doch war ihm der Kopf wirr, ſobald er ihn vom Kiſſen erhob; Alles drehte ſich um ihn, daß er hülflos zurückſank. Der Tod war wohl ſchon nah? Er war ja ſonſt ſo ſtark, er war ja nie¬ mals krank geweſen. Seine Gedanken flogen an Allen vorüber, die er kannte; ob ſie ſein Sterben be¬ trüben wird? Die Eltern, ja, die werden traurig ſein. Aber ſie ſind ja bei der Schweſter. Er ſah ſeine Mutter im ſchwarzen Kleid mit dem Geſangbuch in den Händen zur Kirche gehen. Sie weinte von Zeit zu Zeit in ihr Taſchentuch und ſagte: Wäre er doch hier geblieben! Er ſah ſeinen Vater, tiefgebückt, den Krückſtock zwiſchen den runzeligen Händen, vor des Paſtors Denkſtein auf dem Ottenſer Kirchhof ſtehen und zu dem jungen Paſtor ſagen: Das hat noch mein Sohn gemacht, kurz vor ſeiner Abreiſe nach München; er hätte es vielleicht noch zu was ge¬ bracht, aber Er ſah ſeinen eigenen Grabſtein und darauf die Inſchrift: Geſtorben, ehe er etwas hat leiſten können und dann fiel ihm ein, daß ihm ſelbſt dieſer Grabſtein nie zu Theil werden dürfe. Er war ja in der Fremde; er kam gewiß noch heute ins Spital; dem dort Geſtorbenen wer ſollte ihm einen Stein ſetzen? Gleichgültig wanderten ſeine Ge¬81 danken von dem einen zum anderen Bekannten. Spitzer? Was kümmerte ſich der um ihn, er hatte ja nicht mal Skat mit ihm geſpielt! Loni? Ihr reizendes Bild war plötzlich verblaßt und verſchwom¬ men! Hatte er ſie wirklich erſt geſtern zu lieben ge¬ glaubt? War ſie es, die ihn nicht hatte ſchlafen laſſen? Es ſchien faſt unbegreiflich. Er ſah auch ſie zwiſchen den Blumenbeeten ſitzen und ſagen: Jetzt kann er nimmer den Muckerl herausſtreichen, aber daß es ſo ſchnell gehn würd', hätt 'ich mir net denkt, gelt Papa? Und ſie ſetzte dem Jockerl nachdenklich einen Kranz von Gänſeblumen auf ſeinen dicken rothen Kopf. Einer war da, einer war ſein Freund, hätte es werden können, wenn er ſich bewährt hätte. Wolff! Wolff! Verrathener Freund! Wirſt Du's je erfahren, daß ich untreu geweſen? Wird das kleine Mädchen Dir Alles ſagen? Ach, es war viel¬ leicht Alles eine Strafe für mein Vergehen!

Wieder lag er regungslos, die Hände gefaltet, in Trauer und Zerknirſchung. Dann hörte er von Neuem Schritte auf der Treppe; ſie werden mich fort¬ ſchaffen wollen, dachte er, nicht ohne Bitterkeit, denn es war ihm ein Wohlgefühl, ſo ſtill liegen zu dürfen. Jetzt glaubte er die Stimme der Wirthin zu ver¬ nehmen. Frau Huber, rief er laut, beruhigen Sie ſich, ich will ſelbſt ins Krankenhaus; und als keine Antwort kam, taſtete er nach dem TiſchchenFrapan, Bitterſüß. 682neben dem Bette, ergriff den darauf ſtehenden Por¬ zellanleuchter und ſchleuderte ihn kräftig auf den Boden, daß es klapperte und krachte. Eine Thür ging auf.

Frau Wirthin! rief er ſchwach.

Ja, kam es zurück, doch ſo, daß der Kranke aufhorchend antwortete:

Sie ſind es nicht. Sie ſind die Wärterin?

Ja, ich werde Sie pflegen, ſagte eine tiefe Stimme, die ihm wunderbar ins Herz ging.

Sprechen Sie noch einmal, flüſterte er in tie¬ fer Bewegung.

Ich bin es, hörte er nun dicht an ſeinem Bette.

O Sie! o die liebe Stimme! Schlaf ich denn nicht? flüſterte er leiſe.

Sie ſind wach und werden bald geſund ſein, erwiderte ſie.

Nicht ins Krankenhaus? ſtammelte er.

Nicht; Sie bleiben hier, der Arzt will es ſo; ich habe Beiden geſagt, daß ich nach Ihnen ſehen will, ſo oft es nöthig iſt; bleiben Sie ruhig.

Ich träume doch gewiß, ſagte er bedenklich, ſie iſt ja eine Fremde, warum ſollte ſie kommen.

Wenn ich Ihnen unangenehm bin, ſo geh ich wieder, erwiderte ſie in etwas unterdrücktem Ton.

83

O bleibe! bleibe! ſchrie er auf, ich bin ſo allein, und es iſt ſo dunkel.

Das hab 'ich gedacht, murmelte ſie.

Er fühlte, daß ſie ſich neben ſeinem Lager auf einen Stuhl ſetzte, obwohl es ſehr leiſe geſchah. Nun lag er ganz ſtill, als habe er viel mit ſich aus¬ zumachen. Das dumpfe Entſetzen, das ihm auf dem Herzen lag, ſprach nur hie und da aus einem ſchwe¬ ren Seufzer. Einmal fing er an:

Ich ſehe nichts, nicht wahr?

Das iſt die Binde, ſagte ſie tröſtend, aber ſie kühlt und beruhigt, weil Sie einen argen Stoß erlitten haben, und wenn ſie abgenommen wird

Dann bin ich blind! ſtöhnte er.

Hoffnung, flüſterte ſie, und ein biſſel Ge¬ duld. Ihre Stimme zitterte wie von Thränen.

Ich möchte an meinen Koffer, der Schlüſſel ſteckt in meinem Rock, ich weiß nicht, wo ſie den hin¬ gethan haben, vielleicht

Der Rock hängt an der Thür, und hier ein Schlüſſel, iſt das der rechte? Wollen Sie mir nicht ſagen, was ich Ihnen herauslangen ſoll?

Ja das heißt nun wiſſen Sie, ganz auf dem Grunde ein längliches Lederfutteral, wenn Sie mir das reichen wollten, die Worte klangen, als hänge ſein Leben daran.

Er hörte, wie ſie aufſchloß und ſtreckte mit6*84fieberhafter Ungeduld die Hände nach ihr aus. Eben trat ſie heran.

Glauben Sie, daß Sie dieſes Ding jetzt ge¬ brauchen? fragte ſie ernſt.

Durchaus! rief er, o bitte, geben Sie ſchnell,

Laſſen Sie mirs noch einen Tag, bat ſie mit Innigkeit, ich will Ihnen das Brot und Fleiſch zerſchneiden, bis Sie es ſelbſt wieder können, fügte ſie mit zitterndem Mitleid hinzu.

Das Meſſer! Mein Meſſer! ſchrie er ver¬ zweiflungsvoll zwei Augen hatt ich! Meine Kunſt war meine Welt! Seien Sie nicht hart wie der Stein, der mich blind gemacht hat.

Ein leiſes Weinen antwortete ihm.

Da, nehmen Sie Ihr Eigenthum, hauchte ſie ihm mit unſäglicher Traurigkeit zu, thun Sie, was Sie glauben thun zu müſſen, ſie drückte ihm die Scheide in die Hand und entfernte ſich.

Aber ſeine Finger ließen den erſehnten Helfer ſchnell los.

Sie gehen? ſtammelte er.

Ich fühle wohl, ich kann Ihnen nicht helfen, ich bin zur Laſt. war die leiſe, ſchmerzliche Erwi¬ derung; ich könnt's auch nicht mit anſehen.

Weh! weh! was ſoll ich thun, ächzte der Kranke, und da ſich ihr Schritt zu entfernen ſchien, ſtieß er plötzlich heraus: Wenn Du gehſt, ſo thu '85ich's gleich! Er erhob das Meſſer, das er aus der Lederſcheide gezogen hatte.

Ich bleibe! rief es da dicht neben ihm und dann ſchmeichelnd: Geben Sie mir das Meſſer, bis bis der Arzt dageweſen iſt!

Eine warme Thräne fiel auf ſeine Hand.

Weinſt Du um mich? ſagte er ganz leiſe, ach wie gut biſt Du! wie gut! wie gut.

Und vor ſeinem innern Auge ſtieg die ſchönſte, die rührendſte Geſtalt auf, in der er ſie geſehen, die tröſtende Gottheit mit der Erquickungsſchale.

Ach, wie wohl! ſeufzte er; nun möcht 'ich ſchlafen! Aber bleibſt Du auch da?

Ich bleibe da.

Wirſt Du auch nicht weg ſein, wenn ich auf¬ wache?

Gewiß nicht.

Ein tiefer Seufzer der Erleichterung belohnte ſie. Dann ſchien wirklich der Schlaf zu kommen. Doch blieb der Schmerzenszug um den Mund ſtehen und machte das Geſicht älter und reifer für die Augen der Beſchauerin, die ſich im tiefen Weh darauf hef¬ teten. Als er ſich nicht rührte, ging ſie durch das verdunkelte Zimmer bis zur offenen Thür des Nach¬ barraums, aus dem das Tageslicht drang, und ſetzte ſich auf einen Stuhl dort an der Schwelle. Ein Haufen dichten dunkelgrünen Stoffs lag auf einem86 Tiſchchen daneben; ſie nahm Fingerhut und Faden und ließ haſtig die Nadel durch die Falten gleiten. Sie hatte ein leiſes Geſpräch mit dem Arzt, der bald darauf erſchien und den Kranken nicht geweckt wiſſen wollte, ſondern nur Anordnungen für die Nacht traf. Die kam und brachte das Wundfieber, Irrreden, hef¬ tiges Auffahren, Umherwerfen in den Kiſſen. Er riß ſich die naſſe Binde von den Augen und wollte ſich nicht halten laſſen.

Doch ſchien auch noch in dieſer Betäubung ſein Ohr empfänglich für die ſanfte Stimme, die ihn be¬ ſchwichtigte wie ein krankes Kind, denn er flüſterte mehrmals: Muſik! Muſik! und ſaß wie horchend im Bette aufrecht. Mit einem Blick der Dankbarkeit, der Erleichterung begrüßte die treue Pflegerin den erſten Morgenſtrahl, es war eine ſaure Nacht ge¬ weſen. Nun lag der Patient in tiefer Ermattung, und der Beſuch des Arztes ging für ihn faſt un¬ gemerkt vorüber. Für Marianne war es eine Be¬ ruhigung, ihn auf Stunden der angſtvollen Sorge um ſein Augenlicht enthoben zu wiſſen. Im Uebrigen hatte die flüchtige Unterſuchung wenig Troſt gebracht. Der Arzt hatte die verſchwollenen Lider des Kranken geöffnet und der beklommen Zuſehenden einen rothen Fleck im Weißen beider Augen gezeigt. Draußen vor der Thür gab er dann eine Aufklärung. Es ſind zwei Möglichkeiten, bemerkte er belehrend, [eine]87 beſſere und eine ſchlimmere. Entweder dieſe Flecke ſind Alles, dann bekommen wir einen ſogenannten Verletzungsſtaar, der innerhalb eines gewiſſen Zeit¬ raums reift und operirt wird, worauf die volle Sehkraft zurückkehrt; oder es beſteht neben dieſer Verletzung noch eine innere, welche die Netzhaut zer¬ riſſen hat und dann gibt es nichts mehr.

Das Geſicht der Zuhörerin war ſehr blaß.

Und wann, wann begann ſie haſtig.

Unmöglich zu beſtimmen, ſagte der Arzt achſel¬ zuckend, langwierig in jedem Fall, wie Sie ſehen.

Iſt die letztere, die ſchlimmſte Möglichkeit wahr¬ ſcheinlich? Ihre Stimme bebte.

Wir wiſſen nichts, wehrte der Doktor ab, wir kennen nicht die Gewalt des Stoßes, den er er¬ litten hat, da er aus geringer Entfernung kam, wird er vielleicht nicht ſtark geweſen ſein, nein, ich neige eigentlich zu der günſtigeren Annahme, fuhr er ſich durch den Bart ſtreichend fort, wir haben freilich auch dann Zeit vor uns! Zeit in Menge! Sorgen Sie nur für Geduld.

Langſamen Schritts kehrte ſie an das Kranken¬ bett zurück. Alfred murmelte im Halbſchlummer, ſie legte ihre kühlen Hände auf ſeine brennenden. Plötz¬ lich ſchien er aufmerkſam zu werden; er betaſtete die Finger, die Handflächen, umſpannte das Gelenk.

88

Schade! ſchade! ſagte er träumend, ſie ſollte ſchön ſein, Alles wie die Stimme, ſchade!

Ueber ihre Wangen flog eine tiefe Röthe. Sie zog langſam ihre Hände fort, legte ſie vor ihr Ge¬ ſicht und ſaß lange ſo. Als ſie ſie endlich in den Schoß ſinken ließ, ſchimmerte es feucht in den Augen, aber ein Lächeln lag um den Mund.

Wo biſt Du? rief furchtſam der Kranke, ich bin ſo durſtig.

Das Lächeln verſchwand, die Thränen liefen ihr übers Geſicht.

Wo biſt Du? rief er wieder, da ſie nicht gleich hatte antworten können, wo biſt Du Ma¬ rianne?

Hier, hier, trinke, erquicke Dich; Du weißt meinen Namen?

Ich weiß nicht woher, aber ich kannte Dich gleich, weißt Du, ſinge mir etwas.

Wenn Du geſund biſt, ſagte ſie.

Ich werde nie geſund, ſtöhnte er, ich bitte Dich, Marianne!

Was wird der Arzt ſagen!

Ach Marianne, Deine Stimme! Noch einmal, eh 'ich ſterbe!

Nichts da von Sterben, ich will's ja thun, was ſoll ich ſingen?

Du weißt es beſſer.

89

Sie ging ins Nebenzimmer und ſang ein paar Volkslieder, einfach und lieblich.

Du haſt die blaue Stimme, die Märchenſtimme, flüſterte Alfred, laß mich Deine Hand küſſen.

Nein, ſagte ſie leiſe, die Hand hat nichts damit zu thun, ſchlafe nun.

Du machſt mich geſund, rief er, kannſt Du mich auch wieder ſehend machen? Es klang kaum wie eine Frage.

Willſt Geduld haben zu warten, Alfred? Es war das erſte Mal, daß ſie ihn Alfred nannte.

Bleib bei mir, und ich will, Du Gute, Beſte, Einzige, brach er aus, und es ſtieg ihm heiß in die Wangen.

Sie trat raſch heran, um ihm den Eis-Umſchlag zu erneuern. Kein Wort mehr reden ſollſt! ſchlafen ſollſt! flüſterte ſie ihm zu, weißt ja, daß ich Dich nicht verlaſſe, es gelang ihm nicht wieder, ihre Hand zu erhaſchen.

Für die Nacht hatte Marianne ſich eine Wär¬ terin ſenden laſſen, weil ihr vor der Rückkehr des Fiebers bangte. Doch ging ſie leidlich gut vorüber, und am nächſten Tage ſprach der Arzt davon, daß der Kranke das Bett verlaſſen dürfe, wenn er ſo fortmache. Der Bruder der Emerenz ward von dem Fräulein zu einem kleinen vorläufigen Kammerdiener erhöht, und eine Woche grade nach dem Unfall ſaß90 der Kranke zum erſtenmal in einem Stuhl aufrecht, den noch verbundenen Kopf kaum angelehnt und ein feines Roth auf den ſchmäler gewordenen Wangen. Er klagte nur, ihm ſei noch immer, als kämpfe er mit dem Traum. Könnt 'ich aufwachen, ſeufzte er.

Nun kommt eine ſchwere Zeit! ſagte ſich Mari¬ anne, und ihr ward ſo verzagt ums Herz, daß ſie ſeinen Seufzer erwiderte.

Es iſt Alles ſo unbegreiflich, fuhr er grübelnd fort, immer im Dunkeln und Du immer bei mir und doch auch nur mit Deiner holden Stimme! Ich kann Dich nicht faſſen, nicht finden und fühle Dich doch überall, ich bin kein Menſch mehr ich lebe nicht mehr in Luft und Licht nicht mehr in Tag und Nacht meine Atmoſphäre biſt Du, mein Morgen und mein Abend biſt Du, Du mein Mond¬ ſchein und Du mein Sonnenlicht.

Armer Alfred, ſchluchzte ſie, aber gewiß, es bleibt nicht lang 'ſo! Der böſe Alb fällt ab, wenn Du nur Geduld haſt, der Arzt ſagt's ja, und Du wirſt wach, und Alles iſt wie vorher.

Er ſchwieg lange.

Wir müſſen hinaus, ſagte ſie wie zu ſich ſelbſt, daß Du wieder eine Luſt fühlſt und einen großen Athem. Der Doktor erlaubt's bald. Und für den Augenblick da weiß ich auch was ich bin gleich wieder da.

91

Er hörte ſie hinausgehen und draußen reden. Bald trat ſie wieder ein und rief mit Befriedigung:

Da bring 'ich Dir das Dummerl, das Peterl, es hat ja ſchon lang zu Dir gewollt in das Zim¬ mer da.

Sie ſetzte ihm das weiche Kätzchen zwiſchen die taſtenden Hände; es reckte ſich ſogleich, auf dem Rücken liegend und äußerte die wohlbekannten Schnurr¬ laute. Ein Lächeln ſpielte um den Mund des Kranken.

Glaubſt Du wohl, daß ich mich manchmal nach ihm geſehnt habe, wenn ich ſpät nach Hauſe kam? Immer wünſchte ich, es aus irgend einem Winkel hervor miauen zu hören.

Das glaub 'ich ſchon; meinſt, ich möcht' ſo ganz ohne Thierle leben? Das wär 'mir ein langweiliges Daſein.

So mein 'ich's nicht, aber es war ja das Deine.

's iſt noch arg jung und dumm.

Warſt Du mir nicht böſe, als ich's Dir hin¬ übertrug? Ich ſelbſt hab 'mich nachher meiner Zu¬ dringlichkeit geſchämt.

Ich hab's für eine Freundlichkeit genommen gegen das Peterl; wenn's aber als Zudringlichkeit gegen mich gelten ſollt ', ſo hab' ich's nicht begriffen. Ihr Ton klang zum erſten Mal verletzt.

92

O verzeih 'mir! rief er lebhaft, ich war von Deinem Geſange wie berauſcht, aber die ſo ſingen konnte, erſchien mir hoch und herrlich, und Dir iſt nie ein unbeſcheidener Gedanke zu nah getreten.

So ſchien mir Dein Geſicht, murmelte ſie, mir iſt aber doch leid, daß Du nicht eigentlich wegen der Katz 'kommen biſt.

Sie war aufgeſtanden und ins Nebenzimmer ge¬ gangen. Unruhig rief er nach einer Weile:

Du gehſt doch nicht fort, Marianne?

Ich hole meine Arbeit, klang es mit ver¬ ſchleierter Stimme.

Arbeit? wiederholte er fragend.

Die grünen Vorhänge, die der Arzt beſtellt hat, die weißen taugen Dir nicht.

Für mich! Alfred erhob ſich plötzlich von ſeinem Stuhl und verſuchte auf die offene Thür zu¬ zugehen. Sie aber hatte ſich auf das Geräuſch hin erſchrocken umgedreht und eilte ihm entgegen, um ihn zu führen.

Wohin? fragte ſie, indem ſie ſeine Hand faßte und ihn aufhielt.

Zu Dir! rief er heftig. Sehen will ich, ob Du wirklich ein Menſch biſt oder ein Engel des Mitleids, wie ich Dich lange erblickt.

Ei was! erwiderte ſie mit lachendem Unwillen. Ich hab 'Dir das Dummerl gegeben, daß Du ein93 biſſel aus den Wolken herunterkommſt! Ihr Männer ſeid auch immer über oder unter der Erde, warum könnt Ihr denn nicht darauf marſchiren? 's wäre doch das Einfachſte!

Schwindelnd von der ungewohnten Anſtrengung war Alfred auf ſeinen Platz zurückgeſunken. Sie legte ihm den Verband friſch um, lehnte ſeinen Kopf gegen ein Kiſſen und flüſterte mit ihrer liebevollen Stimme gute Worte.

Da ruh 'Dich aus, und ich ſitz' neben Dir und ſäume den Vorhang voll fertig, und wenn Dir's beſſer iſt, da erzählſt mir von Mutter und Vater und von zu Haus und was Du hier getrieben haſt, und gelt Du die Deinigen müſſen doch auch Nachricht von Dir haben, ſo eine Mutter, die ängſtigt ſich ja zu Tod, wann ſie nichts hört; wann ſchreiben wir denn und was, daß ſie ſich nicht Alles noch ſchlimmer vorſtellt?

So ward geplaudert und der nothwendige Brief geſchrieben, den Marianne entwarf, Alfred in Form brachte, und diktirte und abermals Marianne in ſei¬ nem Namen niederſchrieb. Der gefürchtete erſte Tag des klareren Bewußtſeins ging ſanft vorüber und zeichnete gleichſam die folgenden vor. Es kamen Stunden des Vorleſens, reich an gemeinſamem Ge¬ nuß, denn Marianne las Verſe mit feinſtem Verſtänd¬ niß auch für die Form; es kam die erſte Ausfahrt94 mit Leo als Kammerdiener auf dem Bock neben dem Kutſcher. Der Wagen war offen, und voll fiel der Sonnenſchein durch das ſeidne gleißende Buchengrün auf die emporgewendeten Geſichter. Nun leih 'mir Deine Augen und laß mich Alles ſehen, was Du ſiehſt, bat der arme Geblendete. Und Marianne verſtand ihn ſo gut, und die Erinnerung an vergan¬ gene helle Tage kam zu Hülfe, ſo daß er trotz aller Entbehrung genoß. Und Manches empfinde ich ver¬ ſtärkt, hat denn das junge Laub auch früher ſo geduftet? Hat die Luft ſo weiche Finger über meine Backen gleiten laſſen? Ich bin wie ein Blatt, das wohl auch nicht ſieht und doch ſich ſpreitet in Wonne und Wohlgefühl, ich trinke den Sonnenſchein.

Er ſaß da mit geöffneten Lippen und athmete tief. Und Du biſt neben mir; ich richte immer das Geſicht nach der Stelle, woher Deine Stimme dringt, und es iſt immer wieder ein Schrecken, daß ich ſo ins Schwarze ſtarre, aber nun biſt Du nah

Da iſt das Siegesthor, ſagte Marianne, ihre Hand, die er zu faſſen ſuchte, wegziehend. Ein Schatten flog über ſein Geſicht.

Marianne, bat er, ich möchte ein beſtimmtes Haus ſehen, es muß bald kommen, rechter Hand, mit den vielen Thürmchen

Du biſt bekannt dort, in der Villa Spitzer? 95fragte ſie. Da ſeh ich's ſchon, weiß und zuckrig, wie vom Conditor.

Was ſiehſt Du? Iſt der Garten leer? fragte er mit gewiſſer Aufregung.

Ich ſeh 'Niemand, doch ja, dort unterm Flieder ſitzt ein junges Mädchen, bunt gekleidet, dunkle Locken.

Das iſt ſie! flüſterte Alfred. Allein?

Ja, mir ſcheint ſo, ſie ſchreibt oder zeichnet, willſt Du hinein? Soll der Wagen halten?

Ein helles Lachen ertönte. Sie lacht ja, ſie iſt wohl doch nicht allein?

Alfred hatte ſich halb aufgerichtet und horchte mit unwilligem Geſicht.

Ach ſo, ſie ſpricht mit einem Nachbarn, ſcheint's, über den Zaun, ich ſeh 'ſo ein Paar Bart¬ koteletten und einen breiten Strohhut; da lachen ſie alle Beide.

Vorwärts, Kutſcher! ſchrie Alfred und ſank auf den Sitz zurück. Er hatte die Zähne in die Un¬ terlippe gebiſſen und die Stirn tief geſenkt. Sie fuhren ſchweigend vorüber. Nach einer Weile aber fühlte er ſeinen Arm berührt.

Wenn ſie Dir werth war, haſt darum keinen Grund zu dummen Gedanken, ſagte ſie ermahnend.

Ach, Marianne, es brennt mir ſchon lange auf der Zunge, Dir Alles zu ſagen, rief er nun, Du96 hältſt mich für einen redlichen Menſchen, aber ich bin falſch geweſen, es iſt vielleicht eine Strafe, daß ich am Tag darauf das Unglück haben mußte.

An ſolche Strafen glaub 'ich nicht, aber er¬ zähl', ſagte ſie ernſthaft.

Er beichtete nun, es ging wie ein Strom; er konnte kaum ein Ende finden mit Selbſtanklagen und malte ſich ſchwarz und ſchwärzer bis zu jenem Kuß an der Gartenpforte.

Und dann? fragte ſie.

Dann kam die Krankheit und bewahrte mich vor weiterem Wortbruch, ſeufzte er.

War kein guter Entſchluß vorangegangen?

Ich ſchwankte zwiſchen Reue und Verliebtheit! Armer Freund! Armes Mädchen!

Ein leiſes Lachen unterbrach ihn, es klang wie Spott.

Marianne? rief er verwundert.

Alfred?

Nun? Du lachſt?

Ihr ſeid närriſche Leut '! erwiderte ſie. Ein Mädchen mit ſo glänzendem Haar! Glaub' mir, dem iſt Dein Kuß wer weiß wie lang 'wieder aus den Locken gefallen! Wer dahinein eine Roſe ſteckt, der ſoll ſie fein feſt ſtecken, ſonſt haftet ſie nicht lang. Liebſt Du ſie denn?

Nein! betheuerte er haſtig.

97

O über Euch leichtſinniges Mannsvolk! rief das Mädchen. Das ſprüht Küſſe umher wie der Springbrunnen Tropfen und ſäh's nicht einmal un¬ gern, wenn jeder Kuß für Ernſt genommen würd ', und jede arme Empfängerin ihn nun wie eine Re¬ liquie einbalſamirte! Die armen Kinder ſind auch geſcheut, und wenn nach ſo einem Luftkuß nichts weiter erfolgt, da bleibt's eben Luft auch für ſie.

Du hältſt mich gewiß für einen Gecken, fiel er kleinlaut ein.

Nein, nicht, aber ein Gernegroß biſt; iſt's nicht im Guten, ſo ſei's denn in Sünden, nicht wahr? Warum biſt denn ſo zornig worden, wie das arm 'Dingerl da übern Zaun geſchwätzt und gelacht hat?

Schilt noch ein bischen, rief Alfred mit wiedergewonnener Sicherheit, ich ſchäme mich zwar ſehr, denn Du haſt leider recht, aber doch iſt mir ſo wohl dabei ich möchte dazu ſchnurren wie Dein kleiner Kater, wenn Du ihn liebkoſeſt.

Geh ', geh', ſo war's nicht gemeint! Aber heut 'noch ſchreibſt an den Wolff, das heißt, ich ſchreib' für Dich, daß wir Nachricht kriegen über die kranke Schweſter, arm's Weſen, und er von Dir weiß und Deiner Verhinderung. Aber von dem einfältigen Kuß wirſt nichts berichten, oder

Nein, nein! ſie hat ihn ja auch längſt vergeſſen, ihn und mich, ſagte Alfred ſchnell.

Frapan, Bitterſüß. 798

So ein ſchönes junges Mädchen kann auch nicht einem Mann nachfragen in der Stadt, meinte ſie.

Wie ſeltſam, daß Du fing er an.

Ja, ja, unterbrach ſie ihn, die Häßlichen ſind doch für etwas gut, gelt?

Du biſt ſchön, ſagte er träumend, ich ſehe Dich immer ſo wie Deine Stimme iſt, ſo klar und rein und ſchön, und als ich Dich geküßt

Still! ſonſt iſt's aus, flüſterte ſie.

Ich bin ja gefangen, Du haſt nichts zu fürch¬ ten, ſagte er und ließ den Kopf ſinken.

Da hielt der Wagen. Leo half ihm beim Aus¬ ſteigen, führte ihn auch bis ans Treppengeländer. Marianne ſah mit thränenverdunkelten Augen das mühſelige Taſten beim Hinaufſteigen; doch bot ſie ihm nicht die Hand, und der Bub geleitete ihn ins Zimmer und auf ſein Sopha.

Marianne ſprach mit der Wirthin draußen. Sie hatte bis jetzt das Zimmer neben dem des Kranken bewohnt, nun war die gefährlichſte Zeit vorbei, der Bub ſollte von jetzt ab dort einquartiert werden, um immer zur Hand zu ſein, doch ſollte die Wirthin ſich nicht ſorgen, ſie wolle trotzdem die Pflege behalten und tagsüber wie ſonſt um den Blinden ſein. Dann kam ſie herein und beantwortete Alfreds ſehn¬ ſüchtigen Gruß mit freundlicher Ruhe. Sie ſchickte den Buben fort, das Nachteſſen zu holen und erzählte,99 auf und abgehend, von der kranken Schuſtersfrau droben, die ſie morgen beſuchen müſſe, und daß die Schwägerin ſo lange nicht geſchrieben, und daß die neue Magd ſich ſchier zu Tod fürchte, weil ſie immer ſo allein ſei, und noch mehr ſo Dinge.

Liebe Marianne! rief Alfred mit bebender Stimme.

Was iſt? fragte ſie aus irgend einer fernen Ecke des Zimmers hervor.

Du biſt es müd ', nicht wahr? Du willſt fort?

Ein Seufzer antwortete.

Sag's nur, rief er rauh, aber gieb mir auch mein Meſſer wieder, eh 'Du gehſt.

Was ich verſprochen, halt 'ich! erwiderte ſie, ſchnell hervortretend, aber Du, mach's mir nicht gar zu ſchwer!

Alles, was Du willſt, Geliebte! rief er, das ſchöne Geſicht mit den lichtloſen Augen flehend zu ihr gewandt.

Da überwallte es ſie; ſie nahm ſeinen blonden Kopf in die Hände und preßte ihre Lippen heiß und lange auf die ſeinen. Nur einmal, liebes Kind, flüſterte ſie, weil Du mir der liebſte Menſch auf der Welt biſt und weil ich von Dir muß, wenn Dein Tag wieder anbricht.

Mein! mein! ſtammelte er, ſie an ſich drückend, nie getrennt, Marianne! nie leben ohne Dich.

7*100

Er fühlte, wie ſie ſich in ſeinen Armen ſchüttelte. Nun machte ſie ſich vollends los, ſtreifte auch ſeine Hände ab.

Bedenk ', es war nur dies eine Mal, wird nie wieder ſein.

Iſt das Liebe? grollte er, die Arme ins Leere ausgeſtreckt, thut ſo die Liebe?

Sie trachtet nicht nach Schaden, ſagte ſie mit der gewohnten klaren Stimme. Horch, der Bub kommt mit dem Nachteſſen, da halt ich mit, wie ſonſt, und ſchreib 'dann an den Wolff, wenn Dir's recht iſt.

Ach, klagte er, Deine Empfindung für mich iſt doch nur Theilnahme, Mitleid, und ich ich liebe Dich!

Theilnahme, Mitleid, Freundſchaft, Liebe, warum müßt Ihr nur den Menſchen in ſoviel Stücke zerlegen! erwiderte ſie eifrig, iſt ja doch Alles ein Gefühl!

Aber Liebe will doch auch haben, will nicht bloß geben, murmelte er.

Das iſt ein Märchen, ſagte ſie zuverſichtlich, glaub 'mir, Alfred, damit iſt's nichts. Ein Kniff, eine niedrige Sach' mit einem hohen Namen zu ver¬ decken. Sie brach ab, athmete heftig, lachte kurz auf und ſagte befangen: Du meinſt, weil ich Dich vorhin geküßt hab ', könnteſt ſo mit mir ſprechen? Weißt, ich hab' einen lieben einzigen Bruder gehabt, mit dem bin ich aufgewachſen und nach der Eltern Tod zuſammen blieben; da haben ſie ihn vor drei101 Jahren bei Champigny erſchoſſen. Er hat eine La¬ dung Schrot ins Geſicht bekommen, aus irgend einem Mordwinkel, da er ſchon durch die Bruſt geſchoſſen auf dem Krankenwagen lag. Iſt ſo in Blindheit ge¬ ſtorben. Ich war nicht da. Nun iſt mir's oft

Sie hatte die Augen tief geſenkt, während ſie ſprach, ſo merkte ſie nicht, daß er ſich erhoben und zu ihrem Stuhl gefunden hatte. Sie fühlte ſich plötzlich umſchlungen und an ein hochſchlagendes Herz gedrückt.

Marianne, flüſterte er an ihrem Ohr, liebſt Du mich nur wie Deinen Bruder? Sag '

Ihre Antwort erſtickte in ſeinen Küſſen, die ſie erwiderte, rückhaltlos, hingegeben, während ihr heiße Thränen entſtürzten, die Beider Wangen netzten. Ein¬ mal verſuchte ſie, ſich los zu reißen. Aber bedenk, flüſterte ſie. Nichts, als daß Du mein, meine, meine Marianne! Mit einem tiefen Seufzer ließ ſie ſich wieder zurückfallen, und die Stunden verran¬ nen ihnen im wortloſen Ineinanderſtrömen. Es war dunkel geworden, tiefe Nacht. Nun kam ein ſchmaler Mondſtrahl irgendwo durch eine Spalte der Vorhänge herein und flog wie ein Silberblitz über Alfreds Antlitz. Wie ſchön er war in ſeiner Leiden¬ ſchaft! Marianne bebte zurück, erblaßte plötzlich, ſchlaff ſanken ihre Arme von ihm ab. Es ergriff ſie102 ſo, ſchüttelte ſie, daß ſie aufſchrie vor Qual. Wie lieb 'ich Dich! ſtammelte Alfred.

Nein, nein, ſchrie ſie verzweiflungsvoll, Du lebſt von der Schönheit, Du biſt ein Künſtler, Schönheit ſoll die Speiſe Deiner Augen ſein! Damit floh ſie hinweg, weinend, die Hände ringend und fortwährend murmelnd: Nie wieder, nie nie nie wieder!

Alfred verſtand ſie nicht. Iſt denn ſchon Mor¬ gen? Kannſt Du mich jetzt, jetzt allein laſſen? O, Du biſt nicht mitleidig, Du biſt grauſam und ich gefangen!

Unterdeſſen lag ſie vor ihrem Bette auf dem Boden und weinte, weinte. Neben ihr ſchnurrte das Kätzchen. Durch alle Stufen des Schmerzes begleitete ſie der behagliche, gedämpfte Ton und lullte ſie all¬ mälig in Ergebung. Ja, ſo geht es, dachte ſie; über uns iſt das Schickſal und ſchlägt uns mit Blind¬ heit und Leid, und rundum geht Alles weiter wie gewöhnlich, und das gute dumme Thierchen ſpinnt wie ſonſt.

Es war doch keine Befangenheit in ihrem Wieder¬ begegnen am nächſten Tag, die Freude nahm ſie gleich weg, wie die Sonne den Reif. Es blieb ihnen er¬ ſpart, ſich anzuſehen, ſo konnten ſie brüderlich ſchweſter¬ lich liebevoll ſich gute Worte ſagen und den Tag be¬ rathen. Der Arzt hatte jetzt nichts dagegen, daß ſich103 der Kranke dem Tageslicht ausſetze; ein breitkrämpiger Hut ſchützte vor den blendenden Strahlen. Die rothen Flecke in den Augen hatten ſich in weißliche verwandelt, die, immer undurchſichtiger werdend, das dunkle Blau der Iris und der Pupille verdeckten. Das war der Staar, den der Arzt vorausgeſagt hatte. Je mehr er reifte, deſto ſchwächer ward die Dämmerung, die noch hindurch fiel und dem Ver¬ letzten die Hoffnung erhielt, daß es drinnen noch ge¬ ſund ſei. Sie verſuchten, Spaziergänge zu machen; doch erwies ſich der Bub als ein kaum geſchickter Führer, und ſobald ein Straßenübergang nöthig ward, gerieth Marianne in Angſt, vor raſch daherfahrenden Wagen.

Sie ſollten hinausziehen, es wird ohnedies bald heiß werden, rieth ihm der Doktor.

Marianne? fragte Alfred ſtatt aller Antwort.

Ich hab's mir auch ſchon gedacht, verſetzte ſie bereitwillig, ich geh ſogleich zur Huber und kündige das Logis auf.

Aber allein können Sie's nicht unternehmen, ſagte der Arzt und blickte das Fräulein fragend an.

Ich weiß, ich bleibe bei ihm, es war ihr aber doch ein leichtes Roth ins Geſicht geſtiegen. Sie verließ ſchnell das Zimmer.

Sie dürfen dankbar ſein, meinte der Doktor zu Alfred.

104

Auch dem ſchoß es roth über die Wangen. O, ſie iſt einzig, flüſterte er.

Als ich ſie da das erſte Mal ſah, fuhr der Andere redſelig fort, dacht 'ich: ſo ein wüſtes Ge¬ ſicht haſt noch gar nimmer geſehen, und als ich mit ihr geredet hatte und wegging, dacht' ich: ſo ein an¬ genehmes Frauenzimmer haſt Du gewiß nimmer geſehen.

Alfred war erbleicht.

Iſt ſie ſo häßlich? fragte er tonlos.

Ich ſag's ja, nein! ich ſeh's durchaus nicht mehr; ſowie ſie redet, iſt Alles Seele, und dazu dieſe angenehme Stimm '! das gäb' eine exemplariſche Frau.

Ja, ſagte Alfred mechaniſch.

Während der Arzt fortfuhr, ihre Wärterdienſte zu rühmen, ſprang der Blinde plötzlich mit einer Frage ein.

Werde ich mein Augenlicht wiederbekommen, Doktor?

Ich hoffe ſo, aber in dieſem Fall laſſen Sie ſich vorher trauen, er betonte das vorher und lachte dazu, wie eben ſo ein Mann lacht, den es nichts angeht.

Sie irren ſich, rief Alfred aus ſeiner widrigen Empfindung heraus, es iſt nichts zwiſchen uns Beiden.

105

Er konnte den erſtaunten Blick nicht ſehen, den der Doktor auf ihn warf, doch hörte er den unter¬ drückten Ausruf: Nicht? Schade dafür! Schade für Sie Beide, und blieb ſtill und beſchämt ſitzen.

Die Empfindung, daß er zum zweiten Mal einen Treubruch begangen, drückte ihn faſt zu Boden. Aber dieſes Mal wollte er es gut machen, ohne Beſinnen, an der feige Verleugneten ſelbſt, wollte, ſowie ſie ein¬ trete, fragen da kam ſie ſchon.

Marianne, einzig Geliebte, rief er ihr ent¬ gegen, ſag 'mir in dieſem Augenblick, daß Du mein Weib werden willſt!

Er konnte nicht ſehen, wie ſie ſich am Thür¬ pfoſten feſthielt und mit weitaufgeriſſenen Augen in ſeinem heißen, ſonderbar bewegten Geſicht forſchte. Doch mußte ſie etwas darin nicht gefunden haben, denn ſie kam langſam näher, legte ihre kühle Hand auf die rothe Schläfennarbe, unter der es zuckte und hämmerte, und ſagte ruhig: Wenn Du nicht geſund biſt, ſo können wir nicht nach Schlier¬ ſee und müſſen noch warten.

Einen Augenblick ſchwieg er betroffen, dann ſchrie er in herzzerreißendem Ton: Ich will nicht länger blind ſein! ich will Dein Geſicht ſehen! ich will meine Augen wieder haben, meine Augen! meine Augen!

106

Die ihren quollen über von Mitleid und Ent¬ ſetzen.

Komm! rief ſie, den Arm um ihn ſchlingend und ſein armes Haupt an ihrer Schulter bettend, komm, mein Geliebter, mein armer Bruder, Deine Schweſter iſt bei Dir, die Dir hilft, die Dich trägt, die Dich lieb hat, die Dir nur Gutes wünſcht, nur Gutes! Sieh, Herz, Du biſt nun da in einem wil¬ den tiefen Strom, kannſt jetzt nicht kämpfen, mußt ſtill daliegen und Dich treiben laſſen; und ich, ich treibe ſo neben Dir, und Du weißt doch, ich bin da, und Du nicht allein in der großen Wüſte. Iſt das nicht ſchon etwas? Und wenn Du nicht ſiehſt, wohin wir treiben, ich geb 'ſchon Acht.

Ich hab 'Dich verleugnet! ſchluchzte er.

Still! ſtill! nicht weinen, denk 'an Deine Augen, und gräm' Dich nicht, wer wird's denn auch den Fremden ſagen? das kann ja kein Frem¬ des verſtehen! Der Doktor hat Dich ausfragen wollen, gelt? er hat mich auch letzthin gefragt, ob ich nicht Luſt hätte, ſeine Frau Doktorin zu werden er wußte wohl, daß ich nicht ja ſagen würd ' aber er hätte mir's gern vom Mund abgepflückt, warum nicht.

Das war unwürdig! Das hätte er nicht thun ſollen, brauſte er auf.

Marianne ließ ihn ſanft aus den Armen.

107

Willſt mir nun Eins verſprechen? Du weißt was?

Warum? bat er dringend.

Weil ein Krankes zuvor geſund werden ſoll, eh 'es, Entſchüſſe faßt! Verſprich!

Er legte zögernd ſeine Hand in die ihre; ſie drückte ſie kurz und feſt.

Und nun horch, was wir vorhaben, liebes Kind; das Schliers kenn 'ich gut, bin ſchon zweimal zur Sommerfriſche dort geweſen; und, gelt, wir ge¬ hen ins Ort, nicht auf den Freudenberg; es iſt zwar ſehr ſchön droben, aber es kommen da ſo Penſions¬ gäſte hin, mit Schleppen und Strickſtrümpfen, allerlei Familienbrei, da ſetzen wir uns nicht drunter. Und der Leo muß mit, daß man Eins um die Hand hat, und das Dummerl geht auch mit in 'm Körble, es hat dort ſo herrliche Holzſtälle und Scheuern, wo's herumſtreunen kann.

Wie anders hatte ſich der junge Bildhauer ſeinen erſten Reiſeausflug ins Gebirge vorgeſtellt! Nicht im verräucherten Eiſenbahnwagen, im rüſtigen Wanderſchritt, mit leichtem Gepäck hatte er gehofft, die ſchöne Welt zu ſehen. Nun war das Gewicht, das er mit ſich herumtrug, ſo ſchwer, daß er darüber der ſchönen Welt vergaß und mühſelig und ſtumpf wie die blinde Schnecke dahin kroch. Die Treue der geliebten Gefährtin machte ihn wohl auf Stunden108 ſein Leid vergeſſen, doch liebte er auch ſie mit Angſt; die ſchöne Sicherheit der Jugend war ihm erſchüttert; ſeit er das Augenlicht verloren, ſchien ihm aller Be¬ ſitz vergänglich. Sobald er Mariannens Stimme nicht hörte, überfiel ihn der Schrecken: ſie iſt fort; ſo oft er in der Nacht erwachte, rief er angſtvoll ihren Namen, daß ſie oft zitternd aus dem Schlafe fuhr und horchte, und wenn er zu rufen nicht auf¬ hörte, an ſeine Kammer ſchlich und ihn beruhigte, wie ein fieberndes Kind.

Sie hatte eine beſcheidene Wohnung gefunden; der See war nah, und ſchön waren die Stunden am Waſſer. Alfred lag auf dem Boden ausgeſtreckt in der würzig duftenden Minze; Marianne ſaß auf einem Feldſtühlchen neben ihm, vorleſend oder plau¬ dernd und Alfred mit ihren Augen ſehen laſſend, wie ſie es nannten. Er ſah dadurch die Form der wal¬ digen Ufer, den ſpitzen Kirchthurm des Dorfes, die Farbe des Waſſers auf den perlmutterglänzenden Steinen, das Funkengeblinzel auf der Oberfläche, wenn die Sonne hoch ſtand, die gelben Schwertlilien im windgeſchwungenen Schilf, die munteren Waſſer¬ ſtaare im weißen Wämschen, braunen Röckchen, die nicht nur mit den Schwalben um die Wette über die Wellen ſtreiften, nein, auch tief hineintauchten und auf dem Grunde dahinliefen; endlich das ſonnver¬ brannte blonde Rudermädchen, Hoffiſchers Magd mit109 dem weißen Kopftuch und dem braunen grüngebän¬ derten Strohhut darüber.

Was ihn neben allem Uebrigen drückte, war die gezwungene Unthätigkeit. Er hatte wieder zu ſchnitzeln angefangen, doch freute es ihn nicht, da er kein Zu¬ trauen hatte, es werde ihm gelingen. Marianne ſchnitt ihm dünne Binſen zurecht und lehrte ihn Blumenkörbchen flechten; er brachte ſie zwar zu Stand, ſpottete aber dabei über ſich ſelbſt und ſeine Spitälerbeſchäftigung, die er denn auch wieder liegen ließ. Sein Daſein hatte ſo vollſtändig durch das Auge Licht empfangen, daß ihm mit dieſem Verluſt Alles verſagte. Endlich lernte er von einem jungen Burſchen Zither ſchlagen und brachte es darin zu einiger Gewandtheit. Es gelang ihm, Mariannens Geſang hie und da zu begleiten, wo es ſich um leichte Volksmelodien handelte, und daraus entſprang Freude und Genuß für Beide, die, ſeit ſie ſo ver¬ bunden waren, eigentlich nur noch im Andern leben und ſich freuen konnten.

Einmal fuhr die rothwangige Hoffiſchers Magd eine muntere Geſellſchaft nach Freudenberg hinüber. Sie ſtiegen nicht weit von Alfreds gewohntem Platz in das Boot, und die zwei Einſamen hörten ihr lautes Geſpräch und ausgelaſſenes Gelächter. Der Blinde horchte auf.

110

Das könnte Fräulein Spitzer ſein, die da ſpazieren fährt, ſieh doch hin, Marianne.

Warum haben Sie denn den Schurz umgethan? hörten ſie fragen. Und gleich kam die unvermuthete Antwort: Weil's doch a biſſel häuslicher ausſieht.

Sie wird es wohl ſein, ſagte Marianne, ein hübſches dunkles Mädchen mit einem rothen Schürz¬ chen und wahrhaftig ſie trägt auch einen Alpen¬ ſtock!

Ueber Alfreds Geſicht flog ein gemiſchter Zug, halb Lachen, halb Bitterkeit.

Ja, das iſt die Loni.

Der Vater iſt auch dabei und eine ältere Frau, dann noch ſo junge Männer.

Wüßt ich nur etwas von Wolff! Er hat doch wohl unſern Brief nicht bekommen. So, die da ſingen!

Ein luſtiges Lied, ganz Tanzmelodie, ſchwebte durch den friſchen Morgen verſtändlich und hell herüber:

In grünen Laubeshallen,
Da ſteht ein luſtig Haus,
Und Saiten hör ich ſchallen,
Und Lieder klingen heraus.
Aus all den offnen Thüren
Dringt friſcher Bogenklang,
Die Vögel accompagniren
Mit ſchmetterndem Geſang.
111
O Tanzſaal ohne Gleichen,
In kühler Schattennacht!
Von Birken und rauſchenden Eichen
Umwölbt und überdacht.
Was zauderſt Du, Geſelle?
Wer zögert, der verſäumt!
Die Stunden wandern ſchnelle,
Getanzt! und nicht geträumt!
Die Sonne hüpft über die Matten,
Die Fiſchlein ſchnellen im Strom,
Die weißen Wolkenſchatten
Wirbeln am Himmelsdom.
Doch fröhlicher als ſie alle
Das klopfende Herz in der Bruſt
Verſink! Verſink im Schwalle
Brauſender Lebensluſt!

Nein! nein! bat Marianne und hob ihm den Kopf in die Höhe, den er ſchluchzend in die Arme vergraben hatte. Oder ſag 'mir die Wahrheit, Alfred, iſt Dir's noch immer weh um ſie?

Er ſchüttelte den Kopf: Weißt Du, es iſt nur, da fährt nun die Jugend und die Lebensluſt und fährt an uns vorbei, ſagte er mühſam.

Und Du ſehnſt Dich mitten hinein! Es iſt ſo natürlich, flüſterte das Mädchen mit zuckendem Munde.

Ach, rief er plötzlich, die Arme ausgebreitet,112 was für ein elender undankbarer Neiding ich bin! Hab ich nicht Dich! Hab ich nicht das höchſte Gut der Welt? Komm, komm, laß mich wiſſen, daß Du mir bleibſt, daß Du nicht froh ſein könnteſt ohne mich, ſag ', daß Du mich liebſt, Du Gute, Einzige!

Ich brauch 'Dir nichts zu ſagen, erwiderte ſie ſanft, doch bebte ein Krampf in ihren Zügen, und ſie wich ſeinen Armen aus. Es wird Zeit für uns Beide, murmelte ſie in ſich hinein. Er war ſchon wieder in ſeinen Grübeleien.

Daß auch Wolff ſich nicht nach mir umſieht! Verſtehſt Du das? Ich hielt ihn für meinen Freund! Vielleicht iſt er bei Spitzers geweſen, und Loni hat ihm geſagt, was mich ſtets beſchämen wird in der Erinnerung.

Er zerbrach einen dürren Aſt knackend unter ſeinen Fingern.

Was für ein Freundesrecht hab 'ich danach auf ihn? Aber er war ſo gut und ſo geſcheut, er hätte mir von ſeinen Arbeiten geſprochen, da ich ſelbſt müßig liegen muß.

Er wird ſchon kommen!

Mariannens Ton war traurig, das fühlte er bis ins Herz.

Das Unglück macht die Menſchen ſchlecht, un¬ ſicher, bitter, ſagte er wie zu ſich ſelbſt, ich erfahre es an mir; jeden Tag nehm 'ich mir vor, geduldig113 und gleichmüthig zu ſein, aber immer geht's anders, und ich betrübe Dich, die ich beglücken möchte.

Zu Ende nächſter Woche kommt der Arzt, lieber Alfred.

Ach, was bringt der! Denke Dir, Marianne, wenn ich jetzt ſehen könnte! Den Kopf voller Ge¬ danken, die Hände voll Arbeit, und das Herz voll von Dir! Was für ein Leben! Nicht wahr, Du ſängeſt dann auch heitere Lieder? Warum nicht? wir wären ja ſo glücklich! Und tanzen würden wir auch! Ich möchte für mein Leben gern mit Dir tanzen, Marianne!

Sie antwortete nichts, doch er fuhr lebhaft fort: Und wenn mir nun einmal etwas gelänge! Ein Kunſtwerk! Denk 'Dir, Marianne! Und Du die Erſte, die es ſieht. Denn ich hab' Dir's vielleicht im Werden verborgen, um es Dir ganz fertig zu zeigen! Erfolg mit Dir theilen dürfen, mit dem treueſten, liebevollſten Weſen der Erde! Was meinſt Du, wär 'es nicht das Paradies? Gieb mir wenigſtens Deine Hand, und laß mich fühlen, das Du's auch ſo meinſt!

Es war ein heißer, ſtummer Händedruck, mit dem ſie antwortete.

Sieh, fuhr er bewegt fort, und wenn ich nun ſolch eine ſelige Möglichkeit vor mir ſehe und mir's dann plötzlich eiskalt auf die Hoffnungen fällt:Frapan, Bitterſüß. 8114blind! blind! unnütz! elend verurtheilt! dann könnt ich raſen, wie am erſten Tage, oder mich in das Waſſer ſtürzen, wenn Du nicht wärſt!

Ich glaub's ſchon, ſagte ſie. Wir wären freilich nie zuſammen kommen, ohne Dein Unglück.

So will ich es doch ſegnen! rief er haſtig.

Was redeſt Du! flüſterte ſie verwirrt.

Segnen! rief er, ſegnen! riß ihre Hand an ſich und biß heftig hinein, daß ſie mit Mühe einen Schrei unterdrückte. Es thut mir weh, ſo lieb hab ich Dich! Du kennſt mich noch nicht! ſprudelte er.

Marianne hatte die Lippen auf die blutende Wunde gepreßt, aber wenn er ihre leuchtenden Augen hätte ſehen können, er hätte ſie wohl noch nicht los¬ gelaſſen.

Du Wilder! lächelte ſie, es blutet ordentlich! Ich bin nur froh, daß die Loni es nicht geſehen hat.

Ein Schein von Uebermuth flog über ſein Geſicht.

Manchmal kannſt Du auch eine rechte Schel¬ merei ſagen, ganz wie andere Mädchen! rief er be¬ wundernd. Die Loni macht ſich nichts aus mir, und ich mir nichts aus der Loni! Du aber ſeine Stimme ſchmolz, wie immer, wenn ſie ihm er¬ laubte, von ihr zu reden. Er hatte jenes zugleich Weiche und Sprühende des Weſens, das eigentlich den Zauber der Jugend ausmacht und nur den Aus¬115 erwählten über Reifezeit und Alter verbleibt. Du aber Marianne meine Marianne

Komm! ſagte ſie mit einer gewiſſen Macht¬ loſigkeit im Ton, es iſt Mittagszeit; die Sonne ſticht, unſere Wirthin wartet, und es kommt ein Gewitter; wir müſſen heim

Und mit fürſorglicher Hand leitete ſie ihn zurück durch die gewundenen Gäßchen bis zur Fiſcherlieſel, wo ſchon die Nudelſuppe auf dem Tiſche dampfte. Hinter der Suppe ſaß aber bereits ein Gaſt mit einem vollen Teller vor ſich. Doch ſchien er keinen Hunger zu verſpüren, ſondern rührte bedenklich in dem Fadenknäuel und ſprang in voller Eile auf, als die Beiden in das Gaſtzimmer traten.

Alfred! rief er mit halberſtickter Stimme.

Und Max, biſt Du ? klang es nicht we¬ niger bewegt zurück.

Der Maler drückte ihn kurz und ſchnell an die Bruſt. Da bin ich! und da biſt Du! er athmete hoch auf, und das iſt Fräulein Marianne Einſele, die mir Alles geſchrieben hat.

Ja, das iſt die liebſte Marianne. Ach, Max, daß ich Dich nicht ſehen kann!

Gar nichts? rief der Maler betroffen, ich dachte doch aber der Arzt gibt doch Hoffnung?

Wer darf darauf bauen?

Marianne ſah die ſtumme Erſchütterung in dem8 *116dunklen ſchmalen Geſicht des Freundes. Sie tauſchte einen ſchnellen Blick mit ihm und ſagte: Doch! doch! wir dürfen hoffen.

Die erſten Worte von dieſer vollen tiefen Stimme machten Wolff aufſchauen.

Sie haben ihm das Leben gerettet, ſagte er halb für ſich, ich kann es begreifen.

Ein ſchönes helles Roth färbte ihr Geſicht. Nun ſind wir froh, gelt Alfred? fragte ſie, ſich abwendend.

Erzähle, bat dieſer.

Nein, weißt, zum Beſten iſt mir's auch nicht gangen, meine arme Schweſter iſt nun er¬ löſt, aber

Ein ernſtes Schweigen folgte.

Du haſt ſie gemalt? fragte Alfred zuletzt.

Hab 'ſie noch gemalt, ja, und nachher war die Mutter, die alt' Frau ſo arg einſam, ich bin ſchwer wegkommen und dann

Haſt Du Spitzers geſehen?

Ich glaub 'ſchon! Das Fräulein iſt mit dem Baron verlobt! Wolff lachte kurz auf.

Nein! riefen die Freunde gleichzeitig.

Ich hab's ihr heut Morgen geſagt: Wie können Sie den Menſchen nehmen? Da zuckt ſie die Achſeln und ſagt: Ich weiß auch nicht.

Der Maler ſprang von dem Platz hinter dem117 kaum berührten Teller auf: Sie weiß, daß ich's nicht leiden werde! Ich hätte nicht davonlaufen dürfen heut; ſie ſind Alle hier, ich war zu Anfang dabei nachher Du weißt ja, wie's zu gehen pflegt der Bräutigam war unausſtehlich, der Alte zankt mit ihm, wird ſtark erhitzt. Ich red 'ihm ab, in dem Zuſtand ſelbſt nach Fiſchhauſen zu rudern; es iſt ja gewitterſchwül; da ſagt er mir Grobheiten, wie ſo ein blaurother, blutüberfüllter Kopf ſie eben bereit hat. Das Fräulein tritt zum erſten Mal auf meine Seite! Der Bräutigam höhnt; und als ſie ihn ſo abfällig durch die Finger gleiten läßt, wie einen falſchen Kreuzer, macht er eine höhniſche Bemerkung über ſie und mich und ſagt, er danke fürs Vergnügen und kehrt um. Da hätte der Alte ſie faſt mit dem Ruder geſchlagen! Sie winkt mir, weggehen ſollt' ich, o, ich hätt's nicht thun ſollen! Aber ich wollte Dich aufſuchen, Alfred, darum ge¬ horcht 'ich.

So mußt Du bald wieder fort? fragte Al¬ fred enttäuſcht.

Nur ſehen, was da geworden iſt, dann komm 'ich zurück, wenn Fräulein Marianne es er¬ laubt.

Wolff und Marianne hatten ſich merkwürdig ſchnell verſtanden, und ein gegenſeitiges warmes In¬ tereſſe belebte ihr Geſpräch.

118

Der Maler ſchied, doch warteten die Freunde vergebens auf ſeine Rückkehr.

Dagegen verbreitete ſich Abends das Gerücht, daß drüben in Fiſchhauſen Einer vom Schlag gerührt worden ſei, ein Fremder von einer Geſellſchaft. Bald wurden auch Einzelheiten erzählt. Die Leute hatten im Wald, nicht weit vom See, Karten geſpielt; dabei muß der Eine ſtark hitzig geworden ſein, des Wirths kleiner Junge hatte geſehen, wie er auffuhr und dem Andern mit der Fauſt drohte. Auf einmal aber ſei er zurückgefallen und habe die Arme weit von ſich geſtreckt. Nun hab's große Verwirrung gegeben, und die Meiſten ſeien davongeſprungen, nur ein junges Fräulein hab 'ihn aufgerichtet und jämmerlich ge¬ ſchrieen. Zuletzt ſei noch Einer gelaufen kommen, der zuvor nicht dabei geweſen, ſchwarze Haar hab' er ge¬ habt und ſo ein bleiches Geſicht. Aber eine Bären¬ ſtärke, daß er hab 'den ſchweren Mann in die Arm' nehmen und fortſchleifen können; auch ſei er bös hineingefahren in den Jungen, daß er da ſteh und gaffe, ſtatt Hülfe zu holen.

Die Beiden, die dieſen Bericht anhörten, hegten keinen Zweifel, wer der Betroffene ſein möge und warteten geſpannt auf die weitere Entwickelung.

Andern Tags hörten ſie, der Fremde ſei ge¬ ſtorben, und gegen Mittag trat der Freund auf einen Augenblick herein, überwacht und ernſt, aber ruhig119 und entſchloſſen wie immer. Er war auf dem Wege nach München, es war ja ſo natürlich, daß er all' die traurigen Geſchäfte für die arme Hinterlaſſene übernahm.

Und der Bräutigum? fragte Alfred.

Der Maler richtete ſich ſtraff auf: Wir werden ihm die Wege weiſen, das gehört auch zu meinen Geſchäften, er hat ſich übrigens bis jetzt noch nicht gemeldet

Glück auf den Weg! riefen ihm die Freunde nach, er wandte ihnen noch einmal das Geſicht zu; es war tiefernſt und doch ſah es aus, als breche dort ſchon das Glück aus allen Linien hervor.

Am nächſten Abend, als der Mond aufgegangen war, führte der Kahn der Schifferin einen Sarg herüber. Die ganze Dorfbewohnerſchaft hielt ſich ſtill am Strande. Marianne ſtand unter den Leuten und ſah mit Wohlgefallen, wie ſich alle Häupter entblö߬ ten, als der ſchwarze Kaſten herausgehoben ward, und wie ſich viele Hände nach der verſchleierten klei¬ nen Dame ausſtreckten, um ihr ans Land zu helfen. Sie trug über ihrem bunten Kleide einen großen dunklen Mantel, den ihr die Wirthin geborgt haben mochte, denn er ſchlotterte um ihre feinen Glieder. Ohne Beſinnen trat eine Anzahl Männer heran, ſchulterte den Sarg und trug ihn ſchweigend nach dem Bahnhof. Es folgte Niemand als der blaſſe120 ſchwarzhaarige Maler und das verſchleierte Fräulein, das er an der Hand führte.

Als ſie an Marianne vorüber kamen, grüßte Wolff mit ſtummer Gebärde und deutete mit mitleid¬ fordernden Augen auf die zarte wankende Geſtalt neben ſich.

Marianne blickte ihnen nach, ſo lange ſie konnte. Dann ging ſie zu Alfred, der im Zimmer geblieben war, und ſagte, ſeine Hände faſſend:

Nun ſind ſie beiſammen, nun darfſt Du ruhig ſein. Dann erzählte ſie. Alfred horchte geſpannt, endlich ſagte er:

Sie ſind glücklich, aber es iſt doch auch auf einen ſchwarzen Grund gebaut.

Die Erde, die wir treten, iſt Moder, erwiderte ſie langſam, es blühen aber doch Blumen darauf.

Du haſt einen ſeltſamen Gleichmuth, Marianne, rief er aus, wie kannſt Du all die Gegenſätze ſo er¬ tragen?

Ich denk 'halt, ich werd' nicht ewig leben, ſagte ſie gelaſſen, doch war ihr Geſicht nicht ganz ſo ruhig, wie ihre Worte.

Am andern Tage ſtand die erneute ärztliche Unterſuchung bevor; der Arzt, der ſeine Schweſtern zur Sommerfriſche in Freudenberg hatte, benutzte die Gelegenheit zu einem freien Sonntag Nachmittage. Als er nach eingehender Beobachtung des Kranken121 ging, ließ er die Beiden in Bewegung zurück: in zwei Monaten etwa könne man zur Operation ſchreiten, hatte er erklärt. Das wäre ſchon an ſich eine auf¬ regende Mittheilung geweſen, ward es noch viel mehr durch das dunkle Räthſel, das dahinter ſtand: wird die gute oder ſchlimme Möglichkeit jetzt eintreten. Hätte er doch lieber noch geſchwiegen! Alfred konnte kaum mehr ſchlafen, war in ewiger Unruhe und erſchreckte ſeine Gefährtin durch die ſchnellſten Ueber¬ gänge der Stimmung. Er ſah es nicht, wie bleich ſie ward in dieſen Tagen, wie ihre Hände zitterten und wie oft ihre Augen mit einem ſeltſamen, bohren¬ den Blick in ſeinem Antlitz zu forſchen ſchienen. Sie hatte ihre Stimme ganz in der Gewalt und blieb immer dieſelbe tröſtende, lindernde Freundin. Nie hatte ihr Geſang herzbewegender geklungen, als in dieſer langen Zeit.

Ein Beſuch unterbrach die Stille.

An einem feuchten grauen Morgen, wie ſie im Auguſt an dieſen Seen ſchon vorkommen, erſchien ohne Anmeldung ein Paar in der Fiſcherlieſel, das nach den jungen Herrſchaften fragte und von dem ſtiefelwichſenden Jungen in den Wald geführt ward, zu dem Blinden und ſeiner Marianne.

Alfred lag in einer Hängematte, Marianne ſaß mit einem Buch auf einem Baumſtumpf daneben. Ein freundlicher Zuruf ſchon von Weitem meldete122 den Beſuch. Alfred ſprang aus dem Netz, Marianne reichte den Freunden die Hand. Wolff legte den Arm um den Maler. Es war ein gegenſeitiges ſtilles Muſtern, ſtummes Grüßen.

Loni Spitzer in Trauerkleidern, etwas ſchmal und bleich, aber lebhaft wie immer, begann zuerſt das Geſpräch.

Ja, was hätt 'ich wohl anfangen ſollen ohne den Muckerl! Das heißt, ich darf ihn eigentlich nicht mehr ſo nennen, und Max klingt auch viel flotter, gelt? Aber es war doch eine ſchöne Zeit, da er noch der Muckerl war und der Papa noch lebte!

Sie fing plötzlich heftig an zu weinen, hob dann aber ihr naſſes Geſicht aus dem Taſchentuch und ſagte mit glänzenden Augen:

Und der Maxl nimmt mich ganz ohne Mitgift, gelt, das iſt ſchön von ihm. Es war kein Geld im Haus, um das Begräbniß zu bezahlen; der arm 'Papa hat garnicht gedacht, daß er ſterben könnt, na¬ türlich!

Und der Baron ? fragte Marianne ſchelmiſch. Loni ſchlug die Augen nieder.

Ui, der Lackl! Ich bin nur froh, daß ich den nicht kriegt hab '! Wiſſens, was er g'ſagt hat, als ihm der Maxl zu verſtehn geben, daß ich keine Mit¬ gift hätt? 's wär ihm leid, hat er g'meint, aber er könnt mich ſo nimmer nehmen, ich hätt mich zu arg123 kompromittirt, daß ich in Fiſchhauſen bei der Leich' blieben wär ', und der Maxl ſei auch dablieben!

Eine flammende Röthe zog über ihr Geſichtchen, ſie lachte voll Zorn und Verachtung und ſtampfte mit dem Fuß.

Wolff wollte ſie an ſich ziehen.

Nein, laß, ſagte ſie ſanft abwehrend, ich muß mich noch beim Herrn Heuvels bedanken; er hat den Muckerl immer herausgeſtrichen; ſo iſt's kommen, daß ich a recht's Zutrauen zu ihm kriegt hab '. Sie drückte Alfreds Hand.

Unſre Villa iſt verkauft, und morgen iſt Hoch¬ zeit, aber ganz ſtill, und dann fahren wir nach Italien, in ſo ein kleines Neſt, ſagt der Maxl, und ſuchen uns da 'n paar Stuben. Es wird ſchon recht komiſch ſein, wenn der Maxl immer ſo da iſt, ich war ja ſonſt immer allein. In Italien dürft' ich ſo toll ſein, wie ich nur immer wollt ', ſagt der Maxl, und das iſt gut; ich mein', ſeit der Papa todt iſt, könnt ich nimmer recht lachen. Sie lachte, und die Thränen liefen ihr wie Regen über die Wangen.

Der Maler ließ ſie immer allein reden und ſah nur von Zeit zu Zeit Marianne mit leuchtenden Blicken an, als wolle er ſagen: Und die iſt nun meine!

124

Mit kindlicher Neugier guckte Loni in Alfreds getrübte Augen.

Sehen Sie denn gar nix? Auch mich nicht? Das iſt aber doch arg!

Sie blickte entſetzt und fragend ihren Verlobten an. Wolff legte den Finger auf den Mund. Da nickte ſie ſchnell und fuhr in heiterem Ton fort: Wenn Sie wieder ſehen können und Ihr Zwei verheirathet ſeid, beſucht Ihr uns in Italien, gelt?

Ja! murmelte Alfred.

Marianne hatte kaum merklich den Kopf ge¬ ſchüttelt. Nun, da Wolff ſie anſah, legte auch ſie den Finger auf den Mund. Dann machte ſie ihm ein Zeichen, und als Loni ihr Geplauder mit Alfred wieder begonnen hatte, traten die zwei Andern bei¬ ſeite, und Marianne flüſterte leiſe und eifrig mit dem Maler. Mit tiefbewegten Geſichtern, Marianne mit naſſen Augen, der Mann nachdenklich und trübe, wendeten ſie ſich dann um, gerade als Alfred rief: Marianne! biſt Du da?

Die Blicke der Beiden flogen auf dieſen Ruf einander noch einmal zu, Wolff ſchien mit ſtummer, vorwurfsvoller Bitte zu ermahnen. Marianne kehrte mit geſenktem Haupt zu Alfred zurück.

Da bin ich; Du haſt mich gerufen.

Man blieb bis zum Abend beiſammen. Mari¬ anne begleitete ſie durch den Garten hinaus. Als125 man ſchon Abſchied genommen, hörte ſie, wie Loni mit ihrer unbekümmerten Lebhaftigkeit ſagte:

Weißt, Maxl, ich mein ', ſie ſei garnicht ſo wüſt, wie Du's gemacht haſt! Ich war auf ein noch weit ärgeres Meerwunder gefaßt. Und dazu, wenn der Alfred blind iſt, wär's faſt ſchad' um 'ne Schöne, gelt?

Das Rauſchen in den Bäumen übertönte die Antwort.

In Mariannens Zimmer brannte das Licht die halbe Nacht durch, und der Wächter ſah ſie ruhelos auf und ab wandern und hörte, daß da drinnen laut aufgeſchluchzt ward. Neugierig trat er an das helle Fenſter, da erloſch das Licht, aber immer, wenn er wieder vorbei kam, ſcholl es wie unterdrücktes Weinen.

Die Zeit verging doch, ſo lang ſie ward. Man kehrte nach München zurück, zurück ſogar in das alte Quartier zur Wittwe Huber, deren Zimmer über Sommer wenig Annehmlichkeit boten und mithin auch wenig Liebhaber fanden.

Emerenz, noch dünner und brauner, aber behend und langzopfig wie ſonſt, lief ihnen mit einem Freudenſchrei entgegen und machte faſt Anſtalt, ihren Bruder Leo zu umarmen, ward aber noch rechtzeitig durch die unnahbare Miene des Burſchen und ſeine auf dem Rücken gefaltenen Hände an den Schicklichkeits¬126 begriff erinnert. Und wo iſt denn das Dummerl? Ja, das zierliche Kätzchen war ein Rieſenkater gewor¬ den und wild obendrein, und es war aus dem Eiſen¬ bahnwagen wieder hinaus und in die Holzſtälle und Scheunen zurück geſprungen, drin es ſich ſo lange getummelt hatte. Dem hat's in Schliers zu gut ge¬ fallen, das kommt nimmer.

Emerenz ſah das Fräulein ganz verwundert an, das klang arg gleichgültig.

Die Nachbarkinder ſchoben einander vorwärts, dem Fräulein Marianne zu. Sie faßte auch all die kleinen, nicht durchweg reinen Pfötchen, die ſich ihr entgegenſtreckten, aber ſonſt hatte ſie dabei ein freund¬ liches Wort für ſie gehabt, ein Streicheln übers Haar, eine Frage nach den Eltern; heute ſah ſie die Kleinen zerſtreut an, und das Häuflein ſtarrte ihr enttäuſcht nach es war nichts von Bretzeln oder Zwetſchen vorgekommen.

Sie ſtieg mit ihrem Schützling in ſeine alte Wohnung und machte es ihm dort behaglich, ehe ſie ſich in ihr eignes Quartier im Hauſe gegenüber be¬ gab. Mit einem gewiſſen Wohlgefühl ſetzte ſich Al¬ fred wieder auf das kleine ſteife Sopha, hier hatte er glückliche, hoffnungsvolle Stunden verbracht, hier hatte er Marianne zum erſten Mal ſingen hören. Wie war doch ſein Leben ſo zu einem Traum zer¬ ronnen!

127

Der Arzt erſchien, ſtellte eine neue Unterſuchung an und verkündigte ihm, die Operation könne mor¬ gen, übermorgen vorgenommen werden. Jawohl, in dieſem Zimmer, wenn er's wünſche. Und er ſetzte ſich zu ihm und erzählte ihm und Mariannen, daß es eine leichte Sache ſei, dieſe Ablöſung der Trübung von der verletzten Hornhaut, und daß die Nach¬ behandlung im verdunkelten Zimmer durch Aetzmittel die letzten Flocken zerſtören werde.

Und nachher? fragte Alfred furchtſam.

Und nachher ſehen Sie wieder, fuhr der Arzt zuverſichtlich fort. Sie beſtätigen mir ja ſelbſt, bis vor einigen Monaten noch hie und da Lichtempfin¬ dungen verſpürt zu haben, wäre die Netzhaut zer¬ riſſen, ſo hätte das nicht ſein können.

Alfred ſprang auf. Marianne! Marianne! Er ſuchte nach ihrer Hand.

Still! flüſterte ſie ihm zu. Wir werden noch alle Kräfte nöthig haben.

Du wirſt dabei ſein?

Ich verlaſſe Dich nicht.

Sie dürfen ſogar dem Patienten die Hand halten, fiel der Arzt gutmüthig ein, es iſt mir ſo¬ gar willkommen.

Und ſo geſchah es. Als der junge Bildhauer auf dem Bette lag, der Arzt und ſein Beiſtand die feinen Meſſerchen in Bereitſchaft ſetzten und endlich128 die entſcheidenden Stiche geſchahen, da lag Alfreds Hand feſt in der warmen treuen Hand Mariannens, und wie ein elektriſcher Schlag ſprang jede Bewegung von dem ſeinen in ihren Körper hinüber. Auf ein¬ mal flog es wie ein Blitzſtrahl durch ihn hin:

Licht! Tag! Ich ſehe!

Schön ſo! recht ſo! rief der Arzt, ſelber in lebhafter Bewegung und verdeckte das operirte Auge, nun das Andere.

Und abermals ſchrie er nach ſtandhaft ertragenen Schmerzen: Marianne! Marianne! ich kann ſehen! Das Fenſter, den Sonnenſtrahl, warum nicht Dich?

Der Arzt hielt ihn feſt. Keine Bewegung zur Seite, es iſt gewonnen, danken Sie Gott und dieſer Dame!

Und Ihnen! rief er feurig.

Hochaufſchluchzend ließ Marianne ſeine Hand fahren, um ſie gleich wieder zu ergreifen und an ihre naſſen Augen zu drücken. Zum erſten Mal verſagte ihr die Stimme, die im großen Leid ſo klar und feſt geblieben war.

Ach, warum ſchon wieder verdecken? klagte der Kranke, muß es denn ſein?

Geduld, in einigen Tagen! Es iſt ja Alles gut. Aber ſtill müſſen Sie ſich halten, kein Glied rühren heute, Sie wiſſen ja, wir haben das zuvor beſprochen.

129

Die folgenden Tage vergingen in einer Art Taumel für Alfred. Sehen! ſehen dürfen! denn am Können fehlt es ja nicht mehr! Er dachte kaum etwas an¬ deres, obwohl er doch auch von anderen Dingen ſprach. Auch Marianne war ſtill und tief in Ge¬ danken. Nun, da es eingetreten, ſchien Beiden, als ſei es das ſicher Erwartete, als hätte es garnicht an¬ ders kommen können. Der Arzt ſprach jetzt zweimal des Tages vor. Die Stunde kam, wo er ſagen konnte: Morgen ſtehen Sie auf, und die Binde wird abgenommen, und dann wird es von Tag zu Tag etwas heller um Sie, bis Sie das volle Licht ertra¬ gen können.

In der Nacht vor Ablauf dieſer letzten Zeit hatte Alfred einen ſeltſamen Traum. Eine Geſtalt kam unhörbar herein, ſtand plötzlich neben ſeinem Bette und küßte ihn leiſe auf Mund und Augen. Er griff danach, doch zerfloß ſie ihm unter den Händen. Mit heftigem Herzklopfen ſagte er die Worte: Iſt dies ein Abſchied?

Ja, antwortete eine gebrochene Stimme.

Er ſchrie auf und erwachte in unbeſchreiblicher Beängſtigung; er ſetzte ſich aufrecht, heiß und zitternd und ſtarrte im Zimmer umher. Marianne! rief er zuletzt; dann ſich beſinnend, daß ſie ja nicht im gleichen Hauſe wohne: Leo!

Schlaftrunken, im Hemde, ſtolperte der JungeFrapan, Bitterſüß. 9130nach einer Weile herein, Alfred ſah in dem ſchwachen Dämmerlicht den großaufgeriſſenen Mund.

War Jemand hier? Haſt Du Jemand ge¬ ſehen, Leo?

Na! ſagte der Junge kopfſchüttelnd und gähnte laut und nachdrücklich.

So leg 'Dich wieder hin, befahl Alfred, ſchlaf nur.

Der Junge nickte bereitwillig mit dem Kopf; kaum war er fort, ſo tönte ſchon wieder ſein Schnar¬ chen aus dem Nebenzimmer.

Alfred lag wach bis an den Morgen, dann fiel er noch einmal in tiefen Schlaf.

Er erwachte davon, daß er ſeine Schulter be¬ rührt fand.

Heute alſo haben wir den großen Tag, ſagte die Stimme des Arztes. Ich wundere mich ganz, Sie noch ſo vertieft zu finden.

Heute alſo, erwiderte Alfred mit einem tiefen Aufathmen, das faſt einem Seufzer glich. Haben Sie das Fräulein ſchon geſprochen?

Ich komme erſt eben, wir bedürfen übrigens ihres Beiſtandes nicht. Wiſſen Sie was? Sie klei¬ den ſich geſchwind an, und ich führe Sie hinüber Fräulein Einſele wohnt doch drüben? Das wird eine Ueberraſchung ſein, was? Aber eilen müſſen Sie! Um 9 Uhr fängt meine Sprechſtunde an.

131

Der Patient gehorchte; mit Leo's Hülfe war er bald fertig; der kleine Kammerdiener hatte ſich an das Dämmerlicht ſo gut gewöhnt wie Marianne. Als der Arzt den vor Aufregung Sprachloſen in das helle Nebenzimmer geleitete und Alfred beim Anblick der ſo lang entbehrten Sonne in heiße Thränen aus¬ brach, flog es auch dem jungen Doktor roth um die Augen.

Wir bringen es im Ganzen recht ſelten dazu, ſagte er, Alfreds Hand drückend, und auch bei Ihnen was hätten wir machen können, wenn die Netzhaut zerriſſen geweſen, wie man anfangs befürch¬ ten mußte? Dann ſäßen Sie noch jetzt rettungslos im Dunkeln.

Marianne! murmelte Alfred unruhig ſon¬ derbar iſt es doch

Der Arzt faßte ſeinen Arm, denn er ging ſchwan¬ kend und unſicher. Als ſie auf die Straße kamen, blieb der Bildhauer ſtehen, warf ſtaunende Blicke ringsum und erhob dann plötzlich die Arme, als wolle er den ſonnigen blauen Himmel, die herbſtrothen Bäume, die auf ihn zukamen, an ſeine Bruſt ſchließen.

Ein kleines Mädchen kam daher gelaufen, ſah ihn eine Weile ſchüchtern fragend an und ſtreckte ihm dann das Händchen entgegen.

Babettle! rief Alfred, das Babettle, und ich kann es wieder ſehen.

9*132

Die Kleine ließ ſeine Hand nicht los, und er ſchaute wieder in das ſchöne volle Geſichtchen des in Geſundheit blühenden Kindes. Es war noch nicht ein bischen aufgewacht, die großen blauen Augen noch ebenſo ſtill und ziellos wie früher.

Ich darf wieder arbeiten? fragte Alfred den Begleiter, und in ſeine Züge ſchien alle Begeiſterung, alle Freude des Lebens wieder einzukehren.

Mit Maßen im Anfang; iſt das Kind ein Mo¬ dell von Ihnen?

Mein Sternthalermädchen, für das ich damals den Marmor ausſuchte; ich bin aber beſcheidener geworden; wenn es mir zum hundertſten Theil ge¬ lingt, die Märchenſtille hier er legte dem Kinde die Hand aufs Haupt.

Iſt es hier? fragte der Arzt, denn ſie hatten die Treppe erſtiegen.

Dort, die Thür, die offene; ja warum denn offen? Ich bin nur einmal hier geweſen, ich irre mich doch wohl Alfred war haſtig bis zur Thür geſchritten, hatte auch das Zimmer betreten und hinter ſich offen gelaſſen. Neugierig folgte der Arzt. Er ſah den Bildhauer in einer Ecke ſtehen, das Geſicht zur Wand gekehrt und in den Händen vergraben.

Das Zimmer war leer, völlig ausgeräumt, ebenſo das nächſte, deſſen Thür gleichfalls offen ſtand.

Der Arzt ſpitzte die Lippen, als ob er pfeifen133 wolle, beſann ſich aber, trat an den Bildhauer heran und ſagte, ihm die Hand auf die Schulter legend:

Wollen wir nicht die Wirthsleute fragen?

Das Geſicht, das ihn anſah, erſchreckte ihn: Sie iſt fort, ſagte er mit Verzweiflung in Ton und Blicken.

Der Doktor ſtand rathlos. Sie ſagen das ſo beſtimmt wollen wir denn nicht die Wirthin fra¬ gen? Er zog die Uhr. Dazu ſehe ich mit Be¬ dauern, daß meine Zeit abgelaufen iſt! Was machen wir denn jetzt? Sie müſſen doch mit herunter¬ kommen?

Alfred reichte ihm mit abgewendetem Geſicht eine kalte bebende Hand.

Ich danke Ihnen, bitte, gehen Sie fort.

Verrücktes Weibervolk! brummte der Doktor im Abgehen.

Dann war der Verlaſſene allein; das Kind ſtand draußen auf dem Flur und hörte ſeine Seufzer und erſtickten Ausrufe.

Er mochte lange ſo mit ſeinem Schmerz gerun¬ gen haben, da kamen Schritte auf die Thür zu. Er raffte ſich zuſammen und floh wie ein Verfolgter hin¬ aus, die Treppe hinab und über die Straße in ſeine Wohnung. Als er eintreten wollte, ſah er, daß ihm die Kleine nachgelaufen war. Er ſah ſie von der Seite an, dann ließ er ſie mit hereinſchlüpfen wie134 ein Hündchen oder Kätzchen, das ein Recht hat auf den Eintritt.

Leo kam ihm entgegen, es ſchien, daß er eine Frage in ſeinem dicken Kopf bewege.

Fräulein Marianne? ſagte er erwartungsvoll.

Sie war nicht hier? rief Alfred, von einer blaſſen Hoffnung erfaßt.

Der Junge ſchüttelte den Kopf. Es hat mich ſelbſt gewundert.

Alfred ſchlug die Thür hinter ihm zu und warf ſich in einen Stuhl. Doch war kaum eine Minute vergangen, ſo ward die Thür wieder geöffnet, und der Junge guckte herein:

Die Emerenz hat geſagt, das Fräulein ſei fort.

Wo iſt die Emerenz? rief Alfred aufſpringend.

Sie iſt ſchon wieder weg, und die Hausfrau hat mir den Brief da geben.

Alfred nahm ihn kopfnickend, wie etwas Er¬ wartetes. Als er ihn aber entfaltete und las, all die Liebe und Zärtlichkeit, die ein blutendes Herz in dieſe Blätter gelegt, da brach er ganz zuſammen und rief mit tauſend Schmerzen nach der Geliebten und Verlorenen. Warum verloren? Ach, da ſtand es nur zu klar:

Ich bin nicht ſchwach, geliebter Freund, aber doch auch nicht ſtark genug, um noch einmal Dein Zurückſchaudern zu ertragen, wenn Du mich erblick¬135 teſt. So hab 'ich Dir und mir das Herzeleid anthun und grade den ſchönſten Tag Deines Lebens durch den Abſchied trüben müſſen.

Zuletzt kam eine Bitte, ſie nicht aufzuſuchen. Ich gehe fort, unter verändertem Namen. Von Dir aber werde ich hören. Hab 'Dank für alles Glück. War's auch in Deinen Augen wenig, ſo war's doch mehr, als ich je beanſpruchen durfte. Und nicht ſorgen um einander, Geliebter. Dir hilft die Kunſt und das neugewonnene Tageslicht; ich hab' es ſchwerer aber ich habe ja auch gelebt vorher, werd's ſchon wieder lernen.

Als Alfred nach Stunden aus ſeinem ſchmerz¬ lichen Brüten erwachte, ſah er die Kleine noch im Zimmer ſtehen.

Was willſt Du noch? fuhr er ſie an.

Babettle's große Augen trübten ſich; kläglich brachte ſie's heraus: Das gute Fräulein hat geſagt, ich ſoll gleich hergehen und dableiben, bis Sie mich wegſchicken.

Da nahm er die Kleine in den Arm und küßte ihre naſſen Lider, während ihm ſelbſt die Tropfen herunterliefen.

Komm morgen wieder, ins Atelier, Du weißt ja, flüſterte er, wir müſſen thun, was das gute Fräulein geſagt hat.

136

Es war ſechs Jahre ſpäter. Da kamen an einem Septembernachmittage zwei Fremde in Stutt¬ gart an, ein Herr und eine Dame. Daß ſie fremd hier waren, hörte man an den entzückten Ausrufen der jungen Frau im grauen Reiſeſchleier, als ſie am Königsbau ſtanden und ihre Augen über die Palmen und Bananen des Schloßplatzes hinweg zu der lieb¬ lichen Hügelkette dahinter wandern ließen. Die grü¬ nen Weinberge dort, der rothe Erdboden, die hell¬ getünchten Häuschen unter den Obſtbäumen, all' das ſtrahlte und glühte in reinen ſatten Farben, erhöht und doch wieder gemildert durch den ſonnigen Staub, der die ganze Luft erfüllte.

Das iſt ja wie bei uns unten in Italien, ſagte die Dame, jetzt freut mich's erſt, daß ſie hier wohnt, gelt, Maxl? Ob wohl die Forſtſtraß 'da droben iſt, wo die netten gelben Häuſerln ſtehen?

Nein, die Forſtſtraße lag hinter ihnen, wie man ſie belehrte, und ſie hatten durch allerlei Gaſſen zu gehen, das Grün hinter ſich zu laſſen, zwiſchen Mauern dahinzuſchreiten, die Gluthhitze von ſich ſpieen, auf weiß blendendem Boden, der heiß war.

Loni, die ein wenig ſtark geworden, ſtützte ſich ſchwer auf ihren Mann.

Endlich ſtanden ſie vor einem größeren Gebäude, das den Eindruck machte, ein öffentliches zu ſein. Ein Vorgärtchen mit beſtaubten Sträuchern ſchied es137 von der Straße. Unter den Büſchen auf niederen Bänken ſaßen einige Knaben, mit Strohflechten be¬ ſchäftigt; ſie hoben die Köpfe beim Geräuſch der Schritte, ſtanden aber nicht auf. Die Hausthür war nur angelehnt. Drinnen war es angenehm kühl und ſonnenlos. Wolff zog die Glocke. Sogleich ſprang die zweite innere Thür auf, und nun ſtanden ſie auf einem großen Flur, in den eine Reihe von Sälen mündete, Alles nüchtern, ſchmucklos, viereckig. Es war ſtill hier; die beklemmende Atmoſphäre, die grö¬ ßeren Anſtalten eigen iſt, fiel bei der Hitze doppelt auf. Loni ſchüttelte den Kopf: Hier ſind wir nicht recht; ſie hat doch geſchrieben, es gehe ihr ſo gut.

Ein Mädchen trat aus einem der Säle, einige Teller in der Hand.

Wolff ging auf ſie zu und fragte nach dem Fräulein Marianne. Nein, Fräulein Marianne war nicht daheim, das gute Fräulein war mit einigen der Zöglinge ausgegangen. Sie heißt auch hier das gute Fräulein, flüſterte Wolff ſeiner Frau zu, frag 'doch, wann wir ſie ſicher treffen. Das Mädchen gab für den nächſten Tag eine beſtimmte Zeit an; ſie trugen ihr Gr[u]ße auf; dann wandten ſie ſich mit ſchwer enttäuſchten Geſichtern zum Weggehen. Loni wagte kaum, die Kinder anzuſehen, die mit vor¬ ſichtigen, taſtenden Bewegungen über den Flur gin¬ gen, und deren blickloſe Augen beredt genug ſprachen.

138

Als ſie draußen waren, ſchüttelte die kleine Dame ſich zum zweiten Mal: Nein, das kann ich nicht begreifen! rief ſie ungeduldig.

Es iſt ſehr trübe, erwiderte der Maler ge¬ preßt, komm, wollen ſehen, daß wir aus den dumpfigen Straßen hinaus kommen.

Sie fanden ſich über einige ſchattenloſe breite Staffeln hinauf, die ins Grüne führten, und ſtanden aufathmend an einem ſchönen, von großen, höher¬ liegenden Gärten begrenzten Wege mit villenartigen Häuſern, weitverſtreut zwiſchen dem üppigen Grün. Ein friſcheres Lüftchen kam den langſam anſteigenden Weg herabgefahren und flog ihnen kühlend und mit tauſend Blumendüften gemiſcht um die erhitzten Ge¬ ſichter. Der Weg ward reizender, je weiter ſie hin¬ aufgingen; keine Häuſer mehr, nur noch Baumgüter, in denen die Aepfel roth aus dem Laube her¬ vorſchimmerten, wo die Kinder mit den Amſeln um die Wette beim Aufleſen der Früchte lärmten. Der Weg ward zum Hohlweg, immer höher ſtieg er an, rechts und links, bis zu einer Eiſenbahnbrücke, die ſich hoch über der gekrümmten Straße wölbte und das anmuthige Landſchaftsbild, die Weinberge mit dem darüber aufſteigenden Fichtenwald, wie in einen ſchwungvollen Rahmen faßte. Dicht hinter dem Bogen, abſeits vom Wege, lag ein großer Raſenplatz mit einem einzigen jungen Bäumchen und einer Bank139 darunter. Sie hörten dort lachen und ſingen; eine frohe Kinderſchar drängte ſich um die Bank, Andere lagen, Blumen und Halme zuſammenbindend, im Gras. An der Bank ward zu trinken geſchenkt. Ein ſchlankes, halb ländlich gekleidetes Mädchen füllte die Gläſer aus einem großen Eimer; das Fräulein auf der Bank reichte ſie umher, eben hielt ſie einem Kinde den Trank an die Lippen. Sie hob dabei ein wenig das Geſicht, das ein großer dunkler Strohhut beſchattete. Wolff drückte Loni's Arm:

Da iſt ſie ja! Da iſt ſie!

Und nun ſah ſie die Beiden und ſtellte das Glas auf die Bank, um den Freunden die freien, ausgeſtreckten Hände zu reichen. Es lag etwas ſo Friſches und Freudiges in ihrer Gebärde, der Gruß der tiefen weichen Stimme klang ſo vertraut, ſo un¬ verändert, ſo aus der Seele, daß es dem Manne warm emporquoll, und daß Loni die Wiedergefundene ohne Umſtände mit beiden Armen umſchlang und küßte.

Marianne ließ ſich geduldig ſo halten, ſie ruhte einen Augenblick ſtill in Freundesarmen und ſah ganz aus der Nähe prüfend und lächelnd in das feine ſcharfe bräunliche Geſichtchen; es war nicht ganz das frühere, hier ſchien etwas aufgewacht zu ſein, von dem Loni Spitzer wohl ſelber kaum geträumt hatte.

Bring doch geſchwind noch zwei Gläſer, Nanele,140 es iſt eine gute Milch, friſch gemolken, da müßt Ihr mithalten, ſagte Marianne eifrig und machte dem Paare Platz auf der Bank.

Und hier biſt Du! ſagte Loni, noch immer verwundert.

Hier bin ich.

Ein kleines Kind kam heran und legte ihr ein Sträußchen in den Schoß. Ein anderes umklam¬ merte, hinter der Bank ſtehend, ihren Hals. Mari¬ anne legte ihre Hand auf die zwei verſchlungenen Kinderhändchen und ſah den Freunden ruhig in die Augen.

Sie ſind wohl recht brav und haben Dich lieb, gelt? meinte Loni.

's paſſirt, erwiderte Marianne lächelnd und den kleinen Kopf ſtreichelnd, der ſich von hinten jetzt auf ihre Schulter legte. Sie können auch ſingen.

Das Wort ſchien ein Lockruf zu ſein. Mehr Kinder kamen heran und ſtellten ſich um die Bank auf. Einige taſteten ſich mühſam vorwärts, aber immer war ein Schweſterärmchen da, das zu rechter Zeit half und ſtützte. Die älteren Zöglinge bewegten ſich mit ziemlicher Sicherheit.

Marianne gab den Ton an, dann begannen ſie, hell und rein wie Vögel und ebenſo froh; die noch am Boden gekauert hatten, richteten ſich nacheinander auf und fielen ein: Gang i ans Brünnele, trink141 aber net, und das vom Schätzle Alles treuherzig mit, daß die Zwei lachten. In der Anſtalt müſſen wir viele Choräle ſingen, ſagte Marianne entſchul¬ digend; da heraußen ziehen wir die Volkslieder vor.

Ein kleiner alter Weingärtner mit einem ver¬ hutzelten braunen Mausgeſicht und blanken Ohrringen trottete daher, hielt an, that ſeinen Butten herunter und hörte zu, bis das Lied zu Ende war. Seine kleinen Augen glänzten. Dann kam er heran, griff an die Mütze, nahm von dem Butten ſorgfältig eine große weiße Lilie ab, die obenauf lag, dann ein paar Hände voll Zwetſchen, die er den Kindern reichte. Zuletzt gab er die Blume an Marianne: Jetzt hat's keine meh, ſell iſch d'letzt gwe drobe imme Weinberg.

Vergelt's Gott! Vergelt's Gott! riefen die Kinder.

Marianne hatte dem Alten die Hand geboten, die er nicht wieder freiließ.

's hätt mi arg gehei't, wann i's heut net troffe hätt, Fräulein Maariann ', ſagte er im Weggehen.

Meine Kinder werden oft beſchenkt, und da fällt dann auch für mich etwas ab. Marianne hielt ihr Geſicht über die Lilie und ſog den ſtarken Duft der weißen wehrloſen Blume ein; dann rief ſie die Kinder zum Aufbruch. Nun ſahen die Freunde wohl, daß das Gehen nicht ſo leicht war. Das Reihehalten wäre nicht möglich geweſen ohne den142 langen Stab, den je vier Kinder mit den Händen gefaßt hielten beim Marſchiren. Es waren vier Reihen, Marianne ging zuletzt. Ein kleiner Junge war übrig, den ließ ſie vor ſich treten und führte ihn, indem ſie ihre Hände auf ſeine Schultern legte. Die Blume hatte ſie ihm zu tragen gegeben, und ſo ſchritt er nun wie ein kleiner Fahnenträger hinter der Ge¬ fährtenſchar.

Sie ſind Alle unheilbar blind? flüſterte Wolff bekümmert.

Marianne nickte. Aber die Meiſten haben es nie anders gekannt und ſind luſtig wie andere Kinder und ſicherer vor Enttäuſchung, fügte ſie trübe lächelnd hinzu.

Einige Tage ſpäter ſuchten Max und Loni im Kriſtallpalaſt in München nach dem erſten ausgeſtellten Werk des Freundes. Loni wollte in den Katalog ſchauen. Nein, ſagte ihr Mann, möchte ſehen, ob wir's nicht ſo finden, das iſt hübſcher.

Auf einmal deutete er lebhaft geradeaus, das muß es ſein. Sie traten näher: Er hat uns nicht geſchrieben, was es darſtellt, aber es iſt eine alte Idee von ihm

Ich bin das Mitleid, las die junge Frau, die ſich zu dem Sockel niedergebeugt hatte, und nun mit fragendem Blick in die Höhe fuhr.

143

Max ſtand lange wortlos vor der herrlichen Statue, deren faſt übermenſchliche Größe und ruhige Schönheit in dieſem bunten Gewühl wie ein Zauber wirkten.

Nun ſehen Sie, das iſt dieſe antikiſirende Rich¬ tung, näſelte es hinter ihnen, Künſtler? Heuvels in Rom, ah, Rom, dacht 'ich mir die ſitzen da ſo drin bis an den Hals das Zeitgemäße, das Ak¬ tuelle iſt für dieſe Sorte nicht vorhanden, übrigens garnicht ohne Talent gemacht, wenn der jetzt in Berlin

Max wandte zornig den Kopf. Loni zupfte ihn am Rock und kniff die Augen zu: Gelt, Max, der iſt dumm! ſagte ſie mit Ueberzeugung. Der Maler ſah ſeine kleine Frau überraſcht und ſtrahlend an; die zwei Kritiker waren weggegangen.

Da ſchau nur, Schatz, flüſterte Loni, wie ſich das ſchöne Thier, ein Reh wird's ſein, an ſie heran¬ ſchneckelt! o weh, es hat was am Haxen

Dieſe unvergleichliche Neigung der ganzen Ge¬ ſtalt, hörten ſie hinter ſich ſagen. Ein feines ält¬ liches Frauenantlitz blickte bewundernd auf die Sta¬ tue, ihre Worte galten dem halbwüchſigen Knaben an ihrer Seite.

Aber wem reicht ſie die Schale hin, Mutter? Es iſt ja Niemand da, ſagte der Knabe.

Sie reicht ſie Allen, die leiden; ſiehſt Du, die144 Schale fließt über, als trüge ſie in ſich die Seele der Geſtalt, erklärte die Mutter leiſe.

Jetzt wollen wir weiter gehen, meinte das Kind.

Die Freunde aber konnten noch immer nicht die Blicke wegwenden.

Der hat ſich herausgemacht! ſagte Loni, ja, in Italien da gibt's ſo Geſtalten. Weißt noch, Maxl, auf dem Bahnhof in Vittorio das ſtolze, fin¬ ſtere Geſchöpf? Du ſagteſt, ſie ſei nicht zu gering für eine Medea, obwohl ſie ihre Schuhe in der Hand trug.

Max ſah ſie zerſtreut an: Ja, aber die hat er nicht aus Italien, Loni, das iſt ja die Marianne.

Die Marianne? Ein ſtarrer, verſtändnißloſer Blick irrte über die Geſtalt des Mitleids. Plötzlich fuhr es wie ein Blitz der Erkenntniß über ihre leb¬ haften Züge. Sie hob den Kopf ihrem Manne ent¬ gegen, zwei große Thränen ſammelten ſich in den dunklen Wimpern und rannen hell und leuchtend über ihre Wangen.

Monika.

Frapan, Bitterſüß. 10

Zweimal war er ſchon an dem ſtaatsmäßig hohen und großen Hauſe vorübergegangen und hatte ſich nicht hineingetraut. Wie ein Schloß lag es da, hinter dem reichen Eiſengitter, halb verdeckt von dem hochanſteigenden Garten mit den unregelmäßigen, von blühenden Schlingpflanzen und Farn überwucherten Staffeln, mit der breiten Freitreppe, die zwiſchen den dichtbeblätterten Aeſten des mächtigen Birnbaums her¬ vorſchimmerte, mit den ſpiegelblanken Küchenfenſtern, die zu den Seiten der Freitreppe wie zwei dunkle, lockende Augen herüberglänzten.

Er war noch nie weiter, als bis zur Hausthür gekommen, wo er jetzt ſtand und Betrachtungen an¬ ſtellte. Oder vielmehr nicht gerade an dem Hausthor, ſondern ein Stückchen weiter hinauf, unterhalb des eiſernen Gitters, in dem tiefen, trockenen, grünen Graben voller Brombeergeſtrüpp, der ſich die ganze gartenreiche Straße entlang zog.

Hätte er nur gewußt, ob die Monika daheim ſei und in ihrer Küche hinter den blitzenden Scheiben! 10*148Es war doch zu dumm, jetzt hinzutreten, am ver¬ ſchloſſenen Thor zu ſchellen, den Sultan und den Jack aus ihrem Sommernachmittagsſchlaf zu ſtören er ſah ſie ſchon mit Amtsübereifer, zungenreckend und bellend zum Todtenaufwecken aus ihren ſchöngeſchnitzten Hütten hervor und die Staffeln herunterſpringen. Und die Herrſchaften ſaßen vielleicht in der Veranda über der Freitreppe, wo die großen Yuccas ihre ſtacheligen Blätter ſpreizten, es war ja Kaffeezeit, und wie, wenn der Herr General auf den Lärm hin die Glasthür oben in höchſteigener Perſon auf¬ riſſe und mit ſeiner hochmüthigen Polterſtimme her¬ unterriefe, was er denn wolle? und er müſſe ſagen, es ſei halt ja, es ſei nur um die Monika, die er nothwendig ſprechen müſſe. Nein! es ging nicht, es war zu fad, wie die Monika in ihrem Bayriſch zu ſagen pflegte. Er hatte das Wort von ihr angenom¬ men, und es paßte ihm oft recht gut, wie ihm das ganze Mädchen paßte, in dem einen aus¬ genommen, daß ſie ſich's vorgeſetzt, in ſo ein vergit¬ tertes, verbarrikadirtes Herrſchaftshaus einzuſtehen als Zimmermädchen, daß man ſeine Laſt hatte, wenn man ihr einmal ein Wort ſagen wollte.

Kopfſchüttelnd ſtieg er aus dem Graben heraus, putzte den Staub des Gitters, an das er ſich gelehnt, von dem Aermel ſeiner Unteroffiziersuniform und ſchritt langſam in der Hitze die Straße hinauf, bis149 zum Querweg, der in weitem Bogen an der Hinter¬ ſeite der Baumgärten entlang führte, die zu dieſen Häuſern gehörten. Die Querſtraße war noch im Bau, eine Menge Arbeiter, ſchwitzend und keu¬ chend und in der nothdürftigſten Bekleidung, wühlten im rothen Lehmboden, um den Weg zu reguliren und tiefer zu legen, der bis jetzt noch dem allgemei¬ nen Verkehr geſperrt war. Mitten auf einem hoch¬ aufgeſchütteten Erdhaufen hatten ſich die Arbeiter eine Bretterhütte gebaut, in der jetzt bald der eine, bald der andere verſchwand, denn die Arbeitsſtätte war ohne jeden Schatten, und der dick und loſe liegende Staub dörrte die Kehlen. Geſchafft wurde wenig, alles dehnte ſich, gähnte, hockte, von der Hitze ge¬ ſchlagen, ſtumpfſinnig am Boden, oder ruhte an der Hüttenwand mit vorgeſtrecktem, in die Erde geſtemm¬ tem Spaten. Einer hatte ſich, unbekümmert um die Gefahr des Hitzſchlags, gerade auf den Rücken hin¬ gelegt und ſchlief wie todt, das Geſicht von der fettigen Mütze bedeckt. Hinter einer neu aufgeführten Garten¬ mauer, die gelb und fleckenlos rein zwiſchen den ver¬ witterten grauen hervorſtach, welche den neuen Weg begrenzten, bewegte ſich ein großer, rother Sonnen¬ ſchirm, und die Dame, die ihn hielt, guckte einen Augenblick über die Mauer, die freie Hand leicht aufgeſtützt, neben einem großen Kübel voll brennend rother Geranien. Ihr weißes Kleid und ihr jugend¬150 liches Geſicht erſchien ſo von rothem Schimmer um¬ hüllt, als ſitze ſie inmitten einer purpurfarbenen Glaslaterne. Der Unteroffizier, der, von Stelle zu Stelle ſpringend, eben vorüberkam und mit erwar¬ tungsvollen Augen die Gärten abſpähte, hörte, wie einer der Arbeiter, ein junger Burſch mit krauſem Haar und frechen, glänzenden Augen hinaufſtarrend lachte und ironiſch rief: Weiſcht, Mädle, Du mit'em Sonnedächle, gang in d' Stub promenire, aber dei Sonnedach, des mueſcht do laſſe, i brauch's noth¬ wendig! Unter dem Lachen der übrigen reichte er mit einem ſpöttiſchen Kratzfuß ſeinen Spaten hinauf, obgleich der rothe Sonnenſchirm ſchon bei dem erſten Anruf entſchwebt war. Der Unteroffizier runzelte zornig die Stirn, die Dame war ja, wenn er ſich nicht irrte, das gnädige Fräulein von ſeiner Monika geweſen! Eben wollte er den Arbeiter anfahren, da erblickte er ein Bild, das ihn alles andere vergeſſen ließ. In dem umgitterten Gartenzwickel, jenſeits der ſchreiend neuen Mauer, ſtand zwiſchen den Beeten ein prächtiges, ſchlank und feſt gewachſenes Mädchen in dunkelblauem Kleid, das von einem breiten, weißen Schurz halb verdeckt wurde. Ihr Geſicht war nicht zu ſehen vor dem breitrandigen, braunen, an den Ohren niedergebogenen Schattenhut; ſie hatte die Aermel aufgeſtreift, und die gebräunten Hände re¬ gierten den Spaten, daß die Erdſchollen flogen.

151

Monika! rief der Unteroffizier halblaut, indem er ſich auf einen der Steinblöcke ſchwang, die das Gitter trugen. Das Mädchen ſchien aber nicht ge¬ hört zu haben, obſchon ſie ziemlich nahe ſtand. Laut zu rufen getraute er ſich nicht, er fürchtete den Spott der Wegarbeiter. So ſtand er und ſchaute. Ein hellgrüner Zwergwald von Salatſtauden zum Ver¬ ſetzen bedeckte eins der Beete; über die anderen mit ihrer ſchwarzen, krümeligen, aufgelockerten Erde waren pünktlich in Reihen Fäden geſpannt, damit die jun¬ gen Setzlinge in regelmäßigen Abſtänden ihre neuen Plätze fänden, wo ſie Haupt und Wurzel dehnen und ſtrecken konnten. Junge Pfirſichſtämme mit grünen, flaumigen, nußgroßen Früchtchen zwiſchen dem blanken Laub ſtanden in den Gemüſebeeten; doch war der Raum nicht bloß dem Nutzen unterthänig; um den Rabattenrand zogen ſich blüthenſchwere Roſenſtöcke, nicht eben die edelſten, aber dafür die dankbarſten Sorten, beſonders das Bäumchen, neben dem ſich jetzt das Mädchen mit ihrem Setzling bückte, breitete ſich weit wie eine Laube über den Weg mit ſeinen zahlloſen, vollen, kleinen, weißen Roſen und den kuge¬ ligen, rothen Knoſpen. Der Unteroffizier war auch ein Gartenfreund, und der Anblick der ſorgſam ge¬ pflegten Stelle mit der ſchönen Pflegerin inmitten that ihm ſo wohl, daß er eine ganze Weile ſtand und zuſchaute, ehe er wieder rief. Wie die Monika152 ihre Sache verſtand! Kein gelernter Gärtner hätte es beſſer vermocht, und wie eifrig ſie ſchaffte in der lähmenden Nachmittagshitze, und für andere, für die Herrſchaft! Wie wird ſie erſt im eignen Garten und Haus ſich rühren. Freilich fleißiger könnt 'ſie gar nicht ſein, aber ſie wird doch dann einmal den Kopf heben und ihm zulachen unter dem braunen Schattenhut, denn der eigne Garten, in dem ſie pflanzen wird, das wird ja auch der ſeinige, draußen im Heimathdorf, in Metzingen, ſein, wo ſie mit ihm einziehen ſoll in nicht zu langer Zeit, nein, recht bald ſogar, nämlich wenn ſeine Dienſtzeit zu Ende iſt, im Oktober, als ſeine Frau Schultheißin! Heut' iſt der Brief gekommen, vom alten Vaterbruder, daß ſie ihn in Metzingen zum Schultheiß wollen, obgleich er noch ſo jung iſt. Ja, und die Neuigkeit muß doch die Monika erfahren, und nun ſteht ſie da, als gäb's nichts als Salathäupter auf der Welt und ſchaut nicht einmal um, und ihr Fleiß, der ihn eben noch ſo gefreut hat, fängt an, ihn zu ärgern.

Hör 'auch Du, Monika!

Jetzt endlich hebt ſie den Kopf, und wie ſie ihn anſieht mit ihren großen, klaren, lachenden Augen, ohne Ueberraſchung oder gar Erſchrecken, merkt er wohl, der Schelm hab ihn ſchon längſt geſehen.

Grüß Di Gott, Michel, nickte ſie leichthin, kommſt wegen meiner daher?

153

Ha, nei ', ſagte der Angeredete und zog ein wenig beleidigt die Brauen zuſammen, i han mer d' nui Straß a'ſehe wölle, wo do g'macht wird. Dabei guckte er blinzelnd in das hübſche, ſtolze Ge¬ ſicht des Mädchens, als wolle er jeden Augenblick in Lachen ausbrechen, ſobald ſie's ihm nur etwas leichter mache.

Aber ſie that es nicht; gleichmüthig ſtand ſie da, nur, daß die fleißige Hand jetzt ruhte.

's iſcht e arge Hitz, ſagte er und rüttelte an den Gitterſtäben.

Mir macht's nix, Hitz oder Kält, mir iſt's gleich, erwiderte ſie, ſich leicht über die Stirn fahrend.

Do herin wär 'Schatte, er wies auf ein dichtes Tannengebüſch, das den Gemüſegarten vom Baumgut trennte.

Lachend ſchüttelte ſie den Kopf. Da gibt's nix! die Pforten is zug'ſperrt, und der Herr General hat den Schlüſſel in der Taſchen, herein kommſt nit!

Der Michel ſah aus, als möcht 'er wohl über den Zaun ſpringen, wenn er ein Bub jetzt wäre, plötzlich aber ſchien er ſich ſeiner Würde und Jahre bewußt zu werden.

Moni, geh 'her, laß Dei G'ſchäft en Augeblick, bat er ernſthaft, i möcht Dir was verzähle.

Neugierig aufhorchend kam nun das Mädchen an154 die Hecke: Ja, was gibt's denn? fragte ſie und ſah durch das verſtaubte Gezweig ihm gerade ins Ge¬ ſicht, denn ſie waren gleich groß und ſtanden nun ganz dicht voreinander, nur durch das Gitter ge¬ trennt.

's gibt, daß aber Moni, i moi 'faſcht, D' ſeiſt no ſaubrer worde unterbrach er ſich und reckte ſich unwillkürlich, als müſſe er ihre blühenden Lippen erreichen.

Das Mädchen lachte, aber ein bißchen ärger¬ lich. Weiter weißt nix? fragte ſie verwundert, wegwerfend.

Moni, d'r Ohm hot mer en Brief g'ſchickt, daß i Schultheiß werde ſoll, wann i heimkomm vom Mi¬ litär. flüſterte er mit ſtrahlendem Geſicht, jetzt könnteſcht mer eigetlich e Buſſerl gebe, gelt?

Monika wurde roth; ihre Augen, die zwiſchen blau und braun die Mitte hielten, ſchienen dunkel vor Aerger: Du willſt mi bukſiren, i merk's ſchon, ſagte ſie heftig, Du wartſt mir wohl, bis Nacht iſt, gelt? Schultheiß oder nit, und übrigens, was hab 'ich da davon?

Du werſcht ebe Frau Schultheiße, lachte er, geh, ſei net ſo wüeſcht, was willſcht au mit em Ge¬ nettel*)Wortgefecht. D' weiſcht, daß i 's ehrlich mit Dir im Sinn han.

155

Sie ſah ihn mit einem kurzen, ſcharfen Blick an. Haſt mi gern? murmelte ſie mit plötzlich nieder¬ geſchlagenen Augen.

Er ſtreckte ſeine Hand durch die Stäbe und drückte die ihre, ſie war hartgearbeitet, aber der Druck war ſo herzhaft, faſt hätte ſie aufgeſchrieen. Kommſcht net e bisle uf d' Straß heut Obed? Du ſteckſcht faſcht wie im e Gefängniß, bat er.

Daß ſie mi recht ausricht'n*)verklatſchen. in der ganzen Nachbarſchaft? Nein, ein junges Madel muß vor¬ ſichtig ſein. Dabei ſah ſie ihn ſehnſüchtig an und ſeufzte, daß ihm ganz heiß wurde. Sie verſtand ſich auf allerlei Augenſpiel, und ihre Augen waren ſo ſchön. Michel wollte es ihr eben ſagen, als es laut durch den Garten daherſcholl:

Monika! Monika!

Sie verfärbte ſich etwas, 's gnä 'Fräulein ruft, ſagte ſie ſchnell, man hat keinen Augenblick Ruh, b'hüt Gott, Michel.

Da tauchte der rothe Sonnenſchirm ſchon ganz nah aus dem Fichtendickicht hervor, das gnädige Fräulein kam ſelbſt, offenbar in einiger Erregung, auf die Gemüſebeete zugeſchritten, das Mädchen mit dienſteifriger Eile ihr entgegen.

Michel ſchob ſich etwas ins Gebüſch zur Seite;156 er hoffte, ſein Mädchen werde ſogleich zurückkehren, es dünkte ihn noch gar nicht an der Zeit, ihr Liebesgeplauder abzubrechen. Er dachte nicht daran, jetzt zu horchen, aber die helle Stimme des Fräuleins drang ohne Mühe durch die klare Sonnenluft an ſein Ohr.

Sehen Sie, Monika, da ſchickt der Schmied noch einmal ſeine Rechnung, warum haben Sie mir die Quittung nicht gebracht, nachdem Sie bezahlt haben?

Monika ſprach leiſe, die verſtand er nicht, wohl aber die Antwort des Fräuleins: So, Sie haben die Quittung in der Taſche? Nun, da geben Sie nur, da kann die Köchin gleich vorgehen, es iſt aber eine Nachläſſigkeit, Monika. Sie müſſen ſo etwas gleich abgeben, damit es ordentlich aufgehoben wird. Damit ſchien die Dame ſich zu entfernen; Monika blickte ihr eine Sekunde lang nach; dann kam ſie wieder auf ihre Salatbeete zugegangen und griff mit einer faſt wüthenden Eile nach dem Spaten. Michel ſah deutlich die Spuren des Verdruſſes in ihrem Geſicht, und das that ihm leid. Aber ſie iſt auch gar empfindlich, murmelte er, das Fräulein hat ſie net emol ordentlich verſchimpft, und e bisle nachläſſig iſcht ſe doch g'weſe. Kaum getraute er ſich, ſie anzureden. Als er's zuletzt doch that, blickte157 ſie mit zuſammengezogenen Brauen ungeduldig her¬ über. Biſt noch immer da?

I geh ſcho, b'hüt Gott, Moni, aber was i no ſage will, deſcht ſcheint's e dumme G'ſchicht mit dem Schmied?

Haſt's gehört? fuhr ſie auf und ſtarrte un¬ angenehm betroffen in ſein neugieriges Geſicht.

Ja, Du haſcht em, ſcheint's, ſei Guthabe hintrage ſolle? Wieviel iſcht no des g'weſe, ſo bei¬ läufig?

Siebenundzwanzig Mark, ſagte ſie trocken.

Siebenundzwanzig Mark! wiederholte Michel mit einer gewiſſen Achtung vor der genannten Summe, deſcht Haufe g'nueg, wemmers zwoimal zahle ſoll! Guet, daß Du d' Quittung bei der Hand g'hett haſcht, mit Geldſache no ſoll mer vorſichtig ſei. Sein Ton war der einer pedantiſchen Ehrlichkeit; das Mädchen ſah ihn nicht an, ſondern ſchaffte verdroſſen weiter. Da wollt 'er ihr doch noch ein gutes Wort ſagen.

I ſieh's wohl, es bizelt*)ärgert. Di no; jez, was kenne ſe Dir a'hänge? Dei Quittung haſcht, domit iſcht alles g'ſagt; 's wird ſcho 'recht werde.

Und als ein freundliches Lächeln über ihr Ge¬ ſicht huſchte, fuhr er ermuthigt fort: Was moinſcht,158 Moni, willſcht am nächſchte Sonntag zur Kommunio 'gehe? I geh als au

Das Mädchen ſtützte ſich auf den Spaten und ſagte: Ja, warum nit? Sonntag hab i mein 'Aus¬ gang, und wenn's in die Kirch' geht, wird mir's der gnädig Herr gern e Stund bälder erlauben. Sie lächelte ſchelmiſch. Er iſt a chriſtlicher Herr, der Herr General, der hätt 'ſollen geiſtlich werd'n; aber denn gleich a kathol'ſcher, ſo wie 's bei mir z'Haus gibt. Ein vielſagendes Blinzeln gab ihr bei dieſen Worten einen ganz veränderten, alten und welt¬ erfahrenen Ausdruck.

Michel ſah ſie unbehaglich, mit offenem Munde an, er verſtand nicht recht, und das war ſeiner hohen Meinung von ſich zuwider. Und dann ſein Pfar¬ rer war die gefürchtete Reſpektsperſon im Dorf, was gab es jetzt zu lachen?

Denn Monika lachte laut und ausgelaſſen; als ſie aber ſeine Verdutztheit ſah, hielt ſie inne und ſagte: Gelt, Du weißt nit, warum ich ſo lachen muß? Ich hab 'nämlich an den geiſtlichen Herrn denken müſſen in meinem Heimathsdorf. Was der meine Kam'rädinnen gefragt hat in der Beicht, 's iſt nicht zum ſagen. Sie lachte in ſich hinein und fuhr fort: Er hat's, ſcheint's, gethan, daß mir was z' lachen haben. In der erſten Beicht 'hat er jede g'fragt, ob ſie ſchon mal' n Mannsbild im Dunkeln159 verküßt hab '! Sie warf ihren Spaten hin, deckte die Hände vors Geſicht und lachte, aber nicht eben laut, mehr als ob ſie ſich ſchäme.

Jetzt, wenn das nit für den gnä 'Herrn gepaßt hätt'

Michel ſchüttelte verwundert den Kopf; ſein lang¬ ſamer Geiſt war noch bei der ſonderbaren Frage des Beichtigers. 's iſcht mer ſcho liab, daß Du net katholiſch biſcht, ſagte er nachdrücklich.

Ha, i denk ', fürs Lieben wär's eins, warf ſie leichtſinnig hin.

Aber fürs Heirathen net, meinte er.

Eine hohe Röthe überfluthete ihr bräunliches Geſicht. Sie blickte ihn mit funkelnden, ſehnſüchtigen Augen an. Ob Du's ehrlich meinſt? murmelte ſie.

Für was wär 'i no daherkomme? rief er, ſich in die Bruſt werfend.

Ha, Du wärſt der Erſte nit, der en armes Mädel zum Beſten halten thät, ſagte ſie trotzig.

I moins wie n i ſag! brauſte er auf, no, warum biſcht ſo harb und u'guet mit mer? Oder, ein ſchneller Gedanke flog ihm durch den Sinn, biſcht eppe ſcho emol ſo a'komme?

I wär 'eingangen? *)hineingefallen. Empört ſtarrte ſie ihn an, meinſt, i wär 'dumm? Frag, wen Du willſt, ob160 ich nit brav bin, wie nur eine! Dann ſchüttelte ſie lachend den Hut in den Nacken.

Was ſtehſt da und guckſt mich an, ſo unſchul¬ dig, als wärſt nit auch e Mannsbild?

Und als Michel noch ſtand und nicht wußte, was er eigentlich ſagen ſolle, denn er konnte ihr nicht folgen in all die Gedankenſprünge, warf ſie plötzlich mit zorniger Miene den Spaten hin: Jeſſas, da rufen's ſcho wieder, nit en Augenblick hat man Ruh in dem Haus! Ehe ſich's Michel verſah, ging ſie ſchon mit geſenktem Kopf weit hinten zwiſchen den Büſchen, und er hätte ſo gern eine Zuſage auf den Abend mitgenommen. Er guckte, ſo lang er noch einen Schimmer von dem weißen Schurz erhaſchen konnte, dies herbe Geſchöpf, das ihm nie ein freundliches Wort gönnte, und ihm doch feurige Blicke zuwarf, hatte es ihm angethan, ſaß ihm im Blut, daß er's nicht mehr losmachen konnte.

Es war ſchon recht, ſie hatte etwas Fremdes; ein Kamerad hatte einmal gemeint, etwas Welſches. Aber nicht ſchwächlich wie die, nein, großgewachſen und kräftig zur Arbeit, trotz ihrer dunkeln Haut und der ſtarken Brauen über den großen Augen. Und wie ſie die zuſammenziehen konnte, wenn ihr etwas nicht gefiel! Und wie ſie reden konnte! Nicht wie ein Mädel von achtzehn Jahren, nein, wie ein Altes, ſo erfahren und geſchickt. Und weder dummſcheu wie161 die Bauermädchen daheim, die gleich kichern und ſich zuſammendrängen, wie die Schafe; noch frech wie die Mädchen, die in der Fabrik arbeiten und den Sol¬ daten ſchon von fern zulachen und winken. Und wie nett in ihrer Kleidung, Alltags wie Sonntags; ja Sonntags hatte er ſie oft verwundert angeſchaut, wie geputzt ſie ſei, und dann hatte ſie ihm lachend er¬ zählt, nichts Beſonderes trage ſie an ſich, als eine neue Maſche, die hab 'ihr das gnädige Fräulein ge¬ ſchenkt. Ob ſie's wohl thut und künftigen Sonntag zur Kommunion mit mir geht, dachte er, während er langſam in die Stadt ſchlenderte. Da muß ſie doch allein kommen! Das war der Punkt, über den es ſchon allerlei Händel zwiſchen ihnen gegeben hatte. Immer, wenn er ſie ausführte, beſtand ſie darauf, eine Kamerädin mitzubringen. Sonſt wird man gleich ausgerichtet, ſagte ſie entſchieden, o die Leut' ſind ſo ſchlimm! Und ich hab 'auch meinen Stolz, es wird einem gleich was angehängt. Beſonders die Köchin, dös iſt e Ratſchen! *)Klatſchbaſe.

Da hatte er ihr, wiewohl ungern, nachgeben müſſen, und jetzt war's ihm faſt lieber ſo, denn im Beiſein der anderen ließ ſie ſich weit freier gehen, ja ſie war oft recht ausgelaſſen. Er mußte noch lachen, wie er daran dachte, daß ſie das letztemal der KöchinFrapan, Bitterſüß. 11162ihren Moſt zugeſchoben und ihr gar noch einen Wein gezahlt hatte, damit ſie doch auch einmal recht luſtig werde, und wie die alte, dicke Perſon, die den Mittag ein Eſſen für zwanzig Gäſte hatte bereiten müſſen, gar nicht luſtig, ſondern ſehr ſchläfrig ge¬ worden und endlich im Garten des Bärenwirths in Gaisburg völlig eingeſchlafen war. Wie die Monika damals gekichert und mit der Schlafenden ihren Scherz getrieben, und wie ſie zuletzt ganz ſtille neben ihm geſeſſen und ſeine Hand gedrückt hatte, immer heißer, immer feſter, daß es war, als wüchſen ihre Hände inein¬ ander. Und dazu hatte ſie kein Wort mehr geredet, ihn nur angeſehen von Zeit zu Zeit mit ihren feurigen, großen Augen. Und er ſelbſt hatte auch nichts ſchwätzen können, die Kehle war ihm wie zu¬ geſchnürt geweſen, und ſo ſehr es ihn verlangt, den Arm um des Mädchens Nacken zu legen, auch das war unmöglich geweſen, ſo hatten ihre Augen ihn in derſelben Stellung feſtgehalten. In dieſen Stun¬ den war es ihm zum erſtenmal zur Gewißheit ge¬ worden, daß er ſie heirathen müſſe, obwohl ſie ein ganz armes Mädchen ſei. Er war ja zum guten Glück ſein eigner Herr und konnte heirathen, wen er wollte. Vater und Mutter waren früh weggeſtorben; ihm lebten nur der Ohm, der ihn erzogen, und die alte Baſe, die jetzt daheim mit gemietheten Leuten der Bäckerei vorſtand, die ihm von den Eltern her163 gehörte; und die war gewißlich froh, die Laſt auf junge Schultern abzuwälzen. Im übrigen, wenn ſie dreinſchwätzen wollte, er fürchtete ſie nicht, ſie war ihm immer ſo arg gut geweſen, nachſichtiger als eine Mutter. Das ſchöne Baumgut zu Haus ſtand ihm vor den Augen, wie er, auf ſeinem langſamen Schlendergange nach der Stadt, in den Gärten die rothen Aepfel zwiſchen dem Laube ſchimmern ſah. Die Luiken*)Moſtäpfel. trugen heuer überreich, das mußte dort eine Pracht ſein. Er ſah die Moni, ſchlank und ſauber, auf der hohen Leiter ſtehen und Aepfel brechen, er ſah ſie im ſchneeweißen Schurz als ſeine junge Frau Bäckerin, den Kunden die Wecken zuzäh¬ len, er ſah ſie als ſeine Frau Schultheißin im feinen, ſchwarzen Kleide am Sonntag in die Kirche gehen, und Männer und Weiber die Hälſe nach ihr recken. Noch zwei Monate, dann konnt 'es vor ſich gehen! Ihr Mißtrauen ſchmeichelte ihm mehr, als daß es ihn gekränkt hätte, ſah er doch daraus, daß ſie's für etwas rechnete, ſeine Frau zu werden. Freilich, hätt' er ein ſchlechtes Gewiſſen gehabt, er hätte ſich nicht mehr unter ihre Augen getraut, ſo drohend konnte ſie ihn anblicken.

Ei, wie heiß es noch war! Schon ſieben Uhr, aber eine Sonnengluth, eine erſtickende, ſtau¬ bige Schwüle, wie wenn's Mittag wäre. Das11*164Pflaſter glühte durch die Stiefelſohlen, die Häuſer¬ mauern ſtrahlten die eingeſogene Hitze von ſich, daß man ihnen nicht nah kommen mochte. Der Unteroffizier Michel Scheitlin fühlte zudem ſeine Kehle trocken von dem vielen ungewohnten Reden; er war ſonſt ein Mann von wenig Worten. So ging er denn in eine Weinwirthſchaft, ſetzte ſich hinter einem Schoppen Fellbacher nieder und vertiefte ſich mehr und mehr in ſein behagliches Brüten. Ein lautes Stim¬ mengeräuſch weckte ihn daraus. Nein, hier in dem kleinen, ſchon halb dämmrigen Zimmer war es nicht, es war im Hinterhaus, in der Schmiede, deren Feuer rothe Lichter über den engen dazwiſchenliegenden Hof mit ſeinem ſchwarzen Eiſengerümpel warf. Neugierig bog er ſich zum offenen Fenſter hinaus, da erkannte er in einer dichten, dunkeln Gruppe, unweit der Thür, zwei Frauenzimmer, ein unterſetztes, dickes, auf deſſen rothes Geſicht der volle Lichtſchein fiel, und ein ſchlankes, deſſen weißer Schurz zwiſchen den ſchwarzen Schmiedegeſellen hell vorleuchtete.

Ha, da iſcht ja d' Monika! entſchlüpfte es ihm ganz laut in der Ueberraſchung. Es war aber niemand da, ihn zu hören, die Wirthin ſtand ſchon horchend auf dem Hof, Gäſte gab es keine. Er faßte nach der Klinke der Hinterthür, ſie gab gleich nach, und nun ſtand er neben der Wirthin und fragte im Vorübergehen: Ja, was gibt's denn do? Und165 ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er mit beklom¬ menem Gefühl näher und ſtellte ſich hinter der Gruppe auf. 'S iſt wegen der Rechnung, fällt ihm ein, ja, iſt denn die dumme Geſchichte noch nicht erledigt, wenn ſie doch die Quittung in Händen hat? Sie ſchreien ſo durcheinander, daß man kein Wort recht hört, und was für bitterböſe Geſichter die Kerle hin¬ machen! Ballt da nicht gar einer die Fauſt in die Luft? Michel wird glühroth vor Zorn. Was haben ſie mit dem Mädchen zu ſchaffen, daß ſie's ſo an¬ ſtieren und gar bedrohen? Es iſt ihm arg leid um die Monika. Wenn er ihr doch nur helfen könnt! Freilich ſteht ſie ſo ruhig da, ſo feſt und ſchön, ſie müſſen's ja ſehen, daß nur das gute Gewiſſen ſie hält.

Scht! ſchreit der Meiſter, ein kleiner, magerer Mann mit nackten Armen und einem blaſſen, jäh¬ zornigen Geſicht, und als ein bißchen Ruhe ward: Alſo, i ben's emol net geweſe, Sie müſſe doch wiſſe, wer Ihne 's Geld abg'nomme hat?

Monika hebt den Kopf. Ich kenn 'doch Ihnen Ihre Leut nit bei Namen! ſagt ſie in gekränk¬ tem Ton.

Aber vielleicht kenne Sie's G'ſicht wieder? meint der Schmied.

Da ſchlägt ſie lächelnd die Augen nieder. Ich ſchau doch die Mannsbilder nit ſo an!

166

Die kann dir antworten! Michel hätte faſt Bravo! geſchrieen.

Nun fängt wieder der Lärm an: Ben i 's gwe? Oder i? Oder i? ſchreien die Geſellen und drängen ſich heran, als wollten ſie ſich auf Monika ſtürzen. Michel ſpringt einen Schritt vor, aber es iſt unnöthig, ſie hat keine Angſt, ihr Geſicht iſt ſo rein, wie ihr weißer Schurz; ruhig ſchüttelt ſie den Kopf. Nein, ich ſeh ihn hier nit, er iſt gar nicht hier, ſcheint's; ein junger Herr war's, der hat mir's Geld abgenommen und mir die Quittung ge¬ bracht.

Der Meiſter guckt in das Papier, es zittert in ſeinen Händen. Aber, um Gotteswille, wer hat denn das unterſchriebe? ruft er, unſchlüſſig im Kreiſe umblickend. Die Geſellen ſehen über ſeine Schultern weg mit in das Blatt.

Deſcht e Mädeleshandſchrift! ruft plötzlich einer.

Voller Verwunderung blickt ihn Monika an: 's iſt aber doch a junger Mann geweſen!

Die Köchin, die ihre großen Ohren horchend offen hält und mit ängſtlichen weitaufgeriſſenen Augen von einem zum anderen blickt, will doch auch etwas ſagen.

Vielleicht iſcht einer weggange von Ihre Leut? meint ſie.

In de' letzte zwei Monet net.

167

Die Geſellen ſtecken mit finſtern Mienen die Köpfe zuſammen. Wenn die Monika nicht ein ſo tapferes Geſchöpf wär

Vor kaum vierzehn Tagen hab 'ich's da bezahlt, da herein, in der Werkſtatt, erzählt ſie nun mit ihrer tiefen, weichen Stimme; daher, ſie zeigt auf eine Hinterthür, iſt er kommen, der junge Herr, hat mich erſt g'fragt, was ich krieg, hat mir die Rech¬ nung aus der Hand genommen und iſt damit dort hinein; nachher hab' ich ihm 's Geld in ſeine Hand bezahlt und die Quittung empfangen. So gewiß ich hier ſteh.

Der Meiſter ſchüttelt den Kopf; da geht die Hinterthür auf, und zwei weitere Geſellen treten her¬ ein, eilig und verwundert, und ſchwarze Schwei߬ tropfen von ihren Stirnen wiſchend. Der Schmied kümmert ſich nicht um ihre Verdutztheit, er ſchiebt ſie an der Schulter vor das Mädchen: So, weiter hab 'i keine Leut! Sind's eppe die g'weſe? Und dabei wirft er einen furchtbaren Blick auf Monika, daß es Michel kalt überläuft. Unter all' dieſen zornigen Männern iſt ſie die einzige, die ihre Ruhe bewahrt, und gerade ſie hätte doch am allermeiſten Urſache, zornig zu werden. Sie muſtert langſam die vor ihr Stehenden, Michel klopft das Herz, ach, wenn's doch einer von denen wäre! Aber da ſchüttelt ſie wieder168 den Kopf: Nein, die ſind's auch nit geweſen, ich kenn' mich ſchon aus; derjenige war größer.

Der Meiſter grinſt ſie ſonderbar an, Michel kann's kaum mehr ertragen. Da ſteht nun das arme Mädle in der größten Verlegenheit, wird bald roth, bald blaß, und niemand kann ihm helfen. Es muß da eine Verwechſelung vorgekommen ſein, anders kann's ja nicht zugehen. Eben will der Meiſter etwas Arges ſagen, er fährt ſo zu, und die Zornader auf ſeiner blaſſen, knochigen Stirn zittert förmlich, ſo ge¬ ſchwellt iſt ſie. Da vergißt Michel Scheitlin, daß er gar kein Recht habe, hier mitzureden, hier zu ſein, er ſpringt vor, indem er die anderen zurückſchiebt und ſchreit in angſtvollem Tone: Sag, Mädle, biſcht net eppe in e u'rechte Werkſtatt komme? 's iſcht no e Schmied do in der Gaß ', beſſer dronte!

Das Mädchen war zuſammengefahren, als ſie ſeine Stimme hörte, ohne zu antworten, ſtarrte ſie ihn an, als wär 'er ein Geſpenſt und nicht der Unteroffizier Michel Scheitlin, zukünftiger Schultheiß in Metzingen und ihr Bräutigam.

Aber der plötzliche Schrecken war ſchnell über¬ wunden, ſie zuckte die Achſeln und ſagte gedehnt:

Ich mein 'doch, hier drin wär' ich geweſen, es iſt mir da alles ſo bekannt, ſie ließ ihre Augen beſcheiden herumgehen, und wenn ich mich recht auf ſein G'ſicht b'ſinne thät

169

Ho, ho! Mädle! ſchrieen die Geſellen und rückten drohend auf ſie zu.

Einen Augenblick noch herrſchte das Schweigen der Rathloſigkeit, dann ſagte plötzlich der Meiſter mit rauher, entſchiedener Stimme:

Jetzt, wiſſet Se was? Se ſend e Lügnerin! Deſcht Ihre eigne Handſchrift!

's iſcht wohr! 's iſcht e Mädeleshandſchrift! wiederholte der Chor der ſchwarzen Geſellen.

Ganz verſteinert ſtand das Mädchen; große Thränen quollen aus ihren dunkeln Augen und rollten, ohne daß ſich das Geſicht verzog, über die bräunlichen Wangen. Ueber Michels Augen legte ſich's wie ein Schleier, er faßte nach ſeinem Seitengewehr.

Das hat mir noch kein Menſch geſagt, ſchluchzte das Mädchen, ihr weißes Tüchlein an die Augen drückend, das kann ich mir nicht gefallen laſſen! Meine Ehr 'angreifen? Was hab' ich denn weiter als meine Ehr '? Und troſtlos mit ſtrömen¬ den Augen blickte ſie den Beſchuldiger an.

Aber 's iſcht doch aſo! ſchrie der Meiſter mit einem Schlag in die Luft.

Im ſelben Augenblick aber ſchlug ihn einer über die Schulter, daß er zuſammenknickte, und ein zorn¬ glühendes Geſicht ſchnaubte ihn an:

Wirſcht Dei 'Maul halte? So eppes ſagt mer net, wemmers net beweiſe ka'!

170

Und während der Schmied ſich, verdutzt über den Angriff, beſann, auf wen er zuerſt losgehen ſolle, richtete ſich Monika auf und rief mit leidenſchaftlicher Betheuerung:

Ich will hier nicht geſund vor Ihnen ſtehen, der Blitz ſoll mich hier vor Ihren Augen erſchlagen, wenn das wahr iſt! Ich will gleich todt hinfallen! Gleich auf der Stelle! Sie faltete die Hände und betete in ſinnloſer Aufregung mit zuckenden Lippen: Ach, daß doch der Blitz herunterkäm 'und die Wahr¬ heit an den Tag brächte! Ach, hilf mir doch, lieber Gott!

Die Köchin zupfte ſie am Aermel: Komm, mer gehe heim, Monika, mer ſoge 's emol em gnädige Herrn, 's iſcht mer u'begreiflich.

Sie endigte mit einem Schrei, denn der Meiſter hatte, unbekümmert um die letzten Worte, den Unter¬ offizier angeſtarrt und verſetzte ihm nun plötzlich einen tückiſchen Fauſtſchlag unter die Naſe. Im Augenblick hatte Michel ihn gepackt und bearbeitete ihn mit dem Seitengewehr, die Geſellen ſuchten ihn von hinten zu¬ rückzuzerren, einer ſchrie ihm ins Ohr: 's iſcht e Mädeleshandſchrift! ein anderer höhnte: Mein Kompliment zu dem Schatz! Er rang wie ein Be¬ ſeſſener, wie ein Raſender mit allen Angreifern zu¬ gleich, plötzlich fühlte er ſeine Arme ſchlaff werden, er riß die Lider auf, aber er ſah nichts mehr, in171 ſeinen Ohren war ein dumpfes Brauſen, er hörte noch wie aus weiter Ferne die Worte. Der hat g'nueg, dann nichts weiter. Eine ſchwere, lebloſe Maſſe ſank er zu Boden.

Als er wieder zu ſich kam, fand er ſich mit Ver¬ wunderung auf einem Sopha liegen, in Hemdärmeln, einen naſſen Lappen auf der Stirn. Er blickte um ſich, da war es ein kleines halbdunkles Zimmer, in dem er lag, und wie er ſich aufrichtete, ſagte jemand in zufriedenem Ton: No, jetzt, deſcht g'ſcheid, daß Se wieder zu ſich komme ſend! Und eine Frau in mittleren Jahren erhob ſich mit ihrer Näharbeit und kam auf ihn zu: 's iſcht, ſcheint's, e biſſele wild drübe zugange, i ben nämlich d' Frau vom Herrn Scheckg, junge Leut ſend ſcho 'e biſſele hitzig, u raufe thue ſe älle gern. No iſcht Ihne ſchlecht worde, u mei Mann, der Schmied u zwei G'ſelle hänt Se bei Kopf u Füß do herei' g'ſchleift, jo, daß doch kei Schutzma 'dazwiſche' nei'kommt, jo, u e kloiner Riß iſcht in d' Uniform 'nei'komme, no näh i 's Ihne g'ſchwind zu, jo!

Michel ſetzte ſich auf und hielt den Kopf mit beiden Händen. Das Beſinnen ward ihm noch ſchwer, ſonſt fühlte er ſich wohl genug, um heimzugehen. Die Rückſicht, die ſeine Gegner auf ihn genommen, war zwar nicht ganz uneigennützig, aber ſie erfüllte ihn dennoch mit Dankbarkeit. Er trat auf die lang¬172 ſam plaudernde Frau zu und ſah ſie langſam den Faden durch den Stoff ziehen; der kleine Riß war leider ſehr beträchtlich, und dumpfe Beſchämung und drückende Sorge überfielen ihn. Was hatte er im Jähzorn alles aufs Spiel geſetzt! Er war ja ſchwe¬ rer Strafe verfallen, wenn es irgendwie bekannt wurde, daß er von ſeiner Waffe Gebrauch gemacht.

Er fragte, was aus dem Mädchen und ihrer Begleiterin geworden, aber die Frau wußte davon nichts; als ſie ihn herübertrugen, war jedenfalls kein Mädchen mehr dageweſen. ’s iſcht e kreuzbraves Mädele, ſagte er zutraulich zu der Frau, während er, die Hände auf dem Rücken verſchränkt, neben ihr ſtand und Stich um Stich verfolgte, und e arg netts G’ſicht, i ben miter b'kannt, er ſtockte und wurde roth, da muß ebe e Mißverſtändniß ſtecke?

's wird Ihne Ihr Schätzle ſei ', ſagte die Frau und blinzelte ihm pfiffig zu, aber mer lobt keine', außer er brauch es, jo!

Michel verzog zornig das Geſicht.

D' Wahrheit wird ſcho a Tag komme, brummte er. Wieviel Uhr iſcht no? Und als er hörte, daß es kaum halb neun geſchlagen habe, hellte ſich ſeine Miene auf. So war noch nichts verſäumt, und er konnte Monika noch heute ſprechen. Er beſah die nicht eben glänzend geheilte Wunde ſeines Uniform¬ rockes, zum Glück war da ein Soldat, ein gelern¬173 ter Schneider, der die Sache ſäuberlich wieder auf¬ trennen und ohne alles Aufſehen regelrecht flicken würde.

Seine Waffe war unbeſchädigt, er athmete er¬ leichtert auf, als er ſich davon überzeugte, und der dumpfe Kopfſchmerz, der ihm von der Ohnmacht zu¬ rückgeblieben, ſollte wohl vergehen. Er dankte der Frau, die einigermaßen bedauerte, daß ihr Mann, der Herr Scheckg, nicht von ihm Abſchied nehmen könne, da er nämlich bereits in ſei 'Kneip' gange ſei, jo, und wanderte verſtörten Gemüthes durch den ſchwülen Abenddunſt wieder nach der Villenſtraße hinauf. Die rothen und grünen Lichter der Bahn¬ höfe tanzten ihm vor den Augen, als er von oben auf die Stadt hinabſah; er mußte ſich die Stirn wiſchen, und das Athmen ward ihm ſchwer. Was mochte inzwiſchen mit Monika geſchehen ſein? Er war entſchloſſen, heut 'am Vorderthor zu klingeln, wenn die Hinterpforte verſchloſſen war, er mußte ſie noch ſehen, ſprechen, ihr vielleicht beiſtehen, wenn etwa die Herrſchaft ſie auch beſchuldigen ſollte. Aber noch ehe er das Gitterthor erreichte, hörte er ihre Stimme im Garten, ſie ſprach mit der Köchin, ſo ſchien es, und die Freude darüber, daß ſie alſo frei und unbehelligt hier umherging, ließ ihn doppeltlange Schritte machen. Eine einzige Laterne, an dem Bretterhäuschen der Arbeiter hängend, ſchimmerte in¬174 mitten der nun menſchenleeren, unfertigen Straße; es war ſchwer, in dem Zwielicht auf dem holprigen Boden nicht fehl zu treten. Als er vor dem Gitter ſtand, brauchte er nicht zu rufen, ſie hatte ihn auch kommen ſehen und drängte ihre ganze kräftige Geſtalt gegen die Stäbe, ſo daß er ihren weißen Schurz hätte erfaſſen können. Michel, biſt da? Biſt geſund? rief ſie haſtig, ach, hab' ich Angſt ausg'ſtanden! Und ſie ſtreckte die Hand durchs Gitter und drückte ſeine freie Rechte, wie ſie's nie gethan.

Moni gelt. Du kommſcht heraus, oder laßt mi ei '? bat Michel.

Das Mädchen riß einen Schlüſſel aus der Taſche der Schürze und flüſterte zärtlich: Jetzt, wo Du mir ſo brav beig'ſtanden biſt, kann ich Dir nie nix mehr abſchlagen! Der gnä 'Herr hat ſeine Hoſen zum Ausklopfen hergethan, da iſt der Schlüſſel heraus¬ g'fallen, g'rad' ſeh ich ihn liegen.

Sie ſteckte ihn Michel durch die Stäbe zu: Schließ 'auf und komm' herein, da iſt jetzt noch beſſerer Schatten als am Nachmittag, gelt?

Das ließ er ſich nicht zweimal ſagen. Er lehnte ſeine Waffe an einen dicken Baumſtamm, dann ließ er ſich von Monika an der Hand zu einer Bank führen, die verborgen von den hängenden Aeſten einer Schierlingstanne im Gebüſch ſtand. Nur ein Mond¬ ſtrahl fiel dazwiſchen und ſtreifte Monikas ſchönes,175 glühendes Geſicht, ſie hatte offenbar bitter ge¬ weint, aber nun lag alle Noth und Sorge hinter ihr.

No, was iſcht mit em Schmied? flüſterte Michel voll Spannung, während er ſie in ſeine Arme zog.

Das Mädchen ſchmiegte ſich an ihn, zog ſeinen Kopf herunter und küßte ihn: 's iſt alles in Ord¬ nung, ſagte ſie mit einem tiefen Athemzug, weil der gnä 'Herr nichts auf mich kommen läßt! Sie kicherte ein bißchen verſchämt, dann hing ſie ſich wieder an ihn und küßte ihn, daß er kaum athmen konnte. So war ſie noch nie geweſen.

Michel erwiderte ihre Liebkoſung, aber dazwiſchen fragte er doch, was der Herr General mit der Sache zu ſchaffen habe.

O, ſagte Monika mit andächtig aufgeſchlagenen Augen, der gnä 'Herr iſt ſo brav, es gibt nichts Bräveres! Er hat g'ſagt, ſo ein blitzſaubres Madel könn' nit lügen, da thät er lieber das Geld noch ein¬ mal herlegen, als daß en armer Dienſtbot 'ins Un¬ glück käm!

Sie lachte in ſich hinein und legte wieder die Arme um ſeinen Hals.

Deſcht arg chriſtlich von em, ſagte Michel voll Freude.

Das Mädchen öffnete ihren Schurz, den ſie mit Nadeln oben am Gürtel feſtgeſteckt hatte, daß er einen176 Sack bildete. Da ſchau her, lächelte ſie, grad 'war ich dabei, dem gnä' Herrn Roſen zu ſchneiden! Die ſtell ich ihm heut Abend in ſein Schlafzimmer, daß er mein dankbares Herz ſieht.

Michel hob eine der Roſen auf und hielt ſie an die Naſe: Ja, die ſchmeckt fei ', aber Moni, der Schmied hat Dei' ehrliche 'Nam' a'taſtet, des därfſcht net uf Dir ſitze laſſe.

Monika zog finſter und nachdenklich die Stirn zuſammen. Ich muß mal hinter den gnä 'Herrn gehen, ſagte ſie zuletzt. Dann aber legte ſie den Kopf an ſeine Schulter: Jetzt weiß ich's, daß Du mich gern haſt, Michel, und die Herrſchaft iſt zu einer Viſit' gangen, 's iſt keiner z'Haus als die Köchin. Aber ſonderbar, Michel hatte gar keine Ruhe heut '. Er preßte zwar die Moni an ſich, aber er mußte immer wieder an den Nachmittag denken, und dieſe ſang - und klangloſe Rechtfertigung nach ſo¬ viel öffentlicher Schande ſchien ihm gar nichts Rechtes.

Jetzt, 's iſcht doch merkwürdig, wo des Geld bliebe iſcht, ſagte er vor ſich hin.

Monika lachte auf, er wußte nicht warum. Moni, das Geld? ſtotterte er angſtvoll, wie von einem furchtbaren Gedanken durchzuckt, warum lachſcht au, Moni?

Ho, kicherte ſie, den Kopf von ſeiner Bruſt177 hebend, Dir kann ich's ſchon ſagen, gelt? Du ver¬ rath'ſt mich nit?

Und wie er athemlos ſie anſtarrte, flüſterte ſie, ihm mit der Hand übers Geſicht ſtreichend: Ja, was kuckſt mich denn an, wie verdonnert? Für ſie ſind's nur en paar Markeln, en paar lumpige, für mich iſt's viel Geld! Und ich muß doch an meine Zukunft denken! Und's is alles ſo theuer und ſauber möcht 'ich doch auch geh'n. Und wie er vor Schrecken gar keine Antwort fand, fuhr ſie in halb ängſtlichem Ton fort: Schau, Du ſprichſt vom Hei¬ rathen, thuſt, als ob Du mich gern hätt'ſt, aber nach¬ her würd'ſt ſchauen, wenn ich nit emal etwas Weißzeug mitbringen thät! Sie ſtreckte ſchmeichelnd den Arm aus; als ſie aber ſah, daß er zurückſchrak, wurde ihre Stimme hart und kalt.

Oder vielleicht haſt nur ſo geſchwätzt vom Gern¬ haben, weil Du was von mir möcht'ſt? fragte ſie ſpöttiſch. O, Ihr Mannsbilder ſeid überein, alle miteinander! Meinſt, ich kennt 'Euch nit? Wie ich ſieben Jahr g'weſen bin, hab' ich ſchon alles g'wißt, nichts ſucht Ihr bei uns, als Euer Vergnügen; Ihr geht davon, wie die Katz 'vom Taubenſchlag, und für uns bleiben die Schmerzen und die Schande.

Du haſcht Urkundefälſchung b'gange, weißt, was des heißt? des heißt Michel brach ab und ſchluchzte.

Frapan, Bitterſüß. 12178

Nun fing auch das Mädchen herzbrechend zu ſchluchzen an: O, ich bin ja die allerärmſte Kreatur auf der Welt! jammerte ſie, wen hab 'ich denn, wenn i mich nit ſelbſt e biſſerl um mich annehm? I wär' ja ſchon als Kind verhungert, bei den Zieheltern, die mich um Gottes Barmherzigkeit willen behalten haben. I weiß nit, wer mein Vater iſt, die Zieh¬ mutter ſagt, en Fremder ſei's g'weſen, en italieniſcher Arbeiter, der hab 'meine Mutter aufm Feld überfallen, wie ſie ein Madel mit ſechzehn Jahr iſt geweſen. Sie mag mich nit, ſie hat mich nie a'g'ſchaut; bei der Ziehmutter iſt ſie niederkommen, dann iſt ſie weg und hat mich dort vergeſſen, hat mich liegen laſſen, wie en zerriſſenen Schuh. Die Ziehmutter hat ſelbſt nix g'habt, um jeden Biſſen hab ich raufen müſſen, weil ich denken kann. Sie hat' en Buben g'habt, nicht das Kleinſte hat er mir gönnt! Er iſt mit zehn Jahr g'ſtorben, wie hab 'ich mich da gefreut! Er iſt drei Jahr älter als ich g'weſen, hat mich g'ſchlagen und malträtirt den ganzen Tag! Aber wie er todt dag'legen iſt, da hab' ich ihn g'hauen, noch im Sarg drin! und er hat ſich nit wehren können! Die Leidenſchaft blitzte ihr aus den Augen, Michel überlief ein Grauen.

Du biſcht böſ ', ſtieß er halblaut hervor und ſah ſie ſcheu an.

Da ließ ſie den Kopf ſinken und ſagte in dem179 früheren Klageton: Nachher iſt meine Mutter wieder ins gleiche Dorf kommen, hat geheirath, jetzt hat ſie vier Kinder, aber i g'hör nit dazu! Und ein Leben hat ſie! Der Mann wirft's ihr den ganzen Tag vor, daß er ſie ohn 'Vermögen g'nommen hab; er hat auch noch ſo zwei Bub'n zu verſorgen, die ihn an¬ gehen, von früher her. Sie hat oft kein Brot im Haus! Könnt ſie mich nit emal anſchauen? Ich hab' auch nix! Ihre Schultern zitterten vom Weinen, Michel ſeufzte ſchwer.

Und ſo arg ka'ſcht lüge, ſagte er troſtlos.

Da fuhr ſie wieder auf mit ausgeſtrecktem Zeige¬ finger, Sie lügen alle! Der gnä 'Herr, der mir ſchön thut, wenn ich allein bin und mich anfährt, wenn die gnä' Frau dabei iſt, die gnä 'Frau, wenn ſie den Preis vom neuen Hut ſagen ſoll, und auf der Rechnung, die ich geſehen hab', zufällig, ſteht zweimal ſoviel, unſer gnä 'Fräulein, für die ich alle Tag Brief wegtragen muß, poſtlagernd, ſie lachte bedeutſam, und wie meinſt, daß mir's gangen wär in dem Fürſtenſchloß, wo ſie mich mit acht Jahr zur Hilf aufg'nommen haben? Es war e große Wohlthat! Wenn's ſchaffen angangen iſt, da heißt's: ſie hat Kräfte, wie ein Erwachſenes. Sagt die Köchin: Mir mußt helfen, das G'ſchirrputzen ver¬ ſteh'ſt beſſer als en Altes, das Zimmermädel ſchreit: Zu mir daher, Du haſt en jungen Rücken, Dir12 *180macht's Bücken nichts, aber ich hab 'derweil mit'm Johann zu reden. Das Reden iſt ſtundenlang fort¬ gangen, ſie haben ſcharmirt, ordentlich g'ſchmatzt haben's, und ich hab' für ſie g'ſchafft. Wenn's aber zu Tiſch gangen iſt, da bin ich wieder a kloans Madel g'weſen, das eſſen kann, was die Hund 'übrig laſſen! Meinſt, daß die Dienſtleut' einander was gunnen? Glaubſt, ich wär 'ſtark und groß wor¬ den, wenn ich mir nit g'nommen hätt', was ich braucht hab '? O, Du biſt leicht durch d' Welt kom¬ men, Michel, aber ich! Nur kein uneh'lich's Kind ſein! En herrenloſes Katzerl hat's beſſer! Da lernt man's erkennen, wie ſchlecht die Menſchen ſind, und 's wird einem alles gleichgültig! Sie ſah ihn furchtlos an. Sogar unterrichten hat ſie mich laſſen, die gnä' Frau Fürſtin, zwei ganze Jahr, weil näm¬ lich die gnä 'Prinzeß nit hat lernen wollen! O, ſie hat können recht lieb ſein, hat mir auch manches herg'ſchenkt von abg'legten Kleidern. Da iſt aber emal einer kommen, ein Verwandter, auch ſo e nob¬ liger Herr, der hat g'meint, die gnä' Prinzeß wär 'ich, weil ich bin ſauber und groß g'weſen und ſie nur en elendes, ſchieches Ding! Das hat emal en Bum¬ per*)Lärm, Schlag. geben. Da iſt ſie nimmer lieb g'weſen! Gleich hab 'ich die Kleider herunterthun müſſen, und mit181 den Lehrſtunden bei der Fräulein Erzieherin iſt's aus g'weſen. Ja, wo der Steg niedrig iſt, darüber ſteigt man gern! Die Prinzeß iſt aber drum nit ſchöner worden! Sie lachte höhniſch. Warum ſollt' ich nicht lügen? Ich glaub 'ja auch keinem was! Meinſt, ich thät' Dir glauben, daß D' mich heirathen willſt? Wenn du mich kriegen könnt'ſt, ohne das, gelt, Dir wär's noch lieber?

Sie bückte ſich, um in ſeine Augen zu ſehen.

O, Moni, Du weißt net, was gut und böſ 'iſcht! rief Michel.

Sie lachte leichtfertig.

Böſ 'iſt, wenn man nichts zu eſſen hat, und gut iſt, wenn man ſich lieben thut, ſcherzte ſie und wollte ihn umarmen.

Aber er ſchob ſie weg.

's gaht nemme! 's gaht nemme! murmelte er und griff ſich an die Stirn.

Da warf ſie ſchmollend die Lippe auf: Hab 'ich Dir's nicht g'ſagt? Weil ich en arm's Madel bin o, ſo eins hat kein Glück! Jetzt hab' ich denkt ', der iſt treu, dem kannſt emal Dein Herz aus¬ ſchütten und wieder begann ſie qualvoll zu weinen.

Wenn i net mei 'Ehr ei'g'ſetzt hätt', ſagte Michel zu ſich ſelbſt; wenn i net meines Königs Rock b'ſchmutzt und zerriſſe hätt ', wenn i net

182

Das Mädchen unterbrach die jammervolle Klage: Jetzt, Michel, gib Ruh; ich hab 'Dich tauſendmal lieber, als vorher, das ſag' ich Dir gleich, und wenn's keiner weiß

Einer weiß ſcho, ſagte Michel dumpf.

Ha, Du verrathſt mich nit, und der droben, wenn Du den meinſt, den gibt's nicht, rief das Mädchen zuverſichtlich. Schau, wenn er da wär ', hätt' er mir wohl helfen können manch liebes Mal; wann er aber nicht helfen will, ſoll er auch nicht ſtrafen! 's iſt kein Blitz kommen heut Nachmittag! fuhr ſie fort und warf einen erwartungsvollen Blick nach dem Himmel.

Da ſchlug plötzlich die Kirchenuhr, klar und nah, Michel horchte auf, zählte laut. Er war aufgeſprun¬ gen. Als aber das Schlagen gar kein Ende nahm und er nun elf zählte, ſchrie er Monika an: Mä¬ dele, iſcht des wahr? No iſcht jo o' Zeit verpaßt, no komm 'i net mehr in d' Kaſern!

Das Mädchen drängte ihn zurück auf die Bank. So bleibſt hier, flüſterte ſie, die Herrſchaft kommt erſt gegen Morgen nach Haus.

Michel ſchüttelte ſie ab: No krieg i de erſchte Arreſt in meiner ganze Dienſchtzeit, und mit em Schultheiß iſch erſt nex, i ka 'ja kei Schultheiß mehr ſei, i halt's ja mit'er Diebin! Er ſtützte den Kopf in die Hände und weinte bitterlich.

183

Eine Weile hörte das Mädchen ihm zu, mit verwundertem Warten, wann er ſich wohl beruhigen werde. Dann begann ſie zu ſchelten:

Du biſt e Lapp! Mit Dir muß man anfan¬ gen! Ach, Du mein Heiland, hätt 'ich nur nichts g'ſagt! Gelt, wirſt mich noch verrathen gar? Und ſie verſuchte, ihm die Hände vom Geſicht zu nehmen.

Als er aber nicht nachgab, nur vor ſich hin ſtöhnte und ächzte, wurde ſie kleinlaut. Michel, ſchlecht bin i net, g'wiß nit ſchlecht, betheuerte ſie, lieber Michel, gelt, nimmſt mich doch? Schau, wen ich einmal mag, der hat's gut bei mir, und Dich mag ich einmal, weiß ſelbſt nit, warum!

Aber er ſchüttelte ihre ſchmeichelnde Hand ab und blickte nicht auf. Da ſtand ſie zögernd noch eine Weile und machte ſich mit den Roſen zu ſchaffen. Da Michel, ſchau her, ſie ſind alle verwelkt, haſt mich ſo an Dich 'drückt, jetzt muß ich neue ſchneiden. Und ſie fing auch an, um die Büſche herumzugehen; aber die Schere lag auf dem marmornen Garten¬ tiſchchen, etwas weiter im Gebüſch, die mußte ſie holen. Nein, dort auf dem Tiſchchen war ſie nicht mehr, richtig, die Köchin hatte ſie mit ins Haus ge¬ tragen. Monika warf noch einen Blick rückwärts auf den verſunken Daſitzenden, dann eilte ſie dem Hauſe zu, wenn ich zurückkomme, wird er ſich ſchon beruhigt haben, dachte ſie und hielt ſich abſichtlich184 etwas länger auf mit der Köchin, die ſchlaftrunken neben einem Glaſe Moſt ihren dicken Kopf auf den Küchentiſch gelegt hatte.

Als ſie dann wieder in den ganz in Mondſchein getauchten Garten hinaustrat, ſchlugen vorn die Hunde an, aber mit dem eigenthümlich jauchzenden Laut, daß ſie erkannte: die Familie kommt ſchon nach Haus. Mit leiſen, ſchnellen Schritten durchmaß ſie nun den Hintergarten, um Michel zu ſagen, daß er gehen müſſe. Aber ſie fand ihn nicht mehr. Die Thür war verſchloſſen und der Schlüſſel an der In¬ nenſeite ins Schloß geſteckt, daran hatt 'er alſo ge¬ dacht, ans Abſchiednehmen nicht. Der wartet mir wohl, wenn er's nächſte Mal daherkommt, brummte ſie ärgerlich, aber es war ihr dennoch beklommen zu Muth, und die Köchin, die mit ihr das Zimmer theilte, hörte, wie ſie ſich im Schlaf ſtöhnend herum¬ warf.

Als Monika früh um ſechs Uhr andern Mor¬ gens an die Hinterpforte ging, um die Milch herein¬ zuholen, die dort abgeliefert wurde, ſah ſie von wei¬ tem ſchon, daß die Straßenarbeiter in einem dichten Haufen beiſammen und um die kleine Bretterhütte her ſtanden. Sie ſtieg auf einen der Quaderſteine, hielt ſich am Gitter feſt und ſchaute neugierig hinab. Da ſtarrte ſie von der Hüttenwand ein todtenblaſſes Antlitz an; dort angelehnt ſtand ein Todter, die ge¬185 brochenen Augen gerade auf ſie gerichtet. Er hatte ſich ins Herz geſchoſſen. An die ſonnenbeſchienene braune Wand neben ſeinem Kopf war mit Kreide geſchrieben:

Lebwohl mein Schatz, du Teufelskind,
Bereue Deine Sünden,
Ich geh 'und klopf' an d' Himmelsthür
Und will den Heiland bitten.

Mit einem gräßlichen Schrei brach das Mädchen am Gitter zuſammen.

Klärchen's Frühlingsfahrt.

Klärchen Esmarch an die Geſchwiſter in München.

Liebe Große! O wie gut, daß Du mir noch die Correſpondenzkarten in mein Umhängtäſchchen ge¬ ſteckt haſt, liebe Irene, jetzt kann ich Euch gleich eine ſchreiben. Ich habe ſchon ſo viel geſehen, obgleich wir erſt Stunden von München fort ſind, daß mein Kopf ganz wirbelt vor Freude. Gleich, als wir in die Nähe von Roſenheim kamen, merkte ich, daß hier eine andere Welt anfing, nämlich die Berge. O wie weiß ſie alle noch ſind, man kann nicht dar¬ auf hinſehen, weil es blendet, und der Himmel ganz dunkelblau ich bin nur ſo furchtbar traurig, daß Ihr nicht mit ſeid. Mama auch. Wenn wir nicht den Troſt hätten mit der Hochzeitsreiſe, könnt 'ich es gar nicht ertragen.

Dieſelbe an Dieſelben.

Ich ſchreibe gleich noch eine. Aber Rudi, mein armer, ſüßer Bruder, Du biſt ja noch nicht verlobt,190 wie ſollſt Du es denn machen? Ach richtig, ich ver¬ geſſe ſchon wieder die Hauptſache: Kinder, Putzi iſt über alle Beſchreibung! Im Warteſaal war er ja noch ein bischen zu geſprächig, wißt Ihr, ſo daß ich doch heimlich Angſt hatte, aber jetzt, im Wagen, das ſüßeſte ſtillſte Zuckerthier. Wie er in ſeinem Körb¬ chen ſitzt und durch die Löcher guckt mit ſeinen großen treuen Augen und keinen Laut von ſich gibt, ſo lange ich die Hand auf dem Korbdeckel halte und ihn an¬ ſehe! Er läßt ſich auch durch den Gitterdeckel füt¬ tern wie ein Tiger! Sein kleines ſchwarzes Schnäuz¬ chen reckt er immer ſo hoch wie möglich, das arme Würmchen. Papa fängt ſchon an, ſich damit auszu¬ ſöhnen, daß er mit iſt. Aber er hat ſo wenig da¬ von. Wie gern hätt 'ich ihm das Kaiſergebirge ge¬ zeigt, das wir eben geſehen haben, ganz violett, grau und weiß, gewiß muß es das ſchönſte von allen Ge¬ birgen ſein. Nun geht es weiter, Papa hat ſeinen Braten auf, und jetzt kommt die Gepäckreviſion. Ich muß Putzi auf den Arm nehmen unterm Reiſe¬ mantel iſt es ja leicht damit ſein Körbchen die Marke: Zollfrei kriegt. Ich zittere, bis wir glück¬ lich damit durch ſind. Verzeiht das Geſchmiere.

Eure Kläre.

191

Dieſelbe an Dieſelben.

Liebe Evy, liebe Irene und mein armer, ſüßer Rudi!

Papa und Mama ſchlafen noch, aber ich habe die ganze Nacht gewacht, glaub 'ich ich bin zu glücklich, daß ich mitgekommen bin. Denkt Euch, hier iſt ſchon ganz Frühling! Alle Obſtbäume blü¬ hen, roſenroth und weiß und grün iſt Alles. O, und was hab' ich unterwegs Alles geſehen. Zuerſt 'mal Innsbruck. Aber Ihr könnt es Euch nicht denken, weil Ihr es nicht geſehen habt, und beſchreiben kann ich es Euch nicht, aber es iſt großartig und liegt um¬ geben von einem Kranz der wundervollſten Berge. Wir ſtiegen dort aus und aßen zu Mittag. Ich in Gedanken drei Brötchen zur Suppe, ſo daß Mama über mich lachte, aber Papa ſagte, das ſei immer ſo, Freude mache Appetit. Es war mir aber doch zu ſchade um die Zeit, die man da in dem Bahnhofs¬ reſtaurant verſitzt ich nahm den armen Putzi, der ſchon ganz ſteif und wirr ſein mußte vom langen Sitzen und Schütteln, aus dem Körbchen und ließ ihn ein bißchen auf dem Perron laufen. Wie dank¬ bar er mich anſah, wie er ſeinen kleinen ſchwarzen Zottelpelz ſchüttelte, es war rührend! Ich glaube,192 er hat unterwegs viel Kopfweh gehabt, ſein Köpfchen war immer heiß, wenn ich es anfühlte ein paar Mal, wenn ich die Hand vom Korb nahm, hat er heftig genieſt, um mich an meine Pflicht zu erinnern, ſonſt war er muſterhaft. Und doch haben wir ſeinet¬ wegen ein ſchreckliches Abenteuer ausgeſtanden, es war zwiſchen Innsbruck und Matrei, ich werde es nie ver¬ geſſen. Als wir nämlich in Innsbruck wieder ein¬ ſtiegen, guckte ich noch einen Augenblick aus dem Fenſter, denn Papa hatte mir die Martinswand ge¬ zeigt. Ihr wißt ja: Willkommen Tirolerherzen, die Ihr ſo bieder ſchlagt! und mein Auge hing ganz verzaubert an dem hochgethürmten ſagenhaften Felſen es war mir, als müſſe ich die Geſtalt des kühnen Kaiſerſohnes in Alpenjägertracht dort oben zu ent¬ decken ſuchen! Da wir ganz allein im Coupé waren, hatte ich mich Putzi's wegen in Sorgloſigkeit gewiegt. Plötzlich aber höre ich ihn winſeln, ſcharf und lang¬ gezogen, durch die Naſe, wie er immer thut, wenn er einen großen Kummer hat. Entſetzt ſehe ich mich nach ihm um, da hebt ſich der Korbdeckel, und das runde, ſchwarze Lockenköpfchen kommt zum Vorſchein; im ſelben Augenblick aber, o Schrecken! öffnet ſich die Coupéthür, und der Schaffner blickt herein und ſchreit: Jemand eingeſtiegen? Ich warf mich über das Körbchen, um Putzi mit meinem Leibe zu decken, aber der Schaffner hatte ihn doch ſchon geſehen. Und nun193 denkt Euch dieſe freundlichen Oeſterreicher! Er lachte und fragte mich: Iſt das Ihr Hunderl, gnä Fräu¬ lein? Und als ich ſchuldbewußt nickte: O, 's macht nix, der darf ſchon heraußen bleiben aus ſei'm Gefängniß, der darf mitfahren, weil er ſo ſchön iſt! Ich hätte ihn umarmen mögen, Papa gab ihm auch gleich ein paar Cigarren, und Mama athmete erleich¬ tert auf und drückte mir die Hand. O, wie ſchön hätte es nun werden können! Putzi auf meinem Schoß, zwei Pfötchen auf das Fenſterrähmchen ge¬ ſtützt, ſah mit ſeligen Blicken auf die wundervolle Natur hier, die ihm ja auch ganz fremd war; da es hatte ſchon zum zweiten Mal geläutet, raſen zwei Herren daher, daß die Rockſchöße fliegen, reißen un¬ ſere Wagenthür auf, und der Eine plumpſt über Papa's Beine mitten in den Wagen hinein Putzi erſchreckt ſich furchtbar und ſpringt bellend von mei¬ nem Schoß herunter! Hätte ich ihn nicht noch gepackt, er wäre dem alten Herrn, dem Papa und Mama auf¬ halfen, ins Geſicht geſchnellt. Der Herr bedankte ſich mit einem Knurren und ſetzte ſich dann mir ſchräg gegenüber, ſein rothes Geſicht ſah mich zornig an. Der zweite Reiſende, ein junger Mann, ſo groß wie Papa und ſehr ernſthaft, nahm den vierten Fenſter¬ platz auf derſelben Seite mit mir ein, ihm gegenüber ſaß Papa, Mama mir gegenüber. Der Zug ſetzte ſich in Bewegung, die Lampe war angezündet worden,Frapan, Bitterſüß. 13194und mir kamen ſogleich in einen entſetzlich langen Tunnel. Ich redete Putzi zu, ſich nicht zu fürchten, denn er hatte ſolch 'Herzklopfen, daß ſein ganzer Körper zitterte. Der alte Herr ſchien immer böſer zu werden, er ſchoß mir einen zornigen Blick zu und ſagte auf einmal: Thiere gehören übrigens in' n Viehwagen, wiſſen Sie das, mein Fräulein? Denkt Euch! Gewiß hatte das Hinfallen ihn ſo geärgert, und nun mußte er an dem unſchuldigen Putzelchen ſeinen Zorn auslaſſen. Setz ihn in den Korb, mein Kind, flüſterte Mama ängſtlich, und ich ſelbſt hatte auch ſchon die Abſicht gehabt. Aber nun nahm der geliebte Papa ganz meine Partei. Es iſt meiner Tochter extra erlaubt worden, dies Schoßhündchen, das Niemanden beläſtigt, offen mitzunehmen, ſagte er. Niemanden beläſtigt? ſagte der alte böſe Mann, hätt 'mich wohl gern gebiſſen, wenn das Fräulein ihn nicht feſtgekriegt hätte. Er beißt wirklich nie, ſagte ich zitternd; aber wenn er Sie genirt, will ich ihn wieder einſperren. Und ich that es. Aber er war noch nicht zufrieden. So Vieh¬ zeug hat immer Mitbewohner, rief er, und ich krieg da immer gleich was ab. Auf der nächſten Station muß ich mich umziehen, es juckt mich ſchon überall. Dieſe Böswilligkeit brachte mir faſt Thränen in die Augen. Putzi iſt wirtlich ſo ſauber ſagte ich da konnte ich nicht mehr! Ein kurzes helles195 Lachen kam aus der Ecke, wo der junge Mann ſaß, der dieſes unſchickliche Geſpräch mit angehört hatte. Was mußte er von mir denken! Ich verſtummte ganz, wendete kaum die Augen vom Korbe und ſteckte, als wir aus dem ſchrecklichen Tunnel heraus waren, zwei Finger durch das Flechtwerk in Putzi's Mund, damit er daran knabbere. Der Alte aber murrte in einem fort: Wenn ich das bei uns in Neuſtadt - Eberswalde erzähle, daß ich mit einem Hundeköter in einem Wagen habe fahren müſſen es glaubt mir kein Menſch! Man reiſt krankheitshalber in dies gräßliche Land, wo es ausſieht, als wollten Einem die alten Berge übern Kopf fallen, und denn noch ſo was! Aber ich will mich doch' mal beim Stations¬ chef erkundigen, ob ſich ein preußiſcher Landrath hier im Kreuzerlande ſo was gefallen zu laſſen braucht! Ich ſah immer von Mama auf Papa, aber denkt Euch, der geliebte Papa nickte mir freundlich zu, und kein Vorwurf kam über ſeine Lippen! Nur, als wir in die Nähe von Matrei kamen, fing er an, unſere Handkoffer und Plaidriemen herunterzunehmen; wir müſſen ein anderes Coupé ſuchen, ſagte er halblaut zu uns. Schade, es war ſo bequem hier, erwi¬ derte Mama, und ich warf einen betrübten Blick in den kleinen engen Raum, wo ich ſo wunderſchöne Stunden verlebt hatte. Der Zug hielt, und der junge Herr ſprang zuerſt hinaus, Papa folgte, auch13*196der böſe Landrath krabbelte, auf Papa geſtützt, die ſteilen Stufen hinab, ſein ganzes Gepäck, eine Leder¬ taſche, in der Hand. Wir ſahen, wie der junge Mann auf ihn zutrat, lebhaft mit ihm redete und dann mit ihm ein anderes Coupé beſtieg. Kinder, wir ſind ſie beide los, bleibt nur drinnen! rief Papa ſeelenvergnügt und reichte all' unſere Sachen wieder herein. Sonderbar, daß der junge Menſch mit dem unangenehmen Alten zuſammen geblieben iſt! meinte Mama. Ich ſagte nichts, aber ich glaube feſt, er hat ſich für uns geopfert er ſah gar nicht danach aus! Von nun an blieben wir allein bis zum Brenner! O, meine Geliebten, wie ſoll ich Euch mein Entzücken über all' das Schöne ſchildern. Irene ſagt gewiß wieder: Na, da haben wir die Con¬ fuſionsräthin, aber es iſt kein Wunder, es iſt auch zu viel auf mich eingeſtürmt in dieſen letzten Tagen! Mama ſagt auch, wenn auf ſie ſo viel eingeſtürmt wäre, als ſie ſechzehn Jahre war, ſolch 'eine Reiſe nach Italien im Frühling, ſie wäre ebenſo confus geweſen. O die Berge, die weißen Kuppen, die fürchterlichen Schlünde und Abgründe, und an den Felſen herunter ziehen ſich in ſchimmernden Streifen die Gießbäche und kleinen Waſſerfälle, und unten, denkt Euch, ganz dicht neben den Schienen, im hell¬ grünen Moos und Gras, unter den ſproſſenden Zwei¬ gen der Birken und Buchen ſteht es blau, ſo dunkel¬197 blau wie der Gebirgshimmel über mir! Wißt Ihr, was das iſt? Ich wußt' es erſt auch nicht, aber Papa hat es mir geſagt: Enzian! Frühlingsenzian, und dann der große, ſtengelloſe, der die Lieblings¬ blume des unglücklichen Königs Ludwig geweſen iſt. Hier habt Ihr ſie alle beide im Brief, und dazu noch das Roſenrothe, das iſt die Steinnelke, die ähnlich wie Syringen ausſieht und duftet, nur viel ſtärker. Und das bläulich Roſa iſt die Mehlprimel, Primula farinosa; es iſt merkwürdig, daß Papa Alles kennt. Ich meinte immer, außer den Kelten und ihren Gräberfunden und den Pfahlbauten intereſſirte ihn nichts; und nun hat er alle Bergblumen bei Namen gewußt und ſagt, die meiſten hab 'er ſchon als Stu¬ dent geſammelt. Auf dem Brenner, auf den ich mich ganz beſonders gefreut hatte, ſieht man aber nichts, weil man nämlich über ihn wegfährt, wißt Ihr; während ſonſt die Berge immer höher ſind rundum, iſt es hier im Gegentheil flach, wie bei uns in München, aber prachtvoller Schnee lag überall, ganz bis an die Bahnlinie, und als ich ausſtieg, um mich umzuſehen, war es ſo kalt, daß ich einen grä߬ lichen Katarrh bekam, der aber nur bis Brixen dauerte.

Der Weg herunter war ſo entzückend die ganze Nacht hat mir von den Felſen, den Gletſchern und grünen Thälern, den Zacken und brauſenden198 Bächen geträumt. Um Brixen ſahen wir ſchon blü¬ hende Kirſchbäume und hellgrüne Buchen, und als wir hierher kamen und die Sonne gerade im Unter¬ gehen auf den Roſengarten ſchien und die ganze laue Luft von Düften und Vogelgeſang voll war, haben Papa und Mama und ich uns im Coupé alle drei umarmt und abgeküßt und immer geſchrieen: Ach, wenn doch die Kinder hier wären. Heut 'Abend mehr! Mama ruft mich zum Kaffee auf den Bal¬ kon! Putzi ſpringt an mir in die Höhe und ſagt, daß ich Euch Allen von ihm drei Küſſe ſchicken ſoll, den dickſten dem armen Rudi, weil der noch keine Hochzeitsreiſe in Ausſicht hat!

Eure glückliche Kläre.

Meine Geliebten! Nur noch ein Doppelkärtchen, ehe wir zu Bett gehen. Wir ſind heut 'den ganzen Tag herumgeſtreift und haben wieder ſo viele Aben¬ teuer gehabt! Es iſt wirklich, wie ich vermuthete, er hat ſich für uns geopfert! Wir ſind ihm nämlich wieder begegnet, an der Talferbrücke! Putzi wollte trinken, obgleich das Waſſer ſo merkwürdig roth aus¬ ſah, gar nicht appetitlich; aber gerade an der ſteilſten Stelle guckte er ſehnſüchtig hinunter und ſchwänzelte. 199Was ſollte ich machen? Papa erklärte Mama eben die Gebirge, er war ganz bei den Formationen, und ich mochte ihn nicht ſtören. Alſo nehm' ich den Putzi auf und will mit ihm den Abhang hinabklet¬ tern. Plötzlich ſagt eine Stimme neben mir: Ihr Hunderl hat Durſt, gelt, gnädiges Fräulein? Blei¬ ben Sie nur, ich hab 'meinen Trinkbecher da. Und denkt Euch, er klettert hinunter und ſchöpft Waſſer es ſah ſo gefährlich aus, faſt hätt' ich geſchrieen. Putzi war ganz verdurſtet, der Herr hielt ihm den Becher hin, ſtrich ihm übern Kopf und ſagte zwei¬ mal: Ein netter Kerl! Ich bedankte mich, aber weil ich an die Mitbewohner denken mußte, wurde ich ſehr verlegen und ging ſchnell den Eltern nach. Und in Gries war es wundervoll, lauter ſchmale Wege zwiſchen hohen Mauern! Wie warm es da war, und wie die Aprikoſenbäume darüber guckten mit ihren röthlichen Blüthen! Wir ſahen auch noch einige Mandelbäume in Blüthe, und hie und da fin¬ gen ſchon die Glycinen an, ihre reizenden helllila Trauben zu entfalten. In Gries ließen wir uns einen Tiſch mit einer roth und blau gewürfelten Decke vor die Thür des Wirthshauſes tragen und tranken Kaffee im warmen Sonnenſchein. Die Kellner im Café Vogelweide ſind ſehr freundlich gegen Putzi; einer, ein Italiener, bringt ihm immer ein Stückchen Zucker und trägt ihm ſeine Taſſe Milch200 überall hin nach. Ich bedanke mich auch immer herz¬ lich dafür, da ja Putzi doch nicht ſprechen kann. Papa ſagt, im Sommer, wenn viele Reiſende kom¬ men, ſind die Kellner nicht mehr ſo nett, ſie ſind dann zu abgehetzt. Unſere Wirthin hat mir heut 'Morgen zum Kaffee ein Sträußchen Bergblumen ge¬ bracht; es ſind Orchideen dabei, ich lege Euch ein paar davon ein. Iſt es nicht reizend? Wie merk¬ würdig, daß alle Menſchen ſo gut ſind gegen Eure, Euch innig liebendeKläre.

P. S. Der greuliche Landrath iſt in Gries an uns vorübergegangen und hat Putzi durchbohrend angeguckt!

Klärchen an Eveline.

O, meine geliebte Evy! tauſend, tauſend Glück¬ wünſche und Küſſe! So iſt nun alſo Dein Edmund ordentlicher Profeſſor! Wie glücklich wir ſind über die Nachricht, das ſagen keine Worte! Papa und Mama ſitzen auch und ſchreiben Dir, um halb zwei wird geſpeiſt. Schreib Edmund, daß ich ſchrecklich ſtolz auf meinen Schwager ſei, und beſuchen darf ich Euch doch oft, nicht? Würzburg! Wie himmliſch! Mama fürchtete immer, es würde Berlin werden oder201 gar Königsberg. Nach dem Eſſen wollen wir auf den Runkelſtein, die Freudenbotſchaft von Dir hat gleich Mamas Kopfweh vertrieben, das ſich heute Morgen beim Spazierengehen in der Sonne eingeſtellt hatte. Mir thut die Sonne nichts. Ich werde ſo friſch davon wie eine Eidechſe! Die Menſchen hier ſind reizend! Als ich eben nach Hauſe kam, ein bis¬ chen hinter den Eltern wie gewöhnlich, ſah ich in einem verwahrloſten Garten, in dem ein Haus ge¬ baut wird, einen blühenden Pfirſichbaum ſtehen. Der arme Baum war ganz kalkbeſpritzt und verſtaubt und blühte doch wie ein ſchönes Wunder. Ich weiß nicht, ob ich ihn begehrlich angeguckt habe, genug, auf einmal trat ein kleiner Arbeiter von der Kalkgrube weg auf den Baum zu, brach einen blüthenvollen Zweig ab und reichte ihn mir freundlich lächelnd über den zerbrochenen Zaun. Ich gab ihm die Hand, um mich zu bedanken, und er ſchüttelte ſie ganz ver¬ gnügt und griff noch an die Mütze. Mama war auch nicht wenig erſtaunt, als ich mit dem Zweige ankam! Meine Evy, wenn Ihr Eure Hochzeitsreiſe nicht hierher macht, bin ich Euch ewig böſe.

Tauſend Küſſe! Eure Kläre.

202

Klärchen an die Geſchwiſter.

Kinder, ich bin ſchon wieder bei Euch in Ge¬ danken, weil ich all' dies Schöne allein nicht ertragen kann. Papa und Mama halten ſehr zuſammen, und wenn Papa ſeine prachtvollen Erklärungen gibt, und Mama Alles ſo genau und ſchnell begreift, ſtehe ich immer ganz verdutzt daneben und merke nun erſt recht, wie dumm ich bin. Ihr drei Aelteren ſeid ſonſt ſo die Mittelglieder zwiſchen den Eltern und mir, und nun fehlt Ihr mir ſehr! Ich tröſte mich dann mit Putzi, der auch ſo wenig weiß, ja faſt noch weniger als ich, und dem man es doch nicht übel nehmen kann. Geſtern waren wir alſo auf dem herr¬ lichen Schloß Runkelſtein, wo die Geſchichte von Triſtan und Iſolde auf die Wände gemalt iſt. Und ſeht 'mal, das Alles mit der Reſtaurirung wußte Papa ganz genau, ich aber bin gar nicht recht klug daraus geworden! Iſolde erinnerte mich ganz an Dich, meine ſüße Irene, eben ſo ſchlank und dünn war ſie wie Du und trug auch ſolchen großen Hut, wie wir alle drei gern tragen. Aber die Jagd konnte ich gar nicht verſtehen, und die Hunde hatten mit Putzi nicht die geringſte Aehnlichkeit! Aber man konnte ſich doch ganz in die alte Zeit verſetzen, wo203 ſich Triſtan und Iſolde liebten! Es muß ſehr ſchön geweſen ſein, nur das mag ich nicht, daß ſie den alten König Marke betrogen! Warum hätten ſie ihm nicht offen die Wahrheit ſagen können? er hätte ihnen gewiß verziehen, denn es war ja ein Liebes¬ trank, und ſie konnten nichts dafür. Denke Dir, Irene, wenn Du nun in ſolch eine ſchreckliche Lage kämeſt, würdeſt Du nicht ſofort Deinem Albert Alles erzählen? Wenn ich einmal mit ſolch einem böſen Gewiſſen herumlaufen müßte, wie die Iſolde, ich hätte an nichts mehr Freude. Aber das wird wohl auch nur im Alterthum und allenfalls noch im Mittelalter vorgekommen ſein. Und denkt Euch, als wir nach¬ her um das Schloß herumgingen, wer da unten ſaß an einem ſehr maleriſchen Thorbogen, überhangen von einem blühenden Apfelbaum? Der junge Herr, unſer Retter, und er hatte ein Skizzenbuch auf den Knieen und zeichnete ſo eifrig, daß er gar nicht auf¬ blickte. Sein Geſicht iſt ſehr hübſch, braun und et¬ was mager, mit einem lockigen Vollbart, und neulich habe ich auch ſchon bemerkt, daß er reizende Augen hat, ähnlich wie Putzi's, groß und dunkelbraun. Aber ſehr ernſthaft ſieht er aus, ja traurig, mit einer tiefen Falte zwiſchen den Augenbrauen. Ob der greuliche Landrath mit ihm verwandt iſt und ihm die Reiſe verdirbt? Mama glaubt, daß er Maler iſt, und ich denke mir, daß er ſehr ſchöne, aber traurige204 Bilder malt. So etwas bemerkt man auf den erſten Blick; Madonnen und Grablegung Chriſti, wie die Meiſter in der alten Pinakothek, und in neuerer Zeit Fugel u. A. m. wißt Ihr. Ich hatte mich ſo in Acht genommen, ihn zu ſtören, aber Putzi, der ja ſonſt der wohlerzogenſte Hund der Welt iſt, verſtand meinen Wink nicht, ſondern ſprang plötzlich mit freu¬ digem Gebell an ihm in die Höhe, ſo daß der Maler zuſammenfuhr. Papa und Mama waren ſchon wieder voraus, und ich ſtand nun da, ganz roth vor Schrecken und entſchuldigte Putzi, ſo gut ich konnte. Der Maler ſah mich aber gar nicht an, ſondern ſagte nur zu Putzi: Alſo jetzt biſt du auch auf'm Runkel¬ ſtein geweſen? Wirſt du aber ein gelehrtes Hunderl! Ob das Spott ſein ſollte? Nachher fiel mir Allerlei ein, was ich hätte antworten können, jetzt aber wußte ich gar nichts zu ſagen und ging ſchnell weiter. Wie gern hätte ich einen Blick in ſein Skizzenbuch gewor¬ fen, aber er ſollte nicht glauben, daß ich eben ſo un¬ delikat ſei, wie Putzi; der hatte ihn durch ſein un¬ zeitiges Bellen gewiß aus einer Weiheſtimmung ge¬ riſſen!

Ein ſehr komiſches, nettes Ehepaar aus Pom¬ mern haben wir kennen gelernt, ebenfalls durch Putzi, der die dicke kleine Frau anſprang. Sie ſchrie erſt auf, als ſie aber Putzi's Engelsköpfchen erblickte, rief ſie: O, du ſüßes Thier, willſt du mir bange205 machen? und da hob ich ihn auf und zeigte ihn ihr in der Nähe. Nachher beim Abendeſſen ſaß ſie neben mir und ſagte mir, Mama ſei die ſchönſte Frau, die ihr begegnet ſei, und ſo etwas ganz Apartes habe ſie in der glatten Haartracht und der ganzen Erſcheinung. Sie fragte, ob Papa Profeſſor ſei, und als ich ſagte: nein, Privatgelehrter , wußte ſie gar nicht recht, was das iſt. Ich erzählte ihr auch von Euch, und ſie erzählte mir von einem reizenden Lamm, das ſie als junges Mädchen gehabt hatte, und das immer mit einem Blumenkranz um den Hals geſchmückt und an einem roſa Bande durchs Haus geführt wurde, wenn Sonntag war. Aber einmal, als Alle aus waren, ſtieg es in die Haferkiſte und ſich ſo dick und rund, daß es nicht wieder heraus konnte. Der Thierarzt mußte kommen und verſchrieb dem Lamm für 50 Pfg. Ricinusöl, da war es wieder geſund.

Ach, und noch ein Abenteuer! Denkt Euch, geſtern Abend lieſt Papa uns das ſchöne Gedicht aus dem Scheffel vor: Noch heute freut mich's, o Rungl¬ ſtein das ja nun für uns beſonders intereſſant war. Er kam ganz in Feuer und ſprach eben in dumpfem Ton die Zeile: Betrüblich ſehr ſteht König Marke, der alte , da klopft es donnernd an die Thür, und ohne Herein abzuwarten, erſcheint der Landrath. Er trug einen Schlafrock, zwei lange rothe Troddeln ſchleiften hinter ihm her. Wollt '206mir nur erlauben, zu fragen, was hier los iſt? Ob die Herrſchaften noch nicht bald zu Bett gehen? wol¬ len doch nicht die Nacht durch Theater ſpielen? Kranker Zimmernachbar hat Anſpruch auf Rückſicht! Bums, Thür zu! Wir ſahen uns ganz verſteinert an. Kinder, es iſt wirklich über elf, ſagte Papa, leſt den Reſt für Euch, es thut mir leid, daß dieſer Rüpel mir eine Lection in der Lebensart hat geben müſſen. Mama wollte Einſpruch erheben, aber Papa ſagte kopfſchüttelnd: Hôtel bleibt Hôtel, da ſoll man nicht thun, als ob man zu Hauſe wäre; man vergißt das nur, wenn man lang' nicht gereiſt iſt! Aber daß der Landrath auch hier wohnt!

Heut Nachmittag geht es weiter nach Trient! Leider regnet es ein bischen, aber ganz lau, nicht kalt wie in München oder gar in unſerer geliebten Kinderheimath Eiſenach. Die Pfarrkirche mit dem grünen Ziegeldach bimmelt fortwährend, ſogar Nachts. Schreibt uns nach Riva.

Eure Kläre.

P. S. Der Maler ſteht nicht hier im Fremden¬ buch, ich habe nachgeſehen; der Landrath Nietzſche ja, ich athme auf, ſie ſind gewiß nicht verwandt.

207

Eugen Schmidthammel an Toni Emmer in München.

Lieber Junge! Deine Hartnäckigkeit im Fragen hat mich erſt erboſt, ſchließlich gerührt, es fehlt nur, daß ich Thränen vergieße, wie ein frierendes Krokodil! Nun ja, es geht mir leidlich; das alte Trento iſt ſo ſchön, wie damals, als wir vor drei Jahren im September zuſammen hier waren. Wollte nur, ich wär 'derſelbe, aber ſo was ſchüttelt man nicht ab, wie der Pudel die Prügel! Wie geht's ihr denn? Siehſt Du, hörſt Du etwas von ihr? Ich will mal ganz offen gegen Dich ſein und Dir ſagen, wenn mich die Frage nach ihr nicht immer noch in Unruh' erhielte, vielleicht hätt 'ich Dir auch heut' noch nicht geſchrieben. Zudem iſt heut 'ein Regentag! gelt, ich bin eine ehrliche Haut? Gemacht hab' ich ſo gut, wie nichts, eine Illuſtration zu einem grauslichen Ritterpoem für die Fliegenden , das iſt wahrhaftig Alles! Jetzt hab 'ich' n Moraliſchen zu dem andern, dem Unmoraliſchen, Du weißt ja! Sag 'mir nur, wie ſie's trägt, wie ſie ſich d'rein findet! Sieht man ſie wieder zuſammen mit Ihm? Iſt ſie bleich? leidend? Schreib' mir's! ſchreib 'mir's! Gleich auf der Stelle möcht' ich die Antwort haben! Mich verdrießt's bis ins Mark, wie ich208 vor ihm dageſtanden bin! Wie ein Schulbub '. Nach dieſer Eröffnung! Und das perfide Wort: Du biſt der Erſte nicht! und dazu dies Hohnlächeln auf ſeinem blaſſen Geſicht. Und die Frau, die mir eben geſtanden hat, ſie liebe mich, was thut ſie? Wie nimmt ſie die tödtliche Beleidigung auf? Sie ruft mir zu: Gehen Sie, mein Freund, ich werde meinen Gatten zu verſöhnen ſuchen! Und ein Geſicht dazu, wie eine Nonne, die eingemauert werden ſoll! Pfui und dreimal pfui! das iſt eine ſchandbare Er¬ innerung! Und wenn man nun Geſchöpfe umher¬ wandeln ſieht, unbekümmert, heiter, gut, 's wird Einem ſchwer ums Herz, daß man ſich nicht dazu rechnen darf! Ich habe ſo eine Familie unterwegs getroffen, ein paarmal. Blühende, freundliche Men¬ ſchen, rieſengroß, mit einem Ausdruck in den Ge¬ ſichtern, als wär' alles Schöne in der Welt extra ge¬ ſchaffen, um ſie zu erfreuen, ſie haben einen Hund mit, einen Affenpinſcher, der fortwährend kläfft, ſchwarz mit braunen Pfoten, unten weiß und gelb. Er kennt mich ſchon von weitem, merkt, daß ich ein¬ mal närriſch auf die Hunde bin. Da ſchick 'ich Dir ſeine Photographie, 's iſt aber Caricatur, weißt ja, daß ich ſonſt nichts machen kann. Hier in Trento ſind ſie auch eben aufgetaucht, ich geh' aber aus'm Weg. Es iſt nämlich eine Tochter dabei, und ich hab 'übergenug von der Liebe! Sonſt freilich 209 hätt' ich nicht mit theuren Eiden mir ſelbſt geſchworen, Eine Geſtalt, wie ein Ritterfräulein, ein Ge¬ ſicht, wie eine Frühlingsblume, blond, blauäugig, dazu eine zarte Flötenſtimme, wie ein kleines Kind oder eine Amſel. Ach, ich habe gar kein Recht, in ſo ein unſchuldiges Geſicht zu ſehen! Und wer weiß, was ſchließlich dahinter iſt! Gebrannte Kinder, weißt Du! Lebwohl, mein Junge, ſchreib 'mir, wie's mit Selma ſteht, ich kann den Namen noch nicht ohne Herzweh ſchreiben. Verſchweig' mir nichts. Ich will nicht geſchont ſein.

Dein alter Eugen.

Klärchen an die Geſchwiſter.

So lange hab 'ich Euch nicht geſchrieben, meine armen Verlaſſenen, und jetzt wird es auch nur ein Kärtchen! Eben ſind wir angekommen nach der ſchönſten Fahrt, die ich in meinem ganzen Leben ge¬ macht. O, der erſte Blick auf den Gardaſee durch das Thor, und die Olivenbäume und Limonengärten! Jetzt ſind wir in Italien, obwohl dies Paradies noch zu Tirol gehört, ſagt Papa. Ich natürlich wußt' es nicht, ich weiß gar nichts! Wir lernten die letzten Jahre immer nur amerikaniſche und afrikaniſcheFrapan, Bitterſüß. 14210Geographie. Der junge Maler iſt auch mitgekommen in einem Wagen, der immer hinter unſerm herfuhr, mit den zwei Pommeranzen, ſo nenne ich das pommerſche Ehepaar die ſüße Pommeranze iſt die Frau, die bittere der Mann, er läßt die arme kleine Dicke immer alle Mäntel, Plaids und Reiſe¬ taſchen allein tragen!

Eure ſelige Kläre.

Dieſelbe an Dieſelben.

Der Balkon iſt ganz in Mondſchein gebadet, ich habe mich hierher geſetzt, Putzi iſt auf meinem Schoß, ich ſchreibe dies ohne Licht, und die Nachtigallen ſin¬ gen in allen Büſchen des Gartens. Ach, liebe, ſüße Schweſtern, wäret Ihr hier! Ueber die Bäume weg ſchimmert der See, und es iſt Alles ein Duft, denn Syringen und Goldregen blühen. Wie ſchön! wie ſchön! Iſt es nicht traurig, daß es Menſchen gibt, die das nicht fühlen können? Der Maler hat noch immer ſeine düſtere Falte zwiſchen den Augenbrauen, und der Landrath Aber das will ich Euch morgen erzählen, ich will den ſchönen Abend nicht mit dem Bericht entweihen! Was für eine Wohlthat müßte es ſein, wenn man hier Verſe machen könnte! Mama211 ſagt, ich werde ſentimental, aber ich bin ja nur ſo außer mir vor Freude!

Eure Kläre.

Dieſelbe an Dieſelben.

Meine ſüßen Kinder! Eigentlich war es ur¬ komiſch, wie ich mich geſtern Abend an den Table d'hôte-Tiſch ſetze und plötzlich in meinem Nachbarn zur Rechten, links ſaß Mama, den Feind, den Landrath erkenne! Mein erſter Gedanke war: Gott ſei Dank, Putzi iſt geborgen in meinem Zimmer auf dem Sopha. Da fing der ſchreckliche Menſch mit vollem Munde an zu ſprechen, ganz als ob wir immer die beſten Freunde geweſen wären! Na, wie geht's Ihnen, Fräulein? Haben Sie das Reiſen noch nicht bald dick? Mir iſt die Geſchichte jetzt ſchon bis übern Hals! Thür zu! brüllte er den Kellner an, es iſt ſo ſchon 'ne Hundekälte hier! Ich blickte ihn er¬ ſtaunt an, aber er fuhr ganz zornig fort: Na ja, die Sonne kriecht ja ſchon um vier Nachmittags hin¬ ter die Berge, wie ſoll es da nicht kalt ſein? O, es iſt im Garten himmliſch, wagte ich zu ſagen, die Nachtigallen ſingen jetzt die ganze Nacht! Da legte er Meſſer und Gabel hin und ſtotterte er¬14 *212ſchrocken: Was? Wer? Die Nachtigallen ſingen hier Nachts? Das können ſie ja den ganzen Tag thun! Das fehlte mir noch! Ich kann ſo wie ſo nicht ſchlafen, und die wollen noch dazu ſingen? Ich dreh 'ihnen den Hals um! Mein Herz klopfte vor Entrüſtung, aber ich gab mir Mühe, ganz ruhig zu antworten: Sie werden ſich wohl nicht fangen laſſen! Zum Glück hörte er es gar nicht, ſondern fuhr fort: Man hat ja ſchon genug Störungen aus¬ zuhalten, der Nachtruhe, mein' ich, in den Hôtels; fehlt nur noch, daß Sie das Piano bearbeiten, mein kleines Fräulein, wie die Perſon in Bozen, die mich aus dem Schwarzen Adler vertrieben hat. Ich beruhigte ihn über mein Clavierſpiel, das ich ja ſelbſt nicht hören mag, aber er war nicht zu be¬ ſänftigen. Ach, es war doch ſo ſchön in Bozen, ſagte ich. Schön? Wo denn? rief er wüthend, in den alten, ſchmalen Gängen zwiſchen den Mauern? Auf der Talferbrücke warf ich ein. Er legte wieder Meſſer und Gabel hin. Ja, Sie ſind doch nicht über das wackelige Ding gegangen? Fällt ja ein, wenn man darauf tritt! Was? auf dem ſchmalen Steig an der Talfer, wo man immer ſo einen Fuß vor den andern ſetzen muß? Hab 'mich wohl gehütet, da zu gehen! Bis jetzt hab' ich noch meine geſunden Knochen, das Spierken Rheumatismus zählt doch nicht! Ich fragte ihn, ob er die reizen¬213 den grünen und braunen Eidechſen geſehen habe, die jetzt hier überall an den Mauern herumſchnellen. Da ſtöhnte er ſo entſetzlich auf, daß es mir faſt ängſtlich wurde, obgleich ich nachher lachen mußte. Das Un¬ geziefer nennen Sie auch noch reizend? rief er ver¬ zweifelt, na, da hört aber doch Alles auf! Solch 'Viehzeug gibt es Gottlob in Neuſtadt-Eberswalde nicht, und da mag es auch Niemand leiden und nennt es reizend! Er ſchob ſeinen Teller weg. Und der alte Kalbsbraten iſt auch ganz ohne Sauce, ſolchen hab' ich nu ſchon jeden Tag gekriegt, dieſes Elend mit dem bischen Eſſen, und nu verderben Sie mir noch ganz den Appetit mit Ihren Eidechſen! Er ſah aus, als wollte er weinen, ich fragte ihn, ob ihn die Füße ſehr ſchmerzten. Da antwortete er wieder nichts, blickte aber einer Dame nach, die ge¬ rade vom Tiſch aufſtand und flüſterte ganz vergnügt: Iſt das 'ne Italienerin? Iſt ſie verheirathet? Iſt ſie ſchon lange hier? Einen Ring trägt ſie nicht, was? Haben Sie's nicht bemerkt? Und plötzlich zog er einen Kneifer heraus und guckte der Dame dadurch nach, ganz neugierig und luſtig, und als ſie hinausging, ging er auch hinaus, kam aber bald wieder herein, und ſagte ganz laut zu mir: Sie trägt keinen Ring! wobei er mich ſtrafend an¬ blickte. Iſt das nicht ein ſonderbarer Menſch? Mama ſagt, er ſehnt ſich gewiß ſo ſehr nach ſeiner214 Familie, darum iſt er ſo brummig, jetzt hat er ja Niemanden, der ihn pflegt. Wie ſchade, daß nicht ſeine Frau oder ſeine Tochter mit ihm gegangen iſt!

Jetzt lauf 'ich in den Garten, der ſo ſchön iſt, wie die Gärten in den Märchenbüchern! Er reicht bis an den blauen See, und gegenüber iſt der Monte Baldo; ich wandle hier unter Lorbeern und Cypreſſen, und ſie kommen mir gar nicht fremd vor, es iſt Alles, wie ich es mir gedacht habe, nur noch viel, viel ſchöner. Am Berge gegenüber iſt eine ganz ſchmale Straße am Abhang eingeſprengt, die Ponalſtraße heißt, dorthin gehen wir heut' Nachmittag!

Mit tauſend Grüßen Kläre.

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

Mein lieber Junge! Hab 'Dank für Deine ſchnelle Antwort. Du haſt mich nicht geſchont, Du wußteſt eben doch nicht, wie nah' mir die Geſchichte noch geht. Dein Bericht über das Frühlingsfeſt der Künſtler, wo Selma als Maifee erſchien, nach den Erlebniſſen der letzten Monate! und der Gatte als Maikäfer hat mir ein bitt'res Lächeln auf die Lippen gebracht! So ſchnell vergeſſen zu werden, das hatt 'ich nicht gehofft! Ich habe doch die Nacht nicht215 geſchlafen und hatte heut' miſerables Kopfweh. Wen führt ſie denn jetzt am Bändel? Das vergaßeſt Du mir mitzutheilen! Ich werd 'ihn nicht beneiden. Seiner wartet ein Unmoraliſcher , den kein Hering und kein Sodawaſſer vertreibt. Uebrigens Maifee? Mit ihrer Ueppigkeit? Ihrem ſchwarzen Kraushaar? Was hat ſie denn angehabt? Brillant genug mag ſie ausgeſehen haben! Hat ſie ihre Schultern ſehr frei¬ gebig gezeigt? Sie that das nie, ſo lange ſie mit mir Aber nun, wo ſie beſchäftigt iſt, ihren Gatten zu verſöhnen ! Iſt Dir das Wort Gatte auch ſo zuwider? Ich möchte um die Welt nicht ſo genannt werden!

Ach, Du, Maifee! Jetzt muß ich doch lachen! Nein, nein, dafür paßte ſie nicht! Das hätte ſie nicht gewählt, ſo lang 'ich ihr Rathgeber in Coſtüm¬ fragen war. Königin der Nacht, Nachtſchatten, Bella¬ donna, aber Maifee? Da weiß ich eine Andre, die für die Rolle paßt. Und ſie hat nicht' mal ein be¬ ſonderes Coſtüm dafür nöthig! In ihrem flattern¬ den, hellbraunen Mantel, in ihrem Reiſehut und grauen Schleier, ſie iſt immer dieſelbe Frühlings¬ blume. Du kannſt Dir denken, daß ich von meiner Reiſebekanntſchaft ſpreche, ach, richtig, Du gibſt mir ja ſogar den guten Rath, mich in ſie zu ver¬ lieben! Hör 'auf, Toni, ſonſt hör' ich auf! Nein, ernſthaft, es iſt mir unangenehm, daß Du mich zu216 dem ahnungsloſen kleinen Engel in ſolche Beziehung bringſt. Geſtern traf ich ſie allein, nur Putzi, ihr Pinſcherchen war mit, auf der Ponalſtraße. Ich ſaß grade auf einem Bauernwägelchen, neben einer alten Italienerin, die mit ihrem Eſelchen vom Ledrothal heraufkam und mich eingeladen hatte, mitzufahren. Ein Bub 'ſaß hinten auf und ſang zur Ziehhar¬ monika, die alte madre aus voller Kehle mit. Da kam ihr Putzi daher und kläffte den Eſel an. Ihr Erſchrecken, ihre Freundlichkeit gegen die armen Bauersleute, und wie ſie ſogar die Priſe Schnupf¬ tabak nahm, die die Alte ihr anbot, und dann nießen mußte, daß ihr die Thränen aus den Augen liefen, all' das war allerliebſt. Freilich, ſie iſt ein Kind, ein Backfiſch, aber der Geſtalt nach völlig erwachſen und mit einem lieblichen Ernſt. Wenn ich nicht Alles abgeſchworen hätte Aber necke mich nicht mit ihr, mein Junge, es kommt mir hinterliſtig vor gegen das Mädchen. Beneidenswerth, wer ſo eine friſche Jugend als erſte Liebe auf ſeinem Weg fin¬ det! Ich wünſch' ihr einen, der keine Selma geliebt hat und von ihr geliebt worden iſt. Manchmal krieg 'ich einen ganzen Widerwillen gegen mich ſelbſt. Die Familie kommt aus München, ich wohne jetzt im gleichen Hôtel wie ſie, wenn ich irgendwie merke, daß ſie von der Geſchichte gehört haben, dann217 verſchwinde ich aus ihrer Reiſeroute. Unmöglich wär's nicht, unſer gutes München iſt halt ein arges Klatſchneſt!

Dein Freund Eugen.

Klärchen an die Geſchwiſter.

Wie haben wir uns über Eure lieben, langen Briefe gefreut, meine ſüßen Kleinen! Ach, ich kann mir denken, wie unangenehm es Euch war, in der Suppe ein Haar zu finden! Nicht allein des Haares wegen, als weil Ihr es Kathl habt ſagen müſſen! Es iſt ſo peinlich, einen Menſchen zu beſchämen, nicht wahr? Das habe ich vorgeſtern auch recht empfun¬ den, als mir der junge Maler, er heißt Herr Eugen Schmidthammer auf der Ponalſtraße, die, in der Nähe beſehen, ſehr breit iſt, entgegengefahren kam. Er ſaß nämlich auf einem Eſelfuhrwerk, auf einem großen Haufen Gras und Futter, und ſo ge¬ ſchmückt war das Eſelchen mit rothen Troddeln und Bändern, daß es wunderhübſch ausſah. Mit Geſang kamen ſie daher, und ich wurde ſo luſtig, ich hätte gerne mitgeſungen, wenn es nicht italieniſch geweſen wäre. Als aber der Maler mich erblickte, wurde er218 ganz roth und ſprang herunter und ſagte: Putzi ſcheint zu glauben, daß dies hier meine gewöhnliche Beſchäftigung iſt, und Sie am Ende auch, mein Fräu¬ lein? Denkt Euch! Ich lachte natürlich und ſagte, ich wiſſe wohl, daß er Maler ſei, aber ich wurde doch ganz verlegen mit und vergaß, auf Putzi zu achten, und plötzlich läuft der Maler hin und reißt ihn von dem ſteilen Abſturz der Straße zurück! Das war ein Schrecken! Putzi, der ſich doch ſonſt von keinem Fremden anrühren läßt, hatte nicht gemuckt, ſaß ganz ruhig einen Augenblick auf ſeinem Arm und ließ ſich ſtreicheln. Die alte Italienerin hat mir dann eine Priſe angeboten, und ich nahm ſie ganz ahnungslos und mußte fürchterlich nießen, worüber ſie und ihr Junge, der eine Harmonika hatte, jauchzten und in die Hände klatſchten. Hätte ich gewußt, wie es krib¬ belt, ich hätte nicht ſo viel genommen. Dann fuhr der Wagen weiter, aber der Maler ſtieg nicht wieder auf, und das freute mich, der arme Eſel hatte ſo ſchon genug zu ziehen. Ich ging weiter, immer höher hinauf; links unten iſt der See, blauer faſt, als der Himmel, rechts die Felswand, voller Blumen. O, wie Einem die Augen hier groß und weit werden! Nachher geht es immer um Zacken und durch ein paar halbdunkle Tunnels, wenige Leute begegneten mir; zuletzt ſteht da an der Bergwand, in einem prachtvollen Tunnel, der ein Fenſter hat, eine In¬219 ſchrift über den Erbauer dieſer großartigen Straße. Dort kehrte ich um, weil es mir einſam wurde, Papa und Mama machten nämlich ihren Nachmit¬ tagsſchlaf, und ich war allein weggelaufen. An einem Wegwärterhäuschen, das ganz verloren neben einem tiefen Schlunde liegt, in den ſich ein Waſſerfall er¬ gießt, ſah ich wieder Herrn Sch. ſitzen und zeichnen. Er ſtand aber auf, als ich heran kam, weil er fertig war, wie er mir erzählte. Da faßte ich mir ein Herz und bat ihn, mir zu zeigen, was er gemacht habe. O, meine Evy, welche Enttäuſchung ſtand mir bevor! Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen ſollte! Lauter ſchreckliche Fratzen waren in ſeinem Skizzenbuch, Ritter mit ganz dünnen Beinen und furchtbar großen Füßen nach einwärts, und eine dicke, runde Frau, die ein bischen ausſah, wie die ſüße Pommeranze, nur ſehr übertrieben, und wen führte ſie am Band? Putzi! Aber nicht meinen kleinen ſchönen Putzi, ſondern ein dickes Ungeheuer mit vier Schwefelhölzchen ſtatt der Beine und einem gerin¬ gelten Schwanz, wie eine Wurſt! Es kam mir Alles vor, als ob es aus den Fliegenden Blättern ab¬ gezeichnet wäre, und als er mich fragte, was ich dazu meinte, ſagte ich ihm das, was gewiß ſehr unartig war. Er lachte hell auf und ſagte, ich hätte ganz Recht, nur mit dem Unterſchied, daß die Fliegenden Blätter dieſe Sachen von ihm abzeichneten! Nun220 ſeht, wie ich mich blamirt habe. Alſo traurige Bil¬ der malt er nicht, ich habe ihn danach gefragt, und er hat nein geſagt. Er wunderte ſich, daß ich die Fliegenden nicht wundervoll fände; ich ſagte, ich möchte ſie ſehr gern, aber wenn ſie ſo ganz ver¬ dreht und verſchroben wären, möchte ich ſie nicht, ich möchte überhaupt lieber etwas Schönes, als etwas Luſtiges ſehen. Dann fragte er plötzlich, wie alt ich wäre. Ich ſagte Sechzehn ; da rieth er mir, nicht ſo allein herumzulaufen, ganz in dem Ton, wie Du manchmal, mein alter Rudi, und begleitete mich, bis das Hôtel in Sicht war. Ich ſehe gar nicht ein, warum; aber ich werde wohl folgen müſſen, Papa und Mama hatten ſich auch ſchon geängſtigt. Ach, wäret Ihr doch hier!

Eure Kläre.

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

Mein lieber Toni! Was redeſt Du von ver¬ liebt? Weiß ich denn nicht, wie das thut? Ich bin nicht verliebt, ich ſchwöre es Dir. Nichts von dem dumpfen Drang, der ſtachelnden Unruhe, dem Fieber im Blut, dem Schwanken zwiſchen Begier und Wider¬ willen, wie ichs in den ſelig-unſeligen Monaten mit221 Selma empfunden. Alles ganz anders! Mein Blut iſt ruhig, meine Nerven zucken nicht krampfig, wie abgeſchnittene Glieder, wenn ich die kleine Kläre da¬ herkommen ſehe. Ebenſogut könnteſt Du behaupten, ich ſei verliebt in die Frühlingsſonne, oder in den Gardaſee, oder in die Nachtigall vor meinem Fenſter! Sie hat ja auch von allen dieſen etwas, aber ſie iſt dazu noch allerlei Andres. Hat nicht Goethe irgend¬ wo geſagt: Als Kinder ſind wir Alle moraliſche Ri¬ goriſten? Dieſe Kläre, glaub 'ich, wird's bleiben ihr Leben lang. Eine ſüße, kleine Perſon, die aber einmal von ihrem Manne viel verlangen wird! In aller Unſchuld, weißt Du. Ich habe ihr meine un¬ ſterblichen Illuſtrationen gezeigt. Meinſt Du, daß ſie auch nur ein Wort der Bewunderung dafür gehabt hätte? Du weißt, ich bin nicht eitel, aber ſie iſt ſonſt ſo bereit, zu bewundern! Ich könnte mich ja damit tröſten, daß ich ſie einfältig fände, aber nein, ein¬ fältig iſt ſie nicht. Ich habe ihr offenbar nicht im¬ ponirt mit meinem Können, und ſo dumm es klingt, mich ärgert's! Jetzt ſchwatz' ich ſo viel davon, jetzt wirſt Du erſt gar glauben, es ſei was an der Geſchicht '!

Alſo, noch kein Erſatzmann in Sicht? Arme Selma! Was thut ſie nun inzwiſchen mit dem un¬ ausgefüllten Herzen? Oder iſt vielleicht der Gatte Zwiſchenbewohner? Mein lieber Junge, ſie hat ein222 paar Briefe von mir, tolles Zeug, drei oder vier nur, wenn Du ſie zurückerbitten und vernichten könnteſt! Die ihrigen hab 'ich ihr ſtets ſofort zurück¬ geben müſſen. Sie hieß mich ſie küſſen und ver¬ brannte ſie dann an der bunten Schreibtiſchkerze in ihrem Boudoir, immer ihr Auge in meines getaucht, immer mich bändigend, der ich ihr in den Arm fallen wollte! Ach, die Komödie! Willſt Du mir das thun? Es iſt ein arger Freundſchaftsdienſt, aber als ihr quasi Verwandter?

Dein Freund Eugen.

Klärchen an die Geſchwiſter.

Ihr Lieben alle! Der verwahrloſte Theil des Gartens iſt der ſchönſte, da ſtehen die Bäume ſo dicht, und Wurzeln, wie klammernde Arme, ſpannen ſich über die Wege. Hier ſitz 'ich am liebſten, an einem vertrockneten, moosüberwucherten Brunnen und ſchreibe Euch. Ach, leider zum letzten Mal heut', denn morgen früh geht es weiter, den See hinab, nach Deſenzano! Ich bin ſo gerne hier geweſen, es iſt mir ganz wie ein Abſchied. Das bunte Städtchen223 mit der kleinen Piazza, nach der Seeſeite offen, die Kaſtanienallee, die von uns aus dorthin führt, die Wein - und Oelpflanzungen am Berg hinauf, ja, ſelbſt der Friedhof mit den hohen Cypreſſen, die wie dunkle Säulen zu beiden Seiten der Pforte ſtehen, Alles iſt mir vertraut und wird es bleiben, ſo lang 'ich lebe. Die beiden Pommeranzen ſind geſtern abgereiſt, die Table d'hôte war heut' mit den zwei leeren Stühlen noch ſchrecklicher, als gewöhnlich. Man ſitzt und ißt anderthalb Stunden, und einige Leute ſtarren Einen ſo an, daß man ſich gar nicht getraut, etwas in den Mund zu ſtecken. Ich ſchüttele mich immer, wenn wir damit durch ſind. Papa und Mama geht es ebenſo, ſie ſagen, das Table d'hôte-Eſſen ſei der, die oder das? einzige draw-back auf Reiſen. Der Maler ißt nie mit, er macht Ausflüge und ißt, wo er etwas findet. Das denke ich mir herrlich. Der Landrath aber ſitzt faſt täglich neben mir und erzählt mir lauter Sachen, die weder intereſſant noch hübſch ſind, aber ganz freundlich iſt er jetzt mit mir, und er will ſogar Putzi füttern mit großen Fettſtücken und Käſerinden, daß ich immer eine Todesangſt aus¬ ſtehe! Glücklicherweiſe iſt das ſüße Thier ſo klug, mir die Brocken immer erſt vorzuzeigen, ſo daß ich ſie ihm unbemerkt wegnehmen kann. Ich habe immer ein Extra-Taſchentuch und eine Papiertüte dazu bei mir. Geſtern, als ich im Garten ſpazieren ging,224 wehte plötzlich vom Balkon ein Briefblatt herunter. Ich hob es auf, darauf ſtand: Liebe Toni! Ich dachte, eine Dame habe es vielleicht herunterflattern laſſen, als ich es aber auf den Balkon zurücktrug, ſaß oben der Maler und ſchrieb. Ich fragte ihn, ob Toni ſeine Schweſter ſei, er ſagte: So gut, wie Schweſter. So iſt ſie wohl Ihre Braut? fragte ich. Da lachte er und ſagte: Soll ich Ihnen Toni's Bild zeigen? Ich nickte, denn ich dachte ſie mir ſehr hübſch, nach ihm zu urtheilen; da zeigte er mir die Photographie eines jungen Mannes in Tiroler Tracht! Wer iſt das? fragte ich. Toni, mein Freund Toni, lachte er. Ich ſtand recht dumm da. Bei uns iſt Toni ein Mädchenname, ſagte ich, und dann ſprachen wir von Euch, und ich erzählte ihm, daß ich Euch Alles, Alles ſchreibe, was mir be¬ gegnet. Haben Sie auch von mir geſchrieben? fragte er. Ich hatte große Luſt, nein zu ſagen, aber ich konnte doch nicht lügen! Ich ſagte alſo ja, aber nun wollte er auch noch wiſſen, ob es Gutes oder Schlimmes geweſen ſei. Ich ſagte ihm, nun natür¬ lich Gutes, daß er immer ſo nett gegen Putzi geweſen ſei und ſo weiter. Nun kamen wir in ein ganzes Hundegeſpräch, er hatte nämlich auch einen Hund ge¬ habt, einen Teckel, ein ſehr merkwürdiges Thier, ſehr liebenswürdig, aber treulos, ein richtiger Don Juan, der allen Hunden die Köpfe verdrehte und ſich dann225 nicht weiter um ſie bekümmerte. Die Hündin ſeines Onkels, eine ſehr zänkiſche, biſſige, alte Jungfer ver¬ liebte ſich ſterblich in den Don Juan und ſtarb an gebrochenem Herzen. Der Teckel wurde ſchließlich von einer Dogge todtgebiſſen, und ſein Herr wollte nun keinen Hund wieder haben. Es war Alles ſehr ſpa߬ haft, wie er es erzählte, aber ich konnte doch nicht ſo recht darüber lachen. Ich ſagte ihm, ich möchte lieber treue Hunde, wie Putzi, die andern verdienten gar nicht den edlen Hundenamen; Putzi würde gewiß ſterben, wenn ich ſtürbe, und er ſolle ſich nur ruhig wieder einen Hund anſchaffen, einen wie Putzi. Aber er ſagte, ſolchen fände er doch nicht. Nachher kamen Papa und Mama auch aus ihren Zimmern auf den Balkon heraus, und wir plauderten alle vier ganz gemüthlich. Ich habe meiſtens zugehört, Papa ſprach mit dem Maler über italieniſche Kunſt und das in¬ tereſſirte mich ſehr. Herr Schmidthammer kennt die meiſten Maler und Zeichner in München und erzählte uns viel Luſtiges aus dem Künſtlerleben, er war ganz verwundert, daß wir noch ſo wenig davon geſehen haben, obwohl wir ſchon bald ein Jahr dort leben. Er hat Papa um Erlaubniß gebeten, uns in Mün¬ chen beſuchen zu dürfen, und ſo werdet Ihr ihn ja nun auch bald kennen lernen. Er iſt noch etwas größer als Rudi, ſieht ihm überhaupt gar nicht ähn¬ lich, und doch fühle ich mich ſo zu ihm hingezogen,Frapan, Bitterſüß. 15226als ob ich ihn ſchon lange kennte. Und Putzi läßt ſich von ihm freiwillig auf den Arm nehmen! Das iſt doch viel, nicht? Ich muß Abſchied nehmen von den Tauben im Hof, von den zwei Katzen, einer grauen und einer dreifarbigen, Putzi hat ſie ſo oft erſchreckt, wenn ſie behaglich blinzelnd im Sonnen¬ ſchein lagen, das muß ich ihnen vergüten. Und von den herrlichen Bäumen und allen Plätzen im Garten, und vom berankten Balkon und heute Abend von den Nachtigallen. So früh wie dieſes Jahr ſingen ſie ſonſt auch hier nicht, ſagt der Wirth. Die Orangen¬ blüthen, die ich Euch einlege, hat er mir heut 'im Gewächshaus geſchnitten, dazu auch noch zwei weiße Camelien, aber die ſind zu dick. Wie glücklich bin ich hier geweſen! Wie viel hab' ich ſchon erlebt, ſeit wir fort ſind! Ich komme mir ganz erwachſen vor, und Papa ſagte heute auch: Du wirſt auf dieſer Reiſe Deine Kinderſchuhe austreten, Kleine. Da nahm Mama mich in die Arme und ſagte: Mein armes Kind! nein, nein, noch nicht! Was kann ſie damit gemeint haben? Ich fragte ſie, aber ſie ſah mich nur an und küßte mich.

Eure halb frohe, halb traurige Kläre.

227

Eugen Schmidthammel an Toni Emmer.

Lieber Toni! Dein Brief hierher befeſtigt mich in meinem Entſchluß. Sie gibt die Briefe nicht her¬ aus, und ſo lange ich die Unglücksblätter in ihrem Beſitz weiß, fühle ich mich nicht als freier Menſch! Der Gebrauch meiner Glieder iſt mir beengt, ge¬ hemmt als ein Halbgefangener kann ich vor dem ſüßen Geſchöpf nicht umhergehen. Ich muß ver¬ ſchwinden, jetzt, nachdem ich in einem ſchwachen Augen¬ blick, hingeriſſen von ihrer Lieblichkeit, den Vater um Zutritt in die Familie gebeten habe! In welches Licht werd 'ich kommen! Was wird das argloſe Kind, das nicht einmal untreue Hunde ausſtehen mag, von mir denken! Es iſt freilich nicht die Briefan¬ gelegenheit allein, die mich vertreibt. Auf dem Dampfer nach Deſenzano wir machten die Fahrt zuſammen und ich hatte ein Gefühl, als machte ich meine Hochzeitsreiſe mit Klärchen, wenn ich ihr allerlei kleine Dienſte leiſten, den weggeflogenen Hut ihr wiederholen, den Putzi warten durfte, während ſie ſich den Mantel zuknöpfte auf dem Dampfer alſo tauchte in Gargnano plötzlich das unheilverkündende Geſicht der Baronin Hechingen unter den Ankommen¬ den auf. Die ſchlimmſte Zunge unſerer theueren Kunſtmetropole, die natürlich meine und Selma's Ge¬15*228ſchichte bis ins Detail kennt und in ſelbſt zubereiteter pikanter Sauce Bekannten und Unbekannten auftiſcht. Ich ſaß wie auf Kohlen, denn ich ſah das grinſende Geſicht der Alten noch ſüßlicher werden, als ſie mich erblickte, und wie ſie mich von Weitem anrief, wurde mir aufrichtig ſeekrank. Sieh 'da, Herr Schmidt¬ hammer, ſagte ſie, warum haben Sie denn unſer Künſtlerfeſt verſäumt? Die Maifee hat ſich nach Ihnen ihre ſchönen Augen ausgeweint! Klärchen war zum Glück an den Frühſtückstiſch getreten und hörte nichts, und der Papa iſt zu harmlos, war auch zu ſehr in Betrachtung der Ufer vertieft, um die gif¬ tigen Worte zu hören. Die Mutter aber warf mir einen fragenden Blick zu und flüſterte dann: Iſt das nicht die Hechingen? Ich kenne ſie aus einem Wohl¬ thätigkeitsconcert leider wenn ſie mich nur nicht ſieht! Ich will ſie unſchädlich machen, rief ich, ſtürzte mich auf die Granate, die jeden Augen¬ blick platzen konnte und wich nicht mehr von ihrer Seite, bis wir in Deſenzano waren. Ein Jammer um die ſchöne Fahrt! Sie iſt leider gleichfalls nach Verona gekommen, und ich habe, während ich ſie überwachte, meine Familie aus den Augen verloren. In Deſenzano auf der Station ging der Doktor an mir vorüber, beladen mit warmen Koteletts und Bröt¬ chen, er ſah mich nicht und ich herabgeſunken zum Ritter der Hechingen, der ich eben zwei Apfelſinen229 hielt, während ſie die andern in ihre Reiſetaſche ſtopfte, wagte kein Lebenszeichen zu geben. Ich fürchte, es iſt Alles aus! Zum Unglück hab' ich ſeit geſtern Abend auch die Hechingen nicht mehr geſehen. Mir iſt zu Muth, als ſei eine Brillenſchlange ent¬ kommen und wolle ſich auf mein Lamm ſtürzen. Dazu Dein Brief! Der Hohn, ich ſelbſt ſolle die Briefe zurückholen! Aber ſie weiß doch, daß ich auf der Reiſe bin! Verſuch 'es noch einmal, Toni, mein Freund, mein Bruder. Ich bin ſehr unglücklich!

Dein Eugen.

Klärchen an die Geſchwiſter.

Meine Lieben! Mama bittet mich, Euch auch noch ein Wörtchen zu ſchreiben; ich habe zwar einen dummen Kopf, aber einen herzlichen Gruß ſollt Ihr doch haben. Unſere Seefahrt war wunderſchön, ich war ganz aufgelöſt vor Freude. Aber in der zweiten Hälfte der Reiſe verſchwand plötzlich der Maler, Herr Schmidthammer, und hat ſich ſeitdem gar nicht wie¬ der ſehen laſſen. Es thut mir ſehr, ſehr leid! Ob wir ihn beleidigt haben, oder ob er uns nicht mehr mochte, als er uns genauer kennen lernte, weiß ich230 nicht. Ich habe ſchon Kopfweh vom vielen Grübeln. Nun, morgen bin ich wieder heiter.

Eure Euch zärtlich liebende Kläre.

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

Lieber Sohn! Es iſt mir doch leid, daß ich gar kein Malzeug mit habe, das ewige Karikiren hol 'der Teufel. Gelegenheit gäb's ja hier genug, und ich bin nicht müßig drin, 's iſt ja auch Brotarbeit. Aber mir juckt's in den Fingern, auch wieder e biſſel zu landſchaftern. Gelt, thu mir die Lieb' und ſchick mir meinen Studienkaſten, wie er ſteht und geht, nach Venedig in den Sandwirth. Das heißt, Du thuſt einen Blick hinein, ob er nicht ganz leer iſt und räumſt e biſſel ein, was man ſo braucht! Skizzen¬ leinwand krieg 'ich hier ich könnt' ja auch das Uebrige hier beſorgen, aber es wär 'doppelte Ausgabe! In vier, fünf Tagen bin ich in Venedig. Geſtern in der Arena iſt mir die Hechingen begegnet, da gehört ſie auch hin zu den andern Schuhus. Aber froh war ich doch an der Begegnung, ſie reiſt nämlich ab, heut ſchon, nach Vicenza, das arme Vicenza, ich be¬ neid's nicht um den Beſuch! Nun Bog s nej! wie231 Freund Alexej ſagt! Wenn ſie mir nur mein Lamm nicht würgt! Ich hab's nicht wieder gefunden, das weiße Lämmchen und hätte ja allen Grund, in miſe¬ rabler Laune zu ſein, aber ich weiß nicht, es geht nicht; ich glaube, das Kind hat mich mit ſeiner Freu¬ digkeit angeſteckt. Wenn ich nur erſt einen Brief von Dir hätte Nachricht, daß ſie mich endgültig freigibt.

Dein Freund Eugen.

Weißt, Landſchaft mit Staffage, denk fein dran, wenn Du mir die Tuben zuſammenſuchſt!

Klärchen an die Geſchwister.

Meine Geliebten! Seid nicht böſe, daß ich Euch jetzt ſeltener und kürzer ſchreibe, wir ſind ſehr viel unterwegs und haben ſoviel zu beſehen, daß ich es nicht recht bewältigen kann. So ſchön wie Riva iſt Verona nicht, finde ich, obgleich Papa ſagt, gerade Verona trage echt italieniſchen Charakter. So furcht¬ bare blutige Erinnerungen gibt es hier! Wir waren z. B. in der Arena. Erſt war es wie ein Traum, dieſes rieſige Theater, in das die heiße Mittagsſonne herunterglühte, daß die Steinſitze ganz warm waren. 232Ich dachte mir die ſchönen Geſtalten in antiken Ge¬ wändern dazu, und mein Herz zitterte ordentlich vor Freude, ſolch 'eine denkwürdige Stätte zu betreten. Da zeigte Papa uns die dunkeln Gelaſſe unter den Galerien, wo die wilden Thiere und wohl auch die Verurtheilten, die mit ihnen kämpfen mußten, gefan¬ gen lagen bis zum Beginn des Kampfſpiels, und dann wies er uns in der Mitte der Arena im Stein¬ fußboden die Löcher, durch die das Blut abfloß, und da kriegte ich ein Grauen vor den Menſchen, die ſolch' Schauſpiel hatten anſehen mögen, und mit aller Freude war es vorbei. Sogar die Leute auf der Piazza d'Erbe, die alle ſo lebhaft durcheinander rie¬ fen und ſprachen und ſo bunt gekleidet waren, kamen mir nachher unheimlich vor, weil ſie doch die Nach¬ kommen jener grauſamen Alten ſind. Und am an¬ deren Tage, als wir in der Stadt ſpazieren fuhren, führte uns der Kutſcher, der ein alter Soldat war, aus der Feſtung hinaus und zeigte uns die Schlacht¬ felder von Cuſtozza und S. Lucia und ſagte immer: Hier war ein erbitterter Kampf um eine öſter¬ reichiſche Batterie, bis hierher lagen die Gefallenen, dort an dem weißen Kreuz ſo hoch übereinander, dieſer Bach floß roth von Blut. Nun war noch das Aergſte, daß zwiſchen der Saat, auf die er zeigte, viele Adonisröschen blühten, die wie friſche Bluts¬ tropfen in der Sonne glänzten ach, ich ſehnte mich233 zurück in das liebe friedliche Riva, in den Garten mit den Lorbeerbäumen und an den himmliſchen See. Es thut mir ſo leid, daß ich ſo undankbar bin, ich gebe mir auch alle Mühe, es vor Papa und Mama zu verbergen.

Eure dumme Kläre.

P. S. Ach, und denkt Euch, mein armes Putzel¬ chen hat eine muserola, einen Maulkorb! Das iſt hier Vorſchrift, und wir haben ihm einen kaufen müſſen! Wie er damit ausſieht, was für Anſtren¬ gungen er macht, um ihn loszuwerden, und welch 'flehende Blicke er mir zuwirft, das iſt nicht zu be¬ ſchreiben! Es war der kleinſte Maulkorb, den ſie im Laden hatten, und ſogar der iſt ihm noch zu groß!

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

Lieber Junge! Wir ſind in eine Correſpondenz hineingerathen, die wahrhaftig mehr ins vorige Jahr¬ hundert gehört, als in unſer Depeſchenzeitalter. Aber ich muß mir's von der Seele ſchreiben, beſonders das dumme, das mir jeden Tag paſſirt. Heut hab 'ich etwas Extras angeſtellt ich möchte mich prügeln, nur wenn es noch einmal vor Dir ſtünde. Du thätſt es noch einmal, mein Herz. Alſo Dir ahnt's wohl234 ſchon! Hab' die kleine Kläre wiedergeſehen, endlich, und wo? am Grabe der Julia! Da bleib ein Anderer vernünftig. Weiß wohl, was die Gelehrten über den Sarkophag für eine Anſicht haben, aber für ſie war dieſer antike Schweinetrog ſo echt, ſo be¬ wundernswerth, ſo unantaſtbare Wirklichkeit! Und ich frage Dich übrigens, warum könnt's nicht wahr ſein? Wie ich da in die kleine Kapelle trat, durch das Spitzbogenfenſter die Sonne ſchien auf den alten Moſaikboden und den alten Steintrog, und die Rank¬ roſen draußen ihre zitternden Schatten warfen auf das ſchlanke Ritterfräulein mit der tiefen Andacht in den kindlichen Zügen, da erſchien mir alle Romantik glaubwürdig und als das Wirkliche, Echte im Leben, für das nur unſere Augen ſtumpf geworden ſind! Und als ich gar bemerkte, daß ſie ſich freute kurz und gut, ich benahm mich unverantwortlich, und nun ſitz 'ich da und hab' noch immer keine Nachricht von Dir! Aber, was iſt das auch für eine Wirthſchaft, daß in unſerem verderbten neunzehnten Jahrhundert ſo reizende Geſchöpfe unbewacht umherlaufen, um Einem das bischen Verſtand vollends zu verwirren! So etwas ſollte verboten werden. Freilich, ſolche Muſtermenſchen, wie dieſes Elternpaar, urtheilt nach ſich, und das Mädchen iſt ja auch von einer himm¬ liſchen Einfalt! Lebewohl, ſchilt mich, wie ich's verdiene.

Dein Eugen.

235

P. S. Hab's aber nachher wenigſtens eingeſehen und bin ſofort hierher abgedampft. Oder war das nun am Ende wieder verkehrt?

Klärchen an die Geſchwiſter.

O, meine ſüßen Kinder, iſt es nicht merkwür¬ dig? gerade jetzt, wo wir morgen nach Venedig fah¬ ren, fängt Verona an, mir lieb zu werden! Ich hatte eben das Schönſte hier noch nicht geſehen, und das iſt das Grab der Julia. Heut war ich dort, allein, denn Papa und Mama haben es früher ſchon geſe¬ hen, und da Papa etwas Kopfweh hatte, wollte Mama lieber bei ihm bleiben. Sogar Putzi blieb zu Haus, denn die alte Muſerola iſt ihm eine Qual. Eine ganze Weile war ich ſchon dort in dem poetiſchen Kapellchen andere Leute kamen nicht, und der Aufſeher ging draußen pfeifend umher. Ich konnte mich ganz vertiefen und vergaß, wo ich war. Zuletzt kamen Schritte, der Aufſeher brachte mir eine Roſenknoſpe und einen Myrthenzweig aus dem Ge¬ büſch draußen, als Ricordo della tombal di Giu¬ lietta. Hinter ihm trat Jemand hervor, da war es plötzlich der Maler, Herr Schmidthammer! Ich freute mich ſehr, ſehr! Seit Gargnano hatten wir ihn236 nicht mehr geſehen. Fragen mocht 'ich ihn nicht, er war auch ganz wie ſonſt, faſt noch bekannter. Er be¬ gleitete mich bis an unſer Hôtel, wir ſprachen ſoviel zuſammen, ich weiß nicht recht was, aber es war Alles intereſſant. Er fragte mich, ob ich die Baronin Hechingen kenne ich war ganz verwundert, daß er ſie kennt, denn Ihr wißt ja, wie ſie Mama unſym¬ pathiſch iſt. Und mir erſt! Er ſagte, er kenne ſie nur ſehr oberflächlich, alſo ganz wie wir. Ich habe ihm die Roſenknoſpe geſchenkt, er ſieht ſo unbeſchreib¬ lich freundlich aus, wenn er bittet. Ich wollte ihm auch den Myrthenzweig geben, aber er ſagte, den ſolle ich behalten. Nun haben wir Beide ein Ri¬ cordo ! Aber das Grab der Julia würde ich ohne¬ hin nicht vergeſſen, mir ſcheint es das Schönſte von ganz Verona zu ſein! Nächſter Brief aus Venedig!

Tauſend Grüße von Eurer Kläre.

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

Jetzt ſind wir wieder 'mal Alle beiſammen, die Familie, die Hechingen und ich! Es iſt zum Platzen! Hielt's nicht aus in Vicenza, ſonſt meine Lieblings¬ ſtadt, auf die ich mich gefreut hatte wie auf eine ge¬237 liebte lebendige Seele. Palladio's Rathhaus war göttlich wie ehedem, aber das Gefrorene in dem Café gegenüber erinnerte mich an die Hechingen, es zog mir den Mund zuſammen. Und im römiſchen Theater trat ſie aus einer der Seitencouliſſen, und der ganze Chor der Eumeniden ſchien mir in ihr verkörpert, als ſie zu krächzen anfing: Sie, Schmidthammer, wo haben's denn den Doktor Esmarch und ſeine liebe Frau gelaſſen, die ſo kurzſichtig iſt, daß ſie die Leut' nimmer wieder erkennt, und das ſcharmante Klärchen, das ſo einen langen Hals hinter Ihnen drein machte, als Sie mit mir gingen in Deſenzano? Sie ſind er¬ kannt, Schwerenöther, Sie! Und ich ſollt 'Ihnen Grüße bringen von einer gewiſſen ſchönen Frau, die ein treueres Gemüth hat als Sie, Schmetterling! Was, eine trauernde Wittwe, ſo zu ſagen, in Mün¬ chen und nun ſchon wieder Ich ließ das rö¬ miſche Theater im Stich und rannte davon, was ich laufen konnte. In die Rotonda habe ich mich nicht einmal gewagt, ich wußte ja, Klärchen iſt nicht da! Und wie hätte gerade ſie dorthin gepaßt mit ihrer ſchlanken Anmuth und ihrer inſtinktiven Liebe zum Großartigen! Jetzt liegen die Sachen ſo: die Hechingen wohnt in der Aurora, ich im Sandwirth, und die Esmarchs, wie ich aus der Fremdenliſte er¬ ſehe, bei Bauer-Grünwald. Alſo ſämmtlich hingeſäet am Canale grande! Sie, meine Verfolgerin, muß238 täglich an meinem Haus vorbei, wenn ſie ſtadtein geht ich, der arme Netzumſtellte, bin verurtheilt, Klärchen zu verleugnen und die Hechingen zu cha¬ peronniren, ſobald es der einfällt! Das Frauen¬ zimmer wird mich noch zu einer Verzweiflungsthat treiben. Du ſollſt es erleben. Könnteſt Du ihr nicht eine Depeſche ſchicken, die ſie ſofort nach München zurückberuft? Anonym natürlich! Schreib ihr, ihr Haus ſei abgebrannt, ihr Sohn ſei im Duell gefallen, ihre verheirathete Tochter ſei mit einem Anderen durchgegangen, etwas Draſtiſches muß es ſchon ſein, ſonſt wirkt es bei ihr nicht. Ach, ich fürchte, Deine angeborene Weichherzigkeit läßt Dich vor jedem Ge¬ waltmittel zurückbeben. Du haſt keinen Muth, Toni! Ihr Tyroler ſeid einmal zu gemüthvoll! Aber frei¬ lich, Du haſt den Jammer nicht auszuſtehen! Die Briefe von Selma haſt Du mir auch noch nicht geſchickt, überhaupt keinen Brief! Den Studienkaſten auch nicht! Na, Du biſt ein netter Kerl! Und ich erſt!

Dein Eugen.

Derſelbe an Denſelben.

Gottlob, daß ich arbeiten kann! Haſt Alles brav gemacht, alter Junge! So werd 'ich die Ge¬239 witterſtimmung am eheſten beſchwören. Die Kleine wag' ich nicht wiederzuſehen. Nein, nein! Ich halt's zwar nur für einen ihrer Selma's ge¬ wohnten Theatercoups, daß ſie Dir ſagt, ſie bewahre die Briefe zum Hochzeitsgeſchenk für meine zukünftige Frau. Deſſen iſt ſie nicht fähig. Sie iſt haltlos, charakterlos, aber nicht ſchlecht. Mir ſelbſt wird ſie ſie nicht verweigern, es iſt mir nur wie der Tod, daß ich noch einmal zu ihr ſoll. Ach, das bischen Leben, wieviel Angſt und Qual hat man davon. Und ich glaubte dieſe Frau zu lieben.

Dein Freund Eugen.

Klärchen an ihre Geſchwiſter.

Meine geliebten Kleinen! Ganz träg bin ich ge¬ worden im Briefſchreiben, nicht wahr? Es muß der Scirocco ſein, der ſeit unſerer Ankunft hier weht und uns faſt täglich ein Gewitter bringt. Im Anfang war ich wie betäubt von all' den Wundern hier; kann es noch etwas Schöneres, Märchenhafteres geben, als dieſe Waſſerſtadt? Jetzt aber macht die Luft mir Kopfweh, und Mama geht es ebenſo. Wir ſitzen meiſtens wie matte Fliegen unter den Prokuratien240 oder eſſen Granita und füttern die Tauben. Das Fahren in den engen Kanälen iſt jetzt bei der Schwüle gar nicht angenehm, die unzähligen Taſchen¬ krebſe an den Hausmauern ſind greulich! ganz wie dicke Rieſenſpinnen. Wir bleiben nicht lang mehr hier. Von Murano fuhren wir geſtern im vollen Ge¬ witter in offener Gondel herüber, nicht eine einzige bedeckte war da. Geſtern kam plötzlich die Baronin Hechingen zu uns, als wir im Hôtelgarten zu Abend aßen. Sie ſetzte ſich an unſeren Tiſch, obwohl wir ſie gar nicht dazu eingeladen hatten, und nun fing ſie an zu klatſchen. Soviele häßliche Geſchichten, daß mir ſchlecht wurde. Zum Glück ſagte Mama, es ſei ihr kalt, ich möchte ihr Tuch herunterholen. Ich ver¬ ſtand den Wink, gab das Tuch einem Kellner zum Beſorgen und blieb auf meinem Zimmer oben. Die Eltern kamen auch bald herauf; nachher gingen wir noch Alle ins Café Quadri auf dem Marcusplatz, um wie Papa ſagte den Abend nicht mit einem Mi߬ ton zu ſchließen. Es war Concert und ſehr belebt, aber wir ſahen keine Bekannten. Niemanden als den Landrath, der mit einem Kellner ſchimpfte. Er hatte ſich nämlich an einen Tiſch geſetzt, wo es nur Bier gab und verlangte dort Grog. Ich machte mich ganz klein hinter einem Pfeiler, und er ſah mich wirklich nicht. Nachher aber, denkt Euch, ging er mit unter den Promenirenden und zwar in eifrigem241 Geſpräch mit der Baronin Hechingen. Papa wies mit der Spitze ſeines Reiſeſchirms auf die Beiden und flüſterte uns zu: Da haben ſich ein paar edle Seelen gefunden. Das war komiſch, nicht? Aber ſonſt kein bekanntes Geſicht! Seid innig gegrüßt

von Eurer Klara.

P. S. Was müſſen das für himmliſche Men¬ ſchen geweſen ſein, die dieſe Stadt gebaut haben!

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

O, mein Freund, mein Freund! Es hat ein¬ geſchlagen, und ich bin ganz zerſchmettert. Wir tra¬ fen uns geſtern auf dem Dampfer nach dem Lido, zum erſtenmal in Venedig. Als ich ſie erblickte, ein bischen blaß und ernſt und mit ſuchenden Augen, war wieder alle Ueberlegung dahin, und ich ſtürmte zu ihnen hinüber. Mir fiel auf, daß der treffliche Dok¬ tor mich fixirte und mir langſam, als koſte es ihn Ueberwindung, die Hand bot. Die Frau war ver¬ legen und ſprach ſchnell und bunt durcheinander, Klärchen einzig war wie ſonſt, nur nicht heiter. Putzi, deſſen Schnäuzchen in einem Maulkorb ſteckte, ſah grämlich und mit zuckenden Lippen vom SchoßFrapan, Bitterſüß. 16242ſeiner Herrin herüber. Mein ſternſchnuppenartiges Auftauchen und Verſchwinden war ihnen unverſtänd¬ lich, das ſah ich wohl. Ich mag auch nicht zum Beſten ausgeſehen haben, denn als wir ſpäter am Strande auf - und abgingen ich war mühſam, durch häufiges Stehenbleiben und Muſchelſammeln an Klärchen's Seite gelangt, fragte ſie mich, was mir fehle? Da fuhr es mir wie ein Blitz durch den Kopf: Sag 'es ihr, ſie iſt ja kein Kind mehr, beſſer noch, ſie erfährt es durch dich ſelbſt, als durch An¬ dere. Aber ſo direct wagte ich's doch nicht, ich ſagte, das Schickſal eines Freundes gehe mir ſehr zu Herzen. Iſt es Ihr Freund Toni? Verzeih mir, mein Alter, daß ich ja ſagte, es war ein ſo bequemer Ausweg! Kann ich's wiſſen, was ihm fehlt? fragte ſie, voll Mitgefühl in Ton und Gebärde. Da ſagte ich blinder Thor ihr: Er hat das Unglück ge¬ habt, ſich in eine verheirathete Frau zu verlieben! Sie riß die Augen auf: Wie Triſtan und Iſolde! rief ſie verwundert. Ich wußte den Augenblick nicht' mal den genauen Zuſammenhang der Geſchichte, ſagte aber mechaniſch ja. Alſo ſie kannten ſich, eh 'Iſolde den alten König Marke heirathete? fragte ſie zuver¬ ſichtlich. Nein, das nicht, ſie lernten ſich erſt lange nach ihrer Verheirathung kennen. Ihr Geſicht wurde unruhig. O, aber dann iſt es ja ganz an¬ ders! Wurde der Alte denn auch betrogen? Das243 mußte ich leider zugeben, aber ich ſuchte den Triſtan dadurch zu vertheidigen, daß er noch keine rechte Frau kennen gelernt hatte und deshalb dazu kam, ſich in dieſe zu verlieben, die er für gut hielt, weil ſie ſchön war. Aber ich ſagte Dir's ja ſchon, dieſe Kleine ſieht durch drei eiſerne Thüren. Wie konnte er ſie für gut halten, wenn er doch wußte, daß ſie ihren Mann betrog? fragte ſie mit tiefem Erröthen. Und weiter? Und nun hat mein Freund die Richtige gefunden und fühlt ſich nicht mehr werth, ſich ihr zu nähern, weil O, flüſterte ſie plötz¬ lich mit abgewandtem Geſicht, die Geſchichte hat uns geſtern die Baronin Hechingen von Ihnen er¬ zählt, und ich habe kein Wort davon geglaubt! Sie brach in Thränen aus, drehte ſich um und ging der Badeanſtalt zu, ohne ſich weiter umzuſehen. Ich wünſchte, ich wär' ein Taſchenkrebs geweſen und hätte mich in den Sand eingraben können. Jetzt kehrten auch die Eltern um; ich beſchleunigte meinen Schritt in derſelben Richtung, an der Brücke der Badeanſtalt erreichte ich Klärchen. Nun hab 'ich auch noch mei¬ nen Freund verleumdet, ſagte ich, ich glaubte, Dir das ſchuldig zu ſein, da ſah ſie mich mit thränen¬ vollen Augen an und flüſterte: Ich möchte, es wäre doch lieber er geweſen. Ach, mein Junge, wirſt Du mir's verzeihen, daß ich von Herzensgrund denſelben Wunſch hege? Sie hat dann weiter kein Wort ge¬16 *244ſprochen, und ich habe den Alten eine ſtumme Ver¬ beugung gemacht und mich gedrückt. Kein Zweifel, ich habe ſie verloren! Sie iſt zu jung, zu weltun¬ kundig, um nicht durch dieſe Enttäuſchung für immer den Geſchmack an mir zu verlieren. Ich ſagte Dir's ja, dieſe reinen Weſen verlangen viel! Eine dumpfe Trauer hat ſich meiner bemächtigt; von dem Beſten, was einem Manne werden kann, von der reinen un¬ enttäuſchten Liebe eines jungen Herzens wie dieſes bin ich ausgeſchloſſen. Was für andere Frauen viel¬ leicht ſogar ein pikanter Reiz wäre, für dieſes Kind trägt es den Namen Sünde. Ach, und ich geb 'ihr Recht!

Dein Eugen.

Klärchen an die Geſchwister.

Meine Lieben! Mama hat Euch einen ſo herr¬ lichen Brief geſchrieben (ſie hat ihn mir eben vor¬ geleſen) und Euch dieſe ganze einzige Stadt ſo ſchön darin geſchildert, daß ich wirklich gar nichts übrig behalten habe. Vorgeſtern Abend hatten wir ein großartiges Gewitter, es hielt uns auf dem Lido feſt bis in die Nacht hinein, es ſah aus, als ob Himmel und Erde vergehen wollten; ſo ſchnell und ununter¬245 brochen wie ſich kreuzende Schwerter zuckten die Blitze. Mir war ganz ruhig dabei, während Papa und Mama ſich um mich und das Nachhauſekommen ſorg¬ ten. Seitdem nun iſt der Scirocco verſchwunden, es weht eine reine Luft, aber es iſt kalt; die Berge in der Ferne ſind alle mit Neuſchnee bedeckt, und wir haben unſre wärmſten Kleider angezogen. Es iſt, als wollte es Herbſt werden und war doch eben erſt Frühling. Ich habe Sehnſucht nach Euch, trotz all' dem Schönen, das uns hier umgibt. Habt Ihr mich noch ſo lieb wie als ich wegging? Schreibt Edmund Dir ſchon viel über Eure Einrichtung, meine Evy? Ich will recht bei der Ausſteuer helfen, wenn wir zurück ſind, ſchade, daß ich ſo wenig Handarbeit ver¬ ſtehe. Von Albert's Buch haben wir längere Zeit nichts gehört, ſchick 'uns doch die Anzeigen, liebe Irene. Wir freuten uns ſo, als wir die Broſchüre in Bozen in einem Schaufenſter liegen ſahen! Hiſtoriſches aus Tyrol muß ja auch die Tyroler in¬ tereſſiren. Wir gehen heute wieder zu Aſſunta von Tizian. Das iſt doch das allerſchönſte Bild. Ich denke mich ganz hinein, und manchmal kommt es mir vor, als ſei es der Maria ſchmerzlich, in den Him¬ mel aufzuſteigen, wenn ſich doch ſo viele Hände von der Erde ihr nachſtrecken. Ich lege Euch eine un¬ aufgezogene Photographie des Bildes ein, ſie iſt aber246 ſehr ſchlecht. Wenn Ihr Eure Hochzeitsreiſe hierher macht, müßt Ihr zuerſt zur Aſſunta gehen.

Mit vielen Grüßen Eure Schweſter Klara.

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

Ich kann Dir nicht ſagen, was für eine Offen¬ barung dies Kind für mich iſt! Es wäre zwar ver¬ zweifelt unbequem, wenn alle Frauen wären wie ſie, aber beſſer für uns Männer wär's gewiß. Ich ſchäme mich jedes unreinen Gedankens, ſeit ich ſie kenne; ich denke mit Grauen an die dumpfe Leidenſchaft zu Selma, wie an eine ſchwere Krankheit, die hinter mir liegt, ich bin überzeugt, ſie könnte alles Gute in mir wecken, alles Gemeine allmälig von mir ab¬ ſtreifen, aber was hilft es mir ſie will mich ja nicht! Nein, Toni, ſie will mich nicht! Sie grüßte mich geſtern, als wir uns vor der Aſſunta trafen, mit einem müden Lächeln, und als ich auf ſie zutreten wollte, ſenkte ſie den Kopf, daß ihr großer Hut das Geſicht verdeckte und trat bei Seite. Sie mag mich nicht mehr. Denn daß ſie mich früher gemocht hat, erkenn 'ich nun wohl, wenn ich an frühere Begegnungen denke. Wie da ihre247 Augen Willkommen! riefen, und die liebe Hand ſich mir entgegenſtreckte, ſchon von Weitem. Nun quält mich die Frage: Hätt' ich beſſer gethan, ihr die Geſchichte zu verſchweigen? Aber ſie hängt mir doch einmal an, und wenn Selma mich geliebt hätte, ſtatt mit mir zu ſpielen, ſo wäre vielleicht, nein, ge¬ wiß die Scheidung im Gange, und ich wäre in abſehbarer Zeit Selma's Mann! Die Thatſache läßt ſich doch nicht aus der Welt räumen, ſo qualvoll ſie mir jetzt auch iſt. Wie glücklich, daß nicht alle Wünſche in Erfüllung gehen! Denk 'Dir, ich hätte Selma geheirathet, und mir wäre dann Klärchen be¬ gegnet! Ich bin freilich auch ſo unſelig.

Dein Eugen.

P. S. Ich male, daß es nur ſo ſpritzt. Die Hechingen grüß 'ich höflich, da ich ſie ja doch nicht vergiften kann, was ich lieber thäte.

Frau Dr. Esmarch an ihre Kinder.

Meine geliebten Kinder! Klärchen weiß nicht, daß ich Euch dies ſchreibe, es iſt aber nothwendig, weil ich Euch bitten möchte, in Euren Briefen nicht nach dem Herrn Nietzſche zu fragen. Er iſt uns ja erſt als ein grober, unſchädlicher Polterer erſchienen248 und war gewiſſermaßen die komiſche Perſon auf unſrer Reiſe. Jetzt aber hat er verſucht, ſich unſerm arg¬ loſen Klärchen auf eine unbeſchreiblich unzarte Art zu nähern, und das arme Kind iſt ganz außer ſich. Leider wohnt er wieder in demſelben Hôtel wie wir, und als er geſtern Abend Klärchen allein im Leſe¬ zimmer traf, hat er es unbegreiflicher Weiſe gewagt, einen Kuß von ihr zu verlangen. Ihr könnt Euch den Schrecken des armen Kindes denken! Sie hat zuerſt geſagt: Aber Sie ſind doch nicht mein Gro߬ papa! Da iſt er zornig aufgeſprungen und hat ge¬ ſagt: O, ich bin noch nicht ſo alt, ich kann noch, was mancher Jüngere nicht kann! Meine Kinder ſind alle verheirathet, und mit einer jungen Frau lebt man erſt recht wieder auf, Sie ſind noch ein bischen kindiſch, aber das wollt 'ich Ihnen bald abgewöhnen. Die Männer, die heirathen wollen, ſind heutzutage rar, und' ne alte Jungfer wollen Sie doch nicht wer¬ den? Klärchen war ganz in eine Ecke verbarricadirt hinter einem Lehnſtuhl und mußte die plumpen Reden anhören, bis zum Glück Leute hereinkamen, und ſie, zitternd vor Aufregung und Beſchämung, in unſer Zimmer ſtürzte. Und trotzdem dieſer Mann nun doch geſehen hatte, wie erſchrocken das Kind war, hat er Papa im Garten abgefangen und ihm einen förm¬ lichen Heirathsantrag gemacht. Dies nun weiß Klärchen nicht, und ich bitte Euch, es auch nicht zu249 erwähnen! Wie iſt es möglich, daß der älteſte un¬ angenehmſte Mann ſich noch immer gut genug hält für das jüngſte und liebſte Mädchen! Papa war ſo zornig, wie ich ihn in den letzten Jahren gar nicht geſehen habe. Und denkt Euch, der unverſchämte Mann hat Eure Schweſter ſogar noch beleidigt, hat geſagt, ſie habe ihn aufgemuntert und ihm verliebte Augen zugemacht! Ihr wißt doch, wie Klärchen iſt, wie ſie der ganzen Welt zulächelt und für Jeden ein freundliches Wort hat, aber daß es ſo ſchändlich mi߬ deutet werden könnte, wäre mir nie in den Sinn ge¬ kommen. So lehrt der Verkehr mit Menſchen uns eine Vorſicht, die uns zwar beſchützt, aber doch auch entſtellt. Ihr, meine Aelteſten, die Ihr das Glück habt, mit guten, feinfühlenden Männern verlobt zu ſein, werdet meine Bekümmerniß um das arme Klär¬ chen verſtehen, und Du, mein lieber Sohn, mein guter Rudi, Dich bitt 'ich innig, wo Dich das Leben mit Frauen zuſammenführt, ſei zart, ſei achtſam, wir ſind ſo leicht verletzlich! Denke nicht, jedes freund¬ liche Mädchen, das Dir zulächelt, weil der liebe Gott es zum Lächeln geſchaffen hat, ſei ſchon bereit, ſich in Dich zu verlieben.

Wir reiſen morgen früh direct nach Goſſenſaß, wo wir uns noch einige Zeit aufzuhalten gedenken. Die herbe Gebirgsluft bekommt Klärchen am Beſten und iſt auch für Papa ſo anregend, obgleich gerade250 er Venedig ſehr ungern ſchon verläßt. Ihr wißt ja, ihm iſt dieſe Pfahlbauerſtadt von der höchſten künſt¬ leriſchen Vollendung, wie er ſie immer nennt, ſchon dieſer Eigenthümlichkeit wegen ans Herz gewachſen; das uralte Bauprincip der Seebewohner hat nur dieſe einzige dauerhafte Blüthe gezeitigt, ſagte er, alle übrigen Anſiedlungen ſind auf ganz niedrer Kulturſtufe ſtehen geblieben. Die Frage, ob denn gar keine Zwiſchenglieder exiſtirt haben, beſchäftigt ihn ſehr; wenn wir zurück ſind, wird er wohl etwas darüber ſchreiben. Liebe Kinder, auch den jungen Maler erwähnt lieber nicht. Ihr wißt, den Herrn Schmidthammer, der ſich uns eine Zeit lang an¬ geſchloſſen und durch ſein ſympathiſches Weſen und ſeine Zuthunlichkeit ſehr für ſich eingenommen hatte. Wir haben Allerlei über ihn gehört, was uns ſehr mißfällt, und wenn auch die Quelle unrein iſt, es iſt die Hechingen ſo wird immerhin etwas Wahres daran ſein. Ich habe Klärchen gewarnt, aber ſie hält ſich ſchon ſelbſt zurück. Lebt wohl, meine gelieb¬ ten Kinder. Ich küſſe Euch zärtlich.

Eure Ma.

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

Du meinſt, ich hätt 'ihr noch ſagen ſollen, daß zwiſchen mir und Selma Alles aus iſt? Aber ich251 bitte Dich, das verſteht ſich für ſie doch ganz von ſelbſt! Nein, ich habe ſie verloren, jetzt weiß ich's ſicher. Sie wird roth und blaß, wenn wir in Ga¬ lerien und Kirchen zuſammentreffen, was doch hie und da geſchieht. Und immer ſind die Eltern dicht bei ihr und ſehen mich fremd und kühl an, als wollten ſie mich mit den Blicken in angemeſſener Entfernung halten, und ich kann's kaum glauben, daß dies die¬ ſelben Menſchen ſind, die ſo unbefangen und freund¬ lich waren und mich in ihr Haus einluden. Ich bin in den Bann gethan! Frag' doch mal beiläufig Selma, wenn Du ſie ſiehſt, ob ſie mich verflucht hat. Ich möchte wiſſen, ob ihre Flüche wirken. Was ſie übrigens dazu veranlaßt haben könnte, wüßt ich auch gern. Daß ich Klarheit verlangte, ihr ein Entweder Oder ſtellte, wer kann mir's verdenken? Daß ſie trotz ihrer Liebe zu mir, ihrer ſogenannten großen Leidenſchaft, es auch mit dem Gatten nicht ganz verderben wollte, daß ſie ihr ſtattliches Haus, den Luxus, der ſie umgab, nicht aufzugeben gedachte, um einem jungen Liebhaber zu folgen, der nicht viel mehr hat als ſein Talent, iſt das ihre Schuld oder die meine?

Ich füttere meine hungrige Seele, um ſie über die dürre Gegenwart zu täuſchen, mit ſüßen Brocken aus der Vergangenheit. Auf dem Dampfer von Riva nach Gargnano hab 'ich eigentlich am ungeſtör¬252 teſten in ihr liebes Geſicht ſchauen dürfen. Und dies beglückte Plaudern! Eine Muſikbande war auf dem Schiff, ſpielte einen Walzer. Klärchen begann mit den Füßen den Tact zu ſchlagen. Ich fragte ſie, ob ſie gern tanze? O ja, ſagte ſie, ſonſt nicht ſo gern, aber mit Ihnen möcht' ich es wohl 'mal pro¬ biren. Warum mit mir? frug ich wie ein eitler Geck. Weil Sie meine Größe haben; auf den zwei Bällen, die ich mitgemacht, war es entſetz¬ lich! alle Herren, die mit mir tanzen wollten, kleiner als ich! einige gingen mir geradezu unterm Arm durch! Ihre klägliche Miene war zum Küſſen.

Und heute früh ſind ſie abgereiſt! Ich ſah ſie in einer Gepäckgondel den großen Canal hinein zum Bahnhof fahren, ich ſchwenkte meinen Hut, aber ſie ſahen mich nicht. Vielleicht auch wollten ſie mich nicht ſehen.

Dein Eugen.

P. S. Hab's nicht laſſen können, bin hinein zu Bauer-Grünwald und hab 'nach den Herrſchaften Es¬ march gefragt. Soeben abgereiſt. Ich bedauerte aufrichtig, Du weißt, wie aufrichtig! Wiſſen Sie zufällig, wohin die Herrſchaften gehen? frug ich. Der Oberkellner brachte das Fremdenbuch. Da ſtand's: Goſſenſaß! Fremdenbücher ſind doch eine ausgezeichnete Erfindung, ich habe das nie genug ein¬ geſehen. So ſag' denn auch ich der ſchönen Venezia253 Lebewohl und fahre meinem Sterne nach! Wohin er mich wohl ſchließlich führt? Ich bin begierig! Ob nach München? Oder nach Bethlehem? D. O.

Baronin Hechingen an Frau Selma Corrodi.

Ja, was ſagen Sie nur, liebſte ſchönſte Frau Selma, daß zu Ihrer Viſit ſtatt der dicken Hechingen in Perſon nur e Brieferl von ihr kommt! Gelt, Sie werden mich ſchön ausrichten! Die alte Ratſchen, werden Sie ſagen, wann man's emal braucht, um ſo e leidige Kaffeeviſit e biſſerl aufzumuntern, da kommt ſie nit! Ja, wenn die Ax 'nit brochen wär', geſtern Abend an unſerm Zug hier bei Goſſenſaß, ſo wär 'die Hechingen ſchon kommen, aber 's iſt ihr halt nicht geheuer geweſen, nachher in dem reparirten Wagen, wiſſen's, und ſo bin ich dablieben. Ach, was hab' ich erlebt; was hab 'ich erlebt! Mein Herz hat geſchlagen, mehr als das Ihrige, Frau Selma, bei Ihrem erſten Rendez-vous! Es iſt zwar ſchon lang' her, aber vielleicht gedenkt's Ihnen doch noch! Alſo ich bin vom Regen in die Traufen hereinkommen. Wiſſen's, ich hab 'die Reiſe hierher gemacht mit einer ſcharmanten Bekanntſchaft von mir, Nize heißt er oder ſo was und iſt ein Landrath, ein grober Kerl,254 aber man muß lachen. Im Warteſaal in Bozen ſaß ein junges ſauberes Bauermadel, drei geiſtliche Herren rundum und ſchneiden ihr die Cour. Ich ſtoß den Nize an und zeig ihm die Gruppe, da ſagt er den bibliſchen Spruch her von den Adlern, die ſich ſam¬ meln, wo na, fein war's nit, aber gar nit übel, ich ſag's ja, die Preußen haben Salz. Alſo der Landrath und ich, wir geh'n mitſammen ins Hôtel, was man hier ſo heißt, mir geben ſie ein erbärm¬ liches Zimmer, dem Nitz eines daneben, nach dem Nachteſſen geh ich bald ſchlafen. Auf einmal iſt ein Gelauf und Getöbſe draußen auf der Dorfgaſſe, daß ich auffahre, und es donnert an die Wand: Ba¬ ronin, es brennt! Feuer! Der Nitz hat's alſo früher gemerkt als ich! Durch den Vorhang gibt's ſchon einen rothen Schein, ich war mehr todt als le¬ bendig. Na, dies iſt' ne Zucht! ſchreit der Nitz immer durch die Wand, der Wind ſteht hier her¬ über, nu man alle Mann aus der Bude hier raus! Ich ſah's nit für ſo ſchlimm an, will mich grad noch e biſſerl pudern gegen die Nachtluft, da fährt die Wirthin herein und ſchreit: Bitt ſchön, hier ſind Sie nicht ſicher, 's Haus iſt ſchon 'mal abgebrannt. Gelt, die Leut, die gewiſſenloſen? Quartiren Gäſt' in ein Haus ein, das ſchon einmal abgebrannt iſt! Eh ich meinen Zorn an dem Weib auslaſſen konnt ', war ſie ſchon draußen, und ich ſteh da und ſchrei um255 Hülfe, denn wie ſollt ich den Koffer wegſchaffen? Wenigſtens wird doch der Nitzſch ſo viel Cavalier ſein, daß er mir den Koffer nausſchafft, denk ich. Aber nein, Frau Selma, in unſerm Alter da iſt Spiel und Tanz vorbei! Sie werden's auch ſchon er¬ fahren haben, arme Seel'. Ich allein mit meinen ſchwachen Kräften mußt 'den ſchweren Handkoffer hinauszerren, und wie ich, kaum noch konnt' ich ſchnaufen, über dem Gang auf der Haustreppe ſtehe, ſeh ich den Landrath mit 'em Perſpectiv in der Hand auf den Stufen auf ſeinem eignen Koffer ſitzen, und wie ich ihm zurufe, ſchreit er: Na, wir können froh ſein, daß wir hier trocken ſitzen; da geht es böſ 'her, die alten hölzernen Baracken brennen, als wenn's Kartenhäuſer wären. Ich ſetzte mich alſo neben ihn und kriegte auch mein Perſpectiv vor, denn auf der Steintreppe war's nit gefährlich. Sieben Häuſer brannten auf einmal, lichterloh, und es war ein Geſchrei, daß man ſein eigen Wort kaum verſteh'n konnt'. Auch im Bräuhaus und in der Poſt ſaßen die Gäſte mit ihrem Gepäck auf der Treppe, die meiſten aber ſtellten ſich in Reih und Glied auf, vom Bach bis zur Brandſtätte, und ließen die Feuereimer durch die Hände geh'n, denn eine Feuerſpritz ſchien hier ganz unbekannt zu ſein. Die paar Tropferln machten natürlich nicht viel aus, und es brannte immer ärger. Alles kam mit dem biſſerl256 Hausrath auf die Straße heraus, das Vieh brüllte, die Weiber ſchrien, 's war wie auf dem Theater. Und wiſſen's, wer der Hauptmann bei der Feuerwehr war, ich meine, bei der improviſirten? Ich wollt 'meinen Augen nicht trauen, ein guter Bekannter von Ihnen, Frau Selma, kein Andrer als der Maler Schmidthammer, der mich, ſcheint's, nit gut leiden kann, weil ich ihn, wann ſich's ſchickt, an Sie er¬ innere! Der Bub muß immer mit dem Feuer ſpielen! Ich weiß ſchon, Sie hören's nit gern, Liebſte, wann ich von ihm rede, 's iſt halt immer kränkend, wann man einen jungen Anbeter einbüßt. Aber in¬ tereſſiren wird Sie's doch, daß er hier ſo romantiſch mit 'em Waſſereimer umenandergeſprungen iſt, gelt? Und das Schönſte kommt noch! Auf einmal nämlich wird ein Mordsgeſchrei: Das achte Haus hat Feuer gefangen! und zwei, drei Weiber ſtürzen daher und wollen die Schweine wegtreiben, die über die Gaſſe zotteln, grad auf das Feuer los. Eine jammert, daß es mir grad einen Stich durchs Herz gibt, denn das Schweinsvieh iſt ihr entkommen und lauft gradaus. Da ſpringt auf einmal eine hinter ihm drein, packt's um den ſchmutzigen Leib und will's zurückziehen! Jeſſas, ruf' ich den Nitſch an, iſt das nicht die junge Perſon, die das Hunderl hat? das Klärchen Esmarch? Und ſie iſt's, und grad ſeh 'ich ſie neben dem brennenden Haus hineinlaufen, dem Schweindel257 nach! Und haſt Du nicht geſeh'n, der Schmidt¬ hammer mit dem Feuereimer thut einen Sprung und hinter ihr drein, und hinter dem der Vater, der Es¬ march, und hinter dem wieder die Mutter, alle in den brennenden Stall! Jetzt ſeh'n Sie, Liebſte, ſo was Dummes kann nur e ganz junges Madel an¬ ſtellen, denken Sie ſich, wir zwei, daß wir auf ein Schweindel Jagd machten, 's wär' nicht ſchlecht für die Fliegenden. So einem blutjungen Ding aber ſteht Alles, und darum halt ich's auch mit der Ju¬ gend. Ich bin Ihnen aber auch gut, das wiſſen's doch? Kurz, als ſie wieder zum Vorſchein kamen, das Klärchen, wie ſich's gehört, in den Armen von dem jungen Menſchen, und der Esmarch mit dem Schweindel, und die Frau Esmarch bald das Klär¬ chen ſtreichelte und bald das Schweindel, da hätt 'ich was d'rum gegeben, wenn ich hätt' an dem Klär¬ chen ihrer Stell 'ſein dürfen! Und Sie auch, gelt, Liebſte? Jetzt bin ich begierig, wie ſich die Geſchicht' weiter machen wird. Ich denk ', ich kann Ihnen bald eine fröhliche Verlobung melden, und deswegen bin ich heut' noch hier blieben. Eine Feuerſpritz 'von Sterzing iſt kommen, gleich nach dem Knalleffekt und hat das Feuer ausgelöſcht. Wir haben dann noch einen Kaffee machen laſſen und ſchlafen wollen, aber es ging nicht, das ganze Wirthshaus war voll von Bauerbuben, die freie Zeche verlangten, weil ſie dasFrapan, Bitterſüß. 17258Dorf gerettet haben. Sie hätten's aber fein abbren¬ nen laſſen, ohne die Fremden, ſie hatten ganz den Kopf verloren. Ich hab 'mich ſchon befragt nach den Esmarch's, die im Bräuhaus wohnen, aber ſie neh¬ men noch keinen Beſuch an, ſie haben alle drei leichte Brandwunden erlitten, und nur der Schmidthammer hat nichts. Das heißt, er wird halt ein brennendes Herz haben! Jetzt bitt' ich ſchön, daß Sie den Brief, den langmächtigen, in Ihrer Viſit heute vor¬ leſen, daß die Hechingen doch dabei geweſen iſt. 's iſt odios, wenn man alt wird! Das junge Volk freit und läßt ſich freien, und wir ſitzen daneben. Jetzt ſorgen Sie nur, daß Sie Ihre Zeit ausnützen, ein paar Jährle haben Sie immer noch vor ſich, aller¬ ſchönſte Maifee! Immer

Ihre treue dicke Hechingen.

Klärchen an die Geſchwiſter.

Meine ſüßen Schweſtern und mein Herzens¬ bruder! Wir fürchten, daß Ihr etwas über die Brandnacht von geſtern in den Zeitungen findet, ehe Ihr wißt, daß es uns ganz gut geht, und deshalb will ich Euch ſchnell beruhigen! Natürlich haben wir uns bei dem großen Unglück helfend betheiligen wol¬259 len; es fehlte namentlich an Waſſer, denn der Bach iſt ſeicht, und der Eiſak nicht ſo nah ', es war ein unbeſchreiblicher Jammer. Drei arme Familien, die Alles eingebüßt haben, da ſie nicht verſichert waren, ſitzen in Thränen und Verzweiflung in der Küche unſres Wirthshauſes. Papa hat unter den Fremden hier eine Collecte gemacht, die ziemlich viel eingebracht hat, und wir ſind übereingekommen, unſre Rückreiſe zu beſchleunigen, um das Scherflein zu vergrößern. Ein Glück iſt es nur, daß kein Menſch verunglückt, auch außer einigen armen Hühnern kein Vieh ver¬ brannt iſt. Wir drei ſind, glaub' ich, die Einzigen, die einige Brandwunden haben. Aber meine ſind ganz unbedeutend, nur an der linken Hand, und Papa's und Mama's ſind noch geringer, wie ſie ſagen. Liebe, ſüße Kinder, ich muß es Euch doch ſagen, vielleicht wäre es ſchlimm mit mir geworden, wenn mich Herr Schmidthammer nicht hinausgetragen hätte! Ich war vom Rauch ohnmächtig geworden, und er fand mich und trug mich ins Freie. Ich hab 'ihn noch nicht wieder geſehen, aber ich muß immer an ihn denken. Wenn er nicht bald kommt, geh' ich hinüber, wo er wohnt, und erkundige mich, ob er auch ganz unverletzt iſt, oder ich bitte Papa, daß er geht. Ich habe nämlich ein böſes Gewiſſen ihm ge¬ genüber; ich bin ziemlich unfreundlich gegen ihn ge¬17 *260weſen. Und nun hat er mein Leben gerettet! Ich bin noch ganz betäubt, kann nicht klar denken. Bald mehr, Ihr Geliebten

von Eurer Klara.

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

O, mein Freund, dies Klärchen! Haſt Du von der Feuersbrunſt gehört, die heut 'Nacht hier ſieben Häuſer in Aſche gelegt hat? Denke Dir, die Kleine lief einem Schweinchen nach in einen brennenden Stall, das unbeſonnene, hochherzige Kind, ich war in der Nähe, und hab' ſie herausholen dürfen! Mir iſt's wie ein Traum, daß ich ſie auf den Armen hielt. Aber nun? was ſoll ich jetzt thun? Mir ihre Dank¬ barkeit zu Nutze machen? Das wäre nicht mein Ge¬ ſchmack! Soll ich

(Drei Stunden ſpäter.) Toni, mein alter Junge, wenn ich je wieder vom geraden Wege weiche, dann heiß 'mich einen Schuft, einen Verlorenen, Alles, was Du willſt! Denke Dir, ſie ſind hier geweſen, hier bei mir, alle drei, Vater, Mutter und Kind, um zu ſehen, ob ich auch heil und geſund ſei! Und nach¬261 her hat der Vater mich bei Seite geführt und mir geſagt, er möchte reinen Wein haben über die hä߬ liche Geſchichte, die ihnen die Hechingen erzählt. Da hab' ich denn mein Herz erleichtert, Mann dem Manne, und der treffliche Doktor hat zwar ſtark mit dem grauen Kopf geſchüttelt, iſt auch, die Hände auf dem Rücken, lange mit mir auf - und abgegangen, endlich aber hat er doch gemeint, er wolle den Um¬ gang mit mir wieder aufnehmen, nur bitt 'er ſich aus, daß ich dem Klärchen keine Grillen in den Kopf ſetze. Da hab' ich mich nicht halten können und hab 'ihm auch über das Klärchen Alles geſagt, was ich zu ſagen hatte. Da hat er mir geantwortet, wenn ich mein Herz ein Jahr lang prüfen und ſchweigen wolle, dann werde er nicht dazwiſchen treten. Darauf hat er ſeine Frau gerufen und ihr unſer Abkommen mit¬ getheilt, und ſo bin ich nun alſo der geduldete Be¬ werber um das reizendſte Geſchöpf dieſer Erde! Ich werde ihr ſagen: Liebes Herz, von mir weißt Du's nun wenigſtens, daß ich nicht immer viel getaugt habe, und auch wieſo nicht, wenn ein Andrer käme und verſchwiege ſein Vorleben, und gäbe Dir nicht, wie ich, das Verſprechen, gut zu ſein, Du könnteſt noch weit ärger enttäuſcht werden. Soll ich das ſagen? Oder ſie daran erinnern, daß ich acht Jahre älter bin als ſie, und deshalb mehr Gelegen¬ heit gehabt habe, zu ſündigen? Ach, ſie wird mir262 ewig etwas zu vergeben haben! Was thäten wir ohne die Nachſicht der Frauen!

Dein glücklicher Eugen.

Klärchen an die Geſchwiſter.

Meine ſüßen Drei! Morgen ſind wir bei Euch, alle drei, alle vier! Wer der Vierte iſt? Ich ſag's nicht, vielleicht könnt Ihr es rathen! Putzi liebt ihn unbeſchreiblich, und es iſt eine gegenſeitige Liebe. Wir haben heut 'einen wonnevollen Tag gehabt, Alle zuſammen. Mit verbundenen Händen zwar, Papa's Wunde iſt ſchon faſt wieder gut aber dennoch haben wir Frühlingsſträuße gepflückt; am Eiſakufer und unter dem Berge, der Hühnerſpiel heißt, ſteht Alles voll der ſchönſten Alpenblumen. Und ein Him¬ mel, ſo hoch und weit, und der Feuerſteingletſcher in der Sonne blendend wie weißes Feuer! Schon wird der Schutt der verbrannten Wohnungen weggeräumt, und es heißt jetzt, der Schaden ſei weniger groß, als man anfangs vermuthete. Herr Schmidthammer hat in Venedig ſehr ſchöne Farbenſkizzen gemacht, ich hab' ihm ganz Unrecht gethan mit meinem vorſchnellen Urtheil über ſein Skizzenbuch. Mama ſagt, man glaubt einen Menſchen zu kennen und kennt ihn noch263 lange nicht ganz. O, wie wahr das iſt. Er iſt der beſte, liebſte, tapferſte Menſch, den man ſich denken kann. Und ſo aufrichtig! Ich bin ſo glücklich

Eure kleine Kläre.

Eugen Schmidthammer an Toni Emmer.

O Freund, ſie liebt mich wirklich, Klärchen liebt mich! Als ich die ſchrecklichen Briefe bekam, die Du mir endlich geſchickt haſt, Du mußt mir noch er¬ zählen, wie Du ſie ihr entwunden, Freund, als die Blätter an die Frau, die mein Herz in ihren Händen gehalten, mir zwiſchen den Fingern brannten, dacht 'ich plötzlich: Wie, wenn ich ſie Klärchen über¬ gebe, damit ſie ſieht, daß ich kein Geheimniß vor ihr habe! Es war eine Gewaltprobe, ich wußt' es wohl, denn wenn ſie dieſe tollen Dinge las, wenn ihre Neugier größer war als ihr Vertrauen, dann mußte ich auf das Schlimmſte gefaßt ſein, dann ſtand ihre junge Neigung ſicher auf dem Spiel. Aber ich war ſo unruhig, ich wollte Gewißheit haben. So ſucht 'ich Klärchen auf und gab ihr die Briefe. Und was that ſie? O Freund, ſie gab ſie mir zurück und ſagte mit einem himmliſchen Lächeln: Es iſt ja vorbei! verbrennen Sie ſie; nicht wahr, Sie wollen264 es niemals wieder thun? Wie mich die Kinder¬ worte durchzuckten: ich wäre ihr faſt zu Füßen ge¬ fallen! Toni, Toni, was wirſt Du ſagen, wenn Du ſie ſiehſt! Aber brav muß ich ſein, furchtbar brav, mein Lebelang, ſonſt geht es mir ſchlimm. Morgen ſehen wir uns! Ich rücke Dir gleich auf die Bude und erzähle Dir von ihr, bis Du Dir die Ohren zuhältſt! Uebers Jahr Bräutigam.

Dein Eugen.

Druck von Martin Oldenbourg, Berlin, Adlerſtraße 5.

Berlin. Druck von Martin Oldenbourg. Adler-Straße 5.

About this transcription

TextBittersüß
Author Ilse Akunian
Extent285 images; 51373 tokens; 9142 types; 336596 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationBittersüß Novellen Ilse AkunianIlse Frapan. . 4 Bl., 264 S. PaetelBerlin1891.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Yx 25451http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=442210531

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Novelle; core; ready; ocr; women

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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ShelfmarkSBB-PK, Yx 25451
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