Der Dichter, hieß es in dem vorhergehenden Verſuch uͤber das Naive*Man ſehe das eilfte Stuͤck der Horen. iſt entweder Natur, oder er wird ſie ſuchen. Jenes macht den naiven, dieſes den ſentimen - taliſchen Dichter. Mit der Erklaͤrung dieſes Satzes wird der gegenwaͤrtige Verſuch ſich beſchaͤftigen.
Der dichteriſche Geiſt iſt unſterblich und unverlierbar in der Menſchheit; er kann nicht anders als zugleich mit derſelben und mit der Anlage zu ihr ſich verlieren. Denn entfernt ſich gleich der Menſch durch die Freyheit ſeiner Phantaſie und ſeines Verſtandes von der Einfalt, Wahr - heit und Nothwendigkeit der Natur, ſo ſteht ihm doch nicht nur der Pfad zu derſelben immer offen, ſondern ein maͤchtiger und unvertilgbarer Trieb, der moraliſche, treibt ihn auch unaufhoͤrlich zu ihr zuruͤck, und eben mit dieſem Triebe ſteht das Dichtungsvermoͤgen in der engſten Verwandtſchaft. Dieſes verliert ſich alſo nicht auch zu - gleich mit der natuͤrlichen Einfalt, ſondern wirkt nur nach einer andern Richtung.
Die Horen. 1795. 12tes St. 12Auch jetzt iſt die Natur noch die einzige Flamme, an der ſich der Dichtergeiſt naͤhret, aus ihr allein ſchoͤpft er ſeine ganze Macht, zu ihr allein ſpricht er auch in dem kuͤnſtlichen, in der Kultur begriffenen Menſchen. Jede andere Art zu wirken, iſt dem poetiſchen Geiſte fremd; daher, beilaͤufig zu ſagen, alle ſogenannten Werke des Witzes ganz mit Unrecht poetiſch heißen, ob wir ſie gleich lange Zeit, durch das Anſehen der franzoͤſiſchen Littera - tur verleitet, damit vermenget haben. Die Natur, ſage ich, iſt es auch noch jetzt, in dem kuͤnſtlichen Zuſtande der Kultur, wodurch der Dichtergeiſt maͤchtig iſt, nur ſteht er jetzt in einem ganz andern Verhaͤltniß zu derſelben.
So lange der Menſch noch reine, es verſteht ſich, nicht rohe Natur iſt, wirkt er als ungetheilte ſinnliche Einheit, und als ein harmonierendes Ganze. Sinne und Vernunft, empfangendes und ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen, haben ſich in ihrem Geſchaͤfte noch nicht getrennt, vielweniger ſtehen ſie im Widerſpruch miteinander. Seine Empfindungen ſind nicht das formloſe Spiel des Zufalls, ſeine Gedan - ken nicht das gehaltloſe Spiel der Vorſtellungskraft; aus dem Geſetz der Nothwendigkeit gehen jene, aus der Wirklichkeit gehen dieſe hervor. Iſt der Menſch in den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunſt ihre Hand an ihn gelegt, ſo iſt jene ſinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moraliſche Einheit, d. h. als nach Einheit ſtrebend, ſich aͤußern. Die Uebereinſtimmung zwiſchen ſeinem Empfinden und Denken, die in dem erſten Zuſtande wirklich ſtatt fand, exiſtiert jetzt bloß idealiſch; ſie iſt nicht mehr in ihm, ſondern außer ihm; als ein Gedanke, der erſt realiſiert werden ſoll, nicht mehr als Thatſache ſeines Lebens. 3Wendet man nun den Begriff der Poeſie, der kein an - drer iſt, als der Menſchheit ihren moͤglichſt vollſtaͤndigen Ausdruck zu geben, auf jene bey - den Zuſtaͤnde an, ſo ergiebt ſich, daß dort in dem Zuſtan - de natuͤrlicher Einfalt, wo der Menſch noch, mit allen ſeinen Kraͤften zugleich, als harmoniſche Einheit wirkt, wo mithin das Ganze ſeiner Natur ſich in der Wirklich - keit vollſtaͤndig ausdruͤkt, die moͤglichſt vollſtaͤndige Nach - ahmung des Wirklichen — daß hingegen hier in dem Zuſtande der Kultur, wo jenes harmoniſche Zuſam - menwirken ſeiner ganzen Natur bloß eine Idee iſt, die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder was auf eins hinauslaͤuft, die Darſtellung des Ideals den Dichter machen muß. Und dieß ſind auch die zwey einzig moͤglichen Arten, wie ſich uͤberhaupt der poetiſche Genius aͤuſſern kann. Sie ſind, wie man ſieht, aͤuſſerſt von einander verſchieden, aber es giebt einen hoͤhern Be - griff, der ſie beyde unter ſich faßt, und es darf gar nicht befremden, wenn dieſer Begriff mit der Idee der Menſchheit in eins zuſammentrifft.
Es iſt hier der Ort nicht, dieſen Gedanken, den nur eine eigene Ausfuͤhrung in ſein volles Licht ſetzen kann, weiter zu verfolgen. Wer aber nur irgend, dem Geiſte nach, und nicht bloß nach zufaͤlligen Formen eine Ver - gleichung zwiſchen alten und modernen Dichtern*Es iſt vielleicht nicht uͤberfluͤſſig zu erinnern, daß, wenn hier die neuen Dichter den alten entgegengeſetzt werden, nicht ſowohl der Unterſchied der Zeit, als der Unterſchied der Manier zu verſtehen iſt. Wir haben auch in neuern ja ſogar in neueſten Zeiten naive Dichtungen in allen Klaſſen an -4 zuſtellen verſteht, wird ſich leicht von der Wahrheit deſ - ſelben uͤberzeugen koͤnnen. Jene ruͤhren uns durch Na - tur, durch ſinnliche Wahrheit, durch lebendige Gegen - wart; dieſe ruͤhren uns durch Ideen.
Dieſer Weg, den die neueren Dichter gehen, iſt uͤbri - gens derſelbe, den der Menſch uͤberhaupt ſowohl im Ein - zelnen als im Ganzen einſchlagen muß. Die Natur macht ihn mit ſich Eins, die Kunſt trennt und entzweyet ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zuruͤck. Weil aber das Ideal ein unendliches iſt, das er niemals erreicht, ſo kann der kultivierte Menſch in ſeiner Art niemals vollkommen werden, wie doch der natuͤrliche Menſch es in der ſeinigen zu werden vermag. Er muͤßte alſo dem letztern an Vollkommenheit unendlich nachſtehen, wenn bloß auf das Verhaͤltniß, in welchem beide zu ihrer Art und zu ihrem Maximum ſtehen, geachtet wird. Ver - gleicht man hingegen die Arten ſelbſt mit einander, ſo zeigt ſich, daß das Ziel, zu welchem der Menſch durch Kultur ſtrebt, demjenigen, welches er durch Natur er - reicht, unendlich vorzuziehen iſt. Der eine erhaͤlt alſo ſeinen Werth durch abſolute Erreichung einer endlichen, der andre erlangt ihn durch Annaͤherung zu einer un -*wenn gleich nicht mehr ganz reiner Art und unter den alten lateiniſchen ja ſelbſt griechiſchen Dichtern fehlt es nicht an ſentimentaliſchen. Nicht nur in demſelben Dichter, auch in demſelben Werke trifft man haͤufig beyde Gattungen ver - einigt an; wie zum Beyſpiel in Werthers Leiden, und dergleichen Produkte werden immer den groͤßern Effekt machen.5 endlichen Groͤße. Weil aber nur die letztere Grade und einen Fortſchritt hat, ſo iſt der relative Werth des Menſchen, der in der Kultur begriffen iſt, im Gan - zen genommen, niemals beſtimmbar, obgleich derſelbe im einzelnen betrachtet ſich in einem nothwendigen Nach - theil gegen denjenigen befindet, in welchem die Natur in ihrer ganzen Vollkommenheit wirkt. Inſofern aber das letzte Ziel der Menſchheit nicht anders als durch jene Fortſchreitung zu erreichen iſt, und der letztere nicht an - ders fortſchreiten kann, als indem er ſich kultiviert und folglich in den erſtern uͤbergeht, ſo iſt keine Frage, wel - chem von beyden in Ruͤckſicht auf jenes letzte Ziel der Vorzug gebuͤhre.
Daſſelbe, was hier von den zwey verſchiedenen For - men der Menſchheit geſagt wird, laͤßt ſich auch auf jene beyden, ihnen entſprechenden, Dichterformen anwenden.
Man haͤtte deßwegen alte und moderne — naive und ſentimentaliſche — Dichter entweder gar nicht, oder nur unter einem gemeinſchaftlichen hoͤhern Begriff (einen ſol - chen giebt es wirklich) miteinander vergleichen ſollen. Denn freylich, wenn man den Gattungsbegriff der Poeſie zuvor einſeitig aus den alten Poeten abſtrahiert hat, ſo iſt nichts leichter, aber auch nichts trivialer, als die mo - dernen gegen ſie herabzuſetzen. Wenn man nur das Poeſie nennt, was zu allen Zeiten auf die einfaͤltige Natur gleich - foͤrmig wirkte, ſo kann es nicht anders ſeyn, als daß man den neuern Poeten gerade in ihrer eigenſten und erhaben - ſten Schoͤnheit den Nahmen der Dichter wird ſtreitig machen muͤſſen, weil ſie gerade hier nur zu dem Zoͤgling der Kunſt ſprechen, und der einfaͤltigen Natur nichts zu6 ſagen haben. *Moliere als naiver Dichter durfte es allenfalls auf den Ausſpruch ſeiner Magd ankommen laſſen, was in ſeinen Co - moͤdien ſtehen bleiben und wegfallen ſollte; auch waͤre zu wuͤnſchen geweſen, daß die Meiſter des franzoͤſiſchen Ko - thurns mit ihren Trauerſpielen zuweilen dieſe Probe gemacht haͤtten. Aber ich wollte nicht rathen, daß mit den Klop - ſtockiſchen Oden, mit den ſchoͤnſten Stellen im Meſſias, im verlorenen Paradies, in Nathan dem Weiſen, und vielen andern Stuͤcken eine aͤhnliche Probe angeſtellt wuͤrde. Doch was ſage ich? dieſe Probe iſt wirklich angeſtellt, und die Molieriſche Magd raiſonniert ja langes und breites in unſern kritiſchen Bibliotheken, philoſophiſchen und littera - riſchen Annalen und Reiſebeſchreibungen uͤber Poeſie, Kunſt und dergleichen, nur, wie billig, auf deutſchem Boden ein wenig abgeſchmakter als auf franzoͤſiſchem, und wie es ſich fuͤr die Geſindeſtube der deutſchen Litteratur geziemt.Weſſen Gemuͤth nicht ſchon zubereitet iſt, uͤber die Wirklichkeit hinaus ins Ideenreich zu gehen, fuͤr den wird der reichſte Gehalt leerer Schein und der hoͤchſte Dichterſchwung Ueberſpannung ſeyn. Keinem Vernuͤnftigen kann es einfallen, in demjenigen, worinn Homer groß iſt, irgend einen Neuern ihm an die Seite ſtellen zu wollen, und es klingt laͤcherlich genug, wenn man einen Milton oder Klopſtock mit dem Nahmen eines neuern Homer beehrt ſieht. Eben ſo wenig aber wird irgend ein alter Dichter und am wenigſten Homer in dem - jenigen, was den modernen Dichter charakteriſtiſch aus - zeichnet, die Vergleichung mit demſelben aushalten koͤn - nen. Jener, moͤchte ich es ausdruͤcken, iſt maͤchtig durch7 die Kunſt der Begrenzung, dieſer iſt es durch die Kunſt des Unendlichen.
Und eben daraus, daß die Staͤrke des alten Kuͤnſtlers (denn was hier von dem Dichter geſagt worden, kann unter den Einſchraͤnkungen, die ſich von ſelbſt ergeben, auch auf den ſchoͤnen Kuͤnſtler uͤberhaupt ausgedehnt wer - den) in der Begrenzung beſtehet, erklaͤrt ſich der hohe Vorzug, den die bildende Kunſt des Alterthums uͤber die der neueren Zeiten behauptet, und uͤberhaupt das ungleiche Verhaͤltniß des Werths, in welchem moderne Dichtkunſt und moderne bildende Kunſt zu beyden Kunſtgattungen im Alterthum ſtehen. Ein Werk fuͤr das Auge findet nur in der Begrenzung ſeine Vollkommenheit; ein Werk fuͤr die Einbildungskraft kann ſie auch durch das Unbegrenzte erreichen. In plaſtiſchen Werken hilft daher dem Neuern ſeine Ueberlegenheit in Ideen wenig; hier iſt er genoͤthigt, das Bild ſeiner Einbildungskraft auf das genaueſte im Raum zu beſtimmen, und ſich folglich mit dem alten Kuͤnſtler gerade in derjenigen Eigenſchaft zu meſſen, worinn dieſer ſeinen unabſtreitbaren Vorzug hat. In poetiſchen Werken iſt es anders, und ſiegen gleich die alten Dichter auch hier in der Einfalt der Formen und in dem was ſinnlich darſtellbar und koͤrperlich iſt, ſo kann der neuere ſie wieder im Reichthum des Stoffes, in dem was un - darſtellbar und unausſprechlich iſt, kurz, in dem was man in Kunſtwerken Geiſt nennt, hinter ſich laſſen. *Individualitaͤt mit einem Wort iſt der Charakter des Al - ten, und Idealitaͤt die Staͤrke des Modernen. Es iſt alſo natuͤrlich, daß in allem, was zur unmittelbaren ſinnlichen Anſchauung gelangen und als Individuum wirken muß,
8Da der naive Dichter bloß der einfachen Natur und Empfindung folgt, und ſich bloß auf Nachahmung*der erſte uͤber den zweyten den Sieg davon tragen wird. Eben ſo natuͤrlich iſt es auf der andern Seite, daß da wo es auf geiſtige Anſchauungen ankommt und die Sinnenwelt uͤberſchritten werden ſoll und darf, der erſte nothwendig durch die Schranken der Materie leiden, und eben weil er ſich ſtreng an dieſe bindet, hinter dem andern, der ſich da - von freyſpricht, wird zuruͤckbleiben muͤſſen. Nun entſteht natuͤrlicherweiſe die Frage (die wichtigſte, die uͤberhaupt in einer Philoſophie der Kunſt kann aufge - worfen werden) ob und in wie fern in demſelben Kunſt - werke Individualitaͤt mit Idealitaͤt zu vereinigen ſey — ob ſich alſo (welches auf eins hinauslaͤuft) eine Coalition des alten Dichtercharakters mit dem modernen gedenken laſſe, welche, wenn ſie wirklich ſtatt faͤnde, als der hoͤchſte Gipfel aller Kunſt zu betrachten ſeyn wuͤrde. Sachverſtaͤndige be - haupten, daß dieſes, in Ruͤckſicht auf bildende Kunſt, von den Antiken gewiſſermaaßen geleiſtet ſey, indem hier wirk - lich das Individuum ideal ſey und das Ideal in einem Individuum erſcheine. Soviel iſt indeſſen gewiß, daß in der Poeſie dieſer Gipfel noch keineswegs erreicht iſt; denn hier fehlt noch ſehr viel daran, daß das vollkommenſte Werk, der Form nach, es auch dem Inhalte nach ſey, daß es nicht bloß ein wahres und ſchoͤnes Ganze ſondern auch das moͤglichſt reichſte Ganze ſey. Es ſey dieß aber nun erreichbar und erreicht oder nicht, ſo iſt es wenigſtens die Aufgabe auch in der Dichtkunſt, das ideale zu individua -9 der Wirklichkeit beſchraͤnkt, ſo kann er zu ſeinem Ge - genſtand auch nur ein einziges Verhaͤltniß haben, und es giebt, in dieſer Ruͤckſicht, fuͤr ihn keine Wahl der Behandlung. Der verſchiedene Eindruck naiver Dichtun - gen beruht, (vorausgeſetzt, daß man alles hinweg denkt, was daran dem Inhalt gehoͤrt und jenen Eindruck nur als das reine Werk der poetiſchen Behandlung betrachtet) beruht ſage ich bloß auf dem verſchiedenen Grad einer und derſelben Empfindungsweiſe; ſelbſt die Verſchiedenheit in den aͤuſern Formen kann in der Qualitaͤt jenes aeſtheti - ſchen Eindrucks keine Veraͤnderung machen. Die Form ſey lyriſch oder epiſch, dramatiſch oder beſchreibend; wir koͤnnen wohl ſchwaͤcher und ſtaͤrker, aber (ſobald von dem Stoff abſtrahiert wird) nie verſchiedenartig geruͤhrt werden. Unſer Gefuͤhl iſt durchgaͤngig daſſelbe, ganz aus Einem Element, ſo daß wir nichts darinn zu unterſcheiden vermoͤgen. Selbſt der Unterſchied der Sprachen und Zeit - alter aͤndert hier nichts, denn eben dieſe reine Einheit ihres Urſprungs und ihres Effekts iſt ein Charakter der naiven Dichtung.
*liſieren und das individuelle zu idealiſieren. Der moderne Dichter muß ſich dieſe Aufgabe machen, wenn er ſich uͤberall nur ein hoͤchſtes und leztes Ziel ſeines Strebens gedenken ſoll. Denn, da er einerſeits durch das Ideen - vermoͤgen uͤber die Wirklichkeit hinausgetrieben, andrerſeits aber durch den Darſtellungstrieb beſtaͤndig wieder zu der - ſelben zuruͤckgenoͤthiget wird, ſo geraͤth er in einen Zwie - ſpalt mit ſich ſelbſt, der nicht anders als dadurch, daß er eine Darſtellbarkeit des Ideals regulativ annimmt, beyzu - legen iſt.
10Ganz anders verhaͤlt es ſich mit dem ſentimentaliſchen Dichter. Dieſer reflektiert uͤber den Eindruck, den die Gegenſtaͤnde auf ihn machen und nur auf jene Reflexion iſt die Ruͤhrung gegruͤndet, in die er ſelbſt verſetzt wird, und uns verſetzt. Der Gegenſtand wird hier auf eine Idee bezogen und nur auf dieſer Beziehung beruht ſeine dichteriſche Kraft. Der ſentimentaliſche Dichter hat es daher immer mit zwey ſtreitenden Vorſtellungen und Em - pfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit ſeiner Idee als dem Unendlichen zu thun, und das ge - miſchte Gefuͤhl, das er erregt, wird immer von dieſer doppelten Quelle zeugen. *Wer bey ſich auf den Eindruck merkt, den naive Dichtun - gen auf ihn machen, und den Antheil, der dem Inhalt daran gebuͤhrt, davon abzuſondern im Stand iſt, der wird dieſen Eindruck, auch ſelbſt bey ſehr pathetiſchen Gegenſtaͤnden, immer froͤhlich, immer rein, immer ruhig finden; bey ſentimentaliſchen wird er immer etwas ernſt und anſpannend ſeyn. Das macht, weil wir uns bey naiven Darſtellungen, ſie handeln auch wovon ſie wollen, immer uͤber die Wahrheit, uͤber die lebendige Gegenwart des Objects in unſerer Einbildungskraft erfreuen, und auch weiter nichts als dieſe ſuchen, bey ſentimentaliſchen hinge - gen die Vorſtellung der Einbildungskraft mit einer Ver - nunftidee zu vereinigen haben, und alſo immer zwiſchen zwey verſchiedenen Zuſtaͤnden in Schwanken gerathen.Da alſo hier eine Mehrheit der Principien ſtatt findet, ſo kommt es darauf an, welches von beyden in der Empfindung des Dichters und in ſeiner Darſtellung uͤberwiegen wird, und es iſt folglich eine Verſchiedenheit in der Behandlung moͤglich. Denn nun11 entſteht die Frage, ob er mehr bey der Wirklichkeit, ob er mehr bey dem Ideale verweilen — ob er jene als einen Gegenſtand der Abneigung, ob er dieſes als einen[Gegen - ſtand] der Zuneigung ausfuͤhren will. Seine Darſtellung wird alſo entweder ſatyriſch oder ſie wird (in einer weitern Bedeutung dieſes Worts, die ſich nachher erklaͤ - ren wird) elegiſch ſeyn; an eine von dieſen beyden Empfindungsarten wird jeder ſentimentaliſche Dichter ſich halten.
Satyriſch iſt der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerſpruch der Wirklichkeit mit dem Ideale (in der Wirkung auf das Gemuͤth kommt beydes auf eins hinaus) zu ſeinem Gegenſtande macht. Dieß kann er aber ſowohl ernſthaft und mit Affekt, als ſcherzhaft und mit Heiterkeit ausfuͤhren; je nachdem er entweder im Gebiethe des Willens oder im Gebiethe des Verſtandes verweilt. Jenes geſchieht durch die ſtrafende, oder pathetiſche, dieſes durch die ſcherzhafte Satyre.
Streng genommen vertraͤgt zwar der Zweck des Dich - ters weder den Ton der Strafe noch den der Beluſtigung. Jener iſt zu ernſt fuͤr das Spiel, was die Poeſie immer ſeyn ſoll; dieſer iſt zu frivol fuͤr den Ernſt, der allem poe - tiſchen Spiele zum Grund liegen ſoll. Moraliſche Wider - ſpruͤche intereſſieren nothwendig unſer Herz, und rauben alſo dem Gemuͤth ſeine Freyheit; und doch ſoll aus poeti - ſchen Ruͤhrungen alles eigentliche Intereſſe, d. h. alle Be - ziehung auf ein Beduͤrfniß verbannt ſeyn. Verſtandes -12 Widerſpruͤche hingegen laſſen das Herz gleichguͤltig, und doch hat es der Dichter mit dem hoͤchſten Anliegen des Herzens, mit der Natur und dem Ideal, zu thun. Es iſt daher keine geringe Aufgabe fuͤr ihn, in der patheti - ſchen Satyre nicht die poetiſche Form zu verletzen, wel - che in der Freyheit des Spiels beſteht, in der ſcherzhaften Satyre nicht den poetiſchen Gehalt zu verfehlen, welcher immer das Unendliche ſeyn muß. Dieſe Aufgabe kann nur auf eine einzige Art geloͤſet werden. Die ſtrafende Satyre erlangt poetiſche Freyheit, indem ſie ins Erhabe - ne uͤbergeht, die lachende Satyre erhaͤlt poetiſchen Ge - halt, indem ſie ihren Gegenſtand mit Schoͤnheit behandelt.
In der Satyre wird die Wirklichkeit als Mangel, dem Ideal als der hoͤchſten Realitaͤt gegenuͤber geſtellt. Es iſt uͤbrigens gar nicht noͤthig, daß das letztere ausgeſprochen werde, wenn der Dichter es nur im Gemuͤth zu erwecken weiß; diß muß er aber ſchlechterdings, oder er wird gar nicht poetiſch wirken. Die Wirklichkeit iſt alſo hier ein nothwendiges Objekt der Abneigung, aber worauf hier alles ankoͤmmt, dieſe Abneigung ſelbſt muß wieder noth - wendig aus dem entgegenſtehenden Ideale entſpringen. Sie koͤnnte nehmlich auch eine bloß ſinnliche Quelle haben und lediglich in Beduͤrfniß gegruͤndet ſeyn, mit welchem die Wirklichkeit ſtreitet; und haͤuffig genug glauben wir einen moraliſchen Unwillen uͤber die Welt zu empfinden, wenn uns bloß der Widerſtreit derſelben mit unſerer Nei - gung erbittert. Dieſes materielle Intereſſe iſt es, was der gemeine Satyriker ins Spiel bringt, und weil es ihm auf dieſem Wege gar nicht fehl ſchlaͤgt, uns in Affekt zu verſetzen, ſo glaubt er unſer Herz in ſeiner Gewalt zu ha - ben und im pathetiſchen Meiſter zu ſeyn. Aber jedes Pa -13 thos aus dieſer Quelle iſt der Dichtkunſt unwuͤrdig, die uns nur durch Ideen ruͤhren und nur durch die Vernunft zu unſerm Herzen den Weg nehmen darf. Auch wird ſich dieſes unreine und materielle Pathos jederzeit durch ein Uebergewicht des Leidens und durch eine peinliche Befan - genheit des Gemuͤths offenbaren, da im Gegentheil das wahrhaft poetiſche Pathos an einem Uebergewicht der Selbſtthaͤtigkeit und an einer, auch im Affekte noch beſte - henden Gemuͤthsfreyheit zu erkennen iſt. Entſpringt nehm - lich die Ruͤhrung aus dem, der Wirklichkeit gegenuͤber ſtehenden Ideale, ſo verliert ſich in der Erhabenheit des letztern jedes einengende Gefuͤhl und die Groͤße der Idee, von der wir erfuͤllt ſind, erhebt uns uͤber alle Schranken der Erfahrung. Bey der Darſtellung empoͤrender Wirk - lichkeit kommt daher alles darauf an, daß das Nothwen - dige der Grund ſey, auf welchem der Dichter oder der Erzaͤhler das Wirkliche auftraͤgt, daß er unſer Gemuͤth fuͤr Ideen zu ſtimmen wiſſe. Stehen wir nur hoch in der Beurtheilung, ſo hat es nichts zu ſagen, wenn auch der Gegenſtand tief und niedrig, unter uns zuruͤckbleibt. Wenn uns der Geſchichtſchreiber Tacitus den tiefen Verfall der Roͤmer des erſten Jahrhunderts ſchildert, ſo iſt es ein hoher Geiſt, der auf das Niedrige herabblickt, und unſere Stimmung iſt wahrhaft poetiſch, weil nur die Hoͤhe, worauf er ſelbſt ſteht und zu der er uns zu er - heben wußte, ſeinen Gegenſtand niedrig machte.
Die pathetiſche Satyre muß alſo jederzeit aus einem Gemuͤthe flieſſen, welches von dem Ideale lebhaft durch - drungen iſt. Nur ein herrſchender Trieb nach Ueberein - ſtimmung kann und darf jenes tiefe Gefuͤhl moraliſcher Widerſpruͤche und jenen gluͤhenden Unwillen gegen mora -14 liſche Verkehrtheit erzeugen, welcher in einem Juvenal, Lucian, Dante, Swift, Young, Rouſſeau, Haller und andern zur Begeiſterung wird. Die nehmlichen Dichter wuͤrden und muͤßten mit demſelben Gluͤck auch in den ruͤh - renden und zaͤrtlichen Gattungen gedichtet haben, wenn nicht zufaͤllige Urſachen ihrem Gemuͤth fruͤhe dieſe beſtimm - te Richtung gegeben haͤtten; auch haben ſie es zum Theil wirklich gethan. Alle die hier genannten lebten entweder in einem ausgearteten Zeitalter und hatten eine ſchauder - hafte Erfahrung moraliſcher Verderbniß vor Augen, oder eigene Schickſale hatten Bitterkeit in ihre Seele geſtreut. Auch der philoſophiſche Geiſt, da er mit unerbittlicher Strenge den Schein von dem Weſen trennt, und in die Tiefen der Dinge dringet, neigt das Gemuͤth zu dieſer Haͤrte und Auſteritaͤt, mit welcher Rouſſeau, Haller und andre die Wirklichkeit mahlen. Aber dieſe aͤuſern und zu - faͤlligen Einfluͤſſe, welche immer einſchraͤnkend wirken, duͤrfen hoͤchſtens nur die Richtung beſtimmen, niemals den Innhalt der Begeiſterung hergeben. Dieſer muß in allen derſelbe ſeyn, und, rein von jedem aͤuſern Beduͤrf - niß, aus einem gluͤhenden Triebe fuͤr das Ideal hervor - flieſſen, welcher durchaus der einzig wahre Beruf zu dem ſaty - riſchen wie uͤberhaupt zu dem ſentimentaliſchen Dichter iſt.
Wenn die pathetiſche Satyre nur erhabene Seelen kleidet, ſo kann die ſpottende Satyre nur einem ſchoͤnen Herzen gelingen. Denn jene iſt ſchon durch ihren ernſten Gegenſtand vor der Frivolitaͤt geſichert; aber dieſe, die nur einen moraliſch gleichguͤltigen Stoff behandeln darf, wuͤrde unvermeidlich darein verfallen, und jede poetiſche Wuͤrde verlieren, wenn hier nicht die Behandlung den Innhalt veredelte und das Subjekt des Dichters nicht15 ſein Objekt vertraͤte. Aber nur dem ſchoͤnen Herzen iſt es verliehen, unabhaͤngig von dem Gegenſtand ſeines Wir - kens, in jeder ſeiner Aeußerungen ein vollendetes Bild von ſich ſelbſt abzupraͤgen. Der erhabene Charakter kann ſich nur in einzelnen Siegen uͤber den Widerſtand der Sinne, nur in gewiſſen Momenten des Schwunges und einer augenblicklichen Anſtrengung kund thun; in der ſchoͤ - nen Seele hingegen wirkt das Ideal als Natur, alſo gleich - foͤrmig, und kann mithin auch in einem Zuſtand der Ru - he ſich zeigen.
Es iſt mehrmals daruͤber geſtritten worden, welche von beyden, die Tragoͤdie oder die Comoͤdie vor der an - dern den Rang verdiene. Wird damit bloß gefragt, wel - che von beyden das wichtigere Objekt behandle, ſo iſt kein Zweifel, daß die erſtere den Vorzug behauptet; will man aber wiſſen, welche von beyden das wichtigere Subjekt erfodre, ſo muß der Ausſpruch eben ſo entſcheidend fuͤr die letztere ausfallen. In der Tragoͤdie geſchieht ſchon durch den Gegenſtand ſehr viel, in der Comoͤdie geſchieht durch den Gegenſtand nichts und alles durch den Dichter. Da nun bey Urtheilen des Geſchmacks der Stoff nie in Be - trachtung kommt, ſo muß natuͤrlicher weiſe der aͤſthetiſche Werth dieſer beyden Kunſtgattungen in umgekehrtem Ver - haͤltniß zu ihrer materiellen Wichtigkeit ſtehen. Den tra - giſchen Dichter traͤgt ſein Objekt, der komiſche hingegen muß durch ſein Subjekt das ſeinige in der aͤſthetiſchen Hoͤ - he erhalten. Jener darf einen Schwung nehmen, wozu ſoviel eben nicht gehoͤret; der andre muß ſich gleich blei - ben, er muß alſo ſchon dort ſeyn und dort zu Hauſe ſeyn, wohin der andre nicht ohne einen Anlauf gelangt. Und gerade das iſt es, worinn ſich der ſchoͤne Charakter16 von dem erhabenen unterſcheidet. In dem erſten iſt jede Groͤße ſchon enthalten, ſie fließt ungezwungen und muͤhe - los aus ſeiner Natur, er iſt, dem Vermoͤgen nach, ein Unendliches in jedem Punkte ſeiner Bahn; der andere kann ſich zu jeder Groͤße anſpannen und erheben, er kann durch die Kraft ſeines Willens aus jedem Zuſtande der Beſchraͤn - kung ſich reiſſen. Dieſer iſt alſo nur ruckweiſe und nur mit Anſtrengung frey, jener iſt es mit Leichtigkeit und immer.
Dieſe Freyheit des Gemuͤths in uns hervorzubringen und zu naͤhren, iſt die ſchoͤne Aufgabe der Comoͤdie, ſo wie die Tragoͤdie beſtimmt iſt, die Gemuͤthsfreyheit, wenn ſie durch einen Affekt gewaltſam aufgehoben worden, auf aͤſthetiſchem Weg wieder herſtellen zu helfen. In der Tra - goͤdie muß daher die Gemuͤthsfreyheit kuͤnſtlicherweiſe und als Experiment kuͤnſtlich aufgehoben werden, weil ſie in Herſtellung derſelben ihre poetiſche Kraft beweißt; in der Comoͤdie hingegen muß verhuͤtet werden, daß es nie - mals zu jener Aufhebung der Gemuͤthsfreyheit komme. Daher behandelt der Tragoͤdiendichter ſeinen Gegenſtand immer praktiſch, der Comoͤdiendichter den ſeinigen immer theoretiſch; auch wenn jener (wie Leſſing in ſeinem Na - than) die Grille haͤtte einen theoretiſchen, dieſer, einen praktiſchen Stoff zu bearbeiten. Nicht das Gebieth aus welchem der Gegenſtand genommen, ſondern das Forum vor welches der Dichter ihn bringt, macht denſelben tra - giſch oder komiſch. Der Tragiker muß ſich vor dem ruhi - gen Raiſonnement in Acht nehmen und immer das Herz intereſſieren, der Comiker muß ſich vor dem Pathos huͤten und immer den Verſtand unterhalten. Jener zeigt alſo durch beſtaͤndige Erregung, dieſer durch beſtaͤndige Ab -17 wehrung der Leidenſchaft ſeine Kunſt; und dieſe Kunſt iſt natuͤrlich auf beyden Seiten um ſo groͤſſer, je mehr der Gegenſtand des Einen abſtrakter Natur iſt, und der des Andern ſich zum pathetiſchen neigt. *Im Nathan dem Weiſen iſt dieſes nicht geſchehen, hier hat die froſtige Natur des Stoffs das ganze Kunſtwerk erkaͤltet. Aber Leſſing wußte ſelbſt, daß er kein Trauerſpiel ſchrieb, und vergaß nur, menſchlicher weiſe, in ſeiner eigenen Ange - legenheit die in der Dramaturgie aufgeſtellte Lehre, daß der Dichter nicht befugt ſey, die tragiſche Form zu einem an - dern als tragiſchen Zweck anzuwenden. Ohne ſehr weſentli - che Veraͤnderungen wuͤrde es kaum moͤglich geweſen ſeyn, dieſes dramatiſche Gedicht in eine gute Tragoͤdie umzuſchaf - fen; aber mit bloß zufaͤlligen Veraͤnderungen moͤchte es eine gute Comoͤdie abgegeben haben. Dem letztern Zweck nehm - lich haͤtte das Pathetiſche dem erſtern das Raiſonnierende auf - geopfert werden muͤſſen, und es iſt wohl keine Frage, auf welchem von beyden die Schoͤnheit dieſes Gedichts am mei - ſten beruht.Wenn alſo die Tra - goͤdie von einem nichtigern Punkt ausgeht, ſo muß man auf der andern Seite geſtehen, daß die Comoͤdie einem wichtigern Ziel entgegen geht, und ſie wuͤrde, wenn ſie es erreichte, alle Tragoͤdie uͤberfluͤßig und unmoͤglich machen. Ihr Ziel iſt einerley mit dem hoͤchſten, wornach der Menſch zu ringen hat, frey von Leidenſchaft zu ſeyn, immer klar immer ruhig um ſich und in ſich zu ſchauen, uͤberall mehr Zufall als Schickſal zu finden, und mehr uͤber Ungereimt - heit zu lachen als uͤber Boßheit zu zuͤrnen oder zu weinen.
Die Horen. 1795. 12tes St. 218Wie in dem handelnden Leben ſo begegnet es auch oft bey dichteriſchen Darſtellungen, den bloß leichten Sinn, das angenehme Talent, die froͤhliche Gutmuͤthigkeit mit Schoͤnheit der Seele zu verwechſeln, und da ſich der ge - meine Geſchmack uͤberhaupt nie uͤber das Angenehme er - hebt, ſo iſt es ſolchen niedlichen Geiſtern ein leichtes, jenen Ruhm zu uſurpieren, der ſo ſchwer zu verdienen iſt. Aber es giebt eine untruͤgliche Probe, vermittelſt deren man die Leichtigkeit des Naturells von der Leichtigkeit des Ideals, ſo wie die Tugend des Temperaments von der wahrhaften Sittlichkeit des Charakters unterſcheiden kann, und dieſe iſt, wenn beyde ſich an einem ſchwuͤrigen und großen Objekte verſuchen. In einem ſolchen Fall geht das niedliche Genie unfehlbar in das Platte, ſo wie die Temperamentstugend in das Materielle, die wahrhaft ſchoͤ - ne Seele hingegen geht eben ſo gewiß in die erhabene uͤber.
So lange Lucian bloß die Ungereimtheit zuͤchtigt, wie in den Wuͤnſchen, in den Lapithen, in dem Jupiter, Tragoͤdus u. a. bleibt er Spoͤtter, und ergoͤtzt uns mit ſeinem froͤhlichen Humor; aber es wird ein ganz anderer Mann aus ihm in vielen Stellen ſeines Nigrinus, ſeines Timons, ſeines Alexander, wo ſeine Satyre auch die mo - raliſche Verderbniß trift. „ Ungluͤckſeliger”, ſo beginnt er in ſeinem Nigrinus das empoͤrende Gemaͤhlde des da - maligen Roms, „ warum verlieſſeſt du das Licht der Son - ne, Griechenland, und jenes gluͤkliche Leben der Frey - heit, und kammſt hieher in dieß Getuͤmmel von prachtvol - ler Dienſtbarkeit, von Aufwartungen und Gaſtmaͤlern, von Sykophanten, Schmeichlern, Giftmiſchern, Erb - ſchleichern und falſchen Freunden? u. ſ. w.” Bey ſolchen und aͤhnlichen Anlaͤſſen muß ſich der hohe Ernſt des Ge -19 fuͤhls offenbaren, der allem Spiele, wenn es poetiſch ſeyn ſoll, zum Grunde liegen muß. Selbſt durch den boßhaf - ten Scherz, womit ſowohl Lucian als Ariſtophanes den Sokrates mißhandeln, blickt eine ernſte Vernunft hervor, welche die Wahrheit an dem Sophiſten raͤcht, und fuͤr ein Ideal ſtreitet, das ſie nur nicht immer ausſpricht. Auch hat der erſte von beyden in ſeinem Diogenes und Daͤmonax dieſen Charakter gegen alle Zweifel gerechtfer - tigt; unter den Neuern welchen großen und ſchoͤnen Cha - rakter druͤckt nicht Cervantes bey jedem wuͤrdigen An - laß in ſeinem Don Quixote aus, welch ein herrliches Ideal mußte nicht in der Seele des Dichters leben, der einen Tom Jones und eine Sophia erſchuf, wie kann der Lacher Yorik ſobald er will unſer Gemuͤth ſo groß und ſo maͤchtig bewegen. Auch in unſerm Wieland erkenne ich dieſen Ernſt der Empfindung; ſelbſt die muth - willigen Spiele ſeiner Laune beſeelt und adelt die Gra - zie des Herzens; ſelbſt in den Rhythmus ſeines Geſanges druͤckt ſie ihr Gepraͤg, und nimmer fehlt ihm die Schwungkraft, uns, ſobald es gilt, zu dem Hoͤchſten em - por zu tragen.
Von der Voltairiſchen Satyre laͤßt ſich kein ſolches Urtheil faͤllen. Zwar iſt es auch bey dieſem Schriftſteller einzig nur die Wahrheit und Simplicitaͤt der Natur, wo - durch er uns zuweilen poetiſch ruͤhrt; es ſey nun, daß er ſie in einem naiven Charakter wirklich erreiche, wie mehrmal in ſeinem Ingenu, oder daß er ſie, wie in ſei - nem Candide u. a. ſuche und raͤche. Wo keines von beyden der Fall iſt, da kann er uns zwar als witziger Kopf beluſtigen, aber gewiß nicht als Dichter bewegen. Aber ſeinem Spott liegt uͤberall zu wenig Ernſt zum20 Grunde, und dieſes macht ſeinen Dichterberuf mit Recht verdaͤchtig. Wir begegnen immer nur ſeinem Verſtande, nicht ſeinem Gefuͤhl. Es zeigt ſich kein Ideal unter je - ner luftigen Huͤlle, und kaum etwas abſolut Feſtes in je - ner ewigen Bewegung. Seine wunderbare Mannichfal - tigkeit in aͤuſern Formen, weit entfernt fuͤr die innere Fuͤlle ſeines Geiſtes etwas zu beweiſen, legt vielmehr ein bedenkliches Zeugniß dagegen ab, denn ungeachtet aller jener Formen hat er auch nicht Eine gefunden, worinn er ein Herz haͤtte abdruͤcken koͤnnen. Beynahe muß man alſo fuͤrchten, es war in dieſem reichen Genius nur die Armuth des Herzens, die ſeinen Beruf zur Satyre be - ſtimmte. Waͤre es anders, ſo haͤtte er doch irgend auf ſeinem weiten Weg aus dieſem engen Geleiſe treten muͤſ - ſen. Aber bey allem noch ſo groſen Wechſel des Stoffes und der aͤuſern Form ſehen wir dieſe innere Form in ewigem, duͤrftigem Einerley wiederkehren, und trotz ſei - ner voluminoͤſen Laufbahn hat er doch den Kreis der Menſchheit in ſich ſelbſt nicht erfuͤllt, den man in den obenerwaͤhnten Satyrikern mit Freuden durchlaufen findet.
Setzt der Dichter die Natur der Kunſt und das Ideal der Wirklichkeit ſo entgegen, daß die Darſtellung des erſten uͤberwiegt, und das Wohlgefallen an demſelben herrſchende Empfindung wird, ſo nenne ich ihn elegiſch. Auch dieſe Gattung hat wie die Satyre zwey Klaſſen unter ſich. Entweder iſt die Natur und das Ideal ein Gegenſtand der Trauer, wenn jene als verloren, dieſes als unerreicht dargeſtellt wird. Oder beyde ſind ein Gegenſtand der21 Freude, indem ſie als wirklich vorgeſtellt werden. Das erſte giebt die Elegie in engerer, das andre die Idylle in weiteſter Bedeutung. *Daß ich die Benennungen Satyre, Elegie und Idylle in einem weitern Sinne gebrauche, als gewoͤhnlich geſchieht, werde ich bey Leſern, die tiefer in die Sache dringen, kaum zu verantworten brauchen. Meine Abſicht dabey iſt keineswegs die Grenzen zu verruͤcken, welche die bisherige Obſervanz ſowohl der Satyre und Elegie als der Idylle mit gutem Grunde geſteckt hat; ich ſehe bloß auf die in dieſen Dichtungsarten herrſchende Empfindungsweiſe, und es iſt ja bekannt genug, daß dieſe ſich keineswegs in jene engen Grenzen einſchlieſſen laͤßt. Elegiſch ruͤhrt uns nicht bloß die Elegie, welche ausſchließlich ſo genannt wird; auch der dramatiſche und epiſche Dichter koͤnnen uns auf elegiſche Weiſe bewegen. In der Meßiade, in Thom - ſons Jahrszeiten, im verlorenen Paradieß, im befreyten Jeruſalem finden wir mehrere Gemaͤhlde, die ſonſt nur der Idylle, der Elegie, der Satyre eigen ſind. Eben ſo, mehr oder weniger, faſt in jedem pathetiſchen Gedichte. Daß ich aber die Idylle ſelbſt zur elegiſchen Gattung rechne, ſcheint eher einer Rechtfertigung zu beduͤrfen. Man erinnere ſich aber, daß hier nur von derjenigen Idylle die Rede iſt, welche eine Species der ſentimentaliſchen Dichtung iſt, zu deren Weſen es gehoͤrt, daß die Natur der Kunſt und das Ideal der Wirklichkeit entgegen geſetzt werde. Geſchieht dieſes auch nicht ausdruͤcklich von dem Dichter, und ſtellt er das Gemaͤhlde der unverdorbenen Natur oder des erfuͤllten Ideales rein und ſelbſtſtaͤndig vor unſere An -
22Wie der Unwille bey der pathetiſchen und wie der Spott bey der ſcherzhaften Satyre, ſo darf bey der Elegie die Trauer nur aus einer, durch das Ideal erweckten Begei - ſterung fließen. Dadurch allein erhaͤlt die Elegie poeti - ſchen Gehalt, und jede andere Quelle derſelben iſt voͤllig*gen, ſo iſt jener Gegenſatz doch in ſeinem Herzen, und wird ſich, auch ohne ſeinen Willen, in jedem Pinſelſtrich verrathen. Ja waͤre dieſes nicht, ſo wuͤrde ſchon die Sprache, deren er ſich bedienen muß, weil ſie den Geiſt der Zeit an ſich traͤgt und den Einfluß der Kunſt erfahren, uns die Wirklichkeit mit ihren Schranken, die Kultur mit ihrer Kuͤnſteley in Erinnerung bringen; ja unſer eigenes Herz wuͤrde jenem Bilde der reinen Natur die Erfahrung der Verderbniß gegenuͤber ſtellen, und ſo die Empfindungs - art, wenn auch der Dichter es nicht darauf angelegt haͤtte, in uns elegiſch machen. Dieß letztere iſt ſo unvermeidlich, daß ſelbſt der hoͤchſte Genuß, den die ſchoͤnſten Werke der naiven Gattung aus alten und neuen Zeiten dem kultivier - ten Menſchen gewaͤhren, nicht lange rein bleibt, ſondern fruͤher oder ſpaͤter von einer elegiſchen Empfindung begleitet ſeyn wird. Schließlich bemerke ich noch, daß die hier ver - ſuchte Eintheilung, eben deßwegen weil ſie ſich bloß auf den Unterſchied in der Empfindungsweiſe gruͤndet, in der Eintheilung der Gedichte ſelbſt und der Ableitung der poe - tiſchen Arten ganz und gar nichts beſtimmen ſoll; denn da der Dichter, auch in demſelben Werke, keineswegs an dieſelbe Empfindungsweiſe gebunden iſt, ſo kann jene Ein - theilung nicht davon, ſondern muß von der Form der Darſtellung hergenommen werden.23 unter der Wuͤrde der Dichtkunſt. Der elegiſche Dichter fucht die Natur, aber in ihrer Schoͤnheit, nicht bloß in ihrer Annehmlichkeit, in ihrer Uebereinſtimmung mit Ideen, nicht bloß in ihrer Nachgiebigkeit gegen das Be - duͤrfniß. Die Trauer uͤber verlorne Freuden, uͤber das der Welt verſchwundene goldene Alter, uͤber das entflohene Gluͤck der Jugend, der Liebe u. ſ. w. kann nur alsdann der Stoff zu einer elegiſchen Dichtung werden, wenn jene Zuſtaͤnde ſinnlichen Friedens zugleich als Gegenſtaͤnde mo - raliſcher Harmonie ſich vorſtellen laſſen. Ich kann deß - wegen die Klaggeſaͤnge des Ovid, die er aus ſeinem Verbannungsort am Euxin anſtimmt, wie ruͤhrend ſie auch ſind, und wie viel Dichteriſches auch einzelne Stel - len haben, im Ganzen nicht wohl als ein poetiſches Werk betrachten. Es iſt viel zu wenig Energie, viel zu wenig Geiſt und Adel in ſeinem Schmerz. Das Beduͤrfniß, nicht die Begeiſterung ſtieß jene Klagen aus; es athmet darinn, wenn gleich keine gemeine Seele, doch die ge - meine Stimmung eines edleren Geiſtes, den ſein Schick - ſal zu Boden druͤckte. Zwar wenn wir uns erinnern, daß es Rom, und das Rom des Auguſtus iſt, um das er trauert, ſo verzeyhen wir dem Sohn der Freude ſeinen Schmerz; aber ſelbſt das herrliche Rom mit allen ſeinen Gluͤckſeligkeiten iſt, wenn nicht die Einbildungkraft es erſt veredelt, bloß eine endliche Groͤße, mithin ein unwuͤrdiges Objekt fuͤr die Dichtkunſt, die erhaben uͤber alles, was die Wirklichkeit aufſtellt, nur das Recht hat, um das Un - endliche zu trauern.
Der Inhalt der dichteriſchen Klage kann alſo niemals ein aͤußrer, jederzeit nur ein innerer idealiſcher Gegen - ſtand ſeyn; ſelbſt wenn ſie einen Verluſt in der Wirklichkeit24 betrauert, muß ſie ihn erſt zu einem idealiſchen umſchaf - fen. In dieſer Reduktion des Beſchraͤnkten auf ein Un - endliches beſteht eigentlich die poetiſche Behandlung. Der aͤuſſere Stoff iſt daher an ſich ſelbſt immer gleichguͤltig, weil ihn die Dichtkunſt niemals ſo brauchen kann, wie ſie ihn findet, ſondern nur durch das, was ſie ſelbſt daraus macht, ihm die poetiſche Wuͤrde giebt. Der elegiſche Dichter ſucht die Natur aber als eine Idee und in einer Vollkom - menheit, in der ſie nie exiſtirt hat, wenn er ſie gleich als etwas da geweſenes und nun verlorenes beweint. Wenn uns Oſſian von den Tagen erzaͤhlt, die nicht mehr ſind, und von den Helden, die verſchwunden ſind, ſo hat ſeine Dichtungskraft jene Bilder der Erinnerung laͤngſt in Idea - le, jene Helden in Goͤtter umgeſtaltet. Die Erfahrungen eines beſtimmten Verluſtes haben ſich zur Idee der allge - meinen Vergaͤnglichkeit erweitert, und der geruͤhrte Barde, den das Bild des allgegenwaͤrtigen Ruins verfolgt, ſchwingt ſich zum Himmel auf, um dort in dem Sonnen - lauf ein Sinnbild des Unvergaͤnglichen zu finden. *Man leſe z. B. das trefliche Gedicht Charton betitelt.
Ich wende mich ſogleich zu den neuern Poeten in der elegiſchen Gattung. Rouſſeau, als Dichter, wie als Philoſoph, hat keine andere Tendenz als die Natur ent - weder zu ſuchen, oder an der Kunſt zu raͤchen. Je nach - dem ſich ſein Gefuͤhl entweder bey der einen oder der an - dern verweilt, finden wir ihn bald elegiſch geruͤhrt, bald zu Juvenaliſcher Satyre begeiſtert, bald, wie in ſeiner Julie, in das Feld der Idylle entzuͤckt. Seine Dichtun - gen haben unwiderſprechlich poetiſchen Gehalt, da ſie ein Ideal behandeln, nur weiß er denſelben nicht auf poetiſche25 Weiſe zu gebrauchen. Sein ernſter Charakter laͤßt ihn zwar nie zur Frivolitaͤt herabſinken, aber erlaubt ihm auch nicht, ſich bis zum poetiſchen Spiel zu erheben. Bald durch Leidenſchaft, bald durch Abſtraktion ange - ſpannt, bringt er es ſelten oder nie zu der aͤſthetiſchen Freyheit, welche der Dichter ſeinem Stoff gegenuͤber behaupten, ſeinem Leſer mittheilen muß. Entweder es iſt ſeine kranke Empfindlichkeit, die uͤber ihn herrſchet, und ſeine Gefuͤhle bis zum Peinlichen treibt; oder es iſt ſeine Denkkraft, die ſeiner Imagination Feſſeln anlegt und durch die Strenge des Begriffs die Anmuth des Ge - maͤhldes vernichtet. Beyde Eigenſchaften, deren innige Wechſelwirkung und Vereinigung den Poeten eigentlich ausmacht, finden ſich bey dieſem Schriftſteller in unge - woͤhnlich hohem Grad, und nichts fehlt, als daß ſie ſich auch wirklich miteinander vereinigt aͤuſſerten, daß ſeine Selbſtthaͤtigkeit ſich mehr in ſein Empfinden, daß ſeine Empfaͤnglichkeit ſich mehr in ſein Denken miſchte. Daher iſt auch in dem Ideale, das er von der Menſchheit auf - ſtellt, auf die Schranken derſelben zu viel, auf ihr Ver - moͤgen zu wenig Ruͤckſicht genommen, und uͤberall mehr ein Beduͤrfniß nach phyſiſcher Ruhe als nach moraliſcher Uebereinſtimmung darinn ſichtbar. Seine leiden - ſchaftliche Empfindlichkeit iſt Schuld, daß er die Menſch - heit, um nur des Streits in derſelben recht bald los zu werden, lieber zu der geiſtloſen Einfoͤrmigkeit des erſten Standes zuruͤckgefuͤhrt, als jenen Streit in der geiſtrei - chen Harmonie einer voͤllig durchgefuͤhrten Bildung geen - digt ſehen, daß er die Kunſt lieber gar nicht anfangen laſſen, als ihre Vollendung erwarten will, kurz, daß er das Ziel lieber niedriger ſteckt, und das Ideal lieber herabſetzt, um es nur deſto ſchneller, um es nur deſto ſicherer zu erreichen.
26Unter Deutſchlands Dichtern in dieſer Gattung will ich hier nur Hallers, Kleiſts und Klopſtocks er - waͤhnen. Der Charakter ihrer Dichtung iſt ſentimenta - liſch; durch Ideen ruͤhren ſie uns, nicht durch ſinnliche Wahrheit, nicht ſowohl weil ſie ſelbſt Natur ſind, als weil ſie uns fuͤr Natur zu begeiſtern wiſſen. Was in - deſſen von dem Charakter ſowohl dieſer als aller ſentimen - taliſchen Dichter im Ganzen wahr iſt, ſchließt natuͤr - licherweiſe darum keineswegs das Vermoͤgen aus, im Einzelnen uns durch naive Schoͤnheit zu ruͤhren: ohne das wuͤrden ſie uͤberall keine Dichter ſeyn. Nur ihr ei - gentlicher und herrſchender Charakter iſt es nicht, mit ruhigem, einfaͤltigem und leichtem Sinn zu empfangen und das Empfangene eben ſo wieder darzuſtellen. Un - willkuͤhrlich draͤngt ſich die Phantaſie der Anſchauung, die Denkkraft der Empfindung zuvor und man verſchließt Auge und Ohr, um betrachtend in ſich ſelbſt zu verſinken. Das Gemuͤth kann keinen Eindruck erleiden, ohne ſogleich ſeinem eigenen Spiel zuzuſehen, und was es in ſich hat, durch Reflexion ſich gegenuͤber und aus ſich herauszuſtel - len. Wir erhalten auf dieſe Art nie den Gegenſtand, nur was der reflektierende Verſtand des Dichters aus dem Ge - genſtand machte, und ſelbſt dann, wenn der Dichter ſelbſt dieſer Gegenſtand iſt, wenn er uns ſeine Empfindungen darſtellen will, erfahren wir nicht ſeinen Zuſtand unmit - telbar und aus der erſten Hand, ſondern wie ſich derſelbe in ſeinem Gemuͤth reflektiert, was er als Zuſchauer ſeiner ſelbſt daruͤber gedacht hat. Wenn Haller den Tod ſeiner Gattin betrauert (man kennt das ſchoͤne Lied) und folgen - dermaaßen anfaͤngt:27
ſo finden wir dieſe Beſchreibung genau wahr, aber wir fuͤhlen auch, daß uns der Dichter nicht eigentlich ſeine Empfindungen, ſondern ſeine Gedanken daruͤber mittheilt. Er ruͤhrt uns deßwegen auch weit ſchwaͤcher, weil er ſelbſt ſchon ſehr viel erkaͤltet ſeyn mußte, um ein Zu - ſchauer ſeiner Ruͤhrung zu ſeyn.
Schon der groͤßtentheils uͤberſinnliche Stoff der Hal - leriſchen und zum Theil auch der Klopſtockiſchen Dichtun - gen ſchließt ſie von der naiven Gattung aus; ſobald daher jener Stoff uͤberhaupt nur poetiſch bearbeitet werden ſollte, ſo mußte er, da er keine koͤrperliche Ratur anneh - men und folglich kein Gegenſtand der ſinnlichen Anſchauung werden konnte, ins Unendliche hinuͤbergefuͤhrt und zu ei - nem Gegenſtand der geiſtigen Anſchauung erhoben wer - den. Ueberhaupt laͤßt ſich nur in dieſem Sinne eine di - daktiſche Poeſie ohne innern Widerſpruch denken; denn, um es noch einmal zu wiederhohlen, nur dieſe zwey Fel - der beſitzt die Dichtkunſt; entweder ſie muß ſich in der Sinnenwelt oder ſie muß ſich in der Ideenwelt aufhal - ten, da ſie im Reich der Begriffe oder in der Verſtandes - welt ſchlechterdings nicht gedeihen kann. Noch, ich ge - ſtehe es, kenne ich kein Gedicht in dieſer Gattung, weder aus aͤlterer noch neuerer Litteratur, welches den Begriff, den es bearbeitet, rein und vollſtaͤndig entweder bis zur Individualitaͤt herab oder bis zur Idee hinaufgefuͤhrt haͤtte. Der gewoͤhnliche Fall iſt, wenn es noch gluͤcklich28 geht, daß zwiſchen beyden abgewechſelt wird, waͤhrend daß der abſtrakte Begriff herrſchet, und daß der Einbildungs - kraft, welche auf dem poetiſchen Felde zu gebieten haben ſoll, bloß verſtattet wird, den Verſtand zu bedienen. Das - jenige didaktiſche Gedicht, worinn der Gedanke ſelbſt poe - tiſch waͤre, und es auch bliebe, iſt noch zu erwarten.
Was hier im allgemeinen von allen Lehrgedichten ge - ſagt wird, gilt auch von den Halleriſchen insbeſondere. Der Gedanke ſelbſt iſt kein dichteriſcher Gedanke, aber die Ausfuͤhrung wird es zuweilen, bald durch den Ge - brauch der Bilder bald durch den Aufſchwung zu Ideen. Nur in der letztern Qualitaͤt gehoͤren ſie hieher. Kraft und Tiefe und ein pathetiſcher Ernſt charakteriſiren dieſen Dichter. Von einem Ideal iſt ſeine Seele entzuͤndet, und ſein gluͤhendes Gefuͤhl fuͤr Wahrheit ſucht in den ſt[i]llen Alpenthaͤlern die aus der Welt verſchwundene Un - ſchuld. Tiefruͤhrend iſt ſeine Klage, mit energiſcher, faſt bittrer Satyre zeichnet er die Verirrungen des Verſtan - des und Herzens und mit Liebe die ſchoͤne Einfalt der Natur. Nur uͤberwiegt uͤberall zu ſehr der Begriff in ſeinen Gemaͤhlden, ſo wie in ihm ſelbſt der Verſtand uͤber die Empfindung den Meiſter ſpielt. Daher lehrt er durchgaͤngig mehr als er darſtellt, und ſtellt durchgaͤn - gig mit mehr kraͤftigen als lieblichen Zuͤgen dar. Er iſt groß, kuͤhn, feurig, erhaben; zur Schoͤnheit aber hat er ſich ſelten oder niemals erhoben.
An Ideengehalt und an Tiefe des Geiſtes ſteht Kleiſt dieſem Dichter um vieles nach; an Anmuth moͤchte er ihn uͤbertreffen, wenn wir ihm anders nicht, wie zuwei - len geſchieht, einen Mangel auf der einen Seite fuͤr eine29 Staͤrke auf der andern anrechnen. Kleiſts gefuͤhlvolle Seele ſchwelgt am liebſten im Anblick laͤndlicher Scenen und Sitten. Er flieht gerne das leere Geraͤuſch der Ge - ſellſchaft und findet im Schooß der lebloſen Natur die Harmonie und den Frieden, den er in der moraliſchen Welt vermißt. Wie ruͤhrend iſt ſeine Sehnſucht nach Ruhe! *Man ſehe das Gedicht dieſes Nahmens in ſeinen Werken.Wie wahr und gefuͤhlt, wenn er ſingt:
Aber hat ihn ſein Dichtungstrieb aus dem einengenden Kreis der Verhaͤltniſſe heraus in die geiſtreiche Einſam - keit der Natur gefuͤhrt, ſo verfolgt ihn auch noch biß hieher das aͤngſtliche Bild des Zeitalters und leider auch ſeine Feſſeln. Was er fliehet, iſt in ihm, was er ſuchet, iſt ewig auſſer ihm; nie kann er den uͤblen Einfluß ſeines Jahrhunderts verwinden. Iſt ſein Herz gleich feurig, ſeine Phantaſie gleich energiſch genug, die todten Gebilde des Verſtandes durch die Darſtellung zu beſeelen, ſo ent - ſeelt der kalte Gedanke eben ſo oft wieder die lebendige Schoͤpfung der Dichtungskraft, und die Reflexion ſtoͤrt das geheime Werk der Empfindung. Bunt zwar und prangend wie der Fruͤhling, den er beſang, iſt ſeine Dich - tung, ſeine Phantaſie iſt rege und thaͤtig, doch moͤchte man ſie eher veraͤnderlich als reich, eher ſpielend als30 ſchaffend, eher unruhig fortſchreitend als ſammelnd und bildend nennen. Schnell und uͤppig wechſeln Zuͤge auf Zuͤge, aber ohne ſich zum Individuum zu concentrieren, ohne ſich zum Leben zu fuͤllen und zur Geſtalt zu runden. Solange er bloß lyriſch dichtet und bloß bey landſchaft - lichen Gemaͤhlden verweilt, laͤßt uns theils die groͤßere Freyheit der lyriſchen Form, theils die willkuͤhrlichere Beſchaffenheit ſeines Stoffs dieſen Mangel uͤberſehen, indem wir hier uͤberhaupt mehr die Gefuͤhle des Dich - ters als den Gegenſtand ſelbſt dargeſtellt verlangen. Aber der Fehler wird nur allzu merklich, wenn er ſich, wie in ſeinem Ciſſides und Paches, und in ſeinem Se - neka, heraus nimmt, Menſchen und menſchliche Hand - lung darzuſtellen; weil hier die Einbildungskraft ſich zwiſchen feſten und nothwendigen Grenzen eingeſchloſſen ſieht, und der poetiſche Effekt nur aus dem Gegenſtand hervorgehen kann. Hier wird er duͤrftig, langweilig, mager und bis zum Unertraglichen froſtig: ein warnen - des Beyſpiel fuͤr alle, die ohne innern Beruf aus dem Felde muſikaliſcher Poeſie in das Gebiet der bildenden ſich verſteigen. Einem verwandten Genie, dem Thom - ſon, iſt die nehmliche Menſchlichkeit begegnet.
In der ſentimentaliſchen Gattung und beſonders in dem elegiſchen Theil derſelben moͤchten wenige aus den neuern und noch wenigere aus den aͤltern Dichtern mit unſerm Klopſtock zu vergleichen ſeyn. Was nur im - mer, außerhalb den Grenzen lebendiger Form und außer dem Gebiete der Individualitaͤt, im Felde der Idealitaͤt zu erreichen iſt, iſt von dieſem muſikaliſchen Dichter ge - leiſtet. *Ich ſage muſikaliſchen, um hier an die doppelte Ver -Zwar wuͤrde man ihm großes Unrecht thun,31 wenn man ihm jene individuelle Wahrheit und Lebendig - keit, womit der naive Dichter ſeinen Gegenſtand ſchil - dert, uͤberhaupt abſprechen wollte. Viele ſeiner Oden, mehrere einzelne Zuͤge in ſeinen Dramen und in ſeinem Meſſias ſtellen den Gegenſtand mit treffender Wahrheit und in ſchoͤner Umgrenzung dar; da beſonders, wo der Gegenſtand ſein eigenes Herz iſt, hat er nicht ſelten eine große Natur, eine reitzende Naivetaͤt bewieſen. Nur liegt hierinn ſeine Staͤrke nicht, nur moͤchte ſich dieſe Eigenſchaft nicht durch das Ganze ſeines dichteriſchen Kreiſes durchfuͤhren laſſen. So eine herrliche Schoͤpfung die Meſſiade in muſikaliſch poetiſcher Ruͤckſicht, nach der oben gegebenen Beſtimmung, iſt, ſo vieles laͤßt ſie in plaſtiſch poetiſcher noch zu wuͤnſchen uͤbrig, wo man beſtimmte und fuͤr die Anſchauung beſtimmte Formen erwartet. Beſtimmt genug moͤchten vielleicht*wandtſchaft der Poeſie mit der Tonkunſt und mit der bil - denden Kunſt zu erinnern. Je nachdem nehmlich die Poeſie entweder einen beſtimmten Gegenſtand nachahmt, wie die bildenden Kuͤnſte thun, oder je nachdem ſie, wie die Ton - kunſt, bloß einen beſtimmten Zuſtand des Gemuͤths hervorbringt, ohne dazu eines beſtimmten Gegenſtandes noͤ - thig zu haben, kann ſie bildend (plaſtiſch) oder muſika - liſch genannt werden. Der letztere Ausdruck bezieht ſich alſo nicht bloß auf dasjenige, was in der Poeſie, wirklich und der Materie nach, Muſik iſt, ſondern uͤberhaupt auf alle diejenigen Effekte derſelben, die ſie hervorzubringen ver - mag, ohne die Einbildungskraft durch ein beſtimmtes Objekt zu beſchraͤnken; und in dieſem Sinne nenne ich Klopſtock vorzugsweiſe einen muſikaliſchen Dichter.32 noch die Figuren in dieſem Gedichte ſeyn, aber nicht fuͤr die Anſchauung; nur die Abſtraktion hat ſie erſchaffen, nur die Abſtraktion kann ſie unterſcheiden. Sie ſind gute Exempel zu Begriffen, aber keine Individuen, keine le - bende Geſtalten. Der Einbildungskraft, an die doch der Dichter ſich wenden, und die er durch die durch - gaͤngige Beſtimmtheit ſeiner Formen beherrſchen ſoll, iſt es viel zu ſehr frey geſtellt, auf was Art ſie ſich dieſe Menſchen und Engel, dieſe Goͤtter und Satane, dieſen Himmel und dieſe Hoͤlle verſinnlichen will. Es iſt ein Umriß gegeben, innerhalb deſſen der Verſtand ſie noth - wendig denken muß, aber keine feſte Grenze iſt geſetzt, innerhalb deren die Phantaſie ſie nothwendig darſtellen muͤßte. Was ich hier von den Charakteren ſage, gilt von allem, was in dieſem Gedichte Leben und Handlung iſt oder ſeyn ſoll; und nicht bloß in dieſer Epopee, auch in den dramatiſchen Poeſien unſers Dichters. Fuͤr den Ver - ſtand iſt alles treflich beſtimmt und begrenzet (ich will hier nur an ſeinen Judas, ſeinen Pilatus, ſeinen Philo, ſeinen Salomo, im Trauerſpiel dieſes Nahmens erinnern) aber es iſt viel zu formlos fuͤr die Einbildungskraft und hier, ich geſtehe es frey heraus, finde ich dieſen Dichter ganz und gar nicht in ſeiner Sphaͤre.
Seine Sphaͤre iſt immer das Ideenreich, und ins Un - endliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinuͤber zu fuͤhren. Man moͤchte ſagen, er ziehe allem, was er be - handelt, den Koͤrper aus, um es zu Geiſt zu machen, ſo wie andre Dichter alles geiſtige mit einem Koͤrper be - kleiden. Beynahe jeder Genuß, den ſeine Dichtungen gewaͤhren, muß durch eine Uebung der Denkkraft errun - gen werden; alle Gefuͤhle, die er, und zwar ſo innig und33 ſo maͤchtig in uns zu erregen weiß, ſtroͤmen aus uͤberſinn - lichen Quellen hervor. Daher dieſer Ernſt, dieſe Kraft, dieſer Schwung, dieſe Tiefe, die alles charakteriſieren, was von ihm kommt; daher auch dieſe immerwaͤhrende Spannung des Gemuͤths, in der wir bey Leſung deſſelben erhalten werden. Kein Dichter (Young etwa ausge - nommen, der darinn mehr fodert als Er, aber ohne es, wie er thut, zu verguͤten) duͤrfte ſich weniger zum Lieb - ling und zum Begleiter durchs Leben ſchicken, als gerade Klopſtock, der uns immer nur aus dem Leben heraus - fuͤhrt, immer nur den Geiſt unter die Waffen ruft, ohne den Sinn mit der ruhigen Gegenwart eines Objekts zu erquicken. Keuſch, uͤberirrdiſch, unkoͤrperlich, heilig wie ſeine Religion iſt ſeine dichteriſche Muſe, und man muß mit Bewunderung geſtehen, daß er, wiewohl zuwei - len in dieſen Hoͤhen verirret, doch niemals davon herab - geſunken iſt. Ich bekenne daher unverhohlen, daß mir fuͤr den Kopf desjenigen etwas bange iſt, der wirklich und ohne Affektation dieſen Dichter zu ſeinem Lieblings - buche machen kann; zu einem Buche nehmlich, bey dem man zu jeder Lage ſich ſtimmen, zu dem man aus jeder Lage zuruͤckkehren kann; auch, daͤchte ich, haͤtte man in Deutſchland Fruͤchte genug von ſeiner gefaͤhrlichen Herr - ſchaft geſehen. Nur in gewiſſen exaltierten Stimmungen des Gemuͤths kann er geſucht und empfunden werden; deswegen iſt er auch der Abgott der Jugend, obgleich bey weitem nicht ihre gluͤcklichſte Wahl. Die Jugend, die immer uͤber das Leben hinausſtrebt, die alle Form fliehet, und jede Grenze zu enge findet, ergeht ſich mit Liebe und Luſt in den endloſen Raͤumen, die ihr von dieſem Dich - ter aufgethan werden. Wenn dann der Juͤngling Mann wird, und aus dem Reiche der Ideen in die Grenzen derDie Horen. 1795. 12tes St. 334Erfahrung zuruͤckkehrt, ſo verliert ſich vieles, ſehr vieles von jener enthuſiaſtiſchen Liebe, aber nichts von der Ach - tung, die man einer ſo einzigen Erſcheinung, einem ſo außerordentlichen Genius, einem ſo ſehr veredelten Ge - fuͤhl, die der Deutſche beſonders einem ſo hohen Ver - dienſte ſchuldig iſt.
Ich nannte dieſen Dichter vorzugsweiſe in der elegi - ſchen Gattung groß, und kaum wird es noͤthig ſeyn, die - ſes Urtheil noch beſonders zu rechtfertigen. Faͤhig zu je - der Energie und Meiſter auf dem ganzen Felde ſentimen - taliſcher Dichtung kann er uns bald durch das hoͤchſte Pathos erſchuͤttern, bald in himmliſch ſuͤſſe Empfindun - gen wiegen; aber zu einer hohen geiſtreichen Wehmuth neigt ſich doch uͤberwiegend ſein Herz, und wie erhaben auch ſeine Harfe, ſeine Lyra toͤnt, ſo werden die ſchmel - zenden Toͤne ſeiner Laute doch immer wahrer und tiefer und beweglicher klingen. Ich berufe mich auf jedes rein geſtimmte Gefuͤhl, ob es nicht alles Kuͤhne und Starke, alle Fictionen, alle prachtvollen Beſchreibungen, alle Muſter oratoriſcher Beredtſamkeit im Meſſias, alle ſchim - mernden Gleichniſſe, worinn unſer Dichter ſo vorzuͤglich gluͤcklich iſt, fuͤr die zarten Empfindungen hingeben wuͤrde, welche in der Elegie an Ebert, in dem herrlichen Gedicht Bardale, den fruͤhen Graͤbern, der Sommernacht, dem Zuͤrcher See und mehrere andere aus dieſer Gattung athmen. So iſt mir die Meſſiade als ein Schatz elegiſcher Gefuͤhle und idealiſcher Schilderungen theuer, wie wenig ſie mich auch als Darſtellung einer Handlung und als ein epiſches Werk befriedigt.
Vielleicht ſollte ich, ehe ich dieſes Gebiet verlaſſe,35 auch noch an die Verdienſte eines Uz, Denis, Geßner (in ſeinem Tod Abels) Jacobi, von Gerſtenberg, eines Hoͤlty, von Goͤckingk, und mehrerer andern in dieſer Gattung erinnern, welche alle uns durch Ideen ruͤhren, und, in der oben feſtgeſetzten Bedeutung des Worts, ſentimentaliſch gedichtet haben. Aber mein Zweck iſt nicht, eine Geſchichte der deutſchen Dichtkunſt zu ſchrei - ben, ſondern das oben geſagte durch einige Beyſpiele aus unſrer Litteratur klar zu machen. Die Verſchieden - heit des Weges wollte ich zeigen, auf welchem alte und moderne, naive und ſentimentaliſche Dichter zu dem nehm - lichen Ziele gehen — daß, wenn uns jene durch Natur, Individualitaͤt und lebendige Sinnlichkeit ruͤhren, dieſe durch Ideen und hohe Geiſtigkeit eine eben ſo große, wenn gleich keine ſo ausgebreitete, Macht uͤber unſer Gemuͤth beweiſen.
An den bisherigen Beyſpielen hat man geſehen, wie der ſentimentaliſche Dichtergeiſt einen natuͤrlichen Stoff behandelt; man koͤnnte aber auch intereſſiert ſeyn zu wiſ - ſen, wie der naive Dichtergeiſt mit einem ſentimentaliſchen Stoff verfaͤhrt. Voͤllig neu und von einer ganz eigenen Schwierigkeit ſcheint dieſe Aufgabe zu ſeyn, da in der alten und naiven Welt ein ſolcher Stoff ſich nicht vor - fand, in der neuen aber der Dichter dazu fehlen moͤchte. Dennoch hat ſich das Genie auch dieſe Aufgabe gemacht, und auf eine bewundernswuͤrdig gluͤckliche Weiſe aufge - loͤßt. Ein Charakter, der mit gluͤhender Empfindung ein Ideal umfaßt, und die Wirklichkeit fliehet, um nach ei - nem weſenloſen Unendlichen zu ringen, der was er in ſich ſelbſt unaufhoͤrlich zerſtoͤrt, unaufhoͤrlich auſſer ſich ſu - chet, dem nur ſeine Traͤume das Reelle, ſeine Erfahrun -36 gen ewig nur Schranken ſind, der endlich in ſeinem eige - nen Daſeyn nur eine Schranke ſieht, und auch dieſe, wie billig iſt, noch einreißt, um zu der wahren Realitaͤt durch - zudringen — dieſes gefaͤhrliche Extrem des ſentimentali - ſchen Charakters iſt der Stoff eines Dichters geworden, in welchem die Natur getreuer und reiner als in irgend einem andern wirkt, und der ſich unter modernen Dich - tern vielleicht am wenigſten von der ſinnlichen Wahrheit der Dinge entfernt.
Es iſt intereſſant zu ſehen, mit welchem gluͤcklichen Inſtinkt alles was dem ſentimentaliſchen Charakter Nah - rung giebt, im Werther zuſammengedraͤngt iſt; ſchwaͤr - meriſche ungluͤckliche Liebe, Empfindſamkeit fuͤr Natur, Religionsgefuͤhle, philoſophiſcher Contemplationsgeiſt, endlich, um nichts zu vergeſſen, die duͤſtre, geſtaltloſe, ſchwermuͤthige Oſſianiſche Welt. Rechnet man dazu, wie wenig empfehlend, ja wie feindlich die Wirklichkeit da - gegen geſtellt iſt, und wie von auſſen her alles ſich ver - einigt, den Gequaͤlten in ſeine Idealwelt zuruͤckzudraͤngen, ſo ſieht man keine Moͤglichkeit, wie ein ſolcher Charakter aus einem ſolchen Kreiſe ſich haͤtte retten koͤnnen. In dem Taſſo des nehmlichen Dichters kehrt der nehmliche Gegenſatz, wiewohl in ganz verſchiedenen Charakteren; ſelbſt in ſeinem neueſten Roman ſtellt ſich, ſo wie in jenem erſten, der poetiſierende Geiſt dem nuͤchternen Ge - meinſinn, das Ideale dem Wirklichen, die ſubjektive Vor - ſtellungsweiſe der objektiven — — aber mit welcher Ver - ſchiedenheit! entgegen: ſogar im Fauſt treffen wir den nehmlichen Gegenſatz, freylich wie auch der Stoff dieß erfoderte, auf beyden Seiten ſehr vergroͤbert und mate - rialiſiert wieder an; es verlohnte wohl der Muͤhe, eine37 pſychologiſche Entwicklung dieſes auf vier ſo verſchiedene Arten ſpecificierten Charakters zu verſuchen.
Es iſt oben bemerkt worden, daß die bloß leichte und joviale Gemuͤthsart, wenn ihr nicht eine innere Ideen - fuͤlle zum Grund liegt, noch gar keinen Beruf zur ſcherz - haften Satyre abgebe, ſo freygebig ſie auch im gewoͤhn - lichen Urtheil dafuͤr genommen wird; eben ſo wenig Be - ruf giebt die bloß zaͤrtliche Weichmuͤthigkeit und Schwer - muth zur elegiſchen Dichtung. Beyden fehlt zu dem wahren Dichtertalente das energiſche Princip, welches den Stoff beleben muß, um das wahrhaft ſchoͤne zu erzeugen. Pro - dukte dieſer zaͤrtlichen Gattung koͤnnen uns daher bloß ſchmelzen und ohne das Herz zu erquicken und den Geiſt zu beſchaͤftigen, bloß der Sinnlichkeit ſchmeicheln. Ein fortgeſetzter Hang zu dieſer Empfindungsweiſe muß zuletzt nothwendig den Charakter entnerven und in einen Zuſtand der Paßivitaͤt verſenken, aus welchem gar keine Realitaͤt, weder fuͤr das aͤußre noch innre Leben, hervorgehen kann. Man hat daher ſehr Recht gethan, jenes Uebel der Em - pfindeley*„ Der Hang, wie Herr Adelung ſie definiert, zu ruͤbrenden ſanften Empfindungen, ohne vernuͤnftige Abſicht und uͤber das gehoͤrige Maaß “— Herr Adelung iſt ſehr gluͤcklich, daß er nur aus Abſicht und gar nur aus ver - nuͤnftiger Abſicht empfindet. und weinerliche Weſen, welches durch Mißdeutung und Nachaͤffung einiger vortreflichen Werke, vor etwa achtzehn Jahren, in Deutſchland uͤberhand zu nehmen anfieng, mit unerbittlichem Spott zu verfolgen; obgleich die Nachgiebigkeit, die man gegen das nicht viel beßere Gegenſtuͤck jener elegiſchen Karrikatur, gegen das38 ſpaßhafte Weſen, gegen die herzloſe Satyre, und die geiſtloſe Laune*Man ſoll zwar gewiſſen Leſern ihr duͤrftiges Vergnuͤgen nicht verkuͤmmern, und was geht es zuletzt die Critik an, wenn es Leute giebt, die ſich an dem ſchmutzigen Witz des Herrn Blumauer erbauen und erluſtigen koͤnnen. Aber die Kunſtrichter wenigſtens ſollten ſich enthalten, mit einer gewiſſen Achtung von Produkten zu ſprechen, deren Exiſtenz dem guten Geſchmack billig ein Geheim - niß bleiben ſollte. Zwar iſt weder wahres Talent noch Laune darinn zu verkennen, aber deſto mehr iſt zu beklagen, daß beydes nicht mehr gereiniget iſt. Ich ſage nichts von unſern deutſchen Comoͤdien; die Dichter mahlen die Zeit, in der ſie leben. zu beweiſen geneigt iſt, deutlich ge - nug an den Tag legt, daß nicht aus ganz reinen Gruͤn - den dagegen geeifert worden iſt. Auf der Wage des aͤchten Geſchmacks kann das eine ſo wenig als das andere etwas gelten, weil beyden der aeſthetiſche Gehalt fehlt, der nur in der innigen Verbindung des Geiſtes mit dem Stoff und in der vereinigten Beziehung eines Produktes auf das Gefuͤhlvermoͤgen und auf das Ideenvermoͤgen enthalten iſt.
Ueber Siegwart und ſeine Kloſtergeſchichte hat man geſpottet, und die Reiſen nach dem mittaͤglichen Frankreich werden bewundert; dennoch haben beyde Produkte gleich großen Anſpruch auf einen gewiſſen Grad von Schaͤtzung, und gleich geringen auf ein unbedingtes Lob. Wahre, obgleich uͤberſpannte Empfindung macht den39 erſtern Roman, ein leichter Humor und ein aufgeweckter feiner Verſtand macht den zweyten ſchaͤtzbar; aber ſo wie es dem einen durchaus an der gehoͤrigen Nuͤchternheit des Verſtandes fehlt, ſo fehlt es dem andern an aeſthetiſcher Wuͤrde. Der erſte wird der Erfahrung gegenuͤber ein we - nig laͤcherlich, der andere wird dem Ideale gegenuͤber beynahe veraͤchtlich. Da nun das wahrhafte Schoͤne ei - nerſeits mit der Natur und andrerſeits mit dem Ideale uͤbereinſtimmend ſeyn muß, ſo kann der eine ſo wenig als der andre auf den Nahmen eines ſchoͤnen Werks Anſpruch machen. Indeſſen iſt es natuͤrlich und billig, und ich weiß es aus eigner Erfahrung, daß der Thuͤmmeliſche Roman mit großem Vergnuͤgen geleſen wird. Da er nur ſolche Foderungen beleidigt, die aus dem Ideal entſprin - gen, die folglich von dem groͤßten Theil der Leſer gar nicht, und von den beßern gerade nicht in ſolchen Mo - menten, wo man Romanen ließt, aufgeworfen werden, die uͤbrigen Foderungen des Geiſtes und — des Koͤrpers hingegen in nicht gemeinem Grade erfuͤllt, ſo muß er und wird mit Recht ein Lieblingsbuch unſerer und aller der Zeiten bleiben, wo man aeſthetiſche Werke bloß ſchreibt, um zu gefallen, und bloß ließt, um ſich ein Vergnuͤgen zu machen.
Aber hat die poetiſche Litteratur nicht ſogar klaſſiſche Werke aufzuweiſen, welche die hohe Reinheit des Ideals auf aͤhnliche Weiſe zu beleidigen, und ſich durch die Ma - terialitaͤt ihres Inhalts von jener Geiſtigkeit, die hier von jedem aeſthetiſchen Kunſtwerk verlangt wird, ſehr weit zu entfernen ſcheinen? Was ſelbſt der Dichter, der keuſche Juͤnger der Muſe, ſich erlauben darf, ſollte das dem Romanſchreiber, der nur ſein Halbbruder iſt und die40 Erde noch ſo ſehr beruͤhrt, nicht geſtattet ſeyn? Ich darf dieſer Frage hier um ſo weniger ausweichen, da ſowohl im elegiſchen als im ſatyriſchen Fache Meiſterſtuͤcke vorhanden ſind, welche eine ganz andre Natur, als diejenige iſt, von der dieſer Aufſatz ſpricht, zu ſuchen, zu empfehlen, und dieſelbe nicht ſowohl gegen die ſchlechten als gegen die guten Sitten zu vertheidigen das Anſehen haben. Ent - weder muͤßten alſo jene Dichterwerke zu verwerfen oder der hier aufgeſtellte Begriff elegiſcher Dichtung viel zu willkuͤhrlich angenommen ſeyn.
Was der Dichter ſich erlauben darf, hieß es, ſollte dem proſaiſchen Erzaͤhler nicht nachgeſehen werden duͤrfen? Die Antwort iſt in der Frage ſchon enthalten: was dem Dichter verſtattet iſt, kann fuͤr den, der es nicht iſt, nichts beweiſen. In dem Begriffe des Dichters ſelbſt und nur in dieſem ligt der Grund jener Freyheit, die eine bloß veraͤchtliche Licenz iſt, ſobald ſie nicht aus dem Hoͤch - ſten und Edelſten, was ihn ausmacht, kann abgeleitet werden.
Die Geſetze des Anſtandes ſind der unſchuldigen Na - tur fremd; nur die Erfahrung der Verderbniß hat ihnen den Urſprung gegeben. Sobald aber jene Erfahrung ein - mal gemacht worden, und aus den Sitten die natuͤrliche Unſchuld verſchwunden iſt, ſo ſind es heilige Geſetze, die ein ſittliches Gefuͤhl nicht verletzen darf. Sie gelten in einer kuͤnſtlichen Welt mit demſelben Rechte, als die Geſetze der Natur in der Unſchuldwelt regieren. Aber eben das macht ja den Dichter aus, daß er alles in ſich aufhebt, was an eine kuͤnſtliche Welt erinnert, daß er die Natur in ihrer urſpruͤnglichen Einfalt wieder in ſich herzuſtellen weiß. 41Hat er aber dieſes gethan, ſo iſt er auch eben dadurch von allen Geſetzen losgeſprochen, durch die ein verfuͤhrtes Herz ſich gegen ſich ſelbſt ſicher ſtellt. Er iſt rein, er iſt unſchuldig und was der unſchuldigen Natur erlaubt iſt, iſt es auch ihm; biſt du, der du ihn lieſeſt oder hoͤrſt, nicht mehr ſchuldlos, und kannſt du es nicht einmal mo - mentweiſe durch ſeine reinigende Gegenwart werden, ſo iſt es dein Ungluͤck und nicht das ſeine; du verlaͤſſeſt ihn, er hat fuͤr dich nicht geſungen.
Es laͤßt ſich alſo, in Abſicht auf Freyheiten dieſer Art folgendes feſtſetzen.
Fuͤrs erſte: nur die Natur kann ſie rechtfertigen. Sie duͤrfen mithin nicht das Werk der Wahl und einer abſicht - lichen Nachahmung ſeyn, denn dem Willen, der immer nach moraliſchen Geſetzen gerichtet wird, koͤnnen wir ei - ne Beguͤnſtigung der Sinnlichkeit niemals vergeben. Sie muͤſſen alſo Naivetaͤt ſeyn. Um uns aber uͤberzeugen zu koͤnnen, daß ſie dieſes wirklich ſind, muͤſſen wir ſie von allem uͤbrigen, was gleichfalls in der Natur gegruͤndet iſt, unterſtuͤtzt und begleitet ſehen, weil die Natur nur an der ſtrengen Conſequenz, Einheit und Gleichfoͤrmigkeit ihrer Wirkungen zu erkennen iſt. Nur einem Herzen, welches alle Kuͤnſteley uͤberhaupt, und mithin auch da, wo ſie nuͤtzt, verabſcheut, erlauben wir, ſich da, wo ſie druͤckt und einſchraͤnkt, davon loszuſprechen; nur einem Herzen, welches ſich allen Feßeln der Natur unterwirft, erlauben wir, von den Freyheiten derſelben Gebrauch zu machen. Alle uͤbrigen Empfindungen eines ſolchen Menſchen muͤſ - fen folglich das Gepraͤge der Natuͤrlichkeit an ſich tragen; er muß wahr, einfach, frey, offen, gefuͤhlvoll, gerade42 ſeyn; alle Verſtellung, alle Liſt, alle Willkuͤhr, alle klein - liche Selbſtſucht muß aus ſeinem Charakter, alle Spu - ren davon aus ſeinem Werke verbannt ſeyn.
Fuͤrs zweyte: nur die ſchoͤne Natur kann derglei - chen Freyheiten rechtfertigen. Sie duͤrfen mithin kein ein - ſeitiger Ausbruch der Begierde ſeyn, denn alles, was aus bloßer Beduͤrftigkeit entſpringt, iſt veraͤchtlich. Aus dem Ganzen und aus der Fuͤlle menſchlicher Natur muͤſſen auch dieſe ſinnlichen Energien hervorgehen. Sie muͤſſen Hu - manitaͤt ſeyn. Um aber beurtheilen zu koͤnnen, daß das Ganze menſchlicher Natur, und nicht bloß ein ein - ſeitiges und gemeines Beduͤrfniß der Sinnlichkeit ſie fo - dert, muͤſſen wir das Ganze, von dem ſie einen einzelnen Zug ausmachen, dargeſtellt ſehen. An ſich ſelbſt iſt die ſinnliche Empfindungsweiſe etwas unſchuldiges und gleich - guͤltiges. Sie mißfaͤllt uns nur darum an einem Men - ſchen, weil ſie thieriſch iſt, und von einem Mangel wah - rer vollkommener Menſchheit in ihm zeuget: ſie beleidigt uns nur darum an einem Dichterwerk, weil ein ſolches Werk Anſpruch macht, uns zu gefallen, mithin auch uns eines ſolchen Mangels faͤhig haͤlt. Sehen wir aber in dem Menſchen, der ſich dabey uͤberraſchen laͤßt, die Menſch - heit in ihrem ganzen uͤbrigen Umfange wirken; finden wir in dem Werke, worinn man ſich Freyheiten dieſer Art genommen, alle Realitaͤten der Menſchheit ausgedruͤckt, ſo iſt jener Grund unſers Mißfallens weggeraͤumt, und wir koͤnnen uns mit unvergaͤllter Freude an dem naiven Ausdruck wahrer und ſchoͤner Natur ergoͤtzen. Derſelbe Dichter alſo, der ſich erlauben darf, uns zu Theilneh - mern ſo niedrig menſchlicher Gefuͤhle zu machen, muß uns auf der andern Seite wieder zu allem, was groß43 und ſchoͤn und erhaben menſchlich iſt, empor zu tragen wiſſen.
Und ſo haͤtten wir denn den Maaßſtab gefunden, dem wir jeden Dichter, der ſich etwas gegen den Anſtand her - ausnimmt, und ſeine Freyheit in Darſtellung der Natur biß zu dieſer Grenze treibt mit Sicherheit unterwerfen koͤnnen. Sein Produkt iſt gemein, niedrig, ohne alle Ausnahme verwerflich, ſobald es kalt und ſobald es leer iſt, weil dieſes einen Urſprung aus Abſicht und aus einem gemeinen Beduͤrfniß und einen heilloſen Anſchlag auf un - ſre Begierden beweißt. Es iſt hingegen ſchoͤn, edel, und ohne Ruͤckſicht auf alle Einwendungen einer froſtigen De - cenz Beyfallswuͤrdig, ſobald es naiv iſt, und Geiſt mit Herz verbindet. *Mit Herz; denn die bloß ſinnliche Glut des Gemaͤhldes und die uͤppige Fuͤlle der Einbildungskraft machen es noch lange nicht aus. Daher bleibt Ardinghello bey aller ſinnlichen Energie und allem Feuer des Kolorits immer nur eine ſinn - liche Karrikatur, ohne Wahrheit und ohne aͤſthetiſche Wuͤr - de. Doch wird dieſe ſeltſame Produktion immer als ein Beyſpiel des beynahe poetiſchen Schwungs, den die bloße Begier zu nehmen faͤhig war, merkwuͤrdig bleiben.
Wenn man mir ſagt, daß unter dem hier gegebenen Maaßſtab die meiſten franzoͤſiſchen Erzaͤhlungen in dieſer Gattung, und die gluͤcklichſten Nachahmungen derſelben in Deutſchland nicht zum beſten beſtehen moͤchten — daß dieſes zum Theil auch der Fall mit manchen Produkten unſers anmuthigſten und geiſtreichſten Dichters ſeyn duͤrf -44 te, ſeine Meiſterſtuͤcke ſogar nicht ausgenommen, ſo habe ich nichts darauf zu antworten. Der Ausſpruch ſelbſt iſt nichts weniger als neu, und ich gebe hier nur die Gruͤn - de von einem Urtheil an, welches laͤngſt ſchon von jedem feineren Gefuͤhle uͤber dieſe Gegenſtaͤnde gefaͤllt worden iſt. Eben dieſe Principien aber, welche in Ruͤckſicht auf jene Schriften vielleicht allzu rigoriſtiſch ſcheinen, moͤchten in Ruͤckſicht auf einige andere Werke vielleicht zu liberal be - funden werden; denn ich laͤugne nicht, daß die nehmli - chen Gruͤnde, aus welchen ich die verfuͤhreriſchen Ge - maͤhlde des roͤmiſchen und deutſchen Ovid, ſo wie eines Crebillon, Voltaire, Marmontels (der ſich einen moraliſchen Erzaͤhler nennt) Laclos und vieler andern, einer Entſchuldigung durchaus fuͤr unfaͤ - hig halte, mich mit den Elegien des roͤmiſchen und deutſchen Properz, ja ſelbſt mit manchem verſchrie - nen Produkt des Diderot verſoͤhnen; denn jene ſind nur witzig, nur proſaiſch, nur luͤſtern, dieſe ſind poetiſch, menſchlich und naiv. *Wenn ich den unſterblichen Verfaſſer des Agathon, Obe - ron ꝛc. in dieſer Geſellſchaft nenne, ſo muß ich ausdruͤcklich erklaͤren, daß ich ihn keineswegs mit derſelben verwechſelt haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichſten von dieſer Seite, haben keine materielle Tendenz (wie ſich ein neuerer etwas unbeſonnener Critiker vor kurzem zu ſagen erlaubte) der Verfaſſer von Liebe um Liebe und von ſo vie - len andern naiven und genialiſchen Werken, in welchen al - len ſich eine ſchoͤne und edle Seele mit unverkennbaren Zuͤ - gen abbildet, kann eine ſolche Tendenz gar nicht haben. Aber er ſcheint mir von dem ganz eigenen Ungluͤck verfolgt zu
Es bleiben mir noch einige Worte uͤber dieſe dritte Species ſentimentaliſcher Dichtung zu ſagen uͤbrig, we - nige Worte nur, denn eine ausfuͤhrlichere Entwicklung derſelben, deren ſie vorzuͤglich bedarf, bleibt einer andern Zeit vorbehalten. *Nochmals muß ich erinnern, daß die Satyre, Elegie und Idylle, ſo wie ſie hier als die drey einzig moͤglichen Arten ſentimentaliſcher Poeſie aufgeſtellt werden, mit den drey be - ſondern Gedichtarten, welche man unter dieſem Nahmen kennt, nichts gemein haben, als die Empfindungswei -
*ſeyn, daß dergleichen Schilderungen durch den Plan ſeiner Dichtungen nothwendig gemacht werden. Der kalte Ver - ſtand, der den Plan entwarf, foderte ſie ihm ab, und ſein Gefuͤhl ſcheint mir ſo weit entfernt, ſie mit Vorliebe zu be - guͤnſtigen, daß ich — in der Ausfuͤhrung ſelbſt immer noch den kalten Verſtand zu erkennen glaube. Und gerade dieſe Kaͤlte in der Darſtellung iſt ihnen in der Beurtheilung ſchaͤd - lich, weil nur die naive Empfindung dergleichen Schilde - rungen aͤſthetiſch ſowohl als moraliſch rechtfertigen kann. Ob es aber dem Dichter erlaubt iſt, ſich bey Entwerfung des Plans einer ſolchen Gefahr in der Ausfuͤhrung auszuſe - tzen, und ob uͤberhaupt ein Plan poetiſch heißen kann, der, ich will dieſes einmal zugeben, nicht kann ausgefuͤhrt wer - den, ohne die keuſche Empfindung des Dichters ſowohl als ſeines Leſers zu empoͤren, und ohne beyde bey Gegenſtaͤnden verweilen zu machen, von denen ein veredeltes Gefuͤhl ſich ſo gern entfernt — dieß iſt es, was ich bezweifle und woruͤ - ber ich gern ein verſtaͤndiges Urtheil hoͤren moͤchte.
46Die poetiſche Darſtellung unſchuldiger und gluͤcklicher Menſchheit iſt der allgemeine Begriff dieſer Dichtungsart. *ſe, welche ſowohl jenen als dieſen eigen iſt. Daß es aber, auſſerhalb den Grenzen naiver Dichtung, nur dieſe dreyfache Empfindungsweiſe und Dichtungsweiſe geben koͤnne, folglich das Feld ſentimentaliſcher Poeſie durch dieſe Eintheilung voll - ſtaͤndig ausgemeſſen ſey, laͤßt ſich aus dem Begriff der letz - tern leichtlich deducieren. Die ſentimentaliſche Dichtung nehmlich unterſcheidet ſich dadurch von der naiven, daß ſie den wirklichen Zuſtand, bey dem die letztere ſtehen bleibt auf Ideen bezieht, und Ideen auf die Wirklichkeit anwendet. Sie hat es daher immer, wie auch ſchon oben bemerkt worden iſt; mit zwey ſtreitenden Objek - ten, mit dem Ideale nehmlich und mit der Erfahrung, zu - gleich zu thun, zwiſchen welchen ſich weder mehr noch weni - ger als gerade die drey folgenden Verhaͤltniſſe denken laſſen. Entweder iſt es der Widerſpruch des wirklichen Zuſtandes oder es iſt die Uebereinſtimmung deſſe[l]ben mit dem Ideal, welche vorzugsweiſe das Gemuͤth beſchaͤftigt; oder dieſes iſt zwiſchen beyden getheilt. In dem erſten Falle wird es durch die Kraft des innern Streits, durch die ener - giſche Bewegung, in dem andern wird es durch die Harmonie des innern Lebens, durch die energiſche Ru - he befriedigt; in dem dritten wechſelt Streit mit Har - monie, wechſelt Ruhe mit Bewegung. Dieſer dreyfache Em - pfindungszuſtand giebt drey verſchiedenen Dichtungsarten die Entſtehung, denen die gebrauchten Benennungen Satyre, Idylle, Elegie vollkommen entſprechend ſind, ſobald man ſich nur an die Stimmung erinnert, in welche die, un - ter dieſem Nahmen vorkommenden Gedichtarten das Gemuͤth verſetzen, und von den Mitteln abſtrahiert, wodurch ſie die - ſelbe bewirken. Wer daher hier noch fragen koͤnnte, zu welcher von den drey Gattungen ich die Epopee, den Roman, das Trauer - ſpiel u. a. m. zaͤhle, der wuͤrde mich ganz und gar nicht ver - ſtanden haben. Denn der Begriff dieſer letztern, als einzel - ner Gedichtarten, wird entweder gar nicht oder doch nicht allein durch die Empfindungsweiſe beſtimmt; vielmehr weiß man, daß ſolche in mehr als einer Empfindungsweiſe, folglich auch in mehrern der von mir aufgeſtellten Dichtungs - arten koͤnnen ausgefuͤhrt werden. Schließlich bemerke ich hier noch, daß, wenn man die ſentimaliſche Poeſie, wie billig, fuͤr eine aͤchte Art (nicht bloß fuͤr eine Abart) und fuͤr eine Erweiterung der wahren Dichtkunſt zu halten geneigt iſt, in der Beſtimmung der poe - tiſchen Arten ſo wie uͤberhaupt in der ganzen poetiſchen Ge - ſetzgebung, welche noch immer einſeitig auf die Obſervanz der alten und naiven Dichter gegruͤndet wird, auch auf ſie47Weil dieſe Unſchuld und dieſes Gluͤck mit den kuͤnſtlichen Verhaͤltniſſen der groͤßern Societaͤt und mit einem gewiſ - ſen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unvertraͤglich ſchienen, ſo haben die Dichter den Schauplatz der Idylle aus dem Gedraͤnge des buͤrgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenſtand verlegt, und derſelben ihre Stelle vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Al - ter der Menſchheit angewieſen. Man begreift aber wohl, daß dieſe Beſtimmungen bloß zufaͤllig ſind, daß ſie nicht als der Zweck der Idylle, bloß als das natuͤrlichſte Mit - tel zu demſelben in Betrachtung kommen. Der Zweck ſelbſt iſt uͤberall nur der, den Menſchen im Stand der Unſchuld, d. h. in einem Zuſtand der Harmonie und des Friedens mit ſich ſelbſt und von auſſen darzuſtellen.
Aber ein ſolcher Zuſtand findet nicht bloß vor dem Anfange der Kultur ſtatt, ſondern er iſt es auch, den die Kultur, wenn ſie uͤberal nur eine beſtimmte Tendenz ha - ben ſoll, als ihr letztes Ziel beabſichtet. Die Idee dieſes Zuſtandes allein und der Glaube an die moͤgliche Realitaͤt derſelben kann den Menſchen mit allen den Uebeln verſoͤh - nen, denen er auf dem Wege der Kultur unterworfen iſt, und waͤre ſie bloß Schimaͤre, ſo wuͤrden die Klagen derer,*einige Ruͤckſicht muß genommen werden. Der ſentimentali - ſche Dichter geht in zu weſentlichen Stuͤcken von dem naiven ab, als daß ihm die Formen, welche dieſer eingefuͤhrt, uͤber - al ungezwungen anpaſſen koͤnnten. Freilich iſt es hier ſchwer, die Ausnahmen, welche die Verſchiedenheit der Art erfodert, von den Ausfluͤchten, welche das Unvermoͤgen ſich erlaubt, immer richtig zu unterſcheiden, aber ſoviel lehrt doch die Er - fahrung, daß unter den Haͤnden ſentimentaliſcher Dichter (auch der vorzuͤglichſten) keine einzige Gedichtart ganz das geblieben iſt, was ſie bey den Alten geweſen, und daß unter den alten Nahmen oͤfters ſehr neue Gattungen ſind ausge - fuͤhrt worden.48 welche die groͤßere Societaͤt und die Anbauung des Ver - ſtandes bloß als ein Uebel verſchreyen und jenen verlaſſe - nen Stand der Natur fuͤr den wahren Zweck des Menſchen ausgeben, vollkommen gegruͤndet ſeyn. Dem Menſchen der in der Kultur begriffen iſt, liegt alſo unendlich viel daran, von der Ausfuͤhrbarkeit jener Idee in der Sin - nenwelt, von der moͤglichen Realitaͤt jenes Zuſtandes eine ſinnliche Bekraͤftigung zu erhalten, und da die wirkliche Erfahrung, weit entfernt dieſen Glauben zu naͤhren, ihn vielmehr beſtaͤndig widerlegt, ſo koͤmmt auch hier, wie in ſo vielen andern Faͤllen das Dichtungsvermoͤgen der Vernunft zu Huͤlfe, um jene Idee zur Anſchauung zu bringen und in einem einzelnen Fall zu verwirklichen.
Zwar iſt auch jene Unſchuld des Hirtenſtandes eine poetiſche Vorſtellung, und die Einbildungskraft mußte ſich mithin auch dort ſchon ſchoͤpferiſch beweiſen; aber auſſer - dem daß die Aufgabe dort ungleich einfacher und leichter zu loͤſen war, ſo fanden ſich in der Erfahrung ſelbſt ſchon die einzelnen Zuͤge vor, die ſie nur auszuwaͤhlen und in ein Ganzes zu verbinden brauchte. Unter einem gluͤckli - chen Himmel, in den einfachen Verhaͤltniſſen des erſten Standes, bey einem beſchraͤnkten Wiſſen wird die Natur leicht befriedigt, und der Menſch verwildert nicht eher, als biß das Beduͤrfniß ihn aͤngſtiget. Alle Voͤlker, die ei - ne Geſchichte haben, haben ein Paradies, einen Stand der Unſchuld, ein goldnes Alter; ja jeder einzelne Menſch hat ſein Paradies, ſein goldnes Alter, deſſen er ſich, je nachdem er mehr oder weniger poetiſches in ſeiner Natur hat, mit mehr oder weniger Begeiſterung erinnert. Die Erfahrung ſelbſt bietet alſo Zuͤge genug zu dem Gemaͤhlde dar, welches die Hirtenidylle behandelt. Deßwegen bleibt49 aber dieſe immer eine ſchoͤne, eine erhebende Fiction, und die Dichtungskraft hat in Darſtellung derſelben wirklich fuͤr das Ideal gearbeitet. Denn fuͤr den Menſchen, der von der Einfalt der Natur einmal abgewichen und der gefaͤhrlichen Fuͤhrung ſeiner Vernunft uͤberliefert worden iſt, iſt es von unendlicher Wichtigkeit, die Geſetzgebung der Natur in einem reinen Exemplar wieder anzuſchauen, und ſich von den Verderbniſſen der Kunſt in dieſem treuen Spiegel wieder reinigen zu koͤnnen. Aber ein Umſtand findet ſich dabey, der den aͤſthetiſchen Werth ſolcher Dich - tungen um ſehr viel vermindert. Vor den Anfang der Kultur gepflanzt ſchließen ſie mit den Nachtheilen zugleich alle Vortheile derſelben aus, und befinden ſich ih - rem Weſen nach, in einem nothwendigen Streit mit der - ſelben. Sie fuͤhren uns alſo theoretiſch ruͤckwaͤrts, indem ſie uns praktiſch vorwaͤrts fuͤhren und veredeln. Sie ſtellen ungluͤcklicherweiſe das Ziel hinter uns, dem ſie uns doch entgegen fuͤhren ſollten, und koͤnnen uns daher bloß das traurige Gefuͤhl eines Verluſtes, nicht das froͤhliche der Hofnung einfloͤßen. Weil ſie nur durch Aufhebung aller Kunſt und nur durch Vereinfachung der menſchlichen Natur ihren Zweck ausfuͤhren, ſo haben ſie, bey dem hoͤchſten Gehalt fuͤr das Herz, allzuwenig fuͤr den Geiſt, und ihr einfoͤrmiger Kreis iſt zu ſchnell geen - digt. Wir koͤnnen ſie daher nur lieben und aufſuchen, wenn wir der Ruhe beduͤrftig ſind, nicht wenn unſre Kraͤfte nach Bewegung und Thaͤtigkeit ſtreben. Sie koͤn - nen nur dem kranken Gemuͤthe Heilung, dem geſunden keine Nahrung geben; ſie koͤnnen nicht beleben, nur beſaͤnftigen. Dieſen in dem Weſen der Hirtenidylle ge - gruͤndeten Mangel hat alle Kunſt der Poeten nicht gut ma - chen koͤnnen. Zwar fehlt es auch dieſer Dichtart nicht anDie Horen. 1795. 12tes St. 450enthuſiaſtiſchen Liebhabern, und es giebt Leſer genug, die einen Amintas und einen Daphnis den groͤßten Mei - ſterſtuͤcken der epiſchen und dramatiſchen Muſe vorziehen koͤnnen; aber bey ſolchen Leſern iſt es nicht ſowohl der Ge - ſchmack als das individuelle Beduͤrfniß, was uͤber Kunſt - werke richtet, und ihr Urtheil kann folglich hier in keine Betrachtung kommen. Der Leſer von Geiſt und Empfin - dung verkennt zwar den Werth ſolcher Dichtungen nicht, aber er fuͤhlt ſich ſeltner zu denſelben gezogen und fruͤher davon geſaͤttigt. In dem rechten Moment des Beduͤrfniſ - ſes wirken ſie dafuͤr deſto maͤchtiger; aber auf einen ſol - chen Moment ſoll das wahre Schoͤne niemals zu warten brauchen, ſondern ihn vielmehr erzeugen.
Was ich hier an der Schaͤferidylle tadle, gilt uͤbrigens nur von der ſentimentaliſchen; denn der naiven kann es nie an Gehalt fehlen, da er hier in der Form ſelbſt ſchon enthalten iſt. Jede Poeſie nehmlich muß einen unendlichen Gehalt haben, dadurch allein iſt ſie Poeſie; aber ſie kann dieſe Foderung auf zwey verſchiedene Arten erfuͤllen. Sie kann ein Unendliches ſeyn, der Form nach, wenn ſie ihren Gegenſtand mit allen ſeinen Grenzen darſtellt, wenn ſie ihn individualiſiert; ſie kann ein Unendliches ſeyn der Materie nach, wenn ſie von ihrem Gegenſtand alle Gren - zen entfernt, wenn ſie ihn idealiſiert; alſo entweder durch eine abſolute Darſtellung oder durch Darſtellung eines Abſoluten. Den erſten Weg geht der naive, den zweyten der ſentimentaliſche Dichter. Jener kann alſo ſeinen Gehalt nicht verfehlen, ſo bald er ſich nur treu an die Natur haͤlt, welche immer durchgaͤngig begrenzt, d. h. der Form nach unendlich iſt. Dieſem hingegen ſteht die Natur mit ihrer durchgaͤngigen Begrenzung im We -51 ge, da er einen abſoluten Gehalt in den Gegenſtand legen ſoll. Der ſentimentaliſche Dichter verſteht ſich alſo nicht gut auf ſeinen Vortheil, wenn er dem naiven Dichter ſeine Gegenſtaͤnde abborgt, welche an ſich ſelbſt voͤllig gleichguͤltig ſind, und nur durch die Behandlung poetiſch werden. Er ſetzt ſich dadurch ganz unnoͤthiger Weiſe einerley Grenzen mit jenem, ohne doch die Be - grenzung vollkommen durchfuͤhren und in der abſoluten Beſtimmtheit der Darſtellung mit demſelben wetteifern zu koͤnnen; er ſollte ſich alſo vielmehr gerade in dem Gegen - ſtand von dem naiven Dichter entfernen, weil er dieſem, was derſelbe in der Form vor ihm voraus hat, nur durch den Gegenſtand wieder abgewinnen kann.
Um hievon die Anwendung auf die Schaͤferidylle der ſentimentaliſchen Dichter zu machen, ſo erklaͤrt es ſich nun, warum dieſe Dichtungen bey allem Aufwand von Genie und Kunſt weder fuͤr das Herz noch fuͤr den Geiſt voͤllig befriedigend ſind. Sie haben ein Ideal ausgefuͤhrt und doch die enge duͤrftige Hirtenwelt beybehalten, da ſie doch ſchlechterdings entweder fuͤr das Ideal eine andere Welt, oder fuͤr die Hirtenwelt eine andre Darſtellung haͤtten waͤhlen ſollen. Sie ſind gerade ſo weit ideal, daß die Darſtellung dadurch an individueller Wahrheit ver - liert, und ſind wieder gerade um ſo viel individuel, daß der idealiſche Gehalt darunter leidet. Ein Geßneriſcher Hirte z. B. kann uns nicht als Natur, nicht durch Wahrheit der Nachahmung entzuͤcken, denn dazu iſt er ein zu ideales Weſen; eben ſo wenig kann er uns als ein Ideal durch das unendliche des Gedankens befriedi - gen, denn dazu iſt er ein viel zu duͤrftiges Geſchoͤpf. Er wird alſo zwar biß auf einen gewiſſen Punkt al -52 len Klaſſen von Leſern ohne Ausnahme gefallen, weil er das Naive mit dem Sentimentalen zu vereinigen ſtrebt, und folglich den zwey entgegengeſetzten Foderungen, die an ein Gedicht gemacht werden koͤnnen, in einem gewiſſen Grade Genuͤge leiſtet; weil aber der Dichter, uͤber der Bemuͤhung, beydes zu vereinigen, keinem von beyden ſein volles Recht erweißt, weder ganz Natur noch ganz Ideal iſt, ſo kann er eben deßwegen vor einem ſtrengen Geſchmack nicht ganz beſtehen, der in aeſthetiſchen Din - gen nichts halbes verzeyhen kann. Es iſt ſonderbar, daß dieſe Halbheit ſich auch biß auf die Sprache des genannten Dichters erſtreckt, die zwiſchen Poeſie und Proſa unent - ſchieden ſchwankt, als fuͤrchtete der Dichter in gebundener Rede ſich von der wirklichen Natur zu weit zu entfernen, und in ungebundener den poetiſchen Schwung zu verlie - ren. Eine hoͤhere Befriedigung gewaͤhrt Miltons herr - liche Darſtellung des erſten Menſchenpaares und des Stan - des der Unſchuld im Paradieſe; die ſchoͤnſte, mir bekannte Idylle in der ſentimentaliſchen Gattung. Hier iſt die Natur edel, geiſtreich, zugleich voll Flaͤche und voll Tiefe, der hoͤchſte Gehalt der Menſchheit iſt in die an - muthigſte Form eingekleidet.
Alſo auch hier in der Idylle wie in allen andern poe - tiſchen Gattungen, muß man einmal fuͤr allemal zwiſchen der Individualitaͤt und der Idealitaͤt eine Wahl treffen, denn beyden Foderungen zugleich Genuͤge leiſten wollen, iſt, ſolange man nicht am Ziel der Vollkommenheit ſtehet, der ſicherſte Weg, beyde zugleich zu verfehlen. Fuͤhlt ſich der Moderne griechiſchen Geiſtes genug, um bey aller Widerſpenſtigkeit ſeines Stoffs mit den Griechen auf ih - rem eigenen Felde, nehmlich im Felde naiver Dichtung,53 zu ringen, ſo thue er es ganz, und thue es ausſchließend, und ſetze ſich uͤber jede Foderung des ſentimentaliſchen Zeitgeſchmacks hinweg. Erreichen zwar duͤrfte er ſeine Muſter ſchwerlich; zwiſchen dem Original und dem gluͤck - lichſten Nachahmer wird immer eine merkliche Diſtanz offen bleiben, aber er iſt auf dieſem Wege doch gewiß, ein aͤcht poetiſches Werk zu erzeugen. *Mit einem ſolchen Werke hat Herr Voß noch kuͤrzlich in ſeiner Luiſe unſre deutſche Litteratur nicht bloß bereichert, ſondern auch wahrhaft erweitert. Dieſe Idylle, obgleich nicht durchaus von ſentimentaliſchen Einfluͤſſen frey, gehoͤrt ganz zum naiven Geſchlecht und ringt durch individuelle Wahrheit und gediegene Natur den beſten griechiſchen Mu - ſtern mit ſeltnem Erfolge nach. Sie kann daher, was ihr zu hohem Ruhm gereicht, mit keinem modernen Gedicht aus ihrem Fache, ſondern muß mit griechiſchen Muſtern vergli - chen werden, mit welchen ſie auch den ſo ſeltenen Vorzug theilt, uns einen reinen, beſtimmten und immer gleichen Genuß zu gewaͤhren.Treibt ihn hin - gegen der ſentimentaliſche Dichtungstrieb zum Ideale, ſo verfolge er auch dieſes ganz, in voͤlliger Reinheit, und ſtehe nicht eher als bey dem Hoͤchſten ſtille, ohne hin - ter ſich zu ſchauen, ob auch die Wirklichkeit ihm nach - kommen moͤchte. Er verſchmaͤhe den unwuͤrdigen Aus - weg, den Gehalt des Ideals zu verſchlechtern, um es der menſchlichen Beduͤrftigkeit anzupaſſen, und den Geiſt auszuſchließen, um mit dem Herzen ein leichteres Spiel zu haben. Er fuͤhre uns nicht ruͤckwaͤrts in unſre Kind - heit, um uns mit den koſtbarſten Erwerbungen des Ver - ſtandes eine Ruhe erkaufen zu laſſen, die nicht laͤnger54 dauren kann als der Schlaf unſrer Geiſteskraͤfte; ſondern fuͤhre uns vorwaͤrts zu unſrer Muͤndigkeit, um uns die hoͤhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den Kaͤmpfer belohnet, die den Ueberwinder begluͤckt. Er mache ſich die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunſchuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingun - gen des ruͤſtigſten feurigſten Lebens, des ausgebreitetſten Denkens, der raffinirteſten Kunſt, der hoͤchſten geſell - ſchaftlichen Verfeinerung ausfuͤhrt, welche mit einem Wort, den Menſchen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zuruͤckkan, bis nach Eliſium fuͤhrt.
Der Begriff dieſer Idylle iſt der Begriff eines voͤllig aufgeloͤßten Kampfes ſowohl in dem einzelnen Menſchen, als in der Geſellſchaft, einer freyen Vereinigung der Nei - gungen mit dem Geſetze, einer zur hoͤchſten ſittlichen Wuͤrde hinaufgelaͤuterten Natur, kurz, er iſt kein andrer als das Ideal der Schoͤnheit auf das wirkliche Leben ange - wendet. Ihr Charakter beſteht alſo darinn, daß aller Gegenſatz der Wirklichkeit mit dem Ideale, der den Stoff zu der ſatyriſchen und elegiſchen Dichtung hergegeben hatte, vollkommen aufgehoben ſey, und mit demſelben auch aller Streit der Empfindungen aufhoͤre. Ruhe waͤre alſo der herrſchende Eindruck dieſer Dich - tungsart, aber Ruhe der Vollendung, nicht der Traͤg - heit; eine Ruhe, die aus dem Gleichgewicht nicht aus dem Stillſtand der Kraͤfte, die aus der Fuͤlle nicht aus der Leerheit fließt, und von dem Gefuͤhl eines unendlichen Vermoͤgens begleitet wird. Aber eben darum, weil al - ler Widerſtand hinwegfaͤllt, ſo wird es hier ungleich ſchwuͤ - riger, als in den zwey vorigen Dichtungsarten, die Be - wegung hervorzubringen, ohne welche doch uͤberall keine55 poetiſche Wirkung ſich denken laͤßt. Die hoͤchſte Einheit muß ſeyn, aber ſie darf der Mannichfaltigkeit nichts neh - men; das Gemuͤth muß befriedigt werden, aber ohne daß das Streben darum aufhoͤre. Die Aufloͤſung dieſer Frage iſt es eigentlich, was die Theorie der Idylle zu leiſten hat.
CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
Über naive und sentimentalische Dichtung.
Die sentimentalischen Dichter. Friedrich Schiller. . S. 1-55 CottaTübingen1795. Die Horen. Eine Monatsschrift 1 (12) pp. S. 1-55.
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