Nachricht.
Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stuͤcke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen maͤßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stuͤck 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es koͤmmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beitraͤge sich anhaͤufen werden.
Der – wahrlich sehr unphilosophische – Glaube an Ahndungen ist so alt und allgemein als der Glaube an Gespenster. Die Neigung der Menschen zum Ausserordentlichen und Wunderbaren; die so natuͤrliche Begierde, Andern von sich etwas Sonderbares erzaͤhlen zu koͤnnen, oder von Andern erzaͤhlen zu hoͤren; das fuͤrchterlich angenehme Gefuͤhl erschuͤttert zu werden, und vornehmlich auch die Meinungen von hoͤhern auf uns wuͤrkenden Geistern, haben gewiß das Meiste dazu beigetragen, jenen Glauben auszubreiten, wohin man noch die Neigung, seinen Voreltern in Ab -2 sicht der[ unter ihnen] sich zugetragenen Ahndungen nicht zu widersprechen, rechnen kann.
Nicht bloß unwissende und gemeine Leute, welche nie uͤber die Natur der menschlichen Seele nach gedacht haben, und jedes sonderbare Phaͤnomen derselben hoͤhern Wesen ausser uns zu zu schreiben sich geneigt fuͤhlen; sondern selbst Leute von Kopf und Geschmack, Philosophen von Profession, – die doch billig an einem Ahndungsvermoͤgen der Seele zweifeln muͤßten, da es so erstaunlich viel wider sich, und nur wenig fuͤr sich hat, – lassen sich den Glauben daran nicht nehmen, und ich habe manche dasselbe mit einem Enthusiasmus vertheidigen hoͤren, als wenn es auf die Untersuchung der allerwichtigsten Wahrheiten angekommen waͤre. Jch kenne einige noch lebende Schriftsteller, welche alle ihre zufaͤlligen Amtsveraͤnderungen vorhergesehen zu haben vorgeben, – wozu ihnen eine solche Notiz geholfen hat, wissen sie selbst nicht –, und bei uns lebt noch diesen Augenblick ein Gelehrter, der sich darauf todtschlagen ließe, daß er aus gewissen unerklaͤrbaren Veraͤnderungen, blizschnellen Erscheinungen, und Lichtvibrationen in einem Winkel seiner Stube; aber NB allemahl des Abends, gewisse zufaͤllige Begebenheiten seines Lebens, z. B. den Tod eines Anverwandten vorhersehen koͤnne, wobei ihm denn immer zugleich ein kalter Schauer uͤber die Haut laufen soll. – –
3Jn den drei ersten Baͤnden der Erfahrungsseelenkunde sind viele Beitraͤge uͤber die Ahndungen abgedruckt worden, davon einige in der That sonderbar genug sind; andere enthalten ganz gewoͤhnliche, und leicht zu erklaͤrende Vorhersagungen ungluͤcklicher Begebenheiten, woran nicht so wohl jenes ertraͤumte Vorhersehungsvermoͤgen der Seele, als eine melancholische Stimmung des Gemuͤths, und der bloße Zufall Theil hatte. Jch will alle einzelne berichtete Faͤlle, welche vom Hrn. Prof. Moritz in seiner Revision noch nicht untersucht worden sind, nach und nach durch zu gehen, und nach psychologischen Gesetzen zu pruͤfen suchen. –
Doch vorher noch Einiges uͤber Ahndungen und ihre Erklaͤrungsart uͤberhaupt. *) *) Vergl. Hennings von Ahndungen und Visionen, Seite 330 – 351.
Es ist nicht zu laͤugnen, daß viele Uebel, von denen man eine Ahndung gehabt zu haben vorgab, wuͤrklich, und oft mit einer Puͤnktlichkeit eingetroffen sind, die uns in Erstaunen setzen muß, und dieses Eintreffen ist als ein Allgemeinbeweis eines in uns liegenden, obgleich bei verschiedenen Menschen bald staͤrkern bald schwaͤchern Vorhersehungsvermoͤgens der menschlichen Seele angenommen worden; – allein ich habe gegen das Daseyn eines solchen Vermoͤgens vornehmlich Folgendes einzu -4 wenden, wobei ich zugleich auf die vortrefliche Abhandlung vonGedike, Friedrich5F. G.im ersten Stuͤck des dritten Bandes dieses Magazins, die Nichtigkeit des Ahndungsvermoͤgens etc. betitelt, verweise.
Wenn man nun alles dieß zusammennimmt, (alle diese Umstaͤnde bei einer jeden Ahndung untersuchen koͤnnte oder wollte,) wenn man ferner bedenkt, daß nicht nur zu sehr vielen Ahndungen unwahre Jdeen und aͤußere Lagen hinzugedichtet werden; sondern daß auch die menschliche Seele oft unwillkuͤrlich zu solchen Erdichtungen verfuͤhret wird; bedenkt, daß sie oft aus vorhergegangenen Vermuthungsideen, die sie wieder vergessen hat, Schlusfolgen zieht, oder zog, wovon sie selbst nicht mehr recht weis, wie sie entstanden sind, und wenn man uͤberhaupt bedenkt, daß ein Ahndungsvermoͤgen der Seele, das sich nicht auf eine physische Art erklaͤren laͤßt, etwas Unnatuͤr -8 liches, wider die einmahl vorhandene Einrichtung unsrer Denkkraft Streitendes, und fuͤr unsere moralische Ausbildung Unbrauchbares, – ja vielmehr wegen der Neigung der Menschen zum Aberglauben hoͤchst Schaͤdliches seyn muß; so kann und darf Alles, was Ahndung, Traum, Vision, Weissagung heißt, vor dem Richterstuhle der reinen Vernunft keinen Werth behalten, und die Menschen wuͤrden sich tausenderlei Unruhen, Sorgen und laͤcherliche Grillen erspart haben, wenn sie nie daran geglaubt haͤtten; doch hievon ein andermahl. –
Jch komme iezt zu den einzelnen Ahndungsgeschichten selbst, welche in die drei ersten Baͤnde der Seelenkunde eingeschickt sind.
Jm zweiten Stuͤck des ersten Bandes S. 78 steht ein Aufsatz uͤber das Vorhersehungsvermoͤgen der Seele, welchen der Kirchenrath Hr.Hennig, Georg Ernst Sigismund6Hennigaus Koͤnigsberg eingeschickt hat. » Einer Kaufmannsfrau, Nahmens Krausin in Loͤbnicht zu Koͤnigsberg wohnhaft, war 1782 im Monat Januar eines ihrer geliebtesten Kinder gestorben. Schon damahls hatte sie gesagt: daß sie dieß Kind nicht lange uͤberleben wuͤrde. Aufs folgende Jahr wuͤrde sie im Monat Januar wieder entbunden werden, und in diesen sechs Wochen wuͤrde sie sterben «. Dieß war nun freilich ziemlich bestimmt vorhergesagt; allein in der ganzen Prophezeihung, dergleichen viele im gemeinen Leben vorkommen, scheint9 mir gar nichts Sonderbares zu liegen, so richtig sie auch nachher eingetroffen ist. Wer die lebhaften und schwaͤrmerischen Empfindungen des muͤtterlichen Herzens kennt, wenn es um den Tod eines geliebten Kindes trauert, wer das andere Geschlecht oft in melancholischen Stimmungen seines Gemuͤths beobachtet hat, wird bemerkt haben, daß es sich alsdann mit nichts lieber als mit Gedanken an Grab und Tod beschaͤftigt, und nichts mehr als seinen gestorbenen Lieblingen nachzufolgen wuͤnscht. Jch kenne mehrere vortrefliche Muͤtter, die in den Empfindungen ihres Schmerzes uͤber den Verlust ihrer geliebten Kinder sich nicht nur selbst sehnlichst den Tod gewuͤnscht; sondern auch geradezu behauptet haben, daß sie jenen gewiß bald nachfolgen[ wuͤrden]; – ob diese guten Seelen gleich diesen Augenblick noch leben. Wer wuͤrde es einem Psychologen verzeihen, wenn er aus solchen Aeußerungen der zu lebhaft gewordenen Phantasie gleich ein Vorhersehungsvermoͤgen der Seele folgern wollte!
Der Gedanke der guten Mutter, der der Gegenstand des gegenwaͤrtigen Beitrags ist, lag nun einmahl tief in ihrer Seele, daß sie ihrem geliebten Kinde bald nachfolgen werde, und sie vermuthete, daß dieß am wahrscheinlichsten in den naͤchsten sechs Wochen geschehen koͤnnte; es scheint, als ob ihre Phantasie sich recht mit Fleis diesen Umstand ausgesucht habe, weil eine Niederkunft so leicht eine Veranlassung zum Tode werden kann. Sie fuͤhlte10 sich einige Monate darauf wuͤrklich in andern Umstaͤnden – » Sehr oft, heißt es weiter, fand ihr Mann, wenn er von seinen Geschaͤften nach Hause kam, sie in Sterbensbetrachtungen vertieft, sehr oft auch in vielen Thraͤnen, die sie jedoch nicht eigentlich wegen ihres, wie sie glaubte, bevorstehenden Todes willen vergoß, sondern NB vielmehr um einiger Gewissensangelegenheiten willen, die ihr bestaͤndigen Kummer verursachten «. Ein Umstand, der hier sehr mit in Betrachtung kommt, weil er ihren Wunsch zu sterben, worauf sich hoͤchst wahrscheinlich ihre ganze Ahndung gruͤndete, nicht nur erzeugen, sondern auch verbunden mit dem Glauben an eine Ahndung auf die Kraͤnklichkeit ihres Koͤrpers wenigstens entfernt wuͤrken half.
Daß sie waͤhrend ihrer neuen Schwangerschaft auch desto lebhafter an ihr Ende denkt, ist wieder etwas ganz gewoͤhnliches. Schwangere Frauenzimmer denken sehr haͤufig an den Tod. Jch kenne verschiedene, die sich wuͤrklich jedesmahl dazu vorbereiten, und sogar ihre Sterbekleider dazu zurechte zu legen pflegen.
Noch natuͤrlicher und zuverlaͤßiger mußte ihr Gedanke an einen bevorstehenden Tod vollends dadurch werden, daß sie nach der Geburt ein Geschwuͤr im Unterleibe bekam, und daran die erstaunlichsten Schmerzen empfand. Nun sahe sie ja den Tod gleichsam vor Augen, und es war daher sehr natuͤrlich, daß sie bei dem anhaltenden immer staͤr -11 ker werdenden Gefuͤhl ihrer Schmerzen, ihren Kindern versicherte: daß sie gewiß sterben werde. Sie starb auch wuͤrklich nicht lange darauf am Brande im Eingeweide.
Am Ende setzt derHennig, Georg Ernst Sigismund7Herr Kirchenrathhinzu: » Sie war uͤbrigens eine Person von sehr lebhaften Temperament und feuriger Einbildungskraft, schien einen sehr feinen Nervenbau zu haben, mithin sehr empfindsam, ungemein biegsam und weich, und von sehr zaͤrtlichem Gewissen. Jch habe das fast bei allen denen gefunden, die mit ihr aͤhnliche Vorfaͤlle gehabt, und dieß oder jenes vorausgesehen, oder wenigstens voraussehen zu koͤnnen geglaubt haben «. Eine sehr richtige Bemerkung, die der Psychologe bei Untersuchung der Ahndungen nie ausser Acht lassen sollte, weil der koͤrperliche Theil des Menschen oft gerade den meisten Antheil an gewissen vorgegebenen Vorgefuͤhlen kuͤnftiger Uebel hat. –
Es ist daher auch gar kein Wunder, daß solche Vorgefuͤhle sich am meisten bei dergleichen Leuten aͤußern; nicht weil sie wuͤrkliche Vorgefuͤhle haͤtten; sondern weil sie sich dieselben leicht einbilden, da denn hie und da einmahl eins in Erfuͤllung gehen kann. Der Tod ist vornehmlich fuͤr lebhafte Leute ein fruchtbarer Gegenstand vieler und oft sonderbarer Gefuͤhle und Einbildungen; sie glauben oft sichere[ Phaͤnomene] an sich bemerkt[ zu] haben, daß sie bald sterben wuͤrden, bisweilen bestaͤrken sie die12 zufaͤlligsten und unbedeutendsten Umstaͤnde in ihrer Meinung, sie traͤumen von allerlei Anzeichen und Ahndungen desselben, und man weiß von Gellert, daß er oft von seinen Freunden Abschied nahm, mit den Gedanken, in der naͤchsten Nacht zu sterben, sich ins Bette legte, und den andern Morgen – frisch und gesund wieder aufstand.
Eine andere Todesahndung steht im ersten Stuͤcke des zweiten Bandes der Seelenkunde, S. 72.
Den 13ten Junius 1773 starb zu Bleicherode in der Grafschaft Hohenstein ein junger Mensch von vier und zwanzig Jahren. Den lezten Sonntag vor seinem Ende geht er spazieren, er kommt auf den Kirchhof, geht bei seines Bruders Grab, welcher vor sieben Jahren an einem hitzigen Fieber gestorben war, und sagt zu seinen Freunden: » auf kuͤnftigen Sonntag koͤnnt ihr mich auch hierher[ tragen «]. Nach seinem Tode, welcher um die vorhergesagte Zeit eintraf, hat man in einem Kleiderschrank von ihm eingeschrieben gefunden, daß ihm getraͤumt: er werde nach drei Jahren an eben dem Tage und um die Zeit sterben, da sein Bruder gestorben[ waͤre].
Ein solcher Traum, duͤnkt mich, konnte sehr natuͤrlich entstehen. Seine Seele beschaͤftigte sich damahls gewiß mit dem Tode seines Bruders; der Tag, die Stunde seines Abscheidens und die Art seiner Krankheit schwebte ihm vor den Augen; er13 liebte auch wahrscheinlich seinen Bruder herzlich, und wuͤnschte, daß er ihn bald wieder sehen moͤchte. Aus diesen Vorstellungen und Empfindungen entstand sein angezeigter Traum auf die natuͤrlichste Weise; allein, wird man sagen, der Traum war nichts Sonderbares; aber das genaue Eintreffen desselben. Auch dieß nicht. Der junge Mensch hielt nun einmahl vermoͤge seines Traums seinen Tod fuͤr ein gewisses Ding, der Gedanke, daß er gewiß an dem und dem Tage sterben muͤsse, lag bestaͤndig in seiner Seele, er[ aͤngstigte] und beunruhigte sich daruͤber, sein Blut wurde erhizt und nach und nach durch seine aͤngstliche Phantasie seine Gesundheit untergraben. Seit einem halben Jahre hatte er schon von Kopfschmerzen gelitten. Er kommt an das Grab seines Bruders, nach seiner getraͤumten Rechnung hatte er nur noch acht Tage zu leben, dieß sezt seine Einbildungskraft vollends in die groͤßte Bewegung, die vielleicht noch entfernt liegende Krankheit seines Koͤrpers wird nun auf einmahl durch den Gang nach dem Kirchhofe beschleunigt, und er stirbt endlich wuͤrklich um die bestimmte Zeit, und an der nehmlichen Krankheit wie sein Bruder, – und wer weis denn endlich, wie viel andere Nebenumstaͤnde den Tod des Juͤnglings zufaͤllig befoͤrdern holfen?
Ein sehr sonderbares Beispiel von einem und zwar fuͤrchterlichen Ahndungsvermoͤgen, das sich14 gewiß kein einziger meiner Leser wuͤnscht, steht im zweiten Stuͤck des zweiten Bandes der Erfahrungsseelenkunde S. 16.
» Ein angesehener glaubwuͤrdiger Mann in St.. kann es einem Menschen aus dem Gesichte lesen, ob er bald und ploͤzlich sterben werde. Fuͤr ihn selbst, versichert er, habe eine solche Entdeckung viel Schauderndes, und er vermeide gern große Gesellschaften; wo er's aber nicht koͤnne, so scheue er sich doch jedem dreist ins Gesicht zu sehen, weil er bei solchen Gelegenheiten am ersten befuͤrchten muͤßte, eine solche unangenehme Entdeckung zu machen.
Die Leute, versichert er ferner, an denen er bisher seine Erfahrungen gemacht, kommen seinen Augen voͤllig so vor, als ob sie schon ein paar Tage im Grabe gelegen, gelb und todtenblaß, und wenn sie auch fuͤr jeden andern wie Rosen[ bluͤhen. «]
Es wird darauf ein Beispiel erzaͤhlt, daß er seinem Freunde, der ihn auf einem Spaziergange begleitete, denTod eines voruͤbergehenden bluͤhenden Fraͤuleins vermoͤge seines Ahndungsgefuͤhls richtig vorausgesagt habe.
Jch muß gestehen, daß ich nie etwas Sonderbareres in dieser Art gelesen habe. Jn den Augen dieses Mannes kann der Grund seines Vorhersehungsvermoͤgens nicht liegen, denn wie ist es moͤglich, daß die bluͤhenden Wangen eines bald sterbenden Maͤdchens, die aber noch voͤllig gesund ist, einen ganz andern Eindruck in denselben, als diejeni -15 gen hervorbringen koͤnnten, welche noch nicht sobald ein Opfer der Verwesung werden sollen; alle Anatomie wuͤrde freilich hier nichts ausrichten; eher wuͤrde ich glauben, daß der Mann vermoͤge seiner feinen Geruchsnerven vielleicht ein Vorgefuͤhl von dem Tode eines noch gesunden, aber leichenartig ausdunstenden Menschen haben koͤnnte, welches ihm dann die bluͤhenden Wangen durch einen Betrug der Phantasie als todtenbleich darstelle.
Doch ich wage es nicht hieruͤber etwas mit Gewißheit zu bestimmen, ehe wir nicht folgende Aufschluͤsse uͤber die ganze Sache bekommen,[ worum] ich den Herrn Einsender dieses Beitrags ergebenst bitte.
Die Seite 99 – 101 angefuͤhrten Beispiele eines Ahndungsvermoͤgens enthalten nichts Sonderbares in sich, und ich wuͤrde nimmermehr ein Vorhersehungsvermoͤgen der Seele daraus hergeleitet haben, weil sie sich auf gewisse blos dunkle Empfindungen gruͤnden, die wahrscheinlich blos von koͤrperlichen Ursachen veranlaßt wurden.
Daß Herr Kirchner von der Landkutsche springt und aus einem innern Drange zu Fuße geht, daß bald darauf die Landkutsche umfaͤllt und er nicht zerquetscht wird, welches vielleicht auch nicht geschehen waͤre, wenn er sitzen blieb; daß die ins Kloster gesteckte Ehefrau eine heftige Begierde zu entfliehen empfindet, wuͤrklich entflieht, und endlich auf dieser Flucht ihren Mann als Reisenden in einem Wirthshause findet, – ist eben nichts Sonderbares, und der Zufall hatte gewiß das meiste Spiel in der Sache. Am wenigsten aber kann die im dritten Stuͤck des dritten Bandes angefuͤhrte Geschichte S. 20 zu den Ahndungen gerechnet werden.
Jm dritten Stuͤk des zweiten Bandes S. 118 erzaͤhlt HerrGoͤckingk, Leopold Friedrich Guͤnther von8GoekingkFolgendes von sich.
» Schon in meiner fruͤhen Jugend begegnete mir es zuweilen, daß sich meiner Seele ohne die allergeringste aͤußere Veranlassung, ploͤzlich17 der Gedanke aufdrang: dieser oder jener Bekannter ist dir nahe, wird jezt gleich zu dir kommen! (– wenn die Ahndung mir im Hause anwandelte –) oder wird dir begegnen! (– wenn ich denn grade auf der Straße[ war).]
[Zu] meiner eignen großen Verwunderung traf dieses nicht selten ein, ob ich gleich von dem, der eine Minute darauf vor mir stand, weder gewußt hatte, daß er in die Gegend kommen wuͤrde, noch von ihm gesprochen, noch an ihn[ gedacht. « u. s.w.]
Darauf erzaͤhlt er einen neuern Fall seines Ahndungsvermoͤgens. Es faͤllt ihm zu Leipzig nahe an der Ecke der[ Heustraße] die Jdee ein: daß der Rath Bertuch aus Weimar ihm nahe waͤre, – und siehe da! [Herr] Bertuch steht, wieGoͤckingk, Leopold Friedrich Guͤnther von9Goekingkum die Ecke gegangen ist, vor ihm.
HerrGoͤckingk, Leopold Friedrich Guͤnther von10Goekingkerzaͤhlt da eine Erscheinung von sich, welche er mit sehr vielen Menschen gemein hat, und die man in den allermeisten Faͤllen, ohne sich auf eine andere Erklaͤrungsart einzulassen, dem Zufalle zuschreiben kann. Daß Hr.Goͤckingk, Leopold Friedrich Guͤnther von11Goekingkden Rath Bertuch vermoͤge seines feinen selbst nach einem zwanzigjaͤhrigen haͤufigen Gebrauch des Schnupftobacks nicht verdorbenen Geruchs von ferne gewittert habe, kommt mir um so weniger wahrscheinlich vor, da er ein andermal mit Bertuch an einem Tische sitzt, und seiner im mindesten18 nicht gewahr wird, auch im Folgenden gesteht, daß er die Personen, deren Naͤhe sich ihm verrieth, im geringsten nicht durch den Geruch habe unterscheiden koͤnnen.
Daß es aber Menschen von aͤußerst feinen Geruchsnerven giebt, vermoͤge welcher gewisse Ahndungsideen in ihnen entstehen koͤnnen, ist nicht zu laͤugnen, und HerrGoͤckingk, Leopold Friedrich Guͤnther von12Goekingkhat sehr Recht, daß sich dergleichen Ahndungen physisch und ganz natuͤrlich erklaͤren lassen. Er fuͤhrt deren Seite 121 ein merkwuͤrdiges Beispiel von einem Manne an, welcher das Vermoͤgen habe zu ahnden, wo ein Koͤrper begraben liegt, und ich wuͤnschte sehr, daß dem Publikum die hieruͤber versprochene naͤhere Nachricht bald mitgetheilt wuͤrde, – und wenn es moͤglich ist, mit den Bemerkungen einesGoͤckingk, Leopold Friedrich Guͤnther von13Goekingks.
Man erlaube mir bei dieser Gelegenheit eine Stelle aus des Herrn Professor Hennings Abhandlung von Ahndungen und Visionen anzufuͤhren, die obiges Beispiel noch mehr erlaͤutern koͤnnte.
» Herr le Cat hat in seiner Abhandlung von den Sinnen verschiedene Beispiele angefuͤhrt, die es beweisen, daß der Geruch der Menschen oft die Vollkommenheit des Geruchs der Thiere erlangen kan. Man hat auf den Antillischen Jnseln Schwarze gesehen, welche andern Menschen auf der Spur wie Jagdhunde nachfolgen und die Spur eines Weißen und eines Africaners19 gut unterscheiden*)*)[ Bougainville] erzaͤhlt in seiner Reisebeschreibung, daß die Otaheiter sogleich ein Maͤdchen unter seinem Schiffsvolke durch den Geruch entdeckt haͤtten, welches den Weltumsegeler in Mannskleidern begleitete und bisher von allen Schiffsleuten fuͤr eine Mannsperson gehalten worden war.P. . Der Ritter Digby gedenkt eines Kindes, welches in den Waͤldern erzogen wurde, und einen so feinen Geruch hatte, daß es durch selbigen die Annaͤherung eines Feindes entdeckte. Als[ es] nachher seine Lebensart geaͤndert hatte, so erlitte auch diese große Fuͤhlbarkeit starke Veraͤnderungen. Doch unterschied er noch lange Zeit nachher, als er sich verheurathet hatte, seine Frau durch das Beriechen noch gar wohl von einer andern. Jn der Nacht vertrat seine Nase die Stelle des Gesichts. Ein Prager Geistlicher, von welchem in dem Journal des Savans 1684. geredet wird, setzt die Philosophen in noch groͤßere Verwunderung. Er kannte nicht nur die Personen, welche ihn besucht, so bald er sie berochen, sondern auch, was noch ausserordentlicher ist, er unterschied eine Jungfrau von einer Frau, und eine keusche Person von einer unzuͤchtigen. u.s.w. Warum wollte man dennoch zweifeln, daß ein Mensch durch unsichtbare Annaͤherung seines Freundes, vermittelst des Geruchs eine Jdee20 von selbigen ohne sonderliches Bewußtseyn erhalten koͤnne, wodurch er Veranlassung bekommt von diesem Freunde zu reden, auch wohl dessen Gegenwart zu wuͤnschen. Zeigt sich nun dieser Freund, so hat man sich nicht zu verwundern, wenn man dessen Erscheinung als einen Erfolg von einer Ahndung ansieht. Hieraus laͤßt sich auch das Spruͤchwort: lupus in fabula erklaͤren. Jn solchen und andern aͤhnlichen Faͤllen ist zwar wuͤrklich ein ganz natuͤrlicher Grund der Voraussehung und Vorauserkennung vorhanden, weil aber derjenige, der eine solche Praͤvision besitzt, auf diesen Grund nicht verfaͤllt; so bleibt der Zusammenhang und die Folge der Vorstellungen diesem Vorausseher der Zukunft unbegreiflich, und er kann seine Vorausempfindung blos der Ahndung zuschreiben.
(Die Fortsetzung folgt.)
Pockels, Carl Friedrich15C. F. Pockels.
21Folgender Aufsatz enthaͤlt die Charakterzuͤge eines der sonderbarsten Menschen, welcher bei uns in B – lebt, und dessen Handlungen zum Theil stadtkundig sind. Dieser Mensch ist einige dreißig Jahr alt, klein und hager von Person, und auf seinem Gesichte druͤcken sich die Folgen einer heimlichen Leidenschaft ab, deren Ausschweifungen schon so viel tausend junge Leute entweder fruͤh ins Grab22 stuͤrzten, oder zu kraftlosen, traͤgen und unnuͤtzen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machten. Sein hoͤchstmageres aus Haut und Knochen zusammengesetztes Gesicht, seine tiefliegenden, matten Augen, seine bleichen Wangen, und seine ganze knoͤcherne Figur floͤßen Mitleiden gegen ihn ein, und das um so viel mehr, da ihm sein uͤbertriebener hundischer Geitz nicht von einem ansehnlichen Vermoͤgen Gebrauch zu machen erlaubt, wovon er sehr anstaͤndig und bequem leben koͤnnte. Jener hohe Grad des Geldgeitzes, womit sein unwiderstehlicher Hang zum Stehlen und Geld zu borgen verbunden ist, macht den Hauptzug in dem Charakter dieses sonderbaren Menschen aus, welcher mit Recht einen Platz in der Erfahrungsseelenkunde verdient.
Ohnerachtet dieser Mensch von seinen Pflegeltern, die man ihm zur Aufsicht gegeben hat, und wegen der Unfaͤhigkeit seine Begierden zu beherrschen, und sich selbst zu leiten, geben mußte, taͤglich so viel Speise und Trank bekommt, daß er gewiß nie hungern oder dursten darf; so sind doch seine Taschen ein bestaͤndig angefuͤlltes Magazin von Speisen, die er heimlich bei Tische einsteckt, und entweder vergraͤbt, oder des Nachts, weil er selten ruhig schlafen kann, verzehrt. Man hat alle Mittel hervorgesucht, dieses Wegtragen seiner Speisen zu verhindern; man hatte noch neulich seine Taschen geflissentlich zunaͤhen lassen; aber nun steckte er das23 entwandte Fleisch in seine Beinkleider, oder in die Ermel seines Rocks, oder verbarg es gar unter seinen Haaren. Die laͤcherlichste Scene fiel vor Kurzen zwischen ihm und seinem Haushunde vor. Er sahe diesen an den ihm vorgeworfenen Knochen nagen, begann mit ihm einen blutigen Krieg, und ruhete nicht eher, bis er dem Hunde seine Knochen geraubt und sie in seinen Vorrathswinkel getragen hatte.
Dieser Vorrathswinkel, welchen er immer wieder anfuͤllt, wenn er auch noch so oft ausgeleert und gereinigt wird, gleicht einem wahren Saustalle. Verschimmelte Brodrinden, Zucker, faule Knochen, stinkendes Fleisch, Speck, Wurst, Butter, Wein und Kaffe unter einander gegossen, Neigen von Bier und Suppe, Kuchen, Arzeneien liegen da in groͤßter Unordnung unter einander, und er ist nie gluͤcklicher, als wenn er in diesem stinkenden Winkel stundenlang einsam seine Zeit vertraͤumen kann.
Seine Begierde Geld zu leihen ist eine Folge seines unersaͤttlichen Geitzes. Wenn ihm einer seiner Bekannten begegnet, pflegt er ihn gemeiniglich um eine Kleinigkeit an Gelde anzusprechen, und weiß nicht selten auf eine listige Art die dringendsten Gruͤnde seiner Bitte anzugeben. Oft bittet er auch ganz fremde Leute um Geld, und verspricht es ihnen bei erster Gelegenheit wieder zu zu stellen, was er aber nie gethan hat. Er kann diese Begierde Geld24 zu fodern schlechterdings nicht unterdruͤcken, wenn er auch positiv weiß, daß er nichts bekommt. Tausendmahl hat er die Magd des Hauses schon um Geld gebeten, er weiß, daß sie ihm durchaus nichts geben darf, und doch ist gewoͤhnlich sein erstes Wort beim Aufstehen des Morgens eine an die Magd gerichtete Bitte, ihm Geld zu leihen.
Neulich war ich selbst ein Zeuge von dieser seiner unwillkuͤrlichen Begierde zur Bettelei. Er kam, einem jungen Ehepaar, das mit ihm verwandt ist, zu gratuliren. Jch saß bei Tische ihm gegenuͤber, und hatte also die beste Gelegenheit, ihn selbst zu beobachten und mit ihm zu sprechen, und meine Leser werden aus diesem Gespraͤch bemerken, daß es diesem Menschen, den man nach dem, was ich bisher von ihm gesagt habe, fuͤr voͤllig unklug halten koͤnnte, nicht an gesundem Verstande fehlt.
Jch fragte ihn gleich anfangs, da ich bemerkte, daß er sich mit mir in ein Gespraͤch einlassen wollte: womit er sich bei seiner geschaͤftslosen Lebensart die Zeit vertriebe? und er antwortete mir: mit Lectuͤre. Jch hoͤrte bald zu meinem groͤßten Erstaunen, daß er mit einer Menge der besten deutschen Schriften bekannt war, noch mehr befremdete es mich aber, daß er sie ziemlich richtig beurtheilte und dabei ein reines Deutsch sprach, ob er gleich nie studirt hat. Er nannte mir sogar franzoͤsische und englische Schriftsteller, die er gelesen haͤtte und noch laͤse, worauf er mit mir, wahrscheinlich um zu zeigen,25 daß ich ihm hierin Glauben beimessen koͤnne, franzoͤsisch zu sprechen anfing.
Weil mir vornehmlich darum zu thun war, von ihm vielleicht selbst zu erfahren, wie in ihm nach und nach seine unmaͤßige Geldbegierde entstanden sei, so lenkte ich unvermerkt mein Gespraͤch dahin, zumahl da ich sahe, daß er einiges Zutrauen gegen mich gefaßt hatte, indem er mich zu seinem Hofmeister zu haben wuͤnschte, und erhielt darauf aus seinem eigenen Munde folgendes sonderbare und freie Gestaͤndniß vor der ganzen Tischgesellschaft:
» Geitz und Geldbegierde, hub er an, sind mir gleichsam angeboren, und es ist mir durchaus nicht moͤglich, sie abzulegen. Ein innerer, unwillkuͤrlicher Jnstinkt, wovon ich sehr gut weiß, daß er unrecht ist, treibt mich zum Stehlen an, und macht mich hoͤchst unruhig, solange ich den Gegenstand, zu dessen Besitz ich einige Hofnung habe, noch nicht erlangen kann. «
Jch dachte still uͤber dieses sonderbare[ Phaͤnomen] bei mir nach, als er sich auf einmahl mit leiser Stimme zu mir wandte, und mit sichtbarer Aengstlichkeit im Gesicht fragte: ob ich ihm wohl einige Groschen leihen wolle? Jch war schon vorher von der Gesellschaft gewarnt worden, ihm, im Fall er mich um etwas bitten sollte, durchaus nichts zu geben, daher ich ihm auch seine Bitte mit den Worten: daß er ein reicher Mann sey und von mir nichts beduͤrfe, geradezu abschlug. Dieß setzte ihn aber26 nicht in die mindeste Verlegenheit, er schien mir sogar heitrer und ruhiger als vorher zu seyn, und er betheurte mir darauf, daß er nicht leicht mit jemanden ernstlich sprechen koͤnne, ehe er nicht etwas Geld von ihm bekommen haͤtte, oder ihm sein Gesuch rund abgeschlagen worden waͤre.
Was mir ausserdem noch an diesem sonderbaren Menschen auffiel, war dieß, daß er mit einer unbeschreiblichen Ruhe und Gleichguͤltigkeit hunderdterlei Anecdoten von sich in der Gesellschaft erzaͤhlen hoͤrte, und wenn sich der Erzaͤhler in irgend einem Umstande zu irren schien, ihn hinterher gleich zu corrigiren pflegte. – Wie er aber nach und nach einen so gewaltigen Hang zum Geitz angenommen habe, konnte oder wollte er mir nicht sagen; sondern wieß mein weiteres Nachforschen mit einem ernsthaften Gesicht und mit den Worten ab: Mein Vater bestimmte mich zum Kaufmann, und ein Kaufmann muß durchaus geitzig seyn, wenn er durch die Welt kommen will!
Endlich war die Zeit gekommen, daß er von seinem Fuͤhrer, den man ihm immer mitgeben muß, damit er nicht oͤffentlich vor den Thuͤren bettelt oder davon laͤuft, nach Hause gebracht werden sollte. Er schien die Gesellschaft sehr ungern zu verlassen, zumahl da ein schoͤnes Maͤdchen nicht weit von ihm saß; hoͤrte einigemahl auf das Dringen seines Onkels nicht, der ihn gern nach Hause schicken wollte, und ließ sich immer wieder mit mir in27 neue Gespraͤche uͤber die Litteratur ein. Endlich entschloß er sich zu gehen; aber in dem Augenblicke uͤberraschte ihn wieder seine Geldbegierde. Er fragte die Gesellschaft recht angelegentlich: ob einer darunter ihm vielleicht einige Groschen geben wollte? Alle schrien: nein! Darauf wandte er sich noch einmahl an mich, sah mir aͤngstlich in die Augen, und fragte: aucune espérance? Jch versicherte ihn aber gleichfalls, daß er nichts von mir bekommen wuͤrde. » Wohl! erwiederte er, nun bin ich ruhig. Verzeihen Sie mir aber meine Zudringlichkeit; wenn einmahl mein Koͤrper gesunder und fester werden sollte; so werde ich auch gewiß mehr Herr meiner Begierden seyn[ koͤnnen. «]Er nahm darauf von der ganzen Gesellschaft anstaͤndig Abschied, empfahl sich meiner Freundschaft, und entfernte sich, nachdem er vorher noch ein Stuͤck Kuchen von einem Nebentische heimlich zu sich gesteckt hatte.
Eine große Menge Anecdoten von dem Geitze dieses Ungluͤcklichen und seiner Neigung zum Stehlen sind bei uns stadtkundig, und zeigen zum Theil unwidersprechlich, daß er sie nicht ablegen kann, weil seine Seele durchaus keine Gewalt mehr uͤber eine angenommene Gewohnheit zu haben scheint. Neulich wurde ein Prediger bestellt, der ihm das heilige Abendmahl reichen sollte, weil er einiges Verlangen darnach bezeigt hatte. Der Prediger kam, und gab sich alle ersinnliche Muͤhe, ihm seine Lieblings -28 neigungen in ihrer ganzen abscheulichen Gestalt vorzustellen. Der ungluͤckliche Mensch fuͤhlt sich auf einmahl geruͤhrt, gestand es seinem Beichtvater selbst ein, daß er sich durch seine Fehler bei allen Menschen veraͤchtlich mache, und versprach mit reuigen Thraͤnen in den Augen, sich gewiß zu bessern; – aber, kaum sollte man es glauben, wenn es mir nicht auf die glaubwuͤrdigste Art erzaͤhlt worden waͤre, – in dem nehmlichen Augenblick entdeckte der Prediger die Hand des beichtenden Suͤnders in der Zuckerdose seines Wirths, die er waͤhrend daß der Prediger mit ihm sprach, heimlich pluͤndern wollte.
Oft treibt der Geitz den armen Menschen so weit, daß er keine Lebensgefahr, keine Beschimpfung achtet, wenn er dadurch nur einige Pfennige gewinnen oder ersparen kann. Er hat einigemahl bei ungestuͤmen Wetter vor den Thoren der Stadt auf platter Erde Naͤchte hindurch zugebracht, weil er das geringe Thorgeld nicht bezahlen wollte, welches die zu spaͤt Ankommenden, um eingelassen zu werden, erlegen muͤssen. Oft hat er fuͤr seine Diebereien Pruͤgel bekommen, und er ist sonst uͤberhaupt sehr strenge wegen derselben behandelt worden; allein alles dieß hat seinen Hang zum Stehlen nur gleichsam vermehrt. Fast taͤglich stiehlt er seinen Pflegeltern noch Kleinigkeiten, als[ Messer], Gabeln, Bouteillen u.s.w. weg, und traͤgt sie, wenn er entwischen kann, oft des Abends unter seinem29 Schlafrock zum Verkauf aus; ja er sucht sogar die Kinder der Nachbarschaft zu bereden, daß sie ihre Eltern heimlich bestehlen und die Beute mit ihm theilen sollen. Verschiedenemahl ist er heimlich entlaufen, und man hat ihn in den Doͤrfern um die Stadt herum mit niedergeschlagenem Huthe und umgewandten Kleidern bettelnd gefunden. Ueberhaupt ist seine Begierde zu entlaufen oft sehr stark, er hat schon verschiedentlich die Fenster deswegen eingeschlagen, und Briefe auf die Gasse geworfen, welche an einen Buͤrgermeister der Stadt addressirt waren, der ihn aus seiner vermeintlichen Gefangenschaft befreien sollte.
Man muͤßte mit der Erziehungsgeschichte dieses ungluͤcklichen Menschen, und mit allen moralischen und physicalischen Umstaͤnden, welche auf seine Bildung einen naͤhern oder entferntern Einfluß hatten, genau und vom Anfang an bekannt seyn,[ wenn man] die psychologischen Gruͤnde seines sonderbaren Characters vollkommen richtig angeben wollte. Jch habe nur einzelne Data daruͤber von seinen Anverwandten erfahren koͤnnen, und ich will sie so umstaͤndlich, als es mir noͤthig duͤnkt, meinen Lesern mittheilen.
Die Eltern dieses Ungluͤcklichen waren Kaufleute in einer kleinen B – schen Stadt, und sehr gute Oekonomen, ob man ihnen gleich keinen uͤbertriebnen Geitz Schuld geben konnte. Jhr Sohn wurde30 von ihnen von Kindheit an zur groͤßten Ordnung in allen seinen Geschaͤften, und auch vornehmlich in seinen Kleidern angehalten, jedes mußte seine angewiesene Stelle haben, und er wurde ernstlich bestraft, wenn er darin eine Nachlaͤssigkeit blicken ließ. Nicht weniger aufmerksam waren sie, ihn an eine strenge Sparsamkeit im Geldausgeben zu gewoͤhnen, und taͤglich wurde ihm die Lehre vorgepredigt: daß ein Kaufmann ohne eine genaue Oekonomie nicht in der Welt fortkommen koͤnne. Der Knabe war hierin seinen Eltern so gehorsam, daß er schon in seinem zwoͤlften Jahre der ordentlichste Junge von der Welt war.
Seine Garderobe war klein, aber taͤglich wurde sie mit groͤßter Sorgfalt gesaͤubert, und es durfte kein Federchen auf seinem Kleide sitzen. Wer ihm daran was verdorb, war sein Todfeind. Diese genaue aͤngstliche Ordnungsliebe, die ihn seine Eltern lehrten, und ihr eigenes Beispiel in Absicht des sparsamen Geldausgebens scheint mit eine von den gelegentlichen Ursachen seines nachher so stark gewordenen Geitzes gewesen zu seyn, seine Neigung zur Bettelei aber soll, wie mir sein Onkel erzaͤhlte, vornehmlich durch folgenden Umstand in ihm rege geworden seyn.
Als er nach B – in die Lehre gethan worden war, pflegte er, so oft es seine Geschaͤfte erlaubeten, in den fuͤrstlichen Schloßgarten zu gehen, um den Hof an oͤffentlicher Tafel speisen zu sehen. Er31 wurde von dem Anblicke einer solchen Tafel, noch mehr aber von den aufsteigenden Wohlgeruͤchen wie bezaubert, und er wuͤnschte nichts mehr, als einmahl von dem Uebriggebliebenen etwas kosten zu duͤrfen. Sein Appetit war auch eines Tages so ausserordentlich stark danach geworden, daß er es wagte einen Bedienten der fuͤrstlichen Tafel um etwas Fleisch anzusprechen, welches er auch erhielt. Diese Bettelei setzte er nun von Tag zu Tage fort, und war zufrieden, wenn ihm die Bedienten auch nur bloße Knochen hinwarfen. Was er nicht verzehren konnte, trug er nach Hause, und damahls soll er zuerst sein Speisemagazin zu errichten angefangen haben.
Offenbar bemerkt man bei einiger Aufmerksamkeit an dem armen Menschen eine Laͤhmung und Schwaͤche der Seele, welche ohngefaͤhr in seinem vierzehnten Jahre angefangen haben soll, um welche Zeit er oft Schwindel bekam, und bei Tische oft halbe Stundenlang, ohne auf die ihm vorgelegten Fragen zu antworten, still saß. Man sieht es ihm an, daß ihm ein zusammenhaͤngendes Denken nicht selten schwer wird, so gern er sich auch mit andern zu unterhalten pflegt, daß sich seine Begriffe confundiren, und sich unwillkuͤrlich von einander trennen, welches wahrscheinlich alles Folgen seiner aͤusserst geschwaͤchten und nervenlamen Natur sind.
Jn dieser seiner geschwaͤchten Natur liegt auch ohnstreitig der Grund, daß er seine Begierden zum32 Stehlen nicht beherrschen kann, und daß sein Herz so leicht jedem Vorsatze sich zu bessern ausweicht; – ob ich gleich nicht bestimmen kann, in wie fern seine durch heimliche Ausschweifungen erregte Seelenschwaͤche grade ihre Richtung zu seinem Geldgeitze genommen hat. Ein Tagebuch, welches man uͤber den ganzen Gang seiner Empfindungen und Leidenschaften mit Aufmerksamkeit gehalten haͤtte, wuͤrde vieles aufgeklaͤrt haben, welches mir an ihm noch ganz unbegreiflich vorkommt. Die Aerzte setzen seine Krankheit zugleich mit in ein Austrocknen des Ruͤckgradmarks, eine Krankheit, worin so oft ihre Kunst Schiffbruch gelitten haben soll. Kuͤnftig von diesem sonderbaren Menschen ein mehreres.
Mein lieber Herr PfarrerGassner, Johann Joseph24Gaßner!
Sie haben also, mein Freund, einen Seher Gottes und der Wahrheit gesehn! Es freut mich mit jedem Augenblick mehr, und ich weiß nicht wie mir zu Muthe wird, wenn ich denke: so lebt doch zu gleicher Zeit mit dir ein Mann, der mit Kraft zeuget von dem Leben Jesu, und einer von denen33 Menschen, denen ich am meisten glauben darf, hat mir bezeuget, daß er ist kein Gaukler, kein Betrogener, kein Betruͤger. Er glaubt, und lebt seines Glaubens. OGassner, Johann Joseph25Gaßner!Jch weiß, daß ich nicht werth bin an einen Mann Gottes zu schreiben; aber wenn Gottes Barmherzigkeit in Jhnen wohnet – (und ohne diese was waͤre denn der maͤchtigste Wunderglaube –?) so erbarmen Sie sich meiner, und schreiben mir bald. Aber laßt uns stille – stille unsere Seelen einander mittheilen. Jch bin des Geraͤusches herzlich muͤde, die Welt ists auch nicht werth, daß wir ihr die Kraft Gottes vor die Fuͤße werfen.
O wie seelig preis 'ich Sie, daß Gott Sie in der Stille zuruͤckfuͤhrt! O daß Jhre Ruhe nun auch mir zum Seegen wuͤrde. Lassen Sie mich, bester miskannter Mann, Jhnen oft mein Bruderherz entgegenbringen. Staͤrken Sie mich oft mit Glauben an den, an welchen ich meiner Unwuͤrdigkeit wegen kaum glauben darf. Sie koͤnnen kein besser Werk thun, als mir oft schreiben, was Sie wollen.
Unser lieber Kaufmann hat mich Jhrer Liebe gegen mich versichert. Nehmen Sie die Versicherung meiner Liebe zu Jhnen vor Gott mit Einfalt und Liebe an. Bitten Sie Gott, daß wir einander bald sehen koͤnnen, und daß sich kein Satan zwischen uns hineindraͤnge. Meine Seele duͤrstet34 nach einem lebendigen Zeugen des lebenden Jesus. Mit Wort und Schall kann ich mich nicht mehr begnuͤgen. Mein Thun und Lassen, Predigen und Schreiben ist mir unertraͤglich. O wenn Sie der Christ sind, den unser Freund in Jhnen liebte; wenn Sie Gottes Kraft wuͤrklich in Jhnen erfahren, und Demuth und Liebe Christi wuͤrklich in Jhnen wohnt, – was habe ich mir nicht von Jhnen zu versprechen!
Ach! Gassner, Johann Joseph26Gaßner,mir ist recht um Erfahrung, um Gewißheit zu thun. Jch hofte[ sie] von Jhrer Seite zu finden. Jsts Jhnen moͤglich; so naͤhern Sie sich; aber so unbekannt und verborgen als moͤglich nicht nur meinem Herzen, sondern auch meiner Person. Eine persoͤnliche Zusammenkunft wuͤrde gewiß zur Erweckung unseres Glaubens und unserer Liebe gereichen; gewiß nachher vielen 1000 Seelen zum Seegen werden.
Sagen Sie nicht zu geschwinde: nein! Machen Sie moͤglich, was moͤglich ist; aber nur in der Stille. Jesus Christus, dessen Nahmen ich auszusprechen unwerth bin, leite Jhr Herz und Jhre Person zu mir. Sagen Sie mir bald, was ich thun kann, um unsere Zusammenkunft zu beschleunigen, und dann habe ich noch viel mit Jhnen zu reden. Sagen Sie mir alles, was Sie wollen! Wer aus der Wahrheit ist, der hoͤrt der35 Wahrheit Stimme. Rede Knecht des Herrn*)*)Gassner, Johann Joseph28Gaßner,der elende Schwaͤrmer, der Betruͤger – ein Knecht des Herrn? ein Mann Gottes? O was glaubt der Mensch nicht Alles, wenn erst seine Einbildungskraft seine Vernunft geworden ist.! ich will hoͤren. Mehr jezt nicht. Jch zaͤhle Tage und Stunden, bis ich weiß,Gassner, Johann Joseph29Gaßnerist entschlossen mich zu sehen, und das bald. Die Gnade Jesu Christi sey mit uns!
Zuͤrich den 3ten May 1777.
Lavater, Johann Caspar30J. C. Lavater.Pfarrer am Waisenhause.
36Es giebt Leute, die durch ihren bloßen Anblick unser Herz an sich ziehen, und uns, ehe wir sie noch genauer kennen lernen, durch eine unbegreiflich schnelle und unwiderstehliche Sympathie unserer Empfindungen fuͤr ihr Jnteresse einnehmen.
Es giebt aber auch Andere, welche fuͤr uns, ohne daß wir allemahl eine bestimmte Ursach von unserm Gefuͤhl anzugeben wissen, etwas Unausstehliches an sich haben, und uns schon durch ihren Anblick hoͤchst gehaͤssig werden koͤnnen. Es wird unserm Herzen nicht nur leicht mit jenen Erstern vertraut zu werden; sondern wir fuͤhlen auch sogar ein inneres Beduͤrfniß, einen Seelendrang, uns ihnen zu naͤhern, und es ist uns nichtsweniger als gleichguͤltig, welchen Eindruck unsere Person auf ihr Herz gemacht hat, oder machen koͤnnte. Jhnen zu gefallen, scheinen wir oft unsere ganze Denkungsart37 zu aͤndern; suchen uns wenigstens zu der ihrigen gefaͤllig herabzustimmen, und opfern ihnen nicht selten sogar unsere Lieblingsgrillen und Schoosneigungen auf, wenns darauf ankommt, ihr Herz zu gewinnen.
Ganz anders sind wir gegen diejenigen, gegen welche wir eine unwillkuͤrliche Abneigung haben, gesinnt. Wir fuͤhlen es nur zu deutlich in uns, daß wir mit diesen nie eine vertraute Freundschaft errichten wuͤrden; unsere Seele schaudert gleichsam vor ihnen zuruͤck; wir sind mistrauisch gegen sie, und koͤnnen leicht dahin gebracht werden, ungerecht und lieblos gegen sie zu handeln. Je mehr sie sich uns zu naͤhern suchen, destomehr entfernen wir uns von ihnen; unsere Hoͤflichkeit gegen sie ist Verstellung, und das Lob, welches wir ihren Talenten und Verdiensten ertheilen, nicht selten erzwungen.
Jch habe schon oft uͤber dieses sonderbare[ Phaͤnomen] der menschlichen Seele nachgedacht, und ich will nachher versuchen, ob ich davon einige psychologische Gruͤnde angeben kann. Die alten Physiker, welche so viel von verborgenen Kraͤften der Natur zu schwatzen wußten, nannten jenes widerliche Gefuͤhl, welches durch den Anblick gewisser Menschen in uns hervorgebracht wird, Antipathie, ohne es zu erklaͤren. Neuere Philosophen haben jenes Gefuͤhl aus einer Ungleichheit und Disharmonie des Naturells verschiedener Menschen herleiten wol -38 len; allein, wie mich duͤnkt, haben sie nicht ganz Recht, wenigstens kann ihre Erklaͤrung nicht als eine allgemein richtige angenommen werden. Es giebt Menschen von einem durchaus verschiedenen Naturell, welche sich demohnerachtet aufs zaͤrtlichste lieben, und wie sie selbst gestehen, eben durch eine Verschiedenheit des Naturells die waͤrmsten Freunde geworden sind. Es ist ferner bekannt, daß ganz verschiedene Charactere oft einer viel laͤngern und dauerhaftern Sympathie gegen einander faͤhig sind, als die, welche die Natur gleichsam nach einem Modell geschaffen zu haben scheint, und wer kennt nicht Ehen, worin die liebenswuͤrdigste Eintracht herrscht, so sehr auch Mann und Frau in Absicht ihres Naturells von einander abgehen?
Ueberdem verstehe ich hier unter der Antipathie gewisser Menschen gegen einander eigentlich nicht die, welche durch eine genauere gegenseitige Bekanntschaft ihrer verschiedenen Temperamente und Denkungsarten, oder gar durch persoͤnliche Beleidigungen; sondern durch den unwillkuͤrlichen Eindruck gewisser Gesichtszuͤge und der koͤrperlichen Form Anderer auf unsere Phantasie hervorgebracht wird, wobei die Verschiedenheit des Naturells nur in so fern in Betrachtung kommt, als es gewisse Gesichtszuͤge veranlassen kann, die etwas Widerliches fuͤr uns an sich haben.
So unsicher uͤberhaupt die Regeln eines physiognomischen Gefuͤhls seyn moͤgen, sobald man da -39 durch den moralischen Werth eines Menschen, oder wohl gar den Umfang seiner Geistesfaͤhigkeiten und Kenntnisse bestimmen will*)*)Lavater, Johann Caspar34Lavater,welcher noch iezt behauptet: daß ihm von Natur ein besonderes feines Gefuͤhl, auf dem Gesichte eines Menschen seine Seele und Seelengroͤße zu lesen, mitgetheilt sey, legte bei seiner Anwesenheit in B.. ein neues Zeugniß seiner physiognomischen Prahlerei durch folgende laut gesagte Versicherung ab: » Wenn mir, sagte er, Jerusalems Kopf, wie das Haupt Johannis auf einer Schuͤssel, abgesondert vom Koͤrper, presentirt wuͤrde, und ich wuͤßte nicht, daß es der Kopf des großen Jerusalems sey; nicht, daß aus ihm das Werk von den Wahrheiten der Religion hervorging; so wuͤrde ich ihm doch gleich beim ersten Anblick zurufen: Du bist und mußt Jerusalems Kopf seyn «! – Solche zum Theil noch sinnlosere Sentenzen stehen auf mehr als einer Seite seiner Physiognomik, als eben so viel Beweise, daß man mit dergleichen declamatorischen und uͤbertriebenen Saͤtzen oft – nichts sagt. und so unwahr der Satz eines alten Weltweisen ist: daß in einem schoͤnen Koͤrper auch eine schoͤne Seele wohnen muͤsse; so unlaͤugbar ists doch auf der andern Seite, daß wir vermoͤge eines auf physiognomisches Gefuͤhl gegruͤndeten Triebes, der freilich bei Einigen staͤrker, bei Andern schwaͤcher, und noch bey Andern gar nicht vorhanden seyn kann, zu gewissen Menschen gleichsam unwillkuͤrlich hingezogen, und von Andern zuruͤckgestoßen werden, je nachdem wir bald mehr bald weniger Uebereinstimmung ihrer40 Herzen mit dem unsrigen in ihrem Gesichte zu lesen glauben.
Aber es ist uns oft eben so unmoͤglich, den psychologischen Grund dieser bald einladenden, bald zuruͤckscheuchenden Gesichtssprache deutlich anzugeben; so leicht es auf der andern Seite unserm Herzen wird, ihren Ton und Unterschied nach seinen feinsten Nuͤancen zu bemerken. Am allerwenigsten aber hat es bisher der speculativen Seelenlehre gluͤcken wollen, die Gesetze genau zu bestimmen, nach welchen die Gesichtssprache sympathetischer Gefuͤhle Anderer, aͤhnliche Wirkungen in dem Jnnern unserer Natur hervorbringt, und noch ehe wir wollen, uns entweder mit Liebe oder Haß gegen gewisse Menschen erfuͤllt.
Jch glaube nicht, daß die menschliche Seele in dieser Art der Sympathie, oder Antipathie, welche sich nach der Gesichtssprache Anderer richtet, uͤberhaupt nach unverletzlichen psychologischen Gesetzen handelt. Jedes Jndividuum geht hiebei unwillkuͤrlich seinen eigenen Weg, weil jedes seine individuellen Gefuͤhle, und eine darauf gegruͤndete individuelle Empfaͤnglichkeit hat, dießmahl so ein andermahl anders im Gesichte vernuͤnftiger Wesen zu lesen.
Die Empfindungen, welche der Gesichtsausdruck Anderer in uns hervorbringt, koͤnnen aber auch deswegen nicht nach einerlei Gesetzen erfolgen, weil die Natur den Einen mit einem groͤbern, den41 Andern mit einem feinern physiognomischen Gefuͤhl begabt hat; weil der Eine mehr, der Andere weniger Einbildungskraft zu seinen Beobachtungen bringt, und weil sich uͤberhaupt unsere Vorstellungen so genau nach der jedesmahligen Beschaffenheit unserer Organe zu richten pflegen. Ausserdem hat die gute oder boͤse Laune, die Gesundheit oder Krankheit des Bluts und die Verschiedenheit des Alters einen erstaunlichen Einfluß auf die Sympathie oder Antipathie unserer Empfindungen.
Es giebt offenbar Augenblicke worin unser Herz durch eine innere Verstimmung der Seele veranlaßt, mehr zur Gefuͤhllosigkeit als zur Theilnehmung geneigt ist, und worin sich unsere Vorstellungen gleichsam verschworen haben, uns jede Sache von ihrer schwarzen Seite darzustellen. So erschlafft wir uns in diesem Zustande zur Thaͤtigkeit und Geistesanstrengung fuͤhlen, so geschaͤftig ist doch alsdann unsere Einbildungskraft, uns gegen die unschuldigsten Gegenstaͤnde zu erbittern, und uns an jedem Menschen seine schlimsten Seiten sehen zu lassen. Unsere besten Freunde haben alsdann etwas Widerliches an sich, und unser durch die Galle gleichsam geschaͤrftes Auge entdeckt Fehler an ihnen, die wir sonst nicht bemerkten. Besonders stark wuͤrkt auf uns in solchen Augenblicken der uͤbeln Laune der Gesichtsausdruck Anderer. Wir koͤnnen uns alsdann uͤber eine bloße Miene, die uns nicht gefaͤllt, so entruͤsten, als ob man uns die groͤßte Beleidigung an -42 gethan haͤtte; ja man fuͤhlt sich nicht selten geneigt, den zu beleidigen dessen Gesicht auf uns in einer uͤbeln Laune einen widerlichen Eindruck hervorbringt. – Wie viele Ungerechtigkeiten werden in dieser Absicht von Eltern und Erziehern gegen diejenigen ihrer Zoͤglinge begangen, welche sich ihnen nicht durch eine gefaͤllige Physiognomie empfehlen! Sie werden gemeiniglich zuruͤckgesetzt und oft bei den kleinsten Fehlern bestraft, indessen ihre wohlgebildeten Geschwister die zuvorkommensten Liebkosungen genießen.
Wenn es wahr ist, daß viele haͤßliche Leute wuͤrklich in Absicht ihres Characters nicht viel taugen sollen; so liegt der Grund davon gewiß mit in der Behandlungsart, wie sie erzogen wurden, in der Verachtung die ihre Eltern gegen sie blicken ließen, in den stummen und lauten Vorwuͤrfen, die man ihnen in Absicht ihrer Gestalt oft auf die unvernuͤnftigste Art zu machen pflegt, und uͤberhaupt in der Vernachlaͤssigung ihrer Ausbildung, deren so viele Eltern, wie ich aus mehrern Erfahrungen weiß, ihre haͤßlichen Kinder fuͤr unfaͤhig, und was noch abscheulicher ist, – fuͤr unwuͤrdig halten.
Die Verschiedenheit des Alters hat ferner einen großen Einfluß auf die Antipathie gegen gewisse Menschen. Jch habe bemerkt, daß Kinder, sonderlich wenn sie kraͤnklich sind, gemeiniglich mehr von den Empfindungen der Antipathie als aͤltere[ Leute] beherrscht werden, und ich kenne einige Kna -43 ben, die unter zwanzig Leuten gewiß immer einen antreffen, der fuͤr ihre Phantasie etwas Widerliches an sich hat. Der Grund worin Kinder mehr von den Empfindungen einer unwillkuͤrlichen Abneigung gegen gewisse Menschen als aͤltere Leute beherrscht werden, scheint mir vornehmlich darin zu liegen, weil ihr Herz mit jenen nicht immer auf die Art sympathisiren kann, als es seinen jugendlichern und lebhaftern Gefuͤhlen angemessen ist. Das ernsthaftere Gesicht aͤlterer Leute, ihre groͤbere Sprache, ihr groͤßerer Koͤrper kann in hundert Faͤllen fuͤr die Einbildungskraft des Kindes etwas Unangenehmes an sich haben, was aͤltere Leute gegen einander nicht fuͤhlen, – und bisweilen scheint sogar das Auge junger Kinder auf dem Gesichte Anderer mehr als der Blick jener zu lesen, welcher durch die Gewohnheit vielleicht schon viel von seiner physiognomischen Schaͤrfe verlohren haben kann. –
Doch es ist Zeit, daß ich auf die psychologische Erklaͤrung meines Gegenstandes komme, und die Gruͤnde anzugeben versuche, von welchen jene unwillkuͤrliche Abneigung gegen gewisse Menschen, ob wir sie gleich nicht genauer kennen, sie uns auch nie beleidigt haben, abhaͤngt.
Jch habe schon im Vorhergehenden zu verstehen gegeben, daß unsere Antipathie gegen manche Menschen vornehmlich durch ihre Gesichtszuͤge veranlaßt wird, die, ohne daß wir es uns erklaͤren koͤnnen, fuͤr unsere Phantasie etwas Unleidliches an44 sich haben; – ob ich gleich nicht laͤugnen will, daß manchmahl auch ihre koͤrperliche Form, ihr Gang, ihre Sprache, ihr Gliederbau und selbst ihr Anzug dazu etwas beitragen kann. Eigentlich ist aber doch das Gesicht der Ort, wo wir die Seele des Andern zu lesen glauben, und wonach wir gleichsam durch einen in uns liegenden Trieb den Character des Menschen zu beurtheilen aufgefodert werden.
Unter den Gesichtszuͤgen Anderer, die uns eine unwillkuͤhrliche Abneigung gegen sie einfloͤßen, bemerke ich nur als die vornehmsten den satyrischen, den bruͤsken, oder hochmuͤthigen, und endlich den Gesichtsausdruck der Einfalt und Dummheit. Von den Wuͤrkungen der Haͤßlichkeit auf unsere Einbildungskraft will ich noch etwas zum Beschlusse dieses Versuchs sagen.
Der satyrische Gesichtsausdruck, welcher entweder erzwungen, angenommen, oder natuͤrlich seyn kann, zeichnet sich durch einen schelmisch verzogenen Mund, und durch eine Miene aus, welche die Tochter des Laͤchelns und der Verachtung zu seyn scheint. Sie ist nicht ganz der Ausdruck des bittern Hoͤhngelaͤchters, auch nicht der, eines bloßen Laͤchelns, welches sich allemahl durch eine stille Freundlichkeit des Auges auszeichnet; sondern ein Mittelding von beiden, so wie der satyrische Gedanke selbst oft ein Gemisch einer zweifachen Empfindung wird, nehmlich 1) der natuͤrlichen und an45 sich unschuldigen Freude uͤber das Auffallende, Laͤcherliche und Kontrastirende eines Satzes und 2) jenes versteckten boshaften*)*) Wir haben kein Wort im Deutschen, welches das franzoͤsische malicieux, das ich hier eigentlich meine, genau ausdruͤckt. Vergnuͤgens, etwas Bitteres und Beissendes gesagt zu haben. Sonst rechnet man noch zur Physiognomie des Satyrikers ein hervorgebogenes spitzes Kinn, eine in die Hoͤhe geworfene, oder auch zugespizte Nase, und ein hinter den Augenliedern lauschendes Auge.
Diese Gesichtszuͤge zusammengenommen, welche einzeln keinen Eindruck auf uns machen wuͤrden, bringen nun in uns jene unwillkuͤrliche Abneigung gegen den Satyriker hervor, die selbst bei dem groͤßten Wohlgefallen an seinen Einfaͤllen fortzudauern pflegt. Es ist gar kein Beweis, daß wir uns dem Herzen des Satyrikers naͤhern, wenn wir uͤber seinen Witz lachen und ihm lauten Beifall zuklatschen. Heimlich empoͤren sich unsere Gefuͤhle gegen ihn, und wir fuͤhlen uns in Absicht seines Characters gemeiniglich um so viel mistrauischer, je treffender und beissender seine Gedanken sind. Wir glauben nicht, daß ein solcher Mann unser vertrauter Freund seyn koͤnne, und wir fuͤhlen es gleichsam im Voraus, daß wir in einer naͤhern Verbindung mit ihm oft seine giftige Zunge erfahren, und46 daß uns die Stunden seines Umgangs laͤstig seyn wuͤrden. Vornehmlich aber fuͤrchten wir uns, daß sein spaͤhendes Auge an uns Fehler und Schwachheiten entdecken duͤrfte, die wir gern verbergen moͤchten, und wir zweifeln nicht, daß er uns in den Augen Anderer ohne Zuruͤckhaltung laͤcherlich machen wird, sobald ihn seine spoͤttische Laune uͤberfaͤllt.
Je geneigter daher unser Herz zur Liebe, Freundschaft und Geselligkeit ist; je mehr wir unsere sittlichen Gefuͤhle durch den Umgang mit edeln Menschen verfeinert haben, je lieber es uns ist bei allen Menschen so viel moͤglich in gutem Kredit zu stehen, und je empfindlicher wir vornehmlich in Absicht unserer Selbstliebe sind, je abgeneigter muͤssen wir uns auch gegen Menschen fuͤhlen, welche die Kennzeichen eines spoͤttischen Characters so deutlich im Gesichte tragen, und vor welchen wir, wie es uns scheint, von der Natur gleichsam selbst gewarnt werden.
Mehr als alle andere Gesichtsausdruͤcke reizt unsere Antipathie die Miene des aufgeblasenen und stolzen Mannes. Der Satyriker kann uns doch noch, auch bei seinem zuruͤckscheuchenden Gesichtsausdruck durch seinen Witz eine angenehme Unterhaltung verschaffen; kann uns, wenn wir ihn gleich fuͤrchten, aufheitern; allein dem Stolzen bleibt bei seiner bruͤsquen und hochmuͤthigen Miene kein Weg uͤbrig, auf welchem er sich unsern Herzen naͤhern koͤnnte, gesetzt, daß er auch die vortreflich -47 sten Talente besitzen sollte. Der kalte Blick der Verachtung, den er auf uns wirft, oder welches fuͤr unser Gefuͤhl einerlei ist, auf uns zu werfen scheint, sein hochtrabender Gang, seine suͤffisante Miene, sein adliches steifes Kopfnicken beleidigt unsere Eigenliebe, wenn wir auch in keiner Verbindung mit ihm stehen, und scheucht uns von sich zuruͤck. Unter allen Arten der Behandlung, die uns von unsern Nebenmenschen widerfahren koͤnnen, tragen wir Verachtung am ungernsten, daher wir auch mit denjenigen am schwersten ausgesoͤhnt werden koͤnnen, die einmahl eine Art von Verachtung, oder nur Geringschaͤtzung gegen uns haben blicken lassen. Jeder Mensch traͤumt sich nun einmahl seine eigenen Verdienste, und jeder fuͤhlt einen angelegentlichen Wunsch in seinem Herzen, daß man sie wenigstens nicht ganz verkennen moͤchte; aber der Stolze spricht uns schon durch seine Miene alle Verdienste ab, indem er sich immer allein als den Mann der Bewunderung aufstellt, und aller Augen allein auf sich richten will.
Sein befehlhaberischer dictatorischer Blick bringt uns aber auch noch deswegen gegen ihn auf, weil er unser Freiheitsgefuͤhl empoͤrt. Unsere Seele stellt sich nehmlich beim Anblick des Stolzen auf eine dunkele Art vor, wie sklavisch er uns behandeln wuͤrde, wenn wir von ihm abhaͤngen sollten, und weil wir glauben, daß er uns beleidigen wuͤrde; so empfinden wir auch[ sogleich] bei48 seiner Gegenwart das, was wir beim Anblik derjenigen empfinden, die uns wuͤrklich beleidigt haben.
Die Miene der Einfalt und Dummheit hat gleichfalls etwas Widerliches fuͤr unsere Phantasie an sich, ob sie uns gleich gemeiniglich mehr zum Mitleiden und Bedauren, als zu Erbitterungen reitzt, – und doch giebt es Faͤlle, wo uns unsere Empfindungen taͤuschen und in eine Art von Verdruß uͤber den Einfaͤltigen uͤbergehen koͤnnen, indem wir ihn fuͤr den Urheber der Eingeschraͤnktheit seines Verstandes halten; aber dieß allein wuͤrde uns nicht so leicht gegen ihn aufbringen, uns nicht so sehr von ihm zuruͤckstoßen, wenn wir es nicht zugleich deutlich in uns fuͤhlten, daß seine Seele fuͤr uns so gut als tod ist, und daß wir unmoͤglich mit seinem Herzen sympathisiren koͤnnen. Sein kaltes kraftloses Auge, sein dummer und starrer Blick, seine alberne Sprache, seine kindischen Handlungen und sein ganzes[ aͤusseres] Wesen sagen uns dieß gar zu deutlich, und unser Mitleid selbst, welches uns so leicht in andern Faͤllen an Menschen anzieht, uns fuͤr sie erstaunlich interessirt, traͤgt das Seinige dazu bei, unser Herz von ihm zu entfernen; – denn wir koͤnnen die nicht lieben, gegen welche unsere Seele bloßes Mitleiden, und zwar immer empfindet; wir koͤnnen endlich auch mit denen nicht sympathisiren, deren Umgang uns Schande machen wuͤrde. So wohlwollend auch jedes Gefuͤhl der Sympathie auf der einen Seite zu seyn scheint, und so uneigen -49 nuͤtzig dieses Gefuͤhl von Hutcheson vorgestellt worden ist, so wenig Nahrung findet es doch gemeiniglich da, wo es nicht durch irgend einen versteckten oder nicht versteckten Sporn der Eitelkeit gleichsam beseelt wird.
Es ist uͤberhaupt durch unzaͤhlige Erfahrungen bewiesen, daß ohne eine innere Harmonie unserer Gedanken und Empfindungen, die sich entweder auf ihre eigentliche Natur, oder auf das Homogene ihres Ausdrucks, oder auf die Gleichartigkeit der Absichten gruͤnden koͤnnen, unsere Herzen keiner Sympathie faͤhig sind. Diese Harmonie, welche sich viel besser empfinden als beschreiben laͤßt, muß gleichsam von und durch sich selbst entstehen und unterhalten werden; sie kann oft das Werk eines gluͤcklichen Zufalls seyn, in welchem zwei sanfte Seelen an einander stoßen, und gleichsam ohne allen Zwang als zwei vorher getrennte Wesen nun mit dem innigsten Gefuͤhl des Wohlwollens in einander uͤbergehen. Sobald wir sie zu erkuͤnsteln suchen, sobald wir zu ihrem Daseyn nicht alles aus unserm Herzen schoͤpfen; sobald wir sie uͤberhaupt allein zur Tochter der Vernunft machen, um ihre Rechte auf unser Herz zu bestimmen, sobald wird sie auch nicht mehr auf eine so leichte und bezaubernde Art die himmlischen Empfindungen einer gegenseitigen Theilnehmung in uns hervorbringen koͤnnen, die so oft die suͤßesten Freuden des Lebens ausmachen. Das menschliche Herz ist hierinn so deli -50 cat, und handelt bei seiner Sympathie oft ohne alle augenblickliche Anleitung der Vernunft nach so richtigen und abgemessenen Gesetzen, daß jene Harmonie nicht einmahl statt finden kann, wenn nicht die homogenen Empfindungen zweier Menschen zu gleicher Zeit zusammentreffen, um sich gleichsam in einem gemeinschaftlichen Brennpuncte zu vereinigen. Jch nehme an, daß in dem Gesichtsausdrucke zweier sympathisirender Seelen Etwas liegt, wodurch dieses Zusammentreffen ihnen auf eine bezaubernde Art sichtbar wird, und was unser Herz vielleicht nur allein lesen kann. Auf dem Gesichte des Einfaͤltigen lieset unser Herz – nichts, indem es uns entweder gleich einer Bildsaͤule anstarrt, oder uns auf eine eckelhafte Art entgegen laͤchelt, wodurch in uns ohnmoͤglich ein Funke von Sympathie entstehen kann.
So verschieden auch die Meinungen und Empfindungen der Menschen in Absicht der Schoͤnheit und Grazie eines Gegenstandes seyn moͤgen; so unlaͤugbar ist es doch, daß der menschlichen Seele ein inneres (vielleicht blos auf koͤrperliche Organisation gegruͤndetes) Gefuͤhl fuͤr Schoͤnheit und Harmonie mitgetheilt sey. Unsere Jmagination wird auf eine angenehme Art beschaͤftigt, wenn wir an einem koͤrperlichen Gegenstande ein richtiges leicht zu unterscheidendes Verhaͤltniß seiner Theile zum Ganzen sowohl, als unter sich bemerken. Ein nach den Regeln der Schoͤnheit gebautes Gesicht gefaͤllt nicht51 nur unserm Auge, indem die Natur mit eigener Selbstzufriedenheit daran gearbeitet zu haben scheint; sondern erregt auch oft in unserm Herzen die suͤßesten Empfindungen der Liebe, die nicht selten alsdenn noch in uns fortdauren, wenn wir uͤber den moralischen Character eines Frauenzimmers wichtige Zweifel bekommen haben. – Haͤßlichkeit hingegen stoͤßt unser Herz von sich zuruͤck, oder wir bleiben wenigstens beim ersten Anblick kalt dabei; allein so wie nicht immer Schoͤnheit auf unser Herz auch bei der richtigsten Proportion ihrer Theile wuͤrkt; so glaub ich auch, daß nicht blos das unrichtige von der Natur verfehlte Verhaͤltniß eines Gesichts uns eine Antipathie gegen den Gegenstand selbst einfloͤßt, sondern daß unsere Seele gemeiniglich durch eine dunkle Schlußfolge gegen einen haͤßlichen Menschen eingenommen wird.
Wir haben nehmlich oft bemerkt –; oder welches hier einerlei ist, uns zu bemerken eingebildet, daß ein haͤßliches Gesicht mit einem haͤßlichen Character verbunden war; bemerkt, daß oft die regelmaͤßigsten Gesichter durch Laster und Leidenschaften bis zur Scheuslichkeit entstellt wurden, – nun sehen wir ein anderes haͤßliches Gesicht, das eine vielleicht auch nur entfernte Aehnlichkeit mit der Physiognomie jener schlechten Menschen hat, und gleich machen wir den uͤbereilten Schluß, dergleichen unsere Phantasie unzaͤhlige macht, daß auch dieses Gesicht mit einem verachtungswuͤrdigen Charakter52 verbunden seyn werde. Wir schließen hiebei freilich oft sehr unrichtig und lieblos; allein wir schließen nun einmahl so, weil es die Analogie unserer Jdeen mit sich bringt, und weil wir uns geneigt fuͤhlen, das zu verachten, was uns nicht gefaͤllt.
Ein haͤßlicher Mann faͤllt uns nie so auf, als ein haͤßliches Frauenzimmer, und ich glaube aus folgenden Gruͤnden. Wenn es gleich eben so gut eine maͤnnliche Schoͤnheit, als eine weibliche giebt; so setzen wir doch immer die letztere als ein besonderes Eigenthum des andern Geschlechts voraus, wozu uns schon der feinere Gliederbau und das sanftere Colorit des weiblichen Gesichts berechtigt. Die Natur hat in der That den weiblichen Koͤrper mit mehrern Reitzen als den maͤnnlichen begabt; allein der Mangel desselben wuͤrde uns nicht so sehr auffallen, wenn wir nicht sogleich fuͤr jene Reitze ein geheimes Jnteresse fuͤhlten, was uns unaufhoͤrlich zu dem andern Geschlechte hinzieht. Dieses Jnteresse, welches wir gegen keine Person unseres Geschlechts, selbst bei der waͤrmsten Freundschaft nicht empfinden, wird durch ein haͤßliches weibliches Gesicht aufgehoben, unsere sympathetischen Gefuͤhle werden dadurch unterbrochen, unser Herz in seinen suͤßen Neigungen eingeschraͤnkt, und es ist uns unmoͤglich, ein solches Frauenzimmer auf den ersten Anblick lieben zu koͤnnen.
Diese Einschraͤnkung unserer zaͤrtlichen Gefuͤhle, die immer auf eine dunkle Art in uns verborgen lie -53 gen, diese Gegenwuͤrkung unserer Phantasie auf einen in uns liegenden allgemeinen Trieb der Geschlechtsliebe scheint mir eine der vornehmsten psychologischen Ursachen zu seyn, warum der Anblick eines haͤßlichen Frauenzimmers uns so sehr auffaͤllt.
Durch einen naͤhern Umgang, durch Bekanntschaft mit einem sanften weiblichen Herzen, welches so oft hinter einer haͤßlichen Gestalt verborgen ist, kann jener in uns liegende von einem geheimen Jnteresse genaͤhrte Geschlechtstrieb wieder so lebhaft werden, als er vorher durch den Anblick eines haͤßlichen Gesichts unterdruͤckt wurde; ja er kann alsdann oft das Auge so sehr taͤuschen, daß wir das Frauenzimmer fuͤr schoͤn zu halten anfangen, was uns vorher sehr haͤßlich schien, indem wir die Schoͤnheit ihres moralischen Charakters gleichsam in die Zuͤge ihres Gesichts hinuͤbertragen.
Es ist nichts Besonders, und eine Alltagserfahrung im menschlichen Leben, daß die Liebe oft das Werk eines einzigen Augenblickes ist. Lebhafte Leute koͤnnen sich in einem Tage zehnmahl verlieben; ihr Herz steht jeder Schoͤnheit offen, und ihre Phantasie flattert gern von einem Gegenstande der Zaͤrt -54 lichkeit zum andern. Aber merkwuͤrdiger und sonderbarer scheint mir die Art Liebe zu seyn, welche nach einem langen voͤllig gleichguͤltigen Umgange zweier Personen sich, gleich eines schnellen elektrischen Schlages, ihrer Herzen bemaͤchtigt. Hievon kann ich folgendes zuverlaͤßige Beispiel mittheilen.
Die liebenswuͤrdige Gattin eines unserer vortreflichsten tragischen Dichter, kannte ihren Mann lange vorher, ehe sie wußte, daß er um ihre Hand anhalten wuͤrde. Sie hatte ihn oft in Gesellschaften gesehen; aber sie hatte auch nie auf die entfernteste Art eine zaͤrtliche Neigung gegen ihn empfunden; im Gegentheil war er ihr, da er selbst etwas kalt gegen das schoͤne Geschlecht zu seyn schien, auch immer ganz gleichguͤltig gewesen; sie hatte sich sogar oft uͤber seinen Anstand, der selten bei großen Koͤpfen der beste ist, mit ihren Freundinnen lustig gemacht, und das war noch an dem Tage geschehen, als sie auf einmahl fuͤr ihn, ohne seine Veranlassung, eingenommen wurde. Er war mit ihr in Gesellschaft, die Gesellschaft hatte sich in dem Garten zerstreut, und das liebenswuͤrdige Maͤdchen wollte eben die Allee hinaufgehen, als er ganz nachlaͤßig in derselben heruntergeschlichen kam. Jn dem Augenblick machte er einen tiefen Eindruck auf ihr Herz, sie fuͤhlte, daß sich ihr Gesicht mit einer ploͤtzlichen Roͤthe uͤberzog, – und wuͤnschte ihm ihre Hand geben zu koͤnnen.
55Es sind mir mehr dergleichen Beispiele bekannt. Jch kenne Frauenzimmer, die Maͤnner gar nicht ausstehen konnten, welchen sie hernach auf einmahl aus wahrer Liebe ihr Herz schenkten. Vornehmlich hab ich das bemerkt, daß weibliche Herzen aus einer kalten Gleichguͤltigkeit auf einmahl in heiße Liebe uͤbergehen koͤnnen, wenn ihnen ein Heurathsantrag geschieht. Dieser schnelle unerklaͤrbare Uebergang ihrer Empfindungen macht sie oft alsdann gegen die sichtbarsten Maͤngel ihrer Liebhaber – blind, fuͤr die sie vorher Argus-Augen hatten.
Folgenden Traum hat der den 26ten April 1785. verstorbene Siegmund, Freiherr vonSeckendorf, Siegmund Freiherr von40Seckendorff,*)*) Starb als Koͤnigl. Preuss. Gesandter an den fuͤrstlichen Hoͤfen des Fraͤnkischen Kreises zu Anspach, und war 1744. zu Erlangen geboren. Viele Liedercompositionen und Gedichte von ihm stehen im deutschen Merkur. S. seine uͤbrigen Schriften in Meusels gel. Deutschland. welchen er ein halb Jahr vor seiner Krankheit und seinem Tode hatte, von sich selbst mehrmahls erzaͤhlt, und schriftlich aufgezeichnet.
56Es erschien ihm nehmlich im Traume ein Mann von gewoͤhnlicher Gestalt und Kleidung, welcher ihm sagte: daß er sich etwas von ihm ausbitten moͤchte, und daß er nach seinem Gefallen Eins von Beiden waͤhlen koͤnnte, – entweder seine vergangenen oder kuͤnftigen Schicksale sich der Reihe nach vorgestellt zu sehen. Die Zukunft, erwiederteSeckendorf, Siegmund Freiherr von42Seckendorff,wolle er Gott uͤberlassen; aber angenehm wuͤrde es ihm seyn, wenn er noch einmahl sein ganzes vergangenes Leben wie in einem Gemaͤhlde vor sich sehen koͤnnte. Sein Wunsch wurde ihm sogleich gewaͤhrt. Der erschienene Mann gab ihm einen Spiegel, und hierinn erblickte er nun die Scenen seines vergangenen Lebens, deren er sich im Wachen kaum mehr bewußt war, mit einer Deutlichkeit und Lebhaftigkeit vor sich, als wenn sie den Augenblick erst geschehen waͤren. Er sah sich als ein Kind von drei Jahren aufs genaueste mit allen Umstaͤnden seiner Erziehung. Jede Schulscene mit seinen Erziehern, jede verdruͤßliche Begebenheit, die er in seiner Jugend erlebt hatte, ging in dem Spiegel lebhaft vor seinen Augen voruͤber.
Bald darauf stellte[ ihm] der Zauberspiegel in der Folge seines Lebens auch seinen Aufenthalt in Jtalien vor. Dort hatte er eine Geliebte zuruͤckgelassen, die er gewiß geheurathet haben wuͤrde, wenn ihn nicht sein Schicksal aus Jtalien gerufen haͤtte. Dieses Frauenzimmer erblickte er auch waͤhrend seines Traums auf einem Bette liegend. Sie winkte57 ihm freundlich zu, und er naͤherte sich ihr. » Wir muͤssen uns trennen, sagte sie; aber nicht lange, lieber Seckendorff, – denn ohne Sie kann ich nicht lange seyn! jetzt aber muͤssen Sie mich auf einige Augenblicke verlassen! «
Ein Liebhaber ist auch im Traume gegen seine Goͤttin erstaunlich artig und gehorsam. Seckendorff ging sogleich aus dem Zimmer, als er aber einige Minuten nachher wieder hereintrat, lag sie weit schoͤner und einer Verklaͤrten gleich, auf dem Bette. An ihren Fuͤßen that sich jetzt ein Vorhang auf, hinter welchem Seckendorff einen unbeschreiblichen Glanz hervorstrahlen und sich eine Menge schoͤner und verklaͤrter Geschoͤpfe bewegen sah, welche ihm alle sehr vergnuͤgt zu seyn schienen. Sein Auge wurde von dem Zauber ihrer Schoͤnheit ganz verblendet. Eine von diesen verklaͤrten Schoͤnen faßte endlich seine Geliebte bey der Hand, zog sie mit sich fort, der Vorhang fiel nieder, – und er erwachte.
Bald nachher schlief Herr vonSeckendorf, Siegmund Freiherr von43Seckendorffwieder ein. Der nehmliche Mensch, welcher ihm den Zauberspiegel gegeben hatte, erschien ihm noch einmahl, und fragte ihn: ob er mit dem, was er ihm gezeigt habe, zufrieden sei, und ob er auch noch einmahl die Menschen, welche er in seinem Leben gekannt, zu sehen wuͤnschte?Seckendorf, Siegmund Freiherr von44Seckendorfferwiederte, daß ihm dieß Vergnuͤgen verursachen wuͤrde, und erhielt nun aufs neue einen Spiegel, indem er wuͤrk -58 lich alle seine Bekannte, todte und lebende der Reihe nach, aber mit dem Unterschiede voruͤbergehen sah, daß die noch lebenden Gluͤcklichen seiner Bekannten ihn alle freundlich ansahen und stehen blieben; diejenigen aber, von denen er schon wußte, daß sie ungluͤcklich und mißvergnuͤgt lebten, alle mit der Hand vor den Augen schnell, ohne sich umzusehen, in dem Spiegel voruͤbergingen. Jhnen folgte noch eine Anzahl, welche gleichfalls die Hand vors Gesicht hielten, von deren ungluͤcklichen Schicksalen er aber keine Kunde hatte. (Er schrieb hernach an mehrere von diesen Letztern seinen Traum, und erkundigte sich nach ihren jetzigen Lagen, welche auch alle richtig mit seinem Traumgesicht uͤbereintrafen.)
Die Verstorbenen, die er in diesem Spiegel sah, hatten eine ganz eigene und einfoͤrmige Kleidung, blieben einige Augenblicke vor ihm stehen, und winkten ihm freundlich mit der Hand zu. Einige aber schwanden, die Hand vor ihre Augen haltend, blitzschnell voruͤber, doch so, daß er sie erkennen konnte. Dieses war ihm das Schrecklichste bei seinem Traume gewesen, und er brach immer, wenn er auf diesen Punkt kam, schnell in seiner Erzaͤhlung ab, so wie er uͤberhaupt den ganzen Traum nicht leicht ohne einige Herzensruͤhrung und ohne Thraͤnen erzaͤhlen konnte.
Jetzt wachte er zum zweitenmahl auf. Seine innere Bangigkeit, die er fuͤhlte, trieb ihn aus dem Bette, er ging ans Fenster und suchte sich zu zer -59 streuen. Es schlug eben drei Uhr, und er legte sich etwas beruhigt wieder nieder. Dießmahl nahm seine Phantasie eine andere Richtung, er dachte jetzt im Traume uͤber seinen Traum nach, und verfertigte im Schlafe folgendes Gedicht, *)*) Holde, suͤße Phantasei! Jmmer wuͤrksam, immer neu. Dank sei deinen Zauberbildern, Die mein hartes Schicksal mildern! Dank dir, daß mir deine Kraft Freude noch zum Leben schaft! O! wie manchen langen Tag Jrr 'ich deinem Blendwerk nach! Jm Vergangenen verlohren, Jn der Zukunft neu gebohren, Wachend, traͤumend, dort und hier! Folg ich immer freudig dir. Ein Gesicht verschwindet kaum, Winkt mir schon ein neuer Traum, Sink' ich kraftlos und beladen. Reichst du mir den goldnen Faden, Der mein traurendes Gemuͤth Sanft zu dir hinuͤber zieht. Holde, suͤße Phantasie! Taͤuscherinn! verlaß mich nie! Nur im Kreise deiner Kinder Eilt die Zeit mir hin geschwinder, Weiche nimmermehr von mir! Auch im Tode folg ich dir. welches er60 auch zugleich componirte. Er erwachte aufs neue, stand auf, ließ sich Licht bringen, und schrieb den ganzen Traum, nebst dem Gedicht und der Composition noch in der nehmlichen Nacht auf, wie es im October des Merkurs 1784. steht.
Jch kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn vonSeckendorf, Siegmund Freiherr von46Seckendorffeben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein[ wuͤrkliches] Gedicht, und noch dazu eine Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen Geschichte der Traͤumereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natuͤrlicher, als daß einem Manne, der gewiß oft uͤber die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte, auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu uͤberschauen wuͤnschte, im Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines Lebens vermoͤge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie ungestoͤhrt und ganz allein wuͤrken kann, oft mit der groͤßten Lebhaftigkeit uns an Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war also eine gewoͤhnliche und natuͤrliche Folge dieser Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von Umstaͤnden wiedererblickte, die er schon laͤngst vergessen haben konnte, – und was war vollends natuͤrlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei -61 nem Bette liegen sieht? – Wie oft mochte der Herr vonSeckendorf, Siegmund Freiherr von47Seckendorff,da er sich von ihr trennen mußte, daran gedacht haben, daß er sie gewiß einmahl als einen verklaͤrten Engel wiederfinden wuͤrde, dergleichen Jdeen sind ohnedem schon einer Dichterseele sehr gelaͤufig und natuͤrlich, – so sah er sie in seinem Traum, und dieß ging nach den Gesetzen der Einbildungskraft eben so natuͤrlich zu, als daß er in seinem zweiten Traum, welcher eine Fortsetzung des erstern war, alle seine Bekannten wiedererblickte. Die Ungluͤcklichen unter ihnen sah er die Hand vor die Augen halten, weil er sie wohl oft in dieser Stellung, welche gemeiniglich ein Ausdruck unseres Schmerzes ist, beobachtet hatte, oder weil auch noch lebhafte Eindruͤcke von dergleichen Bildern und Kupferstichen in seiner Seele vorhanden seyn mochten, die sich mit der Vorstellung ihres Ungluͤcks durch die Jdeenassociation verbanden. Sonderbarer als alles Vorhergehende scheint die Bemerkung zu seyn, daß einige, von deren Schicksalen er nichts wußte, gleichfalls mit der Hand vorm Auge voruͤbergingen, und daß er nach genauer Erkundigung wuͤrklich erfuhr, daß sie ungluͤcklich lebten, allein wie zufaͤllig konnte auch dieß zugehen, und wie viele seiner Bekannten konnten sich ungluͤcklich zu seyn einbilden, ob sies gleich nicht waren.
Durch eine natuͤrliche Folge seiner Jdeen, wobei seine Phantasie immer ein gemeinschaftliches[ Endziel] hatte, sahe er nun auch seine verstorbenen62 Bekannten und Freunde. Ein Theil derselben winkte ihm freundlich zu, ein anderer Theil lief blitzschnell, die Hand vor die Augen haltend, voruͤber, – eine offenbare Wiederhohlung des ersten Traums! Seine Seele dachte gewiß auch im Traume daran, ob jene alle jenseit des Grabes gluͤcklich seyn wuͤrden, und sein erster Traum mußte ihn auf die Jdee bringen, daß sie es nicht alle seyn koͤnnten. Er sah sie in der nehmlichen Stellung, wie die erstern, die Hand vor dem Auge, und dieser Theil seines Traums mußte ihm denn freilich schrecklich vorkommen, weil er ihn fuͤr eine Revelation uͤber den unseeligen Zustand seiner verstorbenen Freunde zu halten schien. Ganz mag er auch das Lied nebst seiner Composition wohl nicht so getraͤumt haben, wie es gedruckt ist, wenigstens hat es im Wachen erst seine Feile erhalten.
Pockels, Carl Friedrich48P.
Vor einigen Jahren waren zu ... in Westphalen mehrere Prediger auf einem Convent zusammengekommen. Einer von ihnen verließ einige Minuten die Gesellschaft, um vor sich im Stillen uͤber etwas nachzudenken, und waͤhlte dazu eine nahelie -63 gende Allee, in welcher ihn seine Confraters bedaͤchtig auf - und niedergehen sahen. Einer[ unter] ihnen ein lustiger Kopf, beschloß einen Spaß mit ihm zu machen, welchen er auch sogleich ausfuͤhrte, und der darin bestand, daß er sich hinter ein Gestraͤuch an der Allee versteckte, und wie jener vorbei kam, ihm mit einer dumpfen Stimme zurief: Bestelle dein Haus, denn du mußt sterben! Der Wanderer ging voruͤber,[ ohne merklich] erschrocken zu scheinen. Er kehrte um, und die hohle Stimme des Spaßmachers ließ sich noch einmahl hoͤren, und endlich zum drittenmahle. Es ist gut, antwortete der auf - und niedergehende Prediger, als ihm jener Ton noch einmahl entgegenkam, den er bei einer dreimahligen Wiederhohlung endlich fuͤr eine wuͤrkliche goͤttliche Stimme, und fuͤr ein deutliches Omen seines nahe bevorstehenden Todes betrachtete.
Er kam in die Predigergesellschaft merklich veraͤndert zuruͤck. Sein Gesicht war leichenblaß, er sprach nicht mehr, und schien aͤußerst bedaͤchtig zu seyn. Die Gesellschaft erkundigte sich nach der Ursache seines jetzigen finstern in sich gekehrten Betragens, und erfuhr von ihm zum groͤßten Erstaunen, daß sein Ende nahe sei, weil er eine außerordentliche Stimme daruͤber vernommen habe. Seine Collegen fingen laut zu lachen an, verwiesen ihm seine Leichtglaͤubigkeit, und entdeckten ihm den ganzen Handel. Allein – vergebens. Der Prediger glaubte nun einmahl, daß jene Stimme vom Him -64 mel gekommen sey. – Man machte die ihm vorgesprochenen Worte genau nach, nannte ihm die Zeit, den Mann, der mit ihm seinen Scherz getrieben habe; alles half nichts. Der Prediger hielt alles dieß fuͤr erfundene Kunstgriffe, ihn von seiner Meinung zu befreien, blieb dabei, daß er gewiß bald sterben werde, – – – und wurde in kurzer Zeit auch wuͤrklich ein Opfer seiner Einbildung*)*) Jch glaube, daß man in der That mit solchen Spaͤßen, dergleichen man dem Prediger spielte, aͤußerst behutsam verfahren muͤsse. Unsere einmahl verschrobene Phantasie nimmt selten Vernunftgruͤnde an, womit man sie heilen will; und man weiß, zu welchen Ausschweifungen sie vornehmlich Hypochondristen verfuͤhren kann.Man hat sehr viele Beispiele, daß Leute blos dadurch sich ihren Tod zugezogen haben, weil sie ihn sich einbildeten. Sie glaubten irgend eine Ahndung, einen Traum davon gehabt zu haben. Noch vor wenigen Jahren starb hier in Braunschweig ein Prediger, wahrscheinlich an eben einer solchen Phantasie. Er kuͤndigte mehrere Jahre vorher seinen Freunden seinen Tod an, ob er gleich ganz gesund war, hielt einige Zeit vorher oͤffentlich eine Abschiedsrede an seine Gemeine, und starb endlich wuͤrklich um die vorhergesagte Zeit. Von diesem Vorfall werde ich in einem der naͤchstfolgenden Stuͤcke mehrere Nachricht geben.D.[ H. H].
St – –
65Daß ich von einem Laster zuruͤckkam, welches meinen Koͤrper sowohl als meinen Geist zerruͤttete, dies hatte ich großentheils meiner[ erlangten] bessern Einsicht von der Natur und Folgen des Lasters und aufgeklaͤrtern Begriffen von Tugend und Religion zu verdanken. Doch kann ich nicht laͤugnen, daß hiezu auch Liebe zu einem Maͤdchen das Jhre beitrug. Jn meiner Nachbarschaft wohnte ein Maͤdchen, das ich oͤfters zu sehen Gelegenheit hatte, und das mich Neuling in der Liebe durch ihre Reitze ganz einnahm. Jch hatte sie nie gesprochen, aber ihre sanften Zuͤge schienen mir Unschuld der Sitten, zartes Gefuͤhl fuͤr Tugend, Sanftmuth der Seele zu verrathen. Jch schuf mir nach meinem Gutbefinden, und so wie es mein Jnteresse foderte, ein Jdeal meiner Einbildungskraft, und diesem gab ich des Maͤdchens Namen. So oft ich bei[ ihrem] Hause voruͤberging, machte ich, wenn sie am Fenster stand, eine Verbeugung, und wenn sie diese etwas hoͤflich erwiederte, glaubte ich schon darin ihre Liebe, ihre Sympathie mit mir, ihr Schmachten nach mir zu lesen. Kurz, ich bildete mir ein, ihr Herz muͤßte gerade so stark fuͤr mich, als das meinige fuͤr sie, schlagen. 66Zu furchtsam mich ihr zu entdecken, dachte ich weiter nicht auf Gelegenheit sie naͤher kennen zu lernen, sondern lebte der Zuversicht, fuͤr einander geschaffne Seelen faͤnden sich schon von selbst. Jndeß sprach ich mit ihr auf meinen einsamen Spaziergaͤngen, ohne sie bei mir zu haben, ich schrieb Briefe an sie, ohne sie abzuschicken, setzte meine Empfindungen auf, die mir beim Spazierengehen einfielen, und zerriß sie wieder. Kurz, ich liebte einen Schatten, ein Bild, das sich meine Einbildungskraft mit allen Farben der weiblichen Tugend, nach[ meinen] damaligen freilich sehr eingeschraͤnkten Begriffen davon, ausmahlte. Jch verließ das Gymnasium und die Stadt, ohne den Gegenstand meiner Liebe gesprochen zu haben. Jch hatte doch den Vortheil von meiner Leidenschaft fuͤr dieses Maͤdchen, daß meine Triebe eine andre Richtung bekamen, daß mir mein voriges Laster immer abscheulicher wurde; denn um ihr zu gefallen, lebte ich so ordentlich, daß ich glaubte, ihr vor jedem meiner Gedanken und Handlungen Rechenschaft geben zu muͤssen. Sie war also in allem Betracht mit eine Ursache zu meiner Genesung, ich wurde dadurch wieder ein Mensch, und zwar ein vernuͤnftiger Mensch. Jene Empfindungen der Theilnahme an der menschlichen Gesellschaft wachten in mir wieder auf, und machten mich mehr als bisher gesellig.
Jch bezog die Universitaͤt, und mit dieser Veraͤnderung meiner Lage aͤnderte sich denn auch meine67 ganze Denkungsart. Die schwachen Spuren der vormaligen Leidenschaft wurden durch die Zeit ausgetilgt, und ich lag die ganze Zeit meiner akademischen Laufbahn den Studien ob, ohne je wieder in Versuchung zu kommen, mich zu verlieben. Aber die Liebe war deswegen nicht aus dem Herzen des Juͤnglings entflohen, die vorigen Triebe schlummerten blos eine Zeitlang, und wurden durch andre entgegengesetzte staͤrkere geschwaͤcht und zuruͤckgehalten. Es war einer Stunde oder vielmehreinem Augenblick vorbehalten, meine Leidenschaft wieder anzufachen.
Jch kam, nachdem ich ausstudirt hatte, zu dem wuͤrdigen Mann in Condition, der mich auf Schulen und Universitaͤten von Zeit zu Zeit mit Geld unterstuͤtzt hatte. Hier fing ich erst wieder an meines Lebens recht froh zu werden, hier erhub sich der Geist wieder einigermaßen, der bisher von der Armuth und Sorgen, mit denen er unaufhoͤrlich zu kaͤmpfen hatte, darniedergedruͤckt worden war. Jch hatte einen Winter bei ihm und seiner Familie – den ersten meines Lebens, den ich ohne Harm und Kummer verlebte – zugebracht. Die Ankunft des Fruͤhlings, dessen Schoͤnheiten ich aus natuͤrlichen Gruͤnden noch nie so wie itzt empfunden hatte, und ein benachbartes laͤndliches Fest ruften uns nach L ... Wir zogen alle, Alt und Jung, dahin, und freuten uns unterwegs der Natur und ihrer Herrlichkeit. Die Alten giengen Hand in68 Hand, und die Kleinen huͤpften froh um uns herum, und sprangen uͤber Berg und Thal. Nur ich hatte ganz andre Empfindungen, als jene. Jch ward still und traurig, aber so, daß ich himmlische Wonne in dieser traurigen Stimmung genoß. Jch haͤtte gleich, ohne zu wissen warum, weinen moͤgen, mußte aber die Thraͤnen unterdruͤcken. Jch fand ein Sehnen in meinem Herzen, ein Verlangen, das ich mir nicht zu nennen wußte. Es war eine Zeit der Empfindung, die uns, glaub ich, nur einmahl in unserm Leben zu Theil wird. Man ist so ganz der gefuͤhlvolle Juͤngling, ist so ganz von unaussprechlichen Gefuͤhlen durchdrungen, daß nichts seeligers gedacht werden kann, es ist einem so wohl und so weh, so weh und so wohl! Dies war jetzt mein Zustand, als ich durch eine ploͤtzliche Erscheinung aus meinem Traume erwachte. Wir waren waͤhrend, daß ich der Gesellschaft nachging, bis ans Ende des kleinen Waͤldchens gekommen, an dessen Ausgang wir in ein Thal hinabsahen, das uns auf einmahl die reitzensten Scenen, die der Wald bisher vor unsern Augen verborgen hatte, darstellte. Schon sahen wir das kleine, aber niedliche Landhaus, das uns heut beherbergen sollte, und bald darauf erblickten wir von weitem die Familie jenes Hauses, die uns entgegen kam. Ein alter ehrwuͤrdiger Greiß, seine Frau, und eine Muhme, die sich bei den kinderlosen Alten aufhielt, und die einzige Freude ihres Alters war, empfingen uns. Deutscher69 Biedersinn, Rechtschaffenheit, Vertraulichkeit und gluͤckliche Einfalt der Sitten zeichneten diese wuͤrdige Familie aus. Schon im voraus kam ich durch die Schoͤnheit der lachenden Gegend, deren Bewohner ich mir nicht anders als ͷαλͼύς νάι αγαδͼύς denken konnte, mit dem besten Vorurtheil hieher, und meine Erwartung ward nicht getaͤuscht. Ob das Maͤdchen, liebevoll, sanft und bluͤhend wie die ganze Natur, Eindruck auf mich machte? Meine Seele war durch die Scenen dieses Tages schon so sehr zu sanften Empfindungen gestimmt, daß es nur[ dieses] Gegenstandes bedurfte, um mich auf einmahl zum feurigsten Liebhaber zu machen. Diese Liebe war unschuldig, und machte in der Folge das Gluͤck meines Lebens.
Jemehr unsere Leidenschaften aufgebracht sind, destomehr gefaͤllt es uns, wenn sie andere billigen. Auffallend ist diese Bemerkung vornehmlich bei dem Zornigen. Der ist uns alsdenn besonders willkommen, welcher uns Recht giebt, und wir koͤnnen70 durch einen Zuwink, den wir erhalten, leicht zu Freunden des unsern Zorn billigenden gemacht werden. Weil unsere Eitelkeit gemeiniglich mit bei unserm Zorne interessirt ist, und weil wir nicht selten uns mitten in unserer Hitze etwas zu vergeben glauben; so muß es uns allerdings sehr angenehm seyn, wenn ein Anderer unsere Parthie nimmt, und uns vor den ahnenden Gedanken sichert, als ob wir in den Augen Anderer durch unsern aufgebrachten Muth verlieren wuͤrden.
Unser Zorn nimmt gemeiniglich in dem Maße zu, als der andere, den er betrift, kaltbluͤtig und gleichguͤltig bleibt. Dies kommt wahrscheinlich daher, weil wir dadurch von ihm uͤberwunden zu werden fuͤrchten, weil jener uns zu verachten scheint, und weil uͤberhaupt jede Gleichguͤltigkeit gegen unsre Leidenschaften etwas Unausstehliches fuͤr uns hat.
Viele Leute, die sonst eben nicht sehr gespraͤchig und lebhaft sind, oder sich darin einzuschraͤnken wissen, wenn sie in eine Gesellschaft kommen, werden von einer ganz ungewoͤhnlichen Lebhaftigkeit und Sprachseligkeit uͤberrascht, wenn sie das erstemahl in ein fremdes Haus introducirt werden. Jhre Zunge laͤßt die Anwesenden nicht zu Worte kommen, und nicht selten wird der angestrengtere Ton ihrer Stimme jenen sehr laͤstig, ohne daß diese es merken. Die Neuheit der Gegenstaͤnde kann viel71 zu jener Lebhaftigkeit beitragen; allein, ich erklaͤre sie mir mehr aus einer versteckten Neigung gefallen und unterhalten zu wollen.
Es giebt wenige Menschen, – das delikate weibliche Geschlecht nicht ausgenommen, wenn es gleich oft eine aͤußere Schamhaftigkeit affektirt, – welche nicht an verschiedenen schmutzigen Ausdruͤcken einen, – wenigstens heimlichen Gefallen haben sollten. Der Witz der Kinder faͤngt sich hieran gemeiniglich zu uͤben an, und ich habe manchen hochgelahrten Mann gekannt, welcher darin Meister war; sonderlich wenn die Tafel – zu Ende ging. Aber woher jene geheime Neigung des Menschen zu schmutzigen Ausdruͤcken? Man muß mehrere physische und moralische, – oder besser, unmoralische Ursachen zusammennehmen. Oft kann uns schon die laͤcherliche Aufmerksamkeit Anderer, die gleich aufhorchen, sobald etwas Schmutziges gesagt werden soll, dazu anreitzen; noch oͤfter aber liegt der Grund der Anreitzung in dem Laͤcherlichen, welches ein schmutziges Wort, ein schmutziger Gedanke in sich schließt, obgleich der Grund des Laͤcherlichen nicht immer nach psychologischen Regeln angegeben werden kann. Manchmahl kann uns auch das laͤstige Gefuͤhl eines Verbots, wovon wir uns so gern befreien, zu jenen Ausdruͤcken leicht verfuͤhren.
72Die D. G., ein Weib von sehr lebhaftem Geiste und ausgebildeten Verstande, kann sich keinen ihrer entfernten Freunde vorstellen, wenigstens ist nur ein aͤußerst dunkles Bild von ihnen in ihrer Seele vorhanden; lebhafter und viel deutlicher hingegen kann sie sich Leute vorstellen, welche ihr vollkommen gleichguͤltig sind, auch nur von diesen, und nicht von jenen, pflegt sie zu traͤumen.
Es ist uns oft im Traume schlechterdings nicht moͤglich eine angefangene Handlung zu Ende zu bringen, die doch sonst ohne alle Schwierigkeit zu seyn scheint. Es quaͤlt uns, daß wir zaudern[ muͤssen], wir entdecken keine Ursache davon, und doch scheinen uns, vermoͤge eines dunkeln Gefuͤhls, eine Menge Hindernisse im Wege zu liegen. Man will auf die Kanzel steigen; aber in dem Augenblick sehen wir, daß wir noch keine Beinkleider anhaben; man will das vorzulesende Evangelium suchen; – allein es ist nirgends zu finden; man will ein Thema waͤhlen – aber es will uns keins einfallen. So findet der Verliebte oft in der Gegenwart seines Maͤdchens unuͤbersteigliche Hinderniße, sie zu umarmen, die ihm im Wachen nimmermehr einfallen wuͤrden. Warum scheint hier das Handlungssystem der menschlichen Seele zu stocken, einen heterogenen Gang zunehmen, warum handelt sie nicht so, wie sie auf die natuͤrlichste Weise im Wachen73 handeln wuͤrde, wenn alle Umstaͤnde so wie im Traume gereihet und gestellt waͤren? Es lassen sich gewiß hievon mehrere psychologische Gruͤnde angeben, und vielleicht waͤre es besser, jeden einzelnen Fall einzeln, als nach allgemeinen Regeln zu beurtheilen. Der vornehmste Grund hievon, so wie uͤberhaupt aller Bilder und Handlungen, die uns im Traume vorkommen, liegt in der[ Staͤrke] einer unwillkuͤrlichen Jdeenassociation. Wir werden alle Augenblicke zu Nebenbildern unserer Phantasie hingerissen, und selten geschieht eine Handlung im Traume, die einige Weile erfodert, nach ihrer ganzen natuͤrlichen Folge, die sie im Wachen haben wuͤrde. Oft kann aber auch gerade eine gewisse Mittelidee fehlen, ohne welche in der Handlung des Traͤumenden nothwendig eine Luͤcke entstehen muß, wodurch die natuͤrliche Folge der Handlung unterbrochen wird, die wir im Wachen, weil uns jene Mittelidee gegenwaͤrtig war, richtiger beobachten wuͤrden. Sollte nicht auch bisweilen ein dunkles Gefuͤhl des Traͤumenden, daß sein Koͤrper ruhet, nicht den voͤlligen Entwickelungen seiner Plane hinderlich seyn?
Daß die menschliche Seele oft an ihrem eigenen Kummer einen Gefallen findet, ihn lieber zu haben, als nicht zu haben wuͤnscht,74 lehrt die taͤgliche Erfahrung. Aber wie ist dieses Phaͤnomen zu erklaͤren, da wir sonst natuͤrlicherweise nichts wollen, als was uns Vergnuͤgen macht? – sollte es nach[ Home] wuͤrklich Triebe zu Handlungen in uns geben, die vom Vergnuͤgen oder Mißvergnuͤgen gaͤnzlich unanbhaͤngig sind? – Jch glaube nicht. Unsere Seele befindet sich, wenn sie einen Gefallen an ihrem eigenen Leiden findet, in dem Zustande gemischter Empfindungen. Es schmeichelt ihrer Eitelkeit, ihren Begriffen, die sie von Duldung, und vornehmlich von der Wichtigkeit des Gegenstandes hat, um dessentwillen sie leidet; auch das dunkle Gefuͤhl, wie wohl ihr seyn wird, wenn ihre Leiden sich endigen werden, Zuruͤckerinnerung, wie wohl ihr dabei schon mehrmahls zu Muthe gewesen ist, kann es verursachen, daß sie den Kummer haben will. Man setze: in diesem[ gemischten] Empfindungszustande waͤren die angenehmen mit dem wuͤrklichen Schmerzensgefuͤhl verbundenen Vorstellungen a + b + c + d. u.s.w., und diese wuͤrkten mit einer Lebhaftigkeit = A auf die Seele; die unangenehmen Jdeen waͤren aber entweder kleiner als a + b + c + d, oder ihre Lebhaftigkeit und Staͤrke = B waͤre kleiner als A, so wird zwar die Seele immer noch ein starkes75 Gefuͤhl dieser unangenehmen Jdeen behalten; aber sie wird sie nicht wegwuͤnschen, weil sie mit a + b + c + d der angenehmern und mit der Lebhaftigkeit A verbunden sind. Jst der Fall umgekehrt, so ists begreiflich, daß die Seele sich auf die andre Seite neigen und ihren Kummer nicht laͤnger wuͤnschen wird. Man lese hieruͤber[ das] nach, was Feder in seinen Untersuchungen uͤber den menschlichen Willen J Th. pag. 466 sq. mit der ihm eigenen Deutlichkeit und Beobachtungsgabe gesagt hat.
76Jch glaube, daß viele Leser des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde in diesen Bekenntnissen frappante Zuͤge ihres eigenen Herzens antreffen werden. Sie sind mit gewissenhafter Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe geschrieben, und ruͤhren von einem aufgeklaͤrten Manne her, den ich aber nicht nennen darf, weil er sichs ausdruͤcklich verbeten hat; – errathen wird ihn gewiß niemand.
Aufsaͤtze dieser Art, welche den Menschen mehr imgesunden Zustande seines Denkens und Wollens darstellen, uns nicht blos gewoͤhnliche Seelenkrankheiten schildern, woraus bisher so wenig erhebliche Resultate fuͤr die Psychologie in unserm Magazin gezogen werden konnten, sollen uns kuͤnftig besonders willkommen seyn.
Wenn in jenen Krankheitsgeschichten der menschlichen Seele nicht zugleich ihre eigentuͤmliche auf die Natur unserer Vorstellungen gegruͤndete Heilart mit angegeben wurde, wenn man dabei nicht aufmerksam auf den wuͤrklichen Ursprung, auf die Analogie, auf den sonderbaren77 Zusammenhang dieser und jener staͤtigen oder unterbrochenen Jdeenreiche eines Wahnsinnigen oder andern Seelenkranken war, woraus gewisse neue oder noch nicht genug ins Licht gestellte psychologische Wahrheiten erlernt werden konnten; kurz, wenn sie nicht mit dem philosophischen Geiste geschrieben waren, mit[ welchem] uns der Herr Hofrath Marcus Herz seine sonderbare Krankheitsgeschichte im zweiten Stuͤck des ersten Bandes der Erfahrungsseelenkunde, Seite 44 u.s.w. geschildert hat; so konnten sie wohl fuͤr die Wissenschaft nicht von großem Nutzen seyn. – – – Doch hier sind die Bekenntnisse.
Pockels, Carl Friedrich58P.
Eine meiner Hauptleidenschaften, mit der ich zu kaͤmpfen habe; – aber nicht gerne kaͤmpfe, die mich oft unendlich gluͤcklich, noch oͤfter aber unbeschreiblich ungluͤcklich macht, – ist Ehrgeitz, Sucht nach Beifall, Eitelkeit.
Jch fuͤhle in dem Augenblick ein unnennbar suͤßes Vergnuͤgen, wenn man mich vorzieht, wenn ein angesehener Mann mit mir in Gesellschaft spricht, wenn man mich mit Aufmerksamkeit anhoͤrt, wenn ein Zweiter, Dritter, Vierter meinen Behauptungen, (denen ich oft den Anstrich des Paradoxen zu geben suche,) nachgiebt, nichts mehr darauf zu antworten weiß; wenn ich einem Andern einen Sieg[ der] Vernunft uͤber den Glauben abgewinnen kann; – ein inneres Gefuͤhl von Denkkraft78 und Selbstzufriedenheit, das ich keinem beschreiben kann. Die ganze Welt wird ein Paradies um mich her, ich fuͤhle mich zu allem Guten stark, ich koͤnnte alles andere verlaͤugnen, wenn nur jene meine ehrgeitzige Leidenschaft genaͤhrt und gesaͤttigt werden kann; aber ich gerathe in eine demuͤthigende Kleinmuth, in einen ungluͤcklichen Zwist zwischen natuͤrlicher Menschenliebe und Menschenhaß, meine liebsten Freunde werden mir unertraͤglich, wenn man mich verkennt. Schon dadurch bin ich mehr als einmahl in eine innere Wuth gerathen, wenn keiner auf mich Acht gab, wenn ich meine Worte in den Wind sprach, wenn die Gesellschaft sich um einen andern herumdraͤngte, seine Ausspruͤche bewunderte, belachte, beklatschte und mich gleichsam ganz vergaß. Oft hab ich mich dann in den entferntesten Winkel der Stube gesetzt, und fest beschlossen, die Menschen auf immer zu fliehen; allein eben die Leidenschaft, die mir dies eingab, trieb mich auch wieder zu ihnen hin, weil ich mir das Gefuͤhl, sich allein zu bewundern, bei allem meinen Ehrgeitze fuͤr das armseligste Ding von der Welt hielt.
Jch schaͤtze große Maͤnner, erleuchtete Koͤpfe unendlich; aber ich kann sie nie ohne Zwang meines Herzens loben, und noch unausstehlicher wird mir oft das Lob, welches ihnen Andere ertheilen. Jch empfinde dabei nicht selten einen unwiderstehlichen Ekel, der mich Stundenlang ungluͤcklich macht; ich wuͤnsche, daß der Lobredner mit sammt seinem79 Helden nicht existiren moͤge, ich habe manchem hochgeruͤhmten Mann schon den Tod gewuͤnscht, und habe die Nachrichten von seinen Krankheiten mit einer suͤßen heimlichen Freude angehoͤrt*)*) Doch wahrscheinlich nur in finstern hypochondrischen Launen?Pockels, Carl Friedrich60P..
Neid ist gemeiniglich, oder ich will lieber sagen, allemahl der Sohn einer heftigen unregelmaͤßigen Selbstliebe; es giebt und kann keinen Menschen geben, der von jener Leidenschaft ganz frei waͤre, weil jeder Mensch einen Trieb zum Mehrhaben besitzt, und doch kann ich betheuren, daß ich keinen Menschen beneide, welcher auf eine andere Art, als durch Gelehrsamkeit mehr als ich ist. Reichthum, glaͤnzende Bequemlichkeit, sinnlicher Genuß, aͤußere Pracht, hohe Ehrenstellen, schoͤne Weiber, – alle diese Dinge haben meinen Neid nie erregt; aber der Gedanke, daß Andere viel mehr als ich wissen, daß ich ihnen nicht nachkommen werde, daß mein Name unter der Menge der Jhrigen vielleicht ewig vergessen wird, liegt oft wie ein Gebuͤrg auf meiner Seele, und verscheucht gleich einem boshaften Daͤmon die suͤßesten Freuden meines Lebens.
Von jener Leidenschaft des gelehrten Neides angespornt, mache ich mir oft ein heimliches Vergnuͤgen, die Unvollkommenheiten und Schwaͤchen in den angebeteten deutschen Dichtern und Pro -80 saisten aufzusuchen, und uͤber sie im Stillen oder in Gegenwart eines Freundes ein unbarmherziges Gericht zu halten. Meine Critik trift vornehmlich die, welche sich – so mittelmaͤßig sie auch immer seyn moͤgen – sich (vielleicht durch ihre Mittelmaͤßigkeit allein) sehr beruͤhmt gemacht haben. Es kostet mir Muͤhe und Ueberwindung, ihre Bloͤßen nicht oͤffentlich aufzudecken, und ich kann mich im Voraus schon herzlich auf ein kuͤnftiges Zeitalter freuen, welches ihnen die Larve kuͤhn vom Gesicht reißen, und sie der Geißel der Critik uͤbergeben wird.
Gegen diejenigen Menschen, welche mich auf irgend eine Art vorzuziehen scheinen, fuͤhle ich eine unbegraͤnzte Zaͤrtlichkeit meines Herzens. Jch koͤnnte mich fuͤr sie ganz aufopfern, ganz fuͤr sie leben; meine Dankbarkeit gegen sie erwacht mit mir des Morgens, und ist mein letzter Abendgedanke; ich kann ihnen nichts abschlagen, sie beherrschen mich, und erst der Tod wird meiner unermuͤdeten Dienstfertigkeit gegen sie ein Ende machen. Wenn ich bisweilen unter dem Gebuͤrge meiner Hypochondrie vergraben liege, wenn ich glaube, daß mich die ganze Welt verlassen und vergessen hat; so eile ich zu diesen mir so schaͤtzbaren Menschen, und hohle bei ihnen Trost gegen den vielfaͤltigen Kummer meines Herzens, dem die Menschen so oft, ach so oft! wehe gethan haben. Jhr freundlicher Blick gießt neues Leben in meine Seele, – ich fuͤhle mich81 wieder beruhigt; – denn diese wenigstens verachten mich doch nicht.
Hierin liegt eigentlich der psychologische Grund meiner unausloͤschbbaren Zuneigung gegen das andere nachgebendere Geschlecht. Es hoͤrt mich aufmerksamer an, es bleibt nicht, wie die kalten Maͤnner, taub und stumm bei meinen Klagen, es widerspricht mir nicht, wenigstens nicht auf eine so ruͤde Art, wie jene, nicht mit der imposanten Miene der Rechthaberei und des gelehrten Stolzes – ein Ding, wovor ich den allergroͤßten Abscheu habe, – sondern es giebt den meisten meiner Gedanken Beifall, es scheint sich zu freuen, wenn es mit mir auf eine schelmische oder auch ernsthafte Art uͤber Gegenstaͤnde der Untersuchung streiten kann. Daher auch meine Bereitwilligkeit, mich von ihm belehren zu lassen, mein starker Glaube an die Guͤte seines Herzens, und seine Tugend, (ob ich mich gleich hierin nicht selten betrogen habe,) und mein Bemuͤhen – aus Dankbarkeit – mich in seine Launen zu schicken, was mir bei meinem Geschlecht fast unmoͤglich ist. Nichts unterhaͤlt aber meine zaͤrtliche Zuneigung gegen dasselbe mehr, als der Umstand, daß ich es nicht in Absicht seiner Kenntnisse beneide, daß ich es darin vielmehr weit zu uͤbertreffen glaube; – aber das unausstehlichste Geschoͤpf von allen unter der Sonne ist mir ein Weib, welches eine tiefe Gelehrsamkeit affectirt. Eine Minute in ihrer Gesellschaft wird mir zu einer langen82 Ewigkeit; ich fuͤhle mich dann oft geneigt uͤber eine solche Unnatuͤrliche laut zu spotten; aber mein Unwille fesselt meine Zunge, meine Begriffe verwirren sich, und ich muß mich entfernen.
Noch denke ich mit Schrecken an die Stunde, die ich einst mit einem solchen von Gelehrsamkeit strotzenden Weibe zubringen mußte. Sie rezensirte einen Pindarischen Hymnus, davon eine bekannte Uebersetzung erschienen war; sie sprach von dem Feuer des Poeten, von seiner[ Versart], von dem[ griechischen] Heldengesange wie ein Professor der morgenlaͤndischen Literatur mit einer so abscheulichen Selbstgnuͤgsamkeit, daß ich alle Geduld verlor, und endlich – fortlief, so willkommen mir ein Gespraͤch uͤber den Pindar mit einem gescheiten Manne gewesen waͤre.
Jch habe schon verschiedene Widerspruͤche in meinem Character fluͤchtig beruͤhrt. So sehr es meinem Herzen schmeichelt, wenn ich von andern vorgezogen werde, so lieb ich die Menschen habe, die dieses thun; so unangenehm ist es mir, wenn man mich ins Gesicht lobt. Meine Verlegenheit dabei hat nicht selten seltsame Rollen gespielt, welche noch mehr dadurch veranlaßt wurden, daß ich nun auch dem andern etwas Schoͤnes sagen wollte, welches mir erstaunlich schwer wird, wenn ich eine Mannsperson vor mir habe. Jch mag es unendlich lieber haben, wenn ich durch den dritten, vierten Mann ganz von ohngefaͤhr erfahre, daß von mir83 auf eine mir ruͤhmliche Art die Rede gewesen ist, als wenn man mich gerade ins Gesicht lobt; oft bin ich mißtrauisch dabei, ob auch das Lob Wahrheit und nicht Jronie ist; noch oͤfter glaube ich, daß mein Lobredner mich nicht genug beurtheilen koͤnne, sein Lob thut mir also gewissermaßen nicht Genugthuung, und ich wuͤnschte lieber, daß er ganz geschwiegen haͤtte.
Noch sonderbarer ist mir aber die Erscheinung in meinem Character vorgekommen, daß ich nicht selten eine Neigung uͤber mich selbst zu spotten empfunden habe. Es sollte mir nicht die mindeste Ueberwindung kosten, die beißenste Satyre auf mich zu machen; aber ich halte dieß doch selbst wieder fuͤr Stolz. Es gefaͤllt mir nehmlich, daß ich dadurch einiges Aufsehen, einige Bewunderung uͤber meine seltsame Laune erregen koͤnnte, nicht zu gedenken, daß uns das Laͤcherliche an uns oft selbst gefaͤllt, und daß ich von Jugend auf die ungluͤckliche Neigung gehabt habe, an jeder Person zuerst das Laͤcherliche aufzusuchen; – eine Neigung, welche man ja so fruͤh als moͤglich bei jungen Leutenschwaͤchen sollte, wenn man sie nicht ganz toͤdten kann.
Jch habe mein Lebtage wenig Freunde im eigentlichen Sinne des Worts gehabt, es ist mir immer nicht sehr natuͤrlich vorgekommen, mehrere Menschen wuͤrklich zu lieben, und ich habe diejenigen oft fuͤr halb verruͤckt gehalten, welche jedem ihrer zahlreichen Freunde mit einer Jnbrunst um den84 Hals fallen koͤnnen, als wenn sie ihr Maͤdchen umarmten; ich habe sogar diesen Enthusiasten nie recht getrauet, und sie mir so viel als moͤglich vom Leibe gehalten. – – – Aber die wenigen Freunde meines Lebens habe ich unaussprechlich geliebt. Einige deren sind schon in eine gluͤcklichere Welt hinuͤbergegangen, meine Seele weint noch um sie, und wird ewig um sie weinen, wenn ich sie nimmer wiederfinden sollte. Jhr Tod hat mich auf die Unsterblichkeit der menschlichen Seele wieder sehr aufmerksam gemacht; eine Lehre, deren Gewißheit ich fuͤr die spekulative Philosophie einmahl beinahe voͤllig aufgegeben hatte, – selbst der Meister in der Kunst, abstracte Wahrheiten auf die liebenswuͤrdigste Art zu versinnlichen, Mendelssohn, schien mir falsche Schluͤsse aus noch nicht ganz bewiesenen Theoremen gezogen zu haben.
Die Briefe jener Seeligen sind mir noch jetzt ein sehr werthes und liebes Heiligthum; ich kann sie nie sehen, ohne zu weinen, ich schoͤpfe aus ihnen Trost gegen meine Leiden, und Belehrung zu meinen Geschaͤften; eine unbeschreiblich suͤße Wehmuth uͤberrascht mich dann oft, meine Phantasie fuͤhrt mich auf ihren Fittigen in eine idealische Welt der Vollkommenheit hinuͤber, wo ich meine Freunde in dem Schooße eines unaussprechlichen Gluͤckes wiederfinde, und unter ihrer Anfuͤhrung das Universum durchwandle. –
85Bis in mein vierundzwanzigstes Jahr wurde ich von einer Leidenschaft gefoltert, die – ein Jeder kennt, bei welcher aber tausend weniger furchtsam sind, als ich es war, – von der Liebe. Nach dieser Zeit habe ich fast nichts mehr von ihren Stuͤrmen empfunden, obgleich nicht die mindeste Veraͤnderung in meiner Gesundheit vorgegangen war, ich auch gewiß nicht die Ursache davon, wie[ Cardan] (in vita propria) in der Constellation der Planeten suchen konnte, – kurz, ich wurde auf einmahl gegen die Liebe kalt, und mich interessirte nichts weniger in der Welt als ein – Weib.
Nie ist mir bei aller Lebhaftigkeit meines Temperaments und bei einem nicht geringen Maße von Phantasie der Gedanke eingefallen, ein Maͤdchen ungluͤcklich zu machen, ob mir gleich dazu oft die Gelegenheiten nahe gelegt wurden. Jch gestehe, daß es bei mir nichtsweniger als ein hoher Grad des moralischen Gefuͤhls oder Religion war, welche mich davon abhielt; – diese Bewegungsgruͤnde haben selten stark auf mich in meiner Jugend gewuͤrkt; aber meine Furchtsamkeit, verbunden mit einem erstaunlich zaͤrtlichen Gefuͤhl des Mitleids gegen gefallene Maͤdchen, ist der Waͤchter meiner Tugend gewesen. Selbst die freiwilligen und verachtungswuͤrdigen Schlachtopfer unserer Sinnlichkeit sind fuͤr mich ein Gegenstand meines herzlichen Mitleids, – und ich denke noch mit Schrecken meiner Seele an ein solches Maͤdchen, welches in86 einem Gasthause einer Anzahl Studenten gleich einer Bachantin mit den wolluͤstigsten Stellungen in die Arme lief, sich auf ihren Schoos setzte, und endlich mit ihnen verschwand. Es haͤtte mir wer weiß wie viel geboten werden koͤnnen, ich waͤre nicht mitgegangen. Lange Zeit beschaͤftigte ich mich einst mit einem statistischen Plane, wie alle Maͤdchen im Lande, um den Ausschweifungen der Jugend Einhalt zu thun, ehrlich verheurathet werden koͤnnten; – allein mein armer Plan war nichts, als – Jdeal.
Man sagt, daß Sproͤdigkeit ein probates Mittel sei, wodurch unsere Schoͤnen nicht selten maͤnnliche Herzen zu fesseln wuͤßten, – und ihr Betragen scheint sich auf den psychologischen Grundsatz zu beziehen, daß das, was uns schwer gemacht wird, unser Verlangen dennoch nur desto mehr reitzt; – allein nie hat Sproͤdigkeit eines Frauenzimmers obige Wuͤrkung, sondern vielmehr das Gegentheil bei mir hervorgebracht. Jch werde gegen keinen Menschen mehr in Harnisch gebracht, als gegen ein sproͤdes Maͤdchen, ich habe dabei oft die Gesetze der Hoͤflichkeit uͤbertreten, und habe mich lieber mit einem alten Weibe unterhalten, als jene Naͤrrinn meiner Unterredung zu wuͤrdigen. Jch habe daher auch immer gegen verheurathete Frauenzimmer eine staͤrkere Zuneigung als gegen Maͤdchen empfunden, weil jene gemeiniglich das zippe und sproͤde Wesen abgelegt haben, was[ diesen] so oft87 eigen ist. – Doch hievon noch viel Besonderes im Folgenden.
Religion und Christenthum ist mir auf keine angenehme Art vorgetragen[ worden,] ich mußte ein theologisches Compendium (voll Unsinn) auswendig lernen,