PRIMS Full-text transcription (HTML)
ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ
oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
als ein Lesebuch fuͤr Gelehrte und Ungelehrte.
Sechsten Bandes erstes Stuͤck.
BerlinbeiAugust Mylius1788.
1[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Sechsten Bandes erstes Stuͤck.

1

Fortsetzung der Revision der drei ersten Baͤnde dieses Magazins.

2

Daß die Vergleichungs - und Erfindungskraft der menschlichen Seele auch waͤhrend des Schlafs fortdauert, und alsdann bei manchen Menschen mit einer ausserordentlichen Staͤrke wirkt, zeigen nicht nur die wahren Geschichten so mancher lebhaften Traͤume; sondern auch die oft nach gewissen Planen ausgefuͤhrten Handlungen der sogenannten Nachtwandler, woruͤber man vornehmlich Kruͤger's Experimentalseelenlehre nachsehen kann. Es sind mehrere Beispiele von Gelehrten bekannt, welche im Schlafe die im Wachen vergebens gesuchte Aufloͤsung gewisser tiefsinnigenWahrheiten heraus -2 brachten; andere, welche im Traume auf neue sehr wichtige scientifische Jdeen fielen, woran sie im Wachen noch nie gedacht hatten. Daß dies nichts ausserordentliches sey, und daß auch im Traume die Seele nach dem einmaligen Vorrathe ihrer Begriffe, und nicht nach solchen denke und handle, welche nach der Meinung so vieler Unphilosophen von andern ausser uns befindlichen Geistern entstehen sollen, wird ein jeder leicht einsehen, welcher mit den Gesetzen des menschlichen Denkens bekannt ist. Folgende Geschichte scheint mir daher gar nichts unnatuͤrliches zu enthalten, zumal da sie von einem glaubwuͤrdigen Manne erzaͤhlt worden ist. (3ten Bds. 1stes Stuͤck, Seit. 88 ff.)

Der ehemalige Professor Waͤhner zu Goͤttingen hat oft von sich erzaͤhlt, daß ihm in juͤngern Jahren aufgegeben worden, einen gewissen Gedanken in zwei Griechischen Versen auszudruͤcken.

Er beschaͤftigte sich ein paar Tage damit (seine Seele war also wahrscheinlich ganz auf diesen Punkt gespannt, und angeleitet, durch einen neuen hinzugekommenen Gedankenschwung vielleicht auch im Schlafe das Gesuchte zu finden); er kann aber den aufgegebenen Gedanken ohne Nachtheil seiner Staͤrke nicht in zwei Verse zwingen.

Er schlaͤft an einem Abend unter der Bemuͤhung, diese zwei Verse herauszubringen, ein. Jn der Nacht klingelt er seiner Aufwaͤrterinn, laͤßt sich Licht, Papier, Feder und Dinte geben, schreibt3 die im Schlafe nachgesuchten und gefundenen zwei Verse auf, laͤßt sie auf seinem Schreibtische liegen, und schlaͤft darauf bis an den Morgen.

Da er aufwacht, weiß er von demjenigen nichts, was in der Nacht geschehen, und faͤngt von neuem an sich Gewalt anzuthun, um die beiden verlangten Verse zu finden; es will ihm aber nicht gelingen. Er steht mit Verdruß daruͤber auf, geht an seinen Schreibtisch, und findet die beiden in der Nacht verfertigten und sehr wohl gerathenen Verse, und zwar mit seiner eignen Hand geschrieben. Er ruft die Aufwaͤrterinn, und erkundigt sich, woher das Blatt mit den zwei geschriebenen Reihen gekommen? Diese erzaͤhlt ihm dann, was in der Nacht geschehen ist. Er hat sich aber dessen nie erinnern koͤnnen. Vielleicht, oder vielmehr sehr wahrscheinlich, hatte Herr Waͤhner seine Verse auch wirklich des Nachts bei wachenden Augen und Sinnen gemacht, hatte sich aber wieder niedergelegt, und die ganze naͤchtliche Scene vergessen. *) *) Ein aͤhnliches Beispiel vom Prof. Reusch in Jena siehe 3ten B. 3tes St. Seit. 108.

Ueber die psychologischen Bemerkungen uͤber das Lachen, und insbesondere uͤber eine Art des unwillkuͤrlichen Lachens, habe ich nichts weiter zu sagen,4 als daß ein gewisser Recensent wahrscheinlich den Aufsatz nicht mit gehoͤriger Aufmerksamkeit gelesen hat, wenn er die Aufloͤsung des darin abgehandelten Phaͤnomens verworren gefunden zu haben vorgiebt. Wer etwas Ausfuͤhrliches uͤber das Lachen und das Laͤcherliche lesen will, wird es vielleicht zu seiner Befriedigung und seinem Behagen in Floͤgel's Geschichte der komischen Litteratur (1. Theil) finden.

Jm dritten Bande, Stuͤck 2, Seit. 63 ff. kommt eine merkwuͤrdige Selbstbeobachtung auf dem Todtenbette vor, die von einem scharfsinnigen, durch Philosophie aufgeklaͤrten aber nun nicht mehr lebenden Beobachter seiner selbst herruͤhrt, und nebst der Einleitung zu seinen philosophischen Bemerkungen besonders gelesen zu werden verdient.

Sehr auffallend ist vornehmlich die von diesem Kranken selbst geschilderte Empfindlichkeit seiner Natur, bei aller uͤbrigen Jndifferenz gegen den anfaͤnglichen Gedanken des Todes, und die strengste Entsagung fast aller Genuͤsse des Lebens. Er sagt:

» Wer nur schnell, nicht einmal laut, redete, brachte meinen Puls gleich in Unordnung. Der bloße Anblick von mehr als hoͤchstens drei Personen in meiner Kammer erhizte mich. Diese so hochgespannte Empfindlichkeit hatte noch eine andere5 Folge. Jeder Keim von Trieb, jeder Ueberrest eines alten bedurfte nur die geringste Veranlassung, um die ganze Seele zu seinem Eigenthum zu machen. Die fluͤchtigen Regungen, welche sonst zuweilen durch die Seele fliegen, und ehe sie wahrgenommen werden, verschwinden, verwandelten sich bei mir in bleibende, ausgemachte Bilder; die unbemerkte, gefaͤllige und mißfaͤllige Empfindung an etwas hielt nun an, und schien die Stelle eines festen Begehrens und Verabscheuens einnehmen zu wollen; denn alles, was gereizt ward, war in der gleichguͤltigen Lage der Seele Herr[ .]

[Dies] gab zum Theil schreckliche Phaͤnomene. Der Gedanke, den ich verfluchte, ward Bild, annehmliches Bild. Das heftige Mißfallen an diesem entdeckten boͤsen Zuge, und oft gar die Unfaͤhigkeit, ihn nur so weit zu daͤmpfen, daß er nicht wirklicher Wunsch ward, und bei allem diesen, Kraftlosigkeit sich zu ermannen, die Zuͤgel der Einbildungskraft zu ergreifen, das alles versezte die Seele in nicht Traurigkeit, sondern Unmuth und Verdrießlichkeit. Jch wuͤrde mich unendlich schaͤmen, wenn zu solcher Zeit ein Mensch meine Seele haͤtte sehen koͤnnen. «

Offenbar lag der Grund dieser ganzen Empfindlichkeit in den geschwaͤchten, oder auch zu sehr gespannten Nerven des Kranken, welche bei einem Schwindsuͤchtigen bis zu einem erstaunlichen Grade6 der Reizbarkeit angezogen werden koͤnnen. Der Kranke fuͤhlt dann alles lebhafter und heftiger; sonst ihm gleichguͤltige leise Sensationen, werden jezt gewaltige Erschuͤtterungen, und das sonst unbemerkte Voruͤbergehen einer Begierde, wird, zumal wenn die Seele, wie hier der Fall ist, nicht durch viele neue Jdeen zerstreut wird, nun ein fast unbezwinglicher Wunsch, die Begierde zu erfuͤllen, zumal da bei Nervenkranken die Einbildungskraft meistentheils eine sehr große, fast uͤberspannte Lebhaftigkeit gewinnt. Ausser diesen allgemeinen Gruͤnden zur Erklaͤrung jenes Phaͤnomens, und den sehr durchdachten Anmerkungen des Herrn Einsenders daruͤber, muß auch noch die Jugend des Kranken hier in Erwaͤgung gezogen werden, der in seinem 30sten Jahre starb. Alle Bilder seiner Phantasie, alle unerlaubte Regungen und Wuͤnsche mußten schon dadurch dringender, staͤrker, heftiger werden, und die Reize der Sinnlichkeit sich auch wohl dadurch zudraͤngen, daß die lebhafte Einbildungskraft sie als nun bald nicht mehr vorhanden vorzeichnete.

» Da der Ausbruch jedes Triebes und jeder Gesinnung sich staͤrker auszeichnete, faͤhrt er fort: so haͤtte dies bei dem Guten eben sowohl statt finden muͤssen. Lagen also in meiner Seele eben so viel gute, als boͤse Triebe schlafend: so mußten sich beide unter diesen Umstaͤnden gleich haͤufig entdecken; das war aber der Fall gar nicht. Es ist wahr, zuweilen uͤberstroͤmte ein gutes Gefuͤhl die Seele eben7 so gaͤnzlich, als ein boͤses; aber das Gute hatte weder den Grad der Edelmuth, welchen das Boͤse von Niedertraͤchtigkeit besaß, noch hatte ich so oft Ursache, mich desselben Gedankens der Tugend zu freuen. «

Dieser zum Theil abstracter Gedanke lag diesmal gewiß ziemlich ausser dem Gebiet der sinnlich gespannten Seele des Kranken. Das Gute beschaͤftigt uͤberhaupt unsre Einbildungskraft nicht so sehr, als das Schlechte, das moralisch Boͤse; theils, weil dieses lange nicht so einfoͤrmig, wie jenes ist; theils, weil von diesem von Jugend auf unzaͤhlige Beispiele auf uns staͤrker gewirkt haben; theils auch, weil ein versteckter, oder sehr offenbarer Trieb zur Sinnlichkeit in allen menschlichen Seelen, in der tugendhaftesten selbst, liegt, und wenn er durch Nervenschwaͤche gereizt wird, den Gedanken an Tugend vollends nicht zur Reife kommen laͤßt. Sehr viel kam bei den unmoralischen Gefuͤhlen des Kranken auch darauf an, welche Bilder im Anfange seiner Krankheit und in ihrem Fortgange, theils von[ aussen] durch Menschen, Lectuͤre, Gespraͤche, zufaͤllig rege gemacht wurden, und die Masse sinnlicher Wuͤnsche vergroͤssern halfen; theils von[ innen] durch eine natuͤrliche Jdeenfolge angeregt wurden, deren Geschichte uns den besten Aufschluß des ganzen Phaͤnomens gegeben haben wuͤrde. Am leichtesten wuͤrde freilich der Aberglaube sich das Ding durch Versuchungen eines boͤsen Geistes erklaͤren.

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» Zur Genesung, heißt es weiter, war alle Hoffnung verschwunden, und das Bild des nahen gewissen Todes schwebte mir vor. Hier kamen einige verwickelte Phaͤnomene zum Vorschein. Wenn ich die Frage aufwarf: ob ich lieber jetzt sterben, oder meinen siechen Koͤrper noch ein halbes Jahr hinschleppen wollte? so waͤhlte ich gleich mit Empressement das[ Leztere. ]

[Die] Todesfurcht schien also ganz die Oberhand zu haben. Analysirte ich aber diese Wahl weiter, so fand ich, daß meine Seele nicht den Tod heut, und den Tod nach einem Jahr verglichen hatte; sondern es ging so zu: Sie dachte sich einen Schwindsuͤchtigen, freilich mit vielen Unbequemlichkeiten dem Grabe entgegenschleichend; der aber doch noch ein wenig reden, ein wenig gehen, ein wenig sich bewegen konnte. Jch hingegen lag ohne Hand oder Fuß zu regen, ohne ein Wort reden zu duͤrfen, in der unbequemsten Stellung, die mir an manchen Orten empfindliche Schmerzen machte; mein Athem draͤngte sich durch die beklemmte Brust, und in dieser Verfassung sollte ich die Ankunft des Todes erwarten. Da war das Bild dessen, der doch ein wenig mehr Freiheit hatte, als ich, offenbar angenehmer. «

» Die Zukunft nach dem Tode wirkte gar nicht auf mich. Kein lebhafter Gedanke von Ewigkeit, Suͤnde, Strafe, nichts davon. Ein unab -9 sehliches Blachfeld, das ich nicht kannte, auf dem ich nicht wußte, wo ich war, war alles, was ich mir von der Zukunft dachte. (Vielleicht war der Verfasser dieses Bekenntnisses durch sein Philosophiren schon an diese Art, uͤber die Zukunft zu denken, gewoͤhnt.) Das Bild war nicht anziehend, aber auch nicht widrig. Was dem Unangenehmen das Uebergewicht gab, war das Schauervolle, was Ungewißheit immer mit sich fuͤhrt; und hieraus entstand dann natuͤrlich der Wunsch, lieber noch auf dieser Seite des Styx das gegenuͤber liegende Ufer etwas zu betrachten, als gleich uͤberzuschiffen. «

Ein sehr natuͤrliches Gefuͤhl der menschlichen Seele! Es gehoͤrt eine Art Betaͤubung dieses Gefuͤhls dazu, wenn uns der Gedanke von einer ungewissen Zukunft nicht beunruhigen soll; eine Betaͤubung, die bei den meisten Sterbenden durch die lebhaften Vorstellungen einer himmlischen Gluͤckseligkeit, oder auch durch die Abnahme der Verstandeskraͤfte hervorgebracht wird, die uns endlich gemeiniglich uͤber alle Zweifel in Absicht der Zukunft hinwegsezt, und uns einen Trost gewaͤhrt, den uns bei einem strengen Nachdenken die Vernunft nicht ganz gegeben haben wuͤrde.

10

Handlung ohne Bewußtseyn der Triebfedern, oder die Macht der dunklen Jdeen.

5

Jn unzaͤhligen Faͤllen handeln wir nach innern Triebfedern unsrer Seele, ganz mechanisch, ohne daß wir diese Triebfedern selbst anzugeben wissen; zum deutlichen Beweise, daß nicht immer vor der Handlung eines vernuͤnftigen Wesens eine klare Vorstellung vorhergehen muͤsse. Aber darin moͤgen wir uns wohl oft irren, daß wir jener mechanischen Handlungsart gewisse dunkle Jdeen unterschieben, die gar nicht vorhanden waren, deren Daseyn uns aber ausser allem Zweifel schien, weil sie durch einen hinterher folgenden Zufall gleichsam verificirt wurden. Grade dies ist der Fall mit den meisten Ahndungen. Es schwebt uns eine gewisse dunkle Jdee von irgend einem kommenden Uebel vor (oft war es freilich wohl nur eine Geburt der Hypochondrie, oder der Einbildungskraft uͤberhaupt), wir haben keine Ruhe vor dem Bilde, es begleitet uns uͤberall hin, und hinterher kommt dann auch wirklich ein Ungluͤck, worauf sich nun jenes dunkle Gefuͤhl bezogen haben muß, es mag einen Zusammenhang damit haben, oder nicht. Hat man sich sogar vermoͤge jenes Gefuͤhls das Ungluͤck, welches nachher kam, aus Vermuthungsgruͤnden ziemlich deutlich vorgestellt: so scheint kein Schluß gewoͤhnlicher zu seyn als der, daß es uns geahndet habe.

11

Herr Doctor7Wedekinderzaͤhlt im 2ten Stuͤck des 3ten Bandes der Seelenkunde S. 30 ff., unter obigem Titel ein dergleichen Beispiel von der Gewalt dunkler Jdeen, das, es mag nun erklaͤrt werden, wie man will, sehr lesenswuͤrdig bleibt. Der Herr Doctor8Wedekindsieht sich genoͤthigt zu verreisen. Er muß seine Patienten einem andern anvertrauen, worunter ihm eine Predigerfrau grade nicht am gefaͤhrlichsten zu seyn scheint, aber ihm doch, ohne daß er sich's angeben kann, was ihm so bedenklich an ihr vorkommt, sehr im Sinne liegt. Er reist dennoch ab, und ist kaum eine halbe Stunde von seinem Wohnorte Diepholz entfernt, als er sich wegen seiner Reise die groͤßten Vorwuͤrfe zu machen anfaͤngt, weil er sich den Tod seiner Patientinn und Freundinn unablaͤssig vorstellt. » So war ich nun im heftigsten Seelenkampfe beinah zwei Meilen weggeritten, sagt er, als sich meiner Brust eine so große Beklemmung bemaͤchtigte, und mein Herz so heftig zu schlagen anfing, daß ich nicht weiter reiten konnte. Fast unwillkuͤrlich wandte ich mein Pferd um, und jagte, so geschwind es laufen konnte, nach Diepholz zuruͤck. « Er sieht seine kranke Freundinn, um welcher willen er zuruͤckgekehrt ist, am Fenster stehen, und ihr war's nicht moͤglich, wegen seiner Ruͤckkehr sich des Lachens zu enthalten.

Nun reist er wieder davon, aber seine vorige Unruhe beginnt von neuem. Seine Freunde,12[ die] er besucht, suchen ihn auf alle Art zu zerstreuen; allein umsonst. Er hat keine Ruhe und Rast; reist wieder aus eben der Ursach zuruͤck, und geht uͤber Rinteln. Hier erfaͤhrt er, daß seine Freundinn wirklich gestorben sey, u.s.w.

Das Uebrige mag man am angefuͤhrten Orte selbst weiter nachlesen, sonderlich, was von dem Abscheiden der Patientinn und ihrem versteckten koͤrperlichen Uebel gesagt wird, wovon der Arzt nie etwas bei ihren Lebenstagen erfahren hatte.

Aber sollte ich nicht vielleicht eine dunkle Jdee von einem solchen Fehler gehabt haben koͤnnen? fragt der Herr Verfasser. Von etwas, woran man noch nie einmal gedacht hat, kann man auch keine dunkle Jdee haben; aber ein gewisses bedenkliches Uebel konnte der Arzt wohl gemuthmaßt haben, und diese Muthmaßung war hinreichend, dem Herrn Verfasser des obigen Aufsatzes, wenn sonderlich eine hypochondrische Laune, und vielleicht ein aͤngstliches Temperament dazu kam, alle jene beschriebene Unruhe zu verursachen. Die Seele heftet sich in dergleichen Situationen an irgend eine starke Jdee an, die sie antrifft oder auch aufsucht, und sie wird von ihr in einem Strudel von unangenehmen Empfindungen umhergetrieben, wenn die Disposition des Koͤrpers grade zu heitern Seelengefuͤhlen verstimmt ist. Auffallend fuͤr die menschliche Ein -13 bildungskraft bleibt es hinterher immer, wenn das gefuͤrchtete Uebel, gesezt daß auch nur wenige Gruͤnde zur Furcht da waren, zufaͤllig eintrift. Die Fragen, welche der Herr Verfasser am Ende seines lehrreichen Aufsatzes uͤber die Freiheit der menschlichen Handlungen aufwirft, verdienen beherzigt zu werden. Wie viele moͤgen mit ihm[ hieruͤber] einerlei Meinung haben!

Eben derselbe hat noch einen medicinischen Bericht beigefuͤgt, worin er erzaͤlt, daß ein Fraͤulein von May aus Furcht vor einem Brechpulver, das sie einnehmen muͤssen, wahnsinnig wird. Seite 87, ff.

Die Wuͤrkungen der Furcht uͤber die menschliche Seele sind von sehr manigfaltiger Art, und sie ist eine der heftigsten und betaͤubendsten Leidenschaften des Gemuͤths. Viele verlieren dadurch auf einmal ihre ganze Besonnenheit, ihr Nachdenken stockt, alle ihre Empfindungen erstarren, und sie ist gleichsam das fuͤr den Geist, was ein heftiger Schlagfluß fuͤr den Koͤrper ist. Die lebhaftesten Koͤpfe gerathen durch sie in Verwirrung, und es zeigt eine große Seele an, welche sich nicht von ihr bemeistern laͤßt. Andre Menschen macht sie kuͤhn und beherzt, und dies ist eine ihrer sonderbarsten Wuͤrkungen.

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Jch habe, sagt Montagne*)*) Montagne's Versuche enthalten die lehrreichsten Beitraͤge zur Psychologie, sind aber bisher von unsern Psychologen viel zu wenig genuzt worden.10P. im Capitel von der Furcht, viele Leute gesehen, die vor Furcht unsinnig geworden sind. Auch bei den richtigsten Gemuͤthern verursacht sie, so lange ihr Anfall dauert, schreckliche Verirrungen. Jch rede nicht blos von dem Poͤbel, welchem sie bald seine aus den Graͤbern hervorkommenden und in ihr Schweistuch eingehuͤllten Vorfahren, bald Waͤhrwoͤlfe, Kobolte und andre Ungeheure vorstellt; wie oft hat sie nicht sogar den Soldaten, wo sie doch am wenigsten Plaz finden sollte, eine Heerde Schaafe in eine Geschwader Kuͤrassiere, Rohr und Schilf in Geharnischte und Lanzenknechte, unsere Freunde in unsre Feinde u.s.w. verwandelt bald macht sie uns Fluͤgel an die Fersen, bald nagelt sie uns die Fuͤße an. » Jch meines Theils, sezt er sehr naiv hinzu, fuͤrchte mich vor nichts so sehr, als vor der Furcht. «

Je lebhafter unsre Einbildungskraft, und je geschickter sie ist, den gefuͤrchteten Gegenstand zu vergroͤßern, je weniger Fassungskraft und innere Staͤrke der Seele uns eigen ist, und je leichter unsre Nerven erschuͤttert werden koͤnnen, je mehr pflegen wir auch von jener Leidenschaft beunruhigt zu werden. Jeder Mensch sollte an sich mit allen Kraͤf -15 ten der Vernunft arbeiten, diese Furie der menschlichen Seele zu bekaͤmpfen, weil sie so leicht die ganze Thaͤtigkeit der Denkkraft und unsrer Willensfreiheit aufhaͤlt, und uns durch ein niedriges Betragen, unzaͤhlig oft unter die Wuͤrde unsrer Natur herabsezt. Jch wuͤrde, um das menschliche Herz von dieser betaͤubenden und schaͤndlichen Krankheit der Furcht zu heilen, vornehmlich folgende Mittel vorschlagen. 1) Man suche das gefuͤrchtete Uebel genau nach allen seinen Seiten kennen zu lernen, und es hierbei auch von seiner weniger furchtbaren Seite zu betrachten. Schon das Nachdenken, das bei sich selbst Raisonniren uͤber ein kommendes Uebel, floͤßt uns Muth ein, indem es unsre Seele zerstreuet und von dem Punkte wegziehet, den sie so gern mit starren Empfindungen allein betrachten moͤchte. 2) Uebe man sich selbst dann, wenn uns nichts Boͤses bevorsteht, in Untersuchungen: wie wir uns in dieser und jener ungluͤcklichen Lage, die uns uͤberraschen sollte, benehmen wuͤrden, und als vernuͤnftige Menschen benehmen muͤßten. 3) Huͤte man sich ja vor allen Schwaͤchungen und Verzaͤrtelungen des Koͤrpers. Ein gesunder Koͤrper giebt der Seele Kraft und Muth, ein kranker macht uns furchtsam. 4) Man gewoͤhne sich immer mehr durch Nachdenken uͤber die Menschen und unsre Schicksale, und durch die Gewalt uͤber unsre Einbildungskraft an die so noͤthige Gegenwart des Geistes, und lasse den ersten Eindruck eines furchtbaren Ge -16 genstandes nicht zu tief eindringen. 5) Meidet die Gesellschaft und den Umgang mit furchtsamen und hypochondrischen Menschen, weil ihre Denkungsart uns leichter, als man glaubt, inficirt; selbst der haͤufige Umgang mit dem andern Geschlecht, sagt ein alter Weltweise, macht uns furchtsam. Hingegen floͤßt uns der Umgang mit muthigen und gesezten Leuten auch Muth und Entschlossenheit ein.

11C. F. Pockels.

(Die Fortsetzung kuͤnftig.)

17

Zur Seelenkrankheitskunde.

1. Volksaberglauben.

12

Erlauben Sie mir, daß ich Jhnen eine Anzeige von verschiedenen Arten des Volksaberglaubens, nebst meinen Bemerkungen daruͤber, zuschicken darf. Vielleicht koͤnnen Sie dieselbe fuͤr Jhr Magazin zur Erfahrungsseelenkunde nuͤtzen. Fast allgemein in Ober - und Niedersachsen habe ich bemerkt, daß man mit den neugebornen Kindern einen sonderbaren Aberglauben treibt; vornehmlich aber so lange, als sie noch nicht getauft sind. Wenn gleich der gemeine Mann hie und da nicht mehr an eine unmittelbare Besitzung des Teufels bei seinen Kindern glaubt, und auch an mehrern Oertern vernuͤnftige Geistliche den Leuten diese entsezliche Meinung aus den Koͤpfen gepredigt haben: so haͤngt doch immer noch ihre Phantasie an Hexen und unsichtbaren boͤsen Geistern, die den ungetauften Kindern Schaden zuzufuͤgen suchen. Man eilt daher nicht nur, die Kinder bald aus der Gewalt der unsichtbaren Geister durch die Taufe zu befreien; sondern die Hebammen, eine uͤberhaupt sehr aberglaͤubige Menschengattung suchen auch durch ein fleis -18 siges Kreuzmachen das ungetaufte Kind vor allerlei zu befuͤrchtenden Behexungen zu sichern. Gemeiniglich geschieht dieses Kreuzmachen, das offenbar noch ein albernes Ueberbleibsel aus der katholischen Kirche ist, beim Einwickeln und Schlafenlegen der Kinder, wobei die Hebammen noch ein Spruͤchelchen, z. B. das walt Gott der Vater u.s.w. herzumurmeln pflegen. Jch habe einige diese Ceremonie mit der puͤnktlichsten Genauigkeit beobachten gesehen; eine schalt mich auch sogar einmal in allem Ernst aus, indem ich beim Hereintragen eines neugebornen Kindes meine laute Freude uͤber dasselbe bezeugte, ohne ein » Gott gesegne dich! « *)*) oder: Gott behuͤt's! dazuzusetzen. Das einfaͤltige Weib glaubte, daß man, ohne einen dergleichen Wunsch, ein neugebornes Kind leicht beschreien**)**) Jn Niedersachsen nennt man es berufen. koͤnne; eine Meinung, welcher der gemeine Mann noch sehr auch in Absicht seines Viehes anhaͤngt: man beschreiet seine Kuͤhe, seine Pferde, wenn man sie lobt, und verursacht dadurch, daß sie weniger gedeihen koͤnnen.

Ausser jenem Aberglauben des Kreuzmachens***)***) Welches nicht eigentlich mit den Fingern geschieht, sondern, indem man die Haͤnde kreuzweis uͤbereinander schlaͤgt. uͤber neugeborne Kinder, haͤlt der gemeine Mann19 auch noch sehr darauf, manche vornehme Muͤtter nicht ausgenommen daß, so lange ein Kind noch nicht getauft ist, es ja genau bewacht werde, damit ein boͤser Geist nicht ein andres Kind mit dem rechten austauschen koͤnne. Dieser Aberglaube stammt offenbar noch aus den Zeiten her, wo man den Teufel zu einem schadenfrohen Tausendkuͤnstler und Zaubrer machte. An einigen Oertern geht man sogar so weit, daß man die Stelle in der Wiege, wenn man das Kind herausgenommen hat, nicht ledig laͤsst, sondern unterdessen ein Stuͤck Holz, oder einen Beesen dahin legt, damit der boͤse Feind nicht seinen Unfug mit der Wiege treiben koͤnne.

Wie sehr noch der gemeine Mann an der Meinung vom Behexen der Kinder haͤngt, koͤnnen Sie aus folgender frappanten Anekdote aus einer angesehenen niedersaͤchsischen Stadt sehen, die sich nicht vor gar langer Zeit daselbst zugetragen hat. Ein armes Lutherisches Buͤrgerweib hatte ein kraͤnkelndes Kind, wovon sie glaubte, daß ihm etwas angethan, oder daß es behext sey. Mit diesem Kinde erschien sie eines Tages in der dortigen katholischen Kirche, worin man sie noch nie bemerkt hatte, und wo sie auch wirklich noch nie gewesen war. Ein angesehener Mann, auch ein Katholik, aber ein aufgeklaͤrter Kopf, der mir diese Geschichte selbst erzaͤhlte, bemerkte sie, und20 bezeigte ihr sein Erstaunen, was sie mit dem kranken Kinde in der katholischen Kirche wollte. Das Weib ward verlegen, bei weiterm Fragen gestand sie aber endlich, daß sie hierher gekommen sey, um von dem katholischen Priester den Segen uͤber ihr Kind sprechen zu lassen, weil sie gehoͤrt, daß ein katholischer Priester dadurch die Krankheit des behexten Kindes wegbannen koͤnne. Einem Katholischen Weibe wuͤrde man so etwas nicht verdacht haben, da ihre Religion dergleichen Dinge wirklich lehrt; allein einer Lutherischen Buͤrgerfrau, die in einer der aufgeklaͤrtesten Staͤdte Teutschlands lebt, wo es eine Menge der besten Aerzte giebt, waͤre ein solcher Aberglaube kaum zu verzeihen, wenn sich die geruͤhmte Aufklaͤrung, wovon die meisten nur gar zu hohe Jdeale im Kopfe haben, auch auf die niedern Staͤnde der Menschheit erstreckte, wo es uͤberall noch so schrecklich dunkel aussieht.

Um die neugebornen Kinder vor den boͤsen Geistern zu bewahren, welche man gemeiniglich in der Volkssprache gradehin die Unterirdischen nennt, ist man noch auf viele andre Gaukeleien verfallen, woruͤber in vielen Familien mit strengster Genauigkeit gehalten wird; z. B. daß man aus dem Hause, worin das neugeborne Kind ist, durchaus nichts verleihet, weil es sonst behext werden koͤnnte; daß, um eben dies zu verhuͤten, des Vaters Hut auf die Wiege gelegt wird; daß man21 die Wiege nicht bewegen darf, wenn sich das Kind nicht darin befindet. *) *) Beides leztere geschieht eigentlich deswegen, weil man glaubt, daß das erstere den Schlaf des Kindes befoͤrdere, das leztere ihm aber seine Ruhe nehme; daher auch jener andere Aberglaube, daß sich ein Fremder, der in eine Kinderstube kommt, durchaus niedersezen muß, weil er sonst dem Kinde den Schlaf mitnimmt.

An vielen Oertern ist's auch gebraͤuchlich, daß, wenn das Kind aus der Kirche nach der Taufe heimgetragen wird, man es sogleich einige Minuten in den Brodschrank legt, damit es nicht naͤschig werden soll. Eine andere Albernheit dieser Art erfuhr ich noch kuͤrzlich in einem Dorfe ohnweit Merseburg. Jch hatte einer Kindtaufe in der Dorfkirche mit beigewohnt, und ging mit dem Prediger nach Hause. Weit vor uns vorauf erblickte ich die Jungfer Gevatterinn, welche nach dortiger Sitte das Kind trug, und ungewoͤhnlich schnell damit lief. Dieser Umstand fiel mir auf, und ich fragte den Prediger um die Ursache des schnellen Laufens mit dem Kinde. » Es ist ein ziemlich ausgebreiteter Aberglaube, erwiederte er, daß das Kind nicht gut gehen lernt, wenn die Gevatterinn damit nicht schnell nach Hause eilt. Jch habe den Leuten oft den Ungrund ihres Aberglaubens gezeigt; aber es haͤlt ausserordentlich schwer, dergleichen Volksmeinungen, die um so viel staͤrker wuͤrken, weil22 sie von den Vorfahren angenommen sind, auszurotten. «

Mit den Woͤchnerinnen selbst wird eben ein so starker Aberglaube getrieben. Einige Behandlungsarten derselben sind von der Art, daß man sie nicht einmal sagen darf, ohne die Gesetze der Schamhaftigkeit zu beleidigen; sie alle haben aber wieder ihren Grund, wie aller Aberglaube, in dem Glauben an boͤse Geister, und in uralten heidnischen Volksvorurtheilen, dergleichen wir mitten in der Christenheit noch sehr viele haben. Viele Weiber tragen in der Wochenstube einige Stunden des Tages die Muͤtzen ihrer Maͤnner. Noch andere haben den Glauben, daß sie sich ihre Wochenzeit uͤber nicht am Fenster sehen lassen duͤrften, ein Glaube, der vielleicht gute physische Ursachen zum Grunde hat, damit sie sich etwa durch auffallende Gegenstaͤnde nicht erschrecken moͤchten; aber unerklaͤrbar ist mir hierbei noch ein andrer Umstand, daß naͤmlich viele Woͤchnerinnen glauben, sich einen unbekannten Voruͤbergehenden, wenn sie auch am Fenster stuͤnden, als einen Dieb, Moͤrder, u. dergl. vorstellen zu muͤssen. Daß dies wuͤrklich ein Aberglaube vieler Woͤchnerinnen ist, ist mir von der glaubwuͤrdigsten Frau betheuert worden.

Ueberhaupt ist der Ursprung so vieler aberglaͤubischen Meinungen durchaus unbekannt. Oft kann die unbedeutendste Kleinigkeit Veranlassung dazu23 gegeben haben, oft war auch wohl nur der blosse Zufall, der auf eine gewisse Einbildung erfolgte, der Grund davon. Der Unwissende findet uͤberall Gegenstaͤnde, deren physische Verhaͤltnisse er nicht uͤberschauen kann, er nimmt also gleich seine Zuflucht zu gewissen verborgenen Kraͤften, und personificirt sie, so gut er kann; oder so wie sie seine Vorfahren schon zu personificiren suchten. Er hat wenig Neigung dazu, das Ding sich natuͤrlich zu erklaͤren, weil das Wunderbare seiner sinnlichen Phantasie schmeichelhafter ist, und er von Jugend auf den Kopf von unsichtbaren Geistern voll hat. Gemeiniglich verhaͤlt sich der gemeine Mann auch nur bloß mechanisch bei seinem Aberglauben. Er weiß es selbst nicht immer, warum er so handelt; sondern er handelt so, weil er es so zu sehen gewohnt ist. Jch habe oft gemeine Leute gefragt: Warum glaubt ihr dies und das? und sie konnten mir nichts anders antworten, als Wir glauben's nun einmal so! Man wird gemeinen Leuten den Aberglauben jeder Art nicht eher aus den Koͤpfen bringen, bis man ihnen einen deutlichen Unterricht in der Naturlehre zu geben anfaͤngt, wie nun auch schon an mehrern Orten zur Ehre der Menschheit geschieht.

Mancher Aberglaube scheint in der That aus einer guten natuͤrlichen Absicht entstanden zu seyn. So warnt man junge Kinder, ja nicht zu nahe an Fluͤsse und Teiche zu gehen, weil sie sonst der24 Nix*)*) Der gemeine Mann stellt sich ihn als ein kleines Maͤnnchen mit rotem Haar, oder einer roten Muͤtze vor; in Niedersachsen als Frauenzimmer, welches sehr wahrscheinlich sich auf den aus dem Alterthum hergeholten Glauben an Sirenen gruͤndet. holen koͤnne. Man will dadurch offenbar junge unerfahrne Kinder warnen, sich nicht an dergleichen Oerter zu wagen, so wie man auch in mehrern Gegenden von[ Obersachsen] an einen gewissen Kornengel glaubt, der, nach der Volksmeinung, die Kinder nach sich ziehen soll, wenn sie sich einem Kornfelde naͤhern. Die Jdee in Absicht der Nixen scheint mir in dem alten heidnischen Aberglauben, da man an Fluß - und Wasser-Goͤtter glaubte, ihren Grund zu haben, so wie uͤberhaupt es fast keine Art des heidnischen Aberglaubens gab, welcher nicht noch jezt hie und da unter gemeinen Leuten, obgleich in einer veraͤnderten Gestalt, fortwuͤrken sollte. Das Christenthum hat ihn nicht ausrotten koͤnnen, sondern nur einen Mantel daruͤber gehaͤngt.

Ehe ich in meiner Anzeige von den verschiedenen noch herrschenden Arten des Volksaberglaubens fortfahre, muß ich Jhnen eine meiner Jdeen uͤber das sogenannte Beschreien oder Berufen der Kinder mittheilen. Dieser aberglaͤubische Gebrauch ist offenbar Griechischen und Roͤmischen Ursprungs; und wahrscheinlich noch aͤlter. Unter den Heerden von25 Goͤttern, die jene alten Voͤlker sich nach und nach ertraͤumt hatten, gab es nach ihrer Meinung auch viele boshafte und neidische Gottheiten, die immer lauerten, wo sie den Menschen etwas zu leide thun konnten. Vermoͤge ihrer heimtuͤckischen Natur suchten sie vornehmlich denjenigen zu schaden, die vor andern gluͤcklich und geehrt waren. Man befuͤrchtete daher, sie auf dasjenige aufmerksam zu machen, was man mit lauter Stimme ruͤhmte, und um dem Dinge zuvorzukommen, bediente man sich denn eines besondern Ausdrucks, welcher dem Teutschen: Gott behuͤt es! nahe kam. Der Lateiner hatte sein Praefiscine! und der Grieche sein αβαναςως Hierzu kam nun noch der alte Volksglaube, daß nicht alle Stunden des Tages gleich waͤren; sondern daß verschiedene fuͤr den Menschen sehr gefaͤhrlich werden koͤnnten, man wollte daher durch jene Ausdruͤcke zugleich sagen: Gott gebe, daß ich's zu einer guten Stunde geredet habe! Aller dergleichen Aberglaube ist zu den Christen bei ihrer Vermischung mit Roͤmischen und Orientalischen Voͤlkern uͤbergegangen, und die Priester haben sonderlich in mittlern Zeiten alles gethan, um das Volk dabei zu erhalten, weil sie, wie bekannt, von der Blindheit desselben ihre Vortheile zogen.

Der Ursprung des Aberglaubens uͤberhaupt, wir moͤgen ihn nun entweder bei ganzen Voͤlkern, oder einzelnen Menschen betrachten, hat uͤberall und allemal seine natuͤrlichen Ursachen. Die mensch -26 liche Einbildungskraft sucht sich nach dem Vorrathe der wenigen vorhandenen Jdeen in dem Gehirn des ungebildeten Menschenverstandes, Erscheinungen in der Natur durch unsichtbare Wesen zu erklaͤren, und, so weit auch der Begriff eines Geistes ausser der Sphaͤre eines noch unangebauten Verstandes liegt, sich doch gewisse Kraͤfte zu personificiren, wovon jene Naturphaͤnomene Wuͤrkungen seyn sollen. Denn, daß jede Wuͤrkung eine Ursach haben muͤsse, auf diesen Satz wird auch der ungebildetste Menschenverstand alle Augenblicke so sehr hingerissen, daß er ihm bald zum[ Axiom] wird, so gut er es fuͤr den Philosophen ist. Ausserordentliche Wuͤrkungen werden also ausserordentlichen Wesen zugeschrieben, die sich aber der menschliche Verstand wohl nie als Geister im metaphysischen Sinn gedacht haben wuͤrde, wenn hinterher nicht von speculativen Koͤpfen ein Unterschied zwischen koͤrperlichen und unkoͤrperlichen Wesen festgesezt worden waͤre, den man von dem Menschen selbst abstrahirte. Ob dieser Unterschied reel sey, daruͤber haben sich die Philosophen alle Jahrhunderte gestritten, und werden sich, zum Beweis, daß der Begriff eines Geistes noch nicht genau bestimmt ist, und vielleicht ausser den Graͤnzen der menschlichen Vernunft liegt, noch ferner daruͤben streiten.

27

2. Der Einsiedler im Stadtgetuͤmmel.

19

Der edle und tugendhafte Heinrich Wilby Esq. war aus Lincolnshire gebuͤrtig, und Erbe eines ansehnlichen Rittergutes, welches jaͤhrlich uͤber tausend Pfund eintrug. Er hatte seine Studien auf der Universitaͤt sowohl, als in einem der juristischen Kollegien, vollendet, und war mehrere Jahre nach einander auf Reisen in fremden Laͤndern. Nach seiner Ruͤckkehr lebte dieser sehr gebildete junge Edelmann auf seinem vaͤterlichen Landgute, war uͤberaus gastfrey, hielt viel Umgang mit seines Gleichen,[ und] hatte eine schoͤne wohlerzogene Tochter, die, mit seiner voͤlligen Genehmigung, an Sir Christopher Hilliard in Yorkshire verheirathet wurde. Er war jezt vierzig Jahr alt. Die Reichen achteten ihn; die Armen beteten fuͤr ihn; und von Jedermann ward er geehrt und geliebt; als einstmals einer von seinen juͤngern Bruͤdern, mit dem er nicht recht einig war, ihm auf freien Felde begegnete, und ein Pistol auf ihn losdruͤckte, welches aber gluͤcklicherweise versagte. Er glaubte, das sey blos geschehen, um ihm ein Schrecken einzujagen, und entwaffnete den Niedertraͤchtigen ganz kaltbluͤtig. Sorglos steckte er das Pistol in seine Tasche, und ging in tiefen Gedanken nach Hause. Als er hier aber das Gewehr naͤher untersuchte, und28 Kugeln darin fand, machte diese Entdeckung auf seine Seele solch einen starken Eindruck, daß er auf der Stelle den ausserordentlichen Entschluß faßte, sich voͤllig von der Welt zu entfernen; und in diesem Entschlusse verharrte er auch bis an's Ende seines Lebens.

Er waͤhlte sich ein sehr huͤbsches Haus unten in Grubstreet, (einer Strasse in London,) schaffte fast alle seine Leute ab, ließ das Haus nach seinen Jdeen einrichten, und waͤhlte davon drei Zimmer fuͤr sich: das eine zum Speisezimmer, das zweite zur Wohnstube, und das dritte zum Studirzimmer. Da sie eins in's andre gingen, so pflegte er, wenn sein Essen von einer alten Dienstmagd auf den Tisch gesezt wurde, sich so lange in sein Wohnzimmer zu begeben; und wenn man hier sein Bette machte, ging er so lange in sein Studirzimmer, bis alles fertig war. Aus diesen Zimmern kam er von der Zeit an, da er sie bezog, nie wieder heraus, bis er vierzig Jahre hernach auf den Schultern der Leichentraͤger herausgebracht wurde. Auch bekamen in dieser ganzen Zeit weder sein Schwiegersohn, seine Tochter, sein Enkel, Bruder, seine Schwester, noch irgend einer seiner Verwandten, jung oder alt, reich oder arm, kurz kein Mensch ihn wieder zu sehen, ausser jene alte Dienstmagd, die Elisabeth hieß. Sie allein machte sein Kaminfeuer, machte sein Bett, brachte ihm zu essen, und reinigte seine Zimmer. Auch sie sah ihn nur aͤusserst selten, nur29 immer im hoͤchsten Nothfall, und starb nicht laͤnger als sechs Tage vor ihm.

Jn der ganzen Zeit seiner Einsperrung kostete er nie weder Fisch noch Fleisch. Sein gewoͤhnlichstes Essen war Hafergruͤtze. Dann und wann hatte er des Sommers einen Sallat von ausgesuchten kuͤhlenden Kraͤutern, und, als ein Leckerbissen, wenn er sich an einem Festtage etwas zu gute thun wollte, er den gelben Dotter von einem Huͤhnerei; aber nichts von dem Weissen. Was er an Brodt , schnitt er aus der Mitte heraus; die Kruste aber genoß er nie. Sein bestaͤndiges Getraͤnk war Vierschillingsbier, und nichts anders; denn er kostete niemals Wein, noch gebrannte Wasser. Dann und wann, wenn er es seinem Magen fuͤr dienlich hielt, er eine Art von Zuckerwerk; zuweilen trank er auch etwas Kuhmilch, die ihm seine Dienstmagd, noch heiß vom Melken, holen mußte. Bei dem allen hielt er seinen Bedienten einen reichlichen Tisch, und bewirthete jeden Fremden oder Paͤchter sehr gut, der in seinem Hause etwas zu thun hatte.

Alle Buͤcher, die neu herauskamen, wurden ihm gekauft und gebracht; Streitschriften aber legte er bestaͤndig auf die Seite, und las sie niemals.

Weihnachten, Ostern, und an andern Festtagen, ließ er in seinem Zimmer eine grosse Tafel decken, mit allem besezt, was die Jahrszeit vermochte,30 auch mit vielen Weinen; welches alles von seiner Dienstmagd aufgetragen wurde. Nach einem Dankgebete fuͤr Gottes Wohlthaten, pflegte er dann eine reine Serviette anzustecken, ein Paar weisse Hollaͤndische Handschuh anzuziehen, die ihm bis an die Ellbogen reichten; dann schnitt er ein Gericht nach dem andern vor, und schickte einen Teller an einen armen Nachbar, und den zweiten an einen andern, bis der Tisch ganz leer war. Darauf betete er wieder, legte seine Serviette zusammen, und ließ das Tischtuch wieder wegnehmen. Dies pflegte er an dergleichen Tagen Mittags und Abends zu thun, ohne von irgend einem Gerichte selbst einen Bissen zu kosten.

Wenn arme Leute unverschaͤmt vor seiner Thuͤr bettelten und wehklagten, so wurde ihnen, eben deswegen, nicht sogleich etwas gereicht. Wenn er aber aus seinem Zimmer, welches nach der Straße hinausging, irgend einen Kranken, Schwachen, oder Lahmen ausfindig machte, so schickte er alsbald zu ihnen, um sie zu troͤsten und zu unterstuͤtzen; und schenkte ihnen nicht etwa nur eine Kleinigkeit fuͤr dasmal, sondern so viel, daß sie sich viele Tage nachher noch davon erquicken konnten.

Ausserdem pflegte er sich zu erkundigen, und darauf zu merken, welche von seinen Nachbaren fleissig in ihrem Beruf und Gewerbe waren, und welche von ihnen eine grosse Last von Kindern hat -31 ten; vornehmlich auch, ob ihr Fleiß und ihr Erwerb auch zum Unterhalt der Jhrigen hinreiche. Und dergleichen Leuten schickte er reichliche, und ihren Beduͤrfnissen angemessene Unterstuͤtzung.

Er starb in diesem seinem Hause in der Grubstrasse, nachdem er sich ganzer vierundvierzig Jahre einsiedlerisch eingesperrt hatte, den 29. October 1636, vierundachtzig Jahr alt. Bei seinem Tode war sein Haar und sein Bart so lang und dicht gewachsen, daß er einem Einsiedler aus der Wildniß aͤhnlicher sah, als einem Einwohner der groͤßten Staͤdte in der Welt.

3. Einwirkung eines aͤussern Gegenstandes auf die Verwirrung unser Jdeen.

21

Wir pflegen uns entfernte Bekannte, die wir aber noch nicht persoͤnlich kennen gelernt haben, unter einer gewissen Gestalt, Figur, Leibeslaͤnge, und unter gewissen Gesichtszuͤgen zu denken, die ihnen unsere Phantasie andichtet, weil wir uͤberhaupt uns nichts ohne ein sinnliches Zeichen vorstellen koͤnnen. Unsere Einbildungskraft verfaͤhrt hierbei allemal nach gewissen Gruͤnden, warum sie sich den Entfernten grade unter dieser und keiner andern Gestalt32 denkt, ob wir uns gleich dieser Gruͤnde nicht immer bewußt sind. Hat man uns schon eine Beschreibung und Vergleichung der unbekannten Person gemacht: so stellt man sie sich auch ungefaͤhr wie den mit ihr verglichenen Gegenstand vor, aber doch nicht ganz so; sondern wir leihen ihr Zuͤge, die sie von jenem in etwas unterscheiden, und aus einem Gemisch von mehrern, von andern aͤhnlichen Gegenstaͤnden hergenommenen, Kennzeichen bestehen; hat man uns aber noch gar keine koͤrperliche Beschreibung von der unbekannten Person gemacht: so bildet sich unsere Phantasie von irgend einem oder mehrern Umstaͤnden, die wir von der Person wissen, ein eigenes Bild, welches freilich selten zutrifft. Dieses Bild kann bisweilen eine solche Lebhaftigkeit und Festigkeit in uns erhalten, daß es uns gar nicht moͤglich ist, uns die Person anders, als nach dieser Phantasie vorzustellen; daher die oͤftere Verwirrung, worin sich Leute befinden, die sich zum erstenmale sehen, wovon ich hier ein ausgemachtes Beispiel liefere.

Der Staatsminister *** aus ** machte vor einigen Jahren durch einige Provinzen des Staats eine Reise, um verschiedene bei dem Justiz - und Finanzwesen eingeschlichene Misbraͤuche zu untersuchen. Wohin er kam, wurde er mit aller Ehre, die seinem Stande gebuͤhrte, empfangen, und in verschiedenen Staͤdten wurde er mit feierlichen Reden von Seiten des Magistrats bewillkommt. Eine33 solche Rede sollte ihm auch zu *** von dem dortigen Buͤrgermeister gehalten werden, welches ein ausserordentlich geschickter, und sonst sehr beredter Mann war. Der Minister, ein kleiner, hagerer Mann, der sein eigenes Haar trug, trat in den Saal des Rathhauses, und der Herr Buͤrgermeister auf seinen Rednerplatz. Mit einer sichtbaren Verwirrung fing der gute Mann seine Rede an, stockte, raͤusperte sich, und blieb endlich stecken, ohne ein einziges Wort weiter vorbringen zu koͤnnen. Der Minister schien unwillig uͤber den Redner zu seyn, und die ganze Versammlung schied aus einander.

Der Minister wurde zu einem Mittagsschmause eingeladen, der ganze Magistrat, die Honoratioren der Stadt waren gegenwaͤrtig, und der Minister kam neben dem Buͤrgermeister zu sitzen, dessen Rede ein so klaͤgliches Ende genommen hatte. Beide liessen sich in ein Gespraͤch ein, und der Minister sahe nun, daß der leztere ein vortreflicher Kopf war, der sich sehr gut auszudruͤcken wußte, und sehr weitlaͤuftige Kenntnisse verrieth. » Aber wie ist es moͤglich, fing der Minister endlich an, daß ein Mann von Jhrer Lebhaftigkeit, von ihrer Suade in seiner Rede stecken bleiben konnte? « » Jch will es Ew. Excellenz erklaͤren, erwiederte der Buͤrgermeister: » Jch hatte Ew. Excellenz nie gesehen. Jch stellte Sie mir als einen Mann mit einem grossen dicken Bauche, einer langen Wolkenparuͤcke,34 einem mit dickem Golde besezten Kleide, und einer kuͤhnen Miene vor. Jch fand dies alles bei Jhrem wirklichen Anblicke nicht; und dies allein, daß ich einen ganz andern Mann vor mir stehen sahe, als ich mir bisher imaginirt hatte, brachte mich aus aller Fassung. «

4. Fortgesezte Nachricht von einer Geisterseherinn. 23(Siehe 4ten Bandes 1stes Stuͤck, Seite 122 ff.)

Nachfolgende Berichte von einer sonderbaren Geisterseherinn sind ein abermaliger Beweis, welch eine erstaunliche Gewalt eine erhizte und verschrobene Phantasie uͤber uns, und vornehmlich uͤber schwaͤrmerische Weiber, bekommen kann; denn kein Vernuͤnftiger wird die Erzaͤhlungen der Madam Beuter fuͤr etwas anders, als lebhafte, im Wachen gehabte, Traumbilder halten, so sehr sie auch das alles deutlich und wirklich gesehen und gehoͤrt zu haben vorgiebt. Es ist bekannt, daß Jdeen der Phantasie durch mancherlei Umstaͤnde, sonderlich durch eine lebhafte Bewegung des Bluts und Gehirns eine solche Staͤrke und Helligkeit bekommen koͤnnen, die die Lebhaftigkeit sinnlicher Eindruͤcke noch weit35 uͤbertrifft und ganz verdunkeln kann. Gesellt sich dazu nun noch irgend eine andre religioͤse Grille, Bilder und Gefuͤhle von einer getraͤumten himmlischen Entzuͤckung; ist die Seele von feurigen Gedanken an Gott und den Erloͤser, oder von schrecklichen Vorstellungen an einen Teufel eingenommen: so kann die Phantasie mit dem armen Menschen machen, was sie will, so sieht er Dinge, die nie existirt haben, und nie existiren werden, hoͤrt Stimmen und Worte, die nie ausgesprochen worden sind, macht Spatzierfahrten durch den Himmel, so wie ihn der Enthusiast irgend einmal aus einem Gemaͤlde, oder in einer Predigt, oder in einem mystischen Erbauungsbuche abgeschildert gefunden hat. Die weibliche Seele, die ihre Natur auch im Traume nicht verlaͤugnen kann, erblickt maͤnnliche Gestalten, Engel u. dergl., wird von ihnen holdselig angeredet, und die Gottheit kommt wohl gar selbst, bei der Phantastinn ihren Besuch abzulegen. Alles dies ist der erhizten Einbildungskraft so leicht, laͤßt sich so aͤusserst natuͤrlich aus ihren Gesetzen, die auch bei den staͤrksten Verwirrungen der Phantasie noch zum Grunde liegen, erklaͤren, daß ich nicht begreifen kann, wie es moͤglich ist, dergleichen natuͤrliche Phaͤnomene der Seele fuͤr uͤbernatuͤrliche Wirkungen einer hoͤhern Offenbarung zu halten; nicht begreifen kann, warum dergleichen Offenbarungen ohne sehr wichtige grosse Zwecke da seyn sollen, ich will nicht sagen: ob uͤberhaupt da seyn36 koͤnnen. Der vornehmste Grund von solchen aberglaͤubischen und schwaͤrmerischen Meinungen liegt theils in der so grossen Neigung des Menschen zum Wunderbaren; theils auch, und vornehmlich darin, daß wir unsere Kinder damit von Jugend auf unterhalten, und ihnen die Lesung gewisser Buͤcher zur Pflicht machen, worin dergleichen Erscheinungen Gottes, der Engel und Teufel fast auf allen Seiten vorkommen. Man wird vergeblich wider den Aberglauben und die Schwaͤrmerei predigen, so lange dergleichen geistervolle Schriften nicht behutsamer der Jugend uͤberreicht, und deutlicher, als gemeiniglich geschieht, erklaͤrt werden. » Was diesem und jenem Mann in vorigen Zeiten geschahe, kann auch sich mir besonders naͤhern! « Was ist natuͤrlicher, als daß solche Gedanken bei einer nur etwas lebhaften, durch Religionsempfindelei verschrobenen, Phantasie in uns entstehen koͤnnen! Was natuͤrlicher, da diese Gedanken die menschliche Eitelkeit so sehr naͤhren, uns uͤber andere Menschen erheben, und ein gewisses behaͤgliches Gefuͤhl von Gluͤckseligkeit erzeugen, das allen Schwaͤrmern bei ihren Phantasien so eigen ist!

25P.

Madam Beuter, welche sich jezt zu Lindau am Bodensee aufhaͤlt, nachdem sie vorher in Augs -37 burg gewohnt hat, glaubt schon seit mehrern Jahren her, himmlische Erscheinungen zu haben, und glaubt sie so steif und fest, daß sie auf keine Art davon abgebracht werden kann. Sie hat nicht nur eigene Berichte daruͤber aufgesezt, sondern verschiedene der gehabten Erscheinungen, so weit sich ihr Talent im Malen erstreckte, sehr vielfarbig abgezeichnet, davon ich die Zeichnungen selbst in Haͤnden gehabt habe.

Das erste Gemaͤlde stellt eine Stube vor, die durch einen himmlischen Glanz erleuchtet wird. Die Geisterseherinn liegt im Bette. Zu ihrer Linken sizt ein himmlisches Wesen in einem blauen Kleide, zur Rechten steht ein Engel mit ausgebreiteten Fluͤgeln, und neben dem Engel ein Teufel (so wie man beide Herren sehr oft in mystischen Kupfern zusammen gemacht findet) in schrecklicher Gestalt. Aus dem Munde des Engels gehen die Worte: Herr, laß es genug seyn! Unter das Gemaͤlde hat sie mit eigener Hand geschrieben: » Diß gesicht ist geschehen und gesehen worden von mir Euphersyna Beitherin in Lindau im Monat December Morgens um ½ 5 Uhr 1771, als die Nacht noch stark finster war, wurde es um diese Zeit, auf einmahl heller Tag, zu meiner Verwunderung saß zugleich eine Himmlische Persohn gegen meine Linken Seite. an meiner rechten ein Engel Gottes, in der Hoͤhe gegenuͤber eine Klarheit. Diese ließe sich 4 Mahl sehen, zwischen ihrer abwechslung empfand38 ich ausserordentliche schmerzen am Ruͤcken vom sathan, dieser ließe sich zulezt auch sehen, in meinen großen schmerz sagte der Engel zu der Klarheit 3 Mahl, Herr laß es genug seyn, er ließ sich erbitten und machte ein Ende die Personen verschwanden, der Tag wurde zur Nacht wie vorhin, alles dauerte eine halbe Stund. Gott der allmaͤchtige ist von diesem allen auch mein Zeige. «

Das zweite Gemaͤlde betrifft eine Erscheinung, welche Madam Beuter vom offenen Himmel gehabt zu haben behauptet. Die Traͤumereien von einem offenen Himmel findet man fast bei allen lebhaften Schwaͤrmern und Schwaͤrmerinnen. Je unbestimmter uͤberhaupt die Jdee von einem Himmel ist, und bleiben wird, je mehr Feld gewinnt die menschliche Phantasie zu hunderterlei albernen Grillen, wozu sie allen nur erwuͤnschten Stoff in der Bibel findet. Das Gemaͤlde selbst stellt den Himmel vor, uͤber den sich aus der Wohnung Gottes ein Lichtstrahl uͤber viele tausend Menschen ergießt. Unter dieser Wohnung erscheinen drei Engel, und fuͤhren in ihrer Mitte eine Frauensperson von goͤttlicher Schoͤnheit. Die weitere Beschreibung dieses Gemaͤldes kann man in den von ihr selbst aufgesezten Nachrichten Seit. 127, 4ten Bandes 1stes Stuͤck der Seelenkunde, nachlesen. Unter dies Gemaͤlde hat sie wiederum mit eigener Hand geschrieben, daß sie wahr und wahrhaftig, alles dies, so wie sie es beschrieben, gesehen habe.

39

Ueberhaupt ist dieses schwaͤrmerische Weib von nichts so sehr uͤberzeugt, als von der Wahrheit ihrer Traͤumereien. Daß sie den tiefsten Eindruck auf ihre Seele gemacht haben, der auch wohl schwerlich je wird wieder ausgeloͤscht werden koͤnnen, zeigen ihre Erzaͤhlungen der kleinsten Umstaͤnde ihrer Visionen nach so langen Jahren. Einige Worte, die Gott mit ihr gesprochen haben soll, um sich von ihrem Manne zu trennen, und die so lauten: Gehe aus von ihm, denn ich will ihn verderben, hat sie sogar mit goldenen Buchstaben auf ein Stuͤck Sammet gestickt.

Zu mehrerer Erkenntniß und Beurtheilung der ganzen Sache will ich das Wichtigste hierher gehoͤrige, aus zweien Briefen des verdienstvollen Herrn Pfarrer26Muͤllerzum heil. Kreuz in Augsburg, auszugsweise hersetzen.

» Die viele Muͤhe, die sich Madam Beuter bei Zeichnung ihrer Visionen gegeben, die Zuversicht, mit der sie spricht, diese Worte gehoͤrt zu haben, so daß sie lieber tausend Leben liesse, als sich eine Sylbe davon wegdisputiren, zeigen doch wirklich, daß ihre Erscheinungen und gehoͤrte Stimmen den tiefsten Eindruck auf ihre Seele gemacht haben muͤssen. Eins von ihren Gemaͤlden habe ich schon seit Jahr und Tag in Haͤnden, und doch kann sie noch Jedem auf's genauste alles puͤnktlich sagen, was darauf steht. Wie ich uͤberhaupt erstaunen muß,40 daß sie, ohne zu variiren, auf das allerpuͤnktlichste noch mit einerlei Worten erzaͤhlen kann, was sie vor mehr als 20 Jahren vor Erscheinungen gehabt. «

Noch muß ich erinnern:

Madam trinkt viel Kaffe, ist von starker Person, vollbluͤtig, hat in ihrer Ehe sehr misvergnuͤgt gelebt; was ihr etwa halb schlafend mag (ich schreibe mit Fleiß mag, weil etwas Zuversichtliches ich und viele andre gern aus der Seelenkunde lesen moͤchten, naͤmlich was Ew ... von dieser ganzen Sache, so wie Sie davon benachrichtigt worden sind, halten) getraͤumt haben, haͤlt sie vor wirklich gesehen und gehoͤrt. *)*) Jch habe meine Meinung uͤber Madam Beuter schon oben gesagt. Daß sie ihre Traͤumereien fuͤr etwas wirklich Gesehenes und Gehoͤrtes haͤlt, beweist nichts, da mir hundert Beispiele bekannt sind, daß lebhafte und vollbluͤtige Leute ihre Traͤume fuͤr Wahrheit hielten, und, wegen der Lebhaftigkeit gewisser Vorstellungen, jene vom Wachen nicht unterscheiden# konnten, und doch hatten sie offenbar getraͤumt.28P. Freilich ein29Lavater,der gleich uͤberall lauter Wunder sieht, der einen Maler, welcher ihn ganz und gar nicht getroffen, ploͤtzlich mit tausend Kuͤssen soll umarmt haben, als jener sich entschuldigte » er finde vor itzo freilich keine Aehnlichkeit, allein so und um kein Puͤnktlein anders werde er als ein Verklaͤrter einmal im Himmel[ aussehen, «] ein4130Lavaterwuͤrde also freilich hier lauter Wunder sehen; allein leere und blos allein Einbildung mag doch auch alles nicht seyn. Die Einwirkung der Seele in den Koͤrper und umgekehrt ist sehr mannigfaltig. NB. Madam B. hat noch in Lindau bestaͤndig fort Erscheinungen.

Auf einen von mir an den wuͤrdigen Herrn Pfarrer31Muͤlleruͤber diese Sache geschriebenen Brief, worin ich die Visionen der Madam Beuter fuͤr nichts anders als fuͤr Geburten der Einbildungskraft erklaͤrte, und ich mich nach mancherlei Umstaͤnden des sonderbaren Weibes genauer erkundigte, erhielt ich folgende Antwort:

» Jhre Urtheile, daß bei Madam B. alles Einbildung sey, unterschreibe ich, doch mit der Einschraͤnkung, woher kommt es doch, daß sie alles nach 10 bis 30 Jahren noch so puͤnktlich genau weiß, und keine Absicht zu blenden, oder zu betruͤgen haben kann; *)*) Nicht alle Schwaͤrmer und Geisterseher haben grade die Absicht zu betruͤgen, wollen sie betruͤgen: so sind sie Schurken; aber es giebt gewisse gutmuͤthige Leute jener Art, welche keine andere Absicht haben, als das, was sie wirklich glauben, auch bei andern geltend zu machen. Sie sind Betrogene, und hintergehen andere, ohne daß sie es wissen. Freilich ist's wohl nicht zu laͤugnen, daß die Neigung, von sich etwas Sonderbares zu sagen, der Werth, den sie auf ihre mystischen Grillen legen, das Staunen und Horchen der Leichtglaͤubigen bei ihren Erzaͤhlungen, und eine Dosis vom Aberglauben, sie mit antreibt, ihre Traͤumereien fuͤr lauter Wahrheit auszugeben.33P. noch bis42 heute darauf stirbt, alles puͤnktlich unter den beschriebenen Umstaͤnden gesehen und gehoͤrt zu haben? Was moͤgen wohl da die Geschaͤfte der Seele gewesen seyn? Wie mag sie wohl gewirkt haben, daß solche gewaltige Eindruͤcke blieben, und ihr nicht zu benehmen sind selbst durch die vernuͤnftigsten Vorstellungen nicht, daß sie mit einer gewissen Seelenwonne und mit voͤlliger (vermeinter) Ueberzeugung davon spricht, oder schreibt. Glauben[ Sie] ja nicht, daß Schwaͤrmerei oder Aberglauben uͤber meine Gottlob! gesunde Seele etwas vermoͤgen. Doch, da wir einmal im Untersuchen sind, so wollen wir nicht muͤde werden. Nun diene ich Jhnen auf Jhre Fragen, Madam Beuter betreffend:

a) Sie ist nicht katholisch, und ist meine Beichttochter gewesen.

b) Jhr Leben war jeder Zeit gewiß recht regelmaͤssig. Von Kindheit an lebte sie unterm Druck. Sie muß eine gute Erziehung gehabt haben, und hat ihrem Stande gemaͤß Welt. 43Jhr Mann war ein sehr bekannter Mathematiker, und anfaͤnglich Rechenmeister, hielt aber von der Religion sehr wenig. Sie sprach Teutsch nicht im Schwaͤbischen Ton, sondern ganz Hochteutsch. Von[ Nervenschwaͤche] merkt 'ich in dem Umgange von vier Jahren nichts an ihr. Moͤchten aber ihre Nerven nicht uͤberspannt seyn?

c) Kinder hat sie nicht. Jhr Mann, als er sie nahm, war alt, und sie ist sehr korpulent; scheint mir auch etwas zu schnell gegen einen langsamen Beischlaͤfer. Jezt ist sie in Lindau am Bodensee mit einem Mann versorgt, von dessen gegenseitiger Liebe sie ganz eingenommen ist. Gespukt hat es bei ihr die Zeit noch immer. «

Es sind mir mehrere Bescheide von Geistlichen uͤber die Visionen der Madam Beuter zugesandt worden, davon ich aber nur einen von einem rechtschaffenen und gelehrten Augsburger Prediger hersetzen will, welcher im Ganzen die Sache aus dem rechten Gesichtspunkte angesehen hat, obgleich nicht alle Leser seine theologischen Jdeen unterschreiben duͤrften.

34P. 35

44

Ueber die Erscheinungen d. Fr. B.

Es kommt hierbei meines Erachtens erstlich auf die Frage an:

Sind die Erzaͤhlungen gegruͤndet, oder eine blosse Erdichtung?

Moͤglich ist's an sich selbst, daß Jemand so etwas sehe und hoͤre, als hier erzaͤhlt wird, es sey entweder durch aͤussere Einwirkung Gottes selbst, oder eines Geistes, und widerspricht das weder unsrer Natur, noch den Kraͤften eines endlichen oder unendlichen Geistes, wie die Geschichte der alten Offenbarungen Gottes sattsam darthut. Oder es kann Jemand wirklich sehen und hoͤren durch blosse Wirkung seiner zu lebhaften Einbildungskraft, durch eine solche Staͤrke der Idearum sensualium und Bewegung in den Nerven, uͤber welche der Geist des Menschen nicht mehr Gewalt hat, daß er wirklich innere Wirkungen mit aͤussern verwechselt, wie bei den Phantasien in der Fieberhitze, wie bei den Maniacis aller Art, wie uns wohl auch in Traͤumen begegnet.

Die Wirklichkeit eines jeden solchen Ereignisses, daß man dies und jenes gesehen oder gehoͤrt habe, ist res facti, laͤßt sich, im Fall ihrer innern Moͤglichkeit, aus keinen Gruͤnden a priori entscheiden, durch kein Raisonnement verwerfen oder beweisen;45 sondern allein durch Pruͤfung des davon vorliegenden Zeugnisses entscheiden. Dabei fragt sich denn: a) Hat der Zeuge, auf dessen Aussage das Factum beruht, die Gaben, die Zeit und Gelegenheit, was er aussagt, richtig zu beobachten? b) Jst er unbefangen von irgend einer Meinung, die ihn veranlassen koͤnnte, mehr oder weniger zu sehen und zu hoͤren, als wirklich vorgeht? c) Hat er im Affect, oder ohne Affect beobachtet? d) Hat er so viel Rechtschaffenheit und guten Willen, die Sache zu sagen, wie sie ist? e) Jst er dabei voͤllig fuͤr sich uninteressirt; und hat er, so wie bei seiner Beobachtung selbst, also bei dem Zeugniß, was er giebt, nichts zu gewinnen, oder zu verlieren? f) Jst er stark, tugendhaft genug, auch mit Verlust die Wahrheit zu sagen? g) Darf er, kann er ohne Hinderniß sagen, was er denkt?

Jch kenne die Person gaͤnzlich nicht; sehe aber aus den Erzaͤhlungen selbst, daß sie nichts weniger als unbefangen ist. Bei der Erscheinung des Vaters war schon zuvor ausgemacht, daß der Hr. D. und Praeses in Straßburg recht habe, der ihm eine sichtbare Gestalt giebt. Auch ist sie nicht uninteressirt: denn sie war des Lebens mit ihrem Mann uͤberdruͤssig, wollte ihn verlassen, und nun kommt die Stimme: Gehe aus von ihm! Man merkt auch sichtbar, daß sich Niemand so leicht unterstehen duͤrfe die vorgegebene Facta zu laͤugnen, ohne ihren innigsten Unwillen aufzureizen; ein Kennzei -46 chen einer tiefgewurzelten Rechthaberei. Ja sie ist geneigt, dergleichen Personen alle Gottseligkeit abzusprechen, ihnen Bosheit anzudichten: wie schlimm! Zu dem kommt, daß sie die Gelehrten nichts will wissen lassen ohe jam satis! Da waͤre also noch viel zu fragen, ob die Offenbarungen wirklich geschehen, oder erdichtet sind?

Zweitens aber, posito: alles sey geschehen wie es erzaͤhlt ist, was ist von diesen Offenbarungen zu halten? Sind sie Wirkungen von aussen, oder Geschoͤpfe der Einbildungskraft und einer regelwidrigen Circulation?

Sie sollen nach dem Vorgeben d. Fr. B. goͤttlich gewirkte Erscheinungen und Offenbarungen seyn. Das sind sie nicht, das koͤnnen sie schlechterdings nicht seyn. Einmal wissen wir aus der Vernunft und Schrift von dergleichen Offenbarungen keinen Vermuthungs - und Erwartungsgrund; nirgend ein Versprechen derselben, eine Anweisung, wie wir uns dabei verhalten, keine, wie wir uns nach Maaßgabe derselben bestimmen sollen. Gott hat sich uns offenbart durch seine Werke, und durch die eingefuͤhrten Gesetze der physischen Natur; er hat sich offenbart durch die heil. Schrift. Jst er unveraͤnderlich, so bleibt er bei seiner einmal erklaͤrten Meinung und Anweisung, und kann sich durch neue Offenbarun -47 gen nicht widersprechen. Auch waͤre es seiner Weisheit zuwider, was schon bekannt ist, noch einmal ausserordentlich zu offenbaren. Sollte dies Leztere ja geschehen: so muͤßten grosse Zwecke vorhanden seyn, die sich ohne das nicht erreichen liessen, und erreicht werden muͤßten. Jezt wollen wir die vorliegenden Erscheinungen ein wenig durchgehen:

  • 1) Das Kind von vier Jahren hoͤrt eine Stimme: Thue die Bibel auf den Tisch! *)

    *) Siehe 4ten B. 1stes St. Seite 122.

    36 Was soll doch diese Offenbarung? Liebe zu der Bibel wirken? Ueberfluͤssig das Kind hat ja Christliche Aeltern und Christlichen Unterricht. Da wird es Gottes Offenbarungen hoͤren, und die Wahrheit wird mit ihrer eignen efficacia wirken. Die alte Offenbarung sagt: Die Wahrheiten des Heils seyn, was ein guter Saame ist, zur Wiedergeburt des Herzens. 1. Pet. 1, 23.
  • 2) Was soll das Licht durch die Stubenkammer? Es spricht nichts. Wer hat denn gesagt, daß dies Gottes Wirkung sei? Woher weiß man das? Die Aeltern sagten: NB. ausser der Christkindleinszeit sehe man nichts: also doch in der Christkindleinszeit. So kamen also die Begriffe von goͤttlicher Erscheinung aus der aͤlterlichen Erziehung**)

    **) Ein Umstand, der hier sehr in Betrachtung kommt.

    37.
  • 48
  • 3) Jesus erscheint sichtbar 1770, und redet eine Menge; die Fr. B. weiß nicht was? und er verschwindet. Zu was soll diese Erscheinung? Wieder kein Zweck, kein Nutzen. Das N. T. vertroͤstet die Glaͤubigen, was das Sehen des Herrn Jesu anbetrifft, auf die lezte Erscheinung. 1. Pet. 1, 7.8. 1. Joh. 3, 2. Es versichert, Jesus sey bis dahin verborgen in Gott. Coloss. 3, 3. Hier widerspricht abermals die Offenbarung der Fr. B. der alten Offenbarung, und ist also Traum!
  • 4) Die Erscheinung im Traum 1771 ist schon verdaͤchtig, denn der Herr ist dabei, und der erscheint nicht. Vid. anteced. Das Licht an der Decke kann Traum seyn. Der Schmerz ist eine Nervensache, die hundert Menschen erfahren, welche durch Gram und Verdruß, oder durch starke Arbeiten ermattet sind. Und was hatte diese Offenbarung fuͤr einen Zweck? Jst was noch nicht Offenbartes gesagt? » Halt an! halt ein! halt aus: « dies steht lange in der Bibel, und ist oft wiederholt in den Trostbuͤchern ipsissimis verbis. Der Teufel O all die einfaͤltigen Bilder von ihm! Die rechte Offenbarung sagt: er sey ein Geist, und der hat nicht Figur und Form. Ein allereinziges mal hat er Menschengestalt bei der wundervollen Versuchung Christi. Ein[ Engel] mit Fluͤgeln! Die ganze Erscheinung habe ich in alten Krankenbuͤchern oft gefunden, eben so abgebildet wie hier.
  • 49
  • 5) Eben so die, von den Wohnungen Gottes. Einer, nur Einer hat sie gesehen, der wahre Offenbarung hatte. Der eben erzaͤhlt 2. Cor. 12, 4. er habe gehoͤrt αρρητα ρηματα α δχ εξον ανϑρωπω λαλησαι. Hatte die Frau B. eine ausserordentliche Erlaubniß die ihrige zu sagen? Paulus, der Apostel, darf uns den Himmel nicht beschreiben. Es ist also Gottes Wille, wir sollen ihn nicht kennen fuͤr jetzt. Also auch falsch, daß er d. Fr. B. gezeigt worden; oder was sie sah, ist nicht der Himmel. Die Sache sieht abermal einem bekannten Kupferstich aus irgend einem himmlischen Brautschatz, Liebeskuß, geistlichen Perlenschnur etc. gleich.
  • 6) Anno 1776 sieht die Frau den Vater. Die alte aͤchte Offenbarung Gottes spricht von ihm 1. Tim. 6, 16. Welchen kein Mensch gesehen hat, noch sehen kann. Es kann ihn also auch F. B. nicht gesehen haben, oder was sie sah, ist nicht der Koͤnig aller Koͤnige, der Herr aller Herren. Moses wollte auch einmal ihn gerne sehen: da bekam er zur Antwort: Exod. 33, 20). Mein Angesicht kann Niemand sehen. Die Juͤnger wollten's auch, und der Herr sprach: Wer mich siehet, der siehet den Vater.
  • 7) Die Erscheinung mit dem Donner 1778, ist wieder recht ungoͤttlich. Jst denn die Drohung: Jch will ihn verderben eingetroffen? Jst50 er auf solche Art verderbt worden, daß dabei die Frau B. in Gefahr ihres eignen Lebens war, und also aus seiner Gegenwart fliehen mußte? Alles nichts. Wie, Gott soll einer Frau sagen: Verlaß deinen Mann, der in der rechten Offenbarung befohlen hat: Es soll das Niemand scheiden, was Gott zusammengefuͤgt hat, den Ehebruch ausgenommen? Gott soll seine Gerichte uͤber einen Menschen offenbaren, soll selbst deklariren: Er ist verworfen, und uns also verfuͤhren, Andre zu verdammen? da er doch gesagt hat in seinem Worte: Richtet nicht, verdammet nicht. Gott ist nicht ein Versucher zum Boͤsen.
  • 8) Die Stimmen alle, wegen der am Halsweh kranken Freundinn, offenbaren nichts, was nicht jeder verstaͤndige Arzt zum voraus aus dem Buche der Natur auch gewußt haͤtte, und halfen nichts, waren blos muͤssige Unterredungen. Zudem war die Bitte falsch: Herr, mache sie gesund; sie haͤtte sollen bedingt seyn, nach seinem Willen. Eins befremdet mich dabei. Bei dem zweiten Anfall des Schadens am Zaͤpflein hat die Stimme wirklich eine Wahrheit gesagt, welche die Fr. B. nicht verstand, und noch nicht versteht, sehr wahr: Warte des Leibes etc. Denn, aller Erzaͤhlung nach, hatte die gute Freundinn morbum venereum. Die Warnung aber steht schon in der heil. Schrift, und ist uͤberfluͤssig.
  • 51
  • 9) Die Bitte um Gnade fuͤr die Verstorbne ist Christlich. Die Antwort des allerhoͤchsten Gottes ganz unwuͤrdig. Er wird wohl uͤber sein Gericht uns um nichts und abermal nichts Belehrungen geben.
  • 10) Die Bußerweckung des seligen Hrn. B. durch eine Stimme war ihm wohl, ihrer Vorschrift nach, laͤngst bekannt; steht auf allen Blaͤttern der Schrift; ist uͤberfluͤssig.
  • 11) Das Zeigen der Hoͤlle ist unnoͤthig. Gott hat uns hinlaͤngliche Belehrungen gegeben. Und zu was sollte das helfen?
  • 12) Die Offenbarung der neuen Verheurathung was entdekt sie? Daß die Fr. B. nicht zum Viehstall geboren ist? Das wußte sie zuvor. Wer der von Gott fuͤr sie bestimmte zweite Mann ist? Aber war sonst kein Mittel da, dies zu erfahren, als ein Wunder? Jch glaube, wer den Hrn. W. kennt, konnte ihr das alles von ihm sagen. Man konnte ihn selbst fragen. Aber, wie es ihr in Zukunft gehen werde, wer, als Gottes Offenbarung, wußte das? Freilich, sonst Niemand; doch ist ja diese Sache noch nicht erfuͤllt, noch ist es nicht ausgemacht, ob es so gehe. Zudem entdeckt uns der Herr unsre kuͤnftigen Schicksale fuͤr gewoͤhnlich nicht; warum hier eine Ausnahme? Wir haben kein Versprechen Gottes zu dergleichen Anleitungen,52 auch keins zur Erwartung des prophetischen Geistes. Die Propheten waren nur in den ersten Gemeinden, seit der Zeit nicht mehr; eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit ist also auch fuͤr diese Offenbarung da.

Nach Erwaͤgung aller dieser Punkte kann man kuͤhn sagen, die erzaͤhlten Gesichte sind keine goͤttliche Offenbarungen. Und was sonst? Die Fr. B. hat doch wirklich gesehen und gehoͤrt. Nun ja, ponamus hoc: so war alles ein Product der gereizten und gewoͤhnten Einbildungskraft. Die gute Fr. hat von Jugend auf, wie z. E. in der Kindheit vom Christkindlein gehoͤrt, und daß man da Licht und Helle sieht. Sie muß zu einer Familie gehoͤren, die an solche Dinge glaubt, hat etwa dergleichen Geschichten erzaͤhlen hoͤren (it. das Schreiben ihres Schwagers); muß Gemaͤlde und Kupferstiche von solcher Art gesehen, und Buͤcher gebraucht haben, in denen nach aͤlterer Art mehrere Wahrheiten des Evangelii durch Gedenkspruͤche vorgetragen werden. Sie hat vielleicht auch Scrivers Seelenschatz gelesen, und viele Gespraͤche der Seele mit Jesu, die man im vergangenen Jahrhundert und den erstern decenniis des jetzigen vorzuͤglich liebte. Daher ihre Gesichte, daher ihre Stimmen, quoad materiam. Nun kommt ihre persoͤnliche Beschaffenheit, ihr Kummer, ihre schlimme Ehe hinzu. Erst mit der Theurung 1770 faͤngt die Geschichte ihrer Offenbarungen an, und nach53 den widrigen Zuschriften ihres Mannes ist der meiste Theil geschehen nach 1771. Aber nagender, fressender Kummer verdirbt uns gern die Verdauungskraͤfte, wird die Ursache scharfer Saͤfte, leicht gereizter Nerven, erhebt eben dadurch die Einbildungskraft uͤber ihre Schranken. Man denkt uͤber seinen Zustand, man macht Entwuͤrfe, man troͤstet sich, und gewoͤhnt sich dann immer mehr und mehr zum Selbstgespraͤch; man schuͤttet seinen Unmuth aus, man hadert, man streitet mit Widerwaͤrtigen, als haͤtte man sie vor sich. Man nimmt auch wohl seine Zuflucht zum Gebet. Jst's ein Wunder, wenn man auch davon traͤumt? Wenn vi legis imaginationis et reminiscentiae aͤhnliche Jdeen, die man gelesen und gehoͤrt hat, sich an die gegenwaͤrtigen anknuͤpfen, als waͤren sie ganz neu? Man darf dann vollends ein empfindliches Nervensystem haben, so werden aus eignen Gedanken Stimmen, aus einer aufgebrachten Circulation, Schlaͤge und Donner und Geraͤusch, und Gott weiß, was noch. Man frage Hypochondristen, Melancholische, Fieberpatienten. Jn einem so von allen Seiten turbirten Zustand der Denk - und Vorstellungskraft aͤussert sich nicht selten die facultas diuinandi, und trifft nicht selten ziemlich richtig, ohne Darzwischenkunft einer hoͤhern Offenbarung. Jst man schon gewohnt, jeden Gedanken als etwas ausser sich existirendes zu betrachten, so hoͤrt man wirkliche Worte; und ist der Mensch unwissend in54 den Kenntnissen seines Geistes und seiner Seelenkrankheiten, so laͤßt er sich's nun nicht nehmen; denn der Erfolg macht's klar. Zudem leidet Fr. B. an der Sucht des Pharisaͤers, der sich selbst vermaß, daß er fromm waͤre, und verachtete die andern; sie haͤlt es fuͤr ein Zeichen des Gnadenstandes, Antworten und Erscheinungen zu haben, und hat wohl noch mehr falsche Begriffe in Sachen des Glaubens. Lauter Data, aus denen sich ihre Gesichte und Stimmen ohne Offenbarung begreifen lassen.

Die dritte Frage: Wie ist sie pastoralisch zu behandeln? ein andresmal.

5. Beitrag zur Geschichte der Visionen und der Ausschweifungen der menschlichen Einbildungskraft.

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Die Geschichte einzelner Schwaͤrmer, die Darstellung ihrer einzelnen Plane und Vorstellungen, und der Gang ihrer Gedanken und Phantasieen liefert uns zur Seelenlehre die interessantesten Beitraͤge. Eine philosophische Geschichte der Religionsschwaͤrmer fehlt uns noch. Man hat zwar mehrere Historien und Biographien uͤber dergleichen Leute, aber keine solche Darstellungen ihrer Jdeen, woraus man55 viel lernen koͤnnte, woraus die Art und Weise der Entstehungsart ihrer neuen schwaͤrmerischen Begriffe begreiflich wuͤrde.

Unter allen Schwaͤrmern aͤlterer und neuerer Zeiten scheint mir Mahomet der sonderbarste, der auffallendste zu seyn. Der Glaube an seine Visionen dauert noch immer unter einem der groͤßten Voͤlker dieser Erde fort, und vielleicht ist es den Lesern des Magazins nicht unangenehm, eine kurze Darstellung seiner Visionen in diesem Journal zu finden, so wie es uͤberhaupt den Werth dieser Zeitschrift vermehren wuͤrde, wenn darin mehrere Beitraͤge uͤber die Schwaͤrmereien vergangener Jahrhunderte, und nicht blos unserer Zeiten, aufgenommen werden sollten.

Die Visionen des Mahomets, die ich aus Castilhon Essai sur les erreurs & les superstitions anciennes & modernes entlehnt habe, sind gewiß aͤusserst laͤcherlich und abgeschmackt; aber grade dieses Laͤcherliche und Abgeschmackte war der Grund, daß sie einen so grossen und bleibenden Eindruck auf die Araber machten. Aus alten und neuen Berichten uͤber dieses Volk, ist es bekannt genug, wie es sich von je her durch eine gluͤhende Phantasie, durch einen warmen Religionsenthusiasmus, und durch eine ausserordentliche Liebe zu fabelhaften Erzaͤhlungen ausgezeichnet habe. Die Araber konnten nicht glauben, daß ein Mensch solch56 ein langes Gewebe von Fabeln und starken Bildern durch seine blosse Phantasie hervorbringen koͤnne, wenn er nicht das alles wirklich erlebt haͤtte, wovon er eine so sonderbare Erzaͤhlung der Welt mittheilte, und in der Erzaͤhlung selbst, wie man aus dem folgenden sehen wird, lag ein so starker Grund, daran zu glauben, daß sie ohne die groͤßte ihnen vorgespiegelte Gefahr nicht leicht das Gegentheil annehmen konnten. Mahomet kannte die Menschen zu gut, als daß er nicht ihre schwachen Seiten genuzt haben sollte, so wie sie alle Sectenstifter in allen Zeiten zu nutzen gewußt haben.

Daß die Mahometaner noch bis diesem Augenblick an die phantastischen Erzaͤhlungen ihres Propheten mit solcher Steifigkeit glauben, daß sie[ jeden], der unter ihnen daran zweifeln wollte, dem ewigen Fluche uͤbergeben, ist um so weniger wunderbar, da viel aufgeklaͤrtere Secten noch so vielen Unsinn bei ihrem Religionssystem annehmen, und sich davon nicht abbringen lassen. Vornehmlich aber sind es folgende Gruͤnde, welche die Mahometaner an den Glauben an die albernen Visionen ihres Propheten fesseln.

Der erste Grund, welcher bei allen Secten und bei allen Menschen so erstaunlich viel Gewicht hat, ist der, weil sie jene Erzaͤhlungen von ihren Vaͤtern erhalten haben, diese wieder von ihren Vaͤtern, u.s.w., bis man in einer genealogischen Folge dieses57 Aberglaubens auf die Leute selbst kommt, welche die ganze fabelhafte Geschichte aus dem Munde des Propheten unmittelbar erhalten zu haben vorgaben. Eine solche Erzaͤhlung, welche sich von Geschlecht auf Geschlecht fortpflanzte, und noch dazu in einem Buche aufgezeichnet war, dessen Jnhalt, so albern er auch immer seyn mag, als eine von der Gottheit selbst aufgezeichnete Schrift betrachtet wird, mußte bei einem ohnehin blinden Volke den staͤrksten Eindruck machen. Alles, was uns von unsern Aeltern und Vorfahren erzaͤhlt wird, hat etwas ehrwuͤrdiges fuͤr unsre Einbildung an sich; vornehmlich weil uns dergleichen Dinge schon fruͤhzeitig in unsrer Jugend erzaͤhlt werden, und mit den Jahren in uns gleichsam anrosten.

Der zweite Grund, welcher eben so leicht die Menschen zur Leichtglaͤubigkeit verfuͤhrt, liegt unstreitig darin, daß die Visionen des Mahomet, ihres Unsinns ohnerachtet (so wie die Goͤtterlehren und Theogonien der Alten), sehr unterhaltend sind, und die menschliche Einbildungskraft, diese unruhigste aller Seelenfaͤhigkeiten, auf eine angenehme Art beschaͤftigen. Die meisten Religionssysteme alter und neuer Zeiten haben nicht sowohl dadurch sich eine Menge Verehrer erworben, weil sie Wahrheiten der Vernunft auf eine deutliche und bestimmte Art zu unsrer Gluͤckseligkeit darstellen; sondern weil sie gewisse Lehren vortragen, die sich an unsere Ein -58 bildungskraft anschliessen, und die Neigung zum Wunderbaren in uns naͤhren. Es ist um das aͤussere Ansehn der meisten wo nicht aller Christlichen Religionslehren selbst gethan, sobald die Aufklaͤrung einmal so weit gehen sollte, daß alles Wunderbare davon abgesondert werden muͤßte.

Der Mensch, vornehmlich wenn er noch nicht an ein ernsthaftes Nachdenken gewoͤhnt ist und wie viel sind daran gewoͤhnt? opfert gern die Wahrheit sinnlichen phantastischen Bildern auf, und er scheut sich, diese Bilder zu beleuchten, weil er sich durch eine naͤhere Untersuchung nicht gern um das Vergnuͤgen bringen laͤßt, welches sie ihm gewaͤhren. Durch eine lange Gewohnheit an diese Bilder wird seine Vernunft hierbei endlich so abgestumpft, daß er wahrlich nicht einmal mehr mit Ernst daruͤber nachdenken kann. Die Gewohnheit verwandelt den Unsinn in Wahrheit. Doch hier sind die Visionen Mahomets selbst.

» Es war Nacht, so lauten seine Worte, und ich lag zwischen den beiden Huͤgeln von Alsafar und Merva unter freiem Himmel, als ich den Engel Gabriel, von einem andern Geiste des Himmels begleitet, auf mich zukommen sah. Beide unsterbliche Wesen beugten sich uͤber meinen Koͤrper herab. Das eine spaltete mir sogleich die Brust, das an -59 dere aber zog mein Herz heraus, druͤckte es in seinen Haͤnden zusammen, daß die Erbsuͤnde in einem schwarzen Tropfen herausfloß, und legte es dann wieder an seine vorige Stelle. Diese Operation verursachte mir nicht den mindesten Schmerz.

Gleich darauf breitete Gabriel seine hundertundvierzig Paar Fluͤgel, die gleich der Sonne glaͤnzten, aus einander, und fuͤhrte die Stute Al-Borac zu mir, welche weisser als Milch ist, und eine Menschengestalt und Pferdekinnbacken hat. Jhre Augen funkelten, wie die Sterne, und die Strahlen, welche herausfuhren, waren viel waͤrmer und durchdringender, als die des Gestirns des Tages, wenn es am heftigsten brennt. Die Stute breitete ihre zwei grossen Adlersfluͤgel aus einander, ich naͤherte mich, und sie wollte mich umbringen. Aber Gabriel sprach zu ihr: Sey ruhig, o Borac! und gehorche dem Propheten Mahomet. Der Prophet Mahomet, erwiederte Borac, wird mich nicht besteigen duͤrfen, wenn du von ihm nicht erhaͤltst, daß er mich am Tage der Auferstehung in's Paradies eingehen laͤßt! Beruhige dich, Borac, war meine Antwort, du sollst mit in's Paradies eingehen!

Borac ward darauf sehr ruhig. Jch schwang mich auf seinen Ruͤcken, und schneller als der Bliz flog es dahin. Ein Augenblick, und ich sahe mich an dem geheiligten Thore des Tempels zu Jerusa -60 lem, wo ich Moses, Abraham und Jesus antraf. Auf einmal ließ sich eine Lichtleiter vor uns herab, und durch Huͤlfe derselben stiegen wir, ich und Gabriel, bis zum ersten Himmel hinauf. Der Engel klopfte an das Thor, indem er meinen Namen ausrief, und das Thor, welches groͤsser als die ganze Erde ist, drehte sich um seine Angeln. Dieser Himmel ist von gediegenem Silber, und die Sterne sind darin in schoͤnen Bogen an starken goldenen Ketten aufgehangen. Jn jedem dieser Sterne haͤlt ein Engel Schildwache, damit der Teufel nicht die Himmel ersteigen kann.

Ein abgelebter Greis kam mir in diesem Himmel entgegen, und wollte mich umarmen, indem er mich den groͤßten seiner Soͤhne nannte. Es war Adam; aber ich hatte nicht Zeit, ihm zu antworten. Meine Aufmerksamkeit war auf eine Menge Engel von allen Gestalten und Farben geheftet. Einige glichen den Pferden, andere den Woͤlfen, u.s.w.

Mitten aus diesen Engeln erhob sich ein Hahn von einer blendendern Weisse als der Schnee, und von einer so erstaunlichen Groͤsse, daß sein Haupt den zweiten Himmel beruͤhrte, der doch vom erstern so weit entfernt ist, daß der schnellste Reisende diesen Zwischenraum erst in fuͤnfhundert Jahren durchlaufen wuͤrde. Jch verrieth uͤber alle diese Dinge, besonders uͤber die Engel in Thiergestalt, mein Erstaunen; aber Gabriel sagte mir, daß diese Engel61 bei Gott die Fuͤrbitter fuͤr alle aͤhnlich gebildete Geschoͤpfe der Erde waͤren; daß der grosse Hahn der Engel der Haͤhne sei, und daß sein Hauptgeschaͤft darin bestehe, alle Morgen durch sein Kraͤhen und seine Lobgesaͤnge Gott zu belustigen.

Wir verliessen darauf den Hahn, Adam und die Engel in Thiergestalt, kamen zur Lichtleiter zuruͤck, und begaben uns in den zweiten Himmel, welcher von dem erstern so weit entfernt ist, daß man von einem zum andern fuͤnfhundert Jahre reisen[ muͤßte.] Dieser Himmel ist von einer harten und polirten Eisenart. Jch fand den Noah daselbst, welcher mich umarmte, auch den Johannes und Jesus, welche mich den groͤßten und vortreflichsten Menschen nannten. Wir hielten uns hier gar nicht auf, sondern gelangten von einer Stufe zur andern in den dritten Himmel, welcher von dem zweiten weiter, als dieser von dem ersten entfernt ist.

Man muß wenigstens Prophet seyn, um den blendenden Glanz dieses Himmels, welcher aus lauter koͤstlichen Steinen besteht, zu ertragen. Unter den unsterblichen Wesen, welche ihn bewohnen, bemerkte ich einen Engel, dessen Gestalt uͤber alle Vergleichung ging. Er hatte 10000 Ordnungen von Engeln unter seiner Aufsicht, und jeder besaß mehr Kraft, als 10000 Bataillone zum Schlagen fertiger Maͤnner. Dieser grosse Engel nennt sich den Getreuen Gottes. Seine Gestalt ist so unge -62 heuer groß, daß der Raum zwischen seinen beiden Augen wenigstens eine Ausdehnung von 70000 Tagereisen ausmacht. Vor diesem Engel befindet sich ein ungeheures Schreibpult, worauf er unaufhoͤrlich schreibt und ausstreicht. Gabriel sagte mir, daß der Getreue Gottes zugleich der Engel des Todes, und unaufhoͤrlich mit Aufzeichnung der Namen der kuͤnftig Gebornen, mit Berechnung ihrer Lebenstage und mit Ausloͤschung derselben aus seinem Buche beschaͤftigt sey, je nachdem er bemerkt, daß sie nach seiner Rechnung, das bestimmte Lebensziel erreicht haben.

Es war Zeit weiter zu gehen; Gabriel benachrichtigte mich hiervon, und wir stiegen mit einer unbeschreiblichen Geschwindigkeit auf der Lichtleiter zum vierten Himmel hinein. Hier fand ich den Enoch, welcher vor Freuden ganz ausser sich war, als er mich erblickte. Dieser Himmel ist von einem feinen Silber, und viel durchsichtiger als Glas. Er ist der Aufenthalt einer unzaͤhlbaren Menge englischer Wesen. Eins von denselben, obgleich kleiner, als der Engel des Todes, stoͤßt doch mit seinem Haupte an den obersten Himmel, das heißt, es hatte aufrecht stehend eine Hoͤhe von fuͤnfhundert Tagereisen. Das Amt dieses Engels ist sehr traurig und ermuͤdend, indem er einzig damit beschaͤftigt ist, uͤber die Suͤnden der Menschen zu weinen, und die Leiden vorher zu verkuͤndigen, welche sie sich zuziehen werden. Dieses Wehklagen beunruhigte63 mein Herz zu sehr, um es laͤnger anhoͤren zu koͤnnen, und wir begaben uns schnell zu dem Thore des fuͤnften Himmels, das sich sogleich aufthat.

Aaron kam uns entgegen, und stellte mich seinem Bruder Moses vor, der sich meinem Gebete empfahl. Dieser Himmel ist ganz von gediegenem Golde; aber die Engel, die ihn bewohnen, sind nicht so freudigen Muths, als die der andern Himmel, und sie haben Ursach dazu. Denn eben hier werden die Behaͤltnisse der goͤttlichen Rache, das verzehrende und ewige Feuer des goͤttlichen Zorns, die Strafen verstockter Suͤnder, und vornehmlich die Qualen fuͤr die Araber aufbewahrt, welche den Jsmaelismus nicht annehmen wollen. Dieses beunruhigende Schauspiel machte, daß ich meine Reise beschleunigte, und nunmehr von meinem englischen Fuͤhrer begleitet, den sechsten Himmel bestieg. Hier traf ich den Moses noch einmal an, welcher, als er mich erblickte, zu weinen anfing, weil, wie er sagte, ich mehr Araber in's Paradies fuͤhren wuͤrde, als je Juden hinein gekommen waͤren. Jch troͤstete, so viel ich konnte, den Vater der Jsraeliten, und langte zu meinem grossen Erstaunen mit einem schnellern Fluge, als menschliche Gedanken, im siebenten und lezten Himmel an. Dies sollte das Endziel meiner Reise seyn.

Jch bin nicht im Stande, getreue Glaͤubige, euch einen Begriff von dem unaussprechlichen Glanze64 der Materie zu geben, woraus dieser Himmel gebildet ist. Es mag zureichend[ seyn], euch zu sagen, daß er von goͤttlichem Lichte gemacht ist. Das erste der dortigen Wesen, das mir auffiel, uͤbertrifft an Groͤsse die Erde. Es hat 70000 Koͤpfe, jeder Kopf hat 70000 Gesichte, jedes Gesicht 70000 Maͤuler, jedes Maul 70000 Zungen, welche unaufhoͤrlich und zu gleicher Zeit 70000 verschiedene Sprachen reden, welcher sich dieses ungeheure Wesen ununterbrochen zum Lobe der Gottheit bedient.

Jch betrachtete still dieses unermesliche himmlische Geschoͤpfe, als ich fuͤhlte, daß ich schnell in die Hoͤhe gehoben wurde. Jch durchstrich einen ungeheuren Raum, und fand mich endlich neben dem unsterblichen Sedra sitzen. Dieser schoͤne, zur Rechten des[ Gottheitsthrons], gepflanzte Baum dient den Engeln selbst zu einer Scheidewand. Unter seinen Zweigen, welche den Raum zwischen dem Sonnenteller und der Erdkugel an Ausdehnung uͤbertreffen, befindet sich eine erstaunliche Menge Engel, welche groͤsser, als die Menge Sand aller[ Meere], aller Stroͤme und Fluͤsse ist. Diese fuͤr ein sterbliches Auge unendliche Anzahl himmlischer Geister, ruht unter den Blaͤttern des Sedra, welcher sie mit seinem Schatten bedeckt. Auf seinen Aesten sitzen Voͤgel, welche die erhabnen Stellen des goͤttlichen Korans betrachten. Die Fruͤchte dieses herrlichen Baums gleichen den Handbecken65 von Hajir, und seine Blaͤtter den Ohren des Elephanten. Seine Fruͤchte sind suͤsser als Milch. Eine einzige wuͤrde zureichen, alle Geschoͤpfe Gottes seit der Schoͤpfung der Zeit bis zum Untergange aller Dinge zu ernaͤhren.

Aus dem Fusse dieses wunderbaren Sedra quellen vier grosse Fluͤsse hervor. Zwei ergiessen sich stromweise in die Ebenen des Paradieses, die beiden andern giessen sich auf die Erde hinab, und bilden den Nil und den Euphrat, deren Quellen vor mir kein Mensch gewußt hat.

Hier verließ mich Gabriel, weil ihm in die Oerter zu gehen nicht erlaubt ist, wohin ich dringen sollte.

Jsrafil nahm seine Stelle bei mir ein, und fuͤhrte mich in das goͤttliche Wohnhaus des Almamur, oder des Besuchten; ein Name, welcher ihm deswegen gegeben ist, weil er taͤglich von 70000 Engeln der ersten Klasse besucht wird.

Dieses Gebaͤude gleicht in allen seinen Theilen ganz genau dem Tempel zu Mekka, und wenn es in einer lothrechten Linie vom siebenten Himmel, wo es sich befindet, auf die Erde herabfiele: so wuͤrde es nothwendiger Weise grade auf den Tempel zu Mekka herabstuͤrzen.

Kaum hatte ich meinen Fuß in das Haus des Almamur gesezt, als ein Engel mir drei Becher66 brachte. Der eine war voll Wein, der zweite voll Milch, und der dritte voll Honig. Jch nahm den voll Milch, und trank. Auf einmal ließ eine Stimme, so stark wie zehn Donnerwetter, folgende Worte erschallen: » O Mahomet, du hast sehr wohl gethan; haͤttest du den Wein gewaͤhlt, so waͤre deine Nation verderbt worden, und alle ihre Unternehmungen wuͤrden gescheitert seyn! «

Welch ein Schauspiel, meine Glaͤubigen! welch ein Schauspiel aber verblendete nun meine Augen! Jmmer den Jsrafil vor mir, durchstrich ich schneller als ein Gedanke zwei Lichtmeere und eine schwarze unendlich lange Bahn, und es war mir, als ob ich von dem Throne und der unmittelbaren Gegenwart Gottes angezogen wuͤrde. Furcht und Schrecken bemeisterten sich meiner; eine Stimme, brausender als Meereswogen, rief mir zu: » O Mahomet! Weiter! naͤhere dich dem himmlischen Throne! « Jch gehorchte. An der Seite des goͤttlichen Throns las ich den Namen Gottes und den meinigen also geschrieben: » Es giebt keinen andern Gott, als Gott, und Mahomet ist sein Prophet! «

Jn dem naͤmlichen Augenblick, als ich diese geheiligte Jnschrift las, breitete Gott seine Arme aus einander, legte seine rechte Hand auf meine Brust, und seine linke auf meine Schulter. Jch fuͤhlte in meinem ganzen Koͤrper eine durchdringende Kaͤlte, die selbst das Mark meiner Knochen gefrieren machte;67 aber in eben der Zeit breitete sich in meiner Seele ein unbeschreibliches und den Menschen unbekanntes suͤsses Gefuͤhl aus, wovon ich ganz berauscht ward.

Diesen maͤchtigen Empfindungen folgte eine sehr vertrauliche und lange Unterredung zwischen Gott und mir, in welcher er mir, nachdem er mir die Gesetze des Alkorans dictirt hatte, ausdruͤcklich den Befehl gab, daß ich euch ermuntern sollte, durch Waffen, Blut und Gewalt, die heilige Religion zu vertheidigen, welche ich gegruͤndet habe, und daß ihr gluͤcklich gewesen waͤret, sie kennen zu lernen.

Gott hoͤrte hier zu reden auf, und ich dachte auf meinen Ruͤckweg zur Erde, um meine Schuͤler zu heiligen. Jch fand den Engel Gabriel auf der Stelle, wo ich ihn gelassen hatte, und wir kamen durch die sieben Himmel zuruͤck, wo wir bey jedem Schritt durch die Choͤre und Begruͤssungen himmlischer Geister, die mein Lob sangen, aufgehalten wurden.

Als ich nach Jerusalem zuruͤck kam, zog sich die Luftleiter wieder in's Gewoͤlbe des Himmels hinauf. Al-Borac erwartete mich, ich bestieg sie, es war noch Nacht und stockfinster. Al-Borac ließ mich von der Lufthoͤhe herab Armenien und Adherhijan sehen, und brachte mich in ihrem zweiten Fluge wieder hierher.

Als ich meinen Fuß wieder zur Erde sezte, wandte ich mich zum Gabriel. » Jch fuͤrchte sehr,68 sprach ich, daß mich mein Volk als einen Betruͤger betrachten, und daß es die Erzaͤhlung von meiner Reise durch den Himmel nicht glauben wird! «

» Beruhige dich, « antwortete mir darauf Gabriel, » dein Volk ist verbunden, alles das zu glauben, was aus deinem Munde kommen wird, und dein getreuer Zeuge Abubecre, dein Wezir Ali,, dein muthiger und heiliger Ali, werden in jedem Fall deine Ausspruͤche unterstuͤtzen, und jeden Umstand dieser grossen Begebenheit rechtfertigen. «

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Zur Seelennaturkunde.

1. Schreiben an den Herausgeber des 5ten Bandes des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.

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Jhre Widerlegung des Ahndungsvermoͤgens[ im] 1sten und 2ten Stuͤck des 5ten Bandes des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde hat meinen Glauben an jenes Ahndungsvermoͤgen zwar geschwaͤcht, aber noch nicht ganz vertilgt. Sie haben die Sache von einer philosophischen Seite betrachtet, und Jhre angefuͤhrten Gruͤnde gegen die Ahndungen, die Sie aus der Natur der menschlichen Seele hergeleitet haben, koͤnnen nach meiner Meinung nicht buͤndiger seyn, insofern sie sich auf die uns bisher bekannte Erkenntniß einer intellectuellen Substanz beziehen. Nach der gegenwaͤrtigen uns bekannten Einrichtung unsrer Empfindungs - und Denkkraft lassen sich freilich Vorgefuͤhle kuͤnftiger Begebenheiten, die an sich ganz zufaͤllig sind, und die man nicht einmal zu vermuthen Grund hat, nicht erklaͤren; aber dadurch haben Sie noch nicht bewiesen, daß es nicht noch mancherlei in uns liegende schlummernde Erkenntnißkraͤfte geben kann, die bisweilen nur in den Licht - und Bewußtseyns -70 kreis der Seele hervortreten, und uns alsdann die bangen oder freudigen Gefuͤhle abnoͤthigen, die mit den Ahndungen gewoͤhnlich verbunden zu seyn pflegen. Jch wage es freilich nicht, das Maaß und die Verhaͤltnisse jener schlummernden Erkenntnißkraͤfte zu bestimmen, da es uns jezt uͤberhaupt noch nicht moͤglich ist, alles genau anzugeben, was zur innern Moͤglichkeit, oder zum Daseyn eines geistigen Wesens gehoͤrt; aber die groͤßten Koͤpfe kamen doch bei Untersuchung des menschlichen Verstandes und seiner Graͤnzen immer auf dergleichen dunkle Erkenntnißspuren, und wagten es in diesem Betracht nicht, die Ahndungen gradezu zu laͤugnen. Daß keine geistige Wesen ausser uns, in uns Ahndungen hervorbringen koͤnnen, darin gebe ich Jhnen voͤllig Recht, und Sie haben das Gegentheil auf eine sehr lichtvolle Art bewiesen; obgleich mancher Theologe mit Jhnen nicht zufrieden seyn wird, daß Sie die neuen durch die Gottheit in uns bewirkten Gefuͤhle und Jdeen, und also zu gleicher Zeit viel andre Sachen bestritten haben, deren Ansehn von dem wirklichen Daseyn jener Gefuͤhle nothwendig abhaͤngt.

Jch habe in dem Nachlasse meines Vaters, welcher nichts weniger als ein leichtglaͤubiger, sondern ein sehr aufgeklaͤrter und wahrheitsliebender Mann war, eine Menge von ihm aufgezeichneter Ahndungen gefunden, die er theils selbst erlebt, theils sich zu seiner Zeit zugetragen haben. Jch weiß gewiß, daß71 er alles genau pruͤfte, ehe er etwas niederschrieb; und seine Zeugnisse sind um so unpartheiischer, da er ein heimlicher Sceptiker war, und nach einer gesunden Philosophie diejenigen Ursachen der Dinge fuͤr so gut als nichts hielt, wenn sie nicht zum Vorschein kamen. Dem ohnerachtet wirkten die sonderbaren Beispiele von Ahndungen so sehr auf ihn, daß er sie endlich nicht mehr zu laͤugnen wagte, und auch einen Aufsatz uͤber die Moͤglichkeit der Ahndungen aufsezte, den ich aber nachher unter seinen Schriften nicht habe finden koͤnnen. Hier sind folgende von ihm aufgezeichnete Beispiele, die es wohl verdienen, daß sie in Jhr interessantes Magazin aufgenommen werden. Voran geht noch eine kurze Anmerkung, die er aus einer andern unangezeigten Schrift ausgezogen zu haben[ scheint. » Es] ist, heißt es, etwas in uns,[ das] uns gewiß weder der Priester noch die Amme (wie die Freigeister sagen) eingeben koͤnnen. Es strahlt auf uns gleich dem Blitze, wenn wir es am wenigsten vermuthen. Jn einem Augenblicke trifft und verlaͤßt es uns. Die schleunigen Vorboten meine ich, die ploͤzlichen Ahndungen, die uns gewisse Dinge vorher verkuͤndigen. Viel tausend Menschen haben dergleichen im hoͤhern oder geringern Grade empfunden, und empfinden sie noch taͤglich. Ja, wenn wir am wenigsten daran denken, wenn wir sogar froͤlichen Muthes sind, wird uns bisweilen ein Strahl dieses himmlischen Lichts treffen, und uns entdecken,72 was geschehen soll. Oft wissen wir selber nicht, daß sich dergleichen geaͤussert, bis die vorher verkuͤndete Begebenheit sich wirklich zutraͤgt. Dann erneuert sich das Andenken daran, und straft uns gleichsam, daß wir nicht aufmerksam dabei gewesen sind.

  • 1) 1734 am 13ten November ging ein angesehener Buͤrger aus Bremerwoͤrde mit noch etlichen guten Freunden aus, eine nahe liegende Pulvermuͤhle zu besehen. Sie waren insgesammt froͤlich und guten Muths, und redeten eben mit einander von der wahren Freundschaft, als jener Mann auf einmal in seiner Rede zu stocken anfing, und sich die tiefste Schwermuth in seinem Gesichte abdruckte. Er suchte zwar dieselbe zu verbergen, aber mit jedem Schritte nahm seine innere Herzensangst zu. Man untersuchte genau, ob einer unter ihnen etwas Feuerfangendes bei sich haben moͤchte; allein es wurde nichts gefunden, und man war nun bis an die Thuͤre der Pulvermuͤhle gekommen. » Hier wurde, dies ist das eigne Gestaͤndniß des Mannes, meine Angst unendlich. Jch schwizte am ganzen Leibe, es war, als wenn der Himmel auf mir laͤge, als ich uͤber die Thuͤrschwelle geschritten war. Nun konnte ich mich nicht laͤnger halten, ich bat die ganze Gesellschaft um Gotteswillen, sich mit mir in moͤglichster Geschwindigkeit zu retiriren. Einige wunderten sich uͤber mein Begehren, andre lachten mich als einen furchtsamen Menschen aus; indessen73 blieb ich bei meinen dringenden Bitten, und die Gesellschaft folgte mir auch aus Gefaͤlligkeit nach. Noch scherzte man uͤber meinen Mangel an Courage, und wir waren noch nicht 1000 Schritt von der Muͤhle weg, als sie in die Luft sprang. «
  • 2) Jm Jahr 1749 fuhr ich mit mehrern Passagiers von N nach S auf der Post. Wir waren alle, und der Postillon selbst, gegen Abend eingeschlafen. Die sich selbst uͤberlassenen Pferde waren aus dem Wege gekommen, und hatten den Postwagen nach dem hohen Ufer eines Sees hingelenkt. Eins von den Pferden kletterte schon an dem abschuͤssigen Ufer hin, so daß es sich kaum mehr halten konnte, zugleich hatte der Wagen auch schon eine solche schiefe Richtung gegen den See bekommen, daß wir gewiß in wenigen Augenblicken hinabgestuͤrzt seyn wuͤrden. Jch schlief ziemlich fest, und es kam mir im Traume vor, als ob mich jemand mit Gewalt ruͤttelte, daß ich doch geschwind aufwachen moͤchte. Jch erwachte dadurch auch wirklich, und sah die Gefahr, worin wir alle waren. Jch griff sogleich nach dem Zuͤgel, hielt die Pferde an, und rettete mich und die ganze Gesellschaft durch den im Traum erhaltenen Wink von einem nahen und fuͤrchterlichen Tode.
  • 3) Einer meiner Freunde, ein junger liebenswuͤrdiger Mann, der in Jena studirte, wollte von hier nach Halle reiten. Die Nacht vorher traͤumte74 ihm, daß er die Gegend bei der Skopischen Faͤhre erblickte, und von einem Menschen, der wie ein Jaͤger gekleidet war, durch den Kopf geschossen wuͤrde. Als mein Freund an die Faͤhre kam, erzaͤhlte er seinen Begleitern den Traum, welche ihn verlachten. Sie kamen insgesammt gluͤcklich uͤber die Saale hinuͤber, hielten sich einige Tage in Halle auf, und kehrten vergnuͤgt nach Jena zuruͤck. Sie mußten wieder uͤber die Faͤhre. Mein Freund blieb zu Pferde sitzen, und hinter ihm stieg ein Jaͤger mit einer Flinte hinein. Dieser sahe eine Elster uͤber's Wasser fliegen, und sagte: Jch will doch sehen, ob ich dich im Fluge wegbuͤchsen kann. Mein Freund erinnerte ihn, daß er erst absteigen wolle, weil sein Pferd etwas schuͤchtern sey; allein er schoß zu, ehe jener noch ausgeredet hatte, und sogleich sprang das Pferd meines Freundes in den Fluß hinein. Er haͤtte gewiß ertrinken muͤssen, wenn nicht der Jaͤger, der ein guter Schwimmer war, sogleich seine Kleider von sich geworfen, in's Wasser gesprungen waͤre, und ihn herausgezogen haͤtte.
  • 4) Sehr sonderbar ist vornehmlich folgender Zufall. Ein junger Gelehrter hatte seine Aeltern im Mecklenburgischen besucht, und war im Begriff, auf der Post zuruͤck zu reisen, als ihm zwei Offiziere ihren bequemen Wagen anboten, indem sie mit ihm fast den naͤmlichen Weg zu nehmen gesonnen waren. Jener nahm ihr Anerbieten mit Freuden an, und man bestimmte Ort und Stunde, wenn sie zusam -75 men abreisen wollten. Sie wollten eben in den Wagen steigen, als die Offiziere eine sichtbare Veraͤnderung an dem mitreisenden Gelehrten wahrnahmen. Sie fragten ihn: Ob ihm etwas fehle, und was ihn etwa zugestossen waͤre? Jch weiß nicht, wie mir wird, war seine Antwort, ich empfinde am ganzen Leibe ein gewaltiges Schaudern, ich kann nicht mitreisen, es ist, als ob eine unsichtbare Hand mich von Jhnen wegzoͤge. Die Offiziere lachten uͤber den wunderlichen Mann, baten ihn, sich zu beruhigen, und nur getrost in den Wagen zu steigen, seine Grille wuͤrde sich schon verlieren. Alles Bitten und Vorstellen war umsonst. Der junge Gelehrte nahm Abschied von ihnen, und mit dem Augenblick verlor sich seine ganze innere Aengstlichkeit. Weil die Post noch nicht abgefahren war, eilte er dahin, und fuhr nun kaum eine halbe Stunde darauf mit der Post davon, die den naͤmlichen Weg nahm, den die Offiziere genommen hatten, welche nun schon weit voraus waren. Die Post mußte uͤber die Elbe bei B ... und kaum war sie mit unserm Gelehrten angelangt, als man eine Menge Menschen an dem jenseitigen Ufer erblickte, die mit den Haͤnden bald auf die, bald auf die andre Stelle des Flusses wiesen. Eine halbe Stunde vorher waren die Offiziere auch uͤber die Elbe auf der Faͤhre gefahren. Die Pferde waren scheu geworden, hatten sich mit der Kutsche in's Wasser gestuͤrzt, und die beiden Offiziere waren ohne Rettung[ ertrunken. «]
76

Jch habe Jhnen diesmal nur diese vier sonderbaren Zufaͤlle mittheilen wollen, weil sie mir das Daseyn einer in uns liegenden Ahndungskraft deutlich zu zeigen scheinen. Sie werden freilich fragen: ob die erzaͤhlten Facta auch puͤnktlich wahr sind, ob nichts hinzugesezt, hinzugedichtet sey, wie es bei sehr vielen Ahndungen der Fall ist, und wie[ Sie] auch in Jhren Regeln, wonach man jede sogenannte Ahndung pruͤfen muͤsse, richtig bemerkt haben. Jch wiederhole Jhnen noch einmal, daß sie von meinem seligen Vater auf's genaueste untersucht und aufgeschrieben worden sind: also als Facta sind sie gewiß. Aber nun werden Sie mir noch nicht zugestehen, daß jene erzaͤhlten Vorgefuͤhle wirkliche Ahndungen gewesen sind, und von dieser Seite wuͤrde ich Jhre Einwuͤrfe am meisten fuͤrchten. Es geschieht unendlich oft, werden Sie sagen, daß uns ein gewisses aͤngstliches Gefuͤhl uͤberrascht, das wir uns leicht erklaͤren koͤnnten, wenn wir die innere Stimmung unsrer koͤrperlichen Maschine immer genau untersuchen koͤnnten, daß wir uns etwas Kuͤnftiges ertraͤumen, einbilden, und daß wir hinterher eine Ahndung gehabt zu haben glauben, wenn eine solche Einbildung einmal in Erfuͤllung ging. Oder Sie werden sich durch den Zufall das Ding zu erklaͤren suchen, und kein Mensch wird Sie hiebei ganz widerlegen koͤnnen, weil es eine unendlich verschiedene Concurrenz so vieler Dinge taͤglich giebt, und eins auf das andre folgt, ohne daß eins aus dem77 andern immer herzuleiten waͤre. Nach Jhrer Theorie wuͤrde das genauste Vorhersehen der kleinsten Umstaͤnde und das puͤnktlichste Eintreffen derselben sich immer noch aus einem moͤglichen Zufall erklaͤren lassen, weil in der Erkenntnißkraft der Seele kein hinreichender Grund eines wirklichen Vorhersehens liegt. Jndessen werden doch immer die Ahndungen ihren Kredit behalten; theils, weil die wenigsten Menschen die philosophischen Beweise gegen ihr Daseyn zu fassen im Stande sind, und von der Liebe zum Wunderbaren getrieben werden; theils auch, weil wir uns von wirklichen Gefuͤhlen leichter als von abstracten Beweisen einnehmen lassen, und bei einem so unbekannten Dinge, als die menschliche Seele ist, ein Recht zu haben glauben, in ihr noch manche unentwickelte Kraft anzunehmen. *) *) Das kann man allerdings, weil uns nicht nur die Erfahrung lehrt, daß sich nach und nach in den Menschen mehrere, vorher noch nicht zum Vorschein gekommene Kraͤfte der Seele entwickeln; sondern weil sich auch schon aus dem Begriff einer endlichen Substanz dergleichen intensive und extensive[ Entwickelungen] ergeben; jene, indem ein geistiges Wesen durch innere Modifikationen der Denk - und Wollenskraft neue Vollkommenheiten gewinnen kann; diese, indem es durch neue Lagen und Situationen in neuen Organen sowohl, als durch eine veraͤnderte aͤussere Stellung gegen das Universum uͤberhaupt, ganz neue, vorher noch nicht gehabte Begriffe und Empfindungen erlangen kann. Allein aus allen solchen Entwickelungen, so viel Grade und Verschiedenheiten wir auch dabei voraussehen koͤnnen, laͤßt sich keine solche Erhoͤhung unsrer Denkkraft herleiten, vermoͤge welcher sie etwas an sich Zufaͤlliges vorher zu sehen im Stande waͤre. Ein endliches geistiges Wesen ist vermoͤge seiner innern Natur an eine gewisse bestimmte Norm des Denkens gebunden, danach muß es sich nothwendiger Weise bei Erlangung und Zusammenreihung aller seiner Begriffe richten, davon darf es nicht abweichen, wenn seine innere Moͤglichkeit nicht aufgehoben werden soll. Diese Norm steht mit den Erscheinungen und Erfahrungen aus der wirklichen Welt in der genausten Verbindung, und in diesen Erscheinungen und Erfahrungen liegt ein objectiver Grund, worin sich eine geistige Kraft nichts als existirend denken kann, was mit jenen Erfahrungen streitet, und woraus sich kein hinreichender Grund einer Vorstellungsart ergiebt. Wir koͤnnen aber nichts erfahren, was nicht ist, was nicht auf unsre Sinnen wirkt, nichts vorher sehen, was wir nicht vermoͤge der bestimmten Denkform durch Vernunftschluͤsse herausgebracht haben, weil wir sonst Begriffe haben koͤnnten, die in der Art und Weise, wie wir Vorstellungen bekommen muͤssen, gar nicht gegruͤndet waͤren. Dies hiesse aber die Seele des Menschen zum seltsamsten Dinge von der Welt machen, und in sie etwas hineinschieben, was gar nicht zu ihrem Wesen gehoͤrte. Von dieser Seite betrachtet, gehoͤren die Ahndungen wirklich zu Wunderwerken, und wer kann die annehmen, wenn das System einer von Ewigkeit vorhandenen nothwendigen Harmonie der Dinge, in so fern sie sich auf die hoͤchste und vollkommenste Vorstellungskraft der Gottheit gruͤndet, seine Richtigkeit hat; und wenn, so wie uͤberall, so auch in unsrer Seele alles nach wesentlichen Regeln und Gesetzen der Natur erfolgt. Will man ja noch Ahndungen annehmen: so koͤnnte man sie auf eine viel natuͤrlichere Art als gewoͤhnlich erklaͤren. Man koͤnnte naͤmlich sagen: daß wir in der nothwendigen Verbindung der Dinge, in welcher wir stehen, und wonach sich unsre Jdeen entwickeln und verbinden, manchmal durch gewisse Umstaͤnde veranlaßt wuͤrden, an etwas kuͤnftiges zu denken, und daß dieses Kuͤnftige nun auch in Erfuͤllung gehen muͤßte, weil es der natuͤrliche Lauf der Dinge so haben wollte. Jn so fern gehoͤrten die Ahndungen mit in die Reihe von Begebenheiten der Welt, und zwar eben so nothwendig, als die nachherige Erfuͤllung derselben, oder besser als die nothwendige Folge von Begebenheiten, die auch ohne die Ahndung existirt haben wuͤrde. Es waͤre demnach auch kein andrer Zusammenhang zwischen der Ahndung und der Erfuͤllung derselben, als der, daß ich zu einer gewissen Zeit auf etwas Kuͤnftiges aufmerksam gemacht wurde, was nothwendiger Weise geschehen mußte. Wer wollte das aber wirkliches Vorhersehen nennen? Giebt es nicht auch unzaͤhlige Faͤlle, wo wir etwas vorher zu sehen glauben was nicht eintrifft?Ueberdem kann man noch das gegen die Ahndungen einwenden, daß sie sehr selten wirklich bestimmte Begriffe von einer bestimmten kuͤnftigen Begebenheit sind; sondern nur auf dunkeln Gefuͤhlen beruhen, die eine vielfache Erklaͤrung zulassen. Es wird einem bange um's Herz, man empfindet ein heftiges Schaudern, es ist einem, als ob uns eine unsichtbare Hand zoͤge, u.s.w. Alles dies kann nicht nur vom Koͤrper herruͤhren, sondern der Ahnende weiß nun auch nicht eigentlich, wovor er sich fuͤrchtet, was ihm bevorsteht, ob ihn sein Genius vor der erbaͤrmlichsten Kleinigkeit, oder vor einer ungeheuren Gefahr warnt. Das bange und dunkle Gefuͤhl laͤßt sich auf alles Unangenehme deuten; und weil denn doch nicht leicht ein Mensch lebt, dem nicht oft etwas Unangenehmes begegnet: so wird dann gleich aus dem bangen Vorgefuͤhl eine Ahndung gemacht, und als solche erzaͤhlt. Freilich steht den Ahndungen nun auch die grosse Truͤglichkeit des historischen Glaubens entgegen. Doch davon ein andermal.43P.

78

2. Ein Schreiben an den Herrn Prof.44Moritz.

45

Mein Herr!

Das Vergnuͤgen, mit dem ich viele interessante Aufsaͤtze in Jhrem Journal gelesen, erregt in mir den Wunsch, nachfolgende beide, auf Erfahrung gegruͤndete, Vorfaͤlle durch dasselbe dem Publico mitgetheilt zu sehen,[ worum] ich Dieselben ergebenst bitte.

79

I.

Meine nunmehro selige Mutter lag im November vorigen Jahres aͤußerst elend an der Auszehrung darnieder, zu welcher Zeit ich mich bei ihrer Schwester, der Obristin v. B. auf ihrem Gute80 M., sieben Meilen von ihr entfernt, aufhielte. Die lezten Nachrichten, die ich von ihrem Befinden erhalten, hatten inzwischen auf's neue mich eine Besserung hoffen lassen. Sehr vergnuͤgt hieruͤber fuhr ich einige Tage darauf mit meiner Tante und ihrer Familie nach einer nicht weit von dort entlegenen Stadt in Gesellschaft, und der Wagen ward zuruͤckgeschickt. Wie wir nach Mitternacht zu Hause fahren wollten, war der Wagen noch nicht wieder angekommen; und da wir nicht laͤnger warten wollten: so suchte ich in der Stadt Wagen und Pferde zu erhalten, um uns zuruͤck zu bringen. Endlich kam der Wagen, und wir fuhren bei einer eingetre -81 tenen strengen Kaͤlte zu Hause. Sowohl unterweges als nach unsrer Zuhausekunft, waren unsre Unterhaltungen von Gegenstaͤnden aus der Gesellschaft, und von dem erwaͤhnten unangenehmen Ausbleiben des Wagens. Meine Seele, nur bloß mit diesen Gedanken beschaͤftigt, dachte damals so wenig an meine kranke Mutter, wie den ganzen Tag uͤber, als ich durch die verschiedenen Gegenstaͤnde und Vorfaͤlle sehr zerstreut worden war. Es war gleich82 nach Ein Uhr in der Nacht, wie ich mich zu Bette legte. Jch war ziemlich erfroren, und hatte mich im Bette eingewickelt, als ich in dem Nebenzimmer einen kleinen Hund winseln hoͤrte, der von ungefaͤhr eingesperrt war. Unentschluͤssig, ob ich aufstehen und ihn hereinlassen, oder ob ich warten sollte, bis es ein Anderer hoͤrte, oder ich Jemanden hierzu abrufen koͤnnte, kam einer von den Bedienten auf die Hausdiele, den ich deshalb rief, der es aber nicht hoͤrte; kurz, ich war schon entschlossen, aufzustehen, als ich die Thuͤre oͤffnen hoͤrte, und der Hund in Freiheit gesezt ward. Wie dies kaum geschehen war, und ich, wie ich mich genau erinnere, in dem Augenblick an das Kartenspiel dachte, was ich in der Gesellschaft gespielt hatte, uͤber dessen Ausgang ich Reflexion machte: so hoͤrte ich im Zimmer ein Klopfen, als wenn Jemand mit einem Finger auf die Leisten der Panelung klopft, obgleich keine Panelung im Zimmer war, und dies Klopfen ging im ganzen Zimmer herum, und war abwechselnd mit einem Geraͤusche verbunden, das dem ganz aͤhnlich war, wenn man die eine platte Hand unter der andren stark wegstreicht. Meine Lage im Bette dabei war mit dem Gesichte gegen die Wand. Ohne daß ich im mindesten dadurch beunruhiget ward, oder nur entfernt den Gedanken hatte, daß dies ein unnatuͤrliches Geraͤusch, oder gar Vorbedeutungen von meiner kranken Mutter seyn koͤnnten, an die ich auch den Augenblick gar nicht dachte, glaubte83 ich, es waͤren Ratten oder Maͤuse, und wunderte mich uͤber die große Menge, die im Zimmer seyn muͤßte, welche ich doch niemals vorher bemerkt hatte, ob ich gleich schon einige Wochen darin logirt hatte. Von diesem Gedanken eingenommen, klopfte es, mit dem bemerkten Geraͤusch begleitet, an der Wand, dicht vor meinem Gesicht, so daß ich glaubte, weil ich in dem Wahn der Ratten und Maͤuse stand, daß mir solche in's Gesicht springen wuͤrden. Jch kehrte mich daher im Bette nach der andern Seite hin, und ward darauf in einer Entfernung von einem Schritte von meinem Bette, eine weiße Dunstfigur gewahr, die in einer gebuͤckten Stellung stand (wie auch damals die Stellung meiner kranken Mutter war), mir den Ruͤcken zugekehrt hatte, und mich mit bei Seite gedrehtem Kopf ansahe. Jch erkannte sie sogleich fuͤr die Gestalt meiner Mutter, und rief in Bestuͤrzung: Herr Jesus, Mutter! Sie schien dies zu hoͤren, und drehte den Kopf in dem Augenblick weiter, mit einem wehmuͤthigen Blick, zu mir herum, und ich erkannte deutlich ein violet Band, das sie auf der Nachthaube hatte. Jch fuhr aus dem Bette heraus, stand auf den Fuͤßen, und sie war noch da; in eben dem Augenblick aber floh sie einige Schritte von mir weg, ich sah auf der Stelle, wo sie verschwand, einen Feuerstrahl, der vorne spitz, hinten breit und etwa anderthalb Ellen lang war, entstehen, welcher sich in einem Dunst, wie eine Wolke, aufloͤste, immer84 duͤnner durch seine Ausdehnung ward, bis er gaͤnzlich verschwand. Es war Mondenschein, so daß ich im Zimmer alles unterscheiden konnte. Jch war im Begrif, mich wieder zu Bette zu legen, um keine Unruhe im Hause zu machen, aber es uͤberfiel mich ein so heftiger Schauder, daß ich es fuͤr rathsamer hielt, Huͤlfe zu suchen. Jch hielt es fuͤr ausgemacht gewiß, daß meine damals kranke Mutter in dem Augenblick der Erscheinung gestorben sey, bis ich einen Tag nachher durch einen Wagen von dort her, der den Arzt, der hier von einer entfernten Stadt ankam, abholen sollte, vom Gegentheil uͤberzeugt wurde. Meine Tante fuhr zwei Tage nach diesem Vorfall mit dem Arzt zu meiner Mutter, und ich blieb, um mich einigermaßen von diesem Schreck wieder zu erholen und aufzumuntern, noch dort. Auf Befragen des Arztes in Gegenwart meiner Tante, wie sie sich seit seiner Abwesenheit befunden, hat sie alle Zufaͤlle, und die Zeit derselben, genau[ angefuͤhrt], hauptsaͤchlich aber die Nacht, wo ich diese Erscheinung hatte, und die Stunde zwischen ein und zwei Uhr, bemerkt, wo sie aͤusserst elend gewesen ist, und gewiß geglaubt haͤtte, zu sterben. Sie hat hierbei ausdruͤcklich, in Gegenwart des Arztes, ihre Schwester gefragt: ob sie nicht ihr oder mir erschienen sey; sie haͤtte so sehnlich und stark in den Augenblicken an uns, und besonders an mich, gedacht, und gewuͤnscht, daß ich da seyn moͤgte, um, wenn sie stuͤrbe, ein Beistand meines Vaters85 und meiner Geschwister zu seyn. Auch hat sie damals ein violet Band, wie ich es gesehen, um ihre Nachthaube gehabt, und die Waͤchter haben mir hoch und theuer versichert: daß sie in der Nacht, und um die Zeit, als ich sie gesehen, wie todt gelegen, daß sie keinen Athemzug von ihr gehoͤrt, und daher auch schon wirklich geglaubt haͤtten, daß sie todt waͤre, bis sich nach mehrern Minuten solcher wieder eingestellt haͤtte. Jenes habe ich aus dem eigenen Munde meiner Tante und des Arztes. Sie starb am 20sten Januar dieses Jahres, mithin erst gegen sieben Wochen nach dieser Erscheinung. Dies ist, mein Herr! der Verlauf meiner Geschichte, wobei ich Jhnen die Wahrheit bei Allem, was mir lieb und heilig ist, betheure. Jch bin nicht der Mann, der leichtglaͤubig oder fuͤr dergleichen Geschichten eingenommen ist, und daher habe ich bei mir selbst die genauste Untersuchung angestellt: ob hiezu ein Betrug der Sinne, ein lebhaftes Bild der Jmagination*)*) und ein Betrug der Sinne sonderlich beim Mondenschein, der schon so viel Geistererscheinungen veranlaßt hat ein lebhaftes Bild der Jmagination, war es doch wohl, und nichts anders.48P. oder sonst irgend etwas koͤnnte beigetragen haben. Allein ich habe dergleichen nicht bei mir, nur wahrscheinlich,[ entdecken] koͤnnen. Jch hatte zu Abend wenig gegessen, und gar keinen86 Wein getrunken, ich hatte den ganzen Tag uͤber nicht an meine Mutter gedacht, ich war nicht im Schlafe, nicht krank, hatte den vollkommenen Gebrauch meiner Sinne, und die Geschichte selbst und die Harmonie aller dabei concurrirenden Umstaͤnde heben, wie ich glaube, alle Einwendungen, die man hingegen machen koͤnnte. Aber welcher Philosoph erklaͤrt mir diese Geschichte nach seinen einfachen und zusammengesezten Begriffen von Geist und Koͤrper? Er wird sagen: wie kann der Geist, an den Banden des Koͤrpers gefesselt, ihn verlassen, in einer Entfernung von sieben Meilen in seiner Gestalt erscheinen, und in wenigen Minuten wieder in ihn zuruͤckkehren? Er wird den Kopf schuͤtteln und das Blatt umschlagen. Jch bin nicht boͤse daruͤber; aber das wuͤrde ich ihm nicht verzeihn koͤnnen, wenn er mir, da ich mich nie eines Betrugs der Sinne, des Gesichts und Gehoͤrs in einer solchen Naͤhe erinnern kann, auch bei gesunden Organen nicht moͤglich ist, ich auch damals in keinem Zustande war, worin solches nur haͤtte moͤglich seyn koͤnnen, wo ich wegen des Winseln des Hundes, und weil ich ziemlich erfroren war, in den Paar Minuten, die ich erst im Bette lag, noch nicht eingeschlafen seyn konnte, auch wahrhaftig, wie ich mir bewußt bin, nicht eingeschlafen war, wo keine Bilder der Jmagination vor meiner Seele und Augen schweben konnten, da ich nicht allein in dem Augenblick nicht an meine87 Mutter dachte, sondern auch den Tag uͤber nicht an sie gedacht hatte, wo das Mondenlicht mich alles genau im Zimmer unterscheiden ließ, wenn er mir, sage ich, mit seiner hier gewiß uͤbelangebrachten Scharfsinnigkeit beweisen wollte, daß ich das nicht gehoͤrt und gesehn haͤtte, was ich doch eben so gewiß versichert bin, gehoͤrt und gesehn zu haben, als ich nach einer Stunde uͤberzeugt seyn werde, hier an dieser Stelle geschrieben und das Dintenfaß vor mir gesehn zu haben. Was wuͤrde er sagen, wenn er sich anders des vernuͤnftigen Gebrauchs seiner Sinne bewußt ist, wenn ich ihm morgen mit vielen Gruͤnden der Wahrscheinlichkeit (denn mit Gewißheit koͤnnen wir von dieser Materie wenig behaupten,) beweisen wollte, daß er heute nicht mit mir gesprochen hat, da er doch gewiß weiß, daß er mit mir geredet hat? Doch ich lasse mich in keinen Streit hieruͤber ein, weil meine Absicht nur ist, Geschichten aus der Erfahrung zu erzaͤhlen, deren Wahrheit wenigstens fuͤr mich gewisser ist, als die Richtigkeit der Grundsaͤtze alter und neuerer Philosophen uͤber diese Materie.

II.

Jm Herbste 1775 trat auf dem Landgute meines Vaters die Ruhr ein, und da auch einer von meinen Bruͤdern, ein Knabe von neun Jahren, da -88 von befallen ward: so wurde ich, in einem Alter von vierzehn in's funfzehnte Jahr, mit noch zweien von meinen Geschwistern zu dem Prediger im Dorfe geschickt, um da so lange zu bleiben, bis auf dem Hofe alles wieder gesund seyn wuͤrde. Mein Bruder, der mich insonderheit innigst liebte, starb an dieser Krankheit, uns ward aber sein Tod verheimlicht, und ich erfuhr auch in der That nichts davon. Sieben Tage nach seinem Absterben, als an welchem Tage er des Abends beigesetzt wurde, kam, um etwa drei Uhr Nachmittags, mein Vater nach dem Hause des Predigers, um uns zu besuchen. Unsre erste Frage war nach unserm geliebten Bruder. Der Vater versicherte uns, daß er sich recht wohl befaͤnde, und wir ihn gewiß wieder sehn wuͤrden; eben dies versicherte uns auch gleich nachher unser Gaͤrtner, in den ich viel Zutrauen setzte, mit den hoͤchsten Betheurungen. Was man wuͤnscht, glaubt man leicht und gerne, und dies war auch mit mir der Fall, ohne daß ich nur den Argwohn gehabt haͤtte, daß man dies von seinem Zustande in der Ewigkeit verstehe, in dem wir ihn einst wieder sehn wuͤrden. Mein Vater verließ uns bald nachher, und mit einem Herzen voll Freude und Ueberzeugung, daß mein Bruder wieder besser waͤre, lief ich, um die Kinder des Predigers aufzusuchen, und ihnen diese angenehme Nachricht zu erzaͤhlen. Mit diesem Frohsinn trat ich auch in das Zimmer, worin ich mit meinen Geschwistern logirte, an wel -89 chem eine Kammer lag, die aber keinen Ausgang hatte. Jndem ich hereinkam, ward ich eine weisse Dunstfigur gewahr, die die Groͤße meines Bruders hatte, vor dem Spiegel stand, und die Haͤnde am Kopf in die Hoͤhe hielt. Hierbei muß ich bemerken, daß er die Art hatte, wenn er frisirt war, sich vor dem Spiegel mit beiden Haͤnden zugleich die Locken nach seinem Belieben zu stellen, und auch in eben dieser Stellung fand ich ihn in der Stube vor dem Spiegel. Jn dem Augenblick aber auch, da ich hereintrat, ließ er die Haͤnde sinken, kehrte mir den Ruͤcken zu, und schwebte vor mir der Kammerthuͤre zu, die etwa eines Fingers breit offen stand. Gott allein weiß es, wie es kam, daß ich mich in dem Augenblick nicht erschrack, ich weiß auch nicht, was ich dachte; aber ich verfolgte diese Gestalt bis an die Thuͤre, wo sie sich durch die kleine Oeffnung der Thuͤre wand, als wenn der Rauch sich irgendwo durchzieht und die Figur der Oeffnung annimmt. Ob es zwar ein stark neblichter Herbsttag war, so war doch das ganze Zimmer so helle und erleuchtet, als wenn an einem schoͤnen Sommertage die brennende Sonne darein scheinet, und dieser Dunstkoͤrper (anders kann ich ihn nicht nennen und beschreiben, denn es war, als wenn eine weiße Lichtwolke vor mir schwebte,) warf an der entgegengesetzten Seite von mir einen so starken dunklen Schatten, wie ein jeder Koͤrper beim starken Sonnenlichte wirft, der sich auf meinem Bette, was da an der90 Wand stand, der Laͤnge nach zog, und von dem noch etwas zu sehen war, wie der Lichtkoͤrper selbst schon durch die Thuͤre war, bis er sich voͤllig nachzog, und darauf auch die Sonnenhelle im Zimmer verschwand. Jch ging auf zwei Schritte hinter drein, ohne jedoch der Figur naͤher zu kommen, wie ich war, und ohne, wie ich mich genau erinnere, in dem Augenblick dieser Erscheinung an meinen Bruder zu denken, weil ich nicht anders glaubte und wußte, als daß er lebte und gesund waͤre. Wie ich an die Kammerthuͤre kam, durch deren[ geringe] Oeffnung sich jene Figur durchzog, so stieß ich sie auf, und ward die leere Kammer gewahr, die keinen Ausgang[ hatte.] Nun uͤberfiel mich aber auch ein so heftiger Schauder und eine so zitternde Angst, daß ich nicht schnell genug aus diesem Zimmer kommen konnte. Mein erster Gang war in den Garten, um da meinem beklommenen, angstvollen Herzen durch einen Strom von Thraͤnen Luft und Erleichterung zu verschaffen; dann erzaͤhlte ich, was mir begegnet sey, woraus ich den fuͤr mich uͤberzeugend gewissen Schluß machte, daß diese Erscheinung mein Bruder gewesen, der gestorben sey, der zwar in der Ewigkeit lebte, aber nicht mehr hier fuͤr uns. Dies war denn auch die Ursache, warum man uns die Wahrheit seines Todes nicht laͤnger verheelte. Will man hier auch Einwuͤrfe von Schlafen bei Tage im Gehen, von Praͤoccupation, die vielmehr gerade vom Gegentheil da war, fuͤr Bilder der Jmagina -91 tion u.s.f. machen, um die Wahrheit dieser Geschichte in Zweifel zu ziehen? Sind die hier wohl gedenkbar? Unmoͤglich, mein Herr! kann ich Jhnen die Freude schildern, mit der ich durch diese Erfahrung von dem wichtigsten Gegenstande unserer Religion, von dem Gluͤck unsrer Bestimmung, von dem großen Werthe unsrer selbst, ich meine von der Unsterblichkeit unsrer Seele und unsrem Leben unmittelbar nach dem Tode, noch mehr und aufs vollkommenste uͤberzeugt bin. Wollte Gott! alle Menschen haͤtten hiervon eine eben so starke Ueberzeugung, und die Welt waͤre besser.

Jch habe die Ehre, mich hochachtungsvoll zu nennen

Ew. Wohlgebohren

M im M schen, den 20ten Decemb. 1787.

ergebener Diener49C. C. F. von F ,Legationsrath.

Anmerkung.

Ueber vorstehenden Brief des Herrn Legationsrath50von F an Herrn Prof.51Moritz,werde ich mich in einem der naͤchstfolgenden Stuͤcke der Erfahrungsseelenkunde naͤher erklaͤren. Ueberhaupt aber wuͤnschte ich, daß man bei Mittheilung dergleichen sonderbarer[ Phaͤnomene] der menschlichen Einbildungskraft gaͤnzlich Nachricht gaͤbe, welchen Einfluß auf die gehabten Vor -92 stellungen Erziehung, Leidenschaften,[ Volksmeinungen],[ Neigung] zur Schwaͤrmerey, koͤrperliche und andere Localumstaͤnde haben moͤgten; denn eben deswegen wird es schwer, manche erzaͤhlte sonderbare Facta zu erklaͤren, weil man nicht von allen Veranlassungen dazu, vom innern und aͤussern, und den jedesmaligen Gemuͤthslagen des Selbstbeobachters genug unterrichtet ist. Doch vorher erzaͤhlte Erscheinungen sind leicht zu erklaͤren.

52P.

3. Beurtheilung einiger Faͤlle von vermeinten Ahndungen.

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Es giebt wohl wenige Menschen, die nicht wenigstens einmal eine Ahndung in ihrem Leben gehabt zu haben glauben sollten. Sehr viele und nicht bloß Frauenzimmer meinen bei jeder wichtigen (oft auch sehr unwichtigen) Veraͤnderung ihrer Schicksale, oder auch der Schicksale ihrer Freunde und Verwandten, ein gewisses vorhersagendes Gefuͤhl in sich wahrzunehmen, und wissen auch davon hunderterlei artige, zum Theil grausenvolle, Histoͤrchen mit der ernsthaftesten Miene der Ueberzeugung zu erzaͤhlen, so sehr sie auch ihrer Quelle, der Ammen und Kinderstube, aͤhnlich sehen moͤgen. Je mehr man die Meinung dieser Ahndungsjaͤger zu93 widerlegen sucht, je dreister berufen sie sich immer auf ihr Gefuͤhl als ob es das untruͤglichste Ding von der Welt sey und den eingetroffenen Erfolg, ohne zu untersuchen, was Einbildung und Zufall dazu beigetragen hat, und wie schwer sich uͤberhaupt ein Ahndungsvermoͤgen mit der Natur unsrer Seele und der bekannten Art ihrer Jdeenentwickelung vereinigen laͤßt. Jener Glaube findet um so viel leichter Beifall, weil ihn der Großvater und die Großmutter gehabt haben, weil er das Gemuͤth vermoͤge des Wunderbaren erschuͤttert, weil er der Einbildungskraft jedesmal eine neue Schwungkraft giebt, weil er von vernuͤnftigen Leuten vertheidigt wird, und weil man ihn, wie mehr dergleichen Dinge, fuͤr unschaͤdlich haͤlt. Allein jeder Jrrthum ist wenigstens insofern schaͤdlich, als an seiner Stelle keine Wahrheit steht, und jener Glaube an ein nicht vorhandenes Gespenst ist es um so mehr, da er so viele Menschen mit einer unnoͤthigen Furcht anfaͤllt, sie leicht zu aberglaͤubigen Grillen, und zu dem Wahn eines unmittelbaren Einflusses hoͤherer geistiger Wesen auf unsre Vorstellungen verleitet, und so manche andre locale Uebel stiftet. Leute, denen die Aufklaͤrung des menschlichen Verstandes am Herzen liegt, und was sollte uns allen mehr am Herzen liegen! sollten daher Beispiele von vermeinten Ahndungen nicht in oͤffentlichen Blaͤttern, ohne genaue psychologische Untersuchungen jener Faͤlle, bekannt machen.

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Jm 7ten Stuͤck des beliebten Journals von und fuͤr Teutschland (1787) sind ein Paar Ahndungsgeschichtchen erzaͤhlt, S. 93. ff., deren Untersuchung den Lesern dieses Magazins vielleicht nicht unangenehm seyn duͤrfte, da bisher darin so viel uͤber Ahndungen und Ahndungsvermoͤgen vorgekommen, und dieses Feld der Psychologie von den Herren Herausgebern neuerlich mehr wie jemals bearbeitet worden ist. Die erste Geschichte, fuͤr deren Authenticitaͤt, so wie fuͤr die der folgenden, der anonymische Einsender oder die Einsenderin mit allem einstehen will, was ihm oder ihr lieb ist, lautet also:

» Ein in meinen Diensten stehendes Maͤdgen erwachte vor einigen Tagen mit einem beklemmten Herzen, und aͤusserte sich beim Theetrinken gegen seine Mitbedienten dahin, wie es aͤusserst niedergeschlagen sey wie es nichts mehr wuͤnsche, als sich in der Einsamkeit satt weinen zu koͤnnen, und wie es fuͤrchte, daß es heute unangenehme Nachrichten erhalten moͤgte. Nach Verlauf einer Stunde kommt ein Jude, der mit Waaren im Lande umherwandelt, und bringt dem Maͤdgen von einer, einige Meilen von hier wohnenden, Schwester einen Gruß. Nach einiger Hin - und Wiederrede fragt er: » ob es wohl wisse, daß ein junger Mensch der die Kinder der Schwester unterrichte, sehr krank sey? « » Das nicht, « antwortete das95 Maͤdgen; » aber krank, sehr krank? So ist er wohl schon todt. « » So ist's, « antwortete der Jude, und geht, und das Maͤdgen, das den Jnformator, einen jungen vierundzwanzigjaͤhrigen dem Anschein nach voͤllig gesunden Mann, vor einigen Wochen noch gesehen, und vielleicht nicht ohne Ruͤhrung gesehen, seitdem aber nicht das mindeste von ihm gehoͤrt hatte, erfaͤhrt von dem zuruͤckgerufenen Ungluͤcksboten, daß ihr Freund vom Schlagfluß geruͤhrt und nach einem achttaͤgigen Lager gestorben sey. «

Das waͤre also die erste Erzaͤhlung, die freilich noch eine bessere Form einer Ahndung haben wuͤrde, wenn’s dem Maͤdgen gefaͤllig gewesen waͤre, grade an dem Tage eine Ahndung zu haben, als ihr Freund gestorben ist; doch die Ahndung sollte sich ja nur auf die Hiobspost des Juden beziehen. Das Factum mag wohl seine ganze Richtigkeit haben; aber man muß mehr als leichtglaͤubig seyn, wenn man die vorhergegangene Traurigkeit des Maͤdgens geradezu fuͤr nichts anders als eine Ahndung uͤber irgend eine nahe bevorstehende traurige Nachricht halten will. Welch ein unlogischer Schluß:[ » weil] jemand eine Traurigkeit empfindet, und deswegen etwas Unangenehmes erwartet, ohne zu wissen, was das Unangenehme seyn wird: so muß die Traurigkeit eine nothwendige Vorbedeutung des Übels seyn « Wie unendlich viel Ursachen kann96 eine gewisse schwermuͤthige Laune des Gemuͤths haben, und wie leicht pflegen wir dann etwas Boͤses zu argwohnen, wenn es in unsrer Seele finster aussieht, wie man an jedem Hypochondristen sehen kann. Was ist ohnedas gewoͤhnlicher, als daß ein junges Maͤdgen mit einem beklemmten Herzen erwacht, eine unwillkuͤhrliche Neigung zum Weinen empfindet, und bei der besorglichen Gemuͤthsart des andern Geschlechts dann allerley bevorstehende unangenehme Zufaͤlle sogleich zu muthmaßen anfaͤngt. Wenn dies Ahndung heißt, so haben die Menschen alle Augenblicke Ahndungen. Daß zufaͤlliger Weise unter den unzaͤhligen Uebeln, womit das menschliche Leben umgeben ist, auch einmal eins in Erfuͤllung geht, daß nun grade von ungefaͤhr der Jude kommen mußte, und die Nachricht von dem Tode des jungen Gelehrten uͤberbrachte, (waͤre ein anderer unangenehmer Zufall geschehen: so wuͤrde man wieder auf den die Traurigkeit des Maͤdgens bezogen haben,) kann doch wohl als kein richtiger Beweis von einer geschehenen Ahndung angesehen werden, zumal da jene uͤble und finstre Laune gewiß aus koͤrperlichen Empfindungen herruͤhren mogte, die so oft uns eine heimliche Wehmuth einfloͤßen; aber nichts weiter zu bedeuten haben, als daß sie bald wieder voruͤbergehn werden. Weil aͤngstliche Leute alle Augenblicke unangenehme Zufaͤlle argwohnen: so haben daher auch diese gemeiniglich die meisten Ahndungen, und bei einer bestaͤndigen97 Furchtsamkeit vor Uebeln mag man dann hinterher so manches geahndet zu haben waͤhnen, wenn es nach dem natuͤrlichen Laufe der Dinge sich natuͤrlich zuzutragen pflegte.

Die andre Erzaͤhlung haͤlt eben so wenig eine genaue Pruͤfung aus. Hier ist sie:

» Vor einigen Wochen geht der Graf v. O , ein sehr aufgeklaͤrter und einsichtsvoller Minister, in's Bad. Als er nach Haus reisen will, traͤgt er einem Verwandten, der etwas fruͤher abgeht, auf, ihm in einem Gasthofe ein Paar Zimmer, aber durchaus nicht die naͤmlichen, die ihm bei seiner Hinreise angewiesen worden, zu bestellen. Die Frage, was er gegen diese Zimmer einzuwenden habe, beantwortet der Graf dahin: wie er etwas gegen selbige habe, das er sich selbst nicht erklaͤren koͤnne. Der Verwandte begnuͤgt sich mit dieser Antwort, richtet den ihm mitgegebenen Auftrag aus, und bezieht die Zimmer selbst, die sich sein Oheim verbeten hat. Nach einigen Tagen aber wird er in selbigen krank, und als der Graf ankommt, erfaͤhrt er, daß sein Vetter in[ denselben] gestorben und bereits begraben sey. «

Daß der Graf einen Widerwillen gegen die vorerwaͤhnten Zimmer hatte, konnte ja aus mehrern Ursachen, als aus einer Art Vorgefuͤhl von dem Tode seines Vetters, herruͤhren. Wer auf den98 oft so sonderbaren Wechsel unsrer Empfindungen und Launen Acht giebt, wird sehr leicht bemerken, daß uns eine gewisse Sache, ein Haus, eine Gegend, durchaus nicht gefaͤllt, ob wir gleich die Ursache davon nicht deutlich anzugeben wissen. Wahrscheinlich entstehn dergleichen Empfindungen aus einer dunklen Schlußfolge der menschlichen Seele, indem sie den gegenwaͤrtigen unangenehmen Gegenstand mit einem andern unangenehmen Object schnell vergleicht, und das Resultat der Vergleichung zu einer unbehaglichen, widerspenstigen Empfindung umschafft; oder sie betrachtet das Object in einer finstern, uͤbellaunigen Gemuͤthsstimmung uͤberhaupt. Eins von beiden konnte in diesem erzaͤhlten Phaͤnomen mit dem Grafen der Fall seyn. Daß der Vetter stirbt, in den naͤmlichen Zimmern stirbt, die dem Graf nicht gefallen wollten, war ein Zufall. Es bleibt doch wohl nach psychologischen Erfahrungsgesetzen ausgemacht, daß ohne eine wenigstens dunkle Vorstellung von etwas Unangenehmen, die Seele keinen Widerwillen dagegen fassen kann.

55P.

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Nachtrag. Auszug aus dem Leben H. Cardans. 56Jn psychologischer Ruͤcksicht.

58Hieronymus Cardan,ein Mailaͤndischer Arzt, gehoͤrt unstreitig zu den sonderbarsten und seltsamsten Menschen, die es je gegeben hat. Bayle rechnet ihn zu den groͤßten Maͤnnern seiner Zeit, und seine große Menge, zum Theil mit vielem Scharfsinn ausgearbeiteten, Werke*)*) Die 1663 zu Lion herausgekommene Ausgabe seiner Werke besteht aus zehn dicken Folianten. zeigen offenbar, daß er ein Mann von einer sehr ausgebreiteten Gelehrsamkeit und ein großer, sinnreicher Kopf gewesen sey; ob es gleich fast unerklaͤrbar scheint, wie eben dieser Mann von einer Menge der sonderbarsten Grillen und der paradoxesten Meinungen so sehr eingenommen seyn konnte, daß er sie mit dem vollkommensten Ernst lebenslang vertheidigte. Er hat sein eigenes Leben, die ganz sonderbaren Schicksale, die er erlebt, sein ganz eigenes und bizarres Temperament, seine Tugenden und Fehler, und die mannigfaltigen schwaͤrmerischen Grillen seiner Einbildungs -100 kraft mit einer gewissenhaften Genauigkeit in einem besondern Buche, de Vita propria betitelt, beschrieben, und dieses merkwuͤrdige Buch ist es, aus welchem ich hier wegen der Sonderbarkeit des Verfassers, der bei aller Groͤße des Geistes, bei allem Scharfsinn des Verstandes, sich oft einer Art Wahnwitz naͤhert, einen fuͤr die Seelenkunde passenden Auszug liefern will. So schwer sich uͤbrigens das schlechte, abgebrochene und unleidliche Latein, worin seine meisten Werke abgefaßt sind, uͤbersetzen laͤßt: so glaub 'ich doch fast immer den Sinn des Verfassers richtig getroffen zu haben.

Doch vorher erst einiges von seinem Leben uͤberhaupt, damit man seine folgenden Confessionen, die gewiß viel sonderbarer als die Rousseauischen sind, desto richtiger verstehen und uͤbersehen kann.

60Hieronymus Cardanwar zu Pavia den 24ten des Herbstmonats 1501 geboren. Man weiß nicht gewiß, ob seine Mutter mit seinem Vater verheiratet oder nur seine Maitresse gewesen ist; so viel erfuhr nachher Cardan selbst, daß sie, waͤhrend ihrer Schwangerschaft mit ihm, Arzeneien genommen hatte, um die Frucht abzutreiben, was aber nicht gelingen wollte. Sie lag drei Tage in Kindesnoͤthen, und das Kind, womit sie schwanger ging, mußte mit Gewalt von ihr gerissen werden. 101 Wahrscheinlich lag in allen diesen Umstaͤnden mit ein fruͤher physiologischer Grund seines aͤußerst seltsamen und bizarren Charakters. Als er auf die Welt kam, war sein Kopf schon mit krausen und schwarzen Haaren bewachsen. Jm vierten Jahre seines Lebens wurde er nach Mailand gebracht, wo sein Vater Sachwalter war. Jm siebenten Jahre fiel er in eine gefaͤhrliche Krankheit, wobei ihn sein Vater dem heiligen Hieronymus widmete, und diesmal lieber zu diesem Heiligen, als zu seinem Schutzgeist, den er zu besitzen sich[ oͤffentlich] ruͤhmte, desgleichen auch hernach Cardan selbst that, seine Zuflucht nehmen wollte. Jm zwanzigsten Jahre ging er, um den Wissenschaften obzuliegen, nach Pavia, legte sich vornehmlich auf Mathematik, und erklaͤrte zwei Jahr darauf den Euclid. Anno 1524 ging er nach Padua, erhielt noch im naͤmlichen Jahre den Titel eines Lehrers der[ freien] Kuͤnste, und am Ende des Jahrs 1525 den eines Doctors in der Arzneikunde. 1531 verheirathete er sich, da er nach seinem klaͤglichen Gestaͤndnisse die vorhergehenden zehn Jahre zum Ehestande voͤllig untauglich gewesen war. Jn seinem drei und dreißigsten Jahre ward er Professor der Mathematik in Mailand. 1539 ward er in das Collegium der Aerzte zu Mailand aufgenommen, und 1543 lehrte er die Medicin in dieser Stadt oͤffentlich. Jm folgenden Jahre las er Collegia medica zu Pavia; allein er hoͤrte am Ende des Jahrs damit auf, weil man ihm seine Besol -102 dung nicht bezahlte, und ging nach Mailand zuruͤck. 1547 schlug er eine vortheilhafte Bedienung ab, die ihm der Koͤnig von Daͤnemark anbot. *)*) Religion und Klima Daͤnemarks waren die Ursachen, warum er die Bedienung ausschlug. 1552 reiste er nach Schottland, und kam nach Verlauf von ungefaͤhr zehn Monaten nach Mailand zuruͤck. Er blieb in dieser Stadt bis er zu Anfange des Weinmonats 1559 nach Pavia ging, von da er 1562 nach Bononien berufen ward. Er lehrte hieselbst bis 1570, in welchem Jahre man ihn gefangen setzte, doch wurde er nach einigen Monaten wieder in sein Haus gebracht, ob er auch gleich hier einige Zeit Arrest hatte. 1571 ging er von Bononien weg, und begab sich als Privatmann nach[ Rom. ] Er wurde in das Collegium der Aerzte daselbst aufgenommen, und genoß vom Pabst bis an's Ende seines Lebens eine Pension; er starb daselbst 1575, wie Scaliger glaubte, vor Aerger uͤber ein Buch, welches er wider den Cardan schrieb. Das uͤbrige hiervon, wie einige andre literarische Nachrichten uͤber den Cardan, kann man in Bayle's Woͤrterbuch, im Artikel: Cardan, nachlesen. Schon aus diesem kurzen Abrisse des Lebens dieses Mannes kann man die große Veraͤnderlichkeit seines Temperaments, woruͤber er sich unten weiter auslaͤßt, ersehen. Aber dies ist nicht die einzige Sonderbarkeit, die wir an ihm zu bemerken haben. 103Seine sonderbare Hypochondrie, seine bizarren Grillen, seine schwaͤrmerische Einbildungskraft, seine paradoxen Meinungen, seine wunderbaren Schicksale, und seine ganze Denk - und Lebensart stellen uns ihn als einen der groͤßten Sonderlinge auf, die es je gegeben hat, und dessen Leben ein in der That sehr wichtiger Beitrag zur Naturkunde der menschlichen Seele ist. Er mag sich von nun an selbst schildern.

Jn der Vorrede zu seiner Lebensbeschreibung sagt er, daß er nach dem Beispiel des weisesten und vortreflichsten Mannes, des Antoninus Philosophus, auch sein Leben beschreiben wolle, woruͤber er vom Bayle getadelt wird, indem jenes Buch des Antonins nicht eine Biographie, sondern eine Sammlung moralischer Grundsaͤtze sey.62Cardanversichert, daß er nichts aus Prahlerei hinzugesetzt, nichts um seinen Gegenstand zu verschoͤnern geschrieben, sondern allein die Wahrheit immer vor Augen gehabt habe, weshalb er sich auf damals vorhandene Zeugen beruft. Er entschuldigt sich am Ende der Vorrede nochmals dadurch, daß der Versuch, sein eigenes Leben zu beschreiben, nicht neu sey, sondern mehrere schon dergleichen vor ihm gethan haͤtten.

Jm ersten Kapitel seiner Biographie selbst, beschreibt er sein Vaterland und seine Vorfahren, was104 wir ganz uͤbergehn koͤnnen, weil es nichts merkwuͤrdiges fuͤr den Psychologen enthaͤlt, und weil viel wichtigere Dinge in jener Biographie vorkommen. Das zweite Kapitel handelt von seiner Geburt; und hier lernt man schon einigermaßen den Mann nach seinen astrologischen Grillen, welche in damaligen Zeiten einen Theil der mathematischen und physischen gelehrten Kenntnisse ausmachten, kennen. Er findet in der Constellation der Gestirne, daß er gar leicht als ein Monstrum haͤtte geboren werden koͤnnen, welches aber dadurch verhuͤtet worden sey, weil bei seiner Geburt grade die Sonne, Venus und Mercur in menschlichen Zeichen gestanden haͤtten. Da, faͤhrt er fort, der Jupiter im Aufsteigen, und Venus die Beherrscherinn des ganzen Zeichens war: so wurde ich bloß in Absicht meiner maͤnnlichen Glieder verwahrlost, so daß ich von meinem 21ten bis in's 31ste Jahr meines Lebens zum ehelichen Umgange untauglich war, mein Schicksal oft beweinte, und andere, die gluͤcklicher als ich waren, beneidete. Aus eben jener Constellation der Himmelszeichen leitet er seinen niedrigen Stand, seine lispelnde Sprache, seine schnelle und uͤberraschende Divinationskraft und andre Prophezeihungsgaben her. Nach jener Constellation, obgleich aus mir haͤtte etwas werden koͤnnen, heißt es ferner, blieb mir nichts als eine gewisse Verschlagenheit und Sklaverei des Gemuͤths uͤbrig, ward ich ein Mann, der nach abgebrochenen und unerlaubten Entschluͤssen han -105 delte, kurz ein Mensch, dem es an koͤrperlichen Kraͤften fehlte, wenig Freunde, ein kleines Erbtheil, viel Feinde hatte, deren groͤßten Theil ich weder dem Namen, noch dem Gesichte nach kenne, der keine Lebensklugheit, ein schwaches Gedaͤchtniß, aber doch eine beßre Vorsichtigkeit besaß, so daß ich nicht begreifen kann, wie ein Zustand, der meiner Familie und den Vorfahren Schande machte, fuͤr ruͤhmlich und beneidenswerth hat angesehen werden koͤnnen. » Mein Vater, sagt er im dritten Kapitel, trug wider die Gewohnheit der Stadt einen Purpurrock, ob er gleich eine schwarze Parucke beibehielt. Er stammelte, war ein Freund verschiedener Wissenschaften, roth vom Gesicht, und hatte weiße Augen, womit er auch des Nachts sehen konnte. Die Worte: » omnis spiritus laudet Dominum, quia ipse est fons omnium virtutum, « hatte er immer im Munde. Bei einer Kopfwunde waren ihm in seiner Jugend die Scheitelknochen weggenommen worden, so daß er, ohne sein Haupt zu bedecken, nicht lange aushalten konnte. Von seinem vierten Jahre an hatten ihm alle Zaͤhne gefehlt. Er studirte fleißig den Euclid, hatte krumme Schultern, und einen einzigen vertrauten Freund, ob sie gleich beide ganz verschiedene Studien trieben. Meine Mutter war zum Jaͤhzorn geneigt, hatte ein vortrefliches Gedaͤchtniß und einen guten Kopf, war kleiner Statur, fett und andaͤchtig. Beide Aeltern waren von zornigem Tem -106 peramente, und unbestaͤndig in der Liebe gegen ihren Sohn; doch hatten sie Nachsicht mit mir, so daß mein Vater erlaubte, ja sogar befahl, daß ich vor der zweiten Stunde des Tages nicht vom Bette aufstehen sollte, welches auf mein Leben und Gesundheit einen wohlthaͤtigen Einfluß gehabt[ hat. «]

Kap. 4. enthaͤlt einen kurzen Abriß seines ganzen Lebens, wie wir ihn gleich anfangs geliefert haben.63Cardanbekam schon in den ersten Wochen seines Lebens einige Pestcarfunkeln; durch ein Bad in heißem Essig wird er curirt. Seine Aeltern schlagen ihn in den vier ersten Jahren seines Lebens oft so sehr, daß er oft in Gefahr zu sterben gerieth. Von seinem siebenten Jahre an beschliessen sie, ihn sanfter zu behandeln; aber sein Schicksal wird dadurch nicht sehr verbessert: er muß bei seinem schwaͤchlichen Koͤrper, und in dem zarten Alter seinen Vater fast stets begleiten, wodurch der arme64Cardanin neue koͤrperliche Schwaͤchlichkeiten faͤllt, so daß man ihn schon einmal als einen Todten beweint. Sein Vater widmet ihn in einem Geluͤbde dem heiligen Hieronymus, und nicht seinem Daͤmon, den er zu haben glaubte.65Cardanist kaum wieder besser, so stuͤrzt er mit einem Hammer eine Treppe herunter, und zerbricht den obersten linken Stirnknochen, davon er zeitlebens eine Narbe behaͤlt: auch von diesem Uebel ist er kaum geheilt, als ein Stein von einem benachbarten hohen Dache ihm auf den Kopf107 stuͤrzt. Sein Vater faͤhrt fort, ihn auf eine grausame Art uͤberall als einen Sklaven mit sich zu fuͤhren. Ein reicher Vetter will den Cardan zu seinem Universalerben einsetzen, aber66CardansVater[ verhindert] es, indem es unrechtmaͤssig erworbenes Gut sey. Jn seinem fuͤnfundzwanzigsten Jahre verliert er seinen Vater. Jm einunddreissigsten verheiratet er sich, und erzeugt mit seinem Weibe zwei Knaben und eine Tochter.

Jm fuͤnften Kapitel beschreibt er seine koͤrperliche Gestalt und uͤbrigen Leibesbeschaffenheiten mit der puͤnktlichsten Genauigkeit. Jm sechsten redet er von seinen klaͤglichen Gesundheitsumstaͤnden. Es ist erstaunlich, mit wie vielen Krankheiten und koͤrperlichen Schwachheiten der grosse Mann lebenslang zu kaͤmpfen hatte. Er war nie ganz gesund*)*) So wie sein ganzes Leben uͤberhaupt eine Kette ungluͤcklicher und sehr sonderbarer Begebenheiten war., und dies mußte nothwendig seiner ganzen Denk - und Handlungsart etwas Eigenthuͤmliches geben. Sehr sonderbar, und vielleicht einzig in ihrer Art, ist folgende hierher gehoͤrige Stelle. » Jch hatte, sagt er, die Gewohnheit, woruͤber sich die meisten verwundert haben, daß, wenn ich keine Ursachen des Schmerzes hatte, ich dergleichen selbst aufsuchte. Dadurch ging ich gemeiniglich den Krankheit erregenden Ursachen entge -108 gen, indem ich glaubte, daß das Vergnuͤgen in dem vorhergestillten Schmerz bestehe, und daß, wenn derselbe willkuͤrlich sey, er auch leicht gestillt werden koͤnne, und da ich an mir wahrnehme, daß ich niemals vom Schmerz ganz frey seyn kann: so entsteht, wenn dies einmal geschieht, ein so beschwerlicher Gemuͤthsdrang in mir, der nicht heftiger seyn kann, so daß der Schmerz, oder eine Ursach des Schmerzes, vorausgesetzt, daß sie nicht schaͤndlich und gefahrvoll ist, lange nicht so schlimm ist, als jener Drang, den ich im schmerzenlosen Zustande empfinde. Daher habe ich nun Mittel, mich selbst zu quaͤlen, erfunden. Jch beisse mich naͤmlich in die Lippe, ich zerstosse die Finger, kneife mich in die Haut und in den linken Armmuskel, bis ich zu weinen anfange, vermoͤge welcher Mittel ich noch ohne Schaden fortlebe. Jch habe eine natuͤrliche Furcht vor hohen Oertern, wenn sie auch noch so breit sind, und vor solchen, wo ich wegen der tollen Hundskrankheit Verdacht habe. Bisweilen habe ich auch an der heroischen Liebe krank gelegen, so daß ich mich selbst umzubringen gedachte; aber ich vermuthe, daß dies auch andern begegnet sey, ob sie es gleich nicht in Buͤchern aufzeichnen. «

Jm siebenten Kapitel redet er von seinen Leibesuͤbungen folgendergestalt. » Vom Anfang an habe109 ich alle Arten der Fechtkunst getrieben. Jch focht mit dem Degen allein, und mit einem laͤnglichen, runden, grossen oder kleinen Schilde, wie man's haben wollte, und sprang sehr leicht mit einem Dolche und Degen, mit Spieß, Saͤbel und Mantel auf ein hoͤlzernes Pferd. Jch verstand unbewaffnet dem andern einen bloßen Dolch aus der Hand zu reissen, ich uͤbte mich im Laufen und Springen, worin ich's sehr weit gebracht hatte, und weiter als im Fechten, weil mir die Natur sehr kleine Arme gegeben. Jm Reiten, Schwimmen und Gewehrlosbrennen war ich hingegen furchtsam, so wie dies letzte uͤberhaupt mein Naturfehler war. Des Nachts ging ich selbst wider die Befehle der Fuͤrsten in den Staͤdten bewaffnet herum, wo ich mich aufhielt. Des Tages trug ich bleierne Soolen von acht Pfund, und des Nachts einen schwarzen Schleier uͤber das Gesicht. Viele Tage hindurch uͤbte ich mich vom fruͤhesten Morgen bis gegen Abend in den Waffen, trieb dann vom Schweisse naß Musik, und schwaͤrmte bis an den hellen Morgen oͤfters herum. «

Das achte Kapitel handelt von seiner Lebensart, in Absicht auf Schlaf, Speise und Trank. Auch hier beschreibt Cardan alles mit der groͤßten Genauigkeit, welches wir aber fuͤglich uͤbergehn koͤnnen, ob gleich auch hier der gelehrte Sonderling uͤberall hervorschimmert.

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Kap. 9. Von Verewigung seines Namens. Hier stellt68Cardandie ernsthaftesten Betrachtungen an, ob es wohl der Muͤhe werth sey, sich bei der Nichtigkeit und Vergaͤnglichkeit aller Dinge einen unsterblichen Namen zu machen. Alle aͤußre Vorzuͤge, um sich zu verewigen, fehlen ihm; weder Reichthuͤmer, noch Gewalt, noch eine feste Gesundheit, nicht Familie und eigene Thaͤtigkeit liessen ihm eine Hoffnung dazu uͤbrig, und doch bleibt sein Verlangen nach einem unsterblichen Namen immer gleich stark. Er entschließt sich, ein Schriftsteller zu werden; aber auch der Schriftsteller Ruhm scheint ihm ein sehr unsicheres, vergaͤngliches Ding zu seyn, scheint viel zu viel Aufopferungen zu erfordern. Beim Haschen nach Schriftsteller-Ehre, sagt er vortreflich (was alle Schriftsteller sich fein merken sollten!), wird dich deine Hoffnung peinigen, deine Aengstlichkeit martern, du wirst von Arbeiten entkraͤftet werden, und jeden uͤbrigen Reiz des Lebens verlieren. Er untersucht ferner, was endlich die Helden der Vorzeit durch ihre muͤhsamen und ehrsuͤchtigen Plane gewonnen haben. Aus allem vorhergehenden zieht er nun das Resultat: Wenn die Seele unsterblich ist, wozu das Gepraͤnge von Namen; geht sie unter, wozu nuͤtzen sie? Wenn die Zeugung der Geschoͤpfe einmal aufhoͤrt: so werden jene Namen auch alle ihr Ende[ erreichen. » Es] ist also kein Wunder, setzt er hinzu, daß ich aus einer Art Zwang von Ruhmbegierde111 angefeuert werde, und doch blieb diese alberne Begierde in mir zuruͤck. Aeussern Ruhm und Ehre habe ich demungeachtet nicht sehr begehrt; ja sogar verachtet. Jch wuͤnschte, daß meine Existenz bekannt sey, nicht was und wie ich grade sey. Soviel es erlaubt war, habe ich mir selbst gelebt, und habe aus Hoffnung kuͤnftiger Dinge das Gegenwaͤrtige verachtet. « Kurz, der Wunsch zu einer Art Fortexistenz scheint ihm am Ende doch sehr natuͤrlich zu seyn, da er lobenswuͤrdig bleibt.

Das zehnte Kapitel handelt von der Einrichtung seines Lebens. » Jch habe mein Leben, sagt er, so eingerichtet, nicht wie ich's gewollt, sondern wie es mir erlaubt war; habe auch nicht die Lebensart gewaͤhlt, die ich waͤhlen sollte, sondern wovon ich glaubte, daß es die bessere seyn wuͤrde. Auch waͤhlte ich nicht eine und die naͤmliche Art des Lebens, da alles gefahrvoll, laͤstig und unvollkommen in der Welt ist, sondern welche mir zu jeder Zeit grade die bequemste schien. Daher ist es dann gekommen, daß man mich fuͤr einen unbestaͤndigen, veraͤnderlichen Mann gehalten hat; denn das ist ganz natuͤrlich, daß die, welche keine gewisse und festgesetzte Lebensart beobachten, mehrere Plane versuchen, und verschiedene schiefe Wege einschlagen. Die eigentliche Absicht meiner Handlungen war, mich auf irgend eine Art zu verewigen. Reichthuͤmer, Ehrenstellen, Macht und Ansehn waren nicht112 "mein eigentlicher Wunsch. Auch standen mir hierbei die Schicksale und Zufaͤlle meines Lebens, meine Nebenbuhler, die Beschaffenheit der Zeit, und meine Unwissenheit selbst im Wege. Es fehlten mir zu jenen Dingen alle Huͤlfsmittel; auch dadurch wurde ich von ihnen zuruͤckgehalten, daß ich nach meiner damaligen astrologischen Kenntniß, wie es mir und andern schien, gewiß nicht das fuͤnfundvierzigste Jahr meines Lebens erreichen wuͤrde. Unterdessen uͤberließ ich mich fuͤglich den Vergnuͤgungen und der Nothwendigkeit, indem ich so recht zu leben dachte; vernachlaͤssigte, wegen der schlechten Hoffnung, die wirklichen Dinge, verirrte mich in meinen Gedanken, und fehlte oͤfters in meinen Handlungen, bis ich endlich in meinem dreiundvierzigsten Jahre, welches das lezte meines Lebens seyn sollte, erst zu leben anfing. «

» Jch ergab mich den Vergnuͤgungen, wanderte in den schattigten Gegenden ausserhalb den Mauern der Stadt umher; schmauste zu Mittag, trieb darauf Musik, fischte neben den Haynen und denen der Stadt nahe liegenden Waͤldern; studirte, schrieb, und kam dann Abends wieder nach Hause. « Dieses froͤliche Leben dauerte, nach Cardans eigenem Gestaͤndniß, sechs Jahre lang. Neue Leiden lagern sich um ihn her. Das Ungluͤck seines aͤltesten Sohns faͤngt an, ihn vorzuͤglich zu druͤcken (welcher sein Weib mit Gift hatte vergeben wollen, und deswe -113 gen im Gefaͤngniß hingerichtet wurde). [» Gewisse] Magistratspersonen, sagt er, haben bekannt, daß sie meinen Sohn deswegen zum Tode verurtheilt haͤtten, damit ich in meinem Schmerz umkommen, oder meinen Verstand verlieren moͤgte; wie wenig ich von dem einen oder dem andern entfernt gewesen bin, und ich an seinem Orte erzaͤhlen will, moͤgen die Goͤtter wissen; aber meine Feinde erreichten ihre Absicht nicht. « Er will fuͤr seinen ungluͤcklichen Sohn eine Apologie schreiben; die Hauptgedanken dazu hat er im gegenwaͤrtigen Kapitel entworfen, welche sehr deutlich zeigen, wie aͤngstlich und zaͤrtlich der ungluͤckliche Vater bemuͤht war, seinen Sohn zu retten. Aber vergeblich! und den Tod desselben rechnet er zu einem der vorzuͤglichsten Leiden seines vaͤterlichen Herzens.

Kap. 11. de prudentia enthaͤlt einige vortrefliche Lebensregeln, und Anweisungen zu einer practischen Klugheit, worin er sich als einen schlechten Meister bekennt, die aber nicht hierher gehoͤren.

Kap. 12. redet er von seiner heftigen Disputierliebe, so daß keiner mit ihm in gelehrten Gezaͤnken hat auskommen koͤnnen, welches wir auch uͤbergehn koͤnnen.

Viel merkwuͤrdiger und fuͤr die Seelenlehre wichtiger ist das folgende dreizehnte und vierzehnte Kapitel seiner Lebensbeschreibung. Er schildert darin114 seine Sitten, Gemuͤthsgebrechen, seine Jrrthuͤmer, seine Tugenden und Standhaftigkeit ganz in dem Geschmacke eines Montaigne und Rousseau, und laͤßt uns dadurch tiefe Blicke in die Natur unsrer Empfindungen thun. Er haͤlt uns dadurch einen Spiegel vor, in welchem jeder wenigstens einen Theil seiner Gestalt erblicken kann.

» Jch kenne mich sehr wohl, faͤhrt er nach einer kurzen Einleitung uͤber das Studium seiner selbst, oder das γνώϑι ςεαυτόν[ fort.] Jch bin von Natur zum Jaͤhzorn geneigt, bin einfaͤltig, der Wollust ergeben. Hieraus sind andere Fehler geflossen. Jch bin grausam, starrsinnig, roh und hart, unvorsichtig, hitzig, und empfinde ein uͤber meine Kraͤfte steigendes Verlangen zur Rache, und eine Geneigtheit, daß mir das gefaͤllt, was andre verwerfen, daß ich mich wenigstens so ausdruͤcke, als wenn mir's gefiele. Die Rache ist suͤsser als das Leben selbst. Jch mache keine Ausnahme von dem Satz, daß unsre Natur zu allem Boͤsen geneigt ist; ob ich gleich die Wahrheit rede, eingedenk genossener Wohlthaten, ein Freund der Gerechtigkeit und der Meinen, ein Veraͤchter des Geldes, begierig auf Ruhm nach dem Tode bin, und alles Mittelmaͤßige, des Kleinen nicht zu gedenken, zu verachten pflege. Von Natur bin ich zu allen Lastern, zu allem Boͤsen geneigt. Ausser meinem Ehrgeitz kenne ich meine Unwissenheit als einer. Aus Hochach -115 tung gegen Gott, und weil ich weiß, wie eitel und vergaͤnglich alles ist, bediene ich mich der gegebenen Gelegenheiten der Rache mit Vorbedacht nicht. Jch bin kalten Herzens, furchtsam und habe ein hitziges Gehirn; bin immer in Gedanken, indem ich stets uͤber viele aͤusserst wichtige, und selbst unmoͤgliche Dinge nachdenke. Jch kann auch meine Aufmerksamkeit auf zwei Sachen zu gleicher Zeit wenden. Die, welche mir eine Schwazhaftigkeit und ein Uebermaaß in meinen Lobpreisungen Schuld geben, beschuldigen mich ganz fremder Fehler. Jch greife keinen an, ich vertheidige mich bloß. Warum sollte ich mich auch darum bekuͤmmern, da ich so oft von der Nichtigkeit des Lebens Zeuge gewesen bin? Jch habe mir angewoͤhnt, meinem Gesicht immer eine andere Gestalt zu geben; daher kann ich mich anders zeigen, als ich's meine, ob ich gleich nicht zu heucheln verstehe. Doch ist dies leicht, wenn es zu der Seelenstimmung, nichts zu hoffen, etwas beitraͤgt, welche ich seit funfzehn Jahren auf's muͤhsamste zu erlangen gesucht, und endlich erreicht habe. Dieserwegen gehe ich bisweilen in Lumpen, bald geschmuͤckt umher, bin bald still, bald geschwaͤtzig, bald froͤlich, dann wieder traurig. Jn meiner Jugend habe ich mich wenig um die Ausschmuͤckung meines Kopfes bekuͤmmert, weil ich von einer Begierde, mich auf wichtigere Dinge zu legen, beherrscht wurde. Jn meinem Hause gehe ich vom Knoͤchel bis an die Waden mit bloßen Beinen. 116Mein Gang ist ungleich, bald schnell, bald wieder langsam. Bin wenig gottesfuͤrchtig, und kann meine Zunge nicht im Zaum halten, bin auf's hoͤchste zum Zorn geneigt, so daß es mich oft gereut, und ich einen Abscheu dafuͤr habe. « Nach einer Episode, die ich uͤbergehe, faͤhrt er so fort: » Jch weiß, daß dies einer meiner groͤssten und sonderbarsten Fehler ist, daß ich von nichts lieber rede, als was den Zuhoͤrenden mißfaͤllt. Mit Wissen und Willen fahre ich hierin fort, und es ist mir nicht unbekannt, wie viel Feinde mir diese Eigenschaft zuzieht. So viel vermag die Natur durch eine lange Gewohnheit! Doch vermeide ich jenen Fehler bei meinen Wohlthaͤtern und den Großen. Jch liebe die Einsamkeit so viel es moͤglich ist, obgleich Aristoteles diese Lebensart verworfen und gesagt hat, daß ein Einsiedler entweder ein Thier, oder eine Gottheit ist. Aus Schwachherzigkeit, und zu meinem nicht geringen Schaden, behalte ich das Gesinde bei, von welchem ich weiß, daß es mir nicht nur unnuͤz sey, sondern sogar zu meiner Schande gereicht: ja ich kann mich nicht einmal von den mir geschenkten Thieren, als Boͤcken, Laͤmmern, Haasen, Kaninchen, Stoͤrchen trennen, so daß sie mir das ganze Haus besudeln. Jch habe wenig, und vornehmlich keine getreuen, Freunde gehabt. Jch habe darin viel und selbst die groͤßten Fehler begangen, indem ich mich zur rechten und unrechten Zeit in alles mi -117 schen wollte, und habe selbst die beleidigt, welche ich herauszustreichen mir vorgenommen hatte. Jm Urtheilen bin ich zu schnell, und fasse daher uͤbereilte Rathschlaͤge, und kann bei keinem Geschaͤfte einen Aufschub leiden. Da meine Nebenbuhler bemerkt haben, daß ich nicht leicht zu fangen bin, wenn ich Zeit habe: so thun sie nichts anders, als daß sie mich treiben. Jch ertappe sie offenbar, huͤte mich vor ihnen als Nebenbuhlern, und halte sie, was sie auch wirklich sind, fuͤr meine Feinde. Wenn ich mir nicht angewoͤhnt haͤtte, uͤber eine Sache, die ich freiwillig that, wenn sie auch schlecht ablief, keine Reue zu empfinden: so waͤre ich der ungluͤcklichste Mensch geworden. Die vornehmste Quelle meiner Leiden waren aber gemeiniglich die hoͤchst dummen und schaͤndlichen Streiche meiner Soͤhne, die Sorglosigkeit der Anverwandten, und ihr Neid gegen die Jhrigen, ein eigenthuͤmlicher Fehler der Familie. Von meiner Jugend auf bin ich dem Schachspiele auf eine unmaͤßige Art ergeben gewesen, wodurch ich dem Franziscus Sforza, Prinzen von Mailand, bekannt wurde, und mir die Freundschaft vieler Großen zugezogen habe. Da ich aber jenes Spiel viele und beinahe vierzig Jahre hindurch bestaͤndig trieb: so kann ich nicht sagen, wieviel mein Hauswesen darunter gelitten hat. Noch aͤrger ging es mit dem Wuͤrfelspiel, indem ich meine Soͤhne selbst darin unterrichtet hatte, und mein Haus oft den Wuͤrfelspielern oͤffnete. «

118

Jm vierzehnten Kapitel, virtutes et constantia uͤberschrieben, redet69Cardanvon seiner Bestaͤndigkeit im Gluͤck und Ungluͤck. » Jch habe, faͤhrt er fort, zur Bewunderung andrer, meine ungluͤcklichen Schicksale geduldig getragen, und bin in meinen gluͤcklichen bestaͤndig der naͤmliche geblieben. Jch habe in meinem Gluͤck meine Sitten nie geaͤndert, bin nicht haͤrter, ehrgeitziger, ungeduldiger geworden, habe die Armen nicht verachtet, habe meine alten Freunde nicht vergessen, habe mir im Umgange kein groͤßres Ansehn gegeben, und keinen vornehmern Ton angenommen, habe nie koͤstlichere Kleider getragen, als ich zu der Rolle, die ich spielte, zu tragen genoͤthigt war. Jn traurigen Lagen meines Lebens bin ich aber doch von Natur nicht so standhaft geblieben, da ich oft Leiden tragen mußte, die meine Kraͤfte uͤberstiegen; aber ich habe durch Kunst die Natur uͤberwunden. Denn bei den groͤßten Leiden meines Gemuͤths schlug ich mit einer Ruthe meine Schienbeine, biß mich heftig in den linken Arm, fastete, und machte mir durch Weinen Luft, wenn ich weinen konnte, denn oft konnte ich's nicht; stritte auch mit Vernunftgruͤnden gegen meine Leiden, indem ich mir immer vorsagte: daß nichts neues unter der Sonne geschehe u.s.w. Oft bin ich auch, wenn meine Leiden zu groß wurden, durch die Guͤte des Himmels, und gleichsam durch ein Wunderwerk davon befreit worden, wie ich unten gesagt119 habe. Bei meinen Handlungen war ich sehr bestaͤndig, und vornehmlich bei Ausarbeitung meiner Schriften, so daß ich bei den angenehmsten, mir dargebotenen, Gelegenheiten von meiner Arbeit nicht wegging, sondern dabei sitzen blieb, indem ich wohl wußte, wie viel die Veraͤnderlichkeit seiner Vorsaͤtze meinem Vater geschadet hatte. «

» Meine Freundschaft habe ich nie abgebrochen, und geschahe es einmal: so habe ich nie etwas verrathen, was unter uns Freunden vorgegangen war, habe auch keinem hinterher Vorwuͤrfe gemacht. Jch rechne es mir als eine Tugend an, daß ich von meiner fruͤhsten Jugend an nie gelogen, meine Armuth, meine so vielen traurigen Schicksale geduldig ertragen habe, und nie mit Recht einer Undankbarkeit beschuldigt werden kann. «

Das Meiste, was70CardanKap. 15 36. erzaͤhlt, koͤnnen wir uͤbergehn. Einiges scheint aber doch in Absicht seines Charakters wichtig genug zu seyn, um hier angefuͤhrt zu werden.

Von fruͤhester Jugend an hatte er sich angewoͤhnt, dies Gebet zu beten: » Herr Gott, schenke mir nach deiner unendlichen Guͤte ein langes Leben, Weisheit und Gesundheit des Geistes und Leibes. « » Jn keinem Stuͤcke, sagt er Kap. 23, bin ich120 mir besser vorgekommen, als in Absicht meiner Lebensregeln wegen der Laͤnge meines Lebens, und der Menge meiner Leiden. Erstlich habe ich Gott immer fuͤr alles, was mir begegnet ist, gedankt; zweitens habe ich die Gottheit fleissig angerufen; drittens war es mir nicht genug bei einem Verlust den Schaden zu ersetzen, sondern machte, daß ich immer noch etwas daruͤber erhielt; viertens nahm ich immer auf die Zeit die genaueste Ruͤcksicht, daß ich, wenn ich ritte, , im Bette lag, wachte, mit andern sprach, stets uͤber etwas meditirte; fuͤnftens verehrte ich die Greise sehr, und war gern bei ihnen; sechstens war ich auf alles aufmerksam, und glaubte, daß nichts von ungefaͤhr geschehen koͤnne; siebentens zog ich das Gewisse fast immer dem Ungewissen vor; achtens bestand ich auf keiner Sache, die mir misgluͤckte, und machte lieber Versuche, als daß ich mich auf meine Geschicklichkeit und Kunst verließ, was vornehmlich bei Heilung der Kranken der Fall war. Jm uͤbrigen uͤberließ ich mich dem Schicksale, und dachte uͤber das Vergangene, wie die meisten thun, nicht weiter nach. «

Sonderbar ist folgende Erzaͤhlung, die er uns uͤber die Wahl seiner Frau mitgetheilt hat: » Jch wohnte zu Sacci, sagt er, und fuͤhrte das gluͤcklichste Leben von der Welt, als ich mich einstmals des Nachts in einem angenehmen, vollkommen schoͤnen, mit Blumen und Fruͤchten angefuͤllten121 Garten erblickte. Es wehte eine sanfte Luft, so daß kein Mahler, kein Dichter, kein menschlicher Gedanke etwas angenehmeres haͤtte hervorbringen koͤnnen. Jch befand mich am Eingange des Gartens, die Thuͤr stand offen, und gleichfalls eine gegenuͤber, als ich ein Maͤdgen in einem weißen Kleide erblickte. Jch umarmte und kuͤßte sie; aber beim ersten Kuß riegelte schon der Gaͤrtner die Thuͤr zu. Jch bat ihn instaͤndigst, daß er sie offen lassen moͤgte; aber umsonst. Es kam mir also vor, als wenn ich, indem ich daruͤber traurig war, und immer noch an dem Maͤdgen hing, hinausgeschlossen wurde. Jn der naͤmlichen Nacht wurden wir aufgeweckt, indem meines Nachbars Haus brannte. Wenige Tage darauf sah ich ein Maͤdgen auf der Straße, welche in ihrem Gesicht und Kleidern vollkommen dem Maͤdgen glich, das ich im Traum gesehn hatte. Jch empfand eine brennende*)*) Er giebt nicht undeutlich zu verstehen, daß das Feuer eine Vorbedeutung von seiner Liebe gewesen ist.[ Liebe «] und er heiratet dies Maͤdgen. Fast allen Glauben uͤbersteigen die Gefahren und widrigen Zufaͤlle seines Lebens, deren Erzaͤhlung er ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Viermal ist er in der aͤusserstenTodesgefahr gewesen; zu den groͤßten Leiden seines Lebens rechnet er seine Unfaͤhigkeit zum Heirathen vom einundzwanzigsten bis zum einunddreissigsten Jahre seines Lebens; die grausame122 Hinrichtung seines Sohns; seine eigene Einkerkerung; die Gottlosigkeit seines dritten Sohns, und die Unfruchtbarkeit seinerTochter. Die Nachstellungen nach seinem Leben sind in der That aͤusserst merkwuͤrdig, und ein Beitrag zur Geschichte menschlicher versteckter Bosheit.

» Als ich, sagt er, zu Pavia oͤffentliche Collegia las, hatte ich eine Magd, einen jungen Menschen, Hercules, zwei Knaben, und wo ich nicht irre, einen Bedienten im Hause. Der eine von den Knaben war mein Hauslaquai und ein Musikus, der andre wurde zum Ausschicken gebraucht. 1562 wollte ich von Pavia weggehn und meine Professur niederlegen. Der Senat nahm dies uͤbel, und suchte mich beizubehalten. Nun waren aber noch zwei Doctoren in Pavia, einer war sogar mein Schuͤler gewesen, ein erzlistiger Kerl; der andre lehrte die Arzneikunst, ein einfaͤltiger und, wie ich glaube, nicht boͤser Mensch. Da beide meine Nebenbuhler waren, so thaten sie alles moͤgliche, daß ich die Stadt verlassen moͤgte; da dies aber der Senat nicht zugeben wollte, ob ich gleich um meinen Abschied anhielt: so beschlossen sie, mich heimlicher Weise zu ermorden, und legten ihren Plan auf mein Leben von weitem an. Zuvoͤrderst schrieben sie im Namen meines Schwiegersohns und meiner Tochter einen aͤusserst schaͤndlichen und schmutzigen Brief, daß sie sich naͤmlich im Namen des Se -123 nats und des ganzen Collegiums ihres Vaters (meiner) schaͤmten, und mich einer oͤffentlichen Professur unwuͤrdig hielten. Ueber eine so unverschaͤmte und kuͤhne Beschuldigung meiner eigenen Kinder bestuͤrzt, wußte ich nicht, was ich machen, was ich sagen oder antworten sollte. Wenige Tage darauf wurde mir ein andrer Brief im Namen des Floravanti gebracht folgendes Jnhalts: Er schaͤme sich im Namen des Vaterlands, des Collegiums und der ganzen Gesellschaft der Professoren, indem uͤberall ausgestreut sey, daß ich mit den Knaben heimlich zu thun haͤtte, und gemeiniglich zwei zu gleicher Zeit mißbrauche. Dadurch wollte man mich stuͤrzen, und einen von jenen Doctoren in meine Stelle befoͤrdern. «72Cardanbefreit sich von dem abscheulichen Verdacht einer ihm schuld gegebenen Knabenschaͤnderei, aber seine Feinde machen neue Plane zu seiner Ermordung. Als er in der Akademie zu Pavia soll aufgenommen werden, findet er einen Balken am Eingange des Hauses so gelegt, daß er leicht daruͤber haͤtte zu Tode fallen koͤnnen; ein andermal wird er zu einem Patienten gerufen, und man hat an der Hausthuͤre ein Stuͤck Blei angebracht, daß es uͤber den73Cardanherabstuͤrzen muß; noch ein andermal wollen sie ihn vergiften, und suchen vorher seine Hausleute zu entfernen, damit sie von seinen Speisen nicht mit vergiftet werden moͤgten.

Jm 37sten Kapitel seiner Lebensbeschreibung erzaͤhlt er einige seiner sehr sonderbaren Eigenschaften,124 nebst einigen Traͤumen, wovon74Cardansehr viel hielt, und in welcher Ruͤcksicht er eine gewisse Prophezeihungsgabe zu besitzen glaubte. Das ganze Kapitel ist ein merkwuͤrdiger Beitrag zur Staͤrke und den Ausschweifungen der menschlichen Einbildungskraft, die sonderlich bei hypochondrischen Leuten oft die sonderbarsten Empfindungen und Chimaͤren hervorbringt.

» Auf Befehl meines Vaters, hebt er an, blieb ich gemeiniglich bis drei Stunden nach Anbruch des Tages im Bette liegen, und hatte von meinem vierten bis gegen das siebente Jahr des Morgens, ehe ich zur bestimmten Zeit aufstehn durfte, sonderbare Erscheinungen, die mir sehr angenehm waren, und mich nie vergebens auf sich warten liessen. Jch erblickte naͤmlich allerlei Bilder gleichsam von Luftkoͤrpern, die aus ganz kleinen Ringen zu bestehen schienen, wie Panzerringe, ob ich gleich damals noch keinen Panzer gesehn hatte. Sie stiegen von der untersten rechten Ecke des Bettes in einem Halbcirkel in die Hoͤhe, und fielen langsam zur linken Seite nieder, so daß ich sie nicht mehr sahe, als z. B. Bilder von Schloͤssern, Haͤusern, Thieren, Pferden, nebst den Reutern, Pflanzen, Baͤumen, musikalischen Jnstrumenten, Theatern, Menschenkleidern und verschiedenen andern Kleidern; vornehmlich aber von Trompetern mit ihren Jnstrumenten, ob sie gleich keinen Ton von sich gaben. Ausserdem125 erschienen mir Soldaten, Voͤlker, Aecker und andre, mir noch auf diesen Tag verhaßte, Koͤrpergestalten; ferner Haine, Waͤlder und andre Dinge, deren ich mich nicht mehr erinnere, oft auch eine ganze Menge zugleich vor meinen Augen vorbei eilender Gegenstaͤnde, ohne daß sie sich unter einander vermischten. Alle diese Dinge waren hell und durchsichtig, aber doch nicht so, als wenn sie deswegen nicht wirklich vorhanden gewesen waͤren, auch nicht so dicht, daß sie das Auge nicht durchschauen konnte. Selbst die schattigten Zirkel waren ganz durchsichtige Raͤume. Jch fand an diesem Schauspiele ein großes[ Vergnuͤgen], und sah diese Wunderdinge starr an, daher mich meine Tante einmal fragte: Ob ich etwas saͤhe? Ob ich gleich noch ein junges Kind war, so dachte ich doch bei mir selbst, wenn du Ja sagst: so moͤgte sie boͤse werden, und dir den ganzen Spaas verderben; denn es erschienen mir auch allerlei Blumen und vierfuͤssige Thiere, und Voͤgel aller Art, ob ihnen gleich, da sie bloße luftige Bilder waren, die Farben fehlten. Da ich nun weder in meiner Jugend, noch in meinem Alter gelogen habe, und meine Tante mich einmal fragte, was ich so starr ansehe: so weiß ich nicht, was ich ihr geantwortet habe; ich glaube wohl, ich habe gar nichts geantwortet. «

» Sehr oft sah im ich Traume einen Hahn, vor dem ich mich fuͤrchtete, daß er nicht einmal mit126 menschlicher Stimme zu reden anfangen moͤgte, welches aber doch kurz darauf geschah. Es waren gemeiniglich Drohworte, deren ich mich aber doch nicht mehr erinnere. Der Hahn hatte rothe Federn, einen rothen Kamm und dergleichen Backenbart. Jch glaube, daß ich ihn wohl hundertmal gesehn habe. «

(Die Fortsetzung folgt im naͤchsten Stuͤck.)

Jnhalt.

75

Seite

  • Fortsetzung der Revision der drei ersten Baͤnde dieses Magazins. 1
  • Zur Seelenkrankheitskunde.
    • 1. Volksaberglauben. 17
    • 2. Der Einsiedler im Stadtgetuͤmmel. 27
    • 3. Einwirkung eines aͤussern Gegenstandes auf die Verwirrung unsrer Jdeen. 31
    • 4. Fortgesezte Nachricht von einer Geisterseherinn, nebst Auszuͤgen aus zwei Briefen des Hrn. Pfarrers76Muͤllerin Augspurg, und Bemerkungen uͤber die Erscheinungen der Madam Beuter, von einem Augspurgischen Geistlichen. 34
    • 5. Beitrag zur Geschichte der Visionen und der Ausschweifungen menschlicher Einbildungskraft. 44
  • Zur Seelennaturkunde.
    • 1. Schreiben an den Herausgeber des 5ten Bandes des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde. 69
    • Jnhalt.

      Seite

    • 2. Schreiben an den Hrn. Prof.77Moritz.Vom Hrn.78Legationsrath v. F..in M.. 78
    • 3. Beurtheilung einiger Faͤlle von vermeinten Ahndungen. 92
  • Nachricht.
    • Auszug aus dem Leben H. 79Cardans.Jn psychologischer Ruͤcksicht. 99

About this transcription

TextGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Author[unknown]
Extent130 images; 24852 tokens; 5722 types; 166776 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Christof WingertszahnSheila DicksonGoethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-StiftungUniversity of GlasgowNote: Erstellung der Transkription nach DTA-RichtlinienNote: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-06-09T11:00:00Z Matthias BoenigDeutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu BerlinNote: Konvertierung nach DTA-Basisformat2015-06-09T11:00:00Z UB Uni-BielefeldNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2015-06-09T11:00:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte sechsten Bandes erstes Stück Karl Philipp Moritz, Carl Friedrich Pockels, Salomon Maimon (eds.) . MyliusBerlin1788.

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Universitätsbibliothek Bielefeld UB Bielefeld, 2097611

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Psychologie; Wissenschaft; Psychologie; ready; dtae

Editorial statement

Editorial principles

Anmerkungen zur Transkription:Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.

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