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Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Siebenten Bandes zweites Stuͤck.

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Fortsetzung der Revision des 4ten, 5ten und 6ten Bandes dieses Magazins.

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Die sonderbare Meinung, daß man im Traume kuͤnftige Dinge vorhersehen koͤnne, hatte sich ohnstreitig durch die historische Tradition, daß so etwas wuͤrklich gesehen seyn sollte, woraus man denn gleich schloß, daß es wuͤrklich geschehen koͤnne, und durch die wohl zufaͤllige Erfuͤllung manches Traums, von jeher ein ziemlich allgemeines Ansehen erworben, bis aufgeklaͤrtere Psychologen darzuthun suchten, daß ein solches Vorhersehn gar nicht in der Natur unsrer Erkenntniß gegruͤndet sey, und daß die Menschen, welche im Traum etwas vorhergesehen haben wollten, waͤren es auch2 die vortrefflichsten und kluͤgsten Menschen gewesen unschuldiger - oder schuldigerweise betrogen seyn mußten. Allein selbst diese Beweise, so consequent sie auch angelegt waren, und so sehr sie sich auf ein naͤheres Studium der menschlichen Seele gruͤndeten, haben nicht allgemein durchdringen koͤnnen, das Ansehen gewisser heiliger Traͤume lag ihnen immer noch zu sehr im Wege, und man wird uͤberall noch wuͤrklich aufgeklaͤrte Koͤpfe finden, die durch jenes Ansehn verfuͤhrt, ihren Glauben an die Bedeutsamkeit der Traͤume noch nicht aufzugeben wagen, und den Psychologen mit einer Menge von Beispielen zu betaͤuben suchen, welche jene Bedeutsamkeit erweisen sollen.

Mehrere dergleichen zum Theil sehr sonderbare Beispiele sind in diesem Magazin um so williger aufgenommen worden, weil denn doch eine psychologische Untersuchung derselben theils in diesem Magazin selbst; theils in andern oͤffentlichen Blaͤttern nicht unterbleiben konnte. Das Resultat fiel selten zu Gunsten der bedeutenden Traͤume aus. Man nahm, so viel es moͤglich war, alle Umstaͤnde zusammen, solche Traͤume natuͤrlich zu erklaͤren, sie nach den Gesetzen der Einbildungskraft zu zergliedern, und aus der Natur unsrer Vorstellungen zu beweisen, daß ein Vorhersehen zufaͤlliger Dinge bei keinem unendlichen Geiste angetroffen werden koͤnne, und daß die Meinung von einer im Traum entstehenden Vorhersehungskraft der Seele eine leere Hypothese3 sey. Durch dergleichen Untersuchungen ist allerdings der Nutzen gestiftet worden, daß man nicht mehr so sehr, wie sonst, mit einer fanatischen Leichtglaͤubigkeit an Traumbedeutungen haͤngt, daß man dadurch den Mechanismus unsrer Einbildungskraft naͤher kennen gelernt hat, und daß auch dadurch dem Aberglauben wenigstens einiger Abbruch gemacht wurde.

Wenn man die sogenanten bedeutenden Traͤume untersucht, und sich nicht bloß durch das Sonderbare ihrer Bilder und Folgen taͤuschen laͤßt; so wird man gemeiniglich finden, daß die Seele von der hinterher erfolgten Begebenheit vorher schon einige, wenigstens dunkle, Begriffe gehabt, und also nur gleichsam im Traume noch copirt hat; oder daß sie sich nur ein mit der Begebenheit homogenes Bild getraͤumt zu haben einbildete; oder daß schon wuͤrkliche Vermuthungen vorhergingen, die man in gewissen Momenten wieder vergessen hatte, welche aber der Traum wieder aufwekte, oder daß sich ein Betrug der Sinne, eine schwaͤrmerische Nachbildung, auch wohl gar ein Drang, das wuͤrklich zu machen, was man zufaͤllig getraͤumt hatte, mit ins Spiel mischte. Jch gebe gerne zu, daß es Traͤume giebt, wobei alle diese angefuͤhrten Umstaͤnde unanwendbar bleiben; aber wer wagt es zu laͤugnen, daß einer, oder der andre davon auf eine verstekte Art zum Grunde liegen kann, und daß ein4 gewisser Zufall der Sache einen ganz eigenen Ausschlag gegeben haben duͤrfte.

Nach diesen vorausgeschikten wenigen Bemerkungen uͤber die Bedeutsamkeit der Traͤume uͤberhaupt, komm ich zur Bedeutung einiger einzelnen, die im lezten Stuͤck des 4ten Bandes und im folgenden angefuͤhrt sind, und in der That wegen ihrer Sonderbarkeit etwas naͤher untersucht zu werden verdienen.

» Ein Rendant den der Herr Einsender des Traums Herr Seidel und Herr Prof. 4Moritzpersoͤnlich kannten, hatte das Ungluͤck, daß ihm durch einen Bedienten eine betraͤchtliche Summe Kassengelder entwendet wurde. Die Verlegenheit des ungluͤklichen Mannes, der weiter kein Vermoͤgen hatte, als was ihm sein Posten einbrachte, war außerordentlich groß. Das Fehlende sollte nun ersezt werden; sollte schon in weniger Zeit, als einem Monat ersezt seyn, weil er alsdenn Rechnung ablegen, und seine Kasse folglich richtig seyn mußte. Seine Freunde waren nicht im Stande, ihm eine so ansehnliche Summe gleich vorschießen zu koͤnnen. Er suchte alle noch so entfernte beguͤterte Bekannte auf, und die Zeit der Berechnungskasse nahete bis auf wenige Tage heran, ohne daß er Huͤlfe zu finden wußte. «

» Nun traͤumte er in der einen Nacht, als ob ihm jemand sage: er moͤchte in die *** Straße, in das *** Haus gehen. Beides, Straße und5 Haus waren ihm so deutlich durch bekanntere Haͤuser bezeichnet, daß er nicht irren konnte. Jn dem Hause nun sollte er zwei Treppen hinaufgehen, sich aber auf der zweiten in Acht nehmen, daß er nicht herunterfalle, und so wuͤrde er das noͤthige Geld erhalten. «

» Am Morgen des folgenden Tages, da ihn dieser Traum noch ganz beschaͤftigt, kommt einer seiner Freunde zu ihm, dem er diese seine Traumgeschichte erzaͤhlt, und von dem er zugleich erfaͤhrt, wer in dem bezeichneten Hause in der zweiten Etage wohne; denn er selbst wußte das nicht. Der Mann, den er da finden, und der ihm Geld leihen sollte, war ihm so sehr unbekannt, daß er sich nur erinnerte, ihn ein einziges mahl in einer großen Gesellschaft gesehen zu haben. Er fand es aber nicht fuͤr rathsam, zu einem ihm voͤllig unbekannten hinzu gehen. «

» Er sucht also denselben Tag aufs neue Huͤlfe; aber vergebens. Am zweiten Tage nach seinem gehabten Traum glaubt er aber seiner eigenen Ruhe auch das noch schuldig zu seyn, und zu dem Unbekannten zu gehen. Er geht, und erinnert sich im hinaufsteigen auf der zweiten Treppe des Hauses der Warnung nicht herabzufallen. «

» Er geht langsam und bedaͤchtig fort, und ist nun fast hinauf, als oben das Zimmer zur rechten Hand heftig und ganz geoͤfnet wird, und durch die schnell aufgerissene Thuͤr sich zugleich eine kleine Git -6 terthuͤr an der Treppe, die nicht befestigt war, einwaͤrts nach der Treppe zu oͤfnet, so daß er durch diese ihm entgegenstoßende Gitterthuͤr leicht haͤtte in Gefahr gerathen koͤnnen, getroffen zu werden, oder gar herabzufallen. Gleich nach Eroͤfnung des Zimmers kommt jemand heraus, der ihn um Verzeihung bittet, daß er durch die ploͤzliche Erweiterung seiner Thuͤr, sein Heraufgehen aufgehalten und gehindert habe, und entschuldigt sich deshalb mit der Eilfertigkeit seiner Geschaͤfte. «

» Der ungluͤckliche Rendant vermuthet, daß dies eben derselbe Mann sey, zu dem er wolle, und traͤgt nun, da er doppelt bestuͤrzt ist, sein Anliegen ohne Umwege vor, und erhaͤlt das Geld. «

Da bei der Erzaͤhlung fast jeder Traumgeschichte eine Menge von Umstaͤnden ausgelassen worden, die zur natuͤrlichen Erklaͤrung des Phaͤnomens nothwendig sind, und auch dies wohl hier der Fall ist: so scheint erwaͤhnter Traum, so wie er da erzaͤhlt wird, in der That sonderbar, und bedeutend genug zu seyn. Allein konnte nicht der Rendant bei seinem hin und her Gruͤbeln: woher wohl Geld anzuschaffen sey? nicht auch mit auf jenes Haus wenigstens Vermuthungsweise gefallen seyn? *)Man konnte ihn auch von jenem Manne gesagt haben, was aber der Rendant wieder vergessen hatte. Selbst die Nebenideen von andern in der Gegend liegenden Haͤusern, wodurch er sich im Schlafe orientirt, laßen dies vermuthen. 7Das Traumbild von diesem Hause und (da er waͤhrend seiner Bekuͤmmerniß wohl manche Treppe gestiegen seyn mochte) von einer Treppe, die er hinauf steigen soll, vielleicht noch kurz vorher eine dergleichen Treppe gestiegen war, konnte also sehr leicht in ihm entstehen, und dies waͤre gar nichts Seltsames gewesen, als welches nur in der Erfuͤllung seines Traums liegt; aber nun eben diese Erfuͤllung? Sein Freund kennt den Mann, von dem er getraͤumt hat. Hatte dieser nicht etwa schon, ohne daß es der Rendant je erfuhr, den reichen Mann dahin gestimmt, dem Ungluͤklichen die Summe vorzuschießen? so daß also die Erfuͤllung des Traums durch den guten Freund, oder auch durch einen andern vermittelt wurde. Auf diese Art waͤre das ganze Raͤtzel erklaͤrt, wenn man es auch gar nicht einem bloßen Zufall zuschreiben wollte.

Der Traum, welchen Herr6Voßim 3ten Stuͤk des 4ten Bandes S. 84 ff. erzaͤhlt, scheint mir uͤberhaupt genommen von keiner großen Bedeutung zu seyn, so lesenswuͤrdig auch die vorhergehenden Bemerkungen uͤber Traͤume von eben demselben Verfasser sind. Daß ein verheirathetes Frauenzimmer im Traume vergessen kann, daß sie verheirathet ist, daß sie den Liebesantrag eines andern jungen Mannes im Traume annimmt, Reflectionen8 anstellt, ob es nicht besser sey, ihn nicht anzunehmen, und ihrer Phantasie ganz die Scene einer Verlobung spielen laͤßt, finde ich gar nicht ungewoͤhnlich, da sich die Seele, wenn sie traͤumt, so leicht in nicht existirende Situationen hinein denken und Zustaͤnde fingiren kann, die nicht einmahl moͤglich sind. Der Psychologe hat eine andre Absicht bei Beobachtung der Traͤume, als dem bloß gewoͤhnlichen Spiele ihrer Bilder nachzuforschen, und die Seelenlehre gewinnt durch die bloße Erzaͤhlung von Traumgeschichten nicht viel, wenn dabei nicht folgende Untersuchungen angestellt werden.

  • a) Welches waren die veranlaßenden Umstaͤnde von außen oder die gelegentlichen innern Ursachen in der Maschine, die der Seele den ersten Schwung gaben, eine gewisse Jdeenreihe waͤhrend des Schlafs zu beginnen?
  • b) Warum fing sie diese Jdeenreihe grade so und nicht anders an, warum ließ sie naͤhere lebhaftere Bilder liegen, grade als ob sie gar nie in der Seele existirt haͤtten, und ging zu ganz andern, ganz fremden uͤber, ja zu Jdeen, die sie sich vielleicht noch nie im Wachen gedacht hatte?
  • c) Woher ruͤhrt die oft ganz vertilgte Gedaͤchtnißkraft in Absicht der bekanntesten Vorstellungen, da doch in dem nehmli -9 chen Moment die Seele laͤngst verloschene Bilder in sich wieder mit einer erstaunlichen Deutlichkeit hervorruft, die ihr im Wachen nicht moͤglich seyn wuͤrde?
  • d) Da die Seele im Traume ganz mechanisch zu handeln scheint, wie kommt es daß sie die Jntervallen in ihren Jdeenassociationen nicht immer bemerkt; sondern daruͤber hinwegeilt, und doch nach den logischen Gesetzen des Denkens gehandelt zu haben glaubt?
  • e) Lassen sich die Erfuͤllungen vieler Traͤume nicht aus einer schon vorhergehabten Jdeenfolge erklaͤren, die man schon einmahl in Wachen gehabt, sie vergessen, und im Traum wieder mit einer neuen Lebhaftigkeit gedacht hatte?
  • f) Laͤßt sich die Natur des Traums nach Bonnets Analyse lediglich aus dem Mechanismus der Fiberbewegung erklaͤren, und haͤngt die verschrobene Ordnung des Denkens im Traume von gewissen innerlichen Stoͤßen ab, welche sich nebenbei ereignen, und die Ordnung der Bewegungen und auch folglich die der Gedanken mehr oder weniger stoͤhren? *)
    *) Wir wissen aus der Erfahrung sagt Bonnet, II. Theil seines Werks uͤber die Seelenkraͤfte S. 57 und 588 daß die Bewegung (der Fibern) sich nach der Seite auszubreiten sucht, wo sie den wenigsten Widerstand findet. Nun findet sie aber weniger Widerstand, wenn sie sich nach der Ordnung ausbreitet wonach die verschiedenen Fiberlagen oͤfters erschuͤttert worden, Z.B. nach der Ordnung, die wir durch die Reihe A, B, C, D, E, F, G ausgedrukt haben. Nehmen wir nun an, daß ein innerlicher Stoß die Lage A erschuͤttere; so wird sich die Bewegung von A nach B, von B nach C u.s.f. auszubreiten suchen. Wenn aber in dem Augenblick, da die Lage C so eben von der Lage B erschuͤttert werden soll, ein neuer innerlicher Stoß dazu kommt, welcher die Lage F staͤrker erschuͤttert, als die Lage C von der Lage B erschuͤttert werden kann; so erfolgt die Vorstellung F unmittelbar nach der Vorstellung B, und so wird die Reihe also in Unordnung gebracht.
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Dergleichen Untersuchungen muͤßten durchaus uͤber die Theorie des Denkens und Empfindens selbst vieles Licht verbreiten, und wuͤrden am Ende deutlich zeigen, daß es keinen einzigen bedeutenden Traum giebt, der nicht auf eine ganz natuͤrliche Art erklaͤrt werden koͤnnte.

Dies glaub ich ist der Fall bei allen im 5ten Bande dieses Magazins angefuͤhrten oft sehr sonderbar scheinenden Traͤumen. Ueber den Traum des Freiherrn von Seckendorf 5. B. 1. St. Seite 55 ff. habe ich mich schon am Beschluß der davon mir mitgetheilten Erzaͤhlung erklaͤrt, und ich habe das Son -11 derbare darin gar nicht finden koͤnnen, was man darin finden wollte, ob ich gleich nicht laͤugnen will, daß manche darin vorkommende Scene etwas Schauderhaftes hat.

Nicht unerklaͤrbarer ist der Traum Seite 103 St. 2. B. 5. den der seelige Professor Meier zu Halle seinen Zuhoͤrern in den psychologischen Vorlesungen jaͤhrlich einmahl mittheilte: » Ein junger Gelehrter in Halle traͤumte einst, daß er sich auf dem dortigen Kirchhofe befaͤnde, und auf einem Leichenstein seinen eigenen Namen nebst dem Tage seines Todes deutlich angezeigt fand. Nur die lezte Ziffer der Jahrszahl war mit Moos bewachsen; er wollte ihn wegkratzen; aber in dem Augenblick erwachte er. Er schrieb sogleich den ganzen Traum auf, versiegelte das Papier, und schloß es in seinen Schreibschrank, mit der voͤlligen Ueberzeugung, daß er bald und an dem angezeigten Tage sterben werde. Er gab Meiern kurz vor seinem Tode den Schluͤssel zum Schreibtisch, und Meier fand bei der Eroͤfnung des versiegelten Papiers, daß der Traum des jungen Gelehrten richtig eingetroffen war, denn er starb grade an dem angezeigten Tage. [«]

Bei der ganzen Geschichte ist mir dies gleich anfangs aufgefallen, daß der junge Gelehrte seinen Tod nicht bestimmt vorhersahe, denn die lezte Ziffer der Jahrszahl war ihm unbekannt geblieben; der Tag traf freilich richtig ein, allein man weiß aus mehrern Beispielen dieser Art, daß eine sehr lebhaft12 erregte Einbildungskraft zur Erfuͤllung solcher schwarzen Bilder sehr viel beitragen kann, wovon mehrere auffallende Exempel in diesem Magazin vorkommen. Unlaͤugbar ist es, daß solche Erschuͤtterungen auf die Gesundheit des menschlichen Koͤrpers gewaltig wuͤrken, und daß diese gleichsam in den Graden abnimmt, als sich die Seele dem sich fast eingebildeten Ziele zu naͤhern glaubt. Es liegt daher in dem Gedanken gar nichts unnatuͤrliches, daß die Einbildungskraft ein[ physischer] Grund des Todes worden, und daß die menschliche Seele im Koͤrper zu existiren aufhoͤren kann, wenn sie sich den Gedanken einmahl fest imprimirt und den Koͤrper zu einer successiven Abnahme seiner Kraͤfte gezwungen hatte. Vielleicht giebt es selbst einen so hohen Grad der Einbildungskraft, daß die Seele zu denken, und sich ihrer Bewust zu seyn in dem Moment aufhoͤrt, wo sie sichs fest einbildet, daß sie zu denken aufhoͤren muͤsse; so daß also, ob wir gleich hievon noch keine genaue Beispiele*)*) Ein dergleichen Beispiel wird doch in folgendem Stuͤk vorkommen. anfuͤhren koͤnnen, der Tod bloß die Folge einer sehr lebhaften Vorstellung werden koͤnnte, welche sich die Seele einige Zeit, als das lezte Ziel ihrer Thaͤtigkeit gedacht hatte.

13Seite 18. St. 3 des 5ten Bandes kommt ein Traum vor[,] der vielen sehr sonderbar geschienen hat. » Der Ehemann einer jungen Dame ist verreist, sie erhaͤlt eines Abends einen Brief, daß er sich ganz wohl befinde, und bald wieder bei ihr zu seyn gedaͤchte. Das junge Weib schlaͤft ein, erwacht aber bald wieder mit einem kreischenden Geschrei und sagt: daß ihr Mann ermordet sey, sie habe ihn eben sterben gesehen. Sie erzaͤhlt eine Menge von Umstaͤnden[,] die dabei vorgefallen sind. Man sucht sie zu beruhigen; sie schlaͤft wieder ein, wird aber von dem nehmlichen Traume noch einmahl aufgewekt, und nun bleibt sie dabei, daß ihr Mann todt sey. Die Sache hat seine Richtigkeit. Vier Monat nach ihrem Wittwenstande geht sie in die Kirche, und sieht da einen Officier, welchen sie im Traume erblikte, als sie die Vision von ihres Mannes Tode hatte, eben den Mann, der ihrem Gatten bei seinem Verscheiden noch den lezten Beistand leistete. Sie hatte das groͤßte Verlangen diesen Mann zu sprechen, und er war es wuͤrklich, der bei dem Tode ihres Gatten zugegen gewesen war. Auch trafen alle Umstaͤnde seiner Erzaͤhlung mit ihrem Traume vollkommen uͤberein. «

Da ich mich uͤber diesen Traum schon am angefuͤhrten Orte erklaͤrt habe, und ihn wuͤrklich fuͤr eine Erzaͤhlung halte, wobei vielerley Umstaͤnde ausgelassen sind; so ists nicht noͤthig, mich hieruͤber weiter auszulassen; indessen will ich doch die Erklaͤrung des14 Herrn Professor Tiedemanns beifuͤgen, die er von diesem Traume in seinen Untersuchungen uͤber den Menschen Theil III. S. 240 dem Publico mitgetheilt hat:

Das, was nach der Erzaͤhlung Wunderbares in dem Traume ist, ist folgendes: die Dame traͤumt noch an eben dem Abend vom Tode ihres Gemahls, da sie doch einen Brief von seinem Wohlseyn empfangen hat; sie sieht im Traume den Ort, wo er ermordet ist; sie wird auch den Officier gewahr, der ihm beigestanden hat, und erkennt ihn hernach, ohne ihn vorher gesehen zu haben; sie erblikt endlich ganz genau die Art, wie er verwundet wurde, und daß der Officier ihn aus seinem Hute traͤnkte. Dies Wunderbare verschwindet, so bald man annimmt: daß die Dame die Gegenden alle genau kannte; daß sie Gefahr zu besorgen Ursache hatte; daß endlich auch der Zufall seine Rolle dabei zu spielen nicht unterließ.

Dies anzunehmen berechtigt mich die Erzaͤhlung selbst. Der Mann schrieb: es haͤtte nicht das Ansehen, daß er Gefahr laufen wuͤrde: also war er in einer gefaͤhrlichen Gegend, also kannte die Dame die Art von Gefahr, die zu besorgen war, und auch die Gegend, wo sie zu besorgen war. Der Mann hatte den Abend vorher geschrieben, wo er zulezt gewesen war: hieraus also konnte die Dame leicht berechnen, wo er von da hingekommen, durch welche Wege er dahin gekommen war. Ohne Zweifel15 "wuste sie auch, daß es in der Gegend viele Officiers gab, daß folglich ein Officier ihm wahrscheinlich zu Huͤlfe kommen wuͤrde.

Nach diesen in der Erzaͤhlung selbst gegruͤndeten Voraussetzungen erklaͤre ich nun[ nun] alles sehr natuͤrlich so: Die Dame schlief mit großer Bekuͤmmerniß um ihren Gemahl ein; vermuthlich hatten die Worte des Briefes, es waͤre kein Anschein von Gefahr da, diese noch lebhafter gemacht; denn wo man etwas sehr fuͤrchtet, da nimmt man selbst aus den Gruͤnden, nichts zu fuͤrchten, Furcht her. Nach dem Briefe wuste sie, von wo ihr Gemahl zulezt ausgereiset war, und da sie die Gegenden kannte, vielleicht auch aus andern Nachrichten wuste, daß es bei einer gewissen Quelle unter gewissen Baͤumen nicht sicher waͤre: so sezte sie da die Scene des Todes hin. Oder auch vielleicht waren auf dem Wege sonst keine Baͤume, als bei der Quelle, und unter den Baͤumen mußte doch nach der Natur der Dinge der Mord eher geschehen, als im freien Felde. Weil sich in der Gegend Truppen aufhielten, weil die Dame von einem Officier eher Beistand als von einem andern vermuthen konnte: so sezte ihre Phantasie einen Officier zum Beistand. Dieser Officier hatte ein blaues Kleid, weil die Dame wuste, daß es so gekleidete Officiers da gab. Daß sie die Wunde ihres Mannes in die Seite sezte, kam vielleicht aus der Art, wie sie sich die Angreifer und den Angriff vorstellte, die man uns aber nicht be -16 richtet hat. Aus der Erzaͤhlung sieht man, daß der Herr ein Mann vom Stande war; ein solcher wehrt sich mit dem Degen, man laͤßt ihn also auch nach den natuͤrlichen Gesetzen der Association mit einem Degen angegriffen werden, und ein Stich geht nach eben der Regel eher in die Seite als sonst wohin. Er war verwundet, an einer Quelle verwundet; es war nur ein Officier da: was war also natuͤrlicher, als daß die Phantasie ihr ihren Gemahl durstig und den Officier ihn aus seinem Hute, aus Mangel eines andern Huͤlfsmittels, traͤnkend darstellte? Sie erkannte den Officier wieder, entweder weil er eine von den Gestalten hatte, dergleichen es viele giebt, und weil ihre Jmagination ihr eine solche Alltagsgestalt dargestellt hatte, oder auch weil der Zufall wollte, daß er eben die Bildung hatte, die sie im Traume gesehen hatte. Daß dieser Traum erfuͤllt wurde, war gleichfalls eine Wirkung des Zufalls, der so manche in unsern Augen sonderbare Dinge hervorbringt.

Eben dieß lezte war ohnstreitig der Fall bei einem Seite 75 St. 3, des 5ten Bandes angefuͤhrten Traume, der mir von dem kuͤrzlich verstorbenen Consistorialrath Feddersen mitgetheilt worden ist.

Der Herzog von *** traͤumt 1769 vom 8. zum 9. October: es wuͤrde ihm am folgenden Tage ein fuͤrchterliches Ungluͤk begegnen. Er bittet seine17 Familie an dem Tage nicht auszufahren, oder auszugehen, weil ihm bange sey, es moͤchte einem von ihnen ein Ungluͤk begegnen; der Traum bleibt jezt unerfuͤllt. Aber im Anfange des Octobers 1770 wird seine Gemahlin von einer Prinzessin gluͤklich entbunden. Am 9. October fuͤhlt sie sich so munter, und gestaͤrkt, daß sie das erstemahl aus dem Wochenbette aufsteht, um eine Stunde im Sopha zu sitzen. Um ihrem Gemahl eine Freude dadurch zu machen, laͤßt sie ihn rufen. Freudig eilt er die Treppe herunter, aber indem er in ihr Zimmer tritt, sieht er sie sterben. Jn der Minute, da sie ihm die frohe Nachricht geben ließ, hatte sie der Schlag getroffen. Genau ein Jahr nachher wurde also erst der Traum erfuͤllt.

Also um ein ganzes Jahr hatte diesmahl die Ahndung getrogen! Es lassen sich sehr viele physicalische und andre Umstaͤnde denken, warum uns bisweilen ein aͤngstliches Bild waͤhrend des Traums vorschwebt, das wir sonderlich bei zu vielem Blut und einem furchtsamen Temperament fuͤr eine Vorbedeutung zu halten geneigt sind, so wie wir manche dunkle Jdeen aus Traͤumen mit in den Zustand des Wachens heruͤbernehmen, die uns auf ganze Tage verstimmen und in die finstersten Launen versetzen koͤnnen.

Dergleichen dumpfe Empfindungen koͤnnen aber nicht als etwas Vorbedeutendes angesehen werden, weil wir nicht einmahl wissen, worauf sie sich be -18 ziehen. Traͤgt sich hingegen darauf irgend ein Ungluͤk von ohngefaͤhr zu; so wird denn gleich die dunkle unangenehme Empfindung darauf applicirt, sie mag sich dazu passen oder nicht, und der Zusammenhang zwischen dem Vorhersehen und der Begebenheit mag noch so ungewiß seyn.

Jch habe manchmahl daruͤber nachgedacht, warum die meisten Menschen so gern das Ansehn haben wollen, etwas vorhersehen zu koͤnnen, oder etwas vorhergesehen zu haben; und ich habe den Grund davon gemeiniglich in einer furchtsamen Gemuͤthsart, die sich so gern schwarze Bilder schaft, und in der Begierde zum Außerordentlichen gefunden. Jene ist vermoͤge ihrer Natur mißtrauisch gegen Facta und Menschen, und transferirt ihre Einbildungen gar leicht auf wuͤrkliche Objecte, weil ihr gleichsam das Vermoͤgen fehlt, die Distanz zwischen dem imaginirten Bilde, und einer wuͤrklichen Sache zu messen, sondern beides mit einander verwechselt. Diese, nehmlich die Begierde zum Außerordentlichen, welche psychologisch mit der Furchtsamkeit des Gemuͤths zusammenhaͤngt, reizt die Jmagination viel zu sehr, als daß bei ihren Phantasien die Vernunft immer zu Rathe gezogen wuͤrde. Jene, die Jmagination, bewuͤrkt durch das Außerordentliche ein gewisses Schaudern, das uns nicht unangenehm ist, weil es uns mit hundert neuen Bildern beschaͤftigt, und unsern in der Jugend empfangenen Begriffen vom Wunderbaren19 reichliche Nahrung verschaft. Diese fruͤhen Begriffe haben sich gemeiniglich so fest gesezt, daß wir erwachsene und gescheidte Leute eben so wohl als Kinder mit erneuerter Aufmerksamkeit aufhorchen sehen, wenn ein Geschichtchen von Ahndungen, Visionen, und andern dergleichen Fabeleien erzaͤhlt wird.

10C. F. Pockels.

Die Fortsetzung folgt.

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Zur Seelenkrankheitskunde.

1. Auszug aus dem Mercure de France dieses Jahrs. Nro. 2.

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Es ist ausgemacht, daß die jetzige Krankheit des Koͤnigs von England schon seit einiger Zeit ihren Anfang genommen hatte, ehe das Publicum davon benachrichtigt wurde. Der erste Zug, wodurch sich der Wahnsinn des Koͤnigs entdeckte, war eine Veraͤnderung in seiner Namens Unterschrift, worin er sich nicht mehr, wie sonst, Georg; sondern Georgius nannte. Sein gewoͤhnlicher Weise gleiches und sanftes Huͤmeur aͤußerte sich (schon vor dem gaͤnzlichen Ausbruch seines traurigen Uebels) bisweilen auf eine stuͤrmische Art. Schon im Bade zu Cheltenham bemerkte man gewisse Reden des Koͤnigs in Betreff der alten Minister, die sein Zutrauen verlohren hatten. Reden die er Leuten eroͤffnete, die nicht dazu gemacht waren, dergleichen Vertraulichkeiten zu empfangen. Bald entdeckten sich aber noch mehrere Spuren seines verworrenen Gemuͤthszustandes. Kurze Zeit nach21 seiner Zuruͤckkunft aus dem Bade sprach er den portugisischen Minister, der Koͤnig befahl ihm mit einem heftigen Tone, sich sogleich wegzubegeben! Der erschrockene Envoye eilte nach Hause, und sagte seinem Secretaͤr: wir muͤssen sogleich einpacken, denn wir werden Krieg bekommen! Der Doctor Willis, dessen Sorgfalt der Koͤnig ganz allein anvertraut ist, verdient eine besondere Aufmerksamkeit. Es giebt wenige außerordentlichere und gescheidtere Leute. Schon seit langer Zeit unterhielt er in der Grafschaft Lincoln eine Pensionsanstalt fuͤr vornehme Wahnwitzige. Er besizt ein außerordentliches Ansehn uͤber sie, welches er seiner Festigkeit, seinem kalten Blute und seiner ebenso gebietherischen[ Physiognomie], als sein ganzer Character ist, zu verdanken hat. Da er seine Kranken wie Kinder betrachtet, die ihrer Vernunft nicht maͤchtig sind; so beherrscht er sie durch Furcht. Sie wuͤrden boshaft werden, wenn sie wuͤßten, daß sie Furcht erregen koͤnnten; man macht sie aber nachgebend und gehorsam, wenn man immer kaltbluͤtig mit ihnen verfaͤhrt. Doctor Willis laͤßt sie zusammen speisen; bisweilen ladet er auch Fremde zu diesen Mahlzeiten ein. Manchmahl ist er freilich auch dem Unwillen seiner Kranken ausgesezt, wenn er ihren Narrheiten nicht nachgeben will. Eines Tages warf waͤhrend der Mahlzeit einer von diesen Tollen sein Messer auf den Doctor mit der Absicht, seine Brust zu durchboren. Der Wurf ging fehl. Willis,22 ohne sich zu erschrecken, oder in mindesten aufgebracht zu werden, befahl dem Wahnwitzigen, sein Messer wieder aufzuheben, und sich sogleich in seine Kammer zu verfuͤgen. Eine aͤhnliche Begebenheit trug sich auch einst mit einem Pistolet zu; aber er beherrscht sie bei allen ihren wuͤthenden Anfaͤllen auf die nehmliche Art. Jeder hat seinen eigenen Waͤchter bei sich. Wenn die Anfaͤlle zu heftig werden, so nimmt er seine Zuflucht zu einem sehr engen Rocke (Strait waits-coat) welcher ihre Arme zusammenschnuͤrt, und den ganzen Koͤrper fesselt. Das Schrecken vor diesem Zwangkleide dient ihm zu einem Zaum, seine Patienten zu regieren. Die gewoͤhnlichen Aerzte des Koͤnigs konnten mit ihm nicht fertig werden; Willis aber behandelt seinen hohen Kranken, wie die andern. Er hat sogar seinen gebietherischen Ton gegen ihn noch erhoͤht. Sein Sohn und seine eigenen Leute, die an dergleichen Art von Dienst gewoͤhnt sind, haben die Stellen der gewoͤhnlichen Dienerschaft des Koͤnigs eingenommen, welcher seinem Oberaufseher Willis das herablassendste Zutrauen schenkt. Gewoͤhnlicher Weise ist der Kranke sanft und nachgebend. Aber wenn ihn seine Unruh beherrscht; so fließen ihm seine Worte wie ein Strom aus dem Munde. Er hat dabei ein ungeheures Gedaͤchtniß, und sprach einst (dies ist ein ausgemachtes Factum) 19 Stunden hintereinander. Neulich verstattete man der Koͤnigin einen Besuch bei ihrem Gemahl, indem man23 jezt dadurch die Zaͤrtlichkeit des Koͤnigs nicht sehr zu erschuͤttern glaubte. Endlich glaubte man, daß die Koͤnigin sich wegbegeben muͤsse die Scene ward fuͤrchterlich. Der Koͤnig wollte nicht in die Entfernung seiner Gemahlin willigen, er schrie laut, daß er seit der Abwesenheit seiner Gemahlin zu ungluͤklich gewesen waͤre, und daß man sie nicht mehr von ihm absondern moͤchte! Willis aber stellte dem Koͤnige sogleich vor, daß die Koͤnigin schmerzlich geruͤhrt sey, daß sie krank werden koͤnnte, und sogleich gab der Koͤnig nach, und entfernte sich.

2.

13,14

Mit Vergnuͤgen benutze ich die mir angebotene Gelegenheit, eine im 3ten Bande des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde 3tes Stuͤck, Seite 106. eingeruͤckte Geschichte zu berichtigen, die der mir unbekannte Einsender gewiß nicht aus meinem Munde gehoͤrt, oder wenigstens nicht recht behalten hat.

Der Vorfall ist im Ganzen wahr, die Umstaͤnde aber sind sehr verunstaltet. Er begab sich am hellen Tage in meinem außerhalb der Stadt liegenden Garten, der noch am Ende des vorigen Jahrhunderts ein offner Weinberg war. Ein junger Geistlicher, der mich dahin begleitete und zuvor nie da24 gewesen war, fuͤhlte auf einem gewissen Platze einen Schauer, den ich am besten mit einer elektrischen Erschuͤtterung vergleichen kann. Wir beide waren allein. Jch mußte mehrmals in ihn dringen, bis er mir sagte, daß ihn dieser Schauer fast immer an Orten anwandle, wo Jemand begraben liegt. Er fuͤgte hinzu, die Dunkelheit der Nacht wuͤrde vermuthlich seine Wahrnehmung bestaͤtigen. Abends um 9 Uhr (es war Fruͤhling 1759.)[ kehrte] ich mit ihm in den Garten zuruͤck, und er versicherte mich, auf dem besagten Platze, nicht eine lange hagere Gestalt, sondern eine kaum fuͤnf Fuß hohe Dunstsaͤule zu erblicken, die ihm einer weiblichen Figur aͤhnlich schien. Jch trat dicht auf die Stelle, konnte ihn aber nicht dazu bewegen ein gleiches zu thun. Jch fuhr mit dem Stocke und mit der bloßen Hand uͤberall umher, ohne weder einen Widerstand noch einen andern Eindruck zu empfinden. Mein Gefaͤhrte versicherte mich, so wie ich die Dunstsaͤule zertheilte, floͤße sie wieder, gleich einer getrennten Flamme, zusammen.

Diese naͤchtliche Wallfahrt habe ich mit mehrern meiner Freunde im Lauf eines Jahres bei jeder Witterung oͤfters wiederholt, ohne daß, außer dem ersten Entdecker, jemand das Mindeste gesehen oder verspuͤrt haͤtte. Einmal schob ich mit Huͤlfe meines Bruders ihn mit Gewalt auf die gedachte Stelle. Zittern und Grauen ergriffen ihn, und25 noch des andern Tages bemerkte Jedermann die Todesblaͤsse seines Gesichtes.

Den folgenden Fruͤhling ließ ich, nicht des Nachts (ich wuͤßte nicht, warum ich, der ich hier keinen Schatz suchte, die Geisterstunde haͤtte waͤhlen sollen) sondern an einem schoͤnen Tage und in Beiseyn mehrerer noch lebenden Personen, auf dem Platze nachgraben, und wir fanden wuͤrklich ungefaͤhr fuͤnf Fuß in der Erde, unter einer isolirten Schichte Kalchs, sehr vollstaͤndige Reste eines menschlichen Gerippes, wobei besonders der Schedel und die Kinnbacken mit den Zaͤhnen noch ganz erhalten waren.

Wahr ists, daß mein schaͤtzbarer Freund, den ich nach dieser Operation auf die Stelle fuͤhrte, nicht die mindeste Abneigung oder Erschuͤtterung mehr spuͤren ließ, und daß ich nachher noch mehr als einmal Gelegenheit hatte, mich zu uͤberzeugen, daß sein Nervensystem durch die Ausduͤnstungen auch von alten Graͤbern, auf eine mir unerklaͤrliche Art angegriffen wurde. Dabei besitzt er ein aͤußerst scharfes Gesicht und kann noch jezt sich des Nachts uͤberall ohne Licht finden.

Da Herrn16Moritzdaran gelegen seyn muß, lauter getreue Thatsachen zu liefern, so willige ich sehr gerne darein, daß ihm gegenwaͤrtige Erlaͤuterungen und Zusaͤtze mitgetheilt werden. Die uͤbrigen Umstaͤnde seiner Erzaͤhlung sind der Wahrheit26 gemaͤß: deswegen hielt ich fuͤr unnoͤthig, sie zu wiederholen.

Vielleicht kann dieses Phaͤnomen, das gewiß nicht das einzige seiner Art ist, den Glauben des Alterthums erklaͤren, daß die Schatten der Verstorbenen uͤber ihren Graͤbern schweben. Und da der Jrrthum sich so oft in den Nimbus der Wahrheit gehuͤllt hat, so koͤnnen unreine Haͤnde wohl auch der Wahrheit das phantastische Gewand des Jrrthums umgehaͤngt haben.

17Pfeffel.

3. Ueber Seelenkrankheit und einen Seelenkranken Menschen.

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Der Herr Professor20Moritzaͤußert in seiner Revision der drey erstern Baͤnde seines Magazins die Meinung: daß jedes Laster eine Seelenkrankheit sey. Jch bin ebenfalls der Meinung, daß jeder Lasterhafte ein Seelenkranker sey, und eigentlich diese Benennung einem solchen nur beigelegt werden koͤnne. Verwirrung, Raserey, Tiefsinn, Schwermuͤthigkeit u.s.w. sind eigentlich keine Seelenkrankheiten, weil der Grund dieser Krankheiten (vielmehr Schwachheiten) nicht in der Seele, sondern in dem thierischen Koͤrper selbst gesucht werden muß. Koͤr -27 perliche Umstaͤnde verhindern die Seele so oft sie leidet in ihren Wirkungen und[ zerruͤtten] ihren natuͤrlichen Zustand der Selbstthaͤtigkeit. Verletzung oder Druck des Nervensystems, die durch vielerlei Veraͤnderungen im Koͤrper und durch aͤussere Umstaͤnde verursacht werden kann; durch verdicktes, schweres Gebluͤt, durch schlechte Beschaffenheit des Magens, durch Wuͤrmer, durch Kontusionen des Kopfs, durch Schreck, Furcht, Freude,[ mithin] durch tausendfaͤltige Umstaͤnde, wodurch die thierische Maschine, der sich die Seele zu ihren Wirkungen bedient, ihr eigenthuͤmliches Vermoͤgen und Kraft, zum freien Wirken verlieret, ist allemal Ursach der Verstandlosigkeit und der unregelmaͤssigen Handlungen (Aeusserungen) der Seele. Verwirrung, Raserey und all' die sonderbaren Erscheinungen, die uns eine aus ihrem Wirkungskreise versezte Seele sehen laͤßt, waͤr also kein kranker Seelenzustand, wohl aber zeigte ein solcher Umstand eine Verhinderung der Seele an, die durch Schuld ihrer beschaͤdigten Maschine nicht regelmaͤssig wirken kann. Die koͤrperliche Krankheit, woher wir den Begriff Seelenkrankheit ableiten, giebt uns die Jdee an, was Krankheit, (Schwaͤchlichkeit, Ungesundheit) sey, nemlich; wir nennen Krankheit denjenigen Zustand des Koͤrpers, in welchen der Mensch untuͤchtig ist, sein natuͤrliches (angebohrnes) Vermoͤgen zu wirken oder handeln, anzuwenden; ist dieses Vermoͤgen zum Wirken irgend wodurch gehemmt28 oder geschwaͤcht, wie z. B. durch Mattigkeit, Schmerz, Verstuͤmlung u.s.f. so nennen wir den Menschen krank, d.i. unbrauchbar zur Arbeit zu seinen Geschaͤften, zu denen er sonst aufgelegt, tuͤchtig war. Krankheit des Koͤrpers ist folglich ein veraͤnderter, geschwaͤchter Zustand des Koͤrpers, der aus dem Koͤrper selbst seinen Ursprung nimmt, und den Grund seines veraͤnderten Zustandes in sich hat. Nach dieser Jdee, die ich mir von der Natur der koͤrperlichen Krankheit bilde, formire ich die mangelhafte Jdee von der Seelenkrankheit. Jst die Seele krank, so muß ihr natuͤrliches Vermoͤgen zum Wirken behindert werden, folglich eine verkehrte unzweckmaͤßige Richtung nehmen; ihr Vermoͤgen muß stocken, verlaͤhmt seyn, nicht so wirken und selbstthaͤtig handeln zu koͤnnen, als sie ihrer Natur nach kann und gewohnt ist; ihr natuͤrlicher Zustand ist also veraͤndert, sie kann ihre natuͤrliche Kraft nicht anwenden; ihre Natur leidet also durch gewisse Hindernisse. Dieser veraͤnderte Zustand nun findet seinen Grund in der Natur der Seele selbst, so wie die Krankheit des Koͤrpers ihren Grund im Koͤrper findet; die Seele wie der Koͤrper wirken diesen ihren veraͤnderten Zustand (Krankheit), durch gewisse Umstaͤnde gezwungen, und werden durch diese hervorgebrachte Wirkung die Ursach ihres veraͤnderten Zustandes. Jst die Seelenkrankheit durch zufaͤllige Umstaͤnde eine Wirkung der Natur der29 Seele, und ist in der Seele das Principium zu suchen, gleich der koͤrperlichen Krankheit, wovon der Koͤrper allein den Grund enthaͤlt und Ursach wird, so kann diejenige Seele nicht krank heissen, die durch koͤrperliche Umstaͤnde gehindert wird ihre Wirkungen fortzusetzen, oder die natuͤrlichen Kraͤfte ihrer Natur anzuwenden, weil der Grund dieser zufaͤlligen Verhinderungen nicht in der Natur der Seele, sondern in gewissen Umstaͤnden des Koͤrpers liegen. Die Seele ist in dem Zustande der Verstandlosigkeit also nicht krank, sondern verlaͤhmt, geschwaͤcht, oder unvermoͤgend zu nennen. Eine lasterhafte Seele wuͤrde eigentlicher eine kranke, unvermoͤgende, geschwaͤchte Seele zu nennen seyn; denn so wie koͤrperliche Krankheiten von zufaͤlligen Umstaͤnden abhangen, die in dem Koͤrper den Grund der Krankheiten finden, und von sehr verschiedner Art sind, je nachdem der Koͤrper beschaffen ist, so haͤngt die Seelenkrankheit, die ebenfalls durch sehr verschiedene Umstaͤnde generirt wird, von zufaͤlligen Umstaͤnden ab, die in der Seele den Grund der Krankheit finden. Die eine koͤrperliche Krankheit ist heftiger, die andern zusammengesezter und weit gefaͤhrlicher als die andern eben so die Seelenkrankheit, die Lasterhaftigkeit. Die eine Seele ist mehreren Lastern zugleich, die andere ist in einem ausnehmend hohen Grad einem gewissen Laster besonders ergeben; z. E. der foͤrmliche Dieb ist gemeiniglich mehrern Lastern,30 der Saͤufer oft nur dem einen Laster, im hoͤchsten Grad ergeben, wodurch seine Seele alle Brauchbarkeit verliehret. Es giebt Menschen, deren ganzes Leben eine Krankheit zu nennen ist, die in diesem durchaus zerruͤtteten Zustande ganz unfaͤhig sind, die natuͤrlichen Kraͤfte ihres Koͤrpers ihrer Anlage nach zu gebrauchen; so finden sich auf aͤhnliche Art Seelenkranke, deren ganzes Leben, (die ersten Jugendjahre ausgenommen) eine Seelenkrankheit genannt werden kann, weil ihre Seele in einem so unordentlichen Zustande ist, in welchem sie aller guten Thaͤtigkeit, Aeusserungen, Wirkungen, gewissermaßen ihrer ganzen Brauchbarkeit beraubt wird, und ihren erschlaften, verlaͤhmten Kraͤften die gehoͤrige Richtung nicht geben kann. Der Seelenkranke, der Lasterhafte, der sich seit Jahren gewissen Lastern ganz uͤberlassen hat, fuͤhlt sich wie gezwungen, seiner Seelenbegehrungskraft immer freien Lauf zu lassen, sie ist herrschend auf Gegenstaͤnde gerichtet, von denen sie gleichsam unwiderstehlich angezogen wird, und der die uͤbrigen Seelenkraͤfte die Waage nicht mehr halten koͤnnen, weil sie einmal das voͤllige Uebergewicht erlangt hat. Eine solche Seele ist ja wohl recht krank, weil ihre uͤbrigen gesunden Kraͤfte der weit staͤrker gewordenen ungesunden (verkehrt gerichteten) erschlaften Kraft unterliegen, und dadurch die Seele krank wird. Der Koͤrper wird krank, wenn sein Blut und seine Nerven leiden, wovon der Grund in der veraͤnderten31 Beschaffenheit des Koͤrpers zu suchen ist; die Seele wird krank, wenn ihre Begehrungskraft eine uͤble Richtung oder Hang erhaͤlt, wovon der Grund in der vernachlaͤssigten Kultur der Empfindungs - und Erkenntnißkraft der Seele zu suchen ist. Jst die ganze Seele zerruͤttet, d.i. die Begehrungskraft durchaus verstimmet, vernachlaͤssiget, mithin ganz lasterhaft, so ist dies Beweis von einer ganz vernachlaͤssigten Kultur der beiden uͤbrigen Seelenkraͤfte, die nun ihre gehoͤrige Wirkungen nicht mehr aͤussern koͤnnen, die dritte Seelenkraft also nothwendig in Unordnung gerathen muß. Kein Wunder wenn die durchaus lasterhafte Seele ihre beste Kraft zu guter Thaͤtigkeit verlohren hat, kein Wunder wenn der Lasterhafte schlecht handeln muß, und nicht anders handeln kann, weil eine zu große Veraͤnderung mit ihm vorgehen muß, und seine uͤbrigen Seelenkraͤfte neu angebauet werden muͤssen, wenn er besser handeln soll, als er nun kann. Daher die Seltenheit einer gebesserten Lasterseele und die anscheinende Unmoͤglichkeit, manchen Lasterhaften zu bessern. Die lezten Lebensstunden eines solchen Menschen reichen zu seiner voͤlligen Besserung nicht zu, wenigstens nicht ohne ein anzunehmendes W. W. Der Weg zur Besserung ist ein natuͤrlicher Weg, und die Mittel der Natur der Seele ganz gemaͤß. Die Kultur der Empfindungs - und die Richtung der Erkenntnißkraft macht den Menschen, entweder tugend - oder lasterhaft, je nachdem beide32 Kraͤfte die eine kultivirt, und die andere gerichtet wird, beide Kraͤfte geben das Triebrad, Empfindung, Neigung, Trieb, und die Begehrungskraft wendet sie an.

Die Seele kann nach ihren Anlagen und Kraͤften vollkommen seyn, metaphysisch dem Menschen die metaphysische Vollkommenheit geben, und er kann doch das schaͤndlichste, verabscheuungswuͤrdigste Ungeheuer der Schoͤpfung werden. So lebt in meiner Gemeine ein Mensch, der gewiß die[ metaphysische] Vollkommenheit in einem hohen Grade besizt, ein Mensch von hoͤchstens 38 Jahren. Die Regelmaͤssigkeit seines Koͤrperbaues, seiner Bildung giebt ihm eine ausgezeichnete Schoͤn - und Vollkommenheit; jeder Theil seines Koͤrpers ist regelmaͤssig schoͤn, ist Original, und bestaͤtigt Socratis Ausspruch vollkommen: ein schoͤner Koͤrper verraͤth eine schoͤne Seele (den Anlagen nach). Die Seele dieses Menschen ist in ihrem Ursprunge gewiß vollkommen; viel Witz, Scharfsinn, Verstand, Muth, Lebhaftigkeit alles zeichnet seine Seele vorzuͤglich aus. Und eben dieser Mensch ist das einzige aͤchte Original von Lasterhaftigkeit, das ich unter allen Lasterhaften Menschen kennen zu lernen Gelegenheit gehabt habe, auch meine Lectuͤre reicht nicht hin, sein Urbild in einem Rival dieser Art zu finden. Es ist kein einziges unter allen Lastern, in so weit sie dieser Mensch kennet, das ihm nicht ganz eigen wie natuͤrlich geworden waͤre. Der grobe Diebstahl ausgenommen33 denn sein lasterhaftes Pointd'honnoͤr ist zu groß und duldet dieses Laster nicht. Seit seinem 16ten Jahre ohngefaͤhr ist er zu diesem Original erwachsen als Bauern Sohn, bei einer sehr guten gemeinen Erkenntniß; hat auch hier und da bei recht guten Leuten gedient. Die Schwaͤrze seines Herzens hat nach meiner geringen Menschenkenntniß ihren hoͤchsten Staffel erreicht. Lachend und scherzend mit satanisch hoͤhnender Miene ist er faͤhig, jeden Menschen, die Unschuld selbst auf die herzkraͤnkendste Weise zu betruͤben, ohn Anlaß und Ursach! Verraͤtherey, die listig entlockten Geheimnisse seines Busenfreundes frohlockend kund zu machen, ist sichtbare Wollust fuͤr seine Seele. Bruͤnstig wiehrend wie Vieh in der Menschenhaut lockt und liebkoset er so, als Juͤngling, so als Mann (ehemals mit einer Art von Zauberkraft, jezt faͤngt seine Schoͤnheit unter dem Laster an zu verwelcken) und ist barbarisch genug nach seiner Saͤtigung, selbst die schoͤnste entknospte Unschuld grausam zu mißhandeln und ohn 'Erbarmen, hart gegen alles Gewinsel, ins Elend von sich zu stoßen. Die schoͤnsten Kinder seiner Brut muͤssen oft des Lebens unsicher seiner Wuth entfliehen, und mit der Mutter unter freiem Himmel elende Naͤchte durchwachen. Jn solchen Augenblicken, wo er sich selbst zu uͤberwinden scheint, ist er wie eine Mißgeburth der Natur, deren sonst laute Stimme er auch nuͤchternen Muths nicht hoͤrt. Auch die schoͤnste Statue, die ihn mit Affenneigung34 zu fesseln schien, (denn er hat schon mehrere Weiber und Koncubinen im Besiz gehabt) wird unter viehischer Art barbarisch behandelt, wie ein Block zerpeitschet, und wie ein Ball hin und her gestoßen, nur gluͤklicher Zufall und Flucht rettete schon mehreren derselben das Leben.

Die Religion, alles was Heilig und Tugend heißt, ist ihm ein Gegenstand des lautesten Gespoͤtts; seine Zunge stoͤßt mit einer Art von Nattergift, die seltsamsten Verwuͤnschungen und graͤßlichsten Fluͤche von sich, mit einer Manier und Schnelligkeit, die eine große Fertigkeit anzeigt, seine Wege wiederhallen gemeiniglich wenn er getrunken hat von einem wildtobenden Gebruͤll weit umher bei schaͤumenden Maule, und jeder eilt bei Seite sein Geist scheint in dem Zustande ihm eine quaͤlende Marter zu seyn. Die unschuldigsten Menschen werden oft, wenn die Gelegenheit es will, der Gegenstand seiner tigerischen Wuth, die er mit einer List moͤrderisch anzufallen weiß, die oft einzig in ihrer Art ist; nur die waltende Vorsicht rettete bereits manchen ihr Leben, frolockendes Triumphgebruͤll verkuͤndigt dann laut umher seinen erfochtenen Sieg. Kein einziges Gesetz ist seiner Befolgung werth, und er scheint ohne Gesetz ungebunden leben zu muͤssen. Seine Verstellung, Freundlichkeit, Dienstfertigkeit, verstaͤndige Reden, einnehmender Ausdruck, anstaͤndige Dreustigkeit sind die Zauberkuͤnste, wodurch er sich ausnehmend gluͤklich einzuschmeicheln,35 und jeder dem er unbekannt ist, fuͤr sich einzunehmen weiß. Die Miene der Ehrbarkeit und wirklicher Rechtschaffenheit; sich mit einer Art von Wuͤrde in fremde Angelegenheiten zu mischen, sich hier und da bei Leuten nothwendig zu machen, ist eine Kunst, die er gruͤndlich studirt hat. An Beredsamkeit und rednerischen Wendungen ist er ausnehmend reich, und weiß sich dergestalt aus seinen verwickelsten Haͤndeln zu schwatzen, daß man in Zweifel geraͤth, ob er Engelrein oder schwarz wie das Haupt aller Lasterhaftigkeit sey. Den Obrigkeitlichen Personen hat er bereits manche Last gemacht. Jn seinem gemeinen Leben ist ihm Schande aller Art eine reiche Ehrenernte, und er bruͤstet sich wirklich mit Lastern, die der halbgesittete ohne zu erroͤthen nicht hoͤren kann. Es ist ihm sichtbare Freude, sich uͤber alle Scham so weit erhoben zu fuͤhlen, daß er schon mit ihr unbekannt geworden ist. Die schaͤndlichsten Thaten von ihm begangen sind in seinen Augen Heldenthaten, wenn er Parthey nimmt, macht er sich eine Ehre daraus, durch seine Eidschwuͤre die Sache seines Klienten durchsetzen zu helfen, und ist ihm in dem Fall eine Freude, wenn er wie angebothner Zeuge vor Gericht als ein solcher mitagiren und seiner Parthey dienen kann. Bei aller Gelegenheit ruͤhmt er seine Talente zu Lasterthaten, spricht von seinen genoßnen Lasterfreuden mit einer Ruhe und Delicatesse, und seine Seelenheiterkeit ist dabei so groß, daß mans ihm wirklich zuglauben sollte, er sey ohne alle Moralitaͤt36 gebohren, gezwungen durch Natur so zu handeln und zu seyn, als er handelt und ist. Seinen in den benachbarten Gemeinen bekannten Ruf kennet er vollkommen; nennt declamatorisch sehr oft seinen Haus - und Taufnamen, scheint den Effect davon zu seiner Aufblaͤhung recht zu empfinden, sich als Lasterheld fuͤhlend, gleich jenem Helde im Shakespear: ich selbst bin ganz allein ich selbst! So ein Urbild von Lasterhaftigkeit in Natura ist dieser Mensch kein Jdeal wie Shakespear sich bildete. Nur geehrt und geachtet will er durchaus bei allen Menschenclassen seyn; diesen Anspruch glaubt er durch seine Lasterrenommisterey erworben zu haben. Zwoͤlf bis vierzehn Jahre mag dieser Patient in diesem Kreise seiner unheilbaren Seelenkrankheit herumgetaumelt seyn, der vielen Menschen ein verderbliches Exempel ist, wie die verherende Pest, vieler Menschen Fall geworden, und noch mehrern eine taͤgliche Plage ist, sich selbst aber ein fressendes Feuer, das sich selbst verzehret.

Weder militaͤr - noch buͤrgerliche Zuͤchtigungen, die oft fuͤhlbar genug waren, haben ihn heilen koͤnnen; selbst seine jetzige Armuth kann ihn nicht zaͤhmen, nur faͤllt ihm jezt manche Lasterkost zu kostbar, wodurch er jedoch noch aͤrger wird. Dieser Mensch ist offenbar ein unheilbarer Seelenkranker, dessen ganze Seelenkrankheit in ihrem Umfange ich nicht zu beschreiben im Stande bin. Alle moralische Mittel zu seiner Besserung sind wirklich bereits37 erschoͤpft. Religion kennt er, aber hat sie nicht, haͤlt sie fuͤr ein Hirngespenst, und stoͤßt sie von sich, wo sie seine Schritte zuͤgeln will. Die gemeine Menschenehre ist ihm Thorheit; Wohlstand, Beifall, Glauben, Zutrauen des Naͤchsten sucht er nicht; seine Luͤste zu froͤhnen, ohne Einschraͤnkung zuͤgellos zu leben, nur das ist sein einziges Augenmerk, das Ziel der Ehre wohin er strebt. Zwangmittel sind bisher fruchtlos gewesen, und moralische als die einzigen aͤchten Besserungsmittel fuͤr den Menschen, werden fruchtlos bleiben. Koͤmmt einmal sein Sterbelager naͤher, so moͤchte hoͤchstens eine erzwungene Galgenbuße seine Miene froͤmmer machen, aber sicher sein Herz nicht bessern, seine Seele nicht heilen. Wollen wir kein Wunderwerk annehmen, so kann diese durchaus erkrankte Seele schwerlich auf dem natuͤrlichen Wege der Besserung durch neue Kultur der Seelenkraͤfte gebessert werden. Ein Arbeits - lieber Besserungs - als Zuchthaus, wo ein solcher Mensch mehrere Jahre im Stillen ohne alle Gesellschaft fleißig arbeiten muͤßte, waͤre die beste Kur und zugleich Wohlthat fuͤr den Staat. Jn Gesellschaft zu arbeiten wuͤrde ein solcher Mensch sicher der alte bleiben, die Seele nie recht aufwachen und zu sich selbst kommen. Sonst muß wohl der treue Volkslehrer das beste thun, solche Krankheiten durch Popularitaͤt im Predigen, Katechisiren und Hausbesuchen, zu heilen und vorzubeugen suchen. Aecht populaͤre Prediger, die zu diesem38 Geschaͤft abzweckten, kenne ich noch nicht. Was gemeinhin populaͤr heißt, ist bei weitem nicht fuͤr alle aus der Volksclasse populaͤr. Die Local-Volkssprache wissen, die Erkenntniß, Denkungsart, Sitten, Vorurtheile, Gebraͤuche, Gewohnheiten und besonders den Winkelwandel, ich will sagen das gemeine taͤgliche Betragen des Volks unter und gegen einander auszuspaͤhen, treulich benutzen, verlangt die eigentliche Popularitaͤt. An jedem Orte, fuͤr jedes gemeine Volk populaͤr und gleich nuͤzlich zu seyn, ist Unmoͤglichkeit; das Stadtvolk verlangt einen ganz andern populaͤren Vortrag als das Landvolk, und die eine Landgemeine wieder einen andern, als die zweite Gemeine in einer benachbarten Provinz. Gut waͤr 'es, wenn jeder treue Prediger eine genaue unpartheische Liste uͤber den moralischen Wandel und Gemuͤthszustand seiner Eingepfarrten halten koͤnnte; wahrscheinlich wuͤrde sie ihm gute Dienste leisten.

21Zur HellenPrediger in der Grafschaft Ravensberg.

4. Bemerkungen uͤber einen inkorrigiblen Dieb in psychologischer Ruͤcksicht.

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Das Laster ist bekanntlich eine herrschende boͤse Neigung, die durch oͤftere Befriedigung Fertigkeit39 in Volbringung boͤser Thaten und oft unvertilgbarer Hang zu boͤsen Thaten wird; Diese Fertigkeit, unedler Hang, boͤse Neigung bestimmen den moralischen Character des Lasterhaften. Nur wenige lasterhafte Menschen im eigentlichen Sinn der Wortbedeutung, sind von Grund aus zu heilen. Laster ist und kann also nichts Angebohrnes, nichts der menschlichen Natur Eigentuͤmliches seyn, in Ruͤksicht ihrer urspruͤnglichen Beschaffenheit; boͤse Neigung ist Laster, wenn sie herrschend wird, und sie muͤßte herrschend seyn, wenn sie angebohren waͤre. Der Verfasser der Geschichte seiner Verirrungen B. 3. St. 1. der Erfahrungsseelenkunde irrt sich folglich, wenn er S. 11 sagt, gutes und boͤses Herz werden wohl angebohren. Grundtriebe, Affecten, Temperament, werden angebohren, verherrlichende Weisheit des großen Schoͤpfers vermoͤgen zum Boͤsen, es zu begehen, anzunehmen u.s.w. Der Zunder, die Empfaͤnglichkeit fuͤrs Boͤse, offen fuͤr unedle Neigungen, ist in der menschlichen Natur anzutreffen, entspringt und ist aufs wesentlichste mit den Grundtrieben, Affecten und Temperament des Menschen vereint. Der Mensch ist mithin durch seine Natur zu keinen unedlen Neigungen gezwungen; waͤr ers, haͤtte er ein angebohrnes schlechtes Herz: wie waͤren auch die Haupteigenschaften Gottes, seine Gerechtigkeit, seine uneingeschraͤnkte unpartheische Menschenliebe, womit er aller Menschen Wohl und dauerndes Gluͤk so offenbar will,40 zu rechtfertigen? Daß der eine Mensch mehr Zunder, mehr Empfaͤnglichkeit, mehr Offenheit, wenn ich so reden darf, fuͤr unedle Neigungen hat, als der andere, so wie der eine mehr Lebhaftigkeit des Temperaments, heftigere Affecten, staͤrkere Grundtriebe besizt als der andere ist ausser Zweifel. Diese oft auffallende Verschiedenheit hat die Jdee erzeugt: er ist mit dem Strick gebohren, wie der große und fromme Saurin, auch so manche andere Beispiele diese Jdee zu beguͤnstigen scheinen. Gewisse unedle Neigungen, gewisse boͤse Triebe koͤnnen der Natur des Menschen nicht angebohren seyn, weil er sonst auch wider Willen zu boͤsen Handlungen gezwungen seyn wuͤrde, also wie eine todte Maschiene nie zu einem moralischen Character gelangen koͤnnte, und ohne diesen ist der Mensch Jdiot, oder ein Verstandloser, der keinen Willen hat, denn sein moralischer Character haͤngt lediglich von seinem freien Betragen und Verbindungen ab, folglich weder durch Kultur der Seelenkraͤfte, durch Erziehung, durch Umgang, durch Gewohnheit, durch zufaͤllige Umstaͤnde des Koͤrpers, noch durch die Religion gebildet werden koͤnnte. Das Vermoͤgen darf ich sagen, die Kraft zu guten als boͤsen Neigungen, der Zunder fuͤr beides muß der Natur der Seele eigen seyn, und muß ohnstreitig zu der metaphysischen Vollkommenheit des Menschen gehoͤren, so wie er in seinem gegenwaͤrtigen Zustande seyn sollte, nemlich fuͤr diese beste Welt, metaphysisch eingeschraͤnkt, aus41 welcher Einschraͤnkung moralische als physische Uebel nothwendig erfolgen muͤssen, und auch nach dem unuͤbersehbaren Plane des Ewigen zum Besten seiner Welt erfolgen sollten. Das Vermoͤgen, die Kraft, die der Mensch zum Boͤsen frey hat, bestimmt ihn aber durchaus nicht, irgend eine boͤse Neigung bey sich herrschend werden zu laßen, sonst wuͤrde sein natuͤrliches Seelentemperament einen nothwendigen Einfluß in seinen sittlichen Character haben, den es doch nothwendig nicht hat, noch haben kann; dies beweiset schon die bekannte Geschichte in Socratis Leben. Selbst der moralische Character des Menschen wuͤrde aufgehoben, wenn er nothwendig durch Natur gezwungen, in eine boͤse Neigung, die Ungluͤk fuͤr ihn wird, willigen muͤßte. Freyer Wille, der des Menschen Moralitaͤt allein bestimmt, und angebohrne schlechte Neigungen oder ein boͤses Herz die elend machen, laßen sich nicht bei einander gedenken. Angebohren ist gezwungen, es ist Grundtrieb und determiniret meinen Willen, so lange die Seele ihre Herrschaft noch hat. Waͤre irgend ein Mensch durch die urspruͤngliche Beschaffenheit seines Seelentemperaments zu gewissen unedlen Neigungen gezwungen, oder auch durch das Temperament des Koͤrpers, so wuͤrde seine moralische Unvollkommenheit in Ewigkeit wachsen, und so unaufhoͤrlich fort aller Verbesserung unfaͤhig bleiben, oder Gott muͤßte das Wesen der Seele selbst umschaffen und das wird er doch nicht. Das boͤse42 Herz, Lasterhaftigkeit, Fertigkeit boͤser Neigungen, muß also doch wohl durch eine verkehrte Richtung der Seelenkraͤfte, also durch eigene Schuld des Menschen, durch Vernachlaͤßigung, schlechte Erziehung und aͤußere Umstaͤnde erzeuget werden. Wenigstens fehlt mirs an aller philosophischer Ueberzeugung, daß ein Mensch durch die urspruͤngliche Beschaffenheit seiner Natur zu gewissen unedlen Neigungen oder Lasterhaftigkeit gezwungen waͤre.

Es heißt: jeder Dieb ist mit dem Strick gebohren, er kann das Stehlen nicht laßen, er muß stehlen, er weiß selbst nicht wenn er stiehlt; eine Erscheinung dieser Art findet sich in der Erfahrungsseelenkunde B. II. St. 1. S. 18. dasselbe muß von Saͤufern auch gesagt werden koͤnnen, da mancher bis in seinen Tod saͤuft, und ebenfalls incorrigible ist, ob er gleich nicht so fruͤh saͤuft als jener stahl. Von beiden sind mir waͤhrend meiner siebenjaͤhrigen Amtsfuͤhrung mehrere Exempel bekannt geworden. Jch glaube lieber, daß eigentlich lasterhafte incorrigible Menschen durch eine fruͤhzeitig verstimmte irre geleitete Seelenkraft krank an der Seele sind, und daß ihr unuͤberwindlich gewordener Hang zu einem gewissen Laster die uͤbrigen Seelenkraͤfte ganz uͤberwieget, und die entgegenstehende gute Neigung unterdruͤcket. Ein bestaͤndiges Abweichen vom rechten Wege laͤßt doch wohl ein gewisses Kopfuͤbel vermuthen wer immer fehl siehet, muß ein schielendes oder schwaches Auge haben, beides ist Augenkrank -43 heit. Angebohren ist keinem Menschen das Stehlen, Huren, Saufen u.s.w., weil jedes Laster da erst Laster wird, wo des Menschen moralischer Character zu wachsen anfaͤngt, wo er freywillig waͤhlen, sich entschließen und bestimmen kann wo er waͤhlen und frey handeln kann, da erst kann die gefaßte unedle Neigung Laster werden. Der sechs bis neunjaͤhrige kleine Dieb wird aus guten Gruͤnden wenn ich so reden mag, mit der Zeit ein incorrigibler Dieb, wie nachfolgende Geschichte darthun wird. Wird das Kind besonders aus niederem Stande, dem es gar zu oft an guter Erziehung und Anfuͤhrung fehlt, mit den Jahren ein Lasterhafter, in welcher Ruͤksicht es sey und zwar ein solcher, der auf keine Weise zu bessern ist, so sind seine urspruͤnglich unschuldigen Neigungen, Grundtriebe, offenbar nicht directe Schuld, wohl aber kann schlechte Erziehung, boͤses Exempel und andere Umstaͤnde dem Kinde mit der Zeit uͤberwiegenden Hang zu unedlen Neigungen beybringen, die durch seine mehr oder minder heftige Affecten und Temperament angeflammt herrschend werden. Dadurch wird dann gleichsam die ganze Seelenbegehrungskraft verstimmet, verdorben und endlich die ihr natuͤrlichste und maͤchtigste Kraft, wornach der Mensch denn handeln muß; er kann dann nicht anders als schlecht begehren und handeln, weil seine Seele dazu nun die meiste geuͤbte Kraft hat.

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Dieser Seelenzustand scheint mir Seelenkrankheit zu seyn, weil eine solche Seele niemals durch physische Mittel in den vorigen Zustand der Gesundheit wieder zu bringen ist. Nun die Geschichte selbst die mich zu diesen unvollstaͤndigen Bemerkungen veranlaßte.

Vor etwa neun bis zehn Jahren zerstreute der damalige Richter in[ Bielefeld] jetziger Regierungs - und Tribunalrath von Hellen in Koͤnigsberg eine starke Diebesbande, die die hiesige Gegend, besonders die Doͤrfer aͤusserst beunruhigte, und weit bis in die Grafschaft Mark umherstreifte. Der verdienstvolle Richter war auch bei seinen eifrigen patriotischen Bemuͤhungen so gluͤklich, einige Anfuͤhrer dieser Bande und einen Theil des Anhanges gefaͤnglich einzuziehen. Einige Raͤuber als Soldaten wurden vom Regiment gezuͤchtigt, andere zur Vestung nach Wesel transportirt, der Hauptanfuͤhrer Namens Schnell aber wurde zum Strange verdammet. Der zweite Hauptanfuͤhrer Joh. Phil. Gering war damals theils unbekannt, theils noch auf fluͤchtigem Fuß. Dieses mein Subject Gering sezte indeß als Anfuͤhrer der noch uͤbrigen Bande die Raͤubereien im Paderbornischen und der Grafschaft Mark fort. Einige von seiner Bande wurden ertappt, und bei Werl einem katholischen Staͤdtchen zwischen Soest und Unna aufgeknuͤpft. Vier bis sechs dieser Raͤuber paradierten nach dortiger Sitte in neuer weisser Monti -45 rung am Galgen, der dicht an der Landstraße steht, und mir, der ich eben auf einer Reise begriffen war bei meiner Annaͤherung nach voͤllig gesunkenem Tage ein unerklaͤrbares Phaͤnomen wurden, zumal ich von der scheußlichen Scene nichts wuste, so daß ich alle meine Kurage zusammennehmen mußte, dies Abentheuer, wollte ich nicht retiriren, mannhaft zu bestehen. Kurz nachher wurde denn auch endlich unser Gering inhaftirt; der Proceß wurde ihm gemacht, und nach gehoͤriger Procedur wurd 'er auch zum Galgen verdammt; mit ihm wurden mehrere Raͤuber eingezogen, welche wesentliche Wohlthat unser Publicum dem wuͤrdigen und wachsamen damaligen Amtmann jetzigen Kriegs - und Domaͤnen-Rath Tiemann in Minden zu verdanken hatte. Diese Nachricht schien Gerings Muth, dem Aeussern nach, niederzuschlagen, denn er war schon mehrmalen aus verschiedenen Gegenden dem Strange gluͤklich entwischt. Jnzwischen war er doch noch zu delicat, als am Galgen sterben zu wollen, der Vorwand war: der Suͤnder am Galgen sey verflucht; ein gemisdeuteter Spruch war ihm Veranlassung, denn er war reich an guten biblischen Spruͤchen. Gering hielt also um das Schwert an, auch dadurch Zeit zu gewinnen, sich von seinen starken Banden zu befreien, und die Mauer des Gefaͤngnisses mit Huͤlfe seines Spiesgesellen zu durchbrechen. Jn dieser Zwischenzeit, wo er denn auch seine Zeit zum Durchbrechen recht fleißig benutzte, besuchte46 ich dieses moralische Ungeheuer. Er war ein starker, wohlgebildeter Kerl von vierzig bis zweiundvierzig Jahren mehr aus Neugierde meine Menschenkenntniß zu erweitern, seine Gemuͤthsart, die Lage seiner Seele kennen zu lernen, als Begierde seine incorrigible Seele zu bessern, ging ich zu ihm, zumal er doch von einigen Mitgliedern der Gesellschaft zur Befoͤrderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit fleißig besucht wurde, auch von diesen Herren leichter wie von mir Hofnung einer voͤlligen Begnadigung erhielt; zudem hatte sich Gering ehemals in meiner Gemeine eine Zeitlang als Knecht aufgehalten. Also nicht aus Bekehrungssucht ging ich hin, weil auch nach meiner Einsicht ein solcher Seelenpatient, ein verhaͤrteter Lasterknecht, hoͤchst selten curirt wird; solcher Fall ist glaublich, ist moͤglich, nie aber uͤberzeugend gewiß, wenn der Patient nicht durch sichtbare Proben seine neue Sinnesaͤnderung, durch gaͤnzlich gebesserten Wandel zu Tage legt, und uns dadurch neue Erfahrung von sich giebt. Waͤr's so leicht dies Geschaͤft, aus einem durch Gewohnheit und Uebung verhaͤrteten Boͤsewicht durchs Evangelium einen neuen Menschen zu machen; waͤrs hie und da einmal glaublich, einen solchen Patienten zu bessern; so fehlts ihm doch noch immer an eigner beruhigender Ueberzeugung von seiner geschehenen gaͤnzlichen Sinnesaͤnderung, von der kein Mensch ohne selbst gemachte neue Erfahrung gewiß werden kann, und ohne eine solche beruhigende Ueberzeu -47 gung ist seine Hofnung, Begnadigung zu erlangen, nur Traum; Gering wird diesen Satz bestaͤtigen.

Dieser Ungluͤkliche wurde nach meinem Verlangen ihn zu sprechen mit der Wache zu mir in die Verhoͤrstube gebracht. Stark geschlossen wankte er zu mir herein, seine Fuͤße bebten unter der laͤstigen Maschine seines gemaͤsteten Koͤrpers; ich hieß ihn sich zu setzen. Darauf fing ich denn in Gegenwart des Wachtmeisters und der Wache meine Unterredung an, that viele neubegierige Fragen um ihn ganz kennen zu lernen, fing von seiner ersten Jugend an, und durchging mit ihm sein ganzes Leben bis daher. Kurz ich durchspaͤhte jeden Schritt seiner Bahn, so gut ich konnte, um den Elenden in seiner ganzen Schwaͤrze zu anderer weitern Benutzung kennen zu lernen. Das hauptsaͤchlichste Studium des Volkslehrers ist nach der heiligen Schrift ja wohl Menschenkenntnis. Frech war der Elende, und mit gezwungener Wehmuth entpreßte sein Kieselherz dem Lasterauge eine ungewohnte Thraͤne, das die Wuͤrde der Thraͤnenquelle nicht kannte, bei dem Gestaͤndnis seiner wilden Lasterhaftigkeit und Verwerfung des Allmaͤchtigen; jedoch beantwortete er freymuͤthig alle meine praͤmeditirte Fragen, und erfuͤllte meine Wuͤnsche. Jch erfrug seinen genoß'nen Jugendunterricht, das gegebene Exempel seiner verstorbenen Eltern. Der Unterricht mußte gut gewesen seyn, er hatte bei einem sehr faͤhigen Kopf viel richtige und gute Erkenntnis, und war in allen48 Buͤchern der heiligen Schrift sehr bewandert; applicirte bei einer Menge lehrreicher Gesaͤnge manche Stelle der Schrift und Gleichnisse gut. Jch suchte demnaͤchst den Anfang die Quelle seiner Lasterhaftigkeit auf, und erfuhr, daß er in seinem neunten Jahre zuerst Kohl aus des Nachbaren Garten gestohlen habe, wozu seine Eltern gelaͤchelt haͤtten; habe aber nicht gewust, daß seine Nascherey so unerlaubt sey, ein gewisses Schaudern habe er zwar gefuͤhlt, nur das Laͤcheln der Eltern (die sonst keine Diebe waren) habe ihn leicht wieder beruhiget. Mit dergleichen Buͤbereien habe er nachher kontinnuirt; besonders bei seinen Schulkammeraden, unter denen (gemeinen Standes) dergleichen oft vorgefallen. Wie er aber nachmals bei andern Leuten als Knabe und Knecht gedienet, habe er durch Tausch, Handel auch Entwenden manche Acquisition gemacht und dadurch zur Dieberey immer mehr Neigung bekommen, bis es ihm zur Profession geworden. Seine Liederlichkeit reizte ihn endlich Soldat zu werden, und als solcher wurde er, nachdem er Diebereien wegen mehrmalen gezuͤchtigt worden, (wie mir bekannt war) nach Pohlen geschikt; von da er desertirte, auch in fremden Gegenden mehrmalen aus gefaͤnglicher Haft dem Strange entfloh, bis nun sein Maas voll zu seyn schien. Sein Hang zum Stehlen kontinuirte er, habe sich inzwischen aller Gefahren ohngeachtet dergestalt vermehret, daß ihn selbst das Exempel seines vor einigen Jahren aufgeknuͤpften49 Kompagnons Schnell, dessen Execution er aus einem nahen Gebuͤsche umstaͤndlich angesehen, nicht habe anders Sinnes machen koͤnnen; habe auch ohne sonderliche Empfindung als schwebe er nicht in gleicher Gefahr, zusehen koͤnnen. Jn der folgenden Nacht aber, als er unter dem Galgen durchgegangen und Schnells Schiksal auch dessen Verlust beklagt habe, sey ihm ein fuͤrchterlicher Schreck uͤberfallen, habe sich darauf entfernt, und fest vorgenommen neu nicht wieder zu stehlen, sey auch mit diesem Vorsatz ein paar Stunden weiter gegangen, eine unvermuthete Gelegenheit aber habe ihn in der Morgendaͤmmerung unwiderstehlich zu einem neuen Diebstahle gereizt, und er habe stehlen muͤssen. Auf meine eingestreute Erinnerungen, sein Jnners zu ruͤhren, versezte er: er habe manchen guten Eindruk gehabt z. B. beim Voruͤbergehen eines Gottesdienstes, habe selbst manche Kirche besucht und fleißig zugehoͤrt, sey oft in guten Gesellschaften gewesen, habe sich aber nie recht getroffen gefuͤhlt und immer ohne Ruͤhrung geblieben, als ginge ihn von allem Guten nichts an. Endlich nach vielem offenherzigen Erzehlen, das ihm jedoch nicht schaden konnte, und vielen Antworten, frug er, was ich denn nun wohl von seinem Seelenzustande hielte; mehr aus Neugierde als Ernst! ob er wohl selig werden und zu Gnaden kommen koͤnnte? denn er arbeitete recht eifrig an seinem Durchbrechen. So laͤßt sich mancher gute Geistliche hinters Licht fuͤhren, der mit der Gnade50 schon so bereitwillig war. Jch ging darauf nach der Geschichte, die er mir von seinem Herzen an die Hand gegeben hatte, sein zeitheriges Leben mit ihm durch, und wollte ihm seine jetzige Angelegenheit, da er verstellt etwas Ernst blicken ließ, (denn sein heimliches Unternehmen witterte kein Mensch) wichtig machen, zeigte ihm daß eine gaͤnzliche Sinnesaͤnderung mit ihm vorgehen muͤßte; er muͤsse nach der von ihm so lange und muthwillig verachteten Lehre Christi ein neuer Mensch werden u.s.w.; sezte aber hinzu: ich zweifle nach Gruͤnden der H. S. und meiner wenigen Menschenkenntnis, daß er in kurzer Zeit eine so wichtige Veraͤnderung nuͤzlich und zu seiner vollen Beruhigung als bei der Sinnesaͤnderung vorgehen muͤsse, mit sich vornehmen koͤnne? Jezt habe er dazu zwar noch die Mittel in Haͤnden, haͤtte er die aber bisher zu gebrauchen zu schwer gefunden, da er so viele Gelegenheit, Anleitung und Reiz dazu gehabt, wie weit schwerer es ihm jezt werden wuͤrde, sie gehoͤrig zu gebrauchen, da ihm alle Gelegenheit fehle, sie anzuwenden und durch eigne Erfahrung von dem Nutzen ihres Gebrauchs, von seiner wirklichen Besserung und Sinnesaͤnderung sich zu uͤberzeugen. Denn Worte glauben, Vertrauen, Lesen, Beten etc. das waͤren nur Mittel, und die Zeit sie zu seinem eigenen Besten zu gebrauchen, sey nun voruͤber und eben durch diese Mittel muͤßten wir neue andere Menschen und die Sinnesaͤnderung bewuͤrkt werden, ausser dem gingen wir dem51 Erloͤser nichts an, der nur wirklich gebesserte Menschen in sein Reich haben wolle; die Buße des Sterbebettes und so die Galgenbuße bei langjaͤhrig verblendeten Menschen, waͤre selten rechter Art, nach dem Spruͤchwort: wie der Kranke genas etc. Jch zeigte ihm darauf wie seine Buße oder Sinnesaͤnderung beschaffen seyn, und er von seinem vorigen Wege ganz abtreten muͤße, wenn sie rechter Art seyn sollte, eine solche traue ich ihm aber schlechterdings nach der Geschichte seines Herzens nicht zu, koͤnne ihm meiner Seits daher keine Hofnung zu einer voͤlligen Begnadigung machen. Schon mehrmalen sey er der Hand Gottes entflohen, und habe immer wieder den alten Weg betreten und jezt sey wieder der Fall da; auch jezt wuͤrde er sicher der Alte bleiben, wenn er freye Fuͤße gewinnen koͤnnte; ich muͤße also glauben, daß er auch noch unterm Galgen bei all seinem Haͤnderingen, Flehen und Weinen das alte Herz behalten wuͤrde. Gute Vorsaͤtze und Angelobungen goͤlten nur dann, wenn sie gehalten wuͤrden, und das gewiß zu wissen, dazu waͤre seine Seele schon zu verwildert und verblendet. Einem solchen Menschen, der nur die Gestalt noch uͤbrig habe, sey mit Grunde keine Hofnung zu machen. Jst denn gar keine Gnade fuͤr mich zu hoffen und doch war seine Seele des Entwischens und dann der Alte zu bleiben voll rief er, als ich nach zwey bei ihm zugebrachten Stunden gehen wollte. Noch nicht Gering, es sey dann u.s.f. versezte ich. Jndeß rief der Wacht -52 meister, ey Herr Prediger: ich bin kommen die Suͤnder zur Buße zu rufen und nicht die Frommen, spricht der Heiland, und sie wollten ihm das so schwer machen! Huͤte er sich mein Freund ein solcher Frommer zu werden, war meine Antwort, solche Fromme, wie hier gemeint waren, sind Pharisaͤer die sich selbst vermaßen, und sich schon fuͤr gut genug hielten, und von Gering waͤre zu wuͤnschen, daß er ein solcher Suͤnder wie die gemeinten waͤre, noch ist ers nicht! O wie mancher Lasterhafte wird mit solchen uͤbel verstandenen Kraftworten sanft eingeschlaͤfert, als wenn Haͤndefalten und ein Paar Thraͤnen aus banger Brust eben einen solchen Suͤnder d.i. Wahrheits - und Besserungsbegierigen Menschen anzeigten! Die Antwort kenne ich, aber wozu nuzt alles leidige Disputiren bessere den Lasterhaften wenn du kannst, sonst schweig und benutze das Evangelium fuͤr dich allein! Ueber diese schließliche Unterredung kam denn ein Geistlicher herein, ein Mitbruder der Gesellschaft zur Befoͤrderung reiner Lehre etc. Dieser nun brachte dem Armensuͤnder, indem ich wegging und meine Absicht erreicht hatte, das rechte Labsal mit; da muste nun alles, was ich gesagt hatte, nicht so strikte zu verstehen seyn; da wurde das Werk der Bekehrung leicht gemacht, wer nur Glauben hatte, denn kann der Lasterknecht bald Engel werden nur fuͤrchte ich diesen Glauben kannte Gering durchaus nicht, hat ihn auch nicht erlanget, wie die Folge zeigen wird seine Seele war unheilbar krank. 53Diese gutgemeinte Zubereitung oder vielmehr die fleißig hingebrachten andern Mittel, zur Begnadigung zu gelangen, die dem uͤbrigens redlichen und frommen Geistlichen von Herzen gingen, musten Gering, der schon ein ruhiger und wiederkehrender Suͤnder zu seyn schien, nicht misfallen; denn er arbeitete nicht nur fleißig an seiner leiblichen Erloͤsung, wie sich das nach einigen Wochen auswies, sondern mag auch sicher geglaubt haben: nach dieser Methode ist es mit deiner Bekehrung immer fruͤh genug, nimmer zu spaͤt, bist immer willkommen, wirst immer zu Gnaden aufgenommen, wenn du nur koͤmmst. Gering entkam endlich, nachdem er sich muͤhsam mit Kunst und Fleiß durchgebrochen, vollkommen nach Wunsch, sezte auch seine alte Profession wo ich nicht irre dreyviertel Jahr eifrig fort, bis er auf der Osnabruͤckschen Graͤnze ertapt, wohl gemaͤstet und weit korpulenter zuruͤkgebracht wurde. Seine Ruͤkreise von einigen Tagen bis[ Bielefeld] war indeß die lezte Gelegenheit, wo er seinen moralischen Character in der aller allerschwaͤrzesten und schaͤndlichsten Gestalt zeigen konnte. Spott uͤber die ehrwuͤrdigsten Gegenstaͤnde, Laͤsterungen uͤber die allwaltende Hand, der er leicht zu entkommen glaubte, nur diesesmal sich irrte, besonders ließ er den gottlosesten Witz sehen, und das mußte auch der Geistliche in einer benachbarten Landstadt erfahren, der beim Voruͤbergehen in das eben von Gering eingenommene Logis aus Neugierde trat, und mit ein paar54 kraftvollen biblischen Worten anredete, aber unverhoft eine witzig angebrachte Replic aus dem A. T. erhielt, die sein Herz so wie seinen Kopf kennbar machten. Das alte Schloß Sparenberg wurde nun seine lezte Wohnung. Scham uͤber seine gottlose Verstellung kannte er nicht, kein demuͤthiger Blick bezaͤhmte sein freches Auge, als er seine verlaßne Wohnung und gehabte Bekanntschaft wieder sah. Gering, Gering rief bei seiner Ankunft ein sehr wuͤrdiger junger Officier ihm zu, ihr betruͤgt euch, wie wirds mit euch werden! Gottes Barmherzigkeit ist unendlich; ich habe viel gesuͤndigt, aber bei Gott ist viel Erbarmen, war seine Antwort natuͤrlich, wie seine Grundsaͤtze so die Sprache, in denen er wie schon gesagt bestaͤrkt worden war. Wenn er in seinem Gefaͤngniß besucht wurde, bat er Platz zu nehmen, und machte die Honoͤrs; begafte ihn der Poͤbel, so fuͤllten die zotigsten Poͤbelein, die garstigsten Raͤnke und Erzehlungen seine Gespraͤche; noch Tages vor seiner Execution er mit gierigstem Appetit, und seine Seele empfand nichts als den Geschmack. Zwey Tage vor seiner Hinrichtung ließ er mich durch einen Menschen aus meiner Gemeinde bitten, ihn noch einmal zu besuchen; ich fand aber keinen Beruf, das Werk der Bekehrung an ihm zu versuchen und ihn zu bessern mich zu schwach, wozu er auch nicht gebracht seyn wuͤrde. Seine Hinreise nach dem Ort der Execution war feierlich, und in Absicht meiner Meinung von Unzu -55 laͤnglichkeit der Galgenbuße, interessant. Voͤllig ungeruͤhrt, und mit kindischem Leichtsinn flatterten seine Augen vom Wagen unter den begleitenden Haufen herum. Vier Geistliche sangen mitlerweile fleißig, und das Chor Waisenhaͤuser Schuͤler ging mit hellem Klange voran; er wurde oft ermahnt mit zu singen, allein seine Thierseele konnte diesmal nichts als umher sehen, als suchte er sich der Last des Singens zu entledigen, und sich zum letztenmale schadlos zu halten. Jch beklagte bei dieser Gelegenheit die wuͤrdigen Geistlichen seine Begleiter, und wuͤnschte zur Ehre ihres Berufs, daß dieses die lezte Begleitung solcher Menschen seyn moͤchte. Und nun war der Galgen nahe, wo der Elende seinen ungluͤcklichen durch eigne Schuld verwahrloseten unheilbar erkrankten Geist aufgeben sollte. Philipp ich wuͤnsche dir eine gute Hinfahrt! rief der anwesende General mit vielem Effect nur nicht fuͤr Philipp, als er vom Wagen in den eroͤfneten Kreis trat. Dieser Wunsch erbitterte sichtbarlich Gerings wachen Geist. Die Verlesung des Urtheils spornte ihn darauf an mit funkelnden ergrimmten Blicken seine Schritte zu seiner lezten Gesellschaft der Henker zu verdoppeln. Da ward an keine gefaltete Hand gedacht, und die Thraͤne der Verstellung die er ehedem weinte, saß da fest, denn Reue, Wehmuth, Schmerz uͤber verdientes Elend kannte er nicht! Muthig ließ er sich hinauf ziehen in die toͤdtliche Hoͤhe des schimpflichen Holtzes; wie Belial56 warf er seinen lezten Blick seinem zur Linken hangenden ehemaligen Spiesgesellen und nunmehrigen Gesellschafter Schnell zu; dieser Anblick erschuͤtterte sein hart verschloßnes Jnnere ploͤtzlich, und nun wollte er noch einige Seufzer nachholen, stoßte kaum eine fruchtlose Floskel der Andacht aus, und der toͤdtende Strick ergrif seinen Hals. Dieser Lasterhafte, ders unveraͤndert blieb, war, wers nicht besser wuste, ein gebohrner Dieb, mit dem Strick gebohren, so bekannt war er als ein solcher in dieser Gegend; er konnte das Stehlen nicht laßen, ob er gleich mehrmalen dem Strick entronnen war. Seine Jugend war Anfangs schuldlos, voll der besten Anlagen des Geistes und Herzens hatte viel gute Erkenntniß, und wurde doch in kurzer Zeit ein so durchaus inkorrigibler Dieb, wie dazu gebohren; der Todt selbst schien eine zu schwache Kur zu seiner Besserung zu seyn. Hier ists offenbar, daß das natuͤrliche Seelentemperament der Hauptsache nach ganz und gar keinen nothwendigen Einfluß in den sittlichen Character des Menschen habe, also kein Mensch durch seine Natur zu irgend einer boͤsen Neigung gezwungen sey; also weg mit den Temperamentssuͤnden, die der Kluͤgling so delicat zu bemaͤnteln weiß. Jst es wahr, daß der große fromme Saurin und andere das Naschen nicht laßen konnten, so war vernachlaͤßigte Aufmerksamkeit in Jugendjahren alleine Schuld, und nun wurd 'es Gewohnheit, wofuͤr das urspruͤngliche Seelentemperament nichts57 konnte, und woran selbst der sittliche Charakter bei Saurin keinen Theil hatte. Jedes Herz kann durch vernachlaͤßigte Aufmerksamkeit und Verwahrlosung boͤse, nehmlich durchaus lasterhaft werden.

24Zur HellenPrediger in der Grafschaft Ravensberg.

58

Zur Seelennaturkunde.

1. Psychologische Bemerkungen uͤber Traͤume und Nachtwandler. 25Fortsetzung. (Siehe vorhergehendes Stuͤck.)

Ein sehr merkwuͤrdiges Beispiel von einem Nachtwandler kommt unter dem Artikel: Somnambule und Somnambulisme, in der Encyclopedie, oder Dictionnaire universel raisonné des connoissances humaines, Tome XXXVIII vor, welches vor allen andern angefuͤhrt zu werden verdient, und welches der Erzbischof von Bourdeaux dem Encyclopedisten erzaͤhlt hat. *) *) Siehe hieruͤber nach in Goͤttingischen gemeinnuͤtzigen Abhandlungen 1772. St. 1. Herrn Hofrath Feders Erklaͤrung dieses Phaͤnomens.

» Als besagter Erzbischof noch auf dem Seminarium war, kannte er einen jungen Geistlichen,59 welcher nachtwandelte. Um die sonderbare Beschaffenheit dieser Krankheit kennen zu lernen, ging er alle Naͤchte in seine Stube, sobald der Geistliche eingeschlafen war, und beobachtete unter andern Folgendes. Der junge Mann richtete sich auf, nahm Papier und arbeitete geistliche Reden aus, die er auch zugleich aufschrieb. Wenn er eine Seite geendigt hatte, las er sie von oben bis unten noch einmahl laut her, (wenn man anders, sezt der Encyclopedist hinzu es Lesen nennen kann, da er sich seiner Augen nicht bediente.) Wenn ihm eine Stelle in seiner Ausarbeitung nicht gefiel; so strich er sie aus, und schrieb mit vieler Richtigkeit die Verbesserung daruͤber. Jch habe den Anfang einer Predigt gesehen, die dieser junge Geistliche im Schlaf gemacht hatte; sie schien mir sehr gut ausgearbeitet, und correct geschrieben zu seyn. Aber es fand sich eine auffallende Verbesserung darin. Er hatte an einer Stelle geschrieben: ce divin enfant. Beim Wiederdurchlesen glaubte er statt des Worts divin, adorable setzen zu muͤssen, deswegen strich er das erstere Wort aus, und sezte das zweite gerade druͤber. Da er aber zugleich bemerkte, daß der Artikel ce nicht vor dem Wort adorable, welcher vor divin stand, stehen bleiben koͤnne; so sezte er sehr geschikt zu dem Woͤrtchen ce noch ein t hinzu, so daß man nun also die Worte: cet adorable enfant laß.

Um sich zu uͤberzeugen, ob der Nachtwandrer durchaus keinen Gebrauch von seinen Augen waͤhrend60 dieser Art von Arbeit mache, so hielt der Erzbischof ihm eine Pappe unter das Kinn, damit er nicht das Papier worauf der Geistliche schrieb, sehen koͤnnte; aber er schrieb fort, ohne daß er merkte, was jener mit ihm vornahm. Um ferner zu wissen, wie der Nachtwandrer die Gegenwart der Objecte, die sich vor ihm befanden, erkenne, so nahm ihm jener das Papier weg, worauf er schrieb, und legte ihm verschiedene andre Papiere unter; aber in den Augenblick wurde es der junge Geistliche gewahr, weil sie von ungleicher Groͤße waren. Wenn man ihm aber ein Papier unterschob, welches dem seinigen vollkommen gleich war, so hielt er es auch fuͤr das Seinige, und schrieb die Verbesserungen auf die Seiten, die mit dem Seinigen uͤberein kamen. Durch diesen Kunstgriff bekam man denn verschiedene seiner naͤchtlichen Schriften in die Haͤnde.

Der Erzbischof von Bourdeaux, faͤhrt der Encyclopedist fort, hat sie mir mitgetheilt. Das Erstaunenswuͤrdigste davon sind seine ziemlich genau geschriebenen musicalischen Stuͤcke. Er bediente sich dazu eines Stocks statt des Lineals, zog die fuͤnf Linien in gehoͤriger Entfernung von einander, sezte den Schluͤssel, die Vorzeichnungen und halben Toͤne an ihre rechte Stelle, und bezeichnete dann die Noten, die er anfangs nicht ausfuͤllte, wenn aber das musicalische Stuͤck geendigt war, diejenigen ganz schwarz zeichnete, die es seyn mußten. Die Worte waren darunter geschrieben. Es be -61 gegnete ihm einstmahls, daß die Worte zu groß geschrieben waren, und nicht grade unter ihre correspondirenden Noten zu stehen kamen. Er erkannte aber sogleich seinen Fehler, und wischte, indem er mit der Hand daruͤber fuhr, seine Arbeit wieder aus; aber weiter unten machte er eine neue musicalische Linie mit der groͤßten Genauigkeit.

Eine nicht weniger bemerkenswerthe Sonderbarkeit ist diese. Er bildete sich nehmlich einstmahls des Nachts mitten im Winter ein, daß er am Ufer eines Flußes spazieren gienge, und ein badendes Kind[ in den] Fluß hinabstuͤrzen sehe. Die Strenge der Kaͤlte hielt ihn nicht ab, dem Kinde zu Huͤlfe zu eilen; er warf sich augenblicklich uͤber sein Bette, in der Lage eines Schwimmenden. Er machte alle Bewegungen eines solchen nach, und da er sich bei dieser Bewegung einige Zeit abgemattet hatte; so bemerkte er im Winkel seines Bettes eine zusammen gewickelte Decke, glaubte, daß diese das Kind sey, ergriff es mit der einen Hand, und bediente sich der andern, um durchs Schwimmen wieder ans Ufer des vermeintlichen Flußes zu kommen. Hier sezte er nun sein Paquet ab, und ging vor Kaͤlte schaudernd, und mit den Zaͤhnen klappernd weiter, grade als wenn er wuͤrklich aus einem gefrornen Fluße gestiegen waͤre. Er sagte zu den Umstehenden: daß es friere, und daß er vor Kaͤlte halb erstarret sey! Er foderte ein Glas vom Lebenswasser, um sich wieder zu erwaͤrmen, weil aber keines vorhanden war,62 so gab man ihm von dem gewoͤhnlichen Wasser, welches in der Kammer stand. Aber er merkte den Betrug sogleich, als er es gekostet hatte, und foderte nun mit noch mehrerer Lebhaftigkeit jenes Lebenswasser, indem er zeigte, daß er ohne dasselbe sterben muͤßte. Jezt brachte man ihm ein Glas Liqueur; er nahm es mit vielem Vergnuͤgen, und sagte, indem er dran roch: daß er sich schon viel besser befinde! Jnzwischen erwachte er nicht, legte sich wieder hin, und schlief ganz ruhig fort. Der junge Mann hat noch eine Menge andrer sehr sonderbarer Handlungen unternommen. Das Auffallendste und Merkwuͤrdigste hiebei ist noch dies, daß wenn man seine Gedanken von unangenehmen und traurigen Bildern der Phantasie abziehen wollte, man nur seine Lippen mit einer Feder bestreichen duͤrfte, wo er denn augenblicklich auf ganz andre Sachen fiel. «

Der Encyclopedist hat bei dieser Gelegenheit seine Gedanken uͤber das Nachtwandeln zugleich mitgetheilt. Sie sind zum Theil interessant genug, um sie hierher zu setzen, obgleich durch seine Untersuchungen jenes Phaͤnomen noch lange nicht ganz erklaͤrt wird, das auch wirklich nicht erklaͤrt werden kann, so lange man alles bloß aus der Einbildungskraft begreiflich zu machen sucht.

» Ob man gleich, sagt er, einen Nachtwandler durch dergleichen unwiderlegliche Facta, wie wir angefuͤhrt haben, kennen lernen kann; so ists doch63 nicht leicht, die Ursache und den Mechanismus seines Uebels zu entdecken. Schon die Abstammung des Worts dieser Krankheit ist eine gefaͤhrliche Klippe fuͤr alle die Hypothesenmacher und Halbgelehrten, welche nichts glauben, was sie nicht erklaͤren, und sich nicht vorstellen koͤnnen, daß die Natur fuͤr ihren Kopf undurchdringliche Geheimnisse habe. Man kann sie fragen.

a) Wie es zugeht, daß ein Mensch im tiefen Schlaf hoͤrt, geht, schreibt, sieht, und mit einem Wort seine Sinne gebrauchen, und mit Genauigkeit verschiedene Bewegungen machen kann. Um die Aufloͤsung dieses Problems zu erleichtern, wollen wir hinzusetzen, daß der Nachtwandler keine andern Objecte bemerkt, als deren er zu seinen Geschaͤften alsdenn noͤthig hat, und die seiner Jmagination gegenwaͤrtig sind. Der Geistliche, von dem wir geredet haben, sahe, wenn er seine Predigten abfaßte, sein Papier sehr gut, seine Dinte, seine Feder, und wuste es, wenn sie schrieb, oder nicht schrieb. Er verwechselte nie das Dintenfaß mit der Streubuͤchse, und ließ sichs uͤbrigens nicht einfallen, daß jemand in seiner Kammer sey; er sah und hoͤrte keinen Menschen, wenigstens redete er sie nicht an. Bisweilen foderte er von denen, die er neben sich anzutreffen meinte, uͤberzuckerten Anies, und fand ihn sehr gut, wenn man ihm davon gab; wenn man ihm aber dergleichen zu einer andern Zeit in den Mund steckt, ohne daß seine Einbildungs -64 kraft grade so hoch gespannt war; so fand er keinen Geschmack daran, und warf ihn weg.

b) Wie kann man Sensationen ohne Huͤlfe der Sinne bekommen; wie z. B. sehen, ohne die Augen zu gebrauchen? Unser Nachtwandler schien offenbar die Objecte zu sehen, die sich auf seine Vorstellungen bezogen, indem er nehmlich musicalische Noten schrieb. Er kannte diejenigen genau, welche schwarz oder unausgefuͤllt seyn mußten, und ohne sich zu irren, machte er einige schwarz, die andern ließ er, wie sie waren, stehen; und wenn er oben wieder zu schreiben anfangen mußte, und die untersten Linien noch nicht trocken waren; so hielt er die eine Hand daruͤber, um die Noten nicht auszuloͤschen, wenn sie aber trocken waren, so unterließ er diese unnoͤthige Vorsicht. Es ist zwar wahr, daß, wenn man ihm ein aͤhnliches Papier unterschob, er es fuͤr das Seinige hielt; aber um von der Aehnlichkeit desselben urtheilen zu koͤnnen, so brauchte er nicht mit der ganzen Hand daruͤber zu fahren; vielleicht sahe er nichts, als das Papier ohne die Character zu unterscheiden. Man hat Ursach zu vermuthen, daß die andern Sinne, deren er sich bediente, nicht mehr disponirt waren, als seine Augen. Man haͤtte sich davon uͤberzeugen koͤnnen, wenn man ihn an den Ohren gezupft, ihn gekniffen, oder ihm Tabac gegeben haͤtte.

c) Wie ging es zu, daß er sich im Schlaf an das erinnerte, was ihm in Wachen begegnet war,65 daß er auch das wuste, was er in andern Traͤumen vorgenommen hatte, und daß er hingegen beim Aufwachen nicht das mindeste davon wuste. Er bezeugte bisweilen waͤhrend des Schlafs seine Verwunderung daruͤber, daß man ihn des Nachtwandelns beschuldige, daß er waͤhrend der Nacht arbeite, schreibe, rede. Er konnte nicht begreifen, wie man ihm dergleichen Vorwuͤrfe machen koͤnne, da er doch so fest schliefe, und so schwer aufgeweckt werden koͤnnte. Dieses doppelte Gedaͤchtniß ist ein seltsames Phaͤnomen.

d) Wie ist es moͤglich, daß ohne Einwirkung aͤußerer Gegenstaͤnde man eben so empfindet, als ob man wirkliche Jmpressionen von aussen bekommen haͤtte, und unser Nachtwandler empfand ohne aus dem Bette gestiegen zu seyn, alle Symptome, die das gefrierende Wasser hervorbringt, gerade als wenn er wirklich einige Zeit in solchem Wasser gelegen haͤtte. Wir koͤnnten noch die Aufloͤsung vieler andern Phaͤnomene an den Nachtwandlern fodern, aber man wuͤrde uns doch daruͤber keine Auskunft mehr geben koͤnnen. Man gestehe nur gerade zu, daß es sehr viele Dinge giebt, wovon wir die Ursachen nicht wissen, und die man auch ganz vergebens aufsuchen wuͤrde. Die Natur hat ihre Geheimnisse. Man nehme sich ja in Acht, hinein dringen zu wollen, vorzuͤglich, wenn kein Nutzen daraus entspringt. «

66

Jch gehe noch weiter. Man wird nicht nur jene erzaͤhlten Phaͤnomene nicht aufloͤsen koͤnnen, sondern sie machen selbst die, welche man begriffen zu haben glaubt, unerklaͤrbar, und die Untersuchungen, die man entschieden zu haben glaubt, dunkel und zweifelhaft. Z.B.

a) Man glaubt gemeiniglich, daß der Schlaf in einer gaͤnzlichen Erschlaffung besteht, welcher den Gebrauch der Sinne und aller willkuͤrlichen Bewegungen aufhebt; aber bedient sich denn der Nachtwandler nicht einige seiner Sinne; bewegt er nicht verschiedene Theile seines Koͤrpers mit Absicht und Kenntniß der Ursach? und demohnerachtet ist der Schlaf sehr tief. b) Wenn er sich nicht seiner Sinne bedient, um Empfindungen zu bekommen, wie dies bisweilen unlaͤugbar geschieht; so kann man mit Grunde schließen, daß selbst koͤrperliche Objecte sich dem Verstande ohne Sinne vergegenwaͤrtigen und darstellen koͤnnen. Eine offenbare Ausnahme des beruͤhmten Grundsatzes: nihil est in intellectu, quod prius non fuerit in sensu. Man muß diese Erscheinungen nicht mit denen eines Traͤumenden verwechseln. Ein Traͤumender eben so wie ein Wahnwitziger sehen Gegenstaͤnde als gegenwaͤrtig, die es nicht sind. Dies ist ein Fehler des Bewußtseyns, und bisweilen des Verstandes; aber bei dem Nachtwandler sind die Objecte der Jmaginationen gegenwaͤrtig, als wenn sie durch die Sinne hinein gekommen waͤren. 67Es sind die nehmlichen, als der Nachtwandler sehen wuͤrde, wenn ihm die Augen geoͤfnet wuͤrden. Sie existiren vor ihm grade so, wie er sie sich denkt, das Bewustseyn, das er durch die Zwischenzeit der Sinne erhielt, wuͤrde nicht verschieden davon seyn. c) Die groͤßten Beweise, welche der Philosoph uͤber die Existenz der Koͤrper geben kann, gruͤnden sich auf die Eindruͤcke, die jene in uns hervorbringen. Diese Beweise verliehren nothwendig viel von ihrer Staͤrke, wenn wir die nehmlichen Wirkungen, ohne daß die Koͤrper wirklich auf uns influiren, empfinden. Dies ist gerade der Fall beim Nachtwandler, welcher friert und schaudert, ohne daß er sich im gefrornen Wasser befunden hat, was er sich nur lebhaft einbildete. (Wuͤrde er sich aber dies haben einbilden koͤnnen, ohne vorher jemals eine Empfindung an Eiß und Kaͤlte gehabt zu haben? Wie unphilosophisch ist also nicht das Raisonnement des Encyclopedisten, daß die Beweise von der Existenz der Koͤrper ihre meiste Staͤrke dadurch verlohren, daß wir uns Wirkungen ohne ihre Ursachen vorstellen koͤnnten. Beim Nachtwandler thut die Seele ja nichts, als daß sie ehemalige wirkliche Empfindungen, von wirklichen Koͤrpern entweder repetirt, oder auch im Traum, wie oben gezeigt worden, wenigstens dunkle Empfindungen von aussen her bekommt.) Daraus erhellet, daß bloße idealische Jmpressionen bisweilen eben solche Wirkungen auf den Koͤrper als wirkliche aͤußern,68 und daß man kein sicheres Kennzeichen hat, diese von jenen zu unterscheiden. d) Die Entdeckung neuer Phaͤnomene verdunkelt oder zernichtet sehr oft unsre Kenntnisse, wirft unsre Systeme um, und huͤllt das in Zweifel ein, was uns noch so ausgemacht schien. Das Spruͤchelchen des Socrates, daß wir nur das gewiß wissen, daß wir nichts wissen, fuͤhrt der Encyclopaͤdist zur Bestaͤtigung seiner zum Theil wenig scharfsinnigen Gedanken[ an.]

Uebrigens leitet er, physiologisch betrachtet, das Nachtwandeln von einer großen Lebhaftigkeit der Jmagination, oder einer ungewoͤhnlichen Spannung der Gehirnfiebern, und davon außerordentlicher Empfindlichkeit ab, und sezt die Bemerkung hinzu, daß diejenigen, welche viel, sonderlich des Nachts studiren, oder den Kopf durch andre Geschaͤfte erhitzen, vorzuͤglich dem Nachtwandeln unterworfen sind.

» Die Gesundheit der Nachtwandler, faͤhrt er fort, scheint eigentlich keine Veraͤnderungen zu leiden. Jhre Handlungen folgen mit der Leichtigkeit eines Gesunden auf einander, und ihr Zustand verdiente kaum den Namen einer Krankheit, wenn man nicht befuͤrchten muͤßte, daß er sich verschlimmern koͤnne, daß die Spannung der Nerven des Gehirns nicht zunehme, und hinterher in eine Erschlaffung ausarte. Die[ Manie], oder der Wahnsinn scheint an das Nachtwandeln zu graͤnzen, vielleicht69 ist sie die erste Stufe desselben, und ist von ihm wesentlich nicht unterschieden. «

» Es scheint also sehr nothwendig zu seyn, diese Krankheit zu heilen, ehe sie tiefer einwurzelt, staͤrker und hartnaͤckiger wird. Aber die Heilmittel sind noch nicht bekannt, und scheinen nicht leicht aufgefunden werden zu koͤnnen. Vorzuͤglich kommt es wohl hier auf die Behandlung dieser Leute an. Man muß ihnen Zerstreuungen verschaffen, sie reisen lassen, sie von zu ernsthaften Geschaͤften abziehen, und andre ihnen angenehme darbiethen, ohne daß sie sie zu sehr anziehen. Hiemit koͤnnte man kalte Baͤder verbinden, welches vortrefliche, aber bisher wenig gebrauchte Mittel sind, um das in Unordnung gebrachte Nervensystem wieder zu beruhigen. Was diejenigen Nachtwandler betrift, die aus ihren Betten aufstehen, hin - und her laufen, und daher oft in Gefahr in Abgrund und aus den Fenstern zu stuͤrzen kommen, wie es einem Nachtwandler gieng, der den Cartesius, Aristoteles, und andere Philosophen bei sich zu haben meinte, und als sie sich durchs Fenster wegbegaben, sie begleiten wollte, wenn man ihn nicht zuruͤckgehalten haͤtte; so muß man sie an ihre Betten anbinden, die Thuͤren fest zuschließen, die Fenster verriegeln, und wenn sie aufstehen, mit Peitschenhieben aufwecken. Dies Mittel hat bei vielen gefruchtet. Ein gewisser Nachtwandler wurde auch durch ein andres Mittel geheilt, das ich aber nicht vorschlagen moͤchte. 70Er stuͤrzte sich aus einem hohen Fenster, brach den Arm, und seit der Zeit wurde er nicht mehr von seiner Krankheit befallen. «

Der seltsamste Nachtwandler, den man noch gefunden hat, ist ein gewisser Johann Baptist Negretti von Vicenza, bei dem Marquis Ludewig Sale ehemals in Diensten. Er war ein schwarzbrauner Mensch; hatte einen sehr trockenen Koͤrper, war hitzig, zornig und betrank sich gern. Er war seit dem eilften Jahre mondsuͤchtig gewesen; doch kamen die Anfaͤlle nur im Maͤrz, und dauerten hoͤchstens bis in die Haͤlfte des Aprils. Die Herren Reghelim und Pigatti machten sich ein Vergnuͤgen, seinen Zustand genau zu beobachten. Der leztere hat im Jahre 1745 einen Bericht davon aufgesezt, dessen vornehmste Umstaͤnde im Monat Julius des Journal encyclopedique vom Jahre 1762 zu finden sind. Wenn sich Negretti des Nachts im Vorzimmer auf einen Stuhl gesetzt hatte, schlief er ein, und brachte eine Viertelstunde ruhig schlafend zu. Er richtete sich sodann sitzend in die Hoͤhe, und blieb in dieser Stellung unbeweglich, nicht anders, als ob er nach etwas saͤhe. Endlich stand er auf, ging im Zimmer herum, zog eine Schnupftabacksdose aus der Tasche, und wollte eine Prise nehmen. Da er aber nicht viel darinn fand, stellte er sich erboßt an, gieng zu einem Stuhle, auf welchem ein71 Cavalier insgemein zu sitzen pflegte, nannte diesen beim Namen, und verlangte eine Prise Taback von ihm. Man reichte ihm eine offene Dose; er nahm Taback. Hernach trat er in die Stellung eines Menschen, der auf etwas hoͤret; sobald er einen Befehl empfangen zu haben glaubte, lief er mit einem Wachsstocke nach einem Orte, wo insgemein ein brennendes Licht stand. Er glaubte seinen Wachsstock anzuzuͤnden, trug ihn, wie sichs gehoͤrt, ging damit durch den Saal, die Treppe hinunter, wobei er sich bisweilen umkehrte und stehen blieb, gleich als ob er jemanden die Treppe hinunter leuchtete. Er kam an die Thuͤre des Hauses, blieb seitwaͤrts stehen, ließ die Personen hinaus, die er in seiner Einbildung hinunter gefuͤhrt hatte, und beugte sich, so wie er glaubte, daß sie vor ihm vorbei giengen; hernach loͤschte er seinen Wachsstock aus, stieg geschwind die Treppe hinan, und setzte ihn wieder an seinen Ort. Er spielte an einem Abende diese Comoͤdie dreimal. Er verließ ferner den Vorsaal, gieng in den Speisesaal, suchte in seiner Tasche den Schluͤssel zum Glaͤserschranke, und rief da er ihn nicht fand, den Bedienten beim Namen, der ihm alle Abende denselben uͤbergeben sollte. Man brachte ihm den Schluͤssel, er oͤffnete damit den Schrank, setzte vier Flaschen auf einen silbernen Teller, und ging in die Kuͤche um sie vermuthlich mit Wasser zu fuͤllen, brachte sie aber leer wieder zuruͤck. Jm Hinaufsteigen der Treppe setzte72 er alles, was er in den Haͤnden hatte, auf einen Schemmel, der mitten auf der Treppe stand, stieg vollends hinauf, und klopfte an die Thuͤre; da man ihm nun nicht aufmachte, stieg er die Treppe wieder hinunter, suchte den Cammerlaquai, that einige Fragen an ihn, rannte geschwind die Treppe wieder hinan, stieß mit dem Ellbogen an den hingesetzten Teller, und schlug die darauf stehenden Flaschen entzwei, wie es nicht anders seyn konnte. Er klopfte nochmals an die Thuͤre, und da sie noch nicht aufgemacht wurde, stieg er abermals hinab, nahm im Vorbeigehen den Teller mit, und setzte ihn hernach, da er wieder in den Speisesaal kam, auf einen Tisch. Von da gieng er in die Kuͤche, nahm einen Wassereimer, lief damit an die Plumpe, ließ ihn vollaufen, und trug ihn wieder in die Kuͤche. Er kam sodann wieder zum Teller, und da er keine Flaschen darauf fand, entruͤstete er sich, und sagte: daß sie da seyn muͤßten, weil er sie darauf gesetzt habe; er fragte die andern Bedienten, ob sie dieselben etwan weggenommen haͤtten? Nach langem Suchen gieng er wieder an den Glaͤserschrank, nahm zwo andre Flaschen, spuͤhlte sie aus, goß Wasser hinein, und setzte sie auf den Teller. Er trug hierauf alles zusammen in das Vorzimmer, bis an die Thuͤre des Saals, wo der Kammerlaquai sie von seinen Haͤnden zu empfangen pflegte. Man nahm ihm demnach den Teller mit den Flaschen ab, und gab sie ihm nach einiger Zeit wieder; er trug sie73 wieder in den Glaͤserschrank, und setzte sie an ihren Ort. Hierauf gieng er in die Kuͤche, wischte einige Schuͤsseln mit einer Serviete ab, hielt sie ans Feuer, als ob er sie troknen wollte, und wischte auch die andern Schuͤsseln ab. Als dieses geschehen war, kam er wieder an den Glaͤserschrank, legte das Tischtuch und die Servieten in einen kleinen Korb, und ging damit zu einer Tafel, auf welcher insgemein ein angezuͤndetes Licht stand. Er that, als wenn er mit diesem Lichte, ein Messer und eine Gabel suchte, trug den Korb wieder zuruͤck und schloß den Glaͤserschrank zu. Nachdem er alles, was er aus diesem Schranke genommen, ins Vorzimmer getragen, und auf einen Stuhl gesetzt hatte, nahm er einen runden Tisch, an welchem die Frau vom Hause zu speisen pflegte, und deckte ihn sehr ordentlich. Es stand daneben noch ein anderer Tisch von eben der Gestalt; an welchen er bisweilen aus Versehen kam; aber er fand sich allemal wieder zu den, den er decken wollte. Als er damit fertig war, ging er hin und her, schnautzte sich die Nase, zog die Tabacksdose wieder heraus, steckte die Finger hinein, ohne etwas zu nehmen, gleich als ob er sich nach zwo guten Stunden erinnerte, daß er nichts darinn gefunden habe; indeß war noch so viel darinn, daß er ihn auf die Hand schuͤtten konnte. Hiermit endigte sich die erste Scene, indem man ihm ein Glas Wasser ins Gesicht goß, und ihn aufweckte.

74

Den folgenden Tag hatte der Marquis Abends Gesellschaft bei sich, welches nicht oft geschahe. Man foderte einen Stuhl nach dem andern, so wie ein Gast nach dem andern kam. Negretti schlief unterdessen ein; nach einem kurzen Schlafe stand er auf, schneuzte sich, nahm Taback, und lief geschwind in ein andres Zimmer, um Stuͤhle zu holen. Das Merkwuͤrdigste ist, daß, da er einen Stuhl mit beiden Haͤnden trug, und damit an eine Thuͤre kam, welche nicht offen war, er nicht anklopfte, sondern mit einer Hand die Thuͤre oͤfnete, den Stuhl mit beiden Haͤnden hindurch trug, und ihn grade auf die Stelle setzte; wo er stehen sollte. Er gieng hierauf an den Schenktisch, suchte den Schluͤssel, und ward verdruͤßlich, da er ihn nicht fand. Er nahm ein Licht, und sahe sich in allen Winkeln um, besonders auf den Stufen der Treppe; er that dabei sehr eilfertig, und tappte mit den Haͤnden, als ob er den verlohrnen Schluͤssel suchte. Der Cammerdiener steckte ihn demselben heimlich in die Tasche. Nach langem Suchen steckte endlich Negretti die Hand in die Tasche, fand den Schluͤssel, und aͤrgerte sich, daß er so lange gesucht hatte. Er oͤfnete den Schenktisch, nahm eine Serviete, eine Schuͤssel und ein paar Semmeln heraus; er schloß den Schrank wieder zu, und gieng in die Kuͤche. Hier machte er einen Salat zurechte, nahm alles dazu gehoͤrige aus dem Kuͤchenschranke, und setzte sich, als er fertig war, an75 einen Tisch, um zu essen. Man nahm ihm die Schuͤssel weg, und setzte ihm ein Kohlgeruͤchte vor, daß er statt des Salats ; waͤhrend dem Essen nahm man ihm auch den Kohl weg, und setzte ihm einen Kuchen vor, den er eben so verzehrte, ohne daß er einen Unterschied in dem, was er , zu bemerken schien; woraus man sehen kann, daß die Werkzeuge des Geschmacks nicht mitwirkten, sondern bloß die Seele ohne Zuthun des Koͤrpers geschaͤftig war. Ueber dem Essen horchte er bisweilen, weil es ihm vorkam, als ob er gerufen wuͤrde. Er glaubte einmal wirklich, daß er waͤre gerufen worden; er stieg geschwind die Treppe hinab, um sich in den Saal zu begeben, und da er sahe, daß man ihm nichts zu sagen hatte, gieng er in die Antichambre, und fragte die Bedienten: ob er nicht waͤre gerufen worden? worauf er sich ziemlich verdruͤßlich wieder an seinen Tisch in die Kuͤche setzte. Nachdem er gegessen hatte, sagte er, daß er gerne ins Wirthshaus gehen moͤchte, um einmal zu trinken, wenn er nur Geld haͤtte, er suchte in allen Schubsaͤcken, und fand nichts. Endlich gieng er doch, und sagte: er wolle Morgen bezahlen, man werde ihm schon so lange Credit geben. Er eilte die Treppe hinunter, und lief ins Wirthshaus, das zwei Buͤchsenschuͤsse weit vom Schlosse war. Er klopfte an die Thuͤre, ohne erst zu untersuchen ob sie verschlossen sey, gleich als ob er es wußte, daß sie um diese Zeit nicht offen seyn wuͤrde. 76Man machte ihm auf; er ging hinein, rief den Wirth und foderte ein halbes Noͤßel Wein. Man gab ihm anstatt des Weins ein halbes Noͤßel Wasser, er trank es fuͤr Wein, und sagte, da er es ausgetrunken hatte: daß man ihm wohl bis morgen borgen wuͤrde. Hierauf ging er wieder aus dem Wirthshause nach dem Schlosse zuruͤk. Er kam in die Antichambre, und fragte die Bedienten: ob ihn der Herr gerufen habe? Er stellte sich ganz aufgeraͤumt an, und sagte, daß er einmal im Gasthofe getrunken habe, und ihm jezt besser um den Magen sey! Man oͤfnete ihm die Augen mit den Fingern, und er erwachte.

Nun kommt noch die dritte Scene. An einem Feiertage zu Nacht fiel ihm ein, daß der Hofmeister der Kinder im Hause zu ihm gesagt habe: daß er ihm, wenn er diese Nacht mondsuͤchtig waͤre, eine Suppe machen, sie ihm bringen, und ein Trinkgeld dafuͤr erhalten sollte. Er stand daher des Nachts im Schlafe auf, und sagte ganz laut: daß er den Hofmeister anfuͤhren wolle. Er gieng in die Kuͤche hinunter, um zu essen, begab sich sodann in das Zimmer des Hofmeisters, und bat ihn, sein Wort zu halten. Der Hofmeister gab ihm etliche Groschen, Negretti nahm sodann den Cammerdiener beim Arme, fuͤhrte ihn in den Gasthof, erzaͤhlte ihm beim Trinken, wie er den Hofmeister auf eine feine Art angefuͤhrt, und Geld von ihm heraus gelockt habe. Er lachte von ganzem Her -77 zen, trank einigemahl des Hofmeisters Gesundheit, und kehrte vergnuͤgt nach dem Schlosse zuruͤck.

Eines mahles, als sich Negretti in diesem Zustande befand, schlug ihn einer mit dem Stocke auf die Beine. Negretti, welcher glaubte, daß ihm ein Hund an die Beine liefe, fing an zu schmaͤlen; da man aber mit dem Stocke fortfuhr, suchte er eine Karbatsche, und hieb auf den vermeinten Hund los, um ihn fort zu jagen. Endlich wurde er es uͤberdruͤßig, und fieng an auf den Hund gewaltig zu fluchen, da er ihn mit Schlaͤgen nicht los werden konnte. Er zog endlich ein Stuͤck Brodt aus der Tasche, lokte damit den Hund, und hielt die Karbatsche hinter dem Ruͤcken verborgen. Man warf ihm einen Muff entgegen, den er fuͤr den Hund annahm, und seine Wuth an ihm ausließ.

Herr Pigatti beobachtete diesen Negretti sehr oft, und merkte an, daß er alle Naͤchte etwas anderes vornahm. Er bemerkte auch, daß derselbe, so lange er sich in diesem Zustande befand, den Gebrauch des Gesichts, des Gehoͤrs, des Geruchs und Geschmacks nicht hatte. Wir haben gesehen, daß man ihm verschiedene Gerichte vorsetzen konnte, ohne daß er etwas von der Veraͤnderung des Geschmacks gewahr wurde; Er hoͤrte das staͤrkste Geraͤusch und Laͤrmen nicht; sahe es nicht, als man ihm ein Licht so nahe vor die Augen hielt, daß die Augenbraunen davon versengt wurden; er fuͤhlte es nicht, als man ihm mit einer Feder in der Nase78 kitzelte; mit einem Worte, nichts machte einen Eindruck auf ihn. Das Gefuͤhl hatte er zwar bisweilen sehr fein; aber oͤfters fuͤhlte er auch wieder gar nichts.

Jch finde in dem allgemeinen Magazin der Natur, Theil 10. Leipzig 1759 diesen sonderbaren Menschen auch angefuͤhrt, aber die Erzaͤhlung ist daselbst sehr kurz ausgefallen, und man hat sie nur daselbst angefuͤhrt, um die außerordentlichen Wirkungen des Electrisirens auch bei dergleichen Uebeln zu zeigen. Man hatte bei dem Nachtwandler Negretti mancherlei Arten von Gegenmitteln gebraucht; aber alles vergebens und vielmehr zum Nachtheile. Darauf kam sein Herr auf den Gedanken, daß es helfen muͤßte, wenn man ihn electrisirte, und that es stufenweise bis zu der groͤßern Erschuͤtterung mit der Flasche. Da man dies mehrmals zu der Stunde, da ihn der Schlaf uͤberfallen sollte, gethan hatte; so schlief er schon seit dem ersten Abend geruhig, ohne das geringste von den wunderlichen Dingen, die er sonst zu thun pflegte, vorzunehmen, auch nicht laͤnger als eine halbe Stunde und erwachte von selbst. Nach Verlauf von acht Tagen aber schlief er nicht mehr zur Unzeit ein, und schlief nachher die Nacht uͤber ruhig. Das Electrisiren konnte den Negretti auf eine zweifache Art geheilt haben, durch eine Staͤrkung seiner Nerven, oder dadurch, daß er sich der im Nachtwandeln erhaltenen electrischen Schlaͤge im Traume wieder erinnerte,79 und aus Furcht, sie nicht wieder zu bekommen, nach und nach ruhig zu werden anfieng.

Mehrere Erzaͤhlungen von Nachtwandlern, die uns die Ärzte aufgezeichnet haben, halte ich fuͤr hoͤchst unwahrscheinlich, zumal wenn sie wieder die Natur unsrer Seele streiten, und man haͤtte nicht so leichtglaͤubig seyn sollen, solche Facta wirklich fuͤr wahr zu halten. Selbst die Erzaͤhlung des Alemannus, daß ein Nachtwandler mit dem Degen an der Seite im Schlafe uͤber die Seine geschwommen, und denjenigen ums Leben gebracht habe, den er zu ermorden sich wachend vorgenommen gehabt, und daß er durch den Strom nach vollbrachter abscheulicher That wieder nach Hause zuruͤkgekehrt sey, kommt mir verdaͤchtig vor. Am allermeisten aber was man von der Gabe mehrerer Nachtwandler erzaͤhlt hat, daß sie im Schlaf Sprachen verstanden und gesprochen haͤtten, die ihnen sonst ganz unbekannt waren. Dies klingt alles zu fabelhaft, als daß ein vernuͤnftiger Mensch dergleichen glauben koͤnnte; daß aber dergleichen Menschen waͤhrend ihres Paroxismus vielleicht durch eine außerordentliche Anstrengung der Natur, Jdeen schaffen koͤnnen, zu denen sie jezt in wachendem Zustande keine Faͤhigkeit mehr haben, die sie aber sonst schon einmal gedacht, erfunden hatten, ist wohl nicht zu laͤugnen. Gelehrte Nachtwandler koͤnnen auch wohl gelehrt traͤumen, aber ein unwissender Mensch80 wird gewiß auch im Traum keine hellen und großen Jdeen hervorbringen, was man auch hiervon fuͤr Histoͤrchen erzaͤhlen mag.

Zum Beschluß der hier angefuͤhrten Sammlung merkwuͤrdiger Nachtwandler muß ich noch ein Beispiel aus den Memoires de l' Academie Royale des Sciences zu Paris vom Jahr 1742 S. 409 ff. anfuͤhren, welches Sauvages de la Croix im Jahre 1737 von einer zwanzigjaͤhrigen Magd erzaͤhlt, und die Ueberschrift hat: observation concernant une fille cataleptique & somnambule en même temps. Diese Weibsperson, sagt S. de la Croix war von sehr empfindlicher Natur. Sobald ihr ein Verdruß gemacht wurde, gerieth sie in cataleptische Zufaͤlle, und fiel in eine fuͤhllose Erstarrung, wodurch sie genoͤthigt wurde sich ins Spital zu begeben.

Diese Anfaͤlle hat sie oͤfters bekommen; sie sind aber nicht von einerlei Dauer gewesen, indem sie bald in einer halben Viertelstunde voruͤber gewesen, bald auch wohl drei bis vier Stunden angehalten. Wenn sie damit befallen gewesen, ist ihr Puls sehr schwach und langsam gewesen, daß er kaum funfzigmal innerhalb einer Minute geschlagen. Jhr Gebluͤt ist so dick und zaͤhe gewesen, daß wenn man ihr die Ader geoͤfnet, es nur Tropfenweise aus der Ader gekommen. So haben auch die staͤrksten Purganzen bei ihr nur sehr langsam und schlecht, oder gar nicht gewirket.

81

Wenn ihre Zufaͤlle heran genahet, hat sie solches daran vorher gemerkt, daß ihr die Stirne warm und der Kopf schwer geworden. Dann ist sie mit eins davon befallen worden, wo sie sich befunden, im Bette, auf der Treppe, oder wo sie sonst gewesen. Jm Bette hat man es daran bemerkt, daß sie nicht mehr geantwortet, und sich kein Athemholen merken ließ, der Puls aber langsamer und schwaͤcher geworden. Sie blieb in der Stellung des Leibes, darinn sie befallen worden. Haͤtte sie gestanden, so blieb sie starr stehen. Hatte sie im Treppensteigen einen Fuß gehoben, nach der folgenden Stufe; so erstarrete sie auch so auf einem Fuße stehend. Wenn jemand waͤhrend der Zeit ihr einen Arm erhob, oder den Hals und Kopf drehete, sie aufrichtete u.s.w. so blieb sie in der Stellung, wenn der Koͤrper nur dabei im Gleichgewichte war. Stand sie, und man stieß sie fort; so ging sie nicht, wie D. Fernel[ einmal] gesehen, sondern ruͤckte so fort, als wenn man eine stehende Saͤule fortschiebet.

Man merkte an ihr sonst keine Bewegung, als das Schlagen des Herzens und der Ader. Sie gab kein Zeichen der Empfindung von sich, man mochte sie anschreien, stechen, ein brennendes Licht vor ihre Augen halten, oder sie unter den Fußsolen kratzen, buͤrsten u.s.w. Endlich verließ sie ihr Zufall wieder ohne gebrauchte Huͤlfsmittel: denn was man auch fuͤr Mittel brauchte; so verkuͤrzten82 dieselben doch dessen gewoͤhnliche Dauer nicht. Das Gaͤhnen und Ausstrecken der Aerme, waren Anzeigen ihrer beginnenden Erwachung, und sie hatte keinen Begriff von allem, was ihr unterdessen widerfahren war; außer daß sie vom Stechen, und den gewoͤhnlichen Stellungen einige Schmerzen und Muͤdigkeit empfand.

So waren ihre ersten Zufaͤlle beschaffen, da im Jahre 1737 im April und May sich ein anderer Zufall dazu gesellete, und mehr als funfzigmal ihr begegnete. Jm Anfange und Ende derselben hatte sie die vorige Unbeweglichkeit und Unempfindlichkeit; aber die Zwischenzeit, welche zuweilen vom Morgen bis an den Abend waͤhrte, konnte eine Belebung heißen, wenn jene einer Ersterbung aͤhnlich schien. Herr Lazerme und viele andere sind glaubwuͤrdige Zeugen von dem, was ich erzaͤhlen werde, und welches ich selbst wuͤrde fuͤr Verstellungen gehalten haben, wenn mich nicht unzaͤhlige Proben versichert haͤtten, daß dabei keine Verstellung statt haben konnte.

Den 5ten April gedachten Jahres besuchte ich das Hospital des Morgens um 10 Uhr, und fand sie krank im Bette, von Mattigkeit und Kopfschmerzen. Sie erstarrete darauf, wie sonst; aber nach fuͤnf oder sechs Minuten fing sie an zu gaͤhnen, richtete sich im Bette auf zum Sitzen, und fing folgendes Schauspiel an, welches sie schon mehrmal getrieben hatte. Sie redete mit einer Leb -83 haftigkeit und Munterkeit des Geistes, die sie außer diesem Zufalle nicht hatte, da sie sehr niedergeschlagen und furchtsam war. Was sie redete, das hing mit dem zusammen, oder war eine Folge von dem, was sie im vorigen Zufalle geredet hatte, oder wiederholte von Wort zu Wort eine Catechismus Lehre, die sie des Abends vorher angehoͤrt hatte. Bald redete sie eine bald mehrere ihrer Bekannten aus dem Hause an; und deutete unter verdeckten Namen die Sittenlehren zuweilen schalkhaft auf sie, mit offenen Augen und dergleichen Gebehrden u.s.w. als sie den vorigen Abend gemacht hatte.

Doch wachte sie dabei nicht; sondern war noch im Schlafe, davon ich mich folgender Gestalt versicherte. Weil sie die Augen offen hatte, schlug ich mit der Hand ihr etlichemal ploͤtzlich und nahe an die Augen; aber sie that weder die Augenlieder zu, noch machte sie die geringste Ausbeugung, noch ließ sie sich dadurch in ihrer Rede in mindesten stoͤhren. Jch stieß mit einem Finger schnell und so nahe gegen ihre Augen, als es seyn konnte, ohne sie zu beruͤhren; ich hielt unversehens und jaͤhlings einen brennenden Wachsstock ihr so nahe vor die Augen, daß beinahe die Haͤrchen der Augenlieder angezuͤndet waͤren, ohne daß sie dieselben nur ein einzigmal in etwas sollte bewegt oder zugethan haben.

Eine andere Person mußte sich ihr hinter dem Ruͤcken nahen, und ihr mit eins gewaltig ins Ohr schreien, auch einen Stein stark an das Bettgestelle84 hinter dem Hauptkuͤssen werfen, daruͤber sie bei wachendem Zustande wuͤrde erschrocken seyn und gezittert haben. Aber jezt merkte sie nichts von allen weil sie nicht das geringste Zeichen gab, daß sie etwas davon vernommen hatte. Jch goß ihr in die Augen und in den Mund Franzbrantewein, und den Geist von Salmiack; in ihre Nase blies ich starken Spaniol; ich stach sie mit Stecknadeln; drehete ihr die Finger u.s.w. welches sie alles, als eine unbelebte Maschine oder Marionettenpuppe litte. Endlich beruͤhrte ich auch ihren Augapfel mit der Fahne einer Feder, und gar mit der Spitze des Fingers, ohne die geringste Anzeige einer Empfindung dadurch zu erhalten.

Da sie noch munterer und heftiger zu reden begann, sagten die, welche sie vorhin beobachtet hatten, nun wuͤrde sie bald singen und springen. Und in der That sang sie bald darauf, lachte uͤberlaut, bemuͤhete sich aus dem Bette zu kommen, sprang endlich heraus, und machte ein Freudengeschrei. Jch fuͤrchtete, sie wuͤrde sich an die Bettstellen in dem Raume stoßen; allein sie hielt die Zwischengaͤnge so gut, als ob sie wachte, vermied den Anstoß an Stuͤhle und Bettstaͤdte u.s.w. wandte geschikt um nach den andern Gaͤngen zwischen den Bettstellen, und verschlagenen Kaͤmmerlein, ohn alles Tappen oder Betasten der Oerter. Nachdem sie herum war, kehrte sie wieder zu ihrem Bette, legte sich, deckte sich zu, und erstarrete dann wieder,85 wie zu Anfange. Als diese Zufaͤlle kaum eine Viertelstunde gedauert hatten, kam sie wieder zu sich, als aus einem tiefen Schlafe erwachend, und erkannte an dem Aussehen der Umstehenden, daß sie wieder muͤßte ihre Zufaͤlle gehabt haben, die man ihr vorhin erzaͤhlet hatte; ward daruͤber so beschaͤmt, daß sie den Rest des Tages geweinet; wuste aber von dem allen nichts, was indessen ihr geschehen war. Zu Ende des Maies verlohren sich diese Zufaͤlle, ohne daß man solches den gebrauchten Mitteln zuschreiben konnte. Die Ader war ihr einmal am Arme, mehrmal am Fuße und siebenmal am Halse geoͤfnet worden. Sie hatte fuͤnf bis sechs Abfuͤhrungen aus dem Unterleibe gehabt; Man hatte ihr Opiata fuͤr den Magen gereicht, mit China, Zinnober u.s.w. Bei gelinderm Wetter hatte sie wohl zwanzigmal, mehr in kaltem als laulichtem Wasser, gebadet, und endlich viele aus Eisen bereitete Mittel gebraucht. Jch glaubte, daß sie gesund geworden, weil ich sie nicht wieder gesehen, bis den 10ten Hornung 1745, da hoͤrte ich, daß sie alle Winter wieder solchen Schlafwanderungen unterworfen gewesen, doch ohne allemal mit verknuͤpften Erstarrungen und Unbeweglichkeit, noch gaͤnzlicher Fuͤhllosigkeit in ihren Bewegungen befallen zu werden. So war sie einmal auf einer Bruͤcke von ihrer Noth befallen worden, und man hoͤrte sie reden mit ihrem Bilde, das sie im Wasser erblicket hatte. Ein andermal hatte sie in den lezten86 Weihnachten eine Person gemerkt zu ihrer Seite, doch ohne sie recht zu kennen, dessen sie sich erinnert, und diese Veraͤnderung dem Gebrauch des Eisens zuschreibet. Wie kann doch eine so ploͤtzliche Aufhebung und Wiederherstellung des Gebrauchs der Sinne statt haben? Wie kann man[ meinen,] mit der willkuͤhrlichen Einbildung diese Lebhaftigkeit der Gedanken, und diese[ Hurtigkeit] alle freiwillige Bewegungen hervorzubringen? muß nicht der Zustand der Erstarrenden innerlich wenig unterschieden seyn, von dem Zustande der Schlafwandrer? Die kalten Baͤder, welche dabei so sehr geruͤhmt werden, thaten dawider eben so wenig, als bei jenem Nachtwandrer, dessen Adr. Alemannus gedenket, der in solchem Zufalle durch die Seine schwamm.

Uebrigens ist sie jezt schon gewohnt dieser Starr - und Schlafsucht, redet davon ohne Scheu und Scham, indem sie es nicht mehr fuͤr ein so großes und gefaͤhrliches Uebel haͤlt, als vormals. Sie ist auch nicht mehr so blaß, als sonst, empfindet aber doch vor dessen Antritt noch die Hitze und Schwere des Hauptes, und zu Ende des Anstoßes ein Herzwehe, welches sie aufweckt. Auch bei andern Starrsuͤchtigen habe ich Abwechselungen mit Wahnwitz u.s.w. wahrgenommen: wie im Jahre 1724 ein alter Mann einen Tag die Starrsucht, den andern den Wahnwitz, oder die Stoͤrung des Kopfes, den dritten ein viertaͤgiges Fieber, und den vierten wieder die Starrsucht hatte, u.s.f.

87

Mit diesem sonderbaren Beispiel vergleiche man zulezt folgendes, welches im 63ten Stuͤck 3ten Theils des Arztes vorkommt.

Der Ritter Hans Sloane curirte ein Frauenzimmer an den Blattern. Am Ende der Cur bekam sie convulsivische Zufaͤlle, die ihre Glieder heftig verdreheten. Man wollte sie, nach vielen andern vergeblichen Versuchen mit dem kalten Bade von diesem Elende befreien, und diese leidige Cur stuͤrzte sie in das große Elend, das ich izt beschreiben will. Bald nach dem Gebrauche des kalten Bades verlohr dieses Frauenzimmer erst das Gesicht, dann auch das Gehoͤr, und die Sprache. Jhr Schlund ward dergestalt zusammengezogen, daß sie weder fluͤßige noch feste Speisen verschlingen konnte. Jn diesem Zustande blieb diese Person fast dreiviertel Jahr, und ernaͤhrte sich waͤhrend der Zeit auf keine andere Weise, als daß sie Speisen kauete, und lange im Munde herumwarf, endlich aber wieder von sich geben mußte. Mit den Feuchtigkeiten gurgelte sie sich bloß eine Zeitlang, und gab sie alsdann auf eben dieselbe Weise wieder zuruͤk, ohne daß sie das geringste hinunter geschluckt haͤtte. Bei ihrer Blindheit und Taubheit wurde ihr Gefuͤhl und ihr Geruch so zaͤrtlich, daß sie die verschiedenen Farben von seidenen Zeugen und Blumen unterscheiden konnte, und es empfand, wenn ein88 Fremder ins Zimmer kam. Weil sie zugleich blind, taub und stumm war; so konnte man nur durch das Gefuͤhl mit ihr sprechen. Sie hatte eine ungemeine Fertigkeit in der Fingersprache; wer aber so mit ihr reden wollte, der mußte ihre Hand und ihre Finger statt der seinigen beruͤhren. Sie unterschied an einer Schuͤrze, die mit Seide von verschiedenen Farben eingefast war, das Rothe, Gruͤne und Blaue aufs richtigste, indem sie die Finger aufmerksam an die Blumen der Einfassung setzte. Sie konnte sogar ein nelkenfarbiges Band (Pinck Coulour) nachdem sie es eine Zeitlang befuͤhlet hatte, unterscheiden, und den Namen der Farbe bezeichen, obgleich dieselbe nur eine Art des Rothen von der blaßrothen Schattirung war. Man wollte sie einstmals in ein Zimmer fuͤhren, worinn, wie man ihr zu verstehen gab, lauter Bekannte seyn sollten. Unter der Zeit daß man sie hierzu beredete, waren aber von ohngefaͤhr Fremde in dieses Zimmer gekommen. Als nun die Kranke vor das Zimmer kam, und die Thuͤr geoͤfnet wurde; so kehrte sie um, und ging sehr unwillig wieder in ihr Zimmer zuruͤck, weil sie zu verstehen gab, es waͤren Fremde da und man haͤtte sie hintergehen wollen. Sie gestand nach der Zeit, daß sie die Gegenwart der Fremden aus dem Geruche erkannt haͤtte. Es ward ihr nicht so leicht, ihre Bekannten durch den Geruch zu unterscheiden, sondern sie mußte hierzu andere Kuͤnste zu Huͤlfe nehmen. Jnsgemein er -89 kannte sie ihre Freunde durch das Gefuͤhl ihrer Haͤnde, und wenn dieselben zu ihr kamen; so pflegten sie ihr die Haͤnde darzubieten, um sich zu erkennen zu geben. Die Bildung und die Waͤrme der Hand waren ihre gewoͤhnlichen Merkmale, und zuweilen umspannte sie die Handwurzel am Arme, oder maaß die Finger. Ein Frauenzimmer mit der sie wohl bekannt war, kam einst und bot ihr die Hand, wie gewoͤhnlich. Sie befuͤhlte solche laͤnger, als sonst, und schien zweifelhaft, wessen Hand es waͤre: nachdem sie aber die lezterwaͤhnten Abmessungen angestellt hatte, gab sie zu verstehen: » daß es Jgfr. M. sey, aber heute waͤrmer, als sonst waͤre. « Diese blinde Person pflegte viel zu naͤhen, um sich die Zeit zu vertreiben und ihre Naͤhterei war ungemein sauber und ordentlich. Unter vielen Stuͤcken von ihrer Arbeit, die man in der Familie aufhebt, befindet sich ein Nadelkuͤssen, das kaum seinesgleichen hat. Zuweilen schrieb sie auch, und ihre Schrift war noch außerordentlicher als ihre Naͤhterei. Sie war eben so ordentlich und richtig; die Zuͤge waren sehr artig, die Zeilen alle gerade, und die Buchstaben in gleichen Entfernungen von einander. Das erstaunlichste bei ihrem Schreiben war, daß sie auf eine gewisse Art entdeckte, wenn sie einen Buchstaben ausgelaßen hatte, und ihn uͤber das Wort, wo er hingehoͤrte, mit der gehoͤrigen Anzeigung setzte. Sie pflegte zu allen Stunden der Nacht sich in ihrem Bette aufzusetzen, und zu naͤhen oder90 zu schreiben, wenn ihre Schmerzen, oder andere Umstaͤnde sie nicht schlafen ließen.

Alle diese Umstaͤnde waren so außerordentlich, daß man lange Zeit zweifelte, ob sie nicht schwache Ueberbleibsel des Gesichts und Gehoͤrs haͤtte, weshalb man einige Proben mit ihr anstellete. Einige solcher Proben entdeckte sie von ohngefaͤhr, und dieses erregte ihr allezeit heftige Convulsionen. Der Gedanke, daß man ihr eine so boshafte Verstellung Schuld gaͤbe, war ihrem Gemuͤthe eine unertraͤgliche Qual. Ein Geistlicher fand sie einen Abend an einem Tische arbeiten, auf welchem ein Licht stand. Er hielt seinen Hut zwischen ihr Auge und das Licht so, daß dieses ihr nicht den geringsten Schein geben konnte. Sie setzte ihre Arbeit ganz gelassen fort, bis sie ploͤtzlich ihre Hand in die Hoͤhe hob, ihre Stirn zu reiben und an den Hut stieß, worauf sie gewaltige Convulsionen bekam, und mit großer Muͤhe zurecht gebracht ward. Durch solche Versuche, und verschiedene zufaͤllige Umstaͤnde ward die Familie voͤllig versichert, daß sie gaͤnzlich taub und blind waͤre; besonders als sie einstens bei einem schrecklichen Sturme mit Donner und Blitzen ungestoͤhrt bei ihrer Arbeit sitzen blieb, ob sie gleich das Gesicht gegen das Fenster gekehrt hatte, und sonst bei solchen Vorfaͤllen sehr erschrocken war. Sir Hans Sloane, ihr Arzt, zweifelte immer noch an Begebenheiten, die so wunderbar schienen, und man verstattete ihm, sich davon durch solche91 Versuche und Beobachtungen zu versichern, wie er verlangte. Der Ausgang war, daß er sie fuͤr voͤllig taub und blind erklaͤrte. Sie ward endlich nach Bath gesendet, wo ihre Schmerzen und Convulsionen zwar geringer wurden; aber Sprache, Gesicht und Gehoͤr erhielt sie nie im geringsten wieder. Die Wittwe eines ihrer Bruͤder besitzt Briefe von ihr, welche sie von Bath geschrieben, und die der Verfasser dieser Geschichte selbst gesehen, worinn einige erwaͤhntermaßen vergessene Buchstaben mit Anzeigung der Stelle, wo sie hingehoͤren, eingeruͤckt sind. Diese Wittwe und viele andere Personen koͤnnen diese so seltsamen Begebenheiten dergestalt bezeugen, daß es nicht nur ungerecht, sondern auch thoͤricht waͤre, daran zu zweifeln.

Wer noch mehr uͤber die Nachtwandler zu lesen wuͤnscht, den verweise ich auf folgende Schriften.

  • 1) Auf eine Abhandlung uͤber diesen Gegenstand, welche des Sauvages de la Croix oben angefuͤhrter Erzaͤhlung beigefuͤgt ist im Hamb. Magazin, Band 7. S. 489 ff.
  • 2) Meiers Versuch einer Erklaͤrung des Nachtwandelns. Halle, 1758. 8. Siehe hieruͤber: Literaturbriefe 6. Theil Br. 97.
  • 3) Fricke commendatio de noctambulis. Halae 1773. 4.
  • 92
  • 4) Walchs philosophisches Lexicon, Artikel Mondsuͤchtige. 2. B. der Henningischen Ausgabe.
  • 5) Allgemeine deutsche Bibliothek. 40. Band. S. 136 ff.
  • 6) Kruͤgers Experimentalseelenlehre; im Anhange. Halle 1756. 8.
  • 7) Euseb. Nierembergii philosophia curiosa.
  • 8) Miscellanea curiosa Academ. naturae curiosorum. Annus 1681, 1697, 1698. 4.
  • 9) a Reies elysius iucundarum quaestionum campus.
  • 10) Unzers Arzt. Stuͤck 74[,] 78.
  • 11) Vigneul Marville Melanges d'histoire & de litterature. 2. Band. S. 237 ff.
  • 12) Muratori uͤber die Einbildungskraft des Menschen, nebst Richerz lesenswuͤrdigen Zusaͤtzen. 1. Band. S. 301 ff. desgl. S. 245.
  • 13) Richter de statu mixto somni & vigiliae. Goͤtting, 1756 4.
  • 14) Hennings von den Traͤumen und Nachtwandlern. Weimar 1784. 8.
  • 15) Tiedemanns Untersuchungen uͤber den Menschen. 3. Theil. 1778.

2. Beobachtungen zur Seelennaturkunde.

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Jch fuͤhle in mir keinen staͤrkern Trieb, als den Trieb zur Thaͤtigkeit. Ein einziger geschaͤft -93 loser muͤßiger Moment ist Tortur fuͤr meine Seele. Sie fuͤhlt in sich das Leere; und das Gefuͤhl der Leerheit im Menschen kann nur das peinlichste seyn. Der Wuͤrkung nach, vermoͤge des stillen Tobens einer heftigen unbefriedigten Begierde, und der verzehrenden innerlichen, oft sich aͤußerlich empoͤrenden, aufbrausenden Unruh, koͤmmt dieses Gefuͤhl der Sehnsucht am naͤchsten. Ganz natuͤrlich. Jm Menschen ist ein ewiger, und ununterbrochener, nothwendiger, wechselseitiger Einfluß der Seele und des Koͤrpers. Da die Urkraͤfte eines lebendigen Koͤrpers stets wirksam sind, und die Lebenssaͤfte stets in ihrem Kreislauf herumgetrieben, folglich die inneren Werkzeuge und der Seelenorgan stets regegemacht werden, und theils, indem sie auf den Koͤrper zuruͤck wirken, ihr Beduͤrfniß durch die aͤußern Werkzeuge aͤußern muͤssen; theils in sich selbst Vorrath aufsuchen; das Gedaͤchtniß zu Huͤlfe nehmen, und veraltete Jdeen zuruͤck rufen. So ist der ganze Mensch thaͤtig, so muß alles in ihm thaͤtig wuͤrkend seyn. So ist der Trieb zur Geschaͤftigkeit allgemein, und in der menschlichen Natur gegruͤndet. Die Hauptsache bleibt dieselbe; so unabaͤnderlich die menschliche Natur im allgemeinen ist; so unabaͤnderlich sind die Triebe, die in ihrer Wesenheit angepflanzt liegen. Menschliche Natur im Jndividuum aber modifizirt sich; so wie ihr Verhaͤltniß zu andern Jndividuen; folglich auch ihre Triebe94 nach eben dem Verhaͤltniß zu andern Menschen, Thieren, oder leblosen Dingen.

Die Natur des menschlichen Jndividuums ist die wechselseitige, Ein - und Zuruͤckwuͤrkung der Seele und Koͤrperkraͤfte dieses oder jenes Menschen; so wie die Natur des Koͤrpers der Mechanismus desselben ist, und die Natur der Seele, die Kraft zu empfinden, zu denken und zu wollen, als eben so viele wesentliche Eigenschaften einer einzigen Urkraft in der einfachen Substanz.

Man sieht oft deutlich, wie die Modifikation der menschlichen Natur, (nicht der einzelnen des Koͤrpers, oder der Seele), die Triebe im Menschen modificire. Es scheint aber der Seele der Aushaltungstrieb zu fehlen; ich meine das Ankleben, das starre ununterbrochene, langwaͤhrende Ausharren der Seele an einem Standpunkt ihrer Kraft; es scheint, ihre Kraft vermag nur bis zu einem gewissen Grade des Ausharrens hinan zu steigen, nach dessen Ueberschreitung sie schlaff wird, und sich nach Ruhe sehnt. Die Nachlassung der angespannten Seelenkraft folgt in einem Subjeckt eher, im andern spaͤter; ob aber diese endliche Erschlaffung allgemein sey? daruͤber will ich jeden zu seiner Selbstbeobachtung aufrufen; so wie ich die meinige fortsetzen werde; uͤbrigens wird man sie nicht so leicht a priori demonstriren, noch aus der Analogie der Koͤrperskraͤfte darthun koͤnnen; obwohl sie95 vielleicht, durch den jetzigen Zustand der Seele in Verbindung mit dem Koͤrper erklaͤrbar waͤre.

Jch kann nicht umhin, hier eine Bemerkung anzuschliessen; wozu ein mir juͤngst in die Haͤnde gerathner Plan einer abzuhandelnden Seelenlehre den Anlaß gab.

Die beste Behandlung einer Seelenlehre, glaub ich, wird diese seyn: wenn man Koͤrperlehre, insbesondere die des menschlichen Koͤrpers vorausschickt, welche beide die Menschenlehre heissen. Nur ein solches System, wo von einem Ruͤcksicht auf das andere genommen, und mit dem andern verbunden untersucht wird, kann eine deutliche und gruͤndliche Seelenlehre, kann unverfaͤlschte Menschen - und Seelenkenntniß erzeugen, und richtige Jmputationsregeln angeben. So laͤßt sich leichter auf die Existenz eines Wesens kommen, das wir Seele nennen; naͤhmlich: durch das Geistige unserer Vorstellungen erster und anderer Classe, und ihre Jnkompatibilitaͤt mit der Materie, dann kann man auch desto sicherer zu der Untersuchung ihrer Natur, ihres eigenthuͤmlichen und selbststaͤndigen Wesens schreiten.

Jst ja der Koͤrper unserer Seele das naͤchste, muß ich nicht von der Aeuserungsart auf die aͤußernde Kraft schließen? und wuͤrkt unser Geist nicht durch die Sinne, welche auch zugleich seine Wuͤrkungsart bestimmen, da sie den Grund derselben in sich fassen? Unsere Psychologen vergessen96 meistens jene Eigenschaften und Kraͤfte abzuhandeln, die ihren Grund einzig in der Verbindung beider Substanzen haben. Hieher gehoͤren auch jene Kraͤfte, deren Entwicklung das Daseyn und die Mitwirkung entsprechender Kraͤfte der andern Substanz nothwendig hat. Giebt das eine solide Menschenkenntniß; wenn man jede Substanz abgesondert, ohne Ruͤcksicht auf die andere und ihren jedesmahligen, nothwendigen Einfluß untersucht? einseitig wird sie; einseitig die ganze Beurtheilung des Menschen und seiner Handlungen etc. Jst doch der Mensch nicht blos Seele nicht blos Koͤrper; er ist Koͤrper und Seele; ein durch die nothwendige, bestaͤndige, wechselsweise Ein - und Zuruͤckwirkung beider Kraͤfte und Naturen zusammenfließendes Ganze. Wie vieles Licht wuͤrde eine solche Menschenlehre uͤber das eigenthuͤmliche Wesen der Seele, uͤber das, was ihr bleibt nach der Trennung, und zugleich uͤber unsern moralischen Zustand verbreiten! Wie wuͤrde sie dabei noch oͤffentliche - und Privattoleranz befoͤrdern!

30L. A. Schlichting.

97

Zur Seelenzeichenkunde.

Aus den Papieren eines Selbstbeobachters.

31

Die Folge meiner Vorstellungen und Empfindungen gruͤndet sich gemeiniglich auf eine gleichsam durch sich selbst entstandene, oft mir ganz unerklaͤrbare, ohne mein Zuthun, meine Anstrengung hervorgebrachte Laune, die bald in der Organisation des Koͤrpers, vorzuͤglich aber in der Eigenthuͤmlichkeit der Denkart und der Leidenschaften ihren Grund haben mag. Selten sinds Gruͤnde des Nachdenkens, der Ueberlegung, die mich froͤhlich, oder traurig machen; ich kann mir zwar ein gewisses Frohseyn, einen Kummer der Seele, nachdem es die Umstaͤnde erfordern, so gut wie andre Menschen, erzwingen; aber gewoͤhnlich werde ich ganz unwillkuͤrlich, ja oft wider meinen Willen zur Freude gestimmt, und wider meinen Willen von truͤben Vorstellungen, worinn ich mehr Nahrung auch mehr Geistesthaͤtigkeit, als in jener zu finden glaube, abgerufen.

Als eine Folge jener Laune, deren Einwirkungen ich nicht fruͤh genug vorgebaut habe, betrachte98 ich nun auch zuvoͤrderst die Erscheinung, daß ich fast niemals im Stande bin, mich durch bloße Vorstellungen und aͤußere Objecte zum Mitleiden gegen irgend ein leidendes Wesen zu stimmen, und daß es mir Muͤhe und Unwillen verursacht, wenn ich ohne dazu gestimmt zu seyn, Mitleiden an den Tag legen soll. Jch sehe voraus, daß ich mich werde verstellen muͤssen dies verstimmt mich noch mehr, macht mich zum Mitleiden noch unfaͤhiger, und erzeugt in solchen Augenblicken nicht selten eine Kaͤlte gegen meine Nebenmenschen, vor der ich selbst zuruͤckbebe, und die mich unendlich ungluͤcklich machen wuͤrde, wenn meine Natur von der andern Seite nicht aͤußerst weich und fuͤhlbar geschaffen waͤre, so bald jene Laune voruͤber ist. Mein Herz ist zur Freundschaft aufs staͤrkste geneigt, mein Wohlwollen reißt mich oft zu Handlungen der Menschenliebe hin, die ich fuͤr meine Kraͤfte zu groß fuͤhle, ich habe alle Besonnenheit der Vernunft noͤthig, um nicht in eine Art von Empfindelei zu verfallen; aber bei dem allen ist mein Herz oft felsenhart, wenn es Mitleiden selbst mit seinen Lieblingen empfinden, und an den Tag legen soll. Jst aber bisweilen eine Stimmung der Seele zum Mitleiden vorhanden, fließt mir unmerklich eine Thraͤne der Theilnehmung aus meinem Auge; so fuͤhle ich auch zugleich, daß ich kraͤnklich bin, und daß in meiner Maschine eine nervenschwaͤchende Veraͤnderung vorhergegangen ist.

99

Aber der sonderbare Mangel an Mitleiden, den ich von fruͤher Jugend an mir bemerkt habe, hat mich doch nicht unentschlossen und unthaͤtig gemacht, meinen leidenden Nebenmenschen beizustehen, und diejenigen zu verachten, welche ein Felsenherz bei der Noth ihrer Bruͤder an den Tag legten. Vielmehr wirken die Gruͤnde der Vernunft, sich huͤlfsloser Menschen anzunehmen, mit einer außerordentlichen Lebhaftigkeit auf mein Herz; aber sie reizen mich nicht zum Mitleiden. Wenn ich andern beistehe; so sind es die Gruͤnde der Vernunft allein, die mich zum Handeln determiniren, nicht die Leidenschaft, und der mitleidige Jnstinct, der bei den meisten Menschen blindlings vor der Vernunft vorhergeht.

Da ich ganz offenherzig reden kann, so muß ich aber doch auch gestehen, daß sich in meine Wohlthaͤtigkeit nicht selten eine versteckte Eitelkeit einschleicht, und den Grad des menschenfreundlichen Wirkens bestimmt, wodurch ich andern nuͤzlich werden will. Diese Eitelkeit wirkt nach verschiedenen Umstaͤnden immer verschieden. Es giebt Augenblicke, wo ich mit dem Beifalle, den mir ganz im Stillen mein Herz giebt, vollkommen zufrieden bin, wo ich durchaus nicht wuͤnsche, daß ein Werk meiner Wohlthaͤtigkeit bekannt werden moͤchte, wo ich mich uͤber den Wunsch, es auszubreiten, schaͤmen kann. Zu andern Zeiten richte ich meine Handlung so ein, daß sie bekannt werden muß, der100 Beifall des Herzens ist mir gleichsam nur der zweite Grund der Moralitaͤt geworden. Jch erinnere mich sehr deutlich, mehrmals edle Handlungen von andern erzaͤhlt zu haben, die ich selbst im Stillen verrichtete; theils weil mir die Handlung wohl zu sehr gefiel, als daß ich sie in dem Winkel meines Herzens einschließen sollte; theils, weil sich meine Eitelkeit an dem schmeichelhaften Urtheile anderer uͤber diese Handlung, die ich mir doch immer, als meine Handlung dachte, ob ich sie gleich andern zuschrieb, zu ergoͤtzen suchte. So klein und unbedeutend dergleichen Beobachtungen zu seyn scheinen, so sehr beleuchten sie doch die geheimen Falten des menschlichen Herzens, und schließen uns dasselbe oft viel besser auf, als trockene Theorien uͤber die Natur unsrer Empfindungen.

Nicht weniger merkwuͤrdig, als vorhergehende Beobachtungen, hat mir oft das sowohl an mir selbst als an andern Menschen geschienen, daß man bisweilen bei den hoͤchsten Wuͤnschen, etwas zu erlangen, zu erleben, oder zu thun, in sich noch einen schnell entstandenen Wunsch, daß die heftig verlangte Sache auch nicht geschehen moͤchte, wahrnimmt, obgleich durch diesen leztern jene erstem Wuͤnsche nicht aufgehoben, sondern vielmehr gemeiniglich gestaͤrkt und heftiger wurden. Es101 scheint in der That contradictorisch zu seyn, daß die Seele etwas zu gleicher Zeit, und zwar mit groͤßtem Verlangen wollen, und auch nicht wollen koͤnne; allein das Phaͤnomen bleibt doch als Erfahrung ausgemacht, ob ich mir es gleich selten habe genau erklaͤren koͤnnen, warum ich eine heftig gewuͤnschte Sache auch wiederum zugleich nicht wuͤnschte. Man muß oft sehr tief in das Gebiet unsrer Empfindungen, und ihre ersten originellen Veranlaßungen eindringen, wenn man sich dergleichen ungewoͤhnliche Erscheinungen erklaͤren, und auf die uns bekannte Form des Denkens reduciren will. Schwerlich kann man sich in dergleichen Faͤllen zurecht finden, wenn man nicht eine Menge in uns stets vorhandener, stets wirksamer dunkler Jdeen annimmt, die sich unmerklich an hellere anschließen, und der Thaͤtigkeit der Seele eine von ihrer gewoͤhnlichen Art zu denken und zu wollen verschiedene Richtung geben, die oft gar nicht in der Natur unsers Wollens gegruͤndet zu seyn scheint.

Sehr oft habe ich uͤber den Zustand meiner Seele, in welchem sie etwas zu gleicher Zeit will, und auch nicht will, nachgedacht und das Resultat meiner Untersuchungen war immer folgendes. Die Seele wird in ihrer Thaͤtigkeit durch einen heftigen Wunsch, durch ein zu gewaltiges Hinrichten ihrer Kraft auf einen einzigen Punct viel zu sehr eingeschraͤnkt, und in ihrer Freiheit gehindert, als daß ihr ein solcher Zustand lange gefallen koͤnnte, wenn102 auch gleich das Object des Willens einen erstaunlichen Reiz haͤtte; also schon hierin liegt der Grund eines versteckten Nichtwollens, ein heimlicherTrieb: daß das Object des Wunsches uͤberhaupt nicht daseyn moͤchte, damit man nicht von dem Wunsche selbst in seiner Thaͤtigkeit zu sehr eingeschraͤnkt werde. Man muß sich oft schon zwingen, den Wunsch zu erhalten, weil man einmal eigensinnig genug war, den Wunsch zu wollen. Aber diese psychologische Bemerkung erklaͤrt jenes Phaͤnomen nicht ganz nach seinen verschiedenen Faͤllen und Modificationen; es muß also gemeiniglich noch ein zweiter und dritter Grund hinzu kommen, warum die gewuͤnschte Sache auch nicht gewuͤnscht wird. Durch unzaͤhlig gemachte Erfahrungen unterrichtet, ahnden wir nicht selten den Ekel und die Saͤttigung, voraus, die nach einem erreichten Wunsche sich der Seele bemaͤchtigt, und bei der Erfuͤllung des Wunsches uns das nicht immer finden laͤßt, was wir vorher, so lange die Sache mehr ein Gegenstand der Einbildungskraft war, darinn zu finden hoften. Das Ziel sich erreicht gedacht, zeichnet der Seele wieder nur einen zu begraͤnzten, zu engen Standpunct vor; sie uͤbersieht ihn zu genau, zu deutlich, als daß dieser Vorausblick ihr immer angenehm seyn koͤnnte, zumal wenn die Erfuͤllung des Wunsches, und die Erreichung des Ziels uns einen Theil unsrer jetzigen wahren, oder fingirten Freiheit nimmt. 103 Wir fuͤhlen es vorher, daß wir doch am Ende der Laufbahn nicht, wenigstens nicht viel weiter gekommen sind, daß die Anstrengung der Seele mit dem Ziele, wornach wir laufen, nicht in dem gehoͤrigen Verhaͤltniß steht, und daß uns das erlangte Gut wohl gar wieder entrissen werden kann. Dies ist ein dritter Grund, welcher uns nicht selten die angenehmsten Wuͤnsche vergaͤllt, und uns den Wunsch abzwingen kann, daß auch die Sache nicht geschehen, oder daß das Object des Verlangens gar nicht in unserm Gesichtskreise stehen moͤge. Je heftiger wir etwas begehren, je mehr die ganze Seelenthaͤtigkeit auf einen einzigen Gegenstand gerichtet ist, je mehr Leidenschaften zu gleicher Zeit uns nach einem gewissen Ziele hinstoßen; je furchtsamer pflegen wir auch nach den Hindernissen umherzuschauen, die sich uns in Weg stellen koͤnnten, je empfaͤnglicher sind wir wenigstens, uns durch ein lebhaftes Mißtrauen verstimmen zu laßen, und dieses Mißtrauen ist es eben, welches ein unangenehmes Licht auf den gewuͤnschten Gegenstand schon vorher wirft, ehe wir ihn besitzen.

Jch irre mich daher wohl nicht, wenn ich annehme, daß wir bei den meisten unsrer Wuͤnsche in Gefahr laufen, ihrer oft fruͤher uͤberdruͤßig zu werden, als sie noch erfuͤllt sind; so paradox auch dies klingen mag, und daß wir deswegen nicht selten so sehr eilen, sie in Erfuͤllung zu bringen, weil wir gleichsam die mit ihnen verbundene Lange -104 weile vorausahnden. Wenn wir nicht ganz blindlings wuͤnschen, so pflegen sich bei jedem Fortschritt des Wollens gewisse Bedenklichkeiten, mißtrauische Empfindungen, verringerte Erwartungen an den Wunsch unsres Herzens anzuschließen, und wir werden den Weg nicht immer mit leidenschaftlichem Antriebe, sondern oft nur deswegen fortsetzen, weil es die Ehre erfordert, und wir uns vor andern Menschen keine Bloͤße geben wollen.

Diese Erfahrung werden sonderlich lebhafte Leute an sich machen koͤnnen, deren Seele uͤberhaupt nicht lange unverwandten Blicks auf einen einzigen Standpunkt hinschauen kann, ohne zu ermuͤden. Jhre Jdeen stoßen sich mit einer Art Ungestuͤm nach einander fort, der Seelenzustand bekommt also augenblicklich eine neue Lage und Richtung, und weil hiemit die Mobilitaͤt des Characters so genau verbunden ist; so nehmen die Wuͤnsche und die Situationen des Herzens auch leicht ganz neue oft mit den vorhergehenden ganz heterogene Gestalten an. Die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft stellt zwar solchen Leuten die Erfuͤllung eines heftigen Wunsches unter den schoͤnsten Farben vor; aber sie laͤßt ihnen auch zu gleicher Zeit alles das unangenehme sehen, was mit jener Erfuͤllung mittelbar oder unmittelbar verbunden ist, wenigstens verbunden seyn kann, und diese Vorstellung der Moͤglichkeit des Unangenehmen ist oft laͤstiger, als die Ueberzeugung von einem wirklichen Uebel.

105

Jn der Heftigkeit des Wunsches liegt nun wohl der vorzuͤglichste Grund, warum uns seine Erfuͤllung selten das Vergnuͤgen gewaͤhrt, was wir dabei am Ende des Ziels zu genießen hoften. Je feuriger die Einbildungskraft, je wilder die Leidenschaft war, je schoͤner stellten wir uns das zu erreichende Ziel vor. So lange wir nur noch wuͤnschten, hatte die Seele einen weiten Spielraum, sich die Sache von tausend angenehmen Seiten vorzustellen; wir machten das Object dazu, wozu wir es haben wollten; wir formten gleichsam sein ganzes Wesen nach unserm Willen; wir sonderten davon ab, was uns daran mißfiel; wir trugen Zuͤge hinein, die wir von andern Gegenstaͤnden kopirten; wir machten gleichsam die Masse unsrer liebsten Vorstellungen zur Grundlage des gewuͤnschten Objects, alle diese Operationen der Seele, wobei wir fast ganz frei handelten, gerathen durch das erreichte Ziel auf einmal ins Stocken. Der Gegenstand liegt nach seinem eigentlichen Werth oder Unwerth vor unsern Augen, das Fingiren hilft nichts mehr, da wir ihn nicht mehr durchs Vergroͤßrungsglas unsrer Einbildungskraft betrachten koͤnnen, und da wir durch eine getaͤuschte Vorstellung vom Ganzen, uns nichts weniger, als bereitwillig finden, ihm eine bessere Gestalt zu geben. Vielleicht hatten wir auch das Ziel zu schnell erreicht; vielleicht fuͤhlten wir uns zu schwach, uns auf dem neuen Standpuncte zu souteniren; 106 vielleicht hatten wir dadurch einen andern aufgeben muͤssen, der vielleicht noch weniger vortheilhaft fuͤr uns gewesen waͤre, den wir uns aber doch jezt als etwas Entferntes besser vorstellen; vielleicht aͤnderte sich auch das neue Object in dem Augenblick unsrer Besitznehmung desselben; alles dieses koͤnnen psychologische Gruͤnde seyn, warum uns die Erfuͤllung des Wunsches weniger, als der Wunsch selbst behagt; immer wird aber die erste Ursach davon mit in der[ erfuͤllten] Begierde liegen, und in der Vorstellung, daß uns das neue Object nicht mehr genommen werden kann.

Jch glaube einen großen Unterschied zwischen dem Wunsche nach sinnlichen Objecten und dem, nach Wahrheit, so wie auch in der Erreichung des beiderseitigen Ziels wahrzunehmen. Es sey mir erlaubt hieruͤber meine Meinung zu sagen. Der Durst nach Wahrheit erreicht bei unendlich wenigen Menschen den Grad, welchen Cartesius*)*) Cartesius fuͤhlte einen solchen Drang zur Erforschung der Wahrheit in sich, und setzte seine Studien mit einer solchen Heftigkeit fort, daß sein Gehirn dadurch litte, und er uͤber den Gegenstand seines Denkens in eine Art von Enthusiasmus fiel. So leicht sich ein solcher Zustand bei einer lang anhaltenden Anstrengung des Verstandes erklaͤren laͤßt; so merkwuͤrdig ist doch das, was er hieruͤber von sich selbst erzaͤhlt. Voll von seinem Enthusiasmus und dem Gedanken, eines Tages die Gruͤnde der Wahrheit gefunden zu haben,34 legte er sich 1619 den 10ten November schlafen. Er hatte hintereinander drei Traͤume, die ihm so außerordentlich schienen, daß er sie fuͤr goͤttlich hielt, und in ihnen sich die Bahn vorgezeichnet fand, welche er nach dem Willen der Gottheit in Absicht seiner Lebensart und seiner Erforschung der Wahrheit, die er mit Unruh suchte, gehen muͤsse. Die geistige Auslegung, welche er diesen Traͤumen gab, glich dem Enthusiasmus von dem er sich durchdrungen glaubte so sehr, daß man ihn haͤtte fuͤr wahnsinnig halten, oder glauben koͤnnen, daß er sich den Abend vorher betrunken haben muͤsse; aber er versichert uns, daß er den Tag vorher aͤußerst maͤßig zugebracht, und seit drei Monaten keinen Wein getrunken habe. Den andern Morgen, noch ganz von den Eindruͤcken jener Traͤume durchgluͤht, uͤberlegte er, was er nun fuͤr eine Partie ergreifen solle; er nahm seine Zuflucht zur Gottheit, und bat sie instaͤndigst, ihm ihren Willen deutlich bekannt zu machen, ihn zu erleuchten, und ihn bei seiner Untersuchung der Wahrheit zu fuͤhren. Seine Schwaͤrmerei ging so weit, daß er sogar die Jungfrau Maria fuͤr sich mit zu interessiren suchte, und ein Geluͤbde, nach Loretto in Jtalien zu reisen, that.Baillet la vie de Des-Cartes, à Paris 1693. p. 37. seq. fuͤhlte. 107Der Wunsch, sie zu finden wird nicht von dem Feuer der Leidenschaft begleitet, das unsre sinnlichen Wuͤnsche vermoͤge der Einbildungskraft oft bis zur Schwaͤrmerei belebt; wir muͤssen uns bei erstern anstrengen, um nicht zu ermuͤden, bei leztern muͤssen wir oft dem Wunsche Einhalt thun, damit wir nicht zu weit gehen. Der Grund dieser Ver -108 schiedenheit liegt ohnstreitig darin bei Wuͤnschen, die die bloße Sinnlichkeit angehen, ich rechne hierher alle Wuͤnsche, die nicht die Wahrheit oder bloße Notionen zum Gegenstande haben, uͤbersieht man das Ziel, was erreicht werden soll; das Object ist gegeben, man soll nun zu ihm hineilen, sich in seinen Besitz setzen; hiebei steht es uns frei, seine Gestalt zu verschoͤnern, und tausend angenehme Verhaͤltnisse zwischen uns und ihm wenigstens zu fingiren. Bei dem Wunsche nach Wahrheit hingegen uͤbersehen wir das Ziel noch nicht, das Object ist noch nicht, wenigstens noch nicht anschaulich gegeben, wir sollen es erst suchen, wir koͤnnen es also noch nicht verschoͤnern, und stehen dabei ohnedem noch in Gefahr, ob uns nicht irgend ein Jrrthum einen unsichern Nebenweg fuͤhrt. Alles dies erschwert das Suchen nach Wahrheit, und es muß uns unaufhoͤrlich ein wenigstens versteckter Ehrgeiz antreiben, wenn wir immer muthig bei diesem Suchen fortschreiten sollen.

Auf der andern Seite sind die Empfindungen, wenn das sinnliche, oder intellectuelle Ziel erreicht ist, sehr von einander unterschieden. Die gefundene Wahrheit ist viel angenehmer, und das Vergnuͤgen dabei von laͤngerer Dauer, als die Erfuͤllung eines sinnlichen Wunsches. Der Aufwand von Geisteskraft, die Anstrengung des Nachdenkens, die neuen aufgefaßten lichtvollen Jdeen geben dem neuen Vorrath gefundener109 Wahrheiten in unsern Augen einen außerordentlichen Werth; wir uͤberblicken den zuruͤckgelegten Weg einer muͤhsamen Speculation nun mit dem reinsten Vergnuͤgen; weil das gefundene etwas Geistiges ist, und wir durch unsre eigene Kraft die Wahrheit herausgebracht haben; so kommen wir uns viel wichtiger vor, als wenn wir am Ziele eines sinnlichen Wunsches stehen, wobei mehr aͤußere Umstaͤnde, als unser Verstand gewirkt haben. Wir befuͤrchten in jenem Fall keinen Ekel, wie bei diesem sinnlichen Wunsche, weil der Genuß der Wahrheit, um mich so auszudruͤcken, in der Vorstellung einer Vollkommenheit besteht, dahingegen die schoͤnsten sinnlichen Wuͤnsche uns doch nur zu etwas Unvollkommenem fuͤhren, das seiner Natur nach veraͤnderlich und wandelbar ist.

Jn so fern ich die Wahrheit von ihrer moralischen Seite betrachte, glaub ich, daß kein Mensch weder sich genau kennen lernen, noch seine sittlichen Entzwecke auf die gehoͤrige Art erreichen kann, wenn er nicht seine Gesinnungen in Absicht der Wahrheit unpartheisch pruͤft. Hier eroͤfnet sich ein sehr großes Feld von Beobachtungen uͤber die menschliche Natur, und zwar ein Feld, welches, so viel ich weiß, noch in keiner Moralphilosophie genau bearbeitet worden ist. Einen Wahrheits -110 sinn, oder Wahrheitsgefuͤhl anzunehmen, hat mir immer sehr unrichtig geschienen, in so fern man dadurch eine angebohrne Sensation des Wahren versteht, die der deutlichen Erkenntniß desselben vorhergehen soll. Wahrheit im eigentlichen Sinne des Worts, ich mag darunter nur uͤberhaupt eine Notion in Abstracto, oder ein sittliches Verhaͤltniß verstehen, ist durchaus kein Object des Gefuͤhls, sondern muß durch Begriffe bestimmt werden. Diese Begriffe, die wir uns durch Nachdenken nach und nach erworben haben, liegen denn auch bei den Empfindungen des Wahren zu Grunde, ob gleich auf eine dunkle Art, die ohne vorhergegangene Reflexionen des Verstandes, uns zum wahren hinzuziehen, und in der That so einen Seelenzustand hervorzubringen scheinen, den man Wahrheitsgefuͤhl nennen koͤnnte, wenn das Wort Gefuͤhl nicht viel zu unbestimmt bei dieser Sache waͤre. Wir verrichten das Denken eben so gut mechanisch, wenn wir es lange geuͤbt haben, als die Aeusserungen unsrer koͤrperlichen Kraͤfte, und es giebt unzaͤhlige Faͤlle, wo wir bei jenem bloß nach Empfindungen zu handeln glauben, weil die vorhergehenden Begriffe nicht immer ein deutliches Bewußtseyn derselben voraussetzen, wornach wir handeln muͤssen. Die Empfindungen fuͤr Wahrheit erfolgen mechanisch nach einem unterliegenden gemeiniglich dunklen Begriffe dessen, was wir fuͤr wahr halten, sobald wir die Empfindung zergliedern. 111 Doch ich wollte ja hier nur individuelle Beobachtungen uͤber gewisse Seiten der Menschen in Ruͤksicht moralischer Wahrheiten liefern und insonderheit uͤber Wahrheitsliebe.

Jch halte dafuͤr, daß diejenigen Menschen am meisten in Gefahr sind, wider die Regeln jener großen und erhabnen Gesinnung zu fehlen, die der Neigung zum Witz sehr ergeben sind, und sich nicht enthalten koͤnnen, das blendende und laͤcherliche eines Gedankens der Wahrheit aufzuopfern. Die Wahrheit sollte uns ihrer Natur nach lieber, als alles andre seyn, weil sie der Grund aller moralischen Vollkommenheit ist; aber es giebt unzaͤhlige Faͤlle, wo der Witz, welcher die Wahrheit in ein schiefes Licht stellt, uns und andern mehr, als die Wahrheit selbst gefaͤllt, weil er entweder einen groͤßern Reiz fuͤr unsre Einbildungskraft hat, oder weil die Wahrheit uns schon an sich unangenehm war. Ein jeder witzige Kopf mag sich selbst fragen, wie oft er in seinen Urtheilen uͤber andre unbillig verfaͤhrt; wie bereitwillig er ist, die falsche Seite eines Gegenstandes herauszukehren, und die wahre geflissentlich zu verstecken; wie oft seine Wahrheitsliebe durch den Kitzel eines launigen Einfalls gleichsam auf einmal vernichtet wird, und wie zweideutig ihm oft selbst sein moralischer Character hierinn vorkommen muß.

112

Meine zweite Bemerkung ist die, daß die besten Menschen, selbst die von einem sehr festen Character oft ganz unschuldigerweise eine Neigung in sich empfinden, etwas Unwahres zu sagen, ohne dazu necessitirt zu seyn, ohne die Unwahrheit zu lieben. Gemeiniglich liegt ein versteckter Grund hierunter verborgen, den ich, so wie die meisten Handlungen der Menschen, in die Eitelkeit setze. Man erdichtet gewisse Umstaͤnde, wodurch man ein Licht auf sich zu werfen sucht; erzaͤhlt die und die großen Maͤnner zu kennen, die man nicht kennt, an dem und dem Orte sich aufgehalten zu haben, wo man nie gewesen ist, Buͤcher gelesen zu haben, die man nicht gelesen hat; spricht von Gefahren, die uns nie begegnet sind; von Hofnungen, deren Erfuͤllung unmoͤglich ist; oder man erzaͤhlt auch nur etwas Unwahres, um die Gesellschaft zu unterhalten, und seinen Witz zu zeigen, und tausend dergleichen Faͤlle mehr, wo man keine Absicht zu schaden hat, und nicht schaden konnte. Vielleicht liegt in diesen Erdichtungen, so wie auch in ihrer boͤsen Seite, dem Luͤgen, ein geheimer Reiz, der uns dazu verfuͤhrt, und ich glaube, daß es Menschen giebt, denen dieser Reiz zur andern Natur werden kann, so daß sie endlich kaum selbst mehr unterscheiden koͤnnen, ob sie die Wahrheit sagen, oder nicht sagen. Leute die viel sprechen, und doch auch immer gern etwas Neues, etwas witziges sagen wollen, finden in der Darstellung des Wahren113 auch nicht immer Stoff genug ihre Zunge in Bewegung zu erhalten, und der Beifall, den eine geschmackvolle Erdichtung oder wohl gar Luͤge von andern erhaͤlt, macht sie leicht geneigt, ihre Talente in Erfindung neuer Unwahrheiten taͤglich zu uͤben, obgleich die Zuverlaͤßigkeit des Characters bei aller uͤbrigen Guͤte desselben dadurch sehr leiden muß!

Wenn ich mein Gefuͤhl untersuchte, welche Menschen mir am unausstehlichsten sind; so habe ich von meiner fruͤhen Jugend an gefunden, daß es vornehmlich zwei Classen derselben waren, eitle und falsche. Bei reifern Jahren habe ich angefangen, diese Empfindungen zu zergliedern, und nachzudenken, warum jene Menschen so etwas aͤußerst Unangenehmes fuͤr mich hatten, und warum ich Diebe und Moͤrder eher leiden moͤchte, als jene Creaturen. Der Eitle mißfiel mir nicht eigentlich wegen des laͤcherlichen, welches er an sich hat, im Gegentheil habe ich ihm oft deswegen seine Narrheiten verziehen; der Grund lag vielmehr in dem Gedanken, daß jener sich mit seiner unbedeutenden Existenz viel zu sehr beschaͤftigt, als daß er uns die Aufmerksamkeit schenken sollte, die wir von andern auf unsre Person verlangen, und daß er uns gemeiniglich nur als ein Jnstrument seiner Bewunderung betrachtet. Dieser Mißbrauch, den jene114 Narren mit uns treiben; die Gleichguͤltigkeit derselben gegen alles, was nicht ein Licht auf sie[ wirft]; der abgeschmackte Egoismus, den sie in allen ihren Handlungen und Gespraͤchen an den Tag legen; die erbaͤrmliche Kleingeistigkeit, an Farben und Federn sich zu ergoͤtzen; die dumme Betriebsamkeit sich in Gesellschaften immer hervorzudraͤngen, und das große Wort daselbst zu fuͤhren; die fade Manier, mit welcher sie von uns eine demuͤthige Hochachtung selbst gegen die jaͤmmerlichen Bloͤßen ihres Geistes und Herzens von uns fodern; die gnaͤdigen Blicke, mit welchen sich ihr beifallgieriges Auge zuweilen gegen uns herablaͤßt; die uͤberspannte Dankbarkeit, die sie von uns fuͤr oft sehr unbedeutende Dienste fodern; die ekelhafte Rangsucht dieser affenartigen Menschen, alle diese Dinge haben nach und nach in mir einen unausloͤschlichen Abscheu gegen ihre Handlungen eingepraͤgt; ich kann sie nicht mehr belachen; ich fuͤhle mich geneigt, sie zu hassen, und meiner Spoͤtterei uͤber sie, so oft ich kann, freien Lauf zu laßen.

Ein Mann, der seine Eitelkeit nicht mehr uͤberwinden kann, ist in meinen Augen ein sehr verachtenswuͤrdiges Geschoͤpf der Erde; alle seine Handlungen, selbst die besten, die schoͤnsten die er thun kann, kommen mir aͤußerst verdaͤchtig vor, weil sie seine alberne Eitelkeit gewiß hervorgebracht hat, weil alles moralische Gute seines Herzens aus keiner andern, als dieser unreinen Quelle, fließt,115 weil das Gute, was ein Geck thut, etwas Ekelhaftes an sich hat, das ich nicht beschreiben kann. Freundschaft, Liebe, Religiositaͤt, Mitleiden, Barmherzigkeit, Gerechtigkeitsliebe, Großmuth alles scheint bei ihm die Tochter seines verschrobenen Egoismus zu seyn, woran die wahre Ehre keinen Antheil nimmt, und den keine Vernunft heilen kann, weil der Eitle in gewissem Betracht mit unter die Wahnsinnigen gezaͤhlt werden kann. Jch wuͤrde mich fuͤr den ungluͤklichsten Menschen halten, wenn ich mit einem solchen Geschoͤpf in einer sehr engen Verbindung leben muͤßte, und das boͤseste Weib wuͤrde mir dagegen noch wie ein Engel vorkommen.

So einen unausloͤschlich uͤbeln Eindruck von meiner fruͤhesten Jugend eitle Maͤnner auf mich gemacht haben; so gern habe ich immer dem andern Geschlecht seine Eitelkeit verziehen; ja ich habe sie oft an demselben geliebt. Jn der That scheint auch ein eitles Frauenzimmer lang noch nicht ein so laͤcherliches und absurdes Geschoͤpf zu seyn, als ein eitler Mann. Wir verzeihen ihm eine selbst uͤbertriebene Aufmerksamkeit auf seinen Koͤrper, weil Schoͤnheit fuͤr etwas Eigenthuͤmliches des andern Geschlechts gehalten wird, und weil uͤberhaupt das andre Geschlecht nicht an so ernsthafte Geschaͤfte des Lebens gebunden zu seyn scheint, als das unsrige; ich gehe noch weiter und behaupte, daß ein Frauenzimmer ohne alle Eitelkeit keinem vernuͤnftigen Mann116 gefallen wird, und daß uns diese Eigenschaft angenehm seyn muß, weil sie, um Maͤnnern zu gefallen, an denTag gelegt wird. Nur ist es aͤußerst schwer, die Graͤnzlinie zu bestimmen, wo die vernuͤnftige Eitelkeit, um mich so auszudruͤcken, aufhoͤrt, und die laͤcherliche bei dem andern oder unserm Geschlecht anfaͤngt.

Wenn Leute mit einem falschen Character von jeher den unangenehmsten Eindruck auf mich gemacht haben; so glaube ich, daß der erste Grund davon in der Erziehung liegt, indem mein Vater mit aller Aufmerksamkeit darauf sahe, daß seine Kinder stets offen, frei und ehrlich handeln mußten. Da er eben so mit ihnen umgieng, wurde keine Gelegenheit zur Verstellung gegeben, wozu die meisten Kinder in ihren vaͤterlichen Haͤusern gewoͤhnt werden, und da er ein Feind alles heuchlerischen und falschen Wesens war, und daruͤber sich gemeiniglich sehr stark auszudruͤcken pflegte; so mußte dies sehr tiefe Eindruͤcke in den Herzen seiner Kinder zuruͤcklaßen. So wie gemeiniglich nicht grade eine moralische Maxime, eine theoretische Sittenregel den Menschen zum Guten antreibt, sondern sich mit dem Entschlusse gemeiniglich, wenn er zur Reife kommen soll, ein Bild, eine Anschauung aus dem gewoͤhnlichen Menschenleben verbinden muß; so erinnere ich mich, oft etwas zweideutiges nicht ge -117 than, nicht gesagt zu haben, weil sich mir in dem Augenblick das Bild von einem schiefen Character unter irgend einer mir von dieser Seite her bekannten Person darstellte, die ich haßte, und zwar vielleicht bloß wegen ihrer Falschheit haßte. Vielleicht leihe ich jenem Bilde zuweilen zu schwarze Zuͤge; vielleicht findet mein physiognomisches Gefuͤhl mehr Boͤses in ihrem Gesicht, als es wirklich anzeigt, vielleicht bin ich ungerecht gegen Menschen, wenigstens in meinen bittern Beurtheilungen gewesen, die nur den Schein der Falschheit an sich trugen; dem sey wie ihm wolle; ich kann uͤber meine Erbitterungen gegen den Mann, der sich mir irgend einmal in einem falschen Lichte gezeigt hat, nicht Herr werden, und es wuͤrde mir selbst mit denen freundschaftlich umzugehen unmoͤglich seyn, die nur in einer entfernten Verbindung mit einem solchen Mann stehen.

Aus dieser unaufhoͤrlichen Abneigung gegen alles, was Falschheit des Characters heißt, erfolgten denn nach und nach manche sonderbare Phaͤnomene in meinen Handlungen. Da der Ton der Gesellschaft in der heutigen großen Welt, und die liebe Eitelkeit, wovon ein jeder Mensch beherrscht wird, es uns oft zur Pflicht zu machen scheinen, andern Schmeicheleien zu sagen, und ich oft zu dergleichen auch gezwungen war; so habe ich mich doch gemeiniglich dabei so eingerichtet, daß ich nie kriechend wurde, was ich uͤberhaupt aufs hoͤchste ver -118 abscheue; ich habe meine Schmeicheleien fast immer mit einer Miene gesagt, woraus man schließen konnte, daß es nicht mein Ernst war, ja ich habe oft meine Lobrede gleichsam wieder ganz zuruͤckgenommen, indem ich mich nicht enthalten konnte, die schlechte Seite der Sache oft auf eine vielleicht zu bittere Art aufzudecken, in dem Moment aufzudecken, da ich ihr Lobredner werden mußte. Glichen meine Ausdruͤcke bisweilen einer Schmeichelei; so war ich in dem Augenblick wirklich von dem Werthe der gelobten Person und Sache vollkommen uͤberzeugt; so handelte ich nach meinem ehrlichen Gefuͤhl fuͤr Wahrheit; irrte ich mich in der Person und Sache; so hab ich nie wieder der erstern, wenn sie auch noch so hoch gestiegen waͤre, eine Lobrede gehalten. Die Eitelkeit allein hat mir bisweilen Ausdruͤcke abgelockt, wobei ich es nicht vollkommen ehrlich meinte; allein es betraf doch gemeiniglich nur unbedeutende Sachen; mehr Scherz als Ernst.

Menschen, von deren Antlitz eine ewige Freundlichkeit herabstroͤmt, die ihre Dienste aufdringen, die allen feinen Worten entgegen grinzen, die dich in einer auswendig gelernten Complimentensprache bei einem Uebel aufs hoͤchste bedauern, die dir Schmeicheleien ins Gesicht sagen, ohne die mindeste Verlegenheit dabei zu aͤußern, habe ich entweder fuͤr Dummkoͤpfe, oder fuͤr Schurken gehalten. Jm ersten Fall habe ich sie bedauert, und habe119 sie gehen lassen; im zweiten Fall aber habe ich sie hassen muͤssen, weil ich sie fuͤr falsch hielt. Ein zu gefaͤlliges, zu herablaßendes und guͤtiges Wesen, welches man nicht selten bei den besten Menschen und Koͤpfen antrift, hat mir oft an den besten Menschen und Koͤpfen verdaͤchtig geschienen, und ich habe laͤngere Zeit mit ihnen umgehen muͤssen, um uͤber jene Empfindung Herr zu werden, wenn ich nicht anders wußte, daß jenes herablaßende Wesen ein Fehler ihrer Erziehung oder ihrer unschuldigen Eitelkeit war. Mit hoͤchstem Unwillen bin ich oft von Maͤnnern geschieden, die mich mit einer uͤbertriebenen Hoͤflichkeit empfiengen, sie haͤtten mir Grobheiten sagen koͤnnen, und ich wuͤrde es ihnen viel eher vergeben haben. Jch muß hier eine allgemeine Anmerkung machen. Die meisten großen Koͤpfe haben keine oder herzlich wenig aͤußere Lebensart, (ich rede hier vorzuͤglich von Gelehrten) aber desto mehr Eitelkeit. Sie wollen einen jeden zu ihrem Lobredner machen, und geben sich daher jene so guͤtige, herablaßende, gefaͤllige Miene, die wir an ihnen so leicht gewahr werden, und die uns oft ekelhaft wird, weil hinter ihr eine baͤuerische Erziehung hervorleuchtet. Die Bewunderung sieht diesen Schnitzer nicht, haͤlt sie fuͤr Originalitaͤt; aber der feinere Menschenbeobachter weiß sehr gut, in welche Classe von Handlungen er das Benehmen des großen Mannes hinstellen soll. Jeder Mensch haͤngt einen Schild aus, woran man ihn erkennen120 kann; man muß sich nur nicht durch die bunten Farben des Schildes taͤuschen lassen, das Original naͤher zu studiren.

Jch komme nun zu ganz andern Selbstbeobachtungen. Viele duͤrften darinn, so wie sehr wahrscheinlich in den vorhergehenden wenigstens einen Theil ihres Bildes aufgestellt finden. Da so sehr viele zum Theil versteckte Antriebe sich bei jeder individuellen Handlung des Menschen vereinigen, so daß man nie mit Gewisheit sagen kann, dies und dies war das einzige Motiv der That; so bin ich immer sehr begierig gewesen, die wahren Gruͤnde unsrer moralischen Handlungen aufzufinden, und deshalb selbst auf mich genau Acht zu geben, weil ich mit Wahrscheinlichkeit schließen konnte, daß andre, unter aͤhnlichen Umstaͤnden, so wie ich, handeln wuͤrden. Nach diesen Beobachtungen bin ich auf den Gedanken gekommen, daß die wenigsten Menschen in Ruͤksicht auf die Gottheit, auf Antrieb und Liebe zu derselben, sondern gemeiniglich aus andern Principien gut handeln, denen sie nur hinterher, oder aus Gewohnheit den Begriff der Gottheit unterschieben. Jene andern Principien sind denn gewoͤhnlich nichts anders, als natuͤrlicher Jnstinkt der Menschenliebe, Freundschaft, politische Klugheit, Erhaltung oͤffentlicher Ruhe, Eitelkeit, auch wohl Eigensinn, Furchtsamkeit,121 Enthusiasmus fuͤr ein gewisses Jdeal moralischer Schoͤnheit, Gewohnheit u.s.w. Alle diese Motive liegen uns ohnehin naͤher, als der abstracte Gedanke an eine Gottheit, ein Gedanke, der wegen seiner so viel umfassenden Bedeutung nicht leicht einen so augenblicklich determinirten reinen Bewegungsgrund unsrer Handlungen abgeben kann, als jene Principien, die in unsre Natur hineingewebt sind, oder die uns augenblicklich an unsre aͤußern Verhaͤltnisse erinnern; vielleicht gehoͤrt selbst eine Art Schwaͤrmerei dazu ohne alle anderweitige Motive, (die sich an den Begriff von einer Gottheit anschließen koͤnnten), den Gedanken an die Gottheit zu einem reinen Bewegungsgrunde des Willens zu erheben. Jch laͤugne hiemit nicht den Einfluß, den dieser Gedanke auf unsre moralischen Handlungen haben kann,[ und] haben muß; sondern ich meine nur so viel, daß er kein eigenthuͤmliches reines Princip des Willens ist, und gemeiniglich von andern Motiven unterstuͤtzt wird. Es haben daher auch schon mehrere Weltweisen angenommen, daß es eine Moralitaͤt unsrer Handlungen geben kann, ohne daß ein Begriff von einer Gottheit, wie gewoͤhnlich zum Grunde gelegt wird, und die vollkommenste Sittenlehre wuͤrde ohnstreitig die seyn, worinn die Principien aller Moralitaͤt allein aus der Natur des menschlichen Willens und ihrer Uebereinstimmung mit den ewigen Gesetzen der Vollkommenheit, ohne Ruͤksicht auf122 unsichtbare Wesen außer uns zu nehmen, reducirt, und daraus abgeleitet wuͤrden.

Es kommt mir beinahe so vor, als ob die Menschen es von jeher bemerkt haͤtten, daß der bloß abstracte Begriff vom Daseyn einer Gottheit nicht kraͤftig genug auf unsre Handlungen wirken wuͤrde, wenn sie ihn nicht mit andern Motiven und anschaulichern Jdeen zu vereinigen, und dadurch zu einem Handlungsprincip zu erheben suchten. Man personificirte daher in allen Religionen bald auf eine feinere bald plumpere Art die Handlungen der Gottheit, man schob ihr leidenschaftliche Motive unter, man gab ihr willkuͤrliche Rechte zu belohnen und zu bestrafen, man ließ sie sogar sich in Menschen verwandeln, und durch diese denken und reden, um gleichsam das zu geistige Bild ihres Wesens unsern Handlungen naͤher zu bringen, und sich ihren vermeinten Einfluß auf die Moralitaͤt unsres Willens deutlicher vorzustellen. Auf diese Art wurde Religion nach und nach Beduͤrfniß fuͤr den Menschen, und aus dem Beduͤrfniß Gewohnheit, wobei die Sinnlichkeit sich stets mit ins Spiel mischte. Sehr natuͤrlich war es, daß das Bild der Gottheit dadurch, um mich so auszudruͤcken, desto uncorrecter werden mußte, je sinnlicher es ward, und daß die Moralitaͤt einer Handlung wohl keinen großen Werth haben konnte, die sich auf jenes Bild gruͤndete, nicht wie es die reine Vernunft, sondern wie es die Sinnlichkeit entwarf.

123

An diese Betrachtungen, die ich oft angestellt habe, ohne an meiner Ruhe dadurch etwas zu verliehren, schlossen sich die Jdeen von einer Unsterblichkeit der Seele oft so lebhaft an, daß ich nicht selten einen Wunsch in mir empfand, sogleich aus der Reihe sichtbarer Wesen ausgetilgt zu werden, um uͤber diesen wichtigen Punct zu irgend einer Gewißheit zu kommen, die mir kein Philosoph verschaffen konnte. Jch hatte fleißig das Vorzuͤglichste gelesen, was hieruͤber in den Werken aͤlterer und neuerer Weltweisen vorkam; aber ich fuͤhlte immer noch den Mangel an Evidenz, die ich suchte, und die Praͤmissen jener philosophischen Untersuchungen wurden in meiner Seele jedesmal durch eine Menge von Zweifeln niedergerissen, denen ich nicht widerstehen konnte, und die mir nicht selten viel wichtiger, als die Gruͤnde vorkamen, wodurch man eine Unsterblichkeit der Seele darthun wollte. Jch suchte mir endlich auf einem eigenen Wege Gruͤnde fuͤr die Unsterblichkeit zu verschaffen, die wenigstens mir staͤrker, als die bisherigen schienen, und diese Gruͤnde bemuͤhte ich mich aus dem Jnteresse herzuleiten, welches die Gottheit an unserm Daseyn, als Urheber desselben haben muͤsse, und ohne welches ich mir nie die Gottheit denken konnte. » Es wuͤrde, so schloß ich, der hoͤchsten moralischen Vollkommenheit Gottes eine Realitaͤt stehlen, wenn sie auch nur eine einzige denkende Kraft, die mit allen uͤbrigen denkenden Kraͤften in der Gottheit gleichsam124 wie Theile in einem Ganzen enthalten sind, vertilgen wollte; ja ich konnte mir gar nicht einmal vorstellen, wie eine solche Vertilgung moͤglich sey. Jch kam dabei zugleich auf den Gedanken, daß die Gottheit, wenn sie etwas Denkendes geschaffen habe, dasselbe zu naͤchst um ihrer selbst willen hervorgebracht, und als Nebenzwecke die Gluͤckseligkeit des denkenden Jndividuums betrachtet habe, weil die hoͤchste denkende Kraft ihr eigenes Jnteresse auch immer als das erste und hoͤchste bei jeder ihrer Modificationen betrachten muͤsse. Diese Gruͤnde hatten mich auf einige Zeit beruhigt; ob wohl nicht uͤberzeugt, weil der erste zum Grunde liegende Begriff vom Daseyn Gottes selbst noch einigen Zweifeln unterworfen seyn konnte; aber auch diese Beruhigung verschwand beinahe, als mir einst ein aufgeklaͤrter Freund gegen meine Hypothese den Einwurf machte: daß es doch auch vielleicht das Jnteresse der Gottheit erfodern koͤnne, anstatt der ausgetilgten Kraͤfte des Denkens in einzelnen Jndividuen, neue hervorzubringen, und daß eine immer neue Schoͤpfung denkender Wesen vielleicht der Gottheit ein hoͤheres Vergnuͤgen gewaͤhre, als die Erhaltung einer immer dieselbe bleibenden denkenden Summe von Wesen. Jch gerieth in jene neue Unruh, die mich in einsamen Stunden und Mitternaͤchten schon so oft bei den Gedanken an Unsterblichkeit ergriffen und gemartert hatte.

125

An die Leser des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.

35

Da ich dem Publikum angekuͤndigt habe, daß ich die Herausgabe dieses Magazins nun wieder allein uͤbernehme, muß ich uͤber mein Verhaͤltniß mit Herrn37Pokelseinige Worte sagen, in so fern die Leser dieses Magazins dabei interessirt seyn koͤnnen, und in so fern Herr38Pokelsselbst mich dazu noͤthigt.

Jm Jahr 1786 am 19ten Julius schrieb mir Herr39Pokelsmit folgenden Worten: » Erlauben Sie mir guͤtigst eine Frage, die Jhnen vielleicht sonderbar vorkommen wird, die Sie mir aber guͤtigst verzeihen werden. Finden Sie es fuͤr rathsam, einen Mitherausgeber des Magazins anzunehmen, und koͤnnte ich dieser Mitherausgeber seyn? Schreiben Sie mir hieruͤber bald, damit ich weiß, welchen Gebrauch ich mit denen in meinen Haͤnden befindlichen Beitraͤgen machen soll, und lassen Sie mir die Bedingungen wissen, unter welchen Sie mit mir die Zugleichherausgabe besorgen wollen. Wahrscheinlich koͤnnten wir dann jaͤhrlich vier Stuͤck herausgeben, womit, wie ich glaube, der Verleger nicht unzufrieden seyn wuͤrde, da das Magazin sehr vielen Absatz hat. «

Da ich nun einige Wochen hierauf meine Reise nach Jtalien antrat, so nahm ich dieß Anerbieten des Herrn40Pokelsan; habe aber waͤhrend meines126 Aufenthalts in Jtalien, wegen der Schwierigkeit des Uebersendens, keines von den Stuͤcken, die Herr41Pockelsherausgegeben, zu Gesicht bekommen, auch keine Beitraͤge dazu geliefert. Da ich nun aber waͤhrend dieser Zeit meine erste Jdee eines Magazins zur Erfahrungsseelenkunde selbst weiter verfolgt, und einen Plan habe, dieses Werk weit interessanter zu machen, als es bis jezt gewesen ist, so muß ich nach diesem entworfenen Plane, die Herausgabe des Magazins nothwendig allein wieder uͤbernehmen, weil ich mit Herrn42Pockelswegen der einzuruͤckenden Aufsaͤtze nicht muͤndliche Abrede nehmen kann, und mir auch die Revisionen, die im vierten Bande des Magazins von mir angefangen und im fuͤnften von Herrn43Pockelsfortgesetzt sind, nothwendig wieder selbst vorbehalten muß, weil das Werk sonst zerstuͤckt bleibt. Sobald wir also nicht auf eine reelle Weise, sondern bloß dem Namen nach, an diesem Werke ferner gemeinschaftlich arbeiten wollten; so wuͤrde ja das Werk selbst nichts dadurch gewinnen, sondern der Eifer zur Bearbeitung desselben wuͤrde immermehr erkalten. Jn diesem Falle ist es also fuͤr die Sache selbst weit besser, daß ein jeder seinen eignen Gang fuͤr sich, mit einem ruͤhmlichen Wetteifer gehe. Man zerfaͤllt hiedurch auf keine Weise, sondern bleibt immer durch das staͤrkste Band verknuͤpft, das Menschen verbinden kan, durch das Band der uneigennuͤtzigen Wahrheitsliebe, wodurch ich auch mit127 Herrn44Pockelsfuͤr die Zukunft verknuͤpft zu bleiben hoffe, wenn gleich unser Weg eine Strecke auseinander geht. Es wird mir daher nichts weniger, als unangenehm seyn, wenn Herr45Pockelsein eigenes psychologisches Journal herausgiebt, worin das meinige der strengsten Pruͤfung unterworfen wird; denn dadurch gewinnt stets die Sache, und man koͤmmt der Wahrheit naͤher. Mit diesen Gesinnungen, die ich Herrn46Pockelsgeschrieben habe, scheinet derselbe nicht uͤbereinzustimmen, sondern besteht auf der fernern Mitherausgabe des Magazins unter sehr heftigen Ausdruͤcken, und Drohungen von oͤffentlicher Anklage, die ich von ihm erwarten muͤsse, sobald ich darauf bestehe, dieß Magazin allein herauszugeben. Denn er habe das Magazin vom Tode errettet, in Aufnahme gebracht, u.s.w. welches sich nicht so verhaͤlt, denn nach dem Zeugniß der Verlagshandlung, hat der Debit dieses Magazins, von der Zeit an, da Herr47Pockelses herausgegeben, mehr ab als zu genommen. Dieser Umstand bestimmt mich aber gar nicht, sondern die vorher angefuͤhrten Gruͤnde, weswegen ich die Herausgabe dieses Werks allein wieder uͤbernehmen muß. Und eben so wenig, wie ich Herrn48Pockelsjemals verwehren kann, ein eigenes psychologisches Magazin herauszugeben, eben so wenig kann er mich auf irgend eine Weise zwingen, das meinige mit ihm gemeinschaftlich herauszugeben. Es thut mir sehr leid, daß mich Herr49Pockelsdurch128 seine Drohungen zu dieser oͤffentlichen Erklaͤrung genoͤthigt hat, da sonst die Sache unter uns sehr wohl haͤtte abgethan werden koͤnnen. Die Sache sollte aber nun einmal zur Sprache kommen, und durch diese Erklaͤrung von meiner Seite, ist, wie ich hoffe, allem ferneren unnoͤthigen Wortwechsel vorgebeugt.

50Moritz.

About this transcription

TextGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Author[unknown]
Extent128 images; 25701 tokens; 5766 types; 173433 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Christof WingertszahnSheila DicksonGoethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-StiftungUniversity of GlasgowNote: Erstellung der Transkription nach DTA-RichtlinienNote: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-06-09T11:00:00Z Matthias BoenigDeutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu BerlinNote: Konvertierung nach DTA-Basisformat2015-06-09T11:00:00Z UB Uni-BielefeldNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2015-06-09T11:00:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte siebenten Bandes zweites Stück Karl Philipp Moritz, Carl Friedrich Pockels, Salomon Maimon (eds.) . MyliusBerlin1789.

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Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Psychologie; Wissenschaft; Psychologie; ready; dtae

Editorial statement

Editorial principles

Anmerkungen zur Transkription:Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.

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