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Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Siebenten Bandes drittes Stuͤck.

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Einleitung.

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Als ich vor acht Jahren zuerst die Jdee faßte, ein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde herauszugeben, versprach ich mir, durch die Ausfuͤhrung dieser Jdee, der Wahrheit naͤher zu kommen, als es durch bloße Spekulation geschehen kann, die sich nur auf sich selber stuͤtzt.

Um sichrer zu gehen, sammlete ich in den drei ersten Jahrgaͤngen blos Fakta, unter gewisse Rubriken gebracht, und fieng mit dem vierten Jahrgange eine Revision uͤber die drei ersten Baͤnde an, wodurch das Ganze nun, so wie es fortschritte, immer mehr Zweckmaͤßigkeit, und das Einzelne immer mehr Beziehung auf einander erhalten sollte.

Mit dem Schluß des vierten Bandes mußte ich den Faden fallen lassen, den ich nun mit dem Schluß des siebenten Bandes wieder aufnehme,2 nachdem ich waͤhrend eines dreijaͤhrigen Aufenthalts in Jtalien, von der Fortsetzung dieses Magazins durch Herrn4Pokels,keine Zeile zu Gesicht bekommen habe; und nunmehr, da ich dieses Magazin wieder allein herausgebe, mit einer Revision uͤber die Revisionen des Herrn5Pokelsnothwendig den Anfang machen, und ohne Umschweife dabei zu Werke gehen muß, um uͤber den eigentlichen Zweck dieses Magazins mich deutlich zu erklaͤren.

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Revision uͤber die Revisionen des Herrn7Pockelsin diesem Magazin.

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Mit dem ersten Stuͤck des fuͤnften Bandes faͤngt sich die Fortsetzung meiner Revision der drei ersten Baͤnde dieses Magazins von Herrn10Pockels,an.

Jch wuͤrde uͤber Ahndungen mich nicht in einem so entscheidenden Tone erklaͤrt haben, als Hr. 11P.gleich in dem ersten Aufsatze gethan hat, und muß mir also diesen Gegenstand zur eigenen Ausarbeitung vorbehalten.

Es laͤßt sich uͤber diese Sache nicht so leicht weg raͤsonniren, wenn es einem um Wahrheit zu thun ist.

Es ist hier nicht die Frage, ob es den Menschen nuͤtzlicher sei, wenn sie an Ahndungen glauben, oder nicht daran glauben, sondern ob und in wie fern diese Erscheinung in der Natur unsers Wesens wuͤrklich gegruͤndet oder nicht darin gegruͤndet sei?

Ein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde soll ja nicht unmittelbar Moral lehren, und eben so wenig unmittelbar dem Aberglauben entgegen arbeiten. Dies ist sein Zweck nicht, sondern nur4 eine sichre Folge, sobald man der Wahrheit um ihrer selbst willen naͤher zu kommen sucht.

Durch solche Revisionen aber, wie die obigen, wird dies Werk zu einer blos moralischen Schrift, wo gegen dasjenige im eigentlichen Sinn geeifert wird, wovon man glaubt, daß der Glaube daran den Menschen schaͤdlich seyn koͤnne.

Es giebt eine Sucht, viele Dinge leicht erklaͤrlich zu finden, eben so wie es eine Sucht giebt, viele Dinge unerklaͤrlich zu finden und man faͤllt sehr leicht von einem Extrem aufs andere.

Freilich muß am Ende sich alles natuͤrlich erklaͤren lassen, weil es nicht wohl anders, als natuͤrlich seyn kann, aber welcher einzelne Mensch umfaßt die Natur mit seinen Gedanken, die von aller Menschen Gedanken noch nicht umfaßt worden ist?

Der zu schnelle Ausruf, bei irgend einer sonderbaren psychologischen Erscheinung: das laͤßt sich ja ganz natuͤrlich erklaͤren! ist immer schon verdaͤchtig, weil der Erklaͤrer seiner Sache zu gewiß ist, und fest zu glauben scheint, daß seinem alleserforschenden schnellen Blick kein wichtiger Umstand entgehen koͤnne.

Die Revisionen uͤber die gesammleten Fakta in einem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sind nicht dazu, um diese Fakta nur groͤßtentheils als leere Einbildungen kurz abzufertigen, damit ja dem Aberglauben entgegen gearbeitet werde. Das ge -5 schieht auf die Weise wahrlich nicht; denn der Aberglaube nuͤtzt die Schwaͤche, und Oberflaͤchigkeit, womit seine Gegner gegen ihn anziehen, und haͤlt das Ganze desto fester, was eine zu ohnmaͤchtige Hand ihm entreißen wollte.

Der Aberglaube will nie von vorne, sondern unvermerkt in den Flanken angegriffen seyn, wenn seine festgeschlossenen Glieder getrennt werden sollen.

Das geschieht aber von selbst, sobald die Wahrheit um ihrer selbst willen, gesucht wird denn alsdann muß doch am Ende sich jeder Knoten loͤsen, und das Verwirrte sich auseinander wickeln.

Die Vernunft aber, welche bei jedem Schritt den sie vorwaͤrts thut, in Schwaͤrmerei zu gerathen fuͤrchtet, ist eben so wie die Tugend, welche immer bewacht werden muß, der Schildwache nicht werth.

Wenn man uͤber seine Resultate so gewiß ist, wie Hr.12P.in den von ihm entworfenen Revisionen, so sind wir ja mit unsern Untersuchungen am Ende, und es bedarf weiter keines Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.

Der Mensch redet freilich gar zu gern uͤber Sachen, unter denen er steht, und welche doch eigentlich uͤber ihm sind.

Es laͤßt sich wohl von diesen Sachen reden, wer sie aber mit einem Blick zu uͤbersehen sich einbildet,6 taͤuschet sich sicher, und wird dadurch selbst ein Gegenstand psychologischer Beobachtungen, indem er solche zu machen glaubt.

Jn dem zweiten Stuͤck des sechsten Bandes auf der ersten Seite, sagt Hr.13P.: » die Fakta in diesem Magazin verdienten vorzuͤglich deswegen eine genaue psychologische Beleuchtung, um den immer mehr einreißenden Glauben an die Einwirkung guter oder boͤser Geister auf das Gemuͤth und die Handlungen der Menschen mit Gruͤnden der Vernunft zu widerlegen, und durch Aufdeckung seiner unreinen Quelle zu beschaͤmen. «

Was geht den Psychologen, als Psychologen irgend ein einreißender Glaube an? wozu will er irgend einen einreißenden Glauben beschaͤmen?

Er ist ja nicht zum Glaubensreformator bestellt; er soll nur beobachten ihm liegt ob, Acht zu geben, wie die Dinge wirklich sind, und Untersuchungen anzustellen, warum sie so sind; nicht aber, zu bestimmen, wie sie nach seiner Meinung seyn sollen.

Durch die Physik ist auch dem Aberglauben entgegen gearbeitet worden, aber dies erfolgte von selbst, ohne daß man darauf absichtlich hinarbeitete.

Denn was wuͤrde aus aller Wahrheitsforschung am Ende werden, wenn man bei jedem Resultat immer erst untersuchen sollte, ob auch einige aberglaͤubische Menschen diesen oder jenen Satz nicht et -7 wa mißbrauchen, und sich in ihrem Aberglauben dadurch bestaͤrken koͤnnten.

Noch thoͤrichter aber wuͤrde es seyn, ein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde absichtlich gegen den Aberglauben zu schreiben.

Ein solches Werk muß ja schlechterdings gegen nichts geschrieben seyn, es muß gegen nichts arbeiten, wenn es seines Zwecks nicht ganz verfehlen will.

Jm dritten Stuͤck des sechsten Bandes auf der ersten Seite sagt Hr.14P.: » das Gutachten uͤber den Gemuͤthszustand des verabschiedeten[ Soldaten] Matthias Matthiesen u.s.w. ist ein neuer Beitrag zu der Erfahrung, daß die Menschen sich durch nichts leichter als durch chimaͤrische Hofnungen kuͤnftiger Gluͤckseligkeit taͤuschen lassen. « Und in diesem moralisirenden Tone geht es fort.

Um dergleichen Reflexionen zu machen, bedarf es freilich keines Magazins zur Erfahrungsseelenkunde, dies bedarf aber auch solcher Reflexionen nicht.

Auf der dritten Seite eben dieses Stuͤcks erzaͤhlt Hr.15P.in seiner Revision ein ganzes Faktum von Wort zu Wort wieder, und setzt am Ende ein paar sehr unbedeutende Reflexionen hinzu, wodurch die Revision eines Magazins zur Erfahrungsseelenkunde denn freilich sehr erleichtert wird.

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Wie leicht sich aber Hr.16P.diese Arbeit zu machen gesucht hat, habe ich zu meinem Erstaunen auf der 28sten Seite des ersten Stuͤcks vom siebenten Bande gesehen, wo eine fuͤnf und vierzig Seiten lange Geschichte von einem Moͤrder Namens Simmen, die schon im ersten Stuͤck des 2ten Bandes dieses Magazins S. 38. u.s.w. steht, beinahe von Wort zu Wort wieder abgedruckt ist, und offenbar beweißt, daß Hr.17P.die ersten Baͤnde dieses Magazins, bei seiner Fortsetzung desselben, entweder gar nicht, oder doch mit unverantwortlicher Fluͤchtigkeit muß durchgelesen haben.

Jm 2ten Stuͤck des siebenten Bandes S. 2. sagt Hr.18P.in der letzten Fortsetzung seiner sogenannten Revision: » Man habe so viel moͤglich, alle Umstaͤnde zusammen genommen, um die bedeutenden Traͤume natuͤrlich zu erklaͤren, und zu beweisen, daß die Meinung von einer im Traum entstehenden Vorhersehungskraft der Seele eine leere Hypothese sey. «

Man muß nie Umstaͤnde, so viel wie moͤglich, zusammen nehmen, um irgend etwas zu beweisen, wenn es einem darum zu thun ist, die Wahrheit zu erforschen; denn der Beweis muß sich ja nach den Umstaͤnden, nicht aber die Umstaͤnde sich nach dem Beweise richten denn wenn man erst so viel Umstaͤnde wie moͤglich zusammennimmt, um ei -9 nen Beweis zu unterstuͤtzen, so scheint es ja, als ob der Beweis selbst auf schwachen Fuͤßen stehe.

Hr.19P.glaubt, » durch dergleichen Untersuchungen, sei der Nutzen gestiftet worden, daß man nicht mehr, so wie sonst, mit einer fanatischen Leichtglaͤubigkeit an Traumbedeutungen haͤnge, daß man dadurch den Mechanismus unsrer Einbildungskraft naͤher kennen gelernt habe; und daß dadurch dem Aberglauben wenigstens einiger Abbruch geschehen sei. «

Allein durch dergleichen Untersuchungen ist schlechterdings kein Nutzen gestiftet worden; man haͤngt ihnen zum Trotz an Traumbedeutungen; dem Aberglauben ist nicht der mindeste Abbruch dadurch geschehen; und der Mechanismus der Einbildungskraft, laͤßt sich durch keine Raͤsonnements auseinanderlegen, wobei man selber mechanisch zu Werke geht, indem man sich damit begnuͤgt, wenn uͤber die Sachen nur etwas hin und her geredet wird, ohne je in Erwegung zu ziehen, daß jenseit der unuͤbersehbaren Flaͤche wohl etwas liegen koͤnne, welches von Menschengedanken noch nicht erforschet ist.

Wenn man aber nun freilich bedenkt, wie manche Leiden der Einbildungskraft es giebt, und daß es fuͤr manche Menschen aͤußerst gefaͤhrlich seyn kann,10 den Jdeen nachzuhaͤngen, wodurch sie zu sehr auf sich und in sich selbst zuruͤckgefuͤhrt werden und diesen Menschen im Ernst zu schaden fuͤrchtete, so muͤßte man lieber uͤberhaupt kein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde schreiben, als etwas ferner so benennen, das diesen Namen nicht verdiente.

Dann duͤrfte aber auch von alle dem Guten und Schoͤnen, was irgend einem Menschen durch Mißbrauch schaden kann, nichts mehr statt finden.

Alles fernere Nachdenken uͤber die Natur unsers Wesens, muͤßte mit der Poesie und den schoͤnen Kuͤnsten auf immer verbannt seyn.

Denn was giebt es wohl Edles und Schoͤnes, wodurch unser Auge nicht unwillkuͤhrlich auf uns selbst, und die verborgene Natur unsers Wesens zuruͤckgelenkt wuͤrde, das noch von keines Menschen Gedanken umfaßt worden ist.

Der kuͤhne Fuß des Menschen steigt in die tiefen Schachten der Erde hinab, und unser denkendes Wesen sollte es nicht wagen, in seine eigenen Tiefen hinabzusteigen, und dem edelsten Metalle da nachzuspaͤhen, wo es so selten gesucht wird.

Auf dem Punkte, wo unser Wesen sich vollendet, darf es wahrlich nicht vor sich selbst erschrecken; es haͤlt in seinen innern Tiefen sich an11 sich selber fest, und wo es erkannt wird, da entfliehen vor seiner leuchtenden Klarheit, alle eingebildeten Schreckengestalten denn nichts ist wahrhaft schrecklich als der Jrrthum, welcher das Schreckliche erzeugt

Die folgenden beiden Aufsaͤtze, welche meinen Behauptungen zu widersprechen scheinen, moͤgen sich zuerst an den Anfang dieser Revision anschließen.

(Die Fortsetzung folgt kuͤnftig.)

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Zur Seelenkrankheitskunde.

1. Beitrag zur Bestaͤtigung des Satzes, daß die Einbildungskraft und das Gedaͤchtniß mehr dem Koͤrper als der Seele zugehoͤren.

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Der gelehrte Director S. zu C. erholte sich von einem hitzigen Fieber, und eines der ersten Dinge, die er nach wiedererlangtem Gebrauch seiner Vernunft verlangte, war Caffee.

Allein er hatte in dieser Krankheit nicht nur den Buchstaben f vergessen, sondern es hatte sich statt dieses verlohren gegangenen Buchstabens, der Buchstabe z substituirt, so daß er nun nicht Caffee, sondern Kazze verlangte, und so regelmaͤßig in allen andern Woͤrtern, die aus f mit zusammengesetzt waren, sich des z bediente.

Sein Arzt und seine Waͤrter merkten bald aus der genaubeobachteten Versetzung des z statt f die Verwirrung, und machten den Kranken darauf aufmerksam, der alsdann auch nach und nach wieder zur richtigen Aussprache zuruͤckkam.

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Einen viel empfindlichern Verlust erlitte ein junger hofnungsvoller Mensch K. aus A. Dieser wurde auf der Akademie, wo er ein halbes Jahr studirt hatte, von einem hitzigen Fieber befallen; und wie er von dieser Krankheit wieder genesen war, so hatte er nicht nur alles vergessen, was er waͤhrend seines halbjaͤhrigen akademischen Lebens gelernt hatte, sondern es war ihm sogar unbewußt geworden, daß er an diesem Ort ein halbes Jahr gelebt und Umgang mit den Personen, mit denen er taͤglich in Gesellschaft gewesen war, gehabt hatte.

Es zeigte sich eine anhaltende Verstandsschwaͤche, die alle Hofnung benahm, ihn zu einem brauchbaren Manne noch zu bilden.

Seine Familie nahm ihn wieder zu sich, und in dieser lebt er noch, immer aͤrmer werdend am Stoff seiner Jdeen, und auf nichts vorzuͤglich sinnend, als auf die Erhaltung des Koͤrpers.

Er ist also jetzt noch im Besitz von folgenden Vorstellungen: Er weiß, daß er an dem Orte, wo er lebt, als Knabe und Juͤngling gelebt hat, daß er da in die Schule gegangen ist, und daß er Bekanntschaft gehabt hat; auch von dem, was er vor der Akademie gelernt hat, weiß er noch vieles, und wußte noch mehr davon kurz nach seiner Krankheit.

Aber alle Begebenheiten seines Lebens auf der Akademie, alle seine daselbst erlernten Sprach - und Sachkenntnisse sind durchaus verwischt. Fuͤr dasjenige, was sich nach seiner Genesung und Eintre -14 tung der Verstandsschwaͤche mit ihm zugetragen, ist er nicht sehr empfaͤnglich, und aͤußert sich daruͤber wenig, sondern sitzt ruhig, in sich gekehrt, ohne heftige Begierden gegen irgend etwas zu aͤußern, in seinem Zimmer.

Faͤlle, die den erzaͤhlten aͤhnlich sind, finde ich bei[ Beattie] *)*) Dissertationes moral & critical. London 1783. in 4to p. 12. 13.; die ich jenen hier beifuͤgen will, da ich noch keine teutsche Uebersetzung von den angefuͤhrten vortreflichen Abhandlungen kenne. » Der gesunde Zustand des Gehirns scheint in der That ebensowohl zu dem richtigen Gebrauch des Gedaͤchtnisses, als zu unserm andern Verstandsvermoͤgen nothwendig zu seyn.

Das Gedaͤchtniß wird oft waͤhrend des Schlafes gehemmt, und auch durch Krankheit, Alter und ploͤtzliche und gewaltsame Zufaͤlle geschwaͤcht.

Thucydides erzaͤhlt in seiner Geschichte von der Pest zu Athen, daß etliche Personen, die diese schreckliche Krankheit uͤberlebten, gaͤnzlich ihr Gedaͤchtniß verlohren, und ihre Freunde, sich selbst und alles andere vergaßen.

Jch habe gelesen, daß eine Person, die von einem Hause heruntergefallen, alle ihre Bekannten und selbst die Gesichter ihrer eigenen Familie vergessen hat; und daß ein Gelehrter durch den Schlag eines von dem Buͤcherbret ihm auf den15 Kopf gefallenen Folianten; alle seine Kenntnisse verlohr, und genoͤthiget wurde, das a, b, c, zum zweitenmale zu lernen.

Von einem andern Gelehrten hat man mir erzaͤhlt, daß er durch einen gleichen Schlag nicht aller seiner Kenntnisse, sondern blos des Griechischen beraubt worden. Wenn man auch noch an einigen dieser Ereignisse zweifeln wollte, so ist doch das folgende vollkommen gewiß und wahr.

Jch kenne nehmlich einen Geistlichen, welcher, nachdem er vor ungefaͤhr 16 Jahren*)*) ich denke, es war im Jahr 1761. von einem Anfall des Schlags wieder genesen war, alles dasjenige vergessen hatte, was in den letzten vier Jahren vorgegangen war; was sich aber vor diesen Jahren ereignet hatte, das wußte er alles noch sehr wohl. Die Zeitungen von jenen vier letzten Jahren schaften ihm daher sehr viele Unterhaltung; denn beinahe alles uͤberraschte ihn darin, zumal da in diese Periode einige sehr wichtige Begebenheiten fielen, als besonders die Thronbesteigung des jetzigen Koͤnigs und viele Siege des letzten Kriegs.

Nach und nach erlangte er, theils durch eigene Erweckung des Gedaͤchtnisses, theils durch Unterricht das Verlohrengegangene wieder. Er lebt noch, obgleich alt und schwach, doch so verstaͤndig, als Personen von seinem Alter gewoͤhnlich sind.

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Ferner kann ich noch anfuͤhren, daß ich verschiedenemale in meinem Leben in[ Ohnmacht] gefallen bin: zweimal, so viel ich mich erinnere, durch Stuͤrzen vom Pferd, und einmal durch ploͤtzliches Hintreten ans Feuer aus der dumpfigen Luft einer Winternacht; und daß ich bei diesen Ohnmachten jedesmal, wenn ich mich wieder erholte, dasjenige gaͤnzlich vergessen hatte, was vor dem Eintritt der Ohnmacht vorgegangen war, und mich nicht wenig daruͤber verwunderte, wenn die gegenwaͤrtig gewesenen Personen uns alle Umstaͤnde erzaͤhlten.

Ein gleiches Vermissen des Gedaͤchtnisses hatte ich Gelegenheit, etlichemal im Wachen und bei guter Gesundheit zu bemerken, da ich durch einen ploͤtzlichen Laͤrmen erschreckt worden war. «

24J. E. Gruner.

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2. Rau, ein Vatermoͤrder.

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Ein Wort zu seiner Zeit scheint mir die Geschichte des ungluͤcklichen Rau zu seyn. Man faͤngt an, so unzufrieden mit den natuͤrlichen Kraͤften zu werden, und der Hang, an das Uebernatuͤrliche zu glauben, greift so gewaltig zum empfindlichen Schaden aller wahren Untersuchung um sich, daß es nicht anders als heilsam seyn muß, in Beispielen zu zeigen, wohin endlich das Verachten der kalten Vernunft und das Nachhaͤngen des Glaubens an geheime Wunderkraͤfte und deren Einwuͤrkungen, uns fuͤhren muͤssen.

Das, was ich erzaͤhle, ist theils aus Akten gezogen, theils von engen Bekannten des ungluͤcklichen Mannes mir mitgetheilt worden; auch habe ich ihn selbst gekannt.

Rau war 1748. zu Coburg geboren, und studirte zu Leipzig Theologie. Sein vorzuͤglichster Lehrer auf dieser Akademie war Crusius.

Die Philosophie dieses Mannes wurde nicht nur die seinige, sondern von ihm nahm er auch den eignen Blick und die eigne Manier, die Bibel zu erklaͤren, an. Unter den biblischen Buͤchern wurde bald die Offenbarung Johannis seine Lieblings -18 lektuͤre. Jn diesem heiligen Labyrinth wagte er sich Anfangs nicht ohne Fackeltraͤger zu wandeln, und Crusius und Bengel mußten ihn als Eingeweihte vorzuͤglich leiten.

Wie aber nach und nach die Jmagination durch die aufgehaͤngten großen Bilder erhitzt wurde, so wagte er sich nun selbst an das[ Entraͤthseln] des Verhuͤllten, und glaubte auch, es gluͤcke ihm in seinen Versuchen.

Die angebrannte Jmagination ließ ihm das Willkuͤhrliche und Grundlose in seinen Erklaͤrungsarten nicht bemerken, vielmehr arrogirte sie sich selbst den Namen von Scharfsinn und untersuchender Vernunft.

Die Deutungen, die er den Bildern jenes Buchs gegeben hatte, hatten sich bei ihm bald in den Besitz der Unfehlbarkeit gesetzt, und die natuͤrliche Folge war, daß er anders denkende Menschen nicht dulden konnte, wenn sie nicht noch geschmeidig genug waren, seine Meinung anzunehmen.

Er glaubte einen Vorzug vor andern seines Gleichen zu haben, weil diesen die Schaͤtze, welche er in jenem Buche gefunden zu haben glaubte, nicht so einleuchten wollten.

Die natuͤrlichen Kraͤfte des menschlichen Geistes schienen ihm daher dies bei ihm auch nicht bewuͤrkt zu haben, sondern das mußte durch eine hoͤhere Kraft geschehen seyn.

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Nun ist es aber die Pflicht eines jeden, der vorzugsweise erleuchtet worden ist, daß er mit seinem Licht auch um sich her erleuchtet, so viel nur in seinem Vermoͤgen steht. Bis zu der Zeit, da dieser Gedanke in ihm lebhaft geworden, war er noch umgaͤnglich, informirte Kinder, und that was ihm zukam; ob er gleich freilich immer hartnaͤckig disputirte, wenn es seine besondern Meinungen betraf.

Als er aber den Bekehrungsberuf lebhafter in sich zu fuͤhlen anfieng, da aͤußerte er auch in seinen Predigten ungeheuchelter seine Meinungen. Die letzte Predigt, welche er hielt, schloß er mit den merkwuͤrdigen Worten: » Wer keine Hexen glaubt, glaubt keinen Teufel; wer keinen Teufel glaubt, keinen Gott; wer keinen Gott glaubt, der ist verdammt. « Hierauf wurde ihm nicht mehr erlaubt zu predigen, und nun glaubte er sich berechtigt, oͤffentlich auf den Straßen seine Lehren zu verbreiten, und diejenigen namentlich anzugeben, die nicht von seiner Lehre waren.

Dieses Gassenpredigen unterließ er nach erhaltenem Verweiß; auch wurde er stiller. Die Obrigkeit wollte ihn an einen Sicherheitsort bringen lassen; aber der Vater bat, den Sohn bei ihm zu lassen.

Der Sohn schaͤmte sich jetzt dessen, was er gethan hatte, und weigerte sich des Ausgehens. Endlich besserte es sich so weit mit ihm, daß er wieder20 einige Spaziergaͤnge hielt, doch behielt er noch immer unruhige Naͤchte.

Am 3. August 1779. hatte er noch zwei gute Freunde bei sich. Der Vater gab ihm immer bei diesem Besuche eine kleine Beschaͤftigung, bald mußte er Taback holen, bald Coffee einschenken; und wie der Sohn aus der Stube gieng, sagte der Vater zu den anwesenden Freunden, er muͤßte seinen Sohn immer in Beschaͤftigung erhalten, weil er sonst ganz still wuͤrde und in starres Nachdenken versaͤnke. Bei diesem Besuche bemerkten die zwei Freunde, nach S. 55. der Akten, nichts unvernuͤnftiges an ihm, wohl aber einige Aengstlichkeit, mit welcher er seinen Rock aufriß; auch that er hier die Aeußerung: er wuͤnschte seine verlohrnen Kraͤfte wieder zu erlangen, alsdann wollte er wieder von neuem anfangen zu studieren.

Auf seine ehemalige Lieblingsvorwuͤrfe kam das Gespraͤch nicht; aber als ein Zeichen des Daseyns seiner Vernunft kann noch angefuͤhrt werden, daß er mit dem einen Freund auf dem Damenbret gespielt, und sich auf den andern Tag zu einem Gartenbesuch versprochen.

Beim Abschiede, der des Nachts gegen 10 Uhr genommen wurde, bat er (nach S. 57. b. der Akten) den einen seiner Freunde, er moͤchte diese Nacht bei ihm bleiben; dieser schlug es aber aus.

Am 4. August fruͤh zwischen 4 und 5 Uhr, sahen und hoͤrten die Nachbarn, daß der Candidat21 Rau seinen Vater mißhandelte; und da sie an die Hausthuͤre anschlugen, so zog der Sohn, der mit seinem Vater allein im Hause wohnte, die Thuͤre auf, und ließ Nachbarn und die herbeigeholte Wache ein. Der Vater lag auf der Erde in seinem Blute, ermordet von dem Sohne mit 15 Messerstichen und Aufschneidung der Gurgel.

Der Sohn gieng am Fenster auf und ab; in ihm wechselten jetzt Wehmuth, Anerkennung seiner Schuld, und Ausbruͤche der Wuth; bald verklagte er sich selbst vor Gott, daß er eine so schreckliche, ihm nicht zu vergebende That gethan, bald behauptete er, er habe nicht seinen Vater, sondern einen Juden und einen alten Tuͤrken umgebracht.

Beim gerichtlichen Verhoͤr sagte Rau nach S. 17. der Akten folgendes aus: » er habe den von ihm Ermordeten nicht vor seinen Vater gehalten, und er wisse sich von der Sache weiter nichts zu erinnern, als daß sein Vater ihn fruͤh morgens in die Stube eingelassen, wo er ihn um Brod gebeten, aber zur Antwort erhalten habe, das koͤnne er, der Vater, nicht schaffen.

Hierauf habe er den Schluͤssel zum Geld seiner Mutter verlangt, um sich davon etwas zu nehmen; und als sein Vater sich dagegen gesetzt, waͤre er sogleich seiner Sinne und seines Verstandes beraubt worden, und habe, da sein Vater ein Messer gehabt und auf ihn zugegangen, auch ein Messer ergriffen, was er aber nun damit an sei -22 nem Vater veruͤbet, wuͤrde er gar nicht wissen, wenn er es nicht nachher von andern Personen gehoͤrt haͤtte; denn er sey ganz außer sich von allen Sinnen, von Vernunft und Gedanken gewesen, und wisse nicht, was er gethan. «

Auf die Frage, wie er heiße? antwortete er: » er glaube gar nicht, daß er getauft sey, auch habe er seinen Vater nicht fuͤr seinen wahren Vater gehalten, denn er saͤhe ihm nicht gleich, und habe an sich nichts aͤhnliches von ihm. «

Ehe er die Gerichtsstube verließ, erklaͤrte er sich noch, ohne darum befragt worden zu seyn, dahin: » er habe bisher stark die Commentarios uͤber die Offenbarung Johannis gelesen, jetzo aber damit nichts mehr zu thun. «

Jn seinem Gefaͤngniß aͤußerte er niemals Reue der That; auch seiner ehemaligen Meinungen gedachte er nicht.

Sein Betragen war wild und verrieth Stolz und Verachtung gegen alles.

Bei einem Gewitter brach er nach S. 21. der Akten, in die Worte aus: » der wilde Fuͤrst komme, er habe den Kerl schon oft gehoͤrt. «

Und bei eben der Gelegenheit sagte er zum Gefaͤngnißwaͤrter: » er habe noch rechte Kerl von Buͤchern auf einem großen Kreuz, und unter andern auch ein Stuͤck von dem Theophrastus Paracelsus liegen. « Er behauptete auch S. 22. » er23 sey ein Staatsgefangener, der nicht hart gehalten werden duͤrfe. «

Es ist zu beklagen, daß keiner von den Bekannten dieses Ungluͤcklichen, die genauern Umgang mit ihm hatten, seinen Gemuͤthszustand nach dem Vorfall mit dem Gassenpredigen mit philosophischem Geiste beobachtet hat. Mir ist es mehr als wahrscheinlich, daß nach den Predigten, die er zur Bekehrung seiner Stadt auf oͤffentlichen Straßen hielt, die Jmagination erschlaffte; einige Lichtblicke der Vernunft ließen ihm sehen, daß er Gespinsten von seinem eigenen Machwerk gefolgt; die Schaam gesellte sich dazu; das Gehirn war durch die wilden Ausschweifungen der Einbildungskraft gestoͤrt und unfaͤhig zur richtigen Betrachtung gemacht worden.

Das einzige, das er als unfehlbar angesehen, fiel vor ihm als ein Unding; er war zu schwach am Geiste geworden, um das Bessere zu suchen; er wußte nicht, woran er sich halten, was er glauben sollte; und so blieb ihm nichts uͤbrig, als Verzweiflung an allem Wahren und Guten, diese bruͤtete Anfangs im Stillen, und aͤußerte sich endlich auf jene schreckliche Weise.

Und einem solchen schrecklichen Zustande ist jeder ausgesetzt, der mehr schwaͤrmt als kalt denkt und ruhig untersucht; der Gott nur in geheimen Offenbarungen[ finden] will, und dagegen versaͤumt, Gott zu erkennen und anzubeten in seiner herrlichen24 Schoͤpfung, und durch ein edles, rechtschaffenes und thaͤtiges Leben seinem Nebenmenschen zu dienen und sich selbst dadurch die einzige, wahre Zufriedenheit zu verschaffen.

Freilich ist es der menschlichen Faulheit bequemer, sich den Himmel durch einen Zungenglauben zu erwerben, als durch Handlungen, die Muͤhe und Arbeit kosten, zu beweisen, daß man an Gott und eine Zukunft glaubt.

27J. E. Gruner.

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Zur Seelennaturkunde.

1. Aus dem Tagebuche eines Selbstbeobachters. *) *) Erzwungene Religioͤsitaͤt und erzwungene Moralitaͤt leuchtet fast aus jeder Zeile dieses Tagebuchs hervor, das viele lange Gebete und allgemeine moralische Betrachtungen enthaͤlt, die ich weggelassen habe, um nur das Wesentliche auszuziehen.

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Wie angenehm ist doch die Stille nach dem Gewitter; wie suͤß die Ruhe nach dem Streit, wie wirthbar das enge Stuͤbchen nach der weiten Reise!

Jch danke dir Gott, daß du mir Ruhe der Seele gegeben hast! Gieb mir Gesundheit, gieb mir Thaͤtigkeit, gieb mir Freude an mir selbst und an allen meinen Unternehmungen!

Und dann laß dies Buͤchlein einen unpartheiischen Zeugen meiner Handlungen seyn, damit es mir in der Zukunft, die vielleicht noch meiner war -26 tet, von jedem merkwuͤrdigen Tage meines Lebens, ein getreues Bild darstelle.

Von mehr als sechs Wochen wie mancher Tag ist verlohren gegangen! Wie wuͤrde ich bestehen, wenn ich jetzt die große Rechnung von der Anwendung einer jeglichen Stunde, die mir gegeben war, ablegen sollte.

Ach, ich wagte es, nur einen einzigen Tag zu verschleudern, ohne Rechnung von ihm abzulegen, und nun wie hat sich, fast ohne mein Wissen, die Schuld gehaͤuft!

Staͤrke mich Gott in meinem Entschluß, von nun an aufmerksam auf mich selbst zu seyn, und hoͤre mein Geluͤbde in dieser Mittagsstunde, daß ich am Abend dieses Tages mich seiner erinnern will.

Hab ich mich seiner erinnert des feierlichen Vorsatzes am Abend des gestrigen Tages? erinnert? ja, aber mit Schaam und Widerwillen, mit dem unseeligen Bestreben diese Erinnerung selbst aus meiner Seele zu verbannen.

Wie zufrieden mit mir selbst haͤtt ich mich niederlegen koͤnnen, wenn ich nicht noch in der letzten Stunde dieses Tages mich haͤtte verleiten lassen,27 durch Reden, die die Menschheit entehren, meinen Vorsatz zu entweihen.

Hab ich mich aufs neue entschlossen, nicht wegen ungewisser Hofnungen einer mißlichen Zukunft, gegenwaͤrtige Freuden zu vernachlaͤssigen, wenn dieselben gleich oft weit unter meinen Wuͤnschen sind.

So waͤre mir dann doch einmal eine Hofnung eingetroffen, die vor vierzehn Tagen noch ungewiß war.

Gemeiniglich wurde mir doch von meinen Wuͤnschen ohngefaͤhr die Haͤlfte gewaͤhrt ich denke, das soll auch hier eintreffen, und damit will ich mich begnuͤgen.

Wie schwer haͤlt es doch, um erst einen Tag dem andern so aͤhnlich als moͤglich zu machen, und doch haͤngt davon groͤßtentheils die Ruhe des Lebens ab.

Gesellschaft aͤngstliche Bemuͤhung nicht zu mißfallen Unzufriedenheit mit mir selbst Furcht vor einer drohenden Krankheit.

Mangel an Lebhaftigkeit bei Geschaͤften Unterhaltung des Geistes Mendelssohn 28 Jselin Steifigkeit in Gesellschaft unweise Furcht.

So sind acht Tage entflohen, ohne daß ich einmal ernsthaft an mich selbst gedacht habe.

Zu meiner Schande sey inskuͤnftige jede Luͤcke in diesem Buche!

Jst denn ein mir von Gott geschenkter Tag nicht so viel werth, daß ich am Abend seine Geschichte entwerfe, zur Belehrung meiner kuͤnftigen Tage?

O ich merke, daß ich nie ein guter Mensch, nie ein nuͤtzliches Mitglied der Gesellschaft werden kann, wo ich nicht bald anfange, ein genaues Register uͤber meine Handlungen zu halten, und daß ich mich nie in rechte Thaͤtigkeit setzen kann, so lange nicht meine Endzwecke gewisser und bestimmter gewaͤhlt sind, ich fuͤhle es, daß ich uͤber die Menge von Entwuͤrfen, die ich gerne gaͤnzlich ins Werk richten wollte, keinen einzigen ausfuͤhren werde, und daß es also Pflicht fuͤr mich ist, einige meiner Lieblingsideen von itzt an gaͤnzlich fahren zu lassen, um unter meinen mannichfaltigen Entwuͤrfen eine richtige Wahl zu treffen,[ und] nur einen einzigen mit ungetheiltem Enthusiasmus hinauszufuͤhren, so viel Ueberwindung mir auch indes die Vernachlaͤssigung der uͤbrigen kosten wird.

29

Heute vor acht Tagen faßte ich einen Vorsatz, den ich fuͤr unuͤberwindlich hielt, wenigstens eine einzige Woche so hinzubringen, daß ich am Ende derselben zu mir sagen koͤnnte, du hast acht Tage so gut genutzt, wie du konntest; da aber unvermuthete Widerwaͤrtigkeiten, und wenig versprochene Freuden sich einfanden, wo blieb da mein Vorsatz, und diese Standhaftigkeit der Seele, die ich mir zu besitzen einbildete.

Gott! wie schrecklich, wenn diese Woche ein Bild meines Lebens waͤre, wenn alle Bemuͤhungen, mein Leben angenehmer, und meinen Zustand vollkommner zu machen, vergeblich, wenn die kuͤnftige Haͤlfte meines Lebens um nichts besser und wuͤnschenswuͤrdiger als die vergangene waͤre!

Doch ich will es diese Woche noch einmal versuchen, will mir die Erfuͤllung keines einzigen meiner kleinen Wuͤnsche gerade in dieser Woche versprechen, sondern mache mich jetzt auf alle das Unangenehme gefaßt, wovor ich noch nicht voͤllig sicher bin;[ und] nehme mir fest vor, daß eine anhaltende Thaͤtigkeit, jeden aufsteigenden Kummer, und jeden traurigen Gedanken, den ich nicht vermeiden kann, unterdruͤcken soll, und so bald wie ich merke, daß die Traurigkeit sich sonst nicht will verdraͤngen lassen, so will ich eins meiner Lieblingsgeschaͤfte vornehmen ich will auch zu meiner Belehrung die Ge -30 schichte der vorigen Woche entwerfen, so bald ich merke, daß es sich in meiner Seele aufgeklaͤrt hat

Und nun nicht eher als bis uͤber acht Tage, will ich mir selbst Rechenschaft ablegen, in wie fern ich diesem Vorsatze getreu geblieben, und wie oft ich davon abgewichen bin auch will ich mich alsdann befragen, wie oft ich bei Tische munter und gespraͤchig, und wie oft ich muͤrrisch und mit mir selbst unzufrieden gewesen bin? wie oft ich in meinen Berufsgeschaͤften so arbeitete, daß ich am Ende jeder Stunde uͤberzeugt war, meine Pflicht gethan zu haben, und wie oft ich traͤge war, oder zu sehr an meine eigenen Angelegenheiten dachte, als daß ich dem Geschaͤfte meines Berufs meine ganze Aufmerksamkeit und Thaͤtigkeit der Seele gewidmet haͤtte?

Jndem ich dies schreibe, werde ich schon aus einer Verlegenheit gerissen, die ich befuͤrchtete, das soll mich aber nicht sicher machen; denn die Zukunft hat noch tausend kleine Verdruͤßlichkeiten in Vorrath, die ich vielleicht gar nicht vermuthete, und die sich dennoch ereignen werden; so will ich mich auch huͤten, daß mich die Freude uͤber irgend eine unvermuthete Erfuͤllung meiner Wuͤnsche, eben so wenig, als der Verdruß uͤber eine fehlgeschlagene Hoffnung unthaͤtig mache: vielmehr will ich die frohesten Stunden zur Arbeit nutzen, die Lebhaftigkeit und Anstrengung des Geistes erfordert.

31

Gerade um diese Zeit war es vor acht Tagen, als ich mir vornahm, heute mir selbst Rechenschaft zu geben, wie ich die Woche genutzt habe.

Mit Vergnuͤgen schaue ich auf diese sieben Tage zuruͤck, die mir in jedem Betracht sehr angenehm verstrichen sind.

Fast kein einziger Tag, an dem ich nicht irgend ein kleines unverhoftes Vergnuͤgen, einen unerwarteten Brief, einen Spaziergang, eine angenehme Unterhaltung, genossen haͤtte.

Dies hat mich aufgeheitert, hat mir Munterkeit in Beschaͤftigungen und Selbstzufriedenheit gewaͤhrt; ich bin von koͤrperlichen Schmerzen und Traͤgheit der Seele befreiet gewesen.

Meine Unternehmungen sind mir groͤßtentheils nach Wunsch gelungen, und keine betraͤchtliche Hoffnung ist mir fehlgeschlagen.

Bei meinen Berufsgeschaͤften habe ich groͤßtentheils die gehoͤrige Lebhaftigkeit gehabt, so daß ich am Ende derselben mit mir selbst zufrieden war, und in Gesellschaft habe ich groͤßtentheils heiter seyn koͤnnen.

Seit gestern Abend scheint es, als wenn sich wieder Wolken in meiner Seele zusammenziehen wollen, ich denke aber, eine ununterbrochene Thaͤtigkeit, und ein Paar Briefe von meinen Freunden, davon ich eben jetzt einen erhalten habe, sollen sie schon wieder zerstreuen.

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Jch will mir aber diese Woche nicht wieder so viele Freuden, wie in der vergangenen, versprechen; ich will mich auf Kopfschmerzen, Geistesleere, Stumpfheit der Empfindung, kleine fehlgeschlagene Hoffnungen, und alle diese Uebel gefaßt machen, die uns das Leben verbittern koͤnnen und will sie mir, so gut ich kann, durch den Gedanken an eine beßre Zukunft, zu erleichtern suchen.

Diesen Morgen habe ich in einer suͤßen Abwechselung meiner Beschaͤftigungen sehr angenehm zugebracht, ich hoffe auch den uͤbrigen Theil dieses Tages so anzuwenden, daß ich damit zufrieden seyn kann, und dann will ich mich bestreben, die uͤbrigen Tage dieser Woche, so viel es sich thun laͤßt, diesem aͤhnlich zu machen.

Am Ende derselben will ich insbesondere Rechenschaft von mir fordern, ob ich durch Maͤßigkeit meine Gesundheit und die Heiterkeit meiner Seele bestaͤndig zu erhalten gesucht, und mich auf keine Weise zum Gegentheil habe verleiten lassen.

Die Heiterkeit meiner Seele ist diese Woche uͤber einigemal in Gefahr gewesen, Schiffbruch zu leiden, aber der Sturm hoͤrte noch gerade zu rechter Zeit auf zu toben.

So angenehm wie die vorige, habe ich diese Woche nicht zugebracht, doch aber kann ich im Ganzen genommen, mit ihr zufrieden seyn.

33

Einige unuͤberlegte Handlungen sind Schuld an meinem meisten Kummer gewesen, und haben mich unzufrieden mit mir selbst gemacht.

Wann ich doch erst einmal so viel uͤber mich vermoͤchte, daß ich jeden zuheftigen Wunsch sogleich unterdruͤcken koͤnnte. Denn diese Woche habe ich wieder ein warnendes Beispiel an mir selbst gehabt, daß heftige Wuͤnsche selten erfuͤllt werden, und gemeiniglich der Keim zu einer unvermeidlichen Schwermuth sind.

Gemeiniglich, wenn ich ganz ruhig bei einer Sache gewesen bin, und ihren Ausgang ganz gelassen erwartet habe, so bin ich oft uͤber meine Erwartung gluͤcklich gewesen.

Das that ich vorige Woche ich bekuͤmmerte mich nicht aͤngstlich um die Erfuͤllung meiner Wuͤnsche, und erhielt sie ohne mein Zuthun.

Das Gluͤck, wie ich sehe, laͤßt sich nicht erzwingen, und entwischt uns dann am leichtesten, wenn wir es am begierigsten verfolgen.

Der Dienstag soll mir ein merkwuͤrdiger Tag seyn. Gerade da, wo meine Erwartungen aufs Hoͤchste stiegen, war es vielleicht noͤthig, daß sie ploͤtzlich darnieder geschlagen werden mußten, damit ich mich nicht uͤberhuͤbe. Aber bald haͤtte mir dieser einzige Tag, oder vielmehr eine ungluͤckliche Stunde desselben, eine ganze schoͤne Woche verderben koͤnnen.

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Jnsbesondere will ich es mir von heute an zur Regel machen, einem gegenwaͤrtigen Verdruß keinen Einfluß auf die Folgen haben zu lassen, denn das ist es eben, was mir schon so manchen Tag meines Lebens verbittert hat.

Anstatt mich aus einem unangenehmen Zustande mit einiger Anstrengung herauszureißen, arbeitete ich mich vielmehr muthwilligerweise immer tiefer hinein.

Aber das gute Zeugniß muß ich mir auch geben, daß ich diese Woche einen guten Entschluß ins Werk gerichtet habe, ohngeachtet aller Hindernisse, die mich davon haͤtten abhalten koͤnnen.

Auch habe ich mich uͤber einige fehlgeschlagene Hofnungen bald zufrieden gegeben, weil ich mich vorher darauf gefaßt gemacht hatte; und ein paarmal, da ich im Begriff war, wieder in meine uͤble Laune zu verfallen, habe ich mich durch Thaͤtigkeit und Bewegung, und durch angenehme Vorstellungen von der Zukunft, gluͤcklich wieder davon befreiet.

Aber bei meinen Berufsgeschaͤften und im gesellschaftlichen Umgange habe ich, besonders in der letzten Haͤlfte der Woche, Ursache gehabt, mit mir selbst unzufrieden zu seyn.

Jch bin hieruͤber sehr bekuͤmmert, weil ich daraus sehe, daß auch die staͤrksten Entschließungen so leicht wieder durch einen kleinen unerwarteten Zufall geschwaͤcht werden koͤnnen.

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Auch heute Morgen habe ich eine Unbesonnenheit begangen, die mich itzt sehr gereuet, und wovon ich die unangenehme Erinnerung mit aller Anstrengung nicht verbannen kann, weil es scheinet, als ob ich uͤble Folgen davon befuͤrchten muß. Jch will mir das aber, so viel wie moͤglich, aus den Gedanken zu schlagen suchen.

Diese Woche wuͤnschte ich insbesondere, daß ich kein einziges mal im gesellschaftlichen Umgange und bei meinen Berufsgeschaͤften, meine Entschliessung vergessen, und das gute Vernehmen mit mir selbst auf alle moͤgliche Weise zu erhalten suchen moͤchte.

Am Sonntage habe ich meine Rechnung nicht abgelegt ich gelobe mir heute, daß ich dies nie wieder versaͤumen will, ich mag auch seyn, wo ich wolle.

Die erste Haͤlfte der vorigen Woche war ich zu niedergeschlagen, und die andere Haͤlfte zu ausgelassen froh, als daß ich das gerade haͤtte thun koͤnnen, was ich haͤtte thun sollen.

Jch will aber so viel uͤber mich zu gewinnen suchen, daß die bestaͤndige Abwechselung von Freude und Kummer in meiner Seele, welche nun einmal bei mir unvermeidlich zu seyn scheinet, meine Thaͤtigkeit, und den ununterbrochenen Fortgang bestimmter Geschaͤfte, nicht hindern soll.

36

Diese vergangene Woche ist mir wieder eine fehlgeschlagene Hofnung, die mich zwei Tage mißvergnuͤgt machte, durch eine unerwartete Freude ersetzt worden, die mich vier Tage lang aufheiterte wo so viel angenehme Hofnungen, durch die gegenwaͤrtigen kleinen Vergnuͤgungen, in meiner Seele erweckt wurden, daß sich mein Gefuͤhl zuletzt uͤberspannte, und ich nothwendig wieder in eine ploͤtzliche Traͤgheit versinken mußte, welche eben Schuld war, daß ich am Sonntage Mittag meine Handlungen und Empfindungen, die Woche uͤber, nicht wiederholen konnte.

Die Haͤlfte dieser Woche uͤber haben Freude und Leid schon sehr oft bei mir abgewechselt, und oft, wenn mein Muth schon ganz anfieng zu sinken, bekam ich wieder eine unerwartete Aufmunterung.

Die andere Haͤlfte will ich nun, so gut ich kann, zu nutzen suchen, und mir am Sonntage Rechenschaft ablegen, ob, und wie ich diesen Vorsatz ins Werk gerichtet habe.

Welche Unbestaͤndigkeit in meinen Gedanken!

Bald gereuet mich das, was ich thue, und bald freuet es mich; bald billige ich es, und bald tadle ich es wieder.

So wechseln angenehme und unangenehme Empfindungen bestaͤndig in meiner Seele ab.

37

Jch wanke jetzt zwischen Ehrbegierde und Gluͤckseligkeit. Bei der ersten kann, bei mir, die letztre, und bei der letztern die erstre nicht bestehen welche werd 'ich aufopfern?

Wenn ich denke, ich will diesen quaͤlenden Durst nach Ruhm, durch vernuͤnftige Ueberlegung in meiner Seel 'ersticken, so fuͤrchte ich mich sogar, diese Ueberlegungen anzustellen, weil ich jenen Trieb, ohngeachtet des Kummers, den er mir verursacht, nicht gern verlieren will.

Also befreit seyn wollen kann ich nicht einmal davon o Freiheit, was bist du?

Manchmal ist es mir, als wenn ich noch so viel Muth haͤtte, etwas Großes zu unternehmen, und allen Hindernissen und Gefahren Trotz zu bieten.

Dann giebt es wieder Zeitpunkte, wo ich mir weiter nichts wuͤnsche, als ruhig in meinem Gleise fortwandeln zu koͤnnen, und mich weder zur Rechten noch zur Linken umzusehen wo alle mein Muth erloschen ist, daß auch kein Fuͤnkchen mehr davon uͤbrig zu seyn scheint wenn ich mich dann niederlege, so kann ich eine so außerordentliche Wonne, kurz vor dem Einschlafen, empfinden, daß ich mir in dem Augenblick gar kein hoͤheres Gluͤck wuͤnsche.

So war es mir heute Morgen, wo mir alles alles zuwider, und der Schlaf meine38 einzige Zuflucht vor dem wachsenden Unmuth war.

Jn E .... wuͤrde ich gewiß ein Raub der Verzweiflung geworden seyn, wenn mich ein wohlthaͤtiger Schlaf, obgleich auf einem Lager von Stroh, nicht vor ihrer Wuth geschuͤtzt haͤtte und manchmal, wenn ich unnatuͤrlich lange geschlafen hatte, mit welchen froͤlichen Aussichten konnte ich da erwachen! wie leicht schuͤttelte ich die Buͤrde meines entsetzlichen Zustandes ab, und bot allen meinen Widerwaͤrtigkeiten muthig Trotz!

Was haͤtte ich nicht diese Tage uͤber ausrichten koͤnnen, wenn ich immer auf einen Zweck gearbeitet haͤtte.

So aber verdraͤngte immer ein Plan den andern, und ich habe meine kostbarste Zeit in der groͤßten Unthaͤtigkeit zugebracht.

Heute Morgen schien ein fester Entschluß in meiner Seele zur Reife zu kommen; noch aber hat er nicht durchdringen koͤnnen.

Wenn ich mein ... projekt durchsetzen will, so muß ich von diesem Augenblick an beinahe keine Minute mehr verlieren. Jch will doch sehen, wie viel ich heute Abend noch leisten werde?

Verdrießlich ein unbehagliches Wort mir gellen die Ohren, wenn ich es hoͤre und ein39 unertraͤglicher Zustand nicht so heftig wie Traurigkeit, und doch weit schlimmer.

Was soll ich thun, um den nagenden Verdruß abzuschuͤtteln?

Jch habe den Muth zu allem verlohren.

Wie wird das gehn, wenn ich mit meinem Vorsatze nicht durch alle diese Verdruͤßlichkeiten hindurchdringe?

Schon vier Tage von vierzehn sind verflossen, und noch habe ich nichts gethan und habe auch nicht die Kraft, die gegenwaͤrtige Muße zu nutzen ich fuͤhle die Buͤrde des Lebens, und habe sie immer gefuͤhlt das war mein Wunsch so oft, im Genuß eines langgehoften Gluͤcks zu sterben.

Schon in ..... wuͤnschte ich dies einmal, und hofte es sogar, da ich auch ein damals fuͤr mich großes Gluͤck erreichte.

Vor ... Jahren wuͤnschte ich es, da ich alle meine Wuͤnsche gewissermaßen erfuͤllt sahe und nun? Ja, wenn ich leben soll, so muß es zu meiner Freude seyn, und das kann wieder nicht ohne eine ununterbrochene Thaͤtigkeit geschehen, und diese wird doch durch jeden Verdruß unterbrochen.

Warum kann ich so wenig frohe Zeitpunkte in meinem Leben zaͤhlen?

Weil mein wuͤrkliches Leben nach dem Laufe der Natur, nur so selten in mein idealisches Leben eingreifen konnte.

40

Waͤhrend dem Gehen gelang es mir, die Gedanken, die mich traurig machten, nach und nach zu unterdruͤcken. Es traten andre an ihre Stelle, welche sie verdraͤngten. Jch fand, wie klein und unbedeutend mein gegenwaͤrtiger Verdruß im Verhaͤltniß gegen meine Entwuͤrfe sey.

Diese Entwuͤrfe rollten sich alle in meiner Seele aus einander, und gewaͤhrten mir eine suͤße Taͤuschung.

Das alles geschah aber erst, nachdem ich eine Weile schnell gegangen war, und nachdem wenigstens einer meiner kleinen Wuͤnsche befriediget war.

Sobald ich merke, daß es mir nur in einem Stuͤcke gelingt, so schoͤpfe ich auch gleich wieder große Hofnung.

Bin ich nicht dazu bestimmt, etwas Großes zu unternehmen, woher diese brennenden Wuͤnsche, mich auszubreiten, mich loßzureißen von dem Joche, das mich darnieder zieht? Und was ist das, etwas Großes unternehmen?

Waͤre es nicht das Groͤßte, diese brennenden Wuͤnsche zu unterdruͤcken, und im Stillen Gutes zu thun?

Aber das koͤmmt mir so fremd, so unmoͤglich vor und doch bin ich zu schwach, (wie schwer es mir wird, das Wort hinzuschreiben!) das erste ununterbrochen hinauszufuͤhren.

41

Wo ist meine Kraft? Stunden, Tage und Wochen verfließen ungenutzt, die mir jetzt uͤber alles kostbar seyn sollten.

Jn der Lage, worin ich jetzt bin, gieng das an, aber wird es auch in der angehen, worin ich komme? Ach, was wird dann aus mir werden, wenn diese Traͤgheit wiederkehren sollte, die mich oft ganze Tage hindurch zu jedem Geschaͤft so unfaͤhig macht?

Aber Muth gefaßt! Nun muß es doch zu einem Ziele kommen stelle dir doch immer vor, wie du vielleicht kuͤnftig wieder von dem denken wirst, was dir jetzt so reizend zu seyn scheinet, und was dir doch schon so unertraͤglich geschienen hat.

Denke, daß diese letzten Vorstellungen wiederkehren koͤnnen, und daß es dich vielleicht gereuen wird, das nicht gethan zu haben, was du jetzt thun willst, und wieder nicht willst.

Die Stunden eilen hin ergreife die gegenwaͤrtige eh du noch den Muth dazu verlierst!

Wenn wird es ruhig werden in meiner Seele? Ach wenn die kuͤhle Gruft mich deckt.

Jch fuͤhle es lebhaft und immer lebhafter.

Jch waͤre faͤhig, meine eigne Existenz um die Existenz in andern wegzugeben und was ist das?

42

Vergehen, vergehen muß ich ach, so gewiß, als o dieser Augenblick mein letzter waͤre so gewiß ist der Augenblick meines Todes er ist da! und wo ist dann meine Groͤße? Wo sind alle meine Entwuͤrfe? Und ich haͤrme mich um ein Blendwerk ab Und genieße keine der Freuden, die ich genießen koͤnnte.

O, wer stillet den Tumult meiner Gedanken? Jch sehe es immer deutlicher ein, wie thoͤricht ich gehandelt habe.

Thus let me live, unseen, unknown, Thus unlamented let me die, steal from the World, and not a stone tell where I lie! (Pope. )

So dachtest du in deinem zwoͤlften Jahre, edler Mann! Aber du lebtest nicht unbekannt und unbemerkt, sondern verehrt und gepriesen von deinen Zeitgenossen, mitten im Schauplatz der grossen Welt; auch starbst du nicht unbeweinet, und dein Andenken ist der spaͤtern Nachwelt heilig!

Der entscheidende Schritt ist also zuruͤck gethan Wem wuͤrde ich dieses geglaubt haben, der mir es am siebenten Julii vorausgesagt haͤtte? daß ich mich nach alle den Aussichten in die weite Welt, wieder einschraͤnken wuͤrde in das enge Stuͤbchen? daß alle meine Wuͤnsche und Begierden auf ein anderes Ziel geheftet seyn wuͤrden?

43

Der Abgrund war mit Rosenhecken umwachsen ich haͤtte eine nach der andern abgepfluͤckt, und bei der letzten haͤtte ich erst mein Verderben eingesehen, und waͤre unaufhaltsam hinabgestuͤrzt.

Aber du ließest Gedanken in meine Seele stroͤmen, Allguͤtiger, die der kalten Vernunft das Uebergewicht uͤber die gaukelnden Phantasien gaben.

Und ihr habe ich es zu danken, daß ich nun wieder einen stillen frohen Tag genossen habe, an welchem Beschaͤftigung und Vergnuͤgen mit einander abwechselten, und von dem ich am Abend mit frohem Herzen Abschied nehmen kann.

Vielleicht schwankte ich jetzt zwischen tausend widerwaͤrtigen Entschließungen umher, irrte aus einem Labyrinth ins andere, haͤtte keine bleibende Staͤtte, und faͤnde nirgends Ruhe, wenn die gaukelnden Phantasien das Uebergewicht behalten haͤtten, die gerade noch zu rechter Zeit ihrer tyrannischen, quaͤlenden Herrschaft in meiner Seele entsetzt, und dem festen Triebe nach gewisser Gluͤckseligkeit untergeordnet wurden.

Ach Gott, sollte diese Stumpfheit, diese entsetzliche Traͤgheit der Seele auch einmal uͤber mich kommen, die mich unfaͤhig zum Entzuͤcken und zu der suͤßen Schwermuth macht; o lieber laß mich leiden und dulden, und mit tausend Widerwaͤrtigkeiten44 kaͤmpfen, als diese fuͤrchterlich einfoͤrmige Gluͤckseligkeit erlangen!

Aber so warte doch wenigstens, bis du mit wahren Widerwaͤrtigkeiten zu kaͤmpfen hast, und verlange nicht mit solcher Ungeduld darnach, daß du sie dir selber thoͤrichter Weise zu bereiten suchst?

Was wuͤnsch ich mir denn weiter, als das? Einsamkeit! mit vollen Zuͤgen schluͤrf 'ich jetzt ihren bezaubernden Nektar ein.

Ja es ist eine große Gluͤckseligkeit, seinen Fuß hinsetzen koͤnnen, wohin man will, und seinen liebsten Gedanken ungestoͤrt nachzuhaͤngen!

Es scheint, ich habe nun den Muth gefaßt, gluͤcklich zu seyn.

Nun will ich in dieser Morgenstunde, in diesem Garten, unter freiem Himmel, noch einen feierlichen Vorsatz fassen, inskuͤnftige wahr zu seyn, nicht mehr zu scheinen, weder mir selbst noch andern, in keinem Stuͤcke; das war es eben, was mir bisher so viele Gluͤckseligkeit geraubt hat.

Jch bin nicht den geraden Weg zum Ziele gegangen, sondern habe auf tausend Umwegen das gesucht, was mir vielleicht sehr nahe lag.

45

2. Ueber Selbsttaͤuschung. 31Eine Parenthese zu dem Tagebuche eines Selbstbeobachters.

Jch unterbreche gerade hier das Tagebuch, um auf den Gesichtspunkt aufmerksam zu machen, wodurch es fuͤr den Psychologen interessant wird.

Es laͤßt sich kein hoͤherer Grad von Selbsttaͤuschung denken, als den Vorsatz zu fassen, inskuͤnftige wahr zu seyn, und vor sich selber nicht mehr anders zu scheinen, als wie man ist.

Ohne dabei in Erwaͤgung zu ziehen, daß dieser Vorsatz selbst unmoͤglich wahr seyn kann; weil es gar keines solchen Vorsatzes mehr beduͤrfte, sobald man ein wirkliches Vergnuͤgen daran faͤnde, wahr zu seyn, und einem der Schein nicht selbst noch in diesem Augenblicke, lieber als die Wahrheit, waͤre.

Nun ist aber dieser hoͤchste Grad von Selbsttaͤuschung gewiß eine der sonderbarsten Erscheinungen der menschlichen Seele weil die Wahrheit selber unter der Taͤuschung erliegt.

Denn die folgenden Ausdruͤcke: Das war es eben, was mir bisher so viele Gluͤckseligkeit geraubt hat und: ich bin nicht den geraden46 Weg gegangen, sondern habe auf tausend Umwegen das gesucht, was mir vielleicht sehr nahe lag sind doch wahr aber der Vorsatz, wahr zu seyn, der in der Morgenstunde, in dem Garten, unter freiem Himmel, feierlich gefaßt wird, hebt alles wieder auf, und macht, daß es leere Worte sind.

Geheime Tagebuͤcher koͤnnen uͤber dieses noch in tiefes Dunkel gehuͤllte Phaͤnomen der Selbsttaͤuschung die besten Aufschluͤsse geben.

Sie sind laurende Verraͤther, redende Zeugen, aber auch lockende Verfuͤhrer.

Der Mensch will sich gern in den Buchstaben spiegeln, die kein anderes Auge erblicket, und will doch auch da nicht haͤßlich vor sich selbst erscheinen.

Er macht sich die bittersten Vorwuͤrfe, und denkt doch darauf, die Worte wohl zu setzen, wodurch er sich Vorwuͤrfe macht.

Das Tagebuch soll ein unpartheiischer Zeuge seiner Handlungen seyn, damit es ihm in der Zukunft, die vielleicht noch seiner wartet, von jedem merkwuͤrdigen Tage seines Lebens ein getreues Bild darstelle.

Er sucht, durch das Tagebuch, seinem Leben eine Wichtigkeit zu geben, die es sonst nicht hat die Selbstbeobachtung ist nicht sein Hauptzweck.

Er schreibt schoͤne Gebete an Gott, in welche er seine Vorsaͤtze kleidet, um sie dadurch festzuhal -47 ten und fuͤhlt das Mißverhaͤltniß nicht, das die ganze Masse seines Lebens sich an den Buchstaben festhalten soll, die seine Hand niederschreibt.

Er will das durch die Buchstaben zwingen, was die Buchstaben selber zwingt.

Unwillkuͤhrlich entsteht hieraus die affektirte Sprache einer erzwungenen Religioͤsitaͤt und Moralitaͤt; das Unbestimmte, Schiefe und Schwankende in den Ausdruͤcken; und das oft Fade und Oberflaͤchige der abgleitenden Gedanken, unter denen doch immer der Ausdruck des Wahren sich emporarbeitet, bis auf den Punkt, wo der Wunsch des Wahren selbst zur Luͤge, der Haß vor der Verstellung selbst zur Verstellung, und die Furcht vor der Selbsttaͤuschung selbst zur Taͤuschung wird.

Daß dies nun in der Natur unsers denkenden und empfindenden Wesens moͤglich ist, und wie es moͤglich ist, verlohnet wohl der Muͤhe des Nachforschens und Denkens weil da, wo unser Wesen sich selber taͤuscht, gewiß noch unentdeckte Spuren von seinen verborgenen Grenzen und Umrissen liegen.

Fuͤr jetzt lassen wir den Selbstbeobachter weiterreden!

48

3. Fortsetzung des Tagebuchs.

33

Sonnabends den 3. Julii 1782.

Sollte man es wohl dahin bringen koͤnnen, daß man sich immer selbst gleich bliebe?

Mittwoch den 14. Julii.

Wohl mir! daß ich wenigstens aufs neue einen guten Vorsatz wieder fassen kann, den ich sonst Jahre lang vergaß.

Noch einmal nein! so oft es noͤthig ist will ich es versuchen, diese unruhige Leidenschaft zu besiegen, die mich so oft zu jeder guten That unfaͤhig, und mit. mir selbst so unzufrieden macht.

Morgen will ich den Anfang machen, und wenn sich meine ganze Seele dagegen empoͤren sollte, das zu thun, was ich thun soll, es mag mir nun so unangenehm und widrig seyn, wie es wolle; und von nun an, will ich die Vorsaͤtze, die ich auf den folgenden Tag fasse, in mein Tagebuch schreiben, und mir am Abend desselben Rechenschaft ablegen, in wie ferne ich sie ins Werk gerichtet habe.

Jst es nur halb geschehen, so sey dies H. ein beschaͤmendes Zeichen fuͤr mich; ist es ganz geschehen, so soll mir dies G. ein selbstbelohnendes Merk -49 mal seyn; ist es gar nicht geschehen, so soll mich dieses N. so lange mißvergnuͤgt machen, bis ich meinen Fehler genug bereuet habe, um ihn inskuͤnftige vermeiden zu koͤnnen.

Dienstag den 11. Sept. Um 4 Uhr.

O du suͤßes, suͤßes Gefuͤhl der Ausuͤbung meiner Pflicht, wie lange hab ich deinen Reiz verkannt! Ewig sollst du mir theuer seyn.

Ach, was kann der Mensch nicht thun, wenn er will! Wem haͤtte ich es vor vier Wochen noch geglaubt, daß ich mir die Stunden meines Berufs so wuͤrde versuͤßen koͤnnen, daß es nun die seligsten Stunden meines Lebens werden?

Also kann ich mir auch diese Wuͤste zu einem Tempe umschaffen?

Aufmerksamkeit aufs Einzelne, du Schoͤpferinn der Gluͤckseligkeit, du einzige wahre Weißheit des Lebens, wodurch wir dem Schoͤpfer des Weltalls aͤhnlich werden, du bist es, die ich noch immer von mir stieß, indem ich ein leeres Ganze zusammenfassen wollte, das keinen innern Gehalt und Festigkeit hatte.

Donnerstag den 25. Oktober.

So lang habe ich nichts in mein Tagebuch geschrieben, und das hat seinen guten Grund.

Das handelnde Leben vertraͤgt sich nicht sehr gut mit dem beschauenden Leben. Jch bin diese Zeit50 uͤber fast taͤglich vom Denken zum Empfinden, vom Empfinden wiederum zum Denken und Handeln uͤbergegangen, und so habe ich mich auch durch die Dornen des Lebens gedraͤngt, ich weiß nicht wie.

Manches reine und edle Vergnuͤgen haben mir meine Berufsgeschaͤfte gewaͤhrt, und wenn eine truͤbe Stunde kam, so hab ich doch immer wieder Muth gefaßt, und gedacht, es wird sich wieder aufklaͤren, und das that es denn auch.

Moͤg 'es nur so bleiben, wie es jetzt ist, so will ich zufrieden seyn.

Mittwoch den 12. December.

Warum sollte ich mir denn selbst unwichtig seyn? Was bin ich und hab 'ich dann, als mich selber? Kann ich meine Persoͤnlichkeit ablegen, und ein anderes Wesen seyn, wenn ich will?

Truͤbe Tage! truͤbe Stunden! laͤstige Zeit! Und das alles, weil mir das Gegenwaͤrtige wieder so klein, so nichtswuͤrdig vorkoͤmmt.

Aengstlich Streben hilft dir nichts, und macht dich elend!

Aber ach, wenn ich nun ewig zuruͤckbleibe im Staube, wenn ich am Ende allen Muth verliere o wehe, wehe mir!

Jch werfe mich zu sehr weg das ist es, was mich jetzt ungluͤcklich macht ich achte mich selber nicht mehr

Lebe wieder auf mein Muth, sonst wirds zu spaͤt!

51

Sonntag den 20. Januar.

Mein Ungluͤck soll mich nicht darnieder beugen und es thuts auch nicht, es floͤßt mir edeln Muth ein; es macht mich in meinen eigenen Augen werth, und spornt mich zu hoher Tugend an.

Ja, die will ich auszuuͤben suchen, damit ich ohne zu erroͤthen sagen kann: mir geschiehet Unrecht!

Freilich schmerzt es tief, wenn ich eine Stunde mich von der Arbeit erhole so lange ich aber arbeite, kann ichs wohl ertragen.

Die Stunden dieses Tages sind mir doch ziemlich vergnuͤgt entflohen.

O Gott, laß mir meine Arbeit wohl gelingen, da du nach deinem weisen Rathe mir so vieles, vieles mißlingen laͤssest, o laß mir diesen Trost in meinem Kummer, damit ich nicht ganz verzagen darf!

Den 7. Febr.

Jetzt sey ein Mann! jetzt kaͤmpfe gegen den Unmuth, der jede Kraft in dir darnieder druͤcken will!

Aber wenn sich alles vereiniget, dem schwachen Sterblichen eine truͤbe Stunde zu machen, wer kann sich da wohl helfen? Aber das soll mein Trost seyn, daß ich meinen Kummer diesem Buche, wie einem getreuen Freunde klagen kann.

Ja, wenn mich jeder Trost verlaͤßt, dann will ich eilen, und meine Thraͤnen hier ausweinen. Da -52 mit ich doch noch etwas von der Vergangenheit behalte, will ich meine Klagen, und meine kleinen Freuden sammeln, und will sie aufbewahren, damit ich mich einmal daran ergoͤtzen kann, wenn die Gegenwart keinen Reiz mehr fuͤr mich hat, o daß ich dann die vergangenen Stunden meines Lebens zuruͤckrufen, und die kummervollsten zaͤhlen kann, wie ein Gefangener ein Vergnuͤgen daran findet, jeden Tag mit einem Striche an die schwarze Wand zu bezeichnen, um zu wissen, wie viele Tage er schon in seinem Kerker schmachtet.

53

4. Mystische Briefe des Herrn von35F ...*) *) Jch besitze die Originale von diesen merkwuͤrdigen Briefen eines sehr merkwuͤrdigen Mannes, und theile sie hier mit, weil sie mit dem Leben und dem Charakter dieses Mannes, von dem ich noch oͤfter reden werde, zusammen genommen, fuͤr den Psychologen in mehr als einer Ruͤcksicht interessant sind.

37

den 14. August 1758.

Jhr Brief vom 24. Julii, den ich gestern empfangen, war mir und meinen Hausgenossen sehr erfreulich, da wir so deutliche Spuren des Schutzes, der Vorsehung und der Fuͤhrung Gottes uͤber Sie beides innerlich und aͤußerlich daraus wahrnehmen konnten. Gelobet sey Gott, der bisher seine Verheißung an Jhnen erfuͤllet, daß alle, die in Gott vertrauen, nicht sollen zu Schanden werden. Der Herr erhalte und schuͤtze Sie ferner von innen und aͤußerlich, Jesus seegne und staͤrke Sie, und gebe Jhnen seinen Frieden. Jch und meine Hausgenossen gruͤßen Sie herzlich, und es ist uns sehr erfreulich, Briefe und Nachricht von Jhnen zu erhalten, und wann Jhre Briefe lang und groß sind. Jhr Jnners betreffend, so sind Sie auf der rechten Spur, Sie haben durch die Salbung und Gegenwart Got -54 tes in Jhrem Jnnern die Ruhe und den Frieden, so lange Sie getreu sind, Jhrem innern Fuͤhrer auf den Wink zu folgen und zu gehorchen; und Unruhe und Pein, wann Sie davon abweichen. So seyn Sie dann Gott getreu, und in allem gehorsam und folgsam, was er Jhnen innerlich zu erkennen giebt, und bitten den liebreichen goͤttlichen Erloͤser nach der Weise Jhres Gebets durch Herzensseufzer, und Jhre Einwilligung, wann Sie dieses lesen, daß er Sie in Jhrer Treue und Unterwerfung unter den Geist der Genaden und dessen Fuͤhrung erhalten wolle. Die Unruhe oder Furcht, die Sie in jenem Dorf, in welchem Sie die Nacht uͤber bleiben wollten, gehabt haben, ist eine deutliche Warnung von Gott, damit Sie wieder zu Jhrem Regiment gleich kehreten, und fuͤr Ueberfall und Gefangenschaft bewahret wuͤrden. Merken Sie auf diese Begebenheiten und Warnungen, indem die goͤttliche Vorsehung durch dergleichen, oder auch durch Warnung von andern, Sie schuͤtzen und bewahren wird.

Fuͤr die gegebenen Nachrichten von frommen Freunden danke ich Jhnen gar sehr. Was Sie hierinnen ferner erfahren, werden Sie mir jederzeit ausfuͤhrlich melden. Das unter dergleichen Frommen keine Harmonie noch Eintracht ist, ist die Ursache, weil Sie noch in der Vielfaͤltigkeit stehen, nicht durch den allgemeinen Geist Jesu sich fuͤhren lassen, und jeder durch einen besondern Geist ge -55 fuͤhret wird. Wann Sie hingegen wahre innere Seelen, die durch den Geist Jesu sich fuͤhren lassen, antreffen sollten, so werden Sie so, wie hier im Hause, wenn Sie uns besuchet hatten, eine voͤllige Harmonie und Uebereinstimmung des Jnnern finden. Jch haͤtte Jhnen noch vieles zu schreiben, allein die Zeit fehlet, indem ich gestern den beikommenden langen Brief fuͤr Sie geschrieben habe, welchen ich bitte, behutsam zu gebrauchen, und solchen niemand zu zeigen, der einen uͤbeln Gebrauch davon machen koͤnnte. Gruͤßen Sie alle Freunde, die Sie antreffen, von mir und meinen Hausgenossen herzlich.

Die Namen Goyer und Lobach waren uns wohl bekannt. Gruͤßen Sie insbesondere den Hrn. Goyer, er hatte einen sehr frommen Onkel, der unser großer Freund war. Die Frau Fussin werden Sie wohl am besten unter dem Namen Helena Meusers, erfragen, den sie vor ihrer Verheirathung fuͤhrete. Sie wohnet zu Dumbach, einem Ort im Bergischen, etliche Stunden von Muͤhlheim bei Coͤlln entfernet. Zu Elberfeld wohnete einer vor zehn und mehr Jahren, Namens Peter Kohl und seine Frau, zwei in den innern Wegen erfahrene Seelen. Jn Rheimbergen wohnet auch ein frommer Freund, Namens Hr. Weck, beide, wann Sie nach Reinsberg oder Elberfeld kommen, gruͤßen Sie herzlich. Zu Burcheid bei Aken, in einem Haus, die verkehrte Welt genannt, hat ehe -56 mals gewohnt einer Namens Hr. Bieberbach, der nebst seiner Frau, wann sie noch leben, im Jnnern weit gekommen seyn muͤssen, gruͤßen Sie dieselben von mir gar herzlich, wann Sie dahin kommen. Jch sende mit diesem Brief einen halben Louisd'or an Jhre Frau, fuͤr Sie zum freundlichen Liebesgruß von M. L. Sch. und mir, sie koͤnnen Jhrer Frau schreiben, was sie mit dem halben Luisd'or machen soll. Jch gruͤße Sie nochmals herzlich. Adieu!

den 4. Nov. 1759.

Jhr Brief vom 2ten hat mich sehr erfreuet, daraus zu ersehen, daß Gott es Jhnen offenbaret, worinnen Sie bisher gefehlet haben, Sie haben wohl gethan, mir alle Umstaͤnde davon zu schreiben, Sie wuͤrden aber besser gethan haben, es eher zu melden. Gott fordert diese Treue von Jhnen, und von allen, die auf diese Weise mittelbar gefuͤhret werden. Gott haͤtte es mir zwar auch entdecken koͤnnen, wann Sie aber darauf haͤtten warten wollen, so wuͤrden Sie auf ein Wunderwerk gewartet haben, welches ist, Gott versuchen. Sie waren mir lieb, als Sie hier waren, das machte, die Mittheilung hatte bei Jhnen Eingang, Sie blieben in der Stille, und dadurch wurde wieder ein neuer Grund gelegt, wodurch, wie auch durch die Entruͤckung Jhrer57 l. Fr. die Gott als ein Mittel darzu brauchte, Jhnen die Augen sind geoͤfnet worden. Jndessen wunderte es mich selbsten, waͤhrend Jhrer Anwesenheit, daß ich so wenig mit Jhnen reden konnte, ich uͤberließ aber dieses, wie alles andre, Gott, und konnte Jhnen weiter nichts sagen, als daß Sie sich, der Zerstreuungen ohngeachtet, stets in der Gegenwart Gottes zu erhalten, trachten sollten. Hierauf muß ich Sie auch jetzo verweisen, und daß Sie, so oft Sie koͤnnen, etwas in39M. G.oder andern mystischen Schriften lesen. Sie haben jetzo mehr noͤthig, sich sehr oft des Tages uͤber, in die Gegenwart Gottes zu stellen, und mit einem Seufzer ihm Jhr Herz und alles zu widmen und aufzuopfern, dieses ist Jhnen von einer absoluten Nothwendigkeit, und da Sie anfangen, schwaͤcher zu werden, und ein erster Winter in Jhrem Jnnern zu kommen scheinet, so wuͤrden Sie in gaͤnzlichen Verfall kommen, und wieder zur Welt kehren, wann Sie diese Uebung, sich stets bei Gott zu halten, vernachlaͤssigten. Merken Sie sich dieses wohl mein liebes K. und seyn Sie getreu der Gnade, die Sie von Gott empfangen haben; gedenken Sie an die Jsraeliten in der Wuͤsten: keinem Volke ist jemals so große Gnade durch mancherlei Zeichen und Wunder wiederfahren, als diesen Jsraeliten, aber auch keine sind jemals so hart gestrafet worden als diese, weil sie gegen die uͤbergroße Barmherzigkeit und Heimsuchung Gottes ungetreu wurden, daher auch58 von 600,000 Mann nur 2 ins Land der Verheißung kamen, die uͤbrigen aber alle in der Wuͤste umkamen. Dieses zu einem erstaunlichen Exempel, wie hart Gott die Undankbarkeit und Mißbrauch der erwiesenen Gnaden strafet. Jch bitte Gott um seiner unendlichen Erbarmung und um Jesu Christi Leiden und Verdienst willen, daß er Sie fuͤr einen so schrecklichen Ungluͤck bewahren wolle. Jesus seegne Sie, mein liebes K. Jesus staͤrke und vermehre Jhren Glauben, und gebe Jhnen Treue und Bestaͤndigkeit, fest bei der Gnade Gottes zu halten, und dieselbe durch Untreue nicht zu verscherzen. Jesus schuͤtze und erhalte Sie bei allen Gefahren, er seegne Sie und gebe Jhnen seinen Frieden, Amen! Jch und meine Hausgenossen gruͤßen Sie herzlich und innigst, und wuͤnschen mit Jhnen im Herzen Jesu stets vereiniget zu bleiben. Ach mein liebes Kind, seyn Sie getreu gegen die unendlich große Gnade, die Gott Jhnen unter vielen tausenden erwiesen hat. Welche Strafe in der Ewigkeit wuͤrden Sie nicht verdienen und leiden muͤssen, wenn Sie treuloß sollten erfunden werden, wofuͤr der erbarmende Jesus Sie bewahren wolle.

Fuͤr die ertheilte Nachricht in diesem und in Jhrem vorigen Brief, danke ich Jhnen. Gott wird ja endlich eine Errettung schaffen. Vielen Nachrichten zufolge, moͤchte sich Spanien fuͤr die Allianz mit England und Preußen erklaͤren, welches den Sachen ein anderes Ansehen geben wird.

59

Jch gruͤße Sie nochmals in dem Herzen Jesu innigst. Adieu!

den 14. Julii 1759.

Jhre drei Briefe vom 4ten, 9ten und 12ten dieses, habe ich alle wohl erhalten, und danke Jhnen gar sehr fuͤr die vielen Nachrichten von frommen Personen, die Sie auf dem Wege angetroffen haben. Es hat mich diese Nachricht sehr erfreuet, indem daraus erhellet, daß obgleich im Allgemeinen keine Bekehrung der Welt durch diese Strafgerichte Gottes erfolget, jedennoch sich hin und wieder Seelen finden, die sich Gott ergeben, damit Jesus Christus sein Reich in ihnen aufrichten koͤnne. Vom Dorf Gaufeld oder Coofeld waren verschiedene von dortigen Erweckten hier, zwei Baͤuerinnen von solchen waren bei mir, und ihr Bericht stimmet mit dem uͤberein, was Sie mir davon gemeldet haben, diese Baͤuerinnen heißen Margret Jlsebein und Catharine Hartzieger, Jhnen zur Nachricht, wenn Sie durch diese Gegend wieder marschieren sollten, ich gab ihnen einige Buͤcher; auch das kurze Mittel und Prophezey der40M. G.einer andern Weibsperson, die sich auch Jlsebein nannte, und aus dem Ottokrug ist. Die Freunde auf dem Salzwerk, die von Hehlen und Hr. Weyl, lassen Sie hinwieder herzlich gruͤßen, und erfreuen sich nebst60 meinen Hausgenossen und mir, daß Sie sich wohl befinden.

Wann Hameln sollte belagert werden, werden Sie sehr wohl thun, ihre Frau und Kinder vorher von dannen weg, und an einen andern Ort zu schicken. Was mich betrift und nach meiner kleinen Einsicht, kann ich mir nicht vorstellen, daß die Franzosen Hameln sollten belagern wollen, so lang die alliirte Armee noch ganz und im jetzigen Stande ist, wann sie aber von den Franzosen geschlagen zu werden das Ungluͤck haͤtten, alsdann kann es eher geschehen, daß die Franzosen eine Belagerung unternehmen. Jst der Ruf wahr, daß die Russen sich zuruͤck ziehen, so werden die klugen franzoͤsischen Generals um so weniger gedenken Hameln zu belagern, als es leicht, ja gewiß geschehen wuͤrde, daß der Koͤnig in Preußen ein Heer nach Niedersachsen detachiren wuͤrde, wodurch den Franzosen Zufuhr und Retraite abgeschnitten werden wuͤrde, wann sie sich in die Weser Berge engagirten. Man debitiret hier noch andere Neuigkeiten, da solche aber von Hameln kommen sollen, so werden Sie alles besser und gewisser wissen. Jch wuͤnsche wohl, daß Sie uns wieder besuchen moͤchten; allein in jetziger Crisis ist es Jhnen nicht rathsam, und aͤndern sich die Sachen, so ist zu befuͤrchten, daß ein neuer Marsch Sie verhindern wuͤrde, hieher zu kommen. Man muß also die Vorsehung Gottes machen lassen, und von derselben erwarten, wann und wie Sie uns61 sicher werden besuchen koͤnnen, welches uns allezeit sehr lieb seyn wird. Jch hoffe, daß der Hr. General von Pr. da er einen Paß hat, daß er hier den Brunnen getrunken, ohne Anstoß seinen Weg wird fortgesetzet haben, es ist mir lieb, daß Sie mit ihm und seinem Herrn Sohn gesprochen haben. Er, der Herr General, ist ein eben so tapferer wohlmeritirter Officier, als sein Herz rechtschaffen an Gott ist. Hr. Weyl ist gegenwaͤrtig noch hier, und wird wohl bis gegen das Ende der kuͤnftigen Woche hier verbleiben. Er hat mir ein Portrait von M. G. 41von Hrn. Schepp verfertiget, mitgebracht, das sehr schoͤn ausgearbeitet ist. Es hat mich innigst erfreuet, daß Sie nach dem Jnnern Jhren Weg zu Gott fortsetzen. Seyn Sie getreu bei der unschaͤtzbar großen Gabe und Gnade, die Sie von Gottes Erbarmen empfangen haben, daß er Sie ins Jnnere Gebet eingefuͤhret hat. Trachten Sie den salbungsvollen Frieden der wahrnehmlichen Gegenwart Gottes in Jhrer Seele zu bewahren; dieses ist das Manna und Brod des Lebens, das Jhre Seele staͤrken, bewahren, und von einer Gnade zur andern fuͤhren wird. Sie werden aber diese innere Ruhe und Frieden erhalten und bewahren, wann Sie der innern Stimme Gottes folgen werden, das Boͤse zu vermeiden und das Gute zu vollbringen. Jesus seegne Sie, er staͤrke, schuͤtze und erhalte Sie, und gebe Jhnen seinen Frieden. Sie sind mir und meinen Hausgenossen innigst lieb, und62 ich hoffe im Geist Jesu mit Jhnen vereiniget zu bleiben. Jch und meine Hausgenossen gruͤßen Sie herzlich. Auch wird Jhre liebe Frau herzlich gegruͤßet. Es scheinet, daß es sich mit meiner Gesundheit bessert. Allein hierauf ist nicht zu bauen, Gott, schreibet42M. G.aͤndert die Disposition auch des Leibes und der Gesundheit vielmals, und setzet die Seele in allerlei Stellung, damit sie in ihrem unumschraͤnkten Abhangen von dem Willen Gottes bei allerlei Proben fest bleibe. Gott wird ferner thun, was sein heiliger Wille ist. Amen! Wie Hr. Pastor Dannemann innerlich stehet, so stehen die meisten Pastores, die wuͤrklich Gott fuͤrchten, aber bei ihren Lehrbegriffen stehen bleiben. Sie verstehen nicht, was mystische Schriften sind, indem sie keine Erfahrung davon haben. Es ist auch nicht gut, sich mit solchen, wann sie nicht was tiefes erkennen noch haben, allzu bekannt zu machen, weil man leicht mit einem Heuchler koͤnnte bekannt werden, der sich gut zu seyn stellen koͤnnte, und alsdann koͤnnte ein solcher Jhnen leichtlich Verfolgung und allerlei Leiden erwecken. Jedoch hoffe ich, daß Gott Sie erhalten und hierinnen bewahren werde. Jn Bergholzhausen bei Ravensberg soll ein sehr frommer Pastor seyn, Namens Hr. Pauli, ein Landmann daselbst, Namens Herrmann Christoph Rihberg, sagte mir vieles von demselben. Ein frommer Sattler soll in Herford wohnen. Zu Guͤterslose, in der Grafschaft Reda, ist auch ein63 frommer Oberpfarrer, Namens Hr. Edler, und daselbst ist auch eine Weibsperson, Gerdrut Frederich, denen ich der43M. GuionBuͤcher gegeben habe. Wann Sie wieder nach Bielefeld kommen sollten, werden Sie daselbst und in der dortigen Gegend viele Freunde sehen, die sich uͤber Jhre Ankunft sehr erfreuen werden.

Jch gruͤße Sie nochmals herzlich, Sie sind mir innigst lieb, laßt uns in dem Liebesherzen Jesu uns sehen. Jesus seegne Sie, und gebe Jhnen seinen Frieden, Amen. Schreiben Sie mir oft, so lange Sie noch in Hameln sind. Adieu!

den 31. August 1759.

Jhr Brief war mir sehr erfreulich, und hatte Hr. Weil mir schon gemeldet, daß Sie ihn mit einem Besuch erfreuet haͤtten. Da Gott Sie bisher so gnaͤdig und wunderbar, bei Jhrem schwachen Koͤrper erhalten hat, so wird Gott dieses noch ferner thun, und Sie schuͤtzen und bewahren, wenn Sie nur in seiner Gegenwart stets zu wandeln trachten werden. Gott sagte zu der heiligen Gertrud: Sorge du fuͤr mich, so will ich fuͤr dich sorgen. Dieses appliciren Sie auf sich, und glauben gewiß, daß die Treue dessen, der der Treue und Wahrhaftige ist, seine arme Creatur, die ihr gaͤnzliches Vertrauen auf ihn setzet, nimmermehr verlas -64 sen noch versaͤumen wird. Jesus seegne Sie, er staͤrke Jhren Glauben und Vertrauen in ihm, er schuͤtze und erhalte Sie, und gebe Jhnen seinen Frieden, Amen! So herrlich und geseegnet von Gott der Sieg bei Minden gewesen, so hat uns doch die Nachricht von dem Verlust der Preußen bei Kunersdorf den 12. dieses in Besorgniß gesetzet. Wir muͤssen aber allezeit sagen: Herr du bist gerecht, und deine Gerichte sind auch recht! Nachdem die ...... laͤnder genug werden gelitten haben, und darinnen durch die Truͤbsale viele Seelen werden zubereitet worden seyn, daß die Gnade Gottes in ihnen wirken kann; nachdem auch der Koͤnig in Pr. sich vor Gott genugsam wird gedemuͤthiget haben, wird sich das Ungluͤck wenden, und alles unendlich besser und gluͤcklicher gehen, als man es haͤtte hoffen koͤnnen. Wir muͤssen Gott vertrauen. Gott wird, wie44M. G.sagt, seinen Knechten den Propheten, den ihnen verheißenen Lohn auch darinnen geben, daß er aller Welt zeigen wird, wie das, was er Sie, durch seinen Geist getrieben, hat reden und schreiben gemacht, wahr sey, und aufs genaueste erfuͤllet werden muß. Durch Antrieb des Geistes Gottes schrieb45M. G.von diesem allerblutigsten Kriege, den wir jetzo haben, welches und unzaͤhlig anderes aufs genaueste ist erfuͤllet worden. Was sie vom Koͤnig dem Ueberwinder geschrieben, davon ist zwar die Deutung noch einigem Zweifel unterworfen, allein so viele andere Kennzeichen schei -65 nen zu vergewissern, daß dieser Koͤnig der Ueberwinder, der Koͤnig in Preußen sey, aber dieser, schreibet sie, soll siegen, nachdem Satanas sich aus allen Kraͤften wird gewehret haben, und alsdann soll er siegen, und alles dem Reiche Jesu Christi unterwerfen, allein der Streit werde erschrecklich seyn. Wenn der Streit erschrecklich seyn soll, ja wenn alles scheinen soll, als ob alles geschehen, und alles bis zur Verzweiflung gestiegen sey; so folget ja, daß die Feinde des Koͤnigs, des Ueberwinders, auch manchen großen Vortheil werden gehabt haben muͤssen, ehe sie besieget, und alles dem Reiche Jesu Christi unterworfen worden. Mir kamen bei der vorgemeldeten Schlacht vom 12. dieses, die Worte des Davids (1 Sam. 17.) ins Gemuͤthe: Es entfalle keinem das Herz. Wir wollen Gott vertrauen, Gott wird helfen, Amen! Jch hoffe und erwarte einen Streich von der Hand unsers allerheiligsten Gotteskindes Jesu, zu unserer Errettung.

Man debitiret hier, daß Muͤnster in der Alliirten Haͤnden sey. Jst dieses, so werden Sie vielleicht weiter marschieren muͤssen.

Wann Sie nun wieder gute, dem Jnnern ergebene Seelen antreffen, so gruͤßen Sie dieselben von mir, und geben mir mit Gelegenheit Nachricht von ihnen.

Jch und meine Hausgenossen gruͤßen Sie herzlich, und hoffen auch, wenn Sie in die Naͤhe kommen, (woran ich vor Ende dieser Campagne zweifle,66 aber vielleicht bei den Winterquartieren) daß Sie uns besuchen werden. Die Freunde auf dem Salzwerke gruͤßen Sie ebenfalls. Jesus seegne Sie und gebe Jhnen seinen Frieden. Jch hoffe, Sie werden getreu seyn in der Gnade, dieGott Jhnen schenket. Adieu!

den 28. May 1759.

Was Sie von Jhrem Jnnern melden, hat mich sehr erfreuet, ich hoffe ebenfalls, daß Jhr Besuch bei uns im Seegen gewesen, und Jhnen nuͤtzlich seyn werde. Seyn Sie ja getreu, in der Ordnung Gottes zu bleiben, und alle Excesse im Trinken zu meiden. Ein Fehler bleibt selten allein, es folgen mehrere aus einem, die unser Jnners gar verstellen. Suchen Sie auch in der Trockenheit und Bloͤße, und in allen innern Schmerzen sich stets in der Gegenwart Gottes zu halten, und wann Sie sich zerstreuet befinden, so lesen Sie etwas in46M. G.und dergleichen Schriften. Beim Feuer erwaͤrmet man sich, bleibt man zu lange vom Feuer entfernet, so wird man immer kaͤlter, und endlich erstarren alle Glieder. Wie dieses in der Natur ist, so ist es auch in der Gnade: daher muß man keinen Augenblick versaͤumen, wieder zu Gott zu kehren, wenn man merket, daß man sich von Gott entfernet hat. Jn der Trockenheit, Bloͤße und innern Druck haͤlt67 es schwer, sich zu Gott zu halten: allein man muß hier Gewalt brauchen, die Natur uͤberwinden, und sich dennoch in der Gegenwart Gottes halten. Taulerus sagt: Es sind noch wohl Menschen, die Gott ums Lohn dienen, wann er uns Trost und Suͤßigkeit innerlich giebt, aber Gott ohne Sold, in der Bloͤße, Trockenheit und innern Leiden dienen, das wollen wenige. Und ein anderer Heiliger sagte: Wann wir bei Gott aushalten in der Trockenheit, Bloͤße, Creuz und Leiden; damit beweisen wir Gott unsere Liebe und Treue: wann aber Gott uns Trost und Suͤßigkeit mittheilet, so ist es Gott, der uns seine Treue und Liebe erweiset, welches geschiehet um unserer Schwachheit willen. Jn dem Stande von Jnnen, worin Sie sich befinden, erfaͤhret man zweierlei, innern Druck und Peinlichkeit. Das eine wird verursachet durch unsre Untreue, welches wir bald merken koͤnnen, und den Fehler sogleich verbessern muͤssen. Das andre Leiden ist der Hunger der Seele nach dem lebendigen Gott. Wir hungern, verlangen und sehnen uns nach Gott, weil wir aber noch unsere Satisfaktion, Trost, Geschmack, Suͤßigkeit dabei suchen und darnach hungern, und dieses letztere wohl der hauptsaͤchlichste Gegenstand unsers Verlangens ist, und wir um die Reinigkeit der Liebe zu Gott, und um Gottes eigenes Jnteresse und Ehre weniger bekuͤmmert sind; so ist dieser Hunger und Verlangen der Seele noch viel zu unrein, als daß Gott diesen Hunger mit sich68 selbst saͤttigen koͤnnte, daher stoͤßet er die Seele, die er mit diesem von ihm gegebenen Hunger zugleich zu sich ziehet, zuruͤck, damit sie allmaͤhlich lerne, alles eigne Gesuch fahren zu lassen, und Gott in Reinigkeit zu lieben um sein selbst willen, und nicht aus Jnteresse noch Absicht auf uns. Dieser Hunger macht ein Hauptstuͤck unserer Reinigung in dieser Welt, und ist das Reinigungsfeuer und Fegfeuer in jener Welt, fuͤr solche Seelen, die in der Unvollkommenheit abgeschieden sind, und da hier in dieser Welt die Gnadenzeit ist, sie aber solche versaͤumet haben, oder untreu gewesen, denen reinigenden Bewuͤrkungen der Gnade stille zu halten, so verursachet dieser ihr Hunger und Verlangen nach etwas, das sie nicht haben koͤnnen, ihnen eine solche Pein, die alles unendlich uͤbertrift, was man davon sagen kann. Die verdammten Seelen und boͤsen Geister haben auch diesen Hunger, ja einen rasenden Wolfshunger, aber nicht nach Gott, sondern bloß nach einer Gluͤckseligkeit, die sie verscherzet haben, und bis nach Endigungen der Saecula Saeculorum nicht mehr haben koͤnnen, und in der Ersaͤttigung mit Gott in der Zeit ihrer Verdammniß auch nicht haben wollen, denn sie hassen, verabscheuen und laͤstern Gott, und sind in einer immerwaͤhrenden Rebellion wider Gott, und fliehen vor ihm. Da aber ihre Seele die Eigenschaft, die ihr anerschaffen ist, und nimmermehr von ihr geschieden werden kann, hat, daß sie69 gern gluͤckselig und vergnuͤgt seyn wollen, sie aber dieser Gluͤckseligkeit sich auf immer und ewig beraubt zu seyn glauben, dennoch aber einen wuͤthenden Wolfshunger darnach haben, so verursachet dieses ihnen eine so unaussprechlich große Hoͤllenqual, dafuͤr auch die Teufel selbst erzitterten, da sie zu Jesu Christo sprachen: Du bist kommen uns zu quaͤlen, ehe denn es Zeit ist. Und dieser wuͤthende Wolfshunger ist der nagende Wurm, der nicht stirbt, wie Jesus Christus sagt. Hierzu kommen noch andre unaussprechliche Quaalen, und die Gesellschaft unzaͤhliger anderer verdammten Geister, welche die verdammten Seelen und verdammten Geister werden leiden muͤssen. Gleichwie aber diese nach einer satisfaksanten Gluͤckseligkeit hungernde und begehrende Eigenschaften von der Seele von den verdammten Seelen immer und in alle Ewigkeiten der Ewigkeiten nicht kann getrennet werden, und eben dieses der allerpeinlichste Theil ihrer Hoͤllenqual ist; so wird auch eben diese Eigenschaft Ursach zu ihrer endlichen Wiederbringung und Wiederaufrichtung in die goͤttliche Gnade seyn: denn wenn dieser nagende Wurm, der nicht stirbt, ferner die quaͤlende Gesellschaft der andern verdammten Geister, und andre unaussprechlich große Quaalen, durch so viele Saecula Saeculorum hindurch gewaͤhret, sie so abgemattet, ermuͤdet und in die Enge getrieben hat, daß sie es gar nicht mehr ertragen noch ausstehen koͤnnen, Gott aber aus70 Gnaden, und um des unermeßlich großen und ewigen Verdienstes Jesu Christi willen, ihnen einen Blick der Hofnung giebt, daß sie, wenn sie sich unter Gott demuͤthigen und beugen wollen, ihnen wohl Gnade wiederfahren, und sie ihre verlohrne Gluͤckseligkeit wieder erlangen koͤnnen; so ist kein Zweifel, daß sie diesen Blick der Hofnung ergreifen, und wie der verlohrne Sohn sich in wahrer Reue zu Gott wieder wenden werden: und dieses wird alsdann der Anfang seyn, daß von diesem Augenblick an, ihre Hoͤllenpein sich in ein Reinigungsfeuer, wie bei den Seelen im Fegfeuer, verwandeln wird. Und ob sie gleich eben wie zuvor in der Hoͤlle bei den verdammten Geistern, so lange ihre Reinigung waͤhren und dauern wird, bleiben und aushalten muͤssen, gleichwie die bekehrten Suͤnder in der Welt unter den Boͤsen, von denen sie unzaͤhlige Uebel erdulden muͤssen, bleiben und aushalten muͤssen; so ist doch von diesem Augenblick an, da sie den Willen sich unter Gott zu demuͤthigen, gefaßt haben, ihr innerer Zustand veraͤndert, und ihre Reinigung angefangen, welche wird vollendet und vollfuͤhret werden. Wann Jesus Christus (1 Cor. 15, 22 bis 28.) den letzten Feind, den Tod, wird aufgehoben haben, naͤmlich, wann der feurige Schwefelpfuhl, (Apoc. 20, 14.) welches ist der andre Tod, ganz und gar nicht mehr seyn, und von Jesu Christo aufgehoben, das ist, ganz und gar zernichtet seyn wird; alsdann, und wann alle und71 jede gefallne Creatur, keine einzige ausgenommen, Jesu Christo wieder freiwillig und aus Liebe wird unterthan gemacht worden seyn, alsdann wird er das Reich Gott und dem Vater uͤberantworten, damit Gott alles in allem sey. Alsdann haben aufgehoͤret alle Zeiten und Weltalter, und die ewige niemals sich endigende Gluͤckseligkeit aller und jeder Creaturen, keine ausgenommen, nimmt ihren Anfang.

Sie werden aus diesem Allem, was ich Jhnen von dem Hunger der Seelen geschrieben habe, so viel auf Jhren Zustand appliciren koͤnnen, daß es gar nicht darauf ankommt, ob Sie innerlich etwas deutliches von der Gnade Gottes wahrnehmen oder nicht, indem, wann Sie es deutlich wahrnehmen thaͤten, so muͤste es erstlich durch einige satisfaksante Saͤttigung des Hungers, und die Jhnen Zugleich ein Licht giebt, geschehen, und dieses wuͤrde Sie aus dem Reinigungsstande heraussetzen, und ihre Reinigung um eben so lange aufhalten und verspaͤten, als der wahrnehmliche Eindruck hiervon in ihrer Seele haften wuͤrde. Zweitens wuͤrden Sie sich dessen anmaßen und darinnen sich wohlgefallen, welches ein unaussprechlich großes Uebel fuͤr Sie seyn wuͤrde. Sie muͤssen also auf keine wahrnehmliche Troͤstungen warten noch solche verlangen, sondern diesen peinlichen Reinigungshunger in der Ueber -72 gabe und Unterwerfung unter Gottes Willen erdulden wollen, so lange Gott solchen auf Jhnen lassen will. Sind Sie in dieser Uebergabe, so werden Sie allezeit dabei einen Non trouble (wie M. 47Guionsolches nennet) haben, das ist, eine Nichtunruhe, eine Nichtverwirrung, und hierdurch werden Sie in allen Zeiten, da dieser peinliche Hunger sich empfindlich spuͤren laͤßt, aushalten koͤnnen. Es kommen jedoch, und um der Seelen Schwachheit willen, Zwischenzeiten, da dieser quaͤlende Hunger nachlaͤßt, und man wieder Ruhe und Erquickung empfindet. Diese Abwechselungen muͤssen Sie so erdulden, und sich so viel moͤglich enthalten, etwas zu wuͤnschen noch zu begehren, naͤmlich nicht mit dem obern an Gott uͤberlassenen Willen, welches Sie sehr foͤrdern wird, immer weiter fort zu schreiten. Kommt der quaͤlende Hunger, so dulden und tragen Sie ferner denselben so gut Sie koͤnnen; kommen Troͤstungen, so gedenken Sie an die Worte des Engels zum Elia, da er ihm Brod und Wasser brachte, oder an die Worte der heiligen Schrift: er, der Elias, gieng durch die Kraft dieser Speise bis an den Berg Horeb, vierzig Tage und vierzig Naͤchte. Diese vierzige Zahl beziehet sich auf unsre Reinigung, (auf die vierzig Stunden Jesu Christi im Grabe, auf seine vierzigtaͤgige Versuchung vom Satan, auf die vierzig Jahre der Jsraeliten in der Wuͤsten etc.) und diese Erquickungen der73 Speise sind uns auch noͤthig, um der Schwachheit unserer Seele willen. Daher wir es in Demuth annehmen muͤssen, aber auch diese Speise der Troͤstungen nicht laͤnger behalten wollen, als Gott sie uns laͤßt, um unsern Weg in der Reinigung fortzusetzen.

Noch weniger aber muͤssen Sie verlangen, etwas deutliches in sich wahrzunehmen oder zu empfinden, oder eine große Veraͤnderung zu erfahren; das erste ist ganz und gar wider Jhren Stand, dann Sie sollen keinen Lichtsweg gehen, sondern im dunkeln Glauben, in der dunkeln Glaubenswuͤste wandeln. Das letzte aber, eine große Veraͤnderung zu erfahren, das ist, das wuͤrklich verborgene Leben mit Christo in Gott, darzu ist bei Jhnen die Zeit noch lange nicht. Sie werden aber nach und nach, und wann Sie in allem, wie ich oben gemeldet, getreu seyn werden, dahin gefuͤhret werden, daß Sie, obschon unter unzaͤhligem Elend, das Zeugniß der Kindschaft Gottes in sich fuͤhlen und empfinden werden.

Dieses sey fuͤr diesmal genug, zur Beantwortung dessen, was Sie von mir zu wissen verlangt haben. Die eigne Erfahrung und48M. G.Schriften, werden Jhnen kuͤnftig, und nach und nach, mehreres aufschließen.

74

Jch und meine Hausgenossen gruͤßen Sie herzlich und innigst. Der Engel des Herrn geleite, schuͤtze und bewahre Sie in Jhrem Beruf und Amte. Jesus seegne Sie, er schuͤtze und erhalte Sie, er erhalte Sie gesund, und gebe Jhnen seinen Frieden. Jch hoffe, wir werden in dem Willen Gottes zusammen vereiniget bleiben, Amen.

75

5. Ueber Mystik.

49

Wenn irgend etwas verdient, psychologisch betrachtet zu werden, so sind es die Lehren der Mystik, welche auf die Gemuͤther der Menschen einen so erstaunlichen Einfluß von jeher gehabt haben, und noch haben.

Dieses Einflusses wegen sind sie schon der Betrachtung werth da insbesondere die hoͤhere Mystik gar keine Reize fuͤr die Einbildungskraft hat, sondern vielmehr alle Bilder selbst erst aus der Seele vertilgt wissen will, ehe das eigentliche Licht darin erscheinen kann, welches denn auch wieder mehr eine verzehrende als wohlthaͤtige Flamme ist.

Dergleichen Dinge mit Machtspruͤchen an die Seite zu werfen, fuͤhrt uns nicht weiter; denn sie kommen dadurch nicht an die Seite, sondern bleiben immer auf ihrer Stelle liegen, und hemmen den Weg.

So viel leuchtet freilich ein, daß die Mystik schon deswegen keinen festen Grund haben koͤnne, weil sie die uͤbrigen reellen menschlichen Kenntnisse und Wissenschaften nicht voraus setzt, sondern gleich das Resultat vorwegnimmt.

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Es ist gleichsam eine Metaphisik ohne Physik ein Etwas, das uͤber einem Abgrunde schwebt und gaukelt, aber doch immer ein Etwas bleibt, woran zu zarte Gemuͤther sich gern festhalten moͤgen, weil sie durch das groͤbere Jrrdische sich durchzuarbeiten scheuen; weil sie von der Menschenmasse gedruͤckt werden, und nun auf einmal ganz isolirt, in einer schoͤnen Einsamkeit sich wiederfinden.

(Die Fortsetzung folgt.)

Moritz.

77

6. Einige Beispiele von Geistes - oder Gedaͤchtnißabwesenheit.

51

Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde vom Herrn53van Goens.

1.

Jn meiner Jugend uͤbertrug man einem ziemlich einfaͤltigen Menschen einen Dienst, bei welchem alle Verrichtungen darin bestanden, seinen Namen zu unterzeichnen.

Um uns eine Jdee davon zu machen, wie viel Arbeit er habe, erzaͤhlte er, daß er seinen Namen in einem Morgen so oft geschrieben, daß er ihn am Ende vergessen haͤtte.

Man lachte ihm ins Gesicht, und jemehr er die Sache im Ernst behauptete, destomehr wurde er belacht.

Jch glaube, daß man Unrecht hatte, und daß die Sache, obgleich außerordentlich, doch nicht unmoͤglich und sonderbarer war, als es diesem Manne selbst vorgekommen.

78
2.

Hr. v. Br***, ehemals Abgesandter zu Madrid, nachher zu Petersburg, ein sehr ernsthafter, jedoch gar nicht hypochondrischer Mann, geht des Morgens aus, um einige Besuche zu machen.

Sein Besuch traf unter andern ein Haus, wo er Ursach hatte zu glauben, daß die Domestiken ihn nicht kennen wuͤrden.

Also mußte er seinen Namen sagen, aber diesen Namen, seinen eigenen Namen, hatte er vergessen.

Er glaubte naͤrrisch geworden zu seyn, unterdessen bemerkte er doch keine andere Verwirrung; allein seinen Namen konnte er auf keine Weise wieder finden.

Er wendet sich zu einem hinter ihm herkommenden Freund: Sagen Sie mir um Gotteswillen, wie nenne ich mich?

Man belacht ihn, er aber besteht darauf, und versichert sehr ernsthaft, daß er wirklich seinen Namen vergessen habe. Man sagt ihm den Namen, und er macht seinen Besuch.

Jch habe diese Anekdote von dem Freunde selbst, welcher ihn aus dem Handel gezogen.

3.

Die Frau des Hrn. Hennert, sehr beruͤhmten Professors der Mathematik zu Utrecht, welche selbst79 Mathematiker und Astronom wie ihr Mann war, bekam auf einmal, nach einer Krankheit, ein Vergessen oder vielmehr ein Unvermoͤgen, eine Verwirrung der Sprache, welche der biblischen Beschreibung von der Verwirrung zu Babel, vollkommen gleich war.

Nemlich, wenn sie einen Stuhl begehrte, forderte sie einen Tisch, wenn sie ein Buch haben wollte, forderte sie einen Spiegel. Und wenn man ihr das Wort, welches sie gesucht, und an dessen Statt sie ein anderes gesetzt hatte, vorsagte, konnte sie niemals dazu kommen, es zu wiederholen.

Bisweilen merkte sie selbst, daß sie die Sache unrecht nannte, ein ander mal aͤrgerte sie sich, wenn man, da sie ihren Faͤcher forderte, ihr denselben brachte, anstatt der Haube, welche sie glaubte genannt zu haben.

Dieses außerordentliche Derangement hat verschiedene Monathe bei ihr angehalten.

Ueberhaupt war ihre Sprache verwirrt und ein wenig schwer, aber ihre Vergessenheit erstreckte sich nur auf einige Worte der Sprache. Sie hatte uͤbrigens ein so getreues Gedaͤchtniß, daß sie fortfuhr, ihren Haushalt zu besorgen; sie zeigte sogar ihrem Manne den Stand des Himmels auf einer Karte so richtig als bei vollkommener Gesundheit.

Nach und nach ist die Frau H. wieder genesen, und hat noch verschiedene Jahre, bei dem vollkommenen Gebrauch ihrer Seelenkraͤfte, gelebt.

80

Jch habe die Frau selbst in diesem Zustande nicht gesehen. Hr. H. aber hat die Geschichte dieser sonderbaren Krankheit herausgeben wollen. Jch weiß nicht, ob sie es etwa nicht gewollt hat. Aber ich vermuthe, daß er noch wohl Bemerkungen wird auf bewahrt haben, welche der Muͤhe werth waͤren, sie fuͤr das Magazin von ihm zu erbitten.

81

7. Grundlinien zu einer Gedankenperspektive.

54

Wir sehen gerade durch, und die Gegenstaͤnde reihen und ordnen sich von selber.

Wir sehen das Entferntere nicht unmittelbar, sondern durch das Naͤhere.

Das Entferntere scheint uns nur klein, in Vergleichung mit dem Naͤhern oder, in so fern wir es uns, wie auf der Flaͤche eines Gemaͤldes, eben so nahe wie das Naͤhere denken; oder es mit dem Naͤhern gleichsam in eine Reihe stellen.

Daher kommt es, daß die Ferne zusammendraͤngt.

Die Gegenstaͤnde naͤhern sich in der Entfernung immer mehr der bloßen Jdee von den Gegenstaͤnden; das Gesicht naͤhert sich immer mehr der Einbildungskraft, je weiter der Gesichtskreis wird.

Daher sind wir im Stande, uns die Gegend wie ein Gemaͤlde, und das Gemaͤlde wie die Gegend zu denken.

Wir wandeln die Allee hinunter; das Zusammengedraͤngte erweitert sich, wie wir uns nach und nach ihm naͤhern; die Wirklichkeit tritt wieder in ihre Rechte.

82

Wo das Auge durch nichts gehindert wird, da sehen wir Woͤlbung und Flaͤche.

Das Hoͤchste, was uns erscheinen kann, ist die Woͤlbung uͤber diese kann uns nichts erscheinen; denn die Woͤlbung ist uͤber allem.

(Die Fortsetzung folgt.)

Moritz. 56

83
57

Konfessionen der Madame58J. M. B. de la Mothe Guion.aus ihrem Leben, welches von ihr selbst beschrieben ist.

59

*)*) Dies ist das letzte Kapitel aus ihrer Lebensbeschreibung, und schildert einen Zustand der Seele, welcher, in so fern er Taͤuschung war, auch als Taͤuschung gewiß naͤher betrachtet zu werden verdient. Wie mein Leben jederzeit dem Creuze gewidmet gewesen ist, so war ich kaum wieder aus dem Gefaͤngniß loß, und der Geist fieng kaum an sich wieder zu erholen nach so vielen Widerwaͤrtigkeiten, da fand sich der Leib von allerlei Schwachheiten und Unpaͤßlichkeiten uͤberhaͤuft, und ich hatte fast immerwaͤhrende Krankheiten, wobei ich oft dem Tode sehr nahe kam.

Jn diesen letzten Zeiten kann ich nur sehr wenig oder nichts von meiner innerlichen Gemuͤthsbeschaffenheit sprechen, weil mein Stand einfaͤltig und unveraͤnderlich worden ist.

Der Grund dieses Standes ist eine tiefe Vernichtigung, also daß ich nichts in mir finden kann, dem ich einigen Namen geben koͤnnte.

84

Das ist alles was ich weiß, daß Gott unendlich heilig, gerecht, gut, selig ist; daß er alles Gute in sich begreift, und ich alles Elend.

Jch sehe nichts geringers als mich, und nichts unwuͤrdigers als mich. Jch erkenne, daß Gott mir solche Gnaden erwiesen hat, wodurch eine ganze Welt koͤnnte selig gemacht werden, und daß ich vielleicht alles mit Undank bezahlt habe. Jch sage vielleicht: denn weder Boͤses noch Gutes hat einen wesentlichen Bestand in mir (als in mir.) Das Gute ist in Gott: das Nichts allein ist mein Antheil.

Was kann ich sagen von einem solchen Stand, der immer einerlei ist, ohne Absicht und ohne Veraͤnderung? Denn die Trockenheit (da man keine empfindliche Kraft noch Gefuͤhl von nichts hat) wenn sich anders solche bei mir findet, ist mir eben so lieb, als der allervergnuͤgteste Stand von der Welt.

Alles ist verlohren in dem unermeßlichen Wesen, und ich kann weder wollen noch denken. Es ist als wie ein kleines Troͤpflein Wasser, das in dem Meer verlohren und versenkt ist: es ist nicht allein mit dem Meer umgeben, sondern ganz darin verschlungen.

Jn dieser goͤttlichen Unermeßlichkeit siehet es sich nicht mehr, aber es erkennt die Dinge, die da vorkommen, in Gott, und beurtheilt sie gleichwohl nicht anders, als durch das reine Gefuͤhl und Urtheil des Herzens.

85

Alles ist eitel Finsterniß und Dunkelheit seiner Seits; alles ist Licht von Seiten Gottes, der es in keiner Sache unwissend laͤßt, und dennoch weiß es nicht, was es weiß, noch wie es dasselbige weiß, und ohne daß ihm die geringste Gestalt davon uͤbrig bleibt.

Da ist weder Geschrei noch Schmerz, noch Muͤhseligkeit, noch Lust, noch Ungewißheit; sondern ein vollkommener Friede, nicht in ihm, sondern in Gott; kein Eigennutz noch Eigengesuch fuͤr sich, kein Andenken noch Beschaͤftigung auf oder mit sich selbst. Siehe, das ist Gott in einer solchen Kreatur, und so weit kann er es mit ihr bringen! Fuͤr sich ist sie nichts als Elend, Schwachheit, Armseligkeit, ohne daß sie weder auf ihr Elend noch auf ihre Wuͤrde denket.

Wenn man etwas Gutes von mir glaubt, so betruͤgt man sich, und thut Gott dem Herrn Unrecht. Alles Gute ist in ihm, und um seinet willen. Wenn ich irgend ein Vergnuͤgen haben koͤnnte, o so waͤre es daruͤber, daß Er ist, was Er ist, und daß Er es auch immer seyn wird. Macht er mich selig, so geschieht es aus lauter Gnade und ohne alles Verdienst: denn ich habe weder Verdienst noch Wuͤrdigkeit.

Jch muß mich hoͤchlich wundern, daß man einiges Vertrauen in dieses Nichts setzt: ich habe es gesagt: nichts destoweniger antworte ich auf das,86 was man mich fragt, ohne mich zu bekuͤmmern, ob ich recht oder unrecht antworte.

Rede ich unrecht, so befremdet mich solches nicht: rede ich aber recht, so eigne ich mir beileibe solches nicht zu. Jch gehe ohne Gehen, ohne Absichten, ohne daß ich weiß, wo ich hingehe. Jch will weder gehen noch zuruͤckbleiben.

Der Wille und die Triebe sind verschwunden: Armuth und Bloͤße ist mein Theil. Jch habe weder Vertrauen noch Mißtrauen, mit einem Wort: Nichts, Nichts, Nichts.

So wenig ich auch auf ein Nachdenken in mir selbst gebracht werde, so glaube ich, ich betruͤge alle Menschen, und ich weiß doch nicht, wie ich sie betruͤge, noch was ich thue sie zu betruͤgen. Es giebt Zeiten, da ich gerne wollte, daß Gott moͤchte erkannt und geliebet werden, sollte es mich auch tausend Leben kosten.

Jch liebe die Kirche: alles was sie beleidiget, das beleidigt auch mich. Jch fuͤrchte mich vor allem, was ihr entgegen ist; aber ich kann dieser Furcht keinen Namen geben. Es ist damit eben als wie mit einem Kinde, das an seiner Mutter Brust liegt, welches sich von einem fuͤrchterlichen Ungeheuer gleich abwendet, und es nicht lang anschaut, es zu erkennen, was es sey. Jch suche nichts; aber es werden mir auf der Stelle und zur Stunde die allerkraͤftigsten Ausdruͤckungen und Worte gegeben: wenn ich sie aber selbst suchen oder87 behalten wollte, wuͤrden sie mir entgehen; und wenn ich sie auch nochmals fangen wollte, wuͤrde es mir eben so gehen. Wenn ich etwas zu reden habe, und man faͤllt mir in die Rede, so verliert sich alles: da bin ich denn als ein Kind, dem man einen Apfel genommen hat, ohne daß es solchen inne wird: es sucht ihn, und findet ihn nicht mehr: ich werde einen Augenblick unwillig daruͤber, daß man mir ihn genommen hat, aber ich vergesse es alsobald.

Gott haͤlt mich in einer ungemeinen Einfaͤltigkeit, Herzensredlichkeit und uneingeschraͤnktem Wesen, dergestalt, daß ich diese Dinge nicht merke als nur bei Gelegenheiten; denn ohne eine Gelegenheit, die solches erreget, sehe ich uͤberall nichts.

Wenn man etwas zu meinem Ruhm sagen sollte, so wuͤrde es mich befremden, indem ich nichts in mir finde. Redet man mir aber Uebels nach, so weiß ich nichts anders, als daß ich lauter Elend bin; aber ich sehe doch das nicht an mir, was man mir Uebels nachredet: ich glaube es, ob ich es gleich nicht sehe, und sodann verschwindet alles.

Macht man, daß ich auf mich zuruͤck denke, so erkenne ich nichts Gutes an mir. Jch sehe alles Gute in Gott; ich weiß, daß er der Grund und Ursprung alles Dinges ist, und daß ich ohne ihn nur ein dummes Thier bin.

Er giebt mir ein freies ungezwungenes Wesen, und macht, daß ich mit den Leuten umgehen kann, nicht nach meinem Zustand, sondern nach dem Zu -88 stand, worinnen sie stehen, also daß er mir auch wohl natuͤrlichen Verstand giebt bei denen, die dergleichen haben, und das mit einem so freien ungezwungenen Wesen, daß sie ganz vergnuͤgt von mir gehen.

Es giebt eine Art frommer Leute, deren Sprache fuͤr mich ein lahmes Geschwaͤtz ist: ich fuͤrchte mich nicht vor den Fallstricken, die sie mir legen. Jch verwahre mich in keiner Sache zum Voraus, so gehet alles gut. Man sagt bisweilen zu mir: nehmt euch in Acht, was ihr mit den und denen Leuten redet: aber ich vergesse es alsobald, und kann nicht darauf Achtung geben.

Zuweilen sagt man zu mir: ihr habt das und das gesagt; diese Leute koͤnnen es uͤbel auslegen; ihr seyd gar zu einfaͤltig: ich glaube es; aber ich kann nicht anders thun, als einfaͤltig seyn.

O fleischliche Klugheit, wie befinde ich dich so sehr der Einfaͤltigkeit Jesu Christi zuwider zu seyn! Jch lasse dich deinen Anhaͤngern. Was mich anlangt, so ist der einfaͤltige und niedrige Jesus meine Klugheit und meine Weisheit.

Und wenn ich sollte eine Koͤnigin werden, und es anders machen in meinem Leben und Wandel, ich koͤnnte es nicht. Wenn meine Einfaͤltigkeit mir alle Noth von der Welt verursachen sollte, so koͤnnte ich sie doch nicht fahren lassen.

Nichts ist groͤßer denn Gott; nichts ist kleiner und geringer denn ich. Er ist reich; ich bin sehr89 arm, und mangelt mir doch nichts. Jch fuͤhle nicht, daß ich das geringste bedarf. Der Tod, das Leben, alles ist mir gleich: die Ewigkeit, die Zeit; alles ist Ewigkeit, alles ist Gott.

Gott ist Liebe, und die Liebe ist Gott, und alles in Gott und um Gottes willen. Man sollte eher das Licht aus der Finsterniß ziehen koͤnnen, als etwas aus diesem Nichts: es ist ein Chaos, jedoch ohne Verwirrung und Unordnung. Alle Gestalten sind außer dem Nichts, und das Nichts nimmt keine Gestalt an.

Die Gedanken gehen uns vorbei, nichts haͤlt sie auf. Jch kann nichts mit vielem Vorbedacht vorbringen. Was ich gesagt oder geschrieben habe, das ist vorbei, ich kann mich es nicht mehr erinnern: es ist mir eben, als ob es fuͤr jemand anders waͤre.

Jch kann weder Rechtfertigung noch Hochachtung wollen. Wenn aber Gott das eine oder das andere haben will, so wird er thun, was er will, es liegt mir nichts daran. Er mag sich verherrlichen durch meinen Untergang, oder durch Herstellung meiner Ehre und guten Namens, eines ist wie das andere in gleichem Gewicht.

Meine lieben Kinder, ich will euch nicht betruͤgen, und will auch nicht, daß ihr von mir nicht sollet betrogen werden: Gott muß es thun und euch erleuchten, und euch entweder eine Abkehr oder Neigung zu diesem Nichts geben, welches nicht von seiner Stelle weichet.

90

Es ist eine ledige Leuchte: man kann eine Fackel dabei anzuͤnden. Vielleicht ist es nur ein falscher Glanz oder Schimmer, der in den Abgrund stuͤrzen kann. Jch weiß es nicht, Gott weiß es; es ist meine Sache nicht, ihr muͤsset ein gesundes Unterscheidungsurtheil daruͤber faͤllen.

Man muß nur den falschen Glanz ausloͤschen, die Fackel wird sich nimmermehr von selbst anstecken, wenn sie Gott nicht ansteckt. Jch bitte Gott, er wolle euch immerdar erleuchten, daß ihr nur seinen Willen thun moͤget; was mich anlangt, wenn ihr mich unter die Fuͤße treten solltet, so wuͤrdet ihr mir nicht unrecht thun, und ich wuͤrde nichts dagegen sagen koͤnnen.

Das ist es, was ich sagen kann von meinem Nichts, daß ich wollte, wenn ich etwas wollen koͤnnte, daß man seiner ewiglich vergessen moͤchte. Wenn mein Lebenslauf nicht geschrieben waͤre, wuͤrde er wohl schwerlich geschrieben werden; und nichts destoweniger wollte ich ihn dennoch auf das geringste gegebene Zeichen, auf das neue wieder schreiben, ohne zu wissen warum, oder was ich sagen will.

Heiliger Vater, ich habe dir diejenigen wieder in deine Haͤnde gegeben, die du mir gegeben hast; erhalte sie in deiner Wahrheit, damit die Luͤgen nicht moͤge zu ihnen nahen!

Das heißt in der Luͤgen stehen, wenn man sich das allergeringste zueignet; es heißt in der Luͤgen stehen, wenn man glaubt, man koͤnne etwas, wenn91 man etwas von sich oder fuͤr sich und um sein selbst willen hoffet, wenn man glaubt, man besitze etwas.

Gieb ihnen zu erkennen, o mein Gott, daß dies die Wahrheit sey, woruͤber du eiferst! Alle andere Sprache, die da abgehet von diesem Grundsatz, ist Luͤgen und Falschheit, wer demselben nahe kommt, der kommt der Wahrheit nahe; wer aber nichts anders spricht, als das Alles Gottes und das Nichts der Kreatur, der stehet in der Wahrheit, und die Wahrheit wohnet in ihm: denn weil die widersprechliche Anmaßung und alles eigene von ihm ausgebauet ist, so muß nothwendiger Weise die Wahrheit in ihm wohnen.

Meine lieben Kinder, nehmet diese Unterweisung an von eurer Mutter, so wird sie euch das Leben bringen.

Nehmet sie an durch sie, und nicht als von ihr, oder als ob sie ihr zugehoͤrte; sondern als von Gott, und als die Gott allein zugehoͤret.

92

Zur Seelenzeichenkunde.

1. Beitraͤge zur Zeichnung jugendlicher Charaktere.

62

1.

K. A. E. ein Knabe zwischen 10 und 11 Jahren, hat vielversprechende Anlagen, die,[ wenn] sie zur gehoͤrigen Reife kommen, einen fuͤr die Welt sehr brauchbaren Mann aus ihm machen koͤnnen. Man sieht in dem Knaben schon beinahe den ganzen Charakter seines Vaters, und wohl ihm, wenn er einst ein Mann wird, wie der. Nur muß einigen seiner Leidenschaften und Neigungen noch eine etwas andere Richtung gegeben werden, wenn er nicht in Gefahr kommen soll, daß sie ausarten. Fuͤr einen zehnjaͤhrigen Knaben hat er schon sehr viele Ernsthaftigkeit und Gesetztheit in seinem ganzen Betragen, die ihn oft verleitet, seine juͤngere Geschwister, die lebhafter sind als er, zu hofmeistern, und doch kann er oft, wenn er sich in ihre Spiele mischt, eben so kindisch thun als sie, welches dann freilich93 die Folge hat, daß sein Hofmeistere seine juͤngern Geschwister nicht viel bekuͤmmert. Die Anlage seines Herzens ist gut, nur hat er zu wenig Offenheit, und zu viel verstecktes Wesen, welches oͤfters verursacht, daß man ihn, wenn man nicht seinen Charakter ausdruͤcklich studirt, leicht fuͤr falsch und heimtuͤckisch halten kann, besonders, da er aus Ehrgeiz seine gemachten Fehler sehr sorgfaͤltig zu verbergen sucht. Doch habe ich ganz sichere Erfahrungen, daß er bei Gelegenheiten, wo ich die Guͤte seines Herzens, ohne daß er es merken konnte, auf die Probe stellte, unwiderlegliche Beweise davon gegeben hat. Jn seinen Handlungen herrscht viele Bedaͤchtlichkeit, und von der bei Kindern von diesem Alter sonst anzutreffenden Hastigkeit, zeigt sich nicht viel bei ihm. Besonders aber wird er beinahe in allen seinen Handlungen von dem Bestreben bestimmt, das Wohlgefallen seines Vaters zu verdienen; denn dessen Befehle sind ihm fast die einzige Richtschnur seiner Handlungen, und er ruͤgt die Uebertretungen derselben an seinen Geschwistern ploͤtzlich; dies laͤßt hoffen, daß, wenn er diese Anhaͤnglichkeit an das, was ihm sein Vater sagt, behaͤlt, er auch den Grundsaͤtzen, die ihm jetzt von ihm eingefloͤßt werden, getreu bleiben, und dadurch zu einem gluͤcklichen Manne reifen werde. Kuͤhnheit und Entschlossenheit ist ihm nicht eigen, sondern er besitzt vielmehr einen gewissen Grad von Furchtsamkeit, der ihn oͤfters, auch seinen Geschwi -94 stern, besonders seinem juͤngern Bruder, laͤcherlich macht. Schon aus dem bisher gesagten wird sich schließen lassen, daß er auch keine Fluͤchtigkeit in seinem Charakter hat. Was er angreift, dabei bleibt er, und laͤßt sich nicht so leicht durch aͤußere Gegenstaͤnde davon abbringen, selbst bei Arbeiten, die ihm anfaͤnglich unangenehm sind, beharrt er doch, wenn er sieht, daß sie gethan seyn muͤssen, und er sie einmal angefangen hat. Die Kenntnisse, die er schon gesammelt hat, sein natuͤrlicher Verstand und sein Ehrgeiz verleiten ihn oft zu einer schon etwas uͤbertriebenen Disputirsucht, die, wenn sie nicht in Zeiten noch gedaͤmpft wird, unleidlich werden kann. Denn wenn er etwas behauptet, und man ihm widerspricht, oder wenn man ihn eines Fehlers beschuldigt, den er entschuldigen zu koͤnnen glaubt, so streitet er so lange dawider, bis er gewonnen zu haben meint, und wenn man ihm alsdann Recht giebt, so funkeln seine Augen vor Freude. Hingegen wird er sehr dadurch gebeugt, wenn man sich nicht in Streit mit ihm einlaͤßt, und ihn gleich Anfangs Recht giebt, weil er dieses fuͤr Verachtung ansieht. Denn alsdann hoͤrt er ploͤtzlich auf zu disputiren, und dies scheint auch das beste Mittel zu seyn, seine Disputirsucht zu daͤmpfen. Sein Gang und seine Stellung ist charakteristisch. Der erstere ist gewoͤhnlich langsam, doch nicht auffallend, und im Gegentheil kann er, wann es darauf ankommt, doch besser springen,95 als sein weit lebhafterer Bruder. Seine Stellung ist verschieden, nachdem er entweder allein oder in Gesellschaft ist, und je nachdem die Personen sind, mit denen er spricht, denn alsdann aͤußern sich beinahe alle seine Leidenschaften, bald Ehrgeiz, bald Befehlshaberei, bald bittendes Schmeicheln darin. Jst er aber allein, so hat sie gewoͤhnlich etwas phlegmatisches. Seine Mienen und Gesichtszuͤge verrathen schon viel Urtheilskraft, sind aber[ auch] die getreuen Ausleger seiner Leidenschaften, denn er hat sie nicht so in seiner Gewalt, daß er sie sonderlich verstellen koͤnnte. Jn seinem aͤußerlichen Betragen ist er zwar etwas schuͤchtern und leutescheu, hat aber doch viel Einnehmendes, weil ihn, besonders bei alten Personen, seine Gesetztheit und Ernsthaftigkeit empfiehlt. Besonders haͤlt er viel von Ordnung, wozu er von Jugend auf gewoͤhnt worden ist, daher er auch ein großes Geschrei daruͤber erheben kann, wenn ihm jemand sein Spielwerk oder Buͤcher etc. außer Ordnung gebracht hat. Sein Koͤrperbau und Nervensystem ist seiner Seele angemessen, etwas empfindlich, dabei aber doch fest und gesund. Die Faͤhigkeiten und Anlagen seiner Seele sind vorzuͤglich. Er hat ein außerordentlich gutes Gedaͤchtniß, das zwar nicht allzuschnell faßt, aber das gefaßte unausloͤschlich behaͤlt. Wann ich ihm kleine oder große Geschichten erzaͤhle, die fuͤr ihn unterhaltend sind, so weiß er sie noch einige Tage nachher seinem Vater nach Sach 'und96 Ordnung so vollstaͤndig wieder zu erzaͤhlen, daß ihm auch nicht der geringste Umstand entschluͤpft. Nicht minder vorzuͤglich ist sein Verstand und seine Beurtheilungskraft. Jch hatte ihm und seinem Bruder einst beim Religionsunterricht nach dem Schuͤtzischen Elementarwerk den Begriff des Jndividuums erklaͤrt, und machte ihm nachher, indem ich ihn durch ein vieleckigt geschliffenes Glas gegen seinen Bruder hinsehen ließ, die Einwendung: » durch dieses Glas sieht man ja viele C ...., also giebt es mehr als diesen einzigen; « allein er antwortete mir schnell: » nein, das sind nur Bilder von ihm. « Dabei hat er vielen Fleiß und eigene Lust zur Arbeit, die ihm vieles von dem, was er zu thun hat, leicht macht. Er erzaͤhlte mir einst, als wir in der lateinischen Lektion ein Pensum wiederholten, das er schon einmal uͤbersetzt hatte, er habe eben dieses Stuͤck erst kuͤrzlich auch bei Nacht uͤbersetzt. Jch fragte ihn, ob es ihm denn im Traum vorgekommen sey? » Nein, « sagte er, » ich habe es wachend gemacht, weil ich noch nicht einschlafen konnte, und das Ding weiß ich auswendig. « Ein Beweis nicht nur von seinem guten Gedaͤchtniß, sondern auch von seiner Lust an ernsthaften Beschaͤftigungen. Und bei den Uebersetzungen, die er zu verfertigen hat, wendet er so viel Genauigkeit an, daß er, wann seine Uebersetzung fertig ist, sie von Wort zu Wort mit dem Original vergleicht, um etwa gemachte Fehler noch zu verbessern. An -97 lagen zu mechanischen Geschicklichkeiten scheint er auch zu haben, denn er giebt sich z. B. oft damit ab, daß er aus Bohnen, die noch in den Huͤlsen sind, oder andern laͤnglichten Koͤrpern mit vieler Muͤhe Holzstoͤße und Fugen erbaut, die ihm eine desto groͤßere Freude machen, je hoͤher er sie, ohne daß sie einfallen, bauen kann, oder er macht manchmal selbst aus kleinen Stuͤckchen Holz und Faͤden ganz kleine Zuggeschirre fuͤr seine hoͤlzernen Pferde, womit er sie an irgend etwas, das einem Fuhrwerk aͤhnlich ist, anspannt. Auch hatte er eine große Freude daran, und war sehr dabei beschaͤftigt, als ich ihm einst eine Jaͤgertasche verfertigen half, wie Robinson sich eine machte. Anlage zur Dichtkunst hingegen konnte ich nicht in ihm entdecken, vielmehr habe ich die sonderbare Bemerkung an ihm gemacht, daß er Erzaͤhlungen und Fabeln in Versen bei weitem nicht so gerne hoͤrt, als die in Prose. Unter seinen Leidenschaften ist wohl der Ehrtrieb die staͤrkste; und eben diese ist es, von der ich oben sagte, daß sie leicht ausarten koͤnnte, wenn sie nicht jetzo schon richtig gelenkt und gehoͤrig eingeschraͤnkt wuͤrde. Das Lob seines Vaters zu verdienen, oder auf seiner Meriten Liste optime etc. von mir zu erhalten, dies sind ihm so wichtige Dinge, daß er alles moͤgliche anwendet, um nicht ihrer beraubt zu werden. Giebt ihm sein Vater eine thaͤtige Probe seines Wohlgefallens, so wird er dadurch so sehr zum Guten angespornt, daß er nun aus allen Kraͤf -98 ten arbeitet, dieses Wohlgefallen auch kuͤnftig zu verdienen, und eben so funkeln ihm die Augen vor Freude, wenn er auf seiner Meritenliste ein - oder mehreremale optime bekommt. Hingegen, wenn er auch nur: mittelmaͤßig bekommt, so betruͤbt ihn dieses so sehr, daß er es gar nicht fuͤr moͤglich haͤlt, daß es dabei bleiben sollte. Jch habe ihn uͤber einem solchen mittelmaͤßig schon Stunden lang weinen sehen, selbst bei einem bene kann er weinen, besonders, wenn sein juͤngerer Bruder optime bekommen hatte, und doch schaͤmt er sich alsdann, wann das Weinen vorbei ist, mit den thraͤnenrothen Augen unter die Leute zu gehen. Wenn man ihm aufgiebt, seinen juͤngern Geschwistern ihre Lektionen aufsagen zu lassen, so schmeichelt ihm dies sehr, und er weiß sich dabei ein solches Ansehen zu geben, als nur immer ein Schulmonarch sich unter seinen Kindern geben kann, wo dann freilich die angenommene Ernsthaftigkeit im Kontrast mit dem Alter des Knaben laͤcherlich genug auffaͤlt. Was Strafen bei ihm bewuͤrken, sieht man nun aus dem bisherigen schon, allein sie sind deswegen nicht fruchtlos, im Gegentheil wird er dadurch auf die Zukunft nur desto eifriger, sie zu vermeiden, weil sie ihm eine so gar unangenehme Sache sind. Gegen Schmerz und Vergnuͤgen ist er sehr empfindlich. Wenn er in den kleinen Spielen mit seinen Geschwistern, wo um Bohnen etc. gespielt wird, verliert, so wird er so dadurch niedergeschlagen, daß99 er alle Freude an diesem Spiel verliert, da hingegen beim Gewinnst seine Freude eben so uͤbermaͤßig ist. Dies giebt bedeutende Winke fuͤr den Erzieher, ihn so viel moͤglich vor der Neigung zum Spiele zu verwahren, denn sollte er einmal das Ungluͤck haben, ins Spiel zu gerathen, so wuͤrde er gewiß auch recht ungluͤcklich dadurch werden. Jm uͤbrigen hat seine Empfindlichkeit und Empfindsamkeit den rechten Grad. Zwar wird er nicht durch jede ruͤhrende Erzaͤhlung bis zum Weinen geruͤhrt, allein ist dies noͤthig? und doch habe ich auch schon bei der Geschichte Josephs, die ich ihm erzaͤhlte, eine Thraͤne seinem Auge entquellen sehen.

2.

C. F. E. ein Bruder des vorigen, zwischen 8 und 9 Jahren, in gewissen Stuͤcken ihm ganz aͤhnlich, in andern das voͤllige Gegentheil von ihm. Aehnlich in seinen Anlagen und Faͤhigkeiten, voͤllig verschieden in den Aeußerungen derselben. Er hat ein außerordentlich lebhaftes Temperament, das man schon in jedem seiner Gesichtszuͤge und in jeder Bewegung erkennt. Sein Gesicht hat so viel offenes und gutmuͤthiges, daß man ihn schon darum lieb gewinnen muͤßte, wenn man auch seine Herzensguͤte nicht kennete. Dabei hat er es so in seiner Gewalt, und kann sich damit oft ein so drollichtes Ansehen geben, das auch den Ernsthaftesten aus seinem Gleichgewicht bringen kann. Sein Gang ist100 seinem Temperament angemessen, meistens schnell abwechselnd auf einem Fuß huͤpfend, seine Stellung ist ganz unbekuͤmmert, er mag vor sich haben, wen er will, ganz Natur, und dabei der auffallendste Ausdruck seiner Unverstelltheit. Sein aͤußerliches Betragen entspricht seinen Gesichtszuͤgen, seinem Gang und seiner Stellung voͤllig. Ganz ungenirt, und ohne sich an die Ceremoniengesetze der feinern Welt zu kehren, sagt er jedem, der ihn nicht durch finstere Minen von sich abschreckt, seine Herzensmeinung offen, wo aber dieses ist, da entfernt er sich gaͤnzlich. Dabei ist es ihm auch nicht darum zu thun, unbeleidigende Ausdruͤcke zu waͤhlen, sondern er bekuͤmmert sich wenig darum, ob das, was er sagt, jemand beleidigen koͤnnte oder nicht, doch meint er es nie boͤs dabei. Auf Ordnung haͤlt er nicht so viel als sein Bruder, doch ist sie ihm auch nicht ganz fremd. Sein ganzes Wesen ist unverstellte Munterkeit und Heiterkeit. Wer ihn in den Aeußerungen derselben stoͤren will, dem ist er nicht gut, und er laͤßt sich auch nicht leicht dabei einschraͤnken. Meistens aͤußert er sie in solchen possirlichen Handlungen und Geberden, daß er oft einem wahren Harlekin aͤhnlich wird. Diese Heiterkeit aber ist mit einer unverstellten Herzensguͤte verbunden, die ihm die Liebe aller, die ihn kennen, erwerben muß. Entfernt von aller Tuͤcke oder Bosheit liebt er alle Menschen, aber er sagt es niemand, daß er ihn liebt, und es kommt ihm sogar sauer an,101 es zu sagen, wenn man es von ihm fodert. Dabei ist er offenherzig, gesteht seine Fehler, oft auch ungefragt, aufrichtig, und erlaubt sich nie eine Luͤge, wo er sich schuldig findet. Bekommt er von andern etwas geschenkt, das seine Geschwister nicht haben, so theilt er im ganzen Hause davon aus, ist dabei außerordentlich geschaͤftig, und die gutmuͤthige Freude leuchtet dabei aus allen seinen Minen hervor. Wen er lieb gewonnen hat, fuͤr den ließe er Leib und Leben, und nichts freut ihn mehr, als Erzaͤhlungen von wohlthaͤtigen Handlungen. So sagte er einst bei der Geschichte Herzog Ulrich von Wuͤrtemberg, wenn er damals ein deutscher Fuͤrst gewesen waͤre, so haͤtte er dem Herzog Ulrich alle seine Soldaten geschickt, er wollte den Schwaͤbischen Bund schon aus dem Lande hinausgejagt haben; und bei der Erzaͤhlung der Stiftung des Hallischen Waisenhauses wuͤnschte er sich viel Geld, » um auch ein solches Haus fuͤr arme Kinder bauen zu lassen, wie der Prof. Franke. « Und er ist auch wirklich, wenn es darauf ankommt, das freigebigste unter allen seinen Geschwistern. Es wurde einst eine Kollekte fuͤr arme abgebrannte Kinder bei uns gesammelt, und als nun sein Vater alle fragte, ob sie auch etwas von ihrem Taschengelde geben wollten, so war er nicht nur der erste, der Ja sagte, sondern erbot sich auch, als sein Vater sich von jedem Kind besonders, ohne daß eines mit dem andern etwas verabreden durfte, in der Stille seinen102 Entschluß sagen ließ, zum groͤßten Beitrag unter allen.

Bei Krankheiten seiner Eltern oder Geschwister bezeigt er so viel Besorgniß, Mitleiden und Bereitwilligkeit, so viel er kann, zu helfen, daß er dadurch ungemein liebenswuͤrdig wird; und eben so verzeiht er auch Beleidigungen sehr schnell wieder, wenn sie ihn auch noch so aufbrachten, und ist seinem Beleidiger in einer Viertelstunde wieder herzlich gut. Hastigkeit besitzt er dabei sehr viel, aber sie ist blos eine Folge seines lebhaften Temperaments, und selbst auch mit Herzensguͤte verbunden. Hat ihm jemand Vergnuͤgen gemacht, oder hat er eines zu erwarten, so pauckt er fuͤr Freude auf jedermann herum, wer ihm begegnet, allein man kanns ihm nicht uͤbel nehmen, denn man sieht die Unschuld dabei auf seinem Gesichte. Eben so verleitet ihn sein lebhaftes Temperament oͤfters zu einem schnellen Zorn, worin er auch Schlaͤge austheilt, allein es ist nicht so boͤs gemeint, als es scheint, und wenn man ihn nicht dabei noch mehr reizt, oder wenn er sieht, daß er dadurch jemand Schaden gethan hat, so ist er ploͤtzlich wieder gut und bereut es. Kuͤhnheit und Entschlossenheit hat er sehr viel. Ein Beweis davon ist schon die oben erzaͤhlte Aeußerung bei der Geschichte Herzog Ulrichs. Wer ihn angreifen will, gegen den wehrt er sich, so lang er kann, und giebt nicht leicht gewonnen. Jch stellte mich einst, als ob ich uͤber ihn und103 seinen Bruder Wasser hinunter gießen wollte, worauf er aber auffuhr, und sich wehrte, da hingegen sein aͤlterer Bruder sich unter den Tisch buͤckte. Ein anderes mal fragte ihn sein Bruder, was er unter den Thieren am liebsten seyn moͤchte, und schnell antwortete er: ein Elephant. Diese Kuͤhnheit und Entschlossenheit aͤußert sich auch in seinen Spielen, denn diese haben immer etwas kriegerisches, und nicht selten denkt er sich als einen General, der eine Armee zu Felde fuͤhren muß, und dann kommt er zu mir, und erzaͤhlt mir, was er fuͤr Schlachten geliefert habe, und wie viel auf seiner, und auf des Feindes Seite geblieben, wo dann gewoͤhnlich er den Sieg davon getragen hat.

Fluͤchtigkeit ist nun freilich auch ein starker Zug in seinem Charakter, und am liebsten ists ihm, wenn er immer in Luͤften seyn kann; besonders uͤber Geschaͤfte, die ihm nicht angenehm sind, eilt er mit einem fluͤchtigen Blick hinweg, der ihn schon um manches optime auf seiner Meritenliste gebracht hat; und doch hat er bei alledem eine gewisse Beharrlichkeit, die man vielleicht von einem Charakter, wie der seinige ist, nicht erwarten sollte, denn wenn er z. B. ein Spiel spielt, das ihm gefaͤllt, so waͤhrt seine Freude daran so lang, und er spielt es so oft, als nicht leicht ein anderer thun wuͤrde.

Die Disputirsucht hat er mit seinem Bruder gemein, nur mit dem Unterschiede, daß sie nicht so hartnaͤckig ist, wie bei jenem, und seine Disputen104 meistens auf einen Schwank hinauslaufen. Sein Ehrtrieb ist ebenfalls nicht gering, doch ist es kein eigentlicher Ehrgeiz, wie bei seinem Bruder. Lob ist ihm zwar sehr angenehm, allein es druͤckt sich dabei eine solche unschuldige Freude in seinem Gesicht aus, und man kann eigentlich sagen, daß durch Strafen wenig oder gar nichts bei ihm ausgerichtet wird, da man hingegen durch Guͤte, Nachsicht und Freundlichkeit alles bei ihm ausrichten kann.

Schmerz und Vergnuͤgen, besonders der erstere, affiziren ihn auch nicht so sehr, wie seinen Bruder. Wo dieser bei Verlust im Spiel ganz niedergeschlagen wird, da behaͤlt er philosophische Gelassenheit, und schon oft hat er dabei zu mir gesagt: » Was soll ich traurig seyn, es ist ja kein rechtes Geld? « Und eben so wenig ist alsdann seine Freude beim Gewinnst so uͤbermaͤßig, wie die seines Bruders. Auch koͤrperliche Schmerzen verschmerzt er leicht, und kann manchen Unfall mit lachendem Munde ertragen. Empfindsam ist er dabei, wie sich leicht schließen laͤßt, auch nicht in hohem Grad, doch ruͤhrt ihn die Erzaͤhlung einer rechtschaffenen, und besonders einer wohlthaͤtigen Handlung sehr. Bei Erzaͤhlungen von dem Ungluͤck anderer Personen wird er ganz ernsthaft und in sich gekehrt, und hoͤrt sie auch nicht gern, sind es aber Fabeln, so troͤstet er sich damit, daß es nicht wahr sey, wenns allzu traurig ist. Eben so auch bei Kupferstichen oder Gemaͤhlden, wo ein Ungluͤck vorgestellt ist, wird er105 oft anfangs ganz in sich versenkt, endlich aber geht er davon weg, und sagt: » ach, das sind ja nur Bilder, denen thuts nicht weh. Nicht wahr? « Neben dem sind die Anlagen und Faͤhigkeiten seiner Seele eben so vorzuͤglich, als die seines Bruders. Verstand, Fassungskraft, Gedaͤchtniß, Einbildungskraft und Witz sind in gleichem Grade und in der gluͤcklichsten Mischung bei ihm vereinigt. Was man ihm sagt, faßt er schnell und leicht, ist aber nicht zufrieden, bis er die Sache ganz begriffen hat, und wenn ihm daher anfaͤnglich etwas nicht ganz deutlich ist, so ruht er so lange nicht mit Fragen, bis es ihm voͤllig hell geworden ist; nicht ganz so gluͤcklich ist er im Behalten dessen, was er gefaßt hat. Was er liebt, daruͤber denkt er nach, und macht dann Einwendungen dagegen, die von vielem Verstande zeugen. So las er einst Abends in meinem Zimmer vor sich in der Bibel. Ploͤtzlich fuhr er auf und sagte: » Ei, man sagt, die Bibel sey wahr, und das ist doch nichts! « Jch fragte: Warum? Dann zeigte er mir die Stellen: Pred. Sal. 1, 4. und Kap. 3, 19. und sagte: » Das ist ja nicht wahr, was hier steht. « Jch erklaͤrte ihm dann die Stellen, und endlich gab er sich zufrieden. Ein anderesmal fragte er mich schnell: » Jst der Wind ewig? « Warum? sagte ich, Er: » weil er unsichtbar ist; es heißt ja in einem Spruch: was unsichtbar ist, das ist ewig. «

M. 64J. D. Mauchart.

106

Zur Seelenheilkunde.

65

Eine Geschichte eines ungluͤcklichen Hangs zum Theater. 66Ein Pendant zu der 3. B. 1. St. S. 117 ff. und 4. B. 1. St. S. 85 ff. erzaͤhlten Geschichte.

Der folgende Brief eines meiner Freunde, der seine eigene wahre Geschichte darin beschreibt, duͤnkt mir ein nicht ganz unwichtiger Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde, und besonders eine aͤchte Parallele zu derjenigen Geschichte zu seyn, die im ersten Stuͤck des 3. B. dieses Magazins S. 117 ff. erzaͤhlt ist. Jch trage daher kein Bedenken, ihn ganz hier mitzutheilen, weil ich glaube, daß die Geschichte, die er enthaͤlt, fuͤr den Psychologen und Erzieher gleich interessant seyn wird.

P .... den 17. Febr. 86.

Lieber Freund!

Hier folgt das Stuͤck vom H. Prof.68MoritzMagazin zur Erfahrungsseelenkunde wieder zuruͤck, das107 Du mir neulich geliehen hast. Mit recht vielem Dank schicke ich es Dir wieder, denn ich habe nicht nur viele Unterhaltung davon gehabt, sondern auch vieles daraus gelernt. Jch bitte Dich daher, schicke mir auch die nachfolgenden Stuͤcke, wann Du sie gelesen hast.

Warum ich nun aber Dir diesmal einen so langen Brief schreibe, der sich, wie Du finden wirst, lediglich auf dieses Magazin bezieht, das will ich Dir nur lieber gleich zu Anfang sagen. Jch habe darin einen Aufsatz gefunden, der den ungluͤckseligen Hang eines Juͤnglings zum Theater enthaͤlt, und dabei ist mir meine eigene Geschichte, die Dir der Hauptsache nach noch wohl erinnerlich seyn wird, so lebhaft wieder eingefallen, daß ich beschloß, mich gleich hinzusetzen, und sie Dir schriftlich zu uͤberschicken, weil ich dachte, daß Du sie an Hrn. Prof. Moritz in Berlin schicken koͤnntest, ob sie ihm nicht vielleicht fuͤr sein Magazin taugt.

Jch habe sie ganz aufgesetzt, weil ich dachte, Du wuͤrdest vielleicht an einige kleine Umstaͤnde Dich nicht mehr so recht erinnern. Aber darum muß ich Dich noch bitten, daß Du einige Erlaͤuterungen dazu setzest, besonders was die Veranlassung und Ursachen dieser theatralischen Neigung betrift, weil Du sie doch von unserm langen Auffenthalt und Umgang zu S ... her, noch wohl wissen wirst, und sie besser als ich, der ich nicht auf Universitaͤten studirt habe, wirst auseinandersetzen koͤnnen.

108

Aber ich will Dich nicht laͤnger aufhalten, sondern jetzt anfangen. «

» Du wirst Dich noch erinnern, daß ich einst es sind freilich jetzt schon viele Jahre als wir noch mit einander auf dem Gymnasio zu S ... studirten, eine solche unuͤberwindliche Neigung zum Theaterwesen bekam, daß sie mich an allen ernsthaften Arbeiten hinderte. Weißt Du noch, daß in selbigem Sommer die Sch ..... sche Komoͤdiantenbande zu S ... war? Die, glaube ich, war der Grund meines Ungluͤcks. «

» Jch war einigemal in der Komoͤdie, und diese Schauspiele gefielen mir so wohl, daß ich nachher nichts anderes mehr denken konnte, als das Theater, das ich gesehen hatte, und die Stuͤcke, die ich hatte auffuͤhren sehen, und all das Zeug, das zur Komoͤdie gehoͤrt. Jch hatte freilich vorher nicht viel dergleichen gesehen, daher nimmt michs nun nicht Wunder, daß es mir so gar wohl gefiel. Aber, lieber Freund, wenns doch nur so eine voruͤberrauschende Betaͤubung gewesen waͤre! allein Du weißt, wie tief es sich in meiner Seele festsetzte, und wie viel ich daruͤber habe ausstehen muͤssen. «

» Du weißt nicht, was ich zu Haus oft ganze Tage uͤber gethan habe, damit ich meinen heißen Durst nach diesen Vergnuͤgungen stillen moͤchte. Nichts denken konnte ich mehr als Komoͤdie, konnte mich auch mit nichts mehr beschaͤftigen, als damit. «

109

» Doch, ich werde zu weitlaͤuftig, ich will es kuͤrzer machen. Man brachte in das Haus, worin ich logirte, alle Tage einen Komoͤdienzettel, wie begierig war ich, ihn zu sehen, und wenn ich einen eigenen, wenns oͤfters auch nur ein alter war bekommen konnte, wie hob ich ihn als ein Heiligthum auf. Du weißt, daß R ..., bei dem ich im Haus und in der Kost war, es nicht gelitten haͤtte, und mich gewiß uͤbel behandelt haͤtte, wenn ich ihm meine Neigung entdeckt haͤtte, deswegen mußte ich oft die Komoͤdienzettel nur verstohlen bekommen, und dann schrieb ich sie nicht ab, nein, zeichnete sie, Buchstabe nach Buchstabe, am Fenster ab, um ja das ganze Modell davon zu haben. «

» Wann ich allein auf meinem Zimmer war, so nahm ich oft ein Schnupftuch oder Waschtuch, rollte es auf, und ließ es dann wieder herunter fallen, weil ich dadurch das Aufziehen und Niederlassen des Theatervorhangs nachmachen wollte, lief in meiner Stube auf und ab, und deklamirte die Rollen, die mir am meisten gefallen hatten, so viel ich davon auswendig behalten hatte, kurz, was ich den ganzen Tag uͤber dachte und redete, war Komoͤdie. Wie oft habe ich dich bei unsern gesellschaftlichen Zusammenkuͤnften mit solchen Diskursen vielleicht inkommodirt, aber was ist es mir auch fuͤr eine Erleichterung gewesen, wenn ich mein volles Herz in den Busen eines Freundes ausschuͤtten durfte. «

110

» Was mir R. fuͤr Hindernisse entgegen gestellt hat, als er meinen Hang endlich entdeckte, weißt Du, aber das war nur Oel fuͤr die Flamme. Nun durfte ich nie mehr in die Komoͤdie gehen, o wie sah ich da das mir so theure Haus oft mit betruͤbten Augen an, wann ich daran vorbei spazieren gegangen bin; und doch stahl ich mich oft von Haus weg, um nur der Probe beiwohnen zu koͤnnen. Freilich mußte R. wohl merken, daß meine Neigung durch sein Verbot nicht abgenommen hatte, daß ich nichts mehr studirte, daß ich mit taubem Hinbruͤten ganze Tage zubrachte, daß ich zu allen ernsthaften Geschaͤften unfaͤhig war; deswegen nahm er mich einmal vor sich, weil er einen Haufen gedruckter und geschriebener Komoͤdien und Komoͤdienzettel in meinem Zimmer angetroffen hatte, machte mir zwei Stunden lang alle nur moͤgliche Vorstellungen, und wollte mich von der unseligen Neigung abbringen, aber was halfs? ich wurde zwar aufmerksam darauf, daß ich auf Abwegen war, aber die Neigung war so stark bei mir, daß ich keine Kraͤfte mehr zu haben glaubte, womit ich sie haͤtte uͤberwinden koͤnnen. «

» Nun wuchs die Neigung immer mehr, weil ich ihr keinen Widerstand entgegen setzte, und wuchs bis zur Lust, selber aufs Theater zu gehen. Nur zwei Dinge hielten mich noch ab, sonst, wer weiß, wo ich jetzt waͤre? nemlich, die Furcht, mein Vater wuͤrde nicht darein willigen, dem ich auch meinen Entschluß nicht entdeckte, und dann das Vorurtheil,111 das damals zu S ... noch herrschte: ein Komoͤdiant duͤrfe nicht zum heil. Abendmahl gehen, und koͤnne auch nicht selig werden. «

» Endlich entschloß ich mich, einen Ausweg zu treffen, und fiel auf den Gedanken, selber ein kleines Theater zu errichten. Jch hatte noch einige Schulkameraden in meiner Vaterstadt, und weil ich von S ... aus oft dahin kam, so wurde ich mit diesen eins, in einem ihrer Haͤuser ein Theater aufzurichten, wo wir alle Wochen einmal spielen wollten; wir gewannen auch einige Maͤdchens dazu, und nun glaubte ich alle meine Wuͤnsche erreicht zu haben, als die Aeltern meines Kameraden unser Vorhaben beguͤnstigten, und noch mehr, als wir wirklich darauf zur Probe ein kleines Schauspiel auffuͤhrten. «

» Zu dem Ende habe ich, wie Du weist, die vielen Komoͤdien theils abgeschrieben, theils aus Moliere uͤbersetzt, theils selbst verfertigt, wozu ich nur die Sch ... sche Komoͤdienzettel, worauf der Titel und die Personen eines Stuͤcks standen, gebrauchte. Jch habe sie Dir, wenn ichs noch recht weiß, einmal gezeigt, und ich wuͤnsche nur, daß ich sie aufbehalten haͤtte, weil ich vielleicht noch jetzt mir manches daraus abstrahiren koͤnnte. «

» Allein aus unserm Theater wurde außer der ersten Probe nichts. Denn es kam ein Zufall dazwischen, der ich danke Gott noch dafuͤr, wenn ich mich seiner erinnere mich vor dem Ungluͤck,112 in welches ich ohne Rettung gestuͤrzt waͤre, bewahrt hat. R. der meine immer zunehmende Abneigung vom Studiren sehen mußte, und doch nicht helfen konnte, reiste zu meinem Vater, und entdeckte ihm meine Umstaͤnde. Mein Vater berief mich alsdann auch zu sich, nahm mich ganz allein auf seine Stube, und stellte mir die Folgen meines unseeligen Hangs so lebhaft vor, daß ich zitterte. Jch antwortete ihm, ich koͤnne mich eben nicht zufrieden geben, wenn ich keine Komoͤdie sehen duͤrfe; dies erlaubte er mir dann, gab mir Geld dazu, und sagte mir aber, daß ich den Tag darauf, nachdem ich in der Komoͤdie gewesen waͤre, wieder zu ihm kommen sollte. Jch gieng darein, war wie im Himmel darin, aber als ich heraus kam, und noch mehr, als ich den Tag darauf zu meinem Vater reiste, war die lodernde Flamme schon etwas gedaͤmpft. Als nun vollends seine so liebreichen Vorstellungen dazu kamen, so wuͤrkten diese und seine unvermuthete Erlaubniß, in die Komoͤdie gehen zu duͤrfen, so viel bei mir, daß ich erwachte, und den Entschluß faßte, mich ganz diesem Taumel zu entreißen. Jch fuͤhrte den Entschluß auch gleich dadurch aus, daß ich die Komoͤdien, die ich zu dem vorgehabten Theater gesammelt hatte, ins Feuer warf, wo ich sie mit wahrer Herzensfreude hell auflodern sah. «

» Und von dieser Zeit an bin ich wieder ein vernuͤnftiger Mensch geworden, nachdem ich laͤnger als ein Jahr im unvernuͤnftigen Taumel zugebracht hatte. «

113

» Dies ist die Geschichte meiner Verirrung. Jch uͤberlasse Dir es nun: einen Gebrauch davon zu machen, welchen Du willst, denn ich bin von Deiner Freundschaft versichert, daß Du keinen unrechten davon machen wirst. Aber meinen Namen laß weg, wo moͤglich. Lebe wohl. Auf die folgenden Stuͤcke des Magazins warte ich gewiß. Jch bin etc.

H. T. «

Jch will nun, nach dem Wunsch meines Freundes, einige wenige, aber allerdings noͤthige Erlaͤuterungen beifuͤgen, welche die Geschichte psychologisch erklaͤrbarer machen.

Zuerst uͤber die Veranlassung und Ursachen dieser sonderbaren Theaterwuth. Wenn mein Freund sagt, daß ihn die Schauspiele zu S ... deswegen so hinrissen, weil er noch nicht viel dergleichen Dinge gesehen hatte, so hat er in so fern recht, als ihm seit acht oder mehrern Jahren nichts mehr von der Art unter die Augen gekommen war. Er muß aber dabei doch vergessen haben, was er mir oͤfters selbst erzaͤhlte, daß er schon in seiner fruͤhen Jugend, im sechsten Jahre ungefaͤhr, zum erstenmal mehrere Schauspiele in seiner Vaterstadt gesehen hatte, von welchen er immer noch mit schwaͤrmerischem Vergnuͤgen redete, und welche vermuthlich schon den ersten Grund zu dem nachmalichen starken Hang zum Theater in ihm gelegt hatten, um so mehr, da natuͤrlich Schauspiele auf114 eine Kinderseele starken Eindruck machen muͤssen, und bei ihm besonders, da sie ihm nicht alltaͤglich und zur Gewohnheit wurden, die den allzustarken Eindruck haͤtte vermindern koͤnnen, sondern er erst nach Verlauf von ungefaͤhr acht Jahren, also zu einer Zeit, wo die jugendliche Einbildungskraft am staͤrksten und feurigsten ist, die besonders er noch jetzt in einem hohen Grade besitzt, wieder zu dem Genuß eines Vergnuͤgens gelangte, das ihn schon in der Kindheit so hingerissen hatte.

Dazu kommt noch, daß er noch in sehr jungen Jahren auf das Gymnasium zu S ... kam, und da man hier die Privatstudien groͤßtentheils eines jedem eigenem Fleiße uͤberlaͤßt, mein Freund hingegen noch von Schulen her daran gewoͤhnt war, alle Zeit, wo ihm nicht ausdruͤcklich etwas zu lernen oder zu thun aufgegeben war, zu seinem Vergnuͤgen anzuwenden, so wußte er sich hier außer den Lektionsstunden nicht gehoͤrig selbst zu beschaͤftigen, und, da die Seele natuͤrlich doch Beschaͤftigung haben wollte, so war es daher leicht moͤglich, daß er bei den so zusammen treffenden Umstaͤnden, da gerade um diese Zeit eine Schauspielergesellschaft nach S ... kam, auf die erzaͤhlten Abwege gerieth, und sich in diesen Vergnuͤgungen gleichsam ersaͤufte.

Allein gluͤcklich fuͤr ihn, wenn er sich nur fruͤher darin ersaͤuft und durch Uebermaaß im Genuß zuletzt Eckel daran gefaßt haͤtte. Jch habe schon oft den Kunstgriff der Zuckerbaͤcker bewundert, die ihre Lehr -115 jungen von allen Suͤßigkeiten so viel genießen lassen, als sie wollen, bis endlich durch Uebermaaß im Genuß Eckel davor entsteht, und sie dann nichts mehr kosten moͤgen. Und so ists wahrhaftig mit den halb sinnlichen und halb geistigen Vergnuͤgungen, dergleichen die Schauspiele sind, auch, und dieses Mittel hier um so sicherer anzuwenden, weil Schauspiele an und vor sich noch kein schaͤdliches Vergnuͤgen sind. Da nun aber meinem Freunde gleich Anfangs solche Hindernisse in den Weg gelegt wurden, so ist es fuͤr den Psychologen ganz leicht begreiflich, wie nach und nach diese herrschende Neigung in solche lichte Flamme ausbrechen konnte, deren Wuͤrkungen in der That erstaunlich waren, und den guten Juͤngling zuletzt bis an die Grenzen des Wahnsinns haͤtten fuͤhren koͤnnen.

Aus dem nemlichen Grunde laͤßt es sich auch begreifen, warum bei der vernuͤnftigen Behandlung seines Vaters mein Freund wirklich mehr gebessert wurde, als durch die ihm vorgelegten Hindernisse, seine Neigung zu befriedigen. Denn auch die immer noch widernatuͤrliche Heftigkeit, womit er den Entschluß der Besserung auszufuͤhren anfieng, indem er seine gesammelten Schauspiele verbrannte, wuͤrkte wahrscheinlich zur nachmaligen gaͤnzlichen Besserung nicht so viel, als die fortgesetzte Erlaubniß, die Schauspiele zuweilen besuchen zu duͤrfen.

Schade ists aber immer, daß er die geschriebenen Schauspiele nicht aufbewahrt hat, denn sie wuͤrden,116 da sie meistens von ihm selbst verfertigt waren, fuͤr den Psychologen immer brauchbar gewesen seyn, und den damaligen Gang seiner Phantasie verrathen haben, dem Verfasser selber aber wahrscheinlich nun manches Laͤcheln abnoͤthigen.

Er ist uͤbrigens, wie er selbst versichert, von dieser tobenden Neigung jetzt ganz abgekommen, nur ist eine große Freude an Schauspielen immer noch in ihm uͤbrig, und er versaͤumt daher gewiß keines, wenn er eben des Jahres ein - oder zweimal nach S ... kommt, wo indessen ein Nationaltheater errichtet worden ist. Auch hat er mich einst versichert, daß, wenn er etwa in seinem jetzigen Stand durch irgend einen Zufall ungluͤcklich werden sollte, und er sich nicht mehr zu helfen wuͤßte, sein erstes Bemuͤhen seyn wuͤrde, sich bei einem stehenden Theater zu engagiren. Allein diese uͤbriggebliebene Neigung ist ihm sogar nicht mehr schaͤdlich, daß er vielmehr jetzt an seinen Berufsgeschaͤften viel Vergnuͤgen findet, und sich keinen Stand denken kann, in welchem er gluͤcklicher seyn wuͤrde, als in dem, worin er sich jetzt befindet.

Die mancherlei Winke, die fuͤr einen Erzieher in dieser Geschichte liegen, will ich hier nicht aus einander setzen, jeder Vernuͤnftige wird sie sich selbst abstrahiren koͤnnen.

M. 69J.D. Mauchart.

117

3. Beispiel eines ungewoͤhnlichen Gedaͤchtnisses.

70

Zu J ...... n, einem Dorfe in hiesiger Gegend, lebt ein Maͤdchen, das wegen seines ungewoͤhnlich starken Gedaͤchtnisses in der ganzen Gegend beruͤhmt ist. Man sagt, sie sey in ihrer Kindheit ein sehr schoͤnes Kind gewesen, habe aber die Blattern bekommen, und sey so hart daran krank gelegen, daß keine Hoffnung zu ihrer Genesung mehr vorhanden gewesen sei. Die Aeltern haben daruͤber eine große Wehklage erhoben, und Gott instaͤndigst gebeten, das Kind lieber aller aͤußerlichen Vorzuͤge zu berauben, und es nur beim Leben zu erhalten, worauf das Kind wieder genesen, aber blind und von den Blattern entsetzlich entstellt worden sey.

So viel ist richtig: das Maͤdchen ist blind, und seine Gesichtzuͤge sind von den Blattern sehr verderbt. Bald aber bemerkte man an dem blinden Kinde desto staͤrkere Seelenkraͤfte, und besonders ein vortrefliches Gedaͤchtniß. Als es zur Schule gebracht wurde, so brauchte es das, was ihm zu lernen aufgegeben wurde, nur ein einziges -118 mal sich vorlesen zu lassen, um es schon vollkommen auswendig zu koͤnnen, selbst lange Gesaͤnge, die es lernen mußte, ließ es sich einmal vorlesen, und sagte sie gleich darauf mit unglaublicher Fertigkeit ohne Anstoß her, lernte auch jedesmal, weil ihr das Aufgeben zu wenig war noch zwei oder drei Gesaͤnge aus eigenem Antrieb dazu, und war doch mit allem in weniger als einer Stunde fertig.

Wann sie jetzt in die Kirche kommt, und das thut sie sehr fleißig, so richtet sie alle ihre Aufmerksamkeit auf den Prediger, und weiß alsdann nach der Kirche die ganze Predigt von Wort zu Wort herzusagen, selbst mit allen in der Predigt angefuͤhrten biblischen Stellen, wobei sie noch genau das Buch, das Kapitel, und den Vers von jeder angeben kann. Und so schnell sie faßt, eben so treu ist ihr Gedaͤchtniß auch im Behalten des Gefaßten. Jhre Mutter nahm sie einst mit sich nach Stuttgart, und fuͤhrte sie daselbst in die Kirche, um einen gewissen beruͤhmten Prediger da zu hoͤren. Als das Maͤdchen wieder nach Hause kam, so fragte man sie, was dieser Mann geprediget haͤtte, und sie wußte noch eben so gut die ganze Predigt herzusagen, wie sonst die kurz vorher gehoͤrte.

Einst geschah es, daß sie gefragt wurde, ob sie nicht mehr wuͤßte, was ihr Herr Pfarrer vor einem119 Jahre uͤber eine gewisse Materie geprediget haͤtte, worauf sie zur Antwort gab: » Ja, das weiß ich noch wohl, es war an dem Sonntag, uͤber das Evangelium, « und nun zum Erstaunen aller Anwesenden, alles, was der Pfarrer uͤber diese Materie gesagt hatte, wiederholte, so daß der Pfarrer es voͤllig mit seinen eigenen Worten uͤbereinstimmend fand.

M. 72J. D. Mauchart.

120

Von der Heilkunde der Seele. 73(Aus Cicero's Tuskulanischen Quaͤstionen.)

Woher, o Brutus, koͤmmt es wohl, da wir doch aus Leib und Seele bestehen, daß man sich um die Kunst, den Koͤrper zu heilen, und vor Krankheiten zu schuͤtzen, und um die nuͤtzliche Anwendung dieser Kunst bemuͤht, und den unsterblichen Goͤttern sogar die Ehre der Erfindung derselben zugeeignet hat; daß man hingegen die Heilkunde der Seele, weder vor ihrer Erfindung so sehr zu besitzen, noch nach ihrer Erfindung, dieselbe auszuuͤben gewuͤnscht hat; und daß diese auch lange nicht bei so vielen Beifall und Liebe erhalten hat, als die Heilkunde des Koͤrpers; ja, daß sie manchem sogar verhaßt und verdaͤchtig geworden ist?

Koͤmmt dies vielleicht daher, weil wir vermittelst der Seele uͤber unsre koͤrperlichen Krankheiten und Gebrechen urtheilen, der Koͤrper aber nicht so die Krankheiten und Schwaͤchen der Seele bemerken kann? und weil also, indem die Seele uͤber sich selbst urtheilt, dasjenige, womit sie urtheilt, selbst krank ist?

121

Haͤtte uns die Natur so geschaffen, daß wir sie selbst anschauen und durchschauen, und unter ihrer besten Fuͤhrung unser Leben vollenden koͤnnten, so beduͤrfte es weiter keiner Grundsaͤtze, keiner Lebensregeln. Nun aber hat sie bloß einige kleine Fuͤnkchen in uns gelegt, die wir bald, durch boͤse Sitten und Meinungen verschlimmert, dergestalt ausloͤschen und daͤmpfen, daß nie das Licht, welches uns die Natur gab, wieder hervorbrechen kann.

Die Keime aller Tugenden schlummern in unsern Seelen, duͤrften sie ungehindert emporschiessen, so wuͤrde selbst die Natur uns zur Gluͤckseligkeit leiten. Jtzt aber sind wir kaum geboren, so sind wir sogleich von aller Verderbtheit, und von der aͤußersten Verkehrtheit der Meinungen umgeben; so daß wir gleichsam schon mit der Ammenmilch den Jrrthum einsaugen. Sind wir denn, von der Brust der Amme entwoͤhnt, unsern Aeltern wieder uͤberliefert, so dauert es nicht lange, bis wir unter die Zucht unserer Lehrmeister gegeben werden, wo wir denn wieder mit einer solchen Menge von Jrrthuͤmern uͤberschuͤttet werden, daß die Wahrheit dem Wahne, und dem eingewurzelten Vorurtheile die Natur selber weicht.

Laßt uns also untersuchen, welcher wichtigen Heilmittel denn die Philosophie gegen die Krankheiten der Seele sich bedient denn es giebt ge -122 wiß eine Arznei fuͤr die Seele; und die Natur kann unmoͤglich gegen das menschliche Geschlecht so haͤmisch und feindselig gesinnt gewesen seyn, daß sie fuͤr den Koͤrper so heilsame Dinge, und fuͤr die Seele nichts dergleichen besorgt haͤtte.

Dem Koͤrper kann nur von außenher zu Huͤlfe gekommen werden, was die Seele begluͤckt, ist in ihr selbst verschlossen. Je groͤßer aber ihr Vorzug vor dem Koͤrper, und je goͤttlicher ihr Ursprung ist, mit destomehr Aufmerksamkeit verdient sie behandelt zu werden. Eine wohlgeordnete Vernunft entdeckt immer, was das beste sey: da sie hingegen, sobald sie vernachlaͤßigt wird, sich in unzaͤhlige Jrrthuͤmer verwickelt.

Die Heilungsarten der verschiedenen Krankheiten der Seele aber, sind eben so verschieden, als diese Krankheit selber. Jede Traurigkeit kann nicht durch einerlei Bewegungsgrund gestillt werden. Der Traurende, der Bemitleidende, der Beneidende, beduͤrfen jeder einer andern Arznei.

Das aber ist immer die gewisseste und sicherste Kur, wenn man den Kranken belehrt, daß die Unordnung in seiner Seele, mag sie auch entstehen woher sie wolle, an und fuͤr sich selbst schon ein Fehler, und weder nothwendig noch natuͤrlich sey.

123

Oft scheint es, als ob wir die Traurigkeit selbst dadurch lindern koͤnnen, wenn wir den Traurenden ihre weibische Schwachheit vorwerfen, und hingegen die Standhaftigkeit und Seelengroͤße dererjenigen loben, die gegen die Schicksale, denen der Mensch ausgesetzt ist, nicht murren.

Wir wollen, daß derjenige, den wir einen weisen und edeln Mann nennen sollen, standhaft, ruhig und gesetzt sey.

Ein solcher aber darf weder traurig noch furchtsam seyn, er darf weder etwas zu heftig wuͤnschen, noch sich zu heftig freuen, wenn er das Gewuͤnschte erlangt hat, denn das thun nur diejenigen, welche glauben, daß ihre Seelen nicht uͤber die menschlichen Schicksale erhaben sind.

Die sicherste Heilart der Seele ist die, daß man, ohne darauf zu sehen, woher die Unordnung in ihr entstehe, von dieser Unordnung selbst, als von etwas Verwerflichem rede, und ihr einen Abscheu dagegen beizubringen suche.

Zusatz.

Woher kann aber der Seele ein Abscheu vor der Unordnung, welche in ihr herrscht, bei -124 gebracht werden, wenn das unangenehme Gefuͤhl von dieser Unordnung selbst nicht faͤhig ist, ihr einen Abscheu dagegen beizubringen? Und, wenn diese Unordnung durch die Laͤnge der Zeit gleichsam mit ihrem Wesen einstimmig geworden ist, und daher von ihr selbst gepflegt und genaͤhrt wird?

75M.

125

Jnhalt des siebenten Bandes.

76
  • Erstes Stuͤck.
    • Fortsetzung der Revisionen des 4ten 5ten und 6ten Bandes dieses Magazins. von Hrn. Pockels. Seite 1
    • Zur Seelenkrankheitskunde.
      • Johann Herrmann Simmen. von Herrn Pockels. 25
    • Zur Seelennaturkunde.
      • Psychologische Bemerkungen uͤber Traͤume und Nachtwandler. von Hrn. Pockels. Fortsetzung. 74
  • Zweites Stuͤck.
    • Fortsetzung der Revision des 4ten 5ten und 6ten Bandes dieses Magazins. von Hrn. Pockels. 1
    • Zur Seelenkrankheitskunde.
      • 1. Auszug aus dem Mercure de France dieses Jahrs No. 2 20.
      • 2. Berichtigung eines psychologischen Phaͤnomens. von Hrn. Pfeffel. 23
      • 3. Ueber Seelenkrankheit und einen Seelenkranken Menschen. von Hrn. Prediger zur Hellen. 26
      • 4. Bemerkungen uͤber einen inkorrigiblen Dieb in psychologischer Ruͤcksicht. 38
    • Zur Seelennaturkunde.
      • 1. Psychologische Bemerkungen uͤber Traͤume und Nachtwandler. Fortsetzung. 58
      • 2. Beobachtungen zur Seelenkunde. von L. A. Schlichting77. 92
    • Zur Seelenzeichenkunde.
      • Aus den Papieren eines Selbstbeobachters. 97
      • An die Leser des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde. von K. P. Moritz. 125
  • 126
  • Drittes Stuͤck.
    • Einleitung. Seite 1
    • Revision uͤber die Revisionen des Hrn. Pockels in diesem Magazin. von K. P. Moritz. 3
    • Zur Seelenkrankheitskunde.
      • 1. Beitrag zur Bestaͤtigung des Satzes, daß die Einbildungskraft und das Gedaͤchtniß mehr dem Koͤrper, als der Seele zugehoͤren. von J. E. Gruner. 16
      • 2. Rau, ein Vatermoͤrder. von J. E. Gruner. 17
    • Zur Seelennaturkunde.
      • 1. Aus dem Tagebuch eines Selbstbeobachters. 25
      • 2. Ueber Selbsttaͤuschung. Eine Parenthese zu dem Tagebuche eines Selbstbeobachters. 45
      • 3. Fortsetzung des Tagebuchs. 48
      • 4. Mystische Briefe des Hrn. von F.. 53
      • 5. Ueber Mystik. 75
      • 6. Einige Beispiele von Geistes - oder Gedaͤchtnißabwesenheit. von Hrn. van Goens. 77
      • 7. Grundlinien zu einer Gedankenperspektive. 81
      • [8]. Konfessionen der Madame de la Mothe Guion. 83
    • Zur Seelenzeichenkunde.
      • Beitraͤge zur Zeichnung jugendlicher Charaktere, von J. D. Mauchart. 92
    • Zur Seelenheilkunde.
      • Eine Geschichte eines ungluͤcklichen Hangs zumTheater. 106
      • Von der Heilkunde der Seele, aus Cicero's tuskulanischen Quaͤstionen. 120

About this transcription

TextGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Author[unknown]
Extent126 images; 22901 tokens; 4834 types; 149238 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

Christof WingertszahnSheila DicksonGoethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-StiftungUniversity of GlasgowNote: Erstellung der Transkription nach DTA-RichtlinienNote: Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.2015-06-09T11:00:00Z Matthias BoenigDeutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu BerlinNote: Konvertierung nach DTA-Basisformat2015-06-09T11:00:00Z UB Uni-BielefeldNote: Bereitstellung der Bilddigitalisate2015-06-09T11:00:00Z CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationGnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte siebenten Bandes drittes Stück Karl Philipp Moritz, Carl Friedrich Pockels, Salomon Maimon (eds.) . MyliusBerlin1789.

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Universitätsbibliothek Bielefeld UB Bielefeld, 2097611

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Psychologie; Wissenschaft; Psychologie; ready; dtae

Editorial statement

Editorial principles

Anmerkungen zur Transkription:Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.

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  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T11:06:41Z
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ShelfmarkUB Bielefeld, 2097611
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